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Full text of "Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur"

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HARVARD  COLLEGE 
LIBRARY 


FROM  THE  FUND  OF 

CHARLES  MINOT 

CLASS  OF  1828 


HEIDELBERGER 

JAHRBÜCHER 

DER 

LITERATUR. 


Sechzigster  Jahrgang. 
Erste  Hälfte« 

Januar  bis  Juli. 


•c  Heidelberg. 

Akademische  Verlagshandlung  von  J.  C.  B.  Moo  . 

1867. 


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4- 


1/6 


HARVARD 
UNIVERSITY 
,  LIBRARY 


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Ii.  1.        •      HEIDELBERGER  1867. 

JMIRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Neue  Jahrbücher  der  jüdischen  Literatur  in  St.  Petersburg.  Heft  I. 
„Aus  der  Krimm  nach  dem  heiligen  Lande"  Drei  Reisebe- 
schreibungen von  drei  hebräischen  Gelehrten:  1)  Samuel  ben 
David,  aus  dem  Jahre  1641  — 1642.  2)  Moses  ben  Elijahu 
Halevy,  aus  dem  Jahre  1654 — 1655,  3)  Benjamin  ben  Llijafiu, 
aus  dem  Jahre  1785 — 1786.  Nach  drei  Handschriften  der 
Firkotcitz' sehen  Sammlung  auf  der  kaiterl.  Bibliothek  zu  St. 
Petersburg^  herausgegeben  mit  Anmerkungen  und  Erläuterungen 
v.  J.  Ourland.  Heft  II.  Kurse  Beschreibung  der  mathemaL 
astronom.  und  astrologischen  hebr.  Handschriften  der  Firko- 
teitz 'sehen  Sammlung.  St.  Petersburg.  1865 — 6*6.  8. 

Von  der  ersten  hier  angeführten  Reisebeschreibung  ist  schon 
ein  Bruchstück  in  lateinischer  Uebersetzung  zuerst  von  Peringer 
Lilieblad  herausgegeben  worden,  das  dann  in  Wolfs  bibliotheca 
hebraica  und  Ugolini's  tesoro  wieder  abgedruckt,  und  von  Carmoli 
in  seinen  »itineraires  de  la  terre  sainte«  ins  französische  übersetzt 
wurde.  Sie  erscheint  aber  hier  vollständig  im  hebräischen  Urtexte, 
nach  einer  Handschrift  der  kostbaren  Pirkowitz1  sehen  Sammlung, 
'  welche  vor  einigen  Jahren  die  russische  Regierung  angekauft  und 
der  kaiserlichen  Bibliothek  einverleibt  hat,  mit  erläuternden  An- 
merkungen vom  Herausgeber  und  von  Eabi  Jakob  Reifmann.  Diese 
Beisebeschreibung ,  so  wie  die  beiden  Andern,  sind  in  so  fern  in- 
teressant, als  sie  von  Karaiten  herrühren  und  manche  wichtige 
Notizen  über  die  Zustände  dieser  Sekte  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert enthalten.  Samuel  schiffte  sich,  in  Gesellschaft  einiger 
andern  jüdischen  Gelehrten,  aus  Verlangen  nach  dem  heiligen  Lande 
zu  wallfahren,  in  Koslow  ein ,  und  wurde  durch  heftige  Stürme 
genöthigt,  in  Kudros  (das  alte  Cytorus  in  Paphlagonien)  zu  landen, 
von  wo  er,  nach  dreitägigem  Aufenthalte,  nach  Konstantinopel  reiste, 
und  von  hier  durch  die  Dardanellen  nach  Alexandrien.  Obgleich 
etwa  fünfzig  grössere  Schiffe  beisammen  waren,  freuten  sie  sich 
doch  als  sie  im  griechischen  Meere  eine  kleine  Kriegsflotte  fanden, 
unter  dem  Commando  eines  Pascha,  welcher  ihnen  das  Geleite  gab, 
um  sie  gegen  griechische  Corsaren  zu  schützen,  die  das  mitlän- 
dische  Meer  durchstreiften.  Man  veranstaltete  grosse  Feste  zu 
Ehren  dieses  Pascha  und  auf  dem  Schiffe,  auf  welchem  Samuel  sich 
befand,  heisst  es  dann  weiter,  war  auch  ein  türkischer  Grosser, 
welcher  SchabanEfondi  hiess  Wn  blZH  Itt^  mt)  nrraWTQ  Dil 
0-3  IVpffl*  Hiezu  bemerkt  Herr  Reifmann  in  einer  Anmerkung: 
was  bedeutet   Jon  ™d  was  bedeuten  die  Worte  QHÜ> 

LX.  Jahrg.  I-  Heft.  1 


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Neue  Jahrbücher  der  jüdiichen  Literatur. 


Er  glaubt  daher  man  müsse  JOII1?  121  lesen  und  der  Sinn  sei 
D*j5u  "OPh  D**  wort  ^qn^  findet  sich  freilich  im  arabischen 
»lahn<  wieder,  aber  im  Sinne  I^J"}  kommt  nirgends  vor. 

Sonderbar  wäre  es  auch,  dass  Schaban  Efondi,  welcher  (Fürst, 
Grosser)  genannt  wird,  an  der  Spitze  eines  Musikcorps  gestanden, 
also  etwa  Capellmeister  gewesen  wäre.  Das  Wahre  ist  aber,  dass 
man  am  Texte  nichts  zu  ändern  braucht,  sondern  dass  hier  nur 
gesagt  wird,  Schaban  Efcndi  hatte  den  Rang  eines  »Emir  tobl 
chanoh  >d.  h.  eines  solchen,  vor  dessen  Thüre  ihm  zu  Ehren  mit 
Trommeln  und  Trompeten  musicirt  zu  werden  pflegte,  und  diese 
Musiker  des  Effendi  stiessen  auch  in  die  Posauuon  zu  Ehren  des 
Pascha.  (S.  über  den  Titel  Emir  Tobl  Chaneh  Quatremere  zu  Makrizi.) 
Auch  die  9.  Anmerkung  Reifmanns  scheint  Ref.  ungeeignet.  Er 
wundert  sich  nämlich,  dass  der  Verf.  einen  Vergleich  zwischen 
Rhodus  und  Galata  in  Bezug  auf  die  Zahl  der  Synagogen  und 
Moscheen  anstellt  ?  aber  der  im  Texte  angestellte  Vergleich  bezieht 
sich  nicht  auf  die  Zahl  der  Bethäuser,  sondern  auf  die  Bauart  der 
Stadt,  indem  hier  wie  dort  das  Baumaterial  nicht  aus  Holz,  son- 
dern nur  aus  Quadersteinen  besteht.    Hingegen  scheint  uns  eino 


und  drei  Nächte,  in  der  Mitte  der  Insel«,  was  soll  das  heissen? 
Der  Hafen  und  die  Stadt  liegen  doch  nicht  in  der  Mitte  der  Insel  ? 
offenbar  fehlt  nooh  etwas  vor  dem  Worte  "l^HD*  Von  Rhodos  ging 
die  Fahrt  weiter  nach  Alexandrien  und  von  hier  zu  Land  nach 
Rosette.  Dort  wird  von  vielen  Chanen,  Herbergen  und  Kaffeehäusern 
erzählt,  denn  letzteres  ist,  wie  der  Herausgeber  richtig  bemerkt, 
unter  HUIlKVlp  zu  verstehen,  nicht  Caravanserais,  wie  Carmoli 
übersetzt,  was  schon  durch  das  vorhergenannte  Q^H^W  /p  AD  aus- 
gedrückt ist.    Onter  Chanen  (nVl^n)  &^n^  Magazine  von  Kauf- 
leuten, oder  Kramladen  gemeint.    Von  Rosette  ging  die  Reise  zu 
Wasser  weiter  nach  Kahirah,  wo  die  Reisenden  bei  einem  ihrer 
Glaubensgenossen  freundliche  Aufnahme  fanden.    Hier  überschüttet 
nun  der  Verf.  die  Karaiten  von  Kahirah  mit  Lobespreisungen,  so- 
wohl hinsichtlich  ihrer  Menschenfreundlichkeit  und  Wohlthätigkeit 
als  ihrer  strengen  Beobachtung  der  göttlichen  Vorschriften:  sie 
zünden  am  Sabbat  kein  Licht  an,  essen  nichts  warmes,  hüten  sich, 
vor  Allem  was  unrein  ist,  geniessen  bei  Mohammedanern  und  rab- 
binischen  Juden  keinerlei  Speisen,  mit  Ausnahme  von  Früchten,  sie 
haben  ihre  eigenen  Bäcker  und  Metzger  und  kaufen  von  Andern 
weder  Brod  noch  Fleisch,  »so  dass  sie  in  Wirklichkeit  und  zunächst 
wahre  Juden  und  Israeliten  genannt  zn  werden  verdienen.    Was  ihr 
Geschäft  betrifft,  so  sind  sie  grösstenteils  Geldwechsler  u.  s.  w.« 
(so  sind  die  Worte  QVjUS  (ihrem  Wesen  nach)  und  (das 
arabische  Sarraf)  zu  verstehen.)  Hierauf  folgt  dann  die  Beschrei- 
bung der  Synagoge  der  Karaiten,  dann  die  der  rabbinischen  Juden 


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Neu«  Jahrbücher  der  jQdlichan  Literatur.  8 

i»  Altkahirab  ,  In  welcher  lieh  eine  Thor»  ton  der  Hand  Esra's 
befinden  soll,  die  aber  Samuel  nicht  zu  sehen  bekam.  Am  Schlüsse 
bemerkt  er,  dass  diese  Synagoge  einst  den  Karaiten  gehört  habe, 
das»  sie  aber  in  Folge  ihrer  Sünden  Bigenthnm  der  rabbinischen 
Juden  geworden  sei.   Samuol  besuchte  dann  anoh  die  Oitadelle,  in 
welcber  der  Vorhang  für  den  Tempel  Mohammeds  zu  Mekka  ge- 
stickt wird,  bei  welcher  Gelegenheit  er  Mohammed  ttjpt^Ö  (den 
Verrückten)  nennt.    Hierauf  wird  erzählt,  dass  in  Egypten  das 
Fell,  die  Knochen  und  das  Nierenfett  (man  muss  ^pj  statt 
lesen)  sämmtlicher  geschlachteter  Thiere  dem  Pascha  gegeben  wen- 
den musste,  und  dass  es  bei  Todesstrafe  verboten  war,  des  Nachts 
aaszugeben,  dass  aber  einem  gewissen  Samuel,  einem  angesehenen 
Karaiten,  der  vor  mehreren  hundert  Jahren  gelebt,  folgende  drei 
Bitten  vom  damaligen  Herrn  von  Egypten  gewahrt  wurden :  1)  dass 
die  Juden  des  Nachts  ausgehen  dürften ,  wenn  sie  eine  Laterne 
tragen,  2)  dass  von  ihren  Thieren  nur  das  Fell,  aber  nicht  Fett 
und  Knochen  genommen  würde,  3)  dass  sie  einen  eigenen  Begrab* 
nissplatz  ausserhalb  dem  Orte  erhielten,  wlibrend  sie  früher  ihre 
Leichen  in  ihren  Wohnungen  bestatten  mussten.  Er  soll,  (wie  einst 
Dido)  so  viel  Land  verlangt  haben,  alB  eine  Ochsenhaut  umspan- 
nen kann,  diese  dann  in  feine  Riemen  zerschnitten  haben,  so  daee 
ein  ansehnlicher  Begräbnissplatz  herauskam.    Nach  einem  Aufent- 
halt von  48  Tagen  verliess  der  Reisende  Kahirah  und  wurde  von 
einigen  Freunden  bis  Chanka  (so  ist  S.  8  jpJD  st.  KWO  in 
lesen)  begleitet,  von  hier  ging  es  nach  Bilb eis,  (nicht  Q"3^2 
sondern  0"D^3)  wo  er  dem  Schatzmeister  des  Sultans  empfohlen 
ward,  der  auch  nach  Syrien  reiste.  Dieser  rief  einen  seiner  Unter- 
gebenen genannt  J^H  HOK  NV11  'QbV  TM9  <ks  Schatzmeisters 
and  befahl  ihm  diese  Leute,  aus  Rücksicht  für  Ali  Bey,  der  sie 
ihm  empfohlen,  ehrerbietig  zu  behandeln.    Zu  den  hier  augeführ- 
ten hebräischen  Worten  bemerkt,  der  Herausgeber:    »vielleicht  ist 
^Xnt>K  TDK  zu  Iowa,  welches  im  Arabischen  »hoher  Vorge- 
setzter bedeutet«,  wahrscheinlicher  ist  aber  pjjj  zu  lesen,  was  dem 
'^^^v  d.  h.  dem  türkischen  Tschelebi  entspricht.  Für  das  auf 
der  folgenden  Seite  (S.  9.  Z.  2)  vorkommende  Wort  NplDlD>D> 
zu  welchem  der  Herausgeber  ein  Fragezeichen  beifügt,  ist  vielleicht 
Np3Dl03  mit  Klinten  »Schützen«  zu  lesen.  Die  Stationen  zwischen 
Elarisch  und  Jerusalem  gibt  Samuel  folgenderweise  an:  HplN» 

üvzv  no.  ws  toi  rrtp      nu).  >uö.  iriea  (Wom 

bemerkt  wird:  im  hebräischen  HVJt^N)»  H/O"!  (wobei  es  heisst: 
d.  i.  n>)  In  der  Reisebescbreibung  des  Moses  Halevy  aber  liesst 
man;  wir  reisten  von  El- Arisch  nach  Chan  Junns,  d.  i.  Askalon, 
von  da  nach  Kpj^J  d.  i.  Aschdod,  von  da  nach  Ramiah  d.  i.  fity 

Fön  hier  nach  UQd  dann  nach  Jerusalem.  Was  die  Stationen 

Samuel' a  angeht»  ao  ist  vielleicht  statt  "ftjj  ■jjjfj  (Brücke)  oder 

mSD  (Dor*)  XVL  168611 1  Und  der        8emeint»  wo  eine  Brücke  Über 


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4  Neue  Jahrbüchef  der  jttdtochen  Literatur. 


Wadi  Scheriah  führt  oder  einfach  eine  Brunnenstation.  Der  Be- 
richt Moses'  ist  entweder  entstellt,  oder  der  Reisende  hat  ihn  erst 
später  aus  dem  Gedächtnisse  niedergeschrieben  und  sich  der  re- 
spectiven  Lage  der  Orte  nicht  mehr  genau  erinnert.  S.  12  wird 
das  Thor,  duroh  welches  Samuel  nach  Jerusalem  kam,  yf}Q  ^NIDD 

genannt,  statt  *?N  IQ       h.  Thor  Abrahams ,  welcher  der 

Freund  Gottes  heisst.  Wir  übergehen  die  Beschreibung  des  Tempels 
und  anderer  heiligen  Alterthümer  und  Gräber,  welche  der  Reisende 
in  Jerusalem  sowohl  wie  in  Ramah,  Hebron  u.  s.  w.  besuchte.  Von 
Jerusalem  ging  die  Reise  über  J<""PD  (soll  wohl  HTD  heissen) 
naoh  Nablus  oder  Sohechem.  Der  Name  ^I^D.j  8°H>  w^e  er  br°- 
hürt  hat,  von  der  dort  verübten  Schandthat  (H^DJ)  an  der  Toch- 
ter Jakobs  herrühren,  während  er  offenbar,  wie  der  Herausgeber 
schon  bemerkt,  von  Neapolis  herkömmt.  Von  hier  besuchte  er  das 
Grab  Josua's  und  das  seines  Vaters  Nun,  das  Grab  Kalebs,  Elie- 
scrs,  Itamars,  Pinhass's  u.  s.  w.  Von  Nablus  ging  der  Weg  Uber 
Ain  Jakub  nach  Djenin.  Von  hier  bis  Damask  heissen  die  Statio- 
nen bei  Samuel :  U^i  pm  WO.  3p)P  "\& J  und  NOllO, 
Bei  Moses  lauten  sie :  UltOpiK,  K"JDpy»  3pjmtf  J.  mOUBb 
JfCyO»  Was  des  Ersteren  ijpi  J  sein  soll ,  ist  nicht  klar,  vielleicht 
soll  es  auch  IJMO  heissen,  denn  wir  finden  einen  Ort  Ain  Tudjar 
zwischen  Djenin  und  Hitin.  Das  Uebrige  ist  klar,  nur  ist  nicht 
JOÖ^p  sondern  JOlD^p»  daa  bekannte  Kuneitereh,  zu  lesen.  Bei 
dem  Orte  Sassa  ist  bemerkt,  dass  dort  eine  Imar  at  sei,  der  Heraus- 
geber vermuthet  mit  Recht,  dass  dieses  Wort  mit  y  statt  mit  ^ 
geschrieben  sein  sollte,  die  wahre  Bedeutung  aber  »Stiftung«  war 
ihm  unbekannt.  Von  Damask,  wo  der  Reisende  von  seinen  Glaubens- 
genossen festlich  gefeiert  wurde,  begab  er  sich  über  Kosseir  nach 
Homss,  Hamah,  Scheichun,  Maarra  (nicht  HTTBt))  und  Haleb, 
dann  über  Khakala  und  pp*}  (?)  nach  Antakieh.  Von  hier  über 
Beilan  nach  Iskanderun,  Pajas,  dem  Hafen  von  Haleb,  wie  Tripoli 
(nicht  0l^1D"1tD)  der  Hafen  von  Damask  ist.  Von  hier  ging  es 
über  Mesis  nach  Adana.  Auf  dem  Wege  wird  eine  Oitadelle 
ITM  genannt»  was  ^bp  (die  Citadelle  am  Flusse  Djai- 
han)  heissen  soll.  Von  Adana  reiste  Samuel  über  Erekli,  Kara 
Bunar  (nicht  1^13)  nnd  Elgun  nach  Akschebr,  (nicht  p|-|>  Als 
Zwischenstationen  werden  3JV<,  01101*1»  UQd  p">T13  genannt,  wäh- 
rend die  gewöhnliche  Strasse  über  Ismil,  Konia  und  Ladik  führt. 
Von  AkSchehr  zog  er  über  IJppÖ  (?  wahrscheinlich  Isaklu)  nach 
Bulwadin,  Bejad,  (nicht  OO)  Jen*  Chan  (oder  Chosrew  Pascha) 
und  Seidi  Ghasi.  (nicht        wahrscheinlich  heisst  es  im  Msc.  ijp 

und  hat  nur  der  Verf.  p  für  jj  geschrieben).  In  einer  Mosohee  da- 
selbst, sagt  der  Verf..  ist  [das  Grab]  des  Seid  Battal,  des  bekann- 
ten arabischen  Helden  (nicht  7003).  Dann  ging  es  weiter  nach 
JSski  Schein-  (im  Texte  steht  blos  Eski  und  ist  Schehr  hinzuzu- 


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Neue  JahrbPeher  der  jüdischen  Literatur.  5 

setzen  Y  Samuel  blieb  nicbt  da,  weil  das  Osterfest,  das  er  in  Con- 
stautinnpel  ztibringen  wollte,  nahe  war.  Das  ist  wohl  der  Sinn  des 
entstellten  Textes,  wo  es  wörtlich  heisst:  »wir  übernachteten  nicht 
daselbst,  denn  (obgleich?)  es  ist  ein  Ort  mm  Uebernachten ,  wir 
übernachteten  deshalb  nicht,  denn  wir  waren  in  Bedrängniss,  denn 
die  Ostertage  waren  nahe.    Von  Eski  Schehr  ging  es  über  Sngnd 
(nicbt  -np1¥)  und  Isnik»  (Nicea,  nicht  yjPtf)  nach  Hier 
setzte  er  über  den  Meerbusen  von  Ismid  und  reiste  dann  weiter 
nach  Scutari  und  Constantinopel ,  wo  er  sich  nach  Ostern  wieder 
einschiffte,  um  in  seine  Heimath  zurückzukehren. 

Moses  hingegen  reiste  von  Adana  nach  Sinope  und  schiffte 
sieb  dort  nach  Kaffa  ein.  Er  nennt  nur  drei  Stationen,  an  welchen 
er  den  Sabbat  zugebracht  hat.  Sie  heissen:  ^tD3*Qt  *l"HtD3 
*n<*  □'ITC»  Letztere  ist  ohne  Zweifel  Tschorum,  Erster e  Bereketlu, 
die  Mittlere  vielleicht,  wenn  man  das  £  in  ein  g  verwandelt, 
Sarlar. 

Die  Reisebeschreibung  Benjamins  ist  weniger  wichtig,  denn  er 
ist  auf  dem  Hin-  und  Rückwege  zu  Wasser  bis  Jafa  gefahren. 
Sehr  possierlich  ist  seine  Erzählung  von  seinem  Besuche  des  Grab- 
mahls David's  und  Salomo's,  wo  ihm  ein  Scheich  gesagt  haben 
soll :  »wir  lieben  euch  mehr  als  die  rabb in i sehen  Juden  und  ge- 
statten euch  diesen  Ort  zu  betreten,  denn  ihr  habt  eine  Urkunde 
von  nnserm  Propheten,  welche  euch  autorisirt  in  Jerusalem  zu  woh- 
nen und  Ländereien  einräumt,  um  Häuser  zu  bauen,  von  dem  Allem 
ist  aber  den  rabbinischen  Juden  nichts  gewährt  worden,  denn  er 
(Mohammed)  hat  wohl  euere  Satzungen  von  den  Ihrigen  zu  unter- 
scheiden gewusst.c    Man  weiss  nicht,  ob  hier  der  Reisende  auf- 
schneidet,  oder  ob  der  Scheich,  um  ein  besseres  Bach  schiseh  zu 
erlangen,  diese  Fabel  erdichtet  hat.    Noch  bemerken  wir,  dass  der 
Chan  der  Krim,  von  welchem  S.  25  die  Rede  ist,  nicht  Bacha- 
dir,  sondern  B  aha  dir  hiess,  S.  18  heisst  er  gar  Kahdid. 

In  der  Einleitung  gibt  der  Verf.  eine  kurze  Notiz  über  bis- 
her bekannte  jüdische  Reisebeschreibungen,  welcher  Herr  Reifmann 
einige  Berichtigungen  und  Ergänzungen  beifügt.  Dem  Herausgeber 
gebührt  der  Dank  derjenigen,  die  sich  für  diesen  Zweig  der  Lite- 
rafnr  znteressiren,  wenn  auch  gewünscht  werden  muss,  dass  er  bei 
künftigen  Arbeiten  sich  etwas  mehr  Mühe  um  die  Verbesserung 
des  Textes  gebe. 


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Al-Beladeori  «od  Matoudl. 


liber  expugnaHonis  regionum  auclore  Imamo  Ahmed  Ibn  Jahja  Ibn 
Vjahir  al-Beladsori  quem  e  codice  Leidensi  et  codice  musci 
Brüannici  »didü  M.  J.  de  Ooeje.  Lugd.  Bat.  E.  /.  BHU. 

Maptudi-  Le*  prairiee  d'or.  Texte  et  traduction  par  C.  Barbier  de 
Meynard.  t.  IV.  ParU.  imprim.  royale.  /665.  8. 

Durch  die  Herausgabe  dieser  beiden  Werke  erhält  unsere  Kennt- 
niss  der  arabischen  Geschichte  und  Geographie  eine  weitere  Be- 
reicherung. Ersteres  ist  besonders  für  die  Kriegsgeschichte  wichtig, 
denn  es  enthält  ausführliche  Berichte  über  die  Feidzüge  der  Araber, 
von  Mohammed  bis  zur  Zeit  des  Verfassers,  dessen  Tod  in  das 
Jahr  279  d.  H.  (992  n.  Cbr.)  fällt.  Er  war  ein  guter  Diohter  und 
gewissenhafter  Traditionssammler  und  seine  Sammlung  über  die 
Eroberungen  der  Araber  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  Hidjrah 
hat  für  uns  um  so  grössern  Werth,  als  die  Arbeiten  seiner  Vor- 
gänger, Almadaini,  Alwakidi,  Ibn  Kelbi  und  anderer,  die  er  eitirt, 
uns  noch  unbekannt  sind.  Auch  in  geographischer  Beziehung  ist 
dieses  Werk  von  hoher  Bedeutung,  weil  es  über  die  eroberten  Län- 
der und  ihren  Zustand,  so  wie  über  die  Gründung  neuer  Städte 
in  denselben,  kostbare  Notizen  enthält.  Dieses  Buch  ist  übrigens 
nur  ein  Compendium  eines  grösseren  unvollendot  gebliebenen  Werkes, 
das  nicht  zu  uns  gelangt  ist.  Der  Verf.  ist  in  Bagdad  gegen  das 
Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  der  Hidjrah  geboren,  zeichnete  sich 
unter  Mamun  schon  als  Dichter  aus,  gehörte  zu  den  vertrauten 
Freunden  Mutawakkils,  und  stand  auch  unter  Mustain  und  Almutaz 
in  hohem  Ansehen.  Letzterer  vortraute  ihm  die  Erziehung  sevnes 
Sohnes  Abd  Allah  an.  Er  nahm  gegen  Ende  seines  Lebens  aus 
Versehen  Anacardium,  ein  Gift,  das  im  Arabischen  »beladsorc  heisst, 
woher  auch  sein  Beiname  Al-beladsori  kömmt,  wurde  wahn- 
sinnig und  starb  in  einem  Irrenhauso.  Obgleich  er  viel  am  Hofe 
der  Cbalifen  lebte,  ist  er  doch  unparteiisch  in  seinem  Urtbeile  über 
die  Abbasiden,  wenn  er  auch  allerdings  manche  ihrer  Gebrechen  ver- 
schweigt. Das  Werk  zerfallt  in  88  Kapitel.  Die  ersten  18  bandeln 
von  Arabien,  von  dor  Flucht  Mohammeds  nach  Medina  bis  zum 
Kriege  Abu  Bekrs  gegen  die  Abtrünnigen,  welcher  in  den  drei 
folgenden  Capiteln  geschildert  wird.  Cap.  22—47  behandeln  die 
Unterwerfung  Syriens,  darauf  folgt  die  von  Mesopotamien,  Armenien, 
Egypten,  Westafrika,  Spanien,  von  den  Inseln  des  Mittelmoeres, 
Nubien,  Wost-  und  Ostpersien,  Chorasan,  Kabul  und  Sind. 

Obgleich  aber  die  Geschichte  der  Kriegszüge  der  Araber  den 
ersten  Platz  in  diesem  Werke  einnimmt,  ist  es  doch  auch  für  die 
innere  Geschichte  des  Islams,  besonders  in  staatswirthschaftlicher 
und  statistischer  Beziehung,  so  wie  hinsichtlich  der  Verwaltung 
und  des  Finanzwesens,  sehr  belehrend.  So  enthält  z.  B.  das  41.  Cap. 
gelegentlich  der  Erzählung  von  der  Abschaffung  der  griechischen 
Finanzbeamten,  die  Summe  der  Grundsteuer  aus  den  verschiedenen 


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Al-BelAdsori  und  M»cou*i.  7 

Provinzen  Syrien«  und  Palestina's.    Das  84.  Cap.  behandelt  die 
fachte  der  "Eroberer  an  die  mit  dem  Schwerdte  unterworfenen  Län- 
der und  die  Abgaben  zu  denen  die  Unterjochten  verpflichtet  sind 
Im  folgenden  Capitel  wird  berichtet,  wie  Omar  die  ungeheure  Beute, 
welche  in  Persien  gemacht  wurde,  vertheilte  und  wie  er  allmählich 
einige  Ordnung   in  die  Staatseinnahmen  und  Ausgaben  einführte. 
Da«  87.  Cap.  bandelt  vom  arabischen  Münzwesen,  von  den  ersten 
■«taten  Münzen  im  Islam,  wie  vom  Werthe  derselben  zu  ver- 
schiedenen Zeiten.  Auch  in  den  hier  angeführten  Traditionen  wird 
Haadjadj  als  der  erste  genannt,  der  im  Jahr  75  d.H.,  unter  dem 
Cbalifen  Abd   AI  Melik  arabische  Münzen  prägen  hess,  während 
Andere  berichten,  Mussab  Ibn  Zubeir  habe  auf  Befehl  seines  Bru- 
ders Abd  Allah  im  Jahr  70  Dirhem  nach  persischer  Weise  mit 
dem  Worte  Barakat  und  Allah  prägen  lassen.  Merkwürdig  sind 
folgende  Stellen,  aus  denen  hervorgeht,  dass  man  zu  jener  Zeit 
schon  neugeprägte  Münzen  für  alte  ausgab  oder  wenigstens  solche 
fabricirt  zu  haben  im  Verdacht  stand.    So  hesst  man  S.  468: 
»Dawud  der  Münzkenner  berichtet :  ich  habe  einen  Dirhem  gesehen, 
auf  welchem  stand:  »geprägt  in  Kufa  im  Jahr  73,  aber  die  Münz- 
kenner waren  darüber  einig,  dass  er  gefälscht  war  (man  muss  wohl 
Z.  7  oUJt  statt  aUijl  lesen).  Derselbe  erzählt:  ich  habe  einen 
seltenen  Dinar,  desgleichen  nie  gesehen  worden  war,  gesehen,  auf 
welchem  Obeid  Allah  Ibn  Zijad  stand,  er  wurde  aber  auch  für  un- 
echt gehalten.«  Das  letzte  Capitel  endlich  enthält  verschiedene  Be- 
richte über  die  Einführung  und  Vervollkommnung  der  Schreibkunst 

unter  den  Arabern.  .  , 

Dem  Texte  hat  der  Herausgeber  ein  Register  aller  in  dem- 
selben vorkommenden  Personen-  und  Stämmenamen  beigefügt,  fer- 
ner eine  ziemlich  grosse  Zahl  Verbesserungen,  die  ihm  zum  Theil 
von  Fleischer  und  Nöldeke  mitgetheilt  wurden,  und  endlich  ein 
Glossarium,  welches  die  Wörter  erläutert,  deren  Bedeutung  bei 
Frevtag  fehlt  oder  nicht  deutlich  angegeben  ist.  Wir  unterlassen 
es  dem  Fehlerverzeichnisse  noch  wenige  Andere  beizufügen  und  scblies- 
sen  mit  einigen  Bemerkungen  über  das  Glossarium. 

S.  15  heisst  es:  die  2.  Form  von  adsana  bedeute  arcuit, 
repulsit  und  es  wird  dabei  auf  p.  162  verwiesen.  Hier  scheint  aber, 
da  das  j  kein  Teschdid  hat,  die  vierte  Form  zu  stehen,  welche, 
nach  dem  Kamus,  wie  die  zweite  >  abhalten  c  bedeutet.  Das  Citat 
aus  Ibn  Hischam  über  dieses  Wort  beweist  wenig,  da  die  Worte 
desselben  nur  eine  Paraphrase,  aber  keine  wörtliche  Erklärung  des 
Koranverses  sind.  Das  Wort  Tiliiseh  wird  auch  im  chaldäischen 

[     von  einem  Üebertuche  gebraucht.  Zu  dem  Worte  bätte  Hariri 

*     (ätirt  werden  sollen,  wo  p.  79  (der  Ausg.  v.  Reinaud  und  Deren- 
boursr)   Diaalah  der  Lohn  bedeutet,  den  man  einem  Führer  gibt, 
^  n  134,  wo  es  im  Commentare  heisst:  Djialah,  Djaalah  und 
SfcT \m  der  Lohn  für  jeden  Dienst.  Dass  ^aJU*  in 


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Al-BeUdBori  und  Mftcoudi. 


* 

Form  ein  transitive  Bedeutung  habe,  sucht  der  Herausgeber  durch 
mehrere  Beispiele  aus  Beladsori  zu  beweisen;  von  den  vier  ange- 
führten Stellen  ist  aber  nur  eine  entscheidend,  die,  da  diess  gegen 
allen  Sprachgebrauch  und  gegen  den  Kamuss  wäre,  leicht  zu  ändern 
ist.  8.  185  kann  man  nämlich  Ibnuhu  und  nicht  Ibnahu  lesen 
und  das  Verbum  hat  seine  gewöhnliche  passive  Bedeutung.  Die- 
selbe Bedeutung  kann  es  p.  401  haben:  »er  glaubte  es  ziehe  ein 
Heer  gegen  ihn  um  ihn  zu  bekriegen,  und  es  könnten  befreit 
werden  die  Gefangenen.«  S.  426  ist  offenbar  das  Wort  tachal- 
lassa  im  Sinne  »frei  werden«  zu  nehmen.  Die  Stelle  lautet: 
»Djarrah  sandte  Abd  Allah  Ihn  Mi'mar  nach  Transoxanien ,  er 
drang  tief  ins  feindliche  Land  ein,  und  beabsichtigte  auch  nach 
China  vorzudringen,  aber  die  Türken  umzingelten  ihn  bis  er  sich 
loskaufte  und  (wieder)  frei  wurde.  S.  444  kann  man  lilhakam 
statt  Alhakam  lesen  und  der  Sinn  ist:  »Das  Beste  von  dem  was 
sie  aus  Feindes  Hand  eroberten,  wurde  für  Hakam  bestimmt.«  Es 
bleibt  nur  noch  die  Stelle  S.  108,  die  allerdings  für  die  Behauptung 
des  Herausgebers  spricht,  wenn  man  nicht  entweder  das  j*  oder  das  * 

streicht.  Dass  das  Wort  Rahakun  in  der  Stelle  S.  65  die  Be- 
deutung von  »servitude«  habe,  ist  nicht  wahrscheinlich,  die  von 
»Gewaltthatc  passt  ganz  gut  und  der  Sinn  ist:  »weder  eine  Ge- 
walttat (Raub)  noch  eine  Mordthat  aus  der  Zeit  des  Alterthums 
soll  geahnt  werden.«  Die  zweite  Form  von  Rawadja,  hat  ohne 
Zweifel  Djauhari  und  der  Kamuss  auch  durch  »gangbar  machen« 
(von  einer  Münze)  erklärt,  so  hat  es  auch  der  türkische  Ueber- 
setzer  des  Kamuss  aufgefasst,  wo  es  heisst:  »Attarwidju  bir  nes- 
nehjeh  rawadj  wirmek  maanasineh  dör.«  Die  fünfte  Form  von 
Nakara  wird  durch  »velavit,  cucullo  texit  Caput«  erklärt  und  auf 
Beladsori  p.  41,  Hamasa  p.  103  und  Samachschari  p.  673  ver- 
wiesen. In  allen  diesen  Beispielen  heisst  aber  tanakkara  einfach 
»sich  verkleiden,  unkenntlich  machen«  sei  es  durch  Tracht,  falschen 
Bart  oder  gefärbte  Haare,  oder  durch  veränderten  Ausdruck  im 
Gesichte.  So  kommt  dieses  Wort  auch  in  der  12.  Makamah  des 
Hariri  von  Abu  Zeid  vor,  wo  es  heisst :  dessen  Gesicht  nahm  eine 
so  zornige  Miene  an,  dass  er  ganz  unkenntlich  ward.  Die  vom 
Herausgeber  angeführte  Stelle  aus  Samachschari,  welche  lautet: 
»und  er  hatte  den  grössten  Theil  seines  Gesichts  mit  der  Kopf- 
binde bedeckt,  wie  ein  (Mutanakkir)  sich  unkenntlich  machender« 
beweist,  dass  dieses  Wort  an  und  für  sich  nicht  »sich  den  Kopf 
bedecken«  bedeutet,  sondern  nur  dass  Leute  die  nicht  erkannt  wer- 
den wollen  zuweilen  auch  sich  das  Gesicht  verhüllen.  Im  Allge- 
meinen ist  das  Glossarium  eine  dankenswerthe  Zugabe,  wenn  auch 
manche  Bemerkungen  ganz  überflüssig  sind  und  namentlich  aus  dem 
Commentare  zu  Hariri  hätten  erläutert  werden  können.  Nicht  min- 
der zweckmässig  sind  die  Register  der  im  Werke  vorkommenden 
Eigennamen  von  Männern  und  Stämmen  sowohl  als  von  Städten 
und  Ländern. 


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Al-Beladsort  und  Macoudi. 


9 


Mit  weniger  Wohlgefallen  blicken  wir  anf  die  Arbeit  des  Her- 
ausgebers de»  vorliegenden  vierten  Bandes  von  Masudi's  goldnen 
Wiesen.  Masudi  ist  bekanntlieh  der  erste  arabische  Historiker,  der 
nicht  blos  Traditionssanimler ,  sondern  auch  Geschichtforscher  war 
und  der  nicht  nur  die  politischen  Ereignisse  aufgezeichnet,  sondern 
auch  der  Religions-,  Sitten-,  Literatur-  und  Culturgeschichte  den 
ihr  gebührenden  Platz  eingeräumt  hat.  Auch  beschäftigt  er  sich 
nicht  ausschliesslich  mit  der  Geschichte  des  Islams  und  der  mit 
derselben  zusammenhangenden  biblischen  Geschichte,  sondern  er 
behandelt  auch  mit  Eifer  und  Ausführlichkeit  die  fremder  Völker 
und  Länder,  so  dass  aus  seinem  Werke  manche  schätzbare  Nach- 
richten über  die  alte  Geschichte  und  Geographie  geschöpft  worden 
können.  Wichtiger  und  zuverlässiger  für  uns  ist  indessen  das  was 
er  über  die  Zeit  des  Islams  berichtet,  mit  welcher  das  70.  Cap. 
(p.  104)  beginnt.  Wir  finden  im  vorliegenden  Bande  eine  Biographie 
Mohammeds  und  die  Geschichte  der  vier  ersten  Chalifen,  bei  wel- 
cher jedoch  mehr  die  Persönlichkeit  der  Herrscher  und  ihrer  höch- 
sten Beamten,  als  die  unter  ihnen  vorgefallenen  Begebenheiten  be- 
rücksichtigt werden.  Diesen  Band  hat,  wie  wir  aus  der  Einleitung 
sehen,  Herr  Barbier  de  Meynard  allein  übersetzt,  während  bei  den 
drei  Vorhergehenden  H.  Pavet  de  Courteille  sein  Mitarbeiter  war, 
und  wir  müssen  uns  schon  beim  durchlesen  der  Einleitung  wundern, 
wie  er,  wenn  er  doch  den  ganzen  Band  gelesen  und  übersetzt  hat, 
in  seiner  übersichtlichen  Inhaltsangabe  sagen  konnte:  »c'est  ainsi 
qu'apres  nous  avoir  offert  de  nouveaux  documents  sur  la  conquete 
de  Syrie  et  de  Perse,  il  nous  depeint  en  traits  ineffacables  la  vie 
austere  et  frugale  d'Abou-Bekr«  während  doch  nur  die  Eroberung 
von  Persien  ausführlich  erzählt,  die  von  Syrien  aber  kaum  erwähnt 
wird.  Doch  gehen  wir  zur  Uebersetzung  des  Textes  über,  da  be- 
greifen wir  wohl,  dass  dem  Uebersetzer  manche  Stelle  unklar  war, 
können  uns  aber  nicht  erklären,  wie  er,  statt  sich  mit  dem  ersten 
besten  >ä  peu  pres«  zu  begnügen,  sich  nicht  bei  seinen  gelehrten 
Collegen  in  Paris,  bei  einem  Herrn  Reinaud  oder  Caussin  de  Per- 
ceval,  über  den  wahren  Sinn  des  Textes  belehren  Hess.  Folgende 
Beispiele  werden  zeigen,  dass  der  Uebersetzer  seiner  Aufgabe  nicht 
ganz  gewachsen  war.  S.  248  übersetzter  den  Vers  Z.  6.:  »C'est  moi, 
Amr,  qui,  en  döpit  de  ses  refus,  lui  ai  tendu  ce  piege,  moi  et  mes 
ca valiers ;  c'est  moi  qui  possederai  desormais  ses  faveurs«  statt :  Amr 
hat  trotz  dem  (drohenden)  langen  Tod,  sie  heimgesucht  mit  seinen 
Reitern,  er  verschont  sie  aber  obgleich  sie  nichts  taugt.«  S.  286 
wird  der  erste  Vers  übersetzt:  »Fils  de  Hachem,  une  lueur  d'amitie" 
ne  peut  briller  entre  nous,  tant  que  la  fortune  sera  votre  com- 
plice.«  Die  wahre  Bedeutung  dieses  Verses  ist:  »Söhne  Hascbim's! 
wir  and  das  zwischen  uns  Vorgefallene  gleicht  einem  Riss  in  har- 
tem Felsenstein,  nie  wird  einer  erscheinen  der  ihn  wieder  zusam- 
menfügt (so  wenn  man  Aldahra  liest,  liest  man  Aldahru,  so 
heisst  es:  »nie  wird  die  Zeit  einen  hervorbringen  u.  s.  w.).  Am 


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10 


AKBelftdBori  und  Macoudi. 


Anfang  der  folgenden  Seite  sagt  Alfadhl  Ibn  Abbas:  »Ali  war  zum 
Herrscher  nach  Mohammed  bestimmt,  Ali  war  tiberall  sein  (Mo- 
hammed's)  treuer  Gefährte,  bis  Gott  seinem  Glauben  den  Sieg  ver- 
lieh*), während  du  (Welid)  bei  den  Elenden  warst,  die  ihn  be- 
kämpften; du  bist  ein  Mann  der  reinen  Menschen  fern  steht,  du 
hast  keinen  Freund  unter  uns  mit  dem  du  gemeinschaftlich  klagen 
kannst. c  Dafür  lautet  die  französische  üebersetzung :  »Ali  est  le 
legitime  successeur  de  Mohammed  et  le  maitre  du  pouvoir  dans 
tout  l'empire ;  Ali  dont  Dieu  a  enfin  manifeste*  les  droits,  alors  que 
tu  le  combattais  avec  les  herötiques.  Un  homme  tel  que  toi  est 
exclu  des  gens  de  bien  et  ne  corapte  parmi  nous  aucun  Ami  qui  Im 
adresse  d'indulgentes  reproches.c  S.  357  heisst  es:  »Wir  versetzen 
euch  Hiebe  die  das  Haupt  vom  Rumpfe  trennen  (wörtlich :  die  das 
Haupt  von  dem  Orte,  auf  welchem  es  sitzt,  ruht,).  Diess  lautet 
aber  in  der  französischen  üebersetzung:  »Sous  nos  coups  le  hibou 
Bortira  de  sa  retraite  (c'est  ä  dire  Tarne  sortira  du  corps).«  S.  860 
ist  die  Rede  von  fünfzig  Häuptern,  »welche  Ali  schwuren,  ihm  bis 
zum  Tode  treu  zu  bleiben«  (bajauhu  ala-l-mauti)  im  französischen 
heisst  es  aber:  »qui  reconnurent  All  ä  Tarticle  de  la  mort«,  d.h. 
welche  Ali  in  ihrer  Todesstunde  anerkannten.  S.  874  liesst  man: 
»Tel  qu'un  Hon  rugissant  qui  detend  ses  petita,  il  brise  sous  ses 
dents  le  trait  que  lui  lauce  la  mort.«  statt:  »er  beschützte  was 
ihm  zu  beschützen  oblag,  wie  ein  Löwe,  aber  das  Geschick  hat 
seinen  Pfeil  nach  ihm  geschleudert  und  er  barst.«  S.  377  liesst 
man:  »nous  avons  tue  Hauscheb;  le  jour  en  se  levant  a  revele*  sa 
mort.«  statt:  »Wir  haben  Hauscheb  getödtet,  am  Morgen  als  er 
sich  als  tapferer  Krieger  gezeigt  hatte.«  (S.  den  Kamuss  unter 
i'lam).  S.  388  beklagt  eine  Frau  den  Tod  ihrer  drei  Söhne,  welche 
in  der  Schlacht  bei  Siffin  fielen ,  und  zu  den  Besten  ihres  Volkes 
gehörten  und  fügt  hinzu:  »nichts  hat  ihr  Verderben  herbeigeführt, 
als  die  Tbeilnahme  ihres  Herzens  an  dem  Siege  des  einen  oder 
des  andern  Herrn  von  Knreisch.«  Dafür  hat  die  französische  üeber- 
setzung: »S'ils  n'avaient  perdu  la  vie,  peu  leur  importait  auquel 
des  ohefs  koreichites  devait  rester  la  victoire.«  Es  heisst  wörtlich : 
»nichts  sohadete  ihnen  ausser  dem  Verlangen  der  Seelen,  welcher 
Emir  von  Koreisch  siegen  würde«,  d.  h.  sie  hatten  weder  ein  Ver- 
brechen begangen  noch  eigennützige  Zwecke  verfolgt,  nichts  hat 
sie  in's  Grab  geführt,  als  ihre  Hinneigung  für  Ali,  der  gegen 
Muawia  kämpfte,  welcher  auch  ein  Emir  von  Koreisch  war.  S.  428 
sagt  Ibn  Muldjem,  der  Mörder  Ali's,  dessen  Haupt  seine  Geliebte 
als  Morgengabe  forderte:  »Keine  Morgengabe  ist  kostbarer  als  das 
Haupt  Ali's  und  ist  es  das  Höchste  was  geboten  werden  kann,  so 
gibt  es  keine  grössere  Schlechtigkeit  als  die  Ibn  Muldjem'B.«  Die 


*)  Die  Worte  „azhara  Allahu  dinahu"  sind  auch  8.  141  falsch  über- 
tttxt  durch  „Dien  lui  a  revele  la  vrale  religion«  was  doch  nfcht  in  Medina, 
sondern  in  Mekka  geschah. 


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Weber;  Allgemeine  Weltgeschichte. 


H 


französische  Uebersetzung  lautet:  »Une  dot,  si  preoieuse  qu'elU 
»it,  vaut-elle  Ali?  une  &me,  si  energique  quelle  soit,  vaut-elle- 
Tarne  d'Ibn  Moldjem?«  Man  muss  nämlich  wissen,  daas  IbnMul- 
djem  nur  ans  Leidenschaft  zum  Mörder  Ali's  ward.  Er  sagte  zu 
dam  Cbaridjiten  Sohebib,  der  ihn  aufforderte,  ihm  zur  Ermordung 
Ali's  zu  helfen:«  Möge  deine  Mutter  deinen  Tod  beweinen  1  du  hast 
ein  schlimmes  Vorhaben ,  du  weisst  was  er  für  den  Islam  gelitten 
and  wie  er  es  vor  Andern  mit  den  Propheten  gehalten.«  Dafür 
hat  freilich  de  Maynard :  »je  connais  la  constance  inebranlable 
<TA1;  et  je  lc  place  au  dessus  de  tous,  ä  cote*  du  propbete.«  So 
Üsst  er  ihm  dann  Sohebib  erwidern:  »ignores-tu  qu'il  juge  d'aprös 
klirre  de  Dieu«  was  doch  wohl  kein  Verbrechen  wäre,  statt: 
>Weisst  du  nicht,  dass  er  Menschen  die  Entscheidung  über  das 
göttliche  Buch  übertragen  bat?«  So  lässt  er  auch  Ibn  Muldjem's 
Geliebte  sagen:  »il  me  faut  son  sang«  statt:  »suche  ihn  unver- 
sehens zu  überfallen«  (iltamis  alghirrata).  Wir  könnten  noch  viele 
Beispiele  unrichtig  übersetzter  Stellen  hinzufügen,  aber  die  ange- 
führten werden  genügen  um  unser  ürtheil  zu  rechtfertigen  und, 
fall«  diese  Anzeige  dem  Uebersetzer  zu  Gesicht  kömmt,  ihn,  bei 
Bearbeitung  der  folgenden  Bände,  zu  bewegen,  sich  über  schwieri- 
gere Stellen  mit  andern  Gelehrten  zu  berathen.  WeiL 


Allgemeine  Weltgeschichte  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Geistes- 
und  Culturlebens  der  Völker  und  mit  Benutzung  der  neueren 
geschichtlichen  Forschungen  für  die  gebildeten  Stände  bearbeitet 
von  Dr.  Georg  Weber,  Professor  und  Sehuldirektor  in 
Heiddbera.  Sechster  Band.  Leipzig,  Verlag  von  Wilhelm  Engel- 
mann, 1866.  VJI1  und  866  8.  8. 

Das  rerdienstrolle  Werk  des  rühmlichst  bekannten  Herren  Ver- 
fassers, dessen  fünf  erste  Bünde  wir  in  diesen  Blättern  angezeigt 
haben,  ist  seinem  Ziele  abermals  um  einen  bedeutenden  Schritt 
aaher  geruckt.  Mit  dem  vorliegenden  Bande  wird  uns  ein  wich- 
tiger Theil  der  Geschichte  des  Mittelalters  geboten,  dessen  Be- 
ginn der  fünfte  Band  enthält.  Auch  in  dem  gegenwärtigen  Bande 
ctgegnen  wir  überall  derselben  zweckmässigen  Auffassung  der  ge- 
schichtlichen Thatsachen  aus  den  Quellen  und  mit  Benntzung  der 
Neuesten  historischen  Forschungen,  derselben  rationellen  Anordnnng 
das  riesigen  Materials,  derselben  sieb  auch  selbst  in  Behandlung 
reinerer  und  dem  Ganzen  abgelegener  Partien  kundgebenden  Sach- 
«antniss,  demselben  unbefangenen,  vom  politischen  und  religiösen 
«iaseitigen  Parteistandpunkte  freien  Urtheile,  welches  nicht  in  der 
Gesinnungslosigkeit  die  Objectivität  der  historischen  Forschung  er- 
toprt*  sondern  immerdar  von  einem  Streben  nach  einem  der  Wahr- 
kit, dem  Licht  und  Kochte,  dorn  Fortschritte  des  Geistes  zuge- 


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12 


Weber:  Allgemeine  Weltgeschichte. 


wendeten  Sinne  zengt,  derselben  harmonischen  Verbindung  des 
politischen  und  Cnltnrlebens ,  derselben  fliessenden,  abgerundeten 
Darstellung,  welche  die  Präcision  des  Ausdrucks  dem  Geklingel 
schwebelnder  und  nebelnder  Phrasen  vorzieht  und  nirgends  die  Wahr- 
heit einer  so  genannten  Schönheit  opfert,  wie  wir  sie  als  Vorzüge 
dieses  für  alle  gebildeten  Stände  geschriebenen  Werkes  in  der  An- 
zeige der  fünf  ersten  Bande  mit  gerechtem  Maasse  anerkannten. 
Während  der  fünfte  Band  die  beiden  Hauptabschnitte  der  moham- 
medanischen Welt  nnd  des Z ei  taltersder  Karolinger  umfasst, 
behandelt  der  vorliegende  zwei  uns  Deutschen  besonders  nahe  lie- 
genden Gegenstände,  die  Vorherrschaft  des  deutschen  Rei- 
ches (S.  1  —  460)  und  das  Zeitalter  der  Kreuzzüge  und 
der  Hohenstaufen  (S.  460 — 866).  Wir  empfehlen  darum  dem 
deutschen  Volke,  welches  vor  allen  Völkern  Europa's  vorzugsweise  mit 
Hecht  das  gebildete  genannt  wird,  die  sorgfältige  Leetüre  desselben. 
Die  Geschichte  ist  die  Lehrerin  des  Menschen  und  aus  der  Ver- 
gangenheit lernen  wir  die  Gegenwart  begreifen,  und,  so  viel  es 
endlichen  Geistern  vergönnt  ist,  auch  die  Zukunft  ahnen.  Ausser 
den  im  fünften  Bande  (S.  276,  277,  488)  erwähnten  Quellen  und 
literarischen  Hülfsmitteln  wurden  in  der  Darstellung  der  Vorherr- 
schaft des  deutschen  Reiches  für  das  Zeitalter  der  sächsischen  und 
fränkischen  Könige  die  in  den  Jahrbüchern  des  deutschen  Reichs  und 
der  deutschen  Geschichte  enthaltenen  Monographien,  ferner  Stenzeis 
Geschichte  Deutschlands  unter  den  fränkischen  Kaisern,  Leipz.  1827, 
1828,  2  Bde,  H.  Floto's  Kaiser  Heinrich  IV.  und  sein  Zeitalter,  Stuttg. 
u.  Hamburg  1855,  2  Bde,  Gfrörers  Gregor  VII.  und  sein  Zeitalter, 
Stuttgart,  1859,  1860,  6  Bde,  Kluckhohn,  Geschichte  des  Gottes- 
friedens, 1857;  Knochenhauer,  Geschichte  Thüringens  in  derkarol. 
und  sächs.  Zeit,  Gotha,  1863;  aus  den  Forschungen  zur  deutschen 
Geschichte,  der  Sybel'schen  Zeitschrift  pnd  der  deutschen  National- 
bibliothek einzelne  Abhandlungen,  für  die  Geschichte  von  Ungarn 
Mailath  und  Horvath,  von  Böhmen  Palaky,  von  Polen  Roepell  in 
dorn  Sammelwerk  von  Heeren  und  Ukert,  Schafariks  slavische  Alter- 
thümer  und  C.  Dümmler  über  die  südöstlichen  Marken  des  fränki- 
schen Reiches  in  dem  Archiv  für  die  Kunde  österreichischer  Ge- 
schichtsquellen u.  a  m.  mit  vielem  Fleisse  zu  dem  historischen 
Zwecke  des  Buches  verwerthet. 

Der  erste  Abschnitt,  welcher  von  der  Vorherrschaft  des  deut- 
schen Reiches  handelt,  umfasst  Konrad  von  Franken  und  das  säch- 
sische Herrscherhaus  und  zwar  Aufrichtung  des  deutschen  Reichs  unter 
Konrad  I.  und  Heinrich  I.,  Otto,  den  Grossen,  die  jüngeren  Ottonen 
und  Heinrich  IL,  das  römische  Reich  deutscher  Nation  und  das  Cultur- 
leben  im  Zeitalter  der  Ottonen,  sodann  das  deutsche  Reich  unter 
den  fränkischen  Kaisern,  insbesondere  die  Zeiten  Konrads  II.  und 
Heinricks  III.,  Heinrich  IV.  und  das  Papstthum  auf  seiner  Höhe, 
Heinrich  V.  nnd  die  Ausgleichung  des  Investiturstreites,  das  Reich 
und  den  Bildungsstand  unter  den  fränkischen  Kaisern. 


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Weber:  Allgemeine  Weltgeschichte. 


Der  zweite  Abschnitt  enthält  das  Zeitalter  der 
Kreuzztige  und  der  Hohenstaufen.  Ausser  den  Bd.  V,  S.  1 
und  229  angegebenen  Quellen  wurden  geschichtlich  verwerthet  für 
diesen  Abschnitt,  insbesondere  für  die  Geschichte  des  byzantini- 
schen Reiches  die  Forschungen  von  Georg  Finlay,  history  of  the 
Byzantine  and  Greek  empires  from  716  to  1453,  London,  1854, 
von  J.  Ph.  Fallmerayer,  Geschichte  der  Halbinsel  Morea  während 
des  Mittelalters,  1830,  Geschichte  des  Kaiserthums  Trapezunt,  1827, 
für  die  Geschichte  der  Mohammedanischen  Reiche  WeiTs  Assassinen 
in  der  SybePsohen  Zeitschrift,  Bd.  9,  Wüstenfelds  Akademien  der 
Araber,  Göttingen  1837,  üeberwegs  Grundr.  der  Geschichte  der 
Philosophie  II,  2.  1864,  Steiners  Mutaziliten,  1865,  für  den  Kampf 
iwischen  Morgen-  und  Abendland  J.  C.  Murphy,  the  history  of  the 
Mahometan  empire  in  Spain,  1816,  Aschbacb,  Geschichte  Spaniens 
und  Portugals  zur  Zeit  der  Herrschaft  der  Almoraviden  und  Almoha- 
den,  1833,  Schäfers  Geschichte  von  Portugal,  1836,  E.  Alex.  Schmidts, 
Geschichte  Aragoniens  im  Mittelalter,  1826,  A.  F.  von  Scbaok, 
Poesie  und  Kunst  der  Araber  in  Spanien  und  Sicilien,  1865,  für 
die  Kreuzzüge  F.  Wilken,  Geschichte  der  Kreuzztige,  1807 — 1832, 
Michaud,  histoire  des  croisades,  Paris,  1817—1822,  Wilhelm  von 
Tyrus,  Gesch.  der  Kreuzzüge  und  des  Königreichs  Jerusalem  über- 
setzt von  E.  und  R.  Kausler,  1840,  Sybels  Gesch.  des  ersten  Kreuz- 
zuges, 1841,  und  über  das  Königreich  Jerusalem  in  Schmidts  Zeit- 
schrift für  Geschichtswissenschaft,  Bd.  3.  4,  für  die  Ritterorden 
Paul  Ganger,  der  Ritterorden  der  Johanniter  oder  Malteser,  1844, 
Ferd.  Wilcke,  Gösch  der  Tempelherren,  1860,  J.  Voigt,  Gesch.  des 
deutschen  Ritterordens,  Berlin  185  7—1859,  für  die  Gesch.  des 
Abendlandes  im  11  —  13  Jahrhundert  ausser  den  Bd.  V,  S.  276  u. 
277  aufgeführten  Werken,  W.  Wachsmuths  Culturgeschichte ,  die 
Gesch.  des  deutschen  Städtewesens  von  Hüllmann,  Guizots  essais  sur 
Phistoire  de  France  und  histoire  de  la  civilisation  en  France,  v. 
Savigny's  Geschichte  des  röm.  Rechts  im  Mittelalter,  für  die  chro- 
nologische Anordnung  und  Feststellung  Böhmers  Reiohsregesten, 
rü  r  die  Zeit  der  Hohenstaufen  als  Quellen  Otto  Frisingensis  de  gestis 
Friderici  I.  mit  der  Fortsetzung  von  Radevicus  bis  1160  bei  Mu- 
ratori  tom.  VI  und  Helmolds  Chronik  der  Slaven  aus  den  Mouum. 
Germaniae,  übersetzt  von  Laurent  und  die  Hülfsschriften  von  Raumer, 
Wilh.  Zimmermann,  K.  W.  Nitzsch,  Ph.  Jaffö,  E.  Gervais,  Kortüm, 
iL  Renter,  Fioker,  Wegele,  Böttiger,  H.  Prutz,  L.  Weiland,  Otto 
Abel,  Fr.  W.  Schirrmaoher,  E.  Winkelmann,  F.  Hurter  und  das 
Sammelwerk  von  J.  L.  A.  Huillard-Breholles ,  historia  diplomatica 
Friderici  IL,  1859—1861,  6  Theile  in  10  Bänden. 

