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HARVARD COLLEGE
LIBRARY
FROM THE FUND OF
CHARLES MINOT
CLASS OF 1828
HEIDELBERGER
JAHRBÜCHER
DER
LITERATUR.
Sechzigster Jahrgang.
Erste Hälfte«
Januar bis Juli.
•c Heidelberg.
Akademische Verlagshandlung von J. C. B. Moo .
1867.
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— t — \f "
4-
1/6
HARVARD
UNIVERSITY
, LIBRARY
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Ii. 1. • HEIDELBERGER 1867.
JMIRBÜCHER DER LITERATUR.
Neue Jahrbücher der jüdischen Literatur in St. Petersburg. Heft I.
„Aus der Krimm nach dem heiligen Lande" Drei Reisebe-
schreibungen von drei hebräischen Gelehrten: 1) Samuel ben
David, aus dem Jahre 1641 — 1642. 2) Moses ben Elijahu
Halevy, aus dem Jahre 1654 — 1655, 3) Benjamin ben Llijafiu,
aus dem Jahre 1785 — 1786. Nach drei Handschriften der
Firkotcitz' sehen Sammlung auf der kaiterl. Bibliothek zu St.
Petersburg^ herausgegeben mit Anmerkungen und Erläuterungen
v. J. Ourland. Heft II. Kurse Beschreibung der mathemaL
astronom. und astrologischen hebr. Handschriften der Firko-
teitz 'sehen Sammlung. St. Petersburg. 1865 — 6*6. 8.
Von der ersten hier angeführten Reisebeschreibung ist schon
ein Bruchstück in lateinischer Uebersetzung zuerst von Peringer
Lilieblad herausgegeben worden, das dann in Wolfs bibliotheca
hebraica und Ugolini's tesoro wieder abgedruckt, und von Carmoli
in seinen »itineraires de la terre sainte« ins französische übersetzt
wurde. Sie erscheint aber hier vollständig im hebräischen Urtexte,
nach einer Handschrift der kostbaren Pirkowitz1 sehen Sammlung,
' welche vor einigen Jahren die russische Regierung angekauft und
der kaiserlichen Bibliothek einverleibt hat, mit erläuternden An-
merkungen vom Herausgeber und von Eabi Jakob Reifmann. Diese
Beisebeschreibung , so wie die beiden Andern, sind in so fern in-
teressant, als sie von Karaiten herrühren und manche wichtige
Notizen über die Zustände dieser Sekte im 17. und 18. Jahr-
hundert enthalten. Samuel schiffte sich, in Gesellschaft einiger
andern jüdischen Gelehrten, aus Verlangen nach dem heiligen Lande
zu wallfahren, in Koslow ein , und wurde durch heftige Stürme
genöthigt, in Kudros (das alte Cytorus in Paphlagonien) zu landen,
von wo er, nach dreitägigem Aufenthalte, nach Konstantinopel reiste,
und von hier durch die Dardanellen nach Alexandrien. Obgleich
etwa fünfzig grössere Schiffe beisammen waren, freuten sie sich
doch als sie im griechischen Meere eine kleine Kriegsflotte fanden,
unter dem Commando eines Pascha, welcher ihnen das Geleite gab,
um sie gegen griechische Corsaren zu schützen, die das mitlän-
dische Meer durchstreiften. Man veranstaltete grosse Feste zu
Ehren dieses Pascha und auf dem Schiffe, auf welchem Samuel sich
befand, heisst es dann weiter, war auch ein türkischer Grosser,
welcher SchabanEfondi hiess Wn blZH Itt^ mt) nrraWTQ Dil
0-3 IVpffl* Hiezu bemerkt Herr Reifmann in einer Anmerkung:
was bedeutet Jon ™d was bedeuten die Worte QHÜ>
LX. Jahrg. I- Heft. 1
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Neue Jahrbücher der jüdiichen Literatur.
Er glaubt daher man müsse JOII1? 121 lesen und der Sinn sei
D*j5u "OPh D** wort ^qn^ findet sich freilich im arabischen
»lahn< wieder, aber im Sinne I^J"} kommt nirgends vor.
Sonderbar wäre es auch, dass Schaban Efondi, welcher (Fürst,
Grosser) genannt wird, an der Spitze eines Musikcorps gestanden,
also etwa Capellmeister gewesen wäre. Das Wahre ist aber, dass
man am Texte nichts zu ändern braucht, sondern dass hier nur
gesagt wird, Schaban Efcndi hatte den Rang eines »Emir tobl
chanoh >d. h. eines solchen, vor dessen Thüre ihm zu Ehren mit
Trommeln und Trompeten musicirt zu werden pflegte, und diese
Musiker des Effendi stiessen auch in die Posauuon zu Ehren des
Pascha. (S. über den Titel Emir Tobl Chaneh Quatremere zu Makrizi.)
Auch die 9. Anmerkung Reifmanns scheint Ref. ungeeignet. Er
wundert sich nämlich, dass der Verf. einen Vergleich zwischen
Rhodus und Galata in Bezug auf die Zahl der Synagogen und
Moscheen anstellt ? aber der im Texte angestellte Vergleich bezieht
sich nicht auf die Zahl der Bethäuser, sondern auf die Bauart der
Stadt, indem hier wie dort das Baumaterial nicht aus Holz, son-
dern nur aus Quadersteinen besteht. Hingegen scheint uns eino
und drei Nächte, in der Mitte der Insel«, was soll das heissen?
Der Hafen und die Stadt liegen doch nicht in der Mitte der Insel ?
offenbar fehlt nooh etwas vor dem Worte "l^HD* Von Rhodos ging
die Fahrt weiter nach Alexandrien und von hier zu Land nach
Rosette. Dort wird von vielen Chanen, Herbergen und Kaffeehäusern
erzählt, denn letzteres ist, wie der Herausgeber richtig bemerkt,
unter HUIlKVlp zu verstehen, nicht Caravanserais, wie Carmoli
übersetzt, was schon durch das vorhergenannte Q^H^W /p AD aus-
gedrückt ist. Onter Chanen (nVl^n) &^n^ Magazine von Kauf-
leuten, oder Kramladen gemeint. Von Rosette ging die Reise zu
Wasser weiter nach Kahirah, wo die Reisenden bei einem ihrer
Glaubensgenossen freundliche Aufnahme fanden. Hier überschüttet
nun der Verf. die Karaiten von Kahirah mit Lobespreisungen, so-
wohl hinsichtlich ihrer Menschenfreundlichkeit und Wohlthätigkeit
als ihrer strengen Beobachtung der göttlichen Vorschriften: sie
zünden am Sabbat kein Licht an, essen nichts warmes, hüten sich,
vor Allem was unrein ist, geniessen bei Mohammedanern und rab-
binischen Juden keinerlei Speisen, mit Ausnahme von Früchten, sie
haben ihre eigenen Bäcker und Metzger und kaufen von Andern
weder Brod noch Fleisch, »so dass sie in Wirklichkeit und zunächst
wahre Juden und Israeliten genannt zn werden verdienen. Was ihr
Geschäft betrifft, so sind sie grösstenteils Geldwechsler u. s. w.«
(so sind die Worte QVjUS (ihrem Wesen nach) und (das
arabische Sarraf) zu verstehen.) Hierauf folgt dann die Beschrei-
bung der Synagoge der Karaiten, dann die der rabbinischen Juden
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Neu« Jahrbücher der jQdlichan Literatur. 8
i» Altkahirab , In welcher lieh eine Thor» ton der Hand Esra's
befinden soll, die aber Samuel nicht zu sehen bekam. Am Schlüsse
bemerkt er, dass diese Synagoge einst den Karaiten gehört habe,
das» sie aber in Folge ihrer Sünden Bigenthnm der rabbinischen
Juden geworden sei. Samuol besuchte dann anoh die Oitadelle, in
welcber der Vorhang für den Tempel Mohammeds zu Mekka ge-
stickt wird, bei welcher Gelegenheit er Mohammed ttjpt^Ö (den
Verrückten) nennt. Hierauf wird erzählt, dass in Egypten das
Fell, die Knochen und das Nierenfett (man muss ^pj statt
lesen) sämmtlicher geschlachteter Thiere dem Pascha gegeben wen-
den musste, und dass es bei Todesstrafe verboten war, des Nachts
aaszugeben, dass aber einem gewissen Samuel, einem angesehenen
Karaiten, der vor mehreren hundert Jahren gelebt, folgende drei
Bitten vom damaligen Herrn von Egypten gewahrt wurden : 1) dass
die Juden des Nachts ausgehen dürften , wenn sie eine Laterne
tragen, 2) dass von ihren Thieren nur das Fell, aber nicht Fett
und Knochen genommen würde, 3) dass sie einen eigenen Begrab*
nissplatz ausserhalb dem Orte erhielten, wlibrend sie früher ihre
Leichen in ihren Wohnungen bestatten mussten. Er soll, (wie einst
Dido) so viel Land verlangt haben, alB eine Ochsenhaut umspan-
nen kann, diese dann in feine Riemen zerschnitten haben, so daee
ein ansehnlicher Begräbnissplatz herauskam. Nach einem Aufent-
halt von 48 Tagen verliess der Reisende Kahirah und wurde von
einigen Freunden bis Chanka (so ist S. 8 jpJD st. KWO in
lesen) begleitet, von hier ging es nach Bilb eis, (nicht Q"3^2
sondern 0"D^3) wo er dem Schatzmeister des Sultans empfohlen
ward, der auch nach Syrien reiste. Dieser rief einen seiner Unter-
gebenen genannt J^H HOK NV11 'QbV TM9 <ks Schatzmeisters
and befahl ihm diese Leute, aus Rücksicht für Ali Bey, der sie
ihm empfohlen, ehrerbietig zu behandeln. Zu den hier augeführ-
ten hebräischen Worten bemerkt, der Herausgeber: »vielleicht ist
^Xnt>K TDK zu Iowa, welches im Arabischen »hoher Vorge-
setzter bedeutet«, wahrscheinlicher ist aber pjjj zu lesen, was dem
'^^^v d. h. dem türkischen Tschelebi entspricht. Für das auf
der folgenden Seite (S. 9. Z. 2) vorkommende Wort NplDlD>D>
zu welchem der Herausgeber ein Fragezeichen beifügt, ist vielleicht
Np3Dl03 mit Klinten »Schützen« zu lesen. Die Stationen zwischen
Elarisch und Jerusalem gibt Samuel folgenderweise an: HplN»
üvzv no. ws toi rrtp nu). >uö. iriea (Wom
bemerkt wird: im hebräischen HVJt^N)» H/O"! (wobei es heisst:
d. i. n>) In der Reisebescbreibung des Moses Halevy aber liesst
man; wir reisten von El- Arisch nach Chan Junns, d. i. Askalon,
von da nach Kpj^J d. i. Aschdod, von da nach Ramiah d. i. fity
Fön hier nach UQd dann nach Jerusalem. Was die Stationen
Samuel' a angeht» ao ist vielleicht statt "ftjj ■jjjfj (Brücke) oder
mSD (Dor*) XVL 168611 1 Und der 8emeint» wo eine Brücke Über
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4 Neue Jahrbüchef der jttdtochen Literatur.
Wadi Scheriah führt oder einfach eine Brunnenstation. Der Be-
richt Moses' ist entweder entstellt, oder der Reisende hat ihn erst
später aus dem Gedächtnisse niedergeschrieben und sich der re-
spectiven Lage der Orte nicht mehr genau erinnert. S. 12 wird
das Thor, duroh welches Samuel nach Jerusalem kam, yf}Q ^NIDD
genannt, statt *?N IQ h. Thor Abrahams , welcher der
Freund Gottes heisst. Wir übergehen die Beschreibung des Tempels
und anderer heiligen Alterthümer und Gräber, welche der Reisende
in Jerusalem sowohl wie in Ramah, Hebron u. s. w. besuchte. Von
Jerusalem ging die Reise über J<""PD (soll wohl HTD heissen)
naoh Nablus oder Sohechem. Der Name ^I^D.j 8°H> w^e er br°-
hürt hat, von der dort verübten Schandthat (H^DJ) an der Toch-
ter Jakobs herrühren, während er offenbar, wie der Herausgeber
schon bemerkt, von Neapolis herkömmt. Von hier besuchte er das
Grab Josua's und das seines Vaters Nun, das Grab Kalebs, Elie-
scrs, Itamars, Pinhass's u. s. w. Von Nablus ging der Weg Uber
Ain Jakub nach Djenin. Von hier bis Damask heissen die Statio-
nen bei Samuel : U^i pm WO. 3p)P "\& J und NOllO,
Bei Moses lauten sie : UltOpiK, K"JDpy» 3pjmtf J. mOUBb
JfCyO» Was des Ersteren ijpi J sein soll , ist nicht klar, vielleicht
soll es auch IJMO heissen, denn wir finden einen Ort Ain Tudjar
zwischen Djenin und Hitin. Das Uebrige ist klar, nur ist nicht
JOÖ^p sondern JOlD^p» daa bekannte Kuneitereh, zu lesen. Bei
dem Orte Sassa ist bemerkt, dass dort eine Imar at sei, der Heraus-
geber vermuthet mit Recht, dass dieses Wort mit y statt mit ^
geschrieben sein sollte, die wahre Bedeutung aber »Stiftung« war
ihm unbekannt. Von Damask, wo der Reisende von seinen Glaubens-
genossen festlich gefeiert wurde, begab er sich über Kosseir nach
Homss, Hamah, Scheichun, Maarra (nicht HTTBt)) und Haleb,
dann über Khakala und pp*} (?) nach Antakieh. Von hier über
Beilan nach Iskanderun, Pajas, dem Hafen von Haleb, wie Tripoli
(nicht 0l^1D"1tD) der Hafen von Damask ist. Von hier ging es
über Mesis nach Adana. Auf dem Wege wird eine Oitadelle
ITM genannt» was ^bp (die Citadelle am Flusse Djai-
han) heissen soll. Von Adana reiste Samuel über Erekli, Kara
Bunar (nicht 1^13) nnd Elgun nach Akschebr, (nicht p|-|> Als
Zwischenstationen werden 3JV<, 01101*1» UQd p">T13 genannt, wäh-
rend die gewöhnliche Strasse über Ismil, Konia und Ladik führt.
Von AkSchehr zog er über IJppÖ (? wahrscheinlich Isaklu) nach
Bulwadin, Bejad, (nicht OO) Jen* Chan (oder Chosrew Pascha)
und Seidi Ghasi. (nicht wahrscheinlich heisst es im Msc. ijp
und hat nur der Verf. p für jj geschrieben). In einer Mosohee da-
selbst, sagt der Verf.. ist [das Grab] des Seid Battal, des bekann-
ten arabischen Helden (nicht 7003). Dann ging es weiter nach
JSski Schein- (im Texte steht blos Eski und ist Schehr hinzuzu-
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Neue JahrbPeher der jüdischen Literatur. 5
setzen Y Samuel blieb nicbt da, weil das Osterfest, das er in Con-
stautinnpel ztibringen wollte, nahe war. Das ist wohl der Sinn des
entstellten Textes, wo es wörtlich heisst: »wir übernachteten nicht
daselbst, denn (obgleich?) es ist ein Ort mm Uebernachten , wir
übernachteten deshalb nicht, denn wir waren in Bedrängniss, denn
die Ostertage waren nahe. Von Eski Schehr ging es über Sngnd
(nicbt -np1¥) und Isnik» (Nicea, nicht yjPtf) nach Hier
setzte er über den Meerbusen von Ismid und reiste dann weiter
nach Scutari und Constantinopel , wo er sich nach Ostern wieder
einschiffte, um in seine Heimath zurückzukehren.
Moses hingegen reiste von Adana nach Sinope und schiffte
sieb dort nach Kaffa ein. Er nennt nur drei Stationen, an welchen
er den Sabbat zugebracht hat. Sie heissen: ^tD3*Qt *l"HtD3
*n<* □'ITC» Letztere ist ohne Zweifel Tschorum, Erster e Bereketlu,
die Mittlere vielleicht, wenn man das £ in ein g verwandelt,
Sarlar.
Die Reisebeschreibung Benjamins ist weniger wichtig, denn er
ist auf dem Hin- und Rückwege zu Wasser bis Jafa gefahren.
Sehr possierlich ist seine Erzählung von seinem Besuche des Grab-
mahls David's und Salomo's, wo ihm ein Scheich gesagt haben
soll : »wir lieben euch mehr als die rabb in i sehen Juden und ge-
statten euch diesen Ort zu betreten, denn ihr habt eine Urkunde
von nnserm Propheten, welche euch autorisirt in Jerusalem zu woh-
nen und Ländereien einräumt, um Häuser zu bauen, von dem Allem
ist aber den rabbinischen Juden nichts gewährt worden, denn er
(Mohammed) hat wohl euere Satzungen von den Ihrigen zu unter-
scheiden gewusst.c Man weiss nicht, ob hier der Reisende auf-
schneidet, oder ob der Scheich, um ein besseres Bach schiseh zu
erlangen, diese Fabel erdichtet hat. Noch bemerken wir, dass der
Chan der Krim, von welchem S. 25 die Rede ist, nicht Bacha-
dir, sondern B aha dir hiess, S. 18 heisst er gar Kahdid.
In der Einleitung gibt der Verf. eine kurze Notiz über bis-
her bekannte jüdische Reisebeschreibungen, welcher Herr Reifmann
einige Berichtigungen und Ergänzungen beifügt. Dem Herausgeber
gebührt der Dank derjenigen, die sich für diesen Zweig der Lite-
rafnr znteressiren, wenn auch gewünscht werden muss, dass er bei
künftigen Arbeiten sich etwas mehr Mühe um die Verbesserung
des Textes gebe.
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Al-Beladeori «od Matoudl.
liber expugnaHonis regionum auclore Imamo Ahmed Ibn Jahja Ibn
Vjahir al-Beladsori quem e codice Leidensi et codice musci
Brüannici »didü M. J. de Ooeje. Lugd. Bat. E. /. BHU.
Maptudi- Le* prairiee d'or. Texte et traduction par C. Barbier de
Meynard. t. IV. ParU. imprim. royale. /665. 8.
Durch die Herausgabe dieser beiden Werke erhält unsere Kennt-
niss der arabischen Geschichte und Geographie eine weitere Be-
reicherung. Ersteres ist besonders für die Kriegsgeschichte wichtig,
denn es enthält ausführliche Berichte über die Feidzüge der Araber,
von Mohammed bis zur Zeit des Verfassers, dessen Tod in das
Jahr 279 d. H. (992 n. Cbr.) fällt. Er war ein guter Diohter und
gewissenhafter Traditionssammler und seine Sammlung über die
Eroberungen der Araber in den ersten Jahrhunderten der Hidjrah
hat für uns um so grössern Werth, als die Arbeiten seiner Vor-
gänger, Almadaini, Alwakidi, Ibn Kelbi und anderer, die er eitirt,
uns noch unbekannt sind. Auch in geographischer Beziehung ist
dieses Werk von hoher Bedeutung, weil es über die eroberten Län-
der und ihren Zustand, so wie über die Gründung neuer Städte
in denselben, kostbare Notizen enthält. Dieses Buch ist übrigens
nur ein Compendium eines grösseren unvollendot gebliebenen Werkes,
das nicht zu uns gelangt ist. Der Verf. ist in Bagdad gegen das
Ende des zweiten Jahrhunderts der Hidjrah geboren, zeichnete sich
unter Mamun schon als Dichter aus, gehörte zu den vertrauten
Freunden Mutawakkils, und stand auch unter Mustain und Almutaz
in hohem Ansehen. Letzterer vortraute ihm die Erziehung sevnes
Sohnes Abd Allah an. Er nahm gegen Ende seines Lebens aus
Versehen Anacardium, ein Gift, das im Arabischen »beladsorc heisst,
woher auch sein Beiname Al-beladsori kömmt, wurde wahn-
sinnig und starb in einem Irrenhauso. Obgleich er viel am Hofe
der Cbalifen lebte, ist er doch unparteiisch in seinem Urtbeile über
die Abbasiden, wenn er auch allerdings manche ihrer Gebrechen ver-
schweigt. Das Werk zerfallt in 88 Kapitel. Die ersten 18 bandeln
von Arabien, von dor Flucht Mohammeds nach Medina bis zum
Kriege Abu Bekrs gegen die Abtrünnigen, welcher in den drei
folgenden Capiteln geschildert wird. Cap. 22—47 behandeln die
Unterwerfung Syriens, darauf folgt die von Mesopotamien, Armenien,
Egypten, Westafrika, Spanien, von den Inseln des Mittelmoeres,
Nubien, Wost- und Ostpersien, Chorasan, Kabul und Sind.
Obgleich aber die Geschichte der Kriegszüge der Araber den
ersten Platz in diesem Werke einnimmt, ist es doch auch für die
innere Geschichte des Islams, besonders in staatswirthschaftlicher
und statistischer Beziehung, so wie hinsichtlich der Verwaltung
und des Finanzwesens, sehr belehrend. So enthält z. B. das 41. Cap.
gelegentlich der Erzählung von der Abschaffung der griechischen
Finanzbeamten, die Summe der Grundsteuer aus den verschiedenen
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Al-BelAdsori und M»cou*i. 7
Provinzen Syrien« und Palestina's. Das 84. Cap. behandelt die
fachte der "Eroberer an die mit dem Schwerdte unterworfenen Län-
der und die Abgaben zu denen die Unterjochten verpflichtet sind
Im folgenden Capitel wird berichtet, wie Omar die ungeheure Beute,
welche in Persien gemacht wurde, vertheilte und wie er allmählich
einige Ordnung in die Staatseinnahmen und Ausgaben einführte.
Da« 87. Cap. bandelt vom arabischen Münzwesen, von den ersten
■«taten Münzen im Islam, wie vom Werthe derselben zu ver-
schiedenen Zeiten. Auch in den hier angeführten Traditionen wird
Haadjadj als der erste genannt, der im Jahr 75 d.H., unter dem
Cbalifen Abd AI Melik arabische Münzen prägen hess, während
Andere berichten, Mussab Ibn Zubeir habe auf Befehl seines Bru-
ders Abd Allah im Jahr 70 Dirhem nach persischer Weise mit
dem Worte Barakat und Allah prägen lassen. Merkwürdig sind
folgende Stellen, aus denen hervorgeht, dass man zu jener Zeit
schon neugeprägte Münzen für alte ausgab oder wenigstens solche
fabricirt zu haben im Verdacht stand. So hesst man S. 468:
»Dawud der Münzkenner berichtet : ich habe einen Dirhem gesehen,
auf welchem stand: »geprägt in Kufa im Jahr 73, aber die Münz-
kenner waren darüber einig, dass er gefälscht war (man muss wohl
Z. 7 oUJt statt aUijl lesen). Derselbe erzählt: ich habe einen
seltenen Dinar, desgleichen nie gesehen worden war, gesehen, auf
welchem Obeid Allah Ibn Zijad stand, er wurde aber auch für un-
echt gehalten.« Das letzte Capitel endlich enthält verschiedene Be-
richte über die Einführung und Vervollkommnung der Schreibkunst
unter den Arabern. . ,
Dem Texte hat der Herausgeber ein Register aller in dem-
selben vorkommenden Personen- und Stämmenamen beigefügt, fer-
ner eine ziemlich grosse Zahl Verbesserungen, die ihm zum Theil
von Fleischer und Nöldeke mitgetheilt wurden, und endlich ein
Glossarium, welches die Wörter erläutert, deren Bedeutung bei
Frevtag fehlt oder nicht deutlich angegeben ist. Wir unterlassen
es dem Fehlerverzeichnisse noch wenige Andere beizufügen und scblies-
sen mit einigen Bemerkungen über das Glossarium.
S. 15 heisst es: die 2. Form von adsana bedeute arcuit,
repulsit und es wird dabei auf p. 162 verwiesen. Hier scheint aber,
da das j kein Teschdid hat, die vierte Form zu stehen, welche,
nach dem Kamus, wie die zweite > abhalten c bedeutet. Das Citat
aus Ibn Hischam über dieses Wort beweist wenig, da die Worte
desselben nur eine Paraphrase, aber keine wörtliche Erklärung des
Koranverses sind. Das Wort Tiliiseh wird auch im chaldäischen
[ von einem Üebertuche gebraucht. Zu dem Worte bätte Hariri
* (ätirt werden sollen, wo p. 79 (der Ausg. v. Reinaud und Deren-
boursr) Diaalah der Lohn bedeutet, den man einem Führer gibt,
^ n 134, wo es im Commentare heisst: Djialah, Djaalah und
SfcT \m der Lohn für jeden Dienst. Dass ^aJU* in
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Al-BeUdBori und Mftcoudi.
*
Form ein transitive Bedeutung habe, sucht der Herausgeber durch
mehrere Beispiele aus Beladsori zu beweisen; von den vier ange-
führten Stellen ist aber nur eine entscheidend, die, da diess gegen
allen Sprachgebrauch und gegen den Kamuss wäre, leicht zu ändern
ist. 8. 185 kann man nämlich Ibnuhu und nicht Ibnahu lesen
und das Verbum hat seine gewöhnliche passive Bedeutung. Die-
selbe Bedeutung kann es p. 401 haben: »er glaubte es ziehe ein
Heer gegen ihn um ihn zu bekriegen, und es könnten befreit
werden die Gefangenen.« S. 426 ist offenbar das Wort tachal-
lassa im Sinne »frei werden« zu nehmen. Die Stelle lautet:
»Djarrah sandte Abd Allah Ihn Mi'mar nach Transoxanien , er
drang tief ins feindliche Land ein, und beabsichtigte auch nach
China vorzudringen, aber die Türken umzingelten ihn bis er sich
loskaufte und (wieder) frei wurde. S. 444 kann man lilhakam
statt Alhakam lesen und der Sinn ist: »Das Beste von dem was
sie aus Feindes Hand eroberten, wurde für Hakam bestimmt.« Es
bleibt nur noch die Stelle S. 108, die allerdings für die Behauptung
des Herausgebers spricht, wenn man nicht entweder das j* oder das *
streicht. Dass das Wort Rahakun in der Stelle S. 65 die Be-
deutung von »servitude« habe, ist nicht wahrscheinlich, die von
»Gewaltthatc passt ganz gut und der Sinn ist: »weder eine Ge-
walttat (Raub) noch eine Mordthat aus der Zeit des Alterthums
soll geahnt werden.« Die zweite Form von Rawadja, hat ohne
Zweifel Djauhari und der Kamuss auch durch »gangbar machen«
(von einer Münze) erklärt, so hat es auch der türkische Ueber-
setzer des Kamuss aufgefasst, wo es heisst: »Attarwidju bir nes-
nehjeh rawadj wirmek maanasineh dör.« Die fünfte Form von
Nakara wird durch »velavit, cucullo texit Caput« erklärt und auf
Beladsori p. 41, Hamasa p. 103 und Samachschari p. 673 ver-
wiesen. In allen diesen Beispielen heisst aber tanakkara einfach
»sich verkleiden, unkenntlich machen« sei es durch Tracht, falschen
Bart oder gefärbte Haare, oder durch veränderten Ausdruck im
Gesichte. So kommt dieses Wort auch in der 12. Makamah des
Hariri von Abu Zeid vor, wo es heisst : dessen Gesicht nahm eine
so zornige Miene an, dass er ganz unkenntlich ward. Die vom
Herausgeber angeführte Stelle aus Samachschari, welche lautet:
»und er hatte den grössten Theil seines Gesichts mit der Kopf-
binde bedeckt, wie ein (Mutanakkir) sich unkenntlich machender«
beweist, dass dieses Wort an und für sich nicht »sich den Kopf
bedecken« bedeutet, sondern nur dass Leute die nicht erkannt wer-
den wollen zuweilen auch sich das Gesicht verhüllen. Im Allge-
meinen ist das Glossarium eine dankenswerthe Zugabe, wenn auch
manche Bemerkungen ganz überflüssig sind und namentlich aus dem
Commentare zu Hariri hätten erläutert werden können. Nicht min-
der zweckmässig sind die Register der im Werke vorkommenden
Eigennamen von Männern und Stämmen sowohl als von Städten
und Ländern.
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Al-Beladsort und Macoudi.
9
Mit weniger Wohlgefallen blicken wir anf die Arbeit des Her-
ausgebers de» vorliegenden vierten Bandes von Masudi's goldnen
Wiesen. Masudi ist bekanntlieh der erste arabische Historiker, der
nicht blos Traditionssanimler , sondern auch Geschichtforscher war
und der nicht nur die politischen Ereignisse aufgezeichnet, sondern
auch der Religions-, Sitten-, Literatur- und Culturgeschichte den
ihr gebührenden Platz eingeräumt hat. Auch beschäftigt er sich
nicht ausschliesslich mit der Geschichte des Islams und der mit
derselben zusammenhangenden biblischen Geschichte, sondern er
behandelt auch mit Eifer und Ausführlichkeit die fremder Völker
und Länder, so dass aus seinem Werke manche schätzbare Nach-
richten über die alte Geschichte und Geographie geschöpft worden
können. Wichtiger und zuverlässiger für uns ist indessen das was
er über die Zeit des Islams berichtet, mit welcher das 70. Cap.
(p. 104) beginnt. Wir finden im vorliegenden Bande eine Biographie
Mohammeds und die Geschichte der vier ersten Chalifen, bei wel-
cher jedoch mehr die Persönlichkeit der Herrscher und ihrer höch-
sten Beamten, als die unter ihnen vorgefallenen Begebenheiten be-
rücksichtigt werden. Diesen Band hat, wie wir aus der Einleitung
sehen, Herr Barbier de Meynard allein übersetzt, während bei den
drei Vorhergehenden H. Pavet de Courteille sein Mitarbeiter war,
und wir müssen uns schon beim durchlesen der Einleitung wundern,
wie er, wenn er doch den ganzen Band gelesen und übersetzt hat,
in seiner übersichtlichen Inhaltsangabe sagen konnte: »c'est ainsi
qu'apres nous avoir offert de nouveaux documents sur la conquete
de Syrie et de Perse, il nous depeint en traits ineffacables la vie
austere et frugale d'Abou-Bekr« während doch nur die Eroberung
von Persien ausführlich erzählt, die von Syrien aber kaum erwähnt
wird. Doch gehen wir zur Uebersetzung des Textes über, da be-
greifen wir wohl, dass dem Uebersetzer manche Stelle unklar war,
können uns aber nicht erklären, wie er, statt sich mit dem ersten
besten >ä peu pres« zu begnügen, sich nicht bei seinen gelehrten
Collegen in Paris, bei einem Herrn Reinaud oder Caussin de Per-
ceval, über den wahren Sinn des Textes belehren Hess. Folgende
Beispiele werden zeigen, dass der Uebersetzer seiner Aufgabe nicht
ganz gewachsen war. S. 248 übersetzter den Vers Z. 6.: »C'est moi,
Amr, qui, en döpit de ses refus, lui ai tendu ce piege, moi et mes
ca valiers ; c'est moi qui possederai desormais ses faveurs« statt : Amr
hat trotz dem (drohenden) langen Tod, sie heimgesucht mit seinen
Reitern, er verschont sie aber obgleich sie nichts taugt.« S. 286
wird der erste Vers übersetzt: »Fils de Hachem, une lueur d'amitie"
ne peut briller entre nous, tant que la fortune sera votre com-
plice.« Die wahre Bedeutung dieses Verses ist: »Söhne Hascbim's!
wir and das zwischen uns Vorgefallene gleicht einem Riss in har-
tem Felsenstein, nie wird einer erscheinen der ihn wieder zusam-
menfügt (so wenn man Aldahra liest, liest man Aldahru, so
heisst es: »nie wird die Zeit einen hervorbringen u. s. w.). Am
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10
AKBelftdBori und Macoudi.
Anfang der folgenden Seite sagt Alfadhl Ibn Abbas: »Ali war zum
Herrscher nach Mohammed bestimmt, Ali war tiberall sein (Mo-
hammed's) treuer Gefährte, bis Gott seinem Glauben den Sieg ver-
lieh*), während du (Welid) bei den Elenden warst, die ihn be-
kämpften; du bist ein Mann der reinen Menschen fern steht, du
hast keinen Freund unter uns mit dem du gemeinschaftlich klagen
kannst. c Dafür lautet die französische üebersetzung : »Ali est le
legitime successeur de Mohammed et le maitre du pouvoir dans
tout l'empire ; Ali dont Dieu a enfin manifeste* les droits, alors que
tu le combattais avec les herötiques. Un homme tel que toi est
exclu des gens de bien et ne corapte parmi nous aucun Ami qui Im
adresse d'indulgentes reproches.c S. 357 heisst es: »Wir versetzen
euch Hiebe die das Haupt vom Rumpfe trennen (wörtlich : die das
Haupt von dem Orte, auf welchem es sitzt, ruht,). Diess lautet
aber in der französischen üebersetzung: »Sous nos coups le hibou
Bortira de sa retraite (c'est ä dire Tarne sortira du corps).« S. 860
ist die Rede von fünfzig Häuptern, »welche Ali schwuren, ihm bis
zum Tode treu zu bleiben« (bajauhu ala-l-mauti) im französischen
heisst es aber: »qui reconnurent All ä Tarticle de la mort«, d.h.
welche Ali in ihrer Todesstunde anerkannten. S. 874 liesst man:
»Tel qu'un Hon rugissant qui detend ses petita, il brise sous ses
dents le trait que lui lauce la mort.« statt: »er beschützte was
ihm zu beschützen oblag, wie ein Löwe, aber das Geschick hat
seinen Pfeil nach ihm geschleudert und er barst.« S. 377 liesst
man: »nous avons tue Hauscheb; le jour en se levant a revele* sa
mort.« statt: »Wir haben Hauscheb getödtet, am Morgen als er
sich als tapferer Krieger gezeigt hatte.« (S. den Kamuss unter
i'lam). S. 388 beklagt eine Frau den Tod ihrer drei Söhne, welche
in der Schlacht bei Siffin fielen , und zu den Besten ihres Volkes
gehörten und fügt hinzu: »nichts hat ihr Verderben herbeigeführt,
als die Tbeilnahme ihres Herzens an dem Siege des einen oder
des andern Herrn von Knreisch.« Dafür hat die französische üeber-
setzung: »S'ils n'avaient perdu la vie, peu leur importait auquel
des ohefs koreichites devait rester la victoire.« Es heisst wörtlich :
»nichts sohadete ihnen ausser dem Verlangen der Seelen, welcher
Emir von Koreisch siegen würde«, d. h. sie hatten weder ein Ver-
brechen begangen noch eigennützige Zwecke verfolgt, nichts hat
sie in's Grab geführt, als ihre Hinneigung für Ali, der gegen
Muawia kämpfte, welcher auch ein Emir von Koreisch war. S. 428
sagt Ibn Muldjem, der Mörder Ali's, dessen Haupt seine Geliebte
als Morgengabe forderte: »Keine Morgengabe ist kostbarer als das
Haupt Ali's und ist es das Höchste was geboten werden kann, so
gibt es keine grössere Schlechtigkeit als die Ibn Muldjem'B.« Die
*) Die Worte „azhara Allahu dinahu" sind auch 8. 141 falsch über-
tttxt durch „Dien lui a revele la vrale religion« was doch nfcht in Medina,
sondern in Mekka geschah.
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Weber; Allgemeine Weltgeschichte.
H
französische Uebersetzung lautet: »Une dot, si preoieuse qu'elU
»it, vaut-elle Ali? une &me, si energique quelle soit, vaut-elle-
Tarne d'Ibn Moldjem?« Man muss nämlich wissen, daas IbnMul-
djem nur ans Leidenschaft zum Mörder Ali's ward. Er sagte zu
dam Cbaridjiten Sohebib, der ihn aufforderte, ihm zur Ermordung
Ali's zu helfen:« Möge deine Mutter deinen Tod beweinen 1 du hast
ein schlimmes Vorhaben , du weisst was er für den Islam gelitten
and wie er es vor Andern mit den Propheten gehalten.« Dafür
hat freilich de Maynard : »je connais la constance inebranlable
<TA1; et je lc place au dessus de tous, ä cote* du propbete.« So
Üsst er ihm dann Sohebib erwidern: »ignores-tu qu'il juge d'aprös
klirre de Dieu« was doch wohl kein Verbrechen wäre, statt:
>Weisst du nicht, dass er Menschen die Entscheidung über das
göttliche Buch übertragen bat?« So lässt er auch Ibn Muldjem's
Geliebte sagen: »il me faut son sang« statt: »suche ihn unver-
sehens zu überfallen« (iltamis alghirrata). Wir könnten noch viele
Beispiele unrichtig übersetzter Stellen hinzufügen, aber die ange-
führten werden genügen um unser ürtheil zu rechtfertigen und,
fall« diese Anzeige dem Uebersetzer zu Gesicht kömmt, ihn, bei
Bearbeitung der folgenden Bände, zu bewegen, sich über schwieri-
gere Stellen mit andern Gelehrten zu berathen. WeiL
Allgemeine Weltgeschichte mit besonderer Berücksichtigung des Geistes-
und Culturlebens der Völker und mit Benutzung der neueren
geschichtlichen Forschungen für die gebildeten Stände bearbeitet
von Dr. Georg Weber, Professor und Sehuldirektor in
Heiddbera. Sechster Band. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engel-
mann, 1866. VJI1 und 866 8. 8.
Das rerdienstrolle Werk des rühmlichst bekannten Herren Ver-
fassers, dessen fünf erste Bünde wir in diesen Blättern angezeigt
haben, ist seinem Ziele abermals um einen bedeutenden Schritt
aaher geruckt. Mit dem vorliegenden Bande wird uns ein wich-
tiger Theil der Geschichte des Mittelalters geboten, dessen Be-
ginn der fünfte Band enthält. Auch in dem gegenwärtigen Bande
ctgegnen wir überall derselben zweckmässigen Auffassung der ge-
schichtlichen Thatsachen aus den Quellen und mit Benntzung der
Neuesten historischen Forschungen, derselben rationellen Anordnnng
das riesigen Materials, derselben sieb auch selbst in Behandlung
reinerer und dem Ganzen abgelegener Partien kundgebenden Sach-
«antniss, demselben unbefangenen, vom politischen und religiösen
«iaseitigen Parteistandpunkte freien Urtheile, welches nicht in der
Gesinnungslosigkeit die Objectivität der historischen Forschung er-
toprt* sondern immerdar von einem Streben nach einem der Wahr-
kit, dem Licht und Kochte, dorn Fortschritte des Geistes zuge-
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12
Weber: Allgemeine Weltgeschichte.
wendeten Sinne zengt, derselben harmonischen Verbindung des
politischen und Cnltnrlebens , derselben fliessenden, abgerundeten
Darstellung, welche die Präcision des Ausdrucks dem Geklingel
schwebelnder und nebelnder Phrasen vorzieht und nirgends die Wahr-
heit einer so genannten Schönheit opfert, wie wir sie als Vorzüge
dieses für alle gebildeten Stände geschriebenen Werkes in der An-
zeige der fünf ersten Bande mit gerechtem Maasse anerkannten.
Während der fünfte Band die beiden Hauptabschnitte der moham-
medanischen Welt nnd des Z ei taltersder Karolinger umfasst,
behandelt der vorliegende zwei uns Deutschen besonders nahe lie-
genden Gegenstände, die Vorherrschaft des deutschen Rei-
ches (S. 1 — 460) und das Zeitalter der Kreuzzüge und
der Hohenstaufen (S. 460 — 866). Wir empfehlen darum dem
deutschen Volke, welches vor allen Völkern Europa's vorzugsweise mit
Hecht das gebildete genannt wird, die sorgfältige Leetüre desselben.
Die Geschichte ist die Lehrerin des Menschen und aus der Ver-
gangenheit lernen wir die Gegenwart begreifen, und, so viel es
endlichen Geistern vergönnt ist, auch die Zukunft ahnen. Ausser
den im fünften Bande (S. 276, 277, 488) erwähnten Quellen und
literarischen Hülfsmitteln wurden in der Darstellung der Vorherr-
schaft des deutschen Reiches für das Zeitalter der sächsischen und
fränkischen Könige die in den Jahrbüchern des deutschen Reichs und
der deutschen Geschichte enthaltenen Monographien, ferner Stenzeis
Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern, Leipz. 1827,
1828, 2 Bde, H. Floto's Kaiser Heinrich IV. und sein Zeitalter, Stuttg.
u. Hamburg 1855, 2 Bde, Gfrörers Gregor VII. und sein Zeitalter,
Stuttgart, 1859, 1860, 6 Bde, Kluckhohn, Geschichte des Gottes-
friedens, 1857; Knochenhauer, Geschichte Thüringens in derkarol.
und sächs. Zeit, Gotha, 1863; aus den Forschungen zur deutschen
Geschichte, der Sybel'schen Zeitschrift pnd der deutschen National-
bibliothek einzelne Abhandlungen, für die Geschichte von Ungarn
Mailath und Horvath, von Böhmen Palaky, von Polen Roepell in
dorn Sammelwerk von Heeren und Ukert, Schafariks slavische Alter-
thümer und C. Dümmler über die südöstlichen Marken des fränki-
schen Reiches in dem Archiv für die Kunde österreichischer Ge-
schichtsquellen u. a m. mit vielem Fleisse zu dem historischen
Zwecke des Buches verwerthet.
Der erste Abschnitt, welcher von der Vorherrschaft des deut-
schen Reiches handelt, umfasst Konrad von Franken und das säch-
sische Herrscherhaus und zwar Aufrichtung des deutschen Reichs unter
Konrad I. und Heinrich I., Otto, den Grossen, die jüngeren Ottonen
und Heinrich IL, das römische Reich deutscher Nation und das Cultur-
leben im Zeitalter der Ottonen, sodann das deutsche Reich unter
den fränkischen Kaisern, insbesondere die Zeiten Konrads II. und
Heinricks III., Heinrich IV. und das Papstthum auf seiner Höhe,
Heinrich V. nnd die Ausgleichung des Investiturstreites, das Reich
und den Bildungsstand unter den fränkischen Kaisern.
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Weber: Allgemeine Weltgeschichte.
Der zweite Abschnitt enthält das Zeitalter der
Kreuzztige und der Hohenstaufen. Ausser den Bd. V, S. 1
und 229 angegebenen Quellen wurden geschichtlich verwerthet für
diesen Abschnitt, insbesondere für die Geschichte des byzantini-
schen Reiches die Forschungen von Georg Finlay, history of the
Byzantine and Greek empires from 716 to 1453, London, 1854,
von J. Ph. Fallmerayer, Geschichte der Halbinsel Morea während
des Mittelalters, 1830, Geschichte des Kaiserthums Trapezunt, 1827,
für die Geschichte der Mohammedanischen Reiche WeiTs Assassinen
in der SybePsohen Zeitschrift, Bd. 9, Wüstenfelds Akademien der
Araber, Göttingen 1837, üeberwegs Grundr. der Geschichte der
Philosophie II, 2. 1864, Steiners Mutaziliten, 1865, für den Kampf
iwischen Morgen- und Abendland J. C. Murphy, the history of the
Mahometan empire in Spain, 1816, Aschbacb, Geschichte Spaniens
und Portugals zur Zeit der Herrschaft der Almoraviden und Almoha-
den, 1833, Schäfers Geschichte von Portugal, 1836, E. Alex. Schmidts,
Geschichte Aragoniens im Mittelalter, 1826, A. F. von Scbaok,
Poesie und Kunst der Araber in Spanien und Sicilien, 1865, für
die Kreuzzüge F. Wilken, Geschichte der Kreuzztige, 1807 — 1832,
Michaud, histoire des croisades, Paris, 1817—1822, Wilhelm von
Tyrus, Gesch. der Kreuzzüge und des Königreichs Jerusalem über-
setzt von E. und R. Kausler, 1840, Sybels Gesch. des ersten Kreuz-
zuges, 1841, und über das Königreich Jerusalem in Schmidts Zeit-
schrift für Geschichtswissenschaft, Bd. 3. 4, für die Ritterorden
Paul Ganger, der Ritterorden der Johanniter oder Malteser, 1844,
Ferd. Wilcke, Gösch der Tempelherren, 1860, J. Voigt, Gesch. des
deutschen Ritterordens, Berlin 185 7—1859, für die Gesch. des
Abendlandes im 11 — 13 Jahrhundert ausser den Bd. V, S. 276 u.
277 aufgeführten Werken, W. Wachsmuths Culturgeschichte , die
Gesch. des deutschen Städtewesens von Hüllmann, Guizots essais sur
Phistoire de France und histoire de la civilisation en France, v.
Savigny's Geschichte des röm. Rechts im Mittelalter, für die chro-
nologische Anordnung und Feststellung Böhmers Reiohsregesten,
rü r die Zeit der Hohenstaufen als Quellen Otto Frisingensis de gestis
Friderici I. mit der Fortsetzung von Radevicus bis 1160 bei Mu-
ratori tom. VI und Helmolds Chronik der Slaven aus den Mouum.
Germaniae, übersetzt von Laurent und die Hülfsschriften von Raumer,
Wilh. Zimmermann, K. W. Nitzsch, Ph. Jaffö, E. Gervais, Kortüm,
iL Renter, Fioker, Wegele, Böttiger, H. Prutz, L. Weiland, Otto
Abel, Fr. W. Schirrmaoher, E. Winkelmann, F. Hurter und das
Sammelwerk von J. L. A. Huillard-Breholles , historia diplomatica
Friderici IL, 1859—1861, 6 Theile in 10 Bänden.
Im Zeitalter der Kreuzzüge und Hohenstaufen werden als
Hauptgesich t spunkto unterschieden : 1) die Weltlage im Morgenlande,
2) das Christenthum und der Islam im Kampfe, 3) die Weltlage
im Abendlande, 4) Kaiser Friedrich I. und seine Zeit, 5) das
deutsche Reich unter Heinrich IV. und Heinriche des Löwen Ausgang,
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14 Weber: Allgemeine Weltgeschichte.
Im ersten Abschnitte der Vorherrschaft des deutschen Reichs,
Wird mit Recht als »die grösste, folgenreichste Begebenheit des
Er hüten Jahrhunderts t die »zweite Herstellung des römischen Kaiser*
thums durch Otto den Grossen« bezeichnet. Treffend sagt der Herr
Verf. S. 168: »Ks war der zweite Versuoh, das christliche Abend-
land durch eine altehrwürdige Reichsordnung zusammenzufassen, den
zerrissenen und getrennten Staaten und Stämmen durch den Glanz
eines germanisch- römischen Kaiserthums einen einigenden Mittelpunkt
zu schaffen, die gespaltene Menschheit durch die Macht der Idee und
des Glaubens, unterstützt von der Schärfe des Schwertes, zu einem
Ganzen zu verbinden, in Welchem die feindlichen Kräfte versöhnt
und zu einem friedlichen Zusammenwirken gebracht werden sollten.
Wie Karl der Grosse nach den Stürmen der Völkerwanderung die
losen Glieder in dem Frankenreiche vereinigte und aus dem alten
und dem christlichen Rom die ßildungselemente herholte, um die ver-
schiedenartigen Volksbestandtheile in eine gleichartige Form zu
giessen, so war Otto J. bemüht, aus dem zertrümmerten Franken-
reiche die kräftigeren Glieder unter seiner Fahne zu sammeln, die be-
schrankte Gewalt eines Wahl- und Stammeskönigthums durch den
römischen Imperatorennamen zu stärken und die civilisatorisohe
Mission, die mit der Begründung des Christenthums Hand in Hand
ging, bei den heidnisohen Völkern im Osten und Norden zu för-
dern, bei jenen slavisohen und skandinavischen Stämmen, die in
endloser Zersplitterung und Vereinzelung ihre Lebenskräfte in krie-
gerischer Zuchtlosigkeit, in störrischer Feindschaft gegen die christ-
lichen Institutionen verbrauchten. Dem Herrsehergeiste Otto's I.
genügten nicht die Ziele und Erfolge seines Vaters Heinrich I., er
mischte sich in die inneren Anliegen des westfränkischen Reiches
nud warf sich zum Schiedsrichter auf in den Kämpfen der Feudal-
herren gegen die Karolinger ; er nahm das Herzogthum Burgundien
unter seine vormundschal tl ich e Obhut; er brachte Italien an das
deutsche Reich und dehnte seine oberlehnsherrlichen Rechte über
die Dynasten von Tuscien und Oampanien aus. Und, was er unter-
nommen, war für seine Nachfolger Gesetz und Vorbild. Man hat
dieses Ausschweifen des deutschen Herrsoheramtes in die Weite
vom nationalen Standpunkte aus scharf gerügt und insbesondere
die Verbindung Deutschlands mit Italien und das Streben der
Könige nach der römischen Kaiserwürde als die Quelle grossen Un-
heils für das deutsche Volk und Reich erklärt. Wir haben die
daraus hervorgegangenen Nachtheile nicht verschwiegen : wir haben
es beklagt, dass bei der unzulänglichen Herrscherkraft der jüngeren
Ottonen über den italienischen Sorgen und Wirren die Eroberungen
im Osten und Norden ins Stocken kamen und verfielen, dass in
Polen, Böhmen und Ungarn sich selbständige Gewalten erhoben,
dasB die Bekehrung der Slaven und Magyaren zum Christenthum
nicht dem deutschen Episkopat, sondern dem Papstthum zur Macht*
Tergrüsserung gereichte, dass, während sich die Bisthümer Prag
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Weber: Allgemeine Weltgeschichte. 16
tmd Gnewu nud das gesammte Ungar nland der Metropolitangewalt
fon Mainz, Magdeburg und Salzburg entzogen, der römische Stuhl
im Norden der Alpen ein solches Ansehen gewann, dass er ein
halbes Jahrhundert nach dem Erlöschen des sächsischen Hauses
dem deutschen König die Herrschaft Ober die abendlandische Christen-
heit streitig machen konnte ; dass die Beiohsämter und Reichslehen
mehr und mehr den Charakter der Erblichkeit annahmen und die
Bande der Hörigkeit und Leibeigenschaft immer weiter ausgedehnt
wurden, his der gemeinfreie Mann auf deutscher Erde eben so selten
war, wie im westlichen Nacbbarlande. Auch der Verlust so vieler
Tapferen , die dem Schwerte , dem ungewohnten Klima , den an-
steckenden Krankheiten erlagen oder durch wälsehe Hinterlist und
Tücke ins Grab sanken, wurde mit Recht zu allen Zeiten beklagt.
Macht doch schon Thietmar von Merseburg die Bemerkung: »Viele
Nachstellungen finden sich in Romanien und Lombardien ; den An-
kömmlingen wird dort geringe Gastlichkeit zu Theil, alles Srf'or-
derlicbe müssen sie schwer bezahlen und selbst dann sind sie vor
Betrug nicht sicher; viele sterben durch Gift.« Aber über diesen
dunkeln Schatten dürfen wir doch nicht alle Vortheile übersehen,
welche im Gefolge dieses Bundes der deutschen Nation zugeführt
wurden. Nur im Besitze der Kaiserwürde konnte Deutschland zu
einer Torherrschenden Macht emporsteigen, welcher sich die übri-
gen Völker des christlichen Abendlandes völlig unterordneten, konnte
die deutsche Nation den Ehrenrang gewinnen, der sie zur Gebie-
terin und Schiedsrichterin in Europa erhob* An der römischen
Kaiserkrone haftete das überlieferte Recht der Weltherrschaft ; das
Rom erreich galt nach christlichen Anschauungen als die göttliche
Staatsordnung, welcher das Regiment auf Erden bis ans Ende der
Tage beschieden sei. Wenn die deutschen Könige in diese Idee
eintraten, wenn sie die Fiction von einer ununterbrochenen Fort*
daner des römischen Imperiums, von einer Continuität der römi-
«chen Weltmonarchie durch ein ganzes Jahrtausend sich zu Eigen
und Nutzen machten, so handelten sie nur im Geiste der Zeit und
stärkten die physische Macht, die Errungenschaft des Schwertes,
durch die Idee des Rechtes, der göttlichen Anordnung. War aber
das röznisehe Reich deutscher Nation in den Augen der abend*
ISndischen Menschheit eine rechtliche und göttliche Einrichtung,
nieht ein Gebilde der Phantasie, nicht eine Schöpfung der Willkür
und des Hoch ran fches, so lag darin für die deutschen Völker und
Stamme selbst die Aufforderung, sich zu einem Reichskörper zu
verbinden, worin alle Glieder zu gemeinsamen Zwecken, zu harmo-
nischem Zusammenwirken berufen und verpflichtet seien, so wurde
dadurch das Bewusstsein der Nationalität, der Bluts- und Stammes-
verwand tschaft geweckt; der von der Volkssprache auf die Nation
und auf das Land übertragene Name »deutsche, der zunächst bei
den Italienern in Gebrauch kam, nährte und belebte das Gefühl
nationaler Zusammengehörigkeit und die Stammesfürsten, die sich
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16
Weber« Allgemeine Weltgeschichte.
gegen einen sächsischen oder fränkischen König spröde und wider-
strebend verhalten mochten, beugten sich willig vor der Majestät
den römischen Kaisers deutscher Nation, fügten sich willig der
Macht und Herrlichkeit des Reiches, rechneten sich den deutschen
Namen zur Ehre an. So förderte und sicherte der Glanz des
Kaiserthums die Einheit des Volkes, den Bestand des Reiches, die
Vorherrschaft der deutschen Nation im christlichen Abendlande.«
Nicht minder treffend ist, was über die Zeit der fränkischen Kaiser
gesagt wird, welche > wenig erhebende und erfreuende Resultate«
bietet. »Wurde auch der Umfang und die Grösse des Reiches nicht
vermindert, heisst es S. 432, ja durch die Erwerbung des burgun-
dischen Landes im südlichen Westen nicht unbedeutend gemehrt,
standen auch die salischen Kaiser an persönlicher Bedeutsamkeit,
au Kriegsmuth, Herrscherkraft und königlicher Würde der sächsi-
schen Dynastie in keiner Weise nach; so sank dennoch das An-
sehen und die Macht der Krone , die aristokratischen Gewalten
überwucherten den Königssitz, der monarchische Einheitsstaat, das
Ziel der kräftigsten Herrscher, ging mehr und mehr in die Formen
des losen Lehnstaates über ; die Gewalten und Bildungen des Feu-
dalnexus entzogen sich durch die faktische öder zugestandene Erb-
lichkeit immer mehr der Einwirkung des Königs« u. s. w. Unter
der Aufschrift: >Das römische Reich deutscher Nation und das
Gulturleben der Ot tonen < werden am Schlüsse des ersten Abschnit-
tes der Vorherrschaft des deutschen Reiches die Bedeutung deR
römisch- den tscheu Kaiserthums , die Herrschaft Uber Italien , die
Einwirkung des italischen Culturlebens auf Deutschland, die latei-
nische Literatur in diesem Lande, Widukind, Thietmar, die deut-
schen Dichtungen in lateinischer Bearbeitung, sodann Gerbert,
Liudprand, Bernward und Meinwerk, ferner Handel und Gewerb-
thätigkeit und die lateinische Geschichtschreibung in Sach-
sen, in den Klöstern Corvey, Gandersheim, Nordhausen, Quedlin-
burg, in den Bisthümern Hildesheim, Magdeburg, in Lothringen,
in Allemannien, Italien, die Schriften von Hroswitha, das Leben
der Königin Mathilde, die Quodlinburger Annalen, die Lebens-
beschreibungen Bernwards, Godehards und Adalberts, Bruno's
Leben von Ruotger, die Fortsetzer des Regino, Ratherius, Burohard
von Worms und seine Decrete, Richers Chronik, das Leben der
Kaiserin Adelheid, die Klosterchronik von St. Gallen u. A. be-
handelt (S. 167-184).
(SchlllBB folgt.)
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Ii. 2. HEIDELBERGER 1887.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR
Weber: Allgemeine Weltgeschichte.
(SchhiBs.)
Ganz richtig wird Liudprand S. 184 also geschildert: »Bei
allen Fehlern ist Liudprand der bedeutendste Geschichtschreiber
des zehnten Jahrhunderts ; seine Werke, die übrigens alle drei (die
Antapodosis, die Thaten Ottos des Grossen und der Gesandtschafts-
bericht) unvollendet blieben, sind anziehend und originell und trotz
der Leidenschaftlichkeit und Eitelkeit des Verfassers in dem That-
sachlichen meist zuverlässig. Dass er sich unbedingt auf Ottos 1.
Seite stellte und die Gnadenbezeugungen, die ihm dieser zu Theil
werden Hess, mit Lobpreisungen vergalt, lässt sich rechtfertigen,
ohne dass man dabei unwürdige Motive anzunehmen genöthigt wäre.
Er erkannte in ihm den Mann, von welchem allein die Herstellung
eines geordneten Zustandes in Italien, wie in der römischen Kirche
zu hoffen war. Eine Yergleichung der Schriften Liudprands und
der Chronik Venedigs von dem Diaconus Johannes, dem Kaplan
des Dogen Urseolus II., der wiederholt als Gesandter zu den jün-
geren Ottonen geschickt ward, mit der erwähnten Chronik des
Münchs vom Sorakte oder der Chronik vonSalerno lässt
deutlich erkennen, wie sehr die literarische Bildung und Sprach-
kenntniss des obern Italiens die des mittleren und unteren über-
traf. Auch das Leben des heiligen Adalbert von Johan-
nes Canaparius, dem Freunde und Klostergenossen des Mär-
tyrers, in einer mit biblischen Ausdrücken erfüllten Sprache trägt
den Hauptwerth in der^ Hingebung und Liebeswärme des Ver-
fassers für den frommen Glaubenshelden.«
Unter der Aufschrift »das Reich und der Bildungsstand
anter den fränkischen Kaisern« weiden die Ordnungen und Zu-
stande, die Grösse und der Umfang des Reiches, das Königthum
und der Hof, die Reichsämter und Kroueinkünfte , Fürsten und
Stände, insbesondere Herzoge, Mark- und Pfalzgrafen, Grafen,
Dienstleute und Freie (deutsches Städtewesen), der Klerus, die Heer-
schilde, hierauf Cultur und Sitten, deutsche Literatur, Uebersetzun-
gen, Notker Labeo, Williram, die Reimprosa, Merigarto, Ezzo, das
Buch von der Schöpfung, Anegenge, das Lob Salomos, die Bücher
Moses, das Leben Jesu von Frau Ava, der Klausnerin in Göttweih,
(gest. 1127), andere religiöse Dichtungen und Lehrstücke, die lite-
rarische Thätigkeit am Niederrhein, die lateinische Literatur, Wippo
(Wipo), die Annalen von Altaich (Godehard), Benno, Meinwerk,
UL Jahrg. 1. Heft. 2
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18
Webe»: Allgemeine Weltgeschichte.
HermannuB Contractus, Bernold, Berthold, Adam von Bremen, Saxo
Grammaticus, Bruno, die metrische Geschichte vom Sachsenkrieg
und das Leben Heinrichs IV., Ekkehards Weltchronik, Lambert von
Hersfeld, die literarischen Zustände fremder Länder, insbesondere
die böhmische Chronik des Cosmas, Martinus Gallus , Adomar und
Rodulf Glaber, Hugo von Fleury, Wilhelm von Malraosbury, Hugo
von Farfa, Bonizo, Bardo, Benzo, Donizo, Benno, Landulf, Arnulf,
Petrus Crassus und Guido, Amatus, Wilhelm von Apulien darge-
stellt (S. 432 — 459). Besondero Aufmerksamkeit wird dem »vor-
züglichsten Geschichtswork des eilften Jahrhunderts c , den Jahr-
büchern Lamberts von Hersfeld, gewidmet (S. 456 und 457).
In der Darstellung der Cultur und des Geisteslebens der Araber,
Perser und Juden umfasst der Herr Verf. in kurzer treffender
Kennzeichnung die Natur der Orientalen, ihre wissenschaftlichen
Bestrebungen, die Schulen und Akademien, die Philosophie (AI
Kendi, Alfarabi, Ibn Sina oder Avicenua, Algazel, im arabischen
Spanien. Avempace, Ibn Tophail, Averroös oder Ibn Roschd), die
Religionswissenschaft (die Orthodoxen, die Mutazeliten, die Ssufi),
die Dichtkunst bei den Arabern (Toghrai, Meidani, Mokri, Abul
Kasem, Abu Madin, Zamakschari, die Makamen von Hariri, Tausend
und eine Nacht , Antara , die arabische Dichtkunst in Spanien, die
Dichtkunst bei den Persern (Rudeki, Keikawus, Anssari, Firdusi,
Enwori, Senaji, Watwat, Nisami, Feriddedin Attar, Saadi), die
jüdische Wissenschaft und Literatur (die Mischnah, die Gemara,
den Talmud, Saadja, die Kabbala), die Juden in Spanien (Chasdai,
Ibn Gabirol oder Avicebron, Vahja, Juda Ha-Levi, Aben Esra,
Maimonides), die jüdischen Gelehrten in der Provence (S. 515— 532).
Die Aufschrift: Klosterwesen und Scholastik enthält
Suger von St. Denis, die Karthäuser, den Orden von Graramont,
die Stiftung von Fontevraud, die Cisteroienser , Prämonstratenser,
Carmeliter, die Schulen und die Wissenschaft, die Scholastik, An-
selm von Canterbury, den Nominalismus und Realismus, den Johan-
nes Roscellinus, Wilhelm von Champeaux, Abälard, Hugo von St.
Victor, Petrus Lombardus (S. 633—639). Der Hr. Verf. hat Bernhard
von Clairvaux (1091 — 1153) sehr hoch gestellt und in der Charakte-
ristik desselben keinen Fehler erwähnt. Bei kurzen Charakteristiken
darf auch die Schattenseite nioht fehlen. Die »zersetzende Schola-
stik < hat offenbar der wissenschaftlichen Bildung und dem Fort-
schritte des Menschengeistes mehr genützt, als Bernhardt mysti-
scher und leidenschaftlicher Eifer gogen den Rationalisinns. Bern-
hard ist nur dadurch gross, dass er alle Vorzüge seiner Zeit an
sioh trägt, die Begeisterung des Glaubens, die Thatkraft des Han-
delns; aber er leidet auch eben so sehr an den Gebrechen seiuer
Zeit; or steht nicht über ihr, er eilt ihr nicht voraus, wie jene,
welche auch in religiösen Dingen und Uber religiöse Dinge ver-
nünftig denken wollen. Man kann Bernhard als den Mittelpunkt
seiner Ztit, als das Haupt ihrer Bestrebungen bezeichnen. Er ge-
Digitized by
"Webet: Allgemein WeUgceehiohte.
brauchte seinen Verstand und seine Kenntnisse im Sinn und Geiste
seiner Zeit, für mystisch-ascetischo Mönchsheiligkeit, zur Hebung
des Wunderglaubens, wie er denn selbst an seine Wunder glaubte,
zur Verteidigung des Glaubens an Visionen und Offenbarungen.
Wenn es sich um Verfolgung der Ketzer, um die Begeisterung für
Kreuzzüge handelte, stand Bernhard an der Spitze seiner Zeit, wie
im Tadel der Laster der Laien und Geistlichen. Er hatte seinen
grossen Einflnss dem Umstände zu verdanken, dass er der Träger
des Geistes seiner Zeit war. Der leidenschaftliche Ton, mit wel-
chem Bernhard gegen Abälard auftritt, findet seinen Grund in der
Ueberzeugung, dass dieser dem Glauben der Kirohe schade; aber
Bernhard führt deshalb dennoch, wie es immer bei leidenschaft-
lichen Verfolgungen der Fall ist, eine übertriebene und eine unge-
rechte Sprache, die gewiss als ein Mangel an dem grossen Manne
zu bezeichnen ist, den er mit seiner Zeit theilt. Die Glaubens Selig-
keit ist nicht immer zu allen Dingen nütze Ist dies wohl zu
loben, wenn Bernhard über Abälard an die Kardinäle schreibt
(epist. 188): Irridetur simplicium fides, eviscerantur arcana dei,
qoaestiones de altissimis rebus temerarie yentilantur, insultatur
patribns, qnod eas magis sopiendas quam solvendas censuerint? Ist
es wohl die Sprache der Demuth und Liebe, mit weloher Bernhard
an den Papst Innocentius schreibt (epist. 189): »Man schmiedet
för die Völker und Nationen ein neues Evangelium , man stellt
einen nenen Glauben anf, man legt eine andere Grundlage als die-
jenige, welche schon gelegt ist. Ueber Tugenden und Laster strei-
tet man nicht moralisch, über Sacramento der Kirche nioht gläubig,
über das Geheimniss der heiligen Dreieinigkeit weder einfach noch
nüchtern, sondern mau bietet uns Alles verkehrt, anders, als ge-
wöhnlich, als wir es empfangen haben?« Mit voller Ueberzeugung
för sich, aber gewiss deshalb dennoch unter dem Einflüsse eines
(objectiv betrachtet) einseitigen und ungerechten Eifers schreibt
(epist. 359) er über Abälard : »Jener Mensch hat die Kirche befleckt,
mit seinem Rost hat er die Seele der Einfältigen angefressen, da
er das auf die Vernunft gründet, was die Seele mit der Lebendig-
keit des Glanbens ergreift. Wie es bei der Verurtheilung Abälards
auf der Kirchen Versammlung zu Sens (1140) herging, erzählt uns
Abälards Schüler, Berengarius Scholasticus, in seinem apologeticus
pro magistro contra Bernardum Claraevallensem (Abaelard opp.
p. 302 ss Bulaeus histor. univ. Paris, tom. II. p. 182 88.) Gieseler
selbst glaubt, dass diese keineswegs für die Sittlichkeit und den
Anstand der verurtheilenden Richter sprechende Erzählung »nicht
ganz unwahr sei«, wenn man sie mit den Briefen Bernhardt 870
und 189 vergleiche.
Mit Bernhard beginnt die erste vollständige Trennung des Scho-
lasticismns und Mysticismus, welche sich noch in Jobannes Scotus
Erigena und Andern vereinigt zeigen. Wenn auch der Mystiker, Hugo
tod St. Victor, ein edler uud roligiöser Charakter, der Wissenschaft
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20
Weber: Allgemeine Weltgeschichte.
noch gerecht ist, so zeigt sich doch in den spätem Victorinern,
wie gefährlich die von Bornhard begonnene Lostrennung des Glau-
bens von der Vernunft durch die maasslosen Sch wärmere ieu der
Phantasie wird. Bichard v. St. Victor (gest. 1173) bezeichnet in seiner
Schrift de arca mystica (1. 1, c. 6) als den sechsten und höchsten
Grad der Contemplation den Zustand, in welchen die Seele das schaut,
»was über die Vernunft ist und was ausser der Vernunft oder auch
gegen die Vernunft zu sein scheint. In dieser höchsten und wür-
digsten Höhe aller Betrachtungen triumphirt und jubelt wahrhaft
die Seele, wenn sie durch die göttliche Erleuchtung erkennt und
betrachtet, wogegen sich die menschliche Vernunft empört. So ist
beinahe Alles, was man uns über die Dreieinigkeit der Personen
zu glauben befiehlt, was, wenn man die menschliche Vernunft be-
rathet, nicht anders als ihr zu widersprechen scheint.« Walter von
St. Victor (1180) endlich nannte die vier berühmtesten Scholasti-
ker seiner Zeit die vier Labyrinthe Frankreichs und sagt, sie seien
» von einem aristotelischen Geiste angeweht, indem sie das Un-
aussprechliche der Dreieinigkeit und der Menschwerdung Gottes
mit scholastischem Leichtsinne behandelten, sie hätten einst viele
Ketzereien ausgespieen (evomuisse) und ihre Irrthümer keimten noch
immer (pullulare), man solle die goldenen Kälber fliehen, welche
jene mit ihren Gemüthern ruchlos den Christen zum Anbeten vor-
setzen, man müsse jene spitzfindigsten Wortgefechte derselben aus-
pfeifen ; ihre Streitigkeiten seien stinkende und ganz unbrauchbare
Spinnengewebe , in welchen die Teufel mit den Kälbern Samaria's
spielen, and nur dumme Mücken, die Söhne die Verderbens, unter-
gingen, man müsse die Atome und Kegeln jener Philosophon als
lächerlich verachten und den Bann über sie aussprechen« (cxcom-
municamu8). Er spricht von dem »Geiste und von den Beweis-
gründen der Teufel (Daemoniorum) , welche durch den Mund der
Ketzer gehen, man müsse sie eher auspfeifen (exsufflanda) , als
lesen, weil Alles, was von Gott geboron ist, die Welt überwindet.«
Sehr richtig sagt Heinrich Schmid in der »Geschichte des Mysti-
oismus des Mittelalters in seiner Entstehungsperiode« S. 191 von
Bernhard: »Dialektik, Metaphysik und überhaupt alle Philosophie
war ihm verhasst und verächtlioh. Er folgte lieber dem unmittel-
baren Antrieb seiner Begeisterung. Seine Sprache ist blühend,
edel, lebendig und fasslich. Er ist voll Witz und Bildern, schildert
die zartesten und innersten Verhältnisse des Menschen wahr und
ergreifend, und seine Ermahnungen und Warnungen sind ergreifend
und hinreissend. Aber das überströmende Gefühl führt ihn bis-
weilen zur Empfindelei, Künstelei und zur Schwulst.«
Ausgezeichnet ist die Schilderung des Zeitalters der Kreuzzttge
und der Hohenstaufen, treffend die Charakteristik Friedrichs I.
und Heinrichs VI. Mit dem zu Palermo am 28. September 1197
erfolgten Tode Heinrichs VI. »wurde der Lebensbaum des deutschen
Kaiserthums in seinem kräftigsten Wachsthum zerschlagen und ge-
<
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PomponluB Mel». Ed. G. Parthey. 21
feßt« So ist die schwierigere Hälfte des für die gebildeten Stände
unseres deutschen Volkes so überaus lehrreichen nnd anziehenden
Werkes vollendet. Möge es dem Herrn Verf., der sich einer blühenden
Kraft des Körpers und Geistes erfreut, ein günstiges Geschick ver-
gönnen baldmöglichst den Schluss des Mittelalters nnd die Geschichte
der Neuzeit hinzuzufügen ! Möge der mit Heinrichs VI. Untergang
»zerschlagene nnd gefällte Lebensbaum des deutschen Kaiserthums«
in unserer einer neuen Entwicklung entgegen gehenden Zeit als
Lebensbaum der Einheit und Freiheit unseres deutschen Volkes neu
erstehen! v. Reichlin-Meldegg.
Pomponii Melae de Choroqraphia libritres. Ad Ubrorum manu
gcriplorum fidem edidit notisque criticU instruxit Qustavus
Parthey. Berolini. In aedibus Friderici Nicolai (A. Eifert
et L. Lindtner). 1867. XXIX und 247 8. in gr. 8.
Es ist bereits mehr als ein halbes Jahrhundert verflossen, seit
der Schriftsteller, dessen neue Ausgabe wir hier anzeigen, keiner
neuen Bearbeitung sich erfreut bat, wie er sie doch wahrhaftig
verdient, schon aus dem Grunde, als er eigentlich der einzige
Schriftsteller auf dem Gebiete der Geographie ist, der uns noch
aus der alten römischen Welt erhalten ist. Seit der grösseren und
kleineren Ausgabe von Tzschucke (1807 ff. und 1816) und dem
Zweibrücker Abdruck (1809), um von dem Taucbniz'schen Stereo-
typabdmck (1831) nicht zu reden, hat man sich kaum diesem
wichtigen Schriftsteller zugewendet, bei dem er sich doch vor Allem
nm einen sicheren, der ältesten handschriftlichen Ueberlieferong
entsprechenden Text handelt, welcher als Grundlage jeder weiteren
daran geknüpften sachlichen • Forschung zu dienen hat. Wenn diesa
bisher minder der Fall war, so hat man sich um so mehr zu freuen,
diesem Mangel durch vorliegende Ausgabe jetzt abgeholfen zu sehen,
und wenn Jemand zu einem solchen Unternehmen berufen war, so
war es gewiss der Herausgeber, der auf dem Gebiete der alten
Geographie sich durch so manche Leistungen ausgezeichnet hat,
and durch die vorliegende neue Bearbeitung des Mela sich erneuer-
ten Anspruch auf unsern Dank erworben hat. Er hat sich dabei
zunächst auf den Text dieses Schriftstellers beschränkt, weil diess
das erste und notwendigste war; hoffen wir, dass er auch später
es nicht an näherer Erklärung zur richtigen Auffassung und zum
besseren Verständniss eines Schriftstellers werde fehlen lassen, von
dem er selbst bei seinen verschiedenen Forschungen über einzelne
Gebiete der alten Geographie mehrfachen Gebrauch gemacht hat,
und dessen Benutzung jetzt durch seine Bemühungen ein sicheres
Fundament gewonnen hat.
Bekanntlich fehlt es uns nicht an Handschriften des Pompo-
onw Mela, und wenn wir nicht irren, zählt Tzschucke an sechzig
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Pompontas Mela. Ed. G. Parthey.
derselben auf neben hundert und vier gedruckten Ausgaben : es
fehlt also nicht an einem reichen Apparatus criticus, wenn man
auf die Masse der daraus zusammengetragenen Varianten sucht,
und doch ist mit den meisten derselben nur wenig anzufangen,
wenn es sich um Wiederherstellung des ursprünglich von Mela selbst
ausgegangenen Textes handelt — wie es doch vor Allem unsere
Aufgabe sein muss — ■ indem die meisten Handschriften einer sohon
jüngeren Zeit, dem vierzehnten, ja meist dem fünfzehnten und sech-
zehnten Jahrhundert angehören, was ihren Werth und ihre Be-
nutzung verringern muss, wenn nicht in ihnon Copien alteren Hand-
schriften vorliegen und diess sich irgend wie nachweisen lasst. Eine
Ausnahme daran macht die Vatikaner Handschrift Nr. 4929, über
welche früher von Pressel im Rhein. Mus. N. F. II. p» 153 ff.
oine kurze Mittheilung gegeben worden war. Um so mehr war es
dem Herausgeber angelegen, von dieser Handschrift, wie von den
übrigen zu Rom in der Vaticana befindlichen Handschriften ge-
naue Auskunft und genaue Collation zu erhalten , und es ist ihm
diess auch gelungen, indem ein anderer Gelehrter, Adolph Michaelis,
diese Handschriften an Ort und Stelle verglichen , und über diu
Beschaffenheit derselben eiuen genauen Bericht erstattet hat, wel-
chen der Herausgeber in dem Vorwort S. Xff. mittheilt. Wir er-
sehen daraus, so wie auch aus der weiter über die andern vom
Herausgeber benutzten Handschriften gegebenen Mittheilung, dass
jene Handschrift des Vaticans , welche dem neunten oder zehnten
Jahrhundert, also noch dem Karolingischen Zeitalter angehört, und
welche auch noch Anderes, Bcachtenswertho enthalt, wohl als die
letzte Quelle der handschriftliehen Ueberlieferung anzusehen ist,
über welche wir bei der Kritik des Textes nicht hinauskommen ;
woher sie stammt, wissen wir nicht, ausser dass sie aus dem Nach-
lass des Cardinal Sirlet (f 1681), der selbst Bibliothekar der Va-
ticana unter Pius IV. geworden war, erkauft, spater in die Vati-
cana kam. In derselben findet sich unter dem Text des Mola die-
selbe Unterschrift, welche auch dem unmittelbar vorausgehenden
Stück der Excerpte des T. Probus (aus Valerius Maximus; siebe
Halm's Ausgabe p. 487, wo auch dieselbe Subscription aus einer
Berner Handschrift angeführt ist, welche in den Ausgang des neun-
ten Jahrhunderts verlegt wird) beigefügt ist: »Fl. Rusticiue
Helpidius Domnulus V. 0. et spö. com. consistor. emendaui
Rabennae.« Hiernach haben wir also in dieser Handschrift den Text
des Mela nach einer von Rusticius Helpidius gemachten Revision
oder Recension Vor uns, welche, wenn wir anders über das Alter
dieses angesehenen Mannes nur einigermasson im Reinen sind, in
das vierte ohristliche Jahrhundert fallen mag: über den Text die-
ser Recension hinauszukommen, wird nicht möglich sein: wir
wollen uns zufrieden geben, wenn es gelingt, diese Recension wieder
herzustellen, und diess wird bei diesem Schriftsteller, dessen Text
zumal in den Namen zahlreiche Verderbnisse bietet, nur duroh
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-
Pompontui MeU. Ed. G. Partbey. 28
diese vatikanische Handschrift möglich sein, indem ausser derselben
nur noch ein aus ganz junger Zeit stammender Codex Ottobonianus
1549 in Betracht kommen kann, insofern er eine davon genommeue
Abschrift enthalt, sowie eine andere vatikanische Handschrift aus
dem vierzehnten Jahrhundert Cod. Reginae 581, in welcher die-
selbe Subscription des Helpidius, etwas abgekürzt, am Ende des
ersten Buches sich findet. Die übrigen hier verzeichneten Hand-
schriften des Vatikans, darunter auch ein Palalinus (Heidelberger)
1567, welcher ursprünglich nach Mainz gehörte, bieten, da sie alle
neueren Ursprungs sind, im Ganzen nur wenig Erhebliches; eben
so wenig erscheinen die andern für diese Ausgabe verglichenen und
benutzten Handschriften von besonderem Belang, zwei Florentiner,
▼on Th. Heyse verglichen, eine Prager, verglichen von Professor
Pauly, eine Berliner, Wolfenbüttler, Leipziger und Breslauer, deren
Vergleichung der Herausgeber selbst besorgte, sie fallen sämmtlioh
in das vierzehnte oder fünfzehnte Jahrhundert: und wenn die Re-
sultate ihrer Vergleichung nicht von dem Einflnss auf die Herstel-
lung des Textes waren, so sind sie doch ein dankbar anzuerken-
nendes Zeichen der Umsicht und Sorgfalt, mit weloher der Heraus-
geber sein Werk unternommen hat. Andere Handschriften von
Belang, als die hier aufgeführten oder früher von Tzschucke be-
nutzten, sind uns auch in der That nicht bekannt ; die Dictata
des Peter Burmann, Ising und eines Dritten zu Pomponius Mela,
welche sioh handschriftlich auf der Bibliothek zu Gent befinden,
enthalten keine Mittheilungen aus Handschriften, sondern sind nach-
geschriebene Collegienhefte, darnach schwerlich für die Kritik des
Pomponius Mela von irgend einer Bedeutung ; s. Jules Saint Genois :
Catalogue des Mss. de la bibliotheque de Grand. I. p. 2. Dass der
Herausgeber auch nicht die gedruckten Ausgaben vernachlässigen
werde, war zu erwarten, um so mehr , als es eben sein Bestreben
war, einen sicheren, von den zahlreichen Veränderungen der ein-
zelnen Herausgeber freien, also einen urkundlich beglaubigten Text,
so weit als möglich herzustellen : was, wie schon bemerkt, nur mit
Hülfe jener vatikaner Handschrift und der beiden daraus abgelei-
teten möglich ist.
In der Praefatio hat der Herausgeber zuerst die wenigen Daten
hervorgehoben , welche über das Leben des Pomponius Mela noch
vorliegen, und zwar zunächst in dem (unterlassenen Werke selbst.
Wenn über seine Lebenszeit kaum eine andere Stelle, als III, 6, 4
oder nach vorliegender Ausgabe §. 49*), eine Auskunft gibt, so
liest es der Verf. unentschieden, ob in dieser Stelle an den Triumph
* Hier heisst es : „Britannia qualis eit qualesqne progeneret mex cer-
tiora et zn&gis explorata dicentur; quippe tamdiu clausam aperit ecce prin-
elpum maximuB, uec indomttarum modo ante ße verum ignotarum quoque
gentium \lctor, propriarum rcvum fidem ut hello affectavit, ita triampho
decUrmturuB portal
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24
Poroponius Mela. Ed. O. Parthey
des Caligula im Jahr 40 p. Chr. oder an den des Claudius im
Jahr 43 p. Chr. zu denken sei, mit allem Recht aber verwirft er
die Behauptung, welche hier an Julius Casar denken will ; sollen
wir uns entscheiden, so würden wir hier mit Tzschucke unbedenk-
lich an den Triumph des Kaiser Claudius denken, auf dessen Zeit
auch noch einige andere Spuren fuhren (S. XII bei Tzschucke), und
für dessen Feldzug und Triumph das bestimmte Zeugniss des Sue-
tonius Vit. Claud. 17 vorliegt, während von einem Triumph des
Caligula in Folge eines britannischen Feldzugs keine Spur vorhan-
den ist : denn was Suetonins Calig. 43 ff. berichtet, namentlich auch
von dem beabsichtigten Triumph (cap. 48. 49), kann hierher in
keiner Weise gezogen werden. Wenn wir also mit gutem Grunde
die Abfassung dieses geographischen Abrisses unter die Regierungs-
zeit des Claudius, um 40 p Chr. setzen, so können wir damit nicht
ganz in Uebereinstimmung bringen, wenn es hier S. VIII heisst :
dass Mela »non multum post Nepotis terapora« geschrieben habe,
wegen der Stelle III, §. 45 wo > Cornelius Nepos, ut recentior,
auetoritate sie certior« citirt werde. Allein in dieser Stelle wird
Cornelius Nepos ut recentior, dem Homer entgegengesetzt*),
so dass daraus wohl kein näherer Grund für die Destimmuug des
Zeitalters des Pomponius Mela entnommen werden kann. Nicht
anders und ganz allgemein wird daher auch die weiter unten §. 90
vorkommende Erwähnung des »Eudoxus quidam avorum nostrorum
temporibus cum Latbyrum regem Alexandriae profugeret« etc. zu
nehmen sein, da Ptolemäns Lathyrus zwischen 117 — 81 v. Chr.
regierte. Da nun Cornelius Nepos seinen Freund Attikus, welcher
32 v Chr. starb, zwar überlebt, aber kaum noch viele Jahre wei-
ter gelebt hat, sondern bald nach der Schlacht bei Actium (31 v.
Chr.) in den ersten Rcgieruugsjabren des Augnstus wahrscheinlich
gestorben ist, so dürfte immerhin doch mehr als ein halbes Jahr-
hundort zwischen Mola und Cornelius Nepos in der Mitte liegen.
Dass aber Mela in kein späteres Zeitalter, als das des Claudius
gesetzt werden darf, erscheint durch die einfache und correct«*
Sprache des Mela, seine ganze Darstellungs- und Ausdrucksweisc
hinreichend gesichert , und unser Herausgeber sagt nicht zu viel»
wenn er in dieser Hinsicht schreibt: »Commondatur Melae über
perspieuitate, concinnitate, ubertate« (p. VIII): Mela hat dabei in
seiner Darstellung ungemein Vieles zusammengedrängt, und dabei
doch eine gewisse Gleichmässigkeit in der Beschreibung der ver-
schiedenen Theile der Weit beobachtet, aus der man sieht, dass
das Ganze fliit einer gewissen Kunst und nach einem bestimmten
Plan angelegt und ausgeführt worden ist; und dass es auch, so wie
*) Die Stelle lautet III, 5, 8 oder §. 46: „8ed praeter physicos Ho/nc-
rumque qul Universum orbem mari circumfusum esse dixerunt, Cornelius
Nepos ut recentior, ita auetoritate certior, teste m autem rei Q. Metellum
Celerem adjiclt eumque ita retulisse commemorat" etc.
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PomponiüB Melft. Ed. O. Parthey.
es aus der Hand des Autors gekommen , als ein in Allem wohl
abgerundetes Ganze, jetzt noch uns vorliegt, dürfte eben so wenig
einem 7iweifel unterliegen: dass es in der Absicht des Autors ge-
legen, nach der Vollendung dieses kleineren Compendiums der
Geographie, noch eiue ausführlichere Darstellung zu gebe«, scheinen
die Worte der Vorrede: »dicara autem alias plura et ex-
actius, nunc ut quaeque erunt clarissime et strictim« wohl an-
iudeuten, bo wenig wir auch über die Ausführung dieses Planes
irgend Etwas wissen, und wohl mit Grund annehmen dürfen, dass
der Vorsatz unausgeführt geblieben ist, was wir nur bedauern
können. Was die Frage nach den Quellen des Mela betrifft, so
hat sich der Herausgeber über diesen Pnukt nicht weiter erklärt,
znmal anch Tzscbucke diosen Puukt bereits näher besprochen hatte:
dass unter den griechischen Autoren vorzugsweise Herodotus be-
nutzt worden ist, dessen Worte oft fast wörtlich wiedergegeben
sind, spricht gewiss für die Glaubwürdigkeit des Mela und sein
Streben, nur sichern und verlässigen Quellen zu folgen : dass er in
dem Einzelnen der Beschreibung einer vor ihm liegenden Land-
karte gefolgt, glaubt der Herausgeber ans der Beschreibung selbst
zu erkennen, was bei der Verbreitung von Landkarten in der römi-
schen Welt seit Augustus Zeit wohl möglich sein kann.
Den grösseren Theil der Vorrede nimmt eine genaue Beschreibung
der bei dieser Ausgabe benutzten kritischen Hülfsmittel ein, welche wir
schon oben genannt haben, und ist dieser Beschreibung eine Tafel
beigefügt, welche übersichtlich an einigen Beispielen, welche die Les-
arten sämmtlicber Handschriften enthalten, das Verhältniss derselben
zu einander, aber auch die Verderbniss, die namentlich in den Eigen-
namen fast durchgängig herrscht, darlegt. Darauf folgt der nach
diesen Hülfsmitteln hergestellte Text bis 8. 86 incl. und dann
die Notae criticae in Melam, welohe die Zusammenstellung des aus
jenen Handschriften , so wie aus der Vergleichung der Hauptaus-
-,raben hervorgegangenen kritischen Apparates enthalten und damit
dem Texte selbst seine Grundlage verleihen. Hier zeigt sich nun
gleich in der Aufschrift des ganzen Werkes eine Abweichung von
den bisherigen Herausgebern, welche nach den Anfangsworten der
Vorrede (»orbis situm dicere aggredior«) die Aufschrift De situ
orbis dem Ganzen gegeben haben, welche Aufschrift anch in jün-
geren Handschriften, wie die oben genannte Prager vorkommt:
diese bisher gewöhnliche Aufschrift, die aber schon darum schwer-
lich als die von Mela selbst gesetzte anzusehen ist, bat hier der
Aufschrift der ältesten vatikaner Handschrift De chorographia
(wofür die andere Vatikaner De cosmographia, jedoch von
neuerer Hand bietet) Platz machen müssen, und damit stimmt selbst
die Berliner überein, während die Wolfenbüttler und Leipziger D o
cosmographia enthalten. Wir halten unbedingt De choro-
graphia für das richtige, weil diese Aufschrift zudem, was Mela
geben wollte, ond auch in diesem Abriss wirklich gegeben hat,
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26 Pomponiqs Mela. Ed. G. Parthey.
ganz passt, der fremde griechische Titel aber um so weniger be-
fremden kann, als schon lange Zeit zuvor unter demselben Titel
ein poetisches Werk desVarro Atacinus angeführt wird: De cho-
rographia, was jedenfalls zeigen kann, dass eine derartige Be-
zeichnungsweise der römischen Welt nicht fremd war. Wenn, um
ein anderes Beispiel anzuführen, schon Tzschucke die am Schluss
von I, 1 (hier I, §. 8) vor »ultra quidquid est Asia est« in den
Handschriften folgenden Worte: »ad Nilum Africam, ad Tanain
Europen« als ein Glossem erkannte und dieses durch den Einschluss
in eckige Klaramern bezeichnete, so hat unser Herausgeber diese
Worte jetzt, und wohl mit Recht, ganz aus dem Texte gelassen,
da sie in der vatikaner Handschrift im Texte sich auch nicht fin-
den, sondern unten am Rande beigefügt sind. Dass namentlich
manche Eigennamen, zunächst Völkernamen eine andere Gestalt
erhalten haben, mag an einigen Beispielen gezeigt werden. In der
Beschreibung Asiens I, 2 werden §. 5 als Bewohner der inneren
Landstriche genannt: »Gandari et Paricani, et Bactri, Sugdiani,
Harmatotrophi, Comarae, Comani, Paropamisii, Dahae super Scytbas
Scytharumque desorta«, wie der von Tzschucke gegebene Text lau-
tot. In vorliegender Ausgabe ist statt Paricani gesetzt Pari-
ani, was alle Handschriften bieten und selbst die Codices bei
Plinius Hist. Nat. VI, 48; und ist das schleppende et, das vor
und nach diesem Worte folgt , gleichfalls weggefallen ; ferner
statt Sugdiani, was Voss und Tzschucke setzten , was aber in
keiner Handschrift steht, ist gesetzt Subsiani, was fast alle
Handschriften (die Prager hat Susiani) bringen; anch das gleich-
falls in keiner Handschrift vorkommende Harmatotrophi ist
ersetzt durch Pharmacotrophi, wie die Mehrzahl dor Hand-
schriften bringt; eben so Comarae ersetzt durch das handschrift-
liche Chomarae und Comani durch Choamani; ganz ver-
schwunden sind die von Voss und Tzschucke eingefügten Paro-
pamisii, die ebenfalls in keiner Handschrift stehen, an ihre Stelle
ist getreten Ropanes, was die meisten Codd. geben, einige auch
rophanes. Und lesen wir weiter, so finden wir bei Tzschucke:
»Super Amazonas et Hyporboreos Cimraorii, Zygi, Honiochae, Gor-
gippi, Moschi, Cercetae Toretae, Arimphaei atque ubi in nostra
raaria tractus excedit, Medi, Armenii, Coramagoni, Murrani, Veneti,
Cappadoces, Gallograeci« etc.; in vorliegender Ausgabe sind die
Zygi mit allem Recht ganz verschwunden, und ist dafür das hand-
schriftliche und richtige Cissi gesetzt, statt der von Tzschucke
gesetzten Heniochae (die auch ohne handschriftliche Gewähr sind)
stehen Anthiacae, wie die Mehrzahl der Handschriften bietet;
statt der Gorgippi ist nach den Handschriften gesetzt Geor-
gili, eben so statt Cercetae das handschriftliche Cor sitae
und statt Toretae, was in keiner Handschrift steht, Phoristao,
wio fast alle Cudd. haben; an dio Stelle vou Arimphaei, was
ebenfalls in keiner Handschrift vorkommt, ist das handschriftliche
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Pomponiua Mcia. Ed. G. Partbey.
27
Rimphaces getreten. Es mag aus diesen Proben sattsam er-
hellen, wie es mit der handschriftlichen Beglaubigung dos früheren
Textes steht, namentlich in den geographischen Namen, die doch
gerade in einem geographischen Handbuch besondere Bedeutung
ansprechen : es wird daraus auch erhellen, dass es keine Unwahr-
heit ist, wenn der Herausgeber S. IX schreibt, bei der genaueren
Durchsicht der gedruckten Texte habe er wahrgenommen: »Melam
minus ad codicum fidem, quam ad editorum, raaxime Vossii arbi-
trium esse emendatum«, und wenn er dann hinzufügt: ^quare
operae pretinm duxi, auctorem istum, geographiae romanao fontem
praecipuum ad librorum germanas lectiones revocare«, so wird man
darin kein geringes Verdienst erkennen, zumal selbst da, wo der
Name an einer Verderbniss leidet, doch nun eine sichere Grund-
lage gegeben ist, von welcher jede Verbesserung auszugehen hat.
Denn dass selbst der Vaticanus und die ihm zunächst stehenden
Handschriften von Verderbnissen verschiedener Art frei sind, wird
Niemand behaupten wollen. So lassen z. ß alle Handschriften IU,
9 §. 5 (§. 94) in den Worten: »Ultra hnnc sinum mons altus, ut
Graeci vocant, ®sav o%r]{ia perpetuis ignibus flagratc, das zweite
griechische Wort weg, indem sie blos theon geben, was daher
auch in dieser Ausgabe allein erscheint, während nach theon in
dem Original noch jedenfalls ein Wort gefolgt sein muss, was früh-
zeitig ausgefallen sein wird, und eben nach Strabo, Plinius u. A.
nicht wohl ein anderes, als ochema (o^jflK«) soin kann. In dem-
selben Abschnitt ist auf gleiche Weise die handschriftliche Lesart
an mehreren Stellen hergestellt, wie §. 9 desselben Capitels oder
§.99 bei Parthey, wo wir nun lesen: »contra eosdem sunt insulae
Dorcades, domus ut aiunt aliquando Gorgonum« statt Gor-
gades, wie Voss und Tzschucke, freilich ohne alle handschrift-
liehe Autorität gesetzt haben; eben so III, 10 §.3 oder §. 103,
wo die H im ant opodes und Pharusii dem bandschriftlichen
Scimantopodes und Pharusi gewichen sind; im folgonden
§. 104 ist beibehalten: >binc iam laetiores agri amoenique saltus
terote berini ebore abundant« was Lesart der Vatikaner und
einiger andern Codd. ist, bei Tzschncke in »citro, terebintho et
ebore« verwandelt; in den unmittelbar folgenden Worten: »Zigri-
tamm Gaetulorumque passim vagantium ne Htora quidem infe-
ennda sunt« ist ebenfalls Zigritarum nach der Vatikaner und
andern Handschriften aufgenommen statt Nigritarum, was Voss
und Tzschucke haben, was aber der handschriftlichen Beglaubigung
entbehrt; dasselbe ist der Fall I, 4, 3 oder §. 22 wo ebenfalls
Zigritao hergestellt ist statt Nigritae und Carusii statt
Pharusii. Endlich, um noch einen Fall der Art anzuführen, ist
in der Stelle, wo Mela seine Heimath angibt II, 6, 9 oder §. 9G
Tingentera, was die meisten Codd. haben, belassen, und tum,
du diese Handschriften daran hängen, dem folgenden Satz zuge-
wesen.
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Demosthfnis Or. t*eptio. Ree. Voemel.
Man mag aus diesen wenigen Proben ersehen, mit welcher
Gewissenhaftigkeit in der Behandlung des Textes, dem vorgesteck-
ten Ziele gemäss, verfahren worden ist: es sind daher auch die
griechischen Namen, die in der ältesten vatikaner Handschrift, so
wie in andern mit lateinischen Buchstaben geschrieben sind , hier
gleichfalls in diesen wiedergegeben und überhaupt in Allem mög-
lichste Treue erstrebt; es sind desshalb auch im Texte alle Worte,
die nicht auf handschriftlicher Grundlage beruhen , durch vorge-
setzte Sternchen bezeichnet, und da die äusserst sorgfältige Zu-
sammenstellung des kritischen Apparates in den notae criticae jeden
Aufschluss und Nachweis über die Bildung des Textes gewährt, so
ist damit jede Sicherheit für die Benutzung desselben gegeben, und
somit der Zweck der ganzen Ausgabe, wie wir ihn vorher mit den
eigenen Worten des Heransgebers angegeben haben, erreicht. Zur
Bequemlichkeit des Gebrauchs dient der über alle in Mela's Schrift
vorkommende Eigennamen, Personen- wie Orts- und Ländernamen
sich verbreitende Index, und auch sonst ist in der Anordnung der
notae criticae Nichts versäumt, was die Benutzung und den Ge-
brauch erleichtern kann. Chr. Kühr.
drjno6frevr)g ngog AfTtxCvr\v. Demosthenis oratio adverms Leptinem
cum arnumentis qraece et lotine. Recensuit cum apparatu
critico copiosistsimo edidit Dr. J, Th. Voetnelius. TÄpsiae
in aedibus /?. 0. Teubnerl 1866. VJll u. 200 8. 8.
Die Einrichtung und Toxtesbehandlung dieser Ausgabe ist die
nämliche wie in den von uns in diesen Jahrbüchern (1868. Nr. 21)
angezeigten beiden Reden des Demosthenes gegen Aeschines. Mit
gewohnter Umsicht und Gewissenhaftigkeit hat der Herausgeber
von der ihm zu Gebote gestandenen kritischen Ausrüstung Gebrauch
gemacht. Eine erhöhete diplomatische Beglaubigung verschaffte er
sich durch eine nochmalige Vergleichung des cod. 27, welche Herr
Meunier und des Florentiner cod. Laurentianus , welche Herr Wil-
manns, beide an Ort und Stelle, besorgt und ihm zur Verfügung
gestellt haben. Bei Feststellung des Textes stützt sich Herr
V o e m el vornehmlich : 1) in dem argumentum Libanii auf 17, 2) in
dem argumentum anonymi auf 9, 3) in der Rede des Demosthenes
selbst auf 24 Handschrilten. Als Vulgata ist in dieser Ausgabe
diejenige Lesart anzusehen , wclcho in den bei einer bohandelten
Stelle nicht namentlich angegebenen Handschriften und Ausgaben
enthalten ist.
Wie in seinen Prolegomenen zu den Contiones und den Reden
gegen Aeschines, so hat der Herausgeber auch in dieser Leptiuea
bewiesen, dass er mit des Redners Art und Kunst, mit seiner Ge-
dankenbewogung und Satzbildung, mit seinen Wendungen und Ueber-
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Demosthenia Or. Leptln. Ree Voemel.
fangen innig vertraut ist und dass er sich bemüht hat, in Kritik und
Interpretation nach den bewährten Grundsätzen zu verfahren, welche
Wittenbach yit. Ruhnken p. 220 ausspricht: Plurimum valet et ad
emendaudum et ad judicandum, frequente lectione scriptoris cum
eo familiaritatem contrahere, ejusque dicendi cogitandique forma
et quasi sono tritas aures et sensum exercitatum afferre, ut quovis
loco menti statim subjiciat, quid scriptoris consuetudo et ingenium
poätulet quid respuat. Schon in unserer früheren Anzeige Heidelb.
Jahrb. 1863. S. 328 hatten wir bemerkt, dass Voemels Prolego-
meca zu den Contiones Demosth. schätzbare Beiträge zu einer
Grammatik des Deraosthenes und damit zugleich normative Be-
stimmungen über Wortformen, Orthographie, Flexion u. m. ent-
halten, welche theils aus den Lesarten des cod. 2J, theils aus über-
einstimmenden Regeln alter Sprachgelehrten geschöpft sind und
einen geeigneten Massstab für Feststellung des Textes abgeben.
Demzufolge richtet sich Voemel auch hier wie in seinen früheren
Bearbeitungen vorzugsweise nach dem cod. 2J und demnächst nach
dem jenen controllirenden Laurentianus, mit welchen oft auch die
Vulgata übereinstimmt; doch nicht unbedingt und unbeschränkt
gilt die Autorität jenes codex primarius. Während er an vielen
Stellen allein allen übrigen Handschriften vorgezogen ist, wird er
an andern Stellen verworfen, wo er offenbar lehlerhaft ist oder den
erwähnten Text normen widerspricht. Wer den Demostheues kennt,
wird bestätigen, dass die Weglassungen des cod. 27 grossentheils
wohlbegründete sind und den reineren Text wiedergeben. Wo eine
Wortform vorgezogen ist, da ist Correctheit nachgewiesen. Weg-
lassungen sind zu billigen, wo die classische Einfachheit, die Küt zo
und Kraft, die ernste Würde des Stils durch die ausführliche; ro
Lesart beeinträchtigt erscheint, wo Zuthat sich verräth, welche
nicht verschönert, sondern abschwächt, wie sich dann Rhetoren z. B.
Hermogenes Einschiebsel erweislich erlaubt haben.
Gar oft ist die Redegewalt und Kuust nur in jenen kürzeren
Lesarten erhalten. Den Hiatus hat Voemel weit Öfter vermieden
als 27 und als Dindorf. Vielleicht ist hier mancher Vokal nicht
ausgesprochen aber doch geschrieben worden. Andererseits hat der
cod. 27 auch hie und da Worte, die in anderen Texten fehlen,
aber aus guten Gründen aufnahmswürdig sind, und zwar theils des
Zusammenhangs theils des Stils wegen, da z. B. rhetorisch empha-
tische Stelleu nicht für mterpolirt zu halten sind. Mehrere Stellen
dieser Art hat der Herausgeber in seinen Prolegomenen S. 230
vertheidigt. Wir werden dieselben an ihrem Orte besprechen. Ver-
gleichen wir den von Voemel festgestellten Text mit dem verbrei-
teten Dindorf sehen, so finden wir, abgesehen von zahlreichen auch
in 27 vorkommenden Hiatus, noch mehrere theilweise bedeutende
Verschiedenheiten. Wir haben überhaupt zu unterscheiden : 1) Weg-
\**siwgen im cod. 27. 2) Zugaben in 27. 3) Missbilligte Lesarten in
21 4) Vorgezogene Lesarten des 27.
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80
Demothenie Or. Leptin. Kec. Voemel.
Wir stellen nun vorerst eine Anzahl gleichartiger Fälle, so-
wohl Weglassungen als Zugaben der besagten Handschrift zusam
men, lassen die bedeutenderen Abweichungen von Dindorf folgeu,
und verbinden damit einige Bemerkungen, um deren freundlicho
Würdigung bittend.
1) Weglassungen (berechtigte) in £ theilwoise auch in ande-
ren codd.
Weggelassen ist:
§. 2. afpsCXexo nach ovmo xovg ^ovraff. §. 3. y zwischen
ixetv av. §. 4. xi]g doQiäg nach xvQlovg rjficcg elvai. 6. xal vor
dt ixslvo. Es ist schon in nötig dl xovxa enthalten, deshalb von
Bckker ausgostossen. §. 15. vofiov nach naoovxog. ib. xal xfj
ßeßaioxrrxi nach xrj dl «flg. Das Wort ist nicht demosthenisch
und würde die Antithese schwachen. §. 18. ov nach tyevdog av
wie §. 20. <&avri<S6iai afyov ohne ov. §. 18. xal AgiöxoysCxovog
nach 'Ag^odiov. Voemel folgt dem cod. 2J und beruft sich auf^de
f. leg. §. 230. §. 20. iöxai nach drt xi xovx\ §. 22. rj nach av-
ftooTtoi. §. 24, rj nach q>rjaovaiv. §. 25. ovxoiv nach ayad-otv
§. 26. iaxl nach &e&u,ivoig rjfiav. §. 24. xsxrija&ai nach xgoitov.
§. 31. xal nach aXXa. §. 37. iaxi bei TteTtottjxoxeg. §. 43. paXXov
vor (pavsgog. §. 46. tJfurg bei itoulv sv. §. 50. avxr)v nach itoietv.
§. 54. i} vor dgr)vr\. §. 55. (pavrj6o(xsd-a nach xaxot. §. 56. Oti
dfl nicht o^flfc §. 57. xqivo^isvov bei dd|r;. §. 68. ävrjg nach oy-
tog dann xov vor iteigaiwg und rov$ vor jrooTfpoi/. §. 69. xav
vor jravrcoi/. §. 73. xovg vor öxsilfO^ivovg und das von Dindorf
beibehaltene AaxedaipovCovg nach Xiysxai. §. 74. vjta£ nach 6V
df^ovr. §. 80. fifcv nach imaxacdsxa. §. 82. xai nach ovdsvog.
§. 87. ovrot vor twftV, da wie §. 116. 118. das Subject in ovg
enthalten. §. 90. detv nach äsxo. §. 100. nach av. §. 102. *fOg
Aiog nach fiot. §. 106. inaivetv ohne ^. §. 121. r) vor anavxag.
§. 124. fehlt ij vor yLtO^av ebend. plv vor izovqgov ifrog. §. 135.
tjJv vor J^fUÄV und £rt vor xaraAa?r£tcH. §. 139. avxa vor radt-
x^'ftara. §. 140. oöa iöxv nach ft^ftv. §. 153. f*h/ nach i>o'{i«.
§. 154. toV bei novrigbv.
2) Zugaben oder Beibehaltungen in E theilweise auch in an-
deren codd. ,
§. I. <og vor ai>. §.30. das doppelte fiiv. §.35. av vor o vo-
fiog, von Dindorf weggelassen. §. 93. iv vor to/£ (aptt^oxoW.
§. 84. vor avÖQEQ. §. 104. vor rfr^urjfxoras. §. 111. ffS
o^yapzfos xai fotfjrow&g nach jwyaAot. § 125. at %0QVj[y£at xal al
yv^vacutg%Cau §. 139. <Jjcoä<ö dl xal xovxo. §.141. noutts.
§. 155. ist cäff X9V vor zu streichen, obschon 27 u. a. diese
Worte haben. §. 161. og vitegixrjg r]v.
3) Missbilligte Lesarten in £.
§. 15. ayfoslxf. §.30. rjjuv und §. 54. jtgoöjxei. §.53.
^rv. §. 87. Weggelassen tcm/ vor ^ptov. §. 99. w<qv. §. 108.
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Demoethento Or. Leptin. Ree. Voemel. 81
Weggelassen rcov zwischen ulv und öicc. §. 109. urft jj^iag. §. 128.
XQaoiyQatlfav axsXrj. §. 135. fehlendes i%sw nach öoxovvxcw. %. 138.
«lityouug statt afrooovg. §. 147. (as%<ov. §. 158. duoxTUVvvvai
und qjuv. §. 163. (tej*«fi/<w. §. 33. 0€VÖa6ucv.
4) Richtige Lesarten in E.
§. 4. dt« rot). §. 7. rov£ und §. 8. xovxcov. §. 8. ijg. §. 10.
uw)ku6av. §. 25. öutuslvcu. §. 33. erJeQyBTtjxsv. §. 43. £V£py&ip;o.
§. 44. avros. §. 67. nrtTovg nicht jrÄa<Ttoi;s. §. 69. uovu ohne
tcn». §. 91. rd&g — or av. §. 90. oJero ohne fori/. §. 105. iuol
di). %. 109. negl tov ye. §. 115. evitoosi. §. 117. ro y diorgov.
§. 138. xQi&dvta. §. 139. xaAos tcöV. § 139. naget TadixifuccTa
ohne enrra. §. 120. dueXte. §. 126. ivxuv&ol.
Wir wollen nun eine Anzahl wichtigerer Stellen, namentlich
solche, wo Voemel von D in do rf abweicht, näher erörtern.
§. 1. chuoXoyr]Oa Tovroig, cog av oUg t cJ aweaetv. Mit
Recht ist ©£, welches dem Sprachgebrauche und der Bescheiden-
heit im Eingange der Rede angemessen ist, beibehalten.
— svgoudvovg wie §. 60. 159 f. leg. 339 besser als evqci-
pdvovg oder evQTjudvovg.
§. 2. iv dl tcö TtQogyQailxu urjös to komov d&tvcu Öovvcu
vpag to öovvcu vulv i^uvai (d<puXsto) die Worte vu. i£. haben
H. und F. A. Wolf, sowie Dindorf beseitigen wollen. Allein gute
Handschriften enthalten sie, und Demetrius de elooutione 246 führt
sie an. Auch §. 60 hat utjöb to Xoiitov ifelvcu öovvcu. Und §. 4
legt der Redner Gewicht auf die Befugniss des Demos >to xvqlov^
■fLiäg alvai indem Leptines Gesetzvorschlag den Athenern sogar das
Recht und die Befugniss der Schenkung (to öovvcu v\iXv i&lvai)
entziehen wollte, was ihnen jedenfalls anstössig sein musste. Eher
dürfte man das erste öovvcu streichen, wenn es nicht oin mtegri-
render Bestandteil der Gesetzformel wäre. S. Schäfer u. Benseier
z. 8t. Allerdings möchte man bei erstem Lesen ein Einschiebsel
verrauthen, allein da die verdächtigen Worte in 2 und einigen
anderen Handschriften stehen, und der Redner die Worte des Ge-
setzes vollständig wie sie lauteten wiederzugeben hatte, so müssen
diese beibehalten werden. So stehen die einander bestimmenden
Infinitiven beisammen §. 5. i&Zvcu tipfjöcu. Beispiele solcher bei
Dem. häufigen Zusammenstellung haben wir angemerkt aus §. 14.
Avcixskiotaoov eivcu xrp itohv itsitsix dvat Amxlvrp opoiov
avxfi yevda&cu öoxsiv rj — TteTtsfo&ai ouofav elvou xovxu.
§. 16. a\ov xivog slvcu xiuäö&cu. §.25. öoxetv dtecutivea. §. 51.
tvJLaßrjfrijvcu ad&ttflm. §. 111. i&dXuv dxovsiv. §. 125. acpeXto-
&ui Tcslöcu. §. 143. dÖixslv TzaQeaxevaö&cu. §. 2. xoy avxov rpd-
xovy ovntg xovg i%ovxag trp/ Öaoeav avaiCovg ivoyutpv , ovtca
xul zov dtjgjLOv ävd&ov rjyttto xvqlov slvcu tov öovvcu. Nach
i%ovxag wurde früher cupsCXato, statt ivoyu&v aber vo^Ctßw und
tu cuvtov nach öovvcu gelesen. Schon im Jahre 1861 hatte Voemel
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Demosthenia Or. Leptin. Ree. Voemel.
in seinem Programm : Critica ad Demosthenis Leptineam p. 8 seine
jetzige Textlesart nach 2J empfohlen. Klotz meinte, dtpulexo —
ivopi&v sei ein in lebhaftem Unwillen gesprochenes Ayndeton,
dessen Härte Andere durch ein vor ävafyovg eingeschaltetes xal
mildern wollten. Jedoch muss bemerkt werden, dass Dindorf be-
reits in seiner Ausgabe von 1855 den Text ganz so, wie er jetzt
bei Voemel lautet, hergestellt hatte. §. 4. 7t(3g (nicht oncog) xovxo
(irt iteiöoyLsd'a. und to xvQiovg ypäg elvai lesen mit Recht Din-
dorf und Voemel. §. 5. Öuc xov navxekag dxvQOvg ytvia&ai,
nicht rd, was Dindorf vorzog; to scheint aus dem §. 6 folgenden
öY ixflvo entstanden zu sein, welches aber selbst erst auf das
nachstehende diu xi antwortet. Hier ist tov als iustrumentale
besser als to causale.
§. 7. xatafii^tpofisvov xovg (Dind. xivag) int xalg vnao-
ypvGaig öoQsalg^ xovg ^pifoY^ous ovxag xdv xiaav anoaxagetv
Im cod. 2J steht xovg. Vergl. g. 1. 2. xuTuui'uij ist s. v. a.
xaxtjyoQOVVta (§. 2). Statt ijtl xatg vn. dag. hätte Demost. sagen
können : xag ÖOQsdg evQoue'vovg. Der bestimmte Artikel ermög-
licht die Fassung als wären alle mit Steuerbefreiung belohnte un-
würdig nach §. 2 ft (irj xiveg dkkd ndvxeg rjaav dvd&oi. Erst
später werden xiveg (einige) den xgr\6xotg entgegengesetzt. Wollte
man schon an unserer Stelle xivag statt xovg zulassen, so würde
sieh der Gedanke müssig wiederholen. §. 7. dvd^ioi xaxd xov
xovxcov koyov eiciv. Leptines und Genossen sind zusammenbe-
griffen daher xovxo v. So 27 Laurs. Vulg. Zwar wendet Dindorf,
die Lesart xovxo v vorziehend ein: »Quod in libris plerisque est
xovz&v etsi de Leptine ejusque soeiis intelligi potest, minus tarnen
apte positum foret post plura alia numeri pluralis nomina quae
praecedunt. Inter quae nullnm est quod Leptinis sociorum signi-
ficationem habeat.« Hingegen bemerkt Voemel: »At cf. f. leg. 36.
87. 150. 154. Orator digito facie toto corpore converso ad adver-
sarios satis aperte dicebat. §. 7. fiJjdh nkiov fidkkrj prjdlv slvai
ist mit Recht beibehalten. §. 8. d (nicht o mit Vulg.) naoaxedeC-
xafisv avxotg, xavx (nicht tovto Vulg.) dqpeX&pefrcc ; Dindorf
und Voemel. [Denn gleich darauf folgt xal xovx% ov pixoav fyptav
6<pXqö€iv fiikkovifav , was um so entscheidender ist, als hier in
keiner Handschrift tovto vorkommt.]
(ScMusb folgt.)
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Ii. 8. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR,
Demosthenis Or. Leptin* Ree. Voemel.
(Schlus8.)
§. 15. — cS pov(p (istfcvg d0t — xal xovx dcpaiostzai (Dind.
lULonzca. Voemel beruft sich auf §. 17. 6 xrtv ntaxiv ä<paiQciv
iQV da>Q£G>v (o pLovc) (ganz wie in unserer Stelle) xQsCxxovg tiolv
cd itaQ vueör dtofjtai', xovx d (pcuQSizat. Den Unterschied erkennt
man aus f. leg. §. 186 wo beide Verben in e i n e m Satze vorkom-
men: 6 xovg %oovovg ävaiQav ov %Qovovg ävrjQtjxsv äXXa ngäy-
aor axkag äqprjgrjxai, das erstore aufheben, sistiren, das letztere
gänzlich abschaffen, also stärker. §.15. Trj ply yäg zqsta
ig xöv svgiöxopivav tag dngeäg oC xvgavvoi — (läkiöxa Övvav-
tai Tuiuv. S Voemel excurs. p. 191, wo diese Stelle gegen Mark-
Und und Bake vertheidigt ist. xij %gda heisst: dem Bedürf-
nisse nach. §. 15. xij phv %Q&cc — zrj Sh tipf}. Dindorf setzt
die Lesart derVulgata: xal t fj ßsßaLoxrjxt, welche Worte in JEwegge-
m ßeßai f
lassen, in Laur. durch xij yBvvavoxn\xi verdächtig sind, in den
Text. Es sind aber nur zwei Gegensätze, %gsCa und ripq, und
J daioz)^ ist kein demosthenischer Ausdruck.
§. 1 7. rjg äv tivog nohxüag xo xoiiC&ö&ai xovg evvovg xotg
za&eöxaHftv %ägw äv (Dindorf lässt äv weg) i^ikfig^ ov fuxgäv
(fvXaxrjv avxcSv xavxrjv äqjrjgrjx&g iösi. Dindorf sagt: %ägw äv
reeepta optimorum scriptura soloecum est*. Westermann vertheidigt
es als eine Epanalepsi . Voemel vorgleicht symnior. §. 27. oöa yäg
iv vvv nogCßaix äv. Aber äv ist hier = wenn und ist rheto-
risch nachgesetzt, wie st und iäv öfter auch in unserer Rede.
§. 22. xovg agoxegov itovrfiavxag iäv rjÖLxtjfiivovg elöi]. §. 23.
rag tczsleiag iäv ätpikric&s. §. 61. ixuv&g ei Xoyfaaiti&s. §. 79.
uücv (iev %6hv ei — änaketisv. §. 130. olg ovx äxovöxsov äv
\vavxia xoXluc keyeiv. [L. LB.]
§. 18. tftevdog äv tfavtuj. Dind. setzt das in Vulg. nach äv
folgende ov hinzu. [Aber dann mtlsste auch §. 13. mit Cobet
xotovrov ov gelesen werden [L. LB]. Vgl. Voemel prol.gr. §.96.
In 27 fehlt ov. Vgl. §. 20. (pav^sxai ä^ov. f. leg. 200. xoiovxoq
(paivBtai.
§. 18. ovg iygaips — xovg ä(p 'AgpodCov. Die Vulg. setzt hinzu
xal Agttixoytixovog , aufgenommen von Dindorf. Aber 2 u. ra.
lassen es weg, wofür auch f. leg. §. 280 spricht wo das nämliche
Wort in 27 fehlt.
• « • • *
LX. Jahrg. 1. Heft. 3
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84 Demosthenls Or. Leptln.! R«c Voemel.
§. 20. öx£t(;(6[i€&cc, xi xovxo xfj itoksi. Dind. setzt iöxai nach
nokii aus Vnlg. Voemel vergleicht Olynth. 3, 17 Phil. I, 36.
f. B2. %v ovv XQttKxovx* KvftQGmoi [fj Dind.) nkeCovg — ku-
TOVQyrjöcMfiv. Da bereits 30 die höchste Zahl ist (Bake will ov
nksCovg, Westermann will r\ getilgt) so kann sie hier dem Zn-
sammenhange nach nicht vergrössert werden sollen. Nach Voemel
steht itkstovg fast adverbial [wie pccAttfra? LLßJ und damit stimmt
der Scholiast: oxav nokkovg ö<o(isv iao^isvovg xqiccxovxcc. §. 22.
iav — stdy. So aus E Voemel, flfffl aus Vulg. Dind.
§. 24. sl Öl v(prjQtj(ievov yrjöovötv tut akkov. Nach ipfeov-
aiv hat Dind. ij, welches in £ u. m. fehlt. Der Sinn gewinnt ohne
i}, wie Voemel übersetzt: sin subtractum arguent aliquo non quo
decet modo. Nicht von zwei Vergehen, sondern von einem Dieb-
stahl ist die Rede, so dass xiv akkov xqojcov als Epexegese zu
\xpr\Qrniivov anzusehen. Zu denken bleibt nolX i%£LV.
§. 25. x&qIs öl xovxcav vvvl xfj noku övolv aya&oiv [ovxoiv
Dind.] xkovxov [xe] xal xov itgog änavxag nuSxsvia&ui [pelQov]
£öxl %6 xfjs itfaxeag vxao%ov [qftfv]. Früher standen die einge-
klammerten Worte im Texte, sind aber mit £ zu streichen. Der
Kürze wegen begründen wir nur die Weglassung des, von Dindorf
beibehaltenen ovxow. Wenn man nehmlich mit letzterem nach
nokei abtheilt, ergibt sich als Sinn: Da es überhaupt zwei Güter
gibt .... (S. Voemel Critica in Dem. Lept. p. 519) während der
Zusammenhang fordert: eines von zwei Stücken die als Güter an-
zuerkennen sind, steht der Stadt, nämlich das Vertrauen, zu Gebote.
§. 25. xal ßeßatoig öoxslv ÖiayisTvai So VI. aus Z1, Ddf. öia-
fievstv. VI. bemerkt, dass »non tempus sed simpliciter actio
significaturc wie §. 85. Vom Wechsel der Zeitformen in Demosthe-
nes handelt VI. Prol. grr. §. 98.
§. 28. öieigyjxsv 6 vopog VI. öifjorjxsv Ddf. wie Dobree und
Westermann. Das erstere ist: diserte et accurate constituit, das
zweite = unterscheidet. Für Voemels Lesart entscheidet §.29.
Öid xo yeyaafpfrai iv xm voficy avxov öiaQQriÖrjy prföiva slvcu
axekrj fiij öieiorjG&ai öl, oxov dxekrj (mit £) s. v. a. öiaQQrjdijv
kdysi.
§. 30. "Etixi plv ydg yivei (tlv örjitov 6 Asvxarv %ivog* xfj 6s
iiclq vptov novrfizi itokCxrig. Das erste fihv ist von Dind. gestri-
chen. VI. hat es beibehalten aus 27. Denn durch das erste ixhv
stehen ^ivog und Ttokfarjg, durch das zweite yivsi und itotrjöei im
Gegensatze. Vgl. Voemel ad f. leg. §. 42.
§. 85. olg av 6 vopog ßkdifretv vp,äg tpaCvexai. Vgl. Voem. ad
Dem. Coron. §. 147 über T[v mit dem Futur. Inf. In nnsrer Stelle
vormissen wir eine deutliche Bezeichnung der codd. welche av lesen,
welches Dind. weggelassen. In Bekker: anecd. p. 127 ist nngre
Stelle mit av angeführt.
§. 88. yott$ai icotf VI. noxi Ddf. Brsterer beruft sich auf
f. leg. 88. 143.
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Or. Leptfn. Ree Voemel. 8ö
§. 43. attog av äv&Qcojcog wavefog yivox svvovg <ov vpfv
ij — d uccklov ekoito. Vor tpavsQog behält Dind. uäXXov, was
ia £ u. m. fehlt. Westermann vertheidigt es, weil es sich frage,
wie Jemand sich mehr woblthätig erweise. Allein mit Recht er-
widert VL, daes rj nicht nnr bei einem ausgesprochenen Oo«*-
parativ gebraucht werde, sondern überhaupt nach Verben der Aul-
wahl und Trennung, und vergleicht Sallust. Catfl. 30. Servir* quam
imperare parati estis. Die Vergleichung selbst folgt erat hier im
zweiten Giiede. Vgl. Voem. Critic. D. p. 8.
§. 51. 52. 53. ist die Leeart mfr des E Laur. zu verwerfen
und 171*1/ Torzuziehen. Dind. hat 1/ftTi/.
§. 54. slta taüta vvv et %Qr\ xvqi elvai öxotzovll&v; ak£ o
ioyog aiayßog totg öxoxov^dvotg, sl tig axovöeisv cog 'Ab ij v a l 0 t
öxoxovöiv. Die letzten Worte sind nicht mit Dobree au
§. 56. st ug ixetvovg tovg xaiQOvq iädv 17 ticlquv ij xiv&g
ddotog Ötf&ovTog ixovöag. Hier ist Nichts zu verdächtigen. J
metaphorisch »betrachtend« ist als das Generelle zu
dem Tiagcoi' und ixovöag als Theile unterzuordnen.
§. 61. ixeiv&g ei koyfaaLö&e muss zusammen genommen
eteuveog zum Vorausgehenden gezogen werden.
§. 65. tmv al<5%U$x<av iötlv tag dag sag — xal dy kekupi-
vae, jetzt schon nichtig geworden. Vgl. Voem. h. L .. §.67. xal
ytcQ xxtl£ iyitir EvJga£(irjv av iyoye xclq ifftfv elvai xlttöza,
Kai ardgag äofatovg xal x 16 tovg eveQyixaq zijg xoXe<og mittag
elvai. 80 aus 2J Voemel. Vulg. nldözovg hat Ddf. Der Begriff der
je ist aber aus nUiöta zu wiederholen wie §. 162. tov rptij-
TtolXag xal £dvovg xal xolevg xextriiidvov.
§. 71. Kovcov — ixetifirj^rj. Nach £. Ausser anderen
empfangenen Ehren wurde er noch dazu (ixl) geehrt. Den Ge-
brauch erhärtet VL aus Phorm. 19. Polyd. 6.
§. 73. axr^xoatB ov tQOXOv ifyataxi\6ai Uytxai ... In S fehlt
das von Ddf. beibehaltene Aaxedaitiovtovg.
§. 80. ixBvöri de — elkev% — ikaßev — axeqprjvev — iöttföev*
xr\vixavza ovx e(5t ca. xvqlk tu do&evta. Hier ist d' Bezeichnung
Nachsatzes.
§. 82. ßeßcatog tecog tpaivetai (pUoxofog. VI. erweist die ver-
wende Bedeutung von nag.
§. 83. eW. Ddf. elta mit Hiatus VI. nach Proleg. 95. §. 119.
§. 84. vaetg ^ VI. 0 Dd£
8. 91. xal yäo tote fikvy tiag tov zqoxov rovtov dvopo&d»
iow, roig (ihv vxÖQyovöi vofioig ifßdivxo. 80 VI. nach seiner
Feststellung in Proleg. gr. §. 132. Ddf. änderte sog. [VgL
L leg, 8. 026. LLB]. Gleich darauf Ddf. avzolg, VI aötotg nach
mwsxevaöav. Gleich darauf Ddf. Otav. VI. or av quandoeanque
dem ov ccp tqozov entsprechend. 8. die Lesarten §. 120. Ebend,
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Demoethento Or. Leptln. Ree VoemeL
%oqoxov81xs — diaX£%ccvxag. Hier ist inl %qovov mit %eiQ. zu ver-
binden.
^. 92. irq<pus^dxm> Ö3 ovd' oxiovv dia<piQOv0iv ot v6(ioi, dlX
iXiaxsoov ot vofioi xatf ov$ xa ilnjtpiopaxa Öet yodcpeGd-cu,
xeov 4»](pLönciTcov avxcov vfjUv efaiv. Ddf. hat mit den codd. vzco-
ztQOL, was man nicht ohne Verletzung der Wortbedeutung zu recht-
fertigen suchte. Es liegt aber ein offener Widerspruch vor. Die
Vorschrift kann nicht jünger sein als das, was uach ihr ausge-
führt wird. Vorübergehende oder dauernde Geltung, woran Wolf
und Benseier dachten, thut hier nichts zur Sache. Der Sinn fordert
durchaus: »erfolglos, eitel, kraftlos« Schon das Relativ xa& ovs
beweisst, dass gewisse bestimmte Gesetze gemeint sind, die das
Verfahren bei Gesetzvorschlagen regelten. Einen dem Zusammen-
hang vollkommen eutspreebenden Sinn gibt das Citat in Bekkers
An. p. 178 dXuoxeoov i. q. (iccxaioxsQOv , zugleich den spöttischen
Ton treffend. S. Voemel Critic. in Lept. p. 10. sqq. welcher
richtig erläutert: si invitis de rogatione ferenda legibus perferun-
tur decreta, haec Ulis magis valent et irritae sunt leges illae;
deinde quum et ipsa decreta nonnunquam ut Leptinea rogatione
accidit, irrita flaut, his certe illae sunt magis irritae.
§. 93. xeXevsi, mxg vuiv iv totg vuauoxuoiv. Ddi. lässt iv
nach dem Vorgang von Wolf und Schäfer weg, wie cod. F. Voem.
weiset darauf hin, dass der Redner gerne mit Präpositionen wech-
selt Prol. gr. §.100 (pac. 12. im — «g. Phil. 3, 11. inl— -e£g.)
§. 95. ä xovxov xov vofwv ycyouuutitcc Ddf. u. A. ziehen die
Stellung xov x. v. vor, wogegen aber §. 30. 99.
§. 100. sloi aoXXol xqojioi dt rav, av ßovkiftaiy ftetvcu xov
voyiov avxov dvayxdöei. Ddf. verbindet: dp ßovXrjxai x. v. Es
fragt sich von welchem Worte ftetvai regiert wird. Zu ßovXrjxai
ist zu denken xo xe&rjvai xov vofwv. Möchte der Herr Heraus-
geber erklärt haben, warum er wie Dind. ßovXtjxai ütivea x. v.
verbinde, und doch hinter ßovXrjxai iuterpungirt habe.
§. 104. TtOLtig y ov Xiyeig xaxag xovg sv xexeXsvxrptoxag.
Dind. ludst mit Laur. Vulg. ev weg, 2J enthält es. Obschou näm-
lich das Gesetz von allen Gestorbenen handelt, so war die grösste
Schuld doch die, wenn man die Pietät gegen gefallene Vertheidi-
ger des Vaterlandes verletzte. §. 80. §. 104. meint Reiske nach
cpuöKtdv einschalten zu müssen : xaxi]yoQ<DV. Wir besprechen die
Stelle unten ausführlicher.
§. 105. xig anrjy y s X X i (ioi neol xov firjdsvl dstv fitjöev dt-
dovcci. So aus £ VI. mit Anführung von Mid. 36. Coa. 38. von
unvollendeter Handlung, dagegen Ddf. mit Vulg. und Laur. a*jjy-
§. 106. d xrj itccQ ixstvoig nofaxHa ovuyiotL xavx imuvciv
dvdyxtj xal noielv. Die 2 letzten Worte sind nicht zu streichen.
Sie enthalten eine beissende Rüge »das Rühmen {inaivtiv) genügt
nicht, man muss es auch thun« [Man denke an obiges nvitjöovoi,
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Demoethente Or. Leptin. Reo. Voemel.?
soirtv. ivrav&ot VI. nach oodd. und prol. gr. §. 189. ivxav&l
eigenmächtig pdf.] §. 109. xov ys besser als ys xov.
§. 111. Öl cov psv ixstvoi fieyaXoL (xrjg oXiyao%iag xal ds<f-
xmsCag) hol — xav anoxxstvat, ßovXsö&at, xov nag xovxcav
xi xaxaöxsvccGavxa. Die eingeschlossenen Worte , von Eeiske ge-
schützt, bat Ddf. weggeworfen. Sie stehen in 27 Lanr. nnd allen
codd. und sind nicht zu entbehren um einen klaren Sinn zu er-
halten, und werden von Krüger (ad Dionys, histor. p. 469) als
Epexegese von di <ov gefasst. Der Genitiv hängt ab von ixstvoi
eine Versetzung wie §. 149 to*£ iv Tlsigaist xov örj^iov. [Solche
Versetzungen rhetorischer Art liebt bes. Lysias. S. m e i n e Schrift :
Lytias Epitaphios als echt erwiesen. S. 78 dort ist die Stelle or.
XIII, 40. ixsivrj ds Jtv&opevr] rjfiyisöpdvrj xs aiXav Cfiaxiov a<pix-
Ptfrm zu ordnen, daher nicht mit Kaysor xal axoxsigafiivrj ein-
zusetzen LLB.]
§. 115. svnogsi nach prol. gr. §. 78. s. §. 43. ifisXXs. Ddf.
hat rjvitogsi. §. 117. xoy a[ö%gbv o^ioicog. Man ergänzt mit VL
xoirjoai. Ddf. rouro, da xb sich zurtickbezieht auf xavrb rovro,
deshalb ist Artikel richtig.
§. 120. Xsyco, orav (Dindf. oxi av) ayiXrjöd's. S. z. §. 9.
ebend. xi yag iörl möroxsgov. Vgl. §. 43. man darf nicht hin-
ter itiöxox. interpnngiren, denn xi ist = qu1 quatenus. § 116. 145.
§. 123. Sia tov xmvds (die nach Leptines Unwürdigen) xaxrjyogstv.
So deutet der R. mit dem Finger auf die zuvor als q>avXoi be-
zeichneten. §. 124. ovx si x&v itdvxav adixyöoiisv xwa iisi^ova
yj iXaxxova ösivov iöriv. Vor pusifcovct hat Ddf. aus einigen oodd.
was VI. mit £ Laur. Vulg. weglies. Der Sinn ist nicht = quidvis
sondern das Grössere oder Kleinere ist betont.
8. 125. igovöiv oxi xccvx Csgdav iöxlv anavxa TavaXcouctxa
(ai ypQYiyiai xal at yv\Lvao'iag%iai). Die eingeschlossenen Worte
sind von Wolf und Dindorf verdächtiget. Man achte jedoch auf
ifOkiv , denn die avaX. sind nach §. 21. 25 dreierlei, also auch
■otlc.öi; mit, wiewohl letztere nach VI. z. d. St. nicht durchaus
hierher gehörte, und mit Recht hier tibergangen ist, indem der Be-
griff von Satavxa beschränkt werden muss auf die Choregie und
Gvmnasiarchie >ne quis enm (oratoreml superlationis ac trajectio-
nis accusaret«. VI. versteht die verschiedenen Gattungen der Chore-
gie. Nicht von der heiligen Stener (feo<nv), sondern von den Auf-
lagen Xsixovgyiav) gab es Befreiung.
§. 127 xi xovxo pafrnv ngoöiygatysv ; Ddf. ita&dbv. Aber
ua&t&v anf das [ucfrog bezogen beschuldigt der Unbesonnenheit,
nafrmv der Leidenschaftlichkeit. §. 128. TtXrjv tsgmv. VI. vergleicht
eoron. 40. dass hier kein Fragezeichen zu setzen.
Ebend. prjdeva slvai dxsXrj , itgoölyiiatysv nXrjv r. «. A.
Man darf nicht atsXrj xgociy. verbinden. Denn das schrieb er
binzu; ausgenommen die von Harmodios .... ebend. stys xo xcov
Uqqv tikog £&*l Xsixovgystv = stys xä Csga xsXstv xavxov iäxi
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De«othenifl Or. Luptin. Ree. Voemel.
xcd Xstrovoyitv, was §.127 ausgedrückt ist: sl r\v tsQcbv axiktiav
i%(LV xavxo xul XstxovQyuov , denn Heiligensteuer mussten Alte,
auch Harmodios Nachkommen geben: ovdh yap xovxoig axiXsux
xwv Uqwv iüu dtdofidvri (§. 127).
§. 129. tag Xtixovaytag 6x av uvca (pijg xmv teoimt statt:
xavtov uvca xccl xä Uqu. eb. uvö' i%ov<siv d. h. dxiXivav. Die
Coiijecturen ovöe xovxav iypvtiiv oder tinstv ijpvOiv sind abzu-
weisen. Der unterverstandene Gegensatz ist ovx ayaiott »du nimmst
ihnen die Atelie nicht und sie haben sie ohnehin nicht, c Mit Ddf.
axskug elvat zu e%ov<Siv zu ergänzen ist hart.
§. 130* — xcvog; rt tov psxoixiov; so mit Dobree VI. xivog
r}. t. (i. mit den codd. Ddf. welchem wir beitreten, da von xwoq
bis (xer, alt ein Satz zu fassen ist.
§. 131. « frooot nach Prol. gr. p. 91. Zu (pdüxovxsg ergänze
man: axeXatg elvai vgl. f. leg. 19. §. 132 die tiqo&voi, — ÖovXog
Avxidag n. diovvcvog xal reg aXXog jrp. ytyovadiv — gehören
unter die dvcfooi §. 101. §. 104. 112. §. 134. ovo* av et xi yi-
voixo. Markland verlangt ohne Noth ein ov vor ovd.
§. 135. xaXag xeov doxovvxav ist die bessere ans £ von VI.
entlehnte Stellung« Ddf. xov xaXag.
§. 1S6. fwydav xovxo. Des Nachdrucks wegen ein Zusatz zum
Vorausgehenden. Nach <pavrjö£6&s setzt VI. nur ein Komma statt,
was vorzuziehen, ein Semikolon. §. 137 xax avdga xoi&ivxa aus
£ VI. xQt&ivxag Ddf. exaGxov xiva als je einzeln ist betrachtet,
nicht die Geeammtheit xdvxag ~ d&ooovg. §. 139. oxond) dl xal
xovxo. Mehre, auch Ddf. streichen diese Worte. Mit Unrecht! Das
folgende ort hängt ab von «Jtoj nicht von Xoyov. F. A. Wolf sagt :
»haec verba quam nihil hnc faeiant quum caecus sit qui non videat
piget id pluribus verbis demonstrare.« Aber von xal bis Xoyov
ist Parenthese. Und erst mit dem Folgenden wird die Aufmerksam-
keit anf Erwägung der Sache selbst gerichtet Zudem finden sich
die angefochtenen Worte in allen codd. was VI. zwar nicht hier
aber in seinen Proleg. crit p. 231 bemerkt hat4
§. 240. oxov iiofö&xeQOv (rfpojDdf) iaxlv i} n6Xu$. nach 2
Laar, wodurch der Hiatus vermieden ist.
§. 141. ixl xoig xeXsvxTjaaöi (xdg xaqjccg noittxs xal) Xoyovg
l**%atp(ov$. Die eingeschlossenen Worte hat Ddf. entfernt, noistv
xtupag wird gesagt von den Behörden, welche die Begräbnissfeier
berathen und veranstalten, noiovfievoi sind die Begrabenden sel-
ber. Z bat xatg xayalg zalg Ör^kOcCaig. Unsere Lesart hat Voem.
einer Randverbessenwg des 27 aus dem eilften Jahrhundert entnom-
men. Obechun allerdings auch andere Hellenen öffentliche Begräb-
nisse ihrer gefallenen Krieger hatten, so hielt man doch nur zu
Athen Xoyovg imzaipürvg. Vgl. noch Voemel prolegg. critic. p. 233.
§. 145. d piv xotvvv iyxaXwv avxotg Xeysig. Als antwortende
Conjnnction erklart Voemel xotwv und vergleicht Xenoph. Uyr. 1,
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Demosthenis Or. Leptin. Reo. Voemel. 39
§. 146. *A%flvuv$ schreibt Ddf. mit dem 8p. lenis Wj. und
ebenso im Index Yoerael zu den eontiones. Warum? ebend. cacov-
<5OTf xal axonelxB) ersteres vom schnell vorübergebend Gehörten
letzteres von längerem Nachdenken. Vgl. §. 1637 167 und über-
haupt Voem. prol. 97. ^. 98 über Abwechselung der Zeiten, ebend.
toit sveöTiv (td tijg dxtXuag), xav ixEiv & ti doftivtav. F. A»
Wolf verdächtigte das Eingeschlossene als ein Glossem, es ist aber
Epeiegese zu tovto und tt ist von H« Wolf gut mit ßigog erklärt.
§. 149 ytygaqiev Ddf. dafür VI. auf coron. 79 sich berufend y
lygaytv.
§. 155. xal n agav o Cag do^av alöxCöxrtv xtj tcoXbi xccxccXsitul*
So iteht in den codd. Ddf. ändert xaQavoyUag nach Reiske und F. A*
Wolf > stnlte mstieegue oratorem loqui feecrimt librarii qui dedenint
zagavoCag.* Allein mit Recht bemerkt VI., mit welcher Bitterkeit
dar Redner die Verkehrtheit seiner Zuhörer "rjgtä z. B. Phil. III,
54. §. 153. ytXolov vofjup avvdixstv vvfwv ö ccvrovg nagaßaCvitv.
Räch vopqy hat Ddf. ans Vnlg. piv^ welches in 27 u. m. fehlt.
§. 158. ccxoxxBivai ulv iv ys xotg nag rjpilv yopoig ifciütai.
Ddf. Vfrfv. Unsere Lesart ist in £ Lanr. Vnlg. enthaltend
§. 160. prj xal tu usXXovtol jyfag. Das vorhergehende xa irgo
xov xccTfutßtpov i. e. öwgrißuxa bezieht sich auf frühere bewilligte
Begünstigungen, welche dem Leptines missfielen. Vgl. 8. 2.
— iE — & — h* «n — f * * * j r L-
$.161. ovo — TjXmaav — ixp wog ygtc^jiaxBcag (og vtct}-
ohrjg tfv) TVQavvT}<Js6&cci. Das Eingeschlossene hielt Reiske für
interpolirt und Ddf, hat es gestrichen. Aber Dionysios heisst ge-
rade wegen seines Schreiberamtes passend vxrjgdxrjg. Polyaen, V>
2, 2. ^dtovvtfLog Evgaxooioig vitrjQsrav xal ygauixccTevcdv. Demosth.
oor. §. 261. ygaufiarsvsiv xal vxijgexelv totg ay%idloiQ. Ebend.
xvgavvTjöeo&ai nicht wie Vulg. tvgawrjfrqöcöfhxi nach der Prol.
gr, §. 107 begründeten Regel.
Man ersieht aus obigen Textbegründungen, dass der Herr
Herausgeber auch in dieser Bearbeitung die Kenntniss des demos-
thenischen Sprachgebrauchs unter treuer Benutzung aller früheren
Leistungen bereichert, und die in seinen Prolegomenen aufgestellten
grammatischen Regeln weiter bestätigt hat. Wenn wir uns nun
erlauben, auch unsrerseits einige Bemerkungen hier niederzulegen,
so geschieht «lieses nicht sowohl in der Absicht, das vorliegende
Werk zn bemängeln als um unsere Theilnahme für die Sache zu
bethätigen.
§. 1. steht zweimal tivexa, ebenso §. 2. 41. 88. 98 hingegen
baut §. 110. tüvBxa §. 117. 128. aber ivsxa §. 110. 123. dvexa
fc, 145. Der §. 116 der Prolegomena gibt keinen Aufschluss. wann
die starke und wann die schwache Form stehen müsse. Dindorf
hat allerwärts svexa geschrieben. Die Form oi'oiua (nach 2J) wech-
selt mit oipai erstere §. 163. 98. 109. 120 letztere §. 21. 23. 113
und scheint die vollere Form in betonterer Aussprache vorgezogen
worden zu sein* §. 146. steht 'Atyivuvg (Dind. mit spir. len.) da-
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40
Demosthenis Or. Leptin. Ree. Voemel.
gegen 'J&viia in Prol. gr. §. 50 die Form reXaQ%(p ohne An-
gabe des Grundes der von Dindorf beliebten 'JysX&Q%<p §. 149
vorgezogen.
§. 58. £V dl rj dvo dei%ag hi ^(piöfiata aitaXXdxxo pect,
xov itsgl xovxav Xiysiv. Hier steht Präsens statt Futurum, weil
die Handlung unmittelbar bevorsteht. Vgl. Philip. 1, 28. xoiko drj
xal itEQCcivG) (nicht tcbquv6 vulg.). f. leg. §.32 xaxaßaCv(o. Do-
mosth. symm. 22. fisxä xtxvxa Xiyo. Vergl. Voemel cont. p 433.
§.112. wäre ovdl öixaiov genau ne justum quidem* zu tibersetzen.
§. 116. scheint KQoyovoig v^uov 'majorum nostroruin ein Druck-
fehler zu sein. Desgleichen scheint 93. (Cvvibxb ov xqoxov 6
UoXav xovg vopovg (6g xccXag xeXsvn) nach xsXbvu das Wort
xiftivai ausgefallen zu sein durch Druckfehler, da in den Anmer-
kungen nichts über eine handschriftliche Auslassung erwähnt ist.
Fehlte das Wort in irgend einem cod., so wäre etwa die Stelle
ähnlich wie §. 90. Sexo mit fehlendem öetv zu beurtheilen.
§. 104. Tcjv evsgysxav x<ß delvi pefupoptvog xal xov dtlv
ävd^iov rivai qjdöxav, (ov ovölv ixsivoig xqoö rjxsv. Die
vier letzten Worte scheinen von keinem Ausleger bisher richtig
erklärt zu sein. Reiske meinte nach cpdöxav einschalten zu müssen :
xaxrjyoQ&v. F. A. Wolf erkannte zwar, dass av auf idiupcö&at
(^lefKpofisvov) und dvdfyov dvai (pdöxeiv sich beziehe, aber er
lehrte nicht, was unter av nQoörjxev zu verstehen. Schäfer be-
hauptete, av sei Masculin >qui quae deliquerunt (d. h. der nnd
jener) eorum nihil ad illos (die Woblthäter) pertinuit.c Unwürdige
Nachkommen jener Wohlverdienten seien gemeint. Dindorf wendete
oin: haec sententia obscurius enunciata foret quam ut intelligi
potuerit. Dobree verbesserte und Dindorf setzte wirklich in den
Text: av (raascul.) ovöelg ovdev ixeCvoig 7tooarjx€v quorum (i. e.
uvatyav) nemo cum illis horoibus genero conjunetus erat. Dies
wäre aber der Thatsache widersprechend. Ktesippos des unter den
Wohlthätern vorzugsweise namhaften Chabrias Sohn war, wenn
7tQOöijx6V von der Verwandtschaft zu verstehen wäre, ein ecXrj&ag
TtQoörjx&v. Allein der Gegensatz ist nicht der: ob verwandt oder
nicht, sondern ob der Atelie würdig oder unwürdig. Voemel erklärt
wie Schäfer, nur noch umfassender: av (mascul.) quorum repre-
hensorum vel e tuo judicio indignorum nihil (nulla propinquitas,
nulluni facinus, nulla omnino res) ad illos bene meritos pertinebat.
Zugleich widerlegte er Schäfer aus f. leg. §. 183 beweisend, dass
ovdi allerdings für ovöixsgov stehen könne von zweien. Allein
hier liesse sich ja ovdsv umfassend verstehen : Nichts von
Allem dem worin sich jene als unwürdig getadelte verschuldet
haben.« Keine dieser Erklärungen kann befriedigen. Der Zusam-
menhang fordert, dass von einem thatsächlichen den rühmlich Ver-
storbenen widerfahrenden Unrecht gesprochen werde. Dieses Un-
recht, welches Leptines beging au Verstorbenen wie Chabrias, be-
stand darin, dass er behauptete, »von allen jenen Ehren und Aus-
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I
t
Dexnosthenis Or. Leptio. Ree. Voemel. 41
leicbnungen gebühre ibnen keine.« Daher ist av Neutrum. »Du
erklärst den und jenen für unwürdig {ixelvcov i. e. tiucov, deogscov,
cxdiefag) jener Schenkungen, Auszeichnungen als von welchen (cov
i. q. &g ctv) deiner Ansicht nach keine ihnen gebührte.« Hingegen
müssen Dobree, Schäfer, Voemel unter ov ovÖlv ein rjfuxQrrpcivei,
mxSg noirjaai, denken. Unrichtig ! Zu verstehen sind vielmehr un-
bestreitbar nach §. 60. tifuci, dtdXsia, tvegyaöia, 6ivq6$tg. dtogsaU
uvTjutta. §. 60. hlni<pl<3ccG&e aneg ytvyovöiv evegy ixaig di
vpag ngoGrjxs, ngo&vLav, evegyedtav, dxiXuav anavxav. §.107.
Gziepavoi, axdXuai, öixrjösig.
Vgl. §. 112. noX£ dydtf tfgyaGuivoi xiv\g ovdevog rfeovvxo
TOiovrov. §. 163. öxdtpaö&s nag1 aXXtßa xal Xoycöaö fte —
clta (pvXaxxext xal ^fivrjöd-e^ Nach des Herausgebers Bemerkung
zu §. 146. (dxoväaxe xal oxonetxe) würde man XoyiQöd* erwarten.
§. 139. dst xexoXaöfi&'Ovg avxovg naget xddixrjitaxa (pac-
i'M&ai. Dindorf hat die Lesart nag at)xd xddixyuaxa beibehal-
ten. Aber 27 u. m. lassen avxd weg. Letzteres hiesse: ipsis recen-
tibus injuriis, 'gleich nachdem die Vergehen verübt wurden. Ohne
avzd ist der Sinn: »während die Vergehen fortwirken«, für
welche Bedeutung von naget sich VI. auf coron. §. 285 beruft, wo
aber trag avxd xd Ovußdvxa steht. Hier ist der Ort, den be-
merken swerthen Gebrauch von naget mit dem Accusativ in dieser
Rede abzuhandeln. Ausser unserer Stelle kommen in Betracht §. 26.
32. 41. 44. 55. 56. 86. 110. 111. 139. 142. 159. 160. 163. Die
Bedeutung, welche als allgemeine alle Besonderheiten umfasst, ist
las Verbältniss einer» (mathematischen) Angemessenheit, Gleich-
mäßigkeit. Daher das nach Ort, Zeit, Länge, Breito, Grösse, Zahl,
Art, Form etc. Angemessene. Auch in den Fällen , wo es mit
praeter gegeben werden mag, ist es nicht — nXrjv Ausnahme,
sondern »daneben, obendrein, auf gleicher Linie'. Wir gehen aus
von §. 163 : als der Normalstelle GxityaOd'E nag aXXrjXa, indem zwei
Stücke, die Annahme und die Verwerfung des Gesetzes neben
einander gelegt und die möglichen Folgen gegenseitig abge-
messen werden. Demnach §. 26 naget z. dandvag xal ätp&ovt'ag
im Verbältniss zu den Verwendungen und reichlichen Leistungen.
§. 32. naget t. zgidxovxa uvgidftag ratione trecentorum. §. 41.
rca naget xaiovxov xaigbv den Zeitumständen gemäss = in solchen
Zeiten. §. 55. rtana tdg %g£tag den Bedürfnissen entsprechend.
56. naget ndvxa. z. Xoyov die ganze Länge (Verlauf) der Rode
hindurch. §. 86. naget zeig svsgyeöi'ag die ganze Dauer der fort-
wirkenden Wohlthaten. §. 110. naget zavza der Zeitlänge ange-
messen, während welcher ihr diese Einrichtungen habet. §. 111.
xaget navza zavza neben Allem bisher Angeführten (Linie, Reihe).
§. 139 die Zeitlänge der ddixrjuaxa. Aehnlich §. 159 wie §. 44
xag ovg (xaigovg). §. 142. naget navza z. %govov. §. 1Q0. naget
xdvra zavza wie §. 111.
§. 145. ei öh TcxariQiov noist zov xä dixai elgrjxivat XCav
tvrfteg noutg. Eine treuliche Stelle, welche den Unterschied des
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4»
Scherer: Leben Willirams.
Mediums notet, 'machst dir einen Beweis' (für deine Verteidigung)
und Activums xoutg > machat es sehr einfaltig«, deutlieh veran-
schaulicht.
An Druckfehlern sind una au8ser den oben bezeichnten be-
gegnet: p. 19. Z. 4. v. u. atatt prote8tate 1. poteatate. p. 42 Z. 12
v. u. L ponendum. p. 57. Z. 13. v. o. L aibi. p. 59. Z. 22. v. o.
1. commutatio. p. 123. Z. 14 v. u. at. libri 1. liberi. Für künftige
Ausgaben wären grössere Ziffern der Anmerkungen zu wtin8cben,
um das 8chnellere Auffinden und den Ueberblick zu erleichtern.
L. Le Beau.
Wilhelm 8 eher er, Leben Willirams Abtes von Ebersberg in Baiern.
Beitrag zur Geschichte des XL Jahrhunderts. Wien, Karl
Gerold'* Sohn. (Abgedruckt aus dem Maihefte des Jahrgangs
1866 der Sitzungsberichte der philos.-hist, Classe der kaiserl.
Akademie der Wissenschaften. [LI IL Bd., S. 197—303.]
Diese Arbeit wird den Historikern und den Philologen, die
sich mit dem deutschen Mittelalter beschäftigen, gleich willkommen
sein. Zuerst werden die Quellen kritisch beleuchtet, die historia
Eberspergensis von 1600 und die beiden Chroniken von 1250 und
von 1048. Der Verfasser stellt die chronologischen Erfindungen
der spateren Quellen heraus und vermuthet unter den Grundlagen
der beiden Chroniken auch Lieder. Das eine, deutsche habe eine
etymologische Sage über die Gründung des Klosters berichtet und
vielleicht jene Verse bei Notker Der eber gat in Utun usf. ent-
halten: eine Combinatiou, welche dadurch gestützt ist, dass nach
derx Chronik ein famosae religionis clerious Chuonradus de Hewa,
quod est oppidum juxta Potamicum lacum — also ans der Nähe
von St. Gallen — das Erscheinen des mythischen Ebers der Grtin-
dnngaaage deutet. Das andere, mehr klösterliche als volksmässige
Anschauung verrathende, lateinische Gedicht, welches noch durch
die Prosa der Chronik durchzublicken scheint, handelte von zwei
ungleichen Brüdern, von denen der eine die frommen Stiftungen des
andern dem Kloster vorenthielt, bis er durch gewaltige ünglüoks-
schläge erschreckt und bekehrt wurde. So ansprechend jedoch diese
Vermuthangen auch sind und so sehr die dabei gestellte Frage
über die Entstehung und Fortbildung der Legenden zu allgemeinerer
Forschung anregt, so sind doch noch wichtiger die sicheren Ergeb-
nisse der Untersuchungen , die sich — nach kritischer Beurthei-
lung des Nekrologs, des cod. traditionum und concambiorum —
auf die Abfassungszeit von Willirama Paraphraae des hohen Liedes
beziehn. Die in Hoffmanua Ausgabe angeaetzten Zahlen erweiaen
aich als ralaeh. Weder iat die Leidner niederdeutsche Handschrift
1057 geschrieben, noch ist die Rubrik, in welcher der Verfasser
Babinbergensia scholasticua, Fuldenaia monachus, alao nicht abbas
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Sberspergensis genannt wird, von Bedeutung gegenüber der eignen
Widmung Willirama an Heinrieh IV., nicht den IH, wie man bis-
her geglaubt hat. Diese Berichtigung hat allerdings kurz vor dem
Erscheinen der Arbeit Scherers auch Prof. Wattenbach in der zwei-
ten Auflage seiner Geschichtsquellen Deutschlands im Mittelalter,
in den Nachträgen S. 542 gegeben. Scherer setzt die Widmung
etwa in das Jahr 1068, die Vollendung des Werkes aber schon
in die Mitte des 7. Jahrzehnts. Er entwirft sodann mit Benutzung
les Materials der Traditionen ein geistvolles Bild von Willirama
Leben und Streben, dessen literarische Seite schliesslich in Ver-
gleich gestellt wird mit dem Leich Ezzos: dieser, derselben Zeit
mgehörig, eröffnet den Eintritt der mittelhochdeutschen Dichtung,
wahrend Willirams Arbeit die althochdeutsche Prosazeit abschliesst.
Ernst Martin.
Jotef 'Haupt, Untersuchungen zur deutschen 8age. Bd. I. Unter*
tuchunQcn zur Gudrun. Wien, Commürions- Verlag von Carl
Gerolds Sohn. 1866. X 157 8.
Referent hat lange geschwankt, ob er sein Urtheil über dies
Buch Öffentlich aussprechen sollte. Der Verfasser hat sich von vorn
berein gegen die Beurtheiler seiner Schrift verschanzt. Er sagt
S. VIT : » Weit zurückgeblieben zu sein hinter dem Ziele, das wer-
den mir, des ist kein Zweifel, aufs eifrigste nachzuweisen traohten
diejenigen , die sich bis jetzt mit der deutschen Sage beschäftigt
haben«, und S. X: »Mögen sie (seine Gegner) wie schon öfter,
wüthen über mich und mein Werk ! « Bei der weiteren Leetüre des
Buehee erkennt man jedoch bald, dass der Recensent, der sich
diese herben Worte zuzieht, sein Schicksal mit fast allen Forschern
t heilt , die bisher den Gegenstand des Buches behandelt haben :
ihre Ansichten werden entweder mit ausdrücklichem harten Tadel
oder stillschweigend auf die Seite geschoben. Aber auch sie mögen
sich über das abschreckende Urtheil des Verfassers trösten mit dem
gemeinsamen Prädicate des deutschen Volkes S. VIII: »Gänzlich
verkommene Enkel, vielmehr Bastardenkel der weltbeherrsohenden
Männer«; und selbst dies wird Überboten durch S. 14, wo die
.Kraber »an Leib und Seele stinkend« genannt werden!*)
So glaubt Ref. den über ihn im voraus ausgesprochenen Bann
als stilistische Eigenthümlichkeit des Verfassers ausser Augen las*
*) Herr Haupt schilt a. a. O. darüber, dass man Rüdiger den vater aller
tagende für einen wirklichen Araber gehalten bat. Und doch liegt ein Grund
cioet zu fem, au» welchem der Verfasser des Btterolf den mMden Mark-
anten dorther stammen lassen konnte. Unter den Mustern der Preigeblg-
Itit bei den mittelhochdeutschen Dichtern steht Saladin mit oben an, siehe
Wtlther 19, Wilhelm von Tyrus nennt ihn »upra modum liberalem
Wiften, Gtescb. der Kreuzlüge HI, 2, 8»).
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44 Haupt: Untersuchungen «ur deutschen Sage.
sen zu dürfen. Anch fordert die Meinung des Verfassers über sein
Werk, das er für ebenso epochemachend hält, als J. Grimm's Gram-
matik, s. S. VII, zn einer Prüfung auf. Zunächst also die Grund-
sätze dieser Untersuchungen.
Die Hauptaufgabe, die der Verfasser sich stellt, ist: die Oert-
lichkeiten der Heldensage zu bestimmen; ja abgesehn von der
etymologischen Deutung einiger Namen ist sie die einzige. Von
dem eigentlichen Inhalt der Sage, von den wanderbaren Thaten
und Eigenschaften der einzelnen Helden ist so gut wie gar nicht
die Rede. Auch nicht von denjenigen Anknüpfungspunkten der
Sage, die noch stärker hervortreten als die geographischen, von
den historischen. Der Gedanke, die Oertlichkeiten als das fest-
stehende in der Sage anzusehn, ist aber nicht, einmal neu, 8. Unland
GeB. Sehr. I, 131, wo er auch sehr einfach widerlegt wird. Die
Namen der Völker und Länder, der Gegenden und Städte wechseln
in der Sage noch viel mehr als die der Helden: eine und dieselbe
Sage wird an verschiedenen Orten erzählt, wie die Eckensage am
Niederrhein und in Tirol , oder der unzählige Male wiederholte
Drachenkaro pf. Es ist aber sehr begreiflich , dass die einzelnen
deutschen Stämme die alten Sagen in ihrer Heimath zu localisiren
suchten. Die geographischen Beziehungen sind also gerade das aller-
äusserlicbste und unursprünglichste Element der Sage, und sie wur-
den um so willkürlicher angesetzt, je weiter sich der Kreis der
geographischen Kenntnisse ausdehnte, je mehr besonders in Folge
der Kreuzzüge fremde, namentlich orientalische Gegenden hinein-
gezogen wurden.
Aber schon in sehr früher Zeit lässt sich eine solche willkür-
liche Localisirung nachweisen. Um ein bekanntes, aber schlagen-
des Beispiel anzuführen, so heisst Hagen in den Nibelungen be-
kanntlich von Tronege. Dies ist ein Ort im Elsass s. Lachmann
zu 9, 1. Aber in der späteren Thidreksaga heisst er af Troja und
in dem früheren Waltharius: veniens de germine Trojae. Dass
Tronego seine ursprüngliche Heimath war, dafür spricht nichts;
wohl aber lässt sich Troja ans der bekannten Sage, dass die Fran-
ken von den Trojanern abstammten, erklären. Wie diese Sage
selbst entstanden ist, lässt sich auch nachweisen. Ein Hauptort
der Franken war Xanten am Rhein. Er hiess in römischer Zeit
colonia Trajana; daraus machte die Halbgelehrsamkeit spätestens
des VII. Jahrhunderts Trojana; und den Namen ad sanetos, wel-
chen die Stadt von dem hier localisirten Märtyrertode der theba-
ischen Legion führte,- brachte sie mit dem Xanthus bei Troja zu-
sammen. Daher im Annolied der Bach Sante und die luzzele Troie
s. P. E. Müller, Sagenbibliothek II. Bd., übersetzt von G. Lange
S. 171. Dies Beispiel beweist doch wohl zur Gentige, dass die
geographischen Beziehungen der Sage vielfach unursprünglich sind,
selbst in sehr alten Quellen.
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Haupt: Untersuchungen zur deutschen Saga
46
Noch unhaltbarer ist der zweite Grundsatz des Verf.; ja er
trird jeden, der die Schule der klassischen Philologie durchgemacht
hat, ungeheuerlich dünken. S. VIII: ^Für mich gibt es keine fal-
schen Lesarten (der Namen): jede hat das Recht einer Erklärung
gewürdigt zu werden , da die Schreiber genau wissen konnten,
warum sie so schrieben und nicht anders.« Aisoes hat nie Schreib-
fehler gegeben ? Da haben wir ja mit Einführung dos Druckes einen
schlimmen Rückschritt gemacht, denn Druckfehler sind ja selbst
bei der genauesten Sorgfalt kaum ganz zu vermeiden. Aber ein
Blick auf die besten Handschriften überzeugt leicht, dass auch sie
nicht frei von Fehlern sind: um wie viel mehr muss man den
vielen späteren und schlechten misstrauen ! Und selbst angenommen,
jeder Schreiber könne in seinen Namen jeden Buchstaben vertreten,
ist es denn wirklich die Aufgabe zu wissen, wie die einzelneu
Schreiber sich die Heldensage vorgestellt haben? In Gedichten
eines bestimmten Dichters ist es selbstverständlich, dass man seinen
eignen Worten nachspüre und alles, was nachweislich davon ab-
weicht, bei Seite werfe; aber auch in den volksthümlichen Denk-
mälern muss es eine älteste Lesart geben, von der die andern ab-
stammen.
Sehen wir nun zu, wie der Verf. diese Grundsätze durchge-
führt hat, so ist zunächst charakteristisch die Auswahl der Quellen.
Die Schwierigkeiten der Gudrun werden erläutert aus den Ueber-
lieferungen der späteren und spätesten Zeit z. B. aus dem Ge-
dichte von Dietrichs Flucht, ja aus Ayrers Dramen und aus Albi-
nus New Stammbuch, Leipzig 1602 ! oder aus ganz fremden Quellen,
Rittergedichten von französischer , selbst byzantinischer Grundlage
und ganz willkürlicher Behandlung, aus Mai und Beaflor, aus dem
Meieranz des Pleiers! Da kommt denn freilich, namentlich da alle
Handschriften gleiches Recht haben, ein ungeheurer Schwall von
Namen zusammen und das trübe Wasser ist da, iu dem es sich
so gut fischen lässt !
Und noch trüber wird es sich durch die Ungenauigkeit der
Citate. So wird der Rother (den der Verf. merkwürdiger Weise
Ruo c her nennt, etwa einer einzelnen Lesart der ganz sohlechten
Pfalzer Handschrift von Dietrichs Flucht V. 1315 zu Liebe?) nach
dem älteren, als ungenau bekannten Abdrucke v. d. Hagens citirt
und natürlich in zwei kurzen Zeilen die Lesart der Handschrift
zweimal falsch angegeben S. 28. Dieselbe Ungenauigkeit zeigt sich
auch in den mhd. Texten des Verf. Auf S. 4 und 5 werden fol-
gende Fehler wiederholt — denn die einmal vorkommenden mögen
als Druckfehler gelten — : magst, wie nhd. wie auch, Rlenolt.
Das weitere Verfahren kann hier natürlich nicht im einzelnen
widerlegt werden : das würde ein Buch orfordern so stark wie das
des Verf. Also nur einige Beispiele. In der Thidreksaga kommt
ein ApoJJonius vonTira (Tiram, Tiro) vor. Hier hatte man bisher
geglaubt ein sicheres Beispiel von Einmischung fremder, unvolks-
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46 Haupt: Untersuchungen rur deutschen Sage.
thümlicher Namen zu haben, da Apollonins von Tyrus bekanntlich
der Held eines im späteren Mittelalter verbreiteten und vielbe-
arbeiteten Romans ist. Aber nein. Tiro soll nach Herrn Haupt
Thüringen sein, das mittelhochdeutsch wie noch heutzutage in der
Aussprache seiner Bewohner mit D anlautete: so stimmt also nur
das r des Namens! Das durfte Peringskiöld 1715 übersehn, aber
kein heutiger Philologe. Mit gleicher Kühnheit wird A pul Ion ins für
einen von den vielen Apels erklärt, die in Thüringen vorkommen
und Apolda soll mit seinem Namen zusammenhängen 1
Die meisten Namen aber, wie die ganze Gudrunsage werden
in das Land zwischen Elbe und Oder versetzt, ja noch weiter:
Ormanie ist Ermeland in Preussen. Also Gegenden, die erst als die
Gudrun entstand und zum Theil noch später von den Deutschen
erobert wurden*), sind der Schauplatz der deutschen Heldensage!
Und wie werden die Namen dieser Gegenden und die der Helden-
sage gequält bis sie endlich zu einander passen ! Im Ortnit kommt
ein Heide Zacharis von Cecilje vor, der den Hafen zu Messin be-
sitzt. Dies wie überhaupt die Einzelheiten des Gedichtes stimmt zu
den Zustanden des Jahres 1225 , wie Möllenhoff gezeigt hat Zeit-
schrift für deutsche Alterthumswissenschaft Bd. XIII. Cecilje wird
zudem Sioilien stets in Ottokars östreichisober ßeimchronik ge-
nannt. Aber wiederum nein. S. 31 : In einer einzigen Stelle in
Alfreds Orosius heisst es, dass man Vinedaland Syssyle nenne:
das ist nach Herrn Haupt Cecilje in der Heldensage, die über drei
Jahrhunderte später im mittelhochdeutschen Ortnit erscheint.
Endlich ein Stück aus der Gudrunsage. Bisher hat man ge-
glaubt, die Entführung Hagens durch den Greifen sei eine Übel an-
gebrachte Reminiscenz aus der Sage von Herzog Emst und habe
keine alte, echte Grundlage. Herr Haupt sieht darin die Erziehung
in fremden Landen allegorisch dargestellt, wie sie die Götter ihren
Lieblingen angedeihen Hessen. Das Greifenland aber ist — Pommern.
Aus Micrälius, einem Chronisten des XVII. Jahrhunderts wird nach-
gewiesen, dasB der Greif das Wappen Pommerns und der meisten
pommer'8chen Städte ist; auch die Städtenamen, Greifenhagen,
Greifswalde, Greifenberg werden angeführt. Aber ist damit auch
nur bewiesen, dass Pommern dies Wappen schon 1225 hatte, in
welcher Zeit etwa die Gudrun die heutige Gestalt erhielt?**) Und
selbst dann wäre doch noch die heraldische Allegorie überaus be-
denklich.
*) Oder soll die Localisirung aus der Zeit vor der Völkerwanderung
stammen v Aber wir wissen von dieser Zeit so überaus wenig, und nichts,
was für diese Annahme spräche. Und zweitens wurde ja die Heldensage
erst während der Völkerwanderung ausgebildet.
* * / Herr Prof. Watteubach macht mich aufmerksam, dass der Greif ab
pommersches Wappen allerdings schon 1214 vorkommt (Hassalbach u. Kose-
garten, Cod. dipl. Fomeraniae I. 232). Entstand aber die Heldenaage oder
wenigstens ihr Kern erst im Xm. Jahrhundert?
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Haupt: Untewndrongen zur deutschen Sage. 49
Das Endurtheil aber Herrn Haupt's Untersuchungen wird also
sein, dass sie die Kenntniss der deutschen Heldensage fast in kei-
nem Puncto gefördert haben, dass sie nicht einmal die bisherigen
von ihm so hart geschmähten Annahmen irgendwie erschüttert
haben. Es möge mir gestattet sein diese hier kurz zusammenzu-
fassen, um dann einige eigene Vermuthungen anzufügen, die frei-
lich der zwingenden Nothwendigkeit entbehren, aber dies auch
offen eingestehn.
Die Hauptsache ist die beiden Sagen, die von Hilde und die
ven Gudrun auf ihre Grundlagen zurückzuführen. Bei der ersteren
ist dies durch ein nordisches Zeugniss in höchst willkommner Weise
erleichtert. In der Snorra-Edda p. 163 Rask wird erzählt, warum
die Schlacht der Hiadninge Sturm heisse. Ein König Högni habe
eine Tochter Hildr gehabt, welche König Hedinn, Sohn des Hiar*
randi geraubt habe. Högni sei erst nach Norwegen, dann nach den
Orkneyen nachgefolgt, wo sie bei Haey zusammen trafen. Hildr
habe nun ihrem Vater ein Halsband gebracht von Hedinn zur
Sühne. Högni wies sie zurück : die Schaaren traten sich gegenüber.
Kochmals rief Hedinn seinen Schwäher zur Versöhnung an, aber
dieser antwortete : Es ist zu spät ; jetzt habe ich Dainsleif gezogen,
das Schwert, das eines Mannes Mörder werden muss, ehe es in
die Scheide zurückkehrt. Hedinn entgegnete: Du rühmst dich des
Schwertes, aber nicht des Sieges. Der Kampf begann und wahrte
bis zum Abend. In der Nacht aber ging Hildr und weckte die
Todten auf. So kämpften sie Tag für Tag : die Gefallenen und ihre
Waffen wurden zu Stein; aber wenn es tagte, standen sie von
neuem sich entgegen. Und so soll der Hiadnlnga vlg, der Kampf
der Hedininge bis zur Götterdämmerung, bis ans Weltende dauern.
— Noch fügt Snorri ein Citat über die Sage aus dem Skalden
Bragi hinzu, der im neunten Jahrhundert gelebt haben soll.
Es ist ganz offenbar, dass die Hildesage unseres Gedichtes
sich hier wiederfindet: die Entfuhrung von Högnis Tochter Hilde
durch Hedin, wovon unser Hetel Deminutivform ist, und nachher
der Kampf. Selbst Hiarrandi ist in unserem Horand erhalten. Der
Name bedeutet vielleicht »der Harfenschlftger« Zeitschr. f. d. Alt
12, 812. Die angelsächsiche Form ist Heorrenda und so wird ein-
mal in Deörs Klage der Sänger der Heodeningas genannt. Dies und
Hiadninga ist nur nur eine patronymische Ableitung von Hedin ; unsere
Hegelinge bieten dasselbe Wort in einer Entstellung. HedinsName
gibt über die ursprüngliche Bedeutung der Sage keine Auskunft:
er heisst der mit dem Fell bekleidete, was vielleicht ursprünglich
überhaupt einen Helden bezeichnete. Charakteristisch dagegen ist
der Name Hilde. Er bedeutet Streit ; es ist eine Kriegsgöttin, eine
Bellona. Oft wird ihr Name unter den Walkyrien genannt und als
solche gibt sich Hilde durch ihre zauberische Auferweckung der
Todten zu erkennen. Dieser Zug, der auch in anderen Sagen z. B.
in der von der Hunnenschlacht wiederkehrt, wird von Saxo be-
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sonders hervorgehoben, welcher im V. Buch die Geschichte von
Hognias (gewöhnlich Hoginus geschrieben) und Hithinus erzählt,
ihren Kampf aber nach Hedinsey verlegt, der Insel des Hedin,
womit er Hiddensee westlich von Rügen meint. Er lässt sie zwei-
mal kämpfen: einmal siegt Hognius, schenkt jedoch dem Jüngling
das Leben, aber nach sieben Jahren erneut sich der Kampf, in
welchem beide fallen.
Allein man darf noch tiefer, in einon mythischen Ursprung
hineinblicken. Simrock in seiner Mythologie 2. Aufl. S. 380 macht
auf das Halsband aufmerksam, durch welches sich Hilde als Freya
zu erkennen gibt. Ausdrücklich wird Freya als die Anstifterin des
Kampfes genannt in einer Sage von Olaf Tryggvason , Fornaldar
Sög. 1, 391. Die Hedningon, welche ewig fortkämpfen sollen, sind
nach Simrock die Einheriar, die Helden in Walsall, die täglich
kämpfen und täglich neu wieder erstehn.
Und selbst hier darf man nicht stehen bleiben. Wie allem
Mythus eine Naturanschauung zu Grunde liegt, so auch hier. Freya
ist die Güttin der schönen Jahreszeit. In den vielen Sagen von
Raub oder doch wenigstens dem Gelüste, das die Riesen nach ihr
haben, und dem mächtigen Zurückweisen derselbeu durch Thor hat
man die Frühlingsstürme zu erkennen, wie Uhland im Mythus von
Thor sinnig nachgewiesen hat. Der junge Held Hedin, der die
Göttin der riesischen Gewalt entzieht, ist der Sohn des besten
HarfenschlUgers ; vielleicht hat er selbst ursprünglich diese Kunst
besessen und bei der Befreiung angewandt.
Im mittelhochdeutschen Gedichte stehen neben dem trefflichen
Sänger noch ein Heldenpaar, die zu ihm einen doppelten Gegen-
satz geben: Frute und Wate. Letzterer hat freilich ausser der
Fechterkunst, die er unvermuthet zeigt und durch welche er sich
die Liebe Hagens gewinnt, nichts charakteristisches, und ist wohl
aus der Gudrunsage, wo er als Rächer um so gewaltiger auftritt,
in die Hildeusage erst eingefügt und allerdings sehr gut verwendet
worden.
Frute dagegen vertritt neben der Sangeskunst ein anderes
Mittel zur Gewinnung der Braut, die listige Freigebigkeit, durch
welche die Habgier der Gegner rege gemacht wird. Dass die Braut,
welche entführt werden soll, auf's Schiff gelockt wird, kommt häufig
vor. So im zweiten Theil des Rother und im Märchen vom getreuen
Johannes.
(Schiusa folgt.)
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Ii. 4. HEIDELBEEGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Haupt: Untersuchungen zur deutschen Sage.
(Schlußfl.)
An die Hildensage schliessen sich zunächst mehrere , wie es
scheint, ans ihr abgeleitete Gestaltungen. Am fernsten zu stehen
-oheint die von Walther und Hildegunde. Der Held entführt seine
Geliebte, deren Name aus dem der Hilde durch Zusammensetzung
weiter gebildet ist, aus der Gewalt eines grimmigen alten Herr-
sehers ; auf der Heimkehr besteht er feindliche Angriffe. Hier ist
nun wohl der alte Name des Verfolgers der Hilde, Hagen, die Ver-
anlassung gewesen die Sage in einen bekannteren Kreis einzufügen.
Hagen ward als der Franke-Nibelung , der Dienst manu Gunthers
gefasst. Von den verfolgenden Helden aber wurde der alte Herr-
scher getrennt und für diesen die schon typisch gewordene Fignr
Etzels gewählt. Früh ging diese Umgestaltung der Hildensage vor
sieh : wir haben Bruchstücke eines angelsächsischen epischen Ge-
dichtes, welches nicht später als das VIII. Jahrhundert sein kann,
im X. dann die in den kleinsten Details sagenhaft ausgebildete
Darstellung des Waith arius. Noch ähnlicher wird die Walthersage
der von Hilde, wenn, wie man vermuthet hat, die polnische Sage
(W. Grimm' s Heldensage 158) in dem Gesänge Walthers bei der
Werbung einen echten Zug aufbewahrt hat. Allerdings ist diese
Herleitung der Walthersage aus der von Hilde, welche ich nach
Möllenhoff Zeitscbr. 12, 274 gegeben habe, nicht in allen Punkten
unbestreitbar ; allein weder eine andere mythische Grundlage noch
eine historische, welche bei Attila oder bei Gunther anzuknüpfen
hatte, ist bis jetzt vorgebracht worden.
Ebenso scheint die Herburtsage nur eine andere Form der
Hetel und Hildensage zu sein. Sie erscheint in zwei Quellen, dem
Biterolf und der Thidreksaga. In der letzteren erhält erhält Herburt,
der an Dietrichs von Bern Hof verweilt, von diesem den Auftrag,
für ihn um Hilde, die Tochter des Königs von Bertangenland zu
werben. Er wird von Artus unfreundlich aufgenommen, bleibt aber
bei ihm und verschafft sich durch List Zutritt zu der strengbe-
wachten Königstochter: er lenkt ihre Aufmerksamkeit auf sich,
indem er in der Kirche eine silberne und dann eine goldene Maus
vor ihr vorbeilaufen lässt. Als er seine Werbung bei ihr anbringt,
heisst sie ihn Dietrichs Bild an die Wand malen. Er macht es so
hässlicb, dass die Königstochter ihn auffordert sie lieber für sich
selbst zu werben. Er entführt sie und tödtet dabei Hermann und
LX. Jahrg. 1. Heft. 4
-
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60
Haupt: Untersuchungen tur deutschen 8age.
andere Ritter des Königs, die ihn verfolgen. — Hier findet sich
also der Name der Hilde wieder, auch die Entführung und Ver-
teidigung gegen die Verfolgenden. Aber die Einzelheiten sind zum
Theil spät. Die List mit den Mäusen erinnert an den Morolf, der
die Katzen des Königs Salomon, welche ihm die Lichter halten, durch
zwei Mäuse aus der Fassung bringt und damit beweist, dass Natur
über Gewohnheit gehe. König Artus von Bretagne ist natürlich
der Held der ritterlichen Romane ; er und ebenso sein nichtsbe-
deutender Ritter Hermann sind wohl an die Stelle anderer Namen
getreten. Diese gibt uns der Biterolf.
Hier steht bei dem grossen Turnier vor Worms Herburt von
Dänemark auf Seiten Gunthers gegen Dietrich. Er erzählt, dass er
Hildeburg, die Tochter Ludwig' s von Ormanie entführt und gegen
ihren Vater und ihren Bruder Hartmut vertheidigt habe, dass er
ferner einen Riesen in ihrem Lande und ausserdem Goltwart und
Sewart erschlug. Dann habe ihm Dietrich mit Hildebrand seine
Braut Hildeburg entreisson wollen, sei aber von ihm zurückge-
schlagen worden. — Dies Verhältnis« zu Dietrioh ist wohl ur-
sprünglicher als das in der Thidreksaga. Das Anrennen Dietrichs
und Hildebrands stimmt aber überraschend zur Walthersage. Was
Goltwart und Sewart bedeuten, weiss ich nicht; auch der Riese
ist wohl willkürliche Zuthat. Die normännischen Könige Ludwig
und Hartmut sind wahrscheinlich historische Persönlichkeiten ; welche,
muss wiederum dahin gestellt bleiben. Ebenso wenig lässt sieb
mit Bestimmtheit sagen, dass sie in der Herburtsage älter sind
als in der Gudrunsage: aber dafür spricht, dass auch die Hilde-
burg in dieser aus jener entlehnt zu sein scheint. Bemerkenswerth
ist, dass im Biterolf eine listige Entfuhrung der Königstochter an-
gedeutet zu sein scheint. Herbort hat zum Schildzeichen einen
Hirsch mit goldenem Geweih : ein solcher wird aber im Oswald
benutzt um die Wäohter der Königin zu täuschen, welche entführt
werden soll.
Wir kommen zur anderen Sage unseres Gedichts, der von
Gudrun. Es ist klar, dass auch sie sich mit der Hildesage ver-
gleichen lässt: auch hier findet eine Entführung Statt und ein
Kampf gegen den nacheilenden Hüter der Jungfrau. Aber dadurch
wird die Sache anders, dass die Braut ihrem Entführer nicht frei-
willig folgt, dass die Sage dann weiter geführt wird, indem die
Geraubte aus der Knechtschaft wiederbefreit und mit ihrem wah-
ren Bräutigam wieder vereinigt wird. Hat man nun in der Hilde-
sage eine mythische Grundlage gefunden, so sind wir auch in der
Gudrunsage dazu berechtigt. Und zwar ist es dieselbe, nur voll-
ständiger, scheinbar mit einer Fortsetzung, in Wahrheit mit einer
noth wendigen Einleitung. War die Gewinnung der Braut mit ihrem
Willen aus der Macht eines finsteren Wesens ein Mythus vom
Frühling, so ist der Raub durch ein solches Wesen und die Be-
freiung ein Mythus von der Natur, die im Herbst der Kälte und
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Haupt: Uirt«r#ucliung«i tot deutschen Sage. 61
Finsternis* anheimfallt, im Frühling aber zu Lieht und Wärme
erlöst wird. Ein solcher Mythus ist aber im Norden wirklich über-
\\efert: der von Idun und Thiassi s. Uhlands Thor S. 114. Idun,
die Göttin der > Erneuung < wird von Loki in die Gewalt des
Sturmriesen Thiassi geliefert. Schnell altera nun die Götter; Loki
mnsa Idun zurückschaffen. In Freyas Federkleid fliegt er aus.
Thiassi ist auf dem Meer, da verwandelt Loki Idun in eine Nuss
und bringt sie zurück. Als Adler verfolgt ihn Thiassi; aber die
Götter zünden ein Feuer an, in welches Thiassi hineinstürzt. —
Es kann kein Zweifel sein, dass Idun, die nach einer andern Sage
einmal von der Esche Yggdrasil ins Thal hinabgesunken ist, den
Blätterschmuck, den alljährlich wiederkehrenden und die Erde ver-
jüngenden bedeutet und dass ihre Gefangenschaft der Winter ist:
io der Gudrunsage ist diese Gefangenscheft durch den erzwungenen
Dienst der Jungfrau vertreten. Vielleicht ist auch Lokis Ankunft
im Federkleide hier noch erhalten : in der Botschaft, welche Gudrun
durch den sprechenden Vogel zugeht. Thiassis Tod läge dann im
Tode des alten Ludwig, wie in der Hildensage, die nur den zwei-
ten Theil des Mythus darstellt, Hagen fallen musste.
Die völlige Identität der Gudrunsago mit der von Idun soll
nun freilich nicht behauptet werden: nur die Ableitung der erste*
ren ans einem der letzteren Sage ähnlichen Mythus. Dafür lässt
sich auch die mehrfach starkbetonte Zeitbestimmung geltend machen,
wonach Gudrun im Frühjahr befreit wird. Schon A. Schott in der
Einleitung der Gudrunausgabe Vollmers bemerke dies ; allein er ging
an der nordischen Mythe vorüber und verglich vielmehr die Nibe-
Jungensage, ferner die von Parzival und Tristan und die griechi-
schen von Helena und Persephone ; mit Unrecht, einmal weil diese
Sagen selbst zum Theil ebenso unsicher zu deuten sind wie die
Gudrunsage, und zweitens, weil das etwa zutreffende durch die ab-
weichenden Einzelheiten überwogen wird.
Auch im ersten Theil der Gudrunsage findet sich eine Schlacht,
in welcher der Schützer der Jungfrau fallt. « b dieser Kampf schon
im Mythus lag und etwa die Herbststürme vertrat, ist nicht zu
sagen ; vielleicht ist sie erst später aus dem zweiten Theil ent-
lehnt, so dass die Schlacht auf dem Wülpensand nichts anderes
ist als die bei Hedinsey, der Hedinsinsel bei Sazo. Sagenberühmt
war die Schlacht auf dem Wülpensand allerdings. Im Alexander-
lied des Pfaffen Lambrecht (Strassburger Handschrift bei Massmann
V. 1830. Vorauer Handschr. bei Diemer 220, 20) aus der ersten
Hälfte des zwölften Jahrhunderts wird eine Scene aus dieser Schlacht
angeführt. Da sei der Vater der Hilde gefallen zwischen Hagen und
Wate; auch Herwig und Wolfwin (Strassburger Handschr. gegen
den Beim : Wolfram) werden gerühmt. Ob der letztgenannte Name
im Ortwin zu ändern ist, steht dabin. Denn auch sonst stimmen
Samen und Verhältnisse nicht ganz. Wate und Herwig allerdings;
aber der in der Sohlacht fallende wird der Vater der Hilde ge-
Digitized by
Toeohet Kaiser Heinrich VL
nannt, während es nach der Gudrun Hotel, der Vater der Gudrun
war. Am nächsten liegt anzunehmen, dass auch in dieser, der voll-
ständigen Form der Sage die geraubte Jungfrau Hilde geheissen
habe , sei es nun dass der Name Gudrun von diesem verdrängt
worden war oder erst später eingedrungen ist. Ebenso stimmt nioht
mit unserem Gedichte, dass Hagen im Kampfe auf dorn Wülpen-
sand erscheint. Vielleicht ist er der Räuber oder der Vater des
Räubers, und das »zwischen« so zu verstehn, das Hetel fiel, wäh-
rend Hagen und Wate sich gegenüberstanden.
Als nun die beiden Sagen, die von Hilde und die von Hilde-
Gudrun mit einander verbunden wurden, konnten dieselben Namen
nicht für verschiedene Verhältnisse gebraucht werden. Man nahm
anstatt Hagens aus der Herburtsage Ludwig von der Normandie
und seinen Sohn Hartmut auf, auch Hildeburg, welche jedoch neben
der Gudrun nur eine zweite Rolle spielen konnte. Zweitens aber
tauschten beide Sagen, die von Hilde und die von Gudrun ihre
Nebenpersonen mit einander aus. Horand und Frute wurden in die
zweite Sage her übergenommen, aus dieser aber Wate von Stürmen
und wohl auch Irold von Friesen in die erste eingeführt. Ersteron
hat Mullenhoff, Zeitschr. 6, 58 als Meerriesen nachgewiesen. Er
hatte wohl auch im alten Mythus von Gudrun seine Stelle: leicht
moohte in der Küstensage der Sommergewinn mit den Frühlings-
sturmfluthen verbunden gewesen sein. £• Martin.
Jahrbücher des deutschen Reichs, Kaiser Heinrich V/. von Theod.
Toeche. Leipzig 1867.
Ein Historiker, welcher über das Wesen seiner Wissenschaft
nachdenkt, muss erkennen, dass die Geschichte im Ganzen und
Grossen einer zwiefachen Auffassung unterliegt. Der zeitliche Stoff,
welcher ihr zu Grunde liegt, lässt sich entweder als Bewegung nach
Zufall oder als Bewegung nach Gesetz erklären. Man kann mit
Schopenhauer in der Geschichte ein dunkles Treiben und Toben des
selbstsüchtigen Willens, ohne Zweck und Ziel, ohne höhere Ent-
wickelung, oder mau kann mit Hegel einen Fortschritt im Bewusst-
sein der Freiheit, ein geistiges Werden in dem historischen Seiner-
blioken Aber dem aufmerksamen Beobachter entgeht dies Eine
nicht; dass mit jenem tief begründeten Gegensatz in der Anschau-
ung aller geschichtlichen Dinge für den Geschichtsschreiber selbst
auch eine wesentliche Verschiedenheit der Darstellung involvirt
wird. Für Denjenigen nämlich, welcher konsequent auf dem
Boden jener Anschauung weiterbauen will, welche in der Geschichte
nur Bewegung nach Zufall sieht, ergibt sich gleich mit der ersten
Betrachtung geschichtlicher Ereignisse ein Bedenken, ob es sich
der Mühe verlohne mehr zu geben als ein einfaches Aneinander-
Digitized by Google
To e che: Kaiser Heinrich VI.
reiben der Fakta. Der Begriff der Geschichte löst sich ihm ja in
eine unendliche Anhäufung an Einzelnheiten auf, und so erscheint
es nnr konsequent wenn seine Darstellung ohne Licht und Schatten
gleichsam ätherisch bleich in der Vergangenheit wandelt. Die Ge-
schichte verwandelt sich unter seinen Händen in ein Herbarium
trockener Fakta. Man sieht wenigstens nicht recht ein, weshalb
bei einer Auffassung, die jeden Fortschritt leugnet, das wahrhaft
Grosse in den Vordergrund treten, das Erhabene sich von dem
Gemeinen sondern soll, weshalb nicht ein einfacher statistischer Be-
richt über Geburt, Hochzeit, Krankheit und Tod der Menschen an
Stelle umfassender geschichtlicher Darstellung treten soll. Anders aber
ist es, wenn man in der Geschichte Bewegung nach Gesetz erkennt.
Nun ist die Vergangenheit nicht mehr todt, sondern sie bietet den
Keim znr Entwickelung des Lebens dar. Ueber dem Chaos von
Einzelnheiten erscheint ein höherer Zusammenhang, eine weise
ordnende Hand wird sichtbar, deren Walten zn erkennen für den
Forscher den höchsten Reiz bietet. Die Geschichte erscheint nicht
mehr als das Vergangene schlechthin, sondern als der geistige Kern
des Vergangenen, als das Vergangene worin ein Werth für den
Geist begründet liegt. Denn mit Recht spottete Kaiser Tiberius
Über seine Hofgrammatiker, indem er sie fragte wie die Mutter der
H^kuba gehiessen, welchen Namen Achill unter den Mädchen von
Skjros gefuhrt habe, in welcher Tonart die Sirenen gesungen hätten.
Das ist ein Spott, der die leere und fruchtlose Arbeit jener pedan-
tischen Handlanger aufs Schärfste geisselt, die immer am Ein-
zelnen kleben und ihren Blick nicht zum Allgemeinen erheben
können. Was hilft es, wenn Jene uns auf das Genaueste angeben
können, wo irgend ein Fürst an einem bestimmten Tage residirt
hat, wenn sie aber nicht im Stand sind ein lebendiges Gemälde
des Helden zn entwerfen, ihm seine Heldenthaten nachzuempfinden,
Andere dadurch zu gleichen Gesinnungen anzufeuern? Gerade hier
jedoch wo die Arbeit des fleissigen und gelehrten Sammlers auf-
hört, und der Blick sich vom Einzelnen aufs Allgemeine erweitern
soll, erwarten wir den echten Geschichtsschreiber. Wo ein Fort-
schritt im Erkennen und Handeln Statt findet, wo Grösse und
Schönheit individueller Charaktere sich zeigt, wo ein grosser ge-
waltiger Geist zn würdigen ist, der seiner Umgebung und seinem
Jahrhundert neue Bahnen der Entwickelung gewiesen hat, da ist
ein Beobachter mit wachem Auge für das Grosse und Schöne am
Platz, da soll der Geschichtsschreiber auftreten, das flüchtig Vor-
überrauschende zusammenbinden nnd im Tempel Mnemosyne's zur
Unsterblichkeit niederlegen. So haben wir die feine Grenze berührt,
welche zwischen historischer Forschung und historischer K u n s t
besteht; und wenn wir in pfliohtgetreuer ernster Forschung die
richtige noth wendige Grundlage bei einem jeden bedeutenden
geschichtlichen Werk erkennen müssen, so verdient doch der
Historiker den Preis, welcher mit unbestechlicher Wahrheitsliebe
Digitized by Google
Toeche: Kaiser Heinrich VI.
und gründlicher Beherrschung des Quellenmaterials zugleich den
richtigen Blick für das Allgemeine , für den höheren im ge-
schichtlichen Dasein waltenden gesetzlichen Zusammenhang ver-
bindet. Das Werk von Toeche über Heinrich VI. erscheint ans
gerade deshalb so werthvoll, weil es sowohl den Anforderungen der
Forschung wie der Kunst entspricht. Der Verfasser bat es ver-
standen gründliche fachmännische Arbeit in ein gefälliges Gewand
zu kleiden. Er hat über der genauen Ergründung der Einzelnheiten
die Richtung auf das Allgemeine nicht verloren, so dass uns die
Geschichte Heinrich VI. in letzter Instanz als eine Offenbarung
des ganzen grossen staufischen Zeitalters erscheint, dass wir dieses
in Jenem erfassen und uns vergegenwärtigen.
So musste die strenge Form, in welcher sich bisher die Jahr-
bücher des deutschen Reichs bewegten, gesprengt, die analistische
Eintheilung Gesichtspunkten, welche aus der Gliederung des Stoffs
selbst genommen wurden, untergeordnet werden. Und gewiss ge-
schab dies zum Vortheil des Werkes selbst. Statt einer dürren
Nomenklatur von Fakten erhalten wir nun eine kritisch räsonni-
rende breit angelegte und umfassende Darstellung, als deren Mittel-
punkt uns das Bild des Staufenjüngling selbst entgegentritt, eine
eiserne Gestalt, von gewaltsamer Thatkraft, und rauhem unerbitt-
lichen Willen; aber gerade durch diese Eigenschaften mehr als
irgend ein Anderer dazu angethan, die grossen Ideale der Staufer
der Verwirklichung nahe zu bringen. Die universalstaatlichen Pläne,
die man unsern deutschen Kaisern neuerdings als ein Haschen nach
unklaren Träumereien auslegen will, wurden von keinem Herrscher
so praktisch aufgefasst und so gewaltig durchgeführt, wie von ihm.
Die Wahrheit dieser Bemerkung wird durch die Art erhärtet, wie
Heinrich die ebenfalls vielfach angefochtene und als Fluch ver-
schrieene Verbindung zwischen Deutschland und Italien erstrebt
und vollzogen hat. Viel verdankte er unleugbar dem Glück der
Geburt, und väterlicher Grösse. Friedrich I. hatte schon im Jahre
1169 von dem Pabst Alexander III. verlangt, dass er das drei-
jährige Kind zum Mitkaiser ernenne und Bischöfe seiner Wahl mit
der Weihe betraue. Durch das erste Misslingen des Planes unbe-
irrt , hatte er Lucius HL gegenüber Beine Vorschläge erneuert und
in derselben Zeit aufgenommen wo er in Palermo um die Hand
der normannischen Erbtochter für seinen Sohn werben liess. An
demselben Tage wo Heinriche Vermählung mit Konstanze Statt
fand ernannte er ihn zum »Cäaar« und überliess ihm allein und
selbstständig die Verwaltung Italiens. Friedrich I. knüpfte offen-
bar an die Tradition der alten römischen Kaiser an; er verband
aber mit der Erneuerung des alten Brauchs den praktischen Ge-
danken, während sein Sohn in Italien als Statthalter schaltete, sich
ausschliesslich den deutschen Angelegenheiten zu widmen. Erst so
gewann er in ganz Italien die Macht zurück, da er seit den Tagen
von Venedig und Konstanz eingebüßt hatte und blieb dennoch
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Toeehe: Kaiser Heinrich VI.
Herr in Deutschland. Nach dem Tode des letzten Normannenkönigs
Wilhelm II. am 18. Nov. 1189 war denn auch Heinrich bei allen
Zeitgenossen als der rechtmässige Erbe des normannischen Reichs an-
gesehn. Hier galt es die Ziele der normannischen Politik, die Ten-
denzen Roger II. wieder aufzunehmen, der die günstige Lage Sioi-
liens umsichtig benutzt, die Insel zur Rüstkammer und zur siche-
ren Burg gemacht hatte, von wo aus Normannen in Italien, in
Afrika und Griechenland festen Fuss zu fassen strebten. Roger's
Nachfolger hatten sich, unfähig so grossartige Gedanken weiter zu
verfolgen, beschieden , die eifrigen und gehorsamen Anhänger der *
Kurie zu sein. Die Schuld an diesem Verfall der normannischen
Macht trugen die inneren Zustände des Reichs. Der König, umgeben
Ton gewissenlosen Hofbeamten, abhängig von mächtigen Vasallen und
insbesondere von den zahlreichen Bastarden der königlichen Fami-
lie Hess den Ränken mit denen Jeder von ihnen Macht und Reich-
thum an sich zu reissen und die Gegner zu stürzen trachtete freies
Spiel, erfuhr nur durch den Günstling, der zeitweilig sich in dem
Parteigewoge zu behaupten wusste, von den Zuständen im Reich
und verliesB nur, wenn die Feindschaft der Parteien und die mass-
lose Willkür der Günstlinge offene Empörung hervorriefen, den
Pallast, um mit blutigen Strafen mit der schwunglosen Härte aber
auch mit der Todesverachtung eines Despoten den Aufstand zu
Boden zu schlagen. Es ist eine glückliche, höchst willkommene
Fügung, da ss die Geschichte dieser Zeiten die ein farbenreiches
und charakteristisches Bild südlichen Volkslebens darbietet, von
einem Mann dargestellt ist, der nicht nur durch den Schwung, die
Anmnth und den Reichthum seiner Schreibweise durch alle Zeiohen
einer feinen Bildung fesselt, sondern der, einem Tacitus gleich,
mit Wahrhaftigkeit und Sittenstrenge die trostlosen Zustände des
Reichs enthüllt und den unaufhaltbaren Verlall seines Vaterlandes
mit tiefem Schmerz begleitet. Die Chronik des Hugo Falkandus
ist ein Werk, welches in allen Zeiten gelesen zu werden verdient,
nicht minder um seines reichen Inhalts als um der edlen Gesin-
nung willen, die uns noch heute den Verfasser zum Freunde macht.
Diesem trefflichen Gewährsmann ist denn auch Toeche in der Schil-
derung der normannischen Zustände nach dem Tode Wilhelms U.
hauptsächlich gefolgt» Eine melancholische Vorahnung schwerer
furchtbarer Zeiten ging durch das Volk, man fürchtete, dass die
verhassten und verachteten Deutschen Herren des Landes werden
möchten. »Schon glaube ich die wirren Reihen der Barbaren zu
sehen, schreibt Hugo Falkandus, die einbrechen wohin sie ihre Be-
gierde treibt, reiche Städte und Ortschaften, die durch langen
Frieden blühen mit Entsetzen erfüllen, durch Mord verwüsten, durch
Baub leeren, durch Schwelgereien besudeln; denn weder Vornunft,
noch Mitleid, noch heilige Scheu vermag deutsche Wuth zu zügeln.«
Zwar sollte die nächste Zeit noch keine Bestätigung der finstersten
Besorgnisse bringen; das normannische Volk raffte sich auf um
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Toeche: Kaiser Heinrich VI.
sein Geschick einem Manne von erprobter Tüchtigkeit anzuver-
trauen. Tankred von Lekke, ein natürlicher Sohn Roger's von Apu-
lien, ein Enkel von Roger II. ward dazn auserlesen das Volk vor
der verhassten Fremdherrschaft zu schützen : und durchdrungen von
dieser grossen Aufgabe hat er sorgenvolle Jahre einem letzten hel-
denmüthigen Kampf um die nationale Freiheit und für die Heilig-
thümer des Vaterlandes gewidmet. Tankred erscheint als der wür-
digste und edelste von allen Gegnern Heinrich VI. Das Wohl des
Volkes stand ihm höher als jede Verpflichtung, die ihn zur Aner-
kennung des Staufischen Erbrechts band, das ungeschriebene Recht
galt ihm mehr als das geschriebene und so entschlpss er sich nach
einigem Schwanken die Wahl der zu Palermo versammelten Barsone
zum König anzunehmen, obwohl er selbst zuvor zu Troja mit allen
Vasallen des Reichs Konstanzen und dem deutschen König als
Erben des Reiches und als künftigen Herrschern gehuldigt hatte.
Die Kurie hatte diese Wendung eifrig begünstigt. In den Augen
des Pabstes galt Heinrich nicht einmal als rechtmässiger Erbe:
dazu hätte er erst den Lehnseid leisten und die päbstliche Aner-
kennung erhalten müssen. Nach diesen Anschauungen hatte viel-
mehr Wilhelm II. sein Lehen wie eine Mitgift ohne Billigung des
Pabstes vergeben , von dem Eide durch welchen seine Vasallen in
Troja diesem Akte beigepflichtet hatten, konnte sie der oberste
Lehensherr des Reichs ohne Weiteres entbinden. Die Kurie stand
denn auch nicht an Tankred's Wahl zu bestätigten, und nach dem
Auftrag des Pabstes musste ihn der Erzbiscbof von Palermo im
Januar 1190 krönen. Wir können gerade bei der Berührung der
so verwickelten Streitfragen zwischen Kirche und Staat nur den
bewährten Takt und die Ruhe konstatiren, mit welcher der Ver-
fasser den entgegengesetzten Ansprüchen gerecht wird und sich im
verworrensten Parteitreiben zu Recht findet; die Veröffentlichung
der rouleaux von Cluny durch Huillard-Breholles kam ihm dabei
trefllich zu Statten, sie ersparte eine Reihe von Erörterungen, ''be-
stätigte die bisherigen blossen Vermuthungen und hellte die wich-
tigsten Vorgänge auf. Die Gunst der Kurie lieh Tankred einen
mächtigen Rückhalt ; er trat nun mit einer Sicherheit und Energie
auf, welche schon die Zeitgenossen an ihm bewundert haben. Er
zwang die Deutschen das Reich zu räumen. Er rief die nationa-
len Leidenschaften des italienischen Volks in Waffen. Als der
kaiserliche Marschall von Kalden im Mai 1190 gegen ihn ausge-
schickt ward, traten sogar die Bewohner der Abruzzen zu einem
Volksbunde zusammen. Die ungedruckten Abschnitte des Gotfried
von Viterbo, die dem Verf. durch die Güte des Prof. Waitz zu-
gänglich wurden, liefern interessante Aufschlüsse über die tief-
gehende Bewegung des Volks wider die Deutschen . Kalden sah sich
im September 1190 durch heftige Krankheiten, die in seinem Lager
ausbrachen, genöthigt das Reich zu verlassen. Diese militärischen
Erfolge wusste Tankred in umsichtiger Weise diplomatisch auszu-
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Toeche: Kaiser Heinrich VI.
beuten, er wusste dem scheinbaren Misgeschick , welches in der
nun folgenden Kreuzzugsepisode über das junge nationale König-
thum hereinzubrechen drohte, seinen Stachel zu nehmen. Die Lan-
dung der westmächtlicben Heere die im September 1190 erfolgte,
war mit Qewalttbaten aller Art verknüpft. Richard Lü wen herz
requirirte in unbarmherziger Weise, er plünderte griechisches Kloster-
gut, und als es zu einem Zusammenstoss zwischen den Engländern
und den Einwohnern kam, stellte er die härtesten Forderungen,
die einen Beweis für seine Habgier und die schlaue Berechnung
lieferten, mit welcher er aus Tankred's bedrängter Lage möglichst
grossen Vortheil zu ziehen suchte. Um so merkwürdiger erscheint es,
dass der am 11. Nov. 1190 zwischen Tankred und seinem Be-
dränger abgeschlossene Frieden keineswegs so sehr zu Ungunsten
Jenes ausfiel. Der Engländer versprach ihm allerorten und allezeit
Frieden und Freundschaft zu bewahren , er Hess die Forderungen
wegen der Mitgift seiner Schweser Johanna und alle ausserdem
noch gestellten fallen, »mit dem Zusatz, dass wir, so lange wir in
Eurem Reiche verweilen, zur Verteidigung Eures Landes bereit
sein und Hülfe leisten wollen gegen Jedermann der es angreifen
oder Euch bekriegen würde.« In Aussicht einer Heirath zwischen
Richard' s Thronfolger und einer Tochter Tankred's erhielt der hab-
süchtige Brite 2000 Unzen Gold und die gleiche Summe zur Be-
friedigung aller Forderungen für sich und seine Schwester, so dass
sich die ganze Summe die in Richard's Hände gelangte, die Million
Tarenen eingerechnet, welche Tankred früher an Johanna zahlte,
auf etwa 1,683,000 Thaler belief! Dem Vertrag gab eine Schlnss-
wenduug von Richard's Bestätigungsschreiben an Pabst Kölestin III.
ein bedenkliches Relief: »Eure Heiligkeit, hiess es, weiss, dass es
beiden Reichen zur Ehre gereicht , wenn durch Vermittelung der
Kirche Friede und das verabredete Ehebündniss zu Stande kommt.
Es wird sich mehrfacher Nutzen daraus für die Zukunft ergeben.«
Aus dem dehnbaren Nebel dieser letzten Phrase tritt nur Eins
unverkennbar hervor: Die Rüstung gegen den gemeinsamen Feind,
den deutschen Kaiser. Wir können freilich dem Verf. nicht so weit
zustimmen, dass wir die bewusste Planung eines gemeinsamen An-
griffs gegen Heinrich VI. annehmen ; eines Angriffs den Heinrich
der Löwe vom deutschen Norden, Richard Löwenherz vom Süden,
von dem eroberten Sicilien aus mit combinirten Kräften unter-
nehmen sollten , zumal können wir die Brutalitäten , die sich der
Engländer bei seiner Landung zu Messina erlaubte, damit in
keinen nothwendigen Zusammenhang bringen. Die unscheinbare
Notiz, dass auf dem Zuge Richard's nach Marseille , also auf der
Reise nach Sicilien, am 3. Februar 1190 in La Reolle der Sohn
Heinrich dos Löwen bei dem englischen König verweilte, gibt dem
Verfasser den ersten Anlass zum Aulbau seiner mehr glänzenden
als stichhaltigen Hypothese. »Was konnte, fragt er, den Weifen,
der kurz zuvor dem deutschen König in Braunschweig erfolgreich
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To e che: Kaiser Heinrich VI.
getrotzt hatte, bewogen haben, mitten im Kriege gegen das Reich
den englischen König aufzusuchen , kurz bevor derselbe das Fest-
land verliess, den König, der von allen ausserdeutscben Fürsten
der rührigste und treueste Bundesgenosse seines Geschlechts war,
der Heinrich den Löwen im vergangenen Herbst selbst zum Treu-
bruch gegen den Kaiser und zum Kriege gegen Heinrich II. ange-
stiftet hatte ? Geben etwa Richard's Thaten in Sicilien Antwort
auf diese Frage?« Der Verfasser scheint geneigt eine bejahende
Antwort anzunehmen. Er legt aber damit jenen einfachen, mittel-
alterlichen Kraftnaturen ein allzukünstliches Gewebe von Plänen
unter, er deutet, mit allzufeiner psychologischer Beobachtungsgabe,
was gar keiner Deutung bedurfte , und bringt in dem freudigen
Gefühl des Schaffens, welches durch kühne historische Kombinatio-
nen geweckt zu werden pflegt , mühelos und leicht nach fast acht
Jahrhunderten Gedanken und Vorsätze mit einander in Zusammen-
hang, die dieses inneren Kausalnexus wohl entbehrten. Wenigstens
sind wir berechtigt an dem Vorhandensein jenes inneren Bandes
solange zu zweifeln , als uns nicht die diplomatische Bestätigung
urkundlich vorliegt. Der Sohn Heinrich's des Löwen mag in La
Röolle den ritterlichen Freund seines Hauses begvüsst, er mag mit
ihm auf die Jagd gezogen und waidlich gezecht haben, aber schwer-
lich denken wir uns die Beiden nach Art moderner Diplomaten
Uber Karten gebeugt und in das Studium eines grossartigen kom-
binirten Feldzugsplan wider den Kaiser vertieft, bei welchem ge-
rade Sicilien die Operationsbasis und die Eroberung der schönen
reichen Insel die nothwendige Grundbedingung seines Gelingens
bilden sollte. Anders freilich , wenn die Dinge sich wie von selbst
entwickelten, und wenn jenen mittelalterlichen Helden die Rich-
tung ihres Wirkens gleichsam handgreiflich vor die Augen gestellt
ward. Als Richard in Sicilien gelandet war, und seinen ersten Ver-
such Universalstaatspolitik zu treiben etwas grob naturalistisch
in's Werk gesetzt hatte, da gewann er rasch die nothwendige Ein-
sicht in die Bedeutung der Hülfsquellen und Reichthumes dos Lan-
des. Er mochte begreifen, dass die Regierung Tankred's fest genug
im Volk wurzelte, um nicht durch den ersten rauhen Wind aus
Norden umgeworfen zu werden ; er mochte sich klar darüber wer-
den, dass er durch Befehdung eines solchen Mannes sich selbst den
grössten Schaden zufügen und gleichsam als Volontär im Dienst
von Kaiser Heinrich VI. auftreten würde. Allerdings bleibt es
deshalb »unerwiesen«, dass Richard's Eroberungen in Sicilien gegen
Kaiser Heinrich gerichtet waren, aber wenn wir auch die Prämisse
des Verf. von uns weisen, so können wir ans doch seinen Nach-
satz gern gefallen lassen: Richard erreichte durch ein Bündniss
mit Tankred geuau dasselbe, was er im Kriege gegen ihn hatte
durchsetzen wollen ; und nun erst enthüllt sich die ganze Trag-
weite jener Wendung in dem Schreiben an den Pabst , dass das
Schutzbündniss »beider Reichen in Zukunft grossen Vortheil brin-
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Toecbe: Kaiser Heinrich VI.
28n werde.« In ßioilien wurde der Keim zu dem Antagonismus
mischen Riebard und Heinrieh ebenso mittelbar und verborgen
wiegt, wie die Feindschaft zwischen Riehard und dorn französi-
schen König Philipp August damals unmittelbar und offen zu Tage
trat. Tankred übergab Bichard einen Brief Philippus, welcher schwere
Yerläumdungen gegen den englisohen König enthielt ; es gelang
ihm die beiden ungebetenen Gaste bitter mit einander zu entzweien.
Aber auch gegen den st au fischen Kaiser bewährte sich Tankred's
Umsicht und Glück. Wir vermögen in den ersten Schritten Hein-
rich VL, in seinem Römerzug wenig Züge zu entdecken, die den Stern-
pel eines umfassenden Genius tragen. Ohne sonderliche Nöthigung
opferte er, um zur Kaiserkrönung zu gelangen, Tuskulura dem Zorn
der Börner auf ; er hätte den schwachen Kölestin zur Nachgiebig-
keit vermögen können, auch ohne ein solches Opfer zu bedürfen, das
mit -einer kaiserlichen Würde und Ehre in schlechtem Einklang
;tand. Wenigstens müssen wir hier der ganz verständigen Darstellung
aaseres Schlosser beipflichten, der im VU. Band seiner Weltge-
schichte 8. 95 schreibt: »Heinrich opferte eine Stadt die ohne sei-
aen Verrath von dem elenden römischen Pöbel nie hätte besiegt
werden können, der Rachgier ihrer erbittersten Feinde.« Dagegen
scheint uns die kulturgeschichtliche Veduta, welche der Verf. im
Anschlnss an die Schilderung der römischen Zustände gibt , seine
Darstellung der päbstlichen Bemühungen gegen die Sittenverderb-
nis«, der Geistlichen der höchsten Anerkennung werth zu sein; in
der Würdigung dieser in historischen Werken über das Mittel-
alter selten genugsam hervorgehobenen allgemeinen Verhältnisse
beruht die Stärke und der Glanz der Toecbe'schen Arbeit ; auf dem
dunklen Gemälde der Sittenverderbniss , welche im Klerus allent-
halben herrschte, hebt sich die grandiose Gestalt dos Cisterzienser
Abt Joachim von Kosenza lichtvoll ab. Von geringer Schul-
bildung, aber von so tiefer Frömmigkeit, von so begeisterter Be-
redsamkeit und von so strengem und reinen Lebenswandel, dass
mn Ruf in alle Länder gedrungen war und sein Rath und seine
Worte in Italien und in der ganzen Christenheit als die Offen-
barungen eines gottgeweihten Geistos galten, war er zugleich von
jo feurigem Eifer für den Glauben und die Kirche, vou so offenem
Eingeständniss seiner Unvollkommenheit und so grosser Domuth
?or der Hoheit des Pabstes, dass selbst von Rom ihm Achtung und
Unterstützung zu Theil wurden. Gerade sein Bekenntniss, dass er
iich als einen treuen Anhänger des Kirchenglaubens betrachtet,
iass er mit Unterwürfigkeit dem Papste «eine Schriften zur Be-
;at Achtung einsendet, macht die Straf- und Scheltreden in die er
losbricht zu Bekundungen seines edlen Gefühls. Je mehr er auf
isn gegenwärtigen Zustand der Kirche die Strafe des Himmels
■wabruft, desto mehr offenbart sich seine tiefe Sehnsucht nach
irsr Beinigang und Gottgefalligkoit. Er bedauert es geradezu,
dtM ioviele Schriften voller Schmeichelei verfasst wurdon, nur um
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Toeche: Kaiser Heinrich VI.
die Gunst derKurio zu gewinnen. Noch heute wird, wer seine Schriften
durchliest, gefesselt von dem eindringlichen Eifer und der lebendigen
Wärme seiner Ueberzengung und des sittlichen Zorns mit welchen
überall dieselben schlichten Lehren und Meinungen ausgesprochen wer-
den ; auch durch eine Phantasie überrascht, die in Grossartigkeit und
Tiefe zuweilen an Dante's Genius gemahnt. Am heftigsten bricht
er gegen die Sittenverderbniss Hom's in seiner Auslegung des
Propheten Jeremias los. Kein Weg, keine Stadt, nicht Ort noch
Flecken, sagt er, wo die Kirche nicht ihre Abgaben und Einkünfte
erhebe. An allen Orten und Sitzen der Erde will sie Pfründen
haben und unaufhörliche Einnahmen. Wer nach Rom zur Kurie
kommt , der fällt unter die Räuber , das sind die Kardinäle , die
Notare und Kaplane. Alle Geistlichen fröhnen weltlicher Habsucht,
die Kirchenfürsten aber sind das Haupt der Gottlosen. Das Thier
der Lästerung, welches der Evangelist aus der Erde steigen sah,
gürtet sie und führt sie wohin Petrus nicht will, vielleicht zur
Städte des Leidens. Pabst und Kirche sollen sich nur hüten, dass
sie nicht durch die Gefahren, die von den falschen Brüdern , den
Kardinälen, Bischöfen und Legaten droben, verderben. Die Kar-
dinäle sind verschworen gegen die Würde der Kirche und des
apostolischen Stuhls. Verhärtet ist das Herz der stolzen Priester.
Das Volk befeinden sie, verkehren den Rath, geissein die Kirche
und fühlen doch die Wunden nicht. Einzig nach dem Golde stre-
ben sie , mischen mit dem babylonischen Weibe den Trank in
goldenem Becher uud stecken alle Sektirer mit ihrem Gräuel an.
So lange sie und andere aufgeblasen die Kirche leiten, müssen alle
frommen Männer sich abwenden. — Die weltliche Begierde der
Kurie trägt die Schuld an den Ketzereien.« Man sieht, dass in
Italien wie in Deutschland nicht Frivolität, sondern gerade tiefe
Frömmigkeit zur Opposition gegen die Geistlichkeit trieb. Heftig
und einstimmig wird Überall der Verfall jeder Sitte und Zucht in
ihr beklagt, und entschieden wird der Grund alles Uebels in der
grenzenlosen Entsittlichung der römischen Kurie erkannt. Es ist
kein Kampf der Laien gegen die Geistlichkeit, undenkbar für jene
Zeiten, sondern die Entrüstung der Gläubigen gegen die Herrschaft
niedriger Leidenschaften im Mittelpunkt der christlichen Welt, die
Verdammung der weltlichen Politik der Kurie, durch welche alle
geistliche Zucht ausser Acht gesetzt und dem Verfall preisgegeben
wird: das bildet den Charakter dieser allgemeinen und starken
Bewegung. Und gerade dies ist für die politische Geschichte jener
Zeit das wichtige. Es mag sein, dass die grosse Menge, gewöhnt
an die Leitung der Geistlichkeit, voll Achtung vor ihrer Bildung
und Weihe bei aller lauten Opposition gegen das weltliche Treiben
des Klerus sich doch nur zögernd, zum Theil gar nicht jenen For-
derungen und üeberzeugungen angeschlossen hat. Aber dennoch
weisen so gewichtige und entschiedene Stimmen unzweifelhaft dar-
auf hin, dass Heinrich VI. bei Allen die den Druck der unaufhör-
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Toeche: Kalter Heinrich VL 61
lieh Geld einfordernden Kurie empfanden, bei allen die in Rom
umsonst ihr gutes Recht gesucht hatten, und bei Allen denen das
verschwenderische Leben der Geistlichkeit aus wahrer Gläubigkeit
oder wegen der eigenen Bedürftigkeit verhasst war, Billigung und
Unterstützung in seinem strengen und gewaltthätigen Auftreten
g*gen die Kurie fand. Der Verf. hätte von seiner geistvollen Schil-
derung der allgemeienn Bewegung, die damals Aergerniss nahm an
dem sittenlosen Treiben des Klerus, hier recht gut einen Schritt
weiter vorgehen und für seinen Helden eine Politik als wünschens-
werth und klug hinstellen können, die sich auf jene Stimmen ti ei-
nschneidenden Tadels gegen die Verweltlichung der Kurie stützte,
die selbst von der demokratischen Elementen Akt nahm, welche
sich gegen die aristokratische Verfassung sowie gegen das monar-
chische Princip in der Hierarchie auflehnten. Anstatt einen Arnold
?on Brescia zu verbrennen, anstatt treue Anhänger wie die Be-
wohner von Tuskulum der Rache ihrer und der eigenen Feinde
aufzuopfern, anstatt mit einem Wort eine kurzsichtige Politik zu
verfolgen, die nur auf Tage und Wochen voraussah und nur für
den augenblicklich scheinenden Vortheil sorgte, hätte man an die
Zukunft, an die grossen Kämpfe denken können, die noch mit jener
unerbittlichen herrschsüchtigen Macht der Kurie in Aassicht stan-
den; und man hätte sich deshalb auf die vorhandenen Elemente
der Unzufriedenheit in Kirche und Staat stützen können um über
den gemeinschaftlichen Gegner zu triumphiren. Das wäre eine
weitsichtige, wahrhaft staatsmännische Politik gewesen, wie sie
freilich jenen Männern einfacher, unmittelbarer Entschlüsse und
Thaten, jenen mittelalterlichen Kaisern — den einen Friedrich II.
ausgenommen — fern genug liegen musste. Eine Politik, wie sie
andererseits dann wohl bei den Staufen statuirt werden könnte,
wenn der Verf. im Recht wäre, den Weifen, einem Richard Löwen-
herz jene Pläne weitgehender Tragweite zu imputiren, die er ihnen
imputirt. Auf jeden Fall waren die unerquicklichen Händel , die
wegen Tuskulum zwischen dem Kaiser, den Römern und dem Pabst
Statt fanden ein schlechtes Omen für den weiteren Fortgang der
deutschen Operationen. Zwar drangen die Truppen Heinriche mit
> deutscher Wuth« in Unter-Italien ein, eine Stadt nach der andern
als die Belagerung von Neapel unternommen ward. Die Deutschen
erlagen, wie schon so oft im Süden erlebt war, den Einwirkungen
eines giftigen Klimas. Tausende wurden in kurzer Zeit durch an-
steckende Krankheiten dahingerafft, nnd zu gleicher Zeit kam die
Verrätherei des jungen Heinrich von Braunschweig an den Tag,
der, da das Glück dem Kaiser abhold wurde, in's feindliche Lager
überging. Heinrich VI. musste sich zur Aufhebung der Belagerung
und zur Rückkehr nach Deutschland entschliessen. Er brachte nur
wenige von denen die ihn nach Italien begleitet hatten in die
Ueimatb zurück. Seine Gemahlin Konstanze fiel in Salerno, um
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Tneche: Kaiser Heinrich VI.
das Unglück zu vollenden, in die Hände der Feinde. Die Salerni-
taner Hessen es, da sie als alte Republikaner der Bache Heinrich s
abgeneigt waren, geschehen, dass Tankred's Admiral sie in ihrer
Stadt gefangen nahm. Wohl können wir dem Verf. zugeben, dass,
wie er in fast romantischer Weise berichtet, Heinricb's Stimmung
durch das Misslingen gegen Tankred, durch sein eigenes körper-
liches Leiden die dunkelste war, als er in trüben und ranhen
Decembertagen über die schneebedeckten Alpen zog. Die Natur,
welche ihn umgab, stimmte zu deu Gedanken , die damals seinen
Geist bewegten. Aber er war der Charakter nicht den Unglück
beugte und in fruchtlose Melancholie zerfliessen Hess. Die Rache
die er an dem verrätherischen Weifen nehmen wollte, erfüllte jetzt
Beine ganze Seele. Er verwarf jeden Vorschlag zur Versöhnung.
Zu Pfingsten 1191 auf dem Reichstag in Worms wurde Heinrich
von Braunschweig öffentlich in die Acht erklärt. Es zeigte sich,
dass der bestimmte Wille des Kaisers in allen Stücken durchgriff ;
in der Wahl eines seiner Räthe zum Bischof von Worms, in der
sofortigen Zepterbelohnung des Bruno von Dassel mit dem Erz-
bisthum Köln, in der Entscheidung der streitigen Wahl eines
Bischofs von Limburg nach seinem Ermessen. Bei eingetretener
streitiger Wahl ernannte nämlich der Kaiser an die Stelle der
beiden Erwählten einen Dritten, wozu er nach dem Wormser Kon-
kordat von 1122 nicht berechtigt war; er erklärte im Jan. 1192
den Probst Lothar von Hochstaden zum Bischof. Ein lauter Auf-
ruhr folgte seinen Worten, die ganze Lüttioher Geistlichkeit legte
Verwahrung ein. Die Majorität Hess sich weder durch Drohung
noch Gewaltthat des Kaisers einschüchtern. Und sie fassten auf
gutem Recht. Das Wormser Konkordat besagte nur, dass der
König den Besseren unter den Gewählten einsetzen, nicht dass er
einen Dritten an die Stelle bringen könne. Von Rom erfolgte denn
auch der Bescheid , dass die Ernennung Lotbar's ungültig sei.
Albert von Brabant ward als der rechtmässig gewählte von der
Kurie anerkannt, da es ihm gelungen war unter Schwierigkeiten
und Entbehrungen aller Art Rom zu erreichen. Er kehrte mit
feierliehen päbstlichen Bestätigungsschreiben seiner Wahl nach
Löwen zurück, von wo ihn aber der strenge Befehl des Kaisers
sofort vertrieb. Da weihte ihn der entschlossene unabhängige Erz-
bischof von Rheims am 20. September zum Bisohof von Lüttich.
Jedoch zwei Monate später war Bischof Albert eine Leiche. Er
ward am 24. Nov. 1192 durch drei deutsche Ritter, Lüttioher
Lehensmänner, die er gastlich aufgenommen hatte, ermordet, und
auch Toeche will den Kaiser von dem schweren Verdacht nicht
reinigen, dass er der Anstifter der Unthat gewesen sei. Er hat
zwar eidlich jede Kunde abgeschworen , aber den ebenso gewich-
tigen Eiden des Grafen von Hochstaden haben schon die Zeitge-
nossen keinen Glauben geschenkt. Es wäre möglioh, dass die Mör-
der nur von der Partei Hoohstadens angestiftet waren. Aber ohne
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Toeehe: Kaiser Heinrich VI.
Wissen des Kaisera unternahm sein Günstling sicherlich Nichts;
im Gegentheil, die vom Kaiser geschützte Partei hätte sich gewiss
am Liebsten still nnd von seiner Leitung abhängig gehalten. Auch
ist die Annahme nioht ausgeschlossen, dass die Mürder völlig selbst-
ständig aber in Hoffnung auf Belohnung zwar ohne Mitwissen,
aber doch im Sinne des Kaisers handelten. Dass aber Heinrich VI.
den Mörder wirklich nicht bestrafte, haben schon die gemässigsten
Stimmen, Freunde und Anhänger des Kaisers nicht nnr als Be-
weis, dass die That ihm wohlgefällig war, sondern als eine Be-
stätigung seiner Mitschuld angesehn. Heinrich hat die Verbrecher
in Apulien später sogar mit Grafschaften belohnt. Und endlich
widersprach es seinem Charakter nicht, sich jedweden Mittels zn
bedienen, welches den Widerstand brechen und ihn zum Ziele füh-
ren konnte. In seinem Geist überstürzten sich die kühnsten Pläne.
Mit Hast jagte er dem nächsten nach, nur um einen späteren
•lesto eher in's Werk setzen zu können. Widerstand störte ihm
nicht eine ruhige willkürliche Entwicklung nur für den Augenblick,
sondern hemmte die ganze Reihe von Entwürfen , die ihn alle zu
gleicher Zeit beschäftigten, und die zu verwirklichen ein volles
Menscbenalter und eine ebene rastlos durchlaufene Bahn kaum ge-
nügten. So sollte denn auch die Mordthat, weit entfernt die von
Heinrich gehofften Zwecke zu erfüllen, nur dazu dienen, die feind-
lichen Elemente die gegen ihn im Verborgenen und offen vorhan-
den waren, in Fluss zu bringen, eine allgemeine Fürstenempörung
hervorzurufen, die den Kaiser an den Rand des Verderbens brachte.
Während der Kampf zu Ausgang der 80er Jahre von den grossen
Streitfragen zwischen der geistlichen und weltlichen Macht bewegt
nnd getragen wird, trieb jetzt eine heftige Kränkung der geist-
lichen Interessen die gegnerischen Fürsten in den Kampf, der aber
in der Folge den ursprünglichen Absichten seiner Theil nehmer ge-
treu, dennoch überwiegend zu Gunsten der weltlichen Fürsten ge-
führt ward. So eng waren die Interessen der weltlichen und der
geistlichen Fürsten verknüpft, dass in beiden Fällen auf den Druck den
der Kaiser gegen die Einen wagte, sofort der Aufstand auch der
Andern erfolgte. Sachsen, Lothringen, Zähringen, Böhmen standen
nun wider den Kaiser beisammen. Von allen deutschen Landen
«raren nur Oestreich und Baiern von dem Einfluss der aufrühreri-
schen Fürsten frei. Es ist ein grosses Verdienst des Verf., dass
er diese bisher wenig beachteten Begebenheiten klar dargelegt, sie
anter einem Gesichtspunkt entwickelt, über Ausdehnung, Macht und
Ziele des Fürstenbundes und die gefahrvolle Lage des Kaisers Licht
verbreitet hat. Man stand vor dem Beginn eines verderblichen
Krieges den der Kaiser mit ungleichen Waffen aufzunehmen ge-
nrongen war. In diesem bangen Augenblick geschah ein Ereig-
niss, welches plötzlich wie eine wunderbare Schickung den Kaiser
ms seiner Bedrängniss befreite und den Arm der Fürsten lähmte :
Könur Ricb&rd von England, der mächtige Bundesgenosse der Weifen
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64
Toeche: Kaiser Heinrich VI.
war von Herzog von Oestreich gefangen genommen worden. Es
lässt sich nach dem Bisherigen schliessen, dass der Verf. auf die
Darstellung der Gefangenschaft Richarde und seines Verhältnisses
zum Kaiser neues Licht verbreiten, und die vielfach verworrenen
Urtbeile die sich bisher an jenes ausserordentliche Ereigniss knüpf-
ten, klären wird. Während man bisher Heinrich's Geldgier als deu
einzigen Grund ansah, weshalb er den berühmten englischen König,
der nie sein Feind war, widerrechtlich gefangen hielt und einen
unabhängigen König vor sein Tribunal forderte, ist es Dr. Toeche
gelungen den tieferen Zusammenhang jener Begebenheiten mit der
Politik des Kaisers zu ergründen, und den geschichtlichen und
vaterländischen Gesichtspunkt für die Beurtheilung des Verhält-
nisses zwischen Kaiser und König an massgebende Stelle zu rücken.
Otto Abel war der Einzige, der die Nichtigkeit und Unwürdigkeit
des bisherigen Urtheils erkannt hat ; und auf demselben Weg geht
auch Toeche vorwärts ohne sich durch die sentimentale Nachrede
beirren zu lassen, dass er den Schleier romantischer Dichtung zer-
rissen und jene Sage von dem treuen Sänger Blardel unerbittlicher
Kritik unterzogen hat. Unbeirrt von dem Vorwurf, dass er das
erhebende Werk der Poesie zerstöre, kann der Historiker gerade
an die Untersuchung solcher Vorgänge mit besonderer Freude und
Erwartung gehn : denn bis in die neueste Zeit hat die sagenbil-
dende Kraft des Volkes immer an erhabene oder an entscheidende
Momente oder an solche angeknüpft, die mit besonderer Prägnanz
den Charakter einer Zeit oder eines Mannes gleichsam typisch er-
scheinen lassen: so hat sich die Sage von Friedrich dem Grossen,
der nach der Kolliner Schlacht auf dem Brunnenrohr sitzend, im
Sande mit dem Stocke zeichnet, und von den drei Monarchen, die
bei der Nachricht vom Siege von Leipzig betend in die Kniee
lallen, fest im Volke eingebürgert. Und doch, wenn der Forscher
seinem Berufe getreu in solchen Fällen das Gewebe der Dichtung
zerreisst und die reinen Formen geschichtlicher Wahrheit enthüllt,
kann er sich damit getrösten , dass er an Stelle jener unwahren
Schönheit jedesmal eine schöne Wahrheit setzt. Mit solchem Ge-
winn lohnt auch eine Untersuchung der Gefangeuschaft von Bichard
Löwenherz streng nach geschichtlicher Ueberlieferung : der poetische
Gehalt des Vorgangs kommt erst dann zu voller reiner Geltung.
(Fortsetzung im nächsten Heft )
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k S. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR
Schimpf und Ernst von Johannes Pauli. Herausgegeben von Her-
mann Oesterley. Stuttgart, Gedruckt auf Kosten des literari-
schen Vereifis. 1866. 559 8. Qross-Octav.
Mit nicht geringer Freude wird ein bedeutender Theil der ge-
lehrten Welt die vorliegende neue Auagabe eines Werkes empfan-
gen, welches für die deutsche Sprache und Sittengeschichte, so wie
für die Geschichte der romantischen Poesie einen mehr als ge-
wöhnlichen und vielfach hervorgehobenen Werth besitzt ; denn jeder
Literarhistoriker, der dasselbe mehr oder minder ausführlich er-
wähnt , spendet ihm ein hohes Mass von Lob und Anerkennung.
Gleichwohl war > Schimpf und Ernst« wie die meisten Drucker-
zeugnisse jener Zeit , in seiner ursprünglichen , unverfälschten Ge-
stalt wenigstens, sehr schwer zugänglich geworden, und dies er-
klärt die obige beifällige Aeusserung; wir besitzen nämlich nun
einen Wiederabdruck der ältesten, vollständigsten und allein zuver-
lässig durch Pauli selbst besorgten Ausgabe von 1522, »deren Text
in der vorliegenden Bearbeitung mit möglichster Treue wieder-
gegeben ist«, wie Dr. Oesterley bemerkt, der, in der Einleitung
die Pauli selbst betreffenden leider nur in geringem Umfange be-
kannten Lebensumstände voransendend, dann auf die Bibliographie
von »Schimpf und Ernst« genauer eingeht. Wir ersehen daraus
unter anderm auch , welch* beneidenswerthen Ruf die Münchener
Bibliothek sich durch die Vorsicht erworben, womit sie ihre Schätze
bewahrt ; denn einige ältere Drucke von Pauli's Werk, die sie be-
sitzt, »habe ich , bemerkt der Herausgeber, nach den Erfahrungen
mehrerer Freunde, namentlich E. Gödekes, nicht versuchen können
mir zugänglich zu machen.« Ein Versuch jedoch konnte immerhin
nichts schaden, wenigstens hätte im Verweigerungsfalle das gleich-
falls mit Bezug auf den Vorstand einer öffentlichen Bibliothek be-
rühmt gewordene »pro singulari sua humanitate negavit« eben nur
•ine neue (die wievielte?) Auflage erlebt. Ausser dem sorgfältigen
Wiederabdruck der Editio prineeps finden wir aber auch noch
andere höchst Schützens wert he Beigaben, die der ganzen Arbeit
einen um so höhern Werth verleihen. Nicht nur sind als Anhang
eine Beihe von Erzählungen aus den späteren Drucken hinzuge-
kommen, sondern ferner noch ein doppeltes Register, wovon das
erste anch die Berichtigungen in der Zählung des Textes, das zweite
die von Grimm in letzterer Beziehung für nothwendig erachtete
Vergieichnng der wichtigsten Ausgaben bietet. Demnächst folgt
LX. Jahrg. 1. Heft. 5
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Pauli: Schimpf und Fruit
ein in mehrfacher Hinsicht sehr willkommenes Verzeichniss der in
den Nachweisangen häufiger und abgekürzt oitirten älteren und
neueren Werke und Ausgaben (unter Dialogus Creaturarum ist aut
Nicolaus Pergaminus verwiesen, der jedoch nicht aufgeführt steht ;
s. über dens. Robert, Pables inöd. vol. I. p. OVI vgl. Grässe 2,
2, 714); ferner die Nachweisungen über den Ursprung und die
Verbreitung der einzelnen Erzählungen, welche eine Hauptzierde
von Oesterley's Arbeit ausmachen, und worauf ich weiter unten
ausführlicher zurückkomme ; die dabei gegebene kurze Inhaltsan-
gabe jedes Stückes ist ganz besonders willkommen, wie Fachge-
nossen leicht erkennen werden ; endlich den Sohluss bildet ein
Wörterverzeichniss, welches nur hin und wieder einige Lücken bie-
tet; so fehlt »figent« Feind 373, 19, 433, 22; »bartman« 349, 4
(Gelehrter? vgl. Baretsleute in Grimm's W.-B., wo auch Bautman
steht, aber in anderer Bedeutung) und so noch einzelnes. Ersteres
Wort (figent) entspricht in seiner Form der von vigel d. i. Veial,
Veilchen, welches 360, 12. 80 in der Verbindung bauren vigel
(grumus merdae) vorkommt. Dieser Ausdruck stammt wahrschein-
lich aus dem bekannten Neidhart'schen Schwank, worüber s. v. d.
Hagens M8. 3, 202. »Der Vial«; vergl. Kellers Fastnachtspiele
8. 393 ff. no. 53. — Verweilen wir nun einen Augenbliok bei dem
eigentlichen Inhalt der Erzählungen, abgesehen von ihren literari-
schen Beziehungen, so kann man nicht umhin, wie schon von Andern
bemerkt worden, über die Offenheit zu erstaunen, womit -der Bar-
füssermönch nicht blos die Thorheiten und Laster der Laien , von
den Bauern bis zu den Fürsten, rücksichtslos geisselt (i. B. no.
453: »aber von den Fürsten glaub ich auch vnd halt, das keiner
selig werd er sterb dan in der wegen [Wiege], Hec felix hemerlin
etc.), sondern auch die der Geistleichen, sowohl der secularen
(z. B. no. 67 — 80, so auch no. 454: »Die heischen Fürsten ent-
büten üch geistlichen fürsten vnd prelaten vnd regierer der kir-
chen ihren früntlichen gruss als iren liebsten fründen, wan ir zu
allen ziten thun, was ihnen lieb ist«) wie der Ordensleute (s. be-
sonders 282, 373, deren Erbschleicherei z. B 497, ihre Lttderlich-
keit z. B. no. 499; die angustiner canonici reguläres, die tragen
weise hemder, vnd regieren alle pfarren zu Leibtzig, die machen
viel kinder vnd haben kein frawen, das sein seltzame dinge); ja
sogar ein Papst wird in die Hölle versetzt (no. 348, wo er nach
seinem Tode dem Oaplan erscheint und zu ihm sagt: »Ich bin ver-
dampt. Der caplan sprach warumb, ir haben doch die absolutz
vnd volkumen ablas erworben. Es ist war sprach der babst, aber
cristus hat den ablass nit angenumen noch sigilliert. Spricht doctor
Jacobus Cartusiensis der dis beschreit [beschreibt?]«). Mir ist nicht
gegenwärtig, ob Pauli von Flacius Illyricus unter die testes veri-
tatis aufgenommen ist ; verdient hätte er dies jedenfalls, wäre es
auch nur um folgender 8telle willen. »Es klagt sant Augustin, das
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Pauli: ßohlrapf und Ernst.
07
wir selber vneeru »tat vnd vusern glauben vnd gesatz au vil be-
schweren, vnd sprach, es wär böss regieren, darumb wie ietz ge-
i«gt ist. Wer er erst ietzt vff erdtreicb, was würd er dan spre-
chen, es ist wol .XI. hundert iar das er das gesagt hat. Vnd die
leither sein kumen das Deeret, das Decretal, $ext, Clenientin, die
Bitrauagantes vnd so vil Statuten, Constitutionen, sinodalia vnd
gewonbeiten des cbors, das aduent, vnd sein so vil nussschalen,
das man kum den kernen das ist das gottes gebot, darvnder fin-
den, vnd legen uns selber so vil strick, wo einer binuss wü, so
findet er strick, das einer nit weiss was er thun sol, doch bleib
bei dem alten rechten glauben, vnd lass dich kein nüwen propbe-
Un irren.« (No, 262.) Wir sehen hier zugleich aus den letzte«
Worten , dass trotz dem Verderbniss der Kirche Pauli sich den
»neuen Propheten« nicht anschloss, womit selbstverständlich Zwingli
und Luther gemeint sind, welche eben damals ihre Wirksamkeit
begannen ; vielmehr gibt er mit grösster Unbefangenheit den Zweck
seiner Sammlung in folgenden Worten der >Vorred« an. »Die
Buch ist getaufft vnd im der nam vff gesetzt. Schimpft vnd Ernst,
wan vil schimpff lieber, kurtzweiliger vnd lochorlieber exempel darin
sein, damit die geistlichen kinder in den beschlossenen klöstern
etwa au lesen haben, darin sie zu zeiten iren geist m$gen er«»
lüatigen vnd rüwen, wan man nit alwegen in einer strenckeit blei-
ben mag. Vnd auch die vff den Schlössern vnd bergen wonen vnd
geil sein, erschrockenliche vnd ernstliche ding finden, da von sie
gebessert werden. Auch das die predicanten exempel haben die
schlefferlichen menschen zü erwecken vnd lüstig zu hören machen,
auch das sie osterspil haben au ostern, vnd ist nichtz her gesetzt»
dan das mit eren wol mag gepredigt werden.« Es erhellt hieraus
also für wie unverfänglich Pauli trotz der derben Wahrheiten seine
Sammlung auch in kirchlicher und theologischer Beziehung hielt}
träte sie jetzt ans Licht der Welt, eine Stelle im Index wäre ihr #
bicher. — Gehen wir nun zu einer nähern Besprechung der von
Oesterlej gegebenen literarhistorischen Nachweise über, so kann
man nicht umhin, denselben ein wohlverdientes Lob zu ertheilen
und sich darüber zu freuen, dass wiederum ein so schätzenswerther
Beitrag zur Geschichte der erzählenden Dichtung geliefert worden
ist. Oestcrley selbst bemerkt hierüber: »Die Nachweisungen über
den Ursprung und die Verbreitung der einzelnen Erzählungen kön-
nen natürlich keinen Anspruch auf irgend welchen Qrad von Voll-
ständigkeit machen : sie geben nur das , was sich bei Ue issigem
Suchen aus einem allerdings ungewöhnlich reichen Materiale zu-
sammengefunden hat.« Sehr willkommen ist es namentlich, dass
Oesterley die Kirchenschriftsteller des frühem und spätem Mittel-
alters ausgezogen und aus ihnen eine reiche Ausbeute gewonnen
bat Dass er frühere Forschungen benutzt, versteht sich von selbst,
IIS er seihst dies auch anführt, so dass er nichts verabsäumt bat,
♦
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68
Pauli: Schimpf und Ernst.
seine Arbeit so ersprieslich wie möglich zu machen. Wenn sich
gleichwohl mancherlei Lücken finden (und er selbst gesteht dies
zu), so wird wer ahnliche Untersuchungen vorgenommen, ihm dar-
aus ebenso wenig einen ernsten Vorwurf machen wollen, wie aus
manchen andern Fehlern und Versehen, die man dabei (ich weiss
dies aus eigener Erfahrung) nur zu leicht begeht. So wird zuwei-
len Beabsichtigtes vergessen, Naheliegendes übersehen, Ungehöriges
herbeigezogen, Richtiges unrichtig angeführt u. s. w., wobei auch
die lapsus calami, Druckfehler und dgl. eine unerwünschte Rolle
spielen. In den nachstehenden Bemerkungen nun will ich keines-
wegs alles in den genannten Beziehungen bei Oesterley unvoll-
kommen Gebliebene vervollständigen, vielmehr beabsichtige ich da-
mit nur die Reminiscenzen und Berichtigungen mitzutheilen , die
sich mir bei Lesung des Buches ungesucht darboten; so z. B. ist
No. 15: »Eine schrei als man sie beroubet« eigentlich bloss eine
andere Version von No. 28 des Anhangs. »Ein künigin ausz Frank-
reich gab eiu recht urteyl«, weshalb sie auch beide in der Ideler'-
schen Ausgabe des Don Quijote in den Anmerkungen zu der be-
treffenden Stelle von P. II. c. 45 zusammengestellt werden; —
No. 18. »Ein loew liesz die klawen im bäum«; s. Grimm, Kinder-
märchen. No. 72. »Der Wolf und der Mensch«; — No. 19. Der
sun biss seim vater die nasz ab.« Waldis 3, 39. »Vom ungezohen
Kind vnd seiner Mutter« und dazu Kurz; — No. 26. »Ein witziger
folgt eim narren.« Die angeführten Stellen aus Diocletian, Gesta
Rom. und Kellers Sept Sages (Sagen ist Druckfehler) enthalten
nichts Hierhergehöriges; — No. 32. »Ein nar überdisputiert ein
witzigen.« Reinh. Köhler in Pfeiffer's German. 4, 482 ff. n. meine
Bern, ebend. 5, 487 eine mongolische Erzählung im Ardschi Bord-
schi; s. oben Jahrg. 1866. S. 937; — No. 48. »Ein nar vrtheilt
zu bezalen mit dem klang.« Statt »Waldis 4, 13« 1. 4, 14. Zu
den angeführten Stellen aus Plut. u. Ael. gehört auch Olem. Alex.
Strom, p. 520. Lutet. 1629 (das Urtheil des ägyptischen Königs
Bocchoris); vgl. auch Uhland's Schriften zur Gesch. der Dichtung
und Sage 3, 220; — No. 53. »Ein bauer sucht CC. eyer in eim
hun.« Waldis 2, 15. »Vom Antvogel« und dazu Kurz; vgl. auch
Morlini c. 41 »de milite Battino etc.« — No. 57. »Ein fasant
soll nur ein bein haben.« Zu Bidermanni Utopia füge hinzu »6,
18«; s. auch Contes du Sieur d'Ouvüle 1,505 ff. — No. 72. »Man
vergrub ein Hund an das geweiht.« In Betreff des nach Duniop
angeführten Lamai 8. d' Herbelot s. v. Cadhi (2, 33bf. der deutschen
Uebers., wo verdruckt steht Lamdi«); — No. 81. »Wie der tüfel
ein stalknecht holt.« A Kuhn, Westphäl. Sag. 2, 225. No^ 6.
»Der Teufel und der Exekutor«; J. W. Wolf, Hessische Sagen
No. 256. »Der Advokat und der Teufel« ; — No. 87. »Gens und
enten half der Tüfel stelen.« Lucanor 45 (verdruckt für 49),
Guicciardini und Waldis passen sehr wenig her. Berichtige dem-
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Pauli: Schimpf und Ernst.
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nach auch zu Dunlop S. 503» wo Ferd. Wolf a Citat aus Pauli, u.
Kurz zu Waldis, wo Pauli und Lucanor zu streichen sind ; — No. 94.
»Der dem tttfel ein liecht vff zünt.« Vgl. Simrock, Sprüchwörter
No. 10137. »Man muss dem Teufel ein Eerzchen aufstecken«;
Tgl. auch No. 10138—40 so wie das französ. Sprichwort »bruler
ane chandelle au diable« ; — No. 113: »Die witfrau soll sechs
hundert gülden kein on dem andern geben.« Pantschat. 1, 28.
§.104; — No. 119. »Die sach hangt noch am gericht.« Apul.
Flor. p. 87 Oud. ; — No. 130. »Der fürst ward geladen in das
tal iosaphat nnd kam da.« Das Predigtmärlein in Pf. German.
3, 419 No. 9 und dazu meine Anführungen ebend. 5 , 48 Anm.
(wo Wolfs Deutsche Sagen gemeint sind) ; — No. 134. »Ein böss
*eib tugendhaft zu machen.« Weber, Indische Studien 3, 357;
rergl. Holtzmann, Indische Sagen 2, 258 f. 2. Aufl.; — No. 135.
»Böse man tugendhaft zu machen.« Zu Grimm, Mythol. 1153, 8.
meine Anführungen in den Heidelberger Jahrb. 1862. S. 853 f. zu
No. 188; — No. 142. »Das bösz weib rückt hinter sich.« In die-
sem Schwank erwähnt Pauli »die verkert Adelheid«, womit die
Geschichte »Von der ubeln Adelbeit und ihrem Man« gemeint ist;
3 Keller's Altdeutsche Erzählungen S. 204 ff. (Stuttg. Verein) und
dazu meine Anführungen in Pf. German. 1, 270; s. ferner das
Predigtmärlein ebend. 3, 420 No. 10 und dazu meine Bern, ebend.
5, 48 Anm. so wie in Benfeys Orient u. Occ. 3, 376 zu No. 61. '
»Die Widerspenstige« ; vgl. auch Pauli No. 595 u. Anhang No. 12;
— No. 150. »Der Hafen sod, die tasch lief heim.« Apul. Metam.
L HI. p. 201 sqq. Oud.; — No. 151. »Das weib segnet sich vor
dempfaffen.« Vgl. Grimm, Mythol. 10 74 f. 1077 ff. (Priester als
böser Angang) ; — No. 167. »Domitianus verfolget Christen (und
Mücken).« Suet. Domit. 8; — No. 172. »Ein Hasenstösser gloryert
tsi eim Hasen.« Die Citate gehören nicht hierher; — No. 173.
»Ein wolf Hess ein kitzi tantzen.« Waldis 4, 88. »Vom Fuohss vnd
dem Eichhorn« ; vg!. 4, 2. »Vom Fuchss vnd dem Hanen« und
tarn Kurz; — No. 174. »Der wind warff ein eichbaum umb.«
Meine Anführungen in Pf. German. 7, 504 zu Waldis 1, 100; —
So. 178. »Vff eim bret betten zwei vnglück.« Zu dem zweiten
Tbeü »Die sein gleich einem Hunde vff einem hewhuffen, der isset
ks hew nit u. 8. w.« ; 8. Waldis 1, 64. »Von neidigen Hundt«;
~ No, 184. »Vespasianus hat gemein beschlagen.« Suet. Vespas.
23; — No. 185. »Vespasianus rat mit seinem bruder.« Suet. 1. c;
- No. 186. »Ler mucken stechen.« Zu Waldis 4, 52 (I). »Vom
Fachas vnd dem Igel« ; — No. 187. »Vespasianus solt man in
tyber werfen.« Suet. Vesp. 19; — No. 188. »Ein fraw küsset
respasianum« Suet. Vesp. 22 ; — No. 189. »Vespasiano sagt ein
Sprecher kurtz.« Suet. Vesp. 20 ; — No. 206. »Ein kaiserin stiess
• band in das maul vergilii.« Pantschat. 1, 457 ff. (nioht 455);
meine Anführungen zu Dunlop Anm. 383 zu Timon. nov. 4. und
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P Ati Ii: Fchirepf und Erriet.
in Benfey's Of. n. Occid. 1, l24f. Pf. German. 4, 237. Du Menl
Mölanges arcbeol. et littet. Paris 1850. p. 444 f. und oben Jahrg.
1866. 8. 936 f. meine Bemerkongen zu der letzten Erzählung des
Ardscbi Bordschi ; — No. 207. »Antonius leid ein eebrecberin.«
Scr. Hist. Aug. in der Vita M. Anton. Philos. 19; - No. 223.
»Von eim kanfman der ein köpf mit bart ob eim tisch hat ge-
sehen.« Zu Pantschat. 1, 446 gehört mein Aufsatz »Rose und
Oypresse« in Benfeys Or. und Occ. 2, 88 ff. Hahn, Griech. Mär-
eben No. 114. »Die heimatssebeue Prinzessin« nebst der Anra. 2,
320 und dazu meine Anzeige in den Heidelb. Jabrb. 1864 8. 220;
s. aücb Bimrock, Der gute Gerbard 8. 89 ff. »Gedanken errathen«;
— No. 224. »Von der frawen Gangolfi.« Vincent. Bellov. Spec.
hist. 23, 159 und Alber. Trium Font, ad ann. 766 (1, 102 ed.
Leibn.); — No. 228. »Der koler sach ein frawen.« Gervas. von
Tilbury ed. Liebrecht. 8. 2Ölff.; - No. 241. »Ein trunken weib
weisit nichtz me.t Val. Max. 6, 3, 9; — No. 243. »Ein brüder
erweit trunckenheit, ward ein eebreeber.« Meine Bern, in den Gött.
Gel. Ana. 1866. S. 671; — No. 244. „Noe sebütt fiorerloi blut
zü den reben." Meine Nachweise in den Heidelb. Jabrb. 1864.
& 218 zu Hahn No. 76; — No. 251 „Ein traebt kostet dausent
gülden." Plin. H. N. 9, 58 und die Erklarer; — No. 256. „Kai-
ser otto was am ostertag gech." V. d. Hagen Gesammtab. No. 4.
„Heinrich von Kempten.*4 und dazu meine Bern, in Pf. German.
1, 259; — No. 257. „Umb unschnld schlug einer den bund."
Statt Benfey lf 497 1. 479; s. femer meine Bern, in den Gött.
Gel. Anz. 1865. 8. 1190 ff.; — No. 261. »Von dreyen faulen
sünen, welchem das reich zü gehört.« Stan. Julien Aväd. No. 94,
„Le raari entre ses deox femmes.« Ferner Journ. asiat. 6, 288
(erste iörie) aus Shakspeare's Hindust. Gramm.: »Un nomine de
la tribu de Kalath venait de se coucher etc.« Oontes du Sieur
d'Ouville 2, 117 ff. (Oesterleys Citat »Straparola Samml. f. K. v.
G.« bedeutet »Sammlung für Kunst und Gesch. von Rnmohr.«
S. Grimm, Kinderm. 8, 234. Gemeint ist Strapar. 8, 1 ; s. meine
Bern, in Pf. Germ. 2, 246 zu No. 151); — No. 267. »Der dot
schickt eim drei botten.« Vgl auch Passow TQayovdia Pcofiatka No.
426—483 und dazu meine Anz. in den Gött. Gel. Anz. 1861. 8.
575 f.; — No. 281 »Einer bot seiner seel viel gütz.« Statt »Lu-
canor 4« 1. 25. Ueber diesen im Mittelalter vielfach behandelten
Stoff von dem Streite zwischen der Seele und dem Körper , s. Ferd.
Wolf, Studien zur Gesch. der spau. und port. Nationall. S. 54 ff.
162 ff. ; — No. 288. »Markolfus kunt kein bäum finden, daran er
hangen wolt« Statt »Narrenbuch S. 256« 1. 266; s. ferner Wob* s
Bidpai 2, 269 f. »Der Bekehrte.« — No. 801. »Einer abioluiert
von künftigen Sünden.« Dies ist die allbekannte Geschichte von
Tetzel und seiner Ausplünderung dureb eineu sächsischen Edel-
mann, was Oesteriey anzumerken übersehen bat. Nach Albinns
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Pauli: Schimpf und Ernst. 11
Meissner Chronik 15. 446 und Hecht in der Vita Tezelii soll sie
im Jahr 1518 vorgefallen sein. Da nun aber Oesterley als Quelle
Paulis, dessen Vorrede zu Schimpf und Ernst Tom Jahr 1519
datirt ist, das Rosarium des Bernardinus de Bustis anführt, wel-
ches zuerst Venet. 1498 erschien (Bernandinus starb, wie man
glaubt, nach dem Jahr 1500), so würde jene Tetzeigeschichte sich
als apokryph erweisen, falls die im Rosarium ihr wirklich genatl
entspricht; — No. Sil. »Der feohtmeister schlüg seinem schulen-
den köpf ab.« Meine Anführungen in Pf. Germ. 7, 507 zu Waldis
4, 72. »Von zweien Fechtern.« Plut. Quaest* gr. 13 (Moralia 2,
308 ed. Tauchnitz); — No. 816. »Der künig Hess einen köpfen.«
Streiche Orässe Gesta Rom. [2] 262 und füge hinzu Petron. 57;
— No. 334. »Von einem wolf, einem fuchsz und einem geitigen.«
Pf. German. 7, 507 zu Waldis 4, 8. »Von einem hungerigen Wolffe« ;
Xo. 375. »Ein äff warf den tritten pfennig.« Heywood Hierarchie
of the Blessed Angels p. 577 bei W. Scott Minstrelsy zu der
Ballade »The young Tamlane.« J. W. Wolf, Hessische Sagen No.
229 >Lollus« ; — No. 882. »Diogenes ass kraut, aduliert nit.«
Diog. Laert. 6. 2^ §. 58 ; — No. 388. »Die in saxen tanzten ein
jar.« Grimm , Deutsche Sagen No. 231. Grässe der Tann hauser
und der ewige Jude S. 121. 2. Aufl. Auch in der Normandie hei-
misch; 8. Du Meril, Etudes sur quelques points d'archeol. eto.
p. 472; — No. 397. »Mido rex hat esels oren.« Meine Bern* zu
Pantsehat. in Eberts Jahrb. für roman. Litt. 3, 86 ff. Diese 8age
findet sich auch in der Bretagne; 8. De Nare, Contumes, mythes
et traditions des provinces de France p. 219, so wie in Serbien
s. Wnck Stephanowitseh Serb. Märch. No. 89; — No. 899. »Der
mund und die glieder werden mit einander uneins.« Hierher ge-
hört auch die äsopische Fabel von den Augen und dem Munde bei
Dio Cbrys. vol. IT. p. 6 ed. Dind. (II, 7 Reiske). Irre ich nicht, so
ist sie bisher in keine griech. Fabelsammlung aufgenommen ; —
No. 423. »Einer bracht seinen grösten feind.« Vgl. aueb meine
Anfflbrungen in Pf. German. 2, 244 zu K. M. No. 94 (wo statt
»seiner Frau« zu lesen ist »seiner Kebse«), in Eberts Jahrb. 1,
433 zu Cintio de1 Fabrizi No. 8, in den Heidelb. Jahrb. 1863.
3.60 zu »Dass man seiner Frau kein Geheimniss mittheilen müsse«[;
so wie ebend. 1866. 8. 626 zu Oesterleys Ausg. von Shakespeare's
Jett Book No. 49 (in welcher Anzeige statt »Wolf Kinderm. No.
135« 1. 125). Die beiden Citate Oesterleys zu der in Rede ste*
benden Erzählung Paulis »Enxemplo 847« und »Gallensis 2, 1, 4«
gehören eigentlich nicht dahin, sondern zu No. 269. »Der künig
rtünd gegen nidergang« wo sie auch angeführt sind; — Nö. 427,
»Denmarker beten ein hund zu eim künig.« Meine Bemerk, oben
Jahrg. 1865. S. 1151; füge hinzu 8axo Gramm. 1. Vit. p. 120.
Praocof. 1576 (Gunnar gibt den Norwegern einen Hund zum Re-
genten) ; — No.434. »Der Hund verriet ein mörder.« Gervas. von
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Pauli: Schimpf und Tarnet.
Tilbury S. 118 f.; — No. 436. »Zwo elen tüchs gab einer seinem
vatter zü eim rock.« Dunlop-Liebrecht Anm. 354h. Stan. Julien
Avadän. 2, 144 No. 121; — No. 463. »Der man gab eim das
pferd.« Ayrer No. 61. »Der Forster im Schmal tzkübel« (S. 3068
ed. Keller); — No. 471. »Socrates ward beschüt.« Zu Seneca
ergänze »De constant. sap. o. 18.« S. auch Diog. Laert. 2, 5.
§.17; — No. 475. »Einer spüwet den künig in sein bart.«
Diog. Laert. 2, 8. §. 75. Busone da Gubbio 1. III. e. D ; s. Dun-
lop Anm. 451 8. 51 lft ; — No 481. „Kein tag vergat on leiden «
Ueber Erblinden durch Schwalbenkoth vgl. meine Uebers. von Ba-
sile's Pentamerone 1, 147. 2, 59. Dieser Volksglauben ist entstan-
den ans dem Buch Tobiae 2, 11; — No. 489. »Zwen wetteten
mit einander.« Erin von K. v. K. Stuttg. 1847. Bd. 6. S. 230.
»Owney und Owney-na-Peak« ; — No. 494. »Der wolf verklagt
den fuchs falsch.« Grimm, Reinh. Fucbs CCLXXXIII. No. 85 (aus
Rabbi Berachia); Robert, Fables inöd. 2, 559 No. 21; ferner die
bottentottische Fabel vom kranken löwen, No. 10. der englischen
Sammlung, welche ich in Lazarus und Steinthals Zeitschrift Bd. V.
Heft 1 besprochen; — No. 502. »Ein jüngling kam gen rom.«
8tatt Octavians tritt auch Heinrich IV. von Frankreich ein; s.
L'Esprit dans l'Hist. par Ed. Fournier. Paris 1857. p. 17 f.; —
No. 505. »Der bület der grossen römer weiber.« Suet. Octav. c.
69; — No. 509. »Darius schickt Alexandre ein sack voll mag-
somen.« Reinhard Köhler in Pf. Germ. 4, 491 f.; — No. 510.
»Julius fragt sein frawen.« Macrob. Sat. 2, 5 (p. 348 Bip.); —
No. 516. »Kropfecht lüt machten gesund.« Ueber diese mehren
Königsgeschlechtern beigelegte Eigenschaft s. die Abhandlung von
Paulus Cassel, Le roi te touche. Berlin 1864; — No. 518. »Der
künig begert zu wissen.« Das bekannte Apophthegma des Kleobu-
los: pdtQQV agiatov. Diog. Laert. 1, 6. §. 93; — No. 522. »Dem
bösen geist hat sich einer ergebe», ward erlösst.« J. W. Wolf,
Niederi Sagen No. 358. »Ritter Riddert«; vgl. No. 359. »Sanct
Gertrudeu-Minne« und Grimm, Mythol. 54 f.; — No. 560. »Sibilla
zögt Octaviano ein bild.« Gervas. Tilber. Otia Im per. Decis. IL
c. 16. p. 927 sq. (bei Leibnitz Scr. Rer. Bruns v.). Diese Stelle
habe ich in meine Auswahl nicht aufgenommen. Fast wörtlich
stimmt damit überein Mirabilia Urbis Romae »De jussione Octa-
viani imperatoris et responsione Sibillae« (Grässe, Beiträge zur
Litt, und Sage des Mittelalters, S. 6 ff.). S. auch Leg. aur. c. 6.
»De nativitate doraini« (p. 44 ed. Grässe) ; vergl. Gottfried von
Viterbo P. IX. p. 181. P. XV. p. 358 ed. Pistor., besonders aber
August, de Civ. Dei 18, 23 der das ganze aus dem achten Buch
der Pseudosibyllinen übersetzte Gedicht mittheilt, wovon Gervas.
nur die drei ersten Verse anführt Es bildet im Original und
ziemlich auch in der Uebersetzung ein Akrostichon, nämlich die
Worte: Tiftfovs XQKSvog Gsov 'Vwg Zat-fo. Da die Anfangsbuch-
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Paul!: Schimpf und Ernst.
staben dieser fttnf griechischen Worte wiederum das Wort t%&vg
geben, so wurde bekanntlich Christus selbst häufig mit 'l%&v<s oder
durch die Abbildung eines Fisches bezeichnet. Vgl. Joh. Franz,
Ein christliches Denkmal von Autun. Berlin 1841. S. 34 ff. ; und
über die Sibylle auch noch v. d. Hagen Gesammtab. Bd. L p. LXX ;
— No. 561. »Zwei hundert jar was ein ritter aus, meint es wer
nur ein stund«, und No. 562. »Ein vogel sang eim brüder CCO.
iar.« Gervas. ed. Liebrecht S. 89. Maurer, Isländ. Sagen S. 198 ff.
und dazu meine Anzeige in den Gött. Gel. Anz. Jahrg. 1861. S. 435.
Mussafia, Ueber die Quelle des altfranz. Dolopathos. Wien 1865.
8. 14 ff. (Sitzungsberichte der phil. hist. Classe der Wiener Akad.
Bd. 48). Walterus Mapes Nugae Curial. 1, 11 de Herla rege; vgL
Uhland in Pf. German. 1, 6 und dazu Erin von K. v. K. 3, 163 f.
Dass diese ganze Vorstellung von dem unbemerkten Verschwindon
langer Zeiträume im Orient heimisch ist und wahrscheinlich von
dort herstammt, erhellt aus mehreren der genannten Anführungen ;
auch von des parsischen Jima Garten wird gesagt, dass er sein
eigenes Licht hatte und seine Bewohner für einen Tag halten was
ein Jahr ist. Vgl. Braun, Naturgescb. der Sage 1, 134 (München
1864); s. ferner die Analyse einer chinesischen Feenoper. »Die
Fischergrotte" in dem Journal asiat. IVme sörie vol. 18 p. 518 ff.,
welche mehreren der oben angeführten Sagen auffallend ähnlich ist ;
— No. 571. »Der ein hat nichts, dem andern kunt nit genug wer-
den, c Val. Max. 6, 4, 2 ; — No. 595. „Lüszknttcker namt eine
ihren man." Vgl. oben zu No. 142; — No. 606. „Den himel hüob
ein fogeL" Statt „Jahrb. für rom. Litt. 5" 1. 3. Füge hinzu Ben-
fey Or. o. Occ 1, 671 aus Kalilah und Dimnah: „Vier fürchten
ohne Ursache, ein junger Vogel u. s. w."; — No. 614. „Dem
thürhieter gab man. L. streich." Dunlop-Liebrecht S 257 u. Anm.
330b. Ueber das daselbst erwähnte engl. Gedicht Sir Cleges s. auch
W. L. Holland Crestien de Troies. Tübingen 1854. S. 62 f.; —
No. 625. „Der reich det dem armen schaden." Senec. Controv. 5,
5. „Exusta domus cum arbore" ; p. 441 Bip. ; — No. 635. „Poli-
krates hat gross Glück." Gervas. S. 77 f. Anm. J. W. Wolf, Bei-
träge zur deutschen Mythol. 2, 459 ff. A. Kuhn, Westphäl. Sagen
1, 375 f. No. 421. Mussafia, Ueber die Quelle des altfranz. Dolo-
pathos S. 17 ff. — No. 637. „Drü weiber hanckten sich selbs."
Diog. Laert. 6, 2. §. 52 ; — No. 639. „Der eebrecher bessert sich."
Dunlop.S. 299 zu Heptam. de la ßeine de Navarre No. 38; —
No. 647- „Der neidig vnd geitig begerten Ion." Lorenzo Segura
Poema de Alexandro, copla 2196 (Sanchez, Colleccion etc. Madrid
1782 vol. 1, 307 f.); ein Meistergesang des 16. Jahrg. bei Uhland
Werke zur Geschichte der Dichtung 3, 265. (Was das von Oester-
ley aus Kurz zu Waldis 2, 5 entnommene Citat „Liebrecht in Pf.
German. 2,240" bedeuten soll, ist mir unklar); — No. 648. „Die
tibkng macht den künig gesehen." S. meine Anzeige von Uhland
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Pauli: Schimpf und Emet,
Bd. II. in den Gött. Gel. Anz. 1866. 8. 1639 zu S. 99. „Der
kaiser und die schlänge" wo Z. 19 statt „German. J" zu lesen
„Germ. 1; — No. 662. „Cyrus bereitet den Tisch amasonibus."
Herod. 1,207,211; — No 682. „Von heimlichen urteilen gottes."
Tauaendundeintag Tag 27. 28. 29. Hammer, Rosenöl 1; 162. Hur-
witz, Hebrew Tales pag. 18 ff. 2te ed. (Deutsch erschienen Leip-
zig 1826). „Die Geschichte des Rabbi Akiba." (Unter Oesterleys
Ci taten lies Enxemplo 161 statt 151 und Parnell statt Porneil);
— No. 685. „Gregorius bewegt ein berg." Mit der „historia lam-
pertica" ist gemeint die hist. Lombardica d. i Lcgenda aurea, wo-
selbst c. 145 „de S. Michaele (p. 642 ed. Grösse) das zweite und
dritte Wunder erzählt ist. — Anhang No. 12. „Von einer wizi-
gen frawen." Pf. German. 3, 420 No 10 mit welchem Predigt-
märlein ganz genau tibereinstimmt die versificirte Erzählung „A
Aposta" von Francisco Manuel, wiederabgedruckt in dem Par-
naso Lusitano, Paris 1827 IV, 374 sqq. S. ferner meine Bern.
5,48; vgl. zu Pauli No. 142. — No. 28. „Ein ktinigin au sz Frank-
reich gab ein recht urteil." S. oben zu Pauli No. 15; — No. 36.
„Von eim pfaffen, der ob dem altar schreit der kunig trinckt."
Heber letzteren Ausruf vgl. Scheible, Schaltjahr 1, 586. 3, 639.
5, 627. — So weit reichen die Nachweise, welche mir beim Durch-
lesen von Pauli's Sammlung beigefailen sind; andere weiss ich zur
Zeit nicht näher anzugeben; so wird der Schluss von No. 345.
„Das evangelium secundum pergaraura" der das niedrige Thürlein
betrifft, auch von Franz I. von Frankreich erzählt, der während
seiner Gefangenschaft in Madrid die spanischen Granden, die ihn
*u tieferen Reverenzen nöthigen wollten , auf die nämliche Weise
verhöhnt haben soll; — No. 500. „Einer sucht die 8chlttssel zur
Abtey", wird ebenso von Sixtus V. berichtet, der auf dieselbe Art
die Himmelsschlüssel suchte und fand ; Ranke in seiner Geschichte
der PHpste spricht von dieser Anekdote, wenn ich mich recht erinnere;
— No. 517. „Der begert ein gab von dem ktinig von franckreich"
ist mir schon in irgend einer orientalischen Sammlung vorgekom-
men u. s. w. — In dem Vorhergehenden habe ich verschiedene Mal
Gelegenheit gehabt unrichtige Citate (wahrscheinlich meist nur
Schreibfehler) zu berichtigen, so weit ich deren bemerkt; dazuge-
hören auch noch einige andere, wie S. 513 Z. 3 v. u. wo es statt
„(Gesta Rom.) lat. 124" heissen muss „englisch 84, bei Douce
2, 410, welches Citat dagegen S. 504 Z. 18 v u. zu «treichen ist;
— S. 520 Z. 1 v. o. 1. „Plin. 35, 36 s. 3. 17"; — S. 525 Z. 21
v. o. statt „Justin 4, 5" 1. 2, 10 und streiche 9, 10; — 8. 581
Z. 5. 6. v. o. 1. „Macrob. Sat. 2, 4 p. 342 Bip." — Auch mehre
andere Druckfehler will ich hier zugleich mit berichtigen. S. 61
Z. 21 v. o. 1. „sive modis"; — S. 88 Z. 14 v. o. 1. „der ein
Richter"; — S. 170 Z. 14 t. o. 1. „verbant"; — S. 5Ö3 Z. 8
r. u. L „Discipl. der. 29, 4"; — S. 507 Z. 11 v. o. bU „Paat-
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Gr&fe: Bestimmung des Sehwerpuskts von Körpern. T5
schat 1, 127" L? — Wahrscheinlich aus Versehen fehlen zuwei-
len die nähern Citate, von denen ich einige bereits ergänzt, so
auch zn No. 47. „Ein nar verbrant ein ketzer", wo schon im Text
Cäsarius angeführt ist. Indess alle diese wie ähnliche bei derglei-
chen Arbeiten fast nnvermeidlicbe Versehen, Mängel und Unvoll-
st&ndigkeiten sind nur gering anzuschlagen im Vergloich mit dem,
was Oesterley in der vorliegenden trefflichen Ausgabe eines so viel-
fach wichtigen Buches und in den damit verbundenen umfassenden
höchst schätzbaren Nachsuchungen geleistet hat. Zugleich aber
lässt uns diese Publication von neuem die so erspriessliche und
dankenswert he Thätigkeit erkennen, mit welcher der Stuttgarter
Litterarische Verein nun schon lange Jahre hindurch zu Nutz und
Frommen der Wissenschaft wirkt und die sein immer mehr wach-
sendes Gedeihen als besonders wünschenswerth erscheinen lässt.
Lüttich. Felix Liebrecht.
Utber eine allgemeine Formel sur Bestimmung des Schwerpunkts von
Körpern. Eine Folgerung aus der Lehre über das Witt-
»tdn'sche Prismatoid. Von V. v. Gräfe. Hamburg. Otto Meiss-
ner. 1866. (28 S. in 8.)
Dem Verf. der un6 vorliegenden kleinen Schrift hat einiges
Unglück mit derselben. Zunächst ist das, was er hier gibt, längst
bekannt, und sodann ist in der Formel, die er doch wohl als die
hauptsächlichste ansieht, ein Fehler. Das sind sicher geringe Empfeh-
lungen für dieselbe.
Der Inhalt lässt sich sehr kurz zusammenfassen. Es handelt
sich um die Berechnung des Körperiuhalts des (von Wittstein so
genannten) Prismatoids und dann um die Berechnung des Ab-
stands des Schwerpunkts von der Grundfläche.
Wir müssen hier, was wir bereits früher (11. Heft 1860)
gegenüber der Wittstein'schen Abhandlung gethan, anführen, dass
üe Formeln für das Prismatoid längst schon gefunden sind , und
* also Unrecht ist, an diesen Körper den Namen Wittsteins (des-
sen Verdienste wir sicher von Herzen auerkennen) zu knüpfen,
was Wittstein gewiss selbst nicht verlangt. Es ist dem Verf. dess-
balb als der beste Ausweg in solchen Fällen der zu empfehlen,
keine Namen anzuführen und sich mit der Sache zu begnügen.
Was nun aber das Prismatoid selbst botrifft , so ist das ein
-anz spezieller Fall eines viel allgemeinem Körpers, den der Verf.,
wenn er Integralrechnung vermeiden will , in der vortrefflichen
Schrift von Zehme: »Die Geometrie der Körper« (vergl. diese
Blätter, XII. Heft (1859) auf S. 76 elementar behandelt findet.
(Eine nähere^ Untersuchung findet sich S. 86 des angeführten Bu-
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76 Grfcfe: Bestimmung des Schwerpunktee Ton Körpern.
ohes noch weiter). Dort wird er ersehen, dass die von ihm ge-
fundene Formel nur in so weit gilt, als der Inhalt eines Schnitts,
parallel zu den begränzenden Grandflächen, durch die Formel
A + Bx -f Cx' -4- Dx* ausgedrückt ist. Dabei müssen wir noch be-
merken, dass das von unserm Verf. als allgemeines Prismatoid
(S. 4) angeführte entschieden das speziollere ist. Ein Parallel-
trapez kann sich in ein Dreieck, aber kein Dreieck in ein Parallel-
trapez verwandeln.
Wenn der Verf. (8. 9) die Prismatoide so ohne Weiteres in
kruramfläcbig begränzte Körper übergeben lftsst, so ist er im Irr-
thum. Die eben angeführte Grundbedingung muss gewahrt bleiben.
In der Formel für die näherungsweise Berechnung eines be-
liebigen Körpers (Simpson'sche Näberungsformel) muss statt m
stehen m-. Das ist nun nicht etwa ein Druckfehler, denn die falsche
o
Formel wird in dieser Gestalt später angewendet.
Der Verf. beschäftigt sich nämlich mit der Berechnung der
Lage des Schwerpunkts des Prismatoids. Die von ihm gefundene
Formel (S. 16) gilt nur so weit, als der Inhalt eines Schnitts im
Abstand x von der Grundfläche und parallel zu dieser, durch die
Formel A + Bx-fCxa gegeben ist. Wenn also der Verf. seine
Formel auf krummflächige Körper anwenden will , so muss er zu-
erst prüfen, ob diese Bedingung erfüllt.
Da er bei seiner näherungsweisen Berechnung der Lage des
Schwerpunkts (S. 28) die oben berührte falsche Formel anwendet,
m
so erhält er eben wieder eine falsche Formel, indem m statt -ge-
stehen sollte.
Die richtige Formel findet sich wohl in vielen Büchern ange-
geben. Wir citiren, als uns gerade zur Hand: Eytelwein: Hand-
buch der Statik fester Körper (1808), I. Band. S. 186; Kayser:
Handbuch der Statik (1836). S. 169. Somit ist die (leider un-
richtig) gefundene Formel nicht übermässig neu, abgesehen davon,
dass Chapman's Buch schon 1768 erschien. Allerdings hat der
Verf. auch keine neue Formel aufstellen wollen; seine (neue) Ab-
leitung ist aber eine verfehlte, sowohl in der Grundlage als in der
endgiltigen Redaktion.
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Jordan: Trigonometrische H
77
Die trigonometrische Höhenmessung und die Ausgleichung ihrer Re-
sultate nach den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung
an einem ausgeführten Höhennetz dargestellt von W. Jordan,
Ingenieur, Assistent für prakt Geometrie am K. Polytechnikum
zu Stuttgart. Stuttgart. Ä Lindemann. 1866. (54 8. in 8.)
Der etwas ausführliche Titel setzt voraus, dass man eine ent-
weder theoretisch oder praktisch auch ziemlich ausführliche Ab-
handlung nicht sowohl über Höhenmessung selbst, sondern über
die Ausgleichung der Beobachtungafehler bei derselben, vor sich
habe. Dem ist jedoch leider nicht so. Die Theorie ist mager und
wie wir sehen werden, in der Hauptsache verfehlt und die Praxis
bezieht sich auf ein »Netze von sechs Punkten und legt die un-
richtige Theorie zu Grunde.
In der „Einleitung*1 behandelt der Verf. kurz längst bekannte
Dinge, worauf er dann den Einfluss der Endkrümmung und der
Refraktion untersucht. Dabei hat er je einzelne Tabellen berechnet,
die im gegebenen Falle von Werth sein können. Auch bei der
Messung der „Distanz*4 verweilt er kurz und deutet dann die
Fehlerquellen bei Höhen messungen ebenfalls nur an.
Um die Methode der kleinsten Quadrate auf die Höhenmessuug
anwenden zu können, findet sich der Verf. bewogen, die „Haupt-
sätze der auf Beobachtungsresultate angewendeten Wahrscheinlich-
keitsrechnung'' anzuführen oder zu „beweisen." Dabei begegnen
ihm, gegenüber einor genauem Theorie, allerlei missliche Sachen.
Schon die Erklärung des Gewichts ist nicht ganz in Ordnung;
noch weniger lässt sich das vom wahrscheinlichen Fehler sagen.
Der „Beweis", dass wenn X = x-f-Xjj ferner r, rt die wahrschein-
lichen Fehler von x, Xj sind, der wahrscheinliche Fehler von X
gleich yf r2+rta sei, ist vom Verf. selbst als unzulässig erklärt,
indem er wegen eines „strengeren Beweises" auf andere Hilfe ver-
weist. Wir gestehen offen, dass wir es für viel vernünftiger ge-
halten hätten, einfach auf ein gutes Buch zu verweisen, statt einen
schlechten Beweis (d. b. gar keinen) zu liefern. Wir haben frei-
lich leider vielfach schon sehen müssen, dass die Herren Praktiker
sich mit solchen Dingen gerne behelfen.
Hintennaeh kommt der Verf. nochmals auf die » Definition c
des wahrscheinlichen Fehlers, die er »nach Laplace« gibt (obwohl
wir eigentlich daraus gar nicht klar geworden sind) ; er hätte aber
nachweisen sollen, dass diese Definition (S. 80) und die frühere
(S. 27) zusammenfallen. Freilich meint er, sie sei einfacher in der
Theorie — ein Trost, der manche Wunde vernarben lässt.
In Bezug auf den »wahrscheinlichen Fehler der Refraktion«
haben wir Nichts zu sagen, da es sich hier blos um eine (beliebige)
Annahme handelt, die in der vorliegenden Schrift jedor wissen-
schaftlichen Begründung ermangelt. Der „wahrscheinliche Fehler
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78 Förster: Ueber Zeitmaaaae und Ihre Verwaltung.
einer einfachen Hübenbestimmung" wird richtig angegeben, in so
ferne als das Vorgehende zugelassen wird.
Dagegen ist nun die Ausgleichung eines Höhennetzes" ver-
fehlt. Der Verf. findot sich auch hier bewogen, ein Stück Theorie
zu citiren. Sind, sagt er, h,, .., bm Grössen, welche durch direkte
Beobachtungen ermittelt werden, und es bestehen zwischen denselben n
Bedingungsgleichungen linearer Form, so bat man an den beobach-
teten h Correotionen ö anzubriugeu, so dass die Bedingungsglei-
chungen erfüllt sind und zugleich JEpd2 ein Minimum ist. Das ist
natürlich ganz in Ordnnng und die Aufgabe ist eine der „relativeu
Minima", die bekanntlich nicht in der folgenreichen „unendlich
kleinen" Theorie gelöst zu werden braucht. Nun wendet der Verf.
aber diese Theorie auf die Ausgleichung im Höhennetz an und
lässt die obigen h geradezu die Höhen sein. Sind nun aber diese
„direkt beobachtet" ? Nein. Darum eben darf die Theorie nicht so
angewendet werden ! Wir verweisen den Verf. auf Baeyers „Küsten-
vermessung", die er freilich (S. 1 1) nicht citirt, wo er die richtige
Theorie finden wird. Daneben hätten wir ohnehin auch noch wegen
der Bestimmung der Gewichte (S. 50) mit dem Verf. zu rechten,
wenn bei der gänzlich verfehlten Anlage dies sich der Mühe lohnte.
Wir können für ähnliche Fälle ein genaues Studium der
Methode der kleinsten Quadrate nur dringend empfehlen , da man
eben sonBt nicht weiss, ob das, was man treibt, richtig oder un
richtig ist.
Ueber ZcUmaassc und ihre Venoaltung durch die Astronomie. Vor-
trag gehalten im wissenschaftlichen Vereine su Herlin am I.V.
Febintar J864 von Professor Dr. Förster. Berlin, 1666. C.
G. Lüderita' sehe Verlagsbuchhandlung. (32 S. in 8.).
Rud. Virohow und Fr. v. Holtzendorff geben eine »Sammlung
gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge« in der oben ge-
nannten Verlagsbuchhandlung heraus, von der die Schrift, welche
wir hier besprechen wollen, das fünfte Heft bildet»
Der Verf. theilt seine Schrift, d. b. seinen Vortrag, in zwei
Theile, indem er zunächst auf das Wesen der Zeitmessung eingeht
und dann »eigt, »wie sich im Verlaufe der menschlichen Ent-
wicklung das Verhältnis* der Astronomie zu der Zeitmessung ge-
staltet hat«.
»Die Zeit, sagt Kant, ist nichts Anderes, als die Form des
inneren Sinnes, d. i, des Anschauens unserer selbst und unseres
inneren Zustandes.« Dagegen nun, anschliessend an die Bedenken,
welche schon Lambert gegen Kant geltend gemacht, weist der
^erf. darauf hin, dasa es wesentlich zwei verschiedene Arten der
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Förster : Ueber Z ei t maaaae and ihre Verwaltung. 79
Zeitfolge des Geschehens in der Seele selbst gibt. Die eine —
Ton der Aussenwelt herrührende Erscheinungen betreffend — lässt
einfache Gesetze der Zeitfolge des Geschehens, Bewegens und Wer-
dens erkennen; die andere — Erscheinungen, die aus den inner-
sten Tiefen der Seele, in denen sie gesammelt wurden, aufsteigen —
lässt ein einfaches Gesetz durchaus nicht wahrnehmen. Die Reihen-
folge bei diesen Erscheinungen ist eine durchaus geheimnissvolle,
so dass wir das Gesetz selbst als »menschliche Freiheit« bezeichnen.
Daraus folgt dann, dass wir nur diejenige Folgeordnung, in
welcher wir einfache Gesetze zu finden und Zählung anwenden
konnten, Zeit nennen, die also nur die Folge der unmittelbar durch
die Sinne empfangenen Wahrnehmungen ist. Für die Wahrneh-
mung der Aufeinanderfolge der räumlichen Gebilde, d. i. der wer-
denden Dimensionen der Welt, sind die Kräfte der Seele thäti0,
welche das Vergangene bewahren und erst dadurch die Entstehung
eines Bildes der Folge ermöglichen.
>Also eben dadurch, dass in der eigentlich innern, gewisser-
znassen reflectirten Erscheinungs-Welt der Seele das Gesetz jener
Zeitfolge aufgehoben ist, dass dort die Gebilde nicht so spurlos
verwehen, wie die räumlichen, dass dort, was die Aussenwelt ein-
mal hineingestrahlt und geströmt hat, also zeitlos im Verbältniss
zur äussern Folge, wenn gleich zeitlich nach seinen eigenen Ge-
setzen der Folge, wieder an den Tag des Bewusstseins treten
kann, dadurch und dadurch allein wird ein Zeitmaass für die
Welt denkbar, dadurch eine Erkenntniss des Werdens möglich.«
Aber zur Erkenntniss des momentanen Seins bedürfen wir der
Feststellung der Zeitfolge. Wie aber messen wir die Zeit? Wir
haben nur die Kenntniss der Zeitfolge, die messende Erkennt-
niss derselben ist uns nicht unmittelbar möglich, und wir haben
sie durch schwierige und grossartige Schlüsse erst zu erreichen.
Dazu müssen wir irgend ein Maass zu Grunde legen und irgend
ein Zählungssystem darauf gründen. Da gleiche Zeitabschnitte
eine Forderung des Gedankens, nicht aber durch Wahrnehmung
gegeben sind , so müssen wir ideale Zeitabschnitte als Maass
aufstellen, welche durch möglichst unveränderliche Bewegungen ge-
geben sind. Solche liefert uns allein in genügender Annäherung
die astronomische Messung der Himmelserscheinungen.
Gehen wir nun zur geschichtlichen Entwicklung über, so haben
wir zunächst zu konstatiren, dass die Wahl der Zeiteinheit nicht
wirklich, sondern durch die Dauer des Tages unmittelbar gegeben
war. Diese Licht- und Wärmeperiode wirkt so allgewaltig auf
unser äusseres und inneres Loben ein, dass ,,der Rhythmus des
Tages ein ohne Weiteres gegebenes Zeitmaass aller Sphären unse-
res Lebens wird.1*
Dabei bandelte es sich um Zählung von ganzen Tageseinheiten,
und um die Herstellung gleicher Tagestheile. Die erste ist Auf-
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Förster: TJeber Zeitmaasso und Ihre Verwaltung.
gäbe der" Chronologie — ihr Instrument der Kalender; die zweite
ist Aufgabe der Horologie — ihr Instrument die Uhr.
Bei der Aufzählung der Tage mussten natürlich höhere Ein-
heiten gebildet werden, die aber auch von der Natur in den Monds-
wechseln und in der Dauer des Jahres gegeben sind.
Die Bedürfnisse des Verkehrs verlangen eine immer genauere
Feststellung dieser Maasse, die ohnehin die grosse Unbequemlichkeit
haben, dass jeweils die grössern Einheiten nicht reine Vielfache
der kleinern sind.
Der Verf. zeigt nun, in welcher Weise man nach und nach
durch Beobachtungen zu der Herstellung genauerer Verhältnisse
gelangte ; sodann in welcher Weise man die Eintheilung des Tages,
bezüglich die Stundenmessung vervollkommnete, von der Stunden-
abschreitung in Griechenland, den Wasser- und Sanduhren des
Alterthums und des Mittelalters bis zu den vervollkommneten Pen-
deluhren unserer Tage, bei denen man fast vergessen hat, dass die
Regelung durch astronomische Zeitmessungen nothwendig wird.
,,Die Maass-Einbeit und die letzte Controle auch für das ge-
naueste Pendel und den genauesten Chronometer bildet immer nur
die Umdrehungszeit der Erde, denn keine Bewegung auf der Erde
ist so gleichförmig wie die Bewegung der Erde selbst."
Welche Schwierigkeiten die genaue Feststellung dieser Um-
drehungszeit mittelst der Beobachtungs-Instruraente habe, erläutert
der Verf. eingehend und zeigt dann, dass das vervollkommnete
Pendel nicht bloss als Mittel für die Zoiteintheilung , sondern zu
Untersuchungen über die Gestalt der Erde wichtig sei.
Bei der klaren Darstellung des Gegenstandes und der blühen-
den Ausdrucksform wird sicher jeder Leser die kleine Schrift mit
Nutzen und Vergnügen lesen.
Dr. J. Dienger.
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*. «. ' HEIDELBERGER 1867.
JAMBÜCHER DER LITERATUR.
Jahrbücher des deutschen Reichs. Kaiser Heinrich VI. von Theod.
Toeche. Leipzig 1867.
(Fortsetzung des Aufsatzes Nr. 4 im vorigen Hefte.)
Im Einzelnen spielen hier diplomatische Künste, wechselnde
iassere Einflüsse, politische Verhältnisse manigfacher Art : aber der
(resammtcbarakter dieses Ereignisses ist dadurch bestimmt, dass
lie beiden grossen Parteien, welche sich die Weltherrschaft strei-
tig machten, unverhtillt und mit leidenschaftlicher Gewalt in dem
Einzelkampt zweier Männer an einander gerathen ; das ist das wahr-
haft Dramatische und echt Bedeutsame dieser geschichtlichen Periode.
Sichard von England ist der Vorkämpfer der Weifen; durch eine
wunderbare Fügung wird die Entscheidung über sein Schicksal
seinem heftigsten Gegner anheimgegeben, der an Charakter ihm
gleichartig, ebenso unbeugsam, noch ehrgeiziger als er selbst ist.
Mann gegen Mann gestellt zwingt der ihn zu Verzicht und Unter-
verrang. — An dem Einzelkampf dieser beiden gewaltigen Naturen
wird nun ein Jeder mitbetheiligt, der damals Bang und Macht be-
sitzt, die Interessen der ersten Fürsten sind dahinein verflochten;
&e Hoffnungen und Besorgnisse der Völker hangen davon ab. Aber
alles was an Einzelnheiten zu berichten ist, muss nur dazu dienen
die beiden Hauptgestalten um so schärfer zu zeichnen und den
örundzng geschichtlicher Poesie, der hier waltet, zu Macht und
Klarheit zu bringen ; ihn ausschliesslich herauszuheben und un-
vergänglich darzustellen , das wäre eine der schöusten Aufgaben
Shakespeare* s gewesen. Der Werth dieses Theils des Toeche'schen
Bachs beruht also in dem Nachweis der principiellen Gegnerschaft
der beiden Monarchen. Der Kaiser sah in Bichard die Personi-
ilation aller weifischen Pläne, das Haupthinderniss für seine eigene
Idee der Wiedererrichtung des abendländischen Boichs. Bichard's
glänzende Siege im Osten erfüllten ihn mit Neid und Groll. Unter
diesen Voraussetzungen begreift sich leicht, dass Philipp August's
rl.ium düngen wider den englischen Fürsten ein geneigtes Ohr
eim Kaiser fanden; es kam zu einem ausdrücklichen Bündniss,
^mgemäss Heinrich versprach den englichen König festzunehmen,
*enn er sein Beich auf der Bückkehr berühren sollte. Ein kaiser-
^ches Edikt erklärte Bichard zum Beichsfeind, befahl Jedermann
*°f ihn zu fahnden, und bedrohte die, welche seiner schonen wür-
; -Di gleichfalls mit des Beiches Strafe. Nun lieferte ein unberechen-
barer Glücksfall und die Vermessenheit Bichard's dem Herzog von
^reich, demselben den Bichard vor Akkon tödtlich beschimpft
LX. Jahrg. 2. Heft 6
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82
Toeehe: Kaiser Heinrich VI.
hatte diesen Gegner in die Hände. Richard erlitt Schiffbruch in
der Nähe vonAquileja; er gelangte, vielfach bedroht und umstellt
bis in die Nähe von Wien, und machte in dem Dorfe Erdberg,
jetzt einer Vorstadt von Wien, Rast. Erschöpft von den Mühen
der Reise überHess er sich für einige Tage der Ruhe. Er sandie
einen Knaben, seinen einzigen Begleiter, nach Wien um Speise zu
kaufen. Die feine Haltung desselben, die byzantiner Goldstücke die
er zeigte, erregten Verdacht. Man ergriff ihn , forschte ihn aus,
aber auf seine Antwort, dass er der Diener eines reichen Kaufmanns
sei, der in drei Tagen selbst zur Stadt kommen werde, gab man
ihn wieder frei. Vergebens drang er nun in den König eiligst auf-
zubrechen. Bei einem zweiten Gang fielen die feinen Handschuhe
des Königs, die der Knabe im Gürtel trug, den Bürgern auf. Er
wurde gefoltert und gestand die Wahrheit. Sogleich benachrichtigte
man den Herzog. Die Bürger eilten vor Richard's Haus und for-
derton ihn auf, sich gefangen zu geben. — »Nur dem Herzog«, war
die Antwort. Inzwischen kam Leopold an, der König ging seinem
Feinde entgegen und übergab ihm sein Schwert. Er wurde fortan
in strenger, aber durchaus ehrenvoller Haft gehalten. Selbst der
offizielle englische Autor Radalfas de Diceto gesteht zu, dass Ri-
chard mit grosser Achtung behandelt worden sei. Heinrich VI. war
auf dem Weg zum Regensburger Reichstag, als er die Nachricht,
»die köstlicher war als Gold und Edelstein«, empfing, von dem
kleinen Flecken Rheinhausen aus meldete er sogleich dem König
von Frankreich, dass der Reiohsfeind und der Unruhestifter für
Philipp's eigenes Land gefangen sei. Er verhandelte sofort über
eine Auslieferung mit dem Herzog und machte, als derselbe miss-
trauisch seinen Gefangenen nicht herausgeben wollte, sondern ihn
von Regensburg wieder nach Oestreich zurückführte, geltend, es sei
ungeziemend, dass ein König in Haft eines Herzogs sei. Am 14- Febr,
1193 kam es zu dem Würzburger Vertrage, wonach Leopold für
die Auslieferung die Hälfte des Lösegeldes, 50,000 Mark Silber,
erhalten sollte. Der Kaiser verlangte aber noch ausser der Löse-
summe von Richard einen vollkommenen Verzicht auf dessen bis-
herige politische Vergangenheit: Richard sollte ihm zur See und
zu Lande Heerdienst leisten um das normannische Reich zu er-
obern. Von Anfang an sprach der Kaiser offen aus, dass es ihm
auf Rache für Richard' s Verrath und auf die Lohensunterthänigkeit
des Königs ankomme; und gerade dieser letzte Punkt wurde, seit
Richard in des Kaisers Gewalt war, von überwiegender Bedeutung,
verlängerte seine Haft weit über das festgesetzte Ziel und ver-
schlimmerte seine Lage je länger desto mehr. — In Speier erschien
Richard vor Kaiser und Reich ; in glänzender und reicher Fürsten-
versammlung erwartete der Kaiser den Gefangenen, das Volk drängte
sich in den Saal, Zeuge der denkwürdigen Skene zu sein. Richard
trat vor die 8tufen des Thrones, er, der unbändige, in Krieg und
ritterlichem Kampf bewährte Held, ein Mann von 36 Jahren, um
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To e che: Kaiser Heinrich VI.
in Jahren kaum gereiften, aber von den ehrgeizigsten
erfüllten K aiser jüngling Bede zu stehen nnd Urtheil zu
empfangen. Er vertheidigte sich gegen die Anklage des Kaisers
(267), er sprach im Bewusstsein seines Rechts und seiner Würde,
> königlich mit beredten Worten und mit Lüwenmuth:» In Vielem
möge er gefehlt haben; seine Leidenschaft habe ihn oft fortge-
rissen; aber zum Verbrechen dürfe man es ihm nicht anrechnen.
Ais Gefangener sei er macht- und hülfslos. Unter der Gewalt des
Augenblicks beugte er das Knie vor dem Kaiser. In Heinrich'«
verwandtem Geist hatten die ritterlichen und kühnen Worte de«
unglücklichen Fürsten angeklungen, und was aufrichtige Achtung
and Mitgefühl ihm nicht eingaben, das that er in der klugen Be-
rechnung, vor aller Welt sich im Drang seiner Versöhnlichkeit und
seines Kdelmuths zu zeigen. Er stieg vom Thron, sohlose den
König in seine Arme und küsste ihn. Alle Fürsten h eiset es, waren
zu Thraaen gerührt. Vor allem Volk nannte er Bichard seinen
Freund, beschwichtigte seine Besorgnisse, versprach ihn allerort zu
unterstützen, seine Macht zü erweitern und insbesondere «wischen
ihm nnd dem französischen König Eintracht zu stiften. — Das
Intrigenspiel, welches die Erfüllung der kaiserlichen Verheissongen
hinausschob und die Freilassung Bichard's verzögerte, die sich
kreuzenden Interessen Frankreichs, der Weifen, des Kaisers und
ler Kurie , die ebenfalls in den verdrießlichen Handel eingreifen
icnsste , die Art wie der Kaiser trotz aller Vertrage im letzten
Augenblick den Einflüsterungen Frankreichs Gehör schenkt, und
wie alle politische Berechnungen durch ein romantischet Zwischen-
spiel, durch die Liebe des jungen Weifen Heinrich und der schönem
Agnes zu Schanden wurde: das alles ist von Toeche in meister-
hafter Weise dargestellt worden. Er bespricht die von den eng-
lischen Chronisten nur gelegentlich und ungern erwähnte Lehens-
huldigung Bichard's; in der That einen tief demüthigenden Akt
für den englischen Nationalstolz , den aber die im Mittelalter tief
wurzelnde Anschauung von der Herrschaft des weltlichen und geist»
Äthen Schwerts, die Annahme einer weltlichen Allgewalt und Ober»
Herrschaft des Kaisers über alle anderen Fürsten zur Seite der
Alleinherrschaft des Pabstes in der Kirche innerlich motivirt hat.
Riehard selbst mochte dieser Huldigung ebenso wenig Gewicht bei-
legen wie der Anerkennung der Lehenshoheit des fransoeichen
Königs zu der er sich in dem am 8. Juli 1198 unterzeichneten
endgiltigen Vertrag bequemen musste, oder der scheinbar so gross-
mflthigen Belehnung mit dem arelatischen Boich die Heinrich VI.
an ihm vollzog. Wohl haftete in seiner Seele vor Allem die Bück*
ärinneraBg daran, dass er schliesslich, da seine Lage sich durch die
Vermählung des jungen Weifen mit der Tochter des Pfalzgrafen
I im' Rhein , durch ein alle politischen Pläne Heinrich's momentan
ireozendea Kreigniss verschlimmerte, — nur dem energischen Auf-
-ften der Fürsten, zumal der Erzbisehöfe von Mainz und Köln,
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84
Toechje: Kaiser Heinrich VL
nicht dem guten Willen des Kaisers seine Freilassung verdankte.
Dies Moment ist es denn auch, welches bei der Beurtheilung jenes
Konflikts für die Meisten den Ausschlag zu Gunsten von Kichard
Löwenherz gibt. Es ist nicht blos Mitleid ohne Sinn und Ver-
stand, wie es die Menge allezeit einem von Mächtigen verfolgten
Unglücklichen zuwendet, sondern es ist der Antheil, dem wir einen
mit Tücke und Treulosigkeit Ringenden nicht versagen können.
Toeche selbst , der sich vor der herkömmlichen Lobrednerlust der
Biographen in verständiger Weise auszeichnet, bemerkt, dass die
Masslossigkeit, mit welcher Heinrich VI. Rache zu üben und den
Glücksfall auszubeuten beflissen war, den englischen König in unse-
rer Empfindung zum Helden des Kampfes erhebt. Dass der Kaiser
trotz aller Verträge noch im letzten Augenblick den Anerbietungen
Frankreichs unwürdiges Gehör schenkt, das entfärbt und verun-
staltet sein Bild, das enthüllt, dass ihm die Ritterlichkeit seines
grossen Vaters fehlte und er nicht nur seinen weltumfassenden
und politischen Plänen, sondern auch den untergeordneten An-
rufungen seiner Begierde keine Schranken zu setzen wusste. Gegen-
über dieser Unersättlichkeit des Kaisers, die nichts nach Recht
und Ehre fragt, erscheint der unerschütterliche Widerstand des
Königs doppelt ritterlich, und seine geduldige Ergebung rührt um
so tiefer. Wir gehen noch weiter als der Verf. und behaupten,
dass diesem psychologischen Moment gegenüber auch das politische
in unserer Empfindung zurücktritt, und dass wir die Gestalt des
Kaisers auch hier keineswegs als grossartiger bezeichnen können,
wie die seines Gegners. Heinrich mag planmässiger gehandelt und
eine bewusstere Consequenz entfaltet haben, wie Richard ; aber war
denn überhaupt das Terrain ein Gleiches, Licht und Schatten zwi-
schen den Gegnern gleich bemessen V Wenn der Verf. sich über
das bewundernswerthe Spiel diplomatischer Freiheit und Klugheit
erfreut, das Heinrich frei vor unsern Augen entfalte, während
Richard fast machtlos den Zügen des Gegners zu folgen gezwungen
sei, so gemahnt uns ein solches Urtheil an das Lob des Jägers der
einen von allen Seiten durch seine kläffende Meute umstellten Eber
mit grossartiger Ruhe zu überwältigen und zu erlegen weiss. Hein-
rich gehört zu den Naturen die im Unglück bewundernswerther
erscheinen als im Glück. Und so vermag uns die Art, wie er den
Glücksfall der Gefangennahme Richards benutzte ebenso wenig für
ihn einzunehmen, wie sein Auttreten nach dem unerwarteten Glück,
welches ihn mit dem Ableben seines gefahrlichsten Gegners Tan-
kred zu Theil ward. Tankred war am 20. Februar 1194 seinem
Sohn Roger ins Grab gefolgt; ein Schicksal furchtbarer Art, wie
es die antike Tragödie zu entrollen pflegt, brach über sein Ge-
schlecht herein und vernichtete die Arbeit und Mühe seines Lebens.
Dass ein schwacher Knabe wie Wilhelm III. die trotzigen Barone
nicht im Zaum zu halten vermöge, war unschwer vorauszusehn.
Das Reich war als völlig aufgelöst und herrenlos zu betrachten,
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To e che: Kaiser Heinrich VI.
einem Acerra, dessen Puppe Wilhelm III. war, wollte bald Niemand
*ich noch fügen, die Meisten erklärten sich nnn für das Erbrecht
von Konstanze , es ward versichert sie nnd ihr Gemahl dürften
nur mit kleinem Gefolge kommen , und jenseits wie diesseits des
Piro werde die Gesammtbevölkerung sie ohne Weiteres freudig
als angestammtes Herrscherpaar begrüssen. Heinrich VI. erhielt
die günstigen Nachrichten da er schon in voller Rüstung für einen
zweiten italienischen Feldzug begriffen war. Am 12. Mai brach
st von seiner pfalzischen Burg Trifels nach Italien auf, ihm zur
Seite Konstanze, sein Bruder Philipp, der junge Weife. Pfingsten
feierte er in Mailand, wo er von den Bürgern mit grossem Ge-
pränge eingeholt ward. Er hatte es um die Mailander wahrlich
nicht verdient! Toeche enthüllt uns zum ersten Mal, auf Grund
der reichen durch den Archivsekretär Ippolito Cereda vermittelten
bisher ungedruckten Kremoneser Archivalien , das tief augelegte
raffinirte Doppelspiel der kaiserlichen Politik gegenüber den Lom-
barden, die Erniuthigung der Feinde Mailands, die doch nicht so-
weit ging, dass Heinrich darum mit Mailand brach, diesen raachia-
reflistiscben Trug, der die heftigsten und verderblichsten Kriege
nnter den Kommunen anfachte (S. 324. 41 8 ff.). Ebenso gewandt
wnsste er die widerstreitenden Interessen der Pisaner und Genuesen
an seine Fahnen zu fesseln. Siegreich zog er durch Apulien, zer-
störte Salerno zur Strafe für die Auslieferung Konstanzens an Mar-
earito, nnd landete Ende Oktober in Sicilien selbst. Es war der
Moment, den Hugo Falkandus einst als den unglückseligsten ftir
*ein Vaterland in besorgtem Gemttth ausgemalt hatte , die Zeit
»da vielleicht gar die Fussspuren der Barbaren den Boden der
eldesten Stadt entweihten, die über alle Theile des Reichs strah-
lend emporragte.< Aber anders waren die Gefühle des jungen Kai-
als er das Ziel seiner Sehnsucht vor sich sah , als er , die
Berge herabsteigend , die reiche Ebene vor sich erblickte in ihr
wstreut die dnnklen Lustwälder und die weitbertihmten Schlösser
normannischer Könige, am Ufer der malerischen Bucht die »glück-
liche« Stadt, wie sie selbst sich zu nennen liebte, im Westen den
majestätischen Monte Pelegrino, als all' der unvergängliche Zauber
4er Natur sich vor ihm entfaltete, der seit Menschengedenken des
Nordländers Sinn gefesselt hält. Seiner wartete in jener Stadt die
nciliscbe Krone. Was einer Reihe grosser Kaiser, deren Vorbild
*ine jngendliche Seele durchglüht und geschwellt hatte als letztes
fiel erschienen war, das gewaltige Werk welches sein edler Vater
Milien Händen anvertraut hatte, das sah er in diesem Augenblick
mit Jngendmuth und Geistesstärke erreicht. Am 20. Nov. 1194
das deutsche Heer durch die mit Palmen bestreuten Strassen
die Stadt ein. Die Häuser waren mit Teppichen , Blumen und
Unbgewinden geschmückt. Die Luft duftete von Wohlgerüchen.
Und als nun der prächtige Zug der Deutschen herankam, der Kai-
^ inmitten des Heeres, neben seinem Bruder, seinem Oheim Kon
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Toeohe: Kaiser Heinrich VI.
und umgeben von zahlreichen deutschen nnd italienischen Bischöfen
und Grafen, wem yon Allen, die da dem Kaiserjüngling iu's ernste
stolze Antlitz sahen und neben ihm den blonden blauäugigen Bru-
der erblickten den »jungen süssen Mann , schön und tadelsohne«,
wem stieg wohl da die Ahnung auf, dass in wenig Jahren der
Eine ein Kaub des Todes sein und nach kurzer Zeit des Kampfes
und der Sorge der Andere von ruchloser Hand getroffen, ihm in's
Grab nachfolgen werde ? — Der Freudenrausch in welchem das leicht
bewegliehe Volk der Sicilianer schwelgte sollte sich aber bald in
Furcht und Schrecken vorwandeln. Kurz nach Weihnachten wur-
den dem Kaiser von einem Mönche Briefe übergeben , welche eine
Verschwörung enthüllten. Heinrieh berief eine Versammlung der
Barone, am 29. Dez. trat er unter sie, und beschuldigte die könig-
liche Familie dos Venraths. Wilhelm IH., seine Mutter, seine drei
Sohwestern und eine grosse Zahl der Anhänger Taukred's wurden
in Gewahrsam genommen. Es wäre irrig, wollte man mit Mura-
tori hier nur ein Stratagem des Kaisers, eine erdichtete Ver-
schwörung annehmen ; noch irriger aber, wenn man, wie die mei-
sten Neuern gethan haben, von den blutigen Weihnachten 1194
und von den unmenschlichen Grausamkeiten Heinriche spräche.
Toeohe weist mit siegender Überzeugung nach, dass jene furcht-
baren Gewaltthaten, wovon selbst unser Schlosser Haarsträubendes
zu berichten weiss (Bd. VII. S. 101 ff.) nur in der blühenden Phan-
tasie eines Geschichtsschreibers entstanden sind, den dann die
Folgenden mit harmloser Urtbeilslosigkeit ausgeschrieben haben.
Der bisherige Mythos beruht auf einer Verwechselung derEreig-
nisse des Jahres 1197 kurz vor Heinrich's Tode mit jenen in Folge
der Verschwörung von 1194 getroffenen zwar strengen aber ver-
hältnissmässig milden Maassregeln der Gefangennahme der Familie
Tankred's und seiner Anhänger. Heinrich hat 1194 einfach durch
Verbannung gestraft, kein einziges Opfer seiner Rache ist gefallen,
kein Blut in jenen Tagen geflosson. — Heinrioh wusste aber auch
durch den Sobeiu nationalen Regiments und durch die Concentri-
rung aller Gewalt in die Hände treuer Anhänger die rasch errun-
genen Erfolge für die Dauer zu sichern. Und kaum war er in
unbestrittenem Besitz von Italien, so zeigte sich, dass er der echte
Nachkommen der bisherigen gewaltigen deutschen Cäsaren war.
Italien war nur die Grundlage; die Wiederherstellung des römi-
schen Weltreichs dieser gewaltigste Gedanke unserer Kaiser offen-
barte sich sofort als die innerste und mächtigste Triobfeder seines
jugendkräftigen Geistes. So fest war Heinrich VI. Entschluss das
Weltreioh neu zu begründen, so ernst war es ihm, den grossen
Plan in weitestem Umfang auszuführen, dass die ünterwerfuug
oder doch die Lehensabbängigkeit von ganz Westeuropa seine Ge-
danken beschäftigte. Mochte es England, Frankreich, mochte es
dem König von Aragon gelten : es gab im Westen kaum ein Reich
zu dessen König er nicht ein Machtwort auszusprechen, in dessen
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Toeche: Kaiser Heinrich VI.
Entwickelung er nicht einzugreifen und von dessen Bedrängnissen
er nicht zu Gunsten seiner Pläne Nutzen zu ziehen wagte. Und
doch war die Einwirkung Hein rieh's nach Westen hin von deren
Umfang Stetigkeit und Nachdruck uns die zusammenhanglosen
Zeugnisse von Roger Hove den, Radulfus de Diceto, Benedict. Petro-
barg. u. A. nur eine schwache Ahnung geben, nicht einmal so
wichtig und grossartig als die gleichzeitige Thätigkeit des Kaisers
gegen Osten. Der staufische Ehrgeiz hatte schon längst darnach
getrachtet eine Verbindung mit dem griechischen Kaiserhaus her-
zustellen, das doch immerhin als der unmittelbare Träger der alt-
römischen Tradition dastand. Und dennoch hatte Barbarossa, wäh-
rend er erst für sich, dann für seinen Sohn um eine byzantinische
Prinzessin freite mit Stolz gegen die Anmassung des oströmischen
Kaisers protestirt der sich als Nachfolger des Imperatoren bezeich-
nete und den deutschen König als Eindringling missachtete. Diesor
Widerspruch zwischen dem Gefühl der Ehrfurcht and dem Be-
wusstsein der Ueberlegenheit hatte sich in dem Drange das morsche
Reich zu unterwerfen geneigt. Dahin hatte Friedrich I. noch kurz
vor seinem Tode die Politik seines Sohnes gelenkt als er ihm von
Philippopolis aus schrieb: »Wenn es nicht gegen den Frieden und
ein Hindemiss der Pilgerfahrt gewesen wäre , würden wir schon
das ganze griechische Reich bis zu den Mauern von Konstantinopel
unterworfen haben.« Die Pallastrerevolutionen in Bvzanz, der Ver-
fall des Reichs von Oben aus, die Günstlingswirtshaft, das Alles
bot schlagende Analogieen zu den Zuständen der sinkenden Nor-
mannenherrschaft, und in beiden Fällen war es Heinrioh VI. Be-
streben die Ohnmacht Anderer für den eigenen Ehrgeiz nutzbar
zu machen. Er willfahrte freudig dem Hülfsgesuch, das Isaak
Angelus in seiner Hülilosigkeit an ihn richtete, er stellte es Jedem
frei den Werbungen des oströmischen Kaisers, die durch reichen
Sold am meisten lockten, zu folgen ; eine grosse Menge deutscher
Truppen fuhr nach Griechenland über. Dafür erschienen nun Hein-
rieh's Gesandte in Byzanz und begehrten die Abtretung aller Pro-
vinzen von Epidaurus bis Thessalonich, also der ganzen hellenischen
Halbinsel, denn das seien die Kriegseroberungen Wilhelm's II. aus
dem Jahre 1188, die nur durch Venrath gegen die Sicilianer wie-
der entrissen seien, die also dem deutschen Kaiser als dem Erben
des normännischen Reichs zuständen. Er forderte ferner die Aus-
rüstung einer griechischen Flotte zur Unterstützung seiner Kreuz-
fahrer und einen hohen Tribut. Nur die Bewilligung dieser Ge-
bote würde dem Reich den Frieden sichern , ihre Abweisung den
Krieg nach sich ziehen. Der Sturz und die Blendung des Isaak
durch Alexius war eine günstige Botschaft für den deutscher Kai-
ser. Er erklärte nun für das Recht des unterdrückten Isaak, des-
selben den er soeben mit Unterwerfung bedroht hatte, einstehen,
and die Rechte seines Bruders Philipp1 und Irene' s wahren zu müs-
sen. Wurde doch von deutscher Seite behauptet, dass der unglück-
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Toeche: Kaiser Heinrich VI.
liehe Isaak seine Rechte feierlich auf Irene übertragen habe. Die
Belohnung des Königs Leo von Armenien, die Unterwerfung der
afrikanischen Nordküste und die Huldigung der Mauren konnten
als neue Beweise der gewaltigen Machtstellung gelten, die Hein-
rich VI. einnahm. Er nahm die orientalischen Plane Rogers II.
wieder auf. Und während er vor wenigen Jahren ohnmächtig den
Erfolgen Richard's Löwenherz in Osten hatte zuschauen müssen,
griff er jetzt selbst mit fester Hand in die orientalischen Wirren
ein, und begann mit nachhaltiger Kraft auszuführen, woran sich
sein Gegner mit launenhaftem Ungestüm , fester Ziele vielleicht
kaum bewusst, gewagt hatte. Freilich stand Ein's noch aus;
eine Schwierigkeit musste erst am Mittelpunkt der eigenen Macht
gehoben werden, ehe die weitsichtigen Unternehmungen in der
Ferne angegriffen wurden; Heinrich musste sich mit der Kurie
auseinandersetzen, die ihn bisher im Flug seiner Bewegungen ge-
hemmt und seinen gehobenen Arm gelähmt hatte. Er hatte durch
sein Auftreten gegen Richard Löwenherz den äussersten Zorn der
Kirche herausgefordert. Er war dadurch, was der Verf. zwar leugnen
will, sogar der Exkommunikation verfallen. Denn wie wir an anderer
Stelle nachgewiesen haben (De Monitione canonica 1860) scheidet
die Kirche Excommunicationes ferendae sententiae bei denen das
apostolisehe Gebot der Mouitio und die Citatio erfordert wird, und
Excommunicationes latae sententiae, welche im Widerspruch mit
dem ursprünglichen Charakter der Censur als Besserungsstrafe
stehen, und sich den Poenae vindicativae dermaassen nähern, dass
sie in allen wesentlichen juristischen Voraussetzungen mit denselben
übereinstimmen und nur des Namens entbehren, während die Sache
dieselbe ist. Nun erklärt sich, dass die Fälle der censurae latae
sententiae anfangs beschränkt allmälig immer zahlreicher wurden,
da durch ein solches Institut den politischen Zwecken der Kurie
gedient ward (a. a. 0. p. 6 ff.). Einer Excommunicatio latae sen-
tentiae unterlag unter Anderem, wer einen Clericus thätlich be-
leidigte, wer einen Pilgrim in's heilige Land angriff und schädigte.
Letzteres war der Fall, in dem sich Leopold von Oestreich und
Heinrich VI. befanden, und dahin müssen wir denn auch die Aus-
führungen von Toeche (De Henrico VI. 51) und 0. Abel, König
Philipp p. 315 modifiziren. Unter solchen Voraussetzungen be-
greift man übrigens leicht, wie viel dem Kaiser an einer Aus-
söhnung mit dem Pabste gelogen sein musste. Seine ersten ver-
söhnlichen Schritte erfolgten gleich nach der Unterwerfung des
Normannenreichs im Dez. 1197. Er wusste, welchen Köder man
auswerfen müsse, um den Pabst zu gewiunen; am 31. Mai 1195
Hess er sich zu Bari ganz in der Stille das Kreuz anheften. Die-
ser Schritt, der offenbar die Reue über das Geschehene offenbaren
sollte, stimmte denn auch den schwachen, nachgiebigen Kölestin HL
zu Gunsten des Kaisers um ; er vernahm , wie wir aus dem von
Toeche mitgetheilten Schreiben ersehen, mit Freuden die Besserung
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Toeche: Kaiser Heinrich VI.
des vornehmsten Sohnes der Kirche, und wünschte wieder die Fülle
des himmlischen Segens auf ihn herab (S. 316 ff.). Der Pabst war
aber in einem grossen Irrthum befangen : er wähnte den Kaiser
erfüllt von heiligem Glaubenseifer, während dieser in dem Kreuzzug
nur ein Mittel zu politischen Zwecken sah. Kaum je ist ein Kreuzzug
so wenig dem inneren Drang entsprungen, wie der Heinrich's.
Sein Ziel war einfach: Palästina sollte dem deutschen Reich unter-
than werden; dort sollte die deutsche Herrschaft festen Fuss fas-
sen und die umliegenden oströmischen Lehnsreiche allmälig zum
Ansehluss nötbigen ; so von Osten und Westen zugleich, sollte der
Angriff auf Byzanz beginnen. Dieser Kreuzzug war nichts als der
vortrefflich erwählte Weg, das Weltreich zu verwirklichen. Da die
Westmächte durch gegenseitige Eifersucht zurückgehalten wurden,
so musste Heinrich der unumschränkte Leiter des Kreuzzuges sein ;
und wie sehr dies seinen Absichten entsprach, bekundete er schon
dadurch , dass er andere Fürsten zur Beihülfe nicht aufforderte,
and noch deutlicher durch die eigenthümliche Organisation die er
dem Zuge gab. Die Ritter die im Solde des Kaisers standen bil-
deten den Kern des Heeres, über die ganze Streitmacht geboten
vom Kaiser ernannte Feldherrn. Diese feste organische Gliederung
des Heeres gab einerseits Sicherheit gegen die Wiederkehr der
zuchtlosen Skenen, welche frühere Kreuzzüge geschändet hatten,
andrerseits verbürgte sie eine feste Abhängigkeit vom Willen des
kaiserlichen Lelms- und Soldherrn. Derselbe koncentrirte Willen,
dieselbe einheitliche Initiative, die wir als Merkmal von Heinrich's
Charakter bezeichneten, treten uns auch in seinem Versuch zu einer
fundamentalen Umgestaltung der Reichsverfassung entgegen. Mei-
sterhaft hatte er den Moment gewählt um die Fürsten und die
deutsche Nation für die Realisiruug seines Reformplans zu gewin-
nen. Noch rühmte man die Erfolge der deutschon Tapferkeit in fernen
Landen , die Unterwerfung Sioiliens als das eigensto Werk des
Kaisers, noch sprach man mit Staunen von der unermesslichen
Siegesbeute, die man durch Deutschland in die kaiserlichen Schlös-
ser hatte tragen sehn ; jeder Krieger , der aufs reichlichste be-
schenkt, in seine Heimath zurückkehrte, war ein Lobredner für die
Huld und Stärke des Kaisers. In so freudig erregter Stimmung
konnte man sich am Ehesten entschliessen den kaiserlichen Plan
gutznheissen : der die Erblichkeit der Krone im staufischen Hause
and die Vereinigung von Heinrich's normannischem Erbe mit dem
deutschen Reich verlangte. Die Fürsten waren durch das gute Ein-
verstfindniss das zwischen Kaiser und Pabst herrschte, wesentlich
beeinflusst. Ob sie einer Veränderung zustimmten , welche ihre
Sonderpolitik für immer zu vernichten drohte, hing freilich baupt-
säcblicb von den Zugeständnissen ab, welche der Kaiser gewährte.
Er bot den weltlichen Fürsten die Erblichkeit der Reichslehen
riebt nur in männlicher, sondern auch in weiblicher Linie, mit
Ausschluss der Söhne von Nichtfreien, und wenn leibliche Descen-
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90 Tooche: Kaiser Heinrich VI.
denten fehlten, den Uebergang des Besitzes auf Seitenverwandte,
den Geistlichen die Aufhebung des Spolienrechts. Er bot ihnen
also dasselbe was er für sich selbst verlangte; im Reich wie in
den Lehen sollte unbeschrankte Erblichkeit herrschen. Kaiser Hein-
rich VI. hatte bisher das Recht seiner unmittelbaren Oberhoheit
über die Lehensfolge mit äusserster Strenge gewahrt, jede Nach-
folge ausser der des Sohues als widerrechtlich und von seiner Huld
abhangig gehalten, also die jedesmalige Erneuerung der Belehnung
bei der Nachfolge männlicher Leibeserben oder wo dieselbe fehlte
die freie Verfügung und Ausleihung des Lehens als ein wesent-
liches Recht des Herrn stets zu behaupten gestrebt. Von einer
solchen Eventualität, wie sie sich nach dem Tode Ludwigs von
Thüringen, Albert's von Meissen geboten hatte, sollten die Fürsten
vermöge des Reformplanes geschützt sein. Und es musste ihnen
dies um so wichtiger sein als Lehen und Allod mit der Zeit innig
verschmolzen und so vermischt waren, dass sie Gefahr liefen mit
dorn Lehen auch ihr Allod zu verlieren Durch die freie Erbfolge
schien es also, als ob der fürstlichen Unabhängigkeit der grosste
Vorschub geleistet würde. Dennoch war den Fürsten in dem Han-
del der ihnen zugemuthet ward, die pars leonina hinweggenommen.
Sie verloren das bedeutungsvollste Recht der Köuigswahl, sie ver-
loren zugleich selbst die Möglichkeit der Erhöhung, die Aussiebt
auf den Kaiserthron. Und wie edel und machtig die Staufer waren,
so hatte doch kein einziges der vornehmen Geschlechter die Hoff-
nung aufgegeben, ihnen in der Würde, die sie jetzt besassen, selbst
dermaleinst zu folgen. Aber auch die kleinen Fürsten und Herren
waren durch die Erblichkeit des Reichs bedroht. Niemand war
sicher dass er seine Stellung gegen die Uebermacht eines erblichen
Königthums würde schützen und behaupten, geschweige denn ver-
grÖ88ern können. Frankreich bot das beredte Beispiel, dass die
volle Erblichkeit der Reichsleben nicht im Stande war, den Va-
sallen eine Unabhängigkeit von der Krone zu bewahren. Diesen
selbstsüchtigen Motiven lieh man dann leicht den Mantel allge-
meiner Interessen, man bemängelte die Nachtheile der Erblichkeit
überhaupt, gegenüber dem Wahlsystem, man wies darauf hin, in
welche Gefahren ein junger schwacher Nachfolger das Reich ver-
wickeln könne. Das Zugeständniss weiblicher Erbfolge kam für
die Fürsten neben diesen grossen Nachtheilen nur vorübergehend in
Betracht. Ihr Eintritt Hess meist den Uebergang an ein anderes
angebeirathetes Geschlecht voraussehen. Und selbst die Gesamrat-
heit der gebotenen Concessionen hob doch die königliche Gewalt
über die Lehen nicht völlig auf. Nicht nur, wenn das Geschlecht
des Belehnten ausstarb , sondern auch , wenn der Belehnte durch
Treubruch desselben verlustig ging, stand das Lehen ebenso wie
bisher der königlichen Vorfügung offen. Und es war vorauszusehn,
dass der König um so strenger die Gerechtsame handhaben würde,
je mehr sich seine Gewalt auf diese Reohte beschränkte. Das
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To e che: Kaiser Heinrich VI.
Lehnssy8tem war die für das königliche Interesse nutzbarste Form
des Staatsorganismn8. Aller Gehorsam, alle Abhängigkeit wurzelte
in dem persönlichen Trenverhältniss , in der Lehenstreue. Eine
Lockerung des Lehnsbandes, eine Verflüchtigung dieser rechtskräf-
tigen Normen brachte das ganze Staatsgebäude in's Wanken, und
Yereitelte alle weitere Machtentwicklung der Krone. Dazu kam,
dass den Fürsten durch den Kaiser hier nur verhiessen ward, was
ihnen der sichere Instinkt der Zukunft bereits als ihr Eigen be-
»ichnete, dass Territorialherrschaft und Erbfolge bereits tiberall
in Bildung begriflen waren. Der Kaiser handelte hier wie gegen
Eichard Löwen herz bei der Belehnung mit dem arelatischen Reich, er
war erbötig das zu vorschenken, was er bereits nicht mehr besass.
Hatten doch die staufischen Kaiser selbst die Vererbung der fürst-
lichen Lehen befördert. Im 18. Jahrhundert sollten die Fürsten
alle in vollem und grösstenteils verbrieften Besitz aller der Ge-
rechtsame sich befinden, die damals noch streitig waren. Und so
»chien es ein Gebot der Klugheit, ein Recht, welches Heinrich VL
nur deshalb preisgab, weil er es kaum noch behaupten konnte,
nicht noch um theure Zugeständnisse zu erkaufen, welche die ganze
fürstliche Stellung zu verkümmern drohten. Dass die geistlichen
Fürsten vollends auf den Verzicht des Spolienrechts kein sonder-
liche« Gewicht legen durften, lag auf der Hand. Hatte doch der
Klerus dies Recht niemals anerkannt, vielmehr gegen jeden Ver-
such der Ausübung stets auf das Energischste protestirt! Die Ge-
fahr die den Fürsten drohte musste schliesslich durch die Vereini-
gung des normannischen Reichs mit Deutschland, durch die Con-
centrirung der gewaltigsten Hülfsmittel in einer Hand, selbst dem
blödesten Auge einleuchten.
Je schwerer alle diese Gründe wogen, je Überraschender musste
ei allenthalben wirken, dass die im April 1196 auf dem Reichs-
tag in Würzburg versammelten Fürsten den kaiserlichen Reform-
plan annahmen. Zögernd mit unverhohlener Unlust gaben sie ihre
Zustimmung. Mit der von der Mehrheit der Fürsten unterzeich-
neten Urkunde zog der Kaiser nach Italien um dem Pabst seinen
Sohu als den auf Grund des Erbrechts von den Fürsten anerkann-
ten Konig vorzustellen, durch dessen Krönung die plibstliche Sanktion
des Gesetzes zu gewinnen und damit dem Widerstand Adolfs von
Köln und seiner Partei jeden Boden zu entziehn. Aber das Ver-
hältniss zum römischen Stuhl hatte sich bereits wieder getrübt.
L>er schwache Kölestin hatte eingesehn, dass der Kreuzzug nur der
Köder gewesen war, womit man ihn fing, und dazu bewog den
Verlost seines Lehnreichs, des Fundaments für seine Selbstständig-
keit geduldig zu ertragen. Die weltlichen Absichten, welche Hein-
nch VL im Orient verfolgte, waren ihm auf die Dauer nicht ver-
borgen geblieben. Und so gross war seine Furcht Heinrich's Macht
auf eine unbezwingliche Höhe wachsen zu sehn , dass sie in seine
Politik einen Zwiespalt trug mit welchem er seinen eigenen Wtin-
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Toechet Kaiser Heinrich Vt
sehen entgegenwirkte: wenn er den Kreuzzng begünstigte, so
unterstützte er zugleich die oströmischen Pläne des Kaisers, und
wenn er diese zu hemmen sachte, entkräftete er zugleich seine
eigene ThUtigkeit für die heilige Sache. Diese kümmerliche Poli-
tik führte wie unter Manuel zu dem unnatürlichen Bündniss zwi-
schen dem griechischen Kaiser und dem römischen Pabst. Alexius
trat mit der Kurie in Verhandlung. Der Pabst Hess sich durch
die klugen, ausweichenden Antworten des Kaisers nicht mehr in
die Irre führen. Eben stieg Heinrich die Alpen herab , als er ein
ernstes Schreiben Kölestin's empfing, worin dieser ihm sein bis-
heriges Sündenregister vorhielt; und sich über die Gewaltthaten
seines Bruders Philipp bitter beschwerte. Aber Heinriche Antwort
athmete die volle Entschlossenheit des seines grossen Strebens fest-
bewussten Mannes. Er Hess es an den freundlichsten Betheuerun-
gen seiner frommen Absichten nicht fehlen, doch in der Sache
selbst blieb er unnachgiebig. Und während Kölestin noch immer
auf eine friedliche Verständigang hoffte, erklärte Heinrich, er wolle
nicht über den Frieden verhandeln , und verlangte obenan die
päbstliche Sanktion seines Reformplanes, die Taufe und die Kaiser-
krönung Beines Sohnes. Auf so hoch gespannte Forderungen konnte
die Kurie nicht eingehn, auch das Anerbieten des Kaisers, öffent-
lich das Kreuz nehmen zu wollen, gentigte ihr nicht, da es an un-
erschwingliche Forderungen geknüpft war. Kölestin bat sich Be-
denkzeit bis zum Epiphanienfest des nächsten Jahres aus, die Sache
zog sich in die Länge, und der Kaiser, der Alles im Sturm hatte
erobern wollen, erfuhr wieder einmal , dass man den Bogen nicht
allzu straff spannen dürfe, wenn er nicht reissen soll. Auch die
Fürsten zeigten sich jetzt unnachgiebiger , da die Eintracht zwi-
schen dem weltlichen und geistlichen Regiment gestört ward. Als
Heinrich seine Anträge erneuerte, lehnten die Fürsten ab, der Land-
graf von Thüringen auf den der Kaiser fest gehofft an ihrer Spitze.
Da verliess Heinrich mit der Schnelligkeit die seinen Entschlüssen
eigen war, aber auch mit der klugen Mässigung, in der sein Vater
ihm ein Vorbild gegeben hatte , den bisher mit unbeugsamer Be-
harrlichkeit verfolgten Weg. Es war gefährlich, wo nicht unmög-
lich, jetzt des Widerstandes Herr zu werden. Kein Zweifel , dass
er bei besserer Gelegenheit deu Plan wieder aufzunehmen gedachte.
Und durch diese Nachgiebigkeit erreichte er einen überraschenden
Erfolg. Dem gemässigten Verlangen Hoinrich's, seinen jungen Sohn
zum König zu wählen , stimmten die Fürsten nunm ehr zu (1197).
Und bald genug bewiesen die Ereignisse, vor Allem die steigende
Gährung in Italien, wie klug der Kaiser gethan , auf das Fern-
liegende zu verzichten und sich mit einem reellen, wenn auch
scheinlosen Erfolg zu begütigen. Eine nationale Strömung ging durch
ganz Italien. Auf's äusserste bedrängt nahm der Pabst endlich zu
dem Mittel seine Zuflucht, von welchem ihn seit Eroberung des
Normannenreich 8 die listigen Vorspiegelungen Heinrich's VL über
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Toeche: Kaiser Heinrich VL
eine gemeinsame Ketzorverfolgung, und der Schrecken vor der die
Tbore Rom s umlagernden staufischen Macht zurückgehalten hatten :
er trat in einen Bund mit den Normannen und Lombarden. Der
Beitritt der Kaiserin Konstanze charakterisirte diesen Bund. Der
tiefe Unwille über die beleidigte Nationalität trieb sie von der
Seite ihres Gemahls in das Lager seiner Feinde. Schon war ein
Gegenkönig in Sicilien gewählt. Es hiess : Konstanze und er hätten
Geschenke getauscht; er hätte sich gerühmt sie zu heirathen. Der
Plan der Sicilianer war dem ähnlich, der ihnen 85 Jahre später
gegen die Angiovinen gelang. Den Deutschen sollten blutige Ves-
pern bereitet, der Kaiser sollte ermordet werden. Aber der Plan
ward verrathen; mit Hülfe seiner tapferen Feldherrn Markward
ron Annweiler und Heinrich von Kalden schmetterte Heinrich den
Aufstand zu Boden. Furchtbare Strafen wurden über die Aul-
ständischen verhängt, Schwert und Strick waren noch milde Voll-
strecker des Urtheils. Einige wurden in's Meer versenkt, andere
mit Pech Übergossen verbrannt, andere gepfählt. Das sind die
Grausamkeiten die, wie Toeche scharfsichtig nachgewiesen hat, von
der Uiikunde und Confusion der meisten bisherigen Erzähler in's
Jahr 1194 verlegt werden. (Damberger in seiner übrigens werth-
losen Geschichte des Mittelalters hat bereits die richtige Ansicht
IX. Band S. 287.) Eine andere Frage ist, ob ein solches Strafge-
richt darum politisch nothwendig war. Aber es ist gewiss, dats der
sentimentale Massstab der Beurtheilung aus dem XIX. Jahrhundert
hier nicht am Ort ist. Die Zeitgenossen fanden Heinrich's Strenge
ganz in der Ordnung. Die kaiserlich gesinnten Schriftsteller, ein
Ansbert, Otto von Sanct Blasien, beschrieben die Martern mit einer
Ausführlichkeit, die beweist, dass sie dabei keinen Makel auf den
Kaiser zu werfen gedachten. Die Grundsätze die Gotfried von
Viterbo seinem kaiserlichen Zögling eingeimpft hatte, fanden jetzt
nur ihre konsequente Anwendung : 9 Die Strafe des Königs verhütet
den Frevel. Sobald die Vernunft aufs Klarste Strafe fordert ist
es Pflicht o König sie zu vollstrecken. Zu späte Strafe begünstigt
die Verbrechen und bewirkt Unheil.« So war eine gewaltsame Zeit
gewöhnt durch gewaltsame Mittel regiert zu werden. »Der Mensch
ist wie die Zeit, zartfühlend sein geziemt dem Schwerte nicht.«
Im Begriff seine hochfliegenden universalstaatlichen Pläne auszu-
fahren mnsste Heinrich sich den Besitz des Normannenreichs um
jeden Preis sichern, die Hinrichtung, die strenge Bestrafung der
Empörer war deshalb unerlässlich. Es war ihm gelungen Ostrom
tributpflichtig zu machen. Kaiser Alexius musste jene drückende
und schimpfliche deutsche Steuer ausschreiben, um die 5000 Pfund
Gold jährlichen Zins aufzubringen, die Heinrich's Gesandte von ihm
verlangten. Ein stattliches Kreuzesheer war in Apulicn versammelt,
Heer und Flotte landeten im September 1197 zu Akkon. So stand
Ktiser Heinrich auf dem Gipfel der Macht, und gewaltig war auch
kr Eindruck den die kaiserliche Allgewalt anf die Zeitgenossen
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94
Toeohc: Kalter Heinrich VI.
machte, wie wir aus den begeisterten Worten des Abts Joachim
von Kalabrien ersehn (467). Noch war es ihm beschieden die
Vermählung seines Bruders Philipp mit Irene, jener Rose ohne
Dorn, jener Taube ohne Galle wie sie Walter von der Vogelweide
nannte, zu erleben; ein Ereigniss, an dem seine orientalischen
Plane bedeutsamen Antheil hatten. Er war von schwächlicher Ge-
sundheit, bald nach Unterdrückung des letzten Aufstands hatte ihn
eine heftige Krankheit ergriffen. Zur Zeit als die Kreuzfahrer an-
langten, befand er sich in der Genesung. Im August als er im
sumpfigen Thal des Nisi, zwei Tagereisen von Messina der Jagd
oblag, die er leidenschaftlich liebte, in Wäldern, in denen Tags
die glühendste Hitze und Nachts eine feuchte Kälte herrschte, über-
fiel ihn in einer Nacht, um den 6. August, von neuem das Fieber.
Er Hess sich in die Stadt bringen. Die Krankheit liess nach und
kurz vor Michaelis fühlte er sich so wohl, dass er nach Palermo
aufbrechen wollte. Schon war sein ganzes Gefolge und der Haus-
rath dorthin übergesetzt, als ein Bückfall eintrat. Bald war alle
Hoffnung geschwunden. Am 28. September 1197, nach abgelegter
Beichte, starb der Kaiser. Jammernd geleitete das Heer seinen
Leichnam nach Palermo, wo er feierlich im Dom beigesetzt ward.
Als 600 Jahre später das Grab zum zweiten Mal geöffnet ward,
bot der Leichnam einen grausigen Anblick. Der Körper bis auf
das Nasenbein war völlig erhalten; noch waren Haare auf dem
Kopf, aber die Kleidung fast gänzlich zerfallen ; nur die eine knöcherne
auf die Brust gelegte Hand steckte noch in dem ganz erhaltenen
Handschuh, der andere Unterarm war losgefallen und lag ihm zu
Häupton. — So erlosch in voller Kraft des Aufschwungs, dem Höhe-
punkt nahe das glänzende Gestirn Heinrich'a VI. Es war eine
furchtbare Mahnung des Schicksals an die Unbeständigkeit und
Ohnmacht alles Menschlichen, dass dieser eiserne Mann so jäh und
rasch dahingerafft wurde; und wohl ist vom patriotischen Stand-
punkt aus die Klage über ein Ereigniss gerechtfertigt, das eine
Fülle grossartiger Keime erstickte und eine glückliche Entwicklung
abschnitt. Die Geschichte unseres Volkes weist keinen so erschüt-
ternden Wechselfall auf wie dieseu, keinen Unglückstag der so
plötzlich eine grosse zukunftssichere Zeit entrissen wie den Tod
Hoinrich's VI. Die Trauer in Deutschland war denn auch allge-
mein; man begriff welch1 schweren Verlust die Macht des Reiches
erlitten hatte. Ehe noch des Kaisers Tod bekannt wurde, so ging
die Sage, war einigen Leuten an der Mosel eine menschliche Ge-
stalt von Kiesengröese auf schwarzem Rosse erschienen und als die
Wanderer ersehreckt zurückwichen, ihnen kühn entgegengekommen.
Sie sollten ohne Furcht sein, hatte der Reiter zu ihnen gesprochen ;
er sei Dietrich von Bern; viel Unglück und Elend verkünde er
dem römischen Reich. — Vieles hatte er ihnen noch mitgetheilt,
dann wer er über den Fluss geritten und ihren Augen verschwun-
den. Die Sage, dass der alte Volksheld selbst den Tod des jagend-
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Toeohe: Kaieer Heinrioh VI.
liehen Kaisers klagend verkündete, gibt das schönste Zengniss da-
für, wie hoch das deutsche Volk den früh Geschiedenen achtete
and welches Unheil es bei seinem Tode voraussah. Jetzt geschah
Schlimmeres als man irgend befürchtet hatte. Italien ward der
deutschen Herrschaft schnell wieder entrissen. England und Frank-
reich, weit entfernt davon unterworfen zu werden, gewannen Macht
nnd Einflnsa in den unseligen deutschen inneren Händeln die nun
folgten. Die Kurie sohwang sich durch Innocenz III. wieder zur
Herrschaft Uber den Erdkreis empor; und gewiss wäre gerade einem
solchen gewaltigen geistlichen Herrscher gegenüber ein Heinrich VI.
am Platz gewesen. Dem kalten Verstand nnd der vorsichtigen
Beharrlichkeit von Innocenz gegenüber hätte sioh das ungestüme
Wesen Heinrich's VI. erst zu metallener Klarheit geläutert. Das
schwerste Verhängniss, welches der jähe Tod des Kaisers brachte,
war eben, dass die grossartigen Pläne, welche der Krone und dem
Reiche die höchste Macht entfaltung verhiessen , nunmehr zu deren
Verderben umschlugen. Vor allem was Heinrich als die Ziele sei-
ner Politik enthüllt hatte und vor jeder Wiederkehr seiner unbe-
schränkten Macht im Reich und in Italien eilten die Feinde der
kaiserlichen Gewalt sich auf ewige Zeiten zu schützen. Nun wurde,
am dem Grundsatz der Erblichkeit ausdrücklich zu widersprechen,
der Weife Otto gewählt und nur durch Verzicht auf königliche
Rechte emporgehoben. Im Lauf weniger Jahre war das Reich, wie
es Heinrich besessen verschwunden, und ein unvergleichlich ernie-
drigtes an seine Stelle getreten. Man wird angesichts solcher Tbat-
sachen irre an der rechten Beurtheilung Heinrich' s. Soll man die
Kraft bewundern, mit welcher er festzuhalten wusste, was ohne ibn
sogleich verloren war, oder soll man glauben, dass sein stürmisches
and herrisches Wesen den ohnehin brüchigen Boden nur noch mehr
erschüttert bat, oder gar vermeinen, dass sein ganzes Streben irrig
and verderblich gewesen ist ? Wir sind dem Verf. dankbar, dass er
hiermit eine gerade in den letzten Jahren lebhaft vontilirte Frage
angeregt hat. Sein Gegenstand musste ihn freilich von selbst dar-
auf führen, denn mehr als bei irgend einem andern Kaiser kann
man bei dem thatkräftigen , gewaltigen Heinrioh den Werth oder
Cn werth der SybeT sehen Ansicht ermessen, die dahin geht, dass die
deutschen Kaiser einem unerreichbaren Ideale nachgestrebt, deutsche
Kräfte nutzlos vergeudet, ja geradezu die Zerrüttung des deutschen
Staates verursacht haben ohne für den ungeheueren Schaden den
sie der Nation zufügen irgeud einen Ersatz zu gewähren. Geht
doch Sybel so weit , dass er von » sittlichen Missgriffen €
spricht, und Karl den Grossen, die Ottonen, Salier und Staufer für
ihren folgenschweren Fehler, für ihr Streben nach Erneuerung der
römischen Kaiseridee verantwortlich macht. Allein gegen eine
solche Beurtheilung des Mittelalters vom Standpunkt des XIX. Jahr-
hunderts, gegen die Art wie man den nationalen Gedanken der
Neuzeit zum Massstab bei der Beurtheilung mittelalterlicher Per-
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Toeche: Kaiser Heinrich VI
Sinnlichkeiten und Bestrebungen macht, kann nicht energisch ge-
nug protestirt werden. Es kann, wie Eugler jüngsthin in seiner
trefflichen Abhandlung »Zur Beurtheilung der deutseben Kaiserzeit«
(Stuttgart 1867) nachgewiesen bat, dem sitten richterlichen Mass-
stab Sybel's gegenüber, der sich darauf beruft, dass die Gewalten
und Nationen dieser Erde nicht ohne eigenes Verschulden zu Grunde
gehn, nicht ernst genug auf das tragische Element in der Geschichte :
darauf hingewiesen werden, dass es im Leben der Einzelnen wie der
Nationen Unglück gibt, dass sich der Wille der Vorsehung auch über
den Gerechten in Sturm und Ungewitter enthüllt. Vergangenheit und
Gegenwart, schreibt Kugler, zeigen uns, dass unvermeidliche Irr-
thümer und unberechenbare Zufalle einen grossen Theil des mensch-
lichen Schicksals ausmachen, dass Fürsten und Staaten auch un-
verschuldet zu Grunde gehen können. Die Grundlagen der sitt-
lichen Weltordnung liegen an einer anderen Stelle tiefer, als dort
wo Sybel sie gesucht hat. Es ist die Pflicht der Einzelnen und
der Nationen den Weg zu gehn, den das Schicksal von ihnen for-
dert, die Lösung der Aufgaben, die das Leben ihnen stellt, freudi-
gen Muthes zu versuchen, aber auch gefasst und entschlossen Ver-
. zieht zu leisten, wenn sich diese Aufgaben als unlösbar erweisen,
oder wenn unvorgesehenes Unglück zufallig hereinbricht. Denn nicht
darauf kömmt es in erster Linie an, dass das hohe Ziel erreicht,
jene Aufgaben wirklich gelöst werden, sondern darauf kommt es an,
dass alle Kraft geübt und der Kampf um das Dasein bis zum Ende
nach dem innewohnenden Sittengesetz geführt wird. Auch derjenige,
der unerreichbaren Zielen vergeblich nachringt, der einem herbeu
Schicksal erliegt, nützt dem Mensehengeschlechte, und um so mehr
je muthvoller er bis zum Schlüsse seiner Laufbahn seinen Platz
behauptet, je tragischer mithin sein Schicksal sich gestaltet.« Aus
dem bisher Angeführten schliesst man leicht, dass auch Toeche
an jener idealen Anschauung der Dinge festhält. Der grossartige
Plan Heinrich's, urtheilt er, würde die Reichseinheit gerettet und
dem deutschen Geiste und der deutschen Kraft eine ungestörte
reiche Entwickelung gesichert haben. So kann man auch hier wohl
von Unglück, nicht aber von Verschuldung sprechen. Heinrich's
Plan darf nicht vom nationalen Standpunkt der Gegenwart beur-
theilt werden.
(Schluss folgt.)
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fc 7. HEIDELBERGER 1887.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Toeche: Kaiser Heinrich VI.
(Schlues.)
Die Staufer jagten nicht utopistischen Fantasieen nach, sie
huldigten nicht, mit gewissenloser Hintansetzung ihrer nächsten
and wahren Pflichten einem unberechtigten und unverständigen
Idealismus, sondern sie waren die Träger grosser Ideen, die mit
geschichtlicher Nothwendigkeit ihr Zeitalter beherrschten. Wohl
scheint der Verbindung deutschen Volkskönigthums mit römischer
Imperatorenwürde Etwas Fremdes, ein unversöhnter Widerspruch
zu Grunde zu liegen. Jene antike Herrschergewalt , welche die
Züge ihres Ursprungs einer soldatischen Befehlshabersohaft nie ver-
leugnete und die fort und fort als weltlich oberste, persönlich un-
verantwortliche, gottähnliche Herrscherwürde auftrat, war unver-
einbar mit dem ursprünglichen deutschen Königthum, welches von
der Volksversammlung abhing, unvereinbar in späteren Zeiten mit
der wesentlichen Einrede, welche die Fürsten durch das Wahlrecht
übten. Aber darum darf man die Gewalt nicht verkennen, welche
die Kaiser antrieb nach der Wiederherstellung der antiken Welt-
herrschaft zu streben. Es war die Macht der christlichen Lehre,
welche die Einheit des Menschengeschlechts im Glauben forderte
und als die Vollendung des Irdischen die Herrschaft eines Hirten
and eine Herde bezeichnete. Niemand hat im Mittelalter daran
gezweifelt, dass ebenso wie eine gemeinsame Kirche auch ein ge-
meinsamer Staat von Gott geordnet sei. Dieser Grundgedanke,
der aus der christlichen Lehre entsprang, formte und steigerte nun
die fortdauernde Erinnerung an das römische Weltreich, welches
eben dieser Idee eines Gesammtreichs am Nächsten stand. Und so
musste die Wiederherstellung des römischen Reichs im christlichen
Sinne das Ideal mittelalterlicher Entwickelung werden.
Auch für die Gegenwart wäre es kurzsichtig die Macht solcher
historischer Traditionen ableugnen zu wollen. Auch noch jetzt
herrscht die Idee der römischen Einheit, nur in anderer Gestalt
und auf anderem Gebiete, noch nennt die Kirche' Born ihren Mittel-
punkt. Der Glaube Erbe der römischen Traditionen zu sein, wirkt
noch jetzt bei dem Volke, welches in nationalem Stolz , in mili-
tärischem Ehrgeiz und in straffer Staatseinheit den Alten am
Meisten gleicht. Er gibt den Franzosen jenes antike Mienen-
spiel, welches der Bonapartismus als wesentliches - Mittel seiner
LDL Jahrg. 2. Heft. 7
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Toeche: Kaiser Heinrich VT.
imperatorischen Regierung benutzt. Deshalb geziemt es uns
nicht mit flachem Stolz die Macht der Vergangenheit leugnen, und
ihre grössten Gestalten mit modernem Hochmuth bemängeln zu
wollen.
Gegen die erwiesene weltgeschichtliche Notwendigkeit dieser
Ideen tritt jeder andere Massstab der Kritik zurück. Und darum
verschlägt es wenig ob man den Segen, den die römische Mission
der deutschen Kaiser für die Kultur gebracht, den Schutz, den ihr
kräftiger Arm gegen Ungläubige und Barbaren geleistet hat, die
Einwirkungen der Verbindung zwischen Italien und Deutschland
auf Kunst, Wissenschaft, Handel und Bildung überhaupt, ob man
die* Förderung des deutschen Geisteslebens die dadurch bedingt
war, gering anschlägt, und ob man dagegen die verderblichen poli-
tischen Folgen jener Richtung, die Verkümmerung der staatlichen
Entwicklung, die Entziehung und den Verbrauch wirksamer deut-
scher Kräfte zu fernen Unternehmungen, die Erstarkung der fürst-
lichen Sonderpolitik, welche durch die Rüraerzüge geboten war, ob
man das Alles sehr schwer in's Gewicht fallen lässt: genug, die
Kaiser lebten in ihrer Zeit und athmeten den Lebenshauch der
mittelalterlichen Staatsidee, dem sie sieh, ohne Schwachlinge oder
Philister zu werden wie Rudolph von Habsburg, nicht entziehen
konnten. — Noch einmal führt uns Toeche in gedrängten raschen
Zügen das Bild seines Helden vor; er rühmt seine Bildung, sein
ehrenhaftes Privatleben, und seine persönliche Liebenswürdigkeit.
Als Staatsmann erscheint Heinrich jedoch ebenso streng, wie er im
gewöhnlichen Verkehr leutselig sein konnte, unbedenklich und un-
erschöpflich in der Wahl seiner Mittel; er übte Gewalt und List,
Wohlwollen und Härte, wie es die Lage und das grosse Ziel sei-
nes Lebens erheischten. Die Umgebung des Kaisers und sein Hof-
Staat treten uns in frischen poetischen Farben vor die Augen.
»Wäre es uns vergönnt den jungen Kaiser im Verkehr mit seinen
Hausgeistlichen mit Dichtern und Gelehrten, im Waffenspiel und
auf der Jagd mit seinen ritterlichen Freunden kennen zu lernen,
könnten wir es zeichnen, wie ihm die Stunden auf der einsamen
Burg Trifels vergingen, von welcher der Blick ringe auf die dufti-
gen, dunkel bewaldeten Kuppen der Vogesen schweift, oder wenn
er in den einlachen und beschränkten Bäumen der Gelnhamsener Burg
seines Lieblingsaufenthalts verweilte, wie er im fernen Süden von
deutschen Rittern und Geistlichen umgeben den tiefsinnigen Gedanken
des Abts Joachim zuhörte oder die Verherrlichung seiner italieni-
schen Kriege sich ans den überschwenglichen Distichen des Petras
von Ebulo vortragen liess — das Bild Heinrich VI. würde fester
in uns haften und heller uns vor der Seele stehen. Der Wunsch
ihn so zu denken ist berechtigt und wenngleich nur die eigene
Fantasie jene Skenen malen kann, so trifft sie dock geschichtlich
Glaubwürdiges.«
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Prise: A Treatlse ob Integral Calouhll.
üngem scheiden wir yon dem trefflicben Werk ; möge es dem
Verfasser vergönnt Bein unsere historische Literatur auch
in gleich geistvoller und gründlicher Weise zu bereichern 1
C.
A Trtatise <m Integral Calculus and Cnlcülus of Variation*. By
Bartholome* Priee, SecUeian Prof. of not Phü., Ostford.
Stcond Edition. Oxford, at tke Clarendon Pros. MDCCGLXV.
(XXXV J u. 708 8. in & tnÜ zwei Tafeln),
Wie achon die Seitenzahl besagt, haben wir es hier mit einem
«er ausführlichen Lehrbuche der Integralrechnung zu thun, dessen
Bestimmung übrigens die eines eigentlichen Lehrbuches sein
soll, indem es durch vielfache Uebuugsbeispiele die allgemeinen
Lebren erläutert. Das Buch, dessen besondern Titel wir in def
Ceberschrift angeben, ist der zweite Band eines grossem Werkes
Über die gesammte höhere Mathematik , von dem der erste Band
die Differentialrechnung behandelt, die folgenden Mechanik und
■»thematische Physik enthalten sollen. Der uns im Augenblicke
allein vorliegende zweite Band, der auch als selbstständiges Werk
iasgegeben ist, soll Gegenstand unserer Besprechung sein.
Der Verf. huldigt der Theorie des » Unendlich kleinen c (infini-
tesimale, wie er sie nennt) und ist domgeinäss auch seine Aue«
drocijweise eingerichtet. Wir haben in diesem Blättern schon oft
wiederholt, dase wir für eine völlig klare Darstellung diese Theorie
nicht für geeignet halten, ohne dass wir desshalb sagen Wollen,
es Hessen sieh die Lehrsätze nicht auch unter Zugrundelegung jener
Anscbauuegen erweisen. Wir stehen also mit dem Verf. nicht auf
gleichem Boden,, werden aber seinem Werke, das wir von vorn
herein im Allgemeinen als ein tüchtige» und lehrreiches bezeichnen,
aU* Gerechtigkeit widerfahren lassen und nur da, wo nach unserer
tfeberzeuguug unrichtige oder nicht gehörig erwiesene Setze aus»
gesprochen wurden, Widerspruch erhebe». Denn das halten wir
iör die Aufgabe der Kritik, durch Hinweisung auf etwa vorhandene
Mängel eine Verbesserung der Methoden hervorzurufen und damit
der Wissenscheit selbst einen Dienst zu erweisen, »Les progres
la science ne sont vraiment fructueux, que quaad ils aotenent
*>38i 1© progres des traites elementaires« hat der Verf. als Motto
seinem Buche vorgesetzt, und wir halten dieses Wort Dupine auch
* umgekehrter Richtung für anwendbar.
Der Verf. glaubt die Integralrechnung mit der Theorie der
bestimmten Integrale beginnen zu müssen, folgt also hierin
den Anschauungen Moignos. Für ihn ist die Grundaufgabe die-
wt Zweiges der böliern Mathematik die derSNfmmirting unendlicher
Reihen, deren einzelne Glieder unendlich klein und zwei auf ein-
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100
Price: A Treatlse on Integral Calculu*.
ander folgende um ein Uaendlichkleines höherer Ordnung verschie-
den sind. Wir geben gerne zu, dass dies der historische Weg sei,
den die Wissenschaft gegangen; allein im Beginne uiusste vor
Allem auf die Anwendung gesehen werdeu, da die neue Wissen-
schaft darin ihre Kraft bewähren musste und für die Entdecker
und Verbreiter selbst natürlich in diesen Auwendungen ein un-
widerstehlicher Beiz lag. Diese Periode liegt uns aber nun ziem-
lich fern , und wir müssen in den Lehrbüchern von jenem Ziele
zunächst absehen, ohne dass wir dasselbe aus den Augen zu ver-
lieren haben. Darum scheint es dem Ref., dass es naturgemässer
sei, die Integralrechnung als die Umkehrung der Differentialrech-
nung anzusehen, also mit der Theorie der unbestimmten Inte-
grale zu beginnen. Ist doch für die Integration der Differential-
gleichungen diese Anschauung sicher besser als die andern, wie sich
dies u. A. auch aus dem vorliegenden Buche selbst ergibt.
Davon nun aber abgesehen, betrachtet der Verf. das bestimmte
Integral in seiner allgemeinsten Form — bei ungleichen Incre-
menten — , setzt also dasselbe als Summe: f(x0)(x1 — XoJ-j-^i!)
(x2— £| |) + .-H- f(xn_i)(xa — xn_i) fest, wobei xt — Xo,..., xn — fn_i
unendlich klein sind. Er stellt dabei die Bedingung auf, dass f(x)
endlich nnd stetig sein solle innerhalb der Integrationsgränzen.
Wir halten das Letztere für überflüssig und eben darum unnöthi-
ger Weise einschränkend. In der Regel freilich sind beide Eigen-
schaften verknüpft, und für die Auswerthung mittelst unbestimm-
ter Integration ist es nothwendig, dass das eigentliche Integral
stetig sei. Es ist aber immerhin besser, nicht mehr einschränkende
Bedingungen zu machen, als gerade durchaus nothwendig sind.
Bei dem Beweise des Hauptsatzes, dass das bestimmte Inte-
gral F '(x, ) (x, -X«,) + . . . + F i(xn_i) (Xn -xn_!) =F(xn)-F(x0) setzt
der Verf. die Gleichung F(x-fh) — F(x) = hF»(x-f ®h) voraus,
wo & zwischen 0 und 1 ; dann lässt er h unendlich klein werden
und vernachlässigt ®h. Warum? Darauf bleibt er die Antwort
schuldig und wir können also den Beweis leider nicht als scharf
geführt ansehen. Von demselben Geiste ist die geometrische Er-
läuterung getragen, die beigegeben wird, und es muss nach unserer
Meinung bewiesen werden, dass dxdy ein Element einer ebenen
Fläche sei.
Der bereits besprochene Beweis des Fundamentalsatzes wird
vom Verf. in etwas veränderter Gestalt wiederholt, ohne dass aber
die wissenschaftliche Schärfe dabei gewonnen hat. Ist auch F(x)
so beschaffen, dass F,(x) = f(x), so ist desshalb doch nicht F(xt)
— F(x0)=f(x0)(x1— x^,), wenn immerhin x, — Xq unendlich klein
gedacht wird.
Von der Gleichung I F>(x) dx = F(xa) — Ffo) geht der Verf,
*0
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Prlce: A TroAtis« on Integral CaloulnB. 101
rar unbestimmten Integration über, indem er die obere Gränze xB
beliebig löst, sie also kurzweg mit x bezeichnet, tind P(xil) »als
konstante weglässt, mitbin — ohne Gränzbezeichnung schreibt:
F,(x)dx=F(x). Wir gestehen offen, dass sich hierbei nicht
Alles für uns als durchsichtig darstellt; es scheinen die Flecken
aber so sichtbar zu sein, dass wir nicht besonders darauf hindeu-
ten müssen.
Es ist selbstverständlich, dass die einzelnen Lehrsätze bei
unserm Verf. je zunächst für bestimmte Integrale erwiesen und
dann auf die unbestimmten übertragen werden. Allerdings kommt
er endlich doch dazu, die unbestimmte Integration als Umkehrung
der Differenzirung anzusehen. Wenn er aber sagt, dass, weil eine
willkürliche Konstante bei der Differenzirung verschwinde, man
eine solche bei der Integration zusetzen dürfe (»may be introducedc),
so ist damit sicherlich kein klarer Grund gelegt, auf den man mit
vollem Vertrauen bauen kann.
Wir Übergehen natürlich die einzelnen Sätze, die sich hier,
wie in jedem halbwegs ordentlichen Lehrbuche finden, und werden
uns nur da aufhalten, wo wir Etwas zu erinnern haben. Dies ist
zunächst bei dem (auch sonst häufig vorkommenden) Kunststück
der Fall, mittelst dessen aus ^j~xn dx auch j~ abgeleitet werden
soll. Für unbestimmte Integration will es eben nicht gehen und
desshalb werden bestimmte Integrale zu Hilfe genommen. Dar-
Xn-H_an+1 0
i— - — für n=— 1 ; dies wird aber dann zu—,
n + 1 0
A
folglich n. s. w. Dazu bemerken wir einfach, dass diese ganze Be-
trachtung entschieden unzulässig ist. Die Division mit n-f-1 ist
nicht gestattet, wenn n -f- 1 = 0 , und es muss eben das Integral
auf andere Weise gesucht werden als |^xn dx.
Bei der Zerfällung in Partialbrüche scheint es uns zweck-
mässiger, statt der imaginären Faktoren des ersten Grades die
reellen des zweiten Grades einzuführen ; so wie für die binomischen
und trigonometrischen Integrale die bekannten Reduktionsformeln
sicher aufzuführen sind.
Wenn der Verf. im Verlaufe seiner Darstellung nun zur Aus-
weichung bestimmter Integrale übergeht, so müssen wir ihm mehr-
fach ein Halt zurufen. Integrale mit unendlichen Gränzen dürfen
nicht so ohne alle Umstände eingeführt werden, wie es der Verf.
thttt ; sonst kann es sich ereignen, dass ans Jsinxdx geschlossen
0
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101 Price : A Tremse on Integral Cakulua.
wird (8. 87), dass coscon=0. Das hat begreiflich keinen Sinn,
abaenderlich wenn kurz vorher auch linoooouO gefunden wurde I
b
Eben so dürfen Integrale J f(x) dx , für welche f(x) an der obem
a
G ranze unendlich wird, nicht ohne weitere Untersuchung zugelassen
werden. Die Bemerkung, dass man nur bis zu der oberen Gränze
gefce, ohne dieselbe eiuzuscbliessen , ist entschieden Nichts sagend,
1
da man ja dann J^|~ eben *° g*tt*n musste, und im Falle f(x)
P
an der untern Gränze unendlich wäre, eben gar Nichts zu sagen
wüsste. Auf das sicher gar sonderbare Resultat , dass sin «> und
cos oo Null seien, kommt Übrigens der Verf. (S. 95) nochmals zurück
und entfaltet eine grosse Beredsamkeit, um den darin steckenden
Widerspruch zu vertuschen. Ref. meint, dass, sobald man einmal
auf diese wortreichen Gründe greife, das Bewusstsein der verlore-
nen mathematischen Klarheit den Redner drücke, wie dies ganz
sicher auch unserm Verf. , dem es sonst entschieden Ernst ist um
Klarheit, begegnete.
Dass (S. 91) in aller Gemüthsrahe gesagt ist, man finde >bj
«4*00 -j- OD
- ttt f x*« dx Pt** dx
proceas« den Werth vonj gg^y wie den you J jfcqrj
OD — OO
beruht offenbar auf einer alten Angewöhnung, das erstgenannte In-
tegral bereits »berechnet« zu sehen. Die Angabe ist einfach zu
streichen, da das fragliche Integral unzulässig ist.
Dies Letztere hängt mit der (S. 98 ff.) dargestellten Cauchy-
schen Theorie des Hauptwertbes zusammen, die trotz der
Moigno'schen Darstellung und Zustimmung zu verwerfen ist. Unser
Buch hat sie leider aufgenommen. Wenn, sagt der Verf., f(x) un-
endlich wird für x = £, welcher Werth zwischen den Gränzen a und
b £ — (ia b
b Hegt, so setzt man Jf(x) dx ^ jfl» dx + p(x) dx, wo m (unend-
a a { \-va
lieb) klein; p, v aber beliebig (positiv) sind. Diese Gleichung ist
falsch. Denn es ist immer noch I f(x) dx zuzufügen, und die Weg-
lassung dieser Grösse kömmt auf die stillschweigend angenommene
Behauptung hinaus, dieselbe sei Null. Gerade das aber lässt sich
nicht beweisen, weil eben f(x) innerhalb dieser Gränzen unend-
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Prlce: A Treatiae on Integral Calculus. 10B
lieh wird. Wird aber die oben angeführte Gleiebnng nicht zuge-
lassen, so hört auch die ganze Untersuchung von selber auf. Man
kann freilich sonst gar Mancherlei damit »beweisen«, so dass wun-
derliche Erscheinungen au Tage treten, wie denn der Verf. (S. 102)
einer oder der andere der Art begegnet.
Die Ableitung des Werthes von |— dx (in S. 106) ist un-
'o
ralassig. Der Verf. zerlegt das Integral in eine Summe anderer,
deren Gränzen nach den Vielfachen von \it wachsen. Wir geben
za, dass man so verfahren kann; nur rauss dann gezeigt werden,
dass der (möglicher Weise) bleibende Rest verschwindet. Dann
11 1
aber ist die Summirung der Reihe — h — - + — r- + , welche
welche gleich cosec x gefunden wurde, unzulässig für x = 0, was
doch die untere Gränze des Integrals ist.
Die künstliche Art, wie der Verf. ein bestimmtes Integral
(mit einem veränderlichen Parameter) differenzirt, ist eben so nicht
ohne Vorwurf hinzunehmen. Er sagt nämlich, dass weil Jf(x, a)
a
(>, «) — a) + f(x1, «) (x2 - Xj) -f ..+ f(xn_i, a) (b— xn-i), so
d P df(a, «)
sei anch (a, b unabhängig von «): -^-1 f(x, a) dx = — ^ —
a
b
nur
(.-)+.. + ^^0>-^)=/-^a, Dabei Ut
a
übersehen, dass man vorher beweisen muss, dass eine unendliche
Reihe differenzirt werden dürfe wie eine endliche. Natürlich macht
der Verf. von diesem Satze vielfachen Gebrauch, ist aber für den
Fall einer unendlichen Gränze etwas zu leicht verfahren. Wenn
b (in unserm Beispiele) unendlich wird, ist dann dieser Werth als
von a abhängig oder unabhängig anzusehen? Beides wäre doch
wohl denkbar! Dann spricht er sich nicht immer klar aus. So
1
bat er das Resultat: I-* , T,, x dx=ltg*^, ohne dass er dabei
0
angibt, dass m hier zwischen o und 1 liegen muss. Er benützt
00
dabei die Formel f1""1*1 — -A— (S. 105), bei der er allerdings
j l-f-x sinm«
0
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104 Price: A Treatlse on Integral Calculus.
die nämliche Angabe unterlässt, wenn sie gleich in der ursprüng-
Px^dx 7C 2m + 1
lieben Ableitung I ^q—^ = — cosec — ^ — % % * ' wo
00
m < n ssin mnss. Wir halten aber für unerlässlich , dass jeder
Formel, die als besonders bezeichnet hervorgehoben wird, auch die
Bedingungen ihrer Giltigkeit beigefügt seien, da sonst nothwendig
Verwirrung entstehen muss.
Wenn bei Gelegenheit der Darstellung der Cauchy' sehen Me-
tbode, bestimmte Integrale zu ermitteln (Moigno, 21. Vorlesung)
der Verf. nochmals auf das oben gerügte Verfahren zurückkommt,
Integrale zu behaudeln, welche innerhalb der Integrationsgränzen
unendlich werden, so können wir, da eben nur die frühem Dinge
wiederholt sind, unsern Widerspruch ebenfalls nur wiederholen.
-4- ot>
J> (x)
— 00
stimmt wird (S. 132), so begeht der Verf. wieder den nun viel-
fach gerügten Grundfehler. Er findet (im Grunde mit Moigno
§.136): — i [<p( — 1) — ffi(l)], was nun einmal nicht bewiesen ist.
Bei den zur näherungaweisen Berechnung bestimmter Integrale
angegebenen Methoden fehlt eine genauere Schätzung der Fehler-
gränze, da das in §. 115 angeführte Verfahren nicht ganz einer
solchen Forderung entspricht.
Zur Theorie der Gammafunktion (S. 155) übergehend, sollte
doch mit grösserer Bestimmtheit hervorgehoben sein, dass in r(n)
nothwendig n>n sein muss, so wie auch in der Gleichung
e-aIxn-1dx= die Bedingung a>o zuzufügen ist. Wenn,
0
, . _ . 1.2»,. (m — 1)
um die Gleichung F(n) = — — r -r — — = — mn (für m — oo )
n(n-j- l)..(n-|-ra — 1) v 7
zu finden, von dem Integrale I mn~l (1— xm)n_1dx durch Um-
0
setzen von x in xm (für m = oo ) ausgegangen wird , so ist eine
solche Darstellung sicher nicht ohne die schwersten Zweifel an
ihrer Zulässigkeit aufzunehmen. Was ist denn xm für m = oo ? Bei
d^ 1 .Z~'(n') 1
der Bestimmung von — , \ kömmt die Entwicklung von - — ~
an 1 — e y
zur Anwendung, Diese ist aber nicht gestattet für y =r 0 und damit
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Price: A Treatiae on Integral Calculua. 105
bort, da y = 0 die untere Gränze der Integration ist, ancb die
Berechtigung zn der (S. 170) angewandten Beweismetbode auf. Dass
~h5> =-4 + 7 — tt^+— lässt sicQ aber sehr leicht ohne diese
dn2 n3 1 (n-fl)2 1
Methode finden. Wenn (S. 187) F(n) für negative n, allerdings
nicht für ganze, berausgerechnet wird und zwar aus der Formel
Hn) = -7 — * - 2-*(m 1) n m=00 gQ iat 7U beachten,
n(n-f l)...(n-fm — 1)
iaas diese Formel hier aus der Legendreschen Definition gefunden
wurde und also auch nicht weiter gelten kann. Stellt man sie aller-
dings an die Spitze, so kann man mancherlei Lehrsätze ableiten;
für die bestimmten Integrale ist damit aber blutwenig gewonnen.
Die »symbolischen Formeln«, welche der Verf. (S. 194) für
■
j*uvdxn aufgestellt, sind bei uns ausser Kurs gesetzt, spielen aber
allerdings bei englischen Schriftstellern immer noch eine gewisse
Rolle. Die scharfen Anforderungen hinsichtlich der Konvergenz
noendlicber Reihen haben diesen allerdings ganz hübsch aussehen-
den Dingen unerbittlich den Garaus gemacht.
Bis hieher hat der Verf. die Theorie dargestellt, und zwar
— mit Ausnahme etwa der Gamafunktionen — das, was man in
vollständigem Lehrbüchern ebenfalls findet. Nunmehr wendet er
»ich zu den Anwendungen der Integralrechnung auf Geometrie und
nmäehst zur Rektifikation ebener Kurven. Die Ableitung der nöthi-
aen Formeln geschieht einfach nach den Grundsätzen der Lehre
von unendlich kleinen Grössen ; die Anwendungen sind sehr zahl-
reich und gut gewählt. Auch andere Aufgaben der analytischen
Geometrie, die man wohl ebenfalls unter dem Kapitel : Integration
der Differentialgleichungen behandeln könnte, kommen in bedeuten-
der Anzahl vor. Die weitern, sonst üblichen Anwendungen werden
später vorgetragen, denn es enthält das Buch nunmehr eine Unter-
suchung über uneudlicbe Reihen, deren Konvergenz und Divergenz
■ beurtheilen gelehrt wird.
Der Beweis, dass 1 -f- i -f- y "f~ — nnendlich sei, ist nicht ganz
*aläsaig, da es sich fragt, ob die verschiedene Anordnung der Glie-
der gestattet sei ; in dem Hauptsatze <C I bei Konvergenz^
■Ml scharf hervorgehoben werden, dass dieser Quotient nicht etwa
1 beliebig nahe kommen darf. Das liegt freilich in der Annahme,
dass man eine Zahl p wählen könne unter 1, so dass jener Quotient
weh noch unter q ist; immerhin ist es aber wichtig, jene Be-
dingung genau zu formuliren. Das Kriterium : n(^~ — 1
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Price: A Treatise on Integral Calcultis.
wird aus — ~- > 1 abgeleitet, was vielleicht nicht ganz zweck-
mässig ist.
Die Reihen von Taylor und Maclaurin werden in der bekann-
ten Weise mittelst der bestimmten Integrale abgeleitet nnd die
Theorie der Integration unendlicher Reihen benützt, um arc(tg = x),
arc (sin = x) u. a. m. in solche Reihen zu entwickeln. Wir ver-
missen dabei nur die genaue Bestimmung der Giltigkeit. Da die
Entwicklung von (1-f-x2)-1 für x*=l nicht zulässig ist, so gilt
die Reihe für arc(tg=rx) zunächst nur für xÄ<t und es bleibt
der Fall x3 = 1 besonders zu untersuchen. Dasselbe ist für arc
(sin = x) zu fordern. Diese Untersuchung ist nun aber nicht ge-
führt und es bleibt somit zweifelhaft, ob der Verl, das Recht hatte,
x=l zu setzen, wie er es thut. Dass er sich wieder damit hel-
P dx
fen will, dass er sagt, in dem bestimmten Integrale J — sei
o
ja die obere Gränze nicht eigentlich erreicht, haben wir bereits
oben schon tadelnd angeführt und müssen diesen Tadel hier wieder-
holen. Desshalb haben wir auch verlangt, dass man bei der Ent-
scheidung über die Konvergenz von Reihen scharf ausspreche, es
dürfe 22Ü. nicht 1 beliebig nahe kommen, da man sonst
auch hier eine so Nichts sagende Ausrede zu brauchen versucht
sein könnte.
An diese Untersuchungen schliesst sich die Theorie der Fou-
rier' sehen Reihen an. DassJ"8"* ^ ^ d£ = Ä kann doch wohl für
— CD
ein unendliches n bestritten werden, wenn gleich zugegeben wird,
join a x k
dass I — — dx— ä für a>0; I sin (n 4- ^) £ d| ist für ein un-
OD Ct
endlich kleines a nicht desshalb Null , weil sin ( n ~\- \ ) | — 0, da
ja endgiltig n— oo zu setzen ist. In allen Fällen sind diese Be-
weisformen ,- in denen sich das Buch bowegt, etwas schwankender
Natur. Die Betrachtung der möglichen Doppelwerth igkeit (Sprin-
gen der Funktion) wird nachträglich geführt. Die Anwendungen
sind wieder sehr zahlreich und gut gewählt.
Für die vielfachen Integrale, die dem Geiste des Buches zu-
folge als bestimmte aufgefasst werden, sind trotzdem die wichtigen
Umformungsformeln wie für unbestimmte gegeben, d. h. es ist auf
die Bestimmung der (neuen) Gränzen keine Rücksicht genommen.
uigiiizeci u
y Google
Prlcei A TreAttee on Integral Calculus. 107
Gerado darin aber scheint uns die eigentliche theoretische und
praktische Schwierigkeit zu liegen. Die Darstellung der Formel
als solcher ist eine ziemlich einfache Sache ; sie setzt aber die Zu*
lissigkeit der Umkehrung der Integrationsordnung entschieden vor-
aus. Die Differenzirung vielfacher Integrale nach darin vorkom-
menden Parameter wird ausführlich erörtert und dann zu den wei-
tern Anwendungen übergegangen.
Diese betreffen zunächst ebene Flächen, wobei als > Element«
dxdy angenommen wird ; darauf werden Rotationsflächen qua-
drirt und endlich drittens krumme Oberflächen im Allgemeinen. Die
Ableitung der Formel ist so ziemlich die herkömmliche, welche
das Flächenelement auf die Tangentialebene legt. Wir halten diese
Methode nicht dem Geiste strenger Darstellung gemäss, wollen uns
aber hier nicht weiter darüber verbreiten.* Auch krummlinige
Koordinaten werden benützt, namentlich die Gaussischen Formeln
in diesem Betreff aufgeführt. Die elliptischen Koordinaten haben
wir nirgends gefunden.
Die zweite Anwendung betrifft die Berechnung von Körper-
inhalten. Wenn von rechtwinkligen zu Polarkoordinaten über-
gegangen wird (S. 862), so leitet der Verf. die betreffende Formel
unmittelbar ab. Es wäre aber sicher zweckmässig gewesen, die-
selbe auch durch Umformung aus der Formel für rechtwinklige
Koordinaten entstehen zu lassen. Auch hätte der Fall, da der Pol v
ausserhalb liegt, näher erörtert werden sollen.
Ala weitere Anwendungen der Integralrechnung, die uns noch
in keinem Lehrbuche begegnet sind, werden eine Reihe Beispiele
ans der Wahrscheinlichkeitsrechnung behandelt, denen eine knrze
Aaseinandersetzung der Grundbegriffe vorhergeht. Welcher Art
diese Beispiele sind mag gleich aus dem ersten hervorgehen : »Eine
breite ebene Platte ist mit gleich weit entfernten geraden Linien
überzogen: eine dünne gerade Nadel, deren Länge kürzer ist als
die Entfernung je zweier der Parallelen, fällt auf die Platte. Wel-
ches ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Nadel auf keine der tei-
lenden Geraden (theilweise) zu liegen kommt ?€ Daneben kommen
dann auch die Grundbetraohtungen der Methode der kleinsten
Quadrate, so wie endlich die Theorie der mittleren Werthe vor.
Zur eigentlichen Theorie zurückkehrend werden vielfache In-
tegrale nach verschiedenen Methoden reduzirt. Wir begegnen zu-
erst dem von Moigno (§. 121) dargestellten Satze, der mit den
dortigen Beispielen aufgenommen ist. In kaum anderer Gestalt
erscheinen dann die §§. 122—124 von Moigno, denen eine oder
die andere weitere Ausfuhrung angeknüpft wird.
Der Variationsrechnung ist ein verhältnissmässig grosser Theil
iea Werke8 (ß. 411—512) gewidmet. Wir wollen gleich von vorn
herein aussprechen, dass uns die Darstellung des Verf. verglichen
mit der masterhaften von Moigno und Lindelöf (vergl. diese Blätter,
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10S
Pricet A Treatiee on Integral Calcuhis.
7. Heft 1862) verfehlt erscheint. Er ergeht sich zunächst in weit-
läufigen Erörterungen über die Veränderung der Form der
Funktionen und was so hergebrachter Weise die Redensarten
sind, mit denen man diese »neue« Rechnungsart einzuleiten ge-
wohnt ist. Nach unserer Meinung handelt es sich eben einfach
um ein Problem über Maxima und Minima und die wissenschaft-
lichen Regeln zur Bestimmung solcher, wie sie die Differential-
rechnung aufstellt, müssen hier wieder zur Anwendung kommen,
wenn freilich diese Anwendung etwas schwieriger ist, als bei den ele-
mentaren Aufgaben. Aller Rest ist überflüssiger und beschweren-
der Ballast.
Wenn (S. 420) aus ds^dx*-) dy'-fdz* folgen soll: <*ds =
~ 6* d x 4- — 6* d v + -r^ddz, so dürfen wir wohl billiger Weise
ds 1 ds * ds 6
fragen, warum denn die Regeln der Differentialrechnung hier an-
gewendet werdon dürfen. Und wenn nun gar bei Bedingungs-
gleichungen (S. 437) kurzweg die Theorie der Multiplikatoren an-
gewendet wird , so hört ganz entschieden alle? Beweisen auf und
wir stehen auf dem Gebiete der unbedingten Glauben heischenden
Dogmatik. Bekanntlich sind diese Bedingungsgleichungeu (relative
Maxima und Minima) eine etwas kitzliche Sache, die Lagrange
nicht vollständig klar erledigt hat.
Nachdem der Verf. den > all gemeinen Erörterungen« Zeit und
Worte in genügender Zahl gewidmet, fasst er (S. 450) das Problem
der Maxima nnd Minima an. Wenn u ein bestimmtes Integral
Jdy
f (x, y, — , . . ) dx ist, so muss ö u = 0 sein für ein Maximum oder
Minimum, und das Zeichen von 6**u entscheidet. Wir stellen dazu
blos die Frage : Warum ? Diese Frage wiederholen wir in schärfe-
rer Weise bei den relativen Maxima und Minima (S. 455). Wir
Ubergehen die zahlreichen Anwendungen, unter denen die geodäti-
schen Linien ganz besonders ausführlich behandelt sind und be-
merken nur noch, dass die Jacobisclie Metbode, zu entscheiden ob
ein Maximum oder Minimum erhalten sei, aufgenommen wurde.
Beispiele der Anwendung derselben haben wir nicht gefunden, wenn
• wir nicht die besondereu Formulirungen des allgemeinen Satzes als
solche rechnen wollen.
Wir gelangen nunmehr zum drittou und letzten Hauptabschnitte
des Buches (S. 518 — 707): der Integration der Differentialglei-
chungen und zwar sowohl gewöhnlicher als partieller , wobei wir
sofort bemerken, dass diese zweierlei Gleichungen nicht abgesondert
behandelt werden, wie dies sonst wohl gebräuchlich ist.
Bei der Darstellung der Integrale als bestimmte, welche über-
haupt hier vorwaltet, erscheint auch hier eine Art bestimmter In-
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Price: A Treatise on Integral Calculus. 109
tegration als erstes. Ob dies nun so ganz zulässig ist, wollen wir
nicht geradezu in Abrede stellen; es scheint uns aber nicht ge-
dy
eignet, dass wenn F (x, y) das unbestimmte Integral von f(x> y)
sei, man nach der Theorie der bestimmten Integrale die Gleichung
Ftx,y) — P (xo»yo) = 0 habe (S« 516)- Der Beweis, dass das allge-
meine Integral einer (gewöhnlichen) Differentialgleichung uter Ord-
nung n willkürliche Konstanten enthalten müsse, mittelst des Tay-
lor'schen Satzes geführt (Seite 518), ist bekanntlich nicht ge-
Wenn für die Differentialgleichung Pdx-fQdy = 0 die Be-
<1P dQ
erfüllt ist, so ist daraus keineswegs selbstverständlich,
das P d x + Q d y ein volles Differential sei , wie der Verf. sagt
(8. 522). Auch ist die Bestimmung des Integrals, wie sie geführt
wird, ganz ungenügend, zumal die Nothwendigkeit obiger
Bedingung dabei gar nicht zum Vorschein kommt. Dasselbe gilt
in stärkerem Maasse von dem Differential Pdx-f-Qdy-fRdz
(a 525 ff.)
Bei don partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung
(3. 536 ff.) ist es freilich wahr, dass man behufs der Integration
lA+Q*frB auf die gieichzeitigen Differentiaigi9ich'ingen
-ö- = -~= greifen muss; die dx, dy, dz dieser letztern sind
r vj xv
über ganz andere Dinge, als die eben so bezeichneten der erstem.
Das tritt hier nicht klar hervor, wobei noch zu beachten ist, dass
die gleichzeitigen Differentialgleichungen viel später behandelt wer-
den. Die hier herrschende Unklarheit ist wohl Schuld daran, dass
mehrfach gar wortreiche Erläuterungen erscheinen. Dieselben Be-
merkungen sind S. 544 zu wiederholen, wo es sich um Integration
der Gleichung PfJ + Q^y + -- -r=S bandelt.
Nach dieser Behandlung der partiellen Differentialgleichungen
erscheint erst die Theorie des integrirenden Faktors einer gewöhn-
lichen Differentialgleichung. Diese Anordnung ist wohl desshalb
gewählt, weil bei Aufsuchung des fraglichen Faktors eine partielle
Differentialgleichung auftritt. Ob dieselbe aber nicht nothwendig
sei, muss stark bezweifelt werden.
Ist P d x -|- Q d y = 0 die vorgelegte Differentialgleichung, und
sind |u, u-1 zwei (von einander verschiedene) integrirende Faktoren,
so ist ft1 = c u die Integralgleichung , wo c die willkürliche Kon-
stante (8. 547). Soll dieser Satz erwiesen sein, so muss zuerst gezeigt
werden, dass, wenn p ein solcher Faktor ist, ferner ft(Pdx-f-Qdy)
= du, alle andern nothweudig die Form ftqp(u) haben. Der
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Ut Prlee: A TreaÜse on Integral Celeste*.
Verl« vernachlässigt überhaupt die Umkehrung deiner Sätze, und
nimmt gar oft diese Umkehrung sofort als zulässig an. Der Be-
weis der eben aufgeführten wichtigen Behauptung kann etwa so
geführt werden.
ßeien ix , zwei verschiedene integrirende Paktoren von
»+Q&-i--#(*+Q£)-£.
wo n, v (bekannte) Funktionen von x und y sind. Dann ist
.du dv , . , dv du _. . _
u1 — =u — , d. h. wenn fil = o\i: — = p — . Hieraus folgt,
r dx •ax r w dx r dx ° 1
dass die zweite Seite dieser Gleichung nothwendig ein vollständi-
ger Differentialquotient ist, d. h. p -|- , wo die Dif-
fertntialquotienten nnr partielle sind, ist ein solcher vollständiger
Differentialquotieat. Dazu gehört, dass Ä dx^T^)*
welche Gleichung auf ~ = ~ hinauskommt, und aussagt,
(vergl. meine Differential- und Integralrechnung, §. 90, IV), dass
q eine Funktion von n ist. Demnach pi~n<p{xi)f womit die Be-
hauptung erwiesen ist.
Wir Ubergehen die einzelnen weiteren Untersuchungen, die
allerdings ziemlich vollständig sind, doch nicht Über das Maass
dessen hinausgehen, was man von einem etwas vollständigen Lehr-
buche fordern kann, da die Bemerkungen, die wir etwa noch zu
machen hätten, im Wesentlichen ähnlicher Art sind, wie die be-
reits bewährten. Wir fügen etwa noch bei, dass die partiellen
Differentialgleichungen höherer Ordnung nur kurz berührt werden,
da der Verf. es vorzieht (&. 666) bei der mathematischen Behand-
lung physikalischer Probleme darauf zurückzukommen.
Den Schluss des Werkes bilden die gleichzeitigen Differential-
gleichungen (S. 687 — 698) und die Integration mittelst Reihen
(S. 699—707). Die gleichzeitigen Differentialgleichungen sind hier
entschieden zu kurz behandelt; vom Prinzip des letzten Multipli-
kators und ähnlichen allerdings etwas heiklen Dingen ist keine
Bede,
Wir haben dem vorliegenden Werke, ohne gerade dessen In-
halt vollständig übersichtlich mitzutheile* , eine ausführliche Be-
sprechung gewidmet, da wir, trotz der vielfachen Ausstellungen,
die wir in wesentlichen Punkten der Theorie machen mussten,
dasselbe für ein Buch halten, ans dem sich Vieles lernen
1 äs st, und wer an der Sprache und dem leider damit verknüpf-
te» etwas Hohen Preise keinen Anstand nimmt, wird die Integral-
rechnung von Pries nicht ohne Nutzen zur Hand nehmen. So lange
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Bauern fein d: Die Bedeutung moderner Gredmeesungen, 111
wir in dieson Blättern noch neu erschienene Werke besprechen,
werden wir es uns znr Pflicht machen, auf eine strenge Theorie
zu dringen, und dosshalb überall, wo wir einer solchen nicht be-
gegnen, unsern Tadel aussprechen. Fehlt Kef. selbst, oder hat er
gefehlt, so mag das gleiche Maass gegen ihn gehandbabt werden,
und es ist bekannt, dass ihm in dieser Beziehung selten Etwas
erlassen wird, im Gegentheil des Guten zuweilen zu viel zn ge-
schehen scheint. Aus dem Widerspruch der Meinungen aber soll
die Wahrheit hervorgehen, und die Methoden der höhern Mathematik
sind noch durchaus nicht alle in der Lage, dass kein Widerspruch
gegen sie erhoben werden kann.
Die Bedeutung modemer Gradmessungen. Vortrag in der öffentlichen
SiUung der k. Akademie der Wissenschaften am 25. Juli 1866
zur Vorfeier des Geburts- und Namensfestes Sr. Majestät des
Königs gehalten von Dr. C. M. Bauernfeind, Baurath und
Prof., a. o. Mitglied der math.-phys. Klasse. München* 1866.
Im Verlage der k. Akademie. (42 8. in 4.)
Die vorliegende Schrift des in der mathematischen und tech-
nischen Welt rühmlichst bekannten Verfassers enthält, wie ihr
Titel aussagt, eine öffentliche Bede. Sie ist also ganz selbstver-
ständlich frei von eigentlich mathematischem Apparate, und konnte
sich nur zur Aufgabe stellen, in möglichst allgemein verständlicher
Weise die Grundsätze darzulegen, auf denen die Methoden der
Gradmessungen, wie sie im Laufe der Zeiten sieh gestaltet haben,
aalgebaut sind, so wie die Zwecke zn bezeichnen, welche man an-
fänglich verfolgen mnsste und die heute maassgebend sein sollen.
Diese Aufgabe hat der Verf. in vortrefflicher Weise gelöst. In
klarer, fliessender Sprache entwickelt er die Geschichte der Grad-
messungea, von den Zeiten des Eratosthenes (vor 2100 Jahren)
bis auf den heutigen Tag, der das Unternehmen der mittel-euro-
päischen Gradmessung unter der Leitung des Generals Baeyer be-
grübst, und zeigt, welche wissenschaftliche Methoden nach und nach
zur Verwendung kamen.
Die Gradmessungon, welche besprochen werden, sind die von
Eratosthenes, Posidonius, die beiden arabischen unter dem Ehalifen
Mamun, die von Snellius, Picard, die der französischen Akademiker
in Peru und Lappland, die grosse Gradmessung in Frankreich, die
ron Mudge und dann die grosse über ganz Grossbritannien, die
von Svanberg, die ostindischen , die gaussische in Hannover ; die
von Schumacher bei Altona, und die von Bessel und Baeyer in
Preussen, und endlich die grosse russische unter Struve. Auch der
Längengradmessungen wird ausführlich gedacht.
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112 Bau er n fei nd: Die Bedeutung moderner Gradmessungen.
Wir versagen uns ein näheres Eingehen auf die eigentliche
Darstellung, so verführerisch nahe sie auch liegt, indem wir den
Leser, der sich für solche Dinge interessirt, auffordern, sich selbst
mit der Schrift bekannt zu machen, die ihn, wenn er auch nicht
Mathematiker von Fach ist, ganz entschieden in den Stand setzen
wird, sich ein klares Bild von den Bestrebungen und Endzielen
der Männer der Wissenschaft zu machen , die an diesem Werke,
wir können wohl sagen seit Jahrtausenden, gearbeitet haben. Nur
eine Stelle wollen wir zum Schlüsse wörtlich anfuhren.
„Das aus diesen mühevollen und kostspieligen Arbeiten her-
vorgegangene Endresultat ist, dass die geometrische Erdoberfläche,
oder diejenige Fläche, welche wie das Weltmeer die Richtung der
Schwere überall senkrecht durchschneidet, kein regelmässiges Um-
diehungsellipsoid , sondern eine Fläche ist, welche von diesem
Ellipsoid bald in stärkeren oder schwächeren, bald in längeren oder
kürzeren wellenförmigen Erhöhungen und Vertiefungen abweicht;
eine Fläche, welche sich, nach BessePs Ausdruck, zum regelmässi-
gen elliptischen Sphäroid wie die Oberfläche eines bewegten Was-
sers zu der eines ruhigen verhält. Die beobachteten Unregelmässig-
keiten der Erdflgur sind indessen keineswegs so bedeutend, dass
man nicht ein Umdrehungsollipsoid als Grundform beibehalten
könnte; denn die Winkel, welche die wirkliche und die ideale
Krümmung eines Parallel- oder Meridianbogens bestimmen , wei-
chen in der Regel nur wenige Sekunden von einander ab, und
wenn diese Abweichungen an einer Stelle positiv sind , so werden
sie in geringer Entfernung davon schon wieder negativ, so dass
sich das gedachte Umdrehungsellipsoid fortwährend über und unter
den kleinen Vertiefungen und Erhöhungen der wirklichen geome-
trischen Erdoberfläche hinzieht. Dieses die Grundform der Erde
bildende Ellipsoid hat nach Bossels und Airys Bestimmungen eine
Abplattung von TJ-f und einen Aequatorialhalbmesser von 8272100
Toisen."
Dr. J. Dienger.
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b. 8. • HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR
Annalen des Vereins für Nassauische Alterthumskunde und Geschichts-
forschung. VUL Bd. iöo'6'. ö. Mit acht lilhographirien Tafeln.
Wiesbadien, auf Kosten des Vereins, in Commission bei W.
Hoth.
Unter dun Publikationen der zahlreichen Aiterthoms- und Ge-
schieh ts vereine Deutschlands haben nicht blos die Annalen des
Vereins fllr Nassauische Alterthumskunde und Geschichtsforschung
seit längerer Zeit einen ehrenvollen Platz behauptet, sondern auch
die übrigen Schriften desselben, wie Uberhaupt seine ganze Thätig-
ktit genugsam beurkundet, dass der Nassauische Verein sich der
Aufgabe klar bewusst ist, deren Erfüllung man allen historisch-
antiquarischen Localvereinen recht dringend empfohlen sehen möchte.
Es begreifen nämlich die literarischen Publikationen jenes Vereines
einerseits die wissenschaftliche Vermittelung theils urkundlichen
Materials, wie die Sammlungen der römischen Inschriften Nassaus
und der Urkunden der Abtei Eberbach bezeugen, theils monu-
mentaler AlterthUmer, wie solche in den »Denkmälern aus Nassau«
in reicher Ausstattung vorliegen, während zugleich andererseits in
einer Reihe theils grösserer Monographien (Geschichte der Abteien
Eberbach und Walsdorf, der Herrschaften Kirchheim - Boland und
Westerburg), theils in den Annalen niedergelegten grösseren und
kleineren Beiträge zur Geschichte der römischen oder altchrist-
lichen Zustände am Rheine, des insbesondere nassauischen Mittel-
alters und der neuern Zeit, das bereits vorliegende Material nach
den verschiedensten Richtungen hin mit anerkennenswerthem Er-
folge mehrfach bearbeitet ist. Neben diesen beiden Hauptclassen
der Vereinsschriften geben ausserdem besondere »Mittheilungen«
m die Mitglieder über Funde und Ausgrabungen, Erwerbungen,
Personalien u. s. w. einen unumgänglichen Bericht, für welchen
leider bisweilen immer noch in den Schriften deutscher Geschichts-
bild Alterthumsvereine so viel Papier mit jener unerquicklichen
Breite und langweiligen Weitschweifigkeit verschwendet wird, welche
oft einen so grellen Gegensatz zu der Dürftigkeit des sonstigen
Inhalts bildet. Auch die Sammlungen von Büchern und Münzen
sind in besondern Verzeichnissen zumeist durch den thätigen Ver-
ainssekretär Herrn Dr. Schalk für die Zwecke des Vereins in
dankenswerther Weise zugänglich und nutzbar gemacht. Was nun
insbesondere die »Annalen« betrifft, so schliesst sich auch der vor-
liegende neueste (VIII.) Band derselben seinen Vorgängern in
Reichhaltigkeit und Gediegenheit des Inhalts würdig an und liefert
LX. Jahrg. 2. Heft 8
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114
Nassauüwhe AlfcerthumsschrifteiL BdV <VÜL
sowohl zur römischen und altchristlichen Alterthomsknnde, als anch
in der Geschichte nnd den CulturzustÄnden dos Mittelalters bis zu
den Anfängen der neuern Zeit herab nahm hafte Beitrage, weiche
nicht allein reiche Belehrung gewähren, sondern vielfach auch ein
mehr als lokales Interesse beanspruchen dürfen. In letzterer Hin-
sicht ist schon gleich der erste Beitrag zur rheinischen Urgeschichte
hervorzuheben , in welchem Herr Pfarrer Niök einige Bemer-
kungen Über das Baudobrica des Itinerarium Anto-
nini niedergelegt hat (S. 10Ö — 106), indem er die in letzteren
offenbar fehlerhaft überlieferten Wegdistanzen einer Boute von Trier
über Baudobrica (Boppard) den Rhein aufwärts bis Strassbnrg in
einer Weise zu rektifizieren und zu ergänzen versucht, welcher man
im Ganzen seinen Beifall wird nicht versagen können. Zu bedauern
bleibt aber einerseits dabei, dass Herr Nick, wie es scheint, ausser
Stand wat die Berliner Ausgabe des Itinerars von Parthey und
Pinder mit ihrem kritischen Apparate zu benutzen, wie auch den
so wichtigen Meilenstein von Tongern (Orelli-Henzen 5236), den
commentarius de columnis miliariis ad Bhenum repertis (p. XIII sq.)
Von Prof. Brambach und E. Schmidts Topographische Untersuchun-
gen im XXXI. Bonher Jahrbuche, andererseits, dass er überhaupt
nicht zu der von ihm behandelten Stelle (p. 188 der Berliner Aus-
gabe) auch die p. 117 u. 168 aus andern Bouten theil weise wie-
derholten Wegdistanzen einer Anzahl derselben Rheinstationen zur
Vergleichung herangezogen und zur Herstellung der ganzen Boute
Von Baudobrica über S a 1 i s s o (welchen Ort er unzweifelhaft richtig
zuerst in Salzig statt Simmern oder Sulzbach wiedererkannt hat),
Vosolvia, Bingium, Mogontiacum, Bauconica, Borbitomagus, Novio-
magus, Tabernae, Saletio, Brocomagus nach Argentoratum unter
gleichzeitiger Mitverwendung der Peutinger Tafel benutzt hat, zu
Welcher die jüngst erschienene »Erklärung« des unermüdeten Paulus
äo schätzbare Beiträge geliefert hat. Für Nick's Feststellung der
Entfernung von Boppard und Bingen mit 15 gallischen Meilen,
Welche eine andere moderne Messung auf 17 solcher Meilen be-
rechnet hat (S. 105—106), würde dabei der wichtige Stein von
Tongern mit seinen 16 Leugen eine evidentere Bestätigung abge-
geben haben, als die von ihm herbeigezogene Vergleichung der
Peutinger Tafel mit ihren 18 Meilen, in welcher letztern, beiläufig
bemerkt, die entstellten Kamen Bontobrice und Vosavia durch das
Baudobrica und Vosolvia des Steines von Tongern verbessert wer-
ben können. Ein weiteres Verdienst um die urgeschichtliche Topo-
graphie des Bheinlandes hat sich Herr Nick durch den in der
Miscelle > Altes und Neues« S. 597 f. aus einer handschrift-
lichen Aufzeichnung beigebrachten Nachweis der editio prineeps
(aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts) der bei Brambach a. a.
0. p. XU unter No. XVI u. XVII (Codex Inscr. Bhen. 1940 sq.)
mitget heilten Bruchstücke an Meilensteinen erworben, welche ober-
halb Koblenz bei Stolzenfels stehen. In dieser Aufzeichnung heisst
Digitized by VjOOQle
Bd. vm.
115
m: >Wohl ist anzumerken die auf einer Vor einigen Jahren gleich
undter Capellen gegen der Johanns-Kirch über im weeg längs den
ßeiin ausgegrabener sanl mit der Schrift« — — weiterhin heisst
#t sodann : »An den aasgegraben 2 grose stücke r Vom dieser sanl
habe ich noch folgende Buchstaben bemerket. An dem kürzer stttok:
M. L CaLiCy
CAESAR GER
MAI B
HL IM IV
COS. DES. R PP
MO
An dem länger stück stein Von dieser saulen habe folgende
Bachstaben bemerket:
M
ROM
OS
0
LVI
Der Schreiber dieser Aufzeichnung hat demnach beide Bruch-
stücke als Theile eines Meilenzeigers, welchen er dem Kaiser
Caligula zn Ehren errichtet sehen wollte, erkannt, während sie jetzt
seit Schmidt1 s Mittheilung a. a. 0. S. 165 f. als Bruchstücke zweier
Meilensteine bekannt sind, im übrigen bringt auch diese editio
princeps kaum neue Momente zur Aufhellung des Inhaltes und der
Beziehung der Inschrift auf einen bestimmten Kaiser. Immerhin
aber ist der genauere Nachweis des Fundorts und der Lesung der
Aufschrift zu einer Zeit,, in welcher sie jedenfalls noch weniger
zerstört war, um so mehr zu verdanken, als eine befriedigende Fest-
stellung des römischen Strassennetzes auf der linken Ilheinseite
noch lange durch weitere Fundaufschlüsse bedingt bleiben wird:
dass aber letzteren nicht ohne Hoffnung entgegengesehen werden
kann, beweist die jüngste Auffindung eines leider bruchstücklichen
Meilenzeigers in Nassau, dessen Inschrift sich auf den Kaiser Decius
(249 — 251 n. Chr.) bezieht, welchen auch eine bereits seit länge-
rer Zeit aufgefundene leider gleichfalls bruchstückliohe Meileu Stein-
schrift im Museum zu Speier bei Brambach a. a. 0. p. XI unter
Nr. XXII (Codex Inscr. Rhen. 1946) betrifft. Dieses neu aufge-
fundene wie das vorerwähnte Fragment von Capellen bleiben an
einem andern Orte weiterer Betrachtung vorbehalten, welche sich
zugleich auch auf andere edirte und unedirte rheinisohe Inschriften
erstrecken soll, die in dem Corpus Inscriptionum Rhenanarum ihre
Stelle nicht finden konnten. Wiewohl nämlich die S. 565 — 585
des vorliegenden Annalenbandes unter der Uebersohrift : »Römische
Inschriften vom Mittelrheinc zusammengestellten grösseren
Bad kleineren, vollständigen und fragmentirten, edirien und unedtr-
ten Inschriften der Rheinlande aus den Museen zu Mainz. Wies-
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116
Nasaauischc AlterthumsBchriften. Bd. VIII.
baden, Mannheim, Darmstadt, Cassel in der Absicht von uns ver-
öffentlicht wurden, ihre Verwerthung für das damals projektirte
Corpus Inscriptionum Rhenanarum zu ermöglichen, so konnte bei
dem bereits erfolgten Abschlüsse des Werkes doch nur eine nach-
trägliche Berücksichtigung und Aufnahme in die >Addenda et
Corrigenda« p. XXXIII sq. stattfinden. Indem es dahor vorbehalten
bleibt, auch auf diese Inschriften zurück zu kommen, wird sich die
Gelegenheit bieten, einestheils kleinere Unrichtigkeiten, wie eine
solche z. 13. in den rheinischen Blättern (Beiblatt zum Mainzer
Journal) 1857. N. 2. S. 7. zu S. 570 bezüglich des Fundjahres
von Nr. 7 gerügt worden ist, zu verbessern, anderntheils auch
Vervollständigungen in Text und Lesung, wie z. B. zu S. 573
Kr. 14 nachzutragen. Neben diesen inschriftlichen Beiträgen in
lateinischer Sprache ist nun aber weiter die S. 561 ff. unter der
Ueberschrift »Ein Amulet aus dem Museum zu Wies-
baden« behandelte fünf zeilige griechische Aufschrift eines als
Medaillon in Silber gefassten Serpertinsteines :
PE1NAIIAP
OQ&AAMON
AETKOTOAA
UEPWSENO
T
von ganz besonderem Interesse, indem sie sich nach vergeblichen
Deuteversuchen unter den Händen des rühmlichst bekannten Homeri-
kers, Prof. H. Rumpf dahier, als ein Vers aus der Iliade 2£, 291 :
$iva nag otpftaXpov^ Xevxovg ti* ijttyrjGBv oöovxag
entpuppt bat, wie die lehrreiche Auseinandersetzung in Fleckeisens
Jahrbüchern 93. 94. Bd. X.Heft S. 716—20 unter Erörterung der
vermeintlichen Heilkraft des Serpentins und entsprechender Ver-
wendung homerischer Verse in Überraschender Weise das Nähere
dargethan hat. An diese epigraphischen Mittheilungen schliessen
wir weiter eine Hinweisung auf die S. 586 ff. unter der Ueber-
schrift »Kostheim und die Mainspitze« eingeführte Mis-
celle, welche die in monumentalen und urkundlichen Zeugnissen
vorliegenden Spuren der einstigen Bedeutung beider Oertlichkeiten
am Ausflusse des Mains in römischer Zeit und im Mittelalter näher
erörtert und insbesondere für die neuerdings wieder durch den Bau
der gewaltigen Eisenbahnbrücke wichtig gewordene »Mainspitze«
den Nachweis eines Hafenorts für den Anfang des 14. Jahrhun-
h undert s so wie für den des 15. Jahrhunderts einer bei der Aus-
mündung der alten linksmainischen Frankfurter Strasse, der Ueber-
fahrtstelle nach dem gegenüberliegenden Orte Weisenau oberhalb
Mainz, unter dem Namen »Bei dem guten Manne« vorhande-
nen Station, deren Ursprung, dieser Benennung nach zu schliessen,
wohl auf eine ehemalige Capelle und Clause eines Einsiedlers
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Naesaulscho AlterthumsBchriften. Bd. VITT.
117
zorückzunlbren ist, wolcher nach der Sitte früherer Zeiten die ein-
sam ihre Strasse dnrch Wald nnd Feld daher ziehenden Wanderer
liebreich anfnahm und bewirthete, wie solches insbesondere ans
dem Leben des hl. Goar am Rheine berichtet wird, woselbst noch
jetzt Neuwied gegenüber eine Capelle zum guten Manne bekannt
?enng ist. Auch in der Nähe von Frankfurt in der Taunusgegend
bei Oberursel ist, wie uns Herr Staatsarchivar Prof. Kriegk dahier
mittheilte, diese Benennung urkundlich nachweisbar.
Dem äussern Umfange, dem gediegenen Inhalte und der Fülle
«chStzbarer theologisch-archäologischer Beiträge zur altchristliohen
Alterthnmskunde nach weit bedeutsamer als die vorerwähnten
topographisch - epi graphischen Bereicherungen der heidnischen Ur-
geschichte der Rheinlande, führen uns die »Archäologischen
Bemerkungen über das Kreuz, das Monogramm Christi,
die alt-chriB tlichen Symbole, das Crucifixc von Herrn
P. J. Münz, Caplan zu St. Leonhard dahier (8. 847 — 558), auf
das Gebiet eines Studiums , welches im Bereiche der Alterthums-
hrade wie in dem Gebiete der Theologie eine Zeit lang vernach-
lässigt, erst in dem letzten Decenninm wieder mehr sowohl auf
katholischer wie protestantischer Seite unter dem Vortritte des
zelebrten Cavaliere de Rossi in Rom einen neuen Aufschwung und
<mrch die fortschreitende Ausbeutung der Catakomben zugleich auch
für fast alle Disciplinen der Theologie eine früher kaum geahnte
Bedeutung .und Wichtigkeit erhalten hat. Haben auch die Ge-
richts- und Alterthumsforscher am Rheine in den letzten Jahr-
hunderten die altchristlichen Denkmäler neben den altheidnischen
nicht pranz unbeachtet gelassen , haben insbesondere die altchrist-
lichen Inschriften des Rheinlandos zuerst auch in dem 1849 ver-
dorbenen Dr. Lorsch zu Bonn bei verschiedenen Gelegenheiten
Hnen eifrigen Bearbeiter gefunden, dessen Bemühungen Steiner
bekanntlich in seinen beiden Sammlungen fortzusetzen und zu con-
eentriren bemüht war, so hat doch der zwischenzeitlich durch
▼eitere Funde stets anwachsende 8chatz altohristlicher beschriebe-
ner nnd unbeschriebener Denkmäler erst durch die preisgekrönte
Sammlung aller christlichen Inschriften des alten Galliens vor dem
Jahrhunderte durch den Franzosen Eduard Le Blant auch für
die Urgeschichte des Christenthums am Rhein die rechte Grund-
lage gewonnen. Im Anschlüsse an dieses Sammelwerk, welches sich
•farch eine Fülle der schätzbarsten aus der umfangreichen Belesen-
heit nnd reichen theologischen Kenntniss des Verfassers geflossenen
Forschungen auszeichnet, haben die von uns dem VIT. Bande der
^assanischen Annalen einverleibten Zeugnisse über »die ältesten
Spuren des Christenthums am Mittelrhein c die monumentalon
bellen zu einer Urgeschichte des Christenthums am Rheine mit
Aminen zu stellen versucht, welchen eine emeuete Betrachtung
4er historisch tiberlieferten Thatsachen anzuschliessen bestimmt
'«d vorbehalten ist. Indem nun einerseits die von Herrn Dr. F,
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118 Ifitsauische
vm. Bd.
Kraus zu Pfalzel bei Trier angekündigte Sammlung der christlichen
Inschriften der Rheinlande bis zum 11. Jahrhundert herab ein
tpigraphisches Urkundenbuch zur Geschichte der christlichen Kirche
am Rheine zu liefern verspricht, hat die vorliegende (auch in Com«
mission bei Hamacher dahier im Separatabdrucke erschienene)
Schrift des Herrn Münz nicht blos unsere vorerwähnte Zusammen-
stellung vielfach vervollständigt, sondern insbesondere anoh durch
systematische Einreihung und archäologische Betrachtung dieser
Alterthümer im wissenschaftlichen Zusammenhange der altchrist-
lichen Symbolik in wünschenswerther Weise beleuchtet und somit
den von uns in Aussicht gestellten Commentar in weit umfassen-
derer Weise als es von uns hätte geschehen können, herzustellen
vermocht. Ausgehend von der Betrachtung des Kreuzes im All-
gemeinen und dessen ältester Form , insbesondere der muthmasa-
liohen Gestalt des Kreuzes Christi wendet sich die Untersuchung
zunächst den ersten Kreuzbildern bei den Christen zu, erörtert
die Bedeutung der Kreuze auf altohristlioben Funden vom Mittel-
rheine und geht sodann zu einigen Bemerkungen über das Thail-
and Henkelkreuz über. Der VII. Abschnitt betrachtet weiter
das Monogramm Christi und seine Varietäten (Seite 371-~403),
deren im Ganzen 76, worunter mehrere neue, bis jetzt noch gar
nicht abgebildete, nachgewiesen, in einer bis jetzt, so viel uns be-
kannt, noch nicht erreichten Vollständigkeit zusammengestellt und
im Einzelnen mehr oder weniger ausführlich besprochen werden.
Während die Tafeln I und II sowie die denselben entspreehenden
Erklärungen S. 374^399 eine Zusammenstellung der Monogramme
der äussern Form nach bieten, gibt S. 100—403 eine chrono-
logische Uebersicht derselben im Anschlüsse an die Insobriften-
werke von de Rossi und Le Blaut. Weiter sohliesat sich im VIII.
