Die
kolonisations -
Bestrebungen
der modernen
europäischen ...
Adolf Braun, Karl
Braun
3*5 ' 373
(tiolrnnbiii Utaiuersittj
Library
Special ff und
1899
i
Digitized by Google
Digitized by Google
- - ' .
Die
* • * -
Kolonisations-Bestrebungen
der
modernen europäischen Völker und Staaten.
VORTRAG
gehalten in der Berliner Volkswirtschaftlichen Gesellschaft
am 27. Februar 1886
von
Karl Braun,
Vit
Mitglied des Reichstags, Ehren-Mitglied des Cobden-Clubs.
BERLIN.
VERLAG VON LEONHARD SIMION.
1886.
Digitized by Google
• • ... *,
» . • • • •
• • • • • • • •.«
• * » • *. • . ... * »
•• •: ... ••••••
•••
Digitized by Google
-
o
o
o>
, —
T4
Ich freue mich, dafs es heut zu Tage möglich ist, auch in
Deutschland die Colonialfrage ruhig und wissenschaftlich zu er-
örtern. Vor zwei Jahren oder selbst noch vor anderthalb Jahren
war das aufserordentlich schwierig. Da flogen die Beschuldi-
gungen herum, wie faule Aepfel: Phantasterei, Vaterlandsverrath,
Mangel an Patriotismus und was dergleichen Dinge mehr waren.
Heut zu Tage sind wir ruhiger geworden, die Leidenschaften
haben abgenommen und die Kenntnisse haben zugenommen,
und das ist immer schon ein gewisser Erfolg. Es geht mit
dieser Frage wie mit allen anderen: ehe man sich ein Urtheil
bilden kann, mufs man die Einzelkenntnisse sammeln und fest-
stellen, und erst aus der Totalität der Einzelkenntnisse bildet
sich dann die Erkenntnifs des Ganzen, das Gesammtbild, und
daraus sind dann die nöthigen wissenschaftlichen Schlüsse und
praktischen Folgerungen zu ziehen. Ich werde mich nicht in
die gerade heute schwebenden Tagesdebatten mengen Ich
werde dessen eingedenk sein, dafs wir eine volkswirthschaftliche
Gesellschaft sind, d. i. ein wissenschaftlicher Verein und nicht
ein politischer Debattirclub. Ich werde Ihnen also die That-
sachen vortragen und dann zusammenfassende Schlüsse daraus
ziehen.
Zunächst will ich sprechen über die Physiologie der modernen
Colonien. Ich rede nur von modernen Colonien, d. h. von
denjenigen, die entstanden sind seit dem Ende des 15. Jahrhun-
derts. Alles, was im Alterthum geschehen ist, was während des
Mittelalters geschehen ist, Kreuzzüge u. dergl., hat einen ganz
anderen Charakter und kann zur Beurtheilung unserer heutigen
Colon ialpolitik absolut nicht herangezogen werden.
285980
Digitized by Google
• •••• »•*••• • *•»••
.. a
. , . ••• • • • » • • ••
•..ich v'£r*t£rw: unter «Physiologie der Colonien > eine Darstellung
und* Charakteristik* *der verschiedenen Arten von Colonien, die von
europäischen Nationen, oder von Angehörigen der europäischen
Nationen, aufser Europa seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ge-
gründet worden sind, und der für eine jede dieser Arten erfahrungs-
mäfsig geltenden Gesetze ; ich gebe dann eine Geschichte der mo-
dernen Colonien, natürlich kurz, vielleicht mit Siebenmeilenstiefeln
vorwärtsschreitend, und endlich einen Ueberblick über die gegen-
wärtige Lage der Dinge. Wenn die Zeit es erlaubt, werde ich
Ihnen noch zum Schlufs eine Skizze geben über die Staats- und
völkerrechtlichen Fragen in Betreff des Colonialwesens, aber
auch nur in soweit, als sie zusammenhängen mit volkswirtschaft-
lichen Fragen.
Wenn wir nun einen Rückblick werfen auf die Periode, deren
Anfangs- und Endpunkte ich Ihnen bezeichnet habe, so werden
wir wahrnehmen, dafs die grofse Mehrheit der Colonien nicht
von irgend einer Regierung gegründet und geboren und gleich-
sam mit liebevoller mütterlicher Sorgfalt erzogen und aufgepäp-
pelt worden sind, sondern dafs die Colonien entstanden sind
theils durch den Unternehmungsgeist, der die Kaufleute hinaus
in die weite Welt treibt, und theils durch die Auswanderer,
welche die Noth, die Verfolgung, der Druck der Intoleranz aus
ihrer Heimath vertrieben, und die im Vertrauen auf eigene
Geistes- und Willenskraft in fremden transatlantischen und über-
seeischen Landen wirtschaftliche Niederlassungen gegründet und
denselben eine gesellschaftliche und politische Organisation ge-
geben haben, nachdem sie ihre Kräfte gestählt hatten im Kampfe
mit einem rauhen Land, mit einer wilden Natur, mit wilden
Thieren und noch wilderen Menschen, nachdem sie Jahrhunderte
lang gerungen, um aus diesem ihrem primitiven Gemeinwesen
irgend eine gesellschaftliche und dann auch eine politische Organi-
sation zu bewerkstelligen.
Wenn die Staatsgewalt eines der europäischen Länder direct
eingegriffen hat in das Colonialwesen, so ist sie in der Regel
nicht als Ansiedler aufgetreten, sondern als Eroberer; und so
haben wir eine ganze Reihe von Colonien, die eigentlich nichts
sind, als Eroberungen nicht der Länder von wilden, sondern von
bereits leidlich cultivirten Völkern, wie in Holländisch-Indien,
Britisch-Indien u. s. w. Das setzt sich fort bis in die neueste
Digitized by Google
5
Zeit. Das sind Eroberungen mit Waffengewalt, aber eigentlich
keine Colonicn. Man wird z. B. nicht sagen können, dafs Algier
eine Colonie im Sinne der Ansiedlung ist. Sie wissen ja, wie
diese Colonie entstanden ist. Nachdem unter der Führung von
England eine europäische Verschwörung gegen den Sklaven-
handel zu Stande gekommen war und bereits schöne Fortschritte
gemacht, wies man immer wieder darauf zurück, dafs in den
nordafrikanischen Barbareskenstaaten eine Sklaverei nicht der
Schwarzen, sondern der Weifsen existirte; und da es dem da-
maligen Herrscher von Frankreich, der sich durch unkluge Re-
gierungsmafsregeln in grofse Verlegenheiten gestürzt hatte, in
seinen Kram pafste, so hat er Algier erobert. Das ist aber
keine eigentliche Colonie gewesen, und dieser heterogene Cha-
rakter ist bis heut zu Tage noch deutlich in Algier wahrzunehmen.
Dies vorausgeschickt, wende ich mich nun zu einer Charak-
teristik der verschiedenen Arten von Colonien. Wir müssen
unterscheiden Ackerbaucolonicn, Handelscolonien und
Pflanzungscolonien oder Plantagencolonien. Diebeiden letzteren
fafst man auch unter dem Gesammtnamen Betriebscolonien (colo-
nies d'exploitation) zusammen, im Gegensatz zu den ersteren,
welche man Bevölkerungs- oder Niederlassungscolonien (colonies
de peuplement) nennt. Ich will jede dieser Kategorien von
Colonien kurz charakterisiren und jeder Charakteristik einige
kleine historische Exemplificationen beifügen. Diese Definitionen
erschöpfen freilich die Sache nicht, sind unter Umständen viel-
leicht ein bischen langweilig, aber sie dienen dazu, die Vorstel-
lungen zu präcisiren und dadurch die Verständigung zu erleichtern.
Sprechen wir nun zunächst von Ackerbaucolonien. Der
Ausdruck zeigt schon, dafs es sich hauptsächlich um landwirt-
schaftliche Interessen handelt. Die Träger der Colonien sind
die Colonisten, welche aus Europa kommen, um den fremden
Boden selbst und bleibend zu bebauen. Diese Colonisten werden,
im Gegensatz zu den Leuten der Plantagen- und Handelscolonien,
dort einheimisch. Sie nehmen für sich, für ihre Familien, für
ihre Nachkommen bleibendes Domicil in dem Niedcrlassungs-
gebiete. Aus diesen ursprünglich kleineren Niederlassungen er-
wachsen Gemeinden, Grafschaften, Territorien und schliefslich
Staaten. Auf dem neuen Boden mit den neuen Menschen bildet
sich auf neuer Grundlage eine neue Gesellschaft und endlich eine
Digitized by Google
6
neue Nation. Freilich müssen wir, auch angesichts unserer
neueren deutschen Colonien, den Umstand vorzugsweise betonen,
dafs nur sehr wenig überseeische Länder auf die Dauer als ge-
eignet zu europäischen Ackerbaucolonien sich erweisen. Um
daau geeignet zu sein, müssen diese Länder erstens vorher nur
dünn oder gar nicht bevölkert sein, damit die europäischen
Ackerbauer dort eigenen Grund und Boden erwerben können,
und zweitens müfsen das Klima und der Boden und die sonstigen
natürlichen Voraussetzungen derart beschaffen sein, dafs sie sich
nicht zu weit von Sem specifischen Charakter des Mutterlandes
entfernen; denn sonst können die Bauern dort nicht bauen, nicht
arbeiten und nicht existiren. Sie werden dort Leben und Ge-
sundheit nicht erhalten können, und das ist doch die erste Vor-
aussetzung zum Gedeihen einer solchen Niederlassung.
Wir müssen nun zunächst ins Auge fassen die Erfordernisse
des Mutterlandes. Das Mutterland, welches Ackerbaucolonien
gründen will, mufs vor allen Dingen volkreich sein, d. h. es mufs
bereitwillige, körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich
leistungsfähige Mannschaften haben, um den nöthigen Nachschub
zu bewirken; denn sonst gelingt es dem Mutterlande nicht, eine
Colonie dauernd zu erhalten. Wir haben im Laufe der Ge-
schichte der Colonialbestrebungcn der modernen Völkerschaften
verschiedene Beispiele, die das klar machen. Ich will nur eins
anführen. Sie wissen, dafs New- York ursprünglich Neu- Amster-
dam hiefs und gegründet worden ist von holländischen Einwan-
derern. Weil aber Holland ein kleines Land war, welches eine
so massenhafte Bevölkerung zum Nachschub nicht bereit hatte,
so erfolgte dieser Nachschub nicht aus der holländischen oder
niederländischen Bevölkerung, sondern aus der angelsächsischen
Race, und das ursprüngliche Neu-Amsterdam verwandelte sich
in New- York, wie wir das Alles sehr schön dargestellt finden in
dem Skizzenbuch von Washington Irving.
Die Ackerbaucolonien haben die Eigenthümlichkeit, dafs im
Anfang ihr Wachsthum aufserordentlich langsam ist. Die Ein-
wanderung geht nicht gleich stark und rasch ; es bedarf drei
oder vier Generationen, um die ersten und gröfsten Schwierig- -
keiten zu überwinden; dann aber geht es in der Regel sehr
schnell, weil die Entwicklung gesichert und ganz unbegrenzt ist.
Die Volkszahl steigt, das Gebiet dehnt sich aus, es kommen Er-
Digitized by Google
7
Weiterungen aut dem Wege der Niederlassungen, es kommen
auch Erweiterungen auf dem Wege der Annexionen. Sie wissen
ja, wie Nordamerika sich Texas annektirt hat; eigentlich ohne
grofse Gewalt; die amerikanischen Squatters gingen dorthin,
gründeten Gemeinwesen unter dem Vorsitz eines «Regulatort,
und nachdem das Land einmal durchdrungen war von diesen
nordischen Culturelementen , so war es auf einmal amerikanisch
über Nacht geworden, ohne dafs es eigentlich in Europa irgend
Jemand gemerkt hatte.