Im  Zeitalter  der  Kreuzzüge   und   Hohenstaufen  werden  als 
Hauptgesich  t spunkto  unterschieden :  1)  die  Weltlage  im  Morgenlande, 
2)  das  Christenthum  und  der  Islam  im  Kampfe,  3)  die  Weltlage 
im  Abendlande,    4)  Kaiser  Friedrich  I.  und  seine  Zeit,  5)  das 
deutsche  Reich  unter  Heinrich  IV.  und  Heinriche  des  Löwen  Ausgang, 


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14  Weber:  Allgemeine  Weltgeschichte. 


Im  ersten  Abschnitte  der  Vorherrschaft  des  deutschen  Reichs, 
Wird  mit  Recht  als  »die  grösste,  folgenreichste  Begebenheit  des 
Er  hüten  Jahrhunderts  t  die  »zweite  Herstellung  des  römischen  Kaiser* 
thums  durch  Otto  den  Grossen«  bezeichnet.  Treffend  sagt  der  Herr 
Verf.  S.  168:  »Ks  war  der  zweite  Versuoh,  das  christliche  Abend- 
land durch  eine  altehrwürdige  Reichsordnung  zusammenzufassen,  den 
zerrissenen  und  getrennten  Staaten  und  Stämmen  durch  den  Glanz 
eines  germanisch- römischen  Kaiserthums  einen  einigenden  Mittelpunkt 
zu  schaffen,  die  gespaltene  Menschheit  durch  die  Macht  der  Idee  und 
des  Glaubens,  unterstützt  von  der  Schärfe  des  Schwertes,  zu  einem 
Ganzen  zu  verbinden,  in  Welchem  die  feindlichen  Kräfte  versöhnt 
und  zu  einem  friedlichen  Zusammenwirken  gebracht  werden  sollten. 
Wie  Karl  der  Grosse  nach  den  Stürmen  der  Völkerwanderung  die 
losen  Glieder  in  dem  Frankenreiche  vereinigte  und  aus  dem  alten 
und  dem  christlichen  Rom  die  ßildungselemente  herholte,  um  die  ver- 
schiedenartigen Volksbestandtheile  in  eine  gleichartige  Form  zu 
giessen,  so  war  Otto  J.  bemüht,  aus  dem  zertrümmerten  Franken- 
reiche die  kräftigeren  Glieder  unter  seiner  Fahne  zu  sammeln,  die  be- 
schrankte Gewalt  eines  Wahl-  und  Stammeskönigthums  durch  den 
römischen  Imperatorennamen  zu  stärken  und  die  civilisatorisohe 
Mission,  die  mit  der  Begründung  des  Christenthums  Hand  in  Hand 
ging,  bei  den  heidnisohen  Völkern  im  Osten  und  Norden  zu  för- 
dern, bei  jenen  slavisohen  und  skandinavischen  Stämmen,  die  in 
endloser  Zersplitterung  und  Vereinzelung  ihre  Lebenskräfte  in  krie- 
gerischer Zuchtlosigkeit,  in  störrischer  Feindschaft  gegen  die  christ- 
lichen Institutionen  verbrauchten.  Dem  Herrsehergeiste  Otto's  I. 
genügten  nicht  die  Ziele  und  Erfolge  seines  Vaters  Heinrich  I.,  er 
mischte  sich  in  die  inneren  Anliegen  des  westfränkischen  Reiches 
nud  warf  sich  zum  Schiedsrichter  auf  in  den  Kämpfen  der  Feudal- 
herren gegen  die  Karolinger ;  er  nahm  das  Herzogthum  Burgundien 
unter  seine  vormundschal tl ich e  Obhut;  er  brachte  Italien  an  das 
deutsche  Reich  und  dehnte  seine  oberlehnsherrlichen  Rechte  über 
die  Dynasten  von  Tuscien  und  Oampanien  aus.  Und,  was  er  unter- 
nommen, war  für  seine  Nachfolger  Gesetz  und  Vorbild.  Man  hat 
dieses  Ausschweifen  des  deutschen  Herrsoheramtes  in  die  Weite 
vom  nationalen  Standpunkte  aus  scharf  gerügt  und  insbesondere 
die  Verbindung  Deutschlands  mit  Italien  und  das  Streben  der 
Könige  nach  der  römischen  Kaiserwürde  als  die  Quelle  grossen  Un- 
heils für  das  deutsche  Volk  und  Reich  erklärt.  Wir  haben  die 
daraus  hervorgegangenen  Nachtheile  nicht  verschwiegen :  wir  haben 
es  beklagt,  dass  bei  der  unzulänglichen  Herrscherkraft  der  jüngeren 
Ottonen  über  den  italienischen  Sorgen  und  Wirren  die  Eroberungen 
im  Osten  und  Norden  ins  Stocken  kamen  und  verfielen,  dass  in 
Polen,  Böhmen  und  Ungarn  sich  selbständige  Gewalten  erhoben, 
dasB  die  Bekehrung  der  Slaven  und  Magyaren  zum  Christenthum 
nicht  dem  deutschen  Episkopat,  sondern  dem  Papstthum  zur  Macht* 
Tergrüsserung  gereichte,  dass,  während  sich  die  Bisthümer  Prag 


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Weber:  Allgemeine  Weltgeschichte.  16 

tmd  Gnewu  nud  das  gesammte  Ungar nland  der  Metropolitangewalt 
fon  Mainz,  Magdeburg  und  Salzburg  entzogen,  der  römische  Stuhl 
im  Norden  der  Alpen  ein  solches  Ansehen  gewann,  dass  er  ein 
halbes  Jahrhundert  nach  dem  Erlöschen    des  sächsischen  Hauses 
dem  deutschen  König  die  Herrschaft  Ober  die  abendlandische  Christen- 
heit streitig  machen  konnte ;  dass  die  Beiohsämter  und  Reichslehen 
mehr  und  mehr  den  Charakter  der  Erblichkeit  annahmen  und  die 
Bande  der  Hörigkeit  und  Leibeigenschaft  immer  weiter  ausgedehnt 
wurden,  his  der  gemeinfreie  Mann  auf  deutscher  Erde  eben  so  selten 
war,  wie  im  westlichen  Nacbbarlande.  Auch  der  Verlust  so  vieler 
Tapferen ,  die  dem  Schwerte ,  dem  ungewohnten  Klima ,  den  an- 
steckenden Krankheiten  erlagen  oder  durch  wälsehe  Hinterlist  und 
Tücke  ins  Grab  sanken,  wurde  mit  Recht  zu  allen  Zeiten  beklagt. 
Macht  doch  schon  Thietmar  von  Merseburg  die  Bemerkung:  »Viele 
Nachstellungen  finden  sich  in  Romanien  und  Lombardien ;  den  An- 
kömmlingen wird  dort  geringe  Gastlichkeit  zu  Theil,  alles  Srf'or- 
derlicbe  müssen  sie  schwer  bezahlen  und  selbst  dann  sind  sie  vor 
Betrug  nicht  sicher;  viele  sterben  durch  Gift.«    Aber  über  diesen 
dunkeln  Schatten  dürfen  wir  doch  nicht  alle  Vortheile  übersehen, 
welche  im  Gefolge  dieses  Bundes  der  deutschen  Nation  zugeführt 
wurden.    Nur  im  Besitze  der  Kaiserwürde  konnte  Deutschland  zu 
einer  Torherrschenden  Macht  emporsteigen,  welcher  sich  die  übri- 
gen Völker  des  christlichen  Abendlandes  völlig  unterordneten,  konnte 
die  deutsche  Nation  den  Ehrenrang  gewinnen,  der  sie  zur  Gebie- 
terin und  Schiedsrichterin  in  Europa  erhob*    An  der  römischen 
Kaiserkrone  haftete  das  überlieferte  Recht  der  Weltherrschaft ;  das 
Rom  erreich  galt  nach  christlichen  Anschauungen  als  die  göttliche 
Staatsordnung,  welcher  das  Regiment  auf  Erden  bis  ans  Ende  der 
Tage  beschieden  sei.    Wenn  die  deutschen  Könige  in  diese  Idee 
eintraten,  wenn  sie  die  Fiction  von  einer  ununterbrochenen  Fort* 
daner  des  römischen  Imperiums,  von  einer  Continuität  der  römi- 
«chen  Weltmonarchie  durch  ein  ganzes  Jahrtausend  sich  zu  Eigen 
und  Nutzen  machten,  so  handelten  sie  nur  im  Geiste  der  Zeit  und 
stärkten  die  physische  Macht,  die  Errungenschaft  des  Schwertes, 
durch  die  Idee  des  Rechtes,  der  göttlichen  Anordnung.  War  aber 
das  röznisehe  Reich  deutscher  Nation  in  den  Augen  der  abend* 
ISndischen  Menschheit  eine  rechtliche  und  göttliche  Einrichtung, 
nieht  ein  Gebilde  der  Phantasie,  nicht  eine  Schöpfung  der  Willkür 
und  des  Hoch  ran  fches,  so  lag  darin  für  die  deutschen  Völker  und 
Stamme  selbst  die  Aufforderung,  sich  zu  einem  Reichskörper  zu 
verbinden,  worin  alle  Glieder  zu  gemeinsamen  Zwecken,  zu  harmo- 
nischem Zusammenwirken  berufen  und  verpflichtet  seien,  so  wurde 
dadurch  das  Bewusstsein  der  Nationalität,  der  Bluts-  und  Stammes- 
verwand tschaft  geweckt;  der  von  der  Volkssprache  auf  die  Nation 
und  auf  das  Land  übertragene  Name  »deutsche,  der  zunächst  bei 
den  Italienern  in  Gebrauch  kam,  nährte  und  belebte  das  Gefühl 
nationaler  Zusammengehörigkeit  und  die  Stammesfürsten,  die  sich 


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16 


Weber«  Allgemeine  Weltgeschichte. 


gegen  einen  sächsischen  oder  fränkischen  König  spröde  und  wider- 
strebend verhalten  mochten,  beugten  sich  willig  vor  der  Majestät 
den  römischen  Kaisers  deutscher  Nation,  fügten  sich  willig  der 
Macht  und  Herrlichkeit  des  Reiches,  rechneten  sich  den  deutschen 
Namen  zur  Ehre  an.  So  förderte  und  sicherte  der  Glanz  des 
Kaiserthums  die  Einheit  des  Volkes,  den  Bestand  des  Reiches,  die 
Vorherrschaft  der  deutschen  Nation  im  christlichen  Abendlande.« 
Nicht  minder  treffend  ist,  was  über  die  Zeit  der  fränkischen  Kaiser 
gesagt  wird,  welche  > wenig  erhebende  und  erfreuende  Resultate« 
bietet.  »Wurde  auch  der  Umfang  und  die  Grösse  des  Reiches  nicht 
vermindert,  heisst  es  S.  432,  ja  durch  die  Erwerbung  des  burgun- 
dischen  Landes  im  südlichen  Westen  nicht  unbedeutend  gemehrt, 
standen  auch  die  salischen  Kaiser  an  persönlicher  Bedeutsamkeit, 
au  Kriegsmuth,  Herrscherkraft  und  königlicher  Würde  der  sächsi- 
schen Dynastie  in  keiner  Weise  nach;  so  sank  dennoch  das  An- 
sehen und  die  Macht  der  Krone ,  die  aristokratischen  Gewalten 
überwucherten  den  Königssitz,  der  monarchische  Einheitsstaat,  das 
Ziel  der  kräftigsten  Herrscher,  ging  mehr  und  mehr  in  die  Formen 
des  losen  Lehnstaates  über ;  die  Gewalten  und  Bildungen  des  Feu- 
dalnexus entzogen  sich  durch  die  faktische  öder  zugestandene  Erb- 
lichkeit immer  mehr  der  Einwirkung  des  Königs«  u.  s.  w.  Unter 
der  Aufschrift:  >Das  römische  Reich  deutscher  Nation  und  das 
Gulturleben  der  Ot  tonen <  werden  am  Schlüsse  des  ersten  Abschnit- 
tes der  Vorherrschaft  des  deutschen  Reiches  die  Bedeutung  deR 
römisch- den  tscheu  Kaiserthums ,  die  Herrschaft  Uber  Italien ,  die 
Einwirkung  des  italischen  Culturlebens  auf  Deutschland,  die  latei- 
nische Literatur  in  diesem  Lande,  Widukind,  Thietmar,  die  deut- 
schen Dichtungen  in  lateinischer  Bearbeitung,  sodann  Gerbert, 
Liudprand,  Bernward  und  Meinwerk,  ferner  Handel  und  Gewerb- 
thätigkeit  und  die  lateinische  Geschichtschreibung  in  Sach- 
sen, in  den  Klöstern  Corvey,  Gandersheim,  Nordhausen,  Quedlin- 
burg, in  den  Bisthümern  Hildesheim,  Magdeburg,  in  Lothringen, 
in  Allemannien,  Italien,  die  Schriften  von  Hroswitha,  das  Leben 
der  Königin  Mathilde,  die  Quodlinburger  Annalen,  die  Lebens- 
beschreibungen Bernwards,  Godehards  und  Adalberts,  Bruno's 
Leben  von  Ruotger,  die  Fortsetzer  des  Regino,  Ratherius,  Burohard 
von  Worms  und  seine  Decrete,  Richers  Chronik,  das  Leben  der 
Kaiserin  Adelheid,  die  Klosterchronik  von  St.  Gallen  u.  A.  be- 
handelt (S.  167-184). 

(SchlllBB  folgt.) 


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Ii.  2.  HEIDELBERGER  1887. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Weber:  Allgemeine  Weltgeschichte. 


(SchhiBs.) 

Ganz  richtig  wird  Liudprand  S.  184  also  geschildert:  »Bei 
allen  Fehlern  ist  Liudprand  der  bedeutendste  Geschichtschreiber 
des  zehnten  Jahrhunderts ;  seine  Werke,  die  übrigens  alle  drei  (die 
Antapodosis,  die  Thaten  Ottos  des  Grossen  und  der  Gesandtschafts- 
bericht) unvollendet  blieben,  sind  anziehend  und  originell  und  trotz 
der  Leidenschaftlichkeit  und  Eitelkeit  des  Verfassers  in  dem  That- 
sachlichen  meist  zuverlässig.  Dass  er  sich  unbedingt  auf  Ottos  1. 
Seite  stellte  und  die  Gnadenbezeugungen,  die  ihm  dieser  zu  Theil 
werden  Hess,  mit  Lobpreisungen  vergalt,  lässt  sich  rechtfertigen, 
ohne  dass  man  dabei  unwürdige  Motive  anzunehmen  genöthigt  wäre. 
Er  erkannte  in  ihm  den  Mann,  von  welchem  allein  die  Herstellung 
eines  geordneten  Zustandes  in  Italien,  wie  in  der  römischen  Kirche 
zu  hoffen  war.  Eine  Yergleichung  der  Schriften  Liudprands  und 
der  Chronik  Venedigs  von  dem  Diaconus  Johannes,  dem  Kaplan 
des  Dogen  Urseolus  II.,  der  wiederholt  als  Gesandter  zu  den  jün- 
geren Ottonen  geschickt  ward,  mit  der  erwähnten  Chronik  des 
Münchs  vom  Sorakte  oder  der  Chronik  vonSalerno  lässt 
deutlich  erkennen,  wie  sehr  die  literarische  Bildung  und  Sprach- 
kenntniss  des  obern  Italiens  die  des  mittleren  und  unteren  über- 
traf. Auch  das  Leben  des  heiligen  Adalbert  von  Johan- 
nes Canaparius,  dem  Freunde  und  Klostergenossen  des  Mär- 
tyrers, in  einer  mit  biblischen  Ausdrücken  erfüllten  Sprache  trägt 
den  Hauptwerth  in  der^  Hingebung  und  Liebeswärme  des  Ver- 
fassers für  den  frommen  Glaubenshelden.« 

Unter   der   Aufschrift    »das  Reich  und   der  Bildungsstand 
anter  den  fränkischen  Kaisern«  weiden  die  Ordnungen  und  Zu- 
stande, die  Grösse  und  der  Umfang  des  Reiches,  das  Königthum 
und  der  Hof,  die  Reichsämter  und  Kroueinkünfte ,  Fürsten  und 
Stände,  insbesondere  Herzoge,   Mark-  und  Pfalzgrafen,  Grafen, 
Dienstleute  und  Freie  (deutsches  Städtewesen),  der  Klerus,  die  Heer- 
schilde, hierauf  Cultur  und  Sitten,  deutsche  Literatur,  Uebersetzun- 
gen,  Notker  Labeo,  Williram,  die  Reimprosa,  Merigarto,  Ezzo,  das 
Buch  von  der  Schöpfung,  Anegenge,  das  Lob  Salomos,  die  Bücher 
Moses,  das  Leben  Jesu  von  Frau  Ava,  der  Klausnerin  in  Göttweih, 
(gest.  1127),  andere  religiöse  Dichtungen  und  Lehrstücke,  die  lite- 
rarische Thätigkeit  am  Niederrhein,  die  lateinische  Literatur,  Wippo 
(Wipo),  die  Annalen  von  Altaich  (Godehard),  Benno,  Meinwerk, 
UL  Jahrg.  1.  Heft.  2 


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18 


Webe»:  Allgemeine  Weltgeschichte. 


HermannuB  Contractus,  Bernold,  Berthold,  Adam  von  Bremen,  Saxo 
Grammaticus,  Bruno,  die  metrische  Geschichte  vom  Sachsenkrieg 
und  das  Leben  Heinrichs  IV.,  Ekkehards  Weltchronik,  Lambert  von 
Hersfeld,  die  literarischen  Zustände  fremder  Länder,  insbesondere 
die  böhmische  Chronik  des  Cosmas,  Martinus  Gallus ,  Adomar  und 
Rodulf  Glaber,  Hugo  von  Fleury,  Wilhelm  von  Malraosbury,  Hugo 
von  Farfa,  Bonizo,  Bardo,  Benzo,  Donizo,  Benno,  Landulf,  Arnulf, 
Petrus  Crassus  und  Guido,  Amatus,  Wilhelm  von  Apulien  darge- 
stellt (S.  432 — 459).  Besondero  Aufmerksamkeit  wird  dem  »vor- 
züglichsten Geschichtswork  des  eilften  Jahrhunderts c  ,  den  Jahr- 
büchern Lamberts  von  Hersfeld,  gewidmet  (S.  456  und  457). 

In  der  Darstellung  der  Cultur  und  des  Geisteslebens  der  Araber, 
Perser  und  Juden  umfasst  der  Herr  Verf.  in  kurzer  treffender 
Kennzeichnung  die  Natur  der  Orientalen,  ihre  wissenschaftlichen 
Bestrebungen,  die  Schulen  und  Akademien,  die  Philosophie  (AI 
Kendi,  Alfarabi,  Ibn  Sina  oder  Avicenua,  Algazel,  im  arabischen 
Spanien.  Avempace,  Ibn  Tophail,  Averroös  oder  Ibn  Roschd),  die 
Religionswissenschaft  (die  Orthodoxen,  die  Mutazeliten,  die  Ssufi), 
die  Dichtkunst  bei  den  Arabern  (Toghrai,  Meidani,  Mokri,  Abul 
Kasem,  Abu  Madin,  Zamakschari,  die  Makamen  von  Hariri,  Tausend 
und  eine  Nacht ,  Antara ,  die  arabische  Dichtkunst  in  Spanien,  die 
Dichtkunst  bei  den  Persern  (Rudeki,  Keikawus,  Anssari,  Firdusi, 
Enwori,  Senaji,  Watwat,  Nisami,  Feriddedin  Attar,  Saadi),  die 
jüdische  Wissenschaft  und  Literatur  (die  Mischnah,  die  Gemara, 
den  Talmud,  Saadja,  die  Kabbala),  die  Juden  in  Spanien  (Chasdai, 
Ibn  Gabirol  oder  Avicebron,  Vahja,  Juda  Ha-Levi,  Aben  Esra, 
Maimonides),  die  jüdischen  Gelehrten  in  der  Provence  (S.  515— 532). 

Die  Aufschrift:  Klosterwesen  und  Scholastik  enthält 
Suger  von  St.  Denis,  die  Karthäuser,  den  Orden  von  Graramont, 
die  Stiftung  von  Fontevraud,  die  Cisteroienser ,  Prämonstratenser, 
Carmeliter,  die  Schulen  und  die  Wissenschaft,  die  Scholastik,  An- 
selm von  Canterbury,  den  Nominalismus  und  Realismus,  den  Johan- 
nes Roscellinus,  Wilhelm  von  Champeaux,  Abälard,  Hugo  von  St. 
Victor,  Petrus  Lombardus  (S.  633—639).  Der  Hr.  Verf.  hat  Bernhard 
von  Clairvaux  (1091 — 1153)  sehr  hoch  gestellt  und  in  der  Charakte- 
ristik desselben  keinen  Fehler  erwähnt.  Bei  kurzen  Charakteristiken 
darf  auch  die  Schattenseite  nioht  fehlen.  Die  »zersetzende  Schola- 
stik <  hat  offenbar  der  wissenschaftlichen  Bildung  und  dem  Fort- 
schritte des  Menschengeistes  mehr  genützt,  als  Bernhardt  mysti- 
scher und  leidenschaftlicher  Eifer  gogen  den  Rationalisinns.  Bern- 
hard ist  nur  dadurch  gross,  dass  er  alle  Vorzüge  seiner  Zeit  an 
sioh  trägt,  die  Begeisterung  des  Glaubens,  die  Thatkraft  des  Han- 
delns; aber  er  leidet  auch  eben  so  sehr  an  den  Gebrechen  seiuer 
Zeit;  or  steht  nicht  über  ihr,  er  eilt  ihr  nicht  voraus,  wie  jene, 
welche  auch  in  religiösen  Dingen  und  Uber  religiöse  Dinge  ver- 
nünftig denken  wollen.  Man  kann  Bernhard  als  den  Mittelpunkt 
seiner  Ztit,  als  das  Haupt  ihrer  Bestrebungen  bezeichnen.   Er  ge- 


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"Webet:  Allgemein  WeUgceehiohte. 


brauchte  seinen  Verstand  und  seine  Kenntnisse  im  Sinn  und  Geiste 
seiner  Zeit,  für  mystisch-ascetischo  Mönchsheiligkeit,  zur  Hebung 
des  Wunderglaubens,  wie  er  denn  selbst  an  seine  Wunder  glaubte, 
zur  Verteidigung  des  Glaubens  an  Visionen  und  Offenbarungen. 
Wenn  es  sich  um  Verfolgung  der  Ketzer,  um  die  Begeisterung  für 
Kreuzzüge  handelte,  stand  Bernhard  an  der  Spitze  seiner  Zeit,  wie 
im  Tadel  der  Laster  der  Laien  und  Geistlichen.  Er  hatte  seinen 
grossen  Einflnss  dem  Umstände  zu  verdanken,  dass  er  der  Träger 
des  Geistes  seiner  Zeit  war.  Der  leidenschaftliche  Ton,  mit  wel- 
chem Bernhard  gegen  Abälard  auftritt,  findet  seinen  Grund  in  der 
Ueberzeugung,  dass  dieser  dem  Glauben  der  Kirohe  schade;  aber 
Bernhard  führt  deshalb  dennoch,  wie  es  immer  bei  leidenschaft- 
lichen Verfolgungen  der  Fall  ist,  eine  übertriebene  und  eine  unge- 
rechte Sprache,  die  gewiss  als  ein  Mangel  an  dem  grossen  Manne 
zu  bezeichnen  ist,  den  er  mit  seiner  Zeit  theilt.  Die  Glaubens  Selig- 
keit ist  nicht  immer  zu  allen  Dingen  nütze  Ist  dies  wohl  zu 
loben,  wenn  Bernhard  über  Abälard  an  die  Kardinäle  schreibt 
(epist.  188):  Irridetur  simplicium  fides,  eviscerantur  arcana  dei, 
qoaestiones  de  altissimis  rebus  temerarie  yentilantur,  insultatur 
patribns,  qnod  eas  magis  sopiendas  quam  solvendas  censuerint?  Ist 
es  wohl  die  Sprache  der  Demuth  und  Liebe,  mit  weloher  Bernhard 
an  den  Papst  Innocentius  schreibt  (epist.  189):  »Man  schmiedet 
för  die  Völker  und  Nationen  ein  neues  Evangelium ,  man  stellt 
einen  nenen  Glauben  anf,  man  legt  eine  andere  Grundlage  als  die- 
jenige, welche  schon  gelegt  ist.  Ueber  Tugenden  und  Laster  strei- 
tet man  nicht  moralisch,  über  Sacramento  der  Kirche  nioht  gläubig, 
über  das  Geheimniss  der  heiligen  Dreieinigkeit  weder  einfach  noch 
nüchtern,  sondern  mau  bietet  uns  Alles  verkehrt,  anders,  als  ge- 
wöhnlich, als  wir  es  empfangen  haben?«  Mit  voller  Ueberzeugung 
för  sich,  aber  gewiss  deshalb  dennoch  unter  dem  Einflüsse  eines 
(objectiv  betrachtet)  einseitigen  und  ungerechten  Eifers  schreibt 
(epist.  359)  er  über  Abälard :  »Jener  Mensch  hat  die  Kirche  befleckt, 
mit  seinem  Rost  hat  er  die  Seele  der  Einfältigen  angefressen,  da 
er  das  auf  die  Vernunft  gründet,  was  die  Seele  mit  der  Lebendig- 
keit des  Glanbens  ergreift.  Wie  es  bei  der  Verurtheilung  Abälards 
auf  der  Kirchen  Versammlung  zu  Sens  (1140)  herging,  erzählt  uns 
Abälards  Schüler,  Berengarius  Scholasticus,  in  seinem  apologeticus 
pro  magistro  contra  Bernardum  Claraevallensem  (Abaelard  opp. 
p.  302  ss  Bulaeus  histor.  univ.  Paris,  tom.  II.  p.  182  88.)  Gieseler 
selbst  glaubt,  dass  diese  keineswegs  für  die  Sittlichkeit  und  den 
Anstand  der  verurtheilenden  Richter  sprechende  Erzählung  »nicht 
ganz  unwahr  sei«,  wenn  man  sie  mit  den  Briefen  Bernhardt  870 
und  189  vergleiche. 

Mit  Bernhard  beginnt  die  erste  vollständige  Trennung  des  Scho- 
lasticismns  und  Mysticismus,  welche  sich  noch  in  Jobannes  Scotus 
Erigena  und  Andern  vereinigt  zeigen.  Wenn  auch  der  Mystiker,  Hugo 
tod  St.  Victor,  ein  edler  uud  roligiöser  Charakter,  der  Wissenschaft 


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20 


Weber:  Allgemeine  Weltgeschichte. 


noch  gerecht  ist,  so  zeigt  sich  doch  in  den  spätem  Victorinern, 
wie  gefährlich  die  von  Bornhard  begonnene  Lostrennung  des  Glau- 
bens von  der  Vernunft  durch  die  maasslosen  Sch wärmere ieu  der 
Phantasie  wird.  Bichard  v.  St.  Victor  (gest.  1173)  bezeichnet  in  seiner 
Schrift  de  arca  mystica  (1.  1,  c.  6)  als  den  sechsten  und  höchsten 
Grad  der  Contemplation  den  Zustand,  in  welchen  die  Seele  das  schaut, 
»was  über  die  Vernunft  ist  und  was  ausser  der  Vernunft  oder  auch 
gegen  die  Vernunft  zu  sein  scheint.  In  dieser  höchsten  und  wür- 
digsten Höhe  aller  Betrachtungen  triumphirt  und  jubelt  wahrhaft 
die  Seele,  wenn  sie  durch  die  göttliche  Erleuchtung  erkennt  und 
betrachtet,  wogegen  sich  die  menschliche  Vernunft  empört.  So  ist 
beinahe  Alles,  was  man  uns  über  die  Dreieinigkeit  der  Personen 
zu  glauben  befiehlt,  was,  wenn  man  die  menschliche  Vernunft  be- 
rathet,  nicht  anders  als  ihr  zu  widersprechen  scheint.«  Walter  von 
St.  Victor  (1180)  endlich  nannte  die  vier  berühmtesten  Scholasti- 
ker seiner  Zeit  die  vier  Labyrinthe  Frankreichs  und  sagt,  sie  seien 
»  von  einem  aristotelischen  Geiste  angeweht,  indem  sie  das  Un- 
aussprechliche der  Dreieinigkeit  und  der  Menschwerdung  Gottes 
mit  scholastischem  Leichtsinne  behandelten,  sie  hätten  einst  viele 
Ketzereien  ausgespieen  (evomuisse)  und  ihre  Irrthümer  keimten  noch 
immer  (pullulare),  man  solle  die  goldenen  Kälber  fliehen,  welche 
jene  mit  ihren  Gemüthern  ruchlos  den  Christen  zum  Anbeten  vor- 
setzen, man  müsse  jene  spitzfindigsten  Wortgefechte  derselben  aus- 
pfeifen ;  ihre  Streitigkeiten  seien  stinkende  und  ganz  unbrauchbare 
Spinnengewebe ,  in  welchen  die  Teufel  mit  den  Kälbern  Samaria's 
spielen,  and  nur  dumme  Mücken,  die  Söhne  die  Verderbens,  unter- 
gingen, man  müsse  die  Atome  und  Kegeln  jener  Philosophon  als 
lächerlich  verachten  und  den  Bann  über  sie  aussprechen«  (cxcom- 
municamu8).  Er  spricht  von  dem  »Geiste  und  von  den  Beweis- 
gründen der  Teufel  (Daemoniorum) ,  welche  durch  den  Mund  der 
Ketzer  gehen,  man  müsse  sie  eher  auspfeifen  (exsufflanda) ,  als 
lesen,  weil  Alles,  was  von  Gott  geboron  ist,  die  Welt  überwindet.« 
Sehr  richtig  sagt  Heinrich  Schmid  in  der  »Geschichte  des  Mysti- 
oismus  des  Mittelalters  in  seiner  Entstehungsperiode«  S.  191  von 
Bernhard:  »Dialektik,  Metaphysik  und  überhaupt  alle  Philosophie 
war  ihm  verhasst  und  verächtlioh.  Er  folgte  lieber  dem  unmittel- 
baren Antrieb  seiner  Begeisterung.  Seine  Sprache  ist  blühend, 
edel,  lebendig  und  fasslich.  Er  ist  voll  Witz  und  Bildern,  schildert 
die  zartesten  und  innersten  Verhältnisse  des  Menschen  wahr  und 
ergreifend,  und  seine  Ermahnungen  und  Warnungen  sind  ergreifend 
und  hinreissend.  Aber  das  überströmende  Gefühl  führt  ihn  bis- 
weilen zur  Empfindelei,  Künstelei  und  zur  Schwulst.« 

Ausgezeichnet  ist  die  Schilderung  des  Zeitalters  der  Kreuzzttge 
und  der  Hohenstaufen,  treffend  die  Charakteristik  Friedrichs  I. 
und  Heinrichs  VI.  Mit  dem  zu  Palermo  am  28.  September  1197 
erfolgten  Tode  Heinrichs  VI.  »wurde  der  Lebensbaum  des  deutschen 
Kaiserthums  in  seinem  kräftigsten  Wachsthum  zerschlagen  und  ge- 


< 


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PomponluB  Mel».  Ed.  G.  Parthey.  21 

feßt«  So  ist  die  schwierigere  Hälfte  des  für  die  gebildeten  Stände 
unseres  deutschen  Volkes  so  überaus  lehrreichen  nnd  anziehenden 
Werkes  vollendet.  Möge  es  dem  Herrn  Verf.,  der  sich  einer  blühenden 
Kraft  des  Körpers  und  Geistes  erfreut,  ein  günstiges  Geschick  ver- 
gönnen baldmöglichst  den  Schluss  des  Mittelalters  nnd  die  Geschichte 
der  Neuzeit  hinzuzufügen !  Möge  der  mit  Heinrichs  VI.  Untergang 
»zerschlagene  nnd  gefällte  Lebensbaum  des  deutschen  Kaiserthums« 
in  unserer  einer  neuen  Entwicklung  entgegen  gehenden  Zeit  als 
Lebensbaum  der  Einheit  und  Freiheit  unseres  deutschen  Volkes  neu 
erstehen!  v.  Reichlin-Meldegg. 


Pomponii  Melae  de  Choroqraphia  libritres.  Ad  Ubrorum  manu 
gcriplorum  fidem  edidit  notisque  criticU  instruxit  Qustavus 
Parthey.  Berolini.  In  aedibus  Friderici  Nicolai  (A.  Eifert 
et  L.  Lindtner).  1867.  XXIX  und  247  8.  in  gr.  8. 

Es  ist  bereits  mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  verflossen,  seit 
der  Schriftsteller,  dessen  neue  Ausgabe  wir  hier  anzeigen,  keiner 
neuen  Bearbeitung  sich  erfreut  bat,  wie  er  sie  doch  wahrhaftig 
verdient,  schon  aus  dem  Grunde,  als  er  eigentlich  der  einzige 
Schriftsteller  auf  dem  Gebiete  der  Geographie  ist,  der  uns  noch 
aus  der  alten  römischen  Welt  erhalten  ist.  Seit  der  grösseren  und 
kleineren  Ausgabe  von  Tzschucke  (1807  ff.  und  1816)  und  dem 
Zweibrücker  Abdruck  (1809),  um  von  dem  Taucbniz'schen  Stereo- 
typabdmck  (1831)  nicht  zu  reden,  hat  man  sich  kaum  diesem 
wichtigen  Schriftsteller  zugewendet,  bei  dem  er  sich  doch  vor  Allem 
nm  einen  sicheren,  der  ältesten  handschriftlichen  Ueberlieferong 
entsprechenden  Text  handelt,  welcher  als  Grundlage  jeder  weiteren 
daran  geknüpften  sachlichen  •  Forschung  zu  dienen  hat.  Wenn  diesa 
bisher  minder  der  Fall  war,  so  hat  man  sich  um  so  mehr  zu  freuen, 
diesem  Mangel  durch  vorliegende  Ausgabe  jetzt  abgeholfen  zu  sehen, 
und  wenn  Jemand  zu  einem  solchen  Unternehmen  berufen  war,  so 
war  es  gewiss  der  Herausgeber,  der  auf  dem  Gebiete  der  alten 
Geographie  sich  durch  so  manche  Leistungen  ausgezeichnet  hat, 
and  durch  die  vorliegende  neue  Bearbeitung  des  Mela  sich  erneuer- 
ten Anspruch  auf  unsern  Dank  erworben  hat.  Er  hat  sich  dabei 
zunächst  auf  den  Text  dieses  Schriftstellers  beschränkt,  weil  diess 
das  erste  und  notwendigste  war;  hoffen  wir,  dass  er  auch  später 
es  nicht  an  näherer  Erklärung  zur  richtigen  Auffassung  und  zum 
besseren  Verständniss  eines  Schriftstellers  werde  fehlen  lassen,  von 
dem  er  selbst  bei  seinen  verschiedenen  Forschungen  über  einzelne 
Gebiete  der  alten  Geographie  mehrfachen  Gebrauch  gemacht  hat, 
und  dessen  Benutzung  jetzt  durch  seine  Bemühungen  ein  sicheres 
Fundament  gewonnen  hat. 

Bekanntlich  fehlt  es  uns  nicht  an  Handschriften  des  Pompo- 
onw  Mela,  und  wenn  wir  nicht  irren,  zählt  Tzschucke  an  sechzig 


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Pompontas  Mela.  Ed.  G.  Parthey. 


derselben  auf  neben  hundert  und  vier  gedruckten  Ausgaben :  es 
fehlt  also  nicht  an  einem  reichen  Apparatus  criticus,  wenn  man 
auf  die  Masse  der  daraus  zusammengetragenen  Varianten  sucht, 
und  doch  ist  mit  den  meisten  derselben  nur  wenig  anzufangen, 
wenn  es  sich  um  Wiederherstellung  des  ursprünglich  von  Mela  selbst 
ausgegangenen  Textes  handelt  —  wie  es  doch  vor  Allem  unsere 
Aufgabe  sein  muss  — ■  indem  die  meisten  Handschriften  einer  sohon 
jüngeren  Zeit,  dem  vierzehnten,  ja  meist  dem  fünfzehnten  und  sech- 
zehnten Jahrhundert  angehören,  was  ihren  Werth  und  ihre  Be- 
nutzung verringern  muss,  wenn  nicht  in  ihnon  Copien  alteren  Hand- 
schriften vorliegen  und  diess  sich  irgend  wie  nachweisen  lasst.  Eine 
Ausnahme  daran  macht  die  Vatikaner  Handschrift  Nr.  4929,  über 
welche   früher   von  Pressel  im  Rhein.  Mus.  N.  F.  II.  p»  153  ff. 
oine  kurze  Mittheilung  gegeben  worden  war.    Um  so  mehr  war  es 
dem  Herausgeber  angelegen,  von  dieser  Handschrift,  wie  von  den 
übrigen  zu  Rom  in  der  Vaticana  befindlichen  Handschriften  ge- 
naue Auskunft  und  genaue  Collation  zu  erhalten ,  und  es  ist  ihm 
diess  auch  gelungen,  indem  ein  anderer  Gelehrter,  Adolph  Michaelis, 
diese  Handschriften  an  Ort  und  Stelle  verglichen ,  und  über  diu 
Beschaffenheit  derselben  eiuen  genauen  Bericht  erstattet  hat,  wel- 
chen der  Herausgeber  in  dem  Vorwort  S.  Xff.  mittheilt.    Wir  er- 
sehen daraus,  so  wie  auch  aus  der  weiter  über  die  andern  vom 
Herausgeber  benutzten  Handschriften  gegebenen  Mittheilung,  dass 
jene  Handschrift  des  Vaticans ,  welche  dem  neunten  oder  zehnten 
Jahrhundert,  also  noch  dem  Karolingischen  Zeitalter  angehört,  und 
welche  auch  noch  Anderes,  Bcachtenswertho  enthalt,  wohl  als  die 
letzte  Quelle  der  handschriftliehen  Ueberlieferung  anzusehen  ist, 
über  welche  wir  bei  der  Kritik  des  Textes  nicht  hinauskommen  ; 
woher  sie  stammt,  wissen  wir  nicht,  ausser  dass  sie  aus  dem  Nach- 
lass  des  Cardinal  Sirlet  (f  1681),  der  selbst  Bibliothekar  der  Va- 
ticana unter  Pius  IV.  geworden  war,  erkauft,  spater  in  die  Vati- 
cana kam.  In  derselben  findet  sich  unter  dem  Text  des  Mola  die- 
selbe Unterschrift,  welche  auch  dem  unmittelbar  vorausgehenden 
Stück  der  Excerpte  des  T.  Probus  (aus  Valerius  Maximus;  siebe 
Halm's  Ausgabe  p.  487,  wo  auch  dieselbe  Subscription  aus  einer 
Berner  Handschrift  angeführt  ist,  welche  in  den  Ausgang  des  neun- 
ten Jahrhunderts  verlegt  wird)  beigefügt  ist:   »Fl.  Rusticiue 
Helpidius  Domnulus  V.  0.  et  spö.  com.  consistor.  emendaui 
Rabennae.«  Hiernach  haben  wir  also  in  dieser  Handschrift  den  Text 
des  Mela  nach  einer  von  Rusticius  Helpidius  gemachten  Revision 
oder  Recension  Vor  uns,  welche,  wenn  wir  anders  über  das  Alter 
dieses  angesehenen  Mannes  nur  einigermasson  im  Reinen  sind,  in 
das  vierte  ohristliche  Jahrhundert  fallen  mag:  über  den  Text  die- 
ser Recension  hinauszukommen,   wird    nicht   möglich  sein:  wir 
wollen  uns  zufrieden  geben,  wenn  es  gelingt,  diese  Recension  wieder 
herzustellen,  und  diess  wird  bei  diesem  Schriftsteller,  dessen  Text 
zumal  in  den  Namen  zahlreiche  Verderbnisse  bietet,   nur  duroh 


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Pompontui  MeU.  Ed.  G.  Partbey.  28 

diese  vatikanische  Handschrift  möglich  sein,  indem  ausser  derselben 
nur  noch  ein  aus  ganz  junger  Zeit  stammender  Codex  Ottobonianus 
1549  in  Betracht  kommen  kann,  insofern  er  eine  davon  genommeue 
Abschrift  enthalt,  sowie  eine  andere  vatikanische  Handschrift  aus 
dem  vierzehnten  Jahrhundert  Cod.  Reginae  581,  in  welcher  die- 
selbe Subscription  des  Helpidius,  etwas  abgekürzt,  am  Ende  des 
ersten  Buches  sich  findet.  Die  übrigen  hier  verzeichneten  Hand- 
schriften des  Vatikans,  darunter  auch  ein  Palalinus  (Heidelberger) 
1567,  welcher  ursprünglich  nach  Mainz  gehörte,  bieten,  da  sie  alle 
neueren  Ursprungs  sind,  im  Ganzen  nur  wenig  Erhebliches;  eben 
so  wenig  erscheinen  die  andern  für  diese  Ausgabe  verglichenen  und 
benutzten  Handschriften  von  besonderem  Belang,  zwei  Florentiner, 
▼on  Th.  Heyse  verglichen,  eine  Prager,  verglichen  von  Professor 
Pauly,  eine  Berliner,  Wolfenbüttler,  Leipziger  und  Breslauer,  deren 
Vergleichung  der  Herausgeber  selbst  besorgte,  sie  fallen  sämmtlioh 
in  das  vierzehnte  oder  fünfzehnte  Jahrhundert:  und  wenn  die  Re- 
sultate ihrer  Vergleichung  nicht  von  dem  Einflnss  auf  die  Herstel- 
lung des  Textes  waren,  so  sind  sie  doch  ein  dankbar  anzuerken- 
nendes Zeichen  der  Umsicht  und  Sorgfalt,  mit  weloher  der  Heraus- 
geber sein  Werk  unternommen  hat.  Andere  Handschriften  von 
Belang,  als  die  hier  aufgeführten  oder  früher  von  Tzschucke  be- 
nutzten, sind  uns  auch  in  der  That  nicht  bekannt ;  die  Dictata 
des  Peter  Burmann,  Ising  und  eines  Dritten  zu  Pomponius  Mela, 
welche  sioh  handschriftlich  auf  der  Bibliothek  zu  Gent  befinden, 
enthalten  keine  Mittheilungen  aus  Handschriften,  sondern  sind  nach- 
geschriebene Collegienhefte,  darnach  schwerlich  für  die  Kritik  des 
Pomponius  Mela  von  irgend  einer  Bedeutung ;  s.  Jules  Saint  Genois : 
Catalogue  des  Mss.  de  la  bibliotheque  de  Grand.  I.  p.  2.  Dass  der 
Herausgeber  auch  nicht  die  gedruckten  Ausgaben  vernachlässigen 
werde,  war  zu  erwarten,  um  so  mehr ,  als  es  eben  sein  Bestreben 
war,  einen  sicheren,  von  den  zahlreichen  Veränderungen  der  ein- 
zelnen Herausgeber  freien,  also  einen  urkundlich  beglaubigten  Text, 
so  weit  als  möglich  herzustellen :  was,  wie  schon  bemerkt,  nur  mit 
Hülfe  jener  vatikaner  Handschrift  und  der  beiden  daraus  abgelei- 
teten möglich  ist. 

In  der  Praefatio  hat  der  Herausgeber  zuerst  die  wenigen  Daten 
hervorgehoben ,  welche  über  das  Leben  des  Pomponius  Mela  noch 
vorliegen,  und  zwar  zunächst  in  dem  (unterlassenen  Werke  selbst. 
Wenn  über  seine  Lebenszeit  kaum  eine  andere  Stelle,  als  III,  6,  4 
oder  nach  vorliegender  Ausgabe  §.  49*),  eine  Auskunft  gibt,  so 
liest  es  der  Verf.  unentschieden,  ob  in  dieser  Stelle  an  den  Triumph 


* Hier  heisst  es :  „Britannia  qualis  eit  qualesqne  progeneret  mex  cer- 
tiora  et  zn&gis  explorata  dicentur;  quippe  tamdiu  clausam  aperit  ecce  prin- 
elpum  maximuB,  uec  indomttarum  modo  ante  ße  verum  ignotarum  quoque 
gentium  \lctor,  propriarum  rcvum  fidem  ut  hello  affectavit,  ita  triampho 
decUrmturuB  portal 


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24 


Poroponius  Mela.  Ed.  O.  Parthey 


des  Caligula  im  Jahr  40  p.  Chr.  oder  an  den  des  Claudius  im 
Jahr  43  p.  Chr.  zu  denken  sei,  mit  allem  Recht  aber  verwirft  er 
die  Behauptung,  welche  hier  an  Julius  Casar  denken  will ;  sollen 
wir  uns  entscheiden,  so  würden  wir  hier  mit  Tzschucke  unbedenk- 
lich an  den  Triumph  des  Kaiser  Claudius  denken,  auf  dessen  Zeit 
auch  noch  einige  andere  Spuren  fuhren  (S.  XII  bei  Tzschucke),  und 
für  dessen  Feldzug  und  Triumph  das  bestimmte  Zeugniss  des  Sue- 
tonius  Vit.  Claud.  17  vorliegt,  während  von  einem  Triumph  des 
Caligula  in  Folge  eines  britannischen  Feldzugs  keine  Spur  vorhan- 
den ist :  denn  was  Suetonins  Calig.  43  ff.  berichtet,  namentlich  auch 
von  dem  beabsichtigten  Triumph  (cap.  48.  49),  kann  hierher  in 
keiner  Weise  gezogen  werden.  Wenn  wir  also  mit  gutem  Grunde 
die  Abfassung  dieses  geographischen  Abrisses  unter  die  Regierungs- 
zeit des  Claudius,  um  40  p  Chr.  setzen,  so  können  wir  damit  nicht 
ganz  in  Uebereinstimmung  bringen,  wenn  es  hier  S.  VIII  heisst : 
dass  Mela  »non  multum  post  Nepotis  terapora«  geschrieben  habe, 
wegen  der  Stelle  III,  §.  45  wo  > Cornelius  Nepos,  ut  recentior, 
auetoritate  sie  certior«  citirt  werde.  Allein  in  dieser  Stelle  wird 
Cornelius  Nepos  ut  recentior,  dem  Homer  entgegengesetzt*), 
so  dass  daraus  wohl  kein  näherer  Grund  für  die  Destimmuug  des 
Zeitalters  des  Pomponius  Mela  entnommen  werden  kann.  Nicht 
anders  und  ganz  allgemein  wird  daher  auch  die  weiter  unten  §.  90 
vorkommende  Erwähnung  des  »Eudoxus  quidam  avorum  nostrorum 
temporibus  cum  Latbyrum  regem  Alexandriae  profugeret«  etc.  zu 
nehmen  sein,  da  Ptolemäns  Lathyrus  zwischen  117  —  81  v.  Chr. 
regierte.  Da  nun  Cornelius  Nepos  seinen  Freund  Attikus,  welcher 
32  v  Chr.  starb,  zwar  überlebt,  aber  kaum  noch  viele  Jahre  wei- 
ter gelebt  hat,  sondern  bald  nach  der  Schlacht  bei  Actium  (31  v. 
Chr.)  in  den  ersten  Rcgieruugsjabren  des  Augnstus  wahrscheinlich 
gestorben  ist,  so  dürfte  immerhin  doch  mehr  als  ein  halbes  Jahr- 
hundort zwischen  Mola  und  Cornelius  Nepos  in  der  Mitte  liegen. 
Dass  aber  Mela  in  kein  späteres  Zeitalter,  als  das  des  Claudius 
gesetzt  werden  darf,  erscheint  durch  die  einfache  und  correct«* 
Sprache  des  Mela,  seine  ganze  Darstellungs-  und  Ausdrucksweisc 
hinreichend  gesichert  ,  und  unser  Herausgeber  sagt  nicht  zu  viel» 
wenn  er  in  dieser  Hinsicht  schreibt:  »Commondatur  Melae  über 
perspieuitate,  concinnitate,  ubertate«  (p.  VIII):  Mela  hat  dabei  in 
seiner  Darstellung  ungemein  Vieles  zusammengedrängt,  und  dabei 
doch  eine  gewisse  Gleichmässigkeit  in  der  Beschreibung  der  ver- 
schiedenen Theile  der  Weit  beobachtet,  aus  der  man  sieht,  dass 
das  Ganze  fliit  einer  gewissen  Kunst  und  nach  einem  bestimmten 
Plan  angelegt  und  ausgeführt  worden  ist;  und  dass  es  auch,  so  wie 


*)  Die  Stelle  lautet  III,  5,  8  oder  §.  46:  „8ed  praeter  physicos  Ho/nc- 
rumque  qul  Universum  orbem  mari  circumfusum  esse  dixerunt,  Cornelius 
Nepos  ut  recentior,  ita  auetoritate  certior,  teste m  autem  rei  Q.  Metellum 
Celerem  adjiclt  eumque  ita  retulisse  commemorat"  etc. 


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PomponiüB  Melft.  Ed.  O.  Parthey. 


es  aus  der  Hand  des  Autors  gekommen ,  als  ein  in  Allem  wohl 
abgerundetes  Ganze,  jetzt  noch  uns  vorliegt,  dürfte  eben  so  wenig 
einem  7iweifel  unterliegen:  dass  es  in  der  Absicht  des  Autors  ge- 
legen, nach  der  Vollendung  dieses  kleineren  Compendiums  der 
Geographie,  noch  eiue  ausführlichere  Darstellung  zu  gebe«,  scheinen 
die  Worte  der  Vorrede:  »dicara  autem  alias  plura  et  ex- 
actius,  nunc  ut  quaeque  erunt  clarissime  et  strictim«  wohl  an- 
iudeuten,  bo  wenig  wir  auch  über  die  Ausführung  dieses  Planes 
irgend  Etwas  wissen,  und  wohl  mit  Grund  annehmen  dürfen,  dass 
der  Vorsatz  unausgeführt  geblieben  ist,  was  wir  nur  bedauern 
können.  Was  die  Frage  nach  den  Quellen  des  Mela  betrifft,  so 
hat  sich  der  Herausgeber  über  diesen  Pnukt  nicht  weiter  erklärt, 
znmal  anch  Tzscbucke  diosen  Puukt  bereits  näher  besprochen  hatte: 
dass  unter  den  griechischen  Autoren  vorzugsweise  Herodotus  be- 
nutzt worden  ist,  dessen  Worte  oft  fast  wörtlich  wiedergegeben 
sind,  spricht  gewiss  für  die  Glaubwürdigkeit  des  Mela  und  sein 
Streben,  nur  sichern  und  verlässigen  Quellen  zu  folgen :  dass  er  in 
dem  Einzelnen  der  Beschreibung  einer  vor  ihm  liegenden  Land- 
karte gefolgt,  glaubt  der  Herausgeber  ans  der  Beschreibung  selbst 
zu  erkennen,  was  bei  der  Verbreitung  von  Landkarten  in  der  römi- 
schen Welt  seit  Augustus  Zeit  wohl  möglich  sein  kann. 

Den  grösseren  Theil  der  Vorrede  nimmt  eine  genaue  Beschreibung 
der  bei  dieser  Ausgabe  benutzten  kritischen  Hülfsmittel  ein,  welche  wir 
schon  oben  genannt  haben,  und  ist  dieser  Beschreibung  eine  Tafel 
beigefügt,  welche  übersichtlich  an  einigen  Beispielen,  welche  die  Les- 
arten sämmtlicber  Handschriften  enthalten,  das  Verhältniss  derselben 
zu  einander,  aber  auch  die  Verderbniss,  die  namentlich  in  den  Eigen- 
namen fast  durchgängig  herrscht,  darlegt.  Darauf  folgt  der  nach 
diesen  Hülfsmitteln  hergestellte  Text  bis  8.  86  incl.  und  dann 
die  Notae  criticae  in  Melam,  welohe  die  Zusammenstellung  des  aus 
jenen  Handschriften ,  so  wie  aus  der  Vergleichung  der  Hauptaus- 
-,raben  hervorgegangenen  kritischen  Apparates  enthalten  und  damit 
dem  Texte  selbst  seine  Grundlage  verleihen.  Hier  zeigt  sich  nun 
gleich  in  der  Aufschrift  des  ganzen  Werkes  eine  Abweichung  von 
den  bisherigen  Herausgebern,  welche  nach  den  Anfangsworten  der 
Vorrede  (»orbis  situm  dicere  aggredior«)  die  Aufschrift  De  situ 
orbis  dem  Ganzen  gegeben  haben,  welche  Aufschrift  anch  in  jün- 
geren Handschriften,  wie  die  oben  genannte  Prager  vorkommt: 
diese  bisher  gewöhnliche  Aufschrift,  die  aber  schon  darum  schwer- 
lich als  die  von  Mela  selbst  gesetzte  anzusehen  ist,  bat  hier  der 
Aufschrift  der  ältesten  vatikaner  Handschrift  De  chorographia 
(wofür  die  andere  Vatikaner  De  cosmographia,  jedoch  von 
neuerer  Hand  bietet)  Platz  machen  müssen,  und  damit  stimmt  selbst 
die  Berliner  überein,  während  die  Wolfenbüttler  und  Leipziger  D  o 
cosmographia  enthalten.  Wir  halten  unbedingt  De  choro- 
graphia  für  das  richtige,  weil  diese  Aufschrift  zudem,  was  Mela 
geben  wollte,  ond  auch  in  diesem  Abriss  wirklich  gegeben  hat, 


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26  Pomponiqs  Mela.  Ed.  G.  Parthey. 


ganz  passt,  der  fremde  griechische  Titel  aber  um  so  weniger  be- 
fremden kann,  als  schon  lange  Zeit  zuvor  unter  demselben  Titel 
ein  poetisches  Werk  desVarro  Atacinus  angeführt  wird:  De  cho- 
rographia,  was  jedenfalls  zeigen  kann,  dass  eine  derartige  Be- 
zeichnungsweise der  römischen  Welt  nicht  fremd  war.    Wenn,  um 
ein  anderes  Beispiel  anzuführen,  schon  Tzschucke  die  am  Schluss 
von  I,  1  (hier  I,  §.  8)  vor  »ultra  quidquid  est  Asia  est«  in  den 
Handschriften  folgenden  Worte:    »ad  Nilum  Africam,  ad  Tanain 
Europen«  als  ein  Glossem  erkannte  und  dieses  durch  den  Einschluss 
in  eckige  Klaramern  bezeichnete,  so  hat  unser  Herausgeber  diese 
Worte  jetzt,  und  wohl  mit  Recht,  ganz  aus  dem  Texte  gelassen, 
da  sie  in  der  vatikaner  Handschrift  im  Texte  sich  auch  nicht  fin- 
den, sondern  unten  am  Rande  beigefügt  sind.    Dass  namentlich 
manche  Eigennamen,  zunächst  Völkernamen  eine  andere  Gestalt 
erhalten  haben,  mag  an  einigen  Beispielen  gezeigt  werden.  In  der 
Beschreibung  Asiens  I,  2  werden  §.  5  als  Bewohner  der  inneren 
Landstriche  genannt:    »Gandari  et  Paricani,  et  Bactri,  Sugdiani, 
Harmatotrophi,  Comarae,  Comani,  Paropamisii,  Dahae  super  Scytbas 
Scytharumque  desorta«,  wie  der  von  Tzschucke  gegebene  Text  lau- 
tot. In  vorliegender  Ausgabe  ist  statt  Paricani  gesetzt  Pari- 
ani,  was  alle  Handschriften  bieten  und  selbst  die  Codices  bei 
Plinius  Hist.  Nat.  VI,  48;  und  ist  das  schleppende  et,  das  vor 
und    nach  diesem  Worte  folgt ,    gleichfalls  weggefallen ;  ferner 
statt  Sugdiani,  was  Voss  und  Tzschucke  setzten ,  was  aber  in 
keiner  Handschrift  steht,   ist   gesetzt  Subsiani,  was  fast  alle 
Handschriften  (die  Prager  hat  Susiani)  bringen;  anch  das  gleich- 
falls in  keiner  Handschrift  vorkommende  Harmatotrophi  ist 
ersetzt  durch  Pharmacotrophi,  wie  die  Mehrzahl  dor  Hand- 
schriften bringt;  eben  so  Comarae  ersetzt  durch  das  handschrift- 
liche Chomarae  und  Comani  durch  Choamani;  ganz  ver- 
schwunden sind  die  von  Voss  und  Tzschucke  eingefügten  Paro- 
pamisii, die  ebenfalls  in  keiner  Handschrift  stehen,  an  ihre  Stelle 
ist  getreten  Ropanes,  was  die  meisten  Codd.  geben,  einige  auch 
rophanes.    Und  lesen  wir  weiter,  so  finden  wir  bei  Tzschucke: 
»Super  Amazonas  et  Hyporboreos  Cimraorii,  Zygi,  Honiochae,  Gor- 
gippi,  Moschi,  Cercetae  Toretae,  Arimphaei  atque  ubi  in  nostra 
raaria  tractus  excedit,  Medi,  Armenii,  Coramagoni,  Murrani,  Veneti, 
Cappadoces,  Gallograeci«  etc.;  in  vorliegender  Ausgabe  sind  die 
Zygi  mit  allem  Recht  ganz  verschwunden,  und  ist  dafür  das  hand- 
schriftliche und  richtige  Cissi  gesetzt,  statt  der  von  Tzschucke 
gesetzten  Heniochae  (die  auch  ohne  handschriftliche  Gewähr  sind) 
stehen  Anthiacae,  wie  die  Mehrzahl  der  Handschriften  bietet; 
statt  der  Gorgippi  ist  nach  den  Handschriften  gesetzt  Geor- 
gili,  eben  so  statt  Cercetae  das  handschriftliche  Cor  sitae 
und  statt  Toretae,  was  in  keiner  Handschrift  steht,  Phoristao, 
wio  fast  alle  Cudd.  haben;  an  dio  Stelle  vou  Arimphaei,  was 
ebenfalls  in  keiner  Handschrift  vorkommt,  ist  das  handschriftliche 


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Pomponiua  Mcia.  Ed.  G.  Partbey. 