Abschnitte eino erörternde Aufzählung der gebräuchlichsten alt-
christlichen Thiersymbole, insbesondere des bedeutsamsten aller,
des Fisches (S. 422—432) an; dann reihen sich die symbolischen
Pflanzen, wie der Baum überhaupt, vornehmlich aber Palme, Zweig
und Kranz des Oelbaumes, Lilie, weiter Anker, Bing, Lampe, Wage,
SchiiT, Dreieck, ßterne und endlich Alpha und Omega. Von Ab-
schnitt IX. an wird zum erstenmale sodann eine ausführliche kri-
tische Geschichte des Kreuzes und Cruci fixes gegeben, daKipping,
Lipsius u. a. m. sämmtlioh in dieser Beziehung als unkritisch er-
klärt werden müssen nnd ihr Werth zumeist nur in der Menge des
gesammelten Materials besteht. Es werden dabei zunächst die
verschiedenen Formen des Kreuzes, die Verzierungen desselben, die
Lammesbilder, endlich das eigentliche Crucifix betrachtet, die be-
kannte Crucifixescarrikatur mit dem Eselskopfe besprochen, die
ältere Form der Crucinxe erörtert, der Unterschied in den Crucifix*
darstellungen der morgen- und abendländischen Kirche hervorge-
hoben und mit der Besprechung einer Anzahl alter Crucinxe vom
Mittelrheine geschlossen, von welchon die beigegebenen Cruciftxr
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Niesaniftobe Altefthtunaschriften. YHL Bd.
tafeln meistens die Abbildungen solcher bieten, die bis jetzt in
Museen und Sakristeien unbeachtet lagen. Bei dieser reichen Fülle
des Stoffes müssen wir uns auf einige Einzelbemerkungen beschrän-
ken, zu deren Mittheilung die Güte des Herrn Verfassers theilweise
in den Stand gesetzt hat. Zuvörderst mag bemerkt werden, dass
das schräge oder Andreaskreuz, welches als erste Kreuzesform noch
aufgeführt wird, weniger wohl als eine eigentliche Form des Kreu-
zes, denn als ein Arcansymbol anzusehen ist, wie der Verf. selbst,
in einer unter der Ueberschrifb : »Zur Geschichte des Kreuzes und
Crucifixes« in dem Mainzer > Katholiken« demnächst erscheinenden
beaondern Arbeit zu berichtigen veranlasst ist« Wenn der Ver-
fasser S. 361 im Allgemeinen und auf den hl. Chrysostomus sich
berufend, sagt, das Kreuz Christi sei hoch gewesen, so ist dieses,
da hoch ein relativer Begriff ist, wohl dahin zu präcisiren, dass
es nicht höher gewesen sein kann, als ein Mensch mit emporge-
recktem Arme und einem 2 — 3 Fuss langen Stängel auszulangen
bat, um den Mund des Gekreuzigten zu erreichen. Denn nach
der Leidensgeschichte reichte ein Soldat dem Heilande den Wein-
essig, o£o$, auf einem Ysopstängel: der Ysop aber wird im Mor-
genlande nur 2—8 Fuss hoch. — S. 363 ist gesagt, dass seit dem
fast gänzlichen Untergange des Heidenthums (seit dem 5 — 6. Jahr-
hunderte) das Kreuz häufiger auf öffentlichen Denkmälern begegne*
Daneben war indessen zu bemerken, dass auch auf öffentlichen
Denkmälern und Grabsteinen in Afrika das Kreuz schon gegen
Ende des 3. Jahrh. ziemlich häufig vorkommt. — - S. 404 ist noch
beixnfügen, dass die Erklärung der Symbole nicht blos im Mittel-
älter bedeutende Männer beschäftigte, sondern dass sohon Melito,
Bischof von Bardos (f gegen Ende des 3. Jahrhunderts), ein Werk
Eber christliche Symbolik unter dem Titel »clavis sacrae scripturae«
Terfa&Bt hat. — S. 448 ist nachzutragen, dass ein Kreuz als Lebens-
baum aus dem 14. Jahrhunderte in der Marienkapelle zu Würz-
burg im spitzen Winkel abwärts gebogene Aeste hat, und dass
über das Kreuz als Lebensbaum insbesondere auch Piper im evan-
gelischer Kalender für 1863 gehandelt hat — S. 455 scheint,
-r ganzen Zusammenstellung nach, die Lammesfigur Taf. V. Nr. 8
in's 6. Jahrhundert herabgerückt, während dieses Bild nach Garrucci
and Martigny (dict. p. 626) doch dem 2. Jahrhundert angehört
Es zeigt freilich das Grabmal des 423 gestorbenen Kaisers Hono-
riua zu Häven na eine ganz ähnliche Darstellung auf, allein dieses
ist kein Grund, auch vorerwähntes Bild ins 6. Jahrhundert herab-
airttcken. — S. 481 heisst es, der hl. Cyprian, welcher noch Kreu-
zigungen gesehen hatte, sage, dass (zwei) Nägel die hl. Füsse"
durchbohrt hätten. Diese Stelle wird aber diesem Heiligen fälsch-
-b zugeschrieben, da die Schrift de passione domini, welcher sie
entnommen ist, nicht von dem hl. Cyprian, sondern erst in der
Zeit nach ihm verfasst ist. Ganz neu, aber schlagend ist der
3. 482-485 erbrachte Nachweis, zu welcher Zeit in der »bendp
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1*0 Naswnilselie Alterthtimanchriften. "VITT. Bd.
ländiscben Kirche die Crucifixbilder mit drei Nägel aufgekommen
sind. — Unter den stehen gebliebenen Druckfehlern erscheint als
am meisten den Sinn störend S. 478. Z. 1 v. n. ctaoiad&ai statt
xoucä&ai bei Ableitung des Wortes onocoötes. Wiewohl nnn ins-
besondere zn dem Abschnitte über die Symbole/ bei welchen der
Verfasser in möglichst wenigen Worten möglichst viel zu sagen
sichtbar bestrebt ist, noch Manches nachzutragen wäre, so schliessen
wir doch hiermit unsere Bemerkungen, da der Verfasser selbst, so
viel wir wissen, eine umfassendere Separatumarbeitung besagten
Abschnittes mit besonderer Berücksichtigung der altchristlichen
Alterthtimer in den Museen der Rheinlande beabsichtigt.
Vorerwähnten mehr antiquarischen Untersuchungen schliessen
sich in würdiger Weise die speziell historischen Beitrage an, welche
tbeilweise als Fortsetzungen einzelner in den vorhergehenden Blin-
den der Annalen niedergelegten Forschungen anzusehen sind. Vor-
anzustellen ist darunter die S. 157—292 mitgetheilte Arbeit des
durch anderweitige kirchengeschichtliche Beiträge, insbesondere zur
Geschichte der Reformation in Nassau auf diesem Felde bereits be-
wahrten Herrn Prof. Nebe am theologischen Seminar zu Herborn,
welche unter der Ueberschrift »Die heilige Elisabeth und
Egbert von Schönau« zwei Lebensbilder aus dem 12. Jahr-
hunderte entrollt, die einerseits einen vollen Einblick in die tiefe
religiös-mystische Glaubensglutb der Zeit eines hl. Bernhard von
Clairveaux und einer hl. Hildegard vom Ruppertsberg, der Freun-
din der Schönauer Seherin, andererseits hinwieder in die, durch
eine unglaubliche Menge der mannigfachsten Ketzereien und Sokten
sich beurkundende, zügelloseste und wildeste Verirmng derselben
Glaubonserregtheit eröffnen. Die Arbeit des Herrn Nebe hat uns
von Neuem in der Ueberzeugung bestärkt, dass die Ketzergescbichte
jener Periode noch lange nicht in dem wttnscbenswerthen Umfange
aufgehellt und namentlich die Wirksamkeit einzelner ihnen gegen-
über thätigen Apologeten der Lehre der Kirche, wie Egberts von
Schönau, noch bei weitem nicht allseitig genug gewürdigt ist, wel-
cher letztere insbesondere durch innige Glaubenstreue und theolo-
gische Gelehrsamkeit uns ebensosehr imponirt, wie durch seine
scharfsinnige Gewandtheit und seinen unerschrockenen Muth : welch'
hohe Bedeutung seine Schriften , vor allem die S. 261 ff. ihrem
Inhalte nach näher dargelegten Ketzerreden für die innere Geschichte
der Kirche in jener Zeit haben , bedarf darnach keines besondern
Beweises. — Wie hier zur Kirchengeschichte, so liegen auch zur
politischen Geschichte Nassau* s nicht minder interessante Beiträge
weiter in den Arbeiten der Herrn Conrektor Colombel zn Ha-
damar und des Herrn Assessors "Dr. Petri zu Wiesbaden vor.
Ersterer, der schon bei Gelegenheit der tausendjährigen Jubelfeier
des Hrabanus Maurus im Jahre 1856 in dem Osterprogramme
des Hadamarer Gymnasiums das Leben dieses ersten Lehrers
Detttschlands der studirenden Jugend zur Nacheiferang vorgeführt
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Nassaulsehe Alterthum «Schriften. VITT. Bd. 121
hatte, wandte seine Studien ganz der nassauischen Geschiente zn
und fasste dabei die Geschiebte einerseits der vier Mainzer Erz-
bischSfe ans dem gräflichen Hanse Nassau, andererseits der Wal-
ramischen Linie dieses Regentenbauses besonders ins Auge. Als
Früchte seiner bezüglichen Forschungen erschien zuerst in dem
Osterprogramm des besagten Gymnasiums von 1861 eine »Ein-
leitung zur Geschichte der vier Grafen von Nassau auf dem Erz-
«tuhle zn Mainz « (24 S. in 4.), deren günstige Aufnahme bei den
competen testen Benrtheilern Deutscher Geschichte den Verfasser ver-
anlasste, schon 1862 einen weiteren Beitrag in der Darstellung des
»Kampfes des Erzbiscbofes Gerlach von Nassau mit. Heinrich von
Vieneburg um das Erzstift Mainz« (34 S. in 4.) folgen zu lassen.
Daran reihte sich S. 73 — 194 des 2. Heftes dos VIT. Annalen-
bandes eine »Geschichte des Grafen Gerlach I. von Nassau« als
erste Vorarbeit zu einer urkundlichen Geschichte der besag-
ten Walramischen Linie, der sich jetzt im vorliegenden Annalen-
bande S. 293 — 346 unter der Ueberschrift »Der Sternerb und
und Graf Ruprecht der Streitbare von Nassau« eine
zweite derartige Vorarbeit ebenbürtig anscbliesst. Mit besonde-
rer Beziehung auf Nassau ist sodann auch S. 107 — 156 »Die
Judenverfolgung in derMitte des XTV. Jahrhunderts«
dargestellt. Alle diese Monographien empfehlen sich, soweit wir
zu prüfen vermochten, mehr oder weniger dnreh das allseitige Fest-
halten der Beziehung des Einzelnen auf den allgemein-historischen
Hintergrund, durch kritische Ausnutzung der Qnellon und befriedi-
gende Verarbeitung des Stoffs bei einer unbefangenen Auffassung
und ruhigen klaren Darstellung der urkundlichen Thatsachen. Möge
es dem gelehrten Verfasser gelingen auch die Geschichte des für
die bis 1462 freie Stadt Mainz so verhängnissvollen Streites der
beiden Gegen er zbiseböfe Diether von Isenburg und Adolph von
Nassau um den Mainzer Erzstuhl in gleicher Weise aus den ur-
kundlichen Quellen mehr, als bis jetzt geschehen ist, aufzuklaren
und darzustellen ! — Auf ein ganz anderes Gebiet nassauiseber Ge-
schichte führt uns schliesslich die S. 3 — 99 unter der Ueberschrift
»Der Auszug der Rheingauer auf den Wachholder«
von Herrn Dr. Petri theiiweise nach, archivalischen Quellen be-
arbeitete Episode aus der Geschichte des Deutschen Bauernkrieges
von 1525, deren Verlauf und Ausgang, wenn auch nach dem Cha-
rakter des Landes und den lokalen Verhältnissen modifizirt und
nicht so blutig, wie die übrigen damaligen Bauernaufstände, doch
im Ganzen dieselben Endresultate aufzeigt: ein weit härteres Loos
för die Bauern und völliger Untergang der alten Freiheiten und
Gerechtsame des blühenden Rheingaues.
Frankfurt a. M. J. Becker.
Digitized
122 Schriften rar btdiflchßn Va torlAndakund e<
/J Badische Vaterlandskunde. Ein Lese- und Lernbüchlein für
Schulen und die Jugend überhaupt, bearbeitet van J, G. F.
Pflügery Gr. Bad. Oberschulrath. Mit einer Karte. Dritte
Auflage. Lahr, Druck und Verlag von J. H. Krüger. 1867.
164 S. 12.
3) Geographie vom Grossherzogthum Baden, nebst einer kurzen
Geschichte desselben. Von Dr. J. G. Molitor. Mit 20 Ab-
bildungen. Lahr. J. H. Geiger 1867. 189 8. 16.
Beide oben aufgeführte Schriften sind ein erfreulicher Beweis,
dft8S in unsern Tagen die schriftstellerische Unterweisung in vater-
ländischer Topographie und Statistik selbst für die Elementar-
schulen nicht dem Zufalle, oder irgend welchem »Pastor minorum
gentium« als Aufbesserung des unzulänglichen Gehaltes durch einen,
wenn auch noch so geringen literarischen Ehrensold überlassen
wird, sondern dass Männer von allgemeiner wissenschaftlicher Bil-
dung und hervorragender Stellung ihre Beiträge darzubringen nicht
verschmähen.
Eine ähnliche Erscheinung für Hessen ist in diesen Jahr-
büchern jüngst schon besprochen worden; Prof. Kleins »Grossher-
zogthum Hessen historisch uud geographisch für Schule und Haus.«
I. Die erste der beiden Schriften erscheint nun, nach
einer Frist von acht Jahren in dritter Auflage, was wir als einen
Beweis begrüssen, dass ihr die T heil nähme eben so entgegen kam,
wie sie einem Bedürfnisse entgegenzukommen bemüht war.
Die Einrichtung der vorliegenden Auflage ist gleich geblieben];
der Stoff hat sachgemässe Vermehrung erhalten.
Die Eintheilung in einen topographischen Theil (»ausführliche
Beschreibung«), eine statistisch-geographische Uebersicbt (»Geogra-
phisches«) und eine geschichtliche Darstellung (»Geschichtliches«)
ist zweckmässig und hat namentlich für den Selbstunterricht eine
sachgemässe Steigerung des Interesses. Die ausführliche Beschrei-
bung, welche in der Richtung von Süden nach Norden, vom Boden-
see zum Hegau, der Baar, dem obern Rheinthal, Werra- und Wiesen-
thal, Breisgau und Ortenau, Schwarzwald, Pfalz, bis zur Berg-
strasse und dem Odenwald in 24 Abschnitten das ganze Land
umspannt, ist anziehend, selbst anmuthig mit den Gaben der Dich-
tungen von Schwab, Kerner, Mathisson, Hebel, Wessenberg n. A.
geschmückt uud ganz geeignet, dem Gedächtnisse sich einzuprägen.
Das Wesentlichste über Land und Leute ist in dieser Abthei-
lung gegeben und wir haben nur Weniges, theils ergänzend theils
berichtigend beizufügen, um dem Verf. das Interesse zu bethätigen,
mit welcher wir seiner Arbeit gefolgt sind.
S. 4 hätte bei dem Fischreichthum des Bodensees auch der
Brachsmen erwähnt werden können, von welcher — der Seezunge
ähnlichen Art der Weissflosser 1858 ein Ermatinger Fischer in
einem Zage 30 Centner, also bei 5000 Stück, fing und 1867 gar
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Schrift» zur badischen Vaterland skunde. * 128
- wenn den Zeitungen zu glauben ist ■— zwei Thurgauer Fischer
in zwei Zügen 140 und 800 Centner gefangen haben.
3. 5 hätte wohl auch der Verteidigung der Stadt 1633 gegen
die Armee des Feldmarschall Horn erwähnt werden können, bei
welcher die in weniger als 100 Jahren an den Katholicismus wie-
der gewöhnten Bürger vom 8. September bis 2. October (b. 8t.)
die schwache österreichische Garnison aufs Mannhafteste unter-
stützten.
S. 7 hätte Mersburg als ehemalige füratbischüflicho Residenz
bezeichnet werden sollen, da die grössten Häuser der Stadt das
Schullehrer-Seminar und das Taubstummeninstitut, letzteres das
neue Besidenzschloss, erste res das bischöfliche Priesterseminar waren,
und das alte Schloss noch früher die Bischöfe beherbergte.
S. 6 bei Reichenau ist statt > liegt Karl der Dicke« begraben,
leider das Imperfectum zu setzen, da die Gebeine des Kaisers von
eiiem badischen Baupraktikanten aus dem Grabe entfernt wor-
den sind.
S. 18 hätte wohl zur Aufklärung des sonst schwer zu er-
klärenden Zftringi sehen Besitzes angegeben werden können, dass
Hohentwiel in ein Kloster zum hl. Georg umgewandelt wurde,
dessen Körperschaft nachher nach Stein am Rhein verpflanzt, dessen
Güter an Bamberg verschenkt wurden und schliesslich grössten-
teils in die Hände der Hamberg1 sehen Schirmvögte, eben der
Herzoge von Zarin gen gerioth, nach deren Ausgang die Herrn von
Klingenberg Klostervögte wurden, die den Twiel an Wirtemberg
Terkauften.
8. 20 begegnen wir den in einem Schulbuche störenden Druck-
fehlern >Zurzt« statt Zurze und »Aecke« statt »Ancke.f
Zu S. 34 hätten wir gerne hervorgehoben gesehen, dass das
einfache Hebelhaus durch Beiträge aus Schopfheim und Umgegend
m einem Versorgungshause für arme Greise umgewandelt ist.
S. 44 ist wohl die Geschichte der Gefangennahme Berbtolts
nnd Conrads von Urach zu Oöln als Pfand für die Wahlkosten
ihres Oheims Berhtold V. von Zaringen mit der Gefangennehmung
Berbtold III. von Zäringen vor Cöln verwechselt; — jene blieben
to Cöln, dieser wurde vom Grafen Dietrich von Are gefangen ge-
halten. Uebrigens bedurfte er eines Aufenthalts zu Cöln nicht, um
Cölner Recht kennen zu lernen, es sorgte dafür der Verkehr und
dass Muster bestehender Städte gerne zur Nachahmung jüngerer
Stiftungen und Gründungen gewählt wurden, geht z. B. aus dem
Briefe Otto III. für Villingen 999 hervor, welche > Villa« damals
Markt und Münze Constanzer Gewäges erhielt. Auch ist durch
H. Sehreiber's Forschungen erwiesen, dass nicht Berhtolt HI., son-
<krn sein Sohn Konrad Freiburg mit dem Stadtrecbte begabte.
Der Erbfall der Stadt an die Freiburger Linie der Grafen
▼on Uraefc und ibr Loskauf von der letztern, wegen deren Be-
drückung und schlechten Wirtschaft, so wie die Putenwrfung
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124
Solu-itten ror hadtschan AlterthumsVuncle.
unter das ländergewinnende Oesterreich jener Zeit, hätte schon er-
wähnt werden dürfen , ohne Besorgniss , dem Gedächtniss zn viele
Details aufzubürden, da der Gewinn für die Kenntniss der Cultur-
geschiebte der damaligen Zeit nns bedeutender erscheint, als diese
kleine Unbequemlichkeit.
Auch hätte wohl dio Erstürmung des Schlossberges durch die
Bauern und die Schlacht am Schönberg gegen Mercy einige Worte
vordient, vielleicht auch bei Falkenstein die Zerstörung der Burg
wegen einer unerhörten Gräueltbat gegen einen armen Hintersassen
von Freiburg, welcher von den Fenstern des Herrenhauses über die
Felsen in die Tiefe gestürzt wurde ; eine Schauergeschichte, welche
nach der einfachen und darum um so ergreifendem Sprache der
Akten H. Schreiber zuerst bekannt gemacht hat.
Bei Breisach S. 55 war der Erwähnung tvertb, dass die Stadt
orst durch Aendemng des Rheinlanfes auf das rechto Ufer kam,
weil dadurch die schwankenden Verhältnisse des Flusseslaufes der
Jugend zugleich wirksam dargestellt werden konnten ; auch hätte
bei der Lintburg (S. 57) der Tod Hartmanns, des Lieblingssohnes
Rudolfs von Habsburg, erwähnt werden mögen , der erste düstere
Schatten, der in das heitere Leben des alternden Kaisers fiel.
S. 64 ist die Burg Oborwolfach oder das eine Stunde weiter
aufwärts liegende Valchenstein , welches jetzt kaum mehr erkenn-
bar und kaum je der 8itz eines namengebenden Geschlechtes war,
mit den mächtigen Trümmern der stattlichen Ritterburg Falcken-
stein , dem Sitz eines freiherrlichen Geschlechtes , im Berneck-
thal bei Scbramberg verwechsolt , wo Herzog Ernst von Schwa-
ben im Kampfe gegen seinen Vater Aufenthalt fand, bis der
Verlust der Stroithengste ihn nöthigte, in die nahe Baar auszu-
brechen, wo er im Kampfe mit Manegold von Nellenburg seinen
Tod fand.
Bei S. 71 hätten wir die Andeutung gewünscht, dass die See-
nixen eben jene Mummeln (vgl. vermummen u. s. f.) seien, von
denen der See den Namen hat. Ebenso hätte S. 76 die Teufels-
fund Engelskanzel) klarer bezeichnet werden dürfen, als durch die
Worte, »einem steilen Felsen, an den sich eine interessante Lage
knüpft.«
S. 89 musste unter den Stätten der Strohflechterei Lenzkirch
erwähnt werden, wo die Herren Faller Tritscheller u. Comp, seit
1824 die Fabrikation Florentinischer Strohhüte — eine Zeit lang
auch aus ScbwarzwJÜder Stroh — betreiben, eine Handelsgesellschaft,
die von hier aus auch das grosse eigene Fabrikwesen zu Vallonara bei
Vicenza leitet. — Dass auf dersolben Seite die erste Glashütte des
Schwarzwaldes in das 16. Jahrhundert gesetzt wird, ist wohl irrig,
da schon im 14. Jahrhundert von einer eingegangenen Glashütte
bei Gtindelwangen urkundlich die Rede ist.
Dass S. 104 die 400 Pforzheimer bei Wimpfen mit ihrem
Bürgermeister Berthold Deimling wieder der Geschichte vindicirt
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(Schriften der badiachen Alteithumakundc.
126
werden, ist um so mehr auffallend, je klarer der Verfasser in
seiner Geschichte von Pforzheim &ich über diesen Gegenstand ver-
breitet hat.
S. 130 musste — nach der Jahreszahl der 3. Auflage — die
Zeit, seit Mannheim als Festung — und Stadt — angelegt wurde,
auf 260 Jahre — eigentlich 261 — statt 250 bestimmt werden.
Im geschichtlichen Theile haben wir nur S. 155 die Schreibung
Constanzia st. Constantia zu verbessern gefunden und bei Erwäh-
nung der Bömerstädte die bedeutenden Niederlassungen bei Neuen-
heim-Heidelberg, deren Namen bis jetzt noch ein Rüthsei ist, und
Lupodunum = civitas Ulpia, das heutige Ladenburg, und etwa auch
Sanctio-Säckingen, Tarodunum-Zarten und das namenlose Abuoba-
bad Baden weilcr vermisst.
Es sollen diese Bemerkungen dem Herrn Verf., wie gesagt,
uur ein Beweis sein, mit welcher Aufmerksamkeit wir seiner Schritt
gefolgt sind und wir hoffen, dass ihm recht bald, anlässlich einer
4. Auflage Gelegenheit werde, dieselben zu prüfen und zu be-
rücksichtigen. Eine Karte Badens bildet eine wünschenswert he
Beigabe.
U. Die zweite der genannten Schriften hat eine
strammere, schulgemässere Einrichtung und Anlage, die oft, z. B.
5. 43—52 bei der Nomenclatur der Gebirgsarten und Gesteine an
das Gebiet des streng Wissenschaftlichen anstreift und nur dann
Früchte, dann aber auch schöne, bringen wird, wenn ein strebsamer
Lehrer sich in dieselbe vertieft hat und dann durch die Anschauung
and Erklärung der Vorkommnisse des Heimathsorts die Schüler
und Schülerinnen in die Gebiete der Naturgeschichte einführt.
Sie beginnt mit einem Ueberblick des gesammten Grossher-
zogthums, seinei Lage, Grenzen, Grösse und Form, theilt dann
dasselbe in der Bichtung von Süden nach Norden (Oberland und
Unterland) nach den Gruppen der Gebirge, Hochebenen, See- und
Flussthäler ein, führt bei jeder dieser Abtheilungen die bedeuten-
den Wohnorte, die naturgeschichtlichen Vorkommnisse, die land-
wirtschaftlichen, industriellen und volkstbümlichen Erscheinungen
auf, gibt bei diesen Abschnitten von Zeit zu Zeit eine Erklärung
der Ausdrücke der natürlichen und politischen Goographie in eben so
ansprechender als nutzbringender Weise. Auf diese Beschreibung
des Landes folgt sodann die Aufzählung der Landschaften (Gaue)
mit besondern Namen, folgen die Namen der Gebirge und Pässe,
wobei freilich einige Wiederholungen unvermeidlich sind, und schliesst
dieselbe sodann mit einem geschichtlichen Ueberblick der Geschicke
des Landes sowohl, als des regierenden Fürstenhauses. .
Eine Karte des Landes ist beigegeben, wie bei der PflUger'schen
Schrift, und eine Anzahl von Abbildungen, bei welchen freilich manch-
mal das Bild der jetzigen Wirklichkeit nicht mehr ganz entspricht,
x. B. Konstanz, wo noch die hölzerne Bheinbrücke, der Münsterthurm
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116
mit drei Aufsätzen, Mainau, wo noch der hölzerne Steg zu sehen
ist, der Heiligenberg n. s. f.
Haben wir dem Büchlein des Verfassers nach Inhalt and An-
lage unsern Beifall nicht versagen können, so glauben auch ihn
wir auf einige Unrichtigkeiten und Mängel aufmerksam machen zu
sollen, weil gerade in einem Schulbuche solche Fehler doppelt ge-
fährlich sind, da eben der Schüler sie nicht vorbessern kann.
So scheint uns die Eintheilung der Linzgauer Berge in drei
Gruppen (Heiligenberg, Höchsten und Göhrenberg) nieht richtig.
Der letztere ist ein von dem genannten Gebirgszug völlig isoiirter
Berg, der Höhenzug aber bildet von Hoohbodmann bis zum Höch-
sten eine mauergleiche zusammenhängende Höhestrasse mit darüber
gebreiteter wellenförmiger Hochebene, die von tiefgefurch ten Schluch-
ten und Thälern durchzogen ist. Bei den geognostisohen Bestand-
teilen des Höhenzuges war die Breocie und Nagelfluhe nicht zu
übersehen, aus welcher z. 13. die Felsen der Freundschaftshöhle
bei Heiligenberg, bei der Egge n. s. w. bestehen.
Bei der Eintheilung der Hardt (§. 10) hätte wohl die Eeke,
woher Emmingen ab Egg, die Schera, woher der alte Scheragan
und die Stadt Scheer den Namen führen, erwähnt werden «ollen.
Die Kammerboten Erchanger und Berchtold (S. 11) wurden
zu Bodman n weder gefangen genommen noch enthauptet. Ersteres
geschah auf dem Ooncil zu Altheim im Riess, letzteres
an einem — noch nioht mit Gewissheit bestimmten — Orte
»Adinga.«
8. IS hätten wir statt Schonolitberge (wohl Druckfehler
statt Phonoli thberge) lieber das deutsche Klingstein b. gewünscht,
— das griechische Wort hätte in eine Parenthese verwiesen wer-
den sollen. Die Lage des Wartenbergs »bei Neidingen« ist
minder richtig als bei Geisingen, welches Städtchen gerade am
Fuss des Berges liegt, während jenes Dorf durch die Donau von
demselben getrennt ist.
S. 14 hätte der Burgherr, dessen Ueber fülle der Katholiken
die Zerstörung von Hohenhöwen veranlassten, als Graf von Pappen-
heim bezeichnet werden dürfen. Wie Herzog Ulrich auf dem
Hohentwiel Zuflucht suchen und finden konnte, hätte durch die Ge-
schichte des Anfalls an Wirtemberg (s. o. bei Pflüger) seine Er-
klärung finden können.
Undeutlich ist S. 15 die Stelle über den Bauernkrieg. Der
Heg au er Haufen hatte nur Bedeutung gewonnen, als der Stü-
lingenscho sich zu Hilzingen mit ihm vereinigt hatte. »J.Müller
von Bulgenbach bei Staufen c war Anführer eines Schwarz-
wälder, nicht Hegauer Haufens ; seine Heimath Bulgenbach liegt
an einem Seitenhange des Mettmathais unfern der zum Schwarzathal
abfallenden Berggemeinde Staufen (natürlich von der gleichnamigen
St«dt im Breisgau scharf zu sondern). —
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QaUAn« Jljkm 1«* J In „L.« i t< .,11, u_
ocnnnen aer DaaiBcnen Alten nnrnsKttnae.
Zu 8* 19 bemerken wir, dass die Stelle »in Mittelzell ist die
Grabstätte Kaiser Karls des Dicken« unverständlich ist ohne eine
Vorbemerkung, dass anf der Insel 8 Pfarreien bestehen, »Unter-
teil« gegenüber dem Eingang in den Zeller See, »Mittelzell« oder
»Münster« anf der Mitte der Insel und »Oberzell« oder »St. Peter«
am südlichen Ende der Insel.
Wenn S. 20 die Stelle : » Die Feiehen nnd Gangfische sind dem
Bodensee eigen thumlich« heissen soll, dass sie nur im Bodensee
Torkommen, so ist dieses irrig, denn der Ferra im Genfer See ist
ganc gleich dem Feiehen (Ooregonus oder Salmo Wartmanni). Unter
den Fischarten hätte jedenfalls der Braohsmen (Abramis) aufge-
jähH werden sollen; — sein Vorkommen, s. o. bei Pfluger, be-
rechtigt ihn dazu.
Za 8. 14 bemerken wir, da wir von einer römischen Be-
satzung in Constanz bis jetzt keine Spur haben, so müssen wir
das Cohortenzoichen des Hasen, woraus der »Seehase« Bich gebil-
det haben soll, dem Gebiete der Fabel überlassen nnd zwar der
Ton den Gelehrten erfundenen und im Volke verbreiteten.
Die Worte Henlin, statt Henglin = Ugolino, S. 27, Saimons-
weiler, statt Salmansweiler, S. 28, Neukrenklingen, S. 83, statt
Keukrenkingen und Katarakt statt Katarrhakt sind Ueber sehen, die
wohl dem Drucker zur Last fallen, sowie Gaisingen S. 36 statt
Gisingen (Gisinga) , 8. 86 , und Kettach statt Köthach , 8. 37,
Roggenstein statt Rogenstein S. 42.
Bedenklicher aber ist es, wenn S. 26 die Aach bei RadoJph-
zell in den Untersee fliesst, während es eine Stunde seeabwärts bei
Ueberlingen am Riede geschieht, wie überhaupt S. 33 der Ur-
sprung und Lauf der Aach — welche gewöhnlich die Beurener,
— tob Beuren unter Krähen — genannt wird, so geschildert wird :
»Sie hat mehrere Quellen: die eine ist bei dem alten Schlosse
H "reneck , die andere beim Dorfe Haltingeu, sie vereinigen sich
bei der s. g. Thalmühle und ziehen über Engen. Bei Hohentwiel
!-'/2 Stunde von der Quelle!] erscheint die dritte Quelle, welche
dem Stadtchen Aach entläuft [dieses liegt l/\ Stunde oberhalb des
Dorfes Aach, durch welches der jugendliche Flnss strömt] nnd nun
ziehen sie vereint dem Untersee zu.« — Richtiger ist gleich in
den nächsten Zeilen die Hauptquelle als beim Städtchen Aach
befindlich angegeben; nur ist die Volkssage, dass dieselbe das bei
Moringen in das Erdreich versickernde Donauwasser sei, zu kühn
als Wahrheit angenommen.
Dass 8. 83 die Biber bei Wolterdingen [Dorf an der Brege
bei Donaueschingen] entspringe, ist vielleicht Schreib- oder Druck-
^rsehen statt Watterdingen.
8. 34 ist die Weller oder der Wels (Siluris) mit dem Stör
(Stnrio accipenser) verwechselt.
Wenn 8. 88 die Breite des Schwarzwalds von Mtillheim bis
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Schriften der^b&dischen Alterthumekunde.
Achdorf bemessen wird, so ist zu bemerken, dass letzterer Ort
schon zum Juragebiet (Stülinger Alp) gehört.
Sehr bedenklich ist S. 56 der Lauf der Wutach angegeben,
»sie nimmt die aus dem Schluchtsee kommende Schlucht . . später
die Steina und Schwarza auf.«
Dem Schluchsee entströmt die Schwarza und fliesst in
fast unwegsamem Thale bis zur Wiznauer Muhle, wo sie sich mit
der Schlucht vereinigt und ihr den Namen abgiebt. Die letztere
aber entspringt bei Gräfenhausen und nimmt unfern Biedern die
yon Amertsfeld herabfliessende Mettma auf und ergiesst sich unter-
halb Thiengen in die Wutach , während oberhalb des Stadtchens
die ganz in der Nähe der Mettma entspringende Steina mündet.
Der Verf. ist hier wohl durch einen Fehler der Karte im Emmer-
ling' sehen Schwarz wald irre gefuhrt; Gerbert hat die richtige
Zeichnung.
Verwirrend ist S. 59, wenn zuerst von Oberlenzkirch und
Unterlenzkirch richtig gehandelt ist, später aber noch einmal, und
zwar bei Bondorf, Lenzkirch ohne nähere Bezeichnung erscheint.
Wenn endlich bei Mannheim S. 114 gesagt ist, dass es 1605
städtische Rechte erhalten habe, so ist dies irrig; — nur die Be-
dingungen der Güterabtretungen des Dorfes Mannheim zum Behufs
der Erbauung der Feste Friedrichsburg wurden festgestellt und
zugesagt ; auch wurde Frohndefreiboit gegeben, — städtische Hechte
aber erst nach dem Ausbau der Stadt in Aussicht gestellt. Dass
die Stadt 1644 von den Franzosen und Baiern zerstört worden sei,
ist irrig. Es war während der Berennung durch Tilly 1622, dass
der Commandant des OhurfÜrsten, Horace de Veer selbst, eine Reihe
Häuser nächst der Festung zusammeureissen liess ; auch gingen bei
Erstürmung des Neckarübergangs einige Häuser in Flammen auf;
— sonst geschah die erste Zerstörung erst 1689.
Wir schliessen — um nicht die Grenze einer Anzeige zu über-/
schreiten — diese Bemerkungen mit dem Wunsche, dass der Herr
Verf. bei einer zweiten Auflage auf dergleichen Versehen aus dem
obenerwähnten Grunde ein recht scharfes Augenmerk richten möge.
Mannheim, Dec einher 1866.
Fickler.
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fr. 9.
HEIDELBERGER
1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
DU Kirche St. Stephan su Mains. Beschrieben von Karl Klein,
Professor etc. Mainz, Passet 1866. 86 8, 8. Als Beilage zu
desselben „Jubelheß des hochtnürdigen Pfarrers Joh. Peter Merz
tu St. Stephan in Mains." Beschrieben von Karl Klein, Prof.
etc. Mainz. G. Passet 1866. 16 S. 8.
Das Jubelheft fünfzigjährigen Wirkens des oben genannten
Geistlichen als Pfarrer an der St. Stephanskirche zu Mainz, welches
in seinem dreitägigen Verlaufe in der erwähnten Beilageschrift ge-
schildert ist, ei ncs Mannes, den mehr noch als die österreichischen,
prenssischen und hessischen Orden das Wort seines protestantischen
Mitbrnders ehret, »dass er bei aller Treue in seinem Glauben und
bei aller Entschiedenheit fUr das Bekenntniss seiner Kirche , doch
gegen Andersglaubende niemals der Liebe und Milde vergessen
habe, an welcher der Herr die Seinen erkennen will« , gab dem
Verf. Gelegenheit , im Auftrage der Schüler des Jubilars , unter
welche er selbst gehört, die erstgenannte Schrift als Festgabe zu
▼erfassen. Derselbe beschied sich, »aufzuzählen, was gegenwärtig
in der Kirche und in den dazu gehörigen Gebäuden im Innern und
Aenssern bemerkenswert!} erscheint.«
Doch ist mehr, als das Versprochene in der Festschrift ge-
geben, wie gleich Anfangs die Geschichte der Kirche und des da-
mit verbundenen Stifts.
Dieses verdankt seinen Ursprung dem grossen Erzbischofe
Willigis, dem Gründer des jetzigen Domes in der Unterstadt, der
in der obern Stadt 990 dem Märtyrer Stephanus die Kirche baute,
bewidraete und die Kaiser Otto III. und Heinrich II. zu Mitstif-
tungen bewog, so dass um diese Zeit das Stift schon sechs und
dreissig Geistliche zählen konnte.
Dass Willigis in dieser Kirche seine Grablege gefunden, ist
durch die spätere Enthebung der Reliquien desselben bezeugt ; son-
stige Zeugnisse sind nicht vorhanden. Der neben dem Grabe 1714
— im Chor, der Sakristei gegenüber — gesetzte Denkstein ist zu
jung dafür und auch er ist bei der letzten Restauration zu Gninde
gegangen. Ein interessantes Zeugniss könnte aus der bei den Reliquien
befindlichen glockenförmigen Casula des Heiligen (S. 1 7) hergeleitet
werden, wenn wir über die Gleich- oder Vorzeitigkeit dieses Mess-
gewandes bestimmte Nachweisung hätten.
Eine andere Frage ist, ob die Stiftung des Willigis eine ganz
neue sei, oder ob nicht in früherer Zeit schon eine Kirche oder
Kapelle hier bestanden.
LEX. Jahrg. 2. Heft.
9
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Klein: Dia Kirche 8t. Stephan zu Maine.
Dass am die Mitte des vierten und zu Anfang des fünften
Jahrhunderts die römische Garnison und Bürgerschaft christliche
Kirchen gehabt haben müssen, ist nach den Edikten des Constantius
und Juvinianus mehr als wahrscheinlich : dass oben im befestigten
Lager auf dem Kästrich eine solche gefehlt habe, unglaublich. Der
Name Stephanus endlich als Kirchenpatron kann den ältesten Zei-
ten des Christenthums angehören, wiewohl sich nicht in % Abrede
stellen lässt, dass gerade zu den Zeiten des Erzbischofs Willigis
derselbe Heilige in Deutschland in besondere Aufnahme gekommen
zu sein scheint, denn fast um die gleiche Zeit errichtet und be-
widmet der hl. Konrad zu Constanz das Stift St. Stephan.
Gewiss wäre der Verf. , wie kein anderer , der Mann über
diese Verhältnisse , wenn überhaupt möglich , Licht zu verbreite n.
Jedenfalls ist wahrscheinlich, dass Willigis1 Bau nur von Holz ge-
wesen und erst 1049, also 38 Jahre nach dem Tode und der Be-
stattung des Erzbischofs (!) der erste Steinbau an dessen Stelle
trat, an welchem 1099 die Weberzunft im Kästrich die westliche
Halle anbaute, durch welche an Bitttagen Geistliche und Laien
mit der Procession eintraten.
Uns will bedünken, dass dieser Bau nicht so fast den Aus-
bau der genannten Kirche, sondern eine an denselben ange-
baute Vorhalle, Kreuzgang, Porticus, Vorzeichen und wie die
mittelalterlichen Namen alle heissen, bedeute. Gewissheit freilich
wird nicht mehr zu erhalten sein, denn der ganze Bau wurde nach
zwei Jahrhunderten durch einen neuen ersetzt , den jetzigen , zu
welchem Geistlichkeit und Bürgerschaft mit freiwilligen Gaben und
Ablassbriefen aufs Freigiebigste beisteuerten.
Aus dem noch vorhandenen Verzeichnisse hat der Verf. die-
jenige Gerhards zur Bosen (sicher der Name des Hauses auf der
Gangasse, nicht auf eine Bosengasse zu beziehen) hervorgehoben.
Hätte ihm doch der Baum und der Zweck der Festschrift ver-
gönnt, das ganze Verzeichnis* abzudrucken, das sicher für die
Culturgeschichte sehr bedeutsam gewesen wäre.
Es ist dieser Bau die jetzige Pfarrkirche, die im 14. Jahr-
hundert aufgeführt wurde, 1542 ihren hölzernen Thurm durch einen
Blitzstrahl einbüsste, dessen Neubau ursprünglich ein Altan mit
kleiner Thürmerwohnung krönte, die 1740 durch die jetzige Thür-
merwohnung und wahrscheinlich auch die jetzige Bedachung ersetzt
wurde. Als Curiosum mag erwähnt werden, dass die Laterne des
Thurmes von Napoleon I. hin weggenommen und durchweinen Tele-
graphenarm ersetzt wurde. Die Restaurationszeit verbannte natür-
lich schleunigst den jetzt durch ganz andere Mittel ersetzten Fern-
schreibeapparat.
Die letzte Restauration fallt in unsere jüngste Erinnerung. —
Die furchtbare Pulverexplosion des 18. November 1857 hatte auch
die Stephanskirche so zu sagen, bis aufs Mark getroffen. Die
Dächer und Fenster waren zerstört, die Orgel zertrümmert, die
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Klein: Di« Kirche St. Stephan evl Main*. 181
Mauern geborsten, die Kirche mit Schutt gefüllt. Die Summe von
23,000 Gulden, die als Entschädigung gereicht wurde, reichte kaum
hin, das Notwendigste herzustellen. Da nahm den Wiederaufbau
der Kirche nach einem umfassendem Plane Baumeister Franz X.
Geier in die Hand; »unentgeltlich, Gott zur Ehre und der Sache
iu Liebe.« Ohne irgendwo anzufragen arbeitete er drei Wochen
lang bei verschlossenen Thttren am — Aufräumen des in spätem
Zeiten Eingebauten, manchmal freilich auch des Erhaltungswerthen.
Dazu rechnet, von den modernen Denksteinen der Heiligen Boni-
fatius und Willigis abgesehen, der Verf. mit Recht die alten Chor-
stühle, die dem Zwecke der Erweiterung des Chors weichen mussten.
Den Badicalreformer traf Misstrauen und Missbilligung der Geist-
lichen und Laien, und die Beiträge zur Vollendung der Restau-
ration waren spärlich. Die Verdoppelung der Entschädigungssumme
half schliesslich , und es konnte in den im Stil des XIV. Jahrb.
anständig wiederhergestellten Bau die Gedenktafel gesetzt werden:
»Denkstein jj dem hoch würdigen || Herrn Pfarrer || J. P. Merz ||
welcher diese von der || Pulverexplosion vom || 18. November 1857
verwüstete Kirohe || unter Assistenz des Baumeisters || Dr. Geier ||
wieder im ursprünglichen || Baustile herstellte errichtet || am Tage
leines Pfarrjubiläums |1 den 17. April 1866.«
Auf den geschichtlichen Ueberblick , dem wir bisher gefolgt
sind, folgt die Beschreibung nach den Abschnitten : Das Innere,
die Möbel (wir hätten hier wohl nicht mit Unrecht einen bezeich-
nendem Ausdruck, oder eine Umschreibung gewünscht, denn unter
diesen > Möbeln« zählen u. A. die Altäre). Die Reliquien, unter
welchen die Monstranzen aufgeführt sind, deren eine die auffallende
Inschrift: AJoguutiam MDCCI haben soll; Der Tauf stein, Die Em-
porbühoen ; Grabsteine mit Inschriften ; Die Sacristei , in welcher
das ehrwürdigste Alterthum der Kirche, ein Weibwasserkessel roma-
nischer Arbeit sich vorfindet, der wohl mit dem angeblichen Messer,
mit welchem Bartholomäus geschunden worden sein soll (arabische
Arbeit, vielleicht mit Inschrift) eine Abbildung durch Linden-
schmitt verdient. Der Ereuzgang ; Die Abschnitte : Kirchengebäude
im Osten; Das Portal; Der Thurm; Die Glocken bilden den Schluss
der Beschreibung. Im erstem ist der Grabstein Frielo's von Gens-
fleisch, Canonicus, von 1460, des Bruders des Erfinders der Buch-
drnckerkunst. In die Beschreibung hat der Verf. sehr verständige
Bemerkungen über das, was bei der Restauration hätte erhalten,
was beseitigt hätte werden sollen, niedergelegt.
Wir erwähnen bei dieser Gelegenheit einer hier einschlägigen
frühern Arbeit des Verf. »Die hessische Ludwigsbahn,
oder Worms, Oppenheim und die andern an derBahn
liegenden Orte« Topographisch und historisch dar-
gestellt nebst einer übersichtlichen Beschreibung
▼onMainz. von KarlKlein eto. Mainz, Seifert. 1856.*)
*) 8. diese Jahrbb. 1866. 6. 815ff.
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182 Roth v. Schrecken st ein: Dm Interim Im Kinzigthal.
Die Schrift gibt ein sehr anziehendes Bild namentlich des
römischen Lebens und der mittelalterlichen Vorkommnisse in die-
ser Gegend ; gefundene Inschriften sind in ansehnlicher Zahl auf-
geführt und auf Bauten und Merkwürdigkeiten jeder Art die Rei-
senden aufmerksam gemacht. Wir glauben zu Oppenheim einen
kleinen Beitrag geben zu können. Mit Recht schreibt der Verf.
die schnelle Aufnahme der Stadt Conrad III., dem Staufer, zu.
Unter diesem scheint die Burghut einem mächtigen Geschlechte
Ubergeben worden zu sein, welches auch zu Worms in hohem An-
sehen war, vielleicht Schirmvogteircchte über das Bisthum besass.
Wenigstens lesen wir an dem romanischen Portal der im XII.
Jahrhundert erbauten St. Martiuskirche zu Worms die Inschrift:
HEIRIC9 DE OP$ ADVOCATVS = Heinricus de Openheim ad-
vocatus.
Mannheim, Januar 1867. Fickler.
/. Die Einführung des Interims im Kinzigthalc, nach urkund-
lichen Quellen dargestellt von Dr. K. H. Freiherrn Roth von
8chreckenstein, Vorstand des F. Fürstenb. Archivs in Donau-
eschingen. Mit 15 archiva tischen Beilagen. 45 8. 8.
//• Wolfgang Graf tu Fürstenberg , Landhofmeister des Hersog-
thums Wirteinberg, als oberster Feldhauptmann des schwäbi-
schen Bundes im Schweiserkriege des Jahres 1499. Mit ur-
kundlichen Beilagen von Dr. K. H. Freiherrn Roth von
Schreckenstein, Vorstand des F. Fürstenbergischen Hauptarchivs.
Wien. Aus der K. K. Hof- und Staatsdruckerei. In Commis-
sion bei Karl Gerolds Sohn, ltiäti. 90 St 8.
Das fürstlich Fürstenberg'sche Hauptarchiv zu Donaueschingen,
ein für das spätere Mittelalter — seine ältesten Urkunden reichen
kaum über die Mitte des XIII. Jahrhunderts hinaus — sehr rei-
cher Quellenschatz, erfreute sich seit dem vorigen Jahrhundert nicht
nur eines stattlichen, zweckmässigen Sammlungs-Gebäudes, sondern
auch bis in das erste Viertel des jetzigen einer Reihe fleissiger,
wissenschaftlich gebildeter und mit den CoryphUen ihres Faches in
steter Verbindung stehender Archivare, deren Verdienste um die
vaterländische Geschichte Mone d. ä. in der Einleitung zu seiner
»Quellensammlung« etc. hervorgehoben hat.
Dann aber erlitt, da das Archiv mehr als eine Registratur für
das laufende Geschäft, zu Gutachten in Processen, kurz zu prakti-
schen Zwecken benützt wurde, nicht nur die Bearbeitung der Ar-
chivalien für geschichtliche Zwecke eine Unterbrechung , sondern
man glaubte auch bei den Archivaren die strengwissenschaftliche
Vorbildung für ihr eigentliches Fach entbehren zu können.
Das ist denn jetzt durch die Vorsorge des jetzt regierenden
Herren Fürsten zum Vortheile der Wissenschaft ganz anders geworden.
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Roth v. Schreckenatein.« Da« Interim im Kinzlgthal. 188
In der Person des Freiherrn Dr. Roth von Schreckenstein hat
das fürstliche Archiv einen Vorstand gewonnen, der dnrch Beine
wissenschaftlichen Arbeiten über das Patriciat, die Reichsritter-
schaft n. s. f. nnd durch seine Wirksamkeit am Archive des ger-
manischen Museums, dessen Vorstand er gewesen, in jeder Be-
ziehung seine Befähigung zu dieser Stelle glänzend bewährt hatte.
Dass auch die Verwerthung desselben für die Zwecke der
Wissenschaft nicht werde auf sich warten lassen, war von der
Strebsamkeit des in dieser Hinsicht seinem würdigen Grossvater
nacheifernden Enkels zu erwarten.
Und in der That sind auch als Aufsätze in Zeitschriften und
kleine Monographien schon Arbeiten in hübscher Zahl aus seiner
Feder hervorgegangenen; an sie reihen sich die beiden obigen
Schriften in ehrenvoller Weise an.
L Die erste derselben betrifft eine für die badische Landes-
nnd Kirchengeschichte bedeutsame Angelegenheit, welche von dem
Geschichtschreiber des fürstlich Fttrstenberg'schen Hauses , Ernst
Münch, nicht eben glücklich bebandelt worden ist, »insoferne gründ-
liche Forschung und ein auf Thatsachen ruhendes, unbefangenes
Urtheil den Historiker ausmachen«. Münch hatte nemlich in seiner
Weise (II, 112 ff.) das Vorgehen gegen den Protestantismus im
Kinzigthale im Allgemeinen zu schwarz angestrichen und allzu oft
mit einer Phrase sich begnügt, wo es galt, sein Urtheil durch die
»papyrenen Schanzen« der Urkunden sobuss- und sturmfrei zu
machen. Dabei begegnete ihm manchmal, dass nicht bloss durch
Druckversehen, sondern durch wirklich falsche Schreibung , Namen,
Daten irrig angegeben sind. Dies war indessen freilich zunächst
nicht seine Schuld , sondern diejenige der Vorgänger des Herrn
Ton Schreckenstein, welche die von Münch ausgesuchten — oder
freilich meistens ihm dargereichten — Schriftstücke zu copiren
hatten, soweit eben ihre Kräfte dazu reichten. Deswegen hätten
unserer Ansicht nach dergleichen böse Stellen, wie Vierordt ge-
than, auch stillschweigend verbessert werden können, wenigstens
nicht mit besonderer Betonung Münch allein angerechnet werden sollen.
Vierordt hat in seiner Reformationsgeschichte I, 310 ff.
nach Privat mittheilungen, die Ref., mit Erlaubniss des hochseligen
Fürsten demselben aus dem F. F. Hauptarchive machte, auch diese
Angelegenheit mit der Gewissenhaftigkeit und Objectivität des Ur-
theils behandelt, die seiner Reformationsgesohichte ganz besondern
Werth gibt.
Der Verf. unserer Schrift gibt ihm mit den Worten »Ungleich
bumr, (als bei Münch) sind die kurzen Nachrichten, welche K. F.
Vierordt in seiner Geschichte der evangelischen Kirche im Gross-
herzogthum Baden I, 388 ff. gegeben hat« seine Anerkennung, nur
vielleicht etwas zurückhaltender, als dor Verblichene verdiente.
Indessen werden auch bei Vierordt einige Ungenauigkeiten
hervorgehoben, die zumeist, weil auf orthographische Varietäten
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184
Roth v. Bchreckenstein: Das Interim im Klnrigthal.
der Namenschreibung bezüglich, Ref. nicht berübren würde,
wäre nicht mit Recht hervorgehoben, dass jener nach Abschriften
arbeitete, und Ref. es gerade war, der diese Abschriften über-
mittelte.
S. 7 ist bemerkt, dass der ortenauische Amtmann nnd Ge-
sandte des Grafen Wilhelm Mnsler nicht Mnsslar heisse. Letzte-
res ist kein Schreib-, sondern ein übersehener Druckfehler. Vierordt
hatte die Schreibung Musler erhalten, aber wahrscheinlich die bei
dem noch blühenden Geschlechte — welches unlängst der Hoch-
schule zu Freiburg einen Lehrer gab — übliche Schreibung Mussler
bub Vorbedacht oder Uebersehen gewählt. Wenn Ref. sich nicht
täuscht, kommt auch im Contexte eines Schreibens o. 0. u. Dat.
von Jos Münch an Grafen Wilhelm von Fürstenberg (No. XI,
8. 89 der Schrift), eines Schreibens, welches Ref. in den Anfang
Decembers zu setzen geneigt wäre, während der Verf. es Ausgang
Septembers 1548 ansetzt, einmal die Schreibung mit geschärftem
S vor.
Dass (vg. S. 28) hingegen Pfarrer Franz Beckh zu Hausag
galant Btatt gelehrt genannt wurde, war Viorordts eigene Wahl.
Ref. hatte ihm von dem Worte ein Facsimile mitgetbeilt, weil ihm
die Lesung nicht ausser allem Zweifel »seinen , wie denn auch der
Name selbst fast ebenso gut Borkh, wie Beck zu lesen war.
8. 21 berichtigt der Verf. die Datirung eines Briefes des
Grafen Friedrich , den Vierordt , durch ein Schreibverseheu des
Ref. verführt auf den 15. Mai statt Merz ansetzt, mit gutem Fug,
ebenso S. 17 die Schreibung des Pfarrers von Welschensteinach
Keller statt Kälblin, welches eine Vermutbung Vierordts gegen die
richtige Mittheilung war.
Mehr zur Sache gehörig ist die Stelle S. 8 wo der Verf. das
8. g. Mandatum visitat. eccles. vall. Kinzig vom 25. April 1546
für die erstmalige Einsetzung einer ständigen Visitationsbehörde
hält, während Vierordt I, 389 dasselbe als zweite Anordnung einer
Visitation annimmt.
Beide Ansichten sind nach des Ref. Ansicht richtig, wenn
man annimmt, dass auf das dringende Ansuchen der Pfarrer vom
81. Mai 1542 zwar eine Visitation vorübergehend angeordnet wor-
den sei, dieselbe aber erst 1546 in definitiver Weise und stUndig
festgestellt wurde.
In einem andern Punkte, dass die beiden Brüder Friedrich
und Wilhelm von Fürstenberg nicht schon seit 1538 entzweit waren,
wie Vierordt annimmt, sondern sich bis zum Jahr 1542 in leid-
lich gutem Einvernehmen befanden, muss Ref. sich nach seiner
Kenntüiss der Akten ganz auf des Verf. Seite stellen, dem dazu
noch ein reicher Briefwechsel der Brüder zu Gebote stand, obwohl
er auch Bücksicht darauf nimmt, dass mehrere Güterabtheilangen
vorübergehende Trübungen desselben veranlasst haben, oder deren
Folge gewesen sein könnten, abgesehen davon, dass die euphemi-
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Roth v. Schreckenstein: Das Intetim im Kinzigth&l. 186
stisehe, scheinbar milde Ausdrucksweise des XV. und XVI. Jahr-
hunderts , die sich sogar bis in die Crim in algerichts spräche er-
streckt, häufig recht scharfe Schneiden und Spitzen unter dem ge-
glätteten Wortlaute verbirgt.
Doch sei dem, wie ihm wolle, schon aus dem bisher Ange-
lenteten, mehr aber noch daraus, dass Vierordt dem Plane seines
Werkes nach die Angelegenheit der Reformation im Kinzigthal
oicht mit aller Vollständigkeit bebandeln durfte, Münch sie nicht
behandelt hat, wie es seine Pflicht gewesen wäre, geht die Be-
rechtigung des Verf. zu einer Revision der Akten und einer er-
schöpfenden Darstellung der Thatsachen genügend hervor, — Er
hat dieselbe mit der Gewissenhaftigkeit gelöst, welche seine übri-
gen Arbeiten auszeichnet.
Nachdem S. 1 — 23 eine möglichst eingehende Geschichtser-
zählnng gegeben ist, werden (S. 24 — 45) XV Aktenstücke des
F. F. Hauptarchivs mit archivalischer Genauigkeit abgedruckt, die
bisher nur stellenweise bekannt waren. »Der getreue Abdruck der
hier in Betracht kommenden Hauptstücke soll den Leser in die
Uge setzen, die Richtigkeit der hier folgenden, gedrängten Dar-
stellung selbst prüfen zu können.«
Obwohl durch beides, Darstellung und Urkunden, der Titel
der Schrift genügend* erschöpft ist , erlaubt sich Ref. auf Einiges
'iufmerksam zu machen, was ihm die Geschichte der Refor-
mation und Gegenreformation im KinZigthale und der
Ottenau zu ergänzen geeignet scheint.
Was zunächst die reformatorische Bewegung im Fttrsten-
berg'schen Gebiete und dessen Umgebung betrifft, so scheint im
Kinzigthal dieselbe, wie Verf. auch S. 1 andeutet, schon vor
ihrer Einführung durch die Her r Schaft, durch den Ver-
kehr mit Strassburg, Wirtemberg und anderen Nachbarn unter den
Einwohnern sich still verbreitet zu haben. Ja sogar in Schwaben,
in der Baar, fand Graf Friedrich frühe Veranlassung dagegen an-
zukämpfen. In einem Schreiben vom 22. Januar 1533 lud er d. d.
Wartenberg die Herrn von Tierberg, Hans von Karpfen und Jakob
önt, nebst Andern — Prior und Abt von St. Peter z. B. ent-
schuldigen das Nichterscheinen ihres Abts — zu einem Tage nach
Villingen, betreffend die Verteidigung des alten Glaubens gegen
»Ufsetziger und grosser Pratikhen« der Neugläubigen. Derselbe
*urde den ersten Februar gehalten. Die Versammelten haben »nach
langer erzellung derselben newglaubigen seltsame hochgeschwinde
'ratekhen« sich mitgetheilt und gefragt »wes sich ain Jeder zu
'lern Andern trosts, hilff und bystands in solcher noth zu erhaltung
Alten waren Cristenlichen glaubens versehen und getrosten sollte
oder mochte.«
Es wurde schliesslich, da mehrere der Anwesenden nicht reichs-
inmittelbar waren , ausgemacht, dass diese bei ihren Obern deren
Wülensmeinung erforschen und dem Grafen Friedrich melden sollen.
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136
Roth t. Schreck enatein: Das Interim im Kinrigthal.
Ja der Graf selbst , der hier als Haupt der antireformatorischen
Strebungen erscheint, war vor unt nach dieser Zeit, wenn man
einer Relation des Klosters St. Georgen (von dem gelehrten Abt
M. Gaisser?) in Sachen des Klosters Friedenweiler folgt, der katho-
lischen Sache feindselig, wo es sein Vortheil mit sich brachte. >So
hat doch mit der Zeit, vornemblich als der Lntberanismus . . . ein-
zureissen angefangen , erstlich Herr Graf Wilhelm , hernach auch
sein Bruder Herr Graf Friedrich von Fürstenberg diser enden aller-
lei einträg zu erwecken angefangen , solche auch durch embsigen
Antreiben Ihres Obervogts (Junker Jos Münch von Rosenberg ge-
nannt) eines vom Catbolischen glauben Abgefallenen Edelmanns
desto leichtlicher fortgesezt, weil die würtembergiscben Empörun-
gen und bäurische Aufruhren Beede Klöster, (St. Georgen und
Friedenweiler) in Zeit und Geistlichem in merkliche Abkraft ge-
bracht und Dero Vorsteher Anderwärts Viel zu schaffen gegeben. c
Als Oesterreich Wirtemberg besetzt hatte, ging Graf Fried-
rich in der Angelegenheit von Friedenweiler auf Schiedsleute ein;
— der Prälat von St. Peter, Luz von Landau, Pfandherr zu Tri-
berg, Hans von Landenberg zum Schonenberg und Jakob Luz d. ä.f
Bürgermeister zu Villingen, waren ausersehen. Nach der Schlacht
bei Laufen aber verwarf er diese Schiedsrichter und übergab die
Verhandlung mit Abt Johann seinem Bruder Wilhelm, liess auch
aller Wahrscheinlichkeit nach das ihm abgetretene Kloster Frieden-
weiler leer stehen.
Die offizielle Einführung der Reformation im Kinzigthale ge-
schah aber wahrscheinlich erst, als die Mutter der Grafen 1540 ge-
storben war. Denn dass diese nach dem Tode ihres Gemahls die
Herrschaften im Kinzigthal behielt, dafür sprechen nicht nur einige
Aktenstücke des Klosters Wittichen, sondern auch der Theilungs-
vertrag vom 29. Sept. 1540, nach welchem Hausen die Herrschaft
mit allen Städten etc. sammt allem Silbergeschirr und Hausrath
der Mutter an Graf Wilhelm fallen sollte (ürk. d. a. F. A. No. 295).
Anders mochte es in der Herrschaft Ortenberg bez. v. Ortenau
gewesen sein, die, wie der Verfasser betont, hälftig Strasburgisches
Reichspfand war. Es fehlen über deren Reformirung auch dem
Eef. bündige Aktenstücke. Nur die Stadt Gengenbach, deren Pfarr-
satz dem dortigen Kloster gehörte, gibt einigen Aufschluss Denn
in einer Zuschrift vom 26. August, in welcher Schultheiss, Meister
und Rath der Stadt den Grafen Friodrich um Verwendung bei dem
Abte (wahrscheinlich Fr. von Kcppenbacb) angehen, dass er ihnen
neben Haltung der Messe u. A. ihnen gewohnten »predigcanten her
lütyum [Lucius Kyber] Der das Rein lutter Evangelium und sust
nichtzit änderst predig und verkündigt »wie bisher bleiben lassen
wolle, betonen sie, insbesondere »Dieweii wir kein pfarrher noch
predigkanten weder zn sezen noch zu versetzen haben, Sonder
derApt bei uns«, und betreffend die Messe und andere Cereroonien
> die wir nyt abgestellt, auch denuunsern dartzu zugcen niekeinswegs
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Roth v. Schrec.kenstein: Da* Interim im KinzigthaL 187
gebotten verbotten noch gewert haben.« Es scheint demnach, dass
Abts Friedrichs von Keppenbacb Vorgänger, Melcbior von Horneck,
wirklich, wie Ref. nach Kolbs Lexicon von Baden berichtet (S. 19),
die Reformation angenommen, oder wenigstens ihrer Einführung
sich nicht widersetzt habe. Dass dieses aber nnter der Mitwirkung
der Fürstenberg'schen Beamtnng geschehen sei , ist richtig , denn
nach einem Schreiben Jos Münch's an Grafen Friedrich (6. Juni
1548) geht hervor, dass die Schaffner zu Ortenberg (Musler?) und
Wolfach (D. Ycher) den Abt Friedrich gefangen setzten und wahr-
scheinlich auch im Kloster selbst protestantischen Gottesdienst ein-
führten, so dass dasselbe mit grossen Kosten wieder geweiht wer-
den musste.
8. 1 1 ff. wird vom Verf. mit vollem Rechte der schwankende
Stand der Reichspfandschaft in der Ortenau unter den Bestim-
mungsgründen des Grafen Friedrich zu seinem Verhalten gegen die
Protestanten im Kinzigthal aufgeführt. So nahe aber war gesetz-
lich die Zeitfrage der Ablösung noch nicht gerückt. Denn wenn
anch König Ferdinand 1521 das Recht der Einlösung der Ortenau,
wie der Verf. nach Kolb angibt, erhalten hatte, so gab er eben so
bündig 1526 (Augsburg 22. Februar S. A. F. Arch. No. 267 c) die
Versicherung, dass die Pfandschaft den beiden Fürstenberg'schen
Brüdern zu ihren Lebzeiten nicht durch Ablösung entfremdet wer-
den dürfe, — freilich mit dem dehnbaren Beisatze »als wenu ein
ausserordentlicher Fall es erheischen werde.«
Dringlicher war noch Carl V. vom Verf. S. 22 angeführter
Befehl d. d. Brüssel 4. Juli 1549 an Graf Friedrich, dass er sei-
nen Bruder, »welcher sich der Schmalkaldischen Kriegsunruhen und
Bebellion schuldig gemacht und von Tag zu Tag je länger je mehr
allerlei Unschicklichkeiten die Iro K. M. , dem hl. Röm. Reich,
auch ihm selbst und seinem Geschlecht zu hohen Beschwerden
Schaden und Nachtheil gelangen möchten , fürnemen und ausüben
thne, allenthalben nacht rächt en , auffahen und bis auf weiteren
allerhöchsten Befehl in Sichere Verwahrung aufbehalten solle (F.
F. a. Arch. No. 298 , freilich stimmt das Datum nicht ganz zu
den Aufenthaltsorten bei v. Stälin, Forschungen zur D. G. V, 580
da an diesem Tage der Kaiser sich schon in Löwen befindet). Ref.
ist geneigt zu glauben, dass Wilhelms Aufenthalt zu Ortenberg in
den letzten Lebenstagen eine Art libera custodia gewesen sei, von
welcher freilich nach wenigen Wochen der Tod ihn erlöste.
Die Stelle (S. 21) aus dem Schreiben des Grafen Friedrich
an Jos Münch »das Kinzigthal habe besondere Aufseber, die dann
alles was daselbst geschehen an den kaiserlichen Hof berichteten«,
ist aktenmä88ig erhärtet durch den Auszug aus dem Warnungs-
hriefe — wahrscheinlich eines Insbrucker Beamten an Graf Fried-
rich, in welchem mit dürren Worten gesagt ist, »dass die Rom.
Kün. M. Unser Allergnadigster Herr der Regierung zu Inspmgk
uffeTlegt sie ain gewisse und guette khnndschafft In die Landvogtey,
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188 Roth v. Schreekensteln: Das Interim Im KlMigthtl.
Ortnaw zumachen wie Ir euch Inhalt des Reichsabschidt wider ain
Ordnung Im glauben fürnemen und ufriohten werden, Derhalben In
vertrauen mein Rath und gnatt bedunkhen Ir vollendt In gern elter
Landvogtei widerumb, wie von alterher Im glauben fürnemen und
uffrichten würdt euch an Zweifel bei der Ro. Ku. Majt wol er-
schiessen« u. 8. w.
S. 23 finden wir angegeben, dass Jos Münch 6. Aug. 1549
in Wittichen mit Schritten zur Wiederherstellung des Klosters be-
schäftigt gewesen sei. Dieselbe muss entweder misslungen sein,
oder nur die ökonomischen Angelegenheiten, etwa die Versorgung
des betagten Pfarrers Jakob Gyr, oder wenn er durch den Tod
schon von weiterer Verlegenheit erlöst war, die Versehung seiner
Stelle betroffen haben. Denn im Jahr 1560 finden wir in den
Klosterakten, dass die Priorin Margaretha Denningin von Rottweil
ans dem Kloster entfliehen wollte, um sich mit dem ehmaligen
Pfarrer zu Wittichen Albrecht Nopp von Hechingen zu verheirathen,
um die gleiche Zeit verheirathete sich eine Laienschwester Agnes
Heilerin, und waren 1569 nur noch zwei Frauen übrig, so dass
durch Berufung von Nonnen aus Valduna bei Feldkirch das Kloster
wieder restaurirt, dennoch aber 1577 vollständig reformirt werden
musste. (Visitationa-Recess des Bischofs von Ascalon von Constam
5. Nov.). In letzterm Jahre wurde von demselben Weihbischofe
auch für noth wendig erachtet, die Kirchen des Kinzigthals neu zu
weihen »die weyl mein's erachtens die Kirchen ün kintziger Thal
in mancherley weyss durch die sectirer und ketzer dess gleycben
die Altar daruff sy ire seelische nachtmäler gehalten sampt den
kirchhöffen darin sy wider die Ordnung der Kirchen untageliche
personen begraben sind geunehrt und entwichen worden.«
Aber schon früher (15. Mai 1563) waren die katholischen
Priester (wo ? zu Wolfach ?) in einer Conferenz versammelt und
unter ihren Beschwerdepunkten findet sich, dass »der Altar zierd,
Licht, Wachs, Oel, Messgewand und Priesterliche Kleidung wie
sichs gebürt über Altar ein yedem Priester zu gehen« mangle,
ferner »ein Obsequial damit die Sacrament einhellig mitgetheilt
werden mögen.«
Auf der andern Seite waren, besonders zu Wolfach manche
Bürger dem protestantischen Bekenntniss treu geblieben. Aus ihrer
Zahl beschwerten sich Schlosser Friedrich Mayer und der Sattler
Hans Krausbeck, darüber, dass auf Sonntag Judica 1575 verkün-
det worden sei, man müsse zu den katholischen Ceremonien, nament-
lich bei der Communion zurückkehren ; — - wer sich beschwert finde,
solle supplicando einkommen. Sie bitten deshalb um Empfang des
Abendmals in künftiger Charwoche nach lutherischem Gebrauch für
sich und ihre Weiber, »die usserhalb der Herrschaft zue der Luthe-
rei, erzogen.« Andreas Kugler daselbst betonte, er sei in der
lutherischen Coufession erzogen, die eine Zeit lang allenthalben
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Roth v. Schreckenstein: Das Interim im Klnrigthal. 189
angenommen, »dessen weiland Friedrich Oraf zu F. gnedig wissens
gehapt Mich und ander dabei pleiben lassen, «
Dieses zeigt, dass der Verf. mit Recht die Einführung des
Interim durch Graf Friedrich als eine im Ganzen milde und rück-
sichtsvolle bezeichnet hat.
Ja obgleich die Vormundschaft über den Grafen Albrecht von
F. dem Schreiben des Grafen Joachim an seinen Bruder Heinrich
(29. Merz 1575) folgend, welches betonte, man müsse »solche ein-
gewurzelte böse Radices zu Verhütung selbiger Benamblichen Uf-
wachsung mit hilflf des Allmächtigen ausradieren € den 9. Dec. be-
fahl, dass man den sich allenthalben in die Herrschaft einschlei-
chenden Prädicanten, die sich besonders in Wolfach einmischen,
streng untersage, sich ferner dessen anzumassen, hatte doch noch
den 5. November 1577 der Weihbischof von Askalon zu klagen,
dass z. B. zu Schenkenzel in 8 Jahren zum ewigen Licht nur 1 Maass
Oel verbraucht worden, dass die letzte Oelung »schier nimmer da-
selbst gebraucht werde, dass der Amtmann (von Wolfach, Brentz,
ein Verwandter des Würtemberg'scben Reformators?) und sein
Gegenschwäher heuchlerisch (Kryptoprotestanten) wären und zu
wünschen sei, die Vorsteher wären alter Religion.«
Bs gehören diese Verhältnisse zwar zunächst nicht zum Gegen-
stande und Zweck der Schrift des Verf., sie werden aber vom Ref.
doch berührt, um den Wunsch zu betonen, dass es demselben ge-
fallen möge, am Sitze der urkundlichen Quellen die ganze, so
interessante, geschichtliche Entwicklung auszuarbeiten.
Auch das Verzeichniss der Pfarrer in der Herrschaft Kinzig-
thal gibt Aufschluss darüber, wie lange es dauerte, bis die katho-
lischen Priester sich wieder angewöhnt hatten auch nur eines ehr-
baren Lebenswandels sich zu befleissigen und so die Pfarrange-
hörigen zu sich heranzuziehen. Zum Schlüsse nur noch die Be-
merkung, dass Graf Friedrich allerdings gegen die Prädikanten
hätte milder verfahren können, wenn er dem Beispiele Wirtem-
bergs gefolgt wäre, wo man ungeachtet der gewiss noch drängen-
dem Umstände, einen streng negativen Standpunkt dem Interim
gegenüber behielt, der einerseits dem Kaiser genügen rausste,
andererseits die Möglichkeit gewährte, nach dem Augsburger Reli-
gionsfrieden den Protestanten ihre frühere Stellung einzuräumen,
was natürlich nicht im Interesse des Grafen Friedrich lag.
Der betr. Erlass des Herzogs Ulrich von Wirtemberg (d. d.
Urach 20. Juli 1548) an seinen Obervogt am Schwarzwald, Jos
Münch, »auch Unsern Underthanen zu Alpirspach petter ziegler
sammpt und Sonders« lautet dahin, am nächsten Sonntag nach der
Predigt sei durch den »Stattschreiber« die kaiserliche Declaration
za verkündigen und sofort wenn Jemand sich des Messlesens an-
lasse nicht zu wehren bis ein allgemeines Concil entscheide. »Auch
sozio?: die Eusserlichen kirchengebreuch mit klaydung und gesan-
gen die nit mit aberglauben und abgotterei vor-
140 Roth v. Schreokenstein: Wolfgang Graf zu Fürntenberg.
mengt und Adiaphora genannt In den ki rohen unseres Lan-
des von mererer Eintrechtigkeit wegen nit zu waigern.«
Es ist darnaob das S. 28 angeführte Schreiben des Jos Münch
von Roeenberg, welches sich auf diese Beilage bezieht, dahin ge-
nauer zu bestimmen, dass die Stelle »das mir sollichs zu tbnn be-
swerlich und nit gebürlich (sollt ich messpfaffen uffstellen und die
underthanen darzu trengen ist wider mein gewissen, kans und wills
auch nit thun)« sich nicht auf dieses Schreiben Herzog Ulrichs,
sondern auf das Verfahren des Grafen Friedrichs beziehe.
Auch Dietrich Ycher macht in seinem, vom Verf. nicht ange-
führten, Schreiben von montag vor Lucia den Grafen Friedrich
aufmerksam, Herzog Ulrich habe den predigern das predigen nieder-
gelegt und doch wiederum erlaubt die kranken zu versehen, zu
taufen etc. Es muss demnach wirklich eine spätere Verordnung
erlassen worden sein, auf welche sich dann auch Jos Münch in
seinem Schreiben an den Grafen Wilhelm vom 15. Jäner 1542
(S. 42) bezieht, durch welche die wirtembergischen Prädikanten
zwar des Predigtamts enthoben, aber doch auf ihren Pfründen be-
lassen wurden.
II. Bei der zweiten Schrift des Verf. werden wir uns, so
interessant auch ihr Inhalt ist und so manches Neue derselbe bie-
tet, kurz fassen müssen, um den Raum dieser Blätter nicht allzu-
sehr in Anspruch zu nehmen.
Dieselbe behandelt den für Deutschland so schmachvollen und
vielleicht gerade desshalb von den Zeitgenossen und ihren Nach-
folgern meistens mit seltener Kürze, Nachlässigkeit und Unge-
nauigkeit behandelten »Schweizer-«, oder wie die letztern ihn nennen,
»Schwaben- «Krieg von 1499.
Schweizer Quellen haben seine Wechselfalle allerdings in zuver-
lässigerer Weise dargestellt; aber bei ihnen trübt manchmal die
Ueberbebung des Siegers die historische Wahrheit, und es konnte
auch gerade die Hauptursache seines unglücklichen Ausganges, die
Zerrissenheit, Zerfahrenheit und die empörende Selbstsucht und
kleinliche Anschauuugsweise der schwäbischen kleinen Reichsstände
durch sie nicht wohl eine eingehende Schilderung erhalten.
Um so mehr war es die Pflicht des Geschichtschreibers des-
jenigen Hauses, dessen zwei hervorragendsten Mitglieder die
obersten Führerstellen in jenem unglücklichen Kriege bekleideten,
die in dem Archive des Hauses vorhandenen Urkunden über diese
Angelegenheit aufs Genaueste zu benützen , kritisch zu würdigen
und zur Grundlage der Biographien Wolfgangs und Heinrioh's von
Fürstenberg zu machen.
Allein die eigene Untersuchung der betr. Aktenstücke um-
gehend und sich auf die ihm überlassen en Abschriften verlassend,
hatte er sich mit dem bequemen Urtheile begnügt , »dass die
betr. Urkunden die im F. F. Archive sich vorfinden
weder genaues Datum, noch genaue Ortsangabe ent-
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Koth v. Schreckensteiii: Wolfgang Graf tu Fürstenberg. 141
hielten und dass es daher äusserst schwer sei, die
bekannten Ereignisse mit den bekannten Notizen,
welche meist anf gegebene Avisos, Vollmachten und
Geheimbriete sich bezögen und Manohes nur leise an-
deuteten, mit Sicherheit zusammen zu schmelzen.«
— Und doch sind die von dem Verf beigebrachten sechzehn Ur-
kunden sämmtlich datirt und geben nicht nur manche bedeutsame
Einzelheiten, sondern recht tiefe Einblicke in die ganze Misere jener
Kriegführung.
Wenn daher gleich der Verf. sehr bescheiden sagt, dass »Die
hier folgenden Blätter, in so weit sieSeibstständig-
keit beanspruchen, hauptsächlich nur die Leistun-
gen der Grafen Wolfgang nnd Heinrich von Fürsten-
berg zum Gegenstande haben und selbst diese nur im
Hinblicke auf die im fürstlichen Hauptarcbive zu
Donanesohingen befindlichen Urkunden und Akten-
stücke«, so dürfen wir schon hiefür ihm um so mehr dankbar
sein, je mehr sie »besonders die Stellung des Grafen
Wolfgang, desoberstenFeldhauptmannesdes Rihwä-
bischen Bundes gründlich beleuchten.« (S. 5.)
Die Schrift zerfällt in zwei Abtheilungen, deren erste (S. 1 — 62)
eine geschichtliche Darstellung des Schweizerkrieges, deren zweite
die zur Grundlage dieuenden Urkunden enthält.
Nach der kurzen Nach Weisung der Stellung Wolf gang' s von
F. zu seinem Stamme und dessen Grundbesitz , zum kaiserlichen
Hofe und der herzoglich wirtembergischen Regierung unter Eber*
bard im Bart, Eberhard d. j. und Ulrich, während dessen Minder*
jährigkeit er an der Spitze der verordneten Regierung stand, wer-
den wir sogleich in die Vorbereitungen zu dem schon 1497 er-
warteten Schweizerkriege eingeführt.
Unter den Ursachen desselben hebt der Verf. gewiss mit Recht
das sonst weniger betonte Verhältniss der Eidgenossen zu Frank-
reich hervor, zu dessen gegen das Haus Habsburg gerichteten
Planen es gewiss nicht passen konnte, dass seine jüngst gewonne-
nen Bundesgenossen durch die strammere Verbindung mit dem
deutschen Reichskörper die Politik eigener Faust aufgeben mussten.
Das erste Vertheidigungsprojekt des schwäbischen Bundes d. d.
üeberlingen 8. April 1497 ist S. 12 — 13 angegeben und darin mit
Glück bei dem einem der Sammelplätze, Stockach, als Truppen
liefernde Stadt Riedlingen-Mengen, statt Riedlingen Wangen ver-
bessert.
Bei dem Antbeil, welchen die vormundschaftliche Regierung
für Herzog Ulrich an der erneuerten Rüstung beim wirklichen Aus-
bruche des Krieges nahm, nachdem die Eidgenossen, beziehungs-
weise die ihnen zugewandten Engadiner nnd Graubündner S* Maria
in vaT Mustair eingenommen hatten , tritt der Verf. der Ansicht
entgegen, derselbe sei durch den Wunsch bedingt gewesen, Maxi-
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142 Roth v. Schreckenstat«: Wolfgang Graf zu Fürttenberg.
milians Zustimmung zu der Absetzung Eberhards d. J. zu erhalten,
indem er nachweist, dass schon 1497 der letztere Fürst 40 Rei-
sige zu stellen versprochen und Herzog Ulrichs Räthe später noch
längere Zeit zögerten, ihren Antheil zu bestimmen. Freilich belief
sich, was Ulrich Anfangs 1499 zu Tuttlingen zusammenzog, auf
1 OOo Fussknechte und er hatte versprochen aus den Aemtern Tutt-
lingen und Balingen 2000 Mann mit etlicher Reiterei in den Hegau
abzufertigen und ihnen weitere 1000 Mann folgen zu lassen.
Einen der gewaltigsten Gründe des Misserfolges, das Miss-
tranen der von ganz verschiedenen Stimmungen beseelten Bundes-
mitglieder, hat Verf. S. 16—19 treffend durch die urkundlichen
Belege gezeichnet. Es ging so weit, dass man in und fürWirtem-
berg besorgte, es möchte dessen Truppenentsendung vom Pfalz-
grafen beim Rhein, den Bischofen von Strassburg und Wirzburg
etc. zur Wiedereinsetzung des Herzogs Eberhard d. J. benützt
werden.
Auch die zweite Ursache des schlimmen Ausgangs, die Rath-
losigkeit des Bundesraths, der sich zu keiner raschen Offensive
entschliessen wollte und — wegen der mangelhaften Rüstungen der
meisten Bundesmitglieder — auch nicht konnte, ist richtig hervor-
gehoben.
Für die letzte, die zögernde und mangelhafte Rüstung finden
wir einen schlagenden Beweis in den angeführten Briefen des Hans
Ungelter an die Stadt Esslingen, der ans übelverstandener Spar-
samkeit zu beschränkterer Lieferung von Artillerie rieth und an
der Präsenz der auf dem Papier stehenden Mannschaft über 80
Gulden > sparte c; ein Verfahren, welches auoh von anderer Seite
nur zu sehr nachgeahmt wurde (S. 24). So geschah es dann, dass
die Eidgenossen plündernd den Hegau durchzogen und dem Grafen
Wolfgang kaum eine andere Wahl Hessen, als von den befestigten
Burgen und Städtchen des Hegau's die zerstreuten, marodirenden
Haufen der Feinde zu schädigen, wie den 23. Februar bei Aach
geschah.
Dadurch geschah erneuerte Rüstung auf 5000 Mann und mehr
— in Zeiten näher drohender Gefahr auf 10,000 Mann zu ver-
stärken — und die Ernennung des Grafen Wolfgang zum Bundes-
feldhauptmann. Dieser bereitete nun eine Offensive gegen die
Schaffhausischen Ortschaften, Schieitheim, die von den Eidgenossen
besetzten Orte Neukirch und Hallau vor, die nach mehrerer Ver-
Schiebung um Ostern (31. Merz) unternommen wurde. Zur Er-
gänzung der Angaben, die der Verf. benützt hat, fügt Ref. einige
der Villinger Chronik von Haug [Hug, über dens. vg. Mone, Quel-
len IJ bei (Vg. sein Annivers. Buch des Klosters Maria Hof bei
Neidingen II. Abth. S. 31). Nach diesem zogen am Ostermontag
(2. April) in Villingen (wo ausser dem Contingente dieser Stadt
wohl die nördlichen Bundesgenossen z. B. der Zuzug von Mainz
lagen) 1800 Mann »vast woll gerüst« aus, erreichten an selbigem
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B.oih v. Schreckenstein: Wolfgang Graf m Fürstenberg. 143
Tage Eutingen (4 St.), warteten des andern Tags daselbst anf die
weitere Anordnung der Expedition nnd trafen Mittwochs zum Früh-
stück in Neidingen (l'/2 St.), Mittags in Fürstenberg (1 St.) ein,
»Und es wurde drei oder 4 tag werren, so wüsste der gemayn
man nit, wo man angreifen wollt.« In Fürstenberg traf um Mitt-
woch Mittags die wirtembergische Artillerie (von Engen, 4 St.)
ein; von wurtembergisohem Fussvolk weiss der Chronist nichts zu
sagen, wenn aber auch nur die nöthige Bedeckung dabei war,
während die andern Truppen die Strasse von Thaingen-Schaffhausen
zu vertheidigen suchten, so waren die Truppen zu Fürstenberg
jedenfalls an 2200 Mann, inbegriffen 600 wohl ausgerüstete Heiter
des Erzbischofs von Mainz. Es erfolgte nun noch desselben Abends
der Abmarsch »und zugend die gantze Nacht Büss Morgens do es
anfieng zu tagen.« Führer waren »Herr Diebolt spett ain Bütter
ob rister Hauptmann und Hanns Härder von Khalb«. Es scheint
daher, dass Graf Wolfgang, wenn er überhaupt schon beim Heere
war, Tom Hegau aus gegen Schaffhausen operiren wollte. Schon der
Nachtmarsch ohne angegebenes Ziel mochte Misstrauen erregen : »Do
vermayndten die fuoss Knecht die haupt Leith hetten einen guotten
Anschlag wass sy für die bandt Namendt oder Nemen wollten do
wass es Lumpen Werkh«. Insbesondere gegen den Anführer rich-
tete sich später der Unwille. »Aber wür hatten Ain haupt manu der
gar khain ahnschlag In Im hatt und verwahrlossete die Sachen
yberall das sagte Mäniglioh von Im«. Des Morgens zog man in
zwei Abtheilungen, die zu weit von einander getrennt waren: »do
sog der forder hauff (bei 400 Knecht unter Führung des Haupt-
manns Chleybe Hoffmayer) undt Mayndten der hinder hauff war
gleioh auff oder Bey Ihnen und zogendt (nach der ßecognoscirung
von Schlatt am Randen, Marsch von etwa 6 St.) gehn Halaw«.
Hier lagen 600 Schweizer im befestigten Kirchhoff hoch über dem
Städtchen, welche, als sie dio Landsknechte im vollen Laufe an-
springen sahen, 100 Mann an einen Verhau (Letze) ihnen entgegen
warfen. Diese zogen nach starkem Verluste — die 40 Mann, wel-
ches v. S. angibt, dürften auch nach Haug's Ausdruck »aber der
Schweitzer lagendt veill darnieder« die richtige Zahl darstellen —
in den Kirchhof zurück, und behaupteten denselben in tapferer
Gegenwehr mit grossem und kleinem Geschütze, selbst als die bün-
dische Artillerie eintraf. »Die Schüssen und wurffen so redlich das
es nit zu beschreiben ist, do schon der zeig gar zu samendt kam
so werthen sie sich so dapier das khain haupt Man sy dorfft auf-
fordern, sy behielten den kürchhoff vor Uns aber das halbe dorff
verbrannten Wür und zugent ab uff den Berg S. Moritzen — wahr-
scheinlich die ehem. Wallfahrtskirche über Hallau '/i St. — das
Nymands wüsste wass wür thuon wollten, da hatt Man Wein und
Brott hinangefiert und gab unns zue Essen und do Termaindten
wdr nit Annderst dan Man Miesste wüder in das Dorff Sein zogen.
Aber man zog hinweg, do kham Herr Diettrich von Bluomeckh mit
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144 Roth v. Schrecken stein: Wolfgang Graf zu Füf3tenberg.
der Landschaft der lag zne theugen (Thiengen) In einem Stettlien
mit 1500 knechten wollgerüst, vermayndle er hette uns da funden
und Branndt Auch. Bald aber er uns nit fuuden zog er wüder gen
Tenga.« Durch diese Darstellung ist die Niederlage der Bündischen
bei Hallau und der Verlauf jenes Tages ziemlich klar. Der Auf-
enthalt bei Hüfingen geschah , um mit Dietrich von Blumeuegg
eine combinirte Action auf die Schweizer zu bereden, welche gegen
5000 Mann stark bei Hallau und Neucbilch standen (S. 84). Auf
erhaltene Kunde dieser combinirten Bewegung aber hatten die Eid-
genossen von ihren 5000 Mann nur etwas über ein Zehntel im
festen Kirchhof von Hallau zurückgelassen, die Übrigen rüsteten
sich wahrscheinlich zum Einfall von Schaffhausen aus in den Hegau.
So ist denn auch der abenteuerliche nächtliche Zug Diepold Späth's,
des in Abwesenheit des Graten Wolfgang commandirenden obersten
Hauptmanns, gegen Schlatt am Randen — etwa 3 Stunden von
der geraden Richtung nach Hallau abliegend — zu erklären; —
er wollte nach einer nicht mehr ganz ungewöhnlichen strategi-
schen Anschauungsweise »Fühlung« von dem Feinde auf seinem
linken Flügel und wohl auch von den wir temberg' scheu Besatzun-
gen im Hegau habeu. Seine Avantgarde, 400 Landsknechte stark,
kam nach angestrengtem Nachtmarsche etwa 8 — 9 Uhr Morgens,
wahrscheinlich über Siblingen und Gächlingen nach Oberhallau, wo
sie zum Sturmlaufen befehligt zuerst die 100 Schweizer, die als
verlorener Haufen sich in der Letze ihnen entgegenwerfen, schlugen
uud in den Kirchhof zurückwarfeu. Der Sturm auf diesen wurde
wohl nicht gleich Anfangs von der Vorhut (den Wirtembergern,
wie Dietrich v. ßlumenegg berichtete, S 34) geweigert, wohl aber
wegen der unerwartet energischen Vertheidigung und der Ermüdung
nicht mit der nöthigen Energie fortgesetzt. »Unnd warendt von
uns sern knechten von villingen ahn dem khiiebhoff geschedigt siben
Mann ... beten sich Alle khnecht Im fordern b außen gehalten Allss
die von Villingen so hetten wir den khürchhoff gewunnen«. So
geschah denn der Abzug zur Rast und ErquickuDg auf den 8.
Morizberg.
(Schluss folgt.)
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Ii. 10. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATM.
Eoth von Schreckenstein: Wolfgang Graf zu
Fttrstenberg.
(SchhlSS.)
In diesem Augenblicke mochte die bündische Artillerie mit
ihrer Bedeckung angekommen sein, daher die Vermnthnng es
werde die Bestürmung des Kirchhofs Nachmittags erneuert werden.
Als aber Dietrich von Blumenegg, ohnedies kein starker Heid,
Nichts von sich blicken Hess, geschah allgemeiner Bückzug der
Bündischen, der wirtemberg' sehen Artillerie nach Engen (5 St),
des Haufens, welchen Georg von Freiberg anführte, der wahrschein-
lich die Bedeckung der Wirtemberger gewesen war, nach Radolf-
zell (6 St.) und der von Villingen nach Bilfingen (5 St.). Nach dem
Abzüge kam endlich Dietrich von Blumenegg an, begnügte sich
aber den andern Theil von Hailau (Unterhallau?) zn verbrennen
und zog sich wieder nach Thiengen (5 St.) zurück. Es mochte
dies etwa Nachmittags 2 Uhr gewesen sein und der Bückzug einer
Flucht ähnlich gesehen haben. Denn nachdem sie Schieitheim
(2 St. vom Kampfplatz) niedergebrannt hatten, kamen noch des-
selben Abends die Villinger und ihre Genossen nach Hüfingen,
welches zum Mindesten 6 Stunden vom Kamplatze entfernt liegt:
»wür verbrannten Schlaytta das Dorff gahrr und zogen gehn
Döffingen, Am donstag und warendt fast All erlegen Auoh gar
Miedt«.
Gerne würde Bef. dem Herrn Verf. auch auf das Schlachtfeld
bei Schwaderloch (richtiger bei Triboltingen) folgen, dessen Be-
schreibung beim Widerspruche der Quellen auch nach desselben
Sichtung immerhin noch einiger Aufklärung zu bedürfen scheint,
allein er muss sich damit bescheiden, doch wenigstens Einiges der
fleissigen Arbeit desselben hinzugefügt zu haben.
Mit der Wiederholung vollster Anerkennung derselben verbin-
det er nur den Wunsch , recht bald wieder mit einer ähnlichen
Quellenforschung von ihm beschenkt zu werden.
Dass die urkundliche Seite der Schrift Nichts zu wünschen
Qbrig lasse, glaubt Bef. bei der bekannten Gewissenhaftigkeit des
Verf. nicht besonders betonen zu sollen. Der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften gereicht es mit dem Verf. zur Ehre, dass sie
diese Arbeit in ihren Schriften veröffentlicht bat.
Mannheim, Februar 1867. Fickler.
LX. Jahrg. 2. Heft 10
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146
Milow: Gedichte.
Gedichte von Stephan Milow. Zweite vermehrte Auagabe. Heidth
borg. Verlag von Georg Weiss. 1867. IV u. 2V5 S. 8.
Der Unterzeichnetehat in diesen Blättern die aus der Feder des
verdienten Herren Verfassers im vorigen Jahre erschienene treffliche
Novelle, das verlorene Glück, angezeigt und ein nicht minder
günstiges Urtheil über die 1665 herausgegebene Gedichtsammlung
desselben ausgesprochen. Die günstige Aufnahme, welche die letztere
bei dem gebildeten Publikum gefunden hat, ist der beste Beleg für
ihren ästhetischen Werth. Schon nach kaum zwei Jahren liegt uns
eine zweite vermehrte Ausgabe der Gedichte des reich begabten
Herrn Verfassers zur Anzeige vor. Die Eintheilung der Gedichte
ist die frühere. Sie zerfallen 1) in vermischte Gedichte
(S. 3—75), 2) Liebeleben (S. 75— 113), 3) Sonette (S. 113
— 151) und 4) Epigramme und Elegien (S. 151 — 180). Dazu
kommen in der neuen vermehrten Auf läge 15 im Kriegsjahre 1866
geschriebene Gedichte unter der Aufschrift : Mit Weib und Kind.
Warmes Gefühl, Begeisterung für das Schöne, ein männlicher ern-
ster Sinn, eine besonders glückliche Auffassung und Darstellung
des Naturschönen, eine feurige reich begabte Phantasie and eine
edle, den Gedanken und Empfindungen entsprechende, abgerundete
Form sind Vorzüge, welche die Gedichte des Herrn Verfassers aus-
zeichnen. Die Liebe, das »owig Weibliche«, ist auch in der vor-
liegenden Sammlung, wie in so vielen unserer bedeutendsten Lyri-
ker, der Grundton. Das tiefe innige Gefühl, das nicht gemacht
oder gekünstelt, sondern, wie jedes, auch das kleinste Gedicht zeigt,
selber durchlebt ist, macht die vorliegenden Gedichte so besonders
anziehend. Die Dichtung dringt aus der Seele und versteht die
Herzen der Leser anzuziehen., dass sie mit ihr empfinden. Nor,
wer selbst durchlebt hat, was er dichtet, kann es empfinden und
ähnliche Empfindungen wecken. Es ist ein reiner idealer Geist der
Liebe, der in diesen erotischen Dichtungen weht und sie wesent-
lich von so vielen lasciven und schlüpfrigen Liebesgedichten unse-
rer und der ausländischen Literatur unterscheidet. Nicht nur in
der Liebeleben überschriebenen Sammlung, sondern auch in
den vermischten Gedichten, Sonetten und Elegien
herrscht der erotische Charakter vor. Es ist die Sehnsucht, die
Freude und der Schmerz der Liebe, der in diesen Dichtungen
wiederkehrt. Die Eintönigkeit, die durch den gleichen Gegenstand
herbeigeführt werden kann, wird nicht nur durch das Einstreuen
anderer Gedichte, sondern auch durch die wechselnden Stimmungen
des Liobelebens und die in den Gedichten so häufig wieder»
kehrenden treffenden Naturschilderungen vermieden. Natur- und
Liebeleben sind so in einander verschmolzen, dass wir auch aus
dem engeren Kreise der Liebe den weiteren Blick in die Welt
und ihre Schönheit gewinnen. Mag auch bisweilen die Anschauung
des Herrn Verfassers gegenüber der menschlichen Gesellschaft eine
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Milow: Gedicht«.
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düstere, Bich nur in sich, in die Waldeinsamkeit der Natur nnd in
das Gefühl einer ihn beseligenden Liebe zurückziehende sein, seine
Empfindung ist so naturwüchsig, dass wir in ihr wahrem Menschen-
gefühle und echtem Naturleben begegnen.* Es hat etwas Wohl-
tuendes und Befriedigendes, wenn man neben der Zerfahrenheit der
Österreichischen Zustände, wie sie sich im letzten Kriege so recht
klar vor die Augen des unbefangenen Zuschauers stellte, in der
Brust eines Oesterreichers, der sich mehr mit dem blutigen Geschäfte
des Krieges, als mit der friedlichen Muse der Dichtkunst zu beschäf-
tigen Gelegenheit fand, einem so edeln und reinen Gefühle und
einem so glücklichen Talente dichterischer Sohöpfungskraft begeg-
net. Für Manches, was er im äussern Leben vermisst, wird ihn
gewiss der Genius der Dichtkunst und sein Gefühlsleben entschä-
digen, das, aus seinen Dichtungen zu schliessen , sich in reicher
Weiso entfaltet hat. Die neueste Geschichte des österreichischen
Staates mag ihm wohl die Gewissheit gegeben haben, dass die zum
Theile düstere Ansicht, die er von den ihm tadelnswerth erschei-
nenden Bestrebungen der grossen Volksmasse hegt, eine begründe-
tere Berechtigung dem Adel und der Klerisei, den höheren Standes-
kreisen, gegenüberhat. Denn sicher wurden nicht durch das Volk,
sondern durch die überall bevorzugte politische und kirchliche Ari-
stokratie jene traurigen Zustände herbeigeführt, welche nahe daran
waren, mit dem Untergange Oesterreichs zu enden. In den neu
hinzugekommenen Dichtungen des Herrn Verf. findet sich in letzter
Hinsicht eine leise Andeutung. Treffend schreibt er im Kriegsjahre
1866 (S. 186):
»Weichliches Traumen und Ruh'n unwürdig erscheint es des Mannes;
Doch nicht rühm' sich der That, der wie ein Sklave gehorcht,
Wenn der verblendete Eifer, der Ehrgeiz einzelner Mächt'ger
Port in den Kampf ihn spornt , welcher die Welt nur befleckt.
Stritten um Licht wir oder zum Schutze des eigenen Heerdes,
Wie es verklungener Zeit Sohaaren begeistert gethan,
Jeglicher flammte empor, die heiligen Güter zu schützen,
Welche das Leben allein füllen mit edlem Gehalt.
Aber es ist nicht so ; der Willkür frommen die Besten,
Und — o Zwiespalt ! — stumm gilt es zu tragen das Joch ;
Denn, wo gegen Gewalt sieb Gewalt auflehnet, entspringet
Oft nur so grösseres Leid durch den entfesselten Drang.
Desshalb schliess1 ich mich zu dem wogenden Treiben des Tages,
Weithin füllt es die Welt, doch es bedeutet ja nichts.
Was ihr verfechtet, so ruf ich hinaus, ist klein und vergänglich,
Hasten sich Tausende auch müde in eifriger Gluth.
Bringet Erlösung der Welt, bringt Heilung den nagenden Uebelu,
Dann mag rasseln das Schwert, Blumen zertreten der Fuss;
Dann sei jeglicher Bau des Friedens zertrümmert, und prächtig
Treibe das Leben verjüngt aus der Zerstörung empor.
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Milow: Gedichte.
So doch kehr1 ich mich ab und schaue zum Trost in die Schöpfung,
Die in erhabener Kuh1 rollet den sicheren Kreis;
Ueber die ewige Pracht hochragender säuselnder Wälder,
Ueber die Fluren, bewegt leise von fächelndem Hauch,
Folgt mein Auge der Sonne, die , schwimmend im goldenen Dufte,
Andacht weckend und gross, ferne im Westen verschwebt.«
Eine schöne, des Mannes würdige Gesinnung spricht aus den
Worten (S. 191):
»Seid nnr alle im Kreis stets treffliche Väter und Mutter,
Wollt ihr dem eigenen Sein Würde verleihen und Werth.
Vieles versäumten wir selbst ; so lasst ein Geschlecht uns erziehen,
Welches mit stärkerer Hand stützet die wankende Welt.
Ueber das pfäffische Wesen lesen wir S. 194:
»Kennst du im Innern mich auch, doch fragst du mich zweifelnd,
Geliebte,
Was einst lehren ich will unserem Kiude von Gott,
Gott! Vieldeutig erscheint dies Wort, nicht möcht' ich's erklären,
Ringsum forsch* er darnach, frage die Pfaffen nur nicht.
Machten sie d'rob zum Schurken ihn gern, nicht soll es ihn schrecken,
Ist es ihr schlauester Kniff, ist es der frechste zugleich.«
Und S. 195:
»Unseres Amtes ist nur, vor Wahn ihn immer zu schützen,
Dass er mit eigenem Blick suche den waltenden Gott;
Sucht er in Kämpfen ihn auch, nur der, den selbst er gefunden,
Wird ihm ein Tröster und wird einzig der rechte ihm sein.«
Wie wahr wird S. 196 des Fürsten hohe Bestimmung
und der Missbrauch absolut istisch er Willkürherrschaft
geschildert :
»Arg noch ist's in der Welt, du wirst viel Schmerzliches sehen,
Das von den Sternen uns nicht, das von den Menschen uns kommt.
Oftmals blutet ein Volk, dem alles zum Glücke sich einte,
Zwäng* es ein Einzelner nicht rauh in das schimpfliche Joch.
Ach ! Wer kann sie verstehen die gewaltigen Beherrscher der Erde,
Dass sie der Macht nicht auch dauernd vereinen den Ruhm !
Auf dem Throne geboren zu sein, viel ist es dem Edlen,
Welcher, erwählt vom Geschick, auch als ein Würd'ger sich
weist.
Ohne verzehrendes Bingen vermag er zu wirken, zu schaffen,
Was er des Guten ersinnt, spiegelm ihm Tausende gleich ;
Jeglicher sieht ihn und dränget ihm zu, nicht braucht er sich Liebe
Erst zu gewinnen, genug, wenn er sie nicht sich verscherzt.
Wenige fassen es aber, sie stützen zumeist auf Gewalt sich,
Statt in der sicheren Hut treuer Bewund'rung zu ru'hn.
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Spfelhagen: Paust und Nathan.
149
Unrecht säen sie ans, sie hegen Verrath nnd Parteikampf,
Wär's nnwissentlich anch, eben nur, weil sie so klein;
Denn, wo Schwächliche herrschen, zerspalten sich alle in Hader;
Nur die Grösse vereint alles in Liebe um sich.
Wer das Falsche verfolgt, braucht Helfer und schädigt die Sitten,
Niedrige findet er leicht, welche ihm dienen nm Lohn.
Da giebt's rings ein Jagen, es sinkt das Verdienst in der Schätzung;
Einzelne rauben, derweil And're verschmachten in Noth.
Und S. 198:
»Wanket das Recht, so trag es mit Muth auf rüstigen Schultern
Fort durch die Schlacken der Zeit, dass es in Keine besteh*.
Blühet die Lüge, so pred'ge die Wahrheit und merk* es für immer :
Meistens geziemet dir g'rad, was du am schwersten vollbringst« :
Der elegische, speciell idyllische Ton herrscht in den 15 neuen
>mit Weib nnd Kind« Überschriebenen Gedichten vor. Von den
schon in der ersten Ausgabe erschienenen Gedichten zeigt sich die
schone Verschmelzung des Natur- und Liebelebens vorzüglich in
den Dichtungen : Frühling(S. 8), Vorfrühling (S. 10), stilles
Lied (S. 15 u. 16), auf dem Berge (S. 27 u. 28). An frischer
lebendiger Naturzeichnung reioh sind die Gedichte: Der Herbst
(8. 36), im Gebirge (S. 87— 41), Seefahrt (S. 47 n. 48), im
Herbste (S. 63 und 64, 65—67), von d er Alpenwand (8. 114),
im Sommer (S. 115), am Waldessaum (S. 116), Waldes-
Uille(S.117), Herbst (S. 118), Abend im Gebi rge (S. 119).
Die früher etwas pessimistische Anschauung in einzelnen Gedichten hat
sieh in den neu hinzugekommenen geklärt, wie die hier mitgetheilten
Beispiele zeigen. Wir bezweifeln nicht, dass das besonders in
Schilderungen des Natur- und Liebelebens glückliche Talent des
Herrn Verfassers, welchem selbst während des letzten Krieges eine
freundliche Muse lächelte, uns noch mit mehreren gelungenen dich-
terischen Schöpfungen beschenken wird.
v. Reichlin-Meldegg.
fmut und Nathan, ein Vortrag von Friedrieh Spielhagen.
Berlin. Verlag von Frans Duneker. 1867. 27 8. 8.
Der bekannte Herausgeber des Sonn tagsblattes, einer
Zeitschrift »für Jedermann aus dem Volke« , hat diesen Vortrag
am 18. December 1866 im Saale des Berliner Handwerkervereins
gehalten. Die Sprache ist edel und schön und die Durchführung
der Parallele reich an Gedanken , wenn man gleich ein Bedenken
hat, ob ein solcher Vortrag für das Verständniss von Handwerkern
geeignet ist, nnd ob die aufgezählten Aehnlichkeitsmomente die
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ISO
Splelhagen: Fetst und Nathan.
Entwicklung der Parallele rechtfertigen. Der Vortrag setzt näm-
lich die genaueste Kenntnis* des Inhaltes der beiden Dichtungen
Göthe's und Lessing's, ja selbst eine genaue Kenntniss des
Charakters und Lebens dieser beiden Dichter voraus. Dies ist aber
eine Voraussetzung, die kaum auf die grössere Masse der so ge-
nannten Gebildeten, geschweige denn auf einen Handwerkerverein
eine Anwendung zulasst. Doch sehen wir von dieser subjectiven
Beziehung des Vortrages ab und halten wir uns an den objectiven
Bestand desselben. Wir erhalten jedes Jahr einen oder einige
Fauste. Schon der Anfang dieses Jahres bringt uns einen neuen.
> Faust ist ein Typus, sagt Leutbecher in seiner Schrift über
den Faust von Göthe (1838) S. 93, wovon jeder eine mehr oder
minder gelungene Kopie ist und nehmen kann, worin jeder also
ein fruchtbares Thema für seine Einbildungskraft, für sein Denken,
für seinen Menschenhass und für seine Menschenliebe, für seine
Gläubigkeit und seine Abergläubigkeit, für seinen Schmerz und für
seine Freude findet« ^ Daher diente er den Dichtern auch von
jeher zu Allem und damit wird es auch so bleiben. Er diente und
dient wohl auch noch ferner als Held des Lustspiels und der Tra-
gödie , als Held des Romans und des Epos , er konnte and kann
noch heute im Melodrama, im Vaudeville, sogar im Ballet auftre-
ten. Kurz, Faust war und ist ein Name, eine Idee, und diese
Idee konnte und kann, sobald sie einmal in eine nach Ideen hun-
gernde und lungernde Welt von Dichtern und Literaten eintrat
und eintritt, einem Menschen zu Theil werden, welcher ihr die
bunte Jacke eines Hanswursts anzog, oder einem andern, der sie
in eine Mönchskapuze oder in einen Tartüffe versteckte, oder
einem dritten, dem es gefiel, sie sogar in einen Journalisten
zu verkleiden, der überall seine literarischen Fluggedanken
oder seine politischen Saalbadereien auslegt; oder sie konnte
endlich einem Manne von Geist zu Tbeil werden, der sie mit
Liebe und Erbarmen empfing, von allem ihr um- und ange-
legten Unrath und Schmutz sie säuberte, in seiner eigenen Glorie
sie verherrlichte und in der edelsten Haltung und Fassung erschei-
nen Hess.« Die Faustidee kehrt in den verschiedensten Gestalten
unter unsern Literaten immer wieder, daher die vielen Werke
über die Faustsage, über den Göthe'schen Faust und nun auch
die Faustparallele. Man will aus der Gähmng der über die Schran-
ken des Endlichen hinausstrebenden Faustseele Allerlei herauskochen
und das Produkt in einen Paratlelismus mit der Faustidee bringen.
So hat im vorigen Jahre Licentiat Dr. P. K leiner t in einem
Vortrag vor dem evangelischen Vereine zn Berlin zn zeigen ver-
snobt, dass ans dem rechten Faust ein August in werden muss,
als wenn das ganze orthodoxe evangelische Glaubensbekenntniss als
Embryo im Dr. Faust stäcke und zuletzt in Augustins kirchlichem
Systeme zum Durchbruche zu kommen hätte. Jetzt wird uns von
FrUdrioh Spielhagen gezeigt, dass der wahre Faust ein
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Spielhagen: Faust und Kathan.
161
Nathan werden mnss. Gewiss wird jeder vorurteilslose Denker
den die Religion objectiv- betrachtenden Nathan, der die religiösen
Anschauungen seines Urhebers , Lessings, vertritt, dem von der
Wirrniss eines zerfahrenen Lebens zur Glaubensseligkcit und zum
kirchlichen Fanatismus aufsteigenden Augustin vorziehen, wenn
auch der letztere heilig gesprochen worden ist. Trotzdem ist aber
Faust eben so wenig ein Nathan, als ein Augustin, wenn gleich
die religiösen Anschauungen Fausts gewiss mit der Anschauungs-
weise Nathans mehr übereinstimmen, als mit der Augustins. Die
Verschiedenheit zwischen Faust und Nathan springt wohl mehr in
die Augen, als die Wahlverwandtschaft, welche von dem Herrn
Verf. nachgewiesen werden soll. Darum beginnt er auch mit der
leichteren Arbeit, der Entwickelung der Verschiedenheit. Der erste
Blick in die beiden Welten, die Welt Faust's und Natban's, ist
fS. 6) verschieden, wie »Tag und Nacht, wie Sttd und Nord,
Occident und Orient« (nach der Beziehung zu den vorausgehenden
Gegensatzgliedern werden hier wohl besser »Orient und Occident«
gesagt) »und, wie sich auch das Bild erweitert und wie auch die
Scenerie wechselt, es bleibt der melancholisch mächtige Hinter-
grund hier, der sonnig lachende dort.« Auch in den handeln-
den Personen, wenn man vom Hintergrunde absieht, zeigt sich
die Verschiedenheit, der Gegensatz (S. 8). Zuerst wird mit den
einerseits Faust und anderseits Nathan umgebenden Personen be-
gonnen. Für Saladin und Sittah wird keine Parallele in Faust
gefanden. Sieht es mit den andern Parallelen besser aus? Zuerst
Gretchen und Recha. Der Herr Verf. sagt über beide S. 9:
»Nur in Jugend, Schönheit und Herzensgüte sind sich die lieben
Kinder gleich ; damit endet aber auch die Aehnlichkeit.«
Geistvoll und anziehend ist die Entwicklung des Unterschiedes.
»Ob der Dichter, heisst es S. 10, indem er Rechas Schwärmerei
för den Tempelherren sich so bald abkühlen lässt, nur die Ab-
sicht gehabt hat, der glücklich-leichten Lösung des Verhältnisses
zwischen den jungen Leuten, die sich hernach als Geschwister um-
armen sollen, vorzuarbeiten — bleibe hier dahingestellt. Jeden-
falls müssen wir ihm dafür Dank wissen und jedenfalls kann der
Gegensatz zwischen dieser kühlen Rechaliebe und der
heissen Leidenschaft Gretchens nicht grösser sein.
Ja um so grösser ist dieser Gegensatz, als das naive
nnreflectirende Gretchen sich erst allmälig in diese Leiden-
schaft hineinsingt und sinnt und träumt, bis dann freilich
ihre Seele davon erfüllt ist, wie der Thautropfen vom Sonnenschein,
bis sie dann ihr Alles an diese leidenschaftliche Liebe setzt und
in dieser allesverschlingenden , maasslosen Leidenschaft zu Grunde
geht.« Gretchen singt sich in ihre Leidenschaft nicht hinein. Der
Dichter schildert die Liebe, wie sie entsteht. Sie bedarf nicht, wie
die andern Faustscenen, des Zaubers und der Magie ; sie übt durch
rieh selbst den Zauber, die Magie. Der erste Eindruck entscheidet.
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102 Spielhagen: Faust und Nathan.
Ehe Greteben das Lied vom Könige von Thnle singt, deutet sie in
einem kurzen Monologe den Eindruck an, den Faust's Begegnen
auf sie machte:
Ich gäb was d'rum, wenn ich nur wüsst\
Wer heut' der Herr gewesen ist« u. s. w.
Verräth sie uns doch vor dem Absingen ihres Liedes ihren
Seelenzustand, wenn sie sagt:
>Es ist so schwül und dumpfig hie
Und ist doch eben so warm nicht drauss\
Es wird mir so, ich weiss nicht wie —
Ich wollt*, die Mutter käm' nach Haus.
Mir läuft ein Schauer über'n ganzen Leib —
Bin doch ein thöricht und furchtsam Weib.«
Zeigt sie uns doch in ihrem Gespräche mit Faust in Marthas
Garten durch ihr naives Geständniss, dass der erste Eindruck ent-
scheidend war.
»Gesteh' ich's doch! ich wusste nicht, was sich
Zu eurem Vortheil hier zu regen gleich begonnte ;
Allein gewiss, ich war recht bös' auf mich,
Dass ich auf euch nicht böse werden konnte.«
So ist das Lied vom Könige von Thüle nicht der Grund,
sondern die Folge ihrer Liebe. Sie singt allein ein Lied, dessen
Grundton ist: Die Liebe nimmt das theure Andenken der Liebe
mit sich in's Grab. Der Dichter lässt sie nicht singen, um sich
in die Liebe hineinzusingen, sondern sie singt solche Lieder, weil
sie hebt. Aehnlich verhält es sich mit dem Liede: »Meine Ruh'
ist hin.« Das Lied vom Könige von Thüle ist ein Lied der Sehn-
sucht, das andere ein Lied des Liebeskummers; beide bringen sie
nicht in die Liebe hinein, sondern drücken die schon in ihr vor-
handene Liebe aus. Der Herr Verf. findet selbst zwischen Gret-
chen und Recha keine Aehnlichkeit als »Jugend, Schönheit und
Herzensgüte.« Das sind aber keine charakteristischen Ueberein-
stimmungspunkte, und auf diese Art könnte man noch viele andere
dramatische Mädchencharaktere zusammenstellen. Haben wir nicht
auch m Thekla und Klärchen »Schönheit, Jugend und Herzens-
güte«? Ein Parallelismus muss andere üebereinstimmungsmomente,
als solche in so vielen Charakteren wiederkehrende, aufstellen. Von
Recha und Gretchen geht der Herr Verfasser zum Tempel-
herren und Valentin über. Die Unterschiede springen wohl in
die Augen; aber wo sind die Uebereinstimmungspunkte ? »Recha
und Gretchen, heisst es S. 10, ähneln sich ungeföhr so weit, wie
sich die Brüder: der Tempelherr und Valentin ähneln.« Wir haben
gesehen, dass die Aehnlichkeit Recha's und Gretchen's sieb nur in
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Spiel h»gen: Faust und Nathan.
168
»leben Merkmalen zeigt, welche sie noch mit einer grossen Anzahl
anderer M&dchencharaktere gemein haben, dass sie also keine charak-
teristische Aebnlichkeit ist. Sieht es mit dem Tempelherren nnd
Valentin anders ans? Der Herr Verf. gesteht selbst, dass sie sich
Ähneln wie Rccha nnd Gretchen. Diese Aebnlichkeit ist aber so,
dasa es kanm zwei verschiedenere Charaktere geben kann, als diese.
Die Verschiedenheiten, welche der Herr Verf. anfuhrt, sind kenn-
xeichnend, die Unterschiede nicht. Eben so verhält es sich mit dem
Tempelherren nnd Valentin. »Es ist etwas Kurzangebundenes
Gerades, Kriegsmännisches in Beiden". Warum? Weil sie beide
Soldaten sind, weil sie beide den allgemeinen soldatischen Charak-
ter haben. Diesen aber haben sie mit vielen andern, von Dichtern
geschilderten Soldaten Charakteren gemein. Charakteristisch ist nicht
die Uebereinstimmung , sondern nur der Unterschied. Der Herr
Verf. furchtet selbst (S. 12), dass man über die »Zusammenstel-
lung« von dem Derwisch Al-Hafi und dem Famulus W a g n e r
»lächeln« möchte. Er will aber doch ein »tertium comparationis«
finden. Wir können diese Merkmale nicht als charakteristische
Vergleichungspunkte annehmen (denn solche müssen wir bei einer
Parallele haben), dass beide »Gesellschafter, Vertraute und Freunde
der beiden Helden« sind, dass Al-Hafi »viele Partien Schach mit
Nathan gespielt«, was erst noch zu erweisen wäre, und Faust mit
Wagner »Schweinsleder gebundene Tröster gelesen hat«, was eben-
falls noch belegt werden müsste. Denn nach der Art und Weise,
wie Faust den Wagner beim ersten Gespräche aufnimmt und entlässt,
scheint er keine Lust zu verspüren, mit ihm Folianten durchzu-
lesen. Taxirt er doch den Wagner nach dessen Entfernung:
»Wie doch dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet,
Der immerfort an schaalem Zeuge klebt,
Mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.«
Mehr Gewicht wird darauf gelegt, dass beide »in ihrer Art
Fanatiker« sind. Es mag wohl sehr bezweifelt werden, ob Wagner
ein Fanatiker ist. Auch Al-Hafi's Fanatismus ist mehr als zwei-
felhaft. Nicht minder steht gewiss in Frage, dass beide »Pedanten«
sind ; denn, wenn der Pedantismus unzweifelhaft ein Kennzeichen
Wagner's ist, so kann man doch Bedenken haben, ob Al-Hafi ein
Pedant genannt werden kann. Zum Pedantismus gehört noch etwas
Anderes, als eine blosse einseitige Anschauung der Welt.
Wir kommen zur Parallele der Daja und Martha (S. 12).
Auch hier wird eine charakteristische Aehnlichkeit schwer zu finden
iein. wenn sich gleich die Unterschiede von allen Seiten zeigen.
9*gt doch der Herr Verf. S. 13 selbst, dass man »im Grunde
der armen Daja Unrecht thue, wenn man sie in die
Gesellschaft der Martha bringe.« Thut man also »der armen
Dsjft nicht Unrecht«, wenn man eine Parallele zwischen ihr nnd
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154
Spieibagen: Faust und Nathan.
der Kupplerin Martha zieht? Verschiedenheiten finden wir 8. 18
trefflich angedeutet, nirgends aber eine auch nur scheinbare Ueber-
einstimmung.
Komisch ist die Zusam raenstellung des Patriarchen und
des Mephistopheles. Dass zwischen einem Geistlichen vom
Kaliber des Patriarchen und dem Teufel des Volksglaubens Aehn-
lichkeit vorhanden ist, wird nicht bezweifelt werden können. Allein
auch hier wird die Aehnlichkeit wohl nicht anders sein , als wie
sie sich zwischen der Personifikation des bösen Prinoips und schlech-
ten Charakteren auch in anderen Stücken, wie in Franz Moor,
Richard III. u. 8. w. nachweisen lässt. Das Charakteristische fehlt
auch hier.
Wenn es sich mit den die Helden der beiden Dramen um-
gebenden Personen so verhält, ist vielleicht die Uebereinstimmung
zwischen den beiden Helden selbst eine mehr kennzeichnende ? Auch
hier ist der Herr Verf. glücklicher in der Entwicklung der Unter-
schiede, als der Berührungspunkte, die, wie die Unterschiede,
charakteristisch d. h. wesentlich von allen andern Dichtungen unter-
scheidend sein müssen. Wenn der Herr Verl. »im ganzen Umfange
der Poesie« nur diese zwei Gestalten, Nathan und Faust findet,
welche ein »so gleicher, bestrickender Zauber um fliesst«, so ist ein
aus subjectiver Stimmung, aus dem Eindruck einer Dichtung her-
vorgegangener Gemütbszustand unmöglich als ein charakteristischer
Uebereinstimmungspunkt anzunehmen. Auch andere Dichtungen der
Griechen und Römer, in neuerer Zeit Shakespeares, und selbst Dich-
tungen Schiller's und Göthe's (wir nennen Wallenstein, Teil, Tasso,
und von Shakespeare vor Allem Hamlet) rufen in uns ähnliche
Stimmungen hervor, ja, was die Ursprünglichkeit der dichterischen
Schöpfen gskraft betrifft, übertreffen viele dramatische Dichtungen
Shakespeares die höchsten Leistungen der neueren Klassiker. Der
Herr Verf. gesteht selbst zu, dass or »im ganzen Umfange der
Poe*sie« keine zwei Gestalten finden kann, »welche in Allem, in
jedem Gedanken, der durch ihre Seele zieht , in jedem Ge-
fühl, das ihr Herz erfüllt, in jedem Wort, das aus ihrem
Munde geht, in jeder Miene, in jedem Blick, in Haltung
und Bewegung so verschieden wären.c Treffend wird
S. 16 diese Verschiedenheit nachgewiesen. Welches ist aber das
kennzeichnende Uebereinstimmungsmoment dieser beiden in Allem,
in jedem Gedanken, Gefühl und Wort, in jeder Miene, Haltung und
Bewegung, in jedom Blick verschiedenen Helden? In der »straffsten
Spannung der Gegensätze«, sagt der Herr Verf. S. 16, »liegt ge-
nau der Berührung 9- und Vereinigungspunkt.« Die Dramen »schei-
nen durch eine Weltwoite getrennt« , sie gehören aber »in ihrem
tiefsten Grunde zusammen , wie der Schmetterling zur Cchrysalide.
In Faust wird »das Räthsel aufgegeben, in Nathan gelöst.« Faust
kann — das ist der Gedanke des Herrn Verf. — keinen andern
Weg in der Vollkraft seiner Entwickelung nehmen, als den, sich
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Spielhsgen: Frost und Nathan.
155
tu einem Natlian zu gestalten. »Vom Himmel durch die Welt zur
Hölle* ist das Losungszeichen der Sage. So spricht auch der
Theaterdirektor im Vorspiel zum ersten Theil des Göthe'schen Faust :
»Vorwärts mit hedächt'ger Schnelle
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle !«
Die Entwickelung Faust 's als des Repräsentanten der Menschen-
natur in ihrem Hoffen, Ahnen, Streben und Irren, Zweifeln und
Verzweifeln, in ihrem Falle und ihrer Läuterung darf aber nicht
nach der Idee einer starren befangenen Dogmatik oder der dogma-
tischen Faustfabel mit der Höllenfahrt schliessen. Das Losungs-
zeichen der Menschheit ist: Aus der Nacht zum Licht, aus der
Hölle durch die Welt zum Himmel. Auf diesem Wege aber wird
aus Faust ein Nathan. Wir müssen der »aufsteigenden Linie t
folgen. Sie ist »in Wirklichkeit zwar der unendlich schwierigere
mühevollere, für die rückschauende Betrachtung aber bei Weitem
übersichtlichere Theil des Weges « (S. 21). Auch das »Judenthum*
wird zum Berührungspunkt gemacht, wie wohl Faust von einem
Juden so wenig an sich hat, als Nathan, wenn gleich letzterer
wenigstens dem Namen oder der äussern Schablone nach als Jude
gilt. Faust kann nämlich »nicht leben, weil er es seinem Hoch-
muth nicht abringen kann , nur ein Mensch unter Menschen zu
sein.« Das führt den Herrn Verf. auf Ahasver, den ewigen
Juden, der »nicht sterben kann, weil er des Menschen Sohn von
seiner Thüre gestossen und mit des Menschen Sohn die Liebe, die
nicht boffahrtigist und Alles duldet.« »Ihre (Fausts und Ahasvers) hof-
föhrtige, unduldsame, hochmtithige Lieblosigkeit, heisstesS. 22 weiter,
das ist eben ihre Unseligkeit. Nur die Liebe kann sie retten. Das
»Ewig- Weibliche «, das heisst, die Liebe ziehet den Faust hinan,
hinauf in den Himmel. Nur die Liebe kann den Ahasver erlösen;
Nathan ist der erlöste Ahasver, der sich selbst erlöst hat.« Das
ist*8 ja eben. Ahasver ist nicht mehr Ahasver, sobald er Nathan
ist, so wenig als Nathan jemals Ahasver sein kann. Man kann
den Ahasver nicht als den Embryo des Nathan bezeichnen; denn
aus einem Ahasver kann kein Nathan werden; darum ist auch
jener nach der Sage »der ewige Jude.« Aus Ahasver kann so
wenig Nathan werden, als aus dem thalmudistischen Judenthum
eine reine Philosophie ; denn letztere ist erst dann da, wenn erste-
res, so wie jedes auf blinden Autoritätsglauben gestützte Kirchen-
system, vollständig negirt ist. Gerade so verhält es sich mit Faust.
Wenn Faust Nathan ist, ist er eben nicht mehr Faust. Der kranke
Weltschmerz des letzteren gebiert die heitere Lebensanschauung des
ersten nicht. Der Herr Verf. denkt sich dabei immer nur Faust,
wie er in seinem Streben in bestimmten Scenen des ersten Theiles
dtrgestellt wird. Man muss sich aber, wenn es sich um die Faust-
töcbtung zum Gebrauche einer Parallele handelt, nicht eine Seite
Pmt'*, sondern den ganzen Faust, wie er im ersten und zweiten
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166
Spielhagen: Faust und Nathan
Theile dargestellt ist, denken. Schon im Prolog im Himmel wird
die Rettnng Faust's angedeutet, wenn von diesem die ewige Liebe
in der Gestalt des Herren sagt:
»Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient;
So werd* ich ihn bald in die Klarheit fuhren,
Weiss doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt,
Dass Blütb' und Frucht die künftigen Jahre zieren.«
Dahin gehören ferner die Worte des Herren in demselben
Prologe :
»Es irrt der Mensch, so lang er strebt« ....
»Steh1 beschämt, wenn du bekennen musst:
Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange
Ist sich des rechten Weges wohl bewusst« ....
»Des Menschen Tbätigkeit kann allzuleicht erschlaffen,
Er liebt sich bald die unbedingte Ruh* ;
D'rum geb' ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen.«
Geben nicht Faust's Rede in der Waldhöhle, sein Religions-
gespräch mit Gretchen, sein Dialog mit Mephistopheles nach der
Walpurgisnacht ein Zeugniss von einer edleren Natur in Faust
neben derjenigen, welche mit der Personifikation des Bösen oder
Mephisto Verwandtschaft bat? Zeigt sich dieses Streben mitten
unter mancherlei Verirrungeu nicht auch im zweiten Theile ? Welch
ein schönes Zeugniss von Faust's Gesinnung und Streben legen
seine Schlussworte vor dem nicht geahnten Tode ab:
»Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit, wie das Leben,
Der täglich sie erobern muss.
Und so verbringt, um rangen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht* ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Aeonen untergehn. —
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Geniess1 ich jetzt den höchsten Augenblick.«
Wir dürfen uns darum Faust nicht anders denken , als ihn
Göthe sich entwickeln lässt. Wenn wir einen Nathan aus ihm
machen, verwandeln wir ihn in eine andere Person. Faust wird
auch im zweiten Theile kein Nathan. Immer dauert die Sehnsucht
nach einem Andern, immer die Unzufriedenheit mit der Gegenwart,
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Spielhagen: Fauat und Nathan.
das Vorwärtsstreben über die menschlichen Trieben gezogene Schranke.
Aus Faust soll sich ein Nathan gestalten? Dann ist aber Faust
kein Faust mehr und er bleibt Faust auch im zweiten Theile. Das
Antecedens zu einem Faust liegt so wenig in Nathan, als in Faust' s
Charakter die Ajilage zu einem Nathan ist Die Verschiedenheit
ist da, aber die Aehnlichkeit nicht. Auch chronologisch geht Nathan
(1779) dem Faust (1790) vor. Allerdings ist es richtig, was S. 24
gesagt wird, dass »Faust und Nathan durch die Jahrtausende
gehen.« »Millionen und aber Millionen, heisst es daselbst, werden
mit Faust's gramesdüstern Augen in das Dunkel des Menschen-
lebens starren und von Nathans leuchtender Stirn die Antwort
lesen, c Aber darum werden die Fauste immer keine Nathane und
diese keine Faustnaturen sein. In der Parallele wird auf die äussern
Verhältnisse, in welchen die beiden Dichter lebten, bei der Wür-
digung des Einflusses auf die beiden Dichtungen zu viel Gewicht
gelegt. Bei Göthe wird S. 26 auf Strassburg, Lili, die Schweiz
und Italien, auf Göthe' s »ganze Welt voll Sonnenschein« hinge-
wiesen und doch schrieb er »die Tragödie des Weltschmerzes. Das
scheint ein Räthsel und ist doch keins : Um das tiefste Weh schil-
dern zu können, muss der Dichter die höchste Lust erfahren haben.«
Nathan wird »im schönsten Sinne des Wortes das heiterste aller
Gedichte« genannt. Dabei wird auf das wenig Heitere in Lessings
Leben aufmerksam gemacht, auf die Wintermonate der Jahre 1778
and 1779 in Wolfenbüttel, den Schnee auf den Dächern und in
den Strassen des Städtchens, den melancholischen Aufenthalt, auf
die misslichen Geldverhältnisse des Dichters, auf das Dunkel in
seinem Leben und daran S. 27 die Schlussreflexion geknüpft: »Um
die höchste Seligkeit zu schildern, muss der Dichter das tiefste
Weh erfahren haben. < — Nicht das äussere Glück hat in Göthe die
Dichtung des Weltschmerzes hervorgerufen und nicht die dunkeln
Wolken am Horizonte von Lessings Leben dessen heitere Dich-
tung. Nicht, weil die Verhältnisse so gestaltet waren, dichteten
sie so; sondern, obschon die äusseren Umgebungen so beschaffen
waren, dichteten sie dennoch die mit diesen contrastirenden Schöpf-
angen. Das Genie steht über den äussern Verhältnissen, über
Sonnenschein und Schnee; es bahnt sich seinen Weg mitten durch
sie hindurch. Das Glück konnte Göthe's Geist eben so unthätig
machen und abstumpfen, als der Mangel desselben Lessing; aber
der Gemus ist stärker, als das äussere Verhältniss. Nicht von
Glück oder Unglück, sondern von dem Genius stammt die dichte-
rische Schöpfung. Ein anderes Moment dagegen sollte als Einfluss
auf die Dichter und ihre Werke mehr hervorgehoben werden. Das
ist die Zeit, in welcher sie lebten. Noch kein Genie bat sich ganz
fom Charakter der Zeit emancipirt. Diess zeigt sich auch bei
Nathan und Faust. Nathan fällt in die Zeit der deutschen
Aafklürnngsperiode, welche in der Geschichte der Philoso-
phi$ des vorigen Jahrhunderts noch immer nicht hinreichend ge-
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188
Bpielhagen: Faust und Nathan.
würdigt ist. Die deutsche Aufklärungsperiode in der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts ist wesentlich von der gleichzeitigen
französischen Aufklärungsperiode verschieden. Jene spricht sich
zwar gegen den positiven OfFenbarungsglauben aus; aber sie setzt
an die Stelle desselben den religiösen Vernunftglauben, sie ist
wesentlich rationalistisch und hängt mit der WolfFschen Schule,
in welcher Kant seine philosophische Bildung empfing, zusammen.
Die Grundideen, an welchen sie hält, sind Gott, Freiheit und Un-
sterblichkeit. Ihre philosophische Wirksamkeit bezieht sich auf den
Menschen und seine Glückseligkeit. Die Lebensanschauung ist hei-
ter und praktisch, die DurcbfUhrungsmittel zum Lebenszwecke popu-
lär oder volksthümlich , sie wirkt dem Aberglauben entgegen und
sucht gewisse vernünftig religiöse Anschauungen zum Gemeingute
der Menschheit zu machen. Ihr Streben ist ein durchaus edles und
achtungswerthes. Namen, wie Mendelssohn, Garve, Engel,
Abbt, Sulz er, die beiden Reim ums, Basedow, Stein-
bart und viele andere, naoh verschiedenen Richtungen hin zu
einem Ziele wirkend, gehören ihr an. In vielfacher Hinsicht hängt
Lessing mit ihr zusammen und sein Nathan ist der schönste
dichterische Ausdruck derselben. Ein Geist heiterer und prakti-
scher Weisheit, einer über den positiven, in einzelne dogmatische
Formeln gebannten Glaubensbekenntnissen stehenden und diese vom
objectiven Standpunkte aus beurtheilenden Vernunftreligion wehet
durch diese ganze Diohtung. Ein neuer Geist der deutschen Lite-
ratur beginnt mit der Sturm- und Drangperiode. Die grössten
deutschen Dramatiker, G ö t h e und Schiller, gehen aus ihr her-
vor. Eine Unzufriedenheit mit dem Bisherigen, ein Streben nach
einem höheren Ziele, ein Ringen und Kämpfen in Kunst und Wis-
senschaft gegen die Selbstgenügsamkeit der Vergangenheit und
gegen die dem höchsten Ziele entgegenwirkenden Schranken zeigen
sich in Wissenschaft und Kunst. Ist nicht Faust der dichterische
Ausdruck dieser Zeit mit seinem Weltschmerze, seinem unbefrie-
digten Streben ? So stellen Lessing und Göthe ihr eigenstes,
innerstes Wesen in Nathan und Faust dar ; aber in beiden
Dichtungen spiegelt sich auch der Charakter der Zeit wieder, wel-
cher sie angehörten. Der Charakter der Zeitperiode eines Dichters
aber hat einen grössern Einfluss auf ihn und seine dichterische
Gestaltnng, als Sonnenschein und Schnee.
v. Reichlin-Mtldegg.
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Hesse: Gemeines Civilrecht
169
Hesse, CÄ. Av Dr. Jusiizrath und Gerichtsamtmann : Taschen-
buch des gemeinen Civilr echte. Jena, Druck und Ver-
lag von Fr. Mauke. 1867. ö. 8. 477. Preis: 1 Hihlr. 20 Sgr.
Repetitorien , Taschenbücher wie tabellarische Gesammtüber-
sichten Uber einzelne Fachwissenschaften verdienen wegen ihrer
weiten Verbreitung und wegen des bedeutsamen Einflusses, den sie
auch auf die strebsamsten und tüchtigsten Jünger der Wissenschaft
in den letzten Semestern des akademischen Lebens ausüben, eine
fortgesetzte kritische Beachtung. Ihr eigentlicher Vortheil und mit-
hin ihre Hauptaufgabe besteht darin, dem Studierenden das zeit-
raubende und den Geist wenig anregende Excerpiren von Com-
pendien und Collegienheften, nicht aber deren eingehendes Studium
zu ersparen. Sie sollen nicht Brücken gleichen, auf denen man
bequem über die Tiefen der Wissenschaft hinweggeht, sondern einen
klaren und bestimmten Ueber- und Rückblick gewähren auf das
ganze durchmessene Gebiet.
Für Juristen fehlte bisher ein solcher Rück- und Ueber-
blick über ihre wichtigste Disziplin, das heutige römische Recht.
Zwar befinden sich Repetitorien, unter denselben vor allem das des
>gesammten gemeinen Rechts von J. Bender« in Vieler Hand;
aber theils sind sie zu knapp, theils zu breit, letzterwähntes sicher
zu ungleichmässig gearbeitet, um auf die Dauer sich behaupten zu
können. Wir erblicken daher in dem uns vorliegenden Taschenbuch
des gemeinen Civilrechts von Hesse eine recht willkommene und
dankenswerthe Gabe. Von einigen ganz selbstständigen Ausfüh-
rungen des Verfassers abgesehen, ist es auf Grund der Lehrbücher
von Mackeldey, Wening-Ingenheim, v. Vangerow,
Puchta, Arndts, Brinz, Sintenis und Savigny's System
mit in allen seinen Theilen gleiohmässiger Sorgfalt gearbeitet. Auoh
tindet man in den wesentlichen Doktrinen das preussisebe Laad-
recht, Österreich, bürgerl. Gesetzbuch und das königl. sächs. bür-
gert. Gesetzhuch angezogen, und noch ist die Brauchbarkeit des
Werkchens durch ein zum Nachschlagen bequemes alphabetisches
Register erhöht werden.
Im Texte hat der Verfasser nebenbei auch die wichtigsten Oon-
troversen berührt oder doch wenigstens durch ein (?) angedeutet. Die
Darstellung ist angenehm, man möchte fast sagen, wohlthuend. Da
sich zu diesem Vorzuge der einer fast durchgängig präcisen Fas-
sung der Begriffe gesellt: so kann man ohne Bedenken das vor-
liegende Buch als das gelungenste Unternehmen auf dem beregten
Gebiete bezeichnen.
Bei einer zweiten Ausgabe des Werkchens indessen, die vor-
aussichtlich nicht lange ausbleiben wird, wären doch einige Aen-
derungen erwünscht:
Zunächst würde, schon bloss äusserlich betrachtet, der fort-
laufend gedruckte Text durch Einrücken der Ausnahmen gewinnen.
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leo
Hesse: Gemeines Civilrecht.
Das kleine hiermit dem Verleger zugemuthete Opfer würde in völlig
erreichter Ueber- nnd Durchsichtigkeit reichlichen Ersatz finden.
Sodann wäre bei den langen Aufzählungen einzelner Fälle, wie
z. B. S. 201 i. d. M., S. 264, S. 433 — 434, eine Grnppirung der-
selben, nach allgemeinen EintheilungsgrUnden unschwer herzustel-
len, dem Lernenden gewiss aber sehr förderlich. Insbesondere würde
es sich ferner als ein vorzüglich geeignetes Mittel, zur geistigen
Herrschaft über den Stoff zu erheben, empfehlen, hier und da Fra-
gen einzustreuen über den Unterschied ähnlicher Klagen, verwandter
Becht sin sti tute u. dgl. Einige Beispiele aus dem Erbrecht, der ge-
wöhnlichen crux tironum, mögen unseren Wunsch erläutern: Wel-
ches ist der Unterschied zwischen der rei vindicatio und heredi-
tates petitio — zwischen dem beneficium abstinendi und der Ke-
pudiation der Erbschalt — zwischen dem Erwerb durch Substi-
tution und Accrescenz — zwischen der mortis causa donatio, dem
Legat und Fideicommiss? In welchem Verhält niss steht das jus
deliberandi zum beneficium inventarii?
Im Einzelnen sei noch bemerkt: Auf S. 269 ist behauptet,
dasa Gütergemeinschaft dem Begriff der Ehe angemessen sei —
eine Auffassung, in welcher wir als Anhänger des Gütereinheits-
systems nur eine petitio prineipii erblicken können. Ferner wäre
S. 388 bei der transmissio ex capite in integrum restitutionis die
Auseinanderhaltung zweier Fälle erwünscht, nämlich einmal, wenn
in der Person des Delaten die Möglichkeit zur restitutio in inte-
grum begründet war und nach seinem Tode das begründete bene-
ficium nach allgemeinen Grundsätzen auf die Erben Ubergeht, und
zum anderen, wenn nur dem Erwerb ein Hinderniss entgegen stand,
die Erben mithin die restit. in integr. aus ihrer Person heraus
verlangen. Noch wäre auf S. 415 eine anschaulichere Absetzung
der Pupillarsubstitutionen hinsichtlich der Quarta Falcidia gelten-
den Regeln nicht zweckmässig.
Alle diese Wünsche und Ausstellungen aber, deren Berück-
sichtigung wir dem Verfasser anheimgeben, gründen sich im Gan-
zen auf so unwesentliche Mängel, dass wir zum Schluss das be-
sprochene Werk nur mit warmer Empfehlung begleiten können.
Möge es recht vielen sich heranbildenden Juristen auch in den
Ferien und auf Reisen ein treuer zuverlässiger Gefahrte werden!
Dr. jur. O. Sticke!.
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Ii. U. HEIDELBERGER 1887.
JM1RBÜCHER DER LITERATUR.
Brambach Guih Corpus itiscriplionum Rhenanarum consilio et
aucioritate aoeietatis antiquariorum Rhenann e ed.', praefaiu*
est FHdr. HiUcheliua. Etberfeldae. 1867. XXX JV u. 390 8. 4.
Während man die lateinischen Inschriften des Rheingebiets
bis in nnser Jahrhundert herein nur in zerstreuten Lokalschriften
verzeichnet findet, indem Niemand daran dachte sie in einem Werke
zu vereinigen, vielleicht im richtigen Gefühle, dass erst die einzel-
nen Museen und Sammlungen gut veröffentlicht sein mttssten, ehe
ein Mann das Ganze vereinigen und mit kritischem und histori-
schem Apparat versehen könnte: fing Steiner, nachdem Hüpsch
und Lehne schon weiter in lokaler Hinsicht um gegriffen hatten,
zuerst an die rheinischen Inschriften in einem opus zu sammeln;
seine erste editio im Jahr 1837 war dürftig und sehr mangelhaft ;
auch die zweite Ausgabe 1851 hat, um nicht mehr zu sagen, schon
durch die eigenthümliche ganz antiquirte Einrichtung nur den
Wunsch lebhafter fühlen lasscu, dass endlich eine würdige Samm-
lung veranstaltet werde. Und allererst konnte man von den Alter-
thumsvereinen am Rheine eine solche Gesammtausgabe erwarten;
es haben nun zwar auch eiuzelne Vereine, wie der Nassauer u. a.
die in ihren Bereich gehörenden Inschriften veröffentlicht, und
ebenso einzelne Gelehrte wie namentlich Janssen ihr betreffendes
Museum bekannt gemacht. Aber an eine rheinische Sammlung
dachte kein Verein, besonders da Lersch, welcher die Inschriften
von Köln, Bonn, Trier u. 8. w. edirte, als vorsichtiger und etwas
bescheidener Mann nicht weiter ging und namentlich die Mainzer
Inschriften, die auch er hier untersuchte, zu besprechen unterliess
oder besser nicht wagte. Da vernahm man mit Freuden, dass
Mommsen im Namen der Berliner Akademie demnächst auch die
rheinischen Inschriften in sein corpus aufnehmen werde. Und wenn
schon hier und da die Befürchtung entstand , dass der gelehrte
und thätigeMann, da er doch nicht alles sehen und wissen kann,
hie und da leicht abirren möchte, besonders wenn er nicht an den
bedeutenderen Orten und Museen sich Hilfe und Unterstützung
verschaffen werde: so war man doch überzeugt, dass in dem cor-
pus aller Inschriften auch für die rheinischen das möglichste ge-
leistet würde, und müsste um so zufriedener sein als unsere In-
schriften in dem corpus inscriptionum nicht fehlen dürften. Man
erwartete daher ohne grosse Besorgniss diesen rheinischen Band,
ond Unterzeichneter, der längst die mittelrheinischen Inschriften
gesammelt hatte, dachte seitdem nicht daran sie zu veröffentlichen.
L1X. Jahrg. 8. Heft. 11
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112
Brambach: Corpus Tnscrlptt. Rhenn.
Da vernahm man nicht ohne eine Art von Befremdnng , dass der
Alterthumsverein in Bonn eine Gesammtausgabe der rheinischen
Inschriften beschlossen habe : und wenn schon diesem Vereine, der
sich ja weitumfassend den Verein von Alterthumsfreunden im Rhein*
htnde benennt, solch ein Werk längst vor den andern Vereinen
am Rhein wohlgestanden hätte: so war doch nunmehr die Zeit zu
einer solchen Sammlung vorübergegangen — oder wollte man in
aller Eile dem schon vorbereiteten Werke von Mommsen Concurrenz
machen? Und noch mehr erstaunte man, dass der Verein nicht
seine alten bewährten Mitglieder, z. B. den Prof. Freudenberg, um
nur einen zu nennen, damit beauftragt, sondern die editio einem
ganz jungen Mann überlassen hat , der kaum die Studienjahre *
zurückgelegt. Freilich die ältern hätten es abgelehnt, wie Lersch
es unterliess. Und wenn ich sonst bei jungen Leuten den Muth
lobe: so meine ich doch, dass der junge Gelehrte ausser Muth auch
Umsicht haben müsse um nicht sofort ein Werk zu ediren, das
lange Zeit und viele Vorarbeiten erfordert. Denn vorliegendes Werk
ist nicht »seit Jahren vorbereitet« wie die VerlagEhandlung eben
anzeigt, indem erst anderthalb Jahre vorher der Verein den Ent-
schluss dazu fasste und wohl nicht früher der Herausgeber Bram-
bach, seit Kurzem Professor in Freiburg, die Vorbereitung zu
diesem Werke begonnen haben wird, wenn er vielleicht auch schon
als Gymnasiast die Bonner Inschriften betrachtete. Ich kenne einen
berühmten Epigraphiker Norddeutschlands, der schon vor 40 Jahren
die Zahlbacher Inschriften hier abschrieb ; derselbe wird aber, wenn
er eine Edition der Mainzer Inschriften vorlegte , nicht sagen, sie
sei seit 40 Jahren vorbereitet. Doch da derselbe Brambach im
August 1864 den für Bonner Studenten ausgesetzten Preis >über
die der Zeit nach bestimmten und noch vorhandenen Inschriften
des Rheingebiets »erlangt hat (das Accessit erhielt ein Mainzer Dr.
K. Bone) : so ist der Verein just nicht sehr zu tadeln , wenn er
mit dem Gekrönten in Unterhandlung trat, aber er hätte die Jugend
desselben zügeln und auf keinen Fall sofort, nachdem kaum mehr
als ein Jahr verflossen, mit dem Drucke beginnen sollen, die Herrn
in Bonn mussten die Arbeit ermessen können und nicht glauben,
dass so ein opus so schnell mit Glück absolvirt werden kann. Es
wundert mich nur, wie der Vorstaud des Vereins im November
vorigen Jahres, wo das Werk fast fertig war, noch folgendes Ur-
theil über es ausstellen konnte: »Bei der Bearbeitung ist auf alles
das gewissenhaft Rücksicht genommen, wodurch ein solches Werk
dem Geschichtsforscher wie dem Philologen brauchbar und not-
wendig wird, die Quellen sind einer kritischen Untersuchung unter-
worfen und über ihre Benutzung ist Rechenschaft gegeben. Ferner
sind die erhaltenen Monumente aufs neue untersucht und ihr jetzi-
ger Zustand sowie ihre Geschichte aktenmässig festgestellt. End-
lich ist eine bis in die letzten Cousequenzen verfolgte geographische
Anordnung der Inschriften gewählt, wie sie sonst mit gleicher
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Brambach: Corpus Inscriptt. Rbenn.
163
Strenge noch nicht in epigraphischen Werken durchgeführt worden
wfc s. w.« Wir wollen sehen, ob wir dies Urtheil unterschreiben
töunen und zu dem Bebufe die Mainzer Inschriften einer kleinen
Durchsicht unterwerfen, nachdem wir vorher über das was der
Verfasser der Sammlung vorausschickt, nur wenige Worte ge-
macht haben.
Die praefatio enthält zwei Abhandlungen: die erste de legio-
nibus quae in Germania utraque militaverunt übergehen wir hier
ganz, eiumal weil sie nicht gerade zum Werke gehört und dann
weil wir anderwärts darauf zurückzukommen gedenken. Keinenfalls
erfüllt sie aber, was der Vorstand am 1. November aussprach:
»Die reichlichen Ergebnisse, welche sich für die Kunde unserer Vor-
zeit aus dem Studium der Inschriften gewinnen lassen, sind in
einer historischen Einleitung besprochen worden.« Bei solcher Er-
klärung erwartet man weit mehr als nur eine Geschichte der rhei-
nischen Legionen. Die andere Abhandlung hat die Ueberschrift
de inscriptionum Rhenanarum editoribus. Nachdem hier zuerst der
Cmfang für diese rheinische Sammlung bestimmt ist, so beginnt
der Verfasser ganz gut, die inschriftlichen Werke chronologisch
anzuführen und mehr oder weniger zu beurtheilen. Zuerst gedenkt
er des ersten Herausgebers rheinischer Inschriften deB Mainzer
Hutticb; dessen zweite Ausgabe vom Jahr 1525 Apianus >puram
putam transcripsitc was nicht richtig ist, indem schon die erste
und zweite Inschrift bei Apianus anders als bei Huttioh abgetheilt
sind, und nicht wenige andere mehr Zeilen zeigen. Wir kommen
darauf nochmals im Verzeichniss der Schriftsteller zurück; dort
werden wir auch beifügen, welche Bücher der Verfasser weder hier
noch dort anführt. Wenn auch hier bei der Beurtheilung der
Schriftsteller nicht alle können besprochen werden, so waren doch
die editores prineipes oder Sammelwerke nicht auszulassen, von
denen der Verfasser viele nicht kennt. Weiterbin wird der Zeit-
folge nach der holländischen Schriftsteller gedacht, wobei wir nur
bemerken wollen, dass es uns unangenehm berührte, dass der treff-
liche Janssen hier wiederum gegen die Angriffe Fröhners aus dem
Jahr 1858 in Schutz genommen wird; ich meine, wenn ein junger
Mann in Uebermuth und Eile sich an altern vergreift, so wollen
wir es lieber vergessen als immer wieder auftischen und zwar
beider wegen. Janssen bedurfte weder damals noch jetzt dieser
Vertheidigung, besonders da Fröhners Büchlein hier gar nicht vor-
kommt. Nach üeberspringung des Preussen-Landes boren wir, dass
nach Hutticb lange die Mainzer Inschriften vernachlässigt wurden,
Iis auf Fuchs, cuiu» Studium laude magna dignum est, licet non
cuneta ipse viderit sed aliorum libris schedisque plerumque usus sit
— ich meine dies gilt von allen Herausgebern — oder bat Brambach
alles gesehen V und wie ist es mit den nicht mehr vorhandenen
Titeln? die muss man doch aus Büchern und Schriften nehmen;
oder wie machte es Brambach bei solchen? Aus den Scheden,
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164
Brambach: Corpus Inacriptt. Rheim.
welche Fuchs benutzte , führt er nur Gamans an; er hätte noch
viele anführen können wie Mich. Schweighäuser Jesuit, Fontana
Ingenieur, General Welsch , Hauptmann Kuhn , Pfarrer Severus u.
a. m. Bei den Inschriften Nassaus fehlt der höchst verdienstvolle
Habel, dessen unermüdlicher Thätigkeit das Museum in Wiesbaden
fast die Hälfte seiner Inschriften verdankt: wenn derselbe auch
nicht im Verzeichnisse der Schrittsteller steht, so mag dies daher
kommen, dass er unter seinem Namen kein Buch edirte, wohl aber
trefllicbe Aufsätze, namentlich Uber Inschriften in die Nassauer
Annalen einrückte; diese scheint aber der Verfasser nicht alle zu
kennen. Jedenfalls durfte Habel hier nicht vergessen werden. Um
weiter nicht zu erwähnen, wie viele Mainzer, welche iu diesem Jahr-
hundert über Inschriften schrieben, hier nicht angeführt werden, wie
Braun, Müller, Haupt, Dahl u. a m. : wird zuletzt noch vielen jetzt
. lebenden Gelehrten Dank abgestattet, qui mihi inscriptionum no-
titiam utilissimam paravernnt. Da auch ich unter diesen aufge-
führt werde, so möge man das nicht so verstehen, als ob ich zu
dieser Edition irgend behilflich gewesen. Denn wenn ich den Ver-
fasser, im Herbst 1863, als er wegen der erwähnten Preisfrage
für Studenten auch das Mainzer Museum besuchte, mit Rath und
That wegen der Inschriften unterstützte: so ahnte ich doch da-
mals nicht — und er äusserte auch nichts davon — dass er irgend
wann an eine Edition der rheinischen Inschriften dachte, und ich
hätte auch damals und später, wenn ich angegangen worden wäre,
meine Hilfe nicht versagt, aber entschieden gerathen die Heraus-
gabe nicht so zu beeilen, um anderes nicht zu sagen.
Auf die Vorrede folget das Verzeichnis* der Auetores praeci-
pae adhibiti, (auf acht Seiten). Bei einem Werke dieser Art
fragt sich eigentlich nicht, welche Schriftsteller vorzüglich adhihirt,
sondern ob die vorzüglichen adhibirt sind. Zu den vorzüglichsten
Schriften gehören hier aber die editiones prineipes, besonders bei
solchen Inschriften die nicht mehr vorhanden sind, dann die
avxoitxai und endlich Sammelwerke. Ich muss aber gestehen, dass
von diesen Werken, was die Mainzer Inschriften betrifft, sehr viele
fehlen, so um nur aus früheren Jahrhunderten anzuführen: Blum-
berg Ulis Druso — aufgerichtete Grabmal 1690 , zweite Ausgabe
1700; Hiegell collectanea — « Mog. 1697; Tenzel dialogi menstrui
1690; Lazius resp. Rom. 1598 (dieser ist mit Vorsicht zu gebrau-
chen); Mömoires de la soc. des antiq. de Cassel 1780; Schunk,
Beiträge etc. 1787 u. a. m. nicht zu gedenken kleinerer Schriften
oder der Arbeiten unseres Jahrhunderts. Unter den Mainzer Schrift-
stellern bespricht er hier wie billig am ersten den editor priu-
ceps Huttich, und gibt hier 14 Stellen an, wo Huttich' s zweite
Ausgabe von der ersten abweicht, mit Beifügung von Apianus, der
nur die zweite benutzte, was, wie wir schon oben sagten, nicht
richtig ist; auch bemerken wir, dass Huttich in der zweiten Aus-
gabe mehr Varianten hat als der Verf. hier meint und dass auch
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Brambach: Corpus Tnscriptt. Rhenn. 165
die veränderte Zeilenabtheiltrag anzugeben war, indem »einer kri-
tischen Untersuchung« nicbt gentigen soll anzugeben, dies sei
plerumque geschehen. Wenn der Verfasser weiter beisetzt, dass
Johannis, welcher sonderbarer Weise unter defl Autoren nicht mit
seinem Namen, sondern unter scriptores aufgeführt ist und falsch immer
Johannes genannt wird, die zweite Ausgabe Huttich wiederholte,
30 tibersah er, dass Johannis in vier Inschriften keine der beiden
Ausgaben respectirte. Wir wollen noch einige Kleinigkeiten in
diesem Verzeichnisse der auctores, immer nur bei Mainzer Sachen
bemerken. Bei den »Abbildungen von Mainzer Altertbttmern« war
anzugeben, dass bereits 6 Hefte erschienen sind. Bei dem »Anti-
quarius vom Main 1740«, den der Verfasser, was mich wundert,
nicht auffand, war auch der »Antiquarius vom Rheine nicht zu
vergessen. Fuchs Geschichte von Mainz ist nicht 4, sondern 8.
Der Katalog des Mainzer Museum ist nicht 1845 erschienen. Eine
meiner Schriften wird ganz mit demselben Titel doppelt angeführt,
andere fehlen. Unter den Manuscripten ist kein Mainzer genannt,
und dennoch gibt es solche über Inschriften dahier und in Frank-
furt und in Wttrzburg u. a. m., wie der Verfasser aus seinen be-
nutzten Büchern abnehmen konnte. Steiner's codex ist nicht 1852
erschienen. Endlich vermissen wir noch ungern die Anführung
von Zell Inschriftenwerk hier in den Titeln, freilich ein Werk das
in Bonn im Verruf ist! Ueberbaupt lag dem Verfasser, was hier
im allgemeinen bemerkt wird, gar nichts daran, die hauptsäch-
lichsten oder recht viele Werke über die vorgelegten Inschriften
einzusehen; dass man manche nur schwer erlangen kann, wissen
wir wohl; aber andere wie die Periodischen Blätter, die Vereins-
raittheilungen , die Quartalblätter des Mainzer Kunstvereins sind
fast noch immer umsonst zu erhalten; andere durch den Buch-
handel, wie Walthers Darmstädter Museum, denn wie kann einer
die dortigen Inschriften mit Gewissenhaftigkeit ediren wollen,
wenn er den neuesten Katalog nicht einsieht! Allein Herr Bram-
bach eilte.
Auf die Vorrede folgen 8 Seiten Addenda et corrigenda; sie
enthalten einmal etwa 65 Inschriften , von denen etwa die Hälfte
früher bekannt war, die andern im Jahr 1865 und 1866 veröffent-
licht wurden, dann stehen hier fast 100 Verbesserungen und Zu-
sätze zu den folgenden Inschriften , so wie noch mehrere Nach-
träge aus dem neuesten Nassauer Heft. Mir scheint ein Buch nicht
genug vorbereitet, zu welchem der Verf. noch während des Druckes
fast zweihundert Nachträge zu liefern für nöthig erachtet. Ans
Mainz b'ndet sich hier unter andern eine Inschrift, die der Verein
im Jahr 1865 erhalten hat; eine andere, welche auf dem nämlichen
citirten Mainzer Blatt ebenfalls steht, ist bereits im corpus ; warum
nicht auch jene? Lachen erregt hier, dass der Weinhändler Salm
durch den Verfasser geadelt wird; auch steht die Inschrift nicht
mehr in dessen Garten, wie der Verf. aus dem citirten Blatte er-
166
Brambach: Corpus Inscrlptt. Rbenn.
sehen konnte, das er also nicht las. Da die Dcdication des Werkes
von der Mitte Oktober ist: so konnten die Inschriften, die während
des Sommers anfgefnnden wurden, wohl auch hier nachgetragen
werden, wenn man sich etwas hätte umsehen wollen, allein die
Eile erlaubte solches nicht: ich will einige hier beifügen:
MARTI ET VIG
TORIAE IN HO
NOR EM DOMVS
DIVINAE L ßlT
TIVS PAVLINVS
ANVLAR VOTO
8VS0EPTO POSIT
■
«
In Oberolm mit noch zwei andern, deren Inschriften hier weg-
bleiben mögen, am 18. Juni gefunden und am 27. bereits in den
Mainzer Unterhaltungsblättern mitgetheilt.
M VAL PVD . . .
L ANTO PLACIDV8
M BIRACIVS INVITVS
C SILVIVS 8ENECIO
PLATIODANNI
VTCI NOVI SVB
CVRA SVA D 8
Gefunden am 12. Juli in Mainz und am 28. ebendaselbst ver-
öffentlicht. Was das Wort der 5. Zeile, das vollständig und ganz
klar ist, bedeutet, weiss ich nicht: wahrscheinlich ist es ein colle-
gium der vier erwähnten Männer (Strassenaufseber ?) des vici novi
d. i. Weisenau, das im Jahr 1253 Vitzenove hiess. Diese In-
schriften theilte ich sogleich einem Vorstandsmitgliede des Bonner
Vereins mit; er hat sie wohl an Brambach nicht übergeben?
Endlich komme ich an das corpus selbst; doch fürchte man
nicht, dass ich es im Yerhältniss zur praefatio bespreche : ich will
ja auch nur besonders die Mainzer Inschriften betrachten. Vorerst
wird am Bache gerühmt: ^dass eine bis in die letzten Consequen-
zen verfolgte geographische Anordnung der Inschriften gewählt sei,
wie sie sonst in epigraphischen Werken mit gleicher Strenge nicht
durchgeführt worden ist.« Dies können wir nicht sagen. Das Werk
beginnt zwar mit Holland , kommt dann nach Preussen , Rhein-
hessen u. 8. w. bis in die Schweiz, aber in den einzelnen Ländern
sind die Orte nicht geographisch geordnet, z. B. wer die Orte
kennt, wird nicht aufeinanderfolgen lassen , Hechtsheim , Latiben-
heim, Weisenau, Jungenfelderau, Bretzenheim; dies wäre jedoch
weniger von Gewicht , wenn es ein Ortsverzeichniss gäbe , wovon
noch spater. Die Mainzer Inschriften haben die Uebersehrift : »Mo-
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Brambach: Corpus Ioscriptt. Rhenn.
167
gontiacum et Castellum Mattiacorum , Mainz, Zahlbach , Kastel.«
genau genommen auch nicht consequent geographisch; auch ist
noch ungewiss, ob Castell jenen Namen führte: ebenso hätte er
Sieila für Zahlbach ansetzen können. Ehe die Inschriften aufge-
führt werden, steht wie auch bei andern Städten ein alphabetisch
geordnetes Verzeichnis» der Strassen, Plätze kurz der Orte, wo die
folgenden Inschriften gefunden wurden, eine Neuerung gegen die
früheren Manieren, worauf wahrscheinlich die belobte »consequente
geographische Anordnung« gehen soll, die auch wir loben würden,
wenn sie nur mit einiger Lokalkenntniss abgefasst wäre; auch ist
sie alphabetisch, was auf keinen Fall consequent geographisch sein
kann. Die Stellen sind zuerst in intra moenia Mogont. und extra
moenia getheilt und hier werden die Mainzer Wnndorliches und
ihnen ganz Unverständliches finden ; es stehen nämlich die jetzigen
Strassen mitten zwischen den unbekannten Wohnungen und Häusern
aus dem Jahr 1520. Und wenn auoh einer weiss, wo Schüffers Haus
war (Schustergasse), oder glaubt, dass Eitelwolf de lapide im Hause
zum Stein (Zuchthaosstrasse 221) gewohnt, so weiss doch Niemand
mehr, wo Gerlach , Geyer, Rosenbach u. s. w. gewohnt haben —
oder weiss der Verfasser hierüber Näheres? — und dann war
zu bemerken, dass die Inschriften im Jahr 1520 dort standen
nicht aber dort gefunden wurden, wie die oben erwähnte In-
schrift aus dem Garten von Salm ganz wo anders und viel frü-
her ausgegraben wurde. So sind von den 82 Stellen , wo nach
dem Verfasser in der Stadt Inschriften aufgefunden wurden, über
12 jetzt unbestimmt, weil ihre Benennung aus dem Jahr 1520
stammt; einige andere fehlen. Noch trauriger sieht es mit den
18 Stellen extra moenia aus; von diesen gehören 9 intra moenia,
die loca in ipsis moenibus incerta gehören wohl auch intra moenia.
Zahlbach, das hier steht, liegt freilich ausserhalb der Mauern, ist
aber ein besonderer Ort, gehört also nicht hierher. Die Kreuz-
kirche steht anch hier am unrechten Orte u. s. w. Wir bedanern,
dass bei dieser Eintheilung der Verfasser nicht einen Mainzer um
Rath gefragt oder eine genaue Karte, die freilich nicht überall
geholfen hätte, zu Rathe gezogen hat. So ist diese geographische
(?) Scheidung von keinem Nutzen, weil sie weder für unsere Zei-
ten passt, noch genau noch vollständig ist.
Indem wir uns jetzt zu den Inschriften wenden, um zu Beben,
»wie die Quellen einer kritischen Untersuchung unterworfen« und
wie dieselben benutzt und die erhaltenen Steine »neu untersucht«
sind ; wollen wir nicht hie und da eine Inschrift ausheben und an
dieser oder jener unsere Bemerkungen anknüpfen, damit man nicht
meine, wir suchten nur solche, wo wir nicht einverstanden sind,
oder wo wir tadeln können , sondern wir wollen mit der ersten
anlangen und auch die zunächst folgenden betrachten , indem wir
bei ihnen schon finden werden, was von der ganzen Sammlung
oder doch von den Mainzer Steinen kann gesagt werden. In der
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Brambach: Corp«« Iwcriptt. Rhenn.
I
ersten Mainzer Inschrift No. 974 steht in der zweiten Zeile FESTNVS,
indem ein I über dem N steht, wie Fuchs' Zeichnung gibt, wäh-
rend er und alle folgenden FESTINVS schreiben; der Verfasser
bat die Abbildung vorgezogen, wiewohl bekanntlich Fuchs und
Ältere bei den Abbildungen nicht genau sind; in der folgenden
Zeile steht CI, welchen Strich über I weder die Abbildung noch
der Text von Fuchs haben ; ich weiss auch nicht, was er bei Bram-
bach bedeutet. Die editio princeps ist nicht angeführt, nämlich
Hanris. hist. rom. auch nicht Ring's Preisschrift; letztere fehlt unter
den auctores. Endlich steht in den Anmerkungen TABVLARIaM
L. Dies soll wohl heissen > Lehne schreibt tabulariam«, er hat aber
im Text tabularium und schlug nur in einer Anmerkung TABVLARIAM
vor. — Die zweite Inschrift 975 zeigt GENIO und in der Aura.
NO Fuchs; die lateinische editio von Fuchs, die der Verf. hier
nicht citirt, wiewohl sonst gewöhnlich, hat GENIO, was doch auch
anzuführen war; hier fehlt wieder Ring. — Bei 976 conjecturirt
der Verf. MENENIVS, wie schon vor ihm Becker, was anzuführen
war; andere Conjecturen sind eben so wenig erwähnt; unten ist
einmal B statt Lersch zu schreiben. — No. 977 ist noch im Main-
zer Museum, wiewohl der Verfasser ein Fragezeichen hinstellt, und
doch in Anmerkung beisetzt »gegenwärtig ist noch wenig(er) les-
bar«; daher hätte der Verfasser die Inschrift im Museum selbst
betrachten sollen. — Bei dem nächsten steht vidi, wo kein Zwei-
fel obliegt. — No. 979 ist mehr zu bemerken, denn es ist ein
Sarg, was auch anzugeben war, vom Jahr 1520, welche Angabe
auch fehlt ; der Verf gibt die editio princeps, erwähnt aber weder
hier noch sonstwo, wie derselbe Huttich in der zweiten Ausgabe,
oder wie andere die Zeilen abtheilen, was doch zur Geschichte der
Inschriften gehört. Auch habe ich weder hier noch anderwärts
herausgebracht, nach welchem Gesetz die Varianten angegeben
werden; hier sind nämlich die Lesarten von Ap. Sm. Gr. ange-
führt, nicht aber die von Fuchs, Lehne, Steiner; endlich fehlen
hier noch drei Editoren, Johannis, Lazius , Wien. — Aus diesen
ersten Nummern sehen wir zur Genüge, dass der Verfasser ohne
bestimmte Grundsätze die Inschriften sammelte und, »eine kri-
tische Untersuchung c der frühern Lesarten bei den verlornen In-
schriften fehlt. Bei diesen muss man die editio princeps zu Grunde
legen, was der Verf. auch meistens gethan hat, aber dann nicht
nach blosser Willkühr oder »in Eilec die eine Lesart eines fol-
, genden avxojttov oder Editors anführen, die andere nicht; eher
kann man bei Conjektnren mit Auswahl verfahren ; besser ist aber
besonders, da »eine kritische Untersuchung und eine Rechenschaft
der Benutzung« versprochen ist, bei verlorenen Inschriften alle
Conjekturen vorzulegen , woran der Verfasser bei seiner Eile gar
nicht denken konnte. Ebenso unbestimmt sind die vorhandenen
Inschriften gegeben. Hier gentigte die Lesart mitzutbeilen, welche
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Brambach: Corpus Iuecrlptt. Rheim.
der Verfasser abschrieb ; nur bei zweifelhaften Stellen war es noth-
weu&ig, die Lesart der frühern, besonders der editio princeps an-
zugeben ; bei solchen unbestimmten rausste des Verfassers Autopsie
eintreten, besonders in Museen, die er besuchte. Wir wollen sehen,
ob diese Grundsätze, die sich jedem Inschriftensammler Ton selbst
ergeben müssen, beobachtet sind. No. 983 ist eine der sehr weni-
gen Inschriften, die aus Huttich's Sammlung (1520) noch erhalten
sind. Dieselbe hat der Verfasser im Mainzer Museum verglichen.
Wir finden aber bei seiner Vergleichung und auch bei seinen Be-
merkungen manches zu erinnern : Zeile 5 gibt er EVENTV . MIL.
8o hat schon ed. pr. Ap. Joh. was der Verf. nicht bemerkt; Fuchs
EVENTVI was wieder nicht bemerkt ist (obgleich die Stellen
ausser Job. citirt sind); ihim folgen Lehne, Külb, was bemerkt ist ;
auf dem Steine stand ohne Zweifel eher EVENTVI als EVENTV,
denn es ist ein grosser Zwischenraum zwischen V und M, der nicht
nur durch einen Punkt zu ersetzen ist ; also lesen richtig die avronxai
Fachs, Lehne, Kttlb. In der 8 Zeile der nümlichen Inschrift lesen
alle vor Lehne P . P . P . F ; Lehne PRP.F; unser Verf. fand
bei der Vergleichung P P F ; auf dem Steine aber sind sichtbare
ßpuren von R zwischen den zwei P. Unten bemerkt der Verf.,
dass Hütt ich die 8 Zeilen in 10 gebe, richtig für die erste Aus-
gabe, die zweite gibt sie in 9 Zeilen. Wir sehen also, dass auch
bei den vom Verfasser selbst verglichenen Inschriften eine noch-
malige Vergleichung wohl nothwendig ist, sowie dass derselbe wie
bei den verloronen Inschriften in seinen Varianten und Bemerkun-
gen willkürlich und ungenügend verfahrt. — No. 985 ist nicht
mehr vorhanden , also fehlt periit ; dasselbe gilt noch von folgen-
den No. 1065, 1066, 1083, 1084, 1085, 1086, 1088, 1089 (hier
steht periisse videtur), 1091, 1105, 1115, 1120, 1121, 1123, 1125,
1126, 1128, 1131, 1132, 1138, 1151 (in Dieburg weiss näm-
lich Niemand etwas von diesem Steine), 1190, 1210, 1240, 1245,
1249, 1251, 1254, 1255, 1258, 1259, 1265, 1270, 1271, 1280,
1287 (wo periisse opinor) u. s. w. bis 1309 wo Mainz und Zahl-
bach endet Dass diese Steine nicht mehr existiren, kann man aus
den angezogenen Schriften ersehen. Bei andern fehlt die Angabe,
dass sie im Mainzer Museum sind oder es steht dabei ein Frag-
zeichen , da der Verf. sie doch im Museum finden konnte , z. B.
977, 1042, 1043, 1045, 1106, 1252, 1282, 1285 u. s. w. End-
lich sind die No. 1036, 1037, (1109, wo der Besitzer nicht an-
gegeben ist) 1110, 1114, 1122 nicht mehr im Besitz der Personen,
die bei Brambach erwähnt sind. Letzteres konnte man nicht aus .
Büchern ersehen, sondern man musste an Ort und Stelle sich er-
kundigen. Mir aber genügt eine Ausgabe nicht, in welcher bei
335 Nummern über 50 Inschriften , was Dasein und Ort betrifft,
das Richtige nicht gegeben ist.
Wir haben oben gesehen , wie wir bei jeder der ersten In-
schriften bald im Text, bald in den Anmerkungen eine oder die
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170 Brambach: Corpus Inscrlptt. Rheim
andere Berichtigung und Verbesserung anbringen konnten und so
könnte dies , wenn wir weitläufig sein wollten , beinah tiberall
geschehen, doch gentige das Oegebene und wir wollen noch Eini-
ges im Allgemeinen bemerken. Der Verfasser hat viele In-
schriften im hiesigen Museum verglichen oder von ihnen Ab-
drücke erhalten , von vielen aber auch nicht, darunter von man-
chen, deren wiederholte Vergleichung wtinschenswerth gewesen wäre ;
so sind No. 977, 1028, 1074, 1102—1105, 1109, 1112 b, 1113,
1114, 1130, 1171, 1175, 1267, 1297, welche in Mainz sind, und
in Wiesbaden die No. 1022, 1030, 1032, 1041, 1042 u. 8. w.
nicht verglichen, nicht zu gedenken der Mainzer Inschriften, welche
in Mannheim, Kassel und an andern Orten sind (doch in Mann-
heim hat Brambach einige betrachtet) ; auch tibergehen wir hier
jene Steine, von denen ihm ein Papierabdruck vorgelegen. Wir
wollen einige anführen, wo seine Vergleichung nützlich gewesen
ENA Fuchs gab IV ENA mit
wäre. No. 1104 steht Zeile 3 IV|
kleinem Zwischenraum, ich IVENA; hätte Brambach den Stein,
der schwer zu sehen ist, verglichen, ich würde seine Lesart vor-
ziehen. No. 1130 v. 5 gibt er MOC, alle andern MOU; es ist wich-
tig, wie hier steht (vgl. 1067). Noch mehr hätten wir eine neue
Vergleichung gewünscht bei solchen Mainzer Inschriften , die in
Mannheim, Kassel, Darmstadt sind. Doch müssen wir leider wei-
ter gestehen , dass Brambachs Vergleichung oft nicht befriedigt,
d. h. das richtige nicht gibt, wohl weil sie in Eile geschehen ist.
So hat, um noch einige Beispiele anzuführen No. 981, welche Bram-
bach abschrieb, in v. 1 nicht Annaeus, sondern Annaus, daher im
index Annaeus unrichtig steht, da es ohne dies kein nomen gentile,
sondern ein barbarischer Name ist ; v. 2 steht deutlich F nicht I,
endlich v. 3 BETA8I. mit Punkt, statt dessen Brambach Spuren
von V schreibt, die freilich nach dem Punkte zu folgen scheinen.
Unter den Herausgebern fehlt hier Kat. 122. — No. 99 b. steht
v. 7 TAD nicht TAA , wie Brambach nach einem Abklatsch gibt
— No. 1002 war Zeile v. 7 ET nicht wegzulassen, wenn es schon
jetzt übertüncht ist; in der Ann. steht unrichtig, dass ich in der
Mainzer Zeitschrift SATYRN habe, während sie SATVRNIN gibt
u s. w. um nicht das erste hundert zu überschreiten, unter denen
bei 40 nicht mehr vorhanden und viele so klar sind, dass keine
Abweichung oder Vergleichung nöthig war. Bei den Zahlbacher
Steinen, bei denen in Wiesbaden u. s. w. könnten wir noch viel
mehreres mittbeilen, was unrichtig oder zweifelhaft gelesen ist.
(Das Wiesbadner Museum untersuchte er nicht, wie wohl dort über
70 Nummern stehen; und das h eis st »eine neue Untersuchung < !)
Uebrigens geRtehen wir gerne, dass die wiederholte Vergleichung
mehreren Steinen zum Vortheil gereicht hat, dass der junge Mann
manches richtiger gelesen hat als dio frühern wie Lehne, Ktilb,
Becker, ich. In so fern hat die neue Ausgabe einiges Verdienst.
Sonst aber wtisste ich wenig an ihr zu rühmen. Namentlich lag
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Brambach: Corpus Inscriptt. Rhena
171
e* nicht im Plane des Verf. zur Erklärung der Inschriften Beiträge
m Uefera, was wir um so mehr bedauern, da Brambach in kleinen
Schriften schon manches Brauchbare Uber die rheinischen Steine
veröffentlicht hatte. Ebenso sind die Erklärungen anderer frühe-
ren fast nirgends erwähnt, so dass man beim Gebrauch dieses
Buches die andern Ausgaben nicht entbehren kann; es gehört je-
doch zur Geschichte der Steine, auch ihre früheren Deutungen zu
notiren und zu wissen, ßbenso gehört zur Geschichte der Inschrift
anzugeben, wenn irgend wo eine Abbildung vorliegt, was nur höchst
selten bemerkt ist. Bei einigen ist nicht angegeben, dass die In-
schrift metrische Theile enthält wie 1052, 1053, 1239, 1243. Dass
nicht alle Editoren immer citirt sind, haben wir schon gesagt,
können auch nicht erwarten, dass man immer weiss, wo jede In-
schrift einmal gedruckt wurde; ich meine aber, die Herausgeber
seien nach chronologischer Ordnung zu stelleu, die editio prineeps
immer zuerst, was sehr oft nicht geschehen ist. Noch einzelne Be-
merkungen, welche theilweise obenhin schon gehörten. Es gibt
noch keinen dritten Band der Mainzer Zeitschrift wie No. 1034
u. 8. 256 steht. No. 1052 und 1053 halten wir die Abbildung
nicht für einer genius, sondern für das Kind. No. 1002 ist nicht
anf dem Markte gefanden; dieser ist nicht gleich dem Höfchen
wie 998 steht. Die Jabresangabe der Auffindung fehlt sehr oft,
z.B. 976, 977, 978, 979 a, 981, 984 bei vorhandenen, ebenso bei
verlornen die Zeit ihrer Entdeckung oder ersten Bekanntmachung,
z. B. 980, 983 (um nicht die zehn erston Inschriften zu über-
schreiten). Gewöhnlich ist nicht angegeben, dass die Inschrift auf
einem Sarge steht wie 979, 1048, 1071, 1081, 1088, 1121, 1238
(1241 steht, ohne Deckel, hier in v. 8 steht FILIIETHE nicht
PILITETHE wie der Verf. gibt) u. s. w. Auch genügt mir nicht
zur Beschreibung des Bildes, wenn da steht armatus, aquilifer
oder ähnlich; ich meine, das Bild wäre mit mehreren Worten zu
beschreiben u. s. w. <
Wir übergehen, nm weiter zu kommen , vieles bei den Main-
zer, und schier alles, was wir bei den Zahlbacher und Kassteler In-
schriften zu bemerken hätten und finden am Ende derselben die
laterculi nach den Legionen zusammengestellt, wobei also »die
geographische Anordnung in letzter Consequenzt nicht beobachtet
ist. Aebnliches gilt vom letzten Abschnitt, der die columnae mi-
Hariae enthält, wo sämmtliche Meilensteine des Rheingebietes
aufgeführt werden , ohne dass vorn irgend angegeben ist , wo
der Meilenstein nach Fundort hin gehöre, was doch zu wünschen
gewesen wäre. Die Zusammenstellung war hier gerade nicht noth-
wendig, weil Brambach im Jahr 1865 eine besondere Abhandlung
Ober diese Inschriften veröffentlicht hatte, die hier vollständig zu
Grunde liegt. Hier können wir die Kürze und Eile eher entschul-
den, daher wird nicht angegeben , warum No. 1965 dem obern
Germanien abgesprochen wird; wir setzteu ihn nach Niederingel-
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Brambach: Corpus Inscriptt. Rhenn.
heim, was nicht beigefügt wird , Dttntzer nach Mainz , was ange-
geben ist. Ebenso steht bei dem folgenden nicht, dass die Mainzer
Zeitschrift ihm das J. 219 anweist, was ich um so mehr angemerkt
wünschte , als die Vermuthung von Brambachs oben erwähntem
Mitconcurrenten Dr. Bone herrührt. Aber der Verfasser beküm-
mert sieh wenig um die Ansichten Anderer; er gibt keine eigenen
Erklärungen, die anderen lässt er hinweg.
Am Schlüsse des Werkes folgen appendices, welche enthalten
loca incerta (hier ist ein Würfel in Wiesbaden erwähnt, No. 2006,
der ohne Zweifel nicht römisch ist; Brambach hätte ihn dort
sehen sollen, allein er las daselbst nur eine Inschrift), nomina
lapioidarum Augustaa Trevirorum repertae (sollten bei Trier
stehen) , inscriptiones aliunde in terras Rhenanas inlatae (hier
sind die Inschriften nicht angeführt , sondern angegeben , wo sie
stehen , ausser einer) ; inscriptiones falso pro Rhenanis habitae
(wie so eben) ; inscriptiones graecae litteris latinis exaratae
et amuletum hebraico- latinum und endlich inscriptiones spuriae.
Hier findet sich mit Rocht unser berühmter Stein in memoriam
Drusi Germanici , wiewohl nach Hiegell's Angabo im Jahr 1688
ein echter Stein mit derselben [nschrift dabier gewesen war, also
vorn erwähnt werden musste. Warum das Bronztäfelchen Apollini
Melpom. etc. unecht sein soll, sehe ich nicht ein ; Brambach hätte
es im Museum in Mainz ansehen müssen. Ueber No. 37 gibt es eine
ganze Literatur, von dor hier fast nichts steht ; diese hätte man
als längst für falsch anerkannt (vgl. was ich schrieb Bonn. Jahrb.
XVII. S. 206), weglassen können. Bei dem folgenden No. hätte
sollen bemerkt werden , dass die Punkte unten stehen, wie in der
Mainzer Zeitschrift angegeben ist.
Die Indices, deren es fünfzehn sind, wurden mit Fleiss aus-
gearbeitet, uud da wollen wir nicht kleinlich suchen, welches Wort
fehlt oder ob vielleicht eines an unpassender Stelle steht. Dagegen
beklagen wir sohr, dass ein index locorura fehlt, so dass man das
ganze Buch oder die betreffende Gegend durchsuchen muss, um
den Ort zu finden, dessen Inschriften man will kennen leruen.
Durch diesen Mangel ist der Gebrauch des Buches wesentlich er-
schwert, und wir vermissen diesen index locorum so sehr, dass wir
den Verein in Bonn bitten , einen solchen nachliefern zu lassen ;
er würde sich dadurch den Dank der Besitzer des Werkes in hohem
Masse verdienen.
Nach dem, was wir bis hieher über die Mainzer Inschriften
sagten, folgt von selbst, dass'weder das, was bei der Ankündigung
und Versendung versprochen worden ist, noch was man von einem
corpus in8criptionum überhaupt erwarten kann, geleistet worden ist,
noch vom Verfasser geleistet werden konnte: denn das Buch ist
in Eile entstanden. Und da bedauern wir nicht wenig den Ver-
fasser, dass er bei seinem grossen Fleisse und seinen schönen
Keuntnissen nicht befriedigt und nicht befriedigen konnte; man
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Brambach: Corpus Inscriptt Rheim.
173
kann bei dem angestrengtesten Fleisse, den sicher der jnnge Ver-
fasser anwendete, nicht in einem viertel oder halben Jahre die
Inschriften von Mainz und der Umgegend nach Geschichte und
Kritik erschöpfend behandeln; das hätte der Verfasser schon bei
den holländischen Inschriften einsehen sollen, wiewohl dort Janssen's
treffliche Vorarbeiten vorlagen. Es ist nicht genug in einigen
Museen einige Inschriften zu sehen, andere nicht ; von einigen sich
Abdrücke zu verschaffen, von andern nicht. Viele Inschriften be-
dürfen keiner Autopsie, wie denn dies von vielen Mainzern gilt,
die der Verfasser ganz unnöthigerweise abgeschrieben hat. Dagegen
gibt es nicht wenige, wo eine Vergleichung nothwendig erscheint,
and diese muss man kenneu, ehe man ein Museum betritt, damit
man weiss, was hier zu thun ist; diese zweifelhaften mussten alle
und (Iberall angesehen und abgeschrieben werden, wenn wahr seiu
soll, dass »die erhaltenen Momente aufs neue geprüft«, was von
sehr vielen nicht gesagt werden kann. Da der Verfasser ein schar-
fes Auge hat, so beklagen wir sehr, dass er diese Inschriften nicht
verglichen hat, um so mehr, da manche bessere Lesarten durch
ihn gewonnen wurden. Denn wir erkennen mit Freuden an, dass
der Verf sowohl bei manchen erhaltenen als auch bei einigen ver-
lorenen das ßiehtige gefunden hat — nicht bei 40 unter den 400
Mainzern. Dies ist fast auch der ganze Gewinn bei dem theuern
Bache. Denn für Erklärung ist äusserst wenig geschehen, dies lag
nicht im Plane des Herausgebers, was nicht zu loben ist; beson-
ders da wie schon gesagt, die frühem Erklärungen fast alle igno-
rirt sind, so dass die frühern Ausgaben nicht entbehrt werden
können, was doch z. B. von Mommsens helvetischen Inschrifteu
gesagt werden dürfte. Diese und andere Mängol schreiben wir der
Eile zu, mit der dieses Werk ins Leben gerufen wurde: denn an
Fleiss fehlte es dem Verf. nicht; und so sind wohl nur wenige
Inschriften vergessen d. h. in den betreffenden Büchern nicht be-
merkt worden; von hier vermissen wir fasst nur einen Ring mit
D. HEBGVLI (vgl. Mainzer Zeitschrift I. 8. 506). Dagegen schrei-
ben wir derselben Eile zu, dass die Töpfernamen ganz weggelassen
sind, denn die Bemerkung, sie seien in Fröhners Büchlein enthal-
ten, hätte bei dem Tadel, den dieses findet, vielmehr auffordern
sollen, die Töpfernamen mit geographischer Consequenz mitzuthei-
len. Aus demselben Grunde fehlen wohl auch die christlichen In-
schriften; und doch gehören manche dieser namentlich in Trier
bis in die römische Zeit hinauf.
Schliesslich wiederholen wir, dass wir nicht gerne vorliegen-
des nicht gelindes Urtheil abgegeben haben ; und was wir über
die Maiuzer Inschriften bemerkten, glauben wir ebenso über die
andern mittelrheinischen, die uns näher bekannt sind, wie die
Aassauischen, Ober- und Kurhessischen, Badischen, Bayerischen etc.
beweisen zu können. Ob die niederrheinischen Inschriften mit mehr
Sorgfalt und Genauigkeit gegeben sind, überlassen wir den dorti-
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174 Welsai Beiträge sur Kenntnis der FeldspathbÜdung.
gen Gelehrten zn beurtheilen und wünschen, dass überall eine ge-
naue Betrachtung vorliegenden Buches geschehe , schon damit
Mommsens Edition, die hoffentlich durch diese Concurrenz nicht
unterlassen wird, endlich ein Werk liefere, das den Anforderungen
entspricht und so viel als möglich die Benutzung der vorhergehen-
den Ausgaben unnöthig macht. Prof. Bit schl, dessen Vorrede auf
dem Titel angezeigt ist, hat eigentlich keine zu dem Buche geschrie-
ben. Denn was als Vorwort in deutscher Sprache von ihm zum
prospeotus beigegeben und hier beigebunden ist, ersetzt nicht, was
auf dem Titel versprochen wurde. Derselbe hat bald nach dem
Erscheinen dos Werkes im Leipziger Centraiblatte S. 1380 (vom
15. Dec.) eine Erklärung gegeben, deren Bedeutung ich nicht ganz
erratben kann; sie bezieht sich auf die Dedikation von Brambach
und das Vorwort von Ritschi. Druck und Papier sind gut und schön ;
das Werk gerade nicht wohlfeil.
Anm. Im neuesten Monatsbericht der Berliner Akademie 1866.
S. 758 steht, dass nicht Mommsen, wie ich bisher mit Grund
annahm, sondern Hübner die Inschriften von Britannien, Gallien
und Germanien ediren wird. Klein.
Beiträgt *wr Kenntniss der Feldspath- Bildung und Ampenduna auf
die Entstehung von Quarztrachyt und Quarzporphyr. Von Ch.
E. Weiss, Dr..ph.t Lehrer an der k. Berqschule tu Saar-
brücken. Eine von der holländischen Gesellschaß zu Haar-
lem am 19. Mai gekrönte Preisschrift. Mit zwei Tafeln (Natuur-
kundta* Verhandelten , Deel XXV). Haarlem , De Erven
Loosjes. 1866. 4. S. 167.
Die holländische Gesellschaft der Wissenschaften zu Haarlem
hatte schon seit mehreren Jahren wiederholt folgende Frage ge-
stellt: ȧeaucoupde roches laissent encore les naturaliates en doute,
si elles ont ete deposees d'une dissolution de l'eau, ou bien se sont
solidifi^es apres une fusion par la chaleur. La Sociöte dösire qu'une
de oes reches au ohoix de l'auteur soit soumise a des recherches
qui menent a decider avec certitude sur son origiue et qui c'est
possible, jettent aussi quelque lumiere sur celle d'autres roches
plus ou moins analogues.« Es berührt diese Frage mithin einen
Gegenstand der in den letzten Jahren Chemiker und Geologen
vielfach beschäftigt bat — die Entstehung der krystallinischen Ge-
steine. E. Weiss bespricht in seiner gründlichen Abhandlung in
der Einleitung die verschiedenen Theorien, welche zeither über die
Genesis der krystallinischen Gesteine aufgestellt wurden und führt
dann alle die Mittel an, deren man sich zur Lösung einer so wich-
tigen Frage bediente. Unter diesen sind es nun die zuerst von
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Weiss: Beitrage wir Kenntnis« der Feidapethbildung. 116
Descloizeaux augestellten merkwürdigen Untersuchungen ; sie
gründen sich auf die Thatsacbe, dass die optischen Axen des recht-
winklig spaltenden Feldspathes durch Glühen gewisse Veränderun-
gen erleiden, so dass man im Stande ist durch Beobachtung der
Lage der optischen Axen zu beurtheilen . ob ein Feldspath seit
seinem Festwerden geglüht habe oder nicht. Die interessanten
Entdeckungen von Descloizeaux hat nun E. Weiss eben in
Bezug auf die von der holländischen Gesellschaft der Wissenschaf-
ten gestellte Frage weiter verfolgt. Die Methode der Untersuchung
beschreibt der Verfasser in vorliegender Schrift ausführlich; von
mehr denn 200 Feldspathen aus den verschiedensten Gesteinen
wurden Dünnschliffe angefertigt, um sie optisch zu prüfen.
Der erste Abschnitt der Preissschrift von Weiss enthält eine
üebersicht der optischen und geognostischen Beobachtungen (S. 84
— 100). Weiss nennt das Verhalten eines Minerals, wenn es der
Art ist, dass während Erhöhung seiner Temperatur der (scharfe)
Winkel der wahren optischen Axen zunimmt, dagegen bei Abnahme
der Temperatur gleichfalls abnimmt, ein analoges, jenes Ver-
halten aber, dass die Axen sich nähern, während die Temperatur
wächst, umgekehrt sich von einander entfernen, wenn die Tempe-
ratur sinkt, ein antilogee.
Aus seinen optischen Untersuchungen zieht nun der Verf. eine
Reihe sehr wichtiger physikalischer und geologischer Folgerungen.
Wir gedenken hier nur der geologischen Resultate insofern sie für
die Bildungsgeschichte des Feldspath von Bedeutung sind. Wenn
man die optischen Eigenschaften der Feldspatbe zur Erklärung
ihrer Entstehungsweise benutzen will, so muss man ein besonderes
Gewicht auf drei Faktoren legen: das antiloge oder analoge
Verhalten der optischen Axen beim Erwärmen; die
Grösse des Ax en winkels und denGrad ih rer Empfind-
lichkeit. In der Natur findet sich nun eine fortlaufende Reihe
von Feldspathen, welche nach Lage und Grösse des Axenwinkels
alle möglichen Grade der Temperatur anzeigen würden, die bei oder
seit Entstehung der Krystalle sie heimgesucht hat, von einer Tem-
peratur noch weit vor der Glühhitze bis zu solcher, welche,
etwa beim Schmelzen des Kupfers erreicht wird. Also optisch aus-
gedrückt: es finden sich alle möglichen Winkel von der grössten
der antilogen Periode bis zu ziemlich grossen der analogen. Diese
Reibe wird noch mannigfaltiger durch die Empfindlichkeit mit wel-
cher noch jetzt die Krystalle in höherem oder geringerem Grade
den Einflüssen der Wärme nachgeben. Wenn man diese mit be-
rücksichtigt, kann man aus Grösse und Lage des Axenwinkels noch
keinen Scbluss auf die Höhe der erlittenen Wärme ziehen, da mög-
licher Weise ein mit noch grossem Winkel versehener antiloger
KrvstaJI bei sehr geringer Empfindlichkeit derselben hohen Tem-
peratur ausgesetzt gewesen sei, als ein sehr empfindlicher analoger
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176 Weiss: Beiträge «ur Kenntnis* der Feldspathbildtmg.
Krystall, weil von zwei derselben Glühhitze gleich lange ausge-
setzten Krystallen der empfindlichere die grössten Eindrücke er-
halten wird. — Es sind nun die meisten Kry stalle antilog;
viele besitzen einen so beträchtlichen Axenwinkel, dass man an die
gewaltigen Glutben , wie die alte plutonische Theorie sie voraus-
setzte, gar nicht denken kann. Dahin gehören die Feldspathe aus
Granit, Gneiss, Syenit, aber auch viele glasige Feldspathe aus Tra-
chyten, Phonolithen, während hingegen andere Feldspathe aus Por-
phyren, Pechsteinen, Trachyten sich mit ihrem Winkel der Grenze
Null sehr nähern und so entschieden Gluthspuren zu erkennen
geben ; merkwürdig ist, dass der bekannte künstliche Feldspath von
Sangerhausen die stärksten Gluthspuren zeigt ; er ist stark analog
mit grossem Axenwinkel. Beachtung verdienen jene Fälle, wo ein
und derselbe Kry stall mit wesentlich verschiedenen Stellen versehen
ist, analoge neben antilogen Stellen zeigt, oder antiloge mit sehr
verschiedeneu Axenwinkel. Diese Fälle haben mit Zwiliingsbildung
nichts gemein. Gewöhnlich zeigen dann die analogon oder voraus-
geschrittenen Stellen grössere Empfindlichkeit, als die zurückge-
bliebenen antilogen. Dass im nämlichen Gesteine Krystalle sich
ausgeschieden finden in ihren optischen Eigenschaften sehr differi-
rend darf nicht befremden. Die Erklärung aller derartigen Erschei-
nungen ergibt sich aus der so verschiedenen thermischen Empfind-
lichkeit und es lassen Krystalle mit Recht auf Gluthen schlies-
sen, denen sie ausgesetzt waren, mögen sie stark oder schwach
gewesen sein. Man könnte vielleicht annehmen, dass die Verschie-
denheit der Stellen eine begonnene — chemische oder physikalisohe
Umwandlung — bekunden. »Bei Annahme dieser Erklärung — so
bemerkt Weiss ausdrücklich — würden Schwierigkeiten eutstehen,
um z. B. den Kern eines analogen Krystalls in den antilogen Zu-
stand zurückzuführen, während der Mantel seinen ersten Zu-
stand behält. Man würde entweder damit, oder wenn man das
ganze Descloizeaux' sehe Gesetz oder vielmehr dessen ümkehrung
— dass ein antiloger Krystall nicht oder nur schwach, ein analoger
stark geglüht habe — leugnen wollte, mit diesem Widerspruche zu
unerwiesonen , vielleicht unerweisbaren Annahmen seine Zuflucht
nehmen müssen, während jetzt Alles aus sich selbst erklärt.«
(8chlu8s folgt.)
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Ii. 12. HEIDELBERGER M»-
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Weiss: Beiträge zur Kenntniss der Feldspathbildung.
(Schlues.)
Aus Allem geht aber unzweifelhaft hervor dass: 1) das Vor-
kommen der Sanidine in trachytiscben Laven den Schiusa widerlegt,
es könnten Phonolith, Trachyt, Porphyr und Granit keiner der
Gluth nur irgend genährten Temperatur ausgesetzt gewesen sein,
weil ihre Feldspathe keine Glutspuren tragen. 2) Die Temperatur
in der sich die Feldspathe in den genannten Gesteinen von Halle,
Meissen, Zwickau, Ungarn, Siebenbürgen u. s. w. ausschieden, war
keine so hohe als erforderlich ist, um diese Gesteine in trocknen
Flnss zu bringen, sondern im Ganzen nur schwache Rothglühhitze,
wahrscheinlich entsprechend der Rothgluth ; möglich , dass diese
Hitze in manchen Fällen nicht erreicht, in andern überschritten
wurde. Der Schluss, es müsse der Erstarrungspunkt bedeutend
anter dem Schmelzpunkt liegen ist, wie bekannt schon früher von
Scheerer u. A. gezogen werden und wird bei Gegenwart von Was-
ser anwendbar.
Den zweiten Abschnitt der Abhandlung von We is s bilden nun
die Mittheilungen Über Quarztrachyt und Quarzporphyr: es ist die
Anwendung der gewonnenen optischen Resultate auf die Entstehung
krystallinischer Gesteine, wofür als Beispiel die beiden genannten
Felsarten gewählt wurden Und hier liefern nun zunächst für die
Quarztrachyte eben die optischen Verhältnisse der Feldspathe
directe Beweise einer noch nach oder bei dem Krystallisiren statt-
gefundenen Gluth — mag solche noch so niedrig gewesen sein.
Gegenwart und Mitwirkung von Wasser bei der krystallinischen
Ausbildung ist als noth wendig anzusehen. Die Krystallisation des
Quarzes ist endlich kein Beweis gegen den ehemaligen Schmelzfuss
— es schwindet also auch dieser Zweifel an der Ausscheidung der
Gemengtheile bei höherer Temperatur. Für den Quarzporphyr ist
eine ähnliche Entstehungsweise anzunehmen, der ja in petrogra-
phischer Beziehung, in den optischen Eigenschaften der eingewach-
senen Feldspathe, in Lagerungsform so mannigfache Analogien mit
Quarztrachyt zeigt. Für beide Gesteine ist keine Bildung oder
Ausbildung aus kalter wässeriger Lösung denkbar ; es herrschte viel-
mehr noch hohe Temperatur, als die Eruption derselben statt fand
and als sie krystallisirten, so hoch, dass alle Feldspathe Glutspuren
fragen, bald stärkere, bald schwächere ; aber auch so niedrig, dass
IX Jahrg. 8. Heft 12
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178
Bolza: Canzoni ComaschL
Wasserwirkungen gleichzeitig möglich waren. Die Thatsachen spre-
chen sogar dafür, dass bei Bildung von Quarzporpbyr Hitze and
Wasser, resp. Wasser dämpfe vereint wirkten.
G. Leonhard.
Cantoni Popolari Comasche. Raccolte e pubblicale colle melodie dal
Doli. Ob. Bolza. Vienna. In Commissione preaso ü Figlio di
Carlo Gerold. 1867. (Tirati a parte dai liendiconti delle lor-
nate dell i. r. academia delle sciense, classe filosoßcoslorica.
Vol. Uli. p. 637—706).
Die vorliegende anziehende Sammlung von Volksliedern aus der
Umgegend von Como besteht aus vier Abtheilungen, von denen die
erste die Kinderlieder, die zweite die Sprichwörter und soge-
nannten Bauernregeln so wie die dritte und vierte die eigent-
lichen Volkslieder umfassen, von welchen die epischen in der letzten
enthalten sind. Wir finden auch hier wieder, welch' ein allgemei-
nes Band die europäische Kinderwelt und Volksweisheit umschlingt
oder wie die nämlichen Stoffe in ganz Europa, nicht selten aber
auoh noch weiter hinaus, die Gefühle des Volkes an- und aus-
sprechen. So z, B. wollen die Kinder aller Orten »die Hörer« oder
dÜe »Viere« der Schnecken sehen und geben diesem Verlangen
überall einen mehr oder weniger gereimten Ausdruck, und zwar
in der Gegend von Como folgendermaassen (No. 2): »Lümaga,
lümaga — Casoia föra i corni — Vegnara il bobö (deutsch: der
Bubu, Schreckbild der Kinder) — Te tajarä via el co (capo). —
Das Liedchen No. 12 lautet so: »Messer Tom — El m'ha da on
pom — Messer Ambrös — MC l'ha fä cös (cuocere) — Messer
Dona — Me l'ha pelu — E me fradel mß l'ha mangiä.« Dies er-
innert sehr lebendig an ein weitverbreitetes deutsches Kinderlied,
wobei die Finger an der Hand des Kindes gleichfalls zu Personen
werden: »Das ist der Daumen, — Der schüttelt die Pflaumen, —
Der liest sie auf, — Der trägt sie heim — Und der isst sie ganz
allein.« Man möchte fast glauben, dass die comaskische Version
aus der deutschen herstammt und Tom aus Daumen entstanden
sei ; die zweite Zeile des deutschen Liedes, wo das Pron. demonstr.
der auf den Zeigefinger geht, wäre demnach nur missverständlich
gleichfalls auf den Daumen bezogen. Denkt man sich daher statt
el einen Eigennamen, so ist die Zahl der fünf Finger vollständig,
wobei die letzte Zeile des deutschen wie des italienischen Lied-
chens einander ganz genau entsprechen. Die Finger der Hand zu
personificiren, ist übrigens eine sehr alte mythologische Idee ; man
erinnere sich nur der Dactyli Idaei. — Aus der zweiten Abthei-
lung hebe ich folgenden Spruch hervor (No. 21): »La rasada de
San Giovanu — La guariss tüce (tutti) i malann.« Wie weit ver-
breitet der Glaube an die wohlthätige und heilende Kraft des Thaues
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179
der Job&nnisnacht sei, so dass derselbe sich sogar in Aegypten
wiederfindet, habe ich in meiner Ausgabe des Gervasius von TiU
bury S. 56 f. gezeigt. — Eine eigentümliche Gesundheitsregel ist
folgende (ebend.): >Se te vö (vuoi) sta san — Böv come i e
pissa come i cau« d, h. thue das erstere laugsam, das andere oft»
— In der dritten Abtheilung findet sich ein Spottlied auf einen
armen Teufel von Landgendannen , dem man nach und nach alle
seine Kleidungsstücke wegnimmt, obschon man sie ihm endlich aus
purem Mitleid wiedergibt (No. 40). Die erste der fünf Strophen
heisst: »AI povero compagnölo — G'han tolto la berretta, — E
per amöre ghe l'han tornada a da. — Desberretta 1 — E per amoro
ghe rhan törnada a da.« Die letzte: »AI povero oampagnolo -r-
G'han tolto le calzette — E per amöre ghe i han törnado a dk.
— Desberettä, — Desperücca, — Desmarsinä — Descalzonä, **-r
Descalzetta — E per amöre ghe i han tornade a da.« In Bujeaud's
Cbants et Chansons populaires de provinces de Touest etc. Niori
1866 findet sich vol. II. p. 263 eiu Seitenstück zu dem komaski«
sehen Spottliede, wo indess der Pfarrer Gegenstand des Spottes
ist, welcher aber von seinen sieben Sachen nichts zurückbekommt.
£s ist überschrieben »Margoton et son eure*« und die erste Strophe
lautet: »Margoton prend son panier, — S'en va-t-aux meures, —
M'sieur Teure" s'en va-t-apres, — Lisant ses heures; *w» »Margo-
ton, attends-me, attends me, — »Margoton attends ine dune.« —
»M'sieur Teure*, je ne saurais — »Si n'donnez qnelqne clause.« —
M'sieur Teure" prend son rabat — Et le hü donne. — »En voub
r'merciaut, Monsieur Teure", — »D'm'avoir si bien enrabate \ — »Vous
et' un honnete homme.« Die siebente und letzte lautet : »Margoton
prend son panier, — S'en va-t-aux meures, — M'sieur Teure" s'en va-t»-
apres — Lisant ses beures: — »Margoton, attends me, attends me,
»Margoton attends me donc.« — M'sieur l'curö, je ne saurais, — »Si
n'donnez quelque chose.« — • M'sieur Teure" tire sa chemise — Et la lui
donne. — »En vous r'merciant, Monsieur Teure, — »D'm'avoir si bien
enrabate"' — »D'm'avoir si bien encalotte"', — »D'm'avoir si bien
eneulotte"', — »D'm'avoir si bien ensoequette"', — »D'm'avoir si
bien enchaussonne' , — »D'm'avoir si bien enchemise', »Vous
et' nn honnete homme.« — Die letzte (epische) Abtheilung ent*
hslt zehn Lieder, von deren meisten sieh mehr oder minder über-
einstimmende Versionen auch in andern italienischen Sammlungen
finden, so dass sie der Vergleichung wegen sehr willkommen sind.
8o No. 48 »II Pellegrino«. Ein Madchen sucht in Gesellschaft
eines Pilgers ihren Geliebten auf. Unterwegs macht ersterer seiner
Gefahrtin Liebesanträge, über deren Aufnahme nichts weiter ver-
lautet. Eigenthümlich ist der Vorschlag, die Bettdecke mit lauter
GJöckJein (baciocchini) besetzen zu wollen, von denen es dann heisst :
>Nel voltarsi e rivoltarsi — Baciocchin faram din-din.« Bei die-
ser Musik denkt man an jene andere , von welcher in der letzten
Strophe eines Hochzeitsliedes aus dem 16. Jahrh. die Bede ist,
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160
Bolia: CftMonl Comaechi
welches Erlach 1, 80 mittheilt. Bolza meint übrigens eine Ver-
wandschaft des »Pellegrino« mit dem »Corsaro« in Nigra's Samm-
lung zu erkennen. Zu des letztern Parallelen (Rivista Contcmp.
1861. p. 166 ff.) füge noch Puymaigre, Chants populaires recueillis
dans le pays messin. Metz et Paris 1865. p. 93 ff. »La fille du
pätissier.c — No. 49 »L'Avvelenato« entspricht der bekannten »Donna
Lombarda« ; s. Volkslieder aus Venezien herausgeg. von Widter und
Adolf Wolf. Wien 1864 No. 72 nebst der Anm. — No. 50 »Ce-
oilia«. S. hierüber Wolf 1. c. S. 108 Anm. zu No. 85 »La povera
Cecilia.« In vielen Versionen dieses Stoffes muss der Verräther,
ehe er zur verdienten Strafe gezogen und hingerichtet wird, sich
erst vorher mit der von ihm entehrten Frau vermählen. S. Ferd.
Wolf Proben Portugiesischer und Catalanischer Volksromanzen S.
75 ff. und dazu Reiuhold Köhler in Ebert's Jahrb. für roman. und
engl. Litter. 3, 57 No. III. (Die zu Dunlop S. 493 Anm. 351a
von mir angeführten Tragica sind von H. Grosius). Es lässt sich
übrigens annehmen, dass auch nach der ursprünglichen Sage, wor-
auf die italienischen Volkslieder beruhen , der Verräther nach ge-
schehener Vermählung mit der Entehrten sein Verbrechen mit dem
Tode biisste ; dies lässt sich nämlich aus dem Vorwurf schliessen,
den Claude Rouillet seiner Tragödie »Philanive« zu Grunde legte
(Paris 1563 und 1577) und den er selbst also angibt: »Quelques
annöes se sont passees qu'une dame de Piedmont impetra du prevot
du lieu, que son mari, lors prissonuier pour quelque concussion, et
deja pret a recevoir jugement, lui serait rendu, moyennant une
nuit qu'elle lui preteroit. Ce fait, son mari, le jour suivant, lui
fut rendu, mais ja execute de mort. Elle est esploröe de l'une et
de Tautre injure, a son recours au gouverneur, qui pour lui garan-
tir son honneur, contrauit le prevot ä l'epouser et puis le fait de-
capiter*« Einen ähnlichen Verfall berichtet auch der Lütticher
Chronist Jean d'Outremeuse in dem noch nicht erschieneneu zwei-
ten Bande seines Myreur des Histors toi. 183, wornach im
Jahr 1307 dem Ludwig von Nyvers, Sohn Roberts von Flandern,
vor dem Richterstuhl Philipps von Frankreich vorgeworfen wurde,
die Frau eines Ritters, die für das Leben ihres Mannes bat, auf
die in Rede stehende Weise betrogen zu haben. Jedoch läugnete
er und behauptete, dass er der Klägerin keineswegs jenes Ver-
sprechen gegeben. Philipp glaubte ihm und sprach ihn frei. Noch
älter jedoch ist ein Vorfall, den Augustinus in seiner Schrift »De
sermone domini in monte« 1. I. c. 16 berichtet. Demnach wurde
ein Bürger von Antiochia von dem Procnrator Septimius Acindy-
nus wegen einer dem Fiscus schuldigen Summe ins Gefängniss ge-
worfen und mit dem Galgen bedroht, wenn er bis zu einem be-
stimmten Tage seine Schuld nicht entrichte. Da er sich dazu ausser
Stande sah, so gestattete er seiner Frau eine Nacht bei einem
reichen Manne zuzubringen, der sich in sie verliebt und ihr für
diese Gunst die erforderliche Summe verheissen hatte. Ehe diesen
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Bolsa: Canisont ComMche.
181
jedoch die Trau des Morgens verliess, schob er statt des Beutels
mit Geld einen andern mit Erde unter, so dass die Betrogene sich
darob alsobald bei Acindynus beklagte, der zuvörderst seine eigene
Härte verdammte und die betreffende Summe aus eigenen Mitteln
dem Fiscus einzahlte, der Frau aber das Landgut zusprach, aus
dem jene Erde genommen worden. Die ungefähre Zeit, zu welcher
dieser Vorfall soll Stattgefunden haben, ergibt sich aus dem Um-
stände, das Acindynus zusammen mit Valerius Procnsnl in demjeni-
gen Jahre Consul gewesen war, in welchem Constantin, der Sohn
Constantins des Grossen, bei Aquileja fiel, also im Jahr 840. Noch
will ich bemerken, dass die Romance del rey Don Sancho de Ca-
stillac in Wolf und Hoffmanns »Primavera y Flor« 1, 120 No. 39
gleichfalls dem in Rede stehenden Sagenkreis angehört. — No. 51
»II Convento notturno« schildert ein ebenso gewöhnliches oder
noch gewöhnlicheres Ereigniss, nämlich ein nächtliches Stelldichein
zweier Liebenden, woraus ich nur Einen Zug hervorheben will. Der
Vater des Mädchens nämlich belauscht das Pärchen und frägt von
seinem Fenster aus das Töchterlein , wer denn bei ihr wäre, wor-
auf sie antwortet, es wäre ihre Schwester Catherina, welche bei ihr
gchlafen wolle. Hier also wird die Schwester vorgeschoben, sonst
tritt dafür auch ein Bruder oder Vpttor oder sonstiger Verwandter
ein, was schon ein sehr altes Aushülfsmittel sein muss, wie z. B.
aus Tzetzes zu Lycophr. v. 408 erhellt, wo er den Beinamen der
Aphrodite Kastnia, ihn von xaöig ableitend also erklärt: *Trjv
'Aygodixriv xrjy iici%i'ttv, xadxvCav dl aÖeXcpOTroiov' tovg ya$ %4vovq
adflrpovg xal (pi'lovg ra iQcouxa noiovGiv. Ot yctQ igavrsg ympa-
ftdvrsg Xiyovöivi 'AdsÄyog p/ov tj öiyytvrjg fiov itiriv.* Der
wackere Commentator bat nun zwar von dem betreffenden Epitheton
sowie von dem gleich darauf folgenden MsXiva(a eine unrichtige
Erklärung gegeben, jedoch aber bei dieser Gelegenheit gezeigt,
dass er nicht bloss mit Scholien und ähnlichen Dingen allein Be-
scheid wusste oder doch wenigstens seine praktische Lebenserfah-
rung för dieselben mit mehr oder minder Glück zu verwerthen
suchte. No. 52 »La bella Molinara.« Ein einfaches Liebes-
abenteuer zwischen einer schönen Müllerin und einem jnngen Ritter,
wozu Bolza Puymaigre's Anmerkung zu seiner No. 40 »La belle
Meuniere« (1, 131 ff.) anführt, wo es beisst: »Ces rencontres de
seigneurs et de mennieres semblent avoir eu beaucoup de vogue
dans la poesie popnlaire; on les trouve redites de bien de manieres.«
— No. 53 »II Riconoscimento«. Ein treuliebendes Mädchen
erkennt den aus dem Kriege heimkehrenden Geliebten nicht wieder
und fällt bei der Nachricht von seinem vorgeblichen Tode in Ohn-
macht; dann erst gibt er sich zu erkennen. Ein vielbehandelter
Stoff; s. Adolf Wolf, Volkslieder aus Venezien S. 100 zu No."81
>La Moglie fedele.« Füge hinzu Puymaigre p. 8 ff. »Germaine«. —
iVo. 54 »La Rosettina« entspricht Nigra's »La Tomba«; vgl.
Adolf Wolf a. a. O. S. 97 zu No. 75 »Rosinac — No, 55 »La
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Bolza: Canzonl Comaeche.
disobbediente«. Den Rath der Mutter verschmähend, gibt ein
Mädchen dem der Brüder Gehör und zieht zu dem Könige von
Preussen (!), der um sie hat werben lassen, ertrinkt jedoch auf
Meerfahrt. Bolza vergleicht damit »La Maladicenza materna in
Marcoaldi's Canti popolari inediti Umbri, Liguri occ. Genova 1855,
Widter's »II Marinaro e la sua amorosac und die No. 94 in Righi's
Saggio di canti popolari veronesi«. — No. 56 »II falso Pelle-
grinoc. S. Widter's No. 95 »H Pellegrinoc, wo jedoch der Pilger
ehrlicher verfährt als in dem vorliegenden Liede, welches gleich-
wohl nach Bolza's Meinung die ursprüngliche Fassung bietet. —
No. 57 »L'Amantedeluso«. Ein Mädchen bewilligt einem
Ritter auf den Rath ihrer Mutter eine Nacht für die Summe von
hundert Thalern, gibt ihm jedoch einen Schlaftrank, so dass er
erst am Morgen erwacht und sich geprellt sieht. Eine gewünschte
zweite Nacht wird abgeschlagen. Vgl. Adolf Wolf a. a. 0. S. 95
zu No. 74 »La Contadina allafonto.« Füge hinzu Puymaigro
p. 112ft. »L'Amant discret« und p. 1 1 3 ff. >La Rencontre«.
Femer die Cent Nonvelles Nouvelles No. 24 »La Botte a demi« ;
Bäckström Oefvertigt af Svenska Folk-Litteraturen 8, 69 No. 12
»Brudgäfvan<. Der den in Rede stehenden italienischen Volks-
liedern zu Grunde liegende spezielle Zug, dass der Liebhaber den
mehr oder minder theuer erkauften Genuss verschläft, findet sich
übrigens auch sonst noch ; s. Svend Grundtvig , Danmarks Gamle
Folkeviser 2, 337 No. 81 »Sövnerunerne« und dazu Nachtrag 3,
844, zu dessen Nachweisen noch hinzuzufügen ist Passow Tgct-
yovduc fPejfi«l'xa No. 480 *H RovQyaga.*. Vergl. auch Wolf-
dietrich 8tr. 1067 — 1070 (S. 165 Holtzmann). — Das soeben
besprochene comaskisebe Volkslied ist das letzte der Samm-
lung, welche Bolza Übrigens auch noch mit einer höchst schätz-
baren Beigabe ausgestattet hat, nämlich mit den Melodien von
siebzehn Nummern derselben. Er beruft sich dabei auf Leon
Gautier, der im ersten Bande seines Workes »Les Epopees fran-
caises« bemerkt: »Qui n'entend pas chanter les paysans, ne sait
pas et ne saura jamais ce que c'est que la poösie populairo,« Dies
ist ganz richtig und ist auch schon oft ausgesprochen worden. Vgl.
meine Anzeige von Pnymaigre's und Bnjeaud's Sammlungen in den
Gött. Gel. Anz. 1866 S. 2015 f. Ich sohliesse mit dem Wunsohe,
dass wir dem Dr. Bolza bald wieder auf diesem oder ähnlichem
Felde begegnen mögen.
Lüttich. Felix Liebrecht.
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Memolres de Felix Platter.
188
Memoire« de Felix Platter, medecin b&loit. Gentve, Jmprimerie
de Jules Ome Fick. 1866. XV. und 145 8. gr. 8.
Felix Platter, 'dessen Aufzeichnungen uns hier in einer
meisterhaften französischen Bearbeitung vorliegen, ist der Sohn
jenes armen Hirtenknaben aus dem obern Wallis (Thomas Platter),
welcher, nachdem er längere Zeit herumgezogen und durch Hand-
arbeit sein Leben gefristet, in Basel eine Heimath fand, in der er
segensreich als Leiter der dort aus der Reformation hervorgegan-
genen höheren Schule, dem jetzigen Gymnasium, acht und dre issig
Jahre lang wirkte, und hier die neue, bessere Methode in der Be-
handlung des Gymnasialunterrichts in Anwendung brachte : die von
ihm in einem Alter von drei und siebenzig Jahren im Jahre 1572
aufgezeichnete und abgeschlossene Selbstbiographie, in welcher die
merkwürdigen Schicksale seines Lebens in so anziehender Weise
erzählt werden, ist nach dem deutschen, oft kaum lesbaren und
verständlichen Original durch Fechter zu Basel bekannt gemacht;
Herr Dr. Eduard Fick, dessen Bemühungen wir auch das vor*
liegende Werk verdanken, gab davon eine französische Bearbeitung,
deren wir in diesen Blättern Jhrgg. 1863 S. 414 ff. mit der An-
erkennung gedacht haben, die sie in jeder Hinsicht verdient. An
diese im Jahr 1862 zu Genf erschienene, auch durch die typogra-
phische Ausführung (wie a. a. 0. bemerkt worden) so beachtens-
werthe Bearbeitung schliesst sich die vorliegende gewissermassen
an, indem sie die Selbstaufzeichnnngen des Sohnes in einem ähn-
lichen äusseren Gewände uns vorführt, und werden dieselben nicht
minder unser Interesse in Anspruch nehmen , als * die des Vaters,
mit welchen sie auch schon der deutsche Herausgeber vereinigt
hatte, in einem nach dem Autographum, das zu Basel sich noch
befindet, mit aller Treue und Genauigkeit veranstalteten Abdruck.
Man hat wohl Ursache sich dieser schönen Gabe zu freuen,
da sie nicht minder durch ihren Inhalt, wie durch die Form an-
ziehend genannt werden kann, und der Uebersetzer mit aller
Meisterschaft der Sprache auch eine ausgebreitete Kenntniss der
literarischen und der politischen Verhältnisse, wie der Culturzustände
der Zeit, in welcher das Leben Platter's fallt, verbindet und da-
durch in den Stand gesetzt war , in seiner Einleitung , so wie in
den S. 125 — 145 beigegebenen »Notes« Alles das zu geben, was
sur Vervollständigung des Inhalts dieser Aufzeichnungen, wie zu
dem vollen Verständniss und der richtigen Auffassung derselben
dienen kann. Denn diese Aufzeichnungen Platter's befassen zwar
zunächst die eigenen Erlebnisse, aber sie enthalten doch wieder
auch so Manches, was im Allgemeinen auf die Verhältnisse jener
Zeit, die Culturzustände des sechszehnten Jahrhunderts, die Uni-
versitätseinriebtungen und dergl. ein Licht wirft, das durch die
anziehende, einfach natürliche Darstellungsweise noch mehr g*-
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184
M^moires de Felix Platter.
Kaum hatte Platter das fünfzehnte Lebensjahr hinter sich,
als ihn der Vater nach Montpellier schickte, um dort, wo eine in
jeuer Zeit berühmte Schule der Medicin blühte, für dieses Studium
sich auszubilden ; im ein und zwanzigsten Jahre nahm er dann das
Medicinische Doctorat in seiner Vaterstadt, die fortan der Schauplatz
seiner Wirksamkeit und Tbätigkeit wurde; denn er zeichnete sich
eben so sehr als Lehrer an der dortigen Universität, wie als prak-
tischer Arzt aus; zu dem erstem trug insbesondere die Errichtung
einer Kanzel für Anatomie und Botanik und die jetzt mehr und
mehr in Aufnahme gekommene Sitte der Leichensectionen bei : und
dabei unterliess es Platter nicht, durch Heransgabe mehrerer Werke
(De corporis huraani structura et usu 1583, Praxis medica 1602
bis 1608 in drei Bänden, vielfach in der Folge wieder aufgelegt,
Observationes in hominis affectibus, in hohem Alter geschrieben,
die Frucht einer sieben und fünfzigjährigen Erfahrung und Beob-
achtung) sich einen Namen in der gelehrten Welt zu verschaffen.
Was die praktische Wirksamkeit betrifft, so stand Platter drei und
vierzig Jahre lang an der Spitze des Medicinalweseus der Stadt
Basel, mit der obersten Leitung der Spitäler u. dgl. als Archiater
betraut, und bewährte sich insbesondere, als die Pest 1563 — 1564
Basel verheerte, und später in den Jahren 1576. 1582. 1593. 1609
sich wiederholend, neue und grosse Verheerungen anrichtete. Am
28. Juli 1614 erreichte auch ihn der Tod, nachdem die treue Gattin
und vieljährige Lebensgefahrtin Magdalena Jeckelraann , ihm eilf
Monate vorausgegangen war: beide starben, ohne Nachkommen-
schaft zu hinterlassen: aber reiche Legate für arme Kranke und
deren Heilung erhalten noch jetzt ihren Nameu in gutem Andenken.
Denn Platter muss sich durch seine Praxis ein bedeutendes Ver-
mögen erworben haben, zumal wenn wir die bescheidenen Verhält-
nisse jener Zeit und den damaligen Werth des Geldes in Anschlag
bringen.
Der Verf. theilt uns in den beigefügten Bemerkungen eine von
der Hand Platter's gemachte Aufzeichnung für Einnahmen während
der Jahre 1558 bis 1612 mit, es belauft sich auf 120020 Livres
(der Livre zu 12 Batzen) und 15 Sous. Die Einnahme seiner me-
dicinischen Praxis bei Bürgern der Stadt beläuft sich auf 5031
Liv. 5 Sous 4 Heller, bei Fremden auf 23057 Liv. 17 S. seine
Reisen ausserhalb der Stadt stiegen auf 15050 Liv. Sein Gehalt
als städtischer Arzt stellt sich (während dieser ganzen Zeit) auf
1660 L., als Prüfer der Münze 371 Liv. als Proiessor 11139 Liv.
als Rector 339 Liv.; der Ertrag der Examinations- und Promo-
tionsgebühren und des Decanats belief sich auf 2850 Liv.; die
Rente seines Landgutes betrug 10618, die Vermiethung des Hauses
und anderer Appartements 29296 Livres (wir lassen die kleinern
Zahlen weg) und so fort. Noch erblickt man das Grab des Mannes
mit der (hier S. XIV mitgetheilton) Grabscbrift, bei dem Münster,
und nooh bewahrt die Bibliothek vielfache Aufzeichnungen dessel-
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Memoires de Felix Platter. 185
ben, aas welchen aach diese Selbstbiographie entnommen ist Ein
1584 von einem Basler Künstler, Hans Bock, gemaltes Porträt be-
findet sich in der Universitätsaula zn Basel : eine Abbildung davon
ist dieser Schrift beigefügt.
Die Selbstbiographie, wie sie uns in dieser französischen Be-
arbeitung vorliegt, ist im Jahre 1612, also wenige Jahre vor
Platteres Tod, aufgezeichnet, sie zeigt die frischen Eindrücke, die
der bejahrte Greis von seiner Jugend sich bewahrt hatte, ja es
scheint fast Einzelnes schon früher von ihm niedergeschrieben wor-
den zu sein, oder doch auf frühern Aufzeichnungen zu beruhen. Es
sind einzelne, mit besondern Ueberschriften versehene Abschnitte.
Der erste handelt von seiner Geburt und von seiner Familie und
knüpft daran die Erinnerungen aas seiner Jugendzeit: mit beson-
derer Vorliebe erzählt er seine Theilnahme an der Aufführung
von Komödien, wie sie damals durch Schüler und Studenten zu ge-
schehen pflegten, unter andern auch spricht er von einer Auffüh-
rung der Anlularia des Plautus , wo ihm die Rolle des Lyconides
zufiel; eben so fanden im Hause des Vaters, wenn Gaste kamen,
solche Aufführungen durch die Pensionäre statt, wie hier von einer
solchen des Terenzischen Phormio berichtet wird : bei einer ahn-
lichen Veranlassung sollten im Hause des Froben , des berühmten
Buchhändlers, einige Eklogen des Virgils duich Schüler, die als
Hirten verkleidet waren, vorgetragen werden , dessen sich jedoch
unser junger Platter weigerte. Wir übergehen Andores von nicht
geringerem Interesse, um aus den weiter folgenden Abschnitten noch
Einiges anzuführen. Der nächste derselben, Projecte und Ent-
schlüsse tiberschrieben, führt uns die Sorge des Vaters vor, für
den heranwachsenden jungen Mann durch eine passende Ehe zu
sorgen, sowie den nach dem Wunscho des Vaters getroffenen Ent-
suhluss , dem Studium der Medicin sich zu widmen , das zugleich
günstige Aussichten für die Zukunft in Basel eröffnete. Und da
die medicinisebe Facultät zu Montpellier damals in besonderm Au-
sehen stand, so fasste der Vater den Entschluss, den Jüngling, der
kaum das Alter von fünfzehn Jahren erreicht hatte, dahin zu schi-
cken, und, da ihm die ausdauernden Mittel dazu fehlten , durch
eine Art von Tausch denselben in einer dortigon Familie unterzu-
bringen , die ihm dafür ein Sohn in sein Haus anvertraute. Dio
Reise nach Montpellier, welche im nächsten Abschnitt erzählt wird,
ist äusserst unterhaltend. Für sieben Kronen, die aber geborgt
sind, kauft der Vater ein Pferd für die Reise, dem Sohne selbst
gibt er vier Goldkronen mit, die er ihm in den Wams einnäht,
and drei Kronen in Münze, lauter geborgtes Geld, auch schenkt er
dem Sohne einen Wallisthaler, den Dieser aber später wieder nach „
Hause bringt; die Mutter gibt ihm ebenfalls eine Krone. Am
9. October wird die Reise in guter Begleitung, für die der Vater
gesorgt hatte, augetreten und in zwanzig Tagen nicht ohne Ge-
fahren vollendet; über Genf, Lyon, Aviguou kommt der junge
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180 Memoire« de Felix Platter.
Platter in Montpellier an, die Kosten der Reise, Alles mit einge-
rechnet, namentlich die Unterhaltung des Pferdes, beliefen sich auf
zehn Livres 12 Schillinge und 10 Deniers. Mit Eifer verfolgt der
junge Mann seine Studien , und da sein Hausherr Apotheker war,
so pflegte er auch mit grossem Fleiss die Studien der Pharmacie.
Auf der andern Seite aber verfehlt er auch nicht uns Nachricht
zu geben von den Unterhaltungen und Festen, namentlich den
nächtlichen Serenaden , wie sie besonders mit dem Eintritt des
neuen Jahres sich auf einander drängten. Aber an ernsteren Vor-
gängen fehlte es auch nicht. Zu diesen rechnen wir die Erzählung
einer nächtlichen Expedition, unternommen um Leichname, dio des
Tags zuvor beerdigt waren , herauszugraben zum Behuf der Vor-
nahme von Sectionen, wozu es meist an Cadavern fehlte. Es ging
übrigens Alles glücklich von Statten Am 20. Mai 1556 errang
Platter die Würde eines Baccalaureus nach einer von 6 — 9 Uhr
Morgens vorausgegangenen Disputatiou mit den medicinischen Pro-
fessoren der Universität. Nach Ablauf derselben zog man ihm ein
rothes Kleid an und stellte ihm ein Diplom zu, wofür 1 1 Francs und
3 Sous entrichtet wurden. Die deutschen Kameraden wurden dann
io einem Bauquet festlich von ihm bowirthet. Um dieselbe Zeit,
erzählt er weiter , brach unter den Studirenden ein Tumult aus ;
der Grund war: weil die Professoren so wenig läsen. Man sam-
melte sich bewaffnet, durchzog die Hörsäle und forderte Jeden, den
man traf, auf, mit zu ziehen ; auch der junge Platter musste, ob-
wohl er widerstrebte, mitziehen in das Parlamenthaus, und hier
war es, wo der Procurator der Studenten sich über die Nachlässig-
keit der »Doctores« bitter beschwerte und die Wiederherstellung
der alten Ordnung verlangte, wornach zwei von den Studenten er-
wählte Procuratores mit dem Recht bekleidet wurden, den Profes-
soren, die ihre Vorlesungen nicht hielten, ihre stipendia zurückzu-
behalten. Ungeachtet des von Seiten der Doctoren eingelegten
Widerspruches war man der Bitte der Studirenden willfahrig und
der Tumult war gestillt. Ernsterer Art ist die Erzählung von der
Hinrichtung eines zum Tode verurtheilten Geistlichen, welcher auf
einen Scheiterhaufen gebracht, in dem Moment, als derselbe ange-
zündet ward, durch einen Strick erdrosselt und so von den Flam-
men verzehrt wurde.
Dem Wunsche des Vaters gemäss verliess Platter Ende Februar
1557 die Universität und kehrte wieder zurück nach Basel, wo
zwei Dinge alle Sorge des Vaters in Anspruch nahmen, die künf-
tige Verheirathung und die nothwendige Erlangung des Doctorats.
Zu diesem Zweck präsentirte sich der junge Mann vor dem aus
drei Mitgliedern bestehenden Colleginm medicum, das Anfangs den
kaum ein und zwanzigjährigen Jüngling gar nicht zulassen wollte,
indem der Gandidat mindestens vier und zwanzig Jahre alt sein
musste: doch waren sie bald andern Sinnes und ward der junge
Mann sofort zu dem Tentamen zugelassen, das am 16. August im
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Memoires de Felix PUiter. 187
Hanse des Dekans stattfand, drei volle Stunden dauerte, nach deren
Verlauf Margarethe, die Tochter des Dekans, die Anwesenden mit
Kuchen und Wein regalirte, übrigens auf meine Kosten, setzt Platter
hinzu. Dasselbe war auch am folgenden Tage der Fall nach dem
Examen, in welchem Platter zuerst über die ihm übergebenen
Themata einen Vortrag aus dem Gedächtniss zn halten hatte, wor-
auf die drei Doctoren mit ihm disputirten, drei Stunden lang ; nun
fehlte noch die öffentliche Disputation , die am 2. Septbr. abge-
halten wurde und von Morgens 7 Uhr bis 12 Uhr dauerte, in An-
wesenheit fast aller Academici. Platter bestand die Disputation
mit allen Ehren und hatte nachher in der Krone viele Gaste zu
bewirthen. Daraufhin ward die Ertheilnng der Doctorwürde aus-
gesprochen, und in Folge dessen die Promotion auf den 26. Sept.
anberaumt, nachdem Platter zuvor eine Eiuladung dazu hatte dmken
lassen und persönlich die Bürgermeister, Scholarchen und andere
Freunde dazu eingeladen hatte. Von dem Hause dos Dekans aus,
wo man dem baldigen Doctor ein schwarzes Kleid mit Sammot
handbreit verbrämt, rotho Hosen und einen rothen seidenen Atlass-
Warn ms angelegt hatte, begab man sich in die medicinische Aula,
die stattlich tapezirt und mit einem zahlreichen Publikum ange-
füllt war, da so lange Zeit keine Promotion stattgefunden. Platter
begab sich auf den untern Katheder, der Promotor auf den oberen
und Dieser begann , nachdem vier Trompeter den Akt eröffnet,
seine Oration , worauf Platter erwiederte ; nun empfiug ihn der
Dekan, führte ihn unter Vortritt des Pedellen mit dem akademi-
schen 8ceptor auf den obern Katheder , setzte ihm ein Sammt-
Barett auf, steckte den Ring an seine Finger und vollzog die übri-
gen Ceremouien. Als er ihn dann zum Doctor ausgerufen, forderte
er ihn auf, Öffentlich eine Probe vorzulegen durch Auslegung einer
Stelle in einem Buche, das er ihm vorwies. Kaum aber hatte der
junge Doctor seine Auslegung begonnen , so schlug der Dekan das
Buch zu mit dem Bemerken, es sei genug, und forderte den Doctor
auf, die übliche Danksagungsrede zu halten. Damit schloss der
feierliche Akt , der über vier Stunden gedauert. Die vier Trom-
peter bliesen und gaben damit das Zeichen zum Aufbruch : ihnen
folgend setzte sich der Zug in Bewegung aus der Aula zu der
Krone, wo das Banquet bestellt war. Sieben Tische waren herge-
richtet, das Mahl gut servirt, und kostete doch nur, wie Platter
hinzufügt, vier Batzen ä Person. Um drei Uhr war Alles beendet
und zog man heim.
Nicht minder anziehend ist der nächste Abschnitt, welcher
die Erzählung seiner Verlobung und Verheirathung mit allen dar-
auf bezüglichen Einzelheiten enthält, namentlich die Beschreibung
des Festmahls, das auf die kirchliche Einsegnung erfolgte ; an fünf-
zehn Tischen nahmen mehr als hundert fünfzig Personen Antheil
ao dem Mahl, da3 aus vier Gängen bestand, in folgender Ordnung :
gehakten Lummel (hächis de filet), dann Suppe, Fleisch, Hühner,
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188 Schlömlch: Höhere Analysls.
gesottener Hecht, Gebratenes , Tauben , Hahnen , Gans , gekochter
Reis, Leber-Gallerte, Käse und Früchte. Dabei wurden gute Weine
servirt, insbesondere Wein von Rangen. Dazu ein Violinspiel, da-
mals noch eine seltene Erscheinung, und Gesang durch die Schüler.
Die folgenden Abschnitte haben den neuen Hausstand und eine
Reise nach Wallis zum Gegenstand ; anderer Art ist die Erzählung
über David Joris, und das Anfsehen, das derselbe, auch nach sei-
nem Tode in Basel erregte, charakteristisch für die Beurtbeilung
der damaligen Zeitverhältnisse ; durch die S. 138 ff. beigefügten
Erörterungen des Herausgebers wird indessen das Ganze erst recht
klar und verstandlich. Sehr interessant ist der Abschnitt Über die
sieben Pestilenzen, welche Platter in Basel erlebte ; bei fünf der-
selben war er als Arzt thätig, ohne selbst von der Pest
hinweggerafft zu werden; die letzte derselben (1610) muss nach
der hier gegebenen Schilderung furchtbar gewesen sein ; über vier-
tausend Menschen erlagen zu Basel der Seuche, ganze Ehen waren
ausgestorben, hundert fünf und sechzig. Ganz anderer Art ist die
den Schluss des Ganzen bildende Beschreibung der Festlichkeiten,
welche bei der Taufe eines Sohnes des Herzogs von Würtemberg
zu Stuttgart 1596 stattfanden, von welchem Platter eingeladen war.
Wir schliessen hier unsern Bericht : die mitgetbeilten Proben
mögen die grössere Ausdehnung desselben entschuldigen ; die um-
fassenden literarhistorischen Erörterungen, welche der Bearbeiter
beigegeben, erhöhen den Werth des Ganzen nicht wenig, da sie
auch dem mit der Zeit weniger Bekannten die wünsch enswerthe
Aufklärung geben und in das volle Verstandniss ihn einführen. Die
äussere Ausstattung in Drnck und Papier ist eine vorzügliche, der
antiken Weise der Genfer Typographie des Reformationszeitalters
nachgebildet, wie diess bei ähnlichen aus derselben Presse hervor-
gegangenen Werken mit seltenem Glück bereits geschehen ist.
Chr. BÄhr.
Compendium der höheren Analyst* von Dr. Oscar Schlömich.
Zweite Auflage. Rraunschweiq 1H6V—1866.
*
Mit dor zweiten Lieferung des zweiten Bandes liegt jetzt der
Schluss des in der üeberschrift genannten höchst schätzbaren Wer-
kes vor, welches, obwohl nur unter dem Titel der zweiten Auflage
eines älteren Werkes, doch, wio der Verfasser in der Vorrede selbst
hervorhebt, wegen der gänzlichen Umgestaltung und bedeutenden
Erweiterung füglich als ein ganz neues Werk betrachtet werden
kann. Es kann das Werk für das Studium der höheren Analysis
in ihrer hentigen Gestalt um so mehr empfohlen werden, als der
Verfasser mit grosser Unisicht und Sachkenntniss überall don neue-
sten, seinen Gegenstand betreffenden Untersuchungen Rechnung ge-
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Schlömich: Höhere Analysie.
169
tragen bat, ohne die älteren längst bekannten und feststehenden
Resultate allzusehr hintanzusetzen, wodurch auch dem in den Ele-
menten weniger Bewanderten das Verständniss des Werkes ermög-
licht, und der Weg zu den höheren und schwierigeren Theilen der
inalysis geebnet wird.
Bei dem enormen Umfang, welchen in neuerer Zeit die Ana-
lysis gewonnen hat, ist es natürlich nicht mehr möglich, in dem
massigen Raum eines Lehrbuchs alle Theile derselben mit der
Ausführlichkeit und Gründlichkeit zu behandeln, die sich der Ver-
fasser zur Aufgabe gestellt hat. Es war daher eine Auswahl noth-
wendig, und mancher Leser wird es dem Verfassor Dank wissen,
dass er dabei sein Augenmerk hauptsächlich auf solche Gegenstände
gerichtet hat, die unerachtet ihrer grossen nicht nur wissenschaft-
lichen, sondern auch praktischen Bedeutung in den meisten Lehr-
büchern ungebührlich vernachlässigt werden.
Wir rechnen dahin namentlich die classischen Untersuchungen
von Lejeune-Dirichlet über die Fourier'schen Keinen und über
mehrfache Integrale, ferner die Theorie der balbconvergenten Rei-
hen, die schönen Formeln über die höhoren Differeutialquotienten
u. a. m.
Wir heben schliesslich noch hervor die ausführlichen Citate
und Verweisungen auf die Originalabhandlungen, welche den Werth
des Buches für den, der tiefer in gewisse Theorien einzudringen
wünscht nicht unbeträchtlich erhöhen.
Wir werden nun im Einzelnen nachweisen, wie der Verfasser
seine Aufgabe gelöst hat.
Der erste Band, welcher die Elemente der höheren Analysis
enthält, zerfallt in zwei Theile, von denen der eine die Differential-
rechnung, der zweite die Integralrechnung behandelt.
Hinsichtlich der ersten Capitel, welche den eigentlich theore-
tischen Theil der Differentialrechnung enthalten, können wir uns
kurz fassen. Angesichts der vielen zum Theil vortrefflichen Bücher,
welche über die Prinzipien der Differentialrechnung in alter und
neuer Zeit geschrieben worden sind, dürfte es schwer sein, über
diesen Gegenstand etwas wesentlich Neues zu sagen. Alles was in
dieser Hinsicht in einem neuen Lehrbuch noch erstrebt werden
kann, ist neben einer klaren und strengen Auseinandersetzung der
Grundbegriffe eine solche Anordnung des Stoffes, dass die Sätze
naturgemäss und ohne grossen Rechnungsaufwand aus einander
folgen, und sich zu einem Übersichtlichen Ganzen zusammenfügen.
Unseres Eracbtens lässt das vorliegende Werk in dieser Hinsicht
nichts zu wünschen übrig.
Das folgende dritte Capitel enthält Anwendungen der Diffe-
rentialrechnung auf die Theorie der Curven und krummen Ober-
flächen. Die Hauptsätze dieser schönen Theorie sind von dem
Erfasser in klarer und anschaulicher Weise dargestellt und durch
mannigfache, gut gewählte Beispiele erläutert. Wir hätten nur
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190
Schlöraich: Höhere Analyais.
gewünscht, namentlich bei der Theorie der Krümmung der Flächen
und räumlichen Curven die symmetrischen und eleganten Methoden
etwas mehr berücksichtigt zu sehen, denen die Darstellung einer
Fläche durch eine nicht nach z aufgelöste Gleichung oder durch
drei Gleichungen mit zwei neuen unabhängigen Variablen zu Grunde
liegt. Dadurch wären die ziemlich umständlichen Rechnungen in
der Theorie der Krümmung der Flächen bedeutend abgekürzt worden.
Hinsichtlich der Theorie des Maxima und Minima, welche im
fünften Capitel behandelt ist, haben wir eine Bemerkung zu machen,
welche vielleicht unbodeutend erscheinen könnte, welche aber unse-
res Erachtens dennoch zum Verständniss des wahren Wesens die-
ser Theorie von Wichtigkeit ist.
Es ist nämlich bei der Untersuchung der . zweiten Variation
der Functionen mit mehreren Variablen der eine Fall ganz mit
(d2 F \ 9 F d2 F
- — — I t~zt — — -
dxdy/ ux* dy*
für die Werthe des Maximums oder Minimums verschwindet, ein
Fall der zu denen gehört, wo man zur Entscheidung über Maximtim
und Minimum zu den höheren Variationen übergehen muss. Es
hätte sich diese Frage von selbst erledigt, wenn der Verfasser ein-
gegangen wäre auf den auch an sich interessanten Zusammenhang
der Existenz eines Maximums oder Minimums und der Realität der
Inflexioustangenten bei krummen Oberflächen.
Die folgenden beiden Capitel enthalten die Theorie der un-
endlichen Reihen , und zwar das erste derselben eine klare und
gründliche Darstellung des Begriffes und der allgemeinen Bedin-
gungen der Convergenz, das zweite die Anwendung der allgemeinen
Grundsätze auf die Potenzreihen. Am Schlüsse dieses Capitels findet
sich ein kleiner Abschnitt über das Unendlichkleine, in welchem
dieser schwierig zu fassende Begriff, an dem schon so Viele An-
stoss genommen haben, so weit dies überhaupt mit Worten mög-
lich ist, präcis und klar definirt ist, wodurch, wie wir glauben,
ein grosser Theil der Schwierigkeiten, die für den Anfänger mit
der Differentialrechnung verbunden sind, hinweggeräumt ist.
Mit den beiden folgenden Capiteln, von denen das erste die
Erweiterung der früheren Resultate auf complexe Variable, die
andere die Theorie der Zerlegung rationaler Brüche in Partial-
brüche enthält, ist das Gebiet der elementaren Anwendungen der
Differentialrechnung erschöpft, und wir wenden uns nun zum zwei-
ten Theil des ersten Bandes, der Integralrechnung.
Gleich am Eingang ist hervorzuheben die klare und bestimmte
Fassung der Aufgabe der Integralrechnung, sowie der Nachweis des
Zusammenhangs der unbestimmten Integration mit den die be-
stimmten Integrale definirenden Summen. Es folgen hierauf die
allgemeinen Methoden zur Auffindung unbestimmter Integrale, wor-
unter auch die Integration durch unendliche Reiben. Capitel XI
bis XHI enthält eine elegante und ausführliche Darstellung der-
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Sohiaaich: Höhere Analysia.
101
jenigen Integrale, die sich durch die gewöhnlichen einfachen Functio-
nen ausdrücken lassen. Wenn es erlaubt ist, hier eine Bemer-
kung hinznznfügen , so hätte bei dem trigonometrischen Integral
geschehen mögen, wodurch, vorausgesetzt, dass F rational ist alle
Irrationalität mit einem Mal wegfällt, und alle diese Integrale unter
einen gemeinsamen Gesichtspunkt gebracht werden.
Im folgenden Capitel sind Anwendungen der Integralrechnung
auf geometrische Probleme enthalten, wobei nicht unterlassen ist,
gelegentlich bei einzelnen Beispielen auf die Vorsichtsmassregeln
aufmerksam zu machen, die hinsichtlich der Convergenz der Inte-
grale zu beobachten sind. Auch die näherungsweisen Quadraturen
mit genauer Untersuchung des Grades der Annäherung haben in
diesem Capitel eine Stelle gefunden.
Was die Theorie der bestimmten Integrale anlangt, so müssen
wir zugeben, dass es kaum möglich ist, in dem beschränkten Raum,
der in einem allgemeinen Lehrbuch diesem speciellen Theil einge-
räumt werden kann, eine erschöpfende Darstellung dieses sehr sub-
tilen Gegenstandes zu geben. Gleichwohl müssen wir hier einige
Punkte hervorheben. Zunächst vermissen wir den allgemeinen ana-
lytischen Beweis, dass die Grenze, welcher sich die das Integral
definirende Summe nähert, unabhängig ist von der Art der Ein-
theilung des Intervallen in Elemente. Es wird dieser Beweis zwar
einigermassen ersetzt durch die geometrische Anschauung ; indessen
ist derselbe doch zu einer rein theoretischen Begründung des Be-
griffs des bestimmten Integrals unseres Erachtens unerlässlich. Der
zweite Punkt betrifft die allgemeinen Kriterien der Convergenz be-
stimmter Integrale. Der Verfasser hat zwar an einzelnen Beispielen
nachgewiesen, auf welche Weise eine Divergenz bestimmter Inte-
grale zu Stande kommt. Indessen sind diese Beispiele alle der
Art, dass sich die Integration unbestimmt ausführen lässt, und die
Kenntnis« der Kriterien der Endlichkeit von Integralen, die sich
nicht unbestimmt ausführen lassen , erscheint uns als ein ebenso
unab weislieh es Bedürfnis« wie die Kriterien der Convergenz unend-
licher Reihen. Im Uebrigen bewährt sich auch in diesem Theil
die Meisterschaft des Verfassers, was Klarheit der Darstellung und
Gründlichkeit auch in schwierigeren Partien, wie die Differentiation
und Integration bestimmter Integrale anlangt.
Die drei letzten Capitel des ersten Bandes sind den Elemen-
ten der Theorie der gewöhnlichen, d. h. nicht partiellen Differential-
gleichungen gewidmet. Dieser Abschnitt enthält in einem verhält-
nissmässig geringen Umfang alles Wesentliche, was in einer ele-
mentaren Darstellung über diese Differentialgleichungen gesagt
werden kann. Wir finden nach einer sehr anschaulichen und fass-
licbm Darlegung des Begriffs der Differentialgleichung und ihrer
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192
Schlömich: Höhere Analysis.
Erörterung der allgemeinen Methoden, welche zur Auffindung der
Lösung führen können, erläutert durch zahlreiche, zum Tbeil prak-
tischen Anwendungen entnommene Beispiele.
Der zweite Band des Werkes enthält, wie wir schon oben er-
wähnt haben, die Darstellung einer sehr glücklich getroffenen Aus-
wahl von Gegenständen aus den höheren Theilen der Analysis.
Das erste Capitel dieses Bandes behandelt unter dem Titel
»Die höheren Differentialquotienten« in eleganter und vollständiger
Darstellung diejenigen Formeln, welche sich beziehen auf die höhe-
ren Differentialquotienten der Functionen von Functionen, und die
Differentialquotienten von Functionen nach neu eingeführten Va-
riablen genommen.
Bei der Theorie der Functionen complexer Variablen hätten
wir gewünscht, dass die nach unserer Ansicht eiuzig richtige und
auf den Grund gehende Definition der Functionen complexer Va-
riablen, nämlich die von Riemann, die der Verfasser nur beiläufig
in einer Anmerkung erwähnt, etwas mehr in den Vordergrund ge-
rückt worden wäre, anstatt den Betrachtungen mathematische
Ausdrücke in x-f-iy zu Grunde zu legen; denn da schon im fol-
genden Abschnitt bei reellen Variablen der Begriff der willkür-
lichen Functionen eingeführt wird, so können hinsichtlich der Aus-
dehnung dieses Begriffs auf complexe Variable bei einem aufmerk-
samen Leser leicht Zweifel und Irrthümer entstehen. Dagegen ist
sehr anzuerkennen der Theil dieses Abschnittes, der von deu un-
endlichen Reihen mit complexen Variablen handelt Es ist darin
alles geleistet, sowohl was Vollständigkeit als was Genauigkeit und
Strenge anlangt, was billiger Weise von einem Lohrbuch verlangt
werden kann.
Der folgende Abschnitt handelt von den periodischen Reihen.
Hier ist zuerst die Ableitung dieser Reihen durch eine Substitution
aus den Potenzreihen mitgotheilt, eine Ableitung, welche bei steti-
gen periodischen Functionen, wie z. B. die elliptischen Functionen
vollständig genügt, und auch unter gewissen Beschränkungen auf
complexe Variable ausgedehnt werden kann.
Hierauf folgt der berühmte Beweis von Dirichlet für die Ent-
wickelbarkeit selbst unstetiger ^villkürlicher Functionen reeller Va-
riablen zwischen gegebenen Grenzen. Im Ganzen hat sich der Ver-
fasser dabei an die Darstellung von Dirichlet selbst ziemlich genau
gehalten, abgesehen von einer kleinen Abweichung, deren Nutzen
uns beiläufig bemerkt nicht recht einleuchtet. Indessen lässt sich
gegen die Strenge und Vollständigkeit sowohl dieses Abschnittes
als des folgenden, der von den Fourier'schen Integralen handelt,
nichts einwenden.
(8chlus8 folgt)
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k. 13. • HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR
Schlömich: Höhere Analyst
(SchlUBS.)
Den Abschnitt, welcher von den Beruoullischen Functionen
und halbconvergenten Reihen handelt, möchten wir für einen der
gelungensten Theile des ganzen Werkes halten. Viele der hier mit-
gdtbeilten Entwicklungen, welche sich durch Einfachheit und Ele-
ganz auszeichnen, sind des Verfassers Eigenthum, und sehr klar
and durchsichtig tritt dabei der Begriff der halben Convergenz zu
Tage. Den Schluss der ersten Lieferung des zweiten Bandes bildet
die Theorie der Gammafunctionen.
Die zweite Lieferung behandelt in ihrem ersten und haupt-
sächlichsten Theil die Theorie der elliptischen Integrale und ellip-
tischen Funktionen. Obwohl es keine leichte Aufgabe ist, eine
Theorie, die einen solchen Umfang gewonnen hat, wie die der
elliptischen Functionen, in einem beschränkten Raum , wie er in
dem vorliegenden Werke derselben eingeräumt werden konnte, mit
genügender Gründlichkeit zu behandeln, so dass weder etwas Wesent-
liches ausgelassen, noch bei weniger wichtigem allzulange verweilt
wird, so können wir doch dem Verfasser die Anerkennung nicht
versagen, dass er bei der Auswahl mit grosser Umsicht verfahren
ist und dass ohne Zweifel durch seine Darstellung der Leser einen
richtigen Begriff von dem Wesen der elliptischen Functionen er-
halten wird. Auch der Weg, den der Verfasser zur Begründung
der Theorie gewählt hat, scheint uns unter den verschiedenen Wegen
die man schon zu gleichem Zweck betreten hat, wenigstens für das
anfängliche Studium bei weitem den Vorzug zu verdienen , da er
naturgemäss und fasslich ist und nicht gleich von vorn herein mit
neuen schweren Begriffen und Definitionen anhebt. Es ist der
Weg, welcher ausgeht von dem aus den Elementen geläufigen Be-
griff des elliptischen Integrals, und dann die elliptischen Functionen
als obere Grenzen des Integrals, oder was auf dasselbe hinaus-
kommt, durch Differentialgleichungen definirt.
Gleichwohl haben wir einige Punkte vermisst, die uns zur
Förderung des Verständnisses und des Zusammenhangs sehr nütz-
lich erscheinen. So hätten wir namentlich gewünscht, wenn auch
nicht die allgemeine Theorie der algebraischen Transformation,
doch eine genaue und systematische Discussion der Substitution
der «weiten Ordnung zur Transformation auf die Normalform, haupt-
LiX. Jahrg. 8. Heft. 13
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194
Schiß mich: Höhere Analysia.
sächlich aas der Kormalform in die Normalform zurück. Diese Sub-
stitutionen, von denen einige der Verfasser auch gelegentlich be-
nutzt, besitzen die grosse Tugend, dass sie sich, einmal aufgestellt
und richtig festgehalten , wie ein rother Faden durch die ganze
Theorie bis zu den letzten Theileu hindurch ziehen und System
und Ordnung in die ungeheure Fülle von Formeln bringen , die
sonst planlos und gewissermassen zufallig aufgehäuft erscheinen.
Ferner vermissen wir bei der Einf ührung der Function sin am
den Beweis der Eindeutigkeit dieser Function, was um so mehr
auffällt, als der Beweis der Eindeutigkeit von cos am z/am gelie-
fert ist unter der Voraussetzung der Eindeutigkeit von sin am.
Was die Ableitung der unendlichen Entwicklungen für die
elliptischen Functionen anlangt, so wird darüber wohl kaum ein
Bedenken erhoben werden können. Namentlich ist die Methode der
Ableitung der unendlichen Produkte aus den Reihenentwicklungen
der Logarithmen interessant.
Bei den periodischen Reihen für die elliptischen Functionen
hätte die Bemerkung gemacht werden sollen , dass diese Reihen
auch noch für gewisse complexe Werthe der Variablen Geltung be-
halten, nämlich für solche, welche in einem unendlichen Streifen
liegen, welcher der reellen Axe parallel läuft und sich in der Rich-
tung der imaginären Axe von — iK' bis -{"iE1 erstreckt.
Wenn der Verfasser angibt, dass die Reihen für sin am u cos
am u für complexe Werthe des Arguments divergent werden , so
beruht dies auf einem Irrthum, wie man sofort erkonnt, wenn man
2. B. das Argument rein imaginär und zwisohen — iK1 und -f-iK*
gelegen annimmt.
Den Schluss der Betrachtungen über die Reihenentwicklungen
für die elliptischen Functionen bilden einige Andeutungen über die
Art und Weise, wie man den Begriff der Thetareihen als Aus-
gangspunkt für die Begründung der Theorie der doppelperiodischeu
Functionen benuÄen kann, eine gewiss nicht tiberflüssige Zugabe,
durch welche für die Theorie der elliptischen Functionen dem Leser
wesentlich neue Gesichtspunkte erschlossen werden, die ihm bei
eingehenderen Studien von grossem Nutzen sein können.
Das folgende Capitel enthält unter dem Titel »die vielfachen
Integrale zunächst die Theorie der Transformation mehrfacher be-
stimmter Integrale auf neue Variable, wobei auch in möglichster
Kürze der Begriff der [Determinanten auseinandergesetzt ist; ferner
die Darstellung der Diricblet'schen Metbode der Auswerthung viel-
facher Integrale mittels des diskontinuirlichen Faktors.
Der letzte Abschnitt des Werkes endlich beschäftigt sich mit
der schönen Theorie der Integration linearer Differentialgleichungen
zweiter Ordnung mit verändlichen Coefficienten.
Wir hoffen, dass es uns gelungen ist, durch diese Darlegung
des Inhaltes unser am Eingang ausgesprochenes ürtheil zu bekräf-
tigen, Und wenn wir auch hin und wieder Ausstellungen zu machen
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Bergmann: Entwicklung der Pfarreien n. Klöeter Vorarlberg^. 196
karten, so bezogen sich diese auf Einzelheiten, welohe dem Werth
des ganzen Werkes in keiner Weise Abbruch thun. Wir sohliessen,
indem wir das Werk nochmals angelegentlich allen Denen empfeh-
len, die, sei es zu praktischen Zwecken, sei es Behufs wissenschaft-
licher Studien mit den Grundsätzen der höheren Analysis sich ver-
traut zu machen veranlasst sind.
Heidelberg im Marz 1867. H. Weber.
Chronologische Entwicklung sämmtlicher Pfarren und ihrer Filialen,
wie auch der Klöster in den sechs Decanaten Vorarlbergs. Mit
topographisch-historisch-statistischen Anmerkungen und einem
Anhange ühtr den Namen „Vallis Drusiana." Herausgegeben
von Dr. Joseph Ritter von Bergmann, wirklichem Mit-
gliede der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. (Vorge-
legt in der Süsung der philosophisch-historischen Classe am
4. JuU 1866.) Wien k. k. Hof- und Staatsdruckerei. In Com-
mission bei Karl Qerold's 8ohn^ Buchhändler der kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften 1866. 34 8. 4.
Der in diesen Blättern so vielfach anerkannte Forscherfleiss
des gelehrten Verf. des oben angegebenen Werkes, hat in diesem
der geschichtlichen Spocial Wissenschaft einen neuen Beitrag gegeben,
der, an und für sich interessant, ein Muster ähnhoher Arbeiten
sein kann, wie sie gerade in neuester Zeit im Grossherzogthum
Baden in Angriff genommen werden sollen.
Das kleinste Kronland des Österreichischen Kaiserstaates, Vor-
arlberg (45,22 Quadr .-Meilen mit 109,491 katholischen Einwoh-
nern, dazu mit jetzt etwa 400 protestantischen und 700 jüdischen)
war nach seiner kirchlichen Eintheilung ursprunglich unter der
Pflege dreier Bisthümer, Ohur, Constanz ttnd Augsburg,
wurde unter baieriseber Herrschaft 1808 tb eil weise dem Bisthum
Brixen untergeordnet und endlich 1819 dem Generalvicariat zu
Feldkirch, da die Residenz Brixen von dem Ländchen denn doch
allzu ferne lag.
Diese verwickelten Verhältnisse , die Zerstreuung der Akten-
stücke in so viele Archive musste für die Erforschung der kirch-
lichen Geschichte Vorarlberg^ ein bedeutendes Hemmniss sein.
Prot Franz Anton Sinnacher in Brixen hat in seinem Werke
»Beitrage zur Geschichte der bischöflichen Kirche von Sähen und
Brixen (9 Bände 1821 — 1885) wenigstens kurze Notizen Uber ein-
zelne vorarlberg'sche Pfarren gegeben. Vielleicht war gerade sein
Werk die Veranlassung, dass 1832 das Landesgubernium in Tirol
dio beiden Ordinariate von Trient und Brixen aufforderte, eine
kirchliche Topographie und Statistik ihrer Diocesen
auszuarbeiten. Sinnacher entwarf den Plan dazu nach 10 Rubriken;
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196 Bergmann: Entwicklung der Pfarreien u. Klöster Vorarlberg V
I. Name, Ursprung und Lage des Orts. II. Weltliche Herrschaft.
Seelenzahl, Nahrungszweige. III. Kirchliche Verhältnisse. IV. Kirch-
liche Gebäude, Stiftungen. V. Filialkirchen, Klöster. VI. Kirchliches
Vermögen. VII. Reihe der Seelsorger. VEUL Schulen. IX. Wohl-
thätigkeitsanstalten. X. Namen aasgezeichneter Personen. Die Geist-
lichkeit sollte bis 1834 ihre Arbeiten hierüber einsenden. Eine
Bearbeitung derselben konnte Sinnacher nicht mehr vollenden; er
hinterliess die Arbeit seinem Schüler, Regens Tinkhauser, der 1855
den ersten Band erscheinen liess, vom zweiten Band bis 1860 acht
Hefte herausgab. Vorarlberg ist darin noch nicht vertreten. Es war
deshalb des Verf. Verdienst, dass er 1845 aus den genannten Materialien
Aufzeichnungen machte und nach denselben 1849 die chronologische
Genesis der Pfarren der Decanate Montavon, Sonneuberg und Bre-
genzerwald in Tabellenform veröffentlichte. Ihm folgte der Jesuiteu-
pater Franz Joller mit einer »chronologischen Entwicklung der
Pfarreien Vorarlberg^«, die 1862 dem Bischof Joseph Fessler
(jetzt in St. Pölten) übergeben wurde, aber nur den Ort, Kirchen-
heiligen und das Jahr der Entstehung einer Seelsorge ohne weitere
Bemerkungen enthält, also abgesehen von manchen Berichtigungen
der Erweiterung bedurfte.
Beides gab der Verf. in seiner Schrift mit Hinzufugung der
Curatien und Exposituren nach einem reichen Quelle n schätze , der
S. 5 u. 6 aufgeführt ist. Seine Arbeit ist in tabellarischer Form ;
die sechs Decanate des Ländchens mit Angabe ihres Flächeninhalts,
der Einwohnerzahl auf je einer Tafel, gefolgt von erläuternden An-
merkungen.
Wie klar und plastisch sich in solcher Bearbeitung die Einzel-
verhältnisse herausstellen, mag das einzige Beispiel zeigen von Taf.
IV Decanat Bregenz 4,19 Quadr.-Meilen 17 Pfarreien, 2 Fxposi-
turen 22,295 Einw. und 36 Schulen. I. Columne : Bregenz. Capelle
der hl. Aurelia; Columban u. Gallus 610—612. II. Columne: die
12 von dieser Mfctterkirche nach und nach getrennten Pfarren a.
Lauterach (villa Luttraha u. Lutaraha 853 u. 855; ecclesia de
Lutrah 1227, 1280 u. 1249 Capella S. Georgii in Lutrache. Caplanei
1444, Pfarre zum hl. Georg 1618 mit 1824 Einw. und 2 Schulen,
b. Alberschwonde, c. Hard u. 8. f. Die III. Columne : hinter d. Wol-
furt, enthält dessen Filiale Buch, Capelle des hl. Petrus seit 1084?
[Wolfurt selbst ist erst 1512 Pfarre] eigene Caplanei 1508, Pfarre
zu St. Peter und Paul 1760. 485 Einw. u. 1 Schule. Bildstein,
Schwarz ach, Dören mit den betr. Angaben. Nicht ganz klar
ist die Bezifferung a und b bei den folgenden Pfarren Hohenweiler
und Riefensborg. Die letztere Pfarre ist, wie in einer Anmerkung
angegeben fst, keine Tochterkirche zu Bregenz. In den folgenden
Anmerkungen sind die Bestandtheile des Decanats nach der poli-
tischen Eintheilung gegeben, sodann die Entstehung einer kirch-
lichen Niederlassung durch die oben erwähnten Glaubensboten und
die Geschichte des Klosters Mehrerau behandelt. — Schon hier
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Bergmann: Entwicklung der Pfarreien n. Klöster Vorarlberg**. 1 97
sind anziehende geschichtliche Fragen angeregt. Mit vollem Rechte
zweifelt z. B. der Verf., dass die von den Alemannen zerstörte und
von Gallus wiederhergestellte Aureliakapelle einer der 10,000 Jung-
frauen geweiht gewesen sei. Dergleichen Sagen von zurückgeblie-
benen Gefährtinnen der hl. Ursula wiederholen sich auch ander-
wärts z. B. bei der Chrischonakirche und dem Odilienberg bei
Basel und Colmar, und es wird das Wahrscheinlichste sein , dass
ihr Name in einem der Catakombengräber oder einem der ältesten
christlichen Dypticben sich finden könnte. Auch das ist eine feine
Bemerkung, die der Verf. bei Bregenz macht, dass damals schon,
als Gallus in jene Gegend kam , die Bevölkerung aus romanischen
und alemannischen Elementen gemischt war. Durch diese Annahme
erklärt sich auch am natürlichsten die Verdrängung der beiden
Glanbensboten durch den Alemannenherzog Gunzo, die Uebersied-
lung des Columban nach Italien und das Zurückbleiben Galls, erst
im romanischen Grabs , endlich vielleicht auch noch die spätem
Kämpfe der rbätischen und alemannischen Gaugrafen im Rheinthal,
von welchen die Petershainer Chronik weiss. Urkundlich wird sie
durch die Sonderung der Zeugen in romanische und deutsche im
St. <; aller Cod. Traditionum und in dem alten Formelbuche des
9. Jahrhundert bestätigt, von welchem Ref. in seinen »Quellen und
Forschungen« einige Bruchstücke herausgegeben hat; — denn dass
Bruchstücke einem St. Galler oder Churer Formelbuch angehörten
— vielleicht einem Anhang der 8 g. lex romana Utinansis, welche
nach HegeVs scharfsinniger Ausführung ja gerade hier ihre Heimath
hat — ist dem Ref. nach Autopsie jener Bruchstücke in der Kloster-
bibliothek zu St. Gallen zur Ueberzeugung geworden. (Vgl. Hegel
Städteverf. von Italien II. 8. 104 ff. , mit dem Bemerken, dass
S. 124 die Gerichtstätte Vinonna nicht Venonica im Lugnezthal,
sondern das von unserm Verf. S. 9 genauer behandelte und scharf
geschiedene Vinomna — bei dem spätem alemannischen Ranckwyl
im Rheinthale — ist, die älteste Mallstätte des rhätischen Rhein-
thals und schon durch die Fridolinslegende bekannt.)
Ebenso richtig ist des Verf. Bemerkung gegen die Legenden
Über das Alter von Mehrerau (S. 19), dessen Nekrologienbuch der
Verf. im V. Band der Denkwürdigkeiten der philologisoh-historischen
Gasse der k. Akademie der Wissenschaften herausgegeben hat.
Ganz sicher ist nach allen daselbst aufgeführten Merkmalen die
Zeit der Gründung nicht die des Aufenthalts von Columban und
Gall in jener Gegend, sondern das Jahr 1097, in welches man ge-
wöhnlich die Restauration desselben sotzt. Mehrerau übrigens
ist nicht das einzige Kloster Vorarlberg^, mit dessen Schicksalen
sich der Verf. beschäftigte, sondern sämmtliche Klöster, 8 Orden
gehörig, Bofern sie Mannsklöster sind und 6 sofern sie von Frauen
Wohnt sind, im Ganzen 20, ohne die 12 Stationen barmherziger
Schwestern zurechnen, sind aufgezählt und beschrieben (S. 26 — 29);
ebenso S. 29—32 die Besitzungen und Gefalle auswärtiger Gottes-
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106 Dletsch: Lehrbuch der Geschichte II, 2.
hüuBor in Vorarlberg, ein schönes Stück rhätisch alemannischer
SpecialgeBchichte. Ein Anhang endlich S. 33 — 34 handelt über den
Namen Vallis Drusiana. Die bisherige Annahme, dass er von
Drusus, dem Stiefsohne des Augnstus sich herleite, wird vom Verf.
schon nach dem Umstände bezweifelt , dass durch dasselbe keine
Heerstrasse zieht und dass die via Claudia, welche eine verbesserte
Führung der von Drusus angelegten Strasse ist, nach den aufge-
fundenen Steinen bei Rabland und Cesio bei Feltre in andern Rich-
tungen führt — durch die Val Sngana auf die Veroneserstrasse
und durch das Vintschgau in das Intbal und diesem folgend in die
vindelioische Ebene — . Dagegen wird der Name Druso, Drnsio
schon 801—803 in diesen Gegenden nachgewiesen; Drucio, Tri-
sune — wir fügen auoh Truns bei — werden unserer Ansicht nach
als verwandte Stämme herbeigezogen. Wir wiederholen es, es ist
ein schöner Beitrag, der auch über das Gebiet der Pastot ations-
angelegenheiten hinausreicht, dessen wir uns in dem augezeigten
Werke erfreuen und — er erregt den Wunsch, dass bald weitere
Aufklärungen über das Heimathländchen vom Verf. veröffentlicht
werden möchten.
Mannheim im März 1867. Fickler.
Uhrbuch der Geschichte für die oberen Klassen der Gymnasien und
9um Selbststudium. Von Rudolf Dietsch. Zweite voll-
ständig neu bearbeitete Auflage. Zweiten Bandes 2weite Ab-
theilung: die Zeit von Karl dem Grossen bis zu den Krem-
sügen. IMpzig. Druck und Verlag von B. Q. Teubner 1866.
VI und 415 8. gr. 8.
Die vorausgehenden Theile dieses Werkes sind in diesen Jahrbb.
1860 8. 523 0. und 1861 p. 875 ff. nach Anlage und Ausführung
näher besprochen und ist dabei Zweck und Bestimmung des Ganzen
augegeben worden. Was den letzten Punkt betrifft, so kommt der
Verf. in dem dieser Abtheilung vorgesetzten kurzen Vorwort dar-
auf zurück, indem er sich gegen die (in diesen Blättern wenigstens
nicht gemachte) Unterstellung verwahrt, als habe er die Absiebt
gehabt mit diesem Buche ein Compendium, einen Leitfaden zum
Unterrioht in den obern Classen zu liefern. Wer in dem Werke,
wie es in den früheren Theilen, und wie es in diesem Theile vor-
liegt, nur einigormassen sich umgesehen hat, wird auf eine solche
Behauptung niobt verfallen können, da es zu einem solchen Zweck,
schon bei seiner grösseren Ausführlichkeit und nach der ganzen
Darstellung s- und Heb and In ngs weise des Stoffs, gar nicht angelegt
erscheint. »Das Buch ist lediglich bestimmt, den Resultaten der
wissenschaftlichen Forschung, so weit ich dieselben an den Quellen
zu prüfen verooobta, den Eingang in die Schulen zu öffnen, und
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Dietsch: Lehrbuch der Geschichte II, 2.
199
dem denkenden und eindringenden Selbststudium, welches neben
dem Vortrag und der Erläuterung in den Unterrichtsstunden noth-
wendig ist, wenn das richtig erkannte Ziel der Gymnasialbildung
auch in diesem ihrem wichtigen Theile erreicht werden soll, zu
dienen. Nicht einem ausgedehnten Gedächtnisswissen, sondern der
durch aufmerksame Leetüre zu verarbeitenden historischen An-
schauung von bedeutenden Personen, Völkern und Zeiträumen för-
derlich zu werden, habe ich mit grosser Anstrengung unter vielen
Störungen gearbeitet.« Von keinem andern Standpunkt aus haben
auch wir das Ganze betrachtet, und halten dasselbe für eine sehr
passende Leetüre eines Schülers der oberen ( lassen oder selbst der
Universität , der sich näher und in gründlicher Weise über das
belehren will, was im Unterricht selbst ihm nur in Umrissen ge-
boten werden konnte ; ja wir gehen selbst weiter und nehmen kei-
nen Anstand, auch weiteren gebildeten Kreisen , die sich über
die Vergangenheit belehren und aus ihr auch die Gegenwart
kennen zu lernen wünschen, dieses Geschichtswerk zu empfehlen.
Denn es weht ein frischer und wohltbuender Geist in dem Ganzen,
das Herbe und Schroffe des Urtheils stosst uns nicht ab, noch
wird es jugendliche GemUther zu absprechender Anmassung ver-
leiten, und dadurch einen Geist in ihnen anregen, den oine gute
Belehrung vor Allem fern halten soll; eben darum glauben wir
von der sorgfältigen Leetüre des anregenden Buches nur wohl-
thätige Folgen erwarten zu können.
Die vorliegende Abtheilung, die fllr sich einen ganz ordent-
liehen Band füllt, hat im ersten Abschnitt die Regierung Karls
des Grossen zum Gegenstande, im zweiten den Verfall des Franken-
reiches bis zu dem Tode Karls des Dioken. Wir freuen uns in
diesem Abschnitte die Bedeutung Karls des Grossen nach ihrem vollen
Grade gewürdigt und dargestellt zu sehen, wir verweilen gerne bei dem
Bilde, das der Verf. von diesem wahrhaft grossen Regenten aufstellt,
mit dem allerdings eine neue Welt beginnt, die aber die Bildungs-
keime der alten in sich aufgenommen, neu zu beleben und weiter
fortzubilden verstanden hat. Durch Karl den Grossen ist, abge-
sehen von allen sonstigen Verdiensten, die Wissenschaft des clas-
sischrn, zunächst römischen Alterthums erhalten und zur Grundlage
der höheren Bildung für alle folgenden Zeiten gemacht worden.
Der Verf. stellt zuerst die äusseren Verhältnisse dar, unter welchen
Karls des Grossen Reich entstanden ist und schliesst (S. 17) mit
folgender Betrachtung: »Das Kaiserthum, wie es durch Karl den
Grossen aufgestellt ward, ist von dem römischen wesentlich ver-
schieden. Denn wenn es auch als die von Gott verliehene höchste
Gewalt betrachtet und geltond gemacht wurde — weshalb Karl
808 durch Sendboten von allen Bewohnern einen neuen Hul-
digungseid, der höhere Pflichten für ihn in Anspruch nahm, schwö-
ren liess — , so war es doch nicht despotische Allgewalt, sondern
blieb auf den historisch entwickelten germanischen Verfassungs-
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200
Di et seh: Lehrbuch der Geschichte IT, 2.
Verhältnissen beruhen, und beaufsichtigte, lenkte, richtete nur die
freie Bewegung in den engern Kreisen, nm sie in Uebereinstimmung
mit dem göttlichen Gesetz zu erhalten. Keine Aufhebung des In-
dividuellen und Nationalen , sondern nur die Einigung des Ver-
schiedenartigen durch ein höheres Band lag in seinem Wesen. Und
dieses Band gibt die christliche Kirche, deren Schirmer und Be-
wahrer der Kaiser ist. Von ihr hat er die göttliche Majestät, von
ihr empfängt er aber auch streng bindende Richtschnur und Be-
dingung. Noch steht er über der Spitze der Kirche, aber er ist
nicht deren Oberherr, nur der Leiter und Bestätiger von deren
Beschlüssen. Wie in dem übrigen ist auch hier seine Stellung ab-
hängig von der Art, wie er sie geltend zu machen vermag. Darin
dass der Papst die Krone im Namen der Kirche verleiht, liegt ein
Anspruch, der in Conflicten bis zum Rechte der Wiederentziehung
gesteigert werden muss, während die weltliche Unterthänigkeit jenes
denselben zurückweist. Die Kaiserkrönung Karls des Grossen ist
das bedeutendste Moment zur geschichtlichen Entwicklung des Mit-
telalters, mit ihr ist dasselbe erst vollständig ins Leben eingetreten.«
Darauf schildert der Verf. in eigenen Unterabschnitten Karls
des Grossen Thätigkeit im Innern des Reichs, und seine Persön-
lichkeit, seine Familie, seinen Tod; er geht zuerst auf die seinem
Reiche gegebene Verfassung und Verwaltung ein , dann auf die
Kirche, auf Wissenschalt und Kunst, wie auf Einkünfte, Handel,
Industrie und Ackerbau. Wir können es uns nicht versagen, auch
daraus eine Stelle, als eine weitere Probe, mitzutheilen, und zwar
diejenige, welche die Erörterung des Verhältnisses Karls des Gros-
sen zur Kirche einleitet. »Am erhabensten und herrlichsten, so
spricht sich der Verf. S. 21 aus, erscheint Karl der Grosse durch
die Art, in welcher er sein Verhältniss zur Kirche auffasste und
durchführte. Factisch war er der Oberherr auch dieser. Der Papst
war von ihm abhängig ; dessen Wahl hieng von seiner Bestätigung
ab und der ihm geleistete Huldigungseid war die dazu nothwendige
Bedingung Weit entfernt davon das Oberhaupt der fränkischen
Kirche zu sein, bildete jener nur die Spitze des geistlichen Hirtcn-
und Beamtenthums; er war der oberste Berather und Stimmab-
geber in den kirchlichen Angelegenheiten, aber der Kaiser stand
über ihm. Von diesem wurden zwar die Bischöfe und Aebte nicht
selbst gewählt, aber sein Wille war doch bei der Wahl das allein
massgebende, da die Weihe nur auf seinen Befehl vollzogen wer-
den durfte. Kirchenversammlungen durften nur auf seine Berufung
oder mit seiner Erlaubuiss zusammentreten und von ihm hieng die
Bestätigung der Beschlüsse ab; sie abzuändern und zu ergänzen
lag in seiner Befugniss so unzweifelhaft, dass Karls des Grossen
Gesetze in die kirchlichen Rechts- und Gesetzbücher Aufnahme,
fanden. Um so anerkennenswerther ist, dass er nie den Herrn
der Kirche spielte, sondern sich immer als den ersten Sohn der-
selben bewies, wie er die Freiheit gewährend doch einen solchen
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Dietsch: Lehrbuch der Geschichte II, 2
Geist hervorzurufen verstand, dass 9ie in sich ein frisches, kräftiges
Leben entwickelte und für den Staat ein wahrhaft geistiges und
sittliches Ferment ward. Das eigene Beispiel konnte hierzu allein
das Beste thun und, wer den Sinn jeder Zeit zu fassen versteht,
dem kann kein Zweifel darüber beigehen , dass Karl der Grosse
nicht allein den kirchlichen Uebnngen mit grösstem Fleiss und
Eifer oblag, sondern dieselben in wahrhaft christlichem Sinn trieb,
nnd, was noch höber, im Leben wahres Cbristenthum zu beweisen
aafs treueste bedacht war.« Das, was über seine 8orge für die
Wissenschaft und deren Wiederbelebung gesagt ist, hätte viel-
leicht noch Etwas weiter ausgeführt werden können, wenn anders
der Umfang des Ganzen solches verstattet hätte ; richtig aber wird
hier auch auf die ttMilihunrren Karls des Grossen um die deutsche
Sprache, deren Bildung und Förderung hingewiesen, worauf wir um
so lieber aufmerksam machen, als oftmals die entgegengesetzte An-
sicht sich breit machen, und Karl den Grossen als einen gewaltsamen
Unterdrücker aller volkstümlichen Elemente, blos zum Behuf der
eigenen Herrschergewalt darstellen will. Mit gleichem Interesse
wird man der weiter folgenden Darstellung des geschichtlichen Ver-
laufes unter Ludwig dem Frommen, Karl dem Kahlen u. 8. w. bis
zu Karl dem Dicken folgen ; eine eigene Erörterung ist am Schlüsse
auch hier den kirchlichen Verhältnissen gewidmet, dabei auch S. 72
auf die vielbesprochenen Pseudoisidorischen Decentralen Rücksicht
genommen, deren Entstehen, wie uns scheint, ganz richtig aus dem
Streben abgeleitet wird , der Kirche , bei dem äusseren Abbruch,
den sie erlitten, wieder zu einer würdigeren und unabhängigeren
Stellung zu verhelfen, weil man die darin festgestellten Satzungen
für nothwendige Consequenzen der in der Kirche liegenden Ideen
erkannte, nnd darum um so lieber annahm, wenn sie, wie hier, als
der Kirche längst eigene und schon früher in Anwendung ge-
brachte Satzungen dargestellt waren.
Der dritte Abschnitt enthält das deutsche Reich bis zum Er-
lösehen des waiblingischen Königshauses (887 — 1125) in drei Ab-
theilungen , deren erste die beiden letzten Karolinger befasst (887
— 911), die zweite Deutschland nach dem Erlöschen des Karolinger-
stammes bis zu dem Ende des sächsischen Königshauses, also die
Könige und Kaiser aus diesem Stamm, Heinrich I., die drei Otto-
nen und Heinrich II. bis zum Jahr 1024; in der dritten Abthei-
lung folgen die fränkischen (waiblingischen oder salischen) Kaiser,
Konrad II., Heinrich III. IV. und V., bis zum Jahr 1125: einge-
schlossen ist auch der Abschnitt, der die Gründung der päpst-
lichen Hierarchie unter Gregor VII. darstellt, wobei der Verf. ins-
besondere Floto und Giesebrecht benutzt hat, deren Auseinander-
setzungen freilich in neuester Zeit mehrfach bestritten worden sind.
Ein eben so interessanter Rückblick (S. 288 f.) schliesst das Ganze
ab und sncht in allgemeinen Umrissen eines treues Bild der vor-
hergegangenen Zustände uns vorzuführen. Es reihen sich daran
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1)2
Brandes: Ausflug nach Norwegen.
noch einige kleinere Abschnitte oder Paragraphen, welche die Ge«
sohichte derjepigen Lander oder Landestheile bringen , die nicht
wohl in den vorausgehenden Rahmen eingefügt werden konnten,
sondern allerdings eine besondere Behandlung erheischten : zuerst
Frankreich von 888 bis 1108 (die beiden letzten Karolinger und
die vier ersten Capetinger), dann England von 800—1100, also
Alfred der Grosse und sein Nachfolger, die dänischen Herrscher,
Knud der Grosse, die Rückkehr des angelsächsischen Hauses und
die normannische Eroberung, zum Schlüsse noch Schottland und
Irland. Dann folgen der skandinavische Norden, Dänemark, Nor-
wegen und Schweden ; darauf der europäische Osten mit Polen,
Russland, Ungarn ; und die pyrenäische Halbinsel, zuerst das muha-
medanische, und dann das christliche Spanien. Es ist zwar bei
allen diesen Abschnitten mehr oder minder auf das culturge-
schichtliche Interesse Rücksicht genommen : indessen ist, was man
nur billigen kann, am Schlüsse noch ein besonderer Abschnitt hin-
zugekommen (S. 362 ff.), welcher den Stand der Wissenschaft und
Bildung, so wie die einzelnen hervorragenden Leistungen auf die-
sem Gebiete, wie auch weiter auf dem der bildenden Kunst über-
haupt darstellt. Nun erst folgen die allerdings von dem Voraus-
gegangenen zu trennenden Abschnitte über das oströmische (byzan-
zantinische, griechische) Reich und über die moslimische Welt,
während der Zeitperiode, welche in dieser Abtheilung behandelt
ist. Auch hier wird man das Culturhistorische, und die Leistungen
auf dem Gebiete der Wissenschaft, Literatur und Poesie in ge-
bührender Weise berücksichtigt finden.
Nachdem wir auf diese Weise kurz den Inhalt so wie die
Anordnung des Ganzen dargelegt, können wir nur den wieder-
holten Wunsch ausspreebeu, dass auch dieser Theil des verdienst-
lichen Werkes sich der gleichen günstigen Aufnahme erfreuen und
damit zur Verbreitung einer richtigen und vorurteilsfreien Er-
kenntniss und Würdigung der Zeit, auf weloher auch unsere ganze
Bildung ruht, beitragen möge.
Ausflug nach Norwegen im Sommer 1866 von Dr. H. K. Brande*,
Professor und Rector des Gymnasiums su Lemgo. Detmold.
MtytSsche Hofbuchhandlung 1867. 112 S. 8.
Der letzte Ausflug des Verfassers, wie diess in diesen Jahr-
büchern 1866. S. 156 ff. berichtet worden, führte den Leser in die
so wenig bekannte Üngarisch-Galizische Gebirgswelt : der hier in be-
sprechende führt in ganz anderer Richtung nordwärts zu einem Land,
das auch noch wenig von unserer Reisewelt durchzogen und daher
auch minder bekannt, doch reich an grossartigen Naturscenen jeder
Art, den um der Natur willen besuchtesten Ländern Europas sich
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Brandes: Ausflug nach Norwegen.
an die Seite stellen kann, und durch die einfacheren und natür-
lichen Verhältnisse der Bewohner um so anziehender geworden ist,
auch wenn es in seinem Innern denjenigen Comfort vermissen lässt,
der nns an manchen Orten der Alpen an das Treiben der grossen
Weltstädte erinnert, das wir lieber in einer grossartigen Natur ver-
gessen möchten. Und dieses Land, welches das Ziel des vorjähri-
gen Ausfluges ward, ist uns jetzt durch *lie Dampfschiffahrt un-
gleich näher gertickt, indem von Hamburg aus Christiansand, nahe
der südlichsten Spitze des Landes, dem Cap Lindesnäs, in 36 Stun-
den erreicht ward. Hier betrat unser Verfasser zuerst den Boden
Norwegen' s und schiffte sich dann nach kurzem Aufenthalt auf dem
norwegischen Dampfer ein, der ihn zuerst in die altberühmte Han-
delstadt Bergen, und, nachdem dieses besichtigt war, von da nach
Drontbeim brachte. Wohl tauchte in der Seele unseres Reisenden
der Wunsch auf, mit dem Dampfschiff noch weiter nordwärts nach
H .immerfest zu fahren und von hier aus das nahe Nordkap, Europa' s
nördlichste Spitze unter dem ein und siebenzigsten nördlichen Breite-
grad zu besuchen, eben so wie er auch früher die südlichsten und
westlichsten Spitzen Europa' s besichtigt hatte ; allein die dem Aus-
fluge zugemessene Zeit erlaubte die Ausführung nicht, dagegen ent-
schloss sieh der Verf. von Drontheim aus zu Lande über das Dovre-
gebirge nach Cbristiania zn reisen — eine Strecke von achtzig
Meilen, die in vier Tagen nach landesüblicher Weise zurückgelegt
wurde, d. b. mit einer Art von Extrapost, welche den Reisenden
anfeinem mit Einem Pferd bespannten Karriol von Station zu Station
weiter befördert. So ergab sich allerdings eine ganz andere Gelegen-
heit, Land und Volk näher kennen zu lernen, und unser Reisender hat,
wie seine Schilderung beweist, auch davon besten Gebrauch ge-
macht: gern folgen wir ihm auch in dieser Schilderung bis in
alle Einzelheiten der Reise, zuletzt noch auf der Fahrt über den
36 Stunden MiÖsensee, bis nach Cbristiania, der Hauptstadt des
Landes, von deren Lage der Verfasser ein äusserst anziehendes
Bild S. 53 ff. entwirft. Von hier aus ward ein Abstecher, wieder
landeinwärts, in der Richtung nach Westen gemacht: es galt einer
Besichtigung des Rjukanfoss, des grossesten unter allen Wasser-
fallen Norwegens, in einer Entfernung von drei Tagereisen von
Chriatiania. Auch diese Reise, bald mit der Diligence, bald mit
der Karriolpost, bald wieder zu Wassor mit dem Dampfer oder
auch selbst zu Fuss gemacht, gewährte eine reiche Abwechslung
und bot vielfache Gelegenheit zu näherer Kenntniss des Landes
und seiner Bewohner, in Gegenden, die im Ganzen doch von Frem-
den noch wenig besucht, und von der blasirten Touristenwelt noch
nicht verdorben sind. Diesen Eindruck wird die lebendige Dar-
stellung des Verf. auf Jeden machen, der ihr mit Aufmerksamkeit
folgt. Drei Stunden von Dale entfernt liegt der Rjukan. Von hier
aus nach dem Wasserfall am andern Morgen ziehend, vernahm der
V«rf. schon von Ferne das Brausen des Wasserfalls; als er dann
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Brandes: Ausflug nach Norwegen.
eine Höhe erstiegen , um ihm näher zn kommen , und nun weiter
über eine Bergwiese wanderte, durch Gebüsch von Birken und
Wachholder, trat mit einemmal vor seinen Blicken der Rjukan,
wie er zwischen zwei schwarzen Felsen von steiler finsterer Wand,
blendend weiss in einen tiefen Schlund hinabf&llt. »Ich sage nicht
(so schreibt der Verfasser S. 68) : er siedet und brauset und tobt
und zischt, auoh nicht : er stürzt mit Donnergepolter in die Tiefe ;
nein, er gleitet und wallet und hebt sich und sinkt sanft hernieder,
schmal beginnend und ganz allmälig, nicht ausfahrend, nicht auf-
fahrend, in anmuthigster Haltung frei und gemessen sich erwei-
ternd, gleichwie der schönsten Jungfrau weissestes Kleid, das von
der schmalen Taille rund und glatt, abwärts breiter und breiter
wird, bis es in langen Falten und Busen weithin über die Füsse
wallt. So ist der Rjukan, welcher von der stets über ihm schwe-
benden Dampfwolke mit altnordischem Namen Rjukan, der Rau-
chende, benannt ist. Die Höhe des Falls beträgt 670 Fuss.
Dieser Wasserfall machte auf mich einen eigenthümliohen Ein-
druck, wie ich einen ähnlichen nicht an dem Rheinfall bei Scbaff-
hausen , nicht an dem schauerlichen Sturz der Aar bei Handek.
nicht an den Reichenbachfallen bei Meyringen, nicht an dem Staub-
bach bei Lauterbrunnon, auch nicht am Traunfall im Salzkammer-
Tut, auch nicht an den Fällen der wilden Ache in Gastein, auch
nicht an den Wasserfällen des Clyde in Schottland, noch auch an
den Kaskaden und Kaskatellen in dem römischen Tivoli, noch auch
an den Fällen der Dalelf in Dalekarlien, noch bei Trolhätta an den
imposanten Fällen der Göthaelf, wie ich an keinem derselben er-
fahren, wie überhaupt keine Gegend auf mich gemacht hat. Die
alte heilige Orakelstätte des pytbiscben Apollo, Delphi mit den
tausend Fuss hohen senkrechten Felswänden der Phädriaden und
dor übrigen Folsenumschliessung, versetzte mich in die gehobenste
und feierlichste Stimmung, wie keines der imposantesten Alpen-
gebirge vermocht hatte ; die eisengrauen nackten himmelhohen Fel-
senwände der Tatra erfüllten mich mit Bangen und Grauen; die
so kunstreich und fein geordneten Waldgruppen und Gärten und
Bauragänge von Aranjuez entzückten mich, dass ich es innigst be-
dauerte, als die schönen Tage von Aranjuez vorüber waren; der
Bosporus mit den sechs Stunden lang auf Asiens und Europas
Küste an einander gereiheten bunten rtschaften und Buchten und
Vorgebirgen und Schlössern und dem finstern über Skutari hän-
genden Cypressenwalde und mit Stambul und seinen grossen Mo-
scheen und schlanken Minarets hoch auf der Bergplatte, bezauberte
mich, dass ich der Erde entrückt zu sein und in himmlischen
Regionen zu schweben wähnte ; die überaus freundliche Gegend der
Stadt Bergen lachte mich an , und ich lachte auch und war so
heiter und voll Freude über die Lieblichkeit und Anmuth auf Gottes
Erde — aber vom Rjukan geschah mir, ich wusste nicht wie ; denn
ich wurde weich und gerührt, dass mir eine Thräne in das Auge
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Bundes: Aueflug nach Norwegen.
205
kam. Ich blickte hinüber, sah ihn an, betrachtete ihn, mass ihn
von unten nach oben, von oben nach unten, wie er an dem schwar-
zen Felsen hing, nicht tobte und lärmte, nur wallend sich hob
und wieder senkte. Dann betrachtete ich die zwei starren Fels-
rucken, welche von dieser Seite und von jener Seite gegen einan-
der ziehend vor ihm ein Thor öffneten, dass durch dieses der Strom
in der Tiefe seines Weges ziehen konnte; und diese zwei Felsrücken
waren schwarz wie die Nacht, und aus dem Thore zogen die Nebel-
and Dunstwolken und blieben hoch in der Luft darüber stehen,
nnd die waren es, an welchen ich aus der Ferne den Rjukan er-
kannt hatte. Aber vor meine Seele trat das Bild einer unschuldi-
gen Jungfrau in weissem Gewände, die von den schwarzen Mächten
der Finsterniss an den Felsen gefesselt, sich los und frei machen
will, sich regt und biegt und krümmt, aber sich nicht los und
frei machen kann ; sie schreiet nicht, sie tobt nicht, sie raset nicht,
sie springt nicht auf, nur leise regt sie sich und rührt sich und
bewegt sich; nnd in alle Ewigkeit bleibt sie gefesselt, und in alle
Ewigkeit gelassen und geduldig hängt sie da in ihrem langen
weissen Engelskleide an dem starren schwarzen Felsen. Die Un-
schuld in die Macht der Finsterniss hingegeben, die zarte reine
Seele von den schwarzen Höllengeistern überwältigt, in Banden ge-
legt nnd ewig gefesselt, das war es, was mein Herz bewegte nnd
rührte.«
Zur Bückreise ward ein anderer Weg eingeschlagen, und zwar
südwärts nach Skien, das unfern des Meeres liegt und von hier
zu Wasser zurück nach Christiania , von dessen Umgebungen wir
nun nähern Bericht erhalten. Wir können nicht dem Verf. in das
Detail der Beschreibung folgen und überlassen es dem Leser, bei
dem zn verweilen, was in einfacher, schlichter, und doch anziehen-
der Weise uns hier erzählt wird. Zuletzt wirft der Verf. noch im
Allgemeinen einen Blick auf Land und Volk. Wir können es uns
nicht versagen, Einiges daraus wenigstens mitzutheilen.
»Imposant, so schreibt der Verf. S. 94, sind die Felsenküsten
mit den unzähligen so verschiedenartig gestalteten Fiorden und
Schären, zumal das Westgestade, hinter welchem nicht fern eine
höhere theilweise mit Schnee bedeckte zackige Felskette herzieht.
Hier ist Alles nackt, dagegen im Innern hängen die Wiesen mit
dem frischesten Grün von den Höhen der Berge in die Tbäler hinab,
and überall liegen so allerliebst die rothen, gelben und weissen
Häuser über den grünen Teppich bingestreut. Ich habe kein Land
gesehen, in welchem es so grünt wie in Norwegen; weder die
Schweiz, noch das Salzkammergut kommt ihm darin gleich. Aber
der Ackerbau ist gering, Weizenfelder sah ich gar nicht, Boggen
wenig, mehr Gerste und Hafer und Kartoffeln und Kohlarten. Es
steht daher in gradem Gegensatz zu Spanien, wo sich die unab-
sehbaren Flächen mit ihren Weizenfeldern ausbreiten, dazwischen
die weiaslichgrauen Oliven in Reihen oder Hainen, und die nackten
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206
Brandes: Ausflug nach Norwegen.
starren Felsen ohne Busch und Baum. Wie nun solche Gegenden
den Reisenden ermüden, so erfrischt und belebt das nordische Land,
ein schweizerisches, mit seinen brausenden Strömen und Wasser-
fallen, seinen schönen grössern und kleineren Seen, die bald in
majestätischen Felsen sich wiegen, bald von sanft ansteigenden
Wiesenufern umfasst werden, mit seinen Wäldern und grünen Mat-
ten. Dooh Eins habe ich vermisst, es fehlen grüne Hecken u. s. w.«
Von den Bewohnern sagt er S. 95: > Der Norweger oder Nor-
mann ist von Charakter bieder, treu und redlich, liebt sein Vater-
land innig und freut sich, wenn es dem Beisenden gefallt; er ist
kühn und unternehmend, und wenn er auch nicht mehr, wie vor
Zeiten die Normänner, mit Kriegsflotten alle Meere durchjagt , so
macht er doch gern weite Seereisen, denn er liebt das See- und
Schifferleben und schaut lustig in die Welt und kühn in's Meer
hinein. Auch der Bauersmann hat Sinn für Ordnung und Rein-
lichkeit. In allen Stationshäusern auf dem Lande traf ich stets
ein sauberes Gastzimmer, reinliche Betten und oft so feine schwere
Handtücher, wie sie mir nirgends in Deutschland vorgekommen
sind. Er ist höflich und grüsst freundlich den Fremden, aber wenn
der Deutsche guten Tag, der Franzose bon jour, der Italioner buon
giorno, der Spanier buenos dias und damit nicht guten Tag, son-
dern gute Tage wünscht, — der mir begegnende norwegische Bonde
nahm nicht nur seine Kopfbedeckung ab, sondern verneigte sich
dabei recht tief und artig, jedoch schweigend, weder guten Morgen,
noch guten Tag sagend. c
Auch über die Sprache theilt der Verfasser seine Wahrneh-
mungen mit, wie er diess ja auch bei andern derartigen Ausflügen,
wir erinnern nur an den nach Portugal, oder an den nach Grie-
chenland, gethan hatte, ja er theilt selbst am Schlüsse mehrere
Kirchenlieder (wie z. B. Nun danket Alle Gott, oder Eine feste
Burg ist unser Gott, Meinen Jesum lass ich nicht) und andere
Lieder und Gebete in der Normannischen Sprache mit.
Die Rückkehr erfolgte über Kopenhagen; von hier fahr er
Abends um 7 Uhr ab auf der Eisenbahn nach Korsöer und von
da zu Schiffe nach Lübeck, wo er Dienstag MoVgens ankam, und
am Mittwoch (den 8. August) befand er sich wieder in seiner
Heimath, nach einer Abwesenheit von fünf Wochen, und mit einem
Kostenaufwand von zweihundert Thalern. Wir wünschen dem rüsti-
gen Verfasser noch manchen derartigen Ausflug und freuen uns
jedesmal seiner anziehenden, erfrischenden Schilderung : wir wissen
aber unsere Anzeige nicht besser zu sohliessen, als mit den schö-
nen Worten, mit welchen Derselbe diesmal seine Erzählung be-
schlossen hat:
Mit Herzenslust gedenke ich dieser Reise, auf welcher ich das
schönste Wetter und in vier Wochen nur zwei Regentage hatte,
und freue mich Land und Volk kennen gelernt zu haben, das
schweizerische Land mit grünenden Berggehängen, den Felsenketten,
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Chittendem Göthe's Faust von Reichlin-Meldegg. 207
den schönen Seen, den brausenden Strömen, den Wasserfallen, den
freundlichen sauberen Städten und der imposanten Felsenküsten
mit den Fiorden und Schären. Aber das Schönste was mir
die Natur geboten, beibt der Rjukan, der steht mir vor Augen,
wo ich gehe und weile, und führt in seinem glänzend weissen
Gewände an der schwarzen Felsen wand ein Spiel auf, wie ich
kein zweites gesehen; und wenn er auch an Wassermenge von
seinem Nachbar, dem Trolhätta in Schweden, weit übertroö'en
wird, so überragt er diesen doch durch seine eigenthümliche Hai-
fang und seine wunderbar wirkende Umgebung. Möge denn Gottes
allmächtige Hand das schöne Land schirmen, und sein himmlischer
beglückender Segen nimmer von ihm weichen.
Segen, Segen
Für Norwegen!
Dass es sich mehre
In Jesu Namen
Immerdar an Lioht und Ehre!
Faust. An exposiiion of Qöthfs Faust, from the German of Carl
Alexander von Reichlin-Meldegg, prof. phif. at the university
of Heideiberg by Riehard H. Chittenden, esq. Neitf-York.
James Miller (succeseor to C. 8. Francis ei. co.) 522 Broadway,
141 8. 8.
Der dritte Band der von dem Unterzeichneten verfassten, auch
im eilften Bande des Scheible'schen Klosters und im Schatzgräber
des Mittelalters abgedruckten deutschen Volksbücher von
Johann Faust, dem Schwarzkünstler, und Christoph
Wagner, dem Famulus, enthält die dichterischen Dar-
stellungen der Faustsage. Der grösste Abschnitt dieses
dritten Bandes beschäftigt sich mit der Entwickelung des ersten
und zweiten Theiles des Gö the' schon Faust. In vorliegendem Buche
wird uns eine wortgetreue Uebersetzung dieses Abschnittes, in wie-
fern er sich auf den ersten Theil bezieht, von kundiger und ge-
übter Hand geboten. Der Uebersetzer ist Herr Richard H.
C bittenden, Attorney und counseller at Law zu Newyork. Das
Interesse am Götbe'scben Faust, welchen der Herr Uebersetzer
»das Meisterwerk des grössten deutschen Dichters« (the chef d'ouvre
of Germany's greatest poöt) nennt, wurde unter den Amerikanern
durch Gounods Faust aufs Neue hervorgerufen, da man sich in der
nenen Welt, wie in der alten, vor Allem der Oper zuwendet. Man
griff wieder auf Meister Göthe zurück, und wollte ein Verständniss
för die dunkeln Stellen desselben. Die vorliegende Uebersetzung
der von dem Unterzeichneten verfassten Erklärung des ersten Thei-
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208 Chitt enden: Göthe'a Faust von ReicbUn-Meldegg.
les der Göthe'schen Faustdichtung ist einer berühmten amerikani-
schen Künstlerin, Miss Clara Louise Kellogg gewidmet, welche in
dem üounod'schen Faust durch die Meisterschaft ihres Gesang»
und Spieles eine allgemeine Begeisterung der amerikanischen Kunst-
freunde hervorriet. Die Widmung des Uebersetzers lautet : By Per-
mission respectfully inscribed to Clara Louise Kellogg as a tribute
of admiration of her incomparably beautiful impersonation of Mar-
garete. Auch die Anmerkungen des Unterzeichneten sind übersetzt
und wurden mit einigen neuen von andern Schriftstellern oder dem
Uebersetzer versehen. Die von dem Unterzeichneten angeführten Göthe-
schen Stellen werden nach einer englischeu Uebersetzung des Bev.
Charles T. Brooks, der »aHein deu Buchstaben und Geist des
Originals wiedergiebt«, mitgetheilt. S. 129 finden sich die sich auf den
Gottesbegriff beziehenden Worte Faust's aus der Gartonscene, tref-
fend in metrischer Uebersetzuug von Herrn Chittenden selbst
übertragen. Die schöne metrische englische Paraphrase der
Göthe'schen Zueignung von Hai leck ist S. 99 u. 100 abgedruckt.
Eigene passende Bemerkungen des Uebersetzers mit Belegstellen
aus Schubart, Mitchell, Hayward, WalterScott, Hib-
bert on apparitions, Brewster letters on natural magic, Heine,
S c h 1 e g o 1 sind den übersetzten Anmerkungen des Unterzeichneten
beigefugt.
Der gelehrte Herr Verf. kündigt einen zweiten Theil seiner
Uebersetzung am Schlüsse an, welcher den zweiten Theil des
Göthe'schen Faust mit einer metrischen Uebersetzung enthalten
soll. Eine gelungene Probe derselben wird S. 139—141 von dem
Herrn Uebersetzer gegeben. Ueber die erste Veranlassung dieser in
Amerika erschienenen, sehr gelungenen Uebersetzung äussert sich
Herr Chittenden in der Vorrede also: Düring the winter-semester
of 1859 — 1860 the translator, then a law-student of the univer-
sity at Heidelberg, attended the conrse of lectures upon Goethe's
Faust delivered by Dr. Carl A. F. von Reichlin-Meldegg. The idea
of placing before bis countrymen so much of the learned Profes-
sors work, entitled: »die deutschon Volksbücher von Johann Faust
u. 8. w., as particulary pertains to Goethes tragedy, was then
conoeived. Das Buch wurde von der Verlagshandlung reich aus-
gestattet, v. Reichlin-Meldegg.
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b. 14.
HEIDELBERGER
1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
C. PUnii Secundi naturalis hisioria. D. D ttlefsen recemuit. Vol.
1. Libri i—VL Derolini apud Weidmannos. MDCCCLXV1.
278 S. 8.
Verschiedene Abhandlungen des Herrn Dr. Detlefsen, worin er
eine genaue Kenntniss der Handschriften und kritisches Talent an
den Tag legte, Hessen von seiner Ausgabe des Plinius nicht ge-
ringe Erwartungen hegen. Sie sind in der bedeutenden Arbeit,
deren erster Theil mir vorliegt, zum grossen Theil erfüllt worden.
Denn nicht allein gibt Detlefsen eiue auf die Vergleichung theils
neu, theils zuerst von ihm benutzter Handschriften gegründete neue
ßecension des Textes, sondern er hat auch etwa 160 Stellen durch
eigene Conjecturen zu heilen versucht, Beides mit grossem Geschick,
uud durch seine Leistungen einen wesentlichen Fortschritt in der
Kritik begründet. Wenn er aber dabei über seine Vorganger Sillig
und v. Jan in der "Vorrede von Neuem geringschätzig urtheilt, so
wollen wir nicht vergessen, dass der Grund zur methodischen Kri-
tik von ihnen gelegt worden ist, und namentlich v. Jan's uner-
mtidete und fruchtbare Thätigkeit mit unverminderter Dankbar-
keit anerkennen.
Neu collationirt sind von Detl. die von Sillig und v. Jan nur
theilweise verglichenen Codices Vat. D in Rom, E (a bei Sill.) in
Paris, a (o bei Sill.) in Wien , zum zweiten Male A in Leyden ;
ganz neu sind ausser unbedeutendem Stücken hinzugekommen F in
Leyden , in welchem er den verschollenen Chiffletianus entdeckt
hat, und zwei wichtige Bruchstücke, Excerpte des II. Buchs aus
dem 8. oder 9. Jahrhundert in München , so wie andere aus dem
IL, III., IV. u. VI. in Paris, die dem 10. Jahrhundert angehören.
Gegen die Classificirung dieser und der von Sillig und v. Jan
verglichenen Codices lässt sich nichts Erhebliches einwenden. Un-
bedingt den ersten Rang nehmen die Bruchstücke einer ältern und
bessern Recension ein, welche von A , in jenen beiden Excerpten
und der zweiten Hand von DEFR erhalten sind ; von der zweiten
Familie sind diese letztern die beston Exemplare; die übrigen,
insbesondere auch die von Sillig und v. Jan verglichenen oder be-
nutzten d in Paris und T in Toledo, gehören zu den schlechtem,
welche nur in minderm Grade in Betracht kommen. Das schliesst
aber nicht aus, dass auch sie hin und wieder die bessere Lesart
enthalten, und wenn Detl. insbesondere d ganz bei Seite setzt, so
rieht diese Strenge mit seiner eigenen Behauptung p. 6 in Wider-
spruch, dass d aus demselben Archetypon herstammt, welches von
LX. Jahrg. 8. Heft.
14
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HO Die netteste Litterat™ des Ilten* Plinius.
DERF repräsentirt wird. Denn es bleibt dann d, wenn auch in
zweiter Linie, der Vertreter einer 5. Abschrift.
Die Varianten dieser Handschriften werden in verständiger
Auswahl mit grosser Genauigkeit angegeben , die Conjectnren der
Neueren meist nur dann, wenn sie in den Text aufgenommen sind.
Hierin aber sind Detl. Angaben keineswegs so zuverlässig wie seine
diplomatischen. Gleich auf der ersten Seite des Textes habe ich
nicht weniger als 3 Fehler bemerkt: nicht Haupt, sondern Dale-
champ hat das Citat aus Catull praef. 1 zuerst verbessert ; nicht
Mommseu, sondern, wie dieser selbst angibt, Hermolaus Barbaras
und Rhenanus verbessern obiter emolliam, nicht Schneide win
hat exeat vermuthet, sondern es steht schon im Text der Hackiana
1669. Eben so hat VI, 97 nicht Geier, sondern Salmasius
Ar bim vermuthet. Ich darf mich also nicht wundern, wenn Detl.
meine Aenderungen an etwa 40 Stellen nennt, an folgenden 27
aber, obgleich sie in den Text aufgenommen sind, nicht: a) ver-
besserte Interpunktion II, 121 (s. m. Chrestom.), 162, 168, 185.
III , 2, 92. IV, 8, 12, 53. V, 27. VI, 25, 58, 157, 171, 182.
b) Wortänderungen: III, 42. IV, 13, 26, 85. V, 49, 78, 79, 140
(vind. I. p. 82). VI, 14, 98, 147, 191.
Aus diesem bereicherten Material wählt Detl. mit gesundem
Urtheil die bessern Lesarten aus ; er wählt sie , denn zu jenem
Eklekticismus , welchen er mir ehedem in einer Recension meiner
Chrestomathia als unwissenschaftlich vorgeworfen hat, ist er zu
meinor Genugthuung übergegangen. Da er in der jüngsten Zeit
auch den sog. Appulejus, welchen er noch vor zwei Jahren mit
scharfen Worten verworfen hatte, als eine vorzügliche Autorität
anerkennt (vgl. N. Jahrb. f. Phil. XCV S. 75), so sehe ich nicht
recht ein, wie er mich p. 1 unter seine Gegner rechnet.
Die Conjecturalkritik handhabt Detl. mit grossem Glück und
noch grösserer Vorsicht, indem er eich fast nur auf Aenderungen
einzelner Buchstaben und der Iuterpunktion beschränkt. Zum gröss-
ten Theile sind seine Aenderungen wirkliche Verbesserungen, es
fehlt aber auch nicht an solchen Stellen, worin ich den v. Jan'schen
oder Sillig'scben Text vorziehen möchte.
Doch genug der allgemeinen Bemerkungen. Ich wähle zur
Charakteristik seines Verfahrens einige Stellen ans, um sie zunächst
mit Jan's Ausgabe zu vergleichen, zuerst die Fraefatio. In den
ersten Sätzen ist Detl. mit Recht zu den früheren Lesarten zurück-
gekehrt. §.3 begegnen wir der ersten Conjectur, noc quiequam
in te mutavit fortnnae amplitudo, nisi utprodesse
tantundem posses ut velles liest man gewöhnlich. Da aber
vor nisi in den Handschr. in bis steht, schiebt D. cunetis
ein, dessen erster Buchstabe sehr leicht aus dem nächsten o her-
übergenommen wird. Die Wortstellung fordert aber dann eine Trans-
position nisi ut cunetis. Auch dass er Dalechamps Aenderung
et velles aufnimmt, verdient Billigung, leichter würde aber ao
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Die neueste Literatur des lltern Plinius.
Ml
gewesen Bein, tantundem in tan tum idem zu indem sehe ich
keinen Grund. Sehr schön ist §. 5 Mommsen's Verbesserung tri-
bunicia potestas statt des Genetiv», vortrefflich D.'s Kmendation
fratris famas statt fratris amas. §.11 et ideo cura, ut
qnae tibi dicantur tui digna sint Da für diesen Theil der
praefatio von den guten Hdschr. nur B (a Sill.) zu Gobote steht, läset
es sich nicht rechtfertigen, wenn Detl. dessen te nach der schlech-
tem Lesart tum in tui ändert und mit v. Jan subit vor cura
ausläset. §. 13. Nicht gerade uothwendig, aber ansprechend ist
D/8 Conjectnr steril is materia statt st er i Ii, wodurch der
folgende Satz, indem er mit diesen Worten anfängt, grössere Kraft
erhält. §. 16 ia dem Citat aus Livius schreibt D. richtig ni ani-
mus in quiete pasceretur oper o statt inquies, die Hdschr.
haben in quiesce oder, wie M. Dalec. und &'*t in quiete. §.20
Ausgezeichnet bat D. die Stelle verbessert , worin PI. von seiner
Zeitgeschichte redot. Man liest gewöhnlich tarn pridem per-
aeta sancitur et alioqui statutum erat heredi man-
dare ohne Sinn des ersten Verbums und ohne Uebereinstimmung
beider Verba. Durch eine leise Aenderung erzieh D. den schönen
Satz: iam pridem per acta sancitum et u. 8. w. , bo dass
die schriftliche Bestimmung des Testaments zu der frühern Absicht
hinzukommt. Den schwierigen Satz §.24 hat D. noch nicht ganz
geheilt. Er liest : Nostri grossiores Antiquitatum E x e m-
plorum Artinmque, facetissimi Lucubrationum (so gut
statt -em, puto quiaBibaculus erat etvocabatur. Aber
ich vermag den Uebergang vom Plural zu einem Einzelnamen nicht
zu entschuldigen und glaube, dass PI. in diesem sorgfältig ausge-
arbeiteten Briefe que entweder nicht oder zweimal gebraucht hätte.
Da die Attraction des Subjects für seine gesuchte Härte passt,
lese ich mit einer ironischen Steigerung, als ob in dem Fortschritt
Ton der trockenen Inhaltsangabe ein Witz läge, Nostri grossi-
ores Antiquitatum, Ezempl. Artiumque facetissimi,
Lscubr. u. 8. w. Billigen kann man die folgende Conjeotur
Sesculize. — Einfach und schön ist endlich die Art, wie D. die
verdorbenen Worte Cato's §. 30 lesbar gemacht hat, indem er aus
B den Infinitiv praeterfluere beibehält und die Lesart aller
Hdschr. sibi in sivi ändert. Dann erhält man den verständlichen
Satz: eorum ego orationes sivi praeterfluere.
Das Bedeutendste, was D. für das II. Buch geleistet hat,
besteht in der Benützung zweier bisher unbekannten Excerpte,
welche der ältern bessern Recension des Textes, wovon für die
ersten Bücher sonst nur cod. A in Leyden zu Gebote stand, ent-
nommen sind, eines Pariser Codex aus dem 10. Jabrh. (No. 4860)
ood besonders eines cod. Frisingensis in München (No. 164), wel-
cher Auszüge aus §. 12—84 enthält. Ich gehe diese Stellen um
*) lieber genau durch, weil mir durch die Güte des Herrn Dr.
Hägen die Vergleiohung eines zweiten Exemplars zu Gebote steht,
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312 Die neueste Litteratur des altern Pliniua.
welches sich in einem Berner Codex des Nonius aus dem 10. Jahrh.
(No. 347) befindet. §. 34 setzt Detl. der Vulgata inferiorem
lovib oirculum et ideo motu celeriore duodenis oir-
oumagi annis. Es leuchtet ein, dass Bern, und R das Richtige
geben celeriorem. Ebeud. Tertium Mar tis (^idus) -ignea
ardentis so Iis vicinitate liest v. Jan; Detl. wie Fa Fris.
Bern, igue ardens, das letztere gewiss richtig. Da es aber auf
eine Eigenschaft der Sonne, nicht auf eine überflüssige Bestimmung
der Hitze ankommt, musste die Lesart von E ignea aufgenom-
men werden. — §. 35. Schön ist D/s Aenderung metas statt
notas (J?ar. inotus). — §.43 liest D. richtig mit F* Fris. Bern,
humilis et excelsa (et fcblt gewöhnlich). Misslungen ist da-
gegen seine Conjectur zu §. 59 , wo es von den Planeten beisst
postea radiorum eius (solis) contactu reguntur. Detl.
liest regrediuntur und beruft sich u. a. aufVitruv. IX, 1, 12.
Gerade diese Stelle beweist die Richtigkeit der handschriftlichen
Lesart — refrenando retiuendoque — ad se cogit re-
gred i , wie bei PI. §. 69 retroire cogit. Auch wüsste ich den
Ablativ nicht mit jener Aenderung zu vereinigen. — Gut und durch
Bern, bestätigt sind ebd. die kleinen Besserungen et secundas
und assecutus sol. — §.63 habeu die Hdschr. terra a verti-
oibus duobas quosappellaveruntpolosoentrum oaeli
non et signiferi est, und die Ausgaben seit Barb. nec non et ,
Detl. folgt jenen. Aber nach der folgenden Darstellung (vgl. Vitruv.
L 1.) ist die Erde mitten im Thierkreis, und die Uebereinstimmung
der Excerpte inter vertices duos — et signiferum beweist,
dass die bessere Recension nec non hatte. Den folgenden Satz
omnia autem haec constant ratione circini u. s. w. zn
verwerfen war gar kein Grund; nennt ja auch Vitruv. IX, I, 1
dierationesarchitectonicas circinique discriptiones.
Eine böohst schätzbare Vervollständigung hat §. 64 erfahren, der
in den Hdschr. durch die Auslassung zweier Zeilen des Archetypus
von je 28 Buchstaben verstümmelt war. Es ist ein beschämendes
Gefühl, womit die Vergleichung der aus Fris. Bern, ergänzten Stelle
mit ihrer frühern Gestalt den kritischen Leser erfüllt: Sic fit
ut tardius moveri [et minores] videantur, cum altis-
simo ambitu feruntur, [cum vero terrae appropin-
quaverint, maiores osse et celerius ferri], non quia
n. s. w. — §. 69 bessert Detl. subiri. — §. 71 liest er richtig
aus Fris. superveniente ab alio iatere radio eademque
vi rursus ad terras deprimente qua sustulerat statt
quae sustulerit); aus Bern, ist vor radio einzuschieben so-
lis, ebenso §. 70 vapore percussas statt vapor reper-
cussas; vortrefflich liest er §. 72 aus §. 73 u. 39 XXIII (statt
vg. XX; nur ist es nicht seine Verbesserung, sondern, wie er aus
Sillig's Anmerkung sehen konnte, die alte Lesart. Dagegen gehört
ihm §. 73 die Emendation nonnumquam ßtatt numquam. —
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Die netteste Lttteratnr dee Ältern Plinroa. 418
75 hat nur Bern, das Rechte: altitudinem anbire, ein
^erbum, das sonst tiberall fehlt. — §. 77 liest Bern. Iovis ai-
d«TC in triangulo (besser tri quetro) sibi posito, viel-
leicht mit Recht. — §. 78 gibt Detl. nicht an, woher er omnia,
das auch in Bern, fehlt, aufgenommen hat; bei Bill finde ich
keine Variante, in den folgenden Zahlen gibt Bern. L Villi
und XII, letzteres wie R, §. 79 coitns solis statt sol, §. 81
wie Fris. differentiam, was wohl aufzunehmen war. — §. 84
statt dimidinm et liest er vielleicht besser tan tun dem apatio.
In diesen Stellen ist Detl. durch den bereicherten Apparat unter-
stützt worden; seinem Scharfsinn allein verdankt man u. a. die
Heilung folgender Schäden: §. 89. specie statt suo, 90. hu ma-
nae faciei statt humana diei, 95. die Streichung der Ditto*
graphie et aliam nach st eil am, 100. die Angabe einer Lücke,
103. medio mundi statt mediom, 109. die Besserung der
Interpunktion, 120. flatus statt elatus, 128. ita ut statt aut
nt, 132. calidi statt gelidi, 134. nebulao statt beluae,
146. belli Caesariani statt bei Hees oder bei Ii eis, 246.
Nili Canopicnm statt nihil modicura. Ich habe diese Bei-
spiele ans mehreren ausgewählt, weil sie mir die glänzendsten zu
sein scheinen. Nicht befriedigt hat mich u. a. die Behandlung fol-
gender Stellen : 97. fit et caeli ipsius hiatusquod vocant
chasma, fit et sangninea specie etu.s.w. statt speciea
et oder apeciaes, denn die Farbe des Chasma ist roth (Arist.
meteor. I, 2 de mundo 3"); also ist das zweite fit et als Ditto-
graphie zu streichen Auch §. 101 möchteich ea als Dittographie
von et tilgen, statt es in eas zu andern, und den Satz als Pa-
renthese fassen. — §. 104 hat Detl. den Fehler richtig bemerkt,
aber die Heilung nicht gefunden : Von den Winden heisat es :
itaque praeeipua eorum natura ibi et ferme reliquaa
complexaa se (Varr. complexa se, complexasse) cau-
aaa, Detl. schreibt aeris was nach ibi tautologisch ist. Ver-
gleicht man die Schreibfehler serei und rei §. 110 statt caeli,
so wird man auch hier lesen caeli causas. §. 118 zieheich die
Vulgata et dem handschriftlichen sed vor, da der tadelnde Gegen-
satz erst mit den Worten sed lucro beginnt.
In den folgenden Büchern sind bei weitem die meisten Fehler
in den Eigennamen und den Zahleu zu suchen. Es verdient nur
Billigung, wenn Detl. die unbekannteren ganz nach den Handschriften
schreibt, im Uebrigen die glaubwürdigsten Quellen , Inschriften u.
4. zu Ratbe zieht; auch ist es ihm an manchen Stellen gelungen,
den Teit wesentlich zu berichtigen. In manchen aber hatte er wohl
besser getban, sich an seine Vorganger zu halten. Ich gehe zur
Probe einige zufällig gewählte Abschnitte durch.
Buch III, §. 53 — 70. Einem unbegreiflichen Irrthum begeg-
nen wir §.53 (Tiboria) citra XVT. p. nrbiaVeientem agrnm
i Crostnmino — dirimens, während das Richtige XIII in
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Die neuest« LiUeratur des altern PliniuB.
dem vortrefflichen Codex A steht. — §. 56 Cerceios aus den
Hdschr. mit Recht, da diese Form an mehreren Stellen vorkommt.
— §. 57 ex fama statt et faraa, schon Sill. schreibt nach
Nitisch e faraa. — §. 59 Amyclae sive Amynclae aus den
Hdschr. richtig. Da aber die italische Namensform Amunclae
war (Solin. 2, 32), ist diese vorzuziehen. — Ebend. Pirae statt
Fyrae aus Cod. A richtig, da es einen solchen Ort auch im Ge-
biete von Sic von gab. — §. 60 Hinc felix illa Campania
est. Das Verbum fehlt. in A, ist also mit Recht von Sill. und v.
Jan ausgelassen worden. — §. 64. Ilionenses, Lanivini, die
Hdschr. Lavini oder Lavinii, eine sehr gute Verbesserung. —
Ebd. Trebulani eognomine Ballienses aus A, Bailinien-
8 es die übrigen Hdschr. Da der Ort unbekannt ist, thut D. wohl,
dem besten Codex zu folgen. — Ebd. vortrefflich Urban ates statt
Urbinates nach XIV, 62. — §.66. Urbem tres portas ha-
bentem Romalas reliqnit, ut plurimas tradentibus
credamus; aut ut die Hdschr., credamus IUI F* D', d.h.,
dia A hier abbricht, die Mehrzahl der Reste der bessern Recen&ion.
Allerdings kennen wir nur zwei Thore des Palatin mit Namen;
da aber jode nach etruskischem Ritus erbaute Stadt wenigstens
drei hatte, Ittsst sich kaum denken, dass ein alter Schriftsteller
nur zwei angegeben haben sollte. Auf jeden Fall hat man sich um
so mehr an die bestbeglanbigte Zahl zu halten, da sie jene will-
kürliche Streichung von aut unnötbig macht. — §. 69 last D.
die Mutuoumenses in dem alten Verzeichnisse von 53 Völkern
aus, weil es nur in den oodd. Gelenii vorkam. Dann hätte er aber
auch die Zahl LI II, woran schon Piut. Anstoss nimmt, in LI
ändern oder eine Lücke im Verzeichnisse anmerken sollen. — §. 70
richtig Silerum, da diese Form des Namens §. 71 u. 74 wieder-
holt wird.
Buch IV. §. 75 — 84. Auf die Zahlen bat D. grosse Aufmerk-
samkeit verwandt. Ich billige es, wenn er mit Mart. Capella VI,
662 für den Umfang des schwarzen Meers §. 77 nach Varro nur
viciens somel angibt und die Verderbnisse der Hdschr., die
sich auf eine Dittographie von semel zurückfuhren lassen, nioht
beachtet; die Varianten zu Ende des §. versteho ich nioht und
weiss nicht, warum LXII ausgelassen wird. — §. 78 ist in allen
Ausgaben, auch bei D., ein Fehler stehen geblieben. Da PI. sagt:
ab ostio eins (Maeotis) ad Tanais ostium CCCLXXV esse
oonstftt, kann er der Stelle II, 245 nicht widersprechen. Dort
wird der Abstand von Detl. wieder falsch zu CGLXVI angegeben;
R hat die richtige Zahl CCLXXV d. h. 2200 Stadien, das Mass
des Strabo nnd Agathemerus. Vgl. Neumann, die Hellenen im
Skythenlande L S. 535. — Histropolin statt -im richtig aus
R. — §. 79 »ohreibt D. Abnovae statt Abnobae, allerdings
nach R, aber gegen die Inschriften bei Orell. 1986, 4974. Der
Fehler ist alt, da er sioh auch bei Mart. (ad novem) findet,
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Die neueste Litteratur des ältern Plinius.
aber gerade bei diesen Buchstaben leicht erklärlich, — Ebd. gibt
D. richtig eine Lücke an alveus * appellatus; sie war nach
den Geographen leicht auszufüllen: sacer. — Ebd. Pseudosto-
mon, dein insula (et in insulaEFet insula DR) Cono-
pon diabasis, postea Borionstoma et Spireons toma.
Da die Inseln zwischen den Mündungen der Donau lagen, ist die
Vnlgata et insula unzweifelhaft richtig. Ebenso ricbtig schreiben
Slll. und v. Jan Psilon stoma, vgl. Sill. Anm. und Mommsen zu
Solin. p. 90. — §. 80 gut Rhoxolani. Der Fluss muss aber
Parthiscum geschrieben werden, nach Ammian. Marc. XVII, 13,
4, da auch Ptolem. III, 7 eine Stadt Ildgriöxov anführt. — §.81
war Niebuhr's Verbesserung transiit aufzunehmen. Falsch ist
auch die Form Baste rnaei, da dasselbe Volk auch bei PI in.
§. 100 und VII, 98 Basternae heisst; i ist aus dem folgenden
I entstanden. — Die Vulgata bis ad decies, wie Detl. aus den
Hdschr. herstellt , stimmt nicht mit Martian und Dicuil , a d ist
ans den kurz vorhergehenden Worten ad oceanum irrig wieder-
holt. — § 82 Cremniscos, Aepolium. Der Buchstabe s fehlt
in den Hdschr. mit Recht; die Stadt hiess Kremniskoi (Neum.
5. 354) d. h. Cremniscoe, die Pluralendung ist noch leicht er-
kennbar. Das folgende Wort ist schwerer verdorben, es war N e o p t o-
lemi sc. turris (vgl. Neum. a. a. 0.). — Ebd. Asiaoae cog-
nomines flumini schreibt D. nach der Hdschr. unbegreiflich,
da der Fluss ^idxrjg bei Ptolem. zweimal ÜI, 5, 18 und III, 10,
14, der Fluss Axiaces und das Volk Axiacae bei Mela II, 1, 7
vorkommt. — Ebd. Orobiggi schreibt Detl. nach Hdschr. auf
jeden Fall besser als die Vulg. Crobyzi, die hierher gar nicht
gehören, vgLNeum. 8. 218. DaR Crobigni hat, ist wahrschein-
lich Carbiani (KaQmavoi bei Ptolem. III, 5, 24) zu schreiben,
sinu s Saggarius, lies 8. Sagarius, wie VI, 4. — §.82 r Ur-
eas litore unlateiniscb. R gibt rursusque litori, woraus
das Nothwendige in leicht ergänzt wird. §. 83 begegnet uns der
sonderbare Name der Einwohner der Hylaea Enoecadioe, wel-
chen Detl. aus den Corrnptelen der Hdschr. enoaecadioe, enoadioae,
enoecadioe macht; er sieht mehr griechisch aus als er ist. Meine
frühere Vermuthung Hellenoscythae halte ich nicht entschie-
den fest; näher an die Züge der Hdschr. kommt Neoauchatae
heran. Aucheten oder Auchaten kennen Herodot IV, 5 und Plin.
§. 88 in diesen Gegenden, und dass sie von Asien eingewandert
waren, unterliegt keinem Zweifel (vgl. VI, 50). Es scheint, dass
diese Auchaten der Hyläa Abkömmlinge der Anwohner des Hypa-
nis waren. — Leicht verbessert man unter den scythischen Völker-
schaften, die VI, 50 ff. aufgezählt werden, die Bacae aus Ptolem.
VI, 12, 4 in Pascae.
Niemand wird Detl. einen Vorwurf daraus machen, dass er
entschieden verdorbene Namen nach den Hdschr. schreibt, wenn
sie sonst nicht vorkommen. Wo aber andere geographische Werke
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216
Die neueste Litteratur des altern Flinius.
▼erglichen werden können, sehe ich keinen Grond nahe liegende
Aenderungen zu verschmähen.
Lucubrationum Pliniarum eapita Irin scripsit Carolus Mayhoff,
phil. Dr. Neosireliliae apud Theopkilum Bamewits. MDCCCLXV.
135 5. 8.
In dieser wohlgeschriebenen Abhandlung sucht Herr Dr. May-
hoff, ein talentvoller Philolog der guten Breslauer Schule, die Ge-
setze der Kritik auf den Text des PI. anzuwenden und dringt mit
grossem Nachdruck auf die Beachtung der zuverlässigsten Quelle,
des Mone'schen Palimpsestes. Ich kann ihm nicht beistimmen,
wenn er den Cod. d dem Cod. a (E bei üetl.) gleichstellt (p. 15),
bin aber ganz mit ihm einverstanden, wenn er das absolute Ver-
werfnissurtbeii Detlefsens bestreitet. Sehr gründlich und iu vielen
Punkten mit gutem Erfolg beachtet er den eigentümlichen Sprach-
gebrauch des Schriftstellers, wozu Grasbergers Abhandlung de usu
Pliniano (1860) eine schöne und rühmliche Vorarbeit liefert. Von
den in 3 Abschnitten, »de locis interpolatione suspectis«, de locis
ex codicibus optimis integritati restitutisc, »de locis ex deterioribus
codicibus aut coniectnra restituendisc behandelten Stellen ist die
Mehrzahl von Detl. eben so wie von dem Verf. geschrieben wor-
den; V, 8 schreibt der Letztere wie Sill. richtig pleriqne e
Graecis (statt pl. a Gr.), U, 206 scheint er richtig die Form
Hercules statt Hercule zu vertheidigen. Am ausführlichsten
bebandelt er die in dem Mone'schen Palimpsest enthaltenen Stüeke,
an den er sich nach dem Vorgange von Fels meistens aus guten
Gründon anschliesst. Ueberall, auch wo man ihm nicht beipflichten
kann, wird man die sorgfältigen und lehrreichen sprachlichen Er-
örterungen mit Vergnügen lesen.
Quaesiiones Fliuianae. Dwserlalio philoloqica quam — äffende? Di'
deHeus Notteniu* Bremanus. Bonnae MDCCCLXVJ. 32$. 8.
Der Verf. sucht in dieser scharfsinnigen und tüchtigen Ab-
handlung die Spuren der unvolleude?en Ueberarbeitung , welche
durch Plinius Tod unterbrochen wurde, nachzuweisen, was ihm
wohlgelungen ist. Auch die Behauptung, dass dem Briefe an Titus
nur das Verzeichniss der Schriftsteller u. s. w. (das I. Buch) bei-
gefügt worden war, ist wenig«tens beachtenswerth. Dann weist er
mit Recht auf die Wichtigkeit der defloratio des Robertus hin.
welche mit der zweiten Haud des Riccard. und des Paris a (E hei
Detl.), sowie dem Manuscript des Cuiacius viele Aehnlichkeit zu
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Voigt: Die lex MaenU.
217
baben scheint. Da er auch naturhistorische und mathematische
Kenntnisse mit einer guten philologischen Methode verbindet, lässt
sieb von der Fortsetzung seiner Arbeiten für Plinius nur Gutes
erwarten.
Würzburg im März 1867. Irlichs.
Du lex Maenia de dote vom Jahr DLXVJ1I der Stadt. Festschrift
zu Gustav Härtels fünf ziq jähr iqem Doktorjubiläum von Moritz
Voigt Weimar. Landes- Industrie' Comptoir 1*66. I^ und
84 5. 4.
Eine äusserst geistreiche, gelehrte und scharfsinnige Combi-
nation, durch welche die Existenz, das Alter und der Inhalt einer
bis dahin nicht bekannten lex Maenia de dote, wenn auch
nicht gerade als unumstösslich gewiss bewiesen, so doch in hohem
Grade wahrscheinlich gemacht wird. Wir wollen den Inhalt der
interessanten Schrift in Kurzem andeuten.
Der I. Abschnitt sucht den Namen, den Inhalt und das Alter
der lex Maenia de dote sicher zu stellen.
Bei Varro satnr. menipp. (S. 8 — 6) wird eine lex Maenia er-
wähnt, welche sich nach dem Inhalt der in jener Satire enthalte-
nen Fragmente zu schliessen mit Verhältnissen des Familienlebens
beschäftigt und zwar, wie es wahrscheinlich erscheint, Vorschriften
hinsichtlich der Ehescheidungsbcfugniss für den Fall enthielt, dass
der Ehegatte in der patria potestas seines Vaters stand. Bei Gai.
I. 78 u. Ulpian V. 8 (S. 6 — 11) kommt eine lex Mensia vor, wie
man gewöhnlich den Namen liest, welche ebenfalls in einer direkten
Beziehung zu ehelichen Verhältnissen und somit auch zur eheweiblichen
dos steht, und wo höchst wahrscheinlich bei Ulpian als dio ältere
handschriftlich gegebene Form lex Mennia und bei Gaius Maenia zu
restitniren ist. Dionysius Hai. antiq. Rom. II. 25 kennt eine lex,
welche de restitnenda vel recuperanda dote, über die actio rei
oioriae, das judiciura de moribus mulieris, wie über Verwandte
handelt (S. 11 — 14) und in Jüstinians Ausspruche in 1 11 § 2
Cod. 5. 17: »iudicium de moribus mulieris in antiquis legibus posi-
tnm esse«, lässt sich eine Bezugnahme auf jenes ältere Gesetz er-
blicken, indem das Judicium de moribus älter ist, als die lex Julia
et Papia Pappaea (S. 14 ff.). Aus M. Porcius Cato's oratio de dote
'Vgl. die 2 Fragmente bei Gellins X, 23) ist zu entnehmen , dass
m dessen Zeit ein Gesetzesvorschlag in Betreff der dos bei den
gesetzgebenden Faktoren dos Staates discutirt wurde (S. 15 — 17).
Auch Polybius XXXII, 13-14, und Proculus II, Epist. (S. 17—
19) gedenken einer lex, welche für die Numeration, wie für die
Restitution der dos bestimmte Zahlungsfristen vorschrieb. Aus der
Gescbichtserzählung bei Polyb. und Proculus 1. o. wird zugleich der
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Voigt: Die lex Maenia.
Scbluss gezogen , dass schon im Jabr 592 , jenes Gesetz über die
dos in Geltung war, und Cato's Reden beginnen mit dem J. f)59
und derselbe starb 605, so dass also auch in diese Zeit seine Ver-
teidigung des Dotalgesetzes (suasio legis Maeviae — Maeniae) fal-
len muss. Nach Livius XXXIX, 8, 2. 18, 1 war aber im J. 568
d. St. T. Maenius Prätor urbanus und es fallt, in dieses Jahr die
Entdeckung der Bacchanalien. Darin läge dann die occasio legis
Maeniae, die von dem Praetor T. Maenius im J. 568 d. St. rogirt
und von den Tributcomitien angenommen worden (vgL das Resumü
S. 19—21).
Der IL Abschnitt der Schrift (S. 21 — 40) schildert nun das
Dotalrecht vor der lex Maenia de d o t e , das Ebescheidungs-
recht des sui juris maritus oder uxor, resp. des paterfamilias des Gat-
ten, das Judicium domesticum des paterfamilias oder wenn die Frau
sui juris war, das der Agnaten oder des Tutor als Ehegericbt
gegen die Frau, und das arbitrium rei uxoriae der gewaltfreien
oder aus der manus entlassenen Frau wider den geschiedenen
Mann, oder wenn dieser noch filius familias war, gegen dessen
paterfamilias. In dem judicium domesticum konnte die strafweise
gänzliche oder theilweise Einziehung der dos we£en Criminalver-
brechens, Privatdeliktes oder Sittenwidrigkeiten über die schuldige
Ehefrau verhängt worden. Sprach der Mann aber ohne Verschul-
dung der Frau und ohne verurtheilenden Richterspruch des judi-
cium domesticum die Scheidung aus, so konnte die Frau mit der
actio rei uxoriae Restitution der dos verlangen. Nahm die Frau
oder deren Gewalthaber die Scheidung vor, so konnte sie resp.
ihr paterfamilias die dos nur dann zurückfordern, wenn der Mann
durch sein Verhalten Grund zur Scheidung gegeben hatte. Abge-
sehen also von der frivolen Scheidung von Seiten des Mannes, blieb
also die dos auch nach aufgelöster Ehe bei dem Ehemanne oder
seiner Familie, weil auch die onera matriraonii , die Kinder , dort
verblieben.
Der III. Abschnitt (S. 41 — 84) legt das Dotalrecht der lex
Maenia selbst dar.
Die lex Maenia setzte an die Stelle des judicium domesticum
in Bezug auf die Ehescheidung ein judicium de moribus mulieris
(S. 41 — 46), Hess dem Ehemann die retentio eines Theiles der dos
für den Fall nach, dass durch Verschuldung der Frau oder ihres
paterfamilias die Scheidung herbeigeführt war (S. 47 — 52). Die lex Julia
etPapia Poppaea machte an diesen retentiones dotis insofern eine
Aenderung, als sie auch die mores viri besonders strafte, und damit
nun die Frage dahin richtete : utrius culpa divortium factum sit, und
indem sie die retentiones propter mores mulieris auf die sexta
propter mores graviores und auf die octava propter mores leviores
fixirte, und die retentio propter mores mulieris nicht mehr cumu-
lativ neben der rotentio propter liberos, sondern nur noch subsi-
diär statt jener zuliess. Ferner bestimmte die lex Maenia, dass
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Hoctsberg: Geschichte Griechenlands unter den Römern. 210
die in non justae nuptias, in nuptiae juris gentium erzengten Kin-
der (nothi) der ärgeren Hand folgen sollten, und die lex Maenia
versagte die retentio propter liberos dem Manne dann, wenn nach
jenem Principe die Mutterfolge der Kinder eintrat (S. 52 — 58).
Das alte Princip dotis causa pevpetua est, wurde durch die lex
Maenia insofern geändert, als sie die dos sowohl beim Tode des
Empfängers (des Mannes oder dessen Gewalthabers) an die Frau
überwies, als auch beim Tode der Frau an deren Vater, falls die-
ser noch am Leben war und selbst die dos bestellt hatte, und
zwar unter Gewährung der retentio Ton */s der dos für jedes lobende
Kind (S. 58 — 67). Die lex Maenia bestimmte auch ftlrdieNume-
ration und Restitution der dos eine Frist von drei gleichen Raten
mit einjährigen und zwar 10 monatlichen Terminen für res fungi-
bile8 (S. 67 — 69). Sie verlieh ferner auch dem filius familias mari-
tus die Scheidnng8befugniss (S. 69 — 78), und machte endlich den
Anspruch auf Restitution der dos und der actio rei uxoriae von
Seiten des paterfamilias von der Uebereinstimmung seiner dotirten
Tochter abhängig (8. 78—80).
Dieses sind in kurzen Andeutungen die Punkte, welche der
Verf ebenso gründlich und gelehrt wie scharfsinnig in seiner Schrift
näher ausführt. Ohne Auffindung weiterer Quellen dürfte übrigens
die Existenz der lex Maenia, und dass die angegebenen Punkte
gerade durch sie eingeführt seien , wenn auch in hohem Grade
wahrscheinlich, so doch immerhin eine Hypothese bleiben
Verfug.
Hertsb er q , 0. Fr., Die Geschichte Griechenlands unter der Herr»
schaft der Römer. Nach den Quellen darqestellt. Halle Iti66.
Von diesem Werke, welches bestimmt ist, die Geschichte Grie*
ehenlauds bis zum Absterben des antiken Lebens auf der griechi-
schen Halbinsel fortzuführen, liegt erst nur der erste Theil vor,
die Zeit von Flarainius bis auf Augustus enthaltend. Mit Fiulay's
Greece under the Romans (Lond. 1857, zweite Aufl.) und Special-
geschichten anderer römischer Provinzen, z. B. von Sam. Sharpe
fttr Aegypten u. s. w. rangirend, kann es für eine Fortsetzung der
Geschichten Griechenlands von Groote, jedenfalls der Geschichte des
Hellenismus von Droysen gelten.
So sehen wir in der That den Faden des Zusammenhanges
ununterbrochen von der ältesten Zeit bis zum europäischen Mittel-
alter, wo die griechische Race von slavisohen Elementen durchsetzt
wird, den tüchtigsten Bearbeitern anvertraut.
Wir wollen diesen ersten Band des Hertzberg'scben Werkes
nicht aus der Hand legen, ohne darüber einige Kenntniss hier zu
geben, und behalten uns vor, über das gauze Werk später zusam-
menhängender zu urtheilen.
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220 Herteberg: Geschieht« Griechenland« Tinter den Römern.
Uns interes«urt vorzugsweise der Abschnitt über die Zustande
Griechenlands unter Augustus. Der Verfasser bat den Stoff von
Flaminius bis Augustus unter fünf Capitel gebracht, davon das
erste die Zeit des römischen Protectorats , das zweite den Unter-
gang des achäischen Bandes, das dritte die Geschichte von da ab
bis zum Ende des ersten Mithridatischen Kriegs erzählt. Das vierte
geht in seiner Erzählung bis zur Schlacht bei Aktium , und das
letzte, wie gesagt, beschäftigt sich mit den Zuständen unter
Augustus.
Schon seit 146 römische Provinz, wurde Griechenland erst
jetzt innig mit dem römischen Wesen amalgamirt , erst nachdem
der grosse Kampf zwischen Antonius und Octavian zu Gunsten des
Letzteren durch die Schlacht bei Aktium entschieden worden war.
Don grössten Theil der Darstellung bei dem Verfasser nimmt noch
die durch den Sieger in den nächsten Jahren verfügte Organisation
in Anspruch.
Wir werden ihr, der entscheidenden Abrechnung der Vergangen-
heit Griechenlands, besondere Aufmerksamkeit schenken müssen,
weil sie einen Massstab am evidentesten bietet, um zu sondiren,
wie der Verfasser sich das provinciale Verhältniss dieser von der
Geschichte der Cnltur zuerst berufenen Station gedacht hat.
Doch bevor wir diesen für die Geschichte Griechenlands, und
für seine Organisation (in prnvincine formam redactit), wie sie,
einem Nessusgewande gleich, ihm von Rom umgelegt wurde, gleich
schätzbaren Seiten uns zuwenden, sei es uns vergönnt, die Zeit
vorher an der Hand des Verfassers zu tiberblicken.
Es ist die Zeit nach der Zerstörung Korinth's, worauf wir
zurückgehen, S. 276 ff.
In lichtvoller Uebersicht verwerthet der Verf. das Material
für das Verstündniss der Lage der Griechen. Die Controverse, die
er auf seinem Wege antraf, ob nämlich Griechenland schon jetzt
die Form einer Provinz erhalten habe, hat ihre zwei Seiten. Wenn
das Verhältniss einer Provinz von dem Zeitpunkt datirt wird, wo
das eroberte Land seine Selbstregierung verliert, so wurde Grie-
chenland nicht schon nach dem J. 146 Provinz. Wenn man aber
bedenkt, dass dio griechischen Gemeinden der Oberhoheit des römi-
schen Statthalters von Makedonien untergeordnet wurden, so war
eigentlich die Selbstständigkeit derselben nur ein Schatten Nach
der Begründung der Verfassers wurden sie Theile der neuen make-
donischen Provinz, S. 284, eine Einrichtung, die den römischen
Feldberrn und die von dem Senate delegirten Zehnraännercommis-
aion längere Zeit beschäftigt.
Uebrigens hat die Geschichte der Frage wegen der Stellung
Griechenlands zu Rom nach der Ueberwältigung der Achäer, der
Boötier und der Chalkidier eine von gründlicher Belesenheit zeu-
gende Erörterung erfahren. S. 284 ff. Die Unklarheit in der Frage
ist dadurch hervorgerufen worden, dass der Name Achaia, unter
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Hemberg: Geschichte Griechenlande unter den Römern. 221
welchem nachmals durch Augustus Griechenland als Provinz orga-
nisirt wurde, schon seit jenem Datum den alten Namen Peloponnea
in verdrängen begann und sich regelmässig im Gegensätze zu Nord-
griechenland angewendet vorfindet. Ja die Ansicht konnte das
Faktum für sich auf Uhren, dass Mummius den Siegesnamen Achai-
cus erhielt. Aber aus dem Namen kann man nicht auf eine Provinz
Griechenland der Sacho nach schliessen.
Bei dieser Gelegenheit sei nicht der Aufmerksamkeit verges-
sen, die der Verfasser dem EiuÜusse des Polybius widmet, der,
durch seinen Freund und Gönner Scipio Aemilianus begünstigt, den
besorgten Anwalt seiner Landsleute in jenen Tagen des Unglücks
machte.
Was wird nach jener Katastrophe der scharfe Redner der Aka-
demie, Karneades, gesagt haben, wenn es wahr ist, was Lactantius
erzählt (Instit. V, 1*4 ff.), dass er deu .Mut Ii gehabt hatte, in Rom
den Römern zu sagen, die Gerechtigkeit verlange, dass die Römer
ihre Eroberungen den rechtmässigen Besitzern zurückgäben, und in
ihre Hütten von Früher zurückkehrten?
Der Schluss dieses Abschnittes, welcher einen Blick auf den
äusseren Zustand der griechischen Halbinsel wirft, zeigt, wie zwar
nicht Sparta aber Athen von den Folgen jener Katastrophe in sei-
ner Verfassung getroffen wurde. Unter den Inseln des Archipel
erwarb sich und bewahrte Rhodos die meiste Achtung unter den
Zeitgenossen. Delos, das die Römer, um den Rhodiern zu schaden,
zum Freihalen erklärt hatten, hatte seit dem J. 167 einen grossen
Aufschwung genommen. Aber nach dem Fall von Karthago uud
Korinth kam auch der Sclavenhandel dort in Blüthe. Kreta, noch
uuberührt von der Gewalt römischer Provincialbeamteu, wurde ein
Uaaptsitz der Seeräuberei.
Der Verf. widmet angeblich der Geschichte Griechenlands
von dem Untergang des Achäischen Bundes bis zum Ausgang des
Ersten Mitbridatischen Krieges ein eigenes (das dritte) Kapitel,
legt aber gleich Eingangs das frappirende Bekenntniss ab: Von
einer Geschichte Griechenlands während der Jahre seit 146.
bez. 145 bis 89 v. Chr. kann daher im strengeren Sinne gar nicht
die Rede sein; kaum dass wir im Stande sind, uns von der all-
gemeinen Lage Griechenlands in dieser Zeit eine gewisse Vorstel-
lung zu macheu. c S. 317.
Demgemäss ist der Verfasser nur im Stande gewesen, bei der
politischeu Apathie, worin der Peloponnes in Folge des unglück-
lichen Krieges gegen die Römer versunken war, sein Augenmerk
auf eine andere Frage zu richten , deren Schwerpunkt die gegen-
seitigen Einwirkungen von Hellenen und Römern auf einander sind.
Obwohl er die Schwierigkeit ablehnt, die grossartige Culturbe-
wegung, »die sich an die Verschmelzung des italienischen und
hellenischen Wesens mit ihren glänzenden und dunkeln Seiten
knüpft«, im Einzelnen zu verfolgen, hat er immerhin interessante
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222 Hemberg: Geschichte Griechenlands unter den Römern.
Bemerkungen zur Erklärung dieser der römischen Geschichte der
späteren Zeit den Weg bahnenden socialen Entwicklung zu verwerthen
verstanden. Wenn man die Entartung des griechischen Charakters
zeitlich begrenzen will, so wird man die Unterwerfung dnrch Mum-
mius als den Ausgangspunkt dafür ansehen. Die Griechen müssen
vorher bei aller Vorkommenbeit ihres einheimischen Verfassungs-
lebens doch , durch das Bewusstsein der Freiheit gestärkt , eine
verh<nissmässig ehrenhaftere Empfehlung haben autweisen könuen,
als nachmals, wo die Bildung der Jahrhunderte nur noch als Dung
der römischen Civilisation passirte, über dem man die Epigonen
der Phidias und Praxiteles, der Sophokles und Euripides vergass
oder verwarf.
Für das römische Boich überhaupt waren die fünfzig Jahre
von 145 bis 89 v. Chr. nicht so ruhig und ungestört verflossen
wie speciell für Griechenland. Die Nachbarländer waren durch
grosse Ereignisse in ihren Tiefen erschüttert worden , z. B. Asien
durch den Krieg, den Aristonikus, ein natürlicher Sohn des zwei-
ten Eumenes, nach dem Ableben des Attalos III. um den Besitz
des pergamenischen Reiches, unterstützt von asiatischen Griechen,
mehrere Jahre gegen Rom führte (132 — 139). Noch weniger als
hiervon, wurde das europäische Griechenland von dem Cimbern-
kriege berührt, obwohl (nach Florus) die Thraker im Jahr 114
sehr weit nach Süden (bis nach Thessalien) vordrangen. Vergl.
Mommsen, R. G. Bd. II. S. 171 ff. Endlich verhinderte der jähe
Untergang des Suturninns und das Fiasko des C. Marius, dass
Achaia wenigstens von Ansiedlungen römischer Bürger verschont
blieb (im Jahr 100).
Die Zeit der Ruhe wurde bald darauf von einer blutigen Ka-
tastrophe unterbrochen, welche in der kurzen Zeit von fünf Jahren
(88 — 83 v. Chr.) Griechenland ruinirten, wie in seinen schlimm-
sten Tagen. Es war die Zeit, wo Mithridates, der den ganzen
asiatischen Orient durch den Ruf seiner Erfolge als Feldherr in
Bewegung gesetzt hatte, den römischen Interessen durch seine er-
obernde Politik gefährlich wurde. Durch seine Energie eine Aus-
nahme nnter seinen Ranggenossen seit der Ausartung der Seleuki-
den und Ptolmäer, durch seinen Hass gegen Rom das Andenken
an Hannibel erneuernd, die geheime Ursache der Barbarenangriffe
von Norden her auf die makedonische Provinz, veranlasste er im
Jahr 89 durch seine Uebergriffe gegen kleinasiatische Völker einen
Broch mit Rom, dem im Jahre darauf der Feldzug folgte.
Den schwachen italischen Streitkräften der Römer, sowie ihren
zwar zahlreichen, aber meist wenig brauchbaren Aufgeboten ihrer
asiatischen Verbündeten in Kleinasien überlegen, kündigte er sich
zugleich durch seine gewinnende Politik, S. 343, als einen Befreier
vom römischen Joch an. Mit Jubel aufgenommen, konnte er bald von
Ephesos aus jenen grausamen Blutbefehl erlassen, der hunderttau-
send Menschen römischer und italischer Abkunft den Tod dictirte,
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Hertzberg: Geschichte Griechenlands unter den Römern. 323
rieb gelbst aber dadurch das Verdict vor dem Forum der Ge-
schichte sprach. Es war kein Akt der Politik, sondern des be-
rechnenden Hasses, der bei Mithridatcs unter dem Firniss der Bil-
dung die Gemütbsart des Barbaren aufdeckte. Die Stellen, welche
diese Römervesper verewigten, stehen Appian. Mithr. c. 22. 62.
Flor. I, 89. Eutrop. V, 6. Aur. Vict. De vir. ilL 76.
Der Verf. zeigt, wie die militärischen Erfolge des Königs auf
mehreren Punkten zum Stocken kamen. Aber den Griechen im
europäischen Griechenland, die in ihm mehr kennen gelernt hatten,
als einen schlaffen Antiochos, hatte er einmal das Vertrauen ein-
geflösst , dass er nicht sie wie einst Antiochos die Aetoler, im
Stiche lassen wUrde. Am gewaltigsten war die Aufregung in Athen.
Hier sollte der Philosoph Ariston , der die Erregtheit seiner Mit-
bürger benutzte, um sie in die Bahnen der raithradatischen Politik
hineinzutreiben, eine kurze, aber traurige Berühmtheit erlangen.
Die Darstellung des Treibens dieses politischen Abenteurers, dessen
Matter eine ägyptische Sclavin gewesen, und der selber nach dem
Tode seines Vaters sich das Bürgerrecht erschlichen hatte, ist be-
sonders gelnngen zu nennen, dnreh die Details nicht blos, sondern
auch durch die Färbung.
Kurz wie gesagt dauerte der Taumel, in den Aristion durch
seine Heden die Athener versetzt hatte. Sie hatten die Wahr-
scheinlichkeit für Gewissheit genommen, und Rom, zwar durch
Bürgerkrieg und Bundesgenossenaufstand dabeim tief erschüttert,
wand sich eher los, als die Hellenen dachten. Im J. 87 v. Chr.
langte der Proconsul Sulla mit einem Heere in Griechenland an,
und in kurzer Zeit erschien er, über Thessalien durch die Ther-
mophylem nach Böotien marschirend, und durch Requisitionen an
Geld, Proviant und Truppen unterstützt, zuletzt vor Athen, das
▼on jenem Aristion vertheidigt wurde.
Wichtiger erschien dem römischen Feldherr der Besitz des
?on Archalaos stark befestigen Piräus. Daher das erste Unter-
nehmen auf attischem Boden die Belagerung dieses Platzes, die zum
ersten Male seit Karthago's und Korinth's Belagerung wieder die
militärische Technik der Römer im Belagern von Städten auf ver-
iweifelnde Weise erprobte. Aber Sulla bat Ausdauer und Kalt-
blütigkeit genug, um nicht zu ruhen, bis er mit dem Platze fertig
geworden, hierin ßcipio und Mummius nacheifernd. Ehe er aber
zu seinem Zwecke gelangte, und die Festung zur Uebergabe brachte,
wandte er sieb gegen Athen, wo inzwischen Aristion sein Mög-
lichstes that, die Noth zu vergrössern. Das Strafgericht, welches
Über die unglückliebe Stadt und seine irregeleiteten Einwohner
hereinbrach, die Hungersnoth während der Belagerung, die Blut-
scenen bei der Einnahme, die am 1. März im Jahr 86 erfolgte,
haben in dem Verf., der sich nicht die geringste Notiz hat ent-
gehen lassen, um Licht über diese ünglückstage der altehrwürdi-
gen Stadt zu bekommen, einen ergreifenden Darsteller gefunden.
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224 HerUberg: Geschichte Griechenlands unter den Römern.
S. 365 ff. Nicht lange darauf wurde auch über Aristio , der sich
nach der Erstürmung mit seiner Begleitung, mit Truppen und eini-
get! Bürgern auf die Akropolis entkommen war, entschieden. Durch
Wassermangel wurde die Besatzung genöthigt, sich zu ergeben.
Nicht so gut wie der Stadt Atheu, erging es der Seestadt Piräus.
Wahrend dort die Gebäude verschont blieben, ward hier Nichts
nach der Einnahme geschont. Sulla Hess Alles niederbrennen, um
nicht geuöthigt zu sein, durch eine Besatzung, die er hätte zurück-
lassen müssen, sich zu schwächen. Von Norden zogen bereits die
pontischen Truppenmassen heran.
Ueber diese, die ihm dreifach Uberlegen waren (S. 372 fl.) er-
focht er einen Sieg bei ChUronea vielleicht noch im März des ge-
nannten Jahres, wie der Verf. sagt Aber er hatte den Feind, der
sich unter seinem Feldherru Archelaus als ungeheuer zäh erwies,
noch nicht so überwältigt, dass er schon hätte daran gehen kön-
nen, jenen Sieg militärisch verwerthen zu können. Der Verfasser
zeigt, dass der König selbst seine Chancen verdarb, indem er sei-
nen Feldherrn Archeläos zu früh aus seinen Positionen zurückgehen
Hess ; aber er gibt gleichzeitig der Energie des Letzteren die ganze
Ehre, die doch wohl die Chancen der Asiaten tiberwog, trotzdem
dass in Rom selbst der Bürgerkrieg im Flor stand. Es sollte sich
zeigen, dass der Sieg Sulla's bei Chäroneia doch wichtige Folgen
nach sich gezogen. Indem die Niederlage den König compromittirt
hatte, trieb sie ihn besonders dadurch, dass er, um ein Heer zu-
sammen zu bringen, gegen seine Versprechungen handelte, seinem
Ruin entgegen, der für Griechenland in der zweiten Niederlage er-
folgte, die seiu neues Heer unter Doryläos und Archelaos dem Un-
besonnenen und dem Zauderer bei Orchomenos erlitt (Frühjahr des
Jahres 85).
Mithradates hatte sich die kleinasiatischen Hellenen entfrem-
det. Je mehr er an Terrain verlor, unter dem Nachrücken der
Römer, desto mehr gewaunen diese. Fimbria, der Legat des Con-
suls Flaccus von der marianischen Partei, und nach dem Tode des
Letzteren im Besitze seines Commando, der dem Sulla hatte Cou-
curreuz machen sollen, wurde, uachdem Sulla, im Sommer des
Jahres 84 zu Dardanos den bekannten Rom günstigen Friodeu ge-
schlossen hatte, leicht beseitigt. An den orientalischen wie an den
griechischen Bewohnern der Provinz Asia wurde wegen ihres Ab-
falls Rache genommen.
(Schluss folgt.)
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Ii. 15. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Hertzberg: Geschichte Griechenlands nnter den
Römern.
(SchlMS.)
Im Frühjahre des Jahres 83 kehrte Sulla mit seiner für den
Bürgerkrieg in Italien bestimmten Armee von Ephesus nach Attika
zurück, hielt sich kurze Zeit in Athen aui, wo er mit dem reichen
T. Pomponius viel verkehrte, Hess die Bibliothek des Apallikon,
des bekannten Complicen des Aristion, verpacken, und kehrte noch
im Früblinge nach Italien zurück. Eine römische Besatzung blieb
in Griechenland zurück.
Wie furchtbar der Wohlstand der Hellenen erschüttert war,
beklagt der Eingang des folgenden Oapitels; der Unterschied zwi-
schen den Folgen des Feldzugs vom J. 146 , und den Folgen des
sullaniscben , bestand darin, dass es denselben nicht einmal ver-
gönnt war, sich auf eine ähnliche Dauer hinaus zu erholen. Denn
erstens erlebte der erste Mithradatische Krieg noch Nachspiele (die
Belagerung der Stadt Mitylene, S. 390; den kurzen Krieg des L.
Murena, eines sullaniscben Legaten, mit Mithradates von 83 bis
82, (S. 891), und ferner brach nicht alleiu nach einigen Jahren
der dritte Mithradatische Krieg aus (74—63), sondern Griechen-
land wurde noch durch die Seeräuber verheert, gegen die eine
eigene Expedition abging, zuerst unter Pompeius im Jahr 67, dann
unter Metellus, der im Jahr 62 mit der Eroberung von Kreta der
Unabhängigkeit des letzten freien griechischen SCÄmmes in Europa
ein Ende machte, und zuletzt von dem grossen Kampf, der zwischen
Cäsar und Pompeius im Jahr 49 ausbrach, heimgesucht.
Bis hierher geht ein Abschnitt in dem Capitel, aus dem wir
manche Stellen, die des Interesses in hohem Grade werth sind,
herausheben könnten, um daran zu zeigen, wie umsichtig der Ver-
fasser seine Materialien erforscht, und wie umsichtig er sie ver-
werthet hat. Er erwähnt der Erpressungen römischer Beamten,
die Frevel desVerres in Lampsakos eingeschlossen, zeigt wie grie-
chische Gegenden das Ziel von Verbannten und Touristen zu wer-
den begannen, wie insbesondere Athen von römischen Studirenden
aufgesucht wurde.
Wirksamer als oben kommt er hier, S. 427, auf die Verschlech-
terung des griechischen Volkscharakters zu roden, und beschliesst
diesen ersten Abschnitt seines Capitels mit einer Klage über die In-
haltslosigkeit des griechischen Lebens. S. 445.
LDL Jahrg. 8. Heft. 15
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226 Hertzberg: Geschichte Griechenland» unter den Römern.
Die neuen Drangsale, welche mit dem Jahr 49 begannen, nnd
die von den Schlachten bei Pharsalos nnd bei Philippi begrenzt
werden, hat der Verf. anschaulich gewürdigt. Von Cäsar begünstigt,
der Korinth neu gründete, und unter dem es zu neuen Hoffnungen
sich hätte erholen können, wurde es zwar durch den Kampf, der
zwischen den casarischen, von Octavian und Antonius geführten
Heeren und der republicanischen Macht des Brutus und Cassius
auf der Ebene bei Philippi sich entlud, nicht unmittelbar, dagegen
um so mehr von den Erpressungen ausgesogen, die Antonius nach-
her sich erlaubte, um seine Verschwendung zu bestreiten.
Wie Antonius zu Athen es trieb, zuerst bis 36 an der Seite
Octavian's, und, nach einer mehrjährigen Abwesenheit, dann (im
Jahr 32) mit Kleopatra, das ist mit eingehender Gründlichkeit vom
Verf. dargelegt worden.
Wie die Athener sich Cäsar unwillig gebeugt hatten, 8. 465,
so hielten sie jetzt, wo das römische Reich wieder einem entschei-
denden Kampf entgegentrieb, gegen Octavian und Antonius. Der
Verf. verschweigt nicht, dass der Letztere Griechenlands Elend und
Verarmung vollendete. Bis zum Tode erschöpft, sagt er, nachdem
er den Kampf bei Aktion beschrieben, lag Griechenland zu den
Füssen des Siegers.
Wir konnten nicht umbin, dem bisherigen Verlaufe am Faden
des Verfassers so viel Raum zu widmen. Unsere Aufmerksamkeit
hatte eigentlich dem ftlnften Capitel gelten sollen , S. 486 ff , wo
die Provinzialverfassung, welche Octavian der niedergeworfenen Be-
völkerung anpasst, den Vergleich mit den Anordnungen des Mum-
mius und der von dem Senate damals abgeordneten Commission
begünstigt. Die Organisation des Octavian war einer persönlichen
Initiative entsprungen.
Bevor der Verf. sich dieser Betrachtung zuwendet, widmet er
der Lage des Landes oder vielmehr dem Verfall, wobei er die
Schilderung Strabon's (S. 490) corrigirt, sowie den Anordnungen
Octavians, die Noth der Hellenen zu lindorn, einige Seiten.
Die Regelung des staatsrechtlichen Verhältnisses der Letzteren
zu Rom leitet er, S. 492, mit der Gründung zweier Städte*), einer
in Mittelgriechenland, und einer im Peloponnes, nämlich dort Niko-
polis zum Andenken an den Sieg bei Aktion, hier Paträ, ein. ßeide
wurden von andern Städten aus bevölkert, erhielten Ackerland an-
gewiesen, bekamen Wasserleitungen u. s. w. Nikopolis wurde die
neue Hauptstadt von Epiros, Paträ die Metropole von Westachaia.
Korinth, die junge Schöpfung seines Oheims, bestimmte Octavian
zum Sitz des römischen Statthalters für die jetzt neugeordnete
Provinz. Alle drei Städte erhielten Besatzung.
Die Feststellung des staatsrechtlichen Verhältnisses der euro-
päischen Hellenen zu Rom erfolgte erst in den nächsten Jahren.
*) Macchiav., II Principe, Cap. m.
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Hertzberg: Geschichte Griechenlands unter den Römern. 227
Die Bereisung eines grossen Theils der östlichen Provinzen zwi-
schen 22 and 19 t. Chr., bei welcher Gelegenheit der neue Augu-
stus auch in Attika sich aufhielt, befestigte das bis dahin einge-
führte System seiner Provincialordnung, S. 499. Wo der Verf.
zusammenhängend sich hierüber aussprechen soll, S. 504 ff., hören
wir leider, dass ihm im Grunde viel darüber zu sagen nach eige-
nem Geständnisse nicht möglich ist. Das Wichtigste ist, dass nur
ein Theil der Gemeinden der neuen Provinz die alte »Autonomie«
behielt: Athen, Sparta, die Städte der Eleutherolakonen, Delphi,
Abä in Phokis, Elateia, Thespiä und Tanagra, Pharsalos, die Inseln
Aegina, Zakynthos und Kephallenia , Korkyra , daneben natürlich
die Colonien Nikopolis und Paträ.
Nach Allem, was er noch beibringt, woraus der Leser ent-
nehmen soll , dass die Römer doch sehr die alten Formen des
griechischen Lebens schonton , S. 508 ff. , trotz des Gesammtland-
tages (xoivov) in Argos, S. 509, trotz der Beform des Bundes der
Amphiktyonen , Anhaltspunkten einer Organisation, die nach der
allgemeinen Verwüstung der letzten Jahrzehnte immerhin werth-
foll war, bekennt der Verfasser mehrfach, S. 515, 512 ff., dass doch
das frische Leben , welches die neue Provinz Afrika darstellen
wollte, eigentlich nur in den neuen Städten im Westen (Nikopolis,
Paträ) und am Sitze des Statthalters zu finden war.
Gestutzt auf die Thatsache, dass Athen, welches wegen seiner
Vergangenheit noch immer das meiste Interesse erweckte, lässt er
gelten, dass die zahlreichen Besuche aus der römischen Welt zwar
manche Wunde heilten. Aber er macht auch begreiflich, dass die
Gunst der Kaiser, welche durch Decrete und Geschenke die alte
Kraft nicht wieder beleben konnten, eigentlich dem prunkenden
Sarkophag eines heimgegangenen grossen Geschlechtos galt. S. 521.
Obwohl der Verf. sich im Wesentlichen auf die Ereignisse und
Zustände in Griechenland nach der festen Begründung der cäsari-
schen Monarchie für diesen Band beschränkt, hebt er doch noch
einige Erscheinungen aus der Regiernngszeit des Augustus hervor,
nämlich zunächst S. 522 das Thun und Treiben des reichen Spar-
taners Eurykles, eines Günstlings des Augustus, der aber, von An-
klagen verfolgt, in Ungnade fiel ; dann , von Agrippa's Aufenthalt
auf Lesbos (23 v. Chr ) und des Tiberius Aufenthalt auf Rhodos
(?on 6 v. Chr. bis 2 n. Chr.) zu schweigen, die er nur vorüber-
gehend erwähnt, den (von Schriftstellern der spätesten Zeit, aber
weder seinen Motiven noch seinem Verlaufe nach näher bekannten)
angeblichen Aufstand der Athener in den letzten Jahren des
Augustus. 8. 525 ff.
Wenn dieses Ereigniss nioht ganz apokryph ist, wie der Ver-
fasser mit K. Fr. Hermann glauben möchte, so war es jedenfalls
höchst unbedeutend.
Indem der Verf. ankündigt, dass die Zahl der politischen Ereig-
nisse bis auf Justinian nur noch gering, lässt er durchblicken, daas
die Geschichte des zweiten Bandes eine Culturgeschichte werden wird.
Digitized by
Bibliotheca Scriptt Teubneriana.
Dem Sammelfleiss des Verf., der noch während des Drucks
zahlreiche Anmerkungen nachtrug, muss alles Lob gespendet wer-
den. Wir erwarten von dem nächsten Bande, wenn derselbe ebenso
ausdauernd fortfahrt, neue tiefeindringende Details über die ver-
nachlässigte Geschichte der betreffenden Periode.
Die Details sind die Seele der Geschichte!
Heidelberg im März. II. Doergens.
1) Scriptorts Metrici 0 rat ci. Edidit R. W estphal. Vol. I.
Hephaestionis de tnetris enckiridion et de poemate libellus
cum scholäs et Trichae Epitomisf adjecta Prodi Chrestomathia
Grammatica. Lipsiae in aedibus B. G. Teubneri MDCCCLXVJ.
VUl u. 302 S. 8.
2) Nico machi Geraseni Pythagorti lntroductionis ariihmeiicae
libri IL Recensuit Rieardus Ho che. Accedunt codicis Cisen-
sis Problem ata arükmetica. Lipsiae etc. XI und 198 S. 8.
3) Polybii historia. Edidit Ludo virus Vindorf ius. Lipsiae
etc. Vol. L XCJJJ und 349 S. Vol. iL XXXV III u. 412 8. 8.
4) M. Tulli Cieeronia scripta quae manserunt omnia. Re-
cognovü Reinholdus Klotz. Parlis IL Vol. IL, confinens Ora-
tiones elc. Editio altera emendatior. Lipsiae etc. LXXXVU1 u.
460 S. 8.
Die aufgeführten Ausgaben gehören sämmtlich der Biblio-
theca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubne-
riana an, welche, wie schon früher in diesen Blättern bemerkt
ward, sich nicht blos auf diejenigen Autoren beschränkt hat, welche
auf Schulen gelesen werden, sondern auch diejenigen Schriftsteller,
welche ausserhalb des Kreises der Schule liegen , aber für die ge-
lehrte Forschung wichtig und bedeutend erscheinen, herangezogen
und durch erneuerte, billige Abdrücke, die aber keine blosse Ab-
drücke zu nennen sind, sondern zugleich, mehr oder minder, als
neue ßecensionen oder Recognitionen des Textes sich darstellen,
dem weiteren Kreise der Gelehrten zugänglich gemacht hat. Wer
die Schwierigkeit der Benutzung älterer oftmal« mangelhafter Texte
solcher wenig gelesenen und doch für die gelehrte Forschung not-
wendigen und oft wichtigen Schriftsteller kennt und selbst dies er-
fahren hat, wird das Verdienstliche solcher in dieser Weise er-
neuerten Ausgaben um so mehr anerkennen, und der Verlagshand-
lung, die diess unternommen hat, um so mehr dafür zu Dank ver-
pflichtet sein.
Der erste Band der Scriptores metrici Graeci bringt
zuvörderst das wichtige, eigentlich nur in Gaisfords beiden Aus-
gaben — die am Ende doch nur in wenigen Orten und in weni-
gen Bibliotheken sich finden — zugängliche Handbuch der Metrik
des Hephästion, aber in einer, was den Text betrifft, weit be-
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Bibliotheca 8crlptt. Teubneriana.
richtigieren Fassung, indem von den bis jetzt gefundenen hand-
schriftlichen Mitteln ein ganz anderer Gebrauch gemacht worden
ist, so dass nicht wenige Stellen des immerhin vielfach verdorbe-
nen Textes eine bessere Gestalt erhalten und lesbar geworden sind ;
wobei die Abweichungen unter dem Text aufgeführt werden und
dadurch jede Oontrole ermöglicht ist. Auf den Text des Enchiri-
dion folgen die Reste der andern Schrift tisqI itoiypcctog , darauf
des Longinns Prolegomena zu dem Enchiridion, an welche dann
die alten Scholien sich anschliessen, und zwar in der Weise, dass
nach den einzelnen Abschnitten des Enchiridion die betreffenden
Scholien der einen wie der andern Sammlung, der ausführlicheren,
die mit A, und der kürzeren, die mit B bezeichnet sind, sich zu-
sammengestellt finden, ebenfalls mit Angabe der wichtigeren Va-
rianten unter dem Text (S. 95 — 226). Nun folgt, was von des
Proclus XgrjöTOfia&fa yoanuariy.i] noch vorhanden ist, d. h. die
Aaszüge in des Photins Bibliothek, welchen das eingereiht ist, was
in der Venetianer Handschrift der Ilias No. 484 und in der des
Escorial noch sich findet. Den Beschluss macht das über die neun
Metra sich verbreitende, bisher eigentlich nur in der Einen ge-
druckten Ausgabe von Fr. de Furia (hinter G. Hermann's Draco)
zugängliche Büchlein des Tricha, wobei die Varietas lectionis aus
der Venetianer und Florentiner Handschrift beigefügt ist.
Die arithmetische Eisagoge des Nicomachus ans Gerasa ist
seit dem Jahre 1817, in welchem Ast einen Abdruck veranstaltete,
nicht mehr im Druck erschienen, wenn man von den drei Capiteln
des ersten Buches absieht, welche 1828 Nobbe in einem Programm
herausgab. Bei den mancherlei Freiheiten, welche Ast bei der
Herausgabe sich erlaubte, war eiu auf die handschriftliche Ueber-
lieferung basirter Text um so nöthiger, als Ast meist einer sehr
mangelhaften Münchner Handschrift des sechzehnten Jahrhunderts
(No. 76) gefolgt war, aber eine bessere Münchner (238) des vier-
zehnten Jahrhunderts dabei übersehen hatte, während die Göttin-
ger, hier zum erstenmal benutzte Handschrift des zehnten Jahr-
hunderts No. 266 vor dieser wie vor der Zeitzer Handschrift und
den übrigen bis jetzt bekannt gewordenen, bei weitem den Vorzug
verdient, daher auch vorzugsweise dem Text dieser Ausgabe
zu Grundo gelegt worden ist, unter Benützung der übrigen Codices,
so wie dessen, was zur Erklärung wie zur Richtigstellung des Textes
in andern Erklärern des Nicomachus aus späterer Zeit sich vor-
findet. Das Wenige, was über die Person des Nicomachus und
seine Lebenszeit — etwa 100 p. Chr. — sich mit Sicherheit fest-
stellen lässt, ist S. IV in einer Note angeführt.
Da unter dem Text alle Abweichungen von nur einigem Be-
lang angeführt sind, so ist zugleich die Prüfung des kritischen
Verfahrens erleichtert, durch welches allerdings an nicht wenigen
Stellen ein besserer Text erzielt worden ist. Weiter ist noch hin-
bekommen ein Abdruck der aus der Zeitzer Handschrift in einem
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230
Bibliothcca Script! Teubneriana.
Wetzlarer Programm vom Jahr 1862 erstmals edirten, inhaltsähn-
lichen Tlqoßlriiiaxa ccQid'fL^tixd , wie die vom Vorf. gesetzte Auf-
schrift lautet. Was indess noch besondere Erwähnung verdient,
ist der hinzugekommene Index , in welchen alle bei Nicomacbus
vorkommenden Worte aufgenommen Bind, blos mit Wegfall der ge-
wöhnlichen Partikeln, wie 6V, yap, piv, cog, ot), ftij und ähnlichen :
es ist diess eine sehr verdienstliche und wenn auch mühsame doch
sehr nützliohe Arbeit, zumal mit der grossesten Sorgfalt und Ge-
nauigkeit Alles Einzelne bearbeitet ist. Wären nur einmal von
allen derartigen Schriftstellern solche Indices vorhanden , so wür-
den auch unsere griechischen Wörterbücher, auch nach dem neuen
Stephan-Dindorf sehen Thesaurus , manche wünschenswerthe Ver-
mehrung gewinnen. Ein Catalogus Auctorum ist überdem noch bei-
gefügt.
Auch Polybius, dieser wichtige und für jede Forschung
auf dem Gebiet der römischen Geschichte und des römischen Alter-
thums unentbehrliche Schriftsteller ist durch den vorliegenden Ab-
druck allen denen zugänglicher geworden, die nicht im Besitze der
grösseren Schweighäuser'scben Ausgabe sind, und selbst diejeuigeu,
welche diese Ausgabe zu benutzen in der Lage sind , werden in
allen Fällen, wo es auf die Fassung des Textes ankommt, die neue
Ausgabe zu Rathe zu ziehen haben, da sie in ihr einen Text finden,
der vielfach berichtigt und von mannichfachen störenden Interpo-
lationen befreit ist. Der Herausgeber hat, wie zu erwarten, mit
aller Consequenz seine kritische Aufgabe durchgeführt und in der
Praefatio beider Bände näher über sein Verfahren sich ausgespro-
chen. Diess unterscheidet sich von seinen Vorgängern, insbesondere
von Schweighttuser, darin, dass er für die fünf ersten, bekanntlich
allein vollständig erhaltenen Bücher in der Vaticanischen Hand-
schrift No. 124 aus dem eilften Jahrhundert, die letzte und in
gewisser Hinsicht einzige Quelle des Textes erkennt, aus welcher
die übrigen noch vorhandenen Handschriften abzuleiten sind, da
sie nur als mehr oder minder verdorbene oder interpolirte Ab-
schriften erscheinen, welchen in dem, was sie Abweichendes von
von jener gemeinsamen Quelle bieten, kein eigener Werth beizu-
legen ist (vgl. pag. VIII). In dieser Hinsicht weicht der Heraus-
geber von Scbweighäuser ab, der die andern Handschriften, wenn
er sie auch in ihrem Werthe der Vaticaner Handschrift unterord-
nete, doch mit dieser auf eine Urquelle zurückführen wollte, wel-
cher alle, also auch die Vaticaner Handschrift entstammen, da-
durch aber denselben eine gewisse Beachtung oder Berechtigung
zuerkannte, welche der Herausgeber nicht anzuerkennen vermag.
Was derselbe zur Begründung dieser seiner Ansicht in der Vorrede
angeführt hat, spricht allerdings für dieselbe, und die Anwendung,
die er dann im Einzelnen gemacht, hat allerdings in Vielem dem
Texte eine von dem Schweighäuser'schen Text abweichende Gestalt
vorliehen. Indessen ist der Herausgeber doch nicht geneigt, seine
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Bibliotheca Scrlptt Teubneriana. 231
Handschrift zu überschätzen, die, wie er vielmehr ausdrücklich
bemerkt, und dann auch im Einzelnen zeigt, nicht frei von Fehlern
ist, und im Verhältniss zu dem Autographum, wenn es uns noch
ragängüch wäre, manche Entstellung nachweisen würde. Eine Reihe
von solchen Stellen hat der Herausgeber in der Praefatio behandelt
und bei dieser Veranlassung auch manche Eigentümlichkeiten in der
Sprache des Polybius erörtert, eben so wohl in Bezug auf einzelne For-
men wie in Bezug auf einzelne Ausdrücke u. dgl. m. was wiederum zu
manchen Verbesserungen des Textes Veranlassung gegeben hat. Auf die
Präfatio folgt S. LIX : »De Vita Polybii, testimonia veterum et Polybii
ipsiusc entnommen aus Schweighäuser's Ausgabe; da nun seitdem
das Leben und die Schicksale des Polybius Gegenstand mehrfacher
Erörterung geworden ist in Verbindung mit weiteren Erörterungen
über seine Behandlung der Geschichte, deren Charakter, wie Über
das Werk selbst, so bemerkt der Herausgeber blos: »De quibus
alio mihi loco erit dicendum«; wir wünschen sehnlichst, dass diess
bald geschehen möge, wiewohl wir immerhin der Ansicht sind, dass
diess passender an dieser Stelle geschehen wäre, als »alio loco«,
zumal da das, was hier aus Schweighäuser's Ausgabe wieder ab-
gedruckt ist, jetzt nicht mehr genügen kann. Der Abdruck der
fönf ersten Bücher nimmt den ersten Band und den zweiten bis
S. 232 ein; es folgt dann noch das, was von Buch VI — IX incl.
uns theils aus dem Vaticaner Palimpsest durch Angelo Mai, theils
früher schon durch die in die grosse Sammlung des Constantinus
Porphyrogennetus aufgenommene und dadurch erhaltene Stücke be-
kannt geworden ist. Auch hier hat sich der Herausgeber keines-
wegs mit einem blossen Wiederabdruck begnügt; da in neuester
Zeit die Handschriften, aus welchen jene Bruchstücke an das
Tageslicht gezogen waren, noch genauor untersucht und verglichen
worden sind , so ist der Herausgeber , indem er davon Gebrauch
machte, dadurch auch in den Stand gesetzt worden, in Vielem dem
Text eine andere und bessere Gestalt zu geben. Auch darüber
wird in der Vorrede des zweiten Bandes in eingehender Weise be-
richtet und damit gewissermassen ein Rechenschaftsbericht über
das Ganze gegoben, indem weitergehende kritische oder exegetische
Erörterungen durch den Plan und die nächste blos auf den Text
und dessen Herstellung gerichtete Bestimmung dieser Ausgabe aus-
geschlossen sind. Mit Verlangen wird man jedenfalls der weiteren
Fortsetzung des Ganzen entgegensehen, dem dann auch die nöthi-
gen Indices beigefügt werden dürften.
Was den neuen Band Cicero' s betrifft, so kann auf die
frühere Anzeige (1&64. pag. 290 ff.) der vorausgegangenen beiden
Bände dieser neuen Auflage, die sich mit Recht als eine »emen-
datior« auf dem Titel ankündigt, verwiesen werden. Im vorliegen-
den Bande sind' enthalten die Reden : pro M. Tullio (was davon
noch vorhanden), pro Fontejo, pro A. Caecina, De imperio Cn. Pom-
peji, pro A. Cluentio Avito, De lege agraria tres, pro C. Rabirio
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232 Bibliotheca Scriptt. Teubneri&na.
perduellionis reo, in L. Catiliuam quatuor, pro L. Mure na, pro L.
Flacco, pro P Sulla, pro Arcbia poeta, post reditum in senatu,
post reditum ad Quirites, de domo sua, de Haruspicuni responso,
und ist das auf die Behandlung des Textes in einzelnen Stellen
vielfach sich beziehende Vorwort der ersten Ausgabe auch in die-
ser zweiten wiederholt, was man eben so zweckmässig als selbst
nothwendig finden wird. Es reiht sich daran aber p. XXVII —
LXXXXII ein in demselben kleineren Druck gehaltenes Prooe-
mium editionis secundae, in welchem der Herausgeber die
einzelnen, in diesen Band aufgenommenen Reden durchgeht und
die Veränderungen naher bespricht, welche in einzelnen Stellen bei
diesem erneuerten Abdruck statt gefunden haben, zumal in Be-
rücksichtigung dessen, was in einzelnen Schriften oder Ausgaben seit
dem Erscheinen der ersten Ausgabe für die Kritik geleistet wor-
den ist, und wird man sich bald bei der Durchsicht überzeugen,
„ wie dem Herausgeber Nichts von einigem Belang entgangen ist,
was für Ciceronische Texteskritik von Andern gethan worden ist,
oder wo neue kritische Hülfsmittel zu Tage gefördert worden sind.
So ist z. B. bei den Catilinarischen Reden besondere Rücksicht ge-
nommen auf Halm's fünfte (Berliner) Ausgabe dieser Rede vom
Jahr 1863; bei den vier auf Cicero's Rückkehr au« dem Exil be-
züglichen Reden insbesondere die Pariser Handschrift No. 7794 be-
rücksichtigt, als diejenige Handschrift, welche hier entschieden den
Vorzug vor den übrigen verdient, wiewohl der Herausgeber durch
den Umfang dieses Proömiums sich genötbigt sah, die kritischeu
Bemerkungen zu der letzten Rede De haruspicum responso wie
selbst zu der Rede De domo sua Etwas kürzer zu fassen ; dass er
sich in die Fragen über die Aechtheit dieser Reden wie anderer,
die in diesem Bande sich finden und in neuer Zeit bestritten wor-
den sind, nicht eingelassen, war zu erwarten , und mag in Anbe-
tracht des Zweckes dieser Ausgabe, nur gebilligt werden : dass er
der modernen Hyperkritik keine Zugeständnisse zu machen geneigt
ist, geht aus seinen früheren Besprechungen dieses Gegenstandes
hervor, zumal seine Ausführungen noch nicht widerlegt worden sind,
auch nach unserer Ansicht, nicht wohl widerlegt werden können.
Wir hoffen indess, dass es dem Herausgeber nicht an einer be-
sonderen Gelegenheit fehlen werde, darüber im Ganzen und Einzel-
nen sich auszusprechen, wozu er ja selbst am Schlüsse des Vor-
worts der ersten Ausgabe Aussicht eröffnet hat. Im Einzelnen in
die Kritik des Textes einzugehen , kann dieses Ortes nicht sein :
wir begnügen uns mit der Angabe, dass der Herausgeber den
Standpunkt nicht verlassen , den er auch in der Behandlung des
Textes der beiden vorausgegangenen Bände eingenommen, und den
wir im Ganzen wohl als einen conservativen bezeichnen möchten,
indem er nicht jeder irgend wie vorgeschlagenen Aenderung und
Neuerung sich hingibt, sundern die handschriftliche Basis , welche
die anerkannt ältesten und verlässigsten Handschriften geben, fest-
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Ribbeck: Prolegg. ad Vergili Opp.
233
hält, ohne damit in verdorbenen und fehlerhaften Stellen sich der
nothwendig gewordenen Abhülfe zn verscbliessen, die dann wenig-
stens auf einer sichern Grundlage ruht.
Prolegomena critica ad P. Vergili Maronis Opera majora. Scriprit
0. Ribbeck. Lipsiae in aedibus B. G. Teubneri MDCCCLXVI.
XXXII und 467 S. in gr. 8. Auch mit dem weiteren Titel:
P. Vergili Maronis Opera. Recensuit Otto Ribbeck: Prolegomena
critica.
Diese Prolegomena, die man auch mit dem Verf. Epilegomena
nennen könnte, insofern sie erst nach Vollendung der grösseren
vom Verf. besorgten Ausgabe des Virgilius erscheinen, von welcher
früher bereits in diesen Blättern (Jahrgang 1860 p. 584. 1881
p. 708 ff. 1862 p. 448) Nachricht gegeben worden ist, sind, wie
auch der Titel ausdrücklich besagt, kritischer Art, sie befassen
sich nicht sowohl mit dem , was sonst im Prolegomeneh der Art
behandelt zu werden pflegt, mit Erörterungen über die Person des
Antor's, seine Schriften u. dgl. m. sammt allen den dazu gehöri-
gen literarhistorischen Notizen , sondern sie sollen gewissermassen
eine Geschichte des Textes der Virgilischen Gedichte und der kri-
tischen Behandlung derselben liefern; »Prolegomenis — so schreibt
der Verfasser — comprehendere volui quidquid Vergilianis carmi-
nibns inde ab ipsius auctoris manu per decem amplius saecula
accidisse novimus« und als Zweck dieser Darstellung wird hinzu-
gefügt: >non ut ad hujus tantum poetae textum prudenter ac for-
titer recensendum solidum strueretur fundaraentum , sed ut lucu-
lento exemplo etiam imperitioribus appareret, quam dubia fide vel
ferventissirais grammaticorum illustrissimorum studiis et magnifi-
centissimo exemplarium. venerandae vetustatis apparatn integritati
scriptorum antiquorum servandae provisum sit. «
In dem Vorwort gibt der Verf. eine Reihe von Nachträgen aus
imn Theil erst später bekannt gewordenen Quellen, so wie einzelne
Berichtigungen und nahmhafte Nachträge zu den sogenannten testi-
moniis, d. h. zu den in seiner Ausgabe mit grosser Sorgfalt überall
angeführten Citaten Virgilischer Verse und Worte bei späteren
Schriftstellern , Grammatikern , Scholiasten u. 8. w. Darauf folgt,
oder vielmehr es beginnt die Schrift mit einer Erörterung Über die
Zeit der Abfassung und Bekanntmachung der einzelnen Dichtungen
Virgils; zuerst kommen die Bucolica, deren Abfassung und
Herausgabe innerhalb der Jahre 712 — 715 u. c. verlegt wird,
hauptsächlich nach Asconius Pedianus, dem Probus, Servius u. A.
Wer folgen ; insbesondere gilt diess von der zehnten Ekloge , die
gewöhnlich in das Jahr 717 verlegt wird, nach Ribbeck (p. 10),
aber nicht über 715 hinaus sich vorlegen lässt. Was weiter die
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284
Ribbeck: Prolegg. ad Vergili Opp.
Georgica betriflft , mit welchen dor nächste Abschnitt sich be-
schäftigt, so führt der Verf. die Angabe von den sieben Jahren,
innerhalb deren Vergilius mit der Abfassung und Vollendung die-
ses Gedichtes beschäftigt war, gleichfalls auf Asconius zurück, und
zeigt dann weiter, wie die Georgica weder nach der Mitte des
Jahres 717 u. c. noch vor dem Ende von 715 oder dem Anfang
von 716 begonnen sein können, und auch in den Georgicis Nichts
Sachliches vorkommt, was Uber das Jahr 725 hinausgeht: indessen,
und diess ist im nächsten Abschnitt nachgewiesen , liegen doch
Spuren vor, die uns zeigen, dass auch nach dieser Zeit der Dich-
ter sein Werk nicht aus den Augen verloren, sondern Einzelnes
geändert und nachgebessert ; es knüpfen sich an diese Erörterung
noch weitere Bemerkungen über einzelne Interpolationen, und über
einzelne Verbesserungen in den beiden nächsten Abschnitten, zu-
nächst mit Bezug auf Peerlkamp und dessen Kritik der Virgili-
schen Gedichte. Mit dem sechsten Abschnitt wendet sich der Ver-
fasser der A e n e i s zu , wobei er den Weg einschlägt, dass er aus
einzelnen Versen und deren Beziehungen auf bestimmte Zeitereig-
nisse die Zeit zu ermitteln sucht, in welcher der Dichter mit Ab-
fassung der einzelnen Bücher beschäftigt war : denn vollendet ist
das Ganze bekanntlich nicht worden , indem ein früher Tod den
Dichter verhinderte, die letzte Hand an sein Werk zu legen. Aus
dieser Untersuchung ergibt sich , dass das erste Buch nach 725
u. c. oder vor 727 geschrieben worden, nachher das achte, dritte,
vierte, und etwas später wohl das zweite, dann das fünfte und
neunte; auch das sechste muss um 731 — 732 geschrieben sein; im
letzten Lebensjahre (784) war Virgil mit dem siebenten beschäftigt ;
über die drei letzten Bücher lässt sich nichts Näheres ermitteln,
als dass sie überhaupt in die letzte Lebenszeit des Dichters fallen,
üeber Varius und Tucca, welchen Virgil nach dem Zeugniss des
Donatus seine Gedichte sterbend hinterliess, und über ihr Verfah-
ren verbreitet sich der siebente Abschnitt : der achte führt zu einer
Besprechung Über Virgils Gegner (Obtrectatores) und über die
wider dieselbe zur Verth ei digung des Virgilius gerichtete Schrift
dos Asconius Pedianus, welcher, wie S. 89 gezeigt wird, darin die
schriftlichen Notizen der nächsten Freunde des Virgils, namentlich
des L. Varius benutzt hatte; der neunte (S. 1U — 199) bringt
eine umfassende Untersuchung über die alten Erklarer Virgils,
welche mit Q. Cäcilius Epirota, dem Freigelassenen des Atticus und
dem Lehrer seiner Tochter beginnt, der nach dem Tode seines
Freundes, des Dichters Cornelius Gallus eine Schule eröffnete, in
der er zuerst die Leetüre und Erklärung der Gedichte Virgils ein-
führte. Aber den Asinius Pollio, der in nächster Reihe unter den
Auslegern Virgil's gewöhnlich genannt wird, glaubt der Verfasser
nicht unter dieselbe bringen zu dürfen: er will bei den betreffen-
den Anführungen lieber an einen späteren Grammatiker Pollio
aus Fronto's Zeit denken, was inzwischen noch nicht so aus-
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Ribbeck: Prolegg. ad Vergüi Opp. 235
gemacht zu sein scheint, zumal wenn man annimmt, dass Asinius
Pollio nicht sowohl eigene Commentare zu Virgils Gedichten ge-
whrieben, wohl aber in seinen kritischen oder grammatischen
Schriften auf Virgil vielfach Rücksicht genommen, und in einzelne
sprachliche oder sachliche Erörterungen sich eingelassen habe ; auf-
fallend beibt es immerhin, dass einem alten Verzeicbniss der zu
Corbey befindlichen Handschriften, welches A. Mai im Spicileg.
Vatio. T. V. p. XIII. 212 hat abdrucken lassen, nach den Com-
mentaren des Servius zu Virgil, noch aufgeführt wird: Pollion
in Aeneidem; ob daraus ein Grund für oder gegen die An-
nahme des Verfassers genommen werden kann, wollen wir jetzt
nicht entscheiden. Nun folgen in der Reihe der alten Erklärer
Virgil's C. Julius Hyginus, Julius Modestus und L. An-
nans Cornutus, über deren Betheiligung an der Erklärung des
Dichters kein Zweifel obwalten kann , wenn auch gleich nur dürf-
tige Nachrichten über ihre Leistungen vorliegen. Als der erste,
d<?r zu Virgils Gedichten einen »justns commentarius«, wie sich der
Verf. ausdrückt, lieferte, wird Aemilius Asper, derselbe gelehrte
Grammatiker, welcher den Terentius und Sallustius commentirte,
betrachtet, und seine exegetischen wie kritischen Bemühungen, so
weit wir sie noch kennen, werden im Einzelnen durchgangen und
gewürdigt ; auf ihn folgt M. Valerius Probus aus Beryt, » no-
büissimus omnium quotquot Vergilii carminibus operam dederunt,
grammaticorumc (wie es hier S. 136 heisst). Mit aller Sorgfalt
werden alle die einzelnen Angaben und Notizen, welche bei Ser-
vius, Gellius u. A. sich finden, so weit sie auf die Texteskritik sich
beziehen, zusammengestellt und besprochen, um so eine Vorstellung ^
von der Behandlung des Textes der Virgilischen Gedichte durch
diesen Grammatiker, welchor wenigstens bei dem ersten Buch der
Georgica das von Virgils Hand selbst geschriebene Exemplar noch
vor sich hatte, möglich zu machen : dann wendet sich der Verf.
zu dem, was ans denselben Quellen noch über die sprachliche und
sachliche Erklärung des Probus , namentlich auch in Bezug auf
Grammatik zu ermitteln steht, und bespricht zuletzt die kritischen
Noten (p. 150 ff.), welche Probus bei den von ihm kritisch be-
handelten Dichtern (Virgilius, Horatius, Lucretius) nach alten Zeug-
nissen in Anwendung gebracht hat. Wir können nicht in das Ein-
zelne dieser Nachweise eingehen, wir beschränken uns, das Resul-
tat anzugeben, welches der Verf . aus dieser ganzen in alle Einzel-
heiten eingehenden gründlichen Untersuchung gewinnt: dasselbe
lautet nach S. 163 folgendermassen: >cognovimus igitur ex frustu-
lia qua* hinc illinc expiscati sumus, commentariorum et ex notarum
elencho grammaticum talem, qui in emendandum et acerrime om-
ues in partes perscrutandum scriptoris textum intentus plana et
facilia transierit, ambigua tarnen vel obscura vel corrupta minime
arido commentandi genere tractaverit, denique quibuscunque locis
sive diligentissima sermonis observatione sive rerum ex phüosophiae
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M6 Ribbeck: Prolegg. ad Vergili Öpp.
arcanis ant historiainm thesauris repeten darum enarratione sivo
multiplici Graecorum Latinorumque scriptorum lectione sive ingenii
acumine novae aliquid lucis adferri posae putabat, ne qnaostionum
qnidcm arabagos et devia fugerit.« Wenn nun die unter dein Namen
eines Probus auf uns gekommenen Scholien zu den Georgicis und
Bucolicis diese Vorzüge nicht erkennen lassen, und deshalb dem
Valerius Probus abgesprochen worden sind, so meint doch der
Verfasser, dass in diesen allerdings verderbten und entstellten Er-
klärungen doch auch Manches Gute sich finde , das auf den Com-
mentar des Prohns zurückführe und diesem ontnommen sei, und
selbst dieses stelle nicht den reinen Commentar des Probus dar,
sondern »lacinias quasdam excerptoris arbitrio hinc illinc desump-
tas« (S. 164). Es folgt nun Flavius Capor, der übrigens, wie
auch unser Verf. mit Andern anerkennt, keinen eigentlichen Com-
mentar zu Virgil's Gedichten geliefert hat , wohl aber in seinen
grammatischen Schriften zahlreiche Stellen des Dichters behandelt
haben mag: es lässt sich insofern die Frage aufwerfen, ob Der-
selbe überhaupt hier aufzuführen war, indem dasselbe fast bei allen
gelehrten Grammatikern der nachaugusteischen Zeit der Fall war.
Eher gehört hieher der demnächst §.9 genannte Urbanus, wel-
cher nach Cornutus und vor Velius Longus der Zeit nach zu
setzen sein wird : den letzten hat der Verf. mit vollem Rechte
nicht aufgegeben, nachdem man ihn unter den Erklärern Virgil's
streichen wollte, im Widerspruch mit einer Reihe der bestimmto-
sten Zeugnisse, die hier angeführt und durchgangen werden. Eben
so wird auch Terentius Scaurus nach den hier angeführten
Stellen unter denen, die den Text und die Erklärung des Virgilins
eigens behandelt haben , seine Stulle behalten müssen , so nahe es
sonst auch läge, dasselbe auznnehmen, was von Flavius Caper gilt
und auch wohl von den beiden hier weiter angereihten berühmten
Grammatikern Caesellius Vindex undHelenius Acro anzu-
nehmen sein wird. Auch bei dem, zunächst in den Veronenser
Scholien genannten Haterianns wird es zweifelhaft bleiben, ob
er eine eigeue Erklärung des Virgil geschrieben, oder nicht viel-
mehr den beiden genannten in gleicher Weise beizuzählen ist.
Anders verhält es sich mit dem von Serviu« so oft citirten Do-
natus, in welchem unser Verf. mit Recht den berühmten Gram-
matiker um die Mitte des vierten Jahrhunderts Aelins Donatus,
den Erklärer des Terentius, den Lehrer des "Hieronymus erkennt;
über seine Leistungen ist der Verf. indess zu keinem besonders
günstigen ürtheil gelangt; »funetus est, so lesen wir S. 178, et
emendando et distinguendo et explicando et quaestionibus solven-
dis oranibus fere interpretis ofTiciis, tarnen ut restent vituperatione
multo saepius quam laude digna videantur. Nara antiqua, qualis
Vergilii aetate floruerat, lingua et arte desuetus nec Probi opti-
moruraque grammaticorum diseiplina satis imbutus ubi ipse sapere
ausus est, iongius fere quaesita, saepe adoo absurda vel ne tnrpis
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Ribbeck: Prolegg. ad Vergili Opp. 237
ignorantiae qui dem crimine libera protulit« eto. Und dieses Urtheil
sacht der Verfasser näher zu begründen, indem er die einzelnen
Spuren der Kritik und Exegese dieses Donatus , so weit sie sich
verfolgen lassen, näher durchgeht und bespricht. Völlig verschieden
von diesem Donatus hält der Verf. (S. 185) den am Ende des
vierten Jahrhunderts lebenden Tiberius Claudius Donatus,
der nach der Aufschrift in späteren Lebensjahren >ad Tib. Claudium
Maximum Donatianum filium suum« eine kurze Erklärung des Aeneis
geschrieben hatte. Nachdem der Verfasser noch über den etwas
zweifelhaften Oarminius, über Bufus Festus Avienus, der Virgili-
sche Mythen in Jamben gebracht haben soll, und über die Rhe-
toren, welche die Themata ihrer Declamationen aus Virgil entnah-
men, Einiges bemerkt, wendet er sich zu den noch erhalteneu
Quellen der Erklärung des Vergilius, aber mit folgenden Worten
(§. 19. S. 189): >Jam eorum commentariorum , qui aetatem tule-
runt , virtutes et vitia excutere nostrae operae non est, qui
id maxime quaerimus, quid ad restituendum poetae textnm auxilii
ex antiquorum auctorum reliquiis redundet.« In dieser Beziehung
wird nun zunächst Servius in Betracht gezogen und die bei ihm
erwähnten Varianten , an welche Einiges Aehnliche aus den des
Prob us Namen tragenden Gommentaren angereiht ist, so wie aus
dem, was in den Gommentaren des Junius Philargyrins, den
der Verf. mit Recht für Eine Person mit dem in den Berner Scho-
lien genannten Juni 1 ins Fla grins hält, derartiges zu den Geor-
gias und Bucolicis vorkommt ; zuletzt kommen in ähnlicher Weise
noch die Veronenser, von Mai edirten Scholien zur Besprechung.
Den Beschlu88 dieser ganzen kritischen Erörterung macht Cap. X
8. 200 ff.: »Veterum de carminibus Vergilianis praeter commenta-
tores testium qualis fides sit quaeritur.« Da bekanntlich bei allen
Schriftstellern der nachaugusteischen Zeit so viele Anführungen
einzelner Worte und Verse des Virgilius vorkommen, so kommt
allerdings dabei die Frage in Betracht, welcher Grad von Genauig-
keit und Verlässigkeit diesen Anführungen beizulegen sei, in so
fern sie als Zeugnisse für die wahre Beschaffenheit des Textes
gelten sollen. Dass hier nun mit grosser Vorsicht zu verfahren
ist, zeigen die im Einzelnen gegebenen Nachweisungen. Die unge-
meine Verbreitung der Gedichte Virgils, insonderheit ihre Leetüre
anfallen Schulen, war, wie der Verf. es ansieht (S. 203), sehr
nachtheilig für die Erhaltung und Bewahrung des Textes in seiner
ursprünglichen Beschaffenheit, führte Zusätze und selbst Aende-
mngen mannichfacher Art herbei : aber auf der andern Seite möchte
doch auch zu erwägen sein, dass gerade desshalb die Sorge der
Grammatiker nud der Schulmänner um so mehr auf die Erhaltung
des Textes gerichtet war, und fremdartige Einschiebsel in den-
selben, willkürliche Aenderungen um so weniger Platz finden
konnten, als sie bald bemerkt und dann auch gerügt werden
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888 Ribbeck: Prolegg. ad Vergilt Opp.
Im eilften Kapitel (»Describuntur quos adbibui Codices«) gibt
der Verf. eine Beschreibung der für die Gestaltung des Virgilischen
Textes wichtigsten Handschriften, und zwar zunächst der in Uncia-
len geschriebenen , unter welchen der bekannte Mediceus mit der
Subscription des Apronianus (die hier auf einer 8. 222 einnehmen-
den Tafel genau wiedergegeben ist) insbesondere besprochen wird.
Auch unser Verf. setzt die Handschrift in das fünfte Jahrhundert,
aber die Subscription sei im sechsten oder siebenten Jahrhundert
aus dem Exemplar des Macanus , also erst später , in Folge der
mit dieser Handsohrift vorgenommenen Vergleichung , hinzugefügt
worden. Ausserdem kommen in Betracht die Vatioaner (Nr. 3225)
und St. Galler Reste, der Codex Palatiuus 1631 , der Vaticanns
Nr. 3867, die Veronenser Palimpseste, aus welchen Mai die Scholien
edirte, und die unlängst von Pertz hervorgezogenen Blätter; ihnen
reihen sich au die WolfenbUttler Handschrift des neunten Jahr-
hunderts Nr. 70, dio Berner Nr. 172. 165. 184 des zehnten und
neunten Jahrhunderts; zuletzt wird noch der Handschrift aus der
Abtei Weissenau (jetzt zu Feldkirch) gedacht, dio indess nach den
darüber kund gewordenen Mittheilungen doch kaum mit den Älte-
ren, in üncialen geschriebenen Handschriften in Vergleich kommen
kann, üeber diese letztern folgt nun eine eingehende Untersuchung
im nächsten zwölften Capitel: »De scriptura codicum antiquissi-
morum«. und damit in Verbindung im dreizehnten Capitel: »Libro-
rum manuscriptorum rationes explicanturc, wobei auch die übrigen,
oben verzeichneten Handschriften in Betracht kommen. Der Raum
erlaubt es nicht näher don Inhalt dieser Abschnitte zu durchgehen
und alle die einzelnen Abweichungen und Voränderungen der ein-
zelnen Buchstaben nach ihren Schriftzügen, so wie die daraus her-
v orgegangenen Verwechslungen anzuführen, wie diess auf das ge-
naueste in diesen Abschnitten geschieht, um hernach das Alter der
einzelnen Handschriften, namentlich jener sieben ältesten, ihr Ver-
hältni8S zu einander und ihren Werth und Bedeutung in Bezug auf
die Herstellung des Textes, mit Sicherheit zu bestimmen. Durch
die am Schlüsse des Werkes beigefügten lithographirten Tafeln,
welche die Schriftzüge der einzelnen Handschriften zur Anschauung
und Vergleichung bringen, gewinnt die ganze Untersuchung eine
wesentliche Unterstützung. Wir beschränken uns auf einige allge-
meine Angaben, die als Resultate aus dieser Uberaus genauen Unter-
suchung sich herausstellen. Hiernach stehen sich die St. Galler
Palimpsesten und die Pertz'schen Blätter ziemlich nahe und bilden
u'ewissermasseu eine erBte Altersstufe, eben so auf der andern Seite
des Palati nus und der Vaticanus Nr. 3867 , diesen zunächst die
Veronenser und Vaticaner (Nr. 3226) Reste; die letzte Stelle nimmt
der Mediceus ein, dessen »species maxi ine exilis et rudis est«
(S. 233). Wenn es nun auch schwer ist, näher und bestimmter
das Alter dieser einzelnen Handschriften anzugeben, so meint doch
der Verfasser — und man wird ihm darin wohl Recht zu geben
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Ribbeck: Prolepg. ad Vergili Opp.
haben — dass dieselben sämmtlich eher den letztern Jahrhunder-
ten des römischen Reichs, als der Periode des Augustus oder selbst
des Hadrianns nnd der Antonine beizulegen sind (8. 238). Auch
Über die Wolfenbüttler Handschrift, die dem Codex Palatinus ganz
nahe kommt und verwandten Ursprungs erscheint, verbreitet sich
der Verf. des näheren S. 320 ff., oben so über die Berner Handschriften
S. 329 ff. und ihren Werth, namentlich im VerhHltniss zu den andern
Handschriften, wenn die erste derselben (Nr. 172) im Ganzen weni-
ger Werth besitzt, so wird den beiden andern, die einander ganz
nahe stehen, mehr Werth beigelegt, wie das ans der Detailunter-
snchung hervorgegangene Urtheil S. 346 ausspricht: »Sunt ergo
Bernenses quoque Codices b. c. vetustiorum ubi deficiunt vicarii non
pTorsus contemnendi, non tarnen ut certi alicujus alteruter jacturam
plane resarciat, sed ut archetypi potius indolem, qualem descripti-
rans, confirment.« In einer Schlussbetrachtung durchgeht der Verf.
auch noch die übrigen bekannten Handschrilten , die Wiener des
sehnten und eilften Jahrhunderts, so wie eine Anzahl von andern
meist neueren Handschriften , in so fern aus denselben Einiges,
wenn auch im Ganzen Weniges , für die Kritik des Textes zu ge-
winnen steht. Eine Art von Corollariura bildet caput XIV »versus
acbolastici quidam« S. 869 ff. , es enthält nämlich einen Abdruck
der auf Virgil bezüglichen, den Inhalt (argumenta) der einzelnen
Bücher gebenden Epigramme aus der Anthologia Latina, mit eini-
gen guten Verbesserungen des Textes, worüber die unten beige-
fügte Adnotatio critica das Nähere besagte
Genaue Register erhöhen die Brauchbarkeit des Werkes und
erleichtern die Benützung auch für andere Zwecke als den hier
zunächst vorliegenden einer möglichst genauen Untersuchung über
die Schicksale des Textes der Gedichte Virgils im Laufe der Zei-
ten. In dem ersten Index grammaticus werden in alphabetischer
Reihenfolge nach den einzelnen Buchstaben alle die einzelneu Ab-
weichungen der Schreibweise oder der Sprachformen zusammenge-
stellt (S. 889—454) : eine Arbeit von riesenhaftem Fleiss bei glei-
cher Genauigkeit. Dann folgt eine üebersicht der einzelnen Stellen,
welche in den sieben oben bezeichneten Handschriften ersten Ran-
des stehen, dann ein Verzeichniss der Stellen, welche in den Pro-
legomenen überhaupt näher behandelt sind, und zuletzt ein Index
nominum et rerum. Die äussere Ausstattung des Ganzen ist eine
vorzügliche, völlig gleich den früher erschienenen Bänden.
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240 HmnBjÄkoh: Die Grafen von Freiburg.
Die Grafen von Freiburg i. Br. im Kampfe mit ihrer Stadt oder:
Wie kam die Stadt Freiburg i. Br. an da« Haus Oesterreich.
Eine historische Abhandlung von Dr. Heinrich Hansjakoby
geistl. Vorstand der höhern Bürgerschule in Waldshut. Zürich
1867. Verlaq von Uo Wörl} Buch- und Kunsthandlung. VI
und 112 S. in 8.
In dieser kleinen Schrift erhalten wir einen recht dankens-
werten Beitrag zur vaterländischen Geschichte. Der Gegenstand
derselben, wie er auf dem Titel angegeben ist, war in Schreiber's
Geschichte von Freiburg nur kurz berührt worden, bei der Wich-
tigkeit desselben war eine nähere Erörterung um so wünschens-
werter, als inzwischen durch die von Dambacher veröffentlichten
Urkunden zur Geschichte der Grafen von Freiburg ein neues bis-
her nicht benutztes Material geboten war, und der Verf. dieses
durch die Benützung des Freiburger Stadtarchiv^ und die daraus
hervorgezogenen Urkunden zu vermehren wusste. Auf dem Grund
dieser Urkunden ist die vorliegende Darstellung erwachsen, die uns
die Streitigkeiten und Kämpfe der Grafen von Freiburg mit der
Stadt vorführt, welche durch den Zähringischen Herzog Konrad
um 1120 eine dem Stadtrecht von Kölln nachgebildete Verfassung
erhalten hatte, unter welcher das städtische Gemeinwesen auf-
blühte und die Stadt selbst Ansehen und eine Macht gewann, die
ihr das Uebergewicht über ihre Grafen verlieh. Die vielfachen
Zwiste mit denselben K die blutigen, daraus hervorgegangenen
Kämpfe, die mit Brand und Verwüstung, wie Raub verknüpft
waren, dauerten fort bis zu dem Jahre 1386, in welchem endlich
eiu Vergleich zu Stande kam, und am 30. März eine Urkunde aus-
gefertigt ward, in welcher Graf Egon IV. für sich und seine Erben
den Verzicht auf alle seine Rechte ^aussprach, und die Stadt dafür
ihm die Burg- und Herrschaft Badenweiler abtrat. Bald darauf
traten die Herzoge von Oesterreich in Unterbandlungen mit der
Stadt; es erfolgte eine Vereinbarung zwischen beiden Theilen,
und in Folge dessen der Uebergang dor Stadt und Herrschaft an
das Haus Oesterreich, unter dessen Herrschaft sie fast fünfhundert
Jahre bis zu der Uebergabe an Baden geblüht hat. Damit schliesst
die Schrift, der noch einige ungedruckto Urkunden von Belang bei-
gefügt sind, welche den Werth dor eben so gründlichen wie an-
ziehenden Forschung erhöhen.
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Ij. 16. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
—
Fontes Herum Austriacarum. Oesterreichische Geschichte - Quellen.
Herausgegeben von der historischen Commission der Kaiserl.
Akademie der Wissenschaften in Wien. Ziveite Abtheilung.
Diplomataria et Acta. XXV. Bd. Baumgartenberqer Formel-
buch. Wien. Aus der k. k. Hof- und Staatsdruckerei. 1866.
Auch unter dem Titel:
Das Baumgartenberger Formelbuch. Eine Quelle der Geschichte des
XIU. Jahrhunderts, vornehmlich der Zeiten Rudolfs von Habs-
burg. Zum ersten Male herausgegeben und erläutert von Her-
mann Baerwald. Wien 1666.