Eine Eigenthümlichkeit der Ackerbaucolonien ist ferner, dafs
die Einwanderer einander hinsichtlich der bürgerlichen Stellung,
des Vermögens, des Ranges und der Sitten ziemlich gleich stehen
oder wenigstens sehr nahe. Eine Aristokratie giebt es dort nicht ;
das Mutterland ist fern; die aristokratische Bevölkerung des
Mutterlandes kommt nicht, weil sie gewohnt ist, einen Rückhalt
an dem Staat oder der Regierung zu haben — einen Rückhalt,
den sie dort nicht finden würde, und so kommt es denn von
selbst, dafs die Ackerbaucolonien eine Neigung zur demokrati-
schen Organisation haben, d. h. zur Autonomie oder Selbstregie-
rung einander möglichst gleichstehender Männer. Wenn nun
das Mutterland thöricht genug ist, dieses in der Natur der Dinge
begründete Streben mit Gewalt niederdrücken zu wollen, dann
hat die Ackerbaucolonie die Tendenz, sich vom Mutterlande zu
trennen, und dazu benutzt sie irgend eine europäische Krisis-
Südamerika oder Neu-Spanien hat die Krisis während der
Napoleonischen Kriegszeiten benutzt; Neu-England bediente
sich französischer Hilfe. Umgekehrt sehen wir aber auch, dafs
Colonien aus einer Hand in die andere übergehen und dann bei
der letzten Hand fest bleiben, weil sie ihnen ihre Autonomie
garantirt. Neu-Frankreich, d. i. Canada z.B., wurde englisch
und blieb es, während Neu-England englisch war und es nicht
blieb. Obgleich Canada von Hause aus französisch und katho-
lisch war, fand es doch einen so aufserordentlichen Unterschied
zwischen der schlechten französischen Regierung und der guten
englischen, dafs die Canadier nach und nach gute Engländer
geworden sind.
Was die französische Verwaltung in Canada anlangt, so
war sie ein Muster, wie man es nicht machen soll. Wir haben
darüber ein vortreffliches Buch von Francis Parkman »England
Digitized by Google
8
und Frankreich in Amerika«, dessen Einführung in Deutschland
wir Fritz Kapp verdanken. Das schildert uns, wie das »Ancien
Regime« von Frankreich in Canada gehaust hat — alles in
bester Absicht, aber mit den übelsten Mitteln und Zu einem ver-
derblichen Ende. Alles sollte von Paris aus wie ein Uhrwerk
geregelt werden bis auf die geringsten Kleinigkeiten. Man
wollte auf diesem jungfräulichen Boden von Amerika den alten
Staat von Frankreich wieder aufbauen, mit den Mönchen und
Nonnen, mit den Marquis' und Abbe's, mit dem Adel und dem
Klerus, mit allem, was drum und dran hing, — vielleicht in der
Absicht, dafs, wenn es einmal in Frankreich zu Ende ginge,
man dort drüben eine bequeme Rückzugslinie habe. Protektion,
Bevormundung, Intoleranz, Feudalismus, Absolutismus, alles das
wollte man auf diesem canadischen Boden aufrichten. Es
waren Kavaliere, Franziskaner, Jesuiten und eine Menge von
privilegirten Privatunternehmern und Monopolisten, die sich dort
breit machten. Die Buchdruckereien wurden verboten, aber
dafür zahlreiche Klöster errichtet, und da es mit dem Wachs-
thum der Bevölkerung des Landes nicht recht vorwärts wollte,
so organisirte die wohlwollende, allfürsorgende und höchst weise
Regierung in Paris einen Import von Frauen, die man >les
demoiseiles du roi« nannte. Von Zeit zu Zeit ging ein solches
Schiff befrachtet mit solchen Damen — da es sich um Damen
handelt, mufs man sich immer höflich ausdrücken — , die in der
alten Welt mehr oder weniger entgleist waren, hinüber, und die
wurden dort per ordre du moufti an die Colonisten verheirathet
unter Anwendung einer gewissen douce violence; denn wenn
einer nicht heirathen wollte, so wurde er von der Ausübung der
bürgerlichen Rechte ausgeschlossen.
Das sind so die wesentlichen Charakteristika der damals
herrschenden französischen Colonialpolitik, die die Leute von
oben herunter wohlhabend, reich, vergnüglich und zufrieden
machen wollte. Das hatte allerdings stets den entgegengesetzten
Erfolg. Wenn das schon in einem alten Staat nicht geht, dafs
man die Gesellschaft und das öffentliche Gemeinwesen örganisirt,
oder vielmehr »mechanisirt«, wie ein Uhrwerk, welches jeden
Morgen der König oder der Priester aufzieht, so geht es natür-
lich auf Colonialboden , namentlich aber in Niederlassungs-
oder Ackerbau - Colonien, noch weniger. England, welches
Digitized by Google
9
Canada im Jahre 1763 erwarb, befolgte das entgegengesetzte
Prinzip, und hat dasselbe immer mehr vervollkommnet, je mehr
es seine traurigen Erfahrungen gemacht hatte in seinen eigenen
Kolonien dafür, dafs es mit dem Absolutismus dort nicht geht.
Canada ist jetzt ein Land, welches sich der vollsten Autonomie
erfreut. Die Land- und Seemacht steht allerdings unter der
Centralgewalt der Königin von England, aber im übrigen hat
es eine vollkommen freie Verfassung durch die brittisch - nord-
amerikanischen Akte vom 29. März 1867, und es herrscht dort
abgesehen von Putschen der untersten Klasse gar keine Neigung
zum Rebelliren, — während das in Neu-England umgekehrt war,
weil es in seinen besten Rechten und natürlichen Eigenthümlich-
keiten verkümmert wurde. Man bestritt seine wohlberechtigten
wirthschaftlichen und politischen Forderungen, man nannte die
Leute unvorsichtiger Weise «Rebellen«, und in Folge dessen
sind sie es denn auch geworden. Canada wurde englisch und
blieb englisch, Neu-England ward englisch und blieb es nicht.
Diese Parallele ist sehr lehrreich für den Charakter der Acker-
bau-Colonien. Sie zeigt uns: es giebt kein anderes Mittel,
Ackerbaucolonien an das Mutterland zu fesseln, als eine voll-
kommen freie Verfassung. Das Mutterland mufs ihnen den
politisch -militärischen Machtschutz gewähren durch die ge-
meinsame Centralgewalt, aber im übrigen sie sich selbst verwalten
lassen, damit sie sich regieren auf der Grundlage der vollen
bürgerliehen, wirtschaftlichen und religiösen Freiheit.
So viel von den Ackerbau-Colonien.
Ich komme zu den Handelscolonien. Diese werden ge-
gründet von den Europäern, welche in einem aufsereuropäischen
Lande die Naturprodukte dieses Landes, oder der Colonie (oder
auch die Produkte des Meeres, wie Fische, Corallen u. s. w.) und
die Culturproducte, namentlich die Industrieprodukte des Mutter-
landes mit einander austauschen, jene exportiren, diese importiren
wollen und sich im wesentlichen hierauf beschränken. In diesen
Handelscolonien sind die Fremdlinge, die Europäer, die Minder-
heit. Sie werden in der Regel nicht einheimisch, sondern
bleiben Fremdlinge. Sie haben ihrem Mutterlande gegenüber den
animus revertendi, oder, den esprit de retour, und machen
davon unter allen Umständen Gebrauch. Heute noch nennt
man in den holländisch indischen Colonien den Europäer «Gast«,
Digitized by Google
io
und wenn er recht lange dort war, acht oder neun Jahre, dann
nennt man ihn »Oudgast«, den alten Gast, aber über den »Gast«
kommt er überhaupt niemals hinaus. So ist es auch in Brittisch-
Indien u. s. w.
Zur Charakteristik der Handelscolonien erlaube ich mir
noch folgendes anzuführen. Dieselben entstehen an Orten, die
zum mannigfachen Land- und Wasserverkehr geeignet sind und
natürliche Stapelplätze des Handels bilden. Die Kaufleute er-
richten dort ihre Comptoirs und Factoreien, am liebsten in einer
an Bevölkerung und Producten reichen Gegend, wo aber im
übrigen noch primitive Zustände herrschen, wo die wirtschaft-
liche Bewegung sich noch wenig entwickelt hat, und wo
der Handel — namentlich der zur See — sich noch in einem
gleichsam kindlichen Zustand befindet, d. h. noch nicht die
Sicherheit, die Capitalkraft und die kosmopolitische Expansiv-
kraft erreicht hat, wie der von Europa ausgegangene Welthandel,
der sich über alle Kulturvölker der Erde erstreckt. In diametralem
Gegensatz zu den Ackerbaucolonien , deren Voraussetzung ein
an verfügbaren Arbeitskräften reiches Mutterland bildet, mufs
bei den Handelscolonien das Mutterland eine grofse Capitalkraft
und einen hoch entwickelten Transportverkehr besitzen, nament-
lich einen Transportverkehr zur See: Handelsmarine, Kriegs-
marine u. s. w. Freilich ist es nicht leicht, zu Wasser und zu
Lande gleich stark zu sein. Wir werden wohl thun, die Lehren
zu beachten, welche wir der Geschichte entnehmen. Hierfür
nur ein Beispiel: Holland hat die höchste Blüthe seiner Seemacht
unmittelbar nach dem Kriege mit Spanien gehabt. Später aber
wurde es ihm schwer, eine grofse Landarmee und eine grofse
Wasserarmee zu unterhalten, und nun vernachlässigte es seine
Landarmee im Interesse seiner Kriegsmarine und seiner Colonien.
Was war die Folge? Es wurde von Frankreich aufgeschluckt,
in die Napoleonische Continentalsperre verwickelt und dann von
England, welches Napoleon zur See bekämpfte, seiner Colonien
beraubt, die es theilweise niemals wiederbekommen hat. Holland
erlitt diese Nachtheile, weil es sich Lasten auferlegt hatte, welche
es auf die Dauer nicht zu tragen vermochte, weil es den weisen
Spruch vergessen hatte: Non omnia possumus omnes. Durch
den Verlust seiner Colonien wurde Holland auch seines Reich-
thums zum grofsen Theilc verlustig. Das ist so recht ein
Digitized by Google
1 1
Beweis, was die Handelsfeindseligkeit für P'olgen hat. Es ge-
reichte allen denjenigen Staaten, die sich freiwillig oder ge-
zwungen der Continentalsperre, d. i. dem System äufserster
Handelfeindseligkeit anschlössen, welches Napoleon aus politischem
Hafs gegen England und aus wirtschaftlichem Unverstand auf-
richtete, zum äufsersten Nachtheile. In Folge der Ausschliefsung
oder Erschwerung der englischen Concurrenz wurde die
continentale Industrie leistungsunfähig. Sie verlor den Export
und litt unter einem künstlich angefachten und ungesunden
Wetteifer im Innern. Als das Continentalsystem plötzlich auf-
hörte, ging sie mit diesem zu Grunde. Napoleon wollte England
von dem europäischen Continent ausschliefsen, was ihm indessen
nicht vollständig gelungen ist. Da gab es ja immer Hilfsmittel,
da war erstens der Schmuggel, und zweitens die Bestechlichkeit
der französischen Beamten. Was ihm dagegen wider seinen
Willen vollständig gelungen ist, das ist, dafs er Frankreich und
die mit ihm verbündeten Länder vollständig von der See aus«
schlofs, und dafs infolgedessen nicht nur Frankreich, sondern
auch die mit ihm verbündeten Länder ihre Colonien verloren,
um solche erst nach dem die ersten napoleonischen Episoden
abschliefsenden Frieden, und zwar nur theilweise, zurückzuerhalten.
— So viel vom Mutterlande der Handelscolonien.
Ich will nun sprechen von dem Colonial lande derselben.
Ein Colonialland , in dem Handelscolonien gegründet werden,
mufs folgende Eigenschaften haben, um zu gedeihen. Erstens
mufs es an einem Kreuzungspunkt von Verkehrsstrafsen liegen;
mufs Land- und Seewege, womöglich auch Eisenbahn haben.
Es wird eine Aeufserung von Herrn Stanley colportirt, dafs der
Congostaat, wenn er keine Eisenbahn bekäme, überhaupt keinen
Schufs Pulver werth sei. Zweitens sind erforderlich geräumige
und sichere Häfen; und drittens ein hoher Grad von Handels-
freiheit und ein starker und sicherer Rechtsschutz. Nicht absolut
nothwendig ist, dafs das Colonialland geographisch ausgedehnt
sei. Es genügt Anfangs wohl eine Bucht, eine Insel, eine Land-
zunge; aber es zeigt sich später häufig die Neigung, das Hinter-
land zu erobern; denn wenn in diesem Hinterland eine gewisse
Verwirrung eintritt, dann mufs man sich nach der Seite hin
sichern, und es giebt am Ende bei fortschreitender Zerrüttung
des inneren Landes kein anderes Mittel der Sicherung, als Er-
Digitized by Google
12
oberungskriege. Das haben wir in Britisch-Indien gesehen bei
den Kriegen, die dort gespielt haben gegen den Sultan von
Mysore, gegen Tipposahib. Das wird dann am Ende eine grofse
Eroberung, während es ursprünglich nur eine Handelscolonie war
und bleiben sollte. Das eroberte Land aber wird den Charakter
der blofsen Handelscolonie mehr oder weniger verlieren.