27 


Rimphaces  getreten.    Es  mag  aus  diesen  Proben  sattsam  er- 
hellen, wie  es  mit  der  handschriftlichen  Beglaubigung  dos  früheren 
Textes  steht,  namentlich  in  den  geographischen  Namen,  die  doch 
gerade  in  einem  geographischen  Handbuch  besondere  Bedeutung 
ansprechen :  es  wird  daraus  auch  erhellen,  dass  es  keine  Unwahr- 
heit ist,  wenn  der  Herausgeber  S.  IX  schreibt,  bei  der  genaueren 
Durchsicht  der  gedruckten  Texte  habe  er  wahrgenommen:  »Melam 
minus  ad  codicum  fidem,  quam  ad  editorum,  raaxime  Vossii  arbi- 
trium  esse  emendatum«,  und  wenn  er  dann  hinzufügt:  ^quare 
operae  pretinm  duxi,  auctorem  istum,  geographiae  romanao  fontem 
praecipuum  ad  librorum  germanas  lectiones  revocare«,  so  wird  man 
darin  kein  geringes  Verdienst  erkennen,  zumal  selbst  da,  wo  der 
Name  an  einer  Verderbniss  leidet,  doch  nun  eine  sichere  Grund- 
lage gegeben  ist,  von  welcher  jede  Verbesserung  auszugehen  hat. 
Denn  dass  selbst  der  Vaticanus  und  die  ihm  zunächst  stehenden 
Handschriften  von  Verderbnissen  verschiedener  Art  frei  sind,  wird 
Niemand  behaupten  wollen.  So  lassen  z.  ß  alle  Handschriften  IU, 
9  §.  5  (§.  94)  in  den  Worten:  »Ultra  hnnc  sinum  mons  altus,  ut 
Graeci  vocant,  ®sav  o%r]{ia  perpetuis  ignibus  flagratc,  das  zweite 
griechische  Wort  weg,  indem  sie  blos  theon  geben,  was  daher 
auch  in  dieser  Ausgabe  allein  erscheint,  während  nach  theon  in 
dem  Original  noch  jedenfalls  ein  Wort  gefolgt  sein  muss,  was  früh- 
zeitig ausgefallen  sein  wird,  und  eben  nach  Strabo,  Plinius  u.  A. 
nicht  wohl  ein  anderes,  als  ochema  (o^jflK«)  soin  kann.  In  dem- 
selben Abschnitt  ist  auf  gleiche  Weise  die  handschriftliche  Lesart 
an  mehreren  Stellen  hergestellt,  wie  §.  9  desselben  Capitels  oder 
§.99  bei  Parthey,  wo  wir  nun  lesen:  »contra  eosdem  sunt  insulae 
Dorcades,  domus  ut  aiunt  aliquando  Gorgonum«  statt  Gor- 
gades,  wie  Voss  und  Tzschucke,  freilich  ohne  alle  handschrift- 
liehe Autorität  gesetzt  haben;  eben  so  III,  10  §.3  oder  §.  103, 
wo  die  H  im  ant  opodes  und  Pharusii  dem  bandschriftlichen 
Scimantopodes  und  Pharusi   gewichen  sind;  im  folgonden 
§.  104  ist  beibehalten:  >binc  iam  laetiores  agri  amoenique  saltus 
terote  berini  ebore  abundant«  was  Lesart  der  Vatikaner  und 
einiger  andern  Codd.  ist,  bei  Tzschncke  in  »citro,  terebintho  et 
ebore«  verwandelt;  in  den  unmittelbar  folgenden  Worten:  »Zigri- 
tamm    Gaetulorumque  passim  vagantium  ne  Htora  quidem  infe- 
ennda  sunt«  ist  ebenfalls  Zigritarum  nach  der  Vatikaner  und 
andern  Handschriften  aufgenommen  statt  Nigritarum,  was  Voss 
und  Tzschucke  haben,  was  aber  der  handschriftlichen  Beglaubigung 
entbehrt;  dasselbe  ist  der  Fall  I,  4,  3  oder  §.  22  wo  ebenfalls 
Zigritao  hergestellt  ist  statt   Nigritae  und  Carusii  statt 
Pharusii.  Endlich,  um  noch  einen  Fall  der  Art  anzuführen,  ist 
in  der  Stelle,  wo  Mela  seine  Heimath  angibt  II,  6,  9  oder  §.  9G 
Tingentera,  was  die  meisten  Codd.  haben,  belassen,  und  tum, 
du  diese  Handschriften  daran  hängen,  dem  folgenden  Satz  zuge- 
wesen. 


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Demosthfnis  Or.  t*eptio.  Ree.  Voemel. 


Man  mag  aus  diesen  wenigen  Proben  ersehen,  mit  welcher 
Gewissenhaftigkeit  in  der  Behandlung  des  Textes,  dem  vorgesteck- 
ten Ziele  gemäss,  verfahren  worden  ist:  es  sind  daher  auch  die 
griechischen  Namen,  die  in  der  ältesten  vatikaner  Handschrift,  so 
wie  in  andern  mit  lateinischen  Buchstaben  geschrieben  sind  ,  hier 
gleichfalls  in  diesen  wiedergegeben  und  überhaupt  in  Allem  mög- 
lichste Treue  erstrebt;  es  sind  desshalb  auch  im  Texte  alle  Worte, 
die  nicht  auf  handschriftlicher  Grundlage  beruhen ,  durch  vorge- 
setzte Sternchen  bezeichnet,  und  da  die  äusserst  sorgfältige  Zu- 
sammenstellung des  kritischen  Apparates  in  den  notae  criticae  jeden 
Aufschluss  und  Nachweis  über  die  Bildung  des  Textes  gewährt,  so 
ist  damit  jede  Sicherheit  für  die  Benutzung  desselben  gegeben,  und 
somit  der  Zweck  der  ganzen  Ausgabe,  wie  wir  ihn  vorher  mit  den 
eigenen  Worten  des  Heransgebers  angegeben  haben,  erreicht.  Zur 
Bequemlichkeit  des  Gebrauchs  dient  der  über  alle  in  Mela's  Schrift 
vorkommende  Eigennamen,  Personen-  wie  Orts-  und  Ländernamen 
sich  verbreitende  Index,  und  auch  sonst  ist  in  der  Anordnung  der 
notae  criticae  Nichts  versäumt,  was  die  Benutzung  und  den  Ge- 
brauch erleichtern  kann.  Chr.  Kühr. 


drjno6frevr)g  ngog  AfTtxCvr\v.  Demosthenis  oratio  adverms  Leptinem 
cum  arnumentis  qraece  et  lotine.  Recensuit  cum  apparatu 
critico  copiosistsimo  edidit  Dr.  J,  Th.  Voetnelius.  TÄpsiae 
in  aedibus  /?.  0.  Teubnerl  1866.  VJll  u.  200  8.  8. 

Die  Einrichtung  und  Toxtesbehandlung  dieser  Ausgabe  ist  die 
nämliche  wie  in  den  von  uns  in  diesen  Jahrbüchern  (1868.  Nr.  21) 
angezeigten  beiden  Reden  des  Demosthenes  gegen  Aeschines.  Mit 
gewohnter  Umsicht  und  Gewissenhaftigkeit  hat  der  Herausgeber 
von  der  ihm  zu  Gebote  gestandenen  kritischen  Ausrüstung  Gebrauch 
gemacht.  Eine  erhöhete  diplomatische  Beglaubigung  verschaffte  er 
sich  durch  eine  nochmalige  Vergleichung  des  cod.  27,  welche  Herr 
Meunier  und  des  Florentiner  cod.  Laurentianus ,  welche  Herr  Wil- 
manns,  beide  an  Ort  und  Stelle,  besorgt  und  ihm  zur  Verfügung 
gestellt  haben.  Bei  Feststellung  des  Textes  stützt  sich  Herr 
V o e  m  el  vornehmlich  :  1)  in  dem  argumentum  Libanii  auf  17,  2)  in 
dem  argumentum  anonymi  auf  9,  3)  in  der  Rede  des  Demosthenes 
selbst  auf  24  Handschrilten.  Als  Vulgata  ist  in  dieser  Ausgabe 
diejenige  Lesart  anzusehen ,  wclcho  in  den  bei  einer  bohandelten 
Stelle  nicht  namentlich  angegebenen  Handschriften  und  Ausgaben 
enthalten  ist. 

Wie  in  seinen  Prolegomenen  zu  den  Contiones  und  den  Reden 
gegen  Aeschines,  so  hat  der  Herausgeber  auch  in  dieser  Leptiuea 
bewiesen,  dass  er  mit  des  Redners  Art  und  Kunst,  mit  seiner  Ge- 
dankenbewogung  und  Satzbildung,  mit  seinen  Wendungen  und  Ueber- 


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Demosthenia  Or.  Leptln.  Ree  Voemel. 


fangen  innig  vertraut  ist  und  dass  er  sich  bemüht  hat,  in  Kritik  und 
Interpretation  nach  den  bewährten  Grundsätzen  zu  verfahren,  welche 
Wittenbach  yit.  Ruhnken  p.  220  ausspricht:  Plurimum  valet  et  ad 
emendaudum  et  ad  judicandum,  frequente  lectione  scriptoris  cum 
eo  familiaritatem  contrahere,  ejusque  dicendi  cogitandique  forma 
et  quasi  sono  tritas  aures  et  sensum  exercitatum  afferre,  ut  quovis 
loco  menti  statim  subjiciat,  quid  scriptoris  consuetudo  et  ingenium 
poätulet  quid  respuat.  Schon  in  unserer  früheren  Anzeige  Heidelb. 
Jahrb.  1863.  S.  328  hatten  wir  bemerkt,  dass  Voemels  Prolego- 
meca  zu  den  Contiones  Demosth.  schätzbare  Beiträge  zu  einer 
Grammatik  des  Deraosthenes  und  damit  zugleich  normative  Be- 
stimmungen über  Wortformen,  Orthographie,  Flexion  u.  m.  ent- 
halten, welche  theils  aus  den  Lesarten  des  cod.  2J,  theils  aus  über- 
einstimmenden Regeln  alter  Sprachgelehrten  geschöpft  sind  und 
einen  geeigneten  Massstab  für  Feststellung  des  Textes  abgeben. 
Demzufolge  richtet  sich  Voemel  auch  hier  wie  in  seinen  früheren 
Bearbeitungen  vorzugsweise  nach  dem  cod.  2J  und  demnächst  nach 
dem  jenen  controllirenden  Laurentianus,  mit  welchen  oft  auch  die 
Vulgata  übereinstimmt;  doch  nicht  unbedingt  und  unbeschränkt 
gilt  die  Autorität  jenes  codex  primarius.  Während  er  an  vielen 
Stellen  allein  allen  übrigen  Handschriften  vorgezogen  ist,  wird  er 
an  andern  Stellen  verworfen,  wo  er  offenbar  lehlerhaft  ist  oder  den 
erwähnten  Text  normen  widerspricht.  Wer  den  Demostheues  kennt, 
wird  bestätigen,  dass  die  Weglassungen  des  cod.  27  grossentheils 
wohlbegründete  sind  und  den  reineren  Text  wiedergeben.  Wo  eine 
Wortform  vorgezogen  ist,  da  ist  Correctheit  nachgewiesen.  Weg- 
lassungen  sind  zu  billigen,  wo  die  classische  Einfachheit,  die  Küt  zo 
und  Kraft,  die  ernste  Würde  des  Stils  durch  die  ausführliche; ro 
Lesart  beeinträchtigt  erscheint,  wo  Zuthat  sich  verräth,  welche 
nicht  verschönert,  sondern  abschwächt,  wie  sich  dann  Rhetoren  z.  B. 
Hermogenes  Einschiebsel  erweislich  erlaubt  haben. 

Gar  oft  ist  die  Redegewalt  und  Kuust  nur  in  jenen  kürzeren 
Lesarten  erhalten.    Den  Hiatus  hat  Voemel  weit  Öfter  vermieden 
als  27  und  als  Dindorf.    Vielleicht  ist  hier  mancher  Vokal  nicht 
ausgesprochen  aber  doch  geschrieben  worden.  Andererseits  hat  der 
cod.  27  auch  hie  und  da  Worte,  die  in  anderen  Texten  fehlen, 
aber  aus  guten  Gründen  aufnahmswürdig  sind,  und  zwar  theils  des 
Zusammenhangs  theils  des  Stils  wegen,  da  z.  B.  rhetorisch  empha- 
tische Stelleu  nicht  für  mterpolirt  zu  halten  sind.    Mehrere  Stellen 
dieser  Art  hat  der  Herausgeber  in  seinen  Prolegomenen  S.  230 
vertheidigt.  Wir  werden  dieselben  an  ihrem  Orte  besprechen.  Ver- 
gleichen wir  den  von  Voemel  festgestellten  Text  mit  dem  verbrei- 
teten Dindorf  sehen,  so  finden  wir,  abgesehen  von  zahlreichen  auch 
in  27  vorkommenden  Hiatus,  noch  mehrere  theilweise  bedeutende 
Verschiedenheiten.  Wir  haben  überhaupt  zu  unterscheiden :  1)  Weg- 
\**siwgen  im  cod.  27.  2)  Zugaben  in  27.  3)  Missbilligte  Lesarten  in 
21  4)  Vorgezogene  Lesarten  des  27. 


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80 


Demothenie  Or.  Leptin.  Kec.  Voemel. 


Wir  stellen  nun  vorerst  eine  Anzahl  gleichartiger  Fälle,  so- 
wohl Weglassungen  als  Zugaben  der  besagten  Handschrift  zusam 
men,  lassen  die  bedeutenderen  Abweichungen  von  Dindorf  folgeu, 
und  verbinden  damit  einige  Bemerkungen,  um  deren  freundlicho 
Würdigung  bittend. 

1)  Weglassungen  (berechtigte)  in  £  theilwoise  auch  in  ande- 
ren codd. 

Weggelassen  ist: 

§.  2.  afpsCXexo  nach  ovmo  xovg  ^ovraff.  §.  3.  y  zwischen 
ixetv  av.  §.  4.  xi]g  doQiäg  nach  xvQlovg  rjficcg  elvai.  6.  xal  vor 
dt  ixslvo.  Es  ist  schon  in  nötig  dl  xovxa  enthalten,  deshalb  von 
Bckker  ausgostossen.  §.  15.  vofiov  nach  naoovxog.  ib.  xal  xfj 
ßeßaioxrrxi  nach  xrj  dl  «flg.  Das  Wort  ist  nicht  demosthenisch 
und  würde  die  Antithese  schwachen.  §.  18.  ov  nach  tyevdog  av 
wie  §.  20.  <&avri<S6iai  afyov  ohne  ov.  §.  18.  xal  AgiöxoysCxovog 
nach  'Ag^odiov.  Voemel  folgt  dem  cod.  2J  und  beruft  sich  auf^de 
f.  leg.  §.  230.  §.  20.  iöxai  nach  drt  xi  xovx\  §.  22.  rj  nach  av- 
ftooTtoi.  §.  24,  rj  nach  q>rjaovaiv.  §.  25.  ovxoiv  nach  ayad-otv 
§.  26.  iaxl  nach  &e&u,ivoig  rjfiav.  §.  24.  xsxrija&ai  nach  xgoitov. 
§.  31.  xal  nach  aXXa.  §.  37.  iaxi  bei  TteTtottjxoxeg.  §.  43.  paXXov 
vor  (pavsgog.  §.  46.  tJfurg  bei  itoulv  sv.  §.  50.  avxr)v  nach  itoietv. 
§.  54.  i}  vor  dgr)vr\.  §.  55.  (pavrj6o(xsd-a  nach  xaxot.  §.  56.  Oti 
dfl  nicht  o^flfc  §.  57.  xqivo^isvov  bei  dd|r;.  §.  68.  ävrjg  nach  oy- 
tog  dann  xov  vor  iteigaiwg  und  rov$  vor  jrooTfpoi/.  §.  69.  xav 
vor  jravrcoi/.  §.  73.  xovg  vor  öxsilfO^ivovg  und  das  von  Dindorf 
beibehaltene  AaxedaipovCovg  nach  Xiysxai.  §.  74.  vjta£  nach  6V 
df^ovr.  §.  80.  fifcv  nach  imaxacdsxa.  §.  82.  xai  nach  ovdsvog. 
§.  87.  ovrot  vor  twftV,  da  wie  §.  116.  118.  das  Subject  in  ovg 
enthalten.  §.  90.  detv  nach  äsxo.  §.  100.  nach  av.  §.  102.  *fOg 
Aiog  nach  fiot.  §.  106.  inaivetv  ohne  ^.  §.  121.  r)  vor  anavxag. 
§.  124.  fehlt  ij  vor  yLtO^av  ebend.  plv  vor  izovqgov  ifrog.  §.  135. 
tjJv  vor  J^fUÄV  und  £rt  vor  xaraAa?r£tcH.  §.  139.  avxa  vor  radt- 
x^'ftara.  §.  140.  oöa  iöxv  nach  ft^ftv.  §.  153.  f*h/  nach  i>o'{i«. 
§.  154.  toV  bei  novrigbv. 

2)  Zugaben  oder  Beibehaltungen  in  E  theilweise  auch  in  an- 
deren codd.  , 

§.  I.  <og  vor  ai>.  §.30.  das  doppelte  fiiv.  §.35.  av  vor  o  vo- 
fiog,  von  Dindorf  weggelassen.  §.  93.  iv  vor  to/£  (aptt^oxoW. 
§.  84.  vor  avÖQEQ.  §.  104.  vor  rfr^urjfxoras.  §.  111.  ffS 
o^yapzfos  xai  fotfjrow&g  nach  jwyaAot.  §  125.  at  %0QVj[y£at  xal  al 
yv^vacutg%Cau  §.  139.  <Jjcoä<ö  dl  xal  xovxo.  §.141.  noutts. 
§. 155.  ist  cäff  X9V  vor  zu  streichen,  obschon  27  u.  a.  diese 

Worte  haben.  §.  161.  og  vitegixrjg  r]v. 

3)  Missbilligte  Lesarten  in  £. 

§.  15.  ayfoslxf.  §.30.  rjjuv  und  §.  54.  jtgoöjxei.  §.53. 

^rv.  §.  87.  Weggelassen  tcm/  vor  ^ptov.  §.  99.  w<qv.  §.  108. 


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Demoethento  Or.  Leptin.  Ree.  Voemel.  81 

Weggelassen  rcov  zwischen  ulv  und  öicc.  §.  109.  urft  jj^iag.  §.  128. 
XQaoiyQatlfav  axsXrj.  §.  135.  fehlendes  i%sw  nach  öoxovvxcw.  %.  138. 
«lityouug  statt  afrooovg.  §.  147.  (as%<ov.  §.  158.  duoxTUVvvvai 
und  qjuv.  §.  163.  (tej*«fi/<w.  §.  33.  0€VÖa6ucv. 

4)  Richtige  Lesarten  in  E. 

§.  4.  dt«  rot).  §.  7.  rov£  und  §.  8.  xovxcov.  §.  8.  ijg.  §.  10. 
uw)ku6av.  §.  25.  öutuslvcu.  §.  33.  erJeQyBTtjxsv.  §.  43.  £V£py&ip;o. 
§.  44.  avros.  §.  67.  nrtTovg  nicht  jrÄa<Ttoi;s.  §.  69.  uovu  ohne 
tcn».  §.  91.  rd&g  —  or  av.  §.  90.  oJero  ohne  fori/.  §.  105.  iuol 
di).  %.  109.  negl  tov  ye.  §.  115.  evitoosi.  §.  117.  ro  y  diorgov. 
§.  138.  xQi&dvta.  §.  139.  xaAos  tcöV.  §  139.  naget  TadixifuccTa 
ohne  enrra.  §.  120.  dueXte.  §.  126.  ivxuv&ol. 

Wir  wollen  nun  eine  Anzahl  wichtigerer  Stellen,  namentlich 
solche,  wo  Voemel  von  D in do  rf  abweicht,  näher  erörtern. 

§.  1.  chuoXoyr]Oa  Tovroig,  cog  av  oUg  t  cJ  aweaetv.  Mit 
Recht  ist  ©£,  welches  dem  Sprachgebrauche  und  der  Bescheiden- 
heit im  Eingange  der  Rede  angemessen  ist,  beibehalten. 

—  svgoudvovg  wie  §.  60.  159  f.  leg.  339  besser  als  evqci- 
pdvovg  oder  evQTjudvovg. 

§.  2.  iv  dl  tcö  TtQogyQailxu  urjös  to  komov  d&tvcu  Öovvcu 
vpag  to  öovvcu  vulv  i^uvai  (d<puXsto)  die  Worte  vu.  i£.  haben 
H.  und  F.  A.  Wolf,  sowie  Dindorf  beseitigen  wollen.    Allein  gute 
Handschriften  enthalten  sie,  und  Demetrius  de  elooutione  246  führt 
sie  an.  Auch  §.  60  hat  utjöb  to  Xoiitov  ifelvcu  öovvcu.  Und  §.  4 
legt  der  Redner  Gewicht  auf  die  Befugniss  des  Demos  >to  xvqlov^ 
■fLiäg  alvai  indem  Leptines  Gesetzvorschlag  den  Athenern  sogar  das 
Recht  und  die  Befugniss  der  Schenkung  (to  öovvcu  v\iXv  i&lvai) 
entziehen  wollte,  was  ihnen  jedenfalls  anstössig  sein  musste.  Eher 
dürfte  man  das  erste  öovvcu  streichen,  wenn  es  nicht  oin  mtegri- 
render  Bestandteil  der  Gesetzformel  wäre.  S.  Schäfer  u.  Benseier 
z.  8t.    Allerdings  möchte  man  bei  erstem  Lesen  ein  Einschiebsel 
verrauthen,  allein  da  die  verdächtigen  Worte  in  2  und  einigen 
anderen  Handschriften  stehen,  und  der  Redner  die  Worte  des  Ge- 
setzes vollständig  wie  sie  lauteten  wiederzugeben  hatte,  so  müssen 
diese  beibehalten  werden.    So  stehen  die  einander  bestimmenden 
Infinitiven  beisammen  §.  5.  i&Zvcu  tipfjöcu.    Beispiele  solcher  bei 
Dem.  häufigen  Zusammenstellung  haben  wir  angemerkt  aus  §.  14. 
Avcixskiotaoov  eivcu  xrp  itohv  itsitsix  dvat  Amxlvrp  opoiov 
avxfi  yevda&cu  öoxsiv  rj  —  TteTtsfo&ai  ouofav  elvou  xovxu. 
§.  16.  a\ov  xivog  slvcu  xiuäö&cu.  §.25.  öoxetv  dtecutivea.  §.  51. 
tvJLaßrjfrijvcu  ad&ttflm.  §.  111.  i&dXuv  dxovsiv.  §.  125.  acpeXto- 
&ui  Tcslöcu.  §.  143.  dÖixslv  TzaQeaxevaö&cu.  §.  2.  xoy  avxov  rpd- 
xovy  ovntg  xovg  i%ovxag  trp/  Öaoeav  avaiCovg  ivoyutpv ,  ovtca 
xul  zov  dtjgjLOv  ävd&ov  rjyttto  xvqlov  slvcu  tov  öovvcu.  Nach 
i%ovxag  wurde  früher  cupsCXato,  statt  ivoyu&v  aber  vo^Ctßw  und 
tu  cuvtov  nach  öovvcu  gelesen.  Schon  im  Jahre  1861  hatte  Voemel 


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32 


Demosthenia  Or.  Leptin.  Ree.  Voemel. 


in  seinem  Programm :  Critica  ad  Demosthenis  Leptineam  p.  8  seine 
jetzige  Textlesart  nach  2J  empfohlen.  Klotz  meinte,  dtpulexo  — 
ivopi&v  sei  ein  in  lebhaftem  Unwillen  gesprochenes  Ayndeton, 
dessen  Härte  Andere  durch  ein  vor  ävafyovg  eingeschaltetes  xal 
mildern  wollten.  Jedoch  muss  bemerkt  werden,  dass  Dindorf  be- 
reits in  seiner  Ausgabe  von  1855  den  Text  ganz  so,  wie  er  jetzt 
bei  Voemel  lautet,  hergestellt  hatte.  §.  4.  7t(3g  (nicht  oncog)  xovxo 
(irt  iteiöoyLsd'a.  und  to  xvQiovg  ypäg  elvai  lesen  mit  Recht  Din- 
dorf und  Voemel.  §.  5.  Öuc  xov  navxekag  dxvQOvg  ytvia&ai, 
nicht  rd,  was  Dindorf  vorzog;  to  scheint  aus  dem  §.  6  folgenden 
öY  ixflvo  entstanden  zu  sein,  welches  aber  selbst  erst  auf  das 
nachstehende  diu  xi  antwortet.  Hier  ist  tov  als  iustrumentale 
besser  als  to  causale. 

§.  7.  xatafii^tpofisvov  xovg  (Dind.  xivag)  int  xalg  vnao- 
ypvGaig  öoQsalg^  xovg  ^pifoY^ous  ovxag  xdv  xiaav  anoaxagetv 
Im  cod.  2J  steht  xovg.  Vergl.  g.  1.  2.  xuTuui'uij  ist  s.  v.  a. 
xaxtjyoQOVVta  (§.  2).  Statt  ijtl  xatg  vn.  dag.  hätte  Demost.  sagen 
können :  xag  ÖOQsdg  evQoue'vovg.  Der  bestimmte  Artikel  ermög- 
licht die  Fassung  als  wären  alle  mit  Steuerbefreiung  belohnte  un- 
würdig nach  §.  2  ft  (irj  xiveg  dkkd  ndvxeg  rjaav  dvd&oi.  Erst 
später  werden  xiveg  (einige)  den  xgr\6xotg  entgegengesetzt.  Wollte 
man  schon  an  unserer  Stelle  xivag  statt  xovg  zulassen,  so  würde 
sieh  der  Gedanke  müssig  wiederholen.  §.  7.  dvd^ioi  xaxd  xov 
xovxcov  koyov  eiciv.  Leptines  und  Genossen  sind  zusammenbe- 
griffen daher  xovxo v.  So  27  Laurs.  Vulg.  Zwar  wendet  Dindorf, 
die  Lesart  xovxo v  vorziehend  ein:  »Quod  in  libris  plerisque  est 
xovz&v  etsi  de  Leptine  ejusque  soeiis  intelligi  potest,  minus  tarnen 
apte  positum  foret  post  plura  alia  numeri  pluralis  nomina  quae 
praecedunt.  Inter  quae  nullnm  est  quod  Leptinis  sociorum  signi- 
ficationem  habeat.«  Hingegen  bemerkt  Voemel:  »At  cf.  f.  leg.  36. 
87.  150.  154.  Orator  digito  facie  toto  corpore  converso  ad  adver- 
sarios  satis  aperte  dicebat.  §.  7.  fiJjdh  nkiov  fidkkrj  prjdlv  slvai 
ist  mit  Recht  beibehalten.  §.  8.  d  (nicht  o  mit  Vulg.)  naoaxedeC- 
xafisv  avxotg,  xavx  (nicht  tovto  Vulg.)  dqpeX&pefrcc ;  Dindorf 
und  Voemel.  [Denn  gleich  darauf  folgt  xal  xovx%  ov  pixoav  fyptav 
6<pXqö€iv  fiikkovifav ,  was  um  so  entscheidender  ist,  als  hier  in 
keiner  Handschrift  tovto  vorkommt.] 

(ScMusb  folgt.) 


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Ii.  8.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR, 


Demosthenis  Or.  Leptin*  Ree.  Voemel. 


(Schlus8.) 

§.  15.  —  cS  pov(p  (istfcvg  d0t  —  xal  xovx  dcpaiostzai  (Dind. 
lULonzca.  Voemel  beruft  sich  auf  §.  17.  6  xrtv  ntaxiv  ä<paiQciv 
iQV  da>Q£G>v  (o  pLovc)  (ganz  wie  in  unserer  Stelle)  xQsCxxovg  tiolv 
cd  itaQ  vueör  dtofjtai',  xovx  d (pcuQSizat.  Den  Unterschied  erkennt 
man  aus  f.  leg.  §.  186  wo  beide  Verben  in  e  i  n  e  m  Satze  vorkom- 
men: 6  xovg  %oovovg  ävaiQav  ov  %Qovovg  ävrjQtjxsv  äXXa  ngäy- 
aor  axkag  äqprjgrjxai,  das  erstore  aufheben,  sistiren,  das  letztere 
gänzlich  abschaffen,  also  stärker.  §.15.  Trj  ply  yäg  zqsta 
ig  xöv  svgiöxopivav  tag  dngeäg  oC  xvgavvoi  —  (läkiöxa  Övvav- 
tai  Tuiuv.  S  Voemel  excurs.  p.  191,  wo  diese  Stelle  gegen  Mark- 
Und  und  Bake  vertheidigt  ist.  xij  %gda  heisst:  dem  Bedürf- 
nisse nach.  §.  15.  xij  phv  %Q&cc  —  zrj  Sh  tipf}.  Dindorf  setzt 
die  Lesart  derVulgata:  xal  t  fj  ßsßaLoxrjxt,  welche  Worte  in  JEwegge- 

m  ßeßai  f 

lassen,  in  Laur.  durch  xij  yBvvavoxn\xi  verdächtig  sind,  in  den 
Text.  Es  sind  aber  nur  zwei  Gegensätze,  %gsCa  und  ripq,  und 
J  daioz)^  ist  kein  demosthenischer  Ausdruck. 

§.  1 7.  rjg  äv  tivog  nohxüag  xo  xoiiC&ö&ai  xovg  evvovg  xotg 
za&eöxaHftv  %ägw  äv  (Dindorf  lässt  äv  weg)  i^ikfig^  ov  fuxgäv 
(fvXaxrjv  avxcSv  xavxrjv  äqjrjgrjx&g  iösi.  Dindorf  sagt:  %ägw  äv 
reeepta  optimorum  scriptura  soloecum  est*.  Westermann  vertheidigt 
es  als  eine  Epanalepsi  .  Voemel  vorgleicht  symnior.  §.  27.  oöa  yäg 
iv  vvv  nogCßaix  äv.  Aber  äv  ist  hier  =  wenn  und  ist  rheto- 
risch nachgesetzt,  wie  st  und  iäv  öfter  auch  in  unserer  Rede. 
§.  22.  xovg  agoxegov  itovrfiavxag  iäv  rjÖLxtjfiivovg  elöi].  §.  23. 
rag  tczsleiag  iäv  ätpikric&s.  §.  61.  ixuv&g  ei  Xoyfaaiti&s.  §.  79. 
uücv  (iev  %6hv  ei  —  änaketisv.  §.  130.  olg  ovx  äxovöxsov  äv 
\vavxia  xoXluc  keyeiv.  [L.  LB.] 

§.  18.  tftevdog  äv  tfavtuj.  Dind.  setzt  das  in  Vulg.  nach  äv 
folgende  ov  hinzu.  [Aber  dann  mtlsste  auch  §.  13.  mit  Cobet 
xotovrov  ov  gelesen  werden  [L.  LB].  Vgl.  Voemel  prol.gr.  §.96. 
In  27  fehlt  ov.  Vgl.  §.  20.  (pav^sxai  ä^ov.  f.  leg.  200.  xoiovxoq 
(paivBtai. 

§.  18.  ovg  iygaips  —  xovg  ä(p  'AgpodCov.  Die  Vulg.  setzt  hinzu 
xal  Agttixoytixovog ,  aufgenommen  von  Dindorf.  Aber  2  u.  ra. 
lassen  es  weg,  wofür  auch  f.  leg.  §.  280  spricht  wo  das  nämliche 
Wort  in  27  fehlt. 

•  «  •  •  * 

LX.  Jahrg.  1.  Heft.  3 


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84  Demosthenls  Or.  Leptln.!  R«c  Voemel. 


§.  20.  öx£t(;(6[i€&cc,  xi  xovxo  xfj  itoksi.  Dind.  setzt  iöxai  nach 
nokii  aus  Vnlg.  Voemel  vergleicht  Olynth.  3,  17  Phil.  I,  36. 

f.  B2.  %v  ovv  XQttKxovx*  KvftQGmoi  [fj  Dind.)  nkeCovg  —  ku- 
TOVQyrjöcMfiv.  Da  bereits  30  die  höchste  Zahl  ist  (Bake  will  ov 
nksCovg,  Westermann  will  r\  getilgt)  so  kann  sie  hier  dem  Zn- 
sammenhange nach  nicht  vergrössert  werden  sollen.  Nach  Voemel 
steht  itkstovg  fast  adverbial  [wie  pccAttfra?  LLßJ  und  damit  stimmt 
der  Scholiast:  oxav  nokkovg  ö<o(isv  iao^isvovg  xqiccxovxcc.  §.  22. 
iav  —  stdy.  So  aus  E  Voemel,  flfffl  aus  Vulg.  Dind. 

§.  24.  sl  Öl  v(prjQtj(ievov  yrjöovötv  tut  akkov.  Nach  ipfeov- 
aiv  hat  Dind.  ij,  welches  in  £  u.  m.  fehlt.  Der  Sinn  gewinnt  ohne 
i},  wie  Voemel  übersetzt:  sin  subtractum  arguent  aliquo  non  quo 
decet  modo.  Nicht  von  zwei  Vergehen,  sondern  von  einem  Dieb- 
stahl ist  die  Rede,  so  dass  xiv  akkov  xqojcov  als  Epexegese  zu 
\xpr\Qrniivov  anzusehen.    Zu  denken  bleibt  nolX  i%£LV. 

§.  25.  x&qIs  öl  xovxcav  vvvl  xfj  noku  övolv  aya&oiv  [ovxoiv 
Dind.]  xkovxov  [xe]  xal  xov  itgog  änavxag  nuSxsvia&ui  [pelQov] 
£öxl  %6  xfjs  itfaxeag  vxao%ov  [qftfv].  Früher  standen  die  einge- 
klammerten Worte  im  Texte,  sind  aber  mit  £  zu  streichen.  Der 
Kürze  wegen  begründen  wir  nur  die  Weglassung  des,  von  Dindorf 
beibehaltenen  ovxow.  Wenn  man  nehmlich  mit  letzterem  nach 
nokei  abtheilt,  ergibt  sich  als  Sinn:  Da  es  überhaupt  zwei  Güter 
gibt  ....  (S.  Voemel  Critica  in  Dem.  Lept.  p.  519)  während  der 
Zusammenhang  fordert:  eines  von  zwei  Stücken  die  als  Güter  an- 
zuerkennen sind,  steht  der  Stadt,  nämlich  das  Vertrauen,  zu  Gebote. 

§.  25.  xal  ßeßatoig  öoxslv  ÖiayisTvai  So  VI.  aus  Z1,  Ddf.  öia- 
fievstv.  VI.  bemerkt,  dass  »non  tempus  sed  simpliciter  actio 
significaturc  wie  §.  85.  Vom  Wechsel  der  Zeitformen  in  Demosthe- 
nes  handelt  VI.  Prol.  grr.  §.  98. 

§.  28.  öieigyjxsv  6  vopog  VI.  öifjorjxsv  Ddf.  wie  Dobree  und 
Westermann.  Das  erstere  ist:  diserte  et  accurate  constituit,  das 
zweite  =  unterscheidet.  Für  Voemels  Lesart  entscheidet  §.29. 
Öid  xo  yeyaafpfrai  iv  xm  voficy  avxov  öiaQQriÖrjy  prföiva  slvcu 
axekrj  fiij  öieiorjG&ai  öl,  oxov  dxekrj  (mit  £)  s.  v.  a.  öiaQQrjdijv 
kdysi. 

§.  30.  "Etixi  plv  ydg  yivei  (tlv  örjitov  6  Asvxarv  %ivog*  xfj  6s 
iiclq  vptov  novrfizi  itokCxrig.  Das  erste  fihv  ist  von  Dind.  gestri- 
chen. VI.  hat  es  beibehalten  aus  27.  Denn  durch  das  erste  ixhv 
stehen  ^ivog  und  Ttokfarjg,  durch  das  zweite  yivsi  und  itotrjöei  im 
Gegensatze.  Vgl.  Voemel  ad  f.  leg.  §.  42. 

§.  85.  olg  av  6  vopog  ßkdifretv  vp,äg  tpaCvexai.  Vgl.  Voem.  ad 
Dem.  Coron.  §.  147  über  T[v  mit  dem  Futur.  Inf.  In  nnsrer  Stelle 
vormissen  wir  eine  deutliche  Bezeichnung  der  codd.  welche  av  lesen, 
welches  Dind.  weggelassen.  In  Bekker:  anecd.  p.  127  ist  nngre 
Stelle  mit  av  angeführt. 

§.  88.  yott$ai  icotf  VI.  noxi  Ddf.  Brsterer  beruft  sich  auf 
f.  leg.  88.  143. 


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Or.  Leptfn.  Ree  Voemel.  8ö 


§.  43.  attog  av  äv&Qcojcog  wavefog  yivox  svvovg  <ov  vpfv 
ij  —  d  uccklov  ekoito.  Vor  tpavsQog  behält  Dind.  uäXXov,  was 
ia  £  u.  m.  fehlt.  Westermann  vertheidigt  es,  weil  es  sich  frage, 
wie  Jemand  sich  mehr  woblthätig  erweise.  Allein  mit  Recht  er- 
widert VL,  daes  rj  nicht  nnr  bei  einem  ausgesprochenen  Oo«*- 
parativ  gebraucht  werde,  sondern  überhaupt  nach  Verben  der  Aul- 
wahl und  Trennung,  und  vergleicht  Sallust.  Catfl.  30.  Servir*  quam 
imperare  parati  estis.  Die  Vergleichung  selbst  folgt  erat  hier  im 
zweiten  Giiede.  Vgl.  Voem.  Critic.  D.  p.  8. 

§.  51.  52.  53.  ist  die  Leeart  mfr  des  E  Laur.  zu  verwerfen 
und  171*1/  Torzuziehen.  Dind.  hat  1/ftTi/. 

§.  54.  slta  taüta  vvv  et  %Qr\  xvqi  elvai  öxotzovll&v;  ak£  o 
ioyog  aiayßog  totg  öxoxov^dvotg,  sl  tig  axovöeisv  cog  'Ab  ij  v  a  l  0  t 
öxoxovöiv.  Die  letzten  Worte  sind  nicht  mit  Dobree  au 


§.  56.  st  ug  ixetvovg  tovg  xaiQOvq  iädv  17  ticlquv  ij  xiv&g 
ddotog  Ötf&ovTog  ixovöag.  Hier  ist  Nichts  zu  verdächtigen.  J 
metaphorisch  »betrachtend«  ist  als  das  Generelle  zu 
dem  Tiagcoi'  und  ixovöag  als  Theile  unterzuordnen. 

§.  61.  ixeiv&g  ei  koyfaaLö&e  muss  zusammen  genommen 
eteuveog  zum  Vorausgehenden  gezogen  werden. 

§.  65.  tmv  al<5%U$x<av  iötlv  tag  dag  sag  —  xal  dy  kekupi- 
vae,  jetzt  schon  nichtig  geworden.  Vgl.  Voem.  h.  L  ..  §.67.  xal 
ytcQ  xxtl£  iyitir  EvJga£(irjv  av  iyoye  xclq  ifftfv  elvai  xlttöza, 
Kai  ardgag  äofatovg  xal  x 16 tovg  eveQyixaq  zijg  xoXe<og  mittag 
elvai.  80  aus  2J  Voemel.  Vulg.  nldözovg  hat  Ddf.  Der  Begriff  der 
je  ist  aber  aus  nUiöta  zu  wiederholen  wie  §.  162.  tov  rptij- 
TtolXag  xal  £dvovg  xal  xolevg  xextriiidvov. 
§.  71.  Kovcov  —  ixetifirj^rj.  Nach  £.  Ausser  anderen 
empfangenen  Ehren  wurde  er  noch  dazu  (ixl)  geehrt.  Den  Ge- 
brauch erhärtet  VL  aus  Phorm.  19.  Polyd.  6. 

§.  73.  axr^xoatB  ov  tQOXOv  ifyataxi\6ai  Uytxai  ...  In  S  fehlt 
das  von  Ddf.  beibehaltene  Aaxedaitiovtovg. 

§.  80.  ixBvöri  de  —  elkev%  —  ikaßev  —  axeqprjvev  —  iöttföev* 
xr\vixavza     ovx  e(5t ca.  xvqlk  tu  do&evta.  Hier  ist  d'  Bezeichnung 
Nachsatzes. 

§.  82.  ßeßcatog  tecog  tpaivetai  (pUoxofog.  VI.  erweist  die  ver- 
wende Bedeutung  von  nag. 
§.  83.  eW.  Ddf.  elta  mit  Hiatus  VI.  nach  Proleg.  95.  §.  119. 
§.  84.  vaetg  ^  VI.  0  Dd£ 

8.  91.  xal  yäo  tote  fikvy  tiag  tov  zqoxov  rovtov  dvopo&d» 
iow,  roig  (ihv  vxÖQyovöi  vofioig  ifßdivxo.  80  VI.  nach  seiner 
Feststellung  in  Proleg.  gr.  §.  132.  Ddf.  änderte  sog.  [VgL 
L  leg,  8.  026.  LLB].  Gleich  darauf  Ddf.  avzolg,  VI  aötotg  nach 
mwsxevaöav.  Gleich  darauf  Ddf.  Otav.  VI.  or  av  quandoeanque 
dem  ov  ccp  tqozov  entsprechend.   8.  die  Lesarten  §.  120.  Ebend, 


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Demoethento  Or.  Leptln.  Ree  VoemeL 


%oqoxov81xs  —  diaX£%ccvxag.  Hier  ist  inl  %qovov  mit  %eiQ.  zu  ver- 
binden. 

^.  92.  irq<pus^dxm>  Ö3  ovd'  oxiovv  dia<piQOv0iv  ot  v6(ioi,  dlX 
iXiaxsoov  ot  vofioi  xatf  ov$  xa  ilnjtpiopaxa  Öet  yodcpeGd-cu, 
xeov  4»](pLönciTcov  avxcov  vfjUv  efaiv.  Ddf.  hat  mit  den  codd.  vzco- 
ztQOL,  was  man  nicht  ohne  Verletzung  der  Wortbedeutung  zu  recht- 
fertigen suchte.  Es  liegt  aber  ein  offener  Widerspruch  vor.  Die 
Vorschrift  kann  nicht  jünger  sein  als  das,  was  uach  ihr  ausge- 
führt wird.  Vorübergehende  oder  dauernde  Geltung,  woran  Wolf 
und  Benseier  dachten,  thut  hier  nichts  zur  Sache.  Der  Sinn  fordert 
durchaus:  »erfolglos,  eitel,  kraftlos«  Schon  das  Relativ  xa&  ovs 
beweisst,  dass  gewisse  bestimmte  Gesetze  gemeint  sind,  die  das 
Verfahren  bei  Gesetzvorschlagen  regelten.  Einen  dem  Zusammen- 
hang vollkommen  eutspreebenden  Sinn  gibt  das  Citat  in  Bekkers 
An.  p.  178  dXuoxeoov  i.  q.  (iccxaioxsQOv ,  zugleich  den  spöttischen 
Ton  treffend.  S.  Voemel  Critic.  in  Lept.  p.  10.  sqq.  welcher 
richtig  erläutert:  si  invitis  de  rogatione  ferenda  legibus  perferun- 
tur  decreta,  haec  Ulis  magis  valent  et  irritae  sunt  leges  illae; 
deinde  quum  et  ipsa  decreta  nonnunquam  ut  Leptinea  rogatione 
accidit,  irrita  flaut,  his  certe  illae  sunt  magis  irritae. 

§.  93.  xeXevsi,  mxg  vuiv  iv  totg  vuauoxuoiv.  Ddi.  lässt  iv 
nach  dem  Vorgang  von  Wolf  und  Schäfer  weg,  wie  cod.  F.  Voem. 
weiset  darauf  hin,  dass  der  Redner  gerne  mit  Präpositionen  wech- 
selt Prol.  gr.  §.100  (pac.  12.  im  —  «g.  Phil.  3,  11.  inl— -e£g.) 

§.  95.  ä  xovxov  xov  vofwv  ycyouuutitcc  Ddf.  u.  A.  ziehen  die 
Stellung  xov  x.  v.  vor,  wogegen  aber  §.  30.  99. 

§.  100.  sloi  aoXXol  xqojioi  dt  rav,  av  ßovkiftaiy  ftetvcu  xov 
voyiov  avxov  dvayxdöei.  Ddf.  verbindet:  dp  ßovXrjxai  x.  v.  Es 
fragt  sich  von  welchem  Worte  ftetvai  regiert  wird.  Zu  ßovXrjxai 
ist  zu  denken  xo  xe&rjvai  xov  vofwv.  Möchte  der  Herr  Heraus- 
geber erklärt  haben,  warum  er  wie  Dind.  ßovXtjxai  ütivea  x.  v. 
verbinde,  und  doch  hinter  ßovXrjxai  iuterpungirt  habe. 

§.  104.  TtOLtig  y  ov  Xiyeig  xaxag  xovg  sv  xexeXsvxrptoxag. 
Dind.  ludst  mit  Laur.  Vulg.  ev  weg,  2J  enthält  es.  Obschou  näm- 
lich das  Gesetz  von  allen  Gestorbenen  handelt,  so  war  die  grösste 
Schuld  doch  die,  wenn  man  die  Pietät  gegen  gefallene  Vertheidi- 
ger  des  Vaterlandes  verletzte.  §.  80.  §.  104.  meint  Reiske  nach 
cpuöKtdv  einschalten  zu  müssen :  xaxi]yoQ<DV.  Wir  besprechen  die 
Stelle  unten  ausführlicher. 

§.  105.  xig  anrjy y s  X  X  i (ioi  neol  xov  firjdsvl  dstv  fitjöev  dt- 
dovcci.  So  aus  £  VI.  mit  Anführung  von  Mid.  36.  Coa.  38.  von 
unvollendeter  Handlung,  dagegen  Ddf.  mit  Vulg.  und  Laur.  a*jjy- 

§.  106.  d  xrj  itccQ  ixstvoig  nofaxHa  ovuyiotL  xavx  imuvciv 
dvdyxtj  xal  noielv.  Die  2  letzten  Worte  sind  nicht  zu  streichen. 
Sie  enthalten  eine  beissende  Rüge  »das  Rühmen  {inaivtiv)  genügt 
nicht,  man  muss  es  auch  thun«  [Man  denke  an  obiges  nvitjöovoi, 

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Demoethente  Or.  Leptin.  Reo.  Voemel.? 


soirtv.  ivrav&ot  VI.  nach  oodd.  und  prol.  gr.  §.  189.  ivxav&l 
eigenmächtig    pdf.]  §.  109.  xov  ys  besser  als  ys  xov. 

§.  111.  Öl  cov  psv  ixstvoi  fieyaXoL  (xrjg  oXiyao%iag  xal  ds<f- 
xmsCag)  hol  —  xav  anoxxstvat,  ßovXsö&at,  xov  nag  xovxcav 
xi  xaxaöxsvccGavxa.  Die  eingeschlossenen  Worte ,  von  Eeiske  ge- 
schützt, bat  Ddf.  weggeworfen.  Sie  stehen  in  27  Lanr.  nnd  allen 
codd.  und  sind  nicht  zu  entbehren  um  einen  klaren  Sinn  zu  er- 
halten, und  werden  von  Krüger  (ad  Dionys,  histor.  p.  469)  als 
Epexegese  von  di  <ov  gefasst.  Der  Genitiv  hängt  ab  von  ixstvoi 
eine  Versetzung  wie  §.  149  to*£  iv  Tlsigaist  xov  örj^iov.  [Solche 
Versetzungen  rhetorischer  Art  liebt  bes.  Lysias.  S.  m  e  i  n  e  Schrift : 
Lytias  Epitaphios  als  echt  erwiesen.  S.  78  dort  ist  die  Stelle  or. 
XIII,  40.  ixsivrj  ds  Jtv&opevr]  rjfiyisöpdvrj  xs  aiXav  Cfiaxiov  a<pix- 
Ptfrm  zu  ordnen,  daher  nicht  mit  Kaysor  xal  axoxsigafiivrj  ein- 
zusetzen LLB.] 

§.  115.  svnogsi  nach  prol.  gr.  §.  78.  s.  §.  43.  ifisXXs.  Ddf. 
hat  rjvitogsi.  §.  117.  xoy  a[ö%gbv  o^ioicog.  Man  ergänzt  mit  VL 
xoirjoai.  Ddf.  rouro,  da  xb  sich  zurtickbezieht  auf  xavrb  rovro, 
deshalb  ist  Artikel  richtig. 

§.  120.  Xsyco,  orav  (Dindf.  oxi  av)  ayiXrjöd's.  S.  z.  §.  9. 
ebend.  xi  yag  iörl  möroxsgov.  Vgl.  §.  43.  man  darf  nicht  hin- 
ter itiöxox.  interpnngiren,  denn  xi  ist  =  qu1  quatenus.  §  116.  145. 
§.  123.  Sia  tov  xmvds  (die  nach  Leptines  Unwürdigen)  xaxrjyogstv. 
So  deutet  der  R.  mit  dem  Finger  auf  die  zuvor  als  q>avXoi  be- 
zeichneten. §.  124.  ovx  si  x&v  itdvxav  adixyöoiisv  xwa  iisi^ova 
yj  iXaxxova  ösivov  iöriv.  Vor  pusifcovct  hat  Ddf.  aus  einigen  oodd. 

was  VI.  mit  £  Laur.  Vulg.  weglies.  Der  Sinn  ist  nicht  =  quidvis 
sondern  das  Grössere  oder  Kleinere  ist  betont. 

8.  125.  igovöiv  oxi  xccvx  Csgdav  iöxlv  anavxa  TavaXcouctxa 
(ai  ypQYiyiai  xal  at  yv\Lvao'iag%iai).  Die  eingeschlossenen  Worte 
sind  von  Wolf  und  Dindorf  verdächtiget.  Man  achte  jedoch  auf 
ifOkiv ,  denn  die  avaX.  sind  nach  §.  21.  25  dreierlei,  also  auch 
■otlc.öi;  mit,  wiewohl  letztere  nach  VI.  z.  d.  St.  nicht  durchaus 
hierher  gehörte,  und  mit  Recht  hier  tibergangen  ist,  indem  der  Be- 
griff von  Satavxa  beschränkt  werden  muss  auf  die  Choregie  und 
Gvmnasiarchie  >ne  quis  enm  (oratoreml  superlationis  ac  trajectio- 
nis  accusaret«.  VI.  versteht  die  verschiedenen  Gattungen  der  Chore- 
gie. Nicht  von  der  heiligen  Stener  (feo<nv),  sondern  von  den  Auf- 
lagen Xsixovgyiav)  gab  es  Befreiung. 

§.  127  xi  xovxo  pafrnv  ngoöiygatysv ;  Ddf.  ita&dbv.  Aber 
ua&t&v  anf  das  [ucfrog  bezogen  beschuldigt  der  Unbesonnenheit, 
nafrmv  der  Leidenschaftlichkeit.  §.  128.  TtXrjv  tsgmv.  VI.  vergleicht 
eoron.  40.  dass  hier  kein  Fragezeichen  zu  setzen. 

Ebend.  prjdeva  slvai  dxsXrj ,  itgoölyiiatysv  nXrjv  r.  «.  A. 
Man  darf  nicht  atsXrj  xgociy.  verbinden.  Denn  das  schrieb  er 
binzu;  ausgenommen  die  von  Harmodios  ....  ebend.  stys  xo  xcov 
Uqqv  tikog  £&*l  Xsixovgystv  =  stys  xä  Csga  xsXstv  xavxov  iäxi 


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De«othenifl  Or.  Luptin.  Ree.  Voemel. 


xcd  Xstrovoyitv,  was  §.127  ausgedrückt  ist:  sl  r\v  tsQcbv  axiktiav 
i%(LV  xavxo  xul  XstxovQyuov ,  denn  Heiligensteuer  mussten  Alte, 
auch  Harmodios  Nachkommen  geben:  ovdh  yap  xovxoig  axiXsux 
xwv  Uqwv  iüu  dtdofidvri  (§.  127). 

§.  129.  tag  Xtixovaytag  6x av  uvca  (pijg  xmv  teoimt  statt: 
xavtov  uvca  xccl  xä  Uqu.  eb.  uvö'  i%ov<siv  d.  h.  dxiXivav.  Die 
Coiijecturen  ovöe  xovxav  iypvtiiv  oder  tinstv  ijpvOiv  sind  abzu- 
weisen. Der  unterverstandene  Gegensatz  ist  ovx  ayaiott  »du  nimmst 
ihnen  die  Atelie  nicht  und  sie  haben  sie  ohnehin  nicht,  c  Mit  Ddf. 
axskug  elvat  zu  e%ov<Siv  zu  ergänzen  ist  hart. 

§.  130*  —  xcvog;  rt  tov  psxoixiov;  so  mit  Dobree  VI.  xivog 
r}.  t.  (i.  mit  den  codd.  Ddf.  welchem  wir  beitreten,  da  von  xwoq 
bis  (xer,  alt  ein  Satz  zu  fassen  ist. 

§.  131.  «  frooot  nach  Prol.  gr.  p.  91.  Zu  (pdüxovxsg  ergänze 
man:  axeXatg  elvai  vgl.  f.  leg.  19.  §.  132  die  tiqo&voi,  —  ÖovXog 
Avxidag  n.  diovvcvog  xal  reg  aXXog  jrp.  ytyovadiv  —  gehören 
unter  die  dvcfooi  §.  101.  §.  104.  112.  §.  134.  ovo*  av  et  xi  yi- 
voixo.  Markland  verlangt  ohne  Noth  ein  ov  vor  ovd. 

§.  135.  xaXag  xeov  doxovvxav  ist  die  bessere  ans  £  von  VI. 
entlehnte  Stellung«  Ddf.  xov  xaXag. 

§.  1S6.  fwydav  xovxo.  Des  Nachdrucks  wegen  ein  Zusatz  zum 
Vorausgehenden.  Nach  <pavrjö£6&s  setzt  VI.  nur  ein  Komma  statt, 
was  vorzuziehen,  ein  Semikolon.  §.  137  xax  avdga  xoi&ivxa  aus 
£  VI.  xQt&ivxag  Ddf.  exaGxov  xiva  als  je  einzeln  ist  betrachtet, 
nicht  die  Geeammtheit  xdvxag  ~  d&ooovg.  §.  139.  oxond)  dl  xal 
xovxo.  Mehre,  auch  Ddf.  streichen  diese  Worte.  Mit  Unrecht!  Das 
folgende  ort  hängt  ab  von  «Jtoj  nicht  von  Xoyov.  F.  A.  Wolf  sagt : 
»haec  verba  quam  nihil  hnc  faeiant  quum  caecus  sit  qui  non  videat 
piget  id  pluribus  verbis  demonstrare.«  Aber  von  xal  bis  Xoyov 
ist  Parenthese.  Und  erst  mit  dem  Folgenden  wird  die  Aufmerksam- 
keit anf  Erwägung  der  Sache  selbst  gerichtet  Zudem  finden  sich 
die  angefochtenen  Worte  in  allen  codd.  was  VI.  zwar  nicht  hier 
aber  in  seinen  Proleg.  crit  p.  231  bemerkt  hat4 

§.  240.  oxov  iiofö&xeQOv  (rfpojDdf)  iaxlv  i}  n6Xu$.  nach  2 
Laar,  wodurch  der  Hiatus  vermieden  ist. 

§.  141.  ixl  xoig  xeXsvxTjaaöi  (xdg  xaqjccg  noittxs  xal)  Xoyovg 
l**%atp(ov$.  Die  eingeschlossenen  Worte  hat  Ddf.  entfernt,  noistv 
xtupag  wird  gesagt  von  den  Behörden,  welche  die  Begräbnissfeier 
berathen  und  veranstalten,  noiovfievoi  sind  die  Begrabenden  sel- 
ber. Z  bat  xatg  xayalg  zalg  Ör^kOcCaig.  Unsere  Lesart  hat  Voem. 
einer  Randverbessenwg  des  27  aus  dem  eilften  Jahrhundert  entnom- 
men. Obechun  allerdings  auch  andere  Hellenen  öffentliche  Begräb- 
nisse ihrer  gefallenen  Krieger  hatten,  so  hielt  man  doch  nur  zu 
Athen  Xoyovg  imzaipürvg.  Vgl.  noch  Voemel  prolegg.  critic.  p.  233. 

§.  145.  d  piv  xotvvv  iyxaXwv  avxotg  Xeysig.  Als  antwortende 
Conjnnction  erklart  Voemel  xotwv  und  vergleicht  Xenoph.  Uyr.  1, 


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Demosthenis  Or.  Leptin.  Reo.  Voemel.  39 

§.  146.  *A%flvuv$  schreibt  Ddf.  mit  dem  8p.  lenis  Wj.  und 
ebenso  im  Index  Yoerael  zu  den  eontiones.  Warum?  ebend.  cacov- 

<5OTf  xal  axonelxB)  ersteres  vom  schnell  vorübergebend  Gehörten 
letzteres  von  längerem  Nachdenken.  Vgl.  §.  1637  167  und  über- 
haupt Voem.  prol.  97.  ^.  98  über  Abwechselung  der  Zeiten,  ebend. 
toit  sveöTiv  (td  tijg  dxtXuag),  xav  ixEiv &  ti  doftivtav.  F.  A» 
Wolf  verdächtigte  das  Eingeschlossene  als  ein  Glossem,  es  ist  aber 
Epeiegese  zu  tovto  und  tt  ist  von  H«  Wolf  gut  mit  ßigog  erklärt. 
§.  149  ytygaqiev  Ddf.  dafür  VI.  auf  coron.  79  sich  berufend  y 
lygaytv. 

§.  155.  xal  n  agav  o  Cag  do^av  alöxCöxrtv  xtj  tcoXbi  xccxccXsitul* 
So  iteht  in  den  codd.  Ddf.  ändert  xaQavoyUag  nach  Reiske  und  F.  A* 
Wolf  >  stnlte  mstieegue  oratorem  loqui  feecrimt  librarii  qui  dedenint 
zagavoCag.*  Allein  mit  Recht  bemerkt  VI.,  mit  welcher  Bitterkeit 
dar  Redner  die  Verkehrtheit  seiner  Zuhörer  "rjgtä  z.  B.  Phil.  III, 
54.  §.  153.  ytXolov  vofjup  avvdixstv  vvfwv  ö  ccvrovg  nagaßaCvitv. 
Räch  vopqy  hat  Ddf.  ans  Vnlg.  piv^  welches  in  27  u.  m.  fehlt. 

§.  158.  ccxoxxBivai  ulv  iv  ys  xotg  nag  rjpilv  yopoig  ifciütai. 
Ddf.  Vfrfv.  Unsere  Lesart  ist  in  £  Lanr.  Vnlg.  enthaltend 

§.  160.  prj  xal  tu  usXXovtol  jyfag.  Das  vorhergehende  xa  irgo 
xov  xccTfutßtpov  i.  e.  öwgrißuxa  bezieht  sich  auf  frühere  bewilligte 

Begünstigungen,  welche  dem  Leptines  missfielen.  Vgl.  8.  2. 