Die Formelbücher des Mittelalters sind als urkundliches Ma-
terial seit alten Zeiten benutzt, aber erst seit kurzem hat mau der
Geschichte derselben, die Lehre des Briefstils, dem Verhältniss der
Sammlungen zu einandor eine grössere Aufmerksamkeit zugewandt ;
man hat namentlich erkannt, dass zur Prüfung einzelner Briefe
oder Urkunden es oft unerlässlich sei, die ganze Sammlung zu unter-
suchen. Aber auch an sich bietet die Ausbildung und der Verfall
dieser Kunst, welche im dreizehnten Jahrhundert ihren Höbepunkt
erreichte, ein nicht unbedeutendes Interesse ; neben der einfachen Ur-
kunde und dem Geschäftsbrief gehört in ihren Bereich ein grosser
Theil der mittelalterlichen Publicistik, vorzüglich die merkwürdi-
gen Manifeste , durch welche Kaiser und Päbste sich angesichts
der gebildeten Welt jener Zeiten bekämpften. Deshalb hielt Dr.
H. Baerwald es für wünschenswertb , als eines der vollständig-
sten, theoretisch und praktisch gleich reich ausgestatteten Hand-
bQcber dieser Kunst das schon seit früher Zeit bekannte und be-
nutzte Baumgartenberger Formolbuch aus dem Ende des dreizehn-
ten Jahrhunderts, vollständig herauszugeben; schon 1858 gab er
darüber eine vorläufige Nachricht. Bevor jedoch die Ausgabe fertig
wurde, erschien in den Quellen zur bayerischen und deutschen Ge-
schichte die grosse Sammlung der Formelbücher von Rockinger,
welche nicht nur den theoretischen Theil der Baumgartenberger
Sammlang enthält, sondern auch dessen Ableitung aus dem älteren
Werke T»udolfs von Hildesheim nachweist. Diese Publication konnte
^on Baerwald leider nur nachträglich noch berücksichtigt werden;
«r gibt jedoch in der Vorrede darüber Auskunft, und eigentüm-
lich bleibt ihm die vollständige Briefsammlung. Diese Ausgabe er-
möglicht zu haben, ist ein neues Verdienst der um die Pflege vater-
ländischer Geschichte so thätig bemühten Wiener Akademie der
Wissenschaften.
LX. Jahrg. 4. Heft 16
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943 Baerwald: Dm Baumgartenberger Formelbuch.
Zu Grande liegt der Aasgabe die Wiener Handscbrift Phil. 61
von welcher Sickel Mon. Graph. IV, 14 eine Schriftprobe gibt,
verglichen mit einer Zwettler Handschrift, aus welcher noch am
Schluss Verbesserangen nachgetragen sind. Der Text ist im Ganzen
correct genug, um die Vergleichung anderer unvollständiger Hand-
schriften entbehrlich erscheinen zu lassen ; doch ist für den theore-
tischen Theil Bockingers Ausgabe zu vergleichen, u. a. wegen der
Zusätze der Aldersbacher Handschrift, über welche B. sich in der
Vorrede wohl hätte äussern sollen. Auf p. 6 wird der vierte Ab-
satz erst durch die Vergleichung mit Bock. p. 731 verständlich,
das sed ist einfach zu streichen. Erwähnt hätte ferner noch wer-
den sollen, dass die Proverbia iuris (p. XIII) bei Bockinger p. 835
— 837 gedruckt sind, der Ordo iudiciarius aber ib. p. 985 — 1026.
Zu p. V hätten wir noch zu bemerken, dass die erste von Bockin-
ger herausgegebene Anleitung, zu welcher sich hier ein Nachklang
findet, sicher nicht von Albericus Casinensis ist, wie die auf Ober-
Italien weisenden Beispiele deutlich zeigen. Ferner ist gewiss nicht
anzunehmen (p. IX), dass die magnorum dictatorum formularii,
aus denen der Verfasser seine Briefe geschöpft hat, in Klöstern
entstanden sind, sondern sie stammten direct aus den Kanzleien
der Päbste und Kaiser, wie das namentlich von der päbstUchen
bekannt genug ist. Nur da fanden sich solche magni dictatores.
Das Hauptverdienst dieser Ausgabebestebt in der reichen Brief-
sammlung, die nicht wenig neues enthält, und in der auch die sonst
bekannten, aber an verschiedenen Orten zerstreuten Schreiben will-
kommen sind, um so mehr da nicht nur das Begister der Anfänge
ein treflliches Hülfsmittel zur Orieutirung darbietet, sondern auch
alle Briefe mit grösster Sorgfalt in Hinsicht auf ihren Inhalt kri-
tisch behandelt sind ; bei einigen war es möglich, das Original mit
der Formel zu vergleichen, und so das Verhältniss beider zu ein-
ander ganz klar darzulegen. Die mit grösstem Fleisse angestellten
Untersuchungen werden gewiss in den meisten Fällen sich bewäh-
ren; ich bemerke nur zu p. 198, dass doch wohl nicht Nachkom-
men der Geistlichen gemeint sein können, welche ohnehin schon
von kirchlichen Würden ausgeschlossen waren, sondern Seitenver-
wandte, unter welchen ja so häufig die Prälaturen gewissermassen
forterbten. Ferner ist p. 440 Vatatzes verkannt, über den die
von G. Wolf 1855 herausgegebenen 4 griechischen Briefe Fried-
richs II. zu vergleichen sind. Endlich muss noch Bef. sich da-
gegen verfahren, dass (p. 466) in Budolfinischen Urkunden nicht
von einer imperialis aula die Bede sein könne, da Beispiele für
diese Ausdrucks weise selbst in königlichen Urkunden gar nicht
selten Bind.
Uebrigens aber wollen wir dem Herausgeber für seine grosse
jahrelange Bemühung unsere aufrichtige Dankbarkeit aussprechen,
welche auch dadurch nicht gemindert wird, dass die 1848 vom
Bef. genommenen Abschriften, welche seitdem in dem grossen
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Apicius. ExpL Schach.
na
Monumentenschrank unbenutzt lagern, jetzt neben so vielen andern
in ziemlich wertbloser Maculatur geworden sind. Im Gegentbeil
wiinicbuu wir dieser, auf die Ergänzung des langsamen Fort-
schrittes der Monumenta gerichtete Tbätigkeit vielfache Nachfolge
and bestes Gedeihen. W. Hattenbach.
Apiei Caeli De re coquinaria libri decem. Novem codicum ope
adiutus au.rU, re&iüuü, emendavit et correzit, variarum lectio*
num parte potissima ornavü, strieUm et interim explanavü
Chr. Theophil. Sckuch. Heidtlbergae in libraria academica
Caroli Winter. 1867. 202 S. in 8.
Der Herausgeber dieses Apicius ist bereits seit einer Reihe
von Jahren aus dieser Welt geschieden: ein früher Tod raffte den
strebsamen und rüstigen, unermüdet thätigen Mann hinweg, ehe
er noch die Früchte seiner Bemühungen einerndten konnte. In den
letzten Jahren seines Lebens war es besonders der dunkle und
rathselhafte, dabei kaum lesbare und verständliche Apicius, der
ihn, nach Text und Inhalt, beschäftigte; das im Jahre 1853 zu
Dunauesch iugen , wo er an dem dortigen Gymnasium wirkte , er-
schienene, in Rastadt gedruckte Programm: »Gemüse und Salate
der Alten in gesunden und kranken Tagen«, eine kleinere Schrift,
aber von bleibendem Werth, konnte schon als Vorläufer einer künf-
tigen Bearbeitung des Apicius gelten , von welcher noch in dem-
selben Jahr eine Probe in den Jhrbb. d. Philolog. Sappl. Bd. XIX.
S. 209 ff. erschien, mit Beigabe einer deutschen Uebersetzung der
betreffenden Abschnitte. Und erwägt man, wie wenig die bisheri-
gen Ausgaben dieses Autors befriedigen konnten — der Heraus-
geber hat es in seinem Vorwort näher nachgewiesen, — so mosste
das Bedürfniss eines neuen und lesbaren , auf handschriftlichem
Grunde ruhenden Textes um so mehr hervortreten , als dann erst,
wenn dieses befriedigt war , au eine Erklärung gedacht werden
konnte. Dieser Gedanke war es auch, der den Herausgeber er-
füllte, als er mit aller Kraft und Hingebung sich diesem Schrift-
steller zuwendete : Nichts ward dann auch verabsäumt, was zu dem
gewünschten Ziele führen konnte. Mit dem nun auch längst hin-
geschiedenen, trefflichen Wüstemann, der Gleiches früher beabsich-
tigt hatte, trat Schuch in nähere Verbindung: zugleich fand er
aber an dem Orte seiner amtlichen Wirksamkeit einen hoben Gön-
ner und Freund, der seine Bemühungen in jeder Weise zu fördern
und zu unterstützen bedacht war. In dem Vorwort, welches an
den Freiherrn von Pfaffenhofen gerichtet ist, hat der
Herausgeber diesem Gönner und Freunde ein schönes und ehren-
des Denkmai gesetzt, das zugleich als ein Zeugniss der Pietät
gelten kann, mit welcher der Herausgeber erfüllt war. Wer den
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Apiciua. ExpL S c h u c h.
Hingeschiedenen kannte, wird in diesem Vorwort den sprechendsten
Ausdruck seiner ganzen Individualität finden , und selbst an man-
cher gesuchten, aber absichtlich gewählten Wendung des in seiner
Art originellen Mannes keinen Anstoss nehmen : wir theilen, um eine
Probe aus diesem Vorwort zu geben, die Stelle hier mit, in wel-
cher der Herausgeber über die Veranlassung berichtet, die ihn zu
Apicius und zu dem Gedanken einer Herausgabe desselben geführt ;
er schreibt S. 12 darüber folgendes:
»Oreta notavi illum diem et unione signavi quo Te virum
frugi cognovi et immensam erga studiosos quosque Tuam benig-
nitatem quae eos permovet, fovet , tuetur perspectam habui. in
noctibus atticis eruditorum virorum coenantium qui deipnosopbistae
audiunt mores secuti praeter seria iocos multas super diversissimis
argumentis disputationes in iisqae non paucas occasione capta a
variis patinis subinde illatis habuimus, disseruimus tum de instru-
menta coquinatoriis et escariis, tum de iuribus et impensis, tum
de indice ciborum quoque ordine sint inlati quave ratione dulcibus
oibis acres acutosque miscuerint ut obtusus Ulis et oblitus stoma-
chus bis excitaretur quotque instrumenta gulae vel ingenio cogitata
sint vel studio confecta, omnino de hedypathia, gastrologia, gastro-
nomia veterum. inter talia Tu ex me quaesisti quid ex Apicio eam
in rem luoraremur sicque me medium tenuisti. rubore perfusus balbe
pronuntiavi scripsisse eum de opsoniis et condimentis, sed adhuc
ne unum quidem me exemplum vidisse atque illico pigneravi edn-
lium syracusanum quod dudum illexerat oculos ad Apicium coe-
mendum. omnium antiquariorum catalogis per plures menses per-
lu8tratis tandem sublatus manibus cepi editionem Listen secundam
quae prodiit Amstelodami 1709. in ooelo fui, devoravi, somniavi
coquum et culinam. at primis diebus vidi hic rarius conchas le-
gendas et verum esse qui nucleo vesci velit ei frangendam nucem
et solatus illo ardua esse quae egregia etiam vidi me non fore
stultiorem quam Meietidem, si Apicio misere neglecto auxilio veni-
rem post tot virorum remedia et tarn diu oblivione sepultum re-
suscitarem.€
Da ihn die Ausgaben von Lister und (die neueste) von Bern-
hold unbefriedigt gelassen, sah er sich nach den ältesten Texten
um: es gelang ihm, die Editio princeps, eine Venetianer, ohne
Jahreszahl, (per Bernardinum Venetum), aus welcher die Mailänder,
die gewöhnlich für die Ed. princeps genommen wird, vom Jahr
1488, die Venetianer von 15 03 und die Antwerpner von 1520 als
fehlervolle Abdrücke geflossen sind, sich zu verschaffen, und eben
so auch die Humelbergische , die ihn freilich eben so wenig be-
friedigte, ja in seinen Erwartungen täuschte. So kam er bald zu
der üeberzeugung, dass ohne neue handschriftliche Hülfsmittel nicht
viel zu machen und jede Bemühung vergeblich sei. Da half die freund-
liche Unterstützung Wüstemann's, welcher die in seinen Händen
befindlichen Collationen der ältesten Vatikaner Handschrift des
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Apicros. "Expl. Schuck
246
zehnten Jahrhunderts, wovon schon früher Einiges bekannt ge-
worden war, dann einer jüngeren minder wichtigen Vatikaner des
vierzehnten Jahrhunderts, und einer Pariser Handschrift, welche,
in Vielem abweichend von den beiden andern, einer andern Fami-
lie anzugehören scheint, mittheilte: die Collationen der beiden
ersten hatte E. Braun , die der letzten Dübner zu Paris gemacht,
so dass also an der Genauigkeit derselben nicht zu zweifeln ist.
Damit begnügte sich jedoch der Herausgeber nicht. Durch die
Verwendung des Herrn von Pfaffenhofen erhielt er eine Abschrift
der in einer Pariser Handschrift des siebenten Jahrhunderts be-
findlichen, schon von Salmasius in seinen Exercitatt. Pliniann.
mehrfach angeführten und benutzten Excerpta Apicii (Codex
Salmasianus, zu Paris Suppl. Lat. 685), welche den bisherigen
Text durch mehrere, bisher nicht bekannte Recepte vervollständi-
gen, wie diess z. B. im vierten Buch der Fall ist, wo zwischen
cap/ I und II der frühern Ausgabe zwei grössere Recepte, hier
§. 119 und 120 eingeschaltet werden, oder die Recepte §. 253 —
257 am Schluss des sechsten Buches. Weiter kam ihm zu die
Collation einer Florentiner Handschrift (cod. 20. plut. 78), von der
Hand Peter's de Furia gemacht, in Verbindung mit der Collation
von drei andern, minder wichtigen Florentiner Handschriften. Aus
diesem handschriftlichen Apparat, unter genauer Vergleichung der
F-ditio princeps, der Humelberg'schen und der des Torinus ist der
Text der gegenwärtigen Ausgabe hervorgegangen. Seit den Iden
des December des Jahres 1856, welches Datum das Vorwort des
Herausgebers trägt, ist unseres Wissens Nichts Neues für Apicius
zn Tage gefördert, auch keine neue Handschrift bekannt geworden :
wir erinnern uns nur einer einzigen Handschrift zu Paris (Nr. 8209),
welche in der Revue de philolog. I. p. 17 erwähnt wird, und zwar
als eine jüngere, aber aus einer guten alten copirte , es ist mit-
hin dnrch das nun zehn Jahre spätere Erscheinen kein Nachtheil
der Arbeit erwachsen, die von dem Herausgeber ziemlich fertig und
abgeschlossen zurückgelassen worden ist, als ihn am 25. März des
folgenden Jahres 1857 der Tod ereilte. So blieb sein zum Druck voll-
endetes Werk der treuen Fürsorge der Angehörigen und Freunde
überlassen : bis die rühmlichst bekannte Verlagshandlung , von
Interesse für die Wissenschaft bestimmt, sich entschloss, das Ganze
in einer seiner würdigen Gestalt zu veröffentlichen. Und darum dürfen
wir dasselbe wohl der Theilnahme und Aufmerksamkeit aller Freunde
der alten Literatur empfehlen, welche dieses merkwürdige Produkt
einer schon späteren römischen Zeit, das aber nicht blos in culinari-
scher, sondern eben so sehr in medicinischer, wie auch in sprachlicher
Hinsicht unser Interesse anspricht, näher kennen lernen wollen; denn
sie finden darin einen der handschriftlichen üeberlieferung entspre-
chenden, lesbaren Text, dessen richtiges Verständniss durch den beige-
fügten sprachlich- grammatischen wie sachlichen Commentar des Her-
ausgebers wesentlich unterstützt wird. Der Text, um diesa gleich zu
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Apicius. Expl. Schuck
bemerken, bat, wenn man die frühorn Aufgaben, die ältesten, wie
die jüngste von Bemhold vergleicht, eine davon wesentlich ver-
schiedene Gestalt erhalten, die uns dieses Kochbuch in einer Form
liefert, die der ursprünglichen wohl ziemlich nahe kommt, abge-
sehen natürlich von einzelnen Verderbnissen, von welchen die hand-
schriftliche Ueberlieferung nicht frei ist, wo die Conjecturalkritik,
wie sie auch von dem Herausgeber geübt worden ist, das heraus-
zufinden bedacht sein muss, was dem Inhalt der Stelle entspricht
und der ganzen Fassung am nächsten kommt. Dadurch ist es aber
auch jetzt möglich geworden, zu einem sicheren Urtheil Uber die
Schrift selbst, ihren Charakter und ihre Beschaffenheit zu gelan-
gen, und wird dann auch jeder Verdacht über dieselben schwinden
müssen, wie er noch unlängst von einem französischen Gelehrten
ausgesprochen worden ist, welcher sich so weit verstieg zu be-
haupten: »tont porte ä croire, que le traitö en question est un
ouvrage suppose*.« (Douet-d'Arcq in der Bibliotb. de l'ecol. des
chart. V Ser. [1860] T. L p. 209 f.). Und wenn derselbe Gelehrte
dann, natürlich ohne Schuchs Bemühungen zu kennen, ebenfalls auf
dieselbe Venetianer Ausgabe, in der Schuch die wahre Editio prin-
ceps erkannt hatte, zu reden kommt und Uber diese seltene, ihm
vorliegende Ausgabe, so wie auch über die folgenden Ausgaben
von Torinns und Humelberg, in ähnlicher Weise wie Schuch urtheilt,
so gelangt er darauf zu einem Schluss, der uns Nichts weniger al^
begründet erscheint. Weil nemlich die zehn einzelnen Hauptab-
schnitte oder Büchor, in welche das Ganze zerfallt, mit griechi-
schen Aufschriften versehen sind, die aber (in den Handschriften)
mit lateinischen Buchstaben geschrieben sind, so wird daraus der
Schluss gezogen, dass entweder das Werk zuerst griechisch ge-
schrieben worden, oder dass es durch einen der byzantinischen
Griechen, die sich bei dem Fall des orientalischen Reiches nach
Italien geflüchtet, abgefasst worden und habe Derselbe mit diesen
griechischen Aufschriften wenigstens eine Spur seines Vaterlandes
zurücklassen wollen. Indessen bemerkt doch derselbe Gelehrte,
dass, sogern er dieser Annahme sich anschliessen würde, doch die
Vaticaniscbe Handschrift im Weg stehe, deren Varianten in der
Amsterdamer Ausgabe von 1709 mitgetheilt sind, und welche der
berühmten Pandekten -Handschrift zu Florenz an Alter gleich
komme, also bis in das siebente Jahrhundert zurückgehe. Es ge-
hört aber, wie schon oben bemerkt worden, diese Vaticanische
Handschrift in das zehnte Jahrhundert, und erscheint dieselbe aller-
dings wohl als die älteste Quelle der handschriftlichen Ueberliefe-
rung eines Textes, dessen Verfasser oder Ordner aber jedenfalls
einer weit früheren Zeit angehört, die sich nur in so weit wird
näher bestimmen lassen, als man über das zweite oder dritte Jahr-
hundert christlicher Zeitrechnung nicht wird hinausgehen können,
abor auoh keinen Grund hat, die Abfassung in eine spätere Zeit
zu verlegen. Denn wir haben in diesem Buohe eine naoh Materien
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Apiclus. ExpL Sohn eh.
zusammengestellte Sammlang von Kochrecepten , die nicht einmal
gleichzeitig entstanden nnd angelegt zn sein scheint, sondern nach
and nach zn dem dermaligen Bestand erwachsen, nnd so anf die
nachfolgenden Zeiten gekommen ist, aber, nicht einmal in der ur-
sprünglichen , vollständigen Fassung, sondern daraus excerpirt*),
bezeichnet mit dem Namen des Mannes, der in der römischen
Gourmanderie eine so hervorragende Stellung früher eingenommen
hatte, so gut wie man in späterer Zeit grammatische Bücher mit
dem Namen des Donatus und paränetische Schriften mit dem Namen
des Cato bezeichnete. Keinen andern Sinn scheint die Bezeichnung
A p i c i u s zu haben, so wenig auch an der Persönlichkeit des von
Tacitus genannten Apicius sonst zu zweifeln ist. Uebrigens finden
sich unter den so zusammengetragenen und geordneten Ktichen-
reeepten such manche medicinische, in so fern die in dem Recept
angegebene Bereitung ein Produkt liefert , das selbst als Mittel,
körperliche Beschwerden zu lindern oder zu heben, erscheint —
wir erinnern an IX §. 443 »hoc aegrum stomachum valde reficit
et digestionem facit« oder an III, 104 der Zusatz: ad digestionem
etinflationemt und kurz zuvor §. 102 »adversus aegritndinem sumes
si volesc oder an den öfters vorkommenden Zusatz m, §. 62, 63
ad ventrem, oder I, §. 29: »Sales conditi ad digestionem, ad ven-
trem movendnm et omnes morbos et pestilentiam et omnia frigora
probibent generari, sunt autem et suavissimi ultra quam speres.«
Es mag daher das Ganze zugleich wie eine Art von Hausbuch zu be-
trachten sein, zum Gebranch der auf dem Land lebenden Römer
eingerichtet, denen ein Arzt und eine Apotheke minder zuganglich
war. Die Mehrzahl der hier gegebenen Kochreoepte scheint frei-
lich mehr für den Luxus der römischen Tafeln berechnet**), und
wenn in diesem Kochbuch die Ueberschriften, welche die einzelnen
zehn Abschnitte bekommen haben, griechisch sind, so wird man
daran schon aus dem Grande keinen Anstand nehmen, wenn man
bedenkt, dass die römisch-italische Kost, die sogenannte Haus-
mannskost, ursprünglich sehr einfach war, und erst mit dem ans
Griechenland und Asien nach der Zeit der punischen Kriege ein-
strömenden Luxus, auch der Luxus der Tafel, die Schwelgerei und
üeppigkeit der Tafelfreuden in Aufnahme kam , daher auch grie-
chische, technische Bezeichnungen hier eben so wenig befremden
können, als heutigen Tags die französischen, wie sie ja bei allen
*) Diese Ansicht hat der Heransgeber in einer Note mm Eingang des
zehnten Buches (zn g. 445. S. 196) ausgesprochen, und das in den Schluss-
wortendes Ganzen („Explicit Apici alieus libatus Uber deeimus et ultlmusu)
vorkommende libatus nimmt er in dem Sinn von excerptns. Vgl. auch
die Note zu g. 811. p. 1Ö3.
**) Daher auch Alles aufgeboten wird, durch die Kunst der Zubereitung
eine Speise zu schaffen, welche den ursprünglichen Stoff nicht erkennen
iAsst, „ad mensam nemo agnoacet, quid manducet" heisst es daher am Schlnss
cißei Recepta §. 188.
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Apichis. Expl. Schuch.
feierlichen Gelegenheiten eingeführt auf den Speisezetteln erscheinen.
Diese griechischen Aufschriften sind auch in vorliegender Ausgabe
mit lateinischen Buchstaben gegeben, was der handschriftlichen
Ueberlieferung entspricht und wohl auch ursprünglich der Fall war,
da der Koch schwerlich in allen Fällen Griechisch lesen und ver-
stehen konnte. Wenn daher das erste Buch die Aufschriit führt
Epimeles (inifisk^g) , so bemerkt unser Herausgeber ganz rich-
tig, dass hier nicht an eine Ergänzung etwa von ßCßlog zu denken
sei, sondern vielmehr an oipOTioiog^ also der sorgsame und fleissige
Koch gemeint ist, und darauf weisen auch alle die in diesem Buche
enthaltenen Recepte, die auf die Bereitung und Aufbewahrung von
Speisen sich beziehen. Man wird demnach in der griechischen Auf-
schrift Nichts Befremdliches finden, und nicht einmal nöthig haben,
die in der lateinischen Poesie vielfach üblichen, griechischen Titel
hierher zu ziehen, von welchen die Heduphagetica des Eunius
am ersten hier zu nennen sind, weil sie die erste Erscheinung der
Art sind und uns zeigen können, wie schon im sechsten Jahrhun-
dert der Stadt Rom die Freuden griechischer Tafelgenüsse in Rom
Eingang und Verbreitung fanden (s. Meine Gesch. d. röm. Liter.
§. 87 not. 35 der vierten Ausg.). Das zweite Buch des Apicius
trägt die Aufschrift Sarcoptes (GaQxojtTrjg, der das Fleisch ver-
hackt = Wurstler) und kommen in diesem Buche lauter Küchen-
reeepte vor, welche auf die Bereitung von gehaktem Fleisch, Füll-
sel, Würste u. dgl. sich beziehen. Das dritte Buch heisst cepu-
ros xsjiovgog, weil in ihm Vorschriften enthalten sind, die auf die
Küchenkräuter ' u. dgl., deren Anwendung zu Speisen, Bereitung
nnd Aufbewahrung sich beziehen, und wird diese Bezeichnung um
so weniger auffallen , als ja auch von Sabinus Tiro eine Schrift
über die Gartengewächse unter diesem Titel (cepuricon sc. liber)
angeführt wird. In der Aufschrift des vierten Buches haben alle
Codd. und auch alle Edd. pandecter, was der Herausgeber ge-
wiss mit vollem Recht in pandectes verwandelt hat, wobei er
an ähnliche Titel, die in der römischen Literatur vorkommen, wie
Tiro's Pandectes erinnert ; eben so hat er auch den Titel des fünf-
ten Buches, den fünf Handschriften ostreo, die Ed. princ.
ostreon, Humelberg und die folgenden Ausg. osprios geben,
in ospreos verwandelt, insofern oöitQSog so viel sein soll als
oöTtQtoddxTTjg oder 6ö7tQSod6%og, leguminarius, weil die Berei-
tung und das Einmachen der Speisen aus Hülsenfrüchten, Bohnen
u. dgl. darin gelehrt wird ; wobei nur zu bemerkon ist , dass die
Form oöTtQSöv von den griechischen Grammatikern, welche oQtcqiov
vorziehen, verworfen wird. Bei dem sechsten Buch ist die Auf-
« schritt tropetes (rQOTtdzrjg i. q. iQ6trjg) aus der Mailänder Aus-
gabe und den Handschriften zurückgeführt, die Edit. princ. hat
trophetes, woraus Humelberg , dem die Andern folgten, aero-
petes (asQoithrjg) machte, weil er die Bedeutung von ZQOxizrfg
ftls eines mit dem Räderwerk der Flügel sich bewegenden, fliegen
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Apichis. Expl. Schlich.
249
den, also eines Vogels, nicht erkannte : denn es ist hier allerdings
toü der Bereitung der Speisen aus verschiedenen Vögeln und deren
Tbeilen die Rede. Die Aufschrift des siebenten Buches lautet in
allen Codd. und Edd. gleich: Politeles (7tolvt€Xrjg = der viel
Kosten aufwendende), »ab impensarum et opsonioram, quao in eo
ilibro) traduntnr, copia et multitudine exposita, suillo potissimum
e pecore ut quo ganeae nullnm plus praebuerit materiae et cujus
condiendae studiosa Semper fuerit gulac, wie der Herausgeber
erklärt. Auch die Aufschrift des achten Buches unterliegt keinem
Zweifel tetrapus (terQciJtovg)^ weil Recepte zu Speisen ans dem
Fleische der vierfüssigen Thiere, wie Eber, Hirsch, Ziegen u. dgl.
hier gegeben werden ; dasselbe ist der Fall mit der Aufschrift des
nennten Buches talassa (&dXa<3<Sa) , weil hier lauter Recepte
über die Bereitung von Seefischen u. dgl. gegeben werden , und
des zehnten alieus (aluvg) , weil hier die Recepte über die Be-
reitung von verschiedenen Fischen, namentlich solchen, die in Flüs-
sen vom Fischer gefangen werden, enthalten sind.
Nach diesen Aufschriften der einzelnen Abschnitten dürfte
man wohl auch nach der Aufschrift dos ganzen Werkes fragen.
Wie sich die vom Herausgeber benutzten Handschriften dazu ver-
halten, finden wir nicht angegeben : der von ihm genommene Titel
ApiciCaeli de re coquinaria libri decem ist der in der
Editio prineeps enthaltene, während wir bei Torinus De re culi-
naria, bei Humelberg, dem die späteren folgen, einen erweiter-
ten Titel: Gaelii Apicii de opsoniis et condimentis sive arte coqui-
naria libri X finden ; ans welchem aber die Worte De opsoniis
et condimentis, nach unserer Ansicht wegzufallen haben, und
eben so auch das von ihm zugesetzte sive: sonach halten wir
den vom Herausgeber gelieferten Titel für jedenfalls richtiger, zu-
mal da in der Ed. prineeps, wie wir aus dem oben erwähnten
Artikel eines französischen Gelehrten ersehen, auf dem ersten Blatt
der Inhalt der Schrift weiter in folgender Weise angegeben ist:
»Coquinaria capita Graeca ab Apicio posita haec sunt: Epime-
les etc.c Uebrigens wissen wir nicht, welche Handschrift dieser
Ed. princ. zu Grunde liegt, unser Herausgeber, der die seltene
Ausgabe sich verschafft hatte, sagt blos von ihr: »est enira vi-
caria codicis nescio cujus quamquam non admodum bor.i.« Sollte
übrigens in den Handschriften sich keine weitere Aufschrift des
Ganzen finden, so würden wir uns mit dem einfachen Titel Api-
cius oder Caelius Apicius begnügen können. Auf einen be-
stimmten Verfasser würde I, 2 führen: »sed suaserim nonnihil
rini melizomo mittas« wenn suaserim in der ersten Person
wirklich Lesart der Handschriften wäre, die sämmtlich suaserit
haben, wozu allerdings das Subjeot fehlt, das durch Barth's Ver-
besserung suasum erit vermieden würde, wiewohl wir diese Ver-
besserung nicht für nöthig halten, da suaserit wohl eben so gut
w erklären sein wird, wie das bekannte inquit, ait sei. ali-
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460
Apichis. ExpL Schlich.
quis; suaserim ist Verbesserung dos Torinns und des Conrad
Gesner, die der Herausgeber aufgenommen hat, die indess durch
keine ähnliehe Stolle des Büchleins bestätigt wird, da in allen Vor-
schriften der Art die zweite Person, oder der Imperativ angewendet
wird, und der Charakter dieser Recepte stets ganz allgemein und ohne
alle persönliche Beziehungen gehalton ist; die dritte Person (sua-
serit) aber in der bemerkten Weise aufgefasst, zu keiner Aende-
rung drängt. Wenn wir also hier auch anderer Ansicht sind, so
können wir doch nicht verschweigen , wie es allerdings dem Her-
ausgeber gelungen ist, zahlreiche Verderbnisse des Textes zu be-
seitigen und denselben lesbar gemacht zu haben ; selbst da , wo
keine völlige Sicherheit über die aufgenommene oder vorgeschla-
gene Verbesserung zu gewinnen steht , wird dieselbe doch dem
Sinne angemessen erscheinen und überhaupt in die Stolle einen
annehmbaren Sinn bringen. Werversteht z.B. I, 12 das Recept,
das nach der gewöhnlichen Lesart also lautet: »Ostrea (unser
Herausgeber schreibt H ostrea, eben so Holus, Jocur für Je cur,
Fex statt Faex u. dgl. m.) ut diu durent: vas ab aceto aut ex
aceto vasculum picatnm (And. picitum) lava et ostrea compone«?
Der Herausgeber hat durch folgende Aenderung einen Sinn in das
Recept gebracht : vasa bacato, ante ex aceto obbas, c a 1 1 o
pisito lava, und er gibt dazu auch die nöthige Erklärung, in-
dem bacare so viel ist als vesca bacalia consternere, obbare aber
obba 8eu vaso capaciore humeotare et imbuere; call um sc. salis
marini ist so viel als sal densatum und pisitum so viel wie con-
tnsum, tritum. An den hier gebildeten Verbis bacare und obbare
wird man um so weniger Anstoss zu nehmen haben, als in diesen
Recepten überhaupt gar manche Wörter und Ausdrücke vorkommen,
welche in der uns bekannten, gebildeten Schriftsprache sich nicht
finden, die, zum Theil wenigstens, der uns so wenig näher bekann-
ten lingua mstica angehören, für welche überhaupt dieses Koch-
und Hausbuch Manches bietet, was in den diesem dunkeln Gegen-
stand gewidmeten Untersuchungen der neuesten Zeit noch nicht
gehörig benutzt und verwerthet worden ist. Dahin gehört, um von
vielen nur Ein Beispiel anzuführen, auch das §. 148 vorkommende
und gut erklärte battuere, das französische battre. Dasselbe
gilt auch von so manchen hier vorkommenden Formen, welche in
der Schriftsprache sich nicht finden ; so haben z. B. sechs Codices
T, 18 »ipsam aquara pro idromelli aegrui dabisc, eine Pariser
aegro, Humelberg gab aegris; unser Herausgeber schreibt, der
Mehrzahl der Handschriften folgend, aegri (als Dativ), indem er
ein Adjectiv zweier Endungen wie celebris, salubris u. dgl. an-
nimmt. Wie in ähnlicher Weise das Genna der Substantive wech-
selt, wird in der Note zu I, 27 nachgewiesen , oder wie manche
Verba der zweiten Conjugation nach der dritten flectirt werden
(z. B. miscis u. dgl. m.) zu I, 51. Ein anderer Fall T, 25: >tu-
bera quae aqua non vexaverint, componia« etc. So achreibt
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Apiclus. Expl. 8chuch.
261
unser Herausg. statt der Vulgata vexaverit, indem vexaverint,
analog einer Stelle bei Pelagonius, so viel ist als vexata fuerint, und
führt noch einige Fälle aus Apicius an. Soll in diesem Sinne auch
das oben erwähnte suaserit passivisch genommen werden, es
mag gerathen sein? — §. 197 und 201 ist in dem Lemma:
»Pisam vi t ellin am sive fabamc vom Herausgeber gesetzt wor-
den vitellianam, eben so wie §.377 porcellura vitellianum,
weil diese Benennung nicht »a vitellis ovorumc herzuleiten, son-
dern auf den üppigen und luxuriösen Kaiser Vi te Hins zurück-
zuführen ist, von Vitellius aber wohl Vitellianus abzuleiten ist,
so gut wie von Fronto, Frontonianus n. dgl. m. , daher auch
§. 378 und 380 Porcellum Frontonianum , §. 230 pullum Fronto-
nianum, und als analoge Fälle §.145 patina Lncretiana, §.134
und 117 patina Apiciana und sala cottabia Apiciana. Wir
werden an diesen Bezeichnungen um so weniger Anstoss nehmen,
als ja auch heutigen Tags Derartiges vorkommt, wie z. B. die
Cotelettes ä la Soubise oder die abricots ä la Conde , an welche
der oben genannte französische Gelehrte erinnert. Eine andere
Stelle, in der uns Bedenken über die vorgenommene Aenderung
aufgekommen sind, ist §. 215 (im sechsten Buch cap. II), wo die
gewöhnliche Lesart lautet: »gruem dum coquis, caput eins aqnam
non conti ngat, sed sit foris ab aqua; quum cocta fuerit, de sa-
vano valido involves gruem etc. Hier schreibt der Herausgeber:
caput ejus aqua quam nontingat, sud sit foris. ad aequam cum
cocta fuerit c etc. quam haben allerdings sechs Handschriften, und
der Herausgeber, welcher es aufgenommen, erklärt es quantum
fieri potest, quam minime und führt dann eine Reihe von
Stellen aus Cicero an , in welchen quam diese Bedeutung haben
soll. Wir haben diese Stellen nachgesehen, *aber gefunden, dass in
allen diesen quam seine relativisuhe Bedeutung als Partikel (wio
sehr) mit folgendem Verbum finitum im Conjunctiv beibehalten
bat, diese Stellen mithin gar nicht in Betracht kommen können
für den Gebrauch von quam in der bemerkten Bedeutung in die-
ser Stelle, in der wir es wirklich nicht zu erklären wissen, sondern
für ein Verderbniss aus aqnam halten, was wir daher lieber bei-
behalten würden. Auch selbst bei ad aequam haben wir Be-
denken, nicht so wohl an der Redensart selbst, dio, wie in aequam
sc. rationem oder ex aequa au andorn 8tellen (s. die Note zu §. 54)
zu fassen ist, als an deren Anwendung in vorliegender Stelle, wo
erst das Kochen beginnt, und ad aequam doch auf ein vorhergegan-
genes Kochen, dem dieses Kochen gleich sein soll, verweist. Der
Herausgeber war zu der Aenderung veranlasst durch die Vatikaner
Handschrift, welche für ab aqua bietet ab aqnam, ein Fehler,
wie deren ähnliche in nicht geringer Zahl auch in dieser, wenn
gleich ältesten Handschrift vorkommen. Derselben Handschrift
schloss sich der Herausgeber mehr an in der offenbar verdorbenen
Stelle zu Anfang von §. 252, weiohe jetzt lautot: »pullum sicut
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ApichiR. Expl. Schnell
alicam coque. caminatnm a cervice expodies«, wobei eine wesent-
liche Schwierigkeit in der Erklärung von caminatnm liegt, wel-
ches der Verfasser lieber fassen will carinatam, d. i. carinam,
alveum. Anch die Dnlcia domestica in dem Lemma §. 300
boten der Erklärung Schwierigkeiten, die selbst anfangs zn Aende-
rnngen reizten, was jedoch bei dem Widerspruch der Handschriften
wieder aufgegeben wurde. Und wir glauben, dass die nun ver-
suchte Erklärung befriedigen wird, nach welcher Dulcia im Sinne
der Griechischen uslfarjxTa genommen und domestica erklärt
wird »per coquos domesticos, doraesticatim apparata, domestice
confecta, privata, vernacula, hausgebackenesc ; dieser Erklärung
glauben wir den Vorzug geben zu müssen vor der andern, auf die
der Verf. später verfiel: hiernach sollen die domestica hier so
viel sein als » otxrjtriQia , nixoduxityjnxd , quibus medico non ad-
vocato domi, pro medicamento usni domestico destinato uterentnr,
also Hausmittel.« So wenig, wie oben bemerkt, medicinische
Recepte von dieser Zusammenstellung ausgeschlossen sind, so würde
doch dieses Hansmittel hier gar nicht an seinem Platze sein mitten
unter den andern kostspieligeren Deserts und Speisen des siebenten
Buches, des Politeles. — Als eine glückliche Verbesserang wird in
dem Lemma §. 309 Tripatinam (sc. placentam) d. i. ein aus
drei Dingen (Milch, Eier, Honig) bereitetes Gericht oder Kuchen
zu betrachten sein, statt des früheren, in dieser Beziehung sinn-
losen Tiropatinam oder gar Tyropatina, wie bei Bernhold
steht. Wir wollen die schwierige Stelle §. 359 (wo es im Text
cum faseolis faratariis heissen mnss statt sum f. f.) nicht weiter
betrachten, da wir das nach der Pariser Handschrift aufgenommene
faratariis eben so wenig befriedigend zn erklären wissen als
das von Humelberg gesetzte paratariis, und nur noch an das
Lemma von §. 386 erinnern, in welchem statt der Vulgata: Por-
cellum tragannm, was keine Erklärung zulässt, vom Herausgeber
unter verschiedenen Aenderungen, dio ihm in den Sinn kamen, zu-
letzt P. tari canum gesetzt ward, »seu taricarum i. e. rapigifpov«,
von dorn §. 440 ein Substantiv taricus vorkommt.
Wir wollon diese Nachlese nicht weiter fortsetzen, in der wir
nur Einzelnes von den vielen Veränderungen berührt haben, durch
welche der Text eine ganz andere Gestalt erhalten und vielfach
erst lesbar geworden ist: wir haben nur noch mit Einem Worte
auch der gelehrten Erklärung zu gedenken, mit welcher diese Aus-
gabe bedacht ist. Der Herausgeber zeigt eine reiche Belesenheit
auf einem sonst wenig bekannten, für die Erklärung und das Ver-
ständniss dieser Schrift aber wichtigen Gebiete, wir meinen die
verschiedenen griechischen und römischen Schriftsteller, zumal der
späteren Zeit, über Botanik, Landban, Modicin, Hippiatrik a dgl.,
dadurch ist er in den Stand gesetzt worden, nicht Weniges aut-
znklären über die verschiedenen Gagenstände der Pflanzen- und
Thierwelt, welche hier zu Bereitung einzelner Speisen und Gerichte
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Cor escn: Nachträge zur l&tein. Formenlehre. 2ö3
aogewendet werden, und damit auch das ganze Recept verständ-
lich zu machen.
Die äussere Ausstattung, die dem Büchlein zu Theil geworden,
ist eine sehr nette und ansprechende ; durch die fortlaufenden Para-
graphen wird der Gebrauch und die Benützung erleichtert, die
wir Jedem empfehlen, der zu irgend einem Zwecke dieser zur Kennt-
nis des alten römischen Privatlebens so wichtigen Schrift sich
mwendet; und vielleicht gelingt es jotzt besser als früher, nach
den hier gegebenen Recepten , Gerichte zu fertigen und Diner's zu
veranstalten, die vielleicht dann eher, als die früher angestellten
Versuche der Art, dem Gaumen der modernen Welt zusagen.
Chr. Hahr.
Kritische Nachträgt sur Lateinischen Formenlehre von W. Cor ssen.
Leipzig, Druck und Verlag von B. 0. Teubner, 1866. 314 8.
in gr. tf.
Wir haben in diesen Jahrbüchern (Jhrgg. 1865. Nr. 5 S. 65 ft.)
der »Kritischen Beiträge zur lateinischen Formenlehre € gedacht
and werden daher auch der jetzt erschienenen Nachträge dazu um
so mehr zu gedenken haben, als sie zur Vervollständigung der in
jener Schrift vorgetragenen Lehre nicht Weniges beitragen und die
Grnndanschauung des Verfassers noch mehr in Licht setzen, ins-
besondere auch durch das Vorwort, das zugleich die Aufschrift
führt: Abwehr, in so fern dasselbe gewissermassen eine Verthei-
digung oder Rechtfertigung der in jenem früheren Werke ausge-
sprochenen, und nach unserer Ueberzeugung auch wohl begründeten
Lehre wider die dagegen erhobenen Angriffe enthält. Wir haben
die Teodonz dieses Werkes, so wie den Zweck, den der Verf. mit
der ganzen Ausführung verband, seiner Zeit an dem a. a. 0. her-
vorgehoben, und dem Bestreben des Verfassers: »der lateinischen
Sprache ihren besonderen Entwicklungsgang zu wahren, ihre eigen-
tümliche Ausprägung in Lautgestaltung, Wortbildung und Wort-
Wagung sorgsam zu beobachten, soweit diess auf dem Grunde der
grossen Hauptergebnisse der vergleichenden Sprachforschung mög-
lich ist«, unsere Anerkennung nicht versagen können, auch sein
ganzes aus der mühevollsten und schwierigen Detailforschung her-
vorgegangenes Verfahren näher und im Einzelnen dargelegt. Es
*rar diess aber zunächst dahin gerichtet, die Gränzen der mit
Sicherheit auf dem Gebiete der lateinischen Sprache erkennbaren
Umwandlungen und Lautwechsel festzustellen, und damit zugleich
einen Damm aufzurichten gegen das Eindringen willkührlicher Be-
hauptungen, welche, indem sie Lauteigenthtimlichkeiten der einen
Sprache auf die andere geradezu übertragen, die Eigentümlichkeiten
der einzelnen Sprachen verwischen und durch eine solche Ver-
aengerei nur Verwirrung jeder Art anrichten. Der Verf. geht in
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254 Cor 8 Ben: Nachträge arar latein. Formenlehre.
dem Vorwort näher auf die wider ihn erhobenen Vorwürfe ein,
namentlich auf den wider ihn geltend gemachten Grundsatz, dass
die Etymologie der Kernpunkt aller sprachlichen Forschung sei:
er zeigt vielmehr — und man wird diess nur billigen können -—
wie eine strenge Handhabung der Lautlehre für den Sprachforscher
unentbehrlich ist, die Etymologie aber nicht als der Kernpunkt
aller Sprachforschung zu betrachten ist und daher keineswegs als
das einzige Mittel erscheint, die Lautlehre zu fördern, sondern nur
als eines unter mehreren, und auch das nur, wenn sie mit M e t b o d e
und Behutsamkeit geübt werde (S. 16 f.). So wahr und rich-
tig diess ist, wird man doch leider diese Forderung oftmals wenig
berücksichtigt finden, und daraus dann auch es sich zu erklären
haben, warum diese ganze Sprachforschung vielfach in Misskredit
gekommen ist, zumal durch das oft gar nicht motivirte Heran-
ziehen sanskritischer und anderer Elemente zur Erklärung der in
der lateinischen Sprache hervortretenden Erscheinungen. Darum
will der Verf. nur derjenigen Sprachforschung die Zukunft zuwei-
sen, »welche die Laute der Sprachen nicht als ein winziges Ge-
sindel ansieht, mit dem man zur Erzielung etymologischer Frucht-
barkeit nach Belieben schalten und walten könne, sondern als
edle Sprachwesen, höchst merkwürdige Naturerzeugnisse, geboren
aus Leib und Seele des Menschen, die der Sprachforscher mit mikros-
kopischer Genauigkeit untersuchen muss, wie Ehrenberg das unend-
lich Kleine in der Welt der sinnfälligen Dinge durchforscht hat.«
(S. 24).
Demselben Zweck, den die »Kritischen Beiträge« zu erreichen
gesucht hatten, sollen nun auch diese Nachträge dienen, in welchen
unter Anwendung derselben Methode und im engen Anschluss an
die früher gegebenen Erörterungen eine Anzahl von Fragen der
lateinischen Lautlehre behandelt wird, insonderheit sind es solche,
die seit dem Erscheinen jenes Werkes wieder besprochen oder auch
zuerst aufgeworfen worden sind; »sie suchen also, wie der Verf.
ausdrücklich bemerkt, eigene Ansichten zu begründen oder zu be-
richtigen, entgegengesetzte zu bekämpfen und Erweiterungen, Nach-
träge und Zusätze zu früheren Arbeiten auf diesem Felde zu liefern.c
Wir haben damit die Bestimmung wie die Tendenz des Ganzen
angegeben, das eben so gut auch als eine Fortsetzung des frühe-
ren, gleichen Zwecken bestimmten Werkes angesehen werden kann
und daher die gleiche Beachtung, aber auch die gleiche Anerken-
nung verdient. Zuerst werden die Gutturale (c. g. h), dann die
Dentale (t. d), Labiale (p. b. f.), Nasale (m. n), Liquide (1), Sibi-
lanten (s), nnd zuletzt die Halbvokale (j. v) behandelt. Es kann
hier, wo wir einen kurzen Bericht über diese neue Erscheinung
vorzulegen haben, nicht der Ort sein , näher in das Einzelne der
hier über einzelne Buchstaben und deren Veränderung gegebenen
Erörterungen uns einzulassen; Alle, welch« ein näheres Interesse
an dem zur richtigen Erkenntnis* der lateinischen Sprache nnd
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Cicero'a Rede gegen Verres IV. Von Kl cht er.
260
deren Bildung so wichtigen Gegenstande nehmen, werden, ancb
ohne unsere bestimmte Aufforderung, sich mit dem Inhalt dieser
Forschuugon und den Ergebnissen derselben bekannt machen ; nur
möchten wir hier noch aufmerksam machen auf Vieles, was weiter
über verwandte, mit dem Hauptgegenstande mehr oder minder im
Zusammenhang stehende Gegenstände (wie z. B., um nur Eins an-
zuführen 8. 152 ff. über das lateinische Gerundium) bemerkt wird,
oder was die richtige Ableitung so vieler einzelnen Worte betrifft
und die Beziehungen zum Umbrischen oder Oskischen und andern
Dialekten u. dgl. m. Man braucht nur einen Blick in den beige-
fügten Index, in welchen alle einzelnen Worte, die in diesen Nach-
trägen behandelt werden, aufgenommen sind, zu werfen, um sich
?on der Fülle der hier gegebenen Erörterungen zu überzeugen, die,
da Alles auf sicherm Grund und Boden ruht, auch in ihren Ergeb-
nissen als gesichert zu betrachten sind. — Die äussere Ausstattung
ist eben so vorzüglich ausgefallen, wie die des früheren Werkes.
Cicero'« Rede gegen C. V er res. Viertes Buch. Für den Schul'
gebrauch herausgegeben von Fr. Richter. Leipzig, Druck und
Verlag von B. G. Tcubner. J866. VI und 142 8. gr. 8.
Diese Ausgabe einer der Verrinischen Beden schliesst sich in
der ganzen Art der Behandlung an die ähnlichen Bearbeitungen
der Bede für ßoscius und der Bede für Milo an, welche seiner Zeit
in diesen Jahrbüchern (1864 p. 476 ff. 830) näher angezeigt wor-
den sind. Auch diese Bearbeitung ist für die Zwecke der Schule
bestimmt, wie diess der Titel besagt, zunächst für die Privatlektüre,
dann aber auch selbst zum Gebrauch in der Klasse, obwohl, wie
der Herausgeber sich nicht verhehlt, manche Einsprache dagegen
sich erheben werde, indess habe er doch theils von Andern, theils
auch durch eigene Erfahrung belehrt, eingesehen, dass auch für
den letztern Zweck derartige Ausgaben zweckmässig verwerthet
werden könnten. Denn, setzt er hinzu, abusus non tollit usum.
Wir gestehen, dass wir uns lieber denen anschliessen, welche eine
Ausgabe, die so wie die vorliegende eingerichtet ist, für die Privat-
lektüre mehr geeignet halten, weil wir überzeugt sind, dass sie
jedenfalls hier mit allem Nutzen und Erfolg gebraucht werden
kann, ja die ganze Anlage derselben auch mehr darauf berechnet
erscheint. Denn der Herausgeber hat ganz gut für diesen Zweck
gesorgt, indem er eine Einleitung vorausgeschickt hat, in welcher
alle die historischen Punkte, die zum Verständniss der Bede not-
wendig sind, in ganz befriedigender Weise klar und deutlich ent-
wickelt werden ; er hat dann weiter dem Texte eine Fülle von An-
merkungen gegeben, welche eben so sehr die sachlichen Punkte,
die einer Erörterung bedürfen , ins Lioht setzten , als namentlich
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250
Clcero's Rede gegen Verres IV. Von Richter.
das Sprachliche berücksichtigen and in Erklärung aller irgend be-
merkenswerthen grammatischen Gegenstände, Constructionen , so
w ie einzelner schwieriger Ausdrücke die Auffassung und das Ver-
ständniss erleichtern , hier auch wohl — nach unserer Ansicht
wenigstens weiter geheu, als wir in einer auch für die Leetüre in
der Schule bestimmte Ausgabe erwartet hätten. So scheint es in
dieser Beziehung doch zu Viel, wenn z. B. bemerkt wird §.21
»quod, insofern«, §. 25 »homini der Person«, §. 26 »quo ore mit
welcher Stimme«, §. 21 »integra unberührt«, §. 28 »nunc nun
aber«, »a ceteris von anderen«, §. 33 »otiose mit Müsse«, credo
vermuthlich«, §. 34 »conventu Gesellschaft«, §. 37 »quum indem,
dadurch dass«, §.48 »expers unbetroffen«, §.61 »sine controversia
unbestritten«, §. 64 »vulgo öffentlich«, §. 103 »satis ziemlich«
mari Meeresarm«, §. 66 »mirum sonderbar, auffällig« und was von
dergleichen Bemerkungen mehr sich vorfindet, was wir hier nicht
Alles anführen können. Sonst hat man alle Ursache, mit den ge-
gebeneu auf Sprachgebranch oder Grammatik bezüglichen Erörte-
rungen zufrieden zu sein, denn sie sind klar und präcis gefasst
und werden dem, welcher diese Rede sich zur Privatlektüre wählt,
nicht blos das Verständniss und die richtige Auffassung erleichtern,
sondern ihn überhaupt in der Kenntniss der lateinischen Sprache
weiter fördern. Es liest sich überhaupt diese Ciceronische Rede
recht gut, und sie erscheint deshalb für die Privatlektüre fast
geeigneter, als für die Schule selbst. Auf die Kritik des Textes
konnte der Herausgeber dem Zwecke seiner Ausgabe gemäss, sich
nicht weiter einlassen, er hat darum den Text der Ausgabe von
Klotz und zwar der Opera Ciceronis in der zweiten (Teubner'schen)
Ausgabe, zu Grunde gelegt und ist so wenig wie möglich von der-
selben abgewichen ; was von ihm in dieser Beziehung geschehen
ist, darüber gibt der kritische Anhang am Schlüsse des Ganzen
(S. 137 — 142) befriedigende Auskunft, indem darin alle die im
Texte vorgenommenen Aenderungen näher besprochen und begrün-
det werden. Ein näheres Eingehen in diese kritischen Erörterungen
liegt ausserhalb des Zweckes dieser Anzeige, wir glauben aber,
dass jeder Herausgeber des Cicero dieselben zu berücksichtigen
hat, und wollen deshalb darauf insbesondere aufmerksam machen.
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6. 17. HEIDELBERGER 1887.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
U cerveau ei la pensee par Paul Jan et, membre de l'imtitut,
professeur de philo top hie ä la faculU des lettre». Paris, Ger-
mer Baillitre. 1867. 179. ö.
Ein für die französische Philosophie höchst verdienstvolles
Unternehmen geht vom Verlage Germer Baillieres in Paris aus.
Wir meinen die philosophische Bibliothek der Gegenwart (biblio-
theque de philosophie contemporaine). Sie umfasst Forschungen
aus dem Gebiete nicht nur der französischen , sondern auch der
deutschen und englischen Philosophie und von entgegengesetzten
Bichtungen. Das Sammelwerk will das Exclusive in der einseiti-
gen Richtung einer philosophischen Schule vermeiden , und wir
finden darum in ihm nicht minder Schriften von Materialisten, als
Ton den Gegnern derselben. So enthält diese Bibliothek Moleschotts
Kreislauf des Lebens, übersetzt von Dr. Gazelles und Büchners
Wissenschaft und Natur, übersetzt von August Delondre neben den
Schriften des oben genannten Herren Verfassers, der sich eine vor-
urteilslose kritische Untersuchung des Materialismus zu einer
Lebensaufgabe gesetzt hat.
Von dem um die philosophischen Wissenschaften durch eine
Reihe von ausgezeichneten Werken hoch verdienten Herren Ver-
fasser erschien ia dieser Bibliothek im Jahre 1864 der Materialis-
mus unserer Zeit in Deutschland (Le matörialisme contemporain
en AUemagne). Von demselben Geiste unbefangener Prüfung, wel-
cher sich in diesem Werke zeigt, ist auch das oben genannte Buch
getragen. Es ist aus zwei in dem Juni- und Julihefte (1865) der
revne des deux mondes erschienenen Artikeln hervorgegangen und
als Ergänznng der Kritik des Materialismus anzusehen. Auch
hier werden die Gegner desselben ohne Hass oder Eingenommen-
heit behandelt, während sich diese für eine wahre wissenschaftliche
Forschung wenig geeigneten Eigenschaften nur zu häufig bei den
Vertretern des Materialismus ihren Gegnern gegenüber geltend
machen. Man beruft sich von materialistischer Seite immer wieder
auf die Erfahrung der Abhängigkeit des Gedankens vom Gehirne.
Der Herr Verf. bemerkt dagegen in der Vorrede zu seinem Buche :
Das Hirn und der Gedanke, dass nach dem gegenwärtigen
Standpunkte der Wissenschaft nichts weniger erwiesen ist, als die
absolute Abhängigkeit des Gedankens vom Gehirne. »Was wird die
Wissenschaft, sagt der Herr Verf. S. 5, später über diesen Gegen-
stand sagen? Wir wissen nichts über ihn, und unsere Enkel wer-
den auf Thatsachen, welche sie kennen , ihre Schlüsse bauen , wie
LIX. Jahrg. 4. Heft. 17
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258
P. Janet: Le cerveau et lapensee.
auch wir nur auf die uns zu Gebote stehenden Thatsachen banen
können. Wir können dem Materialismus nach dem gegenwärtigen
Stande der Wissenschaft jene Abhängigkeit , die sein einziger Be-
weisgrund ist, nicht als einen bewiesenen Satz zugestehen. Man
wird uns einwenden : Ist es denn wahr , dass die Wissenschaft
über diese Wechselbeziehungen des Gehirnes und des Gedankens
nichts festgestellt hat? Wer kann behaupten, dass das Hirn als
Organ des Gedankens nicht erwiesen ist? Wenn man sich auf die
Widersprüche beruft, welche aus den wissenschaftlichen Beobach-
tungen hervorgehen, so sind diese lediglich nach den Materialisten
daraus zu erklären, dass man einer im Gehirne liegenden Bedin-
gung des Gedankens für sich allein, getrennt von den übrigen Be-
dingungen, das den Gedanken bildende Element zuschreibt. Nicht
von einer ausschliesslichen Bedingung, sagen die Materialisten,
hängt der Gedanke ab, nicht allein von der Hirnmasse, der Hirn-
structur, der chemischen Zusammensetzung, nicht allein von der
Elektricität, dem Phosphor u. s. w., sondern von der Vereinigung
aller dieser Bedingungen. Er ist eine Resultante. Durch die An-
nahme einer einzelnen Bedingung verwickelt man sich immer in
unauflösliche Widersprüche. Aber, wenn man auch diese Einwen-
dung der Materialisten zugibt, wer sagt uns, dass nicht eine die-
ser Bedingungen die Denkkraft selbst ist, welche wir die Seele
nennen? Kennt man denn alle Bedingungen der Seelenthätigkeit ?
Da man nicht alle kennt, kann nicht eine ein unsichtbares Princip
sein, das ausser unserer Berechnung liegt? Alle tüchtigen Beob-
achter stimmen darin tiberoin, dass unter den physiologischen Be-
dingungen der Seelenthätigkeit auch solche sind, welche uns ent-
gehen und sich immer etwas Unbekanntes findet. Warum kann
dieses Unbekannte nicht die Seele sein?< Wenn man die Seele mit
der Musik einer Lyra verglichen hat, welche, so schön sie ist, mit
dem Instrumente zu Grunde geht, so darf man nicht vergessen,
dass die Lyra die Töne nicht aus sich selbst hervorbringt, nicht
durch ihre eigene Kraft, dass sie als Werkzeug zur Hervorbringung
des Tones den Tonkünstler voraussetzt. Dem Herren Verfasser ist
die Seele dieser Touktinstler. und das Gehirn das Werkzeug (S. 7).
Wenn sich Broussart über den »kleinen Musikus im Gehirne c lustig
gemacht hat, ist nicht die Annahme eines immer von selbst spie-
lenden Instrumentes noch sonderbarer? Immerhin bleibt das Ganze
ein Gleichniss, aber ein für das Verhältniss von Seele und Hirn
durchaus zutreffendes Gleichniss. Aber nicht die Beschaffenheit des
Instruments allein macht den Künstler. Ein Genie kann auch mit
einem mittelmässigen Instrumente eine wunderbare Wirkung her-
vorbringen. Das Genie wird nicht allein mit dem stofflichen Werk-
zeuge gemessen. Der Geist ist das Unbekannte, das über aller
Berechnung steht. Auch mit der Seele und dem Gehirne verhält
es sich so. Nicht immer findet man in dem letztern, wenn es
auch das Werkzeug des Geistes ist, einen ganz genauen Maassstab
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P. Jan et: Le cerveau et la pensee.
109 Beurth eilung des innern, in ihm thätigen Künstlers. »Paganini,
sagt der Herr Verf., konnte an! einer einzigen Violinsaite Wick-
lungen he rvorb ringen, die der gewöhnliche Künstler auf einem voll-
ständigen Instrumente vergebens erstrebte« (S. 9). Immer stossen
die Naturforscher auf Ausnahmen , wenn sie das Verhältnis* des
Hirnes und Gedankens strengen Gesetzen unterwerfen wollen. »Die
innere, verborgene, ursprüngliche Kraft entgeht ihnen und sie
bleiben bei plumpen und unvollkommenen Symbolen stehen.«
Nach der Vorrede, in weloher der Charakter der vorstehenden
Untersuchung angedeutet ist, folgt die Entwicklung des Aufgabe
in neun Kapiteln. Die Ueberschriften derselben sind 1) die Arbei-
ten der Zeitgenossen (S. 11 — 22), 2) das Gehirn bei den Tbieren
(& 22—44), 3) das menschliche Hirn (S. 44—67), 4) die Narr-
heit und die Hirnverletzungen (S. 67 — 84), 5) das Genie und die
Narrheit (S 84—110), 6) die einzelnen Stellen im Gehirne (S 110
—131), 7) die Sprache und das Hirn (S. iai— 148), 8) dar Hirn-
mechanismus (S. 14$ — 159) , 9) Ist der Gedanke seibat eine Be-
wegung? (& 159—179).
Man sieht, dass in diesen Ueberschriften die zur Bestimmung
des Seelen- und Hirnverh<nisses wichtigsten Aufgaben angedeutet
sind. Ueberall sind die Forschungen der neuesten, vorzugsweise
französischen Naturforscher zu Grunde gelegt und die Untersuchung
auf dem Gebiete, auf welchem sie, wenn es sich um den angedeu-
teten Zustand handelt, allein geführt werden kann, auf dam phy-
siologischen Boden geführt.
Der gelehrte Herr Verf. geht in dem ersten Hauptstücke
(Arbeiten der Zeitgenossen) auf den Vorwurf des Mangels an Un-
parteilichkeit ein, welchen die Physiologen den Philosophen in Be-
treff der Seelenfrage machen. Man wirft den Philosophen vorge«
fasste Meinungen vor, metaphysische Hypothesen, Umänderung der
That sachen nach ihren Stimmungen. Mit Recht wird hervorgehoben,
dass die Materialisten selbst in die der antimaterialistischen An-
sicht vorgeworfenen Fehler fallen , dass sie von einer vorgefassten
Meinung gegen die Existenz der Seele ausgehen, dass sie die Er-
fahrungen ihrer Lieblingshypothese anbequemen, dass sie alles, was
sie nicht mit Fingern greifen können, sogleich für unwissenschaft-
lich erklären Mas muss auf beiden Seiten in der Prüfung von
Tbatsachen von keinen vorgefassten Ansichten ausgebn. Der Ma-
ierialist, der nur an die Existenz der Materie glaubt , soll nioht
allein das Vorrecht der wissenschaftlichen Wahrheit für sich in
Anspruch nehmen und denjenigen nicht ins Land den Einbildungen
verweisen, der die Wirklichkeit des Geistes festhalt. Man kann
die Entscheidung der Seelenfrage aufschieben, aber nioht zu Gun-
sten des einen oder andern Theiles. Das, was der Materialismus
als Errungenschaft der Wissenschaft aufstellt, ist noch kein von
ihm erobertes Gebiet, das er für sich allein beanspruchen kann.
Die Forschungen und Methoden El oujrens' , Leluts, Longe ts,
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2C0 P. J»net: Le cerveau et la pensee.
Leurets, Gratiolets, Brocas, M. Gh. Darestos, von den
Deutschen M. Ch. Vogts in Genf, in der für die Seelenfrage
wichtigen Lehre von den Geisteskrankheiten ausser den Werken
Pinels, Esquirols, Georgets die Untersuchungen von Leu-
ret, ßrierre deBoismont, Trelat, Moreau von Tours,
Castle werden in dem uns vorliegenden Buche angeführt und
beurtheilt. Diesen werden die Werke der französischen Philosophen
Adolph Garnier, Albert Lemoine und die Arbeiten der
so eilte* modico-psycbologique gegenübergestellt. Als das
wichtigste physiologische Werk wird das Buch Claude Ber-
nard s über das Nervensystem bezeichnet. »Dieser grosse Physio-
loge, heisst es S. 20 , der gegenwärtig mit so vielem Glaoze die
französische Wissenschaft vertritt, der mit der Gesundheit des
Denkens eine eben so grosse Tiefe verbindet, ist von neuem der
Meister und Leiter für alle diejenigen, welche in die Gänge des
dunkeln Labyrinths eindringen wollen, welche man das Nerven-
system nennt. Er hat sich mit der uns vorliegenden Frage nicht
besonders beschäftigt. Nach seiner Ansicht ist sie nicht reif für
die Wissenschaft. € »Aber die Philosophen, fügt der Herr Verf. bei,
haben die Schwäche, sich auch mit dunkeln Fragen, mit Contro-
versfragen, zu beschäftigen.« Schon der Nachweis der Unerkenn-
barkeit des Sitzes und der organischen Bedingungen der Intelligenz
ist ein Gewinn für diejenigen, welche sich mit dem Materialismus
nicht befreunden können.
Im zweiten Kapitel wird das thierische Gehirn be-
schrieben und gezeigt, wie die Intelligenz des Thieres mit dem
Vorhandensein und der Ausbildung des Gehirnes zusammenhängt
und im Allgemeinen wohl die Gehirnausbildung als Maassstab der
thierischen Intelligenzausbildung gelten kann, dass auch die Ver-
gleichung der thierischen Gehirne diesen Grundsatz bestätigt. Ganz
anders aber verhält es sich mit diesem Maassstab des Gehirnes für
die Geistesausbildung, wenn man nach einzelnen Bestimmungen
forscht. Das Gewicht des Hirnes ist für die höhere oder geistige
Thierthäligkeit kein befriedigender Maassstab , weil er sich nicht
regelmässig durchführen lässt Das Hirn des Elephanten ist Smal
schwerer, als das menschliche. Auch das Hirn des Wallfisches
steht in dieser Hinsicht über dem menschlischen. Nach diesem
Maassstabe wäre der Hund nicht intelligenter, als das Schaaf und
dümmer, als der Ochse (S. 29). Aber bei dem Gewichte des Ge-
hirnes muss man auch auf dessen Verhältniss zum ganzen Körper-
gewicht des Thieres Rücksicht nehmen. Es handelt sich also nicht
um das absolut, sondern um das relativ grössere Gewicht. Hier
erscheint das Thier als das intelligenteste, bei welchem die grösste
Hirnmasse im Verhältniss zur ganzen Körpermasse vorhanden ist.
Allein auch hier lässt sich eine Regel noch weniger, als beim ab-
soluten Gewicht durchführen. Denn nach diesem Maassstabe würde
der Mensch unter mehreren Affenarten und Singvögeln, der Hund
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P. Jan et: Le cerveau et 1* pensee.
261
unter der Fiedermaas, das Pferd unter dem Kaninchen stehen
(S. 32). Man vergleicht auch dio Grösse des grossen Gehirnes mit
der des kleinen und des verlängerten Markes. Auch hier stösst
man auf gleiche Widersprüche. Der Mensch würde darnach kaum
Ober dem Fuchs, der Krähe, dem Eber, dem Pferd oder Hund, auf
der Stufe des Ochsen und unter dem Sapajn (eine kleine Affenart)
stehen. Man denkt sich endlich das Verhältniss des Gehirnes zum
jranzen Nervensystem. Auch dieses lässt sich nicht annehmen, da
die Nerven verschiedene Bedeutung für das Leben und verschiedene
Grösse und Stellung haben und diese sich im Verhältniss zum Ge-
hirne nicht bestimmen lassen, da die einzelnen Organe nicht überall
gleich sind. Andere halten sich darum mehr an die Gestalt, den
Typus des Gehirnes, welche eben so zu unauflösbaren Schwierig-
keiten führt. Die Untersuchung schliesst S. 43 mit dem Resultate,
dass es in der Bemessung der Intelligenz nach einzelnen, regelrecht
dnrchzufuhrenden Bedingungen keine Thatsache gibt, welcher man
einen entscheidenden und absoluten Werth beilegen kann.
Das dritte Kapitel handelt vom menschlichen Ge-
hirne. Auch hier wird die Unsicherheit in der Beurtheilung der
Intelligenz durch den Maassstab des Gehirnes nachgewiesen. Be-
sonders anziehend ist die Untersuchung der Darwinschen Hypo-
these, welche, wenn es auch von ihrem Urheber nicht ausdrück-
lich gesagt worden ist, doch durch die Consequenz des Princips
den Menschen zum vervollkommneten Affen macht. Was Darwin
versteckt andeutet, haben Lyell und Vogt offen bekannt. Man
richte das Affen- und Menschenhiro anatomisch zu unterscheiden.
Owen io England fand deutliche Unterschiede, welche Gratiolet in
Krankreich nicht fand. Dem Herrn Verf. scheinen jene mehr im
Rechte zu sein, welche die Aehnlichkeit des Affen- und Menschen-
hirns vertheidigen, als die, welche darin zwei absolut verschiedene
Typen erkennen wollen (S. 60). Aber da bleibt immer die schwer
Hnfiuklärende Frage: Wie können zwei so ähnliche Gehirne so
nngleiche Geistesvermögen haben? Man will bald mit dem Ge-
wichte, bald mit der Form, bald mit dem absoluten, bald mit dem
relativen Gewicht sich aushelfen. Aber einzeln lässt sich dieses,
ohne auf Widersprüche zu stossen, nicht durchführen. Man will
die stufenweise Entwicklung in den Rassen nachweisen und macht
die Negerrasse zur üebergangsstufe vom Affen zum höheren mensch-
liehen Typus. Der Unterschied des physischen Charakters in
jedem Menschheitsstamme von dem geistigen Typus wird entwickelt
and hervorgehoben, dass, um über den wesentlich niederen Typus
des Negers zu urtheilen, Civilisationsversuche gemacht werden
mflssten , wie sie bis jetzt noch nie gemacht worden sind , dass,
sobald sich einzelne über den niederen Typus erheben, dieser nicht
als wesentliches Unterscheidungsmerkmai des Geistigen in der
Negerrasge bestimmt werden kann. »Vogt sagt uns, heisst es S. 64,
mit einem für einen Gelehrten wenig geziemenden Tone der Ver-
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P. Janet: Le cerwn et fe pensee.
achtung: »Das Philosophenvolk, das nur Affen in den T hierbehaltern
und zoologischen Gärten gesehen hat, steigt auf das grosse Robb
und beruft sich auf den Geist, die Seele, das Gewissen, die Ver-
nunft.« Ohne auf das grosso Ross zu steigen, sagen wir Herrn
Vogt: Die Negerrasse hat dem Institut Frankreichs einen Corre-
spondenten geliefert (den Geometer Lislet Geoffroy von Haiti).
Kennen Sie Affen, von denen man das sagen kann«? Der Ab-
schnitt über das menschliche Gehirn schliesst mit den Worten :
»Die Hauptsache liegt in dem gemeinschaftlichen Bande, das alle
Zweige der Menschheit umfasst, in dem unermesslichen Unterschiede
zwischen den niedersten Menschen und den höchst stehenden Affen,
einem Unterschiede, welcher sieb durchaus nicht aus der Verschie-
denheit der Gebirnbildung erklären lässt« (S. 66).
Im vierten Kapitel (die Narrheit uud dieGehirn-
verletzungen), werden die verschiedenen Ursachen hervorge-
hoben , aus welchen die Geisteskrankheit entsteht. Nicht in der
Verletzung des Gehirns oder eines bestimmten Gehirnorgans, nicht
im Gewichte oder der Gestalt des Gehirnes, oder seiner chemischen
Zusammensetzung, auch nicht in irgend einem andern körperlichen
Organe, auch nicht im Körper allein ist der Grund der Geistes-
krankheit abschliessend zu suchen. Verschiedene physische und
psychische Momente können sie veranlassen. Auch kann man nicht
sagen, ob eine gewisse Missbildung die Ursache oder die Folge
der Störung ist, da sich solche Missbildungen häufig nur in den
letzten Stadien des gestörten Seelenzustandes zeigen. Auch im
normalen Znstande rufen physische und psychische Momente in der
Seele Erregungen hervor. Die physiologischen Bedingungen der
Geistesstörung sind so wenig bekannt, als die physischen für die
Entstehung des Gedankens und die Untersuchung der Bedingungen
der Geisteskrankheiten löst die Aufgabe einer Nachweisung der
physischen Bedingungen dos Gedankens nicht (S. 83 r.
Im fünften Kapitel kommen das Genie und die Narr-
heit zur Sprache. Hier wird die Lehre des Moroau von Tours
geprüft, welcher die Narrheit tind das Genie auf die gleichen or-
ganischen Bedingungen zurückführt und auf die Verwandtschaft
und Aehnlichkeit der Erscheinungen im Genie und der Narrheit
hinweist. Nicht im Enthusiasmus, in der Extravaganz und Maass-
loBigkeit, sondern in der Ursprünglichkeit schöpferischer Denkkraft,
im Wesen der Vernunft beruht das Genie. Niemals wird man die
Geistesstörung anf solche geistige Vorzüge zurückführen können
Der Unterschied der Narrheit und des Genies ist ein wesentlicher,
während sich gewiss der Unterschied in der Gebirnbildung nicht
als ein wesentlicher, ja nicht einmal als ein irgendwie aufiUlüger
bei anatomischen Untersuchungen oder Betrachtungen des Scbädel-
baues herausstellt. Die pathologische Anatomie hat keinen Halt-
punkt zur Aufklärung der Frage nach der physiologischen Iden-
tität des Genies und der Narrheit. Man mttsste also zur Analogie
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P. Janet: Le cerveau etla pensee.
and Biographie seine Zuflucht nehmen. Aber weder Analogie noch
Biographie lassen eine Identität des genialen und verrückten Zu-
standes zu.
Das sechste Kapitel (die Gehirnbegrenzungen in
bestimmten Stellen (les localisations cerebrales) giebt dem
Herrn Verf. Veranlassung zur Prüfung der phrenologischen, mit Dr.
Call beginnenden Lehre. Scharfsinnige Gründe werden in dem-
selben gegen die Haltbarkeit der in der Neuzeit vervollkommneten
phrenologischen Lehrsätze aufgestellt und als Fehler die rohe em-
pirische Methode (S. 117 u. 118), die Vermischung der Gehirn-
organenlehre, welche die Geistesvermögen in bestimmten einzelnen
Gehirn theilen nachweisen will, und der Schädellehre im engern
Sinne, welcbe aus den Erhabenheiten und Vertiefungen der äussern
Scbädelplatte auf die Beschaffenheit der Hirnorgane und der ihnen
entsprechen sollenden Geistesvermögen schliesst und mit dem Kri-*
terium der äussern Scbädelplatte den anatomischen Erfahrungen
widerspricht, die Unhaltbarkeit und der Widerspruch in dem bis-
herigen Nacbweise bestimmter Hirntheile als der Sitze bestimmter Gei-
stesvermögen und der Widerspruch dieser Annahme mit den durch
die Erfahrung selbst gewonnenen Thatsachen angedeutet. Immer-
hin aber betrachtet der Herr Verf. dieses als feststehend, dass das
Hirn ein zusammengesetztes Organ ist, in welchem die einzelnen
Theile eine besondere Rolle spielen, über welche der Erfahrung,
bestimmte untrügliche Resultate zu geben, viele Schwierigkeiten
im Wege stehen. Das verlängerte Mark scheint das Princip der
Athmnngsbewegungen zu enthalten. Das kleine Gehirn ist nach
Floarens das Organ des Gleichgewichts, der Harmonie, der Ord-
nung der Bewegungen. Die Vierhügel haben eine grosse Bedeu-
tung für das Sehen und ihre Entfernung hat Blindheit zur Folge.
Auch für die Sprache nimmt man einen besonderen Sitz im Ge-
hirne an.
Der Zusammenhang des Hirnes mit der Sprache wird im
siebenten Kapitel untersucht. Auch hier, wie in der Unter-
teilung einzelner bestimmter Hirntheile, als Organe einzelner Gei-
stesvermögen, wird das Resultat einer in die neuesten Theorien
eingehenden Prüfung S. 147 dahin bezeichnet: »Wenn es auch
billig ist, anzuerkennen, dass die Lehre von den einzelnen Gehirn-
zellen für bestimmte einzelne Geistesanlagen noch nicht das letzte
Wort sprach, so ist uns doch auch die Behauptung gestattet, dass
^ie noch kein demonstrirendes, zu wissenschaftlichen Schlüssen be-
rechtigendes Resultat gewonnen hat. Man konnte wohl der Be-
wegung, der Empfindungsfähigkeit, der Inlelligenz verschiedene Sitze
im Gehirne anweisen; aber es ist nicht gelungen, die Intelligenz
selbst und die übrigen Vermögen ganz getrennt auseinander zu
halten. Die Frage bleibt immer noch offen, oder, um uns besser
auszudrücken, die Einheit des Gehirns, als des Organes der Intel-
ligenz und des Gefühles, kann vielleicht als die wahrscheinlichste
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264
P. J*net: Lc cerveau et la pen§e>.
Thatsache auf dem gegenwärtigen Standpunkte der Wissenschaft
angesehen werden.
Das achte Kapitel handelt, von der Mechanik des Ge-
hirnes. Die Ansicht von der mechanischen Thätigkeit des Ge-
hirnes soll auch einen Mechanismus der Geistesthätigkeit begrün-
den. Aber gerade hier zeigt sich der grosse Unterschied zwischen
Hirn und Gedanke. Man kann das Geistesleben nicht auf dem
physiologischen Wege erklaren. Gesetzt auch , dass man dieses
durch im Hirn zurückbleibende Spuren bei dem Gedächtniss könnte,
so würde dieses immer noch nicht auf die Intelligenz angewendet
werden können. Zwischen dem Gedächtnisse und der Intelligenz
ist ein grosser Unterschied. Der Mechanismus des -Gedächtnisses
kann uns die wissenschaftliche Erfindung, die Schöpfungen des
Dichters und Künstlers, die Selbstständigkeit des Genies, den eigent-
lichen Gedanken nicht erklären (S. 157). Unsere Unwissenheit in
Beziehung auf die einzelnen Hirnfunctionen gibt die Physiologie
selbst zu. Der berühmte Cuvier sagt: »Die Verrichtungen des Ge-
hirnes setzen eine für immer unbegreifliche Wechselwirkung zwi-
schen der tbeilbaren Materie und dem untheilbaren Ich voraus, ein
unausfüllbarer Sprung im Systeme unserer Ideen, ein ewiger Stein
*des Anstosses für alle Systeme der Philosophie. Wir begreifen
nicht nur nicht und werden nie begreifen , wie einige unserm Ge-
hirn eingedrückte Spuren von unserm Geiste wahrgenommen werden
oder in ihm Bilder hervorbringen können, sondern, so genau auch
unsere Untersuchungen sein mögen, stellen sich diese Spuren auf keine
Art unsern Augen dar und wir sind in gänzlicher Unkenntniss ihrer
Natur.« In gleicher Weise spricht sich auch der deutsche Physio-
log Müller aus (S. 158 u. 159). Der Herr Verf. schliesst seine
Untersuchung mit den Worten: »Ich glaube nicht, dass der Schluss
zu kühn ist, dass wir nichts, durchaus nichts von den Thätigkeiten
des Gehirnes, von den Erscheinungen wissen, deren Schauplatz das
Hirn ist, wenn der Gedanke im Geiste entsteht. Noch weniger
wissen wir, welchem besonderen Znstande des Gehirnes irgend ein
besonderer Zustand des Geistes entspricht. Welch ein Unterschied
ist zwischen einer Erinnerung und einem Bilde, zwischen der Hoff-
nung und dem Verlangen, zwischen der Liebe und dem Hasse, dem
Egoismus und der Uneigennützigkeit ? Die Physiologie hat keine
Antworten auf diese Fragen, und, ohne der Zukunft vorgreifen zu
wollen, darf man wohl den Glauben aussprechen , dass sie noch
lange zum gleichen Stillschweigen verdammt sein wird« (S. 159
und 160).
Das neunte Kapitel wirft endlich die Frage auf: Ist der
Gedanke selbst eine Bewegung? Immerhin sind Bewegungen
des Gehirnes und Gedanken nur Wechselwirkungen. Sie sind nicht
auf einander zurückzuführen , nicht mit einander zu vergleichen.
Der Gedanke ist an eine Bewegung gebunden ; aber man kann
deshalb doch nicht sagen, dass der Gedanke eiue Bewegung sei.
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P. Jan et: Le cerveau et lapensee.
265
Diese Formel ist in einigen Schulen volksthümlich geworden und
doch ist die Bewegung eben eine Bewegung, und der Gedanke ein
Gedanke. Das Eine ist nicht das Andere. Die Bewegung ist Etwas
Aensseres, Objectives, die Modifikation eines ausgedehnten, gestal-
teten, räumlichen Dinges. Den Gedanken kann ich unmöglich als
ein Aeusseres denken ; er ist wesentlich ein innerer Zustand. Das
Bewusstsein findet im Ich weder Gestalt noch Bewegung und auch
die Sinne, welche uns Gestalt und Bewegung darstellen, können
den Gedanken nicht erfassen. Eine Bewegung kann gerad- oder
kreis- oder spiralförmig sein. Was ist ein spiraler, kreisförmiger,
gerader Gedanke? Der Gedanke ist klar oder dunkel, wahr oder
falsch. Was soll eine klare oder dunkle, wahre oder falsche Be-
wegung bedeuten? In einer denkenden Bewegung liegt ein Wider-
spruch. Man muss Moleschotts Satz : Der Gedanke ist eine Be-
wegung umkehren und kann mit grösserem Rechte sagen : Die Be-
wegung ist ein Gedanke. Man muss nicht den Gedanken durch
die Mechanik, sondern die Mechanik durch den Gedanken erklären.
Wenn auch die Bewegung mehr als ein Gedanke ist, so hat doch
eine solche Behauptung einen Sinn. Man beruft sich für den Satz :
Der Gedanke ist eine Bewegung auf zwei Entdeckungen der Wissen-
schaft, dass sich die Aetherschwingungen in Licht, die Warme in
Bewegung und die Bewegung in Wärme verwandeln (S. 163). Die
gleiche Kraft, sagt man, kann sich unter zwei verschiedenen Ge-
stalten offenbaren und danu ist kein Widerspruch vorhanden, wenn
*icb die Gehimbewegungen in Gedanken umgestalten. Aber die
Schwingungen des Aethers wirken auf's Auge und durch den Seh-
nerv rufen sie eine unbekannte Thätigkeit hervor, in Folge deren
die Empfindung des Lichtes entsteht. Zu dem, was wir Licht
nennen, gehört nothwendig das Zusammentreffen eines empfindbaren
Objectes uud eines empfindenden Subjectes. Vor dem ersten sehen-
den Thiere gab es kein Licht, und erst da konnte man sagen, dass
das Licht wurde (8 165). So ist dieses empfundene Licht allein
subjectiv; es existirt nur durch das empfindende Snbject und in
ihm. Es ist schon eine bewusste Empfindung und auf einer ge-
wissen Stufe ein Gedanke. Dass die subjective Lichtempfindung
eine Gehirnerscheinung ist, steht noch immer in Frage. Das, was
im Gehirne dabei vorgeht, kann den äussern Aetherschwingungen
entsprechen, aber dieser Vorgang ist noch nicht das Licht. Wie
dieser Uebergang vom Vorgang im Hirne zur Lichtempfindung statt-
findet, wissen wir nicht. Das Licht wird erst mit der Erscheinung
des Ichs; denn mit ihm wird die bewusste Empfindung (S. 166).
Auch bei der wechselseitigen Umwandlung der Bewegung und Wärme
verhält es sich so: Immer bleibt das Aeussere und Innere, das
Objective und Subjective unterschieden , und man verwechselt den
Gegenstand mit der bewussten Empfindung desselben.
Diejenigen, welche eine denkende Materie annehmen, gerathen
auf denselben Stein des Anstosses, wie die Spiritualisten ; denn sie
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P. Janet: Le cerveau et la penaee.
müssen ganz, wie diese, den Uebergang vom Materiellen znm Im-
materiellen, von der Ausdehnung zum Gedanken erklären. Indem
der Spiritualismus Geist und Materie vollkommen trennt, hat er
die Schwierigkeit zu lösen, wie der Körper auf den Geist und die-
ser auf jenen wirken könne. Aber die Gegner des Spiritualismus
haben eine noch viel schwierigere Frage zu beantworten, wie der
Körper Geist werde. Mag man, wie man will, den Gedanken er-
klären, er ist eine geistige, unter keiner sinnlichen Gestalt vor-
stellbare Erscheiuuug. Ein denkender Körper ist ein sich in Geist
umwandelnder Körper. Man will sich damit helfen, dass man das
Was und das Wie unterscheidet. Aber es handelt sich ja nicht
um die Frage, wie man denkt, sondern darum, was das ist, wel-
ches denkt. Wir wissen das Wie des Gedankens nicht, aber wir
wissen gewiss, dass zwischen dem Gedanken und seinem Subject
kein Widerspruch stattfinden kann. Der Gedanke hat zum Grund-
charakter die Einheit und kann darum nicht das Attribut eines
zusammengesetzten Subjectes sein, so wenig ein Cirkel ein Viereck
ist. Wir wollen von den Materialisten nicht wissen, wie das Hirn
denkt; denn wir können auch nicht erklären, wie die Seele denkt.
Aber, da die Einheit des Gedankens mit der Annahme eines orga-
nischen Substrates unvereinbar ist, sagen wir, dass er das Attribut
eines nicht organischen Subjectes sei, dessen wesentlicher Charakter
die Einheit ist (S. 170). Man kann mit geringerer Schwierigkeit be-
greifen, dass ein wesentlich einheitliches Subject ein Bewusstsein
von seiner Einheit hat. Es ist die Natur des einheitlichen Sub-
jectes zu denken, ohne dass man das Wie erklären kann. Wie
kann aber, wendet man ein, ein nicht ausgedehntes Wesen die
Ausdehnung denken? Wenn die Seele, wird S. 172 weiter ent-
wickelt, ausgedehnt und zusammengesetzt wäre, dann wäre die
Wahrnehmung der Ausdehnung unmöglich. Die Wahrnehmung der
Ausdehnung ist nicht ausgedehnt. Die Wahrnehmung des Vierecks
ist kein Viereck, noch die eines Dreiecks ein Dreieck. So bald die
Vorstellung der Ausdehnung selbst ausgedehnt ist, fällt sie ins Ge-
biet dos Objectiven, und ist nicht mehr Wahrnehmung. Das Bild
auf der Netzbaut ist auch in seiner grössten Kleinheit keine Wahr-
nehmung, so lange die Ausdehnung nicht verschwunden ist. Die
Ausdehnung ist nur Object und nicht Subject. Die Wahrnehmung
»setzt ein einfaches Subject und ein zusammengesetztes Object
voraus.« Wenn aber der Gedanke, wendet man ein, sein Princip
ausser der Materie hat, warum hat er zu seinem Entstehen und
Entwickeln unbedingt die Materie nöthig? Allerdings giebt es
keinen denkenden Geist ohne Werkzeug, keine Seele ohne Stoff.
Nur der »traurigste Aberglaube« vermeint, in dieser Welt mit sol-
chen Geistern zu verkehren (S. 179). Um auf äussere Dinge zu
wirken, muss man Werkzeuge haben, selbst zum äussern Ausdruck
des Gedankens. Aber der Gedanke ist eine innere Thätigkeit, die
nicht Aeusseres nothwendig zu haben scheint. Begreift man, dass
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P. Jsnet: Le cervemu et la pensee. »7
man mit Etwas denken kann, was nioht wir selbst sind? Das
Denkende , sagt man , nnd das , womit es denkt , muss Ein nnd
Dasselbe sein. Entweder kann das Hirn nicht znm Denken dienen,
oder es ist selbst ein Denkendes. Man kann ein Instrument einer
Tätigkeit, aber nicht ein Instrument des Gedankens begreifen.
Aber, wenn dieses so wäre, wie könnte dieser reine Gedanke von
einem Wellenschlage des Blutes oder von einem Falle abhängen?
Immerhin muss man, selbst, wenn man angeborene Ideen annähme
oder mit Kant ursprüngliche subjective Stammformen des Denkens,
zugeben, dass ein grosser Theil unserer Ideen durch eine äussere
Einwirkung entsteht. Die äussere Welt muss auf die Seele wirken,
damit sie denke (S. 176). Eine Vermittlung zwischen der äussern
Welt und der Seele ist nothwendig. Diese Vermittlung ist das
Nervensystem, und da alle Empfindungen , die uns auf verschiede-
nen Wegen zukommen, sich zur Ermöglichung des Gedankens ver-
einigen müssen , so ist ein Mittelpunkt des Nervensystems , das
Gehirn, nothwendig. Es ist der Mittelpunkt für die Wirkungen
der äussern Dinge auf die Seele und dieser auf jene. Die Gesetze
der empirischen und sensualistiscben Schule bleiben im Allgemei-
nen wahr, dass die Seele nicht ohne Bilder oder Zeichen denkt.
Die Bilder oder Zeichen sind die Bedingungen für die wirkliche
Seelenth&tigkeit. Die Wirkungen der äussern Dinge auf das Ge-
hirn müssen in diesem auf irgend eine Weise aufbewahrt werden,
um in der Seele empfindbare Bilder zu erwecken, ohne welche der
Gedanke unmöglich ist. Daraus folgt, dass das Hirn das Organ
der Einbildungskraft nnd des Gedächtnisses ist, welche unerläss-
liche Htilfsmittel für die Intelligenz sind. Der Mensch kann darum
in dem wirklichen Zustande, in welchem er sich befindet, nicht
ohne Hirn denken. Der Gedanke geht hervor aus dem Zusammen-
treffen der Kräfte des Gehirnes, welche die äussern Einwirkungen
festhalten, und der innerrt oder Denkkraft, dem Einheitsprincip,
dem einzig möglichen Mittelpunkt des Einzelbewusstseins. In die-
sem Sinne kann man den Gedanken eine Resultante nennen ; denn
er existirt nur unter der Bedingung, dass sich das Gehirnsystem
in einem gewissen Znstande des Gleichgewichts und der Harmonie
befindet. Da wirft sich von selbst die Frage auf (S. 177), was
einst aus der Seele wird, »wenn der Tod nicht nur die Organe
des vegetativen Lebens, sondern auch die der Beziehung zu andern
Dingen, der Empfindungsföhigkeit, des Willens, Gedächtnisses, jene
für jedes Bewusstsein und jeden Godanken unerlässiiehen Bedin-
gungen, auflöst.« »Ohne Zweifei, sagt der Herr Verf. S. 178, damit
ist die Seele selbst noch nicht zerstört, sie behält, immer noch die
Kraft oder das Vermögen zu deuken ; aber was wird aus dem Ein-
zelgedanken, aus dem von Bewusstsein und Erinnerung begleiteten
Gedanken, aus dem Gedanken des Ichs, der allein die menschliche
Persönlichkeit ausmacht, an welchem unser Egoismus haftet, als
wäre das Ich das einzige Wesen, an dessen Unsterblichkeit uns
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P. Jan et: Le cerveau et 1* penuee.
liegt, was wird aus diesem Wesen in dem schrecklichen und ge-
heim nissy ollen Augenblicke, wo es scheint, als wenn die Seele,
indem sie die sie an ihre Organe fesselnden Bande zersprengt,
auch mit diesem Leben brechen und auf einmal alle Freuden und
Leiden, Liebe und Hass, Irrthum und Erinnerung, mit einem Worte
ihre ganze Individualität ablegen wollte? Die Wissenschaft, sagen
wir es immerhin, kennt für diese Zweifel und Fragen keine Ant-
wort. Hier beginnt der Stützpunkt des Glaubens ; denn der Mensch
will nicht ganz sterben; wenig liegt ihm daran, dass sein meta-
physisches Wesen fortexistirt , wenn er nicht fortlebt, mit seiner
Existenz, seiner Erinnerung und Liebe. Sagen wir wenigstens die-
ses, dass, wenn die Beschlüsse der göttlichen Gerechtigkeit die
persönliche Unsterblichkeit der Seele fordern, eine solche Fortdauer
keinen Widerspruch in sich schliesst, wenn wir uns auch keine
Vorstellung von den Bedingungen machen können, unter denen sie
möglich sein würde. Der Embryo im Schoosse der Mutter weiss
von den Bedingungen der Existenz nichts, unter denen er einst
geboren wird und er könute glauben, dass seine Geburtsstunde für
ihn die Todesstunde ist. Vielleicht ist für uns der Tod nur eine
Geburt, und violleicht ist das, was wir für eine Vernichtung des
Gedankens halten, die Befreiung des Gedankens von seinen Fesseln.
So ungeheuer auch das Gebiet der Wissenschaft ist, so kann sie
doch sich die Behauptung nicht anmaassen, sie habe den Abgrund
der Möglichkeit ergründet und die Grenzen derselben erreicht. Das
Seiende ist nicht das Maass für das Seinkönnende. Hier kommt
die Moral der Metaphysik zu Hülfe. Was diese einfach für mög-
lich erklärt, bestimmt jene als nothwendig.«
Der gelehrte Herr Verf. bat den Unterschied des Gedankens
und des Hirnes, aber auch die Zusammengehörigkeit beider zum
Acte des Denkens in dieser Wirklichkeit erwiesen. Alles Andere
gehört ins Gebiet des Glaubens, der, auf moralische und metaphy-
sische Grundlage gestützt, als Vernunftglaube von der Wissenschaft,
wie von dem Aberglauben, wohl unterschieden werden muss. Shake-
speare nennt das Hirn die Mutter, den Geist den Vater in der
geistigen Thäügkeit, die Gedanken die Kinder dieser Eltern.
v. Reichlin-Meldegg.
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Bar ach: Zur Geschichte des Nominalismus.
Zur Geschichte des Nominalismus vor Roscellin, Nach bisher unbe-
nutzten handschriftlichen Quellen der Wiener kaiserlichen Hof-
bibliolhek von Dr. C. S, Bar ach, Docent der Philosophie
an der Wiener Universität Wien, IS66, Wilhelm Braumüller,
K. K. Hof- und Universitätsbuchhändler. 2ö 8. ar. 8.
Es ist durch Prantrs grosses Werk (Geschichte der Logik im
ibendlaude) zur Genüge nachgewiesen , dass die Keime za den
Gegensätzen des Realismus und Nominalismus, wenn auch in un-
befangener Einheit und ohne Bewusstsein ihrer später entwickelten
Parteistellung , in der Uebersetzung der Porphyr ins' sehen Schrift
(Einleitung zu den zehn Kategorien des Aristoteles) durch Bo&tbius
and in Johannes Scotus Erigena, so wie in dem Oommentare des
Psendo-Hrabanus Maurus zur Isagoge des Porpbyrius liegen. In
der Zeit des Mittelalters, welche auf die Werke der genannten
Schriftsteller folgte, prägte sich bis zur Zeit des Roscellin der
Nominalismus immer schärfer aus, bis er endlich durch jenen Den-
ker, einen entschieden in allen Theilen der Seins und Erkonnt-
oiaslehre scharf hervortretenden Nominalisten, und den Kampf
mit Anselm von Canterbury , dem Realisten , eine völlig aua-
gebildete Parteistellung erhielt, die unter verschiedenen Formen
bis zum Abschlüsse des Mittelalters fortdauerte. Johannes Scotus
Erigena ist noch als Ontolog Realist, als Logiker Nominalist, ohne
sieh des Gegensatzes klar bewusst zu sein. Unter den vorroscel-
linischen Philosophen des Mittelalters ist es besonders Eric (Heine,
EricnB, Heiricus) von Auxerre (blühend um 870 n. Chr.), welcher
in seinen commentirenden Glossen zur pseudoaugustinischen Schrift :
Categoriae den nominalistischen Standpunkt in einem erhöhten
Grade einnimmt. So heisst es in dieser Schrift bei Barth. Haureau
de la Philosophie scolastique, Paris. 1850, vol. II, S. 141: Sciendum
antem, quia propria nomina primum sunt innumerabilia, ad quae
cognoscenda nullus intellectus seu memoria sufficit, haec ergo omnia
coartata species comprebendit et facit primum gradum, qui latissi-
aiüfl est, scilicet hominem, equum, leonem et species hujuamodi
omne8 continet; sed quia haec rursus erant innumerabilia et in-
comprehensibilia, alter factus est gradus angustior, ita constat in
genere, quod est animal, surculus et lapis ; iterum haec genera, in
unum coacta nomen, tertium fecerunt gradum aretissimum jam et
mgnstissimum utpote qui uno nomine solummodo constet, quod
ett usia (ovala). So wenig die allgemeinen Begriffe die Dinge
sind, so wenig bezeichnen die Qualitäten die Dinge. Ebend. S. 139 :
Si quis dixerit album et nigrum absolute sine propria et certa
wbstantia, in qua continetur, per hoc non poterit certam rem
ostendere, nisi dicat albus homo vel equus aut niger.
In dem von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften
herausgegebenen Katalog der lateinischen Handschriften der kaiser-
lichen Bibliothek (Wien, Carl Gerold, 1864), 8.142 ist eine latei-
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«70 B**ach: Zur Geschichte dea Nominaliamus.
nisohe Handschrift., Nr. 843 der lateinischen Handschriften, 36
Seiten in 4to enthaltend , beschrieben , welche ans dem zehnten
Ja In hundert stammt, die Categoriae decem ex Arietotele decerptae
des Pseudo-Augustinus mit einer commentirenden Marginalglosse
eines anonymen Verfassers. Dem Texte geht der metrische Prolog
des Alcuin an Karl den Grossen (abgedruckt in Alcuins Werken,
Ratisb. 1777, II, S. 334) voraus. Der Charakter der Marginal-
glosse ist nominalistisch und scheint, da sie in mehreren Stellen
mit dem Commentar des Heiric gleich lautet, mit letzterm iden-
tisch zu sein. Allein die wörtlich in Heiric enthaltenen Stellen
sind fast sämmtlich solche, welche Heiric aus Boethius und
Johannes Scotns Erigena aufgenommen hat, und der Nominalismus
ist viel ausgeprägter, als in dem Heiric'scben Commentar. Wenn
die Handschrift nicht von dem Heiric'scben Commentare stammt,
so gehört sie wohl jedenfalls seiner Schule an.
Diese handschriftliche Quelle wird von dem gelehrten Herren
Verf. in der vorliegenden Schrift nach den einzelnen, den Nomina-
lismus betreffenden Randglossen zum Erstenmale mitgetheilt und
benutzt. Die Arten und Gattungen werden in denselben als Be-
griffe, als Producte des Denkens bezeichnet, die sich in immer
höhern Stufen bis zum Begriff des Seins erheben, welches ein blos-
ser Name ist (nomen capacissimum omnium rerum, S. 8). Die
Dinge werden, wie es in dieser handschriftlichen Glosse des zehn-
ten Jahrhunderts heisst, nur gedacht, begriffen (faujusmodi species
oomprehenduntur) ; das Allgemeine ist Gedankending. Die Gattung
ist die Zusammenfassung vieler Formen durch einen Namen
(genus est multarum formarum per unum nomen complexio, S. 9).
Name und Substanz, Denken und Sein werden unterschieden (aliud
est ipsum nomen, aliud substantia, de qua dicitur, S. 9). Die Worte
haben die höhere Bedeutung des adäquaten Ausdrucks der Ge-
danken (Verbum proprio est in mente, quamdiu coueipitar, quod
dum foras profertur, jam vox est. Vox vehiculum verbi et mini-
sterium, per quod verbum, id est, mentis coneeptio declaratur, S. 9).
Dieses ist der üebergang zur spatern Behauptung, dass die Uni-
verBalien Worte seien. Die Worte müssen von der Seele aufge-
löst werden, um Zeichen der Dinge zu sein. Die eigentliche Sub-
stanz ist das sinnlich Wahrnehmbare. Nur das Einzelwesen hat
Wirklichkeit (Licet multa uno eodemque nomine vocentur, tarnen
singulis illud proprium est, et singuli suam habent substantiara
rungularem ad nulluni aliud pertinentem. Sicut ergo substantia sin-
■.'Ulis propria est, ita nomen etiam licet pluribus aptitnr, singulis
tarnen proprium est, S. 11). Mit dem Individualismus tritt der
Nominalismus dem Realismus entgegen. Mit dem Individualismus
verbindet der Glossator den Empirismus (Soutiuntur ea, quae quin-
que corporis sensibus coguoscuntnr , peroipiuntur, quae animo et
mente colliguntur. .. Intellectus generalium rerum ex partieularibus
sumtus est, S. 12). In Beziehung auf die Unterscheidung der par-
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Baraeh' Zur Geschichte dea Nomlnaliamufl.
271
titio, welche das Ganze in Theile zerlegt, und der divisio, welche
das genus in species sondert, scheint die von dem Herrn. Verf.
3, 15 ausgesprochene Ansicht naoh den in der vorliegenden Schrift
oitgetbeilten Stellen die richtige, der Glossator wolle behaupten,
dass der T heil begriff, der auf die incorporalia zu Ubertragen sei,
vjf die corporalia keine Anwendung finde.
Der Realismus erklärt die körperlichen Dinge für thoilbar,
die unkörperlichen als Gattungen für bloss in species zerlegbar»
Der Nominalismus kehrt es um. Die körperlichen Dinge sind ihm
als körperlich oder real untheilbar; nur, inwiefern sie als Begriffe
aofgefasst werden , sind sie in Theilbegriffe zerlegbar. Von dem
Realismus wird der Körperlichkeit alle Substantialität ab- und nur
der UnkÖrperlichkeit zugesprochen. Dem Nominalismus dagegen
ist das Körperliche allein das Substantielle, das Unkörperliche das
Abstracto (S. 16). Von unserem Glossator wird nicht nur die Sub-
stantialität und die Untheilbar keit des Körperlichen behauptet,
sondern auch zu begründen versucht. Quantitative Bestimmungen
sind ihm dem menschlichen Wortausdruck gleich zu setzende Be-
stimmungen des Subjects. Die unkörperlichen geometrischen Be-
stimmungen gehören nicht zur ovo Ca } sondern zum Subjecte.
Sie sind das geometrische Quantum, der empirisch gegebene
Körper ist allein das natürliche Quantum. Das geometrische Quan-
tum ist etwas Gedachtes, das sich in Wirklichkeit nirgends vor-
hndet (Non de naturali quantitate dioo, quae in ipsa usia videtur,
aed de ea, quae in figuris geometricis cognoscitur. In geometrica
enim de corporibus incorporaliter disputamus et, ut ita dicam,
ipsnm corpus geometricum incorporale est, ideoque longitudo, alti-
tado, latitudo ejus incorporalia sunt. Incorporaliter corpus perfi-
ciunt et incorporaliter traotantur, cum divisio fit in his, S. 18).
Messen und Theilen geschieht nur in Gedanken (S. 19). Worte
and mathematische Verbältnisse sind nur Zeichen der Sachen, be-
ziehungsweise körperlicher Verhältnisse (S. 20). Der Körper ist in
Wirklichkeit nicht in seine mathematischen Elemeute auflösbar, da
jede Theilung eine gedachte ist Die mechanische Zertheilbarkeit
des Körperlichen, welche der Glossator zugibt, soll nach ihm die
Unauflösbarkeit des Körperlichen und damit seine eigentliche und
wahre Substantialität beweisen. Man kann den Körper nur des-
halb mechanisch ins Unendliche theilen, weil man ihn nicht in
seine mathematischen Theile auflösen kann, da diese urkörperlich auf-
zufassen sind, also der Körper aufhören müsste, Körper zu sein (Nullus
wtem potest ita dividere corpus, ut corpus, non sit, S. 20). Tref-
fend wird S. 16 u. 21 nachgewiesen, wie Johannes Scotus Erigena
hiezu dem Glossator die Veranlassung gab, nur dass dieser zum
Vortheile des Nominalismus ausbeutete, was jener realistisch er-
klärte. Das subjective Element ist ontologisch und logisch durch-
weg in der Glosse das entscheidende. Mit Recht erklärt der Herr
Verf. nach dem, was wir von beiden wissen, den Nominalismus
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272 Barach: Zur Geschichte des Nominalismiit.
des Glossators für entschiedener und entwickelter, als den Heirics.
Der Nominalismus der handschriftlichen Glosse nähert sich dem
dcä Roscellin, ja erscheint, wenn man die »Uebertreibungen« in
Anselms und Abälards Berichten und die Anwendung auf die Tri-
mtätslehre ausnimmt, so ausgebildet, dass Roscellin' s Standpunkt
als »kein wesentlich neuere (S. 22) bezeichnet wird. Durch vor-
liegenden wichtigen Beitrag zur Geschichte des Nominalismus und
Realismus wird gezeigt, dass in der Entwickelnng des Nominalis-
mus im zehnten Jahrhundert kein Stillstand eiugetreten ist , und
dass die Lehre des Johannes Scotus Erigena in der Erkenntniss-
tbeorie auf dem ontologischen und logischen Standpunkt des No-
minalismus in dieser Zeit »fördernde und »befruchtend« einge-
wirkt hat.
In einem Codex des 11. Jahrhunderts, des Priscianus institut.
grammat. vol. maj., unter den lateinischen Handschriften der kai-
serlichen Bibliothek Nr. 220 fand der Herr Verf. eine S. 23 u. 24
mitgetheilte Randglosse , nach welcher bewiesen wird , dass die
Stimme oder das Wort kein Körper sei, da sie von der Luft, dem
»feinsten Körper«, und der »Zunge«, verschieden ist. Es wird die
Vermuthung ausgesprochen, dass diese Ansicht nominal istisch sei
Die vox erscheint hier als ein dem idealen Denken nahe gerücktes
unkörperliches Wesen.
Die neue, für eine freiere Entwickelung der Philosophie so
überaus wichtige Periode der Auflösung der Scholastik beginnt im
13. Jahrhunderte mit dem Erneuerer des Nominalismus, dem eng-
lischen Franciskaner Wilhelm Occam, der auch durch seine Schrif-
ten über die Rechte des Staates der Kirche gegenüber seine kirchen-
rechtlicbe Bedeutung hat. Mit Recht findet der Herr Verf. im
Nominalismus das skeptische und kritische Princip des Mittelalters.
Der Geist befreit sich in und mit ihm allmäh lig von den Fesseln
der als unbedingt und unfehlbar geltenden Kirchenautorität. Der
Nominalismus führt aus dem Gebiete phantastischer Träume, in
welchen sich der einseitige Realismus verloren hatte, auf das Ge-
biet der besonnenen Erfahrung zurück. Die vorliegende Schrift
enthält einen auf handschriftlicher Grundlage entstandenen neuen,
scharfsinnig entwickelten Beitrag zur bedeutungsvollen Geschichte
dieser Lehre. v. Reichlin-Meldegg.
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litt. HEIDELBERGER 1867.
J.M'.RBÜCHER DER LITERATUR.
Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde in den
Jahren 1857, 1858, 1859 unter den Befehlen des Commodore
B. von Wullerstorf-Urbair. — Linguistis eher Theil von
Prof. Dr. Friedrich Müller. 4. (VI, 857 8.). Wien 1867.
Der Verfasser, durch eine Reihe der gründlichsten und scharf-
sinnigsten sprachwissenschaftlichen Untersuchungen, die meist in
den Sitzungsberichten der historisch - philosophischen Classe der
Wiener Akademie der Wissenschaften niedergelegt sind, als einer
der gediegensten Sprachforscher wohlbekannt , erscheint hier als
Bearbeiter des von der Fregatte Novara auf ihrer in den Jahren
1857 — 1859 unternommenen Rundfahrt nm die Erde heimgebrach-
ten sprachlichen Materials. Wir haben in der Bearbeitung dieses
auf den verschiedenen Punkten , wo die Novara anhielt, von Karl
v. Scherzer gesammelten Materials eine der verdienstlichsten neue-
ren Leistungen auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft zu be-
grüssen , nnd zwar um so mehr , als die Arbeit nicht nur dem
Sprachforscher selbst eine Fülle interessanten Stoffes zuführt, son-
dern diesen auch in ein ansprechendes Gewand kleidet, das ihn
auch dem gebildeten Publikum , welches am Menschen und seiner
Sprache Antheil nimmt, vollkommen zugänglich und verständlich
macht. Dies letztere ist jedenfalls ein Hauptverdienst des Werkes ;
denn es hat nicht jedermann Zeit und Lust, sich um das in einer
Menge von Einzelschriften über die ganze Erde zerstreute Material
in kümmern ; hier dagegen findet man eine Reihe der Haupttypen
menschlicher Sprache auf der Höhe der Wissenschaft und doch
allgemein verständlich dargestellt. Das ganze Werk zerfällt in vier
grössere Abtheilungen und behandelt eine Reihe afrikanischer und
australischer, dann die indischen und malayo-polynesischen Sprachen.
Es wurde von der jedesmaligen Haltestation der Novara und dem
allenfalls zufliessenden Material Anlass genommen, die an diesem
Punkte herrschende Sprache einer näheren Prüfung zu unterworfen
und die etwaigen Verwandten derselben bis in die entferntesten
Ausläufer in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Die Sprachen,
welche besondere Alphabete haben, sind mit den ihnen eigentüm-
lichen Typen gedruckt nebst beigefügter Transcription, so dass auch
ohne Kenntniss der fremden Buchstaben jedes Wort lesbar er-
scheint; der allbekannte Typenreichthnm der Wiener Hof- und
Staatsdmckerei bewährt sich auch hier wieder, wie denn die typo-
graphische Ausstattung des Werkes eine prachtvolle genannt wer-
LX. Jthrg. 4. Heft 18
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*74 Müller: ReM der Novara; nazistischer TheU.
den miiss. Versuchen wir nun, einen allgemeinen Ueberbliok über
den reichen Inhalt des Werkes zu geben.
Der Aufenthalt der Novara in der Capstadt bietet zunächst
Anlass zur Behandlung der in Südafrika herrschenden Sprachstämme.
Es ist eine Errungenschaft der letzten Decennien auf sprachwissen-
schaftlichem Gebiete, zu wissen, dass südlich vom Erdgleicher, mit
Ausnahme der Hotteutoten, es nur eine einzige, zwar in sich viel-
fach getheilte, allein gleichartige Völker* und Sprachenbildung gibt,
die mau die kongo-kafrige nennen könnte, oder, wie sie der
Verfasser nennt, das Gebiet der Bantu- Sprachen. Dieses letztere
Gebiet begreift ein gut Vierttheil der gesammten Bevölkerung
Afrikas in sich. Auf S. 7 — 19 haben wir eine kurze Charakteristik
nebst Laut- und Formeulehre der Uottentoten - Sprache, die in
vier Dialekte zerfällt: den Nama-, Kora-, Capdialekt und den der
östlichen Stämme; auch die Sprache der sogenannten Buschman,
jener zahlreichen Stämme, welche über die Wüste und die, Gebirge
des Innern sich verbreiten, gehört hieher. — In ausführlicher Be-
handlung werden uns S. 20—50 die Bantu-Sprachen vorge-
führt. Es erstreckt sich dieser ungeheure Sprachstamm vom Ge-
biete der Huttentoten an auf der östlichen Seite bis zu den Stäm-
men der Galla, auf der Westküste bis zur Insel Fernando Po, und
im Innern wahrscheinlich bis etwa zum 8° nördl. Br# Es ist von
ungeheurer Tragweite, dass man mit der Eenntniss einer dieser
Sprachen vom Aequator bis Port Natal und vom Gabun bis Zan-
zibar ausreichen kann. Sie zerfallen in eine östliche, mittlere und
westliche Abtheilung mit mehreren Gruppen und einzelnen Sprachen.
Die östliche Abtheiluog zerfällt iu die drei Gruppen der Kafir-,
Zambesi- und Zanzibar-Sprachen y zur Kafir- Gruppe gehört das
eigentliche Kafir und die Sprachen der Ama-zulu und Ma-swazi,
zu den Zambesi-Sprachen die Idiome der Ma-schona, Ba-yeye u. a.,
zu denen von Zanzibar das Ki-suahili, Ki-nika, Ki-kamba, Ki-hiau,
Ki-pokomo u. s. w. Die mittlere Abtheilung umfasst die beiden
Gruppen Se-tschuana und Tekeza, wovon das Se-tschuana in eine
östliche Sprache Se-suto und in die beiden westlichen Se-rolong
und Se-chlapi zerfallt, das Tekeza die Sprachen der Ma-molosi,
Ma-tonga, Ma-hloenga umfasst. Die westliche Abtheilung enthält
zwei grosse Gruppen, die sogenannte Bunda- und Kongo-Gruppe;
zur ersteren gehören die Sprachen Hereru, Bunda und Londa,
zur letzteren die Sprachen von Kongo, Mpongwe, Kele, Isubn,
Fernaudo Po. Alle diese Sprachen sind derart mit einander
verwandt, wie etwa die semitischen oder indoeuropäischen unter
einander, was sich nicht nur in der vollkommensten Ueberein-
stimmung der Formen und der dazu verwendeten Elemente, son-
dern auch in wichtigen lexikalischen Erscheinungen offenbart. Diese
Verwandtschaft wird in einer ausführlichen vergleichenden Laut-
un «1 Formenlehre an vier räumlich so ziemlich entfernten und aus
jeder der drei Abtheilungen ausgewählten Sprachen, am Ka6r-Idiom
im engeren Sinn, Ki-suahili, Herero und Se-tschuana, einleuchtend
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Mulle*: Reise der Novara; Hagniatiaeher Thett. JHe
darobgefuhrt. — In einem dritten Abschnitt, der des Instrnctiven
TM enthält, wird S. 51—70 eine dritte Gruppe afrikanischer Spra-
chen behandelt, vom Verfasser nach dem Vorgänge von Lepsius
die »h am i tischen« genannt; doch weicht der Verf. von der
yon Lepsius im Standart , Alphabet S. 303 gegebenem üebersicht
»■eseatlich ab. indem natürlich das Hottentotische wegfallen raus«,
und das Ha-usa durchaus zurückgewiesen wird. Müllers Eintbei-
kng der hami tischen Sprachen ist folgende : I. Aegyptiaohe Gruppe.
Aitägyptisoh Koptisch. II. Lybiscbe Gruppe. Ta-mascheq. IIL
Aethiopische Gruppe. 1. Bedscha. 2. Saho. 3. Galla. 4. Dankali.
Somali Der innige Zusammenbang des Saho, Galla, Ta-mascheq
und Altägyptiechen ist bereits von Lottner in den Tran sactions oi
tat philoiogieal soeiety 1860-1861. S. 20-27 und S. 112-132
aichgewiesen worden. Es ist von grosser Wichtigkeit, dass die
Sprache den berühmtesten Culturvolkes Afrikas, der Aegyptor, be-
reits mit völliger Sicherheit hier eingereiht werden kann. Man hat
nun zwar schon seit einiger Zeit eine Verwandsohaft dieses Sprach-
iUmmes mit dem semitischen wahrscheinlich machen wollen, aber
man wird gut tbun, trotz mancher Anklänge, wohin namentlich
'ü* von kottner betonte Uebereinstimmung des Pronomens und der
bei der Bildung der Vorbalformen zur Anwendung kommenden aus
Prunominalelementen ableitbaren Pr*- und Suffixe gehört, noch
iurückxuhalten. So viel ist gewiss, dass diese Völkergruppe mit
ton andern Völkern des nördlichen Mittelafrika , den eigentlichen
Negern, nicht zusammenhängt, sondern sich vielmehr an die über
des anstoßenden Theil Asiens verbreiteten kaukasischen Stämme
awchliesat. Indem sie sich vom Aaquator her längs der Küste -r-
wi# weit sie sich ins Innere erstrecken, wissen wir noch nicht —
durch das Niltbai über den Küstenstrich des nördlichen Afrika
Erziehen, erweisen sie sich deutlieh als in diesem Welttbeile nicht
einheimisch, sondern sind wahrscheinlich in grauer Vorzeit aus den
Tigris- und Euphratländere eingewandert. Es ist zu erwarten,
daas von dem, Fortschreiten in der Entzifferung der Keilschriften
ooeb manches unerwartete Licht auf diese Frage fallen wird. Die
Hinsicht in die Zusammengehörigkeit und Verwandtschaft der hami-
tacten Sprachen bedeutend gefördert zu haben, ist ein besonderes
Verdienst Müllers» der nach Darlegung der Uebereinstimmung der
Pronominal stamme die nähere Verwandtschaft dieser Sprachen unter
wnsader durch eine vergleichende Formenlehre des Nomens und
Yerhnms zur Anschauung bringt.
Die in dar afrikanischen Abtheilung behandelten Sprachen
umfassen die Sprachen alier jener afrikanischen Völker, welche
torperUch und sprachlich nicht zu den Negern gehören. Es geht
aber hieraus für die afrikanische Linguistik die wahrscheinliche
Tatsache b«rvar, dass die Verbreitung der einzelnen Stämme längs
<j*r Küste stattgefunden ha\>e, und zwar zunächst an der Ostküste
m Netto nach Süden ; erst später scheint eine zweite Wände-
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276 Müller: Reise der Novara; linguistischer Theil.
ning an der Westküste von Süden nach Norden gefolgt zu sein.
Die am äussersten Ende der Wanderungsrichtung sesshaften Stämme
haben wir als die ersten Auswanderer und die ältesten Bewohner
anzusehen. Unzweifelhaft gehören daher z. B. die auf die äusserste
Südspitze zurückgedrängten Hotten toten zu den Urbe wohnern;
zwischen sie und die eigentlichen Kegerrassen in Mittelafrika scho-
ben sich die Kafir-Kongostämme ein; und diese Wanderungen sind
wahrscheinlich durch die an der Küste des rothen Meeres und über
den nordafrikanischen Küstenstrich erfolgte Ausbreitung der hami-
tischen Völker veranlasst worden.
Die zweite Abtbeilung des Werkes schliesst sich an den
Aufenthalt der Novara in den Häfen von Point de Galle auf Ceylon
und in Madras an und bietet in vier Abschnitten eine Reihe der
schönsten und anziehendsten Untersuchungen und Ergebnisse. Wir
haben auf der vorderindischen Halbinsel bekanntlich eine ähnliche
Erscheinung, wie wir sie eben bei Afrika berührten. Als die Arier
vom Hindukusoh herab durch das Pünfströmeland über die indi-
schen Ebenen sich ergossen, wurden die eingebornen Völker, die
Dravidas, von den Siegern zurückgedrängt, bis sie sich schliesslich
auf den südlichen Theil des Landes, das sogenannte Dekan, be-
schränkt sahen. Ein grosser Theil der Dravidas ging sicherlich
in den Siegern auf, indem er Sprache und Sitten derselben an-
nahm, und wiederum manchen Einfluss auf Bildung und Sprache
der Sieger ausübte (wie z. B. die Lautgruppe der Cerebralen oder
Lingualen diesem Einflüsse zugeschrieben wird). Einzelne Dravida-
Stämme zogen sich im Innern in die höheren Gebirge zurück, wo
sie noch jetzt unter den Namen der Todavar, (Jon da, Kotar, Ku
u. a. sich erhalten haben; die nördlichsten soheinen nach Westen
ausgewichen zu sein , wo sie noch heute in den Gebirgen Belud-
schistans als Brahui fortleben. Die früher ziemlich stiefmütterlich
behandelten Dravida-Sprachen haben in R. Caldwell (A compara-
tive grammar ol tbe Dravidian or South-Indian family of languages.
London 1856) eine vorzügliche Bearbeitung gefunden. Das gegen-
wärtige Gebiet der Dravida-Sprachen erstreckt sich vom Vindhja
und der Nerbudda bis zum Cap Komorin. Es sind deren vor-
züglich fünf: 1) das wegen der Einfachheit seines Lautsystems
und der Durchsichtigkeit seiner Formen allen voranstehende Tamil
im sogenannten Karnatik, an der Ostküste unterhalb der Ghats
von Palikat bis Cap Komorin und von den Ghats bis zur Bai von
Bengalen, auch an der westlichen Seite der Ghats von Cap Komo-
lin bis Trivandram, endlich in den nördlichen Theilen Ceylons, es
wird von etwa 10 Millionen gesprochen. 2) Telugu, von Chicacole
an der östlichen Küste bis Palikat und von der Ostküste bis gegen
Mysore, von 14 Millionen gesprochen. 3) Das K an aresische , in
Mysore und den Östlichen Districten des Nizam bis Beder, und im
Dist riete Kanara an der Malabarküste , von ungefähr 5 Millionen
gesprochen. 4) Malayalam, an der Küste Malabar, an der west-
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Malier: Reise der Novara; linguistischer TheO.
277
liehen Seite der Gbats von Mangalore bis Trivandram, etwa 21/*
Millionen umfassend. 5) Tulu oder Tuluva, ursprünglich im Districte
Kanara verbreitet, beute fast nnr noch in der Umgebung von Man-
galore, kaum mehr von 150,000 gesprochen. Als sechste Abtei-
lung könnte man die Sprache der Bergvölker im Innern annehmen.
Somit kann man die Anzahl der Dravidas auf ungefähr 83 Millio-
nen veranschlagen, also fast */5 der Gesammtbevölkerung Indiens.
Auf S. 76—104 gibt nun der Verfasser eine klare und über-
sichtliche Darstellung der Laut- und Formenlehre aller dieser
Sprachen. Caldwell und Max Müller sind geneigt, die Dravida-
Sprachen für Verwandte des grossen ural-altaischen Sprachstammes
anzusehen. Mit Recht ist ihnen der Verfasser nicht gefolgt. Jene
basiren ihren Beweis auf die Aehnlichkeit des Typus der beiden
Sprachstamme, die Uebereinstimmung mancher Flexionselemente und
besonders auf die Uebereinstimmung der Zahlenausdrücke ; es lasst
sich manches davon nicht in Abrede stellen; die Suffixbildungen
beim Nomen und Verbum, eine Art von Vocalharmonie, Postposi-
tionen, Reichhaltigkeit des Verbums an Participial- und Gerundiv-
formen, die Anordnung der Satzglieder erinnern vielfach an die
oral-altaiscben Sprachen. Allein dasselbe Hesse sich noch von
manchen andern Sprachstämmen fast ebenso gut sagen; und eine
nur einigerraassen genügende Uebereinstimmung im Wortschätze
dürfte schwer nachweisbar sein. Wir sehen daher mit dem Ver-
fasser in den Dravi da - Sprachen einen besondern, urthümlichen
Sprachstamm.
Den Glanzpunkt des Werkes bildet die im zweiten Abschnitt
dieser Abtheilung S. 105 — 202 folgende meisterhafte Darstellung
der neuindischen Sanskritsprachen, die in solcher Voll-
ständigkeit und Uebersichtlichkeit noch nirgends gegeben wurde.
Nach einigen Bemerkungen über die Entwicklung des Sanskrit,
Prakrit und Pali ordnet der Verfasser die modernen Sanskrit-
sprachen, deren Gebiet vom Hinduknsch und Himalaja bis ins Dekan
zum Dravida-Sprach gebiet und vom Indus bis über den Brahma-
putra hinaus reicht und die von über 140 Millionen Menschen ge-
sprochen werden, in sechs Gruppen. I. < estliche Gruppe mit Ben-
raliscb, das am meisten vom Sanskrit influenzirt ist, Assamesisch,
das von dem es umgebenden Tibetischen und Barmanischen man-
ches angezogen, und Orija mit arabischen Elementen. II. Nörd-
liche Gruppe : Nepalesisch, untermischt mit tibetischen Elementen,
Kaschmirisch und Pendschabisch mit manchen arabischen und per-
sischen Elementeu. III. Westliche Gruppe : die Sprachen von Sin dh,
Multan u. a. IV. Mittlere Gruppe: Hindi, die Sprache der einge-
bornen Hindu-Bevölkerung in dem mittleren Tbeile des nördlichen
Indiens. Aus ihm entwickelte sich seit dem 11. Jahrhundert n.
Chr. das sogenannte Urdu oder Hindustani, stark mit arabischen
and persischen Elementen untermischt; als Sprache der muham-
oedanischen Bevölkerung Indiens bat sich das Urdu über ganz
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278 MüHeT: Reise der Nuwa; Kngulstisbher Thell.
Indien verbreitet und kann ala Universalsprache der Gobi ldeton von
ganz Indien betrachtet werden. V. Südwestliche Gruppe : die Sprache
von Gudscbarat mit den verwandten Dialekten. VI. Südliche Gruppe :
<3as Marathi. Von allen diesen Sprachen wird dann unter steter
Bezugnahrae auf Sanskrit und Prakrit eine bis in das Einzelnste
gehende vergleichende Laut- und Formenlehre mit wahrer Meistsr-
scnatt entworfen.
Hieran schliesst sich in einem dritten Abschnitt S. 203—218
eine besondere Darstellung der singhalesischen Sprache, des
Elu, der Sprache der Löweninsel (8inhala-dvipa) Ceylon, wie sie
besonders im südlieben Theile der Tnsel gesprochen wird. Sie weicht
nach Laut und grammatischem Bau ganz von den Sanskritsprachen
ab, und erinnert in manchen Punkten an die Dravida-Idiome nnd
durfte mit diesen vielleicht in entfernter verwandtschaftlicher Be-
ziehung stehen, in einem innigen Verhältnisse keineswegs ; der Ver-
fasser möchte das Elu am liebsten fiir eine unter den Sprachen
Indiens allein dastehende selbständige Sprache erklären.
Eine wahre Zierde des Buches ist der Abschnitt »ttbeT Ur-
sprung, Entwicklung und Verbreitun g der indischen
Schrift« (S. 219—238). Der Verfasser hat sich bereits in meh-
reren Untersuchungen mit Vorliebe der Schriftfrage zugewendet:
über ü*en Ursprung der armenischen Sprache (Sitz.-Ber. der kais.
Akad. der Wissensch. 1864), über den Ursprung der himjariseb-
atbie^necneu Schrift (1865), über den Ursprung der Schrift der
malayischen Völker (1865). 8eit den scharfsinnigen Unters Eichun-
gen Afbr. Webers (Zeitschr. d. deutschen morgenl. (Steseli. 1856.
X. 889 — 406) war kein Zweifel mehr vorhanden, dass der Ur-
sprung der indischen Schrift kein anderer als derselbe ist, welcher
den Schriftarten deT Semiten und der abendländischen Völker zu
Grunde liegt, nämlich der phönikische oder richtiger der ba-
bylonische. Diese Einsicht war erst möglich, seit es dem genia-
len James Prinsep gelungen war, auf den Felseninschriften der
buddhistischen Könige (Piyadesi) die älteste Form der indischen
Schrift to entziffern (Journal of the Asiatic Society of Bengal
18B7. VI. S. 461 ff. 1838. VII); nur durch Zugrundelegung der
ältesten Schriftform, deren Alter in die Mitte des 3. Jahrhunderte
v. Ohr. zurückreicht, konnte die SchrifWra&e zu der Evidenz ge-
bracht werden, mit der wir jetzt darüber urtheilen können. Müller
führt in diesem Abschnitt die Sache systematisch weiter und bringt
sie zum AbschlusB mit einer Klarheit und Uebersichtlichkeit , die
nichts zu wünschen übrig lasst ; alles ist durch beigefügte Schrift-
tafeln veranschaulicht. Wir können darnach die Entwicklung des
•Itöndisoben aus dem altsemitischen Alphabet genau verfolgen, ein
interessanter Anklang au die semitische Schrift seigt sich in den
indischen Alphabeten noch darin, dass der Vocal a als jedem Con-
sonanben inhärent aufgefasst und in der Sebrift gar nicht ausge-
drückt wird. Aus dem altindischen Alphabete eind dann nach und
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Müller: Reise der Novar»; linguistischer TheJL
379
nach alle Schriftarten hervorgegangen, welche heutzutage in den
verschiedenen Provinzen Indiens im Gebrauch sind, deren Anzahl
sehr gross ist (äusserst belehrend ist biezu die Taf. III. S. 230).
Aber auch die nichtarischen Völker Indiens haben ihre Schriften
von den Indern überkommen ; so zunächst die Dravtdas, bei denen
vier Alphabete in zwei Gruppen im Gebrauch sind, Tamil- und
Malaya-Schrift einerseits, und Tolugu und Kanaresisch andrerseits, und
an diese wiederum schliesst sich die singhalesische Schrift (Hodiya)
an, als deren Tochter weiter die alte Schrift der Bewohner der
Malediven zu betrachten ist. Allein der indische Einfluss reichte
noch weit über diese Grenzen hinaus; er brachte auch den Tibe-
tanern, den binterindischen und malayischen Völkern ihre Alpha-
bete. Die tibetanische Schrift ist im 7. Jahrhundert aus der alt-
indischen hervorgegangen ; an sie schliesst sich die alte Lapidar-
schrift der Mongolen, deren eckige Gestalt aber bald (seit Tschinggis-
Chan) durch die unter den Mongolen verbreitete uigurische Schrift,
eine Tochter der syrischen, verdrängt wurde; unbedeutend abwei-
chend von der mongolischen ist die kalmükische. Die Schrift der
hinterindischen Völker, Barmanen nnd Siamesen, ist auf ein Pali-
Alphabet zurückzuführen. Bei den malayischen Völkern können
wir (von den eigentlichen Malayen abgesehen, die seit der An-
nahme des Islam sich der arabischen Schrift bedienen) zwei Gruppen
von anf das altindische Alphabet zurückzuführenden Schriften unter-
scheiden ; die eine ist die Schrift der Javanen, die entschieden auf
das Pali zurückweist ; die andere umfasst die Schriften der Völker
auf Sumatra (Battak, Bedschang, Lampung), Celebes (Mankasar,
Bngis) und den Philippinen (Tagala), welche insgesammt einem
altindischen Alphabet entstammen. Sämmtliche Alphabete aller
dieser Völker sind auf 9 Tafeln mit den nöthigen Erläuterungen
beigegeben* Niemand wird diesen Abschnitt ohne reiche Belehrung
aus der Hand legen. Wir übersehen hier mit einem Blick eine der
merkwürdigsten Thatsachen in der Culturgeschiohte des östlichen
Asiens. •
Die dritte Abtheilnng des Werkes behandelt die austra-
lischen Sprachen (S. 241 — 266). Leider ist hier das Material
ziemlich dürftig; nur einigermassen näher bekannt sind die Spra-
chen in der Nähe der von den Europäern bewohnten Küstenstriche.
In Westaustralien kennen wir die Sprache am Schwanfluss in der
Umgegend von Perth und die Sprache am König Georgs Sund, die
beide mit einander verwandt sind. In Südaustralien herrscht die
Parnkalla-Sprache auf Port Lincoln und der Westseite von Spen-
cer's Golf, dann die Sprache in der Umgebung von Adelaide ; dazu
gehören auch die Stämme am Murray-Flusse, an der Enconntef
ßay und um Melbourne; alle diese tragen Spuren gemeinsamer
Abstammung an sich. In Neusüdwales endlich kennen wir die
Sprachen in der Umgegend von Sydney, am Lake Maquarie, der
tioreton Bay, und die mehr im Innern gesprochenen Dialekte der
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280 Müller: Reise der Novara; linguistischer TheiL
Kamilarai und Wiraturai ; auch diese sind mit einander verwandt.
Wie weit die Verwandtschaft der andern Sprachen auf dem austra-
lischen Fcstlande geht , sind wir zu beurtheilen ansser Stande ;
eine gewisse gleichartige Anlage, einen einheitlichen Bau können
wir zwar nicht verkennen, dessbalb dürfte aber ebenso wenig, wie
bei den Sprachen Amerikas , auf eine Wurzelverwandtschaft zu
schliessen sein. Der allgemeine Charakter, Laut- und Formenlehre
dieser Sprachen ist von Müller S. 244 — 264 ziemlich ausführlich
dargestellt. Erst nach Schluss der Arbeit ist ihm durch Scherzer
noch neues Material zugekommen, was ihm Anlass geben wird, wie
er S. 358 bemerkt, demnächst die Abtheilung über australische
Sprachen in einer mehr umfassenden und genaueren Bearbeitung
wiederzugeben. Es ist aber auch höchste Zeit dazu , wenn nicht
die Eingebornen vollends verschwinden sollen, sie werden vielleicht
noch vor Ablauf des gegenwartigen Jahrhunderts vom Erdboden
vertilgt sein ; in diesem Falle müssten wir wahrscheinlich für
immer auf die Lösung eines linguistischeu Problems von höchster
Wichtigkeit verzichten. Denn Australien bat, wie die neueren
Forschungen lehren*), seinen Zusammenhang mit Asien und Europa
erst in der tertiären Zeit verloren, seine Geschöpfe haben noch die
Trachten der geologischen Vorzeit nicht abgelegt, und so haben
wir in dessen Bewohnern aller Wahrscheinlichkeit nach einen der
urältesten Menschenstämme zu suchen.
Wir kommen zur vierten und letzten Abtheilung : Malayo-
polynesiscbe Sprachen (S. 269 — 357), deren Behandlung der
Verfasser mit besonderer Vorliebe eine grosse Sorgfalt gewidmet
hat. Der malayo - polynesische Sprachstamm ist, was räumliche
Ausdehnung betrifft, unstreitig der grossartigste ; man denke sich
die unabsehbaren Entfernungen von Madagaskar an der Ostküste
Afrikas und den Andamanischeu Tnseln im Westen von Siam bis
hinüber zur Osterinsel nicht so gar weit von Chile, und von For-
mosa oder Taiwan an der chinesischen Küste und den Sandwich-
Inseln im Norden bis heraW nach Neuseeland : so weit reicht die-
ser fast unübersehbare Sprachstamm. Dabei hat man aber wohl
zu unterscheiden, dass diese zahllosen Inseln und Inselgruppen von
zwei verschiedeneu Rassen bewohnt werden. Die eine, von dunkler
Farbe mit wolligem Haar , an die afrikanischen Neger erinnernd
bewohnt mehr die Inseln nördlich vom australischen Continent
entweder ausschliesslich, oder im Verein mit der zweiten Rasse
doch so, dass sie ins Innere der Inseln zurückgedrängt erscheint,
während diese sich auf den Küsten angesiedelt bat. Die zweite
Rasse , von lichter Olivenfarbe mit glattem Haar, ist mehr über
die Inseln östlich vom australischen Festland verbreitet, in deren
Alleinbesitz sie steht, dann aber auch auf den nordwestlich von
*) Siehe den inatructlven Aufsatz von O.Peschel, Ausland 1867. Nr. 8
8. 178—177.
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Müller: Reise der Novara; linguistischer Thefl. 281
Australien gelegenen Inseln, besonders an den Küstenrändern an-
gesiedelt ; ferner am asiatischen Festlande auf der Halbinsel Malaka.
Die schwarze Rasse nennt man gewöhnlich Papnas oder Negritos,
die helle fasst man unter der Benennung der Malayo-Polynesen zu-
sammen. Die schwarze Rasse ist offenbar die unterlegene, von der
andern zurückgedrängte, wie sich aus ihren Wohnsitzen im Innern
der Inselu ergibt. Weil da, wo eine Mischung der beiden Rassen
stattgefunden hat, die Sprache durch den Einfluss der schwarzen
Bevölkerung bedeutende Veränderungen erfahren und sich von dem
ursprünglichen Typus mehr entfernt bat, als dort, wo die helle
Rasse sich unvermischt erhielt, so ist schon aus diesem Umstände
auf die Grundverschiedenheit der Sprachen der beiderseitigen Völker
in schliessen. Auch von der Sprache der Neger auf dem austra-
lischen Continent ist die Sprache der Papuas verschieden, wie dies
anch physisch der Fall ist. Müller vergleicht das Verhältniss der
Papnas und Malayo-Polynesier treftend mit dem zwischen Dra-
ridas und Ariern. Mit grossem Scharfsinn führt der Verfasser die
Ansicht aus, dass die Malayo-Polynesier zu einer Zeit, die jenseits
aller Geschichte liegt, vom Westen her, wahrscheinlich dem süd-
lichen Theile des asiatischen Festlandes, gegen Osten zogen, sich
«machst auf den grössern Inseln wie Sumatra, Java, Romeo, Ce-
lebes niederliessen und die vorgefundene schwarze Bevölkerung
tbeih vertilgten, theils sich assimilirten ; von da verbreiteten sie
sich gegen Norden über die Philippinen, Formosa, die Marianen
and andere benachbarte Inseln ; ebenso dehnten sie auf ihren raschen
Prahu's ihre Wanderungen über die zahllosen Inseln des stillen
Meeres aus. Der Annahme einer umgekehrten Wanderungsrichtung
Ton Osten nach Westen, wozu man sich einestheils durch Meeres-
strömungen und Windrichtungen, wie sie in diesen Gegenden herr-
schen, anderntheils durch die primitive Natur der über die polyne-
sischen Inselgruppen verbreiteten Völker berechtigt glaubt, steht
der Umstand entgegen, dass es kaum denkbar erscheint, dass die
armen, dürftigen Eilande, die meistens nur vulkanischen Tbätig-
keiten oder massenhaft aufgehäuften Cadavern kleiner Thiereben
ihre Entstehung verdanken, die Wiege einer Menschenrasse ge-
wesen wären, die an Zahl mancher andern gleichkommt, an Aus-
dehnung fast alle andern tiberragt. Wenn aber auch der südliche
Theil des asiatischen Festlandes sammt den umliegenden Inseln als
Ausgangspunkt der malayischen Wanderungen und als die relativ
älteste Heimath derselben anzusehen sein mag, so hängen doch die
Malayo-Polynesier mit keinem Volk Asiens zusammen. Dies führt
den Verfasser auf die von Bopp aufgestellte Ansicht ȟber die
Verwandtschaft der malayisoh - polynesischen Sprachen mit den
indisch-europäischen € (Berlin 1841), die nie sonderlich viele An-
hänger gefunden hat; Müller führt den Beweis dagegen durch die
Hervorhebung der Hauptunterschiede in den beiden Sprachstämmen,
die kaum greller gedacht werden können. Noch weniger Wahr-
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282
Müller: Reise der Novara; Hngmstischer Thefl.
scheint ich keit hat die Ansiebt von Max Müller, der die malayi schon
Sprachen fUr Verwandte seines allumfassenden tnraniseben Sprach-
stammes, and insonderheit der Tai-Sprachen ausgibt. Nach einigen
kurzen Bemerkungen über den allgemeinen Charakter der malayo-
polynesischen Sprachen und die Art ihres Znsammenhanges nnter
einander, und nach einem Ueberblick über ihre geographische Ver-
breitung nebst Angabe der bemerkbarsten Literatur werke in den
ausgebildetsten derselben, gibt der Verfasser eine Classification,
in welcher er drei grosse Abtheilungen macht, nämlich inalayische,
polynesisebe und melanesiscbe, welche wiederum in mehrere Gruppen
zerfallen. Seine Uebersicht ist folgende: I. Malayiscbe Sprachen.
A. Tagalische Gruppe. 1. Tagala, Bisaya, Pampanga, Ilaca,
Bicol, Ybanag, lengua Zebuana (auf den Philippinen). 2. Formosa.
3. Marianen. 4. Madagaskar. B. Malayo-ja van ische Gruppe.
Malayisch , Javanisch, Sundaisch , Battak, Mankasarisch , Bngis,
Dajak. II. Polynesische Sprachen. Samoa, Tonga, Maori (Neusee-
land), Karotonga, Tahiti, Hawai-(Sandwich-)Inseln, Marquesas- Inseln
u. s. w. III. Melanesiscbe Sprachen. Fidschi, Annatom, Erromango,
Tana, Mallikolo, Mare, Lira, Baladea, ßauro, Guadalcanar (Nene
Hcbriden, Neu Caledonien) u. s. w. Die Classification stellt eine
Stufenleiter dar, auf deren oberster Stufe sich die formenreiohsten,
auf deren unterster sich die einfachsten Sprachen befinden. Wollte
man, meint der Verfasser, die auf andern Sprachgebieten gewon-
nenen Ueberzeugungen hieber Übertragen, so müsste man, wie z. B.
nnter den indoeuropäischen Sprachen das Sanskrit oder unter den
semitischen das Arabische den ursprünglichen Sprachzustand dieser
Familien am reinsten bewahrt hat und die andern durch Zertrüm-
merung der Formen nach und nach von diesem Zustand abgekom-
men sind, hier zu der Ansicht verleitet werden, dass die tagalische
Gruppe den ursprünglichen Spracbzustand am getreuesten repra-
eentire, die malayo-javaniseben und die polynesisch-melanesischen
Sprachen dagegen successive eine Degeneration des alten Sprach-
typus darstellen. Gegen diese Ansicht verweist der Verfasser auf
eine Erscheinung bei den ural-altai sehen Sprachen, bei welchen,
entgegengesetzt der absteigenden Entwicklung bei Indoenropäem
und Semiten, nach den Ansichten der bedeutendsten Forscher ein
aufsteigender Entwicklungsgang stattgefunden hat. So stellen die
polynesischen Sprachen mit ihrem einfaohen Baue den ursprüng-
licheren Zustand der malayo-polynesischen Sprachclasse dar, wah-
rend die malayo - javanischen und Tagala - Sprachen dagegen als
Weiterentwicklungen erscheinen, eine Ansicht, die auch W. v. Hum-
boldt theilt; und zwar scheinen die beiden letzteren ursprünglich
einen gemeinsamen Entwicklungsgang durchgemacht und sich zu
der in den Tagala -Sprachen hervortretenden Fülle erhoben zu haben;
von dieser Fülle büssten die malayo-javanisoben nach nnd nach
vieles wieder ein, während die tagalischen dieselbe ungeschmälert
beibehielten. Die Zeit, in welcher die Malayo-Polynesier in die
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Rltschelii Opuscula phUologica.
einzelnen Gruppen und Sprachgenossenschaften sieh schieden, möchte
der Verfasser bis etwa in das Jahr 1000 v. Chr. zurückvorlegen.
Lehrreich ist anf S. 291 — 295 ein Verzeichnis altindischer
Ausdrucke, die sich schon früh ins Malayische und Javanische ein-
gebürgert haben. Die nun folgende ausführliche Laut- and Formen-
lehre der polynesischen (S. 296 — 316) und der malayisohen Spra-
chen (8. 817 — 857) ist ein Muster von gründlicher nnd lichtvoller
Darstellung und lässt uns von der S. IV verheißenen > Vergleichen-
den Grammatik der malayo- polynesischen Sprachen« ein Werk er-
warten, das sich W. v. Humboldts Kawi-Sprache würdig an die
Seite stellen wird.
In einem besondern Bande, unabhängig von den Publicationen
der Novara-Expedition, wird der Verfasser eine Grammatik und ein
Lexikon der Sprache der Marianen , so wie Vocabulare mehrerer
malayisohen und Papua-Sprachen, sammt einer sprachwissenschaft-
lichen Untersuchung der letztern, zusammen mit einer mehr um-
fassenden und genaueren Bearbeitung der australischen Sprachen
erscheinen lassen«
Wir haben das vorstehende Werk ausführlicher besprochen,
weil es, eine durch Methode und Gründlichkeit der Forschung her-
vorragende Leistung, zu den bedeutendsten Erscheinungen auf dem
sprachwissenschaftlichen Gebiet seit langer Zeit gehört. Wir woll-
ten die Aufmerksamkeit hauptsächlich auch desshalb darauf lenken,
weil wir ein Hauptverdienst desselben auch darin sehen, dass, wie
der Verfasser treffend sagt, dasselbe in einer Weise abgefasst ist.
dass dadurch nicht nur dem Sprachforscher , sondern auch dem
Philosophen and Naturforscher, der sich mit dem Menschen und
seiner Sprache beschäftigt, ein nützliches Rüstzeug geboten wird.
Innsbruck im April 1867. Bernhard JOIg.
Friderici Kitscheiii Opuscula Philologien,. Volumen 1 : ad Hieras
Graecas speclantia. Fasciculus I. IApsiae in nedibus B. 0,
Teubneri. MDCCCLXV1. XII und 448 8. in gr. 8.
In ähnlicher Art und in einer gleichen äussern Ausstattung
wie die unlängst in diesen Blättern (1866. S. 878 ff.) besprochenen
Akademischen Schriften von Boekh erscheinen hier gesammelt die
in früheren Jahren theils in Akademischen Programmen, theils in
grösseren Sammelwerken befindlichen Abhandinngen von Ritsohl,
und zwar in dem vorliegenden ersten Fascikel des ersten Bandes
diejenigen, welche auf die griechische Literatur sich beziehen, nnd
mit einem zweiten demnächst erseheinenden Fasciculus ihren Ab-
schlags erhalten sollen; ein zweiter Band soll dann die in einzel-
nen Programmen zerstreuten Forschungen aus dem Gebiete der
PUutiniacben, Terenaisohen und Varronischen Stadien, so wie was
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28*
Ritschelli Opuacula phllologlc*.
sonst in die lateinische Literatnr oder das römische Alterthnm
überhanpt einschlafet, bringen , ein dritter ausschliesslich das ent-
halten, was auf das Gebiet der Epigraphik sich bezieht. Wir haben
also hier diejenige Abtheilung vor uns, in welcher lauter, auf das
Gebiet der griechischen Literatur, und zwar der Poesie, bezügliche
8cbriften vereinigt sind, indem die andere Abtheilung das befassen
soll , was auf die Prosaiker sich bezieht. Dass der Abdruck
mit aller Sorgfalt und Genauigkeit veranstaltet ist, bedarf
wohl kaum einer besondem Bemerkung, und dass derselbe auch
treu und ohne Veränderung die frühere Schrift oder Abhandlung
wiedergibt, lag schon in dem Zweck und der Bestimmung des gan-
zen Unternehmens , das wie eine Urkundensammlung erscheint,
»welche gleichsam Aktenstücke zur Geschichte einzelner Fragen der
Wissenschaft vorführt, und gewisse Entwickelungsstnfen der letztern
schlicht und anspruchslos aufzeigt, ohne auf den gegenwärtigen
Standpunkt berichtigend, umgestaltend , weiterführend unmittelbur
einwirken zu wollen und zu sollen. Damit ist nicht ausgeschlossen,
dass literarische Hinwoisungen auf diesen neuesten Standpunkt
nützliche Verbindnngsfaden ziehen zwischen dem älteren Stadium
der Forschung und den späteren Fortschritten, um den Zusammen-
hang der wissenschaftlichen Bestrebungen festzuhalten und in ihm
zweckmässig zu orientiren. Aber erschöpfender Ausführungen, mögen
sie auch gelegentlich nach Neigung und Umstanden gestattet sein,
bedarf es principiell für diesen Zweck nicht; Andeutungen in ge-
wählten Citaten werden meist genügen, ohne doch darum die jetzige
Meinung des Autors nothwendig zu verstecken. Selbstverständlich
wird diesem ausserdem freistehen, einzelne Versehen und Trrthtimer
im Kleinen stillschweigend zu beseitigen, auch unbeschadet einer
im Wesentlichen treuen Wiedergabe auf eine gewisse Gleichförmig-
keit in Aeusserlichkeiten Bedacht zu nehmen € (p. VIII).
Wir haben diese dem Vorwort des Verfassers entnommene
Stelle hier darum mitgetheilt, weil sie die Grundsätze darlegt, nach
welchen das ganze Unternehmen veranstaltet und ausgeführt wor-
den ist, Grundsätze, die, Wenn von derartiger Zusammenstellung
früherer meist Akademischer Gelcgenheitsschriften überhaupt die
Rede ist, als die allein massgebenden und richtigen anzuerkennen
sind. Und nach diesen Grundsätzen ist auch durchweg bei diesem
erneuerten Abdruck früherer Schriftstücke verfahren worden. Sie
sind, kleine mehr äusserliche Aenderungen abgerechnet, wortgetreu
hier wiedergegeben, aber der Verfasser bat es nicht fehlen lassen,
da wo sich eine nähere Veranlassung bot, in kürzeren oder länge-
ren Bemerkungen oder Zusätzen hinzuweisen auf die neuere, die-
sem Gegenstand gewidmete Forschung, um auf diese Weise es
Jedem möglich zu machen, den Gegenstand weiter zu verfolgen:
alle diese Bemerkungen, es sei unter dem Text oder am Schlüsse
der betreffenden Abhandlung angereiht, sind durch eckige Klammern
kenntlich, eben so wie auch die Seitenzahlen des früheren Ab-
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Ritschelü Opuicula philologica.
drucks an der Seite des neuen beigefügt sind, um den Gebrauch
and die Benützung zu erleichtern, was gewiss zweckmässig war.
Die Anordnung der einzelnen hier wiederabgedruckten Schi Il-
ten ist keine chronologische, d. h. nach der Zeit des Erscheinens
bestimmte, sondern sie ist mehr durch sachliche Rücksichten be-
stimmt. An erster Stelle erscheint die erstmals zu Breslau 1838
als eine besondere Schrift erschienene Untersuchung über »die
Aloxandriuischen Bibliotheken unter den ersten Ptolemäern und die
Sammlung der Homerischen Gedichte durch Pisistratus, nach An-
leitung eines Plautinischen Scholion's« ; unter den Zusätzen erinnern
wir nur an das, was S. 59 f. über die Periode der Bildung der
homerischen Lieder bemerkt ist. Darauf folgt S. 123 ff. das in
einem Bonner Programm des Jahres 1840 gegebene »Corollarium
disputationis de bibliothecis Alexandrinis deque Pisistrati curis
Homerici8c, das allerdings hier angereiht werden musste, und eben-
falls mit einigen weiteren Verweisungen und einem beachtenswerthen
Epimetrum versehen ist. An dritter Stelle S. 173 ff. folgt aus
einem Bonner Programm 1840— 41 : »Disputationis de stichometria
deque Heliodoro supplementum € bei dem wir ebenfalls mehrfaohe
Zusätze und Verweisungen nahmhaft zu machen haben. Dann folgt :
IV. Sticbometrisches bei Diogenes Laertius, ans dem Rheinischen
Museum N. F. XIII p. 309 ff. (1858); V. >Joannis Tzetzae scho-
liorum in Aristophanem prolegomena edita et enarrata ab Henrico
Keilio« aus dem Rhein. Mus. N. F. VI. p. 108 ff. 243 ff. (1847).
Die drei nächstfolgenden Nummern sind aus Ersch und Gruber's
Encyclopädie entnommen, und zwar VI. Onomakritus von Athen,
VII. Ode (Volkslied) der Griechen, VIII. Olympus der Aulet ; ihnen
reiht sich an IX. zur Geschichte der griechischen Metrik, aus dem
Rhein. Mus. N. F. I. p. 277 ff. (1841). X. Der Parallelismus der
sieben Redenpaare in den Sieben gegen Theben des Aeschylus, aus
den Jahrbb. f. Philolog. Bd. LXXVIL p. 761 ff. (1858), mit einem
Nachtrag ausgestattet. XI. De Aeschyli in Septem adversus Thebas
versibus 254—261 Disputatio, aus dem Bonner Programm 1857.
XII. Caroli Reisigii emendationes in Aeschyli Prometheum, aus
dem Vorwort zu den zu Halle 1832 erschienenen Apparatus critici
ei exegetici in Aeschyli tragoedias, bekanntlich einem Sammel-
werke, au welchem der Verf. aus den von ihm besuchten Vorlesun-
gen Reisig1 s über den Aeschyleiscben Prometheus einzelne Bemer-
kungen und Erklärungen dieses Gelehrten geliefert, und ins Latei-
nische übertragen, dem ersten Bande jenes Werkes p. XIX ff. bei-
gegeben hatte. Auf diese drei den Aeschylus betreffenden Abhand-
lungen folgt unter XIII. eine den Sophocles betreffende Abhandlung :
De cantico Sophocleo Oedipi Colonei aus dem Bonner Sommer-
programm 1862, und dann folgt die im Jahre 1829 zu Halle er-
schienene Habilitationsschrift des Verfassers : De Agathonis tragici
aetate mit den angeschlossenen Thesen. Den Beschluss des Ganzen
macht eine dem Rhein. Mus. N. F. XHI p. 136 ff. (1858) entnom-
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836 Lehmann: Geschichte der Dynasten von Westerburg.
mene Erörterung über »zwei Rechnungsfehler in Xenophon's Ana*
basis«; sie vermittelt gewisse rraassou den Ueber gang zu dem andern
Fasoiculns dieses ersten Bandes, in welchem, wie schon oben be-
merkt worden, das kommen soll, was auf die griechischen Pro-
saiker sich bezieht, und zwar, wie wir aus dem auf dem Umschlag
befindlichen Verzeich niss ersehen, die Abhandlung De Marsyis rernm
scriptoribus , drei auf die Texteskritik des Dionysius von Hali-
carnass bezügliche Abhandlungen, zu Herodian's Kaisergesohichte,
Aviston der Peripatetiker, Gnomologium Yindobonense, De Oro et
Orione, Etymologici Angelicani Descriptio, De Meletio physiologo
narratio, Schedae oriticae, Kritische Miscellen, Onomatologus Plau-
tino-comicus, Moderne Adjective auf ides , ideus , Griechische In-
schriften aus Sicilien, De amphora litterata Galassiana, Pelopsvase
von Ruvo, Pelops und Oenomaus, römisches Relief: lauter im Lauie
der Jahre 1819 bis 1866 erschienene Aufsatze von grösserem oder
geringerem Umfang , die vereinzelt nur Wenigen zugänglich , iu
dieser Zusammenstellung weiteren Kreisen zugeführt werden. Sorg-
faltige Register, wie sie versprochen sind, werden dann auch nicht
ausbleiben, und die Benutzung des Ganzen fördern. Die vorzüg-
liche äussere Ausstattung dieses ersten Fasciculus bedarf kaum
einer besondern Erwähnung.
Geschichte und Genealogie der Dynasten von Westerbur g aus
Urkunden und anderen archivalischen Quellen, Im Auftrage
des Vereins für nassauische Alterthumskunde und Geschichts-
forschung von J. (?. Lehm ann, proi. Pfarrer *u Nussdorf
in der Pf als;. Mitglied d. k% Akademie der Wissenschaften zu
München u. s, w. Wiesbaden. In Comtnission bei W. Roth.
1866. 251 S. in 8. Mit einer genealogischen Tafel.
In dieser Schrift liegt ein werthvoller Beitrag zur geschicht-
lichen Kunde unserer rheinischen Gegenden vor, indem darin eine
unmittelbar aus urkundlichen Quellen hervorgegangene Geschichte
eines Geschlechtes gegeben ist, das mit dem Nassauischen Fürsten-
hause in vielfacher Berührung stand, in Nassau seinen Sita
hatte, und um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts (1423) durch
die Verbindung des Grafen Reinhart III. mit Margaretha , einer
Toohter des Grafen Friedrich VIII. von Leiningen, die Grafschaft
Leiningen gewann, um fortan als gräflioh^leiningen'sohes Geschlocht,
begründet durch Cuno I., den Sohn jenes Reinhart, zu blühen. Bia
zu diesem Zeitpunkt ist die Gesohichte des Geschlechtes in vor-
liegender Schrift geführt, die auf diese Weise auch als eine Er-
gänzung der von dem Verfasser früher gelieferten Geschichte der
Grafen von Leiningen angesehen werden kann, indem in dieser die)
weiteren Schicksale dieses Geschlechtes besprochen sind bis auf die
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Lehmann: Öesehiehte der Dynasten von Westerburg. 587
neuesten Zeiten herab. So hatte der Verein für nassauische Ge-
schichtsforschung allen Grund, die Ausarbeitung der früheren Ge-
schabte dieses Geschlechtes in die Hände des Verfassers zu legen,
dar dieses Vertrauen auch gerechtfertigt hat.
Was über den Ursprung des Geschlechtes mit Sicherheit sich
herausstellt, ist in der Einleitung angegeben. Hiernach unterliegt
es kaum einem Zweifel, dass die Herrn von Westerburg ursprüng-
lich mit den Herrn von Runkel zusammen fallen und Eine Fami-
lie bilden. Ein Herr von Runkel kommt zuerst im Jahre ein-
hundert vor, der Name Westerburg hundert Jahre später, obwohl,
wie es hier sehr wahrscheinlich gemacht wird, die Familie viel
älter erscheint, und, wie die meisten alten Gesohlechter der Lahn-
gegend, von den uralten Grafen des Lahngau' s ihren Ursprung ab-
leiten kann: jener Gebhart, Graf des Lahngau's, welcher 878 das
Stift Ge münden gründete, wird dann auch als einer der Urahnen
des Geschlechtes betrachtet, dem über dieses Stift die Schutz und
Schirmgerechtigkeit, so wie auch das Patronatrecbt zustand. Eine
halbe Stunde von dem Stift entfernt liegt im Lahngau, in welchem
auch auf einem Felsen an der Lahn die Burg Runkel lag,
die Burg Westerburg, deren Namen allerdings auf den nahen
Westerwald hinweist. Die eigentlich geschichtliche Darstellung be-
ginnt mit Siegfried I., dem ersten aus einer Stiftungsurkunde vom
Jahre 1100 bekannten Herrn von Runkel, und ist dieselbe fortge-
führt bis zu dem vierten dieses Namens, welcher, als der Stifter
der Westerburg' sehen Linie anzusehen ist, und um 1266 oder 1267
starb : denn unter seinem Vater fand zur Beseitigung der Familien-
streitigkeiten eine Theilung der Güter statt im Jahre 1226 — die
Urkunde selbst wird mitgetheilt — unter die beiden Söhne Sieg-
fried und Dietrich (Theodoricus), in Folge desseu jener als Stifter
der besonderen Westerburger, und dieser der Runkel'schen Linie
anzusehen ist, obwohl er den Namen von Runkel erst später (1288)
annahm, in Folge einer zweiten Theilung, die zur Beilegung der
fortwährenden Streitigkeiten im Jahre 1288 stattgefunden. Hein-
rieh I., der Sohn Siegfrieds IV., nahm nun seinen festen Wohnsitz
in der Westerburg, von deren Lage und Beschaffenheit der Verf.
8. 2 7 ff. ein freundliches Bild entwirft. Seinem Bruder Siegfried,
welcher den erzbischöflichen Stuhl von Köln in den Jahren 1275
bis 1297 inne hatte, wird ein eigener Abschnitt (S. 29—43) ge-
widmet, wie diess auoh dieser in seiner Art ausgezeichnete Mann,
der besser das Schwert als den Hirtenstab in seiner Hand geführt
hätte, verdient. Die wechselvollen Schieksale dieses Kirchenfürsten
»der sich als Regent, als Held und teutscher Patriot so vortheil-
haft auszeichnete und auch nicht wenig zum Glänze und zum
Wohl des westenburger Geschlechtes beitrug«, werden in diesem
Abschnitt erzählt. Im vierten Abschnitt (S. 43 — 108) verfolgt der
Verfasser die weiteren Geschicke des Geschlechts, von Heinrich I.
an bis zu Beinhart III., und der Verbindung mit Leiningen durch
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Stark: Tafel von Deutechland.
die Leiningen'sche Erbschaft, wie wir oben bemerkt haben; Alles
an der Hand der Urkunden und durch diese belegt. Es war daher
gewiss zweckmässig in dem beigefügten > Urkundenbach der Dyna-
sten von Westerburg« vier und achtzig der wichtigsten, sämmt-
lich bisher ungedruckten Urkunden in lateinischer wie in deutscher
Sprache mitzutheilen und zwar getreu nach den noch vorhandenen
Originalen oder alten Copien derselben. Es ist diess um so ver-
dienstlicher, als diese Urkunden noch Manches Andere enthalten,
was für andere Geschlechter oder für die Zeit Verhältnisse über-
haupt und deren nähere Kunde von Belang ist. Nur auf der Grund-
lage solcher mit den nöthigen urkundlichen Belegen ausgestatteten
Monographien wird eine gründliche Landesgeschichte erwachsen
können, und darum wird man den Gelehrten, der die gründliche
Arbeit unternommen und dem Verein, der dieselbe ins Leben ge-
rufen hat, die volle Anerkennung nicht versagen können.
Statistische Tafel von Deutschland seit der Bildung des norddeutschen
Bundesstaates von Dr. A. Stark. Enthält: Land- Eint Heilung,
Grösse, Landwirlhschaft , Bergbau und Hüttenwesen, Qewerb-
tHä tinkeil, Handel, Bildungswcsen, Finanzen, Armee, Verkehrs-
anstalten, Mineralquellen und Bäder, Hauptstädte und wich-
tigste Orte. Gera und Leipzig, Verlag von Hermann Kautz,
1Ö66. Preis 5 Gr. oder 18 Kr.
Auf dieser Tafel , die eine Länge von circa vier und eine
Breite von fast drei Fuss hat, findet man nach den auf dem
Titel genannten Gegenständen in zehn Rubriken alle die Notizen
zusammengestellt, welche über den betreffenden Gegenstand sich
geben lassen ; es wird der Leser auf diese Weise ganz leicht
einen statistischen Ueberblick über alle grössere oder kleinere
Länder erhalten, die man bisher unter Deutschland begriff,
jedoch mit Ausschluss von Oesterreisch und von den zu Holland
gehörigen Landestheilen. Die einzelnen Angaben, namentlich die
Zahlen der Bevölkerung u. dgl. m. sind genau und auf die neuesten
offiziellen Erhebungen basirt , daher für den Leser verlässig , der
um geringen Preis sich diese umfassende Statistik verschaffen kann.
Insbesondere umfangreich im Verhältniss sind Notizen Uber Ge-
werbthätigkeit und Handel; die über Finanzen uud Armee, die in
Eine Rubrik geworfen sind, werden aber wohl bei den gegenwärti-
gen Zeitverhältnissen bald grössere Ausdehnung gewinnen und aus-
einander zu halten sein.
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Ii. 19. HEIDELEEEGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
1) Die Depo Bit ion und Degradation nach den Grundsätzen des
kirchlichen Hechts, historisch-dogmatisch dargestellt von Dr.
F. Kober, o. ö. Professor an der kathoL theolog. Fakultät
in Tübingen. Tübingen 1867.
2) Geschichte der populären Literatur des römisch- kanonischen
Recht» in Deutschland am Ende des fünfzehnten und am Anfang
des sechssehnten Jahrhunderts von Dr. Roderich Stintzing ,
ordentl. Professor der Rechte in Erlangen. Leipzig bei Hirzel.
1867.
Wir gedenken über zwei bedeutende Werke der neuesten Zeit
eine kurze Anzeige zu geben.
Zu 1. Der Verfasser des ersten Werkes gehört zu den gelehrtesten
Canonisten Deutschlands. Er selbst wird nicht leugnen, dass die
innere Ordnung des katholischen Kirchensytems auf zwei Rich-
tungen ruht : die Disciplin der Kirche in den Kirchenstrafen , die
Disciplin der Kirche in den Bussinstituten — de poenis et poeni-
tentiis, wenn ich diese Worte im weitern und engern Sinn ge-
brauchen darf. Der Verfasser hat in seinem dreibändigen Werke
gezeigt, dass die katholische Kirche dem Bildungsgange der Welt,
gemäss der Oulturbildung entsprechen kann, ohne von seinem
historischen Rechte Etwas aufzugeben, welches derselbe vortrefflich
erklart: der Verfasser wird aber auch zugeben, dass die katho-
lische Kirche \n ihren Bussinstituten durch das Busssacrament und
den Ablass nichts, auch gar nichts in Form und Sache, besonders
bei dem Sacrament durch die Ohrenbeichte aufgeben darf, weil es
in das Wesen der kirchlichen Ordnung gehört. Von dem letztern
Punkte haben wir hier nicht zu sprechen ; wir benützen aber diese
Gelegenheit, um ein anderes von einem protestantischen Gelehrten
geschriebenes gelehrtes Werk in Betracht zu nehmen, der auch das
katholische Bussinstitut in seine Geschichte aufgenommen hat,
namentlich hinsichtlich der Casuistik des Beichtstuhls, dessen Ge-
schichte und Bedeutung er, wie uns scheint, nicht vollkommen be-
griffen hat.
Was nun den Herrn Professor Kober angeht, so hat er seine
Meisterschaft bewiesen : 1) indem er seinen Gegenstand nach allen
Seiten hervorgehoben hat, der bis auf diesen Tag Monographien
nicht aufzuweisen hat, 2) indem er die Lehre von den Censuren
und Strafmitteln der früheren Zeiten, wie sie noch bei Reiffenstuel
und Andern vorgetragen ist, ganz zur Seite liegen lässt, weil Man-
ches hier verändert werden musste. Besser ist freilich die Dar-
LTX Jahrg. 4. Heft. 19
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290 Kobern. Stintstng: Zum Canonisohen Recht
Stellung von Schmalzgrueber in der Gesammtverbindung der Stra-
fen und Bussen bis zur Uasuistik. 8) Dass er aber das Charakter-
feste in dieser Lehre, der poenae medicinales und vindicativae an
die Spitze stellt. 4) Dass er die Bedeutung dieser Lehren für unsere
Zeit durch ein vor kurzer Zeit eingetretenes Experiment in Deutsch-
land hervorhebt und praktisch macht. 5) Dass er statt in dieser
Lehre Terrorismus und Unfreiheit zu beurkunden umgekehrt Aucto-
rität und Liberalität zugleich findet, und die Discipiin durch das
geordnete Gerichtsverfahren als höchst ungefährlich darstellt. 6)
Dass er die Gelegenheit benutzt, die interessantesten Lehren der
katholischen Kirche gelegentlich hervorzuheben.
Sehr ruhig eröffnete er seinen Kreislauf durch die Excommu-
nication, die der Recensent No. 48 der Jahrbücher von 1857 an-
zeigt hat, und wo Herr Prof. Kober aufgemuntert wurde, Indices
anzuhängen, die jetzt in den drei Bänden vortrefflich sind.
Eben so wichtig war die Lehre von der Suspension, wo eben-
falls sehr bedeutende Verhältnisse berührt sind, z. B. die Discipiin
in Beziehung auf das Recht zu predigen. Das Recht zu predigen
ist aber nur das Recht zu unterrichten, und nicht das Recht, das
Entscheidungsrecht in der Lehre zu üben (magisterium).
Aber den grössten Anlauf hat der Schriftsteller in der Lehre
von der Deposition und Degradation genommen, wo das ganze
System der Kirche gerade bei der Darstellung einer Detaillehre
seine Vollendung gefunden, und dasjenige wahr geworden ist, was
er vorausgesetzt hat, dass man sich jetzt nicht mehr um Systeme
des Kirchenrechts als um die Darstellung von Detaillehren kümmern
muss (S. die Vorrede zum I. Bande oder dem Kirchenbann).
Es handelt sich hier blos davon , eine kurze Uebersicht des
Gesammt werks, seines Systems, die Art der Durchführung des Ein-
zelnen, und der Bestrebung zu geben, wo jeder Streitpunkt in die
Geschichte des Systems verwickelt ist. Eine Dogmengeschichte hat
der Verfasser Überall vorausgesetzt, er bedurfte sie aber in der
Literatur nicht nachzuweisen, weil schon in der Consequenz der
Begriffe und Eintheilungen und Kirchengeschichte das wesentliche
Moment des kirchlichen Instituts liegt, und dabei von dem Ge-
dankengange des Ungehorsamen, wie z. B. bei andern welt-
lichen Delicten des Rechts nichts abhängt. Es sind hier lauter
delicta propria der zu Bestrafenden, d. h. Vergehen, die aus dem
Standpunkte der Unbotmässigkeit erscheinen. Dem Recen-
senten wird es vielleicht gelingen, die Dogmengeschichte des kirch-
lichen Systems in Beziehung auf Simonie, Wucher, Tödtung u. 8. w.
mit dem Thatbestand und der Schuld, dann über die Einheit der
Kirche, Hierarchie, dann des kirchlichen Gesetzes auch des Verfahrens,
namentlich der denunciatio und inquisitio in einer eigenen Darstel-
lung hervorzuheben. Zur Uebersicht des Systems unseres Verfassers
diene Folgendes: Bekanntlich war die Behandlung des Kirchen -
rechts in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in Deutschland so-
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Sober u. StinUing: Zum Ctnonisohen Recht. 391
•vohl von den Lehrern wie von den Zuhörern ganz zur Seite ge-
stellt, und erst die neueste Zeit hat neue Kräfte gesammelt: ein
gefährlicher Punkt war eine Ineinandermischung katholischer und
protestantischer Ansichten und Begriffe; aber auch darauf wurde
man aufmerksam. Die drei Werke unseres Verfassers hatten fast
allein den katholischen Standpunkt. S. jedoch III. Band. S. 175.
Ueber den ersten Band ist als in diesen Blättern schon augezeigt
weniges anzuführen: vorzüglich gut behandelt ist der formelle
Punkt der Begründung der Excommunicatio in der Person des
Excommqnicirten durch die Publication des Bxcommunioations-
bescheides in der Benennung d e r P e r 8 o n entweder durch den
Namen, oder durch eine Bezeichnung, die ohne allen Zweifel
der Namensbezeiohnung gleich ist, wie z, B. bei Kapoleon L —
Sowohl bei der Begründung der Exoommuuication wie bei der Ab-
solution sind so zu sagen die römischen Rechtsformen im
Privatreeht zur Grundlage genommen z. B. bei der Exheredatio,
wo die sui männlichen Geschlechts eben so formell enterbt wer-
den mussten: bei der Entlassung aus der väterlichen Gewalt oder
resp. der Entlassung der Sklaven die manumissio per vindictam,
wo eine Flagellatio stattfand, die im canonisohen Rechte so-
gar auf die Absolution der Todten angewendet wurde. Aber dieses
waren Nebensachen: die Excommunication an sich war nicht von
so schweren Folgen begleitet, wie man sich vorstellt — und wurde
überhaupt durch die neuesten Constitutionen der vitandi und to-
lerati sehr erleichtert : aber wieder hinsichtlich der Wirkungen der
excommunicatio tritt ein römisches Verbältniss hervor, d. h. der
Excommunicirte verliert sein suffragium — und dieses Wort
ist canonisoh technisch (S. Ferraris 8. v. suffragium) — im
Einzelnen kommen dann die Heilmittel, aber ohne Hoffnung
bleibt der Excommunicirte auch für den Fall des Todes und im
Tode nicht — doch genug.
Was nun die suspensio angeht, so ist der zweite in diesen
Jahrbüchern noch nicht angezeigte Band ebenfalls von grosser Be-
deutung. Die suspensio bezieht sich blos auf die clerici und mit
Recht hat der Verfasser unterschieden das Verbältniss der Indi-
viduen nach den clericis im Allgemeinen und der Bischöfe insbe-
sondere, dann das Verhältniss der Corporationen d. i. der Üapitel,
Klosterconvente mit den Angehörigen derselben: dann ist ausge-
führt die suspensio ab officio und a benefioio, wo bei der letzteren
dasjenige hervortritt, was sich auf die Benutzung des Beneficial-
vermögens und die Privation desselben gleichsam im Sinne des
Privatrechts bezieht: dann wird vortrefflich hervorgehoben, der
Unterschied der suspensio als Censur — und ausnahmsweise als
poena vindicativ a, wohin auch die Absolution bei der Censur und
als poena vind. unterschieden wird, endlich das Verfahren, welches
züerdiaga das gewöhnliche ist, wobei aber auch das Verfahren ex
iüform&t* ©onsoientia vorkommen kann.
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292 Kober u. Btintsing: Zum Canonischen Recht*
Um nun zum dritten Bande überzugehen, der nicht blos den
Hauptgegenstand bis in das kleinste Detail darstellt, sondern zu-
gleich die wesentlichsten Beziehungen des Gesammtkirchenrechts
darstellt, z. B. die Bischöfe sind nicht Diener des Staats und von
ihm bestellt, sondern sie empfangen Amt und Mission aus den
Händen der Kirche u. s. w. — das Concilium von Sardica, den
Standpunkt der africanischen Kirche (ad transmarina), die pseudo-
isidorischen Decretalen, die Einsetzung und Absetzung in allen
Kirchenämtern bis zum Papste hinauf. Vor Allem wird daher
nöthig sein, den Inhalt des Buches darzustellen. Erstes Capitel : Die
Deposition in der älteren Kirche. Zweites Capitel: Die Depositum
und Degradation in der spätem Zeit. Schon im ersten Capitel
wird dargestellt, dass der (J lenk er für immer deponirt bleibe,
und in seine frühere Stellung nie wieder zurückversetzt werde
(8. 29). Es blieb ihnen nur die communio laica (S. 60 ff.), oft
aber trat auch die öffentliche Kirchenbusse dazu (S. 69). Von der
traditio curiae oder Degradation durch kaiserliche Constitutionen
(S. 90). In kirchlicher Hinsicht aber besteht die Deposition als
diejenige Kirchenstrafe, vermöge welcher die Cleriker aller Amts-
und Standesrechte, sowie der kirchlichen Einkünfte auf immer ver-
lustig gingen, aus dem Clericalstande Verstössen und unter die
Laien zurückversetzt (Laiisiren). Kober behauptet »bis gegen
das Ende des zwölften Jahrhunderts wurden die Ausdrücke depo-
sitio und degradatio durchaus als Synonym gebraucht und bezeich-
neten eine und dieselbe Strafe« — allerdings möchten wir hier
einigen Zweifei erheben, weil auch bürgerliche Gesetze, wie schon
oben angeführt, in der ersten Zeit Bedeutung haben. Ebendesshalb
richtet der Verfasser in der zweiten Abhandlung eine eigene Ab-
handlung für seine eben angegebene Meinung ein. Zugeben können
wir dem Verfasser nur zweierlei: 1) dass die Todesstrafe den
Cleriker niemals traf. Es war dieses im Geiste des Kirchenreohts,
und wenn unsere Laien Missethäter der grassesten Art, Meu-
chelmörder, Raubmörder, Elternmörder die höhere Bildung der
Cleriker oder nur die BesserungsfUhigkeit würden erlangen können,
so könnte man auch die jetzt so olt behandelte Frage über die
Aufhebung der Todesstrafe in Hinsioht auf das Staatskriminalrecht
in Betracht nehmen. 2) Dass die Degradation selbst nicht in den
ersten Jahrhunderten, sondern später erst die begriffliche und Unter-
scheidungsrichtung bis zur formellsten Natur annahm, die
wir jetzt finden.
Von nun an hat die Darstellung in vier andern Capiteln die
gegenwärtige Gestalt der Lehre und zwar in dem dritten Capitel
die Lehre von der depositio und degradatio verbalis und actualis
(bei dieser letzteren Doppelrichtung eine bedeutende Controverse)
— dann in dem vierten Capitel von den Behörden, welche die
Cleriker aller Art absetzen können, im fünften Capitel von den
Verbrechen, auf welche die Deposition gesetzt ist und im sechsten
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Kobe* u. Stint*Ing: Zum Canonischen Recht. 198
Capitel von den mit der Degradation bedrohten Verbrechen. Dabei
müssen wir im Knrzen anführen; 1) die schöne Ausführung des
Princip8, Christus habe die Strafgewalt den Aposteln und ihren
Nachfolgern, und nicht der Gemeinde überlassen (S. 396). Somit
die Handhabung der ganzen Kirchenordnung. 2) Die Bischöfe Äraren
ursprünglich an ihre Presbyter als ihre natürlichen Rathgeber ge-
baodeu : der Verfasser stellt hier den Zustand der Zeit dos Decrets
Gratians dar, und zwar mit Recht nach dem Standpunkt der orien-
talischen, afrikanischen, occidentalen Disciplinarordnungen , beson-
ders der sehr ausgebildeten afrikanischen Kirchendisciplin, er führt
die afrikanischen Concilien an und den bekannten c. 6 Causa XV.
qn. 7: er entwickelt die Anerkennung des päpstlichen Primats von
allen Seiten , namentlich auch für die afrikanische Provinz mit
Rücksicht auf Cyprian, er stellt die spatere Ausbildung unter Gre-
gor IX. im c. 1 X. 1, 31 und c. 13 X. 2, 2 dar (S. 310) und
gerade hier sieht man, wie unentbehrlich das Studium derKirchen-
gescbichte ist. (Der berühmte Hirscher berief sich vor vielen Jah-
ren in einer eigenen Schrift auf die c. 6 Causa XV. qn. 7 und
dabei mit einer falschen Lesart, gedachte nicht der Stellen in den
Decretalen: der Recensent erliess damals eine Schrift gegen ihn
(Antwort eines Laien): wo er die Bedeutung der Stelle in eben
der Art, wie unser gelehrter Verfasser zeigte.) — Doch genug.
3) Nunmehr hat Herr Prof. Kober bei Gelegenheit der Absetzung
der Aebte sich in die Natur und Geschichte des Mönchswesens
eingelassen, und den Hauptpunkt hervorgehoben, dass die Mönche
den Clericis entgegengesetzt wurden, bis allmählig durch das Ver-
schwinden des rohen Laienwesens und der Erhebung zur Wissen-
schaft und zum Clericat eine neue Ordnung der Mönchsverbindun-
gen eintrat, wobei der Verfasser mit Recht bemerkt, dass auch
der Jesuitenorden zu den Mendicanten gehört: — 4) In Hinsicht
der Bestrafung der Bischöfe geht der Verfasser wieder an der Hand
der Geschichte, untersucht die Einwirkung der Provincialconcilien ,
nod die Appellation an den Papst, wieder nach den einzelnen Pro-
rinzen, Orient (Concil von Sardica): Afrika, wo man ursprünglich
das Concil von Sardica nicht kannte, sondern erst durch Nach-
forschung kennen lernte, so dass dann später der Pseudoisidor
keine Neuerung in der Sache gab (von Hadrian S. 480). Dadurch
kam er auf das fränkische Reich, auf die causae majores, und wie-
der hier zeigt sich, was vor vielen Jahren der Recensent dem Prof.
Richter nachgewiesen hat, dass es keine eigentümliche fränkische
Kirche gab, was Richter selbst dann zurücknahm (S. 458. 456).
Endlich kommt unser Verf auf das Recht der Decretalen zurück
(8. 464). Zuletzt geht derselbe auch auf das Verbältniss der mög-
lichen Fehler des Papstes ein, und rechtfertigt den Cardinalsatz
der Hierarchie »prima sedes a nomine judicaturc, denn die Lehre
ron den kirchlichen Strafen ist der Punkt, von welchem aus der
Satz selbst seine Bedeutung hat. Dabei gibt der Verfasser zuletzt
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Kober u. Sttntsisg: Zum Cmnonlichen Rocht.
die Stufenfolge der Kircbenstrafen (8. 588). Es geschieht dieses
im Standpunkte der vollen Ausbildung des Kirchensystems, wo
bei der Cultur der Völkor andere nicht geistliche Strafen, die man
einst in den Pönitentialbüchern anwenden Hess, wegfallen. Es zeigt
sich dann auch, wie diese Bücher jetzt nur eine Bedeutung haben
für das Busssystem und zur Casuistik des Beichtrechts gleichsam
als eine Fühlung des christlichen Gewissens. — Wir wollen hier
des Raumes unserer Heidelberger Blatter wegen abbrechen, und
nur noch auf die schönen Ausführungen uns beziehen, die sich auf
das objective Verhältniss der Verbrechen der Deposition und De-
gradation beziehen. Es war für Deutschland eine Zeit, wo sich
auch Laien an der Erhebung und Darstellung des Kirchenrecbts
interessirten, und so sagte dem Rocensenten ein sehr gelehrter und
grosser Cardinal der Kirohe, dass dieses gut sei, aber es müsse
dahin kommen, dass deutsche Cloriker dieses Feld bearbeiteten, im
Ueberblick der Kirchengesohichte. Dieses ist in Erfüllung gegangen
durch das vortreffliche Werk, welches unser Verfasser geschrieben
und seine Vollkenntniss des Kirchenrechts gezeigt bat.
Zu 2. Es ist der Zweck dieser Recension nicht, die eignen An-
sichten und Urtheile des Verf. hervorzuheben oder anzugreifen: in
der Zeit, welche der Verfasser darstellt, war, wie er selbst sagt,
von den doctores legum nicht die Rede, aber vom canonischen
Recht, weshalb man nur die Geschichte der Universitäten von Prag
und Heidelberg in Berücksichtigung nehmen darf, und keineswegs
durch die Coryphäen der Reformation, sondern durch das cano-
nische Rech t, welches von jeher ein christlich einheimisches
auch in Deutschland war, und durch die Einleitungsschrift in
Gratians Decret ist auch das römische Recht ein einheimisches
für Deutschland und für das deutsche Volk geworden. Man hatte
niemals von der Reception des römischen und canonischen Rechts
sprechen sollen, wie man etwa von der Reception des französischen
Civilreobts für Baden spricht. Aber das erkennen wir bei Stin-
tzing an, was er S. XXVI spricht:
»Nioht nur die Sprache der Bildung allgemein, sondern das
Reich, die Kirche, die Sprache der Andacht war römisch, und wie
man die Lehren der Religion aus fremden Urkunden schöpfen
musste, so auch bei dem Rechte« — »das römische Recht, sagt
derselbe Verfasser, war dem Bewusstsein jener Zeiten für keine
Nation ein Fremdes, sondern es erschien als das Allgemeinere,
Höhere, Allumfassende.«
Den Sinn für Nationalität hätte also der Verfasser ebenso
wie die spätere kirchliche Entwickelung und Wissenschaft für seine
Arbeit bei Seite lassen sollen. Auch war früher Sebastian
Brant kein Vorkämpfer des jetzt so benannten Humanismus. Das
wichtigste in. der von Stintzing geschilderten Zeit ist der Ein-
flus8 der vorgebrachten Werke auf den Prozess, wovon wir bei
einer andern Gelegenheit, sowie überhaupt von diesem mit grossem
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Kober tl Stintaing: Zum Canontsohen Recht. »06
Fleisse und Ausdauer geschriebenen Buche Stintzing's sprechen
werden: das römische Recht ist allerdings die Grundlage aueh
unseres Rechts, aber es ist nicht das römische Recht nach seiner
Wesenheit, am wenigsten in Beziehung auf das Kirchenrecht. Das
canonische Recht hebt germanische Ansichten hervor, und mit
Recht bemerkt auch Richter in seinem Schwanengesang, dass
man im preuss. Landrecht das Compendium von G. L. Böhmer
zum Grunde genommen habe. Hier sei es uns gestattet, zu dem
zehnten Capitel, der geistlichen Jurisprudenz, einige Worte zu
machen.
Mit Recht wird angeführt, dass, weil nach canonischer An-
sicht der Mensch nicht sein eigener Sittenrichter sei, sondern sich
einem von der Kirche bestellten Sittenrichter und zwar durch die
Ohrenbeicht unterwerfen müsse, — dieser Sittenrichter einen Maass-
stab seines Urtheils haben müsse, auf rein juristische Weise, und
dass so eine Casuistik und Entscheidnngsregel entstanden sei. Um
nun dieses erklärlich zu finden, kann man nicht annehmen, dass
das Bassinstitut erst durch diesen oder jenen Papst — durch diese
oder jene Gewohnheit entstanden sei , und muss sich daher der
Ausfuhrungen enthalten, die Herr 8 1 i n t z i n g zur Grundlage seiner
Darstellung gemacht hat, und wornach derselbe sich nur auf pro-
testantische Ansichten und Schriftsteller bezieht. Wir hätten ge-
wünscht, dass er das Lehrbuch von Devoti sect. IV. de poenitentia
§. 70. Note 2 gelesen und seine einseitige Darstellung unterlassen
hätte. Was aber die Schriften, welche er angeführt hat, betrifft,
so schätzen wir, wie überall seinen Fleiss, obgleich ihm Manches
fehlt, wie z. B. die summa Pacifica, die er schon bei Ligorio theoL
moralis hätte kennen lernen können. Mehr noch hätten wir ge-
wünscht, dass er das System der katholischen Kirche von forum
poli oder internum zum externum aufgefasst hätte, wie es sogar
in des Recensenten Lehrbuch des Kirchenrechts mit der Richtung
auf die Casuistik steht. Vieles ist von Stintzing gut ausgeführt,
z. B. Alles, was er über die bona fides bei der Verjährung nach
canonischen Ansichten darstellt, und was eben unsere Romanisten
als gemeines deutsches Recht nicht anerkennen wollen. Die Lehre
von den Zinsen ist durchaus ungenügend behandelt, und was sollen
hier die nncanonischen Schriften bei Hillebrand S. 540 für eine
Bedeutung haben. Es hängt hier alles von den usurae lucratoriae
und compensatoriae ab, woran weder Endemann noch Neuraann
in Dove's Zeitschrift V. Band gedacht haben. Auch finden wir etwas
sonderbar die unrichtige und selbst als zweifelhaft aufgestellte An-
sicht S. 505. Note x — wobei Stintzing die Darstellung von
Perrone in der Rechtfertigung der unbeflekten Empfängniss, auch
wegen der Ansicht des Thomas von Aquino hätte nachsehen können.
Ganz speziell hat sich darauf und zur Rettnng des heil. Thomas
bezogen Speil die Lehre der katholischen Kirche gegenüber der
protestantischen Polemik S. 163 ff. Doch lassen wir dieses Alles
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206 Poeta« lyrlci Graeci. Ree. Bergk.
— sind wir dem Verfasser Dank schuldig, dass er in seiner pro-
testantischen Gesinnung hat Rücksicht nehmen wollen anf dieses
wichtige Capitel, welches er nennt geistliche Jurisprudenz.
Rosshirt.
Podae lyrici Graeci. Teriiia curis recevmit Theodor u& Bergk.
Pars 1. Pindari Carmina continem. Pars 11, poeta» elegiacos
et jambographos coniinens. Lipsiae in aedibus B. 0. Teubner.
MDCCCLXV1. 804 8. in gr. 8.
Wir glauben, auch ohne die Vollendung des Ganzen abzuwar-
ten, doch über die beiden hier vorliegenden Theile einer neuen,
der dritten , Ausgabe der griechischen Lyriker einen Bericht
abstatten zu müssen, um in der Kürze auf das wenigstens hinzu-
weisen, was dieso neue Ausgabe vor ihren beiden, hinreichend be-
kannten und verbreiteten Vorgängern auszeichnet. Zwar ist in der
äusseren Einrichtung des Ganzen keine Aenderung eingetreten, die
äussere Ausstattung selbst vorzüglicher ausgefallen, als diess in
den beiden vorausgegangenen Ausgaben der Fall war: in der Be-
handlung des Textes, und der demselben unterstellten Anmer-
kungen tritt jedoch die Verschiedenheit von den früheren Aus-
gaben in einer Weise hervor, die in Manchem wie eine völlige
Umarbeitung erscheint. Die kritischen Noten, welche das Wesent-
lichste der Abweichung in demTexte enthalten sollen, haben eine
bedeutende Erweiterung erhalten, namentlich auch dadurch, dass
die mit der Kritik in so vielen Stellen zusammenhängende
Erklärung berücksichtigt worden ist, und hier überhaupt nicht
Wenig Neues und Beachtenswerthes zur besseren Auffassung und
zum Verständniss des Textes, daher auch mancher Beitrag zur
näheren Kunde des Sprachgebrauchs, selbst mit Beifügung weiterer
Belege, gegeben ist. Dass auf Alles das, was für die lyrischen
Dichter, seit dem Erscheinen der zweiten Ausgabe (1853) in ein-
zelnen Ausgaben, Abhandlungen oder gelegentlich geleistet worden,
Rücksicht genommen worden ist, war von der Sorge, welcher der
Herausgeber dieser erneuerten Ausgabe zuwendete, zu erwarten,
und es wird kaum gelingen, Nachträge von Belang hier zu geben.
Dass zu Pindar die Ausgabe von Tycbo Mommsen, dessen Leistun-
gen der Verfasser alle Gerechtigkeit angedeihen lässt, noch nicht
benutzt werden konnte, lag in den Verhältuissen der Zeit, da die
Arbeit des Herausgebers bei dem Erscheinen dieser Ausgabe be-
reits zu Ende geführt war, also nur von früheren Aufsätzen jenes
Gelehrten über Pindar Notiz genommen werden konnte. Auch zog
sich der allerdings schwierige Druck des Ganzen etwas bin, da die
Vorrede das Datum des December des Jahres 1864 mit einer Nach-
schrift vom December des Jahres 1865 trägt. Aber ausser dem,
was von anderer Seite zur Besserung des Textes beigesteuert oder
bekanntgeworden, hat der Herausgeber selbst das Ganze von neuem
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Poeiae lyrlcl GraecL Ree. Bergk.
sorgf&Uig durchgesehen, und ist in Folge wiederholter Durchsicht
ni manchen Aeuderuugen gekommen, theilweise auch zu weiterer
Xuaführung früherer Ansichten und Behauptungen. Bei den vor-
genommenen Aenderuugen ist jedoch der Herausgeber mit aller
Vorsicht und Umsicht zu Werke gegangen; eine direkte Polemik
hat er meistens sorgsam zu vermeiden gesucht »Nostra studia,
schreibt er in dem Vorwort, verecunde, aliena juste aestimayisse
mihil videor, cavens, ne quid in alios acerbius dicerem, quamvis
insignem levitatem, qua hac nostra aetate permulti criticam artera
factitant, prudenti homini fastidium movere par sit.c Möchten
diese Worte nnr allgemeine Beherzigung finden!
Der erste Theil enthält die noch erhaltenen Pindarischen Ge-
dichte, die Siegeslieder wie die Reste der verlorenen Dichtungen;
dem Texte der Siegeslieder geht ein Index Carminum und ein zwei-
ter Index Temporum, die chronologische Folge der einzelnen Hym-
nen betreffend, voraus, nebst einer kurzen Notiz Über die Codices
und Editiones; dann folgen die einzelnen Lieder, mit vorausge-
schickter Angabe des Metrum's. Dass in der Behandlung des Textes
der Herausgeber nicht in Allem auf unbestimmte Zustimmung wird
rechnen können, liegt in der Natur der Sache, ohne das oben im
Allgemeinen ausgesprochene Urtheil zu andern. So z. B. gleich in
der ersten Olympischen Hymne hat Derselbe Vers 10 beibehalten:
Kgovov itattf ig atpvtav Cxo^iivoig (iccxcuqccv 'Ifycovog itixiav,
wo die besseren Handschriften [xofiivovg haben, was man vor-
ziehen dürfte, wenn man den Accusativ hier für nothwendig hält,
den auch der Herausgeber hier bei txouivoig annehmen zu wollen
scheint, da er hinzusetzt : »nam fort. Pindarus bic aeolica accusa-
tiv i forma usus est, vid. ad Olymp. V, 6.« Hier nämlich soll
xsfiTtafid^OLg ayilXkcug nicht als Dativ genommen werden, in dessen
Erklärung sich die Herausgeber vergeblich abgemüht, sondern als
äolisebe Form des Accusativ's, die an manchen Stellen durch die
Abschreiber verwischt, doch an einigen Stellen sich noch erhalten :
>neqae tarnen credo (setzt der Verfasser jedoch hinzu) Pindarum
ubique his Aeolicis formis usum esse, sed tantum in certo carmi-
num genere, cum in aliis carminibus vulgares formas usurparet:
atque fortasse etiam in illo carminum genere aeolicas clansulas
non perpetuo , sed promiscue adhibuit : nam aurium potissi-
mum judicio haec te m pera ver u n t graeci poetae.« Ob
indess dieser letzte Grund zu derartigen Annahmen überhaupt ge-
nügen könne, mag immerhin noch einigem Zweifel unterliegen. In
derselben ersten Olympischen Hymne ist Vs. 28 ff. also gegeben :
y ftuvuKTu nokka xai nov xi xtcl ßgoxav (pect ig vhIq xbv Alafrrj
loyov Ö cd eud aktiven ^svöeöi noixCXoig l&Ttaxavxi [ivfroi. Hier
geben die meisten und besten Handschriften (paxt,g, was jedenfalls
beizubehalten war ; es fragt sich nur, ob als Accusativ (für ydxiag)
oder als Nominativ aufzufassen: beides bat seine Schwierigkeiten,
im ersteren Fall, auch abgesehen von der metrischen Schwierigkeit,
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298
Poetae lyriei Oraeci. Ree Bergk.
pagen wir mit dem Verfasser: »neque enim figmenta suavia homi-
mim famam deeipinnt , sed ipsos homines vel bominum mentes«;
will man es aber als Nominativ nehmen, so widerstrebt das bald
nachfolgende /nVhu. indem dann eines von beiden als überflüssig
erscheint. 80 kommt der Herausgeber auf folgenden Vorschlag,
den er indess noch nicht in den Text aufgenommen hat : xal nov
xi xal ßgoxcSv Xoyov vneg xov aXa&rj (porig Ö edaid aXpivip
ifrsvdeöi TCOixiXovg i^anaxavxi iivfra, d. i. saepe etiam hominnm
fama (sive fabulae) sermone speciosis mendaeiis supra veritatem
exornato fallit: poetas enim culpat, qui antiquam famam non ut
populi ore fertur memoriae produnt, sed suopte ingenio figmentis
exornant et amplificant « Auf diese Weise scheint allerdings durch
leichte Aenderung der Stelle geholfen. Die Form <paxtg als Nomi-
nativ Pluralis, die ja auch jetzt bei Herodot allgemein hergestellt
ist, hat der Herausgeber mit gutem Grunde in Schutz genommen.
— In der für die Erklärung schwierigen Stelle derselben Hymne
Vs. 50: xganilaial x dpcpl devxaxa xgecov öi&ev öuödöavxo
xal <pdyov war es gewiss am gerathensten, die Lesart der meisten
Handschriften ap(pl devxaxa beizubehalten. In dem Schlussvers
der neunten Olympischen Hymne auf Epharmostos, wo die auf den-
selben bezüglichen und sein Lob verkündenden Worte: og&iov
cnpvöat fragaiav, xovtf aviga datpovia ysydpev ev%SLga, ös^io-
yvictV) ogavx aXxdv vorausgehen, schreibt nun der Herausgeber:
Aldvxsov xs ddi& SV %JXidSa vtxcav ineöxstpdvaMfe ßaiLOv, wo
allerdings die meisten og OiXcdSa geben, und für og die meisten Codd.
sogar oW bringen, oder das Wort ganz weglassen ; es weicht daher
auch seine Erklärung von der von Heyne und Böckh gegebenen ab, and
wird der von ihm gegebene Text zu rechtfertigen gesucht durch die
Erklärung: >poetara cum virtutes et mores Epharmosti illustrare
vult, non qnod semel, sed quod saepissime fecit, hic significare
oportebat; — poeta insignem Epharmosti liberalitatem laudat, qui
solebat, cum victoriam consecutns esset, non solum sacra facere
Aiaci, sed etiam solemnibus his epulis adhibere cognatos et fami-
liäres« etc. Wir theilen diese Erklärung mit, ohne weiter die Frage
nach dem grammatischen Zusammenhang dieses Verses mit dem
Vorhergehenden, welcher og zu erfordern scheint, weiter unter-
suchen zu wollen. In der zweiten Ausgabe war von dem Heraut-
geber dafür dg gesetzt worden.
Wir wollen diese aufs Geradewohl ausgewählten Proben nicht
weiter fortsetzen, da wir hier überhaupt nur einen Bericht über
die neue Erscheinung zu geben beabsichtigen, aber doch das Ge-
sagte auch für die, welche zu dem Werke selbst nicht greifen, mit
einigen Proben belegen wollten ; wir haben nur noch zu bemerken,
dass auch den Fragmenten Pindars, welche von S. 280 — 882 fol-
gen, eine gleiche wiederholte Durchsicht zu Theil geworden ist, die,
wenn auch die Zahl der Fragmente im Ganzen nicht vermehrt
worden ist, da in dieser Beziehung überhaupt Nichts Neues zu
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Poetae lyrici Graeci. Ree. Bergk.
Tage gefördert worden ist, desto mehr das Einzelne beachtet nnd
hier der Kritik wie der Erklärung die gleiche Sorgfalt hat ange-
deihen lassen. Neu hinzugekommen ist die den einzelnen Frag-
menten vorausgeschickte Besprechung über die verschiedenen aus
dem Alterthnm auf uns gekommenen Nachrichten über die poetische
Thatigkeit Pindars und über die einzelnen Poesien desselben, deren
Arten, deren Reihenfolge und Anordnung. Die vom Herausgeber
in der früheren Ausgabe befolgte Anordnung der einzelnen Frag-
mente erscheint auch in der neuer Ausgabe nicht verlassen, in
welcher zuerst die Fragmente der Isthmioniken, dann die Hymnen,
Päanen, Dithyramben, Prosodien, Parthenien, Hyporchemata, Enko-
mia, Skolia , Threnoi, und die fragmenta incerta folgen. Den Be-
schlus8 macht, wie in der frühern Ausgabe, das durch Proclns
oder vielmehr Tzetzes erhaltene Epigramm auf Hesiodus, das aber
hier eine ausführlichere Besprechung erhalten hat.
Wenden wir uns zu dem andern Theile, welcher die elegischen
Dichtungen so wie das, was aus dem Gebiete der Jambendichtung
sieb noch erhalten hat, befasst, so wird man auch bei diesem bald
die gleiche Wahrnehmung der sorgfaltigen, über das Ganze, wie
Aber Alles Einzelne sich erstreckenden Durchsicht zu machen im
8tande sein, indem auch hier Alles, was für diese Dichtungen, die
zum grossen Theil nur aus Bruchstücken bestehen, irgendwie seit
dem Erscheinen der zweiten Ausgabe, geleistet worden, beachtet
worden ist, übrigens nicht ohne die nöthige Vorsicht, wie es denn,
um ein Beispiel anzuführen, in Bezug auf die jetzt so beliebte
symmetrische Anordnung gelegentlich heisst, >quo artificio nunc
homines inertes plerumque satis intempestive abutuntur.t Es mag
diese auch auf so Manches Anwendung finden, was jetzt selbst auf
dem Gebiete der lateinischen Poesie in dieser Beziehung versucht
wird. An vielfachen kritischen und exegetischen Erörterungen fehlt
es auch hier nicht, und zwar nicht blos sprachlichen, sondern auch
sachlichen, wie z. B. über die Rhetren der Lacedäraonier zu Tyrtäus
IV (2) Vs. 10 und* Manches Andere der Art, was der aufmerksame
Leser leicht selbst finden wird, zumal da den einzelnen Autoren
nnd der Frage nach der Aechtheit einzelner, bestrittener Fragmente
alle Aufmerksamkeit gewidmet ist; so kann die verhältnissmassig
bedeutende Erweiterung, die auch dieser Theil erhalten hat, nicht
befremden : wenn die elegische Poesie in der zweiten Ausgabe von
8. 318—532 reichte, so erstreckt sie sich hier von S. 389—680 ; die
Jambographen, die in der zweiten Ausgabe S. 535 — 628 einnah-
men, gehen hier von 8. 688 — 804, haben also allein eine Vermeh-
rung von beinahe dreissig Seiten erhalten. Es kann auch hier die
Absicht dieser Anzeige nicht sein, in alle die Einzelheiten eingehen,
welche die neue Ausgabe von der vorhergehenden unterscheiden,
auch, wo man, wie es in der Natnr der Sache liegt, bisweilen
«öderer Meinung als der Herausgeber sein kann; um indessen auch
loi üegem Theile einige wenige Proben anzuführen, erinnern wir
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800 Poetae lyrlci Graecl. Ree. Berglc
nur an die dem Demodoons beigelegten Reste, von welchen das
Fragment der Jamben (wie auch bei Xenophanes) an diesem Orte
beibehalten und nicht dem Jambographischen Theil einverleibt ist,
unter den ihm beigelegten Epigrammen aber nur das erste und
fünfte letzte als äebt anerkannt, die drei andern aber ihm abge-
sprochen und einer weit späteren Zeit beigelegt werden. Darauf
weist auch nach unserer Ueberzeugung der Inhalt wie die ganze
Fassung. Eine eingehende, einleitende Erörterung ist jetzt auch
den unter Phocylides Namen gehenden Sprüchen zu Theil gewor-
den. Der Herausgeber schliesst sich hinsichtlich des Verfassers im
Ganzen der von Bernays aufgestellten Ansicht an, welche einen
jüdischen Verfasser annimmt, der zunächst an das alte Testament
sich gehalten, und für Griechen sein Gedicht zunächst bestimmt
habe, in einzelnen Punkten der Kritik aber weicht er mehrfach
von demselben ab, wie z. B. gleich bei den beiden von Bernays
verworfenen Versen am Eingang, die nicht blos auf bandschrift-
liche Autorität sich stützen, sondern auch als nothwendig in dem
Gedicht erscheinen, das sonst als axiepakov erscheinen würde. Dass
die Reste, die des Theognis Namen tragen , mit gleicher Sorgfalt
behandelt sind, Hess sich erwarten ; es gilt diess namentlich auch
in Bezug auf manche , diesen Dichtungen eingereihte Verse , die
einem andern Dichter anzugehören scheinen , wie z. B. die Verse
467 — 496, in welchen der Herausgeber eine selbständige Elegie
erkennt, die er in einer näheren Ausführung dem Euonus beizu-
legen geneigt ist, aber nicht dem Sophisten, der des Sokrates Zeit-
genosse war, sondern einem älteren, dessen Zeit sich nur in so
weit bestimmen lässt, als in dem in dieser Elegie angeredeten
Simonides, der Jambograph dieses Namens aus Amorgos, wie der
Herausgeber vermuthet, zu verstehen ist. Denselben ältern Euenus
werden auch Vs. 667 — 682 als eine eigene Elegie beigelegt, des-
gleichen Vs. 1345 — 1370; eben so soll Vers 508 ff. wo Onoma-
critus angeredet ist, insofern Onomacritus von Locri gemeint ist,
nach des Verfassers Vermuthung auch hier ein Gedicht des The-
letas angenommen werden. Was Euenus betrifft, so hat der
Verfasser in dem bald darauf folgenden Abschnitt (XXIX), in wel-
chem die unter diesem Namen auf uns gekommenen elegischen
Reste zusammengestellt sind , die beigefügte Erörterung über die
Person dieses Dichters einer gänzlichen Umarbeitung unterzogen,
nach welcher dem eben bemerkten älteren Dichter dieses Namens
die Fragmente 6 — 9 und vielleicht auch 10 zufallen würden, die
Übrigen Fragmente 1 — 5 dem jüngeren Sophisten dieses Namens,
dem Zeitgenossen des Socrates (um Olymp. XC) beizulegen sind;
er nimmt dann weiter noch vier Dichter dieses Namens in spä-
terer Zeit an : I. Euenus Philippi mit sechs, Euenus Ascalonita mit
zwei, Euenus Atheniensis und Euenus Grammaticus mit je einem
Epigramm, sämmtlich in der griechischen Anthologie ; die Ver-
keilung der einzelnen Gedichte weicht von der in der früheren
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Poetae lyrici Oraeci. Ree. Bergt
301
Aasgabe ab. Das weiter folgende Epigramm auf das Grab des
Sopbocles, welches unter dem Namen des Jophon gegeben ist,
bat eine nähere Erörterung über den Verfasser jetzt veranlasst,
für welchen der Herausgeber Lobon zu halten geneigt ist, aus
dessen Schrift irtgi xoirjrav Diogenes von Laerte Manches mit-
teilt: indessen der bestimmte Ausspruch des Valerius Maximus
(VIII, 7, 12), steht hier im Wege und hielt den Herausgeber von
einer weiteren Aenderung ab. Den drei Fragmenten des Socrates
(Nr. XXXTTJ wird jetzt ein grösseres angereiht, insofern ihm die
von Athenäus V, p. 219 0 aus Herodicus mitgetheilten Verse bei-
gelegt werden. Bei Plato (Nr. XXXIV) und der Erörterung über
üe ihm beigelegten Epigramme sind auch die drei einem jüngeren
Plato beizulegenden Epigramme aus der griechischen Anthologie
dazugekommen, und werden ihrem Charakter wie ihrer Fassung
nach näher besprochen. Hinsichtlich der beiden Epigramme,
(Nr. XXXV) welche gewöhnlich dem Simmias von Theben beige-
legt werden und in der Anthologia Palatina erhalten sind, ist der
Heransgeber jetzt anderer Ansicht, indem, wozu auch Meineke rieth,
dieselben nicht dem Philosophen Simmias, sondern dem später
lebenden Simmias von Rhodus und somit dem Alexandrinisohen
Zeitalter zufallen sollen, dem auch, wo nicht alle, so doch die
meisten der unter dem Namen des Simmias in der griechischen
Anthologie befindlichen Gedichte daun zufallen würden, wenn auch
einige derselben älter erscheinen, so namentlich die Inschrift auf
Plato' s Grab in der Anthol. Pal. VII, 60 und bei Diogenes von
Laerte III, 43. Auch die nun folgenden geringen Reste der Poesien
des Zeuxis (Nr. XXXVI) und Parrhasius (Nr. XXXVII) haben in
dieser neuen Ausgabe Veranlassung gegeben zu einer ausführliche-
re, einleitenden Erörterung, in welcher die Aechtheit dieser Reste,
welche man zu einem Werke des Nicomachus hat machen wollen,
nachgewiesen werden soll. Dass auch das, was von Aristoteles
angeführt wird, namentlich dessen Peplos, in der neuen Ausgabe
Gegenstand erneuerter Durchsicht und Prüfung geworden, bedarf
wohl kaum noch einer besondern Bemerkung. Und dasselbe gilt
*ach in jeder Hinsicht von der dritten, die Jambographen befas-
senden Abtheilung, deren erweiterten Umfang wir schon oben an-
gegeben haben. Auch hier fehlt es nicht an Zusätzen oder Aende-
nmgen jeder Art : es kann nur an Archilochus und die Reste sei-
Poesie erinnert werden, oder, um noch ein anderes Beispiel
anzuführen, an Scythinus, dem jedoch nur das eine Bruchstück
ki Plutarch De Pyth. orac. 16 zuerkannt wird, während die bei-
den unter diesem selben Namen in der griechischen Anthologie
(Arth. Palat. XII, 22 und 232) befindlichen Gedichte ihm abge-
sprochen werden, als Dichtungen weit späteren Ursprungs. — Es fehlt
aan noch zur Vervollständigung des ganzen Werkes ein dritter Theil,
der die Poetae melici, die Scolia, und die Carmina popularia zu
bringen hat.
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90% Müller: Katalog der schweizerischen Baumaterialien- Aus Stellung.
Beschreibender Kataloa der schweizerischen tiaumaterialicn- Ausstelluriö
in OWew. Von Albrecht Müller. Basel. Schweighaueersche
Buehdruckerei. 1866. Ü. S. Ü2.
Die Anregung und finanzielle Unterstützung flir die Ausstel-
lung in Ölten ist vorzugsweise den schweizerischen Eisenbahn-
Verwaltungen zu verdanken. Die Eidgenossenschaft förderte das
Unternehmen durch Bewilligung eines Credits für Anschaffung einer
Maschine zur Bestimmung der Festigkeit der Baumaterialien, die
vorerst in Ölten aufgestellt, später dem eidgenössischen Polytech-
nikum übergeben werden soll.
Bekanntlich ist die Schweiz arm an Metallsohätzen. Der Berg-
bau auf Erze ist einzig auf Eisen beschränkt, welcher im Jura auf
Bohnerz mit Erfolg betrieben wird. Dagegen besitzt die Schweiz
in ihren Gebirgen einen grossen Reichthum an vortrefflichen Bau-
materialien, geeignet zu den verschiedensten Zwecken der Arcbi-
tectur und bildenden Kunst. Ein Blick in vorliegenden Katalog
zeigt, welch lebhafter Verkehr bereits auf diesem Gebiete herrscht
und wie, bei Billigkeit der Eisenbahntarife, es sich lohnt, Bau-
materialien von dem einen Ende derSohweiz nach dem andern zu
senden.
Die Abfassung des Katalogs geschah durch Albr. Müller,
den mit den geologischen Verhältnissen der Schweiz wohl vertrau-
ten Forscher. Die verschiedenen Gesteine der Ausstellung sind
in vier grosse Abtheilungen gebracht worden, nämlich:
I. Granitartige Gesteine, mit Einschluss der Syenite,
Diorite, Porphyr, Gabbros und Topfsteine.
IL Sandsteine, mit Einschluss der Breccien, der Nagel-
fluhgesteine und der Schiefer.
III. Kalksteine, nebst den Marmorarten und Tufsteinou.
IV. Künstliche Steine und Mörtel, mit Einschluss der
Waaren von Gyps, Cement, Asphalt, Thon und Glas.
Unter den besonders ausgezeichneten oder der Schweiz eigen-
tümlichen Vorkommnissen verdienen namentlich folgende Er-
wähnung.
Unter den Felsarten der ersten Abtheilung nennen wir zumal
die Topfsteine, wie sie unter andern am südlichen Abhänge
des Soaleglia, gegenüber Dissentis getroffen werden. Sie dienen
zu Feuersteinen und Herden, auch zu Monumenten. Leicht zu ver-
arbeiten, halten sie die grösste Glühhitze aus und sind daher selbst
bei Schmelzöfen brauchbar. Dient im Tavotscher Thal, bei Dissen-
tis zu Oefen die bereits 500 bis 600 Jahre alt sind. Die Ver-
wendung ist in den Gemeinden des Vorder- und Hinterrheins und
des Albuin-Gebietes eine ausschliessliche, im Churer Rheinthale eine
bevorzugte geworden und erstreckt sich seit Eröffnung der Eisen-
bahn auch in andere Kantone.
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Friea dargestellt von Henke.
Unter den Sandsteinen findet besonders grauer und rother
Keupersandstein von Sohleitheim , Canton Sohaffhausen eine viel-
fache Anwendung zn Statuen, Monumenten, zu feineren Steinmetz-
arbeiten an Kirchen, zu Bauten verschiedenster Art. Noch ausge-
dehnter ist die Verwendung des Molasse-Sandsteins vom Rooter
Berg bei Disikon, Ganton Luzern zu Bildhauer-Arbeit, feinen Ge-
simsen, vorzüglich aber zu Platten und Bauten; er hat z. B. das
Material für die meisten Häuser in Luzern und Umgegend geliefert»
- Von Schiefern sind es ganz besonders die dem Geologen
wegen ihres Beichtbums an fossilen Fischen wohlbekannten Ge-
steine vom Plattenberg in Engi, Canton Glarus, die zu Dach-,
Tisch- und Ofenplatten dienen, die Rechnentafeln für die ganze
eirilisirte Welt liefern.
Den bedeutendsten Reichthum an werthvollem Gesteins- Material
besitzt aber die Schweiz in ihren Kalksteinen. Sie sind auf
der Oltener Ausstellung in grossartiger Weise vertreten, spielen
anter den vorhandenen Gegenständen die Hauptrolle. Albr. Müller
stellt zwei Hauptabtheilungen, nicht nach dem geologischen Alter,
sondern nach der Herkunft, auf, nämlich: 1) Alpine Kalk-
steine, d. b Kalksteine die aus den Alpen stammen. Sie sind
Torwaltend dunkelgrau, dicht mit Adern, Flecken oder Streifen
weissen Kalkspathes. Ihrem geologischen Alter nach entsprechen
sie der oberen Jura- oder der Kreideformation. 2) Jurassisohe
Kalksteine, aus dem Jura-Gebirge; meist hellgelbe oder gelb-
lichgraue dichte Kalksteine der oberen Jura-Formation. Unter
ihnen sind die vorzüglichsten die Kalksteine aus den Steinbrüchen
von Soiothurn, die das weithin bekannte Material zu Platten, Ge-
simsen, Denkmälern, zu Kunstarbeiten der verschiedensten Art lie-
fern, nnd den Einflüssen der Witterung sehr dauernden Wider-
stand leisten. Es wurden schon Steinmassen an einem Stück von
12,000 Cubikfuss und 18,000 Gentnern Gewicht abgelöst.
G. Leonhard.
Jakob Friedrich Fries. Aus seinem handschriftlichen Nach*
lasse dargestellt von Emst Ludwig Theodor Henke.
Leipzig. F. A. Brockhaus 1867. X und 383 8. in gr. 8.
Dass ein Mann, wie Fries, der auf den Entwicklungsgang der
Philosophie in Deutschland einen so bedeutenden Einfluss übte,
auch wohl verdiente, durch eine biographische Darstellung uns in
seinem Leben und Wirken näher gerückt zu werden, bedarf wohl
hnm einer besonderen Erinnerung. Sein Schwiegersohn hat es in
vorliegender Schrift unternommen, eine solche uns zu geben, zu-
mal er durch hinreichende Quellen dazu auch in den Stand gesetzt
*v. Umfangreiche selbst biographische Aufzeichnungen, im Jahr
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304
Fries dargestellt von Henke.
1837 niedergeschrieben, lagen ihm zur Benutzung vor, ausserdem zwei
andere Aufsätze, vielfache andere Mittheilungen und zahlreiche
Briefe von Fries an seine nächsten Freunde und Schüler, und eben
80 viele Briefe derselben an Fries. Von diesem reichen Apparat
hat der Verfasser einen sehr zweckmässigen Gebrauch gemacht,
und es durchweg vorgezogen, da, wo es nur anging, Fries selbst reden
zu lassen, seine eigenen Worte und Briefe oder die der Correspon-
deuten mitzutheilen, und damit eine Art von Selbstbiographie zu
geben, welche den Charakter des Mannes, dessen Lebensbild hier
geliefert, dessen Wirken und Schaffen hier gezeichnet werden soll,
am treuesten wiedergibt, wie denn auch der Herausgeber
sorgfältig bedacht war, seiner eigenen Darstellung, die durchaus
ruhig und besonnen gehalten ist, den Charakter der Wahrheit und
Treue zu verleihen. So wird man nicht ohne mannichfacbe Be-
lehrung diese Lebensschilderung aas der Hand legen. Das erste
Buch führt uns die Jugendzeit vor, die Kind- und Schuljahre in
der Brudergemeine, in welcher Fries am 23. Aug. 1773 zu Barby
geboren war, so wie die Studienjahre im theologischen Seminar zu
Niesty, während das zweite Buch die Lehr- und Wanderjahre von
1796 — 1805 befasst. Das dritte Buch führt uns nach Heidelberg,
wo Fries in den Jahren 1805 — -1816 an der Universität wirkte;
seine Freundschaft mit Martin zog ihn mit diesem in Unannehm-
lichkeiten, denen er durch eine Berufung nach Jena entzogen ward,
wo er nun vom Jahr 1816 bis zu seinem Tod verblieb. In diese
Zeit seines akademischen Wirksamkeit fallen die politischen Unter-
suchungen, die in unsern Tagen fast unglaublich erscheinen wür-
den, und hier mit Ruhe und Unbefangenheit dargestellt werden. Sie
trübten allerdings seine Stellung, ohne seine geistige Thätigkeit zu
brechen oder zu lähmen. Gerade hier, um jeden Schein von Bitter-
keit zu vermeiden, ist die Darstellung meist nach den eigenen
Worten von Fries oder nach den Untersuchungsakten gegeben,
ohne Bitterkeit, einfach und wahr. Die Beilagen enthalten die von
De Wette zum Andenken an Fries im September 1843 niederge-
schriebenen Worte, eine herrliche Schilderung, die man nicht ohne
Theilnahme durchgehen wird, dann eine Reihe von Briefen, welche
an Fries gerichtet sind, von v. Savigny, Karl Benedikt Hase,
Clemens Brentano, Friedrich Heinrich Jacobi, Reiuhold, De Wette
u. A. so wie die von Fries gefasste Selbstvertheidigung vom Jahre
1819 gegen die wider ihn erhobenen politischen Anschuldigungen.
Den Sohluss bildet ein mit aller Genauigkeit zusammengestelltes
Verzeichniss aller im Druck erschienenen Schriften und Aufsätze
von Fries.
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Ii. 20. HEIDELBERGER • 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Die Juden in Deutschland während des Mittelalters in politischer^
socialer und rechtlicher Beziehung. Von Otto Stobbe. Braun-
schweig, Schwetschke und Sohn. 1866. X u. 312. 8.
Geschichte der Jnden in Köln am Rhein von den Rom er selten bis
auf die Gegenwart. Nebst Noten und Urkunden. Von Ernst
Wey den Köln. Du Mont-Schauberq 1H67. VJ u. 396. 8.
Geschichte der Juden in Portugal von Dr. M. Kayserling. Ber-
lin. Springer 1867. XI u. 307. 8.
Obgleich wir schon vortreffliche Arbeiten über die allgemeine
Geschichte der Juden besitzen, unter denen die von Jost und Grätz
die erste Stelle einnehmen, so bleiben doch Forschungen über ihre
Verhältnisse in einzelnen Ländern und Städten stets willkommen,
theils weil durch solche Monographien das Ganze mehr Leben ge-
winnt, theils weil sie in weitere, auch nichtjüdische Kreise drin-
gen, als allgemeine bändereiche Geschichtswerke, besonders wenn
sie, wie bei Stobbe, in so volkstümlicher Form und gut gruppir-
ter Ordnung geboten werden. Erfreulich ist es auch, dass in den
drei genannten Werken der Gegenstand vom rein objectiven Stand-
punkte aus bearbeitet worden ist, und dass Kayserling, der israe-
litische Verfasser der Geschichte der Juden in Portugal, mit dem-
selben Freimuth die Fehler der Juden rügt, als die beiden Andern
christlichen Autoren über das unmenschliche Verfahren ihrer
Glaubensgenossen gegen die Juden den Stab brechen und Letztere
gegen die ihnen angedichteten Verbrechen, wie Hostienschändung,
Kindermord, Brunnenvergiftung und dergleichen mehr in Schutz
nehmen. Man sollte freilich glauben, solche Apologien seien in
unsrer Zeit der Humanität und Aufklärung überflüssig geworden,
aber ist nicht vor wenigen Jahren noch in Freiburg im Breisgau
ein Werk von Constantin Ritter Cholewa v. Pawlikowski er-
schienen, das an Verhöhnung und Verdächtigung der Juden und
ihrer Religion dem alten bekannten Eisenmenger' sehen ent-
deckten Judenthum würdig zur Seite steht? Oder ist etwa das
Volk überall in nnsern Tagen von Judenhass und Lust zur Juden-
Terfoigung geheilt ? Wer denkt nicht an das Hep Hep das an vie-
len Orten Deutschlands im Jahr 1819 ertönte? Hat nicht im Jahr
1848 in verschiedenen Ländern der Pöbel seine Freiheitsliebe da-
dorch bethätigt, dass er seinem Nationalhass und Neid gegen
Juden freien Lauf Hess? Haben wir nicht im verflossenen Jahre
vielfache Vorgänge erlebt, die an die Judenverfolgungen im Mittel-
alter erinnern ? Und ist die bekannte Mortarageschichte nicht den
LIX. Jahrg. 4. Heft 20
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306 Stobbe, Wcyden u. K*ys*rlibg: Geschichte der Juden!
Zwangstaufen des vierzehnten Jahrhunderts vollkommen ähnlich?
Oder findet sich etwa solcher verjährter Fanatismus und verrostete
Unduldsamkeit nur unter dem nie dem Volke? War nicht eiu fran-
zösischer Oonsul zur Zeit des Ministerium Thiers der Hauptan-
stifter der Gräuel und Schandt baten , welche gegen die Juden in
Damask verübt wurden? Schüren nicht fortwährend politische und
kirchliche Blätter, da religiöser Fanatismus nicht mehr ziehen will,
den Hasä und den Neid des Volkes, durch Hinweisung auf die
Beichthümer und den Einfluss der Juden an? In einem der Letzte-
ren lesen wir, nachdem von den colossalen Reich thümern der Juden
die Rede ist: »Der Zweckmässigkeitsstaat wird erst recht seine
kaiserlichen Kammerknechte (so werden die Juden im Mittelalter
genannt) haben und den Schwamm sich nur vollsaugen lassen, um
ihn zu gelegener Zeit auszudrücken, zugleich aber vollends zu zer-
zausen. Das Naturrecht der socialen Revolution wird als seine ersten
Opfer die jüdischen Geldfürsten schlachten.« In Einem der Ersteren
aber heisst es: »Die Einsicht hat sich verbreitet, dass nicht Chri-
sten und Juden einander gegenüber stehen, sondern dass Letztere
in ihrem religiös-nationalen Verband einen Staat im Staate bilden.
Wem es in Deutschland nicht gefallt dessen Wegziehen stehen ja
keine Hindernisso im Wege: \ tat et exitus. Ganze Städte und Pro-
vinzen in denen die Gananiter bereits die Aristokratie abgegeben,
würden bei dieser Eventualität aufjauchzen , obgleich ihr Eintritt
sehr unwahrscheinlich ist, da es einem in Deutschland gar wohl
geht. Trotz dem dürfte es heutzutage, bei der ziemlich allgemei-
nen Stimmung in Betreff Israels , zweckdienlich sein , wenn man
möglichst wenig von sich reden machte.« Wie wenig aber der
Verfasser dieser im Jahr 1858 geschriebenen Zeilen die Stimmung
kannte, beweisen die inzwischen in allen deutschen Gauen von den
Volkskammern votirten Judengesetze, wo theils eine vollständige
Emancipation ausgesprochen , wenn auch nicht ganz verwirklicht,
theils wenigstens angebahnt ist. Man ist allmählig zur Einsicht
gelangt, dass nur auf diesem Wege ihre Verschmelzung mit den
Christen erreichbar ist, während fortgesetzter Druck nur Hass und
Absonderung erzeugt. Wir sehen schon im Mittelalter in Spanien
und Portugal , dass , sobald die Regierung die Juden nicht durch
Ausnahmsgesetze an das Exil erinnert, auch sie nicht nur keine
Sehnsucht nach Jerusalem haben, sondern in der Beobachtung
der jüdischen Gesetze immer laxer werden und in Folge dessen
sich ihren christlichen Brüdern immer mehr anscbliessen. So lesen
wir bei Kayserling, dass unter Alfonso V., unter welchem die Stel-
lung der Juden in Portugal eine überaus günstige war, sich viele
dem Studium der Philosophie hingaben und über alle religiösen
Ceremonien hinwegsetzten. Die Sabbat- und Festtage wurden nicht
gefeiert, man arbeitete öffentlich und Hess es an der Zubereitung
frischer Speisen am Sabbat nicht fehlen. In den Synagogen wur-
den profane Bücher gelesen, und so oft aus der Gotteslehre vor-
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Stobbe,, Weydan u. Kayeerling: Geschichte der Juden. BOT
vorgelesen wurde entfernten sich die Meisten. Die Juden wurden
aber auch — der jüdische Verfasser macht gar kein Hehl daraus —
UbennOtiiig. Sie baueteu sich Paläste, ritten auf reicbgeschmückten
Mauleseln, fahren in prächtigen Carossen, kleideten sich in Pracht*
gtwftnder und schmückten ihre Frauen und Töchter wie Fürstinnen
und Edeldamen mit silbernen und goldenen Geschmeiden, mit Per»
ko and Edelsteinen, und dieser Luxus , diese Vornehmthuerei er*
regten den Volkshass in hohem Maasse. Und so mögen auch wohl
— warum es luugnen ? — manche Juden unsrer Zeit , die über-
miUsigen Luxus treiben, und bei denen die Frivolität immer mehr
Spielraum gewinnt, den alten Hass gegen das Judenthum nähreu.
Manche dürften etwas bescheidener, wenn auch mit voller Wurde
auftreten, alles Vordrängen und Prunken eben so sehr vermeiden
ah Andere jede Kriecherei und Zudringlichkeit. Die Klugheit und
die Rücksicht auf einmal vorhandene Vorurtheile sollte es ihnen
gebieten, wenn sie sich auch für vollkommen berechtigt halten, es
vielen Christen nachzumachen.
Kehren wir nun zum Mittelalter nnd den vorliegenden Werken
zurück, so zeichnet sich das von Stobbe vorteilhaft dadurch ans,
daes es nicht blos wie die beiden Andern chronologisch , sondern
auch nach Materien geordnet ist, was die Uebersicht des Gamsen
sehr erleichtert und dem Leser, der Bich nur über einzelne Gegen*
tttnde unterrichten will, viele Mühe erspart. Die Ueherschrift der
Oapitel lautet: »Die Juden im römischen Reich. Die Juden im
Hakischen Reich. Die deutschen Juden und ihre Kammer kneoht*
scbaft. Der Uebergang des Judensohutzes auf Landesherrn und
Städte. Die Steuern der Juden. Geleitsgeld und Zoll. Die Be-
deutung des Judenschutzes. Die besondere Schutzherrlichkeit des
Rrzbischofs von Mainz und einiger anderen Herrn. Die Juden zu
Nürnberg. Die Juden Fiegenburgs. Die Juden Augsburgs. Die
Juden Cölns. Die Juden von Frankfurt am Main. Der Handel und
die Geldgeschäfte der Juden. Aufhebung oder Eeduction der For*
Herongen jüdischer Gläubiger durch Kaiser und Laudesherren. Die
Gemeinde- und Gerichtsverhältnisse. Der Beweis und der Efid der
Jaden. Strafrechtliches. Die sociale Lage der Juden und ihre Be*
tchr&nkungen in religiöser und socialer Beziehung. Die Judenver-
folgungen. Die Juden Privilegien.«
In den beiden ersten Abschnitten wird in Kürze angedeutet,
*ie die Juden im römischen Reiche, welche besonders seit ihrer
Empörung unter Titus massenhaft nach dem Abendlande auswan-
derten, in den ersten Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung das
römische Bürgerrecht erwerben konnten, im Genüsse voller Ge-
wiiBensfreiheit waren, und an sämmtlichen staatsbürgerlichen Hech-
ten Tbeil nahmen. Erst unter Konstantin dem Grossen, als die
christliche Religion Staatsreligion wurde, hörte auch die bürger-
liche Gleichberechtigung auf. Die Christen vergasaen bald alle in
den ersten drei Jahrhunderten vom Staate erlittenen Verfolgungen
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808 Stobbe, Weyden u. Kayserling: Geschichte der Juden.
and traten als Verfolger der Bekenner des mosaischen Glaubens
auf. Gonstantin selbst setzte harte Strafen auf den Uebortritt vom
Christonthum zum Judenthum, so wie auf Ehen zwischen Juden
und Christen und verbot den Juden ihre christlichen Sklaven zu
beschneiden. Die folgenden Kaiser gingen immer weiter in ihren
Beschränkungen, denn schon traten mehrere Kirchenväter, beson-
ders Cyrillus, Ambrosius und Chrysostomus feindselig gegen die
Juden auf. Sie wurden bald von allen Aemtern ausgeschlossen,
durften keine neuen Synagogen bauen, konnten nur gegen Juden
als Zeugen auftreten, durften keine christlichen Arbeiter halten
und dergl. mehr. Unter den fränkischen Kaisern wird von ver-
schiedenen Concilien die Kluft zwischen Juden und Christen immer
mehr erwoitert: die Christen sollen sich jeder Gemeinschaft mit
den Juden enthalten. Auch kommen bei den Franken schon ein-
zelne Judenverfolgungen vor. Chilperioh von Soissons zwang viele
Juden zur Taufe und König Dagobert gebot, dass die Juden sich
entweder taufen lassen oder auswandern sollten. Das Loos der
Juden besserte sich wieder unter den Carolingern, besonders unter
Carl dem Grossen und Ludwig dem Frommen, trotz allen Remon-
strationen des Bischofs Agobert von Lion. Frühere Beschränkungen
werden aufgehoben und ueue Privilegien und Scbutzbriefe verliehen.
Schlimmer war schon die Stellung der Juden unter den Fürsten
aus dem sächsischen Hause , die ihre Macht auf die Hierarchie
stützten und den Juden gegenüber das cauonische Recht zur Gel-
tung brachten. Besonders judenfeindlich waren die Bestimmungen
Kaiser Heinrichs II., der unter Anderm auch alle Juden, welche
die Taufe nicht annahmen, aus Mainz verbannte. Allgemeine blu-
tige Verfolgung brachten die Kreuzzüge mit sich. Blinder Reli-
gionshasa , missverstandener Bekehrungseifer , Rohheit und Grau-
samkeit, Habgier und Neid trieb die Kreuzfahrer zu den blutig-
sten Gräueln. Während Pabst Gregor I. sich dahin ausgesprochen
hatte, dass die Juden nur durch Ueberredung und Sanftmuth, nicht
durch Gewalt, dem Christenthum zugeführt werden sollten, wurde
überall, wo die Kreuzfahrer durchzogen , mit Feuer und Schwerdt
Propaganda gemacht. Indessen darf nicht unerwähnt bleiben, dass,
mit wenigen Ausnahmen, beim ersten Kreuzzuge nur die Hefe des
Volks sich an den verübten Gräuelthaten betheiligte. Heinrich IV.
that sein mögliches um den verschont gebliebenen Juden Recht zu
verschaffen und gestattete sogar, trotz aller Vorwürfe des Pabstes
Clemens HJ., den aus Todesfurcht zum Christenthura Uebergetre-
tenen wieder zum Judenthum zurückzukehren. Beim zweiten Kreuz-
zug waren schon Geistliche und vornehme Bürger an der Spitze
der Judenfeinde, und hier mochte wohl weniger religiöser Fanatis-
mus als der Wunsch sich von lästigen Gläubigern zu befreien das
Hauptmotiv der Verfolgungen gewesen sein, denen der heilige Bern-
hard nach Kräften zu steuern suchte, und welchen Friedrich I. der
Rothbart, ein Ende setzte. Auch die localen Judenhatzen, welche
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Stobbe, Weyden u. Kayserling: Geschichte der Juden. 309
im 12. und 18. Jahrhundert statt fanden, bezweckten mehr ihre
Beraubung als ihre Bekehrung. Die verschiedensten Verbrechen
wurden ihnen aufgebürdet, um nicht blos Einzelne, sondern ganze
Gemeinden , ganze Landstriche mit Confiscation und Todesstrafe
heimzusuchen. Allgemein wurde von Judenfeinden der Glaube ver-
breitet, dass die Juden Christenkinder tödteten und ihr Blut beim
Osterfeste verwendeten. Vergebens erklärte Pabst Innocenz IV. in
einer Bulle vom Jahr 1247, dass derartige Mährchen nur erdichtet
werden, um Anlass zu finden, sieb des Besitzes der Juden zu be-
mächtigen, dass die heilige Schrift den Juden wie den Christen jeden
Mord verbietet, dass die Juden an Festtagen nichts Unreines be-
rühren dürfen, geschweige denn das Blut gemordeter Christen ge-
messen. Der tief eingewurzelte Aberglaube war damit nicht aus-
gerottet und ist es ja auch in unsern Tagen noch nicht vollstän-
dig, wie die Vorfalle in Russland im Jahr 1823, am Unterrhein
im Jahr 1834 und in Damaskus im Jahr 1842 beweisen. Schreibt
doch Ghillany: »Allerdings mögen die Juden auch Öfters an dem
Verschwinden eines Kindes unschuldig gewesen sein, aber die Mehr-
zahl der angeführten Fälle fallt ihnen zur Last« und nimmt auch
Paulikowski als historische Thatsache an, dass viele Christenkinder
ron Juden ermordet worden seien. Waren übrigens auch Juden
vom Verbreeben des Kindermords einigermassen freigesprochen, so
fehlte es nie an andern Vorwfinden sie zu berauben und zu ver-
bannen. Bald wurde die Hostienschändnng Veranlassung zu neuen
Verfolgungen, die sich gegen Ende des 1 3. Jahrhunderts, unter An-
führung eines fränkischen Edelmanns, von Ort zu Ort wälzten. Die
Jaden, so wurde die Sage verbreitet, welcher viele Tausend zum
Opfer fielen, hätten eine Hostie in einem Mörser gestossen; aus
ihr sei Blut in so grosser Menge geflossen, dass sie es nicht mehr
verbergen konnten. Aehnliche Klagen wiederholten sich im Jahr
1838. Albrecht von Oesterreich sprach es in einem Schreiben an
den Pabst Benedict unverhohlen aus, man schlachte die Juden an-
geblich wegen Hostienscbändung , Hauptzweck sei aber sie zu be-
rauben , und der Pabst ordnete eine Untersuchung an , während
andere weltliche Fürsten den Räubern und Mördern Straflosigkeit
ertheilten und ihre Unterthanen von allen Judenschulden befreiten.
Gegen die Mitte des 14. Jahrhunderts wurden die Verfolgungen
verheerender und allgemeiner. Der sogenannte schwarze Tod, die
forebtbare Pest, welche aus Asien nach Europa herüberzog und
unzählige Menschen binwegraffte, sollte von Juden erzeugt worden
»in, die aus Christenbass alle Brunnen vergiftet hätten. Obgleich
auch viele Juden der Seuche erlagen , und obgleich sie in fielen
Provinzen wüthete, die kein Jude betreten hatte, wurde das Mäbr-
chen doch geglaubt und mit der Pest verbreitete sich auch die
Jndenschl ächterei von Ort zu Ort , trotz allen Ermahnungen des
Pabates Clemens VI. und trotz allen Verordnungen mancher welt-
lichen Fürsten, die durch die Vertilgung der Juden ihre Einkünfte
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310 Sterbe, Weydeii u. Kayserliag: OetoWckte der Juden.
geschmälert sahen. Die Wuth des Volkes wurde durch die Predig-
ten der Flagellanten und einige unter der Folter erprossten Ge-
ständnisse immer mehr gesteigert, und eine Judengemeinde nach
der andern wurde hingeschlachtet oder gab sich selbst den Tod,
zuletzt auch die von Strassburg und Cöln, welche der Rath längere
Zeit gegen den raub- und mordlustigen Pöbel geschützt hatte. Au
Bestrafung der Schuldigen daohte man kaum. Fast überall wurden
von dem Kaiser und den Landesherrn Amnestien ertbeilt. An man-
ohen Orten hatte der Kaiser schon zum voraus für alle Verbrechen
die gegen Juden begangen würden, Straflosigkeit verkündet, oder
hatte er Dispositionen getroffen, wie es mit dem Nachlass und dem
herrenlos gewordenen Gemeindegut der Juden gehalten werden
sollte. Von nun an bis zur Zeit der Reformation dauern die Juden-
verfolgungen in Deutschland fort, wenn auch nicht mehr so allge-
mein und nicht mehr in so cannibalischer Weise. Sie werden bald
hier bald dort des Landes verwiesen und ihrer Güter beraubt. Fast
überall wurde ihnen das Recht der Heimath und Wohnung genom-
men, an vielen Orten durften sie sich gar nicht mehr niederlassen,
an andern wurden sie nur für wenige Jahre gegen hohe Steuern
aufgenommen. Viele wanderten daher nach Polen, Litthauen und
Russland aus, wo sie freilich unter vielen Beschränkungen sesshaft
werden konnten*
Wir sind bisher Stobbe gefolgt und haben nur hie und da
Einzeln heiten aus Wey den hinzugefügt, nach dem wir nun, da
Stobbe nur die Geschichte des Mittelalters bearbeitet hat, in Kürze
die weitern Zustände der Juden in Deutschland schildern wollen.
Mit der Reformation kam anfänglich eine Zeit der Ruhe, man
war zu sehr mit der neuen Lehre beschäftigt, um sich viel um
das Schicksal der Juden kümmern zu können. Luther selbst trat
im Beginne seiner reformatorischen Thätigkeit für die Juden in
die Schranken und seinem Beispiele folgten andere einzelne christ-
liche Stimmen. Im Jahr 1523 schrieb er: »Es wäre meine Bitte
und mein Rath, dass man säuberlich mit den Juden umginge und
aus der Schrift sie unterrichtete; so möchten mehr etliche herbei-
kommen. Aber nun wir sie mit Gewalt treiben und gehen mit
Lügenentscheidungen um, geben ihnen Schuld, sie müssten Christen-
blut haben, damit sie nicht stinken , und was des Narrenwerks
noch mehr ist, dass man sie gleich den Hunden hält , dass man
ihnen verbeut zu arbeiten und zu hantiren und andere menschliche
Gemeinschaft zu haben, da man sie zu wuchern treibt, was soll
sie da bessern ? Will man ihnen helfen , so muss man nicht des
Pabstes, sondern der christlichen Liebe Gesetz an ihnen üben und
sie freundlich annehmen , mit lassen werben und arbeiten , damit
sie Ursache und Raum gewinnen, bei uns und um uns zu sein,
unsere christliche Lehre und Leben zu hören und zu sehen. Ob
etliche halsstarrig sind, was liegt daran ? sind wir doch auch nicht
alle gute Christen.« Später änderte aber der grosse Reformator
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Stobbe, Weyden u. Kayserling: Geschichte der Juden. 3U
seine Ansicht und überbot in seiner 1543 erschienenen Schrift:
»Von den Jnden und ihren Lügen« alle seine Vorgänger an Ge-
hässigkeit gegen die Juden und so wucherte fortan auch in prote-
stantischen Ländern der Judenhass und die fanatische Bedrückung
derselben eben so schrecklich als in den Katholischen. Die Juden
blieben rechtlos, fortwährend Gegenstand der Bedrückung, der will»
kürlichsten ihnen auferlegten Abgaben, ausgeschlossen von aller
Gewerbsthätigkeit, selbst von vielen Handelszweigen , nur auf den
niedrigsten Wucher, Klein- und Hausirhandel angewiesen. Grund-
besitz konnten sie gar nicht erwerben , was noch in Schleswig-
Holstein bis zur Erobernng durch Preussen der Fall war. Auffallen
muss es, dass, während manche Päbste für die Juden eine Lanze
brachen, Männer wie Luther in seinen späteren Jahren, Voltaire
und in unsern Tagen Paulus und v. Rotteck als ihre Gegner auf-
traten. Doch fanden sich auch zu allen Zeiten wackere Männer,
die sich der Verfolgten annahmen, wie Hosiander , Mirabeau , der
Bischof Grögoire von Blois, Maskow, Lessing und Andere, so dass
endlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihre allmählige Emanci-
pation begann. Schon 1787 wurde der Leibzoll in Preussen und
1803 im übrigen Deutschland , ausser in Heldburg in Meiningen,
aufgehoben. Den französischen Juden wurde das Bürgerrecht im
Jahr 1 791 von der Revolution zuerkannt, auch in Deutschland ge-
stand man ihnen in Folge der französischen Invasion und der Frei-
heitskriege manche Rechte zu, die ihnen aber theilweise im Jahr
1814 wieder entzogen wurden. Angebahnt wurde in Deutschland
ihre Emancipation in den zwanziger und dreissiger Jahren unseres
Jahrhunderts, ihre völlige im Jahr 1848 ausgesprochene Gleich-
stellung aber auch nicht überall durchgeführt, und noch jetzt ist
in manchen deutschen Ländern die Gleichheit der bürgerlichen und
staatsbürgerlichen Rechte der Juden, wenn auch principiell aner-
kannt, noch keineswegs zur vollen Wahrheit geworden.
Wir haben, an Stobbe anknüpfend, die allgemeinen Zustände
und die grossen Catastrophen dor Juden bis auf die neuere Zeit
geschildert, werfen wir nun noch einige Blicke auf ihre Stellung
in gewöhnlichen ruhigen Zeiten, so finden wir auch ihr Loos nicht
beneidenswerth und sehen wir, dass ihre Absonderung nicht von
ihnen, sondern von ihren Feinden ausging. Es ist schon oben
erwähnt worden, wie die Concilien Christen jeden Umgang mit
Juden verboten, wie diese von allen Aemtern ausgeschlossen waren
und keine christlichen Dienstboten halten sollten. Hiezu kam noch,
dass man ihnen an vielen Orten abgesonderte Judenviertel oder
Strassen anwiess , vor Allem aber , dass man sie nöthigte, beson-
dere Erkennungszeichen zu tragen. Diese, wahrscheinlich von den
Mohammedanern entliehene Bestimmung, welche, sobald der Islam
rar Macht gelangte, allen Nichtmohammedanern verboten, sich wie
die Gläubigen zu kleiden, rührt von Pabst Innocenz III. her, nnd
vrnrdö von folgenden Päbsten und Ooncilien noch weiter ausgebil-
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812 ßtobbe, Weyden n. Kayserling: Geschichte der Juden.
det. Das allgemeine Abzeichen der Männer war ein auf der Brost
getragener Ring oder Rad von gelber Farbe, nebst einem gelben
Spitzbate auf dem Haupte statt der üblichen breiten Kappen.
Frauen und Mädchen mussten blaugestreifte Schleier und ein Glöck-
lein am Gürtel tragen. Das Judenzeichen war, wie Stobbe nach
Grätz richtig bemerkt, eine Aufforderung für dio Gassenbuben die
Träger zu verhöhnen, es war ein Wink für den Pöbel sie zu miss-
handeln, und selbst für höhere Stände eine Gelegenheit sie als
Auswürflinge der Menschheit zu betrachten und nach Willkür mit
ihnen zu verfahren. Schlimmer als diese Entehrung nach Aussen
war die Wirkung des Abzeichens auf die Juden selbst. Sie ver-
loren nach und nach alles Selbstgefühl und jede Selbstachtung.
Da sie doch einmal, eine demüthige abgesonderte Stellung hatten,
vernachlässigten sie ihr äusseres und verwahrlosten ihre Sprache,
sie wurden, da sie doch keinen Zutritt zu gebildeten Kreisen er-
langen konnten, theilweise so verächtlich, wie es ihre Gegner wünsch-
ten, verloren männliche Haltung und Muth, jeder christlicho Bube
konnte sie in Angst setzen.
Auch in den Abgaben, die die Juden als solche zu entrichten
hatten, lag viel Dem üthigendes und Kränkendes. Neben den ordent-
lichen und ausserordentlichen Steuern der Juden, welche im Ver-
hältniss zu denen der Christen übermässig hoch waren, wurde von
Ludwig dem Baier der sogenannte goldene Opferpfenning einge-
führt. Alle Juden und Jüdinnen über 12 Jahre, welche 20 Gulden
Vermögen besitzen, sollen jährlich dem König einen Leibzins von
einem Gulden zahlen. Auch diese Bestimmung wurde wahrschein-
lich aus dem Islam entlehnt, der allen Nichtmohammedanern eine
Art Kopfsteuer vorschreibt. Hiezu kam der sogenannte Leibzoll,
welchen jeder Jude entrichten musste, sobald er sein Domicil ver-
liess. Ausser dem Weg- und Brückenzoll mussten die Juden ferner
den sogenannten Würfel zoll entrichten, das heisst , dem Zoll-
aufseher oder Zollknechte einen Pasch Würfel tiberreichen. Sie
waren daher genöthigt, auf ihren Reisen immer mehrere Pasche
Würfel mit sich zu führen. Es war eine der vielen vexatorischen
Quälereien, eine nichtssagende Verhöhnung.
Sehr belehrend ist bei Stobbe der Abschnitt Über den Handel
und die Geldgeschäfte der Juden. Obgleich ursprünglich in Pa-
lästina ein Ackerbautreibendes Volk, gaben sich doch die Juden
nach ihrer Auswanderung, als sie keinen Grundbesitz mehr hatten,
dem Handel hin und vermittelten den Verkehr des Ostens mit dem
Westen. Bis zu den Kreuzzügen wurde ihnen in Deutschland als
Kaufleute fast gar keine Concurrenz gemacht. Durch die Verfol-
gungen, welche sie zur Zeit der Kreuzztige erlitten und durch die
Verbindungen, welche die Christen selbst auf ihren Kreuzfahrten
mit dem Orient anknüpften, wurden die Juden nach und nach
vom grossen Welthandel verdrängt und auf den Schacher und
Wucher beschränkt. Die verachteten Juden hatten zu den sioh
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ßtobbe, Weyden u. Kayserling: Geschichte der Juden. 813
bildenden Kaufmannsgilden und Gewerbszünften keinen Zutritt, sie
durften nicht mehr auf Messen und Jahrmärkten erscheinen nnd
kein Handwerk treiben. Darlehen gegen Zinsen, der Ein- und Ver-
kauf gebrauchter Sachen, das Hausiren auf dem Lande waren jetzt
ihre Hauptgeschäfte. »Dem Wucher« sagt Stobbe »verdankte es
der Jode im Mittelalter , dass ihm trotz allen nationalen Hasses
and religiöser Unduldsamkeit fast überall der Aufenthalt gestattet
wurde, ihm hatte er es aber auch zuzuschreiben, wenn von Zeit
zu Zeit sich jener Hass und jene Unduldsamkeit in Grauen er-
regender Weise Luft machte. Das Bedürfniss, Geld in Zeiten der
Bedrängniss geliehen zu erhalten, Hess die Juden als willkommene
Mitbewohner erscheinen; aber die drückende Last der Schulden,
die Höhe der schnell auflaufenden Zinsen und der Neid, mit wel-
chem die Christen auf die von den Juden zusammengehänften Reich-
tümer sahen, fachte anch wieder die Lust an, sich der verachte-
ten nnd verhassten Gläubiger zu entledigen , sie zu berauben und
10 morden.« Die Juden waren übrigens nicht die einzigen Geld-
darleiher, an manchen Orten machten ihnen die sogenannten Lom-
barden oder Gawart'scben Concurrenz. Diese privilegirten christ-
lichen Wucherer, überboten aber häufig die Juden an Härte, wes-
halb es auch nicht selten vorkommt, dass sie vertrieben und an
ihrer Stelle Juden aufgenommen wurden. So lesen wir bei Weydeu,
dass der Erzbischof Engelbert im Jahre 1266 die Cauwercinen aus
Köln auswei8st, um die Juden zu schützen, und im Jahre 1420
forderte die Stadt Florenz wegen des übermässigen Zinsfusses der
christlichen Wechselhäuser Juden auf, sich in ihrer Stadt nioder-
mlassen. Die Zinsen der Juden waren zwar auch zuweilen sehr
hoch, aber wie wurden sie selbst von den Machthabern ausgesogen,
wie wenig Sicherheit hatten sie für Capital und Zinsen? Fürsten,
Privatleute und Gemeinden hetzen das Volk gegen die Juden-
gllnbiger und die Schulden sind auf einmal gelöscht. Päbste, Kai-
ser nnd manche Landesherrn konnten übrigens auch ohne Hülfe
eines VolkBauflaufes, nach damaligen Rechtsbegriffen, nach Gefallen
üher Leben und Gut der Juden verfügen und Eingriffe in die Ver-
mögensverhältnisse dor Juden, um den Schuldnern Erleichterung zu
▼erschaffen, kamen nicht selten vor. Bald wurden alle Forderungen
der Juden für null und nichtig erklärt, bald auf oino bestimmte
Qoote reducirt, zuweilen wurde auch verordnet, dass nur das Capital
aber nicht die Zinsen zu bezahlen sei. Letztere gewissermassen
noch humane Verordnung wurde namentlich von Päbsten zur Zeit
der Kreuzzüge erlassen, während Könige von Frankreich und später
aoeh von Deutschland noch weiter gingen und Letztero die Kam-
merbiechtscbaft dahin auslegten, dass die Juden mit ihrem Gut
iod Blut dem Kaiser gehörten und seiner Willkür unbedingt unter-
worfen seien. Als durch solche Schuldentilgungen, die namentlich
ooter König Wenzel häufig vorkamen, der Credit erschüttert wurde,
erhielten die Juden hie und da das Privileg, dass ihre Forderun-
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814 Stobbe, Weydeu u. KnyserUng: Geschichte der Juden.
gen eine bestimmte Anzahl Jahre durch keinen Erlass getilgt wer-
den sollten. Solche Schuldenerlasse kommen noch bis zur Mitte
des 15. Jahrhunderts vor, und die Lage der Juden blieb immer
eine precäre. Wie man eine Spaarbüchse leert, wenn sie voll ge-
worden ist, so beraubte man die Juden ihres Guts, wenn es sich
der Mühe zu verlohnen schien. Die eigentlichen Schuldner fanden
wohl auch einige Erleichterung, den Hauptnutzen solcher Berau-
bungen theilten die Städte und der Kaiser.
Sind letztgenannte Verordnungen aus gemeiner Habsucht ent-
sprungen, so lag den in Bezug auf den Judeneid erschienenen, wie
beim Würfelzoll, die Absicht zu Grund, den Juden zu verhöhnen
und zu kränken, ihn moralisch mit Füssen zu treten. Schon in
deu Gesetzen, welche Karl dem Grossen und Ludwig dem Frommen
zugeschrieben werden, heisst es: »Streue Sauerampfer zweimal vom
Kopf aus im Umkreise seiner Füsse.« Aus dem 11. Jahrhundert
findet sich folgende Vorschrift: »Ein Dornenkranz soll ihm auf
seinen Hals gesetzt, seine Knie umgürtet werden, und ein Dornen-
zweig von fünf Ellen Länge, voll Stacheln, soll ihm, bis er den
Eid vollendet, zwischen den Hüften durchgezogen werden.« Der
Schwabenspiegel bestimmt , dass der schwörende Jude auf einer
Sauhaut stehe. Sächsisch-Thüringischen Verordnungen zufolge sollte
er auf nacktem Körper einen grauen Bock und Hosen ohne Vor-
lasse an haben, einen spitzen Hut auf dem Kopfe tragen und anf
einer in Lammblut getauchten Haut stehen. In Schlesien musste
er auf einem dreibeinigen Stuhle stehen, so oft er herunter fiel
eine Busse zahlen, fiel er aber zum viertenmal herunter, so hatte
er seine Sache verloren. Was die Worte des Schwures betrifft, so
genügte es nicht, dass er die Hand auf der Bibel bei dem Gotte
schwur, welcher Moses das Gesetz gab, er musste hinzufügen, dass
der Aussatz von Naaman und Siro seinen Leib erfassen, dass die
Erde ihn lebendig wie Dathan und Abiron verschlingen, ein hölli-
sches Feuer ihn wie Sodom und Ghomora verzehren möge, dass ihn
die fallende Sucht heimsuche , dass er wie Loth's Frau in eine
Salzsäule verwandelt werde, von der Auferstehung ausgeschlossen
sei n. dgl. m., wenn er falsch schwöre. Die Formel wechselte nach
Zeit und Land oder Stadt, wie überhaupt in Deutschland, als der
Reichsverband immer lockerer wurde, jeder Fürst, jede freie Stadt
die Judenordnungen nach Belieben verschärfte oder milderte , so
dass unter 500 bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts bekannten
Judenordnungen bei Weitem die Mehrzahl auf Deutschland kommt,
daher auch eine Judengeschichte Deutschlands ihre grossen Schwierig-
keiten hat, und beschränkt man sie nicht auf das Wesentliche,
wie es H. Stobbe gethan, so schreibt man nicht mehr ein Buch
für grössere Kreise. Leichter war die Aufgabe, die sich die Verf.
der beiden andern vorliegenden Werko gestellt hatten, obschon
Weyden sich auch nicht damit begnügt hat die Geschichte der
Juden in Köln zu schreiben, sondern sehr häufig auf die Zustände
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Stobbe, "Weyden «. Keyserling: Geschichte der Juden. 316
der Jaden in ganz Deutschland umherblickt. In Köln, wo seit der
Römerzeit Juden wohnten, war ihr Loos, im Vergleich zu andern
Orten, ein Leidliches, obgleich auch hier die canonischen Rechts-
bestimmungen Geltung hatten und die Geistlichkeit den Volkshass
gegen sie nach Kräften anfachte. Sie standen, wie anderwärts,
roerst unter dem Schutze des Kaisors, wurden dann den Erz-
bischöfen gewissermassen zu Lehen gegeben, die später auch einen
Theil ihrer Rechte der Stadt abtraten. Gegen die blutigen Ver-
folgungen zur Zeit des ersten Kreuzzugs vermochte auch der da-
malige Erzbischof Heinrich III., mit dem besten Willen nicht die
Joden Kölns zu schützen, es gelang aber dem Erzbischof Arnold I.
sie im Jahr 1146, als in Folge der Predigten des Mönchs Rudolf
nene Judenverfolgungen stattfanden, in Sicherheit zu bringen. Die
Jeden lebten mit den Bürgern in bestem Einverständniss , hatten
ihre eigene Gerichtsbarkeit und durften im Judenviertel Häusser
besitzen, und es kamen Fälle vor, in welchen die Stadt sich der
Jaden gegen die Willkür der Erzbisehöfe annahm. Natürlich waren
sie hier nicht weniger als an andern Orten eine reine Geldquelle,
m der man so viel als möglich zu schöpfen suchte. Zu dem
doppelten 8chutzgelde, an den Erzbischof und die Stadt, und dem
Grundzins, zu den Heirathsgeldern , dem Zungengeld für das ge-
Mhlachtete Vieh, dem zehnten Tbeil des Erwerbs, kamen noch
Holdigungsgebtihre , Bettsteuer, Küchenstener , Pergamentsteuer,
Krönungsteuer u. dgl. m. Trotz allem nahm doch die Judenge-
meinde Kölns immer zu und ihre Geldgeschäfte verschafften ihnen
Reichthum und Ansehen, weil der damals blühende Handel der
Stadt sie nicht entbehren konnte. Zur Zeit des schwarzen Todes
beachlosg der Rath die Juden aufs Kräftigste zu schützen, konnte
aber, als die zunehmende Seuche die Gewalt und das Ansehen der
Gesetze vernichtete, und als die Wuth des Pöbels immer drohen-
der wurde, nicht hindern, dass das Judenviertel gestürmt und
dessen Bewohner allen Gräueln des Fanatismus und des Hasses
preisgegeben wurden. Tage lang währte das Rauben, Morden,
Sengen und Brennen. Nur wenige Juden entgingen dem Blutbade,
die Geretteten wurden aus der Stadt verwiesen und ihre liegende
Habe wurde eingezogen. Der Ausfall in den Einkünften und der
Waeher der Lombarden, die noch höhere Zinse als die Juden nah-
men, veranlasste den Erzbischof und die Stadt im Jahr 1872, nach
23 Jahren der Verbannung, wieder die Juden aufzunehmen. In
Folge von Differenzen zwischen dem Erzbischof und der Stadt, die
Hechte der Juden und ihr Schutzgeld betreflend, welche der Kaiser
w Gunsten des Erzbischofs entschied, wurden die Juden abermals
im Jahr 1424 auf ewige Zeiten mit grösster Härte der Stadt ver-
wiesen und genöthigt, sich in verschiedenen andern Orten des Erz-
itiftes niederzulassen. Erst im Jahr 1798, als Köln mit der fran-
zösischen Republik vereinigt war, Hess sich wioder ein Jude da-
selbst häuslich nieder und ihm folgten bis zum Jahr 1814 etwa
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813 Stobbe, Weyden u. Kayserling: Geschiente der Jnden.
zwanzig andere Familien. Im Jahr 1827 zählte die Jadengemeinde
dreissig Familien, im Jahr 1851 bereits 1500 Seelen und sie be-
steht beut zu Tage aus 400 Familien, welche nicht nur in allen
Zweigen des Gross- und Kleinhandels thiltig sind, sondern auch
Gewerbe aller Art betreiben.
Werfen wir nun noch zum Schluss einen Blick auf die Juden
in Portugal, wenn auch ihre Geschichte mit der ihrer Glaubens-
genossen in Deutschland grosse Aehulichkeit hat. Auch hier er-
regten sie durch ihren Besitz den Neid des Volkes und durch ihre
freie Religionsübung den Fanatismus der Geistlichkeit, und ver-
dankten ihre Ruhe nur den sie schützenden Fürsten. Es wurde
selbst gegen Ende des 14. Jahrhunderts nicht nur Judenschlftchte-
reien, wie sie in Spanien vorkamen, vorgebeugt, sondern die Flücht-
linge aus diesem Lande durften sich sogar in Portugal nieder-
lassen. Joao L Hess päbstliche Bullen ins Portugiesische über-
setzen und veröffentlichen, welche jede Gewaltthat gegen Juden
aufs Strengste verboten , mnsste aber anderseits auch , von der
Geistlichkeit gedrängt, die alten canonischen Gesetze, wie das
Tragen der Erkennungszeichen , das Verbot des Umgangs mit
Christen , und der Verleihung von Staatsämtern an Juden , aufs
Neue einschärfen, was ihn jedoch nicht binderte, jüdische Aerzte
in seinem Palaste zu halten und Juden als Steuereinnehmer zu ge-
brauchen, während sein Nachfolger Duarte mit grösserer Strenge
jene Gesetze aufrecht hielt und ihnen noch Neue hinzufügte. Eine
überaus günstige Stellung hatten die Juden in Portugal unter Al-
fonso V. Sie hielten sich ausserhalb des Judenviertels auf, trugen
keine Erkennungszeichen und bekleideten allerlei Aemter, worüber
die Cortes sich häufig beklagten und das Volk von Neid und Hass
erfüllt wurde, so dass es mehreremale zu Aufläufen kam , die nur
mit grösster Strenge unterdrückt werden konnten. Mit dem Tode
Alfonso's (1481) traten zwar wieder manche Beschränkungen für
die Juden ein, doch verwandte auch sein Nachfolger Joao II. ge-
lehrte Juden in seinem Dienste. So befanden sich Juden in dem
von ihm veranstalteten Congresse zur Verbesserung des nautischen
Astrolabiums, andere leisteten bei den Entdeckungsfahrten nach
Ostindien wesentliche Dienste, wieder Andere machten sich durch
Einführung der Bucbdruckerknnst um das Land verdient. Später
wurde Joao immer bigotter und habsüchtiger. Er misshandelte
zuerst die aus Spanien herüber geflüchteten Juden , obgleich er
ihnen gegen ein bedeutendos Eintrittsgeld Schutz versprochen hatte,
und versuchte es zuletzt auch die seit Jahrhunderten in Portugal
wohnenden Juden zur Taufe zu zwingen. Zum Glück für die Juden
endete Joao II. sein Leben (1495), ehe sein Vorhaben zur Ausführung
kam und sein Neffe und Nachfolger Manuel dehnte in den ersten
Jahren seiner Regierung seine Menschenliebe auch auf seine jüdi-
schen Unterthanen aus und ernannte sogar den Juden Cacnto zu
seinem Astrologen und Chronisten. Später unterdrückte er aber
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Stobbe, Weyden u. Kayserling: Geechichte der Juden. 817
seine Toleranz und Humanität aus politischen Bücksiebten. Er
wollte eine spanische Prinzessin heirathen, die Königin Isabella
machte ihm zur Bedingung , dass er alle Juden in kurzer Frist
aus dem Lande jage, und die Prinzessin selbst wollte den portu-
giesischen Boden nicht betreten, bis das ganze Land von den ver-
balsten Juden gesäubert wäre. Vergebens erhoben sich im Staats-
rath viele Stimmen gegen die Vertreibung der Juden, indem sie
hervorhoben, dass ja selbst der Pabst solche in seinem Lande
dulde, und dass es gegen jede Staatsklugheit sei, so viele üe issige,
tüchtige und gewinnbringende Menschen zu vertreiben. Der
Heirat hsvertrag wurde von Manuel (1496) geschlossen und Uber
das Schicksal derJnden war entschieden. Es erschien eine Ordon-
nanz, dass bei Todesstrafe und Confiscation des Vermögens alle
Juden innerhalb zehn Monate Portugal zu verlassen hätten , und
dass nach Abiaul dieser Frist kein Jude sich mehr im Lande
aufhalten sollte. Aber auch diese gewissermassen noch milde Ordon-
nanz, da sie doch den Unglücklichen freien Abzog gewährte, wurde
einige Monate nach ihrer Veröffentlichung widorrufen. Manuel er-
theilte den schauderregenden Befehl, dass den Juden alle Söhne
und Töchter unter vierzehn Jahren gewaltsam entrissen und in ver-
schiedene Städte vertheilt werden sollten, um im christlichen Glau-
ben erzogen zu werden. Viele Eltern zogen vor, sich und ihre
Kinder mit eigener Hand zu tödten und der Jammer war so gross,
dass viele sonst judenfeindliche Christen, aus Erbarmen , die Ver-
folgten in ihren Häusern verbargen, damit man ihnen ihre Kinder
nicht entreisse. Damit war aber der zum Unmenschen gewordene
König Manuel noch nicht zufrieden. Er wollte unter keiner Be-
dingung die Juden mit ihrem Besitze abziehen lassen, sondern sie
als Christen im Lande behalten. Er hatte versprochen, ihnen drei
Hafenplätze zor Einschiffung anzuweisen, zögerte aber mit der Be-
zeichnung dieser Plätze bis die bestimmte Frist abgelaufen war.
Dann Hess er sie nach Lissabon kommen , angeblich um sie ins-
gesammt einschiffen zu lassen, aber dort angekommen wurden auch
sie mit Gewalt zur Taufe gezwungen. Auch damit war aber ihr
Unglück noch nicht zu Ende. Sie waren in ihrem Herzen Juden
und galten als solche in den Augen des Volkes, wurden daher
auch als Ketzer gehasst und angefeindet. Vielen gelang es, trotz
allen Massregeln Manuels sie daran zu verhindern, nach Italien,
Flandern und dem Orient auszuwandern. Die Zurückgebliebenen
wurden theils vom Volke in verschiedenen Erneuten ermordet, theils
später, trotz mehrerer päbstlicher Breves, von den Häschern der
Inquisition auf Scheiterhaufen verbrannt. Auch ihre Nachkommen,
welche immer Neuchristen genannt wurden und im Geruch des Un-
glaubens und der Anhänglichkeit an das Judenthum standen, wur-
den bis ins 18. Jahrhundert herein von der Inquisition verfolgt,
so dass auch die Auswanderung derselben fortdauerte und das Land
immer mehr verödete und verarmte. Eines der letzten Opfer der
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318 B*k«r: Dm Nilbecken und die Erforschung der Nllqnellen.
Inquisition war der berühmte Dramatiker Antonio Jose da Silva,
welcher im Jahr 1739 des Judaismus angeklagt und zum Feuer-
tode verurtheilt wurde. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts, als die Inquisition ihre Macht verloren hatte, verschwand
allmählich der Unterschied zwischen Alt- und Neuchristen, und
seit Anfang dieses Jahrhunderts wurden auch wieder wirklich«
Juden in Portugal geduldet. Die Cortes vom Jahr 1821 hoben
die Inquisition ganz auf und erneuerten alle frühem Freiheiten
und Privilegien der Juden. Wie in den frühern Jahrhunderten be-
weisen sich die Könige der Gegenwart huldreich. Ein englischer
Jude wurde im Jahr 1845 zum Baron da Palmeira und ein Deutscher
vor wenigen Jahren zum Com man den r des Ordens der unbefleck-
ten Empfängniss der heiligen Jungfrau ernannt.
Schliessen wir, wie Weyden, mit dem Wunsche, dass der Tag
nicht mehr fern sein möchte, wo aller und jeder confessionelie
Unterschied in Bezug auf bürgerliche Rechte schwindet.
Weil.
Der Albert Nyansa, das grosse Becken des Nil und die Erforschung
der Nilquellen von Samuel White Baker, Autorisirte voll-
ständige Ausgabe für Deutschland, Aus dem Englischen von
J. E. A, Martin, Custos der Universüäls- Bibliothek zu Jena.
Nebst 33 Illustrationen in Holzschnitt, l Chromolithographie
und 2 Karten. Erster Band. Jena, Hermann Costenoble, 1867+
388 8. gr, 8.
Das englische Werk , das nicht ohne Grund , ein so grosses
Aufsehen erregt hat, und jetzt sogar in einer neuen wohlfeileren
Ausgabe (zu 16 Schill.) in England erscheint, liegt hier in einer
wohlgelungenen Uebersetzung vor uns, welche für Deutschland zu-
nächst bestimmt ist, und das englische Original, das seiner Natur
nach doch nur Wenigen unter uns zugänglich ist, auch weiteren
Kreisen zuführt. Es ist dasselbe aber ein nicht blos vielfach be-
lehrendes Werk, welches das Interesse des Geographen und Ethno-
logen nicht minder wie das des Naturforschers in Anspruch nimmt,
sondern auch ein sehr unterhaltendes, das durch eine lebendige
Darstellung anzieht und dabei vielfache Abwechslung gewährt. Es
war im März des Jahres 1861, als die Expedition unternommen
ward, deren Ziel »die Entdeckung des grossen Behälters der Aequa-
torialwasser , des Albert Nyanza war, aus welchen der Fluss als
ganzer weisser Nil entspringt.« Naoh fünfjährigem Auf enthalt in
Afrika kehrte der Verfasser zurück, und wendete seine Muse der
Aufzeichnung der Begebnisse zu, welche die mit unsäglichen Schwie-
rigkeiten jeder Art verbundene Wanderung in das Innere Africa's
begleiteten, und zu einem glüokliohen Endziel führten. Zwar ge-
langen wir in diesem ersten Bande noch nicht an diesem Ziel, aber
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B»ker: Da* Nflbecken und die Erforschung der Nüqueäen. 3!#
die Denn Abschnitte, in welche der Reisebericht, so weit er in
diesem Bande enthalten ist, zerfallt, führen uns doch so ziemlich
in die Nähe desselben. Am fünfzehnten April 1861 segelte der
Verfasser, begleitet von seiner treuen Lebensgefährtin von Cairo
ab, am 11. Juni ward Berber erreicht, das von K Hartum noch acht
Kameelt agereisen entfernt ist; schon am 13. gelangte er an die
Stelle, wo mit dem Nil der Atbara sich vereinigt, der den ganzen Was-
serabflnss des östlichen Abyssiniens dem Nil zufuhrt, der, wie der
Verf. ansdrücklich bemerkt, an keiner Stelle eine so grosse Wasser-
masse enthält, wie bei dieser Verbindung mit dem Atbara , Selbst
im Durchschnitt eine Breite von 1350 im Durchschnitt hat, bei
einer Tiefe von 25—80 Fuss während der Regenzeit. Da der Nil
von hier bis zu seiner Mündung in das mittelländische Meer durch
Sand wüsten und das Delta hindurch eine eiifbundert (englische)
Meilen, d. h. Bechstehalbhundert Stunden lange Einsaugung und
Verdunstung auszuhalten hat, also einen Ungeheuern Wasserverlust
erleidet, so erklärt sich daraus zur Genüge, warum die grosseste
Breite des Nils unterhalb der Atbara-Mündung sich findet. Von
diesem Strom gibt der Verf. folgende Schilderung, die wir als
Probe der Darstellung hier beifügen:
»Der Atbara, obgleich in der Regenzeit Abyssiniens ein so
bedeutender Strom, ist mehrere Monate des Jahres hindurch voll-
kommen trocken, und damals, als ich ihn zum ersten Male sah,
am 15. Juni 1861, war er eine blosse Fläche funkelnden Sandes,
that sächlich ein Theil der Wüste, durch welche er floss. Von sei-
ner Vereinigung mit dem Nil an ist er über einhundert und fünfzig
englische Meilen weit von Anfang März bis Juni vollkommen trocken.
In Zwischenräumen von wenigen Meilen gibt es Pfahle oder Teiche
von Wasser, das in den tiefen Löchern zurückgeblieben ist, die
unter dem allgemeinen durchschnittlichen Niveau des Flussbettes
Hegen. In diesen Pfuhlen , von denen manche eine englische Meile
lang sein mögen , versammeln sich alle Bewohner des Flusses,
die, sowie der Strom verschwindet, sich genöthigt sehen, in diesen
engen Zufluchtsstätten dicht aneinander zu rücken. So drängen
sieh Krokodile , Flusspferde , Fisehe und grosse Schildkröten in
ausserordentlicher Anzahl zusammen, bis der Anfang der Regen in
Abyssinien sie wieder in Freiheit setzt, indem er eine frische
Wassermasse zu dem Flusse herabsendet. Die Regenzeit beginnt
in Abyssinien in der Mitte des Mai, da aber das Land durch die
Sommerhitze versenkt ist, so werden die ersten Regen vom Boden
eingesaugt, und die Giessbäche füllen sich nicht vor Mitte des Juni.
Vom Juni bis zur Mitte Septembers sind die Gewitter furchtbar;
jede Schlucht wird ein tobender Giessbaoh ; Bäume werden von
den über ihre Ufer geschwollenen Bergströmen entwurzelt, und der
Atbara wird ein ungeheurer Fluss, der mit einer Alles Überwälti-
geoden Strömung den ganzen Abfluss von fünf grossen Flüssen —
dem Settite, ßoyän, Salaam und Angrab, nebst seiner eigenen ur-
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820 Bftkar: Dm Nilbecken und die Erforschung der Nil quellen.
sprünglichen Wassermasse — herabbringt. Seine Wasser sind dick
yon Erdreich, das von den fruchtbarsten Ländereien weit von sei-
nem Vereinigspunkte mit dem Nil abgewaschen wurde; Massen von
Bambus und Treibholz, nebst grossen Bäumen, und häutig die
Leichen von Elephanten und Büfteln, werden längs seinen schlam-
migen Wassern in wilder Verwirrung fortgeschleudert und bringen
den an seinen Ufern wohnenden Arabern, die immer nach des
Flusses Schätzen /in Brenn- und Nutzholz auf der Lauer stehen,
eine reiche Ernte.
Der blaue Nil und der Atbara, die den ganzen Wasserabfluss
Aby ssiniens aufnehmen , ergiessen ihre Hochwasser in der Mitte
des Juni gleichzeitig in den Hauptnil. In dieser Zeit hat auch der
weisse Nil einen beträchtlich hohen, obwohl nicht seinen höchsten
Stand, und der plötzliche Wassersturz, der von Abyssinien in den
Hauptkanal herabkommt, welcher schon durch den weissen Nil auf
einen hübschen Stand gebracht worden ist, verursacht die jährliche
Ueberschwemmung in Unterägypten.«
Es folgt nun die weitere Reise bis Khartum, die Beschreibung
dieses Ortes, bei welcher Gelegenheit eine abschreckende Schilde-
rung des Sclavenhandels, wie er dort getrieben wird, gemacht wird:
Nachdem die Vorbereitungen zur weiteren Reise beendigt waren
— eine Begleitung von fünf und vierzig Bewaffneten zur Bedeckung,
vierzig Matrosen, so dass mit Inbegriff der Dienerschaft die Reise-
gesellschaft beinahe hundert Mann (96 Mann) zählte, dabei Pro-
viant auf vier Monate, ausserdem ein und zwanzig Esel, vier
Kameele und eben so viele Pferde — erfolgte der Aufbruch nach
Gondokoro: die schlechte Aufnahme daselbst und die Schwierig-
keiten bis zu dem endlich erfolgten Abmarsch bilden den Inhalt
des zweiten und dritten Kapitels, während die folgenden Abschnitte
über die Fortsetzung der Reise berichten, die mit Schwierig-
keiten und Gefahren jeder Art verknüpft, dem Endziel immer näher
rückte. Allerdings müssen wir den Muth und die Ausdauer des
Reisenden, wie seiner Gattin bewundern, die in allen diesen Ge-
fahren ihm treu zur Seite stand. In diesem Reisebericht ist insbe-
sondere auch die Thierwelt jener Gegenden berücksichtigt, wie
s. B. das siebente Kapitel fast ganz mit den Elephanten und deren
Jagd sich beschäftigt; aber eben so werden auch die Bewohner
geschildert und so ein vielfache Abwechslung gewährendes Bild uns
vorgeführt. Zahlreiche dem Werke eingedruckte Holzschnitte steilen
meistens Bewohner der durchwanderten Gegenden in den verschie-
densten Situationen, Jagdscenen u. dgl., oder Waffen, Gerätschaf-
ten dar; der See selbst, dessen Erreichung das Ziel der ganzen
Reise war, ist dem Titelblatte in einem schönen Bilde beigegeben.
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fc 21. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Verhandlungen des natnrkistorisch - medizinischen
Vereins zu Heidelberg.
1. Vortrag des Herrn Prof. 0. Weber: »Ueber eine
Nervengesch wulst € , am 26. Oktober und 21. Dezember 1866.
(Da» Manuscript wurde am 1. Mai 1867 eingereicht)
Prof. 0. Weber bespricht einen kürzlich von ihm operirten
Fall Ton sog. Neurom des Norvus cruralis. Der Patient, ein 2 7jäh-
riger schmächtiger junger Mann, hatte zuerst im März 1866 eine
Geschwulst an der innern Seite des rechten Oberschenkels bemerkt;
sie hatte anfangs die Grösse einer Wallnuss und veranlasste sehr
bald heftige, von ihr ausstrahlende Schmerzen, welche die ganze
innere Seite des Beines einnahmen und blitzartig zeitweise beson-
dere in der Bettwärme oder nach stärkeren Anstrengungen auftra-
ten. Die Geschwulst wuchs rasch an und die Schmerzen wurden
zuletzt so heftig, dass der Kranke sehr abmagerte und seiner Be-
schäftigung nicht mehr nachgehen konnte. Bei der Aufnahme in
das Krankenhaus (am 29. Sept.) fauden wir eine Gänseeigrosse Ge-
schwulst in der Mitte des Oberschenkels die offenbar den Nervus
cruralis umgab und die bei ihrem raschem Wacbsthum und der
pseudofluctuirenden Consistenz für ein Sarkom des Nerven ange-
sprochen werden musste. Nach der Meinung des Vortragenden ist
es nämlich nöthig, auch die Nervengeschwülste oder sog. Nenrome
wieder ihrer anatomischen Natur nach zu classificiren und wo
möglich diese auch schon am Lebenden zu diagnosticiren. Die Ge-
schwulst war oval, 6 centim. breit 5 centim. lang und Hess sich
nach den Seiten bin ziemlich verschieben, von oben nach unten
war keine Beweglichkeit möglich. Der untere Theil war vom m.
sartorius bedeckt und zeigt eine pulsirende Hebung und Senkung
durch die, wie es schien, auch durch die Geschwulst hindurchlau-
fende Arterie. Die Untersuchung der Geschwulst rief nur dann
Sch merz hervor, wenn man sie zu umgreifen suchte und stark hin
und her schob. Dann entstanden auch die bereits erwähnten bis
itun Fusse ausstrahlenden Schmerzen. Für gewöhnlich hatte der
Kranke nur ein Gefühl von Pelzigsein, welches besonders längs der
▼ordern Innenseite des Unterschenkels sich bemerkbar machte und
genau bis zur crista tibiae reichte. Die Sensibilität war an den ent-
sprechenden Stellen etwas vermindert. Die Beweglichkeit war unge-
stört, nur hatte der Kranke zuweilen leichte Zuckungen, besonders
LX. Jahrg. 6. Heft 21
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322 Verhandlungen des naturhistorisch-medirinisclien Vereins.
im unteren Ende des vastus internus. Man konnte daraus schlies-
sen, dass hauptsächlich der nervus saphenus major und einige
Muskeläste des cruralis von der Geschwulst ergriffen waren.
Obwohl in der Ruhe die lancirenden Schmerzen aufhörten,
kehrten sie doch sofort wieder, wenn der Kranke sich viel Be-
wegung machte, und da die Geschwulst zusehends wuchs, so ver-
langte er dringend die Operation. Dieselbe wurde am 11. October
ausgeführt. Nachdem die Geschwulst durch einen 5 Zoll langen
Schnitt durch Haut und Fascie blossgelegt war, ergab sich, dass
sie mit dem m. sartorius theil weise verwachsen war und es wurde
nothwendig ein Stück aus der Länge desselben hinwegzunehmen,
die grössere Hälfte der Muskelbündel blieb unversehrt. Ein Her-
auspräpariren der Nerven war ganz unmöglich, da die Nervenfasern
sich ganz in der weichen Geschwulstmasse verloren. Auch die
Arteria und Vena femoralis verliefen mitten durch die Geschwulst
hindurch. Es wurde der Versuch gemacht, die Arterie herauszu-
lösen, allein die Geschwulst hatte bereits die Wände derselben er-
griffen, so dass das Blut durch die mürbe Gef&sswand hindurch-
schwitzte und nichts anderes übrig blieb als ein drei Zoll langes
Stück der Arterie mit hinwegzunehraen , nachdem dieselbe oben
und unten unterbunden war. Noch schlimmer war das Verhalten
der Vene, indem die Geschwulst in das Venenlumen bereits einge-
drungen war. So musste auch die Vene doppelt unterbunden und
resecirt werden.
Die herausgenommene knotig höckerige weiche Geschwulst von
grauröthlichem markigem Ansehn erwies sich als ein Gliosarkom
mit runden blassen eiterähnlichen Zellen, welches sich vom Binde-
gewebe der Nervenscheide entwickelt hatte und diffus sowohl in
die benachbarten Muskeln als auch in die Gefässhäute der Arterie
und der Vene vordrang. Die Vene war an ihrem unteren Ende
stark verdickt und zusammengezogen. In der Mitte des heraus-
genommenen Stückes hatte die Geschwulst auch die Intima auf eine
zolllange Strecke bereits durchbrochen und ragte als ein markiger
mit weichem Blutcoagulum durchwachsener Zapfen frei in das Lumen
der Vene hinein. Daneben war aber noch ein Canal für den Rück-
fluss des Blutes frei geblieben. Ohne Zweifel würde die Geschwulst
bei weiterem Wacbsthume — wenn dies nicht schon geschehen — -
zu secundären Geschwulstbildungen auf dem Wege embolischer Ver-
schleppungen Anlass gegeben haben, so dass also in dieser Hinsicht
die Exstirpation der Ge&ssstücke als ein Glück angesehen werden
durfte.
Sehr interessant war nun der weitere Verlauf des Falles. Nach
den Anschauungen der ältern Chirurgie hätte die gleichzeitige Unter-
brechung des arteriellen und des venösen Stromes in den Haupt-
geftissen der Extremität und eines so wichtigen Nerven die Fort-
existenz des Gliedes in hohem Grade bedrohen müssen. Indessen
durfte man auf eine baldige Herstellung des Collateralkreislaufes
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'Verhandlungen de» neturhlstoriech-medizintochen Vereins. 32'
rechnen, da der vorangegangene Druck der Geschwulst anf die Gefässe
nothwendig schon eine stärkere Entwicklung der Collateralen hatte zu
Wege bringen müssen. In der That konnte man sich schon bei der
Operation von der Herstellung des Collateralkreislaufos überzeugen.
Nachdem das obere Ende der Arterie unterbunden war, legte ich
den Faden um das untere Ende, wo die Arterie wieder aus der Ge-
schwulst heraustrat, zunächst nur so um, dass derselbe die Arterie
nicht verschluss und schnitt des Versuchs wegen die Arterie mit
der Scheere ab. Der hervorspritzende Strahl war fast so kräftig
wie der aus der nicht unterbundenen Arterie gewesen sein würde.
Es gerieth nun auch das Glied keinen Augenblick in irgend welche
Gefahr. Gleich nach der Operation blieb zwar der Unterschenkel
bis zum fünften Tage hin sowohl subjectiv als objeotiv etwas küh-
ler, und erschien etwas venös hyperämisch, allein schon vom sech-
sten Tage an war die Temperatur ganz gleich mit dem andern
Beine und liess sich kein Unterschied mehr in Bezug auf die Cir-
colationsverbältnisse wahrnehmen. Das Gefühl war anfangs vom
antern Drittheil des Oberschenkels an der Innenseite des Knies
bis zum einen Knöchel und längs der crista tibiae erloschen. In-
dess schon 7 Tage nach der Operation ergab sich, dass sich die un-
empfindliche Stelle erbeblich verkleinert hatte und von da an immer
beschränkter wurde. Die Wunde heilte durch Granulationen in
erfreulicher Weise zu. Die Beweglichkeit des Beines war ganz
ungestört. •
Als der Kranke in einer späteren Sitzung der Gesellschaft ge-
beilt vorgestellt wurde, konnte er sein Bein ohne alle Beschwerden
gebrauchen, so dass er schon einen Weg von drei Stunden ohne
Hinderniss zurückzulegen vermochte. Das Gefühl war bis auf eine Stelle
■in dem oberen Drittel der Schienbeinkante im Umfange von zwei
Qaadratzoll vollständig wieder hergestellt. Einige Monate später
war die Anästhesie nur noch auf eine {j2 Quadratzoll grosse Stelle
beschränkt. Darnach unterliegt es also keinem Zweifel, dass sich
die Nervenleitung zum grossen Theii wieder hergestellt hat. Ent-
weder muss sich das excidirte 3 Zoll lange Stück des nervus saphe-
nns major regenerirt haben, oder die Leitung muss durch Anasto-
mosen übernommen worden sein. Die erstere Ansicht hat nach den
vorliegenden Erfahrungen die grössere Wahrscheinlichkeit für sich,
da man auch am nervus isohiadious nach Exoision eines ll/2 Zoll
langen Stücks die Leitung sich wieder herstellen sah und da die
Beobachtungen von Hjelt, Lent u. A. die Regeneration grösserer
eicidirter Nervenstücke dargethan haben.
2. Vortrag des Herrn Dr. Heine: »Ueber Ur anoplastik
bei Oberkieferresektionen«, am 9. November 1866.
3. Vortrag des Herrn Dr. Bernstein; >Ueber den
Nervenstrom«, am 9. November 1866.
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824 Verhandlungen des natnrhlstorißch-medizinischen Verein«.
4. Vortrag des Herrn Dr. C. W. C. Puchs: »Ueber das
Maderanerth al«, am 23. November 1866.
(Das Manuscript wurde am 28. April 1867 eingereiht.)
Das Maderauerthal , eines der herrlichsten Hochalpen-Thäler,
voll Wasserfälle und Gletscher, ist ein Seitentbal des Reussthaies.
Es erstreckt sich von Ost nach West etwa sieben Stunden lang;
doch sind nur etwa 4'/i Stunden Weges mit Vegetation bedeckt,
der hintere Theil des Thaies ist von dem grossen Hüfigletscher
ausgefüllt. Berge , welche sich sowohl durch ihre schöne Form,
als auch durch ihre bedeutende Höhe auszeichnen , begrenzen das
Thal; auf der Nordseite der zackige Folskamm der Windgälle, der
grosse und kleine Ruchi, auf der Südseite der Bristenstock, Wei-
denalp — , Oberalpstock und Düssistock; den Hintergrund bildet
das zweizackige Scheerhorn. Zwischen dem Bristenstock und Wei-
denalpstock mündet das Etzlithal, das grössto Seitenthal des Ma-
deranerthales, indem dasselbo von Süden kommend, nahezu parallel
mit dem Reusstbale bis zum Maderanerthale sich erstreckt.
Indem das Madoranorthal einen tiefen Einschnitt in eine sonst
compakte und wenig gegliederte Gebirgsmasse bildet, ist es der
Ausgangspunkt zahlreicher Pässe, die aber ziemlich schwierig
und grösstentheils mit langen Gletscherübergängen verbunden sind,
z. B. der Kreuzlipass, Brunnipaes und Gletscherpass, die nach
Dissentis führen, der Claridenpass und Scheerjochpass , welche in
das Linth-Thal münden.
Der Htifigletscher , welcher den Thalboden im oberen Theile
des Maderanerthales bedeckt, ist auf seiner Oberfläche am unteren
Ende ziemlich eben und ohne viele Spalten, also leicht gangbar;
da, wo er an das Scheerhorn stösst, fällt er steil ab und besteht
aus scharf zugespitzten Eiszacken, welche durch tiefe Spalten ge-
trennt sind — eine Eismasse, die in ihrer Zerrissenheit an den
steilen Abfall des Rbonegletschers neben dem Galenstock erinnert.
An dem Scheerhorn spaltet sich der Gletscher in zwei grosse Arme,
die sich weiter oben, vom Thalboden aus nicht mehr sichtbar, noch
vielfach theilen und von allen Gipfeln jenes Gobirgsstockes Zufluss
erhalten, einerseits noch von den Olariden, andererseits auch von
dem Tödi.
Die hohen, mit ewigem Schnee und zahlreichen Gletschern be-
deckten Berge, welche das Maderanerthal umgeben und steil von
der Thalsohle ansteigen, erklären hinreichend den ausserordent-
lichen Wasserreichthum des Thaies. Von allen Seiten stürzt das
Wasser in den prächtigsten Fällen von den steilen Abhängen herab,
jeder Wasserfall malerisch und schön und jeder doch in seiner
eigenen Art, verschieden von allen andern und alle, als Gletscher-
bäche, stets wasserreich. Auf der Südseite zeichnet sich der Etzli-
bach aus, welcher das Etzlithal bildet und am Ende desselben über
die hohe Thalstufe, welche dasselbe vom Maderanerthal trennt,
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Verhandlungen des naturhiBtorisch-medkinischen Vereins. 325
herabstürzt ; weiter oberhalb der Stäubibach, der überhaupt zu den
schöneren Wasserfällen der Schweiz gezahlt werden kann. Auf der
Nordseite übertrifft der Golzernbach und der Seidenbach die übri-
gen an Schönheit und Wasserreichthum.
Das Maderanerthal ist ein Hochthal, d. h. es steht mit dem
Thalsystem, zu welchem es gehört, nicht in unmittelbarer Verbin-
dung, sondern ist von dem Reussthai, in welches sich der Kär-
stelenbach aus dem Maderanerthal ergiesst, durch eine hoho Tbal-
stufe getrennt; man muss eine steile Bergwand zwischen Wind-
gälle und Bristenstock binansteigen um von Amstäg im Reussthal auf
ien Thalboden des Maderanerthales zu gelangen. Ebenso ist das
Etzlithal ein Hochthal in Bezug auf das Wassersystem des Made-
ranerthales und von diesem gleichfalls durch einen steilen Absturz
getrennt, so dass der Etzlibach nur als Wasserfall in das Made-
ranerthal gelangen kann. Die Natur arbeitet jedoch noch auf das
lebhafteste an der Umformung des Maderanerthales, ein Umstand,
der sich gerade aus seinem Charakter als Hochthal erklärt.
Das Maderanerthal ist für den Geognosten von höchstem Interesse
und in der letzten Zeit auch ist hrfach besucht und beschrieben wor-
den, z. B. von G. v. Rath, A. Müller etc. Das Maderanerthal gehört
zu denjenigen Gegenden , in welchen man sich von der Um Wand-
lung der Gesteine verbältnissmässig leicht überzeugen kann. Diese
Gelegenheit bietet sich überhaupt in den Alpen vielfach dar. Die
grosse Schwierigkeit sich von den Veränderungen im Gesteinsreich
«o überzeugen und dieselben zu verfolgen, beruht in ihrer schein-
baren Geringfügigkeit und in der Langsamkeit mit der sie sich
vollziehen. Da, wo der Urawandlungsprozess mit grösster Energie
von statten geht, und ein solcher « <rt sind die Alpen, da ist auch
eine Wirkung am grössten und in kürzester Zeit von Bedeutung,
M dass derselbe leichter auffällt.
Die Centralmasse der Alpen, besteht aus einzelnen Knoten (
von krystallinischem Silikatgestein, besonders Granit, Gneiss und
Glimmerschiefer. An dieselben legen sich dann zu beiden Seiten
sedimentäre Gesteine, vorherrschend Kalksteine an, welche nur ge-
ringere Höhe erreichen. Ein solcher Knoten bildet den Kern des
Berner-Oberlandes , erstreckt sich aber nach Westen bis in die
hegend von Lenk, nach Osten hin bis zum Tödi. Die eigentüm-
liche Lagerung der Schichten hat schon längst das Interesse der
Geognosten auf diesen Gebirgsstock gelenkt. Die Schichten des-
selben sind nämlich sehr steil aufgerichtet und bilden einen riesi-
gen Fächer. Auf der ganzen Nordseite des Gebirgsstockes fallen
die Schichten nach Süden und um so steiler, je näher dem Mittel-
punkte. Auf der Südseite desselben neigen sich die Schichten im
Gegentheil nach Norden und gleichfalls in der Nähe des Mittel-
punktes am steilsten.
Das Maderanerthal und seine Umgebung gehört der nordöst-
lichen Seite des Gebirgsknotens an. Da es sich von Ost nach West
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326 Verhandlungen de§ naturhiatorisch-mediflnlsehen Vereins.
erstreckt, so folgt dasselbe dem Streichen der Schichten und ist
also wenig geeignet den I icherbau der Schichten klar zu machen.
Dafür durchschneidet das Etzithal den Gebirgsstock und legt den
Fächer blos. Das Maderanertbal liegt aber auch gerade auf dem
nördlichen Bande jenes Gebirgsknotens , wo die krystallinischen
Silikatgesteine von den Kalksteinen berührt werden. Darum wird
in demselben auch hauptsächlich nur die südliche Thal wand von
den krystallinischen Silikatgesteinen gebildet, die nördliche da-
gegen besteht aus dichten grauen Kalksteinen. Dieselben gehören
einer ganz anderen Bildungsperiode an, wie die Silikatgesteine,
denn ihre Schichten fallen in entgegengesetzter Richtung und viel
weniger steil.
Besonders merkwürdig sind die krystallinischen Silikatgesteine.
Man kann dieselben im Allgemeinen als Thonsohiefer , Talk- und
Glimmerschiefer bezeichnen, neben denen Granit, Syenit und Diorit
untergeordnet auftreten. Allein diese Namen passen nur für ein-
zelne Stücke, für gewisse Extreme ; das Interesse beruht gerade
darauf, dass für die Mehrzahl der Gesteine keiner dieser Nameu
passt, dass überhaupt kein Namen passt und nur die seltneren
Extreme bestimmte Species vorstellen, welche durch zahllose Ueber-
günge mit einander verbuuden sind. Das Maderanerthal ist eben
ein Gebiet, in welchem die Umwandlung der Gesteine, mitteu in
dem Prozess begriffen, alle möglichen Zwischenstufen und Ueber-
gänge wahrnehmen läset. Aus Allem geht jedoch hervor, dass der
Thonsohiefer das ursprüngliche Gestein war, welches durch chemische
Einwirkung eine allmählige Umwandlung erlitt und darum in den
weniger veränderten Gesteinen noch immer erkennbar ist, an ein-
zelnen Stelleu sogar fast ganz unverändert erscheint. Die Um-
wandlung folgt zwei verschiedenen Richtungen. Die eine derselben
besteht in der Ausscheidung von Quarz zwischen den Thonschiefer-
Lamellen und Umwandlung der Thonschiefer- Substanz in Talk,
Chlorit und Glimmer, so dass das Endresultat ein ächter Glimmer-
schiefer ist. Man sieht bei dieser Umwandlung zuerst sehr feine
Talkschuppen an den Thonschiefer sich anlegen, deren chemische
Zusammensetzung jedoch, nach Müller, noch nicht mit der des
Talkes übereinstimmt, indem viel Thonerde und Eisenoxyd, wenig
Magnesia und Kalk darin sich findet. Der Quarz nimmt ebenfalls
von kaum merkbaren Adern bis zu Zwischenlagen von beträcht-
licher Dicke und einzelnen rundlichen Knoten, immer mehr zu. In
derselben Art, wie sich der Talk entwickelt und vermehrt, lässt
sich auch die Bildung des Glimmers nachweisen.
Die andere Richtung der Umwandlung besteht darin, dass die
ganze Masse des Thonschiefers in eine grünliche oder graue , an
den Kanten durchscheinende Substanz allmählig übergeht, die ihrer
chemischen Zusammensetzung nach immer mehr mit der des Feld-
spathes oder des Kieselsäure reicheren Feisites übereinstimmt, je ab-
weichender die äussere Beschaflenheit von der des Thouschiefers wird.
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Verhandlungen de« nfttarhiatoriich-mediziniachen Vereins. 327
Der ganze Urawandlungsprozess bestand besonders darin, dass
als nene Substanz eine grössere Menge von Alkalien und Magnesia
hinzutrat, die Thonerde sich verminderte. Wahrscheinlich waren
die zugeführten Substanzen in der Lösung theils an Kohlensäure,
theils an Kieselsäure gebunden. Der nähere Gang der Umwand-
lung würde sich nur durch sehr eingehende und zahlreiche Ge-
steinsanalysen entziffern lassen.
Schon längst, ehe man auf die geognostischen Merkwürdigkeiten
des Maderanerthales aufmerksam geworden war, war dasselbe schon
wegen der Menge und Schönheit der darin vorkommenden Minera-
lien berühmt. Hauptsächlich Bergkrystall, Chlorit, Adular, Anatas
und Borokit kommen vielfach in den Klüften der krystallinischen
Silikatgesteine vor.
Müller glaubt, dass das atmosphärische Wasser, welches auf
jene Gesteine niederfällt den Yerwitterungsprozess derselben ein-
leite und dass die duroh Verwitterung im Wasser gelösten Stoffe,
in den Spalten als krystallisirf Mineralien sich wieder ausschei-
den, dass z. B. der Albit aus der Zerstörung des Feldspathes sich
bilde. Allein ans denjenigen Gewässern, welche ihre gelösten Stoffe
ans der Verwitterung anderer Silikatgesteine erhalten haben, kry-
stallisiren nur sehr selten die complicirt zusammengesetzten Sili-
kate direkt aus und fast nie kann dasselbe Mineral entstehen,
welches durch seine Verwitterung die betreffenden Stoffe lieferte.
Denn die durch Verwitterung im Wasser sich lösenden Stoffe haben
nicht die Zusammensetzung des zerstörten Minerals; es kann sich
aus Feldspath nicht wieder Feldspath bilden. Der gemeine Feld-
spath K*APSi60l(i geht durch Verwitterung in Kaolin H4AlaSi*0»
über und nur der Rest KJSi*09 kann »ich lösen, aber nicht wie-
der als Feldspath auskrystallisiren. Auch die ganze Anschauuug,
als wenn die Mineralbildung daselbst der Neuzeit angehöre und
wohl auch noch gegenwärtig stattfinde, kann ich nicht theilen. Die
Mineralien des Maderanerthales sind vielmehr grösstenteils gleich-
zeitig mit den Gesteinen entstanden, in welchen sie sich Enden und
die Gesteinsumwandinng sowohl, wie die Mineralbildung hat da-
selbst ihr Ende erreicht, sie unterliegen gegenwärtig nur der Zer-
störung durch Verwitterung. Man hat also nicht zu hoffen, dass
die Gesteine des Maderanerthales, welche einen unfertigen Charak-
ter an sich tragen, in späteren Zeiten als ausgebildete Species er-
scheinen werden.
Man muss nämlich streng zwischen dem Verwitterungsprozess
und dem Umwaudlungsprozess unterscheiden. Die Wirkung beider
ist ganz verschieden. Der Verwitterungsprozess ist ein Zerstöruugs-
prozess, eine Vernichtung in dem Sinne, wie die Verwesung im
organischen Reiche ; der Umwandlungsprozess dagegen ist ein Neu-
bildung8prozess , eine Entwicklung, welche mit dem Stoffwechsel
während des Lebens im organischen Reiche verglichen werden kann.
Durch Verwitterung werden complicirt zusammengesetzte chemi-
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328 Verhandlungen des naturhiatoriBch-mcdizinischen Vereins.
sehe Verbindungen in einfachere gespalten, von denen die einen
gewöhnlich löslich, die andern unlöslich sind. Indem das die Ver-
witteruug verursachende Wasser die neu gebildeten chemischen
Verbindungen auflöst, wird der Zusammenhang solcher verwitternden
Gesteine gelöst und dieselbe zerfallen allmählig. Der unlöslich
zurückbleibende Bestandteil wird dann in diesem zertheilten Zu-
stande gewöhnlich mechanisch fortgeführt, er bildet den Schlamm
der Flüsse.
Die Umwandlung besteht dagegen darin, dass das Gestein
seinen Zusammenhang nicht verliert, sondern dass ein Austausch
der Bestandtheile zwischen den im Wasser, welches das Gestein
durchdringt, gelösten und den im Gestein selbst enthalteneu Stoffen
eintritt, so dass nach und nach die Eigenschatten des Gesteins
sich ändern.
Der Verwitterungsprozess wird hauptsächlich von dem atmos-
phärischen Wasser eingeleitet, denn die Verwitterung besteht vor-
zugsweise darin, dass aus den Silikaten diejenigen Basen, welche
leicht kohlensaure Salze bilden, mit Kohlensäure verbunden werden,
besonders wenu dieselben als doppelt kohlensauere Salze in Wasser
löslich sind, und dass die der Oxydation fähigen Körper Sauerstoff auf-
nehmen. Die dazu nöthigen Stoffe, Kohlensäure und Sauerstoff,
enthält das atmosphärische Wasser in höherem Grade noch als die
Luft. Die atmosphärischen Niederschläge uud das auf der Erd-
oberfläche circulirende Wasser sind es darum hauptsächlich, welche
die Verwitterung der Gesteine veranlassen. — Die Umwandlung der
Gesteine wird dagegen durch die im Innern der Erde circulirenden
Wasser herbeigeführt. Nachdem das Wasser der atmosphärischen
Niederschläge die Gesteine mit denen es zuerst in Berührung kommt,
zersetzt hat, ist dasselbe, wenn es tiefer in die Erde eindringt
freier von Sauerstoff und zum Theil von Kohlensaure, indem die-
selben verbraucht siud, dagegen enthält* es alle die löslichen Salze
der Verwitterung und darum ist dasselbe, indem der oben erwähnte
Austausch eintritt, zur Umwandlung geeignet. Daraus folgt, daäs
die Verwitterung besonders an der Erdoberfläche, die Umwandlung
in der Tiefe vorherrscht. Lokale Umstände können Umwandlungen
an der Erdoberfläche veranlassen, der Regel nach beschränken sich
dieselben jedoch auf das Erdinnere und sind dort ebenso häufig
und allgemein, wie die Verwitterung in den der Erdoberfläche
nahen Gesteinsmassen.
5. Bericht des Herrn Prof. Knapp: »Ueber 100 nach
der neuen Gräfe'schen Methode ausgeführte Staar-
extraktionen «, am 23. November 1866.
(Das Manuscript wurde am 26 April 1867 eingereiht.)
Redner beschreibt kurz die Technik dieser Operationsweise mit
Vorzeigung der dazu nöthigen Instrumente uud einiger mittels der-
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Verhandlungen des naturhistorisch-medizinischen Vereins. 320
selben geheilten Kranken. Er spricht sich sehr befriedigt darüber
ans und gibt an, dass Hornhauteiterung dabei kaum vorkomme.
Nur ein Auge von jenen 100 sei ganz zu Grunde gegangen durch
Verallgemeinerung primärer Glaskörpereiterung. Auch die erzielte
Sehschäl fe erweise sich als günstig. Die Methode habe den Vor-
theil, dass Panophthalmitis nur noch in Ausnabmsfallen, dagegen
iritische Prozesse etwa in derselben Häufigkeit wie früher dabei
vorkommen. Die Statistik habe sich gegen früher also gerade um
die 10% der übelsten Misserfolge — Hornhautvereiterung — ver-
bessert. Das wesentlichste Verdienst dabei schreibt
Redner dem Skleralschn itt zu, weil dieser keine eitrigen
Hornhautentzündungen in seinem Gefolge habe, was zuerst Jacob-
son in Königsberg richtig erkannt und ausgesprochen habe. Er
gibt aber der Gräfe 'sehen Operationsweise vor der Jacob-
son'sehen, die er früher vielfach, aber nicht mit gleichem Glücke,
geübt, den Vorzug.
6. Demonstration der Holtz* sehen Electrisirmaschine
durch Herrn Professor Kirchhoff, am 7. Dezember 1866.
7. Vortrag des Herrn Prof. Moos: »Ueber das sub-
jective Hören wirklicher musikalischer Töne«,
am 7. Dezember 1866.
(Das Manuscript wurde am 4. Januar 1867 eingereicht.)
•
Nach einleitenden Bemerkungen über subjective GehÖrempfin-
dnngen überhaupt wird die Seltenheit des subjectiven Hörens wirk-
licher musikalischer Töne bei Ohrenkranken erörtert. In der otia-
triseben Literatur finden sich gar keine Angaben über diesen Gegen-
stand. Dagegen in der Biographie von Robert Schumann, heraus-
gegeben von Wasielewski. Schumann hörte eine Zeit lang immer a.
Aber diese Thatsache ist nicht zu verwerthen, weil es sich um
eine wirkliche Hallucination handelte. Diese ist bei den beobach-
teten Kranken des Vortragenden auszuschliessen. Beide Kranke
waren zur Zeit des betreffenden Leidens und auch später psychisch
gesund.
Der erste Fall betraf eine 26jährige Dame. Dieselbe litt an
einem seit 8 Jahre bestehenden doppelseitigen chronischen Catarrh
der Tuba Eust. und der Trommelhöhle mit lebhaftem fortwähren-
dem Sausen rechts und beträchtlicher Schwerhörigkeit. Im achten
Jahre des Leidens wurde P. , nach Anhören eines Vocal- und In-
strumentalconcerts 14 Tage lang vom subjectiven Hören zweier
musikalischen Töne geplagt; es war ihr als würden fortwährend
auf dem Klavier c und e angeschlagen. Nach 14 Tagen ohnge-
föhr war sie des Morgens beim Erwachen von dieser Erscheinung
frei and blieb es auch. Dagegen litt sie von da an, wie früher,
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330 Verhandlungen des naturhistoriscb-mediziniachen Vereins.
an dem gleichen recht seit igen continuirlichen Sansen, das von dem
Hören der genannten Töne theilweise übertäubt war und der Patien-
tin weit erträglicher erschien, als das Hören jener Töne, welches
sie, sonst durchaus nicht nervös, in hohem Grad afficirt und nament-
lich für geselligen Umgang zeitweise gänzlich unfähig gemacht hatte.
Der zweite Fall betraf einon 45jährigen Stadtschullehrer, der
sich viel mit Gesang und Klavierunterricht beschäftigte. Auf der
linken Seite will Patient 10 — 12 Jahre Ohrenfluss gehabt haben,
der erst seit etwa 1 Jahr sistirt bat. Das Leiden entwickelte sich
allmählig, ohne irgendwelche dem Kranken bekannte Ursachen.
Patient gibt an, zuweilen, besonders nach Klavier- und Gesang-
unterricht, wirkliche musikalische Töne zu hören, eine Erscheinung,
die aber nach mehreren Stunden in der Regel wieder verschwinde.
Die musikalischen Töne seien immer dieselben, nämlich g und h.
Die Untersuchung ergab:
Starker Rachencatarrh, äusserer Gehörgang links ganz trocken.
Drei von der untern, der vordem und der hintern Wand des knö-
chernen Gehörgangs ausgehende, weisse, gegen Berührung sehr
empfindliche und in der Mitte des Meatus ext. derart zusammen-
stossende Exostosen, dass man nur den obersten Theil des Trommel-
fells, nämlich den kurzen Fortsatz und die über ihn hinausgebende
obere Ausbuchtung des Trommelfells, welche ohne alle anomale In-
jection und ohne eitrige Absonderung waren, sehen konnte. Eine
Perforation des Trommelfells bestand nicht, vielmehr ein Catarrh
des mittleren Ohres mit freiem beweglichem Secret.
Indem der Vortragende für den letzten Fall die Möglichkeit
einer lebhaften Nachempfindung in s Auge fasst , glaubt derselbe,
dass mau beide Fälle am Besten mit Zugruudlegung der Helm-
holtz'schen Theorie der Tonempfindungen erklären könne und be-
hält sich die ausführliche Mittheilung der Beobachtungen in einer
Zeitschrift vor.
8. Vortrag des Herrn Prof. H. Alex. Pagenstecher:
»Ueber die Muskeln des Drill und über die Unter-
schiede der hintern und vordem Extremitäten der
Säuger«, am 21. Dezember 1866.
(Das sofort vorgelegte Manuscript wurde in der Zeitschrift „der Zoologische
Garten" April und Mai l£67 unter dem Titel „Mensch und Affe"
vollständig abgedruckt )
Es soll aus diesem Vortrage hier nur das Wichtigste in ab-
gekürzter Zusammenfassung hervorgehoben werden:
Die Hautmuskulatur des Rumpfes setzte sich bei Mandrilla leuco-
phaea von der jackenförmigen fascia lumbo-dorsalis ausgehend an den
falschen Rippen in Verbindung mit der obersten Schicht der Rücken-
muskeln, seitlich bildete sie ein starkes Büudel zur Achselhöhle, er-
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Verbandlungen des naturhistortach-medteinischen Vereins. 381
reichte aber den Oberarm nicht. Es waren dreizehn Rippen vorhanden«
Die Ursprünge dea pectoralis major gingen bis znr neunten Rippe,
der Ansatz verlief, die Spina tuberculi raajoris des numerus über-
schreitend, in derFascie bis gegen die Ellenbeuge. Die vena cepha-
Iica trennte nicht den deltoideus vom pectoralis major, sondern
lag nach Innen von der kiavikularen Portion des letztern. Die
kl&viknlare Portion des deltoideus fehlte.
Man erlangt ein besseres Verständniss zunächst der Muskeln
der Schulter, wenn man den Oberarm in Abduktion vom Rumpf
erhebt, den Ellenbogen nach Kopf und Rücken zu wendet und die
Hand byperextendirt und so eine Normal Stellung bildet, welche
man mit der hintern Extremität genau nachahmen kann. Durch
diese Parallelisirung gewinnt man dann weiter für die später fol-
genden Vergleiche der beiden Gliederpaare und für das Verständ-
niss der Beziehungen derselben zu Bauch und Rücken die richtige
Grundlage.
In der Muskulatur wird durch diese Lagerung die Unter-
schlagung am Ansätze des pectoralis major ausgeglichen. Die Fest-
stellung des gegensätzlichen Verhaltens des pectoralis minor als
eines dorsalen Muskels (im Gegensätze der Rippenkörper zu Rippen-
knorpeln, Brustbein und Schlüsselbein) und die Untersuchung der
übrigen Muskeln an Schulter und Oberarm auf ihren dorsal- und
ventral-epaxoniscfaen und vielleicht hypaxonischen Charakter schei-
nen die Annahme zweier parallelen Elemente im Oberarm zu ver-
langen, die den claviculae acromialis und coraeoidea entsprechen
würden und in den zwei Kernen des Kopfes, tuberculum majus und
minus, wirklich vertreten sind. Es stehen dann dorsale und ven-
trale Oberarmmuskeln nicht einfach opponirt, sondern sind durch
zweimaligen Wechsel getrennt. Das korakoideale Element erweist
sich dabei in der gedachten Normalstellung als das hintere.
Ein darmsaitenartiges Band vertrat bei diesem Mandrill die
•Uvicula coraeoidea. Der latissimus dorsi , mit Ursprung schon
▼om ersten Rückenwirbel an, sandte ein starkes Bündel zur Ellen-
bogensehne des trieeps. Der cucullaris berührte kaum die clavi-
eula. Ein m. acromiobasilaris war vorhanden; mit dem processus
styloideus fehlten dessen Muskeln.
Ein Bündel des caput externum trieipitis kombinirte sich mit
dem supinator longus. Durch Erhebnug der supinatorischen Wir-
bng am brachialis internus , Verminderung derselben am supina-
tor brevis, in Folge der Verlagerung der Ansätze dieser Muskeln
im Vergleich zum Menschen, verliert die Supination, anderen Be-
wegungen ohne Weiteres gesellt, als selbstständige Bewegung an
Bedeutung.
So kombinirt sich auch durch Verbindung der flexores carpi
radialis und ulnaris, des palmaris longus und des flexor digitorum
profundus mit dem flexor digitorum sublimis, des flexor radialis
weiter mit dem pronator teres und Entwicklung des flexor pollicis
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333 Verhandlungen des naturnietorisch-medizlnlschen Vereins.
longus als einer radialen Portion des flexor digitonim profundus
die Beugung der Finger bis zu den letzten Phalangen und mit Ein-
schluss des Daumens sowie die Einfaltung des letztern in die Hand,
somit das festeste Zugreifen, ohne Weiteres der Beugung des Hand-
gelenkes.
Die Stelle der extensores d. indicis proprins , d. minimi und
carpi ulnaris nimmt ein Muskel ein, der, von der äussern Kante
und dorsalen Flüche der ulna bis zum condylus externus humeri
Ursprung nehmend, alle vier Finger versorgt und mit der Exten-
sion die Hand nach aussen zieht und wendet, während die Gruppe
dos extensor commuuis uud der radiales, longus und brevis, die
Hand zugleich nach Innen zieht und wendet.
Der Ursprung vom lig. volare macht alle interossei zu modi-
fizirten Beugern in der Hand , die dorsales entfalten dabei die-
selbe, die volares legen sie znsammen. Im Ganzen verbinden sich
durch die Muskeleinrichtungen am Arm leicht gewissen Beugungen
und Streckungen gewisse Drehungen des Vorderarms und setzen
sich auf die Hand fort.
Die Beweglichkeit der Handwurzel wird durch den neunten
Handwurzelknochen vermehrt. Dieser erscheint als ein vom os na-
viculare abgelöstes und theilweise in Platz und Funktionen des
capitatum getretenes 8tück.
Mit ihren Ursprüngen weiter an den Lendenwirbeln und
Rückenwirbeln vorrückend und auch die Schwanzwirbol in Anspruch
nehmend finden die von den Wirbeln zum Becken und weiter an
die hintern Extremitäten sich begebenden Muskeln eine ausgedehn-
tere Basis als beim Menschen. Ausser dem m coecygeus ist ein dem
lovator ani entsprechender depressor caudae vorhanden. Die Muskeln
gracilis, semitendinosns und sartorius inseriren sich tiefer, dem m.
bieeps fehlt der kurze Kopf. Er und der addnetor magnus drehen
zugleich den Unterschenkel nach Aussen. Von den glutaei ist der
medius der stärkste.
Der flexor hallucis longus, mit Sehnen auch für die dritte und
vierte Sehne, gleicht in seiner Anordnung dem flexor digitum mag-
nus profundus mit arrogirtem flexor pollicis longus. Seine Com-
bination mit dem flexor communis longus digitonim pedis, welcher
die zweite und fünfto Zehe versorgt, gibt bei gemeinsamer Wirkung
ein Zusammenlegen des Fusses, bei Einzelgebrauch eine Begünsti-
gung der Wendung der Sohle uach Innen und Aussen.
Vom flexor communis brevis digitorum pedis sondert sich ein
flexor digiti indicis pedis proprius. Dio interossei nehmen den Ur-
sprung ähnlich wie an der Hand, das Zusammenwirken der inter-
ossei dorsales mit den langen Streckern breitot die extendirte
Hand aus.
Das Geuauero und die Mittheilungen über weitere Muskeln sehe
man an der oben genannten Stelle nach.
Behnfa des Vergleichs dor Glieder des Menschen und der Affen
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Verhandlungen des natu rhi 8 1( irisch- medizinischen Vereins. 883
muss man zunächst die Beziehungen zwischen vorderer und hinte-
rer Extremität der Sänger von Schulter und Becken herab zu Hand
und Pubs feststellen, was auf verschiedene Weise zu lösen versucht
worden ist.
Den besten Ausgangspunkt für diese Untersuchung gibt die
oben bezeichnete Normalstellung: Alle Theile beider Glieder
befinden sich dann in geeigneter Lage für den Beweis der Ana-
logie in der Reiben folge. Am supinirten Arm entspricht
namentlich der radius der tibia des Beines, die ulna der gleich
gelagerten fibula ; die Hyperextension der Hand entspricht der ge-
wöhnlichen Stellung des Fusses.
Gegenüber vollkommener Parallelisirung im Verlaufe bleibt
Opposition der Gelenkflächen , welche aus Entwicklung dieser für
bamerus und fomur in verschiedener Richtung erklärt werden muss.
Die ungleiche Anlage dieser Flächen verbindet sich mit ent-
sprechender Verschiebung der Trochanteren und Tuberkel und der
Kichtungsampassung der Gelenkgruben des Schulterblattes und des
Beckens.
Zum Vergleiche dieser beiden Gürtel müssen wir die aus den
Eigentümlichkeiten der an sie eingelenkten Glieder resultirenden
Besonderheiten wegschaffen, wir müssen die Schulter und das Becken
zur Vertikalen aufrichten und erhalten dann auch hier eine voll-
kommene Analogie in der Reihenfolge. Die fossa subscapularis ent-
spricht der innern Hüftbeiiifläche , die kleine Fläche zwischen der
äussern und innern Fläche des Axillarrandes dem Abschnitte für
das kleine Becken, der axillare Rand selbst der iucisura ischiadioa
major, der o-bere Skapularrand dem Vorderrand des ilium, der hin-
'tere untere AVinkel der superficies anricularis.
Dass das vordere, akromiaie, Schlüsselbein der Vögel, als das
mehr nach vorn gelegene seine Analogie in dem Akromialfortsatz
and dem etwa daran befestigten Schlüsselbeine der Säuger finde,
dass also dieser akromiaie Fortsatz prinzipiell als mehr nach vorn
gelegen und im Vergleiche nach der Reihenfolge dem os pubis ent-
sprechend erachtet werden muss, erweist sich aus der Betrachtung
der Schulterblätter von Walen. Erhebt sich hier in gänzlicher
Ermanglung einer spina scapulae, wie bei Beluga leucas, das acro-
mion gar nicht über das Niveau der Fläche des Blattes, so ist bei
vertikaler Normalstellung das acromion, erkennbar aus dem Ver-
gleiche mit andern Walen, Phocaena communis, Tursiops Tursio,
einfach vordrer Fortsatz des Schulterblattes , das coracoideum
nintrer. Das letztere muss also das Analogon des os ischii sein.
We Einlenkung der claviculae coracoideae am sternum der Vögel
findet auch einige Analogie an der Einschiebung eines dreieckigen
Knochens zwischen die Sitzbeine im Schambogen gewisser Säuger,
besonders solcher Beutler, deren hintere Extremitäten in ähnlicher
Weise die Hauptarbeit zu thun haben, wie die vordem Giiedmasseu
der Vögel.
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384 Verhandlungen des ratuhristori ach -med «mischen Vereins
Wo wie bei Monotromen das Knie und der Ellenbogen mehr
naoh Aussen als nach vorn und hinten gerichtet sind, verringert
sich die Opposition der Schulter- und Beckeneinlenkung schon in
der Klasse der Säuger, mehr bei einem Theil der Reptilien und
Amphibien. Für Affen und Menschen ist diese Verschiedenheit
der vordem und hintern Glieder ziemlich gleich gross. Vorderarm
und Unterschenkel sind bei den Affen etwas gleichartiger durch
die ziemlich gleiche Stärke der sie zusammensetzenden Knochen,
dagegen ist der Unterschied zwischen Handwurzel und Fusswurzel
grösser. Die Aufsuchung haudähnlicher Eigenschaften kann am
Fnsse erst jenseits der Ferse beginnen ; noch bis zur zweiten Wur-
zelknochenreihe ist die Aehnlichkeit zwischen Hand und Fuss ge-
ringer als beim Menschen. Diese eingeschlossen und von da an
ist beim Mandrill das Knochengerüst von Hand und Fuss fast
identisch. Auch über diesen Vergleich der Gliedmassen sehe man
das Genauere an der in der Ueberschrift angeführten Stelle.
9. Vortrag des Herrn Prof. O.Weber: »UeberMuskel-
regeneration und Betheiligung der Muskeln bei
Neubildung«, um 4. Jannar 1867.
10. Vortrag des Herrn Dr. Erb: »Ueber die Möglich-
keit, das Gehirn und das Rückenmark des Menschen
zu galvanisiren«, am 4. Januar 1867.
(Das Manuscrlpt wurde am 27. April eingereicht.)
Unter den Vorfragen, welche vor einer methodischen Anwen-
dung des constanten galvanischen Stroms zu therapeutischen Zwe-
cken erledigt werden müssen, ist ohne Zweifel eine der wichtig-
sten die Frage naoh der Möglichkeit, den Strom nach den ein-
zelnen Körpertheilen hin zu dirigiren.
Es muss festgestellt werden, bis zu welchen Organen der Strom
in genügender Stärke hingeleitet werden kann, um therapeutische
Effecte zu erzielen. Die Möglichkeit, den Strom in die Centrai-
organe des Nervensystems einzuführen, ist noch nicht über jeden
Zweifel festgestellt: während Remak, Benedikt, Brenner u. A. die-
selbe als vollkommen selbstverständlich betrachten, spricht sich
n. A. Ziemssen in der neuesten Auflage Beines Buches über Electri-
cität mit Entschiedenheit dahin aus, dasB Gehirn und Rückenmark
von den therapeutisch anwendbaren inducirten sowohl wie constan-
ter Strömen nicht erreicht werden könne. Da eine Entscheidung
dieser Frage von hoher therapeutischer Wiohtigkeit ist, unterzog ich
dieselbe einer näheren Untersuchung.
Schon eine aprioristi sehe Erwägung zeigt jedoch, dass die Mög-
lichkeit, zunächst das Gehirn mit electrischen Strömen zu errei-
chen, gar nicht so weit abliegt. Von einer Umhüllung des Sohädels
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Verhandlungen des naturhistorisch-medkiiilschen Vereins.
83Ö
mit Massen von gntleitenden Geweben kann nicht die Rede sein
and auch der vermeintlich so grosse Lei tungs widerstand der Kno-
chen ist lange nicht so bedeutend, wie viele Autoren angeben. Eine
Berücksichtigung der bessern chemischen Analysen des Knochen-
gewebes, so wie noch mehr der anatomischen Anordnung desselben
(besonders der zahlreichen Blutgefässe in demselben) , sowie end-
lich der verschiedenen Nähte und Löcher am Schädel lässt es viel-
mehr im höchsten Grade wahrscheinlich erscheinen, dass bei pas-
send aufgesetzten Electroden jedenfalls ein grosser Theil des Stro-
mes den 8chädel und somit das Gehirn durchdringt.
Zur Prüfung dieses Satzes wurden verschiedene Experimente
an der Leiche angestellt und dieselben ergaben Ubereinstimmend
das Resultat, dass bei Application selbst schwacher
constanter und inducirter Ströme auf den Schädel-
sich Strom schleifen in solcher Dichtigkeit anf das
Gehirn verbreiten, dass der zur Stromprttiung mit
dem Gehirn in Berührung gebrachte Froschnerv da-
durch erregt wird.
Eine Besprechung der Unterschiede in den Leitungswider-
stftnden an der Leiche und am Lebenden, sowie der Erregbarkeits-
Yerhältnisse des Gehirns und des Froschnerven führt zu dem Schlüsse,
dass man mit den gewöhnlich am Kopfe zu therapeutischen Zwecken
verwendeten galvanischen Strömen sehr wohl das Gehirn erregen
kann. Die beim Galvanisiren des Kopfs eintretenden Erscheinungen:
Schwindel, Betäubung, Uebligkeit, Ohnmacht sind als Erscheinun-
gen von directer Erregung des Gehirns zu betrachten.
Die vergleichenden Versuche mit dem inducirten Strom haben
ergeben, dass auch dieser mit Leichtigkeit in das Gehirn ein-
dringt. Dasselbe scheint jedoch dieselbe geringe Erregbarkeit gegen
den inducirten Strom zu besitzen , wie die Retina und die übri-
gen höheren Sinnesnerven. Daraus erklärt sich, dass beim Farn-
disiren des Kopfs gewöhnlich keinerlei Erscheinungen von Seiten
des Gehirns eintreten.
Am Rückenmark sind die Verhältnisse in Bezug auf das
Eindringen des Stroms etwas anders als am Schädel: es sind grös-
sere Massen von Weichtheilen , dafür aber auch spongiösere Kno-
chen und grössere Lücken zwischen diesen vorhanden. Auf der
andern Seite kann man aber auch viel grössere Stromstärken an-
wenden.
Versuche an dor Leiche haben ebenfalls gezeigt, dass constante.
Strome bei der gewöhnlichen Applicationsweise der Electroden auf
dem Rücken in das Rückenmark selbst eindringen. Ich habe es
ferner durch Versuche an Lebenden im höchsten Grade wahrschein-
lich gemacht, dass, bei Anwendung starker Ströme auf den Rücken,
8tromschleifen in solcher Menge und Dichtigkeit in den Rück-
gratscanal eindringen, dass Stromeswendungen und Stromesunter-
brechungen im Stande sind, lebhafte Erregung der im Rückgrats-
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386 Verhandlungen des naturhistorisch-medizinischen Vereins.
canal verlaufenden Nerven zu erzeugen. Es kann somit kaum einem
Zweifel unterliegen, dass man galvanische Ströme in hin-
roichenderStärke in das Rückenmark einftih renkann,
um damit therapeutische Effecte zu erzielen.
Es ist sonach eine Einwirkung des constanten Stroms auf die
Centraiorgane des Nervensystems möglich and es verdient derselbe
bei Erkrankungen des Gehirns und Rückenmarks versuchsweise an-
gewendet zu werden.
Ausführliche Mittheilung und Beweisführung über diesen Gegen-
stand wird im > Deutschen Archiv für klin. Medicin« erscheinen.
11. Vorstellung des mikro cephalen Töchterchens de?
Georg Becker aus Offenbach, am 18. Januar.
12. Vorstellung eines Falles von Faeialparaly se und
Demonstration der dabei in den gelähmten Muskeln
vorhandenen cigenthümlichen Veränderungen der
Erregbarkeit gege n con stante und inducirte Ströme,
durch Herrn Dr. Erb am 18. Januar und 1. März 1867.
(Das Manuscrlpt wurde am 29. AprÜ eingereiht.)
Bekanntlich sind in den letzten Jahren einige Beobachtungen
von peripherischen Facialparalysen veröffentlicht worden (durch
Baierlacher, Schulz, Ziemssen, Neumann, Brückner,
M. Meyer, Eulenburg u. A.), welche sich durch ein höchst
eigentümliches Verhalten der gelähmten Muskeln gegen electrische
Ströme auszeichneten. Während nämlich die Erregbarkeit der ge-
lähmten Muskeln gegen den inducirten Strom vollständig erloschen
war, zeigte sich eine ganz normale oder selbst bedeutend gestei-
gerte Erregbarkeit gegen den constanten Strom. Dasselbe merk-
würdige Verhalten findet sich auch in dem vorliegenden Falle.
Derselbe betrifft eine 44jährige, sonst gesunde Frau, welche vor
9 Wochen plötzlich und ohne nachweisbare Ursache an linksseiti-
ger Facialparalyse erkrankte. Diese Affection ist in der ganzen
Zeit bis jetzt vollkommen stationär geblieben.
Patientin bietet jetzt alle Erscheinungen einer vollständigen
peripherischen Paralyse des linken Nervus Facialis : vollständig auf-
gehobene Motilität der vom linken facialis versorgten Muskeln;
Verstreichung der Stirn- und Augenfalten, der Nasolabialfalte ;
normale Beweglichkeit des Gaumensegels bei gerade stehender
Uvula; Erhaltung der Sensibilität der linken Gesichtshälfte, be-
sonders auch der Conjunctiva; Fehlen jeder Reflexbewegung auf
Reize der Conjunctiva; keine Gehörstörungen, keine Kopferschei-
nungen.
(Schluas folgt.)
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Jr. 22.
HEIDELBERGER
1867.
\ JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
I Verhandlungen des naturhistorisch - medizinischen
Vereins zu Heidelberg.
Das electrische Verhalten der gelähmten Muskeln ist ein sehr
eigenthtimUches und lässt sich in folgende Sätze näher präcisiren.
Die Erregbarkeit der gelähmten Muskeln gegen
den inducirten Strom ist vollständig erloschen; auf
der gesunden Seite ist dieselbe in normaler Weise vorhanden.
Die Erregbarkeit der gelähmten Muskeln gegen
den constanten Strom ist bedeutend gesteigert, und
zwar in so hohem Grade, dass schon mit einem einzigen Ele-
mente des Stöhrer'schen Apparates eine schwache Oeffnungszuckung
des aufsteigenden Stromes in den Kinnmuskeln erhalten werden
kann; bei 2 El. ist diese Zuckung deutlicher; bei 4 El. tritt die
SchliessDDgszuckung bei beideu Stromesrichtungen hinzu; bei wach-
sender Elementenzahl wächst dann die Stärke der Schliessungs-
zockung rascher als die der Oeffnungszuckung ; doch ist bei 12—14
EL immer deutliche Schliessungs- und Oeffnungszuckung bei bei-
den Stromesrichtungen vorbanden.
Auf der gesunden Seite treten erst bei 8—10 Elementen, bei
Beizung mit der Kathode, schwache Schliessungszuckungen ein, die
Oeffnungszuckung fehlt bei diesen Stromstärken durchaus.
Besonders auffallend ist in diesem Falle die Geneigtheit
der Muskeln zur Oeffnuugsreaction und überhaupt die
grössere Erregbarkeit derselben gegen die Anode.
Die erste Überhaupt erscheinende Zuckung ist die Oeffnungszuckung,
wenn die Anode auf dem Muskel sitzt; und auch bei der ganzen
weitem Untersuchung zeigt sich constant, dass Schliessungs- und
Oeffnungsreaction deutlicher und stärker sind, wenn die Reizung
des Muskels mit der Anode, als wenn sie mit der Katbode ausge-
gefuhrt wird.
Die gelähmten Muskeln sind nur durch intramus-
culäre Beizung in Contraotion zu versetzen; von den
Xervenästeu aus ist dies nicht möglich; dies ist besonders deut-
lich am Muse, frontalis zu constatiren. Auf der gesunden Seite
zeigt sich das normale Verhalten auch in dieser Beziehung.
Sehr prägnant sind endlich die Unterschiede im Von-
stattengehen der Gontraction zwischen den gesun-
den und den gelähmten Muskeln: bei den gesunden Mus-
(Schluss.)
LIX. Jahrg. 6. Heft.
22
Digitized by
838 Verhandlungen des naturhlstorisch-medizinischen Vereins.
kein eine rasche, blitzähnliche Zuckung, bei den gelähmten eine überaus
träge und langsame Contraction. Man scheint es hier mit einer reinen
Muskelcontraction, d. h. einer durch directe Reizung der Muskelfasern
erzeugten Zusammeuziehung zu thun zu haben und man wird dabei
lebhaft an das von F ick näher beschriebene Verhalten des Muscbel-
schliessmuskels erinnert. — Endlich lässt sich constant mit grosser
Leichtigkeit beobachten, dass die Oeffnungszuckung erst ein deut-
lich unterscheidbares Zeitintervall nach der Entfernung der Electrode
eintritt — ein Verhalten, was mit den von Pflüger und Be-
z o 1 d gemachten Angaben über Verzögerung der Oeffnungszuckung
in Zusammenhang zu bringen ist.
Soweit reicht das Gebiet der Thatsachen in diesem Falle;
eine Erklärung derselben ist nach dem jetzigen Stande unserer
Kenntnisse noch nicht möglich, obgleich sich für dieses Verhalten
eine Reihe der interessantesten Anknüpfungspunkte aus der Electro-
physiologie ergeben. Die Erklärungen, welche Neu mann, Eulen-
burg, M. Meyer, Ziemssen u. A. gegeben haben, sind durch-
aus unbefriedigend. Es können nur weitere Beobachtungen Licht
über diese merkwürdigen Verhältnisse verbreiten.
Die Prognose dieser Fälle scheint nach den bisherigen Beob-
achtungen eine günstige zu sein — wenn der constante Strom an-
gewendet wird. — Der inducirte Strom ist nach allen bisherigen
Erfahrungen von sehr geringer Wirkung gegen diese Formen der
Lähmung. Dagegen hat der constante Strom auf diesem Gebiete
gerade eine Reihe glänzender Heilerfolge aufzuweisen und hat auch
hior seine therapeutische Ueberlegenheit gegenüber dem indneirten
Strome zur Geltung gebracht. Die Kranke wird dessbalb einer
methodischen Behandlung mittels des constanten Stromes unter-
worfen werden.
Nachtrag. Ich muss hier einen Irrthum berichtigen, der sich
in vorstehender Mittheilung findet, der aber wohl verzeihlich ist,
da er auf einem weiteren merkwürdigen Verhalten der gelähmten Mus-
keln beruht. Die gelähmten Muskeln reagiren noch nicht auf ein einzi-
ges Element ; es entsteht allerdings beim Abheben der Anode vom
Muskel jedesmal eine deutliche Zuckung, die ich anfangs als Oeffnungs-
zuckung auffasste. Dieselbe Zuckung entsteht aber auch, wenn man die
gar nicht mit der Batterie in Verbindung befindliche Electrode, oder
irgend einen Körper, den aufgesetzten Finger oder einen Bleistift, von
den Muskeln abhebt. Es besteht nämlich in den gelähmten Muskeln
eine beträchtlich gesteigerte Erregbarkeit gegen
mechanische Reize, die sich dahin äussert, dass schon das Weg-
nehmen eines leicht auf die Muskeln drückenden Körpers Zuckung
in denselben auslöst. Dies ist besonders deutlich in den Muskeln
der Lippen und den Zygomaticis zu constatireh. Auch durch kurzes
Aufklopfen mit dem Finger lässt sich deutliche Contraction erzeu-
gen, wie dies besonders deutlich im Muse, frontalis ist Auf der
gesunden Seite lässt sich in keiner Weite solche Zuckung erzeugen.
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Die Erregbarkeit gegen den constanten Strom gestallet sich nun
bei genauerer Untersuchung (mit festsitzenden Electroden, Schlies-
sung nnd Oeffnung duroh metallische Nebenschliessung) so, dass
bei 2 Elementen eine ganz schwache Zuckung nur beim metalli-
schen Stromwenden eintritt. Bei 4 Elementen dagegen treten beim
eilfachen Sohliessen und Oeffnen des Stroms schon deutliche
Zackungen auf. Es gestalten sich dann die Verhältnisse so wie oben
beschrieben : Schliossungs- und Oeffnungszuckung treten gleichzeitig
auf; die Erregbarkeit gegen die Anode ist grösser als gegen die
Kathode.
Ii Vortrag des Herrn Prof. Knapp: »Ueber metasta-
tische Aderhantentzündung im Puerperalfieber,
am 18. Januar 1867.
(Das Manu scrlpt wurde am 26. Aprfl eingereicht.)
Eine kräftige Erstgebärende bekam am 16. Tage nach regel-
mässigem Geburtsverlauf pyämische Erscheinungen : Schüttelfröste,
Fieber, grosse Abgeschlagenheit, Eingenommenheit des Kopfes, An-
schwellungen verschiedener Gelenke, namentlich des linken Knie-
und rechten Schultergelenkes. Schon im Anfang dieser Erschei-
nungen klagte sie Über Schmerzen im rechten Auge und rasche
Abnahme der Sehkraft desselben. Ich untersuchte sie 2 Tage nach
Beginn der Angenaffection und fand bei gelinder Injektion und
Senwellung der Bindehaut die Pupille leicht erweitert , jedoch be-
weglich ; das Innere des Auges rauchig getrübt, doch so, dass man
den Augengrund noch schwach erkennen konnte, ausgenommen den
itnern vorderen Abschnitt desselben, welcher unbeleuchtbar war
and intensiv grau schwarz erschien. In den nächsten Tagen trübte
*icfl in dieser Weise der ganze Augengrund. 8 Tage später trat
unter stärkerer Schwellung und Eöthung der Bindebaut leichter
Exophthalmus ein. Die durch Atropin bis dahin weit erhaltene
Pupille verengerte sich, und wurde in ihrem unteren Abschnitt
durch eine graue Trübung verlegt, während der temporale Irisab-
schnitt sich mit einer gelbweissen , eiterig aussehenden Schichte
deckte. Diese verdeckte mehre Tage lang den Schläfenabschnitt
der Iris der Art, dass man nicht wusste , ob sie blos aufgelagert
wir, oder die Iris selbst zur eitrigen Schmelzung mit fortgerissen
niite. Darauf trat Hypopion ein. Wieder 8 Tage später wurden
Amtliche Entzündungserscheinungen am Auge geringer, nachdem
an einem Morgen ein reichlicher Eitererguss über dem nasalen
Skleraltheile vom behandelnden Arzte (Dr. Vietz) bemerkt und als
eine Perforation gedeutet worden war. Die Besserung der Ent-
zündung dieses Auges ging fort bis zn dem 7 Wochen nach der
Gebart — 5 Wochen nach Eintritt der pyämischen Erscheinungen
- «folgten Tode der Wöchnerin. Der Eiter in der vorderen
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840 Verhandlungen des naturhlstorlich-mediriniichen Verelni.
Kammer hatte sich bis auf ein dünnes, auf der Iris liegen geblie-
benes Häutchen aufgesogen. Die Pupille war ziemlich eng, unklar,
der Augengrund nicht zu beleuchten. Der Augapfel kleiuer und
weicher als normal und nicht mehr vorgetrieben. Das Gesicht schon
in den ersten 4 Tagen erloschen. Das andere Auge erschien wenige
Tage vor dem Tode, als ich es untersuchte, nicht verändert. Die
Patientiu gab an, damit gut zu sehen.
Die von Herrn Prof. J. Arnold vorgenommene Sektion er-
gab sehr umfangreiche Abscedirung im Zellgewebe an der innern
vordem Beckenwand, ausgezeichnete knotenförmige Blasendiphthe-
ritis, sehr weit gehende eitrige Zerstörung des rechten Schulter-
und linken Kuiegelenkes, sowie einige zarte wärzchenförmige Auf-
lagerungen an den Aortenklappen. Beide Augen wurden von mir
herausgenommen, sogleich geöffnet und übersichtlich untersucht.
Das rechte, oben beschriebene, enthüllte merkwürdige Verände-
rungen. Ein Meridionalschnitt zeigte, dass eine vollständige Eiter-
kapsel sich an die Innenseite der Choroides und die Hinterfläche
der Krystalllinse anlegte. Diese war nach innen scharf begrenzt
und umschloss einen trichterförmigen Raum, in welchem sich noch
ein durchsichtiger, nur leicht getrübter Glaskörper befand. Die
Netzhaut war abgelöst und umschloss den choroidealen Theil der
Eiterkapsel vollständig, indem sie am Sehnerven und der Ora ser-
rata ihre Befestigungen bewahrt hatte. Ringsum vom Ciliarkörper
aber schob sich der vordere Theil der Eiterkapsel in einer Tiefe
von 2 bis 5 Mm. an der Hinterfläche der Zonula und Hinterkapsel
hin. Die Zweitheilung der Eiterkapsel durch die
Netzhaut in einen choroidealen und ciliaren Ab-
schnitt war das Eigenthümliche dieses Falles, wo-
bei ausserdem noch die leicht wellige innere Ober-
fläche derselben, welche einen ziemlich durchsich-
tigen Glaskörperraum umschliesst, besondere Be-
achtung verdient. Die genauere Untersuchung ergab eine Per-
foration des der Nase zugewanden Cboroideal- und Skleraltheiles,
welche durch die Tenon'sche Kapsel wieder verschlossen war.
Tenon'sche Kapsel und Sklera waren beträchtlich verdickt. Erstere
zeigte Bindegewebswucherung, letztere ausserdem noch zahlreiche
in ihr Gewebe eingebettete Nester von Eitorzellen. Die Iris war
auf dem Querschnitt gelblich mit anliegender normaler Pigment-
schicht. Ihr Gewebe bot eine tippige Produktion von Kernen und
jungen Zellen, welche dicht gedrängt das Stroma der Iris durch-
setzten und nur spärlich Gefässe zur Beobachtung kommen Hessen.
Die pigmentirten Stromazellen waren in Gestalt und Grösse nicht
verändert. Zwischen Hinterfläche der Pigmentschicht und Linsen-
kapsel lagerte sich eine durchscheinende leicht streifige viele kleine
Zellen und Eiterkörpereben enthaltende Substanz, welche beide
Flächen aneinander löthete.
Die Linsenkapsel und Fasern waren normal, dagegen schob
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Verhandinngen des naturhistorlsch-medirintschen Verein«. 841
sieb von den Aequatorialtbeilen der Linse ans eine Menge von Ker- t
nen und Eiterkörpereben zwischen die Linsenfasern ein, indem sie
tbeils vereinzelt lagen, tbeils aber aneb reihen- nnd nesterweise
die Fasern auseinander drängten. Nach dem, was wir sonst Ent-
zündung heissen, muss man diese Veränderung eitrige Entzün-
dung der Kr v stalllinse nennen.
Der Glaskörper enthielt reichliche Eiterzellen in einem Filz
Ton feinen Fäden (Fibrin) eingebettet.
Die Eiterkapsol bestand in ihren beiden Theilen aus rei-
nen, dicht aneinanderliegenden, grösstenteils verfetteten Eiter-
zellen, molekularem Fett und Körnchenhaufen.
Die Choroides zeigte in ihrem ganzen Umfange eine üppige
Wucherung von Kernen und runden kleinen Zellen, hervorgegangen
aus der Kerntheilnng der pigmentlosen Stromazellen. Die grösse-
ren Gefässstämme waren erhalten und zeigten verdickte Wände
durch Wucherung der Adventitialzellen. Nirgends habe ich ihr
Lumen gefüllt gesehen, es sei denn durch Blutkörperchen. Von
Jer Choriocapillaris bekam ich nicht viel mehr zu Gesicht; ihre
Stelle war eingenommen, und zwar in 3- und 4facher Tiefe, von
dicht gedrängten Eiterzellen, welche nach innen durch die gut er-
haltene und ganz rein darstellbare Glashant der Choroides abge-
schlossen war. In der That war diese Eiterschiebt nichts anderes
als das feine, der Choroides innen innig aufliegende Häutchen, die
sogenannte pyogene Membran der Abscesse. Sie ging unmittelbar
hervor aus der Kernwucherung der pigmentlosen Choroidealzellen,
mit der sie auch ununterbrochen zusammenhing. Die pigmentirten
Stromazellen waren in ihrer Form grösstentheils normal, die innersten
derselben aber in die Schichte der Eiterzellen mit fortgerissen. An
einigen Stellen hatten übrigens auch die pigmentirten Stromazellen
mehrere Kerne und waren zerstückelt, so dass Zellkörper und Aus-
läufer von einander getrennt zwischen den Eiterkörpereben lagen.
Wieder an andern Stellen zeigten diese fortgerissenen Stücke eine
rundliche Gestalt, sowie doppelte Kerne nnd lagen so zahlreich und
nesterweiss in der Eitermasse zerstreut, dass eine Wucherung der-
selben unzweifelhaft erschien. Dieses wurde noch dadurch bestätigt,
iass ganz ähnliche pigmentlose Zellen mit mehreren Kernen daneben
lagen. Aebnlich verhielt sich das Stroma des Ciliarkörpers und der
Iris, doch mit dem Unterschied, dass die epitheliale Pigmentlage
derselben erhalten war, nur im Ciliarkörper etwas gelockert. Ausser-
iem war die Bindegewebswucherung, obzwar sehr üppig, doch nicht
so fortgeschritten, wie in der eigentlichen Aderhant, worin massen-
hafte Eiterzellen gebildet wurden. Die Hinterfläche der Iris war
mit einer zarten, dünnen Schicht von streifigem Aussehen mit vie-
len eingestreuten Kernen und Eiterkörporchen bedeckt, welche die
Iris an die Vorderkapsel anlöthete.
Sehr merkwürdig war die Bildung des vorderen Theiles der
ßierkapsel. Von dem glatten und gefalteten Theile des Ciliar-
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körpers ging nämlieh eine radiär streifige, mit vielen Kernen und
kleinen Zellen durchsetzte Substanz aus, welche unmittelbar in die
sich hinter der Linse hinziehende £itermasse Uberging. Nach
aussen war sie vom Pigment der Ciliarfortsätze und des Orbioulus
ciliaris begrenzt, während das spärliche Gewebe peripherisch davon
sich in den normalen Ciliarmuskel fortsetzte. Abwärts fügte sich daran
ein an beiden Seiten scharf begrenztes, von grauen Fasern durch-
zogenes und ganz mit Eiterzellen gefälltes Häutchen: die an die
Ora serrata sich anheftende Netzhaut. Sie ging unmittelbar Uber
in die streifige, kleinzellige, den CiliarkÖrper deckende und den vor-
dem Eiterheerd bildende Masse und war in ihrer Grundlage zu-
verlässig nichts anderes als die Pars ciliaris retinae. Diese rein
bindegewebige Haut halte ich fUr die Erzeugerin der vorderen
Eitermasse, indem die in die Radiärfasern vielfach eingestreuten
Kerne wuchern und verfetten. Neben den Kernen, jungen Zellen
und Eiterkörperohen zeigte sich daselbst eine beträchtliche Zahl
Fettkörnchenkugeln.
Die Netzhaut bot ein vortreffliches Bild einer eitrigen
Retinitis. An einzelnen Stellen bestand sie fast nur aus Eiter-
zellen oder Kernen und Körnern, die davon kaum zu unterscheiden
waren ; an andern Stellen aber Hessen sich die einzelnen Schichten,
ausgenommen die Stäbchen und Zapfen, aufs unzweideutigste nach-
weisen. Die äussere Körnerschicht hatte 3 bis 4 Mal die gewöhn-
liche Dicke und zeigte die Körner an manchen Stellen ungeordnet
nebeneinander, an andern aber reihenweise übereinander liegend.
Die Zwischenkörnerschicbt war schmal, wenig radiär gestreift, in
. der Mitte fein punktirt und überall mit Körnern oder kleinen Zellen
dicht besetzt. Die innere Körnerschicht sah dem Normalzustände
am ähnlichsten. Die graue Schicht war radiär gestreift und dicht
mit kleinen Zellen durchsetzt. Diese drangen auch in die Uanglien-
scfcicht, in welcher ich die besterbaltenen uni- und bipolaren Ner-
venzellen mit ihren grossen Kernen reiohlioh beobachtete. Die
Nervenfaserschicht war stark verbreitert, ihre gut erhaltenen Fasern
auseinander gedrängt , indem sich einzeln , reihen- und gruppen-
weise kleine Zellen und Eiterkörperohen dazwischen drängten. Da-
neben fand ich aber auch grössere, spindelförmige und runde Zellen
mit zwei, in mehreren bis zu sechs Kernen.
Die dem bindegewebigen Stützapparat der Netzhaut angehöri-
gen Kerne zeigten sich also in allen Schichten üppig wuchernd,
selbst in der Nerveufaserscbioht, wo man im Normalzustand Mühe
hat sie nachzuweisen.
Der Sehnervenstamm war schon vom Skleralloch an normal.
In dem linken» während des Lebens bei der letzten Unter-
suchung scheinbar noch normalen Auge fand ich in der Gregend
des Gleichers einen umschriebenen, runden pyämisohen Heerd der
Choroidbs, Er war schon mit blossem Auge an seiner gelben Fär-
bung kenatiioh. Unter dem Miakroskope zeigte sich darin das
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Choroidesstroma, namentlich die Haargefassschioht dicht mit
Eiteikörperchen gefüllt. Daneben waren massenweise ans den Ge-
fawen ausgetretene Blutkörperchen und viele stark tiberfüllte Blut-
gefässe, aber nirgends Thromben. Die übrige Choroides war in
diffuser eitriger Entzündung begriffen. Die Netzhaut gleichfalls im
Anfang eitriger Entzündung. Der Glaskörper führte viele wuchernde
Zellen. Die übrigen Theile waren normal.
Ein drittes von mir während des Lebens gemeinschaftlich
mit Herrn Prof. v. Dusch beobachtetes und später untersuchtes
Auge, war einer Frau entnommen, die einige Tage nach der Nieder-
kunft pyämische Erscheinungen, unter denen auch Choroiditis me-
tastatica, bekam und im Beginn der dritten Woche starb. Der
Befund hielt die Mitte zwischen jenen beiden oben beschriebenen
Augen: ein umschriebener choroidealer Eiterbeerd mit partieller
Netjhautablöaung, eitriger Choroiditis, Kyklitis, Iritis, Hyalitis und
Betinitis.
Die drei Augenorkrankungsfalle sind so zu deuten, das Capil-
larembolien der Choroides den Anstoss zu den hämorrhagisch-
eitrigen Infarkten gaben und von da aus sich die zerstörende Ent-
zündung auf die übrigen Membranen fortsetzte.
U. Vortrag des Herrn Prof. Moos: »Ueber seltenere
Arterienverstopfungen«, am 1. Februar 1867.
(Das Manuscrlpt wurde sofort eingereicht.)
Die seltenen Arterienverstopfungen, über welche ioh Ihnen
beute berichten will, hatte ich Gelegenheit bei einem Kranken zu
beobachten, den ich schon vor längerer Zeit in Gemeinschaft mit
Herrn Professor Friedrich, welcher als ooosultirender Arzt hin-
zugezogen war, behandelt habe. Der Kranke war ein 19 jähriger
Student. Die vollständige Diagnose der Krankheit lautet:
Rheumatismus articulorum acutus. Icterus mit
vorübergehender Vergrös serung der Leber. Beoidi-
▼irende P eri car d i t i s. Endocarditis mit embolischen
- e f H s sv e r s t o p f u n gen in verschiedenen Körperregio-
uen. Linkseitige Pleuritis. Nephritis. Hydrops. Ge-
nesung.
Nur über die Endocarditis und die in ihrem Gefolge aufge-
tretenen Strörungen im Bereich verschiedener arterieller Stromge-
biete will ich Ihnen Mittheilung machen.
Vermittelst der Auskultation des Herzens konnte die Endo-
carditis erst am 15. Tage der Krankheit diagnosticirt werden ; es
"igte sich nämlich zu dieser Zeit ein dem Mitralisostinm
sprechendes systolisches endocarditisohes Blasen, über dessen
Sttur bei der weiteren Beobachtung des Kranken nicht der ge-
ringste Zweifel sein konnte, es gesellte sich auch bald noch an
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344
Verhandlungen des namrhistoriach-niediainischen Vereins.
dem Blasen ein Pfeifen und eine deutliche Accentuirnng des zwei-
ten Pulmonaltons. Aber schon vorher waren Erscheinungen aufge-
treten, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das Auftreten resp.
das Vorbandensein einer Endocarditis hindeuteten. Der Kranke be-
hauptete in der Nacht vom 13 — 14. Krankheitstage auf dem rech-
ten Auge erblindet gewesen zu sein. Bei dem Besuch am Morgeu
des 14. Tages gab Patient an, er sei in der Nacht aufgewacht
und habe bei verschlossenem linken Auge nicht einmal das bren-
nende Licht mit dem rechten gesehen. Diess habe etwa eine Stunde
gedauert, da sei es wieder gut geworden.'
Einen Tag bevor die Endocarditis vermittelst der Auskultation
diagnosticirt werden konnte, zeigten sich als weiteres auffallendes
Symptom in der Herzgegend, namentlich einwärts von der linken
Brustwarze und von da nach abwärts etwas spärlicher, zahlreiche
capilläre Ekobymosen, die in der Gegend der Papille sehr dicht
standen, und zusammen einen Kaum etwa von der Grösse eines
KronenthalerB einnahmen. Bei dem Besuch am 15. Tage gab
Patient an, dass er in der Nacht ohngefahr eine Stunde lang auf
dem linken Auge Doppeltsehen gehabt. Im Laufe des
Nachmittags vom 18. hatte Patient eine Gesichtsfeldverdunklung,
als wäre Alles beschattet, etwa während einer halben Stunde;
die Störung verschwand nach dieser Zeit, kehrte aber gleichartig
in der Nacht vom 18 — 19. und ohngefähr gleich lange wieder. Von
jetzt ab blieb Patient für immer von Sehstörungen befreit.
In der Kniekehle und in der Wade, besonders links, spontan
und auf Druck, traten am Abend des 15. Schmerzen ein und waren,
bald mehr, bald weniger lebhaft, 4—5 Tage zugegen, nämlich bis
zum Morgen.
Im weitern Verlaufe stellten sich anderweitige Symptome ein,
welche, wie die Schilderung derselben und ihre Dentnng zeigen
wird, ebenfalls als mit der Endocarditis im Zusammenhang stehend
betrachtet werden mussten.
Am 19. Krankheitstag Abends zuerst Leibschmerzen, insbesondere
oberhalb des Nabels, dann Erbrechen, Tympanitis, und in der Nacht
vom 19 — 20. 5 blutige Stuhlgänge, Erbrechen mit vorhergehendem
Schmerz im Epigastrium , dann kurze Pause. In der Nacht vom
20—21. abermals Erbrechen. Profuse Darmblutung. Vor und wäh-
rend derselben Schmerzen über den ganzen Unterleib , besonders
im Epigastrium, auch Kreuzschmerzen aber nicht constant, Sisti-
rung des Schmerzes nach jeder Entleerung. Mangel von Dämpfung
und Mangel vou Empfindlichkeit gegen Druck, ausser im Epigastrium.
Die Blutungen pausirten vom Morgen bis zum Abend vom 21. Da-
gegen existirten periodische Leibschmerzen zwischen Nabel und
Symphyse und in beiden Hypochondrien. Zwölf Stunden später
liess sich der Schmerz nicht mehr genau lokalisiren.
Vom 21—22. erfolgte von Nachts 12 Uhr bis Mittags 12 nur
eine Darmblutung, vorher und nachher 6 Stunden Pause. Dann
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Verhandlungen des naturhistoriach-medizlnischen Verein«.
345
kamen 2 Blutungen und heftiger Schmerzanfall tun 1/-il2 Uhr am
22. Bis jetzt war das entleerte Blut schwarz und theils flüssig,
tbeils geronnen.
Am Nachmittag des 22. um 4 und dann um 5 Uhr kamen
uach erneuerten Schmerzen, aber ohne Erbrechen, die ersten hell-
himbeerfarbenen geronnenen ölutabgänge. Dann 8 Stunden Pause.
Während dieser Zeit spontane Unterleibs- und Kreuzschmerzen,
gegen Druck nur in den Hypochondrien.
Im Laufe des 23. drei hellhimbeerfarbene Blutabgänge, heftige
Leibschmerzen, aber nur Uebelkoit und Würgen, kein Erbrechen.
In der Nacht vom 23 — 24. waren die beiden flüssigen , blutigen
Entleerungen wieder dunkel gefärbt , nicht geronneu, am 24. wie-
der hellhimbeerfarbig. Nun pausiren die Darmblutungen, bis zur
Nacht vom 25 — 26., in welcher, wie in der folgenden Nacht zu-
sammen wieder 4 dunkelgefärbte Blutabgänge kommen, um
am 27. und 28. wieder mit hellrothblutigen Dejectionen , unter
heftigen Leibschmerzen abermals abzuwechseln. Vom 28. Krank-
heitatage an sind die subjectiven Unterleibsbeschwerden wegen der
hinzugetretenen Niererentztindung gemischt. Die Darmblutungen
jedoch si stiren 4 volle Tage und da am 30. Tage der Krankheit
normaler Stuhlgang erfolgte, so wurde am folgenden Tage Fleisch-
nahrung gereicht. In der Nacht vom 31 — 32. Tag um 1 Uhr er-
folgte noch normaler Stuhlgang. Um 7^5 Uhr Morgens, also nach-
dem die Darmblutungen 4 volle Tage sistirt hatten und nach ein-
stündigen fürchterlichen Schmerzen in der Oberbaucbgegend , die
sich auf Druck, ohngefähr 4 Querfinger unter der Spitze des Scbwert-
fortsatzes vermehren und nur kurze Pausen machen, kommen inner-
halb einer Stunde 6, und in den nächsten Stunden noch 2, grössten»
theüs himbeerfarbige aber auch dunkle Gerinsel enthaltende, Ent-
leerungen.
An der vorhin bezeichneten schmerzhaften Stelle hatte der
Kranke auch das Gefühl als süsse dort ein fremder Körper. Nach
einer 12stündigen Pause kommt dann in der folgenden Nacht nor-
maler Stuhlgang und bleibt dieser auch weiterbin normal.
Bei der Beurtheilung der beschriebenen Zufälle wollen
*w vorzüglich die Sehstörungen und Darmerscheinungen ins Auge
fassen.
Was die Sehstörungen betrifft, so handelte es sich bei ihrer
vorübergebenden Natur wahrscheinlich um beschränkte Embolien
Jm Gehirne , an den Ursprungsstellen eines , später beider Nervi
optici, auch am Ursprung des Nervus oculomotorius (vorübergehen-
de« Doppeltsehen). Man kann sich bei dieser Erklärungsweise vor-
stellen, dass die gestörte Ernährung jener Hirnbezirke durch das
Blnt der collateralen Bahnen sehr schnell wieder hergestellt wer-
den konnte und desswegen die Functionsstörungen nur vorüber-
gehend sein mussten.
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348 Verhandlungen dö8
Vereins.
Die Darm erscb einungen lassen sich am Besten erklären durch
die Annahme einer Embolie der beiden Arteriae raesentericae,
wenigstens mit Rücksicht auf die vorhandene Literatur der Em-
bolie dieser Gefössgebiete , insbesondere unter Zugrundlegung der
von Gerhardt und Kussmaul über diese Embolie aufgestellten
charakteristischen Merkmale.
Die ausführliche Mittheilung des Falls in einer Zeitschrift
wird vorbehalten.
15. Vortrag des Herrn Prof. Friedreich: »Ueber An-
drogyniec mit Vorstellung von Katharina Homeyer
aus Meirichstadt.
16. Vortrag des Herrn Prof. 0. Weber: »Ueber einen
geheilten Blasendefekt *, am 15. Februar 1867.
(Das Manuscript wurde am 1. Mal 1867 eingereicht)
Prof. 0. Weber stellt der Gesellschaft einen 7jährigen Knaben
vor, welchem er einen angeborenen Defect des Blasenhalses mit
glücklichem Erfolge durch eine plastische Operation geschlossen
hatte. Es handelte sich um den höchsten Grad der Epispadie. Der
Hodensack war gut entwickelt; links lag der Hode im Leisten-
kanale ; rechts war er vollkommen herabgestiegen. Der Penis, dessen
Schwellkörper und Eichel kräftig und dem Alter des Knaben ent-
sprechend entwickelt sind, zeigte eine von der Eichel nach auf-
wärts ziehende lange flache Rinne. Diese ist mit Schleimhaut,
welche den Charakter von Oberhaut angenommen hat, ausgeklei-
det, und geht in die zu beiden Seiten des Gliedes herabhängenden
Hantfalten über; diese vereinigen sich unter der Eichel zu der
schürzenform ig herabhängenden Vorhaut. Im gewöhnlichen Zu-
stande erscheint der Penis ganz zurückgezogen und deckt die Eiohel
das in die Blase führende Loch. Zieht man aber den Penis her-
vor, so erblickt man eine trichterförmige vor der Symphyse ge-
legene Vertiefung, welche von blasser Schleimhaut ähnlicher Haut
ausgekleidet ist, etwa den Umfang eines halben Taubeneis hat und
von derbem Hautfalten umgeben wird. Diese Vertiefung führt in
ein Loch, welehes dem kleinen Finger Eingang gestattet, und man
kann sich überzeugen, dass dieses Loch dem vorn offenen Blasen-
halse entspricht ; durch dasselbe gelangt man in die stark contra-
hirte und keinen Urin enthaltende Harnblase. Die Symphyse
ist zwar vorhanden aber sehr niedrig und dünn. Der Harn wird
nicht zurückgehalten, sondern träufelt ab, so dass sowohl die Um-
gebung der Genitalien als die Beine stark exeoriirt sind.
Es bandelte sich darum diesen sehr traurigen Uebelstand wo "*
möglich durch eine Operation zu beseitigen. Man hat in der neue-
ren Zeit verschiedentlich versucht hochgradige Defeote der Epis-
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padie und der sg. Extroversion der Blase auf plastischem Wege
zn beseitigen. Diese sowohl von englischen als von französischen
Chirurgen ausgeführten Versuche hatten indess meistens keinen er-
heblichen Nutzen für die Patienten erzielt, indem gewöhnlich noch
fistulöse Oeffnungen zurückblieben. In einigen gelang es zwar nach-
träglich auch diese zu schliessen, gewöhnlich aber traufeite der
Harn nach wie vor abt und der einzige Vortheil, welchen die
Patienten erlangten, war der, dass sich ein Urinbebälter leichter
anbringen liess. Eine vollständige Heilung des Urinträufeins wird
in keinem Falle erwähnt. Die zweckmässigsten der bisher ange-
wendeten Methoden sind ohne Zweifel die von Nelatou und von
Holmes. Das Negatorische Verfahren ist im wesentlichen die Trans-
plantation eines viereckigen aus der Bauch haut entnommenen Lappens
der seine Basis an der Blase behält und so nach abwärts geschla-
gen wird, dass seine wunde Fläche nach aussen sieht. Durch ihn
wird der Blasendefect gedeckt und der Penis bekleidet. Um die-
sen Lappen zu fixiren wird eine breite von beiden Seiten in Ver-
bindung mit der Haut bleibende Hautbrticke vom Hoden sacke
abpräparirt, und so nach aufwärts gezogen, dass der Penis unter
ikr hindurcbgesteckt wird. Nach dem Verfahren von Holmes
wird ein von einer Seite her entnommener viereckiger Lappen über
den Defect herübergeschlagen und seitlioh angenäht, während die
btetige Flüche nach aussen sieht. Darüber wird ein zweiter Lappen
ans der vordem Seite vom Hodensacke befestigt, so dass die beiden
wunden Flächen einander decken. Zeis, welcher diese Methoden
bespricht, bezweifelt ihre Brauchbarkeit, besonders da die Haut-
lappen nioht überall anheilen würden.
Der Vortragende schlug folgenden Weg zur Heilung des Defects
ein: In der Chloroformnarkoso wurde von der Vorhaut nach auf-
wärts die Haut an der Seite des Penis so eingeschnitten, dass sie
am Penis abgelöst in der Form zweier Seitenlappen sich über die
nnienfßrmige Urethra herüber legen liess und dieselbe bequem
deckte. In den beiden Lappen lag jederseits eine Arteria dorsalis
Penis, welche unversehrt blieb. Nach aufwärts von der Wurzel des
Penis liefen beide Schnitte indem sie den Trichter umgingen oben
am Bauehe in eine Spitze zusammen. So wurde die schleimhaut-
utige Bekleidung des Trichters, ebenso wie die Haut der Urethra
-ach einwärts umgeschlagen und der natürliche Verschluss von
oben bis zur Eichel hergestellt, indem von der Spitze ab die hei-
len Lappen durch eine fortlaufende Lembert'sche Naht mittelst
eines einzigen Fadens zusammengenäht wurden. Der Faden blieb
obne Knoten und hing oben und unten heraus. Die wunde Fläche
**• nach aussen. Zur Bedeckung der Wunde und zur grösseren
Sicherung des Resultates wurde nunmehr ein grosser rhombischer
Uppen von der rechten Seito des Scrotum und der rechten Lei-
jtenfalte abgelöst. Die Basics blieb rechts von der Wunde und
hüi eine Breite ion V/t Zoll. Damit der Lappen siok ohne
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348 Verhandlungen des natuhristorisch-roedixinischen Vereins.
Wulstbilduug anlegen Hess wurde auf dem mons pubis seitwärts
am Rande des Trichters ein kleines Dreieck ausgeschnitten. Der
Lappen bedeckte den ganzen früheren Trichter, der nunmehr durch
die umgeschlagene Haut und den Lappen, also doppelt, gedeckt war;
ausserdem reichte der Skrotallappen noch hin um den Penis grössten-
teils mit Haut zu bekleiden , nur ganz nahe an der Eichel blieb
ein Theil des Penis nackt. So wurde der Lappen mit Seiden- und
Drahtnahten befestigt. Als nach der Operation der Catheter ein-
gelegt wurde f ergab sich das erfreuliche Resultat, dass der Urin
in der Blase zurückgehalten war. Freilich war die Menge des
Urin9, der in der Blase Platz fand nur sehr gering und betrug
kaum einige Esslöffel. Der Kranke wurde nach der Operation
mehrere Tage hintereinander in ein Wasserbad gesetzt ; die beiden
übereinander gelegten Lappen heilten vollständig an und der Kranke
konnte den Urin wenigstens theilweise zurückhalten. Durch eine
methodische Uebung unter männlicher Aufsicht wurde er allmäblig
dahin gebracht, dass er bis zu einem halben Schoppen Urin in
der Blase zurückhalten kann. Nachts muss er zweimal geweckt
werden, dann bleibt das Bett aber vollkommen trocken, während
es früher regelmässig stark durchnässt war; am Tage hält der
Kranke den Urin 2 bis 3 Stunden und kann ihn im Strahle schön
entleeren. Nur die Form des Penis hat sich nicht verbessern lassen,
indem derselbe ziemlich weit zurückgezogen liegt. Jedenfalls ist
das Resultat der Operation ein höchst erfreuliches, indem die An-
heilung beider Lappen nach einer Operation in einem Schlage ge-
lang, und indem das fortwährende Harntränfeln ganz aufgehört
hat. Offenbar hat der gespaltene Sphincter dureb die Operation
einen andern Ansatzpunkt in der Narbe gefunden und kann da-
durch den Blasenhals abschliessen.
17. Vortrag des Herrn Dr. Knauf f: »Zur Anatomie
der serösen Häute«, am 15. Februar 1867.
(Das Manuacrlpt wurde sofort eingereiht.)
Dringen fein zertheilte Fremdkörper von der innern Oberfläche
des Respiration st ractus in die Lymphgefasse ein , wie diess bei
Einathmung von Kohle als Lampendunst regelmässig geschieht, so
lagern sie sich unter Anderm auch auf der Pleura ab. Diese Ab-
lagerungen erfolgen zumeist in den Wandungen der Lymphgefässe und
präsentiren sich dann als zwei parallele schwarze Linien , welche
das Lumen des Lymphgefassos einsäumen. Ausser diesen Linien
bemerkt man aber auch — namentlich im vordorn Mediastinum des
Hundes, das hier zunächst ins Auge gefasst ist — schwarze rund-
liche und ovale Knötchen, welche die Grösse eines Hirsekorns er-
reichen. Diese Knötchen liegen tbeils in der Pleura, theils sind sie
gestielt. Sie bestehn — abgesehn von der Kohle — aus einem
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Verhandlungen des naturhistorisch-medizintechen Vereins. B49
Convolut von Gelassen und einer Aufhäufung zelliger Elemente. In
derselben Zusammensetzung finden sie sich auch präexistirend bei
jedem Hunde.
Das Gefassconvolut stellt wohlcaracterisirte Glomeruli dar:
eine kleine Arterie tritt in das Knötchen ein, löst sich rasch in
Capillaren auf, diese bilden ein sehr dichtes Gewirre, vereinigen
sich dann wieder zu einer kleinen Vene, welche in der Nahe der
Eintrittstelle der Arterie das Knötchen verlässt. In den kleinsten
Knötchen werden die Glomeruli nur von einer mehrfachen Ver-
scblingung einer Capillare repräsentirt. Diese Gefassknäuel bilden
der Masse nach den bedeutendsten Bestandteil der Knötchen, und
deren centralen Theil fast ausschliesslich.
Die Peripherie besteht aus einem Zelleulager, welches gewöhn-
lich frei an der Pleuraoberfläche , manchmal aber noch von dem
gewöhnlichen Pflasterepithel der Pleura zum Tbeil bedeckt liegt.
Seiner Form nach ist es dem lymphatischeu Gewebe zuzutheilen.
Die regelmässige Ablagerung von Fremdkörpern in den Knöt-
chen beweist hinlänglich deren Zusammenhang mit dem Lymph-
kanalsystem. So unzweifelhaft die Existenz von Lymphkanälen in
den Knötchen ist, so unsicher bleibt eine Deutung ihres Verlaufs,
solange eine Injection nicht gelingt. In Ermanglung dieser kann
aus der unvollkommenen Füllung derselben mit Kohle während des
Lebens vermutbet werden, dass sie die Blutgefässe in ihrem gan-
zen Verlauf durch die Knötchen begleiten. Da aber im Centrum
derselben die Gefässe der Glomeruli sehr dicht au einander liegen,
so dass zwischen denselben nur sehr wenig Raum bleibt, so muss
sich ihre Ausbreitung hauptsächlich auf den mehr peripherischen
Theil des Glomerulus beschränken. Dem entsprechend finden wir
das Centrum des Knötchens verhältnissmässig licht, in der Nähe
der Peripherie aber dichte Kohlenhäufchen zu einem Ring gruppirt,
und in der äussersten Peripherie die Schicht lymphatischen Ge-
webes, welches fast kohlenfrei bleibt.
An den grössern Gefassen der Serosa — Arterien und Venen
von y6 — Vio Linie — liegen ganz ähnliche Bildungen dicht an.
Sie sind nur sehr gestreckt und desshalb im nicht injicirten Zu-
stand nicht leicht erkennbar, scheinen vielmehr nur eine einfache
Anhäufung zelliger und kernartiger Gebilde in der Tunica adven-
titia der Blutgefässe zu sein.
In dieser letztern Modifikation lassen sich nun auch diese
Knötchen oder Glomeruli gewöhnlich auf dem Peritoneum nach-
weisen, nur dass daselbst der Reichthum an Blutgefässen, sowie
an Kernen des lymphatischen Gewebes ein noch geringerer ist. Ihre
Deutung wäre ohne die Kenntniss der markirteren Formen oft eine
schwierige. Unter Umständen nehmen sie jedoch auf dem Peritoneum
ganz denselben ausgesprochenen Habitus an, wie auf der Pleura des
Hundes: so fand ich sie bei einem rhachitischen Kinde in ent-
wickelster Form. Die gleichzeitig vorhandene Schwellung der
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830 Verhandlungen des naturhletoitach-medlziniflchen Vereins.
mesenterialen Lymphdrüsen, und der Milz weisen aber anf einen
pathologischen Beizzustand hin.
Aber gerade darin liegt auch andererseits wieder ein Beweis
für die Auffassung dieser Knötchen als Lymphappa-
rate — wenn man will: isolirter L y m phf ollikel — , eine
Annahme die übrigens durch das eigenthümliche Verhal-
ten der Blutgefässe, den nachgewiesenen Zusammen-
hang mit dem übrigen Lymphkanalsystem, sowie die
Anwesenheit von lymphatischem Gewebe hinlänglich ge-
stützt wird.
18. Vortrag des Herrn Prof. Knapp: »lieber Plastik
des unteren Augenlides«, am 1. März 1867.
(Das Manuscript wurde sofort eingereicht.)
Redner stellt einen Patienten vor, bei welchem er, eingehend
auf den Vorschlag eines seiner klinischen Zuhörer, des Dr. F.
Pagenstecher von Heidelberg, ein Epitheliom entfernt und den
8/i des unteren Lides sammt innern Winkel betragenden Defekt
dadurch plastisch deckte, dass er zwei horizontale Lappen, einen
nasalen und einen temporalen, bildete, diese durch Dehnung ein-
ander näherte und mit einander und ihrer Umgebung mit Knopf-
nätben vereinigte. Die Heilung erfolgte prima intentione. Die Lid-
spalte ist etwas verkürzt, wird aber gut geöffnet und geschlossen
und das neue untere Lid liegt vortrefflioh an.
»
19. Bericht des Herrn Dr. C. W. 0. Fuchs: »Ueber die
vulkanischen Erscheinungen im Jahr 1866«.
am 1. März 1867.
(Daa Manuscript wurde am 28. April eingereiht.)
Unter den Eruptionen nimmt im Jahre 1866 diejenige der
Insel Santorin das vorwiegende Interesse in Anspruch, indem eine
genau beobachtete Inselbildung damit verbunden war. Solche Insel-
bildungen sind daselbst in historischer Zeit mehrere vorgekommen.
Palaeokammeni entstand nach Plutarch und Plinius im Jahre 184
oder 107 vor Christus. Die kleine Insel Mikrakammeni im Jahre
1578 und Neokammeni von 1707 — 1711.
Die ersten Anzeichen der neuen Eruption im Jahre 1866 be-
standen in schwachen Erdbeben am 28. und 29. Januar. Bald
darauf brachen, am Südende von Neokammeni, Flammen und Dämpfe
aus dem Meere und zwischen denselben erschien am 3, Februar
eine Insel, welohe den Namen >Georgios« erhielt. Die neue Insel
nahm beständig an Ausdehnung und Höhe zu, jedoch ohne gewalt-
same Erscheinungen, ja die Erdbeben und die Dampfentwicklung
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liesaen sogar seit ihrem Erscheinen nach ; es war ein langsames
Anschwellen der Inselmasse. Schon am (J. Februar ward > Georgios«
doicii zunehmende Ausdehnung mit Neokammeni verbunden uud
bildet seitdem ein nach Süden gerichtetes Vorgebirge dieser InseL
Später kamen auoh wirkliche Eruptiouserscheinungen vor, besonders
zahlreich Explosionen, durch welche Lavablöcke, oft von bedeuten-
der Grosse umhergeschleudert wurden. Besonders heftig war eine
Explosion am 18. Juli; auch entstand erst in Folge dieser Explo-
ikm ein Krater auf der Insel. Bis jetzt hat Georgios seine Tätig-
keit stets fortgesetzt.
Am 13. Februar bildete sich in dem Kanäle zwischen Palaeo-
kammeni und Neokammeni eine neue Insel, welche Aphroessa ge-
nannt wurde. Auch diese schwoll aUmahlig zu immer bedeutende-
rer Höhe und immer grösserem Umfang an. Wie auf Georgios er-
folgten auch hier nach einiger Zeit Explosionen, begleitet von
Flammenerscheinungen, wodurch sich besonders der 18. Mai aus-
zeichnete. Doch hatte die Insel schon im August soweit ihre Thätig-
keit eingestellt, dass nur noch Fumarolen auf ihr vorkamen. — •
Aphroessa ganz nahe entstand am 10. März eine dritte Insel *
>Beka«, welche sich am 13. März mit ihr vereinigte. Am 19. März
ward Aphroessa durch seine zunehmende Ausdehnung mit Neokam-
meni verbunden Im Monat Mai entstandtn noch acht kleine Inseln
die sich jedoch allmiblig zu zwei vereinigten.
Merkwürdig bei der Eruption von Santorin ist es, dass die-
jenigen Gase und Dämpfe, welche bei andern Eruptionen entweder
räumlich oder zeitlich getrennt vorzukommen pflegen, einander ganz
nahe sich entwickelten, dass Gase, welche sich in Berührung mit
der glühenden Lava entzündeten, in grosser Menge sogar aus dem
Krater aufstiegen und eine prachtvolle Flammenerscheinung gaben.
Deberhaupt ist das Phänomen der Flammen noch nie so sicher
constatirt worden, und bei keiner bis jetzt beobachteten Eruption
waren die Flammen so gross und so zahlreich.
Unter den gut beobachteten Inselbildungen von vulkanischer
Beschaffenheit nimmt die Eruption von 1866 gleichfalls einen hohen
Hang ein. Aus allen Beschreibungen des Ereignisses geht deut-
lich hervor, dass die Eruption hauptsächlich in einem submarinen
Lavaergnss bestand. Zuerst bahnten die der Lava beigemengten
Gase und Dämpfe eine Oeflnung auf dem Boden des Meeres unter
leichten Erderschütterungen. Darauf quoll die Lava hervor, kam
jedoch sogleich in Conflikt mit der über dor Ausbrucbsöffnung be-
findlichen Wassermasse, erhitzte dieselbe bedeutend, ward aber
selbst an der Oberfläche so weit abgekühlt, dass sich eine starre
Binde bildete. Die immer neu hervorquellende Lava hob die er-
starrte Decke höher und höher und breitete sich auch immer wei-
ter aus. Endlich erschien die Lavamasse Uber der Wasserfläche und
bildete eine InseL Die Lava, aus welcher die neue Insel bestand,
hatte daher das Ansehen eines Haufens glühender Kohlen und durch
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362 Verhandlungen des naturhlstorisch-mediziniaclien Verelnft.
die Spalten, welche bei stets zunehmender Yergrössernng sich in
der festen Decke bilden mussten , erblickte man die im Innern
glühende Masse. Die verbältnissraässig so ruhige und wenig ge-
waltsame Vergrößerung erklärt sich eben auch dadurch, dass
immer neue Lava nachschob. Als die Insel sich gebildet hatte,
trat eine lebhafte Fumarolenbildung ein und es folgten bald rascher,
bald langsamer Explosionen auf einander, durch welche grosse Lava-
blocke umhergeschleudert wurden. Dieselbe Erscheinung wird sehr
häufig auf der Oberfläche grosser Lavaströme beobachtet, um wie
viel mehr musste sie hier eintreten, wo kein Krater vorhanden
war, aus welchem der grösste Theil der Dämpfe mit geringerem
Hinderniss hätte entweichen können. Durch die grosse Explosion
am 18. Juli, wurde der Gipfel der Insel zersprengt und ein Krater
gebildet, und aus ihm erfolgten nun die gewöhnlichen Eruptions-
erscheinungen, so dass auf dem Rücken des Lavastromes, dessen
höchster Theil als Georgsinsel erschien , sich bald ein wirklicher
Eruptionskegel erhob und dadurch die Höhe der neuen Insel be-
trächtlich vermehrte. Die andern neuen Inseln sind auf dieselbe
Weise entstanden und als kleinere seitlich hervorgebrochene Arme
des grossen Lavastroms zu betrachten.
Viel grossartiger wie die Eruption von Santorin, aber leider
nur sehr ungenügend beobachtet, war der Ausbruch des Mauna
Loa auf Hawai, einer der Sandwichinseln. Im Anfang des Jahres
hatte dieser gewaltige, 12,000 Fuss hohe Vulkan eine Eruption,
die fast Alles übertrifft, was die Geschichte dieser Naturereignisse
berichtet. In einer Höhe von 10,000 Fuss öffnete sich zuerst ein
Krater, welcher Lava ergoss. Nach drei Tagen trat kurze Ruhe
ein, bis sich auf halber Bergeshöhe ein Krater bildete, ans dem
die Lava mit so ungeheurer Gewalt hervorgepresst wurde, dass
eine Säule glühender Lava, von 100 Fuss Durchmesser, wie ein
Springbrunnen tausend Fuss hoch aufgestiegen sein soll. Ist diese
Angabe auch etwas übertrieben, so muss doch das Schauspiel ein
überwältigendes gewesen soin. Der Ausbruch dauerte 20 Tage und
war von heftigen Erdbeben begleitet. Das unterirdische Getöse
verbreitete sich 40 engliche Meilen weit. Der ganze Osten von
Hawai schien in Feuer zu stehen und Seeleute sahen den hellen
Schein davon in einer Entfernung von 200 englisohen Meilen.
(8chluse folgt.)
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Ir, 23.
HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
. 1 . . i
Verhandlungen des natnrhistorisch- medizinischen
Vereins zn Heidelberg.
(ScUum.)
Am 30. Januar 1865 geriet Ii der Vulkan Turrialva, der süd-
lichste in der Vulkanreibe Mittel- Amerika* s in Eruption. Zuerst
fand ein dichter Aschenregen statt, welcher die ganze Hochebene
von Gostarica mit Asche bedeckte. Später erhob sich eine unge-
heure Feuersäule Uber den Gipfel des Berges. Die Eruption dauerte
während des ganzen Jahres und hielt bis gegen die Mitte des Jah-
res 1866 an, wo der Vulkan in den früheren Grad seiner Thätig-
keit, also in eine gemässigte Thätigkeit, überging. Es war dies
die längste und heftigste Eruption, welche seit der Entdeckung
Amerikas an diesem Vulkane je vorgekommen.
Auch die Eruption eines Schlammvulkans ist aus dem Jahre
1866 zu verzeichnen. In der Nähe von Paterno auf Sizilien liegt
ein-. Schlammvulkan »Salinella de Paterno« genannt, welcher in
letzter Zeit vollkommen ruhig war, so dass seine Umgebung zu
einem harten, spröden Thone erstarrte. Am 9. Januar spürte man
ein Erdbeben zu Paterno und darauf begann dann am 22. von
neuem die Thätigkeit des Schlammvulkans Flüssiger Schlamm, dessen
Temperatur bis zu 46° C. erhöht war , brach unter dem Boden
hervor und verwandelte die Salinella in einen grossen rauchenden
Schlammpfuhl. An mehreren Orten spritzte der Schlamm Spring-
brunnartig hervor. Die Schlammsäulen hatten 40 — 50 Centimeter
im Durchmesser und erreichten in den beiden ersten Tagen der
Eruption eine Höhe von 6 — 7 Fuss, später stiegen sie weniger
hoch. Die Schlammstrahlen und die aus denselben mit grosser
Gewalt entweichenden Gase verursachten ein lebhaftes Geräusch.
Die Eruption erfolgte aus sechs Krateren von 1,5 — 2 Meter im
Durchmesser; ausserdem gab es jedoch noch viele weniger thätige
Kratere, deren Temperatur nicht höher war als die der Atmos-
phäre. Einzelne der Kratere verschwanden fortwährend und neue
entstanden an andern Stellen. Die Gase zeigten schon durch ihren
Geruch die Gegenwart von Schwefelwasserstoff und Bitumen an;
das letztere brannte mit lebhafter Flamme. Das Wasser, welches
dem Schlamm beigemengt war, schmeckte sehr salzig. Es enthielt
°\5°/o Stickstoff und ausserdem noch Brom-, Jod- und Schwefel- Ver-
bindungen, kohlensaure, phosphorsaure und salpetersaure Salze.
LX. Jahrg. 5. Heft 23
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354 Verhandlungen des natnrhistorlsch-medteiniachen Vereins.
Von Erdbeben wurden ans dem Jahre 1866 zusammen 65 be-
kannt. Dieselben kamen an 76 verschiedenen Tagen und an 39
verschiedenen Orten vor. An 12 Tagen des Jahres fanden mehrere
Erdbeben statt. Folgende Orte wurden mehrmals im Laufe des
Jahres von Erdbeben betroffen.
Orizaba und Cordona in Mexiko am 2. Januar und am 16. Mai.
ßpoleto am 1. Februar, 21. Februar und am 17. März.
Fatras am 6. und 10. Februar und am 10. März.
Füzitö in Ungarn am 27. Februar und 20. März.
Nizza am 8. April, 19. Mai und 22. September.
Fiume am 5. März und 9. Dezember.
Ohios am 19., 20., 21. Januar, 2., 20. Februar, 20. März.
Avlona 2. März, 4 — 16. März.
Bhodus 20. Februar, 20. März, 20. Mai, 21- 25. Mai.
Santorin häufig seit Eintritt der Eruption.
Monte Baldo seit den 2. Mai andauernd bis zum Ende des
Jahres.
Am heitigsten waren die Erdbeben am 2. März nnd 7. Juli.
Am 2. März zwischen 11 und 12 Uhr Vormittags erfolgten zu
Avlona in Albanien zwanzig heftige Stösse; in Folge der dadurch
verursachten Zerstörungen kamen 60 Menschen um. Am 7. Juli
Buchte ein Erdbeben Nepal in Indien heim. Die Hauptstadt Khat-
mandn ward gänzlich zerstört und viele Menschen wurden getödtet.
In demselben Monat erschütterte ein Erdbeben das Land zwischen
Euphrat und Tigris. Spalten zerschnitten den Boden in allen Rich-
tungen und in einem Umkreis von 30 Stunden versanken 16 Dör-
fer sammt der ganzen Bevölkerung.
Selten besteht ein Erdbeben aus einem einzelnen Stosse. Es
folgen der Kegel nach mehrere Stösse von verschiedener Heftigkeit
auf einander ; zuweilen dauert ein Erdbeben mehrere Tage , auch
Wochen und Monate lang und während dieses ganzen Zeitraumes
wiederholen sich die Stösse, mehr oder weniger zahlreich. Unter
den 65 gesammelten Erdbeben ist nur bei der kleinen Zahl von
17 die Summe der einzelnen Stösse angegeben und beträgt 109.
Die Zahl von 65 Erdbeben im Laufe eines Jahres könnte sehr be-
trächtlich erscheinen, allein je mehr man sich mit diesen Natur-
erscheinungen beschäftigt, desto mehr gewöhnt man sich daran die
Erdbeben nicht als aussergewöhnliohe , sondern als alltägliche Er-
eignisse zu betrachten. Wirklich fanden jene 65 Erdbeben nur in
Europa, dem Westen Asiens, dem Nordrande Afrikas und eines in
Mexiko statt. Aus ganz Amerika, ganz Australien, ganz Inner-
Asien und China und dem grössten Theile Afrikas ist keine Nach-
richt gekommen. Wir dürfen nicht annehmen, dass in diesen Lan-
dern, welche die erstem mindestens um das zehnfache an Ausdeh-
nung übertreflen, Erdbeben weniger häufig seien. Von den weiten
Flächen des atlantischen, grossen und indischen Oceans wird gleich-
falls höchst selten ein derartiges Ereigniss gemeldet. Man kann
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Verhandlungen des n&turliistorIsch--medlzinl9cheD Vereins, 855
daher ans der Summe des Bekannten schliessen, dass die Menge
der wirklich vorgekommenen Erdbeben ungleich viel grösser ist,
ja tlass wohl in jedem Augenblicke die sonst starre Erdmasse
irgendwo in Bewegung sich befindet und ein Erdbeben veranlasst.
Die Erdbeben sind entweder vulkanische, sie stehen im Zu-
sammenhang mit der Thatigkeit der Vulkane, oder nicht vnlkar
nisebe, deren Grund verschiedenen Ursachen zugeschrieben werden
mnss. Im Jahre 1866 waren vulkanische Erdbeben die auf der Insel
Hawai und die auf Santorin. Die Nähe dieser Erdbeben an dem
Punkte der Eruption und die Abhängigkeit ihres Eintrittes von
der Thatigkeit des Vulkans beweisen den Zusammenhang zwischen
beiden. Die vulkanischen Erdbeben werden der Regel nach durch
explosionsartige Erscheinungen zu erklären sein. Wenn Wasser
in dor glüheuden Lava hinzutritt, so ist die Expansionskraft der
dadurch entstehenden Dämpfe im Stande eine Erderschütterung zu
veranlassen. Mehrere Ereignisse im Jahre 1866 zeigten ganz deut-
lich, dass Explosionen Erdbeben erzeugen. Am 8. April fand zu
Aspinwall eine Explosion von Nitroglycerin im Hintertheile eines
im Ausladen begriffenen Schiffes statt. Die Einwohner, welche von
der Explosion nichts wussten , glaubten ein heftiges Erdbeben zu
spüren ; auch war die durch die Explosion bewirkte Zerstörung der
Wirkung eines Erdbebens gleich. — Als am 15. Dezember die
schrecklichen Explosionen in den Kohlengruben von Bamsley statt-
fanden, spürte man auf der Erdoberfläche auf dem Umkreis einer
Meile ein Erdbeben und hörte dabei unterirdisches Getöse. Aucji
hier stimmten die Wirkungen der Explosion mit den Folgen eines
Erdbebens überein.
Die nicht vulkanischen Erdbeben haben verschiedene Ursache.
Am häufigsten besteht dieselbe in einer Senkung der festen Erd-
masse, einer einzelnen Schicht oder eines ganzen Schichtensystems.
Sobald eine Senkung, selbst die aller geringfügigste, nicht allmäh-
lig. sondern plötzlich eintritt, verursacht dieselbe ein Erdbeben
and je nach dem geognostischen Bau , wenn z. B. lockere Massen
atf einer festen Unterlage ruhen, Erdbeben von sehr beträchtlicher
Kraft. Liegt die Ursache der Senkung, in deren Folge ein Erd-
beben eintritt, nicht tief unter der Erdoberfläche, dann kann die-
selbe oft leicht erkannt werden. Am 29. Januar 1866 erschütterte
ein heftiges Erdbeben, begleitet von unterirdischem Getöse das
Darf Rekow in Pommern ; dabei versank ein Stück Land von zwei
Morgen in den dicht beim Dorfe gelegenen See. Dor Boden, auf
welchem das Dorf stand ward von zahlreichen Spalten durch-
schnitten und mehrere Häuser litten so, dass sie abgerissen wer-
den mussten. Hier war orlenbar das Wasser des See's in eine Schicht
eingedrungen, hatte dieselbe erweicht und darauf sank das darauf
lastende Schichtensystem in die Tiefe. — Die Erdersehütterungen,
welche von Mai bis Dezember die Ufer des Gardasee's heimsuch-
ten und vom Monte Baldo ausgingen , mtisaen gleichfalls 4adurch
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8Ö6 Verhandlungen des naturhlatorisch-mediziniflchen Verein«.
erklärt werden, dass eine in den See ausgehende Schicht des Ber-
ges von dem Wasser erweicht wurde, so dass der Berg nieder-
sinken musste. — Liegt die Ursache der Senkung in grosser Tiefe,
dann ist sie schwer zu erkennen. Der Bergbau macht uns jedoch
mit den Folgen bekannt. Die Verwerfungen deuteu uns die Stellen
an, wo Senkungen und Erdbeben einst vorgekommen.
Geschäftliche MittheilimgeiL
Herr Dr. Horstmann und Herr Dr. R u d. Louis wurden
als ordentliche Mitglieder in den Verein aufgenommen.
Indem der Verein fUr die ihm freundlich Ubersandten und
nachstehend verzeichneten Schriften seinen besten Dank sagt, wird
für den Schriftenwechsel dringend auf die in den Umschlägen ab-
gedruckte Bemerkung aufmerksam gemacht.
Verzeichniss
der vom 1. Dezember 1866 bis 31 Mai 1867 an den Verein ein-
gegangenen Druckschriften.
Abhandlungen der Senckenbergischen Naturforsch. Gesellschaft zu
•Prankfurt a. M. VI. 1 u. 2.
Dr. W. F. R. Suringar: de Sarcine nebst extrait.
Ein Wort über den Zellenbau von Sarcine.
La sarcine de restomao.
Sitzungsberichte der kaiserl. Akad. der Wissenschaften zu Wien.
1866. 26—28. 1867. 1—13.
Rendi Conti del Reale istituto Lombardo, classe di scienze raatenia-
tiche e naturali II. 3 — 8. Solenni adunanze I. 2.
Von der königl. Akademie der Wissenschaften zu München:
Bauernfeld: Bedeutung moderner Gradmessungen.
Liebig: Entwicklung der Ideen.
Meissner: Geograph. Verhältnisse der Lorbeergewächse,
Bischof: Neue Beobachtungen zur Entwicklungsgeschichte des
Meerschweinchens.
Von der königl. Universität in Christiania:
Forhandlinger i Videnskabs Selskabet i Christiania. aar 1864.
Norges officielle Statistik, nro 4 : Beretning om Sundhedstil-
standen og Medicinalforholdene i aaret 1863.
Maerker efter en Jistid i omegenen af Hardangerfjorden af
8. A. Sexe.
Medizinal-Taxten for Norge 1855; 1861; 1865.
Tillaegen tü Medicizinal-Taxten 1862; 1863; 1864.
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VerhAndlungen des naturhietorißch-medlzinischen Vereint. 367
Veterinaer Medizinal-Taxten 1861; 1865.
Tillaegon til Veterinaer Medizinal-Taxten 1862; 1863.
Generalberetning for Gaustad Sindsygeasyl for aaret 1865.
Forslag til Forandring i den bestaande Kvaksalverlovgigning.
Von der königl. baier. Akademie der Wissenschaften in München:
Bischoff: Schädelbildung des Gorilla, Schimpanse und Orang
mit 22 Tafeln.
Archiv des Vereins der Freunde der Naturgeschichte in Meklen-
bnrg. 1866.
Verhandlungen der naturf. Gesellschaft in Basel. IV. 8. Heft.
Von der königl. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften:
Berichte der math.-pbys. Classe 1865. XVII. Bd.
1866. L 2. 3. Heft.
Verhandlungen des naturf. Vereins in Brünn 1865. IV. nebst De-
sideratenverzeichniss.
Abhandlungen der naturf. Gesellschaft zu Nürnberg HI. 2. H. 1866.
Nachrichten d. kgl. Gesellschaft d. Wissensch, zu Göttingen. 1866.
Festschrift u. Jahresber. d. naturf. Gesellschaft zu Emden. 1865.
XV. Jahresbericht des Werner Verein in Brünn 1865, nebst zwei
Blättern Karte von Mähren.
Verhandl. des Vereins f. Naturkunde zu Pressburg Vin. u. IX. Bd.
1864—66.
Schriften der naturf. Gesellschalt in Danzig. Neue Folge I. 8 u. 4.
Memoires de l'Academie des sciences et lettres de Montpellier:
Section des sciences VI. f. 1. 1864.
Section de mödecine IV. f. 1 u. 2. 1863 — 64.
Jahresbericht über die Verwaltung des Medizinalwesens der freien
Stadt Frankfurt. VII.
Abhandinngen des naturw. Vereins in Hamburg:
IV. 4 ; Klatt : Die Gattung Lysimachia.
V, 1; Möbius: Bau der Nesselkapseln der Polypen und Quallen.
Uebersicht der Verhandlungen im Jahr 1865.
Bericht über die Thätigkeit der St. Gallischen Naturw. Gesell-
schaft. 1864—66.
Memoires de la sociöte" des sciences physiques et naturelles de Bor-
deaux. T. I— IV.
Zwölfter Bericht der oberh. Gesellscb. f. Natur u. Heilkunde. 1867,
lenaiache Zeitschrift f. Medizin u. Naturwiss. m. 1—3. H. 1866.
Jahresbericht XXI— XXIV der Pollichia u. Bibliotheks-Verzeichniss.
Hericht der naturf. Gesellsch. zu Halle 1866.
Verhandl. d. natnrh. Vereins d. preuss. Rheinlande u. Westphalens
XXIII. nebst geol. Karte der Rheinprovinz u. Westphalens.
^orrespondenzblatt des zool. mineral. Vereins in Regensburg. XX.
Sitiungsber. d. k. b. Akad. d. Wiss. zu München 1866. II. H. 2—4.
1867. LH. 1-8.
Würzburger Medizin. Zeitschrift. VII. 3.
Abhandlungen des naturw. Vereins zu Bremen. I. 2. H. 1867.
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Hoefer: Biographie generale. T. 43-46
A ouv eile biogr aphie gine'rale depuis les temps les plus reculfo
jusqu'ä nos jours avec les retiseignemenis bibliographiques et
Vindication des sources ä consulter , publiie par MM. Firmin
Didot frtores sous la direeiion de M. le Dr. Hoefer. Paris.
Firmin Didot freres, fds et Cie. Editeurs etc. nie Jacob 56.
Tome quar ante troisieme 1864 ( von Saint- Ange bis Si-
miane) 1024 8. in doppelten Columnen. gr. 8. Tome qua-
rante quatriöme 1865 (von Sirnler bis Testa) 1040 S.
Tome qu ar ante cinquieme 1866 ( von Teste bis Vermond)
1138 S. Tome quarante sixiime 1866. (Von Verne bis
Zyll). 1040 S. gr. 8.
Mit diesen vier Bänden hat das grossartige Unternehmen,
dem wir in diesen Blättern seit seinem Erscheinen mit gebühren-
der Aufmerksamkeit gefolgt sind, noch zuletzt Jhrgg. 1864 S. 373 ff.,
seinen Abschluss gefunden und die Unternehmer wie der Heraus-
geber können sich glücklich schätzen, in der verhältnissraässig
kurzen Zeit von vierzehn Jahren, seit dem Jahre 1852, wo der
erste Band erschien, freilich unter nicht gewöhnlichen Mühen und
Anstrengungen das Endziel erreicht zu haben. Wie viele, und
selbst nicht geringe Schwierigkeiten dabei zu überwinden waren, kann
selbst Denen, die nur mit einzelnen Theilen des grossen Werkes
sich bekannt gemacht haben, nicht ontgangen sein: wir haben selbst
in diesen Blättern mehr als einmal darauf hingewiesen. Aus-
dauernde und angestrengte, aber nicht minder sorgsam auf Alles
Einzelne bedachte Thätigkeit hat die Beendigung schneller als man
erwarten mochte, herbeigeführt ; was am Anfang versprochen war,
ist getreulich eingehalten , kein Leser in seinen Erwartungen ge-
täuscht worden: die Reichhaltigkeit dieses biographischen Wörter-
buchs wie die Genauigkeit und Verlässigkeit der mitgetheilten
Notizen gewährt alle Befriedigung.
Nach diesem allgemeinen Urtheil mag es erlaubt sein, wie bei
den Anzeigen der früheren Bände, so auch hier bei dem Schluss
des Ganzen nochmals einen gleichen Nachweis in der Anführung
einer Reihe von einzelnen Artikeln zu geben, welche mehr oder
minder zeigen, wie auch diese vier letzten Bände gleichförmig den
früheren gehalten und bearbeitet sind, und wie die ersten Gelehr-
ten Frankreichs, jeder in seinem Fach , sich betheiligt und man-
chen Artikeln sogar .dnen eigenen und selbständigen Werth ver-
liehen haben Es gilt dies oben so von Persönlichkeiten der alten,
wie der neuen Welt bis auf unsere Tago herab, und eben so auch
des Mittelalters, und zwar bedeutenden Fürsteu, wie Gelehrten uud
Künstlern, Diplomaten und Staatsmännern wie Feldherrn.
Beginnen wir mit der alten Welt, so finden wir, wie sogar
auf die alte assyrische Monarchie Rücksicht genommen, und Herr-
scher, die erst jetzt aus deu wieder aufgedeckten Palästen Ninive's
uns nahet bekannt zu werden anfangen, mit eigenen Artikeln be-
»
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Hoefer: Biographie generale. T. 43 -46. aö9
dacht sind, wie Sargon und die Sardanapale von E. Grd-
goire, Sanherib, oder, wie er hier genannt ist, Sennacherib,
eben so wie der persische Xerxes, nnd der phönicische San-
chuniathon von E. Renan. Dass die bedeutenderen Persönlich-
keiten der hellenischen nnd römischen Welt, namentlich der ge-
lehrten Welt oder der Künstlerwelt, nicht minder bedacht sind,
zeigen nicht wenige Artikel, die zu den besten des Werkes gezählt
werden können, so z. B. Sappho, Sophocles, Theocrit, Theophrast,
Sophocies, Zeno, Simplicius, Tzetzes oder Tiberius (mit Rücksicht
auf die in neuester Zeit angeregte Controverse über die Vorzüge
dieses Herrschers), Vitellius von Leo Joubert, der auch zahlreiche
andere Artikel selbst neuerer Zeit bearboitet hat; ferner der aus-
führliche Artikel über Socrates von B. Aubö, dem wir auch die
Artikel über Synesius, Tertullianus u. a. verdanken; ein vorzüg-
licher Artikel über Thucydides von Ambroise Firmin Didot, zum
Tbeil seiner Uebersetzung dieses Schriftstellers und der dieselbe
begleitenden Einleitung entnommen; Theophylact verdanken wir
noch dem seeligen Hase, Strabo, Tyrtftus und Xenophon lieferte
Guignault; die römischen Kaiser Titus und Trajanus der nicht
minder bekannte Noel des Vergers. Von römischen Schriftstellern
erinnern wir nur an den Artikel Tite Live von Fustel de Coulanges
oder Varro von Ed. Tournier, Sallustius, Terentins, Tacitus, Virgil
von Naudet, Seneca, den Rhetor wie den Philosophen von B. Aube* ;
bei ersterem vermisst man bei der Angabe der Ausgaben — denn
auch darauf erstreckt sich bei diesen Schriftstellern die Fürsorge
der Verfasser — die Ausgabe von Bursian; ferner gehört hierher
Suetonius von J. P. Charpentier, Vitruvius von Deheque. Von bedeu-
tenden Persönlichkeiten des Mittelalters mag an Gerbert, (hier
unter Sylvester) von B. Haureau erinnert werden, an Thomas von
Aqninnm von J. Morel, der noch manche andere Artikel auch aus
der neuern Zeit geliefert hat, wie z. B. über Saint Simon, den
Stifter der sogenannten Simonisten, an Savonarola von Louis
Gregoire , an Tancred von Henri Feuiileret , der übrigens auch
über die unter dem Namen Sand gefeierte und bekannte Schrift-
stellerin einen interessanten Artikel beigesteuert hat ; ebenso an die
Artikel über verschiedene französische, englische und andere Schrift-
steller des Mittelalter, über Tauler, um noch ein weiteres Beispiel
anzuführen, von E. Grögoire; über Zwingli, den schweizerischen
Reformator (etwas kurz) von Michel Nicolas, über Tasso von E.
J. B. Ratbery, Tournefort vonA. Fee, über Sully von L. Gregoire;
oder, um der neueren Zeit näher zu rücken, Struensee, Torsten-
sohn, Thugut von Ch. de Gagern, Spinoza von Artaud, die zahl-
reichen Sturm, Saint Simon, Saint Just, Saint Pierre, über die
Familie der Visconti's von L. Gregoire, über den berühmten Archäo-
logen dieses Namens in neuerer Zeit von S. Rolland u. A. Ueber
die beiden Scaliger, den Vater Julius Cäsar und den Sohn Joseph
Justus, >le plus grand phüologue franeois,
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360
Hoefer: Biographie generale. T. 43—46,
wird, hat E. Grögoire gut gehandelt, die Schriften dieser Gelehr-
ten und die dieselben betreffende Literatur verzeichnet, bei letzteren
unter Benützung des Werkes von Bernays , welches mit dem Zu-
satz angeführt wird: »quoique un peu trop louangeuse, cetto notice
tres complete est plus pres de la voritu que Celle de M. Ch. Nisard
dans son Triumvirat litöraire.« Ueber Shakespeare hat L6o Jou-
bert ausführlich gehandelt ; Über den für die Geschichte der Buch-
druckerkunst so wichtigen Schöffer gibt ein vorzüglicher Artikel
von A. Firmin Didot nähere und sichere Auskunft, über Sueden-
borg P. Louisy. Wenden wir uns den nächstverflossenen Zeiten
zu, so sind die meisten bedeutenden Männer mit grösseren Artikeln
gut bedacht worden, und um vorerst an Deutsche zu erinnern, so
mögen zunächst die Artikel über Schiller und Wieland von L. Spach,
über die beiden Schlegel , August Wilhelm und Friedrich von G.
Rathe>y genannt werden, dann die Artikel über berühmte Rechts-
gelehrte Deutschlands, wie v. Savigny, Mohl, Thibaut und Zachariä;
was bei dem letzten, der gleich den vor ihm genannten der Hei-
delberger Universität angehörte, Über dessen, zweimal bekanntlich in
das französische übersetzte »Handbuch des französischen Civilrecbts«
bemerkt wird, mag, als Zeugniss der Unparteilichkeit, die in der
Beurtheilung durchweg sich kund gibt, auch hier eine Stelle fin-
den: »Cet ouvrage, lesen wir S. 927 f. T. 46 dans lequel Tauteur
a suivi l'ordre methodique est le plus fortement concu et le plus
rigoureusement deduit, qui ait peut-ßtre «Scrit sur le nouveau
droit civil francais, d'une concision qu'on pourrait appeler alg6-
brique ; il a le grand avantage de montrer le developpement lo-
gique de la science du droit et de faire penser, au lieu de fournir
des Solutions tontes faites.« Adam Smith, der grosse National-
ökonom ist von E. Mallet geschildert, mehrere andere desselben
Namens von Eugen Asse, Washington von Leo Joubert, Volta von
Höfer, Volney von M. Avenel, Walter Scott von E. F. B. Rath^ry,
Frau von Stael-Holstein von Philarete Chasles, Lady Stanhope
von A. F. Didot; von Staatsmännern neuester Zeit Talleyrand von
A. Boullde, Villfcle von Artaud, Alex. Stourdza (nach besondern
Mittheilungen) Walewski u. A. Dass über Voltaire ein äusserst
umfassender Artikel, der von S. 863 — 448 T. 46 reicht, gegeben
ist von Eug. Asse, der auch Alex, do Toqueville, Tugut, Thiers
u. A. behandelt hat, mag die Bedeutung Voltaire's und sein Ein-
fluss auf die ganze Zeitrichtung, zumal in Frankreich, hinreichend
erklären. Von fürstlichen Personen nennen wir Soulouque , den
Negerfürsten zu Haiti von Melvil-Bloncourt und Victor Emanuel,
dem ein eingehender Artikel von L. Colla9 gewidmet ist ; selbst
Schamyl, von Demselben bearbeitet, fehlt nicht. Dass die in den
Kreis der französischen Revolution fallenden Persönlichkeiten mit
nicht geringerer Aufmerksamkeit wie in den frühern Bäuden be-
handelt sind , ersieht man aus Artikeln wie Eulogius Schneider,
Sieyes von Taillandier, Vergniaud von Ch. Emmanuel u. A.; die
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Zacher- Pseudocallisthenea.
361
Kriegshelden sind mit gleicher Aufmerksamkeit behandelt, wie die
Artikel Tnrenno von L. Grögoire, der Marschall von Sachsen von M.
de Lescnre, Vaudoncourt, Vandamme, Victor Duc de Belluno, Valec,
sämmtlicb von Du Casse, Sonlt und Wellington, beide von Baron
Ernouf, Souvorof von J. H. Schnitzler, der auch Sparanski be-
arbeitet hat, zur Gentige zeigen können, und um zuletzt noch das
Gebiet der Kunst zu berühren, machen wir auf die beiden Artikel
aufmerksam, in welchen Tizian (Vccellio) von E. Breton und Leo-
nardo da Vinci von Georg Duplessis behandelt sind.
Wir wollen diese Anführungen, die vielleicht Manchem schon
das in solchen Dingen übliche Maass zu überschreiten scheinen,
nicht weiter fortsetzen, weil wir glauben, dass sie gentigen wer-
den, tim das Urtheil, das über dieses umfassende Werk in diesen
Blättern mehrfach ausgesprochen worden, und hier bei dem Schlüsse
des Ganzen nur wiodorholt werden kann, zu bestätigen : die Aner-
kennung, die dasselbe mit allem Recht verdient, wird ihm auch
gewiss nicht ausbleiben, die deutsche Literatur, sonst so ausge-
dehnt auf diesem Gebiete hat Nichts Aehnliches aufzuweisen, was
nach seinem Umfang und nach seiner Ausdehnung, so wie selbst
in der Ausführung, dem vorliegenden französischen an die Seite
sich stellen lässt. Noch ist zu bemerken, dass am Schlüsse des
46. Bandes eine alphabetisch geordnete Liste der Gelehrten, welche
an dem Werke Theil genommen und dessen einzelne Artikel be-
arbeitet haben, beigefügt ist. Sonst ist die äussere Ausstattung
sich durchaus gleich geblieben von dem ersten Bande an bis zu
dem letzten: dass diese bei aller Oekonomie des Druckes, welche
aus natürlichen Ursachen erstrebt ward, durchaus befriedigend aus-
gefallen, ist ebenfalls schon früher bemerkt worden.
P seudocallisthenes. Forschwigen sur Kritik und Geschichte
der ältesten Aufzeichnung der Alexandersage , von Julius
Zacher, Halle, Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses
1867. VIII und 193 8. gr. 8.
Wenn man bedenkt, wie frühzeitig schon an die Geschichte der
Züge Alexanders des Grossen sich sagenhafte Darstellungen jeder
Art geknüpft haben, die von Alexandria zunächst ausgegangen schon
in den vorchristlichen Jahrhunderten in der alten Welt verbreitet,
später aber durch Uebertragung in andere Sprachen, zu den euro-
paischen Völkern des Westens gedrungon und das ganze Mittelalter
hindurch hier eine reiche Entwicklung in der Alexandersage erhal-
ten haben, so wird man bei solcher Ausdehnung und Verbreitung
der Sage, gewiss mit aller Anerkennung eine Untersuchung aufzu-
nehmen haben, die es sich angelegen sein lässt, vor Allem dem
Grund der Sage nachzugehen, ihre weitere Entwicklung und Aus-
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862
Zacher: Pseudocallißthenea.
bildung zu verfolgen und damit die verschiedenen Wandelungen zu
erkennen, welche diese Sage im Laufe der Zeiten erlitten, bis mit
dem Wiedererwachen der Wissenschaft, nach Ablauf des Mittel-
alters, dieselbe wieder zurücktreten und der historisch beglaubigten
Erzählung des Thatsächlichen Platz machen musste.