Nach der Ackerbaucolonie mufs ein starker Zustrom aus
dem Mutterlande gehen, nach der Handelscolonie nicht. Da
genügen verhältnifsmäfsig wenig Menschen. Aber diese Men-
schen müssen sich den stärksten Anforderungen unterziehen.
Sie haben Feinde ringsum an den Aufsenlinien der Colonien.
Sie müssen einen Aufstand im Innern gewärtigen und müssen
auch die coneurrirenden europäischen Mächte fürchten, welche
die continentalen Verlegenheiten des Mutterlandes auszunutzen
verstehen. Bei jenen Eroberungen, welche aufhören Handels-
colonien zu sein, um wie Holländisch-Indien, Britisch-Indien und
Algier einen gemischten Charakter anzunehmen, entstehen, wie
in dem alten römischen Reich unter den späteren Imperatoren,
immer wachsende Schwierigkeiten an den Grenzen. Es fragt
sich: Vorwärts oder Zurück? — Vorrücken oder Aufgeben und
Räumen ?
Wir sehen die Handelscolonien entstehen, für Portugal in
Asien und in Afrika, für England vorzugsweise in Ostindien, für
Holland in den indischen Meeren auf den Sundainseln; überall
mehr oder weniger erweitert durch Krieg. Der gegenwärtige
Aschantikrieg der Holländer ist ja bekannt; ein Krieg, der schwer
zu führen ist, weil man diese Wilden zwar einmal schlagen kann,
aber auf die Dauer nicht packen. Wenn man sie geschlagen
hat, so stäuben sie auseinander, und am Tage nachher sind sie
doch wieder zusammen. So viel über die Handelscolonien.
Ich komme nun zu den Pflanzungscolonien. Der Zweck
der Pflanzungscolonie ist die Erzeugung von gewissen Genufs-
und Nährstoffen und anderen Producten in Pflanzungen, welche
Producte bestimmt sind für Europa, insbesondere für das Mutter-
land. Nothig ist ein fruchtbares Land, geeignet für gewisse
Specialitäten, wie z. B. in den Tropen Kaffee, Zucker, Cacao,
in Australien Wolle, in Indien Gewürze. Es ist etwas anders als
mit Ackerbaucolonien, die einen starken Zustrom aus dem Mutter-
lande verlangen. Hier genügt ein verhältnifsmäfsig schwacher
Digitized by Google
*3
Zuflufs. Arbeiten sollen und müssen die Eingeborenen, denn der
Europäer kann in dem tropischen Clima nicht arbeiten, ohne
Leben und Gesundheit zu gefährden. Der Europäer kann nicht,
der Eingeborene will nicht. Er hat wenig Bedürfnisse und hält
deshalb die Arbeit nicht für nöthig.
Erforderlich ist möglichst viel Capital. Die Gefahren dieser
Colonien sind: Mifsernten, Handelskrisen und Revolutionen.
Leider scheint es, dafs in diesen Plantagencolonien die Arbeits-
kraft nicht anders zu bekommen ist, als durch Zwangsmittel,
d. h. durch Sklaverei. Natur, Boden, Clima verhindern die Euro-
päer am Arbeiten und die Eingeborenen haben, wie gesagt, auch
keine übermäfsige Arbeitslust Sie sind jedenfalls nicht so zu-
verlässige Arbeiter wie in Europa; und deshalb hält man Zwang
für nothwendig, oder wenn man es ohne Umschweife sagen will :
Sklaverei. Man kann ja vielleicht sagen, dafs, wenn man die
Geschichte der Arbeit bis zu ihrem Ursprung verfolgt, die Arbeit
aus der Sklaverei entstanden ist, aber das ist denn doch der
unterste und barbarischste Grad der Arbeit; und die höchste
Blüthe der Arbeit ist die freie Arbeit. Hier also soll zurück-
gekehrt werden zu der niedrigsten und barbarischsten Stufe
menschlicher Arbeit, sei es entweder zur Sklaverei durch Neger,
durch Sklaven, die von anderen verkauft werden, oder durch
Coulis, die sich selber verkaufen, oder durch Verbrecher, die
der Staat oder die Justiz verkauft. Das ist natürlich ein diame-
traler Gegensatz zu den Ackerbaucolonien, in welchen bürger-
liche Gleichheit herrscht, während man von den Plantagenwirth-
schaften sagen kann: «man sieht da nur Herren und
Knechte». Es ist ein Unterschied des Vermögens, der Race,
des Ranges u. s. w., wie er gar nicht schlimmer in einem des-
potischen Staat sein kann. Das Mutterland mufs seine Capita-
lien hergeben, mufs seine Kriegs- und Handelsmarine zur Ver-
fügung stellen. Reichthum des Mutterlandes an Mannschaft und
Arbeitskraft hilft da gar nicht. Man hat also bei diesen Plan-
tagencolonien die traurige Wahl, ob man entweder seine eigenen
Leute opfern will, sei es als Bauern oder als Soldaten; denn ge-
opfert werden sie ganz gewifs; und ein Zwang ist da kaum zu
rechtfertigen, — oder ob man es versuchen will, Colonialarmeen
aus dortigen Eingeborenen zu bilden, und ob man auf die Skla-
verei eingehen will.
Digitized by Google
14
Nun haben wir es ja in Deutschland erlebt, dafs man unter
allerlei wohlklingenden Worten und Formen die Sklaverei oder,
wie man sagt, «die zwangsweise Regelung der Arbeit»
für unsere Colonien oder wenigstens für einen Theil derselben
zu empfehlen versucht hat. Wenn man das richtig beurtheilen
will, dann müfste man auf die Geschichte der Sklaverei oder der
erzwungenen Arbeit eingehen, wozu uns freilich heute die Zeit
fehlt, — namentlich die Geschichte der Negersklaverei. Ich ver-
weise in dieser Beziehung auf die vortreffliche Arbeit meines
unvergefslichen Freundes Fritz Kapp und will nur Folgendes
recapituliren: Die Negersklaverei ist, wie so viele andere ent-
setzliche Dinge, entstanden aus den humansten Beweggründen.
Der grofse Menschenfreund Las Casas machte die Entdeckung,
dafs in den amerikanischen Bergwerken die Indianer massenweise
zu Grunde gingen; er machte darauf aufmerksam, dafs die Neger
solche schwere Arbeit besser aushalten würden, und so gab man
denn die Indianer frei und nahm statt ihrer Neger. So ist der
Ncgerhandel entstanden. Man sieht also, wie sehr ein an sich
humaner Gedanke, wenn er sich in den Mitteln vergreift, aus-
arten kann zu dem Unglück ganzer Welttheile. In Folge dessen
entstand in Afrika im Innern Mord- und Todschlag, Menschen-
fang und nach Aufsen Menschenhandel; Amerika wurde der
Menschenmarkt und konnte sich von dieser Pest nur befreien
durch einen entsetzlichen Krieg. Die europäischen Colonien an
der afrikanischen Küste lebten vorzugsweise vom Handel mit
Negersklaven.
England hat zuerst den Krieg gegen den Menschenhandel,
d. h. gegen den Handel mit Negern, begonnen. Der grofse
Wilberforce hat seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in
dieser Richtung ohne Unterlafs gearbeitet; und endlich wurde
dann die Abschaffung des Sklavenhandels in England am
24. Mai 1807 beschlossen. Seitdem ist die Abschaffung dieses
Handels und nach und nach auch der Sklaverei immer mehr
vorgeschritten; und ich glaube nicht, dafs es Deutschland ver-
antworten könnte, wenn es, nachdem diese Greuel glücklich be-
seitigt sind, nun die Hand dazu bieten wollte, jene scheufslichen
Zustände wieder herzustellen und einen der gröfsten Culturfort-
schritte der Gegenwart wieder rückgängig zu machen. Das
würde dem neuen Deutschen Reich wohl schwerlich zur Ehre
D igitizecf^Qoogle
15
gereichen. Man mufs nur die Berichte von Livingstone lesen
über die Reisen, die er von 1841 bis 1873 in dem sogenannten
«schwarzen» Welttheil gemacht hat. Dieser brave David
Livingstone war nicht allein getrieben von dem Drang des
Entdeckers, sondern vor allen Dingen von dem Drange der
Humanität. Er wollte vor Allem diese Pest des Menschenfanges
und des Menschenhandels unterdrücken. Wenn er jetzt erlebt
hätte, dafs die Dienste, die er der Menschheit geleistet, nach-
träglich den Weg eröffnen sollten für eine Wiederherstellung
jener von ihm bekämpften Zustände, so weifs ich nicht, ob er
nicht bedauern würde, überhaupt gelebt und für die Auf-
schliefsung des Innern Afrikas so grofse Opfer gebracht zu haben.
Ich habe versucht, Ihnen in kurzen Zügen die drei grofsen
Kategorien der Colonien vorzuführen: Ackerbaucolonien, Han-
delscolonien, Plantagencolonien. Viel Menschen und wenig
Capital aus dem Mutterland erfordert die Ackerbaucolonie;
weniger Menschen, aber mehr Geld erfordern die Handels- und
Plantagencolonien. Die Ackerbaucolonien können nicht ver-
tragen, dafs das Land schon vorher stark bevölkert ist; die Han-
dels- und Plantagencolonien müssen Bevölkerungen in dem Colo-
nialland haben, weil sie deren bedürfen als Arbeitskraft, freiwillig
oder zwangsweise. Bei Handels- und Plantagencolonien wächst
die weifse Bevölkerung nur sehr langsam oder gar nicht; bei
Ackerbaucolonien wächst sie immer schneller, je gröfser die
Sicherheit ist und je mehr die Entwicklung fortschreitet. Han-
delscolonien führen zuweilen zu Eroberungen, Ackerbaucolonien
zur Unabhängigkeitserklärung.
Nun giebt es auch noch gemischte Colonien. Ich habe
schon gezeigt, wie sich aus den Ackerbau- und Handelscolonien
Eroberungen und erobernde Staaten entwickeln. Also die ver-
schiedenen Colonialsysteme vermischen sich mit einander.
Es giebt auch noch eine besondere Art von Colonien, das
sind die Bergwerkscolonien, wie sie namentlich von portugiesischer
und spanischer Seite in Amerika ausgebeutet worden sind, wo
die Europäer sagten: »Wir sind die Tyrannen über der Erde,
und ihr Eingeborenen seid Sklaven unter der Erde.« Daraus
entwickelte sich dann, wie ich bereits bemerkt habe, durch den
wohlgemeinten, aber übelgerathenen Vorschlag von Las Casas
der Negerhandel und alles, was drum und dran hängt. Diese
Digitized by Google
i6
Bergbaucolonien haben stets sowohl der Colonie wie dem
Mutterlande zu gleichem Verderben gereicht. Namentlich gilt
dies für Spanien. Die übrigen natürlichen Hilfsmittel der Colonien
wurden vollständig vernachlässigt; die Wuth der spanischen
Conquistadores, Gachupino's und Hidalgi's war immer auf Silber
und Gold gerichtet. Und was hat Spanien davon gehabt? dafs
es sozusagen jedes Jahr eine Silberflotte und einen Milliarden-
segen erzielte, aber gerade daran ist dieses von Hause aus
blühende und reiche Land — für einige Zeit, hoffentlich nicht
für immer — zu Grunde gegangen. Es vernachlässigte seine
natürlichen Hilfsmittel und jagte diesem Schemen nach. Creverunt
et opes et opum furiosa cupido; man kannte kein anderes
Capital mehr als Gold oder Silber. Was sollte man in Spanien
arbeiten? Man konnte ja in den Colonien erpressen und rauben.
Im Mutterlande war jede wirtschaftliche Thätigkeit verachtet.
Da galt nur noch das Scapulier und der Degen. Aehnlich ging
es den Colonien. Sie litten unsäglich, und erst, nachdem sie
die Knechtschaft des Mutterlandes abgeworfen und die Bergwerke
erschöpft oder verschüttet hatten, gediehen die Colonien wieder,
indem sie sich auf die wirklichen und nachhaltigen Quellen
wirthschaftlicher Wohlfahrt warfen. Ich fürchte, dafs sich unter
unsern deutschen Colonien nicht viel Ackerbaucolonien befinden,
und ich hoffe, es finden sich keine Bergwerkscolonien darunter.