—  iE — & — h*  «n  — f  *  *  *   j     r  L- 

$.161.  ovo   —  TjXmaav  —  ixp  wog  ygtc^jiaxBcag  (og  vtct}- 

ohrjg  tfv)  TVQavvT}<Js6&cci.  Das  Eingeschlossene  hielt  Reiske  für 
interpolirt  und  Ddf,  hat  es  gestrichen.  Aber  Dionysios  heisst  ge- 
rade wegen  seines  Schreiberamtes  passend  vxrjgdxrjg.  Polyaen,  V> 
2,  2.  ^dtovvtfLog  Evgaxooioig  vitrjQsrav  xal  ygauixccTevcdv.  Demosth. 
oor.  §.  261.  ygaufiarsvsiv  xal  vxijgexelv  totg  ay%idloiQ.  Ebend. 
xvgavvTjöeo&ai  nicht  wie  Vulg.  tvgawrjfrqöcöfhxi  nach  der  Prol. 
gr,  §.  107  begründeten  Regel. 

Man  ersieht  aus  obigen  Textbegründungen,  dass  der  Herr 
Herausgeber  auch  in  dieser  Bearbeitung  die  Kenntniss  des  demos- 
thenischen  Sprachgebrauchs  unter  treuer  Benutzung  aller  früheren 
Leistungen  bereichert,  und  die  in  seinen  Prolegomenen  aufgestellten 
grammatischen  Regeln  weiter  bestätigt  hat.  Wenn  wir  uns  nun 
erlauben,  auch  unsrerseits  einige  Bemerkungen  hier  niederzulegen, 
so  geschieht  «lieses  nicht  sowohl  in  der  Absicht,  das  vorliegende 
Werk  zn  bemängeln  als  um  unsere  Theilnahme  für  die  Sache  zu 
bethätigen. 

§.  1.  steht  zweimal  tivexa,  ebenso  §.  2.  41.  88.  98  hingegen 
baut  §.  110.  tüvBxa  §.  117.  128.  aber  ivsxa  §.  110.  123.  dvexa 
fc,  145.  Der  §.  116  der  Prolegomena  gibt  keinen  Aufschluss.  wann 
die  starke  und  wann  die  schwache  Form  stehen  müsse.  Dindorf 
hat  allerwärts  svexa  geschrieben.  Die  Form  oi'oiua  (nach  2J)  wech- 
selt mit  oipai  erstere  §.  163.  98.  109.  120  letztere  §.  21.  23.  113 
und  scheint  die  vollere  Form  in  betonterer  Aussprache  vorgezogen 
worden  zu  sein*   §.  146.  steht  'Atyivuvg  (Dind.  mit  spir.  len.)  da- 


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40 


Demosthenis  Or.  Leptin.  Ree.  Voemel. 


gegen  'J&viia  in  Prol.  gr.  §.  50  die  Form  reXaQ%(p  ohne  An- 
gabe des  Grundes  der  von  Dindorf  beliebten  'JysX&Q%<p  §.  149 
vorgezogen. 

§.  58.  £V  dl  rj  dvo  dei%ag  hi  ^(piöfiata  aitaXXdxxo  pect, 
xov  itsgl  xovxav  Xiysiv.  Hier  steht  Präsens  statt  Futurum,  weil 
die  Handlung  unmittelbar  bevorsteht.  Vgl.  Philip.  1,  28.  xoiko  drj 
xal  itEQCcivG)  (nicht  tcbquv6  vulg.).  f.  leg.  §.32  xaxaßaCv(o.  Do- 
mosth.  symm.  22.  fisxä  xtxvxa  Xiyo.  Vergl.  Voemel  cont.  p  433. 
§.112.  wäre  ovdl  öixaiov  genau  ne  justum  quidem*  zu  tibersetzen. 
§.  116.  scheint  KQoyovoig  v^uov  'majorum  nostroruin  ein  Druck- 
fehler zu  sein.  Desgleichen  scheint  93.  (Cvvibxb  ov  xqoxov  6 
UoXav  xovg  vopovg  (6g  xccXag  xeXsvn)  nach  xsXbvu  das  Wort 
xiftivai  ausgefallen  zu  sein  durch  Druckfehler,  da  in  den  Anmer- 
kungen nichts  über  eine  handschriftliche  Auslassung  erwähnt  ist. 
Fehlte  das  Wort  in  irgend  einem  cod.,  so  wäre  etwa  die  Stelle 
ähnlich  wie  §.  90.  Sexo  mit  fehlendem  öetv  zu  beurtheilen. 

§.  104.  Tcjv  evsgysxav  x<ß  delvi  pefupoptvog  xal  xov  dtlv 
ävd^iov  rivai  qjdöxav,  (ov  ovölv  ixsivoig  xqoö  rjxsv.  Die 
vier  letzten  Worte  scheinen  von  keinem  Ausleger  bisher  richtig 
erklärt  zu  sein.  Reiske  meinte  nach  cpdöxav  einschalten  zu  müssen : 
xaxrjyoQ&v.  F.  A.  Wolf  erkannte  zwar,  dass  av  auf  idiupcö&at 
(^lefKpofisvov)  und  dvdfyov  dvai  (pdöxeiv  sich  beziehe,  aber  er 
lehrte  nicht,  was  unter  av  nQoörjxev  zu  verstehen.  Schäfer  be- 
hauptete, av  sei  Masculin  >qui  quae  deliquerunt  (d.  h.  der  nnd 
jener)  eorum  nihil  ad  illos  (die  Woblthäter)  pertinuit.c  Unwürdige 
Nachkommen  jener  Wohlverdienten  seien  gemeint.  Dindorf  wendete 
oin:  haec  sententia  obscurius  enunciata  foret  quam  ut  intelligi 
potuerit.  Dobree  verbesserte  und  Dindorf  setzte  wirklich  in  den 
Text:  av  (raascul.)  ovöelg  ovdev  ixeCvoig  7tooarjx€v  quorum  (i.  e. 
uvatyav)  nemo  cum  illis  horoibus  genero  conjunetus  erat.  Dies 
wäre  aber  der  Thatsache  widersprechend.  Ktesippos  des  unter  den 
Wohlthätern  vorzugsweise  namhaften  Chabrias  Sohn  war,  wenn 
7tQOöijx6V  von  der  Verwandtschaft  zu  verstehen  wäre,  ein  ecXrj&ag 
TtQoörjx&v.  Allein  der  Gegensatz  ist  nicht  der:  ob  verwandt  oder 
nicht,  sondern  ob  der  Atelie  würdig  oder  unwürdig.  Voemel  erklärt 
wie  Schäfer,  nur  noch  umfassender:  av  (mascul.)  quorum  repre- 
hensorum  vel  e  tuo  judicio  indignorum  nihil  (nulla  propinquitas, 
nulluni  facinus,  nulla  omnino  res)  ad  illos  bene  meritos  pertinebat. 
Zugleich  widerlegte  er  Schäfer  aus  f.  leg.  §.  183  beweisend,  dass 
ovdi  allerdings  für  ovöixsgov  stehen  könne  von  zweien.  Allein 
hier  liesse  sich  ja  ovdsv  umfassend  verstehen :  Nichts  von 
Allem  dem  worin  sich  jene  als  unwürdig  getadelte  verschuldet 
haben.«  Keine  dieser  Erklärungen  kann  befriedigen.  Der  Zusam- 
menhang fordert,  dass  von  einem  thatsächlichen  den  rühmlich  Ver- 
storbenen widerfahrenden  Unrecht  gesprochen  werde.  Dieses  Un- 
recht, welches  Leptines  beging  au  Verstorbenen  wie  Chabrias,  be- 
stand darin,  dass  er  behauptete,  »von  allen  jenen  Ehren  und  Aus- 


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I 


t 

Dexnosthenis  Or.  Leptio.  Ree.  Voemel.  41 

leicbnungen  gebühre  ibnen  keine.«  Daher  ist  av  Neutrum.  »Du 
erklärst  den  und  jenen  für  unwürdig  {ixelvcov  i.  e.  tiucov,  deogscov, 
cxdiefag)  jener  Schenkungen,  Auszeichnungen  als  von  welchen  (cov 
i.  q.  &g  ctv)  deiner  Ansicht  nach  keine  ihnen  gebührte.«  Hingegen 
müssen  Dobree,  Schäfer,  Voemel  unter  ov  ovÖlv  ein  rjfuxQrrpcivei, 
mxSg  noirjaai,  denken.  Unrichtig !  Zu  verstehen  sind  vielmehr  un- 
bestreitbar nach  §.  60.  tifuci,  dtdXsia,  tvegyaöia,  6ivq6$tg.  dtogsaU 
uvTjutta.  §.  60.  hlni<pl<3ccG&e  aneg  ytvyovöiv  evegy  ixaig  di 
vpag  ngoGrjxs,  ngo&vLav,  evegyedtav,  dxiXuav  anavxav.  §.107. 
Gziepavoi,  axdXuai,  öixrjösig. 

Vgl.  §.  112.  noX£  dydtf  tfgyaGuivoi  xiv\g  ovdevog  rfeovvxo 
TOiovrov.  §.  163.  öxdtpaö&s  nag1  aXXtßa  xal  Xoycöaö  fte  — 
clta  (pvXaxxext  xal  ^fivrjöd-e^  Nach  des  Herausgebers  Bemerkung 
zu  §.  146.  (dxoväaxe  xal  oxonetxe)  würde  man  XoyiQöd*  erwarten. 

§.  139.  dst  xexoXaöfi&'Ovg  avxovg  naget  xddixrjitaxa  (pac- 
i'M&ai.  Dindorf  hat  die  Lesart  nag  at)xd  xddixyuaxa  beibehal- 
ten. Aber  27  u.  m.  lassen  avxd  weg.  Letzteres  hiesse:  ipsis  recen- 
tibus  injuriis,  'gleich  nachdem  die  Vergehen  verübt  wurden.  Ohne 
avzd  ist  der  Sinn:  »während  die  Vergehen  fortwirken«,  für 
welche  Bedeutung  von  naget  sich  VI.  auf  coron.  §.  285  beruft,  wo 
aber  trag  avxd  xd  Ovußdvxa  steht.  Hier  ist  der  Ort,  den  be- 
merken swerthen  Gebrauch  von  naget  mit  dem  Accusativ  in  dieser 
Rede  abzuhandeln.  Ausser  unserer  Stelle  kommen  in  Betracht  §.  26. 
32.  41.  44.  55.  56.  86.  110.  111.  139.  142.  159.  160.  163.  Die 
Bedeutung,  welche  als  allgemeine  alle  Besonderheiten  umfasst,  ist 
las  Verbältniss  einer»  (mathematischen)  Angemessenheit,  Gleich- 
mäßigkeit. Daher  das  nach  Ort,  Zeit,  Länge,  Breito,  Grösse,  Zahl, 
Art,  Form  etc.  Angemessene.  Auch  in  den  Fällen ,  wo  es  mit 
praeter  gegeben  werden  mag,  ist  es  nicht  —  nXrjv  Ausnahme, 
sondern  »daneben,  obendrein,  auf  gleicher  Linie'.  Wir  gehen  aus 
von  §.  163  :  als  der  Normalstelle  GxityaOd'E  nag  aXXrjXa,  indem  zwei 
Stücke,  die  Annahme  und  die  Verwerfung  des  Gesetzes  neben 
einander  gelegt  und  die  möglichen  Folgen  gegenseitig  abge- 
messen werden.  Demnach  §.  26  naget  z.  dandvag  xal  ätp&ovt'ag 
im  Verbältniss  zu  den  Verwendungen  und  reichlichen  Leistungen. 
§.  32.  naget  t.  zgidxovxa  uvgidftag  ratione  trecentorum.  §.  41. 
rca  naget  xaiovxov  xaigbv  den  Zeitumständen  gemäss  =  in  solchen 
Zeiten.  §.  55.  rtana  tdg  %g£tag  den  Bedürfnissen  entsprechend. 

56.  naget  ndvxa.  z.  Xoyov  die  ganze  Länge  (Verlauf)  der  Rode 
hindurch.  §.  86.  naget  zeig  svsgyeöi'ag  die  ganze  Dauer  der  fort- 
wirkenden Wohlthaten.  §.  110.  naget  zavza  der  Zeitlänge  ange- 
messen, während  welcher  ihr  diese  Einrichtungen  habet.  §.  111. 
xaget  navza  zavza  neben  Allem  bisher  Angeführten  (Linie,  Reihe). 
§.  139  die  Zeitlänge  der  ddixrjuaxa.  Aehnlich  §.  159  wie  §.  44 
xag  ovg  (xaigovg).  §.  142.  naget  navza  z.  %govov.  §.  1Q0.  naget 
xdvra  zavza  wie  §.  111. 

§.  145.  ei  öh  TcxariQiov  noist  zov  xä  dixai  elgrjxivat  XCav 
tvrfteg  noutg.    Eine  treuliche  Stelle,  welche  den  Unterschied  des 


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4» 


Scherer:  Leben  Willirams. 


Mediums  notet,  'machst  dir  einen  Beweis'  (für  deine  Verteidigung) 
und  Activums  xoutg  > machat  es  sehr  einfaltig«,  deutlieh  veran- 
schaulicht. 

An  Druckfehlern  sind  una  au8ser  den  oben  bezeichnten  be- 
gegnet: p.  19.  Z.  4.  v.  u.  atatt  prote8tate  1.  poteatate.  p.  42  Z.  12 
v.  u.  L  ponendum.  p.  57.  Z.  13.  v.  o.  L  aibi.  p.  59.  Z.  22.  v.  o. 
1.  commutatio.  p.  123.  Z.  14  v.  u.  at.  libri  1.  liberi.  Für  künftige 
Ausgaben  wären  grössere  Ziffern  der  Anmerkungen  zu  wtin8cben, 
um  das  8chnellere  Auffinden  und  den  Ueberblick  zu  erleichtern. 

L.  Le  Beau. 


Wilhelm  8  eher  er,  Leben  Willirams  Abtes  von  Ebersberg  in  Baiern. 
Beitrag  zur  Geschichte  des  XL  Jahrhunderts.  Wien,  Karl 
Gerold'*  Sohn.  (Abgedruckt  aus  dem  Maihefte  des  Jahrgangs 
1866  der  Sitzungsberichte  der  philos.-hist,  Classe  der  kaiserl. 
Akademie  der  Wissenschaften.  [LI IL  Bd.,  S.  197—303.] 

Diese  Arbeit  wird  den  Historikern  und  den  Philologen,  die 
sich  mit  dem  deutschen  Mittelalter  beschäftigen,  gleich  willkommen 
sein.  Zuerst  werden  die  Quellen  kritisch  beleuchtet,  die  historia 
Eberspergensis  von  1600  und  die  beiden  Chroniken  von  1250  und 
von  1048.  Der  Verfasser  stellt  die  chronologischen  Erfindungen 
der  spateren  Quellen  heraus  und  vermuthet  unter  den  Grundlagen 
der  beiden  Chroniken  auch  Lieder.  Das  eine,  deutsche  habe  eine 
etymologische  Sage  über  die  Gründung  des  Klosters  berichtet  und 
vielleicht  jene  Verse  bei  Notker  Der  eber  gat  in  Utun  usf.  ent- 
halten: eine  Combinatiou,  welche  dadurch  gestützt  ist,  dass  nach 
derx  Chronik  ein  famosae  religionis  clerious  Chuonradus  de  Hewa, 
quod  est  oppidum  juxta  Potamicum  lacum  —  also  ans  der  Nähe 
von  St.  Gallen  —  das  Erscheinen  des  mythischen  Ebers  der  Grtin- 
dnngaaage  deutet.  Das  andere,  mehr  klösterliche  als  volksmässige 
Anschauung  verrathende,  lateinische  Gedicht,  welches  noch  durch 
die  Prosa  der  Chronik  durchzublicken  scheint,  handelte  von  zwei 
ungleichen  Brüdern,  von  denen  der  eine  die  frommen  Stiftungen  des 
andern  dem  Kloster  vorenthielt,  bis  er  durch  gewaltige  ünglüoks- 
schläge  erschreckt  und  bekehrt  wurde.  So  ansprechend  jedoch  diese 
Vermuthangen  auch  sind  und  so  sehr  die  dabei  gestellte  Frage 
über  die  Entstehung  und  Fortbildung  der  Legenden  zu  allgemeinerer 
Forschung  anregt,  so  sind  doch  noch  wichtiger  die  sicheren  Ergeb- 
nisse der  Untersuchungen ,  die  sich  —  nach  kritischer  Beurthei- 
lung  des  Nekrologs,  des  cod.  traditionum  und  concambiorum  — 
auf  die  Abfassungszeit  von  Willirama  Paraphraae  des  hohen  Liedes 
beziehn.  Die  in  Hoffmanua  Ausgabe  angeaetzten  Zahlen  erweiaen 
aich  als  ralaeh.  Weder  iat  die  Leidner  niederdeutsche  Handschrift 
1057  geschrieben,  noch  ist  die  Rubrik,  in  welcher  der  Verfasser 
Babinbergensia  scholasticua,  Fuldenaia  monachus,  alao  nicht  abbas 


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Sberspergensis  genannt  wird,  von  Bedeutung  gegenüber  der  eignen 
Widmung  Willirama  an  Heinrieh  IV.,  nicht  den  IH,  wie  man  bis- 
her geglaubt  hat.  Diese  Berichtigung  hat  allerdings  kurz  vor  dem 
Erscheinen  der  Arbeit  Scherers  auch  Prof.  Wattenbach  in  der  zwei- 
ten Auflage  seiner  Geschichtsquellen  Deutschlands  im  Mittelalter, 
in  den  Nachträgen  S.  542  gegeben.  Scherer  setzt  die  Widmung 
etwa  in  das  Jahr  1068,  die  Vollendung  des  Werkes  aber  schon 
in  die  Mitte  des  7.  Jahrzehnts.  Er  entwirft  sodann  mit  Benutzung 
les  Materials  der  Traditionen  ein  geistvolles  Bild  von  Willirama 
Leben  und  Streben,  dessen  literarische  Seite  schliesslich  in  Ver- 
gleich gestellt  wird  mit  dem  Leich  Ezzos:  dieser,  derselben  Zeit 
mgehörig,  eröffnet  den  Eintritt  der  mittelhochdeutschen  Dichtung, 
wahrend  Willirams  Arbeit  die  althochdeutsche  Prosazeit  abschliesst. 

Ernst  Martin. 


Jotef  'Haupt,  Untersuchungen  zur  deutschen  8age.  Bd.  I.  Unter* 
tuchunQcn  zur  Gudrun.  Wien,  Commürions-  Verlag  von  Carl 
Gerolds  Sohn.  1866.  X  157  8. 

Referent  hat  lange  geschwankt,  ob  er  sein  Urtheil  über  dies 
Buch  Öffentlich  aussprechen  sollte.  Der  Verfasser  hat  sich  von  vorn 
berein  gegen  die  Beurtheiler  seiner  Schrift  verschanzt.  Er  sagt 
S.  VIT :  » Weit  zurückgeblieben  zu  sein  hinter  dem  Ziele,  das  wer- 
den mir,  des  ist  kein  Zweifel,  aufs  eifrigste  nachzuweisen  traohten 
diejenigen ,  die  sich  bis  jetzt  mit  der  deutschen  Sage  beschäftigt 
haben«,  und  S.  X:  »Mögen  sie  (seine  Gegner)  wie  schon  öfter, 
wüthen  über  mich  und  mein  Werk ! «  Bei  der  weiteren  Leetüre  des 
Buehee  erkennt  man  jedoch  bald,  dass  der  Recensent,  der  sich 
diese  herben  Worte  zuzieht,  sein  Schicksal  mit  fast  allen  Forschern 
t  heilt ,  die  bisher  den  Gegenstand  des  Buches  behandelt  haben : 
ihre  Ansichten  werden  entweder  mit  ausdrücklichem  harten  Tadel 
oder  stillschweigend  auf  die  Seite  geschoben.  Aber  auch  sie  mögen 
sich  über  das  abschreckende  Urtheil  des  Verfassers  trösten  mit  dem 
gemeinsamen  Prädicate  des  deutschen  Volkes  S.  VIII:  »Gänzlich 
verkommene  Enkel,  vielmehr  Bastardenkel  der  weltbeherrsohenden 
Männer«;  und  selbst  dies  wird  Überboten  durch  S.  14,  wo  die 
.Kraber  »an  Leib  und  Seele  stinkend«  genannt  werden!*) 

So  glaubt  Ref.  den  über  ihn  im  voraus  ausgesprochenen  Bann 
als  stilistische  Eigenthümlichkeit  des  Verfassers  ausser  Augen  las* 


*)  Herr  Haupt  schilt  a.  a.  O.  darüber,  dass  man  Rüdiger  den  vater  aller 
tagende  für  einen  wirklichen  Araber  gehalten  bat.  Und  doch  liegt  ein  Grund 
cioet  zu  fem,  au»  welchem  der  Verfasser  des  Btterolf  den  mMden  Mark- 
anten dorther  stammen  lassen  konnte.    Unter  den  Mustern  der  Preigeblg- 

Itit  bei  den  mittelhochdeutschen  Dichtern  steht  Saladin  mit  oben  an,  siehe 
Wtlther  19,  Wilhelm  von  Tyrus  nennt  ihn  »upra  modum  liberalem 

Wiften,  Gtescb.  der  Kreuzlüge  HI,  2,  8»). 


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44  Haupt:  Untersuchungen  «ur  deutschen  Sage. 


sen  zu  dürfen.  Anch  fordert  die  Meinung  des  Verfassers  über  sein 
Werk,  das  er  für  ebenso  epochemachend  hält,  als  J.  Grimm's  Gram- 
matik, s.  S.  VII,  zn  einer  Prüfung  auf.  Zunächst  also  die  Grund- 
sätze dieser  Untersuchungen. 

Die  Hauptaufgabe,  die  der  Verfasser  sich  stellt,  ist:  die  Oert- 
lichkeiten  der  Heldensage  zu  bestimmen;  ja  abgesehn  von  der 
etymologischen  Deutung  einiger  Namen  ist  sie  die  einzige.  Von 
dem  eigentlichen  Inhalt  der  Sage,  von  den  wanderbaren  Thaten 
und  Eigenschaften  der  einzelnen  Helden  ist  so  gut  wie  gar  nicht 
die  Rede.  Auch  nicht  von  denjenigen  Anknüpfungspunkten  der 
Sage,  die  noch  stärker  hervortreten  als  die  geographischen,  von 
den  historischen.  Der  Gedanke,  die  Oertlichkeiten  als  das  fest- 
stehende in  der  Sage  anzusehn,  ist  aber  nicht,  einmal  neu,  8.  Unland 
GeB.  Sehr.  I,  131,  wo  er  auch  sehr  einfach  widerlegt  wird.  Die 
Namen  der  Völker  und  Länder,  der  Gegenden  und  Städte  wechseln 
in  der  Sage  noch  viel  mehr  als  die  der  Helden:  eine  und  dieselbe 
Sage  wird  an  verschiedenen  Orten  erzählt,  wie  die  Eckensage  am 
Niederrhein  und  in  Tirol ,  oder  der  unzählige  Male  wiederholte 
Drachenkaro pf.  Es  ist  aber  sehr  begreiflich ,  dass  die  einzelnen 
deutschen  Stämme  die  alten  Sagen  in  ihrer  Heimath  zu  localisiren 
suchten.  Die  geographischen  Beziehungen  sind  also  gerade  das  aller- 
äusserlicbste  und  unursprünglichste  Element  der  Sage,  und  sie  wur- 
den um  so  willkürlicher  angesetzt,  je  weiter  sich  der  Kreis  der 
geographischen  Kenntnisse  ausdehnte,  je  mehr  besonders  in  Folge 
der  Kreuzzüge  fremde,  namentlich  orientalische  Gegenden  hinein- 
gezogen wurden. 

Aber  schon  in  sehr  früher  Zeit  lässt  sich  eine  solche  willkür- 
liche Localisirung  nachweisen.  Um  ein  bekanntes,  aber  schlagen- 
des Beispiel  anzuführen,  so  heisst  Hagen  in  den  Nibelungen  be- 
kanntlich von  Tronege.  Dies  ist  ein  Ort  im  Elsass  s.  Lachmann 
zu  9,  1.  Aber  in  der  späteren  Thidreksaga  heisst  er  af  Troja  und 
in  dem  früheren  Waltharius:  veniens  de  germine  Trojae.  Dass 
Tronego  seine  ursprüngliche  Heimath  war,  dafür  spricht  nichts; 
wohl  aber  lässt  sich  Troja  ans  der  bekannten  Sage,  dass  die  Fran- 
ken von  den  Trojanern  abstammten,  erklären.  Wie  diese  Sage 
selbst  entstanden  ist,  lässt  sich  auch  nachweisen.  Ein  Hauptort 
der  Franken  war  Xanten  am  Rhein.  Er  hiess  in  römischer  Zeit 
colonia  Trajana;  daraus  machte  die  Halbgelehrsamkeit  spätestens 
des  VII.  Jahrhunderts  Trojana;  und  den  Namen  ad  sanetos,  wel- 
chen die  Stadt  von  dem  hier  localisirten  Märtyrertode  der  theba- 
ischen  Legion  führte,-  brachte  sie  mit  dem  Xanthus  bei  Troja  zu- 
sammen. Daher  im  Annolied  der  Bach  Sante  und  die  luzzele  Troie 
s.  P.  E.  Müller,  Sagenbibliothek  II.  Bd.,  übersetzt  von  G.  Lange 
S.  171.  Dies  Beispiel  beweist  doch  wohl  zur  Gentige,  dass  die 
geographischen  Beziehungen  der  Sage  vielfach  unursprünglich  sind, 
selbst  in  sehr  alten  Quellen. 


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Haupt:  Untersuchungen  zur  deutschen  Saga 


46 


Noch  unhaltbarer  ist  der  zweite  Grundsatz  des  Verf.;  ja  er 
trird  jeden,  der  die  Schule  der  klassischen  Philologie  durchgemacht 
hat,  ungeheuerlich  dünken.  S.  VIII:  ^Für  mich  gibt  es  keine  fal- 
schen Lesarten  (der  Namen):  jede  hat  das  Recht  einer  Erklärung 
gewürdigt  zu  werden ,  da  die  Schreiber  genau  wissen  konnten, 
warum  sie  so  schrieben  und  nicht  anders.«  Aisoes  hat  nie  Schreib- 
fehler gegeben  ?  Da  haben  wir  ja  mit  Einführung  dos  Druckes  einen 
schlimmen  Rückschritt  gemacht,  denn  Druckfehler  sind  ja  selbst 
bei  der  genauesten  Sorgfalt  kaum  ganz  zu  vermeiden.  Aber  ein 
Blick  auf  die  besten  Handschriften  überzeugt  leicht,  dass  auch  sie 
nicht  frei  von  Fehlern  sind:  um  wie  viel  mehr  muss  man  den 
vielen  späteren  und  schlechten  misstrauen !  Und  selbst  angenommen, 
jeder  Schreiber  könne  in  seinen  Namen  jeden  Buchstaben  vertreten, 
ist  es  denn  wirklich  die  Aufgabe  zu  wissen,  wie  die  einzelneu 
Schreiber  sich  die  Heldensage  vorgestellt  haben?  In  Gedichten 
eines  bestimmten  Dichters  ist  es  selbstverständlich,  dass  man  seinen 
eignen  Worten  nachspüre  und  alles,  was  nachweislich  davon  ab- 
weicht, bei  Seite  werfe;  aber  auch  in  den  volksthümlichen  Denk- 
mälern muss  es  eine  älteste  Lesart  geben,  von  der  die  andern  ab- 
stammen. 

Sehen  wir  nun  zu,  wie  der  Verf.  diese  Grundsätze  durchge- 
führt hat,  so  ist  zunächst  charakteristisch  die  Auswahl  der  Quellen. 
Die  Schwierigkeiten  der  Gudrun  werden  erläutert  aus  den  Ueber- 
lieferungen  der  späteren  und  spätesten  Zeit  z.  B.  aus  dem  Ge- 
dichte von  Dietrichs  Flucht,  ja  aus  Ayrers  Dramen  und  aus  Albi- 
nus  New  Stammbuch,  Leipzig  1602  !  oder  aus  ganz  fremden  Quellen, 
Rittergedichten  von  französischer ,  selbst  byzantinischer  Grundlage 
und  ganz  willkürlicher  Behandlung,  aus  Mai  und  Beaflor,  aus  dem 
Meieranz  des  Pleiers!  Da  kommt  denn  freilich,  namentlich  da  alle 
Handschriften  gleiches  Recht  haben,  ein  ungeheurer  Schwall  von 
Namen  zusammen  und  das  trübe  Wasser  ist  da,  iu  dem  es  sich 
so  gut  fischen  lässt ! 

Und  noch  trüber  wird  es  sich  durch  die  Ungenauigkeit  der 
Citate.  So  wird  der  Rother  (den  der  Verf.  merkwürdiger  Weise 
Ruo  c  her  nennt,  etwa  einer  einzelnen  Lesart  der  ganz  sohlechten 
Pfalzer  Handschrift  von  Dietrichs  Flucht  V.  1315  zu  Liebe?)  nach 
dem  älteren,  als  ungenau  bekannten  Abdrucke  v.  d.  Hagens  citirt 
und  natürlich  in  zwei  kurzen  Zeilen  die  Lesart  der  Handschrift 
zweimal  falsch  angegeben  S.  28.  Dieselbe  Ungenauigkeit  zeigt  sich 
auch  in  den  mhd.  Texten  des  Verf.  Auf  S.  4  und  5  werden  fol- 
gende Fehler  wiederholt  —  denn  die  einmal  vorkommenden  mögen 
als  Druckfehler  gelten  — :  magst,  wie  nhd.  wie  auch,  Rlenolt. 

Das  weitere  Verfahren  kann  hier  natürlich  nicht  im  einzelnen 
widerlegt  werden :  das  würde  ein  Buch  orfordern  so  stark  wie  das 
des  Verf.    Also  nur  einige  Beispiele.    In  der  Thidreksaga  kommt 
ein  ApoJJonius  vonTira  (Tiram,  Tiro)  vor.  Hier  hatte  man  bisher 
geglaubt  ein  sicheres  Beispiel  von  Einmischung  fremder,  unvolks- 


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46  Haupt:  Untersuchungen  rur  deutschen  Sage. 


thümlicher  Namen  zu  haben,  da  Apollonins  von  Tyrus  bekanntlich 
der  Held  eines  im  späteren  Mittelalter  verbreiteten  und  vielbe- 
arbeiteten Romans  ist.  Aber  nein.  Tiro  soll  nach  Herrn  Haupt 
Thüringen  sein,  das  mittelhochdeutsch  wie  noch  heutzutage  in  der 
Aussprache  seiner  Bewohner  mit  D  anlautete:  so  stimmt  also  nur 
das  r  des  Namens!  Das  durfte  Peringskiöld  1715  übersehn,  aber 
kein  heutiger  Philologe.  Mit  gleicher  Kühnheit  wird  A  pul  Ion  ins  für 
einen  von  den  vielen  Apels  erklärt,  die  in  Thüringen  vorkommen 
und  Apolda  soll  mit  seinem  Namen  zusammenhängen  1 

Die  meisten  Namen  aber,  wie  die  ganze  Gudrunsage  werden 
in  das  Land  zwischen  Elbe  und  Oder  versetzt,  ja  noch  weiter: 
Ormanie  ist  Ermeland  in  Preussen.  Also  Gegenden,  die  erst  als  die 
Gudrun  entstand  und  zum  Theil  noch  später  von  den  Deutschen 
erobert  wurden*),  sind  der  Schauplatz  der  deutschen  Heldensage! 
Und  wie  werden  die  Namen  dieser  Gegenden  und  die  der  Helden- 
sage gequält  bis  sie  endlich  zu  einander  passen !  Im  Ortnit  kommt 
ein  Heide  Zacharis  von  Cecilje  vor,  der  den  Hafen  zu  Messin  be- 
sitzt. Dies  wie  überhaupt  die  Einzelheiten  des  Gedichtes  stimmt  zu 
den  Zustanden  des  Jahres  1225 ,  wie  Möllenhoff  gezeigt  hat  Zeit- 
schrift für  deutsche  Alterthumswissenschaft  Bd.  XIII.  Cecilje  wird 
zudem  Sioilien  stets  in  Ottokars  östreichisober  ßeimchronik  ge- 
nannt. Aber  wiederum  nein.  S.  31 :  In  einer  einzigen  Stelle  in 
Alfreds  Orosius  heisst  es,  dass  man  Vinedaland  Syssyle  nenne: 
das  ist  nach  Herrn  Haupt  Cecilje  in  der  Heldensage,  die  über  drei 
Jahrhunderte  später  im  mittelhochdeutschen  Ortnit  erscheint. 

Endlich  ein  Stück  aus  der  Gudrunsage.  Bisher  hat  man  ge- 
glaubt, die  Entführung  Hagens  durch  den  Greifen  sei  eine  Übel  an- 
gebrachte Reminiscenz  aus  der  Sage  von  Herzog  Emst  und  habe 
keine  alte,  echte  Grundlage.  Herr  Haupt  sieht  darin  die  Erziehung 
in  fremden  Landen  allegorisch  dargestellt,  wie  sie  die  Götter  ihren 
Lieblingen  angedeihen  Hessen.  Das  Greifenland  aber  ist  —  Pommern. 
Aus  Micrälius,  einem  Chronisten  des  XVII.  Jahrhunderts  wird  nach- 
gewiesen, dasB  der  Greif  das  Wappen  Pommerns  und  der  meisten 
pommer'8chen  Städte  ist;  auch  die  Städtenamen,  Greifenhagen, 
Greifswalde,  Greifenberg  werden  angeführt.  Aber  ist  damit  auch 
nur  bewiesen,  dass  Pommern  dies  Wappen  schon  1225  hatte,  in 
welcher  Zeit  etwa  die  Gudrun  die  heutige  Gestalt  erhielt?**)  Und 
selbst  dann  wäre  doch  noch  die  heraldische  Allegorie  überaus  be- 
denklich. 


*)  Oder  soll  die  Localisirung  aus  der  Zeit  vor  der  Völkerwanderung 
stammen  v  Aber  wir  wissen  von  dieser  Zeit  so  überaus  wenig,  und  nichts, 
was  für  diese  Annahme  spräche.  Und  zweitens  wurde  ja  die  Heldensage 
erst  während  der  Völkerwanderung  ausgebildet. 

*  *  /  Herr  Prof.  Watteubach  macht  mich  aufmerksam,  dass  der  Greif  ab 
pommersches  Wappen  allerdings  schon  1214  vorkommt  (Hassalbach  u.  Kose- 
garten, Cod.  dipl.  Fomeraniae  I.  232).  Entstand  aber  die  Heldenaage  oder 
wenigstens  ihr  Kern  erst  im  Xm.  Jahrhundert? 


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Haupt:  Untewndrongen  zur  deutschen  Sage.  49 


Das  Endurtheil  aber  Herrn  Haupt's  Untersuchungen  wird  also 
sein,  dass  sie  die  Kenntniss  der  deutschen  Heldensage  fast  in  kei- 
nem Puncto  gefördert  haben,  dass  sie  nicht  einmal  die  bisherigen 
von  ihm  so  hart  geschmähten  Annahmen  irgendwie  erschüttert 
haben.  Es  möge  mir  gestattet  sein  diese  hier  kurz  zusammenzu- 
fassen, um  dann  einige  eigene  Vermuthungen  anzufügen,  die  frei- 
lich der  zwingenden  Nothwendigkeit  entbehren,  aber  dies  auch 
offen  eingestehn. 

Die  Hauptsache  ist  die  beiden  Sagen,  die  von  Hilde  und  die 
ven  Gudrun  auf  ihre  Grundlagen  zurückzuführen.  Bei  der  ersteren 
ist  dies  durch  ein  nordisches  Zeugniss  in  höchst  willkommner  Weise 
erleichtert.  In  der  Snorra-Edda  p.  163  Rask  wird  erzählt,  warum 
die  Schlacht  der  Hiadninge  Sturm  heisse.  Ein  König  Högni  habe 
eine  Tochter  Hildr  gehabt,  welche  König  Hedinn,  Sohn  des  Hiar* 
randi  geraubt  habe.  Högni  sei  erst  nach  Norwegen,  dann  nach  den 
Orkneyen  nachgefolgt,  wo  sie  bei  Haey  zusammen  trafen.  Hildr 
habe  nun  ihrem  Vater  ein  Halsband  gebracht  von  Hedinn  zur 
Sühne.  Högni  wies  sie  zurück :  die  Schaaren  traten  sich  gegenüber. 
Kochmals  rief  Hedinn  seinen  Schwäher  zur  Versöhnung  an,  aber 
dieser  antwortete :  Es  ist  zu  spät ;  jetzt  habe  ich  Dainsleif  gezogen, 
das  Schwert,  das  eines  Mannes  Mörder  werden  muss,  ehe  es  in 
die  Scheide  zurückkehrt.  Hedinn  entgegnete:  Du  rühmst  dich  des 
Schwertes,  aber  nicht  des  Sieges.  Der  Kampf  begann  und  wahrte 
bis  zum  Abend.  In  der  Nacht  aber  ging  Hildr  und  weckte  die 
Todten  auf.  So  kämpften  sie  Tag  für  Tag :  die  Gefallenen  und  ihre 
Waffen  wurden  zu  Stein;  aber  wenn  es  tagte,  standen  sie  von 
neuem  sich  entgegen.  Und  so  soll  der  Hiadnlnga  vlg,  der  Kampf 
der  Hedininge  bis  zur  Götterdämmerung,  bis  ans  Weltende  dauern. 
—  Noch  fügt  Snorri  ein  Citat  über  die  Sage  aus  dem  Skalden 
Bragi  hinzu,  der  im  neunten  Jahrhundert  gelebt  haben  soll. 

Es  ist  ganz  offenbar,  dass  die  Hildesage  unseres  Gedichtes 
sich  hier  wiederfindet:  die  Entfuhrung  von  Högnis  Tochter  Hilde 
durch  Hedin,  wovon  unser  Hetel  Deminutivform  ist,  und  nachher 
der  Kampf.  Selbst  Hiarrandi  ist  in  unserem  Horand  erhalten.  Der 
Name  bedeutet  vielleicht  »der  Harfenschlftger«  Zeitschr.  f.  d.  Alt 
12,  812.  Die  angelsächsiche  Form  ist  Heorrenda  und  so  wird  ein- 
mal in  Deörs  Klage  der  Sänger  der  Heodeningas  genannt.  Dies  und 
Hiadninga  ist  nur  nur  eine  patronymische  Ableitung  von  Hedin ;  unsere 
Hegelinge  bieten  dasselbe  Wort  in  einer  Entstellung.  HedinsName 
gibt  über  die  ursprüngliche  Bedeutung  der  Sage  keine  Auskunft: 
er  heisst  der  mit  dem  Fell  bekleidete,  was  vielleicht  ursprünglich 
überhaupt  einen  Helden  bezeichnete.  Charakteristisch  dagegen  ist 
der  Name  Hilde.  Er  bedeutet  Streit ;  es  ist  eine  Kriegsgöttin,  eine 
Bellona.  Oft  wird  ihr  Name  unter  den  Walkyrien  genannt  und  als 
solche  gibt  sich  Hilde  durch  ihre  zauberische  Auferweckung  der 
Todten  zu  erkennen.  Dieser  Zug,  der  auch  in  anderen  Sagen  z.  B. 
in  der  von  der  Hunnenschlacht  wiederkehrt,  wird  von  Saxo  be- 


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sonders  hervorgehoben,  welcher  im  V.  Buch  die  Geschichte  von 
Hognias  (gewöhnlich  Hoginus  geschrieben)  und  Hithinus  erzählt, 
ihren  Kampf  aber  nach  Hedinsey  verlegt,  der  Insel  des  Hedin, 
womit  er  Hiddensee  westlich  von  Rügen  meint.  Er  lässt  sie  zwei- 
mal kämpfen:  einmal  siegt  Hognius,  schenkt  jedoch  dem  Jüngling 
das  Leben,  aber  nach  sieben  Jahren  erneut  sich  der  Kampf,  in 
welchem  beide  fallen. 

Allein  man  darf  noch  tiefer,  in  einon  mythischen  Ursprung 
hineinblicken.  Simrock  in  seiner  Mythologie  2.  Aufl.  S.  380  macht 
auf  das  Halsband  aufmerksam,  durch  welches  sich  Hilde  als  Freya 
zu  erkennen  gibt.  Ausdrücklich  wird  Freya  als  die  Anstifterin  des 
Kampfes  genannt  in  einer  Sage  von  Olaf  Tryggvason ,  Fornaldar 
Sög.  1,  391.  Die  Hedningon,  welche  ewig  fortkämpfen  sollen,  sind 
nach  Simrock  die  Einheriar,  die  Helden  in  Walsall,  die  täglich 
kämpfen  und  täglich  neu  wieder  erstehn. 

Und  selbst  hier  darf  man  nicht  stehen  bleiben.  Wie  allem 
Mythus  eine  Naturanschauung  zu  Grunde  liegt,  so  auch  hier.  Freya 
ist  die  Güttin  der  schönen  Jahreszeit.  In  den  vielen  Sagen  von 
Raub  oder  doch  wenigstens  dem  Gelüste,  das  die  Riesen  nach  ihr 
haben,  und  dem  mächtigen  Zurückweisen  derselbeu  durch  Thor  hat 
man  die  Frühlingsstürme  zu  erkennen,  wie  Uhland  im  Mythus  von 
Thor  sinnig  nachgewiesen  hat.  Der  junge  Held  Hedin,  der  die 
Göttin  der  riesischen  Gewalt  entzieht,  ist  der  Sohn  des  besten 
HarfenschlUgers ;  vielleicht  hat  er  selbst  ursprünglich  diese  Kunst 
besessen  und  bei  der  Befreiung  angewandt. 

Im  mittelhochdeutschen  Gedichte  stehen  neben  dem  trefflichen 
Sänger  noch  ein  Heldenpaar,  die  zu  ihm  einen  doppelten  Gegen- 
satz  geben:  Frute  und  Wate.  Letzterer  hat  freilich  ausser  der 
Fechterkunst,  die  er  unvermuthet  zeigt  und  durch  welche  er  sich 
die  Liebe  Hagens  gewinnt,  nichts  charakteristisches,  und  ist  wohl 
aus  der  Gudrunsage,  wo  er  als  Rächer  um  so  gewaltiger  auftritt, 
in  die  Hildeusage  erst  eingefügt  und  allerdings  sehr  gut  verwendet 
worden. 

Frute  dagegen  vertritt  neben  der  Sangeskunst  ein  anderes 
Mittel  zur  Gewinnung  der  Braut,  die  listige  Freigebigkeit,  durch 
welche  die  Habgier  der  Gegner  rege  gemacht  wird.  Dass  die  Braut, 
welche  entführt  werden  soll,  auf's  Schiff  gelockt  wird,  kommt  häufig 
vor.  So  im  zweiten  Theil  des  Rother  und  im  Märchen  vom  getreuen 
Johannes. 

(Schiusa  folgt.) 


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Ii.  4.  HEIDELBEEGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Haupt:  Untersuchungen  zur  deutschen  Sage. 


(Schlußfl.) 

An  die  Hildensage  schliessen  sich  zunächst  mehrere ,  wie  es 
scheint,  ans  ihr  abgeleitete  Gestaltungen.  Am  fernsten  zu  stehen 
-oheint  die  von  Walther  und  Hildegunde.  Der  Held  entführt  seine 
Geliebte,  deren  Name  aus  dem  der  Hilde  durch  Zusammensetzung 
weiter  gebildet  ist,  aus  der  Gewalt  eines  grimmigen  alten  Herr- 
sehers ;  auf  der  Heimkehr  besteht  er  feindliche  Angriffe.  Hier  ist 
nun  wohl  der  alte  Name  des  Verfolgers  der  Hilde,  Hagen,  die  Ver- 
anlassung gewesen  die  Sage  in  einen  bekannteren  Kreis  einzufügen. 
Hagen  ward  als  der  Franke-Nibelung ,  der  Dienst  manu  Gunthers 
gefasst.  Von  den  verfolgenden  Helden  aber  wurde  der  alte  Herr- 
scher getrennt  und  für  diesen  die  schon  typisch  gewordene  Fignr 
Etzels  gewählt.  Früh  ging  diese  Umgestaltung  der  Hildensage  vor 
sieh :  wir  haben  Bruchstücke  eines  angelsächsischen  epischen  Ge- 
dichtes, welches  nicht  später  als  das  VIII.  Jahrhundert  sein  kann, 
im  X.  dann  die  in  den  kleinsten  Details  sagenhaft  ausgebildete 
Darstellung  des  Waith arius.  Noch  ähnlicher  wird  die  Walthersage 
der  von  Hilde,  wenn,  wie  man  vermuthet  hat,  die  polnische  Sage 
(W.  Grimm' s  Heldensage  158)  in  dem  Gesänge  Walthers  bei  der 
Werbung  einen  echten  Zug  aufbewahrt  hat.  Allerdings  ist  diese 
Herleitung  der  Walthersage  aus  der  von  Hilde,  welche  ich  nach 
Möllenhoff  Zeitscbr.  12,  274  gegeben  habe,  nicht  in  allen  Punkten 
unbestreitbar ;  allein  weder  eine  andere  mythische  Grundlage  noch 
eine  historische,  welche  bei  Attila  oder  bei  Gunther  anzuknüpfen 
hatte,  ist  bis  jetzt  vorgebracht  worden. 

Ebenso  scheint  die  Herburtsage  nur  eine  andere  Form  der 
Hetel  und  Hildensage  zu  sein.  Sie  erscheint  in  zwei  Quellen,  dem 
Biterolf  und  der  Thidreksaga.  In  der  letzteren  erhält  erhält  Herburt, 
der  an  Dietrichs  von  Bern  Hof  verweilt,  von  diesem  den  Auftrag, 
für  ihn  um  Hilde,  die  Tochter  des  Königs  von  Bertangenland  zu 
werben.  Er  wird  von  Artus  unfreundlich  aufgenommen,  bleibt  aber 
bei  ihm  und  verschafft  sich  durch  List  Zutritt  zu  der  strengbe- 
wachten Königstochter:    er  lenkt  ihre  Aufmerksamkeit  auf  sich, 
indem  er  in  der  Kirche  eine  silberne  und  dann  eine  goldene  Maus 
vor  ihr  vorbeilaufen  lässt.  Als  er  seine  Werbung  bei  ihr  anbringt, 
heisst  sie  ihn  Dietrichs  Bild  an  die  Wand  malen.  Er  macht  es  so 
hässlicb,  dass  die  Königstochter  ihn  auffordert  sie  lieber  für  sich 
selbst  zu  werben.  Er  entführt  sie  und  tödtet  dabei  Hermann  und 
LX.  Jahrg.  1.  Heft.  4 

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60 


Haupt:  Untersuchungen  tur  deutschen  8age. 


andere  Ritter  des  Königs,  die  ihn  verfolgen.  —  Hier  findet  sich 
also  der  Name  der  Hilde  wieder,  auch  die  Entführung  und  Ver- 
teidigung gegen  die  Verfolgenden.  Aber  die  Einzelheiten  sind  zum 
Theil  spät.  Die  List  mit  den  Mäusen  erinnert  an  den  Morolf,  der 
die  Katzen  des  Königs  Salomon,  welche  ihm  die  Lichter  halten,  durch 
zwei  Mäuse  aus  der  Fassung  bringt  und  damit  beweist,  dass  Natur 
über  Gewohnheit  gehe.  König  Artus  von  Bretagne  ist  natürlich 
der  Held  der  ritterlichen  Romane ;  er  und  ebenso  sein  nichtsbe- 
deutender Ritter  Hermann  sind  wohl  an  die  Stelle  anderer  Namen 
getreten.    Diese  gibt  uns  der  Biterolf. 

Hier  steht  bei  dem  grossen  Turnier  vor  Worms  Herburt  von 
Dänemark  auf  Seiten  Gunthers  gegen  Dietrich.  Er  erzählt,  dass  er 
Hildeburg,  die  Tochter  Ludwig' s  von  Ormanie  entführt  und  gegen 
ihren  Vater  und  ihren  Bruder  Hartmut  vertheidigt  habe,  dass  er 
ferner  einen  Riesen  in  ihrem  Lande  und  ausserdem  Goltwart  und 
Sewart  erschlug.  Dann  habe  ihm  Dietrich  mit  Hildebrand  seine 
Braut  Hildeburg  entreisson  wollen,  sei  aber  von  ihm  zurückge- 
schlagen worden.  —  Dies  Verhältnis«  zu  Dietrioh  ist  wohl  ur- 
sprünglicher als  das  in  der  Thidreksaga.  Das  Anrennen  Dietrichs 
und  Hildebrands  stimmt  aber  überraschend  zur  Walthersage.  Was 
Goltwart  und  Sewart  bedeuten,  weiss  ich  nicht;  auch  der  Riese 
ist  wohl  willkürliche  Zuthat.  Die  normännischen  Könige  Ludwig 
und  Hartmut  sind  wahrscheinlich  historische  Persönlichkeiten  ;  welche, 
muss  wiederum  dahin  gestellt  bleiben.  Ebenso  wenig  lässt  sieb 
mit  Bestimmtheit  sagen,  dass  sie  in  der  Herburtsage  älter  sind 
als  in  der  Gudrunsage:  aber  dafür  spricht,  dass  auch  die  Hilde- 
burg in  dieser  aus  jener  entlehnt  zu  sein  scheint.  Bemerkenswerth 
ist,  dass  im  Biterolf  eine  listige  Entfuhrung  der  Königstochter  an- 
gedeutet zu  sein  scheint.  Herbort  hat  zum  Schildzeichen  einen 
Hirsch  mit  goldenem  Geweih :  ein  solcher  wird  aber  im  Oswald 
benutzt  um  die  Wäohter  der  Königin  zu  täuschen,  welche  entführt 
werden  soll. 

Wir  kommen  zur  anderen  Sage  unseres  Gedichts,  der  von 
Gudrun.  Es  ist  klar,  dass  auch  sie  sich  mit  der  Hildesage  ver- 
gleichen lässt:  auch  hier  findet  eine  Entführung  Statt  und  ein 
Kampf  gegen  den  nacheilenden  Hüter  der  Jungfrau.  Aber  dadurch 
wird  die  Sache  anders,  dass  die  Braut  ihrem  Entführer  nicht  frei- 
willig folgt,  dass  die  Sage  dann  weiter  geführt  wird,  indem  die 
Geraubte  aus  der  Knechtschaft  wiederbefreit  und  mit  ihrem  wah- 
ren Bräutigam  wieder  vereinigt  wird.  Hat  man  nun  in  der  Hilde- 
sage eine  mythische  Grundlage  gefunden,  so  sind  wir  auch  in  der 
Gudrunsage  dazu  berechtigt.  Und  zwar  ist  es  dieselbe,  nur  voll- 
ständiger, scheinbar  mit  einer  Fortsetzung,  in  Wahrheit  mit  einer 
noth wendigen  Einleitung.  War  die  Gewinnung  der  Braut  mit  ihrem 
Willen  aus  der  Macht  eines  finsteren  Wesens  ein  Mythus  vom 
Frühling,  so  ist  der  Raub  durch  ein  solches  Wesen  und  die  Be- 
freiung ein  Mythus  von  der  Natur,  die  im  Herbst  der  Kälte  und 


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Haupt:  Uirt«r#ucliung«i  tot  deutschen  Sage.  61 

Finsternis*  anheimfallt,  im  Frühling  aber  zu  Lieht  und  Wärme 
erlöst  wird.  Ein  solcher  Mythus  ist  aber  im  Norden  wirklich  über- 
\\efert:  der  von  Idun  und  Thiassi  s.  Uhlands  Thor  S.  114.  Idun, 
die  Göttin  der  >  Erneuung  <  wird  von  Loki  in  die  Gewalt  des 
Sturmriesen  Thiassi  geliefert.  Schnell  altera  nun  die  Götter;  Loki 
mnsa  Idun  zurückschaffen.  In  Freyas  Federkleid  fliegt  er  aus. 
Thiassi  ist  auf  dem  Meer,  da  verwandelt  Loki  Idun  in  eine  Nuss 
und  bringt  sie  zurück.  Als  Adler  verfolgt  ihn  Thiassi;  aber  die 
Götter  zünden  ein  Feuer  an,  in  welches  Thiassi  hineinstürzt.  — 
Es  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  Idun,  die  nach  einer  andern  Sage 
einmal  von  der  Esche  Yggdrasil  ins  Thal  hinabgesunken  ist,  den 
Blätterschmuck,  den  alljährlich  wiederkehrenden  und  die  Erde  ver- 
jüngenden bedeutet  und  dass  ihre  Gefangenschaft  der  Winter  ist: 
io  der  Gudrunsage  ist  diese  Gefangenscheft  durch  den  erzwungenen 
Dienst  der  Jungfrau  vertreten.  Vielleicht  ist  auch  Lokis  Ankunft 
im  Federkleide  hier  noch  erhalten :  in  der  Botschaft,  welche  Gudrun 
durch  den  sprechenden  Vogel  zugeht.  Thiassis  Tod  läge  dann  im 
Tode  des  alten  Ludwig,  wie  in  der  Hildensage,  die  nur  den  zwei- 
ten Theil  des  Mythus  darstellt,  Hagen  fallen  musste. 

Die  völlige  Identität  der  Gudrunsago  mit  der  von  Idun  soll 
nun  freilich  nicht  behauptet  werden:  nur  die  Ableitung  der  erste* 
ren  ans  einem  der  letzteren  Sage  ähnlichen  Mythus.  Dafür  lässt 
sich  auch  die  mehrfach  starkbetonte  Zeitbestimmung  geltend  machen, 
wonach  Gudrun  im  Frühjahr  befreit  wird.  Schon  A.  Schott  in  der 
Einleitung  der  Gudrunausgabe  Vollmers  bemerke  dies ;  allein  er  ging 
an  der  nordischen  Mythe  vorüber  und  verglich  vielmehr  die  Nibe- 
Jungensage,  ferner  die  von  Parzival  und  Tristan  und  die  griechi- 
schen von  Helena  und  Persephone ;  mit  Unrecht,  einmal  weil  diese 
Sagen  selbst  zum  Theil  ebenso  unsicher  zu  deuten  sind  wie  die 
Gudrunsage,  und  zweitens,  weil  das  etwa  zutreffende  durch  die  ab- 
weichenden Einzelheiten  überwogen  wird. 

Auch  im  ersten  Theil  der  Gudrunsage  findet  sich  eine  Schlacht, 
in  welcher  der  Schützer  der  Jungfrau  fallt.  «  b  dieser  Kampf  schon 
im  Mythus  lag  und  etwa  die  Herbststürme  vertrat,  ist  nicht  zu 
sagen ;  vielleicht  ist  sie  erst  später  aus  dem  zweiten  Theil  ent- 
lehnt, so  dass  die  Schlacht  auf  dem  Wülpensand  nichts  anderes 
ist  als  die  bei  Hedinsey,  der  Hedinsinsel  bei  Sazo.  Sagenberühmt 
war  die  Schlacht  auf  dem  Wülpensand  allerdings.    Im  Alexander- 
lied des  Pfaffen  Lambrecht  (Strassburger  Handschrift  bei  Massmann 
V.  1830.    Vorauer  Handschr.  bei  Diemer  220,  20)  aus  der  ersten 
Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts  wird  eine  Scene  aus  dieser  Schlacht 
angeführt.  Da  sei  der  Vater  der  Hilde  gefallen  zwischen  Hagen  und 
Wate;  auch  Herwig  und  Wolfwin  (Strassburger  Handschr.  gegen 
den  Beim :  Wolfram)  werden  gerühmt.  Ob  der  letztgenannte  Name 
im  Ortwin  zu  ändern  ist,  steht  dabin.    Denn  auch  sonst  stimmen 
Samen  und  Verhältnisse  nicht  ganz.  Wate  und  Herwig  allerdings; 
aber  der  in  der  Sohlacht  fallende  wird  der  Vater  der  Hilde  ge- 


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Toeohet  Kaiser  Heinrich  VL 


nannt,  während  es  nach  der  Gudrun  Hotel,  der  Vater  der  Gudrun 
war.  Am  nächsten  liegt  anzunehmen,  dass  auch  in  dieser,  der  voll- 
ständigen Form  der  Sage  die  geraubte  Jungfrau  Hilde  geheissen 
habe ,  sei  es  nun  dass  der  Name  Gudrun  von  diesem  verdrängt 
worden  war  oder  erst  später  eingedrungen  ist.  Ebenso  stimmt  nioht 
mit  unserem  Gedichte,  dass  Hagen  im  Kampfe  auf  dorn  Wülpen- 
sand  erscheint.  Vielleicht  ist  er  der  Räuber  oder  der  Vater  des 
Räubers,  und  das  »zwischen«  so  zu  verstehn,  das  Hetel  fiel,  wäh- 
rend Hagen  und  Wate  sich  gegenüberstanden. 

Als  nun  die  beiden  Sagen,  die  von  Hilde  und  die  von  Hilde- 
Gudrun  mit  einander  verbunden  wurden,  konnten  dieselben  Namen 
nicht  für  verschiedene  Verhältnisse  gebraucht  werden.  Man  nahm 
anstatt  Hagens  aus  der  Herburtsage  Ludwig  von  der  Normandie 
und  seinen  Sohn  Hartmut  auf,  auch  Hildeburg,  welche  jedoch  neben 
der  Gudrun  nur  eine  zweite  Rolle  spielen  konnte.  Zweitens  aber 
tauschten  beide  Sagen,  die  von  Hilde  und  die  von  Gudrun  ihre 
Nebenpersonen  mit  einander  aus.  Horand  und  Frute  wurden  in  die 
zweite  Sage  her  übergenommen,  aus  dieser  aber  Wate  von  Stürmen 
und  wohl  auch  Irold  von  Friesen  in  die  erste  eingeführt.  Ersteron 
hat  Mullenhoff,  Zeitschr.  6,  58  als  Meerriesen  nachgewiesen.  Er 
hatte  wohl  auch  im  alten  Mythus  von  Gudrun  seine  Stelle:  leicht 
moohte  in  der  Küstensage  der  Sommergewinn  mit  den  Frühlings- 
sturmfluthen  verbunden  gewesen  sein.  £•  Martin. 