Die Untersuchung, wie sie in dieser Schrift vorliegt, befasst
keineswegs das ganze weite Gebiet der Alexandersage, wohl aber
legt sie zu einer solchen, wie wir sie wohl von dem Verfasser noch
hoffen dürfen , den Grund , indem sie zunächst der letzten Quelle
sich zuwendet, aus welcher die Sage des Mittelalters hervorgegan-
gen ist. Es ist diess die unlängst erst im Druck bekannt gewor-
dene, mit dem Namen des bekannten Geschichtschreiber's Alexan-
ders, des Callisthenes bezeichnete Schilderung des Lebens
Alexanders von seiner Geburt an bis zu seinem Tode, jetzt ge-
wöhnlich unter dem Namen des Pseudocallisthenes bekannt,
da jener Geschichtschreiber Alexanders des Grossen der wahre Ver-
fasser nicht sein kann. Diese Schrift sammt der davon schon im
Altertbum veranstalteten lateinischen Uebersetzung oder Bearbei-
tung, um von andern in die Sprachen des Orients übergegangenen
nicht zu reden, bildet nun den eigentlichen Gegenstand der Unter-
suchung, die zunächst mit dem griechischen Texte, dem sogenann-
ten Pseudocallisthenes beginnt, wie wir ihn durch C. MtiUer's Be-
mühungen seit dem Jahre 1846 gedruckt vor uns haben. Vor allem
wird der handschriftlichen Ueberlieferung eine eingehende Unter-
suchung gewidmet: alle die bis jetzt bekannt gewordenen Hand-
schriften werden der Reihe nach aufgeführt und beschrieben , vor
Allem die drei Pariser, welche dem von Müller gelieferten Text
zu Grunde liegen , auch dadurch genauer bekannt geworden sind,
was bei den übrigen Handschriften, welche uns meist nur aus den
Notizen von Berger de Xivrey u. A. bekannt sind, nicht in glei-
chem Grade der Fall ist. Jene drei Pariser Handschriften reprä-
sentiren aber gewissennassen drei verschiedene Recensionen, von
welchen die älteste in der Pariser Handschrift des eilften Jahr-
hunderts Nr. 1711 (A) vorliegt und ist es um so mehr zu bekla-
gen, dass die Handschrift so überaus nachlässig und fehlerhaft
geschrieben ist, dadurch aber der Text an mauchen Stellen ganz
unverständlich ist; die andere, aus jener hervorgegangene Recen-
sion, wie sie in einer andern Pariser Handschrift aus dem
Jahre 1469 vorliegt, Nr. 1685 (B) ist dio jüngere, die manche
Veränderung und Erweiterung erhalten , überhaupt eine jün-
gere Färbung erkennen lässt; ihr nahe stehend und in Manchem
geschmacklos und ungeschickt erweitert ist der Text der dritten
ganz jungen Handschrift vom Jahre 1567 Suppl. Nr. 113 (C), die
in so fern kaum weitere Beachtung verdient. Die übrigen Hand-
schriften zeigen im Einzelnen mehr oder minder bedeutende Ab-
weichungen, die meisten derselben schliessen sich der zweiten jün- *
geren Recension an, welche die verbreitetste gewesen zu sein scheint,
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Zacher: Peendocallisthenes.
und darum von unscrm Verfasser S. 13 als die Vulgata bezeich»
net wird, daher auch Müller wohl Recht hatte, vorzugsweise diese
iii seinem Drucke wiederzugeben. In Manchen noch naher stehend
der alteren, von Alexandria ausgegangenen Ueberlieferung erschei-
nen aber die ältern Uebersetznngen , zuvörderst die Lateinische,
wie sie durch Mai erstmals bekannt geworden und nach einer
andern theilweise davon abweichenden Handschrift auch von Müller
dem griechischen Text beigegeben ist ; wenn auch der in der Auf-
schrift als Verfasser genannte Julius Valerius uns durchaus
unbekannt ist, so lässt sich doch kaum bezweifeln, dass sein Werk
gegen die Mitte des vierten christlichen Jahrhunderts, um 840,
fällt, und in Manchem sogar die ältere Fassung treuer bewahrt
hat, als diess in der eben erwähnten griechischen Vulgata, wenn
wir dieselbe so nennen wollen, der Fall ist. Zu diesem Resultat
gelangt der Verf. insbesondere durch die nicht minder genaue
Untersuchung, welche an dritter Stelle über das sogenannte Iti-
nerarium Alexandri sich verbreitet, dessen Veröffentlichung wir
ja auch den Bemühungen Mai's verdanken. Die Untersuchung geht
genau in alle Einzelheiten des Inhalts ein, welcher in dem bei
weitem grösseren Theile (bis cap. 109) auf Arrianus beruht, wie-
wohl auch in diesem Theile Einiges von Aman Abweichende, mit-
hin aus einer andern Quelle stammende vorkommt: auf dieses, so
wie auf den Inhalt des andern kleinern Theiles von cap. 110 — 120
geht nun insbesondere der Verf. prüfend ein, und ist es ihm ge-
lungen, nachzuweisen, dass Einzelnes in diesem Theile auf den An-
gaben des Julius Valerius beruht und dessen Werk entnommen
ist: damit ist dann auch zugleich der Beweis geliefert, dass das
Itinerariura in der Zeit seiner Abfassung nach Julius Valerius zu
setzen ist, und da nun aus dem Eingang des Itinerariurcr sich er-
gibt, dass dasselbe um 340, oder richtiger nach Letronne, um 345
n. Chr. abgefasst worden, so wird das Werk des Julius Valerius
jedenfalls noch vor diese Zeit gesetzt werden müssen. Mit dieser
Annahme liisst sich auch, wie wir glauben; am ersten die Be-
schaffenheit des Stils, der Sprache und des Ausdrucks vereinigen,
denn dieser ist bei weitem reiner und einfacher bei Valerius ge-
halten, als bei dem sonst jedenfalls ganz unbekannten Verfasser
des Itinerarium, dessen gesuchte und gedrechselte Ausdrncksweise
und Anderes der Art uns allerdings auf eine schon spätore Zeit,
die Mitte des vierten Jahrhunderts, verweist. Ueber die an vierter
Stelle S. 85 ff. besprochene armenische Uebersetzung des Pseudo-
callisthenes, welche von den Armeniern zu S. Lazaro im Jahr 1842
im Druck hei ausgegeben ward, fehlen allerdings nähere Nachrichten,
zumal keine Uebersetzung in andere, alte oder neuere Sprachen
dem armenischen , nur Wenigen verstandlichen Texte beigegeben
ist, indessen hat der Verf. (S. 10) doch so viel eruirt, dass diese
i Uebersetzung, die von den Herausgebern in das fünfte Jahrhundert
verlegt wird, getreu einen griechischen Text wiedergibt, welcher
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864
Zacher: Pseudocallisthenes.
noch zur ältesten alexandrinischen Recension gehörte. Und dasselbe,
setzen wir hinzu, ist auch bei der syrischen Uebersetzung der
Fall, über welche jetzt -eine ausführliche Erörterung von Woolsey
im Journal of the American Oriental. Society. Vol. IV. p. 857 ff. sich
findet, wodurch die von unserm Verf. S. 192 gegebene Notiz ver-
vollständigt wird.
Was nun hiernach der Verf. S. 102 ff. als das Gesammtergeb-
niss seiner Untersuchung über den Pseudocallisthenes vorführt, er-
scheint um so mehr begründet, als auch im Ganzen Müllers Unter-
suchung zu eiuem ähnlichen Ergebniss gelangt. Denn es wird sieb
nicht bestreiten lassen, dass diese mythische Geschichte Alexan-
ders des Grossen in ihrem Ursprung auf Alexandria zurückführt
und von dort ausgegangen ist ; schon der Eingang weist darauf
hin und so Manches Andere, was im Verlauf der Schrift vorkommt;
was aber die Bestimmung der Zeit betrifft, in welche die Abfas-
sung zu verlegen ist, so finden sich in dem griechischen Texte kaum
bestimmte Anhaltspunkte, welche uns leiten könnten : in dem latei-
nischen Texte des Valerius, und zwar in dem der Pariser Hand-
schrift (nicht in dem von Mai veröffentlichen Texte) kommt eine
Berufung auf die navroöanri fatOQt'cc des Favorinus vor, so dass
also die Aufzeichnung jedenfalls nach der Lebenszeit dieses unter
Hadrian blühenden1 Gelehrten stattgefunden haben muss, und hier-
nach werden wir es, in Erwägung, dass ja die lateinische Bearbei-
tung des Valerius noch vor die Mitte des vierten Jahrhundert fällt,
für begründet halten dürfen , wenn der Verf. die Zeit der Abfas-
sung um das Jahr 200 p. Chr. anzusetzen geneigt ist.
Im sechsten Abschnitt S. 108 ff. bespricht der Verf. noch eine
spätere lateinische Bearbeitung des Archipresbyter Leo gegen die
Mitte des zehnten Jahrhunderts, welche nach einem von demselben
aus Konstantinopel mitgebrachten griechischen Text in ziemlich
freier Weise veranstaltet worden ist, und auch im Mittelalter gros-
ses Ansehen und Beifall wie Verbreitung fand, daher auch in zahl-
reichen Handschriften, wie selbst in mehrmaligen Drucken vorliegt.
Der griechische Text, den Leo vor sich hatte, gehört zwar noch
der ältern alexandrinischen Recension an, hat aber auch Vieles aus der
jüngeren Recension aufgenommen. Im nächsten siebenten Abschnitt
(S. 112 — 176) gibt der Verfasser eine genaue Inhaltstibersicht des
Pseudocallisthenes, indem er Buch um Buch, Capitel um Gapitel
durchgeht, und dabei genau angibt, was der älteren oder jüngeren
Recension, was dieser oder jener Handschrift, was dem griechischen
Text und was der lateinischen Bearbeitung angehört. Es ist diess ein
eben so genauer als verdienstlicher Nachweis, der zur Würdigung
und Beurtheilung der ganzen Composition von wesentlichem Belang
ist. Der letzte Abschnitt S. 177 ff. betrifft die Quelle der Trost-
briefe Alexanders an Olympias und der spanischen Alexandreis des
Juan Lorenzo Segura di Astorga, und die (schon oben erwähnte) .
syrische Uebersetzung des Pseudocallisthenes.
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Müller: Geognostische KeDDtnisa der Erzgebirge. 366
Man wird nach dem, was hier für die älteste Aufzeichnung
der Alexander betreffenden Sage, geleistet ist, nur wünschen kön-
nen, dass die Forschung auch weiter fortgesetzt und auf das Mittel-
aller ausgedehnt werde, in welchem diese Sage eine so vielfache
Entwicklung und Verbreitung erlangt hat, bei den romanischen
Völkern, wie bei den germanischen, was die noch vorhandenen
Werke der Art zur Genüge zeigen. Chr. Bahr.
Beiträge zur geognostischen Kenntniss des Erzgebirges. Auf Anord-
nung des königl. sächs. Oberbergamtes aus dem Gangunter-
suchungsarchiv, herausgegeben durch die hierzu bestellte Com-
mission. 77. Heft. Geognostische Verhältnisse und Geschichte des
Bergbaues der Gegend von Schmiedeberg , Niederpöbel, Naun-
dorf und Sadisdorf in der Altenberger Bergamtsrevier von
Carl Herrn ann Müller, königl. Ober einfahr er. Mit einer
colorirten Karte und zwei Holzschnitten. Freiberg. In Commis-
si bei Craz und Qerlach. 1867. 8. S. 72.
Die Umgebungen von Schmiedeberg, Niederpöbel, Naundorf
und Sadisdorf umfassen auf dem kleinen Raum einer Viertelquadrat-
meile ein Gebiet, das seiner geologischen Verhältnisse wegen von
besonderem Interesse ist und ehedem, zumal im 16. Jahrhundert
durch einen ergiebigen Bergbau noch grössere Bedeutung besass.
Ein Blick auf die schöne und sehr detaillirte geognostische
Karte zeigt, dass Gesteine der jüngern Gneiss-Formation
vorherrschen. Es sind zunächst amphotere Gneisse, die in
verschiedenen Abänderungen auftreten. Unter diesen erscheinen in
der Gegend zwischen Obercarsdorf, Naundorf und Sadisdorf klein-
körnig-schuppige amphotere Gneisse, bestehend aus einem weissen
oder gelben plagioklastischen Feldspath, aus weissem oder röthlich-
weissem Orthoklas, graulicbweissem Quarz, kleinen Schuppen von
braunem oder schwarzen Maguesiaglimmer und weisslichem bis
braunen Kaliglimmer, welche Schuppen, zwischen dem körnigen Ge-
menge aus Feldspath und Quarz angeordnet, hauptsächlich die Schie-
ferung des Gesteins bedingen. Diese Varietät geht in eine andere
über, in mittelkörnigen, feldspatreichen amphoteren Gneiss, indem
der Magnesiaglimmer sich nur in vereinzelten 8chuppen einsteilt.
Eine dritte Varietät ist der langgestreckt flaserige und schmal-
streitige amphotere Gneiss, in welchem der Magnesiaglimmer in
linearen, höchstens eine Linie breiten, aber oft 2 bis 3 Zoll lan-
gen parallelen Flasern angeordnet ist. Endlich kommt noch eine
eigenthümliche Varietät vor, der grobflaserige amphotere Augen-
gneisa, In einem, aus plagio- und orthoklastischem Feldspath und
grauen Quarz bestehenden Gemenge liegen erbsen- bis haselnuss-
grosse Knoten (sog. Augen) von, nicht selten in Zwillings-Individuen
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366 Müller: Geognostische Kenntniss der Erzgebirge.
ausgebildeten Orthoklas, um welche sich die Flasern von Magnesia-
glimmer in der Art anschmiegen , dass auf dem Hauptbruch des
Gesteins vorwalten diese unebenen Glimmer-Partien, auf dem Qner-
bruch aber die Feldspath-Knoten zum Vorschein kommen. — Auster
diesen verschiedenen amphoteren Gneissen treten nun noch uud
zwar in ansehnlicher Verbreitung rothe Gneisse auf, bestehend
aus plagio- und orthoklastischem Feldspath, aus Quarz und Kali-
glimmer. Der Verf. unterscheidet zwei Abänderungen. Quarz- und
feldspathreicher rother Gneiss ; der weisse Kaliglimmer ist in das
faldspathig-quarzige Hauptgemenge nur in einzelnen kleinen Schup-
pen eingestreut und verleiht durch seine parallele Anordnung dem
ganzen nur eine unvollkommen schieferige Textur. Glimmerrcicher
rother Gneiss ; auf seinem Hauptbruch ist fast nur weisser Kali-
glimmer in kleinschuppigen Aggregaten sichtbar, während auf dem
Querbruch noch Feldspath und Quarz vorwalten. — Die verschie-
denen Varietäten des amphoteren und rothen Gneisses sind selten
scharf geschieden, vielmehr durch allmählige Uebergänge mit ein-
ander verbunden. Wenn sie auch sämmtlicb, als entschieden erup-
tive Gesteine eine eigentliche Schichtung nicht besitzen, so lassen
sie doch deutlich eine lagenförmige Absonderung und Gliederung
erkennen und machen es hiedurch möglich , sich ein ungefähres
Bild von der inneren Architectur der Massen zu entwerfen.
Im Gebiete der Gneiss-Formation erscheinen verschiedene unter-
geordnete Gebirgsglieder. Es sind dies Glimmerschiefer,
Thonschiefer, Wetz schiefer und Grauwacke, die an
mehreren Orten inmitten der amphoteren und rothen Gneisse auf-
treten. Es ist nicht zu bezweifeln, dass dieselben als insularische
Schollen oder bruchstückeartige Einschlüsse von Resten der einst
in dieser Gegend verbreitet gewesenen, bei dem eruptiven Auftre-
ten der jüngeren Gneisse aber grösstenteils zerstörten oder zer-
stückelten älteren Schiefer- und Grauwacke-Formation anzusehen
seien. Dafür spricht auch der Umstand, dass man nicht selten
Bruchstücke der älteren Gesteine, von Gneiss umschlossen beob-
achtet hat.
Auch oruptive Massen erscheinen im Gebiete der Gneiss-
Formation. So tritt Grünstein (Diorit) in mehreren Felsparthien
zu Tage. Noch häufiger ist aber Felsitporphyr, der in zwei,
petrographisch und auch wohl geologisch verschiedenen Varietäten
getroffen wird. Die eine bezeichnet der Verf. als G a n g p o r p h y r ;
in fleisch- oder gelbiich-rother Felsitmasse liegen Krystalle und
Kürner von Quurz nebst Krystallen (oft Zwillinge) von Orthoklas,
denen sich noch kleinere von Oligoklas beigesellen, die meist zu
Kaolin umgewandelt sind. Man kennt iu dem geschilderten Ge-
biete drei Züge von solchen Porphyr-Gängen. Die einzelnen Gänge
sind 1 bis 4, selten bis zu 10 Lacbter mächtig und verfolgen meist
die Streichrichtung von N. 0. gegen S. W. — In der Form mäch-
tiger Decken auf den Höben des Gebirges ö. und s. von Scbmiede-
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Müller: Geognostlsche Kenntniss der ErzgeMrge. 867
berg und bei Niederpöbel erscheint ein jüngerer Felsitporphyr, den
der Verf. als Deckenporpbyr bezeichnet. In einer braunrothen
oder grauen Felsitmasse liegen sparsam Körner von Quarz und
kkine Krystalle von Orthoklas, so wie Blättchen schwarzen Glim-
mers. Dieser Porphyr zeigt häufig eine bank- oder plattenförmige
Absonderung. Er ist wohl jüngeren Alters als der Gangpor-
phyr ; denn man kann nie die Gänge des letzteren in das Gebiet
des deckenartig verbreiteten Porphyrs verfolgen und hat ausserdem
an einer Stelle (beim Schmiedeberger Eisenhüttenwerk) Gelegen-
heit viele bis kopfgrosse Bruchstücke eines mit dem Gangporphyr
übereinstimmenden Gesteins in dem Deckenporphyr zu beobachten.
Die Erzgänge, welche in früheren Zeiten einen so bedeu-
tenden Bergbau ins Leben gerufen hatten, gehören theils der kie-
sigen Kupfer- und Bleiformation, theils der Zinnformation an.
Die Gänge der kiesigen Kupfer- und Bleiformation
trifft man hauptsächlich imGebiete des amphoteronGneis-
ses bauwürdig ausgebildet. Eine Ausnahme hievon machen die
Kupfer- und Bleigänge im Eulen- und Löwenberge bei Niederpöbel,
die im Bereiche des rothen Gneisses liegen, in dem aber
auch hier die oben erwähnten Schollen von Glimmer- und Thon-
schiefer auftreten, deren Anwesenheit durch die hiebei obwaltenden
Contact- Verhältnisse wohl nicht ohne günstigen Einflnss auf die
bauwürdige Entwickelung der Erzgänge war. Die Gänge der kie-
sigen Kupfer- und Bleiformation enthalten als wesentliche Bestand-
teile : Quarz, krystallinisch oder hornsteinartig ; Flussspath, meist
violett. Chlorit, feinschuppig oder erdig ; Kupferkies, Arsenkies und
Eisenkies, sämmtlich silberarm ; Blende von schwarzer Farbe ; klein-
blätterigen Bleiglanz, gewöhnlich mit 3 bis 5, selten bis 12 Pfund-
theilen (zu 5 Gramm) Silbergehalt im Centner. Als mechanisch
beigemengte Bestandteile enthalten die Gänge in reichlicher Menge
thonigen Letten und zersetzten, oft chloritischen Gneiss. Baryt,
Braun- und Kalkspath treten theils in Nestern, theils als selbst-
ständige Trümer neben oder in der anderen Gangmasse auf. Ge-
wöhnlich kommen die Erze, namentlich Kupferkios und Bleiglanz,
gemengt mit den übrigen Gangbestandtheilen oder darin einge-
sprengt war; seltener finden sie sich, zumal auf Schaarkreuzen mit
Trümern oder anderen Gängen, in derben Massen. Die Mächtigkeit
der Kupfer- und Bleigängc ist gering, zwischen 6 und 24 Zoll
schwankend, selten wächst sie bis zu % Lachter an.
Die Gänge der Zinnformation sind auf das Gebiet
des rothen Gneisses beschränkt. Sie enthalten als wich-
tigste Bestandtheile : Quarz , krystallinisch oder hornsteinartig ;
Flussspath von violetter oder pflaumenbrauner Farbe ; Chlorit, fein-
schuppig bis erdig; Glimmer in kleinen Biättchen von graulich-
weisser Farbe ; Zinnerz , gewöhnlich fein eingesprengt in Quarz,
selten in derben Nestern und Graupen; Kupferkies, Arsenkies und
Eisenkies stellen sich gewöhnlich eingesprengt, selten derb ein;
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868 Müller: Geognostlache Kenntnisa des Erzgebirges
endlich zersetzter Gneiss uud Letten. Die Mehrzahl dieser Gänge
besitzen eine geringe Mächtigkeit von 2 bis 5 Zollen die nur bei
einigen zu 1 bis 3 Lachter ansteigt. Im Allgemeinen verfolgen
sie dieselben Streich-Dichtungen , wie die Gänge der Kupfer- und
Bleiformation ; d. h. einestheils und in der Mehrzahl das Streichen
in Stunde 1,4 bis 3,0 bei Fallen nach S. 0. oder S. ; anderntheils
bei Streichen in Stunde 9,0 bis 12,0 mit Fallen nach N. 0. Die
Gänge der Zinnformation lassen in ihrer Ausfüllung den charakte-
ristischen Typus der Zinngänge anderer Districte des Erzgebirges
vermissen , indem sie fast nie ohne Beimengung von Kiesen ge-
troffen werden. Zuweilen stellt sich aber auf denselben Kupferkies
so häufig und Uberwiegend ein, dass sie richtiger als Kupfergänge,
denn als Zinngänge zu bezeichnen sein würden. Da nun in der-
artigen Gangregiouen noch Arsen- und Eisenkies, selbst Blende
und Bleiglanz mit einbrechen, so kann man darin einen wirklieben
Uebergang des mineralogischen Typus der Zinnformation in den
der kiesigen Kupfer- und Bleiformation erkennen. Solches ist
namentlich der Fall bei den Gängen des Zinn- und Kupferstock-
werkes der Kupfergrube bei Sadisdorf. Dasselbe erscheint als ein
Knotenpunkt vieler unter verschiedenen Richtungen sich kreuzen-
der Gänge, denen sich noch einige erzführende Lager und Flotze
beigesellen. — Zwischen den Gängen der kiesigen Kupfer- und
Bleiformation und denen der Zinnformation findet im Allgemeinen,
weder in ihrer Ausfüllungsmasse noch in ihrer räumlichen Verbrei-
tung eine scharfe Grenze statt. Beide dürften daher nur als ver-
schiedene Entwickelungs-Typen einer und derselben Gangbildung
zn betrachten sein.
Den Schluss vorliegender Schrift bilden geschichtliche Nach-
richten über den Bergbau bei Schraiodeberg , Niederpöbel, Naun-
dorf und Sadisdorf, den Acten der Berglimter von Freiberg und
Altenberg entnorameu. Wie oben bereits bemerkt war die Glanz-
epoche des Bergbaues im seebszehnten Jahrhundert; durch den
dreissigjährigen Krieg kam er zum Erliegen und es wurden seit-
dem nur wenige, meist erfolglose Versuche der Wiederaufnahme
gemacht. G. Leonhard.
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Ir. 24. HEIDEIBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Deutsches Heldenbu ch. Theil 7. Biter olf und Dieüeib heraus-
gegeben von Oskar J änic ke. Laurin und Walberan mit
Benutzung der von Frans Roth gesammelten Abschriften und
Vergleichungen. Berlin 1867, LVI11. 308 8. 2 Thlr. 20 Sgr.
Obscbon Referent an dem hier zn besprechenden Unternehmen
betheiligt ist, indem er den II. Band dieses Heldenbuchs heraus-
gegeben hat, so glaubt er doch dasselbe anzeigen und empfehlen
zu dürfen.
Dies Ueldenbuch soll die Dichtungen aus dem Kreise der deut-
schen Heldensage, von welchen bisher meist nur Abdrücke einzel-
ner Handschriften , zuweilen gerade nicht der besten , vorhanden
waren, in gleicbmässiger kritischer Bearbeitung zusammenstellen,
durch die beigegebenen Einleitungen die Stellung der einzelnen Ge-
dichte innerhalb der altdeutschen Literaturgeschichte angeben, und
durch die Anmerkungen den etwaigen Gewinn für die Kenntnis
des mittelhochdeutschen Sprachgebrauchs, namentlich des epischen
zusammenfassen. Ausgeschlossen wurden die bereits in muster-
gültigen Ausgaben vorliegenden Werke: die Nibelungen und die
Klage, sowie das Gedicht von der Kudrun, welches eine eigentlich
ekkyklische Sage behandelt und wegen seines poetischen Wertes
schon öfters besonders herausgegeben worden ist und vielleicht noch
herausgegeben werden mag. Mit diesen Gedichten bildet das neue
Heldenbuch eine vollständige Bibliothek des Volksepos, welche die
Entwicklung dieser Gattung, soweit es die auf uns gekommenen
Denkmäler gestatten, nach jeder Richtung hin übersehen lässt und
— verstärkt durch die nordische Tbidreksaga — die deutsche
Heldensago des XII. — XIV. Jahrhunderts, der eigentlich mittel-
hochdeutschen Zeit enthält.
Der nun vorliegende I. Band enthält zwei Gedichte , welche
durch das gemeinsame Versmass, die kurzen Reimpaare sowie durch
die nicht sehr verschiedene Zeit der Abfassung einander nahe stehn.
Beide können, wenn auch aus verschiedenen Gründen höchst wich-
tig genannt werden. Der Biterolf stammt aus der Heimat und
aus der Schule des echten Volksepos, aus der auch die Nibelungen
und die Kudrun hervorgingen. Der Dichter hat aber, was sein
Werk von jenen scharf unterscheidet, die Grundzüge seines Stoffes
erfunden und dabei die höfischen Erzählungen nachgeahmt, trotz-
dem jedoch die Einzelheiten der echten, noch unverfälschten und
nnverwirrten Volkssage entlehnt. Indem er bei einem willkürlich
angenommenen Anlasse fast sämmtliche Helden der Sage versam-
LIX. Jahrg. ö. Heft. 24
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370
Deutsches Heldenbuch. I.
xnelt, und dabei doch ihre Verhältnisse zu einander unverändert
aus der echten Ueberlieferung entnimmt, bietet er eine wahrhafte
Fundgrube für den Forscher, der die Spuren der Sage sonst oft
nur dunkel und zerstreut findet. Zu diesem Interesse des Inhalts
kommt noch eines der Form. Stil und Verskunst verbinden die
gegen Ende des XII. Jahrhunderts aufgekommene glatte feine Form
der höfischen Erzählung mit Eeminiscenzen aus der älteren und
schlichteren Volksdichtung. Ich erinnere nur einerseits an die vielen
Fremdwörter, welche der Herausgeber S. XXV. gesammelt hat,
andererseits an die S. XXIV. zusammengestellten epischen Aus-
drücke, an die Reime degene: Rabene u. a. S. X, die alten For-
men äbunt, verseröt, minnist u. s. w. (ebenda).
Diese Sammlungen, welche durch die zahlreichen in den An-
merkungen nachgewiesenen Parallelstellen fortgesetzt werden, sind
ein besonderes Verdienst des Herausgebers. Jähnicke hat schon
früher den Sprachgebrauch Wolframs in höchst nutzbringender
Weise behandelt, wobei namentlich die ausdrückliche Hervorhebung
der Hauptschriftwerke, in welchen ein Ausdruck sich nicht findet,
lehrreich war. An diese früheren Arbeiten schliessen sich die An-
merkungen zum Biterolf würdig an.
Zur Kennzeichnung des Stiles und Tons dient besonders die
Vergleichung mit zwei anderen Gedichten, einmal mit der formell
verwandten Klage, zweitens mit dem im Inhalt merkwürdig an den
Biterolf erinnernden Rosengarten. Jene Uebereinstimmung des
Biterolf mit der Klage ist so bedeutend, dass W. Grimm in seiner
deutschon Heldensage beide Gedichte einem Verfasser zuschreiben
wollte und Lachmann in den Anmerkungen zur Klage ihm darin
beistimmte. Jähnicke führt die gemeinsamen Punkte genau und
tibersichtlich vor. Aber er weist auch nicht wenig abweichendes
nach, und entscheidet sich zuletzt gegen die Annahme des gemein-
samen Ursprungs, weil der Biterolf eine viel ausgedehntere Sagen-
kenntnis und eine viel geschicktere Darstellung zeigt. In Bezug
auf den Rosengarten aber meint er, dass dieser die Züge, die ihm mit
dem Biterolf gemeinsam sind, namentlich Dietrichs Weigerung mit
Siegfried zu kämpfen und seine Ueberredung durch Hildebrand,
wahrscheinlich aus dem Biterolf entlehnt hat, so dass der Rosen-
garten nur eine derbe, volksthümliche Wiederholung der Kämpfe
zwischen Burgunden und Amelungen wäre.
Auch für die innere Kritik des Biterolf bietet die Ausgabe
Jähnickes einige neue Resultate. Vollkommen sicher scheint der
Nachweis, dass der Eingang des Gedichts bis v. 1988 erst später
zugesetzt worden ist : die darin erzählte Fahrt Biterolfs ist der im
Hauptgedichte beginnenden seines Sohnes Dietleib nachgebildet.
Als Heimat des Gedichts ward Steiermark festgehalten und
als Entstehungszeit das erste Jahrzehnt des XHI. Jahrhunderts.
Als Beweis wird unter anderem auch die Beziehung des Berhtolt
von Swaben (gräve von Elsäzen) auf Berthold von Zaeringen 1186
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DeutBchee Heldenbuch. I.
371
bis 1218 geltend gemacht. Mag dies auch richtig sein, so glaube
ich doch eine daran geknüpfte Bemerkung anfechten zu müssen.
S. XXVII: »Sodann muss Kudr. 744, 2 daz man da ze Swaben
solhez nie gewan auf Berthold V. von Zaeringen bezogen werden,
3. Wack. Litt. §. 43, Anm. 61.« Ich will dagegen nicht geltend
machen, dass Berthold vom Abt Burkhard von Ursperg avarissi-
nras et omni iniqnitate plenus genannt wird (Stalin, Wirtemb.
Gesch. 2, 298) ; denn Berthold konnte recht gut Habsucht und
Uebermuth gegen die Geistlichkeit, namentlich die ihm feindliche
staufische mit Freigebigkeit gegen Dichter, ritterliche und fahrende,
verbinden. Aber der Ausdruck ze Swaben scheint mir zu allgemein,
als dass er auf Berthold bezogen werden müsto; ja er dürfte
überhaupt nur durch den gesuchten Cäsurreim auf gäbe veranlasst
sein. Will man aber an ein bestimmtes Factum denken, so könnte
auch etwa ein Fest gemeint sein, wie z. B. auf dem Günzenle bei
Augsburg (dem auch Bit. 5745 erwähnten und als ze Swaben be-
ieichneten) mehrere gefeiert wurden. So namentlich die Schwert-
leite und Vermählung des späteren Königs Philipp 1197, deren
Pracht noch lange in der Erinnerung der Dichter blieb, s. Titurel
1505 (Hahn). Auch Reichstage, bei denen die Fahrenden eben-
falls anwesend zu sein pflegten, s. Walther 84, 18, fanden mehr-
fach dort statt: 1209. 1236 (s. Pfeiffer, Germ. 1, 83). Es wird
also der Ausdruck ze Swäben nicht als Zeitbestimmung für die
Abfassung der Kudrun verwandt werden können.
Der Text des Gedichts von Biterolf ist zum ersten Mal aus
der handschriftlichen Uoberlieferung in das reine Mittelhochdeutsch
übertragen. Dabei sind Verbesserungen in grosser Anzahl vorge-
nommen worden, die fast durchaus überzeugend Bind. 9982 scheint
jedoch nicht richtig emendirt zu sein: und bite daz niht zürnen
mich min neve und ouch der vater sin; zürnen regiert nur den
Accusativ der Sache, nicht den der Person. Das an der Hand-
schrift ist beizubehalten und mit Umstellung des niht zu schrei-
ben: und bite daz zürnen niht an mich u. s. w. Auch 2127: wä
von? cz dühte si ze frno ist anstössig. Die an sich ungewöhnliche
Frage als Einleitung zur Begründung tritt hier mit einem ganz
nnnöthigen Nachdruck ein. Vielleicht ist zu lesen: wan ez dühte
si ze fruo.
Während nun der Text des Biterolf auf einer einzigen, aber
gnten Handschrift beruht, die Textesherstellung also auf einfache
Grundsätze angewiesen ist, ist das andere Gedicht, der Laurin
in einer Weise überliefert, welche der Kritik eine der allerschwie-
rigston Aufgaben stellt und die Lösung der Aufgabe als eine ausser-
ordentliche Leistung erscheinen lässt. Hier sind über 10 Hand-
schriften und dazu mehrere Drucke zu berücksichtigen ; aber keine
dieser Handschriften kann als eiue irgend sorgfältige und zuver-
lässige Quelle bezeichnet werden. In ihnen allen ist in hohem
Grade die lebendige Weiterbildung des Textes zu erkennen, wie sie
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372
Deutsches Heldenbueh. I.
die im späteren Mittelalter beliebten Werke mehr oder weniger
durchgängig erlahren haben. Während nun bisher einzelne Hand-
schriften abgedruckt worden waren, ist jetzt auf Grundlage des gan-
zen, von Franz Eoth gesammelten und mit rühmenswerter Be-
reitwilligkeit zur Bearbeitung überlaseenen Apparates nach Auf-
stellung bestimmter kritischer Grundsätze ein Text hergestellt, der
zum ersten mal ein wirkliches Verständnis , einen wirklichen Ge-
nuas des Gedichts erlaubt. Die Ueberlieferung ist nunmehr in fol-
gender Weise zu tibersehn. Wir haben zwei Handschriftenclassen,
die einen aus Baiern und Oestreicb stammend, die andren ans
Mitteldeutschland. Erstere Classe wird durch eine Kopenhagener
Handschrift , die andere durch eine Pommersfelder am besten ver-
treten. Charakteristisch für die Verschiedenheit beider Classen ist
der Anfang, der in der ersteren lautet : Ez was ze Berne gesezzen,
in der anderen: Ze Berne was gesezzen. Aber selbst untor den
Handschriften der ersteren Classe hat die Kopenhagener ganz allein
den vollständigen Schluss des Gedichts, welchem noch eine Fort-
setzung, das Gedicht von Walberan angehängt ist. In den übri-
gen Handschriften sind die von 1601 ab folgenden Verse deutlich
als abgekürzter, mangelhafter Ersatz für den ursprünglichen Aus-
gang zu erkeunen. Das Gedicht von Walberan gibt sich durch
Beim, Ausdruck, Erfindung als ein Werk etwa von 1300 kund;
auch das vorhergehende von Laurin geht aus allen Handschriften
mit einer Reihe von Freiheiten hervor, welche dieser Zeit anzuge-
hören scheinen. Andere Eigentbümlichkeiten des Laurin weisen
dagegen auf eine weit frühere Zeit, auf die Spielmannspoesie, welche
in der zweiton Hälfte des XII. Jahrhunderts mehrfache Bearbei-
tungen der Heldensage geliefert hat. Das Resultat ist also, dass
das Gedicht sohon vor 1200 gedichtet, dann das ganze XIU. Jahr-
hundert hindurch durch einzelne Handschriften überliefert ward und
um 1300 eine neue Umarbeitung und zugleich die Fortsetzung durch
den Walberan erfuhr. Die meisten Abschriften — alle bis auf die
Vorlage der Kopenhagener — liessen diose schlechte Fortsetzung
weg, verstümmelten aber auch zugleich den Schluss.
Dass unter diesen Verhältnissen der Laurin nicht durchaus auf
die älteste Gestalt zurückgeführt werden konnte, ist selbstverständ-
lich. Es sind bei der Umarbeitung des Gedichtes um 1300 un-
zweifelhaft manche alte Formen und Reime unwiderbringlich ver-
loren gegangen. Aber das Gedicht liest sich jetzt doch ganz anders
als es früher aus den fehlerhaften Einzelhandschriften herausstndirt
werden konnte.
Ebenso wie die Ueberlieferung und Verbreitung des Gedichts
liegt nun auch die der Sage offen. Es ergibt sich, dass eine Tiro-
ler Zwergensage wahrscheinlich von dem Dichter des Laurin zuerst
mit der Sage von König Dietrich von Bern verbunden worden ist ;
dass ^ diese anmutigste und glücklichste Schöpfung der freieren
Spielmannsdichtung c auf das Epos aus dem zweiten Viertel des
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Rnbin'B Gedichte von Zupitea.
XIIT. Jahrhunderts, den Ortnit , den Wolfdietrich, die Gedichte
Albrecbts von Kemenaten eingewirkt hat; vor allem aber auf den
Rosengarten, in welchem z. B. eine Hauptfigur, der Mönch Ilsan
auf eine Person des Laurin zurückzuführen ist ; ja die Idee des
abgegrenzten Rosengartens überhaupt stammt ans diesem Gedicht.
Später, im Gedicht vom Wartburgkriege, wird Laurin selbst in die
Sage von Dietrich's Verschwinden verflochten.
Die auf den Text des Laurin folgenden Anmerkungen betref-
fen hauptsächlich das Verhältnis der mehrfach umgearbeiteten
Drocke zu den Handschriften, sowie die Uebereinstimmungen des
Stiles mit verwandten Gedichten. Ernst Martin.
Rubins Gedichte kritUch bearbeitet von Jul Zupitza. Oppeln 1867.
S. XU. 86.
Es ist eine recht dankbare Aufgabe, die kritischen Grundsätze,
welche die Meister der altdeutschen Philologie an den wichtigern
Lyrikern, an Walther, Neidhard, an den Lioderdichtern des Xn.
Jahrhunderts gefunden und geübt haben, nun auch auf die minder
hervorragenden Dichter anzuwenden. Dies ist in der vorliegenden
Sonderausgabe Rubins mit Sorgfalt und Liebe geschehen und mit
dem besten Erfolg. Rubin verdiente diese Arbeit durchaus. Zwar
bewegt auch er sich fast ausschliesslich auf dem etwas einförmigen
Gebiete des Minnesangs; allein zwei Lieder vom Kreuzzuge 8,1
and 22,12 erwecken noch ein weitergehendes Interesse ; und ebenso
ist das Tagelied 19,28 ein ganz hübscher Beitrag zu dieser Art
der Lyrik, welche durch ihren mehr erzählenden Inhalt uns mehr
anspricht als die übrige blos Gedanken und Gefühle aussprechende
Minnedichtung. Eineu besonderen Werth hat Rubin als Nach-
ahmer Walthers : wir können an ihm wie an einigen anderen Dich-
tern den Einfluss beobachten , den Walther wie jeder bedeutende
Dichter auf die Nachfolger in seinem Fache' geübt hat. Der Her-
anggeber hat eine Reihe von fast wörtlich entlehnten Versen nach-
gewiesen. Vielleicht hätte er hier noch etwas weiter gehen und
auch einige Gedanken Rubins als entlehnt bezeichnen dürfen. Wenig-
stens kommt Rubin 23,1 — 4 das Geständnis einen Menschen mehr
zu lieben als den andern und die Anforderung, dass Gott diese
Sünde vergeben möge, nahe heran an Walther 26,10 — 12. Auch
Rubin 22,10: das beste Mittel gegen Traurigkeit sei schöne Frauen
zu sehen und ihre Schönheit zu loben, erinnert stark an Walther
42,15 fg. Doch sind diese Verhältnisse der Nachahmung überhaupt
schwer mit Sicherheit zu begränzen.
Sehr angemessen hat Zupitza das kleine, an Inhalt und Form
gleich zierliche Buch als eine Gelegenheitsschrift erscheinen lassen,
alg Glückwunsch zu dem fünfundzwanzigjährigen Doctorjubiläura des
Prof. Müllenhoff in Berlin. Ernst Martin.
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874 Fichte: Die Seelenfortdauer.
Die Seelenfortdauer und die Weltstellung des Menschen. Eine anthro-
pologische Untersuchung und ein Beitrag zur Religionsphilo-
sophie wie zu einer Philosophie der Geschichte. Von Im ma-
nuel Hermann Fichte. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1867.
L und 466 S. gr. 8.
Kant hatte in seiner Kritik der reinen Vernnnft gezeigt, dass
die hergebrachte rationale Psychologie nur durch Paralogismen oder
Fehlschlüsse der reinen Vernunft auf eine für sich bestehende Seelen-
substanz komme, dass sie nur durch Paralogismen die so genannte
Seele zu einem Seelendingo mache mit dem Attribut der Immate-
rialität, zu einer einfachen Substanz mit dem Attribut der Incor-
ruptibilität, zu einer numerisch identischen intellectuellen Substanz
mit dem Attribut der Personalität, zu einem raumlos denkenden
Wesen mit der Eigenschaft der Unsterblichkeit. Die Seeleufrage
wurde im vorigen Jahrhunderte durch die deutsche Aufklärungs-
periode ein wichtiger Gegenstand einer freilich sehr oberflächlichen
Untersuchung, da der subjective Charakter dieser Philosophie sich
nur in der beschränkt praktischen Beziehung auf die menschliche
Persönlichkeit, ihren Nutzen oder Vorthoil geltcud machte. Die
neuere Philosophie verhielt sich in der Form der Hegel'schen
Dialektik und im Systeme des Materialismus der Seclenfrage gegen-
über rein negativ. Nach dem Systeme der absoluten Idee ist das
wahre Sein allein das reiue, allgemeine Sein, alles Einzelseiu ist
ein nichtiges, entstehendes und verschwindendes, in das Nichtsein
immer wieder übergehendes Sein. In dieser Psychologie erscheint
nur der allgemeine Geist, der Menschheits-, Rassen-, Volks-, Ge-
meinde- Familiengeist als der wesenhafte, der Einzelgeist als der
nichtige Durchgangspunkt, als das vorübergehende, auf- und nieder-
tauchende Element des allgemeinen Geistes, welcher allein das
Wesenhafte, Dauernde, Unsterbliche in den vorübergehenden Einzel-
geistern ist. Bei Schopenhauer ist uns die Wolt als vorstellenden
Subjecten Vorstellung. Das An sich ist der Wille. Die Abtödtung
desselben im Einzelleben führt zur Seligkeit, dem reinen Nichts.
Das Aufhören unseres Bewusstseins ist ihm das grösste Glück;
denn das Bewusstsein giebt uns den Schein einer trügerischen Welt
und kettet uns an die erbärmliche Objectivation des Willens, in
welchem der baroke Denker eher den Teufel als Gott erblickt.
Nicht im Einzelgeisto, sondern in der Negation desselben besteht
das Wesenhafte, Dauernde. Auch der Materialismus hat einen ähn-
lichen negativen Zug der Seelenfrage gegenüber. Die SeelenthHtig-
keit ist die mechanische Hirn- und Nervonbewegung. Die Seele
ist ebenso wonig als der Geist ein besonderes, für sich bestehen-
des Wesen. Da es zur Modekrankheit geworden ist, im Allge-
meinen, also im Abstracten, nirgends als in unserm denkenden
Intellect oder in unserer Phantasie Existirendon das Wesenhafte
zu sehen und (Jas Einzelne als eine im Ocean des Lebens auf- und
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Fichte: Die Seclenfortdauer.
375
abtanchende, verschwimmende und verschwebende Welle zu betrach-
ten, da es, wie gesagt, zur Mode geworden ist, eine gegenteilige
Ansicht für eine Art von theologischer Beschränktheit zu halten,
so ist es wohl immerhin eine schwierige Arbeit, in einer Zeit, in
welcher man vom idealistischen und realistischen Standpunkte zu
demselben negativen Resultate gelangt, welche ungeachtet aller son-
stigen Vorzüge, zumal in der Erforschung der Natur und Mecha-
nik, vorzugsweise nur dem Greifbaren und dem Genüsse zugewen-
det ist, wo ein ursprünglicher Idealist (L. A. Feuerbach) endlich
zu dem Schlusssatze kommt : Der Mensch ist , was er isst , gegen
den Strom zu schwimmen und durch sorgfältige und mühsame
Forschungen zu einem der Modephilosophie entgegengesetzten Er-
gebnisse, der Seelenfortdauer, zu gelangen.
Das Zerstören ist leichter, als das Aufbauen, und darf nie des
blossen Zerstörens wegen statt finden, sondern lediglich und allein
in dem Zwecke, an der Stelle des Zerstörten ein dauerhafteres und
besseres Gebäude zu gründen. Freilich ist ein solches nicht leicht
zu errichten. Nur langsam und mit Mühe baut man auf. Man
bat die Wahrheit nicht ; man strebt nach ihr. Kant hat die Fort-
dauer der Seele mit persönlichem Bewusstsein als ein Postulat der
praktischen Vernunft oder als eine unbedingte Forderung unseres
sittlichen Vernunftglaubens betrachtet. Die Nachfolger wollen sich
dadurch über ihn stellen, dass sie den Schluss für folgerichtig hal-
ten: »Ich weiss nicht, ob die Seele sterblich oder unsterblich ist,
also weiss ich, dass sie nicht unsterblich ist.« Die Seelenfortdauer-
Frage ist für die Wissenschaft immer noch eine offene Frage. Die
Behauptungen der Negation sind keineswegs überzeugend und haben
es über das Bereich des Zweifeins oder Bedenkens nicht gebracht.
Mit Freuden wird darum der Unbefangene die Forschungen der-
jenigen begrtissen, welche die bisher von der Wissenschaft vorge-
brachten Zweifel zu zerstreuen und neue Ueberzeugungsgründe für
den Unsterblichkeitsglauben aufzustellen versuchen. Zu diesen Wer-
ten gehört das vorliegende, die Frage der Seelenfortdauer allseitig
Tom Standpunkte der Anthropologie, Psychologie, Ethik, Religions-
pbilosophie, Naturwissenschaft und Geschichte beleuchtende, in
schöner, edler Diction geschriebene und vielfach durch sinnvolle
and geistreiche Bemerkungen die Zweifel der Unsterblichkeitsgegner
widerlegende Buch des auch in den weitesten Kreisen unseres
Vaterlandes rühmlichst bekannten Herrn Verfassers.
Der Herr Verfasser, welcher, wie einst sein grosser Vater, mit
einer patriotischen und politisch freien Weltanschauung einen tiefen
religiösen und von jedem blinden Autoritätsglauben des Kirchen-
tbum8 freien Sinn verbindet, lehnt sich in seinen Untersuchungen
an die von ihm früher erschienenen Werke über Anthropologie
(2. vermehrte Auflage), über Psychologie und Ethik an und beruft
ficb darum häufig in der weiteren Ausführung auf dieselben. Doch
das vorstehende Werk, auch davon abgesehen, ein für sich be-
Digitized by Google
37G
Fichte: Die Scelenfortdaner.
stehendes, dnrch sich allein verständliches, nicht nur mit wissen-
schaftlichem Ernste, sondern selbst mit Begeisterung geschriebenes,
den gebildeten unbefangenen Leser vielfach anregendes Buch.
In der Einleitung wird auf die Spannung in den Gegensätzen
der Zeit hingewiesen. Es sind Extreme, die sich gegenüber stehen,
mit denen man sich nicht befreunden kann. >Was die Kirche uns
zu glauben gebietet, heisst es S. V, kann nicht mehr geglaubt
werden in dieserForm und Fassung; denn es steht im Wider-
streit mit der Verstandesbildung unserer Zeit, die sich eben nicht
mehr gefangen nehmen lässt im Glauben Soll durch Glaubeus-
auetorität die Kirche gerettet werden, so ist ihre Macht für immer
dahin. < Aber auch »in der landläufigen Wissenschaft auf den
literarischen Märkten« findet der Herr Verf. die »Weisheit« nicht,
sondern viel »Hohles« und »Leeres«, von dem »oberflächlichsten
Anschein der Dinge obenhin Abgeschöpftes.« Die durch die Ne-
gation der Wissenschaft hervorgerufene »Repristination der Gläu-
bigkeit«, wie sie häufig jetzt zu Tage tritt, führt noch weniger zu
einem befriedigenden Resultate. Sio ist »ein vorübergehender, künst-
lich herbeigeführter Zwischenzustand«, ein »ungenügendes Surrogat
für eine tiefer befriedigende , alle Conflicte lösende Erkenntnis,
welche dem Glauben seine wissenschaftliche Erprobung, ohne Zwei-
fel dadurch auch Läuterung hinzufügt.« Auch die »geheiligten
Auctoritäten ziehen den kürzeren vor der ewig regen, von allen
Seiten anstürmenden Macht des freien Gedankens.« Die jetzt von
gewissen Seiten beliebte »Vermittlung zwischen einer gewissen
dogmatischen Auffassung der Religion und einer eben so zeitweisen
philosophischen Bildung« ist nur eine »halbe und darum unge-
nügende Auskunft«. Die Theologie ist »wesentlich historische Wis-
senschaft«. Sie tritt von diesem Standpunkte aus mit der Philo-
sophie in »keinen unmittelbaren Conflict«. Die Aufgabe der Philo-
sophie ist, auf »dem Gebiete, welches sie mit der Theologie ge-
meinsam besitzt, das religiöse Bewusstsein in seiner AI lg e m ei n-
heit zu erforschen, in seinem psychologischen Inhalt zu erschöpfen,
die verschiedenen Stufen desselben und die innere En t Wicke-
lung, welche es durchläuft, genetisch zu verzeichnen« (S VII).
Nur theologische Bekenntnisse können in Conflict kommen. Die
Philosophie lässt sich weder beeinflussen noch beschränken »durch
eigentümliche dogmatische Voraussetzungen irgend einer Theologie«;
sie beschäftigt sich lediglich mit dem »allgemein Menschlichen der
Religion«. Sie bringt kritisch das »ewig und gemeinsam Wahre
alles religiösen Bewusstseins« an's Licht. Durch die Religion wird
der Mensch mit der unvergänglichen Welt verbunden, welcher »seiu
Wesen angehört « Der Gehalt des Glaubens ist aber kein »starrer«,
für alle Zeiten »fixirter«, er ist ein »ewig heutiger, stets frisch
sich erzeugender«, in »immer neuen Gestalten dem Menschen sich
einbildend«. Zu diesen »erweckenden Anregungen« wirkt das
»Wissen«, das »Leben«. Nicht von der Theologie des Bekennt-
nisses, sondern von > den Ergebnissen allgemeiner Wissenschaft und
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Fichte: Die Seelen fort dau er.
Bildung« ist die Befreiung des Glaubens von den Störungen wah-
rer uud echter religiöser Gesinnung zu erwarten. Die Wissenschaft
begründet den »Wesensgehalt« des Glaubens (S. XI). Der Glaube wird
auf diesem Wege Gesinnung, »feste Welt- und Lebensansicht«. Den
Grand zu dieser wahrhaft vorurtheilsfreien religiösen Weltanscbau-
nng kann nur die Wissenschaft legen, »frei, nichts voraussetzend«,
die sich von »jeder Beziehung zu einer bestimmten Theologie ab-
l&seu muss« (S. XII). Die theologische Dogmatik, »ein Gemisch
Ton Glaubensvoraussetzungen und einer ungeläuterten Metaphysik«,
ist nur ein »hindernder Gefahrte« für die Wissenschaft. Der »Wie-
deraufbau« ruht nur auf der »Grundlage universaler, zugleich un-
bestreitbarer Weltthatsachen« sicher und fest (S. XIII).
Der Herr Verf. versucht, sich auf Kant berufend , eine philo-
sophische Begründung der christlich*religiösen Weltanschauung. Er
geht zu diesem Zweck von der »rein psychologischen, von
allen metaphysisch theologischen Beziehungen freigehaltenen Er-
forschung des religiösen Gefühles« nach seinem praktischen und
theoretischen Charakter aus (S. XV). Das Religionsgefühl darf mit
der Theologie nicht verwechselt werden. Die Vermischung beider
Elemente hat »unzählige Verwirrungen« bis zur Stunde hervorge-
rufen. Nachdem der Herr Verf. die Stellung seiner Aufgabe zn
den Bestrebungen der Gegenwart entwickelt hat, geht er zum Nach-
weise des »Charakters und der Quelle des Religionsgefühls« über.
Es ist ein aus dem Innersten des Menschen stammendes Gefühl
der Abhängigkeit »von einer höheren sittlichen Macht, dessen letzte
Quelle nicht in dem Schein oder dem Phänomenalen der Aussen-
welt, sondern im letzten Grunde alles Seins und Denkens, Gott
allein aufgefunden werden kann. Er deutet auf Schleiermachers
Anschauung hin, welcher der Religion wieder ihre »menschlichen
Quellen eröffnete« (S. XXXIII), indem er »Religion und Philosophie«
▼on der alten Dogmatik befreite. Die »bisherige Theologie« kann
nicht mehr als die »rechte, vollgenügende Verwalterin des grossen .
Schatzes lebendiger Gotteserkenntniss erachtet werden«, Philosophie
und »allgemeine Erfahrungsforscbung« müssen jetzt dieses Amt
Obernehmen (S. XXXIV). Die eigentlichen »Offenbamngs Wahrheiten«
enthalten nichts, dem Geiste der reinen Gotteserkenntniss und ihren
Ergebnissen Fremdes. Sie sind vom »Menschengemtith« »ewig be-
stätigt«. Am »Menschen muss sich zeigen lassen«, was »glanbens-
werth« und »glaubensnöthig« sei. Was man in neuerer Zeit zu
diesem Zwecke versucht hat, zielt auf die »Verbesserung« der
»hinfallig gewordenen theologischen Dogmatik«, auf die »Fülle
und Tiefe des rein religiösen Gehaltes« (S. XXXVII). Nicht das
historische Zeugniss, Psychologie und Ethik haben die Heilswahr-
heiten in »ihrer allgemein menschlichen Bedeutung« zu unter-
suchen. Der Herr Verfasser wollte zunächst in seinen Werken
Ober diese beiden Wissenschaften die Phänomenologie und innere
Stufenfolge des religiösen Bewusstseins aufzeigen und darin ein
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878
Fichte: Die Seelenfortdauer.
»immer tieferes Eingehen des göttlichen Geistes in den mensch-
lichen« nachweisen.
Das gegenwärtige Werk soll mit diesen beiden Werken ein
abgeschlossenes Ganzes bilden. Die Frage nach der Seelenfortdauer
soll auf anthropologischem Wege untersucht werden und greift zur
Erringung eines befriedigenden Ergebnisses, von ethischer Grund-
lage ausgehend, eben so in das Gebiet der Eeligionsphilosophie, wie
der Philosophie der Geschichte.
Auf diese, die Stellung der Frage zur Gegenwart und ihre Be-
handlungsart auseinandersetzende Einleitung folgt die Durch-
führung der Aufgabe in dem vorliegenden Werke. Das erste
Buch behandelt die allgemeinen Vorfragen, das zweite
die metaphysische, anthropologische und ethische
Begründung. •
Das erste Buch (S. 1 — 91) zerfällt in drei Kapitel. Sie
haben die TJeberschriften : 1) Unser Standpunkt, 2) der natürliche
(anthropologische) Glaube an dio Fortdauer, 3) die bisherigen Ver-
nunftbeweise für die Seelenfortdauer. Das zweite Buch (S. 91
— 442) hat vier Kapitel. Sie sind überschrieben: 1) die reale
und die phänomenale Welt, 2) der allgemeine Begriff der Präfor-
mation (Präexistenz), 3) die allgemeine Weltstellung des Menschen-
geschlechts und die Bedeutung des Individualgeistes, 4) allgemeiner
Rückblick. Der (ethischo) Unsterblicbkeitsbeweis aus dem Begriffe
der Menschengeschichte. Philosophie derselben. Beiden Büchern
folgt die Schlussanmerkung (S. 443 — 466).
Der Standpunkt ist ein anthropologischer, er knüpft an
begreifliche Analogien an und erblickt die Spuren des künftigen
Daseins im gegenwärtigen vorgebildet. Der Herr Verf. sucht den
Unsterbliohkeitsglauben von seiner innern Unbestimmtheit und ab-
stracten Unbegreiflichkeit zu befreien. Man muss das ethische
und natürliche Element in diesem Glanben unterscheiden. Diese
Elemente worden auf einen verschiedenen Ursprung, den immanen-
ten und tran scen deuten , zurückgeführt. Das innere Verhältniss
dieses Gegensatzes zeigt sich in dem, was von dem Herren Verf.
productiver und receptiver Genius genannt wird. Der
ethische Unsterblichkeitsglaube wird zugleich als der religiöse im
echten Sinne bezeichnet. Die höchste Aufgabe der Religionsphilo-
sophie ist, jenen Glauben umfassend zu begründen. Dieser Glaube
hat eine universale Bedeutung für die Wissenschaft vom Menschen.
Im Menschen ist ein transcendentaies Wesen innerhalb seines sinn-
lichen, in ihm liegt, von ihm geht aus das geschichtbildende
Princip. Die Natur ist blosser Kreislauf. Auch nach seinem
praktischen Charakter ist der Mensch ein trancendentales Wesen,
daher die unwillkürliche Zuversicht seiner innern Ewigkeit der ver-
gänglichen Erscheinung der Natur gegenüber. Hierin liegt die erste
rein anthropologische Quelle des Unsterblichkeitsglaubens, sie ist
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Fichte: Die Seelenf ortdau er. 879
die natürliche, welche durch die historische der Offenbarung ihre
Bestätigung erhält.
Im zweiten Kapitel wird der natürliche (anthropologische)
Glaube an die Fortdauer entwickelt. Der Mensch kann sich nur
als ein Thätiges denken. Der Begriff des höchsten Gutes , nach
welchem der Mensch strebt, kann, psychologisch aufgefasst, nur in
einer absolut befriedigenden Thätigkeit bestehen. Eine solche
Tbatigkeit wird als höchstes Gut empfunden. Ihr Ziel ist kein für
das menschliche Einzellebcn — und der Mensch ist Einzelgeist, das
Wesen des Geistes ist Persönlichkeit — in diesem kurzen, vielfach
beschränkten Dasein erreichbares ; es ist ein ideales , jenseitiges
Ziel Darin liegt als »unabtrennlicbe Nebenbedingung« die Ueber-
zeitlicbkeit « des menschlichen Wesens. Nur unter dieser Bedingung
ist der Begriff des Menschengeistes widerspruchsfrei. Die Grund-
gefuhle der natürlichen Todesscheu und der Schaam bezeugen
die überzeitliche Menschenbestimmung. Dio beiden Gefühle sind
rein menschlich und fehlen dem Thiere gänzlich. Auch die ethische
Todesfreudigkeit hängt mit dem natürlichen Glauben an dio Fort-
daner zusammen. Das praktische Verhalten des Menschen setzt im
Todesmuthe und in der Lebensverschwendung einen ähn-
lichen Glaubon voraus oder deutet unbewusst auf ihn hin. Die
natürliche Vorstellung vom künftigen Leben ist die auf die Ana-
logie gestützte Vorstellung von einer Fortsetzung des gegenwärti-
gen Lebens. Man setzt dabei unwillkürlich einen fortdauernden
Zasammenhang des Lebens im Diess- und Jenseits voraus. So er-
bält auch der Aberglaube in dieser Hinsicht einen psychologischen
Erklärungsgrund. Im Naturglauben an dio Fortdauer zeigen sich
drei Grundbestandteile, die Vorstellung einer Schattenwelt, der
Glaube an einen innern Zusammenhang zwischen dem diess- und
jenseitigen Leben und an die Uebermacht des Geistes über die
Vit u r (Zaubereiglaube). Für den menschlich natürlichen Glauben
spricht auch der wohl verstandene consensus gentium. Der philo-
sophische Beweis der Anthropologie bat nur die im Menschen vor-
handenen Grundgefühle der innern Ewigkeit seinesGeistes
zum Bewusstsein^zu bringen.
Das dritte Kapitel enthält die bisherigen Vernunftbeweise
für die Seelenfortdauer. Spiritualismus und Materialismus sind
gleich einseitig und kommen zu gleich einseitigeu, ungenügenden
Resultaten. Ihr gemeinschaftlicher Grundmangel besteht in dem
bloss abstracten und darum undurchforschten Begriffe von Geist,
Materie, Seele und Leib. Schon Kant wies die unhaltbare Soho-
lastik der früheren psychologischen Methode nach. Die Empirie
i3t durch ihn und die Nachfolger in ihre Rechte eingesetzt wor-
den. Der Herr Verf. weist auf Schöllings Verdienste und auf eine
Abhandlung desselben in den nachgelassenen Werken ȟber den
Zasammenhang der Natur mit der Geisterwelt« hin (neunter Band
sämmtücher Werke, 1. Abtheilung, auch unter dem Titel »Clara«
uigm,
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380
Fichte: Die Seelen fortdauer.
besonders herausgegeben). Schelling nimmt die Einheit von
Geist , Seele nud Leib an , hat jedoch in der Begriffsbestim-
mung , vorzüglich des Leibes , etwas Schwankendes. Mit Recht
spricht sich der Herr Verfasser gegen Schöllings mytholo-
gisirende Hypothese vom Silndenfalle und von der Entstehung
einer kosmischen Welt des Lichtes und der Finsterniss und
einer geistigen Trennung der Ober- und Unterwelt ans Wahr-
haft philosophisch sind die Anschauungen des Herrn Verf. von der
Natur und treffend seino Bemerkungen gejien ein Verderbniss der-
selben. So sagt er eben so schön, als richtig S. 23: »Die Natur
ist gross und herrlich, gesund und wahr, mackellos und unstind-
haft, das eindringlichste Zeugniss der unbegrenzten Vollmacht und
der unergründlichen Weisheit eines schöpferischen Geistes, so weit
sie in sich und für sich selbst lebt und wirkt. Sie ist in ihrem
unüberschreitbaren Kreis ein vollendetes Kunstwerk ; oder, wenn
nach einer hier zulässigen Abgrenzung die Natur als ein für sich
bestehendes, relativ (dem Monschen gegenüber) Selbstständiges be-
trachtet wird, können wir sagon : sie sei selbst vollendete Künst-
lerin«. In gleicher Weise S. 71: »Mit nichten gedenken wir dabei
unsere Zuflucht zu nehmen zu jener »später in der Geisterwelt ein-
getretenen Verderbniss«, deren Schelling gedenkt (S. 96). Dies
beruht auf der wohl bekannten, für tiefsinnig geltenden, aber uner-
weislichen Lehre eines uranfänglichen Sündenfalls im Geisterreiche
und von der »verfinsternden« Rückwirkung dieses Sttndenfalls auf
den Menschen und dio gesammte ihm untergebene Natur. Der-
gleichen Hypothesen bleiben begrifflich eben 80 unklar und unbe-
stimmt, als sie vom Standpunkt menschlicher Erkenntniss aus für
transcendent und unerforschlich gelten müssen.« Der Herr Verf.
spricht sich mit Entschiedenheit gegen die dogmatische Auffassung
des Teufels, der Hölle und der Wunder aus. Er will nicht auf
dogmatischem , sondern auf anthropologischem, speciell psycholo-
gischem Wege seine Aufgabe lösen. Das Problem hat seine meta-
physische, ethische und religiöse Seite.
Im zweiten Bucho geht nun der Herr Verf. zur Losung
seiner Aufgabe, der metaphysischen, anthropologischen
und ethischen Begründung des Unsterblichkeitsglaubens.
Das erste Kapitel bebandelt die reale und die phäno-
menale Welt. Dem Natnrglauben tritt der rcflectirende Zwei-
fel entgegen. Die letzte Quelle des Zweifels ist »die Tbatsacbe,
dass während des Lebens die Seele in vollständiger und , wie es
scheint, ausnahmsloser Abhängigkeit vom Leibe und seinen Ver-
änderungen sich befindet«, und dor »Schein eines völligen Ver-
schwindens« der Seele im Tode, da man gerade hierin »das letzte
und entscheidende Zeugniss jener unbedingten Abhängigkeit« er-
kennt (S. 96) Es ist nicht das Was der Fortdauer, welches ange-
zweifelt wird, es ist das Wie, von welchem man sich keine Vor-
stellung machen kann. Die Bedonken gegen die Fortdauer sind am
Digitized by LiOOQle
Fichte: Die Seelcnfortdauer.
361
> schärfsten , kürzesten und erschöpfendsten« in David Humes
Schrift »über die Unsterblichkeit der Seele« in den additional
essays, hinter seinem grössern Werke: The natural history of reli-
gion ausgesprochen (Man vergleiche tbe philosophical works of D.
Harne, Boston and Edinburgh, 1854, vol. IV, p. 547—555). Humes
Zweifelsgründe werden aufgestellt (S. 98 ff.) , und eine vorläufige
Kritik derselben damit verbunden. Zuerst wird mit Recht der Satz
bestritten, dass Alles im Laufe der Zeit entstehe und vergehe. Nur
der »phänomenale Anschein« zeigt uns ein solches Entstehen und
Vergehen. Es ist nur ein Wechsel der Beschaffenheiten, nicht ein
Entstehen und Vergehen der Substanzen. Um den endlosen, aber
doch zugleich gesetzniässigen Wechsel vergänglicher Erscheinungen
zu erklären, mnss eine geschlossene Zahl unvergänglicher Welt-
substanzen angenommen werden. Diese bringen durch ihre wech-
selnden Verbindungen und Trennungen in unserm Bewusstsein das
Phänomen der Vergänglichkeit hervor, während sie selbst unver-
gänglich und unzerstörbar sind. Man könnte hier an die alten
Principien der Griechenphilosophie erinnern : Aus Nichts wird Nichts
und Etwas wird nie zu nichts. Mit dieser Anschauung treten wir
aus dem Gebiete des Scheins in die Welt des wahrhaft Seienden.
Das Sichtbare, Palpable ist selbst nur die Wirkung eines an sich
Unsichtbaren, Nichtpalpabeln. Der Stoff und die Stoffmischung ist
noch nicht das wahrhaft Beale. Auch das Reale am Leibe ist
darum unsichtbarer, unpalpabler Natur. Der Mensch ist ein Ein-
beitswesen, nicht aus Leib und Seele zusammengcÜickt; der Leib
ist seine phänomenale Erscheinung, der Geist der Grund derselben,
das eigentlich Wesenhafte. Der Geist ist das Bleibende, Dauernde
in den wechselnden Erscheinungen der leiblichen Formen und Be-
schaffenheiten. Der Geist ist aber kein von den Einzelgeistern
abstrahirter , nur im Verstände existirender, allgemeiner, sondern
Einzelgeist; sein Wesen liegt darum im Einzelbewusstsein, in der
Persönlichkeit. Das Bewusstsein entsteht nicht etwa nur durch einen
äusseren Factor. Durch diesen erhält es wohl seine Anregung;
allein, zum Wesen des Geistes gehörig, liegt es dem Keime nach
schon ursprünglich in ihm. Der Menschengeist ist dem Wesen
nach der leiblichen Erscheinung zu Grunde liegend, die präformirte,
die präexistirende Substanz, welche zuletzt auf Gott, den absoluten
Geist, zurückzuführen ist. Jeder Menscheugeist ist Genius und
zwar in unendlichen Abstufungen productiv oder reoeptiv.
Das zweite Kapitel handelt von dem allgemeinen Be-
griffe der Präformation (Präexistenz).
Dieser Begriff wird als ein unabweislicher aufgestellt und ge-
zeigt, wie er sich auf das Verschiedenste im Glauben des Menschen
aasspricht. Das »Personificirende« , zugleich »frei Machende im
Menschen« ist der Geist. Nicht der abstracto Universalgeist, son-
dern der Einzelgeist macht dabei das Wesen des Menschen aus,
Tfomit die Lehre des biblischen Christenthums übereinstimmt. Der
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382
Fichte: Die Seelenfortdauer.
Begriff der Präexistenz oder Präformation vor dem Phänomenalen
der leiblichen Erscheinung wird als untrennbar von der Wesenheit
der Geistespersönlichkeit bezeichnet. Damit wird dem Pantheis-
mus, welcher die Einzelgeister in einem abstracten Verstandesbe-
griff verschwimmen lässt, entgegengetreten. Der Begriff der Prä-
formation ist, mit dem Schöpfungsbegriff zusammenhängend, ein
universaler. Die Bedeutung desselben für Religion und tiefere
Menschenbildung wird nachgewiesen und damit die kritische Ge-
schichte der Lehre von der Präexistenz verbunden. Genau werden
die Ansichten Leibnitzens, Wolffs, Bonnets, Kants über diesen
Gegenstand entwickelt und kritisch beleuchtet. Kaut's Lehre von
der »generischen Präformation« nähert sich schon mehr einer rich-
tigen Ansicht, aber sie ist noch in der falschen Meinung vom
Gegensatze zwischen »Naturmechanismus« uud »hyperphysischer Ein-
wirkung befangen.« Dieser Gegensatz wird dadurch aufgehoben,
dass die »mechanische« Causal Verkettung die allgemeine Form alles
Geschehens« ist, in welcher als allgemeiner Inhalt das »Zweckmäs-
sige« sich verwirklicht. Die Weltthatsache bestätigt die metaphy-
sische Speculation. Das System der Zwecke ist, tiefer erfasst, ein
System von präformirten Anlagen. Es ist eine Stufenfolge in die-
sen Präformationen, mit dem höchsten Weltzwecke, den Weltwesen,
Abschliessend. Ebenso unhaltbar erscheint nach dieser Auflassung
der Pantheismus, wie der fatalistische Materialismus. Auch die
Naturwissenschaften gehen von der Idee einer »Entwicklungsge-
schichte der Schöpfung« aus. Hier stehen sich die Präformations-
theorie und Permutationstheorie gegenüber. Dieser Gegen-
satz drückt sich gegenwärtig in Darwin, dem Vertreter des Per-
mutationssystems, und Agassiz, dem Vertreter der Präformation,
am schärfsten aus. Darwins Umwandlungstheorie wird kritisch
geprüft und als höchster Widerspruch derselben, wie jeder blos
naturalistischen Theorie, bezeichnet, dass hier das Vernunftlose, der
Zufall, als der letzte Grund des vernuuftvollen Weltzusammenhanges
angesehen wird. Dieser Widerspruch dringt uns als Nothwendigkeit die
Wahrheit des allgemeinen Gedankens einer Präformation auf. Die Er-
fahrungswissenschaften bestätigen den Begriff der inneren Zweck-
mässigkeit. Er ist im astronomischen Kosmos und in der unorga-
nischen Natur aufzuzeigen. In der Welt der beseelten Wesen aber
äussert sich deutlich die Präformation und der Zweck im eigent-
lichen Sinn. Agassiz hat die Präformation neu begründet. Cuvier
und Geoffroy St. Hilaire waren seine Vorgänger. Der erste hat die
Unveränderlichkeit des Gattungs- und Arttypus erwiesen, was für
die geologischen Forschungen wichtig ist. Die vier Hauptgruppen
der Thierwelt sind Strahl-, Weich-, Glieder- und Wirbelthiere,
von einander unabhängig; nur bis zu einem gewissen Punkte der
Varietät kann der äussere physikalische Einfluss auf ihre Modiffca-
bilität zugelassen werden. Die Urzeit hat ihre embryonischen und
prophetischen Typen. In der Thier- und Pflanzenwelt zeigt sich
Digitized by Google
Pichte: Die Seelenfortdauer. *S3
eine teleologische Wechselbeziehung, welche wieder auf die Prä-
formation zurückweist. Der Herr Verf. sieht im Weltplan (S. 246)
>das Vorhandensein eines Systems urbildlicher, in allem Wechsel
der Erscheinungen beharrlicher Gestaltungsformen der Schöpfung. €
In dem naturwissenschaftlichen Nachweise der Präformation folgt
er beinahe durchgehend Agassiz' Forschungen. Zwischen den Natur-
gesetzen und der göttlichen Schöpfungs- und Erhaltungsthätigkeit,
wenn die letztere richtig aufgefasst wird, existirt kein Gegensatz.
Die präformirten Typen dürfen nicht etwa nur als etwas Ideales
angesehen werden, sie sind das Reale, das einzig sich Realisirende
in den erscheinenden Dingen. Damit verschwindet der Dualismus.
Doch könnte man nach des Referenten Dafürhalten immer noch
ein Bedenken dagegen erheben , dass unsinnliche Substanzen das
Wesen, der Grund der sinnlichen Erscheinungswelt sind. Die sinn-
liehe Welt i st mehr, als ein blosser Schein ; sie ist sichtbar, tast-
bar, sie stellt sich uns als ein Stoffliches, als ein Raum Einnehmen-
des nach den drei Dimensionen der Länge , Breite und Tiefe dar.
Der Geist percipirt sio wohl; aber sie ist etwas Anderes, als der
percipirende Geist. Wir erhalten hier lauter unsinnliche Substan-
zen in unendliehen Abstufungen, präformirte Kraftwesen ; aber wo
bleibt der Stoff, die Materie? Wir kommen dann zum einseitigen
Idealismus, wenn wir auch das Ideale das Reale, das sich einzig
Bealisirende nennen, gerade se wie der Materialist oder Sensualist,
nnr von einer andern Seite, zu einem einseitigen Resultate führt,
indem ihm der Stoff das Reale, das einzig sich Realisirende ist.
Der Materialist kann die Thatsache des Geistes nicht aus der
Materie, der Idealist die Thatsache der Materie, welche mehr als
Schein oder blosse Wirkung, welche Etwas, Realität ist, nicht aus
dem Geiste erklären. Darum nimmt auch der Herr Verf., weil er
die3 wohl fühlt, einen unsinnlichen Leib an der unsinnlichen Sub-
stanz an. Wie kann aber eine unsinnliche Substanz eine sinnliche
Wirkung haben? Die Welt müsste nur in Berkeleys Weise zur
blossen Vorstellung herabsinken. Hier bleibt immer ein zu über-
windender Rest des Bedenkens. Die Immanenz macht, wie der
Herr Verl. mit Recht behauptet, allein die Entwicklungsgeschichte
der Schöpfung begreiflich. Schöpfungsstadien und Schöpfungsan-
fonge erscheinen als Standpunkte der richtig aufgefassten Präfor-
mation begreiflich. In dem Geschaffenen wird ein doppelter Factor
unterschieden , der der allgemeinen Gesetzlichkeit oder des Typi-
schen und der der individuellen Selbstständigkeit. Präformation ist
nicht Prädetermination; die letztere wird zurückgewiesen. Der Ab-
schluss des allgemeinen Weltplanes und der theistischen Weltan-
schauung und das Ziel dieses Planes ist >die Hervorbildung des
Geistes.« Das blosse gegenwärtige Erddasein macht das Auftreten
des Menschengeistes in der Entwicklung der Natur zu einer »pro-
blematischen« Erscheinung.
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884
Fichte: Die Seclenfortdauer.
Das dritte Kapitel urafasst die allgemeine Welt-
Stellung des Menschengeschlechts und dieBedeutung
des Individualgeistes.
Die Stellung des Menschen in der Welt kann nur dann rich-
tig aufgefasst werden, wenn man ihn im Zusammenhange mit dem
Weltganzen betrachtet. Die Erscheinung des Menschengeistes in
der Natur ist ein neues Schöpfungsstadium. Der Geist des
Menschen hat die Aufgabe, geschichtbildendes Princip zu
werden und ist darum das höchste der Erdenwesen und folge-
richtig das letzte in der Schöpfung, was die neueren Entdeckun-
gen Uber ein höheres Menschenalter nicht umstossen. Der feind-
liche Bassen- und Völkerunterscbied deutet nur auf die Weite in
der Entwicklung des Meuschengeistes hin. Man unterscheidet, was
den Ursprung des Menschengeschlechtes betrifft, die Einheit der
Abstammung, die Einheit der Art und die Annahme verschiedener
Menschenarten. Die Hauptsache bleibt bei den verschiedenen An-
sichten die Einheit des Gruudcharakters. Diese Einheit
zeigt sich im Organischen und Psychischen. Nach dem psychischen
Charakter ist der Geist des Menschen ein »Uberzeitliches« (ewiges)
and ein »übernatürliches« (den Naturkreislauf überschreitendes,
weil mit seiner Freiheit geschichtbildendes) Wesen. Er steht mit
der Natur und ihrem nothwendigen Kreislaufe gleichsam wie ent-
zweit da und erstarkt im Kampfe mit der Natur und im Siege
Über ihren nothwendigen Mechanismus. Hieraus erklärt sich die
Selbstsucht des Menschen, sein allmähliges Heranreifen zur freien
Persönlichkeit, sein Culturleben, je mehr die freie persönliche Gei-
stigkeit sich entwickelt und sich als solche fühlt und weiss. Es
ist der freie Einzelgeist, der hier zur Herrschalt Uber die Natur
gelangt. So erscheint gerade das Einzelgeistige, die Persönlichkeit,
als der Mittelpunkt aller Geisteswirkuugen. Die Präformation muss
sich daher auf den Einzelmenschen erstrecken. Nicht ein unbe-
stimmtes, abstractes Allgemeines, die Einzelgeister, productive und
receptive Genien , machen die Geschichte. Auch das Rcligionsge-
fühl muss auf die Persönlichkeit zurückgeführt werden. Hier zei-
gen sich das Gefühl des Selbst und des Unterworfenseins unter ein
unbekanntes, höheres, geahntes Wesen- Dieses Gefühl, dessen Vorhan-
densein sich nicht bestreiten lässt, ist »der objective (subjective ?)
Beweis für die Realität und Unvergänglichkeit unserer Persönlichkeit.«
Der Herr Verf. versucht dieses aus der Phänomenologie des reli-
giösen Bewusstseins nachzuweisen. Daher der damit zusammen-
hängende Naturglaube an die Fortdauer. Erst die anthropologische
Beweisführung kann diesen Glauben reinigen und rechtfertigen.
(Schiusa folgt.)
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k 25. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Fichte: Die Seelenfortdauer.
(Sehlis.)
Im vierten Kapitel wird nach einem allgemeinen
Rückblicke der ethische Unsterblichkeitsbeweis mit
dem Begriffe der Menschengeschichte, also durch die Philosophie
der Geschichte geführt.
Der Herr Verf. kündigt hier zuerst die neuen ethischen
Fragen und ethischen Gesichtspunkte an. Kr findet Qott in der
Geschichte mit ethischen Eigenschaften und erkennt den entschei-
denden Einfluss dieses Begriffs auf den Unsterblichkeitsbegriff. Er
wendet seinen Blick auf die bisherigen Ergebnisse zurück, nach welchen
die immanente Teleologie der gesammten Schöpfung (Harmonie des
Reiches der Natur mit dem Reich der Gnade) auf einen ethischen
ünsterbliebkeitsbeweis hinführt. Von S. 320 — 323 werden noch-
mals die Gründe zusammengefasst , welche für die Beharrlichkeit
des Einzelgeistes und die Fortdauer seines Bewusstseins nach dem
Tode sprechen. Hierauf folgen Charakter und Ursprung des Sinnen-
bewus&tseins , die so genannte Abhängigkeit der Seele vom Leibe,
die Analogieschlüsse auf den künftigen Zustand des Bewusstseins,
die gesammte Bedeutung des Sinnenlebens für den Geist. Die Auf-
gabe der Psychologie ist nun die Erklärung des Bewusstseins aus
dem in ihm liegenden Einheitsprincip. Das Bewnsstsein dessen, was
entsteht und vergeht, ist das phänomenale oder sinnliche Bewusst-
sein. Aber der Mensch hat ausser diesem in diesem Leben, in
dieser Welt das Bewusstseiu eines ewigen Lebens, einer >innern
Ewigkeit«. Das Gebiet der Ideen des ganzen Culturprocesses bildet
den eigentlichen Inhalt dieses ewigen Lebens. Wenn auch die
Ideen des Wahren, Guten und Schönen, des Unendlichen einen all-
gemein menschlichen Charakter haben, so zeigt sich doch das In-
dividaalisirende derselben im Menschengeiste; er ist das Unver-
gängliche, das Ewige der Persönlichkeit. Die Erfahrung zeigt, dass
alles, was man das Allgemeine nennt, immer von Einzelgeistern
ausgeht. Dieses Ewige der Persönlichkeit ist der Genius, in
anendlich verschiedenen Graden produetiv oder reeeptiv. Nur darf
man wohl das Beceptive nicht so vom Productiven trennen, dass
es ganz allein reeeptiv ist ; es ist nach des Referenten Dafürhalten
auch das Receptive wieder in gewisser Beziehung produetiv. Der
Unterschied des Receptiven und Productiven liegt darin, dass zwar
beides, wenn auch in schwachem Keime, im Genius liegt, aber
LX. Jahrg. 5. Heft 25
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3PG
Fichte: Die Seelenfortdauer.
beim receptiven Genius das Receptive, beim productiven das Pro-
ductive vorherrscht. Keine Culturfähigkeit ist durch ein Abstraetum,
sie ist nur durch ein Concretum , die persönlichen Geister oder
Genien, möglich. Das charakteristisch Menschliche ist der Genius.
Jeder Menschengeist ist Genius , aber in unendlich verschiedenen
Modifikationen. Dem wissenschaftlich Erleuchteten ist der Tod,
wie alles Vergängliche, ein Product seines phänomenalen Bewusst-
seins, der sinnlichen Erscheinungswelt. Hinter dieser Welt ist die
Welt der Ideen, in welcher der Geist ewig lebt. Sittlichkeit und
Religiosität sind dem wahrhaft Begeisterten unzertrennlich. Er
erhebt sich Uber den Tod im Bewusstsein seines ewigen Lebens in
der Ideenwelt. Ihm erscheint die gegenwärtige Lebensform unter-
geordnet, nicht definitiv. Der Mensch stellt soin Selbst dem Kampfe
der Natur entgegen. Zuerst entwickelt sich vermöge des siunlichen
Bewusstseins die Selbstsucht. Das Ethische wird erst durch den
culturbildenden Einfluss im Menschen geweckt und er nimmt jetzt
auch aus der Natur Anregungen dazu in sich auf. Das Zusammen-
treffen der Geister ergibt ein geistig ethisches Yerhältniss. Es ist
das VerhäUniss der productiven und receptiven Genien. Die Be-
dingungen des tellurischen Lebens reichen nicht zu, dem Genius,
dem Einzelgeist oder persönlichen Geist, ethisch genug zu thun,
»ihn erschöpfend zu entwickeln.« Hier muss das geschichtliche
Verhalten des Menschen entscheiden. Der ethische Unsterblich-
keitsbeweis muss eine historische Form gewinnen. Die Menschen-
geschichte bietet in ihrem f actischen Bereiche »keinerlei vollgenü-
gende Bedingungen, um den ethischen Menschheitszweck weder in
der Gesammtheit noch für den Einzelnen zur Vollendung zu brin-
gen« (S. 355). Das Thier ist nur Zwischenglied zur Erhaltung der
Gattung; seine Zwecke gehen nicht über das irdische Dasein hin-
aus und werden alle innerhalb desselben erreicht. Es ist ein »in sei-
ner Weise vollkommenes, mit sich und der Natur einiges Wesen«
(S. 358). Es blickt weder vor- noch rückwärts und gehört allein
der Gegenwart an. Bei'm Menschen verhält sich Dieses ganz anders.
Er ist mit der Natur entzweit, mit ihr im Kampfe ; er wäre mit
blos epitellurischem Dasein das »widersprechendste und zweck-
widrigste Wesen, welches im Umkreise der ganzen Schöpfung zu
finden ist, sonst aber da nirgends sich findet« (S. 359). Die Ge-
schichte entscheidet. Der Mensch weiss durch geschichtliche
Tbaten »kein Ziel aufzuweisen, das zugleich doch auch ein durch-
aus irdisebos, auf die Erdverhältnisse berechnetes bleibt und keiner-
lei Aussicht oder Bedtirfniss darböte für vollendende oder rück-
bildende Ausgleichungen in einer höhern Welt« (S. 359). Handelte
es sich blos um das epitellurische Ziel in der Geschichtsentwiok-
lung , um »den höchst möglichen Grad sinnlichen Wohlergehens
und die möglichste Verringerung der unvermeidlichen physischen
Uebel« (S. 361), so wäre die Culturentwicklung in Staat und Sitte,
Kunst, Wissenschaft und Religion durchaus überflüssig. Die Men-
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Pichte: Die ScelenfortdAuer.
387
schengeschicbte zeigt aber gerade den Menschen mit diesen Cultur-
zielen, für aie unentäusserlich bestimmt. Man hat die Entwicklung
der Menschengeschichte auf die Gesetze des organischen Wachs-
thams zurückführen und Keimalter, BlUthenepocho, höchste Keife,
Abnahme und Untergang unterscheiden wollen. Mag das eine ge-
wisse annähernde Wahrheit für einzelne Epochen und Völker in
der Geschichte haben, für den ganzen Begriff der Menschengeschichte
erscheint eine solche Annahme unzureichend. Immer bliebe hier
die Frage nach dem Inhalte dieses Blühens, Reifens, Abnehmens,
nach dem Gegenstande, auf welohen es sich bezieht, übrig. Man
wüsste nicht, worin sich diese Reife und Abnahme zeigen soll.
Der Begriff des Fortschrittes würde ganz aufhören; es wäre ein
ewig wiederkehrender Kreislauf. Der Herr Verf. entscheidet sich
bei der Frage, ob es rein immanente Kräfte der Menschheit sind,
welche den Gesohichtsprocess erklären, oder ob dabei eine gött-
liche Assistenz, Vorsehung, anzunehmen ist, für das Letztere. Er
siebt in der Geschichte »die erziehende Leitung der Menschheit
durch eine höhere, ü be r ihr waltende Providentia 11 e Macht« (S. 370).
Er unterscheidet das Menschliche und Göttliche in der Geschichte.
Ihm ist nur »derjenige Geistesgebalt in der Geschichte, wie im
Leben des Individuums, göttlichen Ursprunges, welcher die höchste,
die dauerhafteste, die beseligendste Liebe in uns entzündet, vor
welcher alle anderen Regungen zurückweichen, indem sie, unwillkür-
lich oder mit klarem Bewusstsein, ihr geopfert werden. Diese Liebe
trägt immer den Sieg davon, und es ist zugleich der Sieg des sie
begleitenden Geistesgehalts« (S. 374 und 375). Dieses göttliche
Element in der Geschichte ist aber kein »Fremdartiges«, »Ueber-
menschliches«. Es »kleidet sich in die menschliche Form des
Geistes uud seines Bewusstseins , seine Freiheit und das Gefühl
dieser Freiheit nicht aufhebend oder beschränkend, sondern gerade
lungekehrt es erhöhond und zur Unüberwindlichkeit befestigend.«
Die Geschichte ist der Einzelgeister wegen da. Der Charakter dea
Geschichtsbegriffs ist ein individualistischer. Jeder Einzelgeist hat
Antheil an der Geschichte und wirkt mit zum grossen, ganzen und
letzten Cultusziele in seiner Art. Nur »die culturf ordern den« und
»gemeinschaftstiftenden« Thatsachen sind »wahrhaft historische«
(8. 388); denn sie haben für die Menschengeschichte eine »dauernde,
unverlierbare geistige» Wirknng«. Diese sind von Begeisterung be-
gleitet. Aus ihr geht das gemeinsam Wirksame hervor. Nicht
von einem allgemeinen, vagen und unbestimmten Geiste, sondern
vom Einzelgeiste geht aber die Anregung und Wirkung auch zum
höchsten Ziele in der Geschichte aus. Nur »die Individuen sind
das in der Geschichte Thätige«. Sie ist »durchaus menschliche
Freiheit sthat« (S. 392). Indem die Geschichte selbst das entschei-
dendste Zeugniss für die Unvergänglichkeit des Menschengeistes nach
dessen Natur und Zielen ablegt, kann dieses Zeugniss der »histo-
rische Unsterblichkeitsbeweis« genannt werden (S. 398). Der Geist
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388
Fichte: Die Seelen fortdauer.
erhält durch die innere Ewigkeit seines Lobens auch seine höhere
Stellung in der Geschichte. Diese erhält eine »mehr als epitel-
lurische Bedeutung.« Jede geschichtliche Culturform ist zwar eine
für sich selbstständige ; aber sie ist immer auch zugleich der Ueber-
gaug zu einer höhern Bilduugsgestaltung. Die Macht des Unten
ist das siegende Princip. Das wahrhaft vollkommene Ziel ist nur
das ethische. Wahrhafte Vervollkommnung ist in der Schöpfung,
wie in der Geschichte, das Ziel. Beide, Schöpfung und Geschichte,
leiten uns auf den letzten Grund und Zielpunkt, Gott, zurück, und
verlangen als Mittel der Vervollkommnung die Fortdauer des wahr-
haft Wesenhaften im Menschen, des Geistes, welcher eben nur als
Einzelgeist mit persönlichem Bowusstsein wesenhaft ist. Die Ein-
gebung grosser productiver Genien zeigt uns ihre Theilnahme, ihr
Ausgehen vom göttlichen Geiste. Der Mensch macht nicht aus sich
Geschichte ; sie ist eine Wirkung der menschlichen Einzelfreiheiten
unter der Leitung einer höhern göttlichen Eingebung. So betrach-
tet der Herr Verf. die ganze Geschichte als »den factischen Be-
weis« für das Dasein Gottes und dio Fortdauer des Geistes (S. 407).
Das Endziel ist in den Formen des irdischen Daseins nicht erreich-
bar, es ist kein »epitellurisches«. Was den Vollkommensten des
Menschengeschlechtes als das höchste, ihnen erreichbare Ziel vor-
gesteckt ist, muss auch die allgemeine Grenze für das Ziel der
Menschheit sein. Die Gesammtgeschichte der Menschheit zeigt aber
die »niemals vollständig sich aufhebende Differenz zwischen dem
Gewollten und Erreichten > zwischen der Idee und ihrer factischen
Verwirklichung.« Das nächste Ziel wird erreicht, aber es wird
dann immer wieder diesem gegenüber ein weiteres, noch nicht er-
reichtes vorgesteckt, so dass nie ein »absolut Höchstes« erreicht
werden kann (416). Wer in den Culturprocess des Ethischen oder
in die Geschichte aufgenommen ist, hat »oben darum Anspruch auf
eine unendliche Gulturentwicklung, nicht blos auf eine abstracte
Ewigkeit oder eine geistig iuhaltleere Fortdauer« (S. 416). Es ist
das »ethisch-geschichtliche Postulat persönlicher Fortdauer«. Hier
zeigt sich die »Bestimmung des Menscheu zum ewigen Leben«. Die
Uuiversalthatsache ethischer Cultur »lässt uns von der einen Seite
zurückschliessen auf die Gegenwart und Einwirkung einer ethischen
Weltregierung, von der andern enthält sie das ethische Postulat
persönlicher Fortdauer« (S. 420). Nur die Persönlichkeiten sind
Träger der Geschichte. Von hier aus schwinden die Eäthsel, welche
durch den scholastischen Begriff eines Menschencollectivums als
des Geschichtsträgers entstehen. Die »ethische Vollkommenheit«
ist das »letzte, definitive Ziel alles geschichtlichen Lebens« (S. 424).
Nur die ethischen Werthe haben absolute Bedeutung. Nur diejeni-
gen Persönlichkeiten der Geschichte haben eine wahre Bedeutung,
durch welche der ethische Zwock verwirklicht wird. Die Ergeb-
nisse der Psychologie und Ethik sind dahin zu bezeichnen , dass
»alle ethische Cultur noth wendig den Begriff* unendlicher Perfecti-
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Pichte: Die Seelenfortdau er. 880
bilitat in sich schliefst, und dass diese ein völlig illusorischer Be-
griff ohne die Annahme persönlicher Fortdauer« ist (S. 427). So
werden mit der historischen Auffassung des ethischen Zieles auch
die eachatologischen Vorstellungen der Theologie vom »künftigen
Weltgerichte« oder dem »jüngsten Tage«, von den Höllenstrafen
und den äusserHcb erkennbaren Strafen berichtigt.
Tn der S ch 1 u ss an m erku n g fS. 443—466) betrachtet der
Herr Verf. vom kritisch-apologetischen Standpunkte in kurzer Zusam-
menfassung die Ergebnisse seiner Untersuchungen, Zurückftihrung
der Schöpfung und Geschichte auf Gott, die höchste Macht des
Goten, und Hinführung der Welt durch den von Gott geleiteten,
individuellen Menschengeist unter der Bedingung der Fortdauer
nach dem Tode zum höchsten ethischen Ziele1, stellt als Grund-
prtmisse dieser Betrachtungen die »Allverbreitung des Genius im
Menschengescblecbte« auf, bezeichnet seine Geschichtsauffassung zu-
gleich als die »wesentlich christliche nnd humanistische«, findet
die Einheit der Christlichkeit und des Humanismus in »der Mensch-
werdung Gottes«, im philosophischen Sinne aufgefasst, verlangt für
die gegenwärtige Geschichtsepoche die »Wechseldurchdringung und
Versöhnung von Religion und Humanismus« und stellt für dies
Alles »als Nebenbedingung das ethisch-historische Postulat mensch-
licher Fortdauer« auf, deren Begriff durch das vorliegende Werk
als der für die ethisch-psychologisch-historische Auffassung des
Lebens unerlSssliche festgehalten und durchgeführt wird.
Referent verweist am Schlüsse dieser Anzeige auf eine Stelle
in dem vorliegenden Werke (S. 81), mit welcher er vollkommen
übereinstimmt.
»Es gibt keine Einzelgründe oder Einzelbeweise ftlr die Un-
sterblichkeit; darum auch eben so wenig gegen sie. Vielmehr als
Gesammtergebniss einer umfassenden Wissenschaft
vomGeiste in seinem Verhaltnisse zur Natur muss sich
eine Ansicht vom Wesen des Menschen bilden, in deren Folge von
selbst sich entscheidet, nach welcher Seite hin die grössere Wahr-
scheinlichkeit falle. Die Wahrscheinlichkeit, sagen
wir mit Vorbedacht, indem es selbstverständlich von den künfti-
gen factischen Zustanden unseres Wesens keinen directen und un-
mittelbaren Nachweis geben kann. Wohl aber vermag ein auf In-
dnction und Analogie gestützter Wahrsoheinlichkeitsbe-
weis einen gewissen Grad von Ueberzeugung hervorzubringen,
welofce sich im Laufe der Untersuchung verstarken Iftsst, besonders,
wenn es gelingt, die gegen die persönliche Fortdauer sprechenden
Gründe in ihrer Nichtigkeit aufzuweisen. Ist nur die innere
Möglichkeit einer Fortdauer gegen alle Zweifel sichergestellt,
so wird der ursprüngliche Naturglanbe daran, dessen tiefliegende
Qnelle wir kennen , mit so siegender Gewalt hervorbrechen , dass
der Erfolg überzeugender Gewissbeit nicht ausbleibt, dass zugleich
dieser Naturglaube willig den Aufschlüssen entgegenkommt, welche
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390
Xenopbontis Anahaais. Ree. Bteitenbach.
eine höhere weltgeschichtliche Offenbarung ihm zu gewahren ver-
mag.«
Es ist also hier nicht von einem eigentlichen Wissen, sondern
nur von einem Begründen des Glaubens an die Fortdauer die Rede
und diese psychologische , ethische und historische Begründung ist
in dem Werke des Herrn Verf. auf eine die Materialien der Natur-
forschung und Geschichte erschöpfend benützende Weise scharf-
sinnig und geistvoll in schöner Form durchgeführt , so dass die
Unsterblichkeit für den Glauben als ein psychologisch-historisch-
ethisches Postulat erscheint und mit vielem Geschicke alle Zweifels-
gründe gegen den persönlichen Unsterblicbkeitsglauben widerlegt
und beseitigt werden. Das Buch wird darum nicht minder dein
unbefangenen Theologen , als dem denkenden philosophischen
Forscher ein höchst willkommener Beitrag zur Aufklärung vieler
mit der Seelenfortdauerfrage zusammenhängender , metaphysischer,
psychologischer, ethischer, geschichtlicher und religionsphilosophi-
scher Gesichtspunkte sein. v. Reichlin-Meldegg.
Xenophontis Anabasis. Recognovit et cum apparatu critico edidit
Ludovicus Breitenb ach. Halis Saxonum, in fibraria
Orphanotrophei. AIDCCCLXVJI. XLll u. 284 8. in gr. 8.
Wenn es uns in der That an Ausgaben einer auf allen Schulen
gelesenen Schrift, wie dies Xcnophons Anabasis ist, nicht fehlt, so
ist doch die vorliegende Ausgabe einem Bedürfniss entsprungen,
das sich gerade in Folge der grösseren Zahl von Ausgaben, immer
fühlbarer herausgestellt und nun hier seine Erledigung gefunden
hat. Bei der grösseren Zahl der Ausgaben der Anabasis, von wel-
chen jede in kritischer Hinsicht irgend Etwas Eigenthümliches
bietet, bei der Verschiedenheit der Ansichten der Herausgeber über
die bei Behandlung des Textes einzuhaltenden Grundsätze, insbe-
sondere auch über den Werth und die Bedeutung der einzelnen
auf die Gestalt des Textes Einfloss übenden Handschriften, endlich
auch bei den vielfach ohne Noth in dem Texte wider die hand-
schriftliche Autorität, also willkürlich vorgenommenen Aenderungen,
mit denen uns auch bei diesem Schriftsteller die Neuholländische
Schule überfluthet hat, war es gewissermassen nothwendig, eine
Zusammenstellung des gesammten, vielfach zerstreuten kritischen
Apparats in einer guten Uebersicht zu geben , und damit für den
Text selbst eine Grundlage zu schaffen, welche vor unnöthigen
Aenderungen eben so sehr zu schützen, als selbst in zweifelhaften
Fällen den Weg anzudeuten vermag, welcher zur sicheren Heilung
einer verdorbeneu Stelle führen kann. Diess war das Aller Erste
und Notwendigste, und wenn dem Herausgeber, der in vorliegen-
der Ausgabe diess auszuführen unternommen hat, keine neuen, bis-
uigiiizec
by Google
Xenophontis Anabasis. Ree. Breitenbach. 891
her noch unbekannten kritischen Httlfsmittel, also neue Handschrif-
ten, zu Gebote standen, so werden wir darauf weniger Gewicht zu
legen haben, da sich wohl die Frage aufwerfen lässt, ob überhaupt
noch neue handschriftliche Quellen aufzufinden sind , welche den
bereits benutzten vorangehen und in Bezug auf die nur im Allge-
meinen bekannten aber noch nicht näher verglichenen Handschriften
sich schwerlich ein besondrer Gewinn für die Gestaltung des Textes
erwarten lässt, da sie alle der zweiten Classe angehören : wir unter-
schreiben daher ganz das Urtheil , welches der Herausgeber S. III
des Vorworts, wo er einige dieser noch nicht verglichenen Hand-
schriften anführt (eine Wiener, zwei Vonetianer, vier Mailänder
o. s. w.), nach dem, was aus diesen Handschriften bekannt gewor-
den ist, ausgesprochen hat: >si a paucis discesseris, quibus melio-
rum librorum scriptura confirmatur, ista sunt talia, ut novi ad-
jnmenti quidquam ex integra illorum librorum comparatione redun-
daturum esse sperare non liceat.« Man wird darum seine Auf-
merksamkeit vielmehr dem bis jetzt Bekannten zuzuwenden, den
bisher gewonnenen Apparat zusammenzustellen und zu sichten haben,
so weit diess überhaupt Beachtung verdient : dann ist eine sichere
Grundlage gegeben , die wir als das erste Bedürfniss einer gesun-
den Texteskritik betrachten, die sich die Aufgabe setzt, dem Texte
diejenige Gestalt zu geben, die der ursprünglichen, von dem Autor
selbst ausgegangenen, am nächsten steht. Einer solchen gewiss
uicht leichten, vielmehr in Manchem schwierigen und jedenfalls
höchst mühevollen Aufgabe hat sich der Herausgeber in einer Weise
unterzogen, welche seinen Bemühungen alle Anerkennung zuwenden
muas ; ein Jeder, der irgend wie mit der Texteskritik und der viel-
fach durch diese bedingten Erklärung des Textes sich beschäftigt,
wird vor Allem auf diese Ausgabe und die hier gelieferte wohlge-
sichtete Zusammenstellung des kritischen Apparates zurückkommen
und von hier den Ausgangspunkt zu nehmen haben.
Ueber die bisher bekannt gewordenen kritischen Hülfsmittel
verbreitet sich die Praefatio p. IV ff. des Näheren. Zuerst werden
diejenigen Handschriften aufgeführt und beschrieben, welche der
ersten Classe — denn in der Annahme von zwei Classen theilt der
Heransgeber und mit Grund, die bisherige Ansicht — angehören,
nemiieh die Pariser 1640 (C) vom Jahr 1320, die Oxforder (D)
*us dem Ende des vierzehnten oder Anfang des fünfzehnten Jahr-
hunderts (D), die Pariser 1641 (ß), die Vaticaner 985 (A), die
T«>n Eton (E); an der Spitze der andern Classe erscheint mit Recht
die Wolfenbüttler, welche an Alter der Pariser B nicht nachsteht
und der Vaticaner noch vorangeht : jedenfalls sind diess die-
jenigen Handschriften, auf welche es bei der Gestaltung des Textes
zunächst ankommt. Gleiche Beachtung haben auch die gedruckten
Ausgaben gefunden , über welche cap. II. p. XIV sich verbreitet.
Denn folgt cap. III. p. XX: De consilio ac ratione hujus editjonis.
Der Herausgeber entscheidet sich hier unbedingt für die Pariser
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891
Xenophontia An&basis. Ree. Breitenbach.
Handschrift 0, als die vorzüglichste und beachtenswerteste von
allen, die allein in vielen Stellen die wahre Lesart erhalten, mit
der anch meistens die übrigen, oben genannten Handschriften der
ersten Classe tibereinstimmen, wahrend diess ungleich seltener bei
den Handschriften der andern Classe der Fall ist, an deren Spitze
die Wolfenbtittler Handschrift steht; auch zeigt sich diese Hand-
schrift freier von all den zahlreichen Zusätzen, Erklärungen u. dgl.,
welche in den Text der Vulgata aus den übrigen Codd. einge-
drungen sind; der Verf. hat daher anch das Verhältniss, in wel-
chem diese, von Manchen überschätzte Wolfenbtittler Handschrift
zu jener Pariser steht, näher untersucht und darin nur eine Be-
stätigung seiner Ansicht gefunden, auch hat er nach der Präfatio
S. XXIX— XXXIX eine Zusammenstellung gegeben, die uns zeigen
kann, welche Beachtung er auch dieser Handschrift zugewendet
hat, unter der Aufschrift : Scripturae codicis Guelferbytani, quae in
Dindorfii ed. Oxoniensi aut non recte relatae sunt aut prorsus prae-
termissae.c Bei der Verschiedenheit der Ansichten über den bei
der Kritik des Textes der Anabasis einzuschlagenden Weg und die
hier zu befolgenden Grundsätze glauben wir diese Ansicht des
Herausgebers, die, wie sich auch in der Anwendung selbst gezeigt
hat, als die am meisten begründete erscheint, hervorheben zu müs-
sen. Wir müssen aber noch einen andern Punkt hervorheben, über
den sich der Verfasser am Schlüsse dieses Abschnittes näher, aber
mit aller Bestimmtheit ausgesprochen hat. Man hat in neuester
Zeit auf die einzelnen, bei Xrnophon wie auch bei anderen Schrift-
stellern vorkommenden Formen, namentlich auch in Bezug auf dia-
lektische Vorhältnisse, eine grössere Aufmerksamkeit gerichtet, um
eine feste Norm für jede dieser Formen aufzustellen und hiernach
die Anwendung einer jeden dieser Formen zu bestimmen : so achtungs-
werth gewiss au und für sich dieses Streben ist, und selbst för-
derlich für die genaue Kenntniss der einzelnen Formen und ihrer
Anwendung, so ist man doch insofern wieder über die natürliche
Gränze hinaus geschritten, indem man , nachdem man glaubte für '
eine jede einzelne Form eine bestimmte, auf die Mehrheit der Stellen,
wo sie vorkommt, begründete Norm gefunden zu haben, dann alle
die andern Stellen, in welchen diese Norm nicht vorkommt, hier-
nach zu ändern, oder, wie man sich auszudrücken pflegt, zu ver-
bessern und zu berichtigen unternahm. Der Schriftsteller soll hier-
nach nur Eine und dieselbe Form in allen Fällen angewendet haben,
und was derselben Zuwiderlaufendes vorkommt, sei es auch auf die
Autorität der besten Handschrift gestützt, soll daher geändert wer-
den. Mit dieser Annahme wird das einem jeden Schriftsteller zu-
stehende Recht, je nach Belieben, verschiedene in seiner Zeit ge-
bräuchliche Formen anzuwenden, oder vielmehr auszuwählen, dem-
selben insoweit entzogen, als in allen einzelnen Formen völlige
Gleichheit und üebereinstimmung herrschen soll. Es ist bekannt,
zu welchem Unfug diese Theorie in ihrer Anwendung bei Herodo-
Digitized by LiOOQle
Xenophontis Anabasis. Ree Breitenbach. 393
tos geführt hat, über dessen dialektische Formen selbst bei den
Alten keine völlige Sicherheit zn ermitteln steht, während man die-
selbe anf die Weise zn gewinnen suchte, dass man eine auf ein
rein numerisches Verhältniss, die Zahl, gestützte Norm aufstellte,
die dann in allen einzelnen Fällen eingehalten werden rauss! Wenn
also der Schriftsteller zwei oder dreimal dieselbe Form angewendet
bat, so muss sie auch an der dritten oder vierten Stelle, wo eine
andere Form vom Schriftsteller angewendet worden, eingeführt
werden, wiewohl Hunderte von Fällen vorkommen, wo beide For-
men gleichberechtigt sich einander gegenüberstehen ! Ueber dio
handschriftliche Autorität pflegt man natürlich in allen solchen
Fällen sich wegzusetzen, und damit auf allen positiven Grund zu
Terzichten. Auch bei Xenophon ist in neuerer Zeit Aehnliches ver-
geht worden, und wenn wir die auf diese Weise hervorgerufene
Untersuchung über die einzelnen Formen und die daraus hervor-
gegangene Erweiterung unserer Kunde der attischen Redeweise
dankbar anerkennen, so wollen wir um so weniger die Anwendung,
die davon theilweise gemacht worden ist und auf eine völlige
Gleichheit aller der anzuwendenden Formen hinausläuft, in Schutz
nehmen, weil wir sie als eine Willkür, als einen Eingriff in das
einem jedem Schriftsteller zustehende Recht, sich die Form zu
wählen, die ihm in jedem einzelnen Fall zusagt, betrachten, und
wir werden nicht berechtigt sein, da wo wir eine andere Form
angewendet finden, den Schriftsteller darum der Tnconsequenz oder
eines Mangels an Sorgfalt und Genauigkeit zu beschuldigen, noch
weniger aber werden wir die handschriftliche Autorität in solchen
Fällen völlig bei Seite setzen dürfen. Hören wir nun, wie der
Herausgeber darüber sich auslässt. Er erkennt allerdings an, wie
über aller handschriftlichen Autorität die >ratio« steht, aber eben
»o verschieden erscheint ihm auch die Ansicht über das , was
ihr entspricht; »verumtamen (fahrt er dann fort) nulla rationeposci
?idetur, ut formarum non solum atque elocutionum quaedam aequa-
bilitas , sed orationis etiam vel sententiarum eadem conformatio
obtrudatur quum aliis antiquis scriptoribns, tum Xenophonti, cujus
facilitas, simplicitas, inaflectata ratio loquendi nihil magis respuit
qnam certis quibusdam regulis ac normis ubique adstrictum vel
eodem Semper modo et ad amussin quasi comparatum istud dicendi
genas, in quo restitnendo vel comminiscendo potius operam per-
diderunt prae aliis Bisschopius et Cobetus, partim etiam Dindorfius
atque alii.< Der Herausgeber hat es aber anch nicht an Belegen
fehlen lassen, welche hinlänglich beweisen, wie Xenophon sich so-
gar gefallen, in der Anwendung einzelner Formen eine Abwechs-
lung, eine Mannichfaltigkeit, eintreten zu lassen ; und wie am Ende
Alles das, was uns theoretisch als attische Form, und als die allein
anzuwendende Form dargestellt wird, unsicher und ungewiss er-
scheint. Und hat man einmal in Einem Fall diesen Weg einge-
schlagen, so wird man auch fortfahren müssen in allen ähnlichen,,
uigitize
394
Xenophontis Anabaais. Ree. Breitenbach.
and ist auf diese Weise kein anderes Ende mit dieser Gleichst 1-
lungsmacherei abzusehen , als ein Text , der dem ursprünglichen
völlig unähnlich ist, willkürlich dem Schriftsteller eine Gestalt auf-
gedrungen hat, die ihm ferno lag. Wir können dem Herausgeber
in diesem Punkt nur unbediugt Recht geben und freuen uns, dass
er sich durch moderne Theorien nicht hat beirren lassen in seinem
Streben, die urkundlich beglaubigte Gestalt des Textes möglichst
herzustellen, was ja doch am Ende das Ziel einer jeden Kritik sein
muss, die sich selbst nicht tiberstürzen will.
Aus dem, was bisher bemorkt worden, geht schon zur Genüge
hervor, dass diese Ausgabe eine rein kritische ist, welche nur in
wenigen Fällen, wo es unvermeidlich war, und wo der kritische
Verhalt eine solche Zugabe nöthig machte, kurze exegetische Be-
merkungen enthält, oder solche, die auf den Sprachgebrauch Xeno-
phon's sich beziehen. Galt es doch, wie schon bemerkt, zunächst
um eine wohl gesichtete und geordnete Zusammenstellung des ge-
sammten kritischen Apparats, wie er theils aus den (oben genann-
ten) Handschriften oder älteren Ausgaben, theils aus den Aende-
rungen der Herausgeber neuerer Zeit oder einzelnen Vermuthungen
einzelner Gelehrten sich herausstellt, und in dieser Hinsicht hat
der Verf. gewiss Alles Mögliche geleistet. Unter dem Text folgt
zu jedem Paragraphen die Zusammenstellung der handschriftlichen
Lesart über alle einzelnen in kritischer Hinsicht in Betracht kom-
menden Wörter, insbesondere auch, soweit dicss zur Bestätigung
der in den Text aufgenommenen Lesart dient, und finden hier auch
alle Aenderungen oder Vorschläge einzelner Gelehrten die ge-
bührende Erwähnung und Beachtung. An erster Stelle wird die
vom Herausgeber aufgenommene Lesart erwähnt, und deren Grund
in den durch Buchstabenzeichen beigesetzten Handschriften nach-
gewiesen. Dann folgt die Angabe der anderen, von dem Heraus-
geber nicht aufgenommenen Lesarten , mit beigefügtem Nachweis
der Handschriften , wenn nemlich eine solche zu geben möglich
war. Durch diese Einrichtung ist eine feste Ordnung in die Zn-
sammenstellung gebracht und die Uebersicht erleichtert. Man er-
sieht daraus aber auch am besten das besonnene Verfahren des
Herausgebers, sein Bemühen an der handschriftlichen Ueberliefe-
rung festzuhalten und sie nicht ohne Noth zu verlassen, wiewohl
auf der andern Seite der Herausgeber in einer Anzahl von Stel-
len, in welchen die handschriftliche Lesart nicht ausreichen
kann, es auch an eigenen Verbesscrungsvorschlägen nicht hat
fehlen lassen , ohne dieselben aber auch sofort in den Text zu
setzen. Davon hielt ihn seine grosse, allerdings nicht zu missbil-
ligende Vorsicht ab. Wir unterlassen es, dazu Belege im Einzelnen
anzuführen, die jeder, der die Ausgabe in die Hand nimmt und
prüfend durchgeht, eben so leicht selbst finden kann: man
wird aber bei einer solchen näheren Durchsicht des Ganzen und
einer sorgfältigen Prüfung bald sich selbst von dem überzeugen
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Minckwlts: Wörterbuch der Mythologie.
895
können, was wir im Vorhergehenden über den Charakter des
Werkes angegeben haben. Möchte es auf diese Weise möglich
werden, für eine Schrift, die so viel gelesen und insbesondere auf
allen Schulen behandelt wird, einen einigermassen gleichmässigen
Text zu gewinnen, der auf urkundliche Treue Anspruch machen
und eben so auch dem Bedürfniss der Schule, welches möglichst
gleichartige Texte verlangt, genügen kann. Nech bemerken wir,
dass S. 268—284 mit doppelten Spalten auf jeder Seite ein Index
hinzugekommen ist, in welchem alle in der Anabasis vorkommen-
den Worte, auch mit Einschluss aller Partikeln, aufgeführt sind.
Druck und Papier werden nur zur Empfehlung gereichen.
Illustrirtes Taschenwörterbuch der Mythologie aller Völker von Joh.
Minckwits. Dritte verbesserte Auflage. Leipzig. Amoldische
Buchhandlung 1866. 620 S. in 12.
Das Wörterbuch, das hier in seiner dritten verbesserten
Auflage vorliegt, zeichnet sich allerdings durch Reichhaltigkeit und
Vollständigkeit in einer Weise aus, dass man kaum ein ähnliches
ihm an die Seite stellen kann: denn es umfasst wirklich die
mythologischen Persönlichkeiten und Begriffe aller Völker, wie der
Titel besagt, insbesondere die der alten Welt. Alle in der Mytho-
logie uud Götterlehre Griechenland' s wie Rom's vorkommenden
Kamen sind in dasselbe aufgenommen und haben eine mehr oder
minder umfassende Erklärung, je nach der mehr oder minder be-
deutenden Geltung des betreffenden Namens erhalten; eben so ist
aber auch Alles, was die ägyptische und die asiatische Götterwelt
betrifft, die nordasiatische, phönicisch-syrische, wie die babylonisch-
assyrische, und ganz besonders die indische bebandelt, ja bis nach
China und Japan erstrockt sich die Bearbeitung. Dass die Personen
der altdeutschen Götterwelt nicht fehlen, war zu erwarten ; es sind
aber auch die betreffenden Erscheinungen der slavischen Welt be-
rücksichtigt und selbst Amerika ist nicht leer ausgegangen, wie
die auf mezicanische Namen bezüglichen Artikel beweisen. Die
Erklärung ist möglichst biindig gehalten und betrifft zunächst das
Thatsächlicbe, die historischen Angaben und Erzählungen, wie sie
ans von jedem dieser göttlichen Wesen überliefert sind ; denn auf
eine tiefergehende Deutung derselben vom physikalischen oder
ethisch-politischen Standpunkt aus konnte der Bearbeiter sich be-
greiflieber Weise nicht einlassen, ohne den Charakter seines Wör-
terbuchs zu verändern, welches dem mit der Götterlehre dieser Völ-
ker nicht näher Bekannten die nöthigen Aufschlüsse Uber die Stel-
lung der einzelnen Götter, Heroen u. dgl. und die daran geknüpften
Sagen zu geben hat, ihn sozusagen mit der Geschichte eines jeden
derselben in kurzer und befriedigender Weise bekannt machen soll.
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306
Mas Jus: Deutsches Lesebuch.
Diesen Standpunkt bat der Verf. durchweg eingebalten ; denn hatte
er auf eine tiefergeben de Deutung dieser Gottheiten und ihrer Be-
ziehungen zu einander sich einlassen wollen, so würde, selbst ab-
gesehen von der grossen Schwierigkeit, überall eine befriedigende
Deutung zu geben , da wo die Standpunkte der Auffassung selbst
unter den Gelehrten noch so verschieden sind, eine solche Behand-
lungsweise der Bestimmung dieses für ein grösseres gebildetes
Publikum bestimmten Wörterbuches nicht entsprochen haben.
Endlich ist noch der artistischen Ausstattung zu gedenken.
Hunderte von Holzschnitten, recht nett gefertigt und eingedruckt
führen uns die betreffenden Gottheiten oder die ihnen beigelegten
Attribute vor und bringen dadurch der sinnlichen Auffassung Alles
nHber. Der Druck ist zwar klein aber sehr deutlich : nur auf diese
Weise war es möglich, einen so umfassenden Stoff in Einem Bande
zu behandeln.
Deutsch f s Lesebuch für höhere Unterrichtsanstalten von Dr. Her-
rn an n Masius. Dritter Theil. Für obere Cl asten. Halle.
Verlan der Buchhandlung des Waisenhauses. 1867. X u. 694 S.
in gr. 8.
Dieses für die oberen Classen unserer Gymnasien bestimmte
Lesebuch bringt eine sehr zweckmässig getroffene Auswahl von
Lesestücken, wie sie in der That geeignet erscheint, Schüler dieser
Altersstufe in ihrer Bildung, namentlich was die deutsche Sprache
und Literatur betrifft, weiter zu fördern, und dadurch mitzuwirken
zur Beseitigung einer Klage, die man mehrfach hier und dort ver-
nommen bat, als würde auf unsern Mittelschulen der deutschen
Literatur nicht die gehörige Sorgfalt zugewendet, und insbesondere
die Bildung unserer Jugend in der deutschen Sprache, im deutschen
Ausdruck vernachlässigt oder doch der Ausbildung in den classi-
schen Sprachen des Altcrtlmms hintangesetzt. Wir halten diese
Klage nicht für begründet, da wir glauben, dass der Unterricht in
den classischen Sprachen ein recht gutes Mittel ist, auch die Bil-
dung im deutschen Ausdruck, im deutschen Styl zu fördern, und
dass ein tüchtiger Lehrer diess nicht aus den Augen verlieren wird.
Die Leetüre deutscher Musterstücke wird aber gewiss am besten,
und selbst mehr als alle Regeln und Vorschriften , beitragen , die
Jugend zur Nachbildung eines guten deutschen Ausdruckes zu fah-
ren, und sie dazu zu bringen, dass sie mit aller Gewandtheit und
Leichtigkeit im schriftlichen wie mündlichen Vortrag auch in der
Muttersprache sich bewegen kann. Von diesem Standpunkt ans
betrachten wir das vorliegende Lesebuch und können ihm daher
auch unsere Anerkennung nicht versagen , da wir von dem Ge-
brauch desselben nur Förderung des bemerkten Zweckes erwarten.
Der Verf. hat nämlich auf die Auswahl der aufzunehmenden Stücke,
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Masius: Deutsche« Lesebuch.
397
und diess ist am Ende die Hauptsache, besondere Rücksicht ge-
nommen, un4 in diesem Bande daher einen andern MaasssVib an-
gelegt, als den, welchen er bei den beiden vorausgegangenen Bän-
den, welche für die unteren und mittleren Classen unserer Bildungs-
anstalten bestimmt sind, allerdings anlegen musste. Bei den vor-
gerückteren Schülern der oberen Classen war auf eine grössere
Mannichfaltigkeit in dem Stoff und Inhalt, wie in der Form und
im Ausdruck zu sehen, insbesondere mehr Werth auf geschichtliche,
rednerische und didaktische Darstellung zu legen und selbst das
literärgeschichtlicbe Moment zu berücksichtigen, wie diess auch der
Verf. richtig erkanut hat. Demgemäss nimmt der prosaische Theil
einen ungleich grösseren Kaum ein, S. 1 -—550, während der poetische
Theil von S. 551—672 reicht. Bei der Auswahl der einzelneu
Lesestücke hat der Verf. nicht blos die classischen Schriftsteller
einer schon hinter uns liegenden Zeit, wie Schiller, Götbe u. 8. w.
berücksichtigt, sondern noch weit mehr diejenigen Schriftsteller, welche
im eigentlichen Sinn unserer Zeitperiode angehören, auch zu einem
nahmhaften Theil noch unter uns leben: dass damit das Ganze
nnserer Anschauungs- und Begriffsweise näher gerückt ist, wird
sich nicht in Abrede stellen lassen, eben so wohl, was den aller-
dings mannichfachen Inhalt betrifft, wie die Form, d. b. die Sprache
der gebildeten Welt unserer Zeit und Literatur.
In der Prosa begreift der erste Abschnitt die erzählende
Darstellung, also Scenen, Erzählungen und Novellen ; der zweite
diebeschreibende Darstellung, d.h. Bilder aus Natur und
Knnst, Sitte und Leben. So z. B. Palästina und seine Woltstellung *
von H. Leo und C. Ritter oder Land und Volk der Griechen von
Cnrtius und Vischer, die südamerikanische Steppe von A. v. Humboldt,
Rügen von Riehl u. s. w. An dritter Reihe folgt (S. 216 ff.) die ge-
schichtliche Darstellung ; sie enthält Biographisches, so wie einzelne
Abschnitte aus der Literatur-, Kirchen- und Staatsgeschichte ; wir er-
innern, um aus der reichhaltigen Zusammenstellung nur einige wenige
Proben zu geben, nur an die Abschnitte: der Eintritt des Christen-
thums in die römische Welt von Ranke, Florenz unter Cosinus von
Medici von K. Hase, Homeros von Lasaulx, Sophocles von A. W. v.
Schlegel, Lessing von Hettner, Gervinus und Viimar. Der vierte Ab-
schnitt befasst die didaktische und rednerische Darstellung, also
Aphorismen, Betrachtungen, Abhandlungen, Reden, ebenfalls ein
reichhaltiger Abschnitt, dem ein gleicher Umfang (von S. 873 —
539) gewidmet ist. In dem poetischen Theile findet sich Lyrisches,
Episches und Didaktisches, berücksichtigt: eine Trennung in drei
Abtheilungen ist nicht vorgenommen, sie wäre auch kaum mit aller
Strenge durchzuführen, da, wo die ausgewählten Stücke nicht immer
so streng in das Gebiet der einen oder andern Gattung fallen,
sondern oftmals in einander übergehen. Mit der getroffenen Aus-
wahl selbst hat man alle Ursache zufrieden zu sein. Schliesslich
haben wir noch der beiden Beilagen zu gedenken, von welohen die
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808
Heinrich IL von Cohn.
ersto eine Erläuterung einiger nicht so leicht verstündlichen Aus-
drücke in den Gedichten Walther's von der Vogelweide, Groth's
u.A. bringt, die andere aber literargeschichtliche und biographische
Notizen Uber die Verfasser der aufgenommene LesestUcke in alpha-
betischer Reihenfolge enthält, was man gewiss recht zweckmässig
finden wird. Und so hoffen wir, dass dem nützlichen Werke die
gewünschte Verbreitung nicht abgehen möge und damit der Zweck
erreicht werde, welcher die Anlage der ganzen Sammlung bestimmt hat.
Ersählungen aus dem deutschen Miitelalter. Herausgegeben von Otto
Nasemann, Vierter Band. Kaiser Heinrich der Zweite. Halle,
Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1S67% XII und
260 S. 8. Auch mit dem besondern Titel: Kaiser Heinrich der
Zweite. Von Adolf Cohn. Halle u. s. w.
Ueber die vorausgegangenen Bändchen ist in diesen Jahrbb.
1864. S. 160 f. 1866. S. 720 Bericht erstattet worden. Das vor-
liegende vierte Bändchen bringt eine Fortsetzung, die in jeder
Hinsicht passend den früher erschienenen Theilen sich anreiht, und
geeignet erscheint, die Zwecke des schönen Unternehmens zu för-
dern, das eben so sehr beitragen soll zur Bildung unserer Jugend,
wie zur Erweckung vaterländischen Sinnes. Nachdem Karl der
Grosse, Heinrich I. und Otto der Grosse geschildert waren, erhal-
ten wir in diesem Bändchen das Bild eines deutschen Kaisers, der
als der letzte aus dem sächsischen Stamme nach Aussen Deutsch-
land geschützt und geschirmt, in seinem Innern Ruhe und Sicher-
heit begründet, und durch Alles das, was er gethan, folgenreich in
die ganze Entwicklung des Mittelalters während seiner zwei und
zwanzigjährigen Regierung eingegriffen hat. Bei dieser Bedeutung
Heiorich's II. ist es begreiflieb, wie seine Regierung Gegenstand
besonderer Behandlung in unsern Tagen geworden ist, und zwar in
verschiedenem Sinne. Für unsern Verf. lag darin nur die Auf-
forderung, auf die Quellen selbst zurückzugehen und die Ergebnisse
seiner Quellenforschung, die freilich in Manchem von den Ansichten
und Urtheilen der Vorgänger abweichen, mitzutheilen. In die ge-
lehrte Behandlung selbst näher einzugehen, lag dem Zweck und der
Bestimmung des Ganzen fern : um jedoch die eigenen, hier nieder-
gelegten Ansichten zu rechtfertigen, namentlich da, wo sie im Wider-
spruch mit der Auffassung Anderer stehen, sind am Schlüsse
(S. 251 — 260) in kleinerer Schrift Anmerkungen hinzugekommenen,
welche für den Gelehrten bestimmt, näher die Gründe darlegen,
welche der Verf. zu einer von seinen Vorgängern abweichenden
Ansicht geführt haben. Auf diese Weise ist der gelehrten Forschung
alle Rechnung getragen. In siebenzehn Abschnitten ist der Gegen-
stand behandelt ; der erste beginnt mit der Königswahl, der letzte
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frk Juste: Le Regent 699
stellt die kirchlichen Reformpläne und den Tod Heinrich1 s II. vor.
Einen besonders anziehenden Abschnitt bildet die Erzählung der
Gründung des Bisthums Bamberg's, welche der Verf. mit Recht als
die dauerndste Schöpfung Heinrich' s betrachtet, mit welcher die
Erinnerung an seinen Namen für alle Zelten vorknüpft ist, S. 73 ff.
Aber auch die verschiedenen Kämpfe in Böhmen und Polen, die
ZQge nach Italien, der burgundische Krieg u. A. werden in gleich
anziehender Weise geschildert , um so zu einem Gesammtbild zu
führen, das seinen Eindruck auf jugendliche Gemüther nicht ver-
fehlen kann. Schliesson wir unsere Anzeige mit den Worten, mit
welchen auch der Verf. S. 249 f. seine Darstellung abgeschlossen
bat; sie mögen zugleich eine Probe derselben abgeben und zum
Beleg unseres Urtheils dienen :
»In schwierigen Zeiten hat Heinrich II. die Zügel der Regie-
rung ergriffen: mit Besonnenheit und Thatkraft hat er, so weit er
Termochte, die Feinde des Reichs abgewehrt, empörerische Lehns-
mannen gebändigt und der Kirche ergeben, ihr dooh nicht in blin-
dem Gehorsam das Wohl des Staats geopfert: wo er gleichwohl
Missgriffe beging oder offenbares Unrecht übte, wie bei dem Ver-
fahren gegen den Herzog von Kärnthen und den Grafen von Ham-
meratein wegen ihrer Vermählungen , oder der Vertreibung der
Jaden aus Mainz, handelte er mit jener Befangenheit, welche er
seiner geistlichen Erziehung verdankte und aus deren Banden er
sich nicht befreien konnte. Die nachfolgenden gewaltigen, glanz-
und sturmvollen Zeiten der fränkischen Kaiser Hessen sein Anden-
ken als das eines thätigen, um das Wohl des Reiches sich redlich
mühenden Herrschers verblassen, und schon vier Menschenalter
nach seinem Abscheiden war nur die Stiftung Bamberg's, in dessen
Dom er mit seiner Gemahlin bestattet worden, in der Erinnerung
lebendig. Da wurden seine Gebeine feierlich erhoben und von der
Kirche wurde ihm der Name verliehen, der ihm fortan geblieben
ist bis auf den heutigen Tag : Heinrich der Heilig e.c — Die
änsaere Ausstattung des Buches in Druck und Papier verdient alle
Anerkennung.
Us fondateurs de la Monarchie Beige. Le Regent d'aprts sea papiera
et d' untres doeuments inedits par Theodore Juste. Bruxel-
les. C. Muguardtf librairie Europe'enne-met?ie maison ä Qand
et ä Leipzig 1867. 213 S. gr. 8.
Dieses Buch lasst sich wohl als der zweite Theil eines grös-
seren Ganzen betrachten, welches unter dem Titel Les fonda-
■ C'ürs de la Monarchie Beige die Gründungsgeschichte der
Benern Monarchie behandelt, und zwar in biographischer Weise,
d. h. in Lebensschilderungen der Männer, die zu der Gründung am
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Th. Juste: Le Regent
meisten beigetragen und mehr oder minder eine Hauptrolle bis zu
ihrer definitiven Constituirung gespielt haben. Ein vorausgehen-
der Band hatte Joseph Lebeu geschildert und dabei aus unge-
d ruckten Documenten Manches , bisher nicht bekannte , und doch,
sowohl in Bezug auf die "Hache, wie auf die Personen Wichtige
beigebracht. Der vorliegende Band enthüll eine ähnliche Schilde-
rung des Baron Surlet de Ch okier, eines Mannes, der zu der
Gründung des neuen Reiches nicht wenig beigetragen und, nach-
dem er im Jahr 1830 zum Präsidenten des Nationalcongresses er-
wählt worden war, bald darauf, als die Errichtung einer Regent-
schaft beschlossen war, durch das Vertrauen seiner Mitbürger zu
der Stelle eines Regenten erhoben ward und als solcher an die
Spitze des neuen Staates vom Februar bis Juli 1831 gestellt war.
So wird die Schilderung der Thätigkeit des Mannes, über dessen
früheren Lebenslauf Weniges zu berichten war, zugleich zu einer
geschichtlichen Darstellung der durch ihn geführten Regentschaft,
welche eine Reihe der wichtigsten Momente für die Feststellung
des neuen Staates umfasst und dabei von Schwierigkeiten jeder
Art, die in der Natur der politischen Verhältnisse lagen, umgeben
war. Nach der Wahl des Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg
zum König von Belgien trat der Mann, der auch in seiner hohen
Stellung die frühere Einfachheit und Anspruchslosigkeit bewahrt
hatte, wieder in das Privatleben zurück, geachtet uud geehrt von
Allen, die ihn kannten , bis zu seiuem Tode. Der Verfasser hebt
die rühmlichen Eigenschaften des von ihm geschilderten Mannes,
nach Gebühr hervor, und da ihm bei seiner Arbeit manche unbe-
nutzte Quellen, Correspondenzen u. dgl. m. zu Gebote standen, so
erhalten wir manche merkwürdige Aufschlüsse über die Entwicke-
ln ng der Verhältnisse in dieser für Belgien so wichtigen Periode.
Fünf und zwanzig »Notes et pieces justificatives« sind der Dar-
stellung angeschlossen , meistens Briefe u. dgl. m. von den bedeu-
tendsten Persönlichkeiten, welche damals in diesen Ereignissen
irgend wie thätig waren. Im Ganzen aber gewinnen wir ein schönes
und würdiges Bild eines einfachen, biederen Mannes, der, auch zu
der höchsten Stelle berufen, nie die Einfachheit und Uneigennützig-
keit seines Charakters verleugnete und von reiner wahrer Vater-
landsliebe in seiner ganzen politischen Handlungsweise geleitet war.
— Die äussere Ausstattung ist eine in jeder Hinsicht vorzügliohe
zu nennen.
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It. 26. HEIDELBERGER 1857.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Bibliothek des Htterarischen Vereins in Stuttgart. LXXXVU, Das
deutsche Heldenbuch nach dem mulhmasslich ältesten Drucke
neu herausgegeben von Adelbert v. Keller. Stuttyart 1867,
Die Bibliothek de9 Stuttgarter litterarischen Vereins hat sich
schon längst eine so allgemeine Anerkennung erworben, dass es über-
flüssig ist, die glückliche Wahl des Gebotenen, die Umsicht und
Sorgfalt des leitenden Ausschusses und der Verwaltung zu rühmen.
Auch die zunächst in Aussicht gestellten Publicationen , worunter
eine vollständigere Ausgabe der Briefe der Prinzessin Elisabeth
von Orleans, das Gedicht des 14. Jahrhunderts Friedrich von
Schwaben , die Chronik der Grafen von Zimmern genannt sind,
werden dem Unternehmen neue Freunde gewinnen. Werfen wir
einen Blick auf die jüngsten Gaben des Vereins, so ist von ganz
besonderer Wichtigkeit die 82. und 83. Publication, Flemings
deutsche Gedichte durch Lappenberg. Es ist wunderbar, dass diess
eigentlich die erste wirklich lesbare und brauchbare Ausgabe der
Gedichte Paul Flemings ist, denn alle früheren Ausgaben, die be-
kanntlich erst nach dem Tode des geistreichen und liebenswürdigen
Dichters erschienen, sind so überaus nachlässig behandelt, dass sie
als unbrauchbar bezeichnet werden müssen. Lappenberg hat sich
um den Dichter und unsere Litteratur durch diese mit gewohnter
Gründlichkeit besorgte Ausgabe ein grosses Verdienst erworben, um so
mehr, als er sich nicht begnügte die Gedichte in zuverlässigster Ge-,
stalt drucken zu lassen, sondern auch bemüht war, die Lebensverhält-
nisse des Dichters aufs gonauste zu untersuchen. Es ist erst da-
durch möglich geworden, die Gedichte zu verstehen ; denn Fleming
hat mit den bedeutendsten Dichtorn das gemein, dass Dichten und
Leben nicht geschieden werden können. Das Licht, das auf diese
Weise die Gedichte Flemings aus seinem Leben erhalten, ist frei-
lich in einem Fall ein recht betrübendes, und geeignet, manchem
den Genuss eines schönen Liedes zu verleiden. Ich meine das be-
kannte innige Gedicht : Ein getreues Herze wissen, dessen Strophen
scbliessen: Mir ist wohl bei höchstem Schmerze, denn ich weiss
ein treues Herze. Die Anfangsbuchstaben der Strophen zeigen, dass
dieses treue Herze seine Geliebte war, Eisgen. Und nun erfahren
wir, dass dieses Eisgen, dieses treue Herz dem Dichter, so bald
es ihn aus den Augen verloren hatte, untreu wurde, und ihn wahr-
scheinlich zur Zeit, als er im fernen Asien sich mit diesen Versen
tröstete, bereits in den Armen eines Andern vergessen hatte. Ist
das nicht betrübend?
LJX. Jahrg. 6. Hell. 26
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40? Bibliothek das literarischen Vereins.
Die nächste Publication bringt Oheim's Chronik von Reichenau,
ebenfalls eine werth volle Gabe, sorgfaltig behandelt von dem t nöti-
gen nnd bereits durch mehrere treffliche Leistungen bekannten
Bibliothekar in Donaueschingen D. Barack.
Es folgt Pauli's Schimpf und Ernst. Man wird dieses Buch,
das einst grossen Erfolg hatte und die lange Reihe deutscher Schwank-
nnd Anecdotenschriften des sechzehnten Jahrhunderts eröffnet, mit
Vergnügen wieder zur Hand nehmen. Einen besondern Werth er-
halt die neue Ausgabe durch eine sehr mühsame, auf langen Studien
beruhende Arbeit, die im Anhang in compendiösester Weise auf
wonigen Seiten gegeben wird, nämlich ein Nachweis über die Ver-
breitung und die Herkunft der einzelnen in dem Buche erzählten
Geschiebt eben. Der Herausgeber, Oesterloy, kann auf den Dank
aller derer, die sich mit solchen Untersuchungen beschäftigen, mit
Sicherheit rechnen.
Die nächste 86. Publication bringt die Reisen des Samuel
Kiechel, herausgegeben von Hassler. Schon früher hat Hassler die
Reise eines Ulmers, Hans Ulrich Krafft, herausgegeben. Der zweite
Ulmer Reisende, den wir jetzt kennen lernen, Samuel Kiechel, lässt
sich allerdings mit Krafft nicht vergleichen, aber er ist doch auch
eine interessante Person, und seine Erzählung verdiente gewiss ver-
öffentlicht zu werden. Im Mai 1585 verliess er Ulm, blos dem
Triebe folgend, sich in der Welt umzusehen, und er erzählt uns
mit der grössten Gewissenhaftigkeit seine ganz planlosen Wande-
rungen, deren Ziel er sich vom Zufall bestimmen Hess. Anfangs
zwar, da er fast nichts angibt, als wo er übernachtet, und wie
weit ein Ort vom andern entfernt ist, meint man verdriesslich, er
hätte ebensogut zu Haus bleiben können. Aber allmählich wird
er redseliger. Zuerst in London geht im der Mund auf. Das dor-
tige Theater, in der Zeit Shakespeare^, der Hof und das >hold-
ßäiig und von der Natur raechtig schön Weibsbildt« machen ihn
beredt, und es gefällt ihm so gut in London, dass er in Folge der
Art, wie er sich mit einigen Freunden am letzten Abend den Ab-
schied erleichtert, in bewusstlosem Zustand aufs Schiff gebracht
wird. Je weiter er von Hause wogkommt, um so gehaltvoller und
interessanter werden seine Berichte. Die Reise dauerte mehr als
vier Jahre.
* - ____
Der Herausgeber hat ein Ortsregister beigegeben und ein Schluss-
wort, in welchem er nicht nur die schönen Eigenschaften des Rei-
sendon hervorhebt, und einige weniger lobenswerthe entschuldigt,
z. B. die deutliche Vorliebe für gute Biere und feine Weine mit
Hinweisung auf den bekannten alemannischen Durst, sondern auch
die zahlreichen Provinzialismen und Fremdwörter erklärt, wobei
er sowohl im Specifisch Ulmischen, als auch in den verschiedenen
andern Sprachen , denen der weitgereiste Mann Wörter entlehnte,
schöne Kenntnisse entfaltet.
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Deutsches HeJdenbnch von Ad. v. Keller.
Mit der nächsten 87. Publica! ion gelangen wir endlich zu dem
Werke, das wir anzeigen wollen, die neue Ausgabe des alten Helden-
bnches. Der Verein hat nach wiederholten Wünsohen den ältesten
Druck genau wieder abdrucken lassen. Auch der Unterzeichnete
gehört zu denjenigen, die diesen Wunsch ausgesprochen haben, und
er ist daher wohl berufen, für die Erfüllung des Wunsches in Bei-
sein uud vieler Anderer Kamen zu danken. Allerdings hat das
alte Heldenbuch, nachdem die darin enthaltenen Gedichte in besse-
ren Texten vorliegen, nicht mehr die grosse Wichtigkeit die man
ihm früher zuerkennen musste ; aber dennoch verdiente es und zwar
genau nach dem ältesten Druck neu herausgegeben zu werden, ein-
lual weil es lange Zeit das einzige Buch war aus dem man die
alten fast vergessenen Heldengedichte kennen lernte, das Buch aus
dem z. B. Lessing schöpfte, und auf welches sich alle, freilich dür-
ftigen, älteren Arbeiten beziehen, und sodann weil es bei kritischen
Arbeiten die Stelle einer Handschrift vertritt und daher benutzt wer-
den muss, was aber bei der ausserordentlichen Seltenheit der vor-
handenen Exemplare fast nicht möglich war. Ich selbst habe bei
meiner Ausgabe des Wolfdieterich den Mangel eines neuen Ab-
drucks empfunden; doch konnte ich mich einer spätem Ausgabe
bedienen.
Nun hat sich A. v. Keller selbst der Aufgabe unterzogen und
sein Name ist Bürge dafür, dass wir niohts zn wünschen übrig haben.
Keller hat nicht nur als Präsident der Verwaltung des Vereins,
sondern auch als Herausgeber zahlreicher und wichtiger Publicatio-
nen die wesentlichsten Verdienste um das Gedeihen des Unter-
nehmens. Man kann auch in der Art, wie alte Werke wieder zu-
gänglich gemacht werden, die Person des Herausgebers erkennen.
Jeder hat seine besondere Art. Keller gibt immer zuerst die Haupt-
sache, den Text in gewisserhafter Treue. Dann litterariscbe Notizen,
die sehr fleissig gesammelt und öfters von grossem Werth sind,
dann zerstreute Bemerkungen zu einzelnen Stellen, die man immer
mit Nutzen lesen wird, und zuletzt ein Register. So ist er auoh
jetzt wieder verfahren. Ich erlaube mir nur ein offenbares Ueber-
sehen zu berichtigen. Die Ausgabe von 1509 wird unter zwei Buch-
staben, zuerst H, dann I aufgeführt, so dass mau bei flüchtigem
Lesen glauben könnte, es gebe zwei verschiedene Ausgaben von
1509. S. 757 sind die Worte »I, Hagenau bei H Gran. 1509,
FeL« zu streichen.
Bei der Herausgabe des Wolfdieterich gebrauchte ioh ein
Exemplar der Ausgabe von 1560, das ich so glücklich war, bei
einem Schweizer Antiquar für mich zu kaufen. Zwar hatte ich bei
einem kurzen Besuch in Darmstadt das dort befindliche Exemplar
des ältesten Drucks angesehen, und mir einige Stellen daraus ab-
geschrieben, aus denen hervorzugehen schien, dass der Unterschied
dor beiden Ausgaben für den Wolfdietrich höchst unbedeutend und
unwesentlich sei. Doch blieb einige Besorgniss, dass bei Verglei-
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404
Deutsches Heldenbuch von Ad. v. Keller.
chung längerer Stellen sich ein grösserer Unterschied zeigen könne,
und dass also meine auf die Ausgabe von 1560 gegründete Unter-
suchung nicht auf den ältesten Druck anwendbar sei. Nun ge-
reicht es mir zur Beruhigung, dass der vollständige Text des alten
Druckes in meinen Häuden ist. Der Unterschied der beiden Aus-
gaben ist wirklich ein ganz unwesentlicher, und die Ergebnisse
meiner Untersuchung bleiben dadurch völlig unberührt. Da aber
auch die Ausgabe von 1560 zu den Seltenheiten gehört, so wird es
Manchem erwünscht sein, wenn ich 'hier, als Nachtrag zu den von
Keller 8. 764 ff. gegebenen Notizen, ihr Verhältniss zum altem Druck
deutlich mache. Der Titel lautet : Das Heldenbuch, Weichs auffs new
Corrigiert und gebessert ist, mit schönen Figuren geziert. Gedruckt zu
Franckfurdt am Mayn, durch Weygandt Han und Sygmund Feierabendt.
Die Zahl 1560 steht an der Seite einer Titelvignette. Die Vorrede
beginnt: > Innhalt des Heldenbuchsan den Leser. Nachdem gut-
herziger Leser diss Heldenbuch zum offteren mal im Druck auss-
gangen, hab ich für gut angesehen, wie ich denn auch von etlichen
guten Freunden dahiu bin bewegt worden, solch Werk ferner inn
den Druck zu bringen. Iunmassen es hie vor Augen, und mit
schönen Figuren zugericht, dergestalt, das der Kauffer ein wolge-
fallen darinn haben mügo, wiewol mann nicht jedermann kan recht
thunc u. 8. w. im übrigen fast wörtlich wie in der Vorrede von
1590, die bei Keller abgedruckt ist. Der Schluss lautet: »Damit
so bitt ich gutherziger Leser, wollet solche meine kleine mühe zu
grossem Danck annemmen, Und dieses Werck euch gefallen lassen,
hiemit wüntsch ich euch viel glück und heyl. F. W. allzeit S. F.«
Es folgt dann auf dem nächsten Blatt: »Erster Theil sagt von
Kaiser Ottniten«. Die im alten Druck voranstehende prosaische
Einleitung steht hier, wie in der Ausgabe von 1509, am Schlüsse,
während sie, wie es scheint, in der Ausgabe von 1590 wieder den
Anfang macht. Die gereimte Vorrede, bei Keller S. 12 fehlt gänz-
lich. Der erste Theil schliesst auf Blatt 73 mit Keller 313,4.
Nach einem leeren Blatt folgt auf Blatt 75 : »Ander Tbeii meldet
von Herr Hugdietricben und seinem Son Wolfdietrichen, wie die
umb der gerechtigkeit willen, offt den trostlosen Leuthen haben
hilff mit ihren trefflichen thaten gethan, neben andern khünen
Helden, so inen in nöten beygestanden.« Dieser Titel ist unrichtig,
denn im zweiten Theil ist nichts von Hugdietrich zu lesen. Der
zweite Theil geht bis Blatt 141 und enthält den ganzen Best des
Wolfdietrich, bis Keller 593. Dann folgt wieder nach einem leeren
Blatte auf Blatt 143: »Dritt Theil zeiget an vom Rosengarten zu
Wormbs, der durch Krimhildin, König Gibichs Tochter ward ge-
pflanzet und gezieret dar durch nachmals der mehrer Theil Helden
und Rysen zu abgang kommen und erschlagen sind worden, c Der
dritte Theil geht bis Blatt 167 und enthält den ganzen Rosen-
garten sammt den Schlussversen bei Keller S. 692. Wieder nach
einem leeren Blatte beginnt auf Blatt 169: »Im Vierdten Theil
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Deutsches Heldcnbuch von Ad. v. Keller.
wird gemeldet von dem kleinen König Lanrin u. s. w. Die Titel-
vignetto dieses Theils ist dieselbo, wie die des ganzen Heldenbuchg.
Lanrin gebt bis Blatt 184, Vorderseite. Darunter steht: Ende des
vierdten nnd letzten Theil diess Heldenbuchs.« Nichts desto weni-
ger folgt auf der Bückseite: In diesem Tbeil findet man wie die
Helden des ersten anf sind kommen, auch wie sie wieder ab sind
gangen u. 8. w. Unter diesem Titel folgt die bekannte Prosa bis
187, Rückseite: »Ende des gantzen Heldenbucbs.« *
Die Holzschnitte sind wie es scheint nach dem alten Druck
wiederholt : es sind genau ebensoviel , und sie haben dieselben
Uebersohriften. nur stehen sie nicht ganz an derselben Stelle. Im
alten Druck nJimlich unterbrechen sie die Strophen : in der jüngern
Ausgabe wird das vermieden und sie dienen als Capitel Überschriften.
Vergleicht man nun den Text mit dem ältern Druck, so ist,
wie schon bemerkt , für den Otnit und Wolfdietrich , der Unter-
schied sehr gering, dennoch zeigt sich, dass der Herausgeber nicht
mit Unrecht auf den Titel gesetzt hat »corrigirt und gebessert«.
Es war offenbar seine Absicht, veraltete Ausdrücke zu entfernen:
z, B. Statt gundent setzt er regelmässig theten, wie 593,24
und gundent in da laben, dafür und theten ihn da la-
ben. So wird 168,20 gemelich, aber nicht sehr passend durch
schwerlich ersetzt. Einige scheinbare Aenderungen sind offen-
bar nichts als Druckfehler, z. B. 176,9 er lasz das buch gehüre,
dafür Er lasz das auch gehewre. Die Hauptsache aber war dem
Frankfurter Herausgeber eine Verbesserung des Versbaus. Um
Hebungen und Senkungen kümmerte man sich damals nicht mehr:
man zählte die Silben ohne alle Berücksichtigung des Tongewichts.
Die Absicht war offenbar, im Hildebrandston jedem Vers mit
stumpfem Reim sechs Silben, jedem mit klingendem sieben zu geben.
Daher werden Verse von fünf Silben, wie sie im alten Druck noch
zuweilen vorkommen, durchaus nicht geduldet: die Mittel, um die
sechste Silbe zu erhalten, sind sehr einfach : es wird beliebig einem
Wort ein e angehängt, oder aus manchen wird manichen gemacht,
oder es wird ein Wörtchen zugesetzt. Z.B. 166,22 Ach Walgund
herre mein. 166,31 wol bey dem eyde mein. 592,25 Stösz und
manichen schlag. 593,20 recht als er todte wer u. s. w. Ganz
ebenso werden klingende Verse siebensilbig gemacht, z. B. 593,9
die doten geist da hetten. Umgekehrt wird ebenso einfach abge-
kürzt, wenn der Vers eine Silbe zuviel hat, z. B. 16,4 geschrifft
vil maniges plat hat eine Silbe zuviel: daher manches. 17,7 in
gestirnen was er weisz, dafür himraelslauff was er weiss. Aller-
dings kommen auch unrichtige Verse vor, aber wahrscheinlich sind
sie als Druokfehler anzusehen; zuweilen ist ein Wörtchen ausge-
fallen, oder ein stummes e stehen geblieben.
Es ist also deutlich, dass das ganze Holden buch systematisch
geändert wurde ; im Otnit nnd Wolfdietrich ist jedoch diese Aende-
rang Dicht sehr in die Augen fallend, weil schon im alten Prack
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406 Deutsches Heldenbueh von Ad. v. Keller.
die Verse meistens die geforderte Zahl der Silben haben, und weil
auch in den Worten nicht viel zu modernisiren nötbig war. Aber
schon merklicher ist der Unterschied im grossen Rosengarten. In
dem altertümlicheren Versbau des alten Drucks wusste sich der
silbenzählende Verbesserer nicht zurecht zu finden ; doch ist das Be-
streben, Verse von gleicher Silbenzahl zu erhalten, überall bemerklioh.
594,4 Wormbs sie d a den namen hat ; da wird eingeschoben, da-
mit der Vers dem ersten: an dem Rein da ligt ein Statt gleich
gebaut sei. Wie im Wolfdietrich sollen die Verse 6, oder 7 Silben
erhalten, daher z.B. 594,15 als man von ir nun seit. 595,2 Und
das man doch Spechte ist sicher ein Bruckfehler für doch da. 12.
mit zwölf gar khunen man. 599,16 Urlaubs er da begerto. Aber
es kommen Verse vor von acht oder sieben Silben mit stumpfem
Reim, wie 595 der eilfte heisset studenfusz; oder 594,10 der het
bey der frawen sein ; diese verwirrten den Verbesserer , er wusste
sie nicht zu bebandeln : daher zeigt er in diesem T heile keine rechte
Conseqnenz.
Noch viel auffallender sind die Aenderungen im kleinen Rosen-
garten. Et beginnt:
Ihr lieben Herren hie besunder
wölt ir vernemen grosse wunder
die vor zeiten geschehen sin dt
wie man es noch geschrieben ßndt
gar sehr weyt in den Landen
von sehr guten weyganden
Sind viel harter streit gesohehen.
Gleich wie es denn dio alten jehen u. s. w.
Der Bearbeiter wollte den damals vorherrschenden Vers von
acht, oder klingend 9 Silben durchführen, und es ist ihm grösaten-
theils gelungen. Da aber der alte Text meistens Verse von 7, aueh
6 Silben hat, so musste die Aenderung eine sehr merkliche sein,
und zuweilen blieben doch kürzere Verse stehen.
Nun entsteht aber die Frage wie sich diese Modernisirung des
Laurin verhält zu dem Druck von Gutknecht in Nürnberg, den
man ins Jahr 1560 setzt. Es wird angenommen, dieser Gutknecht
habe den Text modemisirt und Feyerabendt habe diesen in Nürn-
berg entstandenen Text später in seine Ausgabe von 1590 aufge-
nommen. Man sehe das Deutsche Heldenbuch, Berlin 1866, I, Vor-
rede S. 85. Es zeigt sich nun aber, dass der modernisirte Text
nicht erst in der Frankfurter Ausgabe von 1590, sondern schon
in der von 1560 steht: und zwar ist diese Erneuerung nioht eine
von der Nürnberger verschiedene, sondern der Nürnberger Text
zeigt nur ganz unerhebHöhe Aenderungen, z.B. Vers 14 Weiter so
merckt mein red hie basz lautet ebenso, nur ist mit Verschlechte-
rung des Verses ftirbass geschrieben statt basz. Der Nürnberger
hat am Schlösse die letzten 12 Verse mit dem Namen Heinrichs
WA Ofterdingaii weggelassen. Angeschlossen ist im Nürnberger
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Mittarrntiaer: Die Sprache der Bart
401
Druck wie bei Feyerabendt 1560 die prosaische Einleitung, aber
nicht vollständig, sondern nnr der Abschnitt, der bei Feyerabendt
toi 187 beginnt mit der Uebersohrift : Wie die Held ein end haben
genomen und erschlagen sind worden unnd wie Dietrich von Bern
verloren ist das niemand weist wohin er kommen ist. Zu wissen
als Konig Etzel u. s. w. bisSchluss: Man vermeinet auch der ge-
trew Ekharte sei noch vor Fraw Venus Berg unnd soll auch da
bleiben biss an den Kingston tag, und warnet alle die in den Berg
geben wollen. Im Nürnberger Alles fast wörtlich wie bei Feyer-
abendt; im Schluss hat Gutknecht noch einen Druckfehler; vnd
sey auch da bleiben, statt sol. Es kann nach Allem nicht zwei-
felhaft sein, dass nicht Gutknecht, sondern Feyerabendt den Laurin,
ganz nach denselben Grundsätzen wie das ganze Heldenbuch, mo-
dernisirte. Der Nürnberger Druck ist nichts anderes als ein Nach«
druck der Frankfurter Ausgabe von 1560.
A. Holt/mann.
Die Sprache der Bari in Central" Afrika. Grammatik, Text und
Wörterbuch. Herausgegeben mit Unterstützung der kaiserh
Akademie der Wissenschaften in Wien von Dr. J. C. M Itter»
rutsner , ord. Mitglied der deutschen morgenländischen Ge-
sellschaft in Leipzig, der Akademie der kathol. Religion in Rom
und des Comit&s des Marienvereins sur Beförderung der kathol.
Mission in Central- Afrika su Wien, Oym. Prof. zu Brizen.
8. (XXV, 261 8.). Brixen, 1867. Verlag von A. Wagner* $
Buchhandlung.
Herr Dr. Mittor rutzner, Professor zu Brixen in Südtirol,
bei den Fachgenossen durch mehrere gediegene Arbeiten auf dem
sprachwissenschaftlichen Gebiet längst rühmlich bekannt, hat in
den letzten zwei Jahren, durch ein Zusammentreffen von glück-
lichen Umständen begünstigt, auf dem Feldo der afrikanischen
Linguistik zwei in jeder Beziehung treffliche Arbeiten geliefert:
die 1866 in gleichem Verlag erschienene Dinka-Sprache in Central-
Afrika, und eben jetzt das oben verzeichnete Werk. Beide Werke
knüpfen sich zunächst an die Bemühungen der vom Marienverein
in Wien zur Beförderung der katholischen Mission in Gentrai- Afrika
unterstützten Glaubensboten und zwar an das unter österreichischem
Schutze stehende apostolische Vicariat und dessen Missionsschule
in Chartum, der Hauptstadt des Sudan. Gegründet wurde diese
Mission im Jahre 1848, die Seele des Ganzen war von 1848 an
bis 1858 der in weiten Kreisen bekannte Provioar Dr. Ignaz
Kn ob leebor, der auf einer Reise nach Europa am 13. April
1858 in Neapel starb. Von Chartum aus wurden unter seiner Lei-
tung MissionssUtionen am ober* Nil unter den Negerstämmen der
f'
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408
Mittermtaner: Die Sprach« der Bari.
Dinka und Bari gegründet. Die t) i n k a bewohnen in verschiede-
nen Stämmen im obern Nilgebiet die beiderseitigen Ufer des Babr-
el-abiad in einer Länge von mehr als 100 deutschen Meilen, vom
120—90 n, ßr. am östlichen, vom 10°— 5° fast ausschliesslich am
westlichen Ufer des Stromes hausend. Anstossend an die Dinka im
Süden beginnen die Bari ebenfalls längs den beiden Ufern des
weissen Flusses vom 6° 5'— 3° 85' n. Br. und erstrecken sich vom
280 50'— 800 17' östl.L. von Paris. Bei den Bari wurde von Knob-
lecher 1853 als Station das in neuerer Zeit viel genannte Gondö-
koro (4° 42' 42" n. Br.) errichtet, das als solche bis 1860 unter-
halten wurde, unter den Dinka ward 1854 von B. Mosgan die
Station »Heiligkreuz« (6° 40' n. Br.) gegründet. An beiden Statio-
nen wirkten treffliche Männer, unter denen besonders A. Ueber-
bacber, Frz. Morlang, A. Kaufmann hervorzuheben sind. Dem von
diesen eifrigen Glaubensboten zusammengebrachten sprachlichen
Material haben wir zunächst die Kenntniss der bisher unerforsch-
ten Dinka- und Bari-Sprache zu verdanken. Ein recbt lebendi-
ges und anschauliches Bild über die Verhältnisse bei den Dinka
und Bari geben die von dem Mitglied der Mission A. Kaufmann
erschienenen anziehenden »Schilderungen aus Central- Afrika oder
Land und Leute im obern Nilgebiete am weissen Flusse.« Mit
einer Karte. Brixen und Lienz 1862. Das aus dem Nachlasse
Knoblecher's stammende sprachliche Material befindet sich auf der
kaiserl. »Hofbibliothek in Wien , und auf demselben hatte Franz
Müller sein Werkchen: »Die Sprache der Bari. Ein Beitrag zur
afrikanischen Linguistik«. 8° (84 S.) Wien 1864 aufgeführt, wel-
ches eine kurze Grammatik, eine Auswahl von Losestücken und ein
Glossar, sowohl Bari-Deutsch als Deutsch-Bari, enthält. Während
Müller nur spärliches und dürftiges Material zu Gebote stand,
wurde Herrn Mitterrutzner das Glück zu Theil, aus dem vollen
Borne einer lebendigen Quelle schöpfen zu können, die er schon
bei der Abfassung seiner Dinka - Grammatik mit so feinem Ver-
ständniss nutzbar zu machen gewusst hatte. Nicht nur nämlich
waren zwei Missionäre, die beide mehrere Jahre bei den Bari ge-
wirkt hatten, Franz Morlang 4 Jahre bei den Bari allein, A. Kauf-
mann 4 Jahre theils bei den Bari theils bei den Dinka zu bestän-
digem Wohnsitze nach Brixen zurückgekehrt, so dass sich der Ver-
fasser stets bei ihnen Rathes erholen konnte, sondern es hatte
Morlang 1863 auch einen aufgeweckten Negerknaben aus dem Bari-
Stamme mitgebracht: Franz Xav. Logwit-lo-Ladü. Er war
zu Kopajur bei Gondökoro getauft und hatte sich in der Missions-
schule Chartum, die er von 1853 — 1860 besuchte, als talentvoller
Schüler ausgezeichnet. Logwit hatte ein feines Verständniss für
seine Muttersprache und so war es natürlich, dass er Mitterrutzner
bei seiner gelehrten Arbeit während eines Zeitraumes von 3 Jab-
«n in täglichem Verkehre von unschätzbarem Vortheil werden
musste. Wir selbst verkehrten mit dem edlen Jüngling noch im
<
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Mltterrut£ner: Die Bprache der Barl.
400
Herb8tl866 in Innsbruck, und er sollte eben nach Afrika zurück-
kehren, um unter seinen Landsleuten das Licht der Aufklärung zu
verbreiten, als er am 27. Dec. 1866 in Brixen starb. Mitter-
rutzner versandte damals folgenden Barisch gedruckten Todtenzettel :
Francis-Xaveri Logwit-lo-Ladü, lu atadüe i jur 16 Bari i kiden na
Afrika i kinga 1848, alala ko" piom ti Ngun ko Baba Ignaci Knob-
lecher 1855 i Gondökoro, lu apö teng ko Brixen i Tirol i kinga
1863 , dika kwajye ayökakin katogweanit molo-kötyo-16nyet löke.
Brixen, 27. 12. 1866. Baba Hanna Kutuk-Näculyeng Mitterrutzner,
kadinanit-lönyet , lu mömörökin lu ko töwyli ling (d. h. Frz. X.
Logwit-lo-Ladü, der geboren im Lande der Bari in Mitten von
Afrika im Jahre 1848, gewaschen mit Wasser Gottes v. P. Ign.
Knoblecher 1855 in Gondökoro, der gekommen nach Brixen in
Tirol im Jahr 1863, heute Nachts gab zurück dem Schöpfer Seele-
seine-reine. Brixen, 27. 12. 1866. P. Joh. Gold-Mund (Cbryso-
stomus) Mitterrutzner, Schtiler-sein, der dankt ihm aus Herz ganz).
Als Vorarbeiten hatte Mitterrutzner viele Sprachproben, die
ihm der verstorbene Missionär Ueberbacher geschickt hatte; Mor-
lang hatte eine Uebersetznng der Evangelien, Bruchstücke der bib-
lischen Geschichte und Barisch geschriebene Predigten (die er in
Gondökoro gehalten) nach Europa mitgebracht; Msgr. Kirchner in
Bamberg, der nach Knoblecher von 1858 — 1861 der Missionsschule
in Chartum vorstand, stellte ein Heft Barica zur Verfügung. Die-
ses sämmtiiche Material wurde im Verein mit Logwit in wieder-
holte Verarbeitung genommen und eine besondere Sorgfalt dem
Wörterbuch zugewendet. Auf diese Weise besitzen wir ein gesich-
tetes und zuverlässiges Material, wie nicht leicht für irgend eine
andere derartige afrikanische Sprache. Man wird hiebei lebhaft
an die Entstehung des Tutschek'schen Buches über die Galla-Sprache
(München 1844—1845) erinnert. Während Mitterrutzner sich bei
der Dinka-Sprache noch mehr der hergebrachten Schablone euro-
päischer Grammatikon anbequemt hatte und dadurch der eigen-
thümliche Charakter dieser Sprache nicht immer sofort zur augen-
fälligen Anschauung kam, hat er sich nun bei der Bari-Sprache an
die rationelle Methode gehalten, wie sie Frz. Müller in seinem
Werkchen befolgte, und so hat dieses Bari-Handbuch auch hierin
einen anerkennenswerthen Fortschritt gemacht. Dem eigentlichen
Werke geht voraus eine kurze Schilderung des Landes (S IX — XH),
der Leute (S. XII — XVI), die Geschichte der Mission bei den Bari
(8. XVI— XXI) und die bisherige Erforschung der Sprache (S. XXII
— XXV). Auf S. 1— 92 haben wir I. Grammatik mit Laut- und
Wortlehre, letztere mit vielen trefflichen syntaktischen Bemerkun-
gen und Beispielen. Dabei ist S. 10—15 als Losetibung .ein von
Logwit erzähltes Barisches Thiermarchen mit Uebersetznng, in
welchem der Hase die Rolle des Fuchses spielt. Es ist dieses
Märchen um so interessanter, als dadurch der Zweifel Grimmas ge-
hoben wird, den er über diese Rolle des Hasen (Kinder- nnd Haus-
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Stein: Die Lehre von der vollziehenden Gewalt.
raärchen 1850. 6. Ausg. S. XXIX) gelegentlich eines ähnlichen
Märchens der Basutos in Südafrika ausgesprochen. Es findet sich
jenes Märchen bei Eug. Casalis, Etudes sur la langue S6chuana.
Paris 1841. S. 100—103: le petit lievre. Dann folgen II. Texte
von S. 95 — 156 in reicher Auswahl, und zwar zunächst S. 95 — 109
ein kleiner Katechismus »kurzer christlicher Unterricht«, der auch
als besonderes Büchlein (Brixen 1866, 30 S.) gedruckt wurde und
den Logwit mitnehmen sollte; von S. 109 — 154 die sämmtlichen
Evangelien für die Sonn- und Festtage des katholischen Kirchen-
jahres. Zuletzt III. Wörterbuch S. 159—255, welches sehr
sorgfaltig ausgearbeitet ist. Ein kleiner Anhang auf S. 257—261
gibt ein kurzes Verzeichniss von Wörtern aus der Sprache der
Ngyang-Bara, die westlich von den Bari wohnen.
Die Ausstattung des Werkes ist eine glänzende zu nennen, der
Verlagshandlung gebührt dafür die vollste Anerkennung.
Wir dürfen nicht anstehen, Herrn Mitter rutzner's Werk zu den
bedeutendsten Erscheinungen der Neuzeit auf diesem Gebiete zu
zählen ; der Verfasser hat sich mit seinen beiden Werken um die
Aufhellung dieser bisher dunkeln Partie innerafrikanischer Sprachen
ein bleibendes Verdienst erworben.
Innsbruck im Juni. Bernhard Jfilg.
L. Stein: Die Lehre von der vollziehenden Gewalt, ihr Recht und
ihr Organismus, mit Vergleichung der Rechtssustände von Eng-
land, Frankreich und Deutschland. Stuttgart» Cotta 1865.
Dies ist ein bedeutendes, anregendes Werk. Worin, fragt der
Verfasser in der Vorrede, worin liegt die Zukunft der Rechts-
wissenschaft, die Aufgabe der neuen Zeit für uns? Er antwortet
»in der Auffassung des europäischen Rechtslebens als eines Ganzen,
im Begreifen des einzelnen Volks und seiner Bechtsbildung als
eines organischen Theils dieses Ganzen.«
Zur Erfüllung dieser Aufgabe ist der Verfasser in einer
Richtung vorzüglich befähigt. Er hat die Begabung die Masse der
Einzelnheiten unter leitende Gesichtspunkte zu bringen, den esprit
des lois zu abstrahiren und kritisch zu beleuchten.
Von dieser Seite ist das Buch sehr lehrreich. Deutschen Juri-
sten kann namentlich die Kritik nicht genug empfohlen werden,
die an den vielfach hohlen Phrasen des wunderlichen Conglomerats
geübt wird, das man deutsches Staatsrecht nennt.
Die schwache Seite des Buches liegt aber, abgesehen von der
bekannten Sucht des Verf. mit abstracten Formeln zu klappern,
darin, dass die Einzelnheiten, aus denen der esprit destillirt wird,
oft gar zu oberflächlich und ungenau oder unklar erfasst sind. Dies
soll hier beispielsweise an dem Abschnitt über die geschichtlich»?
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Stein: Die Lohra von der vollziehenden Gewalt. 411
Entwickelung des Gegensatzes von »Gesetz« nnd »Verordnung«,
S. 6 7 ff., gezeigt werden.
Richtig ist die Darstellung dieses Gegensatzes in England, als
eines rein formellen und negativen, wonach das Yerordnungsreoht
der Executive keine andere Grenze hat, als dass die Verordnung
nicht gegen das geltende auf Gewohnheit und Gerieb tsgeb rauch oder
Parlamentsacten beruhende law Verstössen darf. Hier soll nur der
kleine Fehler hervorgehoben worden, dass S. 67 behauptet wird
»der speeifische Ausdruck für den sanotionirten Besch luss der Ge-
setzgebung ist bill.« Vielmehr ist bill der Gesetzentwurf vor der
Sanktion, nach der Sanction heisst er act.
Wenden wir uns zu Frankreich. Hier wird zuvörderst auf die
declaration des droits de l'bomme Bezug genommen. Es folgen
verschiedene Citate aus der Verfassung von 1791, ohne dass aber
diese erwähnt wird. »Dabei, heisst es S. 69, ist der schon ganz
bestimmte Begriff der Verordnung förmlich anerkannt Ch. II. Sect.
4. art. 4 : aueun ordre du Boi ne peut etre exdcute* s'il n'est signe
par lni et contrasigne etc.« Allein dieser Art. hat mit dem Be-
griff der Verordnung im Gegensatz zum Gesetz gar nichts zu thun.
Es wird damit nur die Notwendigkeit der Signatur und Contra-
signatur jeder königliohen Verfügung (ordre) ausgesprochen und
unter ordre fällt nicht nur die »Verordnung«, d. h. der Regierungs-
act der Normen, Regeln aufstellt, sondern auch jeder andere, z. B.
eine Anstellung. Dagegen wird nun sonderbarer Weise gerade der-
jenige Art. der Verfassung von 1791 mit Schweigen übergangen,
der speciell von der Verordnung handelt, nämlich chap. 4. sect. 1.
art. 6 : le pouvoir executif ne peut faire aueune loi mais seulement
des proolamations conformes aux lois pour en ordonner ou en -rap-
peler l'ex^cution.
Theils unklar, theils unrichtig ist die Auffassung der Verfas-
sung von 1793. »In ihr, heisst es, ist der Unterschied zwischen
Gesetz und Verordnung formell klar, obwohl beide der Sache
nach identisch sind, indem beide von der gesetzgebenden Ge-
walt gegeben werden, aber beide sowohl verschieden sind in ihren
Gegenständen als in der Form.« Folgt ein Citat aus den Art.
53, 55 jener Constitution. Also der Sache nach identisch, aber
verschieden in Gegenstand und Form! Nicht ganz leicht zu be-
greifen ! Die wirklichen Thatsachen sind aber diese.
Art. 53. Der Constitution von 1793 sagt: le corps legislatif
propose des lois et rend des decrets. Art. 54 bestimmt, dass die
actes du corps legislatif über gewisse aufgezählte Gegenstände lois
sind, Art. 55 dass die actes des corps legislatif über gewisse andere
aufgezählte Gegenstände decrets sind. Nun kommt aber erst die
Hauptsache, die der Verfasser nicht einmal andeutet, dass nämlich
nach Art. 59 die lois noch einem Veto des Volkes in den assem*
blees primaires unterliegen, die decrets nicht. Wenn nun jede
mögliche, Unterscheidung von Verordnung und Gesetz darauf airuckr
Uigitized by
412
Stein: Die Lehre von der vollziehenden Gewalt.
kommt, dass das eine eine Norm ist, die die vollziehende Gewalt
allein errlässt, das andere eine Norm, die nur nnter Mitwirkung
des Volkes oder der Volksvertretung ergeht, so lässt sich nach
einer Seite hin in den obigen Bestimmurgen der Verfassung von
1793 etwas erkennen, was zur Geschichte des Begriffs von Gesetz
und Verordnung in Beziehnng stehen könnte, nach der anderen
Seite aber fehlt die Analogie. Der Unterschied der lois und d^crets
füllt nämlich insofern mit der Unterscheidung von Gesetz und Ver-
ordnung gar nicht zusammen , als die döcrets der Verfassung von
1793 keineswegs blos allgemeine Normen sind, sondern auch in
rein speziellen Verfügungen, wie z. B. Anstellungen von Beamten,
Erhebung von Anklagen bestehen können. *
Noch fluchtiger ist das über die Constitution von 1795 Ge-
sagte. Von ihr wird berichtet: »dass aus motifs d'urgence dio
Formen der Gesetzgebung von dem Conseil des Cinq Cents über-
gangen werden können ; es ist der Anfang der in Deutschland sog.
provisorischen Gesetze.«
In der That himmelweit verschiedene Dinge! Nach Art. 81
der Verfassung von 1795 können sich die Fünfhundert in dring-
lichen Fällen von gewissen Formen und Fristen der Berathung der
Gesetzo dispensiren (z. B. dreimaliger Lesung). Im Uebrigen kommt
das dringliche Gesetz gerade so zu Stande, wie ein anderes, d. h.
durch die Ueberoinstimmnng des aus dem Conseil des 500 und
dem Conseil des anciens bestehenden Corps lägislatif. Wenn aber
eine gesetzgebende Versammlung sich von gewissen Formalitäten
der Berathung des Gesetzes entbindet, so hat dies nicht die ent-
fernteste Analogie mit dem Fall des provisorischen Gesetzes , das
ohne Zuziehung der Volksvertretung von der Regierung allein er-
lassen wird.
Von den Verfassungen von 1814 und 1880 heisst es S. 64:
in ihnen erscheine »der Grundgedanke des verfassungsmässigen
Verordnungsrechtes, das Recht der vollziehenden Gewalt durch Ver-
ordnungen das Gesetz nicht blos zu vollziehen, sondern auch
zu ersetzen, beschränkt durch das zweite Prinzip, dass keine Ver-
ordnung ein einmal gegebenes Gesetz aufzuheben vermag.« Aber
S. 71 wird von der Charte von 1880 mit Recht gesagt, dass sie
nur Vollzugsverordnungen kenne. Man fragt dann blos, wie beides
zusammenstimme.
In der Verfassung von 1848, raeint Herr Stein, sei »zum
erstenmal die Gewalt einer selbstständigen Verordnung nicht blos
anerkannt, sondern formlich geregelt.« Allein diese Verfassung be-
stimmt nnr Art. 75 : le conseil d'Gtat pröpare les reglemens d'ad-
ministration publique, d. h. er entwirft sie, die Assembler nationale
beschliesst darüber, il fait seul ceux de ces reglemens ä T^gard
desquels l'Assemblöo nationale lui a donne* une del^gation speciale.
Kann man dies ein selbstständiges, d. h. der gesetzgebenden Ge-
walt gegenüber selbstetändiges Verordnunggreeht nennen, da es
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Stein: Die Lehre von der vollziehenden Gewalt. 413
blos auf der rein im Ermessen der letzteren stehenden Spezial-
deiegation beruht?
Die Constitution von 1852 sagt, dass das Staatsoberhaupt fait
les reglemens et decrets necessaires pour l'exücution des lois. Stein
bemerkt dazu, dies sei eine Unwahrheit. In Wahrheit seien die
Decrete eine zweite selbststUndige Gesetzgebung, die sich dem Ge-
setze nur insoweit unterordne, als der vollziehenden Gewalt be-
liebe. Dies zeigten die Decrete vom 2. December 1852 (Herstel-
lung des Kaiserthums) und vom 18. December 1852 (Ordnung der
Thronfolge). Allein wenn man sich auch über den reellen Einfluss
der französischen Volksvertretung keine Illusionen machen kann,
so sind doch obige Angaben formell genommen ganz ungenau.
Die Constitution vom 14. Januar 1852. Art. 31. 32 bestimmte
nämlich, dass Verfassungsänderungen durch Senatusconsulte erfol-
gen, die in gewissen Fällen noch der Bestätigung eines Plebiscits
bedürfen. Der Senat beschloss nun am 7. November die Herstel-
lung des Kaiserreichs, welche das Plebiscit vom 21 — 22. November
ratificirte, und das angeführte Decret vom 2. Dezember 1852 ist
in der That nur die Promulgation jenes Senatusconsults.
Ferner ist das Decret vom 18. Dezember 1852 wirklich nur
ein solches pour Fexecution de la loi. Denn das erwähnte Senatus-
consultum vom 7. November hatte in Art. 4 dem Kaiser die Rege-
lung der Thronfolge durch beeret vorbehalten.
Hinsichts der Geschichte der Unterscheidung von Gesetz und
Verordnung in Deutschland behauptet Stein mit Recht, es gebe
keinen für ganz Deutschland gültigen Begriff von Gesetz und Ver-
ordnung, jede rechtliche Definition habe nur eine örtliche Gültig-
keit, also gebe es auch keine gemeindeutsche Unterscheidung von
Gesetz und Verordnung. Man wird ihm auch zustimmen können,
wenn er ausspricht: der natürliche Entwickelungsgang der einheit-
lichen Bildung des deutschen Staatsrechts führe dahin, das Gesetz
nur als einen formalen Begriff zu erklären, dessen Wesen in
dem formellen verfassungsmässigen Zusammenwirken von Staats-
oberhaupt und Volksvertretung liegt, während die Verordnung
gleichfalls nur ein formaler Begriff wird, dessen Wesen durch das
Zusammenwirken von Staatsoberhaupt und Verwaltungsorganismus
gesetzt ist und dessen Grenze nur darin besteht, dass die Verord-
nung nicht gegen das Gesetz im obigen formalen Sinne Verstös-
sen darf.
Der Verfasser geht jedoch noch weiter. Er behauptet, die
deutschen Verfassungen hätten bis auf die neueste Zeit einen nicht
nur falschen, sondern sogar unmöglichen Weg eingeschlagen, indem
sie eine unhaltbare Scheidung der Gebiete von Verordnung und
Gesetz nach den Gegenständen versuchtem Die Unklarheiten
aufzuzeigen, die diesem Tadel zu Grunde liegen, würde eine weit-
läufigere Darlegung erfordern. Aber eine einfache Erwägung er-
gibt, dass bei Einführung der neuen Verfassungen in
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414
Stein: Di« Letre tob der vollziehenden Gewali
eine Abgrenzung von Gesetz und Verordnung nach der obigen
blos formalen Grenzscheidung practisch-politisch unmöglich gewe-
sen wäre.
Denke man sich ein deutsches Land, bis dahin ohne Volks-
vertretung, dem eine Verfassung octroyirt wird, in der die Stein'sche
rein formale Unterscheidung von Gesetz und Verordnung auf-
gestellt und der Volksvertretung das Recht der Zustimmung zu
allen »Gesetzen« gegeben wäre, was würde die Folge sein? Un-
mittelbar nach Einführung der Verfassung gäbe es gar keine Ge-
setze im formellen Sinne und für die Zukunft ltige es durchaus in
der Hand der Regierung das Zustandekommen solcher zu verhin-
dern, also trotz der Verfassung, vielmehr in Gemässbeit derselben
den ganzen Rechtszustand durch Verordnungen zu bestimmen. Der
prinzipiellen Absurdität dieses Zustandes lässt sich nur dadurch
vorbeugen, dass eine allgemeine Regel anerkannt wird, wonach von
vornherein bestimmte, nieht erst durch den Fortgang der Gesetz-
gebung sich bestimmende Gegenstände oder Gebiete nur durch
»Gesetz«, d. h. mit ständischer Zustimmung geordnet werden
können.
Dies war also für die deutschen Länder, wo im 19. Jahrhun-
dert neue Verfassungen eingeführt wurden, eine Notwendigkeit.
Dagegen ist die obige rein formale Unterscheidung von Gesetz und
Verordnung practisch durchführbar nur in einem seit längerer Zeit
parlamentarischen Lande, wie England, in dem bereits eine aus-
gedehnte parlamentarische Gesetzgebung vorliegt, und es kann also
diese Unterscheidung für Deutschland nicht unmittelbar anwend-
bar, sondern nur ein Ziel der Entwickelung sein.
Stein's Betrachtungen über die einzelnen deutschen Verfassun-
gen zeigen andererseits mehrfach einen bedenklichen Mangel gründ-
lichen Eingehens in die Details.
Unerlaubte Flüchtigkeit bekundet sich gleich bei der Bespre-
chung der ersten deutschen Verfassung, die erwähnt wird. Der
verfassungsmässige Begriff der Gesetze, sagt der Verfasser S. 74,
beginnt erst mit dem Weimarischen Grundgesetz von 1816. Ab-
schnitt II. §. 5. »Es ist bemerkenswert!], dass sich hier die Mit-
wirkung der Stände nur auf die Steuern bezieht und daher die
ganze übrige gesetzgebende Gewalt nach der Verordnung vom
1. December 1815 nur in Verordnungen erscheint. Ein Begriff des
Gesetzes ist noch gar nicht vorhanden.« Diesen stelle zuerst die
bayrische Verfassung von 1818 in der Formel auf, »allgemei-
nes neues Gesetz, welches die Freiheit der Personen oder das Eigen-
thum der Staatsangehörigen betrifft.« Also mit dem Weim arischen
Grundgesetz beginnt der verfassungsmässige Begriff des Gesetzes,
aber in ihm ist ein Begriff des Gesetzes nicht vorhanden!!
Nimmt man sich nun die Mühe, jenes Weimarische Grundsatz
genauer anzusehen, so findet man in §. ß. Nr. 6 Folgendes: Die
Landstände haben
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Stein: Die Lehr« von der vollziehenden Gewell 416
»das Recht an der Gesetzgebung in der Art Tb eil zn neh-
men, dass neue Gesetze, welche entweder die Landesverfas-
sung betreffen oder die persönliche Freiheit, die Sicherheit
und das Eigenthum der Staatsbürger in dem ganzen Lande
oder in einer ganzen Provinz, zum Gegenstande haben , und
ebendesshalb das Allgemeine angehen, ohne ihre, der Land-
stunde, vorgängigen Beirath und ihre Einwilligung nicht er-
lassen werden dürfend
Somit erweisen sich alle angeführten Angaben des Verfassen
als falsch, und es zeigt sich, dass er den esprit des lois vortrügt,
ohne die Gesetze ordentlich gelesen zu haben:
Die württembergische Verfassung §. 88 bestimmt:
»ohne Beistimmung der Stände kann kein Gesetz gegeben,
aufgehoben, abgeändert oder authentisch erläutert werden.«
Wer eine Scheidung von Gesetz und Verordnung nach dem
Gegenstand verlangt, könnte diese Bestimmung als mangelhaft oder
anklar tadeln. Aber Stein müsste mit ihr zufrieden sein , da sie
doch entschieden seinen formalen Begriff des Gesetzes enthält. Was,
sagt er statt dessen? Es war (nach der Württombergischen Ver-
fassung) »zwar richtig, dass kein Gesetz ohne Beistimmung der
Stände gegeben oder geändert werden könne, wohl aber blieb es
offen eine Verordnung zu geben.« Er erkennt aber selbst an, dass
diese dem Gesetze nioht zuwiderlaufen konnte. Es bleibt also un-
verständlich , was er von seinem Standpunkte an der Württem-
bergischen Verfassung auszusetzen hat.
Unzutreffend sind die Bemerkungen S. 74 über die Oldenbur-
gische Verfassung von 1849, Art. 153. 154, welche es versuche
die Grenze von Gesetz und Verordnung dadurch zu ziehen, dass
sie 18 Gegenstände der Gesetzgebung namentlich überweise. In
Wahrheit wird aber dort die Grenze gar nicht zwischen Gesetz
and Verordnung, sondern zwischen der Competenz des allgemeinen
Landtags und der Provinziallandtage gezogen.
Höchst auffallend ist dagegen das Lob, welches S. 75 der
Preussischen Verfassung ertheilt wird, sie habe den allein richti-
gen Standpunkt, den allein richtigen Begriff des Gesetzes, indem
sie die Scheidung von Gesetz und Verordnung nach dem Gegen-
stand fallen lasse und das Wesen des Gesetzes rein formell durch
den Satz (Art. 62) bestimme :
>Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den
König und zwei Kammern ausgeübt.«
Hierwider ist nur zu erinnern* erstens, dass in Preussen noto-
risch Regierung, Kammern und Doctrin übereinstimmend der An-
sicht sind, die Preussischo Verfassung scheide Gesetz und Verord-
nung nicht blos formell, sondern auch nach Gegenständen, zweitens
dass jene Formel doch sachlich gar nichts weiter enthält, als die
oben angeführte der Württembergischen Verfassung, womit Stein
nicht zufrieden ist und die sich auch bereits in der Sächsischen
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416
Stein: Die Lehre von der vollziehenden Gewalt.
Verfassung §. 86, in der Karhessischen §. 95 und der Darmstädti-
schen Art. 72 fand.
Zum Schiusa ein Wort über eine S. 75 irrig behauptete Be-
schränkung der Anwendbarkeit des Begriffs der provisorischen Ge-
setze. S. 75. »Ein provisorisches Gesetz, lesen wir, ist eine Ver-
ordnung über einen Gegenstand, welcher der verfassungsmässigen
Beschlussnahme durch die Volksvertretung unterworfen ist. Es
leuchtet sofort ein, dass dieser Begriff wieder kein deutscher staats-
rechtlicher Begriff ist, sondern nur für diejenigen Verfassungen gilt,
welche die Theilnahme der Volksvertretung eben auf bestimmte
Gebiete beschränkt haben. Denn wenn das Wesen des Gesetzes
in der Gemeinschaftlichkeit der Willcusbestimmung von Fürst und
Volk liegt, so hat kein besonderer Gegenstand .... ein Recht
darauf, gerade durch ein Gesotz geregelt zu werden, während ande-
rerseits auch kein Gegenstand der Gesetzgebung entzogen ist.«
Die Behauptung, dass der Begriff des provisorischen Gesetzes
nur für solche Verfassungen tauge , die die Gesetzgebung auf ge-
wisse Gegenstände beschränken, ruht auf einer Begriffsverwechse-
luug. Stein schliesst nämlich : wo kein besonderer Gegenstand ein
Kocht hat gerade durch ein Gesetz geregelt zu werden, da kann
auch nicht von einer Verordnung mit provisorischer Gesetzeskraft,
d. h. von einer Verordnung über einen Gegenstand die Bede sein,
welcher speziell der Gesetzgebung unterworfen ist. Und in der
That kann die Ausnahme, (provisorisches Gesetz) nur da Statt
haben, wo die Regel (Gesetz) im Allgemeinen besteht. Stein
übersieht aber, dass auch bei seiner rein formalen, nicht ein ftlr
allemal nach Gegenständen gezogenen Grenzscheidung zwischen Ge-
setz und Verordnung ein bestimmter Gegenstand, obschon er nicht
an 8 ich ausschliesslich ins Gebiet der Gesetzgebung fällt, dennoch
in concreto, wenn und soweit er einmal durch Gesetz geregelt
ist, nunmehr wirklich ein verfassungsmässiges Recht hat, nur durch
Gesetz anderweit geordnet zu werden, dass folglich dann insoweit
auch ein provisorisches Gesetz darüber, als Ausnahme von der ver-
fassungsmässigen Regel, denkbar wäre.
Das Vorstehende wird genügen um den Ausdruck des Be-
dauerns zu rechtfertigen, dass der geistreiche Verfasser es oft ver-
schmäht hat, seinen Abstractionen durch sorgfältige und scharfe
Erfassung der einzelnen Thatsachen, auf denen sie ruhen , ein zu-
verlässiges Fundament zu verleiben.
Dr. v. Stockinar.
uigiiizec
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Ir. 27. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR. •
Kühne, Gustav, Deutsche Charaktere. U. Theil. Aus dem Zeit-
alter der Revolution: Georg Forster 8. 176—231. Leipzig
1864. 8.
Unterzeichneter konnte wohl hoffen, durch sein Werk »G. Por-
ster in Mainz 1788 — 1793. Gotha 1863« beizutragen, dass über
diesen vielgenannten Mann sich endlich ein richtiges Ortheil an-
bahne, namentlich dass in künftigen Biographien sein Benehmen
gegen sein Vaterland im wahren Lichte dargestellt werde. Und in
derThat diejenigen, welche vorher ihn entschuldigten oder gar ver-
teidigten, haben bisher meist geschwiegen und durch dies Schwei-
gen gleichsam ihre Zustimmung zu meiner Aburtheilung gegeben.
Da sehe ich vor Kurzem, dass in Kühne's deutschen Charakteren
auch Forster eine Biographie wiederum gefunden hat: und wenn
ea mir sogleich auffallend war, dass Forster immer noch oder
wiederum in einer Sammlung berühmter Deutscher eine Stelle fand
— wie früher in Stricker's, Paldamus' und König's Biographien —
N schien es noch befremdender, dass unter deutschen Charakteren
Forster aufgenommen war, der, wie er selber sagte, an Deutschland
sieb »wie ein Schurke« benahm und eigentlich nie ein Mann von
Charakter war. Doch wir wollen nicht wiederholen, was über ihn
feststeht, sondern wir wollen kurz betrachten was Kühne meint.
Er beginnt zwar sogleich: »dass auf Forstels Namen die An-
klage der Verrätberei ruhe, indem er Mainz den Franzosen in die
iiände geliefert« — was genau genommen nicht wahr ist und nie
von mir behauptet wurde — was aber doch den Verfasser hätte
abschrecken sollen, ihn unter deutschen Charakteren aufzunehmen
— Kühne will aber unter Vaterland nicht »die Scholle, die uns
trägt« verstehen , senst wäre »jeder Auswanderer ein Verräther«
— wie kleinlich und unrichtig! — sondern man verstehe »im
höhern Sinne nur das geistigo Vaterland« was aber Forster nicht
meinte, indem er gerade Deutschland sein Vaterland nannte: und
>so habe damals, wie Klinger das litterarische, so Forster das
politische Deutschland aufgegeben, indem er eine Verjüngung der
Welt erwartete, worin er sich freilich täuschte; daher sollte man,
wo nicht milde, doch mit Besonnenheit zu Gericht sitzen.« Wir
meinen zwar, es sei bisher mit Milde und auch mit Besonnenheit
über ihn geurtheilt worden, indem man z. B. seinen Verrath
an Deutschland damit entschuldigte , dass er ein Pole sei — was
Förster nie meinte — oder indem König mit vieler üeberzeugung
aar ein Schreiben desselben für »landesverrätherisch« erklären
LX. Jahrg. 6. Heft 27
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418 Kühne: Deutsche Charaktere. II."
will (welches letztere der Verfasser nicht zu wissen scheint). Da
aber trotz diesen und anderen Vertheidigungen ich fortwährend ihn
•Vaterlandsverräther benenne (und wenn der Verfasser beisetzt, auch
» einen gesunkenen Menschen«, was ich beiläufig, so viel ich mich
erinnere, nicht that , wenn ich vielleicht auch einmal schrieb : er
sei so tief gesunken) : so will nun Kühne, »wenn's möglich ist, als
Psycholog zu Gericht sitzen, der, indem er anklagt und vertheidigt,
in der Seele des Mannes zugleich ergründet und erklärt. c Wir
haben nun nichts dagegen, wenn man einen Angeklagten auf jed-
wede Weise zu vertheidigen sucht; wir können aber hierbei ver-
langen, dass die speziellen Anklagepunkte fürmlich vorgebracht
werden. Dies thut nun Kühne nicht, erwähnt gar nicht, was ich
und andere ihm vor allem zu Last legten, sondern er spricht weit
und breit Uber manches, und vieles passendes und unpassendes, so
über Forsters Bildung »er sei ein Autodidakt, ohne Dressur einer
Oertlicbkeit« , »ohne frohe und glückliche Jugend«, er sei durch
seine Reise und seinen Vater frühe in litterarischen Streit ge-
rathen, in Deutschland in eine ganz neue ihm fast unbekannte
Atmosphäre gekommen — was wir nicht ganz zugeben, da die
Sprache seiner Kindheit deutsch , seine Eltern Deutsche waren —
in Kassel sei er nicht blos als Naturforscher, sondern auch als
Wunderscbauer, Rosenkreuzer, und durch Jakobi als Philosoph auf-
getreten — wobei Vieles hier, wie wir meinen, ziemlich unnutbiges
vorgebracht wird. — Hierbei wird S. 198 bedauert »die spär-
liche Mittheilung von Forster's Briefen an Sommering (so schreibt
der Verfasser immer falsch statt Sommer ring), indem wir. dem
Plane der Rosenkreuzer durch sie mehr auf die Spur kommen
könnten.« Der Verfasser meint, dass »vielleicht zu viel Männer
von Rang und Macht in diese Bestrebung verflochten waren; dies
ist aber nicht die Ursache, warum Forster's in Frankfurt vorhan-
dene Briefe nicht weiter veröffentlicht werden, sondern wie wir
S. 380 unseres Werkes angeben, was dem Verfasser entgangen ist,
weil sie seine Frau compromittirten. Sein Aufenthalt in Wilna
wird nur kurz berührt. Dagegen seine damaligen Schriften mit
Wärme und Wahrheit gerühmt. Im Jahr 1788 kommt er nach
Mainz und hier finden wir sogleich, wie wenig aufmerksam Kühne
ist und wie wenige Kenntnisse er bei Personen und Sachen hat:
er meint, der Kurfürst Joseph Emmerich habe ihn berufen, der
schon 14 Jahre todt war; und so schreibt er in seiner Eile und
Unkenntniss diesem frommen Mann »einen Anstrich von Freigei-
sterei« zu. Der Verf. hätte sich doch um den Namen des damals
regierenden Kurfürsten umsehen sollen! Ueber die ersten Jahre in
Mainz ist fast nur Lobendes vorgebracht — was wir bei einem
Biograph, der nur feiern will, nicht gerade tadeln; so spricht er
von seinen philosophischen Studien — die eigentlich nie bedeutend
waren — von einigen Aufsätzen — wie er z. B. die Proselyten-
macherei der Katholiken in Mainz in Schutz nahm; zum Aerger
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Kühne: Deutsche Charaktere. TL
419
der Berliner, freilich in Berlin hätte er in ganz entgegengesetztem
Sinne geschrieben. Hierüber meint der Verfasser S. 212: »Mich
dünkt, Forster war im tiefsten Sinne des Wortes ein Deutscher,
weil er an keiner Besonderheit festhielt«, wobei der Verfasser ver-
gass, Forster's Dedikation an den Mainzer Kurfürsten anzuführen,
wo er sich glücklich priess und vom innigsten Dank zu seinem
Wohlthäter überfliesset, weil er ihm sein Vaterland wiedergegeben.
Solche Ausdrücke sind wichtig für die ganze Beurtheilung; der
Verfasser meint »nicht Deutschland, sondern Kur-Mainz gab er
auf«, und er habe nicht, »wie deutsche Generale, dem Feinde
Festungen übergeben, so Mainz den Franzosen überliefert.« Das
haben wir auch immer gemeint, und haben niemals gesagt, dass
Forster an der Uebergabe von Mainz an Custine mit sohuld sei.
Der Verfasser weiss gar nicht, was ich ihm zum Verbrechen an-
gerechnet habe, und wovon ihn nie jemand freigesprochen: ich
machte ihm nicht zum Vorwurf, dass er in den Klub ging, auch
nicht, dass er französischer Beamter wurde n. a. m. Ich stempele
als Vaterlandsverrath seine Anträge im Convent: »Dass der Land-
strich von Bingen bis Koblenz sich von Deutschland ewig lossage
und sich den Franzosen zur Einverleibung anbiete.« Das ist Ver-
brechen, wie es in Deutschland kein schwereres gibt. Und diese
Dinge berührt der Verf. gar nicht; nirgendswo in seinem Leben,
man meint, er hätte mein Buch, gegen das er eifert, nicht gelesen.
Oder hat der Verf. diese graven Vorwürfe absichtlich ausgelassen,
nm die Sache ganz wo anders hinzulenken, da er S. 220 schreibt:
»die härteste Anklage freilich geht dahin, dass er preussisches
Geld annahm und doch Mainz nicht verliess, sogar Präsident des
Jakob inerklubs wurde.« Ich weiss Niemauden, der jenes Geld als
die »bärteste Anklage« nahm, ich habe nur diese Thatsache her-
vorgehoben da man ihn lobte , dass er das Geld nicht nahm,
während in den von Gervinus edirten Briefen Forster wiederholt
schreibt, dass er es empfangen habe. Die Preussen in Berlin konu-
ten es ihm nicht verzeihen und erwarteten desshalb ein anderes
Benehmen. Unnöthig will Kühne hierbei erinnern an Preussen
selbst, das sich von Napoleon Hannover schenken Hess ; genug war
es, wenn man einfach Geldnoth annimmt; aber die Hauptsache
hierbei übergeht Kühne wiederum : Förster nahm als französischer
Administrator Geld von den Mainz halb umlagernden Preussen ;
und Forster selbst fühlte so sehr das Gefährliche , dass ein Jahr
später noch er fürchtete, wenn es bekannt würde, »an der Kehle
gekitzelt zu werden.« Dies bat wiederum Kühne nicht bemerkt.
Ueberhaupt versteht es der Verfasser sonst gut, der vielen unfeinen
and unedlen Worte und Thatsachen zu vergessen und statt deren
nur schönes und gutes vorzubringen, fast wie Forstels Lebensbe-
schreiberin Elise Mayer. So schreibt Kühne: was Forster meinte:
»Die Bauern im Convent haben mich sehr lieb«, dass aber Custine,
dem von Forster sehr geschmeichelt wurde, ihn »einen stolzen
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480
Kahne: Deutsche Charaktere. II.
Lumpen« nannte, übergeht Kühne, und doch hätte man auch dies
dem Gefeierten zum Lobe anrechnen können. Um aber wegen der
Anklagen — denn weiterhin schweigt von solchen der Verfasser
— aus Ende zu kommen, habe ich nicht bemerkt, wie der Verf.
der vom psychologischen Standpunkt ihn vertheidigen will, uns
auch nur andeutet, viel weniger klar macht, wie Forster's $vxh
in die Disposition kam, den Verrath am Vaterland in ihre An-
schauung aufzunehmen und als gerechtfertigt festzuhalten. Ueber-
haupt ist eine Untersuchung oder Rechtfertigung, die sich auf
Psychologie gründet, nirgends im Buche zu finden.
Wenn aber vorliegende Schrift in Bezug auf Verteidigung
von Forster keinen Werth hat und keinen haben kann — denn
in Deutschland kann er nie freigesprochen, wohl aber entschuldigt
und bedauert werden, wie wir es thaten — so müssen wir nur
noch beisetzen, dass Kühne sich auch andere historische Fehler
nicht in geringem Masse hat zu Schulden kommen lassen, die doch
leicht zu vermeiden waren. Schon oben bemerkten wir, dass er
nicht einmal wusste, wer damals in Mainz regierte. Aehnliche
Versehen gibt es viele; wir bemerken einige. Namentlich scheint
der Verfasser die Uebergabe von Mainz an (Justine sich nicht recht
vergegenwärtigt zu haben ; sonst hätte er wohl eineu andern Aus-
druck gewählt als »Custiue eroberte Mainz« ; er hat es durch Ver-
rath Einzelner und durch des Gouverneurs Schwäche überkommen.
Hierbei wird wiederum wiederholt: »Der geistliche Herr habe jetzt
von der Ferne aus durch ein strahlendes (? wahrscheinlich Druckfehler
statt strafendes) Edikt jede weitere Flucht aus Mainz verboten.«
So unwahr hat noch Niemand diese Sache dargestellt : die gewöhn-
liche Sage ist, dass Albini in Mainz nach der Flucht des Adels
Pässe verweigert oder die Flucht dem gemeinen Mann verboten
habe« ; nicht der Kurfürst, nicht aus der Ferne u. s. w. wie über-
haupt damals kein Verbot der Art erging, wie ich bewiess. Weiter:
»Auch Sömmering (immer mit einem R) war mit seiner Familie
fortgegangen, nach Wien.« Richtig ist, dass Summ er ring im März
1792 sich in Frankfurt verheirathete, später nach Wien reiste und
im Oktober, als die Franzosen einrückten, also nicht fortging, viel-
mehr noch nicht zurückgekehrt war und nicht zurückkehrte bis
Juli 1793. Eben so wird über Müller Falsches vorgebracht S. 218:
»er eilte nach Wien, kam wieder, nahm seinen Abschied u. 8. w.«
Das Wahre ist : Müller reiste im Sept. also vor Custine's Ankunft,
nach Wien, eilte nach der Uebergabe von Mainz von dort hierher
— nicht umgekehrt. Hier fügt der Verf. bei : »War in Mainz Ver-
rätherei im Spiel, so lag sie in der schlauen Rathlosigkeit dieses
deutschen Macchiavel.« Noch kein Mensch hat den Müller der Ver-
rätherei dahier beschuldigt, er war auch damals gar nicht in Mainz
anwesend, wie der Verf. irrig meint. Weiter steht auf derselben
Seite: »Jetzt erst nach dem Beschluss der Bürgerschaft trat For-
ster hervor und weil er der Mann von Gewicht war, ernannte man
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Kühne: Deutsche Charaktere. II.
ihn zum Präsidenten des Klubs, zum Chef der Verwaltung.« Wie-
derum falsch und ohne Berücksichtigung der Verhältnisse. Die
Bürpei schuft beschloss nichts anderes als kurfürstlich und deutsch
bleiben zu wollen, und dachte nicht einen Klub zu gründen, was
Boebmer und einige meist aus der Fremde stammende Leute t ba-
ten; Forster widerräth die Bildung eines Klubs anfangs sehr und
nahm nicht Theil — besondors weil er Geld von Preussen erwar-
tete. — Als dieses zögerte und sein Freund Drosch von Strass-
burg kam, ihm eine Stelle in der Verwaltung versprach: trat er
in den Klub am 6. Nov., wurde sofort am 19. Nov. Vicepräsident
der Verwaltung (nicht Präsident) und erst am 29. Dec. im Klub
zum Präsidenten des Klubs erwählt auf neun Monat, wie er auch
Ende Januar abtrat. Wie ganz anders und irrig ist die Vorstel-
lung des Verfassers! Ebendaselbst heisst es ferner: »Weib und
Kind hatte er unter dem Schutz des Freundes nach der Schweiz
geschickt«, sollte heissen : »Anfang December schickt er die Frau
mit seinen zwei Kindern in die Schweiz und im April folgte dort-
bin ihr Freund Huber.« S. 219: »Der briefliche Verkehr mit sei-
nen Freunden in Deutschland blieb unausgesetzt« vollständig un-
wahr, indem seit Ende December jeder Verkehr mit seinen Freun-
den aufhörte. Nur noch einen historischen Schnitzer. S. 228 : »Bald
nach seiner Ankunft in Paris, nöthigte Kalkreuth die Stadt Mainz
zur Kapitulation.« Am 29. März kam Forster in Paris an und am
23. Juli übergab sich Mainz. Kühne hat sonderbare Begriffe von Zeit
und Raum ; auch sonst steht er noch hie und da auf dem Stand-
punkt vom jtingern Deutschland, da er z. B. in der Abtretung
seiner Frau »eine schiefe Idealität, aber keine Ehrlosigkeit, keinen
Mangel an Rechtssinn findet.« Ich halte es nicht nur für unmora-
lisch, sondern auch für rechtswidrig, wenn man seine Frau einem
Ändern abgibt, ohne den Weg Rechtens d. h. ohne Scheidung.
Nicht einmal den richtigen Todestag hat Kühne aus meinem Buche
sich bemerkt. Andere Fehler übergehe ich wie z. B. S. 225: »Im
Marz 1793 eröffnet sich uns die Reihe seiner Briefe an Frau
Therese«; sie fingen im Anfang December 1792 an. S. 224: »Sein
offenes lautes Wort über Char. Corday ist ein Zeugniss des anti-
ken Römersinnes in ihm wie bei Lux.« Forster hat nirgends laut
for sie gesprochen, ein paar Worte in Briefen, die 37 Jahre später
edirt wurden. S. 223: »Forster wurde nach Paris geschickt um
den Schutz des neuen Staates zu erwirken!« Nein, um das Land
zwischen Bingen und Speyer den Franzosen zur Einverleibung an-
zutragen ! Das ist eben die schwere Schuld , die auf ihm lastet ;
aber Kühne umgeht sie oder er will sie gar nicht kennen. Er hat
mein Buch , das er angreift, nicht gelesen , wenigstens weder die
Anklagepunkte sich gemerkt noch sonst auch was über Forster
und seinen Aufenthalt in Mainz u. a. m. historisch genau dort
dargestellt ist, sich für seine Biographie zu eigen gemacht, son-
dern manche verkehrte von mir zurückgewiesene Dinge wiederholt
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422
Kühne: Deutsche Charaktere II.
und auch so viel Fehlerhaftes, Falsches und Unerwiesenes hier vor-
gebracht und breit dargelegt, dass ich unter den vielen Biogra-
phien Forster's, die ich kenne, keiner mich erinnere, die so wenig
Richtigkeit und Wahrheit enthalt. Da also die Rechtfertigung miss-
glückt ist — wie sie überhaupt bei Forster niemals glücken wird
— die Biographie in ihren Thatsachen vielfach verfehlt ist: so
können uns dafür die schönen Worte, die hie und da aus Forsters
Werken ausgehoben sind, die oft treffenden Bemerkungen Kübne's
über Forsters Schriften, die offenen und freien Ansichten des Ver-
fassers, denen wir im Ganzen beistimmen , doch nicht hinlänglich
entschädigen, keinenfalls haben wir aber erkannt, warum Forster
immer noch in eine Sammlung deutscher Charaktere aufgenommen
zu werden verdient.
Ich benutze hier die Gelegenheit, noch auf einiges Andere, was
ebenfalls Forster betrifft, einen prüfenden Blick zu wenden. Dr.
Schauenburg in Düsseldorf hat in Herrig's Archiv für das
Studium der neuern Sprachen und Literatur (XXXVII S. 141 ff)
zu zeigen versucht, dass Göthe in Hermann und Dorothea Gesang
VI unter dem ersten Verlobten der Dorothea, welcher aus Liebe
zur französischen Revolution nach Frankreich ging und dort seinen
Untergang fand , wohl nnsern Forstor im Auge hatte. Dagegen
habe ich nun ebendaselbst XXXVIII S. 470 ff. gezeigt, dass dies
nicht angenommen werden könne, ohne Götbe'n zu verkennen,
welcher in demselben Jahre, wo er in den Xenien gegen Forster
und sein Treiben auftritt, sicher nicht bei der Schilderuug jenes
Verlobten an Forster dachte. Ich würde dieses hier nicht erwähnt
haben, indem die Zurückweisung am angeführten Orte genügt,
wenn nicht Hermann Schauenburg, der iu den Blätter für littera-
rische Unterhaltung 1865 S. 747 auf jenen Aufsatz seines Bruders
hinweisend ihm vollständig beistimmte , sogleich über sich und
seines Bruders Ansicht die Vernrtheilung ausspricht und somit
sichtbar von der Nemesis ergriffen wurde, was ich hervorzuheben
nicht unterlassen möchte. Nachdem er nämlich seines Bruders An-
sicht erklärt hat, schliesst er: »Göthe setzte somit dem Freunde
ein Denkmal aere perennius — so ist dort gedruckt statt aere —
d. h. »längerdauernd als die Luft« (nicht Erz); nun das wollen
wir gelten lassen in Bezug auf Schauenburg^ Ansicht über jenen
Verlobten bei Göthe!
Wenn ich oben bemerkte, dass Kühne mein Buch über For-
ster ohne Aufmerksamkeit gelesen hat: so kann ich dies von einem
andern Beurtheiler desselben nicht sagen. Direktor W. Buchner
in Crefeld hat mein Werk über Forster in den Jahrbüchern für
Philologie und Pädagogik (Band 94 S. 228 ff.) besprochen, im Gan-
zen und in der Hauptsache demselben lobend beigestimmt, aber
Kleinigkeiten auf kleinliche Art herausgehoben und zuletzt gemeint :
»Dass Forster noch immer des Biographen harrt, der nach allen
jetzt vorliegenden Urkunden ihn schildere vom deutschen und
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Kühne: Deutsche Charaktere. II.
428
menschlichen Standpunkt, gerecht und mild.« Vorerst muss ich
hiergegen bemerken, dass meine Schrift keine Biographie Försters
ist, sondern nur dessen letzte fünf Jahre behandelt. Was nun die
Kleinigkeiten betrifft, wobei der Verfasser sich besonders desshalb
aufhält, weil ich auch bei diesen ein Urtbeil, meist ein tadelndes
beifügte: was kann ich dazu, dass auch in Kleinigkeiten Forster
zu tadeln ist? Besser hätte der Verfasser lobende Dinge von Forster
aufgesucht und vorgestellt, aber die fand er nicht. Wie er aber
jenen entschuldigt oder mich tadelt, mag eine Bemerkung zeigen :
Wenn ich meinen Unwillen ausdrücke, dass Forster wio andere
Deutsche an Deutsche in Deutschland französisch schreibe : wirft
mir Buchner vor, dass ich 1856 ein französisches Büchlein über
Guttenberg geschrieben (genau genommen habe ich es deutsch ge-
schrieben und der Eigenthümer der Guttenbergspresse hat es in
das Französische übersetzen lassen). Das Büchlein ist wenig be-
kannt geworden, und auch der Verfasser hätte es nicht gekannt,
wenn ich es ihm nicht, wie ich glaube, geschenkt hätte; somit
bin ich an obigem Vorwurf selbst schuld u. 8. w. Was nun das
noch zu fallende Endurtheil Uber Forster, das nach Buchner noch
zu erwarten ist, betrifft: so ist es sicher, dass vom »deutschen
Standpunkt« Forster das härteste Urtbeil verdient, da sein Be-
streben dahin ging, einen ganzen Landstrich von Deutschland ab-
zureissen und dem Reichsfeind zu schenken — Oder will Buchner
hier mild urtheilen ? — und dass zweitens von »menschlichen Stand-
punkt« ihm aus den letzten Jahren so vieles und schweres zur
Last liegt, dass er während dieser Zeit, wenn man gerecht sein
will , nimmer den Namen edel , — wenn man ihn auch früher
manchmal so genannt haben mag — ja nicht einmal das Beiwort
honestus oder moderatus verdient hat, wenn auch noch einzelne
Handlungen ein Zeichen von früheren besseren Gesinnungen geben
mögen. Daher wird man schwerlich ein milderes Urtbeil über ihn
fällen können, als ich abgab, da ich S. 383 schrieb: »Wir wollen
zugeben, dass Forster ein grosser Naturforscher, ein gelehrter Reisebe-
schreiber, ein vorzüglicher Kunstrichter, ein gewandter Briefschreiber,
ein guter Uebersetzer, einer der besten Prosaiker seiner Zeit war ;
aber weder sein Charakter noch seine Handlungsweise erlauben das
Beiwort edel ihm zu geben, und an dem Vaterland hat er sich das
schwerste Vergehen, den Venrath, zuschulden kommen lassen.« Da-
her bedauern wir ihn, aber freisprechen können wir ihn nimmer,
aach kein milderes ürtheil fallen, ohne uns selbst am Vaterlande
zu versündigen. Dass dies Urtheil das allein richtige sei, dies
hat meine Darstellung von den letzten Jahren Forster's darthun sol-
len und hat es dargethan. Daher habe ich auch Kleinigkeiten be-
urtheilt nicht aus »Gehässigkeit« wie Buchner meint. Dies haben
anch andere Biographen Forsters eingesehen, wie denn ein frühe-
rer Lobredner von Forster mir nach meinen Aufklärungen sagte:
nun komme ihm Forster wie ein gewöhnlicher Literat vor. Buch-
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424 Marmor: Die Uebergabe von Konstan* an Oesterreich.
ner aber, der früher auch einmal eine Biographie Porsters für eine
ephemere Zeitschrift, die illustrirte Welt, wenn ich nicht irre, ge-
schrieben hat, ist von der dort kundgegebenen Meinung Uber For-
ster noch nicht zurückgekommen, sondern will sogar durch Vor-
bringung von einigen unbedeutenden Dingen die Meinung anregen,
man könne noch ein mildes Urtheil über Forster haben, ohne, wie
ich behaupte, durch Parteistandpunkt oder durch Unkenntniss dazu
bestimmt zu werden. Dem Schulmann geziemt es zwar, an dem
Erlernten und Angenommenen festzuhalten, aber nur bis Besseres
vorliegt, wie hier der Fall ist. Vom Verfasser der »deutschen
Ehrenhalle« aber ist zu erwarten, dass er nicht einen Mann wei-
ter feiern. will, der Deutschland dem Feinde verrieth: er frage
sich: wie hätten die Franzosen solch einen Menschen behandelt?
Nur wir Deutsche handeln . so verkehrt und wollen gar nicht zur
Einsicht kommen. So wie ich aber am wenigsten von dem Ver-
fasser der deutschen Ehrenhalle ein solches ziihe Festhalten an der
früheren Ansicht über Forster und meine Aufforderung zu einem
milden Urtheil — das hier gar nicht statt haben kann — erwar-
tet habe; so meine ich auch, dass in die »Neuen Jahrbücher für
Philologie und Pädagogik« eine Besprechung über Forster gar nicht
passe; der Mann gehört weder der Philologie noch der Pädagogik
an ; daher hätte die Becension meines Buches dort keine Aufnahme
finden sollen, sondern musste einer Zeitschrift allgemeinen oder
geschichtlichen Inhalts übergeben werden. Klein.
Uebergabe der Stadt Konstanz an's Haus Oesterreich im Jahre 1548.
Aus dem Archive der Siadt Konstanz, von J. Marmor.
Wien k. Ar. Hof- und Staatsdruckerei, In Commission bei Carl
Gerold' s Sohn, Buchhändler der kaiserlichen Akademie der
' Wissenschaften. 1864. S. 39. 8.
Nicht ohne des Ref. Verschulden sind seit dem Erscheinen der
kleineu aber lehr- und inhaltreichen Schrift zwei Jahre hingegan-
gen, ehe sie zur Kenntnis? der Leser dieser Blätter kam. Und doch
ward auch ihr die Auszeichnung zu Tbeil, dass die Akademie der
Wissenschaften zu Wien für ihre Veröffentlichung eintrat. Die be-
handelte Angelegenheit ist eine der vielen Aeusserungen politischer
und religiöser Beaction, die nach der Schlacht bei Mühlberg ein-
trat. Die Stadt Constanz, seit 1530 Mitglied des schmalkaldischen
Bundes, hatte ungeachtet des 1527 mit Zürich, 1528 mit Bern
abgeschlossenen Burgrechtsvertrags nach dem Siege des Kaisers
die schwerste Schädigung schon darum zu befürchten , weil ihre
Lage — nur durch den Stadtgraben vom thurgauischen Gebiete
der Eidgenossen getrennt, die Kaiserlichen zur grü ästen Energie
auffordern musste, sie nicht vom deutschen Reiche loszulassen.
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Marmor: Die Ueburgabe von Konstanz an Oesterreich. 425
Wohl mochte jetzt allgemein das Gefühl der Reue darüber
herrschen, dass das Schreiben des Kaisers vom 14. Juni 1546,
welches unter Erbieten wesentlicher Vortheile das Ausscheiden aus
dem schmalkaldischen Bunde verlangte, sogar unbeantwortet ge-
blieben war.
Jetzt blieb nur übrig die Aussöhnung mit dem Kaiser nach
Möglichkeit zu betreiben. Die Stadt Hess es daran nicht fehlen.
In beweglichen Schreiben an den kaiserlichen Landvogt zu Nellenburg,
Jakob von Landau, an König Ferdinand selbst suchte sie zuerst
Stundung des gewaltsamen Zugriffs zu erlangen. Aber letzterer
machte seine Aussöhnung als deutscher König von der des Kaisers
abhängig und ersterer erklärte der Stadt, 16. October 1547, dass
er den kaiserlichen Auftrag habe, auf die Güter, Zehnten, Gülten
der Schmalkaldischen Bundesverwandten Beschlag zu legen. Und
schon nach 2 Tagen meldeten die dem Konstanzer Spital Ange-
hörigen von Sipplingen und Hedingen bei Ueberlingen, dass sie dem
Kaiser haben huldigen müssen und von allen Seiten her wurden
durch die bischöflichen Amtleute ähnliche Massregeln in Aussicht
gestellt und nur bis zum Ausgang der Aussöhnungsverbandlungen
mit dem Kaiser kurze Stundung erhalten. Diese Verhandlungen
hatten mit der Bitte um Fürwort an den Kanzler Nicolaus von
Granvella 24. Septbr. begonnen und es wurde zu ihrer Führung
Bürgermeister und Rath den 22. October von der Gesammtbürger-
schaft ermächtigt.
Diese Verhandlungen nun bilden den weitern Inhalt der Schrift.
Während über die Stadt die engste Sperre von den katholischen
Beichsständen verfügt wird, während die Bürger, in ihrer Hoffnung
durch Zürichs Vorwort und die Bemühungen Heinrichs II. den Bei-
stand der Eidgenossen zu erhalten schon 1546 getäuscht, sich an
den Landvogt von Landau, an den bischöflichen und österreichi-
schen Landvogt von Ober- und Niederschwaben Dr. Gienger ver-
geblich wenden, erklärt der Rath dem erstem, dass der Stadt Hal-
tung nicht ein Werk der Verführung, sondern eigenster Ueber-
zeugung gewesen, ja dass sie, obwohl den 19. Februar 1548 ihr
ßundniss authöre, nur mit Bewilligung des andern Theils dasselbe
absagen könne, dass sie aber den Churfürsten von Sachsen, den
Landgrafen von Hessen und die Stadt Strassburg um Einwilligung
zu ihren Versöhnnngsverhandlnngen angegangen und von letzterer
sie auch erhalten habe, dass sie endlich hoffe, Milderung oder Nach-
lasB der angesetzten Strafgelder zu erhalten. Der schwankende
Zustand und die Uufassbarkeit der Verhandlungen dauerte bis in
den März 1548 und wird von dem Fürsprech der Stadt, Dr. Gien-
ger dem Verdachte des Kaisers zugeschrieben, dass die Stadt in
Verhandlung mit den Eidgenossen und dem König von Frankreich
stehe. — Den 17. März endlich wurde das kaiserl. sichere Gebiet
gegeben für die Gesandten, welche »Bürgermeister und Rath der
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426 Marmor: Die Uebergabe von Konstanz an Oesterreich.
Stadt Konstanz zu Uns zu verordnen und abzufertigen haben, Uns
um Huld nnd Gnade untertbäniglicb anzusuchen etc.«
Merkwürdig ist für dieses Stadium der Vorverhandlungen ein
vom Verf. S. 7 angeführter Zwischenfall. Den 8. Nov. 1547 er-
hielt der Stadtrath ein Schreiben des Freiherrn (Ulrich) von 8ax
zu Bürglen, worin ein Gesandter des Raths an ihn begehrt wurde.
Dieser — der Bürgermeister Thomas Blarer, Bruder des Reforma-
tors — traf bei ihm einen Freiherrn von Schwarzenberg, — wie
in einer Anm von Ritter v. Bergmann? wohl lichtig vermuthet
wird, einen Schwager des Herrn von Sax — welcher den Rath
gab, die Stadt solle sich in keine beschwerliche Aussöhnung mit
dem Kaiser einlassen, >da er von einem Herrn den Auftrag habe
den Rath zu warnen, weil er der Stadt, wenn es verlangt würde,
mit Leuten uud Gütern boholfen sein wollte.« Sollte dieser Herr
der Graf Wilhelm von Fürstenberg oder der Herzog von Würtem-
berg gewesen, oder nicht, vielleicht das Ganze eine österreichische
Falle gewesen sein, um die widerspenstige Reichsstadt noch mehr
zu compromittiren?
Der zweite Akt des Drama's beginnt mit der Instruction iür
die vom kleinen und grossen Rath den 14. April zum Reichstag
nach Angsburg abgefertigten Gesandten, den Altbürgermeister
Thomas Blarer, Peter Labbart und Hieronymus Hürus. Diese ging
dahin, zuerst mit Dr. Gienger zu verhandeln und dessen Rath ent-
gegen zu nehmen, den Wunsch auszusprechen, mit dem Kaiser zu-
erst, dann erst mit seinem Bruder zu verhandeln, eventuell, wenn
sie zum Fussfall vor dem Kaiser zugelassen würdeu, diesen zu
loisten und sich in desselben Gehorsam und Gnade zu ergeben.
Würden weitere »Beschwerlichkeiten« von ihnen verlangt, so soll-
ten sie sich dagegen sträuben, nötigenfalls an den Rath berich-
ten, besonders wenn eine solche Handlung »gegen Gott und gutes
Gewissen« und der Bürgerschaft verderblich wäre, den ihnen zuge-
mutheten Eid sollten sie nur in der vom Rath vorgeschriebenen
Weise, oder auf andere ungefährliche Weise leiston , oder weitern
Bericht erstatten, endlich über der Stadt Betheiligung am sehmal-
kaldischen Krieg und die angeblichen Bündnisse mit Frankreich
und den Eidgenossen sich bestens entschuldigen oder rechtfertigen
und wegen des Güterarrestes ihr Möglichstes thun, auch einen ge-
schickten und vertrauten Dollmetscher zu sich nehmen. Mündlich
wurde dieser Instruction beigefügt, dass sie die erbotenen guten
Dienste mehrerer genannten Herrn, des Abts Gerwig Blarer zu
Weingarten, des Grafen Friedrich von Fürstenberg, Sigmund von
Landenberg u. A. mit Dank in Anspruch nehmen sollen. Daneben
erhielten sie unbesckränkte Vollmacht zur Verhandlung Namens des
Raths und der Gemeinde und einen Beglaubigungsbrief an den
Minister Granvella. So ritten sie den 22. April in Augsburg ein.
Granvella war krank und so gaben sie ihr Creditiv an dessen Sohn,
den Bischof vou Anas, der dann auch fortan die Unterhandlungen
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Marmor: Die Uebergabe von Konstant an Oesterreich. 427
leitete. Dieser drückte zwar alle Bereitwilligkeit aus, die Ungnade
des Kaisers zu mildern, hob aber gleich jetzt die neue Beschwerde
hervor, dass Constanz die Augsburger brieflich in ihrer Religion
— offenbar Druck- oder Schreibfehler statt Bebellion — bestärkt
hätte. Auf die desfallsige Entschuldigung oder Rechtfertigungs-
schrift vom 5. Mai erklärte Bischof Granvella den 13, dass er die
letztere wegen Mangels ihres Erbieten* der Rückkehr des Con-
stanzer Bischofs und bestimmter Bussgelder (der in die Sache ein-
geweihte Abt Gerwig Blarer hatte von 50000 Gulden gesprochen)
dem Kaiser nicht vorgelegt habe. Aber würde auch Alles dieses ange-
boten, so könne er sie dennoch der kaiserlichen Gnade nicht ver-
sichern, da noch mehrere Artikel vorbehalten sein möchten.
Die Gesandten erwiederten zunächst ausweichend und gaben
nach vorgängiger Berathung mit ihren Sachwaltern Dr. Mayer und
Seiden den 15. Mai die frühere Eingabe mit Abkürzungen ein.
Jetzt wurde betont, dass die Stadt dem Kaiser unterwürfig sei,
seine Feinde nicht hegen , den Kriegsschaden in Verbindung mit
den andern ausgesöhnten Städten ausgleichen, auch ein oder das
andere Geschütz ausliefern wolle, obgleich sie seit dem Verluste ihrer
Artillerie im Schweizerkriege (Treffen beim Schwaderloch vg.
Schreckensteiu »Wolfgang v. Fürstenberg etc.«) wenig Stücke mehr
besitze, dass sie aber hoffe, namentlich bei der drohenden Aus-
wanderung der Vermöglichen nur wie die geringem Städte be-
handelt zu werden und dass sie bäte, die bischöfliche Frage nicht
in die gegenwärtige Verhandlung zu mengen Gerade an diesem
Tage aber wurde die letztere noch verwickelter durch die gleich-
zeitige Verkündung des »Interim.« Wahrscheinlich schlössen sich
die Gesandten der Antwort an, welche im Namen der freien Reichs-
städte Jakob Sturm 19. Mai einreichte, die übrigens vorerst vom
Kaiser nicht ungnädig aufgenommen wurde. Gleich des folgenden
Tages wurden die Gesandten zu Granvella d. j. berufen, welcher
viel von der Ungnade des Kaisers sprach und ihnen rieth »sich
jetzt dazu zu schicken, denn was jetzt versäumt würde, könnte
später nicht mehr geschehen.«
Den 3. Juni wurdeu die kaiserlichen Bedingungen eröffnet. Sie
lauteten auf unbedingte Unterwerfung auf Gnade und Ungnade,
Wiederaufnahme von Bischof und Stift nebst deren Entschädigung,
Annahme und Besoldung eines kaiserl. Hauptmanns mit 400 fl.,
Abschaffung aller Bündnisse, Annahme der geistlichen und welt-
lichen Verordnungen, welche der Kaiser für Konstanz treffen werde,
Ablieferung etlicher Feldgeschütze und einiger Tausend Gulden,
schliesslich Auslieferung des cburpfälziscben Rentmeisteis Gabriel
Arnold. In einer Bittschrift auf Milderung dieser Bedingungen
(13. Juni) beschwerten sich die Gesandten natürlich vorzüglich
gegen die Wiederkehr der katholischen Geistlichheit und den kai-
serlichen Stadthauptmann, und als der Bischof in persönlicher
Audienz darauf bestand und den Reformator Ambros Blarer, der
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428 Marmor: Die Uebergabe von Konstanz an Oesterreich.
inzwischen zu Augsburg sich eingefunden hatte und seinen Bruder,
den Altbürgermeister, hart anfuhr, machton sie eine letzte Redaction,
in welcher sie wegen der genannten Punkte erklärten, sie dürften
so wichtige Dingo nicht hinter dem Rücken des Raths verwilligen.
Es wurde ihnen zum Bericht an den Stadtrath erst 8 Tage, dann
bis zum 16. Juli Frist gegeben, zugleich aber verlangt, dass die
Angelegenheit vor die gesammte Gemeinde gebracht werde. —
Wahrscheinlich glaubten die Räthe dos Kaisers sich schon der
Majorität sicher und zwar nach Berichten, wie wir unten angeben
werden , die wahrscheinlich ein wohl unterrichteter Parteigänger
der Oesterreicher erstattet hatte. Die Bescblussnahme durch die
Zünfte aber, den 12. Juli t fiel anders aus; es wurde mit Mehr-
heit ein Schreiben des Raths an den Kaiser angenommen, in
welchem die Stadt zwar zur Ablieferung von 8000 Gulden und
4 Kanonen sioh erbötig machte, diejenigen Artikel aber, welche
ihre Religion gefährden, ablehnt und den Kaiser auf das Be-
weglichste bittet, nicht zum Ruine der Gemeinde darauf zu be-
stehen. Als die Bittschrift den 16. Juli dem Bischof von Arras
überreicht wurde, verweigerte er ihre Annahme, weil der Kaiser
kein Schreiben einer ungesühnten rebellischen Stadt annehme ; nur
eine Abschrift nahm er entgegen. Hiertiber aufgebracht berief der
Rath [wohl etwa den 21. Juli, und kam der Erlass an die Ge-
sandten etwa den 26. Juli] die Gesandten ab, die aber ihre
Befürchtung aussprachen, man möchte dieses als Halsstarrigkeit
auslegen und baten sie noch einige Tage warten zu lassen , bis
kaiserliche Autwort erginge. Diese gab der Bischof Granvella den
5. August, nachdem er die Gesandton bis gegen 5 Uhr Abends
hatte warten lassen, beim Durchgang vom Mittagsmahl in den
Garten dahin, dass kaiserliche Majestät »befind, dass die von Kon-
stanz sich zu der Aussöhnung nicht schicken wollen, weshalb J. M.
alle Handlung abgoschuitten habe.«
Hiemit endigten die Geschäfte der Gesandtschaft; des andern
Tags wurde die Reichsacht über Konstanz verhängt und veröffent-
licht, die Gesandten kehrten schleunigst nach Hause zurück, um
unterwegs zu vernehmen, dass der spanische Oberst Alphons Vives
am Tage der Veröffentlichung der Acht einen Sturm gegen Kon-
stanz unternommen und die Vorstadt Petershauseu niedergebrannt
habe, aber zurückgeschlagen worden und gefallen sei.
Die nochmaligen Versuche, die Eidgenossen und die schwäbi-
schen Ständo zur Verwendung für die Stadt zu bewegen, schlugen
fehl; letztere gaben, erstere erhielten vom Kaiser schnöde Abwei-
sung. Den 18. August wurde das Interim in der Stadt verlesen,
den 10. September zwar noch einmal beschlossen, nicht sogleich
sich dem Kaiser unbedingt zu unterwerfen, sondern den Erfolg der
eidgenössisebeu Verwendung abzuwarten. Doch da die Nachricht
von der Erfolglosigkeit derselben eintraf [dieses hätte der Verf.,
da er S. 39 zum Schlüsse eilte, doch betonen sollen], ging die
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Marmor: Die Uebergabe von Konstanz an Oesterreich. 420
politische und kirchliche Reaction mit raschen Schritten vorwärts.
In diese Tage fällt, was der Verf. nicht erwähnt und auch J. Eise-
lin (Geschichte and Beschreibung der Stadt Konstanz S. 166) nicht
mit dem Datum belegt hat, der Vorwurf gegen die Gesandten,
dass durch ihre Zähigkeit es nicht zur Aussöhnung gekommen sei
und in Folge dessen die Entsetzung Th. Blarers von der proviso-
risch verwalteten Bürgermeisterwürde durch die definitive Wahl
eines offenbar österreichisch gesinnten Zunftlers, des Bäckermeisters
Zündelm. Dieser lässt den Abt Gerwig Blarer über die Unter-
werfung der Stadt unter das Haus Oesterreich unterhandeln ; ihnen
geht durch Versprechungen goldener Berge ein Konstanzer Reis-
läufer, Hauptmann Egli zur Hand, der als spanischer Soldat bei
dem Sturme des Alpbons Vives mitgewirkt hatte, jetzt bei der
Österreichischen Heeresabthoilung steht, die Freiherr von Pollweiler
zu Bregenz zur Vollziehung der Reichsacht sammelt, nnd, wie sicher
anzunehmen ist, schon vorher mit Zündelin und seinen Gesinnungs-
genossen in Verbindung stand. Jetzt trieb er sich zu Konstanz
hemm und bei einer Zunftumfrage, bei welcher Zündelin die der
katbolischen Geistlichkeit aus naheliegenden Gründen holden Fischer
nnd Bäcker in's Vordertreffon schickt, ward den ll.Oct. mit einem
Mehr von 50 Händen die Unterwerfung unter Oesterreich beschlos-
sen. Wir hätten gewünscht, dass, dem Titel seiner Schrift ent-
sprechend, der Verf. gerade dieses Abspielen der Katastrophe ein-
gangiger behandelt hätte, zumal der Ausruf Thomas Blarers nach
der Abstimmung: »So erbarm* sich Gott, dass ich in Augsburg
nicht anders gehandelt bab', als was ihr mir befahlt!« klar an-
deutet, dass auch jetzt noch, in der zwölften Stunde, das Verfah-
ren der Gesandten einer Kritik unterworfen wurde.
Der Verfasser drückt sich (S. 39) hierüber so aus: Wie man
einerseits die verblendete Hartnäckigkeit des Rathes und der Bür-
ger von Konstanz und anderseits das Verfahren des Kaisers an-
sehen mag, so wird man doch anerkennen müssen, dass Konstanz
würdig gefallen etc.«
Wir glauben, dass Gesandte und Rath mit Erfolg nioht anders
bandeln konnten und dass eben die Lage der Stadt, als Brücke
zwischen den vorarlberg*schen , schwarzwäldischen und rheinthali-
schen Besitzungen Oesterreichs der Nagel am Sarge ihrer Reichs-
freiheit war.
Allerdings hätte mit einem Anerbieten von einem Dutzend
Feuerschlünden und 50000 Gulden die Stadt von vorneherein bes-
sere Behandlung von Seiten des Bischofs von Arras sich erkaufen
können. Allerdings hätte die Aufnahme des Domcapitels und des
Bischofs bei freier Ausübung ihrer Religion durch die Bürger-
schaft ebenso gut als zu Worms , Strassburg u. s. f. bei'm Augs-
burger Religionsfrieden sich verwinden können; der Bischof hätte
ebenso wohl, als früher und später seinen Sitz wieder zu Mersburg
genommen, wo er allein herrschte. Aber die Aufnahme eines kaiser-
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430 Ueberweg n. Er d mann: Omndr. d. Oes eh. d. Philosophie.
liehen Stadthauptmanns — natürlich mit einer Garnison war dem
Verluste der Reichsfreiheit gleichbedeutend. Und eben darum be-
stunden die kaiserlichen Käthe so fest darauf.
Auch andere Umstände deuten dahin. Weniger vielleicht, dass
unter nichtigem Vorwande (S. 28) zwei Walsche sich spähend zu
Konstanz sich aufhielten (Juni 1548) und von dem städtischen
Marksteller — ein zu erklärendes Wort , Marstaller- Poststallmeister
der Stadt — nach Tuttlingen (wo die Spanier lagen) geführt wer-
den wollten, denn dieses konnte auch leerer Argwohn sein. Wohl
aber die schon oben angedeuteten Verbindungen der Oesterreicher
in der Stadt, ohne welche Egli und Zündelin sich gewiss nicht so
gleich zusammengefunden hätten, und schliesslich der Ueberfall der-
selben, während ihre Gesandten bei'm Kaiser waren und zwar ge-
rade am Morgen der Achterklärung. Dass der letztere Umstand
dem spanischen Obersten nicht unbekannt war, möchten wir ans
dem Umstände schliessen, der S. 37 angeführt ist. Als die Ge-
sandten den 7. August bei Memmingen an die Iiier kamen, be-
gegnete ihnen mit der Post ein kaiserlicher Commissär, der zn
Konstanz gewesen — in welchen Geschäften ? — mit einem Metz-
ger, die damals wohl die besten Wegweiser waren, ans Ravens-
burg und der letztere gab einem der Gesandten, seinem Zunftge-
nossen Labhart die erste Nachricht vom Ueberfalle der Stadt.
So klein die Schrift ist, so gibt sie in ihrer actenmässigen
Genauigkeit einen höchst anerkennenswerthen Beitrag zur Geschiohte
des Interims nnd wir können dem Verf. und der österreichischen Aka-
demie der Wissenschaften nur Dank für ihre Veröffentlichung wissen.
Mannheim, Juni 1867. Fickler.
1) Grundriss der Geschichte der Philosophie von Thaies bis auf
die Gegenwart. Von Dr. Friedrich Ueberweg, ausser-
ordentL Professor der Philosophie an der Universität *u Königs-
berg. Erster Theil. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auf-
lage. Berlin 1865, Druck und Verlag von E. 8. Mittler und
Sohn. 2. Aufl. Erster Theil, XI u. 244 S. Zweiter Theil, 1866,
XU und 239 8. Dritter Theil, 1866, VW und 327 S. qr. 8.
2) Grundriss der Geschichte der Philosophie von Dr. Johann
Erdmann, ordentl. Professor der Philosophie an der Uni-
versität zu Halle. Berlin. Verlag von Wilhelm Herts (Bes-
ser9 sehe Buchhandlung). London: Williams u. Norqate. Erster
Band, Vlll und 622 8. Zweüer Band, Vlll und 812 8. gr. 8.
Vor dem Erscheinen der oben genannten beiden Grundrisse
war die Sch weg ler' sehe »Geschichte der Philosophie im Um-
risse« (Stuttgart, 1848) in allgemeinem Gebrauche und für das
Alterthura benutzte man, um die Umrisse etwas genauer zu er-
L
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TJeberweg u. Erdmann: Orundr. d. Gesch. d. Philosophie. 431
fassen und sich mit einiger Literatur vertraut zu machen, Sch weg-
lers Geschichte der griechischen Philosophie (heraus-
gegeben von C. Köstlin, Tübingen, 1859). Die schnell hinter ein-
ander folgenden Auflagen des Sch wegler' sehen Umrisses bewiesen,
wie sehr das Unternehmen einem wirklichen Bedürfnisse der Stu-
dierenden entgegen kam.
Es ist gewiss eines der Haupt Verdienste der neuern, insbeson-
dere der Hegel'scben Philosophie, dass ihr Entwickelungsgang nicht
nur zu einer scharfen Kritik im Studium der Gottes- und Rechts-
wissenschaft geführt, sondern dass auch die Geschichte der Philo-
sophie unter diesem kritischen Einflüsse in Deutschland bedeutende
Fortschritte gemacht und bleibende Resultate errungen hat. Die
wichtigsten Erfolge wurden für das Alterthum in den grösseren
Werken von Zeller und Brandis, für die Neuzeit durch Erd-
mann und Kuno Fischer gewonnen. Zu einem für Studierende
und Lehrer gleich nothwendigen, zusammenfassenden Ueberblicke
sind die hoch verdienten Werke dieser Gelehrten zu weit angelegt
und gerade der so bedeutende Fortschritt der Geschichte der Phi-
losophie lässt uns eine Znsammenfassung als dringend geboten er-
scheinen. Der Schwegler'sche Umriss entspricht wohl im Allge-
meinen dem Geiste des Fortschrittes in der Wissenschaft Er zeich-
net die allgemeine Tendenz der philosophischen Systeme klar und
scharf und unterscheidet genau das Wesentliche, welches den allge-
meinen Entwickelungsgang der Philosophie und ihrer Systeme um-
fasst, von dem Ausserwesentlichen, das sich nicht auf die allgemeine
Tendenz und den allgemeinen Charakter der philosophischen Systeme
bezieht. Allein wir erhalten, da der Verfasser dieses Umrisses
nicht in die einzelnen Theile der philosophischen Systeme eingeht
und im Umrisse ohne alle Belege, in der Geschichte der griechi-
schen Philosophie nur mit spärlichen Belegen seine Darstellung
gibt, also natürlich auch in keine einzelne kritische Forschung ein-
geht, keinen Begriff von der Wissenschaft der Geschichte der Phi-
losophie, wie sie sich unter den Einflüssen kritischer Forschungen
entwickelt hat. Dogmatisch wird dem Leser im Umrisse das
System geboten, ohne dass er durch Kenntniss der kritischen Streit-
fragen in den Stand gesetzt ist, selbst zu entscheiden, auf welche
Seite er sich wenden soll. Fehlt doch die Berührung solcher Fragen,
ja selbst nur der Hülfsmittel dazu ganzlich.
Hieraus geht zur Genüge hervor, dass ein Grundriss, wie der
Schwegler'sche, zur wissenschaftlichen Ausbildung nicht mehr hin-
reichend sein kann. So kommen die beiden vorliegenden, von zwei
r ö limlichst bekannten selbstständigen Forschern stammenden Werke
dem neuen Bedürfnisse entgegen, auf der Grundlage der fortge-
schrittenen Forschung und mit übersichtlicher Erkenntniss dersel-
ben eine das Wesentliche in den Systemen und ihren einzelnen
Theilen zusammenfassende Uebersicht der Geschichte der Philoso-
phie zu gewinnen. Da die Verfasser beider Werke auch als selbst-
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432 Ueberweg u. Erdmann: Ornndr. d. Gesch. d. Philosophie.
ständige Denker im Gebiete dieser Wissenschaft erfolgreich arbei-
teten, so ist natürlich, dass ihre Gescbichtsdarstellung anch for-
schend in ihre Aufgabe eingreift.
Wie sehr die Arbeit des gelehrten Herrn Verfassers von Nr. 1
dem Bedürfnisse der Lehrer und Schüler entgegenkommt, zeigt die
günstige Aufnahme, welche sie in weiten Kreisen gefunden hat und
die rasch auf die erste (1862) erfolgte zweite, durchgesehene und
erweiterte Auflage.
In der zweiten Auflage des ersten T heiles wurden die
eigenen und fremden Forschungen seit 1862 aufgenommen und die
literarischen Angaben bis zur Gegenwart fortgeführt, auch einzelne
Partien, besonders in der Darstellung der ersten Periode, aus den
Quellenschriften erweitert. Die äussere Anlage ist dieselbe ge-
blieben.
Der erste Band enthält das Alterthum oder die vor-
christliche Zeit. Die Einleitung umfasst den Begriff der
Philosophie und der Geschichte, die Methoden der Geschichtsbe-
trachtung, die Quellen und Hülfsmittel der Geschichte der Phi-
losophie. Zuerst wird die Philosophie der vorchristlichen Zeit
charakterisirt. Als allgemeiner Charakter wird S. 15 angegeben
»die vergleichsweise noch unmittelbare und des vollen Bewusstseins
von dem Gegensatze und von der Ueberwindung des Gegensatzes
ermangelnde Einheit des Geistes in sich und mit der Natur.« So-
dann wird kurz von der »so genannten orientalischen Philosophie«
gehandelt und hierauf der Ueborgang zur eigentlichen Philosophie
des Alterthums, zur griechischen, gemacht. Die Anlage, Eintheilung
und Ausführung der letzteren sind auch in der zweiten Auf-
lage dieselben geblieben. Es werden drei Perioden der griechi-
schen Philosophie unterschieden: 1) die vorsophistische oder die
Herrschaft der Kosmologie (S. 29 — 67), 2) die Periode von den
Sophisten bis auf die Stoiker, Epikureer und Skeptiker oder die
Begründung und Vorherrschaft der Anthropologie als der Lehre*
von dem denkenden und wollenden Subject (Logik und Ethik,
S. 67 — 196), 8) die Periode der Neuplatoniker und ihrer Vor-
gänger oder die Vorherrschaft der Theosophie (S. 196 — 234). Den
Schluss bildet die Tabelle über die Succession der Scholarchen
in Athen (8. 235—237) und Berichtigungen und Zusätze (S. 239
— 244). Durch reichlichere Mittheilungen von Quellenschriften, be-
sonders in der ersten Periode, durch das sorgfältige kritische Ein-
gehen in die seit 1862 erschienenen Forschungen hat die zweite
A u 8 g a b e , ohne an Umfang unverbältnissmässig zugenommen oder
die Grenzen der Aufgabe eines möglichst erschöpfenden Umrisses
überschritten zu haben, bedeutend gewonnen.
(Fortsetzung folgt.)
b. 28. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Cebcrweg u. Erdmaaa: Grundriss der Geschichte
der Philosophie.
(Fortsetzung.)
Auch vom zweiten Bande liegt eine zweite, durchge-
sehene und erweiterte Auflage vor. Er enthalt die Geschichte
der patristischen und 8 cholastischen Zeit. Hier war
die oberste Norm, welche so leicht der durch theologischen Ein-
flussbedingte Standpunkt übersieht, > nicht spaterer Zeit entstammte
Reflexion oder Speculation über die Geschichte, sondern die Ge-
schichte selbst im treuen Miniaturbilde darzustellen.« Man darf die
eigene Speculation nicht in die Geschichte hineinlegen. Diesen
Fehler begeht besonders der Darsteller der christlichen Philosophie
anter dem Einflüsse bestimmter religiöser Anschauungen. Auch
hier gilt für die Geschichte der Philosophie das Gesetz der Ob-
jectivität in der historischen Darstellung, wenn gleich damit die
specnlative Entwicklung der philosophischen Systeme nicht ausge-
schlossen ist. Philosophische Systeme können nur mit philosophi-
schem Geiste entwickelt werden; aber man darf sie nicht, indem
man sie einem modernen Systeme aubequemt, zu etwas raachen,
was sie nicht sind. Die Geschichte der Philosophie muss philoso-
phisch dargestellt werden ; aber sie darf nicht kantisch oder hege-
Kch sein, d. h in längst vergangenen Anschauungen nach einem
modernen Systeme zugestuzt. Diesen Fehler hat das vorliegende
Buch vermieden und verdient darum nicht nur durch seine um-
fassende Gründlichkeit, sondern auch durch seine Unbefangenheit
die beste Empfehlung für jene, denen es nicht um eine bestimmte
Parteifarbung, sondern um die naturgetreue Entwicklung des ge-
schichtlichen Stoffes der Philosophie zu thun ist. Für die Entwick-
lung der philosophischen Gedanken in diesem Abschnitt war die
Aufnahme dogmengeschichtlicher und allgemein theologischer Ele-
mente in so weit nöthig, als diese zum Verständniss des Ursprungs
nnd der Bedeutung der christlichen Philosophie, besonders in der
patri8 tischen Zeit nothwendig erschien. In der scholasti-
schen Zeit ist die strengere Absonderung der philosophischen und
theologischen Aufgaben dem Ziele, welches eine Geschichte der
Philosophie verfolgt, entsprechender, und da die Quellenschriften
aus dieser Zeit weniger bekannt sind, erschien eine reichere Mit-
theilung derselben geboten. In der ersten Auflage waren die
UX. Jahrg. 6. Heft. 26
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484 TJeberweg u. Er d mann: Grnndr. d. Geich, d. Philosophie.
patristische und die scholastische Zeit in zwei Theile
getrennt. In der zweiten erschienen sie, als zusammengehörig,
zweckmässiger zu einem Bande vereinigt. Plan und Ausführung
blieben auch hier im Ganzen unverändert. Mit Recht wurde in
der Darstellung der patristischen Zeit auf die allgemeine religiöse
Basis der späteren theologisch-philosophischen Gedankenbildung ein
besonderes Gewicht gelegt und darum in der zweiten Auflage
Einzelnes schärfer gefasst, berichtigt und erweitert. Zugleich wur-
den an den betreffenden Stellen die neuesten Erscheinungen der
Literatur berücksichtigt. In der Zeit der Bildung der christlichen
Fundamentaldogmen bis zum Concil von Nicäa mussten alle her-
vorragenden Träger der in diesem Abschnitte entwickelten An-
schauungen dargestellt werden, um die Gesammtentwicklung rich-
tig aufzufassen und den Entwicklungsgang ununterbrochen festzu-
halten. In der späteren Zeit musste in der Behandlung der ein-
zelnen Denker eine Auswahl statt finden , weil es sich nicht um
eine Darstellung des positiv-theologischen, sondern des philosophi-
schen Denkstoffes handelt. Die Patristik darf mit der patristischen
Philosophie nicht verwechselt werden. Nur da, wo die philoso-
phische Anschauung die vorherrschende ist, die positiv theologische
mehr in den Hintergrund tritt, konnte man eine mehr ins Einzelne
eingehende Betrachtung der Denker in Anwendung bringen. Der
Herr Verfasser war daher in seinem vollen Rechte, wenn er von
den in dem Grundrisse nach ihrer Stellung im patristischen Ent-
wicklungsgange erwähnten Vätern , Athanasius, Basilius,
Gregor von Nazianz u. A. auch in der zweiten Auflage
die einzelnen Lehrgebäude nicht ausführlich darstellte. Gregor
von Nyssa wird als Typus des griechisch - christlichen Philoso-
phirenB der Zeit (nach Clemens von Alexandria und Origenes),
Augustinus als Typus für das christliche Philosophiren im
Abendlande aufgestellt und darum auch genau und ins Einzelne
eingebend in der Lehre behandelt. Die übrigen mussten dann notb-
wendig in einem Grundrisse nur summarisch behandelt werden,
und es würde dem Zwecke eines solchen widersprechen, wenn man
auch bei den Nachfolgern der beiden genannten Väter eine Dar-
stellung der einzelnen dogmatischen Lehrgebäude geben wollte,
welche man kaum von einer weiter angelegten Geschichte der Phi-
losophie verlangen kann. Eingehender dagegen musste, was ge-
schehen ist, Pseudo-Dionysiua dargestellt werden als Haupt-
vertreter der den Neuplatonismus mit der Eirchenlehre verschmel-
zenden Mystik. Auch die gelehrten platonischen Studien einzelner
Kirchenlehrer gehören nicht in den Kreis eines Umrisses und sind«
darum auch nur obenhin erwähnt worden. Der Piatonismus und
Stoicismus haben, wie der Herr Verf. richtig andeutet, mehr durch
die alexandrinische Religionsphilosophie und durch die aus ihr in
die einzelnen Schriften des neuen Testamentes übergegangenen Be-
griffe auf das ohristliche Denken gewirkt, als dieses durch das un-
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U ob er weg u. B»§MaU: Örotfdr. d. Oeeöb. d. PWoftopbie. 486
roitlolbare Studium der Platonischen Schriften geschah. Auf den
Kmiluss der hellenischen Doktrinen wird schon im ersten Theile
des Grundrisses §. 63 bei Philo hingewiesen. Die scholastische
Abtheilung wurde durch die Darstellung der deutschen Mystiker,
welche der Herr Verf. seinem Freunde A. Laßson verdankt, be-
deutend erweitert.
Die deutsche Mystik des 14. u. 15. Jahrhunderts entwickelte
sieh in der deutschen Predigt, vom Orden der Dominikaner aus-
gebend. Die Form des Dogmas wurde abgestreift. Der lebende
Mittelpunkt war die bei Albert und Thomas noch latente Wesens-
eitfheit der Seele nach Vernunft und Willen mit Gott. Es war
eine innerlich empfundene, nicht dialektisch entwickelte Einheit.
Der Realismus war die Voraussetzung ; die Elemente waren plato-
nisch und neuplatonisch. Man ging auf Pseudo -'Dionysius,
Augustinus, zum Theil auch auf Thomas zurück. Der Vollen-
der der ganzen Richtung ist Meister Eckhart. Vertreter dersel-
ben sind Johann Tauler, Heinrich Suso und Johann
Rus brock. Diese Zeit wird treffend von Lasson geschildert,
•iessen eingebende Studien in der Geschichte des mittelalterlichen
Mytticismus durchaus gediegen sind. In Johannes Scotus
ßrigena stellt sieh uns noch eine Art von Einheit des Mysticis-
mos und Scholasticismue ihren ersten Keimen nach dar. In den
Nominalisten und Realisten, Pelagianern und Augustinianern, Ari-
stotelikern und Piatonikern wird der Gegensatz des scholastischen
nnd mystischen Elementes erhalten. In Bernhard von Clair-
reaux tritt die feindliche Stellung des Mysticismus gegen die
Scholastik entschieden hervor; in den Victor inern erhalt der
Mysticismus eine wissenschaftliche Grundlage. In praktisch refor-
mtorischen Associationen stellt er sich bei den Neumanich äem,
den Waiden sern , Wiolif fiten und Hussiten, als den Vor-
kämpfern der Reformation und Bekam pfern des Kirchenthums und
seiner diesem dienstbaren Scholastik, dar.
In der Darstellung des Thomismus wurde eine vergleichsweise
kürzere Zusammenfassung unter Hinweisung auf die ausführlich darge-
stellte Lehre des Aristoteles (Grnndr. I, S. 47 — 50) vorgezogen und
für die spätere Zeit P r an 1 1 s Forschung benützt. 'Das Mittelalter
'die patristische und scholastische Zeit) und die neuere Philo-
sophie werden der allgemeinen Kategorie der Philosophie christ-
licher Zeit untergeordnet. Hier ist aber «wohl Philosophie der
christlichen Zeit und christliche Philosophie zu unterscheiden. Das
letztere Pradicat gebührt nur der mittelalterlichen, nicht der neue-
ren Philosophie, welche die Befreiung von den Fesseln des Kirchen-
tbnms und seiner Lehre wesentlich kennzeichnet, und die eher eine
Parallele zur antiken, als zur mittelalterlichen Philosophie darbietet.
Treffend ist das Urchristenthirm auf der Grundlage der heili-
gen Schriften und unter der Benutzung der neuesten theologischen
Forschungen dargestellt und mit gleicher Vorzüglichkeit die für
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436 Ueberweg u. Erdmann: Orundr. d. Gesch. d. Philosophie.
die mittelalterliche Philosophie späterer Jahrhunderte so wichtige
patristische Zeit entwickelt. Es ist dieses genaue Eingehen ein
Vorzug dieses Umrisses, den man vergebens in andern geschicht-
lichen Umrissen des philosophischen Denkstofles sucht.
Die Philosophie christlicher Zeit umfasst nach der Eintheüung
des Herrn Verf. drei Perioden: 1) die patristische, 2) die
scholastische Philosophie, 3) die Philosophie der Neu-
zeit. Nach dieser Eintheüung erscheint die Philosophie der Neu-
zeit als die »dritte Periode € im Entwickelungsgange der Philoso-
phie der christlichen Zeit. Allein, wie wir in der politischen Ge-
schichte als charakteristisch verschieden die Zeiträume des Alter-
thums, des Mittelalters und der Neuzeit unterscheiden, so müssen
wir, da die Geschichte der Philosophie nur eine Seite im grossen
allgemeinen Entwicklungsgange der Menschheit ist, auch in dieser
diese drei wesentlich verschiedenen Charaktere unterscheiden. Die
neuere Philosophie erscheint dem Unterzeichneten nicht als eine
Fortsetzung oder Vollendung der im Mittelalter begonnenen Ent-
wicklung, sondern als ein Gegensatz derselben, der in der Freiheit
des Denkens mehr Aehnlichkeit mit dem Alterthum, als dem Mittel-
alter und auch ein von dem Mittelalter ganz verschiedenes Resul-
tat, das klare Bewusstsein der Gegensätze und die Ueberwindung
derselben in einer büheru Einheit, frei von jedem kirchlichen Ein-
flüsse und jeder theologischen Lehrmeinung, zu gewinnen versucht
und theilweise wirklich gewinnt.
Die Philosophie der Neuzeit, welche den Inhalt des
dritten Theiles bildet, wird in drei Hauptabschnitte
zerlegt, 1) die Uebergangszeit (S. 6 — 32), 2) die neuere Philoso-
phie oder die Zeit des ausgebildeten Gegensatzes zwischen Empiris-
mus und Dogmatismus (S. 32 — 126), 3) die neueste Philosophie
oder die Kritik und Speculation seit Kant (S. 126—306). '
Der erste Abschnitt umfasst die Erneuerung des Platonis-
mus und anderer Doctrinen des Alterthums, den Protestantismus
und die Philosophie, die Anfänge selbständiger philosophischer
Forschung, Naturphilosophie, Theosophie, Rechtsphilosophie , der
zweite Baco und Hobbes, Descartes, Geulinx, Malebranche und
andere diesen gleichzeitige Philosophen, sodann Spinoza, Locke,
Shaftesbury, Glarke und andere englische Denker, die Idea-
listen: Barkeley, Leibnitz und gleichzeitige Philosophen, und die
deutsche so wie die französische Philosophie im 18. Jahrhundert,
den Hume'schen Skepticismus und seine Bekämpfer, Reid, Beattie
n. s. w. , der dritte Abschnitt Kaufs Leben und Schriften,
die Kritik der reinen Vernunft und die metaphysischen An-,
fangsgründe der Naturwissenschaft, die Kritik der praktischen
Vernunft, die Religion in den Grenzen der blossen Vernunft,
Tugend- und Rechtslebre, die Kritik der Urtheilskraft , Kant's
Schüler und Gegner, Reinhold, Schiller, F. H. Jacobi, Fries,
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Ueberweg u. Erdmann: Gmndr. d. Gesch. d. Philosophie. 437
Beck, Bardiii u. 8. w., Fichte und die Pichteaner, Schölling, dessen
Anhänger nnd Geistesverwandte, Oken, Solger, Steffens, Baader,
Kranae u. A., Hegel, Schleiermacher, 8chopenhaner , Herbart, Be-
neke, den gegenwartigen Znstand der Philosophie in Deutschland
and ausserhalb Deutschlands. Sehr richtig wird die Philosophie
der Neuzeit bezeichnet als die »Philosophie seit der Aufhebung des
die Scholastik charakterisirenden Dienstverhältnisses gegen die
Theologie, in ihrem stufenweisen Portgange zur freien, durch die
vorangegangenen Bildungsformen bereicherten und vertieften, mit
der gleichzeitigen positiv - wissenschaftlichen Forschung und dem
socialen Leben in Wechselwirkung stehenden Erkenntniss des We-
sens und der Gesetze der Natur und des Geistes.« Treffend ist,
was der Herr Verf. über den Entwicklungsgang der neue-
ren Philosophie S. 2 sagt: »Einheit, D i en s tb ar kei t ,
Freiheit sind die drei Verhältnisse, in welche nach einander
die Philosophie der christlichen Zeit zu der kirchlichen Theologie
getreten ist. Das Verhältniss der Freiheit entspricht dem allge-
meinen Charakter der Neuzeit, welcher in der aus den mittelalter-
lichen Gegensätzen wieder herzustellenden harmonischen Einheit
liegt. Die Freiheit des Gedankens nach Form und Inhalt wurde
von der Philosophie der Neuzeit stufenweise errungen, zuerst, un-
vollkommen mittelst des blossen Wechsels der Autorität durch An-
lehnung an 8ysteme des Alterthums ohne die Umbildung, welche die
Scholastik mit dem Aristotelischen vollzogen hatte, dann vollstän-
diger mittelst eigener Erforschung der Natur und endlich auch des
geistigen Lebens. Die Uebergangszeit ist die Periode des Auf-
strebens zur Selbstständigkeit. Die Zeit des Empirismus und Dog-
matismus charakteri8irt sich durch methodische Forschungen und
umfassende Systeme, die auf dem Vertrauen beruhen, mittelst der
Erfahrung und des Denkens selbstständig zur Erkenntniss der natür-
lichen und geistigen Wirklichkeit gelangen zu können. Der dritte
Abschnitt wird angebahnt durch den Skepticismus und begrün-
det durch den Kriticismus, der die Erforschung der Erkenntniss-
kraft des Subjectes für die nothwendige Basis alles streng wissen-
schaftlichen Philosophiren s hält und zu dem Resultate gelangt, dass
das Denken die Wirklichkeit, wie sie an sich selbst sei, nicht zu
erkennen vermöge, sondern auf die Erscheinungswelt beschränkt
bleibe, über welche nur das moralische Bewusstsein hinausführe.
Dieses Resultat wird von den folgenden Systemen negirt, doch
sind diese sämmtlich dem Kantischen Gedankenkreise entstammt,
der auch noch für die Philosophie unserer Gegenwart von einer un-
mittelbaren (nicht bloss von historischer) Bedeutung ist.«
Nach der Charakteristik der Philosophie der Neuzeit werden
die Werke angeführt, welche die Geschichte der neueren Philoso-
phie im Allgemeinen enthalten. Es ist zu loben , dass bloss die
Werke als Hülfsmittel nach ihren Ausgaben ohne eine Kritik ihres
Inhaltes angeführt werden. Man nimmt allzuleicht bei der Beur-
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438 TJeberwe* u. Brdmnnn: Grand». d, Geseh. <L PbUoeophie.
theilung einen einseitigen Partei Standpunkt ein, welcher die ob-
joctive Darstellung selbst beeinträchtigt. Die Darstellung der G*«
schichte selbst soll uns ein Bild von dem Standpunkte des Herrn
Verfassers geben, nicht die Ueoeusion der HüifsmitteL Immerhin
ist in der Geschichte der Philosophie auch die kritische Beurthei-
lung der Quellenschriften der Philosophen selbst und ihres Inhaltes
wichtiger, als die der blossen historischen HüifsmitteL Standpunkt,
wie Darstellung, bekunden den philosophischen Geist des Herren
Verfassers ohne vorgefasste Parteiansieht. Bei den einzelnen Philo-
sophen wurden dis grösseren und kleineren Werke, selbst die Ab-
handlungen in Zeitschriften , welche von ihnen handeln , mit An*
gäbe der Seitenzahl, die Quellenschriften und die verschiedenen
Ausgaben derselben, in den betreffenden Paragraphen der gedrängte
Inhalt der Entwicklung im Allgemeinen und der Lehren der ein-
zelnen Denker mit Beisatz einer enger gedruckten Ausführung mit-
getheilt. Ueberall soll die philosophische Lehre durch sich selbst
sprechen und wird bei bedeutenderen Denkern nicht nur das System
im Allgemeinen aus seinon Principien entwickelt, sondern auch, in
den einzelnen philosophischen Wissenschaften durchgeführt. Der
Grundsatz ist wohl der richtige, die Lehren der einzelnen Haupt-
philosophen möglichst mit ihren eigenen Worten zu geben ; dabei
ist rühmend anzuerkennen, dass die Auswahl und Zusammenstellung
der Quellenstellen so getroffen sind, ein möglichst treues und dem
philosophisch Gebildeten verständliches Bild der einzelnen Philo-
sophen zu geben und dadurch den Einblick in den Gesammtzu-
sammeuhang und in das Gesammtresultat zu gewinnen. Die Heur-
tbeihing der einzelnen Philosophen wird dem Leser überlassen. Nur
bei zwei der bedeutendsten früheren Denker wird eine Ausnahme
gemacht, bei Spinoza und Kant. Sie werden nicht nur unter
allen am ausführlichsten behandelt, sondern auch hinsichtlich des
Inhaltes ihrer Lehren einer Kritik unterzogen, da ihre »Theoreme
noch gegenwärtig unmittelbar die Weltanschauung Vieler bestim-
men.« Spinoza wird von 8. 56 — 77, Kant von 8. 127—183
dargestellt. Die Darstellung des Spinoza ist nach Httlfssohriften,
Quellenwerken, ihren Ausgaben und nach dem Inhalte der Lehren
für einen Grundriss möglichst erschöpfend und bietet alles Wissens-
würdige in klarer Uebersichtliohkeit. Die Kritik geht hier, wie
bei Kant, mehr auf die Argumente oder die Beweisgründe, als auf
die speciellen Lehren. So wenig der Scharfsinn zu verkennen ist,
mit welchem die Mängel in Spinoza's System dargestellt werden,
so hätten wir doch der ganzen Anlage des Buches nach gewünscht,
dass der Herr Verf. sich auf eine blosse Darstellung, wie dieses
sonst durchweg geschieht, beschränkt und höchstens am Schlüsse
der Darstellung seine Ansicht kurz dargelegt hätte. Hier aber
finden wir schon vor der Darstellung eine Anfechtung von Spinoza's
Definitionen. Sodann werden diese nicht im Zusammenhango dar-
gestellt ; sondern gleieh hinter jeder einzelnen Definition wird das
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Ueberweg u. Erdma»n: Orundr. d. Gesch. d. Philosophie. 439
Mangelhafte, Widersprechende, Irrthümliche, ja, wie der Herr Verf.
sich häufig ausdrückt, das »Absurde« derselben oder wohl auch
des daran angeknüpften Axioms angedeutet.
Es ist hier nicht der Ort die einzelnen kritischen Aussetzun-
gen des Herrn Verf. zu besprechen. Immerhin verdient ein Werk,
wie das Spinoza' s, die Anerkennung jedes Denkers, auch derjenigen,
welcher einer andern Ansicht sind. Spinoza's Ethik ist eine der
genialsten Schöpfungen, welche jemals der philosophische Geist her-
vorgebracht hat, aus einem Gusse entstanden, in allen seinen Thai-
len organisch verbunden. In ihm ist dem unhaltbaren Cartesius-
8chen Dualismus gegenüber ein grosser Gedanke ausgesprochen und
folgerichtig aus Cartesius Sätzen selbst entwickelt, der Gedanke
der Einheit in Allem, was der menschliche Verstand als von ein-
ander abgesondert und ohne ein Anderes bestehend betrachtet, der
Gedanke von einer immanenten Ursache aller Erscheinungen. Wenn
man den Begriff der Substanz, wie ihn Cartesius ursprünglich fasst,
im Ernste nimmt, so entwickelt Spinoza folgerichtig nur eine
Substanz. Die einzelnen Dinge erscheinen dann nur als bestimmte
und begrenzte Arten und Weisen, wie diese eine Substanz existirt
(modi certi, determinati, quibus haeo una vera substantia existit).
Das Wesentliche, das Ewige, das Beharrende, sich gleich Bleibende
in ihnen ist eben diese eine Substanz. Sie ist kein Abstractum
nach Spinoza, sie ist die Natur; sie ist das unendliche Sein, die
unendliche Macht derselben, das unserem Denken Gott ist. Die
Attribute sind nicht geschieden, sie sind nur dem menschlichen
Verstände verschieden. In der Substanz sind sie eines ; denn das
Attribut ist nur das, was der menschliche Verstand an der Sub-
stanz wahrnimmt als ihr Wesen ausmachend, nicht, was das Wesen
der Substanz, abgesehen von der menschlichen Auffassung, bildet.
Sagt doch Spinoza ausdrücklich in der definit. IV : Per attributum
intelligo id, quod intellootus de substantia pereipit tan quam
essentiam eins constituens. Nicht aber sagt er, das Attribut sei
id, quod essentiam substantiae constituit. Die definit. VI hebt die
4. Definition nicht auf. Denn, wird auch hier Gott die substantia
constana infinitis attributis genannt, so wird auch ausdrücklich
beigefügt, dass sie nur in sofern Gottes Attribute sind, als sie eine
aeterna et infinita essentia ausdrücken. Dieses Ausdrücken ist eben
die Auffassung des menschlichen Verstandes, welcher die Attribute,
die er an dem Binzeinen wahrnimmt, also die endlichen Attribute
Gott nur im unendlichen Sinne beilegen kann. Wir Menschen
können, da wir in den Erscheinungen Denken und Ausdehnung
unterscheiden, beide nur in unendlichem Sinne Gott beilegen. Gott
ist unendliches Denken und unendliches Sein. Beides aber ist in
ihm als der ewigen, unveränderlichen Einheit Eines und Dasselbe,
tos wir Menschen von unserem endlichen Standpunkte mit unserer
Anschauungsweise verschieden auffassen. Wenn Spinoza in der
definitio L den Begriff der causa sui gibt, so will er damit nichts
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440 Ueberwog u. Erdmann: Orundr. d. Gösch, d. Philosophie.
Anderes bestimmen, als den letzten Grund oder den Urgrund. Der
Wortverstand ist nicht der Sinn Spinoza's, es ist ein Ausdruck der
Scholastik, dem er einen vernünftigen Sinn gibt, indem er den
Ausdruck nicht so nimmt, dass Gott sich selbst verursacht, dass
die causa sui zuerst ist, und dann wieder hintennach ist, zuerst
als causans, dann als causatum. Es ist damit nur so viel gesagt
als ens non causatum ab alia re. Es hängt diese Behauptung mit
dem Spinozistischen ersten Axiom zusammen : Omnia, quae sunt, vel
in se vel in alio sunt. Das in se esse ist die Substanz (Gott), das
in alio esse sind die von ihm abhängigen Dinge oder nach Spinoza
affectiones substantiae (modi).
Was der Herr Verf. gegen die Kant'sohe vermeintliche Er-
kenntniss a priori S. 148 u. 149 sagt, ist vortrefflich. Es wird
S. 150 u. 151 nachgewiesen, dass weder die Mathematik noch die
Naturwissenschaft apriorische Erkenntnisse nach dem Kant'schen
Wortgebrauch des a priori habe. Treffend heisst es S. 151:
»Naturwissenschaft, sagt Kant ferner, enthält synthetische
ürtbeile a priori in sich z. B. in allen Veränderungen der körper-
lichen Welt bleibt die Qualität der Materie unverändert; in aller
Mittheilung der Bewegung müssen Wirkung und Gegenwirkung
jeder Zeit einander gleich sein; ferner das Gesetz der Trägheit
u. s. w. Die Geschichte der Naturwissenschaft zeigt aber, dass sich
diese allgemeinen Sätze, wozu das Gesetz der Erhaltung der Kraft
u. a. sich hinzufügen lassen, als späte Abstraotionen aus wissen-
schaftlich durchgearbeiteten Erfahrungen ergeben haben und keines-
wegs a priori vor aller Erfahrung oder doch unabhängig von aller
Erfahrung als wissenschaftliche Sätze feststanden; nur in sofern
sich in ihnen nachträglich eine gewisse Ordnung bekundet, die eine
philosophische Ableitung aus noch allgemeineren Principien, z. B.
aus der Relativität des Raumes, möglich zu machen scheint, ge-
winnen sie einen im Aristotelischen, aber wiederum nicht im Kanii-
schen Sinne apriorischen Charakter.« Ueberall werden die begrün-
deten Einwendungen gegen die Entwicklung des Kant'schen Systemes
eingeklammert gegeben. Auch bei den übrigen auf dio philosophische
Anschauung unserer Zeit einwirkenden Philosophen sind einge-
klammerte Gegenbemerkungen, jedoch weit spärlicher als bei Spi-
noza und Kant, angefügt. Wenn der Herr Verf. die Kritik mit
der Darstellung der Systeme Spinoza's und Kant's verband, sollte
dieses auch bei den späteren Denkern statt finden. Bei Schöl-
lings transcendentalem Idealismus wird von dessen Grundgedan-
ken der Naturphilosophie gesagt, dass sie »bei allem Phantastischen
der Durchführung doch von bleibendem Werthe sindc (S. 204).
Sehr richtig wird über die spätere schriftstellerische Wirk-
samkeit desselben behauptet: »Immer mehr wich von nun an
die Fülle philosophischer Productivitat einem Synkretismus und
Mysticismus, der immer trüber und doch zugleich "prätensionsvoller
ward«; von Krause, dass er »seinen philosophischen Schriften die
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Ueberweg u. Erdmann: örundr. d. Gesch. d. Philosophie. 441
Verbreitung unter den Deutschen durch seine wunderliche Termi-
nologie, die rein deutsch sein soll, aber undeutsch ist, selbst be-
schränkt habe« (S. 217). Nachdem auf das »Wahre des Grund-
gedankens« und auf das »Grosse in der Durchführung« der He gel -
sehen Ansicht von der Geschichte der Philosophie bei »manchem
üeberspannten, Einseitigen und Schiefen, welche Ansicht sich »im
wesentlich gleichen Sinne« auch »auf das Ganze des Systems
besieht«, aufmerksam gemacht worden ist, wird Schleiermachers
philosophische Erkenntnisstheorie als eine solche bezeichnet, welche
»die apriorische Einseitigkeit der Hegemonen Dialektik überwin-
det« (S. 230). Von Schleiermachers Philosophie heisst es
S. 231 : »Sie ist von ihm nicht zu einem allumfassenden und in
Gedankengehalt und Terminologie streng geschlossenen Systeme
fortgebildet worden und steht daher au sachlicher und formeller
Vollendung sehr weit dem Hegel'schen und auch dem Herbart'schen
Systeme nach, ist aber ebenso auch von mancher mit diesen Syste-
men unabtrennbar verwachsenen Einseitigkeit frei und in ihrer
grossentheils noch unabgeschlossenen Gestalt mehr als jede andere
nachkantische Doctrin einer reinen, die verschiedenartigen Einsei-
tigkeiten überwindenden Ausbildung fähig.« Sehr viele philoso-
phische Werke der Gegenwsrt sind angeführt und werden unter
die Rubriken gewisser philosophischer Schulen gestellt, wie wohl
sich gegen einzelne Rubricirungen Manches erinnern Hesse, da sol-
ches Subsnmiren bei selbstständigen Forschungen in dem Gebiete ein-
zelner Wissenschaften immer seine Schwierigkeiten hat.
Der Philosophie des Auslandes ist der Schlussparagraph 29
gewidmet. Sehr zweckdienlich ist das ausführliche Namenregister
för alle drei Theile (8.307—327). Es enthält die »Namen der im
Grundriss erwähnten Philosophen, nicht der Historiker der Philo-
sophie und derLitteratoren.« Die Fülle und üebersichtlichkeit des
Materials, die Klarheit in der Anordnung und Darstellung lässt
kaum etwas zu wünschen übrig und so begrüssen wir vorliegendes,
mit dem dritten Theile zum Abschlüsse gekommenes Werk als eine
den Bedürfnissen des Lehrers, wie des Lernenden, gleich sehr ent-
sprechende Unternehmung, welche weder im Inhalte, noch in der
Methode der Behandlung durch die Färbung eines einzelnen philo-
sophischen Sy stemes getrübt ist.
Nr. 2. Der Erdraann'sche Grundriss, von einem Denker, wel-
cher durch seine umfassende Geschichte der neuern Philosophie um
diese Wissenschaft sich hoch verdient gemacht hat, umfasst im
ersten Bande die Philosophie des Alterthums und des
Mittelalters, im zweiten die Philosophie derNeuzeit.
Der Herr Verf. behandelt die ganze Geschichte der alten
Philosophie auf den ersten 192 Seiten des ersten Bandes,
die Philosophie des Mittelalters umfasst alles Nachfolgende bis
3. 622 , sie nimmt also einen mehr als dreimal grösseren Baum,
als die alte Philosophie ein, welche gegenüber der mittelalterlichen ^
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449 U et» er weg u. Er d mann: Grnndr. d. Gösch, d. Philosophie.
mit Recht eiuen ungleich grösseren Ansprach auf eingehende Be-
handlung hat. Der Herr Verf. hat diesen Missstand wohl gefühlt
und sucht ihn damit zu entschuldigen , dass seine Geschichte des
Mittelalters mehr Neues bietet, als die Geschichte der alten Zeit,
dass er sich in letzterer vorzugsweise an die Forschungen von
Brandis und Zell er halte. Allein immerhin bleibt die Frage
offen, oh dasjenige, was er uns in dem Abschnitte der mittelalter-
lichen Philosophie bietet, in einen »Grundriss« der Geschichte der
Philosophie gehört. Nach des Referenten Anschauung gehört die
weitläufige Darstellung der Lehren der einzelnen Kirchenväter,
namentlich derjenigen aus der scholastischen Zeit, in welchen ein-
mal der kirchliche Lehrbegriff gebildet ist und keine wesentliche
Veränderung erleidet, nicht in einen Grundriss. Die Unverhält-
nissmässigkeit in der Vertheilung des historischen Stoffes bleibt
immer der Mangel eines solchen Buches.
Die Einleitung enthält die ersten 14 Paragraphen. Der
Herr Verf. geht in derselben vom Hegel* sehen Standpunkte aus
und unterscheidet in der historischen Behandlung und Darstellung
der Philosophie die gelehrte Methode, der »alle Systeme gleich
wahr, weil blosse Meinungen sind«, die skeptische Methode,
»welche in allen gleiche Irrthümer sieht« und die eklektische,
»für die in allen sich Stücke der Wahrheit finden.« Er stellt die-
sen Methoden die philosophische gegenüber. Sehr richtig ist,
was er sagt, dass die Geschichte der Philosophie nur »mit Hülfe
der Philosophie c dargestellt werden könne. Doch erregt besonders
der Beisatz S. 10 Bedenken: »Da ein jedes Philosophiren ein be-
stimmtes sein muss und da eine Entwicklung nicht als vernünftig
dargestellt werden kann, wenn sie nicht zu einem Ziele hingeführt
wird, so muss eine jede philosophische Darstellung der Geschichte
der Philosophie die Farbe desjenigen Systemes tragen,
welches der Darsteller als don Schlnss der bisherigen Entwicklung
ansieht. Das Gegentheil unter dem Namen der Unbefangenheit
oder Unparteilichkeit fordern heisst Widersinniges anmuthen.« Aller-
dings muss die Geschichte der Philosophie mit Hülfe der Philo-
sophie dargestellt werden, aber nicht mit Hülfe eines exeluaiven
philosophischen Systemes. Unsere Zeit hat Anhänger Herbart*»,
Hegel' s, Schopenhauers, Materialisten, Idealisten, Pantheisten und
Atheisten. Wo ist die Wahrheit? In der Philosophie, welche die
wahren philosophischen Gedanken der einzelnen Systeme im Be-
wusstsein sammelt und durchdringt, nicht in einem todten, son-
dern in einem lebendigen Eklokticismus. Vom Streben nach Wahr-
heit ist die Philosophie durchdrungen, vom vermeintlichen Besitze
der ganzen und vollkommenen Wahrheit das philosophische System.
Es verhält sich mit den bestimmten abschliessenden philosophi-
schen Glaubensbekenntnissen bis auf diese Stunde, wie mit den
religiösen Bekenntnissen. Man hat, wie Schiller sagt, keine Reli-
gion aus Liebe zur Religion. Was würde man zur Geschichte sagen,
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Ueberweg u. Brdmann: Oromdr. d Gesch. <L Philosophie. US
aus welcher ein bestimmtes positives Roligionsbekenntniss , sei es
der Dordrechter Synode, der Magdenburger Coucordienformel oder
des Tridentinums, heraussieht? Man hat solche Geschichten; aber
sie gehören nicht zu den besten. Nicht »die bestimmte Farbe«
macht die Geschichte, sie steht über den subjeotiven Farben; sie
entwickelt die Farben, aber sie färbt, sie Ubertüncht nicht selbst.
Sie hat als wahrhaft philosophische Auflassung etwas, was höher
steht, als die einzelnen Farben, das Licht, aus dessen bestimmten
Brechungen die einzelnen Farben hervorgehen. Der Herr Verf.
sieht in der Geschichte der Philosophie » Fortschritt.« Der »Welt-
geist ist ihm nacheinander der Geist der verschiedenen Zeiten und
Jahrhunderte.« Jede Zeit hat >ihre Weisheit, ihre Philosophie.«
Die, »welche sie zuerst aussprechen, sind die Philosophen dieser
Zeiten.« Sie sind die »eigentlichen Zeitverständigen.« Die Philo*
sophie ist von einer »bestimmten Zeit abhängig«; das schadet
aber ihrem »absoluten Charakter« nicht. Das Bewusstsein des
Weltgeistes geht »durch die verschiedenen Zeitbewusstsein hin-
durch« Was die »eine Zeit zum Resultate hat, ist für die folgende*
Stoff und Ausgangspunkt.« Die Philosophie »folgt stets als Frucht
der Blüthe einer Zeit.« Aber der Fortschritt kommt bekanntlich
nicht mit Nothwendigkeit auf ein System , so wenig, als auf eine
bestimmte Zeit. Es treten Reactionen von Jahrzehnten , ja von
noch grösseren Zeiträumen ein. Ist daun auoh die Philosophie als
Frucht einer solchen reaotionären Blüthe nothwendig, so ist doch
kein Fortschritt, kein vernünftiges Zeitbewusstsein da. Hier macht
nicht die Zeit, nicht der Weltgeist die Philosophen, die Philoso-
phen machen auch ihn nicht aus. Sie sind Ausnahmen von ihm,
rari nautes in gurgite vasto. Die Weisheit besteht hier nicht in
der Zeit, nicht im Zeitbewusstsein, sondern gerade in den Aus-
nahmen der Zeit. Man sagt: Ihre Zeit folgt auf sie, und dann
drücken sie das Zeitbewusstsein aus. Aber nicht immer kommt
gleich ihre Zeit nach ihnen. Es verhält sich mit der Philosophie,
wie mit der Religion. Es dauert oft Jahrhunderte , bis die An-
schauungen derjenigen, welche für ihre Ueberzeugung getödtet wer-
den, zur Herrschaft gelangen. Hier erscheint die Philosophie uicht
als die Frucht einer Blüthe, sondern umgekehrt, sie ist die Blüthe
einer später folgenden Frucht. Sind hier die Philosophen, welche
sieh über eine Zeit des unphilosophischen Rückschrittes und der
Verdunkelung erheben, die das Zeitbewusstsein, den Geist der Zeit
Ausdrückenden , die sogenannten Zeitverständigen? Ist hier die
Philosophie von der Zeit abhängig, schafft sie nicht vielmehr um-
gekehrt die folgende Zeit? Der Herr Verf. ist Hegelianer und
seine Behandlungsart der Geschichte der Philosophie ist die He-
gel'sehe. Herrscht in unserer Zeit das Hegelthum noch? Bei aller
Achtung, welche die grossen Leistungen Hegels verdienen, wird
Niemand behaupten wollen, dass sein System noch das des Zeitbewusst-
seins ist. Man wendet sich tbeils dem Eklekticismus, theils Herbart
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444 TJeberweg u. Erdmann: Grnndr. d. Gesch. d. Philosophie.
Schopenhauer, tbeils Krause, tbeils dem Materialismus zu. Ja, wenn
die vorherrschenden Zeitleistungen, die naturwissenschaftliche und
mathematische sind, unser Zeitbewusstsein kennzeichnen, so ist es
gewiss viel mehr ein naturalistisches als ein ideales. Der Herr
Verf. wäre also nach seiner eigenen Methode nicht berechtigt, die
Geschichte der Philosophie von seinem idealistischen, er müsste sie
eher vom materialistischen Standpunkto schreiben ; denn jedes System
der Zeit hat ja seine »Berechtigung« in dieser Zeit. Nur dann
kann die Geschichte der Philosophie vom Hegerseben Standpunkte
geschrieben werden, wenn man in den von Hegel begangenen Feh-
ler verfällt, die HegePsehe Philosophie als den Abschluss in der
Geschichte der Philosophie zu betrachten. Was hinter uns kommt,
bertthrt uns in diesem Falle nicht. Aber die Geschichte der Philo-
sophie geht ihren Lauf fort im Zeitenstrome, der immerdar fliesst
trotz dem Zauberstabe, mit welchem ihm' einzelne Philosophen
Stillstand gebieten wollen Wie in der Anschauung der Geschichts-
behandlung, so ist auch in der geschichtlichen Durchführung des
philosophischen Stoffes, der Hegel'sche Standpunkt der in Nr. 2
herrschende. Die Trilogie, Thesis, Antithesis, Synthesis wird in der
Entwicklung der philosophischen Systeme angewendet, wie es Vischer
iu seiner sonst so verdienstvollen Aesthetik getban hat. Die Tri-
logie der Dialektik wird ein Panzer, in welchen man den geschicht-
lichen Stoff hineinzwängt, und wir sind dadurch verhindert, den
Stoff nach seinem wahren und eigentlichen Inhalte ungetrübt zu
würdigen.
Der Herr Verfasser ist in der Geschichte der Philosophie des
Alterthums kürzer, weil man sieb Rath und Belehrung in den
»vortrefflichen Werken von Brandis und Zeller und in der
verdienstlichen Sammlung der wichtigsten Belegstellen von Prel-
ler und Ritter« für tiefergehende« Beschäftigung holen kann.
Befolgen aber die Werke, die er hier anführt, die von ihm auf-
gestellten Theilungspunkte, entwickeln sie ihre geschichtliche Auf-
gabe in dem beengenden trilogischen Modell der Hegel'schen Dia-
lektik, von welcher einige neuere Fausterklärer behaupteten, sie sei
der glühende Dreifuss der Mütter?
Der Herr Verf. unterscheidet drei Perioden der griechischen
Philosophie, 1) die griechische Philosophie in ihrer Unreife
(S. 14-56), 2) in ihrem Glänze (8. 56-157), 8) in ihrem
Verfall (S. 157-195).
Nach dem trilogischen Princip werden in der ersten Periode
die reinen Physiologen, die reinen Meta physiker und
die metaphysischen Physiologen unterschieden. Zu den
ersten werden Thaies, Anaximandros, Anaximenes, Diogenes Apol-
loniates , zu den zweiten die Pythagoreer und Eleaten , zu den
dritten Herakleitos, Empedokles und die Atomiker gezählt. In die
Periode des Glanzes werden Anaxagoras, die Sophisten, Sokrates,
die somatischen Schulen, Plato und Aristoteles eingereiht. In der
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TJeberweg n. Erdm.nn: Grundr. d. Gesch. d. PhÜotophie. 446
Periode des Verfalles werden die Dogmatiker, die Skeptiker und
die Synkretisten unterschieden. Wer sich an die Quellen hält und
nach diesen ohne eine vorgefasste Meinung historisch kritisch die
Ansichten der Philosophen entwickelt , der wird weder in den
Pythagoreern, noch in den Eleaten reine Metaphysiker erkennen,
er wird Herakleitos, Empedokles uud die Atomiker nicht zu meta-
physischen Physiologen machen wollen. Nach den Pythagoreern
ist Alles seinem Wesen nach Zahl, die Form ist die Substanz des
Dinges. Die Unterscheidung der Einheit und der unbestimmten
Zwei hei t, als der Gottheit und Materie ist nicht altpythagoreisch. Ent-
weder baut sich diese Unterscheidung auf spätere Schriftsteller,
welche keine Quelle bezeichnen oder sie werden in hinsichtlich
ihrer Echtheit mit Recht angezweifelten, unsicheren Quellenzeug-
Dissen ausgesprochen. Die Unterscheidung selbst ist unvereinbar
mit der durch Aristoteles und Philolaos Fragmente als sicher fest-
stehenden altpythagoreischen Behauptung, dass die Zahlen das
Wesen der Dinge seien. Die Zahlen wurden nicht als Formen von
der Materie der Dinge getrennt; sie waren die substantiellen Be-
standteile des Körperlichen. Wo liegt hier eine reine Metaphysik
gegenüber einer reinen Physiologie ? Man müsste zum Behufs einer
solchen Behauptung die Quellenzeugnisse ändern. Aber auch mit
den Eleaten verhält es sich nicht anders. Sie stellen dem Werden
das Sein, der Vielheit die Einheit gegenüber. Hierin könnte man
den Unterschied des Körperlichen und des Geistigen, des Begriffes
oder der Idee und des Dinges finden wollen. Allein die Eleaten
sind keine Idealisten, wozu sie Unkenntniss machen wollte, sie
haben einen mit den Joniern und Pythagoreern gemeinschaftlichen
Zag. Auch bei ihnen herrscht das Realistische, die Naturauschau-
uug vor. Das Seiende ist dem Parmenides, welcher den Höbepunkt
in der Entwicklung des Eleatismus darstellt, alles, was ist, die
Einheit von Allem, das Ganze der Welt in Kugelgestalt. Die Be-
stimmungen des Parmenides hinsichtlich der Begrenztheit, Gleich-
artigkeit und Untheilbarkeit des Seienden sprechen entschieden für
die Entfernung alles Unräumlichen oder rein Geistigen aus seiner
Lehre vom 8ein. So wenig die Pythagoreer die Form vom Stoffe
der Dinge trennen, so wenig trennen die Eleaten das Sein von dem
seienden Ganzen der Dinge. Hier ist eben so wenig eine reine
Metaphysik, die sich einer reinen Physiologie entgegenstellt.
Eben so wenig wird man berechtigt sein, den Anaxagoras und
die Sophisten zur Glanzperiode der Griechenphilosophie zu zählen.
Ein wesentlicher neuer Standpunkt, der subjeotive, beginnt mit
den Sophisten und Sokrates. Daher haben auch die Geschieht*
Schreiber der Philosophie mit Becbt entweder mit den Sophisten
oder mit Sokrates, nicht aber mit Anaxagoras die Blüthenperiode
der griechischen Philosophie begonnen. Der letztere ist der natur-
gemässe Abschluss der Weltanschauung der jüngeren jonischen
Schule. Die Erklärung des Werdens im Gegensatze zum Sein ist
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446 Ueberweg u. Brdinann: Gnftidr. d. Gesch. d. Philosophie.
es, mit welcher sich die jüngeren Jonier, von Herakleitos angeregt,
beschäftigen. Die Lehre des Anaxagoras zeigt Verwandtschaft mit
den gleichzeitigen Systemen des Empedokles und Leukippos. Sie
verwerfen das Entstehen and Vergehen. Sie suchen die Vielheit
and Veränderlichkeit zu erklären, sie nehmen unveränderliche Ur-
stoffe an, ans denen Alles dnrch räumliche Zusammensetzung and
Trennung gebildet wird. Hat Herakleitos das Werden dynamisch
aufgofasst, so fassen sie es mechanisch auf. Hierin liegen die Paukte
ihrer Uebereinstimmung. In der Bestimmung der Urstoffe und in
dem Gruud der Bewegung denken sie verschieden. Anaxagoras
unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass er den Unterschied der
abgeleiteten und der Urstoffe aufhebt und Alles in die Urstoffe
verlegt und den Grund der Bewegung in dem Geiste (vovg) findet.
So ist er die Vollendung der vo r so k ratischen Ansicht. Aber der
wesentlich neue subjective Standpunkt ist noch nicht vorbanden.
Er findet sich erst einseitig bei den Sophisten, rieht ig und tiefer
erfasst bei Sokrates. Mit ihm beginnt darum die Glanzperiode der
griechischen Philosophie. Auch in der Nachwirkung zeigt sich die-
ses ; denn alle nachfolgenden Systeme sind entweder mittelbar oder
unmittelbar aus Sokrates* Anregungen hervorgegangen.
Das viel ausführlicher behandelte Mittelalter um fasst nach
der Eintheilung von Kr. 2 die erste Periode oder die Zeit der
Patristik (S. 198 — 246), die zweite Periode oder die Zeit der
Scholastik (S. 245 — 466), die dritte Periode oder die Zeit des Ueber-
gangs (S. 466 — 622). In der ersten Periode werden die Guo-
stiker, die Neupiaton iker und Kirchenväter unterschieden. Es ist
unpassend, unter die Neuplatoniker in der Periode der Patristik
Plotin und die heidnisch -griechischen Neuplatoniker zu stellen,
welche entweder mit dem Christenthum in gar keine oder höchstens
einzelne in eine feindliche Berührung kommen; sie gehören der
Philosophie des Alterthums an. Sie können hier nur in so fern er-
wähnt werden, als sie auf die Entwicklung der patristischen Zeit
einen Einfluss äusserten. Von Christi und der Apostel ursprüng-
licher Lehre, von den heiligen Schriften ist in der patristischen
•Zeit keine Bede. Statt dessen werden einzelne Kirchenväter be-
handelt und die wichtige , vor das Ooncilium von Nieäa fellende
Zeit beinahe übergangen. Solche Auseinandersetzung, wie sie sich
in gründlicher Weise und guter Benutzung der neuesten kritischen
Forschungen in Ueberweg's Buch findet, ist aber zum wissenschaft-
lichen Verstände iss des Nachfolgenden unerlasslioh. tn der Ent-
wicklung der Dogmatik wird in Nr. 2 dem so genannten ortho-
doxen Dogma überall der Vorzug gegeben. Ihm »gewährt den er-
freulichsten Anblick die Entstehung desjenigen Dogmas, mit dessen
Feststellung vernünftiger Weise der Anfang gemacht werden rauss,
weil es die Voraussetzung aller andern bildet: des Dogmas von
der Trinität.« Der »judaisirende Monarchianisraus« und die Lehre
des >dem Paganismus« zugewandten Arms' werden »«inseitige,
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UcberVfeg Erdmana: Grtmdr. d. Geeefc. d. Philosophie. 447
Athanasius, der diese Einseitigkeit über windet, »der grüsste Kirchen-
vater < genannt, »den das Morgenland erzeugte.«
Die Väter der nazistischen Zeit haben, wie der Herr Verf.
8.246 sagt, »das Dogma gemacht «, die Scholastiker »haben es ver-
ständig eu ordnen und verständig zu machen.« »Wenn daher, fahrt
er fort, das Philosophien der Scholastiker immer von durch Aukto-
rität feststehenden Sätzen ausgeht, so ist dies keine Beschränkt-
heit, es ist die noth wendige Beschränkung auf ihre Aufgabe.« Sind
aber Dogmenmacher der Kirche und Dogmenerklärer derselben
wirklieh eigentliche Philosophen? Ist die Wissenschaft, die an
etwas, was nicht bewiesen, nicht gewusst, nicht begriffen werden
kann, sondern unbedingt geglaubt worden muss, in ihren Unter-
suchungen gebunden ist, keine Beschränkung? Sind diejenigen,
welche eine Aufgabe haben, die nioht von der Wissenschaft, son-
dern von einem ausserhalb derselben stehenden Auktoritätsprincip
beschränkt ist, nicht eben durch diese Aufgabe selbst beschränkt?
Die Scholastik wird 1) in die Jugendperiode (8.247—304),
2) in die Glanzperiode (S. 304 — 403) und 3) in die Verfallperiodo
(8. 403 — 466) eingetheilt. Die Jugendperiede umfasst die
Scholastik als Religion s- und Vernunf tlehre, als blosse
Vernunft lehre und als blosse Religionslehre. Unter die
Scholastik als Religions- und Vernunftlehre werden
Johannes Scotus Erigena, Anselm von Cauterbury, Roscellin, Wil-
helm von Champeaux, Abälard, unter die Scholastik als blosse
Vernunf tlehre Gilbort de lä Porree (Porretanus), unter die
Scholastik als blosse Beligions lehre Hugo v. St. Victor,
die Summisten oder die Verfasser der theologischen summae (Hu-
bertus Pnllus, Petrus Lombardus, Alanus de Insulis) und die Victo-
ria er (Richard und Waltber) gestellt. Man kann aber den Gilbert
sieht so von der ihm vorausgestellten Abtheilung trennen, dass
seine Scholastik blosse Vernunftlehre ist. Auch seine Scholastik
ist theologisch und ist nicht nur Vernunft-, sondern auch Religions-
lehre und in der auf Gilbert folgenden Abtheilung wird man bei
den Summisten, Victorinern u. s. w. eben so wenig der Scholastik
als blosser Religionslehre begegnen. Man gewinnt drei dialektische
Momente, aber sie liegen nicht in der Scholastik, welohe an sich
weder blosse Religionslehre, noch reine Vernunftlehre, sondern in
allen von dem Herrn Verf. bezeichneten Abtheilungen ungeachtet
der von ihm entwickelten Trennung immer eine von der Religions-
lehre abhängige Vernunft lehre bleibt. Die Trennung wird durch
die Darstellung vollzogen, aber sie liegt nioht in den Quellen«
In der Glanzperiode der Scholastik werden 1) Musel-
männer und Juden und 2) christliche Arist-oteliker
unterschieden. Von den letztern werden Alexander von Haies (Ales),
Bonaventura, Albert der Grosse, Thomas und die Thomisten, Lul-
lu8, Dante , in der Verfallperiode Roger Bacon, Duns Scotus,
Wilhelm Occam, Pierre d'Ailly, Gerson, Raymund von Sabunde,
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448 Ueberweg u. Krdmann: Qrundr. d. Gesch. d. Philosophie.
Nicolaus von Cusa ausführlich behandelt und dabei zugleich viel-
fach neue Forschungen und anregende Gedanken mitgetbeilt. Be-
sonders genau und eingehend sind die Studien des Herrn Verfassers,
welche sich auf den Franciskaner Rainiundus Lullus und seine
so genannte ars magna beziehen. Wenn man sich den Charakter
der Zeit recht lebhaft vor die Augen stellt, so wird man wohl be-
greifen können, warum die Zahl der Lullisten einmal fast der der
Thomisten gleich war. Freilich trug dazu nicht bloss der Scharf-
sinn des Urhebers, sondern der zwischen den Dominikanern und
Franciskanern als den zwei Bettelorden herrschende Brodneid nicht
wenig bei, warum ein so hervorragender Kopf der zahlreichen,
beim Volke beliebten Franciskanerinnung, die auch an den Univer-
sitäten ihre Vertreter zählte, mächtigen Beifall erhielt. Dazu kamen
auch die körperlichen Misshandlungen, welche Lullus von den Musel-
männern erlitt, und sein Martertod, weiche seine Bedeutung ver-
mehrten.
Die dritte Periode der mittelalterlichen Philosophie
ist die Periode des Uebergangs aus dem Mittelalter zur Neu-
zeit Sie umfasst nach der von dem Herrn Verf. gegebenen Ein-
teilung 1) die Philosophie als Gottesweisheit (S. 470—502), 2)
die Philosophie als Weltweisheit (S. 502—584), 3) die Rechts-
philosophen (S. 584—622). Die Philosophie als Gottesweis-
h e i t enthält die speculative, die praktische und die t h e o-
sophisohe Mystik. Zur speculativen werden Meister Eck-
hart, Heinrich Suso, Johann Tauler und der unbekannte Verfasser
der deutschen, von Luther 1518 herausgegebenen Theologie, zur
praktischen Johannes Rliysbroek, Geert de Groot (Gerhardus
Magnus), Thomas a Kempis, im Uebergang zum Höhepunkt der-
selben Kaspar Schwenkfeld, Valentin Weigel, zur theo'sophi-
schen Mystik Jacob Böhm, mit Recht am ausführlichsten behan-
delt, gezählt. Die Philosophie als Welt Weisheit hat als Haupt-
abschnitte die Renaissanoe oder Wiedererweckung anti-
ker Systeme (Erneuerung des Piatonismus, die Aristoteliker und
solche, welche die Systeme der Verfallperiode griechischer Philo-
sophie wieder hervorzurufen suchten) und die Naturphilosophen
(Paracelsus, Cardanus, Telesius, Patritius, Campanella, Bruno, Franz
Baco). Von den Rechtsphilosophen werden die kirchlichen Natur-
rechtslehrer, die widerkirchliche, die kirchlich indifferente Politik
und die naturalistische Rechtsphilosophie unterschieden. Unter der
Aufschrift der w iderkirchlichen Politik werden Nicolo
Macchiavelli , unter der der kirchlich indifferenten Bodin,
Gentiiis, Grotius, unter der naturalistischen Rechtsphilo-
sophie Thomas Hobbes angeführt.
(Schlüte folgt)
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Kr. 29. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
üeberweg u. Erdmann: Grundriss der Geschichte
der Philosophie.
(SchhiSB.)
Der zweite Band enthält die Philosophie* der Neu-
zeit, durch deren in seinem grösseren Werke durchgeführte selbst-
ständige Forschung der Herr Verfasser in der Literatur einen
dauernden Namen gewonnen hat. Die zwei ersten Perioden der-
selben wurden mit Benutzung des grösseren Werkes, der Quel-
lenschriften und besonders der Kuno Fischer'schen Forschungen
umgeändert. An der dritten Periode, mit deren Darstellung in
seinem grösseren Werke der Herr Verf. in allem Wesentlichen noch
einverstanden ist, wurde keine bedeutende Veränderung vorgenom-
men. Die Umgestaltung besteht vorzugsweise in Abkürzung des
grösseren Erdmann'schen Werkes, in Hinweglassung der Citate.
Die Einleitung beginnt mit den Worten: >Durch den Bruch mit
dem Mittelalter und ihren Gegensatz zu demselben btlsst die Neu-
zeit den christlichen Charakter nicht ein. Nur dies hört auf, dass
das Cbristenthum in dem geistlich (d. h. weltfeindlich) Gesinnt
sein besteht; anstatt dessen fordert das neuzeitige (moderne)
Christenthum , dass der Mensch ganz im Geiste und in sich lebe,
indem er ganz in der Welt lebt.« Die sich hier natürlich auf-
drängende Frage ist. Was versteht der Herr Verfasser unter dem
Chrif tenthum ? Die Antwort hierauf finden wir im ersten Bande
S. 195 und 196: »Christenthum als bewusstes Versöhntsein der
Menschheit mit Gott kann Einheit beider oder auch Gott-Mensch-
heit genannt werden, Ausdrücke, die dem biblischen Himmelreich
entsprechen. Da das Ziel ist, dass Keiner ohne seine Schuld sich
ausser dieser Einheit befinde, so muss das Versöhntsein der Mensch-
heit mit Gott in einer Weise beginnen, dass es Allen gewiss ge-
macht werden kann, d h. die Gott-Menschheit muss zuerst alsein
sinnlich pereipirbarer Gottmensch erscheinen, der und dessen Ge-
schichte den ganzen Inhalt der Heilsbotschaft bildet, der, weil er
das Christenthum in sich hat, eben darum der d. h. der einzige Christ
ist Damit ist aber nicht gesagt, dass dieser Anfang des Christen-
thums die seinem Begriffe adäquate Existenzweise sei. Vielmehr,
wie jeder Anfang, muss sich auch dieser aufheben; der Zustand,
wo die Gottmenschheit als ein Gottmensch existirt, muss
als der niedrigere dem böhoren (die Erniedrigung der Erhöhung
und Herrlichkeit) Platz machen, wo der Christ in den Christen
LX. Jahrg. 6. Heft 29
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460 Ueberweg u. Erdmann: Grundr. d. Gesch. d. Philosophie.
existirt, wie der Mensch in den Menschen, wo das Evangelium von
ihm zum Evangelio vom Reich geworden und an die Stelle des
Wortes : Es ist nur ein Name, in dem wir selig werden, die not-
wendige Ergänzung desselben getreten ist: Extra ecclesiam nulla
salus. Beide Sätze besagen ganz dasselbe, dass die Versöhnung
mit Gott Alles in Allem ist. Ist sich Versöhnt wissen mit Gott das
eigentliche Princip des christlichen Geistes oder des Christenthums,
so wird jede Zeit als von diesem Geiste gefärbt oder als christlich
zu bezeichnen sein, in welcher diese Idee die Geister bewegt. Ein
Gleiches wird von der Philosophie zu sagen sein, wo die Ver-
söhnungsidee in ihr Platz gewinnt und mit dieser zugleich der Be-
griff der Sünde Wichtigkeit bekommt , der seinerseits auf den
Schöpfungsbegriff zurückweist. Eine jede Philosophie, in der
dies statt findet, ist der Ausdruck der christlichen Zeit.« Der
Maassstab für die Ausbildung der neueren Philosophie ist also dem
Herrn Verf. die Versöhnungsidee. Findet man aber irgend etwas
von VersÖhnnngsidee in den Systemen aller Hauptvertreter der
neuern Philosophie? Ist es überhaupt das christliche Dogma, von
welchem sie ausgehen? Ist es nicht vielmehr umgekehrt die Eman-
eipation von demselben ? Umsonst suchen wir den in allen Men-
schen lebendigen Gottmenschen und die Versöhnungsidee in den
Systemen des Baco, Cartesius, Geulinx, Malebranche, Spinoza, Leib-
nitz, Hobbes, Condillac, Hume, Kant u. s. w. Die neuere Philo-
sophie, namentlich die Heger sehe, hat allerdings in einem beson-
dern Theile der Religiousphilosophie die Versöbnungsidee als die
Grundsubstanz der Christuslehre und zugleich des philosophischen
Denkens entwickelt. Ist aber der abstracto Begriff des reinen Seins
in Wahrheit Gott als Vater der Menschen im Christenthum, das
Anderssein des reinen Seins der Christus des neuen Testamentes
und das Andere dieses Andersseins, welches zum reinen Sein zurück-
führt, der von Christus seinen Anhängern versprochene heiligende
Geist? Das suchen wir vergebens in der Bibel und bei den Kir-
chenlehrern. Die biblischen Urkunden kennen nur einen Messias
und einen Christus. Die Gottbegeisterung in Christus, welche das
Dogma zur Gottmenschheit oder zum Gottmenschen gemacht hat,
ist die Begeisterung, das Durchdrungensein einer concreten Person
durch das göttliche Element, nicht eine abstracto Begeisterung des
Gottmonschenthums. Das Extra ecclesiam nulla salus hat hier
keinen andern Sinn, als den: Ausser der Hegerseben Philosophie
gibt es kein Heil. <
Der Herr Verf. theilt dio Geschichte der neueren Philosophie
bis einschliesslich Hegel in drei Perioden, 1) die Philosophie
des 17. Jahrhunderts oder den Pantheismus (S. 6—77), 2) die
Philosophie des 18. Jahrhunderts oder den Individualismus (S. 77
— 311), 3) in die Philosophie des 19. Jahrhunderts oder die Ver-
mittlung (S. 311—618). Zur ersten Periode gehören Descar-
tes und seine Schule, Malebranche, Spinoza, zur zweiten die
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Üeberweg u. Er d mann: Grundr. d. Gesch. d. Philosophie. 451
realistischen Systeme und zwar die Skeptiker, Mystiker und
der Empirismus des Locke, der englischen Moralsysteme, des Hume
und Adam Smith, Brown, Condillac, ßonnet, Mandeviile, Uelvetius
und die idealistischen Systeme des Leibnitz, der Vorläufer
Wolfs, des Wolf, seiner Schule und Gegner, des empirischen Idea-
lismus, der Philosophie als Selbstbeobachtung und der deutschen
Aufklärung. Die dritte Periode enthält den Kriticismus
(Kant, die Kantianer und Antikantianer und die Halbkantianer),
die Elementarphilosophie und ihre Gegner (Reinhold, des-
sen Gegner), die Wissenschaftslehre und ihre Ausläufe
(Fichte und die Wissenschaftslehre, Ausläufe, Fichte's verän-
derte Lehre, Schlegel, Schleiermacher), das Identitätssystem
(Schölling und die Aufnahme seines Systems), den Pantheis-
mus, Individualismus und ihre Vermittlung auf kri-
tischer Basis, (Herbart und Schopenhauer, v. Berger, Solger,
Steflens, Schölling' s Freiheitslehre) die Kosmosophie, Theo-
sophie und ihre Vermittlung auf kritischer Basis (Oken und
Baader, Krause's Pantheismus, Hegels Panlogismus). Referent
kann die angegebenen Theilungsgründe nicht als sachgemäss er-
kennen. Er erkennt den pantheistischen Charakter weit eher .
im neunzehnten, als im 1 7. Jahrhunderte. Descartes, Geulinx, Ma-
lebranche und die Cartesianer lassen sich nicht unter die Periode
des Pantheismus stellen. Spinoza und seine Anhänger haben allein
diesen Typus und gerade dieser Charakter ist es, der bis iu unsere
Zeit hereinreicht. Es ist weit sachgemässer, die Systeme der Philo-
sophie nach dem subjectiven und objectiven Ausgangspunkte und
zwar jedesmal wieder idealistisch und realistisch zu unterscheiden.
Dann bedarf man da auch des willkürlichen Abschneidens der philo-
sophischen Entwicklung nioht. Denn gewiss lässt es sich nicht
durchführen, dass das 17. Jahrhundert in der Philosophie panthei-
stisch, das 18. individualistisch, das 19. vermittelnd ist. Von sei-
nem Standpunkte aus betrachtet der Herr Verf. die Hegel* sehe
Philosophie oder den Panlogismus (so genannt, weil Hegel sich
rühmt, dass sein System »alle Namen führen dürfe, die man je
einer philosophischen Ansicht beigelegt habe«) als den Abscbluss
aller Philosophie, was ein Nicht-Hegelianer nicht zugeben wird.
Er fügt der Darstellung des Hegel'schen Systems einen Anhang
bei, welcher die deutsche Philosophie seit Hegel'sTode
enthält, so dass wir auch in diesem Umrisse , wie in Nr. 1 , die
Philosophie der Gegenwart dargestellt finden. Mit der Beurthei-
lung der Hegel'schen Philosophie, wie sie in der Einleitung zu die-
sem Anbange S. 619 u. 620 gegeben wird, kann sich nur ein stren-
ger Althegelianer einverstanden erklären. Strauss, Ludwig Andreas
Feuerbach und Andere haben längst das Gegentheil nachgewiesen.
Der Anhang (S. 619—798) unterscheidet die Auflösung
der Hegel'schen Schule (Erscheinungen im logisch-metaphysi-
schen und im religions-philosophischen Gebiet, Unsterblichkeitsfrage,
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4Ö2 Duhamel: Desmethodes dansles sciences de Raisonnement. n.
christologische und theologische Frage) und die Versuche zum
Wiederaufbau der Philosophie (Rückweisungen auf frühere
Systeme, Neuerungsversuche, Fortbildung früherer Systeme, die
vierte Gruppe, Historiker der Philosophie und Schluss).
Das Werk ist auf der Grundlage selbstständiger Forschung
entstanden und enthält viele geistvolle und anregende Gedanken.
Was die von den Einflüssen eines einzelnen Systemes freie An-
schauung der Geschichte der Philosophie im Allgemeinen und ihrer
einzelnen Systeme, die gleicbmässige Vertheilung und Behandlung
des Stoffes, die Vollständigkeit in der Angabe der Quellen und
Hülfsmittel t also Eigenschaften betrifft, welche einen Umriss für
Lehrer und Lernende gleich empfehlenswerth erscheinen lassen,
verdient entschieden das durch den gros st en Sammelfleiss und die
unbefangenste, gediegenste Durchdringung des philosophischen
Stoffes ausgezeichnete Ueberweg'sche Werk vor dem Erdmann'schen
den Vorzug, so reich auch das letztere an geistvollen Gedanken
und selbstständigen Forschungen ist. v. Reichlin-Meldegg.
Des Methode* dans les Sciences de Raisonnement, par J. M. C.
Duhamel, Membre de V Institut, etc. Deuxiemc Partie. Paris.
Qauthier-Villars. Md. (XIV u. 450 8. in 8).
Wir haben im Jahrgange 1865 dieser Blätter den ersten Tbeil
des interessanten Werkes angezeigt, von dem uns nun der zweite
vorliegt. Der erste Theil beschäftigte sich mit den allgemeinen
Begriffen und deren Feststellung, während der zweite nunmehr zur
Anwendung jener allgemeinen Untersuchungen auf die einzelnen
Wissenschaften übergeht, und zwar zu >den vollkommensten Wis-
senschaften, denen der Zahlen und der Ausdehnung.«
Duhamel, dem > langjähriges Nachdenken und eine Lehrtätig-
keit von fast einem halben Jahrhundert« gar viele Mängel in nicht
blos dem gewöhnlichen, sondern auch dem bessern Unterrichte in
den mathematischen Wissenschaften sich gezeigt, will dadurch,
dass er nun in dem vorliegenden Buche zeigt, wie der mathema-
tische Unterricht wissenschaftlich und damit seiner Natur gemäss
behandelt werden soll, den Lehrern, die noch nicht Zeit hatten,
alle die vielen Erfahrungen, die er sich sammelte, zu machen, ganz
besonders einen Dienst erweisen, und sein Buch ist also auch vor-
zugsweise für sie bestimmt »s'adresse ä ceux qui professent.«
Schüler, denen die Sachen schon bekannt sind, um die es sich hier
handelt, mögen mancherlei aus dem Buche lernen; für sie aber
sind eigentliche Lehrbücher, die freilich in dem Geiste, der in
diesem Buche lebt, verfasst sein sollen, vorzuziehen.
Wir haben schon vielfach Werke des berühmten Mathematikers,
dessen Name die vorliegende Schrift trägt, in diesen Blättern an-
gezeigt, und jeweils besonders betont, dass Duhamel ganz entschie-
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Duhamel: Des m&hodes «Uns lea sciences de Ralsonnement. II. 468
den auf völlige Klarheit dringt nnd jenen bekannten Aussprach
d'Aleraberts : »Avancezet la fois vous viendra« unbedingt verwirft.
Wir können auf unsere mehrfach in dieser Hinsicht ausgesprochene
Meinung nur immer wieder zurückkommen, und müssen dies um
so dringender und entschiedener, als wir leider auch in Deutsch-
land gar vielfach jenem leichtsinnigen und nichtsnutzigen Schlen-
drian begegnen, der sich begnügt, die Darstellung der Elemente
der Wissenschaft in »beiläufig« richtiger Weise zu geben, und vor
jeder ernsten Untersuchung auf die Richtigkeit zurückschreckt. Es
ist doppelt nöthig, an dem Beispiele eines so hoch in der Wissen-
schaft geachteten Mannes, wie Duhamel, zu zeigen, dass nur
ernstes Streben ein wirkliches Gute schaffen kann.
Wie bereits gesagt, ist der Gegenstand des vorliegenden Theils
die Algebra und die Geometrie. Beide Wissenschaften betrachtet
der Verf. von ihren Elementen an, dabei aber nur ausführlicher
bei denjenigen Punkten verweilend, die bei einer minder genauen
Darstellungsweise Grund zn Unklarheit geben können. Gerade
aber solche Unklarheit hält Duhamel für den Schüler für ganz
verderblich, da er sich dann an eine »Gefühlsmathematik«, wie
wir sie nennen wollen , gewöhnt , die Alles sein kann , nur eben
keine Mathematik. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, dem Verf.
auf jeden Schritt zu folgen, da dies die Anzeige seines höchst
verdienstlichen Buches ungebührlich weitläufig machen müsste. Wir
werden desshalb nur einen oder den andern Punkt besonders her-
vorheben können.
Bei der Besprechung der ersten Grundbegriffe verwirft er
namentlich auch die Existenz des Raums, unabhängig von dem Be-
stehen der Körper. Dieser »uubegränzte Raum«, meint der Verf.,
verwirre und erschrecke die Einbildung, die ihn geschaffen; trotz-
dem glaubten gar Viele daran, während er eben das eigentliche
Nichts wäre.
Die gerade Linie erklärt bekanntlich Legendre als die kür-
zeste Linie, welche man von einem Punkte zu einem andern ziehen
kann. Mit Recht verwirft der Verf. diese Erklärung, und hält ihr
die von Euklid entgegen, die or dahin erläutert, dass die gerade
Linie eine Linie von beliebiger Ausdehung sei so, dass man durch
zwei gegebene Punkte nur eine einzige dieser Art ziehen kann.
Vielleicht könnte man hier an den Ausspruch Pascals erinnern
(Pensäes, Art. premier), der meint, dass man dergleichen Dinge
überhaupt nicht definiren solle ? Etwas Aehnliches sagt unser Ver-
fasser auch bei Gelegenheit der Definition eines Winkels, denn er
spricht sich so aus: »l'important n'est pas de fixer l'idäe des
choses au moyen d'une phrase, quand cette id6e est si bien ooncue.
qu'elle ne pent donner lieu a auoune möprise.«
Wir übergehen die wichtigen und lehrreichen Betrachtungen
über die Entstehung und Bildung der Zahlen, überhaupt der Fun-
damente der gewöhnlichen Arithmetik in ganzen Zahlen. Eben so
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454 Duhamel: Des methodes dans les soiencea de Raiaonnemente. II.
wollen wir hinsichtlich der Brüche nur bemerken, dass das Auf-
troten derselben nothwendig eine Erweiterung des Zablbegriffs, der
zuerst auf ganze Zahlen sich einschränkte, zur Folge hat. Hiebei
und in allem Folgenden geht der Verf. von dem sicher einzig rich-
tigen Grundsatze aus, dass alle diese Erweiterungen eines anfäng-
lich nur zu eng, aber sonst richtig gefassten Begriffes erst dann
eintreten sollen, wenn die Nothwendigkeit dieser Erweiterung durch
das Fortschreiten der Erkenntniss ganz unmittelbar vorliegt.
Bei jeder solchen neuen Ausdehnung einer früheren Definition
muss dann gezeigt werden, dass all die Ergebnisse (Regeln), die
man früher erhalten, auch noch gelten, wenn man die erweiterte
Definition zu Grunde legt.
Die »Proportion« ist Gleichheit zweier Brüche; die alte Form
ist also ganz überflüssig, wie sie denn auch nach und nach aus
den Lehrbüchern verschwindet, obwohl bekanntlich die gar über-
mässig »konservativ« zu sein pflegen.
Bei den Dezimalbrüchen tritt zum ersten Male in der Arithme-
tik der für die gesammte Mathmetik so wichtige Gränzbegriff auf.
Der unendliche Dezimalbruch, der einem bestimmten Bruche sich
unbegränzt nähert, gibt ein völlig klares Bild einer Gränze über-
haupt, so wie auch die Rechnung damit zeigt, dass man mit einer
solchen (wenn auch vielleicht nicht kurzweg angebbaren) Gränze
ganz wohl rechnen kann.
Einer weitern Gattung von Zahlen begegnen wir bei der Wur-
zelausziehung, den irrationalen oder incommensurablen Zahlen, über
deren Bedeutung der Verf. sich nun gleichfalls ausführlich aus-
spricht. Sie sind für ihn Gränzen commensurabler Zahlen uud als
solche können sie den Operationen, die mit letzteren vorgenommen
werden dürfen, ebenfalls unterworfen werden.
Nachdem er dann an einfachen Beispielen gezeigt, wie mittelst
der analytischen Methode Aufgaben gelöst werden, und betont, dass
man ja nicht zu frühe mit den Formen und Formeln der gewöhn-
lichen Algebra beginnen solle, ehe dor Schüler die Nothwendigkeit
derselben gefühlt hat, behandelt er diese und zeigt, wie sich das
Bedürfniss der Verallgemeinerung der Resultate herausstellt (Buch-
stabenausdrüoke).
Die Rechnung mit diesen letzten führt zu der Rechnung mit
entgegengesetzten Zahlen. Dabei verwirft der Verf. ganz entschie-
den die Existenz der negativen Zahl als solcher und natürlich auch
all der Regeln, die man darauf gründen wollte. Er zeigt , indem
er auf diesen Funkt in seinem Werke vielfach zurückkommt, dass
überall das Auftreten der negativen Zahl nur die Bedeutung hat,
dass man die Aufgabe ursprünglich etwas anders hätte fassen
sollen ; dass aber die herkömmlichen Regeln dann ganz anwendbar
sind. Es ist, wenn man seine Entwicklungen überlegt, gegen die-
selben Nichts einzuwenden, und zur Klarheit gelangt der Schüler
erst auf die von dem Verf. verlangte Weise. Die Einführung der
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Duhamel: Des mdthodes dans les aciences de Ralsonnemente. II. 4Ö5
negativen Zahlen , als Abkürzung der Rechnung, verallge-
meinert zugleich alle Resultate, und ist von diesem Gesichtspunkte
aas, eine Notwendigkeit. Das stellt sich dann auch bei den Po-
tenzen mit negativen Exponenten u. 8. w. heraus.
Bei dieser Gelegenheit prüft der Verf. auch den Beweis von
Laplace in Bezug auf die Rechnung mit negativen Zahlen und
zeigt dessen Unhaltbarkeit. Eben se wendet er sich gegen das,
was d'Alembert und Carnot in dieser Beziehung geäussert, was
Alles beweist, wie selbst die ersten Männer der Wissenschaft sich
mit unklaren Begriffen über die Fundamente begnügt haben.
Endlich erscheint bei der Auflösung der Gleichungen des zwei-
ten Grades noch die imaginäre Zahl, die selbstverständlich noch
viel weniger eine wirkliche Existenz beanspruchen kann. Die ganze
Bedeutung dieser Zahlen liegt darin , dass wenn man mit ihnen
nach den gewöhnlichen Regeln der Rechnung verfährt, die Glei-
chung zweiten Grades durch sie erfüllt ist. Dies aber ist für viele
Aufgaben von grosser Wichtigkeit, namentlich bei der Theorie der
(algebraischen) Gleichungen überhaupt.
Um zu letzterer tibergehen zu können, werden die Begriffe
einer veränderlichen Grösse, einer Funktion und der Stetigkeit er-
örtert und dann auf die Theorie der ganzen Funktionen, also der
algebraischen Gleichungen angewendet. Die wesentlichsten Grund-
sätze werden durchgesprochen und dann die Auflösung der Glei-
chungen des dritten Grades ausführlich, des vierten nur andeutungs- .
weise behandelt.
In Bezug auf die Auflösung der höhern Gleichungen wird die
Trennung der Wurzeln als Ziel der Untersuchung aufgestellt und
das von Lagrange dazn ersonnene Verfahren angegeben (Gleichung
mit den Quadraten der Unterschiede der Wurzeln) , worauf dann
des allerdings entscheidenderen Satzes von Sturm gedacht wird.
Einer klaren und eingehenden Betrachtung werden die Reihen
unterzogen, und auf die Berechnung der Grundzahl der natürlichen
Logarithmen angewendet, wobei auch der Gedankengang angegeben
ist, der Napier auf diese Formen geführt. Die Euler'sche Dar-
stellung der Entwicklung von (l-f-x)m in eine Reihe wird vervoll-
ständigt und daraus dann noch einige Folgerungen gezogen. Damit
scbliesst die Behandlung der Algebra.
Für die »Wissenschaft der Ausdehnung« hat der Verf. sich
Vieles dadurch leichter machen können, dass er auf Euklid, der
ihm immer noch mustergiltig ist, sich beziehen konnte« Desshalb
ist auch ein grosser Theil seiner Darstellung der Grundsätze eigent-
lich eine Darstellung der Methode des griechischen Geometers. Dass
er mit Legendre nicht überall einverstanden ist, haben wir be-
reits oben gesehen, und er führt dies in seinen jetzigen Betrach-
tungen noch mehrfach weiter aus. Von grossem Interesse ist der
Abschnitt, der über die methodische Behandlung der (Konstruktions-)
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456
Gerneth: Fünfstellige Logarithmen.
Aufgaben handelt, wobei wir uns jedoch mit diesem allgemeinen
Ausspruch begnügen müssen.
Neben Euklid hat Archimedes durch die Einführung der Gränz-
betrachtungen das wesentlichste Verdienst um die Geometrie er-
worben und der Verf. geht nun auf diese des Nähern ein, indem
er eine Reihe Fundamentalsätze begründet uud zugleich die Formen,
in welche diese Methode von den Neuern gekleidet worden ist,
darstellt.
Davon macht er dann die gewöhnlich in der Integralrechnung
behandelten Anwendungen auf Berechnung der krummen Flächen,
Linien u. s. w. Eben so wendet er die Gränzenmethode auf die
Berechnung von Pyramiden und ähnlichen Körpern an.
Damit haben wir, wenn auch nicht ganz vollständig, den In-
halt des Buches angedeutet. Ueber dasselbe müssen wir nur wie-
derholen, was wir bereits zu Eingang ausgesprochen. Es war nicht
Ansicht des Verf., ein Lehrbuch der elementaren, aber wissen-
schaftlichen Mathematik zu schreiben, soudern er wollte nur die
Hauptgesichtspunkte, die beim Unterricht, und also auch beim Ab-
fassen eines Lehrbuchs maassgobend sein sollen, aufstellen und
nötigenfalls weiter erläutern, um so mit dem reichen Schatze
seiner langen wissenschaftlichen Erfahrung der Jugend und ihren
Lehrern nützlich zu sein. Wir können desshalb letztere ganz be-
sonders das Buch, das wir mit dem regsten Interesse gelesen, nur
mit bester Ueberzeugung zu eingehender Beachtung empfehlen, da
sie daraus sicherlich reichlichen Gewinn für sich und die ihrer
wissenschaftlichen Sorgo Empfohlenen ziehen werden.
Fünfstellige gemeine Logarithmen der Zahlen und der Wi?ikdf Miktio-
nen von 10 *u 10 Sekunden nehst den Proportionaltheilen ihrer
Differenzen von August Gerneri h. Wien. Friedrich Becks
Verlags- Buchhandlung (VW u. 144 8. in 8).
Die vorliegenden neuen fünfstelligen Logarithmentafeln zeich-
nen sich vortheilhaft vor vielen andern derselben Art, sowohl hin-
sichtlich der Einrichtung als des Druckes aus, so dass, trotz der
ziemlich grossen Anzahl solcher Tafeln, die wir bereits besitzen,
denselben eine günstige Aufnahme finden.
Die erste Haupttafel enthält die Logarithmen der ganzen Zah-
len von 1 bis 10,000 mit fünf, uud von 10,000 bis 10,800 mit
/ sechs Dezimalen und zwar auf jeder Seite fünfzig Linien , was
gegenüber manchen andern fünfstelligen Tafeln nur zu billigen ist.
Daneben ist eine weitere Aenderung die wir hier zum ersten Male
sehen, eingetreten, in so ferne nämlich neben den herkömmlichen
Spalten 0—9- nach 10 aufgenommen ist. Wir können diese Neue-
rung nur entschieden loben, da dadurch das im höchsten Grade
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Gerne th: Fünfstellige Logarithmen.
457
unangenehme und für das Ange nachtheilige Ueberschauen einer
ganzen Zeile unnöthig wird, wenn man bei der seitherigen Ein-
richtung die Differenz bei einer mit 9 endigenden Zahl aufzu-
suchen hatte.
Eine weitere Neuerung besteht in der Bezeichnung der zu
gross genommenen Logarithmen, bei denen die letzte Ziffer durch
einen feinen Querstrich in ihrer obern Hälfte durchstrichen ist.
Endlich sind dieser Haupttafel, in ähnlicher Weise wie bei
den Schröuschen Tafeln, die Hilfszahlen s und t, behnts Aufschla-
gen der Sinusse und Tangenten kleiner Winkel, und zwar von 10
zu 10 Sekuuden, beigegeben.
Die zweite Haupttafel enthalt die fünfstelligen Logarithmen
der trigonometrischen Funktionen von 10 zu 10 Sekunden, und
zwar ist auf je einer Seite ein vollständiger Grad enthalten (so
dass auf eiuer Seite Sinus und Tangente , auf der neben ihr fol-
genden Cosinus und Cotangento enthalten sind). Die Einrichtung
ist sonst die bereits in der ersten Haupttafel bemerkte, indem die
Sekunden durch die Colonnen-Ueberschriften angegeben sind und je
die letzte Colonno der ersten gleich ist (d. b. also, es sind etwa
bei 10 Minuten in derselben Zeile sieben Colonnen, je mit 0", 10"
bis 60" überschrieben, welche die Logarithmen für 10' 0", 10' 1.0"
u. s. w. bis 10' 60" = 11' 0" enthalten). Auch hier ist diese Ein-
richtung ganz entschieden zu loben.
Sind die trigonometrischen Tafeln auch dadurch, dass die
Winkel von 10 zu 10 Sekunden gegeben sind, umfangreicher ge-
worden, so ist dies sicher dadurch mehr als aufgewogen, dass sie
in der jetzigen Form ausserordentlich leicht zu haudhaben sind.
Neben diesen beiden Haupttafeln sind einige kleinere, mehr
oder minder gebräuchliche Hilfstafeln beigegeben. Dieselben sind :
Tafeln zur Verwandlung der gewöhnlichen Logarithmen in natür-
liche und umgekehrt mit sieben Dezimalen ; Verwandlung der Grade
und Minuten in Sekunden und umgekohrt; Länge der Kreisbogen
für den Halbmesser 1 ; Werthe der trigonometrischen Funktionen
von Grad zu Grad mit 2 Dezimalen ; Sehnen und Pfeile aller Winkel
von 0 bis 180 mit 2 Dezimalen; Potenzen der Grundzahl 10 mit 15
Dezimalen; gemeine Logarithmen, des Produkts 10m . a ^1 ...
mit 15 Dezimalen; Verwandlung der Winkel in Zeit»; und endlich
eine Tabelle gewisser Konstanton.
Eine ausführliche Gebrauchsanleitung ist diesen Tabellen, die sich
bis S. 120 erstrecken, beigegeben, wobei jeweils nach einer »zweiten
Methode« die möglichste Schärfe erreicht werden soll, wegen wel-
cher wir auf das Buch selbst verweisen, da für die meisten Fälle
die herkömmliche (als »erste Methode« hier bezeichnete) sicher
ausreicht. Ein Schlussanhang gibt die Berechnung von log (a ± b)
aus loga, logb mittelst nur zweimaligen Eingehens iu die Tafeln,
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Airy: Treatise on partlal Differential Equatlons.
nach den Formeln : log (a -f b) = log I - + 1 ) + log b, log (a — b)
Wie wir bereits zu Eingang dieser kurzen Anzeige sagten, ist
auch die Druckeinricbtung eine gefällige, da die Ziffern scharf ge-
schnitten sind und die Zeilen sich von einander abheben. Persön-
lich würden wir für Logarithmentafeln allerdings statt des weissen
Papieres solches mit leicht grüner Fürbung (meergrün) vorziehen,
wie Vieweg in Exemplaren der Schrönschen Tafeln gethan. Wir
benützen für uns ein solches und wissen desshalb aus Erfahrung,
dass dem Auge dadurch eine wahre Wohlthat erwiesen wird. Ob
die Herstellungskosten bedeutender sind, könuen wir allerdings nicht
beurtheilen.
Wir empfehlen, aus den in obiger Uebersicht begründeten Vor-
theilen, die uns vorliegenden logarithmischen Tafeln allen denen,
welche viel mit derartigen Rechnungen zu thun haben, und eben
so den Mittelschulen, für die sie entschieden zweckmässig einge-
richtet sind.
An elementary treatise on partial Differential Equatiom, designed
for ihe Vse of Siudents in the Universily. Uy Oeorge Bid~
dell Airy, M, A., Astronomer Royal, etc. London and Cam-
bridge: MacmUlan and Co. 1866. (VJJI u. 58 S. in kl. 8.)
Die vorliegende Schrift des berühmten Astronomen ist, wie
ihr Titel und die Einleitung aussagen: >strictly an Elementary
Treatisec, und muss natürlich auch von diesem Gesichtspunkte auf-
gefasst werden. Sie kann, wie aus der nachfolgenden Uebersicht
hervorgehen wird, also keineswegs als ein halbwegs ausreichendes
Lehrbuch angesehen werden, wie sie das ja auch nicht verlangt;
ist vielmehr als eine Art besondere Abhandlung oder Einlei-
tung in das Studium der partiellen Differentialgleichungen zu be-
trachten.
Es ist ganz selbstverständlich, dass der mit allen Zweigen der
angewandten Mathematik ganz besonders vertraute Verfasser, dessen
Name als Autorität in vielen Gebieten derselben gilt, nur Lohr-
reiches in den Schriften erwarten lässt, die unter seinem Namen
erscheinen, und ist eben so selbstverständlich, dass wir uns dar-
auf einzuschränken haben, den wesentlichen Inhalt seiner Schrift
dem Leser vorzuführen, damit derselbe selbst entschieden möge,
ob diese seinen Zwecken und seinen Kenntnissen entspreche. Dabei
werden wir auf die Anführungen aus der Integration der gewöhn-
lichen Differentialgleichungen nicht weiter angehen, wenn sie gleich
interessant und erläuternd sein mögen.
Als Muster für die Integration der partiellen Differential-
Airy: Treatise on partial Differential Equatlons. 450
dz dz
gleichungen erster Ordnung wird die Gleichung — behan-
delt. Es wird gezeigt, dass ihr z = ax-}-y gentigt, aber eben so
auch z = g)(ax-(-y), wo <p eine willkürliche Funktion bedeutet.
Um aber einzusehen, dass dies die allgemeine Auflösung ist, führt
der Verf. (für y) die eine unabhängig Veränderliche u, mittelst
der Gleichung u = a x -j- y ein, und findet, dass die gegebene Glei-
. .dz
chung sich in — = 0 umwandelt, woraus sofort folgt, dass z nur
eine Funktion von u ist. Auch wenn man x ersotzt, erhält man
dasselbe, ja wenn man u = ax-f-yi v = ex + fy einführt.
Die Integralgleichung wird nun geometrisch ausgelegt, und sind
zu dem Ende stereoskopische Kärtchen dem Werke beigegeben.
dz dz
Als zweites Beispiel wird die Gleichung — — a~ =f(x, y)
behandelt, wo f eine bekannte Funktion ist. Durch Einführung von
u und v, wie dies oben angegeben, findet sich sehr leicht das all-
gemeine Integral. Damit schliesst die Untersuchung für die Diffe-
rentialgleichungen erster Ordnung. Beide Beispiole gehören den
linearen Differentialgleichungen an, und werden sofort nach dem
bekannten Verfahren allgemein integrirt. (Vergl. des Ref. »Inte-
tegration der partiellen Differentialgleichungen«, §. 4).
Zu den partiellen Differentialgleichungen zweiter Ordnung über-
gehend wird zunächst als einfachste vorgelegt: ^ = 0, deren In-
d2z
tegral geometrisch ausgelegt wird. Aus ihr wird f(xi j) ß°"
folgert.
d2z d2z
Die Gleichung — — a2 — ==f(x, y), welche als »die wich-
tigste von allen, besonders in Bezug auf physikalische Tbeorieen«
erklärt wird, behandelt der Verf. dadurch, dass er die zwei neuen
unabhängig Veränderlichen u und v mittelst der Gleichungen
u = ax-j-y, v = ax — y einführt, wodurch sie auf die vorher-
gehende zurückkommt. Nach allgemeinen Methoden hat der Unter-
zeichnete diese Art Gleichungen in §. 13 seines vorhin angeführ-
ten Werkes behandelt.
Die Gleichung ^ = a' -yj ± wird dadurch , dass
z = Ä (7) geseUt wird' auf Tx (r S) - al n(r S) - 0 g0-
bracht, wo sie sich nun leioht integriren lässt. Wollte man dieses
Beispiel nach den angeführten allgemeinen Methoden bebandeln, so
würde man zu keinem Ergebniss gelangen , da die dort angeführ-
ten Bedingungen nicht erfüllt sind. Es ist also die von dem Verf.
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460
Wolff: Arabischer Dragoman.
hier eingeschlagene Methode eine den besondern Verhaltnissen die-
ser Aufgabe angopasste. Als allgemeines Beispiel wäre das im an-
geführten Buche §. 15 behandelte anzusehen , das in das obige
Übergeht, wenn man a = -f-2, ß = 2 sotzt. Dadurch wird dort
p = 2, plz= — 1.
Dass man oft mit weniger allgemeinen Auflösungen sich begnügen
kann, wird an dem Problem der Wellenbewegung in einem äquatoria-
len Kanal unter dem Einfluss des Mondes gezeigt, wo die Gleichung
d8X d^X
-r-y = H8in(it — mxJ-J-c' r- zu integriren ist. Dabei wird auf
dt dx
den Fall besonders eingegangen , da der Kanal an seinen beiden
Enden durch feste Wände geschlossen ist. Dieses Beispiel ist zu-
gleich eines für die Bestimmung der durch Integration eingetrete-
nen willkürlichen Funktionen.
Das zweite Beispiel dieser Art ist das der schwingenden Sai-
ten, wobei auch die Darstellung mittelst der trigonometrischen
Reihen berührt wird.
Eine letzte Betrachtung bezieht sich auf den Zusammenhang
der. durch Integration gewöhnlicher Differentialgleichungen eintre-
tenden willkürlichen Konstanten (unbestimmten Konstanten sagt
der Verf.) und der Ordnung der Gleichung, und fragt, ob ein ähn-
liches Verhältniss bestehe hinsichtlich der Zahl der durch Inte-
gration partieller Differentialgleichungen eintretenden willkürlichen
Funktionen und der Ordnung der Differentialgleichung. Hinsicht-
lich der ersten Frage sind wir mit dem Verf. nicht darin einverstan-
den, dass die »besondern Auflösungen« der (gewöhnlichen) Diffe-
rentialgleichungen eine Ausnahme begründen. Das sind einfach
keine Integralgleichungen, indem sie die Differentialgleichung keines-
wegs ersetzen. Die zweite Frage muss vorläufig verneint werden.
Damit schliesst die vorliegende , elementare , immerhin aber
für den Umfang, auf den sie angelegt war, interessante und lehr-
reiche Schrift. Dr. J. Dienger.
Grammatik, Phrasensammlung und Wörterbuch der neu-arabischen
Sprache. Ein Vademecum für Reisende in Egypten, Palästina
und Syrien, sowie zum Gebrauch für den Unterricht, von Dr.
Philipp Wolff. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage.
Leipzig. F. A. Brockhaus. 272 S. 8.
Der gelehrte Verfasser, welcher durch einen längern Aufent-
halt im Orient zu einer solchen Arbeit gut vorbereitet war, hat
schon im Jahre 1857 einen brauchbaren arabischen Dragoman ver-
öffentlicht, der nunmehr, gänzlich umgearbeitet und erweitert, und
durch einen kurzen Abriss der neuarabischen Grammatik bereichert,
allon Anforderungen entspricht, welche an ein derartiges Werk ge-
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Wolff: Arabischer Dragoman.
461
stellt werden können, das besonders dazu bestimmt ist, Reisenden
in Egypten, Palästina und Syrien als Hilfsmittel zu dienen, den
Verkehr mit den Eingeborenen zu erleichtern. Die Auswahl der
unentbehrlichsten grammatischen Regeln sowohl als der Wörter
und Gespräche ist gut getroffen, um den Studirenden bald in Stand
zu setzen, ohne allzngrosse Anstrengung, sich zu unterrichten und
wenigstens verständlich zu machen , wozu noch der Umstand be-
sonders förderlich ist, dass sowohl im Wörterbuche als in der
Phrasensammlung, das Arabische auch mit lateinischen Buchstaben
wiedergegeben wird. Gegen die Art dieser Transscription dürften
nur zwei Bemerkungen an ihrem Platze sein. Der Buchstabe j>
latitet, wo er nicht vulgär wie d gesprochen wird, nicht wie ein
emphatisches s, sondern wie ds , wobei aber das s wie das fran-
zösische z auszusprechen ist und der Buchstabe jj> wird im Vulgär-
arabischen häufig wie ein emphatisches d ausgesprochen, so hört
man in Egypten z. B. jeden Augenblick den Eselstreiber nicht
zahrak (deinen Rücken) rufen, wie der Verf. S. 47 dieses Wort
schreibt, sondern dahrak. S. 193 hat übrigens der Verfassor für
>Rücken« ganz richtig dahr, dafür aber im Arabischen irrthüm-
lich für je geschrieben. Als weitere ähnliche Versehen im
Arabischen erwähnen wir öy*o\ (S. 16) für j^l, so wie
(S. 64 u. 67) für G, lo> (S. 70) für 0, (S. 74) für Ä)
J!<\j (S. 89) für Jjo, Für nicht ganz richtig halten wir itfaddal
(S. 69) statt tefaddal und kattar cheirek, ohne das Wort Allah
dazwischen (S. 74). Min zeman hedeutet nicht »dam als« (S. 109)
sondern, in Egypten wenigstens, »vor längerer Zeit« damals wird
durch »hadak alwakt« ausgedrückt. »Sich für etwas entscheiden«
heisst »azam« das vom Verf. (8. 117) angegebene i'tamed wird
mehr für »sich auf etwas verlassen« gebraucht. »Ellbogen« heisst
wohl auch ktV , doch wird mirfak viel häufiger gebraucht. So
wird auch eine Tafel eher luh als Gusdan (S. 201) genannt und
der gewöhnliche Ausdruck für »Wasserbehälter« (S. 229) ist höd.
Pfirsische heissen nicht blos in Jerusalem (S. 185), sondern
auch in Egypten »choch«. Verstand heifest nicht »ruh«, sondern
Akl oder Dsihn (vulg. dihn). Als Versehen in der Transsoription
notiren wir: mßn (S. 18) für min, jiktub (S. 26) für jektub, iradd
(S. 33) st. aradd ba't und ba'ti (S. 34) st. bi't und bi'ti. lahatta und
lakei (S. 39 u. A.) st. Ii, agrakum (S. 49) st. agarkum oder agrukum,
je nachdem man es als verb. oder nom. nimmt, muhi (S. 56) f. muhji,
badritak (S. 63) für hadratak, kuntu (S. 64) für kunt, baka (S. 73)
für bika, auch scheint für den Artikel vor Qabilijah überflüssig,
der Satz bedeutet wörtlich »nicht ist übrig in mir Appetit.« Ferner:
adar (S. 78) für udr, sijuf (S. 110) für sujuf, din (S. 143) für
dein, Scharba (S. 212) für sohurba, Macannif (S. 223) fürMucannif.
Statt miswar im Texte (S. 60) muss es wohl mismar heissen und
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482 Weliaminof-Zernof: Die Kasimofschen Zaren.
S. 72 muss wohl im Texte »alillat« oder ein ähnliches Wort vor
>kefärec ausgefallen sein. Es ist wohl überflüssig zu bemerken, dass
eine so geringe Zahl Versehen in einem ähnlichen Werke ihm nicht
zum Nachtheil gereicht und dass der Verf. im Ganzen durch seine
Genauigkeit alles Lob verdient. Weil.
Untersuchung über die Kasimofschen Zaren und Zarcwitsche von
Weliaminof-Zernof, aus dem Russischen übersetzt von
Dr. Julius Theodor Zenker. Th. 1. mit 4 Tafeln, a. u. d.
T. Beiträge sur Geschichte der Völker Mittelasiens. Bd. 1.
Leipzig, Voss. 1867. XVI u. 265 S. 8.
Zu den verschiedenen Tatarischen Fürstentümern, welche sich
auf den Trümmern der goldnen Horde erhoben, die im dreizehnten
Jahrhundert das Mongolenreich in Kipdjak gegründet, gehört auch
die Ghanschaft Kasimof, so genannt nach dem Chan Kasim,
dem ersten Fürsten der Stadt Meschtscherskij , welche später den
Namen Kasimof erhielt. Dieser Kasim war ein Bruder Mahmuteks,
der sich im Jahr 1445 der Stadt Kasan bemächtigte und da-
selbst ein neues Reich gründete, nachdem er seinen Vater, den
Vertriebenen Chan der goldenen Horde und einen andern Bruder
ermordet hatte. Kasim floh nach Bussland und kämpfte mit
den ihn begleitenden Tataren mehrere Jahre hindurch für den
Grossfürsten Wasilij III., der ihn dann mit genannter Stadt
belehnte, einerseits um ihn für seine geleisteten Dienste zu be-
lohnen, andrerseits um ihn den Chanen von Kasan gegenüber zu
stellen, welche in dieser Zeit eino für Russland gefahrdrohende
Stellung einnahmen. Die Chanschaft Kasimof bestand über 200
Jahre. Vorliegender Theil handelt von den neun ersten Chanen,
deren letzter, Schah Ali, bekannt durch seinen Feldzug nach Lief-
land, im Jahre 1567 starb. Die Aufgabe, die sich der Verf. ge-
stellt hat, war keine leichte, denn eine Specialgeschichte dieser
Chanschaft existirt nicht, die vorhandenen Nachrichten über Kasi-
mof bestehen zum grössten Theil aus zerstreuten Bruchstücken in
verschiedenen allgemeinen historischen Quellen, die erst sorgfältig
gesammelt und kritisch geprüft werden mussten. Der Verf. hat
sich übrigens auch keineswegs, namentlich in seinen gelehrten An-
merkungen, auf die im Titel angegebene Materie beschränkt, son-
dern auch manche mit derselben im Zusammnnhang stehenden Fra-
gen aus der Geschichte der goldnen Horde, der Krim, Kasans und
Astrachans in den Kreis seiner Untersuchungen gezogen, auch sind
die noch erhaltenen Denkmäler aus jener Zeit entziffert und gründ-
lich erläutert worden, wobei natürlich die von Mulla Husein Feiz
Chan zusammengestellte Sammlung von Abschriften und Abdrücken
der Grabinschriften, die sich auf den Monumenten in Kasimof er-
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Süpfle: De l'H Initiale.
halten haben, benutzt worden sind. Wenn daher auch dieses ge-
lehrte Werk zunächst für die Geschichte Russlands von besonderin
Interesse ist, indem es über eine bisher noch dunkle Periode der-
selben viel Licht verbreitet, so enthält es doch auch so Manches,
was jedem Geschichtsforscher und Orientalisten wissenswerth er-
scheinen muss, dass es wohl verdiente, durch eine deutsche Ueber-
setzung auch den Gelehrten die der russischen Sprache nicht mäch-
tig sind zugänglich gemacht zu werden. Der Verf. stellt für den
Scbluss des Werks eine vollständige Aufzählung aller von ihm be-
nutzten gedruckten und handschriftlichen, russischen und orienta-
lischen Quellen in Aussiebt. Der Uebersetzer gibt einstweilen eine
Uebersicht der im ersten Theile am häufigsten angeführten Werke.
Die Tafeln enthalten Abbildungen des von dem Chan Schah Ali
im Jahr 1555 zuKasimof erbauten Mausoleums und der darin be-
findlichen Grabsteine mit ihren Inschriften. Besonderes Verdienst
bat sich der Verf., der mit der Kenntniss der russischen Sprache
die der arabischen, persischen und türkischen verbindet, um die
Herstellung der Genealogie der Chane von Kasimof sowohl, als ande-
rer tartarischer Chane erworben, welche über Länder herrschten, die
jetzt dem russischen Scepter unterworfen sind. Vollständige chrono-
logische Stammtafeln sollen noch am Endo des Werks beigefügt
werden. Weil.
Dr. Süpfle: De l'H initiale dam la langue d'oil 1867. Gotha.
In dieser Schrift, einem zu Gotha erschienenen Programm des
dortigen Gymnasiums, liegt eine recht verdienstliche Untersuchung
sprachlicher Art vor, die es wohl verdient auch in weiteren Krei-
sen bekannt zu werden. Sie betrifft zwar nur einen einzigen Buch-
staben, und selbst diesen nur in seiner Stellung zu Anfang eines
Wortes, aber sie zeigt an diesem Einen Buchstaben die merkwür-
digen Wandelungen, welche bei der Bildung der neueren romani-
schen Sprachen, zunächst bei der Langue d'o'il, aus welcher das
jetzige französisch hervorgegangen ist, statt gofunden haben und
wirft dadurch auf manche ähnliche Erscheinungen, wie sie auf die-
sem Gebiete uns entgegen treten, ein neues Licht. So gewinnt die
ganze Untersuchung eine weitergehende Bedeutung; sie ist dabei
mit einer solchen Klarheit und Präcision geführt, dass die Ergeb-
nisse sicher und wohl begründet erscheinen, auch ist Alles in einer so
fliessenden Sprache vorgetragen, dass man gerne bei der anziehen-
den Leetüre verweilt.
Wir versuchen, auch ohne in das Detail der Beweisführung
einzugehen, wenigstens die Hauptresultate, zu denen die Unter-
suchung gelangt ist, hier anzugeben. Der Verf. nimmt, wie billig,
seinen Ausgangspunkt von dem Altrömischen, und zeigt hier die
Anwendung und die Aussprache des H. Wenn zumal in der ersten
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464
8tipflc: De l'H initUde.
Periode der Sprachbildung Roms in Wörtern, wie homo, habere
n. dgl. der Buchstabe H ausgesprochen wurde, und zwar recht ver-
nehmbar und selbst als starke Aspiration, so tritt doch schon frühe
eine Abnahme ein ; die Aussprache ward unsicher und schwankend,
namentlich in der gebildeten Sprache der Weltstadt selbst, wäh-
rend sich in der Vulgärsprache, in der lingua rustica, die Aus-
sprache länger erhielt, und wenn sie hier anfangs stärker war, als
der griechische Spiritus Asper, so milderte sie sich doch auch hier
im Verfolg immer mehr, bis sie zuletzt ganz in Abnahme kam und
dann sogar völlig verschwand. Es wird daher nicht befremden,
wenn wir in der ersten Bildungszeit der romanischen Sprache, die
ja aus der Vulgärsprache hervorging, den Buchstaben H noch aus
der älteren römischen mit herübergenommen finden, afrer als einen
stummen und todten Buchstaben, welcher daher auch bald als
blosses orthographisches Zeichen ganz wegfiel, da die aus dem
älteren Latein entnommenen mit H beginnenden Wörter ihre As-
piration verloren (wie on, avoir u. dgl.). Und so kam es denn
selbst dahin, dass man das H als eine orthographische Super-
fütation, wie der Verf. sich ausdrückt, vor Wörter setzte, die aus
dem Latein stammend, in diesem der Aspiration entbehren, wie
haage (für aage, äge von aevum) habandon, habondance,
h a 1 a i g r e (alacer), heul (a?eul von avolus), h u m b r e (ombre) u.
dgl. m. S. 4.
Wenn nun aber in Wörtern, die nicht aus dem Latein stam-
men, am Anfang das II als Aspiration vorkommt, so sind wir da-
mit auf ein anderes Element gewiesen, welchem die Einführung
dieser Aspiration zugeschrieben werden muss, und dieses findet der
Verf. ganz richtig in der Einwirkung der Sprache der deutschen
Eroberer Galliens, der Franken, deren Idiom eine starke Aspiration
nicht verschmähete. Ohne den Einfluss dos deutschen Elementes
würde die langue d'oel'l die Aspiration kaum noch kennen, und
diese beschränkte sich daher auch auf die deutschen, in der Sprache
der Gallo-Romänen eingedrungenen Worte, ohne auf die aus dem
Latein stammenden mit H anfangenden Wörter sich weiter auszu-
dehnen und ihnen den ursprünglichen Laut wieder zu verloihen;
hior blieb das H ein stummes, wenige Ausnahmen abgerechnet, wo
diess aus einem Einfluss des deutschen Elements zu erklären ist,
und zwar in indirecter Weise. Der Verf. hat diesen Wörtern eine
nähere Berücksichtigung im Einzelnen gewidmot, bespricht dann
noch die Anwendung des aspirirten H in den aus dem Deutschen
stammenden Wörtern, und verbreitet sich über dio Natur dieses
H, das im Altfranzösischen vielfach in ch überging; daher auch
die Aussprache sehr stark war, und markirtor als in dem Latei-
nischen. Eine Fortsetzung dieser Untersuchung soll in einem zwei-
ten Theil folgen, und darin insbesondere die Umwandlung des H
in den verschiedenen Dialekten der Langue d'ott nachgewiesen wer-
den. Man wird, wenn man diesen ersten Theil durchgangen, nur
mit Verlangen dieser Fortsetzung entgegensehen.
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Kr. 30.
HEIDELBERGER
1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Friedrich von Gents: ein Beitrag zur Geschichte Oesterreichs
im neunzehnten Jahrhundert mit Benutzung handschriftlichen
Materialsvon Dr. Karl Mendelssohn- Bartholdy. Leip-
zig, Verlag von S. Hirssel 1867. VIII und 126 S. in gr. 8.
Die vorstehende Schrift ist wohl geeignet, die nngetheilte Auf-
merksamkeit Aller derer in Anspruch zu nehmen, welche an der
Geschichte unseres Vaterlandes in der ersten Hälfte dieses Jahr-
hunderts ein Interesse nehmen. Denn unter den in die Geschicke
dieser Periode eingreifenden Persönlichkeiten gibt es kaum eine,
über welche das ürtheil so sehr schwankt, wie über den Staats-
mann, der den Gegenstand dieser monographischen Darstellung
bildet. Wenn ein Gervinus in Gentz nur eine > feile Bedienten-
seele« zu sehen glaubte, so urtheilte Stein noch härter: ihm war
Gentz ein Mensch mit verfaultem Herzen und verbranntem Ge-
hirn; W. v.Humboldt fand in Gentz einen Windbeutel, der Jeder-
mann die Cour mache ; endlich Rüge und die Halle'schen Jahr-
bücher sahen in Gentz das inkarnirte Priucip der Genusssucht, den
Üeischgewordeuen Geist der Lucinde. Auf der andern Seite musste
es auffallen, dass ein sonst so strenger Kritiker, wie Varnhagen
über Gentz ein so überaus mildes Urtheil fällte, dass Prokesch von
Osten sogar einen Charakter von antiker Erhabenheit aus ihm
machte, und noch neuerdings die Treue, die Einheit der Gesinnung,
welche überall durchschimmere, so wie die Umwandelbarkeit an
Gentz1 Grundsätzen anpreist. Eben so bemerkenswerth erscheint
es, dass alle die, welche persönlich mit Gentz in Berührung kamen,
von ihm bezaubert wurden, und überhaupt das Andenken an seine
liebenswürdigen Eigenschaften unter all' seinen zahlreichen Freun-
den fortlebte. Einen solchen Mann, der unleugbar auf die Ent-
wicklung der deutschen Geschicke fördernd wie hemmend einge-
wirkt hat, näher zu kennen lernen, ein sicheres Urtheil über ihn
zu gewinnen, lohnt sich wohl der Mühe. Der Verf. dieser Schrift
hat nach den im Druck vorliegenden Quellen, so wie nach andern
ungedruckten Quellen, welche ihm die mit aller Liberalität geöffne-
ten Archive des österreichischen Kaiserstaates boten, es unternom-
men diese Aufgabe zu lösen, und in strengem Anhalt an die Quellen
und richtiger Würdigung der Verhältnisse, ein Charakterbild zu
entwerfen, das mitten unter diesen so entgegengesetzten Urtheilen
den richtigen Weg zu finden, hier die wahre Mitte einzuhalten
weiss, und dadurch den Leser zu einer richtigen Auffassung des
Charakters, und damit auch zu einem richtigen Urtheil Uber den Mann
LIX. Jahrg. 6. Heft.
30
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466 MendelsBohn-Bartholdy : Friedrich von Gentz.
selbst zu führen vermag. Ein solches bietet uns die Charakteristik,
mit welcher der Verf. S. 119 ff. seine Darstellung beschlossen hat;
und wenn er hier als wesentliches Material seines Charakters, Elasti-
cität des Geistes hervorhebt, und darauf die Worte folgen lässt:
>Er wuchs und sank mit der Zeit und mit den Menschen. Sein
Urtheil passte sich den ausserordentlichsten Verhältnissen an. Sein
Gedanke fand sich in den schwierigsten Problemen der grossen
öffentlichen Welt zurecht. Aber sein Wille war oft nicht stark
genug, über die gewöhnlichsten Tagesbegebenheiten Herr zu wer-
den. Er strauchelte in den einfachsten Beziehungen des Privat-
lebens und der bürgerlichen Moral. Wahrend Gentz im Unglück
eine antike Standhaftigkeit entfaltete, löste das Glück alle Fugen
seines sittlichen Charakters. Denn es liegt im Wesen solcher Na-
turen, dass sie Unglück besser ertragen, wie Glück; nach Auster-
litz und Jena war Gentz grösser als nach Leipzig und nach dem
Wiener Congress.« und diess dann weiter ausführt, so finden wir
darin nur das Ergebniss niedergelegt, zu welchem die vorausgehen-
den Abschnitte in einer eben so lebendigen als unparteiischen
Darstellung geführt hatten. Es sind derselben drei: der erste,
überschrieben: Reaction ; der zweite: Gentz in Preussen; der dritte:
Gentz in Oesterreich. Wenn der erste Abschnitt einleitender Art
ist und den Standpunkt darlegt, welcher überhaupt bei der Beur-
theilung der gesammten Wirksamkeit von Gentz nicht aus den
Augen zu lassen ist, so sind es zunächst die beiden folgenden,
welche besonders unser Interesse in Anspruch nehmen. Mit allem
Recht weist der Verf. darauf hin, wie man, um den Charakter von
Gentz richtig zu würdigen, die ganze Entwicklung des Mannes, vor
Allem die Gesellschaft in den letzten Decennien des achtzehnten
Jahrhunderts ins Auge zu fassen hat, in so fern eben Gentz als
deren ächter Repräsentant anzusehen ist. Deshalb schildert uns
der Verf. das Treiben am Berliner Hofe Friedrich Wilhelm's II.
und in den geselligen Kreisen der prenssischen Hauptstadt; die
seichte Frivolität , den üppigen Ton, die scheinheilige Gonusssucht,
wie sie in der Berliner Gesellschaft sich allerwärts kund gab. Es
war nach Mirabeau's Urtheil die »Fäulniss vor der Reife gekom-
men.« Gorade Mirabeau, der wie Irgend Einer das Genie Fricd-
rich's des Grossen erkannt hat, hat auch mit aller Klarheit er-
kannt, wie die preussischen Zustände damals unhaltbar- und cor-
rumpirt geworden waren. Dass Gentz in dieses Treiben mithin-
eingerissen ward, bis die französische Revolution und der Ernst
des Weltgerichts, das über Frankreich hereinbrach, ihn aufrüttelte,
verschweigt der Verf. keineswegs; er zeigt vielmehr, wie die so-
ciale Stellung von Gentz unhaltbar geworden, sein Familienleben
zerrüttet war; die aus dem Nachlasse Varnhagen's veröffentlichten
Tagebücher, so wio der Aufsatz von Haym (in Ersch und Gruber's
Encyclopädie I. Bd. 57) boten hierzu allerdings eine sichere Grund-
lage; völlig neu dagegen und aus den bisher nicht bekannten Ur-
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Mendelseohn-Bartholdy: Friedrich von Gentz. 467
künden des k. k. Staatsarchives zu Wien dargelegt, erscheint die
Genesis der Beziehungen von Gentz zum österreichen Kabinet ; die
Schreiben von Gentz an Thugut (S. 21), Kobentzl (S. 35) und vor
Allem das merkwürdige Memoire von Gentz an Kaiser Franz (S. 89)
werfen auf dieses Verhältniss ein völlig neues und klares Licht,
und werden daher besondere Beachtung verdienen.
Mit grösserer Ausführlichkeit verweilt der Verfasser bei dem
preussischen Feldzug des Jahres 1806. Er verwirft die Ansicht
von Ad. Schmidt, wornach Preussen schon damals >nationale Po-
litikc getrieben hat, und stellt die Politik des Grafen Haugwitz
als unzuverlässig und schwach hin ; zugleich zeigt er aber auch,
dass Gentz nicht blos stark im Verneinen gewesen, sondern dass
er auch ein positives Programm der Neugestaltung Deutschlands
aufgestellt hat : im Gegensatz zu einem Grafen Haugwitz erscheint
der Vertreter der österreichischen Politik selbst in glänzendem
Lichte, wie diess die in der Anmerkung S. 53 gegebene Ausfüh-
rung nachweist. Es wäre Nichts irriger, als Gentz, wie es von
Merckel geschehen ist, der Schadenfreude zu zeihen Uber die
preussischen Niederlagen; Gentz war vielmehr durch die Kata-
strophe von Jena und Auerstädt so niedergeschmettert, wie es ein
deutscher Patriot nur immer sein konnte. Wie wenig Gentz über-
haupt zu heucheln verstand und wie wenig er sich durch officielle
Rücksichten bestimmen liess, ein Blatt vor den Mund zu nehmen,
dafür zeugt sein hartes, unerbittliches Urtheil über den Feldzug
Oesterreichs im Jahre 1809. Wir staunen in der That, wenn wir
die Aeusserungen von Gentz lesen, wie sie der Verf. S. 63 mitge-
teilt hat, wir sehen, wie Gentz selbst des Kaiser's Franz nicht
schonte, wie er mit Badetzki ganz kaltblütig die Frage erörterte,
welche Vortheile dem Kaiserstaat aus einem gänzlichen Wechsel
der Dynastie erwachsen müssten, wie er erzählt, dass selbst bei
Officieren von Auszeichnung Gedanken der Art Eingang gefunden,
and wie Graf Stadiou sein Herz bei ihm ausgeschüttet u. s. w. Da-
mals wohl hatte sich Gentz die Ueberzeugung aufgedrängt, dass,
so lange nicht ein Wechsel der Persönlichkeiten in Wien einge-
treten, die Macht des französischen Gegners nicht gebrochen wer-
den könne; und doch sah er bald, wie man in Wien an einen
solchen Wechsel des Systems nicht dachte, sich überhaupt nicht
entschließen konnte, an grosse staatsmännische Aufgaben zu gehen.
Im Westen zurückgeworfen hätte Oesterreich nun dem Osten seine
Thätigkeit zuwenden und alle Kräfte anspannen müssen, um dort
der russischen Propaganda entgegen zu treten. Aber, wie der Verf.
nachgewiesen hat, war auch nach der Besiegung Napoleons nach
der glücklichen Schiedsrichterstellung, welche Oesterreich in Europa
einnahm, doch Nichts in diesem Sinne geschehen, und Gentz selbst,
der früher so klar und richtig urtheilte, hat später sich ganz den
Anschauungen Metternichs anbequemt. Wir finden in dieser Schrift,
bei dieser Gelegenheit, eigentlich zum erstenmal die österreichische.
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468 MendelsBohn-Bartholdy: Friedrich von Gent«.
Politik in der orientalischen Frage an der Hand authentischer Ur-
kunden beleuchtet, weshalb wir insbesondere auch darauf aufmerk-
sam machen. Der Verf. zeigt nämlich, wie in Wien der Gedanke
der Legitimität allerdings überwog, wie Metternich vor Allem in
dem Sultan den legitimen Herrscher erkannte, uud das auf Erobe-
rung beruhende, durch Vertrage besiegelte Recht der Türken ver-
theidigte: in so weit stimmt der Verf. im Ganzen wohl mit den
Resultaten überein, zu welchen der neueste Geschichtschreiber die-
ser Ereignisse mittelst Benutzung der Akten des preussischen
Staatsarchivs gelangt ist; allein gestützt auf die in den Wiener
Archiven befindlichen, bisher noch nicht benutzten Akten ist der
Verf. in der Lage noch etwas weiter zu gehen ; er hebt hier auch
die verständige Seite der Metternich'schen Politik hervor, indem
er nachweist, dass die von allen liberalen Blättern damals so hef-
tig angegriffenen Österreichischen Staatsmänner , Metternich und
Gentz, doch wieder die Ersten gewesen sind, welche rein und voll
die Unabhängigkeit Griechenlands verlangten : es ist diess ein Punkt,
der bisher noch nie so klar und bestimmt hervorgetreten ist.
Metternich sprach sich schon Tatitschew gegenüber 1821 und später
1825 entschieden in diesem Sinn aus, freilich fasste or diese Un-
abhängigkeit Griechenlands nur als ein nothwendiges Uebel aui ;
jeder andere Ausweg wäre ihm lieber gewesen, ja er hätte es am
liebsten gesehen, wenn sich unter den Griechen eine monarchische
Partei gegründet hätte , die sich für Restauration , für Rückkehr
unter das Scepter des Sultans ausgesprochen (S. 89): da diess nun
nicht geschah, so erschien ihm die Unabhängigkeit unter andern
Uebeln noch als das Erträglichste. Der Verf. findet das Irrige die-
ser Politik »in der hartnäckigen Anwendung abstrakter Principien
auf eine gegebene Thatsache des Öffentlichen Lebens«, er findet,
dass Gentz und Metternich allzusehr eine Politik der Principien,
aber allzuwenig eine Politik der Interessen verfolgt haben, und in
diesem Sinne schreibt er S. 103 ff.
* Gewiss durfte man auch in den orientalischen Dingen den
Widerstreit der Principien entdecken, der seit 1789 die europäische
Geschichte bewegt und bestimmt hat. Statt sich aber der Furcht
hinzugeben, dass die demokratischen Elemente neue Nahrung aus
jenem Konflikt ziehen und danach streben würden, Europa in all-
gemeinen Brand zu setzen, hätte man andere positive Kombinatio-
nen ins Auge fassen können. Statt die orientalische Frage ein-
seitig aus dem starren Gesichtspunkt des Erhaltungsprincips zu
betrachten, hätte man versuchen müssen, sie mit Rücksicht auf die
lobendigen österreichischen Interessen zu lösen. Alles hing davon
ab, ob die österreichischen Staatslenker ihre Aufgabe höher fass-
ten, als dass sie blosse Legitimität, Erhaltung des Bestehenden und
Abwehr des Fortschritts auf ihre Fahne schrieben. Tradition und
natürliche geographische Verhältnisse weisen dem Kaiserstaat die
Rolle des Völkerführers an der östlichen Donau, sie weisen ihm
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Mcndelesohn-Bartholdy: Friedrich von Gentz. 469
die Politik zu, die er seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts ver-
lassen und die er erst in der Gegenwart wieder aufgenommen hat.
Dass Metternich und Gentz die österreichischen Erbstaaten von
Deutschland, von dem > Reiche c, hermetisch abschlössen und den
flüssigen Tendenzen des Westens gleichsam ein Bollwerk des Er-
haltungsprinzips entgegenstellten: selbst eine solche Politik würde
nicht verdammt werden dürfen, wenn man mit dieser kon-
servativen Aufgabe im Westen nur die richtige Er-
konntniss der progressiven Aufgabe verband, die
Oesterreich im Osten zugefallen ist. Im Osten sollte es
Russland den Rang ablaufen, für abendländische Kultur und Ge-
sittung Propaganda machen. Nur so konnte es seine historische
Mission erfüllen und die Welt von der Nothwendigkeit der Existenz
eine9 aus so verschiedeneu Nationalitäten gemischten Staates tiber-
zeugen. Es galt, die Sehnsucht der Völker, welche durch die Be-
freiungskriege von 1813 und 1814 mächtig angeregt war, nach
einer Seite hin zu wenden, wo Oesterreichs wichtigste Interessen
geschirmt, wo seine militärische Kraft in steter üebung gehalten
werden konnte, nach dem Orient. Dort konnte man den zudring-
lichen Erbpräteudenten der Türkei die glänzendste Hinterlassen-
schaft streitig machen, die je einem nationalen Ehrgeiz winkte,
dort zugleich die nationale Fantasie beschäftigen und durch die
Idee von Ruhm, Macht und Grösse die Gemüther gewinnen. c —
»Aber Metternich zog vor, über die Träume der Enthusiasten zu
lächeln und die Ohnmacht der geistigen und gemüthlichen Fakto-
ren im Volksleben so lange vornehm zu bespötteln, bis er im Jahr
1848 durch die Wiener Studenten sehr unsanft von ihrer Realität
überzeugt und zu schimpflicher Flucht gezwungen ward. Statt den
unruhigen Elementen und den jugendlichen Brauseköpfen im Osten
eine für Oesterreich und für die europäische Civilisation unendlich
folgenschwere Aufgabe anzuweisen, trat er im Osten gerade wie im
Westen auch vor jede% ornsten Verwickelung zurück und ver-
schanzte sich mit seinem Vertrauten Gentz hinter einer Politik des
Abwartens und Erhaltens, die im Grund nur die Interessen Russ-
land's förderten
Gentz, der auch im Jahr 1805 auf das Entschiedenste für die
östliche Kulturmission Oesterreichs sich ausgesprochen, die selbst
in einem dem Kaiser Napoleon von Talleyrand vorgelegten, und
selbst nach der Schlacht bei Austerlitz dringend aber fruchtlos
empfohlenen Plane, nach welchem Oesterreich für seine Verluste in
Deutschland und Italien mit der Wallachei, Moldau, Bessarabien
und Nordbulgarien entschädigt werden sollte, gewissermassen einen
Anhaltspunkt gewonnen hatte, Gentz, der selbst noch später, im
-Jahre 1808 eine Betheiligung Oesterreichs bei den im Orient dro-
henden Ereignissen empfahl, hat später sich ganz den Anschauun-
gen seines hohen Gönners angeschlossen, dessen Politik nicht die
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470
»
Baker: Dor Albert-Nyanza und die Nilquellen. II.
eines thUtigen Eingreifens, sondern eines ruhigen Zuschauens, zu
einseitiger Bewahrung des Erhaltungsprincips war.
Nicht weniger merkwürdig ist das, was der Verf. über die
letzte Periode des Lobens, S. 108 ff. uns vorführt. Am Abend
seines Lebens trat, wie der Verf. bemerkt, eine Rückkehr al segno
ein, ein Zurückgreifen zu den freisinnigen und frischen Tendenzen der
Jugend ; und während er von Neuem sich in die Genüsse des
Lebens stürzte, so konnte doch die Julirevolution des Jahres 1830
nicht spurlos an ihm vorübergehen. »Das auf dem Wiener Con-
gress begründete politische System, ein Werk des Fürsteu Metter-
nich, wankte und drohte aus allen Fugen zu gehen. Um so be-
zeichnender ist, dass öentz sich jetzt damit begnügte, zur Duldung
des konstitutionellen Systems zu rathen und auf das Entschiedenste
vor jedem Principienkrieg warnte« (S. 111). Nicht anders war
seine Haltuug zu der Zeit des polnischen Aufstandes, da er sogar
•in Memoire zu Gunsten der Polen verfassto, wenn er auch nach
dem Falle Warschau' s das gescheiterte Unternehmen als Unbeson-
nenheit bezeichnete. Der Verf. zeichnet die politische Wandelung,
die in dem Manne vor sich gegangen, mit den Worten: »Der
fanatische Doctrinär des Legitimitätssystems hatte sich' in einen
politischen Eklektiker verwandelt, die ehemalige reaktionäre Sieges-
zuversicht war völlig verschwunden und es tauchten dagegen selbst
Merkmale bedeutsamen Antheils an der gegnerischen Sache empor.
— Es lag in dieser Wandelung der Keim des Gegensatzes zu der
bisher vertretenen Politik des Fürsten Metternich viel deutlicher
entwickelt, als man gewöhnlich meint« (S. 117). Aus diesen Mit-
theilungon , die wir nicht weiter fortsetzeil wollen , mag die Be-
deutung der ganzen Schrift erhellen, ohne dass es noch weiterer
Belege bedürfte zur Rechtfertigung des oben ausgesprochenen Ur-
theils, das in dem Inhalt der Schrift wie in der Darstellung hin-
reichend seine Begründung findet.
Der Albert Nyanza, das grosse Becken des NU und die Er-
fonchunp der Nilquellen von Samuel White Baker, Au-
to risirte vollständige Ausgabe für Deutschland. Aus dem Eng-
lischen von J. E. A. Martin, Ctulos der Universitätsbiblio-
thek su Jena, Nebst 33 Illustrationen in Holzschnitt 1 Chrono-
Hihographie und zwei Karlen, Zweiter Band. Jena. Her-
mann Costenoble 1867, VJIJ u. 303 S. in gr' 8.
Wir hatten in diesen Jahrbüchern (S. 318 ff. Nr. 20) kaum
den ersten Tbeil dieses wichtigen Reisewerkes besprochen, als uus
der zweite zukommt, welcher die Fortsetzung des Reiseberichts
enthält und das Endziel der ganzen mit unsäglichen Beschwerden
und Gefahren verknüpften Reise uns vorführt: die endliche Ent-
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Baker! Der Albert-Nyan» und die Nilquellen. II.
471
deckung des seit Jahrhunderton, ja Jahrtausenden gesueliten Ur-
sprungs des Nil; wir haben daher um so mehr die Verpflichtung
unsere Leser mit dem Inhalt dieses Bandes näher bekannt zu
machen. Auch dieser Band ist reich an mannichfachen Erlebnissen,
an Gefahren jeder Art, die indess so wenig als öftere Krankheits-
anfiille, den kühnen Reisenden und seine Gattin abschrecken
konnten, Alles daran zu setzen, das noch nicht erkannte Endziel zu
erreichen und damit des Ruhmes theilhaftig zu sein, die vielge-
suchten und viel besprochenen Quellen des Nil entdeckt zu haben.
»Der Reisende ist hier, unter dem Schutz der göttlichen Vorsehung,
ganz auf sich selbst gewiesen und muss sich und seine Mittel den
Umständen anpassen« (S. 62).
Die zwei ersten Kapitel, das zehnte und eilfte, enthalten die
Fortsetzung der Reise bis zu der Nähe des Albort Nyanza, zu dessen
Entdeckung das folgende zwölfte Kapitel führt. Es war am 14. März,
als nach so viel schwerer Arbeit und gefahrvollen Krankheitsan-
fällen dieses Ziel erreicht ward. >Die Sonne, so schreibt der Verf.
S. 81, war noch nicht aufgegangen , als ich meinem Ochsen die
Sporen gab und dorn Führer nacheilte, der, weil ich ihm bei der
Ankunft am See eine doppelte Hand voll Perlen versprochen, die
Begeisterung des Augenblicks ergriffen hatte. Der schöne heitere
Tag brach an, und nachdem wir ein zwischen den Hügeln liegen-
des tiefes Thal tiberschritten hatten, arbeiteten wir uns mühsam
den gegenüberliegenden Abhang hinauf. Ich eilte auf die höchste
Spitze. Unser prachtvoller Preis sprang mir plötzlich in die Augen I
Dort lag, gleich einem Quecksilbermeer, tief unten die grossartigste
Wasserfläche — im Süden und Südwesten ein grenzenloser See-
horizont, glänzend in der Mittagssonne, und im Westen erhoben
sich in einer Entfernung von fünfzig bis sechzig Meilen blaue Berge
aus dem Busen des Sees bis zu einer Höhe von etwa 7000 Fuss
über seinem Wasserstand.
Den Triumph jenes Augenblicks zu beschreiben, ist unmöglich ;
— hier lag der Lohn für alle unsere Arbeit — für dio jahrelange
Zähigkeit, mit welcher wir uns durch Afrika hindurchgeplagt hatten.
England hatte die Quellen des Nil orobort ! Lange zuvor, ehe ich diese
Stelle erreicht, hatte ich mir vorgenommen, zu Ehren der Entdeckung
mit unserer ganzen Mannschaft drei Hurrahs in englischor Weise zu
rufen; aber jetzt, wo ich hinabschauto auf das grosse Binnenmeer,
das gerade im Herzen Afrika's eingenistet lag, wo ich daran dachte,
wie vergebens die Menschheit so viele Jahrhundorte hindurch diese
Quellen gesucht, und erwog, dass ich das geringe Werkzeug gewesen,
dem es verstattet war, diesen Theil des grossen Geheimnisses zu ent-
hüllen, während es so Vielen, die grösser als ich, misslang, da war
ich zu ernst gestimmt, um meinen Gefühlen in eitlem Hurrahge-
schrei für den Sieg Luft zu machen, und dankte aufrichtig Gott,
dass er uns durch alle Gefahren zum guten Ende geführt und uns
beigestanden hatte. Ich stand etwa 1500 Fuss über dem See und
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472 Baker: Der Albert-Nyanza und die Nil quellen. II.
blickte von der steilen Granitklippe hinab auf diese willkommenen
Wasser — auf jenen Ungeheuern Behälter, der Aegypten ernährte
und Fruchtbarkeit brachte, wo Alles Wildniss war — auf jene
grosso Quelle der Güte und des Segens für Millionen menschlicher
Wesen, und als einen der grössten Gegenstände in der Natur be-
scbloss ich sie mit einem grossen Namen zu ehren. Zum unver-
gänglichen Andenken an einen von unserer gnädigsten Königin ge-
liebten und betrauerten und von jedem Engländer beweinten Für-
sten nannte ich diesen grossen See »den Albert N'yanza«. Die
Seen Victoria und Albert sind die beiden Quollen des Nil«. Nach-
dem man den steilen und nicht gefahrlosen Abhang zu dem Ge-
stade des Seo's herabgestiegen war, erkannte man erst recht die
Bedeutung des endlich erreichten Ziels. »Der erste Blick, schreibt
der Verf. weiter S. 88, von der 1500 Fuss über dem Wasser-
spiegel liegenden Spitze der Klippe hatte vermuthen lassen, was
eine nähere Prüfung bestätigte. Der See war eine ungeheure Ein-
senkung weit unter das allgemeine Niveau des Landes, von jähen
Klippen umringt und im Westen und Südwesten von grossen Berg-
ketten begrenzt, die sich fünf- bis siebentausend Fuss über den
Stand seiner Wasser erhoben — er war daher der eine grosse Be-
hälter, in welchen alles Wasser abflicssen mussto, und aus die-
ser Ungeheuern Felsencisterne nahm der Nil seinen Ausgang, ein
Riese schon bei seiner Geburt. Für die Geburt eines so gewalti-
gen und wichtigen Stroms wie der Nil hatte die Natur eine gross-
artige Einrichtung getroffen. Spekels Victoria N'yanza bildete einen
Wasserbehälter in bedeutender Höhe, welcher durch den Kitangulä-
Strom den Abfluss von Westen aufnahm, und Speke hatte in gros-
ser Entfernung den M'Fumbiroberg als eine Spitze zwischon ande-
ren Bergen gesehen , von denen die Flüsse herabkamen , welche
durch ihre Vereinigung den Hauptstrom Kitaugul£, den vorzüg-
lichsten Speisekanal des Victoriasee's von Westen her, unter etwa
2° südlicher Breite bildeten ; dieselbe Bergkette, welche den Victoria-
see im Osten speiste, musste daher auch eine Wasserscheide nach
Westen und Norden haben, die in den Albertsee floss. Da der
allgemeine Abfluss des Nilbeckens von Süden nach Norden gerich-
tet ist und der Albert sich viel weiter nach Norden erstreckt als
der Victoriasee, so nimmt er den Fluss aus dem letzteren auf und
reisst also die ganzen Quellwapsser des Nil allein an sich. Der
Albert ist der grosse Behälter, während die Victoria die Östliche
Quelle ist.«
So konnte nun, da das Ziel erreicht, und die Aufgabe gelöst
war, an die Rückreise gedacht werden, um vor Ende April Gon-
dokoro wiedor zu erreichen und dadurch die Möglichkeit zu ge-
winnen, von danach England zurückzukehren. Während dieTuiere
mit dem Gepäck auf einem Umwege zu Lande auf den Anhöhen,
welche den See von der Ostseite umgeben und an manchen Stellen
so schroff ins Wasser fallen, dass nahe am See den Weg zu neh-
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Baker: Der Albert-Nyanza und die Nilquellen. II.
473
men nicht möglich war, hingeführt wurden, bestieg die Reisege-
sellschaft ein Boot, das eigentlich nichts als ein ausgehöhlter Baum-
stamm war, aber etwas confortäbler eingerichtet wurde, nament-
lich durch ein theilweise darüber gespanntes Dach, um so den Weg
längst der Küste des Sees zurückzulegen in gerader nördlicher
Richtung bis nach Magnngo, wo der Victoria-Nil oder der Abfluss
des Victoria-Nyanza mit dem Albert-Nyanza sich verbindet; dort
gedachte man auch mit den zu Lande dahin geschickten Thieren
zusammenzutreffen. In dreizehn Tagen ward die Fahrt vollendet,
die durch einen heftigen Sturm , der das Boot überfiel , nicht ge-
fahrlos war , sonst aber des Interessanten , auch zur näheren Be-
trachtung des grossen von Flusspferden und Krokodilen angefüll-
ten Sees nicht wenig bot. Nachdem die Umgebungen des See's bei
Magungo näher untersucht waren, ward der Weg den Victoria-Nil
aufwärts eingesehlagen und zwar zu Lande, da der Fluss wegen
der steten Stromschwellen bis Karumna nicht zu passiren ist. Von
da an in nordwestlicher Richtung durch meist unbewohnte Prärien
oder Sumpfland erreichte man endlich den Nil wieder bei Apuddo,
und nun wurde der Weg, und zwar zu Lande, in stets nördlicher
Richtung nach Gondokoro eingeschlagen, das auch glücklich er-
reicht ward. Aber ohne manche Zwischenfalle fand auch dieser
Theil der Reise nicht statt, und wir verweisen deshalb lieber auf
die lebendige Darstellung des Verfassers, der in diesem Theilo wie
auch in dem noch folgenden Theilo vielfach die Frage nach dem
Sclavenhandel berührt, dessen strenge Unterdrückung er dringend
zum Wohle der Menschheit und zur Sittigung des Landes selbst
verlangt. Die Tbatsacben , die hier angeführt werden und auf
Autopsie beruhen, sind auch wahrhaftig so arg und so schauder-
erregend zum Theil, dass man wohl den gerechten Unwillen des
Verfassers begreift und seinen Vorschlugen zur Abhülfe dieses gräu-
lichen Uebels gern zustimmt.
Die Abfahrt von Gondokoro nach Khartum gibt dem Verf.
Gelegenheit, nochmals einen Rückblick zu werfen auf das durch-
wanderte Land und die durch die Wanderung erzielten Resultate.
»Der Nil, schreibt er S. 256, von seinem Geheimniss befreit, löst
sich in einen verhältnissniässig einfachen Strom auf. Das wirkliche
Becken des Nil liegt etwa zwischen dem 22° und 39° östlicher
Länge und erstreckt sich vom 3° südlicher bis zum 18° nördlicher
Breite. Der Wasserabfiuss dieses ungeheuren Raumes wird von dem
ägyptischen Flu3se aliein in Anspruch genommen. Dil Seen Victoria
und Albert, die beiden grossen Aequatorial-Wasserbehälter, neh-
men alle Flüsse auf, die südlich vom Aequator dem Nil zuströmen;
der Albertsce ist der grosse Behälter, in welchem sich ausser den
Nebenflüssen, die von den blauen Bergen, nördlich vom Aequator,
sich ergiessen, das ganze von Süden her kommende Wasser con-
centrirt. Der Albert N'yanza ist das grosse Bassin des Nil; der
Unterschied zwischen ihm und dem Victoria N'yanza ist der, dass
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474 Baker: Der Albert-Nyanza und die Nilquellen. II.
der Victoriasee ein Behälter für die östlichen Nebenflüsse ist, und
er wird an der Stelle, wo der Fluss am Ripon-Wasserfall aus ihm
heraustritt, ein Ausgangspunkt oder die am höchsten gelegene
Quelle desselben; der Albertsee ist ein Behälter, der nicht nur
die westlichen und südlichen Nebenflüsse direct von den blauen
Bergen empfängt, sondern er nimmt auch das Wasser aus dem
Victoriasee und aus dem ganzen Aequatorial-Nilbecken auf. Der
Nil, wie er aus dem Albert N'yanza hervorgeht, ist der ganze
Nil; vor seiner Geburt aus dem Albertsee ist er nicht der ganze
Nil. Ein Blick auf die Karte wird sogleich die relative Bedeutung
der beiden grossen Seen zeigen. Der Victoriasee sammelt alles auf
der östlichen Seite befindliche Wasser und giesst es in das nördliche
Ende des Albertsees, wahrend der letztere, seiner Beschaffenheit und
Lage nach, das unmittelbare Bett des Nil ist, welches alles Was-
ser aufnimmt, das zu dem Aequatorial-Nilbecken gehört. Der
Victoriasee ist daher die erste Quelle; aber aus dem Albertsee
tritt der Fluss sogleich als der grosse weisse Nil.« Damit ist nach
des Verfassers Ansicht die seit Ptolemaus gestellte Frage über die
Quellen des Nil gelöst, und die Angabe dieses alten Geographen,
welcher den Fluss aus zwei grossen Seen hervorströmen lasst,
welche den Schnee der in Aethiopieu liegenden Berge aufnahmen,
gerechtfertigt.
Wir unterlassen es, Alles Andere anzuführen, was hier noch
weiter zur näheren Kenntniss dieses Beckens des Nil bemerkt wird,
um noch einen andern Gegenstand zu berühren, der eben so nahe
liegt, die Frage nach den natürlichen Hilfsquellen dieser ausge-
dehnten Flächen, die dieser Theil Centraiafrikas in sich begreift.
Der Verf. hat diese Frage in Folgendem beantwortet (S. 262):
>E8 ist schwer zu glauben, dass ein so herrlicher Boden und
eine so ungeheure Strecke Landes bestimmt sei, ewig im Zustande
der Wildheit zu bleiben, und doch kann man kaum an die Möglichkeit
denken, dass es in einem Theile der Welt, welcher von Wilden
bewohnt ist, deren Glück in Müssiggang oder Krieg besteht, besser
werden könne. Der Vortheile sind wenige, der Nachtheilo viele.
Die ungeheure Entfernung von der Meeresküste würde den Trans-
port jeder Waare, wenn sie nicht einen ausserordentlichen Werth
hat, unmöglich machen, da die Kosten unerträglich sein würden.
Die Naturprodukte sind ausser Elfenbein nichts. Da der Boden
fruchtbar und das Klima zum Anbau günstig ist, so würden alle
tropischen Produkte gedeihen ; — Baumwolle, Kaffee und das Zucker-
rohr sind einheimisch; abor obgleich Klima und Boden günstig
sind, so fehlen doch die zu einem erfolgreichen Unternehmen not-
wendigen Bedingungen; — die Bevölkerung ist spärlich und das
Material das alierschlcchtesto ; die Menschen sind lasterhaft und
faul. Das Klima, obgleich für Landwirtschaft günstig, ist der
europäischen Körperbeschaffenheit zuwider; von Ansiedelung kann
daher keine Kede sein. Was lässt sich bei einer so hoflnungs-
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Opel: Wallenatein im Stift Halberstadt. 475
losen Aussicht thun? Wo das Klima für Europäer verderblich ist,
von woher soll die Civilisation eingeführt werden? Das Herz Afrika's
ist so vollständig von der Welt abgeschlossen, und die Verkehrs-
mittel sind so schwierig, dass trotz der Fruchtbarkeit die geogra-
phische Lage jene ungeheure Strecke Landes an der Verbesserung
hindert. So von der Civilisation ausgeschlossen , ist sie ein Feld
für zügellose Greuel gewordon, wie die Thaten der Elfenbeinhiind-
ler beweisen.«
Aber das Haupthinderniss einer jeden Besserung solcher Zu-
stünde findet der Verfasser in dem Sclavonhandel, der wie ein wah-
rer Flucli auf diesem Lande lastet! »Afrika ist verflucht, ruft er
aus, und es kann auf keine Stufe emporgehoben werden, die sich der
Civilisation nähert, bis der Sclavenhaudel gauz unterdrückt ist.
Der erste Sehritt, der zur Verbesserung der wilden Stämme des
weissen Nil notliwendig ist, ist die Vernichtung des Sclavenhandels.
Bis diese herbeigeführt ist, lässt sich kein gesetzlicher Handel be-
gründen, und gibt es für Missionsuntnrnclimuugen gar keine Aus-
sicht; das Land ist gegen alle Verbesserung versiegelt und ver-
schlossen.«
Wir schliessen damit unseren Bericht über ein Reisewerk, das
nicht blos manchen neuen Aufschluss, manche neue Belehrung
bringt, sondern auch eine sehr angenehm unterhaltende Lectüre
bietet durch lebendige Schilderungen jeder Art, welche die Ueber-
setzung im Deutschen gut wiederzugeben gewusst hat. Noch haben
wir der artistischen Beigaben und der schönen äusseren Ausstat-
tung des Ganzen zu gedenken. Die beigefügte Karte lässt uns den
Zug der Reisenden auf das genaueste verfolgon und gibt ein rich-
tiges Bild der durchwanderten, grossentheils bisher fast ganz un-
bekannten Landstrecken. Unter den Illustrationen erwähnen wir
nur das dem Titel beigegebene Bild der Murchison- Wasserfälle von
dem Victoria-Nil bis zu dem Niveau des Albertsee's in der Höhe
von etwa 120 Fuss; oder das Bild des auf dem Albertsee erlebten
Sturmes.
Wallemfein im Stift Halberstadt 1625—1626. Von J. 0. Opel.
Halle, \ 'erlag der Buchhandlung des Waisenhaus? s. 186*6'. 99 8,
gr. 8,
Diese Schrift ist als ein wohl zu beachtender Beitrag zu der
Geschichte des droissigjährigen Krieges zu betrachten, eben so wie
sie auch beitragen kann zu der persönlichen Würdigung Wallen-
stein's, und zur Vervollständigung des Bildes, welches man in
neuerer Zeit von diesem Feldherrn aufzustellen versucht hat. Es
wird dieses Bild aber keineswegs so günstig ausfallen, wenn man
in dieser Schrift die Schilderung der gewaltigen Erpressungen durch-
geht, welchon das durch die Occupation des Wallenstoin'scben
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476
Opel: Wallenstein im Stift Halberstadt.
Heeres bedrängte Stift Halberstadt damals ausgesetzt war : und da
hier Alles unmittelbar aus den Quellen selbst , den noch vorhan-
denen Akten des Domcapitels, und einem zu Leipzig in der Rechts-
bibliothek befindlichen Aktenfascikel entnommen ist, auch in dem
Anhang ein Abdruck einer Anzahl dieser Urkunden gegeben,
Vieles Andere der Art aber in die Darstellung selbst eingoflochten
ist, so kann über die Richtigkeit der einzelnen Angaben auch nicht
der geringste Zweifel obwalten. Die Auflagen, die dem Lande
wie einzelnen Personen gemacht wurden, erinnern an Manches, was
in den Napoleonischen Kriegen die einzelnen Feldherrn dosselben
sich erlaubt haben (man denke nur an Davoust in Hamburg oder
Soult in Spanien), und stellen den obersten Führer des Heeres,
auf dessen Anordnung dioss Alles geschah, in keinem besseren Lichte
dar, zumal da das, was hier berichtet wird, dem gar nicht unähn-
lich ist, was auch aus andern Theilen Deutschlands, welche den Kriegs-
schauplatz abgaben, aus ahnlichen Quellen zu unserer Kunde ge-
langt ist. Es geht auch daraus hervor, wie wenig die Mittel einer
streng militärischen Disciplin in Anwendung gebracht wurden, und
»die Thatsache steht fest, dass Wallenstein bereits jetzt nicht ein-
mal mehr den Versuch machte, seine ungeordneten Heerhaufen durch
den Geist einer strengen militärischen Disciplin zu einem wohlge-
gliederten, die Intentionen des Führers in strenger Folgsamkeit
verwirklichenden Ganzen zu machen € (S. 60). Wenn der Verf. diess
in so fern zu Gunsten Wallensteins zu deuten versucht, als er es
aus der Natur des damaligen Söldnerwesens, und der Art dor
Kriegführung zu erklären sucht, indem nur auf diese Weise es mög-
lich gewesen, die zügellose Soltadeska zusammenzuhalten, deren
Gier man das Land selbst, das sie zu ernähren hatte, preis gab,
so mag er wohl Recht haben, da ja auch auf dor entgegengesetzten
Seite Aehnliches vorkommt, wenn auch nicht in dem Grade, wie
bei Wallenstein, der mit seinem Heere eine in dieser Hinsicht
Allos, was vorkam, überragende Stellung einnimmt: aber auf den
Feldherrn selbst wird es kein günstiges Licht werfen und noch
weniger zur Entschuldigung für sein persönliches Verhalten dienen
können. Und darum können wir auch die Ansicht nicht theilen,
welche Wallenstoin selbst nicht als den eigentlichen Urheber dieser
alles Mass übersteigenden Erpressungen und der dadurch herbeigeführ-
ten Leiden des Stiftes ansehen will, sondern Alles aufden Kaiser Fer-
dinand II. werfen will , der ihm den Coramandostab in die Hand
gegeben, als er sich anheischich gemacht, auf eigene Kosten eine
Armee zu werben. Die späteren Ereignisse haben hinreichend ge-
zeigt, wie vollkommen frei und unabhängig Wallenstein in allen
solchen Dingen handelte, ohne sich um den Kaiser irgendwie zu
bekümmern. 1
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Gerlach: Leben und Dichtung des Horas.
477
Leben und Dichtung des Horas. Ein Vortrag von Fr. Dor. Ger-
lach, Professor der alten Literatur. Basel. Bahnmaier's Ver-
lag (C. DetlofT) 1867. 39 S. gr. 8.
So Vieles auch in alter und neuer Zeit Über den Dichter ge-
schrieben worden ist, welcher den Gegenstand dieser Schrift bildet,
man wird doch gern zu diesem fUr ein grösseres gebildetes Publi-
kum gehaltenen Vortrag greifen und sich an dem lebenvollen Bilde
laben, das uns hier vorgeführt wird, bestimmt zugleich >den viel-
gelesenen, viel bekrittelten und vielgeschmähten Dichter dem rich-
tigen Verständniss und dem Bewusstsein der Gegenwart näher zu
führen« (S. 5). Und diesen Zweck hat der Verfasser durch seine
treffende Schilderung dor Persönlichkeit des Dichters, die Dar-
legung seiner Lebensverhältnisse wie die Charakteristik seiner
einzelnen, mit durch diese Verhältnisse hervorgerufenen oder
doch dadurch mit bestimmten Dichtungen erreicht, so dass auch
der Mann des Faches gern bei dieser Darstellung verweilt und
in der richtigen Auffassung aller der Verhältnisse, unter denen
Horatius dichtete, so wie dor daraus hervorgehenden richtigen
Würdigung seines Charakters wie seiner poetischen Leistun-
gen eine Befriedigung findet, die ihn entschädigen mag für die
Zerrbilder Horazischer Poesie, welche die neueste Kritik auf-
zubringen gewusst hat. Und wohl mag ihn diess veranlasst haben,
einem solchen Verfahren gegenüber ein treues Bild des Dichters
und seiner Poesie aufzustellen, an deren Fortleben der Dichter selbst
seinen unumwundenen Glauben ausgesprochen hat. »Er wird ge-
lesen, bewundert und verstanden, so weit die europäische Bildung
sich erstrecket; sein Name wird bleiben, so lange die ächte Wis-
senschaft in Ehren steht, er wird gepriesen werden, so lange die
Weisheit des Alterthums geachtet wird. Mögen Andero mit dem
Materialismus sich vergnügen oder ihn beklagen ; mögen Sophisten
und Dilettanten durch Tändeleien und Geschwätz den Sinn der
Jugend verirren und entnerven, als ewige Quelle geistiger
Verjüngung bleibt das Alterthum.« Also der Verf. am
Schlüsse seines auch mit gelehrten Nachweisen in den Beilagen
ausgestatteten Vortrages, welchen wir allen Fremden des alton
Dichters bestens hiemit empfehlen.
Friderici Ritschelii Opuscula philologica. Volumen /; ad Hie-
ras Graecas spectantia. Fasciculus IL Lipsiae in aedibus B.
G. Teubneri MDCCCLXVIJ. 8. 449—851 in gr. 8.
Dom ersten Fascikel, welchor in diesen Jahrbb. S. 283 ff.
besprochen ward, ist alsbald der zweite gefolgt, mit dem der
erste Band seinen Abschluss erreicht hat. Was a. a. 0. über die
Anlage und Einrichtung dieser Sammlung und die dabei befolgten
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478 Ritechriii Opusc. philologg.
•
Grundsätze bemerkt worden ist, gilt auch von dieser Fortsetzung,
insofern auch hier nicht anders verfahren worden ist, so dass über
diesen Punkt nichts weiter zu bemerken nöthig sein wird. Was
den luhalt dieser zweiten Abtheilung mit fortlaufender Seitenzahl
betrifft, so wird man unter den siebenzehn Nummern (XVI bis
XXXII), welche den Bestand dieses Heftes ausmachen, kaum
eine finden, welche ohne erörternde oder vervollständigende Zu-
sätze geblieben ist, die bei manchem Aufsatze um so erwünschter
waren, als sie Bezug nehmen auf die weiteren Ausführungen, welche
durch den Inhalt des Aufsatzes später hervorgerufen worden, oder
auf die Anwendung, welche von den kritischen Grundsätzen , wie
sie zur Behandlung der Kritik einzelner Autoren gegeben waren,
nachher im Einzelnen gemacht worden ist.
Die erste Abhandlung ist die zu Breslau 1836 erstmals er-
schienene De Marsyis rerum scriptoribus, nicht ohne weitere Ver-
weisungen auf die seitdem über denselben Gegenstand geführten
Untersuchungen anderer Gelehrten, und mit manchen beachtens-
wertben Zusätzen ausgestattet; dann folgon unter Nr. XVII die
beiden Abhandlungen über die Texteskritik der römischen Ge-
schichte de3 Dionysius von Halicarnass, welche zu Breslau 1838
und zu Bonn 1846 erstmals erschienen sind, nebst der dazu ge-
hörigen dritten Nr. XVIII De Codice Urbinate zu Bonn 1847, mit
Weglassung des der ersten Abhandlung beigegebenen Textes der
acht ersten Kapitel und der diesen beigefügten lateinischen Ueber-
setzung und kritischen Adnotatio. Die hier niedergelegten Ansich-
ten über die Behandlung des Textes, und das Verhältniss der bei-
den hier besonders in Betracht kommenden Handschriften zu ein-
ander, des Codex Urbinas und des Codex Chisianus sind inzwischen
zur Anwendung gekommen in der neuen Ausgabe von Kiessling,
und hat die Art und Weise dieser Anwendung einige nachträg-
liche Bemerkungen hervorgerufen, auf die wir insbesondere zu ver-
weisen haben, wie z. B. S. 517 u. 518. Nun folgt unter Nr. XIX
der aus dem Rhein. Museum N. F. XIII p. 157 ff. aufgenommene
Aufsatz zu Herodians Kaisergeschichte und unter XX der eben
daraus I. p. 193 ff. entnommene über Aristo den Peripatetiker bei
Cicero De senectutc; dann Gnomologium Viudobonense aus dem
Bonner Index Lectt. von 1839 — 1840, die erste unter drei und
f ünf z i g (oder nach der Berichtigung S. 834 eigentlich nur zwei und
fünfzig) akademischen Gelegenheitsschriften oder Programmen der
Art. Daran schliesst sich passend unter Nr. XXII die zu Bres-
lau 1834 erschienene, umfassende Abhandlung, die eigentlich als
eine besondere Schrift anzusehen ist De Oro et Orione mit
manchen Zusätzen und selbst mit wiederholtem Abdruck des zu
dieser wichtigen und gelehrten Schrift in dem ersten Druck bei-
gefügten Index. Verwandten Inhalts ist dann die folgende Nr. XXIII
Etymologici Angolicani brevis descriptio, aus den Bonner Ind. Lectt.
1846 u. 1847. Dieser schliesst sich an XXIV: De Meletio physiologo
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Schuchardt: Der VokaHsmus des Vulgärlateins.
479
brevis narratio, aus einem Breslauer Programm von 1836. Daran
reiht sieb die zur Erlangung der Doctorwürde an der Universität
zu Halle 1829 abgefasste Schrift: Schedae criticae, mit manchen
neu hinzugekommenen wohl zu beachtenden Bemerkungen. Die
folgende Nummer XXVI bringt unter der Aufschrift: Kritische
Miscellen eine Zusammenstellung von einzelnen kritischen Bemer-
kungen und Verbesserungsvorschlägen zu verschiedenen griechischen
Schriftstellern, welche aus verschiedenen Bänden des Rheinischen
Museums hier zusammengestellt sind. Dann folgt Nr. XXVII:
Godofredi Hermanni de A. F. Naekii schedis criticis Epistola aus
einem Bonner Programm vom Jahr 1859 und XXVIII: Medicinische
Adjective auf ides und ideus, ein wenig bekanntes und doch
sehr beachtenswerthes Gutachten, das in Göschen's Deutscher Klinik
Bd. VII vgl. XI u. XII erstmals abgedruckt worden ist. Nun fol-
gen aus dem Rhein. Mus. N. F. XXI. p. 137 ff. : Sicilische Inschrif-
ten, und dann noch drei mehr in das Gebiet der Archäologie ein-
schlagende Abhandlungen »De amphora Galassiana litterata« (aus
den Annali del Inst. Archeolog. Vol. IX), dann Pelopsvase von
Ruvo (ebendaher Vol. XII) und Pelops und Oenomaus: römisches
Sarkophagrelief (eben daher Bd. XXX), mit den dazu gehörigen,
hier ebenfalls beigegebenen Abbildungen : mehrfache erläuternde und
vervollständigende Zusätze begleiten den erneuerten Abdruck dieser
werthvollen Abhandlungen. Und am Schlass von S. 828 an folgen
noch einzelne weitere Nachträge zu den in beiden Fascikeln ent-
haltenen Abhandlungen, mitveranlasst durch neuere Funde oder
neuere Erörterungen der in diesen Abhandlungen behandelten Gegen-
stände. Ein Sachregister und ein Autorenregister, welches die von
jedem Autor in diesem Bande kritisch exegotisch behandelten Stel-
len nachweist, sind hinzugekommen und erleichtern in jeder Hin-
sicht den Gebrauch des Ganzen.
Der Vokalismus des Vulgärlateins von Hugo Schuchardt. Zwei-
ter Band. Leipzig. Druck und Verlag von D. 0. Teubner
1667. 530 8. in gr. 8.
Wir haben seiner Zeit in diesen Jahrbüchern 1866. S 874 ff.
den ersten Band dieses Werkes näher besprochen, und säumen nicht,
das Erscheinen des zweiton Bandes anzuzeigen, mit welchem das
Ganze seinen Abschluss erreicht hat. Einige Nachträge, so wie die
gewiss wünschenswerthen Register sollen in einem besonderen Hefte
nachgeliefert werden. Es wird wohl kaum noch zu bemerken nöthig
sein, wie auch dieser zweite Band in der so gründlichen und um-
fassenden Behandlung des Gegenstandes dem ersten in Nichts nach-
steht und von den umfangreichen und mühevollen Studien des
Verfassers ein gleicher Anerkennung werthes Zeugnis? abliefert ; wir
haben eben so wenig hier noch weiter zu erörtern nöthig, welche
Wichtigkeit und Bedeutung die ganze Forschung, wie sie in diesem
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480 Schnchardt: Der Vokalismus des Vulgärlateins,
Werke niedergelegt ist, nicht blos für die genauere Kenntniss des
Altrömischen, seiner Entwicklung und Bildung gewinnt, sondern
wie sie insbesondere noch dazu dient, uns das Hervorgehen der
romanischen Sprachen, die Bildung dieser Sprachen und alle die
Wandelungen, alle die einzelnen in einzelnen Buchstaben vorgehen-
den Veränderungen und Uebergänge des Einen in den Anderen, wie
sie hier vorkommen, zu vergegenwärtigen und näher kennen zu lernen.
Was den Inhalt selbst betrifft, der nicht wohl eines Auszuges
fähig ist, so beschränken wir uns auf die allgemeine Angabe, dass
in diesem zweiten Band die Fortsetzung des im ersten S. 167 ff.
begonnenen Theiles, welcher die qualitativen Vokalveränderun-
gen befasst, gegeben ist, und dass dieselbe bis S. 335 reicht, mit-
hin noch einen grossen Theil dieses Bandes fällt. Mit S. 336 ff.
beginnt der zweite Theil, welcher die quan ti t ati ven Vokalvoi-
ändorungen erörtert. In jener Fortsetzung der qualitativen Ver-
änderungen kommen zunächst nach dem im ersten Bande S. 167 ge-
gebenen Schema zur Sprache E = I in offenen wie in geschlossenen
Sylben, dann eben so ü = 0 (S. 91 ff.), 0 = ü (S. U9ff.), I = Ü
s= ü(0) S. 197 ff. E(I) = 0 S. 211ff. u.s.w. Ein Uberaus reiches
Material ist hier gegeben, wie es nur die ausgedehntesten Studien
zusammenzubringen vermochten, aber es ist auch Alles wohl ge-
ordnet, wie man sich bald überzeugen wird, wenn man näher in
das Einzelne einzugehen sich veranlasst sieht, nud ist hier
eine Vollständigkeit erreicht, der nicht leicht Etwas entgangen sein
dürfte, zumal bei der ausgebreiteten Bekanntschaft des Verf. mit
allen den Quellen, aus welchen das Material zu seiner Erörterung
zu gewinnen war. In gleicher Weise wird man aber auch den eben
bemerkten andern Theil von den quantitativen Vokalveränderungen
behandelt finden. Nach dem auch hier vorausgeschickten Schema
wird zuerst von der Prosthese gehandelt, dann (S. 365 ff.) von der
Aphärese, von der Apokope (S. 384 ff.), dor Epithese (S. 393 ff.)
wie der Synkope und Epeuthese, von der Elision (8. 441 ff.), von
der Vokalisirung von Konsonanten (S. 486 ff.) wie von der Kon-
8onantirung von Vokalen (S. 502 ff.) endlich von der Vokalver-
setzung (S. 526 ff.) und von der Attraktion (S. 528).
Wir haben damit im Allgemeinen den Inhalt des Ganzen an-
gegeben , ohne auf den Reichthum des Details uns weiter einzu-
lassen, da wir mit dieser Anzeige nur auf diese Schrift aufmerk-
sam machen wollen, die in so manche Gebiete der Wissenschaft
einschlägt, und insbesondere so wichtig ist für die richtige Schrei-
bung einzelner Worte, welche in unsern Handschriften so sehr variirt
und so manche Controverse in neuerer Zeit herbeigeführt hat ; wir
erinnern ebenso an die damit verknüpfte Frage über die richtige
Aussprache und was dergleichen Fragen mehr sind, für deren Ent-
scheidung hier ein Material vorliegt, wie es in dieser Weise an
keinem andern Orte zu finden ist. Die äussere Ausstattung in
Druck und Papier ist eben so vorzüglich wie die des ersten Bandes.
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HEIDELBERGER
JAHRBÜCHER
DER
LITERATUR.
Sechzigster Jahrgang.
Zweite Hälfte.
Juli b is Dezember.
Heidelberg.
Akademische Verlagshandlung von J, C. B. Mohr.
1867.
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iL 31. HEIDELBERGER 1867.
JiHRBÜCHER DER LITERATUR.
1) An iniroduciion io Kachchäy an a' 8 grammar of the Pdli
language; wilh an introducliont appendiz, notes etc. by Jamts
d' Ahe is. Colombo 1863. CXXXVJ. 132. und XVI. pag. 8vo.
2) Abhidh änapp adtpik ä; or diciionary of the Pali lan-
guage by Moggaldna Thero. With English and Singhalese inter-
pretations, notes and appendices by Waskaduwe Subhüti Bud-
dhist priest. Colombo 1865. XV. 204. und XI. pag. 8vo.
3) Die Könige von Tibet von der Entstehung königlicher Macht
in Ydrlung bis zum Erlöschen in Laddk (Mitte des l. Jahrh,
vor Christi Geburt bis 1834 n. Chr.) von Emil Schlag-
ini weit. München 1866. 87 pag. u. 18 pag. tibet. Text. 4to.
4) lieber ein Fragment der Bhagav ati. Ein Beitrag zur Kennt-
niss der heiligen Sprache und Literatur der Jaina. Von A.
Weber. Erster Theü. Berlin. 1866. (Aus den Abhandl. der
k. Akad. der Wissensch.) p. 367—444. 4to.
Die europäischen Forschungen über den Buddhismus haben
nicht etwa in der Weise begonnen, dass man die Anfange dieser
Religion in ihrem eigentlichen Vaterlande Indien aufsuchte und der
Verzweigung derselben in die einzelnen fremden Länder nachgieng,
sondern umgekehrt: man lernte den Buddhismus zuerst in seinen
Ausläufern in Japan, China und der Mongolei, im Siam und Barma
kennen und nur allmählig stellte sich die Ueberzeugung fest, dass
alle diese verschiedenen Ausläufer nach Indien als ihren gemein-
samen Mittelpunkt hinwiesen. Wir erinnern hier an diese genügend
bekanute Thatsache, weil sich aus ihr am besten erklärt wie es kommt,
dass der Buddhismus der Ausgangspunkt geworden ist für For-
schungen über die verschiedensten Völker Centralasions und Hinter-
indiens, denn die meisten dieser Völker würden kein Recht haben
unter die civilisirten Nationen gerechnet zu werden, wenn sie nicht
durch ihre Religion an der Bildung Indiens Antheil hätten. Be-
kannt ist es auch , dass der indische Buddhismus selbst in zwei
Schulen zerfällt, eine nördliche und eine südliche; die heiligen
Schriften der nördlichen Schule sind in Sanskrit geschrieben, die
der südlichen in einer Volksmundart, dem Pali. Mittelpunkt für die
südliche Schule ist, seitdem der Buddhismus in Indien selbst er-
loschen ist, die Insel Ceylon. Von dieser südlichen Schule , die
ihren Einfluss auch Uber Barma und Siam erstreckt, werden wir
zunächst Veranlassung haben zu reden.
Mit besonderer Befriedigung schreiten wir zur Anzeige der
beiden zuerst genannten Schriften. Wir begrüsaen hier nicht nur
LX. Jahrg. 7. Heft 31
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482
ßchriften über den Buddhismus.
zwei neue und zwar tüchtige Mitarbeiter auf dem Felde des Bud-
dhismus, sie kommen auch aus Kreisen, von denen wir bisher Bei-
träge zu erhalten nicht gewohnt sind. Beide sind eingeborne Sing-
halesenund einer der buddhistischen Religion zugethan. Sie sind natür-
lich von Jugend auf mit der Sprach- und Denkweise des Buddhis-
mus vertraut und wir verdanken ihnen manche Belehrung, die wir
in Europa entweder gar nicht oder doch erst nach langem Suchen
hätten erhalten können, daneben ist aber wenigstens der erste der
beiden Verf. auch sehr belesen in allen europäischen Werken, die
von dieser Religion handeln. Wir glauben, dass die europäische
und besonders auch die deutsche Wissenschaft allen Grund hat auf
die neu gewonnenen Anhänger stolz zu sein. Es ist nicht eine
blosse Curiosität, welche uns hier entgegentritt, sondern der Be-
weis eines allmählig sich anbahnenden geistigen Verkehrs zwischen
Europäern und Orientalen. Man unterschätze nicht diese kleinen
Anfänge, deren Bedeutung sich erst in künftigen Jahrhunderten
zeigen wird; der Verkehr, der hier auf einem sehr enge um-
grenzten Gebiete beginnt, wird nach und nach immer mehr an Um-
fang gewinnen, und sich endlich, so hoffen wir wenigstens, zu einem
vollkommenen Ideenaustausch des Morgen- und Abendlandes gestalten.
Fragen wir nach den Gründen, welche die morgenländischen Ge-
lehrten bewogen, diese Annäherung an Europa zu suchen , so giebt
uns die weit ausgedehnte Herrschaft Englands und die dadurch
bedingte Bekanntschaft mit der englischen Sprache nicht blos einen
Grund dafür, sie erklärt auch überhaupt die Möglichkeit, dass eine
solche Annäherung geschehen kann. Irren wir aber nicht, so giebt
es neben diesem noch einen andern Grund, und einen haupt-
sächlichen möchten wir in der näheren Bekanntschaft mit den
Grundsätzen der vergleichenden Sprachwissenschaft sehen, welche
durch die englische Uebersetzung von Bopps vergleichender Gram-
matik und Muirs Arbeiten in Indien immer mehr bekannt werden.