Bei Angra Pequena hat man zwar von Kupfererzen und ähn-
lichen Dingen gesprochen, aber die Akademie in Freiberg hat
ihr Gutachten dahin abgegeben, dafs es damit nichts sei. Jetzt
sagt man uns, dafs man allerdings dort keine Erze hat, dafür
aber auch kein Wasser. Auch daran fehlt es in dem viel ge-
rühmten Lüderitzland, das man sogar schon auf improvisirten
Karten so genannt finden konnte. Es ist mit diesen Karten wieder
verschwunden. Sic transit gloria novi mundi.
Nach Vorausschickung dieser Physiologie und Klassifikation
der modernen Kolonieen gedenke ich nun Ihnen in kurzen Um-
rissen die Geschichte derselben vorzuführen, welche ich chrono-
logisch und nach Mafsgabe des Mutterlandes, von welchem sie
ausgehen, kurz zu skizziren versuche. Ich spreche natürlich
auch hier nicht von den alten griechischen, römischen, phönizischen
u. s. w. Colonien; damals beschränkte sich die Culturwelt im
wesentlichen auf das Mittelmeer. Der grofse und geistreiche
Digitized by Google
i7
griechische Philosoph Plato sagte: wir sitzen um das Mittelmeer v
herum, wie die Frösche um einen Sumpf. Das war die Charakte-
ristik der damaligen Welt. Inzwischen ist an die Stelle der
mediterraneen Welt die atlantische und oceanische getreten.
Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gehen die Colonien
über See, und zwar fangen die Colonisationen von Westeuropa
aus an. Man kann also sagen: je westlicher ein europäischer
Staat liegt, und je früher er eine entwickelte atlantische und
oceanische Marine hatte, desto früher betheiligte er sich an der
Colonisation. Erst kamen die Portugiesen, dann die Spanier;
beide gerathen in Streit über ihre Prioritätsrechte, und Papst
Alexander VI. entscheidet im Jahre 1493, zieht einen Meridian,
— falsch natürlich, denn er verstand wenig von der Sache —
und sagte »was jenseits liegt, ist spanisch und was diesseits liegt,
ist portugiesisch; ich mache Euch das alles zum Geschenk,
erobert die Länder, bekehret die Heiden. » Das wurde auch eine
. Zeitlang respektirt, aber nur solange, bis andere Länder mächtig
zur See wurden, und die hatten dann darüber eine etwas ab-
weichende Meinung und wufsten dieselbe auch zur Geltung zu
bringen. Damals, in den spanisch -portugiesischen Zeiten, war
also Gold und Silber die Hauptsache; erst in zweiter Linie kam
die Religion; man suchte Edelmetalle und bekämpfte die Ketzerei;
und weil das alles auf dem päpstlichen Theilungs-Recess beruhte,
so colonisirte man nicht, sondern man eroberte; man überzog
die Länder mit Feuer und Schwert; zum Beweis der damaligen
Colonisationsmethode bemerke ich, wir haben noch eine sehr
schöne, oder vielmehr eine sehr häfsliche Proclamation, erlassen
von einem spanischen Gouverneur, der irgendwo in Südamerika
einfiel. Sie ist gerichtet an die Eingeborenen des Landes, aber
abgefafst in spanischer Sprache, die dort kein Mensch verstand.
Sie wurde angeheftet an die Bäume eines Waldes, in welchen
nur Affen hausten, aber nicht Menschen. In dieser Proclamation,
die auf die angegebene Art anstatt notarieller oder gerichts-
vollzieherischer Urkunde bekannt gegeben wurde, verkündigte
der Gouverneur, dafs der Papst so und so verfügt habe und der
König von Spanien sich nunmehr in den Besitz dieses seines
Landes setze; wer dagegen sich sträube, der sei ein Rebell
gegen alle geistliche und weltliche Obrigkeit und werde dem
entsprechend behandelt. Das war damals die Art der Coloni-
2
Digitized by Google
18
sation; ich habe bereits erwähnt, welche Früchte sie für das
Mutterland und die Colonien getragen.
Glücklicherweise ist das inzwischen anders geworden. Die
Portugiesen waren von Hause aus etwas vernünftiger, obgleich
auch sie in Indien Monopole einführten und in Afrika vor allen
Dingen Sklavenhandel trieben. Sie nahmen Brasilien und hatten
Handelsverbindungen mit China und Japan.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beginnt nun der
allmähliche Vorfall der portugiesischen Colonialmacht. Es kamen
neue Colonialmächte zum Vorschein, vor allen Dingen Holland
und dann England und Frankreich. Mit Holland hat es eine
eigenthümliche Bewandtnifs. Holland besorgte früher seinen
Handel in der Art, dafs es die überseeischen Produkte abholte
in den spanischen Häfen; nun wurden damals Portugal und
Spanien mit einander vereinigt, und da der König von Spanien
die Holländer hafste wegen ihres freiheitlichen Sinnes, so sperrte
er ihnen die Häfen der iberischen Halbinsel. Was war der •
Erfolg? Die Holländer, die früher gar nicht daran gedacht
hatten, direkten Handel mit transatlantischen Gebieten zu er-
öffnen, waren durch diese Mafsregel dazu gezwungen, und dafs
sie die Mittel dazu hatten, verdankten sie ebenfalls dem spanischen
Unverstand; Spanien hatte Krieg geführt gegen Holland, um es
wieder seiner Gewalt zu unterwerfen. In diesem Kriege hatten
sich Freischaaren ausgebildet, nicht nur zu Lande, sondern auch
zu Wasser: die berühmten Wassergeusen mit ihrem Wahlspruch
tFidcle ä la liberte jusqu'ä la besacec Sie waren im Anfang
nur Freischärler zur See — Piraten, wenn man will — , aber sie
entwickelten sich rasch und bildeten den Stock zu einer
holländischen Kriegsflotte; sie schlugen die Spanier nicht nur
in Europa, sondern auch in den transatlantischen Ländern. Sic
deckten zum ersten Mai die Schwäche des für unüberwindlich
gehaltenen Landes auf und setzten so an die Stelle der ihnen
versperrten spanischen Häfen den direkten Handel und die
direkte Schifffahrt nach überseeischen Ländern und brachen die
Alleinherrschaft Spaniens und dessen Diktatur zur See; so ent-
stand die grofse holländisch - ostindische Compagnie, die eine
wirthschaftliche, aber auch zugleich politische Körperschaft war,
in hohem Grade unabhängig von der Regierung. Die Sache
gestaltete sich so, dafs die Sundainseln die Hauptniederlassung
Digitized by Google
19
von Holland wurden; Batavia wurde der Centraipunkt, und das
Kap der guten Hoffnung war gleichsam die Vormauer für dieses
Gemeinwesen oder, wie der Holländer sagt, »unser Absteige-
quartier für unterwegs.«
Nun kommt nach Holland England; das hatte seine
Colonisationskraft entwickelt ebenfalls im Kriege mit den
Spaniern, auch in einem Freibeuterkrieg, der eine ganz ähnliche
Entwickelung hatte, wie der der Meergeusen in Holland. So
kämpften nun Holland und England gemeinschaftlich gegen
Spanien und Portugal für die Freiheit des Meeres. Der
grofse Hugo Grotius schrieb damals sein berühmtes Buch:
»Mare liberum sive de Jure, quod Batavis competit ad Indiae
Commercia« (1618). Es ist die erste gediegene völkerrechtliche
Streitschrift im Interesse wirthschaftlicher Freiheit geschrieben.
Wie Frankreich in Canada colonisirt hat, habe ich schon
auseinandergesetzt.
Später begann die Rivalität zwischen England und Holland,
und da gab es einen langen Streit, in dem Frankreich eine
grofse Rolle spielte, namentlich während des 17. Jahrhunderts,
welches die Franzosen nicht ganz mit Unrecht für sich *le
grand siecle« nennen, während es für uns Deutsche die
miserabelste Zeit unserer langen Passionsgeschichte ist; bei
uns wütheten Bürger- und Religionskriege, während Frank-
reich im Innern einig, nach Aufsen sein Colonialbanner immer
mächtiger entfaltete. Aber seine Handelscolonien gediehen
nicht wegen der Regierungs- und Reglementirwuth, wegen des
»furor burokraticus gubernandi,« und weil überhaupt die franzö-
sische Nation für Ackerbaucolonien nicht diejenige Ausdauer
und Lust zu grofser, langer und ununterbrochener und ruhiger
Anstrengung der Kräfte besitzt, welche dieses Geschäft erfordert.
Am meisten gedieh Brittisch-Nordamerika zu Ende des 17. Jahr-
hunderts. Die Besitzungen erstreckten sich über die ganze Küste
von Canada bis Georgia und man eroberte nicht mit Gewalt,
wie die Spanier und Portugiesen, sondern man kaufte von den
Rothhäuten das Land, welches man in Besitz nehmen wollte.
Endlich proklamirte man auch volle Religionsfreiheit. Ich mufs
beiläufig erwähnen, dafs auch diese Religionsfreiheit es war,
welche die im und seit dem 30 jährigen Kriege geknechteten
Deutschen dorthin geführt hat. Am 20. August 1683, also vor
2*
Digitized by Google
20
etwas mehr als 200 Jahren, sind die ersten Deutschen unter der
Führung eines Herrn Franciscus Daniel Pistorius in Pennsylvania
eingerückt und haben dort eine Stadt »Germantown« gegründet,
die später in Philadelphia aufgegangen ist. Es ging ihnen im
Anfang so schlecht, dafs sie dieses Nest in einem seltsamen
Englisch -Amerikanisch selber »Armentown« nannten. Es existirt
eine vorzügliche Schrift dieses Herrn Pistorius selbst, betitelt:
tUmständliche Geographie der zu allererst erfundenen Provinz
Pennsylvaniae, in deren End-Gräntzen Americae in der Westwelt
gelegenen, durch Franc. Danielem Pastorium, Juris Utr. Lic. und
Friedens-Richtern daselbsten« erschienen im Jahre 1700 und im
Jahre 1884 von Fritz Kapp unter genauer Nachbildung des
alten Druckes von Neuem herausgegeben. Diese Schrift ist für
Auswanderungs- und Colonialwesen so lehrreich, wie nur irgend
eine, die existirt. Vortrefflich ist die Einleitung, die Kapp zu
deren Reproduktion geschrieben.
England hat nun zwar Frankreich und Holland überflügelt,
jedoch durch eine verkehrte Politik seinen amerikanischen
Colonien gegenüber deren Besitz verscherzt. Es erfolgte die
Unabhängigkeitserklärung der dreizehn Staaten am 4. Juli 1776.
Frankreich, Spanien und Holland mischten sich ein, und so
verlor denn England seine amerikanischen Colonien mit Ausnahme
von Canada und Neu - Schottland. Allein obgleich England
militärisch und politisch besiegt war, hat es doch dabei wirth-
schaftlich im Grunde gewonnen. Der freie Handel Amerikas
mit England, doppelt so ergiebig, als der bisherige Zwangs-
handel, bildete nun die Grundlage der Grofse des englischen
Welthandels. Zugleich bildet die Entstehung eines neuen, freien,
grofsen, mächtigen und ausdehnungsfähigen Staates von Europäern
auf aufsereuropäischem Boden einen entscheidenden Wendepunkt
der Weltgeschichte. Denn damit ist das Prestige der kaukasischen
Rasse begründet. In Ostindien hatten die Engländer damals
weniger Erfolg. Da trieben sie ihre alte räuberische Colonial-
politik, sie schleppten das gute Geld weg und machten Münz-
verschlechterung in bimetallistischem Stil. Es brach Hungersnoth
aus, es wüthete der Krieg mit Hyder Ali und mit Tippo Sahib^
es kamen die Erpressungen des Warren Hastings und Consorten
— kurz, es ist eine so lange und traurige Geschichte, dafs ich
sie Ihnen nicht in extenso vorführen mag.