Jahrbücher  des  deutschen  Reichs,  Kaiser  Heinrich  V/.  von  Theod. 
Toeche.  Leipzig  1867. 

Ein  Historiker,  welcher  über  das  Wesen  seiner  Wissenschaft 
nachdenkt,  muss  erkennen,  dass  die  Geschichte  im  Ganzen  und 
Grossen  einer  zwiefachen  Auffassung  unterliegt.  Der  zeitliche  Stoff, 
welcher  ihr  zu  Grunde  liegt,  lässt  sich  entweder  als  Bewegung  nach 
Zufall  oder  als  Bewegung  nach  Gesetz  erklären.  Man  kann  mit 
Schopenhauer  in  der  Geschichte  ein  dunkles  Treiben  und  Toben  des 
selbstsüchtigen  Willens,  ohne  Zweck  und  Ziel,  ohne  höhere  Ent- 
wickelung,  oder  mau  kann  mit  Hegel  einen  Fortschritt  im  Bewusst- 
sein  der  Freiheit,  ein  geistiges  Werden  in  dem  historischen  Seiner- 
blioken  Aber  dem  aufmerksamen  Beobachter  entgeht  dies  Eine 
nicht;  dass  mit  jenem  tief  begründeten  Gegensatz  in  der  Anschau- 
ung aller  geschichtlichen  Dinge  für  den  Geschichtsschreiber  selbst 
auch  eine  wesentliche  Verschiedenheit  der  Darstellung  involvirt 
wird.  Für  Denjenigen  nämlich,  welcher  konsequent  auf  dem 
Boden  jener  Anschauung  weiterbauen  will,  welche  in  der  Geschichte 
nur  Bewegung  nach  Zufall  sieht,  ergibt  sich  gleich  mit  der  ersten 
Betrachtung  geschichtlicher  Ereignisse  ein  Bedenken,  ob  es  sich 
der  Mühe  verlohne  mehr  zu  geben  als  ein  einfaches  Aneinander- 


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To  e  che:  Kaiser  Heinrich  VI. 


reiben  der  Fakta.  Der  Begriff  der  Geschichte  löst  sich  ihm  ja  in 
eine  unendliche  Anhäufung  an  Einzelnheiten  auf,  und  so  erscheint 
es  nnr  konsequent  wenn  seine  Darstellung  ohne  Licht  und  Schatten 
gleichsam  ätherisch  bleich  in  der  Vergangenheit  wandelt.  Die  Ge- 
schichte verwandelt  sich  unter  seinen  Händen  in  ein  Herbarium 
trockener  Fakta.    Man  sieht  wenigstens  nicht  recht  ein,  weshalb 
bei  einer  Auffassung,  die  jeden  Fortschritt  leugnet,  das  wahrhaft 
Grosse  in  den  Vordergrund  treten,  das  Erhabene  sich  von  dem 
Gemeinen  sondern  soll,  weshalb  nicht  ein  einfacher  statistischer  Be- 
richt über  Geburt,  Hochzeit,  Krankheit  und  Tod  der  Menschen  an 
Stelle  umfassender  geschichtlicher  Darstellung  treten  soll.  Anders  aber 
ist  es,  wenn  man  in  der  Geschichte  Bewegung  nach  Gesetz  erkennt. 
Nun  ist  die  Vergangenheit  nicht  mehr  todt,  sondern  sie  bietet  den 
Keim  znr  Entwickelung  des  Lebens  dar.    Ueber  dem  Chaos  von 
Einzelnheiten  erscheint   ein  höherer  Zusammenhang,  eine  weise 
ordnende  Hand  wird  sichtbar,  deren  Walten  zn  erkennen  für  den 
Forscher  den  höchsten  Reiz  bietet.  Die  Geschichte  erscheint  nicht 
mehr  als  das  Vergangene  schlechthin,  sondern  als  der  geistige  Kern 
des  Vergangenen,  als  das  Vergangene  worin  ein  Werth  für  den 
Geist  begründet  liegt.    Denn  mit  Recht  spottete  Kaiser  Tiberius 
Über  seine  Hofgrammatiker,  indem  er  sie  fragte  wie  die  Mutter  der 
H^kuba  gehiessen,  welchen  Namen  Achill  unter  den  Mädchen  von 
Skjros  gefuhrt  habe,  in  welcher  Tonart  die  Sirenen  gesungen  hätten. 
Das  ist  ein  Spott,  der  die  leere  und  fruchtlose  Arbeit  jener  pedan- 
tischen Handlanger  aufs  Schärfste  geisselt,  die  immer  am  Ein- 
zelnen kleben  und  ihren  Blick  nicht  zum  Allgemeinen  erheben 
können.  Was  hilft  es,  wenn  Jene  uns  auf  das  Genaueste  angeben 
können,  wo  irgend  ein  Fürst  an  einem  bestimmten  Tage  residirt 
hat,  wenn  sie  aber  nicht  im  Stand  sind  ein  lebendiges  Gemälde 
des  Helden  zn  entwerfen,  ihm  seine  Heldenthaten  nachzuempfinden, 
Andere  dadurch  zu  gleichen  Gesinnungen  anzufeuern?  Gerade  hier 
jedoch  wo  die  Arbeit  des  fleissigen  und  gelehrten  Sammlers  auf- 
hört, und  der  Blick  sich  vom  Einzelnen  aufs  Allgemeine  erweitern 
soll,  erwarten  wir  den  echten  Geschichtsschreiber.    Wo  ein  Fort- 
schritt im  Erkennen  und  Handeln  Statt  findet,  wo  Grösse  und 
Schönheit  individueller  Charaktere  sich  zeigt,  wo  ein  grosser  ge- 
waltiger Geist  zn  würdigen  ist,  der  seiner  Umgebung  und  seinem 
Jahrhundert  neue  Bahnen  der  Entwickelung  gewiesen  hat,  da  ist 
ein  Beobachter  mit  wachem  Auge  für  das  Grosse  und  Schöne  am 
Platz,  da  soll  der  Geschichtsschreiber  auftreten,  das  flüchtig  Vor- 
überrauschende zusammenbinden  nnd  im  Tempel  Mnemosyne's  zur 
Unsterblichkeit  niederlegen.  So  haben  wir  die  feine  Grenze  berührt, 
welche  zwischen  historischer  Forschung  und  historischer  K  u  n  s  t 
besteht;  und  wenn  wir  in  pfliohtgetreuer  ernster  Forschung  die 
richtige    noth wendige  Grundlage   bei  einem  jeden  bedeutenden 
geschichtlichen  Werk  erkennen  müssen,  so  verdient  doch  der 
Historiker  den  Preis,  welcher  mit  unbestechlicher  Wahrheitsliebe 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


und  gründlicher  Beherrschung  des  Quellenmaterials  zugleich  den 
richtigen  Blick  für  das  Allgemeine ,  für  den  höheren  im  ge- 
schichtlichen Dasein  waltenden  gesetzlichen  Zusammenhang  ver- 
bindet. Das  Werk  von  Toeche  über  Heinrich  VI.  erscheint  ans 
gerade  deshalb  so  werthvoll,  weil  es  sowohl  den  Anforderungen  der 
Forschung  wie  der  Kunst  entspricht.  Der  Verfasser  bat  es  ver- 
standen gründliche  fachmännische  Arbeit  in  ein  gefälliges  Gewand 
zu  kleiden.  Er  hat  über  der  genauen  Ergründung  der  Einzelnheiten 
die  Richtung  auf  das  Allgemeine  nicht  verloren,  so  dass  uns  die 
Geschichte  Heinrich  VI.  in  letzter  Instanz  als  eine  Offenbarung 
des  ganzen  grossen  staufischen  Zeitalters  erscheint,  dass  wir  dieses 
in  Jenem  erfassen  und  uns  vergegenwärtigen. 

So  musste  die  strenge  Form,  in  welcher  sich  bisher  die  Jahr- 
bücher  des  deutschen  Reichs  bewegten,  gesprengt,  die  analistische 
Eintheilung  Gesichtspunkten,  welche  aus  der  Gliederung  des  Stoffs 
selbst  genommen  wurden,  untergeordnet  werden.  Und  gewiss  ge- 
schab dies  zum  Vortheil  des  Werkes  selbst.  Statt  einer  dürren 
Nomenklatur  von  Fakten  erhalten  wir  nun  eine  kritisch  räsonni- 
rende  breit  angelegte  und  umfassende  Darstellung,  als  deren  Mittel- 
punkt uns  das  Bild  des  Staufenjüngling  selbst  entgegentritt,  eine 
eiserne  Gestalt,  von  gewaltsamer  Thatkraft,  und  rauhem  unerbitt- 
lichen Willen;  aber  gerade  durch  diese  Eigenschaften  mehr  als 
irgend  ein  Anderer  dazu  angethan,  die  grossen  Ideale  der  Staufer 
der  Verwirklichung  nahe  zu  bringen.  Die  universalstaatlichen  Pläne, 
die  man  unsern  deutschen  Kaisern  neuerdings  als  ein  Haschen  nach 
unklaren  Träumereien  auslegen  will,  wurden  von  keinem  Herrscher 
so  praktisch  aufgefasst  und  so  gewaltig  durchgeführt,  wie  von  ihm. 
Die  Wahrheit  dieser  Bemerkung  wird  durch  die  Art  erhärtet,  wie 
Heinrich  die  ebenfalls  vielfach  angefochtene  und  als  Fluch  ver- 
schrieene Verbindung  zwischen  Deutschland  und  Italien  erstrebt 
und  vollzogen  hat.  Viel  verdankte  er  unleugbar  dem  Glück  der 
Geburt,  und  väterlicher  Grösse.  Friedrich  I.  hatte  schon  im  Jahre 
1169  von  dem  Pabst  Alexander  III.  verlangt,  dass  er  das  drei- 
jährige Kind  zum  Mitkaiser  ernenne  und  Bischöfe  seiner  Wahl  mit 
der  Weihe  betraue.  Durch  das  erste  Misslingen  des  Planes  unbe- 
irrt ,  hatte  er  Lucius  HL  gegenüber  Beine  Vorschläge  erneuert  und 
in  derselben  Zeit  aufgenommen  wo  er  in  Palermo  um  die  Hand 
der  normannischen  Erbtochter  für  seinen  Sohn  werben  liess.  An 
demselben  Tage  wo  Heinriche  Vermählung  mit  Konstanze  Statt 
fand  ernannte  er  ihn  zum  »Cäaar«  und  überliess  ihm  allein  und 
selbstständig  die  Verwaltung  Italiens.  Friedrich  I.  knüpfte  offen- 
bar an  die  Tradition  der  alten  römischen  Kaiser  an;  er  verband 
aber  mit  der  Erneuerung  des  alten  Brauchs  den  praktischen  Ge- 
danken, während  sein  Sohn  in  Italien  als  Statthalter  schaltete,  sich 
ausschliesslich  den  deutschen  Angelegenheiten  zu  widmen.  Erst  so 
gewann  er  in  ganz  Italien  die  Macht  zurück,  da  er  seit  den  Tagen 
von  Venedig  und  Konstanz  eingebüßt  hatte  und  blieb  dennoch 


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Toeehe:  Kaiser  Heinrich  VI. 


Herr  in  Deutschland.  Nach  dem  Tode  des  letzten  Normannenkönigs 
Wilhelm  II.  am  18.  Nov.  1189  war  denn  auch  Heinrich  bei  allen 
Zeitgenossen  als  der  rechtmässige  Erbe  des  normannischen  Reichs  an- 
gesehn.  Hier  galt  es  die  Ziele  der  normannischen  Politik,  die  Ten- 
denzen Roger  II.  wieder  aufzunehmen,  der  die  günstige  Lage  Sioi- 
liens  umsichtig  benutzt,  die  Insel  zur  Rüstkammer  und  zur  siche- 
ren Burg  gemacht  hatte,  von  wo  aus  Normannen  in  Italien,  in 
Afrika  und  Griechenland  festen  Fuss  zu  fassen  strebten.  Roger's 
Nachfolger  hatten  sich,  unfähig  so  grossartige  Gedanken  weiter  zu 
verfolgen,  beschieden ,  die  eifrigen  und  gehorsamen  Anhänger  der  * 
Kurie  zu  sein.    Die  Schuld  an  diesem  Verfall  der  normannischen 
Macht  trugen  die  inneren  Zustände  des  Reichs.  Der  König,  umgeben 
Ton  gewissenlosen  Hofbeamten,  abhängig  von  mächtigen  Vasallen  und 
insbesondere  von  den  zahlreichen  Bastarden  der  königlichen  Fami- 
lie Hess  den  Ränken  mit  denen  Jeder  von  ihnen  Macht  und  Reich- 
thum an  sich  zu  reissen  und  die  Gegner  zu  stürzen  trachtete  freies 
Spiel,  erfuhr  nur  durch  den  Günstling,  der  zeitweilig  sich  in  dem 
Parteigewoge  zu  behaupten  wusste,  von  den  Zuständen  im  Reich 
und  verliesB  nur,  wenn  die  Feindschaft  der  Parteien  und  die  mass- 
lose Willkür  der  Günstlinge  offene  Empörung  hervorriefen,  den 
Pallast,  um  mit  blutigen  Strafen  mit  der  schwunglosen  Härte  aber 
auch  mit  der  Todesverachtung  eines  Despoten  den  Aufstand  zu 
Boden  zu  schlagen.    Es  ist  eine  glückliche,  höchst  willkommene 
Fügung,  da ss  die  Geschichte  dieser  Zeiten  die  ein  farbenreiches 
und  charakteristisches  Bild  südlichen  Volkslebens  darbietet,  von 
einem  Mann  dargestellt  ist,  der  nicht  nur  durch  den  Schwung,  die 
Anmnth  und  den  Reichthum  seiner  Schreibweise  durch  alle  Zeiohen 
einer  feinen  Bildung  fesselt,  sondern  der,  einem  Tacitus  gleich, 
mit  Wahrhaftigkeit  und  Sittenstrenge  die  trostlosen  Zustände  des 
Reichs  enthüllt  und  den  unaufhaltbaren  Verlall  seines  Vaterlandes 
mit  tiefem  Schmerz  begleitet.    Die  Chronik  des  Hugo  Falkandus 
ist  ein  Werk,  welches  in  allen  Zeiten  gelesen  zu  werden  verdient, 
nicht  minder  um  seines  reichen  Inhalts  als  um  der  edlen  Gesin- 
nung willen,  die  uns  noch  heute  den  Verfasser  zum  Freunde  macht. 
Diesem  trefflichen  Gewährsmann  ist  denn  auch  Toeche  in  der  Schil- 
derung der  normannischen  Zustände  nach  dem  Tode  Wilhelms  U. 
hauptsächlich  gefolgt»    Eine  melancholische  Vorahnung  schwerer 
furchtbarer  Zeiten  ging  durch  das  Volk,  man  fürchtete,  dass  die 
verhassten  und  verachteten  Deutschen  Herren  des  Landes  werden 
möchten.    »Schon  glaube  ich  die  wirren  Reihen  der  Barbaren  zu 
sehen,  schreibt  Hugo  Falkandus,  die  einbrechen  wohin  sie  ihre  Be- 
gierde treibt,  reiche  Städte  und  Ortschaften,  die  durch  langen 
Frieden  blühen  mit  Entsetzen  erfüllen,  durch  Mord  verwüsten,  durch 
Baub  leeren,  durch  Schwelgereien  besudeln;  denn  weder  Vornunft, 
noch  Mitleid,  noch  heilige  Scheu  vermag  deutsche  Wuth  zu  zügeln.« 
Zwar  sollte  die  nächste  Zeit  noch  keine  Bestätigung  der  finstersten 
Besorgnisse  bringen;  das  normannische  Volk  raffte  sich  auf  um 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


sein  Geschick  einem  Manne  von  erprobter  Tüchtigkeit  anzuver- 
trauen. Tankred  von  Lekke,  ein  natürlicher  Sohn  Roger's  von  Apu- 
lien,  ein  Enkel  von  Roger  II.  ward  dazn  auserlesen  das  Volk  vor 
der  verhassten  Fremdherrschaft  zu  schützen :  und  durchdrungen  von 
dieser  grossen  Aufgabe  hat  er  sorgenvolle  Jahre  einem  letzten  hel- 
denmüthigen  Kampf  um  die  nationale  Freiheit  und  für  die  Heilig- 
thümer  des  Vaterlandes  gewidmet.  Tankred  erscheint  als  der  wür- 
digste und  edelste  von  allen  Gegnern  Heinrich  VI.  Das  Wohl  des 
Volkes  stand  ihm  höher  als  jede  Verpflichtung,  die  ihn  zur  Aner- 
kennung des  Staufischen  Erbrechts  band,  das  ungeschriebene  Recht 
galt  ihm  mehr  als  das  geschriebene  und  so  entschlpss  er  sich  nach 
einigem  Schwanken  die  Wahl  der  zu  Palermo  versammelten  Barsone 
zum  König  anzunehmen,  obwohl  er  selbst  zuvor  zu  Troja  mit  allen 
Vasallen  des  Reichs  Konstanzen  und  dem  deutschen  König  als 
Erben  des  Reiches  und  als  künftigen  Herrschern  gehuldigt  hatte. 
Die  Kurie  hatte  diese  Wendung  eifrig  begünstigt.  In  den  Augen 
des  Pabstes  galt  Heinrich  nicht  einmal  als  rechtmässiger  Erbe: 
dazu  hätte  er  erst  den  Lehnseid  leisten  und  die  päbstliche  Aner- 
kennung erhalten  müssen.  Nach  diesen  Anschauungen  hatte  viel- 
mehr Wilhelm  II.  sein  Lehen  wie  eine  Mitgift  ohne  Billigung  des 
Pabstes  vergeben ,  von  dem  Eide  durch  welchen  seine  Vasallen  in 
Troja  diesem  Akte  beigepflichtet  hatten,  konnte  sie  der  oberste 
Lehensherr  des  Reichs  ohne  Weiteres  entbinden.  Die  Kurie  stand 
denn  auch  nicht  an  Tankred's  Wahl  zu  bestätigten,  und  nach  dem 
Auftrag  des  Pabstes  musste  ihn  der  Erzbiscbof  von  Palermo  im 
Januar  1190  krönen.  Wir  können  gerade  bei  der  Berührung  der 
so  verwickelten  Streitfragen  zwischen  Kirche  und  Staat  nur  den 
bewährten  Takt  und  die  Ruhe  konstatiren,  mit  welcher  der  Ver- 
fasser den  entgegengesetzten  Ansprüchen  gerecht  wird  und  sich  im 
verworrensten  Parteitreiben  zu  Recht  findet;  die  Veröffentlichung 
der  rouleaux  von  Cluny  durch  Huillard-Breholles  kam  ihm  dabei 
trefllich  zu  Statten,  sie  ersparte  eine  Reihe  von  Erörterungen, ''be- 
stätigte die  bisherigen  blossen  Vermuthungen  und  hellte  die  wich- 
tigsten Vorgänge  auf.  Die  Gunst  der  Kurie  lieh  Tankred  einen 
mächtigen  Rückhalt ;  er  trat  nun  mit  einer  Sicherheit  und  Energie 
auf,  welche  schon  die  Zeitgenossen  an  ihm  bewundert  haben.  Er 
zwang  die  Deutschen  das  Reich  zu  räumen.  Er  rief  die  nationa- 
len Leidenschaften  des  italienischen  Volks  in  Waffen.  Als  der 
kaiserliche  Marschall  von  Kalden  im  Mai  1190  gegen  ihn  ausge- 
schickt ward,  traten  sogar  die  Bewohner  der  Abruzzen  zu  einem 
Volksbunde  zusammen.  Die  ungedruckten  Abschnitte  des  Gotfried 
von  Viterbo,  die  dem  Verf.  durch  die  Güte  des  Prof.  Waitz  zu- 
gänglich wurden,  liefern  interessante  Aufschlüsse  über  die  tief- 
gehende Bewegung  des  Volks  wider  die  Deutschen .  Kalden  sah  sich 
im  September  1190  durch  heftige  Krankheiten,  die  in  seinem  Lager 
ausbrachen,  genöthigt  das  Reich  zu  verlassen.  Diese  militärischen 
Erfolge  wusste  Tankred  in  umsichtiger  Weise  diplomatisch  auszu- 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


beuten,  er  wusste  dem  scheinbaren  Misgeschick ,  welches  in  der 
nun  folgenden  Kreuzzugsepisode  über  das  junge  nationale  König- 
thum hereinzubrechen  drohte,  seinen  Stachel  zu  nehmen.  Die  Lan- 
dung der  westmächtlicben  Heere  die  im  September  1190  erfolgte, 
war  mit  Qewalttbaten  aller  Art  verknüpft.    Richard  Lü  wen  herz 
requirirte  in  unbarmherziger  Weise,  er  plünderte  griechisches  Kloster- 
gut,  und  als  es  zu  einem  Zusammenstoss  zwischen  den  Engländern 
und  den  Einwohnern  kam,  stellte  er  die  härtesten  Forderungen, 
die  einen  Beweis  für  seine  Habgier  und  die  schlaue  Berechnung 
lieferten,  mit  welcher  er  aus  Tankred's  bedrängter  Lage  möglichst 
grossen  Vortheil  zu  ziehen  suchte.  Um  so  merkwürdiger  erscheint  es, 
dass  der  am  11.  Nov.  1190  zwischen  Tankred  und  seinem  Be- 
dränger abgeschlossene  Frieden  keineswegs  so  sehr  zu  Ungunsten 
Jenes  ausfiel.  Der  Engländer  versprach  ihm  allerorten  und  allezeit 
Frieden  und  Freundschaft  zu  bewahren ,  er  Hess  die  Forderungen 
wegen  der  Mitgift  seiner  Schweser  Johanna  und  alle  ausserdem 
noch  gestellten  fallen,  »mit  dem  Zusatz,  dass  wir,  so  lange  wir  in 
Eurem  Reiche  verweilen,  zur  Verteidigung  Eures  Landes  bereit 
sein  und  Hülfe  leisten  wollen  gegen  Jedermann  der  es  angreifen 
oder  Euch  bekriegen  würde.«   In  Aussicht  einer  Heirath  zwischen 
Richard' s  Thronfolger  und  einer  Tochter  Tankred's  erhielt  der  hab- 
süchtige Brite  2000  Unzen  Gold  und  die  gleiche  Summe  zur  Be- 
friedigung aller  Forderungen  für  sich  und  seine  Schwester,  so  dass 
sich  die  ganze  Summe  die  in  Richard's  Hände  gelangte,  die  Million 
Tarenen  eingerechnet,  welche  Tankred  früher  an  Johanna  zahlte, 
auf  etwa  1,683,000  Thaler  belief!  Dem  Vertrag  gab  eine  Schlnss- 
wenduug  von  Richard's  Bestätigungsschreiben  an  Pabst  Kölestin  III. 
ein  bedenkliches  Relief:  »Eure  Heiligkeit,  hiess  es,  weiss,  dass  es 
beiden  Reichen  zur  Ehre  gereicht ,  wenn  durch  Vermittelung  der 
Kirche  Friede  und  das  verabredete  Ehebündniss  zu  Stande  kommt. 
Es  wird  sich  mehrfacher  Nutzen  daraus  für  die  Zukunft  ergeben.« 
Aus  dem  dehnbaren  Nebel   dieser  letzten  Phrase  tritt  nur  Eins 
unverkennbar  hervor:  Die  Rüstung  gegen  den  gemeinsamen  Feind, 
den  deutschen  Kaiser.  Wir  können  freilich  dem  Verf.  nicht  so  weit 
zustimmen,  dass  wir  die  bewusste  Planung  eines  gemeinsamen  An- 
griffs gegen  Heinrich  VI.  annehmen ;  eines  Angriffs  den  Heinrich 
der  Löwe  vom  deutschen  Norden,  Richard  Löwenherz  vom  Süden, 
von  dem  eroberten  Sicilien  aus  mit  combinirten  Kräften  unter- 
nehmen sollten ,  zumal  können  wir  die  Brutalitäten ,  die  sich  der 
Engländer  bei  seiner  Landung  zu  Messina  erlaubte,  damit  in 
keinen   nothwendigen  Zusammenhang  bringen.    Die  unscheinbare 
Notiz,  dass  auf  dem  Zuge  Richard's  nach  Marseille ,  also  auf  der 
Reise  nach  Sicilien,  am  3.  Februar  1190  in  La  Reolle  der  Sohn 
Heinrich  dos  Löwen  bei  dem  englischen  König  verweilte,  gibt  dem 
Verfasser  den  ersten  Anlass  zum  Aulbau  seiner  mehr  glänzenden 
als  stichhaltigen  Hypothese.    »Was  konnte,  fragt  er,  den  Weifen, 
der  kurz  zuvor  dem  deutschen  König  in  Braunschweig  erfolgreich 


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To e che:  Kaiser  Heinrich  VI. 


getrotzt  hatte,  bewogen  haben,  mitten  im  Kriege  gegen  das  Reich 
den  englischen  König  aufzusuchen ,  kurz  bevor  derselbe  das  Fest- 
land verliess,  den  König,  der  von  allen  ausserdeutscben  Fürsten 
der  rührigste  und  treueste  Bundesgenosse  seines  Geschlechts  war, 
der  Heinrich  den  Löwen  im  vergangenen  Herbst  selbst  zum  Treu- 
bruch gegen  den  Kaiser  und  zum  Kriege  gegen  Heinrich  II.  ange- 
stiftet hatte  ?  Geben  etwa  Richard's  Thaten  in  Sicilien  Antwort 
auf  diese  Frage?«  Der  Verfasser  scheint  geneigt  eine  bejahende 
Antwort  anzunehmen.  Er  legt  aber  damit  jenen  einfachen,  mittel- 
alterlichen Kraftnaturen  ein  allzukünstliches  Gewebe  von  Plänen 
unter,  er  deutet,  mit  allzufeiner  psychologischer  Beobachtungsgabe, 
was  gar  keiner  Deutung  bedurfte ,  und  bringt  in  dem  freudigen 
Gefühl  des  Schaffens,  welches  durch  kühne  historische  Kombinatio- 
nen geweckt  zu  werden  pflegt ,  mühelos  und  leicht  nach  fast  acht 
Jahrhunderten  Gedanken  und  Vorsätze  mit  einander  in  Zusammen- 
hang, die  dieses  inneren  Kausalnexus  wohl  entbehrten.  Wenigstens 
sind  wir  berechtigt  an  dem  Vorhandensein  jenes  inneren  Bandes 
solange  zu  zweifeln ,  als  uns  nicht  die  diplomatische  Bestätigung 
urkundlich  vorliegt.  Der  Sohn  Heinrich's  des  Löwen  mag  in  La 
Röolle  den  ritterlichen  Freund  seines  Hauses  begvüsst,  er  mag  mit 
ihm  auf  die  Jagd  gezogen  und  waidlich  gezecht  haben,  aber  schwer- 
lich denken  wir  uns  die  Beiden  nach  Art  moderner  Diplomaten 
Uber  Karten  gebeugt  und  in  das  Studium  eines  grossartigen  kom- 
binirten  Feldzugsplan  wider  den  Kaiser  vertieft,  bei  welchem  ge- 
rade Sicilien  die  Operationsbasis  und  die  Eroberung  der  schönen 
reichen  Insel  die  nothwendige  Grundbedingung  seines  Gelingens 
bilden  sollte.  Anders  freilich ,  wenn  die  Dinge  sich  wie  von  selbst 
entwickelten,  und  wenn  jenen  mittelalterlichen  Helden  die  Rich- 
tung ihres  Wirkens  gleichsam  handgreiflich  vor  die  Augen  gestellt 
ward.  Als  Richard  in  Sicilien  gelandet  war,  und  seinen  ersten  Ver- 
such Universalstaatspolitik  zu  treiben  etwas  grob  naturalistisch 
in's  Werk  gesetzt  hatte,  da  gewann  er  rasch  die  nothwendige  Ein- 
sicht in  die  Bedeutung  der  Hülfsquellen  und  Reichthumes  dos  Lan- 
des. Er  mochte  begreifen,  dass  die  Regierung  Tankred's  fest  genug 
im  Volk  wurzelte,  um  nicht  durch  den  ersten  rauhen  Wind  aus 
Norden  umgeworfen  zu  werden ;  er  mochte  sich  klar  darüber  wer- 
den, dass  er  durch  Befehdung  eines  solchen  Mannes  sich  selbst  den 
grössten  Schaden  zufügen  und  gleichsam  als  Volontär  im  Dienst 
von  Kaiser  Heinrich  VI.  auftreten  würde.  Allerdings  bleibt  es 
deshalb  »unerwiesen«,  dass  Richard's  Eroberungen  in  Sicilien  gegen 
Kaiser  Heinrich  gerichtet  waren,  aber  wenn  wir  auch  die  Prämisse 
des  Verf.  von  uns  weisen,  so  können  wir  ans  doch  seinen  Nach- 
satz gern  gefallen  lassen:  Richard  erreichte  durch  ein  Bündniss 
mit  Tankred  geuau  dasselbe,  was  er  im  Kriege  gegen  ihn  hatte 
durchsetzen  wollen ;  und  nun  erst  enthüllt  sich  die  ganze  Trag- 
weite jener  Wendung  in  dem  Schreiben  an  den  Pabst ,  dass  das 
Schutzbündniss  »beider  Reichen  in  Zukunft  grossen  Vortheil  brin- 


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Toecbe:  Kaiser  Heinrich  VI. 


28n  werde.«    In  ßioilien  wurde  der  Keim  zu  dem  Antagonismus 
mischen  Riebard  und  Heinrieh  ebenso  mittelbar  und  verborgen 
wiegt,  wie  die  Feindschaft  zwischen  Riehard  und  dorn  französi- 
schen König  Philipp  August  damals  unmittelbar  und  offen  zu  Tage 
trat.  Tankred  übergab  Bichard  einen  Brief  Philippus,  welcher  schwere 
Yerläumdungen  gegen  den  englisohen  König  enthielt ;  es  gelang 
ihm  die  beiden  ungebetenen  Gaste  bitter  mit  einander  zu  entzweien. 
Aber  auch  gegen  den  st  au  fischen  Kaiser  bewährte  sich  Tankred's 
Umsicht  und  Glück.  Wir  vermögen  in  den  ersten  Schritten  Hein- 
rich VL,  in  seinem  Römerzug  wenig  Züge  zu  entdecken,  die  den  Stern- 
pel  eines  umfassenden  Genius  tragen.  Ohne  sonderliche  Nöthigung 
opferte  er,  um  zur  Kaiserkrönung  zu  gelangen,  Tuskulura  dem  Zorn 
der  Börner  auf ;  er  hätte  den  schwachen  Kölestin  zur  Nachgiebig- 
keit vermögen  können,  auch  ohne  ein  solches  Opfer  zu  bedürfen,  das 
mit  -einer  kaiserlichen  Würde  und  Ehre  in  schlechtem  Einklang 
;tand.  Wenigstens  müssen  wir  hier  der  ganz  verständigen  Darstellung 
aaseres  Schlosser  beipflichten,  der  im  VU.  Band  seiner  Weltge- 
schichte 8.  95  schreibt:  »Heinrich  opferte  eine  Stadt  die  ohne  sei- 
aen  Verrath  von  dem  elenden  römischen  Pöbel  nie  hätte  besiegt 
werden  können,  der  Rachgier  ihrer  erbittersten  Feinde.«  Dagegen 
scheint  uns  die  kulturgeschichtliche  Veduta,  welche  der  Verf.  im 
Anschlnss  an  die  Schilderung  der  römischen  Zustände  gibt ,  seine 
Darstellung  der  päbstlichen  Bemühungen  gegen  die  Sittenverderb- 
nis«, der  Geistlichen  der  höchsten  Anerkennung  werth  zu  sein;  in 
der  Würdigung  dieser  in  historischen  Werken  über  das  Mittel- 
alter selten  genugsam  hervorgehobenen   allgemeinen  Verhältnisse 
beruht  die  Stärke  und  der  Glanz  der  Toecbe'schen  Arbeit ;  auf  dem 
dunklen  Gemälde  der  Sittenverderbniss ,  welche  im  Klerus  allent- 
halben herrschte,  hebt  sich  die  grandiose  Gestalt  dos  Cisterzienser 
Abt  Joachim  von  Kosenza  lichtvoll  ab.    Von  geringer  Schul- 
bildung, aber  von  so  tiefer  Frömmigkeit,  von  so  begeisterter  Be- 
redsamkeit und  von  so  strengem  und  reinen  Lebenswandel,  dass 
mn  Ruf  in  alle  Länder  gedrungen  war  und  sein  Rath  und  seine 
Worte  in  Italien  und  in  der  ganzen  Christenheit  als  die  Offen- 
barungen eines  gottgeweihten  Geistos  galten,  war  er  zugleich  von 
jo  feurigem  Eifer  für  den  Glauben  und  die  Kirche,  vou  so  offenem 
Eingeständniss  seiner  Unvollkommenheit  und  so  grosser  Domuth 
?or  der  Hoheit  des  Pabstes,  dass  selbst  von  Rom  ihm  Achtung  und 
Unterstützung  zu  Theil  wurden.  Gerade  sein  Bekenntniss,  dass  er 
iich  als  einen  treuen  Anhänger   des  Kirchenglaubens  betrachtet, 
iass  er  mit  Unterwürfigkeit  dem  Papste  «eine  Schriften  zur  Be- 
;at Achtung  einsendet,  macht  die  Straf-  und  Scheltreden  in  die  er 
losbricht  zu  Bekundungen  seines  edlen  Gefühls.    Je  mehr  er  auf 
isn  gegenwärtigen  Zustand  der  Kirche  die  Strafe  des  Himmels 
■wabruft,  desto  mehr  offenbart  sich  seine  tiefe  Sehnsucht  nach 
irsr  Beinigang  und  Gottgefalligkoit.    Er  bedauert  es  geradezu, 
dtM  ioviele  Schriften  voller  Schmeichelei  verfasst  wurdon,  nur  um 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


die  Gunst  derKurio  zu  gewinnen.  Noch  heute  wird,  wer  seine  Schriften 
durchliest,  gefesselt  von  dem  eindringlichen  Eifer  und  der  lebendigen 
Wärme  seiner  Ueberzengung  und  des  sittlichen  Zorns  mit  welchen 
überall  dieselben  schlichten  Lehren  und  Meinungen  ausgesprochen  wer- 
den ;  auch  durch  eine  Phantasie  überrascht,  die  in  Grossartigkeit  und 
Tiefe  zuweilen  an  Dante's  Genius  gemahnt.  Am  heftigsten  bricht 
er  gegen  die  Sittenverderbniss  Hom's  in  seiner  Auslegung  des 
Propheten  Jeremias  los.  Kein  Weg,  keine  Stadt,  nicht  Ort  noch 
Flecken,  sagt  er,  wo  die  Kirche  nicht  ihre  Abgaben  und  Einkünfte 
erhebe.  An  allen  Orten  und  Sitzen  der  Erde  will  sie  Pfründen 
haben  und  unaufhörliche  Einnahmen.  Wer  nach  Rom  zur  Kurie 
kommt ,  der  fällt  unter  die  Räuber ,  das  sind  die  Kardinäle ,  die 
Notare  und  Kaplane.  Alle  Geistlichen  fröhnen  weltlicher  Habsucht, 
die  Kirchenfürsten  aber  sind  das  Haupt  der  Gottlosen.  Das  Thier 
der  Lästerung,  welches  der  Evangelist  aus  der  Erde  steigen  sah, 
gürtet  sie  und  führt  sie  wohin  Petrus  nicht  will,  vielleicht  zur 
Städte  des  Leidens.  Pabst  und  Kirche  sollen  sich  nur  hüten,  dass 
sie  nicht  durch  die  Gefahren,  die  von  den  falschen  Brüdern ,  den 
Kardinälen,  Bischöfen  und  Legaten  droben,  verderben.  Die  Kar- 
dinäle sind  verschworen  gegen  die  Würde  der  Kirche  und  des 
apostolischen  Stuhls.  Verhärtet  ist  das  Herz  der  stolzen  Priester. 
Das  Volk  befeinden  sie,  verkehren  den  Rath,  geissein  die  Kirche 
und  fühlen  doch  die  Wunden  nicht.  Einzig  nach  dem  Golde  stre- 
ben sie ,  mischen  mit  dem  babylonischen  Weibe  den  Trank  in 
goldenem  Becher  uud  stecken  alle  Sektirer  mit  ihrem  Gräuel  an. 
So  lange  sie  und  andere  aufgeblasen  die  Kirche  leiten,  müssen  alle 
frommen  Männer  sich  abwenden.  —  Die  weltliche  Begierde  der 
Kurie  trägt  die  Schuld  an  den  Ketzereien.«  Man  sieht,  dass  in 
Italien  wie  in  Deutschland  nicht  Frivolität,  sondern  gerade  tiefe 
Frömmigkeit  zur  Opposition  gegen  die  Geistlichkeit  trieb.  Heftig 
und  einstimmig  wird  Überall  der  Verfall  jeder  Sitte  und  Zucht  in 
ihr  beklagt,  und  entschieden  wird  der  Grund  alles  Uebels  in  der 
grenzenlosen  Entsittlichung  der  römischen  Kurie  erkannt.  Es  ist 
kein  Kampf  der  Laien  gegen  die  Geistlichkeit,  undenkbar  für  jene 
Zeiten,  sondern  die  Entrüstung  der  Gläubigen  gegen  die  Herrschaft 
niedriger  Leidenschaften  im  Mittelpunkt  der  christlichen  Welt,  die 
Verdammung  der  weltlichen  Politik  der  Kurie,  durch  welche  alle 
geistliche  Zucht  ausser  Acht  gesetzt  und  dem  Verfall  preisgegeben 
wird:  das  bildet  den  Charakter  dieser  allgemeinen  und  starken 
Bewegung.  Und  gerade  dies  ist  für  die  politische  Geschichte  jener 
Zeit  das  wichtige.  Es  mag  sein,  dass  die  grosse  Menge,  gewöhnt 
an  die  Leitung  der  Geistlichkeit,  voll  Achtung  vor  ihrer  Bildung 
und  Weihe  bei  aller  lauten  Opposition  gegen  das  weltliche  Treiben 
des  Klerus  sich  doch  nur  zögernd,  zum  Theil  gar  nicht  jenen  For- 
derungen und  üeberzeugungen  angeschlossen  hat.  Aber  dennoch 
weisen  so  gewichtige  und  entschiedene  Stimmen  unzweifelhaft  dar- 
auf hin,  dass  Heinrich  VI.  bei  Allen  die  den  Druck  der  unaufhör- 


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Toeche:  Kalter  Heinrich  VL  61 

lieh  Geld  einfordernden  Kurie  empfanden,  bei  allen  die  in  Rom 
umsonst  ihr  gutes  Recht  gesucht  hatten,  und  bei  Allen  denen  das 
verschwenderische  Leben  der  Geistlichkeit  aus  wahrer  Gläubigkeit 
oder  wegen  der  eigenen  Bedürftigkeit  verhasst  war,  Billigung  und 
Unterstützung  in  seinem  strengen  und  gewaltthätigen  Auftreten 
g*gen  die  Kurie  fand.  Der  Verf.  hätte  von  seiner  geistvollen  Schil- 
derung der  allgemeienn  Bewegung,  die  damals  Aergerniss  nahm  an 
dem  sittenlosen  Treiben  des  Klerus,  hier  recht  gut  einen  Schritt 
weiter  vorgehen  und  für  seinen  Helden  eine  Politik  als  wünschens- 
werth  und  klug  hinstellen  können,  die  sich  auf  jene  Stimmen  ti ei- 
nschneidenden Tadels  gegen  die  Verweltlichung  der  Kurie  stützte, 
die  selbst  von  der  demokratischen  Elementen  Akt  nahm,  welche 
sich  gegen  die  aristokratische  Verfassung  sowie  gegen  das  monar- 
chische Princip  in  der  Hierarchie  auflehnten.  Anstatt  einen  Arnold 
?on  Brescia  zu  verbrennen,  anstatt  treue  Anhänger  wie  die  Be- 
wohner von  Tuskulum  der  Rache  ihrer  und  der  eigenen  Feinde 
aufzuopfern,  anstatt  mit  einem  Wort  eine  kurzsichtige  Politik  zu 
verfolgen,  die  nur  auf  Tage  und  Wochen  voraussah  und  nur  für 
den  augenblicklich  scheinenden  Vortheil  sorgte,  hätte  man  an  die 
Zukunft,  an  die  grossen  Kämpfe  denken  können,  die  noch  mit  jener 
unerbittlichen  herrschsüchtigen  Macht  der  Kurie  in  Aassicht  stan- 
den; und  man  hätte  sich  deshalb  auf  die  vorhandenen  Elemente 
der  Unzufriedenheit  in  Kirche  und  Staat  stützen  können  um  über 
den  gemeinschaftlichen  Gegner  zu  triumphiren.  Das  wäre  eine 
weitsichtige,  wahrhaft  staatsmännische  Politik  gewesen,  wie  sie 
freilich  jenen  Männern  einfacher,  unmittelbarer  Entschlüsse  und 
Thaten,  jenen  mittelalterlichen  Kaisern  —  den  einen  Friedrich  II. 
ausgenommen  —  fern  genug  liegen  musste.  Eine  Politik,  wie  sie 
andererseits  dann  wohl  bei  den  Staufen  statuirt  werden  könnte, 
wenn  der  Verf.  im  Recht  wäre,  den  Weifen,  einem  Richard  Löwen- 
herz jene  Pläne  weitgehender  Tragweite  zu  imputiren,  die  er  ihnen 
imputirt.  Auf  jeden  Fall  waren  die  unerquicklichen  Händel ,  die 
wegen  Tuskulum  zwischen  dem  Kaiser,  den  Römern  und  dem  Pabst 
Statt  fanden  ein  schlechtes  Omen  für  den  weiteren  Fortgang  der 
deutschen  Operationen.  Zwar  drangen  die  Truppen  Heinriche  mit 
> deutscher  Wuth«  in  Unter-Italien  ein,  eine  Stadt  nach  der  andern 

als  die  Belagerung  von  Neapel  unternommen  ward.  Die  Deutschen 
erlagen,  wie  schon  so  oft  im  Süden  erlebt  war,  den  Einwirkungen 
eines  giftigen  Klimas.  Tausende  wurden  in  kurzer  Zeit  durch  an- 
steckende Krankheiten  dahingerafft,  nnd  zu  gleicher  Zeit  kam  die 
Verrätherei  des  jungen  Heinrich  von  Braunschweig  an  den  Tag, 
der,  da  das  Glück  dem  Kaiser  abhold  wurde,  in's  feindliche  Lager 
überging.  Heinrich  VI.  musste  sich  zur  Aufhebung  der  Belagerung 
und  zur  Rückkehr  nach  Deutschland  entschliessen.  Er  brachte  nur 
wenige  von  denen  die  ihn  nach  Italien  begleitet  hatten  in  die 
Ueimatb  zurück.    Seine  Gemahlin  Konstanze  fiel  in  Salerno,  um 


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Tneche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


das  Unglück  zu  vollenden,  in  die  Hände  der  Feinde.  Die  Salerni- 
taner  Hessen  es,  da  sie  als  alte  Republikaner  der  Bache  Heinrich  s 
abgeneigt  waren,  geschehen,  dass  Tankred's  Admiral  sie  in  ihrer 
Stadt  gefangen  nahm.  Wohl  können  wir  dem  Verf.  zugeben,  dass, 
wie  er  in  fast  romantischer  Weise  berichtet,  Heinricb's  Stimmung 
durch  das  Misslingen  gegen  Tankred,  durch  sein  eigenes  körper- 
liches Leiden  die  dunkelste  war,  als  er  in  trüben  und  ranhen 
Decembertagen  über  die  schneebedeckten  Alpen  zog.  Die  Natur, 
welche  ihn  umgab,  stimmte  zu  deu  Gedanken ,  die  damals  seinen 
Geist  bewegten.  Aber  er  war  der  Charakter  nicht  den  Unglück 
beugte  und  in  fruchtlose  Melancholie  zerfliessen  Hess.  Die  Rache 
die  er  an  dem  verrätherischen  Weifen  nehmen  wollte,  erfüllte  jetzt 
Beine  ganze  Seele.  Er  verwarf  jeden  Vorschlag  zur  Versöhnung. 
Zu  Pfingsten  1191  auf  dem  Reichstag  in  Worms  wurde  Heinrich 
von  Braunschweig  öffentlich  in  die  Acht  erklärt.  Es  zeigte  sich, 
dass  der  bestimmte  Wille  des  Kaisers  in  allen  Stücken  durchgriff ; 
in  der  Wahl  eines  seiner  Räthe  zum  Bischof  von  Worms,  in  der 
sofortigen  Zepterbelohnung  des  Bruno  von  Dassel  mit  dem  Erz- 
bisthum Köln,  in  der  Entscheidung  der  streitigen  Wahl  eines 
Bischofs  von  Limburg  nach  seinem  Ermessen.  Bei  eingetretener 
streitiger  Wahl  ernannte  nämlich  der  Kaiser  an  die  Stelle  der 
beiden  Erwählten  einen  Dritten,  wozu  er  nach  dem  Wormser  Kon- 
kordat von  1122  nicht  berechtigt  war;  er  erklärte  im  Jan.  1192 
den  Probst  Lothar  von  Hochstaden  zum  Bischof.  Ein  lauter  Auf- 
ruhr folgte  seinen  Worten,  die  ganze  Lüttioher  Geistlichkeit  legte 
Verwahrung  ein.  Die  Majorität  Hess  sich  weder  durch  Drohung 
noch  Gewaltthat  des  Kaisers  einschüchtern.  Und  sie  fassten  auf 
gutem  Recht.  Das  Wormser  Konkordat  besagte  nur,  dass  der 
König  den  Besseren  unter  den  Gewählten  einsetzen,  nicht  dass  er 
einen  Dritten  an  die  Stelle  bringen  könne.  Von  Rom  erfolgte  denn 
auch  der  Bescheid ,  dass  die  Ernennung  Lotbar's  ungültig  sei. 
Albert  von  Brabant  ward  als  der  rechtmässig  gewählte  von  der 
Kurie  anerkannt,  da  es  ihm  gelungen  war  unter  Schwierigkeiten 
und  Entbehrungen  aller  Art  Rom  zu  erreichen.  Er  kehrte  mit 
feierliehen  päbstlichen  Bestätigungsschreiben  seiner  Wahl  nach 
Löwen  zurück,  von  wo  ihn  aber  der  strenge  Befehl  des  Kaisers 
sofort  vertrieb.  Da  weihte  ihn  der  entschlossene  unabhängige  Erz- 
bischof  von  Rheims  am  20.  September  zum  Bisohof  von  Lüttich. 
Jedoch  zwei  Monate  später  war  Bischof  Albert  eine  Leiche.  Er 
ward  am  24.  Nov.  1192  durch  drei  deutsche  Ritter,  Lüttioher 
Lehensmänner,  die  er  gastlich  aufgenommen  hatte,  ermordet,  und 
auch  Toeche  will  den  Kaiser  von  dem  schweren  Verdacht  nicht 
reinigen,  dass  er  der  Anstifter  der  Unthat  gewesen  sei.  Er  hat 
zwar  eidlich  jede  Kunde  abgeschworen ,  aber  den  ebenso  gewich- 
tigen Eiden  des  Grafen  von  Hochstaden  haben  schon  die  Zeitge- 
nossen keinen  Glauben  geschenkt.  Es  wäre  möglioh,  dass  die  Mör- 
der nur  von  der  Partei  Hoohstadens  angestiftet  waren.  Aber  ohne 


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Toeehe:  Kaiser  Heinrich  VI. 


Wissen  des  Kaisera  unternahm  sein  Günstling  sicherlich  Nichts; 
im  Gegentheil,  die  vom  Kaiser  geschützte  Partei  hätte  sich  gewiss 
am  Liebsten  still  nnd  von  seiner  Leitung  abhängig  gehalten.  Auch 
ist  die  Annahme  nioht  ausgeschlossen,  dass  die  Mürder  völlig  selbst- 
ständig  aber  in  Hoffnung  auf  Belohnung  zwar  ohne  Mitwissen, 
aber  doch  im  Sinne  des  Kaisers  handelten.  Dass  aber  Heinrich  VI. 
den  Mörder  wirklich  nicht  bestrafte,  haben  schon  die  gemässigsten 
Stimmen,  Freunde  und  Anhänger  des  Kaisers  nicht  nnr  als  Be- 
weis, dass  die  That  ihm  wohlgefällig  war,  sondern  als  eine  Be- 
stätigung seiner  Mitschuld  angesehn.  Heinrich  hat  die  Verbrecher 
in  Apulien  später  sogar  mit  Grafschaften  belohnt.  Und  endlich 
widersprach  es  seinem  Charakter  nicht,  sich  jedweden  Mittels  zn 
bedienen,  welches  den  Widerstand  brechen  und  ihn  zum  Ziele  füh- 
ren konnte.  In  seinem  Geist  überstürzten  sich  die  kühnsten  Pläne. 
Mit  Hast  jagte  er  dem  nächsten  nach,  nur  um  einen  späteren 
•lesto  eher  in's  Werk  setzen  zu  können.  Widerstand  störte  ihm 
nicht  eine  ruhige  willkürliche  Entwicklung  nur  für  den  Augenblick, 
sondern  hemmte  die  ganze  Reihe  von  Entwürfen ,  die  ihn  alle  zu 
gleicher  Zeit  beschäftigten,  und  die  zu  verwirklichen  ein  volles 
Menscbenalter  und  eine  ebene  rastlos  durchlaufene  Bahn  kaum  ge- 
nügten. So  sollte  denn  auch  die  Mordthat,  weit  entfernt  die  von 
Heinrich  gehofften  Zwecke  zu  erfüllen,  nur  dazu  dienen,  die  feind- 
lichen Elemente  die  gegen  ihn  im  Verborgenen  und  offen  vorhan- 
den waren,  in  Fluss  zu  bringen,  eine  allgemeine  Fürstenempörung 
hervorzurufen,  die  den  Kaiser  an  den  Rand  des  Verderbens  brachte. 
Während  der  Kampf  zu  Ausgang  der  80er  Jahre  von  den  grossen 
Streitfragen  zwischen  der  geistlichen  und  weltlichen  Macht  bewegt 
nnd  getragen  wird,  trieb  jetzt  eine  heftige  Kränkung  der  geist- 
lichen Interessen  die  gegnerischen  Fürsten  in  den  Kampf,  der  aber 
in  der  Folge  den  ursprünglichen  Absichten  seiner  Theil nehmer  ge- 
treu, dennoch  überwiegend  zu  Gunsten  der  weltlichen  Fürsten  ge- 
führt ward.  So  eng  waren  die  Interessen  der  weltlichen  und  der 
geistlichen  Fürsten  verknüpft,  dass  in  beiden  Fällen  auf  den  Druck  den 
der  Kaiser  gegen  die  Einen  wagte,  sofort  der  Aufstand  auch  der 
Andern  erfolgte.  Sachsen,  Lothringen,  Zähringen,  Böhmen  standen 
nun  wider  den  Kaiser  beisammen.  Von  allen  deutschen  Landen 
«raren  nur  Oestreich  und  Baiern  von  dem  Einfluss  der  aufrühreri- 
schen Fürsten  frei.  Es  ist  ein  grosses  Verdienst  des  Verf.,  dass 
er  diese  bisher  wenig  beachteten  Begebenheiten  klar  dargelegt,  sie 
anter  einem  Gesichtspunkt  entwickelt,  über  Ausdehnung,  Macht  und 
Ziele  des  Fürstenbundes  und  die  gefahrvolle  Lage  des  Kaisers  Licht 
verbreitet  hat.  Man  stand  vor  dem  Beginn  eines  verderblichen 
Krieges  den  der  Kaiser  mit  ungleichen  Waffen  aufzunehmen  ge- 
nrongen  war.  In  diesem  bangen  Augenblick  geschah  ein  Ereig- 
niss,  welches  plötzlich  wie  eine  wunderbare  Schickung  den  Kaiser 
ms  seiner  Bedrängniss  befreite  und  den  Arm  der  Fürsten  lähmte : 
Könur  Ricb&rd  von  England,  der  mächtige  Bundesgenosse  der  Weifen 


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64 


Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


war  von  Herzog  von  Oestreich  gefangen  genommen  worden.  Es 
lässt  sich  nach  dem  Bisherigen  schliessen,  dass  der  Verf.  auf  die 
Darstellung  der  Gefangenschaft  Richarde  und  seines  Verhältnisses 
zum  Kaiser  neues  Licht  verbreiten,  und  die  vielfach  verworrenen 
Urtbeile  die  sich  bisher  an  jenes  ausserordentliche  Ereigniss  knüpf- 
ten, klären  wird.  Während  man  bisher  Heinrich's  Geldgier  als  deu 
einzigen  Grund  ansah,  weshalb  er  den  berühmten  englischen  König, 
der  nie  sein  Feind  war,  widerrechtlich  gefangen  hielt  und  einen 
unabhängigen  König  vor  sein  Tribunal  forderte,  ist  es  Dr.  Toeche 
gelungen  den  tieferen  Zusammenhang  jener  Begebenheiten  mit  der 
Politik  des  Kaisers  zu  ergründen,  und  den  geschichtlichen  und 
vaterländischen  Gesichtspunkt  für  die  Beurtheilung  des  Verhält- 
nisses  zwischen  Kaiser  und  König  an  massgebende  Stelle  zu  rücken. 
Otto  Abel  war  der  Einzige,  der  die  Nichtigkeit  und  Unwürdigkeit 
des  bisherigen  Urtheils  erkannt  hat ;  und  auf  demselben  Weg  geht 
auch  Toeche  vorwärts  ohne  sich  durch  die  sentimentale  Nachrede 
beirren  zu  lassen,  dass  er  den  Schleier  romantischer  Dichtung  zer- 
rissen und  jene  Sage  von  dem  treuen  Sänger  Blardel  unerbittlicher 
Kritik  unterzogen  hat.  Unbeirrt  von  dem  Vorwurf,  dass  er  das 
erhebende  Werk  der  Poesie  zerstöre,  kann  der  Historiker  gerade 
an  die  Untersuchung  solcher  Vorgänge  mit  besonderer  Freude  und 
Erwartung  gehn  :  denn  bis  in  die  neueste  Zeit  hat  die  sagenbil- 
dende Kraft  des  Volkes  immer  an  erhabene  oder  an  entscheidende 
Momente  oder  an  solche  angeknüpft,  die  mit  besonderer  Prägnanz 
den  Charakter  einer  Zeit  oder  eines  Mannes  gleichsam  typisch  er- 
scheinen lassen:  so  hat  sich  die  Sage  von  Friedrich  dem  Grossen, 
der  nach  der  Kolliner  Schlacht  auf  dem  Brunnenrohr  sitzend,  im 
Sande  mit  dem  Stocke  zeichnet,  und  von  den  drei  Monarchen,  die 
bei  der  Nachricht  vom  Siege  von  Leipzig  betend  in  die  Kniee 
lallen,  fest  im  Volke  eingebürgert.  Und  doch,  wenn  der  Forscher 
seinem  Berufe  getreu  in  solchen  Fällen  das  Gewebe  der  Dichtung 
zerreisst  und  die  reinen  Formen  geschichtlicher  Wahrheit  enthüllt, 
kann  er  sich  damit  getrösten ,  dass  er  an  Stelle  jener  unwahren 
Schönheit  jedesmal  eine  schöne  Wahrheit  setzt.  Mit  solchem  Ge- 
winn lohnt  auch  eine  Untersuchung  der  Gefangeuschaft  von  Bichard 
Löwenherz  streng  nach  geschichtlicher  Ueberlieferung :  der  poetische 
Gehalt  des  Vorgangs  kommt  erst  dann  zu  voller  reiner  Geltung. 

(Fortsetzung  im  nächsten  Heft ) 


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k  S.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Schimpf  und  Ernst  von  Johannes  Pauli.  Herausgegeben  von  Her- 
mann Oesterley.  Stuttgart,  Gedruckt  auf  Kosten  des  literari- 
schen Vereifis.  1866.  559  8.  Qross-Octav. 