Ueber den Nutzen der Sprachvergleichung für die Wissenschaft ist
schon viel geschrieben worden, von der culturhistorischen Bedeu-
tung derselben hat unseres Wissens noch Niemand gesprochen und
doch hat auch diese Seite ihre vollkommene Berechtigung. Für
uns freilich hat die Thatsache, dass unsere Sprachen gerade mit
denen Indiens und Persiens verwandt sind, keinen andern Werth,
als den geschichtlichen; im Morgenlande ist dies anders. Es ist
etwas, von dem fernher gekommenen Volke, welches Indien be-
herrscht, die Thatsache anerkannt zu sehen, dass es mit seinen
Unterthanen aus demselben Stamme entsprossen ist, und diese als
seine wahren Anverwandten ansieht. Eine grössere Annäherung
zwischen den Siegern und den Besiegten scheint uns auf dieser
Grundlage wohl denkbar und unseres Erachtens ist es auch die
Pflicht der Wissenschaft, hierzu nach Kräften mitzuwirken. —
Die beiden unter 1 und 2 genannten Werke sollen nicht so wohl
unsere Kenntniss des Buddhismus (obwohl Nr, 1 auch dafür sehr
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Schriften über den Buddhismus.
werthvolle Beitrage enthalt) sondern vielmehr die Keuntniss der
Sprache fördern, in welcher die Werke der südlichen Schule ge-
schrieben sind. Der eigentliche Name dieser Sprache istMagadbi
d. i. Sprache von Magadba oder Bebar und es ist nicht unmög-
lich, dass er der richtige ist, da nach der üeberlieferuug die älte-
sten Sendboten, welche Ceylon zum Buddhismus bekehrten, aus die-
sem Theile Indiens stammten. Doch ist auch der bei uns ge-
bräuchlich gewordene Name Pali nicht unrichtig, doch scheint es uns
fraglich, ob das Wort pali ohne den Beisatz von bhasa, Sprache,
für den Namen der Sprache gelten könne. Das Wort pali bedeu-
tet nämlich ursprünglich eine Reihe, Linie, und wird dann auf die
Aussprüche (^akyamunis Ubertragen, ganz ähnlich wie auch sütra
d. i. Faden. Nur in diesem Sinne lässt sich das Wort bis jetzt
belegen und es scheint nicht, dass Herr Alwis zu den bekannten
Textstellen noch neue hinzufügen kann. Ein dritter Ausdruck zur
Bezeichnung der heiligen Sprache wird uns hier zuerst zur Kennt-
niss gebracht, er hoisst tanti; nach dem Paliwörterbucbe heisst
tanti zunächst eine Laute und ist von da aus zu der Bedeutung
»Text« gekommen, aus den bis jetzt bekannten Beispielen ist nicht
recht ersichtlich, ob jeder Text so genannt werden kann oder viel-
leicht nur die metrisch abgefassten , will man die beilige Sprache
damit bezeichnen, so wird wohl auch hier das Wort bhasa nicht
fehlen dürfen. Die Pälisprache hat nun für Ceylon, Siam und Barma
dieselbe Bedeutung wie etwa das Latein für die Mönche des Mittel-
alters, in allen Klöstern wird sie mit Eifer gepflegt, die reiche,
wiewohl auf ein enges Gebiet begrenzte Literatur eifrig gelesen,
die Sprache aber auch jetzt noch mit derselben Meisterschaft ge-
schrieben wie in frühem Jahrhunderten, wie aus den vom Verf.
mitgetheilten Proben erbellt. Wir zweifeln nicht, dass die bud-
dhi6tisohen Mönche auch jetzt noch im Staude sind, sich des Pali
gegen ausländische Glaubensgenossen im mündlichen Verkehre zu
bedienen. Unter den Zweigen des Wissens, welche in der Päli-
literatur reichlich vertreten sind, finden wir auch die Grammatik;
Herr A. hat uns (p. 114. 115) ein Verzeichniss von nicht weniger
als 45 grammatischen Werken mitgetheilt, ohne jedooh die Zahl
vollständig zu erschöpfen. Die Grammatiker theilen sich in drei
Schulen, von denen die eine, Saddaniti, nur schwach vertreten ist,
die zweite die des Moggalana ist nicht sehr alt und ihre Methode
uns bis jetzt ganz unbekannt. Die Mehrzahl der Grammatiker folgt
der Schule des Kaocayana, der für den ältesten der Pal i gram ma-
tiker gilt, eines der beliebtesten Werke dieser Schule ist der Bala-
vatära, welcher der Päligrammatik von Tolfrey uud Clough zu
Grunde liegt. Das eigentliche Hauptwerk dieser Schule sind die
Lehrsätze des Kaccäyana selbst, dieses Werk galt aber bis jetzt in
Ceylon für verloren, Herrn A. ist es jedoch gelungen eine Hand-
schrift des Werkes aufzufinden (andere Handschriften soll man in
Barma besitzen) und diese Entdeckung aur Kenntniss des Publi-
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484
Schriften Ober den Buddhismus.
kums zu bringen ist der Hauptsweck der vorliegenden Schrift. Wir
erhalten hier das Capitel über das Vorbum als Probe, der Text ist
mit einem Commentar versehen, der von einem Theile der Buddhisten
als von Kaccäyana selbst herrührend angesehen wird (p. LXXII),
in Wahrheit aber, wie aus p. 104 hör vorgeht, vom Samghanandin
herrührt. Der Pälitext ist sehr correct mit singnalesischen Buch-
staben gedruckt und eine sehr zweckmässige und zuverlässige eng-
lische üebersetzung beigefügt. Für die Herausgabe dos ganzen
Werkes, welche uns Herr A. in Aussicht stellt, würden wir ihm
allerdings sehr dankbar sein, doch müssen wir bemerken, dass das
Ganze, soviel wir nach der gegebenen Probe beurtheilen können,
nicht so neu ist als es wohl scheinen könnte, und die Abweichun-
gen dos neu bekannt werdenden Werkes mehr die Form als den
Inhalt betreffen. Ref. ersieht aus einer ihm vorliegenden Kopen-
hagener Handschrift des Bälävatära, dass auch dieses Werk auf
Lehrsätze des Kaceayana gegründet ist und dieselben — wahr-
scheinlich ganz vollständig — aufführt, wenn auch meist in ande-
rer Ordnung und mit einem andern Commentare. So beginnt z. B.
auch diese Grammatik mit dem zweiten der auf p. XVII genann-
ten Lehrsätze des Kaceayana (den ersten halten die Buddhisten
nach p. XXI nicht von Kaceayana, sondern von ^äkyamuni selbst
ausgegangen) akkharä pädayo ekacattälisam d. i. nach dem Com-
mentare akkharäpi akarädayo ekacattälisam »die 41 Buchstaben
beginnen mit a«, und fährt dann bis zum zehnten Satze genau in
derselben Weise fort. Der zehnte Satz lautet: pubbam adhotbitam
assaram sarena viyojaye was Herr A. etwas undeutlich tibersetzt :
let the first be separated from its (inherent) vowel by (rendering)
the preceding a consonant. Besser: »man beraube den vorderen
unten (zuletzt) gestellten, vocallosen seines Vocalsc d.h. mit andern
Worten : der erste Consonant einer Consonantenverbindung ist sei-
nes ihm sonst inhärirenden Vocals zu berauben. Dieser vordere,
nach unserer Ansicht oben stehende Consonant wird hier adhothita,
unten gestellt, genannt, weil der Verfasser die grammatische Be-
trachtung des Wortes mit dem Suffixe beginnt, somit der vordere
Consonant zuletzt kommt. Das besagt auch der kurze Commentar
des Baiavatara zu diesem Satze: pubbabyanjanam sarato putha
katabbam, der erste Consonant ist des Vocals zu berauben. Auch
in dem Capitel über das Verbum folgt der Bälävatära den Lehr-
sätzen des Kaccäyana wie sie hier mitgetheilt werden, er citirt
dieselben wörtlich, aber in ganz anderer Ordnung: er beginnt mit
bhuvädayo dhätavo (= Kac. 2, 26), dann folgt dhätussanto lopo
nekasarassa (= K. 4, 40), dann dbätulingehi parä paccayä (= K.
2, 1), dann folgen 1, 9. 1. 8. 5., hierauf 2, 14. 1, 6. 7. 2. u. s. w.
Hiernach dürfte für die Schule die sich an Kaccäyana anschliesst
die Anordnung des Stoffes die Hauptverschiedenheit sein ; anders
stellt sich die Sache für Moggaläna, da derselbe schon über die
Buchstaben von Kaccäyana abweicht, er zählt deren 43. Es wäre
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Schriften Ober den Buddhismus
4*5
zu wünschen, dass auch die Hauptwerke der übrigen Schulen ver-
öffentlicht würden.
Die Stellung der Päligrammatiker ist eine freie, da sie im
Päli die Ursprache sehen, so müssen sie auch die Vergleichung
desselben mit dem Sanskrit abweisen, doch sieht man aus ihren
eigenen Angaben (cf. p. XXV), dass sie auch Sanskritgrammatiker
benützt haben. Soviel ist nun freilich gewiss, dass Panini nicht
unmittelbar das Muster war, nach welchem sie sich richteten, diess
erhellt schon ans der ganzen Einrichtung, welche mehr an die Sid-
dhänta Kaumudl und ähnliche Werke erinnert, und Ref. möchte
die Behauptung nicht schlechthin abweisen, dass Katantra (cf.
p. XL) das Muster für die Päligraramatik gewesen sei. Durch
diese freie Stellung unterscheidet sich die einheimische Päligram-
matik namentlich von den indischen Prakritgrammatikern , denn
diese sehen die von ihnen zu behandelnde Sprache durchaus als aus
dem Sanskrit geflossen an. Diese grössere Freiheit hat nun sowohl
nützlich als schädlich auf die Behandlung der Sprache eingewirkt,
nützlich in so fern weil die Päligrammatiker dadurch, dass sie
dem Sanskrit gegenüber frei dastanden, die Formen und ihren Ge-
brauch so darstellten, wie sie ihn aus den von ihnen benützten
Literaturwerken erkennen konnten ; auch blieben sie von der Sucht
befreit, dem Pali mancherlei theoretische Formen aufzubürden,
welche sonst gewiss erfunden worden wären um die heilige Sprache
des Buddhismns nicht hinter dem Sanskrit zurückstehen zu lassen.
Andrerseits hat aber die rein dogmatische Ansicht, das Pali sei
älter als das Sanskrit, auch ihre üblen Folgen gehabt und nament-
lich die richtige Erkenntniss der Lautverhältnisse und mancher
Formen getrübt, die sich ohne Zuziehung des Sanskrit schlechter-
dings nicht genügend erklären lassen. Für uns ist die Hauptfrage,
wie sich die europäische Wissenschaft den nun sich erschliessenden
Quellen gegenüber zu verhalten habe. Die Kenntniss des Päli in
Europa ist bekanntlich nicht aus dem Studium der einheimischen
Grammatiker hervorgegangen, sondern aus dem Gebrauche ver-
schiedener Werke der Literatur und der Vergleichung der Sprache
derselben mit dem Sanskrit. So ist der Essai sur le Pali von Bur-
nouf und Lassen entstanden und Spätere haben auf diesem Grunde
fortgebaut. Sollen wir nun auf diesem Wege fortgehen ohne die
einheimischen Grammatiken zu benutzen, oder sollen wir von jetzt
ab blos auf die einheimische Grammatik uns stützen? Es liegt auf
der Hand, dass weder der eine noch der andere Weg der aus-
schliesslich richtige ist, sondern dass Benützung der Originalgram-
matik und freie Forschung verbunden werden muss. Namentlich
jetzt, wo wir noch keinen Ueberblick über die Gesammtliteratur
haben, müssen wir die Angaben der Grammatiker dankbar be-
ntitzen, doch stehen wir ihnen anders gegenüber als den Sanskrit-
grammatikern. Ref. glaubt nicht, dass wir annehmen dürfen , einer
der Päligrammatiker stütze sich noch auf eine lebendige Kennt-
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486
Schriften übet den Buddhismus.
niss der Palispracbe, wie diess im Sanskrit doch wenigstens bei
Pänini der Fall ist, ihr Zweck ist wohl von allem Anfang an nur
der : die Sprache zu beschreiben, welche in ihren heiligen Schriften
vorliegt. Nun sind zwar diese heiligen Schriften sehr umfangreich,
doch nicht in dem Grade, dass wir nicht hoffen könnten sie nach
und nach zu bewältigen. Es wird also wohl eine Zeit kommen,
wo wir nicht nur über denselben Stoff gebieten wie die einheimi-
schen Grammatiker, sondern auch im Stande sind, ihre Beobach-
tungen vermittelst einer weiter fortgeschrittenen Kritik zu berich-
tigen. Aber diese Kritik ist niebt ohne grosse Vorarbeiten zu
Üben und darum wird eine Paligrammatik, so wie sie wirklich sein
soll, noch lange zu den frommen Wünschen gehören. Für die
Kritik steht es fest, dass der Text der heiligen Schriften des süd-
lichen Buddhismus so wie er jetzt liegt, durch den ausführlichen
Commentar des Buddhaghosa geschützt ist, und seit Abfassung die-
ses Commentars keine wesentliche Veränderung erlitten hat. Allein
diess führt uns nicht weiter als bis in das 5. Jahrhundert n. Chr.
Geb. und es fragt sich ob derselbe auch von da aufwärts bis zu
seiner Aufzeichnung unter Vattagamini (etwa 100 v. Chr. Geb.)
keine Veränderung erlitten hat. Doch, selbst wenn sich beweisen
Hesse, Buddhaghosas Text sei wirklich durchweg der zuerst in Ceylon
aufgezeichnete, so würden doch in der Periode der mündlichen
Ueberlieferung bis zum Religionsstifter hinauf Aendernngen denk-
bar sein. Ausser auf die Authentie des Wortgefüges werdeu aber
die Kritiker ihre Augenmerk auoh auf die Zusammensetzung der
Texte zu richten haben. Wir glauben, dass es selbst den Buddhisten
einleuchten rouss, wenn wir sagen, dass die Texte in der Form, in
welcher sie jetzt vorliegen, nicht von (Jäkyainuni herrühren können,
dass die langen Einleitungen, welche erzählen, bei welcher Gelegen-
heit Qakyamuni diesen oder jenen Ausspruch gethan habo, als Zn-
that der Tradition anzusehen seien und die wirklichen Aussprüche
des Religionsstifters allein als massgebend gelten können. Es fragt
sich nun hauptsachlich, ob diese Aussprüche nicht durch eine spä-
tere Redaktion sprachlich goändert worden seien oder noch in der
Sprache geschrieben sind, in welcher sie unter Asoka in Ceylon
bekannt gemacht wurden. Wie Ref. glaubt, ist alle Hoffnung
vorhanden, dass man Über diesen letzten Punkt noch ins Reine
kommen werde. Bekanntlich hat Asoka in allen seinen Inschriften
sich dem Dialekt derjenigen Provinz anbequemt, für welche sie
berechnet waren. Da wir nun von ihm selbst wissen , dass er in
Ceylon geherrscht hat, so werden die zahlreichen dort befindlichen
Inschriften in der von ihm gebrauchten Schriftart (gewöhnlich
Nagari inscriptions genannt) kaum von einem Anderen herrühren
und die Veröffentlichung einer zuverlässigen Abschrift dieser In-
schriften würde zu den grössten Diensten gehören, die man der
Erforschung des Buddhismus leisten kann. Wahrscheinlich würde
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Schriften Über den Buddhismus
487
durch diese Texte eine feste Grundlage zur Beurtheilung des Alters
und der Herkunft des Pali gegoben werden.
Die lange Einleitung, welche dem Buche vorausgeschickt ist
(136 S.) und 62 S. des Anhanges behandeln das Zeitalter des
Kaccayana und das Verhältniss des Pali zum Sanskrit. Diese Theile
des Buches sind voll von den interessantesten Mittheilungen, nament-
lich von Texten, die uns zumeist ganz unbekannt waren. Es thut
darum unserem Danke gegen den Verf. durchaus keinen Eintrag,
wenn wir in mehreren Hauptpunkten, auf deren Feststellung es
ankommt, durchaus nicht mit ihm übereinstimmen. Herr A. sucht
die Ansicht zu begründen, dass Kaccäyana und seine Grammatik
bis in die ältesten Zeiten des Buddhismus zurückgehen, dass die-
ser Grammatiker ein Zeitgenosse (Jakyamunis und dessen unmittel-
barer Schüler gewesen sei, dass er von ihm selbst den Auftrag zur
Abfassung einer Päligrammatik erhielt, ja dass die erste Kegel in
Kaccayanas Grammatik von (Jäkyamuni selbst herrühre. Dass die-
sen Annahmen bedeutende Hindernisse im Wege stehen, weiss auch
unser Verfasser und sucht sie zn beseitigen, aber nach Ansicht des
Ref. ohne Erfolg. Den Zweifeln gegenüber, die man gegen die
Thatsache erhoben hat, ob zur Zeit (Jakyamunis die Kunst des
Schreibens in Indien schon bekannt gewesen sei, sammelt er eine
Anzahl von Stellen aus buddhistischen Schriften, welche allerdings
von der Anwendung der Schrift zur Zeit (Jakyamunis sprechen.
Allein wir nehmen die Sache genauer und dass ein vielleicht 5 bis
600 Jahre (oder auch mehr) nach (Jakyamunis Tode lebender Schrift-
steller von schriftlichen Abfassungen zu jener Zeit spricht, kann
noch nicht die Zuverlässigkeit der Thatsache selbst erweisen. Wir
Nicht-Buddhisten hegen auch mancherlei Zweifel nicht nur, ob alle
den grössern buddhistischen Sutras beigefügten Entstehungsge-
schichten wirklich alt seien, sondern auch ob alle in diesen Schrif-
ten auf (Jäkyamuni zurückgeführten Aussprüche wirklich von ihm
herrühren. Mehr noch, wir glauben aus buddhistischen Schriften
selbst zum Mindesten wahrscheinlich machen zu können, dass bei
dem Ableben (Jakyamunis keine geschriebenen Sammlungen seiner
Aussprüche vorhanden waren, dass diese selbst bei dem kurz nach
seinem Tode veranstalteten grossen Concile noch nicht niederge-
schrieben wurden. Der Mahävansa (3, 83. 36) sagt zweimal aus-
drücklich, dass die versammelten Anhänger des dahingeschiedenen
(Jäkyamuni die ihnen mitgetheilten Aussprüche im Gedächtnisse
aufbewahrt haben. Hiernach wird man schliossen dürfen, dass sie
höchstens diese Aussprüche des leichteren Behaltens wegen in me-
trische Form gebracht haben. Bei dem Berichte über das zweite
Concil wird die Bemerkung über das Einprägen in das Gedäeht-
niss zwar nicht wiederholt, aber es wird gesagt, dass das frühere
Gesetz wieder hergestellt worden sei, vom Niederschreiben ist mit
keinem Worte die Rede. Auch der interessante Bericht des Dipa-
vansa über die damals im Schwange gehenden Ketzereien, den uns
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Schriften Ober den Buddhismus.
Herr A. p. 63 ff. mittheilt, scheint dem Ref. mit der Nachricht von
der mündlichen Ueberlieferung nicht im Widerspruch zu stehen.
Ebenso wenig ist bei den Mittheilungen über das dritte Concil von
einer schriftlichen Bearbeitung die Rede, dagegen giebt uns der
Mahävansa die bestimmte Nachricht (c. 33, 102), dass unter der
Regierung des Königs Vattagämini die buddhistischen Schriften
zuerst aufgezeichnet worden seien, nachdem die frühern Priester
sie blos mündlich fortgepflanzt hatten. Nach Lassens Berechnun-
gen kam Vattagämini etwa um 104 v. Cbr. Geb. zur Regierung,
die Aufschreibung der heiligen Schriften des südlichen Buddhis-
mus fällt daher nur kurze Zeit vor Anfang unserer Zeitrechnung.
Alle diese Gründe nun, welche für die späte Aufzeichnung der
Schriften des singhalesischen Buddhismus sprechen , nöthigen uns
auch das Zeitalter des Kaccayana tiefer herabzusetzen. Wir können
unmöglich mit dem Verfasser die Ansicht festhalten , dass dieser
Grammatiker 600 v. Chr. gelebt habe, denn eine Grammatik für
eine ungeschriebene Literatur scheint uns sehr unwahrscheinlich
und die Stellen , welche von der persönlichen Bekanntschaft
(Jakyamunis mit Kaccayana sprechen, rühren aus zu später Zeit
her, um irgend etwas beweisen zu können. Die Mittheilungen aus
der Geschichte Kaccäyanas, welche Herr A. p. 92 ff. anfuhrt, sind
zu mythisch um ernstlich besprochen zu werden, ebenso die p. XXI
mitgetheilte Nachricht, dass (,'akyamuni das erste Sutra inKaccayauas
Grammatik verfasst habe. Die in dem indischen Mährchenbuche
des Somadeva mitgetheilte Notiz, dass Katyäyana oder Kaccayana
im Himälaya eine Grammatik der Volksmundarten verfasst habe,
scheint uns dagegen wohl zu beachten. Was Herr A. auch sagen
mag, es scheint gewiss, dass die eben genannte Persönlichkeit in
Indien selbst als erster Grammatiker für die indischen Volks-
dialekte angesehen wurde, mithin auch für das Pali, das man mit
Recht zu diesen Volksdialekten zählte. Herr A. hat ganz Recht,
wenn er (cf. p. LXVIIff.) dem Mährchenbuche des Somadeva alle
und jede Beweiskraft für geschichtliche und chronologische Fragen
abstreitet, allein das Buch kommt in Frage, wenn von Volkssagen
geredet wird und blos um eine solche handelt es sich, wenn KaccAyana
als erster Grammatiker der Volksdialekte genannt wird. — Eben-
sowenig können wir uns mit des Verfassers Ansichten über die
Pälisprache und ihr Verhältniss zum Sanskrit einverstanden er-
klären ; Herr A. vertritt auch hier die Ansicht seiner Landesge-
nossen , indem er im Päli die Mutter aller Sprachen sehen
will. Alles was wir zugeben können ist, dass das Pali eine ganz
ähnliche Entwicklung gewonnen hat , wie etwa die romanischen
Sprachen in Europa. So wenig sich diese durchweg auf das schrift-
mässige Latein stützen, sondern zum Theil auch auf die alte Volks-
sprache, die lingua rustica zurückgehen, ebensowenig ist auch das
Päli blos aus dem schriftmässigen Sanskrit hervorgegangen , son-
dern zeigt Eigenthümlichkeiten, die uns im Vedadialekt erhalten
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Schriften Ober den Buddhismus.
oder auch ganz verloren gegangen sind. Es mag sein, dass man
dem Sanskrit als der verfeinerten Schriftsprache das Prakrit als
Volkssprache entgegensetzen darf; wieHr A. behauptet (p. LXXXIV,
XCII), aber, man wird auch mit aller Sicherheit annehmen dürfen,
dass diese Volkssprache auf dem grossen Gebiete, das sie beherrschte
von Anfang an in verschiedene Dialekte gespalten war. Dass sich
aber das Sanskrit erst aus den Volksdialekten als Schriftsprache
entwickelt habe, ist eben so unmöglich, als dass das Italienische
aus dem Lateinischen hervorgegangen ist, auch als Schwestersprache
des Sanskrit (cf. p. CVI. CXI) vermögen wir das Pali vom sprach-
wissenschaftlichen Standpunkte aus nicht anzuerkennen. Wollten
wir aber auch zugeben, dass das Pali die älteste unter den indo-
germanischen Sprachen sei , so würde ein solches Zugeständniss
nicht einmal viel nützen, denn aus dem p. CVII mitgetheilten Texte
sieht man, dass diese Sprache nicht nur die Mutter sämmtlicher
indogermanischen Sprachen, sondern die Ursprache überhaupt sein
soll, welche jeder Mensch von selbst spricht, wenn er nicht durch
fremde Einflüsse vom rechten Weg abgelenkt wird.
Ueber Einzelnheiten in der Uebersetzung von Palitoxten ent-
halten wir uns billiger Weise mit Herrn A. zu rechten; gebildete
Singhalesen, wie der Verf., sind in der Erklärung, namentlich der
religiösen Texte, uns so entschieden überlegen, dass wir vor der
Hand gut thun werden von ihnen zu lernen. Nur über die Texte
selbst müssen wir noch einige Worte hinzufügen. Wir finden die-
selben bis auf Kleinigkeiten correct, wo sie in singhalesischer
Schrift gedmekt sind, die in lateinischer Schrift gegebenen aber,
namentlich durch falsche Abtheilung der Wörter, vielfach so ent-
stellt, dass man erst mit Hülfe der Uebersetzung einen lesbaren
Text zu bilden vermag. Der Verf. hat diesen Uebelstand selbst
eingesehen und beklagt (p. CXXXIV), Ref. möchte daher den Wunsch
aussprechen, dass wir künftighin solche Texte mit singhalesischer
Schrift gedruckt erhalten mögen, wie sie ja in den Handschriften
auch in dieser Schrift geschrieben werden. Wem es ernstlich darum
zu thnn ist Palitexte verstehen zu lernen, der muss sich zuerst
einen correcten Text wünschen und wird die kleine Mühe nicht
scheuen eine ihm fremde Schrift zu erlernen. Wir scheiden von
dem Verfasser mit aufrichtigem Danke und den besten Wünschen
für die Fortsetzung seiner Arbeiten.
Nr. 2 unter den zu besprechenden Schriften bildet eine er-
wünschte Ergänzung zu Nr. 1. Wenn die letztere Schrift sich vor-
zugsweise die Grammatik des Pali zum Gegenstand wählt, so giebt
uns die vorliegende Schrift das Lexikon. An lexikalischen Arbeiten
ist das Pali nicht so reich als wie an grammatischen, die hier
vorliegende Abhidhänappadipika ist, soviel Ref. weiss, die einzige
Arbeit die bekannt geworden ist. Ueber die Zeit der Abfassung
dieses Wörterbuchs, so wie Über seinen Verfasser geben die An-
fangs- und Schlnss-Strophen des Werkes, die früher schon von
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400
Schriften über den Buddhismus.
Alwis veröffentlicht wurden, genügenden Aufschluss. Es erhellt aus
diesen, dass der Verfasser des Wörterbuches Moggalana heisst (es
ist wohl derselbe den wir schon oben als Haupt einer grammati-
schen Schule zu nennen Gelegenheit hatten) und unter Parakkam-
abähu L, dem kriegerischsten und grössten Monarchen Ceylons, im
12. Jahrhundert n. Chr. Geb. lebte. Ueber den Zweck, der ihn bei
Ausarbeitung des Wörterbuches leitete, lässt uns Moggalana nicht
im Zweifel: er will hauptsächlich Substantive und Adjective auf-
zählen und erklären, wie sie in den heiligen Schriften vorkommen.
Fragt man, ob die Arbeit Moggalana's als Pälilexikon genüge, so
ist darauf zu antworten, dass sie für buddhistische Leser aller-
dings genügen mag, um sie in die heilige Sprache einzuführen,
nicht aber für Europäer. Vieles von dem, was Moggalana hier
giebt, lässt sich für uns ohne Schwierigkeit aus dem Sanskrit her-
leiten und ist uns daher eigentlich entbehrlich, dagegen vermissen
wir schmerzlich Sacherklärungen, ja selbst die Aufzählung der
technischen Ausdrücke des Buddhismus. Gleichwohl ist es nicht
zweifelhaft, dass auch ein europäisches Wörterbuch der Pälisprache
auf dieses Buch als seine erste Grundlage sich stützen mnss. Die
vorliegende Ausgabe ist nicht die erste der Abhidhänappadlpika,
wir besitzen schon eine ältere von Clougb (Colombo 1824), die,
wie diese, in singhalesischen Charakteren gedruckt ist. Ein alpha-
betisches Register, das für einen Europäer die Hauptsache wäre,
ist keiner der beiden Ausgaben beigefügt. Herr Subhüti sagt uns
in der Vorrede, dass er ein solches ausgearbeitet habe, äussere
Umstände haben bis jetzt die Veröffentlichung gehindert. In Aeus-
serlichkeiten unterscheidet sich die neue Ausgabe mehrfach von der
Clough'scheu : sie führt die rein indische Anordnung durch und
streicht die (wie es scheint nur von Clough eingeführte) Unterabthei-
lung in Sectionen , welche in der That öfter in der Mitte eines
Verses beginnen. Die Verszählung lauft hier durch das ganze Buoh
fort, während bei Clough mit jeder Section eine neue Zahlenreihe
beginnt, beide Ausgaben sind darum nicht eben bequem neben
einander zu gebrauchen. Herr Subhüti theilt die Seite in drei
Columnen, in der ersten giebt er die singhalesische Bedeutung der
Wörter, in der mittleren den Text der Abhidhänappadlpika, in der
dritten endlich die englische Erklärung, die letztere ist durchweg
neu und von der Clough'schen mehrfach abweichend. Die Angaben,
wie die Wörter zu trennen seien, die bei Clough unter dem Texte
stehen, sind hier an das Ende des Buches verwiesen. Um uns nun
eine Ansicht über das Verhältniss der beiden Ausgaben zu bilden,
hat Ref. einige der schwierigeren Abtheilungon des Buches ver-
glichen, für welche ihm noch eine Kopenhagener Handschrift des
Textes und Auszüge aus dem singhalesischen Commentare zu Ge-
bote standen. Die Vergleichung hat uns gezeigt, dass an Varian-
ten kein Mangel ist und dass eine kritische Ausgabe des Textes
mit Benutzung aller vorhandenen Hülfsmittel und den wichtigsten
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Schriften über den Buddhismus.
491
Lesarten noch immer nicht überflüssig wäre. Es soll nicht ge-
läugnet werden, dass Herr S.'s Ausgabe manche Verbesserung der
Clough'scben gegenüber bietet, so z. B. wenn diese v. 544 (= II,
8. 1. 9. Cl.) in den Worten vantam (i. e. vrintam) pupphädiband-
banam zwei Wörter sieht, die > Blumenstengel« bedeuten, während
Herr S. gewiss Recht hat, das letztere nur als Erklärung des erste-
ren aufzufassen. Ebenso V. 546 (1 c. v. 11) wird durch die Worte
pbalam tu pakkamnccate nur phalam erklärt, nicht auch pakkam,
dessen Erklärung an einer ganz andern Stelle (v. 1017) vorkommt.
An andern Stellen bleiben Zweifel, so z. B. wenn Herr S. vv. 540.
903 vanappati schreibt, während Clough an beiden Stellen vanaspati
giebt, die letztere Form wäre durchaus nicht unerhört, wenn auch
die erstere mit Rücksicht auf takkara = taskara unbedenklich er-
scheint. Für »lodh, the pale sort« giebt Herr S. v. 556 galavo,
was sich allerdings im Sanskrit wiederfindet, aber die Handschrift,
der singhalesische Coramentar und Clough geben sälavo. Ebenso
steht v. 560 für t Ebenholz« timbarusaka, timbaru, diessraal im
Einklaug mit dem Commentar, während Clough timbaru, sakatimbaru
abtheilt. In demselben Verse finden wir eravato (orange), in
Uebereinstimmung mit dem Sanskrit, aber die andern Quellen geben
eravauo, zum Theil sogar mit lingualom n. Es fragt sich hier
natürlich vor Allem, ob die in der Ausgabe aufgeführten Formen
gleichfalls auf handschriftlicher Autorität beruhen. Auch v. 561
hat unsere Ausgabe richtig tilaka (Tila) für Clough's tillaka. Doch
ist nicht in allen Fällen das Recht auf der Seite der neuen Aus-
gabe, Manches ist entschieden richtiger bei Clough: in andern
Fallen bleibt die Entscheidung mindestens zweifelhaft. Dahin möch-
ten wir es rechnen von v. 565 kutasimball (sort of cotton) steht,
während unsere übrigen Quollen kotisimball gelesen wissen wollen;
v. 569 giebt die neue Ausgabe harltakl (yellow myrobalan), aller-
dings in Uebereinstimmnng mit dem Sanskrit, aber alle unsere
Quellen haben haritakam, so steht auch zweimal in Mahavansa.
In demselben Verse steht panaso karandaklpbalo gegen das Metrum,
die übrigen Quellen lesen richtig kantaklphalo. Ebendaselbst ist
mit denselben Quellen richtiger dadimo statt dalimo zu lesen. V. 575
steht bhandiko, alle übrigen lesen bhandika (dophariya) in Ueber-
einstimmung mit dem Sanskrit. V. 570 steht aus Versehen arittho
statt rittho, wie das Metrum fordert. Ebenso ist v. 578 devatado,
die Lesart Clough's, der von Herrn S. gebilligten devataso ent-
schieden vorzuziehen. Schwierig ist das in demselben Verse vor-
kommende amiläto (globe, amaranth). Die Schreibart schwankt gar
sehr, die Kopenhagener Handschrift hat äniiläno, der Commentar
avilanaya, das Sanskrit bietet nichts Aehnliches. Clough liest ganz
abweichend kotilaro. V. 580 ist sicher rukkhädanl nicht rukkhadani
(a parasite plant) zu lesen, wie das identische vrixädanl des
Sanskrit ausweist. Solche Beispiele könnten wir noch viele an-
fahren, wir hoffen indess, dass schon die vorstehenden genügen um
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492 Schriften über den Buddhismus.
zu erweisen, dass beide Ausgaben benutzen muss wer eine Wort-
form im PaH ganz sicher stellen will. Vollkommen Neues bieten
uns nur die letzten 11 Seiten des Buches. Sie enthalten zwei Ab-
handlungen, von denen die erste den Namen ekakkharakosa führt
und von einem gelehrten Buddhisten in Barma, Saddhammakitti,
herrührt. Sie erläutert die Bedeutung verschiedener Endsilben wie
a. ä, i l, ka, ki, ku u. s. w. und fällt vielfach mit unserer Lehre
von den Suffixen zusammen. Für uns Europäer ist die Abhand-
von keinem grossen Nutzen, die Erklärungen sind zu kurz, es be-
dürfte vor Allem erläuternder Beispiele um immer sicher zu sein,
was der Verfasser meint. Mehr nach unserem Geschmacke ist die
zweite Abhandlung: vibhattyatthapakaranam, deren Verfasser sich
nicht nennt. Es ist eine kurze Angabe über die Functionen der
einzelnen Casus mit passenden Beispielen, Neues für uns enthält
jedoch auch diese Abhandlung nicht. Wichtiger wäre es gewesen,
wenn unserem Wörterbucho ein Verzoichniss der Verbalwurzeln bei-
gegeben worden wäre. Die Abhidhänappadlpika beschränkt sich
auf Substantive, Adjective und Partikeln, die Verbalwurzeln wer-
den besonders verzeichnet. Eines dieser Verzeichnisse Dbatu-
manjarl ist von Clough veröffentlicht, doch lässt die Correctbeit
Manches zu wünschen übrig, ein anderes Dhätupätha, nach des
Ref. Ansicht das bessere, harrt noch der Herausgabe. Wir erlauben
uns hier, auf diesen Punkt aufmerksam zu machen.
Die dritte der anzuzeigenden Schriften führt uns in das Ge-
biet des nördlichen Buddhismus. Das gebirgige Tibet, das seiner
Natur nach viel Aehnlichkeit hat mit dem im Westen gelegenen
Armenien, scheint auch in seiner Entwicklung ähnliche Verhält-
nisse aufzuweisen. Durch hohe Bergzüge in seinem Innern in viele
Thäler zerklüftet, die nur schwer mit einander verkehren konnten,
war es auf das Sonderleben der einzelnen Stämme angewiesen und
erst spät scheint ein grösseres Reich sich entwickelt zu haben.
Noch im 1. Jahrhundert n. Chr. erwähnen die Chinesen nicht
weniger als 52 kleine Reiche in Tibet und etwa im Jahrhundert
v. Chr. Geb., nach Herrn S.'s Berechnung, wurde die Dynastie ge-
stiftet, über deren Geschichte die vorliegende Abhandlung einen
üeberblick giebt. Das Gebiet des Yarlungflusses trennt Tibet von
den südlichen Provinzen des chinesischen Reiches und das Clima
ist dort milder als in den westlichen Theilen Tibets. Das ur-
sprüngliche Gebiet der Könige von Yarlung ist nur klein, sie be-
hielten aber diesen Titel, zur Unterscheidung von andern Dynastien,
auch später noch bei, als sie ein weit grösseres Gebiet beherrsch-
ten. Als erster König der Dynastie wird Buddbacrt genannt, der
von Indien aus etwa im 2. Jahrhundert v. Chr. nach dem Yarlung-
gebiete gekommen sein soll, und es scheint ziemlich lange gedauert
zu haben, bis er und seine Nachfolger ihren fremdländischen Ur-
sprung in Vergessenheit bringen konnten. Es fragt sich übrigens,
ob die Erzählung von dem indischen Ursprung des Königsge-
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Schriften Über den Buddhismus.
493
schlechtes wirklich wahr ist, ähnliche Ansprüche werden gar oft
erhoben von ausserindischen Völkern , welche den Buddhismus
angenommen haben. Die vorliegende Abhandlung giebt nur eine
sehr gedrängte üebersicht der Schicksale dieser Dynastie von ihrem
ersten Auftreten im 1. Jahrb. v. Chr. bis zu ihrem Erlöschon im
Jahr 1834. Der Herausgeber Herr E. Schlagintweit , einer der
seltenen Kenner der tibetischen Sprache in Europa, hat uns hier
den tibetischen Originaltext gegeben sammt einer Uebersetzung
mit vielen erläuternden Noten , ausführlichen Verzeichnissen der
Genealogien und reichhaltigen Registern. Als Üebersicht über die
Geschichte des für die Geschichte des Buddhismus so hochwichti-
gen Tibet ist die Abhandlung sehr werthvoll, Vollständigkeit hat
der Verfasser nicht beabsichtigt. Die geschichtlichen Notizen gehen
mehr auf die Religion als auf die politischen Verhältnisse, wie das
Land in geistiger Beziehung von Indien abhängig war, so hat es
sich in industrieller an China angeschlossen. Der Herausgeber die-
ser Abhandlung, dem wir schon so manchen schönen Beitrag für
die Geschichte und das Verständniss des nördlichen Buddhismus
verdanken, wird uns hoffentlich mit noch manchem Resultate sei-
ner gelehrten Studien beschenken.
Es wird nicht unpassend sein an die obigen Schriften auch
die unter Nr. 4 genannte Abhandlung anzuschliessen , obwohl sie
nicht den Buddhismus, sondern das Jainathum behandelt. Dass
die besonders im westlichen Indien sehr verbreiteten Jainas mit den
Buddhisten in engem Zusammenhange stehen, ist gewiss, nicht ganz
so ausgemacht ist, welcher der beiden Religionen der Vorrang des
Alters gebührt. Männer wie Colebrooke und noch neuerdings Ste-
venson haben sich zu Gunsten der Jainas erklärt; Wilson und
Lassen dagegen diesen ein sehr spätes Auftreten, etwa 1100 n.
Chr. zugeschrieben. Diese letztere Ansicht ist nun allerdings in
neuerer Zeit etwas geändert worden, indem nun auch Lassen (ct.
Indische Alterthumsk. IV, 763) vorschlägt, die Entstehung des
Jainathums ins 1. Jahrh. vor unserer Zeitrechnung zu setzen; da-
mit ist jedoch keine grundsätzliche Annäherung an die erstere An-
sicht gegeben, das höhere Alter des Buddhismus wird vielmehr
fortwährend , und wohl mit Recht festgehalten. Dagegen ist es
nicht unmöglich, dass die Jainas auf eine der aus dem Buddhis-
mus entstandenen Sekten zurückgehen (vgl. auch die vorlieg. Abh.
p. 440. 441). Was wir bis jetzt über die Jainas und ihre Ent-
stehung wissen, hat Lassen im 4 Bande seiner indischen Alter-
thumskunde zusammengestellt, man kann daraus sehen, wie stief-
mütterlich die Jainalitteratur im Vergleiche zu dem Buddhismus
noch bedacht ist ; nur sehr Weniges ist früher von Stevenson und
Weber bekannt gemacht worden, dieses Wenige zum Theil nur in
üebersetzung. So lange wir nun weder die Entwicklung dieser
Religion in ihren Hauptztigen kennen, zugleich mit den Schriften
auf die sie sich vornehmlich stützt, ist es schwer über ihr Ver-
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Schriften Über den Buddhismus.
hältniss zum Buddhismus eiu gültiges Urtheii sich zu bilden. —
Die vorliegende Abhandlung beabsichtigt uns nach einer Seite hin
weitere Aufschlüsse über die Jainas zu geben, über die Sprache
niimlich, deren sie sich in ihren Schriften bedienen. Wie nämlich
die Buddhisten das Sanskrit und das Päli anwenden, so gebrau-
chen die Jainas bald das Sanskrit, bald das Prakrit, aber auch
die neuern Volkssprachen Indiens. Dieses Prakrit benennen die
Jainas wie die Buddhisten ihr Pali, mit dem Namen Magadhi.
In dieser Sprache ist nun auch die Bhagavati d. i. die glückselige
(Unterweisung) geschrieben, die zu den Hauptschriften der Jainas,
den elf oder zwölf Angas, gehört. Diese Schrift will wenigstens
in eine verhältnissmUssig frühe Zeit gehören und unterscheidet sich
dadurch von den übrigen bis jetzt bekannten Jainaschriften , die
ihrem eigenen Geständnisse nach jung sind. Was die Sprache an-
betrifft, so kann Ref. sein früheres Urtheii, dem auch der Verf.
dieser Abhandlung (p. 373) beipflichtet, nur wiederholen. Das
Mägadhi der Jainas unterscheidet sich, und zwar zu seinem Nach-
theile, von dem Pali der Buddhisten und stellt eine weit jüngere
Entwicklung der indischen Sprache dar als dieses. Wenn das Pali
zusammen mit den Dialekte der Asokainschriften die erste Stufe
der indischen Dialekten bildet, die sich aus dem Sanskrit ent-
wickelt haben, so stellt dagegen das Magadhi der Jainas zusam-
men mit dem Prakrit der Dramen die zweite Stufe der Entwick-
lung dar. Man wird übrigens auch gut thun die Jainatexte nicht
blos mit den ältern, sondern auch mit den jüngern Sprachen In-
diens zu vergleichen. Ref. ist tiberzeugt, dass nicht blos das Prakrit,
sondern auch das Sanskrit der Jainas aus den Volksdialekten des
westlichen Indiens wesentliche Aufklärungen erhalten wird. Diess
begreift sich auch ganz leicht, wenn man bedenkt, wie viele die-
ser Bücher erst in den letzten Jahrhunderten geschrieben wurden,
und dass die Verfasser Wörter und Constructionen des gewöhn-
lichen Lebens in ihre Bücher übertrugen. In dem Umstände, dass
die Jainas das Prakrit als heilige Sprache gebrauchen, sehen wir
nun allerdings in Abweichung von Herrn W. (cf. p. 374) ein
charakteristisches Merkmal für die jüngere Entstehung der
Jainareligion. Es ist wahr, wenn ein Buch im Sanskrit oder im
Pali geschrieben ist, so braucht es darum noch nicht alt zu sein,
denn beider Sprachen bedient man sich auch noch bis auf den
heutigen Tag mit grosser Gewandtheit. Anders stellt sich die
Sache dar, wenn man die Verhältnisse mehr im Allgemeinen be-
trachtet. Warum schrieb man ursprünglich im Pali und nicht im
Sanskrit? Ohne Zweifel weil damals das Pali die geläufige Volks-
sprache war, und man sich dieser lieber als des gelehrtern Sanskrit
bediente, weil sich der Buddhismus vorzugsweise an das Volk wen-
den wollte, später, als die sprachlichen Verhältnisse sich geändert
hatten, blieb das Pali seiner Literatur wegen eine heilige Sprache.
Aebnlich wird sich die Sache auch mit den Jainas verhalten, auch
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Hertz: De M« Plautio. 496
sie wollten sieh an das Volk wenden, aber sie mussten sich eines
jüiigern Dialektes bedienen als die Buddhisten, weil sie in einer
spätem Zeit auftroten. Zu solchen sprachlichen Voraussetzungen
stimmt auch der Inhalt der Bhagavatl. Sie zeichnet sich durch
ungemeine Weitschweifigkeit aus, und stimmt ihrer Anlage nach
zu den sogenannten Mahä-vaipulya- satras , einer ziemlich spä-
ten Gattung der buddhistischen Literatur. Die Eigentümlich-
keit der Handschrift erstreckt sich bis auf die Schrift, doch scheint
diese dem Ref. nach den beigegebenen Proben sich nicht von der
Schreibart zu unterscheiden, welche wir in den Handschrif-
ten Neriosenghs finden, es werden eben Eigenthümlichkeiten
in den Schriftzflgen des westlichen Indiens sein. Ueber die Ein-
zelnheiten der Sprache des Buches werden hier dankenswerthe
Aufschlüsse gegeben, zu sicherm Urtheile bedürfen wir jedoch kri-
tisch gesichteter Texte, aus den Schreibweisen einer einzelnen Hand-
schrift dürfen nicht zu weit gehende Schlüsse gezogen werden.
Ganz auffallend und eigenthümlich ist die Verwandlung der mei-
sten Consonanten (k, g, c, j, t, d) in y. Das Schwanken zwischen
u und o ist als blos graphisch, es findet sich ebenso im Guzerati.
Einschaltung eines m findet sich auch im Päli an mehreren Stellen«
— In einem weiteren Theile seiner Abhandlung wird Herr W.
mehr dem Inhalt der Bhagavatl besprechen, wir hoffen bei Gelegen-
heit auf den Gegenstand zurückzukommen.
Fr. Spiegel.
Marlini Herls de M. Plaulio poela ac pictore commenlalio.
WratUlaviaeMDCCCLXVll. 168. 4. (Zu dem Index Leclionum.)
Diese Gelpgenbeitsschrift behandelt eine für die Kenntniss der
ältern römischen Poesie und damit zugleich für die Geschichte der
römischen Literatur überhaupt nicht unwichtige Frage, die darum
auch hier besprochen zu werden verdient. Sie betrifft den angeb-
lichen Dichter Plautius, auf welchen nach dem Zeugniss des
Gellius (N. A. III, 3), der selbst aber darin auf Varro sioh be-
ruft, manche der hundert und dreissig unter dem Namen des Plau-
tus in Umlauf befindlichen Komödien zurückzuführen seien. Dieser
Dichter ist uns sonst gar nicht weiter bekannt, wie diess leider
bei so manchen Dichtern der früheren Periode der Fall ist, die
wir auch nur dem Namen nach kennen ; allein es liegt darin kein
Grund, die Existenz eines Dichters Plautius zu bezweifeln, wie dies
theilweise geschehen ist, und damit zugleich der Autorität eines
solchen Kenners der römischen Literatur, wie Varro es war, der
selbst seine gelehrten Forschungen über Plautus und die ältere
römische Bühne ausgedehnt hatte, entgegenzutreten. Wenn nun
schon früher Ritsehl gezeigt, wie wenig jener Zweifel an der Exi-
stenz eines Dichters Plautius begründet ist, so wird die gründ-
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Hertz: De M.Plautio.
liehe and erschöpfende Untersuchung, welche der Verfasser in dem
ersten Theile seiner Schrift diesem Punkte gewidmet hat, dieses
ErgebnisB in jeder Hinsicht nur bestätigen und jeden Zweifel an
einem Dichter der römischen Comödio Plautius beseitigen. Aber
bei diesem Resultat bleibt der Verf. nicht stehen, er geht weiter,
indem er die Person dieses Dichters in dem von den Ardeaten ge-
feierten und mit dem Bürgerrecht beschenkten Maler Plautius
Marcus, wie er in dem Epigramm, das den von ihm gefertigten
Gemälden in dem Tempel zu Ardea beigefügt war, genannt wird
(s. Pliniu8 H. N. XXXV g. 115 vgl. §. 17), zu erkennen glanbt,
und in der That auch Alles aufgeboten hat, um diese Vermutbang
zu einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit zu fuhren, zumal
wenn die weitere Vermuthung des Vorfassers Grund hat, dass wir
in eben demselben Maler dann auch den Verfasser dieses in Hexa-
metern gefassten, nach Versicherung des Plinius, dem wir diese
gauze Mittheilung Uberhaupt verdanken , in altlateinischer Schrift
den Gemälden beigefügten Epigramms zu erkennen haben. Dann
wäre der Dichter nachgewiesen : die Verbindung eines Dichters und
Malers in Einer Person aber schon durch dieselbe Verbindung
in Pacuvius minder befremdlich. Endlich stehen auch die Zeit-
verhaltnisse nicht im Widerspruch, diesen Plautius in die nächste,
uumittelbar auf Plautus folgende Zeit zu verlegen, und zwar
nach Ennius, insofern durch diesen der Hexameter, in welchen
jenes Epigramm gefasst ist, eingeführt ward. Allerdings läset
sich hier nicht Alles mit völliger Gewissheit darstellen, wie diess
in dem ersten, die Existenz des Dichters nachweisenden Theil der
Fall ist, aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit — und ein Mehreres
wird in allen solchen Fällen kaum erzielt werden können — lässt
nich der wohl begründeten Combination nicht absprechen. Auf
Einzelnes weiter einzugehen ist hier der Ort nicht : namentlich auch
auf die kritischen Schwierigkeiten, welche der Text jenes Epigramms
bei Plinius bietet, wo es noch immer zweifelhaft erscheinen mag,
ob in dem im ersten Verse befindlichen loco,'was alle Handschrif-
ten und ältern Ausgaben bringen, wirklich der Name Luco (Jvxm>)
oder Loco als ursprünglicher Eigennamen enthalten ist. Wir er-
wähnen diess nur, um damit zugleich auf die kritische Untersuch-
ung aufmerksam zu machen, welche der Verfasser seiner sorg-
fältigen und genauen Erörterung der Worte dieses Epigramms bei-
gefügt hat. Chr. BAlir.
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m. 32. HEIDEIB'ERGEK 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Qu int us von Smyrna. Die Fortsetzung der llias. Deutsch in der
Vergart der Urschrift von J. J. C. Donner. Stuttgart. Krais
§ Hoffmann. 1866 u. 1867. Erstes Bändchen. 71 S. Zweites
Bändchen. 61 S. Drittes Bändchen. 57 8. Viertes Bändchen.
51 S. Fünftes Bändchen. 39 S. in kl. 8.
Das Gedicht, das uns hier in deutschem Gewände geboten
wird, verdiente eben so sehr durch seinen Inhalt, wie durch seine
dichterische Ausführung, wenn dieselbe auch an einer gewissen
Breite leidet, immerhin eine solche Uebertragung, wie wir sie hier
von derselben Hand erhalten, die uns die Gedichte des Homerus,
wie der drei grossen Tragiker , des Aristophanes und Pindar in
so meisterhaften Uebertragungen, wie deren keine Nation sich rüh-
men kann, geboten hat. Kann sich zwar der Verfasser dieses Ge«
dichtes, den wir eben so wenig näher kennen als die Zeit, in
welche die Abfassung füllt, jenen grossen Heroen der hellenischen
Poesie nicht nahe stellen, sein Gedicht, das unmittelbar an die
homerische llias sich anschliesst und so ohne Weiteres eine Fort-
setzung derselben geben, die weiteren Kämpfe der Troer und Helle-
nen, die Eroberung Troja's bis zur Abfahrt der Griechen schildern
soll, ist ein höchst beachtenswertes und gewiss auch anerkennens-
werthes Produkt, das weit über die Zeit, in die es wahrscheinlich
zu verlegen ist, das vierte christliche Jahrhundert hervorragt, und
jedenfalls als eine der besten Schöpfungen des sinkenden Hellenen-
thums anzusehen ist; insbesondere enthält es manche schöne Par-
tien in einzelnen Schilderungen, namentlich Schilderungen von
Kämpfen und Schlachten, in welchen der Dichter sich besonders
gefällt, der auf homerischer Grundlage dichtend und an Homer in
der Form sich möglichst anschliessend, doch die natürliche Ein-
fachheit der homerischen Dichtung vermissen lässt, und durch eine
kunstvollere, gesuchtere Ausdrucks* eise, durch die ungemessene
Fülle schmückender Beiwörter u. dgl. m. der Uebertragung in unsere
Sprache ungleich grössere Schwierigkeiten bietet, wenn man anders
an dasselbe Metrum sich halten, Sinn und Charakter des Ganzen
treu wiedergeben will. Diess aber war eben die Aufgabe, welche
der Ueber8etzer sich bei seinem Werke gestellt, da er gleich
dem Verlasser selbst, ein homerisches Gedicht in dieser Fortsetzung
der llias zu liefern, und dem Ganzen, namentlich auch von Seiten
der Sprache und des Ausdruckes, ein homerisches Gepräge zu verleihen
bemüht war, was ihm auch gewiss gelungen ist, so dass wir, wenn
nicht die Uoberfülle, auf die wir hierstossen, und Anderes, was
LIX. Jahrg. 7. Heft. 32
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Quintus von Smyrna von Donner.
von der Einfachheit des homerischen Gedichtes sich allzusehr ent-
fernt, bald ein Bedenken hervorrufen müsste, in der fliessenden
und correcten Uebertragung eine wirkliche Fortsetzung der Ilias
des alten homerischen Sängers zu lesen glauben würden. So sehr
hat es der Uebersetzer verstanden, sich in den Geist homerischer
Dichtung zu versenken, den richtigen Ton derselben zu treffen und
wiederzugeben. Wir wollen diess mit einigen Proben belegen, die wir,
ohne lange zu suchen, mehr aufs Geradewohl den einzelnen Thei-
len des Gedichtes entnehmen, dessen üebersetzung übrigens durch-
aus gleichmässig gehalten ist.
Das Gedicht selbst knüpft bekanntlich ohne alle weitere Ein-
leitung oder Uebergang unmittelbar an den letzten Gesang der Ilias
an, um die nach Hektor's Tod eingetretenen Kämpfe zu schildern,
im ersten Gesang die Kämpfe der unter Penthesilea's Führung
ausziehenden Troer mit den Achäern, die anfangs zurückweichend,
dann unter des Achill und Ajas Führung die Troer in die Flucht
schlagen, die Penthesilea und die Amazonen niederwerfen. Wir
wählen die Stelle, wo Ajas, als die Trojaner vordringen, den Achil-
les auffordert zur Theiinahme an dem Kampfe mit den Worten
Vers 503 ff.
Bings umdröhnt mir die Ohren ein schauriges Tosen, Achilleus,
Dass mir ahnt, wohl habe gewaltiger Kampf sich erhoben.
Gehen wir denn ; sonst kommen die Dardaner uns an den Schiffen,
Fürcht' ich, zuvor und morden das Volk und verbrennen die Schiffe.
Und das wäre ja Schande für uns und ein kränkender Vorwurf.
Uns, Kronions Enkeln, geziemt nicht, unserer Väter
Heiligen Stamm zu schänden, die Troja's leuchtende Veste
Selbst vordem mit den Lanzen erstürmt und in Trümmer geworfen,
Als sie Laomedon zwangen im Bund mit dem starken Herakles.
Aehnliches wird auch jetzt von unseren Armen vollendet,
HofP ich; denn mächtige Stärke verlieh'n uns beiden die Götter.
Sprach's, und dem Worte gehorchte die muthige Kraft des
Achilleus.
Ihm auch war das Getose des Kampfs in die Ohren gedrungen.
Und nun eilten die beiden in strahlende Wehr sich zu hüllen,
Stellten sich dann, umhüllt von der Wehr, an die Spitze der
Völker.
Graunvoll dröhnten die Waflen, die herrlichen ; ähnlich dem Kriegs-
gott,
Brannte der Muth in den Seelen der Stürmenden ; solche Gewalt gab
Beiden in's Herz Athenäa, des Zeus siegprangende Tochter.
Argos' Jünglinge jauchzten, die tapferen Männer erblickend ;
Glichen sie doch des grossen Aloeus riesigen Söhnen,
Welche die mächtigen Berge hinan zu dem weiten Olympos
Einst sich rühmten zu wälzen, des Pelion Höh'n und des Ossa
Ragendes Haupt, kühn strebend, sogar in den Himmel zu klimmen:
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Quintus von'Smyrna von Donner. 409
Also warfen die Beiden der furchtbaren Schlacht sich entgegen,
Aeakoa' Enkel, zur Lust dem verlangenden Volk der Achäer,
Beide zum Kampf fortstürzend, um Troja's Heer zu vernichten.
Und viel Männer erschlugen sie da mit den grimmigen Lanzen.
Wie zwei mächtige Löwen vereint auf wollige Schafe,
Die von den schützenden Hirten getrennt sind, stossen im Berg-
wald,
Und sie würgen in Haufen so lang, bis beide vom dunklen
Blute geschlürft und den Bauch mit dem leckeren Raube gesättigt :
Also sandten die Beiden unzählige Männer zum Tode.
Mit besonderer Ausführlichkeit ist dann der Kampf des Achil-
les mit der Penthesilea geschildert; Vs. 599 heisat es von Achill:
Sprach's und stürmte heran, im mächtigen Arme die Lanze
Schwingend, des Cheiron Werk, die menschenvertilgende, starke,
Stiess sie darauf, nicht säumend, der streitbaren Penthesileia
Hechts in die Brust; schwarz strömte das Blut aus klaffender
Wunde,
Und ihr brach in den Gliedern die Kraft; die gewaltige Streitaxt
Liess sie der Hand entsinken, und ringsum breitete Dunkel
Ihr um die Augen sich her, und Schmerz durchzuckte den Busen.
Doch sie erholte sich bald und blickte dem Feind in das Antlitz ;
Denn er wollte sie schon von dem flüchtigen Benner herabziehen.
Und sie erwog, ob, reissend das mächtige Schwert von der Hüfte,
Sie die Gewalt des beherzten Achilleus muthig bestehe,
Oder behend abspringend vom flüchtigen Rosse, den Helden
Dringend bestürme mit Bitten und Erz und Goldes die Fülle
Ihm anbiete zur Stelle, womit man sterblicher Menschen
Herzen gewinnt, wie trotzig und wild auch Einer erscheine,
Ob sie damit umstimme die muthige Kraft des Achilleus,
Oder, gerührt von den Reizen der ihm gleichaltrigen Jungfrau,
Er mitleidig ihr gönne den Tag der ersehnten Zurückkunft.
Dieses erwog sie im Geist; doch Himmlische fügten es anders.
Denn anstürmend ergrimmt' in heftigem Zorn der Pelide,
Und durchbohrte sie selbst und den sturmschnell eilenden Renner.
So wie Einer an Spiesse das Fleisch des geopferten Thieres
Steckt in die lodernde Flamme, das Mahl zurüstend in Eile,
Oder ein Jäger im Walde, die dröhnende Lanze versendend,
Mitten am Bauche den Hirsch durchbohrt in gewaltigem Schwünge,
Dass durchstürmend im Fluge die mächtige Spitze hinausfuhrt,
Und in dem Stamme der Eiche sich einbohrt oder der Fichte:
So ward Penthesileia zugleich mit dem herrlichen Rosse
Vom wildsausenden Speer durchbohrt des Peliden Achilleus.
Und sie vermählte sich eilig dem Staub und dem Tode, zur Erde
Leicht hingleitend im Fall, und enthüllt' an den herrlichen Gliedern
Nicht den verborgenen Reiz; nein, vorwärts sank sie zu Boden,
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ÖOO Quintua von Smyrn* von Do[nner.
Zuckend am Speer, und lehnte sich hin an dem stattlichen Bosse.
So wie die Tanne, gebrochen vom schrecklichen Hauche des Nord-
sturms,
Sie, die gewaltigste rings im geräumigen Thal und im Bergwald,
Welche die Erd' , ihr selber zum Schmuck , an der Quelle sich
aufzog,
Also sank von dem Rosse, dem flüchtigen, Fenthesileia,
Jetzt noch ein Wunder an Reiz; ihr brach in der Blüthe das Leben.
Man wird übrigens unwillkürlich in dieser Schilderung den
Unterschied homerischer Schilderung und einer Dichtung des vier-
ten christlichen Jahrhunderts bald wahrnehmen, so sehr auch in
Allem das Streben, dem Ganzen ein homerisches Colorit zu ver-
leihen, vorwaltet. Um so mehr haben wir Ursache die grosse Kunst
des Uebersetzers anzuerkennen, der seino durch die Unmasse von
Beiwörtern, durch die Eigentümlichkeit der Bilder und Anderes
erschwerte Arbeit doch in so befriedigender Weise durchgeführt
hat. Aehnlicher Art ist die Schilderung des Kampfes des Achill
mit Memnon im zweiten Gesang, aus welcher allzusehr gedehnten
und ins Breite gezogenen Schilderung wir nur Eine Stelle hier
mittheilen wollen, die eben so als Probe der Meisterschaft des
Uebersetzers gelten kann; Vs. 458 ff.
So der Pelid' und ergriff das gewaltige Schwert mit den Händen ;
Memnon erhob sich zugleich, und ein wüthendes Kämpfen ent-
brannte.
Unablässig im Herzen beseelt von unendlicher Streitlust,
Trafen die Zwei, Streich führend auf Streich, die genabelten Schilde,
Welche die Kunst des HephUstos erschuf; bei jeglichem Angriff
Prallten die Helme zusammen und Helmbusch streifte den Helmbusch.
Beiden zumal wohlwollend, verlieh der Kronide den ^Beiden
Kiesige Kraft, und erhöhte den Wuchs weit Uber die Grösse
Sterblicher Leiber hinaus, und Eris freute sich Beider.
Stürmisch entbrannt, alsbald in den Leib sich die Lanzen zu
bohren,
Spähten sie nun nach Stellen, wo Raum sich fände für Wunden,
Zwischen dem Schild und dem Helm, oft dorthin richtend den
Angriff,
Oft auch über den Schienen ein Weniges, unter den bunten
Panzer sodann, der eng an die rüstigen Glieder sich anschloss.
Also rangen die Beiden im Streit; um die Schultern erdröhnte
Rauschend die göttliche Wehr ; in den heiligen Aether empor drang
Schlachtruf hier von den Troern und dort von beherzten Achäern,
Auch äthiopischem Volk; Staub wölkte sich unter den Füssen
Weit zu dem Himmel hinan ; schwer wogte der Kampf im Gefilde.
So wie die Berge der Nebel umzieht, wenn Regen vom Himmel
Sich in die Fern' ausbreitet, erregt von den Hauchen des Südwinds,
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Qulntns von Smyrna von Donner.
801
Wann in den Thalen die Bäche das herabstürzende Wasser
Bransend erfüllt, von den Schluchten umher nnermessliches Tosen
Aufschallt, während den Hirten im Feld vor dem wilden Gewässer
Graut und dem Nebelgewölk, erwünscht den verderblichen Wölfen
Und dem Gewild, das sonst aufnährt der unendliche Bergwald:
So flog dort nra die Füsse der Kämpfenden Staub in die Höhe,
Welcher, in Nacht einhüllend die Luft, selbst Helios' Lichtglanz
Ihnen verbarg; schwer drückt' unseliges Wehe die Völker,
Die Staubwolken umhüllten in unheilbringender Feldschlacht.
Doch der Unsterblichen Einer zerriss die verdunkelnde Wolke
Schnell, und die stolzen Phalangen der Dardaner und der Achäer
Trieb das verhängnissschwere Geschick, unermüdlich zu schlagen
Im wildstöhnenden Kampfe; der Kriegsgott wüthete rastlos
Mordend umher in den Reihen, und weithin netzten die Erde
Ströme des Blut's ; hoch jauchzte der finstere Gott des Verderbens.
Leichen Erschlagener deckten das rossenährende grosse
Feld, so weit es der Xanthos umher und der Simois einschliesst,
Welche vom Ida strömen zum heiligen Meere der Helle.«
Aus dem dritten Gesang, der insbesondere den Tod des Achil-
les und die Leichenfeier besingt, fügen wir eine Probe anderer Art
hior bei, nämlich die Klage der Brisets, um Achilles Vs. 552 ft. :
>Aber von allen am tiefsten betrübt im Grunde der Seele
War Brisets, die Gattin von Peleus' streitbarem Sohne.
Stets umkreiste die Arme mit jammerndem Rufe den Todten,
Während sie wild mit den Händen die reizende Haut sich zer-
fleischte ;
Ihr auf blendendem Busen erhoben sich blutige Male
Rings von den Schlägen der Hand ; doch * lieblich glänzte die
Schönheit
Auch durch den bittersten Schmerz, und Anmuth strahlte das
Antlitz.
Sie nun rief, ausbrechend in gramvoll klagende Töne:
Weh mir, welche vor allen der grauseste Jammer getroffen!
Denn kein anderes Loos, nicht als ich verloren die Heimat,
Nicht was über die Brüder hereinbrach, traf mich so schmerzlich,
Als dein Tod mich betrübt. Du warst mir heilige Sonne,
Warst mir leuchtender Tag und wonniges Leben und Hoflnung
Künftigen Glücks und wider den Schmerz ein gewaltiges Bollwerk,
Warst mir stets viel theurer sogar als Eltern und Schönheit,
Warst mir Alles allein, die dir nur Sklavin gewesen,
Nahmst zum Gemable mich an, und enthobst mich knechtischer
Arbeit.
Doch jetzt wird mich ein Andrer vom Danaervolk in den Schiffen
Führen in Argos' dürres Gefild, in die Fluren von Sparta;
Ja, jetzt werd' ich, die Sklavin, unsäglichen Jammer erdulden,
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Quintus von Smyrna von Donner.
Deiner beraubt: ach, dass mich der aufgeschüttete Hügel
Hätte bedeckt, oh' als ich geseh'n dein Todesverhängniss !
Also jammerte sie mit den unglückseligen Mägden
Und dem bekümmerten Volke der Danaer um den Peliden,
Klagt' um König zugleich und Gemahl; nie wurde das Aug' ihr
Trocken und rastlos strömte die bittere Zähre zur Erde
Ihr von den Wimpern herab, wie dunkeles Wasser des Quelles,
Welcher vom Fels sich orgiesst, den hoch auf hartem Gesteine
Eis und Schnee rings starrend bedeckt, bis er unter des Ostwinds
Schmelzendem Hauche zerrinnt und den wärmenden Strahlen der
Sonne«
Welcher Klage wir wohl auch die der Thetis, der Mutter des
Achilles, und die Worte des Trostes, die ihr die Muse Kalliope
spendet, an die Seite stellen können Vs. 606 ff. Aus den ausführ-
lichen Beschreibungen und Schilderungen der zu Ehren des Achilles
angestellten Kampfspiele in den beiden folgenden Gesängen, wollen
wir nur einen Theil der Beschreibung des Schildes von Achilles
hierhersetzen, aus dem Anfang des fünften Gesanges:
Aber nachdem sie alle die anderen Kämpfe vollendet,
Stellte die göttliche Wehr von Aeakos' tapferem Enkel
Thetis als Preis für den Sieger zur Schau ; weit strahlten im Glänze
Alle die Wundergebilde der Kunst, die der Meister HephUstos
Auf des Achilleus Schild, des verwegenen Helden, geschaft'en.
Darauf hatte der Gott voll ewiger Schöne gebildet
Himmel zugleich und Aether, das wogende Meer und die Erde,
Wolken und Winde sodann und den Mond und die Sonne, gesondert,
Jedes am eigenen Ort; da schuf er alle die Wunder,
Welche die Bahn hinziehen am kreisenden Himmelsgewölbe.
Unter dem Himmel ergoss sich die Luft in unendlichen Weiten;
Allda schwebten im Fluge dahin langschniiblige Vögel;
Lebende flögen umher, so schien's, mit den Hauchen des Windes.
Auch war Tethys darauf und Okeanos' tiefes Gewässer;
Dem entquollen die Wellen der lauthinrauschenden Ströme,
Die ringsher durch die Erde nach jeglicher Seite sich wälzen.
Kunstvoll sahst du gebildet sodann auf hohen Gebirgen
Grässlicher Löwen Gezücht und der Schakale trotzige Wildheit,
Panther und Bären zugleich, unbändige — mächtige Eber,
Ihnen gesellt, die schnaubend in unbarmherzigem Rachen,
Unnahbar, mit Geknirsch die verwundenden Hauer sich schärften,
Jäger dabei, die von hinten an's Wild hinhetzten die Doggen,
Andere dann, die, mit Steinen bewehrt und schwingend den Jagd-
speer,
Rüstig darauf einstürmten von vorn', als lebten sie wirklich.
Menschenzermalmenden Krieg und blutiges Schlachtengetümmel
Sähest du dann; erschlagen, vermischt mit ihren Gespannen,
Sanken die Männer umher; ringsum schien alles Gelände
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Quintua ton Smyrna von Donner.
508
Auf dem gediegenen Schilde bedeckt mit Strömen des Blutes;
Dort auch sahst du den Schrecken, die Furcht und Enyo, das
Graungebild,
Schaurig gebadet in Blut vom Haupt zu den Füssen hernieder,
Dann mit den wilden Erinnen die unheilbringende Zwietracht,
Diese die Männer entflammend zu tosendem Waffengewühle,
Jene vom Mund ausathmend die Gluth des vertilgenden Feuers«
Weitum tobten die Keren erbarmungslos ; in der Mitte
Wallte des Todes Gestalt voll Grausen einher; in der Nähe
Schritten die düsteren Geister dahin dumpfdröhnender Sohlachten,
Welchen das Blut und der Schweiss ringsum von der Gliedern
herabtroff.
Auch Gorgonen erblicktest du da, graunvolle Gestalten,
Rings um die Locken des Hauptes mit furchtbaren Schlangen ge-
gürtet,
Die wild züngelten alle. Das staunenswürdigste Schauspiel,
Waren die Wundergebilde zugleich für die Menschen ein Grauen;
Denn wohl schien's, als lebten sie dort und regten sich wirklich.
Das denn waren sie alle, die schrecklichen Bilder des Krieges:
Seitwärts aber erschienen die reizenden Werke des Friedens.
Aus diesen Proben mag zur Genüge ersehen werden, in welch*
wohl gelungener Weise die griechischen Verse hier Übersetzt sind
und Alles in homerischem Sinn und Geist wiedergegeben ist. Wir
Übergehen daher die allerdings etwas zu breit und ausführlich im
Einzelnen ausgesponnene Schilderung der weiter folgenden Kämpfe
der Troer und Achäer in den nächsten Gesängen, um noch mit
einem Worte der beiden letzten zu gedenken, welche die Erobe-
rung der Stadt und die Abfahrt der Achäer behandeln: hier ge-
fällt sich der Dichter in ergreifenden Schildeningen der Kampfes-
wuth der Achäer, wie der gräuelvollen Verheerung der Stadt. So
heisst es, um von vielen derartigen Stellen nur eine anzuführen,
von den Bewohnern der eroberten Stadt im dreizehnten Gesang
Vb. 441 ff.
Aber die Dardaner starben , vom Schwert der Achäer die Einen,
Andre von Feuers Gewalt und dem Einsturz wankender Häuser,
Wo sie mit traurigem Tode zugleich sich errangen ein Grabmal.
Andere bohrten das Schwert mit eigener Hand in die Kehle,
Wenn sie das Feuer zumal mit dem Feind wahrnahmen im Vorhof ;
Andre, nachdem sie die Gattin zugleich mit den Kindern getödtet,
Stürzten sich selbst in das Schwert, in der Noth Unthaten verübend ;
Manchem, indess er im Hause dahinfloh, fiel von der Höhe
Brennend Gebälk aufs Haupt und bereitet1 ihm jähes Verderben;
Viele der Frauen sodann, in die Flucht von dem Schrecken ge-
trieben,
Dachten in Angst an die Kinder, die trautesten, die sie zu Hause
Liessen allein; da wurden sie, ach! heimkehrend in Eile,
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R04
Qu intus von Smyrna von Donner.
Vom einstürzenden Hause zugleich mit den Kindern erschlagen.
Angstvoll schweiften, des Feuers Gewalt zu entrinnen, die Rosse,
Schweiften die Hund' in den Gassen umher; auf Leichen Erschlagn'or
Traten sie hier und dort; auch Lebenden Wehe bereitend,
Stürmten sie fort in die Weite; Geschrei durchhallte die Veste.
Doch die drinnen erlagen der unbarmherzigen Aisa,
Zahllos wechselnde Pfade des traurigen Todes beschreitend.
Hochauf flammte der Brand in den heiligen Aether und endlos
Strahlte der Glanz am Himmel; die weitumwohnenden Völker
Sahen die thrakische Samos und Tenedos' Meeresgestade,
Sahen die Höhen des Ida bis hoch zu den Gipfeln erglänzen.
Und so sprach wohl Mancher, das Meer durchsegelnd, im Schifte:
Herrliche That vollbrachten Achäa's tapfere Söhne,
Die um die leuchtenden Augen der Helena Vieles erduldet ;
Troja vergeht in Flammen, die einst so gesegnete Veste,
Und der Unsterblichen Keiner gewahrt den Verlangenden Hülfe ;
Denn das gewaltige Schicksal ereilt, was Menschen beginnen,
Und was, fliehend die Sonne, geruht in verborgenem Dunkel,
Zieht es empor an das Licht und stürzt in den Staub das Erhabne.
Manchmal keimt aus Gutem das Leid, aus bitterer Wurzel
Blühet das Heil in den Wechseln des vielfachduldenden Lebens
So sprach Mancher, indess er den endlos leuchtenden Schimmer
Ferne gewahrt. Doch die Troer umfing noch schmerzliches Unheil.
Argos' Volk durchtobte die Stadt gleich wilden Orkanen,
Die das unendliche Meer in den innersten Tiefen bewegen,
Wann dem Arkturos entgegen, dem sturmaufregenden Sterno,
Dort der Altar aufsteigt am strahlenden Himmelsgewölbe,
Zum schwarzwolkigen Süde gewandt; in den Wellen versiuken
Bei des Gestirns Aufgang ringsher unzählige Schiffe,
Wann auftosen die Stürmo; vergleichbar diesen verheerten
Ilio8' thtirmende Veste die Danaer; mächtig umwogte
Diese die Glut, wie ein Berg, mit laubigen Wäldern bekleidet,
Brennt, wann Winde das Feuer erregt zu gewaltiger Flamme;
Graunvoll sausen und brausen die weithin ragenden Berghöh'n,
Während das Wild mühselig erliegt in den Qualen des Todes,
Durch die Gewalt des HephUstos umher in dem Walde getrieben :
Also fanden die Troer den Tod, der Unsterblichen Keiner
Schüzte sie mehr, rings waren um sie von den Moiren die langen
Neze gespannt, woraus kein Sterblicher findet den Ausgang.
Es mag auch daraus die Art und Weise, wie der Dich-
ter Vergleichungen, die freilich die Einfachheit der homerischen
nicht erreichen, anzuwenden liebt, erkannt, und darnach auch die
Schwierigkeit der Uebertragung gewürdigt werden. Ungeachtet
aller Weitschweifigkeit und Breite, mancher Wiederholungen und
Uebertreibungen wird man dem Verdienste des Dichters doch An-
erkennung zu zollen haben , zumal als auch der Inhalt seines Ge-
dichtes aus Quellen entnommen ist, die nicht mehr zugänglich sind,
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Kant's Werke von TTarten stein, t
505
und durch diese späte Schöpfung nns gewissermassen ersetzt wer-
den, namentlich die verlorenen kyklischen Godichte, die Aethiopis
des Arktinus, dio kleine Ilias des Lesches u. a. Wer diesen ganzen
Kreis einer früheren Poesie näher kennen lernen will, mag sich an
diesen Dichter einer, wenn auch spätem Zoit halten, wie er jetzt
durch diese Uebertragung auch weitereu gebildeten Kreisen zugäng-
lich gemacht ist. Chr. Bahr.
Immanuel Kantfs sämmlliche Werke. In chronologischer Reihenfolge
herausgegeben von 0. Hartenstein, Erster Band. Mit drei
lithographirten Tafeln. Leipzig > Leopold Voss. J867.
Der grösste Denker im Gebiete der neueren Philosophie ist
unbezweifelt Immanuel Kant. Er scheidet die Periode des
Dogmatismus und Skepticismus durch seinen Kriticismus von der
spätem Entwicklung der Philosophie und ist der Wendepunkt einer
vergangenen, durch ihn überwundenen Philosophie und derjenigen
philosophischen Zeit, welcher wir angehören, und welche in den
verschiedensten Anläufen und Richtungen immer wieder von ihm
ausgeht und zu ihm zurückführt. Er hat den allein richtigen Weg
eingeschlagen, welcher mit einer Untersuchung über die Möglich-
keit des Erkennens, mit einer Prüfung des Erkeuntnissvermögens
beginnt. Er ist weder Dogmatiker noch Skeptiker; er ist Kritiker.
Mit der kritischen Untersuchung der Geisteskräfte muss man be-
ginnen, wenn man bestimmen will, was der Geist erkennen, was
er wissen und was er nicht wissen kann. Er huldigt weder der
einseitigen Richtung des vor ihm zur Entwicklung gekommenen
Realismus, welcher alle Erkenntuiss auf die äussere Einwirkung der
Welt zurückführt und Alles in der Materie untergehen lässt, noch
jenem einseitigen Idealismus, welcher nur einen Factor der Er-
kenntniss, den Geist, zulässt, und aus diesem die ganze Welt von
Innen heraus construirt ; er nimmt weder einen bloss objectiven,
noch einen bloss subjectiven Standpunkt ein. Ihm hat der Geist
Realität, wie die Materie. Ihm ist der äussere oder objective
Factor zur Erkountuiss so nothwendig, als der innere oder sub-
jective. Die Form liegt nach ihm im Geiste, der Stoff ist das von
Aussen auf diesen Wirkende. Er zeigt, dass wir nicht über die
Formen unserer Erkenntniss hinaus können , dass es synthetische
Urtheile a priori nur für die Erfahrungswelt gibt, dass die so ge-
nannten übersinnlichen Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit
keine Gegenstände unseres Wissens, sondern als unbedingte For-
derungen unserer sittlichen Natur Gegenstände des Vernunftglaubens
sind. Alle neueren Philosophen, die von irgend einer Bedeutung
sind, gehen von ihm aus und führen auf ihn zurück.
Eine Sammlung seiner Werke war ein dringendes Bedürfniss
und in der neueren Zeit kam man demselben auf doppeltem Wege
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506 Kant's Werke von Hartenstein, t
entgogen. Eß erschienen fast zu gleicher Zeit zwei Gesammtaua-
gaben seiner Werke, die erste von Gustav Hartenstein in
10 Bänden (Leipzig bei Modes und Baumann, 1838 und 1839)
und die zweite von Karl Rosenkranz und Fried r. Wilh.
Schubert, Leipzig bei Leopold Voss, 1842 in 12 Bänden, von
welchen der letzte Bosenkranz' Geschichte der Kautischen Philoso-
phie und die zweite Abtheilung des eilften Kant's Leben von Schu-
bert enthält. Beide Ausgaben sind systematisch geordnet.
Von diesen beiden Ausgaben ist die eine im Buchhandel längst
vergriffen und von der andern sind keine vollständigen Exemplare
mehr vorhanden. 8o erscheint eine neue Ausgabe der Werke des
grossen Denkers dringend geboten. Zugleich soll diese Ausgabe,
welche auf acht Bände angelegt ist, durch einen verhältnissmässig
billigen Preis leicht und allgemein zugänglich gemacht werden.
Der Preis des ganzen, schön ausgestatteten Werkes ist auf 12
Thaler festgestellt.
Mit der neuen Ausgabe der Kantischen Werke, deren erster
Band zur Anzeige vorliegt, wurde ein rühmlichst bekannter philo-
sophischer Schriftsteller, Gustav Hartenstein, betraut. Kaum
konnte die Verlagshandlung das Unternehmen einer gewandteren
und kundigeren Hand anvertrauen. Nicht nur durch seine philo-
sophischen scharfsinnigen Forschungen, sondern auch durch seine
mit grosser Genauigkeit 1838 und 1839 veranstaltete erste Aus-
gabe der Kant'schen Werke in zehn Bänden hat Hartenstein
seinen Beruf zur neuen Herausgabe auf das Rühmlichste bewährt.
Schon seine erste Ausgabe ist im Einzelnen correcter, als die
Roscnkranz-Schubert'sche. In beiden Ausgaben war die Anordnung
die systematische und zwar in der Woise, dass bei Hartenstein
Logik und Metaphysik, die Lehre von der praktischen Vernunft,
von der Urtheilskraft und die Naturphilosophie, bei Rosenkranz
und Schubert Logik und Metaphysik, Natur- und Geistespbiio-
sophie sich folgen. Für alle selbstständig erschienenen Werke und
Abhandlungen Kants ist in dieser neuen Ausgabe die chrono-
logische Reihenfolge eingeschlagen worden und wird darum
von dem eigentümlichen Charakter der zwei ersten Ausgaben, die
Werke nach der Gleichartigkeit und Verwandtschaft des Inhalts
systematisch zu gruppiren , Umgang genommen. So wünschens-
wert auch für den Systematiker eine solche Anordnung sein mag,
so ist doch entschieden die chronologische vorzuziehen, weil
sie uns das beste, naturgetroueste Bild von dem allmähligen Ent-
stehen der Kant'schen Weltanschauung giebt. Ueberweg hat
(Grundr. der Gesch. d. Phil. Thl. III, S. 128) mit Recht die chro-
nologische Reihenfolge als die bessere bezeichnet, da sie Kant's
Entwicklung zur Anschauung bringt. Die chronologische
Ordnung, iu welcher diese neue Ausgabe erscheint, ist darum
ein neuer Vorzug derselben. Sie umfasst neben den entweder von
Kant selbst oder mit seinem Willen und zum Theil unter seiner
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Kant's Werke von Hartenstein. I.
507
Auf siebt und persönlichen Mitwirkung herausgegebenen Schriften
alles das , was als ein von ihm unzweifelhaftes Schriftstück bis
jetzt veröffentlicht worden ist. In die Sammlung nicht aufgenom-
men sind die nicht authentischen und darum auch in den zwei
früheren Ausgaben nicht erschienenen Ausgaben der physischen
Geographie von Vollmer, der Vorlesungen über philoso-
phische Religionslehre und über Metaphysik von K. H.
L. Pölitz, der Anweisung zur Welt- und Menschen-
kenntniss von J. A. Bergk (unter dem Namen Fr. Chr.
Starke) und der Anweisung zur Menschenkunde oder phi-
losophischen Anthropologie von demselben, so wie die
unterschobene Schrift: »Antwortschreiben des Prof. Kant
an den Abbe* Sieyes in Paris, 1796, aus dem lateinischen
Original übersetzt 0.0.1797. Bis jetzt ungedruckt ist ein unvollen-
detes Mauuscript Kants zur Methaphysik der Natur aus
dessen letzten Lebensjahren, zuerst von Schubert in den neuen
preussischen Provincialblattern (Königsberg, 1858, S. 58 — 61) und
ausführlich von Rud. Reicke in der altpreussischen Monatsschrift
(Königsberg, 1864, Bd. I, S. 742—749) beschrieben. Theils, weil
das Manuscript »fremdes Eigenthum« ist, theils auch, weil »der
Eindruck, den die von Roicke mitgetheilte Beschreibung des In-
halts und der Beschaffenheit« dieser Handschrift auf den Heraus-
geber gemacht hat, nicht von der Art war, dass er sich »dadurch
genötbigt gesehen hatte, eine Bearbeitung derselben als einen
wesentlichen und unentbehrlichen Bestandtheil einer Sammlung der
Werke Kant's anzusehen« (S. IV), unterblieb die Aufnahme in die
Gesammtausgabe. Eben so wird in derselben auch von allen
»etwaigen sonstigen Paralipomena von Kant« abgesehen, die »mög-
licher Weise hier und da noch zerstreut sein können.« Der Herr
Herausgeber erklärt die Herausgabe solcher unvollendeten und nach-
gelassenen zerstreuten Schriften, wenn ihre Aufnahme in die Ge-
sammtausgabe auch nicht Zweck seines Unternehmens sein kann,
für »wünschenswerth und erfreulich«. Die Ausgabe solcher Schriften
könnte als Supplementband zu allen Ausgaben der Kant' sehen Werke
erscheinen. Ueberweg bat (Grundr. Thl. III, S. 168) die Heraus-
gabe des Kant'schon Manuscriptes: Zur Metaphysik der
Natur durch Reicke in Aussicht gestellt. Die Briefe Kants
sind iu die Gesammtausgabe aufgenommen. Nur die Briefo und
kleineren Abhandlungen werden in dem letzten Bande zusammen-
gestellt. Zur Auffindung der einzelnen Schriften wird ein Gesammt-
verzeichniss derselben denjenigen am besten dienen , welche das
Jahr ihres ersten Erscheinens nicht kennen.
Der vorliegende erste Band der Sammlung enthalt 1) Ge-
danken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Be-
urtheilung der Beweise, deren sich Herr von Leibnitz und andere
Mechaniker in dieser Streitsache bedient haben, nebst einigen vor-
hergehenden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt
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P08
Kant's Werke von Hartenstein.!
betreffen, 1747 (S. 1 — 179); 2) Untersuchung der Frage, ob die
Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die Ab-
wechselung des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Ver-
änderung seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe,
1754 (S. 1754 (8.179 — 187); 3) die Frage: ob die Erde veralte?
physikalisch erwogen, 1754 (S. 187 — 207); 4) allgemeine Natur-
geschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Ver-
fassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudos
nach Newton'schen Grundsätzen abgehandelt, 1755 (S. 207—347);
5) meditationum quarundam de igne succincta delineatio, 1755
(S. 347 — 365); 6) principiorum priraorum cognitionis metaphysicae
nova dilucidatio, 1755 (S. 365—401); 7) von den Ursachen der
Erderschütterungen , bei Gelegenheit des Unglücks, welches die
westlichen Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jah-
res betroffen hat, 1756 CS. 401—413); 8) Geschichte und
Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfalle des Erdbebens,
welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen grossen Tb eil der
Erde erschüttert hat, 1756 (S. 413 — 447); 9) fortgesetzte Be-
trachtung dor seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterun-
gen, 1756 (S. 447 — 457); 10) metaphysicae cum geometria junc-
tae usus in philosophia naturali, cujus specimen I continet mona-
dologiara physicam, 1756 (S. 457 — 473); 11) neue Anmerkungen
zur Erläuterung der Theorie der Winde, 1756 (S. 473 — 487).
Auf die Revision und Feststellung des Textes wurde vor Allem
die grösste Sorgfalt verwendet. Die einzige zuverlässige kritische
Grundlage boten die Originalausgaben der einzelnen Schriften. Sie
wurden auch bei dor neuen Ausgabe wiederholt auf das Genaueste
verglichen. Die Originalansgaben bis zum Jahre 1770 sind zum
Theilo sehr selten. Der Herr Heransgeber kam grossentheils in
den Besitz derselben. Da, wo der Gebrauch der Originalausgabe
nicht statt finden konnte, wird dieses ausdrücklich bemerkt. Die
Originalausgaben nach 1770, die keine literarischen Seltenheiten
sind, konnten natürlich überall dem Texte zu Grunde gelegt werden.
Im Sprachgebrauche wurde, was unserer jetzigen Sprach- und
Schreibeweiso unorthographisch und unsprachlich erscheint, in dem
Texte geändert. So wurde der in dor ältern Zeit herrschende Ge-
brauch des vor statt für, des sein statt sind, des seien statt
sein, des was anders statt etwas Anderes geändert. Dagegen
wurden die charakteristischen Formen des Sprachgebrauches der
ältern Zeit beibehalten und nicht, wie dieses in den spätem Aus-
gaben geschah, modern isirt Auch wurden aus flüchtiger Revision
entstandene Drnckfehlor früherer Ausgaben sorgfältig verbessert.
Die erste Kant'sche Schrift in dem vorliegenden Bande sind
die Gedanken von der wahren Schätzung der leben-
digen Kräfte, Königsberg, 1746 (gedruckt bei Mart. Eberh.
Dorn, XVI S. Dedication und Vorrede, 240 S. Text mit 2 Kupfer-
tafeln. 8.). Die Dedication an den Professor Bohlius in Königsberg
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Kant's Werke von Hartenstein, t
509
ist vom 22. April 1747 und im §. 107 wird eine »in der Oster-
messe dieses 1747sten Jahres« erschienene deutsche Uebersetzung
einer Schrift von Musschenbroeck angeführt. Darum wurde auf den
Specialtitel dieser Schrift in der neuen Gesammtausgabe das Jahr
1747 gesetzt. Ausser der Verbesserung der Druckfehler wurden
einzelne kleine Veränderungen im Ausdrucke vorgenommen, welche
in der Vorrede S. IX angegeben sind. Die zwei zunächst im ersten
Bande folgenden kleinen Abhandlungen, die Achsenumdrehung
der Erde und die Veraltung derselben betreffend, er-
schienen zuerst in den Königsberger Frage- und Anzeigungsnach-
richten Nr. 23 u. 24 und Nr. 32—37 des Jahrganges 1754. In
der von Nicolovius veranstalteten Sammlung der kleinen Schriften
Kant's sind sie wieder abgedruckt worden. Da der Herr Heraus-
geber den betreffenden Jahrgang der Königsberger Frage- und An-
zeigungsnachrichten erst nach dem Drucke der beiden Abhandlungen
erhielt, sind die Verbesserungen nach dem Urtexte in der Vorrede
S. X angegeben. Die Originalausgabe der allgemeinen Natur-
geschichte und Theorie des Himmels ist in Königsberg
bei Jon. Petorsen, 1755 (V S. Dedication, XLVUI S. Vorrede,
V S. Einleitung, sämmtlich unpaginirt und 200 S. Text ohne den
Namen des Verfassers) erschienen. Sie ist ziemlich nachlässig ge-
druckt, die Druckfehler wurden verbessert, die einzelnen Aende-
rungen im sprachlichen Ausdrucke sind in der Vorrede S. XI und
XII angegeben.
Die von Kant der philosophischen Facultät zu Königsberg im
Jahre 1755 vorgelegte Abhandlung: Meditationes de igne erschien
zuerst gedruckt in den beiden ersten Gesammtausgaben der K auf-
sehen Werke, im V. Bande der Rosen k ranz- Sch ub ert' sehen
Ausgabe (1839) aus der jetzt in der Universitätsbibliothek zu
Königsberg befindlichen Originalhandschriit Kant's, im achten Bande
der G. Harten st ein1 sehen Ausgabe aus einer durch Verkauf in
den Besitz des Buchhändlers Modes in Leipzig gekommenen Ab-
schrift. Die Abschritt zeigt sich durch Vergleiohung mit der Ur-
schrift des Rosenkranz-Schubert'schen Textes als eine sehr richtige«
Bei dieser neuen Ausgabe wurden beide Texte genau verglichen.
Die einzelnen Verbesserungen, welche die von dem Herrn Heraus-
geber schon früher ausgesprochenen und theilweise in den Text der
ersten Ausgabe aufgenommenen Vermuthungen bestätigen, sind
S. XII und XIII enthalten.
Die Abhandlung: Principiorum primorum cognitio-
nis metaphysicae nova dilucidatio (Regiomonti typ.
J. H. Hartungh, II und 38 S. 4) ist die Habilitationsschrift
Kant's. Ausser den von demselben angegebenen Druckfehlern sind
noch neue verbessert. Die von dem Respondenten in der Dispu-
tation, Christoph Abraham Borohard, stammende, auf der
Rückseite der Abhandlung abgedruckte Dedication an Johannes
de Lebwald wurde in dem Abdrucke hinweggelassen.
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610
Kant'a Werke von Hirtenstein, t
Die auf die Habilitationsschrift folgende Abhandlung: von
den Ursachen der £ r de rschütternngen bei Gelegen-
heit des Unglücks, welches die westlichen Länder
von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres be-
troffen hat, befindet sich weder in einem Verzeichnisse noch einer
Sammlung der Kant'schen Schriften. Der Herr Herausgeber entdeckte
diese Abhandlung in den Königsberger Frage- und Anzeigungs-
nachrichten vom Jahr 1756 Nr. 4 und 5. Es findet sich in den
augeführteu Nummern ein ausführlicher und ganz selbstständiger,
von Kant unterzeichneter Aufsatz. Die nächste Veranlassung zur
Auffindung dieses Aufsatzes war diese, dass Kant in seiner Schrift :
Geschichte und N aturbeschreibung der merkwürdig-
sten Vorfälle des Erdbebens u. b. w. selbst auf eine frühere
Andeutung dieses Gegenstandes iu den Königsberger Anzeigen hin-
weist (vorliegender Band S. 423). Zu dieser Andeutung sagt
Schubert in der Rosenkranz- Schubert 'sehen Ausgabe der
Kant'schen Schriften (Bd. VI, S. 239) in einer Anmerkung : >Weil
in der angezeigten Stelle dieser Zeitung nichts weiter als das hier
aufgenommene Resultat ausgeführt ist, so habe ich eiaen besondern
Abdruck derselben für unnöthig erachtet.« Aus dem vorliegenden
ersten Bande dieser neuen Ausgabe wird ersichtlich, dass der frag-
liche Gegenstand kein» Zeitungsartikel, sondern eine wirkliche Ab-
handlung ist (S. 401—413), welche Kant selbst zwar als eine
> kleine Vorübung« bezeichnet, die aber doch viel mehr enthält, als,
wie Schubert sagt, die »blosse Ausführung« des in der späteren
Abhandlung erschienenen Resultates. Kant beruft sich noch an
einer zweiten Stelle seiner grössern Schrift über das Erdbeben auf
diese kleine Abhandlung. Wir sind darum gewiss dem um die
Wissenschaft hoch verdienten Herren Herausgeber zu besonderem
Danke verpflichtet, dass er die kleine immerhin interessante Ab-
handlung der Vergessenheit entrissen und ihr die gebührende Stelle
unter den Schriften Kaufs gesichert hat.
Auf diesen Aufsatz folgt die Geschichte und Naturbe-
schreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erd-
bebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres
einen grossen Theil der Erde erschüttert hat, sie
wurde im Februar 1756 als selbstständige Schrift in Königsberg
bei J. Fr. Härtung 40 S. 4. im Drucke herausgegeben. Sie ist
in dieser Sammlung nach der Originalausgabe berichtigt. Sie ent-
hält die exegetischen Anmerkungen nicht, welche zuerst von dem
Herausgeber der 1795 zu Linz gedruckten Sammlung der kleinen
Schriften Kaufs hingefügt wurden und in die späteren Abdrücke
übergingen. Einige Fehler der Originalausgabe sind in der vor-
liegenden Sammlung verbessert (S. XV).
Die dritte sich auf das Erdbeben beziehende Schrift ist, wie
die erste, ebenfalls zuerst in den Königsberger Frage- und An-
zeigungsnachrichten, Jahrg. 1756, Nr. 15 u. 16 erschienen und
hat den Titel: Die fortgesetzte Betrachtung der seit
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Kaut's Werke von Hartenstein. I.
einiger Zeit wahrgenommenen Erderschütterungen.
Auch hier sind einige Fehler, die sich im Original fanden, ver-
ändert (S. XV).
Kant musste, um als Privatdocent zu einer ausserordentlichen
Professur gelangen zu können, nach einer in Königsberg bestehen-
den Universitätsverordnung dreimal öffentlich disputiren. Zu die-
sem Behufe schrieb er die nun in der Sammlung folgende Abhand-
lung : M etaph ysicae cum geometria junetae usus in philosophia na-
tu rali speo. I contin. monadologiam physicam. Sie wurde gedruckt
zu Königsberg bei Härtung, 1756, 16 S. 4. In allen bisher er-
schienenen Ausgaben ist die von Kant und seinem Respondenten
(Lucas David Vogel) an den geheimen Staats- und Kriegsminister
Ludwig Wilhelm von Gröben gemeinschaftlich unterzeichnete Dedi-
cation ausgelassen, welche in dieser neuen Sammlung auf der Rück-
seite des ersten Blattes genau nach dem Originale abgedruckt ist.
Das auf dem Titelblatte von spätem Herausgebern Hinzugefügte:
Dissertatione publica pro loco habenda wurde mit Recht hinweg-
gelassen, weil es nicht im Originale steht. Auch hier wurden ein-
zelne verbessernde Aenderungen in den Ausdrücken des Originals
vorgenommen (S. XVI).
Als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen im Sommer 1756
gab Kant die Schrift heraus, welche den ersten Band der vor-
liegenden Sammlung schliesst. Sie erschien mit der Aufschrift:
Neue Anmerkungen zur Erklärung der Winde (Königs-
berg, gedruckt bei J. Fr. Driest) 1756, 12 S. 4.)
Am Schlüsse der Abhandlung folgt die Ankündigung der
Vorlesungen Kant's, welche in den bisherigen Abdrücken
fehlt, aber in die vorliegende Sammlung aus dem Originale wieder
aufgenommen wurde. Die Ankündigung lautet wörtlich also: »Der
Raum, den ich dieser kurzen Betrachtung bestimmt habe, setzt
ihrer weiteren Ausführung Schranken. Ich beschliesse dieselbe da-
mit, dass ich denen Herren , welche mir die Ehre erzeigen , in
meinen geringen Vortrag einiges Vertrauen zu setzen, eröffne, dass
ich die Naturwissenschaft Uber des Herren D. Eberhards erste
Gründe der Natur lehre zu erklären gesonnen sei. Meine Ab-
sicht ist, nichts vorbeizulassen, was eine gründliche Einsicht in die
wichtigen Entdeckungen alter und neuer Zeiten befördern kann und
vornehmlich den unendlichen Vorzug, den diese letzteren duroh die
glückliche Anwendung der Geometrie vor jenen erhalten haben, in
deutlichen und vollständigen Beispielen zu beweisen. Ich fahre fort,
in der Mathematik Anleitung zu geben, und den Lehrbegriff der
Weltweisheit mit der Erläuterung der Meyer'schen Vernunftlehre
zu eröffnen. Ich werde die Metaphysik über das Handbuch des
Herren Prof. Baumgarten vortragen. Die Schwierigkeiten der
Dunkelheit, die dieses nützlichste und gründlichste unter allen Hand-
büchern seiner Art zu umgeben scheint, werden, wo ich mich nicht
zu sehr schmeichle, durch die Sorgfalt des Vortrags und ausführ-
liche schriftliche Erläuterungen gehoben werden. Mich dünkt, es
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512
Kant'e Werke von Hartenstein. I.
sei mehr als zu gewiss, dass nicht die Leichtigkeit, sondern die
Nützlichkeit den Werth einer solchen Sache bestimmen müsse und
dass, wie ein sinnreicher Schriftsteller sich ausdrückt, die Stoppeln
ohne Mühe oben fliessend gefunden werden, wer aber Perlen suchen
will, in die Tiefe hinabsteigen müsse.« Durch diese Kant 's Wesen
schon frühe so treffend bezeichnende Ankündigung findet der vor-
liegende erste Band einen würdigen Abscbluss (S. 486 und 487).
Zwei kleine Berichtigungen des Originals finden sich dieser Schluss-
abhandlung (S. XVI) in der Vorrede angefügt. Von den eilf in
diesem ersten Bande enthaltenen Anfangsarbeiten Kant's von 1747
bis 1756 sind neun durchaus naturwissenschaftlichen und mathe-
matischen Inhaltes. Nur bei zwei Abhandlungen findet sich eine
Ausnahme und die eine davon bat selbst wieder eine Beziehung
zur Mathematik und Naturwissenschaft, wenn sie auch von der
Philosophie handelt. Es ist dieses die lateinische Abhandlung über
den Gebrauch der mit der Geometrie verbundenen Metaphysik in
der Naturphilosophie. Man kann also auch hier von keinem bloss
philosophischen Inhalte sprechen. Die einzige von diesen Abhand-
lungen, nach ihrem Titel allein und ausschliessend Philosophie be-
handelnd, ist demnach Kant's Habilitationsschrift: Principiorum
primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio vom Jahre 1755
(S. 365 — 401). Kant untersucht in dem ersten Abschnitte dieser
Abhandlung das Princip des Widerspruches, im zweiten das Princip
des bestimmenden oder zureichenden Grundes, im dritten stellt er
zwei aus dem letzten Princip abgeleitete Principien auf, das Princip
der Aufeinanderfolge (principium successionis) und das Princip des
Zusammenseins (principium cocxistentiae). Es werden aus diesen
Principien Sätze abgeleitet, die Sätze selbst erklärt und ihre An-
wendung dargelegt. Kant trägt hier schon Ansichten von Baum
und Zeit vor, welche für seine spätere Entwicklung nicht ohne Be-
deutung sind. In dem so genannten usus zeigt sich überall die
Anwendung auf die Natur. So ist der ganze Charakter der schrift-
stellerischen Thätigkeit Kant's von 1747 — 1756 ein naturwissen-
schaftlicher und mathematischer. Man sieht, dass er den rechten
Weg der Entwicklung ging. Soll man in der Philosophie, wie Kant
will, »nicht die oben fliessenden Stoppeln«, sondern die > Perlen in
der Tiefe« suchen, so darf man sich auch im Strome der Ent-
wickelung nicht nur leicht obenhin bewegen; man muss in die
Tieie dringen, wenn man das will, was in der Tiefe liegt. Diess
aber kann nur auf dem Wege der wissenschaftlichen Erfahrung an
der Hand der Naturwissenschaft und Mathematik geschehen. Möge
das so gründlich begonnene Werk recht bald zum Abschlüsse kom-
men; möge dasselbe, das uns die Werke des grössten Denkers
unserer Zeit in all müh liger Entwickelung vorführt, recht viele zu
einem tieferen Studium der Philosophie, dieser Grundlage aller
Wissenschaft und Bildung, fruchtbringend anregen!
v. Reichlin-Mcldegg.
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ffr. 33. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
i
I) Brugsch, geographische Inschriften alt ägyptischer Denkmäler.
Vol. 1. Nebst 58 Tafeln und einer Karte. Leipzig, hinrichs
1857. 4. 304. (Vol. 11 handelt vom Ausland. Vol. III von
Palästina). 25 Thr.
II) Brugsch, Recueil de Monuments e'gyptiens. Vol. III. Auch
unter dem litel: J. Dümichen, Monuments gtographiques.
Vol 1. Oder auch, denn das Buch ist deutsch: Joh. Dümi-
chen, Geographische Imchriflen altägyptischer Denkmäler, in
den Jahren 1863—1865 an Ort und Stelle gesammelt. I Ab-
theilung 100 Tafeln. Leipzig, Hinrichs 1865. Text dazu 1866.
40. 20 Thr.
III) Jacgues de Rouge", Textes geographiques du temple d'Edfou,
Rev. Archeol Paris 1865—1867.
Flaton bat in seinem Schatz des Bhampsinit eine recht ko-
mische Wirkung erzielt durch Znsammenstellung der sogenannten
historischen Nachrichten, welche über altägyptische Sitten in den
griechischen Quellen vorliegen. Die Weinreisenden von Lesbos,
wenn sie von Naukratis heimkehrten , mochten ebenso interessant
zu erzählen wissen , wie heute die Commis-Voyageurs , denn sie
hatten wobl ebenso gründlich beobachtet in einem Lande, dessen
Sprache zu erlernen ihnen zu wenig war. Aber auch den ernste-
ren Reisenden, wie Herodot, lag es doch ebenfalls nahe, mehr das
Ungewöhnliche, das Baroke aus der Fremde zu erzählen, um so
mehr als die officiellen Quellen ihnen verborgen blieben und die
Priester — man kann es beweisen — die Zudringlichen durch ab-
surde Antworten verhöhuten. Wenn z. B. Plutarcb erzahlt, dass
der ägyptische Name der Myrrhe Schal eigentlich »Abfertigung der
Albernheit« (AtjQrjoeas ixtixogmaapog)*) bedeutet, so hat sich zwar
Schal als Name der Pflanze bestätigt gefunden (in dem Recept bei
Dümichen, Monum. II. PI. 82), keineswegs aber als Ausdruck jener
Grobheit die man als Bären dem eifrigen Frager aufgebunden.
Ganz anders als dieses stark Ubermalte griechische Gemälde
stellt sich nun das wahre Bild des Nillandes dar, ja bei der all-
mäligen Entzifferung der einheimischen Tabellen Uber die 36 Pro-
vinzen, deren Städte und Produkte, wie sie aus den zahlreichen
Nomoslisten der Tempel nun dem Forscher vorliegen, erfasst den-
selben das gleiche Gefühl, wie wenn auf einem Palimpsest unter
irgend einer albernen Legende ein Capitel des Tacitus oder Sallust
*j De Is. a Os. 80.
LX. Jahrg. 7. Heft
33
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514 Zur Geographie de« alten Aegyptens
zum Vorschein käme. Nach dorn Vorgang des Engländers Harris *)
hat zuerst in Deutschland Herr Brugsch einige Listen dieser Art
bekannt gemacht und sehr verdienstlich mit Hülfe des sonst vor-
handenen biblischen, griechischen, römischen, coptischen, arabischen
und modernen Materials erläutert. Alle spätem Entdeckungen, die
wir namentlich Herrn Dtlmichen verdanken, haben Brugsch's Ar-
beiten keineswegs widerlegt, wohl aber vielfach bestätigt und ver-
vollständigt. Der Sache nach gehören darum die beiden in unserm
Titel vereinigten Werke zusammen und liefern Dtlmichens Monu-
ments gCog. vol. I. 100 geographische Tafeln als Vervollständigung
von Brugsch's geographischen Inschriften ; der Form nach hat aber
Dümichen diese Tafeln einem andern Werke seines Lehrers, näm-
lich Brugsch's Recueil de Monuments Egyptiens als III. Band des-
selben angereiht, so dass — unbequem genug — vorliegender Band
mit gleichem Recht citirt werden kann als Dümichen Monuments
ge*ographiques vol. L, oder als Brugsch's Recueil de Monuments
ägypt. vol. III.; zudem schreibt der Lehrer französisch und der
Schüler deutsch. Man lasse sich aber dadurch ja nicht abschrecken,
denn die Leistung Beider ist eine sehr bedeutende und die Methode
in Beiden wirklich zusammen gehörenden Werken, Brugsch's In-
schriften und Dumichen's Monuments I, ganz dieselbe, denn sie ruht
auf der klaren Statistik der Aegypter selbst, welche diese Listen
immer nach demselben Plane anlegten, freilich mit jener Mischung
von wissenschaftlicher Trockenheit und gemeinverständlicher Popu-
larität, welche astronomische Wahrheiten in Mythen zu kleiden,
das Alphabet als Bilder zu malen wusste und überhaupt einer Re-
gierung wohl ansteht, die in ihren Erlassen sich nicht nur an ihre
Beamten, sondern an das ganze Volk wendet. Der gemeine Aegypter,
wenn er den Tempel seiner Vaterstadt betrat, konnte sich von
jedem des Lesens kundigen belehren lassen, dass diese 36 Frauen-
bilder, mit wunderlichem Kupfputz, welche der Gestalt irgend eines
Gottes Geschenke zutrugen, die Provinzen seines Vaterlandes seien,
der Kopfputz bezeichnet den Kamen, die Geschenke Produkte der
Provinz. Sind die Wandgemälde noch vollständiger ausgeführt, so
erscheinen hinter jeder dieser bärtigen Frauen — es mögen auch
Männer sein aber mit Brüsten, dem Symbol der Produktivität —
je drei andere ähnliche Gestalten, drei Unterabtheilungen jeder
Provinz darstellend, ebenfalls mit Namen und Produkten. Die Auf-
zählung der Letztern in einer Beischrift endet gewöhnlich in eine
Doxologie an die speciolle Gottheit dos Tempels (z. B. Antimon
ist gut, um zu schmücken deine Augen o Hathor, Herrin von
Denderah ; das Ouot ist gut um sie zu erweitern o Kind der Sonne)
oder mit einer Anwendung auf die Mythe der Landesgottheit Osiris,
wobei oft Wortspiele mit den geographischen Namen das Beste
**) Hieroglyphical Standards repreBenting place» in Egypt, supposed to
be nomes and toparchlea. Lond. George Baxcley 1851. 8 Tafeln. 4to.
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Geographie de* alten Aegyptens. 5 1 5
tbun ihtissen. Z. B. Brugsch Inscnriftett Taf. XXI, Nr. X, wo
der Name eines Teiches zum Netzfang der Wasservögel angewen-
det wird auf Min den Gott von Panopolis, der die Feind« in's
Netz bringe. Die Osirismythe hat zu dieser Art Heiligung der
Geographie allerdings in dem von Plutarch schon gekannten Sinne
beigetragen. Die 14 Glieder, sagt er, (de Is. et Os. cap; 18) des
von' seinem bösen Bruder zerrissenen Osiris wurden in ebenso' viel
verschiedenen Provinzen begraben. In der That meldet uns jetzt
eine hierogl. Inschrift in Denderah bei Dümicb. Text zu Brugsch
Recueil III u. IV p. 20, dass das linke Bein des Gottes im Nomos
Nubia und das rechte im NomoS1 Libya la& Auch lösen wii* in*
Osiriskalender von Denderah bei Dümichen am Schluss einer Auf-
Zählung von 16 Nomen: Und dies wird gemacht in allen Nomöri,
welche bewahren die göttlichen Glieder. Wenn man es in diesem'
Aktenstück aber unterliess , jedes einzelne Glied seinem einzelnen
Nomos zuzutheiien, wenn überdies gewöhnlich 1*6 Nömen und nur
14 Glieder genannt werden, so' erwächst die Wahrscheinlichkeit,
dasB mehrere Nomen auf dasselbe Glied Anspruch machten , was
eine sehr verstümmelte Inschrift- aus Denderah bestätigt (Dttmich.
Text Ree. HI u. IV p. 12), indem1 sie sagt, das rechte Beitr
habe ich bewahrt im Nomos Libya1 und im- Tentyrites. Wirklich
findet sich im Nomos Libya eine hervorragende Stadt mit Nameri
Haus des Beines (Ha-men) a. a. 0. X, 82, 3, 6. De* Schinkel1
war begraben im zweiten unterägypt. Nomus, dessen- NOmossymbol
ein (Ochsen)schenkel zeigt. Das Herz, auf der citirten verstümmelten
Inschrift dem 10 unterägypt; Nomos (Kakem) zugetheilt, erscheint
in1 der That im Namen seiner Hauptstadt »Haus des Herzens«'
[Habet] Brugsch Inschrift Von* Philae. Bei Dümicb. Mon. I. 99. 15.
besagt eine hierogl. Legende, dass in diesem Gau Hbrus das Herz"
seines Vaters bewahre. Bei der Ungewissheit der Lage dieses
Gaues ist es immerhin erlaubt mit Brugsch au Athribis zu denken,
von welcher Stadt Btymol. Mag. sagt, sie liege an der Spitze einer
der Delta1 und heisse Herz. 'A&Qißriv öicsq eVti$ ßovXoito ikXrjvnfrl
<pQCc£eiv ovx, äkAmg li^ai i%oi itkrjfv xagtiiav. Die Paust' (chfa)
glaube ich, war beherbergt in der »Stadt der Faust« Tfiowxorpäg,
Auch die 42 Beisitzer des Osiris im- unterirdischen Geschwornen-
gericht finden sich durch diese Mischung von Geographie und Re-
ligion localisirt, und lassen sich' die wirklichen1 Städte, ans welchen
einzelne dieser mythologischen Wesen herstammen sollten, noch
nachweisen; z. B. für den 28. der Richter, Maahtuf der Ort Peminf
bei Panopolis*; für den 30. sekt-chru die Metropolis* des 19. Gaue*
(Todtenbuch 125. 15 u; 22). Die naheliegende Annahme, das* man
hier es vielleicht mit Heroen der Vorzeit zu thun habe, die sieh
an der Spitze ihres Stammes oder ihrer Stadt hervorgethan *)j
*) Ganz nur erträumt ist, Was Rossi in seinem Cours de droit consti-
tutione! I, p. 28 dritte Vorlesung darüber iu berichten weiss.
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516
Zur Geographie dei alten Aegyptens.
widerlegt sich durch den dogmatischen Charakter ihrer Namen,
welcher sie als Höllenrichter kennzeichnet: Der Blntfresser, der
Weisszahn, der Weitschreitende, der Schnellfiissige, Flammenhaupt,
des Augen Feuer sind, der Fresser der Schatten, der dessen An-
blick fliehen macht u. s. w. Es kommt also hior wieder die Thätig-
keit einer Priesterschaft zu Tage, welche ihr theologisches System
ins Leben der Menschen und der Natur zu verweben bestrebt war.
Niemand verstand so genau wie sie die Berechnung des astrono-
mischen Jahres, aber sie gestalteten es um zu einem Kirchenjahr,
und seine Jahreszeiten zu religiösen Festen; niemand hatte ge-
nauer als sie die geometrische Vermessung des Nillandes ausge-
führt; aber sie verwandelten zugleich seinen Boden zum Schauplatz
einer religiösen Legende. Von den obenbeschriebenen Bilderreihen
der Gaue hat Herr Brugsch 15 benutzt, römische, ptolemäische
und pharaonische ; dieselben sind von Herrn Dümichen theils in
Abbildungen bekannt gemacht, theils vermehrt worden im vorlie-
genden Bande. Die von den Classikern überlieferte Zahl der Gaue,
36 ist die richtige Mitte dessen, was diese einheimischen Quellen
bieten. Eine ptolemäische Liste in Edfou gibt 44, eine römische
in Denderah 40. Lässt man in Letzteren die doppelt erscheinen-
den weg, so bleiben 35; für das obere Land 18, für das untere
17. Mit Ausmerzung der Doubletten auf der Liste von Edfou er-
hält und behandelt Herr Brugsch folgende 22 Nomen des oberen,
22 des unteren Landes, wobei zu bemerken ist, dass nach ägypti-
scher Ordnung immer Süden dem Norden, der Westen dem Osten
vorgebt. Oberägypten 1. Nubia [ägyptisch To Kens]. 2. Apollino-
polite8 [Thes-Hor]. 3. Latopolites [Tuen]. 4. Pathyrites [Zam näm-
lich Theben]. 5. Koptites [Hor-ti]. 6. Tentyrites [msuh]. 7. Dios-
polites [seschesch]. 8. Thinites oder von Abydos [abz?]. 9. Pano-
polite8 [Min oder sechem]. 10. Aphroditopolites [Ze oder Zez], 11.
Antaeopolites [sches hotep]. 12. Hypselites [Tuf]. 13. Lycopolites
anterior [ches-chent oder wie jetzt Lepsius und Dümichen lesen
atef-chent]. 14. Lycopolites posterior [atef-pehn]. 15. Hermopolites
[Un]. 16. Der nördliche Theil des Hermopolites [Sah], 17. Cyno-
polites [Anpu]. 18. Oxyrinohites [Sep]. 19. Aphroditopolites. 20.
ArsinoStes anterior [Neh-t]. 21. Arsinol'tes posterior [Neh-t], 22.
Heracleopolites [soft]. B. Unterägypten: 1. Memphitea [sebt-bet,
wörtlich »der Gau der weissen Mauer«. Nach Herodot HI, 91 lag
die persische Besatzung 'Ev tg> Xevxa xd%tl rcS iv Mi'ucpt. 2
Letopolites [chepsch]. 3. Libya [ament]. 4. Südl. Saites [saj-res].
5. Nördlich Saites [saj mehit]. 6. Athribites [Ka]. 7. Westlicher
Sebenytes? 8. Oestlicher S.? 9. [Ati]. 10. [Kakem »Gau des schwar-
zen Stieres«. 11. [Ka-hesb]. 12. [Ka-behs]. 13. Heliopolites [Haq.].
14. [Oestlicher Chent]. 15. [Heb Gau des Ibis]. 16. [Cheb]. 17.
[Gau der Stadt Samhud]. 18. Chrud-chent]. 19. [Chrud-pehu],
20. [sept-achm]. 21. [An]. 22. [Men].
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Zur Geographie des alten Aegyptens.
517
Die Gegenüberstellung der griechischen Benennungen und die
Ausmittlung der wahren Lage ist bei den Gauen des Delta's viel
schwieriger, weil sie nicht mehr, wie in Oberägypten einander ge-
nau von Süden nach Norden folgen können.
Für jeden Gau wird die Hauptstadt angogeben und sind drei
Unterabtheilungen, wie der Gau selbst durch Frauen personificirt :
das mer, das uu und das pehu, wovon aber nur über die Bedeu-
tung des mittleren als »Landschaft c das platte Land man sich
bisher hat einigen können, weil im coptischen uoei agricola be-
deutet, rem ouoi incola ruris. Eine Landstadt, eine Stadt zwei-
ten Ranges, aber jedenfalls eine Stadt rauss mit diesem Ausdruck
bezeichnet worden sein, weil diese bildlichen Listen als das Uu des
17 unterägyptischen Nomos »die Stadt des Nordens« angeben.
Dieses feste System der Einreihung der Ortschaften in ihre
Gaue und der Aufzählung der Gaue selbst leistet annährend den
Dienst einer Landkarte, so dass für Identificirung griechischer oder
neuerer Namen mit den alten man als ersten Fingerzeig den Gleich-
%lang der Namen, als zweiten ihre Stelle in diesem System und
als Bestätigung das Auffinden ihrer hieroglypbischen aus den Listen
gelernten Schreibung in irgend einem Schutthaufen nun bereits sehr
oft erlebt hat.
Ich erwähno z. B. Chusae Xovöcct, welches nach Aeliau de
anim. X. 27 unweit Hermopolis gelegen, eine der Venus Urania
(Hathor) geweihte Kuh verehrte
Die Göttin und ihre Kuh irrten bisher, wie Schlemihl und
sein Schatten getrennt umher, letztere in den griechischen Nach-
richten, erstere in den hieroglyphischen Inschriften, wo die Hathor
von ? ? sehr oft erschien. Doch wusste man nicht wohor sie kam,
nur mussten an ihrem Ort auch Alabasterbrüche sein, weil der
Fundort dieses Minerals mit demselben ? ? bezeichnet ist.
Nachdem nun auf Grund der neuern Namen (kopt. Kos-koo,
arab. Qousijeb) eines Dorfes, das unweit Hermopolis liegt, Brugscb
die Lage des alten Chusae richtig daselbst vermuthet, ent-
zifferte Herr Pleyte auch die Hieroglyphe, die wir mit Doppel-
fragzeichen umschreiben, als che; versetzt eine jetzt von Dümi-
chen edirte Nomostafel Mon. II. pl. 53 die Hathor von Chs in den
Lykopolites anterior, unweit Hermopolis maj. und obendrein finden
sich in der Nähe von El-Qusijeh alte Alabasterbrüche (bei Gebel-
Abu-fedah), die Trümmer einer grossen Stadt und ein angefange-
ner Höhlentempel der Hathor, der ägypt. Venus.
Ein zweites Beispiel ist Oxyrynchus. Steph. Byz. nennt eine
Stadt Hiyi7txr\ und einen Nopog fteiuiTizrjg, über deren Lage die
Ausleger nichts anzugeben wissen. Die zweifelhaften koptischen
Verzeichnisse identificiren einen Nomos Pemge, worin sie unter
andern die Orte Pan-coleus und Del- Bah anführen mit dem
Oxyrynchites der Classiker in der Heptanomis, ohne dass bisher
weder die Cultusstätte des Fisches Oxyrynchus noch der Name
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Zur Geographie det ate Aegypten».
Pemge sich hieroglyphisch hätte nachweisen lassen. Nun findet sich
auf den hieroglyphischen Risten von Oberägypten an der 18. Stelle,
<i. h. an dem Ort, welcher der Reihenfolge nach wirklich in die
Heptanomis fällt, ein Npmps Sep m^t den Orten ^ Haus des Phoenix«
Ha-bennu und »Grab desOsiris* Pen.-plas - Üsiri und der Unter-
abteilung Bah, letzteres dem Del- Bah ersteres dem Pan- coleus
.^er Kopten entsprechend. J^ese Namensähnljchjceit in der ent-
sprechen.den Lage bestimmten Herrji Brngscb vorläufig Pemge gleich
Sep zu setzen und die Bestätigungen blieben nicht aus. Auf einer
Stele des Serapeuxn las er den heiligen Namen Sep neben dem de-
motischen Pemza, offenbar das Pemge der Kopten. Und dass die-
ser Gau der Oxynynchites der Griechen ist, in weichem der heute
Takinas genannte Berg liegt, erhellt jetzt aus einer hieroglyphi-
sphen Stele, welche Takinas neben Pemge und den oben genann-
ten Orten des Nomos Sep-Pemge anfuhrt. Es ist dies das hiero-
glyphische Yerzeichniss der Städte, welche eine am Berge Barkai
gefundene Stele als Eroberungen Piancbi's aufführt, dessen Sieges-
zug aus dem Herzen Authiopiens durch das ganze Nilthal hinap
bis Memphis und weiter ging, ein Beweis, dass es damals den
»Möhren« auch nach Palästina nicht zu weit war, wie dann II
Chron. 15, 9 einen ähnlichen Zug eines Knschiten gegen Assa,
£önig von Ju<Ja erwähnt. Auf dem genannten Monument erschei-
nen hinter einander Pemag [doch wohl Pemge] und Tekanes auf
iclem Westufer, Habennu und Taiutj auf dem Ostufer. Taiuti ist
das To4i, welches in den koptfspben I^exicjs als yipus nomi Pemge
erscheint und Habennu ist jenes Haus des Phoenix der hierpglyphi-
schen Listen.
So fest gewoben ist dieses antjk* Kartennetz, dass, obwohl
fange Zeit richtungslos im Strome der Zeit dahintreibenfi zwei oder
drei Anhaltspunkte (Pen-Klas, Bah, Habennu) genügen, um ihm
sogleich seine Brauchbarkeit wieder zu geben. Also, den Hut ab
vor jlerrn Harris, der diese Ifpmosbilder zuerst als solche ernannte,
YQr Herrn Bmgsch, der sie reichhaltig commentirte, vpr Herrn Dü-
michen, fler sie uns im Original vorlegte, aber zweimal den Hut
ab vor jenem Priestercollegium selbst, das diesen Rahmen erfand
und damit heute auch in das Chaos der griechischen und kopti-
schen "peberlieferung Licht bringt und dissociata )ocis concordi
pace ligavit.
Es würde zu weit führen, hier noch von den NoinosgÖttern
zu sprechen, welche Brugscb ausführlich behandelt, und von den
Produkten, ? welche ausgehen aus dem Auge der Sonne« (In sehr,
bei Du michen Mon. I. PL 35 1. 3.) Die harpyienförmigen Gestal-
ten der NomQSgötter, jeder an besondern Attributen kenntlich,
faden sich Dtim. Mon. I. PI. 77—84. Wie wesentlich die Stadt-
gütter für Wiedererkenuuug der alten Nameq in den neuen sind,
hört man ja selbst aus dem lateinischen Apollinopolis , DJaspolis
fc fc w- heraus.
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Zur Geographie dee alten Aegyptens.
Um die Statistik der Landesprodukte fruchtbar zu machen,
bedarf es noch weiterer Studien über deren Namen. Gold bringt
Nubien, das heute noch den ägyptischen Namen Nub dieses Me-
talles trägt, welcher schon unter Eamses II. vorkommt (Brugsch
Inschr. III, pag. 69). Die Spuren alter Goldminen daselbst hat
Linant-Bey nachgewiesen; die Stele von Kuban und eine altägyp-
tische Karte in Turin beziehen sich ebenfalls darauf. Smaragd ist
wohl unter dem Smer des nubischen Gaus (Brugsch a. a. 0. I, 102)
zu verstehen. Das An-hesmen bei El-Kab entspricht seinem Namen
Natronthal heute noch durch die zahlreichen Krystalle, dis seinen
Boden bedecken. Bauchwerk aus Arabien (DOm. Mon. Text p 88)
und herzerfreuende Hölzer von ebenda (Leps. Denkm. IV. 24), Ge-
rüche aus Canaan (Brugsch Inschr. I. 64) sind eben so verständ-
lich als wenn es heisst, der Gau von Koptos bringe kostbare Steine
vom Gebirg, auch Gold und Lapis lazuli (Düm. Mon. I. PL 44)
und Antimon (a. a. 0. 78, 5). Oestlich von Koptos öffnet sich
nämlich das Felsenthal von Hamamat, wo Lepsius fünf bis sechs
Steinbrüche von rothem Porphyr u. s. w. fand mit Inschriften
schon aus dem alten Beich. Zugleich führten aber die Tbäler, um
diesen Gebirgsstock ans Meer nach Koseir einerseits und nach
Berenice andererseits, und vermittelten den Verkehr mit Arabien
und Indien. Aus Persien kommt bekanntlich der Lapis lazuli.
Der Weihrauch, welchen die Fürsten Arabiens »unter dem
Schrecken Pharao' s sammeln«, nennt in Hamamat schon
die Inschrift eines Beamten des Vorgängers von Amenemhe (altes
Reich), welcher den Weg beschreibt, den er von Koptos nach Ko-
seir einschlug, um nach Arabien überzusetzen (Leps. Denkm« II,
150. übersetzt von Chabas, Voyage d'un Egyptien p. 57). Das
Sohatzhaus des Rhampsinit in Medinet-Äbu, an dessen zerstörten
Wänden sich noch einige alte Uebersohriften des Fachwerkes, wie
Kupfer, Lapis ? ? aus Palästina entziffern lassen (siehe
Dümichens Monuments historiques), würde hier weitere Naohwei-
sungen geben, wenn nicht alles Ruine wäre. Einen Papyrus aus
Medinet-Abu, der das Ein- und Ausgeben eines solchen Schatzes
registrirt, hat Chabas bekannt gemacht.
Was aber den vorliegenden geographischen Schatz betrifft, so
ist er weit entfernt, ganz gehoben und ausgebeutet zu sein, nament-
lich was die Bei Schriften der Nomosfiguren betrifft.
Eine besonders eingehende und fruchtbare Studie über diese
geographischen Inschriftlegenden des Tempels von Edfou veröffent-
licht so eben Herr Jacques de Rouge* in einer Reihe von Artikeln
der Revue archdologique (1865 in den Nummern des Mai, Septem-
ber, November, 1866 November, 1867 Mai), deren letzter vom
Mai dieses Jahres aber erst bis zum 10. oberägyptischen Nomos
(Aphroditopolis) vorgerückt ist. Der Verfasser erklärt da die In-
schriften , die eben erst durch Herrn Marie tt es Reinigung jenes
prächtigen Apollotempels uuter dem Schmutz hervorgekommen sind.
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520
Zur Geographie des alten Aegyptens
Wenn Talleyrand die Diplomaten warnt, sich vor dem ersten Ein-
druck zu hüten und Plautus empfiehlt, man solle die Lügen warm
serviren, so kommt das auf denselben, auch durch die Archäologie
bestätigten Satz hinaus, wo immer die ersten Erklärungen eines
neuen Fundes mit Vorsicht aufzunehmen sind. Hier aber glaube
ich versichern zu können, dass dieses warme Gericht keine Lügen-
kost, sondern vortreffliche Nahrung bietet. Ist auch das Latein
des jungen Herrn Verfassers etwas mangelhaft (asech er mäht,
heisst ihm metitur ; verbotene Dinge sind ihm vetata), so ist seine
Lesung der Hieroglyphen um so besser; denn er ist im vollen Be-
sitz der Errungenschaften seiner Vorgänger und unterstützt durch
die seit Jahrzehnten angesammelten Collectaneen und Kenntnisse
seines Vaters, des berühmten Vicomte de Rouge. Der Tempel vou
Edfou enthält nicht weniger als 27 geographische Listen, von denen
die wichtigste aus der Zeit des Ptolemäus Philopator, welche die-
ser Arbeit zur Grundlage dient, bisher nur theilweise bekannt ge-
worden war (durch Bmgsch nach einer Copie von Dümichen ägyp-
tische Zeitschrift, Juni 1864), was auch von zwei anderen zu gel-
ten scheint, denn dass die in Paris photographisch publicirte iden-
tisch ist mit einer der zahlreichen in Dümichens Mon. vol. I kann
ich nur vermuthen ; Bruchstücke von einer dritten gab auch Brugsch
in der ägyptischen Zeitschrift, Juli 1863. Schon aus der Ueber-
schrift ersieht man , dass diese Ptolemüerliste ausser den Namen
der Gaue und ihrer Hauptstädte nebst den drei Unterabtheilungen,
dem mer, uu und pehu auch die Osirisglieder (z. B. die Lippen
im Latopolites) , die Rangstufen der Priester, die Namen der hei-
ligen Barken, Bäume und Schlangen , auch wie es scheint, die in
jedem Gau verbotenen Dinge namhaft macht.
Hatte schon Lepsius dargethan , dass jenes mer den Haupt-
kanal bedeute und behauptet, dass bei allen drei Unterabtheilungen
nicht an Städte gedacht werden dürfe, so stimmt ihm der Verf.
in beidem bei. Jene Scheidung sei nur behufs der Abgaben ge-
macht, indem das mer, der Canal besonders Fische, das uu die
Landschaft meistens Korn, das pehu die Lagunen Wasservögel und
Wildpret an die Tempel in natura ablieferten. Hatte Lepsius aus
guten philologischen Gründen das pehu als die Teiche voll Wasser-
vögel gefasst, so beweist Herr de Rouge" aus einer Zusammenstel-
lung aller betreffenden Legenden, dass vom Uferland überhaupt die
Rede ist, wo zwar in Lagunen und Mooren das Ueberschweramungs-
wasser stehen blieb, ein ergiebiges Jagdrevier, »duftend von Lotus«
(pehu des Diospolites), wo aber auch Matten voll Kühe und Och-
sen und Heerden vou Kleinvieh (pehu des 9. Gaues) sich fanden.
Einen Blick in die Administration, schon der XII. Dyn. giebt die
Stele eines Beamten , Vorsteher des pehu des thinitischen Gau's,
welchem zugleich die Aufsicht über die Canäle von dem sechsten
(dem von Denderah) bis zum neunten anvertraut war. Ja ist es
nicht als bekomme man ein förmliches Kataster zu Gesicht, wen:i
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LiviuB von Ger lach. 17. B
621
neben einer Darstellung des Tbot mit einem Buch in der Hand zu
lesen ist: Ich gebe dir einen Band aus der Bibliothek deines Vaters.
Der Anfang dieses Buches heisst neben jener Figur also : Ich schaffe
die Gefilde Aegyptens, immer zu dauern vor Horns. Von Elepban-
tine bis zu den Gränzen des Meeres sind es 12,700 Aah (ein noch
unbekanntes Maass). Folgen ähnliche Maassbestimmungen. Denn:
Aegypten ist das Auge des Osiris; der Nil ist seine Pupille, die
zwei Gebirge von Ost und West seine Augenbraunen. Ferner : Der
Nil kommt her von Kerti (bei den Katarakten) zu seiner Zeit, er
bat bei Elephantine eine Höhe von 24 Ellen, drei Palmen in 24
Theilen. Es ist nichts weniger noch mehr. Wenn der Nil kommt,
so bewässert er das Land und erfüllt das Auge des Osiris mit den
Produkten, welche den Tisch des Horus bedecken, des Sohnes der
Isis u. s. w.
Der Forscher, welcher dieses antike Kartennetz nun zu den
16 Karten legt, welche, jede speciell nach den Angaben Eines
Schriftstellers : Herodot, Strabo, Plinius, Ptolemäus und den Kopten
Herr Parthey in den Abhandlungen der Berliner Akademie ver-
öffentlicht hat (1858), wird dankbar anerkennen, dass nun zur
Orientimng in dem alten Land der Finsterniss ein bedeutender
Schritt gethan worden ist.
Bern, im Juli. J. ZOndel.
Titus Livius Römische Geschichte. Deutsch von Frans Doro-
theus G er l ach , Professor an der Universität su Basel.
Siehensehntes Bandchen 42 — 45. Buch. Schluss. Stuttgart. Hoff-
7nannfsche Verlagsbuchhandlung. Iü67. S. 77 V — 1015 in 8.
Die früher erschienenen Bändchen dieser Uebersetzung des
Livius sind in diesen Blättern mehrfach besprochen worden, zuletzt
noch Jahrgang 1866. S. 224; um so mehr haben wir auch den
Schluss des Ganzen mit diesem siebenzehnten Bändchen in der
Kürze noch hier anzuzeigen. Dasselbe enthält den Rest der fünf-
ten Dekade vom zwei und vierzigsten Buche an, welches den Aus-
bruch des macedoniscben Krieges uns vorführt; dessen Ende mit
dem ftlnf und vierzigsten Buch, welches die Gefangennebmung des
macedoniscben Königs, den Triumph des Aemilius Paulus, die
römische Organisation des Landes u. 8. w. darstellt, gegeben ist.
Der Charakter der Uebersetzung in diesem wie in den drei folgen-
den Büchern ist sich gleich geblieben, iusofern der Sinn durchaus
getreu und genau wiedergegeben ist, und zwar in einer fliessenden
deutschen Sprache, die durchaus keinen Anstoss bietet und die
Härten des Livianischen Sprachgebrauches, den manchmal schwie-
rigen und gedrängten Periodenbau in dem gefalligen Fluss der
Rede kaum erkennen lässt. Mehrfache Proben sind bei den frühe-
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B22
Livius von G erlach. 17. B*
ren Besprechungen in diesen Blättern davon gegeben worden, ohne
dass es nötbig wäre, nochmals weitere Proben, aus diesem Bande
genommen, mitzutheilen. Auf die jedem Buche beigefügten Anmer-
kungen haben wir auch bei diesem Bande aufmerksam zu machen,
zumal sie meist allgemeine Verhältnisse der Livianischen Geschicht-
schreibung besprechen oder die Quellen, aus welchen die Erzählung
geflossen, in Betracht ziehen, oder endlich auch in die Behandlung
des lateinischen Textes eingeben, da wo derselbe kritisch unsicher,
verdorben oder lückenhaft ist, was bekanntlich gerade bei den
fünf letzten Büchern des Livius, die uns nur durch Eine Hand-
schrift tiberliefert sind, an nicht wenigen Stellen der Fall ist. Ein-
zelne Lücken des Textes sind, so weit es der Zusammenhang er-
. heischt, auch ausgefüllt mit der nothwendigen Ergänzung, die aber
in eckige Klammern eingeschlossen ist. Wenn der Kritiker des
Livianischen Textes darauf besondere Rücksicht zu nehmen hat, so
wird der Forscher der römischen Geschichte überhaupt in diesen
Anmerkungen Manches finden, was er bei der Beurtbeilung römi-
scher Staatsverbältnis6e, zunächst der römischen Politik, sowie in
Bezug auf die gesammte Lage des Staates wohl zu beachten hat.
Wir unterlassen es, davon im Einzelnen Belege zu geben, aber
eine allgemeine Bemerkung, zu welcher den Verf. die bekannte und
vielbesprochene Stelle des 13. Cap. Buch XL III veranlasst hat,
welche hier also wiedergegeben ist:
»Ich weiss gar wohl, dass zufolge derselben Gleichgültigkeit,
mit welcher man jetzt ganz allgemein glaubt, dass die Götter Nichts
andeuten, weder irgend welche Wunderzeichen für den Staat an-
gezeigt, noch in die Jahrbücher eingetragen wurden. Uebrigens
wird mein Gemüth, wenn ich von alten Dingen schreibe, alter-
tümlich gestimmt, und ich empfinde eine gewisse Scheu, das für
ungeeignet zu halten, in die Jahrbücher aufgenommen zu werden,
was jene sehr verständigen Männer von Seiten des Staates glaub-
ten beachten zu sollen«*),
wollen wir hier um so mehr berühren, als sie auf unsere Zeit be-
sondere Anwendung finden mag. Unser Verf. leitet nämlich seine
Besprechung dieser Stelle mit folgenden Worten ein:
»Hier spricht Livius in sehr bescheidener Form eine tiefe
Wahrheit aus, dass man nämlich jede Zeit und jede Begebenheit
in dem Sinne und dem Geiste darstellen soll, in welcher sie voll-
bracht war. Wenn also die damaligen Römer religiös waren und
eine beständige Einwirkung der Gottheit auf die menschlichen An-
*) Der lateinische Text, den wir zur Vergleichung beisetzen, lautet:
„Non Bum nescius ab eadem negligentia, qua nihil deos portendere vnlgo
nunc credant, neque nuntiari nulla prodigia in publicum neque in annales
referri. Caetenira et mihi vetustaa res scribenti nescio quo pacto antiquus
fit animus et qnaedam religio tenet, quae illl prudentissimi vir! publice
suscipienda censuerint, es pro indignis habere, quae in meos annales referam."
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Llvius von GerlAcJi. 17. B.
gelegenheiten annahmen, die sich durch Störungen in den Natur-
gesetzen kund that, so könnte docb nicht das Gegentheil behauptet
werden. Wenn eine spätere Zeit diese für irrtbttmlich erkannte,
so war diess eben eine verschiedene Auffassungsweise und Ueber-
zougnng, welche dieses Geschlecht beherrschte, das eben darum
von andern Triebfedern bestimmt wurde. Wer nun diese geistigen
Qrundsätze unter einander wirft oder gar nach seiner Subjectivität
rektificiren will, der sündigt eben gegen den Grundsatz der Ge-
schichte, die Wahrheit, und gibt eigen irrige, verkehrte Ansichten
über die Geschichte, welche den Zeiten, die er doch beschreiben
will, ganz fremd sind. Das ist Entstellung, Fälschung, ünwahr-
boit, aber nicht Geschichte« u. s. w.
Nicht minder Beachtung werden die allgemeinen Betrachtun-
gen finden, zu denen der Verfasser sich durch den Inhalt des fünf
und vierzigsten Buches veranlasst sieht; namentlich die gerechte
Würdigung des Verfahrens der Börner in der Behandlung des er-
oberten Landes, und die ganze von den Römern eingehaltene Poli-
tik. So heisst es unter andern S. 1005:
»Die neue Eintheilung von Makedonien (s. cap. 29) und die
gegebene Verfassung, so sehr sie gelobt wird, zeigt doch offenbar
eine gänzliche Verkennung der Eigentümlichkeit des makedoni-
schen Volkes, welches im Allgemeinen nichts weniger als republi-
kanisch, sondern durchaus königlich uud ein Militärstaat war. Auoh
die Verfolgungen der Männer, welche zu Perseus hinneigten und
deren Wegschleppung nach Italien beweisen, dass die Staatskunst
einer Bepublik noch viel argwöhnischer und schonungsloser sein
kann als die monarchischer Staaten. Durch eben dieselbe hat auch
das Schaukelsystem der Rbodier seine gerechte Bestrafung gefun-
den u. s. w. Wie sehr übrigens die ganze Weltlage durch die Be-
siegung der Makedonier verändert war, zeigt sich am deutlichsten
in der kriechenden Demuth der asiatischen Könige, welche von nun
N an nur noch als Vasallen des römischen Volkes ihre Existenz
fristeten.«
Was die eben erwähnte neue Eintheilung Makedoniens in vier
getrennte Gemeinwesen betrifft, so hat sich der Verf. darüber noch
eipmal S. 1007 f. in einer Bemerkung zu cap. 28 oder vielmehr
29, welches über diese Organisation berichtet, des Näheren ausge-
lassen; er findet sie wohl im Interesse der römischen Politik begrün-
det, aber darum noch nicht zweckmässig hinsichtlich der Zukunft.
Aemilius Paulus legte bei den vier Bezirken, in welche Makedonien
nun zerfiel, allerdings die Naturgränzen zu Grunde, indem er sie
durch Ströme von einander schied, ohne zu bedenken, dass Ströme
unpassende Schranken sind, da sie im Gegentheil zum gegenseitigen
Verkehr einladen. »Gerade nun dieses Unterbrechen des Verkehrs
und die Aufhebung aller verwandtschaftlichen Verbindungen, Ver-
bot des Kaufs und der Veräusseruug des Eigenthums, das Verbot
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524
The OdyaBey of Homer by H. Ha y man.
den Reichthum des Landes zu benutzen, das Untersagen des Berg-
baus und des Schiffbaus musste den Lebensnerv der neuen Repu-
bliken durchschneiden und weil es die freie Bewegung hinderte,
sie erst recht ihre staatliche Vernichtung fühlen lassen. — Was
sollte ihnen eine Freiheit, die sie weder zur Vermehrung materiel-
len Wohlstandes, noch für ihre politische Consolidirung benutzen
durften?« u. s. w. Als eine weitere Beigabe erscheint die Unter-
suchung über den Scipionenprocess S. 1010 ff., zum Theil wenig-
stens gegen eine unlängst im Herraes gegebene Ausführung gerich-
tet und bestimmt, das, was in diesem durch widersprechende An-
gaben der Alten verwickelten Process , als sicher und annehmbar
sich herausstellt, zu ermitteln. Und hiernach würde allerdings fest-
stehen, dass die Angriffe gegen die Scipionen, wie sie mit der von
den Petiliern gestellten Forderung einer Rechenschaftsablage über
die dreitausend von Antiochus abgelieferten Talente begannen, in
das Jahr 187 fallen, und dass die Anklagen durch die Verurthei-
lung des Lucius Scipio erledigt wurden. Das Jahr darnach sam-
melt das römische Volk Beisteuer, weil die Vorurtheilung unge-
recht erschien.
The Odyssey of Homer edited wifh marginal ref er ence, various
readings, notes and appendices by Henry Hayman B. D.
late fellow of St. John* 8 College Oxford, Headmaster of the
Cheltenham School etc. Vol. 1. Books I to V7. (Mit dem Motto :
trjv'Odvaoeiav, xalov av&QOTtivov ßCov xazontQOV Alcidamas
apud ArUtotel. lihet. HI, 3, 4). London. David Nutt, 270
Strand. 1866. CHI. 208 und CL S. in gr. 8.
Indem wir diese neue, nach einem grösseren Maasstab ange-
legte Ausgabe der Odyssee, oder vielmehr deren ersten Band hier
anzeigen, kann es nicht unsere Aufgabe sein, eine umfassende und
ausführliche, in alle Einzelheiten eingehende Kritik dieses Werkes
zu geben ; wohl aber dürfte, da wir jene Aufgabe den streng philolo-
gischen Zeitschriften zu tiberlassen haben, es zweckdienlich er-
scheinen, deutschen Lesern einen kurzen Bericht über Inhalt und
Bestand, so wie über die Tendenz dieser Ausgabe zu geben und
ihnen dadurch ein Urtheil über diese neue Erscheinung möglich zu
machen, welche sich den über Homer in der letzten Zeit in Eng-
land angestellten Forschungen und Uebersetznngon , welche zum
Theil von den ersten Staatsmännern dieses Landes (Gladstone,
Derby u. A.) ausgegangen sind, aureiht und insbesondere auch
das, was für die homerischen Gedichte in Deutschland geleistet
worden ist, zu beachten und zu benutzen bedacht ist.
Dem Texte der Odyssee vorangeht eine Preface, welche (Part.
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The Odyssey of Homer by H. Hayman.
526
I. General Views) zuerst in eine Erörterung Über Entstehung und
Beschaffenheit der homerischen Qedicbte eingeht und des Verfassers
Ansichten über diesen Punkt darlegt. Dass diese in keiner Weise
an die Wolf-Lacbraann' sehen Ansichten sich anschliessen, wird man
wohl schon im Voraus denken, da in England diese Ansichten
durchaus nicht den Eingang und die Verbreitung gefunden haben,
die ihnen auf deutschem Boden zu Theil geworden ist. Der Ver-
fasser, welcher die Entstehung der homerischen Gedichte um 1100
— 1000 v. Chr. ansetzt und ihre mündliche Fortpflanzung bis 700
— 600 n. Chr. fortführt, tritt vielmehr als ein strenger Vertreter
der Einheit der homerischen Gedichte auf, und sucht dieselbe durch
äussere wie innere Gründe in jeder Hinsicht darzuthun, manchmal
freilich auch in einer Weise, die selbst bei cien Vertretern dieser
Einheit in Deutschland kaum Eingang finden würde.
Part. II. des Vorworts (p. LVIIIff.) bespricht die Heraus-
geber und Erklärer des Homer im Alterthum ; die Aufzählung im
Einzelnen beginnt mit Zenodotus, den der Verf. als den eigent-
lichen Gründer der Alexandrinischen Schule von Kritikern betrach-
tet ; sie schliesst mit Tzetzes und Eustathius. Dann folgt Part. III,
ein Verzeichniss der Handschriften von der Odyssee mit deren
Scholien, eine verdienstliche Arbeit, bei der es dem Verf. in Folge
seiner von allen Orten her eingezogenen Erkundigungen möglich ge-
worden ist, alle einzelnen, bis jetzt irgend wie bekannt gewordenen
Handschriften der Odyssee zu verzeichnen, und bald mehr bald
minder ausführliche Nachrichten über dieselben mitzutheilen. (Be-
kanntlich bat unlängst J. La Roche eine ähnliche Zusammenstel-
lung homerischer Handschriften zu geben gesucht ; s. die homerische
Texteskritik S. 433 ff. insbesondere p. 479 ff. zur Odyssee). Von der
im Britischen Museum befindlichen Harlejanischen Pergamenthand-
schrift des dreizehnten Jahrhunderts Nr. 5674 ist ein Facsimile
als Probe beigefügt, eben so von einer Bodlej an i sehen zu Oxford
befindlichen Handschrift des eilften Jahrhunderts, welche blos die
Scholien enthält. Dann folgt Part. IV : the present edition p. XCII ff.,
es kommt hier eben so der Text, wie die beigefügte Erklärung,
also die ganze Behandlung in Betracht; von dem Text heisst es,
er sei basirt auf die Ausgaben von Becker, Bonn 1858, von Din-
dorf zu Loipzig 1852, von Fäsi Leipzig 1849, von Löwe 1828, von
Ernesti Leipzig 1824, von Wolf Leipzig 1807, die Oxforder Aus-
gabe von 1800, die von Barnes zu Cambridge. (In dieser Reihen-
folge werden diese Ausgaben genannt; Dindorfs vierte Ausgabe
vom Jahr 1855 (Ilias) und 1856 (Odyssee) scheint der Verf. eben
so wenig zu kennen, wie die Ausgabe der Odyssee von Ameis und
Anderes der Art); die Oxforder Ausgabe Dindorfs mit den ge-
sammelten Scholien zur Odyssee, heisst es dann weiter, ferner
Eustathius und der Commentar von Nitzsch seien beständig vor-
gelegen, sowohl bei Feststellung des Textes wie bei Abfassung der
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526 The Odyssey of Homer by H. Kay man.
Koten; aus der Oxforder Ausgabe von 1800, welche Porson's Ver-'
gleichung des Harlejanischen Codex 5674 mit Ernesti's Text von
1760 enthalte, seien die am Rande bemerkten Varianten meistens
ert nomine n. Neue handschriftliche Hilfsquellen standen nicht zu
Gebote; es erschien diess auch dem Herausgeber als Etwas, dem
nächsten Zweck seiner Ausgabe schon ferner liegendes : dieser Zweck
aber lief darauf hinaus, den Studirenden einen Text zu geben, der
auf die Ergebnisse der besten (the mostadvanced) Collationen ge-
stützt, so weit als nur möglich die Unvollkommenheiten und Man-
gel irgend einer Handschrift beseitigen würde; der Herausgeber
scheint weiter gehende Bemühungen lieber Andern überlassen zu
wollen, und hat sich über seine Behandlung des Textes nicht wei-
ter erklärt, auch über die Grundsätze, nach welchen bei Feststel-
lung des Textes verfahren Worden, gibt er nichts weiter an : erscheint
sich selbst nicht völlig klar über diesen Punkt gewesen zu sein,
zumal die Sorge für die Erklärung des Textes, was er als seine
Hauptaufgabe betrachtete, seine ganz Thätigkeit in Anspruch nahm,
so wenig auch eigentlich Beides von einander zn trennen ist, und
eine gute Erklärung eines Schriftstellers sich eben auf einen guten
d. h. richtigen Text, der kritisch nach sicheren Grundsätzen fest-
gestellt ist, stützen muss. Nur an zwei Stellen in diesen sechs
Büchern hat der Verf. eine Conjectur von sich in den Text gesetzt,
nämlich III, 33, wo er als richtige Schreibung ansieht: %Qia mnrwv
ro./J.a x hcsiQOV) während Ameis nach Bekker gibt xqbccx Stttcov
ü'/.Xar inugov, und xQtcaa, die einen Fleischstücke, akkct
xi und andere ganz befriedigend erklärt, so dass die hier vor-
geschlagene Aenderung weder nothwendig noch richtig erscheint.
Die andere Stello ist IV, 665, wo Wolfs ix xo<S<s<ov d* aixrjTt
verworfen und ix de toömv cdxvjtv gesetzt wird. Auch hier wird
man mit Bekker und Ameis lieber ix dh xocKSunttf aixrjxi u. s. w.
schreiben, und der von Ameis gegebenen Erklärung gern folgen.
Doch wir brechen ab, da das über die Texteskritik dieser neuen
Ausgabe Bemerkte genügen wird, um denjenigen; die mit der die
Texteskritik des Homer betreffenden Forschung der beiden letzten
Decennien näher bekannt sind, ein Urtheil über das hier Geleistete
möglich zu machen.
Was nun die weitere Ausstattung des Textes betrifft, so geht
jedem Buch ein (englisches) Inbaltsverzeicbniss oder Summary vor-
aus; an dem Rande des Textes sind die betreffenden Parallelstellen
aus den Gedichten des- Homers, der Ilias wie der Odyssee, mit
kleiner Schrift angegeben, dann unter dem Text zuerst die Les-
arten mit dem Digamma, und in einer andern Rubrik die Zu-
sammenstellung der bedeutenderen Abweichungen des Textes in den
benutzten Ausgaben; darunter stehen dann in doppelten Columneff
die erklärenden Anmerkungen, die sich über Sprachliches üttd Sach-
liches, über den Zusammenhang und Arideres; was' zum voileü' Vfer-
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The Odyssey öf Homer hy H. Ha y man.
657
ständniss nöthig ist, verbreiten. Auf diesen Tbeil der Arbeit bat
der Herausgeber besondere Sorgfalt verwendet, nnd wird dieselbe
auch englischen Studirenden wobl förderlich bei der Leetüre der
Odyssee sein können, zumal der Verf. im Ganzen mit der deutschen
gelehrten Forschung bekannt, von dieser vielfach Gebrauch ge-
macht hat, zur richtigen Auflassung einzelner Worte , wie ganzer
Verse; dass überhaupt der Verf. in der Art und Weise seiner Er-
klärung und in der Fassung seiner Anmerkungen, insbesondere sein
englisches Publikum berücksichtigt hat, wird aus manchen seiner
Bemerkungen ersichtlich. Die Bearbeitung der Odyssee von Ameis,
die in ihrer neuesten dritten Auflage gewiss zu dem gehört, was
deutschen Studirenden, welche gründlich die Odyssee studiren wol-
len, vorzugsweise zu empfehlen ist, scheint dor Verfasser nicht ge-
kannt, und daher auch nicht benutzt zu haben. Zu der Erklärung
gehören weiter noch die auf den Abdruck des Textes folgenden
und besonders paginirten Appendices, in welchen einzelne Punkte,
die eine umfassendere Behandlung erfordern, als sie in den Noten
gegeben werden konnte, behandelt werden, also eine Art von Ex-
cursen sprachlich-grammatischen, wie mythologisch-geographischen
und andern Inhalts. So enthält Appendix A. unter zwei und zwan-
zig Nummern die Erklärung einzelner Worte, die bei Homer vor-
kommen, wie ivvezs, oder wie ßovX^, ayopi}, itetiöot, xpifn??,
wobei auch andere auf Gefässe bezüglichen Ausdrücke erläutert
werden, avonata u. dgl. m., mitten darunter (Nr. 9) ist auch eine
längere Besprechung über den Gebrauch der Modi bei Homer. Auch
Appendix B. ist sprachlicher Art über den Gebrauch von alg,
daAaötfa, TtdXayog, scovtog bei Homer. Appendix C ist mytholo-
gisch und behandelt einige in dieses Gebiet einschlägige Fragen,
wie z. B. über die der Sonne geweiheten Schafe, über Hermes,
die Tritogeneia, Proteus u. s. w. Appendix C. behandelt in fünf-
zehn Nummern geographische Gegenstände, wie Aifrioitss, Ogygia,
Sparta, Pylus u. s. w., auch die Styx, wobei uns auffällt, dass von
den neuesten Forschungen und Beschreibungen dieser Lokalität
kein Gebrauch gemacht ist, und nur auf Leake verwiesen ist«
Appendix E, sehr umfassend, behandelt in siebenzig enggedruckten
Seiten »the leading characters« und zwar in Bezug auf die Ilias
wie die Odyssee. Die Hauptpersönlichkeiten beider Gedichte wer-
den hier nach einander vorgeführt, und zunächst auch vom ethi-
schen Standpunkt aus einer näheren Betrachtung und Würdigung
unterzogen. Odysseus, Penelope, Telemachus, Pallas Athene (aus**
fuhrlich, kürzer dann) Aegisthus, Antinous, Eurymachus, Menelaus;
(dieser ausführlich) und Helena. Appendix F, der von S. CVI bis
CLII reicht, bespricht in dem einen Tbeil das homerische Schiff und
dessen Bau, im andern den homerischen Pallast mit beigefügtem
Plan, in ausführlicher Weise und in die einzelnen Bestandtheile
des Hauses näher eingehend, auch mit Bezug auf die Erörterungen
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528
Aljurabach von Fi ekler.
von Rumpf über diesen Gegenstand, der allerdings Manches Be-
achtenswert he bietet.
Wir haben nur kurz den Gegenstand dieser in die Appendices
verlegten Untersuchungen angegeben , in welchen sich immerhin
Manches findet, was auch für deutsche Leser Beachtung verdienen
kann, während dem die ästhetisch - moralischen Betrachtungen in
der App. £ insbesondere auf englische Leser berechnet erscheinen,
welche auf die Behandlung derartiger Gegenstände, die vielleicht
bei uns etwas unterschätzt werden, mehr Werth legen. Die äussere
Ausstattung des Ganzen, das auf drei Bände berechnet ist, indem
der Verfasser die noch übrigen Gesänge in Folge der grösseren
Ausführlichkeit der Erklärungen in diesem Bande, in zwei Bände
zu bringen hofft, ist eine vorzügliche zu nennen; es fehlt auch
nicht an einigen artistischen Beigaben von Münzen u. dgl., ein
schönes Bild der Pallas nach einer Preisvase ist S. XLI der Appendd.
beigefügt.
Beiträgt sur Geschichte der ehemaligen Benedictiner- Abtei Alpin-
bach von C. B. A. Fickler. Mannheim. Buchdruckerei von
Heinrich Hogrefe. 1866.
Die kleine Schrift bringt allerdings einen recht werthvollen
Beitrag zur vaterländischen Geschichte und verdient daher alle
Beachtung. Ihr Gegenstand ist eine Stiftung aus dem Ende des
eilften Jahrhunderts, ausgegangen von dem Hause der Grafen von
Zollern ; dieselbe ist auch bald zu einer gewissen Bedeutung gelangt,
und hat auch nach der lieformatiou noch eine gewisse Selbst-
ständigkeit bewahrt, die erst mit diesem Jahrhundert ihr völliges
Ende erreicht hat. Der Verfasser führt uns die Geschichte dieser
Abtei an der Hand der Urkunden vor und zeichnet damit auch
die wechselvollen Schicksale , von denen sie im Laufe der Zeiten
betroffen wird ; er giebt dann noch nähere Nachricht über den
jetzigen Ort Aspirsbach, dessen erste Anlage mit der des Klosters
zusammenhängt und verbindet damit eine nähere Beschreibung der
noch vorhandenen Gebäulichkeiten des Klosters und seiner Kirche,
welche in mehr als einer Hinsicht gesehen zu werden verdient, da
der Bau in einigen noch vorhandenen Theilen bis in das zwölfte
Jahrhundert zurückgeht, während Anderes dem fünfzehnten Jahr-
hundert angehört, das Ganze aber gewiss einer uäheren Betrach-
tung würdig erscheint.
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Kr. 34. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
J. J. Ampere, U Empire romain ä Rome. Tome pr emier et aecond.
Paris 1867.
Der seit einigen Jahren verstorbene, berühmte französische
Geschichtscbreiber über Rom, J. J. Ampere, ist am bekanntesten
durch seine Histoire romaine ä Home, die im Jahr 1862 in vier
Bänden herausgekommen ist.*)
Es ist eine Huldigung an das Andenken, dass wir dieser Ge-
legenheit, über dieses Werk etwas Weniges nachzuholen, uns nicht
entziehon. Den Stoff desselben, die römische Geschichte von Romu~
lus bis znm Tode Cato's in Afrika hat der Verfasser durch einige
Studien Uber das ursprüngliche Rom (la Rome primitive) einge-
leitet. Boden und Bodenbescbaftenheit , Clima und Urbe wohner,
dichterische Traditionen über Rom , die Sabiner und Etrusker in
Rom vor Romulus sind die Gegenstände seiner Betrachtung. Je
remonterai, leitet er sie ein, encore plus haut, guand on devrait
m'accuser de ne pas m'arreter au deluge; ü platt ä mon imagi-
nalion, gui tfappuie sur les re'sultats de la science, tfapercevoir, ä
travers la distance des äges, la formation du sol eilebre Das
Capitel ist eine geologische Beschreibung, zur Illustrirung des Ver-
ses: Tantae molis erat Romanam condere — nicht geniemf son-
dern : ttrram ! Wahrscheinlich soll das aber keine Emendation der
berühmten Dichterstelle sein, sondern nur ein Beweis ihrer Ver-
wendbarkeit im Dienste der Wissenschaft. **) Es heisst sehr gründ-
lich zu Werke gehen, zn untersuchen, woher das Material komme,
woraus Rom seine stolzen Paläste in späterer Zeit entstehen sah,
der Tuff, Puzzolan, Travertin etc.
Nach diesem Capitel, welches die monumentale Geschichte
Roms anticipiren sollte, geht der Verf. zn dem der Entstehung
RonTs zunächst vorhergehenden Zeitalter über, welches die äussere
Erscheinung beschreibt, ein physikalisch - geographisches Capitel,
wiedergegeben, wie es sich der Einbildungskraft seines Malers vor-
gestellt hatte. Der Aventin, mit seinen Lorbeerbüschen, der Pa-
latin mit seinen Matten, die Eichenwälder des Cölius, und Gehölz
auf dem Esquilin, die Weiden des Viminal sind die Bestandteile
des landschaftlichen Bildes jener Urzeit. Wer zählt die Zahl der
Veränderungen, denen dasselbe durch Flüsse nnd Seen bis zn der
*) Er starb in der Nacht vom 26. auf den 27. März des Jahres I8Ö4.
**) Es gibt von Pentland eine Geology of Rome. (VgL den Guide of
Rome von Mnrray).
LIX. Jahrg. 7. Heft. 34
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680
Amp&ro: I/Empfre roraain a Rome.
Zeit unterworfen gewesen war, wo die Geschichte sich dieses Ge-
biet als Schauplatz aneignete. Les spectateurs manqubrenl aux pre-
miers aetes de et drame qui se jouait obscurtment hin du monde
grec, dam un coin recult du Latium, entre les monlagnes ei la mer.
Mais le jour arriva oä ce coin du monde en devint le centre, oü
It drame, en se continuant, commanda V attention universelle et forqa
lous les peuples ä le ngarder et ä y prendre pari.
Eine gründliche Untersuchung widmet der Verfasser der Ma-
laria, von der er glaublich macht, dass sie schon den Bemühun-
gen des Augustus, die Gesundheit der Stadt zu befördern, getrotzt
habe, Aus dem, was er Alles darüber (aus Nibby, Brocchi etc.)
beibringt, scheint hervorzugehen, dass sie in einer bestimmten Höhe
eine Luftregion bildet, die sich über der Stadt halt, zuweilen be-
lästigender, zuweilen weniger empfindbar.*)
Si Von cherche aüleurs Vinßuence qu'exerca sur cette destine'e
la Situation oü furent places ses commencements , on se trompera.
Cette Situation, de toute maniere, äait mauvaiset mais Vobstacle
fut Vaiguillon. Ainsi seulement on peui trouver une intenlion de la
Providence dans le choix du Heu pr6par6 pour etre le berceau du
peuple r omain, Ce berceau fut dur et pauvre comme celui de Ho-
rn ulus est comme lui envahi par les eaux. Cest en ce sens quyon
peut dire avec Tite-Live; Non sine consilio ad incrementum urbis
natum unice locum: Heu forme providentiellement pour l'agrandis-
sem&il de Rome.**)
Betrachtet der Verfasser bis jetzt den Boden, vor der Zeit
des Menschen , der ihn bewohnen sollte , so macht er im vierten
Capitel seinen Leser mit den Urbewohnern der beschriebenen Land-
schaft fSiculern, Ligurern) bekannt. Alle bisherige Beschreibung
berührte sich mit der Aufgabe der Geologen, qui, avec quelques
dt'bris, recomposenl une cre'alion tvanouie. Nunmehr tritt der Ver-
fasser von sich aus seine Aufgabe an, zunächst als Entzifferer von
Legenden, die noch Bornums vorher gehen. Er adoptirt für sie den
Ausdruck: Dämmernde Geschichte (Vhistoire ertpusculaire) , und
sieht sich für seine Consultationen an die Inspirationen der Philo-
sophen und Dichter gewiesen. Er hält die Siculer für die ersten
Bewohner (S. 89), denen er die Ligurer folgen lässt, einen Theil
der grossen iberischen Race, welche längst Spanien und Südgallieu
besass. Hier, sind sie der keltischen Race vorhergegangen. In den
Basken findet er die Reste jener Iberer wieder. S. 97. Die italie-
nischen Iberer (Ligurer) und die Basker hält er für Brüder; die
liguri8che Sprache war baskisoh: Differents noms de Heu dans la
*) Es ergibt sich aus Allem, dass nicht die Sümpfe, nicht die Abwesen-
heit des Baumwuchses, nicht die Feuchtigkeit, nicht die Menschenleere die
Ursache der Malaria sind. Er folgert aus dem Umstände, dass das Ghetto
eines von den Quartieren der Stadt ist, wo sie sich am schwächsten aeigt,
dass sie mit der Zunahme der Bevölkerung nachlasse.
**) Liv. V, 54.
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Ampere: L'Empire romain a Rome
631
Ligurie ont une radne qui se reirouve dans le basque, le nom mSme
de la nation est basque. Der Schluss daraus ist: on a parle bas-
que ou a peu pres, d Rome. Man wird dieses Faktum sonderbar
finden. Mais, beschwichtigt der Verfasser, Home est la ville oü Von
rencotilre tout et ou il ne faut s'etojiner de rien. S. 99.
Am Faden der Humboldt' sehen Untersuchungen*) verfolgt er
die Spuren der Ligurer ; er erklärt den Namen Esquilinus aus Esk
(Basken) und tlia (Stadt) = Wohnort der Ligurer; Argüeium ist
ein ligarisches Wort, u. s. w. Von den Ortsnamen wendet er sich
zu den sprachlichen Spuren, welche die Ligurer im Latein zurück-
liessen. Car un peuple ne passe jamais par un pays sans deposer
quelques inots dans la lanque de ce pays} comme un voyageur laisse,
en partant, un souvenir ä eeux qui Vont re$u. Die Frage, ob es
lateinische Worte ligurischen (iberischen) Ursprungs gebe, und ob
man Analoga im Baskischen vorfinde, beantwortet er mit einer
Keine frappanter Resultate. S. 105.
Die Aborigines und die Pelasger hält er für zwei verschiedene
Racen, die aber später und jünger als Ligurer sind. Den Abori-
ginern gibt er einen sabinischen Ursprung (S. 111); die Pelasger
sind die Hellenen der Vorzeit. Er weist die etymologische Ver-
flüchtigung des Namens Aborigines ab, und behauptet das ehe-
malige Vorhandensein dieser Völkerschaft in der Gegend von Reate,
und in der Zeit vor den Pelasgorn. Sie haben die Siculer und
die Ligurer vom Septimontium vertrieben. Sie, die Aborigines er-
kennt er in den Sacrani bei Dionysius von Halicarnass. **) An
Ver sacrum knüpft er den Anlass, welcher zu einer Verbindung
der Pelasger mit den Aborigines führte.
Der Spuren der Pelasger findet er viele in Ortsnamen (Vela-
brum, Velia, Roma etc.). Es gab nach ihm eine Roma quadrala,
aber von geringerem Umfange, schon vor der Romuluschen S. 118.
Die pelasgische Roma quadrala befand sich auf der Westseite des
Palatin, sie bezeichnete Rom in seinem embryohaften Zustande,
um mich eines Ausdrucks des Verfassers zu bedienen. S. 121.
Es würde zu weit führen, dem Verfasser in alle Details zu
folgen, und mit ihm die polasgischen Spuren zu revidiren, wie er
das im sechsten Capitel unternimmt. Eine Spur der Pelasger findet
er noch heute vor in dem Glauben dor Römer an den bösen Blick.
S. 149.
// n'est pas ttonnant que la puissance de nuire par le regard
aü ete aüribuie ä cette race qu'on disail maudiU. Peut-elre les
Päasges eux-mimes ont-ils adopte et propage une croyance qui les
rendait formidablts.
Kurz, ainai, d Rome le passe' le plus lointain touche au präsent,
*) Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner HLspanienB, ver-
mittelt der Vaaklschen Sprache.
**) Dlonye. I, 16.
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Am p Are: I/Empire romain & Rome.
ce qui a vicu trenle sieele vü encore , une super stition populaire
qu'on peut rencontrtr chaque jour dans les rues et mime dans les
salons de Rome est plus ancienne que Home elle-mime.
Immer heller steigt der Morgen herauf; aber deutlich sehen
kann man immer noch nicht. Sagen, deren Bedeutung den Ver-
fasser, S. 152 ff., beschäftigt, umgeben die ersten Ansiedlungen auf
dem Palatinus (Evander), dem Aventinus (Kakos), dem Capitolinus
(Herkules). Er nennt sie die hypothetische Geschichte, welche mit
den Pelasgern schliesst, und der Platz gehört nunmehr der Fabel,
deren Hauptvertreter Virgil ist. Er eröffnet die Behandlung der
troischen Fabel mit dem ersten Zweifel, dass Aeneas nach Italien
gekommen sei, obwohl diese Meinung dem Stolz der vornehmen
römischen Familien ehemals so sehr schmeichelte, besonders dem
Stolze Cäsar's, der sich derselben bediente, pour itablir la tyrannie
par la It'gitimüe. S. 187. Er weist nach, dass eine derartige Sage
der Stütze in der alten griechischen Poesie entbehre, die durch
Homer selbst dem Aeneas ewige Herrschaft über die Trojaner ge-
weissagt habe (II. XX, 307). Est die spätere griechische Poesie
(Stesichoros) lässt den Aeneas nach Italien fahren. Die Geschicht-
schreibung (Kallias, Timäos) hat freilich dieser Phantasie den
Schein des Rechtes gegeben. Ampere erklärt die Tradition aus der
Vermongung gewisser gleichlautender Namen (z. B. Anna Perenna
und Anna, der Schwester Di du 's).
Wenn man versicherte qu*Enie avait rapporU de Troie, avec
la atatue de la Pallas greeque qu'on appela le Falladium, les Pt-
nates, dieux du foyer romain, so erkennt man darin nichts weiter,
als den Anspruch, der Träger der Cultur von Anfang gewesen zu
sein.
Das Capitel zeichnet sich durch ein geschicktes Zurücküber-
setzen der condensirten Sage in die lebendige Sprache der Ein-
drücke durch Natur und Gegend, die der Einwanderer (Aeneas ist
als ein X zu betrachten) durch den Einwohner sich erklären liess.
Dans notre laborieuse exploration d'une epoque tenibreuse et ä
peu prts inconnue — der Verfasser hat das Gefühl davon, wir er-
zeigen ihm dafür unsere Anerkennung durch das Lob der Aus-
dauer — nous avons eu la fortune de renconlrer sur notre chemin
la poesie de Virgile. Aber vom neunten Kapitel ab, weder mehr
histoire cr&pusculaire, noch histoire hypothetique — Nous aüons re-
venir aux tätonnemenls de t histoire conjeclurale ; ü faul nous y
risigner pour achever cette priface aventureuse, mais
je ne crois pas imaginaire, des annales romaines.
Der Verf. befindet sich unmittelbar vor Bomulus. Mit den
Pelasgern sehen wir sich die Sabiner, deren Gebiet bis nach Rom
reichte, vereinigen, eine Vereiuigung, deren Resultat nicht weniger
wichtig befunden werden kann, als die etruskische Niederlassung
auf dem Capitolinus. Begreiflich, wie beide Racen, als Rom ent-
stand, etwas Fertiges mitbrachten. Uebrigens gab es neun Rome
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Ampere: L'Empire romain & Rome
538
vor dem definitiven Rom. Der Verfasser zählt ihre Namen auf
(S. 262).
Den Rest des Bandes bilden die Könige Romulus, S. 264 ff.,
Numa, S. 853 ff. und Tnllus Hostilins, S. 442 ff. Eingeschoben ist
ein historischer Gang in das sabinische Rom zur Zeit des Numa
(S. 891 ff.)
Wir übergehen dieses, und ebenso überblicken wir flüchtig
die folgenden Bände, wovon der zweite die späteren Könige
Ancus, Tarquinius L, Servius Tullius, und den zweiten Tarquinius
enthält. Eingeschoben ist eine Untersuch nng des Einflusses der
Etrusker auf Rom (La Rome itrusque), ein in antiqnarischer Hin-
sicht sehr lehrreiches Capitel. Das Uebergewicht Rom's über die
Nachbarstädte , welches sich unter Servias unleugbar behauptete,
erklärt der Verfasser aus der Racenvermisohung, welche das Wesen
der römischen Bevölkerung bildete. Cest mime, je crois, la seule
expliealion qu*on puisse donner de la mperioriti de Rome sur les
villes voisines, qui lui e'taient pareilles dam les commevcements. Elle
leur devint suptrieure , parceque, au Heu <VHre comme elles une
seule ville, eile fut plusieurs villes. 8. 116.
Wir sollten uns bei der Servianischen Gesetzgebung aufhalten,
welche die Bestimmung hatte, das aristokratische (sabinische)
Element und das plebeische (latinische) zu amalgaroiren, wir soll-
ten die Localtribus, die Classen, das Censusprincip, das Eigenthum
als Grundlage und Massstab der politischen Bedeutung, erörtern.
Aber es gentige, auf den Eingang des achtzehnten Capitels hie-
durch aufmerksam gemacht zu haben. S. 117.
Den ferneren Inhalt des zweiten Bandes zeigen wir durch die
Ueberschriften an: Befreiungskrieg, politische Orte in Rom, An-
fang der Republik (de la UberU), Cincinnatus, die Decemvirn, erste
auswärtige Kriege (Einnahme von Veji), die Gallier.
Von den Galliern wurde Rom durch seine Malaria befreiet.
S. 551.
Der dritte Band setzt die Kriegsgeschichte fort , und zu-
gleich die Geschichte der Republik.
Die Samniterkriege , und Pyrrhus sind der Gegenstand des
siebenten Capitel, 8. 1 ff. Die punischen Kriege folgen im achten
Capitel, 8. 5 9 ff. Mit dem neunten, worin der Verfasser den Ver-
lauf der Kriege in Griechenland und im Orient erzählt, sohliesst
die erste Hälfte des Bandes.
Die andere beschäftigt sich mit Griechenland in Rom , d. h.
mit der griechischen Kunst; eigentlich sind diese Capitel Excurse,
denn sie könnten separirt existiren. Sie sind eine Vorbereitung auf
das letzte Capitel im Bande, das sie natürlich mit unfehlbarer
Competenz erläutern, auf das Capitel Spoliations et eolleeixons , ein
grosses Register von Raub und Plünderung griechischer Denkmäler
in allen den Gegenden, wohin griechische Cultur gedrungen war.
Hierbei drängt sich der Betrachtung der Gedanke an den Gogen-
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534
Ampere: L'Empirc roraata k Rome.
satz zwisohen dem erbauenden und dem zerstörenden Volke auf, dem
Volke, das die Bestimmung hatte nur politisch als Nation, als Cultur-
princip aber universell der Geschichte der Nachwelt zu prüsidiren,
und dem Römervolke, das darauf ausging, sich politisch auszudehnen,
und diese Cultur sich zu verbinden. Griechische Kunstwerke gab
es überall. Quand on ressuscite Home par la pensee, il faut di&lrir
buer tous ce» chefs-d'oeuvre dam la eile gu'ils remplissaient, dans
les Umple» , les portiques, les maisons, oft nous les avons replacts,
alors o?i a h speciach complei de la Grece ü Rome, el par ce
spectaele on acquieri 1c »entiment de ce que Rome, en taut genre,
a recu de la Grece. S. 619.
Die hier begonnene Erörterung wirkt noch in den ersten bei-
den Capiteln auf den vierten Baud herüber. Natürlich, man wird
fragen, was die Römer selbst in der Kunst geleistet haben? Die
Antwort gibt das dreizehnte Capitel , S. 1 ff Wieder treffen
wir mit dem Resultate lehrreichen Eindringens in die Alterthümer,
ein Capitel gleich hier: IjU Tombeaux romains, S. 137 ff. Dort
wird zuerst der Vorläuferschaft der etrurischen Kunst, dann der
griechischen selbst nach der Zeit ihrer Einführung und der Ver-
tretung in Monumenten gedacht, recht ein Capitel für den Verf.,
der den Monumenten einen so hohen Rang bei der Geschichtschrei-
bung einräumt (vgl. S. 260). Die Circi, Theater, Amphitheater,
Triumphbogen und Basiliken werden besprochen, dann S. 109 die
Vasenbilder (graphiti), forner die Malerei, S. 111, zuletzt das Mo-
saik, ein Complement derselben, S. 128 ff.
Hier, in dem Capitel von den römischen Gräbern wird das
Grab in seinen verschiedenen Epochen betrachtet, von der primi-
tiven Form des Tumulus angefangen , wovon es aber keine Bei-
spiele gibt. Der nächste Schritt war die Pyramide (nach Art der
egyptiseben, z. B. die Pyramide des Cestius aus der Zeit Cäsar's).
Die letzte Form des Grabhügel war das Mausoleum, eine nach dem
Könige von Carien Mausolos gebildete Bezeichnung, vorhandon in
Monumenten des Augustus und Hadrian.
Die Todtonkammern in den Gräbern an der appiseben Strasse
waren Nachahmungen der Kammern , welche man früher in den
natürlichen oder künstlichen Hügel grub. Endlich, als die Zahl
der Nischen and Urnen sich immer vermehrte, entstand das Co-
lumbarium. Die Bauart der römischen Gräber war ursprünglich
etruskiscb, S. 143, und vergegenwärtigte mehr die Idee der Woh-
nung nach dem Tode. 8. 149. Hieran knüpft der Verfasser eine
Betrachtung über Grabrcliefs, und eine Erklärung der typischen
Bilder, die sich nicht blos mit der Mythologie, sondern auch mit der
Geschichte der Mysterion sehr nahe berühren. Zum Schlüsse kommt
er noch darauf zurück, aulässlich der Vasenbilder von Palästina.
Man findet darauf kleine Figuren, das Messer in der einen, einen
Körper in der anderen Hand, der nicht ein Leichnam ist. Elle
consistait peut-etre ä paraitrt vouloir mätre ä mort VinUU pour
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Amp6re: L'Empire romain k Rome.
686
eprouver son courage; mais cela meme est bien douteux, et Je voile
qui entourait Vadmission aux mysleres ne aaurait ctre soulevt par
Vi in dt des sarcophages romains»
Sie enthalten unbestreitbar Anspielungen auf die Mysterien
und enthüllen den Sinn der meisten darauf bezüglichen Symbole.
Steigen wir zur Oberwelt der Geschichte wieder hinauf.
Der Verfasser ist mit dem fünfzehnten Capitel, d. h. S. 259,
zum Anfange des sechsten Jahrhunderts Rom's gelangt. Es ist
überschrieben: Caton ei les Oracques. Er gruppirt die römische
Geschichte schon jetzt um gewisse Persönlichkeiten. Ganz recht!
Die Gracchen imprägniren die Zeit mit dem Streben nach einer
Umwandlung der Gesellschaft zu Gunsten der Selbstständigkeit der
woniger vermögenden Classen. Die Gracchen stehen auf der Grenze
zwischen einer alten Anschauung, und einem neuen Geist. Seit
Marius lag Rom im Todeskampfe, es handelte sich um die Frei-
heit der Vorfassung. In Cäsar ging sie unter.
Avant que cetie agonie ait commenci ä Marius pour flnir ä
Cisar, deux type» se prisentent: — Vun, des hommes qui embrassent
le passe0 sans pouvoir le ranimer: c'est Caton le Censeur ; — Vautre,
de ceux qui s'efjorcent, hilasl en vain de fonder Vavenir: ee sont
le» Qracques, S. 261. So leitet der Verfasser seine Schilderung
Cato's ein, des alten Ccnsor's, der die Zerstörung Carthago's wollte,
eines stolzen, und ebenso kurzsichtigen Staatsmannes: Venergie de
Caton, so schliesst der Verfasser, itait dirigie (out entiere vers la
resurrection d'un Hat de choses qui riitcnt plus et ne pouvaü re-
naitre.
Die Nothwendigkeit einer Erscheinung, wie das ßrüderpaar
der Gracchen erklärt er aus dem Bedürfniss neuer Elemente in der
alten Ordnung, um ihr neues Leben zu geben. S. 272 ff.
War Cato ein Sabiner, so findet er, Gracchus ist eiu Aequer :
Peut-Ure est-ee ä la suite du triomphe obtenu au mUieu du cin-
q/tieme, ä Voecasion avune vietoire definitive sur les Aeques par un
Sempronius que les Qracchi, venu* ä Rome, furent incorporis dam
la gens Sempronia. Der hier angedeutete Triumph über die Aequer
war der des P. Sempronius Sophus (450). Der erste Gracchus,
dessen die römische Geschichte gedenkt, warConsul 516. Gracchen
und Scipionen gehen einander zur Seite, aber sie sind völlig ver-
schieden durch die Gesinnung, S. 279. Die Scipionen ausgezeich-
net durch ihren Patriciorstolz , die Gracchen durch ihre Liebe zur
Sache der Demokratie. Et c'est aux Gracques qu'on a donni le
nom de factieux. Der Verfasser verwahrt sioh gegen eine Verglei-
chung ihres Vorhabens mit den Projekten Baboeufs; wohl gestat-
tet er die Anwendung der Proudhon'schen Parole auf die Engher-
zigkeit der besitzenden Patricier gegenüber den des Grundbesitzes
entbehrenden Armen. Das Besitzrecht war auf dem Wege ein
Eigenthumstitel zu werden; die Reichen machten es wie der, wel-
cher Geld für sein erklären würde, was man ihm geliehen. Diesem
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586
Ampere: I/Empire t omain k ttome.
Znstande oder vielmehr Missatande waren die Gracchen entschlos-
sen abzuhelfen. Der Verfasser lässt Plutaroh reden, und knüpft
daran an S. 283. Mit ausführlicher Anschaulichkeit führt er die
Auftritte zwischen Tiberius und Octavius, und später zwischen sei-
nem jüngeren Bruder, der gleichfalls Tribun war, und seinem Geg-
ner Li vi us Drusus vor. Bekanntlich waren die Hauptpropositionen
des Tiberius gerechtere Aeckervertheilung und Reparation der per-
gameniscben Erbschaft S. 292; die Proposition des Caius ausser
der Erneuerung des Ackergesetzes noch die Verleihung des Bürger-
rechts an die Italier, S. 807. On peut le considerer comme le pre-
mier prlcurscur de Vunite italienne; il voulait rialiser d'avance le
voeu que formait plus tard Virgile:
Sit romana potens itala virtute propago.
Ein besonderes Augenmerk hatte Caius auf die Verbesserung
der LandstrasBen , zur Erleichterung der Beziehungen unter jenen
Völkerschaften ; er gilt für den Urheber der Meilensteine an den
Römerstrassen. Auch nahm er Theil an dem Ausbau der appischen
Strasse. Diese Mittel, sich populär zu machen, war für die Senats-
partei Anlässe der Gegenanstrongnngen. Man kennt sein Ende auf
dem Aventin, und den Untergang vieler Tansende mit ihm. Sein
Haupt wurde, gemäss dem Versprechen des Consuls (Opimius), mit
Gold aufgewogen. Vhisioire ne dit pas que, mnlgre' la supercherie
employie, le consul ait marchande sur le prix: mais il ne permit
pas qu'un tombeau füt flevt au petit-fils de Scipion VAfricain. Die-
ser Consul verewigte seinen (d. h. der Aristokraten) Triumph durch
einen Tempel und eine Basilika. Die Basiliken kamen damals in
Aufnahme, üebrigens liess er sich später durch Jugurtha bestehen, und
wurde deshalb aus Rom verbannt. On eprouve quelque plaisir ä
ptmer que la fin d'un tel homme fut honteuse ei triste, et ä lire
dans Ciciron qu'autant sa basilique tiait frtquenlie ä Rome, aulant
en Epire sa tombe Mail abandonnie (pro Sest. 67). S. 323.
Trotz seiner Sympathien für jene beiden edlen Schlachtopfer,
hat er sich ihre Fehler nicht verhehlt. Er würdigt kurz noch ein-
mal den wahren Sachverhalt in ihrem Unternehmen. Iis voulaieni
prevenir par une transaction /quitable le ronflict qui allait s'ilercr
entre la pauvretl du grand nombre^ augmenUe par des envahisse~
ments ilUgaux sur la proprio/, et la richesse de quelques-uns, im-
moderement accrue par une flagrante iniquiti. Die Mutter über-
lebte ihre Söhne; aber sie verliess Rom und verlebte den Rest
ihrer Lebenszeit auf einer Villa bei Linternum. S. 328.
Das f siebenzchnte) Capitel, welches von Marius und Sulla han-
deln soll, leitet der Verf. mit einem Citat aus Mirabean's Reden
ein: Qu and Caius Gracchus, a dit Mirabeau, tomba sous le fer
des patriciens, ü ramassa une poignfe de poussiere teinie de son
sang et la lanra vers le ciel; de eette poussiere n'aquit
Marius: Die Begründung der Wahrheit die hierin liege, mussieb
noch wörtlich entlehnen : Les patriciens riavaitnt rien voviu Uder
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Ampere: LTSmpire rommin k Rome.
537
aux Gracques et ils furent de'cime's par Marius. La lutie
changea de nature, On ne ne combattit phis seulement avec des
loiftf tnais encore avec des proscriptions.
Er verfolgt die Herkunft, die Thaten n. 8. w. dieses fleisch-
gowordcnen Demokraten, was natürlich nicht ohne Hereinziehnng
des jngurthinischsn nnd des Oimbernkrieges , zuletzt des Bürger-
krieges geht. Der Tod des Tiberius Gracchus war, nach des Va-
lerius Maximus Ausdruck*), der Anfang des Bürgerblutes gewesen.
Zwischen Marius und Sulla wurde dessen reichlich vergossen , und
nicht einmal siegte die Aristokratie ; ja sie gab, indem sie von der
Regel abwich und die Dictatur für längere Zeit verfügte, das Sig-
nal, welches die Zukunft in ihren Umrissen anzeigte.**)
Wir ziehen aus diesem Capitel nur die Polgerungen für die
Projekte Catilina's. Man muss sich vorstellen, dass der Bürger-
krieg viele Familien ruinirt hatte. Daraus schliesst man weiter,
dass die Zahl der Ruinirten nicht gering war, ein adliger Paupe-
rismus, dem es an einem Haupte fehlt, bis sich ein solches in Ca-
tilina fand.
Nicht diesen, aber einen Cäsar hatte der politische Blick
Sulla' s geahnt, aber selbst den Letzteren nur als bessere Copie des
Marius. Wichtig an dieser Stelle wäre die Ansicht Ampere's von
der Verfassung Sulla's zu hören. Aber er selbst hat nicht eine
tiefe Zergliederung gegeben ; daher will ich die Motive beleuchten,
die Ampere der Abdankung Sulla's unterschiebt, oder vielmehr das
Motiv: // jugea la re* forme de Ja socie'tS romaine par Varistocratie
impossible et ü abdiqua. S. 898. Mit diesen Worten rechtfertigte
er den Marius, und erklärte prophetisch das Bedtirfniss eines Man-
nes wie Cäsar.
Uebrigens versöhnte er durch den Wiederaufbau des Tempels
des Jupiter Capitolinus, welcher so sehr seinem Stolz schmeichelte,
doch zuletzt nicht die Gerechtigkeit, und, wenn auch die Einwoh-
ner Roms nicht die Freude hatten, das Gericht Gottes an ihm sich
vollziehen zu sehen , gut a pour les oppresseurs de la liberte' des
peines infamantes, so gilt es Ampere doch nicht für weniger wahr,
dass er wirklich an der Krankheit gestorben, welche man sich be-
müht hat, für eine Erdichtung auszugeben. S. 402. Die die Ver-
brennung seines Leichnams begleitenden Umstände sollten das Werk
der Gerechtigkeit ergänzen. Zuerst ein Wind, der die Flamme des
Holzstosses anfachte, dann der Regen Les ennemis purent tirer
de eette pluie un prisage: eile lavait le sang verse par Sylla et son
otuwre Mail noy/e sans retour.
Auf einem Umwege, ähnlich demjenigen, auf welchen der Kai-
ser Napoleon TIT. zu seiner eigentlichen Geschichte Cäsar's kam,
*) Initium in Roma civilis sanguinis, Val. Maxim. II, 3, 3.
**) Vgl. unsere Anzeige über Napolion III., Histoire de Jules Cesar In
den Jahrbb. 1866. No. 47.
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538
Ampere: L'Empire romain a Rome.
aber geleitet dnrch den, wie wir glauben, berechtigten Grund, das
Andenken an diese grosse Arbeit des verstorbenen Akademikers
aufzufrischen, kommen wir erst auf den Gegenstand unserer Anzeige.
Die letzten Capitel dieses vierton Bandes leiten dazu hinüber.
Sie sind eine Vorbereitung auf das nachgelassene Werk des Ver-
fassers über das römische Kaiserreich. Pompee, Oiceron, Ce'sar
lautet die Ueberschrift des vorletzten, 8. 405.
Pompeius und Cäsar, zwei sich nicht gleiche, und doch ge-
schichtlich unzertrennliche Menschen, setzen die politische Bolle des
Sulla und Marius fort. Pompeius ist sabellischer Abkunft (S. 407),
Ce'sar sorlait <Tune race antiqut et, et qui est trts rare pour des
famiUes romaines, d'vne race latine, S. 470*), dazwischen Cicero,
ein Landsmann des Marius, mithin von sabellischer Abkunft, nicht
fähig die Gegensatze, wie jene beiden Männer darstellten, auszu-
gleichen, weil kein Charakter. Als junger Mann interessant durch
seine Bildungsgeschichte**), schwächt er als älterer Mann durch
seine schwankende Haltung unsere Theilnahme für ihn. Am Ende
dieses Capitels ist Cäsar erst Prätor; Pompeius und Ciceron sind
mithin die Hauptgegenstände. A cdte de Pompte, qui, (Tabord,
tient Je premier rann, parait Ciclron qui joue le premier role, mais
Ciciron sera bientot effact, et Pompee disparaUra devant Ce'sar, so
kündigt er den geschichtlichen Verlauf an, den er in diesem Ca-
pitel erzählt, und der Verlauf selbst bestätigt diese Ankündigung.
Wir müssen weiter; die kriegerischen Erfolge des Pompeius,
die rednerischen Cicero's sind in den Zusammenhang der römischen
Geschichte verwebt.
Als Prätor verfiel Cäsar der Anklage, in die Verschwörung
des Catilina verwickelt gewesen zu sein, S. 484. Der Senat wollte
Cäsar absetzen, er kam zuvor, entledigte sich der Abzeichen, und
eilte schleunigst in seine Wohnung, welche zwei Schritte entfernt
war. Das Volk sammelte sich vor seinem Hause (in der Subura)
und bot ihm seine Hülfe an. Inzwischen hatte den Senat die Nach-
richt von der gewandten und edelmtithigen Haltung Cäsar's bereits
entwaffnet. Das Volk sah die ersten Persönlichkeiten aus dem
Senate über das Forum gehen, um Cäsar zu danken, und ihn ein-
zuladen, seinen Platz unter ihnen wieder einzunehmen, und seinen
Titel als Prätor zu behalten.
Cäsar, immer Herr über sich selbst, liess sich doch eines Tages
in seiner Zornaufwallung hinreissen, Juba dem König des mauri-
schen Reiches, der einen anderen afrikanischen Fürsten und Freund
Cäsars vor Letzterem anklagte, in den Bart zu greifen. Celle m-
vaeiU de Ce'sar, sagt der Verf. , ne ful peul etre pas oublU'e plus
tard, lorsque Juba le combattil, aüU en Afrique aux debris du
parti de Pompee.
•) Interessant Ist, was Ampere über seine Büste bomerkt, S. 468 ff.
•*) Vgl. Dial. de oral. 30.
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Ampere: I/Empire romain k Romc.
Di© Gewandtheit seiner Manoeuvres als Prätor nnd Sachwalter
hatte CHsarn populärer gemacht als alle Siege und Eroberungen
den Pompeius. Zwischen ihnen fehlte der Mann, ßie zu vereinigen.
Casar selbst gab den Kitt her, aber, um den Einen auszunutzen,
wahrend er dem Anderen schmeichelte. Seine politische Gewandt-
heit führte das erste Triumvirat herbei, ein dreihäuptiges Unge-
heuer, nach Varro's Ausdruck, eine für die Freiheit unheilvolle
Ooalition dreier Ehrgeizigen.
Das folgende und letzte Gapitel kann daher keine
andere Ueberschrift tragen, als Fin de la HbtriL Es ist auffallend,
Ampere führt aus Dio Cassius*) Vorzeichen an, welche Rom das
Jahr 60 als unheilvoll ankündigten. Ein plötzliches Sturmwetter,
welches sich über der Stadt und der Umgegend entlud , Bäume
entwurzelte, Städte zerstörte, Schiffe in der Tiber versenkte, die
Pfahlbrücke fortschleuderte, und ein hölzernes Theater zertrüm-
merte, und viele Zuschauer unter seinen Trümmern begrub.
Bei Cicero, der fortfahrt Gegenstand des Verf. zu sein, ist
natürlich die erste Frage, ob er auf der Seite steht, wo Theodor
Mommson, oder auf der, wo Forsyth, Boissier, Gerlach u. A.?
Er lehrt uns Eingangs, Cicero wieder als einfachen Bürgor
kennen, wie er sich von Neuem der Rednerbühne als Sachwalter
widmet. Er datirt von seiner Rede für P. Sulla, das Aufhören der
politischen Rolle in Cicero's öffentlicher Thätigkeit: Ptfmlre du
sentit» ent de sa faiblesse, ü se re'siqne avec amertume a plier sous
Cesar et Pompte. Der Rede für Archias legt der Verf. eine Ten-
denz unter zur Begründung seinev eigenen Behauptung: En vain
efforQait-ü dt se passer de leur appui en gagnant la faveur de
plusieurs homm.es d'une importance secondaire parmi la noblesse.
S. 492. In der Verteidigung des Sestius findet Ampere eine
Selbstverteidigung Cicero's. Mindestens war es Noblesse für
Noblesse. Denn Sestius hatte auf Cicero's Zurtickbe rufung gedrun-
gen. Zugleich sieht Ampere in seiner Verteidigung eine indirecte
Verurtheilung gegen die falsche Popularität. S. 493. Die ihm un-
glaublich vorkommende Rede gegen Vatinius deutet or als eine
verhüllte Demonstration gegen Cäsar, „mis hora de cause au
moyen d'une pre'caution oratoire gui ne pouvait le tromper ; car
Oceron reproehait d Vancien tribun les mauvais traitements subia
par Bibulus Vinforiunt collegue de CSsar , traitements que celui-ci
avait atdorise's de $a pre'sence et certainement encouragfs. S. 495.
Mit Cicero ist Ampere fertig. Im Begriff seinen Cäsar kennen
zu lernen, müssen wir wieder fragen , ob er auf der Seite derer
steht, die Cäsar verurtheilen (Montesquieu, Lamartino, Rogeard)
oder derer, die ihn vorherrlichen (Moramsen, Napoleon III.) ?
Noch steht es uns bevor, die acht Jahre Lebensgeschichte
während seines Proconsulats in beiden Gallien kennen zu lernen.
*) XXVII, 68.
«
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640
Ampere: I/Empire romain k Rome.
Ferner würde es interessant sein, eingehend das vierte Buch über
die Geschichte des Cäsar's von Napoleon*) mit Arapere's Darstel-
lung zu vergleichen.
Aber es würde beides zu weit führen , und beschränken wir
uns einerseits hervorzuheben , dass der Standpunkt dieser beiden
Schriftsteller verschieden ist, wie wir das aus einigen Anlässen
belegen werden. Andererseits können wir nicht umhin, das Streben
des Kaisers, eine Parallele zwischen den Bonaparte und den Juliern
zu ziehen, als das grösste Unglück dieses Werkes zu bezeichnen,
das ihm für immer anhaften wird.
Es ist unleugbar, Parallelen bestehen zwischen diesen Fami-
lien, insbesondere zwischen den Häuptern derselben (Julius Cäsar
und Napoleon I ). Nur nicht er selbst sollte glauben formuliren zu
müssen. Die Objectivität der Wahrheit hat nur einmal sich in
Person der Welt gegenttbersetzen dürfen, weil sie nicht durch die
Partei gehoben und getragen wurde. Das war Jesus Christus.
Alles üebrige ist durch Relation motivirt. und mag besser in Unter-
ordnung unter die Vorsehung sich der Versuchung erwehren, den
Schein von Parallelen als Wahrheitsbesitz zu beanspruchen.
Die Napoleoniden nehmen durch den Rückgang auf die Pa-
rallele mit dem Imperium der Cäsaren ebensowenig den Glauben
der Gesellschaft lür sich gefangen , wie Jul. Cäsar selbst durch
seine Berufung auf die Venns, als die angebliche Ahnin seines
Geschlechtes. Wo die Parallele liegt, liegt auch der Unterschied!
Doch vielleicht greifen wir der Lösung eines Rätbsels vor, das
der Kaiser Napoleon in seiner Histoire de Jules Cesar der Gegen-
wart noch vorlegt und das jene Parallele für den Unterschied erst
noch fruchtbar macht. Vielleicht wird der dritte Band, der Ver-
fassungsparallelen zu bieten bestimmt ist, die Perspective eines
Regimentes für Frankreich ankündigen, das mit dem oranischen
um die Sympathien der Geschichte buhlen wird.
Wir wollen warten und sehen. Den Standpunkt Ampere's, der
für die nächsten fünfzig Seiten durch die kriegerischen Pflichten
Cäsar's als Proconsul in Gallien gehindert ist. sich vollständig aus-
zusprechen, lernen wir, erst kennen, nachdem er Pompeius und
Crassus sich mit Cäsar aufs Neue in Luca hat einigen lassen. S. 543.
Er hat eben gezeigt, anlässlich des zwanzigtägigen vom Senat
Cäsar zu Ehren decretirten Dankfestes, wie begeistert das Volk
Rom's für Cäsar war. Er hat sich nicht verhehlt, La gloire tni/t-
taire est la plus danger euse sirene pour les peuples Uhr es. Nun fragt
er sich: que faire contre le torrent? Er läset Cato gegen das
Ackergesetz CäBar's sprechen, und erklärt den Zorn Cato's für ge-
rechtfertigt durch die Nachrichten von den Erpressungen und
Räubereien Cäsar's in Gallien.
Hierbei macht er sich die Entrüstung Laboulaye's zu eigen:
*) Bd. n, s 849ir.
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Ampfer c: L'Empire romain a Homo. 541
„Verrt», Pison, Gabinius ont lais»e dam Vhistoirt un nom extcrable;
mais la conduite de Cisar ne fut pas moins infdtne; je ne sai»
pour quo i le» Historien», e'blouis pur son genie, n'ont point
marque du meme sc tau d'ignominie ce voleur ehonti. S. 546.
Erst jetzt mögen wir dem Faden unseres Verfassers folgen,
da die Seite unzweifelhaft ist, auf der er sich befindet.
Zunächst ist es noch Cicero, um den es sich bei ihm handelt.
Wir lernen seine Schrift de Oratore kennen. Dann führt er die
Bauten des Pompeius an (Theater, Hallen) und die Spiele desselben
als Mittel, sich die Popularität auf seine Weise zu verschaffen.
Die Begegnung Milons und des Clodius, der Tod des Clodius,
S. 578, der Brand der Curia u. 8. w. bei der Verbrennung der
Leiche desselben*), die Vertheidigung des Milo durch Cicero, S. 583,
wobei man nicht weiss, ob die Rechtssache, oder seine Person das
wahrere Motiv war, autzutreten. Kurz, die Analyse der Rede pro
Milone fehlt nicht. S. 585 ff.
Das geschah Alles während der Zeit, wo der Mann, der bald
Alles über Hügeln sollte, ruhmreichere Schlachten führte, als die,
welche das Forum blutig färbten. Mit der Besiegung des Verein-
getorix war die Pacification Galliens im römischen Sinne als eine
Thatsache anzusehen. S. 590.
Von diesem Augenblicke an, sagt Ampere, ging der Gedanke des
Senats beständig dahin, dem Cäsar seine Provinz und seine Armee
zu entreissen. Cäsar hatte kein anderes Mittel, als die Bestechung,
die er denn auch anwendete , um in dieser Körperschaft einfluss-
reiche Persönlichkeiten auf seine Seite zu bringen. Es glückte ihm
mit dem Consul Aemilius Paulus und dem Tribunen Curio, die
ihren Kamen durch Bauten verewigten. Aemilius Paulus blieb
übrigens nicht treu; wie er den Pompeius verlassen hatte, ver-
liess er bald Cäsar und später Uberwarf er sich mit seinem Bru-
der**). Von jener Zeit an, wo Cäsar das Terrain ankaufte, welches
für sein Forum bestimmt war, datirt Ampere schon die Absicht
bei ihm, die höchste Gewalt zu erlangen. S. 598.
Er stellte Bauten in Aussicht, die Ansioht dieser Projekte
war nicht zweifelhaft, ü sfagusait de gagner le peuple pour h sou-
metlre; mais ü itail puirü de dire comme Pompic, es sei mir er-
laubt die Worte Ampere's vollständig zu geben, que ce» projel»
fureni une des cause» de »a rebcllion et qu'ü voulait renverser VEtat
pour pouvoir le» aecomplir
Wie sollte er die Befürchtungen des Senats beschwichtigen?
Ampere erzählt, er Hess eine Villa bei Nemi bauen, die er
hernaeh niederreissen Hess, weil sie, wie er Sueton mit wenig Ein-
sicht in politische Perspective sagen lässt ***) , nicht nach seinem
*) Die Curia soll angezündet worden sein, Dio XL, 60.
**) Er entging kaum den Proscriptionen und starb In der Verbannung.
Seine Basilika vollendete sein Sohn.
w) Caes. LI (76).
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542
Ampere: L'Empire romain k Rome.
Qeschmacko war, on plutot parceque l'cffect qu'il avait destine'e ä
produire Haü produit, Ampere selbst bezeichnet sie mitbin als
eine fantaisk ä but poliliquej S. 599. Cicero war damals in Cili-
cien Procousul ; aber die Zeit der Rückkehr war da. Er hatte den
Stoff zu seiner Schrift De Republiea gesammelt; Ampere erklärt,
dass Cicero sich dieses Wortes bedient, wenn er von der Monar-
chie spricht. Damals wogte die öffentliche Meinung in Gerüchten
über Cäsar auf und ab Cicero blieb im fernen Asien nicht ohne
Nachricht davon. Aber ihn konnte schon der Triumph ganz be-
seligen, der ihm trotz Cato's Widerrede zuerkannt wurde. Die
Triumviren hatten ihn denselben hoffen lassen. Er schmeichelte
sich mit der Rolle eines Vermittlers zwischen Boiden, welche er
nicht im Stande war zu spielen.
Der letzte Augenblick war im Anbruch für die Republik.
La lüfte allaü s'engager entre la rt'publique et l'empire,
entre Iiome et Cesar, entre la libertt mal proU'gt'e contre la tyran-
nie des facliom ei le pouvoir absolu d'un maitre.
Ampere zieht in Erwägung, was Cäsar gethan haben würde,
wäre er ein Washington gewesen, zeigt, dass man um jeden Preis ihm
seine Provinz und sein Heer nehmen musste, macht begreiflich,
dass die Heftigkeit der Conservativen der Sache Cäsar's einen
Schein von Recht gab: On devanQaü Vevcnement pour prevenir le
danger. Man hatte Cäsar mächtig werden lassen, und plötzlich
wollte man ihn vernichten.
Le rappel de Cisar devint la grande question. Marcellus hatte
sie auf die Tagesordnung gebracht.
Pompeius war abwesend in der Sitzuug, und war mithin nicht
veranlasst gewesen, sich auszusprechen. Iu der nächsten war seine
Sprache ausweichend. Natürlich il avait VEspagne pour cinq ans
au mime tilre que Ct'sar avait la Gaule, et cela par la uiolation
dJune loi dont lui-meme ttait Vauteur.
Man wundert sich, dass die beiden nicht wieder einen dritten
fanden, und so sich für Lebenszeit im Besitze der Vorrechte der
Triumvirn erhielten. Es musste entweder ungeheuer schwer halten,
den Gedanken an einen lebenslänglichen Triumvirat zu fassen, oder
Cäsar hatte die Absicht vor der Ausführung, die Absicht sich
zum Herrn der Republik zu macheu. Letzteres ist die Meinung
Ampere's.
Man kennt den Vorlauf des Bürgerkriegs zwischen Pompeius
und Cäsar hinlänglich; die Erzählnug unterliegt seiner Analyse
nur in einigen Punkten. Ampere lässt Cäsara die Thüren zum
Schatze erbrechen, und erklärt dadurch die Darstellung Cäsar's für
unwahr, was sehr wichtig.**)
*) Ampere citirt einen Brief Cicero, der ein solches on dit bringt (Ad
Farn. VIII, 1).
**) Beü. civü. I, 14.
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Ampere: L'Empirc romain a Korne
543
Für den Standpunkt des Werkes ist es ferner wichtig, zu
wissen, dass es die Campagne in Spanion nnerörtert lässt, höch-
stens die Belagerung Massilia's berücksichtigt, S. 612 ff.
De retour ä Marseille, erfuhr Cäsar, dass er, wie er gewünscht,
zum Dictator ernannt worden war, de la maniere la plus illegale.
Aber, fragt Cäsar, qu'imporlait la Itgaliti, le temps du droit etaü
passe' sans retour.
Iu Rom war nicht lange seines Bleibens. Aber die kurze Zeit
reichte hin, bisher ehrwürdigen Titeln ihren ernsten Inhalt zu
nehmen. Cesar fut le maitre jusqu'au jour oü il ful tu6. S. 614.
Ampere ist durchaus selbstständig in seinem Urtheii ; er eignet
sich die Stellen au, die Cäsarn nicht schmeicheln, desto mehr ihn
in seinen Entschlüssen und Unternehmungen kennen lehren.*) Wie
die Campagne in Spanien (gegen Petronius etc.), so weicht er auch
dem Feldzuge nach Thessalien aus : Je riai pas ä raconter cetie cam-
pagne d'Epire äc. S. 613.
Kurz und gut: Pompee 6lail vaincu et avec lui tonte chanee
de liberte däruite. — Sonderbar! War nicht Pompeius praesidens
urbi gewesen, wio Vellerns sagt, und was würde er zuletzt erstrebt
haben, wenn Cäsar nicht war? Vielleicht nicht den Principat?
Jetzt wird Ampere extrem; er urgirt die Sache der Gegner
Casars und verkennt die in der Gesellschaft schlummernden Keime,
die den Principat in sich enthielten. Er sagt : Le parti vaincu ä
Pharsale ctait le bon parti, celui de la Constitution qu'il fallaü re-
former, transformer s'il etait possible et non detruire
Die Transformation lag in der Entwicklung, welche ich oben durch
die Perspective eines beständigen Triumvirats andeutete, oder aber
in dem Drang aller Faktoreu zur Monarchie. Wenn Ampöre glaubt,
en la detruisant on creait le pouvoir absotu, le mal sans remide,
so ist das gewiss richtig; aber es hätte der Zeit bedurft, um zu
zeigen, dass die absolute Gewalt das Ziel der socialen Entwick-
lung war. Pompeius hätto die nöthigo Trägheit gehabt, bis diese
Frucht reif und die Freiheit davon geflogen war. Aber Cäsar hielt
sich für berufen, zu erstreben, was möglich war, indem er nicht
warten wollte, war Zerstörung der Freiheit die Bedingung. Hätte
sie sich selbst zerrieben, Niemand hätte Aufhebens gemacht. Den
Zerstörer belastet das Odium ihrer Liebhaber. Nach der Schlacht
bei Pharsalus gab es für Cicero nur noch Trost in der Philosophie.
Zu ihr kehrte er zurück, comme le joueur revient ä sa maitresse;
lui aussi, ayant perdu la partie, s'ccriait : 0 ma chere Angelique !
Es fehlte noch, dass Cäsar seine Gegner, dio in Afrika ge-
rüstet ihn erwarteten, besiegte.
Die Anstrengung, welche ihm die Schlacht bei Thapsus zuge-
müthet hatte, war bekanntlich nicht die letzte. Abor er kehrte
*) Zu den Problemen für den Interpreten seines Charakters gehört das
Lob der dementia, siehe S. 616.
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644
Atnpere: L'Etoplre f omain a Rome.
nach Italien zurück , landete bei Ostinm , und was tbat Cicero :
Taut en ecrivanl un livre ä la louange de CaU>n, se eonsolaii en
soupant .... ches les vainqueurs.* ')
In diese Zeit verlegt Ampere seinen Brutus de elaris ora-
Er holt noch Einiges nach, dessen wir ebensowenig nachträg-
lich entrathen wollen, weil sich daran Controversen knüpfen.
Die Quellen lassen Cäsarn beim Anblicke des Hauptes des
Pompeiu8, nachdem er ihn erkannt, Thränen vergiessen, uud er
glaubt, diese Thränen waren aufrichtig. Er glaubt es im Wider-
spruch mitLucan, der von Lacrimae non sponte cadentes") spricht.
Das Grab des Pom peius ist bei Rom. Ampere erzählt, Cäsar
habe das Haupt verbrennen lassen, und die Asche in einem Heilig-
thum der Nemesis vor dem Thore Alexandriens beisetzen lassen
(App. II, 90). Der übrige Leichnam sei von besorgten Händen
gleichfalls verbrannt und beigesetzt worden. Von dort habe beides
Cornelia, die zweite Gattin, mit nach Rom gebracht.
Den Schluss, S. 625, widmet er Cato und seinem politischen
Wirken. Er vermisst bei den Historikern unserer Zeit die Achtung
vor diesem Typus sittlicher Männlichkeit.
Dem Verfasser, der noch die Freude hatte, den Erfolg zu er-
fuhren, den die auf den vorstehenden Blättern in ihren Resultaten
kurz gewürdigte Histoire romaine hatte, war daran gelegen ge-
wesen, sie fortzusetzen. Aber ehe er noch bis zur Regierung des
Tiberius gekommen, war die Stunde seines Abschiedes vom Leben
da. Vier Capitel waren ihm noch vergönnt gewesen; mit dem
fünften, welches den ersten Band des oben erschienenen Empire
mmain ä Korne, schliesst, hatte er die Zeit Tiber's erzählen wollen.
Indem durch Aufnahme gewisser einschlägiger Artikel, welche
in den Jahren 1856 und 1857 in der Revue dt deux Mondes er-
schienen sind, noch ein zweiter Band zu Stande kam, darf das
Werk, dessen Anzeige der eigentliche Zweck unseres gegenwärtigen
Artikel ist, das Empire romain als ein für sich bessehendes Werk
hingenommen werden.
Dem Wortlaut seines Testaments zufolge war die Sorge des
Verfassers dahin gerichtet, die Fortsetzung der Histoire romaine
in sichere Hände zu legen.
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—
Ampere: L'Empire romain ä Rome.
(SchluBS.)
Als Fortsetzung verräth sich der erste Band unleugbar schon
auf seinen ersten Seiten. Seine Gesinnung transspirirt in der Kritik
des Senats, S. 5, alles Uebrige ist Erzählung. Ihr Inhalt würde
hier eine Wiederholung Aller sein, nicht blos Ampere's. Drum,
wo es niohts Wesentliches in dieser Darstellung vor der Huttoirt
romaint hervorzuheben gibt, beschränken wir uns auf das was
Ampere dem Inhalte gegenüber sich selbst verdankt.
Spannend sind die Details verwerthet, welche der Winterauf-
enthalt in Rom nach der Rückkehr aus Aegypten bez. dem Pon-
tus bietet, die Untersuchung über Dolabella, und der Aufstand der
Legionäre. Hierdurch ergänzt diese erste Abhandlung das letzte
Capitel im letzten Bande der Hütoire romaine.
Ampere kann es Cäsarn schlecht verzeihen, dass er den Heroen
der Gallier, der einen Augenblick gehofft hatte, ihr Befreier zu
sem, beim Hinaufziehen zum Capitol in den Carcer abführen, und
dort erdrosseln Hess. Si quelqu'un itevait etre epargne par C6sart
c'elait nolre grand Vercinqetorix. S. 21. Der Verf. hält sich bei
der Beschreibung des Triumphes auf ; er sammelt geschickt die
verschiedenen Anhaltspunkte, welche die Annahme begünstigen,
dass Cäsar 's Regiment trotz aller Verteidigungen Absolutismus
war, zunächst des Forums , worin er dem römischen ein julisches
entgegenstellte, eines Gebäudes für Gerichtssitzungen, dann des
Tempels der Venus Genitrix, der Spiele.
Was im Schlusscapitel der IJistoire romaine gleichfalls nicht
erwähnt ist , die Campagne nach Spanien , sie beschreibt er hier.
8. 30 ff.
Mit grossem Geschick hat er die Notizen bei Sueton gesichtet,
und nebst der Darstellung des Dio Cassius zu seiner Arbeit ver-
werthet: den letzten Triumph, den Auftritt mit Pontius Aquila,
die Eitelkeit des alternden Cäsar, die ihm zuerkannten höchsten
Huldigungen, den Verfall der republikanischen Einrichtungen hat
er mit dem Schmerz um den Untergang der Republik nicht min-
der als mit der Ueberzeugung, dass sie Cäsar's Untergang herbei-
führen würden, beschrieben. Die Brücke zu letzterem bahnte Cäsar's
eigenes Auftreten. Wenn Alles wahr ist, was in letzterer Be-
ziehung zu vermuthen gegeben wird, so ist Cäsar ein mustergülti-
ges Beispiel dafür, dass die Selbstüberhebung noch gefährlicher
LX. Jahrg. 7. Heft 35
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646 Ampere': L'Emplre romain k Rome.
ist, als die Unterdrückung der Freiheit. Celui qui avüit les hommes
rCa pas le droit de les mepriser, car leur honte est son ouvrage, et
il doit commencer par se mepriser lui-meme. 8. 36. Drum sieht
der Verfasser, der nach einigen den Verschönerungen Rom's (S. 36),
Cäsar's gesetzgeberischen Verfügungen , S. 38 , der Senatszeitung,
S. 40, der Aufzählung von Cäsar's Projekten, S. 42, gewidmeten
Seiten hierauf zurückkommt, die gerechte Strafe des Despotismus im
Rausche, S. 46 : La juste punüion da despotisme, c'est V enivrement.
Wenige Männer haben ihm widerstanden, grosse zumal, Cäsar selbst
war davon erfasst. Er geizte nach dem königlichen Titel, wofür
Ampere sich an ein Citat aus Cicero hält*), Cäsar der bereits die
Macht ohne den Titel hatte. Die wiederholt gemachten Versuche
des Antonius, am Luperealienfeste, Cäsarn das königliche Diadem
auf das Haupt zu setzen, mussten jene Absicht praktisch bestätigen,
und sollten die Anfmerksamen beleidigen. Der königliche Name
war das Beleidigende.
Anlässlich der Verschwörung und der theils politischen, theils
persönlichen Motive der Verschwornen , ist doch auch Ampere der
Meinung, dass Decimus Brutus ein wirklicher Verräther war, der,
da er innige Anhänglichkeit an Cäsar geheuchelt hatte, von der
Geschichte verdient verflucht zu werden, S. 51. Dem Marcus Bru-
tus, den er im Namen der Freiheit walten lässt, lässt er Gerech-
tigkeit wiederfahren, seine muthmassliche Abkunft bestimmte ihn
für die Aufgabe eines Befreiers. Aber er wollte doch nicht con-
spiriren: La conspiration vint le chereher jusque ehest lui. Ein Be-
such des Cassius bei Brutus entschied über seinen Entschluss. In
die Wohnung des Brutus verlegt der Verfasser den schönen Auf-
tritt zwischen Brutus und Porcia. Ort und Datum des Attentats,
die Beurtheilung desselben, wo Montesquieu citirt wird, die Er-
zählungen über Cäsars Ansichten von der wünschenswerthesten
Todesart, die ominöseu Auftritte der letzten Nacht, das Schwanken
Cäsar's am Morgen der Iden, zwischen Gehen und Bleiben, sein
letzter Gang, die Möglichkeit, noch während dieses Ganges ge-
rettet zu werden, die bösen Vorzeichen bei dem Opfer vor dem
Beginn der Sitzung, der Auftrag den Trebonius hatte, den Anto-
nius an der Thüre zu unterhalten, das Attentat und sein Gelingen,
das ist der Inhalt der nächsten Seiten.
Der Verfasser sollte in der Geschichte weiter gehen, und die
Folgen des tragischen Ausgangs des Lebens Cäsar's für Rom er-
örtern. Das tbut er nicht Er wendet sich einem Manne zu, der,
solange der Bürgerkrieg gewährt hatte, eine halbe Rolle, und unter
Cäsar gar keine spielte, der aber nach Cäsar's Ermordung va re-
prendre de l'imporlance. Wir haben ihn kennen gelernt, und
lernen wieder hier S. 68 ihn als den Verfasser des Bruhts de cla-
ris oratoribus und des Orator, de partibm Oratioais, der Paradoxa,
*) Suet. Caes. XIV (9).
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Ampere: L'Empire romain k Rome.
«ls Vertheidiger des Marcellus bei Cäsar kennen. Ein trauriges
Ereignis« in der Familie gab seiner schriftstellerischen Thätigkeit
eine Richtung neuer Art. Der Tod seiner geliebten Tochter (Tullia)
im Alter von zwei und dreissig Jahren, versenkte ihn in tiefen Kum-
mer; er wandte sich philosophischen Studien zu, deren Ergebnis?
die Schriften Hortensiue, De summo bono, Academica waren. Aber
er hörte nicht auf, wann der Fall ihn rief, zu plädiren. Zum
Schlüsse, wo doch Ampere nicht umhin kann, sein ürtheil über
Cicero abzugeben, einverstanden mit Montesquieu, der ihm eine
schöne geistige Begabung nachrühmt, aber eine oft gewöhnliche
Seele beilegt, protestirt er contre les injures adressees de notre
temps, en Allemagne et en France, ä et beau genie, ä ceite
dme jtlutöt faible que commune, et naturellement genereuse.
Am Ende des ersten Capitels angelangt, können wir unser
Befremden darüber nicht verheimlichen, dass Ampere auf keiner
Seite von der napoleonischen Geschichte Cäsar' 8 Notiz genommen
hat, wozu doch hin und wieder Anlass sich gefunden hätte. Wir
finden uns nicht versucht die Motive bei Ampere zu ermitteln, noch
weniger es zu formuliren, und wenden ans dem folgenden Ca-
pitel zu: Triumvirat- Oct ave.
Der Tod Cäsar' s war für Born das Vorzeichen neuer Kriege
im Inneren, und zwar was Niemand ahnen mochte, unabsehbarer
Kriege, welche erst mit einer Wiederholung des Erfolges bei Phar-
salus enden sollten. Es kam das siebente Jahr des Krieges seit 49.
Wir wollen weder die Haltung des Antonius, noch die Hal-
tung des Cicero oder der Verschwornen dem Verfasser nacherzäh-
len. Die Verlesung des Testaments brachte den Namen Octavios
zur Kenntniss des römischen Volkes, und änderte die Lage der
Dinge. S. 100. Dolabella trat der Anhänglichkeit des Volkes an
Cäsar in den Weg; aber wer ihn kannte, den hätte er durch seine
Entschlossenheit, den Altar zu zerstören , vor welchem das Volk
-Cäsarn opferte, nicht auf immer täuschen können. Eine Provinz
und das Geld 'des Antonius brachten ihn auf die Seite des Letzte-
ren. Soin Schwiegervater (Cioero), der jene Entschlossenheit be-
wundert und gepriesen hatte, war mal wieder compromittirt wor-
den. Ampere verweilt bei der Beschreibung des Tempels, der sich
an der Stelle des zerstörten Altars auf dem Forum erhob und
zeigt die Schwierigkeit der Lage, der bald der Erbe Cäsar's erst
eine Richtung geben sollte. Die Mittel zu finden, sioh der Lage
zu bemächtigen, moohte Octavius schwer werden. Aber schwer
wird dem Geschichtschreiber heute, auf diesem Schlangenwego des
Macohiavellismus trotz Hülfe der Quellen sich zurecht zu finden.
Sich zu verfeinden, und die Feindschaft bis zum Kriege zu treiben,
hatte Octavius gemieden, bis er zuletzt sah, dass der Senat sich
gegen Antonius erklärte. Da trat er in den Dienst des Senats, in
desson Sitzungen Cicero den Antonius durch seine philippischen
Reden auf seine Weise bekriegte. Noch einmal war, der sioh der
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Ampere: L'Empire romain a Rome.
philosophischen Schriftstellerei ergeben hatte, S. 123, auf den alt-
gewohnten Kampfplatz geeilt. Dass er auf Octavius Vertrauen
setzte, war sein Fehler, dass er gegen Antouius in die Schranken
trat, darin hatte er Hecht. Die Zergliederung der Reden gegen
Antonius bilden ein wesentliches Darstellungsmittel bei Ampere.
S. 128 fif. In der letzten Philippica konnte er die Niederlage des
Antonius verherrlichen, ein literarischer Triumph! Derselbe Cicero
macht im Senate den Vorschlag, dem jungen Cäsar für seinen Siog
den Imperatortitel zu verleihen. Ampere bestreitet, dass Cicero,
verführt von Octavius, der Meinung gewesen ist, ihm das Consulat
zu geben, pour ne pas le pousser ä bout et ait insinue qu'un collegue
dge, tel que lui, eontiendrait avantageusement le jeune comul/J In
der That verlangt Octavius, den die Verweigerung eines Triumphes
verwundet hatte, S. 141, vom Senat die Erlaubniss, sich um das
Consulat zu bewerben. S. 142. Aber die einzige Stütze seiner Can-
didatur waren die Truppen, und wie er sich dieser Stütze bedient,
das ist bekannt. Unter den Augen der auf dem Marsfelde bivoua-
kirenden Truppen stimmten die Comitien über die Wahl ab. Octavius
ging aus der Abstimmung hervor, und nun im Besitze dieser Function
als Consul promulgirte er das berüchtigte Gesetz gegen die Mörder
des Cäsar; das hatte er erreichen wollen. Un seid komme osa voter
contre cette condamnation, c'est lä le dernier acte romain, Disons
adieu ä lout vestige d'independance et de liberle. Nous so mm es entrös,
pour n'en plus sortir, dam Vtre de la servilude.
Die erste Form des Kaiserthums war das Triumvirat, aber
die Umwandlung dieses Despotismus langte zuletzt bei dem Prin-
ceps an, wie das erste Triumvirat sich zuletzt in dem Dictator
concentrirt hatte. Den Vergleich, welchen Ampere macht, billigen
wir nicht, weil er uns nicht zu stimmen scheint. Wer mochte
zwischen Octavius und Robespierre politische Aehnlichkeit finden,
ausser ihm?
Mit der Erneuerung des Triumvirats erneuerten sich die Pro-
scriptionen. Wir sehen davon ab, diese durch neuere Arbeiten so
vielfach aufgefrischten Erinnerungen der römischen Geschichte hier
zu verwerthen, wo das abweichende historische Urtheil die einzige
berechtigte Prüfung bietet. Der Tod Cicero's führt übrigens den
Verfasser nach Formiä. Die Schlacht bei Philippi, der Perusinische
Krieg, der Krieg gegen Pompeius, S. 169. Die wiederkehrenden
Zerwürfnisse zwischen Antonius und Octavius, S. 173, die Bauten
des Agrippa, S. 172 ff., die Anfange der Verschönerungen Rom's,
S. 176, die Ausschweifungen des Antonius und sein letztes ent-
scheidendes Zerwürfniss mit Antonius, die Kenntnissnahme des
Letzteren, die Kriegserklärung an Cleopatra, sind der Inhalt der
übrigen Seiten.
Bei Aktium war über das Schicksal der Verfassung entschie-
den ; die Sehnsucht nach dem Frieden war gestillt ; die Liebe zum
*) Drumann, Geschichte Rom's, I, 829.
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Ampere: I/Emplre romain a Rome.
549
Frieden bei Allen wurde die Quelle der Vollmachten, in deren
Besitz Octaviua nunmehr treten sollte. S. 187.
Das dritte Capitel (Regne d' Auguste) hätte verdient mit Kupfern
illustrirt zu werden ; es ist ein gliinzender Commentar zu den Quellen.
Ampereist nicht versöhnt ; er muss bekennen, dass der Despotismus
don Frieden nicht gab. Man beachte seine Aeusserungen. Vempire c'est
In "pnix ist das Losungswort des französischen Octavius im XIX.
Jahrhundert. Er nennt die Bezeichnung der Regierung des Augustus
als einer Aera des Friedens eine Uebertreibnng S. 283. Er belegt
sein Urtheil mit Beweisen des Gegentheils, ganz so wie man heute
in dem Krimkrieg, dem italienischen Krieg, den auswärtigen Krie-
gen Widerlegungen der Friedensparole des Kaisers Napoleon an-
führen hört. Es ist hier nicht der Ort, diese Parallele zu erörtern,
so wenig wir auch die Aehnlichkeit ablehnen können. Nur müssen
wir sagen, Ampere hat Recht, wo er allgemein urtheilt: Comentir
au despotüme pour (murer la paix est une des plus grossitrs illu-
sinns qui puissent seduire hs Hammes et eile les seduit toujours. Le
despotisme a besoin de la guerre, parcequ'il a besoin des soldat*.
Man merkt, der Geschichtschreiber, der es nicht der Mühe werth
fand, gegen ein literarisches Unternehmen wie die Hisloire de Jules
( esar die Lanze einzulegen, wird auf einmal daran erinnert, dass
es doch eine Pflicht ist, die Leser zu tiberzeugen, er sei nicht un-
empfindlich gegen die Ansprüche ihres Patriotismus. In dieser
Stelle ist Ampere der Gegner des gegenwärtigen Regierungssystems
und das französische Coblenz im Auslande mag ihn zu den Seini-
gen rechnen. Er war ein Gegner der Robe des Berufsmannes,
nicht des Parteimetaphysikers.
Er nennt den Frieden die grosse Verführung, Auguste offrii
aux Romains, fatigues des dvtcordes civiles dans lesquelles lui-meme
avait joue le principal role S. 801. Er meint dieses Mal den Frie-
den im Innern. Er gesteht ein, man genoss ihn, aber man bezahlte
ihn — mit der Freiheit !
Er hoffte, wie sich durch seine Monumente, einen Ausdruck
seines politischen Gedankens, so auch seine Familie dem römischen
Volke werth machen zu können. Aber in dieser Hoffnung täuschte
er sich. Augustus konnte den Despotismus befestigen , aber keine
Dynastie gründen.
Seine Familie war, nach dem Urtheil Amperes, bestimmt, ihn
zu strafen. Ce genre de ehätiment atteint parfois les despotes ä
qui tout rSussit. S. 803. Was Ampere lobt an Augustus, ist das,
was auch schon Andere an ihm gelobt haben , die politische
Gewandtheit: sans doute, il eut besoin (Tun savoir faire veritabU
pour arriver ä Vexagerer. Er meint damit, das Hauptcapitel An-
ziehung, was er mitbrachte, war der Name und der Erbe Cäsars,
S. 305 ff. Es ist ihm eine ausgemachte Sache, Augustus war ein
Heuchler. Welches war das Resultat seiner klugen, bald unver-
schämten Verstellung, fragt er. Die Antwort ist: Der Friede im
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Ampöre: I/Emplre romaln k Rome.
Innern, aber der gleichbedeutend ist mit Knechtschaft (nach Taci-
tus Ausdruck).
Die letzten Seiten sind der Beantwortung der wichtigen Frage
gewidmet: Comment jusiifier Auguste? In der Beantwortung zeigt
der Verfasser, dass das einseitige Verdienst, die Wissenschaften zu
beschützen, welches im XVI. Jahrhundert das grÖsste Verdienst
eines Fürsten war, ttber den wahren Charakter des Augnstus ge-
täuscht habe, aber nicht mehr täuschen dürfe. Man habe durch
das Lob des Horaz und des Virgil, dann durch das Schweigen des
Tacitus, endlich durch den Verlust einer Lebensgeschichte des Au-
gnstus von Plutarch sich dafür entschieden, bei den Dichtern den
wahren Massstab zu suchen. Zu diesem dreifachen Glücke habe
Augustus noch das Schicksal gehabt, dass seine Regierung mit der
Geburt des Messias zusammenfiel. Gemäss seiner Ankündigung im
ersten Bande seiner Histoire romaine *) hält ungeachtet alles dessen
der Verfasser für das ürtheil über Augnstus an Machiavelli, Mon-
tesquieu, Gibbon und Voltaire. S. 818 ff. Geschieht dieses aus An-
lass seiner Monumente, so verificirt er das Resultat noch durch
die Sprache seiner Portraits. Die Antwort auf die oben erhobene
Frage lässt Ampere die ganze Erzählung des Sueton sich zu eigen
machen , welche die Meinung verewigt , Aagustus' Leben sei ein
Leben voll von Verstellung gewesen.
Ueber das vierte Capitel (La famille en les coniemporains
(P Auguste), welches bei der Familie, den Monumenten, dem Leben
in Rom verweilt, geben wir hinweg, um das Urtheil des Verfassers,
über Tiberius sogleich an das über Angustus anzuschliessen. Der
Verfasser selbst betrachtet das vierte Capitel als eine Episode, die
für den Leser fast eine nothwendige Erholung ist, weil sie ihn mit
den Dichtern unter Angustus bekannt macht.
Schon gleich auf der ersten Seite spricht sich der Verfasser
voll aus: nT%bere aprls Auguste; apres Jet dcspotisme doux que
Von accepte, le despotisme cruel que Von subita tfeit la mar che na-
turelle des choses ei la justice de Dieu» S. 416.
Indem ihn auf den ersten Seiten die Monumente beschäftigen,
dio theils noch der Regierung des Augustus, und nur tbeilweise der
eigenen Regierung des Tiberius angehören, verschieben wir noch unsere
Wünsche an die Vergleichung. Das Erste, was er thut, ist dies,
er lässt Tiberius an dem Vordienste, welches Augustus sich er-
warb, den Frieden zu erhalten, Theil nehmen. In politischer Be-
ziehung sieht er Tiberius ganz dem Augustus folgen: Tibbre suivit
la politique dt Auguste, seulemmt il la poussa encore plus tom, als
Beispiel diene : Auguste avait salarie des tnagistrats dont les fonc-
tions etaient jusque Ut gratuites, Tibete paya les consuls. Uebri-
gens räumt er ein: U conservaü quelques-unet des forme* de la
liberte: speciem quandam Ubertatis indumt, dit Suäone. S. 483.
— . . .
•) Bd. L 8. XLIV.
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Ampere: L'Empirc romain k Rome.
Wir kommen zu seiner Ansicht von der Physiognomie. Er
findet Tiber weniger falsch von Gesicht als Augnstus. Ii semble
qu'une hypocrisie encore perfeetionnee lui a permis de mieux
dissimüUr la noirceur de son dme. Le front et le regard sont plus
sereins chez Tibcre que chez Auguste Wie kommt das? Die
Erklärung bleibt er nicht schuldig; aber für hier soll sie ihm ge-
hören. Wir haben uns an seinem Urtheil gentigen lassen wollen:
Voeil de Tibere n'a plus besoin de se baisser, l'ennemie rtexiste
plus, merne ä Vetat de eadavre. S. 435.
Wir kommen zu einem zweiten Bande, welcher noch acht
Capitel enthält.
Tiberius ist abgemacht, kurz genug.*) Aber er hat doch ein
ganzes Capitel eingeräumt erhalten. In diesem Bande geht es noch
viel summarischer zu: Caligula, Claudius und Nero zusammen bil-
den das sechste, S. 1 ff. , Galba , Otho , Vitellius , Vespasian und
Titus das siebente, S. 70 ff. Von der Bedeutsamkeit des Jahres 69
hat der Herausgeber keine Notizen zu sammeln gehabt. Domitian,
ein zweiter Tiberius, trug von seiner Familie dreierlei an sich,
von seinem Vater die Gier, von seinem Bruder den Geist, von der
Familie die Verschlagenheit. Diesem widmet er das achte Capitel,
S. 117 ff. Auffallenderweise gehen Nerva, Trajan und Hadrian,
S. 158 ff. , aber noch auffallenderer Weise zugleich Pius, Marcus,
und Commodus in ein einziges Capitel, S. 216 ff. Die drei letzten
sind Summarien über die Kaisergeschichte nach Commodus, wor-
aus die Integrität der Darstellung verbietet besonderen Passus
herauszuheben , weil die Discussion sich in diese Gegenden nicht
so vertheilt hat, wie in den ersten Jahren. Man kann die bisheri-
gen Capitel, so wie die Schlusscapitel als Commentare zu seiner
Introduction im ersten Bande seiner Histoire romaine betrachten.
Mit dem Tode des Commodus, der den Uebergang bildete, be-
ginnt der Verfall der Zustände, soweit sie unter den Kaisern für
blühend gelten konnten, S. 262. Eigentlich begann der Verfall
nach ihm mit dem Kaiserreich. Quand une socüte te dissout au
dedains, eile conserve encore assez longtemps im air de grandeur
et un semblant tfcclat, trompant ainsi ceux qui ne retfardent que
la surfaee. S. 262. Nach Heliogabal, scheint es, ist man zum
letzten Tage des Reiches gekommen. Alexander erhebt es aus
dieser äussersten Erniedrigung. Man kann sich nicht dem ver-
schliessen was Ampere sagt: Son regne est un de ces ümps oVarrct
qui suspendent le progres de la decadence et prouvcnt combien ce
progrts est irresistible par leur impuissance ä le supprimer. S. 815.
Das Wichtigste, was ihm nachzurühmen, ist seine Duldung gegen die
Christen, und als ein bemerkenswerthes Monument aus jener Zeit
gilt die Basilika Santa Maria in Trastevere. Die ganze Succession
bis auf Constantin hat er noch in dieses Capitel hereingenommen.
*) Die ganzr Controverse Ober Tiberiua hat Ampere ignorirt. Vgl. unsere
Anzeige von: Puch, Zur Kritik der Geschichte d. Kais» Tib. etc. Heidelb.
Jahrbb. 1866. No, 84.
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Ampere: L'Empirc romain a Rome.
Das Ende des kaiserlichen Rom's (Fin de la Rome imperiale)
ist auch das Ende der Darstellung des Verfassers, S. 367. Es
gibt nicht leicht eine historische* Parallele , die der geistreiche
Franzose anzuziehen nnterlässt Die Verlegung des Kaisorsitzes
nach Constinopel hat in der Verlegung der Regierungsgeschafte von
Moskau nach Petersburg ein Pendant erhalten. Er hatte auch die
Verlegung von Brussa nach Stambul, von Turin nach Florenz her-
ziehen können. Aber Nanking bat er genannt, mit dein er das
von den Kaisern verlassene Rom vergleicht. Elle est devenue une
de ccs capitales du passe sacrifie'es ä la nouvelle capitale qu'on
destine ä Vavenir, comme Nanking, la ville chinoise et lettree, le
sera ä Pi-Mng.
Welches Bild bietet ihm Rom im vierten und 5. Jahrhundert?
Trotz der Ausbesserungen , welche hier und da nöthig werden, ist
in monumentaler Hinsicht der Anblick Roms glänzend. Die Leiden-
schaft für die Spiele hat auch unter den christlichen Kaisern nicht
aufgehört. Aber im Grunde ist die Stadt elend geworden. Bald
muss sie gegen Barbaren vertheidigt werden, die Statuen am Mau-
soleum Hadrians dienen zu Projektilen. Die Canäle werden abge-
schnitten, Rom und die Campagna werden verödet.
Wollen wir dem gelehrten Verfasser und seiner Grundrichtung
Rechnung tragen, so werden wir zu seinem Problem zurückkehren,
wofür er den Monte Testaccio hält, bevor wir schliessen. Nachdem
er nachgewiesen, dass in dem ganzen letzten Jahrhundert ausser
Kirchen sonst fast kein Monument sich in Rom erhoben hat, kommt
er auf die Entdeckung, dass sich dafür ein Berg, mindestens ein
Hügel gebildet hat. Le Monte-Testaccio, sagt er, est pour moi des
nombreux problimes qu'offrent les qntiquites romaine* le plus dif~
ficiU ä rtsoudre. On ne peut s'arrfter ä diseuter se'rieusement la
tradition d* apres la quelle il aurait ät forme' avec les d<fbris des
vases contenant les tributs qu'apportaient ä Home les peuples sou-
mis par eile. Cest lä evidemment une legende du moyen (ige
Wie soll die wunderbare Anhäufung von Materialien zu dem Monte
Testaccio erklärt werden? Er antwortet, nachdem er den Zweck
der vases Tie lerre erörtert hat, qufon suppose toutes les fabriques
de vases e'tablies cn ce Heu ou bien une mesure de policc
Dann ist aber noch nicht Alles erklärt: Comment de persuader
qu'on a continue' ä faire un semblable de'pot, quand ce dcpöt avait
atteint une teile (livation qufil eüt iti extrtmement penible de por-
ter des vases brisis au sommet de ce monticule, dou Von a une des
plus belle» vues de Hornel Auf diese Frage ist es nicht möglich
eine Antwort zu geben. II termine cette pctite dissertation sur les
causes qui ont pu former U Monie-Testaccio par ces mots, qu'on
ferait bien de p rononcer plus souvent, quand il s'agü
d'anfiquites et de beaucoup d'autrcs choses: Je ne sais pas.
Er nennt Beiisar den letzten Römer. S. 396: Apres Itti, la
barbarie a vaineu. Erinnerungen an ihn haften an der Porta Pin-
i
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Ampere: L'Empire romain a Rome.
553
ciana. Diese Pforte hat durch ihre Inschrift Anlass zu einer Le-
gende gegeben. Beaumarchais hat auf sie den tragischen Ausgang
seines Be'lisairc gebaut Yingratitude si fr/quente des souverains
envers ceux qui hur ont rendu hs plus grands Services.
Gegen Ende kommt er auf die MaVaria zu reden, deren Ur-
sache er in der Abschneidung der Canäle ßndet. *)
Die eigentliche Ureache des Untergangs der Stadt sind die
Barbaren gewesen , nicht durch die Zerstörung der Monnmente,
derenthalben er sie in Schutz nimmt, sondern durch die Zerstö-
rung des Reichs. Apres eur, la Rome antique a cessi de comp»
ter dorn U monde. S. 511.
Wenn es die Absicht Ampere's war, auch die Annalen des
christlichen Rom's zu bearbeiten, und seine Geschichte durch das
Mittelalter bis auf die neuere Zeit zu verfolgen — vgl. Auertisse-
ment, Bd. I. p. VI — , so müssen wir bedauern, dass das Leben
dieses Mannes nicht für die Verwirklichung dieses umfassenden
Planes ausgereicht hat. Gregorovius, der auf die früheren Zei-
ten der ewigen Stadt verzichtet hat, wird die Geschichte Rom's
im Mittelalter gewiss dafür desto sicherer zu Ende führen. Für
die Zeiten von Anfang an, für das vorchristliche und das christ-
liche bez. päpstliche zugleich ist neuerdings in v. Reumont ein
zusammenfassender Darsteller aufgetreten.
Sie alle drei werden den Vorzug haben, unter den Augen der
Monumente geschrieben zu habeu. Die beiden noch lebenden Ge-
schichtschreiber werden der Civilisation Italien's Rom anheimfallen
sehen. Aber Ampere musste Rom's Geschichte da schliessen, wo
es an die Barbaren tibergeht. Darin sieht er die Wirkung der
absoluten Gewalt, die in Rom zur Herrschaft gelangt war.
Die letzten Worte sind eine feierliche Verwahrung: La main
sur la conscience, je ne puis trouver que j'ai calomnie Vempire
romain. On m'a accust de refaire Vhistoire romaine; out, y ai
dü la refaire, car on Vavait de faxte, On s^tait lasse' de la
verite' historique: on avaij tent/, souvent avec beaucoup oVart, de
rehabiliter, comme on dit, cette epoque nrfa&te de Vempire. Vem-
pire romain, tel que je V ai peint d apres les monuments et les
textes, Haii celui de tout le monde, jtisqu'ä ce qu'on en ait de'couvert
un autre qu'il faudrait admirer. Ce quefai raconte' Va iti par Tacite,
et, si on rejette Tacite comme suspect oVindignation, par Sudtone,
qui ne s'indigne jamais, par Dion Casaius, ce pauvre diahle de
senaUur qui avait si grand'peur quand Commode fui montrait son
glaive teint de sang et la tete oVautruche quHl venait de couper,
par les avides chroniqueurs de VHistoire Auguste. Wir wollen nicht
dabei verweilen, dass dieses ein unvollständiger Katalog der Quel-
len ist, die überhaupt über die Kaiserzeit vorhanden sind. Er hat
*) Man vergleiche, was er im ersten Bande der Histoire rom. dar-
über sagt. 8. oben S. 630.
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564 Eyssenhardt: Lectiones Panegyricae.
nicht gesagt, dasB die Absicht dieser Auf Zählung dem bowussten
Zwecke, von seinen Quellen Rechnenschaft zugeben, dient. Im rapi-
den Fluss seines Epilogs will er noch einmal mit dem ganzen
Ernste des Geschichtschreibers vor den Leser treten: Mais on
auait changi tont cela dcpuis quelque temps. On avait mis le coeur
ä droite. Und wie hat er, Ampere, es gemacht? Je Vai remis ä
(jauche; et riest pas ma faute s'ü ne convient pas ä iout le mondc
qu'ü soit ä sa place.
Dass die beiden Werke, die Histoire romaine und das Empire
romain zusammengehören, hat der Herausgeber schliesslich durch
seine analytischen Tafeln äusserlich bethätigen wollen.
Heidelberg, im Juli. II. Doergens.
Lectiones Panegyricae. Scripsit Franciscus EyssenhardL
Commentalio ex proqrammale aymnasii Friderico- Werderam
seorsim expressa. Berolini MDCCCLXMJ. Typis Nauckianis
24 S. in 4to.
Die Schriftsteller, um welche es in dieser Gelegenhoitssohrift
sich handelt, die sogenannten Panegyriker, oder die Sammlung
panegyrischer Reden aus der späteren römischen Kaiserzeit, haben
seit dem Zweibrticker Abdruck (1789) in Deutschland weder einen
erneuerten Abdruck gefunden, noch seit Jäger (1779) und Arntzen
fl 790) eine neue Bearbeitung erhalten, und wenn sie auch, in
Folge ihres Inhalts mehrfach der gelehrten Forschung gedient und
benutzt worden sind, so bedürfen sie doch einer sorgfältigen Re-
vision des Textes , welche auf eine sichere handschriftliche Grund-
lage sich stützen kann. So nothwendig diess ist, um eben der
Benutzung und dem Gebrauch eine sichere Unterlage zu verschaffen,
eben so sehr fehlt es hier noch an allen Vorarbeiten einer kriti-
schen Bearbeitung, um, was das nächste ist und das erste, einen
sicher beglaubigten und lesbaren Text herbeizuführen. Die hier
vorliegende Gelegenheitsschrift weist diess klar nach, und verbin-
det damit eine Reihe von VorbesserungsvorschlKgen zu einzelnen
Stellen, in welchen die tiberlieferte Lesart in keinem Fall befrie-
digen kann. Der Verf. zeigt, dass die Handschrift, auf welche
Schwarz und die ihm darin nachfolgenden Herausgeber, Jäger und
Arntzen besonderes Gewicht legten, eine jüngere Handschrift, mit
dem Datum des 6. Juli 1454 ist, die selbst nicht einmal genau
verglichen worden, und dass es mit einer andern Wolfenbüttler,
die ebenfalls in das fünfzehnte Jahrhundert fällt, nicht besser steht,
und die Angabe des Laurentius Patarol, welcher bei seiner Aus-
gabe eine Venetianische , eine Ambrosianische und drei Vatikaner
Handschriften benutzt zu haben versichert, fast wie eine Flunkerei
aussieht; mehr Werth dürfte nach der Ansicht des Verfassers auf
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Bttdinger: Ein Buch tingarischer Geschichte.
565
eine Handschrift der Abtei St. Bertin bei St. Omer zn legen sein,
welche Modins anführt, die aber indess verschwunden ist. Weitere
Forschungen sind also vor Allem hier nöthig, um eine sichere
Grundlage des Textes zu gewinnen, der übrigens, wie es fast schei-
nen will, eben so wie diess bei dem Panegyricns des Plinius der
Fall ist, nur in verhältnissmassig jüngeren Handschriften noch
vorhanden ist, die immerhin auf eine ältere Quelle verweisen, die
bis jetzt wenigstens nicht näher aufgefunden ist. Möchte es den
Bemühungen des Verf. gelingen , diese Quelle zu ermitteln und
hiernach uns dereinst einen Text dieser Reden zu liefern, welcher,
von den Verderbnissen, an denen er jetzt mehr oder minder lei-
det, frei, anf urkundliche Treue Anspruch machen kann. Wie sehr
aber der gegenwärtige Text einer Revision bedarf, geht aus den
Stellen hervor, welche von S. 5 an kritisch behandelt werden : auch
ohne neue handschriftliche Hülfsmittel ist es dem Verf. gelungen, auf
dem Wege der Conjecturalkritik , die freilich durch eine genaue
Kenntniss dieser Redner, ihrer Sprach- und Ausdrocksweise ge-
stützt ist, das Richtige zu finden und damit einen Sinn in die ver-
dorbene und dadurch unlesbar gewordene Stelle zu bringen. In
ähnlicher Weise werden auch S. 21 ff. einige Stellen der von An-
gelo Mai aus einem Ambrosianischen Palirapsest hervorgezogenen
Reden des Symmachus behandelt.
Ein Buch ungarischer Geschichte 1058—1100 von Max Büdin-
aer. Leipzig. Druck und Verlag von B. 0. Teubner. 1866.
VU1 u. 166 S. in gr. 8.
In der gegenwärtigen Zeit, in welcher die Blicke so Vieler auf
Ungarn gerichtet sind , wird die vorliegende Schrift ein doppeltes
Interesse erwecken, wie sie diess in jeder Hinsicht verdient,
so sehr sich auch der Verf. überall auf eine rein objective Dar-
stellung beschränkt und es sorgfaltig vermieden hat, auf gegen-
wärtige Zuständo hinzuweisen oder in Vergleichungen früherer Zu-
stände mit heutigen sich einzulassen. Diese mag der Leser sich selbst
machen, wenn er mit Aufmerksamkeit dem Verfasser in seiner an-
ziehenden, durchweg auf die urkundlichen Quellen gestützten Dar-
stellung folgt, die übrigens nach seiner ausdrücklichen Versiche-
rung »nicht als eine eigentliche Fortsetzung« der österreichischen
Geschichte des Verf. wie sie allerdings schon längst gewünscht
wird, sondern »als eine fortsetzende Ergänzung derselben« ange-
sehen werden soll. Und allerdings enthält sie einen werthvollen
Beitrag zn der Geschichte des Kaiserthums Oesterreich, das ja auch
die ungarischen Völker in seinen Rahmen einschliesst. Die Epoche
ungarischer Geschichte, welche dieses Buch behandelt, ist eine für
die Nation ruhmvolle and bedeutsame gewiss «u nennen. »Sie be-
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Schmidt: Tableaux de la revolution Francaiße.
ginnt mit dem Friedensschlüsse, durch welchen Ungarn im Jahr
1058 sich auf dem Fusse stolzer Gleichberechtigung mit der da-
maligen legalen Obergewalt romanisch-germanischer Nationen, dem
deutschen Königthume, freundlich verständigte. Sie endet mit der
Gesetzgebung, welche, nach einer schweren Niederlage durch die
Russen, Ungarn sich mit dem Beginne des zwölften Jahrhunderts
in politischer und kirchlicher Selbstherrlichkeit gegeben hat. Sie
zeigt die Anstrengungen der Nation, die von allen Seiten mit welt-
lichen und geistlichen Waffen bedrohte Selbständigkeit zu wahren
und deren glänzenden, von Reich serweiterungen begleiteten Erfolg.
In der Znsammenfügung der Doppelkrone, auf deren Besitz sie
noch heute so stolz ist, gewinnt ihre ausdauernde Bemühung, wie
ihr Sieg einen bleibenden Ausdruck u. s. w. — »Ich habe ver-
sucht, eine energische Erhebung des ungarischen Volkes aus der
dreifachen Gefahr äusserer Abhängigkeit, innerer Parteiung und
socialer Auflösung zu einem Zustande starker Selbstständigkeit,
voller Einheit und eines für jenes Zeitalter unvergleichlich wohl-
geordneten Rechtslebens zur Anschauung zu bringen u. s. w.« Also
spricht sich der Verf. selbst über sein Unternehmen aus, das in
der Weise ausgeführt ist, dass der erste Abschnitt mit König
Bela I. beginnt, ein zweiter dann die Ausgleichungsversuche unter
Salomon darstellt, dann die Regierung des Königs Geisa I. und
des Königs Ladislaus I. geschildert wird. Es folgen weitere Er-
örterungen über die Thronfolgeordnung und über den Ausgang des
kroatisch-dalmatischen Reiches; darauf des Königes Koloman Re-
gierungsanfang und die neue Legislation, welche S. 144 — 159 be-
sprochen wird. Zwei Anhänge: Zum Marchfeldfrieden von 1058 und
Ueber Koloman's Namen und Herkunft, bilden den Schluss dieser
Schrift, die auch einer vorzüglichen äusseren Ausstattung sich erfreut.
Tableaux de la revolution Franqaise publie* sur Iis papiers ineditn
du departemeni et de la police secrele de Parin par Adolphe
Schmidt, professeur d'hUioire ä Vumversiti de JSna. Tome
premier. Leipzig, Veit et Comp. 1867. X// und 3T9 S.
Das Werk, dessen erster Theil hier vorliegt, enthält eine Reihe
von Aktenstücken, welche auf die französische Revolution sich be-
ziehen und bisher noch nicht an das Tageslicht gezogen worden
sind, veröffentlicht hier (mit nur wenigen Ausnahmen) zum ersten-
mal nach den Abschriften, welche der Herausgeber vou den im
kaiserlichen Archiv zu Paris, das ihm zum Zweck seiner gelehrten
Forschung geöffnet war, befindlichen Originalen genommen hatte.
Der Herausgeber hat sich indessen nicht auf die nackte Veröffent-
lichung dieser Dokumente beschränkt, sondern auch überall die
nöthigen Erläuterungen zum richtigen Verständniss derselben bei-
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Kleiner t: ßchiller'fl religiöse Bedeutung.
657
gefügt und den Zusammenhang, in dem sie mit den Ereignissen
selbst stehen , genau nachgewiesen. Dass diess in französischer
Sprache geschehen, kann, da in diesem Werke nur französische Ur-
kunden veröffentlicht werden, deren Inhalt auch zunächst auf Frank-
reich und die französische Revolution sich bezieht, kaum befrem-
den, und wird der Verbreitung und Benützung des Ganzen nur
förderlich erscheinen. Es zerfällt dieser erste Band, dem noch
zwei weitere nachfolgen sollen, in zwei Abtheilungen, von welchen
die erste lauter Dokumente enthält, welche auf den Sturz des König-
tbums, bis auf die Hinrichtung Ludwig's XVI. sich beziehen; die
andere dagegen den Sturz der Gironde und die Erhebung der Berg-
partei aus einer Reihe von Aktenstücken des Pariser Stadtrathes
und der geheimen Polizei uns näher und im Einzelnen kennen
lernen lässt, wobei der Herausgeber es nirgends an den nöthigen
Erläuterungen hat fehlen lassen, durch welche der Inhalt dieser
Mittbeilungen, und ihre Beziehung zum Ganzen klar gemacht wird
So gewinnen allerdings die in dieser zweiten Abtheilung mitge-
teilten Aktenstücke eine besondere Bedeutung, weil wir daraus
auch zugleich die Organisation und das Verhalten der geheimen
Policei, wie sie damals eingerichtet war, nach ihren einzelnen Per-
sönlichkeiten ersehen , und über die ganze Einrichtung ein Urtheil
zu fällen im Stande sind. Man wird hiernach in diesen Tableaux
eine wesentliche Bereicherung des Materials und der Quellen zur
Geschichte der französischen Revolution in ihren wichtigsten Mo-
menten zu erkennen haben.
Schillert religiöse Bedeutung. Ein Vortrag von Lic. Dr. P. Klei'
nert. Berlin. Verlag von Wiegandt und Grieben. 1867. 46 S.
Der Unterzeichnete hat im vorigen Jahre den von dem ge-
lehrten Herren Verfasser im evangelischen Verein zu Berlin ge-
haltenen Vortrag über Augustin und Göthe's Faust ange-
zeigt. Faust sollte durch jene Parallele eine religiöse Bedeutung
gewinnen und zu kirchlichen Zwecken benützt werden, was in dem
WeBen der Faustdichtuug nicht zur folgenrichtig durchzuführenden
Anwendung vorliegt. Denn Faust hat so wenig etwas von Augustin,
als Göthe etwas von einem Augustinermönch.
In vorliegendem Vortrage soll ebenfalls für den evangelischen
Verein in Berlin Schiller's religiöse Bedeutung hervorgehoben werden.
Die Stelle, von welcher der Herr Verf. seinen Vortrag hält, ist
> religiösen Zwecken geweiht« (S. 7). Er schickt darum seiner
eigentlichen Aufgabe einige geschichtliche Bemerkungen voraus, um
hervorzuheben, wie auch die christlichen Lehrer des Alterthums,
ein Clemens von Alexandria, Origenes, Gregor von Nazianz, Basi-
lius, der Grosse, Augustin und selbst der mönchische Hieronymus
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568 Kleine rt: Schill er' s religiöse Bedeutung.
den Werth der klassischen Bildung, insbesondere der klassischen
Philosophie und Dichtkunst sehr hoch stellten.
Die Sprache ist schön und blühend, die Gedanken sind tref-
fend entwickelt und zeigen von genauer Kenntniss der Schiller'schen
Poösie. Doch müssen einem ruhigen, objectiven Beobachter die Be-
strebungen auffallen, mit welchen der Herr Verf. sich zu recht-
fertigen sucht, wenn er an der »religiösen Zwecken geweihten
Stelle c von der Bedeutung Schiller'* spricht und kirchliche Aucto-
täten anführen muss, um »alle Gewissen, auch die ängstlichen, für
die Meinung zu gewinnen, dass es ein gutes und im besten Sinne
christliches Werk ist, auch unsere grossen deutschen Klassiker für
die christliche Hausbibliothek, sei es zu erhalten, sei es zu er-
obern und ihr Andenken auch in der Kirche im Segen zu erhalten.«
Man hat es also hier auch wohl mit solchen zu tbun, welche es
für eine ganze oder mindestens halbe Sünde halten, einen deut-
schen Klassiker zu lesen.
lief, stimmt dem Herren Verf. vollkommen bei, wenn er S. 7
sagt: »Der Glaube ist im Versiegen und Verdorren, der sich scheu
zurückzieht von Allem, was ihm auf den ersten Anblick fremd er-
scheint.« Der Herr Verf. will sich nicht in die Beleuchtung aller
einzelnen Vorwürfe gegen Schillers Religiosität einlassen. Er will
die religiöse Bedeutung desselben aus seinen Werken darthun. Sie ist
eine »den Weg weisende; es ist der Weg der Erziehung zur
Religion« (S. 12). Der Weg der Erziehung zur Religion ist der
Weg in der Geschichte der Menschheit, wie in der Geschichte des
Einzelnen. Diese Richtung der Erziehung ist der Begriff des
Sittengesetzes und der sittlichen Weltordnung, von
welchem Schiller ausgeht. Er ist von »keinem deutsohen Dichter
60 ernst und gross aufgefasst worden, als von ihm« (S. 14). Frau
von Stael nannte seine Muse das Gewissen. Nicht nur zeigt sich
dieses in seinen dichterischen Arbeiten, er ging der Macht des Ge-
wissens auch als Geschieht Schreiber nach; denn er schrieb
Geschichte vom Standpunkte der sittlichen Weltordnung (S. 17).
Auch in seinen Schauspielen und ästhetischen Arbeiten zeigt sich
immer dieser sittliche Ernst. Mit Recht wird gezeigt, dass der
Dichter eine Fülle göttlicher Gestalten des Alterthums in seinen
Gedichten verwenden und doch dabei von einem religiösen Sinn
getragen sein kann. S. 23 wird das schöne Epigramm Sohiller's
an Göthe angeführt:
Ist das Auge gesund, so begegnet es aussen dem Schöpfer;
Ist es das Herz, dann gewiss spiegelt es innen die Welt.
Die Gottheiten des Alterthums sind dem Dichter die »künst-
lerische Vervielfältigung des Einen, der Über der Welt und in der
Welt ist und in allem Seienden in wandelnder Wirkung gefühlt und
gefunden wird« (ß. 2&).
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Klelnert: Schillers religiöse Bedeutung.
659
Der Herr Verfasser findet eine Analogie zwischen den beiden
grösten Dichtern des Mittelalters, Wolfram »von Eschenbach und
Gottfried von Strassburg einerseits und den beiden grösten Dich-
tern der Neuzeit, Schiller und Göthe, andrerseits. Diese haben die
griechische Mythologie, jene die keltische Sage als Stoff verwendet.
Die Parallele wird S. 25 gezogen. »Gottfried, heisst es daselbst,
verliert sich an die Sage und kommt dadurch zu einer vollendeten,
in sich gesättigten Gestaltung, der aber der keusche und ernste
deutsche Geist abhanden gekommen ist.« Mit Gottfried wird nun
Götho, auf welchen das Griechenthum einen ähnlichen Eindruck
machte, und mit Wolfram, >dem Träger der tiefen deutschen Ge-
danken von Zweifel und Glauben« Schiller verglichen. Die Paral-
lele lässt sich wohl nioht durchführen. Denn man wird eben so
wenig sagen können, dass in Göthe »vor dem griechischen Geist«
die dentsche Ader zurücktrete«, und dass »für uns seine Schöpfungen
um so fremder werden, je in sich gesättigtor und gerundeter sie
sind.« Gehört denn zum Wesen der deutschen klassischen Dicht-
kunst, »nicht gesättigt und nicht gerundet zu sein«, und kann man
diesen Vorwurf den Schiller' schon Dichtwerken machen? Ist denn
der Redestrom Gottfrieds deshalb deutsch, weil er nioht nur krystall-
hell flios8t« und »glitzert«, sondern auch »dunkel und labyrintisch«
erscheint? Kommt man durch »das Verlieren an eine Sage« zur
»künstlerisch vollendeten, in sich gesättigten Gestaltung«?
Von dem sittlichen Geiste in Schiller's Dichtungen wird der
Uebergang zu dessen religiöser Weltanschauung gemacht, indem in
ihm »das deutsche Gemüth« hervorgehoben wird, das ihm »zum
Schmuck und zur Hülle des tief ernsten religiösen Gedankens dient. «
Er weist als Beleg für Schiller's religiöseu Sinn vorzugsweise aut
sein Gedicht: das Ideal und das Leben hin und hebt die Stelle
hervor :
Nehmt die Gottheit auf in Euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron!
Natürlich hört die Nachweisung von selbst auf, wenn man ein
specifisch-christliohes Bekenntniss oder einen christlichen Dogma-
tismus in Schiller finden wollte. Das aber will natürlich der Herr
Verf. von einem Dichter, wenn er ganz ist, wie er nach seinem
Vorbilde Bein Boll. Er sagt S. 84: »Schiller hat die Gedanken
des Reiches (Gottes), aber er führt nur bis zum Thor und zeigt
die lichten Gestalten, die drinnen sind; dieThüre öffnet er nicht.«
Wenn unter diesen lichten Gestalten die Dogmen der Erbsünde,
der Erlösung und Gnade verstanden werden, so werden sie uns
wohl schwerlich durch Schiller gezeigt; das Thor ist nicht offen,
soudern geschlossen. Es gehört eine specifisch-religiöse Phantasie
dazu, in der Braut von Messina »das sühnende Kreuz aus der Erde
sich erheben« zu sehen, auf dem »die Rechtfertigung aus
Gnaden eingegraben ist.« Als »Signatur« seiner schriftstellerischen
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680 Kobcll: Zur Berechnung der Krystallformen.
Thätigkeit wird »nicht die christliche Religion«, sondern »der Weg
bis zu ihr« bezeichnet. Er »bleibt an der Schwelle stehen.« Wie
erhaben müssen sich hier specifisch fromme Seelen fühlen; sie
stellen sich über Schiller, weil sie über der Schwelle sind, sie sind
im Heiligthum, zu welchem Schiller uns den Weg gewiesen hat.
Man vergisst bei solchem Vorwurfe die schönen Worte des Dichters :
Welche Religion ich bekenne? Keine von allen
Die du mir nennst! Und warum keine? Aus Religion.
v. Reichlin-Meldegg.
Zur Berechnung der Kr y stall formen. Von Franz von Kobell.
München. Joseph Lindauer'sche Buchhandlung. 1H67. 8. 8. 54.
Im Anschluss an frühere Arbeiten hat der Verfasser hier die
Berechnung der Krystallformen vermittelst der sphärischen Trigo-
nometrie weiter ausgeführt mit besonderer Rücksicht auf die Be-
rechnung der Zeichen Naumanns.
Die Anwendung der sphärischen Trigonometrie — so bemerkt
von Kobell — hat schon vor anderen Methoden darin einen
Vorzug, dass sie die Basis der Rechnung jederzeit darlegt: denn
diese Basis ist wesentlich das sphärische Dreieck. Wenn solches
an der zu berechnenden Gestalt zweckmässig golegt ist und man
seine Seiten und Winkel richtig deutet , daun ist die Rechnung
mit den bekannten Formeln klar vorgezeichnet und gewöhnlich ohne
Schwierigkeiten auszuführen. Es ist dies besonders der Fall, weil
man öfter mit rechtwinkligen sphärischen Dreiecken zu thun hat,
wie mit schiefwinkligen und eine Berücksichtigung der Haupt-
schnitte an den Krystallformen hiobei wesentliche Vortheile gewährt.
Das vortreffliche Werk N. v. Kokscharows »Materialion zur
Mineralogie Russlands«, welches mit Auwendung der Naumann'schen
Bezeichnung und Ableitung die erforderlichen Winkel für die ver-
schiedensten Fälle mit grosser Genauigkeit angibt, wird von Fr.
v. Kobell allen Denen empfohlen, welche sich mit Berechnungen
von Krystallformen beschäftigen wollen.
O. Leonhard.
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Kr. 38. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Immanuel KanVs sämmtliche Werke. In chronologischer Reihenfolge
herausgegeben von G. H artenstein. Zweiter Band. Leipzig,
Leopold Voss. 1867. XI u. 464 S. Vierter Band XU u. 507 8.
gr, 8.
Der Unterzeichnete hat in Nr. 32 de9 gegenwärtigen Jahr-
ganges den ersten Band der höchst verdienstvollen neuen Ausgabe
der Kant'schen sämmtlichen Werke durch den geistvollen und
gründlich gelehrten Philosophen, G.Hartenstein, angezeigt. Das
Bedürfniss und die Bedeutung dieser Ausgabe wurden in der An-
zeige des ersten Bandes besprochen und Refer. beschränkt sich
daher darauf, die Reichhaltigkeit und die genaue, dem ursprüng-
lichen trefflichen Plane in Allem vollkommen angemessene Anord-
nung des Inhaltes der beiden vorliegenden Bände in gegenwärtiger
Anzeige anzudeuten.
Während der erste Band Kant's naturwissenschaftliche und
mathematische Schriften aus der Zeit 9einer ersten schriftstelleri-
schen Entwicklung vom Jahre 1747 bis 1756 enthält, umfasst der
zweite Band die ziemlich lange Reihe von Abhandlungen und
kleineren Schriften, welche zwischen das Jahr 1757 und die erste
Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft (1781) fallen. Es sind in
chronologischer Ordnung folgende 19 Schriften und Abhandlungen
in demselben enthalten : 1) Entwurf und Ankündigung eines Ool-
legii der physischen Geographie, nebst dem Anhange einer kurzen
Betrachtung über die Frage: ob die Westwinde in unseren Gegen-
den darum feucht seien, weil sie über ein grosses Meer streichen,
1 757 ; 2) neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der da-
mit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Natur-
wissenschaft, 1758; 3) an Fräulein Charlotte von Knobloch über
Swedenborg, 1758; 4) Versuch einiger Betrachtungen über den
Optimismus, 1759; 5) Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben de9
Herren Joh. Friedr. von Funk in einem Sendschreiben an die Frau
Agnes Elise verwittw. Frau Rittmeisterin von Funk, 1760; 6) die
falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren, 1762; 7)
Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit ein-
zuführen, 1763; 8) der einzig mögliche Beweisgrund zu einer De-
monstration für das Dasein Gottes, 1763; 9) über den Abenteurer
Jan Pawlikowicz ZdomozyrRkich Komarnicki, 1764; 10) Versuch
über die Krankheiten des Kopfes, 1764; 11) Beobachtungen über
das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 1764; 12) Untersuchung
über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und
LIX. Jahrg. 8. Heft. 86
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Kant's Werte von Hartenstein.
der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die königliche
Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufge-
geben hat, 1764; 18) Nachricht von der Einrichtung seiner Vor-
lesungen in dem Winterhalbjahre von 1765 — 1766, 1765; 14)
Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphy-
sik, 1766; 15) von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Ge-
genden im Baume, 1768; 16) de mundi sensibilis et intelligibilis
forma atque prineipiis, 1770; 17) Recensionen der Schrift von Mos-
cati über den Unterschied der Structur der Menschen und Thiere,
1771; 18) von den verschiedenen Racen der Menschen, 1775; 19)
(Druckfehler XIV) das Basedow'sche Philanthropin betreffende Re-
censionen und Aufsätze, 1776 — 1778.
Der Herr Herausgeber konnte von Nr. 1 der hier aufgezähl-
ten Abhandlungen kein Exemplar des Originaldruckes auftreiben.
Die Angabe des Jahres gründet sich auf eine Bemerkung in der
Darstellung des Lebens Kant's von Borowski. Sie findet sich ein-
zig in Nicolovius' Sammlung der kleineren Schriften Kant's. Das
Jahr 1757 ist auch nach Borowski das Jahr, »seitdem Kant mit
nie sinkendem Beifall die Vorlesung Über physische Geographie ge-
halten hat.« Darauf deutet auch die Aufschrift der Abhandlung:
Entwurf und Ankündigung. So sagt er auch am Schlüsse
Seiner Abhandlung vom neuen Lehrbegriff der Bewegung
und Ruhe: »Ich habe in dem verwichenen halben Jahre (Winter
1757 — 1758) die physische Geographie nach meinen eigenen Auf-
sätzen vorgelesen.« Auch weist er in seiner Nachricht von der
Einrichtung seiner Vorlesungen im Winter 1765 — 1766,
in welchem er wieder Vorträge über physische Geographie ankün-
digt, darauf hin, dass er »gleich zu Anfang seiner akademischen
Unterweisung c auf diese Wissenschaft aufmerksam gemacht, und
bezeichnet zugleich die Veränderungen, die er »jetzt« in ihrem Vor-
trage vorgenommen habe. Mit Unrecht ist daher in der Ausgabe
der Werke Kant's von Rosenkranz und Schubert im Specialtitel
der Abhandlung und im Gesammtverzeichniss der Schriften Kant's
für den »Entwurf und Ankündigung des Collegii der physischen
Geographiec das Jahr 1765 anstatt des Jahres 1757 angegeben.
Nr. 2 erschien zu Königsberg bei Driest 1758. 8 Seiten in 4to
im Drucke. Es ist ein Programm zur Ankündigung der Vorlesun-
gen Kant's im Sommerhalbjahre 1758. In den bisherigen Aus-
gaben fehlt die am Schlüsse folgende Ankündigung der Vorlesungen
selbst. Sie ist in diese Ausgabe zur Vervollständigung aufgenom-
men worden. Das Original ist »sehr nachlässig« gedruckt. Die
Sprach- und Scbroibfehler wurden an den betreffenden Stellen ver-
bessert.
Nr. 3. Schreiben an Fränlein Charlotte vonKnob-
loch über Swedenborg, zuerst von Borowski mit dem in der
gegenwärtigen Sammlung gebrauchten Titel bekannt gemacht, bat
dem Inhalte nach mit den Träumen eines Geistersehers,
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Kant's Werke von Hartenstein.
erläutert durchTräume de r Metaphysik, einen verwand-
ten Inhalt, und da die Briefform nur eine ausserwesentliche Ein-
kleidung ist, wnrde die Schrift sehr passend hier, wohin sie dem
Inhalte und der Zeitfolge nach gehört, aufgenommen und aus der
Briefsammlung entfernt.
Auch für Nr. 5 stand dem Herrn Herausgeber das Original
(gedr. Königsberg, bei Driest, 1760. 8. S. 4) nicht zu Gebote. Die
Schrift Hndet sioh nur in den Sammlungen der kleineren Schriften
Kaufs von Eink und Nicolovius.
Nr. 6 erschien in Königsberg bei Joh. Jac. Kanter, 1762
(33 8. 8). Ein Nachdruck wurde zu Frankfurt und Leipzig 1797
ausgegeben.
Von Nr. 8 (einzig möglicher Beweisgrund zu einor
Demonstration des Daseins Gottes) ist die erste Ausgabe
in Königsberg bei Joh. Jac. Kanter 1763 (XIV S. Vorrede und
205 S. 8.) erschienen. Vor der Aufnahme in die kleinern Schriften
wurden noch zwei Ausgaben dieses Buches veranstaltet, zuerst 1770,
in welcher Ausgabe in dem von dem Herren Herausgeber ver-
glichenen Exemplar die Vorrede fohlt. Diese Ausgabe hat den
einfacheren Titel : Der einzige mögliche Beweis vom Da-
sein Gottes. Eine zweite, beziehungsweise dritte Ausgabe er-
schien 1794 unter der ursprünglichen Aufschrift. Die Angabe des
Jahres der Originalausgabe 1783 statt 1763 ist falsch. Noch ist
ein Nachdruck als ^neue Auflage«, Leipzig 1794,Nza nennen. Die
Auflagen siud sich gleich und sind sogar in Druckfehlern mit der
ersten sehr nachlassig gedruckten gleichlautend.
Der Aufsatz Nr. 9 (über Zdomozyrskioh, nicht Idomo-
zyrskich, wie in den beiden Abdrücken sieht) erschien in den
Königsberger gelehrten und politischen Zeitungen
1764, Nr. 3 und wurde zuerst von Borowski wiederaufgenommen.
In dieser Sammlung ist er als Ankündigung der zunächst folgen-
den Abhandlung Nr. 10, Versuch über die Krankheiten
des Kopfes, eingereiht. Vorausgedruckt ist dem Urthoile Kaufs
über den Ziegenpropheten Zdomozyrskich ein Auszug aus einem
Aufsatze Hamanns in dessen Schriften, herausgegeben von Roth,
Bd. III, S. 236—241, welcher den Leser über den Gegenstand
orientirt. Daran reiht sich die genannte benrtheilende Anzeige
Kaufs aus den Königsberger gelehrten und politischen Zeitungen.
In dieser genannten Zeitschrift erschienen auch unmittelbar
darauf im Jahrgang 1764, St 4—8 Nr. 10, der Versuch Uber die
Krankheiten des Kopfes, und später noch andere Beiträge
von Kant ohne Nennung seines Namens.
Nr. XI, die Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen, erschien zuerst Königsberg bei J.
J. Kanter, 1764, 110 S. 8; dann im gleichen Verlage 1766 und
1771 bei J. F. Hartknoch in Riga. Die beiden letzten Abdrücke
unterscheiden sich von dem ersten nur durch sinnstöreude Druck-
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664
Kant's Werke von Hartenstein.
fehler, welche nach der ersten Ausgabe mit kleinen Aendernngen
verbessert wurden.
Nr. 12, die Untersuchung über die Deutlichkeit der
Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral,
wurde zuerst ohne Nennung des Verfassers als Anhang zu Moses
Mendelssohns »Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen
Wissenschaften, welche den von der königlichen Akademie der
Wissenschaften in Berlin auf das Jahr 1763 ausgesetzten Preis
erhalten hat>, abgedruckt.
Dazu kam noch (Berlin, 1764) der Beisatz: »Nebst noch
einer Abhandlung über dieselbe Matche, welche die Akademie
nächst der ersten fUr die beste gehalten hat.« Diese Abhandlung
ist die hier (S. 281—311) gegebene.
Nr 13 wurde in keinem Exemplare des ursprünglichen Druckes
aufgebracht. Der Text blieb unverändert nach dem Abdrucke in
der Sammlung der kleinen Schriften Kant's von Rink und Nico-
lovius. Nr. 14 (die Träume eines Geistersehers) erschien
anonym in Königsberg bei J. J. Kanter 1766, 128 S. kl. 8; auch
steht in andern Exemplaren mit demselben Jahre und den gleichen
Seiten; Eiga bei J. F. Hartknoch. Eine weitere Ausgabe dieser
Schrift ist nicht bekannt.
Die Abhandlung Nr. 15 (von dem ersten Grunde des
Unterschiedes der Gegenden im Baume) ist aus den
Königsberger Frage- und Anzeigenachrichten, 1768, St. 6 — 8 ab-
gedruckt.
Die Abhandlung Nr. 16 (de mundi sensibilis atque intelligi-
bilis forma et prineipiis) ist nach dem Originalabdrucke (Regio-
monti, typ. G. L. Hartungb, 1770, 38 S. 4.) in manchen Einzeln-
heiten berichtigt. Mit dieser, eine neue Richtung in der philoso-
phischen Weltanschauung andeutenden Schrift trat Kant die ihm
übertragene Professur der Logik und Metaphysik an. Als Tag der
Antrittsdisputation ist auf dem Titel nicht der 20., sondern der
21. August 1770 angegeben. Sodann ist die in den bisherigen
Abdrücken fehlende Zueignung an Friedrich den Grossen, wie im
Originale, auf der Rückseite des Specialtitels hinzugefügt. Die
Widmung lautet: Augustissimo Serenissimo atque Potentissimo
Principi ac Domino Domino Friderico Regi Prussorum, Marchioni
Brandenburgico, S. R. J. Archicamerario et Electori, Supremo Sile-
siae Duci etc. etc. Patri Patriae Clementissimo Regi ac Domino
suo Indulgentissimo has demandati sibi muneris primitias devota
mente offert subjectissimus Immanuel Kant (S. 394). Auch einige
andere kleinere Aenderungen sind aus dem Originale hinzugekommen.
Nr. 17 ist eine Recension der Beckmann'schen Ueber-
setzung der Schrift vonMoscati über den Unterschied
der Structur der Thiere und Menschen. Für ihre Echtheit
spricht das Zeugniss von Kant's violjährigem Freunde und Colla-
gen, Christ. Jac. Kraus. Sie ist den Königsberger gelehrten und
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Kant'e Werke von Hartenstein.
665
politischen Zeitungen 1771, St. 67 entnommen, und in Rudolph
Reick e' s Kantiana, Beiträge zu J. Kant's Leben und Schriften,
Königsberg, 1860 wieder abgedruckt.
Nr. 18 (Abhandlung von den verschiedenen Racen der
Menschen) wurde von Kant zur Ankündigung der Vorlesungen
über physische Geographie im Sommerhalbjahre 1775 geschrieben
und erschien in diesem Jahre zu Königsberg bei Gr. L. Härtung,
12 S. 4. im Drucke. Später wurde dieselbe Schrift in J. J. Engels
»Philosoph für die Welte (Leipzig, 1777) im Bd. II, S. 125 — 164
abgedruckt. Diese Bearbeitung ist im Vergleiche zur ersten Ausgabe
verändert und besonders am Schlüsse erweitert. Der Abdruck in
der neuen G. Hartenstein'schen Ausgabe ist nach dem Texte bei
J. J. Engel mit Angabe der Abweichungen vom Texte der ersten
Ausgabe veranstaltet.
Unter Nr. 19 schliessen drei Aufsätze über das Basedow'sche
Philanthropin aus den Jahren 1776—1778 den zweiten Band.
Der zweite dieser Aufsätze ist »unzweifelhaft echte und hat die
Ueberschrift »an das gemeine Wesen« (S. 457). Ursprünglich stand
er, mit K. unterzeichnet, im 25. Stück des Jahrgangs 1777 der
Königsberger gelehrten und politischen Zeitungen ; bald darauf auch
in den von Basedow und Campe herausgegebenen »pädagogischen
Unterhaltungen« (Dessau, 1777, St. 3) unter Kant's Namen. Er
fehlt in der ältern Hartenstein'schen und Rosenkranz-Schubert'schen
Ausgabe von Kant's sämmtlichen Schriften. Karl von Raumer hat
in seiner »Geschichte der Pädagogik seit dem Wiederaufblühen der
klassischen Studien« (Stuttgart, 1843) Tbl. II, S. 259 auf diesen
Aufsatz zuerst wieder hingewiesen und ihn durch den Druck mit-
getbeilt. Diplomatisch genauer und vollständiger ist der Abdruck
in Reicke's Kantiana S. 72. Zwei andere Aufsätze über denselben
Gegenstand aus den Königsberger gelehrten und politischen Zei-
tungen, 1776, St. 26 und 1778. St. 68 (Beilage) sind ebenfalls
in Reicke's Kantiana aufgenommen und werden als »unzweifelhaft
echte Beiträge zu Kant's Schriften« bezeichnet. Unser Herr Heraus-
geber überläast die Entscheidung über die Echtheit des ersten
Aufsatzes dem subjectiven Gefühl des Einzelnen, spricht sich aber
entschieden gegen die Echtheit des zweiten aus. Der Aufsatz ist
»zu redselig« und wird am Schlüsse, um Kantisch zu sein, »viel
zu theatralisch.« Auch war Kant nach einem Briefe an den Hof-
prediger Wilh. Crichton , den damaligen Redacteur der Königs-
berger Zeitung, vom 29. Juli 1778 dem Basedow'schen Institute
nur »sehr bedingungsweise geneigt.« Ermuntert in seinem Schrei-
ben Crichton auf, für das Institut zu schreiben, und der Herr
Herausgeber vermuthet, dass der mehr als 3 Wochen nach diesem
Schreiben erschienene beredte Aufsatz der Königsberger Zeitung
Crichton zum Verfasser habe.
Der vierte Band enthält die der Zeitfolge nach zwischen die
Kritik der reinen Vernunft (1781) und zwischen die Kritik der
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5Gfi
Kant's Werlte von Hartenstein.
praktischen Vernunft (1788) fallenden Schriften und Abhandlungen.
Er umfasst im Ganzen 16 Nummern, welche sich in chronologischer
Ordnung also folgen: 1) Prolegomena '/u einer jeden künftigen
Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten könuen (1783);
2) Recension von Schulz's Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre
für alle Menschen ohne Unterschied ihrer Religion, Thl. I (1788) ;
3) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbttrgerlicher Ab-
sicht (1784); 4) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
(1784); 5) Recensionen von J. G. Herder's Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit, Thl. 1. 2. (1785); 6) über die
Vulcane im Monde (1785); 7) von der Unrechtniässigkeit des
Büchernachdrucks (1785); 8) Bestimmung des Begriffs einer Men-
schenrace (1 785) ; 9) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) ;
10) mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte (1786); 11)
Recension von Gottl. Hufeland's Versuch über den Grundsatz dos
Naturrechts (1786); 12) was heisst sich im Denken orientiren?
(1786); 13) metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft
(1786); 14) Bemerkungen zu Ludwig Heinrich Jakob's Prüfung der
Mendelssohn'schen Morgenstunden (1786); 15) über deu Gebrauch
teleologischer Principien in der Philosophie (1788); 16) sieben
kleine Aufsätze aus den Jahren 1788—1791.
Aussor einem Nachdrucke (Frankf. u. Leipz. 1791) existirt in
besonderm Abdrucke von Nr. 1 nur die erste Originalausgabe (Riga
bei J. Fr. Hartknoch, 1783, 222 8. 8). Doch muss im gleichen
Jahre von der ersten Ausgabe der Prolegomena zu jeder
künftigen Metaphysik» rücksichtlich des Formats, der Lettern,
überhaupt der ganzen Einrichtung des Drucks ein ganz gleicher«
zweiter Abdruck veranstaltet worden sein ; deun die Lesearten sind
in zwei von dem Herren Herausgeber verglichenen Exemplaren ver-
schieden. Nr. 2, die Recension über Schulz' Sittenlehre,
schrieb Kant für das »raisonnirende Bücherverzeicbniss« , Königs-
berg, Härtung, 1783 (Nr. 7, S. 93). Die Schrift ist in Borowski's
Leben Kant's und in der Sammlung der kleineren Kant'schen
Schriften von Nicolovius abgedruckt. Nr. 3 u. 4 erschienen in der
Berliner Monatsschrift 1784 und zwar die erste (Idee zu einer
allgemeinen Geschichte) im November, (S. 386 — 410), die
zwoite (über die Aufklärung) im Dezember (S. 481 — 495).
Nr. 5 (Recensionen von Herders Ideen) erschien in der
Jenaischen allgemeinen Literaturzeitung 1785 (Bd. I, S. 17 ff.
Bd. IV, S. 153 ff.) »Die Erinnerungen dos Recensenten« gegen Her-
der's Vertheidignng finden sich als Anhang zum Märzmonat der
Jenaischen allgemeinen Literaturzeitnng vom Jahre 1785 auf dem
letzten Blatte des betreffendca Bandes. Der Aufsatz Nr. 6 (über
die Vulcane im Monde) ist aus der Berliner Monatsschrift,
1785, März, S. 199-213). Nr. 7 und 8 (über Btichernach-
druck un<l über den Begriff der Menschenracen) stehen in
der gleichen Zeitschrift, 1785, Mai, S. 403-417 und November
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Kant'e Werke von Hartenstein.
567
S. 390—418. Von Nr. 9 (Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten) existireu vier besondere Ausgaben. Die erste erschien zu
Eiga bei Hartknoch (XVI S. Vorrede, 123 S. 8.), die zweite 1786.
Die zweite ist von Kant selbst durchgesehen und wird in gegen-
wärtiger Ausgabe als Text zu Grunde gelegt. Die dritte und vierte
Ausgabe sind blosse Abdrücke der zweiten. Nr. 10 (über den
Anfang der Menschengeschichte) ist aus der Berliner Mo-
natsschrift, 1786, Januar, S. 1—28; Nr. 11 (die Recension
über G. Hufeland's Naturrecht) aus der Jenaischen allge-
meinen Literaturzeitung, Bd. II, S. 113; Nr. 12 (über das sich
Orientiren im Denken) aus der Berliner Monatsschrift, 1786,
October, S. 304 — 330. Von Nr. 13 (metaphysische An-
fangsgründe der Naturwissenschaft) erschienen ausser einem
Nachdrucke (Frankf. u. Leipzig, 1794) bei Kaufs Leben drei Aus-
gaben, die erste 1786 (Riga bei J. F. Hartknoch, XXIV u. 158 S.
gr. 8.), die zweite 1787, die dritte 1800. Nr. 14 (über L. H.
Jakobs' Prüfung der Mendelssohn'schen Morgenstun«
den) steht im Jakobs' sehen Buche selbst, nach der Vorrede des-
selben S. XLIX — LX. Jakobs theilte in einem Briefe Kant den
Entschluss der Prüfung der Mendelssohn'schen Morgenstunden mit
und erwähnte in demselben die Stelle S. 116 in den Morgenstun-
den. Kant versprach ihm eine Berichtigung dieser Stelle. Den Auf-
satz, der aus dieser Berichtigung entstand, schickte Kant an Jakobs,
der ihn in seine Prüfung aufnahm. S. 464 wird diese Veranlassung
mitgetheilt. Nr. 15 (über den Gebrauch teleologischer
Principien in der Philosophie) erschien durch Karl Leon-
hard Reinhold'3 Vermittlung in dem von Wieland herausgegebenen
deutschen Merkur, 1788, Januar, S. 36—52. Zum Schlüsse wur-
den 7 kleinere Aufsätze aus den Jahren 1788—1791 in den vier-
ten Band aufgenommen. F. W. Schubert machte sie in der von
ihm und Rosenkranz veranstalteten Ausgabe von Kant's sämmt-
lichen Werken (Bd. XI, Abth. 1, S. 261-272) zuerst bekannt.
Die sieben Aufsätze sind: 1) Beantwortung der Frage: Ist es eine
Erfahrung, dass wir denken? 2) über Wunder; 3) Widerlegung des
problematischen Idealismus ; 4) über partieuläre Providenz; 5) vom
Gebet; 6) über das Moment der Geschwindigkeit im Anfangsaugenf-
blicke des Falls ; 7) über formale und materiale Bedeutung einiger
Wörter. Zweimal hielt sich Professor Kiesewetter bei Kant in
Königsberg im Jahr 1788 — 1789 und 1791 auf. Aus Gesprächen,
welche Kant mit jenem hielt, entstanden diese kleinen Aufsätze,
welche Kiesewetter von Kant erhielt und handschriftlich nach
chronologischer Reihenfolge 1808 bezeichnete. Die Mittbeilung der-
selben verdankte Schubert, ihr erster Herausgebor, der Vermitt-
lung des Varnhagen von Ense. Diese Veranlassung, welche von
Schubert in der Rosenkranz-Schubert' sehen Ausgabe der Kant1 sehen
Schriften a. a. O. erzählt wird, wird auch in der neuen G. Harten-
atein'schen Ausgabe als Einleitung zu den Aufsätzen mitgetheilt
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503
Kant's Werke von Hartenstein.
Unter sorgfältigster Vergleiehung der verschiedenen Ausgaben wur-
den bei allen einzelnen Schriften der beiden vorliegenden Bünde
theils sprachliche offonbare Unrichtigkeiten, theils Druckfehler in
den theilweise sehr nachlassigen Einzelausgaben der Kant'schen
Schriften von dem gelehrten Herren Herausgeber verbessert
Nicht aufgenommen Wirde die von Borowski unter dem Jahre
1784 erwähnte und auch von Sam. Gottl. Wald in seinem zweiten
Beitrag zur Biographie Kant's (Einladungsschrift zur Gedächtniss-
rede auf den Obertribunalrath Schimmelpfennig, Königsberg 1804)
als eine 1784 selbstständig in 4. erschienene Schrift bezeichnete
Abhandlung: >Betrach tun gen über das Fundament der
Kräfte und die Methoden, welche die Vernunft anwen-
den kann, sie zu beurtheilen.« Nach einem Briefe Kant's an
Christ. Gottfr. Schütz vom 13. September 1783 ist der Gebeime-
rath von Elditten ihr Verfasser.
Was die chronologische Anordnung betrifft, so wird im vier-
ton Bande S. 27 der Brief über Swedenborg an Fräulein
Charlotte von Knobloch nach Nicolovius in das Jahr 1758
gesetzt. Ueberweg gibt (Grnndriss der Geschichte der Philosophie,
III, 8. 137) als Datum dos Briefes den 10. August 1763 an. Das
Jahr ergibt sich aus der Vergleichung der historischen Data mit
Gewissheit. Dazu passt auch , dass die Vermahlung der Charlotte
Araalia von Knobloch (geb. 10. August 1740) mit dem Haupt-
mann Friedrich von Klingsporn am 22. Juli 1764 statt fand (Nach-
weis bei Ueberweg a. a. O.)
Nr. 10 fttber die Krankheiten des Kopfes) hängt wohl nicht,
wie aus der Stellung der Kant'schen Schriften bei Ueberweg (III,
S. 137) hervorgeht, mit Kant's Schriften über Swedenborg, dem
Briefe an die Knobloch und den Träumen eines Geistersehers, zu-
sammen ; die Schrift ist vielmehr nach dem Nachweise des Herren
Heransgebers dieser Sammlung veranlasst durch Kant's Bemerkun-
gen über eine Geschichte dos Ziegenpropheten Zdomozyrskich in
den Königsbergor gelehrten und politischen Zeitungen, 1764, Nr. 3.
Der Artikel über die Lebensart dieses Wilden, der in dieser Zei-
tung anonym enthalten ist, schliesst mit den Worten: »Wir kün-
digen zugleich den ersten Originaivorsuch in uusern nächsten Blät-
tern an und versprechen uns für die Zufriedenheit unserer Leser
mehrere Beiträge von der Gefälligkeit dieses scharfsinnigen und
gelehrten Gönners.« Unmittelbar auf diese Ankündigung folgt nuu
vom 4. bis 8. Stück der Aufsatz über die Krankheiten des
des Kopfes.
Der naturwissenschaftliche und mathematische Charakter, wel-
cher in den ersten, im ersten Bande enthaltenen Schriften Kant's
vorherrscht, tritt in den vorliegenden Bänden zurück. In dem
zweiten Bande beziehen sich nur drei kleine Schriften auf Natur-
wissenschaft, Nr. 1 (Entwurf und Ankündigung eines Collegii der
physischen Geographie u. s. w. 1757), Nr. 2 (neuer Lehrbegriff der
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Kant's Werke von Hartenstein.
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Bewegung und Ruhe, 1758) und Nr. 17 (die Recension über die
Schrift des Anatomen Moscati vom Unterschied der Structur der
Menschen und Thiere, 1771), im vierten Baude Nr. 6 (Ober die
Vulcane im Monde, 1785), der kleine Aufsatz unter Nr. 16 (aus
den Jahren 1788 — 1791) »über das Moment der Geschwindigkeit
im Anfangsaugenblicke des Falls« und die grössere Schrift Nr. 13
(metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft). Alle andern
grösseren und kleineren Schriften der beiden vorliegenden Bände
haben einen philosophischen Charakter und behandeln Gegenstände
aus dem Gebiete der Logik, Metaphysik, Psychologie, Anthropolo-
gie, Moralphilosopbie, Aestbetik, des Naturrecbtes.
Die Schriften des ersten und des vorliegenden zweiten Bandes
bis Nr. 16 (S. 393) gehören der genetischen Periode an d. h. jener
Zeit, welche dem Kant'schen Kriticismus vorangeht und äusserlich
mit seiner Stellung als Privatdocent zusammenhängt, einem Zeit-
räume , in welchem er zwar noch im Allgemeinen sich an den
Leibnitziscb-Wolff'schen Dogmatismus anschloss, aber bereits viel-
fach unter Newtons und Eulers Einfluss über diesen Standpunkt
hinausging und theils empirische, tbeils skeptische Anschauungen
entwickelte, welche den spätem Charakter seiner kritischen Philosophie
vorbereiteten. Mit der Schrift Nr. 16 des zweiten Bandes, (de mundi
sensibilis et intelligibilis forma atquo prineipiis vom Jahre 1770),
welche äusserlich mit dem Antritte seiner Professur in Königsborg
verbunden ist, beginnt die Periode seines Kriticismus und die nach-
folgenden, im zweiten und vierten Bande mitgetheilten Schriften
tragen mehr oder miuder dieses Gepräge. Schon in der ersten
Schrift dieses mit 1770 beginnenden Zeitraumes nimmt Kant die
Apriorität des Raumes und der Zeit an, nicht aber der Kategorien.
Man bezeichnet den jetzt folgenden Zeitraum bis zur Kritik der
reinen Vernunft (1781) als die Periode des Suchens nach einem
ganz neuen Lehrgobäude, dessen Aufstellung mit dem eben ge-
nannten Werke beginnt. Die im vorliegenden vierten Bande ent-
haltenen Schriften , welche in den zwischen die Kritik der reinen
und praktischen Vernunft fallenden Zeitraum eingereiht werden,
gehören also Kant's neu gewonnener Weltanschauung an. Unter
den kleineren Schriften ragen hier als die bedeutendsten die im
vierten Bande enthaltenen Prolegomena zu einer j eden k ünf-
tigen Metaphysik (S. 1 — 133), die Grundlegung zur Me-
taphysik der Sitton (S. 233—337) und die metaphysi-
schen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (S. 355 —
460) hervor. In der ersten Schrift wird das realistische Element
in Kant's Ansicht mehr hervorgehoben und Kant betont in der
Vorrede den Einfluss Hume's auf sein eigenes Forschen. »Seit Locke's
und Leibnitz's Versuch, sagt er (Bd. IV, S. 5), oder vielmehr seit
dem Entstehen der Metaphysik, so weit die Geschichte derselben
reicht, hat sich keine Begebenheit zugetragen, die in Ansehung des
Schicksals dieser Wissenschaft hätte entscheidender werden können,
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Kant's Werke von Hartenstein.
als der Angriff, den David Harne auf dieselbe machte. Erbrachte
kein Licht in diese Art von Erkenntniss, aber er schlug doch
einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte
anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zan-
der getroffen hätte, dessen Glimmen sorgfältig wäre
unterhalten und vergrössert worden.« Kant sah ein, dass
es Hume's Ansicht von der Verknüpfung der Ursache und Wirkung,
mithin auch dessen Folgenbegriffe der Kraft und Handlung u. s.
w. seien, die man prüfen müsse, dass man von der Untersuchung
dieser Frage ausgehen müsse, wenn man eine »gänzliche Reform«
der Wissenschaft zu Stande bringen wolle. Wie vortrefflich ist,
was Kant Uber die dogmatische Metaphysik seiner Zeit sagt
(S. 114): »Alle falsche Kunst, alle eitle Weisheit dauert ihre Zeit,
denn endlich zerstört sie sich selbst, und die höchste Cultur der-
selben ist zugleich der Zeitpunkt ihres Unterganges. Dass in An-
sehung der Motaphysik diese Zeit jetzt da sei, beweist der Zu-
stand, in welchen sie bei allem Eifer, womit sonst Wissenschaften
aller Art bearbeitet werden, unter allen gelehrten Völkern ver-
fallen ist. Die alte Einrichtung der Universitätsstudien erhält noch
ihren Schatten, eine einzige Akademie der Wissenschaften bewegt
noch dann und wann durch ausgesetzte Preise, einen uud andern Ver-
such darin zu machen ; aber unter gründliche Wissenschaften wird
sie nicht mehr gezählt, und man mag selbst urtheilen, wie etwa
ein geistreicher Mann, den man einen grossen Metaphysiker nennen
wollte, diesen wohlgemeinten, aber kaum von Jemanden beneideten
Lobspruch aufnehmen würde.« Wie wahr ist, was Kant über jenes
eud- und nutzlose Construiren metaphysi scher Dogmen
S. 88 sagt: »Man kann in der Metaphysik auf mancherlei Weise
herumpfuschen, ohne eben zu besorgen, dass man auf Unwahrheit
werde betreten werden. Denn, wenn man sich nur nicht selbst
widerspricht (auch das thatcn und thun manche Metaphysiker un-
gescheut), welches in synthetischen, obgleich gänzlich erdichteten
Sätzen gar wohl möglich ist, so können wir in allen solchen Fällen,
die gar nicht, ihrem ganzen Inhalte nach, in der Erfahrung ge-
geben werden können, niemals duroh Erfahrung widerlegt werden.
Denn, wie wollten wir es durch Erfahrung ausmachen, ob die Welt
von Ewigkeit her sei, oder einen Anfang habe? ob Materie in's
Unendliche theilbar sei oder ans einfachen Theilen bestehe? Der-
gleichen Begriffe lassen sich in keiner, auch der gröstmöglichsten
Erfahrung geben, mithin die Unrichtigkeit des behauptenden oder
verneinenden Satzes durch diesen Probierstein nicht entdecken.«
Wie scharf sondert er die Grenze des Verstandes und der Ein-
bildungskraft und wie fein bezeichnet er die Quelle des Irr»
thums in der Metaphysik und der Anziehungskraft des-
selben für die Jugend S. 65; »Es kann der Einbildungskraft
vielleicht verziehen werden, wenn sie bisweilen schwärmt, d. i. sich
nicht behutsam innerhalb der Schranken der Erfahrung hält ; denn
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Kant's Werke von Hartenstein.
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wenigstens wird sie durch einen solchen freien Schwung belebt und ge-
stärkt, und es wird immer leichter sein, ihre Kühnheit zu massigen,
als ihrer Mattigkeit aufzuholfen. Dass aber der Verstand, der denken
soll, an dessen statt schwärmt, das kann ihm niemals verziehen
werden ; denn auf ihm beruht alle Hülfe, um der Schwärmerei der
Einbildungskraft, wo es nöthig ist, Grenzen zu setzon. Er fangt
es aber hiermit sehr unschuldig und sittsam an. Zuerst bringt er
die Elementarerkenntnisse, die ihm vor aller Erfahrung beiwohnen,
aber dennoch in der Erfahrung immer ihre Anwendung haben
müssen, in's Reine. Allmählig lässt er die Schranken weg, und
was sollte ihn auch daran hindern, da der Verstand ganz frei seine
Grundsätze aus sich selbst gewonnen hat? Und nun geht es zuerst
auf neu erdachto Kräfte in der Natur, bald hernach auf Wesen
ausser der Natur, mit einem Wort auf eine Welt, zu deren Ein-
richtung es uns an Bauzeug nicht fehlen kann, weil es durch
fruchtbare Erdichtung reichlich herbeigeschafft und durch Erfah-
rung zwar nicht bestätigt, aber auch niemals widerlegt wird. Das
ist auch die Ursache, weswegen junge Denker Metaphysik in ächter
dogmatischer Manier so lieben und ihr oft ihre Zeit und ihr sonst
so brauchbares Talent aufopfern.«
Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (S. 283
— 313) bildet den Uebergang zur Kritik der praktischen Vernunft.
In den metaphysischen Anfangsgründen derNatur-
wissenschaft (S. 355— 463) wird die Matorie auf Kräfte zurück-
geführt und der Dynamismus entwickelt. In formaler Bedeutung
ist Kant die Natur »das innerste Princip alles dessen, was zum
Dasein eines Dinges gehört.« In diesem Sinne hat jedes Ding
seine »Naturwissenschaft« und es gibt so »vielerlei Naturwissen-
schaften« , als es »speeifisch verschiedene Dinge gibt.« Jedes
bat ja »sein eigentbümliches inneres Princip der zu seinem Dasein
gehörigen Bestimmungen.« Natur iu materieller Bedeutung ist
»der Inbegriff aller Dinge, so fern sie Gegenstände unsererSinne,
mitbin auch der Erfahrung sein können«, also »das Ganze aller
Erscheinungen d. i. die Sinnenwelt mit Ausschliessung aller nicht
sinnlichen Objecto.«
Auch in den kleinsten Schriften Kaut's offenbart sich sein
grosser Geist, welcher bestimmt war, im Entwicklungsgange der
Philosophie den Abschluss des dogmatischen und den Beginn des
kritischen Geistes dieser Wissenschaft zu bezeichnen. Seine Schrift über
den Optimismus (1759), den er ganz anders, als Leibnitz fasst,
endet er mit den Worten (Bd. II der vorliegenden Sammlung,
S. 43) : »Ich rufe allem Geschöpfe zu, welches sich nicht selbst un-
würdig macht: Heil nns, wir sind! und der Schöpfer hat an uns
Wohlgefallen. Unermessliche Räume und Ewigkeiten werden wohl
nur vor dem Auge des Allwissenden die Reichthümer der Schöpfung
in ihrem ganzen Umfange eröffnen; ich aber aus dem Gesichts-
punkte, worin ich mich befinde, bewaffnet durch die Einsicht, die
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Kant's Werke von Hartenstein.
meinem schwachen Vorstande verliehen ist, werde um mich schauen,
so weit ich kann, und immer mehr einsehen lernen, dass das
Ganze das Beste sei und alles um des Ganzen willen
gut sei.c Eine bilderreiche Phantasie, ein tiefes Gern Oth und jene
Kant überall kennzeichnende Klarheit und Tiefe des Gedankens
zeichnen sein schönes Trostschreiben an die verwittwete Frau
Rittmeister Funk bei dem frühzeitigen Ableben ihres Sohnes, des
Studenten Funk (im zweiten Bande Nr. 5 vom Jahr 1760) aus.
Das Haschen der menschlichen Begierde und die Vergänglichkeit
menschlicher Bestrebungen schildert uns daselbst der Weise S. 47 :
»Der grösste Haufen der Menschen mengt sich sehr begierig in das
Gedränge derjenigen, die auf der Brücke, welchedie Vorsehung über
einen Theil des Abgrundes der Ewigkeit geschlagen hat, und die
wir Leben heissen , gewissen Wasserblasen nachlaufen und sich
keine Mühe nehmen, auf die Fallbretter Acht zu haben, die Einen
nach dem Andern, neben ihnen, in die Tiefe herabsinken lassen,
deren Maass Unendlichkeit ist, und wovon sie selbst endlich mitten
in ihrem ungestümen Laufe verschlungen werden.« Er schliesst
sein Schreiben (S. 52) mit den Worten: »Die demttthige Ent-
sagung unserer eigenen Wünsche, wenn es der weisesten Vorsehung
gefällt, ein Anderes zu beschliessen, und die christliche Sohnsucht
nach einerlei seligem Ziele, zu welchem Andere vor uns gelangt
sind, vermögen mehr zur Beruhigung des Herzens, als alle Gründe
einer trockenen und kraftlosen Beredsamkeit « Ein leben s heite-
rer Humor spricht aus Kant's Aufsatz über die Krankheiten
des Kopfes (Nr. X vom Jahr 1764). So lesen wir gleich im An-
fange die Worte: »Die allge meine Achtung, darin beide gepriesene
Eigenschaften (des Kopfes und des Herzens) stehen, macht gleich-
wohl diesen merklichen Unterschied, dass Jedermann weit eifer-
süchtiger auf die Verstandesvorzüge, als auf die guten Eigenschaf-
ten des Willens ist und dass in der Vergleichung zwischen Dumm-
heit und Schelmerei Niemand einen Augenblick ansteht, sich zum
Vortheil der letzteren zu erklären ; welches gewiss auch sehr wohl
ausgedacht ist, wenn alles überhaupt auf Kunst ankömmt, da feine
Schlauigkeit nicht kann entbehrt werden, wohl aber die Redlich-
keit, die in solchem Verhältnisse nur hinderlich ist. Ich lebe unter
weisen und wohl gesitteten Bürgern, nämlich unter denen, die sich
darauf verstehen so zu scheinen, und ich schmeichle mir, man
werde so billig sein, mir von dieser Feinigkeit auch so viel zuzu-
trauen, dass, wenn ich gleich im Besitze der bewährtesten Heilungs-
raittel wäre, die Krankheiten des Kopfes und des Herzens aus dem
Grunde zu heben, ich doch Bedenken tragen würde, diesen alt-
väterischen Plunder dem öffentlichen Gewerbe in den Weg zu legen,
wohl bewusst, dass die beliebte Modecur des Verstandes und des
Herzens schon im erwünschten Fortgange sei, und dass vornehm-
lich die Aerzte des ersteren, die sich Logiker nennen, sehr gut dem
allgemeinen Verlangen Genüge leisten, seitdem sie die wichtige
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Kant's Werke von Hartenstein.
Entdeckung gemacht haben, dass der menschliche Kopf eigentlich
eine Trommel sei , die nur darum klingt , weil sie leer ist. Ich
sehe demnach nichts Besseres für mich, als die Methode der Aerzte
nachzuahmen, welche glauben, ihrem Patienten sehr viel genutzt
zu haben, wenn sie seiner Krankheit einen Namen geben, und ent-
werfe eine kleine Onomastik der Gebrechen des Kopfes, von der
Lähmung desselben an in der Blödsinnigkeit bis zu dessen
Verzückungen in der Tollheit; aber um diese eckelhaften Krank-
heiten in ihrer allmähügen Abstammung zu erkennen, finde ich
nöthig, zum voraus die milderen Grade derselben von der Dumm-
kopfigkeit an bis zur Narrheit zu erläutern, weil diese Eigen-
schaften im bürgerlichen Verhältnisse gangbarer sind und dennoch
zu den ersteren führen. c Besonders wichtig für unsere Zeit und
die in ihr herrschenden Anschauungen des Materialismus ist Kant's
Andeutung über die verschiedenen Racen der Menschen
zur Ankündigung der Vorlesungen der physischen Geographie im
Sommerhalbjahre 1775. Refer. führt die Stelle im zweiten Bande
dieser Sammlung S. 440 an: »Die in der Natur eines organischen
Körpers (Gewächses oder Thieres) liegenden Gründe einer bestimm-
ten Aus wickelung heissen, wenn diese Auswickelung besondere Theile
betrifft, Keime; betrifft sie aber nur die Grösse oder das Verhält-
niss der Theile unter einander, so nenne ich sie natürliche An-
lagen. In den Vögeln von dersolben Art, die doch in verschiede-
nen Klimaten leben sollen, liegen Keime zur Auswickelung einer
neuen Schicht Federn, wenn sie im kalten Klima leben, die aber
zurückgehalten werden, wenn sie sich im gemässigten aufhalten
sollen. Weil in einem kalten Lande das Waizenkorn mehr gegen
feuchte Kälte geschützt werden muss, als in einem trockenen oder
warmen, so liegt in ihm eine vorher bestimmte Fähigkeit oder
natürliche Anlage, nach und nach eine dickere Haut hervorzubrin-
gen. Diese Vorsorge der Natur, ihr Geschöpf durch versteckte
innere Vorkehrungen auf allerlei künftige Umstände auszurüsten,
damit es sich erhalte und der Verschiedenheit des Klima oder des
Bodens angemessen sei, ist bewundernswürdig und bringt bei der
Wanderung und Verpflanzung der Thiere und Gewächse, dem Scheine
nach, neue Arten hervor, welche nichts Anderes, als Abartungen
und Racen von derselben Gattung sind, deren Keime und natür-
liche Anlagen sich nur gelegentlich in langen Zeitläuften auf ver-
schiedene Weise entwickelt haben. Der Zufall oder allge-
meine mechanische Gesetze können solche Zusammenpassun-
gen nicht hervorbringen. Daher müssen wir dergleichen gelegent-
liche Auswickelungen als vorgebildet ansehen. Allein selbst da, wo
sich nichts Zweckmässiges zeigt, ist das blosse Vermögen, seinen
besondern angenommenen Charakter fortzupflanzen, schon Beweises
genug, dass dazu ein besonderer Keim oder natürliche Anlage in
dem organischen Geschöpf anzutreffen gewesen. Denn äussere Dinge
können wohl Gelegenheits- aber nicht hervorbringende Ursachen
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Kant's Werke von Hartenstein.
von demjenigen sein, was nothwendig anerbt und nachartet. So
wenig, als der Zufall oder physisch-mechanische Ursach en
einen organischen Körper hervorbringen können, so wenig werden
sie zu einer Zeugungskraft etwas hinzusetzen d. i. etwas bewirken,
was sich selbst fortpflanzt, wenn es eine besondere Gestalt oder
Verhältniss der Theile ist. Luft, Sonne und Nahrung können einen
tbieriscbcn Körper in seinem Wachstbum modificiren, aber diese
Veränderung nicht zugleich mit einer zeugenden Kraft versehen,
die vermögend wäre, sich selbst auch ohne diese Ursache wieder
hervorzubringen ; sondern, was sich fortpflanzen soll, muss in der
Zeugungskraft schon vorher gelegen haben, als vorher bestimmt zu
einer gelegentlichen Auswickelung, den Umständen gemäss, darein
das Geschöpf gerathen kann und in welchen es sich beständig er-
halten soll. Denn in die Zeugungskraft muss nichts dem Tbiere
Fremdes hineinkommen können, was vermögend wäre, das Geschöpf
nach und nach von seiner ursprünglichen Bestimmung zu entfernen
uud wahre Ausartungen hervorzubringen, die sich perpetuiren. «
Im vierten Bande macht Refer. auf die Idee zu einer
al Ige meinen G es oh ich te in weltbürgerlicher Absicht,
1784, (S. 141—159) aufmerksam. Es sind in derselben Gedanken
zu einer Philosophie der Geschichte niedergelegt. Die Schrift be-
ginnt mit dem Satze: »Was man sich auch in metaphysischer Ab-
sicht für einen Begriff von der Freiheit des Willens machen
mag, so sind doch die Erscheinungen desselben, die menschlichen
Handlungen, eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit, nach
allgemeinen Naturgesetzen bestimmt.« Nicht die »eigene Absicht«
des Menschen, sondern »die Naturabsicht« soll angedeutet werden.
Dieses geschieht in neun Sätzen. Sie lauten: »1) Alle Natur-
aulagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig
und zweckmässig auszuwickeln; 2) am Menschen (als dem ver-
nünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturan-
lagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind , nur
in der Gattung, nioht aber im Individuum vollständig entwickeln ;
3) die Natur hat gewollt, dass der Mensch Alles, was über die
mechanische Anordnung seines Daseins geht, gänzlich ans sich selbst
herausbringe, und keiner anderen Glückseligkeit oder Vollkommen-
heit theilhaftig werde, als die er sich selbst, frei von Instinct,
durch eigene Vernunft verschafft hat; 4) das Mittel, dessen sich
die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande
zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der Gesellschaft,
sofern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmässigen Ord-
nung derselben wird (Antagonismus ist nach Kant die »ungesellige
Geselligkeit der Menschen d. i. der Hang derselben in Gesellschaft
zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande , wel-
cher diese Geselligkeit beständig zu trennen droht, verbunden ist«) ;
5) das grösste Problem für die Menschengattung, zu dessen Auf-
lösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein
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Ktnt'a Werke von Hartenstein.
das Recht vorwaltenden bürgerlichen Gesellschaft; 6) die-
ses Problem ist zugleich das schwerste und das, welches von der
Menschengattung am spätesten aufgelöst wird ; 7) das Problem der
Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung ist von dem
Problem eines gesetzmässigen äussern Staatenverhältnisses
abhängig und kann ohne das letztere nicht aufgelöst werden ; 8)
man kann die Geschichte der Menschengattung im Grossen als die
Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine
innerlich nnd zu diesem Zwecke auch äusserlich vollkommene
Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand,
in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig ent-
wickeln kann ; 9) ein philosophischer Versuch, die allgemeine Welt-
geschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene
bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu be-
arbeiten, muss als möglich und selbst für diese Naturabsicht be-
förderlich angesehen werden. €
Wie treffend beginnt der unsterbliche Denker den Aufsatz vom
Jahre 1784: Beantwortuug der Frage: Was ist Aufklärung?
(S. 158 — 168) mit den Worten: > Aufklärung ist der Ausgang
des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmün-
digkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Ver-
standes ohne Leitung eines Andern zu bedienen. Selbstverschuldet
ist die Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel
des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Muthea liegt, sich
seiner ohne Leitung eines Andern zu bedienen. Sapere aude ! Habe
Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der
Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit nnd Feigheit sind die Ur-
sachen, warum ein so grosser Theil der Menschen, nachdem sie
die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter
majorennes), gerne Zeitlebens unmündig bleiben, und warum es
Andern so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es
ist so bequem unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich
Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen
Arzt, der für mich die Diät beurtheilt u. s. w., so brauche ich
mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu den-
ken, wenn ich nur bezahlen kann. Andere werden das verdienst-
liche Geschäft schon für mich übernehmen.« In dem Artikel:
Particuläre Providenz sagt Kant (S. 504): >Es entsteht die
Frage: Sorgt Gott blos für das Allgemeine, oder auch für das
Besondere? Wir nehmen die Frage in dem Sinn: Hat Gott nur
blos einen grossen allgemeinen Zweck, dem Alles untergeordnet
sein muss, oder hat er sich mehrere einzelne Zwecke vorgesetzt,
die zusammengenommen einen Zweck ausmachen? Man muss die
erste Frage bejahen, die andere verneinen; denn ich kann es mir
nicht vorstellen, wie mehrere Zwecke zusammengenommen einen
ausmachen; unsere Vernunft geht vielmehr den entgegengesetzten
Weg und nimmt eins an, von dem sie auf mehrere herunter-
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Kant's Werke von Hartenstein.
steigt. Dessen ungeachtet können mehrere Beschaffenheiten als
zweckmässig gedacht werden, ohne jedoch wegen eines besonderen
Zweckes da zu sein.« In dem Aufsatze vom Gebet sagt Kant
(S. 505): »Dem Gebete andere als natürliche Folgen beizulegen
ist thöricht und bedarf koiner ausführlichen Widerlegung; man
kann nur fragen: Ist nicht das Gebet seiner natürlichen Folgen
wegen beizubehalten? Zu diesen natürlichen Folgen zählt man,
dass durch's Gebet die in der Seele vorhandenen dunkeln und ver-
worrenen Vorstellungen deutlicher gemacht, oder ihnen ein höherer
Grad von Lebhaftigkeit ertheilt werde, dass es den Beweggründen
zur Tugend dadurch eine grössere Wirksamkeit verleiht u. s. w.
Hiorbei ist nun erstlich zu merken, dass das Gebet aus den an-
geführten Gründen doch nur subjectiv zu empfehlen ist; denn der-
jenige, welcher die vom Gebet gerühmteu Wirkungen auf eine andere
Weise erreichen kann, wird desselben nicht uöthig haben. Ferner
lehrt uns die Psychologie, dass sehr oft die Auseinandersetzung
eiues Gedankens die Wirkung schwächt.« .. »Aber endlich ist bei
dem Gebete auch Heuchelei; denn der Mensch mag laut beten,
oder seine Ideen innerlich in Worte auflösen, so stellt er sich die
Gottheit als etwas vor, das den Sinnen gegeben werden kann, da
sie doch blos ein Priucip it»t, das seine Vernunft ihn anzunehmen
zwingt. Das Dasein einer Gottheit ist nicht bewiesen, sondern es
wird postulirt und es kann also blos dazu dienen, wozu die Ver-
nunft gezwungen war, es zu postuliren. Denkt nun der Mensch:
wenn ich zu Gott bete, so kann mir dies auf keinen Fall schaden ;
denn, ist er nicht, nun gut, so habe ich des Guten zu viel gethan ;
ist er aber, so wird es mir nützen, so ist diese Prosopopöia Heu-
chelei, indem bei'm Gebet vorausgesetzt werden muss, dass der-
jenige, der es verrichtet, gewiss überzeugt ist, dass Gott existirt.
Daher kommt es auch, dass derjenige, welcher schon gewisse Fort-
schritte im Guten gemacht hat , aufhört zu beten ; denn Redlich-
keit gehört zu seinen ersten Maximen. In den öffentlichen Vor-
trägen kann und muss das Gebet beibehalten werden, weil es wirk-
lich rhetorisch von grosser Wirkung sein und einen grossen Ein-
druck machen kann und man überdies in den Vorträgen an das
Volk zu ihrer Sinnlichkeit sprechen und sich zu ihnen so viel wie
möglich herablassen muss.«
I.SchluBB folgt.)
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Ii. 37. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Kant's Werke von Hartenstein.
(SCMUBB.)
In seinem Aufsatze über Wunder wird die Unmöglichkeit
derselben also bewiesen. »Wären Wunder im Baume möglich, so
wäre es möglich , dass Erscheinungen geschehen , bei denen Wir-
kung und Gegenwirkung nicht gleich gross sind. Alle Veränderungen
im Räume sind nämlich Bewegungen. Eine Bewegung aber, die
durch Wunder hervorgebracht werden soll, deren Ursache soll nicht
in den Erscheinungen zu suchen sein. Das Gesetz der Wirkung
und Gegenwirkung aber beruht darauf, dass Ursache und Wirkung
zur Siunenwelt (zu den Erscheinungen) gehören d. i. im relativen
Räume vorgestellt wurden ; da dies nun bei den Wundern im Räume
von der Ursache nicht gilt, so werden sie auch nicht unter dem
Gesetz der Wirkung und Gegenwirkung stehen. Wird nun durch
ein Wunder eine Bewegung bewirkt, so wird, da sie nicht unter
dem Gesetz der Wirkung und Gegenwirkung steht, durch sie das
centrum gravitatis der Welt verändert werden, d. i. mit andern
Worten, die Welt würde sich im leeren Raum bewegen; eine Be-
wegung im leeren Raum ist aber ein Widerspruch ; sie wäre näm-
lich die Relation eines Dinges zu Nichts; denn der leere Raum
ist eine blosse Idee. Eine Erscheinung in der Zeit ist ein Wunder,
wenn die Ursache derselben nicht in der Zeit gegeben werden
kann, nicht unter den Bedingungen derselben steht. Da aber allein
dadurch, dass beide, Ursache und Wirkung, zu den Erscheinungen
gehören, die letztere in der relativen Zeit bestimmt werden kann,
so wird dies bei einer Wirkung, die durch ein Wunder hervorge-
bracht wird, nicht geschehen können , weil ihre Ursache nicht zu
den Erscheinungen gehört. Es wird also eine übernatürliche Be-
gebenheit nicht in der relativen, sondern in der absoluten (leeren)
Zeit bestimmt sein. Eine Bestimmung in der leeren Zeit ist ein
Widerspruch, weil zu einer jeden Relation zwei Correlata gegeben
werden müssen.« Die Schriften dieses grössten Denkers unserer Zeit,
welcher mit tiefem Kennerblick alle Seiten der Natur und des
Geistes zu umfassen strebt, sind es, aus denen vorzugsweise die
geistige Bildung der Gegenwart hervorging und welche durch vielfach
zu neuen Forschungen anregende Gedanken den Grund zur Welt-
anschauung unserer Zukunft legen. Die Vielseitigkeit des in diesen
Schriften mit der Kraft des Genies behandelten Stoffes entspricht
nicht nur dem wissenschaftlichen Bedürfnisse des Philosophen vom
LX. Jahrg. 8. Heft 37
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Piderit: System der Mimik und Physiognomik.
Fache, sondern auch des Theologen, Rechtsgelehrten und Natur-
forschers, wie jedes Freundes der Geistesbildung. Möge die trefflich
angelegte und bis jetzt mit der grössten Sorgfalt von dem rühm-
lichst bewährten Herren Herausgeber durchgeführte Sammlung recht
bald zum Abschlüsse kommen!
v. Reichlin-Meldegg.
Wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomik von Dr.
Theodor Pider iL Mit 94 photolithographischen Abbildungen.
Detmold. Klingenberg1 sehe. Buchhandlung. 1867. XVI u. 204 S.
gr. 8,
Der bekannte gelehrte Herr Verfasser des vorliegenden Werkes
hat schon im Jahre 1858 eine Schrilt über Mimik und Phy-
siognomik (Braunschweig bei F. Vieweg und Sohn) herausge-
geben. Sie entbült die leitenden Ideen, welche dem vorliegendeu
Buche zu Grunde liegen. Als diese Schrift erschien, hielt sich
ihr Verfasser in Südamerika auf. Zu einer ausführlicheren Be-
arbeitung fehlte ihm die Müsse und die Anfertigung der dazu ge-
hörigen Illustrationen konnte nicht gehörig überwacht werden.
So fielen die Tafeln mangelhaft aus. Die von verschiedenen Stand-
punkten erschienenen Kritiken waren sämmtlich günstig. Doch
stand der weiteren Verbreitung jener Schrift nicht nur die »apho-
ristische und schmucklose Darstellungsweise« (S. IX), sondern auch
die Behandlung zweier verschiedener Gegenstände im Wege. Im ersten
Theile derselben wurden nämlich die Grundzüge einer physiologischen
Psychologie entworfen, der zweite Theil aber behandelte die Mimik
und Physiognomik, den bruchstückweise gegebenen Hauptgegenstand.
Mit Recht hat nun der Herr Verfasser diese beiden verschiedenen
Gegenstände in besonderen Schriften getrennt behandelt. Die
psychologischen Fragen wurden in der von dem Unterzeich-
neten in diesen Blättern angezeigten Abhandlung: Gehirn und
Geist (Leipzig und Heidelberg, Winter' sehe Vcrlagshandlung,
1863) besprochen. Der andere Theil, die Mimik und Physio-
gnomik, wurde zum Gegenstande der vorliegenden Arbeit gewählt.
Ein Vorläufer derselben, der Abschnitt Uber die Augen, erschien
1861 im 18. Bande der allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie.
Das vorliegende Buch wird in zwei Theile zerlegt, den mi-
mischen und phy siognomische n. Der erste Theil soll unter-
suchen, wie und warum bei gewissen Leidenschaften und Stimmun-
gen gewisse Gesichtsmuskeln in Zuckung und Spannung gerathen,
der zweite zeigen, dass »diese mimischen Züge durch häufige Wie-
derholung zu bleibenden , zu physiognomischen Zeichen werden«
(S. X). Schon im mimischon Theile wird dasjenige, was als phy-
siognomisches Resultat bezeichnet wird, an den betreffenden Stellen
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Piderit: System der Mimik nnd Physiognomik.
579
kurz und mit verändertem Drucke angedeutet. Die physiognomi-
scben Bemerkungen erscheinen also im ersten Tbeile nur als Neben-
sätze und werden erst im zweiten oder physiognomischen Theile
als Hauptsätze aufgestellt und näber erläutert und ausgeführt. Als
Hauptzweck der Schrift wird die Untersuchung der mimi-
schen Gesichtsbewegungen bezeichnet.
Der erste Theil (Mimik) umfasst 1) Einleitung, insbesondere
Literatur, 2) Psychologisches, 3) Mimik der Augen, 4) Mimik dos
Mundes, 5) Mimik der Nase, 6) Lachen und Weinen, 7) Besume*
der mimischen Bewegungen der Gesichtsmuskelü.
Der zweite Theil (Physiognomik) enthält 1) das künstle-
rische, 2) das literarische Material, 3) Rückblick, 4) Physiognomik
der Gesiohtsrauskeln, 5) Resume" der physiognomischen Merkmaie.
Angeschlossen ist ein Verzeichniss der zu dem Werke gehörenden
Illustrationen.
Der Herr Verf. geht in der Einleitung von der richtigen
Wahrnehmung aus, dass die mimische Gesichtsbewegung die stumme
Sprache des Geistes, dass die Mienensprache aller Orten und zu
allen Zeiten dieselbe geblieben, dass sie selbst dem Säuglinge und
Thiere verständlich ist. Er knüpft daran einzelne Bemerkungen
von Johannes Müller, Lotze, Oken, E. Harless u. s.w..,
und berichtiget sie, spricht seine Freude darüber aus, dass auch
die neueren Physiologen, wie Gratiolet, Vierordt, Dame-
row u. A. ihre Aufmerksamkeit der Mimik und Physiognomik zu-
wenden, führt Werke von Malern in Beziohnng auf diesen Gegen-
stand an, wie die methode pour apprendre ä desiner les passions
(Amsterdam, 1702) von Lebrun, den »Tractat« des Leonardo da
Vinci »von der Malerei, Nürnberg 1724t, eine deutsche üeber-
tragung des für Künstler nützlichen Originals. Von den älteru
Künstlern wird Hogarth, von den neueren Kau Ibach unter
denjenigen genannt, welche am glücklichsten und treuesten das
Mienenspiel darstellen.
Es handelt sich um die Frage, »wie und warum gewisse
Geisteszustände von gewissen Muskelbewegungen begleitet werden c
(S. 14). Wenn man diese Frage ein Ruth sei genannt hat, so ver-
sucht dieses der Herr Verfasser zu lösen. Er will die Sprache der
Leidenschaften bis zu ihrem Ursprünge verfolgen, das flüchtige und
complicirte Mienenspiel in seine Einzelnbeiten zerlegen, die mimi-
schen Muskelbewegungen systematisch eintheilen, und erklären. Es
soll dadurch dem Künstler möglich werden, »einen beliebigen ver-
langten Gesichtsausdruck gleichsam mit mathematischer Bestimmt-
heit zu construiren« (S. 15). Durch selbstgefertigte, einfache,
schematische Zeichnungen hat der Herr Verf. den mimischen Aus-
druck der Geraüthsbewegung, des intellectuellen und sittlichen
Charakters anschaulich zu machen gesucht. Zur möglichst fehler-
losen Darstellung derselben wurde die Photolithographie gewählt.
Wenn aber auch dadurch eine grössere Genauigkeit, als durch Hoiz-
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bbO
Piderit: System der Mimik und Physiognomik.
schneiden, erzielt wird, so erscheinen dieKöpfe doch eigenthümlich platt
und leblos. Die gezeichneten Originale haben mehr Ausdruck und
plastische Rundung, weil in den Zeichnungen einzelne Partien mehr
durch dunklere Striche hervorgehoben sind. Die markirteren Stellen
lassen -sich durch die Photolithographie nicht wiedergeben , das
Markirte aber deutet gerade die Nüancirung des leidenschaftlichen
Zuges genauer an.
Nach den Grundsätzen der Mimik werden Geisteszustände aus
den Bewegungen der Gesichtsmuskeln am leichtesten erkannt. Der
Herr Verf. findet darin den Hauptgrund, dass die »Wurzeln der
Nerven, welche die Gesichtsmuskeln in Bewegung setzen, in der
unmittelbaren Nachbarschaft des Geistesorganes« (des Gehirnes)
sind. Als der bedeutendste unter den Bewegungsnerven der Ge-
sichtsmuskeln wird der nervus facialis, der Gesichtsnerv, bezeich-
net. Er ist, heisst es S. 19, »der eigentlich mimische Nerv und
jede heftige Geisteserregung verursacht eine Zuckung der Muskeln,
welche unter seiner Herrschaft stehen.« Die mimischen Gesichts-
bewegungeu verhalten sich zu den Geisteszuständen, wie die »Wir-
kungen zu ihren Ursachen.« Es handelt sich um den Nachweis,
welcho bestimmte Muskeln und Muskelgruppen bei bestimmten
Geisteszuständen in Bewegung gerathen. Dieser ist die Aufgabe
des ersten oder miraischen Theiles. In dem Abschnitt »Psycholo-
gisches« stellt der Herr Verf. die Fundamentalsätze der Mimik
auf. Der erste lautet: »Da jede Vorstellung dem Geiste gegen-
ständlich erscheint, so beziehen sich die durch Vorstellungen ver-
anlassten mimischen Muskelbewegungen auf imaginäre Gegenstände«.
Der zweite: »Die durch angenehme oder unangenehme Vorstel-
lungen verursachten mimischen Muskelbewegungen beziehen sich auf
imaginäre harmonische (angenehme) oder disharmonische (unange-
nehme) Sinneseindrücke.« Die durch Geisteszustände hervorgerufe-
nen raimischen Muskelbewegungen haben eine Beziehung zu den
imaginären Gegenständen und zu den imaginären Sinneseindrücken.
Je intensiver der Geist durch eine Vorstellung afficirt wird, um
so gewisser tritt die mimische Muskelbewegung ein. Die Vorstel-
lung ist aber um so intensiver, je ausgeprägter der angenehme
oder unangenehme Charakter ist und je plötzlicher die Vorstellung
auftritt.
Was die Mimik der Augen betrifft, werden der Blick,
d. h. die Bewegung des Angapfels, das Schliessen und Oeffnen der
Augen, und als Anhang der veränderliche Glanz des Augapfels
unterschieden, beim Blicke besonders dessen Arten nach dem ver-
schiedenen Grade der Beweglichkeit und der besonderen Richtung
des Augapfels und das Resume der sich auf den Blick beziehen-
den Bewegungen dargestellt. Der Blick ist nach dem Grade der
Beweglichkeit ein müder und träger, lebhafter, fester, sanfter,
umherschweifender, unstäter, nach der Art der Richtung ein ver-
stockter, pedantischer, eutzückter. In Betreff des Schliesseus und
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Piderit: System der Mimik und Physiognomik.
581
Oeffuens der Augen wird von den Augenschliessrauskeln (Augen-
blinzeln), Augenbrauenmuskeln (senkrechten Stirnfalten), Augen-
deckelhebern (Aufreissen der Augen , schläfrig gesenkten Augen-
deckeln) , Stirnmuskeln (horizontalen Stirnfalten und empor-
gezogenen Augenbrauen) , von den sich auf das Schliessen und
Oeffnen der Augen beziehenden mimischen Bewegungen und Com-
binationen, hinsichtlich des veränderlichen Glanzes des Augapfels
von den Thränen , der grösseren oder geringeren Spannung der
häutigen Kapsel des Augapfels, von dem Einflüsse der Irisfarbe auf
den Augenglanz gehandelt.
Die Mimik des Mundes umfasst die Bewegungen der Mund-
muskeln in ihren Beziehungen zum Geschmacksinn (den bittern, süssen,
prüfenden, verbissenen, verachtenden Zug mit den jedesmaligen
Combinationen) , die Bewegungen der Mundmuskeln in ihren Be-
ziehungen zum GehÖmnu (den offen stehenden Mund). Hierauf folgt
die Mimik der Nase, sodann das Oeffnon der Nasenlöcher (ge-
schwellte Nüstern) und das Schliessen derselben , das Lachen und
Weinen, die Bewegungen der Athem- und Gesichtsmuskeln bei dieser
Erscheinung, die stärkeren und schwächeren Grade des Lachens,
das weinende Gesicht, die mimischen Combinationen mit dem
lächelnden Ausdrucke.
Im zweiten Theile, der Physiognomik, wird zuerst
das künstlerische und das literarische Material unterschieden, wel-
ches dem Physiognomiker zu Gebote steht. Das künstlerische
Material umfasst die Zeichnungen , Kupferstiche , Photographien,
plastischen Darstellungen der Köpfe u. s. w. , das literarische die
Schriftsteller über Physiognomik. Hier wird von Aristoteles und
dessen Nachfolgern, von Lavater und seinen Nachfolgern, Gail,
Carus, Camper und den neueren Schädelmessungen gehandelt.
Die physiognomischen Züge sind der Physiognomik die blei-
bend gewordenen mimischen Züge. Ausser den mimischen Mus-
kelbewegungen veranlassen auch noch andere Ursachen die Bildung
der Gesichtszüge, wie körperliche Leiden und Krankheiten, das
häufige Leben in freier Luft, die Gewohnheit, bei den Arbeiten
Grimassen zu schneiden, gewisse eine Anstrengung einzelner Ge-
sichtsmuskeln bedingende Arbeiten, der Nachahmungstrieb, das
Temperament, die Fettigkeit und das Alter der Menschen (S. 153
— 155). Ist die Physiognomik die im Gesicht fest gewordene Mimik,
so müssen in jener dieselben Gesichtspunkte berührt werden, welche
in dieser zur Darstellung kommen.
Daher werden auch im physiognomischen Theile die Physiog-
nomik des Auges, Mundes, der Nase, die durch Lachen und Lächeln
entstehenden physiognomischen Merkmale, so wio das Resnme der
physiognomischen Kennzeichen unterschieden. Die Arten des Blickes
sind die in dem mimischen Theile dargestellten. Dazu kommen noch
die senkrechten Stirnfalten als Folge von Leiden, einer unzufriede-
nen verdriesslichen Sinnesart, angestrengter, aber unbefriedigter
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58*
Piderit: ßystem der Mimik und Physiognomik.
(resp. »kritischer, analysirender«) Denkthätigkeit , von empfind-
lichen Augen, von Kurzsichtigkeit. Es kommen sodann das offene,
das schläfrige Auge, die horizontalen Stirnfalten mit hoch gezogenen
Augenbrauen als Folge von Neugierde, von angestrengter (»recep-
tiverc) Denkthlitigkeit u. s. w. zur Sprache.
Der Stoß ist durchweg anziehend und mit physiologischer und
psychologischer Sachkenntniss behandelt. Was der Herr Verf. für
die Wahrheit der Mimik, die Unhaltbarkeit der Kranioskopie und
der Schädelmessungen sagt, ist überall begründet. Ob aber der
Schluss vom beweglichen Gesichte des Menschen auf das feststehende,
sich um den Knochenkopf ablagernde, also von der Mimik auf die
Physiognomik begründet ist, ist eine andere Frage. Die Mimik
gründet sich auf die Pathognomik und diese will das bewegliche
und veränderliche Innere des Menschen aus dem beweglichen oder
veränderlichen Aeussern erkennen. Sie erkennt die Gemüthsbe-
wegungen, Zustände des Affectes und der Leidenschaft, aus den Be-
wegungen des Körpers. Eine besondere Behandlung verdient ausser
dem von dem Herrn Verfasser Dargestellten die Mimik und Physio-
gnomik der Stirne, welche nur gelegenheitlich bei den Augenmuskeln
berührt wird. Die Mimik des Kopfes selbst, der Hände, Füsso, die
Haltung des ganzen Körpers, der Gang, die allgemeinen Erschei-
nungen im Körper, wie die Einflüsse der bewegten Seelenthätigkeit
auf das Athemholen, den Ernährungsprocess , Blutumlauf u. s. w.
verdienen in der Pathognomik eine eigene Darstellung und sind
in der vorliegenden Schrift tibergangen. Lichtenberg hat den Werth
der Pathognomik in seiner Antipbysiognomik (vermischte Schriften,
Band iii, S. 471) anerkannt, wenn er schreibt: »Unstreitig gibt es
eine unwillkürliche Gebärdensprache, die von den Leidenschaften
in allen ihren Gradationen über die ganze Erde geredet wird. Ver-
stehen lernt sie der Mensch gemeiniglich vor seinem fünf- und
zwanzigsten Jahre in grosser Vollkommenheit. Sprechen lehrt sie
ihn die Natur und zwar mit solchem Nachdruck, dass Fehler darin
zu machen, zur Kunst ist erhoben worden. Sio ist so reich, dass
bloss die süssen und sauern Gesichter ein Buch füllen würden und
so deutlich, dass die Elephanten und die Hunde den Menschen ver-
stehen lernen. Dieses hat noch Niemand geleugnet und ihre Kenut-
niss ist, was wir Pathognomik genannt haben.« Bei der Physio-
gnomik wird von dem Herren Verf. nicht auf die Beschaffenheit
des Körpers, des Schädels, des Kehlkopfes, Halses, der Brust und
Haare Rücksicht genommen, wie Lavater und andere Physiognomen
ohne solide Begründung gethan haben. Er hält sich lediglich an
die durch häufige gleichartige Bewegung der Gesichtsmuskeln fest
gewordenen Züge und kennt darum keine andere Grundlage, als
die Gesichtsraimik, deren Grundsätze auf die dauernde Beschaffen-
heit des Gesichtes angewendet werden. Gewiss steht eine solche
Auffassung der Physiognomik höher, als die Lavater'sche , welche
den Charakter mehr erräth und natürlieh bei bekannten Grössen
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Piderit: System der Mimik und Physiognomik.
688
richtig schildert, als dass sie auf feste anatomisch-physiologische
Grundsätze ihr Theorem baut. Sie hat eine festere Grundlage und
führt nicht zu einseitigen und excentrischen Träumereien, wie wir
sie bei Lavater und selbst bei Herder finden. So ist nach Herder
die Unterlippe 9 das Rosenkissen, auf welchem die Krone der Herr-
schaft (der Oberlippe) ruht.« Ein kurzer Hals ist nach Lavater
das Zeichen der Kraft und des Muthes. Der Grund soll darin
liegen, weil bei kurzhalsigen Menschen und Thieren das Herz dem
Hirne näher liegt. Eine grosse Körpermasse soll sich nicht durch
Kraft des Geistes auszeichnen, politisch Unzufriedene sind »hager
und dünnleibig. « Eine breite Brust lässt auf Kraft schliessen.
Selbst die Haare sollen nach Lavater ein Kriterium der Menscben-
kenntniss werden. Blonde, flache, zarte Haare bedeuten Schwäche,
Passivität, eine feine, reizbare Organisation, dichtes kurzes Haar
mehr Energie, Selbstständigkeit, hartes, struppiges, borstiges Haar
Eigensinn, Trotz. Ein Mensch mit vielen Haarwirbeln auf dem Kopfe
rauss nach Herder auch ein Mensch mit krausen Gedanken sein.
Das sind lächerliche Behauptungen, die jeden Augenblick thatsUch-
lich widerlegt werden, und die weder eine physiologische noch eine
psychologische Begründung zulassen. Durchaus begründet sind die
gegen die Phrenologie vorgebrachten Einwendungen (S. 128 — 145).
Nichts desto weniger darf man in der physiognomischen Kenn-
zeichnung gewiss die Stirne nicht tibergehen und hier erhält man
Gelegenheit, die Bedeutung und Stellung der Stirnfalten zu be-
rühren. Wenn auch die mimischen oder pathognomischen Züge bis-
weilen auf den constanten Ausdruck des Gesichts schliessen lassen,
und so, wie der Herr Verf. S. 149 sagt, ein »physiognomischer
Ausdruck als ein habituell gewordener mimischer Ausdruck anzu-
sehen ist«, so kann eine solche Behauptung doch nicht unumstöss-
lich als Regel gelten. Man stützt sich dabei auf »die physiolo-
gische Thatsache«, dass »Muskeln, welche häufig in Spannung ge-
setzt werden, sich kräftiger ausbilden, leichter erregbar werden
und auch im Zustande der Ruhe in einer gewissen Spannung ver-
harren.« Dass sich häufig in Spannung gesetzte Muskeln kräftiger
ausbilden, wird durch die in Folge der Uebung stärker werdenden
Arme der Schmiede, die ausgebildeteren Wadenmuskeln der Berg-
bewohner u. s. w. bewiesen. Zum Belege für die dauernde Span-
nung der oft bewegten Muskeln wird auf die Thatsache hingewie-
sen, dass bei Manchen, denen die eine Gesichtshälfte gelähmt ist,
bei welchen also die gelähmten Muskeln vollständig erschlafft sind,
durch die natürliche Spannung (durch den so genannten Muskel-
tonus) der andern Gesichtsbälfte das Gesicht schiefgezogen wird.«
Immerhin wird man gegen die Ableitung einer Menschen-
kenntnissregel für die ruhenden Gesichter aus der Beschaffenheit
derselben im bewegten Zustande, gegen die Zuverlässigkeit des
Maassstabes der Mimik und Pathognomik bei Beurtheilung des
physiognomischen Zustandes Bedenken erheben können. Die patbo-
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584 Piderit: System der Mimik und Physiognomik.
gnomischen Zeichen lassen nicht immer Spuren im Gesichte
zurück. »Dem einen füllt nach einer durchschwärmten Nacht, sagt
Lichtenberg (vermischte Schriften HI, S. 483), die Wange in die
Zahnlücke, da den andern die aufgehende Sonne so jugendlich hin-
ter der Bouteille udd beim Mädchen sieht, als ihn die untergehende
gesehen hat.« Die Form der weichen Theile hängt so wenig, als
die der festen, allein von der Erregbarkeit der Seele, sondern oft
von der Russern Erregung ab, welche man unmöglich von dem Ge-
sichte ablesen kann. Lichtenberg sagt ebend. S. 435 u. 436: >So
steht unser Körper zwischen der Seele und der übrigen Welt in
der Mitte. Spiegel der Wirkungen von beiden, erzählt er nicht
allein unsero Neigungen und Fähigkeiten, sondern auch die Peit-
schenschläge des Schicksals, Klima, Krankheit, Nahrung und tau-
send Ungemach , dem uns nicht immer unser eigener böser Ent-
schluss , sondern oft Zufall und oft Pflicht aussetzen. Sind die
Fehler, die ich iu einem Wachsbilde bemerke, alle Fehler des
Künstlers oder nicht auch Wirkungeu ungeschickter Betaster, der
Sonnenhitze oder einer warmen Stube? »Bezieht sich denn
Alles im Gesicht auf Kopf und Herz? Warum deutet ihr nicht
den Monat der Geburt, kalten Winter, faule Windeln, leichtfertige
Wärterinnen, feuchte Schlafkammern, Krankheiten der Kindheit aus
den Nasen?« u. s. w. Auch glatte, keine Spur von Leidenschaft
zeigende Gesichter bergen trügerische Seelen. So heisst es bei
Lichtenberg a. a. 0 S. 449 n. 450: »Freilich, wer schöne Spitz-
buben, glatte Betrüger und reizende Waisenschinder sehen will,
muss sie nicht gerade immer hinter den Hecken und in Dorfker-
kern suchen. Er muss hingehen, wo sie aus Silber speisen, wo sie
Gesichterkenntniss und Macht über ihre Muskeln haben, wo sie
mit einem Achselzucken Familien unglücklich machen , und ehr-
lichen Namen und Credit über den Haufen wispern oder mit affec-
tiver Unschlüssigkeit wegstottern.«
Allerdings leiten, wie der Herr Verf. ausführt, die Bewegung
der Gesichtsmuskeln und vorzüglich die Beobachtung des Auges
als des Seelenspiegels sicherer, als die von Lavater angegebenen,
aus der Beschaffenheit des Knochengerüstes abgeleiteten, unsichern,
theilweise lächerlichen physiognomischen Kennzeichen, und der Herr
Verf. deutet selbst darauf hin, dass ausser den Gemüthsbewegun-
gen noch andere, nicht in der Willenskraft des Menschen liegende
Ursachen die pbysiognoraische Erscheinung bedingen. Aber ge-
rade deshalb können die mimisch festgestellten, untrüglichen Regeln
nicht als physiognomische gelten. Deutlich zeigt dies der Unter-
schied eines Gesichtes in der Ruhe und in der Bewegung. »Drei
Köpfe, sagt Lichtenberg a. a. 0. S. 502, die sich, wie aus einer
einzigen Form gegossen, glichen, könnten, wenn sie zu lächeln
oder zu sprechen anfingen, alle Aehnlichkeit verlieren.«
Ein zuverlässigerer Maassstab für die Beurtheilung des Cha-
rakters bleibt gewiss immer die Handlungsweise des Menschen.
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Caro: Gütheatudien.
685
Nicht umsonst sagt man, dass der Schein trügt, und dass man
einen Menschen nicht nach dem blossen äussern Eindruck beur-
theilen müsse. Diese Bemerkungen sollen das Verdienst des Herrn
Verf. nicht schmälern. Die Arbeit desselben ist eine gründliche,
die früheren physiognomischen Vorurtheile beseitigende und eine
neue bessere Grundlage legende. Sie ist anziehend geschrieben und
lehrreich Das dem Buche angehängte Verzeichniss enthält die
Erklärung der 94 pbotolithographirten Abbildungen. Diese sind
gelungen , treu abgebildete Zeichnungen des Herrn Verf. , welche
zur Erhärtung seiner Theorie Köpfe von bestimmtem und verschie-
denem physiognomischem Ausdruck geben. Doch ist auch ein sol-
cher Ausdruck im strengen Sinne mehr mimisch oder pathogno-
misch, als physiognomisch, weil eben der Zeichner die Seele dabei
in einem Zustande der Bewegung auffasst, welcher irgend eine be-
stimmte Seelenerregung ausdrückt, z. B. Köpfe mit verstecktem,
entzücktem Blicke , mit bitterem , prüfendem , verbissenem Zuge
u. s. w. Die Zeichnungen sind für das Studium der Mimik sehr
brauchbar. In einzelnen Köpfen werden auch nach Meistergemälden
die Züge berühmter Männer wiedergegeben , so der prüfende Zug
aus der Weinprobe von Hasenklever (S. 78), der verbissene Zug
im Kopfe Gregor's VII. aus dem Bilde : Gregor VII. in der Verbannung
zu Salerno v. J. Schräder (S. 36. 82), die intensiv gespannte Aufmerk-
samkeit im Burghesischen Fechter (S. 88), der Ausdruck der Auf-
merksamkeit in der Garnwinderin von Gerard Douw (S. 88), die
heilige Elisabeth aus Murillo's Madonna von Sevilla (S. 105),
Göthe von Chodowiocki (S. 188), Göthe's Marmorbüste und Sil-
houette (S. 138), Katharina II. von Chodowiecki (S. 141), Napo-
leon I. von J. Guerin (S. 172, 189, 195), Schubart von J. Oelen-
hainz (S. 174, 191, 195), ein Kopf aus dem Irrenhaus von Kaul-
bach (S. 178), Photographie des Generals W. Scott (S. 188) und
des Ministers Guizot (S. 189), Cromwell von Cooper (S. 189) u. a. m.
v. Reichlin-Meldegg.
Guthc'Studien von E. Caro. Aus dem Französischen von Iwan
Germak. ZrsemysX In Commission bei Gebrüder Jele'n. 1867.
151 S. 8.
Uober Göthe's Philosophie erschienen in den Jahren 1865 und
1866 in der Revue des deux mondes fünf Abhandlungen. Der
erste Göthe's Philosophie darstellende Aufsatz behandelt »die
Geschichte seines Geistes, Göthe und Spinoza, der zweite die
wissenschaftlichen Arbeiten, Göthe und Gooffroy Saint-Hilaire, der
dritte seine Begriffe von Natur, Gott und menschlicher Bestim-
mung, Eklekticismus und Pantheismus, der vierte die philosophi-
schen Spuren in der Dichtkunst Göthe's, Prometheus, Mephisto-
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686
Caro: Götheatudien.
pheles, Faust, der fünfte die philosophischen Theorien des zwei-
ten Faust. Die dritte und fünfte Abhandlung Caro's werden
von dem Herrn Herausgeber in deutscher Bearbeitung als die wich-
tigsten getreu nach Sinn und Inhalt des Textes mit Uebergehnng
weniger Pleonasmen wieder gegeben. Sehr zweckmässig war es,
die Citate des Textes den Originalwerken zu entnehmen, oder, wo
sich Lücken fanden, diese zu ergänzen. Wo die Originalwerke dem
Herrn Herausgeber nicht zu Gebote standen , musste das franzö-
sische Citat in die deutsche Sprache zurück übersetzt werden und
wird dieses durch Hin weglassung der Anführungszeichen angedeu-
tet. Wenn Vilmar in seiner Geschichte der deutsohen National-
literatur (4. Aull. 2. Band, S. 227) bemerkt, dass »nach fünfzig
Jahren der ganze zweite Theil des Faust fast ganz ohne Verständ-
niss , mithin auch ohne Interesse sein wird«, so kann man eine
solche Stelle wohl kaum zum Belege für die Behauptung gebrau-
chen, dass die Franzosen gegen den grossen Dichter und Philoso-
phen gerechter sind, als die ganze grosse deutsche »Götbe- und
Faustliteratur. € Die letztere wird übrigens durch einige Urtheile
so wenig vertreten , als die französische Anschauung durch einige
Abhandlungen in der revue des deux mondes.
Es sind also zwei Abhandlungen , die uns hier ans der ge-
nannten, dem Fortschritte huldigenden Zeitschrift geboten werden
und sich mit Göthe's Philosophie befassen. Die erste entwickelt
Göthe's Begriffe von Natur, Gott und menschlicher
Bestimmung (S. 1 — 81). Es ist ein schwieriges Unternehmen,
die philosophische Weltanschauung eines Dichters, der in seinen
Gedichten und prosaischen Werken die Natur in so vielseitiger
Gestaltung auffasst und darstellt, auf einigen Seiten wieder zu
geben und dabei noch die wörtlichen Belege aus dessen eigenen
Werken anzuschliessen. Die eigene Anschauungsweise des Lesers
wird auch eine nicht systematische, sondern aphoristische, je nach
dichterischer Stimmung oder Lebenseindrücken verschiedene philo-
sophische Denkweise in poetischen Werken in der Weise auslegen,
dass sie ihre eigenen Gedanken und Anschauungen in dem Dichter
wieder zu finden glaubt. Die erste Abhandlung ist bei der Kürze
des Raumes, den sie einnimmt, eine umfassende und durchweg ge-
lungene zu nennen. Von den Götbe'schen Schriften gaben des Dich-
ters Erinnerungen aus seinem Leben, die Sprüche in Prosa, Falk
über Göthe, GötLe's Gott und Welt, Eckermann's Gespräche mit
demselben, einige, jedoch wenige Stellen aus dem Faust vielerlei
Materialien, wiewohl auch der ersto und noch mehr der zweite
Theil zum Tbeile sehr bezeichnende Belege bieten.
Der Herr Verf. zeigt, dass Göthe's Philosophie Pan-
theismus und Eklekticismus, aber kein todter, sondern ein
lebendiger ist, dass er mit seinem Pantheismus keine todte, me-
chanische, sondern eine lebenvolle, dynamische Weltanschauung ver-
bindet, dass er in seiner Weise Spinoza's Lehre von der Einheit
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Caro: Götbestudien.
687
mit Leibnitzen's Monadenlehre, oder der Lehre von der einheitlichen,
sich stufenweise entwickelnden, in Tbätigkeit sich offenbarenden
Kraft verbindet, dass, so entgegengesetzt Spinoza nnd Leibnitz sind,
beide in Göthe's pantheistischem Djnamismus ihre Berührungspunkte
finden. Sein Hylozoismus hat nach dem Herrn Verf. mit Thaies
und Herakleitos Berührungspunkte. Ref. möchte als Parallele lieber
des letztern ewigen Werdeprocess , die Metamorphosentheorie an-
führen, als Thaies, bei welchem sich am wenigsten Belegstellen für
den später ausgebildeten Hylozoismus der jonischen Schule vor-
finden. Das letzte Zeugniss, auf welches alle andern zurückgeführt
werden müssen, ist hier das des Aristoteles und dieses diont nicht wei-
ter, als zur Behauptung, die als gewiss feststeht, dass nach Thaies
das Wasser der Stoff ist, aus dem Alles bestehen und aus dem
Alles entstanden sein soll. Göthe betrachtet Gott und Natur, Seele
und Leib, Geist und Materie nicht als absolute, von einander ge-
trennte Gegensätze. Er hält Bich an die Durchdringung beider.
Es ist ein anfangs- nnd endloses, in immer neuen Umwandlungen
sich gestaltendes göttliches Leben in der Natur. Bei Falk nennt er diese
absolute Trennung »unseelig«; denn sie ist ihm die bedeutendste
Quelle philosophischer Irrthümer. Es ist eine Substanz in Allem.
Kein Wesen kann in Nichts zerfallen. Die einheitliche, in Allem
wirkende Kraft ist Göthe bald »die liebevolle Hauptmonas im
Mittelpunkte der Schöpfung, die sich aller untergeordneten Mona-
den des ganzen Weltalls bedient, wie sich unsere Seele der sich
ihr zum Dienste untergebenen Monaden bedient«, bald ist sie
»die Weltseele«, die »allen Kräften ihre Arbeit vorzeichnet.« Nach
Göthe ist »Gott dort gegenwärtig, wo actuelle Bewegung, Umbil-
dung, Leben ist« ; sonst existirt er »in dem Andern oder dem
Todten nur dem Vermögen nach (virtualitor)« (S. 47).
Seine Auffassung über die Principien der Moral und das Ganze
der menschlichen Bestimmung bilden die Ergänzung und Folge
seiner Philosophie. Die Natur ist der »realisirte Gott« und darum
»die Moralität eine Sache des Instinctes, eine innere Offenbarung
des göttlichen Princips, das deti Menschen mit dem Weltganzen in
Harmonie zu setzen strebt.« Die Moralität ist »die auf das Leben
angewandte Aesthetik« (S. 50), Die wahre Quelle derselben ist
»die Betrachtung schöner, edler, heroischer Existenzen.« Die wah-
ren sittlichen Regeln sind jene, welche edle Naturen aus sich selbst
schöpfen. Zu den schönsten moralischen Inspirationen gehört Göthe's
Spruch: »Pflicht ist, wo man liebt, was man sich selbst befiehlt«
(Sprüche in Prosa, 7. Abtheilung). Die höchste Regel für den
Menschen ist die »unversehrte Bewahrung seiner innern Freiheit«
(S. 55). Göthe wendete bei der Fortdauer der Seele die Monaden-
lehre an. Die Hauptmonade' löst sich im Tode von den übrigen,
sich um sie grnppirenden Monaden ab, welche in ihrer Weise eben
so weuig vernichtet werden, sondern andere Verbindungen ein-
gehen. Ihm ist die Fortdauer derjenigen Monas gesichert, welche
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5=8
Caro: Götheetudien.
Grosses in sich trägt, bei welcher es der Mühe werth erscheint,
mit ihrer Errungenschaft fortzuexistiren.
Sein Pantheismus ist »nicht der dogmatische oder idealistische
unserer Zeit, es ist ein durchaus naturalistischer, ich möchte sagen,
ein heidnischer Pantheismus; die Vorfahren seines Zeichens sind
unter den klassischen Heiden zu suchen« (S. 75). Des Dichters
Eklekti cismus bezeichnet der Herr Verf. also: »Eine eklektische
Philosophie kann es nicht geben, wohl aber eklektische Philosophen.
Ein Eklektiker aber ist ein Jeder, der aus dem, was ihn umgibt,
aus dem, was sich um ihn ereignet, sich dasjenige aneignet, was
seiner Natur gemäss ist, und in diesem Sinne gilt alles, was Bil-
dung und Fortscbreitung heisst, theoretisch und praktisch genommen,
als Eklekticismus.« (Sprüche in Prosa.) Göthe, der viel auf Cousin hielt,
von welchem er dreimal (1817, 1825 u. 1831) besucht wurde, wen-
dete die Eintheilung der Geschichte der Philosophie in vier Perio-
den auf die vier Lebensalter an. Er sagt bei Eckermann: »Wir
sind Sensualisten, so lange wir Kinder sind, Idealisten , wenn wir
lieben und in den geliebten Gegenstand Eigenschaften legen , die
nicht eigentlich darin sind ; die Liebe wankt, wir zweifeln an der
Treue und sind Skeptiker, ehe wir es glauben. Der Rest des
Lebens ist gleichgiltig, wir lassen es gehen, wie es will und endi-
gen mit dem Quietismus, wie die indischen Philosophen« (S. 80).
In Göthe's Philosophie spiegelt sich die philosophische Riebtang
des 19. Jahrhunderts ab. Denn bei Göthe herrscht, wie der Herr
Verf. S. 81 sagt, »der eklektische und zugleich naturalistische
Geist in einem seiner vollendetsten Typen.«
Die zweite Abhandlung enthält die philosophischen
Theorien des zweiten Faustdramas. Wir finden hier eine ge-
rechte Würdigung dieser im Verlaufe von 50 Jahren unter verschie-
denen Einflüssen und Stimmungen entstandenen Dichtung, eine unbe-
fangene Beurtheilung ihrer Vorzüge und Mangel In einigen Punkten
ist jedoch Ref. nicht einverstanden. Der Kaiser, von welchem im
zweiten Tbeile die Rede ist, ist nicht etwa eine Nachbildung Lud-
wigs XV. und seiner Zeit und der Feuerquell im Mumenschanz
keine Anspielung auf die Revolution , eine Ansicht , welche von.
Düntzer besonders hervorgehoben worden ist. Göthe lehnt sich in
der Wahl dor äussern Staffage im ersten, wie im zweiten Theilo,
an die alte Faustsage an, und zwar, wie gewisse Specialitäten, die
in seinen Faust übergingen, unumstößlich beweisen, an die spätere
Bearbeitung der Faustsage durch G. R. Widman (1599). Nach
der ältesten Faustsage trat Faust am Hofe des deutschen Kaisers
Karls V., nach Widman am Hofe Maximilian's I. auf. Die Um-
gebungen und die ganze Einrichtung werden im ersten Acte des
zweiten Theiles geschildert, wie sie in jener Zeit am Hofe des
deutschen Kaisers waren. Der Kaiser hat seinen Canzler, welcher
auch Erzbischof genannt wird, seinen Schatzmeister, Marschalk,
Heermeister und Hofnarren. Im vierten Acte werden sogar vom
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Caro: Göthestudien.
Kaiser die Bestimmungen der goldenen Bulle angeführt und er
tbeilt die Erb- oder Erzämter im Sinne einer Beilage der golde-
nen Bulle an die deutschen Fürsten aus. Unverkennbar wird uns
hier ein Stück deutscher Staats- und Reichsgeschichte geboten.
Die Erfindung des Papiergeldes, welche als eine satanische hinge-
stellt wird, soll dem Kaiser aus der Noth helfen, und die sich dar-
auf beziehenden Seesen, die mit dem Ganzen im nothwendigen Zu-
sammenhange stehen, sind in dieser Abhandlung völlig Ubergangen.
Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass der Mumenschanz in sei-
nen verschiedenen Figuren zu dieser Erfindung einleitet und dass
man nur gesucht darin die Schilderung des Gefährlichen der Re-
volution erblicken kann. In diesem altdeutschen Fastnachtszuge
stellen uns die allegorischen Figuren die das Leben beherrschenden
Mächte dar, bis zuletzt der Dichter zu den höchsten , das Leben
in seinem Genüsse bedingenden Mächten, dem Knabe-Leuker (der
Pottsie), welche uns die geistigen Genüsse spendet, und dem Plutus
oder Reichthumsgotte , welchem wir den Genuss des materiellen
Daseins yerdankon, den Uebergang macht. Es soll die Bedeutungs-
losigkeit des Geldes an sich und die Gefahr seiner unbedingten
Herrschaft anschaulich gemacht werdon, um zu der Scene, welche
die Erfindung des Papiergeldes darstellt, einzuleiten. Der schöne
Schein der Poösiemuss auf dem Maskenzuge verschwinden, der Knabe-
Lenker abtreten, damit der Reichthumsgott allein herrschen kann.
In der Maske des Plutus steckt Faust, der unter Assistenz des
Teufels das Papiergeld herbeigeschafft hat, welches der Canzler dem
Kaiser zur Unterschrift präsentirt. Mepbistopbeles hat, als Geiz
maskirt, den Reichthumsgott Faust begleitet. Auf dem von Dra-
chen geführten, mit den Schätzen des Reichthums beladenen Wagen
steht er hinter Plutus als ironischer Doppelgänger desselben. Der
Kaiser, den Absolutismus der Monarchie veranschaulichend, er-
scheint in der Maske des Pan, welcher nach den griechischen
Mysterien das All versinnbildlicht. Faust berührt als Reichthums-
gott mit seinem Zauberstabe die vor dem lüsternen, das Leben
darstellenden Maskenzuge aufgespeicherten Schätze, und das
Gold und die Edelsteine verwandeln sich unter dieser zauberischen
Ruthe in Flammen, welche das geldgierige Publikum zu versengen
drohen. Eine Deputation der die Geldmacht darstellenden Gnomen
führt den Kaiser zu der unter dem Zauberstabe flüssig gewordenen,
verheerenden Feuerquelle des Goldes, bis endlich durch Faust's
Zauber an die Stelle der Flamme ein kühlender Wolkenthau tritt.
Hier unterzeichnet der Kaiser das vom Teufel geschaffene Papier-
geld. Dies deutet ja unbezweifelt die neue Scene an, in welcher
Faust knieend den Kaiser wegen des »Flammengaukelspielat um
Verzeihung bittet und demselben die von ihm während dieses die
Gefahr der Geldherrschaft veranschaulichenden Zauberspieles voll-
zogene Unterzeichnung der neu erfundenen Papierscheine von seinem
Canzler erzählt wird. So hat diese Scene einen ganz natürlichen
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690
Caro: Götheatudien.
Zusammenhang mit dem vorausgehenden Mumenschanze und mit
der nachfolgenden Helenabeschwörnng , in welcher der Dichter die
erste Anregung von der Faustsage erhält. Durch das Papiergeld
ist vor der Hand für die leibliche Noth des Hofes gesorgt, die
Helena soll die geistige Unterhaltung gewähren. Darum sagt Faust
zu Mephistopheles :
Du hast, Geselle, nicht bedacht,
Wohin uns deino Künste führen;
Erst haben wir ihn reich gemacht,
Nun sollen wir ihn amüsiren.
Homunculus und Helena sind ferner nicht so zu trennen, dass
in jenem die antike Kunst, in dieser die antike Wissenschaft zu
Tage tritt. Nach dem Stücke ist Homunculus der Wegweiser zur
klassischen Walpurgisnacht, in welcher Faust seine Helena sucht
und findet. Er trägt den schlafenden Faust auf den klassischen
Boden Thessalieus, wo die klassische Walpurgisnacht abspielt, und
Faust erwacht, sobald er diesen Boden berührt. Seine erste Frage
lautet: »Wo ist sie?« Sie gilt seiner Helena. Darum ruft er aus:
Hier! durch ein Wunder, hier in Griechenland!
Ich fühlte gleich den Boden, wo ich stand.
Wie mich, den Schläfer, frisch ein Geist durchglühte,
80 steh' ioh, ein Antäus an Gemüthe.
Homunculus sieht, ehe er unserem Faust den Weg nach Pbar-
salus voranleuchtet, in der Seele desselben während seines Schlafes
die sich mit der schönen Helena beschäftigenden Gedanken. Er
ist der in Gestalt des Traumes Faust zum klassischen Boden füh-
rende antike Forschungstrieb. Helena ist die Vertreterin der anti-
ken Wissenschaft und Kunst; ihre Vermählung mit Faust symbo-
lisirt des Menschen künstlerisch-wissenschaftliche oder ideale Thätig-
keit, die ihn auf den aus Helena1 s Gewändern gebildeten Wolken
eine Zeit lang über der Gemeinheit des Lebens schwebend erhält.
Wenn diese Wolken verschwinden, ist Faust wieder dem materiellen
Leben und der Wirksamkeit für dasselbe hingegeben.
Sehr riobtig sagt der Herr Verfasser S. 137: »Faust ist der
menschliche Geist, die Menschheit in ihrem Elend, ihrer Grösse.
Er verdient es gerettet zu werden um dieser Eigenschaft willen als
Idee der Meuschheit, die sich durch die Kraft einer immer höhe-
ren und reineren Thätigkeit über alle Zeitalter erhebt.« Treffend
ist das Schöne der Schlussscene des zweiten Theiles hervorgehoben,
gegen welche so oft mit Unrecht wegen der darin angewandten
christlichen Symbolik von den Kunstrichtern vielerlei Bedenken er-
hoben wurden. Der Unterzeichnete stimmt der Behauptung (S. 189)
vollkommen bei: »Der ästhetische Bau des zweiten Faustdramas
findet eine Art Einheit in der fortschreitenden Thätigkeit Faust's,
die ihn rettet und triumphiren lässt.«
v. Reichliii-Meldegg.
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Müller: Bodenverhältnisse der Stadt Btsel. 591
lieber das Grundwasser und die Bodenverhältnisse der Stadt Basel.
Von Prof. Albr. Müller. (Separat- Abdruck aus der Fest-
schrift der Natur forschenden Gesellschaft.) Mit einer lilhogr.
Tafel. Basel. Buchdruckerei von C. Schultse. 1867. 8. 8. 71.
Nicht wenige in Wachsthum begriffene Städte Europas haben
in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht , dass ihre Grund-
wasser, aus welchen die Sodbrunnen ihre Wasser erhalten, mehr
und mehr verunreinigt wurden. Man hatte diesem Umstand von
Anfang an nicht die verdiente Beachtung geschenkt, bis wieder*
holt die auftretenden Seuchen, insbesondere Typhus und Cholera,
ernstliche Nachforschungen geboten. Auoh in Basel waren Unter-
suchungen nöthig geworden , da die Grundwasser der Stadt durch
Abfälle aus Anilinfabriken obschtfn nur lokale, dennoch gefährliche
Verunreinigungen erlitten hatten. Diese Untersuchungen hat — in
Auftrag der Bundesbehörden — Prof. Albert Müller vorge-
nommen und seine Aufgabe, wie zu erwarten, mit Meisterschaft
gelöst. Die Hauptresultate zu welchen der treffliche Geognost durch
seine Forschungen gelangte, sind folgende.
Der Boden der Umgebungen Basels besteht aus den Gerölle-
Ablagerungen die das Rheinthal erfüllen, in die mit regelmässigen
terassenförmigen Abstufungen die Wasser des Rheins in der Diluviai-
Periode Einschnitte bis auf eine Schicht tertiären Lettens eingegraben
haben. Die Wasser des Birsigs, der Birs und der Wiese wühlteu
ahnliche Einschnitte in den Geröllemassen aus und bildeten so
Querrinnen, welche die grossen Terassen das Rheinthaies durch-
schneiden. Der Boden der grossen Stadt Basel (mit einer Höhe
von 90 — 115 Fuss über dem Nullpunkt des Rheinpegels) liegt
durchschnittlich 70 Fuss hoher als des Areal der kleinen Stadt,
mit Ausnahme der Strassen des Birsigthales, die bei 20—40 Fuss
Pegelhöhe ungefähr im Niveau der kleinen Stadt liegen. Nur an
den tiefsten Stollen der Stadt, längs der Rhein- und Birsigufer,
geht der tertiäre Letten zu Tage, welcher die Unterlage der Ge-
rölleablagerungen des Rheinthaies und ihres Grundwassers bildet.
Schon öfter wurde er bei Brunnengrabungen im Birsigthale und
in der kleinen Stadt schon bei geringer Tiefe, 10 bis 20 Fuss er-
reicht. An der Basis der Gerölleablagerungen über der wasser-
dichten Lettenschicht sammelt sich nun das Grundwasser und strömt
von den äusseren, höher gelegenen Stadttheilen , von einer mittle-
ren Höhe von 50 — 60 Fus3 in Gross-Basel und von 10 — 20 Fuss
in Klein-Basel den Neigungen der Lettenschicht folgend unter dem
Boden der Stadt hindurch , dem Rhein zu. Die Strömung ist um
so stärker, je höher das Niveau des Grundwassers den jeweiligen
Rheinstand überragt und geht in Klein-Basel in eine rückgängige
Bewegung landeinwärts über, wenn bei niedrigem Stand des Grund-
wassers der Rhein anschwillt und seitlich in die Geröllelager ein-
dringt. Es richtet sich demnach der Stand des Grundwassers im
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692
Müller: Bodenverhältnisse der Stadt Basel.
Allgemeinen nach dem Rheinstand; jedoch weniger in Gross- wie
in Klein- Basel, schneller in den dem Rhein nahe liegenden, lang»
sanier in den entfernteren, höher gelegenen Brnnnen, in denen auch
die Schwankungen des Wasserstandes geringer.
Im Jahre 1866 betrug der Wasserstand der Sodbrunnen über
den Bruunensohlen durchschnittlich in Gross-Basel 372 Fuss, in
Klein-Basel 7 Fuss ; also etwa das Doppelte. Man wird daher in
der grossen Stadt von den Hochflächen aus in einer Tiefe von 50
bis 60 Fuss, in der kleinen schon bei 10 bis 20 Fuss Tiefe auf
Wasser stossen. Es entnehmeu die Sod- und Lochbrunnen ihr
Wasser der nämlichen Grundwasserschicht. Die Speisung erfolgt
entweder vom Rheine her, durch seitliche Infiltration, namentlich
auf der Seite von Klein-Basel bei höherem Wasserstand; oder von
der Birs, dem Birsig, insbesondere aber von der Wiese und ihren
Nebencanälen ; oder von den Quellon der benachbarten Hügel des
Rheinthaies; oder auch von den atmosphärischen Niederschlägen.
Mit der Zunahme der Bevölkerung nimmt auch die Verunrei-
nigung des Grundwassers in steigender Progression zu durch die
Infiltration des Inhaltes der Dohlen, Cisternen u. s. w., durch die
Abfülle der chemischen Gewerbe. Nur sehr gering dürfte der Ein-
flusB der Gottesäcker sein.
Je tiefer der Stand des Grundwassers um so grösser ist sein
Gehalt an Salzen und organischen Substanzen und die Verunreini-
gungen werden immer merkbarer. Nach den Analysen von Dr.
Goppelsröder beträgt der Gehalt des Gruudwassers durch-
schnittlich in runden Zahlen in 1000 Theilen Wasser in Gross-
Basel: 0,5-1,2 Theile; in Klein-Basel : 0,1-0,3 Theile ; des Was-
sers der bisherigen Brunnenleitungen: 0,4; des Angensteiner- und
Greilinger Wassers (die Kaltbrunnen ausgenommen): 0,2 — 0,3; des
Birs, Birsigsund Bheinwassers : 0,2 — 0,3; endlich des Wassers der
Wiese: 0,06; folglich besitzt das Grundwasser von Gross- Basel die
geringste, das Wiesenwasser die grösste Reinheit. Die der sehr
interessanten Schrift von Albr. Müller beigefügten geologischen
Durchschnitte durch den Boden der Stadt Basel und ihrer Um-
gebung bringen die geologische Structur des Bodens und die Lage
des Grundwassers in übersichtliche Darstellung.
G. Leonhard.
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Nr. 38. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
■ U , U...VL! .. x«^».^! ..^t». - ■■ ■,-,■,..!■-. H„i—._ I «11»» — mt
Lconardy , Johann. Die angeblichen Trierischen Inschriften-
Fälschungen älterer und neuerer Zeit ; ein Beitrag sur Kritik
des corpus inscriptionum Rhenanarum ed. 0. Brambach. Ge-
druckt auf Kosten der Oesellschaft für nützliche Forschungen.
Trier 1867. 68 8. 4.
Als ich am Anfang dieses Jahres Brambachs corpus inscriptio-
num ithenanarum in diesen Blättern besprach und zeigte, wie das-
selbe in Bezug auf die Mainzer Inschriften wenig genüge, da es
in Eile entstanden sei: so wünschte ich (S. 174), dass überall eine
genaue Betrachtung dieses Buches geschehe, namentlich am Niedor-
rhein, wo ich die Frage aufwarf, ob die niederrheinischen Inschrif-
ten mit mehr Sorgfalt und Genauigkeit gegeben sind, als die Main-
zer, Nassauer u. s. w. Ich dachte damals nicht, dass ehe noch
ein halbes Jahr vergehe, am Niederrhein ein ganzes Buch gegen
jenes corpus erscheinen werde. Vorliegende Schrift, deren Vorrede
vom 4. Juni ist, will nämlich zoigen, dass Brambach echte In-
schriften aus Trier unter die spurii und unechte unter die echten
Steine gesetzt habe. Um dies darzuthun, holt der Verf. weit, ja
sehr weit aus. Wir sagen dies nicht, weil er mit den Urtheilen
über die Nenniger Inschriften beginnt — worüber wir hier einst-
weilen schweigen wollen, besonders weil wir noch in diesem Jahr
eine genaue Darstellung der Aufßndung u. 8. w. erwarten dürfen
— sondern der Verfasser ergeht sich zu breit über die alte Sage,
dass Trier von der Semirarais Stiefsohn Trebeta, erbaut sei, in-
dem er zeigt, wie die lokale Sage wahrscheinlich aus missverstan-
denen Fragmenten von Inschriften entstanden und dann von Trierer
Chronisten mit Hilfe von Auszügon aus Justiuus, Ürosius u. a. m.
weiter ausgebildet sei , wie auch mehrere Ueberreste des Alter-
thums der vorrömischen Zeit fälschlich zugeschrieben wurden. Wie
hier eine echte Inschrift jene Sage hervorrief, so ist eine im Jahr
979 gefundene Inschrift auf einen Bischof Celsus bezogen worden
mit gleichem Unrechte — der Verf. hält S. 27 die dabei aufge-
fundenen Verse für echt, wir zweifeln daran; Brambach übergeht
sie, weil er die Inschrift wahrscheinlich für christlich hielt, was
sie nicht ist. Jetzt wendet sich der Verf. zum Haupttheil seines
Werkchens und zeigt vorerst, wie einige ältere Inschriften theils
mit Hecht von Brambach (wie auch von früheren) für unecht er-
klärt wurden, so spurii Nr. 52, welchen Stein Brambach unrichtig
nach Saarbrücken verlegt, statt nach Castel bei Saarburg, oder
wie andere, welche Brambach aufnahm, nach dessen Grundsätzen
LIX. Jahrg. 8. Heft. 38
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594
Leonard y: Die Trieriachen Inschriften.
für falsch gehalten werden könnten, so 786, 960 ; einige Inschriften-
Bruchstücke, die Hontheim ans echten Steinen Gruter's nahm, er-
klärt Brambach für falsch , ohne an deren Ursprung zu denken.
Diese Inschriften überschreibt Brambach lapides Honthemiani ani
suspecti; Leonardy fügt dem ani ein sie! bei; ich würde unwillig
werden, wenn ich es nicht für einen Druckfehler, sondern Honthe-
miani ani für einen Genetiv halten sollte. Wie wohl schon andere
an einigen Trierer Inschriften gezweifelt haben, so hat doch Bram-
bach vor allem das Ehrgefühl der dortigen Gelehrten angegriffen,
indem er viele Inschriften, namentlich alle, welche Clotten im vori-
gen Jahrhundert auffand und veröffentlichte, unter die falschen
setzte. Dieses Mannes nun und seiner Inschriften nimmt sich vor
allem Leonardy an. Clotten und seine Nachfolger haben zwischen
den Jahren 1779 und 1840 im Ganzen 42 Inschriften bekannt ge-
macht, von denen hier die Rede ist. Clotten hatte die meisten
sogleich nach ihrer Auffindung nebst Fundbericht in einem Trierer
Tagblatt veröffentlicht und auch oft bei gefügt, dasser der Besitzer der-
selben sei. Da nun die meisten dieser Inschriften verloren sind und
desshalb eine oder die andere Abschrift einmal Verdacht erregte:
so erklärte nach Mommsen's gelegentlicher Aeussernng Brambach
alle Clottenische für falsch, bemerkte aber in der Eile, mit der er
das corpus edirte, manches nicht. Vorerst sah er sich nach jenen
Fundberichten gar nicht um, welche ein offenes Zeugniss der Echt-
heit sind ; dann sah er nicht, wie drei Inschriften, welche Clotten
besass , noch vorhanden sind und ein Zeugniss für Clottcns Mit-
theilung geben; er zählt sie zu den echten Nr. 773. 727. 828.
Ebenso hat Brambach eine Nr. 768 aufgenommen, die nicht mehr
vorhanden ist, welche nach Brambachs Ansicht für unecht zu hal-
ten ist, weil sie nur auf Clotten beruht. Ungefähr zehn Clottenische
Inschriften sind christliche: sie sind nie angefochten worden; ob
Brambach sie ausgelassen hätte, wenn er die christlichen aufge-
nommen? Nachdem der Verfasser dies und anderes gezeigt hatte,
wobei er S. 50 dem Herausgeber des corpus » Flüchtigkeit des Quel-
lenstudiums« und »unverantwortlichen Leichtsinn« (dies nament-
lich wegen der Igeler Inschrift) vorwirft, zeigt er gelegentlich, wie
bei Brambach einige Inschriften 711 — 715 dem Orte Karden zu-
geschrieben werden, die eigentlich nach Trier gehören, und wendet
sich dann zu den spurii bei Brambach. Der Verf. kann sie alle
nun nicht rechtfertigen, wie überhaupt es schwer ist, wenn ein
Verdacht über eine verlorene Inschrift ausgesprochen ist, sie als
sicher echt hinzustellen. Doch wird man meistens der Verteidi-
gung beistimmen ; ja Brambach selbst wird sich wundern, wie er
manchmal in Eile geirrt: so hält er Nr. 85 für eine unechte trie-
rische, während Hetzrodt sie aus Grut. 111, wo sie nach Ungarn
gehört, entlehnt hat, weil das Wort TREVER vorkommt. Bei
sp. 8 , quae suapte natura originem adulterinam testatur (Br. )
hätte dieser vielleicht eine andere Ansicht bekommen, wenn er die
*\
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Leonardy: Die Trleriachen Inschriften.
695
editio princeps gelesen hätte, wo das leidige X zwischen o und LEG
nicht steht ; noch half dieser Inschrift Leonardy durch eine leichte
Conjectnr, indem er II iür VI schrieb; auch gibt hier Brambach
den Fundort unrichtig an. Wenn einige andere von demselben ver-
worfen werden, weil Clotten TREVIR statt TREVER edirte: so
muss man dies nicht so hoch anschlagen , weil man im vorigen
Jahrhundert TREVIR für richtig hielt, und man gar nicht gewohnt
war, die Buchstaben auf den Steinen ganz genau anzusehen und
abzuschreiben. (Gelegentlich bemerkt der Verf. S. 58, dass Bram-
bach Nr. 1773 den Ort Limbach aus dem preussischen Kreis Saar-
louis in die bayerische Pfalz verlegt, dass er Nr. 764 einen Flur-
namen zum Ortsnamen macht u. a. m.) Wenn weiter einige In-
schriften Clottens als falsch erklärt werden, weil FACIT, FACIVNT
u. ä. steht: so erklärt dies Leonardy entweder als Schreibfehler
statt FEOIT wie denn Clotten sp. 56 FACIT übersetzt »hat er-
richtet oder als Lesefehler statt FAC. CVR, besonders da Clotten
bei andern Inschriften FECIT hat, er also, wenn er falsarius wäre,
wohl überall das Gebräuchliehe hätte angeben können. Auch die
Clottenschen inscriptiones sacras sucht der Verfasser durch Bei-
bringung ähnlicher Widmungen zu vertheidigen und bemerkt end-
lich, dass Brambach über zehn Inschriften dem Fälscher Clotten
zuschreibt, die von ihm gar nicht herrühren.
Ans diesem wenigen, was ich aus vorliegender Schrift mit-
theilte, erhellt zur Genüge, dass Brambach zu eiffertig, und ohne
den Ueberlieferungen nachzusehen , Trierer Inschriften namentlich
die Cotten'schen für unrichtig erklärte; die allermeisten sind eben
so gewies wie alle älteren, deren Steine verloren sind, so die Main-
zer bei Huttich, Heräus, Fuchs u. s. w., von denen viele dieselben
Schreib- oder Lesefehler haben, welche bei Clotten originem adul-
terinam beweisen sollen. Leonardy's Schrift ist wiedorutn ein Be-
weis, mit welcher Eile und Ungenauigkeit jenes corpus entstanden
ist und man kann sich nicht wundern, wenn der Verfasser zum
Schlüsse sich mit gerechtem Unwillen also äussert: »Während tau-
sende von anerkannt echten Inschriften von den abscheulichsten
Steinmetz- und Lesefehlern wimmeln, die man arglos hinnimmt und
verbessert, während abertausendo von Inschriften nur in Abschrif-
ten ganz unbekannter und ungewandter Leute vorhanden sind, ,
während die Schriftzüge von den elegantesten Formen bis zu den
liederlichst eingekratzten Zerrbildern der Capitalschrift in dersel-
ben Periode wechseln und herabsinken: erklärt man in Trier eine
Reibe von strebsamen Männern zu Inschriftenfalschern, weil die er-
haltenen Abdrücke durch Druckfehler entstellt, ja weil sogar nur
die Citate falsch sind und man es nicht der Mühe werth achtet
genauer nachzuforschen, weil durch combinirte Les- und Druck-
fehler regelwidrige Formeln, Namen u. ä. entstanden sind und um
die Zahl der angeblichen Falsificate recht ansehnlich zn vermehren,
scheut man sieh nicht sogar anerkannt echte Inschriften unter die
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696
Grotefend: Stempel der römischen Augenärzte.
suspecti und spurii zu setzen und einen Menschen als Zeugen für
seine Behauptungen aufzuführen, dem man selbst in den feierlich-
sten Ausdrücken deu ehrlichen Willen abgesprochen hat u. s. w.«
Zum Schlüsse meine ich der Verf. hätte sich viel kürzer fassen
können ; wahrscheinlich aber hat der Trierer Verein, der das Buch
edirte, die Lokalsagen im Anfange des Werkchens in dieser Aus-
führlichkeit nicht ungern gesehen, worauf dann der Verf. auf gleich
ausführliche Weise die späteren Inschriften gegen Brambach ver-
theidigte: bei manchen wäre genug gewesen auf den alten Fund-
bericht hinzuweisen und so zu zeigen, wie Brambach auch bei den
Trierern es an Fleiss und Kritik hat fehlen lassen ; daher kann ich
dem Verfasser nicht beistimmen, wenn er S. 6 meint, im corpus
inscr. Rhenanarum gebe, »die oft übertrieben genau angeführte
Literatur zu den einzelnen Nummern Anleitung znm Nachschlagen
in ausreichendem Maasse«. Gerade bei den Trierer Inschrilten
konnto der Verfasser sehen, dass Brambachs Literatur nicht aus-
reiche; dass dies auch anderwärts nicht der Fall ist, haben wir
in der oben citirten Besprechung gezeigt. Die Allgemeine Zeitung
bat zwar dem Brambach'schen Werke ein hohes Lob ausgestellt,
indem sie die empfehlenden Worte des Bonner Vereins und des
Verlegers wiederholte und erweiterte (Nr. 63 Beilage), welchen
Artikel der Allgemeinen Zeitung der Philologus (XXV, S. 565)
»eine lobhudelnde Anzeige« nannte; aber die Allgemeine Zeitung
hat bis jetzt auf den Tadel, den Brambach sich zuzog, ganz ge-
schwiegen — und wird auch schweigen?
Grotefend, C. L. Die Stempel der römischen Augenärzte gesam-
melt und erklärt. Hannover 1867. 134 S. 8.
Es ist noch nicht lange Zeit, dass die Alterthumsforscher auch
den Stempeln römischer Augenärzte ihre Aufmerksamkeit zuwen-
deten und seitdem hat die Zahl derselben sich bedeutend vermehrt :
während im Jahr 1855 nur 60 bekannt waren, gibt es jetzt 112.
Der bekannte Epigraphiker Grotefend iu Hannover, dem wir schon
.manche schöne Untersuchung aus der Inschriftenkunde verdanken,
wie über die römischen tribus, über die Legionen u. s. w. hat nun
im vorliegenden Buche diese sämmtlichen Stempel zum erstenmal
gesammelt und mit den nothwendigen Erklärungen verseben. In
der Vorrede bespricht der Verfasser zuerst Allgemeines, woraus wir
einiges hervorheben. Früher wollte der Vorfasser diese Stempel
nur etwa den ersten 150 Jahren unserer Zeitrechnung zuschreiben ;
nun ist er der richtigem Ansicht, dass »eine Anzahl bedeutend
tiefer hinabreiche« ; wir meinen, sie gehören der ganzen römischen
Zeit au. Nach den Namen zu schliessen, waren die meisten Aerzte
Griechen von Geburt und Freigelasseue, wenige nur Celten, mehrere
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Grotefend: Stempel der römischen Augen&rrte.
597
haben römische Familiennamen, doch meint der Verf. mit Recht,
dass sie wohl alle niederer Herkunft seien. Dass diese Stempel nur
für Augenmittel dienten, hat man hie und da bezweifeln wollen;
eine neue Auffindung zu Reims hat dies unzweifelhaft gemacht.
Die Stempel sind fast alle in den gallischen, germanischen und
britannischen Provinzen gefunden, nur einer in Dacia und ein paar
jenseits an den Alpen, einer bei Jena u. s. w. Dass in Italien und
Griechenland bis jetzt keiuer ausgegraben wurde, schreibt der
Verf. dem gewiss richtigen Umstände zu, dass die Provinzialen
leichter der Quacksalberei zugänglich waren als die gebildeten Völ-
ker des Südens. Einige Inschriften zeigen auch, dass ein Wechsel
der Mittel eintrat, mehrere Aerzte sich verbanden, Händler die Sache
tibernahmen u. a. m Alle bezeichnen trockne Mittel, nur zwei
sind an Töpfen für flüssige Collyrien angebracht. Am Schlüsse der
Vorrede spricht der Verfasser von der hierher gehörigen Literatur
und hier loben wir gerade nicht, dass er die frühere Literatur nicht
vollständig gibt, tfaeils weil Prof. Schreiber in Freiburg sie vor
12 Jahren in einem Hefte des historischen Vereins für Steiermark
aufgestellt, theils weil der Verf. selbst bei jedem Artikel in vor-
liegendem Buche die früheren Herausgeber erwähnt hat. Für die
Sache wäre es gut gewesen, hier auch die Titel der älteren Werke
verzeichnet zu sehen. So viel aus der Vorrede. Der Verf. gibt
nun die Stempel (wie früher im philologu9 XIII. 1858) nach den
Namen der Aerzte (nomina oder cognomina) geordnet mit Angabe
des Fundorts, der Literatur und einer Erklärung, die sich sowohl
auf den Arzt als die Heilmittel und was sonst zu bemerken ist
bezieht; solcher Stempel, wo der Arzt erwähnt ist, sind es 104,
dann folgen noch 7 bis 8 ohne Namen des Arztes. Bei den gros-
sen Kenntnissen und dem emsigen Sammlerfleisse des Verfassers
wird man im Ganzen immer mit dem, was er gibt, zufrieden sein,
und nur selten hie und da eine Bemerkung nachtragen können.
Auch wollen wir nur weniges andeuten. Der Verf. gibt überall
den Fundort an — oft aber nicht die Fundzeit, worauf wir zwar
weniger Gewicht legen — aber ob die Inschrift noch vorhanden
ist und wo, ist meist nicht angegeben; Vieles ist freilich hierbei
unbestimmt und unbekannt und so kann auch ich nur weniges bei-
fügen Nr. 2 ist sicher nicht mohr vorhanden; Nr. 7 ist im Wie-
ner Antiken-Cabinet , was nicht gerade aus dem Citate der Be-
schreibung dieses Cabinets folgt; Nr. 14 ist in Oppenheim gefun-
den und im Mainzer Museum; Nr. 23 ist 1808 gefunden; Nr. 36
wie bei Nr. 7, hier steht Wien oben als Fundort angegeben, wäh-
rend derselbe unbekannt ist; Nr. 50 ist im Londoner Museum;
ebenso Nr. 51; Nr. 62 besitzt Prof. Schreiber in Freiburg; Nr. 73
ist 1818 gefunden und im Besitz des P. P. Pnrnell in Stanscombe
Park; Nr. 78 ist wahrscheinlich nicht mehr vorhanden, was ich
auch noch von andern glaube, wie namentlich 90, 93; Nr. 81 ist
1858 bei Dalheim gefunden und im Luxemburger Museum; Nr. 94
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698 Grotefend: Stempel der römischen Augenärzte.
ist im Leidener Museum; Nr. 96 ist zu Edinburg; Nr. 97 ist im
Bonner Museum als Gipsabdruok, Original verloren (Brambach 1875
gibt Dacbsberg im Elsass als Fundort an , Grotefend Daspicb im
Departement der Mosel ; war hier nicht Genaueres zu ermitteln ?
Overbeck zwar im Bonner Katalog kennt keinen Fundort); Nr. 107
im Bonner Museum u. s. w.
Auf die Angabe des Ortes folgt der Stempel und bei diesen
Inschriften sehe ich, dass der Verfasser kühner geworden ist d. h.
während er früher den Uberlieferten wenn auch fehlerhaften Text
gab, setzt er seine Verbcsserungen und Conjekturen nun sofort in
den Text ein, was doch nicht diplomatisch richtig erscheint. So-
gleich Nr. 1 gibt er DIACE), wahrend alle Herausgeber DIAGE ;
Nr. 5 wird ...IBRIIBMINI geändert in [...H]IRR.[F]IRM1NI, wo F
wenigstens durch nichts gerechtfertigt wird, wonu auch das cog-
nomen Firminus besser klingen mag als Irminus. Nr. 10 wird
LENEM getrennt in LENE . Medicamentnm , woran der Verfasser
selbst zweifelt; kann es nicht heissen lenem ad impetum Llppitu-
dinis, wiewohl diese zwei Buchstaben LI nicht ganz gewiss sind;
früher gab Grotefend LP, Brambach hat I.I; dieser hat unrichtig
v 7 H£LI mit Helius gegeben, da schon ein nomen Junius da ist ;
richtiger unser Verfasser Heliodorus, vielleicht noch besser flelias. ;
Nr 47 liest er nun anders als vor zehn Jahren, allein diese Con-
jektur wird auch nicht richtig sein, weil lippitudo niemals vor
impetum gestellt vorkommt, wie Nr. 7. 72. 76. 90 etc. ausweisen ;
vielleicht könnte man schreiben AD . OMNEM IMPETVM, wiewohl
ich solche Bezeichnung nicht finde, doch vergleiche 73 ad omnem
dolorem. Manchmal weiss man gar nicht, wie die Inschrift eigent-
lich ist, weil der Verf. seine oder anderer Lesart unmittelbar in
den Text setzt und in der Erklärung die Worte der Inschrift nicht
gibt so Nr. 39. 74. Anderwärts ist der Verf. vorsichtiger und
ändert nicht sofort die Inschrift» wiewohl sein Vorschlag sicher
ist, so konnte wie bei Nr. 1 G in C, auch bei Nr. 11 u. 23 C in
Cr im Text schon verwandelt werden. Nr. 16 kann SIACI ohne
Anstand in STACT geändert werden ; auch Nr. 40. 48. 52 u. s. w.
machte ich des Verfassers Vermuthung in den Text setzen , wenn
man denn nicht Uberall die überlieferten oder noch vorhandenen
Buchstaben festhalten will. Noch einige Kleinigkeiten. Nr. 53
Zeile 5 lese ich die Abkürzung dianaisum, ebendaselbst Zeile 7 hat
er nun seine Conjectur im pbilologus nicht mehr anerkannt. Bei
dem Wormser Stempel 32 ist nicht bemerkt, dass auf Seite 2 u. 4
ein M seitwärts steht ; anch hätten die paar Buchstaben der letzten
Zeile im Text stehen können statt in der Erklärung. Auffallend
ist uns noch, dass sehr oft die Ligaturen nicht angegeben sind,
was doch hätte geschehen sollen und was der Verfasser im philo-
logus nicht unterlassen hatte. Dass die Punkte zwischen den Wor-
ten uud Abkürzungen Uberall angebracht sind, auch wo keine im
Original stehen, wollen wir hingehen lassen; sie dienen manchmal
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Grotefend: Stempel der römischen Augenärzte.
599
die Vermuthung des Verf. zu bestärken: so ist in dem Mainzer
Stempel Nr. 14 Zeile 2 kein Punkt zwischen den zwei L; hier
fehlen auch alle Ligaturen, im pbilologus sind sie angegeben ausser
eine nämlich EP in vierter Zeile. Wir unterlassen weitere Kleinig-
keiten aufzuführen, sie werden dem Verf. bei nochmaliger Ansicht
von selbst leicht einfallen. Noch machen wir aufmerksam auf die
oft scharfsinnigen Erklärungen der Augenmittel, wobei der Verf.
überall die betreffenden Stellen der alten Aerzte verglichen hat.
Dur indices sind drei: der Augenärzte und Pharraaceuten im Ganzen
180, da auf mehreren Stempeln zwei bis drei Namen genannt sind ;
der Collyrien, die auf den Stempeln genannt werden, deren an 180
sind, freilich manche unbestimmt oder wiederholt und der Fund-
orte, deren 72 sind, wiewohl mancher Ort, wie wir schon anzeig-
ten, nicbt den Fund, sondern die Aufbewahrung anzeigt. Zum
Schlüsse wollen wir dem Verfasser zwei ihm nicht bekannte Stem-
pel mittheilen , von denen der eine zwar längst veröffentlicht ist.
In der Bev. archeol. 1862 S. 247 — und ich wundere mich, dass
dieses dem Verfasser entgangen ist — wird ein Glasfläschchen er-
wähnt, das folgenden Stempel hat:
FIRM. HILARI. ATYLAR,
welcher dort gedeutet wird : collyre aromatique de Firrous Hilarius
(wohl richtiger Firmius Hilarus) contre l'atylosis ; Fundort Clor-
marais bei Reims — wo bereits in der Nähe sieben Stempel ge-
fanden worden sind — und nun im Museum der erwähnten Stadt.
Vergl. auch hierüber den XXXI. Jahresbericht des historischen
Vereins in Mittelfranken (Ansbach 1863) wo S. 32 das hier er-
wähnte atyloticura aromaticum als »Mittel für das Schwellen am
Angenlied« erklärt wird. — Der andere Stempel ist noch nicht
bekannt gemacht. Unter den Papieren des verstorbenen Kupfer-
stechers Lindenschrait dahier fiudet sich die Abbildung
HERMIAE . SM
CICAE CILIS
d. h. wahrscheinlich Hermiae smyrne cicatricum e ciliis d. i. des
Hermias aus Myrrhen bereitetes collyrium gegen Verwundung des
Auges durch die (einwärts gekehrten) Augenwimpern. Wo der
Stempel gefunden, oder wo er hingekommen, weiss man nicbt.
Endlich will ich noch zur Literatur der Augensterapel eine Schrift
anführen, die sowohl bei Schreiber als Grotefend fehlt und mir
auch nur dem Titel nach bekannt ist, welcher lautet: Triller Dan.
Wilh. progr. de variis veterum medicorum oculariorum colliriis,
quorum memoria in priscis lapidibus inscriptis adhuc superest. Wit-
tenberg. 1772. Aus diesen kleinen Beiträgen möge der verehrte
Verfasser ersehen, wie sehr uns seine gelehrte und belehrende Schrift
angesprochen hat.
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1300
Eick: Römische Wasserleitung.
Eick, C. A. Die römische Wasserleitung aus der Eifel nach
Köln, mit Rücksicht auf die zunächst gelegenen römischen Nieder-
lassungen, Befestigungswerke und Heerstrassen; ein Beitrag sur
Alterthumskunde im Rheinlande; mit einer Karte. Bonn lö(>7.
VJJ1 und 187 S. 8.
Vorliegendes Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Alterthums-
kunde des Niederrbeius und löset so ziemlich vollständig eine
Untersuchung, die schon vielfach in Frage gekommen war. Die
Schrift hat fUnf Abschnitte. Der erste beginnt mit den ältesten
Nachrichten über den Kanal, der nach alten Ueberlieferungen von
der Vordereifel oder Trier nach Köln führte und entweder Wasser
führte oder wodurch die Trierer mit ihrem Weine die liebe Stadt
Köln beschenkten. Das Werk galt als ein Wunderwerk und wird
in der Volkssage, die jetzt noch lebt, dem Teufel zugeschrieben,
indem dieser eifersüchtig auf den Baumeister des Kölner Doms
mit ihm wettete, »eher die Wasser der Mosel von Trier in einem
unterirdischen Kanal über die Höhen der Eifel nach Köln zu füh-
ren nnd als Zeuge davon eine Ente binabschwimmcn zu lassen, ehe
der Kölner Dom vollendet sei«, und siehe als einst die Arbeiter
auf dem südlichen Hauptthurm standen , öffnete sich plötzlich vor
der Kirche die Erde, der Kanal war gemauert und auf dem dauer-
st römenden Mosel wasser schnatterte eine schwimmende Ente, wor-
auf der Baumeister, da zugleich der Teufel in Lachen ausbrach,
sich vom Thurm herabstürzte und sein Hund ihm im Tode folgte.
So die Sage. Nachdem hierauf der Verfasser noch über die Lite-
ratur gesprochen hat, woraus wir ersehen , wie wenig bisher er-
mittelt ist: theilt er im zweiten Abschnitte »den Ursprung und
Lauf des Kanales« vollständig mit, wie seine Jahre lange und
mühevolle Untersuchung es festgestellt hat. Der Kanal beginnt bei
Nettersheim 300 Schritte unterhalb der Rosenthaler Mühle auf dem
sogenannten »grönen Pütz«. »Bei einer lichten Weite von 20 Zoll
beträgt die Höhe der Gussmauern von der Sohle bis zum Anfange
der Wölbung 26 Zoll, die Höhe der Wölbung selbst 8 Zoll.« Von
diesem Ursprünge verfolgt der sorgfältige Verfasser die Wasser-
leitung , die immer unter der Erde ist , ganz genau von Dorf zu
Dorf, überall nachgrabend, überall die römischen Spuren aufsuchend,
überall bemerkend, wo seine Mauern ausgebrochen sind, aber seine
Spur noch deutlich in Gräben, Steinen u. s. w. vorhanden ist ; nur
an einer Stelle bei dem Dorfe Vussem liegt der Kanal zu Tage,
indem der Viaduct Uber ein Thal von 280 Fuss Breite geht, wie
noch heute übrige Substructioneu zeigen. Anderwärts geht der
Kanal unter einem Flusse (der Erft) durch. Nicht sehr weit von
Köln tritt er allmählig an die Oberfläche, so dass bei Rodderbof
und Hochkirchen seine Wölbung beim Ackern von der Pflugschaar
berührt wird. Hinter der Koblenzer Strasse an der alten Burg
erreicht er auf Substruktionen die Stelle, wo wahrscheinlich das
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Fick: Römische Wasserleitung.
601
römische Sommerlager war. Die Leitung endlich nach Köln hin-
ein ist gänzlich verwüstet, war sicher ein opns supra terram ; viel-
leicht auch gingen zwei Arme in die Stadt. Die Erbauung des
Kanals schreibt der Verfasser dem Trajan und Hadrian zu und
meint auf letzteren ginge der noch übliche Volksname des Kanals
> Aderich Adersgravon.c Die Länge des Kanals übertrifft alle bis
jetzt bekannten römischen Kanäle, ist in gerader Richtung 12, mit
den Biegungen wenigstens 17 preussische Meilen lang. Das erste
Wasser schöpft er 1304 Fuss über dem Nullpunkt des Amster-
damer Pegels, bei Köln ist die Höhe etwa 150 Fuss; der Fall ist
natürlich nicht immer gleich. — Wir übergehen, was der Verf.
Über das Material, die Bauart des Kanales, von der er zwei Profile
abbildet, über den Sinter und dessen Gebrauch u. s. w. mittheilt
und bemerken nur noch, dass er auf dem ganzen Wege, den der
Kanal nimmt, die irgendwo in der Nahe aufgefundenen Inschriften
beifügt; die meisten sind anderwärts bekannt, mehrere sind hier
zum erstenmale edirt, und da wundere ich mich, dass sie, da sie
schon längere Zeit aufgefunden sind, nicht in Brambachs Werke sich
finden — ans der Nähe von Bonn sollten doch dort keine In-
schriften fehlen. — Wir vermissen aber bei Brambach mehrere
nicht unbedeutende Fragmente, welche bei Eick stehen S. 21 (eine
andere Inschrift auf dieser Seite möchte der Verf. für christlich
halten, was sie doch nicht ist; sie steht bei Brambach); S. 46
interessante Ziegelfragmente mit Stempeln« wie der Verf schreibt;
S. 97 eine sehr defecte ara, die der Verf. dem Jahre 214 p. Chr.
zuweist, was ungewiss bleibt; S. 119 unklarer Name auf einem
Fingerringe 1863 gefunden und vielleicht noch eine oder die andere,
da bei Fragmenten das Aufsuchen im corpus inscr. Rhen, äusserst
schwer ist, weil ein index locorura fehlt. Auch einige Töpfernamen,
die wir bei Fröhner vermissen, stehen hier wie FIDENATIS S. 100,
SECVNDM S. 119. Auch germanische Gräber und Fundstücke
hie und da kommen vor, wie S. 48, 109, 111, 141 u. s. w. Dies
wenige möge genügen, um diese Schrift, welche mit vielem Fleisse
ausgearbeitet ist, und einen längst angeregten Gegenstand aus dem
Alterthum des Niederrheins zum endlichen Abschluss bringt, den
Freunden der Geschichte und Alterthtimer so wie auch den Archi-
tekten, wenn sie sich um die Bauart alter Zeit bekümmern, in
empfehlende Erinnerung zu bringen. Klein.
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Drossel: Die Pasaltbildung.
Die Basdltbildung in ihren einseinen Umstanden erläutert von L.
D res sei. Eine von der holländischen Gesellschaft der Wis-
senschaften zu Haarlem am 19* Mai gekrönte Preisschrift.
Mit vier Tafeln. Haarlem. 4. 8. 178.
Die von der holländischen Gesellschaft der Wissenschaften
gestellte Preisfrage lautete folgendermassen : Beaucoup de roches
laissent encore les naturalistes en doute, si elles ont öte" deposees
d'une dissolution dans l'eau, ou bient se sont solidifides apres une
fusiou par la chalenr. La Sociöte* desire qu'une de ces roches an
cboix de Tauteur soit soumise ä de recherches qui menent ä deci-
der avec certitude sur son origine et qui, si c'est possible, jettent
aussi quelque lumiere sur celle d'autres roches plus ou moins
analogues.«
Es war oin glücklicher Gedanke von L. Dressel den Ba-
salt zum Gegenstand seiner Forschungen zu wühlen. Denn kein
Gestein hat, was seine Entstehungsweise betrifft, zu so verschiede-
nen und extremen Ansichten Veranlassung gegeben. Wie bekannt
war der berühmte Lehrer der Freiberger Bergakademie und Grün-
der geognostischer Wissenschaft, Werner, der entschiedenste Ver-
fechter der wässerigen Bildung des Basalt ; seine Lehren riefen im
Anfang dieses Jahrhunderts jenen erbitterten Kampf zwischen
Neptunisten und Plutonisten hervor, an dem sich die hervorragend-
sten Naturforscher damaliger Zeit betheiligten, ein Kampf der noch
nicht beendigt, sondern im letzten Decennium mit, durch die Fort-
schritte der Wissenschaft geschärften Waffen weiter geführt wurde.
Denn obschon ein grosser Theil der Geologen und Chemiker der
Gegenwart — unter ihnen besonders bedeutende Lehrer an jenem
Orte, wo Werner einst wirkte — an der plutonischen Abkunft
des Basalt nicht zweifeln, so sind dennoch für dessen wässerige
Entstehung Autoritäten aufgetreten, die sich eine nicht geringe
Zahl von Anhängern zu erwerben wussten. Wenn die Geologen
der älteren Schule bei ihren Meinungskämpfen über die Bildung
des Basalt sich einzig auf ihrem heimischen Boden, d. h. auf dem
Boden der Geognosie bewegton, so hat man in neuerer Zeit —
und dies mit vollem Rechte — Chemie und Physik mit in das
Gebiet der Geologie hineingezogen. Manche und darunter ange-
sehene Forscher sind aber dabei ins Extreme verfallen, indem sie
bei derartigen Fragen — wie die Genesis des Basalt — Alles durch
die Gesetze der Chemie zu erklären strebten und die geologischen
Verhältnisse dabei gänzlich ausser Acht Hessen. L. Dressel
spricht sich entschieden in der Einleitung gegen diose einseitige
Richtung in der Geologie aus und bezeichnet hiedurch den Stand-
punkt, welchen er bei der Beurtheilung der Basalt- Bildung ein-
nimmt.
Die vorliegende Schrift zerfällt in zwei Theile. Der erste be-
trachtet die Basalt-Bildung nach den am Basalte selbst auftreten-
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Press el: Die Bwaltbildung.
608
den Eigenschaften: 1) Chemische Constitution des Basalt; 2) mi-
neralogische Constitution ; 3) physikalische Eigenschaften ; 4) Con-
tinuitäts-VerhUltnisse und 5) Gebirgs-Formen des Basalt. — Der
Kaum gestattet uns nicht, auf alle die Gründe einzugehen, die der
Verf. zu Gunsten einer plutonischen Entstehung des Basaltes gel-
tend zu machen sucht; wir können hier nur einige der gewichtig-
sten hervorheben.
Die Uebereinstimmung , die in der chemischen Constitution
zwischen basaltischen Gesteinen und gewissen Laven obwaltet,
spricht dafür, dass in jenen unterirdischen Räumen, denen die
Laven entstammen, auch das Material für die Masse der Basalte
gebildet sein könne, und solche ebenso gut wie die Laven, unver-
sehrt zu Tage gefördert werden konnten ; dass also der Basalt,
seiner chemischen Natur nach , gleich den Laven , feurig-flüssigen
Ursprungs sein könne.
Die Mineralien, welche die Basalte zusammensetzen^ sind die
nämlichen, aus denen eine Gruppe gewisser Laven besteht ; Labra-
dorit, Augit, Olivin, Nephelin , Anorthit , Magueteisen. Also auch
hier eine grosse Uebereinstimmung. Besondere Beachtung verdienen
aber in dem Abschnitt über die mineralogische Constitution des
Basalt; erstens die Beschreibung der Ausscheidungen die in der
Masse der Basalte vorkommen; der Aufenthalt des Verf. in Laach
bot ihm vielfache Gelegenheit zu interessanten Beobachtungen.
Zweitens aber die Wahrnehmungen die Dressel an höchst dünn-
geschliffenen Basalt-Stückchen von verschiedenen Fundorten machte,
denn sie lüften hauptsächlich den Schleier, mit dem die Grund-
masso der Basalto für das gewöhnliche Auge verhüllt ist. (Die
beiden ersten Tafeln enthalten viele aus dem Mikroscop gezeichnete
Bilder.) Bekanntlich ist Basalt noch wenig microscopisch unter-
sucht worden, bisher nur durch F. Zirkel. Alle die, theils bei
92maliger, theils bei 380raaliger Vergrössernng gesehenen Erschei-
nungen : das Verlaufen grösserer Feldspath-Krystalle in die sie um-
gebende Masse, das Verschmelzen des Olivins mit der Grundmasse,
das Zerbersten ganz frischer Olivine und Feldspathe, das Eindrin-
gen der umgebenden Masse in die Sprünge reden einer plutoni-
schen Bildung des Basaltes das Wort. Die Poren, die oft inmitten
grösserer Krystalle des Feldspath liegen, beweisen, dass während
der ganzen Entstehungs-Zeit Flüssigkeiten und Gase eine Rolle
spielten.
Die häufige poröse Structur des Basaltes und die Analogien,
welche er auch in dieser Beziehung mit Laven zeigt, wird von dem
Verf. als ein weiterer Grund für seine plutonische Abkunft her-
vorgehoben. Auch die Absonderungs Formen des Gesteins sprechen
dafür; besonders die säulenförmige, welche ja ein Resultat der Ab-
kühlung und der hiedurch bedingten Volumen- Verminderung wäh-
rend des Festwerdens der Masse ist.
Die Gebirgsformen des Basalt sind ebenfalls zu Gunsten eines
«
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604
D r e s e e 1 : Die BAsaltbUdung.
Heraufdringen in heissflüssigem Zustande; wahrscheinlich waren
dabei Gase und Dämpfe sehr tbätig. Die massenhaft im Basalt-
Magma vorhandenen Gase — so bemerkt Drossel — der vom
Erdiunern gegen die Erdkruste ausgehende Druck bewirkten ein
Zeri eissen der Gesteine , die Bildung von Spalten , in welche
der Basalt nun ein- und heranfdrang. Die ganze Art des Auf-
tretens dieser Felsart wird hierdurch erklart. Die Basalte — so
sagt D res sei — sind nur unter andern Umstünden formal anders
ausgebildete Laven. Sie sind dasselbe, was die Laven, wenn man
nur mineralogische und chemische Constitution, Abkunft, die zur
Erdoberfläche führenden Ursachen, den Vorgang des Aufsteigens
betrachtet, in wie fern solches durch ein in der aufsteigenden Masse
selbst liegendes Agens, die Expansivkraft der Gase und Dämpfe
bewirkt wird. Die Basalte sind aber verschieden von den Laven,
wenn man die Umstände erwägt, unter denen sie ihre charakteri-
stischen Absonderung*»- und Gebirgsformen in einem etwas ver-
schiedenen Entwickelungs-Process annahmen. Die Basalte entstan-
den nnter Verhältnissen, die keine ächte vulkanische Krater-Bildung,
kein Ergiessen in Lava-Strömen gestatteten.