■
Digitized by Googl
21
Man darf bei den englischen Colonien übrigens nicht ver-
gessen, dafs sie keineswegs so gleichsam im Schlaf erworben sind,
wie man wohl hin und wieder in Deutschland annimmt. England
hat furchtbare Opfer und eminente Kosten aufwenden müssen,
um sich diese Colonien zu erhalten. Es hat in den Jahren
1689 bis 181 5, also während 127 Jahren, 64 Kriegsjahre um der
Colonien willen gehabt, es hat eine Kriegsschuld von 840 Mill. £
kontrahiren müssen, zum Theil um die Colonien sich zu erhalten.
Aufserdem hat es natürlich auch stets aus laufenden Mitteln einen
grofsen Aufwand für die Colonien gemacht. Ich erwähne dies zum
Trost für diejenigen, die immer sagen: wir müssen Colonien
haben, und wenn sie uns auch ein schönes Stück Geld kosten
sollten. Das hat eben doch seine Grenzen, oder man müfste
etwa der Meinung sein, wie jener berühmte kleine Fürst in
Deutschland, der vor längerer Zeit sagte: »Ich will auch in
meinem Lande eine Eisenbahn haben, und wenn sie mich
10000 Thaler kosten sollte.«
Nun kommt das Napoleonische Zeitalter. Ich habe das
Thema schon gestreift und kann darüber mit wenigen Worten
hinweggehen; die Sache verlief so: Frankreich machte die Con-
tinentalsperre, und dafür machte England die Seesperre. All-
mächtig auf See nahm es alle Colonien derjenigen Staaten, die
entweder freiwillig oder gezwungen mit Frankreich verbündet
waren. Um ein naturwissenschaftliches Bild zu gebrauchen,
England war die Raubmöwe, die jede andere Möwe, die im Be-
griff war einen Fisch zu verschlucken, so lange würgte, bis sie
den Fisch wieder ausspeien mufste, und dann frafs sie ihn selber.
England wurde begünstigt durch seine insulare Lage und den
glücklichen Umstand, dafs es keine grofse Landarmee zu halten
hatte, dafür aber eine sehr grofse und starke Kriegsflotte halten
konnte. Wir haben gesehen, wie Holland an der Unmöglichkeit,
beiden Aufgaben gleichmäfsig zu genügen, gescheitert. Ich
möchte da aber noch eine Erwägung anheimstellen, die mir
bisher noch nicht genügend in den Vordergrund getreten zu
sein scheint. Bei jeder europäischen Conflagration sind die
Continentalstaaten von Europa, die Colonien besitzen, namentlich
Colonien zerstreut auf der ganzen Erdkugel, insofern in einer
schwierigen Lage, als sie ihre Streitkräfte auf dem Continent
von Europa verwenden müssen, während England freie Hand
Digitized by Google
22
hat. Es sind also diese Colonialmächte bedroht: erstens von
etwaigen Aufständen in den Colonien, zweitens von der Feind-
schaft der Nachbarn und drittens von den allmächtigen Zugriffen
Englands. Dies gilt von allen Colonien. Was insbesondere die
Ackerbau - Colonien anlangt, so darf man folgende Alternative
nicht aus den Augen verlieren. Wenn sie dahinsiechen, sind sie
eine schwere Last. Wenn sie gedeihen, ist man in Gefahr, sie
durch Unabhängigkeits-Erklärung zu verlieren.
Ich komme nun zu Deutschland. Wir haben in neuester
Zeit verschiedene Bücher über die Geschichte der Colonisationen
Deutschlands erscheinen sehen. Es ist auch wahr, es sind
Versuche zu Colonisationen von Deutschland aus gemacht
worden, schon unter dem Grofsen Kurfürsten, der ein gut ge-
meintes, aber mifslungenes Experiment unternahm. Dann hat
sich in der ersten Hälfte der 40er Jahre dieses Jahrhunderts ein
Verein deutscher Fürsten und Edelleute gebildet, welche Texas
colonisiren wollten. Die Herren haben es ohne Zweifel sehr gut
gemeint, haben auch ganz erhebliche Geldmittel dazu aufgebracht,
aber sie selbst verstanden garnichts von der Sache, und sie
waren schlecht berathen. Den Leuten, die ihrem Rufe folgten,
um als Ackerbaucolonisten nach Texas zu gehen, ist es sehr
schlecht gegangen: sie sind verdorben und gestorben und nur
wenige sind übrig geblieben und haben sich von diesem hoch-
fürstlichen Verein losgesagt und auf eigene Gefahr und Kosten
zu wirthschaften angefangen; sie haben sich so nothdürftig
gerettet. Das also gehört nicht in die Geschichte von wirksamen
Colonisationsbestrebu ngen.
Aufserdem steht in den erwähnten Büchern allerlei von
Colonisationen bei den heidnischen Slaven, von der Auswanderung
deutscher Bauern nach der Zips, nach der unteren Donau, nach
Siebenbürgen und anderen Gegenden von Ungarn, dann von
der Aufnahme von verfolgten Franzosen unter dem Grofsen
Kurfürsten und unter Friedrich dem Grofsen, unter jenen grofsen
Herrschern, welche Massenausweisungen im Inlande domicilirter
Ausländer nicht liebten, sondern vielmehr alle einluden zu
kommen, »alle, die da mühsam und beladen waren«, sie mochten
einer Rasse oder Religion angehören, welcher sie wollten.
Dann ist die Rede von der Hansa, die ja ihre grofse und
glorreiche Rolle gespielt hat. Ich habe kürzlich in einer dieser
Digitized by Google
23
Broschüren gelesen, wie die Hansa doch so thöricht gewesen sei, —
Kaiser Ferdinand von Oesterreich habe ihr vergeblich angeboten,
er wolle einen Admiral der baltischen und oceanischen Meere
ernennen, dem sie dann ihre Flotte zur Verfügung stellen sollte.
Es wäre eine grofse Dummheit gewesen, wenn sie das gethan
hätte, denn dann würde sie zu den Sonderzwecken der spanisch-
habsburgischen Hauspolitik abgeschlachtet worden sein. Doch
ich will Das und Anderes übergehen; das waren keine Colonien
in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, keine Colonien euro-
päischer Staaten und Völker in aufsereuropäischen Gebieten.
Die Bahn der Colonisationsbestrebungen, wie sie die anderen
Nationen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts beschritten haben,
hat Deutschland erst seit wenigen Jahren beschritten, als die
jüngste unter den europäischen Mächten. Das deutsche Volk
hat bekanntlich schon lange und früher als alle jene deutschen
Regierungen, welche «unter des durchlauchtigsten Bundes
schützenden Privilegien« vereinigt waren, eine grofse Auf-
merksamkeit und ein warmes Herz für die deutsche Marine
gehabt. Wir haben im Jahre 1848 für die Flotte gesammelt,
haben sogar das Geld für ein Kriegs-Schiff zu Stande gebracht.
Wir, die Privaten. Ja, was hat das Alles geholfen? Schliefslich
kam der alte frankfurter Bundestag wieder und schickte seinen
Hannibal Fischer; der brachte die Flotte unter den Hammer.
Die von uns gesammelten Gelder gingen dem vaterländischen
Zwecke verloren. Dann haben wir wieder, den Nationalverein
an der Spitze, gesammelt, es war im Anfang der 60 er Jahre,
da hat denn allerdings Preufsen die Sache mit Verstand und
Kraft in die Hand genommen, und daraus ist unsere jetzige
deutsche Flotte erwachsen, die ja ganz schöne Fortschritte ge-
macht hat, aber immer noch unter einem Hindernifs leidet,
nämlich unter der Schwierigkeit, Mannschaften zu beschaffen.
Schiffe kann man bauen oder kaufen, aber das Zusammenbringen
der Mannschaften ist etwas schwieriger; und grade hierbei
stofsen wir auf ein zur Zeit unüberwindliches Hindernifs für grofs-
artige coloniale Unternehmungen.
Nun hat Deutschland in einem einzigen Jahre Colonien er-
worben, die mehr als den Flächengehalt des ganzen Mutterlandes
einnehmen, sehr weit zerstreut liegen in allen Weltgegenden,
mit schwer festzustellenden und hin und wieder auch bestrittenen
Digitized by Google
24
Grenzen. Ich will auf die Differenzen mit Frankreich, Spanien,
England u. s. w. nicht eingehen. Wir treiben hier keine Politik,
sondern Volkswirthschaft. Ich mufs aber, wenn ich die
Colonialbewegung in Deutschland mit unbefangenen Augen
wissenschaftlich beobachte, sagen: es tritt da eine ganz eigen-
tümliche Erscheinung zu Tage, nämlich der Enthusiasmus für
Colonien wächst, je weiter man sich von der See entfernt.
Am stärksten ist er in Schwaben, wo doch die Mehrzahl der
Bevölkerung niemals das Meer gesehen hat, und wo man so
naive Vorstellungen hat, dafs einer der hervorragendsten Männer
dieses Landes sagte: »wir machen Corsets, folglich müssen wir
Colonien haben.« Die Seestädte haben anfangs kühl bis ans
Herz hinan diesem Enthusiasmus gegenüber gestanden; sie
haben die surtaxe de pavillon und die surtaxe d'entrepöt, welche
unser guter Mösle ihnen plausibel machen wollte, abgewiesen;
sie wollten auch anfangs von SchifKTahrtssubventionen nichts
wissen, sondern im Vertrauen auf ihre eigene Kraft ferner ohne
Krücken fortschreiten. Allein, wie das so geht: nachdem diese
rückläufigen wirtschaftlichen Bestrebungen eine Zeit lang immer
stärker geworden sind, ist es den guten Herren auch so ge-
gangen, wie jenem getreuen Thier, welches seinem Herrn das
Essen holte und unterwegs von stärkeren bewältigt wurde; da
es die essen sah, sagte es: retten kann ich es doch nicht mehr,
da will ich doch wenigstens mitessen. Es ist die alte Geschichte :
>wo alles liebt, kann Karl allein nicht hassen«, und so haben
sich denn da die Dinge weiter entwickelt, bis sich zur Zeit das
Reich und die Marchand - Princes einer dem andern die aus-
schliefsliche Bestreitung aller Unkosten gegenseitig zuzuschieben
bestrebt sind.
Wir dürfen jedoch, wenn wir vollständig sein wollen, durch-
aus nicht vergessen, dafs diese Colonialbewegung sich keineswegs
auf Deutschland beschränkt, sondern dafs sie fast zu gleicher
Zeit im gröfseren Theile von Europa grassirt hat, und zwar
zeitweise mit einer an Fanatismus grenzenden Heftigkeit. Frage
ich mich, woran das liegt, so haben gewifs einen grofsen Einflufs
geübt, die rühmlichen Erfolge der wissenschaftlichen Forschungen
und Entdeckungen, namentlich in Afrika, an denen ja auch
Deutschland und seine Forscher einen glorreichen Antheil
haben. Der Hauptgrund aber dieser Bewegung scheint mir der
Digitized by Googl
25
von Deutschland und Oesterreich ausgegangene Rückfall in die
Merkantiltheorie zu sein und die darauf gebauten Systeme des Staats-
socialismus, Schutzzolls u. s. w. u. s. w. Sie haben ihre Wirkungen
dahin geäufsert, dafs z. B. die deutsche Industrie ihren aus-
wärtigen Markt beeinträchtigt sieht. Ueberproduktion im Innern,
Abschneidung oder Schmälerung des auswärtigen Marktes und
des Absatzes in das Ausland, Mehraufwand von Arbeit und
Mehraufwand von Kapital, aber ein viel geringerer Gewinn —
das sind die Symptome, die wir zu Tage treten sehen. Daraus
ist dann erwachsen der überall immer heftiger zu Tage getretene
Noth- und Schmerzensschrei nach Absatz, nach neuen Märkten
und endlich nach Colonien. Das scheint mir der Hauptgrund
der Bewegung zu sein, und der pafst nicht nur auf Deutschland,
sondern mehr oder weniger auch auf eine Reihe von anderen
Ländern.
Dazu kommen nun in anderen Ländern noch gewisse innere
Schwierigkeiten. Man glaubte in Frankreich »la belle France«
wieder grofsmachen zu können durch die Colonialpolitik, die
man in Tunis, Tonking, Madagaskar verfolgte mit den besten
Absichten, aber mit unrichtigen Mitteln und einem grofsen
Fiasco. Die Abkühlung ist gegenwärtig nirgends gröfser als in
Frankreich.
Wir können in der französischen Presse und Literatur von
1874 bis 1886 ganz deutlich den Verlauf des Colonialfiebers ver-
folgen, wie es entsteht, wie es wächst, wie es sich überschlägt
und dann plötzlich verschwindet.