Mit  nicht  geringer  Freude  wird  ein  bedeutender  Theil  der  ge- 
lehrten Welt  die  vorliegende  neue  Auagabe  eines  Werkes  empfan- 
gen, welches  für  die  deutsche  Sprache  und  Sittengeschichte,  so  wie 
für  die  Geschichte  der  romantischen  Poesie  einen  mehr  als  ge- 
wöhnlichen und  vielfach  hervorgehobenen  Werth  besitzt ;  denn  jeder 
Literarhistoriker,  der  dasselbe  mehr  oder  minder  ausführlich  er- 
wähnt ,   spendet  ihm  ein  hohes  Mass  von  Lob  und  Anerkennung. 
Gleichwohl  war  > Schimpf  und  Ernst«  wie  die  meisten  Drucker- 
zeugnisse jener  Zeit ,  in  seiner  ursprünglichen ,  unverfälschten  Ge- 
stalt wenigstens,  sehr  schwer  zugänglich  geworden,  und  dies  er- 
klärt die  obige  beifällige  Aeusserung;  wir  besitzen  nämlich  nun 
einen  Wiederabdruck  der  ältesten,  vollständigsten  und  allein  zuver- 
lässig durch  Pauli  selbst  besorgten  Ausgabe  von  1522,  »deren  Text 
in  der  vorliegenden  Bearbeitung  mit   möglichster  Treue  wieder- 
gegeben ist«,  wie  Dr.  Oesterley  bemerkt,  der,  in  der  Einleitung 
die  Pauli  selbst  betreffenden  leider  nur  in  geringem  Umfange  be- 
kannten Lebensumstände  voransendend,  dann  auf  die  Bibliographie 
von  »Schimpf  und  Ernst«  genauer  eingeht.    Wir  ersehen  daraus 
unter  anderm  auch ,  welch*  beneidenswerthen  Ruf  die  Münchener 
Bibliothek  sich  durch  die  Vorsicht  erworben,  womit  sie  ihre  Schätze 
bewahrt ;  denn  einige  ältere  Drucke  von  Pauli's  Werk,  die  sie  be- 
sitzt, »habe  ich ,  bemerkt  der  Herausgeber,  nach  den  Erfahrungen 
mehrerer  Freunde,  namentlich  E.  Gödekes,  nicht  versuchen  können 
mir  zugänglich  zu  machen.«  Ein  Versuch  jedoch  konnte  immerhin 
nichts  schaden,  wenigstens  hätte  im  Verweigerungsfalle  das  gleich- 
falls mit  Bezug  auf  den  Vorstand  einer  öffentlichen  Bibliothek  be- 
rühmt gewordene  »pro  singulari  sua  humanitate  negavit«  eben  nur 
•ine  neue  (die  wievielte?)  Auflage  erlebt.  Ausser  dem  sorgfältigen 
Wiederabdruck  der  Editio  prineeps  finden   wir  aber  auch  noch 
andere  höchst  Schützens  wert  he  Beigaben,  die  der  ganzen  Arbeit 
einen  um  so  höhern  Werth  verleihen.  Nicht  nur  sind  als  Anhang 
eine  Beihe  von  Erzählungen  aus  den  späteren  Drucken  hinzuge- 
kommen, sondern  ferner  noch  ein  doppeltes  Register,  wovon  das 
erste  anch  die  Berichtigungen  in  der  Zählung  des  Textes,  das  zweite 
die  von  Grimm  in  letzterer  Beziehung  für  nothwendig  erachtete 
Vergieichnng  der  wichtigsten  Ausgaben  bietet.    Demnächst  folgt 
LX.  Jahrg.  1.  Heft.  5 


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66 


Pauli:  Schimpf  und  Fruit 


ein  in  mehrfacher  Hinsicht  sehr  willkommenes  Verzeichniss  der  in 
den  Nachweisangen  häufiger  und  abgekürzt  oitirten  älteren  und 
neueren  Werke  und  Ausgaben  (unter  Dialogus  Creaturarum  ist  aut 
Nicolaus  Pergaminus  verwiesen,  der  jedoch  nicht  aufgeführt  steht ; 
s.  über  dens.  Robert,  Pables  inöd.  vol.  I.  p.  OVI  vgl.  Grässe  2, 
2,  714);  ferner  die  Nachweisungen  über  den  Ursprung  und  die 
Verbreitung  der  einzelnen  Erzählungen,  welche  eine  Hauptzierde 
von  Oesterley's  Arbeit  ausmachen,  und  worauf  ich  weiter  unten 
ausführlicher  zurückkomme ;  die  dabei  gegebene  kurze  Inhaltsan- 
gabe jedes  Stückes  ist  ganz  besonders  willkommen,  wie  Fachge- 
nossen leicht  erkennen  werden ;   endlich  den  Sohluss  bildet  ein 
Wörterverzeichniss,  welches  nur  hin  und  wieder  einige  Lücken  bie- 
tet; so  fehlt  »figent«  Feind  373,  19,  433,  22;  »bartman«  349,  4 
(Gelehrter?  vgl.  Baretsleute  in  Grimm's  W.-B.,  wo  auch  Bautman 
steht,  aber  in  anderer  Bedeutung)  und  so  noch  einzelnes.  Ersteres 
Wort  (figent)  entspricht  in  seiner  Form  der  von  vigel  d.  i.  Veial, 
Veilchen,  welches  360,  12.  80  in  der  Verbindung  bauren  vigel 
(grumus  merdae)  vorkommt.  Dieser  Ausdruck  stammt  wahrschein- 
lich aus  dem  bekannten  Neidhart'schen  Schwank,  worüber  s.  v.  d. 
Hagens  M8.  3,  202.    »Der  Vial«;  vergl.  Kellers  Fastnachtspiele 
8.  393  ff.  no.  53.  —  Verweilen  wir  nun  einen  Augenbliok  bei  dem 
eigentlichen  Inhalt  der  Erzählungen,  abgesehen  von  ihren  literari- 
schen Beziehungen,  so  kann  man  nicht  umhin,  wie  schon  von  Andern 
bemerkt  worden,  über  die  Offenheit  zu  erstaunen,  womit  -der  Bar- 
füssermönch  nicht  blos  die  Thorheiten  und  Laster  der  Laien ,  von 
den  Bauern  bis  zu  den  Fürsten,  rücksichtslos  geisselt  (i.  B.  no. 
453:  »aber  von  den  Fürsten  glaub  ich  auch  vnd  halt,  das  keiner 
selig  werd  er  sterb  dan  in  der  wegen  [Wiege],  Hec  felix  hemerlin 
etc.),  sondern  auch  die  der  Geistleichen,   sowohl  der  secularen 
(z.  B.  no.  67 — 80,  so  auch  no.  454:    »Die  heischen  Fürsten  ent- 
büten  üch  geistlichen  fürsten  vnd  prelaten  vnd  regierer  der  kir- 
chen  ihren  früntlichen  gruss  als  iren  liebsten  fründen,  wan  ir  zu 
allen  ziten  thun,  was  ihnen  lieb  ist«)  wie  der  Ordensleute  (s.  be- 
sonders 282,  373,  deren  Erbschleicherei  z.  B  497,  ihre  Lttderlich- 
keit  z.  B.  no.  499;  die  angustiner  canonici  reguläres,  die  tragen 
weise  hemder,  vnd  regieren  alle  pfarren  zu  Leibtzig,  die  machen 
viel  kinder  vnd  haben  kein  frawen,  das  sein  seltzame  dinge);  ja 
sogar  ein  Papst  wird  in  die  Hölle  versetzt  (no.  348,  wo  er  nach 
seinem  Tode  dem  Oaplan  erscheint  und  zu  ihm  sagt:  »Ich  bin  ver- 
dampt.    Der  caplan  sprach  warumb,  ir  haben  doch  die  absolutz 
vnd  volkumen  ablas  erworben.    Es  ist  war  sprach  der  babst,  aber 
cristus  hat  den  ablass  nit  angenumen  noch  sigilliert.  Spricht  doctor 
Jacobus  Cartusiensis  der  dis  beschreit  [beschreibt?]«).  Mir  ist  nicht 
gegenwärtig,  ob  Pauli  von  Flacius  Illyricus  unter  die  testes  veri- 
tatis  aufgenommen  ist ;  verdient  hätte  er  dies  jedenfalls,  wäre  es 
auch  nur  um  folgender  8telle  willen.  »Es  klagt  sant  Augustin,  das 


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Pauli:  ßohlrapf  und  Ernst. 


07 


wir  selber  vneeru  »tat  vnd  vusern  glauben  vnd  gesatz  au  vil  be- 
schweren, vnd  sprach,  es  wär  böss  regieren,  darumb  wie  ietz  ge- 
i«gt  ist.  Wer  er  erst  ietzt  vff  erdtreicb,  was  würd  er  dan  spre- 
chen, es  ist  wol  .XI.  hundert  iar  das  er  das  gesagt  hat.  Vnd  die 
leither  sein  kumen  das  Deeret,  das  Decretal,  $ext,  Clenientin,  die 
Bitrauagantes  vnd  so  vil  Statuten,  Constitutionen,  sinodalia  vnd 
gewonbeiten  des  cbors,  das  aduent,  vnd  sein  so  vil  nussschalen, 
das  man  kum  den  kernen  das  ist  das  gottes  gebot,  darvnder  fin- 
den, vnd  legen  uns  selber  so  vil  strick,  wo  einer  binuss  wü,  so 
findet  er  strick,  das  einer  nit  weiss  was  er  thun  sol,  doch  bleib 
bei  dem  alten  rechten  glauben,  vnd  lass  dich  kein  nüwen  propbe- 
Un  irren.«  (No,  262.)  Wir  sehen  hier  zugleich  aus  den  letzte« 
Worten ,  dass  trotz  dem  Verderbniss  der  Kirche  Pauli  sich  den 
»neuen  Propheten«  nicht  anschloss,  womit  selbstverständlich  Zwingli 
und  Luther  gemeint  sind,  welche  eben  damals  ihre  Wirksamkeit 
begannen ;  vielmehr  gibt  er  mit  grösster  Unbefangenheit  den  Zweck 
seiner  Sammlung  in  folgenden  Worten  der  >Vorred«  an.  »Die 
Buch  ist  getaufft  vnd  im  der  nam  vff  gesetzt.  Schimpft  vnd  Ernst, 
wan  vil  schimpff lieber,  kurtzweiliger  vnd  lochorlieber  exempel  darin 
sein,  damit  die  geistlichen  kinder  in  den  beschlossenen  klöstern 
etwa  au  lesen  haben,  darin  sie  zu  zeiten  iren  geist  m$gen  er«» 
lüatigen  vnd  rüwen,  wan  man  nit  alwegen  in  einer  strenckeit  blei- 
ben mag.  Vnd  auch  die  vff  den  Schlössern  vnd  bergen  wonen  vnd 
geil  sein,  erschrockenliche  vnd  ernstliche  ding  finden,  da  von  sie 
gebessert  werden.  Auch  das  die  predicanten  exempel  haben  die 
schlefferlichen  menschen  zü  erwecken  vnd  lüstig  zu  hören  machen, 
auch  das  sie  osterspil  haben  au  ostern,  vnd  ist  nichtz  her  gesetzt» 
dan  das  mit  eren  wol  mag  gepredigt  werden.«  Es  erhellt  hieraus 
also  für  wie  unverfänglich  Pauli  trotz  der  derben  Wahrheiten  seine 
Sammlung  auch  in  kirchlicher  und  theologischer  Beziehung  hielt} 
träte  sie  jetzt  ans  Licht  der  Welt,  eine  Stelle  im  Index  wäre  ihr  # 
bicher.  —  Gehen  wir  nun  zu  einer  nähern  Besprechung  der  von 
Oesterlej  gegebenen  literarhistorischen  Nachweise  über,  so  kann 
man  nicht  umhin,  denselben  ein  wohlverdientes  Lob  zu  ertheilen 
und  sich  darüber  zu  freuen,  dass  wiederum  ein  so  schätzenswerther 
Beitrag  zur  Geschichte  der  erzählenden  Dichtung  geliefert  worden 
ist.  Oestcrley  selbst  bemerkt  hierüber:  »Die  Nachweisungen  über 
den  Ursprung  und  die  Verbreitung  der  einzelnen  Erzählungen  kön- 
nen natürlich  keinen  Anspruch  auf  irgend  welchen  Qrad  von  Voll- 
ständigkeit machen :  sie  geben  nur  das ,  was  sich  bei  Ue issigem 
Suchen  aus  einem  allerdings  ungewöhnlich  reichen  Materiale  zu- 
sammengefunden hat.«  Sehr  willkommen  ist  es  namentlich,  dass 
Oesterley  die  Kirchenschriftsteller  des  frühem  und  spätem  Mittel- 
alters ausgezogen  und  aus  ihnen  eine  reiche  Ausbeute  gewonnen 
bat  Dass  er  frühere  Forschungen  benutzt,  versteht  sich  von  selbst, 
IIS  er  seihst  dies  auch  anführt,  so  dass  er  nichts  verabsäumt  bat, 


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68 


Pauli:  Schimpf  und  Ernst. 


seine  Arbeit  so  ersprieslich  wie  möglich  zu  machen.    Wenn  sich 
gleichwohl  mancherlei  Lücken  finden  (und  er  selbst  gesteht  dies 
zu),  so  wird  wer  ahnliche  Untersuchungen  vorgenommen,  ihm  dar- 
aus ebenso  wenig  einen  ernsten  Vorwurf  machen  wollen,  wie  aus 
manchen  andern  Fehlern  und  Versehen,  die  man  dabei  (ich  weiss 
dies  aus  eigener  Erfahrung)  nur  zu  leicht  begeht.  So  wird  zuwei- 
len Beabsichtigtes  vergessen,  Naheliegendes  übersehen,  Ungehöriges 
herbeigezogen,  Richtiges  unrichtig  angeführt  u.  s.  w.,  wobei  auch 
die  lapsus  calami,  Druckfehler  und  dgl.  eine  unerwünschte  Rolle 
spielen.    In  den  nachstehenden  Bemerkungen  nun  will  ich  keines- 
wegs alles  in  den  genannten  Beziehungen  bei  Oesterley  unvoll- 
kommen Gebliebene  vervollständigen,  vielmehr  beabsichtige  ich  da- 
mit nur  die  Reminiscenzen  und  Berichtigungen  mitzutheilen ,  die 
sich  mir  bei  Lesung  des  Buches  ungesucht  darboten;  so  z.  B.  ist 
No.  15:  »Eine  schrei  als  man  sie  beroubet«  eigentlich  bloss  eine 
andere  Version  von  No.  28  des  Anhangs.  »Ein  künigin  ausz  Frank- 
reich gab  eiu  recht  urteyl«,  weshalb  sie  auch  beide  in  der  Ideler'- 
schen  Ausgabe  des  Don  Quijote  in  den  Anmerkungen  zu  der  be- 
treffenden Stelle  von  P.  II.  c.  45  zusammengestellt  werden;  — 
No.  18.  »Ein  loew  liesz  die  klawen  im  bäum«;  s.  Grimm,  Kinder- 
märchen. No.  72.   »Der  Wolf  und  der  Mensch«;  —  No.  19.  Der 
sun  biss  seim  vater  die  nasz  ab.«  Waldis  3,  39.  »Vom  ungezohen 
Kind  vnd  seiner  Mutter«  und  dazu  Kurz;  —  No.  26.  »Ein  witziger 
folgt  eim  narren.«    Die  angeführten  Stellen  aus  Diocletian,  Gesta 
Rom.  und  Kellers  Sept  Sages  (Sagen  ist  Druckfehler)  enthalten 
nichts  Hierhergehöriges;  —  No.  32.   »Ein  nar  überdisputiert  ein 
witzigen.«    Reinh.  Köhler  in  Pfeiffer's  German.  4,  482  ff.  n.  meine 
Bern,  ebend.  5,  487  eine  mongolische  Erzählung  im  Ardschi  Bord- 
schi; s.  oben  Jahrg.  1866.  S.  937;  —  No.  48.  »Ein  nar  vrtheilt 
zu  bezalen  mit  dem  klang.«    Statt  »Waldis  4,  13«  1.  4,  14.  Zu 
den  angeführten  Stellen  aus  Plut.  u.  Ael.  gehört  auch  Olem.  Alex. 
Strom,  p.  520.  Lutet.  1629  (das  Urtheil  des  ägyptischen  Königs 
Bocchoris);  vgl.  auch  Uhland's  Schriften  zur  Gesch.  der  Dichtung 
und  Sage  3,  220;  —  No.  53.  »Ein  bauer  sucht  CC.  eyer  in  eim 
hun.«    Waldis  2,  15.  »Vom  Antvogel«  und  dazu  Kurz;  vgl.  auch 
Morlini  c.  41  »de  milite  Battino  etc.«  —  No.  57.    »Ein  fasant 
soll  nur  ein  bein  haben.«    Zu  Bidermanni  Utopia  füge  hinzu  »6, 
18«;  s.  auch  Contes  du  Sieur  d'Ouvüle  1,505  ff.  —  No.  72.  »Man 
vergrub  ein  Hund  an  das  geweiht.«    In  Betreff  des  nach  Duniop 
angeführten  Lamai  8.  d' Herbelot  s.  v.  Cadhi  (2,  33bf.  der  deutschen 
Uebers.,  wo  verdruckt  steht  Lamdi«);  —  No.  81.  »Wie  der  tüfel 
ein  stalknecht  holt.«    A  Kuhn,  Westphäl.  Sag.  2,  225.  No^  6. 
»Der  Teufel  und  der  Exekutor«;  J.  W.  Wolf,  Hessische  Sagen 
No.  256.  »Der  Advokat  und  der  Teufel« ;  —  No.  87.  »Gens  und 
enten  half  der  Tüfel  stelen.«     Lucanor  45  (verdruckt  für  49), 
Guicciardini  und  Waldis  passen  sehr  wenig  her.    Berichtige  dem- 


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Pauli:  Schimpf  und  Ernst. 


69 


nach  auch  zu  Dunlop  S.  503»  wo  Ferd.  Wolf  a  Citat  aus  Pauli,  u. 
Kurz  zu  Waldis,  wo  Pauli  und  Lucanor  zu  streichen  sind ;  —  No.  94. 
»Der  dem  tttfel  ein  liecht  vff  zünt.«  Vgl.  Simrock,  Sprüchwörter 
No.  10137.  »Man  muss  dem  Teufel  ein  Eerzchen  aufstecken«; 
Tgl.  auch  No.  10138—40  so  wie  das  französ.  Sprichwort  »bruler 
ane  chandelle  au  diable« ;  —  No.  113:  »Die  witfrau  soll  sechs 
hundert  gülden  kein  on  dem  andern  geben.«  Pantschat.  1,  28. 
§.104;  —  No.  119.  »Die  sach  hangt  noch  am  gericht.«  Apul. 
Flor.  p.  87  Oud. ;  —  No.  130.  »Der  fürst  ward  geladen  in  das 
tal  iosaphat  nnd  kam  da.«  Das  Predigtmärlein  in  Pf.  German. 
3,  419  No.  9  und  dazu  meine  Anführungen  ebend.  5 ,  48  Anm. 
(wo  Wolfs  Deutsche  Sagen  gemeint  sind) ;  —  No.  134.  »Ein  böss 
*eib  tugendhaft  zu  machen.«  Weber,  Indische  Studien  3,  357; 
rergl.  Holtzmann,  Indische  Sagen  2,  258 f.  2.  Aufl.;  —  No.  135. 
»Böse  man  tugendhaft  zu  machen.«  Zu  Grimm,  Mythol.  1153,  8. 
meine  Anführungen  in  den  Heidelberger  Jahrb.  1862.  S.  853  f.  zu 
No.  188;  —  No.  142.  »Das  bösz  weib  rückt  hinter  sich.«  In  die- 
sem Schwank  erwähnt  Pauli  »die  verkert  Adelheid«,  womit  die 
Geschichte  »Von  der  ubeln  Adelbeit  und  ihrem  Man«  gemeint  ist; 
3  Keller's  Altdeutsche  Erzählungen  S.  204  ff.  (Stuttg.  Verein)  und 
dazu  meine  Anführungen  in  Pf.  German.  1,  270;  s.  ferner  das 
Predigtmärlein  ebend.  3,  420  No.  10  und  dazu  meine  Bern,  ebend. 
5,  48  Anm.  so  wie  in  Benfeys  Orient  u.  Occ.  3,  376  zu  No.  61.  ' 
»Die  Widerspenstige« ;  vgl.  auch  Pauli  No.  595  u.  Anhang  No.  12; 

—  No.  150.  »Der  Hafen  sod,  die  tasch  lief  heim.«  Apul.  Metam. 
L  HI.  p.  201  sqq.  Oud.;  —  No.  151.  »Das  weib  segnet  sich  vor 
dempfaffen.«  Vgl.  Grimm,  Mythol.  10 74 f.  1077 ff.  (Priester  als 
böser  Angang) ;  —  No.  167.  »Domitianus  verfolget  Christen  (und 
Mücken).«  Suet.  Domit.  8;  —  No.  172.  »Ein  Hasenstösser  gloryert 
tsi  eim  Hasen.«  Die  Citate  gehören  nicht  hierher;  —  No.  173. 
»Ein  wolf  Hess  ein  kitzi  tantzen.«  Waldis  4,  88.  »Vom  Fuohss  vnd 
dem  Eichhorn« ;  vg!.  4,  2.  »Vom  Fuchss  vnd  dem  Hanen«  und 
tarn  Kurz;  —  No.  174.  »Der  wind  warff  ein  eichbaum  umb.« 
Meine  Anführungen  in  Pf.  German.  7,  504  zu  Waldis  1,  100;  — 
So.  178.  »Vff  eim  bret  betten  zwei  vnglück.«  Zu  dem  zweiten 
Tbeü  »Die  sein  gleich  einem  Hunde  vff  einem  hewhuffen,  der  isset 
ks  hew  nit  u.  8.  w.«  ;  8.  Waldis  1,  64.  »Von  neidigen  Hundt«; 
~  No,  184.  »Vespasianus  hat  gemein  beschlagen.«  Suet.  Vespas. 
23;  —  No.  185.  »Vespasianus  rat  mit  seinem  bruder.«  Suet.  1.  c; 

-  No.  186.  »Ler  mucken  stechen.«  Zu  Waldis  4,  52  (I).  »Vom 
Fachas  vnd  dem  Igel« ;  —  No.  187.  »Vespasianus  solt  man  in 
tyber  werfen.«  Suet.  Vesp.  19;  —  No.  188.  »Ein  fraw  küsset 
respasianum«  Suet.  Vesp.  22 ;  —  No.  189.  »Vespasiano  sagt  ein 
Sprecher  kurtz.«  Suet.  Vesp.  20 ;  —  No.  206.  »Ein  kaiserin  stiess 
•  band  in  das  maul  vergilii.«  Pantschat.  1,  457  ff.  (nioht  455); 
meine  Anführungen  zu  Dunlop  Anm.  383  zu  Timon.  nov.  4.  und 


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70 


P Ati  Ii:  Fchirepf  und  Erriet. 


in  Benfey's  Of.  n.  Occid.  1,  l24f.  Pf.  German.  4,  237.  Du  Menl 
Mölanges  arcbeol.  et  littet.  Paris  1850.  p.  444  f.  und  oben  Jahrg. 
1866.  8.  936  f.  meine  Bemerkongen  zu  der  letzten  Erzählung  des 
Ardscbi  Bordschi ;  —  No.  207.  »Antonius  leid  ein  eebrecberin.« 
Scr.  Hist.  Aug.  in  der  Vita  M.  Anton.  Philos.  19;  -  No.  223. 
»Von  eim  kanfman  der  ein  köpf  mit  bart  ob  eim  tisch  hat  ge- 
sehen.« Zu  Pantschat.  1,  446  gehört  mein  Aufsatz  »Rose  und 
Oypresse«  in  Benfeys  Or.  und  Occ.  2,  88  ff.  Hahn,  Griech.  Mär- 
eben  No.  114.  »Die  heimatssebeue  Prinzessin«  nebst  der  Anra.  2, 
320  und  dazu  meine  Anzeige  in  den  Heidelb.  Jabrb.  1864  8.  220; 
s.  aücb  Bimrock,  Der  gute  Gerbard  8.  89  ff.  »Gedanken  errathen«; 
—  No.  224.  »Von  der  frawen  Gangolfi.«  Vincent.  Bellov.  Spec. 
hist.  23,  159  und  Alber.  Trium  Font,  ad  ann.  766  (1,  102  ed. 
Leibn.);  —  No.  228.  »Der  koler  sach  ein  frawen.«  Gervas.  von 
Tilbury  ed.  Liebrecht.  8.  2Ölff.;  -  No.  241.  »Ein  trunken  weib 
weisit  nichtz  me.t  Val.  Max.  6,  3,  9;  —  No.  243.  »Ein  brüder 
erweit  trunckenheit,  ward  ein  eebreeber.«  Meine  Bern,  in  den  Gött. 
Gel.  Ana.  1866.  S.  671;  —  No.  244.  „Noe  sebütt  fiorerloi  blut 
zü  den  reben."  Meine  Nachweise  in  den  Heidelb.  Jabrb.  1864. 
&  218  zu  Hahn  No.  76;  —  No.  251  „Ein  traebt  kostet  dausent 
gülden."  Plin.  H.  N.  9,  58  und  die  Erklarer;  —  No.  256.  „Kai- 
ser otto  was  am  ostertag  gech."  V.  d.  Hagen  Gesammtab.  No.  4. 
„Heinrich  von  Kempten.*4  und  dazu  meine  Bern,  in  Pf.  German. 
1,  259;  —  No.  257.  „Umb  unschnld  schlug  einer  den  bund." 
Statt  Benfey  lf  497  1.  479;  s.  femer  meine  Bern,  in  den  Gött. 
Gel.  Anz.  1865.  8.  1190 ff.;  —  No.  261.  »Von  dreyen  faulen 
sünen,  welchem  das  reich  zü  gehört.«  Stan.  Julien  Aväd.  No.  94, 
„Le  raari  entre  ses  deox  femmes.«  Ferner  Journ.  asiat.  6,  288 
(erste  iörie)  aus  Shakspeare's  Hindust.  Gramm.:  »Un  nomine  de 
la  tribu  de  Kalath  venait  de  se  coucher  etc.«  Oontes  du  Sieur 
d'Ouville  2,  117  ff.  (Oesterleys  Citat  »Straparola  Samml.  f.  K.  v. 
G.«  bedeutet  »Sammlung  für  Kunst  und  Gesch.  von  Rnmohr.« 
S.  Grimm,  Kinderm.  8,  234.  Gemeint  ist  Strapar.  8,  1  ;  s.  meine 
Bern,  in  Pf.  Germ.  2,  246  zu  No.  151);  —  No.  267.  »Der  dot 
schickt  eim  drei  botten.«  Vgl  auch  Passow  TQayovdia  Pcofiatka  No. 
426—483  und  dazu  meine  Anz.  in  den  Gött.  Gel.  Anz.  1861.  8. 
575 f.;  —  No.  281  »Einer  bot  seiner  seel  viel  gütz.«  Statt  »Lu- 
canor  4«  1.  25.  Ueber  diesen  im  Mittelalter  vielfach  behandelten 
Stoff  von  dem  Streite  zwischen  der  Seele  und  dem  Körper ,  s.  Ferd. 
Wolf,  Studien  zur  Gesch.  der  spau.  und  port.  Nationall.  S.  54  ff. 
162  ff. ;  —  No.  288.  »Markolfus  kunt  kein  bäum  finden,  daran  er 
hangen  wolt«  Statt  »Narrenbuch  S.  256«  1.  266;  s.  ferner  Wob* s 
Bidpai  2,  269 f.  »Der  Bekehrte.«  —  No.  801.  »Einer  abioluiert 
von  künftigen  Sünden.«  Dies  ist  die  allbekannte  Geschichte  von 
Tetzel  und  seiner  Ausplünderung  dureb  eineu  sächsischen  Edel- 
mann, was  Oesteriey  anzumerken  übersehen  bat.    Nach  Albinns 


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Pauli:  Schimpf  und  Ernst.  11 

Meissner  Chronik  15.  446  und  Hecht  in  der  Vita  Tezelii  soll  sie 
im  Jahr  1518  vorgefallen  sein.  Da  nun  aber  Oesterley  als  Quelle 
Paulis,  dessen  Vorrede  zu  Schimpf  und  Ernst  Tom  Jahr  1519 
datirt  ist,  das  Rosarium  des  Bernardinus  de  Bustis  anführt,  wel- 
ches zuerst  Venet.  1498  erschien  (Bernandinus  starb,  wie  man 
glaubt,  nach  dem  Jahr  1500),  so  würde  jene  Tetzeigeschichte  sich 
als  apokryph  erweisen,  falls  die  im  Rosarium  ihr  wirklich  genatl 
entspricht;  —  No.  Sil.  »Der  feohtmeister  schlüg  seinem  schulen- 
den köpf  ab.«  Meine  Anführungen  in  Pf.  Germ.  7,  507  zu  Waldis 
4,  72.  »Von  zweien  Fechtern.«  Plut.  Quaest*  gr.  13  (Moralia  2, 
308  ed.  Tauchnitz);  —  No.  816.  »Der  künig  Hess  einen  köpfen.« 
Streiche  Orässe  Gesta  Rom.  [2]  262  und  füge  hinzu  Petron.  57; 
—  No.  334.  »Von  einem  wolf,  einem  fuchsz  und  einem  geitigen.« 
Pf.  German.  7,  507  zu  Waldis  4,  8.  »Von  einem  hungerigen  Wolffe«  ; 
Xo.  375.  »Ein  äff  warf  den  tritten  pfennig.«  Heywood  Hierarchie 
of  the  Blessed  Angels  p.  577  bei  W.  Scott  Minstrelsy  zu  der 
Ballade  »The  young  Tamlane.«  J.  W.  Wolf,  Hessische  Sagen  No. 
229  >Lollus« ;  —  No.  882.  »Diogenes  ass  kraut,  aduliert  nit.« 
Diog.  Laert.  6.  2^  §.  58 ;  —  No.  388.  »Die  in  saxen  tanzten  ein 
jar.«  Grimm ,  Deutsche  Sagen  No.  231.  Grässe  der  Tann  hauser 
und  der  ewige  Jude  S.  121.  2.  Aufl.  Auch  in  der  Normandie  hei- 
misch; 8.  Du  Meril,  Etudes  sur  quelques  points  d'archeol.  eto. 
p.  472;  —  No.  397.  »Mido  rex  hat  esels  oren.«  Meine  Bern*  zu 
Pantsehat.  in  Eberts  Jahrb.  für  roman.  Litt.  3,  86  ff.  Diese  8age 
findet  sich  auch  in  der  Bretagne;  8.  De  Nare,  Contumes,  mythes 
et  traditions  des  provinces  de  France  p.  219,  so  wie  in  Serbien 
s.  Wnck  Stephanowitseh  Serb.  Märch.  No.  89;  —  No.  899.  »Der 
mund  und  die  glieder  werden  mit  einander  uneins.«  Hierher  ge- 
hört auch  die  äsopische  Fabel  von  den  Augen  und  dem  Munde  bei 
Dio  Cbrys.  vol.  IT.  p.  6  ed.  Dind.  (II,  7  Reiske).  Irre  ich  nicht,  so 
ist  sie  bisher  in  keine  griech.  Fabelsammlung  aufgenommen ;  — 
No.  423.  »Einer  bracht  seinen  grösten  feind.«  Vgl.  aueb  meine 
Anfflbrungen  in  Pf.  German.  2,  244  zu  K.  M.  No.  94  (wo  statt 
»seiner  Frau«  zu  lesen  ist  »seiner  Kebse«),  in  Eberts  Jahrb.  1, 
433  zu  Cintio  de1  Fabrizi  No.  8,  in  den  Heidelb.  Jahrb.  1863. 
3.60  zu  »Dass  man  seiner  Frau  kein  Geheimniss  mittheilen  müsse«[; 
so  wie  ebend.  1866.  8.  626  zu  Oesterleys  Ausg.  von  Shakespeare's 
Jett  Book  No.  49  (in  welcher  Anzeige  statt  »Wolf  Kinderm.  No. 
135«  1.  125).  Die  beiden  Citate  Oesterleys  zu  der  in  Rede  ste* 
benden  Erzählung  Paulis  »Enxemplo  847«  und  »Gallensis  2,  1,  4« 
gehören  eigentlich  nicht  dahin,  sondern  zu  No.  269.  »Der  künig 
rtünd  gegen  nidergang«  wo  sie  auch  angeführt  sind;  —  Nö.  427, 
»Denmarker  beten  ein  hund  zu  eim  künig.«  Meine  Bemerk,  oben 
Jahrg.  1865.  S.  1151;  füge  hinzu  8axo  Gramm.  1.  Vit.  p.  120. 
Praocof.  1576  (Gunnar  gibt  den  Norwegern  einen  Hund  zum  Re- 
genten) ;  —  No.434.  »Der  Hund  verriet  ein  mörder.«  Gervas.  von 


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Pauli:  Schimpf  und  Tarnet. 


Tilbury  S.  118 f.;  —  No.  436.  »Zwo  elen  tüchs  gab  einer  seinem 
vatter  zü  eim  rock.«  Dunlop-Liebrecht  Anm.  354h.  Stan.  Julien 
Avadän.  2,  144  No.  121;  —  No.  463.  »Der  man  gab  eim  das 
pferd.«  Ayrer  No.  61.  »Der  Forster  im  Schmal tzkübel«  (S.  3068 
ed.  Keller);  —  No.  471.  »Socrates  ward  beschüt.«  Zu  Seneca 
ergänze  »De  constant.  sap.  o.  18.«  S.  auch  Diog.  Laert.  2,  5. 
§.17;  —  No.  475.  »Einer  spüwet  den  künig  in  sein  bart.« 
Diog.  Laert.  2,  8.  §.  75.  Busone  da  Gubbio  1.  III.  e.  D ;  s.  Dun- 
lop  Anm.  451  8.  51  lft ;  —  No  481.  „Kein  tag  vergat  on  leiden  « 
Ueber  Erblinden  durch  Schwalbenkoth  vgl.  meine  Uebers.  von  Ba- 
sile's  Pentamerone  1,  147.  2,  59.  Dieser  Volksglauben  ist  entstan- 
den ans  dem  Buch  Tobiae  2,  11;  —  No.  489.  »Zwen  wetteten 
mit  einander.«  Erin  von  K.  v.  K.  Stuttg.  1847.  Bd.  6.  S.  230. 
»Owney  und  Owney-na-Peak« ;  —  No.  494.  »Der  wolf  verklagt 
den  fuchs  falsch.«  Grimm,  Reinh.  Fucbs  CCLXXXIII.  No.  85  (aus 
Rabbi  Berachia);  Robert,  Fables  inöd.  2,  559  No.  21;  ferner  die 
bottentottische  Fabel  vom  kranken  löwen,  No.  10.  der  englischen 
Sammlung,  welche  ich  in  Lazarus  und  Steinthals  Zeitschrift  Bd.  V. 
Heft  1  besprochen;  —  No.  502.  »Ein  jüngling  kam  gen  rom.« 
8tatt  Octavians  tritt  auch  Heinrich  IV.  von  Frankreich  ein;  s. 
L'Esprit  dans  l'Hist.  par  Ed.  Fournier.  Paris  1857.  p.  17 f.;  — 
No.  505.  »Der  bület  der  grossen  römer  weiber.«  Suet.  Octav.  c. 
69;  —  No.  509.  »Darius  schickt  Alexandre  ein  sack  voll  mag- 
somen.«  Reinhard  Köhler  in  Pf.  Germ.  4,  491  f.;  —  No.  510. 
»Julius  fragt  sein  frawen.«  Macrob.  Sat.  2,  5  (p.  348  Bip.);  — 
No.  516.  »Kropfecht  lüt  machten  gesund.«  Ueber  diese  mehren 
Königsgeschlechtern  beigelegte  Eigenschaft  s.  die  Abhandlung  von 
Paulus  Cassel,  Le  roi  te  touche.  Berlin  1864;  —  No.  518.  »Der 
künig  begert  zu  wissen.«  Das  bekannte  Apophthegma  des  Kleobu- 
los:  pdtQQV  agiatov.  Diog.  Laert.  1,  6.  §.  93;  —  No.  522.  »Dem 
bösen  geist  hat  sich  einer  ergebe»,  ward  erlösst.«  J.  W.  Wolf, 
Niederi  Sagen  No.  358.  »Ritter  Riddert«;  vgl.  No.  359.  »Sanct 
Gertrudeu-Minne«  und  Grimm,  Mythol.  54 f.;  —  No.  560.  »Sibilla 
zögt  Octaviano  ein  bild.«  Gervas.  Tilber.  Otia  Im  per.  Decis.  IL 
c.  16.  p.  927  sq.  (bei  Leibnitz  Scr.  Rer.  Bruns v.).  Diese  Stelle 
habe  ich  in  meine  Auswahl  nicht  aufgenommen.  Fast  wörtlich 
stimmt  damit  überein  Mirabilia  Urbis  Romae  »De  jussione  Octa- 
viani  imperatoris  et  responsione  Sibillae«  (Grässe,  Beiträge  zur 
Litt,  und  Sage  des  Mittelalters,  S.  6  ff.).  S.  auch  Leg.  aur.  c.  6. 
»De  nativitate  doraini«  (p.  44  ed.  Grässe) ;  vergl.  Gottfried  von 
Viterbo  P.  IX.  p.  181.  P.  XV.  p.  358  ed.  Pistor.,  besonders  aber 
August,  de  Civ.  Dei  18,  23  der  das  ganze  aus  dem  achten  Buch 
der  Pseudosibyllinen  übersetzte  Gedicht  mittheilt,  wovon  Gervas. 
nur  die  drei  ersten  Verse  anführt  Es  bildet  im  Original  und 
ziemlich  auch  in  der  Uebersetzung  ein  Akrostichon,  nämlich  die 
Worte:  Tiftfovs  XQKSvog  Gsov  'Vwg  Zat-fo.  Da  die  Anfangsbuch- 


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Paul!:  Schimpf  und  Ernst. 


staben  dieser  fttnf  griechischen  Worte  wiederum  das  Wort  t%&vg 
geben,  so  wurde  bekanntlich  Christus  selbst  häufig  mit  'l%&v<s  oder 
durch  die  Abbildung  eines  Fisches  bezeichnet.  Vgl.  Joh.  Franz, 
Ein  christliches  Denkmal  von  Autun.  Berlin  1841.  S.  34  ff. ;  und 
über  die  Sibylle  auch  noch  v.  d.  Hagen  Gesammtab.  Bd.  L  p.  LXX ; 

—  No.  561.  »Zwei  hundert  jar  was  ein  ritter  aus,  meint  es  wer 
nur  ein  stund«,  und  No.  562.  »Ein  vogel  sang  eim  brüder  CCO. 
iar.«  Gervas.  ed.  Liebrecht  S.  89.  Maurer,  Isländ.  Sagen  S.  198  ff. 
und  dazu  meine  Anzeige  in  den  Gött.  Gel.  Anz.  Jahrg.  1861.  S.  435. 
Mussafia,  Ueber  die  Quelle  des  altfranz.  Dolopathos.  Wien  1865. 
8.  14  ff.  (Sitzungsberichte  der  phil.  hist.  Classe  der  Wiener  Akad. 
Bd.  48).  Walterus  Mapes  Nugae  Curial.  1,  11  de  Herla  rege;  vgL 
Uhland  in  Pf.  German.  1,  6  und  dazu  Erin  von  K.  v.  K.  3,  163  f. 
Dass  diese  ganze  Vorstellung  von  dem  unbemerkten  Verschwindon 
langer  Zeiträume  im  Orient  heimisch  ist  und  wahrscheinlich  von 
dort  herstammt,  erhellt  aus  mehreren  der  genannten  Anführungen ; 
auch  von  des  parsischen  Jima  Garten  wird  gesagt,  dass  er  sein 
eigenes  Licht  hatte  und  seine  Bewohner  für  einen  Tag  halten  was 
ein  Jahr  ist.  Vgl.  Braun,  Naturgescb.  der  Sage  1,  134  (München 
1864);  s.  ferner  die  Analyse  einer  chinesischen  Feenoper.  »Die 
Fischergrotte"  in  dem  Journal  asiat.  IVme  sörie  vol.  18  p.  518  ff., 
welche  mehreren  der  oben  angeführten  Sagen  auffallend  ähnlich  ist ; 

—  No.  571.  »Der  ein  hat  nichts,  dem  andern  kunt  nit  genug  wer- 
den, c  Val.  Max.  6,  4,  2 ;  —  No.  595.  „Lüszknttcker  namt  eine 
ihren  man."  Vgl.  oben  zu  No.  142;  —  No.  606.  „Den  himel  hüob 
ein  fogeL"  Statt  „Jahrb.  für  rom.  Litt.  5"  1.  3.  Füge  hinzu  Ben- 
fey  Or.  o.  Occ  1,  671  aus  Kalilah  und  Dimnah:  „Vier  fürchten 
ohne  Ursache,  ein  junger  Vogel  u.  s.  w.";  —  No.  614.  „Dem 
thürhieter  gab  man.  L.  streich."  Dunlop-Liebrecht  S  257  u.  Anm. 
330b.  Ueber  das  daselbst  erwähnte  engl.  Gedicht  Sir  Cleges  s.  auch 
W.  L.  Holland  Crestien  de  Troies.  Tübingen  1854.  S.  62 f.;  — 
No.  625.  „Der  reich  det  dem  armen  schaden."  Senec.  Controv.  5, 
5.  „Exusta  domus  cum  arbore" ;  p.  441  Bip. ;  —  No.  635.  „Poli- 
krates  hat  gross  Glück."  Gervas.  S.  77  f.  Anm.  J.  W.  Wolf,  Bei- 
träge zur  deutschen  Mythol.  2,  459  ff.  A.  Kuhn,  Westphäl.  Sagen 
1,  375 f.  No.  421.  Mussafia,  Ueber  die  Quelle  des  altfranz.  Dolo- 
pathos S.  17  ff.  —  No.  637.  „Drü  weiber  hanckten  sich  selbs." 
Diog.  Laert.  6,  2.  §.  52 ;  —  No.  639.  „Der  eebrecher  bessert  sich." 
Dunlop.S.  299  zu  Heptam.  de  la  ßeine  de  Navarre  No.  38;  — 
No.  647-  „Der  neidig  vnd  geitig  begerten  Ion."  Lorenzo  Segura 
Poema  de  Alexandro,  copla  2196  (Sanchez,  Colleccion  etc.  Madrid 
1782  vol.  1,  307  f.);  ein  Meistergesang  des  16.  Jahrg.  bei  Uhland 
Werke  zur  Geschichte  der  Dichtung  3,  265.  (Was  das  von  Oester- 
ley  aus  Kurz  zu  Waldis  2,  5  entnommene  Citat  „Liebrecht  in  Pf. 
German.  2,240"  bedeuten  soll,  ist  mir  unklar);  —  No.  648.  „Die 
tibkng  macht  den  künig  gesehen."  S.  meine  Anzeige  von  Uhland 


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Pauli:  Schimpf  und  Emet, 


Bd.  II.  in  den  Gött.  Gel.  Anz.  1866.  8.  1639  zu  S.  99.  „Der 
kaiser  und  die  schlänge"  wo  Z.  19  statt  „German.  J"  zu  lesen 
„Germ.  1;  —  No.  662.  „Cyrus  bereitet  den  Tisch  amasonibus." 
Herod.  1,207,211;  —  No  682.  „Von  heimlichen  urteilen  gottes." 
Tauaendundeintag  Tag  27.  28.  29.  Hammer,  Rosenöl  1;  162.  Hur- 
witz, Hebrew  Tales  pag.  18  ff.  2te  ed.  (Deutsch  erschienen  Leip- 
zig 1826).  „Die  Geschichte  des  Rabbi  Akiba."  (Unter  Oesterleys 
Ci taten  lies  Enxemplo  161  statt  151  und  Parnell  statt  Porneil); 

—  No.  685.  „Gregorius  bewegt  ein  berg."  Mit  der  „historia  lam- 
pertica"  ist  gemeint  die  hist.  Lombardica  d.  i  Lcgenda  aurea,  wo- 
selbst c.  145  „de  S.  Michaele  (p.  642  ed.  Grösse)  das  zweite  und 
dritte  Wunder  erzählt  ist.  —  Anhang  No.  12.  „Von  einer  wizi- 
gen  frawen."  Pf.  German.  3,  420  No  10  mit  welchem  Predigt- 
märlein ganz  genau  tibereinstimmt  die  versificirte  Erzählung  „A 
Aposta"  von  Francisco  Manuel,  wiederabgedruckt  in  dem  Par- 
naso  Lusitano,  Paris  1827  IV,  374 sqq.  S.  ferner  meine  Bern. 
5,48;  vgl.  zu  Pauli  No.  142.  —  No.  28.  „Ein  ktinigin  au sz  Frank- 
reich gab  ein  recht  urteil."  S.  oben  zu  Pauli  No.  15;  —  No.  36. 
„Von  eim  pfaffen,  der  ob  dem  altar  schreit  der  kunig  trinckt." 
Heber  letzteren  Ausruf  vgl.  Scheible,  Schaltjahr  1,  586.  3,  639. 
5,  627.  —  So  weit  reichen  die  Nachweise,  welche  mir  beim  Durch- 
lesen von  Pauli's  Sammlung  beigefailen  sind;  andere  weiss  ich  zur 
Zeit  nicht  näher  anzugeben;  so  wird  der  Schluss  von  No.  345. 
„Das  evangelium  secundum  pergaraura"  der  das  niedrige  Thürlein 
betrifft,  auch  von  Franz  I.  von  Frankreich  erzählt,  der  während 
seiner  Gefangenschaft  in  Madrid  die  spanischen  Granden,  die  ihn 
*u  tieferen  Reverenzen  nöthigen  wollten ,  auf  die  nämliche  Weise 
verhöhnt  haben  soll;  —  No.  500.  „Einer  sucht  die  8chlttssel  zur 
Abtey",  wird  ebenso  von  Sixtus  V.  berichtet,  der  auf  dieselbe  Art 
die  Himmelsschlüssel  suchte  und  fand ;  Ranke  in  seiner  Geschichte 
der  PHpste  spricht  von  dieser  Anekdote,  wenn  ich  mich  recht  erinnere; 

—  No.  517.  „Der  begert  ein  gab  von  dem  ktinig  von  franckreich" 
ist  mir  schon  in  irgend  einer  orientalischen  Sammlung  vorgekom- 
men u.  s.  w.  —  In  dem  Vorhergehenden  habe  ich  verschiedene  Mal 
Gelegenheit  gehabt  unrichtige  Citate  (wahrscheinlich  meist  nur 
Schreibfehler)  zu  berichtigen,  so  weit  ich  deren  bemerkt;  dazuge- 
hören auch  noch  einige  andere,  wie  S.  513  Z.  3  v.  u.  wo  es  statt 
„(Gesta  Rom.)  lat.  124"  heissen  muss  „englisch  84,  bei  Douce 
2,  410,  welches  Citat  dagegen  S.  504  Z.  18  v  u.  zu  «treichen  ist; 

—  S.  520  Z.  1  v.  o.  1.  „Plin.  35,  36  s.  3.  17";  —  S.  525  Z.  21 
v.  o.  statt  „Justin  4,  5"  1.  2,  10  und  streiche  9,  10;  —  8.  581 
Z.  5.  6.  v.  o.  1.  „Macrob.  Sat.  2,  4  p.  342  Bip."  —  Auch  mehre 
andere  Druckfehler  will  ich  hier  zugleich  mit  berichtigen.  S.  61 
Z.  21  v.  o.  1.  „sive  modis";  —  S.  88  Z.  14  v.  o.  1.  „der  ein 
Richter";  —  S.  170  Z.  14  t.  o.  1.  „verbant";  —  S.  5Ö3  Z.  8 
r.  u.  L  „Discipl.  der.  29,  4";  —  S.  507  Z.  11  v.  o.  bU  „Paat- 


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Gr&fe:  Bestimmung  des  Sehwerpuskts  von  Körpern.  T5 


schat  1,  127"  L?  —  Wahrscheinlich  aus  Versehen  fehlen  zuwei- 
len die  nähern  Citate,  von  denen  ich  einige  bereits  ergänzt,  so 
auch  zn  No.  47.  „Ein  nar  verbrant  ein  ketzer",  wo  schon  im  Text 
Cäsarius  angeführt  ist.  Indess  alle  diese  wie  ähnliche  bei  derglei- 
chen Arbeiten  fast  nnvermeidlicbe  Versehen,  Mängel  und  Unvoll- 
st&ndigkeiten  sind  nur  gering  anzuschlagen  im  Vergloich  mit  dem, 
was  Oesterley  in  der  vorliegenden  trefflichen  Ausgabe  eines  so  viel- 
fach wichtigen  Buches  und  in  den  damit  verbundenen  umfassenden 
höchst  schätzbaren  Nachsuchungen  geleistet  hat.  Zugleich  aber 
lässt  uns  diese  Publication  von  neuem  die  so  erspriessliche  und 
dankenswert  he  Thätigkeit  erkennen,  mit  welcher  der  Stuttgarter 
Litterarische  Verein  nun  schon  lange  Jahre  hindurch  zu  Nutz  und 
Frommen  der  Wissenschaft  wirkt  und  die  sein  immer  mehr  wach- 
sendes Gedeihen  als  besonders  wünschenswerth  erscheinen  lässt. 
Lüttich.  Felix  Liebrecht. 


Utber  eine  allgemeine  Formel  sur  Bestimmung  des  Schwerpunkts  von 
Körpern.  Eine  Folgerung  aus  der  Lehre  über  das  Witt- 
»tdn'sche  Prismatoid.  Von  V.  v.  Gräfe.  Hamburg.  Otto  Meiss- 
ner. 1866.  (28  S.  in  8.) 

Dem  Verf.  der  un6  vorliegenden  kleinen  Schrift  hat  einiges 
Unglück  mit  derselben.  Zunächst  ist  das,  was  er  hier  gibt,  längst 
bekannt,  und  sodann  ist  in  der  Formel,  die  er  doch  wohl  als  die 
hauptsächlichste  ansieht,  ein  Fehler.  Das  sind  sicher  geringe  Empfeh- 
lungen für  dieselbe. 

Der  Inhalt  lässt  sich  sehr  kurz  zusammenfassen.  Es  handelt 
sich  um  die  Berechnung  des  Körperiuhalts  des  (von  Wittstein  so 
genannten)  Prismatoids  und  dann  um  die  Berechnung  des  Ab- 
stands  des  Schwerpunkts  von  der  Grundfläche. 

Wir  müssen  hier,  was  wir  bereits  früher  (11.  Heft  1860) 
gegenüber  der  Wittstein'schen  Abhandlung  gethan,  anführen,  dass 
üe  Formeln  für  das  Prismatoid  längst  schon  gefunden  sind ,  und 
*  also  Unrecht  ist,  an  diesen  Körper  den  Namen  Wittsteins  (des- 
sen Verdienste  wir  sicher  von  Herzen  auerkennen)  zu  knüpfen, 
was  Wittstein  gewiss  selbst  nicht  verlangt.  Es  ist  dem  Verf.  dess- 
balb  als  der  beste  Ausweg  in  solchen  Fällen  der  zu  empfehlen, 
keine  Namen  anzuführen  und  sich  mit  der  Sache  zu  begnügen. 

Was  nun  aber  das  Prismatoid  selbst  botrifft ,  so  ist  das  ein 
-anz  spezieller  Fall  eines  viel  allgemeinem  Körpers,  den  der  Verf., 
wenn  er  Integralrechnung  vermeiden  will ,  in  der  vortrefflichen 
Schrift  von  Zehme:  »Die  Geometrie  der  Körper«  (vergl.  diese 
Blätter,  XII.  Heft  (1859)  auf  S.  76  elementar  behandelt  findet. 
(Eine  nähere^  Untersuchung  findet  sich  S.  86  des  angeführten  Bu- 


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76  Grfcfe:  Bestimmung  des  Schwerpunktee  Ton  Körpern. 

ohes  noch  weiter).  Dort  wird  er  ersehen,  dass  die  von  ihm  ge- 
fundene Formel  nur  in  so  weit  gilt,  als  der  Inhalt  eines  Schnitts, 
parallel  zu  den  begränzenden  Grandflächen,  durch  die  Formel 
A  +  Bx  -f  Cx'  -4-  Dx*  ausgedrückt  ist.  Dabei  müssen  wir  noch  be- 
merken, dass  das  von  unserm  Verf.  als  allgemeines  Prismatoid 
(S.  4)  angeführte  entschieden  das  speziollere  ist.  Ein  Parallel- 
trapez kann  sich  in  ein  Dreieck,  aber  kein  Dreieck  in  ein  Parallel- 
trapez verwandeln. 

Wenn  der  Verf.  (8.  9)  die  Prismatoide  so  ohne  Weiteres  in 
kruramfläcbig  begränzte  Körper  übergeben  lftsst,  so  ist  er  im  Irr- 
thum. Die  eben  angeführte  Grundbedingung  muss  gewahrt  bleiben. 

In  der  Formel  für  die  näherungsweise  Berechnung  eines  be- 
liebigen Körpers   (Simpson'sche  Näberungsformel)   muss  statt  m 

stehen  m-.  Das  ist  nun  nicht  etwa  ein  Druckfehler,  denn  die  falsche 

o 

Formel  wird  in  dieser  Gestalt  später  angewendet. 

Der  Verf.  beschäftigt  sich  nämlich  mit  der  Berechnung  der 
Lage  des  Schwerpunkts  des  Prismatoids.  Die  von  ihm  gefundene 
Formel  (S.  16)  gilt  nur  so  weit,  als  der  Inhalt  eines  Schnitts  im 
Abstand  x  von  der  Grundfläche  und  parallel  zu  dieser,  durch  die 
Formel  A  +  Bx-fCxa  gegeben  ist.  Wenn  also  der  Verf.  seine 
Formel  auf  krummflächige  Körper  anwenden  will ,  so  muss  er  zu- 
erst prüfen,  ob  diese  Bedingung  erfüllt. 

Da  er  bei  seiner  näherungsweisen  Berechnung  der  Lage  des 
Schwerpunkts  (S.  28)  die  oben  berührte  falsche  Formel  anwendet, 

m 

so  erhält  er  eben  wieder  eine  falsche  Formel,  indem  m  statt  -ge- 
stehen sollte. 

Die  richtige  Formel  findet  sich  wohl  in  vielen  Büchern  ange- 
geben. Wir  citiren,  als  uns  gerade  zur  Hand:  Eytelwein:  Hand- 
buch der  Statik  fester  Körper  (1808),  I.  Band.  S.  186;  Kayser: 
Handbuch  der  Statik  (1836).  S.  169.  Somit  ist  die  (leider  un- 
richtig) gefundene  Formel  nicht  übermässig  neu,  abgesehen  davon, 
dass  Chapman's  Buch  schon  1768  erschien.  Allerdings  hat  der 
Verf.  auch  keine  neue  Formel  aufstellen  wollen;  seine  (neue)  Ab- 
leitung ist  aber  eine  verfehlte,  sowohl  in  der  Grundlage  als  in  der 
endgiltigen  Redaktion. 


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Jordan:  Trigonometrische  H 


77 


Die  trigonometrische  Höhenmessung  und  die  Ausgleichung  ihrer  Re- 
sultate nach  den  Grundsätzen  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
an  einem  ausgeführten  Höhennetz  dargestellt  von  W.  Jordan, 
Ingenieur,  Assistent  für  prakt  Geometrie  am  K.  Polytechnikum 
zu  Stuttgart.  Stuttgart.  Ä  Lindemann.  1866.  (54  8.  in  8.) 

Der  etwas  ausführliche  Titel  setzt  voraus,  dass  man  eine  ent- 
weder theoretisch  oder  praktisch  auch  ziemlich  ausführliche  Ab- 
handlung nicht  sowohl  über  Höhenmessung  selbst,  sondern  über 
die  Ausgleichung  der  Beobachtungafehler  bei  derselben,  vor  sich 
habe.  Dem  ist  jedoch  leider  nicht  so.  Die  Theorie  ist  mager  und 
wie  wir  sehen  werden,  in  der  Hauptsache  verfehlt  und  die  Praxis 
bezieht  sich  auf  ein  »Netze  von  sechs  Punkten  und  legt  die  un- 
richtige Theorie  zu  Grunde. 

In  der  „Einleitung*1  behandelt  der  Verf.  kurz  längst  bekannte 
Dinge,  worauf  er  dann  den  Einfluss  der  Endkrümmung  und  der 
Refraktion  untersucht.  Dabei  hat  er  je  einzelne  Tabellen  berechnet, 
die  im  gegebenen  Falle  von  Werth  sein  können.  Auch  bei  der 
Messung  der  „Distanz*4  verweilt  er  kurz  und  deutet  dann  die 
Fehlerquellen  bei  Höhen messungen  ebenfalls  nur  an. 

Um  die  Methode  der  kleinsten  Quadrate  auf  die  Höhenmessuug 
anwenden  zu  können,  findet  sich  der  Verf.  bewogen,  die  „Haupt- 
sätze der  auf  Beobachtungsresultate  angewendeten  Wahrscheinlich- 
keitsrechnung'' anzuführen  oder  zu  „beweisen."  Dabei  begegnen 
ihm,  gegenüber  einor  genauem  Theorie,  allerlei  missliche  Sachen. 
Schon  die  Erklärung  des  Gewichts  ist  nicht  ganz  in  Ordnung; 
noch  weniger  lässt  sich  das  vom  wahrscheinlichen  Fehler  sagen. 
Der  „Beweis",  dass  wenn  X  =  x-f-Xjj  ferner  r,  rt  die  wahrschein- 
lichen Fehler  von  x,  Xj  sind,  der  wahrscheinliche  Fehler  von  X 
gleich  yf r2+rta  sei,  ist  vom  Verf.  selbst  als  unzulässig  erklärt, 
indem  er  wegen  eines  „strengeren  Beweises"  auf  andere  Hilfe  ver- 
weist. Wir  gestehen  offen,  dass  wir  es  für  viel  vernünftiger  ge- 
halten hätten,  einfach  auf  ein  gutes  Buch  zu  verweisen,  statt  einen 
schlechten  Beweis  (d.  b.  gar  keinen)  zu  liefern.  Wir  haben  frei- 
lich leider  vielfach  schon  sehen  müssen,  dass  die  Herren  Praktiker 
sich  mit  solchen  Dingen  gerne  behelfen. 

Hintennaeh  kommt  der  Verf.  nochmals  auf  die  » Definition  c 
des  wahrscheinlichen  Fehlers,  die  er  »nach  Laplace«  gibt  (obwohl 
wir  eigentlich  daraus  gar  nicht  klar  geworden  sind) ;  er  hätte  aber 
nachweisen  sollen,  dass  diese  Definition  (S.  80)  und  die  frühere 
(S.  27)  zusammenfallen.  Freilich  meint  er,  sie  sei  einfacher  in  der 
Theorie  —  ein  Trost,  der  manche  Wunde  vernarben  lässt. 

In  Bezug  auf  den  »wahrscheinlichen  Fehler  der  Refraktion« 
haben  wir  Nichts  zu  sagen,  da  es  sich  hier  blos  um  eine  (beliebige) 
Annahme  handelt,  die  in  der  vorliegenden  Schrift  jedor  wissen- 
schaftlichen Begründung  ermangelt.    Der  „wahrscheinliche  Fehler 


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78  Förster:  Ueber  Zeitmaaaae  und  Ihre  Verwaltung. 


einer  einfachen  Hübenbestimmung"  wird  richtig  angegeben,  in  so 
ferne  als  das  Vorgehende  zugelassen  wird. 

Dagegen  ist  nun  die  Ausgleichung  eines  Höhennetzes"  ver- 
fehlt. Der  Verf.  findot  sich  auch  hier  bewogen,  ein  Stück  Theorie 
zu  citiren.  Sind,  sagt  er,  h,,  ..,  bm  Grössen,  welche  durch  direkte 
Beobachtungen  ermittelt  werden,  und  es  bestehen  zwischen  denselben  n 
Bedingungsgleichungen  linearer  Form,  so  bat  man  an  den  beobach- 
teten h  Correotionen  ö  anzubriugeu,  so  dass  die  Bedingungsglei- 
chungen erfüllt  sind  und  zugleich  JEpd2  ein  Minimum  ist.  Das  ist 
natürlich  ganz  in  Ordnnng  und  die  Aufgabe  ist  eine  der  „relativeu 
Minima",  die  bekanntlich  nicht  in  der  folgenreichen  „unendlich 
kleinen"  Theorie  gelöst  zu  werden  braucht.  Nun  wendet  der  Verf. 
aber  diese  Theorie  auf  die  Ausgleichung  im  Höhennetz  an  und 
lässt  die  obigen  h  geradezu  die  Höhen  sein.  Sind  nun  aber  diese 
„direkt  beobachtet"  ?  Nein.  Darum  eben  darf  die  Theorie  nicht  so 
angewendet  werden !  Wir  verweisen  den  Verf.  auf  Baeyers  „Küsten- 
vermessung", die  er  freilich  (S.  1 1)  nicht  citirt,  wo  er  die  richtige 
Theorie  finden  wird.  Daneben  hätten  wir  ohnehin  auch  noch  wegen 
der  Bestimmung  der  Gewichte  (S.  50)  mit  dem  Verf.  zu  rechten, 
wenn  bei  der  gänzlich  verfehlten  Anlage  dies  sich  der  Mühe  lohnte. 