In dem zweiten Theile seiner interessanten Schrift beurtheilt
Dressel die Basaltbildung in Hinsicht auf ihre äussere Verbält-
nisse. Es ist zunächst von den localen Beziehungen der Basalt-
Vorkommnisse die Rede. Als beacbteuswert.he Erscheinungen tre-
ten hier hervor: dass die Eruptionen der Basalte häufig in früher
schon vielfach gestörtem Boden statt fanden; dass sie häufig in
Gesellschaft von Tracbyten und Phonolitben auftreten; die nicht
selteno Association von Basalt- und Quellen-Ztigeu. Ferner wird
besprochen der Eiufluss den die Basalte auf ihre Nebengesteine
ausübten, die mechanischen, chemischen und physikalischen Con-
tactwirkungen. Dressel stellt alles darüber Bekannte mit grosser
Vollständigkeit zusammen. Unter den Ergebnissen eigener For-
schungen, welche Dressel in diesem Abschnitt mittheilt, verdienen
besondere Beachtung die im Gebläse-Feuer eines Schmiedeofens
vorgenommenen Schmelzversuche mit Basalt- Pulver; sie zeigen, dass
zähflüssiger, seinem Erstarrungs-Punkte völlig naher Basalt nicht
jene Wirkungen hervorbringt, wie man sie dem dünnflüssigen zu-
schrieb. Er besass, als er flüssig aufstieg, eine niedrigere Tempe-
ratur, als selbst seine Wärmeschmelzung unter den günstigsten
Umständen verlangt. Dafür spricht auch das Verhalten des ge-
schmolzenen Basalt zum kohlensauren Kalk. Denn es büssten Kalk-
stein-Einschlüsse ihre Kohlensäure nicht ein, die — nach auge-
stellten Versuchen — schon im dickflüssigen Basalte entweicht.
G. Leonhard.
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Bastian: Reisen in Siam.
GOß
Bastian, Adolf, Dr., Reisen in Siam im Jahre 1863. Nebsteiner
Karle Hinterindiens von Professor Dr. Kiepert. Jena 1867.
Das vorstehende Reisewerk ist der dritte Band der Studien
und Reisen des berühmten Arztes, die unter dem gemeinsamen
Titel »Die Volker des östlichen Asiens« jetzt vollendet dem Publi-
kum vorliegen. Als wir die beiden ersten Bände bereits in diesen
Jahrbüchern bald nach der Zeit ihres Erscheinens anzeigten*),
hatten wir uns die Absicht vorbehalten, über den dritten Band
noch zu seiner Zeit zu sprechen.
Wir erreichten damals mit dem Verf. die siamesische Grenz-
station Maetata, ein mit Anpflanzungen umgebenes Walddorf am
Mailmount-Flusse , das von dem Gouverneur und seinen Beamten,
sowie den Bearbeiteru der Teakholzungen bewohnt ist.**)
Mit dem dritten Bande betreten wir den Boden von Siam. »Am
15. November 1862, so beginnt der Verfasser, hatte ich die
birmanisch-siamesische Grenze passirt und war am folgenden Tage
in Maetata angekommen.«
Wir wollen nun den Verfasser auf der Reise nach Bangkok
begleiten.
In Maetata traf er den siamesischen Beamten (den Schan-
Min oder Edelmann, wie ihn die Birmanen nennen), der grosse
Freude über seinen Besuch kundgab. Sein Haus aus Bambu, das,
wie alle dortiger Gegend, auf Pfählen stand, war von einer Ve-
randa bekleidet. Derselbe machte anfangs Schwierigkeiten, unseren
Reisendon seinen Weg fortsetzen zu lassen, geschweige ihm einen
Elephanten für die Reise nach Rahein zu gewähren. Der Weg
um Bangkok zu besuchen, sei zur See, nicht bei Lande von Nor-
den her, und überdies könnten Fremde nur unter einem Pass des
englischen Consuls in Bangkok in Siam reisen. Da unser Reisen-
der ihm erklärte, die von dem englischen Gouverneur in Molmein,
woher er zunächst käme, ausgestellten Pässe seien für den Consul
bestimmt, verstand sich der Beamte in Ermangelung eines ent-
scheidenden Präcedenzfalles dazu, ihn nach Rahein Weiterreisen und
die zunächst höhere Behörde daselbst die Verantwortlichkeit über-
nehmen zu lassen. Nachdem endlich die Elephanten aus den Karen-
Dörfern der Umgegend eingetroffen sind, und Alles zur Reise fertig,
wird am 25 November aufgebrochen, und auf einem schmalen
engen Wege die Reise fortgesetzt, wobei der Wog dem Mailmont-
Flusse entlang lief, aber nicht immer auf demselben Ufer, sondern
bald auf diesem, bald auf jenem, so dass die Carawane hin und
herkreuzeu musste. Ihr Weg ging durch menschenleere Gegenden,
die Einsamkeit der Reise wurde durch die Gefahr vor Raubthieren
unterbrochen und durch eine Carawane siamesischer Kaufleute,
*) Vgl. Heidelb. Jahibb. 1866. Nr. 83 ff.
—) Vgl. Bd. II. S. 488.
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Bastian: lletoen In 8iam.
Endlich kommt man an den Fluss Metong*), der dem Menam zu*
fiiesst ; hier zeigte die Gegend Spuren von Anbau. Bald befanden
sie sich zwischen Menschenwohuungen, aber erst, als sie die Mün-
dung des Metong erreichten , sahen sie auf der anderen Seite die
Häuser und Strassen der Stadt Bah ein oder Yahein (Lahaing)**)
sieh auf eine weitere Ausdehnung am Ufer hinstrecken, S. 11.
Die Berathungen, die er mit dem Gouverneur (Cbao-Myang)
darüber hatte, ob die von ihm beabsichtigte Reise nach Bangkok
zulässig sei, eine Aufwartung bei dem Gouverneur, wo die Politik
des Tages bei Braten, Tbee und Cigarren die Unterhaltung bildete,
ein Besuch bei dem Abte des nahegelegenen Klosters ***) der
Kokonuss-Palmen , das in einem weiten, dichtbeschatteten Garten
lag, die Beschreibung der Stadt Rahein, unterbrechen den Faden
der Reisebeschreibung.
Der Gouverneur hatte unseren Reisenden ersucht, bis zu sei-
ner Rückkehr zu warten, da er eine Pilgerfahrt nach einer nahe-
gelegenen Pagode zu unternehmen habe (S. 17). Der Verfasser
machte nach der Rückkehr noch einen Abschiedsbesuch bei dem
Gouverneur, der mit der Ertheilung der Erlaubniss zur Thalfahrt
auf dem Menam nach Bangkok unbeschreiblich gezögert hatte, und
schiffte sich, unter Zurücklassung seiner birmanischen Diener, die
an chroHischen Krankheiten litten, am 10. Dezember auf einem
geraumigen, wohlbedeokten Boote ein, das ausser dem Steuermann
durch fünf Ruderer bemannt war. 8. 20. Er behielt es bis zu dem
Orte Kampengpet, der in der siamesischen Geschichte berühm-
ten Hauptstadt der diamantenen Mauer, von der sich noch Ruinen
mit Steininschriften finden. Bis so weit reichte die Gerichtsbarkeit
des Gouverneurs von Rahein, und musste deshalb das von ihm ge-
gebene Boot dort durch ein anderes ersetzt werden. Er machte
also Rast in einem Kloster auf Ersuchen des Gouverneurs, den er
am nächsten Morgen besuchte. Da passende Regierungsboote nicht
da waren, so erlangte uuser Reisender die Aushülfe, dass das von
Rahein mitgebrachte Boot noch bis zur nächsten Station ihn wei-
terführen sollte. Am Mittag des nächsten Tages begab er sich
wieder an Bord des Kahnes, den der Gouverneur mit frischen
Kokosnüssen, Zuckerröhren und anderen Erfrischungen hatte füllen
lassen. Am folgenden Tage Abends kam er in Müangklang, der
Station eines neuen Distrikts an, wo der mir beigegebene Beamte
seine Papiere abzugeben hatte, um das Boot durch ein anderes zu
ersetzen. Dieses Mal war der »Amtmann« seit mehreren Wochen
*) Wohl derselbe, den die beigefügte Karte M. Ta nennt.
**) Die Karte hat dafür noch den Namen Rahaing; Belehrung Ober das
Variiren in diesem Namen giebt Bastian selbst. 8. 18: „Der siamesische
Name Rahein, oder eigentlich Raheng, wird von den Birmanen, die r und y
verwechseln, Yahein gesprochen, während die Laos, die statt r nur 1 ken-
nen, Lahein sagen.44
Kyaung im Birmanischen, Vat im Siamesischen Si it.
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Bastian: Reisen in Slam.
nach Bangkok abgereist, und musste sein Stellvertreter, der sich
auf seinem eine halbe Tagereise entfernten Laudgute befand, wo
er die Feldarbeiten beaufsichtigte, herbeigeholt werden. Er kam,
and »auf mein Drängen., erzählt der Verfasser, nach möglichst
rascher Abfertigung konnte ich um Mittag in das andere Boot
übersiedeln, empfing noch einen Besuch des Beamten, der mir Ge-
schenke in Confeot brachte, so wie des Richters, von dorn der Koch
mit Htlhnern und Reis verproviantirt wurde, und liess dann auf-
brechen.« S. 27. Kauiao, Brankün, Nakkonhayen (eine neue
Wechselstation), sind die nächsten Dörfer, wo angelegt wurde.*)
Er sollte das mitgebrachte Boot noch weiter benutzen dürfen.
S. 30. Nach dem Berichte einiger Bootsleute lagen in der Nähe die
Ruinen des alten Kampleng phet. Die Weiterfahrt wurde am Nach-
mittage des folgenden Tages angetreten.
Der erste bedeutende Ort auf der Weiterfahrt war die Stadt
Monnrohm, >nach der Zerstörung der früheren Stadt Xangrohm
gebaut, die an der Stelle gegründet worden war, wo ein zur Be-
lohnung in den Adelstand erhobener Jäger einen weissen Elephan-
ten gesehen hatte«, S. 34, die nächstfolgende Myang Xainat,
8. 37. Bei einem Besuche, den er hier dem Gouverneur machte,
erfuhr er, in früheren Zeiten lag Zeinnat oder Xainat auf der an-
deren Seite des Flusses, wo im Walde noch alte Ruinen zu sehen,
aber die Stadt wurde in Folge der ungesunden Umgebung verlegt.
Die Gegend ist reich an wildem Bambu. Auf der Weiterreise
zeigten sich parkähnliohe Anlagen am Ufer, wo Chinesen eine
Zuckerfabrik angelegt hatten. Bald darauf erreichten sie Myang
Ing, eine noch neue Stadt. Die Stelle der alten Stadt, die zur
Zeit der birmanischen Invasion zerstört worden war, war, wie er
vom Gouverneur hörte, jetzt ganz von Jungle tiberwachsen; mit-
unter fände man wohl Topfe und Goldmünzen, die auf höheren
Befehl nach Bangkok geschickt würden.
Dieses Mal trat ein Bootwechsel ein. »Das eine der beiden
Boote, die ich jetzt erhalten hatte, war chinesisches Eigenthum.«
S. 39. »Die *aldfreien Ufer waren jetzt mit Häusern und Dörfern
besetzt, schreibt er, und eine abwechselnde Fahrt zwischen ihnen
führte uns mit Einfall der Nacht nach Myang Phrom.« Auch in
dieser Stadt traf er den Gouverneur nicht mehr, weil derselbe zur
bevorstehenden Festlichkeit nach Bangkok berufen war. Daher
kam sein Stellvertreter an Bord, um die nöthigen Massregeln zur
Weiterfahrt zu besprechen. »Nach einem durch vorheriges Bad
gewürztes Frühstück, bei dem ich aber die von dem Beamten ge-
schickten Gerichte nur zum Schein berücksichtigen konnte, wurden
die Boote umgepackt und in den Strom hinausgewendet.« Die
•) In letzterem Orte war der Gouverneur auf dem Punkte gewesen,
nach Bangkok abzureisen, wo der König die Kopfscbeerung eines seiner
Prinzen feierlich begehen wollte. S. 20.
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Bastian: Reisen in Slam.
Fahrt ging bis Myang Angstong, wo er Mühe hatte» vom Gou-
verneur Boote zu bekommen. Die Stadt liegt nach des Verfassers
Beschreibung auf einer vorspringenden Landzunge von zwei Armen
des Menam gebildet. S. 41. »Wir fuhren, erzählt er weiter, zwi-
schen wohlangebauten Ufern bin, und auch der Fluss war von vie-
len Booten belebt. Eines derselben , das mit seiner Waare von
Bangkok heraufgekommen war, bot in seinem schwimmenden Laden
Zeuge, Kleider, Töpfergesch irre und Aehnliches feil, indem es die
Bedürfnisse der Dörfer am Ufer versorgte oder auch zum Handel
längs den herabkommenden Schiffen anlegte.« Sie passirten einige
Dörfer, »deren Häuser zum Theil auf schwimmende Flösse in Was-
ser gebaut waren, dann öffnete sich , wie er sagt , eine fruchtbare
Ebene, aus der eine Menge von Pagodenspitzen hervorblickten, und
bald darauf liefen wir in Ayuthia ein d. h. die neuerdings
so genannte Stadt *), die in kurzer Entfernung von den Ruinen der
hochberühmten Hauptstadt des alten Siam gebant ist. **) Die Nacht
brachte er in dem Zayat eines Klosters zu. Am anderen Morgen
besuchte er die Ruinen , ohne dazu ermächtigt zu sein , aber man
controlirte ihn nicht. Man bestahl ihn in einer Nacht, und es
gab eine Untersuchung, die in Bangkok weitergeführt werden sollte.
Zur Sicherheit erhielt er die nächste Nacht zwei Schildwachen an
jede Thür seines Hauses (vgl. S. 42), Hess packen, um mit dem
Frühesten in dem neuen Boote abzureisen, und erhielt von dem
Vicegouverneur das Versprechen, mitzureisen, damit die Entschei-
dung über jenen Fall keinen Aufenthalt erfahren sollte. 8. 51. Man
fuhr also ab, und legte mit Einbruch der Nacht im Dorfe Sanck-
hock an, »dessen erleuchtete Häuser sich in weiter Länge am Ufer
hinstreckten.« S. 52. Der Amtmann, bei dessen Wohnung man
endlich anlangte, war in Bangkok anwesend; sein Stellvertreter
schaffte das andere Boot herbei, und Hess die Bagage durch ein
Paar an den Beinen zusammengeketteter Sträflinge umpaoken.
• » Die Karte des Verfassers enthält den Namen Krung-Rau (Ayuthia).
**) Er bringt aus der Gründungsgeschichte Einiges S. 43.
(Schluss folgt)
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Ir. 39. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Bastian: Eeisen in Siam.
(SchluBS.)
In Myang Notumberi war gleichfalls nur der Vice-Amtmann
zu Hause ; doch zeigte sich derselbe , wie unser Reisender erzählt,
eifrig, rasch die gewünschten Boote zu schaffen um noch vor Abend
einzupacken. Der Fluss wurde zusehends breiter, und bald zeigten
sich die hohen Pagoden, die buntgeschmückten Palastthürme Bang-
koks, wo meine Bootsleute an der Wohnung des Phra-Klang*) an-
legten, um ihre wichtige Fracht sogleich in die richtigen Hände
zu liefern. Es war gerade am 31. Dezember, als unser Reisender
in Bangkok anlangte. Nachdem die Passangelegenheit mit vielen
Umständen wegen der Unbekanntschaft mit der Stadt vorab ge-
regelt war, wurde der Abend in einem heiteren Kreise deutscher
Landsleute verbracht, unter den Gefühlen, »als ob mich unverhofft
ein wohlwollender Zauberscblag aus der birmanisch-siamesischen
Vergangenheit in die ferne Heimath entrückt habe.« Da er un-
wohl war, blieb er bis zu seiner Wiederherstellung im Hause des
Chefs einer dortigen deutschen (hanseatischen) Firma, und nahm
er Wohnung bei einem Missionar (Herrn Chandler) zum Behufe der
Erlernung des Siamesischen. Er hatte einen weiten Weg zu Stadt-
visiten. Gegen das Ende seines Aufenthalts, als seine Bekannt-
schaften ausgedehnter und die bei den Siamesen abzustattenden
Besuche häufiger wurden, gab er den Einladungen des englischen
Gesandten (Sir Robert Schomburgk) nach und zog in das englische
Consulatsgebäude, wo er dem Mittelpunkt der Stadt näher war.
Der Aufenthalt in Bangkok nimmt einen eigenen Abschnitt in
Anspruch, S. 61 ff. Unser Reisender nennt sie die Stadt der wil-
den Oelbäume, beschreibt den Verkehr auf dem Mcnam, sowie das
Interessante, was eine Fahrt auf dem Menam bietet.**) Es geht
aus seiner Beschreibung hervor, dass die europäischen Verkehrs-
mittel beginnen die chinesischen zu verdrängen. Manche europäische
Schiffe sind siamesisches Eigenthum. Den Handmühlen der Chine-
sen zur Reinigung von Reis, die die ganze Strasse eines Kanals
einnahmen, von den Bergen der aufgeschütteten Hülsen umgeben,
*) Des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten.
**) Die schwimmenden Häuser an jeder Seite des Flusses bieten ihm
einen Vergleich mit den Pfahlbauten bei Hippokratee (am Phasls) und He-
rodot (im See Prasias). 8. 61.
LX. Jahrg. 6. Heft 39
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Bastian: Reisen In Siam.
babon die Europäer (Engländer) und Amerikaner angefangen, Con-
currenz zu macben. Die Mittheilung über eine Audienz bei dem
Könige veranlasst ibn, auch von den Brüdern dos Königs zu spre-
chen, ferner von dem Minister Phra Kalahom und dem Schatz-
meister Phra-Klang. Jener liebte die Fremden nicht; dieser zeigte
eino offene Hinneigung zu europäischer Civilisation. *) Er beschreibt
einige Gerichtssitzungen. S. 74. Darauf giebt er die Ergebnisse
seines Besuchs der Pagoden und Klöster (Vat) zum Besten S. 75,
Predigten anlässig eines Festes in der Wohnung des Phra-Klang,
8. 81, Theegespröche , wobei der Minister Aeusserungen aus dem
Munde katholischer Priester (Batbluang) und protestantischer Mis-
sionäre kritisirt, S. 85.
Als eine seiner wichtigsten Bekanntschaften bezeichnete er die
des Phra-Alak (königlichen Schreibers) genannten Edelmannes d. h.
des Bibliothekars, der über die Archive des Palastes gesetzt war.
Er beschreibt seinen Besuch mit folgenden Worten: >Er hauste
mit seinen Secretären in einer niedrigen Kammer, zu der man auf
einer engen und verdeckten Bodenstiege emporklomm, und benutzte
ich jede Gelegenheit, ihn dort heimzusuchen, und ein Stündchen in
der Atmosphäre antiquarischen Staubes zu verplaudern.« Unter
den Bücherschätzen, 'die dann aus ihrem sicheren Verschlusse
herausgenommen und zum bequemen Durchblättern neben uns auf
die Erde gelegt wurden, befanden sich »die dicken Bände der
Geschichte Ayuthias in eleganten und reinlichen Schriftzügen hin-
gemalt, die alten Chroniken, so viele ihrer noch vorhanden, die
Uebersetzungen von Epen und Dramen, Romane, Märchen und
Fabeln. Auch Bildwerke fehlen nicht, sowie einige Palischriften
mit zugefügter Erklärung im Vernacular Manche der engli-
schen Bücher, erzählt er, die der König theils als Geschenke, theils
im Auftrage erhalten hatte, wurden dort ebenfalls aufbewahrt, und
oft sah ich die Abzüge englisch abgefasster Aktenstücke, die der
König aus seiner Privatdruckerei zur Correctur dahin geschickt
hatte.«
Durch den Phra-Alak machte er die Bekanntschaft noch ver-
schiedener anderer Gelehrten. Der weisse Elephant, den er bei
seiner Aukunft im Palaste gesehen hatte, führt ihn in seiner Er-
zählung auf die woissen Elephanten überhaupt, und auf den Stamm-
•) Hier war eines Abends das GesprHch auf eine neue Sekte des Bud-
dhismus gekommen, die der König zu stiften suchte, als reformatorischer
Versuch, alles Fabelhafte und Unglaubwürdige aus den Palischriften auszu-
scheiden und nur die moralische Essenz derselben beizubehalten. „Alle Re-
ligionen auf der Erde", lüsst er den Phra-Klang bemerken, könnten in zwei
K fassen get heilt werden, einmal diejenigen, die andere Mächte zu Hülfe
rufen, wie Kinder nach ihren Eltern schreien, und dann solche, die die Hülfe
in ihrem eigenen Geist finden." Der Unterschied zwischen Religion und
Philosophie, behauptet der Verf., ist für den Buddbismus im Sinne der west-
lichen Civilisation vorhanden. S. 73.
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Bastian: Reisen in Siam.
611
bäum der Elephanten. Dann erzählt er von den Bramanentempeln
und den Bramanen, was ihn auf eine meiner abgelegenen Vorstadt
Bangkok's angesiedelte Colonie der Kha fährt. S. 100 ff. König-
licher Palast, königliche Titel, Anreden u. s. w. sind der Gegen-
stand der nächsten Seiten, aus denen wir das Faktum herausheben,
dass in der siamesischen Geschichte die Könige sich häufiger um
Siegel aus der Hand des chinesischen Kaisers bewerben und dass
sich noch jetzt ein solches finde, dasPhayaTak geschenkt wurde.*)
Noch einige Mittheilungen über die Palastdiener, die das Engel-
heer (Phuek thevada) genannt werden, über ihr Gehalt, über die
Missionäre katholischen und protestantischen Bekenntnisses, und
das Wesentliche über seinen Aufenthalt in Bangkok haben wir
erfahren.
Dass er noch nachher eines Elephantenkampfes erwähnt, hat
darin Beinen Grund, dass dieses Schauspiel mit seiner Abschieds-
audienz beim Könige zusammenfiel, und beides noch kurz seiner
Abreise vorherging. S. 116 ff.
Wenn der Verf. der christlichen Missionäre erwähnt, so be-
obachtet er das lobenswerthe Verfahren, sie gleich zu halten, nicht
die eine Confession vor der anderen zu heben und so einen Schluss
auf seine Vorliebe zu riskiren. Diese Objectivität ist ein Vorzug
seiner Reisedarstellung.
Nun folgt noch ein specielles Capitel über die Klöster und
ihre Bewohner, S. 119, woraus wir nur Einiges herausheben. Wäre
die Absicht dieses Abschnittes eine Beschreibung derselben, so
wären einige Seiten hinreichend. Aber der Verf. schaltet Details
über heilige Bäume ein, 8. 121, über Loose d. h. Holzstäbe, die
mit günstigen oder ungünstigen Prophezeiungen beschrieben waren,
8. 125, über Alchemisten, die nach dem Ajecke oder versteinerten
Drahte suchen, S. 127, über Klosterschweine (Mu-Vat), S. 129,
über Wandgemälde (die, alfresco, die Pfeiler und Wände des Both
im Vat Suthat bedecken), 8.135, über Bilderunterschriften, S. 187,
über Tempelärzte, S. 139, über das wunderbare Buddhabild, das
(700 Jahre nach Buddha' s Neibban gegossen) von Ceylon nach
Myang Lakhon (Ligor) gekommen war und durch Phaya Ruang
nach Siam gebracht wurde, S. 143**), über brahmanische Bilder,
8. 145.
Das grösste Kloster Bangkoks ist der Vat Pho oder (in könig-
licher Sprache) Vat Phra-Chattupon, der beide Seiten einer breiten
Strasse in der Nähe eines Palastes einnimmt. In der einen Hälfte
stehen die Wohnungen vieler Hunderte von Mönchen, die seine
#) Es ist beschrieben, erzählt er,
Thaeh (Vorname des Königs) Syam (Siam)
Beng (Zuname des Königs) Kok (Land)
in viereckiger Form. S. 110.
**) Obwohl von Metall, schwamm es nicht nur, sondern selbst Btrom-
aufwärta. S. 148.
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Bastian: Reisen in Slam
Insassen bilden, und deren Strassen numerirt sind, weil es sonst
unmöglich sein würde, Jemanden aufzufinden.
Ich will die Beschreibung nicht ausschöpfen; im Allgemeinen
erinnert sie durch ihre vergleichende Methode an frühere Arbeiten
des gelehrten Verfasser, z.B. über den Menschen in der Geschichte.
Der Schluss dieses Abschnittes beschäftigt sich noch speciell mit
dem Beruf der Mönche, S. 146 ff., besonders mit den Pali-Exami-
nationen, mit der Ernennung zu höheren Würden, und mit der
Prüfung der Aechtheit der Reliquien. Ein eigenes Interesse bietet
die Beschreibung des Lebensganges eines Siamesen bis zu seiner
Ordination als Priester , S. 154 ff. Es sei die Pflicht jedes
Siaiuoson, dass er zum Wenigsten einen Monat seines
Lebens imStande eines G eist lieh en zugebrach t habe,
und solche, die niemals ordinirt (buet) waren, heissen Khon dib
(rohe Menschen). Man sagt von ihnen, dass sie verkehrt geboren
(Köt phit), da sie für ihre Eltern ohne Verdienst (bun) bleiben
(S. 159).
Solche, die erst ganz kürzlich aus dein Kloster ins bürgerliche
Leben zurückgekehrt und noch au ihrem kahlen Kopfe zu erkennen
sind, werden (dem Xieng der Laos entsprechend) Thit, auch Ban-
thit (Pandit)*) oder Athit genannt. Im Kloster fügen sie ihren
Namen Khun zu, ausserhalb des Klosters Thit, bis das Haar wie-
der ganz gewachsen ist.
Wenn wir, indem wir über die Rechtsverhältnisse Siam's an
dem Faden des Verfassers Einiges hier zur Kenntniss bringen, uns
kurz fassen, so hat das den Zweck, nur auf die Anlage und den
reichen Inhalt des dritten Bandes aufmerksam zu machen.
Sollte ein Bürger Bangkok's einen Civilprocess haben , der
weder in das Departement des Kalahom (über die südlichen Pro-
vinzen) iällt, noch auch unter das Departement des Nikrabodin
(über den Norden), und der auch nichts mit den ansässigen Frem-
den, die unter dem Schutze des Phra-Klang stehen, zu thun hat,
so nimmt er die Intercession seines Nai in Anspruch, der den
Fall weiter verfolgt, bis er einem der Prinzen vorgelegt ist, die
dann entweder nach eigenem Urtheil enscheiden oder vorher mit
dem San-Luang berathen. Im San-Luang wird die Sache von den
Luk-Khun untersucht, die weiter an den Richter (Tralakan) be-
richten. Das Urtheil wird von dem Phra-Krai-Si oder Phra-Krai-
Lem publicirt. Der Präsident des Richtercollegiums ist gewöhnlich
der Jommarat, zu dessen Jurisdiction auch alle Crimiualfälle ge-
hören. Der König bestimmt die Luk-Khun als Beisitzer im San-
Luang und wechselt mit ihnen nach den verschiedenen Tagen.
Ueber den Gerichtshof San-Luang präsidiren abwechselnd der
Khun Sithammarat und der Khun Chason, die schriftlich abge-
fasste Klagen den Luk Khun einreichen, um sie zu prüfen, und,
*) In Vorderindien ist dies die Benennung des Vedagelehrten.
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Bastian: Reisen in Siam.
wenn richtig, durch den Phra-Racbanichai einem der vier Khtm-
San vorzulegen. Wenn die Parteien examinirt sind, wird der Fall
den Luk Khun zur Entscheidung zurückgeschickt und das Urtheil
von dem Tribunal gesprochen. Jeder Gouverneur hält täglich Ge-
richtssitzung im Kromakan mit seinen Beamten. Hohe Angostelite
sprechen Recht im Chang-vang. Tm Salaluk-khun, dem königlichen
Oberappellationsgericbt, führt der Phaya Rong myang den Vorsitz,
und daneben finden sich die Lakhon ban.
Nicht allein eine so tiefe Bekanntschaft mit den Organen der
Gesetzgebung zeigt hier der Verfasser ; er macht uns sogar mit den
Capiteln der dortigen Gesetzbücher eingeheud bekannt, S. 180 ß.
und geht auf die Geschichte der Herkunft derselben in einer Weise
ein, die uns mit dor Geschichte der Entstehung des Dekalogs be-
kannten Lesern durch ihre Aehnlichkeiten frappirt.*)
Bei dem reichhaltigen Material, worüber der Verfasser ver-
fügt, ist es ihm möglich, concret zu bleiben. Diese Methode
zeigt sich wieder im folgenden Capitel: >Sitten und Gebräuchec
S. 191 ff. »Ehe man den Bau eines Hauses beginnt, erzählt
er hier eingangs, legt man auf die Erde Opfergaben u. s. w.
Er prüft die Bauart der Häuser, kommt auf die Architektur
im höheren Sinne zu reden, zieht dio Pagoden herein, die an
der Küste als Leuchtzeichen oder Landmarken dienen, wie die
Thürme mit den Bildsäulen Baal's**). Wir wollen uns nicht
bei den Gebräuchen verweilen, die, sofern sie ein Ausfluss ihres
Aberglaubens sind , ein paar Seiten in Anspruch nehmen (Wahr-
sagen, Gelübde, Glauben an Anmiete und Talismane). Uebrigens
sind sogar die Gegenstände der Toilette und Eleganz in der Klei-
dang dnrch ein besonderes Buch (das Buch Raxavatoli) geregelt.
Die Berauschung, welche die Siamesen durch den Genuss der Lam-
phongfrucbt oder durch das Suragetränk oder dnrch zu frische
Areca-Nüsse erzielen, bildet einen wichtigen Passus S. 204 ff. Für
dio Kenntniss des Handelns und Wandels ist Geld und Geldprft-
*) „Nun ereignete es sich oines Tages, dass Phra-Pathara, der Ein-
siedler, sich In die Luft erhob und sich nach dem Khob-Chakkravan 'dem
den Erdkreis umgebenden Bergwall) begab. Dort verfertigte er eine Ab-
schrift von der einen Art der Pethangkha und den magischen Zauberfor-
meln der Vetha. Dann auf dem Rückwege seinen jüngeren Bruder Mano-
aan mit sich nehmecd, begab er sich nach der Residenz des Königs Maba-
Sammutirat und legte den heiligen Text der Pethangkha vor ihm nieder,
sowie die den König betreffenden Zauberformeln. Nicht lange nachher gab
Pathara-Dabot das Einsiedlerleben auf und wurde mm Paxa-Parohit er-
nannt, um den König Maha-Sammutirat zu unterrichten. Auch Manosan
folgte seines Bruders Beispiel und trat in die Dienste des Königs. Und der
Kftnig erhob Manosan eu hohen Würden, mit der Verwaltung der Menschen
betraut. Und Manosan, sum Richter ernannt, entschied mit der vollkom-
mensten Weisheit die seinem Urtheil vorgelegten Fälle, so dass ihn die De-
vata mit Gold- und Maisähren und Blumen überschütteten." 8 1*1 ff.
**) Die phönicischen Herakles-Säulen (nach Nilsson), auf denen Feuer
angezündet wurden. S. 196.
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Bastian: Reisen in Slam.
gung sehr wichtig. Der Verfasser ist auf diese Erörterung durch
die Landessteuern (8.211) geführt worden. Die Normalmünze ist
der Tikal, eine Silbermünze. Doch werden auch goldene geprägt.
Der silberne Tikal gilt drei Franken.
Dann kommt der Verfasser auf die Zuckerplantagen, S. 215,
auf den Ackerbau. Säen, Pflügen und Ernten werden beschrieben.
S. 216. Es wäre zweckmässig gewesen, wenn der Verfasser mehr
Unterabtheilungen durch besondere Ueberschriften angedeutet hätte.
Im Anschluss an die Erzählung, wie es bei den Feldarbeiten zu-
geht, folgt ein Unterabschnitt über die Kindernamen, über eigen-
thümliche Ausdrücke, über Redensarten, über Ammen-Reime und
Sprichwörter, Über Rüth sei, über Clima, über Hausweibe, über
Haarscheeren. Hier sind wir bei einem Punkte angekommen, des-
sen Wichtigkeit wir schon oben anerkennen lernten.*)
Am wichtigsten ist für uns ihr astronomisches, physikalisches
und kriegswissenschaftliches Wissen, über das der Verf. nach per-
sönlichen Erfahrungen und Büchern Mittheilungen von sehr fesseln-
dem Detail macht. S. 238 ff. Beiläufig erfahren wir, dass die sia-
mesichen Truppen schon nach der Gesandtschaft Louis XIV. durch
den Chevalier de Forbin in Exercitien geübt wurden, und seitdem
oft durch europäische Officiere geschult worden sind, auch zum Theil,
wenigstens die Leibgarden des Königs, eine der englischen nach-
geahmte Uniform tragen.
Da der Zweck unserer Anzeige ein allgemeines Referat ist,
nicht eine eingehende Detailzergliederung, so können wir, wenn
wir die noch restirenden Abhandlungen über »die Pbantasiewelt
des Uebernatürlicben«, S. 247 ff., Uber »FeBte und Spielet, S. 303 ff.,
Über »religiöse Vorstellungen t , S. 346 ff. nicht ganz übergehen
wollen, doch kurz darüber sein , um nicht über der zu umständ-
liche Vereinzelung den Ueberblick zu verlieren, welche das erste
Erforderniss an eine Anzeige ist, die gut geschnoben heissen will.
Ich verhehle mir nicht die Schwierigkeiten, welche die Beschäfti-
gung mit den Details des Verfassers stellenweise hat, geschweige
die, welche die Beurtheilung der letzteren mit sich bringt. Man
weiss bei der Lektüre nicht, worüber man mehr staunen soll, ob
über die Ausdehnung jener Phantasiowelt z. B. , über die Vielheit
der Feste und Spiele, endlich über die Ausgebildetheit des reli-
giösen Vorstellungssystems, oder über das theils kühne, theils tief-
eindringende, theils umspannende Auge des Verfassers. Gewisse
Details hier niederschreiben, hiesse den Letzteren ausschreiben, ge-
wisse combiniren, hiesse die klare Unterscheidung, die des Ver-
fassers Zusammenstellungen auszeichnen, trüben und verwirren.
■
*) Ee giebt eine Ceremonie, Tban Khnan genannt (Ktraan heisst Haar),
die die Eltern am Ende des ersten Monats beobachten; dann schneiden aie
das Haar ab, das bei der Geburt auf die Welt gebracht wird. Zum zwei-
ten Mal ist ein feierliches Kopfscheeren mit dem Abschneiden des Hoar-
knotena verboten. S. 237.
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Bastian: Reisen in Siam.
Wir müssen uns darauf beschränken, aufmerksam auf dies
oder Jenes zu machen, was über die Glaubenswelt aus jenem Süden
zu erzählen ist und vom Verfasser verwerthet worden ist.
Aberglaube der Siamesen (Glaube an Dämonen, an Spuk) und
darauf gegründete Künste (Taschenspielerei, gordische Verknotun-
gen, Diebs-Magik, Scbatzgräberei , Schwarzktinstelei) , aber auch
Opfer, die durch sie nöthig geworden sind, werden hier mit lehr-
reicher Behaglichkeit erzählt. Krankheiten und das Redürfniss ihrer
Heilung haben den Glauben an übernatürliche Heilkräfte in Dienst
genommen. Höher im Glauben der Patienten als die Aerzte, ste-
hen die Priester, zu denen in letzter Noth noch geschickt wird,
die Priester weisser oder schwarzer Magie. Der Kranke geht wo
möglich auch noch weiter, bis zu dem Gotte selbst. *)
Ein einheimisches Manuscript spricht sich nach dem Verfasser
folgendermassen ans : In Siam giebt es viele Klassen der Mo (Aerzte),
die Mo Luang (des Königs), die Mo Phong Chao (des Adels) und die
Mo Rasadon (des Volkes). Mit Ausnahme der Mo Luang heissen die
übrigen Aerzte Mo Xaloi sak (Einrollirte). Nach ärztlicher Taxe
muss der aus einer Krankheit genesende Patient den Reis der Satis-
faktion geben (song khuen khao) und an Geld für die Kosten der
Arzneien 2 Bath (Tikal) zahlen, sowie 6 Salüng zur Sühne (khnan).
Ausserdem wird eine Schüssel mit Confect und ein Schweinskopf
zugefügt. So ist der Gebrauch, sagt der Verfasser.
Zum Schlüsse des Abschnittes stellt und erörtert der Verf.
noch die Frage, ob die siamesischen Aerzte (Pbuek Mo Thai) im
Stande sind, die in einen Besessenen eingefahrenen Dämonen (Phi
Pisat) auszutreiben, und wie sie sich dabei benehmen? S. 800 ff.
Es wandelt dort noch Alles im Dunkeln.
Die Mannigfaltigkeit der Feste und Spiele kann über diesen
geistigen Znstand der Siamesen nicht hinwegdenken lassen.
In ihren religiösen Vorstellungen, welche, wie oben bemerkt,
die letzte unter den Abhandlungen bilden, müssen wir das Krite-
rium für jene traurigen Erscheinungen im Gebiete ihres Geistes-
lebens suchen.**) Die Verarbeitung der einschlägigen Vorstellun-
gen verdient unsere Bewunderung. Die Abhandlung beginnt in
johanneischer Weise mit einem Griff in die Physik des Alls: »Die
Welt ging aus dem Gesetze hervor (Köt thammada) und das Ge-
sotz bestand durch sich selbst (thammada pen eng) u. s. w.« Wir
*) In indischen Tempeln findet sich mitunter eine Stelle, durch die sich
der Kranke hindurchwinden muss, wie in der Moschee der 1001 Säulen bei
Kairo. Die Kelten zogen ihn durch einen Dolmen, und die Chinesen kennen
für ein kränkliches Kind (nach Doolittle) „the ceremony of passing through
the door/ S. 297.
**) Der Verfasser hat in seinen Bruchstücken, wie er sie bescheiden
nennt, die objektive Form bewahrt, in der sie empfangen worden, und die
zusammenhangende Darstellung des Buddhismus einem spateren Bande vor-
/
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616
Bastian: Reisen in Slam.
haben hier nicht die Absicht, weiter am Faden des Verfassers
hinzugehen , die Kosraogonie der Siamesen u. s. w. zu erörtern.
Eigen ist die Lehre von der Menschenerschaffung. Die Menschen
hatten vorher in den Palästen der Pbrohra die Luft durchschifft,
und stiessen im Raum auf die neugebildete Erde (gleich befruch-
tende Keime der Luft). So sagt der Verfasser: »Die ersten Men-
schen, die zur Bevölkerung der neuen Erde aus den Pallisten der
Phrohm herabstiegen, waren durch sich selbst in Existenz getreten,
in Folge des ihnen zukommenden Verdienstes (bnn). Als sie durch
den Genuss irdischer Speisen allmiihlieh ihren Glanz und durch
zxinohmende Schwere ihre Fähigkeit dos Fliegens verloren, fing all-
gemeine Dunkelheit an den Umkreis zu decken, und sie begannen
zu jammern und zu klagen, da Tod sich ihnen drohond zu nähern
schien. Da stieg plötzlich die glühende Sonne empor und füllte
sie alle mit Freude, bis, als sie am Abend niedersank, sich hinter
dem Berge Meru verbergend , mit der Finsterniss die Traurigkeit
zurückkehrte. Aus der Kraft ihrer heissen Wünsche jedoch ging
als Erzeugniss der Mond hervor, der deshalb Chanda, der Er-
wünschte, genannt wurde.«
Auf diese Klarlegung des Processes der Entstehung der Natur-
körper ist nichts mehr zu sagen! Der brahmanische Pantheismus
hält einer Kritik nicht Stand. Die vergleichende Erläuterung des
folgenden Kapitels (Nirwana, S. 355), des Begriffs Ariya (Besieger
der Feinde d. i. der Leidenschaften), S. 357, der Unterschiede Gut
und Böse, S. 461, zeigt den Verf. wieder wie gewöhnlich im Be-
sitze überraschender Parallelen. Zuletzt kommt er auf die heiligen
Bücher (Vedas) und die Kasten, worunter die Kaste der Brahma-
nen oben an stehen. Diese (die Phrahm) kamen auf dem Land-
wege von Norden her und wurden die Lehrer der Kambodier, die
inde8s später das Pali-Alphabet adoptirten. Dann unterrichteten
sie die Siamesen. S. 414.
Damals brachten sie nach Siam die Rup-Thcvada (Götter-
figuren) von Phra-Insuen, Phra-Narai, Phra-Uma, Phra-Mahakinek
und Phra-Thevakam mit sich, wie auch ihre heiligen Bücher. In
den Phongsavadan Myang nüa beginnt die siamesische Geschichte
mit den Brahmanen-Dörfern Moggalas und Saributes.
Es wäre jetzt, wenn wir nämlich von den Beilagen, die in
zahlreicher Fülle diesem dritten Bande beigegeben sind, S. 422 ff.,
Umgang nehmen, an der Zeit, die Geschichte Siams, welche schon
im ersten Bande enthalten ist , durchzugehen. Aber wir müssen
uns trotz unseres früheren Vorbehalts, hierauf in seinem Zusam-
menhang noch zurückzukommen *), hier kurz fassen.
Hundert Seiten hat der Verf. der Geschichte Siams in seinem
ersten Bande gewidmet.
*) Vgl. unsere Anzeige der früheren beiden Bände von A. Bastian, die
Völker des östlichen Asien In den Heidelb. Jahrbb. 186G, S. 535 (No. 84).
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Bastian: Reisen in Siam.
617
Zuerst handelt er von der Vorgeschichte der nördlichen Städte,
dann verwerthet er die traditionellen Erzählungen aus den Königs-
hüchern. Ein besonderes Kapitel bilden die Mythen der alten Resi-
denzen, ein besonderes die Könige der Laos. Den Schluss dieser
geschichtlichen Abthoilung macht die Geschichte Ayutbia's (Krung-
Rau'sV
Es sei mir gestattet, die letzten dreissig Seiten zu berühren !
Der Verfasser ist nicht der Erste, der den Capiteln über die
moderne Geschichte , wie sie in den dicken Bauden enthalten ist,
welche das königliche Archiv im Palaste zu Bangkok birgt, einen
Durchblick gewidmet hat. Er sagt selbst, der Bischof Pallegoix
hätte schon das Wesentliche und besonders schon das Interessan-
tere mitgetheilt, und hätte er, der Verfasser, Gelegenheit gehabt,
sich zu Uberzeugen , dass der bei Pallegoix gogebene Abriss im
Allgemeinen richtig ist.
Es beginnt dann die Geschichte Ayuthia's mit der Gründung
dieser Stadt, und mit den Kriegen, die Uthong unternommen habe,
um seine neue Hauptstadt durch die aus den Tempeln und Palä-
sten Kambodia's fortgeführten Kostbarkeiten zu schmücken. Die
Krönung Uthong1 8 setzt der Verfasser in das Jahr 711 der Cbun-
losakkharat (1850 p. d.). Nach Ramathibodi's Tode (1369) succe-
dirte sein Sohn Ramesuen, aber nur für ein Jahr. Des Thrones
habe sich schon im folgenden Jahre (1370) sein Bruder Boromma-
raxa bemächtigt (bis 1382 p d.). Dann habe Ramesuen, der Stadt-
halter von Lophburi zuerst den Sohn des Verstorbenen und damit
zugleich seinen eigenen Neffen erschlagen, und sich die Nachfolge
in Ayuthia mit Erfolg gesichert. Der Kaiser von China beehrte
ihn mit einer Gesandtschaft (1386) und als sein Sohn Phaya Rain-
chao auf dem Throne folgte (1387), schickte er sogleich nach
China, um seines Vaters Tod anzuzeigen und um Bestätigung zu
bitten Ein Eunuch von hohem Range wurde abgeschickt, um die
Investitur zu vollziehen. Unter spätem Königen kam Siam sehr
herunter und erholte sich erst sehr spät wieder (unter dem König
Pretien, einem Talapoinen). S. 369. Ein Krieg mit Pegu, der sich
zweimal erneuerte, war zuletzt so verderblich (1556), dass Siam
wie zu Boden geworfen schien. Ayuthia war eine Ruiuenstätte
geworden. S 371. Die Erzählung zeigt zwanzig Jahre später den
Zustand geändert. Phra Naret errang einen Sieg über den kam-
bodiseben König, und dieser war der Anfang eines Umschwungs.
Siam setzte Kambodia einen Fürsten. Um nun einen entscheiden-
den Schlag gegen Pegu zu führen, bot Phra Naret die ganzen
Kräfte seines Reiches auf. Die Siamesen drangen bis an den Sittu
vor. Wir verlassen den Faden des Verfassers bis zu dem Ziel-
punkte, wo die Chunlosakkharat 1000 Jahre vollendet hatte. Der
König wollte die Aera erneuern lassen (1638 p. d.), stand aber
davon ab, weil der König von Angva (Ava) seine Zustimmung ihrei
Annahme verweigerte.
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618
Bastian: Reißen In Blam.
Unter Phra-Narai (Narayana), die den Titel Phra Chao Xang-
pbuek annahm , gewann der griechische Abenteuerer Constantin
Palco grossen Einfluss bei Hofe, und von dem König zu der hohen
Stelle eines Phaya Vixaien (1657) befördert, zeigte er sich dieses
Vertrauens würdig, das er durch grosse dem Lande erwiesene Dienste
belohnte. Auf seine Veranlassung schickte der König eine Ge-
Bandschaft nach Frankreich, und der gern geschmeichelte Louis XIV.
erwiederte dieselbe durch die Sendung, von der Loubere seinen
werthvollen Bericht veröffentlicht hat.
Der Verfasser citirt das Lob, das D'Orleans dem Könige spen-
det (S. 380): „11 eslimait les gen* de me'rite et les voyait volon-
tiert dans sa cour. 11 avait le meme gout pour les beaux arts et
sHl ne füt point mort sitot, il avait pris toutes les mesures ntees-
saires pour les faire passer de Paris ä 8iam."
Der neue König schickte gleichfalls eine Gesandtschaft nach
Frankreich, um im guten Einvernehmen mit dem grossen Monar-
chen zu bleiben, mit dem sein Vorgänger in so engen Freund-
schaftsbund getreten war (1688).
Wir überschlagen einige Seiten, um von dem Gründer Bang-
koks zu redeu. »Der Gründer Bangkok's, schreibt der Verfasser,
gewöhnlich als Phendin-ton (der erste Erdenbeherrscher) bekannt,
warf verschiedene Angriffe der Birmanen von den Gronzen zurück,
verlor aber die Stadt Thalang, die bei Einbruch der Nacht (in der
Zeit, wenn die Kinder schlafen, sagt die Chronik) überrumpelt
wurde (1810).« S. 388. Sein Nachfolger (1811) geht im Volke
unter dem Namen Phendi-kiang (der mittlere Erdenbeherrscher);
ihm folgte 1825 der Vorgänger des jetzigen Königs. Er war ein
Usurpator, vor dem sein legitimer Halbbruder als gerathener fand,
sich in das Kloster zurückzuziehen, bis er bei seinem Tode (1851)
das Mönchsgewand abwarf, um sich mit dem Königsornate zu
schmücken, und jetzt als erster König Siam beherrscht.
Dies ist im Wesentlichen die Geschichte Aynthia's. Es folgt
im ersten Bande nun noch ein vierter Abschnitt: Kambodia. Er
enthält die Sagenkreise, Chroniken und die neuere Geschichte.
Aber wir müssen darauf verzichten, näher darauf einzugeben Bis-
her beobachten wir hier anlässlich der Reiseerzählungen unseres
Verfassers, zuerst von diesen Bericht zu geben, und dann sich die
Geschichte der durchreisten Länder als reifes Ergeboiss anschlies-
8en zu lassen.
Für die Geschichte Karabodia's fehlt es nun bei dem Verf.
noch an der Erzählung seiner Reise dahin. Seine vortreffliche
Karte, die dem dritten Bande beigegeben ist*), zeigt seine Route,
die er noch von Bangkok aus bis nach Saigun im Delta des Me
*) Sie ist nach seinen Angaben von H. Kiepert gezeichnet und In der
lithographirten Anstalt von Kraatx in Berlin ausgeführt worden. Vgl. noch
die Bemerkungen zur Karte. Bd. III. S. 633 ff.
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Atlas rar Hiatoire de Jules C6sar.
619
kong unternommen hat. Indess wir in Erwartung dieses jedenfalls
ebenso interessanten Reiseberichts bleiben, machen wir auf die ge-
schichtlichen, das Reich Kambodia (Srok-Khmer) betreffende Auf-
sätze aufmerksam.
Der Verfasser hat in dem ersten Bande dem Principe der
Vollständigkeit in einer für seine Leser anerkennenswerthen Weise
durch Aufnahme geschichtlicher Notizen über Annam gehuldigt.
Vgl. den Zusatz Annam (Tonquin und Cochinchina), Bd. L S. 493 ff.
Mit dem dritten Bande liegt jetzt ein Reisewerk fertig vor
uns, das zu den schönsten in der einschlägigen Literatur gehört.
Die Verlagsbandlung hat das Ihrige dazu beigetragen. Der Ver-
fasser hat sich eine hohe Stellung unter den wissenschaftlichen
Reisenden durch sein Werk für immer gesichert.
Heidelberg, im September. H. Doergens.
Histoire de Jules Cesar. Atlas. Paris, H. Plön,
Vor einiger Zeit gaben wir von den beiden Bänden des kai-
serlichen Werkes über die Geschichte Julius Cäsars Rechnenschaft*).
Das hatten auch viele Andere in vielen anderen Zeitschriften ge-
than. Aber über den Atlas, wie er jedem dieser beiden Bände
beigegeben ist, hat unseres Wissens noch keine Zeitschrift ein Wort
gesagt. Und doch verdienen gerade diese kartographischen Arbei-
ten gerade sehr zur Kenntniss der Freunde römischer Geschichte,
wenn auch nicht des napoleonischen Werkes gebracht zu werden.
Wir haben nicht die Absicht, hier kritisch ins Detail einzu-
gehen ; das gehört in eine geographische Fachzeitschrift. Nur einen
Bericht wollen wir hier erstatten. ■
Zum ersten Bande erschien ein Atlas in vier Karten bestehend.,
die, obwohl sie den Namen Pietro Rosa's tragen, der sie zeichnete,
damals nicht die Erwartung erreichten, die man von ihnen gehegt
hatte. Heute können wir denselben mehr Gerechtigkeit widerfah-
ren lassen, weil sich die hochgehende Fluth der Erwartungen be-
ruhigt hat, und der Frage nach dem Competenten gewichen ist.
Die erste Karte zeigt das Gebiet der Stadt Rom zur Zeit der
Vertreibung des Tarquinius Superbus, nebst den Gebieten der ab-
hängigen Staaten im Nordosten (Sabiner), im Osten (Herniker), im
Süden (Rutuler) und Nordwesten (Cäriten) sowie der Verbündeten
(Capenaten in Etrurien und Aequer). Dem Gebiete Roms dienten
damals Flüsse zu natürlichen Grenzen, wie denn Flüsse auch nach-
mals diese Rolle spielten (Rubicon und Macra)**). Damals waren
•) Vgl. Heidelb. Jahibb. 1866. Nr. 46 u. 47; ferner Nr. 53 u. 54.
**) Ob dieses wohl ein Schlüssel zu der Ansicht, die in Frankreich ge-
pflegt wird, ist, der Rhein sei die natürliche Grenze?
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G20
Atlaa nur Histoire de Jules Ceaar.
es derNumicius im Süden und der Arno im Nordwesten, endlich Neben-
flüsse des Tiberis im Nordosten gewesen. Die Küstenansdebnung,
wie sie durcb die Karto repräsentirt ist. geht von Anxur bis zum
Umbro (Ombrone).
Der Ansbreitung der römischen Herrschaft über Italien , wie
wir im Lanfe des ersten Bandes erzählt erhalten , entsprechend
schliesst sich an jene Karte nunmehr eine Generalkarte des alten
Italiens, des peninsularen sowohl, wie des continentalen mit Ein-
8chluss des illyrischen Littorale. Sie zeichnet sich vor andern «'ihn-
liehen Karten durch Genauigkeit in der Verzeichnung der grossen
Heerstrassen aus, und nicht minder durch die Verschiedenheit der
Schriftfarben, wodurch die Uebersicht und der Gebrauch der Karte
erleichtert wird.
Zu dem berühmten Kapitel des ersten Bandes: Prospfritf du
bassin de In Med Herr ante gehört die Karte, welche jetzt folgt,
und welche eine Anschauung von der Ausdehnung der römischen
Herrschaft in der Zeit des ersten punischen Krieges giebt. Auf
europäischer wie auf afrikanischer Seite erscheint je Republick im
westlichen, Monarchie im östlichen Theile; auf asiatischem Boden
ist die Monarchie heimisch. Noch war die Herrschaft auf dem
Mittelmeere gemeinschaftlich für Rom und Carthago. Auch zeigt
die gelbe Farbe noch bedeutende Terrains, wo das griechische
Element autonom ist (Südgallien, Corsica, Ostsicilien, die Staaten-
bünde der Aetolier und Achäer). Die Karte ist durchaus geeignet,
dem bewussten Essay zu Grunde gelegt zu werden.
Mit einer Karte der Halbinsel von Peniche schliesst dieser
nur auf vier Karten berechnete Atlas zum ersten Bande. Er zeigt
die Halbinsel gegen den Continent durch eine Befestigungsreihe
gedeckt, welche Oberpeniche (Poniche-de eima) und ünterpeniche
(Peniche-de baixo) verbindet. Die Beschreibung dieses in das Cabo
Garvoeiro auslaufenden Terrains (portug. Estremadura) hat hier zum
erstenmal seine Erledigung gefunden.
Bedeutender, ja ein bedeutendes Werk sind die Karten zum
zweiten Bande, zwei und dreissig an der Zahl. Einige darunter
haben wegen der an den Schauplätzen haftenden Erinnerungen be-
sonderes Interesse. Es ist am Besten , wir gehen der Reihe nach.
Die Karten Nr. 3 bis 6 illustriren die Schauplätze des ersten
Coramentars de hello Gallico, nämlich die fünfte die Schlacht bei
Bibracte, die sechste die Schlacht bei Cernay. Dort hielt Cäsar
die Helvetier auf, hier trat Ariovist ihm entgegeu. Diesen Special-
karten geht eine Generalkarte des Feldzugs vom Jahr 696 1 58)
vorher (Planche 4), Die dritte Karte erläutert speciell den Rhone-
lauf von Genf bis Pas de l'Ecluse, eine Strecke, auf der, am lin-
ken Ufer, die Verschanzungen angebracht sind, welche Cäsar mit
mn rus fosxayte bezeichnet.
Zum zweiten Commentar enthält das Werk im Ganzen fünf
Karten, nämlich vior Specialkarton und eine Goneralkarte zum Feld-
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Aüas zur Ilisloire de Jules Cesar.
021
zuge während des Sommers 697 (57). Die erste der Specialkarten
(Nr. 8) zeigt das Schlachtfeld an der Aisne (gegen die Belgier),
die dritte (Nr. 10) das Schlachtfeld an der Sambre (gegen die
uuter Anführung der Belgier kämpfenden vereinigten Nervier, Ve-
romanduer und Atrebaten), die vierte (Nr. 11) veranschaulicht die
Lage eines Oppidum der Aduatuker. *)
Wir kommen zum dritten Commentar, der die Feldzüge gegen
gegen dio Veneter nnd gegen die Uneller erzählt, die Feldzüge
des Jahres 698 (56). Für den ersten stellt der Atlas die zwölfte
Karte zur Verfügung, den Schauplatz des zweiten veranschaulicht
die darauffolgende dreizehnte (Sabinus siegt über die Uneller).
Das Hauptinteresse dos vierten Cemmentars concentrirt sich
bekanntlich in dem Capitel Uber die Rheiubrücke, und in den Ca-
piteln, welche den Uebergang nach Britaunien erzählen. Demge-
mäss giebt die fünfzehnte Tafel die Darstellung eines Brückenjocbs
von vorn, von oben gesehen , und die Seitenansicht dreier Joche.
Dieses ist eine Tafel für sich. Die sechszehnte enthält eine Karte
des Canals und der beiden Littoralon (Kent und Normandie), da-
mit man sich Abfahrtspunkte und Landungsplätze sowohl für dio
erste Expedition, wie für die zweite vorstellen könne, weshalb
diese Karte, sowie die vorhergehende aulässlich des zweiten Ithein-
überganges auch für den fünften Commeutarius de bello Gallico
bestimmt sind.**) Uebrigens gehört noch der Plan von Aduatuca
(PI. 18) hieher. Die Goneralkarte für das Jahr 699 (55), nnd
weil die Ereignisse desselben sich im kommenden wiederholten,
zugleich für das Jahr 700 (54) enthält die Planche 14.
Die Reihenfolge der Commentare beachtend, kommen wir jetzt
zu dem Feldzuge des Jahres 703 (52)***). Die Generalkarten,
welche, der Regel nach, auch hier den Specialkarten vorausgeht,
veranschaulicht dem Leser des siebenten Commentars de bello
Gallico die Ausdehnung, welche der Aufstand in Gallien während
jenes Jahres hatte. Das Jahr 52, gleich merkwürdig für die In-
surrektion der Gallier, wie für die Taktik Cäsars, ist im Atlas
durch mehrere Tafeln gedacht.
Die erste der sich mit den Ereignissen dieses in der Lebens-
geschichte des römischen Oberfeldherrn beschäftigenden Karten ent-
hält einen Plan von Avaricum (Bourges). Die Lage des heutigen
Bourges, welche durch punetirte Linien angedeutet ist, hilft der
Vorstellung nach, Nachgrabungen haben zur Ermittlung der Spuren
#) Die Planche 9 hat mehr technischen Werth, denn sie giebt Profile.
**) Eine Zugabe zu der Karte von Dovres (PI. 17) ist der vergleichende
Plan für diesen Hafenplatz aus der Zeit Hadrians und Sever's.
***) Das sechste Buch erzählt Eingangs gewisse Rüstungen Cäsar's, die
einer kommenden Insurrektion die Spitze bieten sollen, und ist im Uebrigen
einer vergleichenden Ethnographie von Gallien etc. gewidmet (Vgl. Contzen,
Wanderungen etc.).
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Atlas zur Histoire de Jules Casar.
des römischen Lagers geführt. Die Karte giebt eine Anschauung
von allem diesem (PL 20). Die übrigen Vignetten auf dieser Tafel
enthalten technische Pläne.
Die zweite Karte enthält einen Plan des Oppidums Gergovia
und seiner Umgebungen. Das Interessante an dieser Karte ist die
Vereinigung der Terrainzeichnung mit den taktischen Bewegungen,
woraus sich für den Interpreten der berühmten Stelle, welche die
Bestürmung dieser Arvernerveste erzählt*), Alles ergiebt, was er
nöthig hat.**)
Wir erwähnen die Karten zn dem Feldzuge des Labienus nach
Lutetia (PI. 23) und zu dem Sohlachtfelde von Vingeanne (PI. 24)
nur im Vorbeigehen.
Die zwarte Hauptkarte zum siebenten Commentar ist der Plan
von Alesia (PI. 25), dem noch besondere Ansichten vom Berge
Auxois (PI. 26) und zwei Tafeln mit Vignetten, welche gewisse
Ausdrücke (Cippi, Scrobes und Stimuli bei der Contravallation,
Pluteus nebst Pinna und Lorica, sowie Cervi) erläutern sollen
(PI. 27) und mit technischen Detaih (Grabenprofilen) beigegeben
sind«
Bekanntlich war es, da es zwei Alise heute giebt, eine Con-
troverse gewesen, welches Alise das alte, im siebenten Commentar
de hello Gallico erwähnte, gewesen sei. Die vom Kaiser Napoleon
beauftragten Genie-Officire haben sich für den bei Alise St. Beine
belegenen Mont Auxois entschieden.***) Die bewusste Tafel 25
zeigt nun das Plateau der Bergveste der Mandubier, mit ihren
Umgebungen. Indem sie mit der Terrainstudie die technische Inter-
pretation der berühmten Capitel im siebenten Commentar f) ver-
bindet, veranschaulicht sie zugleich die Contravallation, die drei
und zwanzig dort beschriebenen, die Gallier im Oppidum bedro-
henden Redouten, endlich aber auch die im Anmarsch begriffenen
Hülfstruppen von der Insurrektionsarmee, ff)
Wir gehen zu der Karte für den Peldzug gegen die Bello-
vaker über. Sie zeigt die beiden einander gegenüber liegenden
Lager, das Bellovakische auf dem Mont St. Marc, das römische,
von Cäsar befehligte, auf dem Mont St. Pierre ttt)i und die Stel-
lung der beiden Armeen. Sie gehört mithin zn den ersten zwei und
zwanzig Capiteln des achten Commentars. f*).
•) Cap. 87.
**) Die Tafel 22 mit Ihren technischen Details und mit ihrer Platcau-
aneicht ist eine werthvolle Ergänzung zu PI. 21.
**•) Vgl. Histoire de Jules Cesar. T. II. p. 800.
•fr) Cap. 68 und 69, ferner 83—89.
ff J Den Marsch dieser Armee ist ein Specialkärtchen zu veranschau-
lichen bestimmt (cfr. PI. 25 oben rechts),
ff f) Vgl. noch PI. 30.
f*) Es wäre interessant, den unmittelbaren Antheil Napoleons an die-
Plane zu kennen. Wir befinden uns nämlich in der Nähe von Com-
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Atlas edp Hietoire de Jules Cesar.
623
Die Beschreibung der Belagerung von Uxellodunum hat zu
einem Plan dieses Oppidum*) Anlass gegeben, wovon die PI. 81
ein Beleg ist.**)
Das sind die hauptsächlich für die Commentare de hello Gal-
lico in Betracht kommenden Karten aus dem Atlas zum zweiten
Bande der Histoire de Jules Cesar.
Allen diesen hat der Kaiser eine Völkerkarte vorhergehen las-
sen (PI. 2). Unter die allgemeine Eiuthcilung in Celtae s. Galli,
Belgae und Aquitani sind eine grosse Anzahl namhafter und weni-
ger bedeutender Völkerschaften einbegriffen, über die in der Revue
archeologique und sonstwo gelehrte Forschungen angestellt worden
sind. Es ist ein Katalog von neunzig Völkernamen. Das Charakte-
ristische ist, Gallien reicht bis an den Rhein. Uebrigens ist noch
das britische Littorale, Germanien bis zur Elbe, die Donauvölker
bis W ien , das continentaliscbe Italien , und die Hälfte vom pen-
insularischen in den Rahmen der Karte hereingenommen worden.
Diese Karte hat den Zweck, die Vertheilung der Völkerschaften zu
veranschaulichen.
Aber ausserdem haben wir noch einer Karte zu erwähnen, der
ersten, die allen vorangeht, der Geueralkarte von Gallien, welche
die Vertheilung von Gebirgen und Ebenen zur Anschauung
bringt.
Wir haben hiemit nnsern Bericht über den Atlas erstattet,
und es würde uns noch die Pflicht obliegen, mit oinigen Worten
die Fortschritte zu erörtern, welche seit v. Göler's epochemachen-
der Arbeit***) in der speciell das cäsarische Gallien betreffenden
Kartographie gemacht worden sind.
Aousserlich hat der napoleonische Atlas vor der v. Göler'scben
Arbeit zunächst dadurch einen Vorzug voraus, dass er vollständi-
ger ist, indem er zu dem siebenten und achten Commentar bei Cäsar
noch Karten geliefert hat. Die letzten Karte bei v. Göler gehört
zum sechsten Commentar; dann folgt keine mehr. Seine übrigen
Karten beziehen sich auf das Bellum civile.
Vergleichen wir, wo beide Schriftsteller dieselben Karten bei-
geben, die bezüglichen Karten mit einander, so ist es zu verwun-
dern, wie v. Göler, der doch auf sich und auf das angewiesen war,
was er selbst sehen konnte, so nahe an das Resultat der napoleo-
nischen Karten heranreichte. Wirklich haben diese hauptsächlich
das Ergebniss der Nachgrabungen voraus, und wird Niemand um
dieses Verdienstes willen, das v. Göler'n fehlt, die Karten des
Letzteren unterschätzen. Diese leisten Alles, was man mit Hülfe
einer Generalstabskarte und einiger Autopsie leisten kann. Ueber-
*) j- Pny d'Issolu.
**) Details dazu und Ansicht von Puy d'Issolu giebt die letzte PI. 32.
***) Casare gallischer Krieg in den Jahren von 58 bis 63 v. Chr. Stutt-
gart 1858.
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024
Atlas zur Histoire de Jules Ccsar.
dies hat die napoleonische Karte das Zusammenwirken mehrerer
tüchtiger Officire und Geographen wesentlich gefordert.
In sich betrachtet, sind die Karten, welche bisher zu der
Histoire de Jules Cäsar erschienen sind, ausgezeichnet zu nennen,
sowohl in Bezug auf Entwurf an der Hand des Cäsar'schen Textes
und der Conjecturaltechnik, wie in Bezug auf kartographische Aus-
führung.
Mit Recht siud die Erwartungen auf das Erscheinen der Kar-
ten zum dritten Bande der Histoire de Jules Cösar, oder was das-
selbe sagt, zu den Commentarii de bello oivili und den Büchern
des Hirtius und Pseudohirtius über die Kriege der Jahre 47 — 45
gespannt. Hier hat v. Göler sich nur auf die Karte des österrei-
chischen Generalstabs stützen können. Aber welche Hülfsmittel der
Commission des Kaisers zu Gebote stehen, werden wir erst er-
fahren, wenn seine Karten zu seinem dritten Bande werden aus-
gegeben werden.
Wir wollen über dieser persönlichen Betheiligung bei der För-
derung der Specialstudien über römische Geschichte durch ein so
vortreffliches Kartonwerk, wie das eben angezeigte, nicht den mit-
telbaren Antheil vergessen, wodurch der Kaiser in seiner einfluss-
reichen Stellung seinen Namen mit wichtigen Nachforschungen auch
auf fremdem Boden in epochemachender und grundlegender Weise
verbunden hat. Ohne seine Munificenz würde schwerlich sobald
Licht in die Souterrains der Kaiserpaläste auf dem Palatinus ge-
druugen sein. Ebensowenig möchten Bithynien und Galatien eine
so gediegene Erforschung erfahren haben, wie sie, der reichhaltigen
Sammlung über diese beiden ehemaligen Provinzen des römischen
Reiches nach zu urtheilen, dem Archäologen Perrot und seinen
eifrigen Freunden gelungen ist. Dieser mittelbare Antheil des
Kaisers darf als eines der schönsten Blätter in der Lorbeerkrone
gelten, womit das Andeukcn der Gelehrten seine greise Stirne
zieren wird!
Heidelberg, im September. II. Doergens.
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»r. 40. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
U'J^JV-^.^. »^^..JUL,. LI.. , , ■ , J. I..H. tH-IHUPMI'W
Bibliotheca Scriptorum Graecorura et Roman orum
Teubneriana.
Athenaei Deipnosophistae ex reeognüione Auqusti M eine ke.
Vol. IV. Analecta critica continens. Lipsiae in aedihus B. G.
Teubneri. MDCCCLXVll. 376 S. 8.
Dinnysi Ilalicarnasensis Antiquitatum Romanarwn quae supersunt,
recenmü Adolph uz Kiessling. Vol. III. Lipsiae etc. XXXV
und 329 S. 8.
Diodori bibliotheca historica. Exrecensione et cum annolationibus
Ludovici Dindorfii. Lipsiae etc. Vol. I. CXXVIII und
452 S. Vol. 11. L1X und 532 S. 8.
Eusebii Caesaricnsis Opera. Recognovit Ouilielmus Din~
dorfius. Lipsiae etc. Vol. I. Praeparationis Evangelicae libri
/— X XLVI1 u. 588 S. Vol. IL Praeparationis Evangelicae
libri XI-XV. 474 S. 8.
L. Anna ei Senecae tragoediae. Accedunt incertae originis tra-
goediae tres. Recensuerunl Rudolf us Peiper el Qustavus
Richter. Lipsiae etc. XLVIII und 592 S. 8.
P. Verqili Maro nie Opera in usum scholarum recognovit Otto
Ribbeck. Praemisit de vita et scriplis poelae narrationem.
Lipsiae etc. XXXVI u. 430 8. 8.
Censorini de die natali Uber. Recensuit Fridericus Hui lach.
Lipsiae etc. XIII u. 98 S. 8.
Qai Sallusti Crispi libri de Catilinae coniuratione et de bello
Jugurthino. Accedunt orationes et epistulae ex Iiistoriis ex-
cerplae. Edidit Rudolfus Dietsch. Edüio quarta emen-
datior. Lipsiae etc. XIV u. 128 8. 8.
Auf die in diesen Blattern S. 228 ff. besprochenen Fortsetzun-
gen der Bibliotheca Scriptorum Graecorura et Romanorum Teubne-
riana ist in rascher Folge wieder eine namhafte Zahl von Aus-
gaben, wio sie hier aufgeführt sind, gefolgt; auch diese gehören
nicht sowohl dem Kreise der auf Schulen gelesenen Schriftsteller
an, sondern befassen Schriftsteller, die ftir die Alterthumswissen-
schaft wichtig, auch weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden
sollen durch erneuerte Abdrücke, welche zugleich als neue Recen-
sionen oder Recognitionen des Textes zu betrachten sind und darin
den Fortschritt der kritischen Forschung erkennen lassen.
UX. J«hrg. 8. Heft. 40
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626
Bibllotheca Scriptorum Teubnerlan».
Wir beginnen mit Athenaus, zu dessen in drei Bänden
(1858 und 1859) gelieferten Ausgabe in diesem vierten eine
kritische Nachlese oder auch, wenn man es so nennen will, eine
Art von Rechenschaftsablage über das in einzelnen Stollen von dem
Herausgeber eingeschlagene kritische Verfahren gegeben ist. Mit
welchen Schwierigkeiten die Kritik bei einem, aus so vielen und
verschiedenartigen Excerpten zusammengesetzten Schriftsteller, wie
Athenäus, zu kämpfen hat, wie Vieles hier noch zu verbessern und
zu berichtigen steht, weiss Jeder, der mit diesem Autor sich nur
Etwas beschäftigt hat: es werden daher die kritischen Erörterun-
gen und Besprechungen einzelner, mehr oder minder schadhafter
Stellen, die Begründung aufgenommener Lesarten, wie die Ver-
besseruugsvorschläge , welche zu zahlreichen Stellen gegeben sind,
und vielfach auch mit der Erklärung und richtigen Auffassung zu-
sammenhängen, eine erwünschte, wie selbst nothwendige Zugabe
zu dem Texte selbst bilden, zumal als das, was Derartiges in den
beiden, früher schon in den Jahren 1848 und 1846 erschienenen
Exercitationes philologicae Specimen I und II, die beide zunächst
auf Athenäus sich beziehen, bemerkt worden war, in diese Ana-
locta aufgenommen und am gehörigen Orte eingeschaltet ist. Bei
dem Umfang und der Reichhaltigkeit der hier in Einem Bande
vereinigten, über alle Bücher des Athenäus sich verbreitenden, kri-
tischen und erklärenden Bemerkungen sind daher die beigefügten
ludices erwünscht und zwar I. Index Graecus über die einzelnen,
in diesem Bande besprochenen oder erklärten griechischen Aus-
drücke. II. Index Latinus sachlicher Art, übor Personen und Sa-
chen, welche behandelt sind, und III. Index Scriptorum über andere
Schriftsteller, von welchen einzelne Stellen bei dieser Gelegenheit
kritisch behandelt werden.
Der in zweiter Keine oben aufgel'ürte dritte Band der römi-
schen Geschichte des Dionysius von Halicarnass enthält im un-
mittelbaren Anschluss an den zweiten Band ebenfalls drei weitere
Bücher, nämlich Buch VII. VIII. IX., in gleicher Weise kritisch
behandelt, wie die vorausgegangenen Tbeile, von welchen in diesen
Blättern 18G5. S. 351 ff. berichtet worden; eine Adnotatio critica,
welche eine Zusammenstellung der hauptsächlichen Abweichungen
dos Textes mit manchen woiteren Verbesserungsvorschlägen zu nicht
wenigen Stollen enthält, geht auch diesem Bande voraus : es lässt
sich daraus im Einzelnen ersehen, in wie weit der Herausgeber
dem Codex Urbinas, auf den er seine neu Recension des Textes
zunächst basirt hat, den Vorzug gibt, vor dem Codex Chisianus,
dessen Verhältniss noch unlängst Ritsehl in einer Note zu den
Opuscc. Philologg. I Fase. 2. p. 517 und 518 richtig bestimmt zu
haben scheint.
Die neue Ausgabe des D i o d o r u 8 , von welcher zwei Bände
vorliegen, die bis zum dreizehnten Buche inclus. den Text bringen,
ist die vierto von Ludwig Dindorf besorgte Ausgabo diesos
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Bibliotheca Scriptorum Teubncriana.
G27
Schriftstellers, dessen Text, wie man hiernach wohl erwarten kann,
in einer allerdings mehrfach gereinigten und gebesserten Gestalt
nun hier vorliegt, namentlich im Vergleich mit den drei früheren
Ausgaben. Die inzwischen erfolgte genauere Untersuchung und
Vergleichung der Handschriften, aus welchen die Bruchstücke der
verlorenen Bücher VI — X hervorgezogen sind, und die dieseu Thoi-
len gewidmete Bemühung mehrerer Gelehrten kam der neuen Aus-
gabe wohl zu statten: aber auch die sorgfältige Prüfung der noch
erhaltenen Bücher machte es möglich, dem Text an mehr als tau-
send Stellen eine bessere Gestalt zu vorleihen *), insbesondere nach
der Wiener Handschrift Nr. 79, der besten für die fünf ersten
Bücher, die in dieser Ausgabe mehr als in den früheren Berück-
sichtigung gefunden hat. Ein weiteres Hülfsmittel zur Beseitigung
mancher Fehler, welche im Laufe der Zeiten sich eingeschlichen,
lag aber auch in der näheren und genaueren Kenntniss der Sprache,
des Dialekts (wenn man anders diesen Ausdruck hier gebrauchen
kann), in welchem Diodorus geschrieben hat. Der Herausgeber
hat diesem bisher wenig beachteten Gegenstand besondere Sorge
zugewendet und ist in der Praefatio naher auf die zur Herstellung
einer bestimmten Norm in Betracht kommenden Eigen thümlich-
keiten im Einzelnen eingegangen, um auch hier zu zeigen, wie
Diodor in dem Gebrauch und in der Anwendung einzelner Formen,
Ausdrucksweisen u. dgl. keiner Willkühr sich hingegeben , wie sio
jetzt in den Handschriften theilweise uns entgegentritt, sondern
einer festen Norm gefolgt ist**), deren Durchführung daher bei
den dieser Norm in Handschriften und Ausgaben widersprechenden
Formen u. dgl. der Herausgeber mit aller Strenge verlangt. So
hat, wie hier im Einzelnen nachgewiesen wird, Diodorus stets Cra-
sis und Contraction angewendet, eben so dio Elisiou statt des
Hiatus, er hat in den Casusformen der Declinatioueu, so wie auch
in den Foimen der Conjugationon bestimmte Normen eingehalten,
die freilich mehrfach in den Handschriften verwüscht und verändert,
um so sorgfältiger herzustellen sind.
Wir erinnern beispielshalber an das über die Anwendung des
Augments hier bemerkte, über den Gebrauch der zusammengezoge-
nen Form des Futurums bei den auf ifa ausgehenden Wörtern,
oder über die dem Futurum Mcdii mehrmals snbstituirte Form des Fu-
turum Passivi, obwohl auch, wie die beigebrachten Beispiele zei-
gen, Fälle des Gegcntheils vorkommen, über dio Form der dritten
Person Pluralis des Optativs (äisv für 7iav) u. dgl. m.; so soll
* ) „Sed etiam superstites libros quindecim partim codicum ope opti-
morum partim accuratiori singulorum instituto examine millenis ampliuB
locis emendatiores potui reddere" fp. IV der Praefatio).
**) „ Diodorus, so schreibt der Herausgeber 8. VII der Praef., in ora-
tione sua quasdam eibi leges scripsit satis severas, quas nunqnam ipso,
saepissime vero migrasse videntur librarii, quibus debcmus Codices millc
amplius annis post ejus actatem scriptos."
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028
Bibliotheca Scriptorum Teubnerlana.
z. B. die zweite Person Singularis im Präsens Ind. und Futur de >
Passivs und Mediums stets auf TT, nicht auf 7/ geschrieben werden.
Daran reiht sich aber weiter in alphabetischer Ordnung eine Reihe
von einzelnen Worten in Bezug auf die Form, in welcher sie bei
Diodor vorkommen. Da nemlich die Handschriften von einander
hier oftmals abweichen, so glaubt der Verf. in jedem einzelnen Fall
oino feste Norm aufstellen zu müssen, nach welcher dann gleich-
förmig das Wort bei Diodor geschnoben werden muss. Man wird
nicht in Abrede stellen können, dass in vielen Fällen es möglich
ist, eine solche feste Norm zu gewinnen, und hiernach die Schrei-
bung in allen Stellen, wo das Wort oder die Form vorkommt,
gleichmassig zu reguliren: aber, wird man billig fragen, soll denn
der Schriftsteller so fest an Eine Norm gebunden soin, dass es
ihm nicht gestattet sein könnte, auch eine andere, im Gebrauch
soinor Zeit vorkommende Form anzuwenden, wie z. B. neben mvvg,
was allerdings in der ungleich grössoren Zahl von Stellen vor-
kommt, auch die Form vutg, die in der einen Stelle, wo sie bei
Diodor vorkommt, dann auch in movg zu ändern wäre. Aehnlicher
Art ist wohl auch aonlog, das für avonkog überall eintreten soll,
so wie doixtjrog für ävoCxi}rog^ ferner avxinigag für avTLirigai^
alio%Qtcig für d^ioxQBovg, ^AitoXka im Accusativ stets für 'AitoX-
Aora, eben so stets a%Qf> und p/gpt für a%Qug und pi%Qig\ das
nach nt'xoi an vielen Steilen vorkommende ov oder orot» soll aber,
wie in einer längeren Ausführung S. XXVI ff. zu zeigen gesucht
wird, bei Diodor so gut wie »-bei andern Schriftstellern gestrichen
werden, wovon man indessen sich schwer wird überzeugen können ;
auch bei der Formel noitlöftui QOTtrjv, die zweimal vorkommt,
wird man wohl kaum berechtigt sein, das sonst vorkommende
itoulv geradezu zu substituiren. Eher noch möchte man bei dem
Schwanken der Handschriften ofrero) für richtiger halten als qiutco,
da nicht blos Herodotus, sondern selbst attische Schriftsteller, wie
Thucydides (IV, 95) und selbst Luciau zum öfteren jene Form an-
wenden, wenn anders nicht beide Formen als zulässig und anwend-
bar gelten sollen. Doch wir brechen mit derartigen Aufzählungen
ab, durch die wir nur aufmerksam machen wollten auf die Be-
mühungen des Herausgebers, die auf eine durchgreifende Verbesse-
rung des Textes und Zurückführung auf seine ursprüngliche Form
gerichtet sind. Anderes der Art soll, wie ausdrücklich am Schiuss
der Praefatio bemerkt wird, in den (später beizugebenden) Adao-
tationes seine Erörterung finden. Auf die Praefatio folgt ein Wie-
derabdruck von Heyne's Abhandlungen über die Quellen Diodor's,
und zwar der Commentatio prima und altera (zu Buch II— V),
von der der eine Theil dem ersten, der andere dem zweiten Bande
vorgedruckt ist ; eben so folgen in jedem der beiden Bände darauf
die lateinischen Argumente der einzelnen in dem Bande befind-
lichen Bücher. In dem einen Bande ist der griechische Text der
vior ersten Bücher enthalten,- im andern der Text des fünften
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Bibliotheca Scriptomm Teubneriana.
629
Buches, dann die Fragmente der folgondon verlorenen Bücher
(VI. VII. VIII. IX. X) und der vollständige Text der drei folgen-
den Bücher XI. XII und XIII. Eine Adnotatio critica, wie sie
anderen Ausgaben dieser Bibliotheca classica beigefügt ist, und die
kurze Angabe der Abweichungen oder vorgenommenen Aenderun-
gen enthält, findet sich hier nicht, sie ist wohl in den Annotatio-
nes zu erwarten, abgesehen von Einzelnem, was in der vorhin er-
wähnten Praefatio sich besprochen findet. In den Fragmenten der
fünf verlorenen Bücher ist Allos wohlgeordnet zusammgenstellt,
was früher Valois, dann neuerdings A. Mai, Feder und Müller aus
den Handschriften des Vatican und des Escorial zu Tage gefordert
haben, und zwar mit Rücksicht auf eine genaue Vergleichnng die-
ser Handschriften; damit verbunden sind diejenigen Bruchstücke,
die bei andern Schriftstellern sonst wie vorkommen, so dass jetzt
hier eine wohlgesichtete und wohlgeordnete, für die Benutzung
dienliche Zusammenstellung gegeben ist, die uns freilich auch auf
der andorn Seite die grossen Verluste, die wir hier erlitten haben,
vor die Augen führt.
Das Werk des Eusebius, das hier in einem gereinigten und
gebesserten Texte in einer bequemen Handausgabe vorgelegt wird,
bat durch die vielen Mittheilungen über die Mythologie und Philo-
sophie der altheidnischen Welt, so wie durch die vielen Excerpte
aus alteren meist verlorenen Werken der altgriechischen Literatur,
für die gesammte Alterthumsforschung einen solchen Werth, dass
wir der Verlagshandlung nur danken können , durch einen hand-
lichen und wohlfeilen Abdruck, auch dieses Werk, das nur in grös-
sern und theuern Ausgaben (zuletzt der von Gaisford zu Oxford
1843 in vier Bänden) bisher zugänglich war, einem weiteren Kreise
von Gelehrten, Alterthumsforschern wie Theologen, zugänglich ge-
macht zu haben. Den Text, der in den älteren Ausgaben des
Robert Stcphanus und Franz Viger auf jüngere Handschriften des
fünfzehnten Jahrhunderts basirt war, hatte schon Gaisford auf
ältere handschriftliche Quellen zurückzuführen gesucht, um die viel-
fachen Verderbnisse des Textes zu beseitigen : das Gleiche war auch
die Sorge des neuen Herausgebers , der deshalb die handschrift-
lichen, bis jetzt bekannten Quellen einer näheren Untersuchung in
der Praefatio nochmals unterzogen hat. Als die ältesten derartigen
Quellen erscheinen eine Pariser Handschrift aus dem Jahre 914
(Nr. 455) und oine Venetianer (Nr. 343) aus dem eilften Jahr-
hundert, zwei Pergamenthandschriften, die jedoch leider nur die
fünf ersten Büchor enthalten, und beide iu der Weise mit einander
übereinstimmen , dass sie beide fast für Eine Handschrift gelten
können, wenn sie auch, was aus andern Spuren hervorgeht, nicht
von einander abgeschrieben sind. Wenn beide Handschriften nun
allerdings die Grundlage des Textes für die fünf ersten Bücher
bilden müssen, so fehlt es doch bei ihnen nicht an solchen Stellen,
deren Verderbniss durch die Benutzung jüngerer Handschriften
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C80
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sich horstellen liisst. Diese jüngern Handschriften hat unser Her-
ausgeber nach G. WolfTs Vorgang in zwei Classen geschieden, deren
eine die fünf bei Gaisford mit B. C. D. F. D bezeichneten Hand-
schriften des dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhunderts befasst, unter
welchen die Pariser (B), Nr. 465 welche das ganze Werk enthält,
allerdings an erster Stelle zu setzen ist; die andere Classe enthalt
drei jüngere Handschriften, unter welchen eine Venetianer Papier-
handschrift Nr. 341 des fünfzehnten Jahrhunderts, aus der die bei-
den andern abgeschrieben erscheinen, grössere Bedeutung anspricht.
Wenn nun diese Handschriften kaum genügen können, um mit
voller Sicherheit don Text in seiner Urschrift wiederherzustellen,
so kommt noch eine besondere Schwierigkeit hinzu bei den vielen,
von Eusobius aus andern, noch vorhandenen Schriftstellern des
griechischen Alterthums angeführten Stellen, welche mehrfach ab-
weichende, in Manchem selbst bessere Lesarten bieteu, als die vor-
handenen Texte dieser Autoren, dann aber auch nicht Weniges, ja
Viel Mehreres, was, es sei absichtlich oder aus Nachlässigkeit und
Versehen, so wesentlich verändert und umgestaltet erscheint, dass
es auf ältere von Eusebius benutzte Handschriften als die noch
vorhandenen dieser Schriftsteller keineswegs sich zurückführen lässt.
Der Herausgeber hat sich indess wohl gehütet, den Text dieser
Exccrpte, wie sie bei Eusebius gegeben werden, nach dem Texte
der Schriftsteller, wie er jetzt gedruckt vorliegt s zu ändern oder
vielmehr zu corrigiren , und mau wird ein solches Verfahren nur
billigen können*), wenn man erwägt, wie manche derartige An-
führungen aus blosser Erinnerung, wie es scheint, stammen und
nicht auf einer genauer Einsichtsnahmo des Originals beruhen.
Auch Anders findet sich in dieser Präfatio noch berührt; wir er-
innern nur an das, was am Schluss S. XXIV über den jüdischen
Dichter Ezechiel bomerkt ist, welchen auch unser Herausgeber in
die Mitte oder gegen Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts
mit gutem Grunde verlegt.
Auf die Vorrede folgen die griechischen Summarien oder In-
haltsverzeichnisse der einzelnen Bücher und Capitol (Ktycclaiav
xaraygecyri) nach Gaisford's Ausgabe, und dann der Text der ein-
zelnen Bücher, wobei am Rande die Seitenzahlen der Stephan'scben
und Viger'schen Ausgabe bemerkt sind. Am Schluss fehlen nicht
die wünschenswerthen Indices: zuerst ein Index der Schriftsteller,
aus welchen sich Excerpte in dem Werke des Eusebius vorfinden,
dann ein Index der angeführten Bibelstellon und an dritter Stelle
aus Viger's Ausgabe ein Index rerura et nominum. Eine Adno-
tatio critica, wie sie sonst den Ausgaben dieser Bibliotheca sich
beigefügt findot, um einzelne Aenderungen, die im Text vorgeuom-
*) „His igltur rationibua duetus, schreibt der Verf. S. XVIII, excerpta
Eusebiana raro ex scriptorum codiclbus correxi nec nisi in locifl, quorum
de scriptura dubitari prorsus non poterat" (folgen nun Beispiele).
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631
raen werden, zu verzeichnen und so selbst eine kurze Rochen-
schaftsablage zu liefern, ist nicht hinzugekommen ; sie wird wahr-
scheinlich in den vom Herausgeber beabsichtigten Annotationes
kommen, auf welche S. IV der Präfatio verwiesen wird ; und die-
sen wird man allerdings verlangend entgegen sehen, um über Alles
das, was die hier gegebene Gestaltung des Textes betrifft, eine
sichere Ansicht zu gewinnen.
Von den Ausgaben lateinischer Schriftsteller ist vor Allem
der Ausgabe der unter Seneca's Namen auf uns gekommenen
Tragödien zu gedenken: denn sie füllt ein längst gefühltes Bedürf-
niss aus, indem sie einen auf die urkuudliche Grundlage so weit
als möglich zurückgeführten Text eines Schriftstellers bringt, der
eigentlich seit Jahrhunderten, seit den Ausgaben des Gronovius
und Schröder (1728), sich keiner besondern Beachtung mehr er-
freut hat, und selbst in unserem Jahrhundert bis jetzt weder eino
kritische, noch eine exegetische Behandlung erfahren hat. Es mag
diess um so auffallender erscheinen, als die Gedichte, um die es
sich hier handelt, noch im sechzehnten Jahrhundert so viel gelesen
wurden und selbst auf die Meister des neuem Drama's in Frank-
reich, Spanien und England ihren Einfluss geäussert haben, in den
neueren Zeiten aber zur Seite gelassen wurden, was sie gewiss nicht
verdienen, schon als die einzigen, noch vollständig erhaltenen Reste
der römischen Tragödie , freilich nioht mehr aus der Zeit ihror
Blüthe, sondern aus einer spätem Zeit, in der keine derartigen
Stücke mehr auf die Bühne gebracht, wohl aber Gegenstand der
Leetüre, namentlich auch in den öffentlichen Vorlesungen gewor-
den waren. Um so erfreulicher ist es zu sehen, wie in der jüng-
sten Zeit die gelehrte Forschung sich diesem , man kann wohl
sagen, im Verbältuiss zu andern Autoren, verlassenen Schriftsteller
wieder zugewendet, und zwar zuerst den metrischen Verhältnissen
und deren genauer Erörterung, wie diess aus mehreren darauf be-
züglichen Schriften und Abhandlungen hervorgeht (sie sind S. 577
dieser Ausgabe vor dem Index metricus aufgeführt), dann aber auch,
was das erste und nächste ist, der Behandlung des Textes, der von
vielfachen Interpolationen, Verderbnissen und Fehlern nicht frei in
den bisher zugänglichen Ausgaben , wohl einer sorgfältigen Revi-
sion bedurfte, wolche, indem sie auf die handschriftliche Ueber-
lieferung sich stützt, eine sichere Grundlage für den Text selbst,
und damit auch einen sicheren Anhaltspunkt für alle weitere Unter-
suchung zu bieten vermag, welche eben so wohl die früher vielbe-
sprochene Frage nach der Authenticität dieser Dramen, d. h. nach
deren Verfasser, als die Erklärung und Auffassung im Einzelnen,
so wie die daraus hervorgehende ästhetische Würdigung dos Gan-
zen in Betracht zu ziehen hat. Eine solche Revision bringt uns
nun diese Ausgabe, die einem wahren Bedtirfniss gewiss entspricht,
darum aber um so mehr auf gerechte Anerkennung zu rechnen hat,
auch wenn im Einzelnen, in der Handhabung der Kritik und was
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632
Bibliothec* Scriptorum Teubneriana.
damit zusammenhangt, nicht auf unbedingte Zustimmung Aller in
allen oinzelnen Fällen wird gezählt werden können. Indess ein
sicherer Grund ist nun gelegt, eine kritische Ausgabe geliefert, die
einen auf die urkundliche Ueberliefcrung zurückgeführten Text
bringt und dabei auch durch Mittheilniig der Abweichung der
Haupthandschrifteu unter dem Texte eine Rechenscbaftsablage der
kritischen Behandlung gibt, die Jedem die Prüfung des Einzelnen
ermöglicht. In so fern kann sie wohl auch als eine neue Recension
mit Recht betrachtet werden.
Die vorausgeschickte Praefatio enthält zunächst eine eingehende
Untersuchung über die handschriftlichen Quellen und deren Ver-
hältniss zu einandor. In der handschriftlichen Ueberliefcrung, wie
sie uns vorliegt, wird eine doppelte Recension unterschieden, eine
bessere, wie sie in der Florentinischen Handschrift und in den
Thuaneischen Excerpten vorliegt, und eiuo minder gute, welche,
abgesehen von den Ambrosianischen Palimpsest-Blättern , in den
jüngern Handschriften vom vierzehnten Jahrhundert an sich vor-
findet und von der andern wesentliche Verschiedenheiten aufzeigt.
Ungeachtet dieser nachweisbaren Verschiedenheit haben doch beide
Classen nicht wenige gemeinsame Fehler n. dgl, so dass beide auf
Einon Codex Archetypus sich zurückführen lassen, der wieder auf
das von Seneca selbst geschriebene Exemplar zurückgehen soll,
dessen Beschaffenheit eben die Verschiedenheit der daraus abge-
leiteten beiden Recensiouen erklären soll, insofern jenes Exemplar
nicht für den Gebrauch Anderer, also für die weitere Vorbereitung
durch die davon zu nehmenden Abschriften bestimmt gewesen, und
daher auch der letzten Feile ermaugelt habe; die Herausgabe der
einzelnen Stücke soll aber durch Seneca selbst geschehen sein. Nach
der Ansicht des Herausgebers enthielt nun das ursprüngliche Ori-
ginal nur acht Stücke, indem dio beiden Stücke Agamemnon und
Hercules Oetaeus weder von Seneca noch von einem Zeitgenossen
gedichtet worden, was, wie S. IX bemerkt wird, »certissimis (?)
argumentis potest evincU; beide Stücke zeigen nach der Ansicht
der Herausgeber in metrischen Dingen eine solche Abweichung von
den Normen, die Seneca in den übrigen Stücken streng eingehalten
hat, desgleichen eine nicht geringe Verschiedenheit in der Anlage
wie der Durchführung, dass sie nicht von dem Dichter der übri-
gen Stücke verfasst soin können, deren Nachahmung vielmehr hier
hervortrete, weshalb sie auch in nicht allzu ferner Zeit nach Seneca,
als Werke ähnlicher Art, wenn auch verschiedenen Ursprungs, den
Dramen des Seneca angereiht worden seien ; unter beiden Stücken,
so wird geurtheilt, verdiene der Agamemnon noch den Vorzug vor
dem Hercules, in welchem selbst Einzelnes aus jenem Stück nach-
geahmt erscheine. Allerdings zeigen diese beiden Stücke einige
Verschiedenheit von den übrigen, aber diese Verschiedenheit reicht
nach unserer Ausicht kaum hin , um dieselben andern Verfassern
zuzuweisen, zumal da Ton und Färbung im Ganzen den übrigen
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«
Bibliotheca Scriptonim Teubneriana. 638
Stückeii ziemlich gleich gehalten ist. Auch stehen beide Stücke
in der Florentiner Handschrift, in welcher dagegen die Octavia
fehlt, wahrend sie in allen Handschriften der andern Classe sich
noben den übrigen Dramen des Seneca befindet. Dass die neulich
ausgesprochene Behauptung, die Octavia sei ein Product des Mittel-
alters, hier keinen Anklang gefunden hat, war zu erwarten; die
Abfassung der Octavia wird vielmehr in das vierte Jahrhundert
(S. XIII) verlegt und die weitere Vermuthung — denn für mehr
soll sie nicht angesehen werden — daran geknüpft, dass der Ver-
fasser derselbe sei , von dem auch die andere Recension , die in
jüngern Handschriften vorliegt, ausgegangen sei, da diese in
dassolbe Jahrhundert fallen dürfte. Dass die Octavia, die Seneca
gar nicht gedichtet haben kann, der Zeit nach doch ihm etwas
nüber liegt, scheint uns indessen doch aus andern Spuren
hervorzugehen, auffallend ist es immerhin, dass sie in jener
Florentiner Handschrift, die bis in das eilfte Jahrhundert zurück-
geht, vermisst wird. Diese Handschrift bietet jetzt allerdings
die Grundlage des Textes (s. p. XVII), da sie den entschiedenen
Vorzug vor den andern Handschriften, welche der andern Recension
angehören, besitzt; allein manche Fehler, die darin vorkommen,
machen es notbwendig, auch die andern jüngern Handschriften an
nicht wenigen Stellen zu Bat he zu ziehen, wo in diesen der Fehler
berichtigt erscheint. Dicss ist daher aach in dieser Ausgabe in
anerkenncn8werther Weise geschehen ; für die Octavia , die dieser
sicheren Grundlage der Florentiner Handschrift entbehrt, indem
sie nur in den jüngeren Handschriften der andern Recension sich
findet, dio auch unter einander wenig verschieden sind, ward dem
Codex Rhcdigeranus 13, einer Papierhandschrift des vierzehnten
Jahrhunderts, insofern ein Vorzug vor don übrigen Handschriften
dieser Classe zuerkannt, als dieselbe dem Codex Archetypus, wie
er angenommen wird als letzte Quelle aller Handschriften , am
nächsten zu stehen kommt.
Alle den beiden Classen oder Recensiouen angebörigen Codices
werden von S. XXIII an genau verzeichnet und beschrieben; von
deu sogenannten Excerpta Thuanea d. h. den Stellen, welche sich
in einer Pariser Handschrift (Nr. 8071) des neunten oder zehnten
Jahrhunderts finden , wird ein vollständiger Abdruck nach einer
genauen von Fr. Dübner genommenen Abschrift gegeben S. XXIV ff.,
dann die Florentiner Handschrift genau beschrieben; eine genaue
Vergleichung derselben zum Zweck dieser Ausgabe ward durch
Herrn H. Peter besorgt ; dann werden die Handschriften der andern
Classe aufgeführt, welche für diese Ausgabe benutzt wurden (wie
verhalt es sich mit den zu Rom befindlichen Palatini Codices,
angeblich acht der Zahl nach?), so wie die Editio Aldina von
1516, zuletzt auch noch über die früheren Ausgaben in gedrängter
Weise berichtet.
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634 Bibllotheca Scriptomm Teubneriana.
Was den auf die bemerkte Grundlage zurückgeführten Text
selbst betrifft, so macht hiernach der Hercules |Turens] den
Anfang: der in Klammern eingeschlossene Zusatz fehlt in der Flo-
rentiner Handschrift: unter dem Text ist die Zusammenstellung der
vana lectio gegeben, und lässt sich Alles bequem übersehen ; dann
folgt der Thyestes, und darauf das bisher als Thebais (nach
den jüngern Handschriften der andern minder guten Recension)
bezeichnete Stück, das in der Florentiner Handschrift die Auf-
schrift Phoenissae trägt, in zwei Theile hier gespalten, die
ersten 362 Verse als Oedipi Fragraentum (wobei als Perso-
nen nur Oedipus und Antigona erscheinen), das übrige, was in den
Handschriften, in der Florentiner wie in den übrigen daran sich
schhesst, als ein besonderes Stück : Phoenissarum Fragmen-
tiim bezeichnet, ob mit genügendem Grunde, mag hier unerörtert
bleiben; sicher steht jedenfalls, dass nach Vs. 862 Etwas ausge-
fallen sein muss, indem Vs. 363 sich dem Vs. 362 nicht als un-
mittelbare Folge oder Fortsetzung anreihen kann. Nun folgt
Phaedra, denn so lautet die Aufschrift in der Florentiner Hand-
schrift, nicht Hippolyt us, was den Handschriften der andern
Recensiou angehört; dann Oedipus, die Troades und dieMe-
doa. Daran reiht sich: Incerti Agamemnon und Incerti
Hercnles [Oetaeus], da Oetaeus in der Florentiner Handschrift
fehlt , zuletzt: Incerti Octavia. Es kann nachdem, was schon
oben bemerkt ward, hier nicht der Ort sein , in die bestrittene
brage der Aechtheit und Unächtheit dieser Stücke uns einzulassen,
die mit Ausnahme der Octavia, neben den übrigen Stücken als
W erke des Philosophen Seneca in der Florentiner Handschrift be-
zeichnet sind, und zwar in der Neunzahl; auch scheinen die Her-
ausgeber an der Autorschaft Seneca's für die übrigen hiernach
keinen Zweifel zu hegen, wie diess schon aus dor ihrer Ausgabe
gesetzten Aufschrift hervorgeht. Wie es sich nun auch damit ver-
halte: für die Herstellung des Textes durch Zurtickftthrung auf die
handschriftliche Autorität und möglichst genaue Bereinigung von
jeder Interpolation wie von falschen Lesarten ist das Möglichste
geschehen, und darin lag ja Ziel und Bestimmung der neuen Aus-
gabe. Hinzugekommen sind noch drei brauchbare Indices, an erster
Stolle ein Index Nominura und Kerum, an zweiter ein In-
dex orthographicus in nächster Beziehung auf die Schreib-
weise der Florentiner Handschrift, er verbreitot sich zuuächst über
Vocale und Consonanten und die hier stattfindenden Veränderungen,
dann über Einzelnes aus der Flexion der Nomina und Verba, und
endlich über die Art der Verbindung und Trennung einzelner
Worte; ein dritter Index Mctricus gibt eine sehr genaue und
übersichtliche Zusammenstellung der in den lyrischen Abschnitten
dieser Dramen augewendeten Metra, namentlich auch in dem Con-
spectus Eurytbmiae.
Die Ausgabe des Virgilius oder Vergilius, wie der Ver-
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Bibliotheca Scriptorum Teubneriana.
6»5
fasscr geschrieben haben will*), unterscheidet sich von der grösse-
ren des Herausgebers, deren vierter Band unlängst in diesen Jahr-
büchern S. 233 ff. besprochen ward, durch ihre Bestimmung für
den Bedarf der Schule, und den dadurch gebotenen Wegfall des
gesammten kritischen Apparates, insofern eine theilweise Mitthei-
lung desselben in einer Auswahl von Varianten dem Kritiker doch
kaum von Nutzen sein würde, welcher den Ueberblick des ganzen
Apparates nöthig hat, wenn er mit aller Sicherheit zu Werke
gehen will. Auf der andern Seite ist aber diese Ausgabe, indem
sie sich auf den Text beschrankt, doch kein blosser Wiederabdruck
des in jener grösseren Ausgabe gelieferten Textes: itextum propo-
sui, heisst es in der Vorrede, non prorsus eundem, qui in majore
editione expressus est, sed et novis conjecturis, quas maximam
partem in prolegoraenis nuper defendi, aliquotiens mutatum et in
orthographico genere partim ad nostri aovi consuetudinem, quantum
salva antiqnitatis fide fieri poterat, aecommodatum , partem sicuti
meliora dies docuerat reformatum.c Diess ist nun auch geschehen,
wie man bei näherer Durchsicht und Vergleichung sich bald über-
zeugen wird: immerhin konnte man übrigens wünschen, dass in
einem Beiblatt, das nur geringen Raum in Anspruch genommen
haben würde, ein Verzeichniss der einzelnen Stellen gegeben wäre,
in welchen der Text dieser Schulausgabe von der grösseren ab-
weicht, auch über die in orthographischer Hinsicht befolgte Norm
(z. B. qnoi, opstiterit u. A. der Art) würde eine kurze Notiz
nicht unerwünscht gewesen sein. Dagegen geht dem Text der Ge-
dichte Virgils eine »Narratio de vita et scriptis P. Vergilii Ma-
ronis« voraus, die eine gedrängte, aber durchweg auf die Quellen
gestützte und verlässige, zusammenhängende Darstellung von dem
Leben Virgils und dessen Schriften enthält, wie sie der Heraus-
geber, nach seinen diesem Schriftsteller gewidmeten Forschungen,
gewiss zu geben im Stande war, und auch in befriedigender
Weiso gegeben hat. Wir erlauben uns nur Einen Punkt zu er-
wähnen. In die Frage nach der Aechtheit der kleineren, dem
Virgil beigelegten Gedichte geht, wie begreiflich, diese Narratio
nicht ein , da der Verf. , wie aus dem Vorwort ersichtlich wird,
diese Frage in einem fünften Bande seiner grössern Ausgabe in ^aus-
führlicher Weise zu behandeln gedenkt. Es wird, da dieso* Ge-
dichte auch in die vorliegende Ausgabe aufgenommen worden sind,
(was schon die Vollständigkeit gebot) am Schluss der Narratio
folgendes bemerkt: »Inter minora, quao huic volumini vulgarem
consuetudinem secuti adjunximus carmina, certum videtur Vergilii
non esse catalecton V et XI et Cirin poema : genuina et omni du-
*) „Indoctorum hominum magistcllorumque ridiculam contumaciam, qui
pTaodUectam a pueria nominis Virgilius formam ab impils novarumque
rerum Btudiosis cripi sibi lamentantur, argumentis teatimoniisque dclcnire
pudet taedetque etc." leaen wir in einer Note zu pag. VIII.
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636
Bibliothcca Scriptorum Tcubneriana.
bitatione libcra catal. VI. VII. VIII. X; nec cetera si unum aut
alterum exemeris, abjudicandi a nostro causam video idoneam.«
(p. XXXVI). Der Verf. ist Übrigens in der Behandlung des Textes,
wenn er auch mehrfach an die grössere Ausgabe sich anschliesst,
mit aller Vorsicht insofern zu Werke gegangen, als er das, was
nach seiner Ansicht auf Interpolation oder auf einer Dittographie
beruht, nicht sofort aus dem Texte weggelassen hat: er hat es im
Texte belassen und die Verse, die nach seiner Vermuthung der
Dichter solbst seinem Exemplar beigefügt (eine allerdings oft
weitgehende Vermuthung), mit eiuem vorgesetzten Sternchen kennt-
lich gemacht, während die von Andern, wio er annimmt, inter-
polirten Verse in eckige Klammern eingeschlossen, die Dittographien
aber ebenfalls eckige Klammern mit vorgesetztem Sternchen er-
halten haben. Endlich ist am Schluss des Ganzen ein Index No-
minum beigefügt.
Die Ausgabe des Censorinus kann füglich als eine Revi-
sion des von 0. Jahn in seiner Ausgabe (1845) gelieferten Textes
gelten, insofern ihm eiue genauere Vergleichung der beiden Hand-
schriften zu Grunde liegt, welche bei der Gestaltung des Textes
zunächst in Betracht kommen, der Darmstädter des siebenten und
der Vonetianer des zehnten Jahrhunderts. Nach beiden Hand-
schriften hatte der eben genannte Herausgeber eine neue Recensiou
des Textes zu liefern unternommen ; indessen blieb doch eine ziem-
lich bedeutende Nachlese übrig, wie sich aus der dem Herausgeber
von Halm mitgetheilten genaueren Vergleichung der Darmstädter
Handschrift, und aus einer an Ort und Stelle durch Herrn Wil-
manns vorgenommenen nochmaligen Vergleichung der Vatikaner
Handschrift bald ergab. Beide Handschriften stimmen zwar in den
meisten Fällen überein, wo eine Abweichung der zuletzt genannten sieb
findet, stimmt sie meist mit der jüngeren Hand überein, die in
der Darmstädter Handschrift so Manches anders gestellt bat. Dem
Herausgeber aber war es hauptsächlich darum zu thun, die ur-
sprüngliche Gestalt des Textes, wie sie in dieser Darmstädter Hand-
schrift sich findet, in seiner Ausgabe darzustellen, die sich daher
mehr, als diess in der eben genannten Ausgabe der Fall ist, au
diese „ Handschrift anschliesst. Mit aller Genauigkeit und
Sorgfalt sind unter dem Text die Abweichungen beider Hand-
schriften von dem gegebenen Texte angeführt: man sieht, wie diese
beiden, gewiss alten Handschriften, doch von Fehlern jeder Art nicht
frei sind und selbst nahmhafto Lücken und Verderbnisse aufweisen,
welche es kaum möglich machen, das merkwürdige Büchlein in
seiner ursprünglichen Vollständigkeit herzustellen. Was schon Carrio
trennto von der Hauptschrift des Censorinus, die mit Cap. 24 auf-
hört, ohne zum Ende gelangt zu sein, ist auch in dieser Ausgabe
nach Jahu's Vorgang getrennt, obwohl die beiden genannteu Hand-
schriften eine solche Trennung nicht kennen, sondern dem unmittel-
bar Vorhergehenden es geradezu anreihen ; es folgt hier, wie bei Jahn,
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Fuss: De Lygdami Elegiis. ß37
Frugmentum Censorino ad scriptum, und vor dem Text
steht die, wenn wir nicht irren, von Carrio gesetzte Aufschrift Do
natural] i n s t i t u t i o n e. Ein Iudox und zwar der Personen, wie der
Sachen und selbst einzelner Phrasen und Wendungen ist am Schlüsse
beigefügt.
Die vierte Ausgabe des Sallustius ist kein blosser Ab-
druck der zunächst vorausgegangenen, sondern als eine Revision
derselben zu betrachten, welche zu manchen Aonderungen im Ein-
zelnen geführt bat, ohne dass der Standpunkt des Herausgebers
überhaupt einer Aenderung unterlegen wäre. Die nächste Veran-
lassung dazu gab H. Jordan's Ausgabe (Berlin 1866), so wie die
im Rheinischen Museum und im Hermes niedergelegten kritischen
Uemcrkuugen dieses Gelehrten: Alles ward einer genauen Prüfung
unterzogen, aber darum noch nicht Alles angenommen : im Gegen-
theil, in uicht wenigen Stellen fand sich der Herausgober nicht
veranlasst, von dor von ihm gewühlten Lesart abzugehen: da in
der Priifatio eine zwar gedrängte, aber genaue Besprechung dieser
Punkto gegeben ist, so wird der Kritiker zunächst darauf zu ver-
weisen sein. Dass in der Correctbeit des Druckes diese Ausgabe
den andern nicht nachsteht, bedarf wohl kaum einer Bemerkung
Chr. Bahr.
M^alth. Guilelm us Fuss: De Elegiarum libro quem Lygdamum
esse pulant guidem. Monasterii 1867. 77 S. in 8.
Der Verfasser beginnt seine Schrift mit einem Ueberblick der
verschiedenen Bemühungen neuerer Kritiker um die Wiederherstel-
lung des Textes der unter des Tibullus Namen auf uns gekommenen
Gedichte, wobei er seinen Ausgang von Joseph Justus Scaliger
nimmt, und über sein allerdings übereiltes Verfahren ein, wie uns
scheint, wohl begründetes Urtheil fallt. Er lässt dem Scharfsinn
dieses Kritikers, zumal in Aufdeckung der Verderbnisse alle Ge-
rechtigkeitwiderfahren, schliesst aber mit den Worten: »Caetorum
vir iugenii vi spectatissimus hoc in opere nimia festinatione —
nam intra unum mensem ipse ait se tractasse atque absolvisse carmiua
Catulli Tibulli Propertii — a recta via videtur abduetus esse.«
Wir halten diess für richtig: bei der von manchen Seiten über-
triebenen Verehrung, die Alles, was von diesem gewiss scharfsinni-
gen Kritiker ausgeht, für trefflich und unumstösslicb hält, glauben
wir dieses Urtheil, das uns auf den richtigen Weg in der Beur-
theilung führt, anführen zu müsson. Der Verf. lässt dann die ver-
schiedenen Ansichten neuerer Gelehrten über des Tibullus Gedichte
folgen, zumal über das dritte Buch, das die neueste Zeit dem Ti-
bullus abgesprochen und einem nicht weiter bekannten Dichter
Lygdaraus* zugewiesen, Haase aber noch zuletzt einem Valerius
Me8salinu8 als Verfasser zugetheilt hat. Und diess führt ihn nun
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Fuss: D« Lygdami Eleglis.
seinem eigentlichen Gegenstande uäher, welcher von Cap. II. p. 9 ff.
dahin gerichtet ist, nachzuweisen, dass dioses dritte Buch in kei-
ner Weise von einem andern Verfasser herrührt als von dem, dem
wir auch die beiden vorhergehenden Bücher verdanken, demnach
von Tibullus. Er schliesst sich damit zum Theil an Spohn an,
der schon früher in gleichem Sinne sich ausgesprochen und sucht
im Einzolnen die Gründe, welche wider die Aechtheit des dritten
Buches vorgebracht worden sind, zu widerlegen, und damit zu-
gleich den Nachweis zu geben, dass in den Elegien des dritten
Buches sich Nichts finde, was mit dem Geiste und dem Charakter
der übrigen Elegien in Widerspruch stehe, der Art, dass wir einen
andern Verfasser anzunehmen genöthigt wären. Cap. IV. V und
VII sind wider die von Joh. Heinrich Voss vorgebrachten Gründe
gerichtet, und zeigen die Unhaltbarkeit derselben in, wie uns dünkt,
schlagender Weise. Auf einen im Cap. IV verhandelten, die
Lebenszeit des Tibullus betreffenden und mit der ganzen Streit-
frage zusammenhiingenden Punkt glauben wir insbesondere auf-
merksam machen zu müssen. Für die Lebenszeit des Tibullus be-
stimmend erscheint das Distichum in der fünften Elegie dieses
Buches Vs. 17:
Natalein primo nostri videre parentes,
Cum cecidit fato consul uterque pari,
was auf das Jahr 711 u. c. als Geburtsjahr des Tibullus füh-
ren würde, was aber, wie schon mehrfach auch von Andern, wie
von dem Verfasser ganz richtig bemerkt worden ist, nicht wohl
richtig sein kann, da uns andere Thatsacheu auf eine frühero Zeit
zurückweisen. Man hat sich mit Aenderungen des Textes in dieser
Stelle zu helfen gesucht, die aber you der Art sind, dass sie wohl
nicht auf Billigung Anspruch machen können; oder man hat dar-
aus einen Grund genommen, das ganze dritte Buch der Elegien
dem Tibullus abzusprechen. Zu einer derartigen, viel zu weit
gehenden Annahme hat sich unser Verfasser nicht cntschliessen
können: und die gewöhnliche Logik steht ihm wohl darin schon
zur Seite. Er sucht daher die Schwierigkeit auf andere Weise zu
lösen. Er vorweist auf die Stelle Ovid's in den Trist. IV, 10, G,
wo dieser Dichter sein Geburtsjahr auf ähnliche Weise in folgen-
den Worten angibt:
Editus hinc ego sum, nec non ut tompora noris,
Cum cecidit fato consul uterque pari.
Hat nun, entsteht die Frage, der eine Dichter von dem andern
diesen Vers entlehnt? Weder Tibullus oder der angebliche Lygda-
mus konnte von Ovidius, der seine libri Tristium erst nach Tibull's
Tode herausgab, diesen Vers entlehnen, noch auf der andern Seite
Ovidius von Tibull ; so lautet die Antwort des Verfasser's, die durch
hinreichende Gründe unterstützt wird: seine eigene Ansicht geht
aber dahin, den fraglichen Vers, der bei beiden Dichtern sich fin-
det, in der fünften Elegie des dritten Buches von Tibull für ein
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Fuss: De Lygdami Eleglis.
639
in neuerer Zeit nach jenem Ovidischen Vers gemachtes Einschiebsel
zu erklären, wie denn ähnliche Einschiebsel nachgewiesen werden,
die wir zumeist den italienischen Gelehrten des fünfzehnten Jahr-
hunderts verdanken. Ueber die in den Elegien des ersten Buches
besungene Delia verbreitet sich der Verfasser cap. VI, um dann
im cap. VII zu zeigen, dass die im dritten Buch besungene Neaera
von ihr nicht verschieden sei, und was von der einen gesagt werde,
auch auf die andere passe, wie diess auch früher sehon Spohn an-
genommen hatte, mithin eine und dieselbe Geliebte unter beiden
Namen besungen sei, eben so wie die Nemesis in den Elegien
des zweiten Buches mit der Glycera zusammenfalle, welche beide
von der Neaera-Delia verschieden seien (S. 22—25). Ist nun dem-
nach die Neaera nicht verschieden von der Delia, so folgt weiter
daraus (s. cap. VIII p. 41 ff.), dass auch der Lygdamus des dritten
Buches kein anderer als der Tibullus des ersten Buohes ist, beide
Bücher demnach einen und denselben Dichter zum Verf. haben.
Und dass die Elegien des dritten Buches in Bezug auf Sprache
und Ausdruck wie pootischen Schwung denen des ersten Buches
nicht nachstehen, ist Cap. X. p. 52 ff. näher nachgewiesen. Anderes
von Belaug für einen von Tibullus verschiedenen Dichter des drit-
ten Buches ist kaum vorgebracht worden, nur Lachmann glaubte
aus dem abweichenden Gebrauche einzelner Wörter und aus metri-
schen Gründen diese Verschiedenheit constatiren zu können. Darum
ist der Verfasser Cap. XI S. 64 ff. auch auf diesen Punkt näher
eingegangen, um zu zeigen, wie diese angeblichen Abweichungen
oder Verschiedenheiten nicht von der Art sind, um darauf eine
Verschiedenheit der Verfasser begründen zu können. Eine kürzere
Widerlegung konnte die Behauptung (S. 72 ff.), dass Ovidius, oder
dass Cassius von Parma als der Verfasser der Elegien des dritten
Buches anzusehen sei, allerdings finden. Auch die zuletzt noch von
Haase ausgesprochene Vermuthung, welche den jugendlichen Valerius
Messalinus zum Verfasser der Elegien dieses dritten Buches machen
will, entbehrt jeder Begrüuduug uud jedes Anhalts : es wird darum
rathsam sein, bei der herkömmlichen und auch handschriftlich
Überlieferten Ansicht, die auch das dritte Buch der Elegien dem
Tibullus zuspricht, zu bleiben, indem ein genügender Grund davon
abzugeheu, nicht vorliegt, wohl aber die behauptete Unächtheit dos
dritten Buches beigetragen hat, die Identität des Verfassers dieses
Buches mit dem der beiden andern vorausgehenden Bücher in ein
noch helleres Licht zn setzen. Nach der Vermuthung unseres Ver-
fassers (S. 77 vgl. 49) hat Tibullus die Elegion des ersten Buches
selbst herausgegeben, da sie zur Publication von ihm bestimmt
waren; die des dritten Buches, die blos für die Geliebte oder für
wenige Freunde bestimmt gewesen, und daher selbst minder ge-
feilt erscheinen, wären dann erst nach Tibuirs Tod zugleich mit
den übrigen, mehr ausgearbeiteten Gedichten von den Freunden
des Dichters herausgegeben worden. Chr. Hahr.
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640 Brandes: Deutsche Wörter in der franz. Sprache.
Die Wörter deutschen Stammen in der französischen Sprach* zu-
sammengestellt von Dr. ff. K. Brandes, Prof. und Rektor
des Gymnasiums su Lemgo. Detmold. Meyer'schc Hofbuchhand-
lung. 76 S. in 8.
In dieser Schrift sind ungefähr vierhundert Wörter und zwar
in alphabetischer Reihenfolge zusammengestellt, welche deutschen
Ursprungs sind und von dem deutschon Stamme der Pranken, der
gegen Ende des fünften Jahrhunderts das romanisirte Gallien in
seine Gewalt brachte, auch jetzt noch Zeugniss geben könnon. Denn
wenn auch als Grundlage der neuen Sprache, die sich in diesem
Lande spitter bildete — die französiche — das Romanische her-
vortritt, so hat doch auch die Sprache der früher schon besiegten
Landesbowohner, der Kelten, wie die der späteren Sieger und Herr-
schor, der Franken, nicht ohne Einfluss bleiben können, sondern
Spuren hinterlassen, die zu verfolgen sich wohl dei Mühe lohnt.
Einen solchen Versuch hat der Verfasser hier unternommen, indem
er, nachdem er zuvor einige in der heutigen französischen Sprache
noch vorkommende keltische Wörter, so wie einige auffallende,
au9 der römischen Sprache stammende aufgeführt, mit S. 13 zu
der bemerkten Zusammenstellung übergeht, die im Einzelnen Man-
ches Interessante bietet, zumal, wie der Verf. es wünscht, diese
Schrift auch als ein Unterhalten gs- und Räthselbüchlein dienen
soll, zur Aufklärung über manche Ausdrücke, die uns wohl geläufig
sind, ohne dass wir jedoch über den wahren Sinn des Wortes eine
nähere Rechenschaft zu geben wissen. Auf eine tiefere, streng
wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes verzichtet die Dar-
stellung, die mehr für ein grösseres gebildetes Publikum bestimmt
erscheint, dem sie auch die beabsichtigte Unterhaltung wohl zu
gewähren vermag. In das Einzelne weiter uns einzulassen, gestat-
tet kaum der uns zugemessene Raum: dass Manches auch noch
problematischer Art ist, wird man sich nicht verhehlen können, so
z. B. S. 29, wenn das Wort clique (Gesellschaft hier übersetzt,
was es doch wohl kaum besagt), das von dem Deutschen gleich
abgeleitet wird, als Verbindung zu gleichen Zwecken , lieber von
kleben, Kley (klebrige Erde) abgeleitet, oder wenn S. 33
echapper auf Kampf zurückgeführt wird, da es eigentlich heisse,
dem Kampfe entrinnen; oder wenn S. 37 evanouissement,
Ohnmacht, in unserra schwinden, schweizerisch schwanen,
englisch swoon (Ohnmacht) wurzeln soll, da es doch hier viel
näher liegt , an das Lateinische evanesco, evanui zu denken,
und davon das Wort abzuleiten. Im Uebrigen verweisen wir auf
die Schrift selbst.
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It.«. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
üeber die Nationalität der Kelten, von Joseph Rott, königlicher
Gymnasialprofessor. Passau, 1866.
Im ersten Abschnitt zeigt der Verfasser, dass die Briten keine
Kelten sind: im zweiten, dass die Belgier Kelten, und im dritten,
dass sie auch Germanen sind, daraus folgt dann im vierten Ab-
schnitt, dass Kelten und Germanen gleicher Nationalität sind; im
fünften Theil beweist der Verfasser, dass die Einwanderung der
Kelten in Italien nicht von Gallien, sondern von Pannonien aus-
ging, und im letzten Abschnitt wird ausgeführt, dass die in Grie-
chenland einfallenden Kelten ebenfalls nicht aus Gallien kamen,
sondern von den Donaulandern. In allen diesen Hauptsachen hat
der Verfasser Recht, dagegen im Einzelnen möchte ich nicht alle
seine Behauptungen unterschreiben. Ebenso stimmt zwar der Ver-
fasser im Grossen und Ganzen mir bei, aber im Einzelnen weicht
er von mir ab: seine Untersuchung ist eine selbstständige. Leid
thut es mir z. B. , dass hier S. 17 meine oder vielmehr Strabo's
Deutung des Namens der Germanen eine Grille genannt wird : und
ich hoffe, dass der Verfasser hierüber noch anderer Ansicht wird.
Dagegen hat er gewiss Recht S. 4 in seiner Erklärung von Tacitus
Agric. 1 1 , wenn er anders als ich gethan habe , den Abschnitt,
der mit in Universum tarnen aestimanti beginnt, nicht auf die Bri-
tanni im Allgemeinen bezieht, sondern nur auf die zuletzt erwähn-
ten Proximi Gallis; wenigstens muss man die Stelle so auffassen,
wenn man nicht zugeben will, dass Tacitus höchst leichtsinnig und
oberflächlich und im Widerspruch mit seinen eigenen Angaben über
die Briten abgesprochen habe. Zu S. 19 bemerke ich, dass in
Germ. 43 die lingua gallica sicher durch einen Schreibfehler ent-
Stauden ist aus lingua getica, da die Gothini als Dacisches Volk
nachgewiesen werden können. Doch kann ich diess hier nicht aus-
führlich darlegen, und muss darauf verzichten, so wohl das Werth-
volle in dieser Schrift als auch das, wie mir scheint, Verfehlte
und Gewagte hervorzuheben, da ich nicht die Absicht habe, mich
für jetzt in eine neue Discussion der ganzen Frage einzulassen.
In Baiern hat man immer eine Vorliebe gehabt für keltische
Studien ; aber mit Ausnahme des bekannten Oorrespondenten der All-
gemeinen Zeitung, der die Keltenfrage, wie alle andern, immer mit
liebenswürdiger Urbanität und glücklichem Humor behandelt, haben
die bairischen Keltologen nicht immer die Gabe, ihre Arbeiten für
uns andern Nichtbaiern schmackhaft zu machen , wenn sie auch
nicht gerade die urbojoarische Derbheit anwenden, die einen nun
LX. Jahrg. 9. Heft 41
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642
Reumont: Geschichte der Stadt Rom.
verstorbenen Münchner Keltologen auszeichnete. Es freut mich
daher, eine bairische Schrift zur Anzeige zu bringen, die in schlich-
ter Untersuchung der schwierigen Keltenfrage Verdienstliches leistet,
und auch im Verfehlten, wie mir scheint, noch lesenswerth und
sinnreich ist. Indem ich freudig den Verfasser als einen Mitstrei-
ter für die verkannte Wahrheit begrilsse, hoffe ich, dass er mit
rüstigen Kräften fortfahren wird, den falschen Meinungen entgegen-
zutreten ; ich selbst werde von meiner Seite wohl ebenfalls wieder
Gelegenheit finden, die Grundlosigkeit der herrschenden, von unsern
Autoritäten gestützten Ansicht darzulegen. Auf einen raschen Sieg
wird sich Herr Rott so wenig Hoffnung machen, als ich.
Heidelberg im Mai 1867. A. HoltzRiann.
A. v. Reumontj Geschichte der Stadt Rom. Erster Band. Von
der Gründung der Stadt bis zum Ende des Westreichs. Ber-
lin 1867.
Das vorliegende Werk, welches auf drei Bände berechnet ist,
verdankte einer Anregung des verstorbenen Königs von Bayern,
Maximilian' s II., seine Entstehung, der der Verf., wie er von sich
bescheiden gesteht, nur zögernd nachgab, wegen der Schwierigkeit
der Aufgabe und des Umfangs des Unternehmens. An einem Werke
dieser Art und Herkunft, zumal es den Ehrgeiz, eine gelehrte
Arbeit sein zu wollen, von sich ferne hält, ist Zweck und Plan
von vorneherein das Wichtigste. Ueber Beides spricht sich der
Verfasser in dem Vorworte, S. VIII ff., aus. Die wesentlichsten
Ergebnisse unermüdeter Forschung älterer wie neuerer Zeiten soll-
ten gebildeten Kreisen zugänglich gemacht werden, erzählend und
schildernd, ohne gelehrten Apparat noch kritische Erörterung.
Unter dem zweiten Gesichtspunkte hat der Verfasser zwischen
einer Geschichte der Stadt Rom und der römischen Geschichte
unterschieden und sich durch diese Unterscheidung bei der Be-
handlung leiten lassen. Vermöge dieser Einschränkungen machte
er den Weg, den schon J. J. Ampere gegangen war, seinerseits
noch einmal, wie sich denn fast als eine Bestätigung hiefür der
Umstand ausnimmt, dass sein Buch auch in Rom entworfen und
grossentheils geschrieben sei. S. 797.
Im Allgemeinen hat es uns bedünkt, dass er sich diese Art,
über Rom zu schreiben, zum Vorbilde hat dienen lassen, nur dass
er den geistreichen Franzosen, durch übersichtlichere Gruppirung
des Materials übertrifft. Den ersten Abschnitt mit der Abschaf-
fung der königlichen Würde zu schliessen, hat der Verfasser zwar
mit allen Geschichtschreibern über das alte Rom gemein. Aber
die Begrenzung des zweiten, den er mit dem Ende des Bundes-
genossenkriegs bezeichnet, ist seine Wahl, ebenso die des dritten.
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Reumont: Gf schichte der Stadt Rom.
Bürgerkriege und Weltherrschaft lautet seine Ueberschrift. Er geht
bis zum Jahr 30. Hiemit schliesst das erste Buch.
Dieser erste Band enthält drei Bücher. Die Eintheilung des
ersten muss man nach der Gruppirung der Materialien, welche die
Geschichte der Republik constituiren, unter die bewussten zwei
Collectivgesichtspunkte für ihn eigenthümlich gelten lassen. Im
zweiten Buch kann nicht fehlen, dass die Hereinziehung des Cbriaten-
thums in die Darstellung besondere Grenzen feststellen läsat. Den
ersten Abschnitt füllt er mit der Gründung und Organisation der
Alleingewalt und der Regierungszeit des Augustns. Dass er nicht
schon mit dem Epochenmann der Casaren beginnt, können wir
nicht billigen. Aber es scheint, dass er, der ihn im Strudel der
Bürgerkriege auftreten und untergehen sieht, gefürchtet hat, eines
Eintheilungsgrnndes zu entbehren, der eine Massengruppirung in
gleichem Grade gestatten würde, wie es in seinem Falle die Augu-
steische Epoche gestattet. Indem er die solidere Abtheilung der
traditionellen geopfert hat , ist er allerdings seinem gebildeten
Publikum willkommener, das zwar Lesedetails geboten, aber nicht
Untersuchungsdetails betont haben will.
Ueber die folgenden Abschnitte kann man sich eher mit dem
Verfasser einverstanden erklären. Der zweite zeigt gleich, wie er
politische oder Regierungsgeschichte, Baugeschichte und Religiona-
geschichte verbindet. Er beschäftigt sich mit den Cäsaren, mit der
Ausbildung der Monarchie, mit dem Auftreten des Christenthums.
Das erste halbe Jahrhundert nach dem Ableben des Angustus ist
in ihm zusammengedrängt, man kann nicht sagen, unverhältniss-
mässig, weil in den folgenden ungefähr eine gleiche Einschränkung
befolgt ist. Für das methodisch Wichtigste in diesem Capitel, die
Anfange des Cbristenthums, hat sich der Verfasser durch die Bau-
ten Nero'a bestimmen lassen. Die Unzufriedenheit des Volkes von
Rom über Nero's Bauunternehmungen brachte diesen auf das grau-
same Mittel, die des fremden Glaubens Ueberwiesenen hinrichten
zn lassen. Indem der Verfasser sich mit dieser Einschiebung mitten
in der Entwicklung sieht, greift er in die Geschichte des Judenthums
bis auf die Wiedererbauung des Tempels in Jerusalem zurück,
8. 339 ff. Er verfolgt dieselbe bis herab auf das Märtyrthum der
Apostel. Das Christenthum, anfangs an dasjenige Element gebun-
den, erscheint nur als änssorlicbes Contingent zu der Bevölkerung
Roms, kündigt sich, wie seine Fortschritte zeigten, allmählich aber
als Bocialen Faktor durch seine Anerkennung auch bei Römern an.
Verlieren wir unseren Standpunkt nicht aus dem Augel
Den dritten Abschnitt beginnt der Verfasser mit dem Bürger-
kriege, womit er den Krieg zwischen Galba und Otho, und dann
zwischen Otho und Vitellius meint; den eigentlichen Inhalt bildet
die Regierung der Flavier. Dem Jahre 69 hätten wir S. 391 gern
eine Auffassung abgewonnen gesehen, wie sie durch eine Verglei-
chung mit der Verwirrung nach Cäsar's Ermordung erlangt wird
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644 Reumont: Geschichte der Stadt Rom.
Das Gebeimnis8 der Erklärung liegt hier in der Aufmerksamkeit,
dass nicht für eine Nachfolge gesorgt war, nnd so die Anarchie
— dies ist wohl der richtigere Ausdruck — sich als die erste Folge
nnd der Bürgerkrieg als die entferntere herausstellte. Wir wollen
nicht wiederholen, worauf wir schon oben hindeuteten, dass der
Verfasser sich für seine Darstellung an die Combination des Poli-
tischen, Baugeschichtlichen und der christlichen Tradition hält.
Nor wie er der ältesten kirchlichen Eintheilung der Weltstadt
nachgeforscht hat, nnd dann, was er für sie gefunden hat, wollen
wir hier herausheben. Wir lassen ihn am Besten selbst reden.
>Wie rasch und stetig, sagt er S. 423, der neue Glaube sich hier
ausbreitete, wie bald er festen Fuss fasste, ergiebt sich aus nichts
deutlicher als aus der frühen christlichkirchlichen Eintheilung der
Stadt.« Dann fährt er fort: »So dunkel die Geschichte der
Entstehung der sieben kirchlichen Regionen ist, so
trifft doch Vieles zusammen derselben das höchste Alterthum zu-
zuweisen; denn wo in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts
die Institutionen sich entwickeln, ist es klar, dass man mit schon
lange Bestehendem zu thun hat. Wir sahen Rom durch Augustus
in vierzehn Regionen eingetheilt: dass das Christenthum für seine
Einrichtungen die Hälfte dieser Zahl annahm, hat begreiflicher-
weise die Meinung veranlasst, dass die kirchlichen Regionen mit
den städtischen im Zusammenhang standen, ein Zusammenhang,
welcher aber örtlich durchaus nicht zu erweisen ist. Die aposto-
lische Kirche Jerusalems hat in ihren sieben Diakonen der römi-
schen ohne Zweifel das Vorbild gegeben, welches wir bei der Ent-
wicklung der bischöflichen Verwaltung Roms auch in anderen Fäl-
len erkennen werden. Die älteste Erwähnung der Regionen
findet sich im Leben des hl. Clemens, des Schülers und dritten
Nachfolgers des Apostels. Er Hess, so heisst es, die sieben Re-
gionen unter die gläubigen Notare der Kirche vertheilen, auf dass
diese die Thaten der Märtyrer rasch nnd sorgsam, jeder in seinem
Bezirk, mit Fleiss erforschen sollten. Vielleicht ist in dieser Nach-
richt nur eine nachmalige Einrichtung auf den vierten Bischof
Rom's und seine Vorsorge für die Bewahrung der Geschichte der
Blutzeugen übertragen. Die zweite hiehergehörige Nachricht vom
Anfange des zweiten Jahrhunderts erwähnt der Regionen nicht,
wohl aber der »Titel« oder Kirchen und der Diakonen. Papst
Evaristus, so besagt diese Stelle in den Lebensbeschreibungen der
Päpste, vertheilte den Presbytern der Stadt die Kirchen und setzte
sieben Diakonen ein, den Bischof im Predigen der Wahrheit zu
behüten. Jedenfalls liegen hier die Keime der Institution vor die
sieb wohl allmählich ausgebildet hat, denn dass im zweiten Jahr-
hundert die Kirche sich örtlich organisiren musste, war durch ihre
Natur bedingt, wie durch die grosse Ausbreitung des Christen-
thums unter den Antoninen.«
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Reumont: Geschichte der 8tndt Rom.
645
Man sieht ans dieser Stelle bei dem Verfasser, wie letzterer
sich der Nachforschung der bewussten ältesten Eintheilnng der
Christenzahl beflissen hat. Hören wir ihn nun noch über ein be-
stimmtes Detail, was in diesen Zusammenhang gehört. »Die voll-
ständige Regionar-Eintheilung wird dem hl. Fabian zugeschrieben,
über dessen Pontificatsantritt die Nachrichten zwischen den Jahren
236 bis 240 schwanken. Dieser, so heisst es in seiner Lebensbe-
schreibung, vertheilte die Regionen unter die Diakonen, und be-
stellte sieben Subdiakonen zur Beaufsichtigung der mit der Auf-
zeichnung der Märtyrerakten beauftragten sieben Notare. Diesem
zufolge bestand der Regionenklerus um die Mitte des dritten Jahr-
hunderts aus der dreifachen Siebenzabi der Diakonen, Notare und
Subdiakonen, welchen Fabianus' Nachfolger Cornelius die Regionar-
Akolythen hinzufügte, während erst Gregor der Grosse den Armen-
und Kirchen- A dvokaten oder Defensores, gleichfalls sieben an der
Zahl, den Regionartitel beilegte. Sehen wir von letzterem ab, so
ist es also die auf Alexander Severus folgende Zeit, welche eine
längst im Keime vorhandene Institution zur Entwicklung brachte,
die nicht für die kirchliche Verwaltung Rom's lange massgebend
geblieben ist, sondern auch auf die Gestaltung des nachmaligen
päpstlichen Patriarchium und seinor Würdenträger bestimmenden
Ein flu ss geübt hat Weder die Ausdehnung noch die Namen
8äramtlicher Regionen sind bekannt, und wir müssen bei der Be-
zeichnung des Ursprungs derselben vielfach in spätere Zeiten hin-
übergreifen, da die Nachrichten über dieselben in den alten Papst-
biographien äusserst spärlich und raeist nur zufallig sind. Die
erste war die aventinische , zu welcher auch die Paulskirche vor
dem ostiensischen Thore gehörte. In der zweiten lag die Via
Mamertina und die Diakonie von S. Giorgio , so dass sie das Fo-
rum und Velabrum umfasst haben muss. Die dritte war nach
dem Caelius benannt und erstreckte sioh bis S. Lorenzo vor dem
tiburtini8chen Thor. Die vierte scheint den Quirinal umfasst zu
haben mit dem diesen Hügel von dem Viminal scheidenden Thale,
in welchem die Kirche S. Vitale liegt. Caput Tauri wird die
fünfte Region genannt, worunter man gewöhnlich den Palatin
versteht. Die sechste und siebente Region umfassten das
Marsfeld und die Via Lata und scheinen sich bei Sta Martina am
Fusse des Capitolinischen Hügels der zweiten angeschlossen zu
haben c Soweit der Verfasser über die älteste kirchliche Ein-
theilung Rom's. Weiter dürfen wir ihm nicht folgen, weil wir hie-
mit den Boden der allgemeinen Prüfung, worauf wir uns einst-
weilen befinden, verlassen würden. Es genüge also, diesen Passus
unter den Gesichtspunkt der Eintheilungsmomente gestellt zu haben.
Da das zweite Buch vier Abschnitte hat, so müssen wir noch
vom vierten reden. Dieser, der mit Nerva beginnt, dann die
Regiernngszeit Trajan's und Hadrians bebandelt, führt eine Ueber-
schrift, die vermuthen lässt, dass der Verfasser diese übergangen
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Renmont: Ocschichtc der SUdt Rort.
hat. Nun aber wirklich die Seiten S. 441 — 475 jene zum Inhalte
haben, muss man sich wundern, die Ueberschrift auf die orst fol-
genden Antoninen bezogen zu sehen. Nach einiger Prüfung kann
man sich der Beobachtung nicht verschliessen , dass Trajan , der
doch eigentlich der Epochenkaiser des Universalstaates ist, durch
jene Abfertigung als Vorzeit zu den Antoninen zu kurz kommt.
Hier hat der Verfasser gewiss der Tradition in der Auffassung von
den Antoninen seine Ueberzeugung von der in staatsrechtlicher Be-
ziehung epochemachenden Kegierungszeit Trajan's zum Opfer ge-
bracht. Er verhehlt sich nicht, dass sie epochemachend ist, nur
sieht er sie auf zu beschränktem Boden an, er erklärt die Epoche
Nerva's d. h. Trajan's >als Reaktion wider die scharfsinnig ge-
lehrte, trübselig misstrauische Tyrannei Domitian's«, wie ihm schon
die Flavier eine Reaktion der Mässigung uud gleichsam der Pro-
test des gesunden Menschenverstandes wider die wahusinnigen Aus-
schweifungen und die blutigen pha^tontischen Irrfahrten eines Ca-
lignla und Nero erschienen. Jedenfalls ist jene negative Abschätz-
ung des Epochemachenden in Trajan nicht erschöpfend.
Das dritte Buch beginnt mit Septimins Severus. Mit der Zeit
von Maro Aurels Tode an die Zeit des Verfalls beginnen zu lassen,
ist ganz in der Sache begründet. Die Ursache , dass die Demo-
kratie in Waffen an die Stelle der coneurrirenden Gewalten trat,
ist oben so richtig angedeutet. Indess die politische und Bauge-
schiohte ihre letzten Tage kommen sieht, dringt duroh die Dar-
stellung mit immer mehr verstärkten Ansprüchen die christliche
Lehre und Religion duroh. Es wäre eine Consequenz gewesen,
jenem Edicte Constantin's oder etwa der ökumenischen Kirchen-
versammlung in Nioäa oder einem sonst wichtigen Faktura aus der
Entwicklungsgeschichte dos Christenthums unter Constantin's Re-
gierung die Geltung einer Epoche zu vindiciren. So weit ist der
Verfasser nicht gegangen; er ist bei dor politischen Geschichte
stehen geblieben, und hat in ihr die Epoche seines zweiten Ab-
schnittes gesucht.
Der Fund, den er auf diesem Pfade der Forschung und Prü-
fung gethan hat, ist ihm eigenthümlich und verdient Beachtung.
Er nennt das erste Capitel Kampf um Rom zwischen Coustantin
und Maxentius, was, da Constantin das Christenthum, Maxentius
das Heidenthum vertrat, im Resultate mit einem dem Entwick-
lungsgange des Christenthums entnommenen Moment zusammen-
fallt. In der That war der bezeichnete Kampf wichtig genug, um
damit eine Periode zu beginnen. Der Sieg Constantin's vor Rom,
über Maxentius davon getragen, war die erste grosse und noch
dazu politische Epoche des Christenthums, deun er bahnte an Stelle
der Göttervielheit im Pantheon der religiösen Einheit den Weg.
8. 601.
Ais dritten Abschnitt bezeichnet er die Tage des Untergangs
des Heidenthums, oder was gleichbedeutend damit ist, des endlich
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Reumont: Geschichte der Stadt Rom.
647
erfolgten Sieges des Christenthums (S. 708). In diesem Abschnitt
bezeichnen die , Julian'schen Bestrebungen Beides auf untrügliche
Weise; dieselben sind nichts weniger als eine Epoche gewesen.
Niemand wird gegen die Zweck m ässi gkeit , mit dem Regie-
rungsantritte des Honorius einen Abschnitt zu beginnen, Einwen-
dungen machen. Wir sind mit dem Verfasser einverstanden ,
wenn er seinen vierten Abschnitt hiemit beginnt. Dieser Abschnitt
ist der letzte dieses Buches und des vorliegenden Bandes.
Wir haben uns der allgemeinen Prüfung nicht entziehen kön-
nen, aber trotz des Interesses, welche die Anschauung eines Ver-
fassers von der Wichtigkeit eines Ereignisses im Vorzuge vor einem
anderen und die Betonung dieses oder jenes als Epoche erweckt,
uns so kurz als möglich hierüber fassen wollen, um nicht Raum
für besondere Bemerkungen zu verlieren.
Wir müssen, soll die Uebersicht nicht leiden, der Reihe fol-
gen, und wenden uns zuerst zur politischen Seite dieses Bandes.
Die vergleichende Prüfung soll sich nur auf wenige Punkte er-
strecken, woraus man dann auf den Standpunkt des Werkes und
seines Verfassers in ihm sohliessen möge!
Ihm ist Rom ursprünglich ein patricischer Staat. Von den
Stämmen Ramnes, Tities und Luceres hält er die beiden ersten für
gleich alt wie die Stadt; die Luceres, behauptet er auf Grund der
Verschiedenheit zwischen latinischem und etruskischem Wesen, kön-
nen nicht etruskischen Ursprungs gewesen sein; er ist geneigt,
darin Latiner, stammverwandte Bewohner Albalonga's zu sehen,
»welche der dritte König der Tradition nach Rom verpflanztem
Diese Tradition melde nämlich von der Einfügung der albanischen
Gesohlechter in den römischen Vollbürgerstand. Aus dem Umstand,
dass der dritte Stamm, wonngleich sonst mit den beiden anderen
gleichberechtigt, vom Königthum ausgeschlossen gewesen zu sein
scheint, und in sacraler Beziehung von jenen nicht ganz als voll
anerkannt wurde, folgert er vermutungsweise , dass die Luce-
res, ungeachtet der S t am m verwand t schaft , erst in
Folge einer Eroberung in den schon bestehenden ur-
sprünglichen Staat eingefügt wurden. S. 88.
Im ältesten römischen Staate gab es nur Gives (Patricier),
Clienten und Sclaven. In den Clienten sieht er spätere Ansiedier
verschiedener Herkunft. Unsere Frage gilt den Plebeiern. Wie
lässt er diese herein? — »Der patricische Staat, sagt er, wie er
sieb nach festbestimmten Principien consequent gegliedert darstellte,
hatte keinen Raum mehr für die Aufnahme neuer Elemente unter
gleichen Bedingungen. Während er durch seine fortschreitenden
Eroberungen solche Elemente local anzog, schloss er sich politisch
gegen dieselben ab. So bildeten die übergesiedelten
Einwohner latinischer Städte, wie Politorium, Ficana,
Tellenä u. s. w. deren Unterwerfung in die Zeit des vierten Königs
▼ersetzt wird, bei ihrer Uebersiedlung nach dem Aventin und dessen
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Reumont: Geschiohtc der St»dt Rom.
Umgebungen, einen wesentlich fremden Bestandteil untergeordneter
Gattung, sei es dass wir auf die Staats- oder auf die sacralrecht-
liche Stellung blicken. Innerhalb ihres eigenen Kreises ebenso frei
und rechtlich bestehend wie die VollbUrger, genossen die neuen An-
siedler letzteren gegenüber nur das Eigenthuras oder Erwerbungsrecht,
welches sie schon vor ihrer Unterwerfung gehabt hatten, nicht aber
ein Stimmrecht, noch das Eberecht, welches ihnen dann erst ein-
geräumt wurde, als sie schon die politischen Rechte erhalten hat-
ten.« Das ist die Ansicht des Verfassers von der Herkunft der
Plebeier. S. 42. Bis zur Umgestaltung der Verfassung durch Ser-
vius Tullius bildet ihm der ganze Stand den Vollbürgern gegen-
über eine ungegliederte Masse, die, im Privatbesitz einestheils ihrer
alten Feldmark, meist auf dem Lande lebt, aber auch in der Stadt
sich ankauft, wo seine Glieder auf dem aventinischen Hügel die
Neustadt gründeten.
Bekanntlich schlug der Unterschied der Stände, nachdem
Standesvorrechte bei den Patriciern nicht mehr existirten, allmäh-
lich in den der Optimaten und kleinen Leute um, worauf der Ver-
fasser S. 116 ff. zu reden kommt. Eine dritte Wandlung erlitt das
sociale Leben nach der Umwandlung der republikanischen Regie-
rungsform in die principale durch die Gliederung nach grossen
Familien, Ritterstand und Volk. Von dieser handelt der Verfasser
im ersten Abschnitt des zweiten Buches. S. 221 ff.
Bei jeder neuen Arbeit Uber die römische Geschichte, die zu-
gleich die Gründung des Principats erörtert, sind wir berechtigt
die Frage nach der Stellung uns beantworten zu lassen, welche
der Verfasser zu Cäsar einnimmt, ob er auf der Seite seiner Geg-
ner oder seiner Bewunderer steht? Wir müssen gestehen, es ist
nichts zu ermitteln, was bei ihm auf diese oder jene Seite deuten
müsste. Nur scheint er in Cäsar schon früh »die Hoffnung künf-
tiger Machtstellung« Wurzeln fassen zu lassen, vgl. S. 147, und
im Verlaufe des Bürgerkriegs seine politisch gebotene Milde gegen
den Ciceronischen Vorwurf der Hinterlist decken zu müssen, vgl.
S. 156. Cäsarn besser darzustellen, als die bisherigen Gegner des
Genannten, gelingt ihm dadurch, dass er andeutet, Pompeius würde
bei mehr Energie eben dasselbe gethan, z. B. sich des Schatzes be-
mächtigt haben. Ihn weniger zu preisen, als seine Bewunderer, ist
er in dem Falle, weil er den Blick auf die ganzo Entwicklung vor
Cäsar hat. Wichtig ist bei ihm die Unterscheidung zwischen einem
politischen Princip, und der persönlichen Macht. Gerade die letztere
ist der Schlüssel zu Cäsar's energischem Auftreten, wie er nach-
mals die Politik Octavian's erklären wird. Durch die Aufmerk-
samkeit auf diesen Unterschied und auf das was bei Cäsar ent-
schied, hat er sich vor den Parteiextreraen bewahrt, und seiner
Darstellung jene Unparteilichkeit gegeben, die sich in seinem Falle
am besten schickte.
Wir haben mit Befriedigung ferner wahrgenommen, dass er
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Reumont: Geschichte der Stadt Rom. 649
den politischen Charakter des Augustus mehr aus seiner negativen
Naturanlage (vgl. S. 232), als aus einem planvollen Hintergedanken
erklärt. Er zieht Umstände, Weisen und Helfer heran, um die
Umwandlang der Verfassung zu erklären, die Augustus bewirkte,
soweit nämlich schon er sie bewirkte, und widmet auf dieser Grund-
lage der Regierung und Verwaltung des Reiches ein gewandt ge-
schriebenes Capitel. Eine Probe kritischer Betrachtung ist das
Capitel »Rom in der Augusteischen Zeit«, worin er der Schärfe,
mit der man sein letztes Wort gegen ihn angewendet bat, die
Spitze abzubrechen*), und der Vorstellung von den Bauunterneh-
mungen des Augustus die richtige Ausdehnung zu geben sucht.
»Im Regieren, wie im Bauen, sagt er, war er ein grosser Künst-
ler. In dem Staate und unter dem Volke, welche das Herrschen
instinctmässig hassten, hat er den Gegensatz, der sich in dem „Le
roi rfyne et ne gouveme pas ausspricht, auf den Kopf gestellt.«
S. 243.
Wir können nicht umhin, noch von seinem Urtheile über Ti-
berius Kenntniss zu geben, bevor wir uns zu dem zweiten Ge-
sichtspunkte unserer speciellen Prüfung wenden. Die Controverse
über seinen Charakter ist ihm bekannt (vgl. S. 304) ; sie schlägt
sogar in der Darstellung durch, S. 291. Sie ist eines Auszugs zu
Gunsten seiner Ansicht nicht fabig, und muss man dieses Capitel
über den Staat des Tiberius selbst lesen, um seine Ansicht kennen
zu lernen. Er behauptet, die schlimmen Seiten des Charakters sei-
nes Geschlechtes haben erst in spätem Jahren die Oberhand ge-
wonnen, als eine Menge unseliger Einflüsse im Bunde mit ungün-
stigen Umständen sein besseres Gefühl verkehrten und jene trau-
rige Zeit heraufbeschworen, an und in welcher er unterging, er-
schrecken d genug selbst ohne willkürliche Uebertreibungen. Die
Belege dieser Behauptung enthalten die Seiten 298 ff. Im Ganzen
kommt er auf die Darstellung von dem dämonischen Greise hin-
aus, zu dem ein anfangs tüchtiger Mann mit den Jahren ausge-
artet war.
In dem Capitel über Diocletian und die Reicbstheilung hat
er die Motive zur letzteren richtig in der politischen Einsicht des
Ersteren begründet gefunden. S. 535. »Der Umstand, sagt er, dass
Diocletian durch sein bisheriges Leben mehr dem Osten angehörte
und im Osten zur höchsten Gewalt gelangt war, dass die Verhält-
nisse dieses Theiles des Reiches rasche Abhülfe erforderten, dass
zur selben Zeit die Zustände Galliens und dadurch bedingt jene
Britanniens wieder höchst bedrohlich wurden, mag den Ausschlag
gegeben haben — « nämlich zur Annahme eines Mitregenten!
»Diocletian«, fUhrt er fort, »welcher in der colossalen Ausdehnung
des Staates den Grund einer Schwäche, der Macht der Heere gegen-
*) VgL Festschrift zur XXIV. Versammlung der Philologen etc. Leipz.
1866. 8. 82.
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650
Reumont: Geschichte der SUdt Rom.
Uber die Macht des einzelnen Herrsebers als unzulänglich erkannte,
entschloss sich zu einer vollständigen Theilung der Reichsgewalt,
erst unter beschränkten, dann mit gleichen Befugnissen eines Mit-
regenten, und fortschreitend mit neuer Theilung und regelmässiger
allmählich vervollständigter Gliederung der Autorität der Personen
und des Zusammenhangs der Provinzen.« Soweit der Verfasser.
Bekanntlich gilt diese diocletianische Eintheilung als Vorläufer und
Grandlage der constantinischen.*) Diese Initiative von Oben war
durch das Bedtirfniss der Uebersicht geboten; hundert und mehr
Jahr später vollendete eine Initiative von Unten , durch die Ab-
neigung gegen die Angehörigkeit eingegeben, der Abfall und Aus-
einandcrfall des Westens den Untergang des römischen Universal-
reiches Aus der Zeit, in welcher das Christenthum den vollstän-
digen Sieg in Rom errang, restirt für unseren Plan hier noch ein
Problem, das Geschlecht der Anicier. »Man kann, äussert der Ver-
fasser, dieser Zeit nicht gedenken, ohne lebhaft an das Geschlecht
erinnert zu werden, welches den Ruhm erlangte, dem christlichen
Patriciat der Stadt den höchsten Glanz verliehen zu haben; ein
Ruhm der tönend durch das ganze Mittelalter und die späteren
Jahrhunderte klang, so dass die Abstammung von diesem
Geschlecht, oft beansprucht und niemals erwiesen, als die
gWSsste Auszeichnung berühmter Familien erschien.« S. 687. Die
Anmerkung des Verfassers zu dieser Seite (vgl. S. 812) beklagt,
dass die Geschichte der Anicier uoch sehr im Argen liege. Die
Darstellung S. 688 ff. hat nur das Beglaubigte. Der Verfasser ver-
sucht eine Genealogie der Anicier vom Jahr 834—406 im Zusam-
menhange der gedachten Anmerkung. Dieses Geschlecht ist für
die gedachto Zeit dasselbe, was ehemals das Cornelische bedeu-
tet hatte.
Wir müssen nun dorn zweiten Gesichtspunkte unsere Aufmerk-
samkeit zuwenden, dem baugeschichtlichen nämlich. Der ganze
Band ist von einschlägigen Bemerkungen durchzogen, die von gründ-
lichen Studien des Verfassers im Ruinen -Inventar der Weltstadt
Zeugniss ablegen. In dieser Frage hat v. Reumonts Werk Aehn-
lichkeit mit dem Ampere'schen**) , und wird der zweite Band,
wenn ein Schluss erlaubt ist, wahrscheinlich dem Werke von Gre-
gorovius ähneln. Die bedeutenderen erläuternden Schriften aus der
archäologischen Literatur, sowohl die das ältere Rom, wie die Zeit
der Entstehung der Basiliken betreffenden, sind in den Anmerkun-
gen namhaft gemacht. Die archäologischen Details, welche, wie
gesagt, durch die ganze Darstellung zerstreut sind, geben der letzte-
•) Vgl. den Anhang zu Th. Mommsen's Verzcichniss der römischen
Provinzen, aufgesetzt um 297.
•*) S. unsere Anzeige in den Heidelb. Jahrbb. 1867. Nr. 37 ff. DieAehn-
lichkeit zwischen Beiden erstreckt sich bis auf den M. Testaccio (v. Reumont,
Anm. zu S. 731.)
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Reumont: Geschichte der Stadt Rom,
651
ren eine drastische Wirkung, die Ereignisse heben sich unier dem
Eindruck dieser Hälfen verständlicher ab, man ist der Lektüre
sicherer.
In Bezug auf das Christenthum und dessen Erfolg für die
römische Welt, haben wir bei dem Verf. eine Eigenschaft wahr-
genommen, die ihre nachhaltige Wirkung nicht verlieren wird, die
Eigenschaft des aobtsamen Betrachters und Beurtheilers dieser
grandiosen Stiftung, welche nicht allein der neuerdings eingerisse-
nen Feindseligkeit gegen die Entwicklung der religiösen Verhält-
nisse nicht haidigt, sondern ihr sogar, obwohl nicht polemisch,
aber durch die That entgegentritt. Diese Eigenschaft, welche einen
Charakterzug des v. Reumont'schen Werkes bildet, wird das Gute
haben, ^gewisse gebildete, durch die literarischen Ereignisse der letzten
Jahre erschütterte Kreise wieder mit einem Verstandnisse für die
welthistorische Bedeutung des Sieges des Christenthums zu be-
freunden.
Die Anmerkungen enthalten die wichtigste Literatur, Quellen
und Monographien, die letzten aus romanischen und germanischen
Federn , und verhehlen hin und wieder nicht , dass der Verfasser
die Kritik einzelner Fragen auch in ihren Details studirt hat.
Mit besonderer Freude begrüssen wir den inschriftlichen An-
hang, S. 819 ff. , als einen Beleg für die Art, wie Inschriften in
solchen Fällen am com potentesten einem Geschichtsbuche dienen
können. Nahezu siebenzig finden sich hier abgedruckt, die schon
für sich eine einladende Lektüre sind, ganz abgesehen davon, dass
sie als Pikees justificatives, um französisch zu reden, der Darstel-
lung untergeordnet sind. Mit besonderem Interesse wird man die
Inschriften von den Triumphbögen, Brücken, Fora, Säulen und
Aquaeducten lesen.
Die chronologische Uebersicht ist zu vollständig ; man glaubt
ihr die Absicht abmerken zu müssen, ihre Details sollen die präg-
uante Darstellung der Bücher ergänzen.
Die Stammtafeln sind eine unentbehrliche Beigabe.
Zwei Karten machen den Schluss, Rom in der Zeit der Könige
mit den Regionen des Servius Tullius, und vergleichender Plan des
alten und neuen Rom, auf dem u. A. mit grosser Dotailrücksicht
diu Ruinenstätten auf dem Palatin verzeichnet sind, die Domus
Augusti unterm rechten Winkel mit der Langseite des Circus
Maximus, westlich von der Domus Augusti die D. Flaviana, west-
lich davon die D. Tiberiana, nördlich von letzterer die D. Cali-
gulae (die Nordwestspitze des Berges), auf der entgegengesetzten
Seite (die Nordostspitze) die D. Neroniana. Die Südostspitzo bil-
dete bekanntlich das Septizonium.
Hiermit beschliessen wir zwar unsere Prüfung des von Reu-
mont'schen Bandes, aber nicht unseren Artikel.
Schon früher haben wir gelegentlich unsere Freude darüber
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652
Reumont: Geschichte der Stadt Rom.
ausgedrückt*), dass die historische Tradition Griechenlands ihre
bewährten Erforscher und Darsteller gefunden hat. Wir meinten
damit G. Grote und Dunker, Droysen, Hertzberg, G. Finlay (von
Leo IV. bis zum Untergang des byzantinischen Reiches), Tennent.
Aus Anlass des v. Reumont'schcn sei es uns vergönnt, uns in
ähnlicher Weise auszusprechen. Hier gebührt u. A. Schwegler'n
der Vortritt, dem sich rühmlich Theodor Mommsen und Peter an-
schliessen. Der (auch v. Reumont bekannte) Engländer Long be-
handelt gediegen The Decline of the Roman Republic (bis zum
Tode des Sertorins) **). Dann folgt Merivale mit derHistory ofthe
Romans under the Empire.***) Schon früh hatten Montesquieu,
sowie Gibbon f) sich des Unterganges des römischen Reiches an-
genommen. Pendant zu allen Genannten , weil er den Faden bis
zu Ende fortspinnt, verdient er auch je zu einer Periode als ge-
wandter Vorarbeiter der disponiblen Materialien anerkannt zu wer-
den. Es mus8 am Ende eines den Musen und der Wissenschaft
gewidmeten Lebens ein lohnendes Bewusstsein sein, auf ein Werk
von solchem Inhalt und solcher Arbeit zurückblicken zu können.
Dass es dem Verfasser vergönnt sein möge, dieses Werk in seinen
folgenden Bänden zu Ende zu bringen, ist der feurige Wunsch des
Unterzeichneten !
Durch die würdige Ausstattung des ersten Bandes hat sich die
geheime Ober-Hofbuchdruckerei einen begründeten Anspruch auf
Anerkennung erworben.
Eine wichtige Frage haben wir uns bis zum Schlnss aufsparen
wollen, eine Frage allgemeiner Natur, nämlich die Frage, ob es
nicht einen Gesichtspunkt giebt, unter dem der Bearbeitung der
römischen Geschichte noch eine sehr interessante Seite abzugewin-
nen wäre. Es giebt einen solchen Gesichtspunkt, zu dessen Com-
petenz sogar die Geschichte der Stadt Athen gehört. Man achte
einmal darauf, dass die Centren beider Städte im Laufe ihrer Ge-
schichte verlassen wurden, und forsche der Ursache davon nach!
Mau wird dann finden, dass das allmähliche Verlassen des topo-
graphischen Mittelpunktes, wie er für Rom im Forum, ftir Athen
in der Agora vorliegt, der durch den in dem öffentlichen Leben
ausgeprägten Nationalgeist dieser Völker bedingt war, sich auf die
allmähliche Abreibung dieses Geistes in der historischen Bewegung
zurückführen lässt. Sie liisst sich in der Weise darauf zurückführen,
dass sogar bezüglich einzelner Perioden eine Gongruenz zwischen
dem Aufgeben des Centrums und dem Entnationalisirungsprocess
nachweisbar ist.
*) Gelegentlich Hertzberg's Geschichte Griechenland (vgL Heidelberger
Jahrb 1867. Nr. 14 ff.).
**) London 1864.
***) London 1863.
t) Consideratlons pur la grandetir est la decadence des Romains Paris
1734. — Decline and Fall of the Roman Empire 1780.
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Röder: Grundlehren von Verbrechen und Strafe.
Wir können hier nicht näher auf die Ausbeutung dieses Ge-
sichtspunktes eingehen, möchten aber den nächsten Bearbeiter der
römischen Geschichte auf seine fruchtbringende Tragweite hinwei-
sen, und ihn denselben verwertheu sehen.
Wir sagen nicht, dass das Geschäft der kritischen Sichtung
des Materials auf diesem (Tebiete schon seinem Kechnungsabschluss
nahe ist, glauben aber sagon zu können, dass die wichtigste aller
Bearbeitungen für die zweite Hälfte der römischen Geschichte, die
auf dem Boden jener Nachforschungen liegt, noch auf ihren Be-
arbeiter wartet.
Heidelberg, im September II. Doergens.
K. D. A. Röder, die herr sehenden Grundlethren von Verbrechen
und Strafe in ihren inneren Widersprüchen. Eine kritische
Vorarbeit tum Neubau des Strafrechts. Wiesbaden. J. Niedmr's
Verlagshandlung. 1867. X u. I3d S. gr. 8.
Diese Schrift enthält die Ergebnisse eines vieljährigen Nach-
denkens des Verfassers über die bedeutenderen jener zahllosen wis-
senschaftlichen Versuche, die seit etwa achtzig Jahren gemacht
worden sind, um über den Rechtsgrund und Zweck der Strafe,
mithin auch über das Wesen des Verbrechens, als des Strafwürdi-
gen, ins Klare zu kommen. Der Verfasser hat das Seinige gethan,
um sich genaue Rechenschaft zu geben sowohl über das Korn von
Wahrheit, das sich in jedem jener Versuche findet, als über die
daran geknüpften und zum Theil dadurch beschönigten, zahlreichen
und mehr oder minder verderblich gewordenen, Irrthümer und Fehl-
richtungen; er glaubt nachgewiesen zu haben, dass keine der bis
heute vorherrschenden sog. Straftheorieen frei ist von vielen unbe-
fugten Voraussetzungen, inneren Widersprüchen, Sprüngen und Folge-
widrigkeiten, zum Theil der gröbsten Art, dass sie also sammt und
sonders, auch wenn mau sie lediglich im Licht der Denkgesetze
betrachtet, durchaus mangelhaft und wissenschaftlich unhaltbar sind ;
ebenso auch die auf einer so ungenügenden Unterlage aufgebauten
heutigen Strafgesetzgebungen. Keine einzige der letzteren war eben-
darum im Stande sich so streng und abschliessend an irgend eine
der bisherigen Straftheorieen zu halten, um auch nur entfernt als
eine folgerechte Durchführung derselben betrachtet werden zu kön-
nen, wogegen sich überdiess die meisten Gesetzgebungen sogar aus-
drücklich verwahrt haben. Von selbst ergibt sich ferner hieraus
die Forderung, dass jene inuerlich haltlosen und Widerspruch vollen
Straftheorieen und Strafgesetzgebungen je eher je lieber aufzugeben
seien, um so mehr als sie obendrein, wie der Verf. es in andern
Schriften näher ausgeführt hat, mit den wahren Grundgedanken
des Rechts und der Rechtsordnung des Staats nicht minder un-
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File ssl In und die Trennungshaft.
vereinbar sind als mit der gesammten heutigen Bildung und Mensch-
lichkeit, die längst über jene überlebten Vorstellungen binausge-
sohritten ist, kurz mit allen Grundlagen unsers gesellschaftlichen
Lebens. Wie immer beim Kampf eingerosteter veralteter Ansichten
mit dem Neuen und Besseren , wird freilich auch die gründliche
Lösung dieser Frage, wie so vieler andern brennenden gesellschaft-
lichen Fragen, noch manches Jahrzehnt auf sich warten lassen.
Für eine solche günstige Lösung thut aber vor Allem Noth die
wissenschaftliche Erkenntniss des faulen Flecks. Diese nach Kräf-
ten zu fördern, war der Hauptzweck der Schrift, in welcher auf
wenigen Bogen die Frucht mühevoller Untersuchungen eines ganzen
Lebens in strengem Zusammenhang mitgetheilt ist. Es galt, die
Grossmeister der bisherigen strafrechtlichen Weisheit endlich zu
veranlassen, auf die bestimmte, über Sein oder Nichtsein des
ancien rögime pönal entscheidende, Frage eine bestimmte Ant-
wort zu geben, die Gründe, womit dessen Verwerflichkeit in der
vorliegenden Schrift dargethan ist, entweder zu widerlegen oder
sie, und ebendamit die Hinfälligkeit der alten Strafgebäude, anzu-
erkennen. Je unbefriedigender aber jede bloss verneinende Kritik ist,
um so nöthiger schien es dem Verfasser, in den letzten Paragraphen
nochmals gedrängt alle die Wahrheiten zusammenzufassen, die sich
aus der Prüfung aller einzelen Theorieen mehr oder minder licht-
voll ergaben und die, in ihrer gegenseitigen Ergänzung, gleichsam
das unwidersprechliche fruchtbare Endergebniss der ganzen Unter-
suchung bilden und die nothwendige Grundlage für jeden Neubau
des Strafrechts abgeben müssen, wenn anders or dauerhaft sein
und den höchsten Forderungen des Rechts wenigstens soweit sich
nähern soll, als der dermalige Zustand unsrer gesammten Bildung
und Sitte, sowie unsrer Rechts- und Staatskunst insbesondere, ea
möglich macht und fordert. Eine spanische und englische Ueber-
setzung des Buchs sind dem Verfasser in Aussicht gestellt.
Direktor Julius Füesslin und die Trennungshaß in Baden
Stuttgart, Buchdruckerei von J. Kreuzer. (Herder* seht Ver-
lagshandlung su Freiburg i. B.?) 1867. IV u. 32 S. gr. 8.
In dieser kleinen Schrift, die den bereicherten Abdruck eines
Aufsatzes aus don »historisch -politischen Blättern« enthält, be-
grüssen wir mit aufrichtiger Freude vor Allem ein wohlverdientes
Ehrendenkmal für einen zu früh verstorbenen Freund, zugleich eine
bündige Verteidigung Desselben — und mit ihm aller Derer, die
ihm in seinen unermüdlichen menschenfreundlichen Bestrebungen
im Dienst der Wahrheit treulich beigestanden haben — gegen
zahlreiche gehässigen Verunglimpfungen. Als Hauptmittel für diesen
Zweck dient dem uugenannten, ebenso sachkundigen als geistreichen,
\
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,Ftt eesl in and die Trennungehaft.
655
Verfasser der denkwürdige, streng aktenmässige, Nachweis des eng-
herzigen bUreaukratischen Geistes, in welchem seit Jagemann 's
Tode die Oberleitung des badischen GefUngnisswesens geschah. Ins-
besondere wurden* dabei die guten Erfolge der Trennungshaft nach
Möglichkeit verkümmert und, soweit Diess nicht gelang, wenigstens
verleugnet. Die Nachwirkungen dieses bedauerlichen Geistes sind
leider noch immer vorbanden und geben sioh deutlich genug kund
in der Redaktion der > Blätter für Gefängnisskunde« und den Be-
schlüssen des jüngsten Gefängnisskongresses zu Dresden, wodurch
die Trennungshaft ihrem Wesen nach völlig vereitelt wird. Auch
der Schreiber dieser Zeilen darf sich rühmen zu deu Freunden und
Mitkämpfern Füesslin's gehört und ein gutes Theil von Zorn
von Seiten der Gegner des wackern Mannes und der unverpfusch-
ten Einzelhaft auf sich geladen zn haben. Die gute Sache dieser
»Trennungs- oder Besserungshaft« (wie der Verf. sie abschliessend
genannt wissen möchte) wird jedenfalls durch die von dem Verf.
beigebrachten Thatsachen zu Gunsten Füesslin's noch mehr ge-
winnen, als sie kürzlich durch den Aufsatz des Niederländers Nieu-
wenhuis im »Gerichtsaal« gewonnen hat, wodurch die mangelnde
Sachkunde ihrer heftigsten Gegner, der eifrigen Lobhudler des sog.
irländischen Gefangnisssysteins , in ein so treffendes Licht gestellt
worden sind, dass deren Nachtreter doch allmählich einiges Scham-
gefühl ergreifen wird. Ausser Stande, hier aus dem reichen In-
halt der Schrift auch nur das Erheblichste mitzutheilen, beschrän-
ken wir uns auf Folgeudes, um den erwähnten, in der That fast
unglaublich engherzigen Geist zu veranschaulichen, der im Gefäng-
nisswesen des »Musterstaats« Baden waltete. Man wollte alles
Ernstes, um zu sparen, im Sommer den weiblichen Strafgefangenen
die Unterröcke entziehen! Man geizte mit der Kost, namentlich
mit den Brodzulagen, ebenso hinsichtlich des Verdienstantheils der
Sträflinge. Der »Ernst der Strafe« sollte gehörig empfunden und,
selbst auf Kosten der höheren Zwecke, der grösstmögliche Ertrag
aus der Sträflingsarbeit herausgeschlagen werden, deren fabrik-
mässiger Betrieb sich durch immer weiter getriebene Theilung der
Arbeit steigerte. Nächst der Dunkelhaft und Hungerkost, die ohne-
diess schon als gesetzliche Strafschärfungen in verderblicher Fülle
zuerkannt waren, wurde daher als Ordnungsstrafe des Hauses auch
die schmähliche Folter des sog. Strafstuhls noch zeitweilig gehand-
habt. Man entzog den Sträflingen nicht etwa bloss den Schnupf-
taback, sondern beschränkte auch die Besuche, auf die sie An-
spruch hatten, und schloss sie, zu Gunsten des Arbeitertrags, den
man auch noch durch Einführung raehrer (z. B. Näh-)Maschinen
zu steigern suchte, immer mehr vom Besuch der GefUngnissschule
aus. Diese, deren Leistungen geradezu staunenswerth waren, suchte
man allmählich auf den Richtstand einer Dorfschule herabzudrücken.
Zu den Prüfungen ferner in unbeschränkter Zahl Fremde zuzulas-
seu, fand man »unverträglich mit dem System der Einzelhaft« 1 —
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666
Füeeslin und die Trennungshaft.
Man setzte überhaupt der Anstalt immer mehr >die Tarnkappe
btireaukratischer Geheim thuerei« auf, verwies dem Vorstand die
Mittheilung der Jahresberichte — sogar an Mittermaier, verbot
den Besuch der Anstalt ohne höhere Erlaubniss, den Besuch der
Zellen ohne Begleitung; man verleugnete halbamtlich die Vorzüge
der Einzelhaft, sogar in der Allgemeinen Zeitung (die überhaupt
der Zellenhaft soviel möglich entgegenwirkte, was, beihin gesagt,
seinen Hauptgrund hatte in der Befreundung ihres verstorbenen
Hauptredakteurs mit einem der heftigsten, zudem durch Eigennutz
mitbestimmten, Gegner derselben). Man begünstigte die Unbot-
mässigkeit der übrigen Beamten gegen den Vorstand planmässig,
nicht minder wie das gegenseitige Denunziren Derselben mittelst
der vorgeschriebenen einzusendenden Tagbucheinträge, gab dem
Vorstand auf seine Beschwerden über dienstwidriges Verhalten sei-
ner Mitbeamten und unbefugte Einmischungen Derselben , die man
offen begünstigte, gelegentlich nicht einmal Antwort, Hess seine
Anträge grossentheils unberücksichtigt, »ahndete seine Verranntheit
in Recht, Gesetz und Menschenwohl auch finanziell empfiudlich«,
ärgerte ihn geflissentlich und verleidete ihm überhaupt seine Stel-
lung dermassen, dass er sie endlich aufgab, so aber seine seltne
Kraft dem badischen Gefängnissdienst verloren ging! Diess sind
die Umrisse des traurigen Bildes, das uns der Verfasser mit ge-
nauester Kennt niss und meisterhaftem Geschick bis ins Feinste aus-
malt, zugleich mit einer Wärme dos Kolorits, wie sie nur durch
die treueste Befreundung mit dem heimgegangenen Märtyrer, durch
die regste Theilnahme an der Einzelhaft und überhaupt an dem
wahren Besten der Gefangenen, endlich durch die sittliche Ent-
rüstung über das ganze geschilderte Verfahren, sich erklären lässt.
Die Schrift ist ohne Frage ein Beitrag von bleibendem Werth zur
Geschichte der Entwicklung des Gefangnisswesens.
K. Röder.
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Nr. 42. * HEIDELBERGER 1867.
V
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
■^wwjjl^ i ii i L.j.l.ii!m.,^iu ^jl-jowm
Quaesiionts Valerianae seripnt 0 ustavus Meyncke. Bonnae apud
Eduardum Weberum MDCCCLV. 8vo. p. 56.
Es ist noch nicht lange her, dass man eingesehen hat, wie
bei der Herstellung eines alten Schriftstellers zu verfahren sei ; vor-
her hatte Willkür und Urteilslosigkeit hierin geherrscht zum gros-
sen Nachtheile des gelehrten Publikums, welches so nicht im Stande
war, die wirkliche Beschaffenheit der Ueborlieferung zu erfahren.
Ob man die eigenen Worte des Classikers oder die ihm von einem
modernen Leser geliehenen vor sich hatte; ob jene aus einer neuen
uud interpolirten, oder aus einer alten und ungefälschten Hand-
schrift herrührten, konnte man nie wissen. Jetzt ist durch viele
und gründliche Ausgaben für die wichtigsten Autoren Sicherheit
gewonnen; ihnen schliesst sich die neueste des Valerius Flaccus
von G. Thilo würdig an; wir wollen wünschen, dass der in man-
chem Betracht lesenswerthe Epiker, welcher sich an poetischer Be-
gabung und Kunst über seinen griechischen Vorgänger Apollonius
Rbodius bedeutend erhebt, dadurch in weiterem Kreise als bisher
bekannt werde, da ein eingehendes Studium desselben so sehr er-
leichtert ist. Freilich hat Thilo's sorgfältige Bearbeitung auch die
starken Verderbnisse, in welchen die Argonautica auf uns gekom-
men sind, aufgedeckt und die Nothwendigkeit der Conjektur allent-
halben Raum zu geben dargethan. Er betrachtet den Vaticanus 3277
als die einzige zuverlässige Tradition; die in jüngern codd. vor-
kommenden richtigen Varianten geben ihnen keinen diplomatischen
Worth, da sie seiner Ansicht zufolge durchgängig Emendationen
der Italienischen Gelehrten sind, die im 15. Jahrhundert dem kürz-
lich von Poggio (1416) entdeckten Werke grosses Interesse wid-
meten und eifrigst bemüht waren es lesbarer zu machen. Aus sol-
chen Handschriften ging der durchcorrigirte Text in die editiones
principes (Bononiensis, Aldina) über, und lag den spätem, selbst
von N. Heinsius und Burmann ebenfalls zu Grunde, erst Th. basirt
seine Diorthose auf jene* ehrwürdigen schon im 9. saec. geschrie-
benen cod. , der demnach eine bedeutende diplomatische Sicherheit
gewährt ; da diese aber mehr negativer Art ist, und sonst der cod.
den Kritiker sehr häufig im Stich lässt, entsteht die Frage, ob
wirklich keine andern Htilfsmittel derselben Gattung existiren; wir
dürfen sie bejahen, wenn anders Meyncke hierüber zu haltbaren
Resultaten gelangt ist.
Als wesentliches Verdionst der Abhandlung betrachten wir
nemlich die Beurtheilung des von L. Carrio 1565 benutzten, bald
LEX. Jahrg. 9. Heft. 42
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Mcyncke: Qufteet. ValerUroae.
darauf aber verschwundenen cod. 0, von welchem Thilo annimmt,
daas er nicht, wie Carrio versicherte, sehr alt gewesen, sondern
im fünfzehnten Jahrhundert aus dem Vat. abgeschrieben, dann aber
durch eine Menge schlechter und guter Gonjecturen der Gelehrten
jener Zeit umgestaltet worden sei. Nun will M. keineswegs leugnen,
dass stellenweise C. interpolirt war, aber bemerkt dasselbe, wenn
auch in geringerem Maasse, im Vat. Wo das Original unleserlich
oder unverständlich war, versuchte man sich wohl oder übel mit
Conjekturen; man schrieb wol auch zu vielen Versen Parallel-
stellen bei, oder glossirte einzelne Ausdrücke. Die aus einer sol-
chen Vorlage gemachten Copieen konnten entweder den ursprüng-
lichen, wenn auch lückenhaften oder sinnlosen Text wiederholen,
oder die versuchte Ergänzung, wie die vermeinte, vielleicht auch
wirklich gelungene Herstellung annehmen; sie konnten dem Citat
den Vorzug einräumen, und durch die Glosse das echte Wort ver-
drängen. Dieses Verfahren erklärt zwar die zahlreichen Abweichun-
gen in den Handschriften, welche nur aus einer Quelle geflossen
sind; in vorliegendem Falle erhebt sich aber doch ein Zweifel
daran, ob der Codex des Carrio (C), soweit wir ihn aus den An-
gaben dieses Herausgebers kennen, wirklich als bloa stark inter-
polirte Abschrift des Vat. zu betrachten sei, wie Thilo behauptet,
indem ihm alle die zahlreichen Lesarten, welche er selbst aus C
aufzunehmen nicht umhin konnte, nur wie Conjecturen erscheinen,
welche zu machen keine Kunst war — oder bei genauer und vor-
urteilsloser Prüfung ein anderes Verhältniss der beiden wichtigten
Fundamente der Texteskritik sich ergebe. Nun kommen unter den
Varianten des C eine beträchtliche Anzahl vor, die viel mehr das
Aussehen einer tiberlieferten Lesart als einer gelehrten Vermuthung
haben; wie I, 831 pontum polumque, wo mancherlei gerathen
wurde, ehe man das richtige erfuhr ; Vat. hat da eine verunglückte
Interpolation potumque Cretamque; wie II, 600 celeres hic prima
piacula ferte manu, weniger bedeutet in Vat.: hic prima pia sol-
lemnia Phrixo ferte manu ; in III, 9 ist die Ergänzung des unvoll-
ständigen Verses cui tradit am i eis zwar nichts weniger als sinn-
gemäss, eben darum auch keine Interpolation, sondern Corruptcl,
welcher M. geschickt abhift mit Cyzicus. abscessum nunc tardat
aniicis; ferner ist anzuführen V, 134 quam vexerit amnis in aequor,
schwerlich durch Emendation entstanden aus quam sanguine ve-
xerit amnis; VI, 165 aut is apud fluvios volucrum quatit aethera
clamor für aut is a. f. v. clamor aethera quantus. Es ist ein sehr
ansprechender Gedanke M/s, VI, 163 — 165 vor 166—170 zustel-
len, indem er mit Benützung der angeführten Lesung des C und
ausserdem noch concentus agit mit demselben schreibend, einen
bei weitem vorzüglichem Zusammenhang gewinnt ; denn jetzt lesen
wir, wie das Geschnatter der Flussvögel nicht so laut als der
Schall der Zinken zum Himmel dringt, was auch nach dem Vor-
gang zweier andern Vergleichungen , die dieser letzten etwas von
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Meyncke: Qu*est. Valeriana.
ihrem Gewichte abzugeben bestimmt sein könnten, schlechten Ein-
druck macht. Ferner erwühnen wir VI, 651 flcxit in admoti
capat in fatumque Monesi, gewiss dem flexit ad ignotum caput
infletumque M. in Vat. sehr vorzuziehen, wenn man nur adtoniti
mit M. liest. Ein Uberaus geschickter coniector war erforderlich,
um aus dem Texte des Vat. VII, 873 dat dextram blandique pa-
vens vocem Venus quam adloquiis — trahit per moenia das rich-
tige dat dextram vocemquo Venus blandisque paventem adloquiis
— trahit p. m. herauszubringen ; der Kritiker der Aldina , mit
welchem Thilo die Bedacteure des 0 auf gleiche Linie stellen möchte,
hat mit seinem dat dextramqne blandeque pavens Venus et qua
nur einen grossen Abstand von jenem verrathen. In VII, 533 würde
ebenfalls nicht leicht jemand auf heu tantis iterum carpende peri-
clis verfallen sein, wonn er h. t. i. mihi care periclis im Manuscript
fand.
Diese und manche andere Beispiele machen die Ableitung des
C ans V unwahrscheinlich und führen eher darauf, die Existenz
eines andern Originals für C zu vermuthen, welches theilweise
einen bessern Text als V hatte, aber auch mitunter noch mehr
entstellt war und in diesem Fall viele unglückliche Heilungsver-
suche erfuhr, die in die Handschrift Carrions übertragen wurden.
Angelus Pontianus und Baptista Pius benutzten einen Cod.
oder violleicht auch zwei, welche nicht mit V stimmten, vgl. VII,
201. Ein Bobiensis wird von Muratori Ant. It. III, 818 verzeich-
net. Einer von diesen mag dem C zu Grunde gelegen haben.
Interpolationen hat nun Thilo in grosser Anzahl aus diesem an-
geführt, die offenbar keine blos handschriftliche Lesarten sein können,
sondern eher das ungeschickte Bemühen verrathen, in verblichene und
unleserlich gewordene Schriftzüge einen Sinn zu bringen, wie II,
283 nou patriis bustis accendere saltus, HI, 359 agros ad patrios,
VI, 208 gravitor iacit; bisweilen wirkte auch eine Eeminiscenz
Übel ein, wie V, 25 supremo in funere aus V, 226 und VII, 160
me nunc furiata reliquit aus VIII, 443. Hier darf man nur nicht
übersehen, dass auch im V. solche Experimente keineswegs fehlen,
vgl. I, 831. An vielen Stellen bietet aber C auch Ergänzungen,
wo V. defect ist, wie I, 132 von illaV, 197 placidus, 287 ingens
VI, 300 quem quaerit, 666 sensere, VH, 211 levis, welche nebst
zahlreichen andern sich so ungezwungen dem Gang der Bede an-
sdiliessen, dass man nicht leicht an eine künstliche Restitution
denken wird; diese dürften nun ebenso, wie das oben bemerkte
erweisen, dass wir in C kein blosses Magazin von Conjecturen der
verschiedensten Qualität zu sehen haben, sondern eine auf guter
Tradition beruhende, wenn auch stark alterirte Quelle, aus welcher
wenigstens mittelbar die ältesten Ausgaben echtes und unechtes pro*
miscue schöpften, vgl. Thilo Prolegg. p. 83 sq.
So viel ist gewiss, dass bei der grossen Verderbtheit des
Textes der Divination noch ein weiter Spielraum offen steht;
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C60
Meyncke: Quacst. Valeriana^.
durch Thilo's Vorgang veranlasst hat Ph. Wagner (N. J. f. Ph.
89, 382 sqq. sehr dankenswert he Beiträge geliefert; auch schon,
ehe Thilo's Ausgabe erschien, im Philol. XX, 618 sqq. mit Bezug
auf Eyssenhardt's emendationes Valerianae, Rh. M. XVII, 378 sqq.
Ihm ist jetzt Meyncke mit Glück gefolgt.
Unter den Vorschlugen M.'s werden diejenigen am ersten Ein-
gang selbst bei scrupulösen Richtern finden, welche nur geringe
Aenderungen verlangen, wie II, 16 vetus ecce denm damnataque
bello Pallene statt metus etc. was keinen rechten Sinn gibt, iuso-
fern Pallene doch nicht metus deum heissen kann; der Ort war
ihnen nur als Schlachtfeld der Giganten verhasst. Zu vetus ver-
gleicht M. Val. II, 633 und Ovid. Fast. VI, 48. Eben so anspre-
chend ist IV, 229 rapitur für lavitur : der Sieger eilt an den Fluss,
um sich den Staub abzuwaschen in ähnlicher Weise als Iason VII,
644 und Achilles bei Statius Achill. I, 178; ferner VI, 191 rapit
ille pedem für r. i. necem, was von dem Krieger, welcher bedrängt
den von ihm verwundeten und an den Haaren fortgeschleppten
Moneses fallen lässt, nicht gesagt werden kann, da rapere necem
überall Selbstmord bedeutet ; für jenes wird Sen. Med. 380 citirt ;
feiner viridis circum horrida late silva tremit, wo man bisher nach
Barth viridi (statt viridis) circum horrida tela 8. t. las, mit Ver-
gleichung für late von Val. III, 584, V. Aen. IX, 379. In VII,
552 wird die Tautologie vellora et ipsa terga gehoben durch ipsa
templa; dass das Vliess in einem Tempel aulbewahrt wurde, sagt
Valerius V, 632, VIII, 438, welcher Zug ihm eigentümlich ist.
V. 686 schreibt M. sehr annehmlich quantura luet und deutet
impia = scelera ; auf die Medea bezogen konnte das Epithet nur zu
verkehrten Conjekturen führen. V, 480 gibt propius keinen ver-
nünftigen Sinn, wohl aber das naheliegende promptus ; VIII, 75
passt nicht te quoque — custos, sondern teque o — custos, und
da diesen Medea verächtlich behandelt, wird miseraude (meistande
ut V.) gewiss den Vorzug vor den vielen von me staute ausgehen-
den Besserungsversuchen verdienen.
Auch im Rheinischen Museum (XXII, 362 sqq.) theilt M. meh-
rere eben so leichte als treffende Emendationen mit; z.B. V, 455
setzt er an die Stelle des kaum verständlichen Minyas operum de-
fixerat error den horror, vgl. III, 74 und 226, von den mord-
lustigen Lemnierinnen, die ihre Gatten aufallen, lautet der Bericht
EL, 220 invadunt aditus et quondam cara suorum corpora sehr
sonderbar; das hebt sich, wenn man mit M. artus liest. Für ante
aperit VII, 32, was zu der Aenderung paratas zu nothigen schien,
bietet er ante premit; das lächerliche caicantem lumiua, VII, 536,
verwandelt er in calcare volumina. VIII, 54 kann Iason die Medea
nicht bedauern, wohl aber bewundern, miseratur muss in miratur
übergehen. Die formale Schwierigkeit von VIII, 232, dass Valerius
nie unanimis braucht, die syntaktische, dass von adsunt nnanimes
Venus hortatorque Cupido auf suscitat noch dazu asyudetisch ohne
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Meyncke: Quaeat. Valerianac.
681
ein demonstratives Pronomen anzuwenden übergesprungen wird, ver-
schwindet durch M.'s adnuit unanimis.
Einigemale hilft er ohne einen Buchstaben zu ändern durch
Umstellung von Versen: von VI, 163 — 170 war bereits die Redo;
VII, 295,6 müssen nur beide Hexameter ihre Plätze vertauschen,
so bedarf es keiner der zahlreichen hier gemachten Versuche;
Medea verbirgt von Zorn und Schamgefühl ergriffen ihr Antlitz im
Kopfkissen und vernimmt daher nichts von dem , was sie nicht
hören mag, V, 584—6 erhalten die rechte Stelle vor 606, wo
das Gespräch mit einem allgemeinen Ausspruche passend endet;
da, wo jene Verse sich jetzt befinden, bat Iason noch nicht nach
den Helden Aron und Jaxartes sich erkundigt, worauf Aeetes das
nöthige erwiedert ; also wird dieser schwerlich weiteren Fragen mit-
telst einer solchen Andeutung, wie dort, entgegen getreten sein.
Sonst bringt der Verf. viele Emendationen vor, die auch ohne
auf die Aehnlichkeit verwechselter Schriftzüge sich zu stützen,
doch vermöge der Angemessenheit des Sinnes und Ausdrucks als
solche betrachtet werden dürfen. II, 19 scheint ihm scopulis tra-
bibusque Reminiscenz aus VI, 384, welche das richtige scopulis
saxisque verdrängt habe, desgleichen II, 473 veteris aus II, 580
wiederholt , und zu ersetzen durch felix oder florens. Statt des
unpassenden parco corpora Baccho vermuthet M. amico robora
Baccho; die dadurch enstehendo Tautologie vires — robora findet
ihre Belege in III, 110, VI. 18, VIII, 101; wozu aber VIII, 60
oculos et lumina nicht gezählt werden darf, vgl. p. 37. II, 413
scheint pressit acu kaum möglich und expressit der erforderliche
Ausdruck. IV, 26—29 verbindet M. mit der Lesart in ed. Bono-
niensis: limina coeli und Dilthey's Verbesserung hoc nemus hou
fatis seine eigene iungit socios et fontis honores, vgl. Ovid. Met.
XIII. 949. Auf die Handschrift C gründet sich IV, 175 dolor et
durae consurgere mentes, vgl. II. 165, 525; dolor für dolet (V)
gibt C, welcher doras insurgere mentes hat ; ohne Zweifel richtig
ist iuvat statt iubet im folgenden Verse. Nur beiläufig wird IV.
187 monitis cessere timentes empfohlen. V, 224 will inde canens
nach ineipe cantus nicht recht passen ; sehr sinnreich ist daher die
Abhülfe, welche M. mit Benutzung von Apollonius II, 1153 angibt,
iam canens Scythica genitoris Solis zu lesen. Genitor kann der
Sonnengott beissen, wie bei Aeschylus Ch. 986; canens interpre-
tirto ein Leser mit senior iam; war das einmal in den Text ge-
rathen, so verlor canens seine wahre Bedeutung und der scheinbar
unmetrisch gewordene Anfang dos Verses wurde durch inde schein-
bar berichtigt. V, 571 ist patitur gut mit ponit vertauscht. Der
VI, 614 in die angefüllten Ställe eingebrochene Löwe kann nicht
famem spargere aber saniem, wobei que wegfallen muss; und der
Soldat, welcher ein grosses Blutbad anrichtet, bewirkt nicht,
dass pugnae rarescunt; die Metonymie pugna für acies ist ja un-
möglich, sondern dass sie crudescunt. Zu VII, 533 ist o tandem
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662
Meynckc: Quaeat. Valeriana«.
statt o utinam, und 549 in pestem Graiüra für parti Qraiüm za
erwähnen. In Rh. M. p. 371 schreibt M. sehr angemessen madent
für meant VI, 362, wo dieses nicht so viel als e mann in manum
migrant heissen kann, und ib. 364 inlicet (inlicit)ire III 63 nach
Vat. indiciere. Eine der schlagendsten Verbesserungen möchte
noch ib. 371 sq. das an die Stelle des vielbesprochenen ille dies
VI, 356 getretene diluvies sein. Burmann's Auffassung, welche Thilo
billigt, dass die Winde sich streiten, quem sequatur ille dies ist
höchst gezwungen. Für sequatur würden wir sequetur vorziehen.
In der verhältnissmllssig grossen Anzahl dieser lectiones Va-
lerianae finden sich nach unserm Gefühl nur wenige, gegen die
etwas eingewendet werden könnte. Zweifelhaft scheint es ob I,
211 per quot discrimina rerum expedior in pro q. d. r. experior
zu verandern, und damit das glückliche Bestehen vieler Gefahren
angedeutet sei; in derselben prophetischen Rede des Mopsus hat
man 223 bei quem circum vellera Martern aspicio wohl an den
Kampf zu denken, welchen Iason mit dem Drachen zu bestehen
haben wird, und es bedarf dann nicht der Correktur quod c. v.
monstrum asp. II, 250 muss man laesi von der nicht erfolgten
Rache der Thracier verstehen, die von den Lemniern bekriegt und
stark beschädigt worden waren ; mit saevi wäre kein bedeutender
Gedanke gewonnen. EU, 321 wird darum, weil Clita ganz wie die
Homerische Andromacho in ihrem Gatten zugleich Vater und Bruder
verloren zu haben klagt, doch nicht fraternas rapuero domos ge-
lesen werden müssen, vielmehr liegt in natales — domos nach
patrem die von M. selbst p. 37 bei Valerius öfter wahrgenommene
Tautologie. V, 187 nimmt er Anstoss an dem Pario de marmore,
wie Maserius mit Burmann's, Heinsiu's und Thilo's Beifall das hand-
schriftliche parvo de marmore corrigirte, und schlägt pariter de
marmore vor; vgl. Rh. M. 365. II 466 zeigt wenigstens, dass der
Dichter von Bildsäulen mit Parischem Marmor sprechen konnte.
V, 246 will M. haec tua für haec tibi, so würde tua dreimal wie-
derholt, aber ohne auch haec an zweiter Stelle zu repetiren würde
so oine grosse Härte entstehen. Vielleicht ist vor haec tibi ein
Vers ausgefallen und das Asyndeton genitor tutela zu tilgen durch
pater et tutela. V, 329 ist zwar sorto für forte sehr leichte Aen-
derung, aber da 326 sorte potit hervorgeht, stört die Wiederkehr
des Wortes, welches auch zu der Sendung des Traumes nicht recht
passen will; Ref. dachte an ante deum etc. ehe noch Iason
zu Aeetes ging, erhob sich Medea von ihrem Lager, um sich vor
den Wirkungen jenes Traums zu sichern.
Ein vorzügliches Hülfsmittel der Valerianischen Kritik findet
M. noch in der Nachbildung des Statins. Er macht zu H, 151
darauf aufmerksam, dass die Emendation von N. Heinsius hos aliis
forsan solabero casus tu thalamis statt hos tales f. 8. c t. t. eine
Bestätigung erhalte durch Thob. V, 138 ipsa faces alias meliora-
que foedera iungam, woran ihr Urheber sich selbst nicht erinnerte.
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Pin der: Der Fünfkampf der Hellenen. 603
Zu II, 233, welche Stelle Theb. V, 172 imitirt ist, bemerkt M.
wol mit Recht, dass nicht it cruor, wie Sabellicus wollte und
Thilo aufgenommen hat, auch nicht his er. nach den Handschriften,
sondern hinc er. zu lesen sei. Dem Valerius selbst schwebte hier
Soph. El. 95 vor. Ausser seinem griechischen Vorbild, welchem
er ohne dessen Ostentation mythologischer Gelehrsamkeit zu theilen
in der Anlage meistens folgt, sucht er besonders aus Vergil ge-
eignetes zu übertragen; der Sturm im ersten Buoh der Aeneide
kehrt im ersten der Argonautika wieder und selbst die Aeolische
Insel und Neptun fehlt nicht. Auch eine Benutzung des Lucan
(VII, 5) weist M. VI, 31 nach, und verwendet jene Stelle zugleich
zur Correktur : tunc gens quaeque suis commiscet proelia telis statt
tunc et quisque suis commisit proelia telis, was keinen erträglichen
Sinn gibt. Kayser.
Ueber den Fünfkampf der Hellenen von Dr. Eduard Pin der. Mit
sncei Abbildungen. Berlin Verlag von Wilhelm Herls. (Bmer-
sehe Buchhandlung) 1867. 136 pgg. 8vo.
Der Verfasser dieser Schrift glaubt in einer Stelle des Philo-
stratus X€qI yv^iaöTixrjg den bisher vermissten Aufschluss über die
Folge der fünf Kämpfe des Pentathlon gefunden zu haben, wodurch
ihm sowohl möglich werde, die sehr divergirenden Ansichten von
Boeckh und Hermann zu beurtheilen als auch hinsichtlich der
Forschungen Späterer nach jenen Koryphaeen, wie Philipp's de
pentathlo, E. Meier' s (in der AI lg. Encykl.) Olympische Spiele,
Krause's Gymnastik und Agonistik der Hellenen, und des Unter-
zeichneten Becension des Krause'schen Werkes (in den Wiener
Jahrbüchern Bd. 95), > welche neue und befriedigende Resultate
nicht gehabt haben,« zur Tagesordnung überzugehen. Dass über
die Bostandthoilo des quinquertium keine Controverse besteht, wenn
auch einige unwissende Scholiasten meinten, das Pankration ge-
höre dazu, dürfen wir als bekannt voraussetzen. Der Irrthum
gründet sich vielleicht (vgl. p. 23) auf H. Od. &. 186 sqq. Wohl
aber hat die Stelle Pind. N. VII, 70 Anlass gegeben, nach der
Reihenfolge der den Pentathlos bildenden Kämpfe zu fragen.
P. referirt p. 52 — 58 ausfuhrlich die Meinungen, die von den Inter-
preten des Lyrikers geäussert worden sind, zieht dann auoh Herod.
IX, 33 und Paus. III, 11 zu, von welchen man auch früher schon
Gebrauch gemacht hat, erweist aus Paus. VI, 14, 13 dass Tisamenus
allerdings von Hieronymus besiegt wurde, gelangt aber schliess-
lich zu dem Ergebniss, allen bisherigen Vermuthungen stehe die
beinahe unerklärlich scheinende Thatsache entgegen, dass das Un-
terliegen in vier einzelnen Kämpfen in dem mythischen Pentathlon
dem Peleus den Gesammtsieg nicht unmöglich machte, c Freilich
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664
Pin der: Der Fünfkampf der Hellenen.
durfte man niobt mit Hermann glauben, der Sieger im Pentathlon
habe immer in allen fünf Theilen seinen Gegner überwunden, denn
sonst wäre auch Hieronymus nicht gekrönt worden, welcher, zu-
folge der Annahme unseres Verf. nur im Kingkampf siegte; aber
auch Boeckhs Vorstellung ist nicht annehmlich, in jenem Falle seien
sich beide Athleten gleichgekommen, was aber schon durch Paus.
VI. 14, 18 widerlegt wird. Auch Philipp's System, welches bereits
Butgersius hatte, und auf welches Ree. unabhängig von beiden längst
verfallen ist, hält P. nicht für glücklich, « Denn wenn die Ueberzabl
der Siege in den einzelnen Theilen entschied, so konnte diese schon
im dritten Kampf erreicht sein und die beiden letzten blieben
gegenständ*- und interesselos ebensowohl für den, der bereits Sieger
war, als für den der es nicht mehr werden konnte. Andrerseits
konnte jeder Einzelkampf einen andern Sieger ergeben, oder je
zwei denselben, der fünfte einen dritten, wo war dann eine Ueber-
zabl von Siegen?« Dagegen kann eingewendet werden, dass häufig
die Mehrzahl erst am Ende sich ergab, und wir über das Verfahren
der Hellanodiken , wenn die Preise billigerweise mehr als einem
Athleten ertheilt werden mussten , nicht unterrichtet sind. Was
aber die Erzählung Herodot's betrifft, zu welcher Pausanias gewisser-
massen den Coramentar liefert, darf man sich wundern, wie sie
von vielen Gelehrten missverstanden werden konnte : na$ av Jtalaiafxu
heisst nicht dasselbe was naoa tiovrjv rrjv itafa]v , sondern der
Ringkampf bestand aus drei Gängen (Plat. Phaedr. 256,b), von
welchen aber der letzte die Entscheidung brachte : mochte auch der
Gegner vorher zweimal überlegen gewesen sein, er galt doch, wenn
ihm das dritte 7takaiG\ka misslang, für tiberwunden. Hätte Tisamenus
dieses noch glücklich bestanden, dann würde er und nicht Hiero-
nymus den Preis erhalten haben; denn tu övo t]v ng&cog. Der
Sieg des Hieronymus war mithin erst dadurch gewonnen, wenn er
ebenfalls noch in zwei Kampfarten seine üeberlegenheit darthat,
und so ta tqCcc den Gegensatz zu ta övo bildeten.
Doch soll, wie schon bemerkt, der einzige Weg, der zu einer
Lösung der Frage fuhren kann, erst erschlossen sein seit der Auf-
findung der Schrift des Philostratos. Dieser sagt cap. 3 ed. Darem-
berg. »Vor Iason und Peleus erhielten Sieger im Sprung, Diskus,
Wnrfspiess besondere Preise. Telamon war nun der beste Diskus-
werfer, Lynkeus der beste axovxiöxrig, im Lauf und Sprung zeichneten
sich die^ Boreaden aus ; Peleus hatte in allem dem nur den zweiten
Rang (rjy öevrsoog), Übertraf aber die anderen im Ringen. Ihm
zu gefallen vereinigte zuerst Iason tec tcevxs als die Argonauten
in Lemnos Wettspiele aufführten und Peleus ging so als Gesammt-
sieger aus diesem Complex von früher getrennten Agonen hervor.
P. meint es gut mit Philostrat, wenn er aus ihm die Aufklärung
über einen lang dunkel gebliebenen Punkt der agonistischon Alter-
thtimer herleiten möchte; der Mythus ist auch ganz artig, aber P.
beweist eigentlich nur, dass er selbst kein Rechenmeister ist. Wenn
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Pin der: Der Fünfkampf der Hellenen
Peleus im Ringen der erste war, in den andern Theilon des Pen-
tathlon der zweite, die übrigen Heroen dagegen ausser in dereinen Gat-
tung, worin sie excellirten, auf einer tiefem Stufe standen als
Peleus, mus8te er ja notbwcndig im Pentathlon einen Vorzug vor
allen behaupten, statt früher nur in der %dlt\ zu siegen, sonst
aber besiegt zu werden.
Der Ringkampf, glaubt P., wurde im Pentathlon an's Endo
gestellt, vorher ging der Wurf des Diskus; p. 74—77. Doch kann
man die Stelle Xen. Hell. VIT. 4, 28 nur von der Folge des Ringens
auf den Lauf (ra ÖQOfuxd) verstehen ; dass die Zuschauer bei diesem
fünffachen Agon ihre Platze verlassen mussten, wenn der vermeint-
lich letzte Theil begann, ist nicht glaublioh, Xenophon berichtet,
was P. merkwürdigerweise ganz übersieht, einen Ausnahmsfall,
verursacht durch den Angriff der Eleer auf die Arkader und Pi-
saten, die sich die Leitung der Olympischen Spiele angemasst
hatteu; wäre diese damals nothgedrungene Aenderung sonst üblich
gewesen, hätte der Geschichtschreiber keinen Grund gehabt, sie zu
erwähnen. Gewaltsam deutet P. rec ÖQOfiixd als denjenigen Theil
des Pentathlon, »deren Ausführung im ÖQopog stattfand,« was er
übrigeus für »einfach« hält.
Eine weitere Schwierigkeit erhebt sich, wenn der Verf. die
Vorstellung geltend machen will, es seien der Kämpfer in dem
Pentathlon allmählig weniger geworden, und zuletzt nur zwei Ringer
übrig geblieben. Demnach hätten die in den ersten Theilen minder glück-
lichen die Befriedigung wenigstens in den letzten einen Vorzug zu
zeigen, nie haben können. Nichts kann Plut. Symp. IX, 2 beweisen, als
dass ein sehr ausgezeichneter Athlete dieser Gattung immer mehr
Anerkennung finde und schliesslich alle Mitkämpfer tibertreffen
konnte, wio das a die übrigen Buchstaben, und auch in gloichem
Maass die Inferiorität der übrigen mehr und mehr ans Licht trat,
aber nichts zwang diese sich aus dem Wettkampf zurückzuziehen.
Das Institut der Ephedrie scheint P. übersehen zu haben ; von der
Zweiheit der Ringer schliesst er aber sehr kühn zurück auf die
Dreiheit der Diskobolen, die er scheinbar begründet durch die
Notiz bei Pausanias, VI, 19, 4 dass jlrei Disken in dem Thesauros
der Sikyonier aufbewahrt wurden, otiovg h xov nevtad-kov xo
Wir sehen, wie es mit den Argumenten steht, welche P. aus
den angeführten Stellen entnohmen zu können behauptet; aber
seiner Sache ganz gewiss proklamirt er p. 52 : »Das hier dargestellte
System ist das einzige, durch welches ein solcher Sieg, wio ihn
Peleus nach dem Mythos erfochten haben soll, möglich wird, es
ist ein dem Gleichniss von dem Vorzuge des a vor allen andern
Buchstaben entsprechendes, es erhält eine besondere Stütze iu der
Nachricht bei Pausanias von den drei Disken im Pentathlon. Dieses
System also einer sich fortschreitend vermindernden Kämpferzahl
je nach der geringeren oder höheren Leistung der Einzelnen in
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66«
Pin der: Dar Fünfkampf der HeHenen
den einzelnen stellt das Ergebnies eines Siegers und zwar nur eines
Siegers in jedem Pentathlon fest. — Auch die Durchführung aller
Theile ist durch dieses System gesichert.« Und doch sind diese
Resultate unrichtig und beruhen nicht auf den hier angewandten
Thatsachen.
Er fahrt in dem nun folgenden Abschnitt: »Erklärung des
SolbBtvergleiches des Pindar mit einem Peutathlos (Nem. VII, 70)
in Gemässhoit des vorgeschlagenen Systems« so fort: »Die Be-
trachtung kehrt zu dem Punkte zurück, von welchem sie ausging.
Wenn das vorgeschlagene System eine innere Wahrheit hat, so
muss es auch zu der Erklärung jenes Vergleiches bei Pindar dienen,
welcher ohne Hypotheson und Conjckturen über die Natur des dem
Pentathlon zu Grunde liegenden Systems nicht gedeutet werden
könnte« etc. Und was ist die Erklärung des Verf.? Abermals
eine solche, wobei der Sprache Gewalt angothan wird. Pindar
schwört 1. c. firj tfoua agoßag axovtf ane %akxonaQaov oqöui
&oav yk&Gtfav, og s^enefi^ev 7taXcu<S[ucT(ov av%iva xal ö&dvog
döcavtov atfrovi xqIv aXca yvtov i^imöstv. Hält man diese^Stelle
mit der Pyth. I, 42 zusammen, ilnopai ^irj %akxQ%<tQaov **<>v&
coCeCt dyavog ßaXetv ifa xalauct dovi&v, uuxqu dl §fya$ dfuv-
Gaotf dvxCovg, so ergibt sich d ie Aehnlicbkeit beider, dasa Pindar
einen zu weiten Spoerwurf mit einer Uebertreibung im Urtheile
verglich. Die Pentathlon, welche über den Kampfplatz hinaus-
warfen in P. I, 42 kommen auf den heraus, welcher N. VII, 71
als reglet ngoßag, worin P. irrig den Vorwurf des Frevels erkennen
will, bezeichnet ist. Der zu weite Wurf gibt, wenn er auch ein
Beweis von Stärke ist, doch keinen Anspruch an den Siegeskranz,
weil auch das Ziel getroffen sein muss,*) welches entfernt genug
war, um eine bedeutende Kraft des Athleten zu erfordern. Wer,
wenn auch weiter geworfen, doch die Aufgabe dieses Theiles vom
Pentathlon nicht erfüllt hatte, vorlor den Preis dafür, keineswegs
aber, wie auch Dissen und andere wähnten, konnten dadurch die
Mitbewerber von dem Ringkampfe, der »letzten und schwersten
Partie des quinquertium abgeschreckt werden. Diese Ansicht ist
nun auch nicht die P.'s, wol aber meint er, ein ungehöriger Lan-
zenwurf, odor, nach seiner Vorstellung, gar ein frevelhafter, habe
den Kämpfer selbst vom Weiterkampf ausgeschlossen. Diese Be-
deutung von exTTHtTTHv wäre erst noch zu belegen. Die Wirkung
eines solchen Wurfes soll auch gar nicht besprochen werden, son-
dorn er selbst wird bewirkt durch einen mit Leichtigkeit aus-
geführten, also noth wendig vorausgegangenem Ringkampf: ein
solcher lässt ein ungewöhnliches Mass von Kraft übrig ; der äxov
leitete aus den TtaXaiöfiata den Peutathlos über, ehe er noch mürbe
gemacht seinen Nacken fühlte, ehe er noch die Gluth der Sonne
*) Der Speerwurf in Pentathlon hatte dieselbe Gesetze, wie der ver-
einzelte, vgl 0 XI, 74, XIII, 90.
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P Inder: Der Fünfkampf der Hellenen. 667
empfand, daher der Wurf wenigstens eine gewaltige Kraftfülle, von
seiner Zweckmassigkeit abgesehen, bewies. P. interprotirtr^ta ngoßag
als Verletzung des Anlaufes, wodurch, um nicht von der falschen
Auffassung des i&Ttepipsv naXaLöfidtcov zu sprechen, die darauf
folgende Schilderung eines noch frischen Kampfers ganz müssig
und unnütz wird.
Mithin wird die Folge: alaa, dpopog, nato], äxav, dfoxog
zunächst für die drei mittleren Agone feststehen und hiermit auch
für die beiden übrigen jeder Zweifel wegfallen.
Was der Verf. in dem Abschnitt: »Der Sprung, der Speer
— und Diskoswurf als Theile des Pentathlon q. 96— 114 vorbringt,
darf als haltbar gelten mit Ausnahme der Behauptung, die wir so
eben bestritten haben. Auf p 115, 116 gibt der Verf. eine Ueber-
sicht vom Verlauf des Pentathlon, natürlich als Resultat der neuen
Entdeckungen darüber. Ein Missverständniss des Philostrat §. 55
cC VOflOl — OV — %Vy%G)QOVGl ÖltAliTOEtV TO JTjJdl/fMK, TjV
4 <jr. ag ipj tov ?%vovg verrathen die Worte: »nach dem Nieder-
spruug untersucht das strenge Gericht der Droimänner erst genan
die Spur der Füsse. Dann werden die gethanen Sprünge dem Volk
Torktindigt « Denn 1. c. meint der Schriftsteller, jene Bedingung
des sichern Niedersprungs sei den Bewerbern um den Preis gestellt
worden, in der Weise, dass wer sie nicht bei den Vorübungen er-
füllte, zum Wettkampf gar nicht zugelassen wurde. Dass auf den
Sprung der Akon folgte, ist, wie alles weitere, individuelle Vor-
stellung Pinder's. Es folgt ein Verzeichniss sämmtlicher Pentath-
lon, von welchen wir Kunde haben : zuerst die in bekannten Olym-
piaden, dann die in unbestimmten aufgetretenen Olympischen Fünf-
kämpfer. Darunter ist nur ein Knabe, weil das nivra&kov Ttaiötov
nur in der 38. Olympiade vorkam, dann wieder aufgehoben wurde.
Iirthümlich sagt P. : »nach Pausanias V, 9, 1 und Philostratos
de Gymn. c. XIII. veranlasste die Eifersucht über diesen lacedao-
monisohen Sieg die Eleier den Knabenfünfkampf sofort wieder auf-
zuheben.« Daselbe ist p 32 zu lesön. Aber beide Schriftsteller
wissen von einem solchen Motive nichts. Zu den Siegern, deren
Jahre nicht genau bestimmt werden können, gehören Damaretos
von Heraea, sein Sohn und Enkel, beide Theopompos genannt ; der
Grossvater war Hoplitodrome, der Sohn Pentathlos, der Enkel
Ringer. Was Pausanias VI, 10, 4 davon sagt, hat Philipp de
quinquertio nicht verstanden und Pinder wenigstens falsch tiber-
setzt, weil er die bei diesem Autor gewöhnliche Ellipse nicht
kennt. Denn SeonofutG» öh tcS dapaghov xal erutfrs ixstyov
itaidl op&vvpG) in\ nsvxa&ka, ' ®eoTt6pit(p r<p devri^tp Tcdlrjg
iyivovxo aC v'txat heisst nicht: »Der Vater Th. und wieder dessen
Sohn im Pentathlon ; die Siege des Sohnes aber waren Ringsiege,«
sondern dem Vater Th. und wieder dessen gleichnamigem Sohn ge-
langen Siege; dem einen (ersten Th.) im Pentathlon, dem zweiten
Theopompos im Ringen. P. tadelt mit Recht Philipp's Einfall vor
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668
Zink: Der Mytholog FulgentitiB.
itdXvg ein xai einzuschieben, wenn er aber selbst glaubt riß fuv
dürfe vor nswdftXco nicht fehlen und Rutgers, der dasselbe ver-
langte, habe nicht ungeschickt conjicirt, so verweisen wir ihn zu
besserer Instruktion auf das > Zeitschrift für Alterthumswissenschaft
1848, p. 1097< bemerkte. Unrichtige Schreibung ist Klearestos
für Klearetos; nicht nur Rutgers, sondern auch Schubart liest so
Paus. VI, IG, 9. Dass die Zahl der PentatblonkHrapfer in Nemea
und auf dem Isthinos möglicherweise noch um den Antiochus ans
Lepreon bereichert werden könnte, wenn nämlich mit Schulart
und Dindorf Paus. VI, 3, 9 ölg mvtd&Aa zu lesen gestattet w&re,
das ist der Verfasser wol gar nicht gewahr geworden.
Kayser.
Oer tiytholog Fulgentius. Ein Beilrag zur römischen Literatur-
geschichte und zur Grammatik des afrikanischen Latein?. Von
Dr. Michael Zink, k. Studienlehrer. Würzburg, A. Stuber' s
Buchhandlung. 96 S. in gr. 4.
Diese Schrift zerfallt, wie schon der Titel andeutet, in zwei
Theile: der eine verbreitet sich über einen Schriftsteller der spä-
teren römischen Zeit, dessen Heimath Africa war, der andere nimmt
daraus Veranlassung, die Sprache dieses Schriftstellers nach ihren
Eigenthümlichkeiteu im Einzelnen naher zu verfolgen und damit
die sogeuannt Afrikanische Redeweiso ins Licht zu setzen, wie diess
unlängst durch eine ähnlicho Schrift über die Ausdrucksweise des
Appulejus (von Kretschmann) geschehen ist. Was den ersten Theil
botrifft, oder die Erörterung über Loben und Schriften des Ful-
gentins, so hat Ref. früher den Gegenstand in einem Artikel
der Halle'schen EncyklopHdie Sect. I. Bd. LI. S. 26 ff. behandelt,
welcher dem Verfasser unbekannt geblieben zu sein scheint, da er
sonst manche Erörterung über das, was dort schon erwiesen ist,
sich hatte ersparen können. An einigen abweichenden Punkten
fohlt es nicht: wir haben hier derselben in der Kürze zu geden-
ken. Den Namen des Schriftstellers stellt der Verf. in Ueberein-
stimmung mit dem Ref. nach der handschriftlichen Ueberlieferung
fest in Gajus Fabius Planciades Fulgentius, und wenn
er weiter diesen Fulgentius von dem Bischof dieses Namens zu
Rüspe, so wie von einem andern Fulgentius (Ferrandns), dessen
Schüler, unterschieden wissen will, so hat Ref. diesen Unterschied
sowohl an dem angeführten Ort als in seiner Geschichte der Römischen
LiteraturSuppl.il. (Christi. Röm. Theologie) § 1 84 ff. mit aller Evi-
denz, wie er glaubt , nachgewiesen, so dass selbst die neueren, dem
Verf. ebenfalls nicht bekannten Versuche, den Grammatiker mit
dem Bischof zu identificiren (Jahrbb. d. Philol. XLIII p. 79 ff.),
schwerlich ein anderes Resultat hervorrufen werden. Dass ausser
Digitized by Google
Zink: Der Mytholog Fulgentius.
diesen beiden noch andere Männer und Gelehrte mit dem Namen
Fulgentius in der spateren römischen Zeit bis in den Beginn des
Mittelalters vorkommen , die aber alle von dem Grammatiker zu
unterscheiden sind, hat lief. a. a. 0. ebenfalls gezeigt. Dass der
Grammatiker nach Afrika gehört, dort als Lehrer lebte und wirkte,
hat Ref. gleichfalls nachzuweisen gesucht und findet sich darin mit
dem Verf. (§. 3) im Einverständniss, welcher ebenfalls in Fulgen-
tius einen Lehrer, und zwar einen öffentlich angestellten zu Car-
thago erkennt, der aber dnrch die Vandalische Occupation seine
Lehrstelle verloren (welches letztere wir jedoch nicht zu beweisen
vermochten). Wenn nun dazu , wie es dem Ref. bedünkte , der
Titel V. C. (vir clarissimus), welcher in einer Wiener Handschrift
dem Namen beigefügt ist, nicht passt, daher in mehr als einer
Beziehung verdiichtig erscheint, so meint der Verf. doch, dass der-
selbe solchen Lehrern oder Professoren zugetheilt werden konnte,
während Fulgentius in seiner an den Presbyter Catus gerichteten
Vorrede in einer so demüthigen und unterwürfigen Weise sich aus-
spricht, dass er wohl kaum eine solche Stellung und einen solchen
Rang eingenommen haben kann , welchem dieses Ptädicat zukam.
Auch die in den Handschriften befindliche Bezeichnung Episcopus
ist, wie Ret. gezeigt hat, ebon so falsch und irrig. Richtig da-
gegen erscheint die Annahme, die auf bestimmte Aeusserungen ge-
stützt ist, dass Fulgentius zu den Katholiken, und nicht zu den
Arianern zählte. Schwieriger wird die genaue Bestimmung der
Zeit, in welche Fulgentius und die Abfassung seiner Schriften zu
verlegen ist. Der Verf. denkt an die Jahre 480 — 484 unter dem
Vandalenkönig Hunerich, und bezieht auf die Vandalen sogar die
»Gallogetici impetus« in der Stelle p. 600 (»Sopitis in favilla si-
lentii rauciaouis jurgiorum classicis, quibus me Gallogetici quassa-
verunt impetus« etc.) was nach unserer Ueberzeugung nicht wohl
angeht, indem bei Gallogetici (was übrigens Verbesserung von
Salmasius ist statt Galagetici), doch nur an eine etwas ver-
ächtliche Bezeichnung eines aus Galliern und Geten (Gothen) ge-
mischten Haufens gedacht werden kann, mithin nicht an Vandalen,
sondern an Gothen und Gallier, unter welchen hier auch Bewohner
des nördlichen Italiens verstanden werden können; Ref. hat diese
Stelle auf ein unter dem König Hilderich im Jahr 523 stattge-
fundenes Ereigniss, das einzige, von dem wir wissen, das eine
solche Beziehung verstattet, bezogen, und darnach auch in diese
und die nächst folgende Zeit die Abfassung der Schriften des
Fulgentius, der hiernach in die drei ersten Decennien des sechsten
Jahrhunderts zu verlegeu wäre, gesetzt: er vermisst auch sichere
und bestimmte Gründe, welche auf eine frühere Lebensthätigkeit
noch im fünften Jahrhundert führen können. Was die Bemerkun-
gen §. 7 über den Bildungsstand des Fulgentius im Allgemeinen
betrifft, so hat sich Ref. in ähnlicher Weise auch früher darüber
ausgesprochen und diess im Einzelnen zu begründen gesucht. Auch
Digitized by Google
670
Zink: Der Mytholog Fulgeatiiu.
unser Verfasser schliesst seine Erörterung mit der Bemerkung, dass
bei Fulgentius »Oberflächkeit und unwissenschaftliche Eitelkeit an
die Stelle der Gründlichkeit und ernsten Wissenschaftlichkeit ge-
treten seienc (S. 20). Dann wendet sich Derselbe zu den Schriften,
welche dem Fulgentius beigelegt werden, den nicht mehr vorhan-
denen, aber von ihm erwähnten und den noch erhaltenen, unter
welchen an erster Stelle das mythologische Werk erscheint, in wel-
chem Einheitlichkeit des Planes vermisst wird, die allerdings aus
der Tendenz des Ganzen, wie selbst aus der geistigen Beschaffen-
heit unseres Autors sich hinreichend ergibt. Es folgt dann die
Schrift über Virgil, und an dritter Stelle die Eipositio, über welche
der Verf. sich nur kurz ausiässt. »Sie enthält, heisst es S. 28,
eine Reihe von Erklärungen veralteter und seltener Wörter in will-
kürlicher Auswahl mit vieleu gefälschten und theilweise ganz er-
dichteten Citaten aus wirklichen oder ebenfalls fingirten Autoren.«
Im üebrigen wird auf die Schrift von Lersch verwiesen, nach des-
sen Untersuchungen es kaum möglich sein dürfte, Etwas wesent-
lich Neues darüber beizubringen. Eef. war früher und ist noch
jetzt nicht ganz der gleichen Ansicht, er hat sich deshalb die Mühe
genommen, die sämmtlichen Anführungen von Schriftstellern, welche
in diesem Büchlein vorkommen, im Einzelnen prüfend zu durch-
gehen, und ist in Folge dessen zu dem Resultate gelangt, dass von
einer absichtsvollen und schlau angelegten Fälschung hier nicht die
Rede sein könne, wohl aber von einem Mangel an Genauigkeit,
von Nachlässigkeit jeder Art, woraus die Irrthümer, Unrichtigkeiten
u. dgl. m. zu orklären sind, die uns hier entgegentreten ; s. S. 38.
41. Auch der Verfasser scheint das Bedürfniss einer näheren Er-
örterung dieses Gegenstandes erkannt zu haben, indem er unter
Abschnitt IV. eine solche in ausführlicher Weise zu geben gesucht
hat; wir kommen darauf zurück. Noch verbreitet sich der Verf.
§. 11 über Bedeutung und Deutung des Mythus und §.12 über
die Methode des Fulgentius so wie dessen Etymologieen ; den Schluss
dieser Abtheilung bildet S. 35 ein kritisches Corollar, in welchem
einige Stellen der Mythologie kritisch behandelt und Verbesserun-
gen des Textes in Vorschlag gebracht werden.
Der andere Theil oder Abschnitt in. hat die Latinität des
Fulgentius zum Gegenstand und beginnt mit einer allgemeinen
Charakteristik der Sprache und des Ausdruckes, welcher in den
Schriften des Fulgentius angetroffen wird, um dann die einzelnen
Belege zu den hier aufgestellten Behauptungen zu geben. Es folgen
daher Zusammenstellungen der einzelnen bei Fulgentius vorkom-
menden, aus dem Griechischen entlehnten und unverändert über-
tragenen Wörter, Substantive wie Adjective, dann von neugebilde-
ten lateinischen Wörtern, Substantiven, Adjectiven, Verben, dann
von vereinzelten Idiotismen in den Formen; daran schliesst sich
eine ähnliohe Zusammenstellung der syntaktischen Anomalien, und
zwar zuerst in der Rection der Casus, wobei auch die merkwürdi-
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Zink: Der Mytholog FulgentiuB.
671
gen Irregularitäten in dem Gebrauche der Präpositionen aufgeführt
werden, was auf manche ähnliche Erscheinungen, wie sie zum Theil
bei den Schriftstellern des karolingischen Zeitalters, und noch mehr
in der späteren Zeit vorkommen, ein Licht wirft. Auch der Ge-
brauch der Adjectiva, Pronomina und Numeralia zeigt manche Ab-
weichungen, die aber noch mehr in der Rection der Tempora und
Modi hervortreten, wie die S. 47 ff. gegebene Zusammenstellung gleich-
falls zeigt, die auch die unregelmässige Participialconstruction in
dem häufigen Gebrauch des Nominativus absolutus zuletzt noch be-
rührt. Es folgen Seite 49 ff. die stilistischen Eigentümlich-
keiten, die poetische und figürliche Ausdrucksweise, die bei einem
Schriftsteller, welcher seine Prosa durchweg mit poetischen Wör-
tern und Phrasen aufzuputzen sucht und die zwisohen Prosa und
Poesie zu ziehende Schranke gar nicht mehr kennt, eine reiche
Ausbeute liefert: im Zusammenhang damit stehen die Katachresen
und SolÖoismen, Pleonasmen und Ellipsen, wie die zahlreich
angeführten Belege erweisen: so dass wir hier eine dankens-
werthe Zusammenstellung der Eigenthtlmlichkeiten des Sprachge-
brauchs erhalten: die Lexicographie wie die Grammatik wird aus
diesem dritten Absohnitt Manches gewinnen, was bisher in den be-
treffenden Schriften noch unbeachtet geblieben ist, und wird dar-
aus, da Fulgentius, als Afrikaner, die Schreibart des Appulejus
und Tertullianus (s. S. 38) insbesondere nachzuahmen sucht, auch
der Charakter der sogenannten afrikanischen Redeweise immer
klarer werden. Unter Abschnitt IV S. 62 ff. folgt die schon oben
erwähnte Besprechung über die »Quollen und Citate des Autors c;
und werden hier die übrigen Schriften des Fulgentius, und die in
ihnen vorkommenden Citate zunächst berücksichtigt, die derExpo-
sitio nur insofern, als die beiden andern Schriften dazu eine Ver-
anlassung bieten. Der Verf. unterscheidet ächte Citate, die er im
Einzelnen nachweist, dann die wahrscheinlich ächten, zu welchen
unter Andern, insbesondere die aus Petronius gezählt werden; dann
erweisbar und wahrscheinlich unächte Citate, an welche sich noch
eine Anzahl von unbestimmbaren Citaten anreiht. Das Resultat
dieser umfassenden und eingehenden Untersuchung, die bis S. 92
reicht, läuft dahin aus, dass nahezu zwei Drittel aller Citate sich
als wahrscheinlich ächt bezeichnen lassen, auch wenn hie und da
ein lapsuB memoriae unterlaufen, bei dem übrigen Drittel aber nur
bei verhältnissmässig wenigen Stellen die Absicht zu täuschen oder
auch nur die offenbare Unrichtigkeit derselben sich erweisen lasse, der
weitaus grössere Theil dagegen in suspenso bleiben müsse, wie
diess bei dem Untergang so mancher Schriftsteller, aus deren
Werke diese Citate entnommen sind, begreiflich ist; wobei wir
freilich uns nicht verhehlen werden, dass diese Citate, wenn sie
anders ächte sind, schwerlich aus den betreffenden Schriftstellern
selbst entnommen sind, sondern aus andern Schriften späterer Zeit,
grammatischen oder encyclopädischen Inhalts, ausgesucht worden
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072
Hase: Wormser Lutherbuch.
sind, um das Ansehen der Gelehrsamkeit, das sich Fulgentius zu
geben sucht, damit aufrecht zu halten. Eben desshalb stimmen
wir dem Verf. bei, wenn er S. 93 sich dahin ausspricht, es hiesso
eben den Fulgentius unbillig in seinem Rechte verkürzen, wollte
man auf blosse Wahrscheinlichkeitsgrüude hin solche Citate aus
verlorenen oder auch unbekannten Autoren als Falsifikate erklären,
eben so, wenn er glaubt, dass in dieser Beziehung Lersch in sei-
ner Besprechung der Expositio zu weit gegangen; wir wissen je-
doch es nicht ganz damit zu vereinigen, wenn wir weiter am
Schluss dieser Untersuchung die Worte lesen: >Im Ganzen aber
bin ich auch durch meine Untersuchung zu derselben Ansicht ge-
langt, welche Lersch zu Eude seiner Schrift (S. 87) bezüglich der
Expositio auspricht: »dass sich ein absichtlicher Betrug in Verbin-
dung mit der vollsten Gedankenlosigkeit nicht läugnen lasse.« Nur
tritt ersteror in den beidon von uns behandelten Schriften noch
schüchterner und seltener auf, während letztere sich allenthalben
geltend macht.« Ref. so wenig er die Schwächen dieses Schrift-
steller's, so unläugbar sie überall hervortreten, in Schutz nehmen
will, kann doch auch jetzt noch nicht zu der Annahme einer
absichtlich und schlau angelegten Fälschung sich entschliessen, in-
dem das , was in diesen Bereich gebracht wird , wohl aus andern
Schwächen des Autors sich wird erklären lassen.
Chr. Bahr,
Wormser Luther-Buch zum Feste des Reformation*- Denkmals von
Dr. Carl Alfred Hase, Collaborator an der Hofkircht, su
Weimar. Mainz. C. G. Kunst' s Nachfolger 1867. 384 S. 8.
Die äussere Veranlassung zum Erscheinen dieser Schrift gab
das in diesem Jahre enthüllte Lutherdenkmal zu Worms; einem
grösseren Publikum soll hier eine biographische Schilderung ge-
geben werden, welche aus den eigenen Schriften Luthers geschöpft
und selbst an dessen eigene Worte sich haltend, in beredter und
anzehender Weise die Lebensmomente uns vorführt, und so ein Bild
des Mannes, seiner Bedeutung und seines Einflusses vor die Seele
führt. Das Buch »will keiner Partei, nur dei Wahrheit dienen,
aber es dankt seinen Ursprung der Liebe und Verehrung für Luther.«
Und in diesem Sinne bittet der Verf. dasselbe aufzunehmen ; nach-
dem im ersten Kapitel ein Blick auf die reformatorischen Erschei-
nungen, die Luther's Auftreten vorangingen, geworfen ist, wird in
den neunzehn folgenden Kapiteln eine Darstellung des Lebens von
den Kinder- und Klosterjahren an bis zu den letzten Lebensjahren
und seinem Hinscheiden gegeben in einer Fassung, welche dem
Zweck, den der Verfasser damit verband, wohl zu entsprechen ge-
eignet ist.
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Nr. 43. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Schriften über den Parsismus.
J) Over het woord Zarathustra en den mythischen persoon van
dien naam. Door J. H. C. Kern. Amsterdam 1867. 33 p. 8.
2) Gäthä Ahunavaiti Sarathustrica carmina Septem. Latine vertit
et explicavit, commentarios crilicos adjecit, textum archetypi
recensuit C. Kossotoicz. Pelropoli 1867. VI u. 165 pg. 8vo.
Die kleine Schrift, mit welcher wir diese Anzeige beginnen,
hat Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit sowohl durch den Gegen-
stand welchen sie behandelt, als auch durch die Art und Weise
in welcher die Untersuchung geführt wird. Dass man gerade in
der jetzigen Zeit eingebend den Werth der verschiedenen Nach-
richten erörtert, die uns über Zarathustra erhalten sind, ist sehr
natürlich und begreiflich, da man eben jetzt angefangen hat sich
ernstlich mit dem Religionssysteme zu beschäftigen, welches auf
ihn als Urheber zurückgeführt wird. An seine Persönlichkeit
knüpfen sich wichtige Probleme, und unsere Ansicht über die Ent-
stehung dieser Religionsform ist vielfach von der Anschauung be-
dingt die wir uns von dem Stifter gebildet haben. Auch die vor-
liegende Schrift hat sich die Aufgabe gestellt das Dunkel zu lich-
ten, welches noch über Zarathustra ausgebreitet ist, und das End-
resultat derselben lässt sich bereits aus dem Titel erkennen. Für
den Ref. zerfällt dieselbe in zwei Theile, dem einen kann er bei-
stimmen, dem andern muss er seine Zustimmung versagen. Wir
billigen es vollkommen, wenn Herr K. darauf dringt, man solle
sich vor Allem klar machen, was man unter mythisch verstehe.
Bios darum, weil wir von den Lebensumständen einer Person nichts
mehr wissen, hört diese noch nicht auf historisch zu sein.
»Eine mythische Person sagt Herr K. (p. 3. 4) sehr richtig, ist
eine Person aus der Mythologie des einen oder andern Volks
Unter einer mythischen Person braucht man nicht gerade einen
Menschen zu verstehen, sondern ein Wesen , das in grösserm oder
geringerm Grade uns gleichförmig ist, oder wenigstens diese Gleich-
förmigkeit anzunehmen vermag. Für den Ungläubigen bestehen die
mythologischen Wesen nicht als solche, nicht als Persönlichkeiten
im eigentlichen Sinne des Wortes. Natürlich erkennt auch der
Ungläubige z. B. das Bestehen der Sonne an, aber nicht als Per-
sönlichkeit im gewöhnlichen Sinne : Apollo ist für ihn eine mythische
Person«. Um nun zu ermitteln, ob Zarathustra blos eine Person
LX. Jahrg. 0. Heft. 43
f
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674
Schriften Ober den Par8i8mus.
sei von der wir nichts mehr wissen , oder ein Mythus, unterwirft
Herr K. die vorhandenen Zeugnisse einer gerechten Kritik, die Ref.
nur in Bezug auf die Alten etwas zu scharf findet. So möchten
wir namentlich den Agathias und Berosus, und selbst den Ammi-
anus Marcellinus gegen das zu harte Verdammungsurtheil des Ver-
fassers (p. 8. 9.) in Schutz nehmen. Gewiss, hätten die genannten
Schriftsteller eine Geschichte Persiens von den ältesten Zeiten an
geschrieben, so könnten wir ihnen mit Recht den Vorwurf machen,
sie hätten es mit dem Studium der Quellen gar zn leicht genom-
men; so sind aber die Nachrichten, die sie uns geben, nur ganz
gelegentliche Bemerkungen, sie erzählen blos was sie gehört oder
gelesen haben, und wir sind ihnen auch dafür dankbar, wir wissen
nun wenigstens, was man in jener Zeit über diese Angelegenheiten
dachte. Wir sind z. B. überzeugt, dass Agathias nichts viel Ande-
res über Zarathustra gehört hat, als wir auch aus der Legende
wissen, er hörte, dass Zarathustra unter einem Könige Vlstäcpa
gelebt und gewirkt habe, er sah ein, dass dies derselbe Name sei,
den Herodot Hystaspes schrieb, aber er vermochte nicht zu sagen,
ob auch mit diesem Vlstäcpa der Vater des Darius gemeint sei
wie bei Herodot. Wenn ferner Berosus die Religion der Perser
aus der babylonischen ableitet, so ist diess freilich ein grosser
Irrthum, allein Berosus hat gewiss nicht gelogen, es war seine
üeberzeugung , und diese üeberzeugung wurde auch von Andern
getheilt. Es ist eine uns auch sonst bekannte Ansicht der späte-
ren Bewohner Babylons, dass alle Völker sammt ihrer Religion
von ihnen abstammten, Ref. hat darüber schon anderswo Zeugnisse
zusammengestellt, das Buch des Berosus war aber wahrscheinlich
zum Theil deshalb geschrieben, um das Alter Babylons den Grie-
chen und umwohnenden Völkern gegenüber hervorzuheben. Aehn-
lich wird es sich nun auch mit den Nachrichten des Ammianns
verhalten : er erzählt was er gehört hat. Seine Nachricht, dass der
mit Zarathustra in Verbindung stehende Hystaspes der Vater des
Darius sei, ist falsch, die Angabe, dass er der Magie etwas hinzu-
fügte, ist wahrscheinlich unwahr, aber man darf nicht vergessen,
dass auch die christliche Welt jener Zeit Weissagungen des Hys-
taspes kannte, von welchen Kunde zn Ammianus Marc, gedrangen
sein kann, und durch die er sich für berechtigt hielt, denselben
für eine Art von Propheten zu halten. Selbst für manche Berichte
noch späterer Muhammedaner möchte Ref. ein gutes Wort einlegen,
im Ganzen aber stimmt er, wie gesagt, Herrn K. vollkommen bei :
alle abendländischen Berichte geben uns nicht das Recht, den
Zarathustra für eine historische Person zu halten, unter den mor-
genländischen verhält es sich bereits mit den ältesten derselben,
den Angaben des Avesta ebenso, nirgends ist ein Zug angegeben,
der uns nöthigte, den Zarathustra als historische Person anzusehen,
und Herr K. ist in seinem vollkommenen Rechte, wenn er sich
weigert auf Grund dieser Zeugnisse ihn als historisch anzuerkennen.
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Schriften über den Parslsmus.
Nichts desto weniger nehmen wir doch Anstand Herrn K. in sei-
nem Endresultate beizustimmen. Die historische Persönlichkeit
Zarathustras ist nämlich nach unserer Ansicht zwar nicht durch
äussere Zeugnisse sichergestellt, wohl aber durch innere. Wenn wir
auch alle U eberlief er ung über Zarathustra verwerfen, den Namen
mit eingeschlossen , so tritt doch , sobald wir das nach ihm be-
nannte Religionssystem ernstlich untersuchen, an uns die Frage
heran, ob wir dasselbe iür eine allmählige Schöpfung des irani-
schen Volkes oder für das Werk eines Einzelnen halten wollen,
und in diesem Falle entscheiden wir uns mit voller Ueberzeugung
für das letztere. Natürlich wird der Volksgeist Jahrhunderte lang
thätig gewesen sein dem Schöpfer dieser Religion vorzuarbeiten,
aber die letzte Hand, das wiederholen wir, kann nur ein einzelner
und zwar ein hochgebildeter, genialer Mann angelegt haben, denn
Alles ist so genau bedacht und abgemessen, wie es sonst nur in
philosophischen Systemen, nicht in Religionen vorkommt. Wir
gehen sogar noch weiter. Aus denselben innern Gründen legen
wir auch der wenigstens im Oriente überwiegend beglaubigten
Tradition ein grosses Gewicht bei, dass Zarathustra im westlichen
Erän geboren und von dort nach Baktrien gekommen sei, um seine
Lehre zu verkünden. Untersuchen wir nämlich dieses Religions-
system, so trägt es allerdings unzweifelhafte Spuren in sich, dass
es im Osten des iranischen Reiches entstanden sei, allein ebenso
unzweifelhaft ist die Beimischung semitischer Ideen, die doch nur
aus dem Westen nach Ostiran gekommen sein können und die am
leichtesten ihre Erklärung finden, wenn man annimmt, der Stifter
der Religion habe sie mitgebracht. Die iranischen Priester waren
ein bewegliches Volk, das im Lande umherzog, und der Einzelne
vertauschte leicht seinen Aufenthaltsort mit einem andern, wenn
er hoffen durfte sich dort besser zu nähren, sie waren also ganz
darnach angetban in jener alten Zeit die Cultur zu verbreiten.
Auf diese Art werden wir zur Annahme eines aus dem Westen
gekommenen iranischen Religionsstifters gedrängt, wenn wir auch
nicht angeben können wie er geheissen habe.
Bisher sind wir mit unsern Ansichten mit Herrn K. nicht in
einen unversöhnlichen Gegensatz getreten. Nichts beweist, dass der
historische Stifter der iranischen Religion der in unserm Texte
genannte Zarathustra sein müsse, es wäre möglich, dass die histo-
rische Persönlichkeit mit einer mythischen zusammengeworfen wor-
den sei, ja sogar, dass sie sich absichtlich hinter dieselbe versteckt
habe. Um nun zu zeigen, in wie fern wir von den weiteren Er-
mittelungen Herrn K.'s abweichen, werden wir etwas weiter
ausholen müssen. Bekanntlich hat sich in neuerer Zeit aus der
noch jungen vergleichenden Sprachwissenschaft die vergleichende
Mythologie abgezweigt, welche für die Mythologie dasselbe zu lei-
sten versucht was die Sprachwissenschaft für die Sprache leisten
will. Sie sucht die mythologischen Vorstellungen zu ermitteln.
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676
Schriften Ober den ParsiemuB.
welche nicht nur einem einzelnen Volke angehören, sondern sich
bei alten oder doch den meisten indogermanischen Völkern vor-
finden, nnd von denen man daher annehmen darf, dass sie aas der
Zeit herrühren, in welcher sich der indogermanische Sprachstainni
noch nicht in seine verschiedenen Zweige gespalten hatte, mithin,
dass sie die ursprünglichsten sind. Es lässt sich hoffen, wenn nur
erst eine genügende Anzahl von solchen ursprünglichen mytholo-
gischen Gestalten ermittelt ist, dass man einen Einblick gewinne
in die allgemeinen Ideen, von welchen die indogermanische Mytho-
logie ausging. Ref. gehört nicht zu den Verächtern dieser Wissen-
schaft, erwartet im Gegentheil Grosses von ihr, um so mehr aber
muss er wünschen, dass sie nicht aus den ihr durch die Natur der
Sache angewiesenen Gränzen heraustrete, und namentlich sich aller
unberechtigten Eingriffe in das Gebiet der Einzelforschung ent-
halte. Die vergleichende Mythologie hat , wie ihr Name sagt, ver-
schiedene durch die Einzelforschung bei den verschiedenen indo-
germanischen Völkern ermittelte Mythologeme zu vergleichen, zu
untersuchen ob sie ursprünglich identisoh sind oder nicht. Am
sichersten erreicht man diesen Zweck, wenn mau nachweisen kann,
dass dersolbe Name eines Gottes bei verschiedenen indogermani-
schen Völkern vorkommt, doch kann in Ermanglung eines gemein-
samen Namens die ursprüngliche Identität auch aus gleichartigen
mythologischen Zügen erschlossen werden, die sich bei verschiede-
nen Völkern desselben Stammes finden, nur muss dann natürlich
begründet werden, dass diese Züge nicht blos gleichartig, sondern
identisch sind. Ist einmal nach diesen Regeln eine genügende An-
zahl von Mythologemen nachgewiesen, welche den ursprünglichen
mythologischen Zusammenhang zweier oder mehrerer Völker be-
gründen, so mag man in einzelnen Fällen einen Schritt weiter
gehen und den ursprünglichen Charakter einer mythologischen
Figur nach Analogie der übrigen herstellen, wenn nämlich das uns
überlieferte mythologische Material durchsichtig genug ist um uns
diess zu gestatten.
Kehren wir nach dieser Abschweifung wieder zu Zarathustra
zurück, so ist zuerst wohl als unzweifelhaft hinzustellen, dass die
Avestaphilologie als solche die Frage nach dem ursprünglichen Ge-
balt der Zarathustramythe nicht kümmert. Es ist gewiss, dass
schon das Avesta in Zarathustra einen Religionsstifter sieht, einen
Menschen wie andere, wenn auch mit besondern Gaben ausgerüstet,
die ihm nothwendig waren, da er mit einer besondern Sendung
betraut war. Was er in früherer Zeit war, in einer Zeit die jeden-
falls von unseren ältesten Urkunden durch Jahrhunderte getrennt
ist, kann die Avestaphilologie nur in so weit berühren, als diese
frühere Gestaltung der Mythe geeignet ist auch über die späteren
Texte noch Licht zu verbreiten. Aber auch für die vergleichende
Mythologie scheint Ref. Zarathustra keine geeignete Persönlichkeit
zu sein. Den Namen Zarathustra bei andern indogermanischen
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Schriften über den Parirfimns
677
Völkern nachzuweisen, ist nicht gelungen, obwohl man es versucht
hat, ebensowenig werden sich die ihn umgebenden Legenden in den
übrigen Mythologien wiederfinden lassen. Für uns, die wir den
Zarathustra im Zusammenhang mit den übrigen iranischen Mythen
aufzufassen gewohnt sind , bat diese Erscheinung nichts Auffallen-
des, wir halten ihn nämlich, selbst für den Fall, dass er ganz und
gar mythisch sein sollte, für ein speciell iranisches Gebilde, und
namentlich die mit ihm in Zusammenhang stehenden Vista^pa-
mytben lassen sich deutlich als bewusste Nachahmung der alten
Heldensage nachweisen, wenn diese Nachahmung auch älter ist als
unsere ältesten iranischen Denkmale. Der Weg indess , auf dem
Herr K. den mythischen Gehalt Zarathustras zu erforschen sucht,
ist ein anderer als der obeu von uns angedeutete. Er geht näm-
lich von der Etymologie aus und sucht aus der ursprünglichen Be-
deutung des Wortes die mythische Vorstellung zu ermitteln. Er
erklärt (p. 19) Zarathustra mit »Goldstern« aus zara Gold und
thustra, zusammengezogen aus thwistra. Nachdem er gefragt hat
ob nicht etwa Zarathustra nur ein anderer Name sei für Mithra,
fährt er fort (p, 24): »Der Name »glänzend wie Gold« zwingt
uns sicher nicht, denn obwohl die Sonne %Qvöo<paris ist, obwohl
sie vorzüglich zaratbuströtema heisst , so kann das Appellativ im
Positiv wenigstens auch auf andere Sterne passen. Ist es aber ein
Stern (oder die Personificirung eines Sternes), so muss es ein sehr
beller Stern sein, z. B. Canopns oder Sirius , oder unter den Pla-
neten, Venns. Nun, in der indischen Mythologie heisst dieser Pla-
net (Kavi Ucanas, (Jukra, Bhrigu u. s. w.) der weisseste, d. i. der
hellste unter den Sternen, er ist der Meister oder der Lehrer (im
Sanskrit gehen diese Begriffe in einander über, gerade wie bei uns)
der Asuras, welches Wort im Baktrischen abnra lautet; es wird
also nicht ungereimt sein, wenn wir einmal Zarathustra für den-
selben halten wie Kavi Ucanas: für den Abeudstern, Hesperus.«
Als Vervollständigung dieser Ansicht dient was Herr K. über
(>oshyanc bemerkt (p. 30); »Was und wer ist (^aoshyant ? Gram-
matisch ist es das pari fut. act. einer sogenannten Wurzel, die
sowohl im Sanskrit als im Altbaktri sehen euc heisst und »glänzen,
leuchten« bedeutet, (^aoshyant kommt überein mit sc. coxyant und
bedeutet also »leuchten werdende. Von eben diesem (juc kommt im
Sanskrit eukra, welches als Adjectiv »leuchtend« als Snbst. »der
Planet Venus« ist, das Avesta versteht unter Qaoshyant eine mythische
Person, welche der Bringer eines neuen Morgens für die Menschen sein
soll .. .« Ferner (p. 32) »(Jaoshyant wird aus dem Samen Zara-
thustras geboren, heisst es in der Bildersprache der Mythologie,
in schlichter Prosa, er ist eine spätere Form von Hesperus, er ist
eigentlich eins mit diesem. Eine Zeitlang wird Hesperus verschwin-
den, heliacisch untergegangen sein, aber nach einiger Zeit wird er
sich wieder im Osten zeigen, dort soll er heliacisch aufgehen.« —
Ref. spricht diesen Ansichten nicht den Scharfsinn ab, aber bei-
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678
Schriften über den ParslsmuB
stimmen kann er unmöglich, dazu ist seine eigene Methode bei
solchen Forschungen allzu verschieden. Schon dass Herr K. von
der Etymologie bei seinen mythologischen Untersuchungen ausgeht
können wir nicht billigen , obwohl wir wissen , dass er hierin mit
seiner Ansicht nicht allein steht. Wir halten die Etymologie in
mythologischen wie in andern Fällen, wo die specielle Bedeutung
eines Wortes in Frage kommt, für einen sehr unsichern Führer. Noch
hat die vergleichende Grammatik keine objectiv gültigen Gesetze
für die Bedeutungslehre geschaffen, sondern die Meisten verfahren
hierin nach ihrem subjectiven Gutdünken, wie neulich Schleicher
treffend bemerkte; um so weniger können solche Etymologien als
Ausgangspunkt für objective Forschungen dienen. Wir können
also in den Etymologion nur dann eine wichtige Beigabe für eine
mythologische Erklärung sehen, wenn schon andere Gründe für die-
selbe sprechen. Sodann können wir in dem vorliegenden Falle auch
die Etymologien selbst nicht billigen auf denen die mythologische
Erklärung ruht. Die Uebersetzung des Wortes zarathustra durch
»Goldstern« ist nicht neu, aber sie ist von dem Urheber dieser
Erklärung, Fr. Windischmann, selbst zurückgenommen worden
(cf. dessen zoroastrische Studien p. 46. 47); mit grossem Rechte,
denn eine Wurzel thwish, glänzen, gibt es im AI tbaktri sehen nicht,
und selbst wenn sie vorhanden wäre, so würde eine Zusammenzieh-
ung in thustra immer noch unerhört sein. Noch bestimmter müs-
sen wir uns gegen die Etymologie von (Jaoshyanc, erklären. Nach
der traditionellen Auffassung ist Qaosbyanc stets »der Nützende«,
und so erklären das Wort auch die alten Texte selbst, cf. Yt. 13,
129 avatha (jaosbyanc. yatha vlQpom ahum aetvantem cävayät d. i.
er ist so hülfreich, dass er die ganze bekörperte Welt erretten
wird, (^aoshyanc ist mithin nach der Ansicht der zarathustrischen
Religionsbücher selbst »der Retter« , und diese Ansicht ist auch
mit der Etymologie sehr wohl vereinbar, da die Wurzel eu, nützen,
im Avesta oft genug vorkommt und aus dieser in der That ganz
regelmässig ein part. fut. act. c,aosbyanc gebildet werden muss,
während dagegen <juc, leuchten, regelmässig caoksbyanc, bilden
würde, und wir annehmen mttssten, das kh sei unregelmäisiger
Weise ausgefallen.
Noch ein Punkt ist zu erwähnen, in welchem die grösste
Strenge dringend geboten ist, wenn wir über das Avesta und die
Sprachen, in welchen dasselbe verfasst ist, zu objektiven Resultaten
kommen wollen: wir meinen die Etymologie. Nach unserer An-
sicht sind die traditionell überlieferten Wortbedeutungen zwar
nicht auf Treu und Glauben anzunehmen, aber auch nicht leicht-
sinnig zu verwerfen und zwar muss man vor Allem suchen, die
älteren Wörter und ihre Geschichte innerhalb der iranischen Spraoben
selbst zu verfolgen, nur auf diese Art können wir hoffen, den in-
dividuellen Charakter der Sprache zu finden, der uns doch die
Hauptsache sein muss. Daher können wir es nicht billigen, wenn
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Schriften Ober den Parsisnms.
679
Hr. K. sagt (p. 16): >Es ist wahr, dass das Bäk tri sehe so nahe
mit dem Altindischen, besonders dem Veda, verwandt ist, dass es
ohne Uebertreibung ein Dialekt desselben heissen kann ; ans diesem
Grunde dürfen wir meist unsere Zuflucht zum Sanskrit nehmen. €
Wir halten diesen vielfach ausgesprochenen, aber in diesem Um-
fange nicht richtigen Satz für sehr gefährlich. Es lässt sich
zeigen, dass eine ganze Reihe von falschen Erklärungen diesen
Voraussetzungen ihren Ursprung verdankt und da diese Erklärungen
nicht selten wieder verwendet werden, um zu beweisen, dass das
Sanskrit so nahe mit dem Altbaktrischen verwandt sei, so bewegt
man sich fortwährend im Kreise. Auch der Verfasser vorliegender
Abhandlung hat sich nicht frei von den unrichtigen Erklärungen
halten können, welche aus jener Voraussetzung stammen. So er-
klärt er z. ß. (p. 15 not.) aparazäta durch »im Westen geboren. <
Der Gedankengang ist natürlich der folgende: das Altbaktrische
ist so ziemlich ein Dialekt des Sanskrit, im Sanskrit heisst apara
westlich, folglich heisst es im Altbaktrischen auch westlich. Un-
sere Methode ist eine ganz andere. Wir gehen nicht von oben
hinab, sondern von unten herauf. Wir sehen zuerst, dass die tra-
ditionellen Uebersetzungen dem Worte apara nur die Bedeutung,
der hintere, spätere, andere geben, wir sehen ferner, dass man in
der That mit diesen Bedeutungen für die Texte ausreicht und
ebenso auch die neueren iranischen Dialekte das Wort nur in
diesen Bedeutungen kennen. Aus den Texten sehen wir ferner,
dass sich die Eranier überhaupt anderor Ausdrücke für die Benennung
der Himmelsgegenden bedienen, als die Inder und daraus schliessen
vrir, dass sich Bedeutungen wie pürva östlich, apara westlich, die
ja auch im Sanskrit zu den abgeleiteten gehören, noch nicht ent-
wickelt hatten, als Inder und Er;\nier sich trennten. Es ist dem-
nach ganz richtig, wenn Justi in seinem Wörterbuche aparazäta
mit » nachgeboren c tibersetzt. Hr. K. fragt zwar sehr erstaunt:
> nachgeboren, nach wem oder was?«, aber diese Frage ist nur
t heilweise berechtigt. Gesetzt es würde uns gesagt, dass drei jetzt
lobende Individuen x. y. z. das Prädicat »naehgeboren« erhielten
und wir würden gefragt, warum dies geschehe, so würden wir in
aller Ruhe antworten: dass wir dies nicht wttssten, weil uns die
Verhältnisse der genannten Individuen unbekannt seien, wir wür-
den aber nicht schliessen, der Titel müsse unrichtig sein,
weil er uns unverständlich ist. Ganz im ähnlichen Falle befinden
v ir uns mit den Personen die im Avesta aparazäta genannt wer-
den, wir wissen von ihnen sehr wenig, eine Erklärung lässt sich
zwar geben, aber keine ganz sichere. Es wäre ein grosser Miss-
griff, wenn wir so objektiv ermittelte Wortbedeutungen wie die
vorliegende darum für unrichtig halten wollten, weil sie uns nicht
ganz verständlich sind. Aehnlich verhält es sich mit der p. 16
mit grosser Bestimmtheit vorgetragenen Ansicht epento mainyus
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«80
Schriften über den ParslnimiB.
Geist. Bekanntlich verstehen die Eranier aller Zeiten unter gpento
mainyns den vermehrenden, nnter agrö mainyus den schlagenden,
zerstörenden Geist und diese Bedeutungen lassen sich etymologisch
so leicht vermitteln, dass kein Grund vorhanden ist, von dieser
Ansicht abzuweichen.
Wir haben bereits so lange bei dieser kleinen Schrift ver-
weilt, dass es endlich Zeit sein wird, unser Urtheil zusammenzu-
fassen. Wir wissen es dem H. Verf. aufrichtig Dank, dass er
ernstlich und hoffentlich mit Erfolg an dem historischen Zara-
thustra gerüttelt hat, wenn wir uns auch mit den mythologischen
Begründungen, die er an die Stelle setzt, nicht einverstanden er-
klaren konnten.
Das zweite Werk führt uns unmittelbar in die alt^ranische
Literatur hinein und zwar in den schwierigsten Theil derselben.
Herr Kossowicz, dessen früheres Werk (decem Sendavestae excerpta)
wir bereits in diessen Blättern besprochen haben , beschenkt uns
hier mit einer Ausgabe der Gätha Ahunavaiti (Yaenacap. 28— 34.)
Die Gesänge, zu denen diese Abtheilnng gehört, bilden den ältesten
aber auch den schwierigsten Theil des Avesta, mehrere unter den
gerade hier veröffentlichen Stücken sind vergleichungsweise durch-
sichtig und wichtig, so z. B. c. 29 das von der Sendung Zara-
thustras handelt und c. 30 über die Schöpfung durch die beiden
sich entgegenstehenden Principien. Die vorliegende Ausgabe ent-
hält den Urtext mit lateinischer Uebersetzung, der auch noch eine
lateinische Paraphraso beigefügt ist, wo es nöthig schien, dazu
kurze Anmerkungen meist kritischen oder grammatischen Inhalts.
Der Verf. vorspricht uns, späterhin noch andere Theile der Gathäs
zu bearbeiten. Der Text ist nicht etwa nach einer der bereits
vorhandenen Ausgaben abgedruckt, sondern mit Hülfe der zugäng-
lichen Varianten selbständig constituirt und in nicht wenigen
Fällen eigen thtimlich. Nicht billigen können wir es, wenn Hr. K.
dio Präpositionen mit dem dazu gohörigen Verbum Uusserlicb ver-
binden will, wie z. B. paitlzanata (29, 11) upajacat (30, 6) aibl-
vaenata (31, 13) pairlgaetbe (34, 2) parövaokhema (34, 5). Der
lange Endvokal der Präposition zeigt in allen diesen Fällen deut-
lich, dass man sie vom Verbum abgetrennt wissen wollte ; wo diess
nicht der Fall ist, wird der auslautende Vocal auch in den Gathas
kurz geschrieben. Druckfehler haben sich trotz der Sorgfalt des
Verf. im Texte mehrere eingeschlichen, ausser den vom Verf. selbst
schon aufgeführten, haben wir noch die folgenden bemerkt: p. 113,
4. 1. managhö 124, pen. vlcpe*ng 128 pen. skyaothanäca 132, 8
ye* 135, 4. v. u. vakbsbyante ib. pen. ahnrahyä 138, 5 v. u. dregvatö
150, 5 yäo. Sehr häufig ist auch die seltenere Form des g für
c gesetzt worden. Von der Uebersetzung und den Noten mag es
genügen, hier im Allgemeinen zu sagen , dass die ganze Arbeit
nach dos Ref. Ansicht mit grosser Sorgfalt und Sachkenntniss aus-
geführt ist und von Niemanden übersehen werden darf, der sich
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Schriften Ober den Parslsmns.
681
mit den Gäthäs beschäftigt. Es bandelt sich bei diesen Stücken
ganz besonders dämm, den Gedankengang wieder aufzufinden, wel-
cher die einzelnen Verse und Strophen verbindet, und gerade bierin
scheint uns Hr. K. Treffliches geleistet zu haben. Dem Texte und
der Uebersetzung im Einzelnen zu folgen, unsere tbeils zustimmende
theils abweichende Ansicht auszusprechen und zu begründen, scheint
Ref. nicht rätblich, es wtirdo dies zu weit führen, andrerseits aber
auch nicht einmal von grossem Nutzen sein. Die Interpretation
der Gäthäs steht noch in ihren ersten Anfangen, es handelt sich
hier noch nicht um Einzelheiten, sondern um Allgemeines und All-
gemeinstes. Zwei philologische, oder besser zwei linguistische Rich-
tungen bekämpfen sich auf diesem Gebiet, welche beide unverein-
bar sind und desshalb ist es nöthig, gleich von Anfange an sich
zu entscheiden, welcher von beiden man folgen will. Es ist auch
hier die Frage, ob man von oben herab odor von unten hinauf
gehen soll. Die Richtung, welche Hr. K. gewählt hat und zu der
auch Ref. sich bekennt, geht von unten hinauf, man pflegt sie ge-
wöhnlich die traditionelle zu nennen, aber mit Unrecht; Ref. hat
schon vor langen Jahren, gleich bei dem Beginn seiner Studien
über die Gäthäs die Ueberzeugung ausgesprochen, dass die Tra-
dition in diesen Stücken nicht so zuverlässig sei, als in den üb-
rigen Thcilen des Avesta und diese Ueberzeugung ist auch bisher
nicht erschüttert worden. Leider ist aber mit einem solchen ne-
gativen Resultate gar nichts geholfen, wenn man die Gäthäs be-
arbeiten soll. Um die Gäthäs zu Ubersetzen und verstehen zu
lernen, bandelt es sich nicht darum, was man nicht brauchen,
sondern was man brauchen kann, es muss also die Tradition im
Einzelnen goprüft werden, was etwa als haltbar sich erweisen
möchte. Dazu wird man am besten von den übrigen leichter ver-
ständlichen Texten ausgehen und namentlich werden mit Hülfe
dieser Texte die Wortbedeutungen festzustellen sein. Eine solche
Prüfung führt nun zu dem Resultate, dass die Tradition hinsichtlich der
Wortbedeutungen zuverlässig ist und nur hinsichtlich der Wortver-
bindungen sich Unzukömmlichkeiten erlaubt; es wird also um so
mehr geboten sein ihr zu folgen, als der grösste Theil des Wort-
schatzes zu dem des übrigen Avesta stimmt und man also gar
nicht einsieht, wie die Wörter in den Gäthäs eine total verschie-
dene Bedeutung haben sollen. — Die andere Richtung geht von
oben her.ib. Der Satz, dass Veda und Avesta auf das innigste
verwandt sind, wird an die Spitze gestellt, es versteht sich also,
dass die ältesten Stücke des Avesta mit den ältesten indischen die
grösste Verwandtschaft haben müssen. Mit Hülfe des Sanskrit
nnd der übrigen indogermanischen Sprachen werden die Wortbedeu-
tungen in den Gäthäs festgestellt, zeigt sich dann unwiderleglich, dass
die späteren Schriften, des Avesta und die neueren eränischen Sprachen,
den Worten eiue andere Bedeutung geben, so kann diess nur ein
Abfall von dem Ursprünglichen sein. Bei dieser Richtung wird
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8*2
Schriften Ober den Parsiemua
ob sich hauptsächlich darum fragen , ob die Sprachvergleich-
ung eine objektive Metbode besitzt, um Wortbedeutungen aus ihren
Wurzeln mit Sicherheit zu ermitteln. Ist diess der Fall, so thut
man natürlich sehr Recht, von dieser Methode Gebranch zu machen,
nicht blos im Altbaktrischen , sondern auch in vielen anderen
Sprachen, bis jetzt aber müssen wir leugnen, dass eine solche Me-
thode gefunden sei. Wie dem auch sein möge, das kann nicht ge-
leugnet werden, dass man zu ganz andern Resultaten gelangt, je
nachdem man sich der einen oder der anderen Methode bedient.
Während wir auf unserem Wege zu der Ueberzeugung gelangen,
dass die Gäthäs sich in demselben Tdeenkreise bewegen wie die
Übrigen Schriften des Avesta, findet die andere Richtung in ihnen
ein ganz neues mythologisches System, das weder mit dem übrigen
Avesta noch mit einer anderen Religion tibereinstimmt.
Um aber nun den Beweis zu geben, dass wir das vorliegende
Buch auch im Einzelnen mit Aufmerksamkeit geprüft haben, heben
wir aufs Gerathewohl einige Stollen aus, in welchen uns der Verf.
das Richtige getroffen zu haben scheint 28, 8 hat Hr. K. wohl
richtig die Lesart raoghaoghöi vorgezogen, die sich schon aus
metrischen Gründen empfiehlt, und übersetzt demnach die 2 ps.
6g. (pergas impertire), wahrend Ref. bei der Lesart raoghöi ge-
zwungen war die 1. ps. sg. zu wählen. — c. 29 scheint uns im
Ganzen etwas zu spiritual istisch gefasst, doch ist auch hier im
Einzelnen manches beachten swerth. So möchte Ref. Hr. K. Recht
geben, wenn er 29, 2 dregvödibls als Instr. tibersetzt: una cum
omnibus malignis, wahrend Ref. das Wort im Sinne des Abi. fassen
wollte. Die Form dregvödibls jst nach den Hdschr. ebenso zu-
lässig wie dregvödebls, wir wollen also nicht missbilligen, wenn
Hr. K. sie vorgezogen hat, nur war dann 31, 3 auch cazdöghvadibyö
zu schreiben str. 5, welche Hr. K. den Priestern zutheilt, wird
nach der Tradition von Asha gesprochen str. 8 wird dem Vöhu-
mano, str. 10 dem Goshurun in den Mund gelegt. In 30, 3 hat
Hr. K. nach unserer Ansicht sehr mit Recht die Uebersetzung des
Wortes ye*mä durch »Zwillinge« verlsasen und übersetzt in terra,
dann hätte aber auch 31, 8 für yazu nicht die Bedeutung maxime
venerabilis beibehalten werden sollen, sondern die traditionelle
Bedeutung »abstammend« gewählt werden müssen. 30, 11 hat Hr.
K. das dunkle Sx. Aey. qlli, das ich rein conjectural mit »von
selbst« tibersetzt habe, wohl richtiger in Uebereinstiramung mit
Neriosengh durch alacriter oder cum voluptate, desiderio wieder-
gegeben, indem er an gr. gorAn, xaTi%& und einige slavische Ana-
logien erinnert. An andern Stellen möchte Ref. seine und die
traditionelle Ansicht gegen Hr. K. festhalten, z. B. 28, 6 wo Hr.
K. asbadäo als ein Wort lesen will, während die Tradition in
ftsha einen Vocativ sieht und dao als 2. pr. sg. betrachtet wissen
will. Ebensowenig können wir uns entschliessen, 29, 1. 5. die
Formen Khsbmaibya und vao als Duale aufzufassen. In 30, 5
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Die Ritler des Aristophanes von W. Ribbeck. 688
ist kein Grund, von der Lesart und gut beglaubigten Bedeutung
von vacte abzugeben und dafür vastc aufzunehmen und zu über-
setzen. Auch 31, 7 dürfte die Correktur ya<; tä sich nicht be-
stätigen und bei der Lesart yaetä sein Bewenden haben. Doch
die88 sind Kleinigkeiten, im Ganzen stimmen wir der Erklärungs-
weise des Verf. bei und hoffen, dass auch diese neue Bearbeitung
der Gathäs gute Früchte tragen werde. Fr. Spiegel.
Die Ritter des Aristophanes griechisch und deutsch mit kriti-
schen und erklärenden Anmerkungen von W. Ribbeck. Ber-
lin. Verlag von F. Guitcntag. 1867. VIII u. 333 8. in gr. 8.
Diese Bearbeitung der Ritter des Aristophanes schliesst sich
ganz, nach Plan und Einrichtung, an die ähnliche Bearbeitung der
Acharner an, welche der Verfasser im Jahre 1864 hatte erscheinen
lassen, sie unterscheidet sich in dieser Beziehung nur dadurch, dass
der Verf. unter dem Texte nicht etwa blos eine Ausnahme der
nabmhaftesten Abweichungen angegeben, sondern die bandschrift-
liche Varia lectio aufgeführt hat in der Weise, wie sie von den
verschiedenen Herausgebern bis jetzt mitgetheilt worden ist ; aller-
dings nehmen hier die ravennatische und venetianische Handschrift
die erste Stelle ein, und lassen die Abweichungen, welche in Be-
zug auf die erstere Handschrift zwischen den Mittheilungen Yon
Bekker und Dindorf stattfinden , allerdings dringend eine neue,
sorgfaltige Collation dieser Handschrift wünschen, wie diess über-
haupt bei allen den von Bekker verglichenen und benutzten Hand-
schriften auch bei andern Autoren der Fall ist, da. man sich, wie
Ref. zur Genüge erfahren hat, auf keine der Collationen Bekker's,
namentlich was die für die kritische Würdigung doch nothwendige
Vollständigkeit und Genauigkeit derselben betrifft, verlassen kann.
In der vorliegenden Ausgabe der Ritter erhalten wir demnach
zuerst eine Einleitung, in welcher die historischen Beziehungen,
unter welchen dieses Stück auf die Bühne gebracht wurde, erörtert,
der Inhalt des Stückes genau nach seinen einzelnen Theilen ange-
geben, und zuletzt noch die in neuester Zeit vielbesprochene Person
des Kleon in ihrem Verhältniss zu Aristophanes gewürdigt wird,
indem davon allerdings die richtige Auffassung des ganzen Stückes
abhängig ist. Aristophanes kann nach dem Verf. (S. 17) nicht
als ein unparteiischer Beurtheiler des Kleon gelten, da er ein po-
litischer Gegner desselben war und die Rittor schrieb nach einem
Processe, den er sich durch seine früheren Angriffe auf Kleon zu-
gezogen hatte, was begreiflicher Weise auch auf die Darstellung
des Kleon in diesem Stücke Einfluss üben musste und die üeber-
treibungen hinreichend schon zu erklären vermag, welche der Dich-
ter sich in dem Bilde erlaubte, das er von Kleon für die Bühne
*
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684 Die Ritter des Aristophane« von W. Ribbeck.
entwarf. »Kloon war, so urthoilt der Verf. S. 19, ein in Partei-
Ansichten befangener aber tbätiger und mit populärer Redegabe
ausgestatteter radicaler Demokrat von höchst sanguinischem Tem-
perament, der dem Vaterland zu dienen glaubte, aber einerseits
falsche Vorstellungen von dem hatte, was zum Heile des Vater-
landes gereichte, andererseits vermöge seiner Eitelkeit und seines
ungezügelten lebhaften Natureis bisweilen unbewusst, bisweilen ab-
sichtlich als Staatsmann persönliche Zwecke verfolgte. Im Einzel-
nen hat Aristophanes ihm Motive und Handlungen angedichtet Mer
scheint sie ihm anzudichten, die nicht als böswillige Verl äum dun gen
aufzufassen sind und deren wahre Meinung das Publikum gewiss
sofort wird erkannt haben. So kann, wer den Kleon aus Aristo-
phanes allein kennen lernen will, abgesehen von dem anmuthigen
Bilde, das er dann von der persönlichen Erscheinung des unglück-
lichen Mannes bekommt, ihn nur für den abgefeimtesten Gauner
und ruchlosesten Räuber halten, der je mit rafflnirter Bosheit einen
Staat ruinirt und ausgesogen hat. Aber Aristophanes hat sich
sicherlich nicht träumen lassen, dass es einem späten Geschlechte
beikommen würde, alle seine Crimina für vollkommen buchstäb-
lich gemeint zu nehmen« u. s. w. »Dergleichen Erfindungen, so
schlichst der Verf. seine ins Einzelne der gemachten Anschuldigun-
gen noch näher eingehende Betrachtung, gehören aber zum Apparat
der Komödie und dürfen nicht mit dem Maassstabe der strengen
Wahrheit gemessen werden.«
An die Einleitung schliesst sich noch eine TJebersicht der von
dem Dichter in diesem Stücke angewendeten Metra, Vers um Vers,
und nun folgt, nach den vorausgeschickten griechischen Argumen-
ten oder 'Titoftitisis, der Text des Stückes mit der gegenüberstehen-
den deutschen Uebersetzung : darunter auf beiden Seiten die Zn-
sammenstellung der Varia lectio nach den Handschriften und Ci-
taten, welche bei den Grammatikern vorkommen , die hier mit
vieler Sorgfalt und in aller Vollständigkeit angeführt sind. Auf
den Text, der mit S. 227 schliesst, folgt der Coramentar, d. h.
die auf dem Titel bezeichneten kritischen und erklärenden An-
merkungen. Dieselben sind kritisch, insofern sie in einzelnen Fällen
die aufgenommene Lesart rechtfertigen oder in zweifelhaften Stellen
auf die richtige Lesart führen sollen ; die Mehrzahl dieser Anmer-
kungen betrifft das richtige Verständniss und die richtige Auffas-
sung einzelner in sprachlicher wie sachlicher Hinsieht schwierigen
Stellen und namentlich finden sieb auch die sachlicheu Punkte be-
rücksichtigt. Es kann hier nicht der Ort sein, in das Einzelne
der kritischen Behandlung, die allerdings manche Abweichung von
den bisherigen Herausgebern bietet und das selbständige Verfahren
des Herausgebers kennzeichnet, oder auch in die Einzelheiten der
Erklärung näher einzugehen, indem diess billig den philologischen
Zeitschriften, die dazu mehr Raum bieten, zu überlassen ist; man
wird aber, bei näherer Durchsicht, auch wenn man über Einzelnes
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Die Ritter des Arietophanes von W. Ribbeck.
eine andere Ansicht hegen sollte, wie diess in der Natur der Sache
selbst liegt, im Allgemeinen kein Bedenkeu tragen, diese Anmer-
kungen für befriedigend und den Bedürfnissen des Lesers, der diese
Ausgabe benutzt und ein volles Verständniss dieses Drama' s ge-
winnen will, für entsprechend zu erklären. Was die deutsche Ueber-
setzung betrifft, dis sich streng an daB griechische Original hält
und dieses getreu wiederzugeben bemüht ist, mit Beibehaltung des-
selben Metrum's (was bekanntlich keine geringe Schwierigkeit ist),
so wird ihr Charakter am besten aus einer Probe ersichtlich sein,
welche wir hier beifügen wollen. Wir wählen dazu die in Ana-
pästen gehaltene erste Parabase Vs. 506 ff. (492 ff), in welcher an
die Zuhörer folgende Worte vom Chor gerichtet werden:
Ihr aber, wir bitten, verleiht uns Gehör und vernehmet des Chors
Anapaiste.
Kam sonst ein Komödienscbreiber und hiess zum Theater uns spre-
chen, ein alter,
was er über dieses und jenes gedacht, in muthiger Festparabase,
nicht leicht wohl geschah ihm der Wille sodann ; doch diesmal ver-
dient es der Dichter,
denn er hasset von Herzen dieselben wie wir, und was Recht ist,
das sagt er mit Kühnheit,
Trotz bietet er mannhaft des SturmeB Gebrüll und der tobenden
Wuth des Orkanos.
Mit Staunen — so spricht er — ist mancher von euch schon zu
ihm gekommen, zu fragen,
warum er nicht selber in eigner Person schon lange den Chor sich
gefordert ;
das sollen wir jetzt euch erklären, will er. Nicht Thorheit war's,
was ihn also
im verborgenen hielt — das trug er uns auf — , vielmehr es bewog
ihn die Meinung,
nicht geV es ein schwieriger Ding auf der Welt als Komödien
schreiben und spielen,
denn viele schon hätten's versuchet, und doch nur wenigen sei es
gelungen ;
und dann auch, dass er veränderlich euch schon immer und launen-
haft kannte,
wie die früheren Dichter im Alter noch stets ihr missachtet und
treulos verlassen.
Da dacht1 er zuerst, wie es Magnes erging, als grau sich der Scheitel
ihm färbte,
der die Gegner doch früher mit Chören so oft aufs beste zu schla-
gen verstanden;
zu ergötzen wohl wusst' er mit allerlei Klang, mit der Laute, mit
Vögelgezwitscher,
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686 Die Ritter des Arietophanes von W. Ribbeck.
mit Lydergesang, Gallwespengesumm, laubfroscbgrünschimmerndem
Anstrich;
doch gefiel er zuletzt euoh nicht mehr, er ward (ein Greis, nicht
da er ein Jungling),
weil im Spotten der Meister dem Alten sich fand, vom Theater
gar schimpflich verbannet.
Und weiter gedacht er des wackern Kratin, wio er einst weit strah-
lendes Ruhmes
einherfuhr über das flache Gefild ein gewaltiger Strom und ent-
wurzelnd
mitführte Platanen und Eichen mit Macht und zu Boden geschmet-
terte Feinde;
bei Gelagen vernahm man nichts anderes mehr, als 'Bestechung mit
Feigensandalen
und 'Bildner des Sanges voll edelster Kunst', so hoch stand jener
in Blüthe.
Doch nun, da ihr seht, dass zum Aberwitz ward sein Witz, wo
fühltet ihr Mitleid,
da der Schmuck ihm dahin und der mächtige Klang aufhört von
der Leier zu strömen
und die Saiten verstimmt und die Fugen gesprengt? so irrt er als
Greis nun verlassen,
gleich Konnas bewahrend den trockenen Kranz, doch verschmach-
tend mit durstiger Zunge ;
der ob früherer Siege doch wahrlich verdient hochpreislich im
Rathhaus zu zechen
und nimmer zu faseln, ansehnlich vielmehr ein Geselle des Bakchos
zu thronen.
Und Krates, was hat er für Launen von euch zu erdulden gehabt
und für Tritte,
der mit massigen Kosten ganz tüchtig verstand euch bewirthet von
hier zu entsenden
gar spasshafte Sachen nach Hausmannsgeschmaok zurüstend für
eueren Gaumen;
doch hat er sieb allein noch gehalten, manchmal durchfallend und
manchmal gefallend.
Dies allos hat immer in Angst ihn versetzt, und dazu noch erfüllt
ihn die Meinung,
erst müsse man gründlich das Rudern verstehen, eh' am Steuer zu
sitzen man tauge,
dann Untersteuermann werden gemach und die Winde studieren
mit Eifer,
und zuletzt erst komme des Steuermanns Kunst. Aus all den
Gründen nun also,
weil mit Sinn und Verstand er die Sachen betreibt und nicht albern
ins Haus mit der Thür fallt,
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Vering: Geschichte v. Institutionen des röm. Rechte. 8. Aufl. 687
hoch lasset des Beifalls Wogen ihm geh'n und erhebet mit elf-
fachem Schlage
des lenaischen Festes willkommenen Lärm,
dass der Dichter hübsch fröhlich das Haus nns verlässt,
weil es heut ihm gelahg,
hell strahlend mit leuohtendem Antlitz!
Oder die Ansprache an die Pallas in der Antistrophe in Gly-
coneen 581 ff.
Schützer in Pallas, unsres hoch-
heiligen Landes Königin,
welches der Dichter Ruhm und Kriegs-
thaten und Macht erheben weit
über die Länder alle;
nah' dich, o komm mit unserer
Gönnerin Nike auf den Feld-
zügen und in den Schlachten,
die der festlichen Chorlieder sioh freuet
und den Feinden mit uns stehet genüber.
Komm o Göttin, erscheine jetzt!
gilt's mit jeglicher Kunst doch heut
uns den Männern des Ritterstands
Sieg zu schaffen, wenn jemals.
Nooh ist zu bemerken, dass ein Index beigefügt ist, in wel-
chen jedes griechische Wort, das in diesem Stücke vorkommt, auf-
genommen ist. Die äussere Ausstattung des Ganzen in Druck und
Papier ist vorzüglich zu nennen.
Geschichte und Institutionen des römischen PHvatrechts von Dr.
Friedrich H. Vering, Professor der Rechte an der Uni-
versität au Heidelberg. Zweite umgearbeitete sehr vermehrte
Außaqe. Mainz. Verlag von Frans Kirchheim. 1867. XI und
564 S. gr. & (2 Thlr.)
In meiner Selbstanzeige der ersten Auflage in diesen Jahr-
büchern 1865. Nr. 30. S. 476 ff. habe ich mich über Zweck und
Plan meines Werkes des Näheren ausgesprochen. Die vorliegende
zweite Auflage ist eine umgearbeitete und sehr vermehrte. Der
Text des Buches ist um 118 Seiten vermehrt, dagegen das Regi-
ster durch oompresseren Druck auf einen um einen halben Bogen
kleineren Raum zusammengedrängt. Ich habe im Wesentlichen den
ursprünglichen Plan festgehalten, ein Lehrbuch der Geschichte des
römischen Privatrechts und des heutigen gemeinen Rechts zu bie-
ten, welches sich durch Einfachheit und Fassliohkeit der Darstel-
Digitized by
688 Vering: Geschichte n. Institutionen des röm. Rechts. 2. Aufl.
lung als Eiuleituugswerk für Anfanger und durch Vollständigkeit
seines Inhalts auch zur Repetition und zum Nachschlagen eigene.
Durch viele grössere und kleinere Verbesserungen in der Fassung
und Darstellung, durch einige Erweiterung der äussern Rechtsge-
scbichte, Vervollständigung der inneren Rechtsgeschichte und theii-
weise neue Aufnahme einer Anzahl dogmatisch wichtiger Lehren hoffe
ich das Buch für seinen Zweck noch brauchbarer gemacht zu haben.
Statt der früheren 18 Bücher, in die das Werk zerfiel, habe ich
aus Buch I — IX jetzt ein erstes Buch: Allgemeine Lehren
mit 9 Kapiteln gemacht (1. von dem Rechte und den Rechtsregeln
im Allgemeinen, 2. die Bearbeitungen und Sammlungen des römi-
schen Rechts, 3. die Natur der Rechte im 6ubjectiven Sinne, 4. von
der Rechtsfähigkeit oder Persönlichkeit, 5. Begriff und Arten der
Sachen, 6. von dem Erwerbe und Verluste der Rechte, 7. vom
Einflüsse der Zeit, 8. die Sicherung und Vertheidigung der Rechte,
9. der Besitz). Buch II behandelt in 5 Kapiteln die dinglichen
Rechte (1. Eigenthum, 2. Servituten, 3. Emphyteuse, 4. Superficies,
5. Pfandrecht). Buch III das Obligatiouenrecht. Buch IV in 3 Ka-
piteln das Familienrecht (1. das Eherecht, 2. die patria potestas,
3. die Vormundschaft). Buch V das Erbrecht.
Auch die Zahl der Paragraphen ist von 236 auf 274 ver-
mehrt, iudem mehrere ganz neu hinzugefügt und einige durch Zer-
legung in kleinere Abschnitte'unter Erweiterung des Inhalts dersel-
ben hinzugekommen sind. Im ersten Buche sind namentlich ganz
neu hinzugefügt, die Paragraphen 22 — 24 über die Anwendung
der Gesetze in Ansehung der Personen, in örtlicher Beziehung und
in Ansehung der Zeit, §.27 über die römischen Juristen in ihrer
Aufeinanderfolge und deren Tbätigkeit im Einzelnen, §. 83 von
der Stellvertretung u. s. w. Auch habe ich jetzt an verschiedenen Stel-
len kurz die Grundabweichungen des germanischen, des canonischen
und des modernen Rechtes von den römischen Rechtsgrundsätzen
mit Petitschrift hervorgehoben. So S. 222 die Ausdehnung des
Begriffes der juris quasi possessio im canonischen und germanischen
Rechte, S. 278 die deutschrechtliche Erbpacht im Unterschiede von
der Emphyteusis, S. 317 die modernen Obligationen auf den In-
haber im Gegensatze zur römischrechtlichen Unübertragbarkeit des
Forderungsrechtes, S. 462 die Grundabweichungen des germanischen
und canonischen Begriffes der Erbschaft und Erbfolge von der Auf-
fassung des römischen Rechts. Im Einzelnen ist so zu sagen kein
Paragraph ohne grössere oder kleinere Veränderungen und Verbes-
serungen geblieben. Auch der Druck in der 2. Auflage zeichnet
sich durch viel grössere Correktheit von der 1. Auflage aus, wäh-
rend im Uebrigen die Ausstattung vielleicht noch mehr wie bei
der 1. Auflage befriedigen wird. Fr. H. Vering.
Digitized by Google
Nr. 44.
HEIDELBERGER
1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Traiie d'Algebre, ä l'usage des candidats aux Ecoles du Gouver-
nement, par //. Laurent, Repe'tileur d* Analyse ä VEcole
Polytechnigue et ancien Eleve dt cette Ecole. Paris, Qauthier-
Villars. 1867. (XVI. u. 520 8. in 8).
Das vorliegende Buch hat sieh zur Aufgabe gestellt, dieje-
nigen, welche in die Schulen der französischen Regierung eintreten
wollen, in der Algebra so weit zu führen, als das von der Regie-
rung festgesetzte Programm es fordert. In einigen Punkten ist es
übrigens insoferne von diesem Programme abgewichen, als eine
oder die andere Theorie etwas weiter entwickelt wurde, als nach
der Vorschrift gerade nöthig war.
Indem wir nachstehend eine kurze üebersicht des Inhalts
geben, bezwecken wir zugleich damit, das Maass der elementaren
Kenntnisse in der Mathematik zu bezeichnen, welche in Frankreich
für den Eintritt in die polytechnische Schule und ähnliche An-
stalten gefordert werden. Dazu bemerken wir gleich von vorn
herein, dass die Darstellung im Allgemeinen eine untadelhafte ist.
Das Buch beginnt mit der Theorie der >vier Operationen«,
nachdem es die negative Zahl nicht als für sich bestehend ange-
sehen wissen will, sondern sie immer nur als Theil einer Formel,
in der die übrigen Glieder eben nicht besonders angegeben wer-
den, betrachtet. Darauf wird der Gränzbegriff eingeführt und auf
die Behandlung der incommensurablen Grössen angewendet, und
endlich die Grundprinzipien der algebraischen Rechnung augegeben.
Das zweite Kapitel behandelt die Polynome, die algebraischen
Brüche und die mit diesen Grössen auszuführenden (vier) Rechnungs-
arten, worauf im dritten Multiplikation und Division geordneter
Polynome, die Eigenschafton ganzer Funktionen und die dabei in
Betracht kommende Methode der unbestimmten Koeffizienten dar-
gestellt werden.
Das nächste Kapitel betrachtet die arithmetischen Warzol-
grüssen, bezüglich deren Theorie; beweist sodann die Binomial-
formel, welche auf ein beliebiges Polynom erweitert wird, wozu
noch die Ausziehung der Quadratwurzel aus einem Polynom hinzu-
kömmt. Im fünften Kapitel werden die Gleichungen ersten Grades
mit einer und mehrern Unbekannten nach verschiedenen Methoden
aufgelöst, wobei auch die Ausnahmsfalle, die dabei auftreten können,
berücksichtigt werden. Hieran schliest sich naturgemäss eine ele-
mentare Theorie der Determinanten, dann einige Aufgaben, sowie
einige Fuudamentalsätze der Theorie der Gränzwerthe.
LDL Jahrg. 9. Heft
44
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L»urent: Tralte d'Algebre.
Das sechste Kapitel behandelt die Gleichung zweiten Grades
in eingehender Weise, woran die Auflösung von Aufgaben Aber
Maxima mittelst der Gleichungen zweiten Grades geknüpft werden.
Die arithmetischen und geometrischen Reihen in kurzer Darstel-
lung bilden den Inhalt des siebenten Kapitels, indess das achte in
grösserer Ausführlichkeit die combinatorischo Analysis behandelt,
wobei das Binom, die figurirten Zahlen, die Berechnung der
Anzahl Kugeln in Kugelhaufen, die Factoriellen und einige Sätze
aus der Zahlenlehre als Anwendung der allgemeinen Sätze auf*
treten. Damit schliesst der erste Theil des Buches.
Der zweite Theil, welcher die > algebraische Analysis« ent-
halt, beginnt mit dem Begriffe der Stetigkeit und einigen Sätzen
über stetige Funktionen, worauf dann die einfache algebraische
Funktion (x10), die Eponentialfnnktion (a*) und die logarithmische
Funktion (log x) hinsichtlich ihrer Eigenschaften untersucht wer-
den. Bei letzterer vorweilt das Buch, wie das in der Natur der
Sache liegt, länger, indem namentlich die geschichtliche Entwick-
lung des Logarithmus dargestellt wird. Als Anwendung erscheint
die Zinseszins- und Annuitäten-Rechnung.
Im dritten Kapitel wird die Theorie der imaginären Grössen
dargestellt. Der Verf. geht dabei von der Cauchyschen Theorie
der algebraischen Schlüssel (clefs) und dessen symbolischen Gleich-
ungen aus. Die ganze Theorie erhält aber dadurch so sehr einen
Anstrich von Willkürlichkeit, dass wir nicht dafür halten, in einem
elementaren Kursus so verfahren zu sollen. Ohnehin ist die Be-
deutung von V- Ii wenn man von einer solchen reden will, in
dieser Weise nicht festzustellen.
Das vierte Kapitel behandelt in eingehender Untersuchung
die allgemeine Theorie der Reihen, also vorzugsweise die Konver-
fenz und Divergenz unendlicher Reihen, dann die Rechnung mit
lenselben, woran die Summirung einiger unendlicher Reihen sich
schliesst, wie etwa des (allgemeinen) Binomiums ; daraus dann Be-
stimmung des Gränzwerthes von ^1 +~^» die exponentiale und
die trigonometrischen Reihen, die logarithmische Reihe, Berech-
nung von n u. s. w.
Das fünfte Kapitel handelt von den unendlichen Produkten
und den Kettenbrüchen, wobei namentlich auch die Verwandlung
von Reihen in Kettonbrüche erläutert wird. Im sechsten Kapitel
wird sodann die Theorie der ganzen Funktionen, also die Elemente
der höheren algebraischen Gleichungen gegeben; die eigentliche
Auflösung der numerischen Gleichungen findet sich sodann im fol-
genden Abschnitte, in dem alle Sätze zusammengestellt sind, na-
mentlich werden die bekannten Lehrsätze von Descartes, Budan
(Fourier), Rolle und Sturm erwiesen. Die thatsächliche Auflösung
mittelst der theoretisch angedeuteten Näherungsmethoden ist wohl
etwas zu kurz abgethan.
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Europäische Gradmewung für 1866.
691
Zur Theorie der Gleichungen gehört aaeh noch das achte
Kapitel, das von der Elimination handelt, bei der dann natürlich
der Satz von Bezout (nach Lionyille) bewiesen wird. Einige be-
sondere Arten von Gleichungen (binomische, dritten und vierten
Grades) löst der nächste Acshnitt auf.
Im zehnten Kapitel wird die Zerfällung in PartialbrUche ge-
lehrt, während das elfte (nnd letzte) die Elemente der Differential-
rechnung (unter der Bezeichnung: theorio des fonctions därivees)
auffuhrt. Die Anwendungen beziehen sieh auf eine kurze Darstel-
lung der Maxima und Minima, den Beweis des allgemeinen Taylor?
sehen Satzes und die Untersuchung der scheinbar unbestimmten
Formen.
Damit haben wir in Kurze den Inhalt des Buches näher be-
zeichnet und empfehlen dasselbe, seiner im Allgemeinen gründ-
lichen Darstellung wegen, der Aufmerksamkeit der jungen Mathe-
matiker.
Generalbericht über die europäische Qradnxemmg für das Jahr
1866. Berlin. Druck und Verlag von Qeorg Reimer. 1867.
Indem wir für die gütige Zusendung des Generalberichtes für
1866 unsern Dank hiermit aussprechen, wollen wir den Leaern
dieser Blätter durch eine Uebersicht des Inhalts den Stand des
für die Wissenschaft so wichtigen Unternehmens am Schlüsse des
Jahres 1866, das allerdings für solche Arbeiten nioht günstig war,
bezeichnen.
Wie aus unsern früheren Anzeigen bekannt, enthält der „Ge-
neralbericht c die Zusammenstellung der Berichte der einzelnen
Kommissäre (Länder) jeweils auch noch mit wissenschaftlichen
oder praktischen Beigaben, die dem angestrebten Ziele dienen.
Der alphabetischen Ordnung folgend, beginnt Baden die Reihe
dieser Berichte. Nachdem, in Folge der Aufforderung des Zentral-
bureaus für die europäische Gradmessung, von der Grossherzog-
lichen Regierung die Originaldreiecke erster Ordnung an jenea
eingereicht waren, stellte sich, wie schon aus den früher vorgelegten
Koordinaten, heraus, dass zwischen der badischen Vermessung
nnd den an sie angeschlossenen Differenzen bestehen, welche als
unzulässig erklärt werden müssen. Es wird also wohl eine neue
Messung nothwendig werden und es hat sioh dessbalb das Central?
bureau (Vorstand: General Baeyer) erboten, Beobachter und In?
strumente dazu zu stellen, natürlich unter der Voraussetzung, daas
die badiache Regierung — wie sie dies selbst vorgesehlagen — die
weitern Kosten trage.
Aus Baiern, Belgien, Dänemark gingen bis zur Ab-
fassung des Berichts noch keine Naohrichten ein. Frankreich, das
bekanntlich nicht in den Bereich der eigentlichen Gradmessung fällt,
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692
Europäische Gradmessung für 1866.
hat aber sonst seine Mitwirkung durch Anschluss seiner ausge-
dehnten Messungen, sowie durch Messung von Längengraden u. s.w.
zugesagt. Yvon Villarceau hat in einer kleinen Schrift : Notice
snr les travaux soieutifiques, Paris 1866, eine historische Über-
sicht über die wissenschaftlichen Arbeiten in Frankreich gegeben,
aus der nun der Generalbericht so viel heraushebt, als zum Ver-
ständnisse dessen nöthig ist, was durch die Mitwirkung Frankreichs
für die europäische Gradmessung geschehen ist. Diesen Auszügen
ist ein Aufsatz von Y. Villarceau beigegeben } in dem ein neues
Theorem in Bezug auf den Eiufluss der Lokalanziehungen auf Länge
und Azimuth erwiesen und dann zum Beweise des von Laplace
in der »Mecanique Celeste« (Ausgabe von 1799, tome II, pag. 177,
Zeile 5 v. u.) durch eine sehr umständliche Behandlung gefundenen
Satzes verwendet wird. Die allgemeine Anwendung dieses Satzes
auf das Studium der Erdfigur wird dann noch angedeutet. End-
lich ist eine neue Bestimmung des Haupt - Azimuthes zur allge-
meinen Orientirung der Karte von Frankreich, von demselben Ge-
lehrton, angegeben.
Aus Darm stadt ging kein Bericht ein; aus Holland ging
wohl ein solcher ein, der aber wesentlich nur Pläne für die Zu-
kunft enthält. Aus Italien wird eine »Kelazione sugli studii
fatti per assegnare il coefficiente di temperatura, e la lunghezza
della Tesa del Macchsto Spano inviata a Berlino« mitget heilt,
deren Titel ihren Inhalt genügend bezeichnet und wozu wir nur
bemerken, dass die Beobachtungen selbst mitgetheilt sind.
Mecklenburg und Oesterreich haben keine Berichte
eingesendet; dagegen ist aus Oldenburg ein solcher über die
Feststellung eines Beobachtungspunktes am Jade-Busen und über
dort gemachte Beobachtungen vorgelegt.
Nachdem die spanische Regierung sich aus freien Stücken er-
boten, bei der europäischen Gradmessung ihrerseits mitzuwirken,
wurde auch die portugiesische darum ersucht, und es hat letztere
den Direktor des geographischen Instituts in Lissabon beauftragt,
sich hierwegen mit dem Centraibureau in Verbindung zu setzen.
Aus Preussen erstattet zuerst General Baeyer Bericht über die
durch den Krieg leider beschränkten Arbeiten des Jahres 1866;
sodann werden Berichte aus Holstein, Hannover, Kurhessen, zum
Theile unter Mittheilang von Originalbeobachtungen, aufgeführt.
Eine höchst wichtige Zugabe bildet ein Auszug aus dem »Monats-
bericht der k. Akademie der Wissenschaften zu Berlin« worin die
Beobachtungen besprochen werden, welche General Baeyei über
>die Veränderungen, welche Maassstäbe von Eisen und Zink in
Bezug auf ihre Länge und ihren Ausdehnungs-Koeffizienten mit der
Zeit erleiden«, gemacht hat.
Russland sandte den 27. Band der Memoiren des Kriegs-
karten-Depots ein; die telegraphischen Lungenbestimmungen wur-
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Europaische Gradmesaung für 1866. 698
den von Saratow, wo sie 1865 abgebrochen wurden, bis Orenborg
fortgesetzt.
Aus Sachsen erstattet Weisbach Bericht über eine Reihe
von Nivellirarbeiten , und Bnihns über die begreiflich sehr be-
schränkten geodätisch-astronomischen Arbeiten. Aus Schweden
wird angezeigt, dass ungeachtet der beständig misslichen Witte-
rung, behufs Umarbeitung des im Anfang dieses Jahrhunderts ge-
messenen Dreiecksnetzes, die Ausstreckung des (neuen) Netzes voll-
zogen wurde.
Aus der Schweiz wird ein Protokoll- Auszug der Commissions-
Sitzung vom 4. April 1866, Nivellirungsarbeiten betreffend, mitge-
tbeilt; Spanien ist mit seinem Berichte noch im Rückstand und
Württemberg erwartet noch bestimmte Entscbliessung seiner
Regierung.
So weit der Generalbericht, wie er der diesjährigen Conferenz
in Wien vorzulegen war (25. April). Nachträglich sind nun noch
weitere Einzelberichte eingegangen, die also auch als »Nachtrag«
zu dem eigentlichen Berichte erscheinen.
Aus Oesterreich, in dem die geodätischen Arbeiten zu
feiern hatten , werden (ausführlich) astronomische Beobachtungen
zur Feststellung von Azimuth und Polhöhe mitgetheilt, die durch
diese vollständige Darlegung von grossem Interesse sind ; aus
Preussen ist ein Bericht des Prof. Förster über die Längebe-
stimmung Berlin-Königsberg gegeben, in dem ganz besonders auf
die persönliche Gleichung zwischen den Beobachtern Rücksicht ge-
nommen wird; endlich enthält eine »Beilage« den Beweis, dass
auch in Preussen, wie anderwärts, zuweilen Missverständnisse vor-
kommen. Unsers Wissens ist die hier berührte Sache, welche
schon in dem Generalbericht für 1865 (S. 30) angodeutet wurde,
auch anderweitig zur öffentlichen Besprechung gelangt.
Zum Schlüsse unserer Anzeige können wir nur den Wunsch
aussprechen, dass der um die Wissenschaft und die Anwendung
derselben so hochverdiente General Baeyer noch lange mit unge-
schwächter Kraft an dem von ihm unternommenen und ins Leben
gerufene Werken thätig sein möge.
Dem Generalbericht liegt das »Protokoll der Sitzungen der per-
manenten Comraission der mitteleuropäischen Gradmessung in Wien
vom 25. — 30. April 1867« bei. Diese Sitzungen wurden unter dem
Vorsitze von Hansen und mit den Schriftführern Bruhns und
Hirsch an den eben angegebenen Tagen gehalten. Ihnen wohnten,
ausser den Genannten, noch die Mitglieder der permanenten Kommis-
sion : Baeyer und v. F 1 i g e 1 y , sowie die (Rcgierungs-)Commissare
Peters, Wittstein, Herr, Schering, Hornstein und v.
Ganahl bei. Die Verhandlungen bewegten sich im Kreise der bereits
im Generalbericht angedeuteten Gegenstände ; sodann wurden einzelne
Berichte über die im Aliegmeinon freilich nicht tibervielen Ar-
beiten des Jahres 1866 erstattet, und endlich eine Geschäftsord-
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604
Ligowski: Taschenbuch der Mathematik.
nung für die allgemeine Conferenz, welche am 30. September 1867
in Berlin zusammentreten soll, festgeset. Ebenso unterstützte, be-
züglich befürwortete die permanente Kommission in einem Schreiben
an das k. pr. Ministerium des Unterrichts die Gründung eines
geodätischen Instituts in Berlin.
Taschenbuch der Mathematik. Tabellen und Formeln zum Gebrauche
für den Unterricht an höheren Lehranstalten und zur An-
wendung bei den in der Praxi* vorkommenden Berechnungen.
Bearbeitet von Dr. W. Ligowski, Prof., Lehrer an der
ver. Art:- und Ing. -Schule in Berlin. Mit Holzschnitten. Berlin
Verlag von Ernst und Korn. tS67. (XVI. u. 172 8. in kl. 8).
Das Torliegende Taschenbuch ist, trotz der verhältnisemässig
geringen Seitenzahl, vollständig und zweckmässig, wenn man die
Anforderungen nicht gar zu hoch spannt. Natürlich sind blos die
Sätze angeführt, ohne dass ein Beweis derselben angedeutet wäre,
wie dies auch ganz in Ordnung ist. Ob die Logarithmentafeln in
einem solchen Buche aufzuführen sind oder nicht, lässt sich be-
streiten; sie sind in dem vorliegenden enthalten und wir wollen
des8halb über die theoretische Frage der Zwekmässigkeit ganz
wegsehen.
Die Bedeutung des Buches wird sich für den Lehrer am besten
aus einer Uebersicht des Inhalts ergeben, da ja daraus auch am
sichersten entnommen werden kann, ob dasselbe etwa den persön-
lichen Wünschen entspreche oder nicht.
Den Beginn des Buches bilden Vorschriften für den Gebrauch :
der gewöhnlichen Logarithmen, sowie der natürlichen und der
Gaussischen ; der trigonometrischen Logarithmen ; der Tabelle zur
Ermittelung der hyperbolischen Funktionen und der hyperbolischen
Cosinus und Sinus.
Diesen Anweisungen folgen nun die Tabellen Selbst und zwar:
eine Tabelle der gewöhnlichen Logarithmen mit vier Dezimalen,
in einer etwas von der gebräuchlichen verschiedenen Form, für die
Zahlen Von 1 bis 999 ; sodann eine Tabelle der Gaussischen Lo-
garithmen, für Addition und Subtraktion eingerichtet, ebenfalls
mit vier Dezimalen; eine Tabelle der Logarithmen der vier trigo-
nometrischen Funktionen von 10 Minuten zu 10 Minuten; die
Werthe derselben Funktionen in derselben Ausdehnung, sowie der
Sekante und Cosekante; die Werthe der Bögen wieder in der-
selben Weise ; die Werthe von 1 tg ^45<> +-|) ; die Werthe der
hyperbolischen Sinus und Cosinus des Fogens ip, wenn ip von o
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Ligowtkl: Taschenbuch der Mathematik. 895
t
. 2 Pu
bis 8'45 gebt ; daneben sind die Werthe von — - 1 e dt angeföbrt
o
t
wenn — von 0 bis 5 gebt (q = 0*47694) oder t von 0 bis 2*3 :
eben so die Wertbe von log T(a) f ür a von l'Ol bis 1*99; Zablen-
werthe und Logarithmen häufig vorkommender (meist mit % zu-
sammenhängender) Zahlen; eine Tabelle rationaler Dreiecke; Ta-
3
bellen für d», d*> d1, Y^d, V^d, wenn d in ganzen Zahlen
von 1-1000 gebt; endlich eine Tabelle für «j, e(-|-, b ),
wenn e = Sin a und a durch halbe Grade von 0°— 90° geht.
Nach diesen Tabellen werden nun die einzelnen Zweige der
mathematischen Wissenschaften behandelt.
Aus der Arithmetik erscheinen: die Grundformeln in posi-
tiven und negativen Zahlen; die Potenzen und Wurzeln; die ima-
ginären Zahlen ; die Lehrsätze der Logarithmentheorie ; die Ketten-
brüche ; die Factoriellen und Binominalkoeffizienten ; die Combi-
nationslehre ; die Determinanten ; die endlichen Reihen ; die arith-
metischen Reihen; Entwicklung der Funktionen in Reihen; allge-
meiner binomischer Lehrsatz ; Exponential- und logarithmische Rei-
hen ; die hyperbolischen Funktionen ; Gleichungen und die Elimi-
nationsmethoden ; Proportionen ; Theilungs - und Zinsrechnung ;
allgemeines arithmetisches Mittel ; Gleichungen des zweiten, dritten
und vierten Grades ; höhere Gleichungen ; reziproke Gleichungen.
Die Goniometrie enthält die Beziehungen der vier trigo-
me tri sehen Funktionen in den vier Quadraten ; die Auswertbung
derselben durch einander ; die zwischen den trigonometrischen
Funktionen verschiedenen Winkel bestehenden Verhältnisse ; Sum-
mirung trigonometrischer Reihen ; die Formeln zur Berechnung der
Funktionen kleiner Winkel; die Gleichungen zwischem dem Arcus
(letzteres unserer Meinung nach nicht vollständig, da wir hinsicht-
lich dieser Arcus gewisse Einschränkungen machen).
Ans der ebenen Trigonometrie werden die allgemeinen
Gesetze aufgeführt für das rechtwinklige, gleichschenklige und schief-
winklige Dreieck, wobei die Formeln für Flächeninhalt ebenfalls
gegeben sind, sowie für die ein- und umgeschriebenen Kreise. Dann
werden die Formeln zur Berechnung der Stücke ebener Figuren
für die obigen dreierlei Dreiecke, das Parallelogramm, Trapez,
Viereck im Kreise, Trapezoid und die regulären Vielecke gegeben,
Die sphärische Trigonometrie enthält die Grundfor-
meln und deren Anwendung in gedrängter Kürze.
Aus der S t e r e o m e t r i e (die ebene Geometrie ist übergangen)
werden die Berechnungen der gewöhnlichen Körper mitgetheilt;
dann die Guldin'sche Regel angewendet auf Rotationskörper und
endlich die Gewölbe und Fässer berechnet
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606
Llgoweki: Taschenbuch der Mathematik.
Die analytische Geometrie der Ebene enthält die Er-
klärung der Koordinaten ; die Verwendung derselben ; die Lehrsätze
für die gerade Linie; die Kegelschnitte sowohl im Einzelnen als
auch die allgemeine Untersuchung der Gleichung des zweiten Grades.
Für die analytische Geometrie im Räume werden
eben so zunächst die Fnndamentalsätze aufgeführt; dann Ebene
und Gerade betrachtet ; die axonometrische und perspectivische
Projektion kurz behandelt; endlich der Flächen zweiten Grades
gedacht, ohne dass jedoch die Untersuchung der allgemeinen
Gleichung zweiten Grades gehörig durchgeführt ist.
In der Differentialrechnung werden die Differenzirungs-
regeln ausführlich angegeben; die Taylor'sche Reihe aufgeführt;
die unbestimmten Formen behandelt; Maxima und Minima finden
gelehrt und endlich die Zerfällung nationaler Brüche vorgenommen.
Die Integralrechnung enthält eine vollständige Zusam-
menstellung der Hauptformeln; Einiges aus der Theorie der be-
stimmten Integrale mit Werthen von einzelnen solcher ; die Euler-
schen Integrale und die Gamma-Funktionen ; die näherungsweise
Berechnung bestimmter Integrale.
Aus der Theorie der Differentialgleichungen werden
blos die Fälle getrennter Veränderlichen, unmittelbarer Integration,
des integrirenden Faktors, homogener Gleichungen und der Ricca-
tischen Gleichung betrachtet. Von höherer Ordnung sind nur li-
neare Differentialgleichungen aufgeführt.
Die Anwendung der Differentialrechnung auf Geo-
metrie behandelt die ebenen Kurven (Tangente, Krümmung,
Asymptoten), daun die doppelt gekrümmten Kurven und die krum-
men Flächen. Daran schliesst sich Einiges über die Berechnung
gewisser elliptischer Integrale und Tabellen für E(qp, f), F(g?,f),
wo « = sina und op, a von 10° zu 10° gehen.
Den Schluss macht die Wahrscheinlichkeitsrechnung
mit den Hauptsätzen der Methode der kleinsten Quadrate.
Als Anbang figuriren vergleichende Maass- und Gewichttabelle
mit Hilfstabellen ; Münzwerthe ; mittlere Zeit für den wahren Mittag
(in Minuten); Proportionaltheile und Multiplikationstabelle, und
endlich eine Ortstafel (Länge und Breite), die übrigens nur Stern-
warten enthält.
Wir glauben, dass diese Uebersicht des Inhalts völlig hin-
reichen wird, das Buch zu empfehlen, ohne dass wir etwas Weite-
res zufügen. Dr. J. Dienger.
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Zur juristischen Lexicographie.
697
Zur juristischen Lexicographic.
Wir beschränken nns auf die Lexicographie der lateinischen
Sprache: Was nun
1) das römische Recht angeht, so hat es seit dem Mittelalter viel
Mühe und Anstrengung gekostet, um Etwas zu leisten : Wir sind lange
nicht den Darstellungen gewachsen, welche die allgemeinen lateini-
schen Lexica enthalten. Man vergleiche die Lexica von Klotz, Freund,
and die Rücksicht, welche bei einer neuen Ausgabe von Facciolati-
Forcellini selbst die Italiener auf die deutschen Werke nehmen,
die obenerwähnten, dann die Schriften von D öd erlein und Andere,
und die Arbeit ist so grossartig, dass wir viel aber doch nicht
das gethan haben, was die Philologen geleistet haben. Die Ge-
schichte für die Lexicographie des Rechts ist Folgende : Brissonius
hat viel geleistet zunächst wohl in der Hervorhebung der Stellen,
und H e ineccius hat dessen Werke eine bessere Ordnung gegeben
und so konnte Hugo in seiner dritten und letzten Ausgabe seiner
Literärgeschichte sagen :
»Wir haben von ihm oder durch ihn (Brissonius und Heineccius)
das grosse civilistische Wörterbuch, welches neuerlich das Lob er-
halten hat, den Sprachgebrauch der Alten genau beobachtet zu
haben.«
Die frühere Ausgabe des Brissonius von Tabor und Itter,
die vor mir liegen, haben nur einige neue Stellen zugetban.
Darauf kam Dirksen in seinem Buche Manuale Latinitatis
fontium juris Civilis Romanorum thesauri latinitatis epitorae in
usum tironura , er hat eine Dogmatik hereingebracht durch Para-
graphen, wo einestheils der verschiedene Inhalt des Wortes ange-
zeigt wird, anderntheils die dazu gehörenden andern Worte als
opposita oder in der Mitte stehend als conjuneta oder theilweise
contraria angezeigt werden. Epitome nennt der Verfasser sein Buch
weil er noch ein ausgedehnteres derselben Art herausgeben wollte.
Auch er war dem Brissonius und Heineccius darin zugethau, dass
es ihm nicht an Worten und Stellen der Quellen fohlte, so z. B.
führt er eine Stelle aus 1. 28. ü. 48, 5 über die condictio ex lege
an und zwar bei condicticius (quae ex lege descendit) die Brisso-
nius hat, obgleich in dem Titel de condictione ex lege nicht darauf
verwiesen ist. Im Reiche der Condictionen ist noch Vieles streitig.
Gibt es wirklich eine c. ex lege? Wir hätten auch von Calvinus
oder Kahl sprechen können, der sich ebenfalls viele Mühe ge-
geben hat, und von Dionysius Gothofredus sehr gelobt wird, der
sich auch auf das Canonische, Feudal und Criminalrecht einlässt,
aber viel ungenauer ist, wie Brissonius, auch im canonischen Reoht
blos die graeca anführt, nicht aber die Fortbildungen nach ger-
manischen Wörtern, wofür freilich du Cange du Fresne nicht viel
für das canonische Recht geleistet hat. Dieses führt uns nun
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098
Zur joriBtißchen Lexlcographie.
2) auf das canonische Recht. Hier ist nicht viel geschehen, und
zwar nicht ohne guten Grund. Es kommen hier griechische, ger-
manische, mittelalterlische, theologische, aus dem römischen Recht
herübergezogene Worte vor, und der Manualist weiss nicht,
wem er es recht machen soll. Daher ist es erklärlich, das9 des
Verfassers manuale latinitatis juris canonici, obgleich schon fünf
Jahre ausgegeben keine Beurtheilung erfahren hat. Es sollte ein
rein juristisches Werk sein, aber alle canouistischen Schriften ebenso
benützen, wie einst die juristischen Schriftsteller über das rumische
Rechtes gethan haben. Der Verf. hat wenigstens zehn Jahre seines
Lebens darauf verwendet. Dass Theologen nicht befriedigt sind,
lässt sich erklären, aber die germanistischen Rechtsquellen hat der
Verf. berücksichtigt. In seiner Vorrede hat er den Zweck seiner
Arbeit und seine Hilfsmittel genau angeführt. Allerdings fehlt an
dem Buche, dem ersten Versuch dieser Art, sehr viel, und er hat
dieses in seinem neuesten Werke »äussere Encyclopädie des Kir-
chenrechts bemerkt, S. 275, namentlich über die Worte, die er
vergessen hat. Ob das manuale eine zweite Auflage erleben wird,
ist zweifelhaft, daher gedenkt er schon hier über einige Worte
sich zu erklären: z. B. über aes et libra (dieses Wort hat nicht
einmal Calvinus) es kömmt bei der Baulast vor, die Besitzer der
Güter sollen nicht pro capita personarum vel domorum, sondern
als opulentes nach ihrem Einkommen vom Bischof besteuert wer-
den, die Püehter aber arbiträr. Wiestner Instt. Jur. Can. tom. III
p. 910. Nr. 52. 53. Vergl. auch Barbosa und die declar. zum Concil
von Trient. Ampullae sind Krtiglein, wo Wein und Wasser zum Opfer
gebracht wird, Amictus ein Kleid der Geistlichen s. Bona de rebus
liturg. lib. 2. c. 24. Arcosolia sind Gräber der Märtyrer in den
Katacomben von arcus und solium Aureola ist ein Licht, welches
die Figuren Gottes und der Heiligen beleuchtet nach Didron Icono-
graphie chretienne Paris 1848. Epiclesis nach der neueren Dar-
stellung von Hoppe 1864. Faldistorium episcopi, stalla canonicorum.
Polytichum i. e. ordo Romanus. PhilJipps Kirchenrecht VI. Band
S. 404. Regionales i. e. legati. Sacratarium i. e. absida. tigna oris
Bernard summa decretalium lib. II. tit. 18. Zancha — Stiefel
Watterich pag. 4 — es mögen diese Worte genügen.
In unserer Zeit wird so viel gedruckt, dass ein Buch von
192 Seiten nicht den Zweck haben kann, umfassend zu sein, son-
dern die einzelneu Forscher nur hinzuweisen auf Werke, wo sie
sich orientiren können. Man kann keine lexicographische Werke für
alle Fächer schreiben, sondern es genügt vor Allem der Zweck,
Dirksen hat seinem Werke ein Buch über Lexicographie voraus-
gehen lassen und doch ist sein Buch nur in usum tironum ge-
schrieben. Der Verfasser des manuale latinitatis juris Canonici
hat Aehnlichee in seiner Vorrede angegeben. Noch ist die Zeit nicht,
da seit dem vollendeteu Drucke neun Jahre vergangen sind, aber
der Verf. sieht jetzt schon ein, dass er sich an Etwas Unausführbares
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Weise: Die Komödien des Plautus.
699
gewagt bat, und er bittet ganz besonders Alle, welche sich um
diese Arbeit interessiren mögen, mit vollster Güte und Nachsicht
don Verfasser zu beurtheilen. Rosshirt.
Die Komödien des Plautus. Kritisch nach Inhalt und Form beleuchtet
zur Bestimmung des Echten und Unechten in den einzelnen
Dichtungen. Von K. H. Weise. Quedlinburg, Druck und
Verlag von G. Basse 1866. 189 8. in gr. 8.
Die Stücke des Plautus sind in der neuesten Zeit Gegenstand
erneuerter Sorge von Seiten der Gelehrten geworden, und hat diese
Sorge insbesondere der Kritik des Textes, in Herstellung des ur-
sprünglichen von Plautus selbst ausgegangenen Textes, wie in rich-
tiger Auffassung und Erklärung desselben, auch in metrischer Hin-
sicht sich zugewendet. Mit diesen Bemühungen hängt allerdings
auch das Bemühen zusammen, von dem, was als richtig im Texte
ermittelt ist, dann das Unächte, d. h. das später hinzugekommene
auszuscheiden, und so einen ächten und wahren Plautus zu ge-
winnen. Dass diess schon im römischen Alterthum eine schwierige
Sache war, welche die gelehrten Kritiker des augusteisohen Zeit-
alters viel beschäftigte, zeigen uns die Nachrichten des Gellius
über die zahlreich unter Plautus Namen gehenden, aber nicht von
ihm verfassten Stücke, und die Nothwendigkeit , die ächten und
anerkannten Stücke des Diohters von der ganzen Masse der soge-
nannt Plautinischen Stücke auszuscheiden. Bekanntlich, wie uns
derselbe Gellius mittheilt, unternahm der gelehrte Varro eine solche
Ausscheidung, und ein und zwanzig von ihm vorzugsweise ausge-
lesene und als ächte Stücke des Plautus erkannte Dramen galten
im Alterthum auch unzweifelhaft als solche und haben daher sich
auch, mit Ausnahme eines einzigen, das den Schluss bildete, und
verloren ging, erhalten: ein Umstand, der uns gewiss auf die Be-
deutung dieser sogenannt Yarronischen Becension und den Werth,
den man in der nachfolgenden Zeit darauf legte, hinweist. Denn
die Autorität dieses Mannes, allerdings des gelehrtesten Kenners
der römischen Welt in ihrer nächsten Vergangenheit wie in der
Literatur, überwog selbst in dem Grade, dass uns von den übrigen
Plautinischen Stücken, deren Gesammtzahl (diese 21 mit einbe-
griffen), Gellius auf hundert und dreissig berechnet, kaum eine
nähere Notiz vorliegt, indem dieselben in der nachfolgenden Zeit
nicht mehr beachtet oder abgeschrieben wurden. Der Verf. dieser
Schrift hat auch keinen Zweifel darüber (S. 8), dass die noch vor-
handenen zwanzig Stücke des Plautus keine andern sind, als die
von Varro ausgewählten; allein er meint, dass, wenn auch alle
Kunstlichter in Born über die Aechtheit dieser Komödien einig ge-
wesen, so könnten doch alle diese Autoritäten uns nicht verge-
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700
Weise: Die Komödien des Plautus.
wi88ern, dass nicht immer noch eine und die andere darunter sich
befinde, die man dem Plautus mit Unrecht beigelegt habe, und
müsse uns immer auch in Hinsicht ihrer die Authenticität offen
stehen. So wenig man einem blinden Glauben an Alles das, was
uns nun einmal ans dem Alterthum überliefert ist, das Wort reden
will, eben so bedenklich wird man doch auf der andern Seite die
Aufstellung eines Satzes finden, der auf einer rein subjektiven Un-
terlage ruht, und nicht auf sichere und verlftsaige Zeugnisse des
Alterthums sich zu stützen vermag, ja vielmehr sich mit denselben
in offenen Widerspruch zu setzen geneigt ist. Als eine solche
rein subjektive Grundlage werden wir aber es zu betrachten haben,
wenn die Grundsätze, nach denen wir zu verfahren haben, um ein
Stück als ein plautinisches oder als ein nicht plautinisches anzuer-
kennen, nicht von den vorhandenen Stücken abstrahirt, sondern
apriorisch aufgestellt werden sollen, wie S. 10 verlangt wird, und
das Hauptkriterium der Aechtheit eiues plautinischen Stückes,
nächst der zeitgcmässen Sprache und Rhythmik, in der Usthetiscben
Beschaffenheit und indem ästhetischen Werthe gesucht wird (S. 16).
Und wenn diess S. 22 näher dahin bestimmt wird, dass »Interesse,
Charakter, logischer Bau in der Zusammensetzung, Natürlichkeit
der Sprache und des Witzes, Rhythmus und antikes Idiom des
Ausdrucks« die Kriterien sein sollen, nach welchen über die Vor-
trefflichkeit und Plantinität plautinischer Stüdce entschieden wer-
den soll, so wird man das Allgemeine dieser Bestimmungen, welche
jeder nach seiner Subjectivität auslegen und anwenden wird, nicht
verkennen und in allen derartigen Bestimmungen nur subjektive
Ansichten, nicht aber allgemein gültige und feststehende Grund-
sätze zu erkennen vermögen. Der ächte Meister Plautns, heisst es
S. 79, konnte nur Harmonisches, nur Vernünftiges nur Logisches,
nur relativ Richtiges dichten. Alles, was diesen Forderungen nicht
entspricht, kann und muss mit dem Obelus bezeichnet worden u. s. w.
Aber eben über das, was als vernünftig, logisch und richtig anzu-
sehen sei, werden die Ansichten eben so verschieden sein, als es
die Individualität der Forschenden ist, und verlieren daher alle Macht-
sprüche der Art, näher betrachtet, ihre Geltung. Wir stossen hierauf
Aehnliches, wie man es früher und tbeilweise noch in neuester
Zeit auch bei anderen Schriftstellern, wir erinnern nur an Plato,
und, um einen anderen römischen Dichter zu nennen, auch bei
Horatius versucht hat, jedoch trotz alles angewendeten Scharfsinnes,
ohne Erfolg, da kein besonnener Forscher die sichere positive
Grundlage aufgeben wird, die schon durch die handschriftlich be-
glaubigte, feste Ueberlieferung gegeben ist, und nicht dem sub-
jektiven Urtheil und der persönlichen Anschauung, die je nach der
Individualität des Einzelnen , bald so bald anders, auch im ent-
gegengesetzten Sinn, ausfallt, preisgegeben werden darf.
Wir haben damit den Standpunkt des Verfassers und unsere
davon durchaus abweichende Ansicht andeuten wollen und wenden
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Weise: Die Komödien des Plautus.
701 , ,
uns nun zu dem Inhalt der Schrift selbst, in welcher von S. 24
an die einzelnon unter des Plautus Namen, nach Varro's Recen-
8ion, auf uns gekommenen zwanzig Komödien (mit Ausnahme der
beiden letzten) nach Inhalt und Form näher besprochen und nach
dem bemerkten Massstab, der an jede einzelne angelegt wird, be-
urtheilt werden, nicht blos was ihren künstlerischen Werth, die
mehr oder minder gelungene Ausführung wie die Anlage des Ganzen
betrifft, sondern auch in Bezug auf die Frage nach ihrer Aecht-
heit, d. h. der wirklichen Abfassung durch den Dichter Plautus
und keinen andern, ihm näher oder ferne stehenden Dichter. Wenn
man auf das, was den ersten Punkt betrifft, also auf die mehr
ästhetische Betrachtung des Einzelnen sieht, so wird man auf
manche wohl zu beachtende Bemerkung stossen, ohne damit, was
den anderen Punkt betrifft, zu einem gleichen Resultat zu gelangen,
auch abgesehen von Manchem, was dem ruhigen und besonnenen
Leser doch {ibertrieben erscheint, insofern es nur darauf berechnet
ist, ein Urthoil der Unttchtheit hervorzubringen oder zu erhärten.
Dass damit die zahlreichen Einschiebsel, die in alter und neuer
Zeit gomacht sind, die in neuerer Zeit zum Theil hinzugedichteten
Prologe u. A. der Art, nicht in Abrede gestellt werden sollen, ist
begreiflich: es handelt sich hier zunächst um das Endurtheil, das
über die Aechtheit oder Unachtheit eines ganzen Stückes abgegeben
werden soll.
In der Betrachtung der einzelnen Stüoke ist die alphabetische
Reihefolge eingehalten. Es kommt daher zuerst der Amphitruo
an die Reihe, welches Stück als eines der vorzüglichsten des Plautus
anerkannt wird; »da Plautus, so heisst es S. 30. stets nur für
die Belustigung des grösseren Publikums schrieb, und da es über-
all darauf ankam, dem Pubiikum nur das Geeignetste vorzutragen,
um es in möglichst grösster Masse anzuziehen und festzuhalten,
so erscheint allerdings der Amphitruo, in Betracht seiuos Gegen-
standes, als Etwas Aussorgcwöhnlichos unter den übrigen Stücken,
und nur die ganz vortreftlicho, lebendigo und abgerundete Durch-
führung desselben, nebst der Idee, dass Plautus für diesen Fall
das Publikum wohl auch einmal höher genommen haben könne,
lässt uns in Hinsicht seiner Anthenticität über alle Bedenklich-
keiten wegschreiten. — Dass aber Sprache und Rhythmik und
Witz und Lebendigkeit der Darstellung ganz plautinisch, d. h. eines
so bedeutenden und lebendigen Dichters, wie wir uns den Plautus
zu denken haben, würdig erscheinen, bedarf wohl keiner besonderen
Darlegung noch umständlichen Beweises.« Man wird gern einem
solchen Ürtheil beitreten. Auch die Asinaria, die nun folgt,
wird zu den Normalstücken piautinischer Dichtung gezählt, ebenso
gilt die Aulularia in den hier als ächt bezeichneten Scenen
für eines der vorzüglichsten Stücke des Piautas, welches für die
zweifelhaften vorzüglich als Norm der Entscheidung genommen
werden muss. Anders fällt das Urtheil über die Bacohides
Digitized by Google
703
Welse: Die Komödien dei Plautus.
aus, welchem Stücke eine längere Besprechung (8. 47—62) ge-
widmet ist. Bei der Gestalt, in welcher das Stück auf uns ge-
kommen, bei den aus diesem Stück von alten Grammatikern an-
geführten Stellen, welche sich in dem vorhandenen Stück nicht vor-
finden nnd noch auf ganz andere Scenen schliefen lassen sollen,
glaubt der Verf. mit Nothwendigkeit eine doppelte Recension an-
nehmen oder andernfalls das Stück in seiner gegenwärtigen Ge-
stalt als ein sehr verkürztes betrachten zu müssen. »Genug, setzt
er hinzu, die jetzt vorhandenen Bacchides sind nicht die eigent-
lichen des Plautus. Wir können aber unter diesen Umstanden
weiter nichts thun, als das Produkt nehmen , wie es uns gegen«
wartig nach der Ueberlieferung der vorhandenen ächten Codices
vorliegt, das gut Poetische darin anerkennen, das Auffallende je-
doch und Unpassende bemerken, damit man nicht auch das Falsche
für gerade aufgehen lasse. c Wir haben hier nicht den Raum, um
in die Besprechung des Einzelnen einzugehen, wodurch dieses Ur-
theil begründet werden soll, nach welchem das Ganze, wie es jetat
vorliegt, einer Ueberarbeitung und neuern Bearbeitung sehr ähn-
lich sieht, und demnach ein solches Stück nicht als Normalstück
bei kritischer Beurtheilung fraglioher Stücke gebraucht werden
darf, es wäre denn mit der allerstrengsten Sichtung der ächten
von den unächten Scenen ; und da das Letztere sehr schwierig und
unsicher sei, will der Verf. lieber das Stück selbst als problema-
tisch betrachten (S. 62). Darauf läuft das Endergebniss der hier
geführten Besprechung hinaus, das, wir zweifeln kaum, in seiner
Begründung auf manchen Widerspruch stossen dürfte. Auch die
Captivi, oder, wie der Verfasser schreibt, Capteivei gelten
für plautinisch, jedoch mit Unterscheidung dessen, was später hin-
zugekommen, und werden zu den trefflichsten Stücken des Dichters
gezählt, dessgleichen gilt die Gasina für ächt und unbezweifelt
plautinisch, aus der Blüthezeit des Dichters; ebensowenig werden
C istellar ia und Cur culio bezweifelt. Dagegen wird der Ep i di-
en 8 mit dem Bacchides auf Eine Stufe gestellt, und für die Ar-
beit oder Bearbeitung eines Dichters erklärt, der bei ganz hübschem
Talent doch nicht die Umsicht bewährt, die man von einem guten
Dichter überall erwarten könne, wenn auch gleich das Stück auf
dem Theater Glück gemacht, da das Unterhaltung suchende Pub-
likum einen grossen Theil der Mängel nicht erwartet habe. Die
Erklärung des Dichters selbst (in den Bacchides heisst es: »Epi-
dieum, quam ego fabulam aeque ac me ipsum amo) verdient nach
dem Verf. keine Berücksichtigung, weil sie von Plautus nicht her-
rührt, wie denn die ganze Scene, in welcher dieser Vers vorkommt,
schon früher nicht ächt plautinisch befunden worden, sondern
als ein Surrogat zu betrachten sei, an die Stelle einon ächt plan«
tinischen hinzugedichtet (S. 83). In wie weit nnn die hier gege-
bene Besprechung eine solche Annahme, die nach dem Ermessen
des Ref. eine ganz andere Begründung erfordern würde, zu recht-
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Weise: Die Kemödien des Plaut™.
fertigen vermag, wollen wir auch hier nicht weiter erörtern; die
Freunde der plautinisehen Muse werden aber gewiss Veranlassung
finden, mit diesem Gegenstand sich näher zu beschäftigen und die
ganze Beweisführung weiter zu prüfen. Demselben verwerfenden
Urtheil unterliegen die Menächmen , bis auf diesen Tag allge-
mein als ein ächtes plautinisches Stück betrachtet, wie der Verf.
selbst S. 122 hervorhebt, mit dem Bemerken, wie er sich Dank
zu verdienen glaube, wenn er der Welt diesen Irrthum benehme.
Wer freilioh diesen Irrthum nicht aufgeben will, weil er noch nicht
davon überzeugt ist, der wird auch der weiteren Vermuthung des
Verfassers, (S. 122) dass die drei Stücke, Baochides, Epidious und
Menäcbmi von Einem und demselben Theaterdichter herrühren,
und zwar von einem solchen, der dem Sclavenstande angehört und
selbst Schauspieler gewesen , schwerlich seinen Beifall schenken
kön nnen. Nicht besser als den genanuten Stücken ergeht es dem
Mercator (S. 123 — 185), der nach der Ansicht des Verf. zu den
schlechtesten plautinisehen Stücken gehört und nicht für ächt gelten
kann; Pseudotalent, Stümperei und Unverstand treten auf allen
Seiten hervor, Unpassendes in der Sache wie in der Diction thut
sich darin auf, Alles zusammeugestoppelt aus andern Stücken n.
dgl. m. Zu solchem Urtheil gelangt der Verf., indem er die ein-
zelnen Akte und Soenen dieses Stückes durchgeht; ob bei Andern
diess in gleicher Weise der Fall sein wird, möchten wir bezweifeln ;
auch wenn man das Stück nicht zu den vorzüglicheren des Plau-
tus zählt, so wird daraus noch kein bestimmter Grund seiner Un-
ächtheit abzuleiten sein. Auch in dem Miles werden so manche
Widersprüche und Unstatthaftigkeiten gefunden, dass dieses Stück
nicht für eine Dichtung des wahren Plautus gelten kann, wenn auch
aus der besten, muntersten und freiesten Zeit der römischen Ko-
mödie (S. 142). Die Mostellaria wird im Ganzen dem Miles
gleich gestellt, soll jedoch noch einige Vorzüge vor demselben haben
(S. 148); Persa dagegen wird einer weit späteren Periode zuge-
teilt, vielleicht als eine Art von Nachahmung des Pseudolus, in
keinem Fall der eigentlich plautinisehen Periode angehörig (S. 148),
»eine Scheinplautine , keine wahre, € das Produkt eines Dichters,
»der jedooh nicht ganz unglücklich den Ton und Gang plautinischer
Dichtung in ihren untersten Darstellungen nachzuahmen strebte c
(S. 157). Entschieden aus der Reihe der ächten Plautinen zu
streichen ist nach S. 158 der Pönulus, der unverkennbar das
Siegel der Unächtheit an sich tragen soll und von dem Verf. dann
im Einzelnen in der Weise durchgangen wird, dass nichts als
Fehler, Stümpereien u. dgl. darin gefunden werden. Besser kommen
noch die beiden letzten Stücke wog; der Pseudolus, der nach
Cicero'8 Zeugniss ein Lieblingsstück des Plautus war, nach unserm
Verf. es auch ist, wenn man die gegenwärtige Gestaltung des
Stücks nicht als seine ursprüngliche betrachten, sondern die
mancherlei Pfuschereien, die hinzugekommen sind, ausscheiden will:
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704 Weise: Die Komödien des Plsutus.
so aber ist der Pseudolus »eine Beute der Zeit, der Verfälschung,
der Pfuacheranmassung und Gewaltthat geworden. Es fand sich
nämlich ein unvollkommeues Manuscript ächter Scenen dos Plautns
vor. Diese achten Scenen wurden durch irgend einen Dichtergeist
ergänzt, so gut es ging. Das Ende fehlte und wurde hinzugedichtet.
Die echten Scenen selbst waren entweder schon) oder wurden durch
den Dichterpfuscher hier und da verlängt und neue Motive hinzu-
gefügt. Nur Weniges blieb von diesen Harpyenkrallen gänzlich
verschont, das herauszufinden und das Echte darzutbun, eine Pflicht
der Kritik und eine Genngtbuung ist, die wir dem wahren Plantus
für so viele Beeinträchtigungen durch Afterpoeten und Afterkunst,
die er erlitten, wenn auch spät, nach aller Macht zu verschaffen
bestrebt sein müssen.« Also der Verf. S. 183. Wir dächten, es
sei die Pflicht der wahren Kritik, uns mit allen derartigen Phan-
tasiegebilden zu verschonen und auf sichere Pfade uns zu leiten:
übrigous ist auch Niemand genöthigt, solchen Gebilden Glauben
zu schenken, und wird der unbefangene Leser des Plautus und
der Freund der plautinischen Muse sich durch derartige Urtheile
nicht beirren lassen. Im Rüden 8 werden nur einige Stellen ge-
fälscht oder untergeschoben gefunden, das Ganze mithin für ächt
uud vollständig erklärt: »Hier ist antike Sprache, ernste kräftige
Komik und gute Gestaltung von Anfang bis Ende« (S. 184.) Und
diesem Urtheil schliessen auch wir uns an, da es wohl begründet
erscheint und ohne alles Vorurtheii gefasat. Von dem Stichus und
Trinummus ist nicht die Rede.
Wir haben hiernach Inhalt und Charakter der Schrift, so ge-
nau als es bei dem beschränkten Räume dieser Blätter möglich
war, angegeben : die nähere Prüfung der über die einzelnen Stücke
des Piautus aasgesprochenen Urtheile und Ansichten wird man billig
den Lesern und Verehrern des alten Dichters überlassen können,
welche wohl Veranlassung genug findeu werden , mit die«er Schrift
sich näher zu beschäftigen. Und darauf hinzuweisen, war der
Zwock dieser Anzeige, welche sich darauf beschränken rausate, den
Gegenstand und die Tendenz der Schrift in der Kürze zu bezeich-
nen, und damit den Leser in den Stand zu setzen, selbst zu be-
messen, was von einer solchen »kritischen Beleuchtung« der Stücke
des Plautus überhaupt zu halten ist.
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1fr. 46. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR
Konrad der Zweile. Historisches Schauspiel in sechs Handlungen von
Albert Bulk. Leipziq. F. A. Brockhaus. 2867. Erster Theü
156 S. Zweiter Theü 184 8. 8.
*
Die deutsche Geschichte ist reich an grossen Charaktereu und
bietet in den politischen und kirchlichen Couflicten feindselig ein-
ander entgegenwirkender Mächte mannigfachen Stoff zu dramati-
scher Bearbeitung. Die Ziele einer wahrhaft volksthümlichen Ent-
wickelung sind die Einheit und Freiheit. Aber schon diese
beiden höchsten Güter der Nation stehen vielfach zu einander im
feindlichen Gegensatze. Die Einheit beeinträchtigt die Freiheit und
die Freiheit steht häufig hindernd der Eiuheit im Wege. Das
deutsche Volk ist ein Freiheit liebendes ; aber es ist auch nur dann
ein Volk im wahren Sinne dos Wortes, wenn es ein einheitliches
ganzes Volk ist. Nirgends zoigt sich dieser Kampf entschiedener, als
in der deutschen Geschichte. Das heilige römische Reich deutscher
Nation, von Otto dem Grossen wieder hergestellt, umfasst die deut-
schen FUrstenthUmer und viele ausserdeutschen Lande. Die Son-
dergelüste der bevorrechteten Stände , der kleinen deutschen Für-
sten, des deutschon Adels und der deutschen Geistlichkeit streben
nach möglichster Unabhängigkeit und schmälern dadurch das ein-
heitliche, im deutschen König und römischen Kaiser alle verknüpfende
Band Es ist nicht die wahre Freiheit, wie sie soin sollte,
um die es sich hier handelt , es ist das Lostrennen vom Ganzen
auf Kosteu der einheitlichen Entwickelung des Ganzen, die Kasten-
willkür auf Kosten der wahren Freiheit. Die bessern deutschen
Könige haben diesem Sondertreiben durch ihr Festhalten an der
Idee der Einheit des Reiches und durch die Verwirklichung alles
dessen, was diese Idee förderte, entgegengearbeitet. Erst später kam
die bürgerliche Freiheit zu den die Reichseinheit gefährdenden
Adels- und Geistlichkeitsbestrebungen hinzu, und mit der indivi-
duellen Freiheit, einem Resultate der politischen Entwicklung unse-
rer Zeit, hat jenes Streben nach Freiheit einen vernünftiger An-
forderung entsprechenden Wog gefunden. Auch zur Einheit sind
mächtige Schritte vorwärts getban, und das Ziel ist erreicht, wenn
mit möglichster individueller Freiheit die Einheit der Macht, des
Gesetzes, der über alleu waltenden Staatsvernunft sich verbindet.
Wenige deutsche Könige haben, wie der erste Salier Konrad II.
(gewählt am 8. September 1024 gest. 4. Juni 1039), für Hebung
der einheitlichen, im deutschen König und römischen Kaiser ver-
einigten Macht des deutschen Reiches gewirkt. Weber zeichnet
LX. Jahrg. 0. Heft. 45
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706
Dulk: Konrad II.
den Charakter desselben in seiner Geschichte des Mittelalters (Thl.
II, S. 185) also: »Er besass alle Eigenschaften, die in jener eiser-
nen Zeit einem Herrscher unentbehrlich waren: feste, unbeugsame
Willenskraft, Kriegsmuth und Tapferkeit und alle ritterlichen Tu-
genden, und, wenn auch sein strenger durchfahrender Charakter
mehr geneigt war, jeden Widerstand mit starker Hand niederzu-
werfen und zu zermalmen, so fehlte es ihm doch auch nicht an
Klugheit und Gewandtheit, wo es galt, widerstreitende Elemente
zu versöhnen, und seine fürstliche Grossmuth und Freigebigkeit
gewann ihm Freunde und Anhänger unter allen Ständen. Im blü-
henden Mannesalter stehend, von imponirender Gestalt und Hal-
tung, war Konrad eine gebieterische, zum Herrschen geschaffene
Persönlichkeit. Ein wechselvolles, von manchen Widerwärtigkeiten
durchzogenes Leben hatte ihn frühe zum Manne gereift und aus
den Erfahrungen hatte er ein sicheres Urtheil über Menschen und
Dinge erworben, c Die vielen Unfälle seiner Regierung wurden be-
sonders durch das unruhige Treiben seiner Vasalien hervorgerufen.
Eine Situation in Konrad's II. Leben ist besonders zu dramatischer
Bearbeitung geeignet, die Stellung zu seinem Stiefsohne Ernst.
Konrad hatte seine an sich nicht bedeutenden Stammgüter durch
eine Heirath mit Gisela, der verwittweten Herzogin von Schwaben,
vermehrt. Die nicht minder schöne, als geistig hochbegabte Frau
hatte einen Sohn aus früherer Ehe, Ernst, ihrem neuen Gatten
zugebracht. Die Ansprüche Ernst's auf Burgund hatten eine feind-
liche Stellung zu seinem Vater zur Folge. Für seine Gefahr dro-
hende Erhebung gestraft, wurde der Sohn auf seiner Mutter Gisela
Verwendung mit dem Vater ausgesöhnt. Er sollte für seine ge-
störten Hoffnungen auf das burgundische Reich zum Ersätze das
Herzogthum Schwaben als Lehen unter der Bedingung erhalten,
seinen treuen Waffengefährten, Werner von Kyburg, den Geächteten,
zu bekriegen. Ernst weigerte sich, seinen Freund zu verlassen und
wurde mit der Reichsacht vom Kaisor, mit dem Bann von der
Kirche belegt. Unstet irrte er mit Werner, seinem Freunde und
einer Schaar treuer Auhänger in den öden Gegenden des Schwarz-
waldes umher. Ernst und Werner, die geächteten Freunde, werden
von einem Geschichtschreiber unserer Zeit »friedlose Waldgänger c
genannt. Sie fanden zuletzt auf der Burg Falkenstein eine Zu-
flucht. Sie fielen nach heldenmüthiger Gegenwehr im Kampfe gegen
Mangold, Schirm vogt des Klosters Reichenau, der vom Bischöfe
Warmann, dem Verweser des Herzogthums Schwaben, den Auftrag
zum Vollzuge der Reichsasht erhalten hatte. Der Kampf des Vaters
gegen den Sohn, zwischen welchen vergebens vermittelnd die Gattin
und Mutter Gisela steht, der Opfertod des Freundes für den Freund,
der Untergang eines heldenmüthigeu, eines bessern Looses würdi-
gen Jünglings bieten einen willkommenen Stoff für die dramatische
Dichtung. Ein bedeutender Geschichtschreiber sagt von Ernst:
»Das deutsche Volk, von Alters her geneigt, jedes Anringen gegen
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Dulk: Konrad II.
707
die Uebermacht fürstlicher Allgewalt als ein ruhmwtirdiges Track«
ten nach angeborner Mannesfreiheit nnd Selbständigkeit zu preisen,
besang Ernst's Kampf in lange nachhallenden Liedern. € Aus die-
sen Liedern entstand im Laufe der Zeit eine Ernst und Liudolf,
Sohn Otto's I., zu einer Person verbindende Heldendichtung. Ernst
wurde zuletzt ein Herzog von Baiern, Gisela, als seine Mutter, Adel-
heid, Konrad, als Stiefvater, Otto, der Unheil verbreitende Feind
Ffalzgrai Heinrioh. So entstand das Volksbuch vom Herzog Ernst.
Aber, was tiefer ergreift, als der Kampf des Vasallen gegen den
Lehnsherren, des Stiefsohnes gegen den Stiefvater und, was drama-
tischer, als dieser Kampf, wirkt, ist die bis in's Elend der Aechtung
und des Kirchenbannes und bis zum Heldentode sich gleich blei-
bende, aufopfernde Treue des Freundes, der den Kampf für den
gebannten und geächteten Freund dem Besitze eines Herzogthums,
der Gunst eines mächtigen Herrschers vorzieht. Das ist auch, was
unser unsterblicher Unland in seinem schönen, 1817 erschienenen
Trauerspiele: Ernst, Herzog von Schwaben, besonders her-
vorgehoben hat.
Wenn auch der Boden geschichtlich ist, so sind die Charaktere
in Uhlands Dichtung veredelt und aus dem Conflicte der Lehns-
Unterthanen- und Sohnespflicht mit der Pflicht gegen den von aller
Welt verlassenen, ihm stets treu gebliebenen Freund zu einer ein-
heitlichen, psychologisch und dramatisch trefflich durchgeführten
Handlung verbunden.
Während in Uhlands Dichtung Konrad, der Mann des eiser-
nen Willens, in den Hintergrund tritt, die beiden Freunde dagegen
die Helden des Dramas werden, ist es Konrad, der in dem vor-
liegenden historischen Schauspiele als der eigentliche Held, als der
Angelpunkt der ganzen dramatischen Entwicklung erscheint.
Der Unterzeichnete hat schon früher in diesen Blättern die
genialen schriftstellerischen Leistungen des talentvollen Herrn Verf.
mit der ihnen gebührenden Anerkennung besprochen. Gewiss ver-
dient diese Anerkennung auch das vorliegende Gedicht im vollen
Maasse. Eine geistvolle Auffassung, eine gründliche geschichtliche
Durchbildung, eine reich und lebendig gestaltende Phantasie, be-
sonders glücklich in Darstellung der Volksscenen, sind Vorzüge,
durch welche sich auch das vorliegende historische Schauspiel aus-
zeichnet. Konrad wird als der Mann der That aufgefasst, wie ihn
die Geschichte darstellt, als der Fürst, welchem als das höchst©
Ziel die Erhaltung und Förderung der deutschen Reichseinheit, der
Fürsten- und Pfaffenwillkür der Einzelnen entgegen, vorschwebt
In seiner Zeit thut die Einheit gegenüber der Scheinfreiheit und
der Willkür bevorzugter Stände Noth. Ernst, der Stiefsohn, ge-
hört mit zu diesen Aufrührern und muss nothwendig fallen. Seine
Erhebung gegen den Vater muss gesühnt werden. Agnese, die
Gattin Ernst's, die ihn selbst zum Kriege gegen den Kaiser ange-
trieben, muss nach einer wunderbaren Rettung vom sichern Tode
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708
Dulk: Konrad II.
und nach dein Falle ihres Gatten der sühnende Engel seines Ver-
gehens im Reiche werden. Als geheimnissvolle Schicksalsgüttin
Vala, dem Heere die Fahne voraustragend, im Kriege gegen Puleu,
Böhmen, Ungarn warnend und rettend, hat sie das für die Ein-
heit des Reiches gethan, was der ehrgeizige Gatte, falschem Ruthe
nnd blindem Herrschertriebe folgend , versäumte. Sie stirbt als
Opfer für die Vergehen ihres Gatten , und glanzvoll , wie zu den
Tagen Otto's des Grossen, steht des Reiches ungebrochene Einheit
da, ein Unterpfand für seine spätere einige und freie Entwicklung.
Konrad schliesst mit den Worten:
»So, fromm und hoffnungsvoll, lasst uns beten:
Gott walte Deutschland — einig, gross und frei!«
Das vorliegende historische Schauspiel bat zwei Theile*
Jeder Theil hat drei Acte oder, wie dieso von dem Herrn Verf.
zur Vermeidung eines Fremdwortes genannt werden, Handlungen.
Die erste Handlung des ersten Theiles spielt in Konstanz,
beginnt nach der Krönung Konrads und Giselas und schliesst nach
dem Erscheinen des Stadtmeisters von Pavia als Abgesandter mit
dem Entschlüsse des deutschen Königs zur Römerfahrt. Die zweite
Handlung hat Rom zum Schauplatze. Die Thaten Konrads werdeu
erzählt. Er tritt in Rom auf. Die Verschwörung seiner deutschen
und italischen Gegner bildet sich wider ihn. Er ist entschlossen
zur Krönungsfeier am Osterfeste. Treffend schildert Gebhard, König
Konrad's Halbbruder, die um sich greifende Macht des Klerus
(Theil I, S. 89):
Was PfafF ist, wird mit Reichsgut aufgemästet,
Mit Exemptionen, Privilegien,
Wär's auch als Erbe einer halben Lanze,
Ja nur als nakter Musikant geboren!
Wir aber, der Geschlechter Fürsten, wir,
Die unabhängig freien Mänuer, werden
All noch Vasallen der verwünschten Pfaflen.
Auch die dritte Handlung spielt in Rom. Treffend sind hier
die Volkssccnen, die Gruppen des einander gegenüber stehenden
römischen und deutschen Kriegsvolkes geschildert. Das römische
Kriegsvolk singt:
Otto rex
Tua lex
Vili asse venditurl
Romae quid
Gratum sit
Auro Romae penditur.
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Dnlk: Konrad TL
Das deutsche Kriegsvolk aber erhebt das Lied :
Des Slaven Sinn
Schwankt her nnd hin.
Des Lombarden Treu
Ist des Kukuks Ei.
Und der römische Aberglaube
Ist Herrn Valand's Daumenschraube.
Doch, wer will übel fahren, heran,
Der binde mit dem Deutschen an!
Kommt dor Deutsche h'nein, schlage drein !
So wird Fried' im Reiche sein.
Schlag drein!
Der Krönungszug wird dargestellt, der Aufruhr unterdrückt.
Ernst, sich gogen den Kaiser erhebend, ist mit seinem Anhange
aus Rom entwichen. Der Kaiser, durch die Verlobung seines Soh-
nes Heinrich mit Gunhild, der Tochter Kanuths, des Grossen, des
Königes von Dänemark und England, in seiner Herrscherkraft ge-
stärkt und im Süden gesichert, ist entschlossen, der Gefahr in
Deutschland und den angrenzenden Ländern entgegenzutreten. Auch
hier ist die Einheit des Reiches sein Ziel. Er schliesst mit den
Worten :
So lasst uns das Panier der Einheit tragen!
Unbeugsam kämpfend lasst uns nicht verzagen,
Ob spät das Licht auch tagt — doch muss es tagen.
Der Chor der dem Kaiser ergebenen Mönche aber singt:
Gib, Herr, des Geistes Kraft,
Der uns dem Zwist entrafft,
Einheit ersohafft!
Gib aus des Krieges Brand,
Gib an Verderbens Rand
Ein Einig Vaterland,
Ein Reich der Kraft!
Die erste Handlung des zweiten Theiles wird in der grossen
Halle der Kaiserpfalz zu Ulm dargestellt. Es ist die falsche Frei-
heit des Sonderfürstenthums, welche aus Ernst spricht, wenn er
(S. 48) sagt:
Erbärmlich, wer die angestammte Freiheit
Nicht über Alles setzt! Und müsst' ich Krieg
Entzünden, wie des grossen Otto Sohn,
Ruhmvollen Namens, Liudolf, einst im Trachten
Nach Mannesfreiheit that — : ich diene Keinem !
Ich 3teh' und falle mit der Freiheit.
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710
Dulk: Konr»d II.
Ernst erhält nach des Kaisers Konrad Macbtgebot Schwaben
als ReichsleheD, wenn er an dem Genossen seines Aufstand es, We-
helo, Grafen von Kybnrg, die Reichsacht vollzieht. Er will am
> Freunde nicht zum Schurken werden« und seine Meinung spricht
er S. 51 dahin aus :
Des Mannes erster Ruhm ist Ehr1 und Freiheit,
Das Vaterland, das Ehre gibt, der «weite.
Konrad spricht über den Trotzigen die Reichsacht, Erzbischof
Aribo von Mainz den Kirchenbann. Bei Unland spricht den Kir-
chenfluch Warmann, der Bischof von Konstanz , Schwabens Statt-
halter. Das durch Wohelo beabsichtigte Verhaften Heinrichs, des
jtingern Sohnes Konrads, misslingt. Statt Gisela wird Agnese in
einem Kahne fortgeschleppt. Man glaubt an ihren Untergang.
Die zweite Handlung spielt in der Abtei von St. Gallen. Man
hört, dass, fUr die Schicksalsgöttin Vala gehalten, eine stumme,
geheimnissvolle Frau (die gerettete Agnese) die Heere des Kaisers
gegen die Angriffe des Auslandes schützt, und dass die gebannten
und geächteten Freunde Ernst und Wehelo im Schwarzwalde mit
feindlichen Schaaren herumziehen. Der Schauplatz ihror verwüsten-
den Wirksamkeit ist die »Hölle« , Baargegend in den Ausläufen
des Schwarzwaldes, unter Burg Falkenstein. Ernst und Wehelo
ziehen mit ihren Schaaren gegen das Heer des Grafen Mangold
aus, der an ihnen die Reichsacht vollziehen soll. Die todten Freunde
werden vom Schlachtfelde dem siegreichen Kaiser gebracht und die
Angriffe der Feinde an des Reiches Grenzen gemeldet. Die uner-
kannte Vala erhält zum Kampfe die Reichssturmfahne.
Der Schauplatz der dritten Handlung des zweiten Theiles oder
der sechsten der ganzen Dichtung ist der Gonciliensaal zu Kost-
nitz (Konstanz). Aribo, Erzbisohof von Mainz, der dem Kaiser
entgegenwirkte, fällt in Ungnade, Piligrim von Köln wird mit
Gnade ausgezeichnet. Die mit des Kaisers Bewilligung abgehaltene
Synode spricht sich für den letzten aus. Die Vala wird als die
Herzogin Agnese erkannt, sie hat den Sieg des kaiserlichen Heeres
drohend, warnend, kämpfend gefördert, sie wird als fürstliche Sie-
gerin gefeiert und stirbt, sie hat die Vergehen ihres Gatten am
Reiche gesühnt. Von allen Seiten kommen Boten, welche Siege
der kaiserlichen Heere melden. Des Reiches Einheit steht befestig-
ter als je da. Die letzten Worte der sterbenden Agnese sind:
Heil,
Heil sei dem deutsohen Land!
Das historische Schauspiel des Herrn Verf. ist von denen
Schiller's und seiner Nachahmer wesentlich verschieden. Es ist
ein Stück Geschichte, das zur Aufführung kommt und etwa zehn
Jahre umfasst. Der Aufstand Ernst's gegen den Kaiser und sein
Ausgang sind nicht, wie bei Unland, die einzige dramatische Hand-
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Dulk: Konrad II.
711
lung. Es ist nicht, wie bei Unland, eine Tugend Erast's, ideali-
sirt aufgefaast, die Tugend der Freundestreue, welche im Conflicte
mit den Reichspflichten dargestellt wird, nicht der Ausgang einer
edlen Seele, welche den ganzen Rahmen des Dramas erfüllt, ühlands
Trauerspiel ist ein organisches Ganzes, das uns das Ideal der
Freuudestreue bis zum Tode in einem vergeistigten Geschichtsbilde
veranschaulicht. Herrlich sind die Schlussworte Gisela's, der Mutter,
vor der Leiche ihres Sohnes:
Hat so viel Wärme nicht ein Mutterherz,
Dass es beleben kann den todten Sohn?
Soll der mir todt sein, dessen Leben eins
Mit meinem ist, den meine Brust gesäugt?
Nein! leben, leben soll mein treuer Ernst,
Fortleben wird er in dem Mund des Volks,
Er lebt in jedem fühlenden Gemtith,
Er lebt dort, wo reines Leben ist.
Nicht wieder deckt mir diesen Vorhang auf,
Darunter Leiche neben Leiche liegt 1
Dort oben öffnet sich ein himmlisch Zelt.
Wo Freund in Freundes Arm erwacht und wo
Der Frühgealterte verjüngt erscheint.
Im Sinn und Geiste der Schiller'schen historischen Dramen
nnd doch mit origineller, echt dramatischer Auffassung hatühland
das treffliche Trauerspiel: Ernst von Schwaben gedichtet.
Nirgends zeigt sich der Unterschied der Auffassung des histo-
rischen Schauspieles durch unsern Hrn. Verf. einerseits und durch
die Sobiller'sche Schule anderseits deutlicher, als gerade in dem
vorliegenden Schauspiele, Konrad IL, weil es einen wesentlichen Theil
soinos Stoffes, von Uhland in seinem Ernst, Herzog von Schwaben, be-
handelt, der Geschichte entnimmt. Die Charaktere sind bei Uhland,
wie bei Schiller, idealisirt ; doch von erstcrem im Ganzen mehr der
Geschichte gemäss gehalten ; die Handlung bildet ein aus dem sitt-
lichen Conflicte der auftretenden Charaktere hervorgehendes Ganzes.
Bei unserem Herrn Verfasser ist Ernst's Auftreten nur ein bedeu-
tendes Stück des grossen dramatischen Gemäldes, das uns den
historisch treu gehaltenen und dramatisch gut durchgeführten
Charakter Konrad's EL darstellt. Es sind zwei Ideen, die als die
belebenden Mächte in den Handlungen des Stückes wirken, die
Einheit uud die Freiheit. Die Freiheit ist in jener Unstern,
eisernen Zeit noch nicht zur ganzen und vollkommenen Entwick-
lung gediehen. Es ist das Streben des willkürlich sich gebaren-
den Sondergelüstes im Einzelfürstenthume , des Theiles, der sich
gegen das Ganze auflehnt, das hier anschaulich gemacht wird. Die
Einheit ist dem Reiche noth wendig, damit die Freiheit erwachse.
Die Einheit erhebt die Siegesfahne durch Konrad, die Scheinfrei-
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712
Dulk: Konrad II.
beit unterliegt und das Vergeben der Selbstüberhebung gegenüber
dem Reiche wird durch Agnesens aufopfernde Hingabe gesühnt.
Dadurch erhält auch ein Zeitraum von 10 Jahren einen die Hand-
lung als organisches Ganzes abschliessenden Rahmen. Die Charaktere
sind historisch treu gehalten. Konrad ist der Mann, um den das Stück
sich bewogt, von ihm geht es ans, auf ihn lauft es zurück ; denn er
ist der Vertreter der siegreichen Idee des Stückos, der deutschen Ein-
heit. Durch diesen Kampf der Einheit und der noch nicht zur Klarheit,
zum rechten Verständniss gekommenen Freiheit erhält das Stück eine
besonders anziehende Stellung zur Gegenwart, in welcher die Hebel
der Bewegung dieselben Ideen unter andern Formen und Verhält-
nissen sind. Die in der Sprache des Dichters gebrauchten Bilder
sind ursprünglich, nicht von andern entlehnt, treffend und unge-
zwungen, der Dialog lebendig, die Gruppirung anschaulich. Das
Stück hat einen dichterischen Werth in Form und Inhalt. Für die
Aufführung ist das Ganze zu breit angelegt. Schon der erste Theil
hat 156 Seiten, der zweite 30 mehr. Das müsste an zwei Aben-
den abgespielt werden. Dadurch wird das Interesse getheilt. Es
wäre besser, wenn man das Ganze in fünf Akte theilte, was leicht
geschehen könnte, wenn man den ersten Akt mit dem zweiten und
den letzten mit dem vierten verschmelzen würde. Der in den bei-
den zur Abkürzung empfohlenen Akten vorhandene Stoff ist so be-
schaffen, dass er, wie z. B. der Bärenkampf im Anfange des ersten
Theiles, oder die Synodalverhandlung im letzten Akte sich leicht
ohne Störung in Erzählungen kurz andeuten Hesse, während er
hier zur genauen Ausführung kommt. Manches von dem, was im
Stücke als zur Scenerie gehörig angeführt wird, muss, wenn der
dramatische Eindruck nicht verwischt werden soll, hin weggelassen
werden. Der Herr Verf. scheint diesen Missstand selbst zu fühlen,
daher hat er auf der Rückseite des ersten Blattes angedeutet, dass
die »Einrichtung für die Bühne von ihm in Stuttgart zu beziehen
sei.« So hängen bei Dulk den besiegten Römern niederen Ranges
Stricke, den Vornehmen Schwerter vom Halse herunter, was wohl
kaum einen ernsten Eindruck machen wird, wenn es auch ganz
geschichtlich treu ist, und von Uhland in seinem Ernst von Schwa-
ben einfach erzählt wird, weil es sich besser zur Erzählung, als
zur Darstellung eignet. Zu den schönsten Scenen gehören, wie schon
angedeutet wurde , die lebenvollen , charakterischen Volksscenen,
welche bei Uhland gänzlich fehlen, da er in der Darstellung seines
Ernst von Schwaben andere Zwecke verfolgt und darum andere
Mittel wählen muss. Dem grossen Publikum durchaus unverständ-
liche Worte, wie die bei den einzelnen Versen immer widerkeh-
renden Anfangsworte des deutschen Kriegsliedes: »Gare, Gare«
müssen hinweggelassen oder durch andere verständliche ersetzt wer-
den. Eine Umänderung und Zusammenziehung lassen sich ohne
Nachtheil für das Ganze ausführen und dann wird eine gute Dar-
stellung der gelungenen Dichtung den Eindruck, welchen sie schon
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Agthe: Die Parabase.
718
in der jetzigen Gestalt bei dem Leser hervorruft, gewiss ancb auf
der Bühne bei dem Zuschauer nicht verfehlen.
v. Reiclilin-Meldegg.
Die Parabane und die Zirischenaktc der alt-attischen Komödie von
von C. Agthe. Mit sechs Holzschnitten. Altona, Verlag von
Adolf Lehmkuhl et Co. (O. Sorge) 1S66. 192 S. in gr. 8.
Die Parabase, diese eigentümliche Erscheinung der älteren
attischen Komtidie, ist in neuester Zoit Gegenstand mehrfacher
Besprechung geworden, um ihr Verhältniss zu den übrigen Theilen
des Drama richtig aufzufassen und damit zu einer richtigen Wür-
digung des alten Drama selbst zu gelangen. Die vorliegende
Schrift, welche diesen Gegenstand in umfassender Weise, und mit
Rücksicht auf die densolben Gegenstand behandelnden Vorgänger
zu erfassen bemüht ist, zerfällt in zwei Theile, deren erster allge-
meiner Art ist und die Frage nach dem Ursprung und Wesen der
Parabase behandelt, der zweite Theil dann zur Anwendung der im
ersten Theil gewonnenen Kriterien tibergeht und hiernach in den
noch vorhandenen eilf Stücken des Aristophenes diejenigen Ab-
schnitte zu ermitteln sucht, welche als Parabasen angenommen
werden können. Bedingt ist die Parabase durch das Abtreten
sämmtlicher Schauspieler von der Bühne, durch das dann er-
folgende Auftreten des Chors, der um den Zwischenakt auszufüllen,
nicht etwa ein auf die Handlung des Stückes bezügliches Lied
vorträgt, sondern, ganz aus Inhalt und Gegenstand desselben her-
austretend, diese Gelegenheit benutzt, um über irgend einen andern
Gegenstand oder irgend eine andere, mit dem Stücke in gar keiner
Verbindung stehende Persönlichkeit sich spottend auszulassen, oder
auch durch eine Ansprache des Chorführers (Dichters) sich un-
mittelbar an das Publikum wendet und dieses anspricht, meist in
persönlichen Angelegenheiten, wie diess in der späteren Komödie durch
den Prolog der Fall war. Es entsteht nun allerdings die Frage, wie die
alte attische Komödie zu einer solchen Einrichtung, mag man dieselbe
als eine Abnormität mit dem Verf. betrachten, welche den Fort-
gang der Handlung unterbrach und aller dramatischen Illusion
widersprach, gelangte, und diese Frage sucht der Verf. dahin zu
beantworten, dass er nachzuweisen sich bemüht, wie diese Ein-
richtung doch nicht in dfrektem Widerspruch mit dem Wesen des
Drama stehe, sondern ihre Erklärung in der Entstehung der Ko-
mödie aus dem alten xcopog finde, dessen in bestimmte Normen und
Fesseln gebrachter Ueberrest die Parabase gewesen, die mithin
den ältesten Theil der Komödie gebildet und für den Dichter selbst
der wichtigste Theil der ganzen Komödie geworden sei, weil sie
ihm eine Gelegenheit geboten, sich und seine Poesie wider die
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Aßt he: Di« Par&bue.
Angriffe neidischer und lästiger Gegner zu vertheidigen, und zu-
gleich als eine bedeutende politische Waffe gedient, die mit Erfolg
zu politischen Zwecken augewendet werden konnte (Vgl. S. 27).
Wir theilen diese Auffassung der Parabase hier mit, ohue weiter
in eine Prüfung uns einzulassen, in wie weit dadurch die ganze
Erscheinung ihre hinreichende Erklärung findet, indem dazu hier
der Raum nicht ausreicht und wir überhaupt mit dieser Anzeige
nur den Zweck verbinden, die Leser auf eine Schrift aufmerksam
zu machen, welche diesen wichtigen Bestandtheil der alten attischen
Komödie einer neuern gründlichen Besprechung zu unterwerfen und
diese eigontbümliche Erscheinung zu erklären und zu erörtern ver-
sucht hat. Nachdem der Verf. auf die bemerkte Weise den Ur-
sprung und Bestand der Parabase behandelt, geht er dann S. 28 ff.
über zu einer Betrachtung der Parabase in ihren Einzelheiten,
wobei zuerst der Ausdruck selbst (Tcccgaßctöig) besprochen wird
und Veranlassung gibt zu einer näheren Erörterung über die Art
und Weise des Vortretens des Chors, seiner Stellung und Bewegung
während dorn Vortrag dieses Theils des alten Drama's, welcher
dann selbst mit diesem Namen bezeichnet ward. Dann geht der
Verf. zu der näheren Bestimmung der einzelnen Theile einer Para-
base über, wie sie schon bei Pollui (IV, 112) und noch besser in
den Scholien zu den Wolken 518 aufgeführt werden, also zuerst
das sogenannte xofifiatiov, dann die itccgdßaöig im eigentlichen
oder engern Sinne des Wortes, wie sie vom Chorführer gesprochen,
nicht aber, es sei von ihm oder vom Chor gesungen ward, dann
der vom ganzen Chor gesprochene Abschnitt fiaxgov oder 7tvtyo$
genannt. Diesen drei Theilen der vollständigen Parabase reihen
sich dann noch an (4 und 6) oidi} und avraÖ^ vom ganzen Chor
gesungen, und (5 und 7) txt'omjuu und ävzemQQrjfuc, von einem
der Choreuten gesprochen. Nachdem noch das Metrum der ein-
zelnen Theile besprochen worden, folgt zum Schluss S. 59 ff.
eine Besprechung der tragischen Parabase, mit Bezug auf die Stelle
des Pollux IV, 111, wornach Euripides wie Sophocles in ihren
Dramen mehrmals einer Art von Parabase sich bedient haben
sollen, insofern sie dem Chor in irgend einem Zwischenakt Worte
in den Mund gelegt, die auf den Dichter selbst sich bezogen, der
also, wie bei der Komödie, hier von sich selbst, dem Publikum
gegenüber gesprochen habe. Die ganze Sache ist etwas unsicher,
aus Mangel an nähern Angaben; und daher auch unsicher die
weitere Vermuthung, die am Schlüsse dieser ganzen Erörterung
ausgesprochen wird, dass auch im Satyrdrama eine Parabase wie
in der Komödie und Tragödie stattgefunden habe.
Der zweite praktische Theil, wie wir ihn wohl nennen dür-
fen, wendet sieb, nach einer einleitenden Erörterung über die Kri-
terien und über die hier einzuschlagende Methode, den einzelnen
Stücken des Aristophanes zu, und sucht hier prüfend nachzuweisen,
welche Theile bei einem jeden Stück als Parabasen anzusehen seien.
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Cicero'B Parti«, oratt von Piderit
715
Wir können anch hier dem Verf. in das Einzelne seiner Unter-
suchung nicht folgen, die, wir zweifeln nicht, anf wohlbegründe-
ten Widerspruch stossen wird, namentlich in Bezug auf das
Verhältni8s, in welches hier die Parabase zu dem Episodium ge-
setzt wird, indem der Verf. (S. 182) annimmt, dass in der Ko-
mödie am Ende eines jeden Episodinms sich eine Parabase finde (?).
Demnach werden z. B. in den Acharnern vier Parabasen angenom-
men, welche auf die vier Episodien folgen sollen, eine erste voll-
ständige Parabase (626—718) am Ende des ersten Episodiums,
eine zweite (836 — 59) am Ende des zweiten Episodiums, und so
fort eine dritte (971—999) und vierte (1143-1173) nach Ende
des dritten und vierten Episodiums. In den Rittern wird eben-
falls eine erste vollständige Parabase (498 — 610) angenommen am
Ende des ersten Episodiums, eine zweite (wir zweifeln, ob mit ge-
nügendem Grunde), am Ende des zweiten Episodiums 978 — 996,
und eiue dritte, die auch wir für richtig halten, von 1263 — 1315
am Ende des dritten Episodiums. In den Wolken findet der Verf.
eine erste, des Pnigos ermangelnde Parabase 510 — 626 nach dem
ersten Episodium, und eine zweite 1113 — 1130 am Ende des zwei-
ten Episodiums; am Ende des dritten Episodiums wird eine jetzt
fehlende Parabase angenommen. In den Wespen, im Frieden und
in den Fröschen werden zwei solche Parabasen angenommen, in
den Vögeln gar fünf, die auf die fünf Episodien gefolgt, in den
Thesmophoriaznsen drei nach eben so vielen Episodien; in der
Lysistrata fehlen die Parabasen zwar, allein am Schlüsse eines
jeden der vier Episodien werden diesen ähnliche Chorika gefunden,
auch in den Ekklesiazusen eine erste Parabase von 1155 — 1162
angenommen. Vom P latus kann bekanntlich keine Rede sein.
Die auf dem Titel erwähnten Holzschnitte beziehen sich auf
die Stellung des Chors während der Parabase und sind dem be-
treffenden Abschnitt S. 33 IßT. eingedruckt.
Cicero'' 8 Partitiones oratoriae. Für dm Schulgebrauch erklärt
von Dr. Karl Wilhelm Piderit, Direcior des Gymna-
siums 2u Hanau. Leipzig. Druck und Verlag von B. 0. Teub-
ner. 1867. 96 8. in gr. 8.
Diese Bearbeitung einer der kleineren rhetorischen Schriften
Oicero's schliesst sich ganz den von demselben Verfasser besorgten
Ausgaben der Bücher De oratore, des Brutus und des Orator an,
sie ist ihnen ähnlich in ihrer ganzen Einrichtung und nach ihrer
ganzen Fassung. Sie ist, wie schon der Titel andeutet, keine neue
kritische Ausgabe, sondern zunächst der Erklärung dieser Schrift
gewidmet, die in früherer Zeit vielfach in Schulen gelesen und er-
klärt, wie diess selbst Melanohthon's Ausgaben und Erklärungen
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Cicero's Partitt. oratt. von Piderlt.
beweisen können, in den letzt verflossenen hundert Jahren weniger
Beachtung gefunden hat, so dass selbst Zweifel über ihre Aecht-
heit auftauchen konnten, die indess Niemand, der Cicero's Schrif-
ten nur einigermassen kennt, theilen wird. Uro so erwünschter
mag diese neue Bearbeitung erscheinen, die es sich zur Aufgabe
gestellt hat, das Verständniss dieser Schrift durch eine eingebende
Erklärung in sachlicher wie sprachlicher Hinsicht herbeizuführen
und damit die Leetüre dieser vielfach vergessenen oder selbst ge-
ringschätzig angesehenen Schrift zu fördern, in der auch wir mit
dem Verfasser »einen trefflichen rhetorischen Katechismus
erkennen, der sich durch die Vorzüge einer geschickten systema-
tischen Anordnung des Lehrinhalts, wie durch prägnante Fassung
der rhetorischen Begriffe auszeichnet und auch noch in mancher
andern Hinsicht nützliche Dienste leistet.« Denn es werden in die-
ser Schrift die Hauptpunkte der gesammten Lehre von der Bered-
samkeit, also das ganze rhetorische System in wohlgeordneter Folge
und in fasslicher. Weise, wie es die Bestimmung der Schrift, die
zunächst dem Sohn eine zweckmässige Anleitung zu geben beab-
sichtigt, dargelegt; wir erhalten also damit ein Compendium oder
ein kurzgefasstes Lehrbuch der römischen Beredsamkeit, das sieb
durch manche Eigenschaften empfiehlt, daher wohl auch auf Schu-
len gelesen zu werden verdient.
Die Ausgabe beginnt mit einer Einleitung, wie diess auch bei
den ähnlichen , oben genannten Bearbeitungen der Fall ist , und
werden darin alle auf die Abfassung der Schrift, ihre Tendenz nnd
ihren Inhalt bezüglichen Fragen näher behandelt; daran schließet
sich eine genaue Uebersicht des Inhalts im Einzelnen S. 16 ff. Die
Abfassung der Schrift wird (S. 7) in das Jahr 46 v. Chr. (708
n. c.) vorlegt, woran wohl nicht zu zweifeln ist; die Bedeutung
der Schrift selbst nach Gebühr in dieser Einleitung betont. Nun
folgt der Text mit der darunter gesetzten Erklärung, welche,
wie schon oben bemerkt, Sachliches und Sprachliches gleichmässig
berücksichtigt und dabei auf den Nachweis des Zusammenhangs,
so wie auf die Erörterung Alles Dessen, was in das Gebiet der
Rhetorik einschlägt, besondere Rücksicht nimmt , namentlich auch
durch die Anführung passender, das richtige Verständniss und die
Auffassung fördernden Parallelstellen aus dem Auetor ad Herennium
wie aus den andern rhetorischen Schriften Cicero's. Ohne näher
in das Einzelne einzugehen, wird man doch bald sich überzeugen,
wie das, was in diesen Punkten geleistet worden ist, dem beab-
sichtigten Zwecke entspricht und befriedigend ausgefallen ist. Auch
der Text selbst ist, wenngleich die Kritik zunächst der Aufgabe
des Verf. ferne lag, doch einer Revision unterzogen und an man-
chen Stellen, wo es der Vorf. für nöthig erachtete, geändert oder
berichtigt worden. Darüber gibt der am Schluss des Ganzen be-
findliche kritische Anhang nähere Auskunft. So bereitwillig man
nun manche der vorgenommenen Aenderungen als Verbesserungen
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Cicero's Partitt. oratt. von Pider it.
717
anerkennen wird, so finden Bich doch auch Stellen, in welchen man
anderer Ansicht sein kann. So wird man IV, §. 14 der von dem
Verf. in den Text gesetzten Lesart : »quod accusator rerum ordinem
prosequitnr et singula argumenta quasi hasta in manu co Ho-
est u, vehementer proponit, concludit acriter« etc. wohl unbedenk-
lich den Vorzug geben, selbst vor der in dem kritischen Anhang
ausgesprochenen Vermuthung »quasi hasta sit in manu collocata«,
wozu die in den beiden massgebenden Handschriften, der Pariser
und Erlanger, befindliche Lesart hastas die Veranlassung gab;
denn der Vorschlag : hastas — collocatas zusetzen, passt nicht,
schon um des Verbums willen, der Ablativ aber führt hier ganz
gut das Bild vor, das Cicero anwendet, indem er den anklagenden
mithin angreifenden Redner vergleicht mit dem Krieger, oder viel-
mehr mit dem Feldherrn, der seine Streitkräfte zum Angriff vor-
führt, mit den Waffen in der Hand, wohlgeordnet in die Beihen.
Der Verf. vergleicht uuser Deutsches: »gleichsam zur Attaque das
Gewehr.« Minder noth wendig erscheint V, §. 15 die Aenderung:
>nam auditorum aures moderantur oratori prudenti et pro vi du«,
wo die beiden eben genannten Handschrifteu auditoris haben,
was eben so gut stehen kaun, zumal da auch oratori im Sin-
gular folgt; in der Stelle III, §.10 auf welche verwiesen wird
(»auditorum eam genere distingui«), liegt kein uäherer Grund,
auch hier den Plural zu setzen. Aber cap. XXXIX, §. 136 glau-
ben wir nicht, dass die in den Text gesetzto Lesart : »non in ver-
bis ac in literis«, wie die Erlanger Handschrift hat, richtig ist,
da wir uns nicht überzengon können, dass Cicero in dieser Weise
ac vor einen Vokal und vor das einsilbige in gesetzt habe; wir
bleiben daher bei der Vulgata ac literis, oder lesen lieber atque
in literis, was dem vorausgegangenen in consilio atque in mente
dann völlig entspricht; auch hat eine Handschrift (Behdigeranus)
für ac wirklich atque. Eher möchte sich die VII, 24 vorgenom-
mene Aenderung empfehlen: »in conjunetis autem verbis duplex
adhiberi potest commutatio, nou verborum sed tautummodo ordi-
nis, ut cum semel dictum sit directe, sicut natura ipsa tulerit, in-
vertatur ordo et idem quasi sursum versum retroque dicatur, deinde
idem intercise atque perraixte.« Hier ist statt des aufgenommenen
duplex die Lesart der Codd. und Edd. triplex, was aber nicht
passt. Denn, wie hier richtig bemerkt wird, schon das nachfol-
gende deinde zeigt deutlich, dass hier nur eine zweifache Form-
ver Änderung mittelst der Wortstellung angeführt werden soll; wie
diess von dem Verfasser woiter ausgeführt wird. Dagegen III, §. 9
ist die Vulgata: »adhibenda sunt illa etiam, quae ad motum
animorum pertinent« belassen, wo die beiden Handschritten ad
m o t u s haben , was im Hinblick auf die vom Verf. selbst ange-
führten Stellen doch den Vorzug zu verdienen scheint. Wir setzen
diese kleine Nachlese nicht weiter fort: das Angeführte mag ge-
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718 . Paul: Quaeetiones Claudiancae.
nügen , um dieser Bearbeitung die wohlverdiente Aufnahme und
Verbreitung zu sichern.
Quaestiones Claudianeae. Vom Oberlehrer Dr. Paul. Ber-
lin 1866. Druck von E. v. HuUen. 36 S. in 4to.
Es ist gewiss an der Zeit, auch einmal an den Dichter Clau-
dianus zu denken, der in früheren Zeiten viel gelesen und be-
achtet, in der neuesten Zeit fast ganz vergessen erscheint, wenn
man etwa absieht von dem historischen Gebrauch, welcher von
einigen seiner Dichtungen gemacht und selbst näher erörtert
worden ist. Aber auch zu diesem Gebrauch wird, abgesehen von
Allem Andern, ein richtiger und reiner Text, den wir leider noch
nicht besitzen, nötbig sein, und erscheint ein solcher als das nächste
Bedürfnis«. Auch die vorliegende Abhandlung hat es zunächst mit
dem Texte der Gedichte Ciaudian's zu thun, indem sie nicht blos
zahlreiche Verderbnisse nachweist, sondern auch eine nahmhafte
Anzahl von Stellen auf dem Wege der Conjecturalkritik und unter
Benutzung der ältesten Ausgaben wiederherzustellen versucht, und
in diesem Streben durch eine genaue Kenntniss der Sprache
des Dichters und seiner Ausdrucksweise unterstützt wird; davon
gibt auch die längere Erörterung Uber die Nachbildung des Luc*-
nus (nicht des Statius, wie Barth behauptete), die in so vielen
Stellen des Claudianus neben der des Virgilius hervortritt, S. 31 flf.
einen befriedigenden Beweis. Man wird daher in den meisten
Fällen dem Verfasser zustimmen und die vorgeschlagene Aende-
rung als eine Verbesserung betrachten können. Allerdings steht
einer durchgreifenden Verbesserung des Textes der Umstand im
Wege, dass wir noch keine genaue Kenntniss der noch vorhande-
nen Handschriften des Dichters besitzen, wie sie doch nötbig ist,
um mit einiger Sicherheit in der Gestaltung des Textes voranzu-
gehen; und möchten wir das anerkennenswerthe Streben des Ver-
fassers insbesondere auf diesen Punkt lenken, wenn derselbe auch
mit manchen Mühen und Schwierigkeiten verknüpft ist. Eine auf
genaue Kenntniss der vorhandenen Handschriften gestutzte Classifi-
cation der Handschriften, welche den Werth der einzelnen mit Sicher-
heit bestimmt und damit der Texteskritik eine feste Grundlage tu
schallen vermag, wird um so wünschenswerter sein, als die frü-
heren Herausgeber diesen Gegenstand mit der in früherer Zeit aller-
dings noch nicht verlangten oder nöthig erachteten Akribie be-
bandelt haben. Es hat seine vollkommene Richtigkeit, wenn wir
S. 19 bei dem Verfasser lesen: »Pessime accidit, quod optimorum
librorum, quos Nicolaus Heinsius et reperit et primus emendandis
Claudiani carminibus adhibuit, oondioio et species plane ignoratur.
Itaque ubi quove saeculo confecti sint et quo literarum genere
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T. CotU: EntwickdüngBgeaeU der Erda.
710
exarati, qui fuerit versuum in unaquaque pagina numerus et quae
sunt cognitu commoda id genus alia frustra quaesieris, nisi quod
Vaticanum primum, cui plurimum tribuit ille , undecimo fere sae-
cuio scriptum esse commemorat.< Diese Unsicherheit in Bezug auf
die handschriftliche Ueberlieferung zu heben, erscheint darum vor
Allem geboten und der Verfasser dieser Abhandlung bei seiner
gründlichen Eenntniss des Dichters, die ihn in den Stand gesetzt
hat , so manchen Stellen ihre wahre Gestalt wieder zu verleihen,
wohl berufen, diese nächste Aufgabe zu lösen. Was die einzelnen
in diesen Quaestiones behandelten Stellen des Clatidianus betrifft,
so verweisen wir, da auf das Einzelne einzugeben, der Baum die-
ser Blätter nicht verstattet, auf die Schrift selbst, die wir allen
denen, die sich für einen Dichter, wie Claudianus, interessiren, zu
empfehlen allen Grund haben.
Heber das Enttpickelungs-Oesäz der Erde. Von Bernhard von
Cotta, Professor der Geologie. Leipzig, Verlagsbuchhandlung
von J. /. Weber. 1867. 8. S. 20.
Den Bau der Erde naturgemäss zu erklären, ist die höchste
Aufgabe der Geologie. Die Gegenwart lässt uns hiebei auf die Ver-
gangenheit schliessen; auf die unzähligen Vorgänge und Aenderun-
gen deren Schauplatz unsere Erde war. Auf den dauernden Polgen,
welche alle diese Zustände hinterliessen, beruht das Entwickelungs-
Gesetz, welches folgendermassen lautet: die Mannigfaltigkeit der
Erscheinungs-Formen ist eine nothwendige Folge der Summirung
von Resultaten der Einzelvorgänge die nach einander eintraten
oder kürzer: die Mannigfaltigkeit der Entwickelungs-Formen ist
die Folge der Einzelvorgänge.
Die geologischen Forschungen führen uns auf einen heissflüs-
sigen Zustand der Erde zurück, d. h. zu der Annahme, dass die
gesammte Erde sich seiner Zeit in einem derartigen Zustande be-
funden, wovon das Gegenwärtige nur noch ein Ueberrest sei, ur-
sprünglich umgeben von einer — im Vergleich mit der jetzigen
Atmosphäre — dicken, an Stoffen reicheren Gas-Hülle, jedoch ohne
eine Hülle von Wasser. Diese Annahme bildet die Grundlage. Die
Erdmasse wurde nun — indem sie fort und fort Wärme in den
Weltraum ausstrahlte — allmählich kälter: es entstand eine feste
Rinde der Erstarrung. Es ist dies die erste, die älteste Gesteins-
Bildung. Aber die kaum entstandene Kruste erlitt alsbald mannig-
fache Störungen; sie wurde von den aus dem Erdinnern her-
vordringenden heissflüssigen Massen gesprengt und durchbrochen
— die Bildung der ersten Eruptiv - Gesteine fand statt, welche
sich von nun an mit verschiedenem Wechsel fortdauernd wieder-
holte.
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720
v. Cotta: Entwickelungsgesetr der Erde.
Mit der Abkühlung fing aber auch die Wasser-Bildung auf der
nun starren Einste an, welche unter dem Druck einer dichten
Atmosphäre und bei hoher Temperatur eintrat. Und von nun an
begann das Wasser seine unausgesetzte Thätigkeit ; hier zerstörend
und fortführend, dort ablagernd und aufbauend. Die sedimentären
Gesteine wurden in einem langen Zeiträume abgesetzt. Es ent-
wickelte sich aber auch mit der zunehmenden Abkühlung das orga-
nische Leben, dessen Ueberbleibsel wir in Schichten des verschie-
densten Alters begraben finden. Durch die stete Abkühlung der
Erde von ihrer Oberfläche aus prägten sich allmählig die Unter-
schiede der Erwärmung durch die Sonne mehr und mehr aus zu
den gegenwärtigen Klimazonen; es wurde die Bildung von Eis
möglich.
Am Schlüsse seiner interessanten, die Beachtung aller Geolo-
gen in hohem Grade verdienenden Schrift stellt B. v. Cotta in
sehr anschaulicher Weise die Reihenfolge der Vorgänge in der
Entwickelung der Erde zusammen, nämlich:
1) Ballung der Materie und dadurch immense Temperatur des
Gasballes.
2) Durch Wärme-Ausstrahlung in den kälteren Weltraum geht
ein Theil der gasförmigen Stoffe in den flüssigen Zustand über;
ein flüssiger Kern ist von einer Gashülle umgeben.
3) Durch weitere Abkühlung erstarrt ein Theil des flüssigen
Kerns. "Es bildet sich eine aus Mineral-Substanzen bestehende feste
Kruste um den flüssigen Kern, umgeben von einer Gashülle.
4) Durch noch grössere Abkühlung wird auf die Oberfläche
der festen Kruste Wasser-Bildung möglich und von da an Wasser-
Wirkungen. Zwischen die feste Kruste und die Gashülle tritt dem-
nach eine unterbrochene Wasser-Schicht.
5) Nach einer gewissen Temperatur-Erniedrigung bilden sich
organische Stoff- Verbindungen und aus diesen Organismen, deren
Mannigfaltigkeit sich nun stetig vermehrt, wie die der unorgani-
schen Gestaltungen.
6) Die Wärme- Unterschiede der Sonnen- Bestrahlung werden
bemerkbar; es bilden sich Klima-Zonnen und endlich Eisregionen.
Von da an auch Eis-Wirkungen.
7) Im Thiei-reiche entwickelt sich mehr und mehr das geistige
Leben und erreicht im Menschen sein augenblickliches Maximum.
Die Ausstattung vorliegender Schrift ist, wie man solches von
dem Verleger der >Ulustrirten Zeitung« gewohnt, eine sehr ge-
diegene. G. Leonhard.
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Ir. 46. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Auf der Scholle. Elegien von Stephan Milow. Heidelberg. Ver-
lag von 0. Weiss. Iß67. 84 S. 8.
Von dem talentvollen Herren Verf. oben genannter Elegien
wurden in den Jahrbüchern die zweite vermehrte Ausgabe seiner
Gedichte und die Erzählung : Das verlorene Glück durch den Unter-
zeichneten angezeigt. Dieselbe glückliche dichterische Schöpfungs-
und Gestaltungsgabe, durch welche sich die beiden genannten Werke
des Herrn Verf. auszeichnen, bekundet sich in gleicher Weise auch
in der vorstehenden Elegiensammlung, welcher die bezeichnende
Aufschrift: Auf der Scholle gegeben wird. Sie ist »meinem
Weibe zugeeignet« und die ganze Reihe der hier gegebenen fünfzig
Elegien wird mit einem Prologe begonnen und einem Epiloge ge-
schlossen. Vom heimischen Heerde, von Weib und Kind, gehen
die sinuigeo, gedankenvollen Gedichte aus und rücken, Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft umfassend, der ewig wahren und
schönen Natur, dem All der Erscheinungen, näher, mit welchem
sich der Dichter durch die Liebe Eins fühlt. Er ruft dem Weibe
und Kinde im Prologe zu:
Und so fühl' ich, indem ich in euch mich liebend versenke,
Jedem mich näher gerückt, fühl' ich mich Eins mit dem All.
Die Gedichte sind 1866 — 1867 geschrieben. Der Kriegslärm
tobt an das Ohr des Verfassers (eines österreichischen Kriegers)
und wir lesen S. 9 u. 10:
Weichliches Träumen und Ruhe unwürdig erscheint es des Mannes,
Doch nicht rühm1 sich der That, der wie ein Sklave gehorcht,
Wenn der verblendete Eifer, der Ehrgeiz einzelner Mächt'ger
Fort in den Kampf ihn spornt, welcher die Welt nur befleckt.
Stritten um Licht wir oder zum Schutze des eigenen Heerdes,
Wie es verklungener Zeit Schaaren begeistert gethan,
Jeder entflammte im Drang, die heiligen Güter zu schützen,
Welche das Leben allein füllen mit edlem Gehalt
Denn, wo Gewalt sich gegen Gewalt auflehnet, entspringet
Oft nur so grösseres Leid durch den entfesselten Drang. . . .
Bringet Erlösung der Welt, bringt Heilung den fressenden Uebeln,
Dann mag rasseln das Schwert, Blumen zertreten der Fuss,
Dann sei jeglicher Bau des Friedens zertrümmert und prächtig
Blühe das Leben verjüngt aus der Zerstörung empor.
MX. Jahrg. 10. Heft. 46
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722
Milow: Elegien.
Bo doch kehr' ich mich ab und schaue zum Trost in die Schöpfung,
Die in erhabener Hub' rollet den sicheren Kreis ;
Ueber die ewige Pracht hochragender, säuselnder Wälder,
Ueber die Fluren, vom Hauch laulicher Lüfte bewegt,
Folgt mein Auge der Sonne , die schwimmend im goldenen Dufte
Andacht weckend und gross ferne im Westen verschwebt.
Meisterhaft sind Friede und Herrlichkeit der Natur gegenüber
dem wilden Treiben der Menschen in der fünften Elegie geschil-
dert (S. 11 u. 12). Die Liebe ist es, deren Athem die Natur
durchweht und sich in immer neuen Geschlechtern der Menschheit
beseligend wiederholt. Darum fühlt sich der Dichter im Besitze
seines Weibes und des theuern Kindes glücklich, beseligt in der
Gegenwart, vorgeniessend in der Zukunft, sich rückerinnernd an
den heiligen Bund, welcher ihm das höchste Glück des Lebens
schuf. Nur, wer die Liebe kennt, kennt auch das geheimnissvolle
göttliche Walten der Natur. Des Kindes Auge schafft ihm das
Eden, ist ihm ein Gruss von »jenseits irdischer Schranke«, es
hellet ihm das »Dunkel des Seins.« Für das »selige Kind« gibt
es kein »Schicksal«, keinen »Tod« in der Welt. Von dem, welcher
das Kind begreift und mit ihm zum seligen Kinde wird, sagt der
Dichter in der Elegie an seinen Sohn S. 18:
Schwerstes erscheint ihm ein Spiel, an des Daseins dräuendem Ab-
grund.
Ahnungslos, wie du, schreitet er lächelnd dabin.
Wenn der schlummernde Knabe aus seinen Träumen erwachet,
er erschrickt und weint, kehrend zurück in die Welt«
Wie schön lUsst der Dichter die Liebe als Lehrerin des künf-
tigen Geschlechtes auftreten, wenn er S. 26 singt:
Seid nur Alle im Kreis stets treuliche Väter und Mütter,
Wollt ihr dem eigenen Sein Würde verleihen und Werth.
Vieles versäumten wir selbst, so lasst ein Geschlecht uns erziehen,
Welches mit stärkerer Hand stützet die wankende Welt.«
Die Jugend ist es, die Blume, an welche, als die Frucht der
Zukunft, er sich hält. Jeder sei in seinem Kreise, wozu ihn Be-
ruf und Gaben bestimmen. So heisst es S. 30:
Ganz sei Jeder, wofür er sich giebt, dann blühet uns Einklang,
Dies mein Glaube — so lass* stets nur die Tadler mich flieh'n.
Durch seine Anschauungen über Gott und Welt bewegt sich
ein tiefer, wahrhaft philosophischer Gedanke. Nicht die »Pfaffen«
sollen seinen Sohn lehren, was Gott ist, auch »die arme gedunsene
Weisheit nicht«, welche »die Seele des Seins schon im Atome ver-
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Milow: Elegien.
meint.« Nicht das »Aufdringen« dessen, was wir »bebend nur ahnen
können«, nicht »das kecke Läugnen« dessen, was »sich dem Tasten
entzieht«, fuhrt zum Ziele. Er will seinem Knaben »nur das Eine«
sagen, dass »hinter dem Kleinsten noch ein Geheimniss sich birgt,
das auf das Ewige weist , dass ihn der fallende Stein anhalte zu
staunendem Sinnen, wie der wachsende Keim und der zerstäubende
Mensch« (S. 31). Der Vater will ihn nur »vor dem Wahne
schützen«; er soll den » waltenden Gott mit eigenem Blicke« suchen.
Wenn er ihn auch in »Kämpfen« suchen muss, nur der, den er
»selbst gefunden« , kann ihm »Tröster« und »einzig der rechte«
sein (S. 32). Die wahre Liebe lehrt ihn das Leben ernster und
tiefer erfassen (S. 33 u. 34), Vielfach sieht er, von der schönen
Natur abgewendet, das Schmerzliche, das »nur von den Menschen
kommt.« Ein Volk »blutet«, dem »Alles sich zum Glücke einte,
zwäng' es ein Einzelner nicht rauh in das schimpfliche Joch" (S. 37
u. 38). Freiheit ist der Ruf des Einzelnen, des Volkes. Ihm er-
scheint eben so nachtheilig »des Gewaltherrn Joch«, wie der »ent-
fesselte Schwärm der fauatiscben Menge« (S. 39 und 40). Nur
die Herrschaft über uns selbst giebt uns die wahre Freiheit und
macht uns der äussern würdig. Darum ruft der Vater dem Kinde
S. 41 zu:
Fest im Wahren und Echten! Du folg' dem Spruche im Leben,
Müsstest du Tausenden auch stürzen die Götzen in Staub.
Alles verzeih', was dir die Anderen Schmerzliches anthun;
Aber verzeihe du nie, dass sie verschänden die Welt.
Nur das Gute soll bestehen. Zum Kampfe gegen das Böse
sollen sich alle Gutgesinnten verbinden (S. 42 u. 43). Wer nicht
im All wie ein verlorener Schrei dahin zittern, als »ein Nichts« vor-
übergehen will, soll sich »dem Grossen im innersten Herzen er-
sohliessen« (S. 44). Nicht Genuss und Glück allein sind die »Be-
stimmung des Daseins«, auch die »Schmerzendesselben« muss man
kennen lernen und »als einen Schatz hegen.« Das »ewige Weh«
klagt neben dem Jubel vom »Schauer des Baumes, den rüttelnd
entblättert ein Windstoss, bis zum Menschen empor.« Das Gefühl
des Schmerzens läutert die Brust und stählt den in uns »Wunder
bewirkenden Glauben« (S. 45). Wenn wir auch den Schmerz mit
andern fühlen, so erscheint uns doch »jegliche Rose im Lenz« als
»holdes Symbol des herrlichen Schönen der Erde«. Der Tod ist,
wie das Leben, die Blüthe, wie das Verwelken, nothwendig. Die
Selbstsucht weckt des Menschen Kräfte, aber sie wird auch zur
»Hölle der Welt«. Sie »treibt und belebt«, aber sie »verzehrt«
auch. Wenn des Dichters Sohn auch vor dem schlechten Menschen
gewarnt wird, so soll er sich desto fester an die »Guten« halten,
und an »einen erhabenen Geist in der Menschheit glauben, fabig
den Schwärm zu durchschauen und zu belächeln verklärt.«
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724
Milow: Elegien.
Besonders hervorzuheben ist die treffliche Elegie XTY (S. 52),
welche das Schone beschreibt. Das Schöne ist dem Dichter das
Höchste. Er schildert es also in dieser Elegie an seinen Sohn:
Wenn ich als Höchstes das Schöne dir rühme, so fasse nnr recht mich ;
Denk nicht blos an das Werk, welches der Meissel vollbringt,
Oder der Pinsel des Künstlers, der Griffel des sinnenden Dichters,
Nein, nimm Alles dazu, was zum Gestalten sie drängt;
Sei's die liebliche Form, das seelische Auge des Menschen;
Sei's der Reiz der Natur, wenn sie erblüht und verwelkt.
Schön auch nenn' ich das Gute, die siegende Wallung des Herzeus,
Das, wie tief es gehasst, endlich dem Feinde verzeiht;
Auch den gläubigen Muth, der ruhig den Sternen vertrauet,
Und die begeisterte That, die das Gemüth uns erhebt.
Schön ist Alles im Kreis und würdig verehrender Liebe,
Wo das Ew'ge mit Macht über das Nichtige siegt.
Das »Wirkliche« ist »allein nur das Jetzt«. Das Leben von
Jahrtausenden mit den Völkern und ihren Gewaltigen ist zersto-
ben; wir leben und tragen das Leben (S. 54 u. 55) Nicht Klug-
heit und List, Liebe und Weisheit sollen das Leben leiten; denn
nur diese stammen von dem Göttlichen. Jede Zeit hat Schlechte
und Gute, wie auf jeden Winter die belebende Frische des Lenzes
folgt. Die Zeit ist ein Traum. Das Gottesgeschöpf frage sich nicht,
wie lange es lebe. Genug, wenn es vollendet gelebt. Die Gräber
bergen den Moder; der siegende Gedanke erhebt sich über sie.
Die Welt gewinnt ihre Schönheit allein im liebenden Auge des
Herzens. Den Schöpfer verehrt die Liebe in seinem Geschöpfe. Wie
der Einzelne, so darf das Volk nie verblendeten Eifer erproben.
Jeder Tropfen seines Blutes sei der Freiheit Saamen, nicht der
Cäsaren Raub. Dauernd ist das Glück nur, wo uns der Stern des
Rechtes, der segnenden Freiheit schimmert. Nur der schaut die
Harmonie in der Welt, der sie in der eigenen Brust trägt. Sich
herrlich fühlen im All ist Mensch sein. Nur der Mensch lebt in
den Sternen, auf der Scholle, schauert mit den Wettern, fühlt den
sonnigen Lenz. Jahrtausende gräbt er aus dem Moder, Jahrtau-
sende spiegelt er ahnend voraus. Der Liebe Erinnerung erhebt ihn
über den Staub. Alles Einzelne dient dem schaffenden Weltgeist.
Die Kunst ist die höhere Auffassung der Natur. Wie der Prolog
mit der stillen beseligenden Liebe am häuslichen Heerde beginnt
und die Geist und Natur umfassenden Elegien aus dieser hervor-
gehen, so führen sie im Epiloge wieder auf die Liebe, den Born
der Dichtung, zurück. Den philosophischen Geist, der diesen Dich-
tungen eigen ist, bezeichnet die 31. Elegie (S. 53):
Knabe, verschwindendes Glied der endlos rollenden Kette,
Punkt im unendlichen Kaum, schwindelnder Blick in das All,
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Reckendorf: Das Leben Monis.
72ß
Schlick nicht bange zusammen, wie riesig die Welten sich dehnen,
Lass dir der Kräfte Gewog nimmer bedrängen die Brust.
Bist du der Ewigkeit ein flüchtig zerstäubendes Nichts auch,
Fühl es: in diesem Moment bist du das Auge der Welt.
Zwischen Entsteh'n und Vergehen ruh' fe9t als Spiegel des Daseins,
Bebst du, so bebt mit dir auch der gewaltige Bau.
Schaue zurück in die Zeit und mache das Todte lebendig,
Dass im zerbröckelten Schutt einst'ge Vollendung du ahnst;
Flieg' in die Zukunft dann und bringe dem hoiligen Sehnen,
Das in die Brust uns gelegt, holde Erfüllung im Traum,
Und so spinn1 ihn weiter den ew'gen Gedanken der Menschheit,
Bis dich das kreisende Rad wieder zu Staube zermalmt.
Besonders gelungen sind die Naturbeschreibungen. Die Form
ist in allen Elegien eine durchaus correcte ; jeder Elegie liegt ein
abgerundeter Gedanke zu Grunde, welcher sich in ungezwungener,
einfacher Schönheit zum Gedichte gestaltet. Tiefe Empfindung ist
mit einer glücklich gestaltenden Phantasie, richtigem Urtheile und
einer odeln Gesinnung verbunden. Die Weltanschauung ist eine
wahrhaft philosophische. Aus dem Strome der Mittelraässigkeit, der
in dem Gebiete einer Dichtkunst reichlich fliesst, die, wie beson-
ders in unserer Zeit, mehr in der Form oder dem blosen Kling-
klang des Rythmus, als in der Tiefe des Gedankens und dessen
bildlicher Erscheinung das Schöne sucht, taucht diese Sammlung
als eine rühmliche Ausnahme auf und verdient in jeder Hinsicht
die Aufmerksamkeit des denkenden, künstlerich gebildeten Lesers.
v. Reichlin-Meldegg.
Das Leben Mösts. Allen denkenden Bibelfreunden gewidmet von Dr.
Herrn. Reekendorf. Leipzig, Wolf gang Gerhard. 7868. 8.
Den Sagen von dem Aufenthalte der Jnden in Aegypten, von
ihrer Befreiung durch Moses und von der Wirksamkeit dieses als
Religionsstifter, Feldherr, Staatsmann und Gesetzgeber gleich gros-
sen Mannes liegt unbezweifelt ein historischer Kern zu Grunde, wenn
gleich das Wunderbare in den von den mosaischen Urkunden er-
zählten Geschichten in ein mythisches Dunkel gehüllt ist und die
von der Orthodoxie angenommene Zeit der Abfassung und der Ur-
sprung dieser Quellen von der Kritik beanstandet werden. In dem
vorliegenden Buche wird uns die Lebensgeschichte des merkwür-
gen Mannes gegeben, dessen Lehre noch jetzt der Glaube einer
auf allen Theilen der Erde verbreiteten Bekennerschaft ist und
welche ihrem Grundkeime nach auf die Gestaltung der Religionen
der gebildetsten Völker, auf das Christenthum und den Islam,
mächtig einwirkte.
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Reckendorf: Das Leben Mösls.
..— Bileam
^folgend
Der gelehrte Herr Verf. legte seiner Darstellung des Lebens
Mosis überall die mosaischen Urkunden zu Grunde, von deren Echt-
heit und Ürsprtinglichkeit er ausgeht, indem er die ErzHhlung
Mosis von seinen Tbaten als eine wirkliche Selbstbiographie be-
trachtet. Mit vielem Fleisse , mit genauer Sachkenntniss , anzie-
hender, volkstümlicher Darstellungsgabe und mit einer wahren Be-
geisterung für seinen Stoff gibt er uns auf der Grundlage der Mo-
saischen Urkunden und unter Hinweisung auf dieselben ein treues,
freisinnig aufgefasstes Bild von dem Leben und Wirken des grossen
Religionsstifters. Dabei werden die andern Quellen neben den
mosaischen Urkunden, Philo, Josephus Flavius, für die bildlichen
und mystischen Auffassungen und Auslegungen der einzelnen Haupt-
momente im Leben und Lehren Mosis der Thalmud , die Hülfs-
mittel jüdischer und nichtjtidischer Gelehrter mit Sorgfalt benutzt.
Wie genau der Herr Verf. in das Detail seiner Aufgabe eingeht,
zeigt am besten eine kurze Uebersicht seiner Schrift. Sie zerfällt
in drei Bücher. Das erste Buch endiget mit der Geschichte
der Anbetung des goldenen Kalbes und umfasst zehn Haupt-
stücke: 1) Vorgeschichte (S. 1 — 5), 2) die Kindheit Mosis (8.5
— 7), 8) die Jugend Mosis, Flucht nach Midjan (S. 7 — 11), 4)
Moses in Midjan, erste Offenbarung, Antritt des Prophetenthums
(S. 11 — 21), 5) Moses und Ahron vor Pharo, die zehn Plagen
(S. 21 — 26), 6) Einsetzung des Passahfestes, Auszug aus Aegypten,
Zug dureb's rothe Meer, Danklied (S. 26— 37), 7) erste Beschwerde
des israelitischen Volkes während seines Zuges durch die Wüste,
das Manna, Krieg mit Amalek, Jethros Besuch (S. 37 — 42), 8) die
sinaitische Gesetzgebung (S/42— 48), 9) die zehn Gebote (S. 48—57),
10) Rückfall Israels in's Heidenthum, Anbetung des goldenon Kalbes
(S. 58—61).
Das zweite Buch beginnt mit der Fortsetzung des Zuges
durch die Wüste und endet mit der Geschichte von Balak und
Bileam. Es hat neun Hauptstticke : 1) Fortsetzung des Zuges durch
die Wüste , Unzufriedenheit des Volkes und Strafe , Aufruhr in
Mosis eigenem Hause (S. 61 — 69), 2) Aussendung der Kundschaf-
ter in das Land Kanaan, Beschreibung des Landes und seiner Ein-
wohner (S. 69 — 78), 3) Fortsetzung, Religion derKananiter (S. 78
—94), 4) Rückkehr der Kundschafter, Unzufriedenheit des Volkes
und Strafe (S. 95—99), 5) Empörung Korach's, höhere Anerken-
nung des Ahronischen Priesterthums (S. 99 — 102), 6) Mirjam^
Tod, abermalige Unzufriedenheit des Volkes, Mosis und Ahrons
Ungehorsam und Strafe, fehlgeschlagene Unterhandlung mit Edom
(S. 102-109), 7) Ahron's Tod (S. 102-116), 8) Kampf gegen
Arad, abermalige Unzufriedenheit des Volkes und Strafe, Kampf gegen
8ichon und Og (S. 116— 120), 9) Balak und Bileam (S. 120-135).
Das dritte Buch geht von der Geschichte von Balak und
bis zu Mosis Tod und gibt sieben Hauptstücke, welche
lgende Aufschriften hüben: 1) Abermaliger Abfall Israels und
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Reckendorf: Das Leben MobIs.
727
Strafe, Ernennung Josua's zum Nachfolger Mosi's (8. 186 — 189),
2) Kampf gegen die Midjaniter, Vertrag mit den dritthalb Stäm-
men, Gründung der Asylstädte (S. 139—143), 3) letzte Reden
Mosis (S. 143 — 153), 4) Schlussrede Mosis an das ganze versammelte
Volk (8. 154-158), 5) der Sang Mosis (S. 158-162), 6) der Segen
Mosis (8. 163-168), 7) Mosis Tod und Charakter (8. 168-175).
Mit dem zweiten Hauptstticke des ersten Buches beginnt die
Zugrundelegung des zweiten Buches des Pentateuchs und dauert
ununterbrochen bis zum zweiten Hauptstücke des zweiten Buches. Von
da wird der geschichtlichen Darstellung das vierte Buch Mosis
(vom dreizehnten Kapitel an) mit Ausnahme des Schlusses des
zweiten und des ganzen dritten Hauptsttickes, welche sich mit dem
Lande Kanaan nach neueren Htilfsmitteln befassen, durch die wei-
teren Hauptstticke hindurch bis zum zweiten Hauptstück des dritten
Buches zu Grunde gelegt. Mit dem zuletzt genannten Hauptstücke
beginnt bis zum Schlüsse die Benutzung dos fünften Buches des
Pentateuchs. Die nöthigen archäologischen und geographischen Er-
klärungen sind an den betreffenden Stellen eingefügt. Besonders
anziehend sind die moralischen Auslegungen der Wundergeschichten
durch den Verfasser und dessen genaue und mit den nöthigen
Quellenstellen belegten Mittheilungen der mystischen und allegori-
schen Stellen aus den Auslegungen des Thalmud. Ueberall zeigt
sich das Bestreben, das rein sittliche Element in der Religion als
das Wesentliche hervorzuheben. Der Herr Verfasser gehört dem
Mosaischen Religionsbekenntnisse an und schreibt von diesem Stand-
punkte, welcher in der Vorrede angedeutet wird. Er stellt als
Hauptgegner des Judenthums das »Heidenthum«, wohin er nicht
nur den »Götzendienst«, sondern auch den »Unglauben« zählt, und
»die später entstandenen Offenbarungen« auf, »welche zwar den
geschichtlichen Moses anerkennen, aber dessen Gesetz als
anfgehoben erklären.« »Gegen beide hat sich das Judenthum von
jeher verwahrt und noch zu verwahren. Beide sind dem Mosais-
mus gleich entgegengesetzt : ersteres , weil dieser an eine Offen-
barung glaubt, letztere , weil er sich in sich abgeschlossen hält
und jede Fortsetzung verneint.« Der Herr Verfasser nennt »den
Glauben Mosis« den »Glauben der ewigen Zukunft.« Er rühmt an
diesem Glauben, dass er »aus der That, nicht die That aus dem
Glauben hervorgehe«, dass die Seligkeit nach Moses »nicht im Glau-
ben, sondern im Bewusstsein der That ruhe.« Er nennt diesen
Glaubon »die Flamme, die bestimmt ist, einst die ganze Mensch-
heit zu erleuchten und zu erwärmen« , er weist auf die grossen
Bildungsresultate des Christenthums hin, nennt dieses aber gegen-
über dem Judenthume als der »Ur flamme« »einen abseits gefalle-
nen Funken.« Bei einer objectiven Betrachtung des Sachverhaltes
stellt sich, von allen Bekenntnissstandpunkten abgesehen, das Ur-
theil wohl anders heraus. Das Christenthum will das Gesetz des
Judenthums nicht aufheben, sondern erfüllen und vollenden. Diese
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728
R eckendorf: Das Leben MoMb.