Auch die wissenschaftliche Literatur zeigt uns die nämlichen
Wandlungen der Meinung, Wir können sie sogar verfolgen in
den verschiedenen Auflagen des nämlichen Buches. Ich habe
vor mir liegen das höchst verdienstvolle und inhaltreiche
Colonien -Buch von Paul Leroy-Beaulieu in drei verschiedenen
Auflagen, von 1874, 1882 und 1886. In der ersten Auflage
ist der Verfasser der Ueberzeugung, dafs für Frankreich die
Colonien recht nützlich werden können. In der zweiten zweifelt
er nicht daran, dafs Frankreich zu Grunde geht, wenn es sich
nicht ausschliefslich auf Colonialpolitik wirft und die continentale
Politik aufgiebt.
»Seit zwei Jahrhunderten«, schreibt Leroy-Beaulieu am
8. Mai 1882, »ist die französische Politik auf falsche Wege ge-
Digitized by Google
26
rathen. Nachdem wir gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts
für unser Land in Europa gute und gesicherte Grenzen ge-
wonnen hatten, war unsere Aufgabe, uns ganz den Colonial-
bestrebungen zuzuwenden und die endlos grofsen Ländermassen
zu verwerthen, welche wir in den zwei Welten besafsen: in
Canada, an den Ufern des Mississippi, in Louisiana, in beiden
Indien.
Statt dessen warf man sich auf die Continentalpolitik. Sie
hat zwei Jahrhunderte vorgeherrscht, und ihr Ergebnifs ist: Re-
duktion unserer Grenzen und Verminderung unseres Ansehens.
Wir haben inzwischen unsere Colonien hingegeben als Lösegeld
für Ausgleichung unserer Niederlagen auf dem Continent, —
hingegeben mit dem unbekümmerten Leichtsinn eines Ver-
schwenders. Diese Politik bedarf einer Umkehr. Von nun an
müssen unsere Colonisationsbestrebungen die erste Stelle ein-
nehmen in unserem nationalen Gewissen. Unsere Continental-
politik darf nur noch defensiv sein. Aufserhalb Europas müssen
wir Genugthuung suchen für unsere so berechtigten Ausdehnungs-
Triebe («nos legitimes instincts d'expansion«). Wir müssen
arbeiten für Gründung grofser französischer Reiche in Africa und
nicht weniger auch in Asien.»
Der Verfasser weist dann auf die stets zunehmende Aus-
dehnung der angelsächsischen Rasse, auf die fast hundert Millionen
Deutsche, über welche das deutsche Reich in Gemeinschaft mit
Oesterreich gebietet, auf das Wachsthum Rufslands u. s. w. und
fährt dann fort:
>Was soll aus unserm Frankreich werden inmitten dieser
Riesen? Von der grofsen Rolle, die es in der Vergangenheit
gespielt hat, von dem entscheidenden Einflufs, den es in der
Leitung der Kulturvölker besessen, was wird ihm davon übrig
bleiben? — Nur eine Erinnerung, die von Tag zu Tag immer
mehr abblafst.
Diesem Schicksal können wir nur durch Colonisationen
entgehen. Colonisiren wir nicht, so werden wir dem Geschicke
von Spanien und Portugal nimmer entgehen.
Die Colonisation ist für Frankreich eine Frage auf Tod und
auf Leben. Entweder wird Frankreich eine africanische Grofs-
macht, oder es wird in hundert Jahren nur noch eine Rolle
zweiter Ordnung spielen. Es wird dann in der Weltpolitik nur
Digitized by Google
27
noch so viel mitzusprechen haben, als Griechenland und Rumänien
jetzt in Europa.«
Dies war der Gipfel des Enthusiasmus, welcher den gelehrten
Vei fasser vergessen machte, dafs Spanien und Portugal grade in
Folge ihrer, auf Eroberung und rücksichtslose Ausbeutung ge-
richteteten Colonialpolitik in ihrer politischen Stellung und ihrer
wirtschaftlichen Bedeutung so grofsen Rückgang erlitten haben.
In der Vorrede zur dritten Auflage, datirt den i . December
1885, redet der Verfasser in einer weit gedämpfteren Tonart.
Er spricht von den Schlagschatten, welche Tonking und
Madagaskar auf das schöne Bild der französischen Colonien
werfen ; von den grofsen Fehlern , welche die französische
Colonialpolitik während der letzten drei Jahre (d. i. seit seiner
Vorrede vom 8. Mai 1882, in welcher er die Rcgierungs- und
die Volksvertretung so sehr angereizt und aufgemuntert) be-
gangen worden; von der schlechten Führung dieser beiden,
jetzt von Jedermann mifsbilligten Expeditionen; von dem daraus
erwachsenen Mifstrauen der Nation wider die Colonialpolitik, von
den unerhörten und unentschuldbaren Fehlern (les fautes inouies
et inexcusables), die man begangen.
Er predigt Mäfsigung und Vorsicht: die Welt werde nur
durch Geduld und Ausdauer erobert. Er mifsbilligt also die
explosive Politik, welche den Erfolg durch einen militärischen
Coup oder durch einen Sprung erreichen will und die zurück-
weicht, wenn dieser eine Sprung ihr mifslungen.
Von einem ganz anderen Geist beseelt ist das Buch von
Louis Vignon: »Les Colonies francaises — leur commerce,
leur Situation economique, leur utilite pour la metropole, leur
avenir» (Paris, Guillaumin & Cic. 1886). Der Verfasser hat den
Gegenstand, den er behandelt, nicht nur wissenschaftlich studirt,
sondern auch praktisch bearbeitet als Cabinetschef im Handels-
ministerium und Stellvertreter des Staatssecretärs der Colonien.
Sein Urtheil ist das eines erfahrenen und besonnenen Geschäfts-
mannes. Er mifsbilligt die Colonialpolitik der letzten Epoche.
Bevor man auf Eroberungen und auf Erwerbung neuer Colonien
ausgehe, solle man erst die bereits vorhandenen nutzbar zu
machen suchen. Weder Enthusiasmus, noch gänzliche Entsagung^
*nec temere nec timidet ist seine Parole.
«Ob Colonien unter Umständen für eine Nation eine Quelle
Digitized by Google
28
von Reichthum und Macht werden können? Ohne Zweifel.
Haben unsere französischen Colonien bis zum heutigen Tage
uns ein hinreichendes Entgelt gewährt für die Kosten und die
Anstrengungen, die wir auf sie verwendet? Nein, noch nicht.
Sie haben also noch nicht den erforderlichen Grad der Ent-
wicklung erreicht und wir haben es nicht verstanden, sie ge-
nügend zu verwerthen. Warum? Prüfen wir, denken wir nach,
untersuchen wir. Studiren wir diese Frage. Die Untersuchung
ist eröffnet. Dies Buch will einen Beitrag dazu liefern.«
Damit schliefst Vignon sein Werk. Dies besonnene Urtheil
eines erfahrenen Beamten klingt anders als die chauvinistischen
Fanfaronaden des begeisterten Professors.
Dann kam Italien, welches jetzt auch auf einmal anfängt,
Colonialpolitik zu machen. Italien hatte innere Schwierigkeiten,
mit der »Italia irredenta« u. s. w., und da es die politische
Bewegung nicht nach Triest und Trient tragen konnte und
durfte, so marschirte es statt dessen nach der ostafrikanischen
Küste. Das ist mehr Politik als Colonisation. Es soll auch
an Nord - Guinea gedacht haben. Damit ist es jetzt zu spät.
Die Unternehmungen in Abyssinien und im Sudan, zu welchen
Italien von England »verführte worden sein soll — so be-
haupten die Franzosen — sind kühn, aber schwierig. Ohne
einen grofsen Aufwand an Geld und Kapital sind sie nicht
durchzuführen. Es fragt sich, ob Italien die Kraft und den
Willen hat, so grofse Aufwendungen zu machen. Freilich, zurück-
weichen ist bitter. Defshalb soll man sich vorher besinnen.
Endlich ist des Königs der Belgier zu gedenken, ein eifriger
Förderer der geographischen Wissenschaften, der sich vielleicht
auch unter den Schwarzen am Congo behaglicher fühlte, als
unter den Fittigen seiner clcricalen Minister. Wir haben aber
dem nicht nachzuforschen, denn er verwendet nur seine eigenen
privaten und persönlichen Mittel zu diesem Zweck; man mufs
die vollste Hochachtung für ihn und sein königliches Werk haben
und hat kein Recht der Kritik und der Inquisition nach den
Motiven. Vom Congo-Gebiet werde ich noch sprechen.
Von England wissen Sie ja auch, dafs dort in gewissen
Kreisen im Augenblick eine Auffassung herrscht, welche seltsam
ist in dem alten und glorreichen Freihandelslande. Aufgestachelt
von unseren continentalen Schutzzöllnern, welche laut triumphiren,
Digitized by Google
29
dafs sie durch ihre protektionistischen und prohibitiven Tarife
England von unserem Markte verdrängt hätten, rufen die Con-
servativen statt free trade » fair trade«, d. i. Gegenseitigkeits-
zollpolitik, welche auf Schutzzoll hinausläuft. Man hat da ferner
allerhand Pläne, ein grofses Schutzgebiet zu machen, »ein
gröfseres Britannien« im Vergleich zu Grofsbritannien, ein
gemeinsames Parlament für alle englischen Colonien, eine Aus-
schliefsung des Auslandes von dem englischen Markt und von
allen englischen Colonien.
In Amerika träumt man auch von einem amerikanischen
Zollverein, der seine prohibitive Spitze gegen Europa richten
soll. Kurz, überall sehen wir mehr oder weniger fantastische
Projekte auftauchen, unter die ich auch das viel genannte Zoll-
bündnifs Deutschlands mit Oesterreich - Ungarn rechne, das im
Grunde genommen doch nichts wäre, als der Versuch einer
agrarischen Wiederbelebung der Continentalsperre. Ich hoffe,
dafs alle diese Schierlingsbecher glücklich an uns vorübergehen
werden, denn sie bergen einen solchen Rattenkönig von un-
absehbaren Verwirrungen in sich, dafs ich auf die gesunde
Vernunft der Regierungen und der Nationen vertraue und hoffe,
dafs die Gefahr, nicht nur einen continentalen , sondern auch
gleichzeitig einen americanischen und einen englischen Blocus zu
bekommen, doch noch nicht so grofs ist.
Bevor ich zum Schlufs übergehe, erlaube ich mir, über die
völker- und staatsrechtliche Seite der colonialpolitischen Fragen
noch einige Bemerkungen zu machen, welche zusammenhängen
mit der volkswirtschaftlichen und finanzpolitischen Seite derselben.
Früher glaubte man, durch die blofse Entdeckung das
überseeische Land, welches man als «wild« bezeichnete, weil
man es Staat- und kulturlos fand oder glaubte, für eine bestimmte
Staatsgewalt in Besitz nehmen zu können.
Das heutige Völkerrecht steht auf einem anderen Stand-
punkt. Es sagt: Entdecken ist ein Akt der Wissenschaft,
der für den Staat keine Rechte begründet. Der Staat kann nur
erwerben durch Besitzergreifung, welche voraussetzt, dafs das
betreffende Land nicht schon einem anderen Staate gehört.
Auch kann man nicht Besitzergreifen par distance oder durch
blofse Worte. Vielmehr sind an Ort und Stelle von dem
occupirenden Staate, welcher die Gebietshoheit erwerben will,
Digitized by Google
3Q
vorzunehmende Handlungen nöthig, welche >die dauernde
thatsächliche Ausübung der ordnenden und schützenden
Staatsgewalt in sich schliefsen» und welche eine Wirkung
nicht weiter äufsern, als der occupirende Staat wirklich im Stande
ist, sich das wilde oder staatlosc Gebiet anzueignen, es staatlich
zu ordnen und durch »specificatio« der Cultur und der Civili-
sation zu gewinnen.
Die antike Weltanschauung kommt zwar hier nicht weiter
in Betracht, da wir nun die modernen Colonien in's Auge fassen.
Aber was das Recht der Occupation anlangt, so ist es doch von
einigem Interesse, die Gegensätze zwischen Antik und Modern
und dann zwischen Mittelalter und Neuzeit zu erkunden.