Wir  können  für  ähnliche  Fälle  ein  genaues  Studium  der 
Methode  der  kleinsten  Quadrate  nur  dringend  empfehlen ,  da  man 
eben  sonBt  nicht  weiss,  ob  das,  was  man  treibt,  richtig  oder  un 
richtig  ist. 


Ueber  ZcUmaassc  und  ihre  Venoaltung  durch  die  Astronomie.  Vor- 
trag gehalten  im  wissenschaftlichen  Vereine  su  Herlin  am  I.V. 
Febintar  J864  von  Professor  Dr.  Förster.  Berlin,  1666.  C. 
G.  Lüderita' sehe  Verlagsbuchhandlung.  (32  S.  in  8.). 

Rud.  Virohow  und  Fr.  v.  Holtzendorff  geben  eine  »Sammlung 
gemeinverständlicher  wissenschaftlicher  Vorträge«  in  der  oben  ge- 
nannten Verlagsbuchhandlung  heraus,  von  der  die  Schrift,  welche 
wir  hier  besprechen  wollen,  das  fünfte  Heft  bildet» 

Der  Verf.  theilt  seine  Schrift,  d.  b.  seinen  Vortrag,  in  zwei 
Theile,  indem  er  zunächst  auf  das  Wesen  der  Zeitmessung  eingeht 
und  dann  »eigt,  »wie  sich  im  Verlaufe  der  menschlichen  Ent- 
wicklung das  Verhältnis*  der  Astronomie  zu  der  Zeitmessung  ge- 
staltet hat«. 

»Die  Zeit,  sagt  Kant,  ist  nichts  Anderes,  als  die  Form  des 
inneren  Sinnes,  d.  i,  des  Anschauens  unserer  selbst  und  unseres 
inneren  Zustandes.«  Dagegen  nun,  anschliessend  an  die  Bedenken, 
welche  schon  Lambert  gegen  Kant  geltend  gemacht,  weist  der 
^erf.  darauf  hin,  dasa  es  wesentlich  zwei  verschiedene  Arten  der 


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Förster :  Ueber Z  ei  t  maaaae  and  ihre Verwaltung.  79 


Zeitfolge  des  Geschehens  in  der  Seele  selbst  gibt.  Die  eine  — 
Ton  der  Aussenwelt  herrührende  Erscheinungen  betreffend  —  lässt 
einfache  Gesetze  der  Zeitfolge  des  Geschehens,  Bewegens  und  Wer- 
dens erkennen;  die  andere  —  Erscheinungen,  die  aus  den  inner- 
sten Tiefen  der  Seele,  in  denen  sie  gesammelt  wurden,  aufsteigen  — 
lässt  ein  einfaches  Gesetz  durchaus  nicht  wahrnehmen.  Die  Reihen- 
folge bei  diesen  Erscheinungen  ist  eine  durchaus  geheimnissvolle, 
so  dass  wir  das  Gesetz  selbst  als  »menschliche  Freiheit«  bezeichnen. 

Daraus  folgt  dann,  dass  wir  nur  diejenige  Folgeordnung,  in 
welcher  wir  einfache  Gesetze  zu  finden  und  Zählung  anwenden 
konnten,  Zeit  nennen,  die  also  nur  die  Folge  der  unmittelbar  durch 
die  Sinne  empfangenen  Wahrnehmungen  ist.  Für  die  Wahrneh- 
mung der  Aufeinanderfolge  der  räumlichen  Gebilde,  d.  i.  der  wer- 
denden Dimensionen  der  Welt,  sind  die  Kräfte  der  Seele  thäti0, 
welche  das  Vergangene  bewahren  und  erst  dadurch  die  Entstehung 
eines  Bildes  der  Folge  ermöglichen. 

>Also  eben  dadurch,  dass  in  der  eigentlich  innern,  gewisser- 
znassen  reflectirten  Erscheinungs-Welt  der  Seele  das  Gesetz  jener 
Zeitfolge  aufgehoben  ist,  dass  dort  die  Gebilde  nicht  so  spurlos 
verwehen,  wie  die  räumlichen,  dass  dort,  was  die  Aussenwelt  ein- 
mal hineingestrahlt  und  geströmt  hat,  also  zeitlos  im  Verbältniss 
zur  äussern  Folge,  wenn  gleich  zeitlich  nach  seinen  eigenen  Ge- 
setzen der  Folge,  wieder  an  den  Tag  des  Bewusstseins  treten 
kann,  dadurch  und  dadurch  allein  wird  ein  Zeitmaass  für  die 
Welt  denkbar,  dadurch  eine  Erkenntniss  des  Werdens  möglich.« 

Aber  zur  Erkenntniss  des  momentanen  Seins  bedürfen  wir  der 
Feststellung  der  Zeitfolge.  Wie  aber  messen  wir  die  Zeit?  Wir 
haben  nur  die  Kenntniss  der  Zeitfolge,  die  messende  Erkennt- 
niss derselben  ist  uns  nicht  unmittelbar  möglich,  und  wir  haben 
sie  durch  schwierige  und  grossartige  Schlüsse  erst  zu  erreichen. 
Dazu  müssen  wir  irgend  ein  Maass  zu  Grunde  legen  und  irgend 
ein  Zählungssystem  darauf  gründen.  Da  gleiche  Zeitabschnitte 
eine  Forderung  des  Gedankens,  nicht  aber  durch  Wahrnehmung 
gegeben  sind ,  so  müssen  wir  ideale  Zeitabschnitte  als  Maass 
aufstellen,  welche  durch  möglichst  unveränderliche  Bewegungen  ge- 
geben sind.  Solche  liefert  uns  allein  in  genügender  Annäherung 
die  astronomische  Messung  der  Himmelserscheinungen. 

Gehen  wir  nun  zur  geschichtlichen  Entwicklung  über,  so  haben 
wir  zunächst  zu  konstatiren,  dass  die  Wahl  der  Zeiteinheit  nicht 
wirklich,  sondern  durch  die  Dauer  des  Tages  unmittelbar  gegeben 
war.  Diese  Licht-  und  Wärmeperiode  wirkt  so  allgewaltig  auf 
unser  äusseres  und  inneres  Loben  ein,  dass  ,,der  Rhythmus  des 
Tages  ein  ohne  Weiteres  gegebenes  Zeitmaass  aller  Sphären  unse- 
res Lebens  wird.1* 

Dabei  bandelte  es  sich  um  Zählung  von  ganzen  Tageseinheiten, 
und  um  die  Herstellung  gleicher  Tagestheile.    Die  erste  ist  Auf- 


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Förster:  TJeber Zeitmaasso  und  Ihre  Verwaltung. 


gäbe  der" Chronologie  —  ihr  Instrument  der  Kalender;  die  zweite 
ist  Aufgabe  der  Horologie  —  ihr  Instrument  die  Uhr. 

Bei  der  Aufzählung  der  Tage  mussten  natürlich  höhere  Ein- 
heiten gebildet  werden,  die  aber  auch  von  der  Natur  in  den  Monds- 
wechseln und  in  der  Dauer  des  Jahres  gegeben  sind. 

Die  Bedürfnisse  des  Verkehrs  verlangen  eine  immer  genauere 
Feststellung  dieser  Maasse,  die  ohnehin  die  grosse  Unbequemlichkeit 
haben,  dass  jeweils  die  grössern  Einheiten  nicht  reine  Vielfache 
der  kleinern  sind. 

Der  Verf.  zeigt  nun,  in  welcher  Weise  man  nach  und  nach 
durch  Beobachtungen  zu  der  Herstellung  genauerer  Verhältnisse 
gelangte ;  sodann  in  welcher  Weise  man  die  Eintheilung  des  Tages, 
bezüglich  die  Stundenmessung  vervollkommnete,  von  der  Stunden- 
abschreitung  in  Griechenland,  den  Wasser-  und  Sanduhren  des 
Alterthums  und  des  Mittelalters  bis  zu  den  vervollkommneten  Pen- 
deluhren unserer  Tage,  bei  denen  man  fast  vergessen  hat,  dass  die 
Regelung  durch  astronomische  Zeitmessungen  nothwendig  wird. 

,,Die  Maass-Einbeit  und  die  letzte  Controle  auch  für  das  ge- 
naueste Pendel  und  den  genauesten  Chronometer  bildet  immer  nur 
die  Umdrehungszeit  der  Erde,  denn  keine  Bewegung  auf  der  Erde 
ist  so  gleichförmig  wie  die  Bewegung  der  Erde  selbst." 

Welche  Schwierigkeiten  die  genaue  Feststellung  dieser  Um- 
drehungszeit mittelst  der  Beobachtungs-Instruraente  habe,  erläutert 
der  Verf.  eingehend  und  zeigt  dann,  dass  das  vervollkommnete 
Pendel  nicht  bloss  als  Mittel  für  die  Zoiteintheilung ,  sondern  zu 
Untersuchungen  über  die  Gestalt  der  Erde  wichtig  sei. 

Bei  der  klaren  Darstellung  des  Gegenstandes  und  der  blühen- 
den Ausdrucksform  wird  sicher  jeder  Leser  die  kleine  Schrift  mit 
Nutzen  und  Vergnügen  lesen. 

Dr.  J.  Dienger. 


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*. «.  '  HEIDELBERGER  1867. 

JAMBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Jahrbücher  des  deutschen  Reichs.  Kaiser  Heinrich  VI.  von  Theod. 
Toeche.  Leipzig  1867. 

(Fortsetzung  des  Aufsatzes  Nr.  4  im  vorigen  Hefte.) 

Im  Einzelnen  spielen  hier  diplomatische  Künste,  wechselnde 
iassere  Einflüsse,  politische  Verhältnisse  manigfacher  Art :  aber  der 
(resammtcbarakter  dieses  Ereignisses  ist  dadurch  bestimmt,  dass 
lie  beiden  grossen  Parteien,  welche  sich  die  Weltherrschaft  strei- 
tig machten,  unverhtillt  und  mit  leidenschaftlicher  Gewalt  in  dem 
Einzelkampt  zweier  Männer  an  einander  gerathen ;  das  ist  das  wahr- 
haft Dramatische  und  echt  Bedeutsame  dieser  geschichtlichen  Periode. 
Sichard  von  England  ist  der  Vorkämpfer  der  Weifen;  durch  eine 
wunderbare  Fügung  wird  die  Entscheidung  über  sein  Schicksal 
seinem  heftigsten  Gegner  anheimgegeben,  der  an  Charakter  ihm 
gleichartig,  ebenso  unbeugsam,  noch  ehrgeiziger  als  er  selbst  ist. 
Mann  gegen  Mann  gestellt  zwingt  der  ihn  zu  Verzicht  und  Unter- 
verrang. —  An  dem  Einzelkampf  dieser  beiden  gewaltigen  Naturen 
wird  nun  ein  Jeder  mitbetheiligt,  der  damals  Bang  und  Macht  be- 
sitzt, die  Interessen  der  ersten  Fürsten  sind  dahinein  verflochten; 
&e  Hoffnungen  und  Besorgnisse  der  Völker  hangen  davon  ab.  Aber 
alles  was  an  Einzelnheiten  zu  berichten  ist,  muss  nur  dazu  dienen 
die  beiden  Hauptgestalten  um  so  schärfer  zu  zeichnen  und  den 
örundzng  geschichtlicher  Poesie,  der  hier  waltet,  zu  Macht  und 
Klarheit  zu  bringen ;  ihn  ausschliesslich  herauszuheben  und  un- 
vergänglich darzustellen ,  das  wäre  eine  der  schöusten  Aufgaben 
Shakespeare* s  gewesen.  Der  Werth  dieses  Theils  des  Toeche'schen 
Bachs  beruht  also  in  dem  Nachweis  der  principiellen  Gegnerschaft 
der  beiden  Monarchen.  Der  Kaiser  sah  in  Bichard  die  Personi- 
ilation  aller  weifischen  Pläne,  das  Haupthinderniss  für  seine  eigene 
Idee  der  Wiedererrichtung  des  abendländischen  Boichs.  Bichard's 
glänzende  Siege  im  Osten  erfüllten  ihn  mit  Neid  und  Groll.  Unter 
diesen  Voraussetzungen  begreift  sich  leicht,  dass  Philipp  August's 
rl.ium düngen  wider  den  englischen  Fürsten  ein  geneigtes  Ohr 
eim  Kaiser  fanden;  es  kam  zu  einem  ausdrücklichen  Bündniss, 
^mgemäss  Heinrich  versprach  den  englichen  König  festzunehmen, 
*enn  er  sein  Beich  auf  der  Bückkehr  berühren  sollte.  Ein  kaiser- 
^ches  Edikt  erklärte  Bichard  zum  Beichsfeind,  befahl  Jedermann 
*°f  ihn  zu  fahnden,  und  bedrohte  die,  welche  seiner  schonen  wür- 
;  -Di  gleichfalls  mit  des  Beiches  Strafe.  Nun  lieferte  ein  unberechen- 
barer Glücksfall  und  die  Vermessenheit  Bichard's  dem  Herzog  von 
^reich,  demselben  den  Bichard  vor  Akkon  tödtlich  beschimpft 
LX.  Jahrg.  2.  Heft  6 


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82 


Toeehe:  Kaiser  Heinrich  VI. 


hatte  diesen  Gegner  in  die  Hände.  Richard  erlitt  Schiffbruch  in 
der  Nähe  vonAquileja;  er  gelangte,  vielfach  bedroht  und  umstellt 
bis  in  die  Nähe  von  Wien,  und  machte  in  dem  Dorfe  Erdberg, 
jetzt  einer  Vorstadt  von  Wien,  Rast.  Erschöpft  von  den  Mühen 
der  Reise  überHess  er  sich  für  einige  Tage  der  Ruhe.  Er  sandie 
einen  Knaben,  seinen  einzigen  Begleiter,  nach  Wien  um  Speise  zu 
kaufen.  Die  feine  Haltung  desselben,  die  byzantiner  Goldstücke  die 
er  zeigte,  erregten  Verdacht.  Man  ergriff  ihn ,  forschte  ihn  aus, 
aber  auf  seine  Antwort,  dass  er  der  Diener  eines  reichen  Kaufmanns 
sei,  der  in  drei  Tagen  selbst  zur  Stadt  kommen  werde,  gab  man 
ihn  wieder  frei.  Vergebens  drang  er  nun  in  den  König  eiligst  auf- 
zubrechen. Bei  einem  zweiten  Gang  fielen  die  feinen  Handschuhe 
des  Königs,  die  der  Knabe  im  Gürtel  trug,  den  Bürgern  auf.  Er 
wurde  gefoltert  und  gestand  die  Wahrheit.  Sogleich  benachrichtigte 
man  den  Herzog.  Die  Bürger  eilten  vor  Richard's  Haus  und  for- 
derton ihn  auf,  sich  gefangen  zu  geben.  —  »Nur  dem  Herzog«,  war 
die  Antwort.  Inzwischen  kam  Leopold  an,  der  König  ging  seinem 
Feinde  entgegen  und  übergab  ihm  sein  Schwert.  Er  wurde  fortan 
in  strenger,  aber  durchaus  ehrenvoller  Haft  gehalten.  Selbst  der 
offizielle  englische  Autor  Radalfas  de  Diceto  gesteht  zu,  dass  Ri- 
chard mit  grosser  Achtung  behandelt  worden  sei.  Heinrich  VI.  war 
auf  dem  Weg  zum  Regensburger  Reichstag,  als  er  die  Nachricht, 
»die  köstlicher  war  als  Gold  und  Edelstein«,  empfing,  von  dem 
kleinen  Flecken  Rheinhausen  aus  meldete  er  sogleich  dem  König 
von  Frankreich,  dass  der  Reiohsfeind  und  der  Unruhestifter  für 
Philipp's  eigenes  Land  gefangen  sei.  Er  verhandelte  sofort  über 
eine  Auslieferung  mit  dem  Herzog  und  machte,  als  derselbe  miss- 
trauisch  seinen  Gefangenen  nicht  herausgeben  wollte,  sondern  ihn 
von  Regensburg  wieder  nach  Oestreich  zurückführte,  geltend,  es  sei 
ungeziemend,  dass  ein  König  in  Haft  eines  Herzogs  sei.  Am  14-  Febr, 
1193  kam  es  zu  dem  Würzburger  Vertrage,  wonach  Leopold  für 
die  Auslieferung  die  Hälfte  des  Lösegeldes,  50,000  Mark  Silber, 
erhalten  sollte.  Der  Kaiser  verlangte  aber  noch  ausser  der  Löse- 
summe von  Richard  einen  vollkommenen  Verzicht  auf  dessen  bis- 
herige politische  Vergangenheit:  Richard  sollte  ihm  zur  See  und 
zu  Lande  Heerdienst  leisten  um  das  normannische  Reich  zu  er- 
obern. Von  Anfang  an  sprach  der  Kaiser  offen  aus,  dass  es  ihm 
auf  Rache  für  Richard' s  Verrath  und  auf  die  Lohensunterthänigkeit 
des  Königs  ankomme;  und  gerade  dieser  letzte  Punkt  wurde,  seit 
Richard  in  des  Kaisers  Gewalt  war,  von  überwiegender  Bedeutung, 
verlängerte  seine  Haft  weit  über  das  festgesetzte  Ziel  und  ver- 
schlimmerte seine  Lage  je  länger  desto  mehr.  —  In  Speier  erschien 
Richard  vor  Kaiser  und  Reich ;  in  glänzender  und  reicher  Fürsten- 
versammlung erwartete  der  Kaiser  den  Gefangenen,  das  Volk  drängte 
sich  in  den  Saal,  Zeuge  der  denkwürdigen  Skene  zu  sein.  Richard 
trat  vor  die  8tufen  des  Thrones,  er,  der  unbändige,  in  Krieg  und 
ritterlichem  Kampf  bewährte  Held,  ein  Mann  von  36  Jahren,  um 


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To e che:  Kaiser  Heinrich  VI. 


in  Jahren  kaum  gereiften,  aber  von  den  ehrgeizigsten 
erfüllten  K aiser jüngling  Bede  zu  stehen  nnd  Urtheil  zu 
empfangen.    Er  vertheidigte  sich  gegen  die  Anklage  des  Kaisers 
(267),  er  sprach  im  Bewusstsein  seines  Rechts  und  seiner  Würde, 
> königlich  mit  beredten  Worten  und  mit  Lüwenmuth:»  In  Vielem 
möge  er  gefehlt  haben;  seine  Leidenschaft  habe  ihn  oft  fortge- 
rissen; aber  zum  Verbrechen  dürfe  man  es  ihm  nicht  anrechnen. 
Ais  Gefangener  sei  er  macht-  und  hülfslos.    Unter  der  Gewalt  des 
Augenblicks  beugte  er  das  Knie  vor  dem  Kaiser.    In  Heinrich'« 
verwandtem  Geist  hatten  die  ritterlichen  und  kühnen  Worte  de« 
unglücklichen  Fürsten  angeklungen,  und  was  aufrichtige  Achtung 
and  Mitgefühl  ihm  nicht  eingaben,  das  that  er  in  der  klugen  Be- 
rechnung, vor  aller  Welt  sich  im  Drang  seiner  Versöhnlichkeit  und 
seines  Kdelmuths  zu  zeigen.    Er  stieg  vom  Thron,  sohlose  den 
König  in  seine  Arme  und  küsste  ihn.  Alle  Fürsten  h eiset  es,  waren 
zu  Thraaen  gerührt.    Vor  allem  Volk  nannte  er  Bichard  seinen 
Freund,  beschwichtigte  seine  Besorgnisse,  versprach  ihn  allerort  zu 
unterstützen,  seine  Macht  zü  erweitern  und  insbesondere  «wischen 
ihm  nnd   dem  französischen  König  Eintracht  zu  stiften.  —  Das 
Intrigenspiel,  welches  die  Erfüllung  der  kaiserlichen  Verheissongen 
hinausschob  und  die  Freilassung  Bichard's  verzögerte,  die  sich 
kreuzenden  Interessen  Frankreichs,  der  Weifen,  des  Kaisers  und 
ler  Kurie ,  die  ebenfalls  in  den  verdrießlichen  Handel  eingreifen 
icnsste ,  die  Art  wie  der  Kaiser  trotz  aller  Vertrage  im  letzten 
Augenblick  den  Einflüsterungen  Frankreichs  Gehör  schenkt,  und 
wie  alle  politische  Berechnungen  durch  ein  romantischet  Zwischen- 
spiel, durch  die  Liebe  des  jungen  Weifen  Heinrich  und  der  schönem 
Agnes  zu  Schanden  wurde:    das  alles  ist  von  Toeche  in  meister- 
hafter Weise  dargestellt  worden.    Er  bespricht  die  von  den  eng- 
lischen Chronisten  nur  gelegentlich  und  ungern  erwähnte  Lehens- 
huldigung  Bichard's;  in  der  That  einen  tief  demüthigenden  Akt 
für  den  englischen  Nationalstolz ,  den  aber  die  im  Mittelalter  tief 
wurzelnde  Anschauung  von  der  Herrschaft  des  weltlichen  und  geist» 
Äthen  Schwerts,  die  Annahme  einer  weltlichen  Allgewalt  und  Ober» 
Herrschaft  des  Kaisers  über  alle  anderen  Fürsten  zur  Seite  der 
Alleinherrschaft  des  Pabstes  in  der  Kirche  innerlich  motivirt  hat. 
Riehard  selbst  mochte  dieser  Huldigung  ebenso  wenig  Gewicht  bei- 
legen wie  der  Anerkennung  der  Lehenshoheit  des  fransoeichen 
Königs  zu  der  er  sich  in  dem  am  8.  Juli  1198  unterzeichneten 
endgiltigen  Vertrag  bequemen  musste,  oder  der  scheinbar  so  gross- 
mflthigen  Belehnung  mit  dem  arelatischen  Boich  die  Heinrich  VI. 
an  ihm  vollzog.  Wohl  haftete  in  seiner  Seele  vor  Allem  die  Bück* 
ärinneraBg  daran,  dass  er  schliesslich,  da  seine  Lage  sich  durch  die 
Vermählung  des  jungen  Weifen  mit  der  Tochter  des  Pfalzgrafen 
I  im'  Rhein ,  durch  ein  alle  politischen  Pläne  Heinrich's  momentan 
ireozendea  Kreigniss  verschlimmerte,  —  nur  dem  energischen  Auf- 
-ften  der  Fürsten,  zumal  der  Erzbisehöfe  von  Mainz  und  Köln, 


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84 


Toechje:  Kaiser  Heinrich  VL 


nicht  dem  guten  Willen  des  Kaisers  seine  Freilassung  verdankte. 
Dies  Moment  ist  es  denn  auch,  welches  bei  der  Beurtheilung  jenes 
Konflikts  für  die  Meisten  den  Ausschlag  zu  Gunsten  von  Kichard 
Löwenherz  gibt.    Es  ist  nicht  blos  Mitleid  ohne  Sinn  und  Ver- 
stand, wie  es  die  Menge  allezeit  einem  von  Mächtigen  verfolgten 
Unglücklichen  zuwendet,  sondern  es  ist  der  Antheil,  dem  wir  einen 
mit  Tücke  und  Treulosigkeit  Ringenden  nicht  versagen  können. 
Toeche  selbst ,  der  sich  vor  der  herkömmlichen  Lobrednerlust  der 
Biographen  in  verständiger  Weise  auszeichnet,  bemerkt,   dass  die 
Masslossigkeit,  mit  welcher  Heinrich  VI.  Rache  zu  üben  und  den 
Glücksfall  auszubeuten  beflissen  war,  den  englischen  König  in  unse- 
rer Empfindung  zum  Helden  des  Kampfes  erhebt.  Dass  der  Kaiser 
trotz  aller  Verträge  noch  im  letzten  Augenblick  den  Anerbietungen 
Frankreichs  unwürdiges  Gehör  schenkt,  das  entfärbt  und  verun- 
staltet sein  Bild,  das  enthüllt,  dass  ihm  die  Ritterlichkeit  seines 
grossen  Vaters  fehlte  und  er  nicht  nur  seinen  weltumfassenden 
und  politischen  Plänen,  sondern  auch  den  untergeordneten  An- 
rufungen seiner  Begierde  keine  Schranken  zu  setzen  wusste.  Gegen- 
über dieser  Unersättlichkeit  des  Kaisers,  die  nichts  nach  Recht 
und  Ehre  fragt,  erscheint  der  unerschütterliche  Widerstand  des 
Königs  doppelt  ritterlich,  und  seine  geduldige  Ergebung  rührt  um 
so  tiefer.    Wir  gehen  noch  weiter  als  der  Verf.  und  behaupten, 
dass  diesem  psychologischen  Moment  gegenüber  auch  das  politische 
in  unserer  Empfindung  zurücktritt,  und  dass  wir  die  Gestalt  des 
Kaisers  auch  hier  keineswegs  als  grossartiger  bezeichnen  können, 
wie  die  seines  Gegners.  Heinrich  mag  planmässiger  gehandelt  und 
eine  bewusstere  Consequenz  entfaltet  haben,  wie  Richard ;  aber  war 
denn  überhaupt  das  Terrain  ein  Gleiches,  Licht  und  Schatten  zwi- 
schen den  Gegnern  gleich  bemessen  V    Wenn  der  Verf.  sich  über 
das  bewundernswerthe  Spiel  diplomatischer  Freiheit  und  Klugheit 
erfreut,  das  Heinrich  frei  vor  unsern  Augen  entfalte,  während 
Richard  fast  machtlos  den  Zügen  des  Gegners  zu  folgen  gezwungen 
sei,  so  gemahnt  uns  ein  solches  Urtheil  an  das  Lob  des  Jägers  der 
einen  von  allen  Seiten  durch  seine  kläffende  Meute  umstellten  Eber 
mit  grossartiger  Ruhe  zu  überwältigen  und  zu  erlegen  weiss.  Hein- 
rich gehört  zu  den  Naturen  die  im  Unglück  bewundernswerther 
erscheinen  als  im  Glück.  Und  so  vermag  uns  die  Art,  wie  er  den 
Glücksfall  der  Gefangennahme  Richards  benutzte  ebenso  wenig  für 
ihn  einzunehmen,  wie  sein  Auttreten  nach  dem  unerwarteten  Glück, 
welches  ihn  mit  dem  Ableben  seines  gefahrlichsten  Gegners  Tan- 
kred zu  Theil  ward.    Tankred  war  am  20.  Februar  1194  seinem 
Sohn  Roger  ins  Grab  gefolgt;  ein  Schicksal  furchtbarer  Art,  wie 
es  die  antike  Tragödie  zu  entrollen  pflegt,  brach  über  sein  Ge- 
schlecht herein  und  vernichtete  die  Arbeit  und  Mühe  seines  Lebens. 
Dass  ein  schwacher  Knabe  wie  Wilhelm  III.  die  trotzigen  Barone 
nicht  im  Zaum  zu  halten  vermöge,  war  unschwer  vorauszusehn. 
Das  Reich  war  als  völlig  aufgelöst  und  herrenlos  zu  betrachten, 


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To  e che:  Kaiser  Heinrich  VI. 


einem  Acerra,  dessen  Puppe  Wilhelm  III.  war,  wollte  bald  Niemand 
*ich  noch  fügen,  die  Meisten  erklärten  sich  nnn  für  das  Erbrecht 
von  Konstanze ,  es  ward  versichert  sie  nnd  ihr  Gemahl  dürften 
nur  mit  kleinem  Gefolge  kommen ,  und  jenseits  wie  diesseits  des 
Piro  werde  die  Gesammtbevölkerung  sie  ohne  Weiteres  freudig 
als  angestammtes  Herrscherpaar  begrüssen.  Heinrich  VI.  erhielt 
die  günstigen  Nachrichten  da  er  schon  in  voller  Rüstung  für  einen 
zweiten  italienischen  Feldzug  begriffen  war.  Am  12.  Mai  brach 
st  von  seiner  pfalzischen  Burg  Trifels  nach  Italien  auf,  ihm  zur 
Seite  Konstanze,  sein  Bruder  Philipp,  der  junge  Weife.  Pfingsten 
feierte  er  in  Mailand,  wo  er  von  den  Bürgern  mit  grossem  Ge- 
pränge eingeholt  ward.  Er  hatte  es  um  die  Mailander  wahrlich 
nicht  verdient!  Toeche  enthüllt  uns  zum  ersten  Mal,  auf  Grund 
der  reichen  durch  den  Archivsekretär  Ippolito  Cereda  vermittelten 
bisher  ungedruckten  Kremoneser  Archivalien ,  das  tief  augelegte 
raffinirte  Doppelspiel  der  kaiserlichen  Politik  gegenüber  den  Lom- 
barden, die  Erniuthigung  der  Feinde  Mailands,  die  doch  nicht  so- 
weit ging,  dass  Heinrich  darum  mit  Mailand  brach,  diesen  raachia- 
reflistiscben  Trug,  der  die  heftigsten  und  verderblichsten  Kriege 
nnter  den  Kommunen  anfachte  (S.  324.  41 8  ff.).  Ebenso  gewandt 
wnsste  er  die  widerstreitenden  Interessen  der  Pisaner  und  Genuesen 
an  seine  Fahnen  zu  fesseln.  Siegreich  zog  er  durch  Apulien,  zer- 
störte Salerno  zur  Strafe  für  die  Auslieferung  Konstanzens  an  Mar- 
earito,  nnd  landete  Ende  Oktober  in  Sicilien  selbst.  Es  war  der 
Moment,  den  Hugo  Falkandus  einst  als  den  unglückseligsten  ftir 
*ein  Vaterland  in  besorgtem  Gemttth  ausgemalt  hatte ,  die  Zeit 
»da  vielleicht  gar  die  Fussspuren  der  Barbaren  den  Boden  der 
eldesten  Stadt  entweihten,  die  über  alle  Theile  des  Reichs  strah- 
lend emporragte.<  Aber  anders  waren  die  Gefühle  des  jungen  Kai- 

als  er  das  Ziel  seiner  Sehnsucht  vor  sich  sah ,  als  er ,  die 
Berge  herabsteigend ,  die  reiche  Ebene  vor  sich  erblickte  in  ihr 
wstreut  die  dnnklen  Lustwälder  und  die  weitbertihmten  Schlösser 
normannischer  Könige,  am  Ufer  der  malerischen  Bucht  die  »glück- 
liche« Stadt,  wie  sie  selbst  sich  zu  nennen  liebte,  im  Westen  den 
majestätischen  Monte  Pelegrino,  als  all'  der  unvergängliche  Zauber 
4er  Natur  sich  vor  ihm  entfaltete,  der  seit  Menschengedenken  des 
Nordländers  Sinn  gefesselt  hält.  Seiner  wartete  in  jener  Stadt  die 
nciliscbe  Krone.  Was  einer  Reihe  grosser  Kaiser,  deren  Vorbild 
*ine  jngendliche  Seele  durchglüht  und  geschwellt  hatte  als  letztes 
fiel  erschienen  war,  das  gewaltige  Werk  welches  sein  edler  Vater 
Milien  Händen  anvertraut  hatte,  das  sah  er  in  diesem  Augenblick 
mit  Jngendmuth  und  Geistesstärke  erreicht.    Am  20.  Nov.  1194 

das  deutsche  Heer  durch  die  mit  Palmen  bestreuten  Strassen 
die  Stadt  ein.    Die  Häuser  waren  mit  Teppichen ,  Blumen  und 
Unbgewinden  geschmückt.    Die  Luft  duftete  von  Wohlgerüchen. 
Und  als  nun  der  prächtige  Zug  der  Deutschen  herankam,  der  Kai- 
^  inmitten  des  Heeres,  neben  seinem  Bruder,  seinem  Oheim  Kon 

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Toeohe:  Kaiser  Heinrich  VI. 


und  umgeben  von  zahlreichen  deutschen  nnd  italienischen  Bischöfen 
und  Grafen,  wem  yon  Allen,  die  da  dem  Kaiserjüngling  iu's  ernste 
stolze  Antlitz  sahen  und  neben  ihm  den  blonden  blauäugigen  Bru- 
der erblickten  den  »jungen  süssen  Mann ,  schön  und  tadelsohne«, 
wem  stieg  wohl  da  die  Ahnung  auf,  dass  in  wenig  Jahren  der 
Eine  ein  Kaub  des  Todes  sein  und  nach  kurzer  Zeit  des  Kampfes 
und  der  Sorge  der  Andere  von  ruchloser  Hand  getroffen,  ihm  in's 
Grab  nachfolgen  werde  ?  —  Der  Freudenrausch  in  welchem  das  leicht 
bewegliehe  Volk  der  Sicilianer  schwelgte  sollte  sich  aber  bald  in 
Furcht  und  Schrecken  vorwandeln.  Kurz  nach  Weihnachten  wur- 
den dem  Kaiser  von  einem  Mönche  Briefe  übergeben ,  welche  eine 
Verschwörung  enthüllten.  Heinrieh  berief  eine  Versammlung  der 
Barone,  am  29.  Dez.  trat  er  unter  sie,  und  beschuldigte  die  könig- 
liche Familie  dos  Venraths.  Wilhelm  IH.,  seine  Mutter,  seine  drei 
Sohwestern  und  eine  grosse  Zahl  der  Anhänger  Taukred's  wurden 
in  Gewahrsam  genommen.  Es  wäre  irrig,  wollte  man  mit  Mura- 
tori  hier  nur  ein  Stratagem  des  Kaisers,  eine  erdichtete  Ver- 
schwörung annehmen ;  noch  irriger  aber,  wenn  man,  wie  die  mei- 
sten Neuern  gethan  haben,  von  den  blutigen  Weihnachten  1194 
und  von  den  unmenschlichen  Grausamkeiten  Heinriche  spräche. 
Toeohe  weist  mit  siegender  Überzeugung  nach,  dass  jene  furcht- 
baren Gewaltthaten,  wovon  selbst  unser  Schlosser  Haarsträubendes 
zu  berichten  weiss  (Bd.  VII.  S.  101  ff.)  nur  in  der  blühenden  Phan- 
tasie eines  Geschichtsschreibers  entstanden  sind,  den  dann  die 
Folgenden  mit  harmloser  Urtbeilslosigkeit  ausgeschrieben  haben. 
Der  bisherige  Mythos  beruht  auf  einer  Verwechselung  derEreig- 
nisse  des  Jahres  1197  kurz  vor  Heinrich's  Tode  mit  jenen  in  Folge 
der  Verschwörung  von  1194  getroffenen  zwar  strengen  aber  ver- 
hältnissmässig  milden  Maassregeln  der  Gefangennahme  der  Familie 
Tankred's  und  seiner  Anhänger.  Heinrich  hat  1194  einfach  durch 
Verbannung  gestraft,  kein  einziges  Opfer  seiner  Rache  ist  gefallen, 
kein  Blut  in  jenen  Tagen  geflosson.  —  Heinrioh  wusste  aber  auch 
durch  den  Sobeiu  nationalen  Regiments  und  durch  die  Concentri- 
rung  aller  Gewalt  in  die  Hände  treuer  Anhänger  die  rasch  errun- 
genen Erfolge  für  die  Dauer  zu  sichern.  Und  kaum  war  er  in 
unbestrittenem  Besitz  von  Italien,  so  zeigte  sich,  dass  er  der  echte 
Nachkommen  der  bisherigen  gewaltigen  deutschen  Cäsaren  war. 
Italien  war  nur  die  Grundlage;  die  Wiederherstellung  des  römi- 
schen Weltreichs  dieser  gewaltigste  Gedanke  unserer  Kaiser  offen- 
barte sich  sofort  als  die  innerste  und  mächtigste  Triobfeder  seines 
jugendkräftigen  Geistes.  So  fest  war  Heinrich  VI.  Entschluss  das 
Weltreioh  neu  zu  begründen,  so  ernst  war  es  ihm,  den  grossen 
Plan  in  weitestem  Umfang  auszuführen,  dass  die  ünterwerfuug 
oder  doch  die  Lehensabbängigkeit  von  ganz  Westeuropa  seine  Ge- 
danken beschäftigte.  Mochte  es  England,  Frankreich,  mochte  es 
dem  König  von  Aragon  gelten :  es  gab  im  Westen  kaum  ein  Reich 
zu  dessen  König  er  nicht  ein  Machtwort  auszusprechen,  in  dessen 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


Entwickelung  er  nicht  einzugreifen  und  von  dessen  Bedrängnissen 
er  nicht  zu  Gunsten  seiner  Pläne  Nutzen  zu  ziehen  wagte.  Und 
doch  war  die  Einwirkung  Hein  rieh's  nach  Westen  hin  von  deren 
Umfang  Stetigkeit   und  Nachdruck   uns    die  zusammenhanglosen 
Zeugnisse  von  Roger  Hove  den,  Radulfus  de  Diceto,  Benedict.  Petro- 
barg.  u.  A.  nur  eine  schwache  Ahnung  geben,  nicht  einmal  so 
wichtig  und  grossartig  als  die  gleichzeitige  Thätigkeit  des  Kaisers 
gegen  Osten.    Der  staufische  Ehrgeiz  hatte  schon  längst  darnach 
getrachtet  eine  Verbindung  mit  dem  griechischen  Kaiserhaus  her- 
zustellen, das  doch  immerhin  als  der  unmittelbare  Träger  der  alt- 
römischen  Tradition  dastand.  Und  dennoch  hatte  Barbarossa,  wäh- 
rend er  erst  für  sich,  dann  für  seinen  Sohn  um  eine  byzantinische 
Prinzessin  freite  mit  Stolz  gegen  die  Anmassung  des  oströmischen 
Kaisers  protestirt  der  sich  als  Nachfolger  des  Imperatoren  bezeich- 
nete und  den  deutschen  König  als  Eindringling  missachtete.  Diesor 
Widerspruch  zwischen  dem  Gefühl  der  Ehrfurcht  and  dem  Be- 
wusstsein  der  Ueberlegenheit  hatte  sich  in  dem  Drange  das  morsche 
Reich  zu  unterwerfen  geneigt.  Dahin  hatte  Friedrich  I.  noch  kurz 
vor  seinem  Tode  die  Politik  seines  Sohnes  gelenkt  als  er  ihm  von 
Philippopolis  aus  schrieb:  »Wenn  es  nicht  gegen  den  Frieden  und 
ein  Hindemiss  der  Pilgerfahrt  gewesen  wäre ,  würden  wir  schon 
das  ganze  griechische  Reich  bis  zu  den  Mauern  von  Konstantinopel 
unterworfen  haben.«  Die  Pallastrerevolutionen  in  Bvzanz,  der  Ver- 
fall des  Reichs  von  Oben  aus,  die  Günstlingswirtshaft,  das  Alles 
bot  schlagende  Analogieen  zu  den  Zuständen  der  sinkenden  Nor- 
mannenherrschaft,  und  in  beiden  Fällen  war  es  Heinrioh  VI.  Be- 
streben die  Ohnmacht  Anderer  für  den  eigenen  Ehrgeiz  nutzbar 
zu  machen.    Er  willfahrte  freudig  dem  Hülfsgesuch,  das  Isaak 
Angelus  in  seiner  Hülilosigkeit  an  ihn  richtete,  er  stellte  es  Jedem 
frei  den  Werbungen  des  oströmischen  Kaisers,  die  durch  reichen 
Sold  am  meisten  lockten,  zu  folgen ;  eine  grosse  Menge  deutscher 
Truppen  fuhr  nach  Griechenland  über.  Dafür  erschienen  nun  Hein- 
rieh's  Gesandte  in  Byzanz  und  begehrten  die  Abtretung  aller  Pro- 
vinzen von  Epidaurus  bis  Thessalonich,  also  der  ganzen  hellenischen 
Halbinsel,  denn  das  seien  die  Kriegseroberungen  Wilhelm's  II.  aus 
dem  Jahre  1188,  die  nur  durch  Venrath  gegen  die  Sicilianer  wie- 
der entrissen  seien,  die  also  dem  deutschen  Kaiser  als  dem  Erben 
des  normännischen  Reichs  zuständen.    Er  forderte  ferner  die  Aus- 
rüstung einer  griechischen  Flotte  zur  Unterstützung  seiner  Kreuz- 
fahrer und  einen  hohen  Tribut.    Nur  die  Bewilligung  dieser  Ge- 
bote würde  dem  Reich  den  Frieden  sichern ,  ihre  Abweisung  den 
Krieg  nach  sich  ziehen.    Der  Sturz  und  die  Blendung  des  Isaak 
durch  Alexius  war  eine  günstige  Botschaft  für  den  deutscher  Kai- 
ser. Er  erklärte  nun  für  das  Recht  des  unterdrückten  Isaak,  des- 
selben den  er  soeben  mit  Unterwerfung  bedroht  hatte,  einstehen, 
and  die  Rechte  seines  Bruders  Philipp1  und  Irene' s  wahren  zu  müs- 
sen. Wurde  doch  von  deutscher  Seite  behauptet,  dass  der  unglück- 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


liehe  Isaak  seine  Rechte  feierlich  auf  Irene  übertragen  habe.  Die 
Belohnung  des  Königs  Leo  von  Armenien,  die  Unterwerfung  der 
afrikanischen  Nordküste  und  die  Huldigung  der  Mauren  konnten 
als  neue  Beweise  der  gewaltigen  Machtstellung  gelten,  die  Hein- 
rich VI.  einnahm.    Er  nahm  die  orientalischen  Plane  Rogers  II. 
wieder  auf.    Und  während  er  vor  wenigen  Jahren  ohnmächtig  den 
Erfolgen  Richard's  Löwenherz  in  Osten  hatte  zuschauen  müssen, 
griff  er  jetzt  selbst  mit  fester  Hand  in  die  orientalischen  Wirren 
ein,  und  begann  mit  nachhaltiger  Kraft  auszuführen,  woran  sich 
sein  Gegner  mit  launenhaftem  Ungestüm  ,  fester  Ziele  vielleicht 
kaum  bewusst,  gewagt  hatte.    Freilich  stand  Ein's  noch  aus; 
eine  Schwierigkeit  musste  erst  am  Mittelpunkt  der  eigenen  Macht 
gehoben  werden,  ehe  die  weitsichtigen  Unternehmungen  in  der 
Ferne  angegriffen  wurden;  Heinrich  musste  sich  mit  der  Kurie 
auseinandersetzen,  die  ihn  bisher  im  Flug  seiner  Bewegungen  ge- 
hemmt und  seinen  gehobenen  Arm  gelähmt  hatte.  Er  hatte  durch 
sein  Auftreten  gegen  Richard  Löwenherz  den  äussersten  Zorn  der 
Kirche  herausgefordert.  Er  war  dadurch,  was  der  Verf.  zwar  leugnen 
will,  sogar  der  Exkommunikation  verfallen.  Denn  wie  wir  an  anderer 
Stelle  nachgewiesen  haben  (De  Monitione  canonica  1860)  scheidet 
die  Kirche  Excommunicationes  ferendae  sententiae  bei  denen  das 
apostolisehe  Gebot  der  Mouitio  und  die  Citatio  erfordert  wird,  und 
Excommunicationes  latae  sententiae,  welche  im  Widerspruch  mit 
dem  ursprünglichen  Charakter   der   Censur  als  Besserungsstrafe 
stehen,  und  sich  den  Poenae  vindicativae  dermaassen  nähern,  dass 
sie  in  allen  wesentlichen  juristischen  Voraussetzungen  mit  denselben 
übereinstimmen  und  nur  des  Namens  entbehren,  während  die  Sache 
dieselbe  ist.    Nun  erklärt  sich,  dass  die  Fälle  der  censurae  latae 
sententiae  anfangs  beschränkt  allmälig  immer  zahlreicher  wurden, 
da  durch  ein  solches  Institut  den  politischen  Zwecken  der  Kurie 
gedient  ward  (a.  a.  0.  p.  6  ff.).    Einer  Excommunicatio  latae  sen- 
tentiae unterlag  unter  Anderem,  wer  einen  Clericus  thätlich  be- 
leidigte, wer  einen  Pilgrim  in's  heilige  Land  angriff  und  schädigte. 
Letzteres  war  der  Fall,  in  dem  sich  Leopold  von  Oestreich  und 
Heinrich  VI.  befanden,  und  dahin  müssen  wir  denn  auch  die  Aus- 
führungen von  Toeche  (De  Henrico  VI.  51)  und  0.  Abel,  König 
Philipp  p.  315  modifiziren.    Unter  solchen  Voraussetzungen  be- 
greift man  übrigens  leicht,  wie  viel  dem  Kaiser  an  einer  Aus- 
söhnung mit  dem  Pabste  gelogen  sein  musste.    Seine  ersten  ver- 
söhnlichen Schritte  erfolgten  gleich   nach   der  Unterwerfung  des 
Normannenreichs  im  Dez.  1197.    Er  wusste,  welchen  Köder  man 
auswerfen  müsse,  um  den  Pabst  zu  gewiunen;  am  31.  Mai  1195 
Hess  er  sich  zu  Bari  ganz  in  der  Stille  das  Kreuz  anheften.  Die- 
ser Schritt,  der  offenbar  die  Reue  über  das  Geschehene  offenbaren 
sollte,  stimmte  denn  auch  den  schwachen,  nachgiebigen  Kölestin  HL 
zu  Gunsten  des  Kaisers  um ;  er  vernahm ,  wie  wir  aus  dem  von 
Toeche  mitgetheilten  Schreiben  ersehen,  mit  Freuden  die  Besserung 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


des  vornehmsten  Sohnes  der  Kirche,  und  wünschte  wieder  die  Fülle 
des  himmlischen  Segens  auf  ihn  herab  (S.  316  ff.).  Der  Pabst  war 
aber  in  einem  grossen  Irrthum  befangen :  er  wähnte  den  Kaiser 
erfüllt  von  heiligem  Glaubenseifer,  während  dieser  in  dem  Kreuzzug 
nur  ein  Mittel  zu  politischen  Zwecken  sah.  Kaum  je  ist  ein  Kreuzzug 
so  wenig   dem  inneren  Drang  entsprungen,  wie  der  Heinrich's. 
Sein  Ziel  war  einfach:  Palästina  sollte  dem  deutschen  Reich  unter- 
than  werden;  dort  sollte  die  deutsche  Herrschaft  festen  Fuss  fas- 
sen und  die  umliegenden  oströmischen  Lehnsreiche  allmälig  zum 
Ansehluss  nötbigen ;  so  von  Osten  und  Westen  zugleich,  sollte  der 
Angriff  auf  Byzanz  beginnen.    Dieser  Kreuzzug  war  nichts  als  der 
vortrefflich  erwählte  Weg,  das  Weltreich  zu  verwirklichen.  Da  die 
Westmächte  durch  gegenseitige  Eifersucht  zurückgehalten  wurden, 
so  musste  Heinrich  der  unumschränkte  Leiter  des  Kreuzzuges  sein ; 
und  wie  sehr  dies  seinen  Absichten  entsprach,  bekundete  er  schon 
dadurch ,  dass  er  andere  Fürsten  zur  Beihülfe  nicht  aufforderte, 
and  noch  deutlicher  durch  die  eigenthümliche  Organisation  die  er 
dem  Zuge  gab.    Die  Ritter  die  im  Solde  des  Kaisers  standen  bil- 
deten den  Kern  des  Heeres,  über  die  ganze  Streitmacht  geboten 
vom  Kaiser  ernannte  Feldherrn.  Diese  feste  organische  Gliederung 
des  Heeres  gab   einerseits  Sicherheit  gegen  die  Wiederkehr  der 
zuchtlosen  Skenen,  welche  frühere  Kreuzzüge  geschändet  hatten, 
andrerseits  verbürgte  sie  eine  feste  Abhängigkeit  vom  Willen  des 
kaiserlichen  Lelms-  und  Soldherrn.    Derselbe  koncentrirte  Willen, 
dieselbe  einheitliche  Initiative,  die  wir  als  Merkmal  von  Heinrich's 
Charakter  bezeichneten,  treten  uns  auch  in  seinem  Versuch  zu  einer 
fundamentalen  Umgestaltung  der  Reichsverfassung  entgegen.  Mei- 
sterhaft hatte  er  den  Moment  gewählt  um  die  Fürsten  und  die 
deutsche  Nation  für  die  Realisiruug  seines  Reformplans  zu  gewin- 
nen. Noch  rühmte  man  die  Erfolge  der  deutschon  Tapferkeit  in  fernen 
Landen ,  die  Unterwerfung  Sioiliens  als  das  eigensto  Werk  des 
Kaisers,  noch  sprach  man  mit  Staunen  von  der  unermesslichen 
Siegesbeute,  die  man  durch  Deutschland  in  die  kaiserlichen  Schlös- 
ser hatte  tragen  sehn ;  jeder  Krieger ,  der  aufs  reichlichste  be- 
schenkt, in  seine  Heimath  zurückkehrte,  war  ein  Lobredner  für  die 
Huld  und  Stärke  des  Kaisers.    In  so  freudig  erregter  Stimmung 
konnte  man  sich  am  Ehesten  entschliessen  den  kaiserlichen  Plan 
gutznheissen :  der  die  Erblichkeit  der  Krone  im  staufischen  Hause 
and  die  Vereinigung  von  Heinrich's  normannischem  Erbe  mit  dem 
deutschen  Reich  verlangte.  Die  Fürsten  waren  durch  das  gute  Ein- 
verstfindniss  das  zwischen  Kaiser  und  Pabst  herrschte,  wesentlich 
beeinflusst.    Ob  sie  einer  Veränderung  zustimmten ,  welche  ihre 
Sonderpolitik  für  immer  zu  vernichten  drohte,  hing  freilich  baupt- 
säcblicb  von  den  Zugeständnissen  ab,  welche  der  Kaiser  gewährte. 
Er  bot  den  weltlichen  Fürsten   die  Erblichkeit  der  Reichslehen 
riebt  nur  in  männlicher,  sondern  auch  in  weiblicher  Linie,  mit 
Ausschluss  der  Söhne  von  Nichtfreien,  und  wenn  leibliche  Descen- 


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90  Tooche:  Kaiser  Heinrich  VI. 

denten  fehlten,  den  Uebergang  des  Besitzes  auf  Seitenverwandte, 
den  Geistlichen  die  Aufhebung  des  Spolienrechts.  Er  bot  ihnen 
also  dasselbe  was  er  für  sich  selbst  verlangte;  im  Reich  wie  in 
den  Lehen  sollte  unbeschrankte  Erblichkeit  herrschen.  Kaiser  Hein- 
rich VI.  hatte  bisher  das  Recht  seiner  unmittelbaren  Oberhoheit 
über  die  Lehensfolge  mit  äusserster  Strenge  gewahrt,  jede  Nach- 
folge ausser  der  des  Sohues  als  widerrechtlich  und  von  seiner  Huld 
abhangig  gehalten,  also  die  jedesmalige  Erneuerung  der  Belehnung 
bei  der  Nachfolge  männlicher  Leibeserben  oder  wo  dieselbe  fehlte 
die  freie  Verfügung  und  Ausleihung  des  Lehens  als  ein  wesent- 
liches Recht  des  Herrn  stets  zu  behaupten  gestrebt.  Von  einer 
solchen  Eventualität,  wie  sie  sich  nach  dem  Tode  Ludwigs  von 
Thüringen,  Albert's  von  Meissen  geboten  hatte,  sollten  die  Fürsten 
vermöge  des  Reformplanes  geschützt  sein.  Und  es  musste  ihnen 
dies  um  so  wichtiger  sein  als  Lehen  und  Allod  mit  der  Zeit  innig 
verschmolzen  und  so  vermischt  waren,  dass  sie  Gefahr  liefen  mit 
dorn  Lehen  auch  ihr  Allod  zu  verlieren  Durch  die  freie  Erbfolge 
schien  es  also,  als  ob  der  fürstlichen  Unabhängigkeit  der  grosste 
Vorschub  geleistet  würde.  Dennoch  war  den  Fürsten  in  dem  Han- 
del der  ihnen  zugemuthet  ward,  die  pars  leonina  hinweggenommen. 
Sie  verloren  das  bedeutungsvollste  Recht  der  Köuigswahl,  sie  ver- 
loren zugleich  selbst  die  Möglichkeit  der  Erhöhung,  die  Aussiebt 
auf  den  Kaiserthron.  Und  wie  edel  und  machtig  die  Staufer  waren, 
so  hatte  doch  kein  einziges  der  vornehmen  Geschlechter  die  Hoff- 
nung aufgegeben,  ihnen  in  der  Würde,  die  sie  jetzt  besassen,  selbst 
dermaleinst  zu  folgen.  Aber  auch  die  kleinen  Fürsten  und  Herren 
waren  durch  die  Erblichkeit  des  Reichs  bedroht.  Niemand  war 
sicher  dass  er  seine  Stellung  gegen  die  Uebermacht  eines  erblichen 
Königthums  würde  schützen  und  behaupten,  geschweige  denn  ver- 
grÖ88ern  können.  Frankreich  bot  das  beredte  Beispiel,  dass  die 
volle  Erblichkeit  der  Reichsleben  nicht  im  Stande  war,  den  Va- 
sallen eine  Unabhängigkeit  von  der  Krone  zu  bewahren.  Diesen 
selbstsüchtigen  Motiven  lieh  man  dann  leicht  den  Mantel  allge- 
meiner Interessen,  man  bemängelte  die  Nachtheile  der  Erblichkeit 
überhaupt,  gegenüber  dem  Wahlsystem,  man  wies  darauf  hin,  in 
welche  Gefahren  ein  junger  schwacher  Nachfolger  das  Reich  ver- 
wickeln könne.  Das  Zugeständniss  weiblicher  Erbfolge  kam  für 
die  Fürsten  neben  diesen  grossen  Nachtheilen  nur  vorübergehend  in 
Betracht.  Ihr  Eintritt  Hess  meist  den  Uebergang  an  ein  anderes 
angebeirathetes  Geschlecht  voraussehen.  Und  selbst  die  Gesamrat- 
heit  der  gebotenen  Concessionen  hob  doch  die  königliche  Gewalt 
über  die  Lehen  nicht  völlig  auf.  Nicht  nur,  wenn  das  Geschlecht 
des  Belehnten  ausstarb ,  sondern  auch ,  wenn  der  Belehnte  durch 
Treubruch  desselben  verlustig  ging,  stand  das  Lehen  ebenso  wie 
bisher  der  königlichen  Vorfügung  offen.  Und  es  war  vorauszusehn, 
dass  der  König  um  so  strenger  die  Gerechtsame  handhaben  würde, 
je  mehr  sich  seine  Gewalt  auf  diese  Reohte  beschränkte.  Das 


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To e che:  Kaiser  Heinrich  VI. 


Lehnssy8tem  war  die  für  das  königliche  Interesse  nutzbarste  Form 
des  Staatsorganismn8.  Aller  Gehorsam,  alle  Abhängigkeit  wurzelte 
in  dem  persönlichen  Trenverhältniss ,  in  der  Lehenstreue.  Eine 
Lockerung  des  Lehnsbandes,  eine  Verflüchtigung  dieser  rechtskräf- 
tigen Normen  brachte  das  ganze  Staatsgebäude  in's  Wanken,  und 
Yereitelte  alle  weitere  Machtentwicklung  der  Krone.    Dazu  kam, 
dass  den  Fürsten  durch  den  Kaiser  hier  nur  verhiessen  ward,  was 
ihnen  der  sichere  Instinkt  der  Zukunft  bereits  als  ihr  Eigen  be- 
»ichnete,  dass  Territorialherrschaft  und  Erbfolge  bereits  tiberall 
in  Bildung  begriflen  waren.    Der  Kaiser  handelte  hier  wie  gegen 
Eichard  Löwen  herz  bei  der  Belehnung  mit  dem  arelatischen  Reich,  er 
war  erbötig  das  zu  vorschenken,  was  er  bereits  nicht  mehr  besass. 
Hatten  doch  die  staufischen  Kaiser  selbst  die  Vererbung  der  fürst- 
lichen Lehen  befördert.    Im  18.  Jahrhundert  sollten  die  Fürsten 
alle  in  vollem  und  grösstenteils  verbrieften  Besitz  aller  der  Ge- 
rechtsame sich  befinden,  die  damals  noch  streitig  waren.    Und  so 
»chien  es  ein  Gebot  der  Klugheit,  ein  Recht,  welches  Heinrich  VL 
nur  deshalb  preisgab,  weil  er  es  kaum  noch  behaupten  konnte, 
nicht  noch  um  theure  Zugeständnisse  zu  erkaufen,  welche  die  ganze 
fürstliche  Stellung  zu  verkümmern  drohten.    Dass  die  geistlichen 
Fürsten  vollends  auf  den  Verzicht  des  Spolienrechts  kein  sonder- 
liche« Gewicht  legen  durften,  lag  auf  der  Hand.    Hatte  doch  der 
Klerus  dies  Recht  niemals  anerkannt,  vielmehr  gegen  jeden  Ver- 
such der  Ausübung  stets  auf  das  Energischste  protestirt!  Die  Ge- 
fahr die  den  Fürsten  drohte  musste  schliesslich  durch  die  Vereini- 
gung des  normannischen  Reichs  mit  Deutschland,  durch  die  Con- 
centrirung  der  gewaltigsten  Hülfsmittel  in  einer  Hand,  selbst  dem 
blödesten  Auge  einleuchten. 