Erfüllung findet sieb in der Gottes- und in der allgemeineren,
der Selbstliebe gleichen Menschenliebe. Hierin erhalten Gesetz und
Propheten ihre Vollendung. Es ist aber ein Fehler des Mosais-
mus, dasa er »sich in sich abgeschlossen hält und jede Fortsetzung
verneint. c Eine verwandte Form findet sich im Romanismus. Aber
der rationelle Protestantismus kennt keine Glaubensscbranke , er
fasst das Christenthum in seiner universellen oder allgemein
menschheitlichen Bestimmung. Er verneint den Fortschritt nicht,
er steht höher, als der des sieben zehnten und achtzehnten Jahrhun-
derts stand, und ringt nach einer immer geistesfreieren Vervoll-
kommnung. Ihm ist die Vernunft die Quelle des Göttlichen und
die Offenbarung hat für ihn nur in ihrer üebereinstimmung mit den
Forderungen der Menschenvernunft ihre Bedeutung. Das Cbristen-
thum ist für die ganze Menschheit bestimmt. Das ethische Element
ist das Ziel und alle Glaubensformen sind nur das Mittel zu die-
sem Ziele. Sein Vorzug ist oben dem Mosaisraus gegenüber, dasa
es nicht »in sich abgeschlossen ist«, dass es nicht »die Fort-
setzung verneint.« Was man im Mosaismus »thun« nennt, war von
jeher nicht immer das Beste. Es bezog sich auf das Gesetz und
dieses wurde immer mehr äussere oder Ritualvorschrift und ist es
bei der strengen Partei des Judenthums bis auf den heutigen Tag.
Aeussere, an sich gleichgültige Handlungen, welche nur eine kli-
matische oder lokale Beziehung haben , wurden dieses Thun. Im
Christenthum ist es die Gesinnung, welche über alle Legalitat des
äussern Handelns gesetzt wird. Die Liebe wird über den Glauben
gestellt. Wer einen Glauben besitzt, welcher so stark ist, dass
er Berg und Thal versetzen könnte und keine Liebe hat, ist ein
»tönendes Erz« und eine »klingende Schelle«. Der Glaube ist
eben, weil er ans der Liebe hervorgeht, That, und hat ohne diese
keinen Werth. »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen«, sagt
der in Charakter und Leben weit über Moses stehende Stifter des
Christenthuras. Der Protestantismus kennt keine Exclusive und
kein Alleinseligmachen ; er verneint die Weiterentwicklung nicht,
sondern fordert sie als eine notbwendige Bedingung seines Lebens.
Er erkennt in jeder Religionsform das Gute, das Lebenskräftige
und will sie alle einer höhern religiösen Vernunftentwickelung ent-
gegenfuhren. Wenn der Glaube Mosis ein »Glaube der gesammten
Menschheit« werden soll, so muss er das starre Gesetz des äussern
Werkes, das opus operatum, aufgeben und mit dem geläuterten
Protestantismus darin übereinstimmen, dass, frei von allen äussern
Formen des Gesetzes, von einem absolut bindenden Dogmenzwang,
die vernünftige Entwicklung der sittlichen Natur des Menschen das
Ziel aller Religion wird, und dass diese sittliche Entwicklung von
dem Innern, der Gesinnung des Menschen, ihren Ausgang nehmen
muss. Nur eine solche Religion kann »Gemeingut der Mensch-
heit« werden. Immer aber gehört der Herr Verf. hinsichtlich sei-
ner religiösen Grundsätze nicht der alten thalraudistischen, sondern
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Krebs: AntlbarWus, 4. Aufl. von Allgiyer.
729
der Fortschrittspartei des Jndenthums an. Er will mit der Lösung
seiner Aufgabe »den Anforderungen der vernünftigen Forschung
genügen.« Der jüdische Glaube fordert, wie er sagt, »den Gläubi-
gen zum Forschen« auf. Von dem Juden wird bei solcher For-
schung »keine Bnchstabengläubigkeit« verlangt. Er führt selbst
eine Stelle aus dem Thalmnd (tract. Kidduschin 49, 1) an, welche
also lautet: »Wer die Schrift buchstäblich auslegt, ist ein
Lügner und Gotteslästerer.« Ein besonderer Theil soll später
über das Mosaische Gesetz ausgegeben werden
v. Reichlin-Meldegg. •
Krebs, Antibarbarus der lateinischen Sprache. 4. Auflage, neu be-
arbeitet von Dr. F. H. Allqayer, Gymnasiair ector a. D.
Frankfurt a. M. Christian Winter. 1866.
V
Das Buch, das hier in neuer Auflage erscheint, ist ein in Phi-
lologen-, besonders Schulmännerkreisen so wohl bekanntes, dass es
nicht mehr nötbig ist, seine Bedeutung und Stellung in der philo-
logischen Litteratur länger zu erörtern. Wir beschränken uns da-
her in der nachfolgenden Anzeige auf die Besprechung dessen,
worin dio neue vierte Auflage Über die vorhergehende hinausge-
gangen ist. Die keineswegs leichte und einfache Aufgabe, das seit
dem Jahr 1843 nicht mehr aufgelegte Krebs'sche Buch zu revi-
diren, hat die Verlagshandlung den Händen eines erprobten Schul-
mannes und ausgezeichneten Kenners der lateinischen Litteratur
anvertraut, des Herrn Dr. Allgayer, früheren Gymnasialrectors
in Ehingen (Württemberg), jetzigen Pfarrers in Kocherthürn, der
schon im Jahr 1862 Zusätze und Berichtigungen zum Antibarbarus
veröffentlicht und nun uenestens die Müsse, dio ihm das geistliche
Amt gewährt, darauf verwendet hat, die Früchte seiner Leetüre
und praktischen Uebung in solch gemeinnütziger Weise zu ver-
werthen.
Wenn schon dem verstorbnen Krebs bei Bearbeitung der
3. Auflage der Gedanke kam, ob nicht eine gänzliche Umarbeitung
des Buchs vorzunehmen sei , so mnsste dieser Gedanke dem neuen
Herausgeber noch näher liegen ; aber wir glauben, dass beide Male
mit Recht davon Abstand genommen wurde. Eine wesentliche
Umarbeitung hätte doch nur darin bestehen können, dass die ein-
leitenden Abschnitte systematischer oder, wenn man so will, posi-
tiver geworden wären, damit aber hätten sie nothwendig zu einer
formlichen Grammatik oder Stilistik werden müssen, während die
Aufgabe eines Antibarbarus die mehr negative ist, die Grammatik
und Stilistik praktisch zu ergänzen durch Hervorhebung der bei
Neulateinern vorkommenden unclassischen Wörter und Redensarten,
natürlich mit gelegentlicher Angabe der an die Stelle zu setzenden
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730
Krebs: AntibarbaruB, 4. Aufl. von Allgiyet.
classiachen Wendungen. — Nur von diesem praktischen Standpunkt
aus ist auch die Ii tierarge s ch i ch t liehe Einleitung zu
fassen: sie soll nur die Grenzen zwischen classisch, weniger clas-
sisch und uuclassisch oder barbarisch angeben. Der neue Heraus-
geber hat in diesem Abschnitt einmal einige Lücken ergänzt, so-
dann aber hinsichtlich der nachclassischen Zeit auf einen Punkt
aufmerksam gemacht, der in der That naher ins Auge gefasat zu
werden verdient, auf die Bedeutung der patristischen Latinität
(S. 10 f. 109 f.). Man wird zugeben müssen, dass die Kirchenväter,
•abgesehen von der Verwerthung ihres antiquarischen Inhalts, von
den Philologen in Bausch und Bogen bei Seite gelegt zu werden
pflegen ; theologi sunt, non legunlur — diess ist die Maxime, die
sich stillschweigend schon aus der unvermeidlichen Theilung der
Arbeit ergeben bat. Und doch wird man nicht läugnen können,
dass die älteren Kirchenvater ein formell wie materiell wohl zu
beachtender Tbeil der lateinischen Litteratur sind : brachte doch
das Christenthum einen neuen Kreis von Ideen — sowohl speci-
fisch religiösen als allgemein menschlichen — in die heidnische
Welt herein zu einer Zeit, in welcher die Sprache noch nicht er-
starrt war, in welcher sie jedenfalls noch so viel Leben hatte, um
aus sich heraus für diese neuen Ideen neue Ausdrücke zu finden.
Wir halten es daher für eine wirkliche Bereicherung des Krebs-
schen Buchs, dass Herr Dr. Allgayer, dem vermöge seiner Berufs-
stellung die Beschäftigung mit der patristischen Litteratur näher
lag als Andorn, diesen Gesichtspunkt geltend gemacht und auch in
dem lexicalischen Theil des Antibarbams verwerthet hat. Sonst
bemerken wir hiusichtlich dieses litterargeschichtlichen Theils nur
noch, dass S. 10 bei Erwähnung des Pomponius Mela von Krebs
her die Notiz stehen geblieben ist, es werde an dessen Aechtheit
stark gezweifelt. Unsres Wissens ist dieser Zweifel nur ganz ver-
einzelt in wenig bedeutender Weise aufgetreten und jetzt so ziem-
lich verschollen ; er findet sich nämlich nur in einem Briefe von
Schultz an Göthe vom 29. Januar 1829 (Rhein. Museum 4, 327
bis 331). Schultz behauptet zwar, Osann und Welcker hätten ihm
beigestimmt, allein Niemand hat, so viel wir wissen, seitdem die
Sache aufgenommen. — Hinsichtlich des grammatisohenTheils
bemerkt der Herausgeber mit Recht, dass hierin Krebs eher des
Guten zu viel als zu wenig gethan, enthält sich aber seinerseits be-
deutendere Abzüge zu machen: wir meinen, Regeln wie die über
die Tempora in §§. 108. 113 u. ähnl. hätten ohne Schaden weg-
bleiben können. Dagegen hätte die Formenlehre wohl gewon-
nen, wenn gewisse auf dinem Grunde beruhende Regeln, die unter
versebiednen Rubriken zerstreut Bind, einheitlich zusammen gefasst
oder wenigstens ihrem Grunde nach erkenntlich gemacht worden
wären. Gewiss ist es nicht die Aufgabe des Antibarbams, sich
auf die Ergebnisse der genetischen Sprachforschung näher einzu-
lassen, da er seiner Natur nach auf dem Standpunkt der fertigen
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Krebs: Aniibarbanis, 4. Aufl. von Allgayer.
731
Classicität steht und diese als etwas positiv Gegebenes auffasst;
allein bei einigen Punkten wäre darum doch das Eingehn auf Ge-
schichtliches und Principielles dem Zweck des Buchs nahe gelegen.
So wären die Regeln über die Doclination der ins Lateinische auf-
genommenen griechischen Wörter, wenn sie, statt durch alle
Declinationen zerstreut zu sein, zusammengefasst , ans Ende der
Declinationslehre gestellt und schriftlich motivirt worden wären,
zum Theil auch materiell modificirt worden. Bekanntlich sind die
Grundsätze in Behandlung der griechischen Wörter nicht immer
dieselben gewesen ; zwei Richtungen lösen sich theils geschichtlich
ab, theils gehen sie neben einander her, die eine, welche zuerst
unwillkürlich, dann bowusst und principiell die griechischen Namen
romisch umlautet und flectirt, die andere, welche die griechischen
Formen in der Flexion beibehält. Da nun eben in der ciceroni-
schen Zeit dieser Gegensatz als ein völlig bewusster auftritt, so
fragt sich, ob man nicht hier den sonst Üblichen Weg verlassen
und statt bloss die vorkommenden Beispiele zu constatiren , sich
für das eine oder andere Princip entscheiden muss, also entweder
mit Cicero, der zwar nicht immer consequent ist, aber diese In-
conseqnenz selbst an sich tadelt*), römisch flectiren oder wie die
Classiker der augusteischen Zeit griechisch. Allerdings sprechen
sieb sowohl Krebs als der neue Herausgeber in §. 25 im Allge-
meinen für das erstere Princip aus und auch den Regeln der §. 30 ff.
liegt dasselbe als das herrschende zu Grunde ; allein dann muss
man z. B. den Aecusativ des Pluralis der consonantischen Decli-
nation auf -as (§. 32) vorwerfen trotz der Beispiele bei Cicero und
trotzdem, dass Cäsar sogar Allobrogas sagt. Dabei kann man
für einzelne Wörterclassen immer noch Zngeständnisse machen und
unter verschiedenen Möglichkeiten solche Formen wählen , welche
dem griechischen Gebrauch näher liegen, wenn auch die lateinische
Analogie sie nach einer andern Seite ziehen sollte, also z. B. für
die Accusative Sing, latinisirter griechischer i-Stämme die Endung
-im, ferner in der Flexion der griechischen Neutra auf -a die con-
sonantis'che Declination, statt wie im Altlateinischen die der
a-Stämme ; sie können dann als Neutra behandelt werden , welche
zu masculinischen und femininischen -at-Stämmen (primas, ci-
vitas) gehören. Ein anderes Beispiel von den Vortheilen einer
gewissen Systematisirung ist folgendes: in §. 23 wird die Vor-
schrift gegeben, im Plural von deus nicht dii, sondern di oder
dei zu schreiben; ferner wird §. 24 gelegentlich bemerkt, dass statt
divum, equum — divom, equom geschrieben werde , was
bekanntlich die Schreibart der augusteischen Zeit ist. Mit Recht
bringt Corssen, Aussprache, Vocal. 1, 308—313 diese beiden
*) Ad AU. 7, 8, 10: Venio ad Piraea, in quo magis reprehendendns
sum, quod homo Romanus „Piraea" Bcripserim, non „Piraeum1,4 — eic
onim omnes noetri Iocuti sunt — etc.
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732 Krebsr AntlWbaroB, 4 Aufl. von Allgaycr.
Punkte zusammen mit noch andern Erscheinungen unter den Ge-
sichtspunkt eines Strebens nach Dissimilation der Vocale. Ge-
rade für einen Antibarbarus nun scheint uns dieser Gesichtspunkt
besonders verwcrthbar und ausdrücklich erwähnenswerth zu sein; von
ihm aus wäre dann z. B. §. 21 die daselbst als classisch consta-
stirte Schreibung Appi, ingeni festzuhalten, ferner beim Pronomen
nachzutragen, dass statt ii, iis entweder i, is oder ei, eis zn
schreiben sei, nicht minder bei der Lehre vom Verbum zu erwäh-
nen, dass zwar emundus, vendundus von Cicero gesagt wer-
den konnte (vgl. §.48), aber nicht restituundus, fruundus,
und derselbe Gesichtspunkt ist es auch, welcher §§. 56 und 51
(qnaesivisse oder quaesisse, nicht quae süsse u. dgl.) mo-
tivirt. — Beim Pronomen hätte auch noch hice statt hicce,
wie noch Georges schreibt, empfohlen werden können. Diese ortho-
graphischen Fragen, eine Frucht der epi graphischen Studien, sind
bekanntlich gegenwärtig auf der Tagesordnung; indem der neue
Herausgeber sich auf dieselben nicht näher einliess, mag er wohl
gedacht haben, man müsse die neue Orthographie, wie sie vor-
läufig in Fleckeisens 50 Artikeln zusammengefasst ist, sich erst
mehr befestigen lassen, ehe sie als gesicherter Theil des Anti-
barbarus auftreten dürfe.
Besondrer Bereicherungen hatte sich der syntaktische
Abschnitt zu erfreuen; die §§. 65, 67, 71, 75, 116, 118 n. a.
sind gegenüber der dritten Auflage namhaft erweitert worden, an
die Stelle von unbedeutenderen Paragraphen sind wichtigere ge-
treten, zum Theil ist die Anordnung eine andere geworden. Wir
erlauben uns zu diesem Theil nur einige wenige Bemerkungen über
Punkte, in denen wir mit dem Herausgeber nicht ganz überein-
stimmen: In § 89 ist gesagt, Adjectiva wie infinitus, immen-
sus, ferus, rudis lassen keine Gradfonnen zu; allein hier wird
doch ein Unterschied zu machen sein; bei immensus, infini-
tus ist es der Sinn, welcher eine Gradation ausschliesst, bei fe-
rus bloss der vielleicht zufällige Umstand, dass die Gradformen
nirgends vorkommen, wesshalb sollten ihm aber dieselbe abgespro-
chen werden, während immanis, das dem infinitus und im-
mensus näher steht, dieselbe hat? Iu §. 121(=120 der 3. Aufl.)
ist der Gebrauch der Bescheidenheitsconjunctive mal im, puta-
verim u. dgl. gegen Krebs in Schutz genommen; indessen hatte
Krebs darin wenigstens Recht, dass er dem Missbrauch gegenüber,
der mit solchen Phrasen getrieben wird, eine bestimmtere Aus-
drucksweiso empfahl. §. 147 (früher 146) hatte Krebs gesagt:
> gewagt ist es und ohne Beispiel eines Klassikers, wenn Florus
III, 21 sagt >adversariis hostibus iudicatis, wo Object
und Prädicat eines Verbums beide in den Ablativ gesetzt sind« ;
der neue Herausgeber weist nun allerdings eine Reihe von Stellen
bei Klassikern nach, in denen sich dieselbe Construction findet,
aber empfehlenswert!! dürfte sie darum doch nicht sein. Dagegen
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Krebs: Antibarbmrus, 4. Aufl. von Allgayer.
733
ist in §. 156 der Gräcismus, Adverbia mit Substantiven als Stell-
vertreter für Adjective zu gebrauchen, für die Adverbia des Raums
nnd der Zeit für die Fälle, wo ein Genetiv als Stütze vorhanden
ist, mit Recht gegen Krebs in Schutz genommen (z. B. Deorum
saepe praesentiae), und so könnten wir noch eine Reihe treffender
Bemerkungen hervorheben, wenn es der Raum gestattete.
Der zweite Theil des Antibarbarns wird bekanntlich er-
öffnet durch allgemeine Vorschriften über die Wahl der Wörter.
Diese Vorschriften hat der neue Herausgeber zum Theil emendirt.
Die zweite Vorschrift lautete bei Krebs: »Vermeide wo möglich
alle dichterischen Wörter« ; diese ist ganz gut angebracht gegen-
über von Geschmacklosigkeiten, wie sie in §. 174 aufgeführt sind,
nichts desto weniger aber müssen wir es billigen, wenn in der
neuen Ausgabe beigesetzt ist: »Doch lässt der historische Stil, der
mit der Sprache der Dichter am nächsten verwandt ist, am rech-
ten Orte manches sonst poetische Wort zu. Livius schon gibt dar-
über reiche Ausbeute ; soweit er gegangen ist , dürfen wir zutref-
fenden Falls auch gehn.« Nur möchten wir diess genauer mit dem
rhetorischen Charakter der lateinischen Geschichtschreibung
motiviren und für Neulateiner poütische Ausdrücke in historischen
Darstellungen eben nur in dem Masse empfehlen, als ihr ganzer
Stil jenes rhetorische Gepräge angenommen hat. — Die dritte bis
fünfte Vorschrift sind zusammenzunehmen ; sie lauteten bei Krebs
Nr. 3: »Gebrauche die classischen Wörter nur in der Bedeutung
und Verbindung, in welcher sie bei nachfolgenden spätem Schrift-
stellern gefunden werden. Nr. 4; »Vermeide alle nachclassischen
und spätlateinischen Wörter , wenn classische aus den bessern
Schriftstellern vorhanden sind, besonders diejenigen, welche erst in
der vierten Sprachperiode sich neben altclassische in die Sprache
unnöthig eingeschlichen haben.« Nr. 5 : »Zulässig dagegen und an-
wendbar sind alle nachclassischen und spätlateinischen Wörter, zu
deren Begriffsbezeichnung sich noch kein Wort aus der bessern
Zeit vorfindet und welche demnach classische Geltung haben müs-
sen. Bei mehreren gleichbedeutenden sind die älteren immer den
späteren vorzuziehn. Diese Vorschrift gilt vor Allem für die tech-
nischen Wörter, aus welcher Sprache und Zeit sie auch sein mögen.«
Die neue Ausgabe setzt zu Nr. 3 hinzu: »Haben aber die Nach-
classiker ein classisches Wort in neuer, natürlich entwickelter Be-
deutung oder Verbindung gebraucht, so ist auch diess nicht zu
verwerfen« und fasst in demselben Sinn Vorschrift Nr. 4 so: »Ver-
meide alle spätlateinischen Wörter, wenn classische und nach-
cla8siBche u. 8. w.« Auch hier wieder geben wir der neuen
Fassung, welche S. 106 und 109 f. an einzelnen Beispielen ausge-
führt wird, Recht und führen ein weiteres Beispiel aus Krebs selbst
an, welches zugleich das oben über die patristische Litteratur Ge-
sagte belegt: Krebs selbst hat im lexicalischcn Theil unter dem
Artikel »religio« zugegeben, dass an religio Christiana
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734
Krebs: Antibarbarug, i. Aufl. von Allgayer.
kein Anstoss zu nehmen sei, obgleich es in der Litteratur erst im
4. Jahrhundert auftritt (vgl. das Religionsedict in der Schrift de
mortibus persecutorum c. 48). Ein höchst merkwürdiger inschrift-
licher Beleg für diesen Gebrauch von religio in vorconstantinischer
Zeit ist neuestens gefunden worden auf der von Rossi Bullett. cri-
atiano 1865 Juli S. 58 mitgetheilten Grabschrift aus Villa Patrizi,
wo Jemand bestimmt, dass von dem Grab ausgeschlossen sein
aollen alle »non ad religionem pertinentes meamc. Die
betreffende Inschrift ist ohne Zweifel christlich, für jene Bedeutung
von religio also auch hiedurch der specifisch christliche Ursprung
constatirt. Die fünfte Vorschrift wird von Dr. Allgayer wiederum
specifisch angewendet auf das theologisobe Gebiet, nämlich auf die
Frage, ob die theologische Sprache ihre Termini dem classischen
Latein nachbilden oder die Ausdrücke der Vulgata und der bessern
lateinischen Theologen gebrauchen solle. Er entscheidet sich con-
sequenter Weise für das Letztere, natürlich immer mit der Re-
striction, dass das Betreffende nicht den Grundgesetzen und dem
Geist der lateinischen Sprache zuwiderlaufen dürfe. Wir führen
wieder ein Beispiel aus dem lexicalischen Theil an: der kirchliche
Ausdruck saecula saeculorum ist sicherlich nicht classisch-
latein, er ist aus dem neutestamentlichen Griechischen in das La-
teinische, in das Neue Testament selbst aber aus dem Hebräischen
gekommen; allein er findet sieb schon bei Tertullian, ist also für
den theologischen kirchlichen Gebrauch sicher gerechtfertigt. —
Die eben besprochene Auseinandersetzung läuft S. 112 aus in den
Krebs'schen Satz: »gut wäre es, wenn jede Wissenschaft und jede
Kunst ihr eigenes Lexicon hätte, worin für jeden Begriff die besten
und verständlichsten Wörter nach der besten Auctorität aufgeführt
wären.« Dazu bemerken wir nur, dass für mehrere technische Ge-
biete, besonders für Staats- und Sacralwesen solche Lexica schon
bestehen, nämlich in den Indices zu den Sammlungen römischer
Inschriften. Nicht bloss die gewöhnliche Lexicographie , sondern
auch ein Antibarbarus kann darin reiche Ausbeute finden ; so hätte
sich z. B. für die S.312 behandelten Ausdrücke corpus und Cor-
pora t u s ein weiterer Gebrauch nachweisen lassen , . als dort ge-
schehen ist.
Natürlich ist es der lexicalische Theil, in welchem wie
die Hauptbedeutung des Antibarbarus selbst, so auch der schwie-
rigste Theil der Arbeit des neuen Herausgebers zu suchen ist
Derselbe führt in der Vorrede S. Vif. eine Reihe von Artikeln an,
die er sich veranlaset sah zu ändern. Vergleicht man dieselben
mit der 8. Auflage, so wird man sich überzeugen, dass diese Aen-
derungen durchweg beruhen auf dem Princip, das sie zugleich
rechtfertigt, nämlich auf einer umfassenderen Erforschung des Sprach-
gebrauchs. Herr Dr. Allgayer wird aber darauf Anspruch machen
dürfen, dass man das Verdienst und den Werth seiner Thätigkeit
nicht bloss nach dem Umfang des Neuen berechne, sondern auch
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parwin: Entstehung un4 Erhaltung der Raa 8 en. 786
der Mühe Rechnung trage, welche die Prüfung und Revision dessen
kostete, was sich als richtig bewährte. Einer Besprechung im Ein-
zelnen entzieht sich dieser lexicalische Tbeil durch die Natur der
Sache; Einzelnes, was mit allgemeinen Regeln zusammenhängt,
haben wir schon oben angeführt. Das Gesammturtheil aber, das
man daraus gewinnen wird, ist das, dass die praktische Brauch-
barkeit des Krebsfschen Werks durch die sorgfaltige und gediegene
neue Revision noch wesentlich erhöht worden ist.
Tübingen. E. Herzog.
C Harle» Darwin, über die Entstehung der Arten durch natür-
liche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Hassen
im Kampfe um's Dasein, Aus dem Englischen übersetzt von
H. G. Bronn. Nach der vierten englischen sehr vermehrten
Auflage durchgesehen und berichtigt von J. Victor Carus.
Drüte Auflage. Mit dem Portraü des Verfassers. Stuttgart.
E. Schweizer barV sehe Verlagshandlung und Druckerei. 1867.
8. S. 571.
Dio Entstehung der Arten bietet der Naturforschung ein wei-
tes Feld. Erwägt man die gegenseitigen Verwandtschafts- Verhält-
nisse der Organismen, ihre embryonalen Beziehungen, ihre geogra-
phische Verbreitung, endlich ihre geologische Aufeinanderfolge, so
wird man wohl zum Schlüsse gelangen : die Arten seien nicht un-
abhängig von einander erschaffen, sondern stammen — nach der
Weise der Varietäten — von anderen Arten ab. Aber ein solcher
Schluss bedarf des Beweises: wie denn die zahllosen, unsere Erde
bevölkernden Arten abgeändert worden sind. Klima, Nahrung, wenn
sie auch dazu beigetragen haben, können nicht die einzigen Ur-
sachen der Aenderung sein. Charles Darwin hat ein eifriges
und langjähriges Studium darauf verwandt, eine klare Einsicht in
die Mittel zu gewinnen, durch welche die merkwürdigen, rätsel-
haften Umänderungen der Arten bewirkt werden. Er glaubte in
einer sorgfältigen Beobachtung der Hausthiere und
Cultarpflanzen Aussicht zur Lösung der Aufgabe zu finden,
und hat in der Tbat gefunden, dass die gewonnenen Erfahrungen
über die im gezähmten und angebauten Zustande erfolgenden Ver-
änderungen der Lebens-Formen den besten Aufschluss gewähren.
Mit diesem Gegenstand beginnt er auch sein berühmtes Werk,
dessen Hauptinhalt wir hier nur andeuten können.
Das erste Capitel handelt von der Abänderung der Arten
im Cultur-Zustande; der Verfasser zeigt, dass erbliche Ab-
änderungen in grosser Ausdehnung möglich sind und dass — was
namentlich beachtenswerth — das Vermögen des Menschen: ge-
ringe Abänderungen durch deren besondere Aus wähl
«
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736 Darwin: Entstehung und Erhaltung der Rassen.
zur Nachzucht, d. h. durch Zuchtwahl zu häufen sehr
betrachtlich ist. Sodann wendet sich Darwin im zweiten
Capitel zur Veränderlichkeit der Arten im Naturzu-
stände; sucht zu beweisen, was für Umstände solche vorzugs-
weise begünstigen , wie weit und sehr verbreitete Arten am mei-
sten variiren, wie die Arten der grösseren Gattungen jedes Landes
viel häufiger variiren, als die der kleineren Genera, und wie end-
lich viele Arten der grossen Gattungen der Varietäten darin glei-
chen, dass sie sehr nahe aber ungleich mit einander verwandt sind
uud beschränkte Verbreitungs-Gebiete haben.
Das dritte Capitel schildert den Kampf ums Dasein unter
den organischen Wesen. Es entstehen mehr Individuen jeder Art,
als fortleben können , als Mittel zu ihrer Erhaltung vorhanden.
Desshalb das dauerde und stets wiederkehrende Ringen um Exi-
stenz in welchem nur diejenigen Arten (und deren Nachkommen)
überdauern, die eben durch ihre Organisation zu diesem Kampfe
gerüstet sind, die unter mannigfachen, oft veränderlichen Bedin-
gungen des Lebens mehr Aussicht auf Fortdauer haben und also
von der Natur selbst zur Nachzucht auserkoren sind
Solche durch natürliche Züchtung gowählte Varietäten stre-
ben dann nach dem strengen Erblichkeits-Gesetze jedesmal seine
neue und abgeänderte Form fortzupflanzen. Im vierten Capitel
wird die natürliche Zuchtwahl noch weiter betrachtet und ge-
zeigt, dass dieselbe die unvermeidliche Veranlassung zum Erlöschen
weniger geeigneter Lebensformen ist und das herbeiführt, was der
Verfasser als Divergenz des Charakters bezeichnet.
Das fünfte Capitel bespricht die zusammengesetzten und wenig
bekannteu Gesetze der Abänderung und der Correlation dos Wachs-
thums. In den folgenden Capiteln (6 — 9) geht der Verfasser nun
auf die Schwierigkeiten ein, die seiner Theorie entgegenstehen. Es
sind dies ganz besonders die Schwierigkeiten der Ueber-
gänge; die Möglichkeit, dass ein einfaches Wesen oder Organ zu
einem höher entwickelten Wesen oder zu einem vollkommen aus-
gebildeten Organ werde. Ferner der Instinkt, die geistigen
Fähigkeiten der Thiere bieten Schwierigkeiten, so wie die die
Bastard- Bildung oder die Unfruchtbarkeit der gekreuzten Species
und die Fruchtbarkeit der gekreuzten Varietäten ; endlich die U n-
vollkommonheit der geologischen Urkunde.
(Schluss folgt.)
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Nr. 47.
HEIDELBERGER
1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Darwin: Entstehung und Erhaltung der Eassen.
Aus letzterer und aus der im zehnten Capitel betrachteten
geologischen Aufeinander-Folge organischer Wesen hebt
Darwin folgende Momente zu Gunsten seiner Theorie hervor.
Die Unvollständigkeit geologischer Schöpfuugs-Urkunde; wie klein
der Tbeil der Erdoberfläche, welcher bis jetzt untersucht; dass nur
gewisse Classen organischer Wesen zahlreich in fossilem Zustande
vorkommen und dass die Zahl der in uuseren Sammlungen aufbe-
wahrten Individuen und Arten verschwinde gegen die unermessliche
Zahl von Generationen, die nur während einer Formations-Zeit auf
einander gefolgt seiu müssen; dass gewöhnlich ungeheuere Zeit-
räume zwischen je zwei einander folgenden Formationen verflossen
sein müssen, weil fossilieureiche Bildungen — mächtig genug, um
künftiger Zerstörung zu widerstehen — sich in der Regel nur
während Senkungs-Perioden ablagern können, dass demnach wahr-
scheinlich während der Senkungs-Zeit mehr Aussterben, während
der Hebungs-Zeit mehr Abändern organischer Formen stattgefunden
hat. Darwin weist darauf hin, wie unvollständig der Schöpfungs-
Bericht aus den ältesten Perioden ; dass die einzelnen Formationen
nicht in ununterbrochenem Zusammenhang abgelagert wurden ; dass
die Dauer jeder Formation vielleicht nur kurz zur mittleren Dauer
der Arten-Formen ; dass Einwanderungen einen wesentlichen An-
theil am ersten Erscheinen neuer Formen in der Formation irgend
einer Gegend hatten ; dass die weit verbreiteten Arten am meisten
variirt und am öftesten Veranlassung zur Entstehung neuer Arten
gegeben haben ; dass Varietäten von Anfang nur local gewesen sind
und dass es endlich — obschon jede Art zahlreiche Uebergangs-
Stufen durchlaufen haben muss — wahrscheinlich dass die Zeit-
räume, während deren eine Art der Modification unterlag, wohl
zahlreich und lang, aber mit den Perioden verglichen, in denen
sie unverändert blieben, kurz gewesen sind. Alle diese Ursachen
zusammengenommen — so folgert Darwin — werden es grossen-
theils erklären, warum wir zwar viele Mittelformen zwischen den
Arten einer Gruppe findeu, aber nicht endlose Varietäten-Reihen
die erloschenen und lebenden Formen in den feinsten Abstufungen
mit einander verketten sehen.
Das elfte und zwölfte Capitel handelt von der geographi-
schen Verbreitung der Organismen; im dreizehnten wird
LX. Jahrg. 10. Heft. 47
(Schluss.)
i
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788 Darwin: Entstehung und Erhaltung der Rassen.
ihre Classification oder gegenseitige Verwandtschaft im reifen
wie im Embryonal-Zustande besprochen ; im vierzehnten und letzten
Capitel eiue Zusammenfassung des Inhaltes vom ganzen Werke ge-
geben, nebst einigen Schluss-Bemerknngen. Da in diesen der be-
rühmte Verfasser in sehr klarer Weise nochmals ein Resumö seiner
Forschungen gibt, mögen sie hier eine Stelle finden. Schrift-
steller ersten Ranges — so sagt Darwin — scheinen voll-
kommen von der Ansicht befriedigt zu sein, dass jede Art unab-
hängig erschaffen worden ist. Nach meiner Meinung stimmt es
besser mit den, der Materie vom Schöpfer eingeprägten Gesetzen
überein, dass Entstehen und Vergehen früherer und jetziger Be-
wohner der Erde, so wie der Tod des Einzelwesens, durch sekun-
däre Ursachen veranlasst werde, denjenigen gleich, welche Geburt
und Tod des Individuums bestimmen. Wenn ich alle Wesen nicht
als besondere Schöpfungen, sondern als lineare Abkommen einiger
weniger, schon lange vor der Ablagerung der silurischen Schichten
vorhanden gewesener Vorfahren betrachte, so scheinen sie mir da-
durch veredelt zu werden. Und nach der Vergangenheit zu ur-
theilen, dürfen wir getrost annehmen, dass nicht eine der jetzt
lebenden Arten ihr unverändertes Abbild auf eine ferne Zukunft
tibertragen wird. Ueberhaupt werden von den jetzt lebenden Arten
nur sehr wenige durch irgend welche Nachkommenschaft sich bis
in eine sehr ferne Zukunft fortpflanzen; denn die Art und Weise
wie alle organischen Wesen im Systeme gruppirt sind zeigt, dass
die Mehrzahl der Arten einer jeden Gattung und alle Arten vieler
Gattungen keine Nachkommenschaft hinterlassen haben, sondern
gänzlich erloschen sind. Man kann insofern einen prophetischen
Blick in die Zukunft werfen und voraussagen : dass es die gemein-
sten und weitverbreitetsten Arten in den grossen und herrschen-
den Gruppen jeder Classe sind, welche schliesslich die andern tiber-
dauern und neue herrschende Arten liefern werden. Da alle jetzige
Lebensformen lineare Abkommen derjenigen sind, welche lange vor
der silnrischen Periode gelebt haben, so können wir überzeugt sein,
dass die regelmässige Aufeinanderfolge der Generationen niemals
unterbrochen worden ist und eine allgemeine Fluth niemals die
ganze Welt zerstört hat.
Kaum hat in neuerer Zeit ein wissenschaftliches Werk solches
Aufsehen erregt, als das Darwinsche. Die rasch einander fol-
genden Auflagen sind der bündigste Beweis hiefür. Im November
1859 erschien die erste (englische) Ausgabe, im Januar 1860 die
zweite, im April 1861 die dritte, im Juni 1866 die vierte. Die
Uebersetzung ins Deutsche verdanken wir bekanntlich Bronn, die
Durchsicht der vorliegenden dritten deutschen Auflage Professor
Gar us. Die Ausstattung ist geschmackvoll und den zahlreichen
Verehrern Darwin's das der dritten Lieferung beigefügte Por-
trait des Verfassers gewiss eine erwünschte Zugabe.
G. Leonhard.
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Lieleggr'Die Spectral-Analyae. 789
Die Spectral- Analyse. Erklärung der Spectral- Erscheinungen und
deren Anwendnng für Wissenschaft liehe und praktische Zwecke,
mit Berücksichtigung der ssu ihrem Verständnisse wichtigen
physikalischen Lehren in leicht fasslicher Weise dargestellt.
Von Andreas Lielegg, ordentl. öffentl. Lehrer der Chemie
an der Landes - Oberrealschule in St Pölten. Mü 9 in den
Text eingedruckten Figuren und einer lithographiiien Tafel.
Weimar 1867. Bernhard Friedrich Voigt. 8. 8. 99.
Gewiss hat die merkwürdige Entdeckung der chemischen Ana-
lyse durch Spectral-Beobachtungen bei vielen Gebildeten, welche
aber durch ihren Beruf nicht in unmittelbarer Berührung stehen
mit der Wissenschaft, den Wunsch erregt, sich einen Begriff dieser
Forschungen zu verschaffen. Einem solchen Wuusche entspricht
nun in sehr geeigneter Weise vorliegende Schrift. Der Verfasser
hat in derselben mit grossem Geschicke — eine streng wissen-
schaftliche Behandlung des Gegenstandes vermeidend — eine solche,
allgemein fassliche versucht, durch die es ihm gelingen wird, Ge-
setze und Resultate jener wichtigen Beobachtungen auch in wei-
teren Kreisen bekannt und verständlich zu machen.
In der Einleitung gibt zunächst Professor Lielegg eine Er-
klärung aller der physikalischen Lehren, die als Vorbereitung zum
Verständniss der zu schildernden Erscheinungen unumgänglich not-
wendig; er bespricht also die theoretischen Ansichten über das
Licht, chemisohe Wirkungen, Fortpflanzung, Brechung des Lichtes ;
das Sonnen-Spectrum, so wie die Spectra anderer Lichtquellen, u.
s. w. Alsdann folgt die Beschreibung der Spectral-Apparate , so
wie eine genaue Besprechung der Bedingungen, von welchen die
Darstellung der Spectra abhängig ist ; sie wird Jedem, der Spectral-
Beobachtungen machen will, die Ausführung wesentlich erleichtern.
Für diejenigen, welche sich noch eingehender zu unterrichten wün-
schen, sind bei Beschreibung der Apparate von der verschiedensten
Construction , die wichtigsten Abbandlungen im Texte angeführt.
Im letzten Abschnitt zeigt der Verfasser die grosse Bedeutung der
Anwendnng der Spectral - Analyse zur Lösung wissenschaftlicher
Fragen ; wie solche für den Chemiker und Mineralogen bei der
Untersuchung von Gesteinen, von Mineral- Wassern, zur Auffindung
von Stoffen von unberechenbarem Nutzen. Denn, was für die mei-
sten schweren Metalle die Löthrohrprobe , das ist für die Metalle
der Alkalien uud alkalischen Erden und für einige schwere Metalle
die Spectral probe ; diese kann in manchen Fällen jene ergänzen,
zu Aufschlüssen über die chemische Zusammensetzung führen. Da-
bei ist die Ausführung der Untersuchung nioht viel schwieriger,
als die vormittelst des Lötbrohrs. Aber auch dem Physiologen und
Arzte gibt die Spectral-Aualyse Mittel in die Hand Flüssigkeiten
und Aschen pflanzlichen wie thierischen Ursprungs näher zu unter-
suchen. Endlich gewinnt sie für den Teohniker, den Färber grosse
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7*0
Soldan: Praktischer Gebrauch der latein. Sprache.
praktische Bedeutung zur Unterscheidung von Farbestoffen. So ist
durch die Spectral-Analyse eine Bahn gebrochen worden die ohne
Zweifel noch zu weiteren Entdeckungen über die Natur des Lich-
tes, über die chemischen Bestandteile vieler Körper führen wird.
Die Ausstattung der nützlichen und werthvollen Schrift des
Prof. Lielegg ist sehr gut. Besondere Sorgfalt wurde auf die bei-
gegebene Spectral-Tafol verwendet, welche zum besseren Verständ-
niss der Beschreibung der Spectra dient, die beim Gebrauche eines
Apparates mit einem Prisma und der Bunscn'scben Gaslampe er-
halten werden können. G. Leonhard.
Praktischer Gebrauch der lateinischen Sprache. Nach seiner frühe-
ren und jetzigen Beschaffenheit und Bedeutung beleuchtet Neb$t
einer Methodik für höhere Lehranstalten und Selbstunttrricht.
Von Dr. August Ferd. Soldan. Marburg N. G. ElwerV sehe
Universitätsbuchhandlung 1867. X u. 148 S. in gr. 8.
Diese Schrift mag wohl als eine zeitgemässe betrachtet wer-
den, in so fern ihr die Absicht zu Grunde liegt, einem Missstande
entgegenzutreten, der in der letzten Zeit, zum Nachtheil aller wah-
ren und gründlichen wissenschaftlichen Bildung immer mehr her-
vorgetreten ist. > Der Entschluss zu vorliegender Arbeit, so lesen wir
in der Vorrede, erhielt durch die gegründete Ansicht, dass in der
praktischen Handhabung der lateinischen Sprache seit mehreren
Decennion die Mangelhaftigkeit und Schwäche in bedenklieber Zu-
nahme begriffen wäron, seine erste Anregung, mehr Nachdruck aber
durch die deutliche Wahrnehmung, dass sachkundige und vorur-
theilsfreie Männer diese Ansicht nicht allein theilten, sondern dem ge-
rechten Anstoss , den sie an dem argen Uebelstande nahmen , in
eindringlichen Klagen lebhaften Ausdruck gaben.« Und Niemand
wahrhaftig, der auf diesen Gegenstand seine Blicke gerichtet hat,
wird das Begründete dieser Klagen in Abrede stellen können, deren
Hebung die nächste Aufgabe derjenigen sein muss, welchen die Er-
haltung einer gründlichen Jugendbildung am Herzen liegt. Der
Verf. als vieljähriger Schulmann hat vielfache Gelegenheit gehabt,
diese Missstände wahrzunehmen : er sucht darum nach den Mitteln
einer Abhülfe, und legt in dieser Schrift das Ergebniss langjähriger
Erfahrung und einer diesem Gegenstand unausgesetzt gewidmeten
Sorge einem weiteren Kreise vor, insbesondere aber ist seine Auf-
gabe dahin gerichtet, »denjenigen jungen Philologen, die in der
lateinischen Darstellungskunst einem würdigen Ziele zustreben, zur
beharrlichen Verfolgung des zu demselben führenden Weges , An-
leitung, Anregung und Ermunterung zu geben.« Sind allerdings
die künftigen Lehrer an unsern Mittelschulen , welchen die Vorbe-
reitung der Jugend zu einem wissenschaftlichen Beruf obliegt, Ton
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Soldnn: Praktischer Gebrauch der lateio. Sprache.
741
dieser Ansicht durchdrungen, haben sie die Bedeutung und Wich-
tigkeit der schriftlichen Üebung in dem lateinischen Ausdruck er-
kannt, so werden sie am besten im Stande sein, dem fühlbaren
Uebelstande mit allem Erfolg entgegenzutreten, und die ihnen an-
vertraute Jugend zu derjenigen Kenntnis« der Sprache und Lite-
ratur des alten Rom's heranzuführen, welche die Grundlage aller
wissenschaftlichen Bildung ausmacht, und ohne derartige Uebungen
nicht zu erringen steht, indem wir nur durch solche Uebungen
dabin gelangen können, die lateinische Sprache in dem Grade, wie
es jedem wissenschaftlich gebildeten Mann nötbig ist, zu vorstehen
und uns dann auch richtig in derselben auszudrücken. Liegt doch
hier der Grund und der Boden, auf welchem die ganze wissen-
schaftliche Entwicklung unserer Zeit ruht, und sich auf diesem
Boden sicher zu wissen, ist die erste Bedingung eines thätigen und
erfolgreichen Eingreifens in die aus diesem Boden herangewach-
sene geistige Entwicklung unserer Zeit. Diesen inneren Zusammen-
hang, in welchem die geistige Entwicklung unserer Zeit mit der
ganzen vorausgegangenen seit dem Wiederaufblühen der Wissen-
schaft überhaupt steht, hat der Verf. wohl erkannt und darum
seine Darstellung mit einer geschichtlichen Uebersicht der Leistun-
gen in der praktischen Anwendung der lateinischen Sprache in
Italien, Frankreich, Holland und Deutschland vom fünfzehnten Jahr-
hundert an bis auf die neuere Zeit, begonnen. Die bedeutendsten
Gelehrten, welche in dieser Beziehung sich ausgezeichnet und die
Anwendbarkeit der lateinischen Sprache für alle Gebiete mensch-
lichen Wissens dargethan haben , werden hier charakterisirt , und
der Zusammenhang, in welchem diess mit der Gesammtbildung der
Zeit steht, nachgewiesen. Gern wird man dem Verf. in dieser
Charakteristik folgen, in welcher insbesondere Muretus, dann Eras-
mus, Melanchthon u. A. hervortreten, eben so wie in neueren Zei-
ten ein Kuhnken u. A., welche als Muster der Latinität, in jeder
Hinsicht uns vorleuchten , weil wir aus ihnen am besten die An-
wendung der lateinischen Sprache zum Ausdruck moderner An-
schauungen und Begriffe ersehen und von ihnen lernen können,
diese Sprache, und zwar im Sinn und Geist der altrömischon
classischen Zeit, auf Gegenstände der neueren Zeit anzuwenden,
und damit selbst unserem Ausdruck in der Muttersprache Bestimmt-
heit und Klarheit zu verleihen. Den hier genaunten Gelehrten aus
der italischen und französischen Welt würden wir noch den früh
verstorbenen Perpinianns (f 1536) anreihen, da er einem Muretus
u. A. in Ausdruck und Sprache beinahe gleich steht.
Auf diesen historisch-literarischen Ueberblick folgt die Beleuch-
tung der verschiedenen Vorwürfe und Anklagen, welche in neuerer
Zeit wider die Anwendung der lateinischen Sprache gemacht wor-
den sind, nachdem vorher S. 32 ff. auf den Werth und die hohe
Bedeutung des Gegenstandes hingewiesen war, wobei insbesondere
und mit allem Recht darauf hingewiesen wird, dass die Sprache,
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742 Soldan: PrnVtlacher Grhrauch der latein. Sprache.
am deren Anwendung es sich hier handelt, die Grandlage nnd die
Vermittlerin uoseres gaozcn modernen Culturlebens geworden ist;
durch Rom ist die Wissenschaft ein Gemoingat der europäischen
Welt, aad die Sprache Rom's das Organ der wissenschaftlichen
Mittbeiluog geworden, ihre Handhabung ist daher auch jetzt noch
die Grundlage wissenschaftlicher Bildung. Wir wollen diess nicht
weiter ausführen und lieber auf die Schrift selbst verweiseu , in
welcher dann auch die Anklageu der Gegner, die hier zunächst auf
drei Punkte zurückgeführt werden, ihre Abfertigung erhalten ; näher
betrachtet liegt allen diesen Anklagen zum Grunde die Trägheit
nnd Faulheit, die Bequemlichkeit aud Oberflächlichkeit unserer Zeit,
die jede Anstrengung scheut, und mit möglichst geringer Mühe das
Ziel materiellen Lebensgenusses zu erreichen sucht.
Im vierten Abschnitt S. 42 ff. wird gegeben eine »Beleuch-
tung des im praktischen Gebrauche der lateinischen Sprache jetzt
herrschenden Zustandes, so wie der Hindernisse, die seiner Ver-
besserung entgegenstehen.« Wenn der scblafle Betrieb des Latein-
schreibens und Sprechens in der neuesten Zeit hier hervorgehoben
wird, so wird darin um so mehr Grund gefunden, dieser Verschif-
fung entgegenzutreten, und mit allen Mitteln, wie sie die Wissen-
schaft an die Hand gibt, kräftig dieselbe zu bekämpfen. Den Leh-
rern, als den Vertretern der Wissenschaft, wie den Behörden, welche
das höhere Schulwesen zu leiten uud zu beaufsichtigen haben, liegt
in dieser Hinsicht die gleiche Pflicht ob, und wenu in der Erfül-
lung dieser Pflicht beide Hand in Hand geben, so wird auch an
einem günstigen Erfolg nicht zu zweifeln sein, und es gelingen, dem
Drängen des sogenannten Zeitgeistes, d. b. der Verflachimg nnd
Verschiffung Halt zu gebieten. Dazu aber ist allerdings bei dem
Unterricht selbst nothwendig, den richtigen Weg und die richtige
Methode in der Behandlung des Gegenstandes einzuschlagen, weil
dadurch der gewünschte Erfolg bedingt ist. Deshalb verbreitet sich
der Verfasser darüber des Näheren in dem sechsten Abschnitt
8. 57 ff. , in welchem, nachdem die bisher befolgten Methoden in
ihren beiden Hauptrichtungen dargelegt sind, der Verf. ausführ-
licher, aus eigener langjähriger Erfahrung, diejenigen Mittel und
Wege bespricht, welche vorzugsweise zur Erreichung jenes Zieles
führen. Wir finden hier eine Anleitung über die Art und Weise,
in welcher der lateinische Stil in den verschiedenen Classcn eines
Gymnasiums, von den beiden untersten an bis zu der obersten be-
bandelt werden soll, und wie er mit der Leetüre der lateinischen
Schriftsteller zu verbinden ist, um die gewünschten Erfolge her-
beizuführen. Der Verf. will die schriftliche Uebung in Verbindung
gesetzt wissen mit der mündlichen Uebersetzung aus dem Deutschen
in's Lateinische und schon auf der untersten Stufe, in den beiden
untern Classen, der letzteren sogar ein Uebergewicht über die
schriftlichen Uebuugen einräumen, und er will ein ähnliches Ver-
fahren in der Tertia fortsetzen, hier dem zusammenhängenden Dnter-
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Sold an: Praktischer Gebranch der lateln. Sprache. 743
rieht in der Grammatik Eine Stunde wöchentlich widmen, während
die schwierigeren Parthien der Behandlung in der Secnnda vorbe-
halten bleiben sollen, so dass in dieser Classe der selbständige
grammatische Unterricht znm Abschluss kommt. Die deutschen
Aufgaben zum Uebersetzen sollen mit der Grammatik wie mit der
Leetüre in Beziehung gebracht, und auch hier noch mehr münd-
lich als schriftlich behandelt und von den neun, dem lateinischen
Unterricht in den mittleren und oberen Classen zugewiesenen Stun-
den, vier zu diesen Uebungen wöchentlich verwendet werden, von
welchen »eine der Grammatik und drei den andern, tbeils münd-
lichen, tbeils schriftlichen Leistungen zuzuwenden ein nnerlässliches
Erforderniss ist« (S. 69). Als ein weiteres, eben so unerlässliches
Erforderniss möchten wir freilich auch einen Lohrer bezeichnen,
der nicht etwa blos die dazu nöthigen Kenntnisse (was doch in
der Regel vorausgesetzt werden kann), sondern auch die dazu
nöthige Gewandtheit und das Geschick besitzt, diese üebrigen in
der Weise zu leiten, dass ein sicherer Erfolg dann zu erwarten
steht. Der Verf. der von dem richtigen Grundsatz ausgeht, dass
die Uebungen im Sprechen und Schreiben nicht blos als eines der
bewährtesten geistigen Bildungsmittel Überhaupt anzusehen siud,
sondern auch als der sicherste Weg zum Eingang in den Tempel der
alt-classischen Denkmäler (S. 70), verhehlt sich nicht die Einwürfe,
welche gegen diese Vermehrung der Stundenzahl für die Stil-
übungen, die er auch für die beiden oberen Classen festhält, etwa
gemacht werden können und hat ihre Widerlegung in eingehender
Weise versucht, wobei er den Nutzen bespricht, den die Lectüre
der Schriftsteller auf die stilistische Entwicklung in diesen beiden
Classen ausüben soll, was freilich eben so hinwiderum durch die
richtige Wahl der Schriftsteller wie deren Behandlung bedingt ist.
Wir können die goldenen Worte, in welcher ein erfahrener Schul-
mann hier über beides die nöthige Anweisung gibt, jüngern Leh-
rern im Interesse der Sache nicht dringend genug empfehlen ; eben
so das, was er über die höheren Anforderungen vorschreibt, welche
in der Prima in dieser Beziehung zu stellen sind. Werden die von
ihm gegebenen Vorschriften in Anwendung gebracht, so fallen die
sogenannten Extemporalien so zu sagen von selbst weg, da ihre
vermeintlichen Vortheile besser auf anderem Wege erreicht, die
kaum zu vermeidenden Nachtheile aber beseitigt werden (Vgl.
S. 87 ff.). Zuletzt berührt der Verf. noch das Lateinspreohen, wie
es als ein Mittel, zur Geläufigkeit und Gowandtbeit im schriftlichen
Gebrauche der Sprache zu verhelfen, vielfach in Vorschlag gebracht
worden ist. Der Verf. ist weit davon entfernt, die Zweckmässig-
keit der Uebungen im Sprechen in Abrede zu stellen, aber er will
sie an die Bedingung geknüpft wissen , dass sie zur rechten Zeit
und mit den geeigneten Mitteln betrieben werden; er gibt daher
auch hier eine Anleitung, nach welcher bei dieser Uebnng verfah-
ren werden soll, um sie erfolgreich zu machen; dazu gehört aber
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744
Sold an: Prafctiscbrr Opbrauch der Utein. Sprache.
vor Allem eine gute Vorbereitung, wie sie, wir setzen es mit Be-
dauern hinzu, nicht immer angetroffen wird, und dann treten leicht
Nachtheile ein, welche, wie unser Verf. ganz richtig bemerkt, den
Nutzen überwiegen, und es selbst rathlich machen, die ganze Uebung
zu unterlassen. So gelangt der Verfasser zu dem Scblnss, »dass die
mündlichen und schriftlichen Uebungen in der lateinischen Sprache
auf dem Gymnasium noch nicht ihren Abschluss erhalten, sondern
vielmehr nur darauf berechnet sein können, für die weitere Fort-
bildung eine geordnete Basis dem Lernenden zu schaffen. War für
denselben bis dahin Richtigkeit, Reinheit und Verstiindlichkeit das
Hauptziel der Anleitung und Uebung, so muss jetzt sein Streben
nicht allein auf immer grössere Festigkeit und Fertigkeit, sondern
auch auf die Aneignung der höheren Vorzüge, lichtvolle Klarheit,
Leichtigkeit, Gefälligkeit und Schönheit der Darstellung gerichtet
sein. Zur Erwerbung dieser Eigenschaften aber soll die akademische
Laufbahn demjenigen, der sich dem Studium der altclassiscben
Philologie gewidmet, den angemessene Spielraum bieten € u. s. w.
(S. 92). Diess ist auch unsere üeberzeugung, und Alles, was der
Verf. weiter zur Begründung seiner Ansicht ausführt, die Rath-
schläge, die er in dieser Boziehung zur ErreicbuEg dieses Zieles
dem angehenden Philologen gibt, verdienen gewiss alle Berücksich-
tigung: sie werden besser, als alle äusseren Zwangs Vorschriften,
welche keine wahre geistige Bildung hervorzurufen vermögen , im
8tande sein, tüchtige Lehrer in den classischen Spracheu für unsere
Mittelschulen zu bilden, und so auch am besten in den Erfolgen
alle die Vorwürfe widerlegen, welche eine in Oberflächlichkeit und
8innengenuss versunkene Zeit wider die classischen Studien und
deren Pflege auf unsern höhern Bildungsanstalten, und damit gegen
die Wissenschaft selbst, erhebt. Und so geben wir uns auch der
Hoffnung hin, die der Verf. am Schlüsse seiner beberzigenswertheu
und durchaus ruhig gehaltenen Erörterung dieses Gegenstandes
ausspricht, »es werde trotz der zahlreichen Klagen über die nach
allen Richtungen verbreitete Zerstreuungs- und Genusssucht, so wie
über zunehmende Verweichlichung, Erschlaffung und Arbeitsscheu,
doch nicht an Jüngern der Wissenschaft in Deutschland fehlen,
die noch Willenskraft und Strebsamkeit genug bewähren , um in
der vorgezeichneten Richtung nach einem ihrer grossen Vorgänger
würdigen Ziele zu ringen.«
Die Anmerkungen, welche von S. 105 — 148 angereiht sind,
beziehen sich zum grösseren Theil auf den ersten Abschnitt, dessen
Inhalt wir oben kurz angegeben haben : es sind biographische nnd
literarhistorische Notizen über die in diesem Abschnitt erwähnten
Gelehrten, deren Lebensverhältnisse in der Kürze angegeben, deren
Hanptschriften, so wie die Ausgaben derselben aufgeführt und kurz
charakterisirt werden: gewiss eine recht erspriessliche Zugabe ge-
rade für diejenigen , für welche der Verf. überhaupt seine Schrift
bestimmt hat; der Rest der Anmerkungen etwa von Nr. 74 an
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Opel: MHtheilungen d<* Thllrfng. Sächs. Vereins. Bd. XI. 745
(S. 187 ff.) bringt einzelne Belege zn dem, was in der theoretischen
Erörterung des Verf. enthalten ist, indem die bezüglichen Aeusse-
rnngen einzelner Gelehrten wörtlich angeführt werden, da dieselben
um die Erörterung nicht zu unterbrechen, in diese selbst nicht
wohl aufgenommen werden konnten. Den Nutzen dieser Mittbei-
lungen wird Niemand verkennen. Chr. B&hr.
Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forsch-
ungen. Im Namen des mit der königl. Universität Halle-
Wittenberg verbundenen Thüringisch - Sächsischen Vereins für
Erforschung des vaterländischen Alterthums und Erhaltung
seiner Denkmale herausoeaeben von dem Secretär desselben
Rector ./. O. Opel Eilfter Band. Halle, Bureau des Thü-
ringisch-Sächsischen Vereins. Nordhausen, in Commission bei
Ferd. Förstemann. 1867. IV und 522 S. in gr. 8.
Der vorliegende Band zeigt eine grosse Reichhaltigkeit und
Mannichfaltigkeit in seinem Inhalt, der nicht blos den engern Kreis
betrifft, welchem der Verein zunächst seine Thätigkeit gewidmet
hat, sondern auch die Gränzen dieses nächsten Kreises überschrei-
tend, nicht Weniges bringt, was eine Bedeutung für die Kenntniss
deutscher Zustände in früheren Zeiten, der politischen Geschichte,
wie der Culturgeschichte überhaupt gewinnt uud kein blos örtliches
Interesse in Anspruch nimmt. Es wird sich diess bald heraus-
stellen, wenn wir nur in der Kürze die einzelnen grösseren oder
kleineren Aufsätze und Mitteilungen , welche den Inhalt dieses
Bandes bilden, hier anführen, wobei wir allerdings der Fürsorge
des leitenden Secretiirs dankbar zu gedenken haben, der diese ein-
zelnen Mittheilungen zu einem so schönen Ganzen verbunden und
selbst einige der werthvollsten Aufsätze beigesteuert hat.
Der erste Aufsatz von G. A. von Mülverstedt gibt zu der
früher im neunten Bande gelieferten Erörterung Uber den sächsi-
schen Rautenkranz einen weiteren Beitrag, welcher zunächst durch
die inzwischen erschienene Schrift des Fürsten von Hohenlohe-
Waldenburg über denselben Gegenstand veranlasst ward (s. diese
Blätter Jahrgg. 1864. Nr. 10. S. 148 ff.). Der letztere bat in der
andern später erschienenen Abtheilung dieses Bandes auch darauf
eine Erwiederung gegeben, S. 515 ff. in der er bei seiner Ansicht
beharrt, dass der sächsische Rantenkranz ein wirklicher Laubkranz
ist, und kein ornamentirter Strich oder Balken, und geht diess
auch aus der beigefügten Abbildung eines Siegels des Herzog Erich
von Sacbsen-Lauenburg aus der Zeit von 1315— 1360 so klar her-
vor, dass billig jeder Zweifel darüber verschwinden sollte. Eben
so erklärt sich auch dieser grosse Kenner der Heraldik — und
man wird ihm auch hierin nur beistimmen können, gegen die An-
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746
Opel: Mitteilungen des ThOring. Sieht. Vereins. Bd. XI.
sieht, welche dieses Wappenbild in dem Sinne eines heraldischen
Beizeicbens, als eine Minderung des Stammwappens auffasst, da
im Gegentheil in dem vorliegenden Fall eine Mehrung des Wappens
den Verhältnissen entsprechender gewesen wäre. Wer der ein-
gehenden, alle die hier in Betracht kommenden Punkte so gründ-
lich erwägenden Untersuchung des Fürsten Hohenlohe mit Aufmerk-
samkeit gefolgt ist, wird auch darüber kaum ein Bedenken haben
können ; er wird vielmehr das hier gewonnene Resultat als ein
wohlbegründetes und sicheres zu betrachten haben- Es folgt nun
Otto von Guericke's Bericht an den Magistrat von Magdeburg über
seine Sendung nach Osnabrück und Münster 1646 — 1647; wir ver-
danken diese Mittheilung dem Herrn Opel , von dessen eigenen
worthvollen Beiträgen wir hier anführen die Notizen zur Eroberung
Magdeburgs durch Tilly, die Visitationsakten der Universität Wit-
tenberg ans den Jahren 1614 und 1624; die Chronik des St. Cla-
renklosters zu Weissenfeis. Zur Kunde der geistliehen Verhältnisse
des Landes Baruth als eines abgesonderten Bestandteiles der magde-
burger Diöcese dienen die Mittbeilnngen von Ed. Jakobs S. 95 ff
so wie die Nachrichten über die Bibliothek und das Archiv des
Klosters Ilsenburg; eben so beachtenswert erscheinen die Wetti-
nischen Studien von Ad. Cohn, als Beiträge zur Genealogie des
Sächsischen Fürstenhauses, ferner das zum erstenmal von Q. A. v
Mülverstedt herausgegebene Landrecht von Burg (S. 159 — 169),
das alte Merseburger Todtenbuch von E. Dümmler S. 223 ff. und
die Hallische Lehntafel von W. Wattenbach S. 444 ff. Auf die
musterhafte Sorgfalt und kritische Umsicht, mit welcher diese
Publikationen hier veranstaltet sind, brauchen wir wohl kaum noch
besonders aufmerksam zu machen. Auf die Stadt Halle beziehen
sich weiter die »Hallensiac von E. M. Lambert S. 425 ff.; sie ent-
halten aus einem in dem Provincialarchiv zu Magdeburg befind-
lichen Aktenfascikel mehrere auf die Geschichte der Stadt Halle
im Mittelalter bezügliche Dokumente in einem erstmaligen correcten
Abdruck, zuerst (in lateinischer Sprache) ein die Rechte des Erz-
bisebofs, des Burggrafen und Schultheissen an der niedera Ge-
richtsbarkeit zu Halle betreffendes Aktenstück, dann (in deutscher
Sprache) die Statuten der sechs alten Innungen, die, wenn auch
die vorliegende schriftliche Aufzeichnung in das vierzehnte Jahr-
hundert fällt, doch, wie hier wahrscheinlich gemacht wird, in den
Anfang des dreizehnten oder in das letzte Jahrzehnt des zwölften
Jahrhunderts fallen; an dritter Stelle erfolgt der Abdruck eines
alten, bisher unbekannten Thalrechtes von Halle, ebenfalls aus dem
vierzehnten Jahrhundert in deutscher Sprache. Weiter nennen wir
noch die aus dem städtischen Archiv zu Braunschweig (Scbmal-
caldice Bd. 21) von Dr. G. Schmidt in Haunover mitgetbeilten
gleichzeitigen Berichte über Naumburg und Halle im Schmalkalder
Kriege S. 477 ff. ; recht interessant sind auch die zur Geschichte
der Kleidertrachten im 16. und 17. Jahrhundert von Dr. M. Heyne
V
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Opel: Mittheilungen de Thüring. Sächs. Vereins. Bd. XI. 747
gegebenen Beiträge S. 461 ff., entnommen einem alten Innnngebnch
der Schneider zn Halle vom Jahre 1579; es sind meist Vorschriften,
welche auf die Fertigung des Meisterstückes sich beziehen. Auf
die Stadt Nordbausen bezieben sich die aus dem Nachlass des
Prof. Dr. G. E. Försteraann von Dr. Th. Perschmann veröffent-
lichte Nordhusana S. 265 ff., welche über die Juden in Nordbansen
sich verbreiten, und zwar über die ältere Geschichte derselben,
indem die Juden schon in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts aus
der Stadt vertrieben, erst im Anfange des neunzehnten (1808)
wieder aufgenommen wurden : daran reiht sich eine Besprechung
über: »Slaven und Fläminger bei Nordhausen in der goldenen
Aue«, mit einer beigefügten Abbildung eines der ältesten Denk-
mäler dieser Gegend, es ist der Pomai Beg in Windhausen, ein
ziemlich roh ans Holz gefertigtes Marienbild, das Maria als Mutter
sitzend, mit dem todtcn Christuskind auf ihren Knieen, darstellt.
Ueber den Verfasser selbst und dessen, zunächst die Stadt Nord-
hausen und ihr Gebiet betreffende literärische Thätigkeit ver-
breitet sich der Herausgeber näher in dem Vorwort. Auf diese
Nordhusana folgt von S. 289 — 834 ein längerer Aufsatz von Gust.
Sommer : Archäologische Wanderungen in den königl. preuss. land-
räthlichen Kreisen Zeitz, Weissenfeis und Merseburg, unternommen
während der Jahre 1856 bis 1866. Der Inhalt dieses Aufsatzes
zerfällt in zwei gleich interessante Theile: I. Allgemeines. II. Ein»
zelnes. In dem ersteren Theile ergebt sich der Verf. über die
Beschaffenheit der Landschaft im Allgemeinen , und das Verhält-
niss des jetzigen Zustandes zu dem frühem, dessen Spuren immer
seltener geworden sind, so dass auch das Alterthümliche der frü-
heren Feldeintheilung immer mehr verschwindet ; nachdem Uber
Hünengräber Einiges bemerkt worden , verbreitet sich die Darstel-
lung insbesondere über die Anlage der Dörfer, deren Namen mehr
oder minder auf Niederlassungen von Slaven (Sorben- Wenden)
zurückführen, zu welchen im Ganzen nur wenig Deutsche hinzuge-
kommen sind. Plan und Anlage dieser Dörfer, der Bau der Woh-
nungen u. dgl. wird besprochen und selbst durch beigefügte
Abrisse klar gemacht, es wird gezeigt, wie dieses Volk »in seiner
vorzugsweise der Landwirtschaft ergebenen Beschäftigung ein durch
und durch praktisches Volk, mit Umsicht die brauchbarsten, pas-
sendsten Plätze für Ansiedelungen wählte und die Höfe auf Grund
seiner socialen Lebensweise ziemlich constant nach denselben durch
Alter und Bewährung geheiligten Gesetzen rund um einen in der
Regel mit einem kleinen Teiche versehenen, freigelassenen Dorf-
platz gruppirte, nur einen einzigen Zugang von der in einiger Ent-
fernung daran führenden Strasse uns enthaltend, welcher im ge-
meinen Leben mit »Sackgasse« bezeichnet wird.« In dem
andern Theile durchgeht der Verf. die einzelnen Ortschaften der
genannten Landrathsbezirke, und verbreitot über die (meist auf
das Wendische zurückführenden) Namen derselben, so wie über die
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748
Meyer v. Knonau: Die Bedeutung Karls des Grossen.
Eigentümlichkeiten derselben in Bezug auf Anlage, Baulichkeiten
zumal Kirchen, und werden stets die Spuren des Wendiscben nach-
gewiesen Wir tibergehen einige andere Mittbeilungen antiquarischer
Art, welche noch weiter in diesem Bande enthalten und t heilweise
selbst mit Abbildungen begleitet sind ; wir denken, dass das, was
hier über Inhalt und Gegenstand dieses Bandes bemerkt ist, ge-
ntigen wird , die Freunde vaterlandischer Forschung auf diese
Erscheinung aufmerksam zu machen und Allen denen, welche dazu
beigesteuert, die gebührende Anerkennung zu sichern.
Ueber die Bedmlung Karls des Grossen für die Entwicklung der
Geschichtschreibung im neunten Jahrhundert, Probevorlesung,
gehalten am 22. Dezember IH6G zum Behuf der Habilitation
an der Hochschule Zürich von Gerold Meyer von Kno-
nau Dr. phil. Zürich, gedruckt bei Friedrich Schullhess. 1667.
24 S. in gr. 8.
Der Verf. dieses Vortrags hat es unternommen, in frischen
und lebendigen Ztigen die Entwicklung der Geschichtschreibung
unter Karl dem Grossen und der auf ihn zunächst folgenden Zeit
darzustellen , und auf diese Weise eine im Allgemeinen gehaltene
Schilderung der einzelnen Geschichtschreiber dieser Periode zu
geben. So stellt sich hier uns in ihren Folgen Eine Seite der Be-
mühungen Karls des Grossen um die Wiedererweckung der Wissen-
schaft und deren erneuerte Pflege dar, welche der Verf. mit sicht-
barer Vorliebe schildert und in einem fast zu günstigen Lichte
erscheinen lässt. Als den Ausgangspunkt aller dieser Bemühungen,
und damit auch der wieder erstehenden Geschichtscbreibung be-
trachtet der Verf. die von diesem Herrscher gegründete Hofschule
(Schola Palatina) ; und wenn man im Allgemeinen auch diess wollte
gelten lassen, so dürften sich doch dafür im Einzelnen schwerlich
bestimmte und genügende Zeugnisse beibringen lassen, da bekannt-
lich unsere Nachrichten über diese Hochschule sehr dürftig sind,
am wenigsten aber der Art sind, um solche Folgerungen daraus
zu gestatten. Wo findet sich z. B. ein Beweis für den S. 10 hin-
gestellten Satz, dass ein Hauptbestandtheil der Leistungen dieser
Hochschule auf dem historischen Felde zu suchen sei, oder für den
8. 12 hingestellten Satz, dass von Karl die Anregung zu einer
Reichsannalistik ausgegangen, welche durch Einhard zur Kunstform
erhoben worden, in dessen Arbeit sich dessen eigene stylistisebe
Fortschritte, Folgen des Einflusses der Hochschule (?), noch sollen
erkennen lassen. Dahin gehört auch, wenn z. B. S. 16 Einharde
Leben Karls des Grossen »in formaler Hinsicht der Triumph der
Latiuität der Hochschule t (ist uns über diese auch nur Irgend
Etwas bekannt?) genannt wird, »wo nicht blos wie eine Verklei-
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Weidner: Quellenbuch für alten Geschichte
dung für deutsch gedachte Sätze fremde Worte erscheinen, sondern
in dem die fremde Sprache selbst im Dienste des Schreibenden
auftritt« u. s. w. Auch wird mau dabei nicht übersehon dürfen
dass in jener Zeit mit den Cathedralsitzen wie mit angesehenen
Abteien bereits Schulen verbunden waren, in welchen ein ähnlicher
Unterricht zur wissenschaftlichen Bildung gegeben, die (römischen)
Classiker gelesen und die sieben Künste gelehrt wurden; in Süd-
frankreich hatte sich, wie manche Spuren beweisen, ohnehin noch
ein Rest altrömischer Bildung erhalten, der nun neue Stärkung
erhielt, ^ian wird daher bei manchen einzelnen Angaben und Be-
hauptungen, die hier mit aller Sicherheit und Gewissheit vorge-
tragen werden, doch eine gewisse Vorsicht anzuwenden haben, um
sich nicht von der glänzenden Darstellungsweise des Verf. forl-
reissen zu lassen: so sehr man auch geneigt ist anzuerkennen, in
welcher beredten Weise hier die grossen Verdienste Karls des
Grossen um die Förderung oder vielmehr Wiedererweckung wissen-
schaftlicher Pflege und Bildung hervorgehoben werden. Auf Ein-
zelnes weiter einzugehen unterlassen wir, zumal als wir nicht
manche der allzu günstig ausgefallenen Urtheile unterschreiben
möchten, die über einzelne Schriftsteller dieser Zeit hier gefällt
werden, und allerdings den mehr panegyrisch gehaltenen Vortrag
des Verfassers kennzeichnen.
Historisches Qmllenbuch zur allen Geschichte für obere Gymnasial-
klassen. IL Abiheilung. Römische Geschichte, bearbeitet von
Fr. A. Weidner , Conre.ctor am Domgymnasium in Merse-
burg. Leipzig, Druck und Verlag von B. G. Teubner. 1807:
Erstes Heft. VI u. 141 S. Zweites Heß IV u. 214 8. in gr. 8.
Dass das Verständniss der alten Geschichte, wie es der ge-
schichtliche Unterricht auf unsern Gymnasien erzielen soll, durch
die Leetüre der betreffenden Abschnitte der alten Historiker wesent-
lich gefördert wird, und es daher räthlich ist, aut die Quellen
selbst zurückgehen und aus ihnen die geschichtlichen Thatsachen,
so wie selbst deren innern Zusammenbang kennen zu lernen, wird
Niemand bestreiten wollen, Niemand aber auch verkennen, dass
die praktische Anwendung dieses Satzes eine natürliche Gränze in
der ungemeinen Ausdehnung des zu beachtenden Stoffes findet, in
so fern man von der Schule nicht erwarten kann , dass sie auf
diese Weise ihre Schüler mit der alten Geschichte in ihrem Ge-
8ammtumfang bekannt mache, auch wenn es sich nur um die grie-
chische und römische Geschichte handelt. Es wird sich aber auch
hier nur um einzelne wichtige Partien handeln, welche auf diesem
Wege der Erkenntniss des Schülers näher gebracht werden können.
Und von diesem Standpunkt aus wird sich auch das vorliegende
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760
Weidner: Quellenbuch tur alten Geschichte.
Quellenbach in der reichen Auswahl die es bietet, dem Lohrer
empfehlen, der mit dem geschichtlichen Unterricht die Lectüre
einzelner Abschnitte, so weit nur immer die Zeit ausreicht, in
zweckmässiger Weise zu verbinden versteht. Allerdings wird der
Schüler schon eine gewisse Fertigkeit und Gewandtheit in dein
Lateinischen wie Griechischen erlangt haben müssen , um die hier
rein nach historischen Rücksichten zusammengestellten Lesestücke
ohne besonderen Anstoss zu lesen, indem das Grammatisch-Sprach-
liche mehr in den Hintergrund tritt, so sehr auch das richtige
Verständniss von der sprachlich-grammatischen Auffassung bedingt
ist. Wir können daher hier kaum an eine andere Ülasse, als die
oberste unserer Gymnasien und an eine andere Loctüre, als die
cursorische denken, die indessen bei Schriftstellern, wie Polybiu?,
Flutarcbus oder Appian, und selbst bei Livius in Manchem doch
ihre eigenen Schwierigkeiten hat, wiewohl 6ie auf der andern
Seite beitragen kann, den geübteren Schüler mit Schriftstellern
bekannt zu machen, welche sonst nicht auf Schulen gelesen zu
werden pflegen. Der Herausgeber selbst scheint auch bei seinem
Unternehmen zunächst Schüler der obersten Classe in's Auge ge-
fasst zu haben, da er ausdrücklich verlangt, ein Primaner solle es
dahin bringen, den griechischen oder lateinischen Text eines Histo-
rikers als Etwas Bekanntes und Heimisches zu begrtissen und zu
erfassen (S. IV). Ob indess einer solchen Forderung allerwärts
entsprochen werden dürfte, ist eine andere Frage, die wir kaum
zu bejahen vermögen, znmal angesichts der vielen andern Anfor-
derungen, die man jetzt an einen Primaner zu stellen pflegt, wel-
cher, wie man sich jetzt auszudrücken beliebt, auch den Anforde-
rungen der Zeit (!) genügen soll. Um so mehr wünschen wir dem
Herausgeber solche Schüler, die durch ihn zu dem bezeichneten
Ziele gelangen können.
Was die Einrichtung dieses Quellenbuches betrifft, so enthält
das erste Heft zunächst Lesestücko aus Livius, welche die römische
Geschichte von Romulus an bis auf Pyrrhus incl. behandeln und
kann das Ganze hiernach auch als eine zu historischen Zwecken
wohl zu benutzende Chrestomathie aus Livius betrachtet werden,
indem nur einmal aus Ovid Fast. II, 687 — 852 die schöne Schil-
derung über den Sturz des Königthums, und ein andermal bei der
Verfassung des Servius Tullius die betreffende Darstellung ans
Dionysius von Halicarnass eingeschaltet ist; dieses und das letzte
Lesestück, welches den tarentinischen Krieg und Pyrrhus enthalt,
aus Plutarch's Leben des Pyrrhus entnommen, sind die einzigen
griechischen Stücke dieses Heftes. Unter dem Texte finden sich
kurze deutsche Bemerkungen, welche in schwierigen Fällen dem
Schüler nachhelfen, oder in sachiieheu Punkton die nöthige Auf-
klärung geben sollen: bei dem griechischen Lesestück sind diese
Bemerkungen etwas ausführlicher, was in der grösseren Schwierig-
keit, die dieser Text dem Schüler bietet, wohl seiuen natürlichen
uigiiizea uy Vjüo
Oft erd Inger: Beiträge i. Geschichte d. Mathematik in Ulm. 751
Grund hat. Das zweite Heft führt in ähnlicher Weise die römische
Geschichte fort bis zur Zerstörung Carthago's und zu dem Ende
des dritten punischen Krieges ; die Lesestücke, welche den ersten
punischen Krieg betreffen, sind aus dem ersten Buch des Polybius
sämmtlich genommen ; die des zweiten punischen Krieges aus
Livius, mit einziger Ausnahme der Beschreibung der Schlacht bei
Carinii, die aus dem dritten Buche des Polybius gezogen ist, da-
gegen die Belagerung und Eroberung von Syracus, das Schicksal
Capna's, die Schlacht bei Zama und das Gespräch des Hannibal
und Scipio u. A. aus Livius, wobei jedoch in den Anmerkungen
auch die betreffenden Stellen des Polybius, der Vergleichung wegen,
wörtlich angeführt werden. Man kann übrigens aus diesen An-
führungen ersehen, dass die von dem Herausgeber getroffene Aus-
wahl hervorragende und wichtige geschichtliche Momente betroffen
bat, die durch Inhalt wie durch die Darstellung das Interesse des
Schülers steigern. Die beiden folgenden Abschnitte, der zweite mace-
donische Krieg (200 — 196 v.Chr.) und der syrische Krieg (192 —
189) enthalten lauter Stücke aus Livius, mit Ausnahme des letzten
Lesestückes, welches den Frieden mit Antiochus betrifft und mit
der Erzählung des Livius auch die des Polybius verbindet. Der
fünfte Abschnitt, welcher den dritten macedonischen Krieg befasst,
ist ganz aus Stücken des Livius gebildet, der sechste und letzte,
welcher deu dritten punischen Krieg enthält , aus Appian in zwei
Abschnitten, von welchen der eine die Lage und Befestigung Car-
thago's, der andere die Eroberung und Zerstörung desselben bringt;
zur besseren Orientirung ist auch ein ganz netter Plan von Car-
thago beigefügt. Im Uebrigen ist Einrichtung wie Behandlung
ganz gleich den Lesestücken des ersten Heftes. Und so mag das
Ganze für den oben bemerkten Gebrauch empfohlen werden. Druck
und Papier sind ganz befriedigend.
Beiträge zur Geschichte der Mathematik in Ulm bi9 zur Mitte des XVII.
Jahrhunderts^ von Professor Dr. L. F. Ofterdinger (Pro-
gramm des Gymnasiums von Ulm) 1867. Druck der Wagner-
sehen Buchdruckerei (J. A. Walter). 12 8. in gr. 4.
Da in den freien deutschen Reichsstädten frühzeitig Handel
und Gewerbe blühte, so ward auch dadurch frühzeitig eine Pflege
mathematischer Studien hervorgerufen, welche selbst zur Gründung
mathematischer Schulen, wie diess in Ulm der Fall war, führten.
Der Verf. dieser Schrift beabsichtigt nun in ähnlicher Weise, wie
diess von Nürnberg in den 1730 erschienenen Nachrichten Doppel-
maiers über die Nürnberger Mathematiker und Künstler geschehen
ist, die Mathematiker, welche Ulm hervorgebracht, und welche
theils in ihrer Vaterstadt, theils auswärts wirkten, namentlich als
752 Ofterdinger: Beiträge %. Geschichte d. Mathematik in Ulm.
Lehrer in Norddeutschland , zu Leipzig, Wittenberg u. A. aufzu-
führen, und die Leistungen eines jeden, insbesondere die von ihm
verfassten Schriften zu verzeichnen. Er beginnt mit drei Mathe-
matikern, deren Thätigkeit noch vor die Reformationszeit fällt
J. Engel (f 1411), J. Pflaum und G. Precelhus; mit dem Refor-
mationszeitalter beginnt eine eifrigere Pflege der Mathematik iu
den Schulen, wie diess auch Melanchthon's Rath verlangte; ein
Zeitgenosse und Freund desselben, aus Ulm, Michael Stiefel,
der in hohem Alter 1567 zu Jena starb, war ein Hauptbeforderer
mathematischer Studien ; ihm reihen sich mehrere andere an , bis
auf Johann Faulhaber, der als ein bedeutender Mathematiker sei-
ner Zeit erscheint und auch als Ingenieur grossen Ruf hatte; er
war es, der die Recheuschule in Ulm zu einer wahren mathema-
tischeu Schule und dabei zugleich zu einer Artillerie- und Ingenieur-
schule erhob. Und neben ihm, der 1635 von der Pest dahinge-
rafft ward, wirkten noch einige andere tüchtige Männer, welche
hier ebenfalls aufgeführt und nach ihren Leistungen gewürdigt
werden. Faulhaber selbst war der Sohn eines Webers und hatte
sich von dem Handwerke des Vaters, das er erlernt, durch eigene
Thätigkeit die wissenschaftliche Bildung gewonnen, die ihm in jener
Zeit ein so grosses Ansehen verlieh und Ulm zu einem Vereinigungs-
punkt vieler Mathematiker damals machte. Der Verf. hat daher
mit aller Genauigkeit die einzelnen zahlreichen Schriften dieses
Mannes, die in ihren ausführlichen Titeln auch meist schon ihren
Inhalt zu erkennen geben, so weit sie im Druck erschienen sind,
verzeichnet, und lässt dann eine eingehende Betrachtung über die
Verdieuste desselben folgen, die eben so sehr in der Ausbreitung
der mathematischen Wissenschaft überhaupt als in der Entwick-
lung einzelner Theile derselben liegen , wie denn Faulhaber insbe-
sondere bemüht war, neuer Entdeckungen sich zu bemächtigen, sie
näher zu entwickeln und in weitere Kreise zu führen: diesB wird
im Einzelnen hier nachgewiesen: eine Reihe vou Mathematikern,
die von ihm abstammten, und in Ulm bis zu Ende des achtzehn-
ten Jahrhundert den Ruhm ihres Ahnen aufrecht erhielten, wird
in der Einleitung noch genannt.
Es erhellt aus diesem Bericht, dass der Verf. einen anerken-
nenswerthen Beitrag zur Culturgeschichte seiner Vaterstadt, wie
überhaupt zur Geschichte der mathematischen Studien in Deutsch-
land gegeben hat, und wird man daher mit Verlangen der weite-
ren Fortsetzung dieser Beiträge in der Schilderung der späteren
Mathematiker Ulms entgegensehen, zumal die Forschung mit aller
Gründlichkeit und Genauigkeit geführt ist.
uigiuzec uy Vjüü
Sp. 48. HEfDElBERGiER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Die Weltgeschichte für höhere Schulen und Selbstunterricht über-
sichtlich dargestellt von Dr. Karl Kiesel, Director des Gym-
nasiums su Düsseldorf. Zweiter Band: die christliche Zeit.
Erste Abtheilung: die fünfsehn ersten Jahrhunderte. Zweite
Abtheilung: die vier letsten Jahrhunderte. Zweite verbesserte
Auflage. Freiburg im Breisqau. Herder'sche Verlagsbuchhand-
lung 7867. A7 und VIII. 1402 S. in gr. 8.
Von dem ersten Bande dieser Weltgeschichte in ihrer erneuer-
ten und verbesserten Auflage ist in diesen Jahrbüchern 1866. Nr. 13
S. 193 ff. ein eingehender Bericht erstattet und der Charakter wie
das Ziel dieses Werkes näher angegeben worden. Es unterscheidet
sich dasselbe von andern ahnlichen, wie sie unsere Literatur be-
sitzt, durch das Festhalten an dem christlichen Standpunkt, wel-
cher auch die Abtheilung des Ganzen in zwei Bünde, von welchen
der eine die vorchristliche, der andere die christliche Zeit behan-
delt, veranlasst hat. Wenn in dem ersten Bande, wie a. a. 0.
bemerkt ward, die Darstellung sich streng an die Quellen halt,
durchweg auf positivem Grunde ruht, und alles Spiel mit unsichern,
oder wie man es jetzt zu nennen beliebt, geistreichen Combinatio-
nen und Vermuthungen vermeidet, durch wolche die Lücken aus-
gefüllt oder die Berichte der Alten nach der eigenen subjectiven
Anschauung gemodelt werden, wenn eine christliche Anschauung
und Auffassung der einzelneu Ereignisse wie des ganzen geschicht-
lichen Verlaufs in der vorchristlichen Zeit vorwaltet, so konnte
man schon erwarten, dass dieser Standpunkt in dem zweiten Bande,
der in seinen beiden Abtheilungen die Geschichte von den römi-
schen Kaisern, zunächst von Caligula und Claudius an bis auf
unsere Zeit, d. h. bis zu dem Schluss des Jahres 1866 fortführt,
nicht verlassen werde; aus den diesen Band einleitenden Bemer-
kungen tibor den Gang und die Gliederung der christlichen Ge-
schichte wird diess aber auch zur Gentige ersichtlich. Im Uebrigen
wird man auch in diesem Bande nirgends die ruhige Darstel-
lung und die besonnene Haltung vermissen, welche schon bei dem
ersten Bande hervorgehoben ward und welche in dieser Fortsetzung,
wo der Gegenstand auch gewissermassen näher liegt, überall so
sehr anspricht. In den einleitenden Bemerkungen zeichnet der
Verfasser trefflich die Lage des römischen Reichs, die verschiede-
nen Bemühungen, den Bestand desselben zu erhalten, im Innern
gegen Willkür zu schützen und nach Aussen gegen die zerstörende
Macht der Rohheit zu vertheidigen ; aber er zeigt auch das Ver-
LIX. Jahrg. tO. Heft. 48
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764
Kiesel: Weltgeschichte. 2. Bd.
gebliche dieser Bemühungen, welche »dem Reiche das Leben fristen
sollten, damit es in allmähligem Verfall die Kraft zum Widerstand
gegen die neue Weltordnung verliere und die Kraft zur Ueberlieferung
seiner Civilisation bewahre. Der Verfall entscheidet sich, sobald
das Reich, die von dem Ghsistenthum gemachten Fortschritte ge-
wahrend, sich gegen dieses, als seinen Feind zur Wehre setzt. Ein
nie erlebtes Schauspiel, den Anbruch einer neuen Zeit in wunder-
barer Weise bezeugend, eröffnet sich ein Kampf, in welchem der
Duldende siegt. Das grosste Reich, das je bestanden, mit geord-
neten Mitteln der Gewalt, wie keines ausgestattet, bricht zusam-
men unter den Schlagen, die es auf den in seinem Innern erstan-
denen wehrlosen Gegner führt. Aus dem Blute der zur Rettung
des Heidenthums Geopferten steigt die christliche Kirche empor,
durch die Art ihres Entstehens für alle Zeiten der Geschichte Zeug-
niss davon gebend, was der Menschen Meinung gegen Gottes Willen,
was die Gewalt gegen die Wahrheit vermag. c
In diesem Sinne nun wendet sich der Verf. an die Darstel-
lung des Einzelnen, indem er in dem nächsten Abschnitt die Ge-
schichte des römischen Reiches unter den Imperatoren bis zu den
Anfängen germanischer Herrschaft in Italien durchführt, am Schlüsse
auch das Verhältniss der Kirche zu der Staatsgewalt, so wie die
kirchliche Veifassung selbst zur Zeit des Untergangs des west-
lichen Reiches bespricht, um dann in dem folgenden dritten Ab-
schnitt das oströmische Reich bis gegen Ende des achten Jahr-
hunderts, die Ostgothen und die Longobarden zu schildern. Der
vierte Abschnitt hat die Geschichte der Araber bis zu dem oben
bemerkten Zeiträume, so wie die der Westgothen zum Gegenstand,
der fünfte das fränkische Reich bis auf Karl den Grossen. Diesen
und seinen Nachfolgern ist der sechste Abschnitt gewidmet, wel-
cher die Aufschrift trägt: das karolingische Reich. Die Bedeutung
Karls des Grossen und seiner grossartigen Schöpfung, seine Ver-
dienste um Staat und Kirche, seine Gesetzgebung und Verwaltung,
seine Sorge für geistige Bildung, für Unterricht und Wissenschaft,
wird, wie sich kaum anders erwarten lässt, in gebührender Weise
hervorgehoben und im Einzelnen dargelegt. Man vgl. z. B. nur
S. 187 ff. wie das Ergebniss der Kriege Karls des Grossen darge-
stellt wird und wie seine auf diese Weise gemachten Eroberungen
als solche betrachtet werden, welche die menschliche Kultur ge-
macht, wie das Schwert, mit dem sie gemacht worden, überall
im Dienste der höchsten Macht, deren Geltung die allein sichere
Gewähr wahrer Cultur ist, des Christenthums, gestanden u. s. w.,
so dass das neue, durch Karl den Grossen geschaffene Reich wesent-
lich ein christliches Reich geworden. Durch die Erneuerung des
weströmischen Kaiserthums ward Karl zum Nachfolger der alten
Imperatoren und Auguste erklärt, aber zu einem Nachfolger, dem
die inzwischen durch das Christenthum bewirkten Veränderungen
neue Rechte und Pflichten zutheilten. In welchem Sinn diess zu
Kiesel: Weltgeschichte. 2. Bd.
755
nehmen ist, wird darauf im Einzelnen gezeigt. Wie aber der Verf.
im Allgemeinen diesen Fürsten auffasst, namentlich auch in seinem
Verhältnis« zu den drei auf ihn folgenden Jahrhunderten, mag am
besten aus den oben erwähnten einleitenden Bemerkungen ersehen
werden, wo es S. 6 heisst: »Karl der Grosse ist ein Held der
Christenheit. Sein Walten zeugt von der Erkenntniss, dass christ-
liche Gesinnung die Grundlage des Staates sein muss und der
Herrscherberuf nur in Uebereinstimmung mit der Kirche zu er-
füllen ist. Erobernd vergrössert er mit dem fränkischen Gebiete
auch das Gebiet des Christenthums, indem seine Eroberungen den
Boten des Glaubens die Wege zu heidnischen Völkern öffnen und
durch das Bestreben, die fränkische Hoheit über die Unterwortenen
zu behaupten, zugleich jedem von den Anhängern des Heidenthums
ausgebenden Versuche zu dessen Wiedererhebung wehren müssen.
Dadurch endlich, dass er fttr das Abendland die römische Kaiser-
würde mit der Bedeutuug eines zugleich den Schutz der Kirche in
sich schliessenden Amtes erneuert, ist eine höchste weltliche Macht
ganz neuer Art geschaffen. Es ist eine Macht, die sich dem Papst-
thum als der höchsten geistlichen Macht zu gemeinsamem Wirken
verbindet und so die doppelte Pflicht übernimmt, der geistlichen
Gewalt ein freies Walten in ihrem Bereiche zu sichern und die
weltliche Gewalt so zu gebrauchen, dass bei allen Entscheidungen
und Anordnungen die kirchlichen Bücksichten nicht verletzt wer-
den. Indem so zu einem Gesammtstaate der Christenheit, in wel-
chem alle christlichen Staaten Glieder bilden, die Grundzüge ge-
geben sind, ist zugleich eine grosse Aufgabe für die geistlichen
und weltlichen Regenten gestellt. Sie haben fortan das in diesen
Grundzügen Geforderte, das den natürlichen Verhältnissen der Völ-
ker und den persönlichen Vortheilen der Herrscher in vieler Be-
ziehung so sehr entgegen sein muss, mit der nämlichen Selbst-
überwindung zu verwirklichen, mit welcher der Einzelne sich aus
dem Menschen zum Christen zu machen bestrebt sein soll. Die Be-
mühungen, dieser Aufgabe zu entsprechen, so wie die Störungen,
welche durch Mangel an Erkenntniss derselben entstehen , bilden
für den Kreis, in welchem Karl der Grosse gewaltet, einen grossen
Theil der Geschichte von drei mit der erneuerten Kaiserwürde be-
ginnenden Jahrhunderten.«
In dem siebenten Abschnitt wird das deutsche und das römisch-
deutsche Reich bis zum Ende des eilften Jahrhunderts behandelt,
in den vier folgenden Frankreich, England und der Norden, die
Reiche der Moslemen und das christliche Spanien, das oströmische
Reich bis zu demselben Zeitraum ; dann beginnt im zwölften Ab-
schnitt das Zeitalter der Kreuzzüge und die Bildung des Abend-
landes in dieser Zeit; die Rückwirkung der Kreuzzüge auf das
Abendland, das Ritterthum wie das Mönchthum, die Ritterdichtung
wie die Wissenschaft, an beides sich anlehnend, werden geschildert,
und dann im Einzelnen das römisch-deutsche Reich. Frankreich
.Kiesel: Weltgeschichte 2. Bd.
England and Spanien während dieser Periode in den beiden folgen-
den Abschnitten behandelt. Nnr nngern versagen wir es nns, aus
der Darstellung Einzelnes zur Würdigung des Ganzen hier anzu-
führen. Die drei folgenden Abschnitte behandeln die Geschichte
der beiden nächsten Jahrhunderte nach dem Ende der Kreuzzüge.
zuerst die des römisch-deutschen Reiches, dann die Geschichte von
Frankreich und England, zuletzt von der pyrenäischen Halbinsel,
Soandinavien und Bussland.
Die zweite Abtheilung beginnt mit der Erzählung der grossen
Entdeckungen zu Ende des fünfzehnten und zu Anfang des sech-
zehnten Jahrhunderts, insbesondere in der amerikanischen Welt;
zunächst werden aber auch die Folgen dieser Entdeckungen und
der Ansiedlungen, die daraus hervorgingen, erörtert, so dass wir
daraus mit die Ereignisse, die sich in unsern Tagen dort zugetra-
gen, und als die Folge früherer Zustände zu betrachten sind, uns
zu erklären vermögen. »Die Ansiedelungen der Spanier, lesen wir
S. 638, beruhten nicht auf dem Ackerbau, durch welchen Ansied-
ler in der Fremde heimisch werden und sich in den Schranken ge-
sitteten Lebens zu bewegen lernen oder fortfahren, nicht auf dem
Handel, der zwar die Völker in Abhängigkeit von den Ankömm-
lingen bringen kann, aber die persönliche Freiheit bestehen lässt
und in steter Berührung die höhere Bildung den geistig minder
Ausgestatteten allmählig mittheilt. Ihr Zweck war die unbedingte
Herrschaft und die unmittelbare Hebung der Schätze des Landes
zum Nutzen des spanischen Staates und zum Nutzen der in die
neue Welt ausgewanderten Spanier. So ward der Einbeimische
auf seinem Boden zum Fremden gemacht und hatte daselbst nur
noch in sofern Bedeutung, als er dem Spanier zum Werkzeuge bei
der Gewinnung des Reichthums diente. Er sank daher zu einer
Dienstbarkeit herab, die ihn zu geistiger Erhebung unfähig machte.
Die Härte der Arbeit, die ihm in Bergwerken und Pflanzungen
auferlegt wurde, rieb ihn allmählig auf und setzte diejenigen, welche
durch Entbehrung und Misshandlung zur Empörung getrieben wur-
den, der grausamsten Bache aus. Die Religion aber, die sie zu
sich einlud, war ihnen die Religion ihrer bartherzigen und ver-
hassten Dränger, da sie nicht wussten, dass diese im Widerspruche
mit ihrer Religion also handelten. Dazu kam, dass in Spanien
selbst die Regierung in Betreff der Grundsätze, nach welchen die
Verhältnisse der neuen Länder geordnet werden sollten, im Schwan-
ken war.« Und was die Rückwirkung dieser Entdeckungen und
Eroberungen in der neuen Welt betrifft, so heisst es unter Andern
S. 634: »Den Wissenschaften, welche zu jenen Erfolgen geführt
hatten und zu deren vollständigerer Benutzung thätig sein mussten,
ward eine allgemeinere Pflege. Noch nie hatte die Wissenschaft
die Fähigkeit, auf das Leben einzuwirken, so glänzend bethätigt.
Was in stiller Znrückgezogenheit erdacht worden, war herausge-
treten, der Mensohheit neue Schätze zu erschliessen. Ob schon die
Kiesel: Weltgeschichte. 2. Bd.
7ß7
wissenschaftlichen Mitte), womit dies erreicht worden, schon die
vorige Zeit bereitet hatte, glaubte man sich jetzt plötzlich weit
Aber die Kenntnisse der bisherigen Zeit hinausgelangt. Bei dem
Werthe, den die Menschen auf Vermehrung dessen, was zur Er-
leichterung und Verschönerung des Labens dient, zu legen pflegen,
richtete sich alle Tbeilnahme dahin , wo jener grosse Fortschritt
erzielt worden war. Die Wissenschaft der Natur fing daher an,
sich auszubilden. Wie das Dunkel, das über einem Theile des
Erdballs gelegen hatte, verscheucht war, begründete Copernicus aus
der prenssiscben Stadt Tborn mittelst eines Workes, das im Jahre
seines Todes 1543 bekannt wurde, die richtige Ansicht von dem
Verhalten der Erde zur Sonne. Alle diese Fortschritte, verbunden
mit der ebenfalls erst jüngst begründeten Wissenschaft des Alter-
thums und der damit zusammenhängenden Pflege der redenden
Künste, sowie mit den zur höchsten Blüthe gelangten Künsten des
Pinsels und des Meisseis, bildeten einen Schmuck, der für den Ab-
gang der scholastischen Wissenschaft zu entschädigen schien. Zwar
blieb hinsichtlich der auf der Erde und am Himmel gemachten
Entdeckungen die grosse Mehrheit der Menschen auf die äussere
Kunde von dem letzten Ergebniss beschrankt, aber die daraus
fliessenden Veränderungen der Lebensverhältnisse Hessen Jeden
empfinden, dass jene Entdeckungen auch für ihn gemacht seien.«
In welcher Weise aber auch die Stellung der einzelnen Staaten zu
einander davon berührt wurde, wie Handelsthätigkeit und Gewerbs-
thätigkeit hervortraten, und die Kraft des Staates auch durch das
Zurücktreten des Adels eine andere Grundlage erhielt, diess und
Anderes mag man lieber in der wohlgelungenen Darstellung selbst
nachlesen.
Die geschichtliche Darstellung selbst beginnt mit den Kriegen
in Italien und der Lage des deutschen Reichs am Ende des fünf-
zehnten und zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts , worauf in
den beiden folgenden Abschnitten (XX und XXI) Kaiser Karl V.
und die Kirchentrennung in Deutschland , dann in England , im
Norden nnd in Polen folgt. Abschnitt XXII hat Spanien, Deutsch-
land und Italien zur Zeit Philipp's II. zum Gegenstande, Abschnitt
XXIII Frankreich in seinen durch die Kirchentrennung veranlass-
ten inneren Kämpfen, Abschnitt XXIV den Sieg des Protestantis-
mus in England und Schweden. Eine möglichst unbefangene Dar-
stellung des d reissigjähr igen Krieges gibt der folgende Abschnitt,
an dessen Schluss auch die Kämpfe Spaniens mit Frankreich und
den Niederlanden , so wie der schwedisch-polnische Krieg darge-
stellt sind. Auch werden die innern Angelegenheiten Frankreichs
und die Verwaltung von Richelieu und Mazarin besprochen; Ab-
schnitt XXVI behandelt die Staatsumwälzung in England , Ab-
schnitt XXVII setzt die Darstellung der französischen Verhältnisse
unter Ludwig XIV. und was daran sich weiter knüpft, fort, und
befasst die Kriege in der Pfalz, wie in der Türkei, den spanischen
758
Kiesel: Weltgeschichte. 2. Bd.
Erbfolgekrieg, den nordischen Krieg, mit besonderen Bezng anf
Karl XII. Der Verf. bat diesem wichtigen Abschnitt die Anfschrift
gegeben: »Die Zeit des französischen Uebergewicbtes nnd der von
den Vorurtheiien des Handels bestimmten Staatskunst < auch in
einem einleitenden Paragraphen die ganze Richtung des französi-
schen Staatslebens, die bestimmend für ganz Europa wurde, sehr
gut auseinandergesetzt. Er zeigt, wie mit der Selbstregierung
Ludwig's XIV. für Frankreich die Zeit völliger Allgewalt des Königs
beginnt, dem alle Kräfte des Staats unbedingt zur Verfügung stehen,
und dem gegenüber jede Vertretung von Ansprüchen des Staates
(wir denken dabei an die Worte Tötat c'est moi) aufhört, und wie
für Europa eine Zeit französischen Uebergewichts beginnt, das sich
in allen Verhältnissen mehr oder minder kund gibt, indem bald
Alles, was von Frankreich ausging, eine europäische Bedeutung ge-
wann , sowohl in politischen Dingen , wie auf dem Gebiete des
Geistes, in der Wissenschaft, und im Gebiete der Sitte. »Das
Beispiel des französichen Hofes erschien kleineren Fürsten auch
nachahmungswerth wegen der Höhe, in welche dort die Person des
Herrschers gestellt war. In Deutschland und Italien fehlte es
nicht an Fürsten, welche in ihrem Bestreben nach Steigerung
fürstlicher Gewalt und fürstlichen Ansehens eben so sehr von
Frankreich her Förderung und Schutz erwarteten, wie die Be-
wunderung französischen Glanzes und die Neigung für französi-
schen Genuss die Unterwürfigkeit gegen den zu Paris in der Fülle
von Glanz und Genuss thronenden Herrscher vorbereitete.« Dabei
verhehlt der Verf. nicht die gefahrlichen Folgen dieser von Frank-
reich auf die Geister ausgehenden Richtungen. »In dem Masse,
heisst es, wie das Jagen nach Gennss allgemeiner wurde, musste
der christliche Glaube bei Vielen nicht allein an Macht zur Ge-
staltung des Lebens einbüssen, sondernihnen in dem Maasse fremd
werden, dass sie eine feindliche Stellung gegen denselben und gegen
die ihn bewahrende Kirche erhielten. Die Leiter der Staaten aber
wurden einer auf Pflege der höchsten menschlichen Zwecke gerich-
teten Tbatigkeit entfremdet. Sie wandten sich ausschliesslich dem
äusserlichen Zwecke einer Vermehrung des Besitzes nnd der Herr-
schaft zu. Es entstand ein allgemeines Ringen nach Erweiterung,
Behauptung und Erwerbung äusserer Herrlichkeit. Die Gewinnung
der dazu erforderlichen Kräfte wurde ein Hauptgegenstand der
Fürsorge der Regierenden. Da die Leistungsfähigkeit der Unter-
thanen durch Handelsthätigkeit am meisten gesteigert werden konnte,
wurden die Verhältnisse des Handels für die Richtung des staat-
lichen Lebens eben so bestimmend, wie es in der vorhergegangenen
Zeit die religiösen Angelegenheiten gewesen waren. Dadurch wur-
den die Länder fremder Erdtheile, die von Ansiedlungen europäi-
scher Völker besetzt waren , mehr und mehr in die Streitigkeiten
derselben hereingezogen. Die Kriege, die in Europa entbrannten,
verbreiteten sich bei der Ausbildung, welche einzelne derselben
Kiesel: Weltgeschichte. 2. Bd.
750
ihrem Seewesen gegeben hatten oder zu geben bemüht waren, auch
über die Meere bis zu jenseitigen Küsten.« Wie bei diesem Eifer
für blos äusserliche Zwecke die Kirche ihren Einfluss auf das staat-
liche Leben verlor, wie die Staatsweisheit, so Viel Neues sie auch
ersann, darüber vergass, dass die staatliche Ordnung Europa1 s sich
auf kirchlichem Grunde aufgebaut, und dass nur auf diesem Grunde
ihr Bestehen gesichert war , und wie sich so eine Umwälzung der
staatlichen Verhältnisse, die in der französischen Revolution später
ihren vollen Ausdruck fand, vorbereitete, wird gezeigt. »Das Be-
streben , die Kirche in ihrem lange an den Völkern geübten Er-
zieheramte zu beschränken, und dem Geiste persönlichen Beliebens
und Dafürhaltens eine früher nicht gekannte Berechtigung zu ge-
währen, fand in dem Frankreich Ludwig's XIV. eine Fortsetzung,
welche zur tiefsten Erschütterung aller menschlichen Zustände
führte.« Mit diesen allzu wahren und nicht genug zu beherzigenden
Worten verbinde man noch das, was weiter unten §• 32 über »die
Staatskunst der Herrschsucht und der Habsucht« bemerkt wird.
Passend reiht sich daran der Abschnitt XXVIII: Die Zeit der
falschen Aufklärung und der gewaltthätigen Staatskunst. Er be-
greift die Zustände Frankreichs vor dem Ausbruche der Revolution,
insbesondere das Verderbniss des französischen Hofes und die von
da ausgebende Entsittlichung, er führt uns die schlesischen Kriege
Friedrich's II. und den siebenjährigen Krieg, die Theilung Polen's,
die Neuerungen des Kaiser's Joseph II. , den amerikanischen Frei-
heitskrieg und was sonst noch von Belang in diese Zeitperiode
fällt, vor, und weist aus der Darstellung selber nach, wie es zu
einer Revolution kommen musste, deren Ausbruch wio deren Sieg
bis zu dem zweiten Sturze Napoleon's Gegenstand des folgenden
Abschnittes XXIX wird , während der letzte Abschnitt XXX dann
die darauf folgende Zeit bis auf unsere Tage in einer eben so ruhi-
gen als unparteiischen, von aller Parteifärbung freien und das That-
8ächliche gut gruppirenden Darstellung vorführt. Wenn die im An-
fang des erwähnten Abschnittes XXVHI gegebenen Erörterungen
über die in jener Zeit auftanchonden Gleichgewichtsbestrebungen,
über mechanische Staatsverwaltung und falsche Aufklärung, so wie
über die daraus hervorgegangene revolutionäre Staatslehre den Leser
passend einführen in die geschichtliche Erzählung, um den Gang
der Ereignisse und die Folgen derselben richtig zu erkennen und
zu würdigen, so kann damit wohl noch verbunden werden, was am
Anfang des folgenden Abschnittes über das Wesen der Revolution
selbst bemerkt wird , und was man darunter eigentlich zu ver-
stehen hat. Wir würden gern den betroffenden Paragraphen hier
wörtlich mittheilen , wenn wir nicht befürchten müssten , die uns
gesteckten Gränzen zu überschreiten , zumal wir schon mehrere
Proben der Auffassung und Darstellung des Verfassers den Lesern
mitgetheilt haben, und desshalb auf weitere, umfangreichere Mit-
theilungen verzichten müssen. Wohl aber mag das Gesagte hin-
760 Kiepert; Atlas witiquas.
reichen, um einen richtigen Begriff von einem Werke zn geben,
das dem Zwecke der Selbstbelehrung, wie des höheren Schulunter-
richts so wohl entspricht, und frei von aller ParteifUrbung, welche
den Götzen des Tages fröhnt, die geschichtlichen Thatsachen in
einer den Quellen entsprechenden , wohlgeordneten Weise darlegt,
und von einem höhern Standpunkt aus betrachten und würdigen
lenrt.
Noch ist der Zugabe eines doppelten ausführlichen Registers
zu gedenken, das in doppelten Columnen nnd in kleinerer Schrift
von 3.1216 bis znm Scbluss des Bandes S. 1402 reicht; das erste
Register befasst die geographischen Namen mit Einschluss aller
Völkernamen, das zweite, ein sachliches, die Namen von Zustän-
den, Tbätigkeiten, Werken, Begebenheiten, Einrichtungen, Genossen-
schaften, Parteien und Aemtern.
Alias antiquus. Zehn Karten der alten Geschichte, entworfen
und bearbeitet von Heinrich Kiepert. Inhalt: l) Orbis
Urrarum antiquus notus. 2) Imperia Persarum et Macedonum.
3) Ana citerior. 4) Graecia cum insulis et orte maris Aepaei.
5) Graecia ampliore modulo descripla. 6) Jtalia. 7) Italien
pars media cum delineatione urbis Jiomae. 8) Hispania, Mau-
retania et Africa. 9) Gtülia, Britannia, Germania, iß) Im-
perium Romanum. Vierte vollständig umgearbeitete Auflage.
Preis geheftet I Thlr. 15 8gr. Gebunden 2 Thlr.; jede Karte
einzeln ä 6 8gr. Berlin, Verlag von Dietrich Heimer. 16Ü7. Fei.
Dieser bereits in drei Auflagen verbreitete Atlas der alten
Welt wird in dieser neuen vierten Auflage noch mehr zu empfeh-
len sein, indem sie wirklich eine » vollständig umgearbeitete ct wie sie
der Titel bezeichnet, zu nennen ist und sich vortheilhaft von den
früheren Auflagen unterscheidet. Schon der Name des Verfassers
kann eine Bürgschaft geben für die Sorgfalt und Genauigkeit, mit
welcher alle die auf dem Gebiete der alten Geographie in neuester
Zeit angestellten Forschungen und deren Ergebnisse benutzt wor-
den sind; man wird sich auch bei einem näheren Einblick in die
so schön und nett ausgeführten einzelnen Karten bald davon über-
zeugen: das Ganze enthält zehn Karten, die auch kurz auf dem
Titel angegeben sind ; die erste enthält die gesammte den Alten
bekannte Welt im zweiten christlichen Jahrhundert, wobei durch
drei verschiedene Farben die Völker Indogermanischen Stammes,
die Semitischen und die übrigen, keinem der beiden genannten zu-
zuzählenden Völker unterschieden werden und anch die Gränzen
des römischen, des parthisch-arsacidischen , des scythischen (in
Baktrien und Indien) und des ainesischeu Reiches angegeben sind.
Eine besondere Zeichnung in der einen leeren Ecke dieser Tafel
Kiepert: Athw antlquuB.
7G1
stellt den Erdkreis noch Ptolomäus dar. Die zweite Karte bringt
die Reiche der Perser und der Macedonier : die einzelnen Satrapien
der alt-persischen Monarchie sind genau abgegrenzt und die Grän-
zen der Monarchie Alexanders des Grossen durch eine besondere
Farbe kenntlich gemacht. Dio Züge Alexanders und seiner Feld-
herrn sind genau verzeichnet und lassen sich bequem verfolgen;
auch die grosse Strasse, die von Sardes nach Susa führte, wie wir
sie aus Herodot kennen, ist angegeben; durch grössere oder klei-
nere Schrift sind die verschiedenen Städtenamen unterschieden,
und die griechischen Colonien durch einen farbigen Strich unter
dem Worte hervorgehoben. Das dritte Blatt: Asia citerior, ent-
halt Kleinasien mit den ostwärts daran stossenden Ländern mit
Einschluss von Armenien und den Tigrisländern , also von Ninus
wie von Babylon ; Phönicien und Palastina ist ebenfalls aufgenom-
men. Dann folgt auf dem vierten Blatt Griechenland mit den In-
seln und den Gestaden des ägäischen Meeres, also den griechischen
Küstenstrichen Kleinasiens mit den anstossenden Ländern, Phrygien,
Mysien, Lydien und Carion nebst einem Theile von Lycien ; durch
verschiedene Farben sind die dorischen, jonischen und aeolischen
Staaten unterschieden, im Norden des Festlandes sind die Gränzen
des Macedonischen Reiches vor den Perserkriegen und vor Philipp II.
ebenso durch verschiedene Farben bezeichnet; in einer Seitentafel
ist der Hellespont und die Landschaft Troas eben so nett eingezeich-
net: wir ersehen daraus mit Befriedigung, dass unser Verfasser in
Bezug auf die Lage des alten Troja dem , wie wir es ansehn , in
neuester Zeit durch wiederholte Untersuchung der Oertlichkeit ge-
wonnenen sicheren Resultat beipflichtet, wornach das alte Troja
nicht bei Neu Ilium, sondern mehr landeinwärts bei Bunar-Baschi
zu suchen ist. Das folgende Blatt bringt in grösserem Umfang das
eigentliche Griechenland mit den unmittelbar an der Küste des-
selben liegenden Inseln , und nach Norden zu abschliessend mit
Epirus und dem südlichen Theile Macedoniens, namentlich Cbaldi-
dice; auch hier sind die einzelnen Staaten und Länder jonischer,
dorischer, Holischer Abstammung durch verschiedene Farben unter-
schieden ; ein Plan von Athen ist in der einen Ecke beigefügt, in
der andern ein Plan von den nächsten Umgebungen Athens. Das
sechste Blatt bringt Italien und die gegenüberliegende liburnisch-
dalmatische Küste, das siebente stellt in vorzüglicher Ausführung
den mittleren Theil der italischen Halbinsel, den eigentlichen Sitz
der römischen Herrschaft, dar, und wird gewiss Niemand die Nütz-
lichkeit, ja Nothwendigkeit eines besonderen Blattes für diesen
Theil Italiens verkenuen, zumal auf besondern, in den Ecken ein-
gefügten Tafeln ein genauer Plan von Rom , ein anderer von sei-
nen nächsten Umgebungen, und noch ein kleinerer Plan von Neapel
und seinen Umgebungen beigefügt ist. Denn es soll dieser Atlas
eben so sehr dem Schnlgebrauch wie dem Privatstudium dienen,
und kommen gerade diese Tbeile Italiens bei der Leetüre der alten
768
Ltppische Regenten. Bd. IV.
Schriftsteller wie bei dem Studium der römischen Geschichte ins-
besondere in Betracht. Das achte Blatt stellt Spanien nebst dem
südlichen Theil Galliens, und die nordafrikanische KOste dar;
HannibaPs Zug bis nach Italien ist genau darauf verzeichnet. Das
neunte Blatt enthüll das alte Gallien, das gegenüber liegende Bri-
tannien, soweit es den Römern bekannt war, dann das an Gallien
östlich an8tosscnde Germanien sammt den untern Donauländern,
also mit Einschluss von Dacien und Mösien. Das letzte, zehnte
Blatt schliesst mit einer Uebersicht des römischen Kaiserreichs,
soweit dasselbe in den ersten christlichen Jahrhunderten reichte,
das Ganze passend ab. Die artistische Ausführung ist eine vor-
zügliche zu nennen , dabei der Preis so billig gestellt , dass die
Anschaffung nicht wenig erleichtert wird.
Lippisch e Reqesten. Aus gedruckten und ungedruckten Quellen
bearbeitet von O. Preuss und A. F al k m an n. Vierter
Band. Vom Jahr 1476 bis eum Jahr 1536 nebst Nachtragen
su den drei ersten Bänden. Mit 14 Sieqelabbüdunqen (Taf. 65
bis 72). Detmold. Meyer'schc Hofbuchhandlung 1868. V1J1 u.
527 S. in gr. 8.
Mit diesem vierten Bande hat das ganze Werk seinen Ab-
8chluss erreicht. Ursprünglich auf drei Bande berechnet, zeigte
sich bald für die spätere Zeit eine solche Masse des Stoffs, dass es
unmöglich erschien, Alles in dem dritten Bande zusammenzufassen,
und somit ein weiterer vierter Band nothwendig ward, wie er hier
nun vorliegt und schon durch seinen Umfang die grössere, aber
nöthig gewordene Ausdehnung des Werkes in vier Bände recht-
fertigen kann. Unmittelbar an den dritten Band, der mit dem
Jahre 1475 abschliesst, sich anreihend, führt dieser vierte Band
das Verzeichni88 der Repesteu fort bis zu dem 17. September des
Jahres 1536, dem Todestage Simon's V., weil seine Regierungs-
zeit den Uebergang vom Mittelalter zur Neuzeit bildet, eine neue
Entwicklung in kirchlichen wie staatlichen Verhältnissen beginnt,
und das Zeitalter der Urkunden in die der Akten üborgeht. Mit
dem Tod dieses Fürsten, auf den eine vormundschaftliche Regie-
rung folgte, tritt, auch durch Einführung und Durchführung der
Reformation, der er abhold war, eine neue Zeit ein, namentlich in
allen inneren Verhältnissen, so dass der mit ihm gemachte Ab-
schluss der Regesten vollkommen gerechtfertigt erscheint. Seio
älterer Sohn und Regierungsnachfolger Bernhard VIII. (f 1563)
ward durch seinen 1554 gebornen Sohn, Simon VI., der Stamm-
vater aller noch blühonder Linien des Lippischen Hauses.
Es beginnt also der vorliegende Regestenband mit einer Ur-
kunde aus dem Januar des Jahres 1476 und läuft dann fort bis
Lippischc Regesten. Bd. IV.
763
zu dem bemerkton Zeitraum , vorausgeschickt ist noch von Nr.
2497—2582 incl. eine Anzahl Regesten der früheren Jahre, von
1204 — 1474, welche zu den vorhergehenden Bänden gehören und
hier nachträglich noch eine Stelle erhalten haben, eben so wie am
Schlüsse dieses Bandes von S. 433 an, unter Nr. 3258 — 8294 eine
Anzahl Regesten von 1140 — 1515 als Nachträge zu diesem und
den früheren Bänden gebracht werden.
Ueber die Einrichtung des Ganzen und die Bearbeitung dieser
Regesten ist schon bei der Besprechung der früheren Bände , zu-
letzt noch 1866 S. 767 ff., in diesen Blättern das Nöthige bemerkt
worden : die Behandlung in diesem vierten Bande schliesst sich
ganz an die der früheren Bände an und verdient gleichmässig die
Anerkennung der grossesten Sorgfalt und Genauigkeit in allen ur-
kundlichen Mittheilungen, wie in den daran geknüpften, in kleine-
rer Schrift jeder Urkunde beigefügten Erörterungen. Dadurch hat
allerdings das Ganze eine Wichtigkeit und Bedeutung erhalten,
welche über den Kreis des kleinen Landes und dessen Dynastie,
wofür die ganze Bekanntmachung zunächst berechnet ist, hinaus-
reicht ; denn es enthalten diese Urkunden in ihrem Inhalt so viele
Beziehungen zu den anstoßenden, wie überhanpt zu den in der
Nähe liegenden Territorien von Westphalen und Niedersachsen, dass
sie auf diese selbst vielfach ein Licht werfen , das uns dann wei-
tere Blicke in die grössere deutsche Geschichte, in die Culturge-
schiehto zumal, eröffnet; die verschiedenen Rechtsverhältnisse frü-
herer Zeiten, die kirchlichen, städtischen und bäuerlichen Zustände,
Handel und Ackerbau, kurz die Verhältnisse des gesammten Ver-
kehrs in Verbindung mit dem Lehnwesen u. A. der Art treten in
einer Weise hervor, welche auch für die Zustände anderer deutschen
Länder und deren Erkenntniss von gleichem Belang ist. In den
Regesten gegen den Schluss dieses vierten Bandes treten auch
schon die Anfange der Reformation hervor und die dadurch her-
beigeführten Streitigkeiten, die, wie bemerkt, erst nach dem Tode
Simon's V. mit der Durchführung der Reformation ihr Ende er-
reichten. Wir unterlassen es, einzelne Beispiele als Belege des Ge-
sagten anzuführen, da Jeder, der in diese Regesten einen Blick
werfen will, sich bald davon überzeugen wird. Uebrigens ist die
grössere Mehrzahl der Regesten deutschen Urkunden entnommen,
die in ihrer Mehrheit im fürstlichen Haus- und Landesarchiv zu
Detmold sich befinden — An den nöthigen Registern, die aller-
dings bei einem derartigen Werke als eine nothwendige Zugabe
erscheinen, hat es die Sorgfalt der Heransgeber nicht fehlen lassen.
Zuerst kommen einige Ergänzungen und Berichtigungen zu dem
Register über die beiden ersten Bände S. 455—458; dann folgt
von 8. 459 — 523 auf doppelton Colnmnen jeder Seite ein sehr ge-
naues Namen- und Sachregister zu dem dritten und vierten
Bande. Schon der grosse Umfang dieses Registers mag für die
Vollständigkeit und Genauigkeit desselben ein Zeugniss ablegen.
764 v. Falk enst ein: Die Veteranen d. deutschen Befreiungskampf eB.
Endlich sind noch acht Blätter beigefügt mit netten Abbildungen
von Siegeln, die sich den in den früheren Bänden beigefügten mit
Nr. 94 — 107 anreihen, es sind einige Klostersiegel, so wie das
Siegel der Stadt Salzuflen, dann verschiedene Siegel Bernhardts VII.
und Simon's V., von letzterem fünf verschiedene, unter denen ins-
besondere das vom Jahre 1530 zu beachten sein wird.
Ein Lorberhain auf den Gräbern der Veteranen des deutschen Be-
freiungskrieges. Von einem Veteranen und Mitkämpfer Louis
Baron von F alk enstein , Oberstlieut. der Cavall. s. D.
( Freimund Ohnesorgen). Ente Reihe. Erster Band 228 S.
Zweiter Band 221 S. 8. Potsdam. Verlag von Eduard Döring.
Wer, wie Ref. sich noch die Erinnerung an die Befreiungs-
kämpfe aus seiner Jugendzeit bewahrt hat, und an die Begeiste-
rung denkt, welche damals Alles ergriffen hatte, aber auch an
den Druck, an die Noth und das Elend, dnreh welches die Be-
geisterung mit hervorgerufen war, der wird sich, wenn er diese
Blätter durchgeht, im Geiste wieder in jene Zeit versetzt fühlen,
welche der Verf., selbst ein alter Veteran aus jener Zeit, in Schil-
derung ihrer hervorragendsten Träger, zum Tbeil nach eigenen
Wahrnehmungen und Erlebnissen darstellt, er wird die kernige,
kräftige, man möchte fast sagen derbe Sprache, die der Verfasser
führt, verstehen und auch darin den Ausdruck jener Zeit wieder
erkennen, an welche unsere jüngere Generation nicht oft genug
erinnert worden kann.
»Vor einem halben Jahrhuudert, so beginnt der Verf. sein Vor-
wort, war der Geist des Krieges wie der Krieger ein anderer als
heute, wo der Fortschritt des speculativon Zeitgeistes Alles aus
den Fugen des politischen und Conventionellen Lebens getrieben«,
wo die gewaltigen Erfindungen der Neuzeit, sowohl in der Ver-
vollkommnung der Zerstörungswerkzeuge, der Waffen, als in der
Schnelligkeit der Communicationsrnittel in Eisenbahnen, Dampf-
schiffen u. dgl. in allen Verhältnissen einen solchen Umschwung
haben, »dass das jetzt nachgewachsene, verfeinerte Menschenge-
schlecht, welches die alte Zeit in deren einfacher Derbheit nicht
mehr versteht, seine eigenen Voreltern in der offenen Ehrlichkeit
und biederen Geradheit nicht mehr begreift und vom gehobenen
Standpunkt aus das Denken und Handeln der Alten nicht in deren
Sinn aufzufassen und richtig zu würdigen vermag, ja zu deren
deutschem Wort und deutscher That auch wohl die Nase rümpft
und die Achseln zuckt.«
»Die alten Helden jener grossen Zeit des deutschen Befreiungs-
krieges — sie sind uicht mehr. — Es war ein anderes Geschlecht,
es waren eiserne Naturen an Körper und Geist, die nur in ihre
v. Falkensteln: Die Veteranen d. deutschen Befreiungskampfes. 765
Zeit, in die einfacheren, beschränkteren Verhältnisse passten, wo
es in den Freilagern nnd auf den Schlachtfeldern noch keine Män-
tel mit Kapuzen, keine Kaffeetöpfchen , kein Hoifsches Magenbier,
keinen Daubitz-Liqueur , keine Gratis-Gigarren und keine herbei-
fliegenden Transporte von Speck und Wurst, Zwieback und Kuchen
gab — wo keine Krankenträger-Compagnien die gefallenen Tapfe-
ren aus ihrem Blute aufhoben, wo in keinen Jobanniter-Lazarethen
liebreiche barmherzige Sohwestern die Verwundeten pflegten und
die alten Feldscheerer noch nicht zu Doctoreu vermenschlicht, aber
freilich auch noch keine Cholera und keine Trichinoso von der me-
dicinischen Fakultät erfunden war« (S. 6). — »Die damals leuch-
tenden Sterne des kriegerischen Horizonts waren von altem Schrot
und Korn, fest, wie deutsche Eichen, von rauber Borke, aber von
gesundem Kern. Es waren oft eigenthümliche Charaktere — aber
Preussen von der narbigen Stirne bis zur Bandsohle des Reiter-
stiefels. Der Marschall Vorwärts war der eigentliche Typus
der alten Ehren- und Haudegen, von der ganzen Schaar der Unter-
genorale bis zu den jüngsten Subalternen hinab« (S. 9). Darum
ist auch der Fürst Blücher an die Spitze der hervorragenden Per-
sönlichkeiten jener Zeit gestellt, welche in diesem Lorberhain, und
zwar als erste Reihe geschildert werden sollen ; die persönliche
Stellung des damals noch jungen, aber doch scharf beobachtenden
Verfassers, in der or mit diesen Persönlichkeiten in nähere Ver-
bindung kam, liess ihn Manches aus unmittelbarer Nähe wahrneh-
men und setzte ihn in den Stand, »die verschiedenen, oft sich
widersprechenden Urtheile über Personen und deren Denk- und
Handlungsweise durch eigene Anschauungen und Wahrnehmungen,
manches verfärbte Bild in anderem Lichte erblicken und für sich
berichtigen zu können« (S. 9). Auch von dieser Seite aus gewinnen
diese Schilderungen eine Bedeutung, welche zu mancher Berichti-
gung in der Auffassung dieser Persönlichkeiten zu führen vermag;
immer aber wird der Leser dem Verf. gern folgen, wenn er mit
jugendlicher Frische nnd mit dem Feuer jugendlicher Begeisterung
uns die Helden jener Zeit nach ihren Thaten und in einzelnen
Zügen schildert.
Den Anfang dieser Lebensbilder macht, wie bemerkt, der Fürst
Blücher von Wahlstatt, auf welchen Graf York von Wartenburg
folgt : beide füllen den ersten Band , und ist es dem Verf. insbe-
sondere gelungen, aus einer Reihe von einzelnen frappanten Zügen
Wesen und Charakter dieser Männer erkennen zu lassen, welchen
Deutschland hauptsächlich seine Befreiung von der Fremdherrschaft
verdankt, und die blutigen Siege, durch welche diess bewirkt ward.
Beide treten als ächte Soldatennaturen vor uns, in alter Derbheit
und selbst Schroffheit, aber darum nicht leer der edleren Gefühle,
wie diess aus mancher pikanten Erzählung, die uns hier, vielfach als
Selbsterlebtes mitgetheilt wird, erhellt. Und darum wird selbst der
Mann des Fachs gehörige Rücksicht auf diese Lebensbilder zu neb-
766 Die leteten Räuberbanden in Oberachwaben.
men haben, die zunächst bestimmt sind, das Andenken an diese
starken Helden zu erhalten uud zu bewahren. Im zweiten Band
erscheint zuerst Graf ßülow von Deunewitz, wohl würdig den bei-
den genannten als einer der Retter der preussischen Monarchie an
die Seite gestellt zu werden, und daher in grösserer Ausführlich-
keit geschildert, von seiner Jugend an bis zu seinem, bald nach
dem Ende der Befreiungskriege erfolgten Tod im Februar dea
Jahres 1816. An ihn reihen sich einige kürzer gefasste Lebens-
bilder, die aber auch des Piquanten und Interessanten genug
bieten und den Leser auf gleiche Weise zu fesseln vermögen, zuerst
der General von Horn und der General von Hünerbein, der Major
von Platen, Major von Zastrow, zuletzt noch General von
Dobschütz, Graf Henckel, von Losthin, von Oppen, Oberst von
Sohr, Major Holtsche. Wir versagen es uns ungern, weiter in das
Einzelne einzugehen und aus der Darstellung einzelne, frappante,
charakteristische Züge dieser Soldaten von altem Schrot und Korn
hier anzuführen. Die oben mitgetheiltcn Proben mögen von der
ganzen Art und Weise der Darstellung wie der Auffassung einen
Begriff geben. Wer übrigens einmal die Leetüre angefangen, wird
sie auch nicht aussetzen bis er zum Ende gelangt ist. %
In einem weiteren Theile sollen auch merkwürdige Männer aus
der Zahl der Verbündeten, die mit diesen preussischen Helden in
engere Berührung traten, eigenthümlicbe Charaktere, die auf den
Sohlachtfeldern des deutschen Befreiungskampfes mit einwirkten,
in ähnlicher, wenn auch nicht so umfassender Weise geschildert
werden. — Die äussere Ausstattung in Druck und Papier ist sehr
befriedigend.
Die letzten Räuberbanden in Oberachwaben in den Jahren 1818 — 1819.
Ein Beitrag zur Sittengeschichte. Nach den Akten und nach
mündlicher U eberlief erung dargestellt von Dr. M. P. Mit 6
Holzschnitten nach Originalzeichnungen Joh. Baptist Pfiu<f$.
Stuttgart, Verlag von Albert Koch 1866. XVI u. 256 8. in 8.
Diese Schrift, welche eine geschichtliche Darstellung der letzten
Gauner- und Räuberbanden Scbwaben's aus den Jahren 1818 und
1819 liefert, zeigt in ihrem Inhalt manche Aehnlichkeit mit der
Darstellung, welche über die Gauner und Räuber des Odenwaldes
und Spessarts in kurz vorhergehender Zeit von Pfister geliefert
worden ist. Wenn das Treiben der Letzteren einen blutigen
Ausgang durch die zu Heidelberg 1812 erfolgte Hinrichtung
der Häupter dieser Bande machen, so trat ein solcher Ausgang
hier nicht ein, da die von dieser Bande begangenen Verbre-
chen, in Raub und Diebstahl bestehend, blos zu lebenslänglicher
oder vieljähriger Zuchthausstrafe, die mit körperlicher Züch-
tigung verbunden war, führten: aber das Interesse, das wir auch
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Die letzten Räuberbanden in Oberschwaben. 767
an dieser Erscheinung nehmen, ist kein geringeres, und das Ganze
erscheint als ein wahrer »Beitrag zur Sittengeschichte < jener Zeit,
zumal nach den jetzt bestehenden Verhältnissen und der wohl ge-
ordneten Polizei Verbrechen der Art, und Gauner und Räuber, wie
sie hier uns vorgeführt werden, kaum noch vorkommen, ohne dass
darum die Verbrechen selbst aus der menschlichen Gesellschaft
verschwunden wären, in der sie nur in anderer Weise und zum
Tbeil an andern Orten desto raffinirter hervortreten. Die ge-
schichtliche Erzählung, wie sie in dieser Schrift gegeben ist, be-
ruht theils auf den zu Ulm bei dem dortigen Gerichtshof noch
aufbewahrten Akten, theils auch den Mittheilungen und Aufzeich-
nungen eines Freundes, des Maler' s Pflug, welcher zu Biberach,
wo die Untersuchung geführt ward, in jeuer Zeit lebte, die Gauner
während ihrer langen Haft selbst besuchte und mit ihnen ver-
kehrte, ja selbst damals schon die Absicht hatte eine Schrift dar-
über herauszugeben , von der aber nur ein kleines Bruchstück
in einem Ulmer Tagebuch erschien; sie entbehrt nicht des viel-
fachen Interesses zur Würdigung der damaligen Oulturzustände, so
wie auch in psychologischer Hinsicht: sie verdient daher die Be-
achtung Aller derer, welche durch ihren Beruf mehr oder minder
hingewiesen sind zu einer Besserung unserer socialen Zustände und
zur Bewahrung der menschlichen Gesellschaft vor Verbrechen jeder
Art. Zwar haben sich die hier geschilderten Verbrecher geflissent-
lich auf eine niedere Sphäre des Verbrechens beschränkt und vor
schwereren Vergehungen, wie Mord u. dgl. gehütet, so dass das
Grässliche und Blutige, wie der Verf. selbst bemerkt, seiner Dar-
stellung abgeht ; aber es geht ihr darum doch nicht ein gewisses
Interesse ab , welches die bis in alle Einzelnheiten der verübten
Verbrechen eingehende Erzählung hervorruft. Nach dem Verfasser
selbst i S. X) beruht aber dieses Interesse auf der klaren und voll-
ständigen Einsicht, die man in das ganze Leben und Treiben der
Gauner, in ihre Wohn- und Zufluchtsorte, Nahrung und Unterhalt,
Umgang und Verkehr untereinander, wie mit Andern, kurz in ihre
ganze Lebensweise ebensosehr gewinnt, wie in ihr inneres Leben,
in ihre ganze Denk- und Gefühlsweise, in ihre Begierden und Lei-
denschaften. Diess Alles in ein klares Licht zu setzen, war ein
Hauptbestreben des Verfassers, das insbesondere in der Schilderung
der einzelnen Peinlichkeiten hervortritt. »Man wird, bemerkt
Derselbe S. XI, durch diesen biographischen Theii den alten Satz
bestätigt finden, dass der Mensch noch weit mehr ist, was Geburt,
Erziehung, Beispiel und äussere Umstände aus ibm machen, als
wozu er sich mit freier Selbstbestimmung ausbildet und wenn auf
der einen Seite die Rohheit und Brutalität jener Menschen, wie sie
besonders bei den zum Zweck der Gelderpressung verübten Miss-
handlungen hervortritt, sittlicher Ekel und Abscheu erregen, so
wird man doch auf der andern Seite immer wieder erwägen müs-
sen, was wohl aus diesem oder jenem geworden sein würde, wenn
766
Die letzten Räuberbanden in Oberschwaben.
seine Intelligenz und Tbatkraft zu rechter Zeit auf andere Bahnen
gebracht worden waren, so wie auch was aus so vielen der ehr-
lichen Leute geworden sein würde, wenn das Böse so frühe und
mit solcher Gewalt durch Erziehung und Beispiel, Noth und Ent-
blössung an sie herangetreten wäre. Wir werden sehen, wie ein-
zelne jener Menschen nach den Einflüssen, unter denen sie auf-
wuchsen , gar nichts anderes werden konnten als Verbrecher und
wie bei den meisten wenigstens sehr starke äussere Antriebe dazu
vorhanden waren. Mangel an Schulunterricht und geistiger Pflege,
besonders bei dem frühe geübten Gewerbe des Viehhütens, erzeugt
nothwondig eine sittliche Verwilderung, welche die Unterschiede
des Guten und Bösen verwischt, und das von den Eltern auf die
Kinder übergegangene Vaganteuleben ist nichts anderes als eine
Vorschule des Verbrechens, c Man mag aus diesen Worten des
Verfassers entnehmen, in welchem Sinn er die ganze Erscheinung
auffasst und dann auch im Einzelnen dargestellt hat. Nach einer
Einleitung, in welcher zuerst berichtet wird über die Verhaftung
einiger Glieder dieser Gauner, die zu weiteren Aufschlüssen über
die Existenz von Räuber und Diebesbanden führte, und so die erste
Veranlassung zum policeilichen Einschreiten überhaupt gab, wird
dann insbesondere die Frage untersucht , wie es möglich gewesen,
dass noch in dem Jahre 1819 solche Banden entstehen und ihr
Unwesen treiben konnton, und dann wird in dem ersten Kapitel
nus die erste Bande vorgeführt, die unter der Leitung des alten
Bregenzer Seppel , Joseph Lang stand ; die Mitglieder derselben
werden nach ihrer Persönlichkeit gezeichnet und ihr Umherschwei-
fen wie ibre Verbrechen geschildert; im zweiten Kapitel kommt
die zweite Bande an die Reihe, die unter der Leitung des schwar-
zen Veri, Xaver Hohenleiter stand, und auch hier werden die Glie-
der dieser Bande und ihre Verbrechen geschildert; im dritten
Kapitel wird die dritte Bande unter Leitung des Schleiferstoni,
Anton Rosenberger in ähnlicher Weise dargestellt , während das
vierte Kapitel diese Gauner in der Gefangenschaft betrachtet, ihre
verschiedenen Ausbrüche aus derselben und ihre Wiederverhaftung
erzählt, so wie den im GefUngniss erfolgten Tod einiger der Haupt-
Verbrecher, von welcher einer sogar in der Zeit seiner Gefangen-
schaft, noch ehe das Urtheil erfolgt war, durch einen Blitzstrahl
in seiner Gefängnisszelle erschlagen ward ; dann werden die Straf-
erkenntnisse, welche über die einzelnen Verbrecher und die mit
ihnen in Verbindung gestandenen Personen verhängt wurden, mit-
getheilt, und am Schlüsse noch über einige Bilder, welche der
obengenannte Maler von diesen Gaunern im Gefängniss genommen
hatte, berichtet. Nach diesen Bildern sind auch die der Schrift
eingefügten zierlichen Holzschnitte gemacht, welche die Hauptführer
dieser Banden darstellen.
Sr. 49. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Kaiser Maximilian'1 a Erhebung und Fall. Originalcorrespondensen
und Doeumente in geschichtlichem Zusammenhange dargestellt
von Emil Grafen Keratry. Leipzig, Verlag von Dunker
und Humblot. 1867. VI u. 328 S. in 8.
Diese Darstellung der Erhebung und des Untergangs des neu
errichteten Mexicanischen Kaiserthums ist eine deutsche Bearbei-
tung einer Reihe von Aufsätzen, welche zuerst in der Revue Con-
temporaine französisch erschienen sind, in der Absicht ein näheres
Licht über dieses Ereigniss zu verbreiten, insbesondere durch Mit-
theilung wichtiger darauf bezüglicher, officieller Aktenstücke, welche
noch nicht an das Tageslicht gedrungen waren, und dadurch zu
einer richtigen Auffassung und Beurtheilung des Ganzen zu führen,
wie sie das, was bisher in den Tagesblättern darüber veröffentlicht
worden, nicht zu geben vermag. Es war aber der Verfasser in der
Lage, nähere und sichere Aufschlüsse über Alles zu geben und
Aktenstücke, die ein ganz neues und von der gewöhnlichen Auf-
fassung vielfach abweichend Licht auf das Ganze werfen, und dies s
dann auch anders beurtheilen lassen, der Oeffentlichkeit zu übergeben,
da er als Ordonanzofficier dem Marschall Bazaine beigegeben war,
und so in den Besitz dieser Aktenstücke gelangte; in der deut-
schen vorliegenden Bearbeitung sind sogar noch mehrere hinzuge-
kommen, welche in der Revue Contemporaine aus Rücksicht auf
die französischen Pressverhältnisse nicht mitgetheilt werden konn-
ten. Es bestehen aber überhaupt diese mitgetheilten Aktenstücke
in Briefen, Depeschen, Anordnungen, Berichten u 8. w. aller der
bei diesem Drama näher betheiligten Personen, des Kaisers Maxi-
milian wie der Kaiserin Charlotte, der verschiedenen Minister von
Frankreich, der Gesandten uud Generale, sowie in don von der franzö-
sischen Regierung ertheilten Instructionen; sie sind in wörtlichem
Abdruck gegoben uud begleiten die Erzählung, welche mit der ersten
Abseudnng einer französischen Expedition nach Mexico in Folge
der mit England und Spanien am 30. Nov. 1861 abgeschlossenen
Uebereinkunft beginnt, und die daran sich reihenden Ereignisse,
die Rückkehr der Spanier und Engländer nach erreichtem Ziele
darstellt, dann zu der französischen Invasion übergeht, welche die
Erhebung Maximilians auf den neu gegründeten Thron zur Folge
hatte, und die weiteren Begebnisse berichtet bis zu dem Abzug des
französischen Heeres unter Bazaine, im März des Jahres 1867.
Damit endigt die Schrift, indem die Ereignisse, welche die drei
letzten Lebensmonate Maximilians ausfüllen, dem Bereich der mexi-
LX. Jahrg. 10. Heft 49
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770
Käratry: Kaiser Maximilian^ Erhebung und Fall.
canischen Geschichte angehören und von dem Verf. ausgeschlossen
blieben, der nur in einer Sohlussbetrachtuug das traurige Geschick,
das den edlen Fürsteu beU'wfTeu , näher von seinem Standpunkte
aus zu beurtheilen sucht. Sein Zweck ist vielmehr darauf zunächst
gerichtet, die französische Intervention in Mexico darzustellen, die
Motive, welche zu derselben die Veranlassung gaben, zu entwickeln,
und das Verhalten, das nachher eingeschlagen ward und die Gründe
desselben darzulegen. Und wer dem Verf. mit Aufmerksamkeit
folgt, die von ihm mitgetheilten Aktenstücke prüfend durchgeht,
der wird bald sich überzeugen von dem Verfehlten des ganzen
Unternehmens, das von Anfang an unhaltbar geworden war, und
nach Missgriffen jeder Art einen so traurigen Ausgang nahm;
um so mehr wird man den Fürstensobn beklagen , der das
Opfer grossartiger Ideen ward , die er ins Leben zu rufen ver-
meinte, ohne an ihre UnausfÜhrbarkeit zu denken und an die
Täuschung, die ihm von der Seite bereitet werden sollte , von der
er am wenigsten es erwarten konnte ; an der Reinheit seiner Ab-
sichten, die er mit dem Tod besiegelte, lässt auch diese Dar-
stellung nicht zweifeln, welche, indem sie zuuächst Frankreich im
Auge hat, gleich am Anfang die darauf bezügliche Frage (S. 2)
aufwirft, welche Absicht dem ganzen Unternehmen von Seiten
Frankreichs zu Grunde gelegen und was die eigentliche Veranlas-
sung zu dem Verlassen der Uobereinkunft von Soledad und zu der
Kriegserklärung wider den Präsidenten Juarez gewesen. In einem
hier mitgetheilten Schreiben des Kaisers von Frankreich aus Fon-
tainebleau den 3. Juli 1862, an den General Forey, als dieser den
Oberbefehl über das französische Armeekorps gegen Mexico erhielt,
heisst es: »wenn in Mexico eine feste Regierung unter dem Beistande
Frankreichs gebildet wird, haben wir der lateinischen Race jen-
seits des Oceans ihre Kraft und ihren Glanz wiedergegeben«; dazu
bemerkt der Verf. Folgendes: »Der Zweck der Expedition ist also
von nun an der Sieg der lateinischen Race auf dem amerikanischen
Boden, dem Umsichgreifen der Anglosachsen gegenüber. In diesem
Dokument enthüllt sich zum erstenmal deutlich der eigentliche
Gedanke und Wille des Kaisers.« Der Verf. zeigt dann weiter, wie
das Vorgeben, die verletzten Interessen Frankreichs zu schützen,
nur der Vorwand gewesen zur Unternehmung des Krieges, und wie
schon vorher der Plan mit dem Erzherzog Maximilian als künfti-
gem Herrscher des Landes angelegt und verabredet war. Wie dar-
aus eine Inconsequenz in Allem erwuchs, lauter halbe Massregeln
vom Beginn der Expedition bis an ihr Ende ergriffen wurden, und
Frankreich zuletzt durch die Drohungen der Vereinigten Staaten
sich einschüchtern Hess und den unglücklichen Kaiser von Mexico
preis gab, kurz das ganze Unternehmen scheitern musste, wird
darauf weiter ausgeführt. Dass der Verf. das ungünstige Urtheil,
das er über das ganze Unternehmen fällt, nicht auf die franzosische
Armee ausdehnt, war zu erwarten. Die frauzösche Armee, schreibt
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K*ratry: Kaiser Maximilian1» Erhebung und Fall.
771
er, Land- und Seetruppen, stand allein auf der Höhe ihrer Mission
und blieb ihrer Pflicht streng getreu , ohne nur einen Augenblick
von ihrer grossen Traditiou sich zu uatfeiuen. Jene Expedition,
die so viel Menschenleben kostete, wird ihren Ruhm nur mehren
und erhöhen. Die französische Tapferkeit hatte selten Gelegenheit
auf einem so grossen Felde der Thätigkeit sich zu zeigen n. 8. w.
Ja, wenn man das liest, was S. 318 ff. bei der Rückkehr des Mar«
schall Bazaine bemerkt wird, scheint der Verf. selbst diesen in
Schutz zu nehmen, als er, nachdem er den Fuss wieder auf hei*
mischen Boden gesetzt, mit Missachtung empfangen ward, während er
doch das Bewusstsein gehabt, seine Pflicht als französischer Soldat
erfüllt zu haben. Was die vielfach gegen denselben gemachten
Angriffe in der Presse betrifft, die schon vor seiner Rückkehr in
Frankreich eingeleitet, nur die Bestimmung haben konnten, die
öffentliche Meinung über denselben irre zu führen , so macht der
Verf. aufmerksam, wie man dabei zu rasch vergessen, dass ein
Marschall dem Gebote militärischer Verschwiegenheit zu gehorchen
verpflichtet ist und dass die Regierung die Bewahrerin der Ehre
ihrer Grosswürdonträger wie der eigenen, das Recht zu reden allein
besitzt. »Aber, setzt er dann hinzu, diess Recht enthält auch eine
unverjährbare Pflicht, welche keine Verschweigung duldet und
welche befiehlt, nach einer eindringenden Untersuchung entweder
den General zu degradiren, wenn er seinen wirklichen Auftrag un-
erfüllt gelassen oder gegen die Delicatesse und Ehre gesündigt hat,
oder aber, nachdem man Alles streng untersucht hat, öffentlich zn
verkündigen, dass er sich um sein Land wohl verdient gemacht
habe. Die Armee, Frankreich und Europa warten mit Ungeduld
auf diesen höchsten Spruch« (S. 319). Wir zweifeln, ob diese Er-
wartung je erfüllt wird, aber man wird in diesem Verlangen einen
schweren Vorwurf gegen die französische Regierung oder viel-
mehr gegen den Kaiser selbst ßnden, auf welchen überhaupt die
ganze Darstellung, wenn man ihr mit einiger Aufmerksamkeit folgt,
die ganze Schuld der eben so ungerecht als unklug unternommenen,
und dann gänzlich gescheiterten Expedition zn werfen sucht. Wir
können uns selbst kein Urtheil in dieser Sache erlauben, die kaum
noch in Allem völlig spruchreif erscheint, da sie noch zu nahe
liegt und weitere Aufschlüsse auch von andern Seiten her noch zu
erwarten sind. Aber diess thut der Schrift selbst keinen Abbruch,
die durch ihre durchaus ruhige und würdig gehaltene Darstellung
unwillkürlich unser Interesse in Auspruch nimmt, abgesehen selbst von
der Mittheilung so vieler wichtigen, bisher nicht bekannten Akten-
stücke der bei dieser Sache irgendwie betheiligten Personen. Das
Ganze, obwohl eine Uebersetzung aus dem Französischen, liest sich
sehr gut und lässt uns kaum daran denken, dass wir hier eine
Uebersetzung vor uns haben ; auch die äussere Ausstattung ist sehr
befriedigend.
772
Hankel: Theorie der complexen Zahlensysteme.
Theorie der complexen Zahlensysteme insbesondere der gemeinen ima-
qinären Zahlen und der Hamilton' sehen Quaterinonen netd
ihrer geometrischeti Darstellung von Dr. Her mann Bank et,
Leipzig, Leopold Voss. 1867. (XJJ u. W6 S. in 8.).
Die vorliegende Schrift ist der erste Theil der in zwei Thei-
len bestehenden »Vorlesungen über die complexen Zahlen und ihre
Funktionen«, die sich, wie der Titel wohl schon klar genug sagt,
mit einem in neuerer Zeit vielfach behandelten, wir möchten sagen
im Werden begriffenen Gegenstande beschriftigen Die Absicht des
Verfassers gebt dabei auf Begründung der ganzen Theorie und er
hält dafür, dass diese Begründung durch seine Schrift ondgiltig
geschehen sei.
Wir sind nicht gemeint, in eine kritische Untersuchung der
hier vorgetragenen Lehren einzutreten, sondern wollen nur unserer
Aufgabe genügen, die hier in einer Anzeige des in vieler Hinsicht
interessanten Werkes besteht. Ein eigentliches Urtheil wird ohne-
hin ein jeder aufmerksame Leser erst dann sich bilden können,
wenn das Werk vollendet ist. Aber auch eine Anzeige in dem
Sinne, dass über den Inhalt in einer Art Auszug referirt wird,
scheint uns nicht wohl anzugehen , da wir nothwendiger Weise
weitlänfig werden müssten , wenn wir den Gegenstand des Buches
einigermassen deutlich bezeichnen wollten. Theilweise sind die
Grundanschauungen, theilweise die Ausführungen deutschen Lesern
neu oder doch ziemlich fremd, so dass wir nicht an Bekanntes
anzuknüpfen im Stande wären.
Wir begnügen uns daher , dem Leser eine Art Inhaltsanzeige
zu geben, aus der er doch mindestens entnehmen kann, was in
dem Buche betrachtet wird; genauere Anskunft wird er aber iu
letzterem selbst suchen müssen, was für ihn sicher nicht ohne
Nutzen sein wird.
Der erste Abschnitt bebandelt die ganzen Zahlen und ihre
thetischen Verbindungen, die lytiseben Operationen, die Erweite-
rung des Zablbegriffs und das Prinzip der Permanenz formaler
Gesetze.
Der zweite Abschnitt — allgemeine Formenlehre — handelt
von dem Algorithmus assoziativer Rechnungsoperationen ohne oder
mit Commutation, sodann betrachtet er die Addition und Sub-
traction, Multiplication und Division, immer natürlich unter Be-
zugnahme auf die allgemeinen Gesetze.
Im dritten Abschnitte — reelle Zahlen in ihrem formalen Be-
griffe — erscheint der Begriff eines Zahlensystems, die positiven
und negativen ganzen Zahlen; während der vierte Abschnitt die
reellen Zahlen in der Grössenlehre bebandelt.
Im fünften Abschnitte — die gemeinen imaginären Zahlen —
wird zunächst die »formale« Theorie der imaginären Zahlen ge-
geben, dann die geometrische Addition von Strecken in der Ebene
Hankel: Theorie der complexen Zahlensysteme.
773
und im Räume gelehrt; eben so die commutative Multiplikation
solcher Streckon in der Ebene, worauf die Darstellung der gemei-
nen imaginiiren Zahlen in einer Ebene und die Anwendung der-
selben in der Geometrie folgt. Endlich werden die verschiedenen
Beweise des bekannten Fundamentalsatzes der Theorie der höhern
Gleichungen mehr angedeutet als wirklich durchgeführt (was im
zweiten Theile wohl geschehen wird).
Der sechste Abschnitt — die höhern complexen Zahlen — ent-
halt eine Theorie der complexen Zahlen im Allgemeinen, dann die
eines begränzton Systems, eines solchen mit zwei imaginären Ein-
heiten und eines unbegränzten comrautativen Systems; endlich noch
die Addition von Strecken und Punkten (baryzentrischer Calcnl).
Im siebenten Abschnitt — Theorie und geomntrische Darstel-
lung der alternirenden Zahlen — wird ein besonderes System ima-
ginärer Einheiten gewühlt , das den >alteruirenden< Zahlen zu
Grunde liegt. Angewendet werden diesolben auf die Zerlegung der
Determinanten in Produkte. Endlich wird die Multiplikation von
Strecken und Punkten betrachtet.
Der achto Abschnitt enthalt die reine, der neunte (und letzte)
die geometrische Theorie (und Darstellung) derQuaterinonen. Der
Verf. bezweckt damit , diese von Hamilton erfundene und ausge-
bildete Theorie (mathematische Methode) auf deutschen Boden zu
verpflanzen. In wie ferne ihm dies gelingen wird, kann natürlich
erst die Zukunft lehren ; jedenfalls hängt aber auch viel von den
in dem zweiten, noch erwarteten Theile seines Werkes ab, in dem
sich herausstellen muss, wo »die neue Lehre für die Wissenschaft
nützlich ist. Es ist allerdings immerhin von Werth , wenn man
bereits bekannte Sätze durch neue Methoden leichter und bequemer
beweisen kann ; nach unserer unmaassgeblichen Meinung ist das
aber nicht empfehlend genug. Es müssen auch neue, durch andere
Methoden nur schwer beweisbare Sätze mittelst einer sich als neu
und wichtig ausgebenden Methode gefunden werden, wenn man sich
die immer nicht geringe Mühe machen soll, mit ganz ungewohn-
ten Bezeichnungen und Anschauungen sich vertraut zu machen. Der
Verf. wird es uns nicht verargen , wenn bei den vielen neuen,
künstlichen und gar willkürlichen Dingen, die jetzt in der Mathe-
matik auftauchen, man znweilen froh ist, schon in einem gewissen
Alter zu sein, um nicht gerade Alles mehr sich aneignen zu müs-
sen. Das mag aber ohne Beziehung auf das vorliegende Buch ge-
sagt sein, das wir den Lesern, welche sich für rein theoretische
Untersuchungen und für > neuere Mathematik« überhaupt interessi-
ren, zu aufmerksamem Studium empfehlen. Auch wenn sie nicht
gesonnen sind, Alles sich eigen zu machen, werden sie wesentlichen
Gewinn für die etwaige Klärung ihrer eigenen Anschauungen dar-
aus ziehen. Vom Verf. aber wünschen wir, dass er im zweiten
Theile uns die Anwendung des im ersten Gelehrten zeige. Dieser
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774 Delabar: Anleitung zum Linearzeichnen.
zweite Theil soll die Theorie der Functionen complexer Veränder-
licher enthalten.
Anleitung zum Linear zeichnen, mit besonderer Berücksichtigung des
gewerblichen und technischen Zeichnens, ah Lehrmittel für Leh-
rer und Schüler an den verschiedenen gewerblichen und tech-
nischen Lehranstalten, so wie zum Selbststudium, von Professor
0. Delabar, Conrector der Kantonsschule und Vorstand der
Fortbildungsschule in St. Gallen. In drei Theilen. Freiburg
im Breisgau. Herder' sehe Verlagsbuchhandlung.
Von diesem tüchtigen Werke des in der technischen und wis-
senschaftlichen Literatur bekannten Verlassers liegen uns die bei-
den ersten Theile (in drei Heften) vor, von denen der erste 1866,
der zweite 1867 erschienen ist. Sie behandeln: im ersten Theile
das geometrische Linearzeichnen, im zweiten die Elemente der dar-
stellenden Geometrre und die weitere Ausführung der rechtwinkli-
gen Projektiousart.
Den Erklärungen sind jeweils Tafeln in vortrefflich ausgeführ-
ter Zeichnung beigegeben und zwar dem ersten Hefte 16 solcher
mit 111 Figuren, dem zweiten ebenfalls 16 Tafeln mit 86 Figuren,
und dem dritten 28 mit 125 Figuren.
Im ersten Hefte begegnen wir nach einer Einleitung zunächst
der Beschreibung der zum Linearzeiohnen nöthigen Materialien,
Instrumente und Apparate, so wie der Anweisung zum besten Ge-
brauche derselben. Sodann werden die verschiedenen Bezeichnungsarteu
der Linien erläutert und üebungen im Zechnen derselben angestellt;
die Konstruktion verschiedener Senkrechten und Parallelen gelehrt ;
Linien und Winkel getheilt; Proportionallinien konstruirt; Maass-
stäbe gezeichnet ; regelmässige Vielecke auf eine gegebene Seite er-
höhtet; die wichtigsten Konstruktionen im Kreis durchgenommen;
regelmässige Vielecke in Kreise eingezeichnet ; Ovalen und Eiformen,
so wie die Kegelschnitte konstruirt ; eben so die jonische Schnecken-
linie, die Evolvente (des Kreises), die Herzform, die Cykloiden,
Sternfiguren, Rundbogen und Rosette; und endlich werden Ver-
zierungen und geradlinige nebst krummlinigen Dessins gegeben.
Das zweite Heft geht nach einer Einleitung in die darstellende
Geometrie überhaupt und die rechtwinklige Projektionsart insbe-
sondere zu den Hauptaufgaben der darstellenden Geometrie (in
rechtwinkliger Projektion) über. Wir finden : Die Projektionen der
Punkte, geraden und krummen Linien im Räume ; die Projektionen
der begränzten ebenen Flächen und der Ebenen im Räume; die
Erzeugung und Darstellung der krummen Flächen ; die Darstellung
der einfachen Körper; dann die der Prismen und Pyramiden in
beliebig schiefer Lage ; Abwickelung und Netzebestimmung bei den-
Rapports sur les progres des sciencea en France. 775
selben; Darstellung und Abwickelung der drei elementaren runden
Körper (Zylinder, Kegel, Kugel) und endlich die Darstellung der
gewundenen Körper.
Das dritte Heft, das eine Fortsetzung und Erweiterung des
zweiten ist, enthält: Lehrsätze und Aufgaben über die rechtwink-
ligen Projektionen der Geraden und Ebeneu im Räume ; Durchschnitts-
konstruktionen der Körper mit Ebenen bei der Pyramide, dem
Prisma, Kegel, Zylinder und den Umdrehungs- und windschiefen
Flächen; Konstruktion der Tangenten an krumme Linien; Tangi-
rungsebenen an Zylinder, Kegel, Umdrehungs- und windschiefe
Flüchen ; Durchschnittskonstruktionen bei Durchschnitten von Pris-
men, Pyramiden, Kegeln und Zylindern unter sich, so wie bei Um-
drehungskörpern unter sich ; endlich Anwendungen auf Dachzer-
legungen, Rohrentwicklungen, Gewölbekonstruktionen u. s. w.
Wir begnügen uns mit der Anzeige de9 Inhalts, da bei der
Gewissenhaftigkeit und den Kenntnissen des Verfassers ein weite-
res Eingeben überflüssig ist. Die Angabe des Inhalts reicht hin
zur Charakterisirung des bis jetzt vorliegenden Theils des Werkes,
das allen Betreffenden möge empfohlen sein. Wir bemerken zum
Schlüsse nur noch, dass das Ganze auf zwölf Hefte berechnet ist,
von denen die zwei nächsten das > projektive Zeichnen« abscblies-
sen, und die folgenden das Bau- und Maschinenzeichnen enthalten
werden. Jedes Heft bildet ein für sich bestehendes Ganzes und
wird auch einzeln verkauft.
Recueil de Rapports sur les progres des heitres ei des Science» en
France.
Rapport sur les progres les plus rt'cents de V Analyse mathimaiique,
par J. Bertrand, Membre de V Institut.
Rapport sur les progrte de V Astronomie , par M. Delaunay ,
Membre de VJnstilut et du bureau des lonqitudes.
Publica tion faite sous les auspices du minister e de Vinstruction pub-
lique. Paris, lmprimi par aulorisation de son Exc. le garde
des sceaux. A Vimprimerie imperiale. 1867.
Von den Berichten, welche durch verschiedene Gelehrte über
die Fortschritte der Wissenschaften in Frankreich an den Minister
des öffentlichen Unterrichts erstattet werden, liegen zwei vor uns :
über die Fortschritte der mathematischen Analyse und der Astro-
nomie. Nebst diesen werden noch — was die mathematischen Wis-
senschaften betrifft — Berichte über die reine Geometrie, die an-
gewandte Mechanik, die Himmels- Mechanik , die mathematische
Physik erscheinen.
Diese kurzen Berichte (die uns vorliegenden zählen 38 Seiten
in gr. 8. jeder) sind im höchsten Grade interessant für jeden, der
776
Rapports sur lee propres des eciences en France.
sich einen Ueberblick über die wichtigsten unter den ausserordent-
lich vielen Arbeiten der letzten Jahre verschaffen will. Ohne aut
den eigentlichen Inhalt, bezüglich die Methoden der Hauptreprä-
sentanten der Wissenschaft, einzugehen, was begreiflich in solch
engem Rahmen nicht zulässig war, werden doch die Arbeiten der-
selben dermassen bezeichnet, dass ein Bild des Gesammtfortscbritts,
so weit Franzosen daran Theil hatten, sich ergibt.
Wir wollen versuchen, dem Leser in kurzem Umrisse den In-
halt der Berichte darzuthun.
Lagrange und Laplace, im Anfang dieses Jahrhunderts,
waren in Frankreich die in der Wissenschaft herrschenden Geister.
Ihnen standen zur Seite, oder folgten ihnen unmittelbar: Monge,
Legendre, Ampere, Poinsot, Poisson, Fourier, Caucby, Fresnel,
Dupin, Poncelet, Duhamel, Lamö, Sturm, Liouville, Chasles —
Männer, welche der Bericht nur anfuhrt, denn »das sind die Namen
unserer Meister und Lehrer«, deren Werke nicht mehr zu beur-
theilen sind. Es handelt sich also nur um die jtingern Männer,
deren Arbeiten als Fortschritte in der Wissenschaft bezeichnet
werden können.
Die Theorie der imaginären Funktionen, welche Cauchy völlig
erneuerte, hat in ihrem Gefolge die grössten Fortschritte der raathe-
matischen Analyse in diesem Jahrhundert gehabt. Liouville, Her-
mite, Puiseux, Briot und Bouquet haben ihre Namen in glänzen-
der Weise in das Verzoichniss derer eingeschrieben, welche diese
Fortschritte hervorriefen. Die zwei ersten haben ihre Arbeiten
allerdings noch nicht veröffentlicht; doch haben die Vorträge,
welche Liouville in dem College de France vor einem ausgewählten
Publikum hält, grossen Einfluss geübt, und die Arbeiten Hermites
sind durch einen höchst anerkennenden Bericht Cauchy's genauer
bezeichnet worden.
Puiseux hat eine Funktion von A, definirt durch die ratio-
nale Gleichung <p (x, A) = 0 studirt, für alle möglichen Werthe von
A. Diese Untersuchung hängt eng zusammen mit der über I z d A, in
welchem »längs einer Kurve« (bei imaginären Werthen von A und z)
integrirt wird. Diese Untersuchungen hängeu dann weiter mit der
Theorie der elliptischen Funktionen zusammen, bei denen Pniseni
nicht blos schon bekannte Resultate wieder ableitete, sondern auch
neue fand, welchen auf ganz anderm Wege auch Hermite begegnete.
Briot und Bouquet haben diese Untersuchungen in ihrem klas-
sischen Werke über die doppelt periodischen Funktionen zu einer Art
Abschluss geführt, und wenn auch heute die Darstellungsweise
Biemanns überwiegend zu werden verspricht, so wird ihr Werk
doch noch auf lange hin mit grossem Nutzen gelesen werden.
Der Geniekoramandant Alpbons Laurent, der vor kaum zehn
Jahren der Wissenschaft durch den Tod entrissen wurde, hat unter
den austrongenden Arbeiten zur Vergrösserung Havre's mehrere
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Rapports sur les propres des sciences en France.
777
wichtige Abhandlungen über reine Mathematik verfasst. Die erste
(1848) Uber die Variation vielfacher Integrale wurde nur zu spät
der Akademie eingereicht, um von derselben eben so würdig be-
funden zu werden, wie die gekrönte Abhandlung von Sarrus. Zu-
letzt beschäftigte er sich mit den schwierigsten Fragen der mathe-
matischen Physik.
Hermite, dessen Name wir schon oben genannt, hat neben
jenen Arbeiten auch die Algebra und die Zahlentheorie durch tief-
sinnige Untersuchungen bereichert. Schon als Zögling des ersten
Jahres in der polytechnischen Schule schikte er Jacobi eine Ab-
handlung, von der letzterer aussagte, dass dadurch der analyti-
schen Methode ein bedeutender Aufschwung gewounen sei. Von da
an hat der berühmte Mathematiker fortwährend über die schwie-
rigsten Probleme der Algebra und Zahlentheorie Untersuchungen
veröffentlicht.
Serret hat die geometrische Darstellung der elliptischen Funk-
tionen zum Gegenstande einer seiner ersten Arbeiten gemacht, und
dadurch den Beifall der Akademie sich erworben. Auch der Pater
Jonbert, Moutard, Mathet, Emile Mathien, Despeyrous haben hierin
wichtige Arbeiten geliefert. Der Name Serret's ist übrigens in allen
Theilen der mathematischen Analyse bekannt, und in seinem Tratte
d'Algebre supörieure (Heidelberger Jahrbücher, 1866) hat er die
höchsten und schwierigsten Parthieen mit gleicher Klarheit behan-
delt, wie die einfacheren.
Camille Jordan, ein hervorragender Ingenieur, hat einige wich-
tige Arbeiten über die schwimmenden Körper und die Polyeder
geliefert, deren Beurtbeilung einem andern Berichte angehört. Er
bat aber auch die Arbeiten von Galois über die durch Wurzel-
grössen auflösbaren algebraischen Gleichungen bedeutend weiter-
geführt.
Maximilian Marie, der der Theorie der imaginären Funktionen
seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet , hat sich zunächst als
Hauptaufgabe die geometrische Darstellung der reellen und imagi-
nären Auflösungen einer Gleichung mit zwei Veränderlichen gestellt.
Lebesgue hat der Zahlentheorie, insbesondere dem Fundamen-
talwerke von Gauss , seine Kräfte gewidmet , und er wird einen
Kommentar darüber der Oeffentlichkeit übergeben ; Bonnet beschäf-
tigt sich neit mehr als zwanzig Jahre mit der Theorie der krummen
Oberflächen und doppelt gekrümmter Kurven ; auch Abel Transon
hat darüber wichtige Studien veröffentlicht, während der Ingenieur
de la Gournerie, als Professor der darstellenden Geometrie an der
polytechnischen Schule, ebenfalls die Anwendungen der Analyse auf
die Geometrie gefördert hat.
Die Theorie der geographischen Karten (Abbildung krummer
Oberflächen auf einer Ebene), welche Gauss, Lambert, Lagrange
schon bearbeiteten, hatseither von Bonnet, Tissot, Collignon, Dave-
zac, Germain weitere Behandlung und Erörterung erfahren. Hieher
778
Rapporte sur lee progres des •eiences en Franoe.
gehört auch die von Bour golöste Preisaufgabe der (Pariser) Aka-
demie für 1860 über die auf einander abwickelbaren Oberflächen.
Derselbe hat ebenfalls eine wichtige Abhandlung über die Inte-
gration der Differentialgleichungen der analytischen Mechanik der
Akademie vorgelegt, über welche Bertrand und Liouville einen sehr
günstigen Bericht verfassten.
Neben diesen Arbeiten, die gewisserinassen als solche ersten
Ranges angesehen werden (der Berichterstatter selbst hat seine eigenen
Arbeiten gar nicht angoführt), wird nun auch noch einer Anzahl
Männer der Wissenschaft gedacht , die als Herausgeber von Zeit-
schriften, als Professoren u. s w. an der Verbreitung der ma-
thematischen Wissenschaften tbätig Antheil nehmen , so dass wir
durch denselben ein sehr lebendiges und anschauliches Bild der in
diesen Gebieten mehr oder minder hervorragenden Männer und
ihrem Wirken erhalten , das — wenn es auch nicht vollständig
sein kann — doch so weit uns orientirt, dasB wir den Schritten
der einzelnen leichter nachforschen können. Wenn Referent sich
zum Schlüsse einen Wunsch erlauben darf, der freilich nicht in
Erfüllung geben kann, so wäre es der, dass jeweils angeführt wäre,
wo die betreffenden Arbeiten veröffentlicht sind.
Der zweite Bericht — über die Fortschritte der Astronomie
in Frankreich — enthält bedeutend weniger Namen , als der so
eben besprochene erste. Dafür konnte er eingehender und also auch
zusammenhängender sein, und — was wir oben vermissten — es
werden die Schriften bezeichnet, in denen die Arbeiten der ein-
zelnen Männer der Wissenschaft niedergelegt sind.
Einleitend bezeichnet der Verf. die eigentliche Aufgabe der
theoretischen Astronomie und wendet sich dann zu den einzelnen
Arbeiten, welche dieser Aufgabe gewidmet sind. Wie begreiflich,
ist der Name Leverrier's der weitaus meist genannte.
Die Entwicklung der Störungsfunktion nach Sinus und Cosinus
von Winkeln, die von den Vielfachen der mittlem Anomalien der
verschiedenen Planeten abhängen, und der Koeffizienten der ein-
zelnen Glieder nach steigenden Potenzen der Exzentrizitäten und
der Neigungen der Bahnen , ist schon von Laplace durchgeführt
worden. In der Regel hat derselbe aber sich mit geringeren Grade
der Näherung begnügt. Leverrier hat diese Arbeit bedeutend wei-
ter geführt, und zwar bis zur siebenten Ordnung der eintretenden
(kleinen) Grössen ; in Folge dessen konnte er frühere Ergebnisse
verbessern und dazu neue erhalten. So hat er die sekularen Stö-
rungen (ine'galites söculaires) für Merkur, Venus, Erde, Mars, Ju-
piter, Saturn, Uranus genau festgestellt. Das war seine erste astro-
nomische Arbeit.
Er hat sodann die Störungen in der Bewegung der Erde neu
untersucht und zu den schon von Laplace gefundenen noch einige
weitere zugefügt. Auf Grund dieser Untersuchungen hat er neue
Sonnentafeln konstruirt, welche die scheinbare Bewegung diese»
Rapports stir lee pro^röa des «clenoea en France.
Gestirns sehr genau darstellen. Auch in der Theorie der Bewegung
des Merkur waren den Resultaten Laplace's Verbesserungen zuzu-
fügen, worauf auch für diesen Planeten Tafeln berechnet wurden.
In ähnlicher Weise wurden Venus und Mars behandelt.
Von den bis jetzt bekannten 91 kleinen Planeten zwischen
Mars und Jupiter wurden in Frankreich 27 entdeckt, und zwar
14 von Goldschmidt (in Paris), 6 von Chacornac (Marseille und
Paris), 4 von Tempel (Marseille), 2 von Stephan (Marseille) und
1 von Laurent (Nimes). Eine vollständige Theorie der Ceres und
der Juno lieferte Damoiseau; Leverrier untersuchte die Bewegung
der Pallas, die grosse Schwierigkeit darbietet.
Die Tafeln des Uranus, welche Bouvard (1821) nach der.
Theorie Laplace's berechnete, zeigten bekanntlich eine Abweichung
von der wirklichen Beobachtung und Bouvard selbst spricht sich
schon im Vorwort dahin aus, dass »eile dopend de quelque action
ötrangere et inaper^ue qni aurait agi sur la planete.« Delaunay
versichert, von demselben persönlich gehört zu haben, dass er, als
diese nooh unbekannte Ursache einen unentdeckten Planeten be-
zeichnete, dessen Entfernung von der Sonne wohl das Doppelte von
der des Urauus sei.
Der Verfasser beschreibt uun näher die wissenschaftliche Ent-
deckung des Neptun durch Leverrier, die bekanntlich den Naraeu
dieses Astronomen 8. Z. populär gemacht hat. Er gedenkt dabei
auch des englischen Astronomen Adams , der seine Rechnungen
freilich später veröffentlichte, zu einer Zeit, da bereits Neptun auch
physisch entdeckt war.
Die Mondtheorie bietet bekanntlich keine geringen Schwierig-
keiten dar, und es sind desshalb auch die Mondtafeln, deren man
sich im Anfang dieses Jahrhunderts bediente, halb theoretisch,
halb empirisch konstruirt. Die Pariser Akademie stellte darum 1820
als Preisaufgabe: Mondtafeln mittelst bioser Theorie zu konstruiren,
eben so genau als die mittelst Erfahrung und Theorie verfertigten.
Zwei Arbeiten lösten die Aufgabe : die eine von Damoiseau, die
andere von Plana und Carlini (Italienern). Die letztere hatte den
Vortheil der völlig analytischen Auflösung ; ihre Ergebnisse wurden
durch Lubbock (England) und Pontöcoulant bestätigt. Unser Han-
sen hat neue Mondtafeln konstruirt, die 1857 auf Kosten der eng-
lischen Regierung gedruckt wurden, und in England und Frank-
reich benützt werden. In den vereinigten Staaten werden Tafeln
gebraucht, die nach den theoretischen Untersuchungen Planas ver-
fertigt sind.
Auch Delaunay (der Berichterstatter) hat die Arbeit Planas
weiter geführt, indem er eine Theilung der fast unermesslichen
Arbeit durchgehend anwandte. Die genaue Bestimmung des Ein-
flusses, den die säkulare Verminderung der Exzentrizität der Erd-
bahn auf die mittlere Bewegung des Mondes übt, die Adams fand,
wurde von Delaumay bestätigt , der den ziemlich heftigen Wider-
780
Rapports sur los propres des eHences en France.
Spruch in der Akademie abzuweisen hatte. Wir haben einen hie-
her gehörigen Punkt bereits in diesen Bliittem (7. Heft 1866) an-
gezeigt, wollen also darauf nicht näher eingehen. Auch eine Arbeit
Hansens wurde von Delaumay abermals aufgenommen.
Simon zeigte, dass die Mondaxe eine halbmonatliche \utation
erleide, was Poisson nicht vollständig erklärt hatte.
In Bezug auf die Erdbewegung werden zunächst die bekann-
ten Experimente Foucaults beschrieben. Dann wird der geodäti-
schen Arbeiten Y. Villarceau's gedacht, die wir jüngst bei Anzeige
des »Generalberichts über die europäische Gradmessung< ebenfalls
berührten ; ferner der Bestimmung der Breite der Sternwarte von
Paris durch Laugier und Mauvais.
Leverrier und Foucault haben sich mit der Bestimmung der
Sonnen-Parallaxe beschäftigt. In Bezug auf die Beschaffenheit der
Sonne selbst werden die Hypothesen von Faye aufgeführt. Kennt
der Verf die Arbeit Kirchhoff's nicht?
Himmelskarten wurden von Valz und Cbacornac geliefert ; ein
Katalog von 140 Fundamentalsternen von Laugier. Bravais ist in
Bezug auf die Bewegung des Sonnensystems zu den Ergebnissen
Argelanders gelangt; Villarceau hat sich mit den Doppelsternen
näher beschäftigt, und Laugier einen Katalog von 53 Nebelflecken
veröffentlicht.
Ueber die Kometen hat Loverrier (Komet von Lexell) Unter-
suchungen angestellt ; Faye sich mit der Ursache des Kometen-
schweifes beschäftigt und Roche die Hypothese Faye's analytisch
zu bestätigen gosucht. Die Ansichten Schiaparelli's in Mailand
über die Sternschnuppenschwärme hat Leverrier ebenfalls analytisch
geprüft, wenn auch beide Gelehrten nicht ganz derselben Meinung
sind.
Endlich wird noch der parabolischen Spiegel mit versilbertem
Glase von Faucoult (später als Steinheil), und dessen Belegung des
Objektivs mit einer dünnen Silberschichte bei Sonnenbeobachtungen,
so wie des Verfahrens von Wolf gedacht, den persönlichen Fehler
bei Durchgangs- Beobachtung zu bestimmen.
Wir müssen schliesslich nochmals bemerken , dass die Dar-
stellung des Berichtes eine zusammenhängende und — so viel dies
bei dem Umfange desselben möglich war — eingehende ist Selbst^
verständlich konnten wir nur die Sachen anführen, wenn wir nicht
eine Uebersetzung liefern sollten , die doch wohl für diese Blätter
nicht geeignet wäre.
Brahay: Exereices de Calcul differentiel
Exercicts methodiques de Calcul dif/rrentiel par M, Ed. Brahay,
Prof. ä Vaihtnh royal de Jirurjes etc. BruxtUes. 1S67. ('263 S.
in 8.).
Sein Zweck bei Herausgabe der vorliegenden Schrift sei einzig
der gewesen , den jungen Leuten , die den Infinitesimal-Calcul zu
studireu beginnen, wirklich nützlich zu sein, sagt der Verfasser.
Das ist nun allerdings in kurzen Worten die Aufgabe jeder ver-
nünftigen Aufgabensammlung , zu welcher Kategorie die des Ver-
fassers ebenfalls zu rechnen ist.
Dieselbe erstreckt sich über die gesaramte Differentialrechnung
und deren Anwendungen auf analytische Geometrie und ist auch
im Einzelnen wieder sehr vollständig , so dass wirklich aus der-
selben Vieles gelernt werden kann. Wir wollen den Inhalt etwas
näher betrachten , wobei wir auch Gelegenheit haben werden,
unsere Ansicht, in so weit sie von der des Verf. abweicht, näher
darzulegen.
Die Einrichtung des Buches ist derart, dass bei jedem Ab-
schnitte zuerst die eigentlichen theoretischen Hauptsätze sich an-
gegeben finden, worauf Aufgaben folgen , denen zuweilen eine An-
deutung für die Art der Auflösung, jedenfalls aber das Ergebniss
derselben beigegeben ist.
Zunächst erscheint die Differenzirung der entwickelt gegebe-
nen Funktionen einer einzigen Veränderlichen. Neben den Diffe-
rentialqnotienten (derivee) erscheiut natürlich auch das Diflerential,
wenn auch in löblicher Weise anfänglich die ersten die Hauptrolle
spielen. Es ist nun einmal so Brauch, mit den Differentialen zu
operiren, und wir werden diesen alten Brauch nicht ändern. Darum
lasseu wir dem Verfasser getrost seine Differentiale. Dass er in
seinem »Tableau des difförentielles des fonctions simples«, wo z. B.
d xm = m xm - 1 d x , dl(x) = ^, u. s. w. erscheint, als ganz beson-
ders wichtig hervorhebt, dass »x nicht eine blose Veränderliche,
sondern jede entwickelte Funktion von x« vorstelle, ist, abgesehen
von dem Widerspruch in den Zeichen, ganz unnöthig. Wer den
Satz dor Differenzirung einer Funktion von einer Funktion ver-
steht, begnügt sich damit, x als blose (unabhängig) Veränderliche
anzusehen. Die Beispiele sind zahlreich und gut gewählt. Nur
müssen wir gegen die unbedingte Differenzirung unendlicher Rei-
hen, die hier und auch noch später öfters vorkommt, Einsprache
erheben. (Siehe S. 10, 59 u. s. w.).
Die Differenzirung entwickelt gegebener Funktionen mehrerer
Veränderlichen wird nun ganz im Geiste der > Differentiale« getrie-
,r,, * m « i du, idu, ,du, .
ben. Aus u = F(x, y, z, .. ) folgt du = — dx-f- -dy-f, dz-f...
dx dy dz
Wir brauchen nicht zu wiederholen, dass wir eine derartige Glei-
782
Brahay: Exercices de Calci: 1 differentiel.
chung als durchaus bedeutuugslos ansehen, und ihr höchstens einen
symbolischen Werth beilegen. Bewiesen kann sie ohnehin nie
werden, und wenn sie auch von Lehrbuch zu Lehrbuch wiederholt
wird. So bildet nun der Verf. eine ganze Schaar von totalen
Differentialen , ans denen er nötigenfalls wohl das eigentlich in
Betracht Kommende — die partiellen Differentialqnotienten — be-
stimmt. Uebrigens müssen wir anführen, dass in dem ersten Bei-
spiele diese letztern bestimmt und daraus das totale Differential
geleitet wird.
Für Funktionen einer Veränderlichen werden blos höhere Dif-
ferentialquotienten gebildet, wobei lehrreiche und sehr allgemeine
Beispiele vorkommen, wie die nten Differentialquotienten von (a-f-
bx-{-cxv)m in zwei von Lagrange (Memoires von Berlin, 1772)
dn
gegebenen Formen u. s. w., woraus z. B. — - arc (sin =s x) abge-
leitet wird. Bei Funktionen mehrerer Veränderlichen verlässt der
Verf. seine gute Gewohnheit theilweise und er fallt den Differentia-
len wieder zu. Wir finden da dQ u = d x d y -f- ~ d z + •
als symbolische Gleichung u. a. m. Allerdings zeigt er ebenfalls,
wie man die partiellen Differentialquotienten bildet und die meisten
seiner Beispiele sind diesem Geschäfte gewidmet.
Vollständig anders verfahrt er bei der Differenzirung von Glei-
chungen (also bei unentwickelt gegebenen Funktionen), da er hier
nur von totalen Differentialen spricht und die (ebenfalls totalen)
Differentialquotienten daraus ableitet. Das hat nun nicht gerade
Vieles aut sich, so lauge es sich um eine einzige unabhängig Ver-
änderliche handelt. Wahrhaft verwirrend wird aber die Darstel-
lung, wenn mehrere unabhängig Veränderliche vorkommen. Aus
dF dF dF
F (x, y, z) = 0 folgt j^dxT" v + j-~ d z = 0, woraus (sagt der
x y z
Verf.) man (aisement) ziehe: das totale Differential dz und die
dz dz
partiellen Differential quotienten — - , — . Wie dies geschehe, ist
nicht gesagt. Eine zweite Differenzirung (die aber nicht ausge-
führt wird) gebe, wenn man dx, dy als konstant ansehe, das
totale Differential d2z, sowie die partiellen Differentialquotienten
d*z d'z d?z
-— , — — -r— i. Brauchen wir zuzusetzen, dass das Alles ver-
d x^ dx dy d y*
kehrt ist. Dass der Verfasser mit seiner entsetzlich verwirrenden
Rechnungsweise sich selbst verwirrt, beweist sein Exemple IV
(S. 47). Dort ist ax + by + cz + ku = l, a'x*+ b*ya + •*■*+
d2z
k'u2 = m und er findet durch seine künstliche Methode — ;= —
dx*
d'u a* l+(ax-kn)3 + (cz-ax)3 , , _ ... ,
— j — r- --c~ , während thatsächhch
dxa o (ku — cz)3
Brahay: Exercices du Cftlcul diflförenttel.
783
von
tfz .d^u (ku — C7,)' + (ax-ku)< + (cz-ax)V
c — — — % =a* /1 v, ist, ein
dx* dx' (ku — ex)*
Resultat, das sich in der einfachsten Weise vou der Welt ergibt,
und das man auch einzig braucht. Diesen Abschnitt würden
wir somit aus dem Buche ausgemerzt, d. h. gänzlich gelindert
wünschen, wenn er wirklich einigen Nutzen stiften soll.
Den Taylor'schen Satz stellt der Verf. mit dem Ergänzungs-
hn
glied in der einen Form : — -Fn(x-f-®h) dar; erbenützt dieses
l .. n
Ergünzungsglied aber blos zur Schätzung des Fehlers, den mau be-
geht, wenn man bei einem bestimmten Gliede scbliesst. Die ent-
stehenden Reihen scheint er sofort für unendlich und ohne Weite-
res giltig zu halten, wie denn z. B. die Gleichungen ^ = ^-J-
sin <jp+ \ sin 2<p + J sin 3qp + 0= \ -fcos q> -f- cos 2qp -f 008 3qp-)-...
vorkommen , die für <p = 0 etwas wunderliche Resultate ergeben.
Eine Menge Reihenentwickelungen, die hier vorkommen, leiden an
dem Grundfehler, dass nicht untersucht wird, in wie weit sie gelten.
Ohne diese Untersuchung gelten aber diese hübschen Sächelchen
nicht viel.* Auch für das Lagrangesche Theorem erscheint dieselbe
Unbestimmtheit. Ohnehin ist da nicht entschieden, welche der
Wurzeln denn eigentlich durch dieses Theorem entwickelt sei. So
ist die letzte Aufgabe : ^y-q—^===^ nach steigenden Potenzen
e 2
e zu entwickeln. Setzt man v=t— ; — - — — , so ist y3 y 4- 1 = 0,
l + /l-e» e J 1 '
Q
welche Gleichung aber auch die Wurzel = - hat. Welche
1 — VI- e»
der zwei wird nun durch das Lagrangesche Theorem ausgedrückt?
Der Vertauschung der unabhängig Veränderlichen ist sehr viele
Sorgfalt gowidmet. Für den Fall einer unabhlingig Veränderlichen
haben wir nichts Besonderes zu erinnern. Auch der Fall zweier
solcher Grössen ist theoretisch in Ordnung. Anders aber verhält es
sich bei den Beispielen. Es ist, um gleich das erste Beispiel zu
nehmen, wohl nicht ganz in Ordnung, eine Aufgabe so zu stellen:
d*z d*z
Was wird aus der Gleichung -r—x 4- z-^r = 0, wenn x und y durch
dx' dy«
r ersetzt werden, wobei x24-y2~r'? Denn hier sind zwei unab-
hängig Veränderliche , die durch zwei andere ersetzt werden
müssen. Aehnliches wird man bei mehrern andern Beispielen zu
bemerken haben.
Bei der Elimination von Konstanten und Funktionen (mittelst
Differenzirung) hätten wir etwa zu bemerken, dass, aus einer Glei-
chnngFfx, y, z, qp(u ), 0(v)] = O, wo 9>(u), #(v) willkürliche Funk-
tionen von n, v sind , welche Grössen in bekannter Weiße aus x,
y, z sich bilden, man im Allgemeinen nicht beide Funktionen eli-
miniren kann, auch wenn man zu zweiten Differentialquotienten geht.
784
Brahay: Exerclces du Calcul dlfferentlel.
Damit ist der theoretische Thuii der Differentialrechnung zu Ende.
In den Anwendungen erscheinen die unbestimmten Formen
zuerst. Die Beispiele sind zahlreich und uuch lehrreich gewählt. Ob
es eine Funktion f(x) gibt, für welche alle Differentialquotienten
Null sind für x=a? (S. 105).
Auch die Maxima und Minima lür Funktiouen einer Veränder-
lichen sind reich bedacht. Für die Funktionen mehreror Veränder-
lichen und mit Bedingungsgleichungen wird die Theorie in folgen-
der Weise gegeben: »Sei u-.f(x,y,z, v, w, ,.) eine Funktion von
m+n Veränderlichen, an einander gebunden durch die nGleicb-
uugen L = 0, M =0, N = 0, Um die Werthe der Veränder-
lichen zu finden die u zu einem Maximum (oder Minimum) machen
kötinen, bilde man das totale Differential von u, und eben so dif-
ferenzire man die Bedingungsgleichungen ; aus den n-fl so erhal-
tenen Gleichungen eliminire man die nDifferentiale der abhängigen
Veränderlichen und setze in der Endgleichung den Koeffizienten
jedes bleibenden Differentials Null « Wir wären auf einen Beweis
begierig, der diese Behauptung ohne möglichen Widerspruch recht-
fertigte. Die Beispiele, auch für mehrere Veränderliche, sind sehr
zahlreich. #
Die Anwendung auf analytische Geometrie betreffen Tangenten
und Normalen an ebene Kurven in rechtwinkligen und Polarordi-
naten; dann die Asymptoten und bosondern Punkte ebener Kurven;
Krümmungshalbmesser nnd Evoluten derselben — immer in sehr
zahlreichen Beispielen. Für die krummen Oberflächen werden Tan-
gentialebene, Normale, Hauptkrümmungshalbmesser, so wie beson-
dere Pnnkte allgemein und an vielen Einzelfullen ermittelt; Aehn-
liches gilt für die doppelt gekrümmten Kurven (courbes gauebes);
die zweite Krümmung wird als »angle de torsion« aufgeführt
Stellt — sagt der Verfasser — s diesen Winkel vor, so ist
/ds\6 a/d*yd3x d'xd3y\ , _ . _
*UJ Ä*Wl3-ISfiV dB» wo ds das Bogenelement,
q der Halbmesser der (ersten) Krümmung und x=9>(z), y = ^(i)
die Gleichungen der Kurve sind.
Endlich werden die Einhüllenden für (ebene) Kurven und krumme
Oberflächen bestimmt und die Theorie an zahlreichen auch in das
Gebiet der Anwendungen eingreifenden Beispielen geübt.
Den Schluss des Buches bildet die Zerfallung rationaler Brüehe
in Einzel-(Partial-)Brüche in theoretisch und praktisch genügender
Weise.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, wenn wir auch mancher-
lei Anstände erheben mussten, doch jedenfalls, dass das Bnch von
Anfängern in der Differentialrechnung mit grossem Nutzen zur
Uebung gebraucht werden kann, und in so ferne die Sprache kein
Hinderniss ist, kann es denselben, und also auch dem Lehrer, dem
Uebungsbeispiele erwünscht sind, empfohlen werden.
Dr. J. Dienger.
Ir. 50. HElDKlBERGlER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
P lato' s Phädon. Eine Reihe von Betrachtungen zur Erklärung
und Beurtheilung des Gesprächs von Alb er l Bischoff, Er-
langen 1866. Verlag von Andreas Deichert. 37,3 S. in 8.
Der grössere Theil der Schrift, fast zwei Drittel des Ganzen
(S. 3—235), enthalt eine zusammenhängende Darlegung des In-
halts des platonischen Phädon, wobei die einzelnen Theile des
Gesprächs, wie sie auf einander folgen, genau durchgangen, ihr In-
halt angegeben und mit Erörterungen begleitet ist, welche auf die
richtige Auffassung des betreffenden Abschnittes, oder auch ein-
zelner Stellen desselben , zumal wo die Auslegung auf verschiedene
Weise gegeben wird, sich beziehen. Die genaue Darlegung dieses
Inhalts und die Ausführlichkeit, womit Alles Einzelne behandelt
wird, um so den Gang der Untersuchung und den inneren Zusam-
menhang aller einzelnen Theile derselben erkennen zu lassen und
dadurch zur richtigen Auffassung des Ganzen wie zum richtigen
Verständniss des Einzelnen zu führen, erhellt schon aus dem
grossen Umfang dieser Darlegung und Erklärung des Inhalts
und ist damit jedem Leser des Phädon ein Hülfsmittel an die
Hand gegeben, das er mit Nutzen gebrauchen kann, um zu dem
vollen Verständniss zu gelangen. Im Zusammenhang damit steht
noch Abschnitt III , S. 241 ff. , in welchem eine Uebersicht des
Gedankenganges gegeben ist, während Abschnitt II, 8. 236 ff. die
Frage zu beantworten sucht, ob der Stoff des Gesprächs histo-
rich oder erfunden sei: eine Frage, auf welche wir übrigens eine
so grosse Bedeutung nicht legen möchten, insofern es sich am Ende
doch nur um die Verbindung und Anknüpfung des Inhalts an einige
äussere Momente der Wirklichkeit, wie hier der Tod des Socrates
es ist, handelt und damit zugleich um ein Denkmal der Erinnerung
aller Zeiten, welches von dem treuen Schüler dem geliebten Lehrer
gestiftet werden sollte. Der Verf. betrachtet es als zuverlässig (?),
dass das von Plato hier gezeichnete Bild des Socrates im Wesent-
lichen ein getreues gewesen und dass Diesem Untersuchungen wie
die im Phädon geführten, in keinem Fall fremd geblieben. »Und
wenn wir, so schliesst der Verf. S. 240, hiezu die andern Wahr-
scheinlicbkeitsgründe nehmen, so werden wir Grund genug haben
anzunehmen, dass Socrates in seinen letzten Stunden Unterredungen
ähnlich der von Plato erzählten mit seinen Freunden werde geführt
haben « Ref. kann sich nicht, aus Mangel an allen näheren Be-
weisen, mit der gleichen Sicherheit zu einer solchen Annahme für
berechtigt halten, so sehr er auch sonst die in diesem Dialog von
LIX. Jahrg. 10. Heft. 50
7S6
Plato's Phädon von Biacboff.
Plato durchweg erstrebte ntd'avotrjg anzuerkennen bereit ist.
Abschnitt IV, S. 256 ff. erörtert den Grundgedanken und die Be-
deutung des Gesprächs. Ausgehend von dem Satze, dass es nicht
gentige, einfach zu sagen, Plato habe die Absicht gehabt, die Un-
sterblichkeit der Seele zu beweisen, durchgeht der Verf. dann die
verschiedenen Versuche, wie sie seit Schleiermacher gemacht wor-
den sind, um den letzten Zweck und die Hauptabsicht zu bestimmen,
welche Plato mit der Abfassung des Phädon verbanden; der Verf. fin-
det diese Versuche nicht genügend, um die Frage in ihrem ganzen
Umfang zu lösen ; am nächsten der Wahrheit scheint ihm Schmidt
zu kommen, wenn derselbe den wissenschaftlichen Zweck des Dia-
logs in die philosophische Begründung der Unsterblichkeitslehre
setze , den künstlerischen Zweck aber in die Freudigkeit, mit wel-
cher der wahre Weise in den Tod gehe, durch den er das wahre
Leben gewinne. Der Verf. findet in dieser Annahme eines doppel-
ten Zweckes einen Vorwurf gegen Plato, einen Vorwurf wegen Man-
gels an Einheit, der freilich erst noch zu beweisen wäre; er ist
vielmehr geneigt, in dem, was Schmidt den künstlerischen Zweck
nennt, den Grundgedanken des ganzen Dialogs zu erkennen und in
dem , was sich bei Vergleichung aller Theile als der dem Plato
vorschwebende Zweck herausstelle, auch den alleinigen Zweck des
Gespräches zu erblicken. > Dieser ist aber zu zeigen, dass der Tod
für den Philosophen kein furchtbares, sondern das wtlnschenswer-
theste Ereigniss ist, dass der Tod dem Philosophen nicht des Le-
bens Vernichtung, sondern des Lebens höchste Vollendung ist.
Diess wird bewiesen, indem gezeigt wird, dass das ganze Leben
des Philosophen ein Sterbenwollen ist, da er nur im Tod, im Leben
nur insofern es dem Tod nahe kommt, die Erfüllung seines Strebens
erwarten kann, indem weiter gezeigt wird , worauf es am meisten
ankam, dass diese Erwartung eine berechtigte, an philosophischer
Betrachtung sich bewährende ist« u. s. w. Auch wird noch
weiter bemerkt, wie für den Gedanken, dass der Tod des Lebens
höchste Vollendung ist, die Unsterblichkeit bewiesen werden
musste und wie diese Beweise mit der Schilderung des sterben-
den Socrates und der Todesfreudigkeit desselben passend verbun-
den werden. Und so lassen sich — damit schliesst der Verf. —
alle einzelne Theile des Dialogs und ihr gegenseitiges Verhältnis«
zu einander aus dem Grundgedanken erklären : Sterben ist für den
Weisen Gewinn (S. 262). Indessen, meint der Verf., wäre noch
nicht das volle Verständniss des Phädon gewonnen, wenn man
den Zweck des Gesprächs in den Erweis der Unsterblichkeit oder
der Todesfreudigkeit setze, und darum müsse man weiter fragen,
welche Bedeutung der Inhalt dieses Gesprächs im System der
platonischen Philosophie habe. Diese Bedeutung findet der Verl
in dem, was schon im Pbädrus und im Gastmahl angefangen, im
Phädon vollkommen ausgesprochen sei, in dem Gedanken, wie das
Einzelne und Besondere im Allgemeinen ein reales Sein gewinnen
Plato't Phädon von Biso hoff.
78t
kann, als selbstbewusster Geist, also in dem Realwerden des Ein-
zelnen im Allgemeinen als Geist (S. 266). Nur dem Allgemeinen
kommt ein wahres Sein zu, das Einzelne als solches hat für das
Allgemeine keinen Werth und ist etwas blos vorübergehendes ; aber
indem das einzelne Sein (die Seele) auf das Andere verzichtet und
für sich selbst zu sein sich entschliesst , d. h. indem es selbstbe-
wußter Geist wird, erhebt es sich zum Allgemeinen Sein, erhält
reale Existenz und gehört somit selbst der realen Welt der Ideen
an. Eine solche > Vergeistigung und Verselb stständignug der Seele
konnte nicht besser, nicht lebendiger dargestellt werden als durch
die Schilderung des dem Tod mit erhöhtem Lebensgefühl entgegen-
gehenden Philosophen« (S. 267).
Wir sind absichtlich etwas länger bei diesem Abschnitt ver-
weilt, in Betracht seiner Wichtigkeit für die Beurtheilung des
Phädon; wir haben die Ansicht des Verfassers meist wörtlich mit
dessen eigenen Werten hier mitgetheilt, um jedes Missverständniss
zu beseitigen, namentlich anch seine Polemik gegen Schmidt, der,
wie wir es ansehen, nicht den Vorwurf eines dualistischen Zweckes,
mit Hintansetzung der erforderlichen Einheit des Zweckes verdient,
indem der künstlerische Zweck, wie ihn Schmidt bezeichnet, doch
nur als ein Nebenzweck erscheint, der mit dem Hauptzweck in
Verbindung stehend zugleich mit demselben erreioht werden soll,
nicht aber als Hauptzweck und als Grundgedanken gelten kann,
welcher doch immer kaum in Etwas Anderem, als in der Begrün-
dung der UnsterbÜchkeitslebrc aus dem Begriff der Seele zu suchen
ist, zumal im Gegensatz zu andern darüber aufgestellten und ver-
breiteten Ansichten, welche ihre Widerlegung finden sollen, so wie
in Verbindung mit der aus Allem sich ergebenden Lehre, wor-
nach das wahre Streben des Philosophen , als Zweok dieses irdi-
schen Daseins, in die Erkenntniss der Seele, und damit in das Frei-
sein von Allem Aeusseren nnd Materiellen, also in das Streben
nach dem Tod, der diese Befreiung uns bringt, zu setzen ist.
Abschnitt V, S. 268 ff. betrachtet die künstlerische Form, wo-
bei am Schlüsse auch der Gebrauch der Mythen erwähnt wird, in
deren Anwendung der Verf. keineswegs eine Lücke in der wissen-
schaftlichen Erkenntniss finden möchte, sondern in folgender Weise
sich ausspricht: >es ist das Wahre für Plato einerseits ein durch-
aus Unsinnliches, Jenseitiges, so dass es, um erkannt zu werden,
eine Entäusserung von aller sinnlichen Vorstellung erfordert, aber
andererseits doch vollkommen real und konkret, so dass ihm die
Abstraction nicht entspricht. Um nun beides darzustellen, dazu
diente die poetische Form des Mythus, in welcher eben so sehr
das Ueb ersinn liehe wie das Konkrete der Idee zum Ausdruck kommt.«
Also der Verf. S. 281 ; in wie weit damit die Anwendung des
Mythus seine volle Erklärung erhält, möchte man doch bezweifeln.
Abschnitt VI, S. 282 ff. welcher über die wahrscheinliche Abfas-
aungszeit des Phädon und dessen Stellung in der Reihe der plato-
Plato'e Phiidon vod Bischof f.
nisohen Schriften sich verbreitet, führt uns gewissermassen zu dem
vierten Abschnitt zurück und steht damit in Verbindung, in so
fern aus dem im Phädon nach der Ansicht des Verf. entwickelten
Grundgedanken und dessen Verhältuiss zu andern Dialogen auch
die Zeit der Abfassung erkannt werden soll; diese will nun der
Verf. in die späteren Jahre Plato's verlegen, vor die Abfassung der
Bücher vom Staat, aber unmittelbar nach Abfassung des Sympo-
sium's. »Im Phädrus und Qastmahl wird angebahnt, was im Phä-
don vollendet wird; dort geht er aus von der Welt und dem
Schönen in ihr, im Pbädon kommt er bis dahin, dass er das ewige
Leben der Seele erkennt. Wenn er aber, um zu dieser Kenntniss
zu gelangen, das Irdische preisgeben musste, so gewinnt er das-
selbe wieder in den Büchern vom Staat« (S. 294). Da nun das
Gastmahl nicht vor 335 a. Chr. geschrieben sein kann, wegen der
in der Stelle p. 193 A enthaltenen Anspielung, so würde also die
Abfassung des Phädon jedenfalls nach diesem Jahre fallen, und vor
das Jahr 365, und zwar, wie es der Verf. für wahrscheinlich hält
(S. 305), nicht lange vor diesem Zeitpunkt. Zwischen dem Tode
des Socrates (399 a. Chr.) und der Abfassung des Pbädon würde
hiernach jedenfalls eine Kluft von etwa dreissig Jahren liegen, was
uns, offen gesagt, etwas zu lange erscheint, da eben die Verbin-
dung , in welche der Tod des Socrates , als äussere dramatische
Einkleidung, mit der philosophischen Erörterung gebracht ist, auf
eine Zeit hinführt, in welcher die Erinnerung an den hingeschie-
denen Lehrer noch so frisch und lebendig war, um eine solche
Verbindung herbeizuführen; immerhin aber würde die Abfassung
nach der Rückkehr Plato's von den Reisen fallen, in welchen Plato
mit den Pythagoreern in nähere Beziehung getreten, welche auf
die Ausbildung seines System's und namentlich auf den Inhalt des
Phädon einen wesentlichen Einfluss gehabt hat.
Abschnitt VII, S. 306 ff. lässt sich über die Gültigkeit der
platonischen Beweise für die Unsterblichkeit, wie sie in dem Phä-
don gegeben sind, näher aus, und steht damit gewissermassen in
Verbindung der nächstfolgende Abschnitt VIII, S. 342 ff., welcher
über den jetzigen Stand der Frage und die Möglichkeit der Lösung
sich verbreitet; da nämlich die von Plato vorgebrachten Beweise nicht
für vollständig befriedigend in dem vorhergehenden Abschnitt be-
funden worden, so knüpft sich daran die natürliche Frage, ob die
Nachfolger Plato's eine solche Befriedigung uns zu geben im Stande
sind, und hat daher der Verf. auch diese wichtige Frage in den
Kreis seiner Erörterung gezogen. In dem Abschnitt VII hat sich
Derselbe auf eine Prüfung der einzelnen von Plato für die Un-
sterblichkeit der Seele im Phädon vorgebrachten Beweise eingelas-
sen und dabei auch die verschiedenen Einwendungen berührt, die
von verschiedenen Seiten wider dieae Beweise gemacht worden sind,
namentlich auch die Behauptung, dass die hier entwickelte Lehre
Plato's im Widerspruch stebe mit seinem eigenen System — eine
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Plato's Ph&don von Bisch off.
Behauptung, die als eine irrige nachgewiesen wird — und so ge-
langt der Verf. zu der Frage, ob denn die Unsterblichkeit der
Seele von Plato vollständig bewiesen, die Untersuchung damit ab-
geschlossen sei , oder eine Lücke bemerkbar , und wie viel über-
haupt Plato in dieser Lehre geleistet. Wir wollen die Antwort mit
den eigenen Worten des Verfassers S. 339 beifügen : >Der wesent-
liche Mangel in diesem Tbeil des platonischen Systems besteht
darin, dass das Verbältniss der Seele zum Körper theils zu wenig
beachtet, theils falsch anfgefasst ist, und dieser Mangel benimmt
auch seinen Beweisen für die Unsterblichkeit die volle Ueberzeu-
gung. Für Plato besteht kein notbwendiger Zusammenbang zwi-
schen Seele und Leib , dieser ist ihm nur etwas Aeusseres , rein
Zufälliges , wofür er keinen nothwendigen Grund anzugeben weiss.
Er hätte aber eben dieses Verbältniss zu begreifen suchen sollen,
um für die Unsterblichkeit der Seele einen vollkommen befriedi-
genden Beweis zu liefern.« Der Verf. bemerkt weiter, wie aus
dieser Lehre von der zu erstrebenden Trennung des Leibes von der
Seele leicht irrige Folgeningen gezogen und eine unvernünftige Ver-
achtung dos Leibes abgeleitet werden kann, und wie es ungenügend
sei, nur die höhere und unabhängige Stellung der Seele zu bewei-
sen , ohne ihren Zusammenhang mit dem Körper und die Noth-
wendigkeit dieses Zusammenhangs zu erklären. Wenn also, meint
der Verf., hier eine Lücke in der platonischen Beweisführung er-
kennbar ist, so wird auf der andern Seite um so mehr anzuer-
kennen sein, dass Plato das nachgewiesen hat, was vom höchsten
Belang ist, die Freiheit der Seele im Denken und Wollen, und dass
die Seele keine Wirkung des Körpers ist, nicht im Leib den Grund
ihres Daseins hat. Und dass die Nachfolger des Plato über diese
Beweisführung im Ganzen nicht hinausgekommen sind , und dass
die Philosophie als solche die Unsterblichkeit nicht neu zu begrün-
den und zu entwickeln vermocht, ist in dem oben bemerkten, sich
unmittelbar anschliessenden achten Abschnitt gezeigt. Mit einer
Betrachtung >über den religiös-ethischen Charakter der platonischen
Philosophie mit besonderer Rücksicht auf den Pbädon« schliesst
die Schrift in Abschnitt IX. Es ist darin der sittliche wie der
religiöse Charakter des Phödon, wodurch er zu einem der herr-
lichsten Denkmale der gesammten alten Literatur wird , gut her-
vorgehoben und daraus auch eine Empfehlung der Lectüre dessel-
ben hergeleitet. Wir theilen vollkommen diese Ueberzeugung und
haben stets den Pbädon als eine Schrift betrachtet, die kein wis-
senschaftlich gebildeter Mann ungelesen lassen sollte, am wenigsten
ein Theologe. Allein für eine Lectüre auf Gymnasien können wir
darum den Phädon doch nicht als geeignet betrachten. Mag man wohl
die Schlussscene von dem Hinscheiden des Socrates in ihrer dramati-
schen Fassung mit den Schülern der obersten Classe lesen, für
welche sprachlicher Seits keine besondere Schwierigkeiten hervor-
treten: aber der Dialog selbst, d. h. die philosophische, voraus-
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T90 Verwijs: Bloemleelng uit mtddelnederlandache dichters.
gehende Untersuchung und Beweisführung erfordert doch weit mehr
Reife, um in ihrem vollen Sinne verstanden zu werden , eben so
eine Kenntniss der früheren philosophischen Anschauungen, wie sie
bei einem Schüler des Gymnasiums nicht erwartet und auch nicht
vorausgesetzt werden kann : es wird demselben hier Manches un-
verständlich bleiben, da er nicht diejenigen Vorkenntnisse und die-
jenige philosophische Vorbildung besitzt, um in das volle Ver-
ständniss einzudringen , wie es doch nothwendig ist , wenn das,
was diese ßchrift bieten will, wahrhaft erkannt und erfaset wer-
den soll.
Bio emlesing uit middelnedtrlandsche dichters , bijeenversameld
door Dr. E. Verwijs, Archiv aris-Bibliothecaru der Provincie
Friesland. Met Woordenlijst en Spraakkunst. Zutfcn (1858 —
1867). D. 1 182, 11 216, III 196, IV 242 SS. fl. 6.
Der Verfasser , der unter den jüngeren Kräften , die sich an
De Vries angeschlossen haben, eine der bedeutendsten ist und sieh
bereits durch verschiedene kritische Ausgaben, darunter die in Ge-
meinschaft mit De Vries besorgte des Spieghel historiael von Jacob
van Maerlant bekannt gemacht hat, gibt im vorliegenden Werke
eine Reibe von ziemlich umfangreichen Proben aus den bedeutend-
sten Schriftwerken der mittelniederländischen Literatur. Auch diese
Arbeit des Herrn Verwijs verdient alle Achtung, namentlich wenn
man sie vergleicht mit denen seiner Vorgänger, z. B. mit dem
Handboek van den vroegsten bloei der Nederlandsche letterkunde
von Lulofs, Groningen 1845. Freilich ist seitdem in den Nieder-
landen die alte Literaturgeschichte mit besonderem Eifer und Er-
folg betrieben worden, so dass ein Werk dieser Art, das vor 20
Jahren erschienen ist, als unbedingt veraltet gelten muss; aber es
muss doch hervorgehoben werden , dass das vorliegende Buch ge-
rade einer höheren Auffassung von den Aufgaben einer solchen
Chrestomathie nachstrebt und nahe kommt. In den drei ersten
Thoilen werden die ausgewählten Stücke in einem kritisch gereinig-
ten Texte mit kurzer literarhistorischer Einleitung gegeben, und
Sm viorten ein Wörterbuch und eine mnl. Laut- und Formenlehre
beigefügt. Es lässt sich also die Einrichtung im allgemeinen mit
dem freilich weniger umfangreichen mhd. Lesebuch von Weinhold
vergleichen.
Beginnen wir bei Besprechung der Einzelheiten mit einer Aus-
stellung, die sich gegen die äussorliche Erscheinung der Proben
richtet. Die Niederländer behalten in ihren Ausgaben mehr, als
wir es bei den unsrigen thnn, die Orthographie der Handschriften
bei. Sie haben dafür ihre guten Gründe, namentlich bei Hand-
schriften eines gewissen Alters oder bei solchen, die allein die
Ueberlieferung vertreten. Allein bei einer Anthologie, die doch
Verwijs: Bioemi ezing uit middelnederlandeche dichter«. TOI
niemals die Ausgaben selbst zu ersetzen beanspruchen kann, hätte
von diesem Prinzip wol abgegangen werden können ; es hätte in
den Texten die Orthographie, wie sie die wissenschaftliche Gram-
matik verlangt, durchgeführt werden sollen. Jetzt findet man in
der Bloemlezing von Verwijs Formen wie jamberlike kaitivo huze
beeren, nnd andere Schreibungen, welche zum Theil wenigstens
gewiss nur dem späteren Abschreiber, nicht aber dem Dichter zu-
kommen. Ks müsste eine einheitliche Orthographie namentlich auch
den Angehörigen höherer Schulen, für die das Buch doch wol in
erster Linie bestimmt ist, die Auffassung wesentlich erleichern.
Die Texte sind nach den besten Ausgaben wiederholt : wo die
Ausgaben nicht befriedigten, ist auf die Handschriften selbst zurück-
gegangen worden, wie wir dies beim Fergunt durch die Güte eines
Freundes zu beurtheilen in den Stand gesetzt sind. Einige Stüoke
sind mitgetheilt, welche bis jetzt wenigstens noch nicht herausge-
geben sind, deren kritische Bearbeitung nach den Handschriften
Hr. Verwijs also selbst besorgt hat. So ein Stück der in einer
Oxforder Handschrift vorhandenen Teesteye dos Jan Boendale ge-
nannt de Clerc; ein Stück, welches die demokratischen und anti-
klerikalen Ideen des Antwerpeuer Stadtschreibers in höchst anzie-
hendem, kräftigem Ausdrucke erkennen lässt und welches die von
einer künftigen Ausgabe des gesammten Werkes gehegten Erwar-
tungen allerdings durchaus rechtfertigt. Ebenfalls bis jetzt noch
nicht herausgegeben ist der Mellibeus, eine Sittenlehre, die sich
freilich mit der Teestoye nicht messen zu können scheint.
Weniger befriedigt die lyrische Abtbeilung (III, S. 115 fg.).
Die Minnelieder Herzog Jans I. von Brabant sind nach der mnl.
Herstellung von Willems mitgetheilt. Diese Herstellung aus mhd.
Formen ist unstreitig eine sehr schwierige Aufgabe und überzeu-
gend ist sie bis jetzt noch nicht gelöst. Aber ganz unglaublich
wird wol allen deutschen Lesern die Art erscheinen, in welcher
Hr. Verwijs selbst die mnl. Lyrik um ein Lied zu bereichern gewusst
hat. S. 124 heisst es unter dem einfachen Titel Zoet gedenken:
Onder der linden
Uptie weide,
Waer (müsste doch wol heissen Daer) ons twe«r bedde was,
Daer moochdi vinden,
Scone beide
Ghebroken bloemen ende gras,
Vore dat wout altemael,
Tandaradei !
Scone sanc die nachtegael.
Ic quam ghegaen enz.
Im Ernste kann Herr Verwijs doch nicht angenommen haben,
dass Walther von der Vpgelweide mittelniederländisch gedichtet
792 Jan ten Brink: GeucMedeni« der nederUndscbe letterknnde.
hat. Soll es aber ein Scherz sein, so fragt es sich doch sehr, wie
viel verstandige Leser daran Gefallen finden. Für Unkundige ist
es doch wol nicht ganz unverfänglich, dass Walthers Lied ohne
weiteres unter niederländischen Volksliedern erscheint, ohne dass
irgendwie, in der Ueberschrift , oder in einer Anmerkung oder im
Register die leiseste Andeutung der Wahrheit zu finden ist. Wo
bleibt da die Philologie? wo bleibt die Wissenschaft?
Um mit Erfreulicherem zu schliessen, so ist auch dem letzten
Theile, dem Wörterbuch und der Grammatik, Kürze und dabei
Inhaltsfülle nachzurühmen. Von der Grammatik sagt der Heraus-
geber : er müsse geltend machen , dass la recherche de la pater-
nite interdite sei. Auch wir halten darum unsere nicht grundlose
Vermuthung zurück. Es genüge zu sagen , dass die Grammatik
einen vortrefflichen Abriss der Laut- und Formenlehre bietet. Ein-
zelnes, wie die in einer Anmerkung gegebene Ableitung von diet,
gotisch thiuda aus griechisch thjg dyrog wird freilich kaum Bei-
iall finden. Für eine spätere Arbeit dieser Art möge der Wunsch
ausgesprochen werden, dass sie das vollständige Material der mnl.
Grammatik und zwar mit den Belegstellen liefere.
Ernst Martin.
Dr. Jan ten Brink, ßchets eener geschiedene der nederlandsche
letterkunde. (Nederlandsche klassieren, uitgegeven en met aan-
teekeningen vooreien dnor Dr. Eeleo Veririjt.) I^eewrarden,
1867, l* aflevering. S8. 128. fl. 0,85.
Die von Herrn Verwijs veranstaltete Sammlung niederländi-
scher Klassiker, der wahrscheinlich deutsche Unternehmungen dieser
Art zum Muster gedient haben, soll hauptsächlich die wichtigsten
Werke aus der neueren Blütezeit der holländischen Literatur, aus
dem XVII. Jahrhundert in einzelnen Bändchen und mit Erläute-
rungen weiteren Kreisen zugänglich und verständlich machen. Aus-
nahmsweise sind auch andere Arbeiten von gleichem populären
Interesse aufgenommen worden, darunter die Skizze einer nieder-
ländischen Literaturgeschichte von Herrn ten Brink. Die erste
Abtbeilung dieses Werkes umfasst den grössten Tbeil der mnl.
Literatur, ein Gebiet, das auch deutschen Philologen von beson-
derem Interesse sein muss , von grösserem jedesfalls als die aus
Nachahmung der Alten und der Franzosen hervorgegangene zweite
Blüteperiode. Es wird daher auch für deutsche Leser eine Be-
sprechung dieses, wenn brauchbar, recht willkommenen Hilfsmittels
nicht unpassend erscheinen.
Gehen wir bei der Besprechung von der Form der Arbeit
aus, von der Darstellung, dem Ausdrucke: so ist zunächst daran
zu erinnern, dass in den Niederlanden überhaupt unter dem Ein-
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Jan ten Brink: Geschieden!* der nederlandeche letterkunde. 793
fluss französischer Werke eiu grösseres Gewicht auf eine blühende,
lebhafte Diction gelegt wird als bei uns. Dass gerade Herr ten
Brink dieser Darstellungsweise zuneigt , zeigte uns eine feurige
Rede über einen Dichter des XVII. Jahrhunderts, die wir auf dem
Niederländischen Congress zu Gent im August d. J. zu hören Ge-
legenheit hatten. Dem entspricht nun auch der Stil dieses Buches,
und niemand würde, zumal bei dem populären Zwecke etwas daran
auszusetzen haben, wenn nicht das Mass eben zuweilen Überschrit-
ten wäre Das scheint aber doch der Fall zu sein, wenn es S. 92
heisst: »Sant Brandan erscheint in seiner Legende theils als Faust,
theils als Colnmbus, theils als Odysseus. Er fangt an als Zweifler
und gibt die Wunder der göttlichen Schöpfung auf. Darum der
Befehl eines Engels, dass er sich auf Reisen begeben solle um mit
eignen Augen das zu sehen, was ihm unglaublich vorkam. Nun
schweift er ziellos umher wie der Fürst von Ithaka und sieht die
unerhörtesten Wunder und Seeungethüme.« Das genügt denn doch
kaum um Brandan mit Faust, Columbns und Odysseus zu verglei-
chen. Ein zweiter Vorwurf, den man gegen die Darstellungsweise
des Verf. erheben könnte , ist das Uebermass des Citirens. Von
einem Autor geht er zum andern über und namentlich die Litera-
turgeschichte von Jonckbloet wird stark in Contribution gesetzt.
Etwas anderes ist die Einmischung von Proben aus der alten
Poesie; es ist dies freilich die einzige Art demjenigen, der die be-
treffenden Werke nicht nachlesen will oder kann, eine gewisse An-
schauung von ihnen zu geben. Ein drittes endlich ist das Anfüh-
ren von Werken, die ausserhalb des eigentlichen Kreises der Be-
schreibung liegen, und hier scheint uns wieder von dem Verfasser
etwas zu viel getban zu sein. Z. B. S. 6 sollen die verschiedenen
Arten der lyrischen Gattung aufgeführt werden: »Unter die lyrische
Dichtungsart reihen wir unter anderem das Volkslied des Mittel-
alters und des XVI. Jahrhunderts , insonderheit die Ode in ihren
verschiedenen historischen Formen von den Dithyramben Pindars
bis zu den Chören von Sophokles , von Racine und Vondel , von
Göthes unnachahmlichem Lied bis zu Heines Jugendgesängen, von
den Elegien des Tibuil und Properz bis zu den Chansons von B6-
ranger.« Wer die hier angeführten Beispiele kennt, der wird schwer-
lich aus der Einleitung des Verf. über die Dichtungsarten etwas
zu lernen haben; und was helfen sie dem, der sie nicht kennt?
Zur letzteren Classe von Lesern dürften doch wol sämmtliche Schü-
ler der höheren Bürgerschulen gehören, für die der Verf. in sei-
nem Vorworte das Buch vorzüglich bestimmt.
Gehen wir zur Anordnung des Stoffes über, so ist die Perio-
deneintheilung des Verfassers die folgende: »I, 1150-1550 Mittel-
alter : Ritterpoesie — Ascetische Literatur — Didaktische Richtung
der bürgerlichen Literatur; 1550 — 1600 Uebergangszeit ; II, 1600
—1795 DieLitoratur der Republik der Vereinigten Provinzen unter
dem Einfluss der Renaissance; 1795 — 1830 Uebergangszeit; III,
704 Jan tcn Brink: Geschieden!* der nederUndB€he letterknnde.
1830 bis beute: Moderne Literatur des konstitutionellen König-
reichs der Niederlande unter dem Einflnss der Romantik.« Spreeben
wir blos von der ersten Periode, so scheinen deren Grenzen nicht
ganz richtig festgestellt zu sein. Abgesehen von Veldekes Ser-
vatius (den wir uns erlauben zur deutschen Dichtung zu rechnen)
ist auch nicht ein mnl. Dichtwerk als sicher vor 1200 entstanden
nachzuweisen: vermuthen kann man es höchstens bei einigen der
Karlromane. Und ebenso ist, als das Ende der eigentlich mittel-
alterlichen Dichtung und als der Beginn der Uebergangsliteratur
ein anderes Datum gewiss passender: 1430, um welche Zeit das
bnrgundische Herrscherhaus ganz Niederland erworben hatte und
damit die französische Sprache durchaus in den Vordergrund ge-
drängt wurde, während zu gleicher Zeit die Poesie der Rhetorykers,
ebenfalls unter französischem Einflüsse stehend, die übrige dich-
terische Production so gut wie ganz erstickte. Auch innerhalb die-
ser Zeit scheint uns eine Periodeneinrichtung nicht unmöglich. Ist
doch seit Maerlands Reimbibel 1271 bis zu Jan Boendales Tod
1365 die bürgerlich-didaktische Richtung die unbedingt siegreiche,
der die Menestreeldichtung nach französischen Romanen voraus-
geht, die allegorische Poesie der Sprekers folgt. Wir denken diese
Eintheilung an einem anderen Orte auszuführen. — Wirft man da-
gegen alle der ersten Periode angehörigen Werke derselben Gat-
tung und desselben Stoffes zusammen, wie Herr ton Brink thut,
so erscheinen Werke ganz verschiedenen Charakters, z. B. Brandaen
und S. Amand nebeneinander. Aber auch abgesehen vom Princip
kann man mit der Ausführung des Verf. , mit seiner Einordnung
der einzelnen Gedichte unter die Sagenkreise nicht durchaus ein-
verstanden sein. Floris ende Blaucefloer erscheint unter den Karl-
romanen ; aber die Anknüpfung an diese ist doch eine ganz äusser-
liohe — Baerte motten breden voeten soll die Tochter des Floris
gewesen sein — ; die eigentliche Sage ist vielmehr byzantinisch. Ein
ähnliches Verhältniss ist bei der Sage von Parthenopeus und Me-
liur vorhanden, welche man in der Literaturgeschichte des Herrn
ten Brink vergebens sucht.
Frägt man weiter nach der Richtigkeit des Mitgetheilten, so
ist im Allgemeinen die Sorgfalt des Verfassers anzuerkennen. Dass
W. Grimms Rolandslied 1858 erschienen sein soll (S. 31) ist wol
nur ein Druckfehler für 1838. Mehr verdient Rüge, dass der Verl
öfters Vermnthungen anderer als Gewissheit gegeben hat, selbst
wenn sie seitdem ihre Widerlegung gefunden haben und von den
Urhebern selbst zurückgezogen worden sind. So wird S. 75 be-
hauptet und S. 74 und 116 wiederholt, dass Jacob von Maerlant
seine Alexanders Geesten 1246 geschrieben habe. Jonokbloet hatte
dies allerdings in seiner Literaturgeschichte behauptet und den
Widerspruch, der darin liegt, dass Pabst Innocenz IV. als gestor-
ben (1254) erwähnt wird, hiuwegzuräumen gesucht; allein bei den
Verhandlungen des Niederländischen Congresses zu Brügge sagte
Jan ten Brink: Geschieden!* der nederUndsche letterknnde. 795
er selbst: »Die Vergleicbung des Maerlant' sehen Werkes mit sei«
ner lateinischen Quelle, der Alexandreis Ganthiers von Cbatillon lehrt
deutlich, dass ich mich irrte, als ich das Jahr 1246 als Zeitpunkt
für die Abfassung der Uebersetzung annahm , die sicher erst 10
Jahre später fallt.« Dies Datum ist aber von grosser Wichtigkeit,
nicht nur, weil es eins der ersten in der mnl. Literaturgeschichte
ist, sondern weil im Alexander auch verschiedene andere mnl.
Dichtungen und Sagen angeführt werden, die natürlich noch früher
entstanden sein müssen. Eher darf man einem Niederländer ver-
zeihen, dass er das mhd. Rolandslied des Pfaffen Eonrad noch nach
W. Grimm 8 Vermuthung 1173—1177 entstand en sein lässt, wäh-
rend jetzt bei den deutschen Fachgenossen die Ueberzeugung so
ziemlich allgemein sein dürfte, dass es 1131 oder 1132 gedichtet
ist. 8. Oskar Schade, veterum monumentorum Theotiscorum decas,
Hallenser Habilitationsschrift. Weimar 1860.
Am meisten aber tritt das zuversichtliche Behaupten der von
Anderen als Vermuthung aufgestellten Ansichten störend hervor in
dem Abschnitt X vom Thierepos. Schon der Name Thierepos ist
ein unzweifelhaft misbräuchlicher. J. Grimm, desselben Ansicht man
mit diesem Namen wiederzugeben glaubt, scheint ihn fast absicht-
lich vermieden zu haben. Er spricht von einer Thiersage, die er
aus der ältesten Zeit nicht nur des deutschen , sondern des indo-
germanischen Urvolkes stammen lässt. Er meint damit z. B. die
Erzählung von dem Fuchse, der in eine Färberkufe gefallen und
so unkenntlich geworden den Wolf oder andere Thiere täuscht,
oder die, wie der Fuchs den Wolf zum Fischfang auf das Eis
führt. Dergleichen Erzählungen finden sich allerdings .heutzutage
bei vielen Völkern und sie können schon eine geraume Zeit als
Märchen von Mund zu Mund gegangen sein. Aber das ist doch
nicht genügend um von einem Epos zu sprechen. Zum Epos ge-
hört nothwendig die dichterische Form und zwar die Liederform.
— Gehn wir nun auf die einzelnen Bemerkungen des Herrn ten
Brink ein. »Schon im IV. V. VI. Jahrhundert entstand inmitten
der germanischen Wälder bei den umherschweifenden Stämmen ein
lebendiges Interesse für alles, was die Thierwelt anging.« Woher
hat der Verfasser dies Datum? Und weiss er nicht, dass schon zu
Tacitus' Zeit die Deutschen keine Nomaden mehr waren ? — Ebenso
zuversichtlich und dabei halb unrichtig ist Grimms Ansicht wieder-
gegeben in der Anmerkung auf S. 77: »Grimm bat bereits bewie-
sen, dass Beinhart eine Zusammenziehung war von Beginhart oder
von dem gotischen Raginohart mit der Bedeutung Bathgeber,
welche Bedeutung in den späteren französischen Bearbeitungen
nicht verloren gegangen ist.« Grimm selbst ist sehr ungewiss, ob
in den Worten des Benart: si ai maint bon conseil done*, par mon
droit non ai non Benart, wirklich eine Erinnerung an die von ihm
aufgestellte Bedeutung des Namens Beinhart liege. Dabei begeht er
auch nicht den grammatischen Fehler von einem gotischen Bagino-
706
Die Urform der VossMachen UebersetBung.
hart zu sprechen (denn znr Zeit des Ulfilas würde der Name Ra-
ginabardus gelautet haben, im westgotischen des IX. Jahrhunderts
lautete er Rainbart, s. Haupts Zeitschrift für deutsche Alterthums-
wissenschaft I, 390) ; sondern er spricht nur von einer ältern d. h.
noch immer althochdeutschen Form Raginohart. Endlich ist
Grimms Uebersetzung des Namens Reginbart als Ratbgeber un-
zweifelhaft falsch.
Wie der Verf. nun für den Ursprung der Thiersage die An-
sicht J. Grimms als gewiss hinstellt, so gibt er auch bei der Dar-
stellung der unmittelbaren Quelle des Reinaert, des französischen
Roman du Renart die Versuche Jonckbloets diesen spröden Stoff zu
bewältigen mit der grüssten Zuversicht wieder. S. 78. 79. Anm. I.
Und doch scheinen diese Versuche nicht das richtige getroffen zu
haben und sie mussten verunglücken, so lange sie sich nur auf die
Ausgabe Meons stützen konnten.
Wir müssen hoffen , dass die folgenden Bändchen über die
neuere Blüteperiode der niederländischen Literatur, ein Gebiet, auf
dem der Verf. schon selbständige Arbeiten veröffentlicht hat, mehr
ihrem Zwecke entsprechen als das erste.
Ernst Martin.
Die Urform der Voss*ischen Uebersetzung vom Lob Italiens. Vergihi
Georgica, IL 136—176.
Vor vielen Jahren fand ich in einem Leipziger Antiquariat
zwei alte Quartblätter, welche die metrische Uebersetzung eines
Bruchstückes aus dem zweiten Gesänge der Georgiken Vergil's ent-
halten. Die Voss'iscbe Uebersetzung kannte ich damals noch nicht,
und jene Blätter kamen bald in Vergessenheit. Erst später stellte
sich mir durch Vergleichung der letzteren mit der ersten Ausgabe
(1789) die Vermuthung heraus, dass jene aus einer, vor dem
Druck angefertigten Handschrift der Uebersetzung Voss' stam-
men mtissten, ja, die spätere Einsicht in Voss'ische Original-
manuscripte gab mir sogar die erfreuliche Gewissheit, dass die
Blätter von Voss' eigener Hand geschrieben sind. Es sind die kräf-
tigen, aber schon zur plastischen Schönheit seiner spätem Schrift-
ztige neigenden Charaktere; die ganze äussere Form der Scriptor
aber zeugt von jener ehrenhaften Solidität, von jenem reinen Formen-
sinn, welche die Grundzüge vom Charakter Voss1 selbst bilden. Da
der erste Gesang seiner Georgika (unter dem Titel : >Virgirs Land-
leben «) 1783 im »deutschen Museum«, der ganze »Landbau« aber
zuerst 1789 erschien, so müssen jene Blätter aus den dazwischen
liegenden Jahren stammen, was auch aus der auffallenden Gleich-
heit der Schrift mit Manuscripten aus dieser Periode erhellt.
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Die Urform der Voas'iachen Ucberaetmng.
797
Wenn ich mm dieses Bruch stück , das glücklieber Weise das
grandiose »laus Italiae« ganz enthält, hier mittheile, so will ich
die Berechtigung dazu nicht einmal herleiten weder aus Lessing's
treffendem Worte (in den > Literaturbriefen« in der Anzeige des
> Messias«) über Veränderungen und Verbesserungen, welche die
Dichter in ihren Werken machen, und den Werth des Studiums
derselben , noch aus Vischer's (Aesthetik, III. 20.) Werthbestim-
mung der Skizzen finden, »der in die Gebeimuisse des Werdens
des Kunstwerks eindringen will.« In dieser Zeit der oberflächlich-
sten und gewissenlosesten Schnellproduction, wo Platens Mahnung :
»Früh von der Stirn mühevoll rinne der männliche Schweiss« —
nicht oft genug wiederholt werden kann, dürfte schon das ethische
Beispiel Voss' nicht ohne segensreiche Wirkung bleiben, der sich
selbst nie genug that und Tag und Nacht seine Werke läuternd in
der Seele wälzte.
Was für ein sprachliches und ästhetisches Werthverhältniss
zwischen den Formen des ersten Gesanges in den Drucken von
1783 und 1789 besteht, weiss ich nicht, da mir erstere bisher
unbekannt geblieben ist; aber das ästhetische (das philologische
muss ich Fachmännern überlassen) zwischen den nachfolgenden
Versen und ihrer Gestalt im Druck von 1789 bezüglich innerer
und äusserer Formschönheiten ist ein so gewaltig verschiedenes,
dass wir aus ihm nur mit Rührung den neuen Beweis von Voss*
»ernster und ausdauernder Arbeit und seines unermüdlichen Fleis-
ses« (Prutz, Gött. Dichterb.) entgegen nehmen kennen.
Ich gebe nun folgend nicht nur das »Lob Italiens«, sondern
selbstredend das ganze erhaltene Manuscript, und zwar mit diplo-
matischer Genauigkeit.
Manuscript.
»Oder was Indien sonst in der Erde fernesten Winkeln
Nah dem Meere für Wälder trägt? wo den Wipfel der
Bäume
Kein Pfeil von der straffesten Sehne verschossen erreichet:
125 So gesehickt auch diess Volk den Bogen zu führen ver-
stehet.
Media erzeuget den Apfel (die Citrone) von lange dauernder
Herbe,
Dessen heilsamer Saft, die schleunigste Hilfe gewähret,
Wenn Stiefmütter voll Tücke, den anvertraueten Kindern,
Ihr Getränk vergiften, mit Kräutern und schädlichen Sprüchen,
180 Kühlend befreyet er bald die Glieder vom schleichenden
Tode.
Hoch ist der Baum, und gleicht an Gestalt und an Farbe
dem Lorber.
798
Die Urform der Vois'lschen TJebersetiung.
Jedermann hielt ihn dafür, wofern er nicht andere Düfte
Weit umher verströmte. Kein Sturm entreisst ihm die Blätter,
Noch die festen Blühten: des Mundes widrigen Odem
135 Bessert der Meder durch ihn, und heilet die keuchenden Greis*, c
(Lob Italiens.)
>Aber weder India, reichgesegnet an Wäldern,
Noch der stolze Ganges, noch Hermus von Golde getrübet,
Ringt um den Preis mit Italien : weder der Indus, noch Baktra,
Noch das fette Panchäa, mit weibrauchtragendem Sande.
140 Hier hat niemals ein Stier, von feuerschnaubendem Rachen,
Zähne schrecklicher Hydern, dem Boden untergepflüget :
Niemals starrte die Saat, von Speeren bepanzerter Krieger.
Aber schwangere Halmen, und Libers Massische Traube,
Füllen die selige Flur, und Oliven und fröliche Heerden.
145 Hier zeucht muthig zum Kampfe, mit stolzer Mähne das
Streitro8S ;
Weisse Heerden, gebadet im heiligen Strome Klitumnens,
Und den mächtigen Stier, (der Sioger erhabenstes Opfer)
Führet der Römer hier oft, im Triumph zu den Tempeln der
Götter.
Hier herrscht ewiger Lenz, mit dem 8ommer in lieblichem
Wechsel:
150 Zweymahl gebieret das Vieh, und zweymal blühet der Frucht-
baum.
Fern ist der Löwen schreckliche Brut, und der reissenden
Tiger.
Auch betrüget den Kräuterleser, kein tödtliches Wolfskraut:
Keine schuppichte Schlange, zioht in entsetzlichen Krümmen,
üeber das Feld, und keine lauscht in geringelten Kreisen.
155 Denke dir noch die Werke der Kunst: so viel prangende
Städte :
So viel Festen, auf unersteigliche Felsen gethtirmet:
So viel Ströme die sich um Mauren des Alterthums winden.
Wie besing ich den Adrischen, wie den Thuscischen Pontut.
Wie, den Larischen See, und deine Tiefen Benakus,
160 Der du dein brausendes Wasser, gleich Meereswogen empor-
schwellst.
Wie besing ich den Port, und den schützenden Damm des
Lnkrinsees,
Oder den Donner der zürnenden Fluth, wo die Julische Welle,
Die Gewässer des Meers, in rasendem Kampfe zurückdrängt,
Und Tyrrheniens Wagen, in den Avernischen Schlund wirft.
165 Ja, diess nämliche Land hegt Kupfer und Adern von Silber
In den Busen der Berge, und wälzt Gold in den Strömen.
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Die Urform der Voss'ischen Uebereeteung.
799
Dieses, erzeugte die kriegerischen Marser, die harten Ligurer,
Und Sabiniens Volk, und die lanzeniübrenden Volsker:
Dieses, die Decier, Manier und die erhabnen Kamillen,
170 Der Scipionen Heldengeschlecht, und dich mächtiger Caesar!
Der du jetzt an Asiens fernesten Ufern ein Sieger
Schon den entwaffneten Inder, durch Römische Festen zurück-
schreckst.
Heil dirl grosse Mutter der Früchte, Saturnische Tellus
Mutter der Helden! dich lehr' ich die nähmliohen Künste der
Vorwelt,
175 Dir eröfn' ich voll Mutb, der Dichtkunst heiligen Quell und
Sing in Romulischen Städten, das Lied des Barden von Askra.
»Izü betrachte mein Blick, der Felder Färb1 und Naturart,
Und der Erde Gehalt, und ihre verschiedenen Kräfte.
Karge Hügel, ein Feld das den Pflüger zu lohnen sich weigert,
180 Kies und magerer Thon, mit Haidekrautstauden bewachsen,
Lieber der Haine Minervens langelebenden Oelbanm.
Solches bezeugt der Oleaster (Oleaster, wilder Oelbaura), der
häufig in solcher
Erde spriesst, und den Boden mit wilden Beeren bestreuet.
Aber ergiebiges Land, von milder Nässe geschwängert,
185 Das von Fruchtbarkeit strotzt, und dicht in Kräuter gehüllt ist,
(Wie wir oft in den Thälern zwischen Gebirgen erblicken
Wo der waldichte Fels geschlängelte Bäche herabgiesst
Reich an düngendem Schlamm) ein Berg der vom Mittag be-
leuchtet
Wildes Farrenkraut nährt, zu des krummen Pfluges Ver-
derben,
190 Diese verheissen dereinst uns starke, vom Safte Lyäens
Ueberfliessende Reben, diese verheissen uns Trauben,
Diese den Opferwein, den wir aus goldener Schale vergiessen,
Wenn der Rauch der Geweide, von heiligen Schüsseln empor-
steigt,
Und der frohe Tyrrbener, die Flöte von Helfenbein spielt.
195 Hast du beschlossen für Kälber und Rinderheerden zu sorgen,
Oder Sohaafe zu ziehn, und staudenverheerende Ziegen ;
So benutze des fernen Tarents gesegnete Forsten,
Oder ein Feld, wie Mantua jüngst an die Sieger verlohren,
Das den glänzenden Schwan, in Mincius grasichter Flur nährt.
200 Nie vermisset die Heerde hier Gras, nie lautere Quellen;
Und was weidende Rinder, in langen Tagen entrupfen,
Das ersetzet der Thau, in der letzenden Kühle der Nächte.
Fettes und schwärzliches Land, dass unter dem Pfluge sich
lockert
(Denn die Lockerkeit ist des Pfltigers nachahmender End-
zweck)
800 Die Urform der Vosei'schen Uebersetrung.
205 Ist dem Getreidebau hold : von keiner anderen Ebne,
Zieht der träge Stier, uns mehrere Wagen zur Tenne.
Auch der Boden ist günstig, von dem der zürnende Pflüger,
Wälder vertilgt, die Jahrelang müssigen Haine hinwegfahrt
>Und der Vögel veraltete Sitze, tief aus der Wurzel
210 Reisset: sohnell entflieht das verscheuchte Geflügel gen Himmel,
Und die verwilderte Flur lacht unter dem Schnitte des
Kolters. *)
Aber kaum Rosmarin, für Bienen kaum milderen Zeilau,
Träget der magere Kies, auf hügelvollem Gefilde,
Es ist nioht nötbig, an einzelnen Beispielen die ungemein fort-
geschrittene Vollendung der Uebersetzung von 1789 nachzuweisen,
in der äussern Form durch die Tilgung der zahlreichen weichlichen
weiblichen Cäsuren, Cäsurmangels, matter Trochäen, falschen Arsen
und Scansionen, auch untergelaufener Hiaten, durch die flüssiger ge-
wordene Sprache und melodischem Rhythmus ; in der inneren Form
durch das plastischer herausgearbeitete Bild. Indess kann nicht ge-
läugnet werden, dass schon hier, wie später in zahlreichen Werken
von Voss, allerdings in der Umarbeitung doch auch einzelue Schön-
heiten der ersten Gestalt matteren Formen haben Platz machen
müssen, wie beispielshalber Vs. 144. Mscr. »Füllen die selige Flur,
und Oliven und fröliche Heerden« — Ausg. 1789: »Füllten das
Land, Oelgärteu sind rings, und fröhliche Rinder« ; Vs. 151. Mscr.
»Fern ist der Löwen schreckliche Brut etc.« — Ausg. 1789:
»und grausamer Löwen Zeugungen etc.«
•) „Kolter", Pflugschaar, engl, coulter (colter); franz. coutre; itaL
coltro; lat. culter. 8 Eduard Müller, ei. Wörterb. der engl. Sprache L
8. 242., u. Frisch, tentsch-lat. Wörterb. I, 588. II, b. 26. unter „culter.-
H alber stadt. Dr. Frani Weber.
St. 61. • HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Franci8cua Bopp, Glossarium comparativum linguat sanscrilae,
in quo omnes sanscritae radices et vocabula usitatissima ezpli-
cantur et cum vocabulis graecis, lalinisy germanicis, liluanicis,
slavicis, celticis comparantur. Editio tertia, i?i qua vocabula
sanscrita accentu noiata sunt latinisque literis transcripta.
Berolinij prostat in liberaria Dummkriana. AIDCCCLXVIL
Es war in den Heidelberger Jahrbüchern, dass der Name Franz
Bopp vor mehr als fünfzig Jahren der gelehrten Welt zum ersten
Mal genannt worden. Diese Blätter standen damals in hohem An-
sehen ; ihre Mitarbeiter waren die besten Männer der Zeit. So
fand sich August Wilhelm von Schlegel veranlasst, über eine Er-
öffnungsrede, welche A. L. Cbezy in Paris beim Beginne seiner Vor-
lesungen über Sanskritspracbe und Literatur gehalten, darin einen
Bericht zu erstatten. Die Bede war schon darum bedeutungsvoll,
weil sie den ersten Lehrstuhl einzuweihen bestimmt war, welcher
Überhaupt in Europa für Sanskrit hergerichtet worden. Wie natür-
lich kam der Berichterstatter am Schlüsse seiner Anzeige und Re-
cension auch darauf zu sprechen , was zur Zeit wohl in Deutsch-
land für jene Studien zu thun sei. Es sei noch zu früh, meinte
er, auch dort bereits Lehrstellen für die indische Sprache stiften
zu wollen. Bis man einen reicheren gedruckten Vorrath habe,
könne dies nur da gedeihlich werden, wo eine Sammlung von Hand-
schriften sei, daran es bei uns, die wir keinen Nacblass von Mis-
sionaren haben, gänzlich fehle. Das Nützlichste würde vor der
Hand sein, junge Männer von Geist und besonders von beharr-
lichem Eifer zu diesem Behuf reisen zu lassen. Zuerst nach Paris,
dann nach London, und wen sein Muth und seine Mittel so weit
trUgen, der »wallfahrte zu den geheiligten Fluten des Ganges und
frage die Weisen von Benares.« Er freue sich hier erwähnen zu
können, dass dies wirklich durch die Freigebigkeit einer deutschen
Regierung bereits geschehe. »Herr Bopp aus Aschaffenburg, ein
ebenso fleissiger als bescheidener Forscher hält sich seit mehreren
Jahren mit königlich baierischer Unterstützung in Paris auf und hat
neben seiner Kenntniss anderer morgenländischer Sprachen sehr
beträchtliche Fortschritte im Sanskrit gemacht.« — So Schlegel im
im Jahre 1815. Er hatte in eben demselben Jahro in Paris Sans-
krit zu lernen begonnen, hatto dort die Bekanntschaft des jungen
Bopp gemacht, und — wie er an anderer Stelle später erzählt —
häufig mit ihm zusammen gearbeitet.
LÄ. Jahrg. 11. Heft 51
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801
Bopp: Gloiiarlum comptrathnim«
Ein zwanzigjähriger Jüngling war Franz Bopp im Jahre 1812
nach Paria gekommen , damals , in den ersten Zehenden unseres
Jahrhunderts, dem Mittelpunkt der orientalischen und besonders
auch der altindiscben Studien. Dort bot eine an Handschriften
reiche Bibliothek die Gelegenheit unmittelbar aus den Quellen zu
schöpfen, und Männer von Ruf und Gelehrsamkeit waren dort, be-
fähigt und gern bereit, den Strebsamen zu unterstützen. Da waren
Sylvestre de Sacy, Abel-Rdmusat , Etienne Quatremere, da war
Langlös, der gelehrte und um seine Liebenswürdigkeit nicht min*
der gerühmte Conservator der Bibliothek, da war endlich — um
andere zu geschweigen, — Alexander Hamilton, ein englischer Marine-
Offizier und Mitglied der asiatischen Gesellschaft zu Calcutta, ein
grosser Kenner sowohl vieler asiatischer Idiome als namentlich auch
des Sanskrit. Nach dem Bruche des Friedens von Amiens als Ge-
fangener in Paris zurückgehalten, hatte er seine unfreiwillige Müsse
der Durchsicht und Anordnung altindischer Mannscripte gewidmet,
welche schon im siebzehnten Jahrhundert durch Missionare in die
dortige königliche Bibliothek gebracht waren aber freilich gleich
den ägyptischen Papyrusrollen da lagen, da Niemand sie zu lesen,
geschweige denn zu erklären vorstand. Um diesen Alexander Ha-
milton nun sammelte sich die gelehrte Welt von Paris und alle
diejenigen namentlich, welche Sanskrit lernen wollten. Wie der
vorhin genannte Chözy, so hatte dort und bei ihm auch Friedrich
Schlegel gelernt, der erste Deutsche, welcher mit wissenschaftlichem
Sinn altindiscbe Sprachstudien getrieben.
Das bekannte Werk dieses jüngeren Schlegel >über die Sprache
und Weisheit der Indier«, welches 1808 in Heidelberg erschienen,
war epochemachend gewesen. Nicht weniger freilich dnrch seine
offenbaren Mängel und Lücken als durch seinen Inhalt hatte es die
Neugierde überall gestachelt und angeregt. Und der Verfasser
selbst hatte darin die Hoffnung ausgesprochen, dass sich »wie einst
bei der Wiederauflebung der Wissenschaften, so auch jetzt Deutsche
finden möchten, das begonnene Werk fest zu begründen und weiter
zu fuhren. < Dies Alles reizte nun aber dahin zu gehen, wo sich
jener seine Kenntniss um die merkwürdige Sprache geholt, reizte
namentlich den jungen und strebsamen Franz Bopp, welcher sich
bereits als Knabe unter Windischmanns Leitung mit ausnehmendem
Fleiss und Eifer auf das Studium der Orientalia und des orienta-
lischen Alterthums geworfen. Er hatte, wie Windischmann erzählt,
seinen »Scharfblicke und seine »vorwaltende Neigung zu ernster
Wissenschaft« vor allem der Sprachforschung gewidmet, sogleich
von Anbeginn mit der Absicht, auf diesem Wege in das Geheim-
niss des menschlichen Geistes einzudringen und demselben etwas
von seiner Natur und von seinem Gesetze abzugewinnen. So habe
er denn die Sprachen des klassischen Alterthums sowohl als die
gebildetsten des neueren Europa gelernt und dieselben seinem tief
erforschenden Sinne gleichsam als Organe anzueignen gesucht. Dies
Boppt Glossarium oompar*tlvum.
808
Alles — fügt der entzückte Lehrer hinzu — sei in der Stille ge-
schehen, and eben in ihr habe er auch das Verlangen gehegt, den
Sinn fUr die innere Natur der Sprache durch Bekanntschaft mit
den ältesten Sprachen der Welt zu üben und zu schärfen. — Ge-
nug, der Schüler Windiscbmanns wollte wo möglich der erste sein,
welcher jener Hoffnung Schlegels entspräche. Wo möglich, — denn
allerdings stellten sich seinem Vorhaben Schwierigkeiten entgegen,
der zwischen Deutschen und Franzosen noch immer wüthende
Krieg, dessen erste Schrecken bereits an seine Wiege in Mainz
getreten, und dann das Unvermögen seiner sonst braven Eltern. —
üeber das eine half ihm sein entschlossener Math hinweg, wie
Friedrich Schlegel in seinom Buche gerathon, über das andere, —
ebenfalls nach Friedrich Sohlegels Voraussicht, — die Freigebig-
keit des Königs von Baiern, welcher ihm für seinen Zweck ein
kleines Stipendium gewährte. So konnte Franz Bopp nach Paris
gelangen.
üeber die Art seines Lebens und Arbeitens dort, wollen wir
uns hier nicht verbreiten. Wir denken an anderer Stelle bald zu
erzählen, wie er die Schwierigkeiten in beider Hinsicht durch eine
seltene Ausdauer, durch mässige Enthaltsamkeit und unermüdlichen
Fleisa Uberwunden, wie er mit nüchternem Ernst auf einem noch
gänzlich unangebauten Felde der Forschung immer weiter vor- und
immer tiefer eindrang. Auch Uber die Erstlingsschrift Franz Bopp's,
welche 1816 bald nach jener Ankündigung durch Wilhelm Schlegel
erschien , wollen wir hier kurz hinweggehen. Es war die erste
Fracht seiner Arbeiten, durch welche sich ihr Verfasser selbst der
gelehrten Welt auf das Vortheilhafteste empfahl. Die Vorerinnerungen
dazu hat bekanntlich Karl Joseph Windischmann geschrieben, welcher
die Idee seines vormaligen Schülers, »das Sprachstudium als ein
historisches und philosophisches zu behandeln«, mit dessen eigenen
Worten darin ausgesprochen. Es ist ferner bekannt genug, wie
diese Schrift ȟber das Conjugationssystom der Sanskritsprache in
Vergleichung mit jenem der griechischen , lateinischen , persischen
und germanischen Sprache« der erste glückliche Versuch zur Aus-
führung jener Idee war, den »Grundbau der Sprachen« in durch-
gängiger Beziehung offen und klar darzulegen, der Anfang einer
neuen wissenschaftlichen Methode, der vergleichenden Sprachfor-
schung« — Schon Friedrich Schlegel hatte in seinem Werke den
entscheidenden Punkt, der Alles aufhellen werde, in »die innere
Struktur der Sprache und die vergleichende Grammatik« gesetzt
und von dieser ganz neue Aufschlüsse über die »Genealogie der
Sprachen« auf ähnliche Art erwartet, »wie die vergleichende Ana«
tomie Uber die höhere Naturgeschichte Licht verbreitet.« — Aber
was er dazu von »der inneren Entfaltung des eigentlich wunder-
baren und geheimnissvollen Theils der Sprache« vorgebracht, hatte
die Sache viel mehr verdunkelt als aufgehellt Seine Erklärungen
waren uach Art der Creuzer'sohen Symbolik auf jene Begabtheit
804
Bopp: Glossarium comparatlvum.
»des lichten Gefühls und der unmittelbaren Anschauung« gestützt,
deren sich die »Urmenschheit« dereinst in üb erschwinglichem Masse
erfreut; wie des Heidelberger Professors Enthüllungen über Götter
und Göttermythen , so waren des frommen Dichters Offenbarungen
Über »Sprache und Weisheit« der Inder. — Diesen Standpunkt
nun hatte die Arbeit Franz Bopp's gründlich überwunden. Statt
der dunkeln Ahnungen von »innerer Umbildung und Veränderung
des Wurzellauts« war bei ihm eine klare Analysis der vergliche-
nen Flexionsformen gegeben ; statt der Mystik und Romantik war
bei ihm eine nüchterne und besonnene Forschung eingetreten ; der
jugendliche Forscher selbst aber war auf der von ihm gebrochenen
Bahn vom Jünglinge zum Manne gereift.
Schon damals nun im Jahre 1816 war Franz Bopp darauf
bedacht, die Mittel zu beschaffen, welche die Erlernung des Sans-
krit erleichtern und die Ausbreitung dieser Kenntniss namentlich
auch in Deutschland ermöglichen könnten. Diese Mittel sind be-
kanntlich Texte, Grammatik und Wörterbuch. Wie schlimm es
damals noch um diese Dinge aussah, braucht ebenfalls nicht erst
gesagt zu werden. Die wenigen Bücher, welche seit William Jones
Ausgaben der Sakuntala (1789) und des Manu (1794) durch andere
englische Gelehrte, wie Wilkins, Colebrooke, Carey und Marsh man
besorgt in Calcutta oder Serampore gedruckt erschienen, hatten
sich durchweg aufs engste den älteren schriftlichen und theilweise
den mündlichen Ueberlieferungen damals lebender Brahmanen an-
geschlossen. Mit ihnen fertig zu werden und daraus die fremde
Sprache zu erlernen, setzte deren Kenntniss, so zu sagen, schon
voraus. Dazu waren diese Bücher nur sehr schwer, nur um vieles
Geld, eine Zeitlang sogar, während der Contineutalsperre, gar nicht
zu erhalten. Diesem Uebelstande war unser Bopp abzuhelfen ge-
sonnen. Während seines nahezu fünfjährigen Aufenthalts in Paris
hatte er sich mit den wenigen dort vorhandenen Hilfsmitteln in
die Sprache gründlich hineinzuarbeiten gewusst und bald hernach,
aufgemuntert — wie er sagt — durch den bedeutsamen Inhalt
desaun, was Wilkins in englischer und Friedrich von Schlegel in
deutscher Sprache davon bekannt gemacht hatten, das Durchlesen
jenes riesenhaften Epos der alten Inder, des Mahä-Bbärata, unter-
nommen. Ueberzengt, dass das grosse Ganze, ein Sammelwerk
vieler Zeitalter und verschiedener Redaktionen, nicht geeignet sei,
»jemals ganz in der Ursprache herausgegeben oder in einer voll-
ständigen U eber setzung bekannt gemacht zu werden«, hatte er eine
Auswahl getroffen und mit feinem Gefühl und kritischem Sinn eine
Anzahl der schönsten Episoden sorgfaltig nach den Handschriften
copirt. Jede einzelne derselben konnte als ein Ganzes für sich an-
gesehen werden. Einige Proben davon waren bereits seiner Erst-
lingsschrift in deutscher Uebertragung angehängt worden. Und
König Maximilian Joseph von Baiern nnd der Kronprinz, sein
Sühn, denen Windisohmann daraus vorgelesen, hatten Geschmack
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Bopp! Glossaritim comparatimm.
805
genug daran gefunden, um dem jungen Uebersetzer ihre weitere
Unterstützung gern zu gewähren.
Hiernach war Franz Bopp dann zur Fortsetzung seiner Arbei-
ten nach London gegangen, wo ihn Wilkins und Colebrooke mit
offenen Armen empfingen. Die >o st indische Bibliothek« dort, mit
welcher auch Colebrooke's Sammlung war vereinigt worden, lieferte
ihm weitere Manuscripte zur Vergleichung seiner Pariser Abschrif-
ten. Und so erschien im Jahre 1819 zu London zum ersten Mal
jenes wunderherrliche Gedicht von »Nalas und Damayanti« im Ur-
text mit lateinischer Uebersetzung , das zweite Buch , welches mit
indischen Lettern in Europa gedruckt worden. Wilkins, der Her-
ausgeber des ersten, des Hitopadesa, jenes indischen Spruch- und
Fabelbuchs, vom Jahre 1810, hatte seine Typen bereitwilligst her-
geliehen. Die Wahl jenes Stückes aber war so überaus trefflich
gewesen, die Arbeit mit so vielem Geschick und kritischem Urtheil
gemacht worden, dass selbst August Wilhelm Schlegel seine ge-
wohnte Eitelkeit und absprechende Manier darüber vergass und bis
auf geringe Ausstellungen in der Uebersetzung die Eigenschaften
des Buches und seines Herausgebers nicht genug zu rühmen und
anzupreisen wusste. »Wir können — sagt er — Herrn Bopp
nicht genug für diese schöne Mittheilung danken. Wir haben nun-
mehr ein zweckmässiges und leicht anzuschaffendes Buch für den
ersten Unterricht. Denn die epische Poesie ist ohne Vergleich die
leichteste Gattung in der indischen Literatur.« — Dazu war Schlegel
von der in ihrer Art unübertrefflichen Schilderung ähnlich wie einst
Göthe von der Sakuntala ergriffen, und der Reiz des behandelten
Gegenstandes hatte ihn so hingerissen, dass er meinte, jenes in
Indien so unendlich volksmässige Mährchen von der heldenmüthi-
gen Treue und Ergebenheit der Damayanti, einer andern Penelope,
verdiene bei uns in Europa eben so berühmt zu werden. Wir wis-
sen auch, wie viel seitdem durch die wiederholten Ausgaben und
Ueber8etzungen von Bopp selbst, Rückert u. A. dazu geschehen.
In demselben Jahre 1819, — das sich nächst dem Jahre 1816
auch noch durch andere höchst wichtige Erscheinungen auf dem
Gebiete der Wissenschaft auszeichnet, — war aber auch zu Oal-
cutta das erste Sanskritwörterbuch erschienen, welches, mit Schlegel
zu reden, »auf europäischem Fusse« verfasst worden. Der Englän-
der H. H. Wilson, der gelehrte Herausgeber des Megha-Duta, hatte
dasselbe aus dort vorgefundenen Wörtersammlungen mit gross tem
Fleisse zusammengestellt. Man muss diese Arbeiten, die Kosha's
(Thesauren) der aitindischen Lezicographen kennen, muss wisaen, wie
sie allzumal bis auf den besten und bekanntesten, den nach seinem
Verfasser Amara(-Sinha oder Deva) sogenannten Amara-Kosha, gar
nicht 8 weiter als blosse Vooabnlarien sind, welche für den der
Sprache Kundigen beim Nachschlagen fast unübersteigbare Schwie-
rigkeiten haben, für den Anfänger aber gänzlich unbrauchbar sind,
um das grosse Verdienst Wilson's vollkommen würdigen und be-
greifen zu können, warum man das Erscheinen seines Werkes mit
Hecht als ein Ercigniss begrüsst bat. Dennoch war das Werk
durchaus nicht ohne Mängel. Auch in ihm war zuerst, wie in den
meisten früheren und tbeilweise noch beutigen Wörterbüchern an-
zutreffen, dass man aus ihnen wohl ersiehet, was ein Wort zum
ersten, zweiten, dritten n. s. f., nicht aber was es ein für alle-
mal zu bedeuten hat, — ein Fehler, der gerade mit deT Kenntniss
des Sanskrit aufhören soll. Indem es ferner aber in der einen
Hinsicht zn viel , in der andern aber , da Belegstellen fehlten,
zu wenig gab, Hess auch bei allem Umfang die Vollständigkeit zu
wünschen übrig, und manches Wort, manches Vernum compositum
konnte man da vergebens suchen. Endlich, um Anderes, was sich
bei dem damaligen Stand deT Sprachkenntniss eher entschuldigen
lässt, zu geschweigen, war ein grösster Fehler des Buches immer-
hin der, dass es wieder viel zu tbeuer und bei der geringen An-
zahl der gestellten Exemplare nicht sowohl allzubald vergriffen als
überhaupt schwer zu erlangen war. Die geringe Verbreitung des
Werkes, dass es manchen selbst grösseren Bibliotheken lange ge-
fehlt, auf einigen noch heute , nachdem es die dritte Auflage er-
lebt hat, nicht angetroffen wird, ist wohl dem letzteren Uebelstande
vor Allem zuzuschreiben. Man sieht indess, ein Wörterbuch, wie
es Franz Bopp beabsichtigt, war damit keineswegs tiberflüssig,
sondern im Gegentheil nur noch mehr nothwendig geworden. An-
fangs gewillt, seinem Nalus sogleich ein kurzes Glossar beizugeben,
besann er sich eines Besseren. Er wollte nun erst die ganze Reihe
seiner Mahäbbarata- Episoden herausgeben, um sein Wörterbuch
dann für diese alle und etwa einige andere bis dahin gedruckte
leichtere Stücke ans der indischen Literatur einzurichten. — Noch
volle zehn Jahre sollten darüber hingeben.
Unterdessen war auch in Deutschland das Interesse für Sans-
kritstudien lebendiger geworden. August Wilhelm von Schlegel war
nach dem Tode der Frau von Stael aus Paris zurückgekehrt und
Professor an der Rheinischen Universität geworden. Auf sein Be-
treiben hatte im Jahre 1820 die königlich preussisobe Regierung
unter dem Fürsten von Hardenberg die Mittel zur Anlegung einer
»Indischen Druckerei c in Bonn bewilligt. Damit hatte sieb Schlegel,
der sich dessen oft gerühmt, in der That kein geringes Verdienst
erworben. »Sollten — hatte er gefragt — die Engländer etwa
auf ein Monopol mit der indischen Literatur Anspruch machen !
Der Zimmet und die Gewürznelken mögen ihnen bleiben ; diese
geistigen Schätze sind ein Gemeingut der gebildeten Weit.« Die
»Indische Bibliothek« (1820—1826), eine Episode des MahabhA-
rata, religionsphilosophischen Inhalts, die Bhagavad-Gita , und die
ersten Theile vom Epos Ramayana sind aus jener Offlein bekannt-
lich hervorgegangen. Auoh noch andere Arbeiten auf diesem Ge-
biete wurden und — blieben von Schlegel zugesagt. Mit wahrem
Verlangen aber sah er der Zurttckkunft Franz Bopp's, seines >ge-
uigiiizea uy Vjüo
Boppt Glossarium compar&tlvum.
lehrten Landsmannes« entgegen, gewiss, an ihm »einen eben so
freundlichen als redlichen Mitarbeiter « nnd »reiche Mittheilun-
gen der im Auslände durch den beharrlichsten Fleiss gesammelten
Schätze« zu erhalten. — Und wirklich dachte auch die baierische
Regierung daran, den »jungen und tüchtigen« Gelehrten , welchen
sie bisher unterstützt hatte, auf die Dauer zu gewinnen nnd ihm
einen Lehrstuhl in Würzburg anzutragen. Da dachten jedoch die
Herren Professoren der Landesuniversität anders und hielten Sans-
krit nnd vergleichende Sprachforschung für unnützes und über-
flüssiges Studium, was man ihnen auch, beiläufig bemerkt, nicht
in schlimm anrechnen darf, denn Andere haben, noch lange nach-
her, nioht viel anders gedacht. — Franz Bopp aber, naohdem er
noch in London eine erweiterte englische Bearbeitung seines Con-
jugationssystems herausgegeben, war gleichwohl nach Deutschland
zurückgekommen, nicht nach Würzburg, sondern einer Einladung
Ottfried Müllers folgend nach Göttingen, wo er den Winter 1820
—21 znbrachte nnd die Doctorwürde honoris causa erhielt. Diese
Universität, welche sich rühmen darf, die Begründer der neuen
Sprachwissenschaft zu den ihrigen zu zählen, — denn Wilhelm von
Humboldt hatte in den Jahren 1788—99 dort seine Studien ge-
macht und vollendet, und Jacob Grimm sollte mit seinem Bruder
Wilhelm bekanntlich später dort Aufnahme und Anstellung finden,
— die Georgia Augusta hätte auf ein gleiches Ansinnen von Sei-
ten ihrer Regierung vielleicht anders als ihre baierische Schwester
geantwortet. Franz Bopp aber trug sich damals immer noch mit
dem Gedanken nach SchlegePs nnd Windischmann's Rath auch
nach Indien, dem ürsitz der heiligen Sanskrita, zu pilgern. Da
traf ihn ein Ruf nach Berlin, an die Hochschule, welche vor einem
Jahrzehend ungefähr gegründet und durch Heranziehung der besten
Kräfte bereits zu hohem Glänze gediehen war. Wie einige andere
früher , deren Namen die junge Universität ihren raschen Auf-
schwung verdankte, hatte Wilhelm von Humboldt auch Franz Bopp
empfohlen, bei dem er als Gesandter in London Unterricht im
Sanskrit genossen. Der ergangene Ruf ward angenommen, die Reise
nach dem Orient damit aufgegeben, nnd im Herbst 1821 naoh
Berlin tibergesiedelt, das fortan die zweite Heimath unseres Bopp
geworden.
Ueber seine Wirksamkeit dort als Lehrer nnd Schriftsteller
viel mehr mitzntheilen, als unser besonderes Thema angeht, müssen
wir nns hier versagen. Im Jahre 1825 (durch Ministerialrescript
vom 15. Februar) wurde Bopp vom ausserordentlichen zum ordent-
lichen Professor »der orientalischen Sprachen und besonders des
Sanskrit« gemacht, nachdem ihn bereits 1823 die Akademie der
Wissenschaften zu ihrem Mitgliede ernannt hatte. Als solches las
er jene Abhandlungen, welche vom Jahre 1824 anfangend alljähr-
lich und mit nur geringen Unterbrechungen in den Berichten der
Akademie gedruckt erschienen, die ersteren unter dem gemeinsamen
808
Bopp: Glossarium compar&tivnm.
Titel einer »vergleichenden Zergliederung de9 Sanskrit und der mit
ihm verwandten Sprachen. « Wir gewahren in ihnen die Fortschritte,
welche der vergleichende Sprachforscher auf seinem Wege machte,
wie er allmählich seine Resultate gewann, um sie nachher als
Baumaterial in einem grossen Gesammtwerke zu vereinigen.
Es versteht sich, dass man nun auch in Berlin einer typogra-
phischen Einrichtung nicht mehr entbehren konnte, wie sie Schle-
geln in Bonn gewährt war. Das erste Erzengniss dieser Art, wel-
ches die akademische Druckerei lieferte, war wieder eine Samm-
lung der von Bopp ausgewählten Mababhärata-Episoden, — Ard-
schuna's Himmelsreise nebst drei anderen, — welche 1824 erschie-
nen, von dem dankbaren Herausgeber dem Staatsminister Stein
von Altenstein gewidmet. Wiederholt war auch in der Vorrede
zu dieser Ausgabe das verheissene Glossar bald nachzuliefern ver-
sprochen. Ehe dies aber nach einer dritten Sammlung solcher
Mahäbharatastücke endlich erfolgte, war unter den Händen des arbeit-
samen Gelehrten noch ein Werk fertig geworden, dessen wir hier wenig-
stens kurz erwähnen müssen. Wir meinen Franz Bopp's »Lehr-
gebäude der Sauskritspracbe« , welches 1827, zugleich mit seiner
Bekämpfung der Jacob Grimmschen Theorie vom Ablaut in den
Jahrbb. für wissenschaftliche Kritik, — später 1886 als »Vocalis-
mus« besonders abgedruckt, — erschien und seinem ersten Sans-
kritschtiler und nachherigen Freunde und Gönner Wilhelm von
Humboldt in sinniger Weise zugeeignet war.
Es war dies nicht nur die erste deutsche Sanskritgrammatik,
es war ohne Frage auch das beste Lehrbuch dieser Sprache, wel-
ches bis dahin überhaupt zu Tage getreten; denn Othmar Frank's
misslungener und alsbald nach Schlegeln vernichtender Kritik ver-
gessener Versuch vom Jahr 1828 kann wohl nicht in Betracht
kommen. — Zwar nicht ganz so schlimm wie mit dem Wörter-
buch, aber doch auch nicht viel besser hatte es für den Lernenden
mit der altindischen Grammatik ausgesehen. Lehrbücher, wie sie
Bopp schon in Paris vorfand, das von Carey (1806), Wilkins
(1808), Forster (1810), und auch das, welches er später erst kennen
lernte, von Colebrooke (1805), waren alle unzulänglich genug, alle
theils nach indischen Grammatikern, — jene besonders nach Vopa-
deva, letzteres allein nach Pänini, — theils und sogar vornehm-
lich nach Aussagen von Brahmanen verfasst Selbstständige Er-
kenntniss, Kritik und wissenschaftlichen Geist musste man ihnen
absprechen. Und gerade mit allem diesem ging Bopp zuerst in
gründlicher Weise vor und lieferte ein Buch, das an Klarheit,
Schärfe und fasslicher Darstellung noch heute unübertroffen dasteht.
Später, 1832, als Grammatica critica in lateinischer Sprache, nach-
her in kürzerer Fassung deutsch in noch drei verbesserten Auf-
lagen erschienen, ist das Work heute in aller Lernenden Händen
und hat zur Erleichterung nnd Verbreitung der Sanskritstudien mehr
als irgend ein anderes beigetragen. Auch in der Vorrede zu die-
uigiiizea uy Vjüo
Bopp: Glossarium comparativum.
Ö09
dem Buche hatte der Verfasser das baldige Erscheinen seines be-
reits begonnenen Glossars angekündigt; es sollte noch vor Bear-
beitung einer Syntax fertig werden. Den gewissenhaften Lehrer
trieb das Bedürfniss seiner Schüler. Und wirklich, nach einer
dritten Sammlung von Episoden — Diluvium cum tribus aliis Mabä-
Bbärati episodiis, 1829 — erschien im Jahre darauf endlich in
zwei getrennten Hälften das lange verbeissene Buch.
Es war Franz Bopp's Glossarium sanscritum im Verhältniss
zu dem umfangreichen Werke Wilson's immerhin ein kleines fast
unscheinbares Werk, eine alphabetisch geordnete Sammlung von
Sanskritwörtern mit lateinischer Uebersetzung, einzig für das Lesen
der bisher von ihm edirten Episoden — einschliesslich der einen
von Schlegel nach Wilkins herausgegebenen Bbagavad-Gita — be-
stimmt. Und dennoch, die Behauptung ist nicht zu gewagt, es
war das beste von allen bis dahin erschienenen Wörterbüchern.
Ein Wörterbuch, alphabetisch geordnet, ist an und für sich frei-
lich kein wissenschaftliches Werk, nicht einmal im Sanskrit, ob-
wohl dessen Alphabet systematischer Ordnung folgt. Franz Bopp
aber verstand es, Geist und Leben, Wissenschaft in die einzelnen
Theile seiner Arbeit zu bringen. Seine gründliche Erforschung der
durchsichtigen Sprache hatte ihm das Werden der Wörter, ibre
Bildung und Bedeutung erschlossen, und die beständige Rücksicht
auf diese Erkenntniss leitete ihn bei Bearbeitung seines Glossars.
Weit entfernt, auch dem bequemen Gebrauche desselben damit Ein-
trag zu thun, erhöhte er vielmehr dessen Werth. Denn nun wur-
den die an dem Wilson'schen Werke gerügten Mängel vermieden,
»die zahlreichen Bedeutungen, deren eine Wurzel in Verbindung
mit verschiedenen Präfixen fähig ist, unter einem Gesichtspunkt
zusammengestellt« , und auch den Bedeutungen die bestimmt zu-
treffenden Belegstellen beigegeben. Kurz, je grösser die Vor-
züge waren, durch welche Bopp's kleinere Arbeit vor der
grösseren Wilson's hervortrat, um so mehr verschwinden auch
die einzelnen Ausstellungen, welche ein Recensent damals in
den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik an dem Buche zu
machen fand, da »der Schüler zufallig seinen Lehrer und Meister
des Besseren belehren« zu können vermeinte. Auch die nicht einmal
mit Unrecht von Rückert, — denn eben der war es, — ausge-
sprochenen Rügen, wie »Aufopferung der Eigennamen und unge-
nügende Erklärung der sogenannten Expletivpartikeln« können da-
gegen geringfügig erscheinen. — Wie drei Jahre früher in seinem
»Lehrgebäude« den grammatisch formellen, so hatte Bopp hier von
dem lex icali sehen Reichthum der merkwürdigen Sanskrita, eine
ganze Summe selbstständig erlangten Wissens niedergelegt. Er
hatte nicht nur sein Versprechen glänzend erfüllt und ein Buch
geschaffen, das, wie es sollte, sich dem Anfanger sowohl als auch
dem vertrauteren Kenner nützlich erwies, — er hatte auch, soweit
sich dies von dem unausgesetzt stetigen Fortschritte dieses Mannes
810
sagen läset, seinem eigenen Wirken damit eine Art von erstem Ab-
Bchluss gegeben.
Ein Zeitraum von fast zwanzig Jahren trennt diese erste von
einer andern Vollendung deB Wörterbuchs. Wie bedeutungsvoll
diese Zeit für die Fortschritte der vergleichenden Sprachforschung
geworden, brauchen und vermögen wir hier nicht des Weiteren dar-
zuthun. Schon zeigten sich die Schüler, welche in die Fnsstapfen
des Meisters tretend mit frischen , rüstigen Kräften auf dem Ge-
biete mitzuwirken begannen, auf welchem Franz ßopp bisher thätig
gewesen. So war es vor Allem der leider allzu früh verstorbene
Fr. Rosen, der es sich nach Abfassung einer ersten Sanskritwnrzel-
sammlung zur Lebensaufgabe machte , die heiligen Schriften der
Inder, die Veden, und damit die ältesten Denkmäler der Sprache
zu veröffentlichen; schon 1830 konnte er ein erstes Specimea des
Rig-veda erscheinen lassen. Andere namhafte Gelehrte haben nach-
her fortgesetzt und ausgeführt, was jenem fortzusetzen und auszu-
führen nicht vergönnt gewesen. Männer wie Lassen, wie Pott und Ben-
fe y sind in dieser Zeit der dreissiger Jahre zuerst aufgetreten. Es
hat Georg Curtius diese Zeit später einmal eine »Periode der Er-
oberung« für die vergleichende Sprachforschung genannt. Und in
der That, ein Gebiet nach dem andern galt es sich erobern nod
dienstbar machen, gegen die herrschenden Vorurtbeile und Meinun-
gen, wie sie namentlich von Seiten der klassischen Philologen der
neuen Forschung entgegen getragen wurden , vertheidigen , dabei
aber auch denjenigen gewaltig Einhalt thun, welche im Siegesge-
fühl über die gewonnenen Resultate übereilten Schrittes vorangehen
sich erkühnten. Ein wackerer Vorkämpfer, unbeirrt durch Lob
oder Tadel, verfolgte da Franz Bopp den Pfad, weichen er einmal
eingeschlagen.
Die Arbeiten der nächsten drei Jahre, 1830 — 33, bezeichnen
«eine akademischen Abhandlungen als ein neues Studium , das in
den Kreis seiner Forschungen getreten. Sie betrafen das alte Bäk-
triscb, die Sprache der Zendbücher. Seit der Zeit, dass die erste
ungenügende Kenntniss dieser Sprache und Schrifton durch Anquetil
Duperron nach Europa gebracht worden, bis beute, wo Friedrich
SpiegeVs Grammatik der altbaktrischen Sprache die Formen der-
selben mit wissenschaftlicher Gründlichkeit dargelegt, sind ganze
hundert Jahre verflossen, und die grosse Bedeutung dieses erani-
schen Sprachzweiges sowohl an sich als innerhalb der indoeuropäi-
schen Spraohfamilie überhaupt ist vollkommen erkannt und gewür-
digt worden. — Anders noch damals, als Eugene Burnouf in Paris
unsern Franz Bopp einlud, mit ihm an seinen Studien des Zend-
Avesta Antheil zu nehmen. Damals war es mit der Kenntniss jener
ßprache sowohl als mit den Hilfsmitteln sie zu erwerben noch durch-
aus übel bestellt. Und nicht mit Unrecht durfte es Franz Bopp
stets als eine seiner schwierigsten Arbeiten ansehen, zuerst so gut
Bopp: Glossarium comparatlvuni.
911
als möglich den grammatischen Bau dieser Sprache in seinem gros-
sen sprachvergleichenden Werke anfgestellt zu haben.
Hiermit waren aber auch die ersten Vorarbeiten dieses WerkeB
vollendet, davon der erste Theil bekanntlich schon 1883 heraus-
kam, welchem dann noch fünf andere bis zum Jahre 1849 gefolgt
sind. So lange nebon anderen mehr oder minder grossen Arbeiten,
— wie eine weitere Reihe akademischer Abhandlungen, welche
immer neue Sprachgebiete in die Vergleichnng zogen, wie die er-
wähnten wiederholten Ausgaben seiner kleineren Sanskritgrammatik,
wie die deutschen üebertragungen seiner Mababbarata-Episoden,
welche er auf Anratben seiner Freunde herausgab, — so lange,
sagten wir, beschäftigte Franz Bopp die erste Ausgabe seiner
> vergleichen den Grammatik des Sanskrit, Zend, Lateinischen. Grie-
chischen , Li t h au i sehen , Gothischen und Deutschen c, das Werk,
daran sein Name ewig ruhmvoll geknüpft bleibt. Wir haben hier
nicht über die neuen und gewaltigen Aufschlüsse zu sprechen, welche
dasselbe Über alle Partien des grossen Sprachgebiets verbreitet,
weder über seinen Inhalt und seine Bedeutung, noch über Lob oder
Tadel, welchen es gefunden. Denn allerdings konnte noch nicht
Alles, was dem grossen Ganzen angehört, als solches erkannt und
gewürdigt, nicht jedes Einzelne gleich ausreichend und vollkommen
richtig behandelt werden. Nur zu häufig aber wird es vergessen,
wie gerade auch die Lücken und Mängel, welche der eine Vor-
ganger gelassen, die Handhaben des Fortschritts für seine Nach-
folger werden Auch nicht über das Aufsehen und die steigende
Theilnahme, welche die vergleichende Grammatik bewirkte, ist hier
zu reden, wie sich die Zahl der Schüler, Freunde und Anhänger
mehrte, der Arbeiter und Arbeiten, welche bald einen Theil, bald
das Ganze des sprachverwandten Gebiets umfassten. Nur Eines sei
hier bemerkt. Mittels seiner bewährten, wissenschaftlich strengen
Methode hatte Franz Bopp beobachtet, verglichen und nach festen
Regeln die Erscheinungen zu bestimmen gesucht, welche im Wan-
del der sprachlichen Formen seit ihrer Trennung vom mütterlichen
Boden hervortreten. Jede, auch die geringste Veränderung, welche
sie im Wechsel der Zeiten erfahren, musste als Thatsache des
sprachschaffenden Volksgeistes aufgefasst werden , der Zusammen-
hang dieser Tbatsachen und ihre Verkettung als eine Geschiebte
der indoeuropäischen Sprachgemeinschaft, welche die vergleichende
Sprachforschung darzustellen bat. 8ie im grossen Ganzen auszu-
führen, im Einzelnen wo immer möglich und noth wendig zu be-
richtigen und zu ergänzen blieh einer weiteren Arbeit vorbehalten.
Wie nun aber am Leben einer Volksgemeinschaft auch jedes ein-
zelne Glied derselben Antheil hat und je nach seiner Geltung mehr
oder minder hervortritt, so haben auch die einzelnen Formen einer
Sprachgemeinschaft in der Geschichte der Gesammtbeit jedes seine
Entstehungs- und Bildungsgeschichte, treten jedes nach seiner Be-
deutung mehr oder minder hervor, und sind tbeilB bald verloren
815
Bopp: Glossarium comparatlvum.
oder verdunkelt, theils in den Sprachen weit verzweigt und fort»
dauernd erhalten. Die vergleichende Grammatik der betreffenden
Sprachen lehrt diesem möglichst genau nachzugehen, — ein Ver-
zeichniss aller Wortfamilien aber, oder — wie es noch Bernhardj
von ihr verlangt — > ein sicheres Verzeichnis» nackter Wurzeln« zu
geben, war nicht mehr Aufgabe jener, der Grammatik, sondern
der vergleichenden Lexioographie geworden. Und soweit dies an-
ging, suchte Franz Bopp ihr in einer andern Ausgabe seines
Glossars seines Theils gerecht zu werden.
Die lezicaliscben Arbeiten auf dem Gebiete des Sanskrit
hatten nicht geruht. Schon 1832 war eine zweite Ausgabe des
Wilson'schen Wörterbuchs erschienen und bald wieder selten ge-
worden. In den Jahren 1840 — 41 hatte N. L. Westergaard , ein
dänischer Gelehrter, eine neue und vollständige Sammlung aller
Sanskrit wurzeln herausgegeben , darin die einfachen Verben und
Verbalformen, ihre Weiterbildung durch Präfixe und dadurch ver-
änderte Bedeutung aufgestellt und durch Belege aus der Literatur
nachgewiesen. Aufs sorgfältigste waren neuere Forschungen in Ver-
bindung mit den Arbeiten altindischer Grammatiker benutzt und
zu Rathe gezogen worden. Ein Werk von bleibendem Werth ver-
diente dasselbe als »ein erster Versuch die Sanskritstudien auch
in Dänemark aufzubringen«, dem Könige des Landes gewidmet
zu werden. — Bald darauf, im Jahre 1842, hatte dann auet
Franz Bopp die zweite Bearbeitung seines Glossars begonnen,
welche noch vor dem letzten Theil seiner vergleichenden Gramma-
tik vollendet ward. Sie trägt die Jahreszahl 1847 und den alten
Titel eines »Glossarium sanscritum« , aber mit dem bedeutenden
Zusätze: »in quo oinnes radices et vocabula usitatissima explican-
tur et cum vocabulis graecis, latinis, germanicis, litbuanicis, celti-
eis comparantur. « — Und in der That, Plan und Anlage des Buchs
waren dieselben geblieben, im Uebrigen aber war es ein ganz ande-
res geworden. Denn nicht allein war die Anzahl der Wörter be-
deutend vermehrt worden, — sollten sie doch neben den früheren
auch für die Leetüre des Hitopadesa und des (von Lenz edirten)
Drama des Dichters Kalidasa, der Urvasi, ausreichen; — nicht
allein waren auch die Belegstellen bedeutend vermehrt und tbeil-
weise vollständig hergestellt worden: es war aus der bisheriger
Forschung des Verfassers ein ganz Neues, die entsprechenden Wort-
formen aus den andern Zweigen der grossen Sprachverwandtschaft
hinzugefügt worden. Das konnte nun Alles freilich nur unter vor-
ausgesetzter Bekanntschaft mit den Waudlungsgesetzen, Manches nur
vennuthungsweise, mit einem »fortasse« neben sich, Einiges sogar
nooh immer gewagt erscheinen. Indessen hatte der Herausgeber auch
nur sicher Erkanntes als sicher ausgegeben und durfte darum von
seiner an Umfang und Inhalt erweiterten Arbeit recht wohl wie
von der ersten Ausgabe sich sagen, sie werde nicht allein Anfangern,
sondern auch erfahrenen Kennern sich nützlich erweisen.
Bopp: Glossarium oompArativum.
818
Wiederum zwanzig Jabre sind seit dem Erscheinen dieser
anderen Ausgabe verflossen. Auch die vergleichende Grammatik
war 1852 in der ersten Ausgabe vollendet, und eine neue Periode
der vergleichenden Sprachforschung sollte beginnen. Abermals aber
und viel mehr noch als vorhin müssen wir hier davon abstehen,
die Überaus frnchtreiche Thatigkeit, welche seitdem auf diesem gan-
zen Gebiete gewaltet, auch nur annähernd zu schildern. — Der
neuen Forschung und ihren Ergebnissen konnte die allgemeine An-
erkennung auch seitens der klassischen Philologie nicht länger vor-
enthalten werden. Hatte ihr dies doch längst der geniale Philipp
Buttmann geweissagt, welcher die Mängel in seinem Lexilogns
lediglich einer mangelhaften Kenntniss in jener Hinsicht zuschrei-
ben durfte. Hatte sich doch Gottfried Hermann selbst einmal
dazu herbeigelassen , griech. ioti mit altind. asti zu vergleichen.
Und wenn die älteren Meister, wie ein Lobeck gar, sich zu alt er-
klärten, nm noch Sanskrit zu lernen, so war den jüngeren solcher
Vorwand nicht gestattet. Mit der allgemeinen Anerkennung wuchs
aber auch die Theilnahme , und mit der wachsenden Theünahme
und den vermehrten Kräften trat auch das ein, was den Fort-
schritten einer Wissenschaft vor Allem zu Statten kommt, die Vei-
theilung der Arbeit. Ihr konnte mit der Zeit gelingen, was dem
Einzelnen niemals möglich gewesen, die eingehende und genaue
Durchforschung eines jeglichen Theils im grossen Ganzen der indo-
europäischen Sprachgemeinschaft. Und eben dies ist für die neue
Periode charakteristisch geworden.
Mit welcher innigen Theilnahme aber Franz Bopp selbst alle
diese Arbeiten verfolgte, das können uns neben manchen beurtei-
lenden Aufsätzen, die er geschrieben , zunächst wieder seine aka-
demischen Vorlesungen beweisen, welche er in diesem und in den
vorausgehenden Jahren gehalten. Da finden wir ihn bald im äus-
sersten Wesen des Sprachgebiets, bis wohin die Kelten vorgedrun-
gen, bald im äussersten Osten, mit den mala yo-poly nesischen Mund-
arten , den nach seiner Meinung entarteten Töchtersprachen des
Altind ischen, beschäftigt ; bald sind es die Letten und Altpreussen
im Norden, bald im Süden die Albauesen oder Chipewaren, bald
endlich die kaukasischen Stammesglieder, welche seine Thätigkeit
nach den Mittheilungen des einen oder andern Gelehrten in An-
spruch nehmen. — Eine Abhandlung Boebtliugk's über die Be-
tonung im Sanskrit veranlasste Bopp auch diesen wichtigen Gegen-
stand einer näheren Forschung zu unterwerfen, deren Resultate,
die merkwürdige Uebereinstimmung zwischen der altindischen und
griechischen Accentuation , er in einem besonderen Werke, dem
> vergleichenden Accentnationssystem«, 1854, niedergelegt hat.
Mehr aber als in allem diesem erweist sich der unermüdliche
Fleiss Franz Bopp's und seine aufmerksame Theilnahme an allen
neuen Erscheinungen auf dem Gebiete seiner Wissenschaft in der
nun alsbald begonnenen zweiten Ausgabe seiner vergleichenden
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814
Bopp: Glossarium comparaüvum.
Grammatik. Da ist denn kein Werk von einigem Belang, kein
Name von gutem Klang, dem wir dort nicht begegnen. So konnte
er für das Sanskrit bereits die ersten Tbeile des grossen > Peters-
burger Wörterbuchs« benutzen, welches seit 1-S51 von Böhtlingk
und Roth herausgegeben erscheint und die neue Epoche hier so zq
sagen, inaugurirt bat. So rinden wir da neben den Namen eint-
Pott, Benfey, Max Müller u. a. unsern rüstigen und arbeitsamen
Albrecht Weber, der seit Ende der vierziger Jahre unermüdlich die
Schätze der indischen Literatur an's Licht zu bringen bestrebt ist, in
seinen »Indischen Studien« aber bereits selbst einen reichen Schatz
von dahin gehörigen Kenntnissen und gelehrtem Wissen niederge-
legt hat. So linden wir einen Neriosengb, Olshausen, Brockhans, Spie-
gel genannt, welche auf eranischem Sprachgebiete thätig, die Keunt-
niss, namentlich des Altbaktriscben, mächtig gefordert haben, der-
jenigen Sprache, welche auch der Entzifferung der altpersischen
Keilin Schriften die ersten guten Dienste geleistet. Auch die Namen
und Leistungen der Gelehrten, welchen wir diese Enthüllungen ver-
danken, ein Grotefend, Burnouf, Lassen, Holtzmann, Westergaard,
Rawlinson u. A. konnten in dem Werke Bopp's nicht wohl unbe-
rücksichtigt bleiben. So mussten für das Armenische die Namen
und Werke eines Schröder und Petermann, für andere kaukasische
Mundarten eines G. Rosen angeführt, so auf litauischem und slavi-
schem Sprachgebiet zu den alteren, den Mücke und Dobrowsky,
jüngere wie Nesselmann, wie August Schleicher und Miklosich, au:
keltischen ein Pictet, (VReilly u. A. genannt werden. Und wie für
die altitalischen Sprachdenkmäler, für Oskisch und ümbrisch ein
Mommsen, Aufrecht und Kirchhoff, für das Lateinische nächst
Grotefend und Madvig ein Ritscbl, Ag. Benary und Corssen, s*
werden für die griechische Dialectforschung nächst einem Bntt-
rnann die Schüler und Mitarbeiter des kürzlich dahingegangenen
Altmeisters August Boeckh, ein Ahrens und Härtung, ein Kuhn, G.
Curtias u. A. gerühmt. So müssen wir endlich auf germanischem
Sprachgebiet neben einem Rask, einem Jakob und Wilhelm Grimm,
die Namen eines Graff, Schmeller, von der Gabelentz und Löhe,
eines Holtzmann, L.Diefenbach, Müllenhoff u, A. antreffen. Doch wozn
Namen und Namen nennen, die aller Welt wohl bekannt sind ? Die
meisten von ihnen und noch viele andere mehr hat die »Zeitschrift
für vergleichende Sprachforschung« in der immer grösseren und glän-
zenderen Reihe ihrer Mitarbeiter aufzuzählen. Schon 1846 hatte, bei-
läufig bemerkt, A. Höf er eine Zeitschrift für allgemeine Sprachwissen-
schaft herauszugeben begonnen, die aber, sei es weil sie ihre Grenzen
zu wenig oder zu weit bestimmt hatte und an dem Zuviel, was si*
wollte, sei es aus andern Gründen bald uuterging, nachdem im
Jahre 1852 jene von Aufrecht und Kuhn gegründet worden, welche
alsdann unter des Letzteren alleiniger Redaktion überall Anklang
und Aufnahme fand. Schon 1856 konnte ihr eine andere, unter
desselben Kuhn und Schleichers Leitunc zur Seite treten. als
Heppi Glossarium coraparatlvum.
Beiträge u. 8, w., namentlich für keltische und slavische Sprachen.
Und nicht mit Unrecht ist auch das Auftreten der »Zeitschrift für
vergleichende Sprachforschung« als herrliches Zeichen für die neue
Periode begrüsst worden.
Fünf Jahre nachher war der erste Band von der zweiten Aus-
gabe des Bopp'schen Werkes, — diesmal nicht im Selbstverlage
des Verfassers, — ftlnf Jahre später das ganze Werk in drei starken
Bänden erschienen; ein vierter, die Sach- und Wortregister enthaltend,
und durch Carl Arendt bearbeitet, ward ihnen angeschlossen. — Da
war nun fast kein Abschnitt der vergleichenden Grammatik gänzlich
unverändert geblieben, Vieles war ergänzt, nicht gar Weniges be-
richtigt worden. Als ein ganz Neues war namentlich das Arme-
nische in die Vergleichung gezogen worden. — Doch genug, der Be-
gründer dieser Methode hatte seinem Werke die Vollendung gegeben,
deren es ihm fabig war. Nach einer Seite Entstehen und Werden,
nach einer andern Wechsel und Wandel, und also in engster Ver-
knüpfung die Bedeutung und Geschichte der indoeuropäischen Sprach-
formen aufhellend, war das weltberühmte Werk Franz Bopp's, weit
entfernt davon, ein blosses Compendium zu sein, — eine Art von
Evangelium für die historisch - philologische Sprachforschung ge-
worden.
Noch drei Jahre, — und ein halbes Jahrhundert war seit ihrer
Begründung und dem Erscheinen der Bopp'schen Erstlingsschrift
verflossen. Wie zum 16. Mai 1866 Schüler, Anhänger und Ver-
ehrer des greisen Jubilars wetteiferten, ihm ihre Huldigungen dar-
zubringen, wie aus allen Ländern von nah und fern »dem Lehrer
zweier Welttheile« Ehrenbezeugungen und Glückwünsche zukamen,
wie von allen Seiten endlich Gaben der Liebe für die Stiftung zu-
sammengebracht wurden, welche seinen Namen dauernd verherr-
lichen nnd seine Wissenschaft unterstützen sollte, — von allem
diesem ist hier nicht der Ort zu erzählen.
Aber trotz getrübter Sehkraft, trotz Altersschwäche und ab-
nehmender Körperkraft hatte der greise Gelehrte auch in diesen
und den letzten Jahren nicht zu arbeiten aufgehört. Noch gegen
Ende des vorigen Jahres erschien die eine, in diesem Jahre die
andere Hälfte der dritten Ausgabe seines Wörterbuchs, — diesmal
kurzweg als Glossarium comparativum , in quo omnes
sanscritae radices .... comparantur.« Auf dem Tittelblatte ist dieser
Editio tertia nun der fernere Zusatz beigefügt: »in qua vocabula
sanscrita accentu notata sunt latinisque literis trän scripta, c Und
wirklich ist es vornehmlich dies, worin sich die dritte von der
zweiten Ausgabe vortheilbaft unterscheidet. Dadurch, dass jede
aufgeführte Wortform oder Wurzel nur einmal in Nägari-Characteren
erscheint, ist die Uebersicht leichter, durch die hinzugestellte Um-
schrift mit Accentzeichen die Aussprache und Bedeutung sicherer
geworden. — Durchgehende sind ferner die ursprünglichen und
816
Böpp: Glossarium comparativum.
stärkeren Formen der Wörter und Wurzeln da gesetzt, wo früher
die » schwächeren« — wie z. B. die Wortausgänge at , rnat, vat
statt der jetzt gegebenen antt mant, vant — standen ; besonders be-
trifit dies die Wurzeln mit K Vokal, welche jetzt unter den ursprüng-
licheren Formen auf ar — wie mar, marg statt mr, mrg — zu
suchen sind. Langer RVokal ist dabei ganz weggefallen. Abgesehen
davon, dass die primitive Form namentlich bei solchen initialem B
zweifelhaft sein kann, ist dadurch in diesen Fällen allerdings die Wurzel
von ihren abgeleiteten verkürzten Wortformen weiter entfernt wor-
den ; aber der Verfasser wollte auch am Abende seines Lebens und
in diesem seinem letzten Werke einem durch die Auctorität
geheiligten Missbrauch der altindischen Grammatiker nicht mehr
nachgeben, gegen deren Irrthümer er schon als Jüngling in seiner
ersten Schrift mit selbstständigera U i theil aufgetreten war. — Die der
vorhergebenden Ausgabe nachgeschickten »Addenda et corrigendac,
welche besonders des früher zu wenig berücksichtigten Keltischen
ziemlich viel enthalten, sind diesmal an Ort und Stelle gekommen.
Uebrigens ist, was Anzahl und Erklärung der Wörter angeht,
kaum noch etwas anders geworden. Nur Eines noch darf nicht
verschwiegen werden. Angefügt ist der neuen Ausgabe ein »Index
verborum comparatorum«, und damit die Möglichkeit gegeben, auch
ein anderes Wort als nur altindische nachzuschlagen und im Ver-
ein mit seinen Verwandten leicht aufzufinden. Und offenbar ist
damit der Werth dieser dritten Ausgabe um nicht wenig erhöht
worden. — Durfte der Verfasser ein drittes Mal sich sagen und
hoffen, seine Arbeit werde auch in dieser Gestalt nicht allein dem
Anfänger, sondern auch dem erfahrenen Kenner sich nützlich er-
weisen ?
Am 28. October ist Franz Bopp gestorben. Das Glossarium
comparativum war sein letztes Werk. Dieses und die vergleichende
Grammatik und alles Andere seinen Schülern überlassend, hat er die
Hoffnung mit sich hinüber ins Jenseits genommen.
Leflnm
Hr. 52. HEIDELBERGER ' 1887.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Julii V alerii Epitome. Zum erstenrn al herausgegeben von Jul.
Zacher. Zur Begrüssung der Oermanistischen Section der
XXV. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner zu
Halle. Halle. Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1867,
XIV und 64 S. ingr. 8.
Indem wir diese Gelegen hoitsscbrift, weleho uns ein Ineditum
bringt, anzeigen, haben wir uns vor Allem auf die in diesen Jahr-
büchern S. 36 1 ff. angezeigte Schrift des Verfassers, den Pseudo-
callisthenes zu beziehen, insofern die vorliegende Schrift gewisser»
massen als ein Corollarium und selbst als eine Vervollständigung
und Ergänzung der in jener Schrift geführten Untersuchung über
die älteste Aufzeichnung und Verbreitung der Alexanderfrage an-
zusehen ist. Es war, wie a. a. 0. in diesen Blättern gezeigt ward,
in dieser genauen und gründlichen Untersuchung nachgewiesen
worden, wie die unter dem Namen des Julius Valerius auf uns ge-
kommene und erst in neuerer Zeit durch den Druck bekannt ge-
wordene, lateinische Schrift über das Leben und die Thaten Ale-
xanders des Grossen eigentlich Nichts Anderes ist, als eine latei-
nische Bearbeitung der unter dem falschen Namen des Callisthenes
im zweiten christlicheu Jahrhundert zu Alexandria entstandenen, mit
manchen Zuthateu, Fabeln u. s. w. ausgeschmückten und für die
Lesewelt, die eitie angenehme Unterhaltung suchte, berechneten
Geschichte Alexanders des Grossen , die bald im Abendlande wei-
tere Verbreitung fand und diese lateinische Bearbeitung eines uns
unbekannten Verfassers hervorrief, welche, wie Herr Zacher dort
nachgewiesen hat, jedenfalls vor 340 p. Ch. fallen muss, wahr-
scheinlich selbst noch bedeutend früher. Diese lateinische Bearbei-
tung existirt nur noch in zwei lückenhaften Handschriften, nach
welchen deren Veröffentlichung durch den Druck in der Weise von
Angelo Mai erfolgte, dass Derselbe einige Lücken dieser Handschriften
durch einen aus dioser lateinischen Bearbeitung gemachten Auszug,
auf den er bei seinen Forschungen stiess, zu ergänzen suchte. Schon
von dieser Seite her gewinnt dieser Auszug eine gewisse Bedeutung,
die eine nähere Untersuchung und dann auch eine Veröffentlichung
desselben um so Wünschenswerther machen mnsste, als dieser Auszug,
schon frühe veranstaltet, in den nachfolgenden Jahrhunderten schon
um seiner Kürze und Bequemlichkeit willen mehr beachtet und ab-
geschrieben, sein Original, das nun nicht weiter mehr abgeschrie-
ben wurde, verdrängt zu haben scheint, so dass selbst Vincens von
Beauvais nur den Auszug, aus dem er längere Stücke in sein Spe-
LIX. Jahrg. 11. Heft 52
818
Julii Vftlerli Epitome von Zacher.
culum aufnahm, kannte. Dieser Auszug bat daher insbesondere zur
Verbreitung der Alexandersage im Westen Europa's beigetragen,
eben weil er öfters abgeschrieben ward, und liegt daher noch eine
ziemliche Anzahl von Handschriften desselben vor, nach welchen
eine Veröffentlichung durch den Druck möglich war. Der Ver-
fasser dieser Schrift hat sich dieser Aufgabe in vorliegender Ge-
legenheitsschrift unterzogen, und seinerseits Alles aufgeboten,
um uns in derselben einen auf die ältesten Quellen der handschrift-
lichen Ueberlieferung begründeten, kritisch gesichteten Text vorzu-
legen ; er hat in der Tbat keine Mühe gescheut, dieses Ziel zu er-
reichen, was man bei einem Schriftstück, das, wie das hier vor-
liegende zum ersteumal im Druck erscheint und nicht die Aussiebt
hat, alsbald wieder in einem erneuerten Abdruck zu erscheinen,
mit doppeltem Dank anzunehmen hat. Es ist aber nicht blos der
Text selbst, der hier zum erstenmal im Druck erscheint, sondern da-
mit ist zugleich verbunden die Zusammenstellung aller der Abweichun-
gen der von dem Verfasser verglichenen und benutzten Hand-
schriften, und zwar unter dem Texte selbst, so dass wir da-
mit einen kritischen Apparat erhalten, welcher zugleich ein Mittel
der Prüfung wird zur Beurtheilung der in den Text aufgenomme-
nen Lesart. Es ist aber die handschriftliche Grundlage des Textes
eine ziemlich alte zu nennen, da sie bis ins neunte Jahrhundert
zurückgeht. Donn in dieses Jahrhundert fällt eine zu Haag be-
findliche, wahrscheinlich in Italien geschriebene Pergamenthand-
schrift, und eine andere jetzt zu Leiden befindliche, wo noch drei
andere sich finden, zwei Pergamenthandschriften des zehnten und
zwölften Jahrhunderts, und eine von Perizouius nach einer (noch
vorhandenen) Oxforder Pergamenthandschrift dos zwölften Jahr-
hunderts gemachte Abschrift, die aber schon im fünften Kapitel
abbricht. Weiter kommen dazu zwei Wolfenbtittler Pergament-
handschriften, die eine wohl noch aus demselben, die andere aber,
obwohl von verschiedenen Händen geschrieben, aus dem zehnten
Jahrhundert. Diese, hier genannten Handschriften hat der Verf.
selbst eingesehen, abgeschrieben oder verglichen : und werden diesen
Handschriften von ihm noch zwei Pariser, die eine Nr. 8518 aus
dem X.— XI. Jahrhundert, die andere 8519 aus dem XIU. Jahr-
hundert, die ebenfalls benutzt wurden, angereiht, so wie zwei Va-
tikaner, nach welchen Mai in seiner Ausgabe des Julius Valerius
die bei diesem vorkommenden Lücken ergänzt hat; auch der Text
des Valerius ward hier und dort zu Bathe gezogen und selbst der
griechische Text des Pseudocallisthenes hier und dort verglichen.
Dass ausser den hier benutzten Handschriften noch andere., die
aber, so viel wir wissen, nicht über das zwölfte Jahrhundert
zurückreichen, vorhanden sind, unterliegt keinen Zweifel ; wir nen-
nen hier nur die beiden nachher noch anzuführenden Handschriften
zu Montpellier, ferner die bei Pertz Archiv XI. p. 289 aufgeführt«
Pariser Nr. 8501 (wenn sie anders von der eben genannten 8519
Digitized by Googl
Jixlil Valeril Epitome von Zacher.
819
wirklich verschieden ist), eine Brüsseler, eine Erlanger, und wahr-
scheinlich auch noch einige andere von den boi Pertz a. a. 0. VII.
p. 491 — 493 und 1025 genannten, über welche zum Theil noch
nähere Angaben verraisst werden , eben so die bei Pertz a. a. 0.
IX. p. 497. 502 angeführten englischen Handschriften; ob aber die
Vergleich ung dieser Handschritten ein anderes Resultat ergeben
würde, bezweifeln wir aus mehr als einem Grunde. Man wird sich
daher bei der hier gegebenen handschriftlichen Grundlage wohl
beruhigen können.
Aus diesen Angaben mag ersichtlich werden, welche Mühe der
Herausgeber auf seine Bekanntmachung verwendet hat: nicht min-
der anzuerkennen ist die Sorgfalt, mit welcher die Herausgabe ver-
anstaltet wordon ist. Hier galt es vor Allem, das Verhältniss der
benutzten Handschriften zu einander festzustellen , um hiernach
ihren Einfluss auf die Gestaltung des Textes zu bestimmen. Be-
stimmte Classen oder Familien der bandschriftlichen Ueberlieferung
aufzustellen, ging bei der Beschaffenheit der Handschriften nicht
wohl an, die bei einzelnen Fehlern auch wieder einzelne Vorzüge
zeigen, ohne dass es möglich wäre, eine Beziehung der einen Hand-
schrift auf die andere, oder eine Ableitung der einen aus der
andern mit genügendem Grund zu erweisen. Das beste Lob ertheitt
der Verfasser der einen Wolfenbüttler des zehnten Jahrhunderts
(E), da sie aus einer verhältnissmässig reinen Quelle stamme und
einen kundigen, sorgfältigen und enthaltsamen Schreiber bewähre
(S. X). Auf diese Weise rausste der Verf. bei der Aufstellung des
Textes mit aller Vorsicht vorfahren, da keine der genannten Quel-
len ein so entschiedenes Uebergewicht besitzt, um vorzugsweise die
Grundlage des Textes zu bilden und keine wiederum so werthlos,
um sofort unbeachtet zu bleiben; es war vielmohr »eine jede nach
ihrem eigenthümlichen Charakter mit richtiger Einsicht und zu-
treffendem Tacte für die Kritik des Textes auszunutzen €, und dass
diesa auch geschehen, wird ein Jeder ersehen, der einen Blick in
die oben erwähnte Zusammenstellung der abweichenden Lesarten,
die unter dem Texte mit aller Genauigkeit aufgeführt sind, werfen
will. Er wird dann bald wahrnehmen, wie der Verf. sioh seiner
schwierigen Aufgabe mit glücklichem Takt entledigt und einen Text
geliefert hat, der auf urkundliche Treue Anspruch machen kann und
selbst in zweifelhaften Fällen, d. h. in Stellen, wo die älteren
Handschriften schwanken und von einander abweichen, doch das
Richtige nach unserem Gefühl meist bietet. Mit grosser Vorsicht
ist der Verf. in Aufnahme eigener Verbesserungen vei fahren; er
hat es auch nur da gethan, wo die zu bessernden Fehler nicht als
Fehler des Auszuges selbst, sondern als Folge der mangelhaften
schriftlichen Ueberlieferung sich herausstellten. Denn der Verfasser
dieses Auszuges, der uns gänzlich unbekannt ist, und jedenfalls vor
das neunte Jahrhundert gehört, weil wir aus diesem Handschriften
besitzen, ist nicht gerade ein grosser Geist oder ein besonderer
620
Julll Valerii Epltome von Zacher.
kritischer Forscher zu nennen, da er sich mit sclavischer Treue
an sein Original hält, abgesehen von manchen Ungenauigkeiten,
die wir auf seine Rechnung setzen können, und von einem Verfah-
ren, das als höchst ungleich in der Fertigung des Auszugs sich
darstellt, und in so fern kaum besondere Erwartungen von seiner
Tüchtigkeit erwecken kann. Er hat, wie der Verf. im Einzelnen
nachweist (S. XII), Vieles gänzlich übergangen, dann am Anfang
seinen Auszug ziemlich ausführlich begonnen , im weiteren Verlauf
aber immer mehr gekürzt , und im dritten Buch den Bericht von
Alexanders Verkehr mit deu Brahmanen und mit den Amazonen,
so wie die Briefe an Aristoteles und an Olympias theils ganz weg-
gelassen, theils nur mit wenigen Worten angedeutet, wie der Ver-
fasser vermuthet, weil der Brief an Aristoteles und der Brief-
wechsel Alexander'B mit den Brahmanen damals schon , von dem
Ganzen losgerissen, als abgesonderte Schriften in Umlauf gekom-
men waren, in diesem aber wohl wieder in Manchem eine abwei-
chende Gestalt oder auch Zusätze erhalten hatten, was diese Aus-
lassung und Verkürzung erklärt. Keine der vorhandenen Hand-
schriften gibt den Namen des Verfassers dieses Auszugs, oder auch
den des Julius Valerius an, nur in der Perizonischen Abschrift
stehen als Aufschrift die Worte: »Julii Valerii Alexandri regis
magni Macedonum ortus vita et obitus«, wenn anders diese Auf-
schrift nicht von Perizonius herrührt, was wir fast vermuthen, da
nach Pertz Archiv VII, p. 237 die Aufschrift in der Oxforder Hand-
schrift lautet: » Ortus vita et obitus Macedonis Alexandri.« Die-
selbe Aufschrift haben auch die beiden Handschriften zu Mont-
pellier aus dem dreizehnten Jahrhundert (s. Catalog. d. Mss. de
Departt. I, pag. 297 und 437) und die Euglischen (siehe Pertz,
Archiv IX, p. 497), während eine Brüsseler des zwölften Jahr-
hunderts (s. Pertz, Archiv VII, p. 539): »Uber historiae magni
Alexandri imperatoris« enthält Die Haager Handschrift hat als
Aufschrift: »Exceptio historiae magni Aloxandri regis Macedonum«,
die eine Leidner (des neuuten Jahrhunderts) sogar: »Incipit über
Esopi cujusdam greci fabulatoris prosaico aeditus stilo de ortu
actuve ac fine Alexandri Magni Macedonis« , die ältere Wolfen-
büttler: »Incipit textus de ortu Magni Alexandri Macedonis.« In
andern Handschriften findet sich »Gesta« oder »Vita Alexandri
regis magni Macedonis«, und geht aus allen diesen Bezeichnungen
dieses Auszug's nur die völlige Unbekanntschaft mit dem wahreo
Verfasser schon im neunten Jahrhundert hervor, sonst hätte man
nicht das Buch dem Aesopus, dessen Fabeln in jenem wie in den
vorausgehenden Jahrhunderten weit verbreitet waren und dessen
Namen für jede Art von Fabeln oder fabelhafter fingirter Erzäh-
lung, es sei in Poesie oder in Prosa, gebraucht ward, zuschreiben
können. Wir möchten daraus nur so viel schliessen, dass die Ab-
fassung des Auszugs doch geraume Zeit vor das neunte Jahrhundert
fällt, in welchem alle Erinnerung an den Verfasser des Auszugs
Julli Valeril Epltome von Zacher.
831
selbst verschwunden war, den wir in eine viel frühere Zeit setzen
möchten, im Hinblick auf die Sprache nnd den Ausdruck, wie den
ganzen Periodenbau, kurz die ganze stylistische Fassung. Denn das
Ganze ist in einer einfachen und ziemlich reinen Sprache gehalten,
die nur in wenigen Ausdrücken und Wendungen Anstoss erregen
kann, und Einiges der Art ist gerade dem excerpirten Original ent-
nommen, an welches sich der Verfasser des Auszugs möglichst zu
halten sucht. Wenn wir z. B. etwa anstossen I, 24 bei der von
der Olympias in ihrem Verhältniss zu Pausanias gebrauchten Phrase:
cum — mnlier consentiret, scilicet ut deserto Philippo ad illum
tran snuberet« an dem transnuberet ad illum, so ist
zu bemerken, dass dieselbe Phrase im Original vorkommt, und das-
selbe finden wir bei Ausdrücken, wie aetatnla, homullus u. dgl.t die
übrigens noch in der älteren Latinitat vorkommen. Wenn es I, 35
beisst: >Sed quum vos primi omnium extitistis, qni meis jussis
insolentius obviaretis, terribile exemplnm aliis praebebitis etc.«, so
ist der Tndicativ extitistis wohl daraus zu erklären, dass es in
dem Original an der entsprechenden Stelle beisst: >At enim vos
primi omnium extitistis, qni mihi insolentius obviaretis« nnd der
nun folgende Satz von dem Epitomator als Nachsatz in seine Dar-
stellung, in abgekürzter Form verwendet worden ist. Ueberhaupt
wird man nirgends bei der Betrachtung der Sprache nnd Darstel-
lung des Autors diesen engen Anschluss an sein Original ausser
Acht lassen dürfen. Wir stossen daher auch z. B. II, 12 bei den Wor-
ten: »His Alexander auditis promissi et audaciae laudatnm ad pro-
pria redire concessit« nicht an, wo die eine (jüngere Wolfenbütt-
ler) Handschrift promissi« bietet und das folgende et weglässt,
da die Phrase gerade so bei Valerius sich findet und die mit lau-
datum zu verbindenden Genitive promissi et audaoiae als
Nachbildung Griechischer Construction erscheinen, wie schon bei
Silius Punicc. IV, 259 »laudabat leti juvenem« (ifiaxccgiös rov
d-avdrov). An einer andern Stelle IT, 15: »At vero Alexander —
incidit in alium (alvei locum) non congelatum simulque in flumen
ipse et equus in profunda cernuantes prosilinnt, jam quippe nox
erat« kann allerdings der Ausdruck cernuantes befremden, wenn
auch gleich das Verbura cernuare (sich überschlagen, einen Pur-
zelbaum schlagen), bei Appulejus wie bei Fronto, um von Späteren
nicht zu reden, vorkommt; allein er pa9st doch ganz gut in den
Zusammenbang, ja selbst besser als das, was wir bei Mai lesen,
der bei der Lückenhaftigkeit des Originals diese Stelle aus zwei
Vaticanischen Handschriften des Auszugs ergänzt hat; hier beisst
es: > incidit in alveum non congelatum simulque in flumen ipse et
equus jam profunda rimantes prosiliunt; jam quippe nox
erat.« Was soll hier jam profunda rimantes? es scheint sogar
dem Gedanken zu widersprechen, und sieht beinahe aus wie eine
Aendemng von Seiten dessen, welcher den Ausdruck cernuan-
tes nicht verstand und nicht zu erklären wusste. Es war daher
8*2
Ueberweg: Geschieht« der Phüosophie. 3. Aufl.
von dem Herauegeber gewiss wohlgethau, die Lesart ce rnu an-
te s, die in allen seinen Handschriften sich findet (nur in einer,
der jüngeren Wolfenbüttler, steht cacientes, ein offenbarer Feh-
ler) im Texte zu belassen. Anderes, wie z. B. der öftere Gebrauch
von enim vero, oder von corapetens, oder e contra u. dgi.
m. tibergeben wir, da sich diess Alles auch in dem Original findet.
Wir wollten nur an einigen Beispielen zeigen, wie selbst das, waa
man von Seiten des Sprachlichen etwa beanstanden könnte, nicht
dem Verfasser des Auszugs, sondern dem Original, an das er sich
möglichst an8chloss, zuzuschreiben ist. Weitere und nähere Indicien
über die Zeit, in weloho der Verfasser des Auszugs zu setzen wäre,
liegen nicht vor : wir möchten aber wegen der verhaltnissmässigen
Reinheit der Sprache und dor Einfachheit des Stils in der Dar-
stellung im Ganzen , den Epitomator nicht in das karolingische
Zeitalter oder in die unmittelbar vorausgehende Zeit setzen , son-
dern lieber in eine frühere, bald nach dem vierten Jahrhundert.
Der, wie schon früher bemerkt, mit aller kritischen Sorgfalt
behandelte Text ist, da er in den Handschritten ununterbrochen
fortläuft, hier mit den Capiteln der Müller'schen Ausgabe des
Pseudocallisthenes und des Valerius versehen und überdem ist in
eckigen Klammern die abweichende Capiteleintheilung der beiden
Ausgaben von Mai eingefügt mit den Zeichen M und R. Es ist
auf diese Weise für die Bequemlichkeit der Leser in der Be-
nützung des Auszugs gut gesorgt. Chr. Bahr.
Grundriss der Geschichte der Philosophie von Thaies bis auf die
Gegenwart. Erster Theil. Das Alterthum. Von Friedrich
Ueberweg, Professor dtr Philosophie an der Universität
Königsberg. Drille, berichtigte und ergänzte und mit einem
Philosophen- und JMteratorenregister versehene Auflage. Berlin,
Ernst Siegfried Mittler und Sohn. 1867. XI und 298 S. 8.
Kaum war ein Jahr seit der Vollendung des dritten und letzten
Tbeiles des vorliegenden Werkes verflossen, als schon eine dritte
Auflage des ersten Theiles, welcher die Philosophie des Alterthums
enthält, nötbig wurde. Dies beweist wohl mehr, als jede Anzeige,
wie sehr das Buch einem dringend gefühlten Bedürfnisse des leh-
renden und lernenden Publikums entgegenkommt. Es existirt auch
in der That kein Grundriss, der, wie der vorliegende, durch eine
so passende Anlage und Ausführung des Textes und seiner Erläu-
terung, durch ein in allen T heilen gleichmässiges, genaues Quellen-
studium, durch Unbefangenheit in der Beurthoilung der Lehr-
meinungen, durch eine alle philosophischen Disciplinon umfassende
Darstellung, durch eine erschöpfende, zuverlässige Angabe aller
Quellen und Hü Iis mittel, durch die Vereinigung möglichster Kürze
>gle
üeberweg: Geschichte der Philosophie. 8. Aufl.
823
mit umfassender, eingehender Stoffbebandlung, klarer ansprechen-
der Darstellungsgabe mit gerechter Würdigung aller andern ge-
lehrten Forschungen sich so vorteilhaft auszeichnete und dem
Lehrer, wie dem Lernenden ohne den beengenden Einfluss eines
Schulsystems so viele Winko zum weiteren Nachdenken und Er-
forschen böte. Der Unterzeichnete hat die drei Theilo des werth-
vollen Buches in diesen Blättern ausführlich angezeigt und be-
schränkt sich daher in gegenwärtiger Anzeige lediglich auf die
Angabe des neu Hinzugekommenen.
Der Grundri8s wurde in dem vorliegenden ersten Theile seiner
Anlage nach nicht erweitert, dagegen aber an sehr vielen Stellen
im Einzelnen berichtigt und vervollständigt. Ueberall wurden die
neuesten literarischen Erscheinungen berücksichtigt. Zugleich wurde,
um der didaktischen Aufgabe zu genügen, Manches klarer darge-
stellt.
Die bedeutende Erweiterung (Berichtigung und Ergänzung)
dieses Tbeiles wird eine Uebersicht der Zusätze am besten dar-
thun.
S. 12 werden als II Ulfs mittel für die Geschichte der Philoso-
phie die seit der zweiten Auflage erschienenen Werke von F. Mi-
che Iis (1865), Er d mann (1866), F. Schmid aus Schwarzen-
berg (1867), E. Zell er (geschichtliche Abhandlungen, 1865),
Prantls Fortsetzung der Geschichte der Logik im Abendlande
(bis inclns. Bd. III, 1867) angeführt. Hermanns Geschichte der
Philosophie ist nicht erwähnt. Was die Geschichte der einzelnen
philosophischen Doctrinen betrifft, so wurden schon in den frühe-
ren Ausgaben die darauf bezüglichen historischen Schriften nam-
haft gemacht. In der neuen Auflage kommen (S. 18) hinzn das
System der Ethik von J. G. Fichte, die Werke von Boss-
bach, Röder, Trendelenburg, Rob.v.Mohl, Bluntschli
(S. 14).
Bei den orientalischen Theoremen folgt (S. 19) als Zusatz die
Erwähnung von Bluntschlis asiatischen Gottes- und Weltideen
(1866), Gobineau's: Les röligions et les pbilosophies dans l'Asie
centrale (Paris, 1865) und von Joh. Heinr. Plath: Die Beligion
und der Cultus der alten Chinesen (in den Abhandl. der philos.
philolog. Classe der k. bayer. Akademie der Wissenschaften, Bd. IX«
Abth. 8, München 1863, S. 731—969), von Emil Scblagint-
weit Über den Buddhismus (1864), L. Die steh Ueber Set-
ypbon, Asahel und Satan in Niedners Zeitschrift für histo-
rische Theologie (1860), Ollivier Banregard: Les divinites
ägyptiennes (Paris 1866). Ueber die jüdischen Religionsanschau-
ungen wird A.Ewald 8 und L. Herzfelds Geschichte des Volkes
Israel, über die jüdische Dämonologie Alexander Kohut in den Ab-
handlungen für Kunde des Morgenlandes, herausgegeben von Herrn.
Brock haus (besonders abgedruckt Leipzig 1866) als Hülfsmittel
aufgeführt (S. 20).
824 TJeberweg: Geschichte der Philosophie. 3. Aufl.
Bei den Quellen der griechiflchen Philosophie finden wir (S. 22)
die Zusätze der umfassenden Schrift des Theophrastos rrfpl
(f vöixGir, von der Fragmente erhalten sind , und von welcher ein
Auszug Späteren als eine Hauptqnelle ihrer Angaben gedient zu
haben scheint (Usencr, Analecta Theophrastea, Lips. 1858) und der
polemischen Schriften des Epikureers Kolotes. Als Anfangsjahr
der Regierung des Ptolomäus Philadelphia wird 285 v. Chr. be-
zeichnet und beigefügt , dass die alexandrinische Bibliothek schon
unter seinem Vater durch Demetrius, den Phalareer, der 294 v.
Chr. nach Alexandrien kam, verbreitet wurde, dass Kallimachns
ans Cyrene 294 — 224 v. Chr. als Vorsteher der Bibliothek dem
Zenodotus folgte (S. 22). Ferner wird Aristophanes von Byzanz
(254 — 177 v. Chr.) nach Eratosthcnes (267—194) und nach der
um 144 v. Chr. verfassten metrischen Chronik des Apollodorus ge-
nannt. Zugleich wird auf Naucks Sammlung der Fragmente des
Byzantiners Aristophanes hingewiesen. Der letztere lieferte eine
ErgUnznngsaTbeit zu den Tafeln (7tCvaxs<s) des Kallimachns aus
Cyrene (ebend.). Ebenso hat Hermippus aus Smyrna (um 200 v.
Chr.) ein Supplement zu den Kalliraachischen Tafeln geliefert, wor-
aus Favorinus und mittelbar auch Diogenes Laörtius Vieles ent-
nahmen. Auch wird, was die Alexandriner betrifft, (S. 23) beige-
fügt: >Wie unkritisch viele jener Alexandriner, insbesondere Her-
mippus und Satyrns, in ihren biographischen Angaben verfuhren,
indem sie manche Fictionen früherer für historische Wahrheit nah-
men und mit eigenen Erdichtungen vermehrten, hat schon Luzac
(lectiones Atticae, Lugd. Bat. 1809) nachgewiesen.«
Von den Schriften Späterer werden für die Geschichte der
Philosophie genannt ausser Suidas (etwa um 1000 im Lexikon) noch
ein spät verfasster Auszug aus Diogenes Laörtius erwähnt und
daran die Bemerkung geknüpft, Suidas scheine die dem Hesychins
von Milet zugeschriebene Schrift : Ilsgl t(3v iv itaiöeCa ÖiaXa^av*
tatv öoepnv (Lehrs im rhein. Mus. XVII, 1862, S. 453 — 457) be-
nutzt zu haben.
Bei Eusebius (de praeparat. evang.) wird (S. 25) bemerkt,
dieser habe den Pseudo-Plutarch : De placitis philosophorum stark
gebraucht, bei den Belogen des Jo. Stobaeus, dass die betreffen-
den Partien der eclogae mit Pseudo-Plutarch: De placitis philoso-
phorum und mit Pseudo-Galen übereinstimmen , stellenweise aber
die gemeinsame Quelle vollständiger exeorpiren. Bei den neuem
Hülfsmitteln zum Studium der griechischen Philosophie sind (S. 26)
neu hinzugekommen die Fortsetzung der Geschichte der Entwicklungen
der griechischen Philosophie von Brandis (von den Stoikern und
Epiknreern bis auf die Neuplatoniker), nobst den 1866 erschienenen
Ausführungen als 2. Abth. des 3. Th. des Handb. (1864), von L.
Lenoel: Les pbilosophes de l'antiquite\ Paris 1865, von M. Morel,
bist, de la sagesse et du gout chez les Grecs, Paris (1865), Franco
Fiorentino, Saggio storico sulla filosofia greca, Firenze, 1865, W. A.
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TJeberweg: Geschichte der Philosophie. 3. Aufl. 825
Bntler, lectures on the history of ancieut philosophy , edited by
M. H. Thomson, 2 vols. London, 1866.
Ueber Rechts- und Staatslehre der Griechen sind als
Zusätze aufgeführt: Ibering's Werk: Geist des römischen Rechts
auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Leipzig, 1852 ff.;
über antiko Aesthetik : Eduard Müller, Geschichte der Theorie
der Kunst bei den Alten (1834— 1 837), Zimmermann^ Aesthe-
tik, A. Kuhn, die Idee des Schönen in ihrer Entwicklung beiden
Alten bis in unsere Tage, 2. Auflage, Berlin, 1865, über die Un-
sterblichkeit der Seele Karl Arnold (1864); über die
Einheit Wagener de uno sive unitate apud Graecorum philo-
sophos, Potsdam, 1863.
In der ersten Periode der griechischen Philosophie, der vor-
sophistischen oder der Vorherrschaft der Kosmologie, wird bei Thaies
der Saros d. h. die von den Chaldäern durch fortgesetzte Beob-
achtung aufgefundene Periode der Mond- und Sonnen- Verfinsterungen
schon in der früheren Auflage als Etwas angeführt, mit welchem. Thalea
möglicher Weise bekannt war, und dazu bemerkt (S. 88), dass auf
Grund dieses Saros nur die Mond-, nicht die Sonnenfinsternisse für
einen bestimmten Ort mit zureichender Wahrscheinlichkeit voraus-
erkanntwerden konnten und dass daher die dem Thaies zugeschriebene
Vorausverkttndigung nur alseine vielleicht auf Grund seiner naturwis-
senschaftlichen Erklärung einer schon wirklich eingetretenen Sonnen-
finsterniss entstandene Sage anzusehen sei. Hiezu ist Henri Martin : Sur
quelques prödictions d'öclipses mentionnöes par des autenrs anciens
(revue arcböologique IX, 1864, S. 170 — 199) erwähnt. Zugleich sind
Zusätze über Thaies' Abstammung, seine Auszeichnung in der Politik,
die ihm später beigelegten Schriften z. B. vavtixrj «ffrpoAoyj'a, die
Aensserungen des Aristoteles über diesen Jonier (S. 88) eingeschalten.
Zu den Schriften über Anaximander von Milet werden
ausser der älteren, in Hissmanns Magazin verdeutschten Abhand-
lung des Abbe' de Canaye auch Kriscbe, Forschungen I, S. 42 — 52
hinzugesetzt, eben so bei Anaximenes von Milet und Dioge-
nes von Apollonia (S. 40 u. 41). Bei Erwähnung der Monographie
Ferd. Lassalle's : Die Philosophie Heraklei tos' des Dunkeln
von Ephesns, 2 Bde. Berlin, 1858 ist zur Vergleichung angeführt:
Raflaele Mariano: Lassalle e il suo Eraclito, Saggio di filosofia
Egbeliana, Firenze, 1865 (S. 43).
Die Pyth agoreer erhalten die Zusätze: Ed. Zell er: Pytha-
goras und die Pytbagorassage (Vorträge u. Abhandl Leipz 1865,
S. 30 — 50), Georg Rathgeber: Grossgriechenland und Pytha-
goras, Gotha, 1866, L. Prowe: Ueber die Abhängigkeit des Co-
pernicus von den Gedanken griechischer Philosophen und Astrono-
men, Thoru, 1865, S. 48 n. 49); insbesondere Alcmaeo von Kro-
ton: Krise he, Forschungen I, S. 68 — 78, die Fragmente des
Ep icharmus: Leopold Schmidt, quaestioues Epicharmeae, spec. I,
Bonnae, 1846, Jacob Bernays, Epicharmos im rhein. Mus. 1853,
83«
Ueberweg: Geschichte der Philosophie, 8. Aufl.
Aug. 0. Fr. Lorenz, Leben und Schriften des Koörs Epichannos
nebst einer FragmentenRaramlung , Berlin, 1864, G. Bernhardy,
Grnndris8 der griech. Litt zweite Bearbeit. 1859, IIb, S. 458 ff.
(8. 49).
S. 50 und 51 enthalten Zusätze von Scbaarscbmidt's Unter-
suchungen über die Unechtbeit vieler von Bück h gesammelter Pin-
iol aos* scher Fragmente.
S. 52 wird die pythagoreische Tafel der fundamentalen Gegen-
sätze behandelt und dieselbe als von einigen Pytbagoreern«, nicht
von Alkmfton verfasst, bezeichnet. Von dem letzteren wird beige-
fügt, dass er ein Arzt war und Aristoteles Metapb. I, 5 von ihm
sagt: 'Eyivsxo trtv rjAixtav inl yigovri Ilvfrayoga, und dass er
ohne Annahme einer bestimmten Zahl von Gegensätzen die Viel-
heit des sich auf die Menschen Beziehenden auf eine Zweiheit
zurückgeführt habe.
S. 53 rinden wir bei Epichannos aus Kos die Bemerkung,
Plato habe Theaet. p. 152 A gesagt, der Komiker Epicbarm hul-
dige, wie Homer, der von Heraklit auf ihren allgemeinsten philo-
sophischen Ausdruck gebrachten Weltanschauung, die in dem Wahr-
nehmbaren und Veränderlichen das Reale finde, und eine Hinwei-
sung auf die Nacbbilduug eines pythagoreischen Lehrgedichtes des
Epicharmus durch den römischen Dichter Ennius und auf die früh-
zeitigen Fälschungen unter Epicbarms Namen.
Die Lehren des Philolaos werden wegen der Bestreitung der
Echtheit der Fragmente nicht, wie früher, im Texte , sondern am
Schlüsse der in engerem Drucke mitgetheilten Ausführungen (S. 53)
gegeben.
Bei den Eleaten werden ausser den früheren Hülfsraitteln
erwähnt : Theodor Vatke, Parmen. Veliensis, doctrina qnalis fuerit,
diss. inaug. Berol. 1864 (S. 54), bei den Sophisten: R. Weck-
lein, die Sophisten und die Sophistik nach den Angaben Plato's,
Würzburg, 1866 (S. 76), bei Protagoras das neue Citat: Plu-
tarch. adv. Coloten, IV, 2 (S. 78). Zu Protagoras wird eine Aeus-
serung Götbe's (Göthe-Zelter'scher Briefwechsel, V, 854), welche
Jac. BernayB in seiner Abhandlung über »die Wirkung der Tra-
gödie, Breslau, 1858 anführt, erwähnt und auf das Verdienst jenes
Sophisten um sprachliche Untersuchung hingewiesen. Dabei werden
die Stellen Plato Pbaedr. 267, c, Diog. Lae*rt. B. IX, 53, Aristo!.
Poöt. c. 19 zur Erörterung eingeflochten (S. 79).
Bei Gorgias aus Leontini bemerkt der Herr Verf. (S. 80),
sein Leben falle nach Frei etwa zwischen 483 und 375, er habe
nach einer unzuverlässigen , jedoch möglicherweise wahren Angabe
des Athenäus XI, 505 D das Erscheinen des Platonischen Dialogs
Gorgias noch erlebt und denselben missbilligt und scheine die letzte
Zeit seines Lebens in dem thessalischen Larissa zugebracht zu
haben, er habe die Tragödie als einen wohlthätigeu Trug bezeich-
net (Plut. de gloria Atheniensium 8.).
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Ueherweg: Geschichte der Philosophie. 3. Aufl.
Bei dem Sophisten Prodikus aus Keos folgen ausser andern
Hülfsmitteln die Zusätze: Hummel de Prodico Sophista, Leyden,
1847, E. Cougny, 1858, Diemer, Corbach, 1859, Krämer, die Alle-
gorie des Prodikos und der Traum des Lukianus in den N. Jahrb.
f. Phil. u. Päd. Bd. 94, 1866, (S. 81) und die Bemerkung, in der
Synonymik des Prodikus liege dessen erheblichstes Verdienst. Zu-
gleich ist hier eingeschalten, dass die Menschen der Vorzeit das
Nutzen Bringende vergötterten, das Brod als Demeter, den Wein
als Dionysos, das Feuer als Hephästos verehrten (Cic. de nat.
Deorum I, 42, 118; Sextus Empir. adv. Mathem. IX, 18, 51).
Bei den spätem Sophisten werden als Hülfsmittel ge-
nannt: Vahlen: Der Sophist Lykophron, der Rhetor Polykrates
frhein. Mus. N. F. XXI, S. 143 ff) Unter diesen Sophisten wird
auch Antiphon erwähnt, nicht mit dem Redner gleiches Namens
zu verwechseln, der sich mit Problemen der Erkenntnisslehre (itegl
aXr\&eCa$, nach welcher Schrift nur das Individuelle Realität hat),
Mathematik, Astronomie, Meteorologie und Politik beschäftigte,
ferner der Architokt Hippodamus von Milet, wie auch Phaleas,
der Chalkedonier, mit ihren politischen Theorieen (S. 82 u. 83).
Als politischer Grundgedanke des Sokrates wird S. 87 die-
ser bezeichnet, dass dem Einsichtigen, philosophisch Gebildeten die
Herrschaft gebühre. Bei den Hülfsmitteln zum Studium des Sokra-
tes ist hinzugesetzt: Ferd. Friedr. Htigli, das Dämoniura des Sokra-
tes, Bern, 1864 (S. 90), bei den Me gar i kern Scbaarschmidfs
Sammlung der Plat. Schriften, Bonn, 1866, S. 210 fi. (S. 94), bei
P h ä d o von E 1 i s Prellers kleine Schriften, herausg. von R. Köhler,
bdi Antisthenes, dem Gründer der cynischon Schule, Krische,
Forschungen I, S. 234 — 246, bei Krates die ihm zugeschriebenen
unechten 38 Briefe, herausg. von Boissonade in : Notices et extraits
de manuscripts de la bibliotheque du roi t. IX. Paris, 1827 (S. 96).
Zugleich werden unter der Rubrik der cynischen Schule die Frag-
mente des Demouax aufgeführt, von welchen F. V. Fritzsche
de fragm. Demonactis philos , Rostock und Leipzig 1866, handelt.
S. 98 weist der Herr Verf. unter Anführung einer Stelle aus
Zeller über den Stoicismus auf den Cynismus des ersten Jahr-
hunderts n. Chr. hin, welcher als blosse Siitenpredigt aufs Neue
hervortrat, erwähnt dessen viele leere Ostentationen und zählt
unter den besseren Cynikern der spätem Zeit Demetrius, Sene-
ca's und des Thrasea Paetus Freund, Oenomaus von Gadara zur
Zeit Hadrians (Eusseb. praepar. evang. V, 18 ff.), welcher das
Orakelwesen bekämpfte, den von Lucian gepriesenen Cyprier Do-
rn onax (50 — 150 n. Chr.), welcher am Cynismus mehr sokratisch
mild, als schroff festhielt, auf.
Unter den Hülfsmitteln für die Philosophie der Cyrenaiker
ist S. 99 die Abhandlung von Ganss über Euemerns (Quaestioues
Euhemereae, Kempen, 1860, genannt. Wenn H. von Stein in seiner
Schrift : De philosophia Cyrenaica die chronologischen Verhältnisse
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828
Ueberweg: Geschiebte der Philosophie. 8. Aufl.
dabin bestimmt, dass Aristipp, der Gründer der cyrenaischen Schale
nm 435 geboren, seit 416 in Athen, 399 in Aegina, 389 — 388 mit
Plato bei dem ältern , 361 mit ebendemselben bei dem jüngern
Dionysius und nach 356 wieder in Athen gewesen sei, so betont
derselbe Schriftsteller in seiner Geschichte des Piatonismus, II,
S. 61 die Unsicherheit der Ueberlieferung dieser Annahme (S. 99).
Auf die in der ersten Auflage genannte Lebensbeschreibung
Plato's von Olympiodorus folgt S. 103 : Vita Piatonis cx cod.
Vindob. ed. A. H. L. Heeren in Bibl. der alten Litt, und Kunst,
Gött. 1789; auch in Bioygatpoi ed. Westermann, Brunsv. 1845.
Die Vita rindet sich im sechsten Bande der K. F. Hermann'schen
Ausgabe der Platonischen Schriften.
Zu den Schriften über Plato kommen neu hinzu (S. 103)
die Arbeiten von George Grote : Plato and the other companions
of Soerates, London, 1865, von Heinrich von Stein, welcher in
seinem Werke : Der biographische Mythus und die literarische Tra-
dition die Angaben über das Leben des Plato kritisch behandelt
und fast das ganze Leben desselben als unhistorisch und unzuver-
lässig ansieht, von Scbaarschmidt : Sammlung der Platonischen
Schriften, Bonn, 1866, von E. Welper das romanhafte Werk : Plato
und seine Zeit, 1866. Bei der Prüfung der Echtheit der Platoni-
schen Schriften ist von Aristoteles auszugehen. Vieles ist zweifel-
haft. Die echt scheinenden Dialoge werden von den unechten ge-
trennt und Ansichten des Herrn Verf. über die Aufeinanderfolge
der Platonischen Schriften, wobei sehr Weniges als gewiss fest-
steht, angedeutet (S. 108 u. 109). Von den fremden Ucbersetzun-
gen der Platonischen Werke wird die italienische Uebersetznng
von Rüg. Bonghi: Opere di Piatone nuovamente tradotte, Milane,
1857 genannt (S. 109), von Monographien über einzelne Schriften
Plato's Meinardus: Wie ist Plato's Protagoras aufzufassen? Progr.
Oldenb. 1865 (S. 110). Der Herr Verf. entwickelt in seinen Zu-
sätzen die Ansichten Grote's und Schaarschmidt's über die Echt-
heit und Zeitfolge der Platonischen Dialoge (S. 112 und 113). Zn
den Monographien über Plato's Ideenlehre werden als Znsatz an-
gefügt (S. 120) die platonische Ideenlehre von Hermann Cohen in
der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft von
Lazarus und Steinthal, Bd. IV, Berlin, 1866, Schneidewins dis-
quisitiones philosophicae über Plato's Theätetus, Trendelenburg's Fest-
gruss an Gerhard (1865). Bei der Platonischen Sprachphilo-
sophie wird nachträglich C. Scbaarschmidt, die Uuechtbeit des
Dialogs Kratylus, im rhein. Mus. N. F. XX, 1865 genannt. Zn
Plato's Gotteslehre werden als neuere Httlfsmittel beigesetxt
die Abhandinngen von Ant. Erdtmann (1855), G. F. Rettig (1866),
bei Plato's Naturlehre Heinr. von Stein (Gött. Anz. 1862), Friedr.
Ueberweg (Zeitschr. für Philos Bd. 42, 1863), Böckh im dritten
Bande seiner gesammelten kleinen Schriften, 1866, bei der Un-
sterblichkeitslehre Alb. Bischoff (Phädon, Erlangen, 1866)
Ueberweg: Geschichte der Philosophie. 3. Aufl.
angeführt (S. 126). Bei Plato's Ethik und Politik finden
wir (S. 131 u. 132) die neuen Zusätze von Eman. Grundey (Berl.
1865), Glasers Jahrb. für Gesellschafts- und Staatswissenschaften,
Bd. VI, Heft 4, 1866, bei Plato's Erziehungslehre Hahn (die
pädagog. Mythen Plato's, 1860). S. 138 ist unter der Rubrik der
Akademie bei Krantor beigefügt: Er > starb vor Polemo
(Diog. L. IV, 27)« und »Krates leitete nach Polemo die Schule,
wie es scheint, auf kurze Zeit.«
8. 143 werden ausser den in frühem Auflagen erwähnten
Uebersetzungen und Erklärungen der Aristoteles' sehen Werke
von Barthelemy St. Hilaire die französischen Uebersetzungen der
Meteorologie (1863), der Schriften de coelo (1866), de generatione et
corruptione, de Melisso, Xenopbane et Gorgia und des Uebersetzers
introduetion sur les origines de la philosophie grecque (1866) ge-
nannt. Als nachträgliche neuere Hülfsmittel zur Aristoteles'scben
Politik sind eingeschalten die Abhandlungen von W. Oncken und
Susemihl (S. 144), zur Beurtheilung der Schriften des Aristoteles
(S. 145) die Arbeiten von W. Eucken (1866), E. Essen (1866),
Aristoteles Pseudepigraphus (Lips. 1863), Emil Heitz (die verlore-
nen Schriften des Aristoteles, 1865). Bei der Geschichte der
Schriften des Aristoteles findet sich S. 52 der Beisatz: »Die
Annahme, dass mehrere philosophische Hauptschriften des Aristoteles
in der Zeit nach Theophrast und Neleus bis auf Apelliko und An-
dronikus unbekannt gewesen seien, erhält eine gewisse Bestätigung
durch das Verzeichniss der Aristotelischen Schriften bei Diog. L.
V, 22 — 27, dessen letzte Quelle höchst wahrscheinlich der (wie es
Bcheint, durch Hermippus angefertigte oder erläuterte) Katalog
Aristotelischer Schriften auf der Alexandrinischen Bibliothdk ist.«
Dabei wird auf Emil Heitz: Die verlorenen Schriften des Aristo-
teles (Leipz. 1865) verwiesen. Von neueren Specialschriften Uber
die logischen Schriften des Aristoteles kommen hinzu J.Her-
mann (Quae Arist. de ultimis cognoscendi priaeipiis docuerit, 1864),
Aristotle on fallacies or the sophistical elenchi, with a translation
and notes von Edward Poste, London, 1866 (S. 154).
S. 155 wird weiter ausgeführt das Verhältniss der Logik des
Aristoteles als Propädeutik seines ganzen Systems. S. 164 wird die
populäre Bebaudlung des Gottglaubens durch Aristoteles mit
Hinweisung auf eine Stelle in Bernays' Schrift: Die Dialoge des
Aristoteles angedeutet. Zu den naturwissenschaftlichen
Aristotelischen Schriften werden die Hülfsmittel von George Lewes
(Aristotle, a chapter from the history of science, London 1864,
deutsch von Jul. Victor Carus, 1865, Anzeige von J. B. Meyer in
Gött. Gel.-Anz. 1865), zu den psychologischen A. Gratacap
Arist. de sensibus doctrina, Montpellier, 1866, angeführt (S. 165
und 166). S. 168 findet sich eine interessante Bemerkung Uber die
Zeugungslehre des Aristoteles und dessen Ansicht von der generatio
aequivoca oder spontanea eingeschalten. Bei der Aristotelischen
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830
U eher weg: Geschichte der Philosophie. 8. Aufl.
Ethik wird die Schrift von Traug. Bruckner, das Verbältniss der
Kantischen Moral (de tribus ethiccs locis etc. Berol. 1866), bei der
Lehre von Poe* sie und Kunst die Abbandlungen von Gerb. Zill-
genz, 1865, von Paul Grafen York von Wartenburg, 1866, Unter-
suchungen von Wachsinnth, Vablen, Susemihl, Teichmüller n. A.,
bei der Erziehungslehre die Dissertation von Alb. Janke, 1866,
zu den früher erwähnten Hülfsmitteln hinzugefügt. Unter der
Kunstlehre ist S. 178 eingeschalten: »Schön ist das Gute, wenn
es als solches zugleich angenehm ist (Rbet. I, 9). Die Schönheit
besteht in Grösse und Ordnung (Poe*t. c. 7).«
Von Aristoteles kommen wir zu den Aristotelikern. Ah
Zusätze folgen die neueren I Hilfsmittel für Theophrast von Jacob
Bernays, Theophrastos' Schrift über die Frömmigkeit, 1866, für
Eudemus Spengel's Eudemi Bhodii fragmenta, Berol. 1866, für
Aristoxenus Paul Marquard (de Aristox. Tarent. element. bar-
monicis, 1863), für Straton von Lampsakus Krische's For-
schungen I, S. 349 — 358, für Aristo von Keos die Unter-
suchungen von F. Ritsehl und Krische (S. 181). Von den spätem
Peripatetikern wird Adrastus genannt und über ihn auf Martins
Schrift: Theo Smyrnacus (Paris, 1849) verwiesen, ferner Nico-
laus von Damascus und über ihn Conrad Trieber (Quaest. La-
conic. Berol. 1867). Bei Aristoxenus, dem Musiker, wird be-
merkt, dass er ausser den Elementen der Harmonik auch Biographien
von Philosophen, insbesondere von Pytbagoras und Plato verfasst
habe (S. 183). S. 184 werden nachträglich Diodotus, der Bru-
der des Boöthus, und Xenarchus als Peripatetiker angeführt
und die compondiarische Darstellung der peripatetischen Philosophie
durch Nicolaus von Damaskus und die Bearbeitung der Logik und
Physik durch den Peripatetiker Aristo angedeutet (S. 184). S. 184
und 185 finden wir eine Einschaltung über die Exegese der
Aristotelichen Schriften , welche in der Kaiserzeit das Hauptver-
dienst der Peripatiker ist. Es findet sich hier eine Andeutung der
exegetischen Leistungen des Alexander von Aegae, eines Lehrers
Nero's, des Aspasius, Adrastus, Herminus, Aristokles und beson-
ders des Alexanders von Aphrodisias.
Es folgen die hervorragenden Stoiker (S. 186). Ueber Ze-
no' s Gotteslehre handelt nach den neuen Zusätzen (S. 1S6) Krische.
Forschungen I, S. 365 — 404, über dieselbe Lehre nach Aristo
von Chios derselbe a. a. 0. S. 404 — 415, über Persäas der-
selbe a. a. 0. S. 436 — 443, über Kleanthes derselbe a. a. 0.
S. 436—445, über Diogenes von Babylon derselbe 8. 482
— 491, über den römischen Stoicismus Martha (les Mora-
listessous l'empire Romain, philosophes et poe"tes, Paris, 1864),
P. Montec (le Stoicisme ä Rome, Paris, 1865), über Musonius
Ruf us Bäbler im N. Schweizerischen Museum IV, 1, 1864, Otto
Bernhardt (Monographie über den genannten Philosophen, Sorau,
1866), Über Marc Aurel E. Zeller in dessen Vortr. u. AbbandL
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Ueberweg: Geschichte der Philosophie. 8. Aufl. 881
Leipz. 1865. Als Schüler des Stoikers Panätius wird nachträglich
G. MuciusScaevola (gest. 82 v.Chr.) genannt und dessen Unter-
scheidung der dreifachen Theologie angeführt. Auch M. Terentius
Varro (115—25 v. Chr.) huldigte denselben Ansichten (S. 190).
Von den Stoikern unter den römischen Kaisern kommt vor Hera-
klitus oder Heraklides zur Zeit des Augustus, Attalas zur
Zeit des Tiber ins und Chäremon zur Zeit des Nero (S. 191),
Als Stoiker werden auch die Republikaner Thrasea Paetus und
Helvidius Priscus mit den bezüglichen Citaten genannt. Zur Er-
klärung der stoischen Schlusslehre sind Stellen aus Prantl's
Geschichte der Logik und Zeller's Philosophie der Griechen ange-
führt (S. 195).
Wir kommen zü den Epikureern. Hier finden wir (S. 203)
die Erwähnung neuer Bruchstücke aus der Schrift Epikurs (neQi
(pvöeag) in dem 6. Bande der Uercul. voll, collectio altera, dessen
erster Fascikel zu Neapel 1866 erschien, der Herkulanischen Studien
von Theodor Gumperz, zweites Heft: Philodem über Frömmig-
keit, 1866, der Brieger'scben Uebersetzung des Lucrez vom
Wesen der Dinge (1866). Epikurs Naturphilosophie wird
(S. 209) also cbarakterisirt : »Nur auf Abwehr theologischer Er-
klärung und Feststellung des naturalistischen Princips, nicht auf
gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntniss gebt Epikurs wesent-
liches Interesse in seiner Naturphilosophie.« Unter der U Über-
schrift der Epikureischen Ethik lesen wir (S. 212): »Die sitt-
lichen Gesetze sind nach der Epikureischen Doctrin weder den
Menschen angeboren , noch auch von Gewalthabern denselben auf-
genöthigt worden, sondern aus der Einsicht der hervorragenden
und leitenden Männer in das der menschlichen Gesellschaft Nütz-
liche {ev^fpigov) hervorgegangen (Hermarchus bei Porphyr, de
abstin. I, o. 7 — 13; Bernays, Theophr. Schrift über Frömmigkeit,
Berlin, 1866, S. 8 ff.). Hinsichtlich der Bedeutung des Epikureis-
mus wird S. 214 A. Lange's Gesch. des Materialismus, 1866,
angeführt.
An die Epikureer reiht sich der Skepticismus. Hier finden
wir in Zusätzen bei Pyrrho (S. 219) erwähnt D. Zimmermann,
Darstell, der Pbyrrh. Philos. u. s. w., im römischeu Eklekti-
zismus bei der Religion der Römer E. Zeller (24. Heft der
gemeinverst. wissensch. Vorträge von Rud. Virchow und Fr. von
Holtzendorf, 1866), bei Cicero als Philosophen die Abhandlungen
von C. M. Bernhardt (1865), F. Hasler und Hugo Jentsch (1866).
Der Herr Verf. macht nicht den Sokrates, sondern die Sophi-
sten zum Wendepunkte in der Geschichte der griechischen Philo-
sophie, während Ref. das Erstere für zweckmässiger hält, da der
Einfluss des Sokrates ein auf alle Hanptsysteme späterer Zeit
dauernder, nachhaltiger ist. Er nennt die Periode der vorsophi-
stischen Philosophie den Zeitraum der Vorherrschaft dor Kosmo-
logie. In der zweiten Periode bis zu den Skeptikern ist die An-
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832 Ueberweg: Geschichte der Philosophie. 8. Aufl.
tbropologie, in der dritten, der Prriode der Neuplatoniker und
ihrer Vorgänger, die Theosophie vorherrschend.
In diesem dritten Zeiträume findet sich bei der allgemeinen
Kennzeichnung des Neupiatoni smus als Beisatz die Bemer-
kung: »Der Neuplatonismus ist der Synkretismus der orientalischen
(insbesondere der alexandrinisch -jüdischen) und der hellenischen
Bildung unter der Form des Hellenismus; die jüdisch- alexandrinische
Religionsphilosophie und die christliche Gnosis ist derselbe Syn-
kretismus unter der Form des Orientalismus.« Zugleich wird auf
eine Stelle in Zimmermann^ Geschichte der Aesthetik hingewiesen,
nach welcher Plato's Versuch, orientalische Mystik in wissenschaft-
liche Forschnug zu übersetzen, im Nenplatonismus mit einer Rück-
tibersetzung des Gedankens in Bilder endet (S. 225). Bei den ein-
zelnen Ncuplatonikorn, insbesondere dem Pseudo-Phokylides
(eine moralpbilosopbiscbe, judaisirende Poösie) finden wir die Ab-
handlung Leopold Schmidts im 75. Bande von Jahu's Jahrbüchern
(S. .228), bei den Neupythagoreern, iusbesondere bei Apollo-
nias Tyanensis A. Chassang, le merveilleux de l'antiquite , Apoll,
de Tyan. (1862, 2 ed. 1864), Iwan Müller in der Zeitschr. f. TheoL
und Kirche von Delitzsch und Guerike, 24. Jahrg. (S. 285), was
das Verbot des Floiscbgenusses durch die Neupythagoreer betrifft,
eine Stelle aus Bernays: Theopbrast's Schrift über Frömmigkeit
(S. 236), bei den Neuplatonikern überhaupt Heinrich Kellner,
Hellenismus und Christenthum, 1865 in Köln erschienen, (S. 242 J
bei £ r e n n i u s insbesondere dessen Beziehung der Metaphysik aci
das jenseits der Natur Liegende nach Brandis* Andeutung im Jahrg.
1831 der Abbandl. der Berl. Akad. (S. 243), bei P lotin Arthur
Richter'snenplatonische Studien (1864 — 1867), dieSchrift von E.Grn-
cker, de Plotinianis libris, bei Porpbyrius dio 1866 erschienene Jacob
Bernays'sche Schrift des Theophrastos über die Frömmigkeit (S 246
und 247) erwähnt, und bei den Lehren Plotius einige Zusätze
(S. 247) eingeschalten. In Bezug auf die Schönheit nach Plotins
Auffassung wird S. 254 bemerkt: »Nicht in der blossen Symmetrie,
sondern in der Herrschaft des Höheren über das Niedere, der Idee
über den Stoff, der Seele über den Leib, der Vernunft und des
Guten über die Seele liegt das Wesen der Schönheit. Die künst-
lerische Darstellung ahmt nicht bloss die sinnlichen Objecto nach,
sondern zuhöebst die Ideen selbst, deren Abbilder die Objecte sind.«
iSchluss folgt)
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Sl. 63. HEIDELBERGER 1887.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Ueberweg: Geschichte der Philosophie. 3. Aufl.
(SchlUM.)
Als Gegner der Schrift des Porpbyrius gegen die Christen sind
Methodius, Eusebius aus Cösarea, Apollinarius und Philostorgius
genannt (S. 256). Zu den Schriften der Neuplatoniker ist die
von L. Spengel in München 1859 zuerst herausgegebene Schrift
des Dexippus, dubitationes et solutiones in Aristotelis categorias,
hinzugefügt (S. 257). Als Hülfsmittel kommen hinzu bei dem römi-
schen Kaiser Julian, dem Apostaten, Baur's christliche Kirche vom
4 — 6. Jahrb., Schaffs 1867 erschienene Geschichte der alten Kirche
und der Jahrgang 1867 der Zeitschrift für bist. Theol. herausgeg.
von Kahnis, als Quelle bei Themistius die von Spengel 1866
herausgegebene Schrift dieses Neupiatonikurs: Themistii paraphra-
ses Aristot. librornm, quae supersunt (S. 258). Bei Proklus ist
die Unvollständigkeit des Mediceisoben Codex der Abhandlung
desselben über Plato's Staat mit dem Index des vollständigen
Oommentars erwähnt unter Hinweisung auf Val. Rose in Hermes II.,
and beigefügt, der Sal viatische Codex aus Florenz, jetzt in Born
befindlich, enthalte die fehlenden Abschnitte, doch mit manchen
Lücken, wobei auf Mais Spicileg. Rom. VIII. praef. hingewiesen
wird (S. 260). Als neue Hülfsmittel zum Studium des Proklus wer-
den A. Berger (Proclus, exposition de sa doctrine, Paris, 1840),
Steinhart (Art. Proklus, in Paul y 's Realencykl. d. cl. A. Bd. VI,
S. 62 — 76) bezeichnet. Nachträglich sind (S. 261) zu den Com-
mentaren des Simplicius K. Enks deutsche Uebersetzung des
Commentars des Simplicius zu Epiktets Enchiridion (1867) und
der Commentar des Simplicius zu den vier Büchern des Aristoteles
vom Himmel (Utrecht, 1865) erwähnt.
Von S. 265—267 folgt in einem Anhange die Tabelle über
dieSuccession der Scholarchen. Daran reihen sich Berich-
tigungen und Zusätze zur dritten Auflage des ersten Theiles, zur
zweiten Auflage des zweiten und zur ersten Auflage des dritten Theiles
(S. 269—275) und ein alphabetisches Register zum ersten, die Philo-
sophie des Alterthums enthaltenden Bande der vorliegenden Ausgabe
des Grundrisses (S. 277 — 298). Es ist genau und vollständig von
Dr. Ferd. Ascherson ausgearbeitet, > der sich, wie früher, auch
diesmal wiederum in mehrfacher Weise um die Correctbeit des
Baches verdient gemacht hatc (Vorrede zur dritten Auflage des
ersten Theiles S. VII). Das Register enthält sowohl die Namen
LX. Jahrg. 11. Heft- 53
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884
Qu et ol et: Sciences msthÄm. et phyiiques etc.
der in diesem Theile erwähnten Philosophen, als auch der darin
vorkommenden Geschichtsschreiber der Philosophie und Litteratoren.
Es ist so angelegt, dass es durch verschiedene Zeichen für die Be-
sitzer aller drei Ausgaben brauchbar wird.
v. Reichlin-Meldegg.
Sciencts mathimatiques et physiques au commencement du XIX' sitcU.
Par Ad. Quetelet, directeur de Vobservatoire royal dt
Bruxelles, de. Bruzelles, librairie evropt'enne de C. Muquardi.
1867. (IV u. 754 8. in 8.).
Das vorliegende umfangreiche Werk des berühmten Verfassers
ist eine Art Fortsetzung seines frühern Buches: »Histoire des
scienoes mathematiques et physiques chez les Beiges«, dies wenig-
stens in so ferne, als er hier die Dokumente, die er bei Abfassung
des letztgenannten Werkes sammeln musste, und welche die Ge-
schichte des laufenden Jahrhunderts betreffen, niederlegt oder teil-
weise verarbeitet, damit sie zu einer eigentlichen Geschichte später
verwendet werden können. Wir haben es also auch keineswegs mit
einer systematisch zusammenhängenden Darstellung zu thun, da —
wie so eben gesagt — das nicht Absicht des Verfassers war ; viel-
mehr spielt derselbe in weitaus dem grössten Theile des Buches
die Rolle des Biographen, der jedooh ganz besonders bei dem ver-
weilt, was er selbst gesehen und gehört, selbst mit erlebt hat. Das
aber erzählt er in einer so lebendigen und dabei herzgewinnenden
Weise, dass man das Buch mit immer steigendem Interesse liest,
und sich wahrhaft stärkt und aufrichtet an den Beispielen, die von
liebender Freundeshand uns vorgeführt werden. Glücklich der
Mann, welcher einen solchen Biographen erhält ; glücklich aber auch
das Land, das seine Kinder, die sich auszeichnen, so behandelt,
wie wir dies in den meisten dieser Biographieen sehen, wenngleich
auch hier das hässliche Bild verächtlicher und intriguanter Mittel-
mässigkeit im Streite mit dem wirklich verdienten Manne zuweilen
erscheint.
Wenn wir hier von einem einzigen Lande sprechen dürfen, so
rührt dies daher, dass weitaus der grösste Theil der Männer der
Wissenschaft, deren Leben hier ganz oder theilweise geschildert
wird, Belgier oder in Belgien naturalisirte Fremde sind. Der Titel
des Buches ist also scheinbar etwas zu weit gehalten, und wirk-
lich ist demselben auf 8. 1 gleich der Znsatz »chez les Beiges«
zugefügt.
Das ganze Werk zerfällt in vier Bücher , von denen die drei
letzten den eigentlich biographischem Theil ausmachen.
Das erste enthält don > allgemeinen Stand der Wissenschaften«
(im Anfange und Verlauf des 19. Jahrhunderts). Der Verf. bebt
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QueUlet: Science« mathem. et physiqnee etc. 886
dabei ganz vorzugsweise auf die Gesammtarbeiten ab, indem
er die im 19. Jahrhundert wesentlich ausgebildeten Wissenschaft*
liehen Verb ün düngen beschreibt, boi denen also mehrere Männer
der Wissenschaft zu einem und demselben Endzwecke (namentlich
der Beobachtung) zusammentreten und dadurch Ziele erreichen, die
einem Einzelnen, und sei er noch so begabt und thätig, immer
unerreichbar bleiben müssen. Dazu gehören auch die wissenschaft-
lichen Kongresse, wissenschaftliche Zusammenkünfte u. 8. w. Die
allgemeine Uebersicht schliesst mit der nähern Bestimmung des
Standes der betreffenden Wissenschaften in Belgien.
Wir mUssen uns enthalten, hier auf das Nähere einzugehen,
da das Buch selbst ja nur eine Art Uebersicht ist, und also eine
Uebersicht der Uebersicht geliefert werden müsste, wenn wir über
Weiteres berichten wollten.
Das zweite Buch, mit dem nun die Lebensbeschreibungen beginnen,
enthält die »savauts beiges.« Wir finden hier behandelt: Charles-
Francois lePrud'homuied'Hailly, vicomte de Nieuport(1746 — 1827);
Jean-Baptisto van Möns (1765 — 1842); le Colonel G. P. Dandelin)
(1794—1847); Pierre Francois Verhulst (1804—1849); Gaspard-
Michel Pagani (1796 — 1855); Jean - Guillaume Garnier (1766—
1840); Jacques - Guillaume Crahay (1789 — 1855); Pierre Simons
(1797—1843); Francois-Pbilippe Cauchy (1795—1842); Antoine
Belpaire (1789—1839); Jean Ricka (1775—1831); dessen gleich-
namigen Sohn (1803 — 1864); Daniel- Joseph- Benoit Mareska (1803
—1858); Henri-Guillaume Galeotte (1814—1858), sämmtlich Mit-
glieder der belgischen Akademie.
Neben der mehr oder minder ausführlichen Darstellung der
wissenschaftlichen Leistungen dieser Mäuner, behandelt Quetelet
ganz besonders ihr Leben, wir möchten sagen, ihren menschlichen
Tbeil am Leben, so weit derselbe ihm persönlich bekannt war —
und er ist mit allen diesen seinen »confreres« genau bekannt und
vertraut gewesen. Gerade dieser Theil macht das Buch zu einer
angenehmen und liebenswürdigen Lektüre, da der Verf. ein weiches
Herz besitzt, das selbst da, wo vielleicht einmal etwas zu viel ge-
schah, immer entschuldigt und möglichst verschönert. So erscheinen
denn eine Reihe Züge, die, wenn sie manchmal auch nioht zu einem
vollendeten Bilde vereinigt sind, doch den Charakter und das Her»
des geschilderten Mannes in dem Lichte, das der Verf. für das
richtige erachtet, erscheinen lassen.
Wir sehen da den alten »Kommandeur« Nieuport, dem die
französische Revolution seine Stelle als Kommandeur des Maltheser-
Ordens entrissen und ihn sonst schwer geschädigt, sein Leben lang
»effarouche« von dem Liberalismus, der ihm noch obendrein ver-
haaster wurde durch heftige Angriffe von Seiten unliebenswürdiger
Jünglinge der Presse, welche der Verdienste des alten Mannes um
Vaterland und Wissenschaft nicht gedachten, der durch beissenden
Witz freilioh auch manchem unangenehme Stunden bereitete. Dabei
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886
Quetelet: Sciences math^m. et physiques etc.
sehen wir ihn voll Liebenswürdigkeit gegen talentvolle Anfänger,
denen er mit väterlicher Liebe entgegenkam, nnd die in der Kegel
vom ersten Besuche das Geschenk seiner Werke mit nach Hanse
nahmen.
Van Möns wird uns geschildert in seinem freundschaftlichen
Verhältnisse zu dem als Kommissär in Belgien weilenden Convents-
mitgliede Roberjot, wie er in jeder Weise das Wohl seines mit
Frankreich vereinigten Vaterlandes zu fördern strebt, und ganz be-
sonders für den Unterricht thätig ist. Wir trauern mit ihm, wenn
seine schönen Baumschulen in Brüssel und Löwen, wegen Verwen-
dung des Terrains »in öffentlichem Nutzen« mit wahrer Barbarei
zerstört werden. Im ersten Orte wurden Strassen und Hänser, im
zweiten eine Gasfabrik darauf errichtet, welche ganz eben so wohl
anders wo hätte stehen können. Aber die Herren Ingenieuro voll-
zogen »un acte d'ignorance et du plus grossier vandalisme.« In
welchem Maasse der Mann als rechtlich bekannt war, geht aus der
Anekdote hervor, die der Verf. aus der Zeit -der Deportation von
Pichegru von ihm erzählt. Eine dem General beigegebene Person,
mit ihm im Temple gefangen, wollte ein Packet von grossem Werth,
das sie bei Brüssel vergraben hatte, sichern. In der Verzweiflung
wusste dieselbe nicht an wen sich zu wenden, und schrieb endlich
an den ihr nur dem Namen nach bekannten Gelehrten.
Ein ganz besonders mif dem Verf. befreundeter Gelehrter war
Dandelin, der sich mit ihm neben andern wissenschaftlichen Din-
gen auch mit der Verfertigung von Theaterstücken beschäftigte. So
entstand »Jean Second«, und ward 1816 in Gent aufgeführt. Der
Vater Dandelin's, der nicht übermässig erbaut war über des Sohnes
literarische Thätigkeit, wollte anfänglich auf das Durchfallen des
Stücks hinarbeiten, Hess sich jedoch von väterlicher Zärtlichkeit
während der Aufführung von seinem grausamen Vorhaben abbrin-
gen und suchte den Sohn auf. Wonig bekannt mit den Geheim-
gängen der Kulissen gerieht er aber in den unrechten, und erschien
urplötzlich auf der Szene, zum mächtigen Ergötzen der Zusohauer.
Nachdem die künstlerische Laufbahn aufgegeben war, wurde die
wissenschaftliche genauer eingehalten und beide Freunde brachten
es in dieser weiter, als es ihnen wohl in der andern würde ge-
glückt sein.
Da ist der alte Garnier, der vor lauter Pünktlichkeit sich
seine Vorträge aufschreibt und sie dann textgetreu abliest — zur
geringen Aufmunterung seiner Zuhörer — , immer aber als tüchti-
ger und gewissenhafter Mann erscheint. Herumgeworfen in Frank-
reich, wo er seine Stellen verlor, wird er nach Belgien gerufen,
wo ihm abermals die Revolution (1830) seine ziemlich einträgliche
Stelle entzieht, bis endlich die belgische Regierung dem alten Manne
seine wohl verdiente Pension gewährt. Rührend ist die Schilde-
rung, die Quetelet von den letzten Tagen dieses Mannes gibt, wo
er und seine eben so alte Frau, die ein langes Leben glücklich
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Quetelet: Science» mathem. et physlques etc. 837
mit einander durchlebt, beide auf den Tod krank zu Bette liegen,
und jedes doch nur um das andere besorgt ist.
Wir lernen das Herz Caucby's (eines Verwandten des berühm-
ten Mathematikers) am besten aus folgender Thatsache kennen.
Ein junger Mann, Sohn eines alten Militärs und unbemittelt, war
vor der Commission, welche die öffentlichen Prüfungen abhielt und
zu der Cauchy gehörte, als nicht befähigt erklärt worden. Dem
jungen Manne stürzten bei der Eröffnung dieses Urtheils die Thrä-
nen aus den Augen und die Commission war um so mehr von die-
sem Schmerzens-Erguss ergriffen, als man einsah, dass die Schuld
nicht sowohl in dem Verstände und Fleisse des Kandidaten, als in
seinen beschrankten Mitteln lag. Cauchy war desselbigen Abends
bei dem Kriegsminister eingeladen und erschien da zerstreut und
träumerisch. Auf die Nachfrage nach dem Grunde dieses Zustan-
des erzählte er den betrübenden Vorfall des laufenden Tages, und
schon den folgenden Tag erhielt der junge Mann Staatsunterstützung,
die er so gut verwendete, dass er ein Jahr später mit Auszeich-
nung promovirt wurde. In welchem Ansehen der von der Regie-
rung viel verwandte Ingenieur stand, beweist die Thatsache, dass
in dem Theile des Königreiches, der seiner Inspection untergeben
war, die Regierung keinen einzigen Prozess zu führen hatte. Wenn
Cauchy , nachdem er eine Sache geprüft, sich ausgesprochen, war
kein Widerspruch zu erwarten.
Wir wollen diese Auszüge nicht fortsetzen, wie wir sie denn
auch nur gemacht, um ungefähr zu zeigen, was unter Anderm
auch in dem Buche zu finden sei, und was man nach dem Titel
nicht von vorn herein darin vermuthet. Ob wir das Rechte ge-
troffen, müssen wir dahin gestellt sein lassen ; es ist eben gar Vie-
les da, unter dem eine Auswahl schwer ist.
Das dritte Buch behandelt die Literaten und Künstler Belgiens.
Wir finden die Lebensschilderungen von : Charles- Joseph-Emmanuel
van Hulthem (1764—1833); Louis-D<§odat Dowez (1760 — 1834);
Egide-Norbert Cornelissen (1769 — 1849); Philippe Lesbroussart
(1781 — 1855); Goswin-Joseph-Augustin baron de Stassart (1780 —
1854); Fr. Aug. Ferd. Th. baron de Reiffenberg (1795—1850);
Louis-Vincent Raoul (1770 — 1848); Jean-Thöodore- Hubert Weusten-
raad (1805—1849); Leonard Pycke (1781 — 1842); Philippe Rer-
nard (1797 — 1853); Mattbieu-Edouard Smits (1789-1852); Jean
Baptiste van Eycken (1809 — 1852) — wie man sieht, eine Reihe
wohl bekannter Namen. Dass hier in fast noch grösserem Maasse
als im ersten Buche Anekdoten ernsthaften und witzigen Inhalts
erscheinen, liegt in der Natur der Sache*); aber auoh den Werken
#) Wir erwähnen hier der Inschrift, welche der oberall aushelfende
Cornelissen den guten iientern Ober das Thor der „petlte Boncherie" bei
dem Besuche Napoleons setzte: ,.Les petita boochers de Gand a Napoleon
le Grand", die aber „par ordre" sofort unterdrückt wurde.
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Quetelet: ßefenees mathem. et physiques etc.
der Männer hat Qaetelet grosse Aufmerksamkeit gewidmet, wie sich
denn ganze Abschnitte von Gedichten verzeichnet finden.
Das vierte Buch behandelt: »Savants et litterateurs ätrangers ;
lenrs relations avec la Belgique«, oder — wohl eigentlich — mit
dem Verf., der ganz eigentlich hier sein Vaterland repräsentirt.
Diese Fremden sind: Arago, Humboldt, Bouvard , Schumacher,
Gauss, Göthe, Gioberti, Droz, Malthus, Falck, van Eywick, Kever-
berg v. Kessel.
Auch hier wird das innerste Leben der berühmten Männer,
deren Namen eben niedergeschrieben wurden , so weit es Quetelet
durch eigene Anschauung kannte, mit Liebe und unverwüstlichem
Hnmor wiedergegeben.
Da fahren wir mit Arago und unserm Verf. in einem Coupe
der Eisenbahn in Gemeinschaft noch mit einem wohlbeleibten Phi-
lister, der ausser seinem Platze einen guten Theil des dem Verf.
zukommenden occnpirt. Den fibernimmt nun Arago, und bringt
ihn durch haarsträubende Schilderungen von Eisenbahn - Unglück
in eine wahre Verzweiflung, so dass er bei der nächsten Station
eiliget aussteigt, und so unsere Reisenden bequemer sich einrichten
können. Der lustige Gelehrte hat aber eine wahre Kinderfreude
an der gelungenen Kriegslist.
Wir hören Humboldt und Arago im Pariser Observatorium
sich über wissenschaftliche Gegenstände so lebhaft unterhalten, daF?
sie in ernstlichen Streit gerathen und ersterer in vollem Zorne das
Zimmer verlässt, ohne nur den Hut mitzunehmen. Arago eilt ihm
mit diesem unentbehrlichen Kleidungsstück nach , aber Humboldt
will Nichts davon wissen, bis endlich die gar zu komische Situation
sich in einen unwillkürlichen Ausbruch von Lachen auflöst*). Wir
sehen aber auch, wie der sonst so heitere Arago mit der web-
mtithigsten Empfindung von dem Verluste seiner Frau spricht.
Die treue und aufopfernde Anhänglichkeit Bouvards an Laplacc
wird in vollstem Maasse gewürdigt, eben so wie die Liebe, mit der
dieser thätige Astronom an einigen seiner Schüler hing, von denen
Gambart ihn geradezu Vater hiess.
Wir sind mit Quetelet in der Familie Göthes, der den belgi-
schen Astronomen und dessen Frau mit grösster Zuvorkommenheit
aufnahm und dem er über die Aufnahme seiner optischen Arbei-
ten bei der Naturforscherversaramlung in Heidelberg zu berichten
hatte.
Wir wiederholen schliesslich nochmals, dass natürlich die Wür-
digung der Arbeiten der Männer, von denen hier gesprochen wird,
den grössten Theil des Werkes, das wir hier anzeigen, ausmacht,
und wir eben die Anekdoten, die allerdings ebenfalls sehr zahlreich
•) Eines der lustigsten Stückchen zwischen Humboldt und Arago Ist
8. 687 erzählt.
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Houel: Essai Bur lee principe» de U Geometrie. 830
sind, nur besonders hervorheben , weil gerade sie, wenn man nur
auf den Titel des Buches achtet, nicht in demselben gesucht wer-
den dürften.
Essai eritique sur les principe» fondamentaux de Ja Oiome'trie ile-
mentaire ou Commentaire sur les XXII premitres propositions
des Siemens d'Euclide. Par J. Houel, ane. tleve de VEc.
Norm., Prof. de Math, pures ä la Fac. des Sc. de Bordeaux.
Paris. Gauthier-Villars. 1867. (VW u. 88 8. in 8).
Die vorliegende kloine Schrift des um die mathematischen
Wissenschaften wohl verdienten Verfassers behandelt eine Aufgabe
mit der schon Viele sich beschäftigt haben, und wohl noch Viele
beschäftigen werden: der Beseitigung des bekannten (sogenannten)
Postulatums Euclids in der Theorie der Parallelen. Nicht als wollte
der Verf. diesen Satz beweisen — er erachtet einen Beweis nicht
für möglich , sondern er will denselben durch ein anderes Axiom
ersetzen, das ihm natürlich zweckmässiger für den Unterricht er-
scheint.
Die Schrift beginnt mit einer Einleitung, die im Grunde nur
für französische Leser geschrieben ist, da sie die Bedeutung der
> Elemente« Euclids gegenüber den (mehr oder weniger Legendre-
schen) französischen Lehrbüchern hervorhebt. In Deutschland ist
Jas nicht nöthig, da wir die grosse Bedeutung des mustergiltigen
Werkes des griechischen Mathematikers nie verkannt haben, über-
dies bis jetzt auch viel zu »particularistisch« gesinnt waren, um
uns vor einer Autorität in der Wissenschaft zu beugen. Ob die
uns bevorstehende politische Kur das ändern wird, steht sehr in
Frage.
Daher rührt es denn auch, dass der Verfasser zunächt die 22
ersten Sätze des ersten Buches von Euclid, wie sie dieser erwiesen
bat, darstellt, und je nur in Noten anzeigt, was ihm nicht ganz
genau, oder nicht deutlich genug erscheint. Das Letztere ist nun
allerdings von Wichtigkeit und hätte, ohne den Text der Euclid-
schen Beweise zu geben, nicht leicht geschehen köunen.
Der eigentliche Gegenstand der Schrift beginnt jedoch erst mit
S. 37, als > Essai d'uue exposition rationelle des principes de la
geomätrie el£mentaire«, wo er nun die Art darstellt, nach der — -
seiner Meinung gemäss — diese Wissenschaft, in ihren ersten Ele-
menten, zu behandeln ist.
Die Geometrie ist dem Verfasser auf den durch Erfahrung
gegebenen undefinirbaren Begriff der Unveränderlichkeit der Figu-
ren gegründet. Ueberdies entlehnt sie der Erfahrung einige Sätze,
die als solche keines Beweises fähig sind, die sie dann Axiome
heisst.
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840 Hon 81: Essai «ur les prindpes de la Geometrie.
Nach den sich im Allgemeinen dem Herkömmlichen anschlies-
senden Erklärungen von Punkt, Linie u. s. w., wobei der Verf. mit
Recht sich auch der Bewegung bedient, erscheinen diese Axiome,
der Zahl nach vier. Das erste beisat: Drei Punkte genügen im
Allgemeinen, um im Räume die Lage einer Figur testzustellen.
Bewegt sich eine Figur, indem sie sich um zwei ihrer Punkte
dreht , so zeigt uns die Erfahrung , dass ein ganzes System von
Punkten in Ruhe bleibt. Diese Punkte reihen sich aneinander längs
des Weges , den ein Lichtstrahl , der von einem der zwei festen
Punkte zum andern geht, beschreibt, und bilden die gerade
Linie. Daraus ergibt sich als zweites Axiom: Es gibt eine
Linie, deren Lage im Räume durch zwei Punkte völlig bestimmt
ist, und von der jeder einzelne Theil genau auf einen andern be-
liebigen Theil gelegt werden kann, sobald beide Theile zwei Punkte
gemeinschaftlich haben. Hieraus folgert der Verf., dass von einem
Punkt zu einem andern nur eine Gerade möglich sei; dass zwei
Gerade, die zwei Punkte gemeinschaftlich haben, zusammenfallen in
ihrer beliebigen Ausdehnuug; dass also eine Gerade nur in einer
einzigen Weise verlängert werden kann.
Hinsichtlich der Ebene wird durch Bewegung und Drehung
einer Geraden deutlich gemacht, dass man als drittes Axiom auf-
stellen könne : Es gibt eine Fläche so beschaffen, dass eine Gerade,
die zwei Punkte derselben verbindet, ganz in ihr liegt, und dass
ein beliebiger Theil dev Fläche sieb auf die Fläche legt, entweder
unmittelbar, oder indem sie umgewendet ist (indem man habe
Drehung gemacht).
Hierauf erklärt der Verf. den Winkel (»wenn zwei Gerade sich
begegnen, so sagt man, sie bilden einen Winkel«) und zeigt, in
welcher Weise derselbe mit der Drehung einer Geraden um einen
ihrer Punkto (den Durchschnittspunkt) zusammenhängt. Ebenso
erklärt er den Kreis und das Maass der Winkel mittelst Kreisbögen.
Zu der Parallelentheorie übergehend, werden die Parallelen
erklärt als Gerade, die sich nie treffen können, und gezeigt, dass
wenn man eine Gerade, die beide schneidet, zieht und es bestehen die
bekannten Beziehungen der Winkel, die Geraden nothwendig paral-
lel sind.
Um nun aber umgekehrt zu erweisen, dass wenn zwei Gerade
parallel sind, auch nothwendig z. B. die innern Gegenwinkel zu-
sammen zwei Rechte betragen, bedarf der Verfasser eines (letzten)
Axioms, das vierte, das heisst: Durch einen Punkt kann man mit
einer Geraden eine einzige Parallele ziehen. Daraus folgt dann
leicht, dass der eben geforderte umgekehrte Satz richtig ist. So
wäre denn ein anderes Axiom an die Stelle der Euclidschen gesetzt,
das uns allerdings nicht schwieriger erscheint, und Ref. selbst bat
in frühern Zeiten, als er noch elementare Geometrie vortrug, sich
dieses Axioms bedient, um die Parallelentheorie zu begründen.
Auch ist er seiner Sache nicht ganz sicher, wenn er meint, schon
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Hon 81: Essai sur los prfticlpes de la Geometrie.
841
irgend wo und zwar vor vielen Jahren, diese Theorie so darge-
stellt zu haben.
Bekanntlich folgt dann leicht das vielbesprochene elfte Axiom
Eoclids und auch damit der Satz von der Summe der Winkel in
einem Dreieck.
Referent macht bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam, dass
man den Satz, dass die Winkel in einem Dreiecke zusammen zwei
Rechte betragen, ganz unmittelbar, ohne irgend einen Lehrsatz,
beweisen kann, und — wenn er sich recht erinnert — rührt die-
ser Beweis von Thibaut her; daraus folgt ganz von selbst, dass
wenn die innern Gegenwinkel zwei Rechte betragen, die Geraden
sich nicht schneiden können , und dass wenn zwei Gerade sich
schneiden (und man zieht durch dieselben eine Querlinie) die innern
Gegenwinkel auf der Seite, auf der sie sich schneiden, kleiner, auf
der andern also grösser als zwei Rechte sind. Damit ist freilich
der umgekehrte Satz noch nicht erwiesen. Wollte man ihn hier
beweisen, so hätte man zu zeigen, dass bei zwei sich schneidenden
Geraden die Summe der innern Gegenwinkel so nahe an zwei Rechte
kommen kann als man will, woraus sich dann ergibt, dass immer
zwei Winkel, die zusammen noch unter zwei Rechten sind, in einem
Dreiecke vorkommen können. Daraus würde dann folgen, dass so
lange die innern Gegenwinkel unter zwei Rechten sind, nothwendig
ein Schneiden der Geraden auf der betreffenden Seite stattfindet;
dass es auf der andern Seite eintritt, wenn diese Winkel grösser
als zwei Rechte sind. Daraus dann endlich würde sich ergeben,
dass wenn die Linien parallel sind , die innern Gegenwinkel noth-
wendig zwei Rechte betragen. Es liegt allerdings in dieser Dar-
stellung auch eine Art Annahme verborgen — dass nämlich zwei
Winkel , die zusammen unter zwei Rechten sind , immer in einem
Dreiecke vorkommen können — ; doch scheint dieselbe sich ziem-
lich fest begründen zu lassen. Wir begnügen uns hier mit diesen
Andentungen. In dem neuesten Hefte seines Archivs hat Grunert
diesem Gegenstande eine Abhandlung gewidmet, welche namentlich
den letzten Punkt vollständig erledigt.
Der Verf. stellt nun noch die Sätze Euclids, die er in seinem
ersten Tbeil aufgeführt, in der Folge zusammen, die ihm die zweck-
mässigstc erscheint, worüber wir jetzt, da doch im Grunde die
Hauptsache das Ersetzen des Postulatums Euclids ist, weggehen
dürfen.
Ein Anhang enthält als Noten einige weitere Ausführungen
und zwar: Ueber die Unveränderlichkeit Mer Figuren; über die
geometrische Bewegung ; Uber die auf die Existenz der geraden
Linie nnd der Ebene bezüglichen Axiome ; über die Definition der
geraden Linie; über die Winkeleinheit; über das Postulaturo Eu-
clids ; Uber die Theorie der Parallelen ; über die Länge einer krum-
men Linie; Gedanken über den Unterricht in der elementaren
Geometrie.
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S42
WitiBtein: Mathematische Statistik.
Diese Noten , zu weitläufig , um den früheren Erörterungen
unten beigesetzt werden zu können , zum Tbeil auch Dinge ent-
haltend, die eben erst hier vorkommen, enthalten recht lehrreiche
Untersuchungen über die durch die Ueberschriften bezeichneten
Gegenständen, in so weit dies eben mit don Zwecken der Schrift
zusammenhing. Wir begnügen uns mit der Hinweisung darauf, da
wir nichts Besonderes zu erinnern haben.
Hinsichtlich des ganzen Buches aber sprechen wir zum Schlosse
aus, dass der Lehrer der Geometrie in demselben vieles für seine
Zwecke Wichtiges finden wird und wir dasselbe desshalb der Auf-
merksamkeit empfehlen wollen.
Mathematische Statistik und deren Anwendung auf National-Oekonomit
und Versicherungswissenschaft von Theodor Wi ttst ein , Dr.
Phil, und Professor. Hannover. Hahn* sehe Hofbuchhandlunc.
1867 (55 S. in 4.).
Der gelehrte Verfasser, von dessen mathematischer Tbätigkeh
wir in diesen Blättern schon mehrfach berichteton, betritt mit dem
vorliegenden Buche, dessen Umfang allerdings ziemlich mässig ist,
ein so ziemlich neues Gebiet, indem er die strengern Formeln der
Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Probleme, die sich bei den
Untersuchungen über die menschliche Sterblichkeit darbieten , an-
wendet. Nicht als ob man seither die Wahrscheinlichkeitsrechnung
nicht angewendet hätte ; das geschieht ja ganz selbstverständlich bei
jedem Lebensversicherungs-Institut ; der Verf. behandelt in so ferne
die ganze Sache neu, als er auf den wahrscheinlichen Fehler, den
man bei den fraglichen Untersuchungen begeht, wesentlich Rück-
sicht nimmt. Um den mathematischen Leser in Stand zu setzen,
sich im Allgemeinen ein Urtheil über die Schrift zu bilden, wollen
wir den Gedankengang des Verf. im Nachfolgenden darzustellen
versuchen.
Sind von L jetzt Lebenden, die sämmtlich n Jahre alt sind,
noch ihrer M nach einem Jahre am Leben, so pflegt man den Brach
- die Wahrscheinlichkeit, noch ein Jahr zu leben (für einen n-jäh-
L
rigen) zu nennen. Der Verf. erklärt dies aber nur für den wahr-
scheinlichsten Werth dieser Wahrscheinlichkeit, der also auch mit
einem wahrscheinlichen Fehler behaftet sein muss.
Ist w die (bekannte) Wahrscheinlichkeit für einen n-jührigen,
noch ein Jahr zu leben, so ist die Wahrscheinlichkeit y, dass von
k Personen dieses Alters nach Umlauf einer Jahres noch u leben,
offenbar *(*-l)-(*-ft+D ^ (1 _w)W Diege Gr8Me erreicht
1.2..../;
ihren grössten Werth bekanntlich, wenn k so beschaffen ist, das»
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Wittstein: Mathematische Statist!*. 843
? i ? ^w^1 , 1 y , woraus, wenn A eine grosse Zahl: /Lt=Aw,
A -}— 1 A -p 1
so dass also A w der wahrscheinlichste Werth von (d. h. der nach
einem Jahr noch Ueberlebenden) ist.
Setzt man A0 = Aw und ft = A0-fz, so ist, wenn man diesen
Werth oben einsetzt, A, Aq-J-z, A — Ao — w als grosse Zahlen be-
ll -b?z2 1
handelt, z klein gegen A: y — — e , wo h»= - — ^ ,
was wir hier natürlich nicht weiter herleiten wollen. Diese Grösse
drückt also die Wahrscheinlichkeit aus, dass von A Lebenden ihrer
A0-j-z=Aw-[-z am Ende des Jahres überleben. Dabei kann z
natürlich vou — A0 bis A — A0 gehen. Ist dabei A , also auch Ao
unendlich gross, so gehen die äussersten Werthe von z von — oo
bis -f- oo.
Wenn der Verf. sagt, obige Grösse y drücke auch die Wahr-
scheinlichkeit aus, es sei die Zahl der wirklich Ueberlebenden von
ihrem wahrscheinlichsten Werthe um z verschieden, so mag man
das zugeben; die Wahrscheinlichkeit aber, dass ein beliebig ge-
he -h««»
wählter Werth von z gorade der richtige sei, ist — e , wenn e
eine unendlich kleine Aenderung von z ist (Satz des Rückschlusses
auf das Bestehen einer Ursache); daraus ergibt sich dann erst,
dass die Wahrscheinlichkeit, die Ueberlebenden von A Personen seien
t
2h P-h**1
zwischen A0-f£ und^ — £, ist - I e dz. Diese Grösse nimmt
0
den Werth \ für an, so dass (wenn man h einsetzt)
11 y &
man 1 gegen 1 wetten kann, die Anzahl von Ueberlebenden liege
zwischen Aw ± 0*6745 /iw(l-w). Die Grösse 0 6745 yf iw(i-w)
bildet den wahrscheinlichen Fehler, der in der Beobachtung von ft
zu erwarten ist.
Wir haben dabei vorausgesetzt, w sei (genau) bekannt. Diese
Voraussetzung ist in den Anwendungen nicht zulässig.
Gesetzt die Erfahrung habe aus 1 Lebenden A Ueberlebende (nach
einem Jahre, beim Alter n) ergeben, und sei x die (unbekannte)
Wahrscheinlichkeit, ein Jahr zu leben, so würde die Wahrschein-
lichkeit für A Ueberlebende , wie" oben, sein — —
1 . m . • • A
x*(l — x)1""*; daraus folgt, dass die Wahrscheinleichkeit <&, x sei
der wahre Werth ist -= , wo der Verf. den (unend-
x*(l— x)wdx
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844 W i 1 1 s t e i n : Mathematische Statistik.
lieh kleinen) Faktor e nicht hat, was ihm noch vielfach begegnet.
Sl ist ein Maximum für x=-^, so dass diese Grösse eben der
1 x
wahrscheinlichste Werth von x ist. Setzt man x=--f°> nimmt
an, dass A, 1 grosse Zahlen, n aber klein sei gegen 1, so findet sich
h -h2u» 13
Sl= — e , wo h2= — — — -. Darausfolgt dann wieder, dass
y n 2A(1 — A)
der wahrscheinliche Fehler obiger Bestimmung von x gleich 0*6745
V^SB) ist.
13
Hat man aus Beobachtungen so x (mit seinem wahrschein-
lichsten Werthe) und die Wahrscheinlichkeit, dass irgend ein Werth
von x der richtige sei, gefunden, so ergibt sich leicht, dass die
Wahrscheinlichkeit y, von irgend k neuen der Beobachtung unter-
worfenen Personen (von demselben Alter n) werden nach einem
Jahre noch p überleben, ist
k(k-l)..(k-p + l)
1*2 •••Ii
J^+^l-^i-H-k-fvi
o
1
JVo-x)1-*
dx
kA
Daraus folgt als wahrscheinlichster Werth von fi:-y-, mit dem
wahrscheinlichen Fehler 0*6745 V/^*kU-*)0+'O
13
Der Verf. betrachtet dann noch den Fall, dass man die Er-
fahrungen mehrerer auf einander folgender Jahre vor sich habe und
daraus Schlüsse ziehen wolle. Wir übergehen dies, da dasselbe im
Wesentlichen nur eine Anwendung des Gesagten ist. Eben so über-
gehen wir die durchaus willkürliche Art, die aus Todtenlisten sich
ergebenden Wahrscbeinlichheiten zu gruppiren (§. 23).
Zur Anwendung seiner Lehren zeigt der Verf. die Bildung einer
Sterblichkeitstabelle aus den Ergebnissen der Listen eines Ver-
sicherungs-Instituts. Er wählt als solches — natürlich nur als Bei-
spiel , da die Zahleu sonst zu klein sind — die Hannoverische
Lobens Versicherungsanstalt , aus deren Erfahrungen er eine Sterb-
lichkeitstafel kunstruirt. Wollte man vom wahrscheinlichen Fehler
abseben (also blos den wahrscheinlishsten Werth der SterblichkeiU-
wabrscbeinlicbkeit erhalten), so käme das Verfahren eben doch dar-
auf hinaus, zu untersuchen, wie viel von 1 Personen die n Jahre alt
sind, noch nach einem Jahre lebten. Sind es ihrer u , so ist die
Sterbenswahrscheinlichkeit — p». Das ist sicher der rationelle Weg,
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Lieblein; Aufgaben aus der An&lysls.
den man, wenn man den einfachsten Regeln der Wahrscheinlich-
keitsrechnung folgt, einschlagen wird ; die Untersuchungen des Verf.
haben aber den Vortheil erreichen lassen, auch noch den wahr-
scheinlichen Fehler ermitteln zu können, dies treilioh unter der
etwas unbestimmten Aunahme grosser Zahlen. Neben dieser
Sterblichkeitstafel ist auch die aus der allgemeinen Wittwenver-
pflegungs-Anstalt in Berlin von Brune berechnete nochmals vom
Verf. berechnet.
Eine Art Anhang bildet eine Untersuchung über den Capital«
werth des Menschen. In der »Sammlung gemeinverständlicher
wissenschaftlicher Vorträge, herausgegeben von Virchow und Holtzen-
dorfif« findet sich ein solcher (oder vielmehr zwei) von Engel: »Der
Preis der Arbeit«, der ohne den mathematischen Apparat doch im
Wesentlichen das gibt, was der Verf. sagt, wenn wir uns nicht
irren. Ob dieser Vortrag in der Note zu S. 52 gemeint ist, ist
nicht ersichtlich.
Die so eben besprochene Schrift erscheint nach dem Vorste-
henden als werthvoller Beitrag zur Theorie der Sterblichkeitstafeln
und also zu einem wichtigen Zweige der mathematischen Statistik,
und wir können im Interesse der Sache nur wünschen, dass der
Verf. sein Versprechen, diese Untersuchungen fortzusetzen, bald
erfülle.
Sammlung von Aufgaben aus der algebraischen Analysü. Bearbeitet
von Johann Lieb l ein, a. o. Professor am Polytechnikum
su Praq. Prag, X erlag von H. C. J. Satow. 1867. (VJII und
192 8. in 8.)
Die uns vorliegende Sammlung von Aufgaben aus der eigent-
lichen Analysis ist eine der vollständigsten, die wir noch zu Ge-
sichte bekommen, so dass schon durch die einfache Thatsache der
Sammlung der Verfasser sich den Dank von Lehrern und Schülern
erworben. Denn beide werden diese Sammlung mit Nutzen ver-
wenden können, da sie nicht blos dem Anfänger dienen soll.
Es ist begreiflich, dass wir nicht auf den Inhalt im Einzelnen
eingehen können, da das eben hiesse, wir sollten die einzelnen Auf-
gaben, die wir natürlich nicht revidiren wollen, anführen. Wir müssen
uns somit begnügen, die einzelnen Hauptabtheilungen zu bezeich-
nen, nach denen der Verfasser seine Sammlung geordnet hat, wor-
aus der Leser schon entnehmen kann, was er in dem Buche fin-
den wird.
Diese Hauptabtheilungen sind der Anzahl nach zehn, die fol-
gende Theile behandeln.
Zuerst begegnen wir Aufgaben ȟber die verschiedenen Arten
von Funktionen«, die sich namentlich mit ganzen und symmetri-
schen Funktionen beschäftigen und auch nach der Art und Weise
fragen, irrationale Formen rational zu machen.
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846
Serret: Calcul differentiel.
Der zweite Abschnitt: »über cyclo metrische Funktionen« be-
schäftigt sich im Grande nur mit den Formeln der Addition und
Subtraktion dieser Funktionsformen ; während der dritte: »über
Grenz werthe« ein sehr reiches Material darbietet.
Im vierten Abschnitt begegnen wir Aufgaben über Unstetigkeit
der Funktionen; der fünfte enthält die Convergenz und Divergeni
unendlicher Reihen. Die Anzahl der hier vorgeführten Beispiele (und
daneben auch allgemeiner Lehrsätze) ist ganz ausserordentlich gross
und sind diese Beispiele in den verschiedenartigsten Formen ge-
bracht So ziemlich dasselbe lässt sich von dem folgenden Ab-
schnitte, welcher die Doppelreihen behandelt, aussagen.
Der siebente Abschnitt bringt uns in mehreren Abtheilungen
Reihenentwickelungen, und zwar in der Form rüoklaufender Rei-
hen, Binominal- und Exponentialreihe, logarithmische Reihen, gonio-
metrische Reihen.
Die unendlichen Produkte sind ebenfalls reichlich im achten
Abschnitt vertreten, während im neunten die Reiben und Produkte
für complexe Veränderliche und endlich im zehnten (und letzten
die Kettenbrüche, natürlich hier in allgemeinen Formen, erscheinen.
Diesen Aufgaben sind nun (S. 129 bis Schluss) »Erläuterun-
gen und Resultate zu den vorhergehenden Aufgaben c beigegeben,
in denen allerdings nicht alle Aufgaben gelöst, dagegen vielfach
die Theorie erörtert wird, was denen, die das Buch benützen wollen,
entschieden angenehm sein wird.
In der Vorrede gibt der Verf. an, dass er als Quellen die in
Crelles Journal, Grunerts Archiv, Schlömilchs Zeitschrift, Terquems
Nouvelles Annales, Liouville's Journal enthaltenen Arbeiten von
Arndt, Bossel, Bertrand, Betti, Bonnet, Catalan, Cauehy, Clausen,
Dienger, Eisenstein, Euler, Gauss, Hankel, Heine, Jacobi, Lagrange,
Möbius, Prouhet, Roborts, Schellbach, Sohlörailch, Stern, Waring,
Whitworth benützt habe, und er von dieser Berücksichtigung so
vieler Originalarbeiten eine günstige Aufnahme seinos Buches von
Seiten des mathematischen Publikums hoffen dürfe. Das wünschen
wir dem Verf. nun ebenfalls und empfehlen sein Buch recht sehr
allen denen, die sioh selbst üben oder Stoff zu üebungen für andere
haben wollen.
Cours de Calcul differentiel et intigral, par J. A. Serret, Membre
de l'Institut, Professeur au ColUge de France et ä la FacuUe
des Sciences de Paris. Tome pr emier. Calcul differentiel. Pari*.
Gaulhier-Villars. 1868. (618 S. in 8.1
Allerdings als 1868 erscheinend datirt, haben wir das Werk
des berühmten französischen Mathematikers doch bereits 1867,
wenigstens in seinem ersten Bande, vor uns liegen. Der zweite
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Serret: Calcul diflferentiel.
847
Band, die Integralrechnung enthaltend, wird uns freilich erst 1868
zu Gesicht kommen und wir werden ihn auoh dann erst anzeigen
können.
Es erscheinen nachgerade in allerlei Sprachen so viele Werke,
welche die Differential- und Integralrechnung behandeln, dass man
sich nur über die grosse Verbreitung, welche das Studium der
böbern Mathematik nothwendig gewonnen haben muss, wenn so
viele Bücher sollen Absatz finden können, freuen muss. Es läuft
freilich mitunter auch arg faule Waare in die Oeffentlichkeit hin-
aus, und wir haben in diesen Blättern mehrfach Gelegenheit ge-
nommen, darüber zu sprechen. Es ist uns das freilich nicht zum
Besten bekommen, denn neben der Oeffentlichkeit hat man auch
die löblichen Postanstalten mit Briefen belästigt, die an den Unter*
zeichneten gerichtet waren und ihm den Standpunkt gehörig klar
machten. Leider hat der hochachtbare Verfasser des freundlichen
Schreibens vergessen, seinen Namen beizusetzen, und wir sind also
nicht in der augenehmen Lage gewesen, ihm persönlich danken zu
können. Wenn der Unterzeichnete soust auch ziemlich träge im
Briefeschreiben ist, so hätte er in diesem Falle gewiss der schul-
digen Pflicht genügt. Da der betreffende Mathematikus die Heidel-
berger Jahrbücher liest, so entspricht er vielleicht noch nachträg-
lich der hiermit an ihn gerichteten Bitte, das Vergessene nach-
zuholen.
Nach dieser persönlichen Abschweifung wenden wir uns wieder
zu dem vorliegenden Werke. Es ist ganz selbstverständlich, dass
eine Schrift von diesem Umfange, welche den Namen Serret's auf
ihrer Stirne trägt, als ein vortreffliches Werk auftreten wird und
die Kritik nicht in der Lage ist, nach etwaigen Mängeln oder zu
verbessernden Theilen zn suchen. Von diesem Gesichtspunkte ans,
der uns freilioh nicht von aufmerksamem Durchlesen des Buches
abhalten durfte, werden wir uns begnügen, den Unterschied des
vorliegenden Buches gegenüber der sonst herkömmlichen Anordnung
in der Differentialrechnung besonders hervorzuheben, wobei wir so-
gleich zufügen, dass die einzelnen Abiheilungen eben doch auch die
herkömmlichen sind, da für die Differentialrechnung sich in dieser
Beziehung bereits ein Gebrauch festgestellt hat, der nicht mehr
leicht wird geändert werden.
Es ist wohl überflüssig, diese einzelnen Abtheilungen, als in
dem Buche enthalten, besonders zu benennen; nur die Anwendun-
gen auf analytische Geometrie wollen wir hier aufführen.
Die Gränzmethode bildet für den Verf. gleichfalls die Grund-
lage der Differentialrechnung. Wie fast alle französischen Schrift-
steller gebt er dann zu den Differentialen Über, wobei dx eben ein
willkürlicher Zuwachs von x und dy der »erste Theil von z/y«
ist, wenn ^ f(x) = f(x) -j- h) — f(x) = h f '(x) -f- h £, und s mit h zu-
gleich unendlich klein wird. Demgemäss wäre d f(x) = f *(x) b, und
wenn f(x) = x : dx =r. h, so dass d f(x) = f '(x) dx. Der Verf. spricht
/
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6 er r et: Calcul differentiel.
sich hierüber (S. 27) wörtlich so aus: >On voit en resume que la
diflereutielle d'une fonction est egale ä la dörive" de cette fonction
multiplie'e par la difförentielle de la variable indöpendante ; quaut
a cette derni&re diff£rentielle, eile n'est autre chose qu'tra accrois-
sement arbitraire attribue' ä la variable indäpendante.«
Unsere Meinung hierüber haben wir in diesen Blättern schon
oft ausgesprochen, und wiederholen sie hier desshalb nicht,
dy
Dass nun 7^- in zweierlei Weisen : als Moses Zeichen (als d«S-
dx
rivöe oder Differentialquotient) und als wirklicher Bruch , dessen
Zähler d y, dessen Nenner d x ist, aufgefasst werden kann, sagt der
Verf. ganz ausdrücklich an derselben Stelle, welche den oben an-
geführten Ausspruch enthält. Diese Doppeldeutigkeit gestattet ihm
aus y = f(u) zu schliessen: 4- =f,(u) » dy = f'(u)du. Dabei
dx dx
müssen wir aber bemerken , dass die Ableitung der Differentiale
der einzelnen Funktionen immer streng nach der Gränzmethode
geschieht, also die Auffassung als Differentialquotient vorherrscht.
dy dy
Ist y — f(u, v) , so schliesst der Verf. : dy^-^du-l-r^dv,
du dv
verwahrt sich aber jetzt entschieden dagegen, das man hier ~ , -~
a u d v
als Brüche behandeln könne. Die Bezeichnung der partiellen Dif-
ferentialquotienten als solcher kennt er in seinem Buche nicht.
Der Theorie der (unendlichen) Reihen hat der Verfasser viele
Sorgfalt gewidmet, und dann diese Sätze bei Gelegenheit der An-
wendungen des Taylor'schen Satzes verwerthet. Selbst der Ent-
wicklung von f(x-j-h) nach steigenden Potenzen von h wird ge-
dacht in dem Falle, da diese Potenzen nicht blos ganze positive
Exponenten haben. Die unendlichen Reihen für arc(sin = x), arc
(tg — x) haben wir nicht gefunden.
Den grössten Theil des Buches nehmen die Anwendungen der
Differentialrechnung auf Geometrie ein (S. 248 — 540). Ausser den
gewöhnlichem Anwendungen finden wir die Benützung der von
Hesse in die analytische Geometrie eingeführten »homogenen
Koordinaten«, wie auch die bekannte Funktionalderminante geradem
durch das Zeichen H(u) bezeichnet wird.
(Schluß« folgt)
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Sr. 64. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Serret: Calcnl ditferentiel.
(SchhlBS.)
Die besondern Punkte (ebener Kurven) werden in einer sonst
nicht häufig vorkommenden allgemeinen Weise untersucht , so wie
dann auch den Kegelschnitten gauz besondere Sorgfalt zugewendet
wird. Die Zykloiden und Spiralen, sowie die Kreisevolvente bieten
ebenfalls Beispiele für die allgemeine Theorie.
Sehr ausführlich wird die Theorie der doppelt gekrümmten
Kurven (courbcs gauches) behandelt. Die in einem Punkte einer
Kurve dieselbe in eiuer Oskuiation dritten Grades berührende Kugel
wird besonders untersucht. Die einhüllenden und abwickelbaren
Flächen sind hier naturgemäss mit hereingezogen. Eine ausführ-
liche Untersuchung der Evoluten und Evolventen, so wie der Be-
rührungen von Kurven, schliesst diesen Abschnitt.
Der nächste ist den krummen Linien auf Oberflächen gewid-
met. Dass hier die bekanutcn Sätze über die Normalscbnitte er-
scheinen, ist natürlich ; es wird diese Untersuchung aber dann auch
noch in der Weise Dupin's durchgeführt. Die Krümmungslinien
rinden ebenfalls ihren gebührenden Autheil von Beachtung. Die
»dreifachen Systeme orthogonaler Flächen« (Lame*) werden darge-
stellt und die speziellen elliptischen Koordinaten angewendet. Die
Definitionen und allgemeinen so wie partiellen Differential-Gleich-
ungen der bekannten Flächenfamilien werden zum Schlüsse gegeben.
Damit ist natürlich auch die Theorie der krummen Flächen selbst
erledigt.
Ein besonderes Kapitel widmet der Verfasser den Funktionen
imaginärer Veränderlichen. Namentlich findet sich hier die Cau-
cby'sche Theorie des (allgemeinen) Maclaurin'schen Satzes, so wie
dio Ableitung des Lagrange'schen Satzes (für selbst imaginäre
Veränderliche).
Den Schluss des Werkes bildet die Zerfallung der rationalen
Brüche in einfache Brüche in der Ausführlichkeit, wie sie bereits
in der dritten Auflage des »Cours d'Algebre supörieure« enthal-
ten ist.
Dies mag hinreichen , um den mathematischen Leser in den
Stand zu setzen , sich ein ungefähres Bild von dem Inhalte des
neuesten Werkes des Mathematikers zu machen , dessen Name in
allen Theilen der Wissenschaft hoch geehrt ist. Dr. J. Dienger.
LDL Jahrg. 11. Heft. 54
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860
Bü chmann :
igelte Worte.
Geflügelte Worte. Der Citatenschats des deutschen Volkes von Georg
Büchm ann* Vierte umgearbeitete und vermehrte Auflage.
Berlin 1867. 203 Seiten Octav.
Dass seit dem ersten Erscheinen dieser Sammlung im Jahr
1864 jetzt bereits eine vierte Auflage nöthig geworden, bezeugt
hinlänglich ihren Werth, und allerdings lässt sich leicht einsehen,
dass die darin enthaltenen Nachweise nach vielen Seiten hin will-
kommen sein milssen ; denn nicht nur das gebildete Publikum im
allgemeinen, sondern auch der Gelehrte führt oft »geflügelte Worte «
im Munde, Uber deren Ursprung er im Dunkeln ist oder wohl gar
eine irrige Meinung hegt oder die er doch wenigstens ungenau an-
fuhrt. Beispiele aller Art, die das hier Gesagte belegen, bietet
das Buch in grosser Menge ; eines der auffallendsten dürfte wohl
das allbekannte »Ceterum censeo« sein, das sich bei keinem
alten Autor rindet und wahrscheinlich nichts weiter ist als die
Uebersetzung einer Stelle des Plutarch ; auch der Schlaf des
Gerechten, der zwar »ganz biblisch aussieht« und nicht bloss
bei den Deutschen, sondern auch bei andern Völkern (Franzosen,
Engländern, Italienern) geschlafen wird, kommt in der Bibel nicht
vor, und dürfte wohl, wie dem Ref. scheint, aus irgend einem latei-
nischen Mystiker des Mittelalters stammen. Diese und ähnliche
überraschende oder sonst willkommene Angaben machen die Samm-
lung belehrend und anziehend, die übrigens sich nicht allein mit
Citaten aus Schriftstellern , sondern auch mit nur gesprochenen
oder gelegentlich geschriebenen Worten, namentlich politischen und
historischen, befasst und ausser der deutschen Sprache auch die
französische, italienische, griechische und lateinische hereinzieht;
denn aller dieser bedienen wir uns beim Citiren. Freilich kann
man in den genannten Dingen keine festen Grenzen ziehen ; Citat
und Sprichwort lassen sich oft nicht scheiden/ auch die Natur bei-
der überhaupt sich nicht sicher bestimmen; denn wer z. B. weiss,
ob Terenz sein hinc illae lacrumae nicht schon als Citat oder
Sprichwort vorgefunden und nur passend verwandt hat ; und wenn
ferner von der Häufigkeit der Anführung abhängen muss, was als
»geflügeltes Wort« betrachtet werden soll, so ist dies ein sehr
relativer Begriff. Mancher selbst gelehrte Leser wird sicher als
solches hier Sprüche rinden, die er wohl nur selten oder vielleicht
nie vernommen oder selbst bloss gelesen. Um gleich wenigstens
ein Beispiel zu bringen, so muss Ref. zu seiner tiefsten Beschämung
gestehen, dass er das »una voce poco fa« aus Rossini's Barbier
noch nie als »geflügeltes Wort« gehört und so noch manches
andere. Jedoch sieht man von Einzelheiten ab , so ist freilich die
bei weitem überwiegende Mehrzahl der hier gesammelten Aussprüche
allgemein bekannt ; und zwar belaufen sich die deutschen etwa auf
800, die lateinischen auf 250, die englischen auf 121, die franzö-
sischen auf 115, die griechischen auf 19, die italienischen auf 10.
Büchmann: Geflügelte Worte.