Wie zum ersten Male die römische und die germanische,
die antike und die moderne Weltanschauung auf einanderstiefsen,
das erzählt uns in seiner die Gegensätze scharf hervorhebenden
Weise Tacitus im dreizehnten Buche seiner »Annalen«.
Es war unter der Herrschaft des Kaisers Nero. In Deutsch-
land war Ruhe. Die römischen Feldherrn, welche dort kom-
mandirten, lechzten nicht nach neuen Thriumphen, »denn die
Ehren des Triumphes waren etwas so Alltägliches geworden,
dafs sie nicht mehr erstrebenswerth schienen,« sagt Tacitus.
Die alten Römer pflegten an ihren Grenzen aus dem Gebiete
jenseits des Dammes, des Grabens oder des befestigten limes,
oder im nördlichen Deutschland jenseits des Rheins, die Ein-
gesessenen zu vertreiben und liefsen das Land unbebaut liegen,
indem sie dasselbe als die »herrenlosen und dem Gebrauche der
Soldaten gewidmeten Aecker« (»agros vaeuos et militum usui
sepositos«) zu bezeichnen pflegten.
Da aber in dem Innern Germaniens in Folge des Andrängens
immer neuer Völkerschaften von Osten her, eine beinahe un-
widerstehliche Massenbewegung nach dem Westen eintrat, wo
diejenigen Völker neue Wohnsitze suchten, welche aus ihren
bisherigen Sitzen im Osten verdrängt worden waren, so ver-
suchten verschiedene germanische Völkerschaften, sich auf jenem
unbebauten Lande auf dem rechten Rheinufer niederzulassen.
Zuerst kamen die Friesen (Frisii) unter ihren Häuptlingen
Verritus und Malorix. Allein der römische Befehlshaber Dubius
Avitus befahl ihnen, das Land wieder zu verlassen, denn es sei
vor Zeiten von den Römern occupirt und es gehöre auch jetzt
Digitized by Google
3i
noch denselben, wenngleich sie keinen Gebrauch davon machten.
Sie ergriffen Recurs nach Rom und schickten eine Gesandtschaft
an den Kaiser Nero. Dieselbe wurde dort aufserordentlich gut
aufgenommen. Aber der Befehl des Dubius Avitus wurde
bestätigt.
Einige Zeit danach erschienen die Ampsivarier auf dem
nämlichen Boden. Ihr Führer hiefs Bojocalus. Er war ein
alter Herr, der sich schmeichelte, bei den Römern besonders in
Gunst und Gnade zu stehen. Herrmann, der Cherusker, hatte
ihn wegen Verdachts römischer Gesinnung in Fesseln geschlagen;
nach Herrmanns Untergang frei geworden, hatte er dem Ger-
manicus Dienste geleistet und seinen Volksstamm veranlafst, sich
den Römern wieder zu unterwerfen. Jetzt waren die Angrivarier
oder Ampsivarier von den Chauci aus ihren Wohnsitzen ver-
trieben und wollten sich ansiedeln auf dem herrenlosen Lande,
das die Römer durch eine frühere Occupation erworben zu
haben behaupteten.
»Wieviel Land liegt nicht brach,« sprach Bojocalus zu
Dubius Avitus, »blos auf dafs vielleicht einmal das grofsc oder
das kleine Vieh der Soldaten darauf gebracht werden könnte?
Nehmet doch lieber uns auf mit unseren Herden, damit wir
nicht am Ende ganz vertrieben werden von allen Gebieten, wo
man noch etwas weifs von der Menschheit. Glaubt doch ja
nicht, dafs für dieses Gebiet Verödung und Entvölkerung besser
sei, als die Anwesenheit befreundeter Völkerschaften. War doch
vormals dies Gebiet bewohnt und bebaut von germanischen
Völkerschaften (deren Namen aufgezählt werden). Wie der
Himmel den Göttern, so sind die Ländereien dem Geschlechte
der Sterblichen gegeben; und wenn sie leer sind, dann sind sie
Gemeingut.«
Und dann sprach der greise germanische Häuptling, zur
Sonne aufblickend und die übrigen Gestirne des Himmels an-
rufend, als wenn sie anwesend wären:
»Ich frage Euch, möchtet ihr lieber auf ein bebautes als
auf ein wüstes Land herabblicken wollen? Möchtet Ihr doch
lieber das Meer über dies Gebiet hereinbrechen lassen, als die
Menschen, die uns der fruchtbringenden Erde berauben!«
Avitus anfangs hierdurch bewegt, entgegnete:
»Man mufs die Herrschaft des Stärkeren dulden. Die
Digitized by Google
32
Götter, welche Du anrufst, haben nun einmal beschlossen, dafs
es bei den Römern stehe, darüber zu befinden, was sie gut er-
achten zu geben oder zu nehmen, und dafs Niemandem als ihnen
selber eine Entscheidung darüber zusteht.«
Das war die Antwort, die er den Ampsivariern öffentlich
gab. Dem Bojocalus aber selbst sagte er heimlich, ihm wolle
er in Berücksichtigung seiner bewährten römerfreundlichen Ge-
sinnung Ländereien anweisen. Bojocalus aber erwiderte: »Das
mufs ich als eine Bestechung, oder als einen Lohn des Verraths
an meinem Volke zurückweisen, es kann uns wohl an Boden
fehlen, worauf wir leben, aber nicht an solchem, worauf wir
sterben.« So wurde das römische Programm aufrecht erhalten.
Aber es kam die Zeit, wo das Programm unausführbar
wurde. Denn wenn man sein Recht nur auf seine Macht stützt,
so hört mit dem Schwinden der Macht auch das Recht auf.
Man kann sich dieser Anwendung des eigenen Prinzips in ent-
gegengesetzter Richtung nicht entziehen. So lange die Römer
die Macht hatten, pflegten sie die besiegten Fürsten in den
mamertinischen Gefangnissen erdrosseln zu lassen und deren
Völker auszurotten oder sonstwie zum Schweigen zu bringen.
»Die Verödung des Landes nannten sie den Frieden,« solitudinem
pacem apellant, sagt Tacitus. Die germanischen Völkerschaften,
welchen die Römer noch nicht einmal die Bebauung der ver-
ödeten Ländereien gestatten wollten, protestirten dagegen.
Zuerst durch das Wort, d. i. durch den Mund des Bojocalus,
der die Wahrheit verkündete, dafs der Boden zur Bewirt-
schaftung da sei, und dafs eine Verwüstung nicht einer
Bewirthschaftung gleich zu erachten. Dann aber durch die
That, d. h. durch die Zerstörung des römischen Reiches, das
neben sich kein anderes Land und kein anderes Volk anerkennen
und für sich alles Land monopolisiren wollte, das Gott den
Menschen und nicht blos den Römern, gegeben. Und nun ent-
stand ein internationales Recht in folgender Weise:
Zwischen den zahlreichen germanischen Völkerschaften, die
das weströmische Reich über den Haufen warfen, bestand bei
aller Verschiedenheit eine Einheit, die sie zu einer Art Völker-
staat zusammenfafste. Diese Völker — mit Inbegriff derjenigen,
die sich in weiland römischen Ländern niederliefsen und
romanische Sprachen adoptirten — waren sogar insoweit eine
Digitized by Google
33
Nation, als sie wechselseitig ihre Verwandtschaft und ihre volle
Existenzberechtigung anerkannten. Diese Gemeinschaft wuchs,
als diese Völker nach und nach zum Christenthum übertraten.
Sie suchten eine dieser Idee entsprechende äufsere Gestaltung
zu finden durch Wiederherstellung einer Weltmonarchie, die an
der Spitze des europäischen, romano-germanischen Völkerstaates
stehen sollte. Der römische Kaiser deutscher Nation sollte das
weltliche Oberhaupt, der römische Papst das geistliche Ober-
haupt der ganzen Christenheit werden. Nach der hierarchischen
Weltanschauung des Mittelalters aber war der Papst der oberste
Lehnsherr und Schiedsrichter aller Völker, und der Kaiser nur
der oberste Kronfeldherr desselben.
Diese Idee über das wechselseitige internationale Verhält-
niss der Völker und Staaten Europa's und die gemeinsame
kirchliche Spitze, welche dies universalistische Gebäude krönen
sollte, fand auch auf dem Gebiete des Colonialrechts ihren Aus-
druck. Die Herrschaft der Christen über die nichtchristlichen
aufsereuropäischen Länder wurde als im Princip feststehend be-
trachtet und der Papst gerirte sich als die oberste Autorität,
welcher es zustehe, die Erde zum Zwecke dieser Beherrschung
zu vertheilen. Als im fünfzehnten Jahrhundert die Spanier und
die Portugiesen stritten in Betreff der aufsereuropäischen Länder,
welche sie entdeckt oder occupirt hatten, oder noch zu ent.
decken oder zu occupiren gedachten, warf sich der Papst zum
Schiedsrichter in diesem internationalen Streit auf, indem er
eine Linie von Norden nach Süden zog, durch welche die
beiderseitigen Occupations-, Eroberungs- und Colonisationsgebiete
für immer abgegrenzt werden sollten. In diesem Recht, über
die ganze Erde zu verfügen, namentlich aber über die nicht-
christlichen Völker, welche man sehr oft mit Unrecht als
«Wilde« bezeichnete — denn die Eingeborenen von Mexico und
Peru waren humaner und cultivirter als die spanischen Conquis-
tadoren — in diesem Rechte oder in dieser Anmafsung, finden
wir denn auch ein Wiederaufleben der Anschauung des Dubius
Avitus, welcher verkündigte, Rom allein habe darüber zu be-
finden, was es den Andern zu geben oder zu nehmen für gut
erachte.
Mit dem sechzehnten Jahrhundert begann sich der Sieg auf die
Seite der weltlichen Macht und des nationalen Königthums zu neigen.
3
Digitized by Google
34
Das internationale Richteramt des Papstes verlor alle und jede
Bedeutung. Nicht nur England und Holland, sondern auch
Frankreich weigerten der päpstlichen Demarcationslinie jede An-
erkennung. Heinrich VII. und Elisabeth von England sandten
ihre Schiffe aus, um auf dem vom Papste vergebenen Gebiete
Entdeckungen zu machen; und es entstanden manche Colonial-
kriege, in welchen gewöhnlich Diejenigen Sieger blieben, welche
sich nach dem Richterspruche des Papstes im Unrecht be-
fanden.
An die Stelle des früheren Völkerrechts trat das des »euro-
päischen Gleichgewichts«, über welches die Grofsmächte mit
eifersüchtigen Blicken wachten. Indefs auch der Bestand der
Grofsmächte war nicht unabänderlich. Im siebzehnten Jahr-
hundert gehörten Spanien und Schweden unzweifelhaft zu den-
selben Heute beginnt Italien in deren Reihe aufzurücken.
Auch der Ausdruck »europäische Pentarchie« beginnt zu ver-
alten.
Aus dieser Periode sind eine Anzahl interessanter Streit-
fälle zu verzeichnen, in welchen in der Regel die gesunden
Principicn siegten. Man findet eine Darstellung derselben bei
Wheaton. Ich will nur einen erwähnen. Im Jahre 1790 stritt
England mit Spanien über den Nutka - Sund. Spanien nahm
den ganzen Besitzstand aus der Zeit Jacobs des Ersten von
England für sich in Anspruch, ohne weitere Besitzhandlungen
nachweisen zu können; es berief sich auf Art. 8 des Utrechter
Friedens. England machte geltend, dafs dies nicht genüge, nur
durch Specification, nur durch Niederlassung und Cultivirung ver-
möge man Eigenthum zu gewinnen.
Aus dieser Darlegung der Geschichte der internationalen
Rechtsentvvickelung ergiebt sich, dafs die Occupation nicht nur
Rechte giebt, sondern auch Pflichten auferlegt und dafs der
Staat, der für das occupirte Gebiet nichts thut, seine Rechte
an demselben wieder preisgiebt. Dies errinnert an die berg-
rechtlichc Vorschrift, wonach ein Bergwerk, das man nicht be-
treibt, wieder »in's Freie fällt«.
Ein wichtiger Fortschritt auf dieser Bahn wird durch die
im Februar 1885 auf der Berliner Conferenz vereinbarte Congo-
Generalacte markirt, welche Deutschland am 8. April 1885
ratificirt hat. Sie ist allerdings nur eine Vereinbarung unter
Digitized by Google
35
den Contrahenten, unter welchen wir z. B. die vereinigten
Staaten vermissen. Auch beschränken die Vertragsvorschriften über
Occupation ihre Wirksamkeit auf die Küsten des africanischen
Festlandes. Aber wir wissen, das Völkerrecht ist in einer ge-
deihlichen Fortentwickelung begriffen und Vereinbarungen, welche
nur für einen gegebenen Fall getroffen sind, pflegen sich zu
generalisiren und durch wiederholte Anerkennung nach und nach
zu der Würde eines allgemein geltenden völkerrechtlichen Grund-
satzes emporzuschwingen, namentlich wenn sie so sehr den Nagel
auf den Kopf treffen, wie diese.
Die Generalacte der Berliner Conferenz, Kap. VI. Art. 34,
setzt die Bedingungen fest, »welche zu erfüllen sind, damit neue
Besitzergreifungen an den Küsten des africanischen Festlandes
als effective betrachtet werden. 4
Um die Occupation zu einer «effectiven« zu machen, mufs
vor Allem der Occupant in dem Land, von welchem er Besitz
ergriffen, eine ordnungsmäfsig constituirte Obrigkeit einsetzen,
welche stark genug ist, um Schutz zu gewähren und die Ver-
pflichtungen zu erfüllen, welche durch die Congo - Acte für das
Vertragsgebiet festgesetzt sind.
Zu diesen Verpflichtungen gehört:
1. Aufrechterhaltung der Handelsfreiheit;
2. Zulassung aller Flaggen;
3. Verhinderung der Ertheilung von Privilegien und
Monopolen;
4. Anerkennung der Neutralität der in das Vertrags-
gebiet inbegriffenen Territorien;
5. Durchführung der Niger- und Congo-Schiffahrtsacte;
6. Verbot von allen Zöllen und Abgaben, welche den
Betrag der gemachten Aufwendungen überschreiten
oder dem Princip von Leistung und gleichwerthiger
Gegenleistung widersprechen ;
7. Anerkennung der Religionsfreiheit und Beschützung
derselben.
In formeller Beziehung schreibt die Congo - Acte vor, dafs
die Mächte, welche dort Besitz ergreifen oder eine Schutzherr-
schaft (Protectorat) ausüben wollen, hiervon den übrigen Ver-
tragsmächten Anzeige zu machen haben, um sie dadurch in
3*
Digitized by Google
36
Stand zu setzen zu reclamiren, d. i. ihr älteres oder besseres
Recht nachzuweisen.
Was das centrale Africa anlangt, so haben wir dort nunmehr
zu unterscheiden zwischen:
i. dem conventionellen Gesammt-Freihandels-Gebiet, wie
solches gemäfs der Generalacte Cap. I, Art. I und
durch die in § 3 vorgesehene Verlängerung der Zone
definitiv festgestellt worden ist;
2. dem geographischen Begriffe des Congo-Beckens, wie
dessen östliche Grenze namentlich durch Art. 1 und 2
festgestellt worden ist, und endlich
3. dem politischen Gebiete der internationalen Gesell-
schaft, oder nunmehr des Congo- Staates, wie solches
durch die Verträge zwischen der Gesellschaft auf der
einen, sowie Frankreich und Portugal auf der anderen
Seite festgestellt und durch das Deutsche Reich
durch Vertrag vom 8. November 1884 anerkannt
worden ist.
Gelöst ist jedoch bis dahin nicht die Hauptstreitfrage, welches
Land ist völkerrechtlich occupirbar?
Die Antwort lautet gewöhnlich: »Staatenloses, gänzlich un-
bewohntes Land darf man occupiren.« Das steht aufser Zweifel.
Aber dadurch ist wenig entschieden. Denn erstens giebt es nur
noch wenig dergleichen; und zweitens wird keine Macht grofses
Occupationsgelüste nach solchem Lande empfinden. Ob Be-
nutzung des Bodens blofs zu Weide und Jagd einen ausschliefs-
lichen Besitz bilden, welcher eine Occupation hindert, ist eine
bestrittene Frage. Sie wird verneint von HetTter, welchen ja
bekanntlich der preufsische Minister - Vice - Präsident von Putt-
kammer als oberste Autorität angerufen. Hcfifter sagt nämlich,
kein Staat habe das Recht, seine Herrschaft auch noch so rohen
Völkern aufzudrängen. Bleibt also eigentlich nur der friedliche
Ankauf von überseeischen Ländereien zum Zweck der land-
wirtschaftlichen Ansiedelung oder Handelsniederlassung, — ein
Verfahren, welches zuerst, und mit gutem Erfolg, die Puritaner
in Neu-England und die Quäker in Pensylvanien eingeschlagen
haben, und welches heute noch eine Grundlage der Unions-
politik bildet: Denn auch heute noch wird keine »Reservation«
der Rothhäute in Besitz genommen, die nicht zuvor von der
Digitized by Google
37
Regierung bezahlt worden wäre. Diesem Verfahren stellen sich
jedoch in Africa besondere Schwierigkeiten entgegen. Denn
sehr oft wird die Legitimation desjenigen bestritten, welcher als
Verkäufer auftritt; und bei der aufserordentlichen Anzahl kleiner
Zaunkönige, welche im schwarzen Welttheil durcheinander
wimmeln und das Geld so sehr lieben, dafs sie geneigt sind,
alles zu verkaufen, auch das, was ihnen nicht zusteht, ist die
Frage dieser Legitimation schwierig und verwickelt. Endlich
existirt auch kein Tribunal zur Entscheidung derselben und in
Ermangelung eines solchen ist es z. B. in Kamerun zum Blut-
vergiefsen gekommen.
Vergleichen wir die überseeische und coloniale Politik, wie
sie durch die Generalacte vom Februar v. J. inaugurirt wird,
mit jener engherzigen, gewaltthätigen und] raubgierigen Colonial-
politik von Ehedem, wie ich solche in meiner historischen Skizze
zu characterisiren versucht habe, — jener Politik, welche ge-
richtet war auf Handels- und Colonial-Monopole, auf finanzielle
Ausbeutung, Uebervortheilung und Unterdrückung der Colonien
und der Eingeborenen in denselben, auf Erwerbung und Ausdehnung
durch Waffengewalt, auf Ausschliefsung der Wettbewerbung der
Nationen und der internationalen Arbeitstheilung, — jener Politik,
die mit einer Verblendung, die immer unbegreiflicher, widerspruchs-
voller und hartnäckiger wurde, gegen den immer mächtiger sich ent-
wickelnden Weltverkehr das veraltete Banner bornirter Handels-
fcindseligkeit erhob, mit stets kraftloser werdenden Händen; so
können wir nicht zweifelhaft darüber sein, dafs jener Politik die
Zukunft gehört und nicht mehr dieser.
So viel über die völkerrechtlichen Fragen. Was die
staatsrechtlichen anlangt, so stehen dieselben im Begriffe,
für die überseeischen deutschen Schutzgebiete durch die Reichs-
gesetzgebung geregelt zu werden.
Diese Territorien, welche zum Theil noch nicht eine feste
Gestalt angenommen haben, weder in Betreff der Gesellschaften,
die grofsentheils nicht einmal Corporationsrechte besitzen, noch
in Betreff der Gebiete, ihrer Ausdehnung und ihrer Begrenzung,
bilden keineswegs integrirende Bestandttheile des reichsstaatlichen
Gebietes. Sie gehören noch weniger zu dem Territorium irgend
eines einzelnen deutschen Staates. Sie sind auch nicht Reichs-
land, wie Elsafs-Lothringen. Aus der Stellung dieses Reichs-
Digitized by Google
38
landes, seiner Gesetzgebung und Rechtspflege, Analogieen für
unsere Schutzgebiete in Oceanien, Ost- und Westafrica herleiten
zu wollen, würde gänzlich verkehrt sein. Man wollte das er-
oberte Elsafs- Lothringen nicht zerstückeln und unter einige
Einzelstaaten vertheilen, defshalb machte man es zu Reichsland;
um es ungetheilt zu erhalten und Eifersüchteleien der Einzel-
regierungen vorzubeugen, stellte man es unter die Gesammt-
souveränetät aller deutschen Regierungen, wie sie im Bundesrath
repräsentirt ist. Defshalb war der Kaiser von 1873 ab an die
Zustimmung des Bundesrates gebunden.
Es handelte sich hier um hochcultivirte Länder mitten in
Europa, welche einer vollständigen Regierung bedürfen und be-
rechtigt sind, grofse Ansprüche an dieselbe zu machen. Ganz
anders ist es mit jenen oceanischen und africanischen Gebieten,
welche in der That gar nicht wüfsten, was sie mit einem solchen
kostspieligen und luxuriösen Regierungsapparate anfangen sollten.
Zunächst fällt die Fürsorge und die Verantwortlichkeit aus-
schliesslich der Thätigkeit der Einzelnen und der Gesellschaften
zu, welche diese Niederlassungen unternommen haben. Den
Macht- und Rechts-Schutz aber gewährt der Kaiser als oberster
Schirm- und Kriegsherr.
Die Colonieen, oder richtiger: »Schutzgebiete«, sind weder
Reichsland, noch Inland, noch Ausland. Sie stehen in der Mitte
zwischen In- und Ausland. Sie stehen uns näher als das Ausland,
sie sind aber noch kein Inland, und es ist auch aus wirtschaft-
lichen und rechtlichen Gründen zur Zeit gänzlich unmöglich, sie
dazu zu machen. Sie sind Kaiserland, und die Schutzgewalt ist
dem Kaiser allein zu übertragen. Es wäre rechtlich unstatthaft
und im höchsten Grade unzweckmäfsig, den Kaiser an die jedes-
malige Zustimmung des Bundesrates zu binden. Was die Volks-
vertretung des Reichs anlangt, so mufs dieselbe, gegenüber
völlig unfertigen Zuständen, welche sich zur Zeit noch der
Reichsgesetzgebung entziehen, vorerst mit dem Budget-Rechte
sich begnügen. Wenn und soweit aber die Reichsgesetzgebung
dereinst einzugreifen hat, mufs dieselbe von allen verfassungs-
mäfsigen Factoren ausgeübt werden; und es liegt durchaus kein
Grund vor, den Einen, den Reichstag, zu Gunsten des Andern,
des Bundesraths, zu ecelipsiren. Recht und Rechtsprechung sind
nach Analogie der Reichsconsulargerichtsbarkeit (Gesetz vom
Digitized by Google
10. Juli 1879), cum grano salis, zu regeln. Ein Mehreres wäre
vom Uebel.
Doch nun genug. Ich habe Ihre Zeit und Ihre Aufmerk-
samkeit vielleicht in einem zu hohen Grad in Anspruch ge-
nommen, vielleicht auch mir eine so umfassende Aufgabe
gestellt, dafs deren Bewältigung in der zugemessenen Zeit un-
möglich ist, — wenigstens für meine bescheidenen Kräfte.
Im Wesentlichen habe ich Ihnen Hergänge erzählt, welche
der Vergangenheit angehören. Ich habe Thatsachcn referirt,
ohne sie künstlich oder tendenziös zu gruppiren oder zu färben m
Ich habe sie wiedergegeben, wie ich sie gefunden, unter ge-
flissentlicher Vermeidung aller gegenwärtig üblichen Schlagworte.
Ein grofser österreichischer Staatsmann, der zu Anfang der
fünziger Jahre regierte und sich mit weltumfassenden und grund-
stürzenden Plänen trug, zu deren Verwirklichung er alle die
ausgezeichneten Kräfte seines Geistes und seines Willens ein-
setzte, erklärte feierlich: »Ich kann aus der Geschichte nichts
lernen». Aber all' seine Pläne sind zu Schanden geworden, und
das Wenige, das er geschaffen, hat nicht lange bestanden.
Daraus schliefse ich, er hätte in der That besser daran
gethan, die Lehren der Geschichte zu Rathe zu ziehen.
Ich schliefse mit der Hoffnung, dafs unser deutsches Vater-
land die Erfahrungen und die Lehren, welche ihm die Geschichte
der Colonialbestrebungcn der modernen Völker darbietet, nicht
aufser Acht lassen werde.
Druck von Leonhard Simion, Berlin S\V.
Digitized by Google
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES
This book is due on "the date indicated below, or at the
expiratlon of a definite perlod af ter the date of borrowtag, as
provided by the library rulea or by special arrangement with
the Llbrarian in Charge.
DATE •OMtOWCO
DATE DUE
DATE EOMtOWED
DATE DUC
C28(747> MIOO
Digitized by Google