851
Daraus gebt also hervor, dass wir ausser deutsch am häufigsten
lateinisch citiren, dass Englisch und Französisch sich fast gleich
stehen, Italienisch aber eine sehr kleiue Rolle spielt und sogar
vom Griechischen fast um das doppelte ttbertroffen wird. Ob die
Folgerungen, die sich aus diesen Verhältnissen ergeben möchten
und anf die Ref. hier nicht näher eingehen kann, auch alle richtig
wären, lässt er dahingestellt. Dahingegen will er lieber einige kleine
Beiträge zur Geschichte einzelner Citate liefern und zu späterer
weiterer Vervollkommnung der vorliegenden Arbeit auch ein Scherf-
lein beitragen ; so z. B. in Betreff der Anführung aus Shakespeare^
König Heinrich VIII. (S. 96): »Men's evil manners live in
brass; their virtuos — We write in water.« Percy in
der Einleitung zur Ballade »Jane Shore« (Reliques vol. II. B. 2.
No. 26) bemerkt, dass sich bei Thomas More, Hist. of Richard III.
(Works 1557. p. 57) folgeude Stelle findet: »Men use, if they have
an evil turne , to write it in marble ; and whoso doth us a good
tourne, we write it in duste«, und dass Shakespeare, der in seinem
Richard dem Dritten More's Geschichte dieser Regierung folgt,
auch diese Worte gesehen haben inuss und benutzt haben wird. —
Cicero's Patria est, ubicumque est bene (S. 124) stammt
wahrscheinlich aus dem griechischen x<fi yccQ xccX&g itQetGGovxi
TtätSa yij naxQlg in den yvafim fiovoöxix0^ 597 bei Brunck Poett.
gnomico. p. 321 ed. Schaef. — Der Ausspruch des Virgil »Facilis
descensus Averno« (p. 141) findet sein Vorbild in dem Philo*
sophen Bias, der auch noch einen witzigen Nachsatz hinzufügte;
er sagte nämlich: *EvxoXov xr\v slq aöov oöov xaxa^ivopxag
yow xaxiivai.* Diog. Laert. L IV, c. 7. s. 3. §. 49. — Den Ver-
sen des Ovid »Donec eris felix etc. (p. 144) entsprechen die
des Theognis 697 f. »Ev n\v €%ovxog i[iov noXlol (pCkoi' rjv de xi
ösivov — Eyxvgöfl, tmxvqoi mGxov e%ovOi voov.* Dass Lucian
seinen Spruch (Anthol. gr. 10, 35: *Ev Ttgdooav etc.«) aus Theog-
nis erweitert, ist wahrscheinlich. — Ausser dem »Prediger in
der Wüste« (S. 167), voii dem Jesaias spricht, hat es auch noch
einen andern »Prediger in der Wüste, wie wir lesen im Evange-
listen«, gegeben, nämlich Jobannes den Täufer, der freilich mit dem
des genannten Propheten verglichen wird. Matth. 3, 3. Luc. 8, 4.
Es wäre gut in der Sammlung auch auf jene Stelle des Kapuziners
in Wallenstein's Lager hinzuweisen. — Der lateinische Spruch:
»Quidquid agis, prudenter agas et respice finem«
(S. 169) stammt nicht aus Jesus Sirach. Uebrigens findet er sich
bereits in den Gesta Romauorum c. 103, im Dialogus Creaturarum,
in den Flores poetarum Colon. 1472 so wie in Handschriften des
13. Jahrh. ; s. Edölestand du Meril, Poösies in^dites du moyen äge.
Paris 1854. p. 162, welche Schriften sich sämmtlich auf Aesop
berufen, wodurch also des Ref. schon früher in Ebert's Jahrbuch
der roman. n. engl. Litter. 3, 154 f. ausgesprochene Vermuthung
und Verweisung bestätigt wird; es heisst nämlich in Aes. Kor,
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862
Büchmann: Geflügelt« Worte.
Nr. 4. Halm Nr. 45: »outö xal tav av&QGniGW rovg^ <p(>ovi'uovg
äst tiqozsqov tu tih] tg>v xQuyuaTwr öxoitstv, ovtcjg ccvzoig
iiuiEiQSlv.* — Sonst will Ref. noch anführen, dass das dänische
Wort für Kanne gi esser (S. 67) »kandestöber« ist und dies im
Dänischen ursprünglich nicht einen »Bierliebhaber«, sondern eben
einen Kannegiesser bedeutet; ferner dass in dem Verse: »Prin-
cipiis obsta; sero medicina paratur«, das Wort medi-
cina nicht »Heilung« zu übersetzen ist (denn diese kommt nie zq
spät), sondern »Heilmittel«, welches allerdings oft zu spät in An-
wendung gebracht wird, und endlich , dass ausser dem nicht ge-
sagten mot de Cambronne (S. 199) auch das Wort anzuführen
war, welches von Cambronne wirklich gesagt und unlängst so viel-
fach in den öffentlichen Blättern discutirt, auch von Victor Hugo
lebhaft vertheidigt und gepriesen worden ist, nämlich: »merde«!
— Als Curiosum zu dem aus dem Propheten Daniel angeführten
»Mene Tekel Peres« (S. 167) will Ref. beiläufig erwähnen,
dass nach der patriotischen Behauptung eines neueren italo-albane-
Biseben Gelehrten die Albaneser ein semitisches Volk und zur Zeit
der Hyksos nach Europa gekommen sein sollen; auch mene tekel,
f a r e noch zu dieser Stunde in ihrer Sprache das nämliche bedeute
wie zur Zeit Belsazers! S. Rapsodie d'un Poema Albanese etc.
Tradotto da Girolamo de Rada. Firenze 1866. p. 11. — In Be-
treff des Spruches : »Quos Deus perdere vult dementat
prius« (S. 117) mag hier angeführt werden, was Guitard sagt in
seinen Etudes histor. litter. et morales sur les Proverbes francais.
Paris 1860. p.278: Quos Jupiter vult perdere, dementat
prius.« Les auteurs et commentateurs des seixieme et dix-septieme
siecles ont souvent rapporte* ce vers en l'estropiant et que voili
rectifie par M. Boissonade conformement aux regles de la versifi-
cation II est certain que ce vers n'appartient ä aueun poete
de l'antiquite* et qu'il ne peut etre attribue qu'ä un de ces compi-
latenrs erudits qui vers la fin du moyen äge s'appliquerent ä re-
cueillir toutes les pensces remarquables des bons classiques et ä
les convertir en sentences redigees sous une forme metrique.«
Guitard v- rweist dann auf Vellej. Paterc. 2, 33: »IneluctabilU
fatorum vis, cujnseumque fortunam mutare constituit, consilia cor-
rumpit«, so wie ferner auf ein französ. Sprüchwort: »Qnand Dien
veut chätier une homme, il lui öte la cervelle« oder »Quand Dien
veut quelqu'un chätier — De bons Bens le fait varier.« Vgl. das
oben zu »Quid quid agis etc. Bemerkte. — Die folgenden zwei
Berichtigungen aus der Anzeige des vorliegenden Buches in der
Augsb. AHgem. Zeitung 1867. S. 4371 f. mögen gleichfalls hier
wiederholt werden. Zu S. 38: »Erlaubt ist was gefällt«;
dies soll aus Dante's »Libito fe' licito« stammen. Göthe im Tasso
hatte aber vielmehr eine Stelle aus Tasso's Aminta im Sinne;
Schluss des ersten Akts, dessen zweite Strophe mit den Worten
endet: »Malegge aurea e felice — Che Natura scolp\. »»S'eipiace
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Bnchmannt Geflügelte Worte
863
ei lice««; und zn S. 55: »Der Freiheit eine Gasse«; nicht
erst bei Herwegh, sondern bei Körner. Zn S. 98: »It is a wise
father that knows his own child« aus Shakespeare bemerkt
ferner der genannte Ree., dass dieser Ausspruch, jedoch umgekehrt,
schon Od. 1, 216 stehe: »ov yaQ nto tig sov yovov ccvtog aviyvco.*
Dies besagt indess ganz das nämliche wie der Shakespear'sche Text,
der eigentlich statt »Das ist ein weiser Vater, der sein eigenes
Kind kennt«, wo »Das« ausser dem Zusammenhang leicht deiktisch
gefasst werden und irreführen kann, genauer durch : »Das müsste
ein kluger Vater sein, der u. s. w.« zu tibersetzen wäre. — Noch
ist zu erwähnen, dass mancherlei Citate und historische Worte bei
Büchmann ohne genaueren Nachweis der Quelle bleiben, wahrschein-
lich weil er annahm, diese könne leicht gefunden werden, und das
mag bei solchen, wie evgrpca, agiörov vdag u. dgl. allerdings der
Fall sein ; indess hätte das Hinzusetzen jener Angabe keinen gros-
sen Raum weggenommen. Anders verhält es sich aber noch mit
Citaten wie: »Dum Roma deliberat, Saguntum perit« (S. 128),
ferner mit den historischen Worten auf S. 183 ff. (Huss, Oxenst-
jerna) auf S. 208 (Hie Weif, Ludwig der Baier, Ulrich von Hutten)
n. s. w. , in Betreff deren man gern ohne langes Suchen wtisste,
wo ihre erste Quelle authentisch nachgewiesen ist. Dann würde
sich ausserdem auch noch manches zu berichtigen Veranlassung
finden ; denn Ref. ist fest überzeugt, bei einem dergleichen genauen
Nachweis würde sich herausstellen, dass Nelson's bekannter Tages-
befehl vor der Schlacht bei Trafalgar lautete: »England expects
every man to do his dnty« oder doch ganz ähnlich, auf keinen
Fall aber, wie ihn Büchmann citirt (S. 188): »England expects that
every body does his duty.« Gern erführe man dann auch genau,
wie Friedrich der Grosse in seinem eigenhändigen Testament sich
genannt, ob des Staates ersten ministre oder serviteur oder
domestique. Nicht jeder hat das Werk von Prenss oder ähn-
liche zur Hand ; ebenso wenig wie die Sammlungen Edouard Four-
nier's, die Büchmann im allgemeinen anführt und deren Angaben er
als bekannt vorauszusetzen scheint. Noch will Ref. hinzufügen, dass
mehrmals (wo, hat er sich leider nicht angemerkt) Porphyrius mit
einer Kapitelzahl ohne Angabe der genannten Schrift angeführt
ist; und endlich wäre es interessant zu erfahren, was das wohl für
eine Fabel ist, auf die Terenz mit seinem »lupus in fabula«
anspielt. Von Druckfehlern sind Ref. folgende aufgefallen. S. 46
Z. 17 v. o. statt irgend lies nirgend; — S. 118 Z. 12 v. o.
lies »Sycophanta« ; — S. 138 Z. 3 v. u. L Parva; — S. 139
Z. 28 v. o. lies »Infandum.« — Hiemit schliesst Ref. diese An-
zeige, aus der erhellt, wie sorgfältig er das Werkchen gelesen, für
wie anziehend und belehrend er es hält, und deshalb auch wünscht,
dass es in den neuen Ausgaben immer vervollkommneter erscheine.
Der Verf. hat sich durch dasselbe jedenfalls grossen Dank erworben.
Lütt ich. Felix Liebrecht.
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Lob aen: Beechrelbung des Kreises Kreuznach.
Geognostische Beschreibunq der linksrheinischen Fortsetzung den Tau-
nus in der östlichen Hälfte des Kreises Kreuznach, nebst ein-
leitenden Bemerkungen über das Taunus- Gebirge als gcognosti-
sches Ganses. Von C. Lossen. Mit 2 Tafeln. (Abdruck aus
der Zeitschrift der deutschen geologischen Gesellschaft, Jahrg.
1867.) Btrlin. 8. 8. 509—700.
Die in vorliegender Arbeit niedergelegten Beobachtungen sind
das Resultat einer Reihe von Excursionen, die der Verf. im Jahre
1864 von Kreuznach aus unternahm und vergleichender Studien in
den akademischen Sammlungen zu Halle, Würzburg und Bonn. Die
Aufgabe, welche sich C. Lossen stellte, ist eine schwierige. Denn
das Taunus-Gebirge — obschon sehr bewährte Forscher sich mit
demselben beschäftigen — ist keineswegs noch genügend erkannt,
sowohl was die mineralogische Besch affenheit als was das
Alter seiner Gesteine betrifft. Ein Blick schon in Lossens
Schrift ergibt , dass sie des Wichtigen und Neuen Vieles bietet,
und dass sich der Verfasser als einen gründlichen und scharfen
Beobachter zeigt.
Die allgemeine Einleitung bringt zunächst ein topographisches
Bild des geschilderten Gebietes. Fasst man die topographischen
Verhaltnisse und die schöne^ das Werk begleitende Karte ins Auge,
so erkennt man , dass der Verfasser in der Auswahl des Gebirgs-
theiles zum Gegenstand seiner Untersuchungen eine glückliche Wahl
getroffen ; denn man darf die Theilung der Hauptkette in drei nicht
allzuhohe Nebenketten, die Aufschliessung derselben durch drei
Hauptquerthaler in drei nur eine Meilo im Streichen von einander
entfernten Profilen, die bequeme Zugänglichkeit durch die in den
Hauptthälern verlaufenden Kunststrassen, die Möglichkeit, in den
verschiedenen Seitentbälern die in den Hanptprofilen gewonnenes
Resultate auch innerhalb der durch die Querthäler abgetheilten
Massivs zu verfolgen wohl als Vortheile bezeichnen, wie sie an
keiner anderen Stelle des Taunus sich bieten. Allerdings werden
dieselben wieder aufgehoben durch starke Bewaldung des Gebietes,
durch Seltenheit von Steinbrüchen, Mangel an Tiefbauten und die
nur zu häufige Bedeckung durch Tertiär- und Diluvial-Ablagerungen.
An die topographische Einleitung reiht sich eine Aufz&blung
der Taunus-Literatur, aus welcher ersichtlich, dass in früherer und
neuerer Zeit sich bedeutende Geologen mit dem Gebirge beschäf-
tigten und zu sehr verschiedenen Ansichten über dasselbe gelang-
ten. Die Gesammtre8ultate der bisherigen Forschungen sind etwa
folgende: 1) die krystallinischen Taunus-Gesteine sind entweder
ursprüngliche, kryptogene, chemische Gebilde oder umgewandelt«,
ursprünglich Versteinerungen führende Sedimente. 2) Die Umbil-
dung der ursprünglichen Sedimente zu dem jetzigen krystallinischen
Zustand ist erfolgt entweder durch plutonische Einwirkungen oder
durch chemische Umsetzung auf nassem Wege. S) Das Altor der
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Lossen: Beschreibung des Kreises Kreuznach.
855
Taunus-Gesteine — nach paläontologischen und Lagerungs- Verhält-
nissen — ist entweder devonisch oder untercarbonisch, sog. Culm.
Die Petrographie der Taunus-Gesteine bildet nun
den Hauptgegenstand vorliegender Abhandlung. Lossen beginnt
solche mit einigen Bemerkungen über die Mineralien , welche als
Bestandteile der geschichteten Silicat-Gesteine des Taunus von ihm
erkannt wurden. Dann folgt die specielle Petrographie, die äusserst
sorgfältige und durch viele Analysen noch werthvollere Beschrei-
bung der Taunus-Gesteine. Dieselbe umfasst: A. Krystallinische
geschichtete Gesteine. Gneisse, Glimmerschiefer, Phyllite, Augit-
schiefer , Magneteisengestein , Quarzite , Kieselschiefer , Kalksteine,
Dolomit und körniges Rotheisenerz. B. Krystalliniscb-klastisch ge-
schichtete Gesteine. Quarzbreccien mit krystallinischem Scbiefer-
bindemittel und mit Albit-Körnern. Quarzite und conglomeratische
Quarzite mit Schiefer- und Quarz -Einschlüssen. Kieselscbiefer-
Breccie. Qnarzit-Sandstein. C. Klastische geschichtete Gesteine.
Grauwackesandstein. Thonschiefer. D. Krystallinische ungeschichtete
Gesteine. Hyperit. Glimmerporphyr. Eine grosse Mannigfaltigkeit
von Gesteinen auf verhältnissmässig kleinem Gebiete,
Am Schlüsse seiner petrographischen Betrachtung der Taunus-
Gesteine fasBt Lossen die Resultate zu welchen er gelangte in
kurzen Sätzen zusammen. Die wichtigsten derselben seien hier
besonders hervorgehoben.
Der Südrand des Rheinischen Schiefergebirges wird von der
Wetterau bis zur Saar durch ein rechtsrheinisch eingliedriges, links-
rheinisch parallelgliedrige8 Kettengebirge gebildet, das nach Höhe,
Gipfel- und Thalbildung, so wie Gesteins-Beschaffenheit verschieden,
von dem übrigen Schiefergebirge als ein geognostisches Ganzes für
sich gelten musa und als solches die Taunuskette heissen mag. —
Der innere Schicbtenbau dieser Kette stimmt gleichwohl wesentlich
im Streichen und Fallen mit dem übrigen Rheinischen Schiefer-
gebirge tiberein und zeigt höchstens graduelle Verschiedenheiten.
Durch den Wechsel von Gesteinen von sehr verschiedener Wider-
stands-Fähigkeit hat in der Taunus-Kette der Schichtenbau auch
äusserlich Gestalt gewonnen. Die härteren Quarzite bilden die
Hauptkette oder die Parallel-Ketten , die krystalliniscben Schiefer
den Abfall, parallele Plateaustrecken oder Hochthäler. — Es gibt
nicht nur Sericitphyllite , sondern auch Sericitgneisse, Sericitglim-
merschiefer u. s. w. im Taunus. Der Sericit ist eine selbst-
ständige Mineralspecies, welche dem Glimmer verwandt,
aber kein Glimmer, noch weniger ein Gemenge aus Glimmer und
Thonschiefer. Die Beobachtung ausgezeichneter Glimmer (beson-
ders eines weissen, seltener eines schwarzbraunen) beweist, dass
auch ächter Glimmer als wesentlicher Gemengtheil der Sericitge-
steine und anderer Taunus-Gesteine auftreten kann. — Der als
oonstituirender Gemengtheil in den S ericitgneissen,
S ericitphy lliton des Taunus vorkommende Fei dspath
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856 Haushofe r: Hülfstabellen zur Bestimmung der Gesteine.
ist nach drei übereinstimmenden Analysen ein fast kalifreier Al-
bit; es findet sich also dieses Mineral als wesentlicher Gemeng-
theil in geschichteten krystallinischen Gesteinen und nicht einzig
in Drusen uud auf Gangen. — Die in der Taunus-Kette, als dem
Südrande des Rheinischen Schiefergebirges lagerartig auftretenden
Gneisse, Glimmerschiefer, Pbyllite, Quarzite, Eisenglimmerschiofer,
entsprechen petrographisch vollkommen analogen krystallinischen
Schiefergesteinen der Alpen, Schlesiens, Brasiliens. Nichtsdesto-
weniger sind dieselben mit Versteinerungen führenden devonischen
Qnarziten, Sandsteinen, Thonschiefern, Kalken, Dolomiten zum Theil
durch halbkrystallinische Mittelgesteine derart innig petrographisch
wie stratigraphisch verbunden, dass man sie nur a l s gleichaltrige
devonische Gebilde bezeichnen kann.
Die vorliegende Arbeit ist in der Zeitschrift der deutschen
geologischen Gesellschaft enthalten, welche letztere im Jahrgang
1867 bereits einige vortreffliche Aufsätze brachte von G. Rose,
F. Zirkel, Th. Wolf, Hornstein u. A. denen sich nun Los-
sens Schrift würdig anreiht. Hoffentlich wird der Verfasser bald
seinem Versprechen gemäss den zweiten Theil seiner Abhandlung,
die Schilderung der paläontologischen und Lagorungs- Verhältnisse
der Taunus-Gesteine bringen. G. Leonhard.
Hülfstabellen zur Bestimmung der Gesteine (Gebirgsarten) mit Be-
rücksichtigung ihres chemischen Verhaltens. Zusammengestellt
von Dr. Karl Haushof er, Privaldocent an der Universi-
tät München. München 1867. Lindauer' sehe Buchhandlunq
(Schöpping). 8. S. 151.
Während wir verschiedene Leitfaden zur Bestimmung der Mine-
ralien — sei es nach ihren krystallographiscben , physikalischen
oder chemischen Eigenschaften — besitzen, fehlt es an einer ähn-
lichen Schrift zum Bestimmen der Gesteine. Es ist daher mit
Dank zu erkennen, dass Dr. Haushofer, welcher bereits mehrere
schätzbare Abhandlungen, wie z. B. über Glaukonit, lieferte, sich
entschloss eine solche auszuarbeiten. Seine sehr tleissige und gründ-
liche Schrift erfüllt ihren Zweck vollkommen; die vorliegenden
Tabellen gewähren dem in der Bestimmung von Gesteinen weniger
erfahrenen eine gute Unterstützung, indem in ihnen die wichtig-
sten Gesteine nach einfachen, aber hervorragenden Kennzeichen in
Gruppen getrennt sind, welche das Aufsuchen eines zu bestimmen-
den Gesteins uuter einer beschränkten Anzahl von Arten erlaubt.
Die auf chemischem Verhalten beruhenden Merkmale wurden dabei
besonders berücksichtigt.
Die Anordnung des Ganzen ist folgende. In der Einleitung
erläutert der Verf. den Begriff von Gestein, von Structur u. s. w. ;
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Sickel: Urkunden der Karolinger.
857
alsdann folgen einige Mittheilnngen über Einthoilnng der Gesteine
sowohl vom geologischen Standpunkt, hinsichtlich der Genesis, als
vom chemischen, in Bezug auf Constitution der Gesteine. Bekannt-
lich kommen hier nur die krystallinisehen Felsarten in Betracht,
die nach ihrem Kieselsäure-Gehalt classificirt werden. Endlich gibt
der Verfasser Gang der Untersuchung, Art der Ausführung bei
Bestimmung einer Gesteiusart näher an. Alsdann folgen nun die
Tabellen. I. Tabelle Uber die Mineralien, welche als wesentliche
oder sehr häufige accessorische Gemengtheile krystallinisch gemeng-
ten Gesteine auftreten. II. Einfache und scheinbar einfache, soge-
nannte kryptomere Gesteine. III. Oolithische, spbärolithiscbe, vario-
litbische, mandelsteinartige und verwandte Gesteine. IV. Porphyr-
Gesteine. V. Krystallinisch gemengte, körnige und schiefrige Ge-
steine, nebst den entsprechenden Breccien. VI. Trümmer-Gesteine.
Der Verf. hat — wie zu erwarten war — im Verlaufe seiner
Arbeit gefunden, dass gewisse Kennzeichen der Gesteine nur äusserst
sparsam bestimmt sind, so z. B. das Verhalten vor dem Löthrohr
und gegen Säuren , das specifische Gewicht. Er hat daher , und
dies verleiht seiner Schrift einen um so grösseren Werth, die hier-
auf bezüglichen Versuche bei nicht wonigen Gesteinen auf das Ge-
naueste wiederholt und verglichen.
Was die Anordnung der Tabellen betrifft, so gibt Haushofer
selbst zu, dass dieselbe oftmals von den Anforderungen wissen-
schaftlicher Systematik abweicht. Dies liegt aber in der prakti-
schen Teudenz, welche die Tabellen verfolgen.
Es ist zu hoffen, dass Hausbofer's Schrift die verdiente An-
erkennung in einer vielfachen Anwendung finden wird.
G. Leonhard.
Ada Regum et Imperatorum Karolinorum digesta et enarrata. Die
Urkunden der Karolinger gesammelt und bearbeitet von Th.
Sickel. Erster Theil: Urkundenlehre. Gedruckt mit Unter'
Stützung der k. Akademie der Wissenschaften. Wien, C. Gerold
u. Sohn. 1HG7. 8. XV III u. 433 S. Isweiler Theil. Urkunden-
regeslen. 1. Abtheilung 200 S. Auch unter dem Titel: Lehre
von den Urkunden der ersten Karolinger (751 — 840); und:
Regelten der Urkunden der ersten Karolinger (751 — 840).
Schon seit einer Reihe von Jahren hat Th. Sickel sich durch
seine »Beiträge zur Diplomatik« und die »Monumenta Grapbica«
allgemeine Anerkennung als würdiger Nachfolger Mabillon's er-
worbeu ; es ist seit diesem ersten Begründer der Diplomatik und
den Arbeiten der Mauriner, die sich ihm unmittelbar anschliessen,
kein Werk von ähnlicher Bedeutung erschienen, und wenn begreif-
licher Weise nach einem so langen Zeitraum eifriger Forschung
/
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R68
ßiokel: Urkunden der Karolinger
vieles nachzutragen, weit weniger besser zu machen war, so dürfte jetzt,
nachdem das vorhandene Material wohl fast vollständig erschöpft
ist, die nun vorliegende Bearbeitung vielleicht als abschliessend
für alle Zeit bezeichnet werden, abgesehen natürlich von einzelnen
Nachträgen und Correcturen. Erst durch Sickel ist es überhaupt
zum Bewusstsein gebracht, was bei einer vollständigen Urkunden-
lehre alles zu berücksichtigen ist. Nichts ist hier unbedeutend,
nicht die geringste Aeusserlichkeit, denn bei der kritischen Unter-
suchung fallen oft gerade sehr kleinliche Umstände stark ins Ge-
wicht, und wer nur irgend mit diesen Dingen sich beschäftigt hat,
wird sehr bald bemerkt haben, wie wenig mit allgemeinen Regeln
und Beobachtungen auszukommen ist. Es müssen deshalb die
Merkmale der Echtheit für alle einzelnen Gegenden und Zeiträume
besonders gesammelt werden; für keine andere Gattung von Ur-
kunden aber ist das so wichtig, wie für die kaiserlichen, welche
durch so viele verschiedene Archive zerstreut sind. Um so dankens-
werter ist es, dass Sickel so weit es irgend erreichbar war, allen
noch vorhandenen Originalen nachgegangen ist und durchweg nur
von diesen seine Regeln gewonnen hat. Er hat keine Mühe ge-
scheut, um Vollständigkeit zu erreichen, und da diese doch vor
allem der Wissenschaft zu gute kommt, für niemanden aber von
grösserem Werthe ist, wie für den künftigen Herausgeber der
Kaiserurkunden , so ist es in der That kaum begreiflich (um kein
härteres Wort zu gebrauchen), dass ihm von G. H. Pertz die Ein-
sicht der für die Monumenta Germaniae gesammelten Urkunden
verweigert wurde, im scharfen Gegensatze zu der sonst überall be-
wiesenen Bereitwilligkeit seine Arbeit zu unterstützen und zu for-
dern. Sickel hat sich darüber in der Vorrede in sehr beachtens-
werthen Worten ausgesprochen, und auch G. Waitz hat in einer
Anzeige des Buches sein Bedauern über dieses Verfahren nicht
verhehlt.
Da übrigens bei den äusserlichen Merkmalen Worte allein
nicht ausreichen, die Mon. Graphica aber ihrer Kostbarkeit wegen
wenig verbreitet und schwer zugänglich sind, so ist es sehr erfreu-
lich zu erfahren, das« Sickel auch die Ausgabe einer Sammlung
von Schriftproben vorbereitet, auf welche im Texte schon Bezug
genommen ist. Ganz besondere Sorgfalt ist der sachlichen Unter-
suchung der Urkunden gewidmet, der Scheidung ihrer verschiede-
nen Arten und Tbeile, und hier ist namentlich auch, was sehr zu
loben, durchgehend^ auf die alten Formularien Rücksicht genommen,
überall aber der tiberlieferte und formelhafte Theil der Ausferti-
gung von dem wechselnden und individuollen genau unterschieden,
während unerfahrene Historiker sehr geneigt sind, aus dergleichen
stereotypen Redensarten der Kanzlei sich Schlüsse auf die Gesin-
nung des Ausstellers zu erlauben. Zu bemerken ist jedoch, dass die
von Rockinger an erster Stelle herausgegebenen Rationes dictand.
nichts mit Albericus zu thun haben, und nicht wie hier p. IÖS.
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Siokel: Urkunden der Karolinger
859
401. 403 geschieht, unter seinem Namen citirt werden dürfen, da
sie vielmehr lombardischen Ursprungs sind.
Ausser dieser Bemerkung habe ich nur noch an einer Stelle
Anlass zum Widerspruch gefunden , nämlich p. 288 wo der Verf.
sich gegen die übliche Unterscheidung von italienischem und deut-
schem Pergament ereifert. Denn dass dieser Unterschied allerdings
bestand und wohl bekannt war, zeigt das Schreiben des Albertus
Bohemus bei Hoefler p. 111, worin der Erzbiscbof von Salzburg
gebeten wird, einen Boten cum pergamena Teutonica zur Ourie zu
schicken, um einen Schuldbrief darauf schreiben zu können. Ein
wesentlicher Unterschied bestand darin, dass in Deutschland -in der
Regel beide Seiten gleich behandelt sind, während in Italien die
Rückseite der Urkunden andere Färbung hat. Diese ganze Sache
bedarf noch genauerer Untersuchung, einfach ableugnen aber lösst
sie sich nicht.
Besonders dankenswerth ist, um nur eines hervorzuheben, der
sorgfältige Nachweis der von den ersten Karolingern gebrauchten
Siegel, über welche durch die vielen schlechten Abbildungen grosse
Verwirrung entstanden war. Hat doch noch Pertz seiner neuesten
Ausgabe der Vita Karoli ein angebliches Porträt Karls des Grossen
vorangestellt, welches nur eine sehr missrathene Zeichnung der
Gemme mit dem Kopfe des Comraodus ist, womit Karl zu ziegeln
pflegte. Sickel hat diesen Fehlgriff gar nicht erwähnt, was ich be-
dauere, weil solche Dinge, besonders wenn die Autorität eines
grossen Namens sie schützt, nicht leicht wieder ganz zu beseiti-
gen sind.
Doch wir wollen uns von diesen Einzelheiten zu dem unge-
mein wichtigen Abschnitte >Hof und Kanzlei« wenden, welcher auch
direct für die Reiohsgeschichte von grosser Bedeutung ist. Hier
ist nämlich alles gesammelt, was sich aus den Urkuuden und ande-
ren Quellen Uber die Einrichtung der Kanzlei und das dabei be-
schäftigte Personal, so wie über die Behandlungsweise der Geschäfte
gewinnen Hess. Fruchtbar war dafür namentlich auch die Ent-
zifferung der Bemerkungen in tironischen Noten , welche in jener
Zeit noch gebräuchlich waren , während es andererseits nicht an
grundlosen Angaben fehlte, die beseitigt werden raussten. Für
die Kritik der Urkunden und ihrer Zeitbestimmung ist die Sicher-
stellung jener Verhältnisse natürlich vom höchsten Werthe, aber die
Wichtigkeit dieser Untersuchung reicht viel weiter, uud mit gros-
sem Scharfsinn sind die Folgerungen entwickelt, welche sich aus
den Thatsachen ergeben. Wir sehen, dass unter Karl dem Grossen
der clericale Einfluss noch nicht in die Kanzlei gedrungen ist, dass
Mittel personen noch keinen hervorragenden Einfluss gewonnen haben,
während unter Ludwig sich sofort alles ändert. Das rohe Urkun-
denlatein, welches sich bis dahin trotz der wissenschaftlichen Re-
generation auf anderen Gebieten unberührt erhalten hatte, ver-
schwindet und neue Formeln werden ausgearbeitet, deutlich aber
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800
v. Heu gl in: Reise nnch Abesainlen.
tritt zugleich der verstärkte Einfluss des geistlichen Personals der
Kanzloi hervor, und anch die grossen Wechselfälle jener kläglichen
Regierung bähen deutliche Spuren im Urkundenwesen hinterlasser..
Niemand der sich mit der Geschichte jener Zeiten beschäftigt, wird
das Studium dieser Urkundenlehre unterlassen dürfen, und er wird
durch die Reichhaltigkeit des Inhalts sich nicht selten überrascht
finden. Gewiss ist es nicht nöthig, alle Theile auch nur der kaiser-
lichen Diplomatik mit gleicher Ausführlichkeit zu behandeln ; nach-
dem einmal diese Grundlage gewonnen ist, genügt es die Verände-
rungen kurz zu bemerkeu , und das stellt Sickel für die spateren
Karolinger in Aussicht.
Die zweite Abtheilung des Werkes, die in fortwährender Wech-
selbeziehung zur ersten steht , enthält die Regesten , die an Zahl
seit Böhmers Arbeiten auf diesem Gebiete bedeutend gewachsen,
vorzüglich aber auch weit gründlicher durchgearbeitet sind. So i?t
namentlich bei jeder Urkunde Auskunft gegeben , ob und wo da?
Original oder eine alte Abschrift noch vorhanden ist, oder woher
unsere Kunde stammt. Eingereiht sind auch interpolirte oder ganz
unechte Urkunden, wenn sich voraussetzen Hess, dass eine echte
der Fälschung zu Grunde liege. Dagegen sind unechte, welche sich
zur Einreihuug nicht eigneten , so wie Nachweise über verlorene
Urkunden von unbekannten Daten abgesondert , und für den noch
fehlenden zweiten Theil des Bandes bestimmt, welcher anch An-
merkungen zu den Urkunden bringen soll. Erst nach dem Er-
scheinen dieser letzten Hälfte wird über die Regesten ein begrün-
detes Urtheil möglich sein; die drei Monate, binnen welcher sie
erscheinen sollte, sind bereits abgelaufen, hoffen wir, dass sie nicht
lange mehr ausbleibt. W. Wattenbach.
Reise nach Abesnnien, den Gala- Ländern, 0*t-8uda'n und Chartern
in den Jahren 1861 und 1862 von M. Th. von Heuglin.
Mit Vorwort von Dr. A. E. Brehm. Nebst 10 Illustrationen
in Farbendruck und Hoteschfiitt, ausgeführt von J. M. Bernatt,
l lithographirten Tafel und l Originalkarte. (Dm Recht der
Ueberselsung wird vorbehalten). Jena, Hermann CoslenobU,
1868. XII und 459 S. in qr. 8.
Das vorstehende Reisewerk erscheint in einer Zeit, in welcher
Aller Blicke nach dem Lande gerichtet sind, das den Gegenstand
der hier beschriebenen Reise ausmacht, und allerdings durch die
treue nnd genaue Schilderung, die wir in diesem Bericht davon
erhalten, uns näher gertickt ist; aber auch abgesehen von diesem
natürlichen Interesse, das wir unwillkürlich an dieser so genauen
und verlässigen Schilderung des Landes wie seiner Bewohner und
deren Zustände nehmen, knüpft sich noch ein weiteres Interesse
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v. Heu gl in: Reiso nach Abessinlen.
an diese Darstellung, indem sie die Wissenschaft, die geographische
sowohl wie die naturwissenschaftliche, im Allgemeinen zu bereichern
und zu erweitern im Stande ist. Habesch oder Abessinien, so
schreibt der Vorredner, hat von jeher die Aufmerksamkeit der ge-
bildeten Welt auf sich gezogen und jedem Reisenden , welcher es
besuchte, von den Ptolemäer Zeiten an bis zum heutigen Tage eine
Fülle von Erfahrungen und Erinnerungen gebracht, von denen nur
der geringste Theil durch Wort und Bild wiedergegeben wurde und
wiedergegeben werden konnte, weil es eben unmöglich ist, Alles
zu schildern, Alles wieder zu erzählen, was der Fremdling hier er-
schaut, erlebt, in sich aufgenommen und später geistig verarbeitet.
In ihm hat jeder wissenschaftliche Beisende Etwas gefunden: der
Erd- und Völkerkundige wie der Sammler und Beobachter natur-
geschichtlicher Gegenstände , der Geschichtsforscher wie der Send-
bote einer Glaubensgenossenschaft. Ein Gebirgsland, welches an
erhabener Schönheit kaum von einem andern der bekannten Erde
übertroffen werden dürfte, die Schweiz Afrika's, eine Alpenwelt unter
die Tropen gerückt, in welcher alle Klimate vom Gletscher an bis
zum Polarkreise sich vereinigen, das Quollengebiet des Asrakh,
Takaz^io, Barka und Juba, bot und bietet dem Erforscher wie dem
Pflanzenkundigen, dem Erdbeschreiber wie dem darstellenden Künst-
ler mit gleicher Freigebigkeit seine unendlichen Schätze, von denen
bisher nur ein geringer Theil erworben und zum Eigenthum der
gebildeten Menschheit gemacht werden konnte u. s. w. (S. VIII).
Was der Vorredner in dieser Weise von diesem Land
schreibt, das wird auch durch die vorstehende Keiseboschreibung
in nicht geringem Grade bestätigt. Nicht blos der gelehrte For-
scher auf dem Gebiete der Natur im weitesten Sinne des Worts,
sondern eben so auch der gebildete Leser überhaupt wird nicht
ohne Befriedigung das Werk aus der Hand legen, zumal der Ver-
fasser nicht blos mit dem Lande selbst und seiner Beschaffenheit
sich beschäftigt, sondern auch auf die Bewohner desselben, ihre
Sitten und Gebräuche, ihren gesammten Culturzustand gleiche Rück-
sicht genommen hat , und selbst über den Herrscher des Landes,
den jetzt so viel besprochenen Negus Theodor, mit dem er in freund-
schaftlichem Verkehr stand , Aufschlüsse bringt , die in Manchem
von dem abweichen, was man von anderer Seite über diesen Herr-
scher vernommen hat.
Im ersten Capitel werden die Reisezurüstungcn und die Ab-
fahrt von Triest, die am 9. Februar des Jahres 1861 erfolgte, ge-
schildert, dann die Fahrt über Syra, Constantinopel, Smyrna, nach
Alexandria und von da nach Cairo, während das zweite Capitel
das Tagebuch der Fahrt nach Suez und auf dem rothen Meer wei-
ter nach dem auch jetzt so viel genannten Masaua enthält, die
letztere Stadt mit ihren Umgebungen, insbesondere den Archipel
von Dahlak schildert. Dio natürlichen Verhältnisse dieser Gegen-
den, die Pflanzenwelt wie die Thierwelt werden sorgfältig besebrie-
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862
v. Heuglin: Reise nach Abessinien.
ben und auch den Handelsverhältnissen gleiche Sorgfalt zugewen-
det, namentlich bei Masaua, das fast nur von Handelsleuten be-
wohnt, als Hauptstapelplatz für den Verkehr mit dem Innern zu be-
trachten ist.
Das dritte Kapitel bringt nach einer Beschreibung des Küsten-
landes von Masaua , des sogenannten Samhar, die weitere Fort-
setzung der Reise nach Keren und den dortigen Aufenthalt in dem
Lande der ßogos; auch die nahen Berge Debra Sina auf der öst-
lichen und Tsad-Amba auf der westlichen Seite wurden bestiegen:
von letzterem Gebirge sind zwei Abbildungen beigefügt, die uns
von dieser in der That grossartigen Gebirgswelt einen Begriff geben
können. Von Keren ward die Reise weiter südwärts nach dem
Lande Hamasen fortgesetzt, und im folgenden Kapitel näher be-
schrieben. Von Tsazega, der kleinen Hauptstadt des Landes und dem
Sitz des Statthalters, wird ein recht unterhaltendes Bild entworfen,
besonders von dem Besuch bei der Schwiegertochter des Statt-
halters, und der Bewirthung daselbst. Das nächste Ziel war Adoa,
die bedeutendste Stadt in diesen Gegenden, welche den ganzes
Handelsverkehr zwischen dem Meere und Gondar vermittelt; dass
die nahen Ruinen von Aksum oder Axum ebenfalls besucht uni
näher beschrieben werden, bedarf wohl kaum einer besondern Er-
wähnung. Das nächste, fünfte Kapitel bringt die Fortsetzung der
Reiso bis Gondar und den Aufenthalt daselbst. Es fehlt auch hier
nicht an einzelnen interessanten Punkten, wie der Uebergang über
den Takazie-Strom und die Nilpferdejagd wie die Arienjagd, nicht
minder der Uebergang über die Gebirge in einer Höhe von mehr
als zehntausend Fuss, bis endlich Gondar, die Residenz des abessi-
niscben Herrschers erreicht ward. Die Lage der Stadt wird genau
angegeben, sie selbst mit ihren Umgebungen näher beschrieben,
und von dem Schlossbezirk sogar eine Abbildung beigegeben. Der
längere Aufenthalt an diesem Orte, vom 24. Januar bis 16. Fe-
bruar gab Gelegenheit zu meteorologischen Beobachtungen, und
bietet die Veranlassung, hier über das Land Abessinien eine
Reihe von allgemeinen Bemerkungen anzuknüpfen, die zur näheren
Kunde des Landes allerdings von Belang sind. So verbreitet
sich der Verfasser näher über den Feldbau und die Bepflanzung.
über die Hausthiere, wie über die übrigen Thiere, da Berge,
Wälder und Steppen des Landes eine äusserst mannigfaltige thie-
rische Welt beherbergen, die uns hier im Einzelnen genauer
beschrieben wird. Aber auch die Industrie , Münze , Maas? und
Gewicht wird besprochen, dann auch die religiösen Verhältnisse
behandelt, da in diesem Lande Mohamedaner, Juden und Christen,
letztere mit manchen eigenthümlichen Festen und Gebräuchen, sich
finden. Einige geschichtliche Angaben, welche die neueste Geschichte
des Landes betreffen, machen den Beschluss der lehrreichen Er-
örterung.
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v. H engl in: Reise nach Abessinien.
863
Das sechste Kapitel fuhrt uns noch weiter südwärts von Gon-
dar, zuerst nach Dembea und dem Tana-See, dann in südöstlicher
Richtung von demselben weiter Uber Eifag, Quafat nach Magdala
und Tenta, und von da über das Kologebirge zu dem Lager des
damals auf einem Feldzug in die Gala-Lander begriffenen Herr-
schers Theodor, welches in dem District Etsabed, dem südlichsten
Punkt, welchen die Reise des Verfassers berührte, sich beiand.
Diess führte dann zu einem Zusammentreffen mit diesem Herrscher,
und wird uns die Audienz, die dem Verf. zu Theil ward, mit allen
Details erzählt, dann aber auch eine Schilderung des Lagers
wie des Heeres entworfen , die in dem jetzigen Moment gerade
unsere besondere Aufmerksamkeit allerdings ansprechen mag. Nach
des Verfassers Schätzung , die er eher zu niedrig als zu hoch ge-
griffen erklärt, müsste das Lager mehr als 150,000 Köpfe gezählt
haben, aber, abgerechnet den zahlreichen Tross von Knechten,
Dienern, Frauen u. dgl. m. würde doch immer eine streitbare
Mannschaft von mindestens 50,000 Köpfen übrig bloiben. (Sollten
hier, nach Allem, was uns der Verf. selbst über Abessinien be-
richtet, die Zahleu nicht zu hoch gegriffen sein?) Weiter südwärts
ward die Reise nicht fortgesetzt, sondern der Rückweg angetreten,
und auf demselben Wege bis zu dem Punkte, wo der Tana-See
erreicht ward, fortgesetzt, dann aber statt gerade nördlich nach
Gondar, in nordwestlicher Richtung nach Metaraeh, der Hauptstadt
der Provinz Qalabat, welche hier näher beschrieben wird. Das
siebente Kapitel bringt den Schluss des Ganzen, mit der Beschrei-
bung der Reise von Metameh über Dokab, Qedaref nach Abu Haraz,
wo sich der Verf. auf dem blauen Nil nach Chartum einschiffte,
welches auch nach einer viertägigen Fahrt glücklich erreicht ward,
und den Endpunkt der ganzen Reise bildete. In einem Anhang
wird noch eine Zusammenstellung der während der Reise durch
Abessinien und Ost-Senar gemachten astronomischen Ortsbestim-
mungen gegeben.
Wir haben im Vorhergehenden nur einen kurzen Ueb erblick
der Reise und der von dem Reisenden berührten Punkte gegeben:
es ist wohl zu einem grossen Theil dieselbe Route, die auch das
englische Heer, das jetzt gegen den Herrscher des Landes zu Felde
zieht, zu nehmen genöthigt ist, und es mag schon aus diesem
Grunde der überaus genaue und sorgfaltige Bericht, der hier ge-
geben wird, alle Beachtung verdienen , uns aber auch zeigen , mit
welchen Schwierigkeiten in einem solchen Gebirgslande jedes Vor-
rücken eines Heeres verknüpft ist ; es kommen dazu in diesem
Werke noch die vielen Erörterungen aus dem Kreise der Natur-
forsebung, welche in reichem Grade überall und bei jedem Orte
gegeben werden , um uns ein genaues Bild der Beschaffenheit des
Landes, seiner Gebirgswelt, seiner Flüsse und Seen, seines Gesteins,
seiner Pflanzenwelt, wie insbesondere seiner Thierwelt zu geben:
alle Theile der Naturforschung, welche damit sich beschäftigen,
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864
Hübner: Statistische Tafel.
werden manche Belehrung aus dieser Reisebesehreibung gewinnen,
die darum aber doch auch für den gebildeten Leser, der nicht
Fachmann ist, nicht Weniges bietet, was eine angenehme und be-
lehrende Unterhaltung gewähren kann. Die äussere Ausstattung
des Ganzen ist sehr befriedigend; die beigefügten Illustrationen
geben meist wohl ausgeführte landschaftliche Bilder, und die grosse
dem Werke angeschlossene Karte führt uns diesen ganzen Theil
Africa's in grosser Genauigkeit vor ; sie lässt uns genau die Reise-
route des Verfassers verfolgen.
StctülUche Tafel aller Länder der Erde. Von Dr. Otto Hübnet,
Director des statistischen Centraiarchivs su Berlin. Sechs-
sehnte völlig umgeänderte u. vermehrte Auflage. 1S67. Frank-
furt. Verlag der F. BosellVschen Buchhandlung (W. Rommel;.
Die vorliegende Tafel, für deren Brauchbarkeit und Nützlich-
keit schon ihre ungemeine Verbreitung sprechen kann, da sie hier
in einer sechzehnten Auflage erscheint, vereinigt auf verhält-
nissmässig geringem Raum und doch klar und übersichtlich zu-
sammengestellt, Alles Mögliche von statistischen Notizen, die ein
gebildeter Leser zur Hand zu haben wünscht. Sie verbreitet sieb,
wie die Aufschrift besagt, über alle Länder der Erde, auch die
amerikanischen Staaten mit eingerechnet, und gibt bei jedem die
Grösse und die Bevölkerung, die Regierungsform und das Staats-
oberhaupt, die Ausgaben und Schulden, das Papiergeld und den
Banknotenumlauf an, dann ebenso den Bestand des stehenden
Heeres und der Kriegsflotte wie der Handelsflotte, die Aus- und
Einfuhr, die Zolleinnahmen, die Haupterzeugnisse , die Münze, (die
Reduction der Silbermünzeu auf 30 Thaler per 1 Pfund Silber und
50 Thaler Kronen per 1 Pfund Gold ist durchgeführt) dann Ge-
wicht und Maass für trockene und flüssige Stoße, Eisenbahnen,
Telegraphen, die Hauptstädte und deren Einwohnerzahl, Alles in
tabellarischer Form, so dass man sich leicht überall zurecht finden
kann. Bei den steten Veränderungen , die in Bezug auf die ge-
nannten Gegenstände eintreten, ist Alles nach den neuesten Ergeb-
nissen festgestellt, und in Folge der grösseren Ausdehnung der ein-
zelnen Notizen auch das Format der ganzen Tafel um einen halben
Fuss vergrössert worden, ohne Erhöhung des Preises von 5 Sgr.
oder 18 Kreuzer. Wir zweifeln daher nicht, dass diese neue be-
richtigte und vervollständigte Auflage sich einer günstigen Auf-
nahme erfreuen wird.
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Ir. U. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Memoires pour servir ä Vhütoire de mon temps par Guizot. Tome
\Ulhne. Pari» Leipzig 1867.
Wer noch nicht weiss, dass Guizot von geistigem Hochmuth
förmlich verzehrt wird, dem werden bei der Lektüre des VIII. Ban-
des seiner Memoiren gewiss die Augen aufgehn. Wenn er am Ein-
gang seines Werkes erklärt: dass der Tag noch nicht gekommen
sei um freimüthig über Personen und Ereignisse zu sprechen, dass
er dagegen seine eigene persönliche und innere Geschichte, was er
empfunden, gewollt und gedacht, erzählen wolle; so hat er damit
bereits das offene Geständniss abgelegt, dass die nun folgenden
Memoiren eine fortlaufende Selbstbespiegelung sein werden, und
dass über fremde Personen und Ereignisse nur insofern ein frei-
müthiges und wahres Wort zu erfahren ist, als dasselbe der Per-
sönlichkeit des Genfer Doktrinärs nicht zu nahe treten darf. Die
ganze, die wahre Wahrheit soll nicht zum Vorschein kommen. Da-
gegen ist das philiströse Wohlgefallen an dem eigenen Scharfsinn
tiberall massgebend; es verlässt ihn selbst da nicht, wo er die
grössten Thorheiten begehn will, und so darf es uns nicht wundern,
dass auoh dieser letzte Band, der die Geschichte von Guizots eige-
nem Sturz von den Irrthümern die zur Februarrevolution geführt
haben, enthalten soll, nichts ist als eine fortdauernde Selbstver-
herrlichung und von unbelehrbarem Hochmuth strotzt. Wer die
Weltgeschichte nur aus den Guizot'scben Memoiren kennen lernt,
muss sich in der höchsten sittlichen Entrüstung über das franzö-
sische Volk hinein lesen, welches dem so hochverdienten und wohl-
meinenden Minister eines Tages plötzlich die Thüre wies.
Da finden wir gleich zu Beginn des Werkes eine lange Er-
örterung über die »freie Regierung c, deren Segnungen Guizot den
undankbaren Franzosen zugedacht hatte. Auf die Formen derselben
komme es nicht an. Wohl aber darauf, dass die Verantwortlichkeit
der Regierung gewahrt sei. Der Parlamentarismus sei eine der
Formen einer freien Regierung. Die Bildung politischer Parteien
müsse als Kriterium einer parlamentarischen Regierung angesehn
werden.
Alle diese Bedingungen des Parlamentarismus und der Frei-
heit seien in dem Kabinett vom 29. Oktober 1840 geboten ge-
wesen; Guizot beginnt nun mit der ungescheutesten Naivetät sein
eigener Lobredner zu werden. Er war von seiner Unfehlbarkeit
80 durchdrungen, dass ihn der Widerstand, auf den seine Regierung
etiess, nicht im Geringsten irre machte: hatte er doch den Trost,
Iä. Jahrg. Ii. Heft 55
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Oulsot: Mdmoitea eto.
dass die Majorität der Kammer auf Seiten der Regierung stand,
dass die Fiktion des Parlamentarismus treu gewahrt War. Als ihm
der Herzog von Broglio am 80. Oktober 1844 den verständigen
Rath ert heilte, er möge sich von den Geschäften zurückziehn, wenn
die übrigen Minister und die Kammer nicht Jede seiner Bedingun-
gen auch die strengste annähmen : La meilleure chance ponr yous
seroit une sortie par la grande porte (S. 25) fand sich Guizot be-
reits so unentbehrlich für Frankreich, dass er erwiederte »er wolle
lieber auf der Bresche bleiben.« Das Gefühl der Mangelhaftigkeit
alles politischen Thun und Treibens wär so lebendig In ihm ge-
worden, dass es ihn zu einer gewissen Resignation in sein schwe-
res Loos brachte; über welche er dem gläübigen Leser seiner
Memoiren wahrhaft rührende Dinge zu sagen weiss.
Ueber die Vorwürfe der Wahlbestechung gleitet Guizot tot-
sichtig hinweg ; er findet dass die Fälle wo die Regierung schuldig
war, aussi peu graves que peu nombreui gewesen seien, und dass
mit einigen Ausnahmen ä travers l'exagerätion de quelques paroles
et Tinconvenance de quelques dt- mar che 3 die Wählen frei und legal
von Statten gingen.
Trotz der Missbräüche die einer jeden grossen Wahlbewegung
anhafteten, sei in Frankreich ehrlicher und unabhängiger Verfahren
worden als in England und Amerika.
Uebrigens tröstet sich Guizot vollkommen Über diese hämi-
schen Vorwürfe der Opposition, da ihn die Kammer selbst mit 225
gegen 105 Stimmen freispricht. Dass diese 105 Stimmen, welche
das Ministerium grober Umtriebe bei den Wahlen beschuldigten,
gegenüber den Satisfaits der künstlichen Regierungsmajorität immer
eine bedeutsame Minorität repräsentirten, kommt dem selbstgefälli-
gen Minister nicht in den Sinn. Ebenso wie die W ab lum triebe
gesteht er auch die Käuüigkeit der Stellen, Welche unter seinem
Ministerium Gang und Gäbe war, nur freilich mit sehr verhüllten
Worten, ein. Ce n'ütoit point l'ancienne venälite* des charges admise
en principe : c'etoit une tolerance abusivement appliquee ä certaines
transactions particulieres dont le gouvernement restoit toujoors libre
de ne pas tenir compte. Noch offener bekennt er gleich darauf,
dass er unter den von der Anklage der Kammer wegen Stellen-
kauf bedrohten Personen Freunde gehabt habe ; aber auch hier ward
ihm die Gcnugthuung zu Theil, dass die Kammer im Vertrauen
auf den guten Willen der Regierung die Untersuchung fallen Hess
und zur Tagesordnung überging.
Mit einigen allgemeinen Redensarten wird der sittlichen Ffiol-
niss gedacht, die sich in den Regierungs- und Beamtenkreisen
Kund gab. Die diplomatische Kunst, mit welcher Guizot des Pro»
cesses Teste erwähnt, verdient wirklich die Bewunderung Aller
derer, die naiv genug sind, das damalige Ministerium von der mo-
ralischen Mitschuld freizusprechen. De graves soupcons s'öleverent
contre un homme de talent, nagueres membre du cabinet et qui
en etoit sorti pour devenir Tun de prösidents de la oonr de cassa-
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Guizot: Memoire* etc.
■
tion; nous y regardames avec une attention aussi scrupuleuse quo
dauloureuse .... C'etoit la de la part dn cabinet un de oes actes
dont le märite n'est senti que tard
Mit einer ähnlichen sentimentalen Katzenpfote berührt Guizot
den Mord der Herzogin von Praslin, der die in der höchsten Ari-
stokratie um sich greifende Verderb niss so furchtbar offenbarte. Er
zahlt ihn zu den incidents deplorablea, bemerkt in einer momentanen
Erleuchtung seines übrigens verloren gegangenen historischen Bewusst-
seins, dass die Luft damals gleichsam von moralischen Unordnun-
gen nnd unvorgesehenen Unthaten infizirt gewesen sei, um sogleich
wieder in das salbungsvollste Selbstlob zu verfallen, sich mit
Washington zu vergleichen, den man im Leben verlästert, dem man
aber nach dem Tode Statuen errichtet habe, und sich implioite für
einen vollendeten Tugendbürger auszugeben.
Dann rühmt er sich der polizeilichen Geschicklichkeit die er
entfaltete, um die im Ausland reisenden Mitglieder der älteren legi*
timen Herrscherlinie zu chikaniren , und gibt einen ausführ-
lichen Bericht über die diplomatische Schwierigkeit zu dem der
Aufenthalt des Duc de Bordeaux in London und die dabei statt-
goh&bte legi timi s tische Manifestation Anlass gegeben. Auch in
der Kammer entstand damals eine lebhafte Diskussion» ob man den
starken Aasdruck flötrir für die Verurtheilung dieser Skenen in London
brauchen, oder den Legitimisten zu Gunsten die mildere Wendung
setzen wolle, dass »das öffentliche Gewissen solche schuld volle
Manifestationen mit starkem Tadel treffe.« Die heftigsten persön-
lichen Vorwürfe über Guizot's ganze frühere Laufbahn wurden hier-
bei von Seiten der Opposition erhoben ; oder , wie sich der un-
parteiische Memoirenschreiber ausdrückt, die revolutionären bonar-
partistischen und legitimistisohen Leidenschaften vereinten sich um
alten und neuen Groll gegen mich auszuhauchen. Aber Guizot war
so »glücklich« diesen »brutalen Angriff ohne Mühe und Ermüdung €
aaszuhalten. Als er von der Tribüne herunterstieg, »machte er sich
das Vergnügen« der Opposition die berühmten Worte zuzuschleu-
dern: »Häuft Zorn, Beleidigungen und Verleumdungen so viel ihr
wollt; sie werden die Höbe meiner Verachtung nie erreichen.« Ob-
wohl der Ausdruck »fi6*trir« ihm selbst eingestandenermaassen eini-
ges Unbehagen verursachte, hielt er nun mit aller Zähigkeit daran
fest und die getreue Kammermajorität setzte ihn auch schliesslich
durch. Guizot durfte sich durch den Beifall des Monarchen über
das »unvernünftige Gebahren« seiner Gegner hinwegsetzen, und wenn
er die zahlreichen Beweise der Huld, die vielen billigenden Billets
und Briefe erwähnt, womit der Bürgerkrieg ihn während seines
Ministeriums erfreute, so konnte er kein für ihn selbst und Louis
Philippe charakteristischeres Schreiben wählen als jenes vom 21*
August 1847, auf das die kommenden Ereignisse schon gleichsam
ihren Schatten im Voraus werfen : II faut que les hommes substi-
tuent oomme vous et peutetre pnis-je dire aussi oomxne moi le
oourage de rimpopularitö a la soif des applaudissements.« Dass
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868
Guizot: Memoires etc.
Gaizot die vollkommene Entente die zwischen ihm und seinem
Monarchen bestanden haben soll , nicht in egoistischem Interesse
ausgebeutet hat, dass er nach Titeln und Ehrenbezeugungen nicht
lüstern war, glauben wir ihm gern, obwohl wir es ihm lieber glau-
ben möchten, wenn er bei seiner Bescheidenheit und Uneigennützig-
keit weniger laug und wohlgefällig verweilte. Mit wahrem Un-
willen berichtet er, dass die Opposition diese Harmonie zwischen
dem Ministerium und dem König auf dem Mangel eines selbst-
ständigen Willens bei diesem schob, und den König wegen seiner
antikonstitutionellen Einmischung und Beeinflussung der Ministerial-
berathungen tadelte. Gegenüber der Maxime: Le roi regne et ne
gou verne pas hielt er mit grosser Energie an dem Satz fest, dass
der Thron kein Fauteuil sei, auf den man einen Schlüssel ange-
bracht habe, so dass Niemand sich darauf setzen könne, sondern
dass eine intelligente und freie Persönlichkeit auf diesem Thron
sitze. Man möge immerhin wiederholen Le Roi regne et ne gou«
verne pas ; mit solchen Principien würde man darum in der Praxis
nie bewirken, dass der herrschende König eine Null in seiner Re-
gierung würde.
Louis Philippe hat begreiflicherweise dieser sophistischen Ver-
theidigung der königlichen Prärogative seinen vollsten Beifall ge-
zollt; und es scheint in der Tbat, dass er den treuen Minister so
lieb gewonnen hat, wie es seiner egoistischen, berechnenden Natur
überhaupt möglioh war zu lieben. Dafür erntet er denn aber auch
die reichlichsten Lobsprüche und wird als ein »im besten Sinn des
Wortes liberaler, echt konstitutioneller Fürst« in den Himmel er-
hoben. Interessant ist es immerhin zu verfolgen, wie wenig Illu-
sionen sich der Bürgerkönig über das Prekäre seiner Stellung ge-
macht hat, und wie er es eigentlich gewesen ist, der die rosen-
farbene Anschauung seines Ministers bekämpfen musste. Dass dies
in den für Guizot schmeichelhaftesten Formen geschah, ist selbst-
verständlich : Tenez mon eher ministre, sagte Louis Philippe eines
Tages in Neuiii y zu seinem optimistischen Vertrauten : »je souhaite
de tout mon coeur que vous ayez raison: mais ne vous y trompex
pas: un gouvernement liberal en face des traditions absolutestes
et de l'esprit revolu t ion n aire, c'est bien diflicile ; il y faut des oon-
servateurs liberaux et il ne s'en fait pas assez. Vous etes le der-
nier des Romains.« Und ein anderes Mal wehklagte der Bürger-
könig : Quelle confusion ! quel gachis ! une machine toujours pres de
se dötraquer! Dans quel triste temps nous avons ete destiues a
vi vre 1
So entschieden Guizot den König gegen den Vorwurf, dass er
dem Kabinett stets seinen Willen aufgezwungen habe, in Schutz
nimmt, er kann doch nicht in Abrede stellen, dass die entgegen-
gesetzte Meinung begründet gewesen sei. Der König habe
einen üeberfluss von Ideen über jede Frage gehabt; er habe et
dann nicht verstanden mit denselben hauszuhalten, zu schweigen
oder gleichgültig zu erscheinen. II etait de plus si profondement
Digitized by Googl
GnlKot: M&nolres etc.
869
convaincu de la sagesse de sa politique et de l'importance de son
sncces pour le bien du pays qu'il lui en cofttoit d'en voir atiribuer
ä d'autres le me*rite et qu'il De pouvait se rösoudre ä n'en pas
rerendiquer bautement sa part. Einen unverhältnissmässig grossen
Raum in Guizot's Werk nimmt die Erzählung des Hergangs bei den
spanischen Heiratben ein, welche jetzt ziemlich vergessen, damals eine
Reibe diplomatischer Verwickinn gen zwischen England und Frank-
reich hervorriefen. England agirte insgeheim zu Gunsten eines Kobur-
ger Prinzen für die Hand Isabella's. Fürst Metternich war für den
Sobn Don Carlos' thätig. Gnizot erlebte den Triumph dass die fran-
zösische Combination durchdrang, dass Isabella sieb mit ihrem
Vetter dem Herzog von Cadix, und ihre Schwester die Infantin
Fernanda mit L. Philippe's letzten Sohne dem Herzog von Montpensier
vermählte. Es ist ihm wohl zu gönnen, dass er bei dem gegen-
wärtig historisch wenig bedeutsamen Ereigniss mit besonderer Vor-
liebe verweilt und 238 Seiten damit ausfüllt; denn diplomatische
Erfolge, sei es über England oder Oesterreich, sind in seiner Lauf-
bahn sonst sehr dünn gesät; und dass er gar den Plan des Fürsten
Metternich durchkreuzte, muss man ihm um so höher anrechnen,
da er sich ja gewöhnlich von diesem Ministor der diplomatischen
Kunst ganz schulmeisterlich zurechtweisen liess. Ein Zug des
Respekts, wenn auch gewiss nicht der Vorliebe für den österreichi-
schen Staatsmann, geht merkwürdig genug durch das ganze Werk,
und gern gedenken wir dabei der Hormayr'sehen Bemerkung, dass
Fürst Metternich ein besonderes Geschick besessen habe die » Doktri-
när in seinen Netzen zu fangen, dass er stets nach ihnen so
wohlgefällig und gütig mit seinem klaren Auge geblickt habe, wie
der Vogelsteller nach dem Gimpel auf der Leimruthe. Die im 46.
Kapitel erzälten Verhandlungen mit dem Pabat Pius IX. besitzen
gerade für die Gegenwart ein unleugbar hohes Interesse. Schon zu
der Zeit, da Pius von den Liberalen bejubelt ward, das Volk ihm
auf der Strasse Coraggio Santo Padre ! und Thiers von der Redner-
bühne Courage saint Pere zurief, zeigt sich die Abneigung dos
Pabstos gegen jeden entschiedenen Fortschritt, gegen eine Reform
an Haupt und Gliedern, die gerade für die Regierung des Kirchen-
staats dringend erforderlich war. Der Weihrauch der Popularität
behagte Pius IX., aber er zögerte stets wenn eine Reform, die ver-
langt wurde, durchzuführen war, er reizte das Verlangen des Volkes
ohne es zu befriedigen. Die Berichte Rossi's verdienen vollen
Glauben, wenn derselbe schreibt (28. Juni 1846): »On touebe k
tont, on se döcide in petto, on persövere dans ses r^solutions mais
on n'agit pas. Ce n'est pas l'idöal du gouvernement c'est le gou-
vernement ä 1*6* tat d'idee. — La popnlarite* du pape est entiere,
je crains seulement qu'il n'en abuse, croyant pouvoir s*y endormir
comme sur un lit de roses. Guizot ist von der Weisheit der Rath-
schläge die er damals dem Pabst ertheilte, so durchdrungen, dass
er sich nicht enthalten konnte die Politik des damaligen französi-
schen Ministeriums im Mai und Juniheft der Se'ances et travaux
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8T0
Guiaot: Mfcnoiree etc.
de l'Academie 1867 in den Himmel erbeben; um zu erweisen, wie
er stets die richtige Mitte zwischen den Extremen gehalten habe,
citirt er einen Brief, den Mazzini im Januar 1848 an ihn in die
Zeitungen drucken Hess, und einen anderen des Fürsten Metternich
vom 81. Oktober 1847, aus denen erhellt, dass sowohl Gegner wie
Klimpe des Bestehenden unzufrieden mit ihm waren.
Wenn man aber erfährt, dass Guizot und der König am Ende
Januar 1848 eine französische Truppenmacht in Toulon und Port-
VendrtB zum Einschiffen bereit hielten, welche dazu bestimmt war,
den bedrohten Pabst zu unterstützen, d. h. wie die Dinge schon
damals standen die weltliche Autorität des römischen Stuhls auf-
recht zu erhalten, so sieht man nicht recht ein, in wiefern eich
diese vielgerühmte Politik von der so getadelten Politik späterer
Herrscher zu ihrem Vortheil unterscheidet. Guizot sieht schliess-
lich sehr dunkel in die Zukunft Italiens. Krieg und Revolution,
so meint er, hätten den Italienern nur die eine grosse Wohl t hat
gebracht: Vertreibung der Fremden. Sie sei vielleicht zu gross.
Es gebe Erfolge, die ein Volk sich selbst danken müsse um stolz
darauf zu sein. Soweit können wir dem französischen Historiker
gerne beipflichten. Dagegen kommt sein papistisober Standpunkt
klar au's Licht, da er gleich darauf von Italien schreibt: Ses
exigences et ses coups envers la Papante et l'Eglise catholique
jettent, un epais nuage et un peril immense sur son avenir. Nock
deutlicher kennzeichnet sich Guizot als geheimer Anhänger der
Hierarchie in seiner Behandlung der Sonderbundstrage. Er erwähnt,
dass Louis Philippe eine sehr gute Meinung von den Schweizern
gehabt, aber den Radikalismus herb getadelt habe, der sioh eine
Stätte unter ihnen gesucht habe. Beau pays, me disait-il, et boa
peuple, vaillant, laborieux, econome, un fond de traditions et d'ba-
bitndes fortes et bonnetes. Mais ils sont bien malades; l'esprit
radical les travaille. Wir werden keinen Augenblick darüber im
Zweifel gelassen , dass Guizot vollkommen mit den Augen seines
Herrn sah und bemüht war diesen radicalen Geist, der sioh frei-
lich in diesem Falle mit Allem was lebenskräftig und Arisch in der
Schweiz war identifizirte, zu ersticken Die Aufbebung der Klöster
in Aargau erscheint ihm als höchst bedenkliches Symptom der
revolutionären Leidenschaft, welche die Schweizer ergriffen habe.
L'abolition des associations religieuses et la oonfisoation de leurs
bien, sont des violations flagrantes de la liberte* et de la propriete
Dass der grosse Rath von Luzern die Jesuiten berufen und ihnen
die öffentliche Erziehung im Kanton anvertraut, will Guizot nicht
gerade vertheidigen ; es erscheint ihm aber als ein kleines Ver-
gehen im Vergleich zu der Sünde des Radikalismus in Zürich, der
dortbin den berüchtigten Strauss berufen habe celebre par soi
hostilite contre l'histoire erangelique et le dogme chretien. Die
Stiftung des Sonderbunds wird bei dieser Anschauungsweise zu
einem Akt gerechter Nothwehr gegen die Attentate der radikalen
Partei; Guizot bringt sie in tendentioser Weise mit der Bratet-
Digitized by OoOQie
Guliot: MÄmoiret etc.
871
düng Jacob Lena von Eber so! in Verbindung. Au touffle de Tin-
diguation populaire le parti menace resolut de se uiettre en defense
et de s'organiser. Er findet , das» diese allerdings exceptionellen
Bündnisse innerhalb eines Staatenbundes doch nicht ohne Präce-
denzfall in der Schweizergeschichte selbst gewesen seien. Er halt
den Tadel über das Vorgehen der Majorität des Bundes gegen diese
Minorität nur mühsam zurück, wenn er sich auch zu der Kühn-
heit des Fürsten Metternich nicht aufschwingen kann, der in die-
ser Frage von Anfang an seinen Frincipien getreu auf die Inter-
vention zu Gunsten des Sonderbunds losgesteuert war. Als die
Akkession des Kanton St Gallen zu den »radikalen Kantonen«
die Bildung einer zum Aeussersten, zum Krieg gegen den Sonder-
bund entschlossenen Majorität gesichert hatte , schlug Metternich
vor zu erklären, >dass die Mächte nicht dulden werden, dass die
cantonale Souveränetät verletzt werde.« Aber Guizot rousste erst
dnreh den vollkommen klerikal gesinnten Gesandten Boisle Comte,
den er taktlos genug bei der Eidgenossenschaft akkreditirt hatte,
zu ähnlichen Kreuzzugst baten angespornt werden. Dieser verlangte
sogar am 6. Jannar 1647, dass ihm die Operationsarmee, welche
in der Schweiz interveniren sollte, vollkommen zur Bisposition ge-
stellt werde. Er gehe davon aus, dass die Intervention im Fall
des Bürgerkriegs entschieden sei. Aber es sei sehr zu wünschen,
dass die Sache sich nicht in die Länge ziehe; denn sonst sei er
in völliger Abhängigkeit von den drei nordischen Mächten. Damit
hatte Boisle Comte die Lage in der Tbat richtig charakterisirt.
Er setzte voraus, dass Guizot ebenso handeln werde, wie er
sprach. Aber zwischen That und Wort ist der Abstand nirgends
weiter als bei einem so vollendeten Doktrinär wie der damalige
franzosische Minister war. Er hatte wohl den Ehrgeiz, aber ihm
fehlte die Bosheit um mit Lady Macbeth zu reden. Darin liegt die
Ueberlegenheit der konsequenteren Politik des Fürsten Metternich;
desshalh empfand ein so fanatischer Anhänger des Pabstes und der
Jesuiten, wie Boisle Comte, es schwer, dass er, anstatt energisch im
klerikalen Sinne vorzugehen, seine Impulse erst von den Nord-
mächten holen musste. Guizot machte vielmehr jetzt vergebliche
Versuche die Grossmächte zu einem Collectivschritt beim Bund zu
vermögen. Die religiöse Frage, die die Schweiz tbeile, solle dem
Schiedsspruch des Pabstes, die politische Frage der Vermittlung
der Grossmächte anheimgegeben und dadurch der Ausbruch der
Feindseligkeiten in der zwölften Stunde verhütet werden. Nun
aber zeigte sich , dass die Ostmächte zwar einverstanden waren,
Metternich sogar die identische an den Bundesrath zu richtende
Note zu gelind fand, dass aber Palmerston sich gegon jeden Col-
lectivschritt sträubte und Gnizot's schwaches Drohen zu stark fand.
In Berlin nannte man nun freilich Palmerston einen Revolutionär, in
Wien liess man dem Aerger über die englische Politik vollen Lauf.
Während aber die Grossmächte Uber die Abfassung der Note hin und
her haderten, handelten die Schweizer, und die Guizot'sche Politik
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872
Guizot: Memoire« etc.
sah sich durch das Resultat, durch den völligen Sieg der Eidge-
nossenschaft schliesslich um die Frucht ihrer so lange sorgfältig
gehegten Vermittlungsweisheit gebracht.
Lord Palmerston hatte nur eine richtige Witterung der Er-
eignisse, da er sich weigerte die Kastanien für den Pabst and die
Jesuiten aus dem Feuer zu holen ; und aus den Gesprächen die er
mit dem Herzog von Broglio über die beabsichtigte grossroächtliche
Vermittlung hatte, leuchtet die Einsicht in die Schwachen der son-
derbündischen Sache für einen Jeden dor nicht mit Guizot'seber
Brille sieht, klar hervor. Guizot aber findet unerklärliche Wider-
sprüche in der britischen Politik, und es nimmt sich deshalb
sonderbar genug aus , wenn er dieselbe für das eigene Mil-
lingen verantwortlich macht, und schliesslich berichtet, dass im
selben Augenblick, wo die identische Note endlich ausgebeutet wer-
den sollte, Lord Palmerston Herrn Peel Befehl gegeben habe, Gene-
ral Dufour davon zu benachrichtigen und ihn zu drängen, dass er
die Einnahme Luzerns beeile; damit wenn die Note eintreffe der
Krieg bereits aus und die Vermittlung ohne Gegenstand sei. Dieser
Hergang ist freilich auch ohne das Geständniss Peel's, das Gnizot
anführt auf Treu und Glauben anzunehmen , und das Erstaunliche
ist nnr das Staunen Guizot's über den Streich den ihm die eng-
lische Politik gespielt hatte. Dass die grosse Diplomatie, die er
begonnen ihr Spiel würdig fortsetzte, den Sonde; bund, auch da er
geschlagen war, anerkannte, und dass erst die grösseren Begeben-
heiten des Jahres 1848 dem diplomatischen Schmollen das Guizot
angesichts der vollendeten Thatsachen beliebte, und der Spannung
zwischen Frank reich und der Schweiz ein Ende machte ist bekannt:
weniger bekannt, dass Guizot in der That noch jetzt mit der mo-
ralischen Mitschuld an dem ganzen Ausgang auch in den Augen
der Sonderbündler behaftet ist, die es ihm nie vergessen haben,
dass er seinen Sekretär Hamon in ihr Lager sandte und ihnen den
Wunsch aussprechen Hess, dass sie den Kampf bis aufs Aeusserste
fortsetzten (Siegwart III, 955). Guizot ist geneigt die Angelegen-
heit des Sonderbundes als geringfügig darzustellen: aber sie be-
deutete immerhin eine energische Zurückweisung aller Interventions-
gelüste und damit eine völlige Niederlage seiner eigenen Politik, die
freilich minder entschlossen und minder klar war als die des öster-
reichischen Staatskanzlers. Dass er seinen eigenen Sturz und die
Februarrevolution zu guter Letzt in einer Weise darstellt, die uns Louis
Philippo als das Ideal eines Königs, Guizot als das Ideal eines liberalen
Ministers, und Frankreich als einen Tummelplatz rasender Leiden-
schaften erscheinen lässt, ist nach Allem Vorausgehenden nur allzn
erklärlich. Die Doktrinärs sind ja nach Guizot's eigener Definition
die grossen politischen Wohlthäter Frankreichs, die nur verlangen,
»dass Frankreich aus dem Chaos tauche, in welches die Nation
gestürzt war, und dass es den Blick wieder gen Himmel richte,
um dort das Licht zu suchen.«
C. Mendelssohn-Bartholdv.
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Martins: Von Spitzbergen zur Sahara.
878
Von Spitsber gen sur Sahara. Stationen eines Naturforschers
in Spitzbergen, Lappland, Schottland^ der Schweiz, Frankreich,
Italien, dem Orient , Aegypten und Algerien. Von Charles
M ar tins , Professor der Naturgeschichte su Montpellier , Di-
rektor des botanischen Gartens u. s. w. Auforisirte und unter
Mitwirkung des Verfassers übertragene Ausgabe für Deutsch'
land. Mit Vorirort von Carl Vogt. Aus dem Französischen
von A. Bartels. Jena, Hermann Costenoble. 1868. Erster
Band XX und 354 8. Zweiter Band. VI und 333 S. gr. 8.
Scbon aus dem hier wörtlich mitgetheilten Titel mag die
Mannichfaltigkeit der in diesen beiden Blinden behandelten Gegen-
stande entnommen werden. Und doch führen sie alle anf einen ge-
raeinsamen Mittelpunkt zurück; es sind lauter naturwissenschaft-
liche Schilderungen, die das Selbsterkannte und Erlebte getreulich
wiedergeben sollen, und zwar in einer auch für ein grösseres ge-
bildetes Publikum , als das der Fachgelehrten , geeigneten Form.
Alle die Gegenstände, die hior zur Sprache kommen, sind von dem
Verf. erst wissenschaftlich behandelt worden und haben den Stoff
za einer Reihe von Aufsätzen geliefert, welche in verschiedenen
gelehrten Zeitschriften nach ciuander erschienen sind ; sie erschei-
nen hier in einer »einfachen Uebortragung in gewöhnliche Sprache
von rein wissenschaftlichen Abhandlungen.« Aber der Verfasser
bezweckt damit nicht sowohl die angenehme Unterhaltung des ge-
bildeten Lesers, sondern er war stets dabei bemüht ihn zu beleh-
ren ; und in diesem Sinn mag man insbesondere die eben so lehr-
reichen als anziehend geschriebenen und daher auch wohl unter-
haltenden Aufsätze Über die vormaligeu und jetzigen Gletscher
von Spitzbergen, der Alpen und der Pyrenäen, und Anderes der
Art betrachten. Die in beiden Bänden enthaltenen Darstellungen
beziehen sich auf die physische Geographie im weitesten Sinne des
WorteB (S. XVI), vorwiegend ist allerdings dabei »die Pflanzen-
geographie oder die Kunde von den Gesetzen dor Pflanzenverthei-
lung auf der Oberfläche der Erde. Diese Gesetze knüpfen sich an
die der Meteorologie, der physischen Geographie uud der Geologie,
welche abwechselnd citirt und angewandt werden. Nach der Pflan-
zengeographie sind die Gletscher seit fünf und zwanzig Jahren der
Gegenstand meiner Studien und Reisen gewesen, und zwar hat mich
eben so sehr die Frage über ihre ehemalige Ausdehnung wie die
gegenwärtigen Erscheinungen derselben beschäftigt.« Also spricht
sich der Verfasser über den Inhalt und Gegenstand seines Werkes
aus : gern wird aber der gebildete Leser, wie der Fachmann seinen
anziehenden Darstellungen von dem Nordpol, von Spitzbergen, und
bis zur Sahara und zur Sonnenglut Africa's folgen, und angenehme
Belehrung daraus gewinnen : denn die Ergebnisse der Wissenschaft,
zunächst auf Reisen in den verschiedensten Weltgegenden , an Ort
und Stelle gesammelt, in allgemein verständlicher Weise darzu-
legen, war ja der Zweck des Verfassers: und wir dürfen wohl an-
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874
Martins: Von Spltibergen rar Sahara.
Dehmen, dass er diesen Zweck auch erreicht hat. Nicht ohne Be-
friedigung und vielfache Belehrung wird man die Schrift ans der
Hand legen.
Der erste Band beginnt mit dem, was in fast allen einzelnen
Abschnitten mehr oder minder zur Sprache kommt, mit einer Ein-
leitung, welche über die Pflanzengeographie und deren neueste Fort-
schritte sich verbreitet : dann folgt das von dem Verf. selbst besuchte
Spitzbergen in einer eingehenden Schilderung, welche zuerst die
Entdeckung und Erforschung dieses Nordlandes darstellt, dann das
Klima, die physische und geologische Beschaffenheit, und die ganze
Flora, diese sehr genau, wie die Fauna bespricht; daran schliesst
sich passend das Nordkap von Lappland und ein wissenschaftlicher
Winteraufenthalt in Lappland mit all den während desselben
unternommenen wissenschaftlichen Untersuchungen in meteorologi-
scher Hinsicht, über Temperatur, atmosphärischen Druck, Nordlicht,
Erdmagnetismus u. s. w. Von dem Orte des Aufenthalts , Bosse-
kop, einer kleinen Handelsniederlassung, wird S. 147 ein schönes
landschaftliches Bild entworfen. Es mag erlaubt sein, einige Züge
dieses Bildes hier wörtlich wiederzugeben.
»Haramerfest verlassend, dringt der Reisende, welcher sich nach
Süden wendet, durch ein enges Gat in den Fjord von Alten. Eine
Zeit lang bemerkt er nur grünende Abhänge, deren dichtes Gras
bis ans Ufer binabzieht und sich mit den Tangen vermischt. Bald
aber erheben sich schroffe Felsen um ihn herum, und ihr von dem
klaren Gewässer zurückgeworfenes Bild scheint die Höhe der Steil-
ufer zu verdoppeln. In spärlichen Zwischenräumen verrathen leichte
Bauch säulen die Hütte eines einsamen Lappen. Ein am Strande
aufgelaufener Nachen und einige an der Sonne trocknende Schell-
fische, an langen Stangen aufgehängt, künden den Aufenthalt eines
armen norwegischen Fischers an. Im Allgemeinen aber ist das Ufer
verlassen, und der traurig umherschweifende Blick entdeckt nicht
einmal einen Baum, der mit seinem regelmässigen Wiegen diese
regungslose Natur belebte. Tiefes Schweigen, nie vom Rascheln
des Laubes unterbrochen, herrscht in dieser Einöde. Nor selten
fliegen plumpe Eidergänse , in einsamen Seitenbuchten versteckt,
geräuschvoll auf und zerstreuen sich in der Ferne, auf den Ge-
wässern hingleitend, oder ein schäumender Wasserfall braust in-
mitten der Felsen. Eine Weile vernimmt man sein eintöniges Bau-
schen, dann beim Umbiegen um ein Vorgebirge bricht es plötzlich
ab und gleicht nur noch einem fernen Murmeln, das sich endlich
in Schweigen verliert. Oft löst sich ein schwarzes und kahles Kap
von der Küste ab und scheint den Hintergrund des Meerbusens zu
versperren , allein je mehr sich das Boot nähert, desto mehr öffnet
sich die Durchfahrt vor ihm und ein weites Becken nimmt es in
seine ruhigen Gewässer auf. Hat man endlich einen grossen, au?
sonderbar gewundenen Schichten gebildeten Felsen umschifft, so
lässt der Wind nach, das erschlaffte Segel hängt am Mast herunter
und der Nachen steht von selbst im Hintergrunde einer Bai von
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Martine: Voo Spitzbergen «ur Bahara. Ö76
geringer Tiefe still, deren anmuthige Krümmung sich am Ufer ent-
faltet. Einige Magazine umgeben den Landungsplatz, und die am
Abhänge eines langen Hügels zerstreuten Wohnungen scheinen den
Reisenden einzuladen, sich daselbst ein Unterkommen zu suchen.
Es ist das Dorf Bossekop. Der Distriktsvorsteher und ein paar
norwegische Kaufleute, welche mit den Lappen Handel treiben, be-
wohnen diese bescheidenen Holzhäuser. Hinter dem Dorfe dehnt
sich ein grosser Kiefernwald aus, unter dessen Schatten Wachbol-
der, Haidekräuter, Heidelbeeren und andere die Kälte hebende
Pflanzen wachsen. Durchschreitet man den Wald in östlicher Rich-
tung, so gelangt man wieder an die stets ruhigen und klaren Ge-
wässer des Fjords. Gegen Süden sind Torfmoore, auf denen einige
verkrüppelte Kiefern sich hervorwagen, aber unter dem feindlichen
Einflüsse dieses schwammigen und feuchten Bodens in buschförmi-
gem Zustande verharren. Weiterhin entdeckt man den Altenfluss,
welcher zwischen den sandigen Ufern, die er sich selbst geschaffen,
majestätisch dem Eismeere zuströmt. Ueberall am Horizonte hohe
schneebedeckte Berge und bei jeder Wegbiegung unerwartet der
Fjord, dessen bläuliche Gewässer sich zwischen die Flächen des
Bildes drängen. In den seltenen Augenblicken, wo die Sonne nicht
durch Wolken verhüllt wird, ist diese Landschaft denjenigen ver-
gleichbar, welche die Seen der Schweiz und des südlichen Norwegens
einrahmen. Wie schön dünkte sie mich, als nach der Rückkehr
von Spitzbergen mein so lange vom Anblick schwarzer Felsen und
schneebedeckter Ufer betrübtes Auge sich an diesem lachenden An-
blick erquicken konnte! Wie mir die Bäume hoch und dicht, der
Rasen grün, die Luft milde und mit harzigem Duft der Kiefern
lieblich erfüllt schien! Aber leider hüllt zumeist ein Nebelschleier
die ganze Gegend ein, oder ein lichtloser Tag entfärbt das Bild;
denn die stets dicht am Horizonte verweilende Sonne vermag mit
ihren bleichen Strahlen die Wolken, welche der Seewind beständig
auf den Bergen ansammelt, nicht zu durchbrechen.«
Ein ähnliches, eben so anziehendes landschaftliches Bild gibt
uns die S. 190 ff. daran sich reihende »Reise in Lappland vom Eis-
meer bis zum Bottuischen Meerbusen.« Die Reise ward im Septem-
ber unternommen, weil diess in der schönen Jahreszeit fast die
einzige Zeit ist, in welcher man eine Reise durch Lappland unter-
nehmen kann, wenn man nicht — vom 20. November bis 30. April
— in einem mit Rennthieren bespannten Schlitten die Reise machen
und allen Beschwerden, welche die strenge Kälte wie der Schnee
verursacht, sich aussetzen will. Denn in den nächsten Monaten, wo
der Schnee schmilzt, ist eine Reise kaum ausführbar. Als der Ge-
birgsrücken überschritten war, gelangten die Reisenden auf ein
breites Plateau, von welchem S. 196 folgende Schilderung gegeben wird.
»Nichts vermag eine Vorstellung von dem öden und doch gross-
artigen Anblick dieser Hochebene zu geben. Die breiten wellen-
förmigen Erhebungen des Terrains folgen sich unabsehbar stets
in derselben Art. Selten unterbricht ein Fels mit schloffen For-
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876
Martins: Von Spitrbergen *ur Sahara.
men, die allgemeine Bodenfläcbc überragend, auf Augenblicke die
Einförmigkeit der Landschaft. Ueberall ist der Fels nackt , nur
hier nnd da verstecken sich verkrüppelte Büsche der Zwergbirke
und einige noch niedrige Gewächse in den Bodenfalten, wo sie ge-
schützt sind gegen die eisigen Winde, welche sich auf diesen ent-
blösten Flächen frei umhertummeln. Einsame Seen schlummern in
den grossen Bodensenken. Die einen, von ungeheurer Ausdehnung,
tragen noch zur Einförmigkeit dieses Anblicks bei. Die andern,
kleiner, vermögen ihn nicht zu beleben, denn kein Baum, kein Kraut
badet seine Wurzeln in ihren gelblichen Gewässern , kein Weich-
thier kriecht an ihren nackten Gestaden, kein Vogel bestreicht mit
schnellem Fittich ihre Oberfläche, nur ihre Tiefen sind von zahl-
reichen Fischen bewohnt, zu deren Fange die Lappen im Herbst
hierher kommen. Während des Sommers steigen Myriaden von
Schnaken aus diesen Seen auf und verbieten dem Reisenden die
Wanderung über dieses Plateau. Im Winter gefriert Alles, und
acht Monate lang verschwinden Erde und Wassor unter einem
Leichentuch von Schnee. Das Gefühl der Einsamkeit und Verlas-
senheit beschleicht den Reisenden, welcher diese Wüsten des Nor-
dens durchzieht. Nichts um ihn her lebt, Alles ist still und todt
Stets im Mittelpunkt einer Landschaft, die sich nicht verändert,
stets in derselben Richtung die Schneekuppen der fernen im Westen
sich verlierenden Lyngenkette vor sich , möchte er fast glauben,
er komme nicht vom Fleck, sondern drehe sich unaufhörlich in
eiuem magischen Kreise. <
Nun folgt ein Aufsatz über die Pflanzenbesiedelung der briti-
schen, der Shetland- und Faröerinseln, sowie Islands, S. 222 ff. nnd
ein Bericht über die Zwanzigste Versammlung der brittischen Ge-
sellschaft zu Edinburg im August 1851. S. 239 ff. Der Rest dieses
Bandes ist den Alpengletschern gewidmet, und enthält eine Reihe
von Betrachtungen und Erörterungen über die jetzigen Gletscbei
der Alpen, wie über deren frühere Ausdehnung in den Ebenen der
Schweiz und Italiens. Hiernach erfüllte der Rhonegletscher einst
>das ganze heutige Wallis und dehnte sich in der zwischen den
Alpen und dem Jura liegenden Ebene vom Fort l'Ecluse bei der
Perte du Rhöne bis in die Umgegend von Aarau aus. Er war der
Hauptgletscher der Schweiz; er hat jene zahllosen Blöcke, welche
den Jura bis zur Höhe von 1040 Meter über dem Meere bedecken,
verführt. Die übrigen Gletscher waren nur schwache Zuflüsse des
Rhonegletschers, unfähig, ihn von seiner Richtung abzulenken. So
erkennt man , wenn der Arvegletscher ihm auf dem Kamme der
Sarves oder an den Abhängen der Voirons begegnet, an der Ver-
theilung der Moränen, dass der Rhonegletscher seinen Marsch fort-
setzt, während der dor Arve plötzlich stillsteht. Desgleichen drängt
ein reissender Strom das kleine Bächlein zurück, welches ihm den
Tribut seiner Welle zuträgt.
Die übrigen sekundären Gletscher nahmen die Haupttbäler der
Schweiz ein. Dergleichen waren die Aargletscher, dessen letzte
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Martins: Von Spitzbergen *ur ßahara.
877
Moränen die Hügel in der Umgegend von Bern krönen. Der Reuss-
gletscher, welcher die Ufer des Vierwaldstättersees mit den den
Spitzen des St. Gotthard entrissenen Blöken bedeckt hat. Der Linth-
gletscher hielt am Ende des Züricher Sees inne, und die Stadt ist
auf der Endmoräne desselben gebaut. Der Rheingletscher endlich,
weniger als die andern untersucht, nahm das ganze Becken des
Eonstanzer Sees ein und dehnte sich bis zu den Grenzpartien Deutsch-
lands aus.
So war also während der Kältezeit, welche dem Erscheinen
des Menschen auf der Erde gefolgt ist, die Schweiz ein mächtiges
Eismeer, dessen Wurzeln sich in die Hochthäler der Alpen senkten,
während die Endböschung sich auf den Jura stützte. Desgleichen
stiegen auf dem Südabhange der Kette die Gletscher in die Ebenen
Piemonts und der Lombardei hinab. Die der Südseite des Mont-
blanc vereinigten sich, um den Gletscher des Aostathales zu bilden.
Die Endmoräne desselben erhebt sich wie ein riesiger Damm in
der Umgegend der Stadt Ivrea, es ist die Serra von Piemont.
Dio Mehrzahl der Seen Oberitaliens verdankt ihr Daseiu den Stirn-
wällen dieser grossen Gletscher; indem sie den Lauf der Flüsse
stauten, zwangen sie dieselben, sich unter der Form stiller Wasser-
spiegel auszubreiten. Unter den hervorstechendsten Moränen will
ich die drei konzentrischen Bögen erwähnen, welche das Ende des
Lago Maggiore bei Sesto Oalende umschreiben ; die des Gardasees
sind nicht minder gut in der Nähe von Desenzano und Peschiera
charakterisirt. Die Schlacht von Solferino ist auf diesen alten
Moränen geliefert worden, die Oesterreichor hatten die Höhen der-
selben besetzt« u. s. w. Wir können nach Mittheilung dieser Probe
nicht in das weitere Detail uns einlassen, müssen aber noch der
beiden Besteigungen des Montblanc gedenken, deren Erzählung von
S. 298 an den Rest des Bandes füllt. Zuerst wird die am 1. August
1787 von Saussure unternommene erstmalige Besteigung des Mont-
blanc in anziehender Weise beschrieben und dann der sieben und
zwanzig Besteigungen dieses Berges gedacht, welche in den Zwi-
schenraum von sieben und fünfzig Jahren (1787 bis 1843) fallen;
von 1844 an bis zu Ende des Jahres 1863 haben sich diese Be-
steigungen in dem Grade vermehrt, dass die Gesammtsumme auf
nicht weniger als hundert ein und siebenzig sich beläuft. Von be-
sonderem Interesse ist aber die eingehende Beschreibung der wissen-
schaftlichen Besteigung, welche der Verf. selbst im Spätsommer des
Jahres 1844 mit einigen Freunden unternahm. Zweimal wurde der
Versuch gemacht; Unwetter, welche jedes Weitergehen unmöglich
machte, nöthigte zur Umkehr, ehe noch der letzte Gipfel erreicht
war: erst zum drittenmal gelang diess, nachdem die Gesellschaft
in der Nacht des 27. Augusts aufgebrochen, und am folgenden Tage
ein und drei viertel Uhr glücklich den Gipfel erreichte. Nach län-
gerem Verweilen auf dem Gipfel, wie es der wissenschaftliche Zweck
des Ganzen mit sich brachte, machte man sich erst gegen Abend,
Us die Sonne unterzugehen begann, auf den Rückweg, der auch
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878
Martins: Von Spitzbergen sur Sahir».
ohne allen Unfall vor sich ging. Wir überlassen es dem Leser du
Schilderung dieses Verweilens anf dem Gipfel und die Eindrücke,
welche die Betrachtung der grossartigen Naturerscheinung hervor-
rief, und die wissenschaftlichen Erörterungen, welche sich daran
knöpften, in der Schrift selbst nachzulesen, um noch Einiges über
den Inhalt des zweiten Bandes zu bemerken, der uns in eine mm
Theil ganz verschiedene Welt führt und andere Darstellungen bringt,
denen ein gleiches Interesse nicht abgeht. Zuerst eine kurze Er-
örterung über die Sohneemaus und eine weitere Betrachtung über
die Ursachen der Kälte auf den Hochgebirgen , darauf ein Beriebt
über die Versammlung der schweizerischen natnrforschenden Gesell-
schaft im August 1863 zu ßamaden im oberen Engadin. Eine ein-
gehende wissenschaftliche Untersuchung ist dem Mont Ventoui in
der Provence gewidmet (S. 94— 134) mit besonderer Rücksicht
auf die Erscheinungen in der Pflanzenwelt; daran schliesst sich
eine Beschreibung der »Crau oder der französischen 8aharac, unter
welchem Namen eine zwischen der grossen Rhone und den Vor-
alpen im Norden, den Hügeln von Salon und Saint-Cbamas im
Süden sich ausbreitende Ebene von 980 Quadratkilometern Ober-
flache begriffen wird. »Die Bodenfläche ist vollständig mit dicken,
ovalen, auf einer röthlichen , sehr fein zertheilten Erde ruhenden
Kieseln bedeckt. Während der Sommerhitze erscheint dieser Bodes
völlig kahl und jeglicher Vegetation beraubt; indem die Sonne mit
ihren Gluten die aufgehäuften Kiesel erhitzt, dehnt sich die Luft
bei der Berührung mit denselben aus, und das Phänomen der Luft-
spiegelung ist in der Crau ebenso gewöhnlich wie in den Wüsten
Afrikas. Der Reisende, den der Dampf durch diese dörre Ebene
dahinträgt, erblickt in der Perne Bäume und Häuser, deren Fuss
vom Wasser bespült wird, und der Spielbail einer Tftusohung, glaubt
er das Meer zu gewahren, von dem er noch weit entfernt ist. Wen»
aber die in Strömen aus den vom Südwinde anfgethürmten Wolken
herabfallenden Herbstregen diesen steinigen Boden erfrischt und
befeuchtet haben, so spriessen feine Gräser zwischen den Kieseln
hervor; der Thymian, von der Sonne verbrannt, erwacht wieder
zum Leben, und die von den Alpentriften, welche die Entholznng
der provenzalischen Alpen verschont hat, herabkommenden Schafe
finden in diesen kurz vorher noch entblössten Ebenen eine reich-
liche Weide. Im Frühling lassen ebenso starke, ebenso anhaltende
Regengüsse, wie die im Herbst, noch einmal diese Kräuter zwischen
diesen Kieseln hervorspriessen , welche der Schnee nur ein paar
Stunden lang im Winter bedeckt. Von der Eisenbahn aus bemerk*
man hier und da lange und niedrige Schafställe , wo die Mutter-
schafe während der kalten Nächte der rauhen Jahreszeit Schott
und Obdach finden. Anfangs Juni aber setzt sich das Heer der
Hirten in Bewegung, um das Gebirge zu gewinnen, von dem es
Ende Oktober zurückkehrt« (S. 136). Der Verf. zeigt, wie schon
im Alterthum die Beschaffenheit dieses kieselartigen Landstriches
die Aufmerksamkeit erregte, ja er bringt damit selbst die Sagen
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Martini: Von Spitzbergen xn Sahara.
879
in dem befreiten Prometheus des Aeschylus in Verbindung, wor-
nacb die Kiesel, welche diese Fläche bedecken, vom Himmel herab-
gefallen, als Jupiter seinem Sohne Herkules im Kampf mit den
Liguriern durch einen Steinregen, den er vom Himmel fallen lässt,
zu Hülfe eilt, um seine Feinde zu vernichten: daher die Bezeich-
nung Campus lapideus sive Herculeus, welche im Alterthum dieser
Ebene gegeben ward , deren geologische Verhältnisse hier näher
untersucht und besprochen werden. A eh nl icher Art ist der folgende
Abschnitt, der uns mit einemmal zu den Pyrenäen führt und einen
geologischen Ueberblick Uber das Vernetthal bringt und damit eine
Untersuchung verbindet, welche die Unterscheidung der ächten von
den unächten Moränen in den Östlichen Pyrenäen zum Gegenstand
hat. S. 165 ff. folgt dann die Galilei tribune zu Florenz, und S. 178 ff.
ein botanischer Spaziergang längst der Küsten von Kleinasien,
Syrien und Aegypten: nacheinander werden Malta, Syra, Smyrna,
Bosporus, Bujukdere, Rhodus, Pompejopolis, Alexandretta, Latakieh,
Tripoli, Beyrut, Jaffa, Alexandrien, Kairo und die Pyramiden be-
sucht und neben andern ansprechenden Reisebildern insbesondere die
Verhältnisse der Pflanzenwelt an diesen Orten besprochen. Der
Akklimatisationsgarten von Hamma bei Algier, im Jahre 1852 und
zwölf Jahre später, im Jahre 1864 ist der Gegenstand eines ande-
ren Abschnittes S. 221 ff. Dann kommt der Wald von Edough bei
Bona S. 240 ff. Den Beschluss des Ganzen macht ein > physisches
Gemälde der Östlichen Sahara in der Provinz Konstantin S. 248 ff.,
bei welchem insbesondere die Wüstenregion, die Formen der
Wüste, die Oasen, das Leben in der Wüste u. dgl m., von dem
Standpunkt des Naturforschers aus, in Betrachtung gezogen,
aber auch die Reiseerlebnisse in gleicher Weise geschildert wer-
den, insbesondere das Leben in dieser africanischen Welt in ein-
zelnen Zügen vorgeführt wird. Wir erlauben uns auch hier den
Schlnss S. 329 ff. mitzutheilen , und schliessen damit auch unsern
Bericht, durch den wir jedem gebildeten Leser ein Werk empfeh-
len möchten, »das, wie der Vorredner am Schlüsse seines Vorwortes
bemerkt, in anmuthiger Form und tadelloser Darstellung seine
Kenntnisse bereichern, seine Anschauungen erweitern und vielleicht
selbst ihn zu Gebieten führen wird, die ihm bisher unbekannt blieben. c
»Solcher Art, schreibt unser Verf. a. a. 0., war unser Leben in
der Sahara beschaffen; ein schöner Himmel, eine massige Temperatur,
einige RegenfUlle, von denen die Wüste wieder ergrünte, trugen noch
zum Reiz der Reise bei. Jeden Tag boten sieb unserm Anblicke gross-
artige Schauspiele dar. Bald war es die Unermesslichkeit eines gren-
zenlosen Plateaus, breite Thäler, grosse Seen, mannichfach geformte
Dünen, eine fruchtbare Oase, von Dörfern gedeckt, die mit malerischen
Befestigungen umgeben waren. Der Anblick der fernen Gebirge fügte
diesen Ansichten einen unaussprechlichen Reiz hinzu. — Das Schau»
spiel, welches der Himmel bot, war nicht minder interessant als das
der Erde. Auf dem Meere und in allen flachen Ländern, wo die Him-
molskuppel sich über einer ebenen Fläche ohne Erhabenheiten und
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880
Martins: Von Spitzbergen m Sahara.
»
Unterbrechungen rundet, lenkt der Mensch seine Blicke gen Him-
mel; der Anblick der Wolken, der Sonne, der Morgenröthe, der
Dämmerung, der Gestirne ersetzt den Anblick der Fernen der Erde,
der Flüsse, der Seen, der Hügel und der Berge. Jeder Sonnenunter-
gang war ein Fest für unsere Augen, ein Staunen für nnsern Ver-
stand, namentlich wenn die Atmosphäre nicht völlig heiter war.
Die Färbungen sind dann lebhafter und mannichfaltiger. Je mehr
das Gestirn sich dem Horizonte nähert, befransen sich die grauen
und zersausten Wolken des Himmelsgewölkes, die letzten Ausläufer
der nordischen Nebel, mit mehr oder minder intensiven Purpur-
tinten, während die gerundeten Umrisse der weissen, auf den fer-
nen Bergspitzen ruhenden Wolken sich mit einem hellleuchtenden,
gelben Streifen besäumen und in das Gold eingerahmt zu sein
scheinen, welches den Abendhimmel erfüllt. Sobald die Sonne unter
den Horizont gesunken ist, verbreitet sich eine ungemein sanfte
Eosatinte über den ganzen westlichen Himmel. Ein Ansfluss des
verschwundenen Gestirns , färbt sie alle Gebirge. Eins derselben,
von Biskra aus sichtbar, heisst Dschebel Harn mar- Kreddu (der
Bosenwangenberg) ; er verdient diesen Namen, denn noch lange nach
dem Untergange der Sonne bewahrt er einen rosigen Abglanz, gleich
dem Inkarnat auf den Wangen eines jungen Mädchens. Durch einen
Kontrasteffekt mit dem Roth nimmt das Blau des Himmels eine
wassergrüne Farbe an. Allmälig erbleicht das Rosa, der helle Bogen
zieht sich zusammen ; allein das Licht, welches ihn erleuchtet , ist
weiss und rein wie das, welches im Aether jenseits der Grenzen
unserer Atmosphäre glänzen mnss. Dank der Durchscheinenheit der
Luft sind alle Umrisse der irdischen Gegenstände vollkommen be-
stimmt. Die feinen Einschnitte der Palmenblätter werden sicht-
barer als am hellen Tage, und wenn der Baum sich völlig auf die-
sen wechselweise gelben , rothen und weissen Hintergründen ab-
hebt, so scheint es, als ob die Poesie dieses edlen Gewächses sich
dem Auge zum ersten Male enthülle. Indess wird es Nacht. Zu-
erst kommen die Planeten, dann die grossen Sternbilder zum Vor-
schein, der Himmel bevölkert sich mit Myriaden von Gestirnen,
sein Gewölbe erhellt sich; die Milchstrasse, in den hohen Breiten
eiu weissliches und verloschenes Band, scheint eine über die Him-
melskuppel geworfene Schärpe funkelnder Diamanten zu sein. Der
Mond ist nicht mehr jenes fahle Gestirn , desseu melancholischer
Blick die Schwermuth unserer nebeligen Länder mitzuempfinden
scheint, sondern eine glänzende Scheibe vom reinsten Silber, welche
die Strahlen, die sie empfängt, ohne sie abzuschwächen, zurück-
wirft, oder eine Sichel, vervollständigt durch das Halblicht, welches
sichtlich die Umrisse dos vollen Balles abzeichnet. Das war der
Sonnenuntergang des 13. Dezember 1863 am Tage vor unserer Ab-
reise von Biskra, er bewegte uns tief, es war unser Abschied von
den Abenden in der Wüste, c
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». 66. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Verhandlungen des naturkistorisch - medizinischen
Vereins zu Heidelberg.
1. Vortrag des Herrn Professor Friedreich: »Ueber
wichtige auskultatorische Phänomene«,
am 1. März nnd am 27. Mai 1867.
2. Vortrag des Herrn Professor Weber: >üeberdas
epidemische Vorkommen der Rose«, am 3. Mai 1867.
(Nach dem Protokolle.)
Herr Prof. Weber sprach über das epidemische Vorkommen der
Rose. Ausgehend von dem durch die Hospitalkrankheiten veranlass-
ten schlechten Credit der Heilanstalten, hat der Vortragende das
in den letzten Jahren häufigere und gefährlichere Vorkommen der
Rose genauerer Untersuchung unterworfen. Er glaubt zunächst
nachweisen zu können, dass eine grosse Anzahl sogenannter spon-
taner Rosen doch von Eitorresorption kleiner oder versteckter Ge-
schwüre herrühre. Die traumatischen Rosen können nicht allein von
bösen, sondern auch vou ganz gut aussehenden Wunden ausgehn.
Dio Rose muss aus verschiedenen Ursachen entstehn. In einigen
Fällen handelt es sich einfach um Lymphangitis, deren eigenthüm--
liebes Wandern allerdings seltsam und kaum durch Bilroth erklärt
ist. Der lokale oder epidemische Charakter, die Ansteckbarkeit sind
kritisch. Ist nun das epidemische Erysipel identisch mit dem trau-
matischen, ist es, wie Roser meint, ganz analog mit Pyaemie? Ge-
nauere Untersuchung kann über diese Frage allein Klarheit geben.
Fälle von Erysipel kommen unter ähnlichen Verhältnissen wie in
dem Hospital auch unter den aller unschuldigsten Umständen ausser-
halb desselben vor. Bevor der Vortragende die Frage, ob vielleicht
die erysipelatöse Epidemie demnach im ganzen Lande, nicht blos
in den Spitälern verbreitet sei, weiter untersucht, spricht er noch
von der Mortalität dieser Krankheit. Kaum ein einziger Todesfall
konnte eigentlich auf die Krankheit selbst geschoben werden, wenn
man die an späterer Pyaemie nicht in Rechnung nimmt. Die Ge-
storbenen hatten dem Vortragenden schon in Bonn akute Nephritis
und Hepatitis bis zum Zerfall der Sekretionszellen , wie bei akuter
gelber Leberatrophio gezeigt; das wiederholte sich bei den hiesigen
Sektionen der später gestorbenen und jedenfalls spielen diese Er-
krankungen bei den tödtlich verlaufenden Fällen eine grosse Rolle.
LX Jahrg. 12. Heft 56
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882
Verhandlungen des naturhiatorlflch-mediiintochen Vereins.
Dazu kommen aber noch Muskelveränderungen und Erkrankung des
Gefassepithels. Die Muskelfibrillen , besonders im Herzen, werden
glasig und brüchig, bis zum fettig breiigen Zerfall. In den grössern
und kleinern Arterien gewinnt eine fettige Degeneration der Endo-
thelien eine kolossale Ausdehnung, wie Herr Ponfick entdeckte,
geht selbst auf die media über und ist vielleicht mit in Rechnung
zu zjehen als Ursache der Atherome in den Gefassen. Ist nun die
Höhe des Fiebers, der Temperatur, wie nach Liebermeister bei
Scharlach, abhängig vom Grad der Leber und Nierenentzündung?
Die geführten Tabellen ergeben für die später gestorbenen Kranken,
sei es von Pyaemie, Pneumonie, Tuberkulose, ein Mittel der Maxi-
maltemperatur von 40,2 C, der Minimal von 37,5 C, ein Maximum
von 41,5 C. ; die nicht tödtlich abgelaufenen hatten 40,4 Durch-
schnittsmaximum, 37,3 Durchscbnittsminimum. Ein Fall erreichte
das Maximum von 41,6 C. Sehr hohe Fiebertemperaturen werden
also ohne tödtiiche Veränderungen der genannten Organe über-
standen. Jedenfalls wird durch diese Erkrankungen tödtlicher Aus-
gang eher erklärt als durch seröse Hirndurchtränkung, die wohl
sekundär der Niurenerkraukung folgt. Die Uebertragungsversuche
haben bisher kein positives Resultat gegeben. Kaninchen , denen
man kranke Haut unter ihre Haut brachte, bekamen Fieber, Nieren
und Leberentzündnng und starben, aber Rose bekamen sie nicht.
In der Praxis stimmten mehrere Fälle für die Kontagiosität. Zur
Kritik des Vorkommens im Spital wurde eine Tabelle gemacht auf
die der Krankenstand, die eiternden Wunden und die Rosenfalle
eingetragen wurden. Eine Relation der Zahlen ergab sich für 1865
nicht, bei abnehmender Zahl der Patienten und eiternden Wunden
hatte die Rose ihr Maximum ; ebensowenig stimmte dio Zahl der
Erysipele zu der der Phlegmone. Auch für 1866 blieben, besonders
wenn man dio Auhäufung von zum Wunderysipel geneigten Fälle
in Rechnung bringt, Abweichungen genug um die Maxima nicht
von einander abhängig erscheinen zu lassen. Der Vergleich mit
der Verbreitung ausserhalb des Spitals, sowohl in Heidelberg als
weiter im Lande und den Nachbarländern ergiebt, dass die Spital-
rosen mit denen der Umgebung zusammenfallen, und dass eine
merkliche Uebereinstimmung des Vorkommens der Rose in weitem
Kreise herrscht. Es handelt sich also bei dor Rose aller Wahr-
scheinlichkeit nach um eine epidemische Affektion, bei deren Zu-
nahme die auffallende Zunahme der Diphtheritis sowohl als Angina
wie als Hospitalbrand in Vergleich genommen werden mag. Die
Therapie der Rose hat örtlich nur dio Jodtinctur, innerlich das
Chinin als förderlich erwiesen.
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Verhandlungen des naturhistorisch-medizinischen Vereins. 883
8. Vortrag des Herrn Geheimrath Helmholtz: »Ueber
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den
Nerven«, am 17. Mai 1867, (bereits am 29. April in die Sitzungs-
berichte der Berliner Akademie der Wissenschaften
aufgenommen.)
Die bisher über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung
in den menschlichen Nerven angestellten Versuche beziehen sich
auf die sensiblen Nerven, und leiden an dem grossen Uebelstande,
dass ein Tbeil der dabei gemessenen Zeit von psychischen Proces-
sen abhängt. Es wurde dabei nämlich immer die Zeit gemessen,
welche nach der Erregung eines sensiblen Nerven vergeht, bis der
Inhaber dieser Nerven, der die Erregung empfindet, in Folge da-
von eine willktihrliche Bewegung eines Muskels eintreten lassen
kann. Die Uebertragung der Reizung von den sensiblen auf die
motorischen Nerven geschieht also hierbei durch einen Willensact
des Experimentirenden, bei recht gespannter Aufmerksamkeit aller-
dings ziemlich regelmässig in etwa dem zehnten Thei) einer Secunde,
aber doch immerhin nicht regelmässig genug, dass nicht die klei-
nen, verschieden langer Nervenleitung entsprechenden Zeitdifferenzen
bei verschiedenen Beobachtern und auch bei demselben Beobachter
zu verschiedenen Zeiten ziemlich erhebliche Abweichungen zeigten.
Meine eigenen ersten Beobachtungen vom Jahre 1850 hatten mir
für die Leitung in den Armen eine Geschwindigkeit von 61,0 + 5,1
Meter für die Secunde ergeben , für die Beine 62,1 + 6,7 Meter.
Spätere Fortsetzungen dieser Versuchsreihen ergaben mir immer
wieder ähnliche Zeitdifferenzen, nur bei zweien, wo ich statt mit
der Hand den Strom mittels der Zähne geöffnet hatte, um eine
grossere Sicherheit der Action zu erreichen, erhielt ich Zahlen, die
mit den später von dem Astronomen Herrn A. Hirsch gefunde-
nen besser übereinstimmen.*) Letzterer Beobachter faud dagegen
eine Geschwindigkeit von 84 Meter, Herr Dr. Schelske 29,6
Meter, Herr F. 0. Donders 26,09 Meter, Herr F. Kohlrausoh
wieder Werthe, die bis zu 94 Meter stiegen.
Unter diesen Umständen schien es mir wünschenswerth einen
älteren Versuchsplan, bei dessen Ausfuhrung ich früher gescheitert
war, wieder aufzunehmen, und nach der für die motorisohen Ner-
*) Ein Rechenfehler, Auslassung des Factor 2, den ich anfangs den
Beobachtungen von Hirsch gegenüber selbst vermuthete, ist bei jenen Be-
obachtungen nicht gemacht worden, wie auch die Nebeneinanderstellung
der unmittelbar beobachteten Zeiten zeigt. Es brauchte die Uebertragung
von Hand zu Hand, von Gesicht zu Hand.
1. Bei mir, altere Versuchsreihe 0",lä&24 0",12040
2. Bei mir, spatere Versuchsreihe j {p^IJS j 0", 1 1820
8. Bei Herrn Guillaum e (Beob-
achter Hirsch) 0",1424 O",1110.
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884 Verhandlungen des naturhiatoriBch-medizlnlüchen Vereins.
yen des Frosches so sehr geeigneten Methode auch am Menschen
Versuche anzustellen. Wenn man einen menschlichen Bewegungs-
nerven an zwei verschiedenen Stellen seines Verlaufes erregt, und
die dadurch ausgelösten Zuckungen am Myographien aufschreiben
lässt, so lässt der horizontale Abstand der beiden Zuckungscnrven
von einander den Zeitunterschied wegen der Fortpflanzung im Ner-
ven erkennen. Eiue erste Schwierigkeit für die Uebertragung die-
ser Versuchsmethode auf den Menschen liegt aber in dem Um-
stände, dass jede Reizung eines Nervenstamms an einem höheren
Punkte mehr Muskeln in Bewegung setzt, als die an einem tiefe-
ren Punkte, und deshalb auch andere Bewegungsformen der Glie-
der zu Stande kommen. Indessen versprach die von Marey an-
gewendete Methode, die Anschwellung der Daumenballenrauskeln
bei ihrer Zuckung aufschreiben zu lassen, die Schwierigkeit zu be-
seitigen, und ich forderte deshalb Herrn N. Baxt auf, zu ver-
suchen, ob auf diesem Wege das Ziel zu erreichen sei.
Es geschah das schliesslich nach vielen vergeblichen Versuchen
folgendermaassen : Der Experimentirende (d. h. derjenige, dessen
Nerven gereizt wurden ; denjenigen, welcher am Myographion operirt,
werde ich den Beobachter nennen) umfasst mit seiner rechten Hand
in Supinationsstellung einen kurzen Holzcylinder, der in etwa drei
Zoll Entfernung Uber einem horizontalen Brette festgelegt ist. Der
Ellenbogen wird auf das Brett gestützt. In dieser Lage wird der
Vorderarm mit Gyps umgössen , so dass eine aus drei Stücken,
einem unteren und zwei oberen, bestehende Gypsform für den Arm
gebildet wird. Das untere Stück der Form umfasst den Ellen-
bogen, die Dorsalseite des Vorderarms und der Hand , und reicht
bis an die Enden der ersten Fingerphalangen. Von den beiden
Deckelstücken überdeckt eines die Hand und den von ihr umfass-
ten Holzcylinder bis zum Handgelenk hin. Das zweite Deckelstück
bedeckt die Volarseite des Vorderarms. Zwischen diesen beiden
letzteren Stücken bleibt ein Zwischenraum von zwei Zoll Länge
dicht Über dem Handgelenk, in welchem man das untere Paar von
Elektroden anlegt, und zwar auf den ulnaren Rand der Sehne des
Flexor carpi radialis, unter welchem die Zweige des N. medianus
liegen, die zum Daumenballen gehen.
Das erste Deckelstück der Gypsform hat ausserdem gerade
Über dem Daumenballen eine Oeffnung, so dass die Muskeln dieses
Theils frei liegen, die Knochen der Handwurzel dagegen und das
Köpfchen des Metacarpalknochens des Daumens von der Form über-
deckt und festgehalten werden.
So sind die Knochen des Vorderarms und der Hand in dieser
Weise vollständig festgehalten und unbeweglich; reizt man aber
den N. medianus entweder dicht über dem Handgelenk an der ge-
nannten Stelle, oder weiter oben am Oberarm neben dem M. bieeps,
so sieht man die Muskeln des Daumenballens zucken und bei der
Zuckung Bchwellen. Auf die Mitte dieser Muskeln wurde nun das
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Verhandlungen des naturhiatorlBch-medizin Ischen Vereins. 885
Ende eines dünnen Glasstabs gestellt, dessen oberes Ende sich von
unten gegen einen Stab stemmte, der den Schreibhebel des Myo-
graphion rückwärts verlängerte. Zuckten die Muskeln des Daumen-
ballens, so hoben sie den Glasstab und drängten den Schreibhebel
des Myograpbion nach abwärts, wobei dieser eine Zuckungscnrve
auf den rotirenden Cylinder schrieb. Eine passend angebrachte
Spiralfeder hob den Schreibhebel wieder empor.
Damit die zu vergleichenden Zuckungscurven immer genau von
gleicher Grundlinie ausgehen, und die Gleicbmässigkeit des Muskel-
tonus vor der Zuckung constatirt wird, diente der erwähnte Stab
am Schreibhebel. Derselbe war etwa IV2 Fuss lang, und trug an
seinem Ende eine Nadelspitze, welche sich dicht vor einer Milli-
metertheilung bewegte. Der Experimentirende hatte darauf zusehen,
dass die Nadel vor jeder Zuckung immer auf denselben Punkt der
Theilung zeigte.
Uebrigens war das Verfahren wie bei den entsprechenden Ver-
suchen an den motorischen Nerven des Frosches. Das Myographion,
wenn es die normale Umlaufszeit erlangt hatte, unterbrach den
primären Strom eines Inductionsapparates , der inducirte Strom
wurde dem N. medianus zugeleitet, und zwar bald am Handgelenk,
bald am Oberarm neben dem unteren Ende des M. coracobrachialis.
Zwei solche von den beiden verschiedenen Nervenstellen her aus-
gelöste Zuckungen wurden bo auf den Cylinder geschrieben, dass sie
von gleicher Grundlinie ausgingen, und dass der dem Augenblick der
Reizung entsprechende Punkt in beiden derselbe war. Hatten die
Curven gleiche Höhe und congruente Form, so entsprach die hori-
zontale Differenz ihrer Stellung dem Zeitunterschiede wegen der
Nervenleituug.
Bei den Fröschen ist es verhältnissmässig leicht, Zuckungs-
curven von congruenter Gestalt zu erlangen , indem man die elek-
trischen Schläge so stark macht , dass man von beiden Nerven-
stellen aus das Maximum der Zuckung erhält. Beim menschlichen
Arme stellte sich dagegen heraus, dass das Maxiraum der Zuckung
bei momentaner Reizung des Nerven desto grösser ausfallt, je höher
oben der Nerv gereizt wird.
Es ist dies ein wichtiger Umstand, weil er zeigt, dass mo-
mentane Reizungen der motorischen Nerven des Men-
schen sich nicht in vollständig unveränderlicher
Form durch längere Nerven strecken fortpflanzen.
Schon Pflüger hat nachgewiesen, dass die von den Muskeln ent-
fernteren Theile der Nerven schwächere Reizungen erfordern, um
schwache Zuckungen zu erzeugen. Dasselbe zeigte sich auch bei
diesen Versuchen am menschlichen Arme ; trotzdem im Allgemeinen
die Nervenstämme desselben höher oben, zwischen dickere Muskeln
verpackt, viel ungünstiger für die elektrische Reizung liegen, waren
schwächere Schläge erforderlich zur Erregung der Muskeln des
Daumonballens, je höher oben die Reizung ausgeführt wnrde.
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886
Verhandlungen dea nÄturhlatorisch-medizlnißchen Vereins.
Unter diesen Umständen müssen die Bedingungen, unter denen
von einer Portpflanzungsgeschwindigkeit die Rede sein kann, enger
begrenzt werden. Wir haben die Versuche so ausgeführt, dasa der
elektrische Schlag für die obere Stelle des Nerven so weit abgeschwächt
wurde, bis die von ihm erregte Zuckung dieselbe Stärke und Höhe
erhielt, wie das Zuckungsmaximum von der unteren Stelle aus er-
regt. Wir hatten dann also zwei momentaue Erregungen des Ner-
ven, welche gleiche mechanische Wirkungen nach aussen hervor-
brachten, und da der Muskel in beiden Fällen gleich arbeitete,
waren wir sicher, dass die Verzögerung der Wirkung bei Reizung
der oberen Stelle nur der Leitung im Nerven angehörte.
Da es nicht immer gelang, die Stärke der Reizung für die
obere Stelle so zu treffen, dass die entsprechende Zuckungscnrve
genau gleich hooh mit der für die untere Nervenstello wurde, so
wurde aus längeren Versuchsreihen , die unter übrigens gleichen
Umständen angestellt waren, eine Interpolationsformel berechnet
von der Form.
D = A-f Bd
worin D das Mittel der HorizontalabstUnde eines einzelnen Curven-
paars bezeichnet, dieselben in verschiedenen Hohen über der Grund-
linie gemessen, Ö dagegen den Höhenunterschied der beiden Zuck-
ungen, A und B zwei empirisch zu bestimmende Constanten, die
nach der Methode der kleinsten Quadrate aus sämmtlicbeu Ourven-
paaren einer Versuchsreihe bestimmt wurden. Die Constante A ist
der gesuchte mittlere Horizontalabstand der Curven.
Um den Grad der Uebereinstimmung der Versuche zu zeigen,
setze ich die Resultate einer Reihe von Versnoben hierher , wobei
Herr Studiosus F. als Experimentirender , Herr Baxt als Beob-
achter fungirte; h0 ist die Zuckungshöhe von der unteren, h4 die
von der oberen Nervenstelle, das obige d = b0 — h,. Unter Differenz
sind in der letzten Columne die Unterschiede der beobachteten und
der aus der Interpolationsformel berechneten Werthe angegeben.
D
b0
b,
A + Bd
Differenz
1
6,9875
12,725
13,025
11,95
6,8409
-0,0966
a
6,65
12,475
6,6797
0,0297
3
5,966
9,45
9,5
9,15
6,2704
0,3044
4
5,566
9,1
6,2687
0,7027
5
6,195
17,6
17,8
6,2186
0,0236
6
6,27
10,5
10,9
5,9885
-0,2815
7
6,06
10,25
17,325
10,65
5,9798
-0,0802
8
6,7
18,075
5,9436
- 0,7564
9
5,925
9,7
10,15
5,9169
— 0,0081
10
6,0875
11,575
12,125
5,9066
-0,1809
11
6,6166
9,8
10,5
5,7006
—0,9160
12
4,2
10,25
11,15
5,5592
+ 1,2592.
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Verhandlungen des naturhistorisch-medisiirischen Vereins. 887
A = 6,3160 Millimeter. B = 8,6193. Nervenlänge = 400 Mil-
limeter.
Aus dem Werthe von A ergibt sich als mittlerer Werth der
Fortpflanzungsgeschwindigkeit für diese Reihe.
31,5389 Meter per Seen n de.
Eine andere vorher ausgeführte Versuchsreihe von 1 5 Curven-
paaren, wobei Herr Baxt Experimentirender , ich selbst Beobach-
ter war, und wobei der Schreibhebel vor der Zuckung einen festen
Anschlag gehabt hatte, statt in seiner Stellung durch den langen
Hebel controlirt zu sein, hatte bei 44 Centimeter Nervenlänge
ergeben.
33,395 Meter.
Eine dritte Reihe von 10 Curvenpaaren , wo ebenfalls Herr
Baxt Experimentirender, ich selbst Beobachter war, die Anord-
nung des Apparats übrigens wie bei der ersten Reihe, ergab
37,4927 Meter.
Der Mittelwerth aus allen diesen Bestimmungen würde sein
33,9005 Meter
sehr nahe übereinstimmend mit dem von Herrn A. Hirsoh er-
haltenen Resultate.
Nach der oben gegebenen Interpolationsformel treten schwä-
chere Zuckungen von der oberen Nervenstelle später ein, als stär-
kere; es scheint dies nicht blos eine Folge der grösseren Steilheit
der höheren Zuckungscurven zu sein, sondern schwächere Zuckun-
gen von der oberen Nervenstelle erregt, lösen sich auch merklich
später von der Grundlinie ab, als stärkere Zuckungen, während
dies bei den von der uuteren Nervenstelle erregten Zuckungen nicht
in gleichem Maasse der Fall ist. Daraus scheint zu folgen, dass
schwächere Reizungen sich im Nerven langsamer fortpflanzen, als
stärkere. Versuchsreihen, bei denen absichtlich schwächere Zuck-
ungen von beiden Nervenstellen aus hervorgerufen wurden, haben
noch keine hinreichende Zahl guter Resultate ergeben.
Eine andere Versuchsreihe, wobei die obere gereizte Stelle
dicht über dem Ellenbogen lag, schien eine etwas schnellere Fort-
pflanzung der Reizung in den Nerven des Vorderarms zu ergeben,
den Angaben von H. Münk für Froschnerven entsprechend ; doch
war der Unterschied zu klein, um ihn bei der nicht sehr grossen
Zahl gelungener Versuche schon als sicher zu betrachten.
Die Abreise des Herrn Baxt und die Notwendigkeit, die
Apparate den Versuchen besser anzupassen, hat für den Augen-
blick die Versuche unterbrochen.
4. Vortrag des Herr n Professor N. Friedreich: »TJeber
Beobachtungen an rothen Blutkörperchen«,
am 31. Mai 1867.
r
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8E8
Verhandlungen des naturhistorlBch-medizinischen Vereins.
5. Vorstellung eines Kranken mit Knocbenhyperpla-
sie durch Herrn Professor N. Friedreich
am 31. Mai 1867.
6. Vortrag des Herrn Professor 0. Weber: >Ueber
Impfung mit Kuhpockenlymphe«, am 31. Mai 1867.
7. Vortrag des Herrn Pr of e s s o r H of m e i s t er : »Ueber
die Entstehungsfolge seitlicher Spro ssun gen «,
am U. und 28. Juni 1867.
8. Vortrag des Herrn Dr. Heine: »Ueber die Winkel-
stellung bei Colitis und ein neues Coxanky 1 o m e ter«,
am 28. Juni 1867.
(Das Manuscript wurde am 29. November 1867 eingereicht.)
Unter vollständiger Verkennung der allein maassgebenden Ver-
hältnisse hat man in früherer Zeit (und es geschieht diess auch
jetzt noch von manchen Seiten) die Verkürzung oder Verlängerung
eines Beines, die seitliche Beckenerhebnng oder Beckensenkung,
oder eine (Ulschlich vermuthete spontane Luxation des Oberschen-
kels der Beurtheilung einer Hüftgelenksankylose als Maassstab zu
Grunde gelegt. Die verstecktere Lage des Hüftgelenks und vor
Allem der complicirtere Mechanismus desselben als Kugelgelenk
verhinderten es, dass man hier dieselbe Frage sich stellte, wie bei
dem leicht zugänglichen nach Art eines Charniers beweglichen Knie-
gelenke, nämlich die Frage nach dem Winkel, in welchem der
Oberschenkel fehlerhafter Weise gegen das Hüftbein fixirt ist, wäh-
rend doch dieser Winkel, oder richtiger die Bestrebungen des Kran-
ken, denselben beim Gehen und Liegen in eine für diese Zwecke
vortheilhaftere Lage zu bringen, die sekundäre Beckenschiefstellung
und relative Verkürzung oder Verlängerung des Beins erst bedingt.
Von diesem relativen Längenuuterschiede der Beine, von welchem
mit gleichem Rechte bei einer Kniegelenksankylose die Rede sein
kann, sind wohl zu unterscheiden wahre Verkürzungen oder Ver-
längerungen, welche in anatomischen Veränderungen der knöcher-
nen Gelenktheile durch kariöse Zerstörung, einer Erweiterung der
Pfanne (gewöhnlich nach Oben und Hinton oder nach Unten und
Vorn) und einem Schwunde des Kopfes bestehen, und die aus einer
Annäherung oderEntfernung des Trochanters zu oder von einem Punku
der Crista ilei unter Berücksichtigung der gleichzeitigen Winkel-
stellung erschlossen werden. Diese Alterationen der Formverhält-
nisse der Gelenktheile sind aber als Ursachen von Längendifleren-
zen besonders in den ersten Stadien und bei geringem Graden von
Hüftgelenksentzündung von ganz untergeordneter Bedeutung gegen-
über dem Antheil, welchen der zwischen Hüftbein und Oberschenkel
bestehende Winkel an der Stellungsanomalie hat. Die Messung die-
Verhandlungen dea rfthirhietorlsch-medteinischen Vereins 889
868 Winkels ist daher auch allein im Stande, aller Verwirrung im
Kapitel der Hüftgelenksankylose ein Ende zu machen. Nur freilich
darf man diesen Winkel nicht auf die gleiche Weise wie bei einem
Charniergelenke messen wollen, wie es bisher stets geschehen. Das
Hüftgelenk gestattet Bewegungen um drei Axen, eine horizontale, um
welche Flexion und Extension, eine sagittale (von Vom nach Hinten
verlaufende), um welche Adduktion und Abduktion und eine vertikale,
um welche Auswärtsrotation und Einwärtsrotation erfolgt. Aus
Winkelstellungen nach diesen drei Richtungen, die also in drei
versch4edenen Ebenen zu Stande kommen, setzt sich die jeweilige
Stellung des Oberschenkel zum Becken bei Coxitis zusammen. In
diese drei Componenten muss daher auch der Hüftgelenkswinkel
jedesmal zerlegt werden. Die seitliche Beckenverschiebung ist nur
dann der getreue Ausdruck des Adduktions oder Abduktionswinkels,
wenn ein vollständiger Parallelisraus der Beine sich herstellen lässt ;
unter der gleichen Voraussetzung entspricht die Vorwärtsneigung
des Beckens dem Flexions- und die Rotation desselben dem Ro-
tationswinkel des Oberschenkels. Es lässt sich dieses durchaus
folgerichtige Verhältniss sehr einfach an einem mit dem femur
durch Kantschnkbänder verbundenen Becken , welches beliebige
Winkelstellungen gestattet, demonstriren (wie von dem Redner ge-
schieht). Am besten ist es nun bei der Vornahme der Messung
von der Normalstellung des Beckens unter Berücksichtigung der
physiologischen Lordose der Lendenwirbelsäule auszugehen , indem
man das ankylosirte Bein soweit flektirt, abducirt, rotirt, bis beide
Spinae antt. supp. in jeder Beziehung gleichstehen. Dann legt man
seinen Massstab an, aber nicht wie Roser, Volkmann etc. einen
solchen, mit dem man nur den Adduktions- oder Abduktionswinkel
misst, sondorn einen solchen, welcher dem Hüftgelenke (als Kugel-
gelenkl nachgebildet ist Ich habe dazu einen nach dem Principe
eines Universalgelenkes verbundenen Massstab konstruiren lassen,
der allein den Namen eines Coxankylometers verdient. Derselbe
besteht aus einem kürzeren platten, stählernen und einem längeren
(aus drei Stücken zusammenschraubbaren) runden, messingenen
Arme, welche beide mittelst dreier in einander geschalteter halb-
kreisförmiger Messingbögen verbunden sind. Zwischen äusserem und
mittlerem Bogen findet Flexion und Extension, zwischen mittlerem
und innerem Adduktion und Abduktion statt; die Bögen sind an
ihrer konvexen Seite in Grade eingetheilt und ermöglichen so die
unmittelbare Ablesung des gefundenen Winkels. Der an die Aussen-
seite des Oberschenkels angelegte vertikale Arm lässt sich zugleich
um seine eigene Axe drehen und zeigt mittelst eines Zeigers auf
einem zu den obigen Bögen rechtwinklig stehenden Kreisbogen den
Drehungswinkel an. Auf diesem vertikalen Arm kann ein recht-
winklig aufgesetztes Fussstück auf- und abbewegt werden, das der
Richtung des Fusses parallel gestellt wird. Der platte, mit einem
kleinen Quergriff versehene horizontale Arm kommt Lei der Vor-
r
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890 Verhandlungen des n&tnrhistorisch-mrdkiniBchen Verein*.
nähme der Messung unter das Becken zu liegen , so dass er die
Spitzen der beiden Trochanteren rechtwinklig schneidet. Wird jetzt
der absteigende Arm dem in die Höhe gehobenen kranken Beine
von Aussen angelegt , so gibt derselbe zu gleicher Zeit winklige
Abweichungen in den drei oben genannten Richtungen genau auf
den Grad hin an.
In den Fällen von Hüftgelenksankylosen, in welchen das bri-
sement force" zur Correktur der Winkelstellung vorgenommen wird,
lässt sich das durch die Streckung gewonnene Resultat nach der-
selben aus den noch zurückbleibenden Winkeln berechnen.
Schliesslich erübrigt noch, auf den grossen praktischen "Werth
des von dein Vortragenden schon früher in seinem Buche über
>Schu88 Verletzungen der unteren Extremitäten« vorgeschlagenen
Hüftgelenk-Gypsverbandes mit Gypsbecken und doppelter Gypsspica
behufs Sicherung der erzielten Stellungsverbesserung bei Hüftge-
lenksankylosen hinzuweisen, welcher auf der hiesigen chirurgischen
Klinik bereits durch eine Reihe der schönsten Erfolge sich be-
währt hat.
9. Vortrag des Herrn Dr. Knauff: »Ueber einen Fall
von Anthrakose der Milz«, am 12. Juli 1867,
10. Vortrag des Herrn Prof. Knapp: »Ueber Mark-
schwamm des Auges«, am 12. Juli 1867.
11. Vorstellung einer Patientin mit Blepharoplastik
durch Herrn Professor Knapp, am 12. Juli 1867.
12. Vortrag des Herrn Professor E rlenmeyer: >Ueber
die Umwandlung des a m eisen sauren Natrons in
oxalsaures«, am 26. Juli 1867.
(Das Manuscrlpt wurde am 28. September eingereicht).
Es wurde bisher ziemlich allgemein angenommen , ameisen-
saures Salz verwandle sich beim Erhitzen mit Kalihydrat
in oxal saures Salz, es bleibe dagegen beim Erhitzen mit Kalikalk-
hydrat unverändert.
Diese Annahmen gründen sich auf Mittheilungen von Peligot
einerseits (Ann. chim. phys. 73 (1840) 220 und von Dumas und
Stas anderseits ibid. 122 u. 128.
Peligot giebt an, dass ameisensaures Kali, mit einem Ueber-
schuss von Alkali erhitzt bei massiger Temperatur unter Wasser-
stoffentwicklung in oxalsaures Salz verwandelt werde, dass letzteres
selbst aber beim Erhitzen mit Alkalihydrat übergehe in kohlen-
saures Salz.
Dumas und Stas geben an:
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Verhandlungen des nnturhl«torisch-medizinischen Vereins.
891
1) Dass beim Erhitzen von Methylalkohol mit Kalikalkhydrat
unter Wasserstoffentwicklung eine Salzmasse entsteht, die bei der
Uebersättigung mit Schwefelsäure und nachfolgendem Destilliren
eine Ameisensaure enthaltende Flüssigkeit liefert.
2) Dass bei Anwendung von Kalibydrat statt des Kalikalk-
hydrats ein noch reineres Wasserstoffgas erhalten wird, die Bildung
desselben beruhe aber auf einer complicirten Reaction ; denn der
Rückstand enthalte, wie eine genauere Prüfung ergeben habe, oxal-
saures Kali in Menge. Sie verweisen dann auf die Reaction von
Peligot und erwähnen , dass sie ein Gemenge von ameisensaurem
Salz mit Barythydrat (Mengenverhältnisse sind nicht angegeben)
erhitzt haben. Es bildete sich dabei ohne Schwärzung der Masse
eine grosse Menge Gas, das hauptsächlich Wasserstoff war, dem
sich bei einem Versuch etwas Kohlenoxyd beigemischt fand. Der
Salzrückstand scheint in diesem Fall gar nicht auf oxalsaures Salz
untersucht worden zu sein. Sie sagen weiter: Man muss hinzu-
fügen, dass sich die Reaction hier nicht aufhält und dass die Oxal-
säure weiter zersetzt werden kann unter neuer Wasserstoffentwick-
lung. Sie fanden, dass sich beim Erhitzen von oxalsaurem Kali
mit Barythydrat unter Wasserstoffentwicklung farbloses kohlen-
saures Salz bildet.
Zum Scbluss bemerken sie, es sei evident, dass man die Misch-
ung von Holzgeist mit dem Alkali weder zu rasch , noch zu stark
erhitzen dürfe ; denn statt des ameisensauren Salzes als Rückstand
würde man sonst finden oxalsaures oder kohlensaures, statt einer
Quelle von Wasserstoff, würden drei verschiedene zur Bildung die-
ses Gases beitragen.
Es geht aus diesen Angaben hervor, dass Dumas und Stas der
Ansicht waren, das Ka Ii hydrat führe das araeisensaure Salz in
oxalsaures und dieses in kohlensaures über.
Merkwürdigerweise haben sich die Chemiker daran gewöhnt,
die Reaction des Kalihydrats auf die Salze verschiedener kohlen-
stoffhaltigen Säuren meistens mit vollständiger Vernachlässigung
des Kalihydrats auszudrücken. So findet man z. B. fast immer
die folgende Gleichung zur Erläuterung der Zersetzung eines essig-
sauren Salzes durch Alkalihydrat angegeben:
02 H4 02 = COa + CH4.
Würde man diesen letzteren und ähnliche Prooesse in Glei-
chungen schreiben, die den Thatsacben entsprechen, nämlich :
CaH3KO, + HOK = CH4 + C03K2 oder
H3C — COOK + HOK^H4C-f 00°*
so hätte es schon längst auffallen müssen, dass bei der Ueberfüh-
rung des ameisensauren Salzes in oxalsaures das Kalihydrat c hä-
misch gar nicht mitwirken kann, denn man hat:
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892
Verhandlungen des natuhrMnriscn-rnedhrinischen Vereins.
COOK
HCOOK + HCOOK[4(HOK)x] = H2+ | [+(HOK)x]
COOK
dass es also auch voraussichtlich ganz überflüssig ist.
Ja wenn man auf der einen Seite die Zersetzung des essig-
sauren Kali's resp. der Salze anderer Säuren von der Zusammen-
setzung CnH2n02 durch Kalihydrat richtig würdigt und anderer-
seits daran denkt, dass, wie Peligot, Dumas und Stas gefunden
haben, oxalsaures Salz beim Erhitzen mit Kalihydrat wie folgt zer-
setzt wird:
so muss man sogar auf den Gedanken geführt werden, dass da*
Kalihydrat bei der üeberführung von ameisensaurem in oxalsaures
Salz nur schädlich wirken kann.
Denn entweder folgen die Salze der Ameisensäure der allge-
meinen Regel, welche wir für die Zersetzung der Salze Ctt C2n-i K02
durch Kalihydrat kennen und welche durch folgende Gleichung ver-
sinnlicht werden kann:
Es wird dann aus ameisensaurem Salz nicht oxalsaures, son-
dern kohlensaures Salz und Wasserstoff gebildet:
Oder das ameisensaure Salz macht eine Ausnahme von der
Regel und wird von Kalihydrat gar nicht angegriffen, sondern ohne
die Mitwirkung von Kalihydrat in Wasserstoff und oxalsaures Sah
umgesetzt: auch dann wird das letztere nicht als solches besteben
bleiben, weil es ja durch Kalihydrat nach der obigen Gleichung
weiter zersetzt wird. In beiden Fällen müsste also das Endresultat
kohlensaures Salz und Wasserstoff sein, vorausgesetzt, dass gleiche
Molekulargewichte ameisensaures Salz und Kalihydrat zusammen-
gebracht wurden und dieses Gemisch bis zur Beendigung der Gas-
entwicklung erhitzt wird.
Nach diesen Erwägungen schien es mir von höchstem Interesse
zu sein, experimentell nachzuweisen, 1) dass ameisensaures Sah
beim Erhitzen für sich — ohne Zusatz von Kalihy d rat -
unter Wasserstoffentwicklung in oxalsaures Salz übergeführt
werden könne , weil dies ein sehr schönes Beispiel der einfachsten
Erzeugung eines Dicarbonids aus einem Monocarbonid abgeben
würde, indem ohne die Mitwirkung eines andern Kör-
pers aus zwei gleich zusammengesetzten Molekülen Mono-
carbonid je 1 Atom desselben Elements heraustritt, und die
Reste sich mit einander verbinden zu 1 Mol. Dicarbonid.
COOK OKH CO
I + =
COOK OKH CO
OK
OK
OK
OK
+ I
H
H
Cn H2n_i K02 -f H OK = C03 K2 + Cn_i H2n .
CH K02 -f H OK = C03 K2 -f H2.
Verhandhingen des naturhistorisch-medisinischen Vereins. 808
2) Schien es mir nothwendig zu sein, den Beweis zu liefern,
dass sich das ameisensaure Salz dem Kalihydrat gegenüber ganz
analog verhalte, wie die Salze der andern Säuren von der Zu-
sammensetzung Cn H2n Oa und dass in Gegenwart von Kalibydrat
kein oxalsaures sondern nur kohlensaures Salz gebildet wird.
Ich stellte zu diesem Behufe in Gemeinschaft mit Herrn Dr.
Gütschow aus St. Petersburg einige Versuche an, die ich im Fol-
genden mittheilen will.
Wir erhitzten zunächst ameisensaures Natron für sich ohne
jeden Zusatz in einer mit Gasleitungsrohr versehenen Retorte
im Asbestbad. Das geschmolzene Salz schäumte auf und entwickelte
chemisch reines Wasserstoffgas in einem sohr regelmässigen Strome.
Wir setzten die Erhitzung so lauge fort, bis sich dem Wasserstoff
Kohlenoxyd beimischte und Hessen erkalten. Die rückständige
Salzmasse reagirte alkalisch von kohlensaurem Natron. Ameisen-
saures Salz liess sich nicht mehr nachweisen, dagegen fand sich
eine beträchtliche Menge oxalsaures Natron, das beim Behandeln
mit Wasser zum grüssten Theil ungelöst blieb.*)
Trotzdem, dass durch die einfachsten Ru actio neu schon die
Gegenwart von oxalsaurem Natron festzustellen war, haben wir
doch eine Reihe von Analysen sowohl von dem Oxalsäuren Natron
selbst, als auch von daraus gefälltem oxalsaurem Kalk und oxal-
saurem Silber ausgeführt, wir haben Oxalsäuren Aethyläther dar-
gestellt und daraus Oxamid gebildet etc. um jeden Zweifel zu be-
seitigen.
Nachdem diese interessante Thatsache gewonnen war, schien
es uns wichtig zu sein, zu ermitteln, ob Kalihydrat in der That
auf ameisensaures Salz gar nicht einwirkt, d. h. ob dieses letztere
in Gegenwart von Kalihydrat ebenso in oxalsaures Salz übergeht,
als wenn das Kalihydrat gar nicht vorhanden wäre oder ob sich dieses
gegen ameisensaures Salz analog verhält, wie gegen essigsaures Salz.
Es wurden zunächst gleiche Molekulargewichte Kalihydrat und
ameisensaures Natron in derselben Weise, wie früher ameisen-
saures Natron für sich, erhitzt. Es entwickelte sich reines Wasser-
stoffgas. Das Erhitzen wurde so lange fortgesetzt, bis keine Gas-
entwicklung mehr stattfand, aber es war dem Wasserstoff kein Kohlen-
oxyd beigemischt. Der Salzrückstand enthielt kein ameisensaures
Salz mehr, auch keine Spur vou oxalsaurem, sondern nur kohlen-
saures Salz.
Es war denkbar, dass sich zuerst oxalsaures Salz gebildet
hatte, das dann durch die Einwirkung des Kalihydrats nach der
oben angegeben Gleichung in Wasserstoff und kohlensaures Salz
umgewandelt wurde.
Desshalb erhitzten wir jetzt die Mischung aus gleichen Mole-
*) Der erwähnte Versuch lässt sich so leicht und in so kurser Zeit
ausführen, dass man ihn sehr gut als Vorlesungsversnch zeigen kann.
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894 Verhandlungen des naturhietorisch-medizinischen Vereins
kulargewichtcn ameisensaurem Natron nnd Kalihydrat nur halb so
lange, wie im vorigen Fall. Es traten wieder dieselben Erschei-
nungen auf, aber der Salzrückstand enthielt jetzt neben kohlen-
saurem Salz unverändetes ameisensaures , allein keine Spar Oxal-
säuren Salz.
Zwei den oben erwähnten ganz parallele Versuche mit Natron-
kalkhydrat statt Kalihydrat ergaben ganz parallele Resultate.
Es geht hieraus wohl als unzweifelhaft hervor, dass sich dem
Kalihydrat gegenüber ameisensaures Salz ganz analog verhält, wie
essigsaures Salz und zwar:
HCOOK+HOK = HH + C()££
sowie, dass Natronkalkhydrat in der gleichen Weise wirkt, wie
Kalihydrat.
Jetzt blieb noch die Frage zu beantworten, wie sich neben
diesen Resultaten die von Peligot einerseits und die von Dumas
und Stas andererseits angegebenen erklären lassen. Bei den Ver-
suchen dieser Chemiker hat es offenbar in den Fällen, wo sie oxal-
saures Salz bekamen an Kalihydrat gemangelt. In dem Falle, wo
Dumas und Stas aus Methylalkohol mit Kalikalkhydrat ameisen-
saures Salz erhielten, ist die Reaction nicht zu Ende geführt wor-
den; denn sonst hätte als Endresultat kohlensaures oder neben die-
sem oxalBaures Salz erhalten werden müssen, vorausgesetzt, dass
kohlensaures Salz die Bildung von oxalsaurem aus ameisensaurem
nicht hindert.
Ein Versuch, wobei zwei Molekulargewichte kohlensaures Natron
mit einem Molekulargewicht ameisensaurem Natron erhitzt wurden,
zeigte, dass sich anfangs reines Wasserstoffgas entwickelt, dem sieh
später Kohlenoxyd beimischt. Unterbricht man in diesem Augen-
blick die Erhitzung, so findet man im Salzrückstand neben kohlen-
saurem Salz nur oxalsaures aber kein ameisensaures Salz mehr.
Zu demselben Resultat gelangt man, wenn man ein Gemisch
von 1 Molekulargewicht Kalihydrat oder Natronkalkhydrat
mit 2 Molekulargewichten ameisensaurem Salz erhitzt, bis sich
Kohlenoxyd zu entwickeln beginnt.
Die Angabe von Peligot und von Dumas und Stas, nach wel-
cher oxalsaures Salz durch Kalihydrat in Wasserstoff und kohlen-
saures 8alz zersetzt wird, haben wir durch den Versuch bestätigt
gefunden.
Da in der Wirkung des Alkalihydrats auf den Methylalkohol
eine Aufeinanderfolge von 2 Reactionen zu beobachten ist, inso-
fern sich zuerst ameisensaures Salz bildet, so hielten wir es fflr
möglich, dass das oxalsaure Salz durch Kalihydrat zuerst in amei-
sensaures und kohlensaures Salz und das erstere dann weiter in
kohlensaures Salz und Wasserstoff zerlegt werde. Die folgende
Gleichung möge den ersten Process versinnlichen:
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Verhandlungen des nahirhistoriich-medlzinlsehen Vereine. 895
COOK „ hcook , mOK
I +OK== +CÜOK
CO OK
Wir erhitzten 1 Molekulargewicht Kalihydrat mit 1 Moleku-
largewicht oxalsaurem Salz, bis die Wasserstoffentwicklung lebhaft
geworden war und untersuchten den Salzrückstand. Er enthielt
oxalsaures und kohlensaures Salz, aber kein ameisensaures. Ent-
weder wirken also hier gleich zwei Moleküle Kalihydrat auf 1 Mol.
oxalsaures Salz oder, das durch 1 Mol. Kalihydrat auf 1 Mol. oxal-
saures Salz hervorgebrachte Mol. ameisensaures Salz wird sofort
durch ein zweites Molekül Kalihydrat weiter zersetzt.
13. Vortrag des Herrn Dr. Erb: >Ueber elektroto-
nische Erscheinungen am lebenden Menschen«,
am 26. Juli 1867.
(Das Manuskript wurde am 15. November eingereicht.)
Anknüpfend an Versuche, die ich an einer andern Stelle schon
veröffentlicht habe (Deutsch. Archiv t. klinische Medicin. Band III.
S. 271) habe ich die electrotonischen Erscheinungen am lebenden
Menschen einer wiederholten Prüfung unterzogen, zunächst desa-
balb, weil A. Eulenburg bei ähnlichen Versuchen (Deutsch.
Archiv für klin. Med. ßd. III. p. 117 ff.) zu gerade entgegenge-
setzten Resultaten gekommen war, wie ich. Eulenburg hatte in
Uebereinstimmung mit den Pf lüger 'sehen Gesetzen eino Erhöhung
der Erregbarkeit im extrapolaren katelectrotonischen Bezirk, eine
Herabsetzung derselben im extrapolaren anelectrotonischen Bezirk
gefunden. Mir hatte sich bei meinen Versuchen immer das Gegen-
tbeil, Herabsetzung der Erregbarkeit im katelectrotonischen und
anelectrotonischen Bezirk ergeben. Dies veranlasste mich, meine
Versuche mit verbesserten Methoden zu wiederholen, um etwaige
Fehler in der früheren Versuchsanordnung auszumerzen und die so
wünschenswerthe Uebereinstimmung über diese wichtige Frage wie-
derherzustellen.
Trotz aller Vorsichtsmassregeln jedoch und trotz verschiedener
Modificationen der Versuche, blieben doch die Resultate aller der
zahlreichen Versuche in vollkommener Uebereinstimmung mit dem,
was ich früher schon gefunden hatte: d. h. es zeigte der kat-
electrotonische Bezirk constant eine Herabsetzung,
der aneleotonische dagegen eine Erhöhung der Er-
regbarkeit.
Ich habe die Versuche grösstentbeils an mir selbst, am Nerv,
ulnaris oberhalb des Ellbogens angestellt, habe jedoch auch andere
Versuchspersonen und andere Nerven Stämme zu ähnlichen Versuchen
benützt — immer blieb das Resultat dasselbe. — Auch wenn ich
die Versuche möglichst genau nach der Eulenbu rg' sehen Me-
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896 Verhandlungen des naturhistoriech-medürinlschen Verein«.
tbode anstellte, blieben diese Resultate gleich. Die Versuche wor-
den bei verschiedener Stärke des polarisirenden Batteriestroms an-
gestellt, bei verschieden langer Dauer des polarisirenden Stroms;
es wurde dabei die Stellung und Grösse der Eiectroden des er-
regenden Stroms mannichfach verändert, es wurde die Erregbar-
keit bei verschiedener Richtung des erregenden Stromes geprüft —
immer blieb das Resultat das gleiche: Erhöhung der Erregbarkeit
im anelectrotoniscben, Herabsetzuug im katelectrotonischen Bezirk.
Die Aendorung der Erregbarkeit selbst wurde bestimmt entweder
durch die Aenderung des Rollenabstandes des inducirten Stroms,
bei welchem noch eine Minimalcontraction eintrat, oder durch die
Aenderung in der sichtbaren Contractionsgrösse der erregten Mus-
keln, oder endlich durch die Aenderung der fühlbaren Widerstände,
welche die erregten Muskeln dem Zuge der Antagonisten entgegen-
stellten. Bei allen 3 Metboden waren die Resultate Ubereinstim-
mend, nur die erste Methode gab natürlich in Zahlen ausdrückbare
und tabellarisch zusammengestellte Resultate.
Die Resultate waren zunächst nur für den extrapolaren ab-
steigenden olectrotonischen Bezirk gewonnen : eine Prüfung der
intrapolaren Erregbarkeitsänderungen zeigte jedoch auch hier eine
Umkehr der Pflüger'schen Gesetze: der intrapolare Anelectrotonns
wirkte erhöhend, der intrapolare Katelectrotonus herabsetzend für
die Erregbarkeit des motorischen Nerven gegen inducirte Ströme.
Die Thatsache dieses anomalen Verhaltens der motorischen
Nerven im lebenden Körper gegen die Polarisation ist somit über
jeden Zweifel festgestellt. Es handelt sich nur um eine Erklärung
der gefundenen Differenz mit den Resultaten der physiologischen
Forschung.
Verschiedene naheliegende Möglichkeiten konnten schon im
Verlaufe dieser Versuche durch eine geeignete Modifikation dersel-
ben ausgeschlossen werden. Da die von Andern (Valentin) auf-
gestellten Erklärungen nicht befriedigend erscheinen, so musste ich
vorläufig auf eine genügende Erklärung des anomalen Verhalten»
verzichten. Es handelte sich mir zunächst nur um die Feststellung der
Thatsachen. (Eine ausführlichere Mittheilung dieser Untersuchungen,
eine genaue Beschreibung der Methode und Zusammenstellung der
Resultate wird im Deutsch. Aich. f. klin. Med. demnächst erscheinen. )
(Fortsetzung folgt)
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Sr. 57. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
- - - - . m
Verhandlungen des natnrhistorisch - medizinischen
Vereins zn Heidelberg.
(FortBeteung.)
Nachtrag. Als ich dem Vereine die vorstehenden Mitthei-
lungen gemacht hatte, äusserte der Vorsitzende, Herr Geh. -Rath
Helmholtz die Ansicht, dass die gefundene Differenz sich wohl
dadurch erklären lasse, dass bei diesen Versuchen am lebenden
Körper sich ausser dem polarisirten Nerven noch eine grosse Menge
gutleitenden Gewebes im Stromkreis befinde ; daher komme es, dass
nur in dem unmittelbar unterhalb der Electroden befindlichen Stücke
des Nerven der Strom eine gewisse Dichte besitze, während die-
selbe nach beiden Seiten von jedem Pole so rasch abnehme, dass
man ohne grossen Fehler annehmen könne, schon in geringer Ent-
fernung von jedem Pole befinde sich gleichsam der andere Pol.
Wenn man also mit der erregenden Electrode z. B. nicht sehr
nahe an die Kathode heranrücke, sei es sehr leicht möglich, dass
dieselbe sich schon im anelectrotonischen Bezirk befinde, während
man glaube, den Katelectrotonus zu prüfen.
Zur Prüfung dieser Ansicht suchte ich den erregenden Reiz
möglichst sicher in den zu prüfenden Bezirk zu bringen. Dies er-
reichte ich durch Construction einer plattenförmigen Electrode für
den polarisirenden Strom, die an einer Stelle von einem Glasrohr
durchbohrt war, durch welches die erregende Electrode des indu-
eirten Stroms eingeführt werden konnte. Der erregende Strom
musste also an einer Stelle des Nerven eingreifen die mit Sicher-
heit unter dem vollen Einflüsse desjenigen Pols stand, mit dem
ich die neue Electrode in Verbindung brachte. Bei dieser Ver-
suchsanordnung zeigte sich dann auch eine vollkommene üeberein-
stimmung mit den Pflüger' sehen Gosetzen: Erhöhung der Er-
regbarkeit im Bereich der Kathode, Herabsetzung
im Bereich der Anode. Zugleich waren die Resultate sehr
frappant, die Erregbarkeitsdifferenzen erreichten beträchtlich höhere
Werthe als bei den früheren Versuchen. Gleichzeitig zur Controle
angestellte Versuche nach den früheren Methoden ergaben auch den
früheren con forme Resultate.
Es scheint damit die üebereinstimmung zwischen den beim
Frosch gefundenen und den am Menschen zu beobachtenden eiectro-
tonischen Erscheinungen in genügender Weise hergestellt; es kann
LIX. Jahrg. 12. Heft 57
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898
Verhandlungen des naturhistorlach-medkinischen Vereins.
keinem Zweifel unterliegen , dass auch am lebenden Menseben
electrotonische Erscheinungen beobachtet werden nnd dass diesel-
ben bei richtiger Versuchsanordnung in Uebereinstimmung mit den
Pflüger'schen Gesetzen sind. Die entgegengesetzten Resultate, welche
sich bei einer gewissen Versuchsanordnung ergeben, erklären sich
demnach einfach aus physikalischen Verhältnissen, aus der Lage-
rung des nicht isolirten Nerven im lebenden Körper.
14. Vortrag des Herrn Dr. Knanff: >Ueber Histologie
des Miliartuberkels«, am 26. Juli 1867.
15. Vortrag des Herrn G eh eimrath Helm holtz : »Ueber
die Mechanik der Ge hörknöchelchen «, am 9. Aug. 1867.
(Dm Manuacript war bereits am 26. Juli überreicht worden, der Nachtrag
dazu am 9. August.)
Die Autgabe des Trommelhöhlenapparats kann so bezeichnet
werden: Derselbe hat die Schallschwingungen der Luft, die mit
relativ kleinen Druckkräften aber in grossen Excursionen geschehen,
zu tibertragen auf das relativ schwere Labyrinth wasser, dessen Be-
wegung eben wegen seiner Schwere grössere Druckkräfte verlangt,
während wegen der mikroskopischen Kleinheit der mitschwingenden
Endapparate der Nerven, welche gleichsam die Reagentien für die
Schallschwingungen des Labyrinth wassers bilden, sehr kleine Ampli-
tuden seiner Schwingungen genügen.
Um die nöthige mechanische Kraft für die Schwingungen der
genannten Flüssigkeit zu gewinnen, wird der Druck der schwin-
genden Luft von der verhältnissmässig grossen Fläche des Trommel-
fells gesammelt und durch die Reihe der Gehörknöchelchen inner-
halb der sehr viel kleineren Fläche des ovalen Fensters auf das
Labyrinthwasser tibertragen. Die genaue üebertragung so kleiner
Bewegungen erfordert, wie Riem an n in den von ihm nachge-
lassenen Papieren*) mit Recht hervorhebt, eine ausserordentlich
grosse Präcision und Festigkeit in den Verbindungen der Gehör-
knöchelchen. Damit steht es nun in einem sonderbaren, aber frei-
lich nur scheinbaren, Widerspruche, dass man bei der anatomi-
schen Untersuchung alle einzelnen Gelenke nnd Bandverbindungen
innerhalb dor Trommelhöhle schlaff und nachgiebig findet. Nament-
lich war die Existenz des in den meisten Richtungen sehr nach-
giebigen Hammer-Ambossgelenkes in sehr entschiedenem Wider-
spruche mit der älteren, und von mir selbst in der Lehre von
den Tönempfindungen vorgetragenen Theorie, wonach Ham-
mer und Amboss zusammen ein um zwei Spitzen (den Processus
Folianus des Hammers und den kurzen Fortsatz des Ambosses)
*) Zeitschrift für rationelle Medicln. 1867.
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Verhandinngen des natnrhlstorisch-medirinlichen Vereins. 899
drehbares System bilden sollten, mit zwei nach unten reichenden
Hebelarmen, dem Handgriff des Hammers und dem langen Fort-
Anatomische Untersuchungen über die Verbindungen der Ge-
hörknöchelchen, die ich während dieses Sommers angestellt, haben
mir nun folgende Resultate gegeben:
1) Der Hammer behält seine Stelluug mit nach innen gezoge-
nem Trommelfell und seine Drehbarkeit um eine querlaufonde Axe
auch noch bei, wenn man den Amboss vorsichtig herausnimmt, und
sogar auch noch, wenn man die Sehne des Tensor Tympani
durchschneidet, doch macht die letztere Operation die Stellung
des Hammers allerdings viel weniger fest als sie vorher war.
Die Drehungsaxe des Hammers wird gebildet durch einen ziemlich
straffen sehnigen Faserzug, der von der Spitze der Spina Tympa-
nica posterior sich gegen eine knöcherne Hervorragung am hinteren
Rande des Trommelfells (etwa der Grenze der ursprünglichen Pars
tympanica entsprechend) hinzieht, und in welchen Faserzug der
Hammer selbst eingeschaltet ist. Der vordere Theil dieses Bandes
ist das bekannte Ligamentum Mallei anticum, welches den Pro-
cessus Folianus umschliesst. Die Spina tympanica posterior von
der der obere straffste Theil dieses Bandes entspringt, reicht übri-
gens , wie man mit einer Staarnadel fühlen kann , bis ganz nahe
an den Hals des Hammers, so dass die Bandverbindungen an dieser
Stelle eine sehr kurze ist. Der Processus Folianus ist in den von
mir untersuchten Ohren von Erwachsenen immer bis auf einen
kleinen Stumpf geschwunden, nicht blos abgebrochen gewesen. Mit
einer feinen Nadel, die ich zwischen die Fasern des Ligamentum
anterius einschob, konnte ich immer sein Ende fühlen, noch ehe
irgend welche heftigere Bewegungen der Gehörknöchelchen an dem
Präparate vorgenommen waren, und andrerseits war keinerlei etwa
abgebrochene Fortsetzung jenes Processus in der Bandmasse fühl-
bar. Der hintere Theil des genannten Faserzuges dagegen, den ich
Ligamentum Mallei posticum nennen möchte, liegt in der Schleim-
hautfalte, welche die hintere Trommelfelltasche bildet, oberhalb der
im Rande dieser Falte verlaufenden Chorda Tympani, nach hinten
stärker als diese aufsteigend. Ich möchte diesen gesammten Faser-
zug, das Axenband des Hammers nennen, wegen seiner Beden-
tang für die Bewegung dieses Knöchelchens. Dadurch dass das
vordere Ende dieses Bandes von der Spina Tympanica posterior
ausgeht, die sich sehr merklich von der Ansatzebene des Trommel-
fells, nach innen hervorragend, entfernt, bleibt zwischen dem Axen-
bande des Hammers und dem Trommelfell ein hinreichender Zwischen-
raum, um dem kurzen Fortsatze des Hammers Platz zu gewähren.
Wenn die Sehne des Tensor Tympani durchschnitten ist, ist das
Axenband des Hammers nicht so prall gespannt, dass es nicht
kleine Verschiebungen zuliesse. So lange aber jene Sehne erhalten
ist, und einen massigen Zug ausübt, bringt dieser Zug in dem Axen-
Digitized by CjOOQIC
900 Verhandlungen des natnrhistorlaoh-medhintechen Verein».
bände eine verhältnissmässig ziemlich strafte Spannung hervor, nach
demselben Principe, wonach ein horizontal nicht ganz straff ge-
spannter unausdehnsamer Faden durch ein kleines Gewicht, was
man an seine Mitte hängt, sehr kräftig gespannt werden kann.
2) In der Fortsetzung jener Schleimhautfalte, welche die hin-
tere Trommeltasche bildet, und das Lig. M. posticum enthält, da
wo sie sich am oberen Bande des Trommelfells entlang zieht, liegen
noch andere Sehnenstreifen, welche zugleich mit dem bekannten
Ligamentum Mallei superius HemmungsbUnder für die Bewegung
des Handgriffs and des Trommelfells nach aussen bilden.
8) Das Hammerambossgelenk ist zwar für eine ganze Reihe
kleiner Verschiebungen ein schlaffes und widerstandsloses Gelenk,
ausserdem auch nur von einer sehr zarten und zerreisslichen Kapsel-
membran umschlossen, aber einer Art der Verschiebung wider-
steht es in der natürlichen Lage der Knochen vollkommen sicher
und fest; bei der Eiuwärtsdrehung seines Handgriffs fasst nämlich
der Hammer den Amboss fest, wie eine Zange, während bei der
Answärtsdrehung des Hammergriffs beide Knochen sich von einan-
der lösen. In dieser Beziehung entspricht die mechanische Wirkung
des Gelenks vollkommen den Gelenken mit Sperrzähnen, wie man
sie an Uhrschlüsseln anzubringen pflegt. Man kann das Hammer-
ambossgelenk betrachten als ein solches Uhrscblüsselgelenk mit
zwei Sperrzäbncn. Von diesen ist je einer an der untern Seite
beider Geleukflächen sehr deutlich ausgebildet. Der des Hammers
liegt nach der Seite des Trommelfells, der des Ambosses gegen die
Trommelhöhle gewendet. Der obere Theil beider Gelenkfläcben ent-
spricht der Stossfläche der beiden zweiten Sperrzähne, neben welcher
die Schraubenfläcben, mit denen die Sperrzähne übereinander glei-
ten, zu schmalen Streifchen geschwunden sind. Wenn man sich
übrigens einen Hammer und den zugehörigen Amboss an kleinen
Holzstäbchen mit Siegellack passend befestigt, so dass das eine
Hölzchen etwa in Richtung dos Processus Folianus liegt, das andere
den Processus brevis des Amboss verlängert, dann die Knochen mit
ihren Gelenküächen aneinander setzt, während man sie an den
Hölzchen hält, so fühlt man sehr deutlich, wie fest und sicher der
Hammer den Amboss packt, sobald man seinen Handgriff nach
innen dreht. Dagegen weichen die Knöchelchen durch die entgegen-
gesetzte Drehung sogleich von einander, und lassen sich gegenseitig
los. Am unverletzten Ohre hat dies zur Folge, dass der Hammer
durch Luft, die in die Trommelhöhle dringt , ziemlich weit nach
aussen getrieben werden kann, ohne den Steigbügel mitzunehmen,
und ohne ihn aus dem ovalen Fenster auszureissen.
4) Da die Spitze des kurzen Fortsatzes des Amboss im Am-
bosspauken gelenke befestigt ist an einer Stelle, die eine Strecke
nach innen von der verlängerten Drehungsaxe des Hammers liegt,
und der Hammerkopf mit dem Hammerambossgelenk sich bei Ein-
wärtsziehung des Trommelfells nach aussen bewegt, also vom Am-
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Verhandlungen des wirurhistorisch-medlztolschen Vereins.
901
bosspauken gelenk entfernt, so werden die Gelenkbänder des Amboss
dadurch" gespannt, und die Spitze des kurzen Fortsatzes des Am-
boss wird von ihrer Unterlage ein wenig abgehoben, so weit es
die über diesem Gelenke gelegenen starken sehnigen Verstärkungs-
bänder zulassen. Man sieht aber deutlich an passenden Präparaten,
wenn man mit einer Nadel von oben auf den kurzen Fortsatz des
Amboss drückt, wie er sich dann senkt und nun erst an seine
knöcherne Unterlage anlegt, wobei die genannten sehnigon Ver-
stärkungsbHnder sich schlaff zusammenfalten. Also auch hier wer-
den die Gehörknöchelchen nicht durch eine feste Unterlage, sondern
durch, wenn auch kurze, gespannte Bänder festgehalten, so lange
sie sich in der Stellung befinden, in der sie für das Hören ge-
braucht worden.
5 ) Die Spitze des langen Fortsatzes des Amboss drückt gegen
das Köpfchen des Steigbügels, wenn der Hammergriff nach innen
gezogen ist, soweit es das Trommelfell zulässt; er liegt also dem
Steigbügel an, selbst wenn die Bänder des Ambosssteigbügelgelenks
durchschnitten sind. Wird der Hammer aber nach aussen bewegt,
so nimmt er bei durchschnittenem Ambosssteigbügelgelenk den
Amboss mit nach aussen. Ist dagegen die Verbindung des Steig-
bügels mit dem Amboss erhalten, so geht der Hammer allein nach
aussen, was er ohne einen zu starken Zug auf Amboss und Steig-
bügel auszuüben thun kann wegen der oben beschriebenen Form
des Hammerambossgelenks. In Summa also sind die Gehörknöchel-
chen in derjenigen Stellung, wo sie sich beim Hören befinden, nur
durch ein System gespannter sehniger Bänder in ihrer Lage ge-
halten, Bänder, welche alle einzeln genommen nicht sehr straff
gespannt sind, aber so angeordnet, dass wenn der Zug des Mus-
culus Tensor Tympani hinzukommt, der auch im unthätigen Zu-
stande immer noch als ein elastisch gespanntes Band zu betrach-
ten ist, alle die genannten Befestigungsbänder mit dem Trommel-
fell zugleich straff gespannt werden, wobei sich die drei Knöchel-
chen fest an einander schliessen, Hammer und Amboss mittels ihrer
Sperrzähne, der Amboss an den Steigbügel in ihrem Gelenk. Andrer-
seits gewährt dieselbe Befestigung einen breiten Spielraum für Ver-
schiebungen durch äussere zufallige Störungen, wie z. B. auch für
die von Riemann besprochenen Temperaturänderungen, ohne dass
dabei die zarte Einfügung des Steigbügels in das ovale Fenster
gefährdet wyrd.
Ich habe mir ein Model) der Gehörknöchelchen in vergrösser-
tem Maassstabe nachgebaut, in welchem die Sebnenbänder durch
unausdehnsame Hanf fü Jon , der Muskel durch ein elastisches Kaut-
schukband, das Trommelfell durch Handschuhleder ersetzt ist. Die
mechanischen Wirkungen dieses Modells sind denen der Gehör-
knöchelchen nach der von mir gegebenen Beschreibung ganz ent-
sprechend, namentlich Uberträgt dasselbe, trotzdem die hölzernen
Modelle der Knöchelchen nur durch Fäden festgestellt sind, Stösse,
Digitized
902 Verhandlungen des nAtuhriatorisch-medlrinischen Verein*.
die von aussen gegen den Hammergriff geführt werden, ganz sicher
und kräftig auf den Steigbügel.
6) Die Gehörknöchelchen des Menschen bringen bei der Ueber-
tragung der Bewegungen des Nabels des Trommelfells auf den Steig-
bügel keine erbebliche Veränderung der Amplitüde der Schwingun-
gen hervor, weil die Spitze des Hammergriffs nicht viel weiter von
der Drebungsaxe absteht, als die Spitze des langen Fortsatzes des
Ambosses, der auf den Steigbügel drückt. Beim Kalbe ist der
Handgriff des Hammers dagegen in der That viel länger, und hier
muss eine beträchtliche Vermehrung der Kraft der Schwingungen
mit gleichzeitiger Verminderung ihrer Amplitüde bei der Ueb er-
tragung auf den Steigbügel eintreten. Beim Menschen wird die
Aufgabe, die Kraft der Luftschwiugungen durch Verminderung ihrer
Amplitüde zu vergrösseru mittels eines ganz andern Mechanismus
gelöst, auf den man bisher, so viel ich weiss, noch gar nicht auf-
merksam geworden ist, und der auch bisher noch nicht einmal
empirisch bei musikalischen Instrumenten angewendet worden ist.
Es geschieht dies nämlich durch die besonderen mechanischen Eigen-
schaften , welche das Trommelfell als eine gekrümmte Membran
darbietet.
Das Trommelfell enthält radiale und ringförmige Faserzüge,
beide aus Sehnensubstanz gebildet, daher sehr wenig dehnbar: von
gelbem elastischem Gewebe bleibt beim Kochen des Trommelfells
in verdünnter Kalilösung kaum eine Spur übrig, die den Gefäss-
stUmmen und dem inneren Schleimhautblatte anzugehören scheint.
Die Mitte oder der Nabel des Trommelfells ist durch den Hammer-
griff beträchtlich nach einwärts gezogen, und die radialen Faser-
züge desselben sind nach aussen convex gewölbt, so dass sie gegen
die Spitze des Hammergriffs in einer nahehin rechtwinkeligen Kegel-
spitze convergiren.
Wenn nun ein gerader Faden von der Länge 1 in einen Bogen
vom Krümmungsradius r übergeführt wird, so wird die Länge A
der Sehne dieses Bogens
Die Annäherung der Endpuncte der Linie, während diese sich
krümrot. ist also
oder wenn r sehr gross gegen 1 ist
Die Hervorwölbung des Bogens, oder der Abstand s seiner Mitte
von der Sehne ist
Verhandlungen de« naturhi8torisch-medlzini8chen Vereins.
908
oder für ein sehr grosses r
8~ 8 T I 8
oder wenn man r aus 1 und 2 eliminirt
3 1"
Es wächst also die Verkürzung der Sehne des Bogens wie das
Quadrat der Verschiebung seiner Mitte, und bei sehr flachen Bögen,
deren Wölbung zunimmt, ist die Verschiebung ihrer Endpuncte ver-
schwindend klein gegen die Verschiebung ihrer Mitte.
Nun sind aber die Kadialfasern des Trommelfells solche unaus-
dehnsame Bögen, deren Mitte der Luftdruck zu verschieben strebt,
während ihre Wirkung auf den Hammergriff nur von der verhält-
nissmässig geringen Verlängerung oder Verkürzung ihrer Sehne ab-
hängt, und durch die Richtung des Ansatzes unter etwa 45° gegen
die Axe die Verschiebung noch verkleinert wird. Der Luftdruck
wird also eine verhältnissmässig grosse Verschiebung der Mitte die-
ser Bögen bewirken müssen, um eine sehr kleine Verschiebung des
Hammergriffs und der Knöchelchen hervorzubringen.
Eben deshalb steigert sich aber nun auch die Kraft dieser
letzteren Bewegung in demselben Maasse, in welchem sie kleiner
wird. Ist t die Spannung des Fadens, und p der Luftdruck, der
gegen die Einheit seiner Länge wirkt, so ist nach bekannten Gesetzen
t
P=r
oder indem wir r gegen 1 als sehr gross betrachten, nach Gleichung 2
8st
*— 87— pr
das heisst: bei gleichbleibender Länge des Bogens wächst der
Zug t den der Faden ausüben muss, um dem Drucke p das Gleich-
gewicht zu halten, direct wie der Radius, oder umgekehrt wie die
Höhe der Wölbung. Dieser Zug kann also bei einem sehr flachen
Bogen jede beliebige Höhe erreichen.
Beim Trommelfell wird nun die Krümmung der Radialfasern
nicht durch den Luftdruck, sondern durch die Spannung der Ring-
fasern unterhalten, und durch den Luftdruck nur vermindert und
vermehrt. Die mathematische Untersuchung des Gleichgewichts
einer solchen gekrümmten Membran zeigt, dass dadurch an den
oben angegebenen Resultaten nichts Wesentliches geändert wird.
Snb8tituirt man statt des wirklichen ein ideales Trommelfell,
welches rings um seine Mitte symmetrisch ist, so ergibt sich, dass
die vortheilbafteste Form eines solchen die einer Rotationsfläche
ist, welche bei gleichbleibender Länge ihrer Meridianliuien das
kleinste Volumen an ihrer convexen Seite abgrenzt. Die Form
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904 Verhandlungen des naturhiatorisch-medliinischen Vereins.
einer solchen Fläche lässt sich mit Hülfe der elliptischen Functio-
nen berechnen und zeichnen. Das Trommelfell ist in der That,
wenn man von der durch den oberen Theil des Hammerstiels ver-
ursachten Asymmetrie absieht, einer solchen Flüche ähnlich ge-
staltet. Die Stärke der elastischen Ringfasern müsste in jener
Fläche nach Aussage der mathematischen Theorie ebenfalls von der
Mitte nach dem Rande zunehmen, wie sie im Trommelfelle wirk-
lich thut.
Um die Wirkungen solcher gekrümmter Membranen auf die
Schallleitung zwischen Luft und festen Körpern practisch zu prüfen,
habe ich einen gläsernen Lampencylinder an seinem Ende mit
nasser Schweinsblase überspannt, deren Mitte durch einen beschwer-
ten Stab nach innen gedrängt, und sie so trocknen lassen. Dadurch
erhielt ich eine Mombrau, die ungefähr die Form des Trommel-
fells hat. Dann stützte ich auf die Mitte der eingezogenen Mem-
bran ein hölzernes Stäbchen, dessen anderes Ende als Steg für eine
Darmsaite diente, welche auf einem nicht resonirenden starken
Brette ausgespannt war. Die Membran, so mit der Saite verbun-
den, gab eino mächtige Resonanz, der einer Violine ähnlich, selbst
wenn die Membran nur vier Centimeter Durchmesser hatte. Die
Wirkung ist so Uberraschend, dass manche Zuschauer aafangs gar
nicht glauben wollten, dass von einer so kleinen Membran ein so
mächtiger Ton ausgehen kann , bis ich sie durch Gegenversuche
davon tiberzeugte.
7) Da vom Hammer, wie vom Ambos ein beträchtlicher Theil
ihrer Masse über der Drehungsaxe liegt, das Trommelfell dagegen
als eine Belastung des untern Endes des Hammers, der Steigbügel
als eine solche des unteren Endes des Ambosses angesehen werden
kann, liegt der Schwerpunkt des schwingenden Systems wahrschein-
lich der Drebungsaxe sehr nahe. Ich schliesse dies namentlich aus
der relativ schlechten unmittelbaren Leitung des Schalls von den
Kopfknochen an die Gehörknöchelchen. Denn die sogenannte Kopf-
knochenleitnng geht wesentlich durch den knorpeligen Theil des
Gehörganges. Wenn man mit der Hand oder einer das Ohr um-
greifenden Kapsel einen Luftraum von dem Ohre abschließt, hört
man die eigene Stimme oder eine an die Zähne gesetzte Stimm-
gabel gut, so lange die Wurzel des Obrknorpels nicht gedrückt
wird; so wie letzteres geschieht, verschwindet der Ton bis auf
einen verhältnissmässig kleinen Rest. Es geschieht offenbar die
Leitung von den Kopfknochen an den Ohrknorpel und von diesem
an die Luft des Gebörganges viel leichter, als von den Kopfknoohen
direct auf das Trommelfell.
8) Durch solche Versuche, bei denen ein mässig grosser
Luftraum vor dem Ohre abgeschlossen wird, sei es durch eine auf-
gesetzte feste Kapsel, sei es durch die Uber das Ohr gelegte hoble
Hand, kann man auch den Eigeuton des scbwingungsfähigen Appa-
rates bestimmen, den das Trommelfell in seiner Verbindung mit
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Verhandlungen des naturbistorisch-msdirinischen Vereins. 906
den Gehörknöchelchen, dem Labyrinthwasser und der Luft der
Trommelhöhle bildet. Man erkennt leicht schon durch die Stimm-
resonanz, dass diese am stärksten ist an der Grenze der ungestri-
chenen und eingestrichenen Octave. Genauer gelang diese Bestim-
mung mit Hülfe einer schwach gespannten und deshalb schwach
tönenden Darmsaite, die ich auf einem schmalen Brettchen befestigt
hatte. Das Brett legte ich flach an die Ohrmuschel, wahrend ich
die Saite anschlug, und suchte die Stelle des Steges, wo der Ton
am lautesten wurde. Es fand sich das h der ungestrichenen Octave
von etwa 244 Schwingungen. Dieser Ton ist in ziemlich weiten
Grenzen unabhängig von der vor dem Ohre abgeschlossenen Luft-
masse. Nur wenn man diese sehr verkleinert, zum Beispiel den
Tragus auf die Oeffnung des Gehörgangs andrückt, wird die Reso-
nanz etwa um eine ganze Tonstufe höher. Auch die Percnssion
des Schädels oder des Zitzenfortsatzes giebt denselben Resonanzton.
Nun ist der genannte Ton viel zn tief, als dass er den abgeschlos-
senen kleinen Luftmassen allein angehören könnte. Dass er kein
Eigenton des Ohrknorpels sei, ergiebt sich aus dessen schlaffer Be-
schaffenheit, und da raus , dass man den grössten Tbeil desselben
fest halten kann, ohne dass sich die Stärke der Resonanz ändert.
Ich schliesse daraus, dass es ein Resonanzton des Trommelhöhlen-
apparates sein müsse.
Nachtrag zu dem Vortrage Uber Mechanik der Gehör-
knöchelchen.
Ausser dem in meiner ersten Notiz angezeigten Resonanztone h
des bedeckten menschlichen Ohres habe ich seitdem noch einige
andere gefunden ; es bewog mich namentlich der Umstand zu fort-
gesetztem Suchen, dass ich keine Aenderung dieser Resonanz durch
veränderte Spannung des Trommelfells mittels Lufteinblasens ent-
decken konnte. Nun fand ich zunächst , dass auch die Obertöno
desselben h1 und fis1 verstärkte Resonanz geben; namentlich ist
die des h1 noch deutlicher als die des h.
Ausserdem aber habe ich gefunden , dass das C_i der sechs-
zehnfüssigen offenen Orgelpfeiffen ein Resonanzton des Ohre? ist.
Es ist dieser Ton derselbe, den Wollaston schon als Tonhöhe
des Muskelgeräusches angegeben hat. Ich finde, dass derselbe Ton
zum Vorschein kommt, wenn man den äusseren Gehörgang durch
einen leisen Luftstrom anblässt. Ferner wird das Muskelgeräusch
deutlich höher, um etwa einen ganzen Ton, wenn man das Trommel-
fell nach innen spannt durch Verringerung des Luftdrucks in der
Trommelhöhle. Bei einer früheren Gelegenheit habe ich gezeigt,
dass die Zitterungen der willkührlichen Muskeln, die das Muskel-
geräusch bewirken nicht regelmässig, wie die eines musikalischen
Tones erfolgen, und ausserdem nicht, wie Wollaston und
Haughton aus der erwähuten Beobachtung geschlossen hatten,
in der Anzahl von 33 bis 37 Schwingungen, sondern dass im
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906 Verhandlungen des naturhiatoriach-medürfnlachen Verein«.
Mittel nur etwa 19 unregelmässige Zuckungen in der Secnnde er-
folgen. Da sich die Tonhöhe dieses Tones mit dem geänderten
Zustande des Trommelfells ändert, so schliegse ich daraus, dass
das Muskelgeräusch ein Resonanzton des Trommelfells ist, hervor-
gebracht durch unregelmässige Erschütterungen der Muskeln.
Durch Einblasen von Luft in die Trommelhöhle wird das Muskel-
geräusch ein sehr viel schwächerer und tieferer Ton.
Die früher genannten höheren Resonanztöne h, hl und fis1 sind
wahrscheinlich Klirrtöne zwischen Hammer und Ambos. Dass der-
gleichen vorkommen können, zeigt sich sohon, wenn man eine stark
schwingende tiefe Stimmgabel nahe vor das Ohr bringt. Der tiefe
Resonanzton C_i giebt besonders starkes Klirren, was durch Span-
nung des Trommelfells nach innen merklich geschwächt wird, beim
Einblasen von Luft aber, die die Sperrzäbne des Hammers und
Ambosses von einander abdrängt ganz aulhört.
Danach sind die früher gemachten Angaben über den Ton h
zu verbessern.
16. Vorstellung zweier Operirten, die eine mit Pla-
stik des Antlitzes, die andere mit Oberkiefer-
resektion durch Hrn. Dr. Heine, am 9. Aug. 1867.
17. Vortrag des Herrn Dr.Heine: »Ueber eineMethode
Buprakondylärer Oberschenkelamputation«,
am 9. August 1867.
18. Vortrag des Herrn Professor H. A. Pagenstecher:
»Ueber einen überzähligen Backzahn bei Hylobates
syndaety lus «, am 25. October 1867.
(Das Manu script wurde sofort eingereicht.)
Es sind durch Prof. Bischoff in seiner besonderen Abhandlung
Über die Schädel der menschähnlichen Affen und in den Münchener
Sitzungsberichten 1867, 1, einige Fälle von Vorkommen eines sechsten
Backzahns bei diesen Thieren verzeichnet werden und zwar drei welche
den Orang, zwei welche den Gorilla treffen und einer welcher den
Chimpanse angeht. In der zoologischen Sammlung der Heidelberger
Universität findet sich der Schädel eines Hylobates syndactylos
von einem alten und grossen Männchen , welcher gleichfalls einen
sechsten Backzahn führt und damit vom Vortragenden schon seit
Jahron zur Demonstration einer Verbindung zwischen den Zahn-
zahlen der Affen der alten und der neuen Welt benutzt worden
ist. Dieser Backzahn steht in der linken Unterkieferhälfte und hat
die Gestalt eines kleinen Kornzahnes mit gerundeter Krone und
vermuthlich einfacher Wurzel. Da die oberu fünften Backzähnein
dem vollständigen Gebibse die untern kaum überragen, so kauu
dieser sechste Zahn keine bedeutende Funktion gohabt haben.
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Verhandlungen de» naturhlstorisch-medizlnlachen Vereins 907
Es erscheint von Wichtigkeit , dass eiue solche Sechszahl der
Backzähne, welche bekanntlich den echten Affen der neuen Welt
normal zukommt, obwohl dieselbe bei diesen allerdings lieber als
eine Vermehrung der kleinen Backzähne denn als ein Zuwachs am
Ende der Reihe bezeichnet wird, abnormer Weise demnach bisher
nur von den vier höchsten Gattungen der Affen der alten Welt
bekannt wurde. Man darf diesem Umstände vielleicht eine grössere
Wichtigkeit zuschreiben, wenn man eine Reihe anderer Aehnlich-
keiten berücksichtigt, welche diese höchsten Gattungen ebenfalls
mehr als die nachfolgenden der alten Welt den Affen der neuen
Welt nähern. Ueber die Grösse des Gesichtswinkels der Affen der
alten Welt, welche ihren Schädeln zum Theil ein menschähnliches
Ansehn giebt wie es die Antbroporaorphen kaum aufweisen, hat man
sich öfter erstaunt. Diesen wie jenen fehlen die Backentaschen und
die Gesässschwielen , welche erst gerade bei Hylobatcs schwach
auftreten. Die Einfarbigkeit der einzelnen Haare des Pelzes, welche
den Affen der neuen WTelt zukommt, erlischt bei denen der alten
Welt mit den Gattungen Semnopithecns und Colobus, welche auf
Hylobates folgen und dabei ist Colobus die einzige Gattung, welche
einen buschigen Schwanz hat, wie das den Aneturen der neuen
Welt gewöhnlich ist. Der Schädel eines Hylobates gleicht durch
die Breite und EUrze des Nasenbeines, die stark nach Aussen tre-
tenden Jochbögen, die kleinen Schneidezähne, die geringe Entwick-
lung des Oberkiefers, die fast vertikale Stellung der Hinterhaupt-
schuppe vielmehr dem eines Eriodes der neuen als dem eines Cyno-
cephalus der alten Welt. Auch ähnelt die Form, wenn auch nicht
die Grösse der äussern Oeffnung des knöchern Gehörganges mehr
zu jenen. Wir sehen so, aufmerksam gemacht durch die abnorme
Vermehrung der Zähne, welche die Entfernung beider Affengruppen
von einander verringert, auch die übrigen Eigenschaften, wie es
scheint sich am meisten nicht etwa an den niedersten Gruppen der
alten Welt, sondern auf dem Punkte dieser Unterordnung sich be-
gegnen, wo die Anthropomorphie anfängt. Man dürfte bekanntlich
die amerikanischen Affen auch nach ihrer Lebensweise nicht als die
am Tiefsten stehenden ansehn, man verraisst an ihnen ebenso sehr das
den Raubtbieren ähnelnde Wesen der Paviane als die intellektuelle
Erhebung der Chimpansen und Orangs.
Die grosse Zahl der Arten und die Veränderlichkeit der Cer-
kopitheken, Makaken und Cynocephalen beweist ohnebin, dass wir
in ihnen eine Entwicklung neuerer Epochen vor uns haben , über
welche ganz grosse Territorialumänderungen noch nicht weggegan-
gen sind. So haben diese Gruppen durch die Zahl der Arten sich
eine Geltung arrogirt, welcher der innere Werth und die Bedeut-
samkeit für die Entwicklungsgeschichte des Thierreichs nicht gleich-
steht. Am meisten dürfte aus ihnen zu machen sein durch speziel-
lere Beachtung der schwanzlosen Jnui und Vergleicbung der kurz
und lunggesuhwänzten Paviane. Ihre ganze Entwicklung dürfte ge-
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908 Verhandlungen des naturhistorisch-medurinischen Vereins.
scbuhn sein, nachdem die amerikanischen Affen sich von denen der
alten Welt auf einer Linie geschieden hatten, deren Verlängerung
am ersten zwischen Hylobates einerseits und Colobns und Semno-
pithecns andererseits gedacht werden darf. Das zerstückelte, ver-
einsamte Vorkommen dieser Gattungen und namentlich der höhem
Anthropomorphen , die faunale Verbindung mit gewissen andern
Faunairesten, namentlich Halbaffen und Edentaten , lässt die über
den Cercopitheken stehenden Affen ohnehin älter erscheinen , ah
diese und die weiter folgenden der alten Welt. Betreffende Schädel
wurden zum Vergleiche vorgezeigt.
19. Vortrag des Herrn Professor Erlenmeyer: »Ueber
die Analogie der sauren schwefligsauren Salze mit
don am eisen 9 au ren Salzen und über die Constitution
des Taurius«, am 29. November 1867.
(Das Manuskript wurde am 6. Deiember eingereicht).
Mitscherlich hat zuerst im Jahre 1833 die Benzoesäure
als Benzolkohlensöure mit der Benzolschwefelsfture verglichen, nach-
dem er gefunden hatte, dass einerseits durch Erhitzen von beozoS-
saurem Kalk mit Kalkhydrat, Benzol (C6H6) und kohlensaurer Kalk
gebildet wird, dass andererseits Benzol mit wasserfreier Schwefel-
säure zu Benzolschwefelsäure (Sulfobenzolsäure) verbunden werden
kann.
Dann hat Regnault im Jahre 1838 auf die Analogie zwi-
schen Cblorkohlensäure (C0C12) nnd Chlorschwefelsäure (S02CJ2)
aufmerksam gemacht. Er zeigte, dass sich die beiden Verbindun-
gen gegen Ammoniak parallel verhalten, indem beide ihre 2 Atome
Chlor gegen 2 NH2 austauschen und folgende Verbindungen liefern:
CO Cl2 + (NH3)4 ss CO (NH2)2 + (NH4 Cl)2
S02 Cl2 + (NH3)i = S02 (NH2)2 +- (NH4 Cl)2.
Hierauf haben Gerhardt und Chancel (1852) bei Gelegen-
heit der Mittheilung ihrer Untersuchung über die Produkte der Ein-
wirkung von wasserfreier Schwefelsäure auf kohlenstoffhaltige Ver-
bindungen folgende Verbindungen miteinander verglichen:
CO Kohlenoxyd mit S02 Schwefligsäureanhydrid.
COO Kohlensäureanhydrid mit S020 Schwefelsäureanhydr d.
C0C12 Chlorkohlenoxyd mit S02C12 Chlorschwefelsäure.
COC,HjCl Chlorbenzoyl mit S02CfeH»Cl Phenylschwefligchlorür.
CO(CfiH3)2 Benzophenon mit SO, (Cfi H5)2 Sulfobenzid.
COC6H5NH2 Benzamid mit SO^HjNH, Phenylschwefligamid.
COCfiHjOH Benzoesäure mit S02CßH5OH Sulfobenzolsäure.
COOCßH5OH Salicylsäure mit SO, OCfi H5 OH Phenylschwefelsänre.
CO06H5NH2O Anthranilsäure mit 8020, H5NH20 Sulfanilsänre.
CO . CO . 0 C6H5 OH Phtalsäure mit S02C0 0 C6 H5 OH Benzoöschwefels.
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Verhandlungen des naturhlstorisch-medlxinischen Verein».
909
Später, im Jahre 1859, hat Kolbe folgende Verbindungen mit
einander in Parallele gestellt:
CO 0 S02 0
Kohlensaure Schwefelsäure
C2 H5 CO OH C2 H5 SO, OH
Aethylkohlensäure Aethylechwefelsäure
(Propionsäure)
(c2 |c!4)cOOH (Pi |5)80, OH
Cbloräthylkohlensäure Chlorathylschwefelslure
(Chlorproplonsänre)
(o, |h«)coci (c, |5)bo,ci
ChlorBthylcarbonchlorld Chlorätbylsulfonchlorid
(Chlorpropioxylchlorid)
(o, jgj,2)C00H iNk>°'0H
Amidoätbylkohlens&ure Amidoäthylschwefele&ure
(Alanin) (Taurin)
(c2 |ofi)COOH (c» |oh)s°2°h
Oxy ät hylk ohlensäure Oxy äth yl ■ chwefels äu re
(Milchsäure) (IsäthionsäureJ
Kolbe denkt sich die S02 OH enthaltenden Säuren, die er spä-
ter Sulfonsäure genannt hat, als Abkömmlinge der wasserfreien
Schwefelsäure, wie er die CO OH enthaltenden, welche er als Car-
bonsäuren bezeichnet hat, als Derivate der wasserfreien Kohlensäure
betrachtet.
Da ich es für experimentgemässer erachte die Carbonsäuren
von der Ameisensäure abzuleiten, so kann mir der Gedanke, ob es
nicht möglich wäre, auch die Sulfonsäuren von einer der Ameisen-
Rllure analogen Verbindung abzuleiten.
Wenn man die Ameisensäure als eine Verbindung von der
Formel
H
CO (als Wasserstoffcarbonsäure)
' OH
anzusehen hat, so müsste die ihr correspondirende Sulfonsäure fol-
gende Zusammensetzung haben:
H
S02
OH
Eine solche Verbindung besitzen wir nun nicht. Wir wissen aber
nach Berthelots Versuch, dass CO sich mit KOH zu araeisen-
saurem Kali verbindet. Wenn nun CO und S02 in vielen ihren
Verbindungen soviel Aehnlichkeit zeigen, so dachte ich, muss auch
die Verbindung, welche entsteht, wenn man S02 mit KOH ver-
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§10 Verhandlungen des naturhistorisch-medlrinischen Vereins.
einigt (das saure schwefligsaure Kali) eine dem ameisensauren Kali
entsprechende Verbindung sein:
H H
CO S02
OK OK.
Gehen wir noch einen Schritt weiter und erinnern uns daran,
dass aus ameisensaurem Salz oxalsaures gebildet wird, wenn wir
aus 2 Mol. des ersteren die 2 Atome Wasserstoff hinwegnehmen:
H — CO OK COOK
-H2=|
H — COOK COOK
so werden wir zu der Vermuthung gefuhrt, dass auch eine dem
oxalsauren Kali entsprechende Verbindung
SO. OK
I
SO, OK
existiren wird.
Wir haben in der That eine solche Verbindung in dem unter-
schwefelsauren (dithiousauren) Kali, das wir uns auf ganz ahn-
liche Weise aus saurem schwefligsauren Salz entstanden denken
können, wie das oxalsaure Salz ans dem ameisensauren, das sich
auch dem oxalsauren Salz ganz entsprechend beim Erwärmen zer-
setzt.
C2 04 Ka c= CO -f C03 K2
S2 06 K2 as S02 + S04 K2
Obgleich diese Analogie überraschend ist, so könnte man mir
doch den Einwand machon , das ameisensaure Salz und das saure
schwell igsaure Salz lassen sich nicht als analoge Verbindungen be-
trachten , weil sich das saure schwefligsaure Salz sehr wesentlich
von dem ameisensauren dadurch unterscheidet, dass jenes an die
Stelle seines Wasserstoffs 1 Atom Kalium aufzunehmen vermag,
während das ameisensaure Salz dazu nicht im Stande ist. Wir
haben aber ein ganz entsprechendes Verhalten bei Nitroform und
Chloroform, die trotz dieses Unterschieds als analoge Verbindungen
angenommen werden.
Wenn ferner die Analogie der wasserfreien Schwefelsäure die
1 Atom Schwefel und 3 Atome Sauerstoff enthält mit der wasser-
freien Kohlensäure, die 1 Atom Kohlenstoff und 2 Atome Sauer-
stoff enthält, die also iu ihrer Zusammensetzung sehr wesentlich von
einander abweichen, die sich ausserdem noch sehr auffallend dadurch
von einander unterscheiden, dass die letztere mit Wasser keine Ver-
bindung eingeht, während sich die erstere ungemein leicht damit
verbindet etc. etc., wenn diese Analogie trotzdem zugegeben wird,
so muss man auoh die Vergleichung von saurem schwefligsauren
Kali mit ameisensaurem Kali trotz des oben angegebenen Unter-
schieds für zulässig halten.
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Verhandlungen des natnrhietoriach-mediiinfachen Vereins. 911
Es lag nun sehr nahe, auch die Verbindungen, welche durch
Vereinigung von anderen Substanzen mit Ameisensäure entstehen,
zu vergleichen mit solchen , welche durch Vereinigung derselben
Substanzen mit saurem schwefligsaureu Kali gebildet werden.
Wir wissen nach den Experimenten von Wislicenus, dass
sich Ameisensäure mit Aldehyd zu Gährnngs- d. i. Aethyliden-
milchsäure verbindet. Wir wissen ferner nach den Versuchen von
Bertagnini, dass sich saure schwefligsaure Alkalien mit Alde-
hyd vereinigen zu sog. aldehydschwefligsauren Salzen. Diese letzte-
ren Verbindungen hielt man bisher ebenso wie die Verbindungen
von sauren schwefligsauren Alkalien mit andern Aldehyden und mit
Ketonen entweder für molekulare Aneinanderlagerungen oder für
Verbindungen, welche sich von dem sauren schwefligsaureu Natron
so ableiten , dass an die Stelle von 1 Atom Wasserstoff in dem-
selben z. B. das Radical C2H3 aus dem Aetbylaldehyd eingetre-
ten sei.
Ich nehme an , dass das aldehydschwefligsaure Kali mit dem
milchsauren Kali ebenso analog ist, wie sulfobenzolsaures Kali mit
Benzoösaurem und sage, wenn die Bildung der Milchsäure nach
folgender Gleichung von Statten geht:
CH3 CH3
t I
H — C=0 und H - CO OH giebt H— 0— OH
Aldehyd CO OH
Ameisensäure Milchsäure
so verläuft die Bildung von aldehydschwefligsaurem Kali ganz ana-
log wie folgt:
CH8 C — OH
H-C=0 und H-S02OK giebt H-C-OH
I
Aldehyd S02 OK.
säur, schwefligs. Kall Aldehydschwefllgs. Kali.
Wir wissen nuu aber, dass das aldehydschwefligsaure Kali beim
Erwärmen mit Alkalien oder Wasser, beziehungsweise verdünnten
Säuren wieder Aldehyd ausgiebt.
Ich halte die Zersetzung des aldehydschwefligsauren Kali'«
durch Kalihydrat für ganz analog mit der, welche KekuU, Wart*,
Dusart in neuerer Zeit bei dem sulfobenzolsauren Kali beobach-
tet haben:
C6 H5 C6 H5
und K OH giebt | -f-KSO^OK.
S06OK OH
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911 Verhandinngen des naturhiBtorisch-medlzinischen Verein*.
C H3 CHg
1
H — C— OH und KOH giebt H— C=OH undK-S04 OK
S02 OK OK
Wirkt Wasser (in Gegenwart von Säuren) ein, so treten nur
die Bestandtheile von 1 Mol. Wasser mit dem aldehydschweflig-
sauren Kali in Reaction :
CHS CHS
I nndH— SOjOK.
H— C-OH und HÖH giebt H— C-OH
I ' I
S02 OK OK
Die Verbindung CH3
H-C-OH
I
OH
(Aethylidenglycol)
ist nicht existenzfähig, sie zersetzt sich sofort in
CH3
| und H OH
H-C=0
Aethylldenoxyd Wasser.
Säuron zersetzen das saure schwofligsaure Kali weiter z. B. Chlor-
wasserstoff in:
SO.,, C1K und HÖH.
Ich dachte nun, wonn Milchsäure eine der Aldehydschwefiigsäare
analoge Constitution bat, so wird sie sich auch gegen Wasser (bei
Gegenwart von Säuren) der letzteren ähnlich verhalten, d. b. sich
nach folgender Gleichung zersetzen:
CH3 CH,
H-C— OH und HÖH giebt H— COH und H-CO OH.
I I
CO OH OH
Milchsäure Aethylidenglycol Ameisensäure
wobei natürlich der Aethylidenglycol wieder zerfallt in Aldehyd
und Wasser.
(Schluss folgt)
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Hr. 58. HEIDELBERGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR
Verhandlungen des naturkistorisck - medizinischen
Vereins zu Heidelberg.
(SchluBB.)
Ich erhitzte daher Milchsäure mit verdünnter Schwefelsäure
mehrere Stunden bei 130° im zugoschmolzenen Rohr. Beim Oeffnen
des Rohrs zeigte sich starker Aldehydgeruch (bei Anwendung von
Säure, die aus gleichen Theilen Schwefelsäurehydrat und Wasser
bestand war von gebildetem Kohlenoxyd Druck im Rohr). Beim
schwachen Erwärmen des Röhreninhalts auf dem Wasserbad destil-
lirte reichlich Aldehyd über. Der Rückstand im Destillations-
gefäss wurde stark mit Wasser verdünnt und weiter auf freiem
Feuer destillirt. Das saure Destillat wurde mit kohlensaurem Natron
neutralisirt und abgedampft. Das erhaltene Salz war ameisen-
saures Natron.
Hieraus scheint mir hervorzugehen , dass sich die Milchsäure
nach obiger Gleichung, also ganz analog dem aldehydschwefligsauren
Kali, zersetzt hat. Die ersten* bildot sich also in ganz analoger
Weise wie das letztere und zersetzt sich auch in analoger Weise,
aber der Bildungsprocess wie der Zersetzungsprocess vollzieht sich
bei der ersteren schwieriger als bei dem letzteren.
Nach meiner Ansicht steht die Aldehydschwefligsäure zur
Gährungsmilcbsäure in derselben Beziehung, wie die Isäthionsäure
zur Fleischmilchsäure oder, die Aldehydschwefligsäure zur Isäthion-
säure in derselben Beziehung, wie die Gährungsmilchsäure zur Fleisch-
säure :
CH3 CH8
I I
H-COH H— COH
I I
CO OH S02OH
Gährungsmilchsäure Aldebydschwefligs&ure.
H2COH HoOOH
I I
Ho C Ho C
I I
CO OH S02OH
Fleischmilchsäure Is&thlonsfture.
Kolbe nimmt die Isäthionsäure als die der Gährungsmilch-
säure parallele Verbindung an, und in neuester Zeit tbut diess auch
LDL Jahrg. 12. Heft. 58
Digitized by dooQic
914 Verhandlungen des naturhlstorUch-medtzinischen Vereins.
Kekule, Nach den oben gegebenen Betrachtungen bin ich
rer Ansicht. Dass die Isäthionsäure von dem Aethylen abstammt,
zeigt schon die Bildung derselben durch Oxydation von Aethylen-
oxysulfbydrat mit Salpetersäure, welche Carius beobachtet bat,
und ihr üebergang in Methionsäure.
Ich stimme daher auch nicht mit Kolbe in der Ansicht über-
ein, dass das Tauri n die dem Alanin entsprechende S02- Verbindung
ist, sondern ich bin der Meinung, dass das Taurin und die nach
Gibbs daraus darstellbare Isäthionsäure ebenso wie die Fleisch-
milchsäure das Radical
H2C—
H3<L-
enthalten.
Zum Schluss noch einige Bemerkungen über die nähere Con-
stitution des Taurins. Bekanntlich hat Strecker im Jahr 1854
Taurin künstlich dargestellt durch Erhitzen von isäth ionsaurem
Ammoniak. Man hat danach angenommen, das Taurin sei das Amid
der Isäthionsäure, trotzdem, dass das künstliche Taurin Streckens
ebensowenig wie das natürliche mit Kalilauge Ammoniak entwickelt.
Kolbe hat dann im Jahre 1862 ebenfalls Taurin künstlich er-
zeugt, indem er Ammoniak auf chloräthylschwefligsaures Silber ein-
wirken Hess. Das auf diese Weise entstandene Product zeigte wie
das Strecker' sehe alle Eigenschaften des natürlichen Taurins.
Wenn man die Bildung des künstlichen Taurins nach der
Methode von Strecker mit der gewöhnlichen Zersetzungsweise
der Ammoniaksalze erklären will, dann muss man annehmen, dass
sie in folgender Weise von Statten gegangen:
Ca H4 OH C, H4 OH
SOaOtfHt Ha°~~" SOgNH,
Dass also Isäthionsäureamid entstanden ist. Dieses müsste aber,
wie auch Kolbe bemerkt mit Kalilauge Ammoniak entwickeln and
es könnte ein solches Product nicht identisch sein mit dem von
Kolbe dargestellten ; denn dieses wäre von dem Strecker' scheu
eben so verschieden wie Glycocoll von Glycolamid.
Da nun nach den Angaben von Strecker und von Kolbe
die resp. Abkömmlinge der Isäthionsäure beide mit dem natür-
lichen Taurin, also auch mit einander identisch sind, da ferner das
Taurin weder die Eigenschaften einer Säure, noch die einer Basis
zeigt, so halte ich es für gerechtfertigt, die Annahme zu macber.
dass das Taurin weder ein Amid , noch eine Amidosäure ist, son-
dern ein Ammoniumsalz von folgender Constitution:
H3N — CHj
0< |
0,S — CH2
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Verhandlungen des naturhistorisch-medizinischen Vereint,
916
also die Säureseite mit der Amidseite verbunden ist. Macht man
diese Annahme, dann lässt sich auch ein Mittel Anden, zu erklären,
wie es möglich ist, dass Strocker und Kolbe auf zwei ganz
verschiedenen Wogen zu demselben indifferenten Körper gekommen
sind. Man kann sich nämlich denken, dass sich der Process von
Strecker so:
H3
HO — CH2 N — CH2
I 0< |
H4NOS-CH2 — HaO*)= S— CH2
02 02
IsÄtbionsaureB Ammoniak Tatirin
der Process von Kolbe so:
H3
C1CH3 N-CH.
| + (NH3)a= 0< l a+NH4Cl
HOS-CH2 8— CHj
02 02
Chloräthylschweflig- Taurin
sture
vollzogen hat.
Wenn man annehmen wollte, das Taurin bestehe aus 2 Mol.
Amidoäthylschwefligsäure, die sich gegenseitig sättigen:
02 H3
H2 C — 8 — 0 — N — CHa
I I
H2C — N — 0 — S — CHj
H3 02
so wäre damit zwar auch seine Indifferenz erklärt, nicht aber die
Identität des nach dem Strecker ' sehen Verfahren dargestellten
mit dem von Kolbe gewonnenen Product.
Ich bin damit beschäftigt, das künstliche Taurin nach beiden
Verfabrungsweisen darzustellen, um weitere Aufschlüsse über seine
nähere Constitution zu erhalten.
20. Vortrag des Herrn Dr. Erb: »Ueber die soge-
nannte wachsartige Degeneration der quergestreif-
ten Muskelfasern«, am 29. November 1867.
(Das Manuskript wurde alsbald eingereicht.)
Die Ansichten der einzelnen Beobachter über die von Zenker
als »wachsartige Degeneration« beschriebene Veränderung der Mus-
keln sind keineswegs übereinstimmend. Die Einen (Zenker,
•) Das Wasser würde in diesem Fall gebildet worden sein aus dem
Hydroxyl, das mit CH, verbunden war und aus 1 Atom Wasserstoff des
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016 Verhandlungen des naturhistorisch-medizlnischen Vereins.
Waldeyer, 0. Wober, C. E. Hofmann) halten dieselbe für
eine während des Lebens schon entstehende mehr oder weniger
schwere Veränderung der Muskelsubstanz, Uber deren näheres Zn-
standekommen allerdings die Ansichten wieder getbeilt sind; die
Andern dagegen (Klob, VV. Krause) erklären die wachsartige
Degeneration in vielen Fällen ftlr eine Leichenerscheinung , deren
Bedeutung für die Pathologie des Muskels vielfach überschätzt
worden sei. Da die sog. »wachsartige Degeneration« eine wie es
scheint, äusserst häufig vorkommende Erscheinung ist, und ihre richtige
Würdigung für die Auffassung vieler krankhafter Vorgänge im Mus-
kel von fundamentaler Bedeutung ist, so wäre eine Lösung der
oben angedeuteten Widersprüche sehr erwünscht. Die im folgen-
den kurz mitzutheilenden Versuche und Beobachtungen liefern viel-
leicht einen kleiuen Beitrag zu dieser Lösung. Diese Versuche
wurden gelegentlich einer zu andern Zwecken unternommenen Expe-
rimeutaluntersuchung angestellt, bei welcher nur in den Muskeln
die wachsartige Degeneration unter so wechselnden Umständen zur
Beobachtung kam, dass ich es für nothwendig hielt, ihr Vorkom-
men etwas näher zu prüfen.
Die Untersuchung erstreckte sich zunächst auf ganz normale
Muskeln. Die Untersuchung sehr zahlreicher Präparate vom Frosch,
Kaninchen, Hund und Menschen zeigte, dass wenn man ganz frische,
noch lebende Muskelpräparate herausschneidet und rasch unter dem
Microscop untersucht, sich an denselben keine Spur von der wachs-
artigen Degeneration findet ; dass aber, wenn man diese Präparate
in einer indifferenten Flüssigkeit (Blutserum, filtrirtes Hühner-
ei weiss, Jodserum, lu/0 Kochsalzlösung) conservirt, nach kurzer
Zeit (7a — 1 Stunde) sich Veränderungen in den Muskelfasern ein-
stellen, welche in ihrem Aussehen durchaus mit der wachsartigen
Degeneration identisch sind. Dass wirklich diese Identität des
Aussehens besteht, kann keinem Zweifel uuterliegen; einmal passen
die Beschreibungen und Abbildungen Zenker's und Waldeyer 's
genau auf die Veränderungen, welche sich an meinen Präparaten
finden und dann habe ich auch durch directen Vergleich mit Typhus-
muskeln, welche die Degeneration zeigten, diese Identität constatirt.
Als nächste Veranlassung zu dieser eigenthümlichen Verände-
rung bieten sich zunächst zwei Momente dar: die Veränderung
der Muskelfasern und die Todtenstarre. Um ihre Wirkung
etwas näher abzugrenzen, wurde zunächst geprüft, ob dieselbe Ver-
änderung der verwuudeten Fasern auch eintrete, wenn dieselben
in dem lebenden Tbierkörper bleiben. Eine Reibe von Versuchen
an Fröschen , Kaninchen und Hunden ergab nun, dass dieselben
Veränderungen auch an den Muskelfasern noch lebender Thiere sich
einstellen, sobald diese Fasern verwundet werden. Wenn demnach
allerdings die Verwundung der Fasern als das Hauptmoment
für die Entstehung der wachsartigen Degeneration erscheinen könnte,
so zeigt doch eine genauere Ueberlegung unter Berücksichtigung
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Verhandlungen des nfthirbistoriaeh-medudnischen Vereins. 917
der Aufeinanderfolge der Erscheinungen , dass unmöglich die Ver-
wundung an und für sich die fragliche Muskelveränderung hervor-
rufen kann. Es scheint vielmehr, dass auch an den verwundeten
Muskeln des noch lebenden Thiers erst das Auftreten eines der
Todtenstarre ähnlichen, vielleicht mit ihr identischen Gerinnungs-
vorgau gs erforderlich ist, um die Erscheinungen der »waebsartigen
Degeneration« hervorzubringen. Die Verwundung muss dann als
prädisponirendes Moment betrachtet werden, als das Moment, wel-
ches die >wachsartigo Degeneration« unter dem Einflüsse der
Todtenstarre erst ermöglicht, während die Todtenstarre in der un-
verwundeten normalen Muskelfaser nicht im Stande ist, diese Ver-
änderung hervorzubringen. Dass an lebenden Muskeln es nicht die
active Contraction der Muskelfasern ist, welche das Entstehen der
wachsartigen Degeneration bedingt, wurde durch Versuche an ge-
lähmten Muskeln von Fröschen und Kaninchen erwiesen, an wel-
chen sich nach der Verwundung die »Degeneration« mit derselben
Schnelligkeit und Intensität entwickelte, wie an nicht gelähmten
Muskeln.
In allen bisher besprochenen Versuchen konnte dor Einftuss
der Verwundung von dem der Todtenstarre nicht getrennt werden.
Selbst in den am lebenden Thiere angestellten Versuchen konnte
das Auftreten von GerinnuugsvorgUngen nicht mit Sicherheit aus-
geschlossen werden. Man musste desshalb nach Fällen suchen, in
welchen mit Sicherheit bloss der Einfluss der Todtenstarre vor-
handen ist. Es mussten unverletzte Muskeln vor und nach der
Todtenstarre untersucht werden: mit andern Worten, es handelte
sich darum , das postmortale Entstehen der wachsartigen Degene-
ration in unverletzten Muskelfasern zu constatiren.
Nur auf diesem Wege kann man zur Entscheidung der Frage
gelangen, ob die sog. wachsartige Degeneration in einer Reihe von
Fällen Leichenerscheinung ist oder nicht. Es muss entweder nach-
gewiesen werden, dass die Degeneration in dem noch lebenden und
unversehrten Muskel existirt, oder es muss ihr postmortales Ent-
stehen mit Sicherheit constatirt sein.
^tir die letztere Beweisführung kann ich nun eine Reihe von
Tbatsachen beibringen. Ich fand bei Gelegenheit einer Untersuchung
über peripherische Lähmungen , dass sich nach Nervenquetschung
bei Kaninchen in den gelähmten Muskeln nach einiger Zeit die
»waebsartige Degeneration« in grosser Ausdehnung finde. Bei sol-
chen Thieren nun untersuchte ich die Muskeln noch während des
Lebens und unmittelbar nach dem Tode, noch vor dem Eintritt der
Todtenstarre; dann wieder später nach Ablauf der Todtenstarre.
In den verschiedensten Stadien der Lähmung ergab sich nun con-
stant in den ganz frischen Präparaten nie eine Spur von Degene-
ration ; während sich bei der spätem Untersuchung in einigen
Fällen in vielen Präparaten, bei einzelneu Fällen sogar in allen
Präparaten mehr oder weniger zahlreiche degenerirte Fasern fan-
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918 Verbandlungtn des n»turhUU>ri»eh-medixioiscb«n Verein
den. Da dio Zahl der angefertigten Präparate gross genug ist, um
die Wirkung des Zufalls auszuschliessen, scheint es mir durch diese
Beobachtungen erwiesen, dass wenigstens bei diesen Läh-
mungen die wachsartige Degeneration während des
Lebens nicht existirt, so nd er n er 1 1 pos t mor tal unter
dem E inf 1 us s der To dt enstarre entsteht. Es wird dadurch
allerdings die Annahme nothwendig, dass schon während des Lebens
eine — nicht näher definirbare — Veränderung in den Muskelfasern
entsteht, welche das Eintreten der Veränderung unter dem Einfluss
der Todtenstarre auoh ohne vorausgegangene Verletzung ermöglicht.
Es dürfte wohl, wie mir durch eine neuere Beobachtung an einer
Typhusleiche wahrscheinlich geworden ist , auch für den Typhus
möglich sein, durch eine methodische Untersuchung den Beweis zu
liefern, dass die fragliche Veränderung eine Leichenerscbeinung ist.
Ais Resultat vorstehender Beobachtungen glaube ich folgende
Sätze aufstellen zu können :
1) Die sog. wach sartige Degen er ation findet sieb
an allen gesunden Muskeln, sobald dieselben ver-
letzt worden sind, mögen sie mit dem lebenden Körper in
Verbindung bleiben oder nicht.
2) In manchen pathologisch veränd er ten Muskeln
tritt dieselbe Veränderung nach dem Tode auch in
unverletzten Pasern ein. Die > wachsartige Degene-
ration« ist in diesen Fällen Leichenerscheinung.
In diesen letzteren Fällen kann nun das Auftreten der wachs-
artigen Degeneration in den Muskeln keineswegs als der Ausdruck
einer numerischen Atrophie des Muskels, als der Beweis für einen
unrettbaren Zerfall der Fasern angesehen werden. Das Auftreten
der Degeneration beweist uns nur, dass eine gewisse Veränderung
der quergestreiften Substanz vorhanden sein muss. Es ist möglich,
dass diese Veränderung eine tiefgreifende , auch im Leben schon
zur endlichen Resorption der Faser führende ist; aber bewiesen
ist das nicht. Das Auftreten der Veränderung in jeder normalen
Faser, die eine Gontinuitätstrennung erlitten hat, scheint vielmehr
dafür zu sprechen, dass es sich nicht um sehr tiefgreifende, picht
um irreparable Veränderungen handelt.
21. Vortrag des Herrn Professor H. Knapp: »Oeber
plastische Bindehautoperationen bei Hornhaut- und
Bindehau tcancroidenc, am 13. Dezember 1867.
(Das Manuscript wurde sofort eingereicht)
Die plastischen Operationen der Bindehaut, bisher zu wenig
geübt, sind noch einer weiteren Ausbildung fähig. Besonders gute
Dienste leisteten sie mir bei den nicht seltenen Geschwülsten, die
ihren Ausgangspunkt in dem Limbus Conjunctivae nehmen and
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Verhandlungen des naturhistoriach-medlzintschen Vereins. 919
wohl meistens in die Grnppe der Cancroide gehören. Ich operire die-
selben in der Weise, dass ich ihren episkleralen Theil so umschneide
dass ein Bindehautsaum von ungefähr 2 Mm. in ihrer Umgrenzung
mit entfernt wird. Wie bei der Enukleation des Auges die Binde-
baut um die Hornhaut mit der Scbeere ringförmig eingeschnitten
wird, so thue ich es hier um den Tumor herum. Dieser wird dar-
auf mit einer breiten Hakenpincette an der Basis fest gehalten und
mit dem Staarmesser in grossen glatten Zügen aus seiner Unter-
lage, Hornhaut und Sklera, herausgeschnitten, wobei ich von die-
ser Unterlage eine dünne Schicht mit fortnehme. Ist dieses ge-
schehen, so bilde ich zwei seitliche Bindehautlappen, ziehe sie heran
and vereinige sie mit zwei Nähten, wovon die peripherische immer
den anliegenden conjunktivalen Wundrand mitfasst, damit nicht
nur hier keine Lücke entsteht, sondern auch die vereinigten Lappen
aasgebreitet und von der wunden Hornhaut abgezogen erhalten
werden.
22. Vortrag des Herrn Professor H. Knapp: tüeber
Staphylomabtragung und Vereinigung der Wunde
durch Bindehautnäthe «, am 13. Dezember 1867.
(Das Manuscript wurde am 19. Dezember 1867 eingereicht.)
Redner hörte in London, dass auf die Crit oh ett* sehe Sta-
phylomamputation (mit nachfolgender Vereinigung der Wunde durch
Nähte, welche durch die Sklera und den Ciliarkörper geführt wer-
den) sympathische Entzündung des andern Auges gefolgt war. Er
schlägt deshalb die Vereinigung durch Conjunktivalsuturen vor, und
ein Fall, den er auf diese Weise operirte, lieferte eine ebenso voll-
kommene Vereinigung und rasche Heilung der Wunde, als es die
Critchett'scbe Operation thut, ohne die Gefahren dieser duroh Ciliar-
körperprozesse befürchten zu lassen.
23. Vortrag des Herrn Professor H. Knapp: »lieber
Pterygiumoperation durch doppelt e Transplan tation
und plastische Deckung des Defectes«,
am 13. Dezember 1867.
(Das Manuacript wurde sofort eingereicht.)
Redner fand, dass die Desmar res' sehe Transplantation des
Flügelfells einen unschönen Wulst im innern Augenwinkel setzte,
in manchen Fällen auch nicht heilte und daher Recidive er-
zeugte. Er theilt deshalb das abgelöste Pterygium in der Mitte
und verpflanzt die eine Hälfte in den oberen, die andere in den
unteren Uebergangstheil , während er gleichzeitig die ganze wunde
Skleralstelle plastisch deckt durch aufwärts und abwärts gebildete
und herbeigezogene Bindehautlappen. Seit 7 Jahren operirt er
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920 Verhandlungen des natnrhistorigch-medizinischen Vereins.
Pterygien in dieser Weise und findet die Ergebnisse des Verfah-
rens ganz befriedigend, namentlich besser als die der andern Ver-
fahrensarten, welche er so ziemlich alle versucht hat.
24. Mittheilung des Herrn Professor H. Knapp: »Ueber
Operation eines Symblepharon totale des unteren
Lides«, am 13. Dezember 1868.
(Das Manuscrlpt wurde am 19. Derember eingereicht )
Ein 8 jähriger Knabe hatte eine Kalkverbrennuug vor 4 Mo-
naten erlitten und eine völlige Verwachsung des untern Lides mit
der Sklera und dem unteren Hornhautabschnitt davongetragen. Vom
Lidrand brückte sich ein 4 Mm. breiter, narbiger Bindehautstreifen
gerade auf den Augapfel hinüber, an welchem eine weiche, kirch-
korngrosse Excrescenz sass. Redner löste die Verwachsung bis
zur Insertion des unteren geraden Augenmuskels, schnitt das un-
brauchbare Narbengewebe fort, bildete zwei Lappen ans der oberen
Bindehaut des Augapfels, nähte sie im unteren Uebergangstheil
fest , indem er zugleich damit den schmalen Rest der narbigen
Bindebaut des unteren Lides vereinigte und deckte sc- die blosslie-
gende Sklera bis auf eino kleine, dreieckige Stelle unter der Hornhaut
Die Wunde heilte per primam und die Form und Bewegung des
Auges und Lides wurden befriedigend wieder hergestellt. Wiewobl
der untere Theil des Bindehautsacks verkümmert blieb, so war doch
die Verwachsung von Lid und Bulbus geheilt, die Hornhaut frei
und die Oeffuung und Schliessung der Lidspalte vollkommen.
25. Vortrag des Herrn Professor H. Knapp: >Ueber
Sarkom und Gliosarkom des Auges«, am S.Januar 1868.
(Das Manuscrlpt wurde sofort eingereicht)
Meine Klinik hat mir seit mehreren Jahren ein recht reiches
Material an intraokularen Geschwülsten geliefert und ich habe nicht
ermangelt, dasselbe klinisch und anatomisch so genau zu unter-
suchen als es meine Zeit und Fähigkeiten gestatteten.
Die 8arkome sind die häufigsten der intraokularen Geschwülste.
Ich will mir erlauben Ihnen eine kurze Mittheilung über die ana-
tomischen Eigenschaften, soweit ich sie bis jetzt an sechs
dieser Geschwülste kennen lernte, zu machen.
Die zusammensetzende Elemente der Augensarkome
in ihrem ausgebildeten Zustande sind : 1) Z e 1 le n. Diese sind ent-
weder rund, oder spindelförmig mit den Uebergangsformen
beider, oval und ästig. Sämmtliche Zellen besitzen Kerne und meist
auch KernkÖrperchen , welche beide in der Regel schon ohne Rea-
gentien gross und scharf hervortretend sind. Die Hülle fehlt offen-
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Verhandlungen des n&tnrhistoriscn-medteinischen Vereine. 92t
bar bei den jüngeren Zellen beider Arten, namentlich der runden,
während sie in älteren als scharfe Contour hervortritt. Der Zellen-
inhalt, das Proto- oder Cytoplasma, ist bei den spindelförmigen
meist reichlich, dagegen bei den kleineren runden Zellen immer ein
dünner Mantel. Es ist seiner Natur nach amorph oder feinkörnig,
niemals fand ich es längs oder quergestreift.
2) Eine Zwischensubstanz, in welcher die Zellen einge-
bettet liegen. Diese ist meistens amorph oder in erhärteten Prä-
paraten feinkörnig, manchmal auch streifig, zwar nicht wie die
lockigen Fibrillenbündel des Bindegewebes, sondern in breiteren,
steifen, unregelmässig mit einander verflochtenen Bändern. Wenn
auf irgend eine Art die zelligen Gebilde entfernt sind, so stellt der
Zwischenzellstoff ein vielgestaltiges, unregelmässiges Maschenwerk
(Reticulum) dar, und seine Menge wird auf diese Weise reeht an-
schaulich. In manchen Formen ist die Zwischensubstanz sehr spär-
lich, besonders bei Spindelzellensarkomen, an andern so reichlich,
tlass dadurch Uebergangsforncen zu den Fibromen gebildet werden.
3) Pigment kommt als autochtones in braunen und
schwarzbraunen runden Körnchen und als hämorrhagisches in röth-
lichen und gelblichen Körnern vor. Ersteres ist das überwiegende
und seine Erzeugung wird von Virchow der metabolischen Thätig-
keit der Zellen zugeschrieben. Das braune Pigment haftet an den
Zellen und zwar fast ausschliesslich am Protoplasma.
4) Gefässe sind in den Sarkomen immer vorhanden, aber
in wechselnder Menge. Bei den Anfangsformen kann man sie noch
als die erhaltenen Blntcanäle des Muttergewebes nachweisen, später
verschwinden diese in der Masse der neugebildeten.
5) Fett ist das einzige Produkt regressiver Metamorphose,
welches ich in den von mir untersuchten Fällen fand, doch kom-
men auch Kalkablagerungen darin vor. Die Verfettung ist sehr
ausgedehnt und häufig bei den Sarkomen, die Verkalkung jeden-
falls eingeschränkter als bei den Gliomen.
In Bezug auf den Sitz kommen die Sarkome in allen drei
Bezirken der Gefässhaut des Auges primär vor, am seltensten in
der Iris, am häufigsten in der Cboroides.
Die Ausbreitung des Sarkoms geschieht zuerst immer in
der Continuität des Muttergewebes. In der Aderhaut wächst es
es nach allen Richtungen bin und bildet runde oder elliptische
Knoten, Diese werden nicht selten von kleineren Nebeuknoten um-
lagert. Im Ciliarkörper verbreitet sich die Neubildung der Art, dass
zuerst das Stroma desselben ergriffen wird , dann schieben sich
Gänge von Sarkomgewebe zwischen Sklera und Ciliarmuskel ein
und von diesen und dem Stroma der Fortsätze kleinere zwischen
die Bündel der glatten Muskelzellen. Diese werden damit immer
mehr zusammengedrängt und verschwinden zuletzt ganz. Dann dringt
die Freradbildung in Irisstroma ein, bildet daselbst kugelförmige
Geschwülste, welche einzelne Abschnitte und die ganze Iris zerstören.
/
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922 Verhandlungen des naturhiatoriach-medkinlschen Vereint.
Die Netzbant üherlagert eine Zeit lang die Geschwulst,
wird dann in ihrem ganzen Umfang abgehoben, doch so, dass sie
die Geschwulst oder einen Theil derselben dauernd überzieht, wäh-
rend sie an den geschwulstfreien Stellen der Aderhaut durch serösen
Erguss von dieser getrennt ist.
Der Glaskörper verschwindet durch Resorption. Die Linse
wird nach vom geschoben und erhalt sich lange. Zuletzt gehen
alle innern Theile in der Fremdbildung unter und die fibröse Augen-
kapsel ist von der Masse der Neubildung gleichmässig ausgefüllt
Aber lange vorher schon bemerkt man Sarkomknoten auf der
Anssenfläche der Sklera. Diese sind mitunter ganz klein,
stecknadelkopfgross, mitunter übertreffen sie das Volumen des Aug-
apfels um ein vielfaches. Sie treten immer an solchen Punkten
der Skleralaussenfläche auf, welche den Geschwülsten auf der Innen-
flache entsprechen. Auf Durchschnitten sieht man beide Skleral-
oberflächen von Sarkommasse besetzt und den Skleralquerschnitt
scheinbar frei von sarkomatöser Affektion. Die Vermittlung ge-
schieht durch Zellenstrilnge des Fremdgebildes durch das Gewebe
der Sklera. Anfangs sind dieselben mikroskopisch und bleiben
auch so bis der perisklerale Knoten eine beträchtliche Grösse, oft
den endoskleralen tiberwiegend, erreicht hat. Ist einmal der Bul-
bus mit der Masse der Fremdbildung ganz erfüllt, so bricht diese
auch in grösseren Oeffnungen durch die Sklera.
Daneben findet man dann Sarkomknoten in der Orbita,
welche aber auch noch als Nebengeschwülste der okularen zu be-
trachten sind , d. h. zwischen denen und der Augapfel ge schwulst
unmittelbarer Zusammenbang durch Sarkomgewebsstrange besteht.
Will man Zellenwanderung hier annehmen, so ist der Weg für
dieselben in der Orbita allerdings leichter als durch die derbe
Sklera.
Eigentliche Metastasen sind bei den Sarkomen gar nicht selten
und die auf Leber, Gehirn und Lunge die gewöhnlichsten. Die
Leute sterben an Erschöpfung bei Hydrops im Bauchfell und den
untern Extremitäten, auch unter cerebralen Erscheinungen.
Bezüglich der Arten des Sarkoms habe ich bis jetzt drei der-
selben am Auge beobachtet:
1) Spindelzellensarkom, melanotisch und unge-
färbt. Dieses und zwar die melanotische Abart ist die häufigere.
In manchen findet man nur Spindelzellen von den ersten Grenzen
der Geschwulst an. Auch die periokularen und metastatisohen
Sarkome haben dann gewöhnlich ganz genau denselben Bau.
2) Bundzellensarkome, wieder melanotisch und unge-
färbt. Sie scheinen rascher zu wachsen, früher äussere und meta-
statische Geschwülste zu liefern.
Uebergänge zwischen beiden , sowie zwischen gefärbten und
ungefärbten Formen sind durchaus häufig. Einzelne Partien der
Geschwulst enthalten vorwiegend Spindel-, andere Rundzeilen, ebenso
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Verhandlungen dea nfttiirMstorlach-medieinischen Vereint. 923
trifft man irgendwo eingebettet in weisse Bnndzellensarkome ein-
zelne Knoten von weissen oder melanotischen Spindelzellen an.
3) Gliosarkom. Davon beobachtete ich einen Fall f den
ich als Combinationsgeschwulst auffasse. An der Sklera lag in
der Hälfte ihrer Ausdehnung ein melanotiscbes Sarkom von grossen
runden und zum Theil spindelförmigen Zellen ; diese hatte neben
dem Sehnerven die Sklera durchbrochen und aussen fortgewuchert.
Der übrige Augapfelraum war aber eingenommen von unzweideu-
tigem Gliomgewebe (Elemente wie die Retinakörner), in wel-
chem auch die vom melanotischen Sarkom nicht befallene Choroi-
des zusammengepresst und gefaltet eingebettet lag, genau so wio
man dieses beim reinen , primären Gliom findet. Andere Theile
im Bulbus waren nicht zu finden. Diese Gliommasse hatte die
Sklera am Aeqnator durchbrochen und wucherte aussen üppig
weiter. Ihre Elemente wurden indessen grösser je mehr man sich
von der äquatorialen Dnrcbbruchsstelle entfernte, erreichten den
doppelten und dreifachen Durchmesser der Retinakörner und hatten
um ihre grossen deutlichen Kerne breite Umhüllungen von amor-
phem Protoplasma, waren also in die runden Sarkomzellen über-
gegangen. Beide Abschnitte der Geschwulst hatten im Bulbus und
zum Theil auch ausserhalb nicht nur ihren von einander verschie-
denen und eigenthümlichen Charakter, sondern waren auch von
verschiedenen Grundgeweben ausgegangen, wie ihr Sitz bekundete,
nämlich das Sarkom von der Aderhaut, das Gliom von der Netzhaut.
Die Entwicklung des Augensarkoms beobachtete ich
in beiden von Virchow aufgestellten Entwicklungsarten sarkoma-
töser Geschwülste:
1) Direkt aus dem Mu 1 1 e r ge w ebe. Dieses war hier
immer das Stroma der Aderhaut und zwar der Lage der grösseren
Geffcsse. Eine unmittelbare Vervielfältigung der vorhandenen Ge-
webszellen führte ohne Brücke vom gesunden Gewebe in den ähn-
lich aussehenden Tumor, nur mit dem Unterschiede, dass in letz-
terem bloss die spindelförmigen und runden Zellen mit Zwischen-
substanz blieben, aber die Schichtung und Gefassvertheilnng der
Aderhaut vollständig unterging. Die grösseren Gefasse, sammt der
Choriocapillaris und Epitheliale blieben noch eine Zeit lang als
Decke der geschwulstbildenden Hyperplasie des Stromas der äusseren
Schichte erhalten.
2) Durch vorh erige Einlagerung von kleinen run-
d e n Z e 1 1 e n (Primordial-, Bildungs-, Granulationszellen) in's Grund-
gewebe, welche gleichfalls im Stroma der grösseren Gefasssioht auf-
traten und dann sehr bald zu runden oder spindelförmigen Zellen
sich gestalteten.
In Bezug auf die Pigmentirnng fand ich, dass jene ersten
Entwicklungsformen von Anfang an melanotische Elemente erzeugen,
die Formen aber, welche aus Bildungszellen hervorgehen, sind ur-
sprünglich ungefärbt und nehmen erst später Farbstoff auf.
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924 Verhandlungen des natnrhistoriseh-medürinisehen Verein».
Geschäftliche Mitteilungen.
Alf» ordentliche Mitglieder wurden in den Verein aufgenommen
die Herren Dr. F. Bergmann, Dr. N. J. C. Müller, Dr. Lü-
roth, Dr. Darmstädter, Dr. Paul du Bois Reymond Dr.
Heinrich Weber und Dr. v. PI a n ta -Re i chen a u.
Dagegen verlor der Verein an Mitgliedern durch Austritt den
Herrn Weydung, durch Verzug die Herren Dr. Hub er und Dr.
Faber, endlich durch den Tod die Herren Amtsarzt Horgt in
Neckargemünd und Professor Dr. Otto Weber.
Der letztere, ord. öffentl. Professor der Chirurgie und Direktor
der chirurgischen Klinik an unserer Universität, erlag am 11. Juni
1867 nach ganz kurzer Erkrankung einer Diphtheritis. 8eit kaum
zwei Jahren Mitgliod unserer Gesellschaft war er durch seine aus-
gebreiteten Kenntnisse, seinen unermüdlichen Forschungstrieb und
die uneigennützigste Hingebung an die Wissenschaft wie an der
ganzen Hochschule so auch in unserm Kreise eins der vorzüglich-
sten Lebenselemente geworden. Gerade einer seiner letzten Vor-
träge behandelte die Krankheit, in deren Untersuchung und Be-
kämpfung er sich selbst den Tod holte. Seine edlen Eigenschaften
werden in unserm Gedächtnisse leben.
Durch die Wahl am 25. Oktober 1867 wurde der Vorstand
für das nächste Verwaltungsjahr gebildet. Es wurden ernannt:
Herr Geheimrath Holmholtz zum ersten Vorsitzenden.
Herr Hofrath Kopp zum zweiten Vorsitzenden.
Herr Prof. H. A. Pagenstecher zum ersten Schriftführer.
Herr Dr. Fr. Eisenlohr zum zweiten Schriftführer.
Herr Professor Nuhn zum Rechner.
Man bittet wie bisher alle Zusendungen an den ersten Schrift-
führer zu richten und im Nachfolgenden die Empfangsbescheinigung
für die zuletzt eingegangenen empfangen zu wollen.
Mehrfachen Anfragen gegenüber müssen wir mit Bedauern mit-
theilen, dass von den beiden ersten Bänden der Verhandlungen des
Vereins nichts mehr vorrätbig ist und auch der dritte nicht mehr
ganz vollständig geliofert werden kann.
Verzeichniss
der vom 1. Juni bis 31. Dezember 1867 an den Verein einge-
gangenen Druckschriften.
Mittheilungen des naturw. Vereins für Steiermark, H. 4.
Berichte über die Verhandlungen der naturf. Gesellschaft zu Frei-
burg i. Br. IV. H. 1 «. 2.
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Verhandlungen des naturhistorisch-mediiinlschen Vereins. 925
Sitzungsberichte der k. k. Akademie der Wissenschaften zu Wien.
Nr. 14-30.
Bulletin de l'acaddmie Impör. des sciences de Petersbourg. X, XI,
XII 1—6.
Vierteljahrsschrift der naturf. Gesellschaft zu Zürich. IX— XI.
Sitzungsberichte der naturw. Gesellschaft Isis zu Dresden. 1867.
Nr. 1-8.
Bulletin de la Society des naturalistes de AIoscou. 1866. Nr. 3 u. 4.
1867. Nr. 1.
Giornale die scienze naturali ed economiche del consiglio di perfe-
zianamento al Reale Istituto tecnico di Palermo. II. 1866.
f. 2—4.
Recherches sur la fecondation et la germination du Preissia cow-
mutata par M. L. Lortet.
Recherches sur la vitesse du cours du sang par le meme auteur,
beide in 2 Exempl.
Observations meteorologiques faites ä Luxembourg par F. Reuter.
Societe des sciences naturelles du Grand Duche de Luxembourg.
IX. annee 1866.
Joanne Z'ycki: Cholerae pathologia et therapia, Vilnae 1867.
Jahresber. des physik. Vereins zu Frankfurt a. M. für 1865 — 66.
Der Zoologische Garten. VIII. H. 1 — 12.
Annual report 1866 of the Surgeon Generali office.
Von der Smithsonian society of Washington:
Annual report for 1865. List of works published.
Mackall: an essay on the life in nature. 1855.
Mackall: extrait from an essay on physikal force. 1865.
Mackall: an essay on the law of muscalar action. 1865.
Binney: land and fresh water shells. II et III. 1865.
Prime: Monograph of american corbiculidae. 1865.
Stimpson: Researches upon the hydrobiidae. 1865.
Annual report of the museum of comparative Zoolog at Harward
College in Cambridge. 1866.
Von der Boston Society of natural history:
Memoirs, Volume L parts 1 et 2.
Proceedings X. p. 289 tili end. XI p. 1 — 96.
Condition and doings of the society. 1866.
Sitzungsberichte der Gesellschaft zur Beförderung der Naturwissen-
schaften zn Marburg. 1866.
Würzburger medizinische Zeitschrift. VII. H. 4. 1867.
Bulletin de la soci« t. d'bistoire naturelle de Colmar 6 et 7 annees
1865-1866.
Archivio per la Zoologia, l'anatomia e la fisiologia, Giov. Cane-
strini, Modena. HL 2. IV. 1. 1865—66.
Annuario della Societa dei naturalisti in Modena anno II, 1867.
Sitzungsberichte der k. Akademie der Wissenschaften zu Münchei..
1867. I. H. 4. II. H. 1.
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026 Verhandlungen des natnhrtetorlsch-mediriniselien Vereine.
52ster Jahresbericht der naturf. Gesellschaft in Emden. 1866.
Rendi Conti del Reale Istituto Lombardo di scicnze e lettere. Vol.
TL faso. 10. vol. III. fasc. 1—9.
II secondo congresso sanitario ed il regno d'Italia. 1866.
44ster Jahresbericht der schlesischen Gesellschaft f. vaterländische
Cultur. 1866.
Schriften der k. physikal. Ökonom. Gesellschaft zu Königsberg. VI
2. VII 1 u. 2.
Annales de l'observatoire physique central de Russie 1868. U.2.
1864.
Campte rendu annnel (Supplement am annales pour 1862).
Memoires de la sociöte* des sciences physiques et naturelles de Bor-
deaux. Tome IV. Cahier 1. suite. Tome V. Cahier 1.
Acad^mie Royale de Belgique: Annuaire 1867. XXXIII. Bulletins
XXII, XXIII 1866 u. 1867.
Verhandlungen der physik. medizin. Societät zu Erlangen. 1865 —
1867. Heft L
Fünfzehnter Bericht der Philomathie in Neisse 1865 — 67.
(jiornale di scienze naturali ed economiche del istituto Uonico di
FäleHno.
Würzburger mecftziffische Zeitschrift VII. 5 — 6 Heft.
Lotos. XVI. Jahrgang.
Report on epidemic cholera fromme surgeon generals office at
Washington.
Jahresbericht 1864 über Verwaltung des fcfodicinalwesens in Frank-
furt a. M.
Statistische Angaben über Kindersterblichkeit in Frankfurt a, M.
1851—1866.
Tageblatt des 41. Naturforscherversammlung zu Frankf, a. M. 1867.
Jenaisch« Zeitschrift für Medizin u. Naturwissenschaft. III. H. 4.
33ster Jahresbericht des Mannheimer Vereins für Naturkunde. 1867.
Notice sur Michel Faraday par M. le Prof. de la Rive. Gene v"© 1867.
Abhandlungen der Senckenbergi sehen naturf. Gesellschaft. Vi* 8 u.
4. Frankfurt 1867. ;
XV. Bericht des Vereins für Naturkunde zu Cassel. 1867. \
Mittheilungen aus dem Osterlande von der naturf. Gesellschaft de*
Osterendes zu Altenburg. XVIII. 1. u. 2. Heft. 1867.
Mitgliederverzeichniss derselben.
Bulletin de la Sociätö des sciences medicales du Grand duche* de
Luxembourg. 1867.
Festschrift der naturf. Gesellschaft in Basel. 1867.
Verhandlungen der naturf. Gesellschaft in Basel IV. Th. 4. Heft.
1867.
Ueber die physik. Arbeiten der Societas physica helvetica 1751 — .
1787. Festrede von Dr. F. Burckhardi 1867. Basel.
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Basti an: Reise nach Cochinchlna.
927
Bastian, Adolf, Dr., Reise durch Kambodja nach CocMnchina.
Jena, 1868.
Unerwartet rasch ist dem dritten Bande der »Studien« über
die Völker des Östlichen Asien ein vierter gefolgt. Er schliesst
die hinterindische Halbinsel ab, wird aber der letzte Band des
ganzen Werkes, welches sein berühmter Verfasser herauszugeben
beschäftigt ist, auch noch nicht sein. Jedoch bildet er ein Ganzes
für sich, nur dass bereits im ersten Bande gewisse historische Er-
gebnisse der im vierten beschriebenen Reise durch Kambodja zum
Voraus verwerthet sind. Obwohl die Würdigung der Reiseerfahrun-
gen der Hauptzweck für uns hier ist, dürfen doch auch jene ge-
schichtlichen Resultate sich einer Berücksichtigung erfreuen, wie man
denn vielleicht so am richtigsten über Werk und Werkmeister ur-
theilen wird. Beides gehört sogar zu einander, und werde ich da-
her, indem ich zunächst dem Faden seiner Erzählung folge, später
mich auf jene historischen Ergebnisse beziehen.
Am 30. November gedachten Jahres*) verliess unser Reisender
die Hauptstadt Bangkok auf Booten, die zuerst durch die Canäle
fuhren, welche die Vorstädte bewässern, und dann in den Canal
einliefen, welcher den Menam mit dem Pachimfluss verbindet. Das
Wasser dieses Canals zeigt allmählich erst eine Strömung, die stär-
ker und stärker wurde, bis sie die Reisenden nach Kanap, der
Einmündungsstelle in den Pachimfluss, brachte. Sie machten aber
in Pak-K h long Halt, wo sich die Polizeistation (Dan) befand. In
den Fluss fuhren sie erst am nächsten Morgen ein. Den Arm, der
nach Norden (nach Nakhon-najok) führt, Hessen sie liegen, und fuh-
ren auf dem Kabin-Arm weiter, um nach der Stadt Pachim zu kom-
men. Ueber die Entfernung getäuscht, waren sie genöthigt noch
eine Nacht in einem Kloster zuzubringen. Da der alte Ohao Myang
(Gouverneur) in Pachim nach Bangkok abgereist, der neue nach
Kambodja, und der Prälat (Vicegouverneur) gleichfalls sich abwesend
fand, so begab er sich nach dem Hause des Jockabat (Beistandes).
Dieser war ausgegangen. So war er auf den Phu Xuai (den Gehül-
fen des Jockabat) reduoirt. Aber was ihn am Meisten interessirte,
konnte er von einer Frau erfahren. Er fragte dieselbe nach den
Xong der umliegenden Berge, da sie längere Zeit in der Nähe
der Xong -Dörfer gelebt hatte, und fuhr dann weiter. Die
Nacht blieben sie im Dorfe Kathum, dessen Häuser auf einer hohen
Bank liegen. Obwohl sie schon mit Mondlicht aufbrachen, so kamen
sie doch erst am Nachmittage in Paknam an: So schwierig war
die Fahrt auf dem Flusse gewesen! Dort wurde bei dem Zusam-
•) Nämlich 1868 Laut Band III. S. 1 hatte er am 16. Nov. 1862 die
birmanische Grenze passirt. Ein Jahr war Aber der Bereisung Slams ver-
flossen. Vgl. unsere Anseige des III. Bandes in diesen Jahrbb. Jahrg. 1867.
Nr. 38 ff.
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028
Bastian: Reise nach Cochiochina.
menfluss des Bankraphong und des Samokuai ein Markt auf ge-
ankerten Böten abgebalten *). Sie schickten zum Dorfbeamten
(AmpbO oder Kveng) um Karren für Kabin geliefert zu erhalten,
da von dort die Landreise bis Kambodja beginnen sollte. Das
setzte bis zur Erreichung des Wunsches umstUndlicbe Auftritte ab,
unter denen die Ausbesserung der Räder nicht der heiterste war.
Die Weiterfahrt ging über eine grüne mit bunten Blumen ge-
schmückte Wiese. In Kabin liess unser Reisender sein Boot nach
Bangkok zurückkehren. Karren zur Weiterreise bekam er nach
einigen Tagen Wartens duroh den Gouverneur (S. 19). Er fand in
Kabin, wie in Baugkok , vierr Tralakan (Richter) vor. Der eine
war der Gouverneur, der, gleich dem Jommarat der Hauptstadt,
Criminalfälle zu entscheiden hatte. Ein zweiter präsidirt dem Civil-
gericht. Vor den dritten kommen Sachen dasRegierungseigentham
oder das des Königs betreffend, und dem vierten steht das Urtbeil
Uber Alles zu, was sich auf den Ackerbau bezieht. Als Karren,
Büffel und Führer sich neben seinem Standquartier (cfr. S. 11)
eiugefundeu hatten, wurden alle Vorbereitungen für den Aufbruch
getroffen.
*) Wir müssen hier constatlren, dass die Karte für die indochinesi-
schen Reiche nach dem Entwürfe Kieperts vermöge der ausgezeichneten
Umsicht dieses Chartographen , wovon seine Bemerkungen zur Karte zeu-
gen (cfr. Band III. S. 638 ff.), recht genau das disponible Material ver-
werthet hat. Man nehme die Karte zur Hand, und lese im Zusammen-
hange des Berichts (Bd. IV, p. 7) folgenden geographischen Excura : „Von
den beiden Flüssen entspringt der Khuay Bankraphong oder der Menam-yal
(der grosse Strom) in Kambodja, der Menam noi oder kleine Strom kommt
von den Bergen Phaya Fai bei Korat herab. Beide Flüsse, besondere der
letztere, der zum Aufstauen des Wassers mit Flechtenwerk durchzogen ist,
sind sehr flach und fliessen in sandigen Betten, so dass sie nur in ganz klei-
nen Böten noch für ein paar Tage weiter aufwärts befahren werden können,
um die an ihren Ufern liegenden Dörfer zu besnehen Der Menam noi hebst
auch der Kuay Ilanuninn (der Bach Hanuman's), und ein an ihm gelegenes
Dorf führt den Namen Chantakham oder die Ansledlung der Chandala, In-
dem die ganze Gegend vom Dong Phram bei Pachim bis au Kabin (der
Affenstadt) und weiter .... mit brahmanischen Anspielungen auf das Ramayani
gefüllt ist"
(Schluss folgt)
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Kr. 59. HEIDELBEEGER 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Bastian: Reise nach Cochinchina.
(SchluSB.)
Wir werden von jetzt ab unseren Reisenden, der bisher theils
Canalwege und Fluss benutzt hatte, auf seiner Fahrt über Land
begleiten. Es war noch dunkel Nacht, als die Morgenglocken der
Klöster aufs Neue ihr Geläut begannen, und er rief die Leute
wach, um die Karren mit den für sie bestimmten Gepäcken zu be-
laden. Einer der Mahathai genannten Beamten kam selbst, um die
Arbeit zu überwachen. Als dor erste Dämmerungsschein hervor-
brach, wurde, am 10. Dezember, die Fahrt angetreten, die anfangs
durch Wasserpfuhle , welche die Regenzeit zurückgelassen hatte,
daun über Sandwege, endlich durch einen Wald führte. Erst folg-
ten sie hier einer breiten Strasse, und brachen sich aut weichem,
grünem Moosgrunde in den dichten Büschen eine Bahn. Mehrere
tief eingeschnittene Bäche mussten mittelst Brücken passirt wer-
den. Nach vielem Ungemach, wie es das Reisen in solcher Gegend
mit sich bringt, machten sie am Packnam-Flusse Halt. Man war
bei Prathong, doch weder im Bereich von Dörfern, noch mensch-
licher Ansiedlungen. *) Die Schlafhalle stand in einer Lichtung, von
dichtem Jnngle umgeben, an dessen Ende sich ein Götzentempel
fand. Eine andere Reisegesellschaft, die auf Elephanten von Kam-
bodja anlangte, quartierte sich in einem verfallenen Gebäude neben
dem ihrigen ein. Noch vor der Dämmerung liess B. aufbrechen,
und die Karren unter Fackelbeleuchtung über die lange Brücke
hinüberziehen, welche über den Strom führte, der von dem nörd-
lich gelegenen Chantabun kommt. Bald kam wieder eine Brücke,
die aber eingefallen war, so dass die Gespanne eine weniger ab-
schüssige Stelle des Ufers zum Durchfahren erst suchen mussten.
In dem Walde, den man darauf zu passiren hatte, mehrten sich
die Schwierigkeiten dermassen, dass es zuletzt der ganzen Ent-
schiedenheit B.'8 bedurfte, um vorwärts zu ziehen. Das Vertrauen
trug den Sieg davon, und gerade als sich das Licht mit dem Schat-
ten der Dämmerung zu mischen anfing, schimmerte es heller durch
die Bäume des Waldes, und fuhren sie bald darauf in die ange-
*) Es war ein Wachtposten. Der Officier war herübergekommen, und
orientirte sie. Er bemerkte auch, dass in den helssen Monaten, wenn alle
Wasserpfützen am Wege ausgetrocknet seien, die Büffel nur bei Nacht rei-
sen konnten. Dann sei die Sternebeobachtung wichtig Die übrigen Gestirne
verändern jede Nacht die Zeit ihres Niedergehens, aber Orion (Dao Thai)
und Plejaden (Dao kai) bleiben sich immer gleich, so dass sie als Uhr be-
nutzt werden können [wie in den An des das Kren*]. 8. 24.
LX Jahrg. 12. Heft. 59
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Bastian: Reise nach Cochinchina.
bauten Felder Bahn Sa-Keoh's hinab. Bahn-Sakeoh heiast s.
v. a. Dorf des Juwelenteiches. Der Fluss Sa-Keoh fliesst in einiger
Entfernung dos Dorfes. Er entspringt auf den Bergen Chantabnn's
und verbindet sich etwas hinter Prathong mit den dort aus Korat
herabfliessenden Gewässern, um vereinigt den Kbnai jai des Kabin-
flusses zu bilden. Die in Bahn-Sakeoh angesiedelten Khamen (Kam-
bodier) kommen meistens aus den Pa-Sisen, einer zum Theil zu
Chantabun, zum Theil zu Battambong gehörigen Waldgegend. Er
fand auch einige Siamesen (Thai) darunter; aber dieselben pflegen
es nicht lange auszuhalten, sagt er, wogegen die Khamen, wie auch
die Xong ihre Wahnsitze bewahrten. Das Dorf war, wie er von
Einwohnern erfuhr, erst nach Anlage der Heerstrasse von Siam
nach Kambodja entstanden. Sein Pochen auf seine Pässe aus Bang-
kok half ihm auch in Bahn-Sakeoh, und ging es mit dem Beiais
hier wieder gut. Erst nahm sie ein Wald auf, dann eine wellige
Ebene, die mit Bäumen bedeckt und von Jungle eingefasst war.
An einigen Baumzweigen sah er Strohbüschel befestigt, die durch
Verdienstsucher dort angebunden waren, um den Beisenden anzu-
deuten, in welcher Richtung die Wege am besten im Stande seien.
Bald darauf wurden die Häuser Vattana's durch das Gebüsch sicht-
bar und fuhren sie nach der Sala, um dort abzusteigen.
Vattana ist eine Oolonie von Viengtchan. Zerstreut unter
den Lao daselbst leben die Lao Suai. Einige stammen von Nong-
chang (8 Tage von Viengtchang entfernt).*) Hier sollte wieder
Wechsel der Karren stattfinden. Deshalb schickte er, worauf der
Prälat erschien, ein Schwiegersohn des Ohao Myang in Kabin, der
B. schon von ihm gesprochen hatte. Was er mit dem Prälat ver-
handelte, sagt er nicht. Am folgenden Tage wurde er von dem
Phu Xuai besucht.
Der in Rede stehende Platz ist insofern von Wichtigkeit, als
er naoh der alten geographischen Eintheiiung der erste Ort auf
khamischem Boden war. **) Er liess sich von Goldgruben erzählen,
n — ,
* j Der Verfasser greift mit seinen auf den grossen kambodiechem Bin-
nensee (Thalesab) n. s. w. bezüglichen Details hier S. 84 ff. bedeutend dem
Zusammenhange des Reiseberichts vor; wie wir uns hier Ober dieVerfrüh-
ung wundern müssen, verursacht uns ein« spatere Seite (878) ähnliche Ge-
fühle. Das hindert natürlich nicht, die Sch&tzbarkeit der Details anzuerkennen.
Auch erkennen wir, dass die frühe Erwähnung und die späteje sich ergänzen.
Aber es ist eine Schwierigkeit, sich zu Orientiren, und vielleicht haue sich
das geographische Material als separates Kapitel sehr Viel besser da ein-
schalten lassen, wo der Verfasser doch genöthigt ist vom See zu sprechen,
z. B. 8. 184.
Es würde wenig interesBiren, ein Verzeichniss von Namen zu erschöpfen.
Darum beschränke ich mich auf die Angabe, die er aufstellt (6. 86), da&a
aer grosse Kambodische See in seinem Umkreis eilf Znflüsse in sich auf-
nimmt. Es heisst (cfr. S. 878) Bienho (der grosse See) bei den Cochin-
chinesen, und Sri-Rama nach dem Sanskritischen bei den Siamesen. Das
südliche Ende des See's bildet in der Zeit des niedrigen Wasserstande« einen
See für sich, Tale-ma-Poke genannt.
•*) „Die Grenze zwischen Siam und Kambodja war früher in Angsela.
halbwegs «wischen BahnSakeoh und Wattana, wo nooh im Dikicht des Wal-
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Bastian; Reise nach Cochinobina,
aai
die sich in der Nähe von Vattana, auf Tagereisen Entfernung,
fanden, nnd Hunderte von Arbeitern beschäftigten. Ueber die
Weiterbeförderung gab es noch einen Disput mit dem Prälat, Doch
verstand dieser sich dazu, die volle Zahl der Fuhrleute zu geben,
Gegen Ende der Nacht Hess er bei Fackellicht aufbrechen. Der
Weg ging durch eine Sandfläcbe. Zum Frühstück hielten sie am
Nong Bua (Lotusteich) neben einem Bananengarten. Aus einem
bjätyerreichen Walde traten sie dann in wohlgebaute Felder hin-
aus. Es war schon dunkel, als sie die Sala im Dorfe Myang
Aran erreichten. Die Excnrsion, die er sich am anderen Tage ge-
stattete, ist eine Excursion auch für seine Darstellung gewesen,
von der er S. 45 zurückkehrt, um sich zum Aufbruch zu rüsten.
Bevor wir daher Aran mit ihm verlassen, wollen wir nooh die
Mittheilung nachholen, dass die alte Stadt Aran (Aran Khao) fünf-
zehn Jahre vorher nach der gegenwärtigen Lokalität versetzt wurde,
wo bis dahin ein Flecken, Sungkeb genannt, gelegen hatte. (S. 41). *)
Gleich hinter Aran nahm sie ein dichter Wald auf, den bald ein
Gehölz junger Bäume ablöste, in dem die Strasse mit Holzplanken
eingefaBst und an beiden Seiten über die nebenher laufenden Grä-
ben erhoben war — Ueberbleibsel der grossen Heerstrasse, die der
General Chaokhun Bodin während der Feldzüge gegen Kambodja
hatte von Siam nach diesem Lande anlegen lassen! Dann kam
eine Ebene, die bis zu dem Mahotflusse sich erstreckte, an dem
Tüktelah liegt, und auf dessen anderer Seite sich Gebirge er-*
heben. In diesem Orte angekommen, schickte er nach Sisuphon,
um Boote zu requiriren. Tüktelah bedeutet reines Wasser. Er nenni
jenon Fluss auch Sisuphon und Tasavai, und lässt sich auf eine
hydrographische Beschreibung ein (S. 50) **) Er erhielt vom Prälat,
der nach Einbruch der Nacht angekommen war, um sich nach einem
Landgute zu begeben, am nächsten Morgen den Gebrauch seiner
Boote, um damit nach Sisuphon zu fahren. Hier liess er sich
den Rath geben bis Bahn Paniet weiter zu fahren, und erst von
dort wieder Karren zu nehmen. Aber er fuhr noch bis Pangro,
was allerdings seinen Grund hatte (S. 53). Hier wurde das Gen
des ein beschriebener Steinpfeiler zu finden ist. Dort liegt die Wasser*
scheide, indem die Bäche bei Bahn-Sakeoh durch den Fluss Lam-Sathüng
nach Slam abfliessen, die Wasser des Nong Bna dagegen durch
den Fluss Mahnt nach K am b od, ja Der Menam Lam Sathüng fliesst als
der Fluss Pachim und dann als der Fluss Petrin, bei Bangplaaoi in den
See aus, der Menam Mahot mündet in den Tbaleeab." 8. »,
*) Die Khamen, die früher Aran Khao bewohnt hatten, bauten die Stadt
Sisuphon wieder auf. Das heutige Aran ist mit Laos bevölkert.
*#) Man hat Mühe, jene Beschreibung ganz zu verstehen. Von dem
Oberschulzen (Kasung) in Pangro hört er, dass der Fluss Tasavai sich in
der Nähe von Tüktelah aus zwei Armen bilde, der eine komme von den um
Aran gelegenen Feldern, der andere von den Ebenen (Changhan ) Sing u. s, w.
8. 54. Vervollständigt wird diese Beschreibung durch folgende: Der Fluss
von Tasavai oder Sisuphon kommt vom Khao Taphrum in den Khao Don-
Rek und verbindet sich vor Tüktelah mit einem von den Ebenen Arans ab-
messenden Bache. Er mündet in den Thalesab jenseits Dan-Sema.tt S. 6ö.
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932
Bastian: Reise nach Cochlnchlna.
päck wieder auf Karren verladen, und auf einem schweren Lehm-
wege durch die Felder bis P a n i e t p r a die Reise fortgesetzt. Die-
ses Dorf steht unter Myang Tescho , der von Battambang (Phra
Tabong) abhängt.
Die Uebersicht Uber den folgenden Abschnitt des Bandes, wel-
cher uns mit dem oberen Kambodja und seinen Monumenten be-
kannt macht, wollen wir in drei bis vier Abtheilungen geben.
Die erste wird uns um den grossen kambodischen See (Tba-
lesab) herum nach Siemrab bringen, der letzten grössten Stadt im
Osten, die von Bangkok aus verwaltet wird S. 57 flf. Wir verlassen
das obengenannte Dorf Panietpra, dessen Bewohner von Tabaks-
bau und Seidenzucht leben, und kommen einige Tagereisen weiter
nach den gewöhnlichen Hindernissen nach Bahn Thiengkam,
einem Dorfe, das neun Häuser zählte. Die Bewohner gehören als
Bao (Diener) für die Frohndienste zu Panomsok. Der Verf. zeigt
durch Beispiele den Reichthum der Kambodjer an Romaogeschich-
ten. Die nächste Stadt ist Panomsok oder Preeasok, die vor
30 Jahren, als die in Korat eingefallenen Laos durch die Siame-
sen vertrieben waren, auf der Stelle der früheren, die verwüstet
worden, durch den Vater des gegenwärtigen Gouverneurs angelegt
wurde. Die innere Stadt enthält fünfzig Häuser, die Aussenquartiere
eine grössere Zahl. Nachdem er einer Einladung zum Gouverneur
gefolgt und Mancherlei mit ihm gesprochen, lässt er sich einen
Führer nach der Steile des alten Palastes (Prasat-it) geben, be-
sucht ferner noch ein Kloster, und bricht dann von dort auf. Ein
Sandweg führte sie durch den Wald zu einer mit Bäumen besetzten
Ebene und dann zu welligen Feldern, die aber noch theilweise
überschwemmt waren und öftere Berathungen über die einzuschla-
gende Richtung nöthig machten. Beim Weiterfahren machten die
überschwemmten Felder einer welligen Ebene Platz, in der Häus-
chen mit Bananengärten zerEtreut standen, und dann schlugen sie
ihr Nachtlager in einem Gehölz auf, nicht weit von der Stelle, wo
der Lamsengfluss einen Felsendamm durchbricht, der die in
Bogen zusammentretende Pfeiler einer hohen Steinbrücke trägt.
Nach dem Passiren der letzteren fielen sie wieder in bahnlose
Waldpfade.*) Später gelangten sie über eine buschige Wellenebene,
beim Bahn Palieng wieder auf die alte Heerstrasse, der sie eine
kurze Strecke zwischen Gebüsch folgten. Doch lenkten die Karren-
treiber bald aufs Neue ab, um über Stock und Stein wegzarum-
peln, **) Durch parkähnliche Anlagen gelangten sie nach Bahn
Sakiiet und dann nach Bahn Jung, welch* letzteres Dorf aber
nicht an der vorgeschriebenen Route lag, so dass sie einen Theil
*) Die Brücke ruht auf dreissig Pfeilern, die in Paare zusammenstehen,
und jeder derselben besteht aus 15 Quadern colossaler Steintafeln u. s. w.
B. 72.
**) „Die mit der herausgenommenen Erde der seitlichen Graben aufge-
worfene I leeret ras se (Sanong) kann von Phrabat (bei Nopburi) bis nach
Siemrab verfolgt werden Sie Ist jetzt meistens überwachsen.4* 8. 7*.
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Bastian: Reise nach Cochinchlna.
038
des Weges zurück mussten, um auf dem richtigen Stationsdorfe/
das nur aus drei Häusern bestand, zu wechseln. Ein Weg zwischen
wohlangebauten Feldern brachte sie nach Bahn Sanuel, das an
einem Kreuzwege lag. Auf einem in nassen Niederungen durch
Felder bingeschläugelten Wege kamen sie dann nach Bahn Ja-
Ii e n und sahen beim Fluss Paleng die Ueberreste einer gewölbten
Steinbrticke. An Baumgruppen vorüber kamen sie nach dem Dorfe
(Bahn) Jeng, dessen Fruchtgärten durch Palmen geschmückt
waren. Den folgenden Tag ging es unter Bäumen über eine Wellen-
ebene hin. Man passirte das Dorf Schalieng. Am Horizont hoben
sich die Khao Don-Rek ab. Der Boden ist sehr fruchtbar. Man
begegnete reisenden Mönchen und Regierungsboten mit Depeschen.
Durch offenen Wald und grüne Wiesen gelangten sie neben einen
Teich mit weissem Lotos zu einer Sala, wo Nachtrast gemacht
wurde. Die Pfeiler der Halle waren mit allerhand Schriftzügen,
meist mit den Namen von Durchreisenden und beigefügten Be-
merkungen oder Scherzen bedeckt. Nach dem Aufbruch fuhren sie
bei Mondschein durch den Wald, wechselten die Büffel, für die der
Ersatz bei Bahn Kalai am Wege wartete, und gelangten, über
einen sandigen Weg ansteigend, auf eine grüne Baumfläche, wo sich
vor ihnen der Anblick auf die Stadtmauern Sie mr ab 's anfthat,
von hohen Palmblättern tiberragt.
Die Wälle, erzählt er, S. 77, sind mit grossen Quadern, zum
Theil von Nakhon Tom entnommen, zwischen den Ziegelsteinen auf-
gebaut, und Thore mit Spitzdächern leiteten hinein. In einiger
Entfernung blinkt das Wasser des Flusses zwischen sandigen Ufern.
B. schätzt das Alter der Stadt auf dreissig Jahre. Sie ist neu
angelegt, und besteht aus 200 Häusern. Er macht dem Kha Luang
(den politisoheu Residenten des siamesischen Königs) seinen ofßciel-
len Besuch, und besieht dann die Klöster und Kapellen der Um-
gegend. Speciell nach Nakhon Vat brach er am 28. December
auf. S. 80. Die nächsten Tage wurden mit einer genauen Besich-
tigung der dortigen Kunstbauten verbracht. An die Beschreibung .
reiht der Verfasser einige kurze Bemerkungen über die Palibücher.
Dann kehrt er wieder zur Beschreibung zurück. Sculpturen an den
Wänden, in den Corridoren, in den Gallerien der verschiedenen
Stockwerke, die Hallen fesselten die Aufmerksamkeit des gelehrten
Besuchers. Die Betrachtung über die Entstehung dieser Monumente
verschiebt er auf den nächsten Band.*)
Das grosse Interesse dieser kambodischen Sculpturen liegt ihm
darin, dass sie geschichtliche Daten geben Obwohl Illustratio-
#) Hier wird von Java gehandelt werden, an dessen Ge schichte sie sieh
anknöpfen solle. Er bezeichnet Java als die Zufluchtsstätte einer brahma-
nisch-buddhlsttechen Cultur, die eich von dort wieder, als einem neuen Cen-
tralsitze. Ober die umliegenden Länder ausbreitete, und den heiligen Spra-
chen Siam's, Kambodja's und Japan*.« jene sanskritische Mischung gegeben
bat, die durch das spatere Ueberwiegen der Pali-Literatur zwar verdeckt,
aber nicht ganz erdrückt wurde.- S. 102.
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Bai t!&n: Reiie nach Cochlnchma.
nen aus dem Ramayana und den Purauas auch in Kainbodja nicht
fehlen , so stehen doch daneben zwei deutlich historische Fakta,
einmal die erste Einwanderung des Cnltnr- Volkes , und dann die
Gründung der Hauptstadt, neben welcher der Tempel erbaut Wurde.
Die permanente Durchführung des Racencharakters iu den verschie-
denen Nationalitäten , die damals dem ßcepter des kambodischen
Kaisers gehorchten , scbliesst an die ägyptischen und assyrischen
Bildwerke in der Behandlungsart an , ohne in Vorder-Indien ein
anderes Analogon zu finden. Was immer sich weiter auf die Mytho-
logie unter den Sculpturen Nakhon Vat's bezieht, ist dem Brah-
manismus entnommen. Einen der Tage seines Aufenthaltes in Nak-
hon Vat benutzte er zu einem Ausfluge nach Nakhon Tom , oder
der grossen 8tadt (Nagara). Der heilige Name ist Inthapatbaburi.
Es ging durch einen Wald dorthin.
Als die Tage de* Aufenthalts in Nakhon Vat zu Ende gegan-
gen waren, Hess er Wagen und Zugthiere zur Weiterreise in Stand
setzen. Man wollte noch die übrigen Ruinenstädte besuchen, tou
denen sich Reste nördlich vom See erhalten haben , und kam
zuerst nach dem Dorfe Bahn Sasong. Die Beschreibung orientirt
über den Gegenstand, führt dann durch einen Wald, soweit eine
gebahnte Strasse war, bis zum Dorfe Pum-Stting, in dessen
Nähe ein Kleinodienpallast (Prasat-Keoh) zum Besuch anzog, dann
YOU dort zur Hauptstadt Patontaphrom oder der Festung
(Pantenta) Brahma's. Der innerste der weiten Ringe der Stadt-
mauer schloss den Palast ein, und hicss Kampeng Keoh oder die
Juwelen-Mauer. Wegen der Details muss ich auf die Beschreibung
des Verfassers verweisen (S. 118 ff.) Abends war B. Zeuge gemüth-
licher Zusammenkünfte aus dem Dorfe bei seinem Lager, wo dann
die beiden Edelleute auf den erhöhten Sitzen ihres ZelteB saBsen;
es wurde beim Feuer erzählt, recitirt.
Am nächsten Morgen Hess er das Gepäck vorangeben uud folgte,
nachdem er mit dem Maler noch einen Besuch in Patentaphrom
abgestattet hatte. Sie verloren den Weg uud nahmen einen neuen
Wagen im Dorfe Pntill, wo der Katnnang erfrischenden Palmsaft
für seine Ankunft kühl gesetzt hatte. Das Dorf besteht aus zehn
Häusern, und übt Gerichtsbarkeit über die umliegenden Dörfer
aus. Da der Wagen am Wege stecken blieb, ging er zu Fuss, voraus
und erreichte die Gepäckkarren gerade bei der Ankunft inLailan.
Am Nachmittag fuhren sie durch die buschige Ebene und
dann Über Felder nach BangkoUg, einem künstlich in Terassen
aufgebauten Hügel kegliger Gestalt. Nachdem er am anderen
Morgen verschiedene Inschriften abgeschrieben und beim Verbrauch
seine« Papiers chinesisches vom Abte daselbst erhalten hatte,
packten sie am Nachmittag die Karren und zogen auf sandigen
Strassen durch die Ebene. An einem Teiche am Wege wurden
die Büffel getränkt , und eine buschige Fläche brachte sie gegen
Abend uacb Siemrab zurück, wo der Kba Luang, in seinem Ba-
nanengarten sitzend, unsere Ankunft erwartete.
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Basti ad: Reise nach Cochinchlna.
Hiermit ist die zweite Abtheilung unserer üebersicht beendigt ;
wir beginnen die dritte, p. 125 u. ff. Die ersten Tage des nenen
Jahres (1864) sind schon vergangen. Am 6. Januar besuchte er
den Chao Myang, in dessen Empfangssaal eine servirte Tafel zur
Bewirthung bereit stand. Die Darstellung verbreitet sich über
Fabrikation, Leben u. s. w. in Siemrab. Nach einem Abriss der
Geschichte von Vovong, die einer der Mönche des Klosters, den
er in seiner Zelle traf, oopirte (S. 128—136) und einer Parallele
dazu (S. 136 — 142), sowie nach einigen Bemerkungen über die
Verskunst bei den Khamen u. s. w. kommt die Stunde der Abreise
von Siemrab. S. 145.
Gegen Mittag, am 7., kam der Führer, um anzuzeigen, dass
das zur Weiterreise verlangte Boot unterhalb der Stadt fertig läge.
Aber er musste es, weil es zu klein und schlecht war, nach der
Stadt zurückschicken und auf ein anderes warten.
Während er in Wirklichkeit die Zwischenzeit zu einem Bade
benutzte, wie er selbst erzählt, unterhält er uns durch eine Erin-
nerung an die vielen Reste der alten Ruinen, die in der Stadt-
mauer SiemraVs eingefügt sind, und durch vergleichende Bemer-
kungen, die er noch daran anknüpft*).
Auf S. 184 sind wir, nachdem das Boot bepackt ist, so weit,
den Fluss hinabzutreiben. Aber der Wasserstand ist zu niedrig,
und muss es daher grösstenteils über das sandige Bett fortge-
schleppt werden.
In der Nähe eines Dorfes war der Fluss so von Sandbänken
durchsetzt, dass er Hülfe nöthig hatte, und durch etwas energische
Ansprache von dem anfangs zögernden Schulzen fünf Mann erhielt.
Im nächsten Dorfe wurden sie durch Andere ersetzt, da die dort
erwarteten Elephanten nicht zu haben waren. Noch eiu drittes
Dorf (Apailok) wurde erreicht, aber dann Halt gemacht. Am an-
deren Morgen (am 8. Januar) waren sie bei der Stelle, wo der
Siemrab sich in zwei Arme tbeilt, und beeilten sich in die See
auszulaufen (S. 185). Man lief durch einen schmalen Kanal, und
wand sich durch einen buchigen Schilfwald hindurch. Dann wurde
dem Boote das Steuer angehäugt und das bisherige Stocken durch
Rudern ersetzt. Es zeigte sich eine wogende Bewegung, und nicht
daran Gewöhnte sollen leicht seekrank werden. Auch sah ' man
weiter hinaus kleine Wellen kräuseln und brechen , wie überhaupt
die Aussicht über die See unbeschränkt war, bis sich am Horizont
das Wasser mit Luft mischte, und die in waldigen Spitzen ausge-
zackten Ufer verschwanden. Die nach Battambong bestimmten
Boote hielten sich in West, die nach üdong bestimmten in Ost, da
sie es nicht wagen, den See direkt nach Süden zu kreuzen. Als
sich am Nachmittag etwas Wind erhob, legte der Schiffer das
Boot unter einem dicken Baumstamme bei und befestigte es an
* > Ueberhaupt unterbricht eine TJebersicht über die buddhistische Lehre
von den Meditations-Himmeln der Byamha oder Phrom (S. 147—184) den
Faden der ReiBedarsteUung.
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Bastian: Reise nach Cocbincblna.
den aus dem Wasser hervorragenden Zweigen. An den Sussersten
Bärnnen war die Tiefe 17 Fuss, nahm aber rasch weiter hinaus zu.
Gegen Abend brachen sie wieder auf und kreuzten , nicht ohne
Zagen ihrer kühnen Matrosen, an einer offenen Stelle von einer
waldigen Spitze zur andern, d. h. zur Mündung des Battambong-
flusses über. Mit Einbruch der Nacht fuhren sie in das Dickicht
hinein, uro das Boot für die Nacht dort fest zu machen.
Am anderen Morgen brachen sie auf, und fuhren den Flnss
hinauf bis zum Zollhause Dan Sema, wo von Osten der Lam-
Seng in den Fluss fallt. Sie machten aber erst Rast nach dem
Eintritte dos Flusses von Konburi. Auf der Weiterfahrt änderte
der Fluss seine Farbe. Bisher bräunlich-roth wurde er weisslicb-
grau. Man passirte die Mündung des Sthttng-Kamao, das Zollhaus
Dan Chambong, wo die Steuern bezahlt werden*), einige Dörfer,
zuletzt kam man an dem Landungsplatze von Battambong an.
Battambong streckt sich weit am Ufer hin, und steht mit den
Pfahlbauten der äussersten Strassen im Wasser. Er schickte zum
Gouverneur, und hörte, dass derselbe noch schliefe. Daher ging
er einstweilen auf dem Markte und zwischen den Klöstern umher.
In einem hörte er, Battambong sei erst vor 80 Jahren gebant,
als der Fluss seinen Lauf veränderte. An dem alten Strombette
trifft man die mit Figuren und Inschriften bedeckten Steinruinen
von Baset. Am Fluss aufwärts finden sich an einem Berge die
Ruinen von Banan, einem Phra Prong ähnlich. Als er des Kbao
Myang ansichtig wurde, Hess er ihm ein langes grosses Staatsboot,
das im Flusse ankerte, an's Ufer legen, und durch Ketten-Gefangene
zu einer Wohnung während des Aufenthaltes in Battambong zurichten.
Der Fluss kann etwa noch vier Tagereisen oberhalb der Stadt
befahren werden. Seine Quelle liegt auf steilen Bergen, die mit
den Chantabum-Gebirgen zusammenhängen, und von den Khamen
Dong oder Khamen Nak Pri bewohnt sind, die das Kambodiscbe
mit besonderer Pronnnciation sprechen. Sehr interessant ist, was
B. über Steuern, und Frohnen berichtet, S. 191 u. ff.; er meint,
durch die Annectirung der Provinzen Siemrab und Battambong
habe sich Siam den besten Theil Kambodia's anzueignen gewusst,
eben diejenigen, die durch ihre begünstigte Lage allein zur Ent-
wicklung befähigt waren, und dieselbe, wie die Monumente zeigen,
auch zu einer nicht unbedeutenden Vollendung gebracht haben.
Er erwähnt auch der Gesetzbücher, der hinterindischen Völker, die,
wie er angibt, sich in Birma sowohl wie in Siam und Kambodia
an den Namen des vorderindischen Menu anknüpfen**).
Mit S. 222 beginnen wir am Faden des Verfassers die Reise
*) Bei dem früheren Wachtposten Dan Sema werden nur die Papiere
inaplcirt. S. 1*9.
**) Er widmet dem schon von Richardson behandelten Pammathat, das
in zwölf Bücher abgetheilt ist, ein Dutzend und mehr Seiten, S. 196 — 221.
Eigentlich ist es ein Nachtrag zum zweiten Bande. Penn es ist das binna-
nesische Pammathat. Vgl. uns. Anzeige des II. B. Heid.Jhrb. 1866. Nr. 33 f.
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Bastian: Reise nach Cochinchlna.
westlich vom kambodischen See. Er holt hier naoh, dass
in einem früheren Kriege der grösste Theil der Bewohner Battam-
bongs nach Siam geschleppt nnd dort meistens ermordet wnrde.
Am zweiten Tage nach seiner InstalHrung (18. Jannar) wurden
nach Befehl des Chao Myang zwei Elephanten gebracht, auf denen
er den Fluss kreuzte, und nach dem Verlassen der Vorstädte erst
durch einen offenen, dann durch einen dichten Jungle ritt. Auf
einem gelichteten Platze hatten zwei durch den Chao Myang vor-
ausgeschickte Kdelleute mit ihren Sclaven und den unter den
Schulzen requirirten Bauern der nächsten Dörfer drei Häuschen
für ihn , seine Dienerschaft und Begleitung aufgerichtet. Die
beiden Beamten kamen mit hohen, goldberanderten Spitzhüten zu
seiner Begrüssung herbei und überwachten die Abladung des Ge-
päckes. Die Ruinen der alten Stadt Basot lagen in der Nähe,
und dem Besuche dieser galt diese Einrichtung (S. 227). Am Nach-
mittage kehrte B. nach Battambong zurück, und am nächsten Tage
fuhr er zum Besuche der westlich gelegenen Monumente von Vat
Eck einen engen Bach hinauf, bis zu einer Stelle, wo derselbe ab-
gedeicht war, und begab sich dann durch Felder zu einem See mit
einer Ruhehalle daneben, von wo eine Brücke über den schlammigen
Boden zu dem in Terrassen aufsteigenden Tempel führte. Auch
zu dem drei Tagereisen den Fluss hinauf gelegenen Bergscblosse
Banon wurde ein Besuch auf Booten angetreten. Nur noch eine
Tagereise oberhalb ist der Fluss Battambong schiffbar; dann wird
er von Felsen unterbrochen. Er findet die um Battambong d. b.
im Distrikt umherliegenden Monumente westlich vom See weit
jüngeren Ursprungs, verglichen mit denen des oberen Karabodia's.
An einigen Strukturen Basets soll noch im vorigen Jahrhundert
weiter gebaut sein, und wurde, wie er sagt, diese Stadt überhaupt
erst in neuerer Zeit von ihren Bewohnern verlassen. Indem ich
die Details über Baset's und Banon's Ruinen (S. 236 u. ff.), sowie
über die Technik der Pagodenarchitektnr (S. 239), und Geschicht-
liches über Battambong (S. 241), endlich Details eines Vocabula-
riurns der Dscham*) (S 243) für diesen Bericht übergehe, sei es
mir erlaubt, den Verfasser auf seiuer Weiterreise zu begleiten.
Am 20. Januar reiste man von Battambong ab , kreuzte den
Fluss, und betrat nach dem Durchschreiten der Felder das Dickicht
des Walde« S. 247. In dem Dorfe Ka m p o n g P r a (s. v. a. Mönchs-
hafen) hielt man, um zu frühstücken**). Quartier für die Nacht
nahm man im Dorfe Lok.
Die eingehenden Mittheilungen über die Sprache der Ehamen
boran (der Alt-Kambodier) , auf deren Boden wir uns jetzt befin-
den, und der Siamesen, wie er sie als Episode S. 248 u. ff. ein-
schiebt, dienen hauptsächlich dem Beweise, dass die siamesische
*) Die eine der Vorstädte Battarabong's , das Bahn (Dorf) Khek, be-
wohnen, vgl. P. 229.
**) lu der Regenzeit überschwemmt der 8ee. die ganze Gegend mit Aus-
nahme des erhöhten Grundes, auf dem die Häuser- stehen.
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018
Bastian: Reise nach Cochinchlna.
Cultur von der Kambodischen entlehnt ist, nnd diese weiterhin
mit der javanischen zusammenhängt.
Auf der Strasse wurde des Weiteren Halt bei dem Dorfe
Asaijeh gemacht, an einer Sala, die sich im Gehöfte eine? Edel-
mannes fand, der die dortige Gegend als Beamter verwaltete Der
Fluss Asaijeh, an dem das Dorf liegt, und der kleine Teiche bildet,
fällt in den Thalesab. Er variirt die Reiseerzählung durch Schil-
derung der Gefahr, wenn Elephanten in Aufregung gerathen. Man
ritt bei Mondlicht dahin , und erreichte das Dorf T a n e a h , das
aus zehn Häusern besteht und von Pursat abhängig ist. Man hielt
sich nicht auf, und machte erst Bast in Pursat oder Photisat.
Diese Stadt , die früher bedeutend gewesen sein soll , zahlt
jetzt nur fünfzig Häuser, nnd die meisten Klöster stehen leer.
Hier konnte er keine Elephanten zur Weiterreise bekommen , er
musste sich mit Karren begnügen (S. 266). Mit drei Karren, einem
Reitpferd für sich und acht Mann Begleitung passirte er den Fluss
und zog durch morastige Felder und dann auf dem mit Gras be-
wachsenen Boden eines Waldes über Wellenerhebungen hin. Der
Weg brachte sie nach Takro, einem Orte von 300 männlichen
Einwohnern. Früher sei es ein Bahn und von Photisat abhängig
gewesen, jetzt aber sei es ohne Cbao Myang. Es liegt eine Tage-
reise von Thalesab entfernt, am Krong, der in denselben mündet*).
Auch hier musste er sich auf Karren beschränkt sehen. In dem
Flecken K r o n g , wo die Nacht zugebracht wurde, quartirte er sieb
in dem Hause des Chao Myang ein, da dieser nach Udong abge-
reist war, und erlangte vom Kramnang (Schulzen) die Requisiten
an Karren und Führern, womit er seinen Weg nach Klong fort-
setzte. Hier kam der Kamnang herbei, um ein Geschenk an Ba-
nanen zu bringen, und den Wechsel der Zugthiere zu besorgen.
Beim Weiterziehen im Waldo trafen sie einen Bach so hoch
angeschwollen, dass der kleinere Karren abgeladen werden musste,
um hindurchgetragen zu werden. Ueber einer (sie) welligen Baum-
ebene kamen sie nach einem Flecken, der zum Gebiet (Khet) der
Stadt Boribun gehört. Die ermüdeten Büffel wurden hier durch
frische im Hause des Schulzen ersetzt; im folgenden Dorfe (Sok),
wo der Schulze die nöthigen Wagen zum Voraus besorgt hatte,
blieben sie die Nacht. Beim Dorfe Kabalah standen die Karren
fertig am Wege, aber ohne Büffel. Man musste Hand an solche
Büffel legen, die sich auf der Weide oder in den Ställen fanden.
Der Kamnang eines Nachbardorfes leistete dabei Hülfe. Sie hatten
einen Fluss zu passiren und kamen in Myang Bobo oder Bori-
bun an. Kloster und Tempel sind alten Ursprungs. In Abwesen-
heit des Gouverneurs, der zwei Tage vorher abgereist war, und
der übrigen Beamten, die nach dem Landungsplatze am See sich
*) Der von den Einwohnern Takro's benutate Landnngs- und Einschif-
fungsplaU heist Kampong l&veng, die Einwohner von Krong gehen nach
Kampong Luang. S. 268.
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Bastian: Reise nach Cochinchin*.
939
begeben hatten, konnte nnr der Abend ibn nöthigen zu bleiben.
Aber schon bei Aufgang des Mondes fuhr man über die Ebene
weiter, nnd langte um Sonnenaufgang bei dem Dorfe Pumroh an.
Der Weg wand sich dann in eine waldige Schlucht, mit dem Berge
Tlotkabek znr Rechten und dem Kräng dei miah links. Aus einem
offenen Walde traten sie in Felder und gelangten dann nach Lei-
biah, wo sie in dem leerstehenden Hause des*) Cbao Myang ab-
stiegen. Nur die Schreiber waren dort zurückgeblieben, und so
mu8ste nach dem Dorfe Tukuroh, auf der anderen Seite des Flusses,
wegen der Ausfertigung der Papiere geschickt werden. Aufenthalt
gab es nicht. Man setzte sich mit dem Monde in Bewegung und
als es tagte, waren sie im Gebüsch. Der Boden war holprig, un-
eben, und die Fuhrleute stöhnten über ihre ermüdeten Thiere. Sie
zogen in den Hliusern Erkundigungen ein, an welcher Stelle die
Strasse trocken sei, nnd erreichten gegen Sonnenaufgang das Dorf
Seb im Gebiet Laweks. Auf eine Mittheilung aus dem Munde
des jüngeren Bruders des Prälat, dass eine Colonie Dscham zwi-
schen den Dörfern Pusik und Tukso angesiedelt sei, nahm er den
Umweg über diese Ansiedelungen, und fuhr in die Lichtung ihrer
Felder bei den Dürfern Pusik und Tuksoh (Tschukro) ein. Der
besondere Ritus zog ihn dahin.
Am Nachmittag fuhren sie weiter und erreichten auf einem
im Wald auf- und absteigenden Wege um Sonnenuntergang das
Dorf Liek, ausserhalb welchem er unter einem Baume halten, und
von dem Kamnang Führer nach dem Vat Tambongkeng fordern
Hess. Man traf auf den verfallenen Erdwall des alten Lawek, der
ausser durch die Thore noch an manchen andereren Oeffnungen
Einlass gestattete. Im Innern findet sich unter Bäumen ein Klum-
pen ärmlicher Hütten, die das jetzige Dorf Lawek bilden. Ich
übergehe die Bemerkungen über die Ruinen des alten Lawek, über
das ebengenannte Kloster, und lasse den Verfasser weiter reisen.
Man kommt, nachdem man in Zwischenräumen zwei grossere Bäche
passirt hat, zu der Holzpalisade, die die äosserste Stadtmauer
r Jungs bildet. Die Häuser waren halb in Büschen oder Gärten
versteckt, und die Hauptstrasse, von wo man Uber die Teiche der
Niederungen auf die nmkränzenden Hügel und ihre Pagoden blickte,
war von einem regen Marktverkehr belebt**). Er Hess sich nach der
Sala des Vat Salakhun fahren, da er an den Abt desselben einen
Einführungsbrief aus Bangkok mitgenommen hatte***). Was er von
den Sitten der Kambodier, Japanesen und Chinesen bei Krank-
heiten erzählt, kann ich selbst im Auszuge nicht mittheilen. Nur
der Audienz, die er bei dem jungen Könige hatte, sei noch beson-
*) Gleichfalls, wie fröhere, nach Udong zum Krönungsfeste gegangenen.
**) Der Name Udong stammt ans dem Pali. Das Volk erklärt diesen
Namen aus Grossvater nnd Grossmutter, die dort das Feld bebaut haben.
Aehnlich klügeln die Siamesen aus Ayuthia die Ur-Ahr-en Ayu-Thaya her-
aus. 8. 284.
Die Bibliothek des Klosters hat seinen Beifall. S. 310.
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940
Basti an: Reise nach Cochinchina.
ders gedacht. Sie war am 80. Janaar. Ein Vocabularinm der
Kba So, der Kha Tampuen, der Xong, der Lao Suay, der Karen,
der Palonng unterbricht die Beschreibung (S. 293 u. ff.). Er kommt
nachträglich auf die Geschichte Udong's zu reden (S. 307).
Da wir noch fünfzig Seiten lang über Udong uns durch B.
unterhalten lassen müssen, ich sage müssen, nicht weil seine Mit-
theilungen uninteressant wären, sondern weil erst um so viel später
die Reise nach dem unteren Mekhoug fortgesetzt werden wird, so
wollen auch wir uns nicht den Thatsachen entziehen , die gewisse
Leser des Buches zu unserer Beschämung möchten wenigstens der
vorübergehenden Erwähnung werth halten können. Wir lassen uns
gerne über die Verfertigung der Seide aus Cocon's (S. 308), über
die Gewinnung einer Wachsart ans dem Sullah-Banme (S. 309),
über das Aussehen der Combodier (S. 309), über ihre heiligen
(Pali) Bücher und ihre Schrift, sowie über das Vernacular mit
seinen dialektischen Verschiedenheiten (S. 310) unterrichten. Auch
lernen wir ausserdem gerne von Erklärungen zur birmanischen und
siamesischen Grammatik (S. 316), von Fabeln, von Moralbüchern.
Erzählungen, Epen, Volksschwänken, und was sonst alles B. noch
an jene Mittheilungen über Udong angeknüpft hat , wie , um anch
dieses Mal wie so oft, der Monotonie des Reiseberichts durch jene
Einscbiebungen abzuhelfen. Aber fast kommt es uns vor , als ob
er der Langeweile des Wartens auf eine günstige Gelegenheit, um
von Udong Abschied zu nehmen , einen Ausdruck habe in compe-
tenter Weise geben wollen.
Uebrigens können wir, bei der Ueberschrift angelangt, die
von Siam nach Cochinchina lautet und uns einladet, uns
aufs Neue der Führung des Reisenden anvertrauen , doch nicht
umbin, unsere Zufriedenheit zu bezeugen, und jenen Labyrinth von
Sprachnüancen , das selbst die Geduld eines Special Uten zu er-
müden die Kraft hat, hinaus auf den Weg zu kommen, und sollt«?
es einstweilen noch nicht weiter als nach dem Landungsplatze
Eampong luang am Seo gehen.
Begleiten wir also B. zu dem Thore der Udong umziehenden
Palissaden hinaus nach der Hafenstadt. Zwischen letzterer und
Pinhalü, einer Stadt unterhalb, gibt es malayische Colonien. Längst
des Flusses fand er die Häuser verschiedener Colonien Kriegsge-
fangener mit kambodischen Ansiedlungen gemischt. Die rebelli-
schen Dscham , denen der König Sitze zwischen Udong und Pa-
nompeng angewiesen hatte , suchten nach ihrer früheren Heimath
in Cochinchina zu entfliehen , kehrten aber meistens freiwillig zu-
rück, da ihrer dort noch härtere Unterdrückung wartete. B. ver-
weilte einige Zeit in dem Hause des Nai (Aufsehers) Dscham
(S. 356). Was er sonst noch von denselben mittheilt, übergehe
ich. Sehr lehrreich ist das, was er von der Nachahmung der
demüthigen Anreden der Einheimischen durch Malajen und Chinesen
sagt. Er sucht richtig den Grund für die sclavische Unterwürfig-
keit der Tropenvölker gegen Mächtige in ihrem Kolig Uns System.
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Bastian: Reise nach Cochinchlna
941
und zieht eine Parallele zwischen der ans Glaubenszwang verur-
sachten Apathie des Buddhisten und der Fortbildung des Europäers,
am Ergebnisse des Kampfes, den die Wissenschaft in ihrem Zwie-
spalt mit der Religion hier herbeiführte.
Zuvorkommend unterstützte ihn, um unter den eingeborenen
Christen Ruderer und ein Boot für die Reise nach Saigon zu
miethen, die französische Mission.
Er schiii'te sich am 11. Februar ein, und legte in Pinhalu
an , um bei den Familien der Schiffer Vorschuss zurückzulassen,
und befand sich gegen Abend in Panompeng an dem breiten
Zusammenflusse des Mekhong und des Kambodiaflusses , die dort
eine Insel uraschliessen. Ein Brand in seinem Boote, der ihn mit
grossem Verluste bedrohte, aber bei Zeiten bewältigt wurde, war
keine angenehme Unterbrechung (S. 371). Doch gingen die Re-
paraturen gut von Statten, uud konnten sie nach einigen Tagen
mit günstigem Strom sich abwärts treiben lassen, bis sie nach
Mytho kamen. Die Ufer fand er flach, mit vielen Dörfern be-
setzt. In Mytho fand er ein französisches Kriegsschiff vor Anker,
und eine Strasse am Ufer mit französischen Boutiquen besetzt, »so
dass ich mich wieder im Bereich der Civilisation und ihrer Luxus-
gegenstände befand« (S. 377).
Mytho ist mit Saigon durch Canäle verbunden*), deren Be-
nutzung von einer günstigen Ebbe abhängt. Bei dem französischen
Fort Djam hielten sie Frühstück. Am 17. Februar wurden die
Kanäle in der Vorstadt Saigon 's erreicht und bald kam man
nach Saigon selbst, in die Hauptstadt des französichen Territo-
riums**), während es früher zu Anam gehört Tratte. Die franzö-
sischen Kaufleute haben die volle Freiheit den grossen Fluss Kam-
bodia's mit allen Nebenflüssen zu befahren. Ich muss darauf ver-
zichten, über die Erwähnung hinaus von den Glaubensmeinungen
der Cocbinchinesen, ihren philosophischen Ansichten, von ihren
früheren Zeitaltern, was Alles er wieder zwischen den Reisebericht
eingeschoben hat , zu erzählen. Er beschreibt das Grabdenkmal
eines Bischofs (S. 401), das Monument des Kaisers Tanong vor
einer buddhistischen Pagode im Dorfe Fanyün , der zuerst den
Ackerbau eingeführt hatte, und andere Denkmäler. Er referirt
vieles auf die Geschichte Bezügliche aus dem Munde seines in
chinesischer und tonquinesischer Literatur bewanderten Begleiters
*) Die aber durch die Räubereien der Wasserpiraten unsicher gemacht
sind, wesshalb ihm der Vorschlag gemacht wurde, die französische Escorte
zu erwarten, die einmal in der Woche Güter und Passagiere begleitet.
•*) Seit dem im Januar 1862 abgeschlossenen Frieden, dessen dritter
Artikel die Provinzen Bienhoa, Giadinh und Dinh Tuong (Mytho) nebst der
Insel Pulo Condor für Frankreich verlangte. Eine anamitische Gesandt-
schaft war in Paris und Ende 1863 legte der französ. Marineofficier Aubaret
am Hofe von Hu4 einen neuen Vertrag vor. Die drei Provinzen sollten dem
K. Tü-düe zurückgegeben werden, Saigon, Thu-diau-mot und Mytho aus-
genommen. Dagegen sollte Frankreich das Protektorat Uber die sechs Pro-
vinzen von Unter-CochinchinA erhalten. Cfr. S. 880.
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m Bastian: Reise n ach Coch in china .
(S. 405 — 412). Bei einem Besuche der einheimischen Stadt Sai-
gons wurden mehrere Pagoden wegen der Mannigfaltigkeit ver-
schiedener Bilder, die sich darin befinden, besucht
Das Po8tdampfschiff blieb ein Paar Tage Uber seine Zeit aus.
So kam er zur Bekanntschaft von einigon Missionären, von denen
mehrere längere Zeit unter den Bergstämmen des Inneren verweilt
hatten. Die Vocabularien der Banar und der Sedan, S. 413 u. ff.
zeigen, welche linguistische Erndte die Unterhaltung bei diesen
Männern gehalten hatte.
Obwohl jetzt die Geschichte der Länderstrecken, die der Ver-
fasser uns hat durchwandern lassen , uns beschäftigen müsste , so
habe ich, verlässlieh derselben, die im ersten Bande als besonderer
Abschnitt behandelt ist (vgl. Band I, 8.392 u. ff ), doch nicht die
Absicht, den Sagenkreis der Steinmonumente hier zu zergliedern.
Ebensowenig denke ich Über die Chroniken Inthapataburi'a*) za
referiren. Auch die Zeugnisse der Nebenländer will ich bei Seite
lassen. Es möge genügen, die Ueberschriften namhaft gemacht zu
haben, nachdem wir die Erkenntniss gewonnen haben, dass die
Kambodier ein weiteres Beispiel für die Thatsache sind , die in
der Geschichte der Cultur sich an Modern, Griechen und Italienern
gezeigt hat; ihre Eroberer (die Siamesen) wurden ihre gelehrigen
Schüler, wie hier die Perser, die Römer, die Franken.
Mögen uns dafür die wenigen Seiten tiefer interessiren, welche
von den Hauptstädten der Niederungen und der neue-
ren Geschichte handeln. Vgl. Band I, S. 478 u. ff. Der Ver-
fasser hat nach seinem eigenen Geständniss für die spätere Ge-
schichte Kambodia*B zwei Quellen vorgefunden, ein kurzes Königs-
verzeichuiss aus den Archiven, das er im Schlosse Udong'a ver-
fertigte, und eine siamesische Uebersetzung der kambodischen Ge-
schichte von dem am Hofe angestellten Dolmetscher, die er schon
dort gelesen und excerpirt hatte.
Die in Udong durchgesehene Geschichte Kambodia's beginnt
mit der Herrschaft Phra Borammaniphanbot's , der von 1264 bis
1272 (der Mahasakkharat) in Nakbon Vat regierte, nennt seinen
Nachfolger Phra Sithaen, den nächsten Borommalompongraxea und
erzählt dann in derselben Weise die Eroberung Ramathibodi's.
Bei dem Tode des Königs Basat (1277 M. S.) folgte sein
jüngerer Bruder Khänsongrat (oder Baos nach der kambodischen
Ausgabe) und dann (1279) sein Sohn Kadongbongphisi (Chao Kam-
bongphisi) noch im zarten Kindesalter. Einen Monat später kehrte
König Ramathibodi aus Siam zurück und trieb alle die Einwohner
Kambodia's mit sieh fort, 90,000 der Gefangenen in Ayuthia an-
siedelnd.
Nachdem Ramathibodi das Land verlassen hatte, wurde Phra
Sri Surijavongraxah, ein Kambodier von Abkunft, in Nakhon Tom
oder Nakhon Luang auf den Thron gehoben, und ihm folgte (1288)
*) Nakhon Tom's (Siemrab'a) vgl Bd. IV, S. 23*
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Bastian: Reise nach Cochip«hlna#
943
sein Neffe Pbra Borommaraina, der in Nakhon Vat regierte. Auf
ihn folgte 1290 (nach dem Kambodischen) oder 1292 (nach dem
Siamesischen) sein jüngerer Bruder Phra Thammasokkharat in Na-
khon Tom, welche Stadt (1294) durch Phrachao Borommaraxa, den
König von Siam, belagert und nach sieben Monaten (1295) erobert
wurde. An der Stelle des gefallenen Thammasokkharat setzte der
Sieger seinen Sohn Phaya Phrek unter dem Titel Phra Intharaxa
ein. Er wurde durch ausgesandte Emisäre Phaya Jaht's ermordet,
der sich dann des Thrones in der Residenzstadt Nakhon Tom be-
mächtigte. Nachdem er 12 (11) Jahre regiert hatte, liess er seine
Krönung mit dem feierlichen Ceremoniel des alten Herkommens
begehen. FUnf Jahre später verlegte er seine Residenz nach der
Stadt Panompben, die erneuert und verschönert wurde (1310 — 1311).
Nachdem der König 45 Jahre hier regiert hatte, Ubergab er das
Scepter seinem Sohne Phra Ongkan-Närai-Ramathibodi , der aber
schon im nächsten Jahre starb (1356) und Phrachao Siraxa zum
Nachfolger hatte. Dieser führte Kriege u. 8. w.
Ich setzte die Darstellung des Verfassers nicht fort. Man
sieht schon aus dem Bisherigen, dass Letzterer sich mit Erfolg hat
angelegen sein lassen, einen lesbaren Zusammenhang zu erzielen.
Die kambodische Geschichte nimmt verschiedene Male Rück-
sicht auf Beziehung zu Farang*) genannten Ausländern, aber, wie
er findet nur selten unter hinlänglich deutlichen Ausdrücken, um
zu entscheiden, wann die Holländer oder wann die Portugiesen zu
verstehen sind.
Ueber die neueste Geschichte Kambodia's habe, sagt er, der
erste König Siam's (Mongkut) in Bangkok eine kleine Broschüre
in englischer Sprache drucken lassen, um die Ansprüche seines
Königshauses auf die Oberberrlichkeit Kambodia's zu begründen
seit ihm die Uebergriffe der Franzosen von Saigon aus Besorgnisse
zu erregen beginnen.
In diesem Pamphlete, so bezeichnet B. die Brochüre, beginnt
ihr königlicher Verfasser die Darstellung der Verwicklungen mit
dem J. 1100 (Ch. S. oder 1750 p. d.). Eine kurze Inhaltsangabe
enthalten die Seiten 489 — 492 des ersten Bandes. Den Einfällen
der Chochinchinesen wurde zuletzt durch das Anerbieten eines
dreijährigen Tributs Seitens des Vicekönigs (Phra Harirak) vorge-
beugt**), und 1851 liess Letzterer dem gegenwärtigen König von
Siam huldigen. Als Phra Harirak starb (1860), brach zwischen
seinen Söhnen ein Krieg aus, der mehrere Jahre gedauert hat. Bei
seiner Durchreise in Kambodia (1864), war aber Friede, und der
neue Vicekönig erwartete die siamesischen Bevollmächtigten, um
ich krönen zu lassen.
Eine besondere Schwierigkeit bietet dem Verständnisse der
Geschichte dieser Länder die Zeitrechnung. Bastian hat einen be-
sonderen Abschnitt den Aerabestimmungen bei den Siamesen und
*) Franken.
*•> Tribut wurde durch Kambodia bezahlt von 1116 bis 1432.
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MI
Bastian: Reise nach Cochinchina.
den Birmanen gewidmet. Die Schwierigkeit besteht darin , dass
zwei Arten der Zeitrechnung neben einander in Gebranch sind,
eine heilige*) und eine profane**). Die erstere wird nach dem
Todesjahre Bnddha's , die zweite in der vulgären Aera gerechnet
Ausserdem soll es noch verschiedene andere Versuche birmanischer,
siamesischer und kambodiseber Könige , die Aera zu verändern
geben, z. B. durch Vergrabung von Reliquien eine neue Periode
festzustellen.
In den siamesischen Geschichtsbüchern hat B. meistens nach
der profanen gerechnet gefunden , in denen Kambodia's aber . wo
die profane erst mit Gründung Lawek's eingeführt sein soll, fand
er häufig die grosse Zeitrechnung (Mahasakkharat , mit p. d. be-
ginnend) fortgeführt. Diese letztere, in der auf den Steininschriften
Sukothay's gebrauchten Weise, soll durch einen König Kambodia's
eingelührt sein (540 p. d.) und wird zuweilen Pbaya Krek zuge-
schrieben (547 p. d.).
Die Buddha-Sakkharat zählt die siamesische Aera von 543
a. d. (S. 515); die Daten werden nach ihrem Abstände von Bn-
ddha's Todesjahr fixirt, aber nur die Palitexte selbst können einiger-
massen zuverlässige Anhaltspunkte für Alles geben, was jenseits
der Grenzen des Landes liegt. In dem Uebrigen findet sich das
confuseste Zeug hingeworfen (S. 522).
Nach Berücksichtigung dieser dem ersten Bande und den ge-
schichtlichen Ergebnissen des Verfassers zugehörigen Details kehre
ich zum vierten Bande zurück.
Es findet sich hier S. 424 u. ff. eine Beilage vor, welche die
Annalen Annam's betrifft, die ebenso schätzbar, wie schwierig ist***).
Der Schlussaufsatz (S. 429 u. ff. hat die Stadt Saigon) , ihre
Geschichte und ihren Handel zum Gegenstande.
Die Kritik muss auch diesem Bande ein, wenn auch noch
nicht ganz Übersichtlich geordnetes, doch tief verarbeitetes, reich-
haltiges Material , wie es sich nur eine verhältnissmässig gründ-
liche Kenntniss der Landessprachen hat dienstbar machen können,
nachrühmen.
Die Ausstattung ist sich gleich geblieben, und wird man
wünschen dürfen, dass es der Verlagshandlung vergönnt bleibt,
durch Fortsetzung des Werkes den Verfasser, und die Wissenschaft
zu unterstützen!
*) Die Phutthasakkharat hei den Siamesen.
••) Die Chunlosakkharat Sakkharat ist diejenige Periode, In der ein
Mächtiger oder Saka, gleich dem Könige der Saka, regiert.
***) Wir würden gern hiervon ausführliche Notiz genommen und den
Zusatz: Annam Ton quin und Cochinchina (Band I. S. 493 — 511), sowie den
Precls historique de la nation annamite (Band I. S. 554 -567) herangezogen
haben, wenn ein besonderer Reisebericht B.'s nach diesem Küatenlande vor-
läge. So viel aus der Vorrede «um IV. Bande erhellt, wird selbst der fünfte
Band hierauf nicht führen.
Heideiberg, Ende December's.
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Hr. 60. HEIDELBERGER ' 1867.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Bibliotheca Scriptornm Graecornm et Romanoram
Teulmeriana.
Diodori Bibliotheca Historica. Ex recensione et cum annotationi-
bus Ludovici Dindorfii. Lipsiae in aedibus B. 0. Teub-
neri. MDCCCLXVIl. Vol. III. LXXXIV und 618 8. Vol. IV.
XL VIII und 407 S. in 8.
Polybii Historia. Kdidit Ludovicus D indorfius. Lipsiae etc.
Vol. III. 5W S. in 8.
Eusebii Caesariensis opera. Hecognovit Quilielmus D indor-
fius. Vol. III. Demonslrationis Evangelicae. Libri I — X Lip-
siae etc. XX und 700 8. in 8.
M. Tut Iii Ciceronis scripta quae manserunt omnia. Hecognovit
Ii ein hol du s Klott. Partis 11. Vol. III. continens Oratio-
nes pro P. Sestio, in P. Vatinium, pro M. Caelio, De pro-
vinciis consularibust pro L. Cornelio Balbo, in L. Calpumium
Pisonem, pro Cn. Plancio, pro C. Rabirio Postumo, pro T.
Annio Milont , pro M. Marcello, pro Q. Ligario, pro Rege
Deiotaro, in M. Antonium Philippicas XIV. Editio altera etnen-
datior. Lipsiae etc. XLIX und 478 8. in 8.
Anicii Manlii Torguati Severini Boetii De institutione
arühmeiica libri duo, De institutione musica libri quinqut.
Accedit geometria quae fertur Boäii. E libris manuscriptis tdidit
Qodofredus Friedlein. Lipsiae etc. VIII i*. 492 8. in 8.
Die hier anzuzeigenden Fortsetzangen der Bibliotheca Teubne-
riana reihen sich an die zuletzt in diesen Blättern Nr. 40 (S. 625 ff.)
besprochenen Bände an und können aufs Neue zeigen, mit welcher
Thätigkeit das preisswürdige Unternehmen, wie es in dieser Weise
keine Nation aufzuweisen hat, im Sinne des ehrwürdigen Grün-
ders fortgesetzt wird. Denn es handelt sich hier nioht blos um
einen Wiederabdruck von vorliegenden Texten, wie es bei ähn-
lichen Unternehmungen, wenn auch nicht so ausgedehnten, in an-
dern Ländern, Frankreich, England, Italien, vorkommt, sondern
um sorgfältig revidirte und gereinigte, auf die ursprüngliche
Form möglichst zurückgeführte Texte, unter sorgfältiger Berück-
sichtigung der über die Texteskritik der betreffenden Schriftsteller
geführten Untersuchungen und mit Benützung der anerkannt wich-
tigsten und auf die Gestaltung des Textes einflussreichsten Hand-
schriften. Es ist darauf schon in den früheren Besprechungen hin-
LX. Jahrg. 12. Heft. 60
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Blbliotheca ßerfptorum TeubnerUna.
gewiesen worden, und wird diess eben so von den hier anzuzeigen-
den Fortsetzangen, wie von der neu hinzugekommenen Ausgabe der
Schriften des Boetius gelten. Was die äussere Ausstattung betrifft,
so zeichnen auch diese Ausgaben sich durch deutlichen Druck und gutes
Papier aus, und sind im Uebrigen gleichförmig den früheren ge-
halten. An erster Stelle erscheinen die beiden Bände der Fort-
setzung des DiodorusSiculus; sie reichen im dritten Bande
von Buch XIV bis XVIII inclus. im vierten folgt Buch XIX und
XX, woran sich die Fragmente von Buch XXI bis XXX in voll-
ständiger und wohlgeordneter Zusammenstellung anreiben. Die latei-
nischen Argumente der einzelnen Bücher und Capitel gehen in
beiden Bänden dem griechischen Text voraus ; die kürzeren griechi-
schen Argumente oder Inhaltsverzeichnisse sind dem Texte selbst
und zwar vor jedem einzelnen Buche vorangestellt. Die Praefatio
des dritten Bandes setzt die Besprechung einzelner Stellen der in
diesem Bande enthaltenen Bücher in ähnlicher Weise fort, wie diess
bereits in der Praefatio des ersten Bandes geschehen und in dem
Bericht darüber (s. oben S. 627) angegeben worden ist. Leider
sind die Handschriften der letzten zehn Bücher dieses Autor's un-
gleich fehlerhafter, als die der vorausgehenden, und treten selbst
nahmhafte Lücken und Gebrechen dos Textes hervor, welche zu
beseitigen die Aufgabe des Herausgebers um so mehr sein musst«,
als die Hoffnung, welche durch das Auffinden einer Handschrift
aus dem Ende des zehnten oder Anfang des eilften Jahrhunderts
zu Patmos, welche Buch XI— XVI enthält, erregt worden, sich doch
später, nach genauer Einsicht der Handschrift, von welcher uns
S. XIV ff. eine nähere Beschreibung mitgetheilt wird, als trüge-
risch erwies, da die Handschrift im Ganzen sich nicht besser, ja
selbst im Einzelnen fehlerhafter gezeigt hat als die andern bis jetzt
bekannten; auf diese Weise ist die Wiederherstellung des Textes
nur wenig durch diese Handschrift gefordert worden ; »praeter illos
ex homoeoteleutis ortos errores, so schreibt der Herausgeber S. XVU,
librarius indoctus quum alia intulit vitia tum vehementer corrupit
nomina Graeca et Romana. Haud pauca ipse correxit, alia recentior
mannt, aive alius sive ejusdem Gregorii Chii, qui etiam brevia in
margine apposuit summaria. Nova quae ceteris desint libris saepe
lacunosis ad di tarnen ta praeter versus illos initio memoratos [den
Zusatz am Schluss des 57. Capitels Buch XII] nuUa praebet, sed
partim vitia quaedam tollit partim jam sublatorum correctiones
confirmat, ut ne hujus quidem codicis ope multa nova inferentis
vitia vel leviora corrigantur, nedum ut gravissima illa quae in
ceteris sunt, em enden tu r.« Und schwerlich dürften überhaupt noch
Handsohriften des Diodorus, zumal bessere, aufzufinden sein, so
dass die Verbesserung hauptsächlich auf der genauen Kenntniss
der Sprache dieses Schriftstellers, und der von ihm angewendeten
Formen und Wörter beruht : von diesem Standpunkt ist daher auch
der Herausgeber bei seinen Verbesserungen ausgegangen: Manches
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Bibliotheca Scrfptomm Te*bnerUna.
947
was im Text nicht sofort geändert worden, Wird in der Vorrede
berührt. Nicht besser steht es mit der handschriftlichen Grundlage
in den nnr fragmentaripcb vorhandenen Büchern, vom ein und zwan*
zigsten an, da wir in diesen Excerpten nicht sowohl wörtgetreue
Auszüge aus dem Werke selbst finden, sondern Diodor's Darstellung
oftmals interpolirt, zusammengezogen , mit eigenen Zusätzen erwei-
tert und selbst entstellt ist, so dass es doppelt schwierig wird, zu
ermitteln, was wirklich für Worte Diodor's anzusehen ist, und was
dem Excerptor angehört, der mit grosser Freiheit, ja Willkühr*
lichkeit in seinem Geschäft verfuhr. Der Herausgeber hat in dem
Vorwort zu Band IV darüber sich des Näheren ausgelassen, und
hier eine Anzahl von Berichtigungen, zunächst in einzelnen Worten
und Formen, niedergelegt, auf welche hiermit verwiesen werden
soll. Bei den mannichfachen Irrthümern, welche in Bezug auf
Chronologie, in den vom eilften Buch an erzählten Gegenständen
sich bei Diodor finden, erachtete es der Herausgeber für nöthig,
im dritten Band auf die Vorrede nooh eine Abhandlung De Chro*
nologia Diodori (p. XIX— XXXVIII) folgen zu lassen, welche eine
Zusammenstellung der betreffenden chronologischen Angaben Jahr
für Jahr aus Clinton's Fasti enthält, begleitet mit einzelnen Zu-
sätzen des Herausgebers und dem genauen Nachweis der bei Clin-
ton vorkommenden Anführungen anderer griechischen Schriftsteller ;
diese Zusammenstellung reicht von 480 vor Ohr. bis 819 vor Chr.
Der von demselben Gelehrten in ähnlicher Weise behandelte,
dritte Band des Polybius enthält Alles, was vom zehnten bii
dreissigsten Buch noch vorhanden ist, wobei wir nur bemerken*
dass die Bruchstücke des siebenzehnten Buches hier zu dem acht-
zehnten geschlagen und mit diesem zu Einem Ganzen verbunden
sind. Ueber das Einzelne der Kritik gibt weder eine l'raefatio,
noch eine Adnotatio Aufschluss; wir dürfen wohl hoffen, später
dafür entschädigt zu werden.
Der dritte Band der Werke des Eusebius bringt, nach*
dem in den beiden ersten die Praeparatio Evangelien beendigt
worden, nun die Demonstratio Evangelica in ihrer einen
allein noch vorhandenen Hälfte, d. h. den zehn ersten Büchern, zu
welchen in neuester Zeit noch ein von A. Mai hervorgezogenes
Bruchstück des fünfzehnten Buches gekommen ist, das übrigens auch
in diesem Bande einen erneuerten Abdruck erhalten bat. Die letzte
Erwähnung des vollständigen Werkes findet sich in der Bibliothek
des Photius Cod. 10; nach dieser Zeit muss wohl der Verlust der
zweiten Hälfte erfolgt sein, und selbst für die erste Hälfte ist die
handschriftliche üeberlieferung schwach, da sie eigentlich nur auf
einer Pergamenthandschrift des zwölften Jahrhunderts beruht, welebe
jetzt zu Paris (Nr. 469) sich befindet Und als das Original der
übrigen Papierhandschriften des fünfzehnten Jahrhunderts, welche
sich zu Oxford und Paris befinden und nach jener offenbar copirt
sind, gelten kann. Die Handschrift aber, aus welcher der in der
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948 Bibliothec* Scriptorum Teubneriana.
Pariser Handschrift fehlende Anfang ergänzt worden, ist mit dem
Tode ihres Besitzers Mavrocordatos (1730), des Fürsten der Wa-
lachei, verschwunden und seitdem nicht wieder zum Vorschein ge-
kommen. Für die Texteskritik waren die Schwierigkeiten minder er-
heblich als in der Praeparatio, die öfter gelesen und abgeschrieben
ward, als dieses, zwar unmittelbar, nach der Absicht des Verf.,
daran sich schliessende Werk, welches in seiner Beweisführung für
die Wahrheit der evangelischen Lehre hauptsächlich gegen die
Jnden sich richtet, und darum voll ist von Bibelstellen aus den
Büchern des Alten wie des Neuen Testament's, insofern auch mehr
Wichtigkeit für den gelehrten Theologen schon wegen der vielen,
hier wörtlich angeführten Stellen des Neuen Testamentes als für den
Alterthumsforscher besitzt. Der Herausgeber hielt sich nun vor-
zugsweise an jene Pariser Handschrift, als Hauptquelle des Textes
und hat hiernach einen correcten und lesbaren Abdruck des Gan-
zen zu geben gesucht. Dem Texte vorangestellt ist das griechische
Inhaltsverzeichnis^ der einzelnen Bücher und Capitel (KefpaXcaov
xatayQCKprj) und am Schluss des Ganzen ist ein Index Scriptorum
(der angeführten Schriftsteller) und ein zweiter Index locorum S.
Soripturae (der in dem Werke so zahlreich und stets wörtlich an-
geführten Bibelstellen Alten und Neuen Testaments) beigefügt.
Die Fortsetzung der neuen Ausgabe des Oicero befasst die
auf dem Titel verzeichneten Reden, und schliesst damit die Reden
überhaupt ab. Dasselbe Verfahren, das der Herausgeber auch bei den
vorhergehenden Bänden der erneuerten Ausgabe eingeschlagen hatte,
ist auoh bei diesem Bande eingehalten worden : die vorsichtige Be-
nützung dessen, was für die Texteskritik dieser Reden, sei es auf
handschriftlichem Wege oder durch die Untersuchungen einzelner
Gelehrten gewonnen war, hat mancher Stelle eine bessere Gestalt
verliehen, und gibt dazu das Prooemium einen Beleg, in welchem
der Herausgeber in ähnlicher Weise, wie es von ihm auch bei der
ersten Auflage geschehen war, (deren Prooemium desshalb auch mit
allem Recht hier wieder abgedruckt ist) sich Uber eine nahmhafte
Zahl von Stellen der in diesem Band enthaltenen Reden verbreitet,
mit einziger Ausnahme der Philippischen Reden, in welcher der
Herausgeber zunächst zwar an Halm und die Vaticanische Hand-
schrift sioh anschloss, aber eine nähere Untersuchung an anderem
Orte in Aussicht stellt, eben so wohl über eine Reihe von einzel-
nen Stellen, als insbesondere Uber die Frage nach dem Werth und
der ausschliesslichen Bedeutung der Vaticanischen Handschrift, zu-
mal von der richtigen Beantwortung dieser Frage auch die Be-
stimmung mancher jetzt aufgenommenen Lesart abhängig ist. Man
wird um so mehr eine genaue Erörterung dieser Frage wünschen,
als, wenigstens nach des Ref. Ermessen, die Vaticanische Hand-
schrift bei manchen offenbaren Fehlern schwerlich eine so unbe-
dingte Geltung wird ansprechen können und jedenfalls der Gegen-
stand wichtig genug ist, um eine solche Erörterung hervorzurufen.
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BibMotlieca Scriptorom Teubneriana.
Noch mus8 bemerkt werden, dass die Sorgfalt des Heransgebers
ancb die von Klein unlängst ans der Handschrift von Cus ans
Tageslicht gezogenen Stücke zn den Reden pro Sestio nnd in Pi-
sonem auf besondern Blättern beigefügt hat.
Die neue Ausgabe der mathematischen Schriften des B o e t h i n s,
oder wie man wohl richtiger nach der Autorität der Handschriften
zu schreiben hat, B o e t i u s , ist mit einem in der That erheblichen
bandschriftlichen Apparat unternommen worden, welcher sich in den
unter dem Text, zur grösseren Bequemlichkeit d^s Lesers, befindlichen
Anmerkungen zusammengestellt findet. Für die beiden Bücher De
arithmetica institutione , welchen Titel der Herausgeber jetzt dem
Werke auf Grundlage einer Anführung des Boetius selbst (De in-
stitut. mus. p. 192) gegeben bat, wurden drei Bamberger Hand-
schriften des zehnten Jahrhunderts (worunter eine von Gerbert an
Otto m. geschickte, in ihrem Werth aber der andern nachstehende)
benutzt und weiter noch eine Bamberger des eilften, eine Münch-
ner (aus Tegernsee) des eilften und eine andere (aus St. Emmeran)
des zwölften, eine des neunten bis zehnten, und eine vierte des
eilften Jahrhunderts benutzt; im Ganzen weichen sie auch nicht
sehr von einander ab, sie führen vielmehr auf einen gemeinsamen
Ursprung zurück, und lassen nach unserer Ansicht auch kaum eine
auf wesentliche Verschiedenheit begründete Scheidung . in zwei
Familien zu; jedenfalls war das Geschäft des Herausgebers, der
einen urkundlichen und doch auch lesbaren Text zu geben bemüht
war, erleichtert. Mit grosser Genauigkeit sind die Abweichungen
dieser Handschriften unter dem Texte verzeichnet, welcher hier-
nach an nicht wenigen Stellen eine bessere Gestaltung erhalten,
und dadurch lesbarer geworden ist, abgesehen von der Fehlerhaftig-
keit der früheren Abdrücke, die der Heransgeber auch gar nicht
weiter berücksichtigt hat, da ihm in den genannten Handschriften
bessere Quellen wahrhaftig zu Gebot standen. Auch die an den
Rand einiger Handschriften gezeichneten Figuren sind beigefügt.
Ein gleicher handschriftlicher Apparat stand dem Herausgeber
für die fünf Bücher der Schrift De institutione musica,
welcher Titel gleichfalls auf die eigenen Anführungen des Boetius
sich stützt, zu Gebote. Ausser einer Bamberger Haudschrift des
neunten und zwei Pariser Handschriften des zehnten Jahrhunderts
sind sechs Münchner Handschriften zu nennen, die eine aus Tegern-
see aus dem eilften, eine aus Freisingen aus dem eilften, eine aus
St. Emmeran aus dem zehnten, eine andere (aus Tegernsee) aus
dem eilften, und zwei aus dem zwölften Jahrhundert. Auch diese
Handschriften weichen im Ganzen nicht so sehr von einander ab,
sie weisen vielmehr alle auf einen gemeinsamen Ursprung, wenn auch
einzelne von ihnen vollständiger und fehlerfreier sind: in welcher
Beziehung der Herausgeber, und wie uns dünkt, mit gutem Grund
den drei Münchner (Nr. 18480. 14528 und 867) aus dem zwölften
Jahrhundert den Vorzug gibt: will man Gassen oder Familien
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Bibliotheca Scriptorum Teubnexiana.
unterscheiden , so würden diese allerdings eine erste Classe bilden,
die übrigen Handschriften, welche minder genau den Text wieder-
geben, können dann als eine zweite Classe betrachtet werden. Dass
aber der Herausgeber in der Gestaltung des Textes auf jene erste
Classe besondere Rücksicht nahm , ist begreiflich , und wird sein
Verfahren auch dnreh die unter den Text gebrachte Zusammen-
stellung der Abweichungen gerechtfertigt. In wie weit eine jetit
zu Born befindliche ehedem Pfälzische Handschrift des zehnten Jahr-
hunderts, (Nr. 1342) und eine andere Vaticaner Nr. 5904, so wie
eine Neapolitaner des dreizehnten Jahrhunderts eine Aenderung in
diesem Verfahren verursachen kann, vermag Ref. nicht zu bemessen,
da er diese Handschriften nur aus einer in dem Archiv des mis-
sions I. p. 642 gegebenen Notiz kennt. Schliesslich ist noch bei-
gefügt die Schrift, die hier, nach den eigenen Anführungen des
Verfassers der Schrift die Aufschrift Ars Geometrioa erhalten
bat. Wenn nemlioh bisher Boetius als der Verfasser dieser Schrift
galt, und dafür selbst das Zeugniss des Cassiodorus angeführt wird,
der in derselben eine lateinische Bearbeitung des Euclides erkennt
— Euclidem translatum in ftomanam linguam idem vir magnificus
Boetius dedit, sehreibt er De artt. cap. 6. T. II. p. 589 — so
glaubt doch der Herausgeber, dass die Schrift, so wie sie jetzt
vorliegt, nicht für ein Werk des Boetius anzuerkennen sei, und
hat bereits an einem andern Orte (in der Schrift: Gerbert, die
Geometrie des Boetius u. s. w. Erlangen 1861, so wie in den Jahr-
büchern der Philolog. Bd. LXXXVI1 p. 422 ff.) seine Ansicht näher
su begründen gesucht, im Gegensatz zu der von andern Gelehrten,
namentlich von Cantor vertheidigten Aochtbeit dieser Schrift. Es kann
hier nicht der Ort sein , diese Frage näher zu erörtern , in jedem
Fall aber war es zweckmässig, der Besprechung und Entschei-
dung dieser Frage eine sichere Grundlage zu geben durch einen
möglichst verlässigen, auf die handschriftliche Ueberlieferung zurück-
geführten Text: und diesa ist dem Herausgeber möglich geworden
duroh die von ihm verglichenen Handschriften, unter welchen eine
Erlanger des eilften Jahrhunderts und eine mit dieser meist über-
einstimmende Münchner (23511) des zwölften Jahrhunderts nebst
einer aweiten Münchner (560), ebenfalls des eilften oder zwölften
Jahrhunderts insbesondere massgebend für die Gestaltung des Textes
waren ; anch die Figuren sind aus diesen und andern Handschriften
aufgenommen, und so jedenfalls jetzt eiu lesbarer Text gewonnen.
Als eine recht verdienstliche Zugabe sind die beigefügten Indices
von S. 329 an zu betrachten : an erster Stelle ein Index rerum et
verborum, und wenn in domselben auch die ganz bekannten Wär-
ter »quae ut notarentur singularis causa non exstitit«, ausgelassen
sind, so ist doch in diesem Index fast der ganze Sprachschatz ent-
halten, wie ihn diese Schriften bieten, welche in Bezug auf Lexi-
cograpbie noch so wenig benutzt und ausgebeutet sind ; was nun
durch diesen Index möglich ist, welcher, wie ein Bück iu deusd-
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Huscbke: JurUprud. Ante just Ed. altera.
961
ben zeigen kann, sich keineswegs blos auf seltene und ungewöhnliche,
fremdartige Ausdrücke beschränkt hat, da z. B. Wörter wie abdu-
cere, abesse, abhorrere , absolvere, accedere, accipere, accendere,
accidere und andere der Art (um nur aus dem Anfang des Buch-
stabens A Einiges anzuführen), aufgenommen sind. Diesem sohlieast
sich noch ein Index Nominum, d. h. der vorkommenden Eigen-
und Personennamen und ein Index Graecus an, welcher die in diesen
8chriften vorkommenden griechischen Ausdrücke verzeichnet.
Wir reihen hier weiter noch an eine erneuerte Auflage aus
dieser Bibliotheca Teubneriana:
Jurüpradentiae Anteiustinianae quae supersunt. In
academicum composuit, recensuit, adomavit PA. Eduardus
Huschke. Editio altera, aucta et multis loci» cmendata. Lip-
siae in aedibus B. 0. Teubneri MDCOCLXVII. XV l und 770
8. in 8.
Von der ersten Auflage dieses Werkes, welches die sämmt-
lichen noch vorhandenen Quellen des vorjustinianischen Reobts in
einer eben so wohl geordneten als kritisch gesichteten und mit den
nöthigen Erläuterungen ausgestatteten Zusammenstellung bringt,
ist ein eingehender Bericht, wie es der Umfang und die Bedeutung
dieses Werkes erheischte, in diesen Jahrbüchern, bald nach dessen
Erscheinen, Jahrg. 1862 S. 130 ff. erstattet, der Bestand der
Sammlung im Einzelnen verzeichnet und auf den grossen Nutzen
einer solchen Sammlung für den gelehrten Gebrauch wie für das
Quellenstudium des römischen Rechtes hingewiesen, dabei aber auch
des grossen Verdienstes gedacht worden, welches der Herausgebet
sich erworben, indem er auf diese Weise die zum Theil nioht
Jedermann so leicht zugänglichen Quellen Allen zugänglich gemacht
und dadurch ein gründliches Studium des römischen Rechts nicht
wenig gefördert hat. Man kann sich daher nur freuen, wenn ein
solches Werk auch die wohlverdiente Aufnahme gefunden und da-
durch nach verhältnissmässig kurzem Zeitraum eine neue Auflage
nöthig geworden ist, die wir hier zur Kenntniss unserer Leser um
so mehr zu bringen haben, als dieselbe keineswegs ein blosser
Wiederabdruck der früheren Ausgabe zu nennen ist, sondern durch
eine ins Einzelne gehende sorgfältige Revision, unter Benutzung
Alles dessen, was inzwischen für diese Quellen und deren Text ge-
schehen ist, mit Recht als eine vermehrte und verbesserte bezeichnet
werden kann. Schon der äussere Umfang bei gleichem Druck und
Lettern, wie denn die äussere Einrichtung und Ausstattung sich
gleich geblieben, vielmehr in Papier und Lettern, in der Deutlich-
keit und Klarheit des Druckes vorzugehen scheint, mag diess be-
weisen. Die erste Auflage hatte 748 Seiten, in der zweiten ist
die Seitenzahl auf 770 gestiegen. Aber nioht blos in einzelnen
Zusätzen und Erweiterungen, sondern auch in einzelnen Aenderungen
/
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962 Huschle e: Jorisprud. Antejubt. Ed. alter*.
gibt sich diese Revision des (ranzen kund. So sind z. B. die Frag-
mente der Schrift über das jus pontifioium , welche in der ersten
Ausgabe dem Servius Pabius Pictor zugewiesen waren, jetzt
dem Numerins Fabius Pictor, der als jüngerer Zeitgenosse
des Cato bezeichnet wird, zugewiesen, dieser ist aber, so weit wir
wissen, eigentlich nur aus einer Stelle des Cicero (De divinat. T, 21)
als Verfasser von griechischen Annalen uns bekannt, während Ser-
vius Fabins Pictor, Prätor 608 a. c. bei Cicero Brut. 21 ausdrück-
lich als et juris et literarum et antiquitatis bene peritus bezeichnet
wird, und in den übrigen Stellen (De legg. I, 2 De orat. 11, 12
vgl. De Divinat. I, 26), welche hier in Betracht kommen, es sich
darum handelt, ob an diesen Servius Fabius Pictor oder an den
ältern Q. Fabins Pictor, wie Manche, nach des Ref. Ansicht, nicht
mit genügendem Grund annehmen, zu denken ist. Neu hinzuge-
kommen ist C. Cornelius Baibus wegen der von Macrobius
Sat. III, 6, 16 im achtzehnten Buch citirten ElrjyrjTixa, welche
als Indigitamenta aufgefasst werden, was noch nicht so ausgemacht
erscheinen mag. Dass Granius Flaccus, der Verfasser der
Schriften De indigitamentis und de jure Papiriano, eine und die-
selbe Person ist mit dem Ganius Licinianus (bei Macrob
Sat. I, 16, 30), wird man dem Verf. gern zugeben, der dadurch
die erst genannte Schrift mit einem weiteren Fragment zn ver-
mehren im Stande war.
Ein nahmbafter Zusatz findet sich boi M. Valerius Probus,
in so fern hier die inzwischen durch Mommsen erfolgte Ausgabe
der notarum laterculi dazu eine nähere Veranlassung gab: ausser
einzelnen Verbesserungen im Texte sind die aus der Einsiedler
Handschrift des zehnten Jahrhunderts von Mommsen hervorgezogenen
Notae, die in der erston Ausgabe fehlen, jetzt hinzugefügt. Nach
der Ansicht des Verfassers sind diese Notae aus den Büchern juris
civilis genommen und darum hat derselbe ihnen jetzt die Aufschrift
gegeben: »M. Valerii Probi de juris civilis notarum significatione
oommentariusc, statt der früheren: »de notis antiquis«.
Mit grosser Sorgfalt sind in der neuen Ausgabe die Reste des
Gajns behandelt: in der dem Abdruck vorausgehenden Abhandlung
über die Person und Schriften desselben ist zwar das Wesentliche
geblieben, wie es in der Natur der Sache lag, aber es ist im Ein-
zelnen mancher passende Zusatz, manche Berichtigung, wie auch
selbst Rechtfertigung hinzugekommen, wie der aufmerksame Leser
bald wahrnehmen wird. Zu einer erneuerten Durchsicht des Textes
selbst war allerdings durch die neue inzwischen erschienono fünfte
Ausgabe von Böoking mit dem getreuen Abdruck der Veroneser
Handschrift eine Veranlassung gegeben, welche auch nicht ohne
Erfolg geblieben, und zu einer nicht unbedeutenden Zahl von Aen-
derungen goftlhrt bat, von welchen der Verf. selbst die erheblich-
sten in dem der Einleitung nun beigefügten Schlusswort S. 100
angegeben hat, wesshalb wir hier die Angabe derselben unterlassen
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Hus chice: Jorisprud. Antejnst. Ed. altera. 958
können. Ueber sein Verhältniss zu jener Ausgabe spricht er sich
bei dieser Gelegenheit also aus: Caoterum neque haec fere neque
permnlta omnino fuere, quae a Boockingio mutuari licuit. Plus
monitori quam largitori debeo et (quod doleo) non raro sive im-
pugnationibns eius sive noviter repertis palam obloquendum fuit.
Et vereor ne in Universum magis ingeniomm et in critica arte
exercenda consilii et rationum diversitati tribnendum sit quod is
de »libidine« mea, et raea tantum in supplendis reformandisve
his commentariis queritur. Qua tarnen in re tantum abest, ut mea
tantum mihi placeant, ut et optom et fore sperem, ut Boeckingii
editio cum omnino tum praesertim iis , quorum textus harura In-
stitutionum historiam accurate nosse interest, in pretio et in usu
sit« So wird man, um ein Beispiel zu geben, der in die neue
Ausgabe I, 2 aufgenommenen Lesart: »constat autem jus civile
populi Romani ex legibus« etc. gewiss den Vorzug zu geben haben
vor der früheren: »constant autem jura (propria) ex legibus etc.,
indem doch kaum über das Unrichtige des Plurals jura, wie über
der Lesung des Wortes propria ein Zweifel sein kann, und andere
Verbesserungsvorschläge sich von der handschriftlichen Lesart zu
sehr entfernen, da propria aus der Abbreviatur PR entstanden
sein mag. Wir wollen nicht weiter in die Besprechung einzelner
Stellen eingehen, was unserer Aufgabe fern liegt, welche nur einen
getreuen Bericht über die neue Auflage und ihr Verhältniss zur
früheren abzustatten beabsichtigt: wir hiitteu dann auch so man-
cher einzelner Bemerkungen zu gedenken, welche in der neuen Auf-
lage hinzugekommen sind und den grösseren Raum, den der Ab-
druck der Institutionen in der neuen Ausgabe einnimmt (S. 101
bis 324, in der filteren S. 91 bis 307), erklären. Auf Gajus folgt
wie in der ersten Ausgabe L. Volusins Maecianus, dann das von
Dositheus erhalteue Stück aus dem liber regularum des Cervidius
Scävola, wie man gewöhnlich annimmt, und das eine Fragment
des Aemilius Papinianus ; dann Julius Paullus und Domitius Ulpia-
nus, wie in der ersten Ausgabe, Herennius Modestinus, die Lex
Dei s. Mosaicc. et Romm. legg. collatio ; die Fragraenta juris Romani
Vaticana und die Consultatio nebst den, den Schluss bildenden
Griechisch-Lateinischen Resten des Cyrillus, Domninus u. 8. w.
reihen sich wie in der ersten Ausgabe daran an. Bei allen diesen
Abschnitten haben wir im Einzelnen manche Nachbesserung, man-
chen Zusatz bemerkt, im Ganzen aber ist in der Anlage und Ein-
richtung Nichts verändert, auch kein nahmhaftes grösseres Stück
hinzugekommen: wie es denn gewiss zweckmässig war, bei aller
auf das Einzelne gerichteten Sorgfalt, doch in der Anlage des Ganzen
keine Aenderung vorzunehmen. So ist allerdings eine editio aucta
et multis locis emendata geliefert, die den Werth des Ganzen und
seinen Nutzen wesentlich erhöht hat, damit aber der neuen Aus-
gabe eine noch grössere Verbreitung, wie wir sie im Interesse der
Wissenschaft und eines gründlichen Quellenstudiums wünschen,
sichern wird. Jedenfalls verdient sie eine solche Aufnahme.
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Vitruvius. Ed. Rose ei Müller.
Diesen neuen Erscheinungen der Bibliotheca Teubneriana lässi
sich wohl anreihen eine ähnlicho neue Ausgabe des Vitruvius,
wenn sie auch im Aeussern, was Format und Druck betrifft, nicht
ganz gleich gehalten ist, sondern durch ein grösseres Format, Let-
tern und Papier von denselben verschieden ist:
Vitruvii de Architeclura libri deeem. Ad antiquimmos codiett
nunc primum ediderunt Valentinus Rose et Her man Müller-
Strübinq. Upsiae in aedibus B. G. Teubneri. MDCCCLXV1I.
XII und 319 S. in gr. tf.
Dass bei diesem für die Geschichte der alten Kunst und An-
deres so wichtigen Schriftsteller eine neue Ausgabe, und zwar eine
solche nöthig war, die einen auf die ältesten Quellen der Ueber-
lieferung zurückgeführten, also urkundlichtreuen und verlässigen
Text, der als sichere Grundlage zu allen den umfassenden, an den
Inhalt geknüpften Untersuchungen dienen kann, uns schafft, wird
wohl keinem Zweifel unterworfen sein können. Eine solche war
uns angekündigt von C. Lorenzen schon im Jahr 1857: es ist auch
von dieser Ausgabe Voluminis I. Pars prior, worin die fünf ersten
Bücher enthalten sind, d. h. der lateinische Text mit gegenüber-
stehender deutscher Uebersetzung (um dem Bedürfnisse der des
lateinischen unkundigen Architekten und Künstler zu genügen) er-
schienen und seiner Zeit in diesen Blättern angezeigt worden
(Jahrgg. 1857. S. 146 f.), allein jede weitere Fortsetzung blieb aus,
eben so wie der versprochene kritische Nachweis u. dgl. , so dass
das Ganze unvollendet, wie es ist, für die Sicherheit des Textes
gar keine Garantie bietet, sondern Alles unsicher lässt. Es war
also gewiss an der Zeit, an eine neue kritische Ausgabe zu denken,
die dem Bedürfniss eines gesicherten und urkundlichen Textes auch
zu entsprechen vermag, wie er bisher nicht vorhanden war. Und
diess ist der Zweck dieser Ausgabe, und darauf bezieht sich auch
wohl das auf den Titel gesetzte nunc primum (ediderunt), in so
fern in dieser Ausgabe allerdings erstmals ein solcher Text gegeben
ist, der auf die älteste Quelle der haudschriftlichen Ueberliefernng
sich stützt. Bekanntlich fehlt es zwar nicht an Handschriften des
Vitruvius: in Rom allein befinden sich nach Marini's Angabe an
fünf und zwanzig, andere zu Paris und andern Orten. Wenn nun
das Verhältniss dieser Handschriften zu einander bisher noch nicht
näher untersucht und festgestellt war, um hiernach ihren Werth
im Einzelnen und ihren Einfluss auf die Gestaltung des Textes zu
bestimmen, so glaubt nun der eine der beiden Herausgeber, wel-
chem der Hauptantheil an dieser neuen Ausgabe überhaupt zufallt
(Rose), die ältesten Quellen der Ueberlieferung in zwei aus Einem
Archetypus stammenden Handschriften gefunden zu haben , die als
alleinige Richtschnur für die Gestaltung des Textes nun zu gelten
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Vitruvius. Ed. Rose et Müller.
965
haben, da die übrigen nooh vorhandenen, zumal die jüngeren Hand-
schriften auf diese beiden nach seiner Ansicht mehr oder minder
zurückzuführen sind, und in so fern, im Vergleich zu jenen beiden,
keine weitere Berücksichtigung anzusprechen vermögen. Die eine
derselben, und zwar die älteste von allen, ist ein jetzt zu London
befindlicher Codex Harleianus des neunten Jahrhunderts, welober,
wie hier nachgewiesen wird, aus Deutschland und zwar aus der Karo-
lingischen Zeit stammt, in welcher ein Exemplar des Vitruvius zu
Fulda sich befand, wie denn auoh Einhard, der die Bauten Carls
des Grossou ausführte, ein Exemplar des Vitruvius vor sich gehabt
hat. Aus ihm stammt die Zweitälteste Handschrift zu Paris, der
Cod. Pithoeanus des zehnten Jahrhunderts, jetzt Nr. 10277, daraus
ein anderer Pariser (7227) des eilften oder zwölften Jahrhunderts,
so wie auch der von Marini so hoch gestellte Vaticanus 1504 der-
selben Zeit, aus der Bibliothek der Königin Christine, ebenso die
in dieselbe Zeit fallende Handschrift des Escurial, die durch Herrn
Fedor Jagor für den Herausgeber verglichen ward, und andere,
die einer weit spätem Zeit angehören. Die andere Handschrift,
die eine gleiche Geltung für den Text ansprechen kann, ist nach
dem Urtheil des Herausgebors eine Wolfenbtittler (Gudianus) des
eilften Jahrhunderts Nr. 69, die selbst vor einer andern und älte-
ren Wolfenbüttler Handschrift Nr. 132 aus dem zehnten Jahr-
hundort den Vorzug verdient und als die Quelle von zahlreich
daraus genommenen Copien erscheint: beide Handsohriften sind
gleichfalls in Deutschland geschrieben und mögen so dio Behauptung
des Verfassers rechtfertigen, welcher Carl dem Grossen und Ein-
hart die Erhaltung des Vitruvius Uberhaupt verdanken zu können
glaubt. Während nun die Harlejanisohe Handschrift von dem Her-
ausgeber nicht blos eingesehen, sondern von dem auf dem Titel
genannten Mitherausgeber (Müller-Strübing) zu London aufs ge-
naueste verglichen worden ist, sind die beiden Wolfenbüttler, so
wie die Leidner Handschrift von dem Herausgeber selbst genau
verglichen worden , so dass über die daraus ermittelten Lesarten
kein Zweifel herrschen kann ; und da die Harlojanische und die
eine Wolfenbüttler als die allein für die Gestaltung des Textes zn
beachtenden und massgebenden Quellen betrachtet werden, so wer-
den auch ihre Lesarten in der unter dem Text zusammengestellten
Varietas Lectionum vollständig mitgetheilt, von den übrigen Hand-
schriften aber nur in den Fällen die Lesart bemerkt, wo der Wol-
fenbüttler und Harlejaner Codex von einander abweichen. Uebrigens
ist diese ganze Zusammenstellung mit grosser Genauigkeit gemacht,
und haben dabei die älteren wie selbst die neueren Ausgaben Be-
rücksichtigung gefunden : über die Handschriften selbst wird in der
Praefatio berichtet und dauu ein sorgfältiges Verzeichuiss der Hand-
schriften gegeben, welchem ein Stamm vorangestellt ist, das uns
die Ratification derselben, und damit ihr VerhältnisB zu einander
klar übersehen lässt. In der Aufschrift des Ganzen ist blos Vi-
066 Feddersen: Geschichte der schweizerischen Regeneration.
truvii gesetzt, weil der Herausgeber diesen Namen ftir den ein-
zigen handschriftlich beglaubigten ansieht, Polio aber, was bei-
gefügt worden, auf keinem andern Grund beruhe, als auf der Au-
torität des gleich zu nennenden Excerpts, in dessen Anfang Vi-
truvius Polio genannt wird; die verschiedentlich gesetzten Vor-
namen (bald L = Lucius, bald M ss Marcus) erscheinen zugesetzt von
Italienischen Gelehrten des fünfzehnten Jahrhunderts. Beigefügt ist
noch nach drei Handschriften des zehnten Jahrhunderts zu Paris,
Wolfenbüttel und Valenciennes, ein aus Vitruvius noch in ziemlich
alter Zeit gemachtes Excorpt, welches die Aufschrift führt: De
diversis fabricis arch itectonicae. Ein Index, der die
Eigennamen verzeichnet, welche in dem Werke des Vitruvius vor-
kommen, macht den Beschluss.
Geschichte der Schweizerischen Regeneration von 1830 — 1848. Nach
den besten Quellen hearheitet von P. Feddersen, MitaHed
des grossen Raths von Baselstadt. Zürich, Verlagsmagarin 786*7.
XÜ und 654 8. gr. 8.
Mit Recht konnte der Verf. dieses Werkes bei seinem Unter-
nehmen von dem Satz ausgehen , dass keine Periode der neueren
Schweizergeschichte von so tiefem und mannichfaltigem Interesse
sei, wie die Zeit von 1830 bis 1848. Innerhalb derselben ist, und
zum grossen Theil doch auf friedlichem Wege, eine Umwälzung vor
sich gegangen, welche dem politischen Charakter der Eidgenossen-
schaft eine andere Gestalt verliehen und für die Schweiz den Grand ge-
legt hat zu einer neuen Aera, in welcher die Verhältnisse der
Schweiz nach Aussen besser geregelt erscheinen, im Innern der Wohl-
stand und die Wohlfahrt des Ganzen gefördert worden, dadurch
aber es möglich geworden, durch alle Wirren und drohenden Gefahren
sich bis jetzt glücklich durchzuschlagen. Wie diess gekommen,
und wie der alte Bundesvertrag von 1815 nicht mehr sich halten
konnte, ohne mit so manchen Errungenschaften der neueren Zeit
sich in Widerspruch zu setzen, wie er daher durch Etwas Anderes
und Besseres ersetzt werden rausste, das Alles wird in ruhiger und
besonnener Darstellung, die streng auf die Quellen sich stützt, uns
hier vorgeführt. Vorausgeschickt ist eine geschichtliche Einleitung,
welche in gedrängtem Umrisse den Zustand der Schweiz bis zum
Untergang der alten Eidgenossenschaft, dann die Helvetik, die
Mediation und die Restauration behandelt. Dann wendet sich der
Verf. zum Gegenstand selbst und erzählt im ersten Abschnitt (die
Regeneration) den Lauf der Ereignisse von den ersten Bewegungen
nach der Junirevolution 1830 bis zur Auflösung des Sarnerbundes
(S. 30 — 178); ein zweiter Abschnitt geht von da bis zur Züricher
Septemberreaction , also bis 1839 (S. 179 — 305), ein dritter
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Schaf er: Quellenkunde der griechischen Geschichte. 967
dann weiter bis zur Berufung der Jesuiten in Luzern 1844 (S. 306
—384) ein vierter, der von da bis zur Einführung des neuen
Bundes 1848 (S. 885—599) reicht, bringt den Schluss. Als An-
hang ist beigefügt ein Abdruck der Verfassung der helvetischen
Republik vom 12. April 1798, der helvetischen Verfassung vom
20. Mai 1802, der Vermittlungsurkunde vom 19. Hornung 1808,
des Bundesvertrags vom 7. August 1815 und der Bundesverfassung
vom 12. Herbstmonat 1848.
Man wird die Eintheiiung und Gliederung des Ganzen passend
und durch sachliche Rücksichten geboten erachten; auch mit der
Ausführung im Einzelnen sich befriedigt finden. Um an Einzelnes
zu erinnern, führen wir nur aus dem zweiten Abschnitt die Dar-
stellung des Louis Napoleon Handels, oder die Erzählung der Züri-
cher Septemberreaction (S. 279 ff.) an, wiewohl jeder der vier
Abschnitte ähnliche, gelungene Parthien bietet. Mit der Klarheit
der Darstellung verbindet sich eine wohlthuende Ruhe und ein
Streben nach Unparteilichkeit, die Niemanden verletzt, und Aner-
kennung erheischt. So wird das Buch dem Schweizer wie dem
Ausländer, der die Neugestaltung der Schweiz näher kennen lernen
will, eine eben so belehrende als unterhaltende Lektüre gewähren.
Abriss der Quellenkunde der griechischen Geschichte bis aufPolybios
von Arnold Schäfer. Leipzig. Druck und X erlag von
B. G. Teubner 1867. 108 S. in gr. 8.
Der Verf. hat diesen Abriss dazu bestimmt, > Vorlesungen über
Quellenkunde der griechischen Geschichte zur Unterlage zu dienen,
und den Zuhöreru die wichtigsten Nachweisungen und Zeugnisse
an die Hand zu geben €. Sie werden zu diesem Zweck nicht blos
mit den Quellen selbst, und der darauf bezüglichen Literatur be-
kannt gemacht, sondern es wird auch in möglichster Kürze bei
jedem Autor das, was über sein Leben und seine Schriften aus
diesen selbst oder aus anderwärtigen Schriftstellern des Alterthums
zu unserer Kunde gelangt ist, in dem Abdruck der betreffenden
Stellen selbst zusammengestellt, und auf diese Weise ein Ueber-
blick erzielt, welcher in leichter und doch sicherer Weise den Leser
oder Zuhörer mit dem Wesentlichsten bekannt macht, was über
jeden einzelnen Autor ihm zu wissen nöthig ist. Und darin liegt
der wesentliche Nutzen dieses Abrisses, der es dabei dem Lehrer
möglich macht, über diesen wichtigen Punkt — die Quellen der
geschichtlichen Kunde — sich kürzer in seinem Vortrag zu fassen.
Allerdings war eine gewisse Beschränkung bei dem, was über jeden
einzelnen Autor mitzutheilen, also hier aufzunehmen war, geboten :
wir glauben nicht, dass der Verf. in seinen Mittheilungen das
richtige Maass überschritten: denn wenn er über Autoren, wie
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&6Ö Scblferi Quellenkunde der griechischen Geschichte.
Herodotus und Thuoydides, Etwas mehr gibt und sich etwa« aus-
führlicher verbreitet, so lag dies schon in der Bedeutung und
Wichtigkeit dieser Schriftsteller, mitbin in der Natur der Sache
selbst. Das Ganze ist in vior Abtheilungen geordnet; die erste,
welcher die Anführung einiger Schriften über griechische Geschicht-
schreibung, Geographie, Topographie und Chronologie vorangeht,
befasst die ältere Zeit bis auf Herodotus, beschränkt sich aber hier
nicht auf die eigentlichen Geschichtschreiber, sondern gibt auch
literarische Notizen und Nachweisungen über epische, lyrische und
dramatische Poesie, wie es scheint aus dem Grunde, weil in dieser
Poesie auch so Vieles für die Geschichte der griechischen Stamme
Belangreiches vorkommt, dass auch sie zu den Quellen und deren
Kunde gezählt werden kann: übrigens sind diese Notizen ganz
kurz, Mancher würde sie vielleicht ganz weggelassen haben, zumal
sie in dieser kurzen Fassung oder vielmehr Erwähnung nicht Allen
genügen werden. Dann folgt die Angabe der ältesten Jahrbücher
und Urkunden, welche die kalendarischen Aufzeichnungen, wie die
Verzeichnisse der Priester und Priesterinnen, der Könige und
höheren Beamten, so wie die ersten Aufzeichnungen geschichtlicher
Art durch Priester, und die schriftliche Fassung der Gesetze be-
fasst. Mit Pherekydes von Syros beginnt dann die eigentliche
Geschichtschreibung: an ihn werden dio übrigen, gewöhnlich mit
dem Namen der Logographen (welche Bezeichnung wir hier nicht
gebraucht finden) bezeichneten Schriftsteller angereiht, wie Heka-
täos von Milet, Charon von Lampsakos u. A., zuletzt Hellanikos
von Mytilene, dessen Geschlechterfolge und Königsreihe den über
Person und Schriften mitgetheilten Stellen sich anschliesst; eine
Notiz über die Inschriften und Münzen, da beides eine wesent-
liche Quelle der geschichtlichen Kunde von Hellas ausmacht, bildet
den Schlu8S. Der zweite Abschnitt reicht dann von Herodotus bis
zur Begründung der makedonischen Macht durch Philipp IL S.
18—46. Dass in diesem Abschnitt Thucydides und auch Xenophon
ausführlicher gehalten sind, mag die Bedeutung dieser Schriftsteller
wohl rechtfertigen: indessen sind darüber die übrigen, in diese
Zeit fallenden, uns leider nur aus Bruchstücken bekannten Schrift-
steller nicht verkürzt. Der übertriebenen Scepsis, wie sie sich in
neuester Zeit bei mehreren dieser Schriftsteller, in Bezug auf ihre
Person und ihre Schriften geltend zu machen gesucht hat, ist der
umsichtige Verfasser nicht gefolgt, wie er z. B. auch die Herodo-
teisohen Vorlesungen aufführt, und demnach wohl an deren Wirk-
lichkeit nicht zweifelt, da sie durch bestimmte Zeugnisse beglaubigt
sind. Auf der anderen Seite aber versohliesst er sich wirklichen
Resultaten der neueren Forschung nicht : dies zeigt z. B. die Stel-
lung, die er der unter Xenophon's Schriften befindlichen 'Afrrjvaüav
nokxsia gegeben hat, die §. 25 8. 44 von den ächten Schriften
des Xenophon getrennt und besonders aufgeführt ist. Am Schlüsse
^leses Abschnittes wird noch kurz der Bedner gedacht.
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Florians Fabeln von Zipp.
969
Der dritte Abschnitt befasst die Zeiten der macedoniRcheu
Herrschaft S. 46—92, und zwar zuerst die Geschichtschreiber,
dann noch, was von Rednern, staatswissenschaftlichen Schriftstellern,
insbesondere Peripatetikern u. dgl. in diesen Kreis gehört. Epborns
und Theopompns, welche diesen Abschnitt beginnen, sind ausführ-
licher behandelt, dann die Geschichtschreiber der Züge Alexander's
nnd seiner Nachfolger u. 8. w. , zuletzt noch die Sicilischen Ge-
schichtschreiber, insbesondere Timäus. Der vierte Abschnitt befasst
die letzten Zeiten des griechischen Staatswesens und die Alexan-
drinische Gelehrsamkeit; er schliesst mit Polybius.
Man wird das Nützliche dieser Zusammenstellung, welche ein
brauchbares Htilfsmittel bei dem Studium der griechischen Ge-
schichte bietet, nicht verkennen und den Bemühungen des Ver-
fassers, der ein gründliches, auf die Quellen gestütztes Studium
der griechischen Geschichte damit zu fördern beabsichtigt, den
besten Erfolg wünschen. Die äussere Ausstattung lässt nichtB zu
wünschen übrig.
Florians Fabeln mit geographischen, grammatischen, historischen
und mythologischen Erörterungen, einer gedrängten Lehre über
die Participes und über die Bildung der Zeiten, so wie mit
einem etymologischen Wörterverzeichnisse versehen von Ernst
Zipp, Grossh. Bad, Professor, Lehrer der frans. Sjyrache
am Lyceum su Freiburg i. Br. Zum Gebrauche für gelehrte
Mittelschulen. Erstes Buch. Freiburg im Breisgau. Fr. Wag-
nerische Buchhandlung 1867. VI und 106 8. in S.
Diese Bearbeitung des ersten Buches der Fabeln von Florian
empfiehlt sich für den Gebrauch unserer Mittelschulen, zunächst
der Tertia nnd Quarta, durch besondere Eigenschaften, welche ihr,
wie wir hoffen, nicht blos den Eingang in unsere gelehrten An-
stalten, in welchen französischer Unterricht ertheilt wird, verschaf-
fen werden, sondern auch ihre Verbreitung im Interesse dieses
Unterrichts wünschenswerth machen. Da auf unseren Anstalten
der Unterricht in der französischen Sprache neben dem Unterricht
im Lateinischen und Deutschen ertheilt wird, so war der Verf., dem
eine vieljährige Uebung uud Erfahrung zur Seite steht, schon früher
zu der gewiss richtigen Ansicht geführt worden, dass dieser Unter-
richt im Französischen in eine nähere Verbindung mit dem übrigen
sprachlichen Unterricht zu bringen sei, namentlich mit dem Unter-
richt in der lateinischen Sprache, indem man dann im Stande sei
grössere Vortheile zu gewinnen und ganz andere Resultate zu er-
zielen. In diesem Sinne hat er diese Bearbeitung der Fabeln
Florians unternommen, welche, wie derselbe mit richtigem Takt
erkannt hat, allerdings zu einer derartigen Leetüre beim Schul-
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Florians Fabeln von Zlpp.
Unterricht sich insbesondere eignen. Drs vorliegende erste Heft
enthält das erste Buch dieser Fabeln und man kann nach der
ganzen Art der Behandlung nur wünschen, dass auch die übrigen
Bücher in gleicher Weise bearbeitet, bald nachfolgen möchten.
Einige Kegeln über das Participe Präsent, das Participe Passe und
über die Bildung der Zeiten sin(} vorausgeschickt; Alles ist klar
und deutlich in der Kürze entwickelt, aber genügend für das Ver-
stündniss des Schülers, der Uberhaupt nicht mit Regeln und Vor-
schriften im Beginn des Unterrichts überhäuft werden soll. Dann
folgt der Text der einzelnen Fabeln mit darunter gesetzten erklä-
renden Bemerkungen, meist sprachlicher Art und zugleich vielfach
auf die hier hervortretenden Unterschiede des Deutseben vom La-
teinischen hinweisend. Auf das alsdann folgende von S 46 an bis
zum Schluss reichende Wörterbuch möchten wir noch insbesondere
aufmerksam machen. Hier ist nemlich besondere Rücksicht auf die
Etymologie und zwar die Ableitung aus dem Lateinischen genom-
men ; das betreffende lateinische Wort , dem das französische ent-
stammt, ist in Klammern beigefügt und so stets auf die Verbin-
dung beider Sprachen hingewiesen. Dass diess für den Schüler
eine grosse Erleichterung ist, sein sprachliches Wissen in jeder
Hinsicht fördert, ihn weiter fuhrt, als alles mechanische Auswendig-
lernen, wird man sich nicht verhehlen können. Der Verfasser ist
dabei mit aller Umsicht verfahren, da er nur da, wo die Ableitung
sicher und unbezweifelt steht, die Hinweisung auf das Lateinische
gegeben und in der Angabe verschiedener Bedeutungen desselben
Wortes sich stets an die Grundbedeutung, aus welcher die weitere
Bedeutung abzuloiten ist, gehalten hat. Ueberhaupt sieht man dem
Ganzen wobl an, dass es das Werk einer vieljährigen und gereiften
Erfahrung ist, welche den Schüler sicher und gründlich vorwärts
zu bringeu und in die Kenntniss der Sprache einzuführen sucht.
Und daher kann man auch dem Büchlein baldige Fortsetzung und
eiue weitere Verbreitung im Interesse des Schulunterrichts wünschen.
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Chronik der Universität Heideibers fllr das Jahr 1867
Am 22. November leierte die Universität in herkömmlicher
Weise das Fest der Geburt des erlauchten Restaurator1 s der Uni-
versität, des höchstseligen Grossherzogs Karl Friedrich. Die
von dem zeitigen Prorector der Universität, Professor Friedreich
gehaltene seitdem im Druck erschienene Hede *) verbreitet sich
»über die heutigen Standpunkte der Medizin« und giebt in ge-
drängten Zügen ein Bild von den Bestrebungen und Zielen der
wissenschaftlichen Medizin, und von den Standpunkten, auf denen
sich die Medizin unserer Tage befindet. Begreift man unter »Medizin«
lediglich das Bestreben, die Krankheiten zu heilen, so vordieut sie
allerdings die Benennung einer altehrwUrdigen ; denn Versuche, die
Krankheiten auf empirischem Wege zu heilen, wurden zu allen Zei-
ten gemacht und datiren zurück in die Tage des grauesten Alter-
thums. Versteht man aber unter »Medizin« das Bestreben, in das
Wesen der Krankheiten vorzudringen und nach der strengen, in-
duktiven Metbode der Naturforschung das Gesetzmässige in der
Krankheit zu erforschen, so ist sie wohl die jüugste der Wissen-
schaften, welche die Natur zum Objekte der Forschung besitzen.
Redner zeigt nun unter Hervorhebung der Hauptperioden der Ge-
schichte der Medizin, wie man zu allen Zeiten bestrebt war, durch
Uebertragung philosophischer Systeme, theoretischer Dogmen und
Hypothesen eine Einsicht in das Wesen der Krankheiten zu ge-
winnen, wie aber alle diese Bestrebungen nicht zum Ziele führen
konnten, weil man dabei mehr oder weniger abwich von dem Boden
der Erfahrung und der reinen, vorurteilslosen Beobachtung. Nur
einzelne hervorragende Geister waren es , welcho im Verlaufe der
Jahrhunderte inmitten der philosophischen und speculativ-apriori-
schen Richtungen das Banner der unbefangenen Naturbeobachtung,
als des einzigen Mittels einer erfolgreichen Entwickelung der Heil-
kunde, erhoben, und die grossen Verdienste, welche sich in dieser
Beziehung Hippokrates, Paracelsus, Sydenham, Boer-
haave, Schön lein u. A. um die wirklichen Fortschritte und die
*) Rede zum Geburtsfeste des höchstseligen Grossherzogs Karl Fried-
rich von Baden und zur akademischen Preisverteilung am 22. Nov. 1867,
von Dr. N. Fried reich, o. o. Professor der Medicin, dermal igem Prorector.
Heidelberg 1867. Buchdruckerei von Georg Mohr. 47 8. 4
LX. Jahrg. 12. Heft. 61
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Chronili der Univf rsitat.
Begründung einer richtigen Metbode erwarben, werden in kurzen
Zügen hervorgehoben. Redner schildert im Gange seiner Darstel-
lung die vielfachen Schwierigkeiten und Hemmnisse, welche sich der
wissenschaftlichen Medizin auf ihrem Wege zur richtigen Methode
der Forschung entgegenstellten, und bezeichnet die durch Schön-
1 e i u begründete naturhistorische Schule als die Uebergangsperiode
aus der naturphilosophischen Medizin zur naturwissenschaftlichen
Heilkunde unserer Tage. Das Verdienst, den Umschwung der natur-
histurischen Medizin zur naturwissenschaftlichen Medizin vermittelt
zu haben, wird Virchow zuerkannt.
Redner geht nach dieser geschichtlichen Einleitung zu einer
Darstellung der Hülfsmittel, deren sich die wissenschaftliche Medizin
in ihrem Streben, in die Natur der Krankheiten vorzudringen, be-
dient. Als solche werden bezeichnet die klinische Beobachtung, die
pathologische Anatomie und das Experiment. Mittels dieser Hülfs-
mittel, welche in ihren Grundprinzipien geschildert werden, sucht
die heutige Medizin die gesetzmässigen Vorgänge des kranken Lebens
zu ergründen und jene Wissenschaft immer weiter zur Ausbildung
zu bringen, welche man als pathologische Physiologie bezeichnet.
Der letzte Abschnitt der Rede verbreitet sich über die Standpunkte,
welche die Medizin in der Therapie festzuhalten berechtigt ist.
An der Universität selbst fanden im Laufe des Jahres die
folgenden Veränderungen statt:
Durch den Tod verlor die Universität am 17. März den Geb.
Rath und Professor Ludwig H ausser, am 11. Juni den Professor
der Chirurgie und Director der chirurgischen Klinik Otto Weber;
am 28. August den Nestor der Universität, Geh. Rath und Professor
Karl Joseph Mittermaier, welcher am 8. Mai des Jahres 1859
sein fünfzigjähriges Jubiläum (s. diese Blätter Jhrgg. 1859 Nr. 30
p. 465 ff.) gefeiert hatte. *)
Aus dem Kreise der akademischen Lehrer schieden: der Geh
Kirchenrath und ordentl. Professor der Theologie Dr. Karl Ludwig
Hundeshagen, welcher einem Ruf nach Bonn folgte; der
ausserordentl. Prof. in der philosoph. Fakultät Dr. Karl Dietzel,
welcher als ordentlicher Professor an die Universität Marburg be-
rufen ward, und der Privatdocent Dr. Leonhard Rabus in der-
selben Fakultät, welcher als Professor der PhiJosophie an das Lyceuxn
zu Speyer berufen wurde.
•) Ueber sein Leben und Wirken siehe die in dem Archiv für civili-
Btische Praxis Band L enthaltene und auch besondere gedruckte Schrift:
Zum Andenken an Carl Joseph Anton Mittermaier von Dr. Gold-
schmidt, Professor in Heidelberg. Heidelberg. Bucbdruckerei von O.Mohr.
1867. 28 8. 8.
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Cbronlk d#r Universität.
968
In die theologische Fakultät wurde der Oberkirchenrath 's-
Assessor Dr. Adolph Hausrath als ausserordentlicher Professor
berufen, in die medicinische Professor Dr. Gustav Simon aus
Rostock als ordentlicher Professor und Director der chirurgischen
Klinik; dem ausserordentlichen Professor derselben Fakultät Dr.
Knapp wurde die Facbprofessur der Augenheilkunde übertragen.
Zu ausserordentlichen Professoren wurden ernannt,
in der theologischen Fakultät der Privatdocent Licentiat Dr.
Friedrich Nippold; in der philosophischen Fakultät die
Privatdocenten Dr. Karl Lemcke und Dr. Mendelssohn-
Bartboldy.
Zum Ordinarius des Spruchcollegiums wurde Geh. Hofrath Prof.
Dr. Ben au d ernannt; die Leitung des an die Stelle des bisheri-
gen evangelisch - protestantischen Prediger -Seminar's getretenen
»evangelisch-protestantischen, theologischen Seminar's«: dem frü-
hern Director des Seminar's, Kirchenrath Dr. Schenkel als Ordi-
narius der praktischen Theologie tibertragen.
Als Privatdocenten habitilirten sich in der juristischen Fakul-
tät Dr. Edgar Löning, in der philosophischen Fakultät die
Doctoren Jacob Lüroth, August Ho rs mann u. Herrn. Dörgens.
Dem Prof. Kopp wurde der Charakter als Hofrath verliehen.
Dem Geb. Rath Mit termaier wurde noch kurze Zeit vor seinem
Tode das Grosskreuz des Ordens vom Zähringer Löwen, sowie das
O rosskreuz des österreichischen Franz Josephs Ordens zu Theil; Geh.
Rath Bluntschli erhielt das Commandeurkreuz 2. Classe vom
Zähringer Löwenorden, Geh. Hofr. Renaud, die Professoren Zel-
ler, Friedreich, v. Dusch, erhielten das Ritterkreuz 1. Klasse
vom Zähringer Löwenorden. Dem Geh. Hofrath Dr. Renaud wurde
das Ritterkreuz des österr. Franz Joseph Ordens, dem Geh. Rath
Dr. Helm ho Hz der k. bayr. Maximiliansorden für Kunst und
Wissenschaft, dem Prof. Dr. Mendelssohn- Barth oldy das
Ritterkreuz des k. Griechischen Erlöserordens zu Theil. Prof. Hof-
meister wurde zum Doktor der Medizin in Halle , sowie der
ausserordentliche Prof. Stoy zum Ehrendoktor der Theologie in
Glessen promovirt.
Im Laufe des Jahres fanden die folgenden Promotionen statt:
In der juristischen Fakultät erhielten die Dootorwürde :
Am 31. Jan.: J. D. Mitropulos aus Griechenland; am 23. Jan.:
Fridolin Härder aus Donaueschingen ; am 5. Febr. : Anton Battag-
lini aus Lugano in der Schweiz; am 19. März: C. B. Buddecke
aus Amerika; am 21. März: Job. Weber aus Hamburg; am 28.
März : P. von Benckendorf aus Reval ; am 25. März : Anastasius
Ladas aus Griechenland; am 25. April: C. N. Demetriades aus
Griechenland; am 21. Mai: Berthold Geiger aus Frankfurt a. M. ;
am 25. Mai: Philipp Müller von Rorschach in der Schweix; am
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Chronik der rntveroität.
5. Juli: Ed. HofFschläger aus Bremen; am 13. Juli: G. A. Wirk
aus Braunschweig ; am 18. Juli: Jacob Bach mann aus Stettfurt im
Canton Thurgau ; am 23. Juli: A. Fürst Trubetzkoi aus Moskau;
am 27. Juli: Carl Lardy aus Neuchatel ; am 30. Juli: M. K. Wal-
lare aus Schottland; am 3. Aug.: Otto Pausa aus Leipzig; am 7.
Aug.: Joh. Heinrich Eduard Mohr aus Hamburg; am 10. Aug.:
Moriz Ritter aus Hamburg; am 13. Aug. : Ernst Müller aus Luxem-
burg; am 17. Aug.: Adolph Dochow aus Tempi in : am 22. Oct.:
Graf Paul Scbuwaloff a. Petersburg ; am 6. Nov. : Joseph Kleczynski
aus Polen; am 6. Nov.: Karl Schenkel aus Schaphausen; am 19.
Nov.: Theodor Heinrich Schräder aus Hamburg; am 3. Dez.: Carl
Schulz aus Meiningen; am 12. Dez.: E. Philon aus Griechenland;
am 17. Dez.: Ch. P. Taft aus Cincinnati in Amerika; am 24. Dez.:
Daniel Isenhorst aus Hamburg.
In der medicinischen Facultät erhielten die Doctorwürde :
Am 31. Jan.: Emil Ponfick aus Frankfurt; am 9. Febr.: Friedr.
Pagenstecher aus Elberfeld ; am 19. Jan.: Theodor Schauenburg
aus Oldenburg; am 27. Mai: Joh. Woodacre Kirk aus Liverpool
in England; am 2. Juli: Gustav Lebon aus Frankfurt; am 18.
Juli: Julius Carl Wilhelm Heye aus Londou ; am 12. Aug.: G. E.
Yarrow aus London ; am 23. Sept. : Chr. Jenkins aus England ; am
21. Oct.: Francis Alfred Turton aus Demerara; am 23. Oct. : Gustav
A. Abrath aus Huckingen; am 14. Dez.: Wladislaus de Beiina
Swiontkowski aus Warschau.
In der philosophischen Facultkt: Am 9. Jauuar: Ludwig
Darmstädter ans Mannheim; am 21. Jan.: Adolph Hess aus Hun-
gen in Oberhessen; am 23. Jan. : Emil Bossels aus Heidelberg ; am
30. Jan.: Philipp Fresenius aus Fraukfurt; am 18. Febr.: Albert
Günther aus Langensalza ; am 20. Febr. : Eduard Wiechmann aus
Bockenheim bei Frankfurt; am 22. Febr. : Wilh. Maler aus Karls-
ruhe; am 26. Febr.: Karl Haase aus Frankenthal; am 27. Febr.:
Otto Bury aus Hanau; am 1. März: Adalbert Rost aus Erfurt;
am 2. März : Marcus Warschawski aus Pultawa in Rusuland ; am
8. März: Victor von Miller aus Wien; am 14. März: Eduard Just
aus Marienberg in Sachsen; am 16. März: Heinrich Vincent aus
Frankfurt a. M. ; am 2. Mai: Edwin Kreis aus Zürich; am 7. Mai:
Arnold Gädeke aus Königsberg; am 10. Mai: Isidor Waltz aus
Kaiserslautern; am 13. Mai: Victor Mayer aus Berlin; am 3. Juni:
August König aus Willstädt ; am 4. Juni : Woldeinar von Schnei-
der aus Petersburg; am 14. Juni: Martin Goldschmidt aus Berlin;
am 15. Juni: Anton Gütschow aus Petersburg ; am 29. Juni: Gust.
Engel aus Frankreich; am 13. Juli: Alfred Bamberg aus Rudol-
stadt; am 17. Juli: Engen Köhler aus Augsburg; am 29. Juli:
Caspar Caro aus Lodz in Preussisch-Polen ; am 30. Juli : Vincent
Stadtnicki aus Polen; am 1. Aug,: Otakar Cech aus Prag; am 3.
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Chronik der Universität
960
Aug.: Albert Goldmann aus Kirchheimbolanden ; am T.Aug.: Wilh.
Frost aus Guhlen inPreussen; am 15. Aug. : Julius Au aus Posen;
am 17. Octob. : Hermann Mühlbäuser aus Speyer; am 18. Oct. :
Adolph Lewin aus Pinne bei Posen; am 23. Oct.: Adolph von
Jelowicki aus Volhynien (Russisch-Polen) ; am 8. Nov. : Adam Hoff-
niann ans Mannheim; am 14. Nov. : P. F. de Vianna Bandeira aus
Bahia in Brasilien ; am 26. Nov. : Hermann Gude aus Thorn in
Pieussen; am 4. Dez. : Adolph Buff ans Giessen ; am 5. Dez. : Otto
Büt8chli aus Frankfurt a. M.
Unseren Anstalten und Sammlungen sind auch in diesem Jahre
von Seiten vieler Gönner und Freunde namhafte Gaben zugegangen.
Vor Allem ist die grossartige Schenkung des Geh. Käthes Mi t ter-
rnaier hervorzuheben, welcher seine so reichhaltige und für alle
Zweige der Jurisprudenz so wichtige und werthvolle, in manchen
Beziehungen selbst einzig dastehende Buchersammlung noch kurz
vor seinem Hinscheiden der Universität üborliess. Unsere Hoch-
schule, in voller Anerkennung dieser uneigennützigen Gabe hat
ihrem Danke einen schwachen Ausdruck verliehen durch die Ueber-
reichung einer Adresse, welche bei dem leider dazwischengetretenen
Tode des edelmüthigen Gebers den Hinterbliebenen dargebracht
wurde.*) Eine zweite werthvolle Bereicherung ward der Universi-
*) Dieselbe lautet : Ihrem hochverehrten Collegen Herrn Geheimerath
Carl Joseph Anton Mittermai er, Doctor und ordentlichem Professor
der Rechte, Grosskreuz des kaiserl. österreichischen Franz-Joseph-Ordens,
Comraandeur des Orossh badischen Ztihriiiger Löwen-Ordens, des Grossh.
oldenburgischen Haus-Ordens», des kgl. wflrtembcrgischen Friedrich-Ordens,
Ritter des königl. preußischen Ordens pour le meritc, des kaiserl. franzö-
sischen Ordens der EhrenU-glon, des kaiserl. russischen 3t. Stanislaus-Ordeus
II. Cl. m St., des kftnigl italienischen Mauritius- und Lazarus-Ordens, des
königl. belgischen Leopold-Ordens, de» königl. portugiesischen Ordens vom
heiligen Jakob, Mitglied vieler Academieen und gelehrten Gesellschaften;
dem unermfldlichen Forscher, welcher bis auf den heutigen Tag mit eben-
soviel Eifer als Erfolg daran gearbeitet hat, die Quellen seiner Wissenschaft
zu sammeln und aufzuschliessen , ihr Lehrgebäude zu vervollkommnen, eine
vergleichende Rechtswissenschaft zu begründen, das Strafrecht, das Straf-
verfahren mit dem Geist der Gerechtigkeit und der Humanität zu durch-
dringen; dem gefeierten Lehrer, dem väterlichen Führer und Freunde der
akademischen Jugend, welcher ihr eeit mehr als einem halben Jahrhundert
als hohes Vorbild wissenschaftlicher Arbeit und Pflichttreue voranleuohtet ;
dem würdigen Senior der Universität, deren Gedeihen er in scchsund.ierzig-
jähriger aufopfernder Hingebung gefördert, unter deren Zierden er schon
frühe geglänzt hat; dem rastlosen Kämpfer für Recht und Freiheit, für das
Wohl des Vaterlandes und des Volkes, sprechen Prorector und Senat der
Universität Heidelberg nach einmüthigem Beschlüsse des grossen Senate« für
die von ihm nm Tage seines vollendeten achtzigsten Lrbcnsjahres, den 5.
August l£rfi7, vollzogene Stiftung seiner in ihrer Art einzigen Sammlung von
deutschen und ausländischen Rechtsqnellen und rechtswissenschaftlichen
Schriften, in warmer Anerkennung der Gesinnung, welche den Stifter zu
/
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Chronik der Universität.
t.tttsbibliothek dadurch zu Theil, dass die Bibliothek des Geb. Ratbes
H ausser, Dank der Thätigkeit einer grösseren Anzahl Ton Ver-
ehrern und Freunden des Verblichenen, dauernd für dieselbe er-
worben wurde. Beide Bibliotheken werden besonders aufgestellt
werden und ein bleibendes Denkmal der Erinnerung bilden an zwei
der ausgezeichnetsten Glieder unserer Uuiversit&t. Ausserdem sind
der Universitätsbibliothek uambafte Geschenke zugeflossen von den
Akademieen der Wissenschaften zu Wien, Petersburg, München.
Brüssel, der Royal Society in London, voq der Hanrard's University
und ßmithsonian Institution in Amerika und der Public Library
zu Melbourne; andere Gaben erhielt sie von Seiten der Grossber-
zoglichen badischen Ministerien der auswärtigen Angelegenheiten,
des Innern und des Handels, von dem Königlich sächsischen Mini-
steriam des Innern, von dem handelsstatistischen Bureau zu Ham-
burg, wie dem statistischen Bureau zu Kassel, von der Kgl. Preus-
sischen Regierung, wie von der Kgl. Italienischen und Kaiserl.
Französischen Regierung. Von Sr. Majestät dem Kaisor der Fran-
zosen ist die Bibliothek auch in diesem Jahre wieder mit werth-
v ollen Gaben bedacht worden. Das evang. prot. theologische Se-
minar unserer Universität verdankt dem Herrn Stationsvorstand
Adolf Storch in Oeynhausen eine Prachtbibel ans dem Nach-
lasse des Herrn Geh. Kirchenrathes Dr. Rothe. — Dem archäo-
logischen Institut tioss in diesem Jahre ein namhafter Geldbeitrag
zu aus den Erträgen der von mehreren akademischen Lehrern auf
dem hiesigen Museum im vergangenen Winter abgehaltenen Öffent-
lichen Vorträge; ferner erhielt dasselbe zum Geschenke mehrere
kleinere antike Gegenstände von hier studirenden Fremden aus
Kreta und Siebenbürgen, sowie GypsabgUsse einheimischer Funde
von dem Mannheimer Alterthums verein, endlich ein werthvolles
Werk von dem verstorbenen Geh. Rath Professor Eduard Ger-
son in Berlin. — Das mineralogische Kabinet verdankt der Güte
des Privatdocenten Dr. Reis 8 zwei Reliefkarten, darstellend die
Kaimeni-Inseln vor und nach den vulkanischen Neubildungen in den
Jahren 1866 und 1867, sowie eine Suite vulkanischer Gesteine der
neueren und neuesten Ausbrüche. — Endlioh sind dem zoologischen
Institut die sämmtlichen, von dem Direktor desselben Prof. Alex.
Pagenstecher auf seiner zweiten Reise nach Mallorka gesam-
melten Gegenstände zum Geschenke überwiesen worden, sowie dem
Museum auch noch mehrfach kleinere Gaben von Fremden und
Studirenden zugegangen sind.
seinen vielen Verdiensten um unsere Hochschule dieses werthvolle Geschenk
hinzufügen hiess , den vollen Dank der Universität sus, und sie verbinden
mit diesem Ausdrucke ihres Dankes den Wunsch, dass der Mann, welchen
Alls verehren, seiner Familie, seinen Freunden, seinem Volke, seinen Sehn*
lern und seinen Collagen noch lange Jahre in rostiger Kraft erhalten bleibe1
Heidelberg, den 10. August lfc67.
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Chronik der Universität.
Von den im vorigen Jahre gestellten Preisfragen hatte die
theologische Fakultät die Aufgabe gestellt:
»Ex evangelio quod appellatur secundum Hebraeos quae super-
sunt diligenter congerantur atque inquiratur in praeoipuas causas
varietatis et inconstantiae , qnae si modura rationomqne narrandi
spectamus, interoedit inter ipsum et Ebionaeorum evangelium. «
Es ist der theologischen Fakultät ein einziger Versuoh zur
Lösung der von ihr gestellten Preisfrage mit dem Motto: »Nec
pigebit autem me sicubi haesito quaerere, nec pudebit, sicubi erro
discere« überreicht worden. Der Verfasser hat sieb der deutschen
Sprache bedient, wogegen die Fakultät um so weniger etwas ein-
znwendon hat, als dadurch im vorliegenden Falle, was Eigentüm-
lichkeit der Darstellung und Frische des Ausdrucks anlangt, wirk-
liche Vortheile gewonnen wurden. Mit noch grosserer Befriedigung
bat die Fakultät wahrgenommen, dass das zu Gebote stehende
Material vollständig aufgefunden und die Prüfung der hierauf be-
züglichen altkircblichen Zeugnisse mit kritisch geschultem Blicke
und nach correkter Methode vorgenommen wurde. Die neuern Be-
handlungen der Frage haben in richtig bemessener Auswahl Be-
rücksichtigung gefunden. Nur Keims neuestes Werk ist noch nicht
benützt worden. Von um so grösserem Werthe erscheinen die un-
gesuchten Berührungen mit demselben, die besonders in der Auf-
zeigung einer schiohtenweisen Entstehung der Hebräer-Evangelien
zu Tage treten. Dass diese Schriften keineswegs blos als tenden-
ziöse Bearbeitungen der Synoptiker aufgefasst werden, sondern viel-
fach die conservativen Triebe und ursprünglichen Traditionen des
jüdischen Christenthums erkennen lassen, während sie erst in ihren
spätem Gestaltungen dem kanonischen Typus näher gerückt er-
scheinen, ist eine Aufstellung, die eingehendere Beaohtung verdient.
Jedenfalls hat der Verfasser mit besonnenem Urtheil das immerhin
nur mässig zu nennende Gewicht erwogen, welches aus der literar-
historischen Kritik dieser trümmerhaften Reste für Entscheidung
der Frage nach den Entstehungsverhältnissen der unversehrt erhal-
tenen Evangelien resultirt. Einzelne Ausstellungen, wozu der Ver-
fasser Anlass geboten hat, beiseite lassend, freut sich die Fakultät,
in der Lage zu sein, seine Arbeit als eine fleissige und gehaltvolle
Leistung mit dem verdienten Preise zu krönen.
Nach Eröffnung des mit dem erwähnten Motto: Nec pigebit
etc. bezeichneten Briefes befindet sich der Name: Albrecbt
Thoma, Stud. theol. von Dertingen.
Die Juristenfakultiit hatte das Thema gegeben:
»Die gerichtliche Auflassung, ihre geschichtliche Entwickelung
und heutige Bedeutung.«
Es sind zwei, in deutscher Sprache geschriebene Bearbeitungen
desselben eingegangen, von denen die eine das Motto: »Vorwärts«
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Chronik der Universität.
führt, die andere durch die Worte des Sachsenspiegels : >Ane des
vogts ding mag nieman eeyn eygeu hin geben.«
Die erstgenannte Arbeit bietet zunächst in ihrer äusseren Er-
scheinung die Eigentümlichkeit, dass sie ohne irgend eine äusser-
lich hervortretende Gliederung der Masse, ja sogar ohne Trennung
des dogmatischen vom historischen Theile geschrieben ist. Auch hat
der Verfasser nicht aHein keinerlei selbstständiger Quellenstudien
sich befliessen, sondern sogar die Literatur nur in sehr unvollstän-
diger Weise benutzt. Selbst bei der Bearbeitung des an sich dürf-
tigen Materiales , dessen sich der Verfasser bemächtigte, fehlt es
nicht allein überall an strenger Sichtung der Masse uud logischem
Gedankengange, sondern an jedem Versuche, rechtshistorische oder
dogmatische Streitfragen zu lösen. Wenn nun unter so be wandten
Umständen die Juristenfakultät ausser Stande war, die unter dem
Motto »Vorwärts« versehene Arbeit zu krönen, so glaubte Sie doch
der Frische der Darstellung, sowie einer gewissen, allerdings noch
sehr der Pflege bedürftigen Gabe für geschichtliche Entwickelungen,
welche daselbst bekundet ist, ihre Anerkennung nicht vorsagen zu
sollen.
Die Schrift mit dem aus dem Sachsenspiegel entnommenen
Motto hat gegenüber der vorbenannten mehrfache Vorzüge, indem
sie sich von dieser durch bessere Methode, vollständigere Benützung
der Literatur , sowie durch eine quellenmässigere Behandlung des
rechtshistorischen Materials auszeichnet. Auch steht die Arbeit ab-
gesehen von den angedeuteten Beziehungen in so ferne über der
Schrift mit dem Motto »Vorwärts«, als der Verfasser jener seine
Aufgabe von einem höheren Standpunkte erfasst und den Zusammen-
hang der canonischen Investitur mit der germanischen Auffassung
verfolgt hat. Dessenungeachtet erschienen die wenig eingehende, ja
höchst dürftige Behandlung des beutigen Rechts, sowie die Art
und Weise, wie der behandelte Stoff ohne alle Ausführung der Ent-
wicklung in die Form eines Grundrisses untergebracht worden,
als so erhebliche Mängel, dass die Fakultät auch dieser Arbeit, hei
aller Anerkennung des Fleieses und Talentes des Autors, den Preis
zu ertheilen nicht vermochte.
Die im verflosseneu Jahre von der medicinischon Fakul-
tät gegebene, sowie die erste, von der philosophischen Fa-
kultät gestellte historische Aufgabe hat keine Bearbeiter gefunden.
Dagegen sind zwei Beantwortungen des zweiten , von der philoso-
phischen Fakultät gestellten landwirtschaftlichen Themas einge-
laufen, welches in nachstehender Weise lautete :
»Es sollen die in einem kleineren oder grösseren Bezirk von
Baden vorkommenden Bodenarten beschrieben und es soll nachge-
wiesen werden, welchen Einfluss ihre Beschaffenheit auf die land-
wirtschaftliche Benützungsart, auf den rohen und reinen Ertrag,
auf Kaufpreis und Pachtzins ausübt.«
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Chronik der Universität.
969
Die erste der vorliegenden Arbeiten trägt den Spruch:
>Wer alles aufs Spiel setzt, bat sieber zu viel gesetzt«.
Die zweite hat das Motto:
»Die Wissenschaft ist die beste Freundin der Praxis.«
Der Verfasser der ersten Sebrift hat die Aufgabe richtig auf-
gefasst und zu ihrer Lösung den zweckmässigen Weg eingeschlagen.
Der von ihm gewählte Bezirk, nämlich die Gemarkungen von Mann-
heim und sechs naheliegenden grossen Ortschaften, ist von ihm
durch Augenschein und Erkundigungen an Ort und Stelle mit Sorg-
falt und Einsicht erforscht worden, die vorkommenden Bodenarten
sind nach Beschaffenheit und Umfang beschrieben und die davon
herrührenden Verschiedenheiten der Fruchtfolge, der Bearbeitung
und Düngung, der ErtragsvorbHltnisse , der Pachtzinse und Kauf-
preise des Landes angegeben worden. Finden wir aber in der Ver-
arbeitung der gesammelten Thatsacben überhaupt schon manche
Mängel, so treten diese ganz besonders bei der, allerdings sehr
schwierigen Ermittlung des rohen und reinen Ertrags hervor. Hier
treffen wir theils manche Rechnungsfehler, tbeils nicht zu billigende
Berechnungsarten, wesshalh die Zahlenergebnisse dieser Schätzung
unzuverlässig geworden sind. Die Ursache hievon glauben wir in
dem Umstände zu finden, dass diese Bewerbungsschrift schon im
Frühling abgeliefert worden ist und dem Verfasser also muthraass-
lich die Zeit gefehlt hat, seinem Aufsatz diejenige Reife zu geben,
welche derselbe bei längerer Bearbeitung hätte erhalten können.
Wegen dieser ünvollkommenheit der Schrift vermögen wir zu unserm
Bedauern nicht, dem Verfasser den Preis zu ertheilen.
Die zweite Abhandlung, überschrieben »die Wissenschaft ist
die beste Freundin der Praxis«, hat in formeller Hinsicht Vorzüge
vor der ersten, sie ist wohlgeordnet und gut geschrieben ; auch bat
der Verfasser Bücher, gedruckte Aufsätze und handschriftliche amt-
liche Angaben fleissig und zweckmässig benützt. Aber während er
bei allgemeinen vorbereitenden Sätzen zu lange verweilt, gibt er
im 4. Capitol keine ausführliche Beschreibung eines Bezirkes nach
allen in der Aufgabe genannten Beziehungen, sondern Vergleichun-
gen grösserer Abschnitte des badischen Landes, ohne in die ört-
lichen Verschiedenheiten des Bodens und des Ertrages näher ein-
zugehen. Er versucht keine Reinertragsberechnungen, hält sich nur
an die Pachtzinse dor Doinanialgrundstücke und erklärt nicht die
grosse Ungleichheit in denselben von Ort zu Ort. Wie schätzbar
auch die übersichtlich mitgetheilten statistischen Angaben über
Pachtzins und Rohertrag von Hofgütern und einzelnen Pachtstücken
in 7 Landestheilen sind, so fehlt es doch an der gehörigen Ver-
arbeitung derselben und an der durchgeführten Darstellung des Ein-
flusses, den die Bodeubescbaffenheit bei übrigens gleichen Verhält-
nissen ausübt, sowie au Ergebnissen eigener Anschauung, wio sie
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Chronic der Universitlt
in der ersten Abhandlung niedergelegt sind. Es kann daher auch
dieser zweiten Schrift der Preis nicht zuerkannt werden.
Da jedoch beide Bewerber gute Kenntnisse and lobenswerthen
Eifer bewiesen, auch nützliche Beiträge und Bemerkungen darge-
boten haben, so hat die Fakultät ihnen beiden eine ehrende Er-
wähnung zuerkannt.
Als Verfasser der Arbeit mit dem Motto: »Wer Alles auf's
Spiel setzt etc.« bekannte sich Stud. ehem. Deurer in Mannheim.
Für das kommende Jahr sind folgende Preisaufgaben gestellt, bei
deren Bearbeitung der Gebrauch der deutschen Sprache gestattet ist.
Von der theologischen Fakultät.
»Anni Hebraeorum sacri Jobel nuneupati, in mentem quae
Hubgit atque originem nec non, ad quem usque terminum lege va-
luerit, diligentius inquiratur, virorumque doctorum de ea re sen-
tentiao examinentur. «
Von der juristischen Fakultät:
»Die Haftung des Staates aus den Handlungen seiner Beamten.«
Von der medizinischen Fakultät:
»Sind die von den Galvanotherapeuten als »kataly tische« be-
zeichneten Wirkungen des elektrischen Stromes in der Therapie
verwerthbar? Welches sind ihre physiologischen Grundlagen?
Von der philosophischen Fakultät:
Als erste Frage:
»Es werde an der Hand der Quellen untersucht, welche Theile
der stoischen Lehre auf Zeno von Cittium zurückzuführen sind.«
Als zweite Frage:
»Es wird verlangt ein analytischer Beweis dos Pascal'schen
Satzes vom Hexagrammum mystioum uud den bekannten Erweite-
rungen desselben naoh folgender Vorschrift:
Wenn man mit ^ und (p,q) die Determinanten bezeichnet:
A=(J;cB)(Piq)=(Acf)
so stellen die Gleichungen:
A = °> (p»q)Ä<>
in der Voraussetzung, dass ABC lineare Ausdrücke der Coordi-
naten x, y und p, q Constanten bedeuten, irgend einen Kegelschnitt
und irgend eine gerade Linie in der Ebene dar.
Bedeuten ferner a, b, c, d, e, f irgend welche 6 Constanten,
80 sind:
(ab)=o, (bc) = o, (cd) - o, (de)=o, (ef) = o, (fa) = o
die Gleichungen der auf einander folgenden Seiten eines dem Kegel-
\
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Chronik der Universität.
schnitt A = o ein beschriebenen Sechseckes und allgemein (p,q) = o
die Gleichung einer von den 15 geraden Linien, welche zwei Ecken
des Pascal'scben Sechseckes verbinden, wenn man für pt q zwei
verschiedene von den 6 Constanten setzt. Mit diesen analytischen
Elementen soll der Pascal'scho Satz vom Hezagrammum mysticum
und die Erweiterungen dieses Satzes durch Steiner, Kirkman, Cayley
und Salmon bewiesen werden.«
S
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Inhalt
der
Heidelberger Jahrbücher der Literatur.
Sechsig*1er Jahrgang, 1867,
Seit«
Agthe: Die Parabaee 713
Airy: Treatiae on pertial Differential Equatlone .... 468
▲ 1 Beladsori: Liber expugnatt. ed. de Ooeje .... 6
J. d'Alwis: Introduction to Kaohchayana'a gram mar ... 481
Ampere: L'Empire Romain 529
Annalen des Vereins f Naaaauieehe Geachichtaforechung. VIII. US
Aplci Caeli de re ooq. Ed. So hu ch 243
Arlatophanea Ritter von W. Ribbeek 686
Back er: Daa Nilbecken und die Erforechung der Nilquellen . 818
n Der Albert Nyanza IX ♦ 470
Barach: Zur Geschichte den Nom in allem us 269
Haerwald: Daa Baumgarten berger Formel buch . ... 241
Bastian: Reisen in Slam 605
„ Reise durch Cambodja nach Cochinchlna ! 927
Bauernfeind: Die Bedeutung moderner Gradmeesungen . 111
v. Bergmann: Pfarreien und Klöster Vorarlberg^ .... 195
Bericht über die europäische Gradmeaaung 691
Bibliotheca 8criptt Graeoc. et Komm. Teubner. (Athens aus IV. Dio-
nyaiua in. Diodorua. Euaebii Praepe*. Ann. Senecae tragoediae.
Verglliua. Censorinus. Sallustius) .... .626
Bibliotheca Seriptt. Graecc. et Romo. Teubneriana (Diodorua, Polybias,
Eusebius, Ciceronie Oratt. Boetiua De instit. arithmet. et muaica) 946
Bibliothek d. litt Vereine. Deutsches Heldenbuch von Keller . 401
Bolza: Canaoni popolare Comascbe 176
Bopp: Glossarium comparativum ling. aanscr 801
Brahay: Exercicea du Calcul differentlal 7*1
Brambach: Corpus Inscriptt. Rhenn 161
Brandes: Ausflug nach Norwegen 201
« . Wörter deutschen Stammes im Französischen 640
Brugsch: Geographische Inschriften Aegyptens .... 618
Büchmann: Geflügelte Worte. 4. Auf) 860
Badinger: Ein Buch ungarischer Geschichte 665
Caro: Göthestudlen 685
Histoire de Ceaar. Atlas 619
Ctaltt enden: Göthens Faust von Reichlln-Meldegg ... 207
Clcero'a Partitt. oratt. von Piderit 716
Cieero'a Rede gegen Verrea IV. Van Richter . . 266
Cioeronie acripta. Ree. Klota. II, 2 228
Cohn: Kaiser Heinrich II. 398
Cor a aen: Kritische Nachtrage aar latein. Formenlehre . 263
Cotta: Daa Entwickelungageaetz der Erde 719
Darwin: Enjatehjang und Fj-haltung der Raaaen .... 786
Delabaj: Anleitung zum Linearseichnen 774
Demos thenis Or. adv. Leptinem. Ree. Voemel . . . 28
Dictionary of tho Pali language 481
Dietaeh: Lehrbuch der Geschieh te II, 2. . . j 198
Dreaael: Die BaaaltbUdung 602
Duhamel: Methode« dana lea aclencea de Raleonnement . . 462
Dulk: Konrad II 706
Dfimichen: Geographische Inschriften Aegyptens . 513
Eick: Die römische Wasserleitung aus der Eifel .... 600
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974 Inhalt.
Seite
Erb: Ueber das Galvanisiron des Gehirn und Ruckenmarke . . 32A
„ Ein Fall von Facialparalyse u. b. w. 33ß
,« Elektrotonische Erscheinungen an Menschen .... fiiifi
n Wachsartige Degeneration der Muskelfasern .... OK*
Er d mann: Orundriss der Geschichte der Philosophie . . . 120
Erlenmeyer: Umwandlung des ameisensauren Natrons . . tiiü
r Analogie der sauren schwefligsauren Sake u. b w. BOB
Eyssenhardt: Lectiones Panegyricae m
v. Falkenstein: Lorberhain. L 7b4
Feddersen: Geschichte der schweizerischen Regeneration . • ?1±
Fichte: Die Seelen fortdauer all
Fi ekler: Die Benediktiner-Abtei Alpersbach $2h
Farster: Ueber Zeitmaasse und ihre Verwaltung .... Iß
Fu chs: Ueber daa Maderanerthal UfiA
v Ueber die vulkanischen Erscheinungen im Jahr 1866 . 25Ü
Director FQe sslin und die Trennungshaft QM
Fuss: De Lygdaml Elegiis ßai
Ger lach: Leben und Dichtung des Horaz ..... III
Gerneth: Fünfstellige Logarithmen , . Ufi
Gräfe: Ueber eine Formel z. Bestimmung des Schwerpunktes . 75
Grotefend: Stempel der römischen Augenarzte .... 6JN"
Guizot: Memoires etc. VIII SfiS
Hankel: Theorie der complexen Zahlensysteme .... Hl
Hanejakob: Die Grafen von Freiburg 2Li
Hase. Wormser Luther-Buch All
Haupt: Untersuchungen zur deutschen Sage. Gudrun ... 13
Haushofer: Tabellen zur Bestimmung der Gesteine . . . £££
Heine: Winkelstellung bei Coxitis u. s. w
Heimholt 7: Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung d. Nerven S63
„ Mechanik der Gehörknöchelchen S2&
Henke: J. Fr. Fries 303
Hertz: De M. Plautio poeta
Hertzberg: Geschichte Griechenlands unter den Römern . . 219
Hesse: Taschenbuch des Civiirecbts ISA
v. Heu gl In: Reise nach Abessinien £tt
Hoefer: Biographie geuenüe. T 43—46 SSi
H U b n e r : Statistische Tafel &4
The Odyssey of Homer by IL Hayman 624
Hon - 1: Essai sur les prineipes de la Geometrie .... Säfi
Huschke: Jurisprud. Antejust. Ed. altera 951
Neue Jahrbücher der jüdischen Literatur von Gurland . . 1
P. Janet: Le cerveau et la pense*e 241
J&nike: Deutsches Heldenbnch flÜ
Jordan: Trigonometrische Höhenmessung 77
Juste: Les fondateurs de la Monarch. Beige 899
Kant's Werke von Hartenstein. L II. IV. Bd Ml
Kayserling: Geschichte der Juden in Portugal # Mili
Keratry: Kaiser Maximilians Erhebung und Fall 30
Kern: Over het woord Zarathustra ft*8
Kiepert: Atlas antiquus. A Aufl. . . . ; I | 2 7*
Kiesel: Weltgeschichte. Bd II ; . . Ol
Klein: Die Kirche St Stephan zu Mainz .... 149
Kleinert: Scbiller's religiöse Bedeutung .... 551
Knapp: Ueber Staarextractionen 325
„ Ueber metastatische Aderhautentzündung ... £di'
„ Ueber Plastik des untern Augenlides .... flöQ
* Plastische Bindehaut-Operationen .... .019
n • Ueber Staphylomabtragung ...... ä!9
fi Ueber Pterygiumoperation 91V
ed by Google
Inhalt. 976
Seite
Knapp: Operation eines Symblepharon 92Q
„ Ueber Sarkom und Gliosarkom dee Auges .... P2Q
Knauff: Zur Anatomie der serösen Häute 34g
K ob eil: Zur Berechnung der Krystallformen , 560
Kober: Die Deposition nach kirchlichem Recht .... 2t- 9
Krebs: Antibarbarus von Allgayer . 729
Kühne: Deutsche Charaktere II. (G. Forster) .... 4i7
* Laurent: Trait6 d'Algebre 6fi9
Lehmann: Geschichte der Dynasten von Westerburg . . . 286
Leonardy: Die angeblich Trierischen Inschriften .... 593
Lieblein: Autgaben aus der Analysis ....... 845
Llelegg: Die Spcctral- Analyse 73;)
L i g 0 w 8 k i : Taschenbuch der Mathematik 694
Lippischc RegeBten. IV 762
Livlus. deutsch von Gerlaoh. iL Bdchep &21
Lossen: Geognost. Beschreibung des Kreises Kreuznach . . S54
Macoudi: Les prairies d'or g
Marmor: Die Uebergabe von Konstanz an Oesterreich . . 424
Martins: Von Spitzbergen zut Sahara ...... siü
Masius: Deutsches Lesebuch. <L Theil ..... äfiß
C. May hoff: Lucubratt. Plinn. cap. trla , 2_Üi
Men delssoh n-Barth oldy: Friedrich von Gentz . .
Meyer v. Knonau: Die Bedeutung Karls d. Gr. f. Geschichte 748
M e y n c k e : Quaest. Valerianae
Mllow: Gedichte 146
„ Auf der Scholle . jll
Minckwltz: Wörterbuch der Mythologie Sj^
Mitterrutzner: Die Sprache der Bari in Centraiafrika . . 407
Molitor: Geographie von Baden jj>2
Moos: Ueber das subjective Hören musikalischer Töne . . . 329
„ Ueber seltenere Arterienverstopfungen 343
Müller: Linguistischer Theil der Novarareise 213
„ Gcognosti6che Kenntniss des Erzgebirges . . 305
„ Bodenverhältnisse von Basel 59j
* Katalog d. Schweiz. Baumaterialien-Ausstellung . 302
Nicomachi Introd arlthm. rec. Ho che 22B
Noltenius: Quaestiones Plinn. 2iü
Ofterdinger: Beitrage z. Geschichte der Mathematik . . ilil
Opel: Wallenstein im Stift Halberstadt 4jß
n Mittheilungen des Thüring. S&chs. Vereins. XI. . . 740
Pagenstecher: Ueber die Muskeln des Drill u. s. w. . gflg
Ueberzfthliger Backenzahn bei Hylobates synd. . 9qg
Paul: Quaestiones Claudianeae 71g
Pauli: Schimpf und Ernst von Oesterley 66
Pflüger: Badische Vaterlandskunde 122
Piderit: System der Mimik 52&
Pin der: Der Fünfkampf der Hellenen 6ß3
Piatos Phädon von Bisch off 7g6
Memoires von Felix Platter 183
Plinii Nat. Hist. rec. Detlef sen 2ufi
Poetae lyrici Graecl ed. Bergk 29ü
Porybii hist. Ed. L. D indor f. L et II 22s
Pomponius Mela. Ed G. Parthey 21
Price: Treatise on Integral Calculus
Quetelet: Sciences mathem. et physiques ^.35
Quintus von Smyrna, deutsch von Donner 497
Rapports sur les progr^s des lettres et de sciences . . 725
Die letzten Rauberbanden in Oberschwaben . 7J&
Reckendorf: Das Leben Mösls .... . 72B
ed by Google
976 Inhalt.
«
Reumout: Geschichte der Stadt Rom. L ^&42
Ribbeck: Prolegg. eritt. in VergUU Opp. 233
Rltscbelii Opuöcula Acadd. L L 2 47*
Röder: Die herrschenden Grund lehren von Verbrechen und Strafe 553
Roth v. Schreckenstein: Das Interim im Klnsigthal \22
ji r Wolfgang Graf tu Fürstenberg . 1^2
Rott: Nationalität der Kelten 041
J. de Rouge: Textes geographiqnes 513
Rubin'« Gedichte von Zupits .... 373
Sarathustrica carmm. ed Kossowios 123
Schafer: Quellenkunde der griechischen Geschichte . . . h5>
Scher er: Leben WUlirams 42
Sc hlagintweit: Könige von Tibet 4gi
S chl ö mich: Höhere Analysis 1^
Schmidt: Tableaux de la revolution Francaise 9 y0,
S'huchardt: Der Vokalismus des Vulgärlateins II. . . 47jj
Scriptt. metricl Graeci Ed. Westphal. Vol. 1 22£
Serret: Cakul dlfferentiel
Sickel: Acta Regg et Impp. Kmrolinorr. ..... 857
Soldan: Praktischer Gebrauch der latdn. 8prache . . 74^
Fr. Spielhagen: Faust und Nathan Uv
Stark: Statistische Tafel von Deutschland 28b
Stein: Lehre von der vollziehenden Gewalt 4üj
Stintsing: Geschichte der Literatur des canea. Rechts . «flfl
Stobbe: Die Juden in Deutschland ä^fi
Süpfle: De l'H initiale dans la langne doil 4^
Toeche: Jahrb. des deutschen Reichs. Heinrich VI. (I. IL) 52 81
TJaberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie. 2 Aufl. . 42ü
„ Geschichte der Philosophie. L iL Aull. . . 822
Urform der Voss'ischen Uebersetsung 7i>
Julil Valerli Epitome von Zacher . 817
Verhandlungen des naturhistoriscb-medislniscben Vereine . 32 1 581
Vering: Geschichte u. Institutionen des röm. Rechte. ~L Aufl. .
Verwijs: Bloemlezing etc. 290
„ Dr. Jan ten Brink 792
Vitruvins: De architect. Ed. Rose et MO 1 1 er-8 tro bin g . 954
Voigt: Die lex Maenia de dote 211
Weber: Ueber ein Fragment der Bhagavati 481
Weber: Allgemeine Weltgeschichte, 6\. Bd U
Weber: Ueber eine Nervengeschwulst 321
n Ueber einen geheilten Blasendefect. Saü
„ Das epidemische Vorkommen der Rose .... 881
Weidner: Historisches Quellenbuch aur alten Geschickt« . . 7i£
Weise: Die Komödien des Plautne 6UH
Waise: Zur Kenntnis» der Feldspathbildung 171
Weliaminof-Zernof: Ueber die Kasimof sehen Zaren . 4U2
Wey den: Geschichte der Juden in Köln 306
Witt stein: Mathematische Statistik &tf
Wolf f: Grammatik und Wörterbuch der nenarab. Sprache 460
Xenophontis Anabasis. Ree. Breit enbaeh . • . 390
Zacher: Pseudocallisthenes Ml
Zink: Der Mytholog Fulgentius
Zipp: Florians Fabeln . v*5P
Zur juristischen Lexicographle 697
1
1
37
ed by Google
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<*«» s&s&srs
NO
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