Je  schwerer  alle  diese  Gründe  wogen,  je  Überraschender  musste 
ei  allenthalben  wirken,  dass  die  im  April  1196  auf  dem  Reichs- 
tag in  Würzburg  versammelten  Fürsten  den  kaiserlichen  Reform- 
plan annahmen.  Zögernd  mit  unverhohlener  Unlust  gaben  sie  ihre 
Zustimmung.  Mit  der  von  der  Mehrheit  der  Fürsten  unterzeich- 
neten Urkunde  zog  der  Kaiser  nach  Italien  um  dem  Pabst  seinen 
Sohu  als  den  auf  Grund  des  Erbrechts  von  den  Fürsten  anerkann- 
ten Konig  vorzustellen,  durch  dessen  Krönung  die  plibstliche  Sanktion 
des  Gesetzes  zu  gewinnen  und  damit  dem  Widerstand  Adolfs  von 
Köln  und  seiner  Partei  jeden  Boden  zu  entziehn.  Aber  das  Ver- 
hältniss  zum  römischen  Stuhl  hatte  sich  bereits  wieder  getrübt. 
L>er  schwache  Kölestin  hatte  eingesehn,  dass  der  Kreuzzug  nur  der 
Köder  gewesen  war,  womit  man  ihn  fing,  und  dazu  bewog  den 
Verlost  seines  Lehnreichs,  des  Fundaments  für  seine  Selbstständig- 
keit geduldig  zu  ertragen.  Die  weltlichen  Absichten,  welche  Hein- 
nch  VL  im  Orient  verfolgte,  waren  ihm  auf  die  Dauer  nicht  ver- 
borgen geblieben.  Und  so  gross  war  seine  Furcht  Heinrich's  Macht 
auf  eine  unbezwingliche  Höhe  wachsen  zu  sehn ,  dass  sie  in  seine 
Politik  einen  Zwiespalt  trug  mit  welchem  er  seinen  eigenen  Wtin- 


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Toechet  Kaiser  Heinrich  Vt 


sehen  entgegenwirkte:  wenn  er  den  Kreuzzng  begünstigte,  so 
unterstützte  er  zugleich  die  oströmischen  Pläne  des  Kaisers,  und 
wenn  er  diese  zu  hemmen  sachte,  entkräftete  er  zugleich  seine 
eigene  ThUtigkeit  für  die  heilige  Sache.  Diese  kümmerliche  Poli- 
tik führte  wie  unter  Manuel  zu  dem  unnatürlichen  Bündniss  zwi- 
schen dem  griechischen  Kaiser  und  dem  römischen  Pabst.  Alexius 
trat  mit  der  Kurie  in  Verhandlung.  Der  Pabst  Hess  sich  durch 
die  klugen,  ausweichenden  Antworten  des  Kaisers  nicht  mehr  in 
die  Irre  führen.  Eben  stieg  Heinrich  die  Alpen  herab ,  als  er  ein 
ernstes  Schreiben  Kölestin's  empfing,  worin  dieser  ihm  sein  bis- 
heriges Sündenregister  vorhielt;  und  sich  über  die  Gewaltthaten 
seines  Bruders  Philipp  bitter  beschwerte.  Aber  Heinriche  Antwort 
athmete  die  volle  Entschlossenheit  des  seines  grossen  Strebens  fest- 
bewussten  Mannes.  Er  Hess  es  an  den  freundlichsten  Betheuerun- 
gen seiner  frommen  Absichten  nicht  fehlen,  doch  in  der  Sache 
selbst  blieb  er  unnachgiebig.  Und  während  Kölestin  noch  immer 
auf  eine  friedliche  Verständigang  hoffte,  erklärte  Heinrich,  er  wolle 
nicht  über  den  Frieden  verhandeln ,  und  verlangte  obenan  die 
päbstliche  Sanktion  seines  Reformplanes,  die  Taufe  und  die  Kaiser- 
krönung Beines  Sohnes.  Auf  so  hoch  gespannte  Forderungen  konnte 
die  Kurie  nicht  eingehn,  auch  das  Anerbieten  des  Kaisers,  öffent- 
lich das  Kreuz  nehmen  zu  wollen,  gentigte  ihr  nicht,  da  es  an  un- 
erschwingliche Forderungen  geknüpft  war.  Kölestin  bat  sich  Be- 
denkzeit bis  zum  Epiphanienfest  des  nächsten  Jahres  aus,  die  Sache 
zog  sich  in  die  Länge,  und  der  Kaiser,  der  Alles  im  Sturm  hatte 
erobern  wollen,  erfuhr  wieder  einmal ,  dass  man  den  Bogen  nicht 
allzu  straff  spannen  dürfe,  wenn  er  nicht  reissen  soll.  Auch  die 
Fürsten  zeigten  sich  jetzt  unnachgiebiger ,  da  die  Eintracht  zwi- 
schen dem  weltlichen  und  geistlichen  Regiment  gestört  ward.  Als 
Heinrich  seine  Anträge  erneuerte,  lehnten  die  Fürsten  ab,  der  Land- 
graf von  Thüringen  auf  den  der  Kaiser  fest  gehofft  an  ihrer  Spitze. 
Da  verliess  Heinrich  mit  der  Schnelligkeit  die  seinen  Entschlüssen 
eigen  war,  aber  auch  mit  der  klugen  Mässigung,  in  der  sein  Vater 
ihm  ein  Vorbild  gegeben  hatte ,  den  bisher  mit  unbeugsamer  Be- 
harrlichkeit verfolgten  Weg.  Es  war  gefährlich,  wo  nicht  unmög- 
lich, jetzt  des  Widerstandes  Herr  zu  werden.  Kein  Zweifel ,  dass 
er  bei  besserer  Gelegenheit  deu  Plan  wieder  aufzunehmen  gedachte. 
Und  durch  diese  Nachgiebigkeit  erreichte  er  einen  überraschenden 
Erfolg.  Dem  gemässigten  Verlangen  Hoinrich's,  seinen  jungen  Sohn 
zum  König  zu  wählen ,  stimmten  die  Fürsten  nunm  ehr  zu  (1197). 
Und  bald  genug  bewiesen  die  Ereignisse,  vor  Allem  die  steigende 
Gährung  in  Italien,  wie  klug  der  Kaiser  gethan ,  auf  das  Fern- 
liegende zu  verzichten  und  sich  mit  einem  reellen,  wenn  auch 
scheinlosen  Erfolg  zu  begütigen.  Eine  nationale  Strömung  ging  durch 
ganz  Italien.  Auf's  äusserste  bedrängt  nahm  der  Pabst  endlich  zu 
dem  Mittel  seine  Zuflucht,  von  welchem  ihn  seit  Eroberung  des 
Normannenreich 8  die  listigen  Vorspiegelungen  Heinrich's  VL  über 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VL 


eine  gemeinsame  Ketzorverfolgung,  und  der  Schrecken  vor  der  die 
Tbore  Rom  s  umlagernden  staufischen  Macht  zurückgehalten  hatten  : 
er  trat  in  einen  Bund  mit  den  Normannen  und  Lombarden.  Der 
Beitritt  der  Kaiserin  Konstanze  charakterisirte  diesen  Bund.  Der 
tiefe  Unwille  über  die  beleidigte  Nationalität  trieb  sie  von  der 
Seite  ihres  Gemahls  in  das  Lager  seiner  Feinde.    Schon  war  ein 
Gegenkönig  in  Sicilien  gewählt.  Es  hiess :  Konstanze  und  er  hätten 
Geschenke  getauscht;  er  hätte  sich  gerühmt  sie  zu  heirathen.  Der 
Plan  der  Sicilianer  war  dem  ähnlich,  der  ihnen  85  Jahre  später 
gegen  die  Angiovinen  gelang.   Den  Deutschen  sollten  blutige  Ves- 
pern bereitet,  der  Kaiser  sollte  ermordet  werden.    Aber  der  Plan 
ward  verrathen;  mit  Hülfe  seiner  tapferen  Feldherrn  Markward 
ron  Annweiler  und  Heinrich  von  Kalden  schmetterte  Heinrich  den 
Aufstand  zu  Boden.    Furchtbare  Strafen  wurden  über  die  Aul- 
ständischen  verhängt,  Schwert  und  Strick  waren  noch  milde  Voll- 
strecker des  Urtheils.    Einige  wurden  in's  Meer  versenkt,  andere 
mit  Pech  Übergossen  verbrannt,  andere  gepfählt.    Das  sind  die 
Grausamkeiten  die,  wie  Toeche  scharfsichtig  nachgewiesen  hat,  von 
der  Uiikunde  und  Confusion  der  meisten  bisherigen  Erzähler  in's 
Jahr  1194  verlegt  werden.  (Damberger  in  seiner  übrigens  werth- 
losen Geschichte  des  Mittelalters  hat  bereits  die  richtige  Ansicht 
IX.  Band  S.  287.)  Eine  andere  Frage  ist,  ob  ein  solches  Strafge- 
richt darum  politisch  nothwendig  war.  Aber  es  ist  gewiss,  dats  der 
sentimentale  Massstab  der  Beurtheilung  aus  dem  XIX.  Jahrhundert 
hier  nicht  am  Ort  ist.  Die  Zeitgenossen  fanden  Heinrich's  Strenge 
ganz  in  der  Ordnung.   Die  kaiserlich  gesinnten  Schriftsteller,  ein 
Ansbert,  Otto  von  Sanct  Blasien,  beschrieben  die  Martern  mit  einer 
Ausführlichkeit,  die  beweist,  dass  sie  dabei  keinen  Makel  auf  den 
Kaiser  zu  werfen  gedachten.    Die  Grundsätze  die  Gotfried  von 
Viterbo  seinem  kaiserlichen  Zögling  eingeimpft  hatte,  fanden  jetzt 
nur  ihre  konsequente  Anwendung :  9  Die  Strafe  des  Königs  verhütet 
den  Frevel.    Sobald  die  Vernunft  aufs  Klarste  Strafe  fordert  ist 
es  Pflicht  o  König  sie  zu  vollstrecken.  Zu  späte  Strafe  begünstigt 
die  Verbrechen  und  bewirkt  Unheil.«  So  war  eine  gewaltsame  Zeit 
gewöhnt  durch  gewaltsame  Mittel  regiert  zu  werden.  »Der  Mensch 
ist  wie  die  Zeit,  zartfühlend  sein  geziemt  dem  Schwerte  nicht.« 
Im  Begriff  seine  hochfliegenden  universalstaatlichen  Pläne  auszu- 
fahren mnsste  Heinrich  sich  den  Besitz  des  Normannenreichs  um 
jeden  Preis  sichern,  die  Hinrichtung,  die  strenge  Bestrafung  der 
Empörer  war  deshalb  unerlässlich.    Es  war  ihm  gelungen  Ostrom 
tributpflichtig  zu  machen.    Kaiser  Alexius  musste  jene  drückende 
und  schimpfliche  deutsche  Steuer  ausschreiben,  um  die  5000  Pfund 
Gold  jährlichen  Zins  aufzubringen,  die  Heinrich's  Gesandte  von  ihm 
verlangten.  Ein  stattliches  Kreuzesheer  war  in  Apulicn  versammelt, 
Heer  und  Flotte  landeten  im  September  1197  zu  Akkon.  So  stand 
Ktiser  Heinrich  auf  dem  Gipfel  der  Macht,  und  gewaltig  war  auch 
kr  Eindruck  den  die  kaiserliche  Allgewalt  anf  die  Zeitgenossen 


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94 


Toeohc:  Kalter  Heinrich  VI. 


machte,  wie  wir  aus  den  begeisterten  Worten  des  Abts  Joachim 
von  Kalabrien  ersehn  (467).  Noch  war  es  ihm  beschieden  die 
Vermählung  seines  Bruders  Philipp  mit  Irene,  jener  Rose  ohne 
Dorn,  jener  Taube  ohne  Galle  wie  sie  Walter  von  der  Vogelweide 
nannte,  zu  erleben;  ein  Ereigniss,  an  dem  seine  orientalischen 
Plane  bedeutsamen  Antheil  hatten.  Er  war  von  schwächlicher  Ge- 
sundheit, bald  nach  Unterdrückung  des  letzten  Aufstands  hatte  ihn 
eine  heftige  Krankheit  ergriffen.  Zur  Zeit  als  die  Kreuzfahrer  an- 
langten, befand  er  sich  in  der  Genesung.  Im  August  als  er  im 
sumpfigen  Thal  des  Nisi,  zwei  Tagereisen  von  Messina  der  Jagd 
oblag,  die  er  leidenschaftlich  liebte,  in  Wäldern,  in  denen  Tags 
die  glühendste  Hitze  und  Nachts  eine  feuchte  Kälte  herrschte,  über- 
fiel ihn  in  einer  Nacht,  um  den  6.  August,  von  neuem  das  Fieber. 
Er  Hess  sich  in  die  Stadt  bringen.  Die  Krankheit  liess  nach  und 
kurz  vor  Michaelis  fühlte  er  sich  so  wohl,  dass  er  nach  Palermo 
aufbrechen  wollte.  Schon  war  sein  ganzes  Gefolge  und  der  Haus- 
rath dorthin  übergesetzt,  als  ein  Bückfall  eintrat.  Bald  war  alle 
Hoffnung  geschwunden.  Am  28.  September  1197,  nach  abgelegter 
Beichte,  starb  der  Kaiser.  Jammernd  geleitete  das  Heer  seinen 
Leichnam  nach  Palermo,  wo  er  feierlich  im  Dom  beigesetzt  ward. 
Als  600  Jahre  später  das  Grab  zum  zweiten  Mal  geöffnet  ward, 
bot  der  Leichnam  einen  grausigen  Anblick.  Der  Körper  bis  auf 
das  Nasenbein  war  völlig  erhalten;  noch  waren  Haare  auf  dem 
Kopf,  aber  die  Kleidung  fast  gänzlich  zerfallen ;  nur  die  eine  knöcherne 
auf  die  Brust  gelegte  Hand  steckte  noch  in  dem  ganz  erhaltenen 
Handschuh,  der  andere  Unterarm  war  losgefallen  und  lag  ihm  zu 
Häupton.  —  So  erlosch  in  voller  Kraft  des  Aufschwungs,  dem  Höhe- 
punkt nahe  das  glänzende  Gestirn  Heinrich'a  VI.  Es  war  eine 
furchtbare  Mahnung  des  Schicksals  an  die  Unbeständigkeit  und 
Ohnmacht  alles  Menschlichen,  dass  dieser  eiserne  Mann  so  jäh  und 
rasch  dahingerafft  wurde;  und  wohl  ist  vom  patriotischen  Stand- 
punkt aus  die  Klage  über  ein  Ereigniss  gerechtfertigt,  das  eine 
Fülle  grossartiger  Keime  erstickte  und  eine  glückliche  Entwicklung 
abschnitt.  Die  Geschichte  unseres  Volkes  weist  keinen  so  erschüt- 
ternden Wechselfall  auf  wie  dieseu,  keinen  Unglückstag  der  so 
plötzlich  eine  grosse  zukunftssichere  Zeit  entrissen  wie  den  Tod 
Hoinrich's  VI.  Die  Trauer  in  Deutschland  war  denn  auch  allge- 
mein; man  begriff  welch1  schweren  Verlust  die  Macht  des  Reiches 
erlitten  hatte.  Ehe  noch  des  Kaisers  Tod  bekannt  wurde,  so  ging 
die  Sage,  war  einigen  Leuten  an  der  Mosel  eine  menschliche  Ge- 
stalt von  Kiesengröese  auf  schwarzem  Rosse  erschienen  und  als  die 
Wanderer  ersehreckt  zurückwichen,  ihnen  kühn  entgegengekommen. 
Sie  sollten  ohne  Furcht  sein,  hatte  der  Reiter  zu  ihnen  gesprochen ; 
er  sei  Dietrich  von  Bern;  viel  Unglück  und  Elend  verkünde  er 
dem  römischen  Reich.  —  Vieles  hatte  er  ihnen  noch  mitgetheilt, 
dann  wer  er  über  den  Fluss  geritten  und  ihren  Augen  verschwun- 
den. Die  Sage,  dass  der  alte  Volksheld  selbst  den  Tod  des  jagend- 


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Toeohe:  Kaieer  Heinrioh  VI. 


liehen  Kaisers  klagend  verkündete,  gibt  das  schönste  Zengniss  da- 
für, wie  hoch  das  deutsche  Volk  den  früh  Geschiedenen  achtete 
and  welches  Unheil  es  bei  seinem  Tode  voraussah.  Jetzt  geschah 
Schlimmeres  als  man  irgend  befürchtet  hatte.  Italien  ward  der 
deutschen  Herrschaft  schnell  wieder  entrissen.  England  und  Frank- 
reich, weit  entfernt  davon  unterworfen  zu  werden,  gewannen  Macht 
nnd  Einflnsa  in  den  unseligen  deutschen  inneren  Händeln  die  nun 
folgten.  Die  Kurie  sohwang  sich  durch  Innocenz  III.  wieder  zur 
Herrschaft  Uber  den  Erdkreis  empor;  und  gewiss  wäre  gerade  einem 
solchen  gewaltigen  geistlichen  Herrscher  gegenüber  ein  Heinrich  VI. 
am  Platz  gewesen.  Dem  kalten  Verstand  nnd  der  vorsichtigen 
Beharrlichkeit  von  Innocenz  gegenüber  hätte  sioh  das  ungestüme 
Wesen  Heinrich's  VI.  erst  zu  metallener  Klarheit  geläutert.  Das 
schwerste  Verhängniss,  welches  der  jähe  Tod  des  Kaisers  brachte, 
war  eben,  dass  die  grossartigen  Pläne,  welche  der  Krone  und  dem 
Reiche  die  höchste  Macht entfaltung  verhiessen  ,  nunmehr  zu  deren 
Verderben  umschlugen.  Vor  allem  was  Heinrich  als  die  Ziele  sei- 
ner Politik  enthüllt  hatte  und  vor  jeder  Wiederkehr  seiner  unbe- 
schränkten Macht  im  Reich  und  in  Italien  eilten  die  Feinde  der 
kaiserlichen  Gewalt  sich  auf  ewige  Zeiten  zu  schützen.  Nun  wurde, 
am  dem  Grundsatz  der  Erblichkeit  ausdrücklich  zu  widersprechen, 
der  Weife  Otto  gewählt  und  nur  durch  Verzicht  auf  königliche 
Rechte  emporgehoben.  Im  Lauf  weniger  Jahre  war  das  Reich,  wie 
es  Heinrich  besessen  verschwunden,  und  ein  unvergleichlich  ernie- 
drigtes an  seine  Stelle  getreten.  Man  wird  angesichts  solcher  Tbat- 
sachen  irre  an  der  rechten  Beurtheilung  Heinrich' s.  Soll  man  die 
Kraft  bewundern,  mit  welcher  er  festzuhalten  wusste,  was  ohne  ibn 
sogleich  verloren  war,  oder  soll  man  glauben,  dass  sein  stürmisches 
and  herrisches  Wesen  den  ohnehin  brüchigen  Boden  nur  noch  mehr 
erschüttert  bat,  oder  gar  vermeinen,  dass  sein  ganzes  Streben  irrig 
and  verderblich  gewesen  ist  ?  Wir  sind  dem  Verf.  dankbar,  dass  er 
hiermit  eine  gerade  in  den  letzten  Jahren  lebhaft  vontilirte  Frage 
angeregt  hat.  Sein  Gegenstand  musste  ihn  freilich  von  selbst  dar- 
auf führen,  denn  mehr  als  bei  irgend  einem  andern  Kaiser  kann 
man  bei  dem  thatkräftigen ,  gewaltigen  Heinrioh  den  Werth  oder 
Cn werth  der  SybeT sehen  Ansicht  ermessen,  die  dahin  geht,  dass  die 
deutschen  Kaiser  einem  unerreichbaren  Ideale  nachgestrebt,  deutsche 
Kräfte  nutzlos  vergeudet,  ja  geradezu  die  Zerrüttung  des  deutschen 
Staates  verursacht  haben  ohne  für  den  ungeheueren  Schaden  den 
sie  der  Nation  zufügen  irgeud  einen  Ersatz  zu  gewähren.  Geht 
doch  Sybel  so  weit ,  dass  er  von  » sittlichen  Missgriffen  € 
spricht,  und  Karl  den  Grossen,  die  Ottonen,  Salier  und  Staufer  für 
ihren  folgenschweren  Fehler,  für  ihr  Streben  nach  Erneuerung  der 
römischen  Kaiseridee  verantwortlich  macht.  Allein  gegen  eine 
solche  Beurtheilung  des  Mittelalters  vom  Standpunkt  des  XIX.  Jahr- 
hunderts, gegen  die  Art  wie  man  den  nationalen  Gedanken  der 
Neuzeit  zum  Massstab  bei  der  Beurtheilung  mittelalterlicher  Per- 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI 


Sinnlichkeiten  und  Bestrebungen  macht,  kann  nicht  energisch  ge- 
nug protestirt  werden.  Es  kann,  wie  Eugler  jüngsthin  in  seiner 
trefflichen  Abhandlung  »Zur  Beurtheilung  der  deutseben  Kaiserzeit« 
(Stuttgart  1867)  nachgewiesen  bat,  dem  sitten richterlichen  Mass- 
stab Sybel's  gegenüber,  der  sich  darauf  beruft,  dass  die  Gewalten 
und  Nationen  dieser  Erde  nicht  ohne  eigenes  Verschulden  zu  Grunde 
gehn,  nicht  ernst  genug  auf  das  tragische  Element  in  der  Geschichte : 
darauf  hingewiesen  werden,  dass  es  im  Leben  der  Einzelnen  wie  der 
Nationen  Unglück  gibt,  dass  sich  der  Wille  der  Vorsehung  auch  über 
den  Gerechten  in  Sturm  und  Ungewitter  enthüllt.  Vergangenheit  und 
Gegenwart,  schreibt  Kugler,  zeigen  uns,  dass  unvermeidliche  Irr- 
thümer  und  unberechenbare  Zufalle  einen  grossen  Theil  des  mensch- 
lichen Schicksals  ausmachen,  dass  Fürsten  und  Staaten  auch  un- 
verschuldet zu  Grunde  gehen  können.  Die  Grundlagen  der  sitt- 
lichen Weltordnung  liegen  an  einer  anderen  Stelle  tiefer,  als  dort 
wo  Sybel  sie  gesucht  hat.  Es  ist  die  Pflicht  der  Einzelnen  und 
der  Nationen  den  Weg  zu  gehn,  den  das  Schicksal  von  ihnen  for- 
dert, die  Lösung  der  Aufgaben,  die  das  Leben  ihnen  stellt,  freudi- 
gen Muthes  zu  versuchen,  aber  auch  gefasst  und  entschlossen  Ver- 

.  zieht  zu  leisten,  wenn  sich  diese  Aufgaben  als  unlösbar  erweisen, 
oder  wenn  unvorgesehenes  Unglück  zufallig  hereinbricht.  Denn  nicht 
darauf  kömmt  es  in  erster  Linie  an,  dass  das  hohe  Ziel  erreicht, 
jene  Aufgaben  wirklich  gelöst  werden,  sondern  darauf  kommt  es  an, 
dass  alle  Kraft  geübt  und  der  Kampf  um  das  Dasein  bis  zum  Ende 
nach  dem  innewohnenden  Sittengesetz  geführt  wird.  Auch  derjenige, 
der  unerreichbaren  Zielen  vergeblich  nachringt,  der  einem  herbeu 
Schicksal  erliegt,  nützt  dem  Mensehengeschlechte,  und  um  so  mehr 
je  muthvoller  er  bis  zum  Schlüsse  seiner  Laufbahn  seinen  Platz 
behauptet,  je  tragischer  mithin  sein  Schicksal  sich  gestaltet.«  Aus 
dem  bisher  Angeführten  schliesst  man  leicht,  dass  auch  Toeche 
an  jener  idealen  Anschauung  der  Dinge  festhält.  Der  grossartige 
Plan  Heinrich's,  urtheilt  er,  würde  die  Reichseinheit  gerettet  und 
dem  deutschen  Geiste  und  der  deutschen  Kraft  eine  ungestörte 
reiche  Entwickelung  gesichert  haben.  So  kann  man  auch  hier  wohl 
von  Unglück,  nicht  aber  von  Verschuldung  sprechen.  Heinrich's 
Plan  darf  nicht  vom  nationalen  Standpunkt  der  Gegenwart  beur- 

theilt  werden. 

(Schluss  folgt.) 


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fc  7.  HEIDELBERGER  1887. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Toeche:  Kaiser  Heinrich  VI. 


(Schlues.) 

Die  Staufer  jagten  nicht  utopistischen  Fantasieen  nach,  sie 
huldigten  nicht,  mit  gewissenloser  Hintansetzung  ihrer  nächsten 
and  wahren  Pflichten  einem  unberechtigten  und  unverständigen 
Idealismus,  sondern  sie  waren  die  Träger  grosser  Ideen,  die  mit 
geschichtlicher  Nothwendigkeit  ihr  Zeitalter  beherrschten.  Wohl 
scheint  der  Verbindung  deutschen  Volkskönigthums  mit  römischer 
Imperatorenwürde  Etwas  Fremdes,  ein  unversöhnter  Widerspruch 
zu  Grunde  zu  liegen.  Jene  antike  Herrschergewalt ,  welche  die 
Züge  ihres  Ursprungs  einer  soldatischen  Befehlshabersohaft  nie  ver- 
leugnete und  die  fort  und  fort  als  weltlich  oberste,  persönlich  un- 
verantwortliche, gottähnliche  Herrscherwürde  auftrat,  war  unver- 
einbar mit  dem  ursprünglichen  deutschen  Königthum,  welches  von 
der  Volksversammlung  abhing,  unvereinbar  in  späteren  Zeiten  mit 
der  wesentlichen  Einrede,  welche  die  Fürsten  durch  das  Wahlrecht 
übten.  Aber  darum  darf  man  die  Gewalt  nicht  verkennen,  welche 
die  Kaiser  antrieb  nach  der  Wiederherstellung  der  antiken  Welt- 
herrschaft zu  streben.  Es  war  die  Macht  der  christlichen  Lehre, 
welche  die  Einheit  des  Menschengeschlechts  im  Glauben  forderte 
und  als  die  Vollendung  des  Irdischen  die  Herrschaft  eines  Hirten 
and  eine  Herde  bezeichnete.  Niemand  hat  im  Mittelalter  daran 
gezweifelt,  dass  ebenso  wie  eine  gemeinsame  Kirche  auch  ein  ge- 
meinsamer Staat  von  Gott  geordnet  sei.  Dieser  Grundgedanke, 
der  aus  der  christlichen  Lehre  entsprang,  formte  und  steigerte  nun 
die  fortdauernde  Erinnerung  an  das  römische  Weltreich,  welches 
eben  dieser  Idee  eines  Gesammtreichs  am  Nächsten  stand.  Und  so 
musste  die  Wiederherstellung  des  römischen  Reichs  im  christlichen 
Sinne  das  Ideal  mittelalterlicher  Entwickelung  werden. 

Auch  für  die  Gegenwart  wäre  es  kurzsichtig  die  Macht  solcher 
historischer  Traditionen  ableugnen  zu  wollen.  Auch  noch  jetzt 
herrscht  die  Idee  der  römischen  Einheit,  nur  in  anderer  Gestalt 
und  auf  anderem  Gebiete,  noch  nennt  die  Kirche' Born  ihren  Mittel- 
punkt. Der  Glaube  Erbe  der  römischen  Traditionen  zu  sein,  wirkt 
noch  jetzt  bei  dem  Volke,  welches  in  nationalem  Stolz ,  in  mili- 
tärischem Ehrgeiz  und  in  straffer  Staatseinheit  den  Alten  am 
Meisten  gleicht.  Er  gibt  den  Franzosen  jenes  antike  Mienen- 
spiel, welches  der  Bonapartismus  als  wesentliches  -  Mittel  seiner 
LDL  Jahrg.  2.  Heft.  7 


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Toeche:  Kaiser  Heinrich  VT. 


imperatorischen  Regierung  benutzt.  Deshalb  geziemt  es  uns 
nicht  mit  flachem  Stolz  die  Macht  der  Vergangenheit  leugnen,  und 
ihre  grössten  Gestalten  mit  modernem  Hochmuth  bemängeln  zu 
wollen. 

Gegen  die  erwiesene  weltgeschichtliche  Notwendigkeit  dieser 
Ideen  tritt  jeder  andere  Massstab  der  Kritik  zurück.  Und  darum 
verschlägt  es  wenig  ob  man  den  Segen,  den  die  römische  Mission 
der  deutschen  Kaiser  für  die  Kultur  gebracht,  den  Schutz,  den  ihr 
kräftiger  Arm  gegen  Ungläubige  und  Barbaren  geleistet  hat,  die 
Einwirkungen  der  Verbindung  zwischen  Italien  und  Deutschland 
auf  Kunst,  Wissenschaft,  Handel  und  Bildung  überhaupt,  ob  man 
die*  Förderung  des  deutschen  Geisteslebens  die  dadurch  bedingt 
war,  gering  anschlägt,  und  ob  man  dagegen  die  verderblichen  poli- 
tischen Folgen  jener  Richtung,  die  Verkümmerung  der  staatlichen 
Entwicklung,  die  Entziehung  und  den  Verbrauch  wirksamer  deut- 
scher Kräfte  zu  fernen  Unternehmungen,  die  Erstarkung  der  fürst- 
lichen Sonderpolitik,  welche  durch  die  Rüraerzüge  geboten  war,  ob 
man  das  Alles  sehr  schwer  in's  Gewicht  fallen  lässt:  genug,  die 
Kaiser  lebten  in  ihrer  Zeit  und  athmeten  den  Lebenshauch  der 
mittelalterlichen  Staatsidee,  dem  sie  sieh,  ohne  Schwachlinge  oder 
Philister  zu  werden  wie  Rudolph  von  Habsburg,  nicht  entziehen 
konnten.  —  Noch  einmal  führt  uns  Toeche  in  gedrängten  raschen 
Zügen  das  Bild  seines  Helden  vor;  er  rühmt  seine  Bildung,  sein 
ehrenhaftes  Privatleben,  und  seine  persönliche  Liebenswürdigkeit. 
Als  Staatsmann  erscheint  Heinrich  jedoch  ebenso  streng,  wie  er  im 
gewöhnlichen  Verkehr  leutselig  sein  konnte,  unbedenklich  und  un- 
erschöpflich in  der  Wahl  seiner  Mittel;  er  übte  Gewalt  und  List, 
Wohlwollen  und  Härte,  wie  es  die  Lage  und  das  grosse  Ziel  sei- 
nes Lebens  erheischten.  Die  Umgebung  des  Kaisers  und  sein  Hof- 
Staat  treten  uns  in  frischen  poetischen  Farben  vor  die  Augen. 
»Wäre  es  uns  vergönnt  den  jungen  Kaiser  im  Verkehr  mit  seinen 
Hausgeistlichen  mit  Dichtern  und  Gelehrten,  im  Waffenspiel  und 
auf  der  Jagd  mit  seinen  ritterlichen  Freunden  kennen  zu  lernen, 
könnten  wir  es  zeichnen,  wie  ihm  die  Stunden  auf  der  einsamen 
Burg  Trifels  vergingen,  von  welcher  der  Blick  ringe  auf  die  dufti- 
gen, dunkel  bewaldeten  Kuppen  der  Vogesen  schweift,  oder  wenn 
er  in  den  einlachen  und  beschränkten  Bäumen  der  Gelnhamsener  Burg 
seines  Lieblingsaufenthalts  verweilte,  wie  er  im  fernen  Süden  von 
deutschen  Rittern  und  Geistlichen  umgeben  den  tiefsinnigen  Gedanken 
des  Abts  Joachim  zuhörte  oder  die  Verherrlichung  seiner  italieni- 
schen Kriege  sich  ans  den  überschwenglichen  Distichen  des  Petras 
von  Ebulo  vortragen  liess  —  das  Bild  Heinrich  VI.  würde  fester 
in  uns  haften  und  heller  uns  vor  der  Seele  stehen.  Der  Wunsch 
ihn  so  zu  denken  ist  berechtigt  und  wenngleich  nur  die  eigene 
Fantasie  jene  Skenen  malen  kann,  so  trifft  sie  dock  geschichtlich 
Glaubwürdiges.« 


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Prise:  A  Treatlse  ob  Integral  Calouhll. 


üngem  scheiden  wir  yon  dem  trefflicben  Werk ;  möge  es  dem 
Verfasser  vergönnt  Bein  unsere  historische  Literatur  auch 
in  gleich  geistvoller  und  gründlicher  Weise  zu  bereichern  1 

C. 


A  Trtatise  <m  Integral  Calculus  and  Cnlcülus  of  Variation*.  By 
Bartholome*  Priee,  SecUeian  Prof.  of  not  Phü.,  Ostford. 
Stcond  Edition.  Oxford,  at  tke  Clarendon  Pros.  MDCCGLXV. 
(XXXV  J  u.  708  8.  in  &  tnÜ  zwei  Tafeln), 

Wie  achon  die  Seitenzahl  besagt,  haben  wir  es  hier  mit  einem 
«er  ausführlichen  Lehrbuche  der  Integralrechnung  zu  thun,  dessen 
Bestimmung  übrigens  die  eines  eigentlichen  Lehrbuches  sein 
soll,  indem  es  durch  vielfache  Uebuugsbeispiele  die  allgemeinen 
Lebren  erläutert.  Das  Buch,  dessen  besondern  Titel  wir  in  def 
Ceberschrift  angeben,  ist  der  zweite  Band  eines  grossem  Werkes 
Über  die  gesammte  höhere  Mathematik ,  von  dem  der  erste  Band 
die  Differentialrechnung  behandelt,  die  folgenden  Mechanik  und 
■»thematische  Physik  enthalten  sollen.  Der  uns  im  Augenblicke 
allein  vorliegende  zweite  Band,  der  auch  als  selbstständiges  Werk 
iasgegeben  ist,  soll  Gegenstand  unserer  Besprechung  sein. 

Der  Verf.  huldigt  der  Theorie  des  »  Unendlich  kleinen  c  (infini- 
tesimale, wie  er  sie  nennt)  und  ist  domgeinäss  auch  seine  Aue« 
drocijweise  eingerichtet.  Wir  haben  in  diesem  Blättern  schon  oft 
wiederholt,  dase  wir  für  eine  völlig  klare  Darstellung  diese  Theorie 
nicht  für  geeignet  halten,  ohne  dass  wir  desshalb  sagen  Wollen, 
es  Hessen  sieh  die  Lehrsätze  nicht  auch  unter  Zugrundelegung  jener 
Anscbauuegen  erweisen.  Wir  stehen  also  mit  dem  Verf.  nicht  auf 
gleichem  Boden,,  werden  aber  seinem  Werke,  das  wir  von  vorn 
herein  im  Allgemeinen  als  ein  tüchtige»  und  lehrreiches  bezeichnen, 
aU*  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen  und  nur  da,  wo  nach  unserer 
tfeberzeuguug  unrichtige  oder  nicht  gehörig  erwiesene  Setze  aus» 
gesprochen  wurden,  Widerspruch  erhebe».  Denn  das  halten  wir 
iör  die  Aufgabe  der  Kritik,  durch  Hinweisung  auf  etwa  vorhandene 
Mängel  eine  Verbesserung  der  Methoden  hervorzurufen  und  damit 
der  Wissenscheit  selbst  einen  Dienst  zu  erweisen,  »Les  progres 
la  science  ne  sont  vraiment  fructueux,  que  quaad  ils  aotenent 
*>38i  1©  progres  des  traites  elementaires«  hat  der  Verf.  als  Motto 
seinem  Buche  vorgesetzt,  und  wir  halten  dieses  Wort  Dupine  auch 
*  umgekehrter  Richtung  für  anwendbar. 

Der  Verf.  glaubt  die  Integralrechnung  mit  der  Theorie  der 
bestimmten  Integrale  beginnen  zu  müssen,  folgt  also  hierin 
den  Anschauungen  Moignos.  Für  ihn  ist  die  Grundaufgabe  die- 
wt  Zweiges  der  böliern  Mathematik  die  derSNfmmirting  unendlicher 
Reihen,  deren  einzelne  Glieder  unendlich  klein  und  zwei  auf  ein- 


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100 


Price:  A  Treatlse  on  Integral  Calculu*. 


ander  folgende  um  ein  Uaendlichkleines  höherer  Ordnung  verschie- 
den sind.  Wir  geben  gerne  zu,  dass  dies  der  historische  Weg  sei, 
den  die  Wissenschaft  gegangen;  allein  im  Beginne  uiusste  vor 
Allem  auf  die  Anwendung  gesehen  werdeu,  da  die  neue  Wissen- 
schaft darin  ihre  Kraft  bewähren  musste  und  für  die  Entdecker 
und  Verbreiter  selbst  natürlich  in  diesen  Auwendungen  ein  un- 
widerstehlicher Beiz  lag.  Diese  Periode  liegt  uns  aber  nun  ziem- 
lich fern ,  und  wir  müssen  in  den  Lehrbüchern  von  jenem  Ziele 
zunächst  absehen,  ohne  dass  wir  dasselbe  aus  den  Augen  zu  ver- 
lieren haben.  Darum  scheint  es  dem  Ref.,  dass  es  naturgemässer 
sei,  die  Integralrechnung  als  die  Umkehrung  der  Differentialrech- 
nung anzusehen,  also  mit  der  Theorie  der  unbestimmten  Inte- 
grale zu  beginnen.  Ist  doch  für  die  Integration  der  Differential- 
gleichungen diese  Anschauung  sicher  besser  als  die  andern,  wie  sich 
dies  u.  A.  auch  aus  dem  vorliegenden  Buche  selbst  ergibt. 

Davon  nun  aber  abgesehen,  betrachtet  der  Verf.  das  bestimmte 
Integral  in  seiner  allgemeinsten  Form  —  bei  ungleichen  Incre- 
menten  — ,  setzt  also  dasselbe  als  Summe:  f(x0)(x1 — XoJ-j-^i!) 
(x2— £| |)  +  .-H- f(xn_i)(xa  — xn_i)  fest,  wobei  xt — Xo,...,  xn — fn_i 
unendlich  klein  sind.  Er  stellt  dabei  die  Bedingung  auf,  dass  f(x) 
endlich  nnd  stetig  sein  solle  innerhalb  der  Integrationsgränzen. 
Wir  halten  das  Letztere  für  überflüssig  und  eben  darum  unnöthi- 
ger  Weise  einschränkend.  In  der  Regel  freilich  sind  beide  Eigen- 
schaften verknüpft,  und  für  die  Auswerthung  mittelst  unbestimm- 
ter Integration  ist  es  nothwendig,  dass  das  eigentliche  Integral 
stetig  sei.  Es  ist  aber  immerhin  besser,  nicht  mehr  einschränkende 
Bedingungen  zu  machen,  als  gerade  durchaus  nothwendig  sind. 

Bei  dem  Beweise  des  Hauptsatzes,  dass  das  bestimmte  Inte- 
gral F  '(x, )  (x, -X«,)  +  . . .  +  F i(xn_i) (Xn -xn_!)  =F(xn)-F(x0)  setzt 
der  Verf.  die  Gleichung  F(x-fh)  — F(x)  =  hF»(x-f  ®h)  voraus, 
wo  &  zwischen  0  und  1 ;  dann  lässt  er  h  unendlich  klein  werden 
und  vernachlässigt  ®h.  Warum?  Darauf  bleibt  er  die  Antwort 
schuldig  und  wir  können  also  den  Beweis  leider  nicht  als  scharf 
geführt  ansehen.  Von  demselben  Geiste  ist  die  geometrische  Er- 
läuterung getragen,  die  beigegeben  wird,  und  es  muss  nach  unserer 
Meinung  bewiesen  werden,  dass  dxdy  ein  Element  einer  ebenen 
Fläche  sei. 

Der  bereits  besprochene  Beweis  des  Fundamentalsatzes  wird 
vom  Verf.  in  etwas  veränderter  Gestalt  wiederholt,  ohne  dass  aber 
die  wissenschaftliche  Schärfe  dabei  gewonnen  hat.  Ist  auch  F(x) 
so  beschaffen,  dass  F,(x)  =  f(x),  so  ist  desshalb  doch  nicht  F(xt) 
—  F(x0)=f(x0)(x1— x^,),  wenn  immerhin  x, — Xq  unendlich  klein 
gedacht  wird. 


Von  der  Gleichung  I  F>(x)  dx  =  F(xa)  —  Ffo)  geht  der  Verf, 


*0 


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Prlce:  A  TroAtis«  on  Integral  CaloulnB.  101 

rar  unbestimmten  Integration  über,  indem  er  die  obere  Gränze  xB 
beliebig  löst,  sie  also  kurzweg  mit  x  bezeichnet,  tind  P(xil)  »als 
konstante  weglässt,  mitbin  —  ohne  Gränzbezeichnung  schreibt: 

F,(x)dx=F(x).    Wir  gestehen  offen,  dass  sich  hierbei  nicht 


Alles  für  uns  als  durchsichtig  darstellt;  es  scheinen  die  Flecken 
aber  so  sichtbar  zu  sein,  dass  wir  nicht  besonders  darauf  hindeu- 
ten müssen. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  die  einzelnen  Lehrsätze  bei 
unserm  Verf.  je  zunächst  für  bestimmte  Integrale  erwiesen  und 
dann  auf  die  unbestimmten  übertragen  werden.  Allerdings  kommt 
er  endlich  doch  dazu,  die  unbestimmte  Integration  als  Umkehrung 
der  Differenzirung  anzusehen.  Wenn  er  aber  sagt,  dass,  weil  eine 
willkürliche  Konstante  bei  der  Differenzirung  verschwinde,  man 
eine  solche  bei  der  Integration  zusetzen  dürfe  (»may  be  introducedc), 
so  ist  damit  sicherlich  kein  klarer  Grund  gelegt,  auf  den  man  mit 
vollem  Vertrauen  bauen  kann. 

Wir  Übergehen  natürlich  die  einzelnen  Sätze,  die  sich  hier, 
wie  in  jedem  halbwegs  ordentlichen  Lehrbuche  finden,  und  werden 
uns  nur  da  aufhalten,  wo  wir  Etwas  zu  erinnern  haben.  Dies  ist 
zunächst  bei  dem  (auch  sonst  häufig  vorkommenden)  Kunststück 

der  Fall,  mittelst  dessen  aus  ^j~xn  dx  auch  j~  abgeleitet  werden 

soll.  Für  unbestimmte  Integration  will  es  eben  nicht  gehen  und 
desshalb  werden  bestimmte  Integrale  zu  Hilfe  genommen.  Dar- 

Xn-H_an+1  0 

 i— - —  für  n=—  1 ;  dies  wird  aber  dann  zu—, 

n  +  1  0 

A 

folglich  n.  s.  w.  Dazu  bemerken  wir  einfach,  dass  diese  ganze  Be- 
trachtung entschieden  unzulässig  ist.  Die  Division  mit  n-f-1  ist 
nicht  gestattet,  wenn  n  -f- 1  =  0 ,  und  es  muss  eben  das  Integral 

auf  andere  Weise  gesucht  werden  als  |^xn  dx. 

Bei  der  Zerfällung  in  Partialbrüche  scheint  es  uns  zweck- 
mässiger, statt  der  imaginären  Faktoren  des  ersten  Grades  die 
reellen  des  zweiten  Grades  einzuführen ;  so  wie  für  die  binomischen 
und  trigonometrischen  Integrale  die  bekannten  Reduktionsformeln 
sicher  aufzuführen  sind. 

Wenn  der  Verf.  im  Verlaufe  seiner  Darstellung  nun  zur  Aus- 
weichung bestimmter  Integrale  übergeht,  so  müssen  wir  ihm  mehr- 
fach ein  Halt  zurufen.  Integrale  mit  unendlichen  Gränzen  dürfen 
nicht  so  ohne  alle  Umstände  eingeführt  werden,  wie  es  der  Verf. 

thttt ;  sonst  kann  es  sich  ereignen,  dass  ans  Jsinxdx  geschlossen 

0 


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101  Price :  A  Tremse  on  Integral  Cakulua. 

wird  (8.  87),  dass  coscon=0.  Das  hat  begreiflich  keinen  Sinn, 
abaenderlich  wenn  kurz  vorher  auch  linoooouO  gefunden  wurde  I 

b 

Eben  so  dürfen  Integrale  J  f(x)  dx ,  für  welche  f(x)  an  der  obem 

a 

G ranze  unendlich  wird,  nicht  ohne  weitere  Untersuchung  zugelassen 
werden.  Die  Bemerkung,  dass  man  nur  bis  zu  der  oberen  Gränze 
gefce,  ohne  dieselbe  eiuzuscbliessen ,  ist  entschieden  Nichts  sagend, 

1 

da  man  ja  dann  J^|~  eben  *°  g*tt*n  musste,  und  im  Falle  f(x) 

P 

an  der  untern  Gränze  unendlich  wäre,  eben  gar  Nichts  zu  sagen 
wüsste.  Auf  das  sicher  gar  sonderbare  Resultat ,  dass  sin  «>  und 
cos  oo  Null  seien,  kommt  Übrigens  der  Verf.  (S.  95)  nochmals  zurück 
und  entfaltet  eine  grosse  Beredsamkeit,  um  den  darin  steckenden 
Widerspruch  zu  vertuschen.  Ref.  meint,  dass,  sobald  man  einmal 
auf  diese  wortreichen  Gründe  greife,  das  Bewusstsein  der  verlore- 
nen mathematischen  Klarheit  den  Redner  drücke,  wie  dies  ganz 
sicher  auch  unserm  Verf. ,  dem  es  sonst  entschieden  Ernst  ist  um 
Klarheit,  begegnete. 

Dass  (S.  91)  in  aller  Gemüthsrahe  gesagt  ist,  man  finde  >bj 

«4*00  -j-  OD 

-     ttt  f  x*«  dx  Pt**  dx 

proceas«  den  Werth  vonj  gg^y  wie  den  you  J  jfcqrj 

 OD  —  OO 

beruht  offenbar  auf  einer  alten  Angewöhnung,  das  erstgenannte  In- 
tegral bereits  »berechnet«  zu  sehen.  Die  Angabe  ist  einfach  zu 
streichen,  da  das  fragliche  Integral  unzulässig  ist. 

Dies  Letztere  hängt  mit  der  (S.  98  ff.)  dargestellten  Cauchy- 
schen  Theorie  des  Hauptwertbes  zusammen,  die  trotz  der 
Moigno'schen  Darstellung  und  Zustimmung  zu  verwerfen  ist.  Unser 
Buch  hat  sie  leider  aufgenommen.  Wenn,  sagt  der  Verf.,  f(x)  un- 
endlich wird  für  x  =  £,  welcher  Werth  zwischen  den  Gränzen  a  und 

b  £  —  (ia  b 

b  Hegt,  so  setzt  man  Jf(x) dx ^  jfl» dx  +  p(x)  dx,  wo  m  (unend- 

a  a  {  \-va 

lieb)  klein;  p,  v  aber  beliebig  (positiv)  sind.  Diese  Gleichung  ist 

falsch.    Denn  es  ist  immer  noch  I  f(x)  dx  zuzufügen,  und  die  Weg- 

lassung  dieser  Grösse  kömmt  auf  die  stillschweigend  angenommene 
Behauptung  hinaus,  dieselbe  sei  Null.  Gerade  das  aber  lässt  sich 
nicht  beweisen,  weil  eben  f(x)  innerhalb  dieser  Gränzen  unend- 


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Prlce:  A  Treatiae  on  Integral  Calculus.  10B 

lieh  wird.  Wird  aber  die  oben  angeführte  Gleiebnng  nicht  zuge- 
lassen, so  hört  auch  die  ganze  Untersuchung  von  selber  auf.  Man 
kann  freilich  sonst  gar  Mancherlei  damit  »beweisen«,  so  dass  wun- 
derliche Erscheinungen  au  Tage  treten,  wie  denn  der  Verf.  (S.  102) 
einer  oder  der  andere  der  Art  begegnet. 


Die  Ableitung  des  Werthes  von  |— dx  (in  S.  106)  ist  un- 

'o 

ralassig.  Der  Verf.  zerlegt  das  Integral  in  eine  Summe  anderer, 
deren  Gränzen  nach  den  Vielfachen  von  \it  wachsen.  Wir  geben 
za,  dass  man  so  verfahren  kann;  nur  rauss  dann  gezeigt  werden, 
dass  der  (möglicher  Weise)  bleibende  Rest  verschwindet.  Dann 

11  1 

aber  ist  die  Summirung  der  Reihe  — h  — -  +  — r-  +    ,  welche 

welche  gleich  cosec  x  gefunden  wurde,  unzulässig  für  x  =  0,  was 
doch  die  untere  Gränze  des  Integrals  ist. 

Die  künstliche  Art,  wie  der  Verf.  ein  bestimmtes  Integral 
(mit  einem  veränderlichen  Parameter)  differenzirt,  ist  eben  so  nicht 


ohne  Vorwurf  hinzunehmen.  Er  sagt  nämlich,  dass  weil  Jf(x,  a) 

a 

(>,  «)      —  a)  +  f(x1, «)  (x2  -  Xj)  -f ..+  f(xn_i,  a)  (b— xn-i),  so 

d   P  df(a,  «) 

sei  anch  (a,  b  unabhängig  von  «):  -^-1  f(x,  a)  dx  =  — ^ — 


a 

b 


nur 


(.-)+..  +  ^^0>-^)=/-^a,  Dabei Ut 

a 

übersehen,  dass  man  vorher  beweisen  muss,  dass  eine  unendliche 
Reihe  differenzirt  werden  dürfe  wie  eine  endliche.  Natürlich  macht 
der  Verf.  von  diesem  Satze  vielfachen  Gebrauch,  ist  aber  für  den 
Fall  einer  unendlichen  Gränze  etwas  zu  leicht  verfahren.  Wenn 
b  (in  unserm  Beispiele)  unendlich  wird,  ist  dann  dieser  Werth  als 
von  a  abhängig  oder  unabhängig  anzusehen?  Beides  wäre  doch 
wohl  denkbar!    Dann  spricht  er  sich  nicht  immer  klar  aus.  So 

1 

bat  er  das  Resultat:  I-*  ,  T,,  x  dx=ltg*^,  ohne  dass  er  dabei 

0 

angibt,  dass  m  hier  zwischen  o  und  1  liegen  muss.    Er  benützt 

00 

dabei  die  Formel  f1""1*1  —  -A—  (S.  105),  bei  der  er  allerdings 

j    l-f-x  sinm« 

0 


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104  Price:  A  Treatlse  on  Integral  Calculus. 

die  nämliche  Angabe  unterlässt,  wenn  sie  gleich  in  der  ursprüng- 

Px^dx       7C  2m +  1 

lieben  Ableitung  I  ^q—^  =  — cosec — ^ —  %     %  *  '  wo 

 00 

m  <  n  ssin  mnss.  Wir  halten  aber  für  unerlässlich  ,  dass  jeder 
Formel,  die  als  besonders  bezeichnet  hervorgehoben  wird,  auch  die 
Bedingungen  ihrer  Giltigkeit  beigefügt  seien,  da  sonst  nothwendig 
Verwirrung  entstehen  muss. 

Wenn  bei  Gelegenheit  der  Darstellung  der  Cauchy' sehen  Me- 
tbode, bestimmte  Integrale  zu  ermitteln  (Moigno,  21.  Vorlesung) 
der  Verf.  nochmals  auf  das  oben  gerügte  Verfahren  zurückkommt, 
Integrale  zu  behaudeln,  welche  innerhalb  der  Integrationsgränzen 
unendlich  werden,  so  können  wir,  da  eben  nur  die  frühem  Dinge 
wiederholt  sind,  unsern  Widerspruch  ebenfalls  nur  wiederholen. 

-4-  ot> 

J>  (x) 

—  00 

stimmt  wird  (S.  132),  so  begeht  der  Verf.  wieder  den  nun  viel- 
fach gerügten  Grundfehler.     Er  findet  (im  Grunde  mit  Moigno 

§.136):  —  i  [<p( — 1) — ffi(l)],  was  nun  einmal  nicht  bewiesen  ist. 

Bei  den  zur  näherungaweisen  Berechnung  bestimmter  Integrale 
angegebenen  Methoden  fehlt  eine  genauere  Schätzung  der  Fehler- 
gränze,  da  das  in  §.  115  angeführte  Verfahren  nicht  ganz  einer 
solchen  Forderung  entspricht. 

Zur  Theorie  der  Gammafunktion  (S.  155)  übergehend,  sollte 
doch  mit  grösserer  Bestimmtheit  hervorgehoben  sein,  dass  in  r(n) 
nothwendig  n>n  sein  muss,   so  wie   auch  in   der  Gleichung 


e-aIxn-1dx=  die  Bedingung  a>o  zuzufügen  ist.  Wenn, 

0 

,  .  _  .  1.2»,.  (m — 1) 

um  die  Gleichung  F(n)  =  — — r  -r — — =  —  mn  (für  m  — oo  ) 

n(n-j- l)..(n-|-ra  —  1)       v  7 

zu  finden,  von  dem  Integrale  I  mn~l  (1— xm)n_1dx   durch  Um- 

0 

setzen  von  x  in  xm  (für  m  =  oo )  ausgegangen  wird ,  so  ist  eine 
solche  Darstellung  sicher  nicht  ohne  die  schwersten  Zweifel  an 
ihrer  Zulässigkeit  aufzunehmen.  Was  ist  denn  xm  für  m  =  oo  ?  Bei 

d^  1  .Z~'(n')  1 
der  Bestimmung  von  — ,  \      kömmt  die  Entwicklung  von  - — ~ 

an  1  —  e  y 

zur  Anwendung,  Diese  ist  aber  nicht  gestattet  für  y  =r  0  und  damit 


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Price:  A  Treatiae  on  Integral  Calculua.  105 

bort,  da  y  =  0  die  untere  Gränze  der  Integration  ist,  ancb  die 
Berechtigung  zn  der  (S.  170)  angewandten  Beweismetbode  auf.  Dass 

~h5>    =-4 +  7 — tt^+—  lässt  sicQ  aber  sehr  leicht  ohne  diese 
dn2        n3  1  (n-fl)2  1 

Methode  finden.  Wenn  (S.  187)  F(n)  für  negative  n,  allerdings 
nicht  für  ganze,  berausgerechnet  wird  und  zwar  aus  der  Formel 

Hn)  =  -7 — *  -  2-*(m    1)   n        m=00    gQ  iat  7U  beachten, 

n(n-f  l)...(n-fm  —  1) 

iaas  diese  Formel  hier  aus  der  Legendreschen  Definition  gefunden 
wurde  und  also  auch  nicht  weiter  gelten  kann.  Stellt  man  sie  aller- 
dings an  die  Spitze,  so  kann  man  mancherlei  Lehrsätze  ableiten; 
für  die  bestimmten  Integrale  ist  damit  aber  blutwenig  gewonnen. 
Die  »symbolischen  Formeln«,  welche  der  Verf.  (S.  194)  für 

■ 

j*uvdxn  aufgestellt,  sind  bei  uns  ausser  Kurs  gesetzt,  spielen  aber 

allerdings  bei  englischen  Schriftstellern  immer  noch  eine  gewisse 
Rolle.  Die  scharfen  Anforderungen  hinsichtlich  der  Konvergenz 
noendlicber  Reihen  haben  diesen  allerdings  ganz  hübsch  aussehen- 
den Dingen  unerbittlich  den  Garaus  gemacht. 

Bis  hieher  hat  der  Verf.  die  Theorie  dargestellt,  und  zwar 
—  mit  Ausnahme  etwa  der  Gamafunktionen  —  das,  was  man  in 
vollständigem  Lehrbüchern  ebenfalls  findet.  Nunmehr  wendet  er 
»ich  zu  den  Anwendungen  der  Integralrechnung  auf  Geometrie  und 
nmäehst  zur  Rektifikation  ebener  Kurven.  Die  Ableitung  der  nöthi- 
aen  Formeln  geschieht  einfach  nach  den  Grundsätzen  der  Lehre 
von  unendlich  kleinen  Grössen ;  die  Anwendungen  sind  sehr  zahl- 
reich und  gut  gewählt.  Auch  andere  Aufgaben  der  analytischen 
Geometrie,  die  man  wohl  ebenfalls  unter  dem  Kapitel :  Integration 
der  Differentialgleichungen  behandeln  könnte,  kommen  in  bedeuten- 
der Anzahl  vor.  Die  weitern,  sonst  üblichen  Anwendungen  werden 
später  vorgetragen,  denn  es  enthält  das  Buch  nunmehr  eine  Unter- 
suchung über  uneudlicbe  Reihen,  deren  Konvergenz  und  Divergenz 
■  beurtheilen  gelehrt  wird. 

Der  Beweis,  dass  1  -f-  i  -f-  y  "f~  —  nnendlich  sei,  ist  nicht  ganz 
*aläsaig,  da  es  sich  fragt,  ob  die  verschiedene  Anordnung  der  Glie- 
der gestattet  sei ;  in  dem  Hauptsatze  <C  I  bei  Konvergenz^ 

■Ml  scharf  hervorgehoben  werden,  dass  dieser  Quotient  nicht  etwa 
1  beliebig  nahe  kommen  darf.  Das  liegt  freilich  in  der  Annahme, 
dass  man  eine  Zahl  p  wählen  könne  unter  1,  so  dass  jener  Quotient 
weh  noch  unter  q  ist;  immerhin  ist  es  aber  wichtig,  jene  Be- 
dingung genau  zu  formuliren.   Das  Kriterium :  n(^~  — 1 


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Price:  A  Treatise  on  Integral  Calcultis. 


wird  aus  —  ~-  >  1  abgeleitet,  was  vielleicht  nicht  ganz  zweck- 
mässig ist. 

Die  Reihen  von  Taylor  und  Maclaurin  werden  in  der  bekann- 
ten Weise  mittelst  der  bestimmten  Integrale  abgeleitet  nnd  die 
Theorie  der  Integration  unendlicher  Reihen  benützt,  um  arc(tg  =  x), 
arc  (sin  =  x)  u.  a.  m.  in  solche  Reihen  zu  entwickeln.  Wir  ver- 
missen dabei  nur  die  genaue  Bestimmung  der  Giltigkeit.  Da  die 
Entwicklung  von  (1-f-x2)-1  für  x*=l  nicht  zulässig  ist,  so  gilt 
die  Reihe  für  arc(tg=rx)  zunächst  nur  für  xÄ<t  und  es  bleibt 
der  Fall  x3  =  1  besonders  zu  untersuchen.  Dasselbe  ist  für  arc 
(sin  =  x)  zu  fordern.  Diese  Untersuchung  ist  nun  aber  nicht  ge- 
führt und  es  bleibt  somit  zweifelhaft,  ob  der  Verl,  das  Recht  hatte, 
x=l  zu  setzen,  wie  er  es  thut.    Dass  er  sich  wieder  damit  hel- 


P  dx 

fen  will,  dass  er  sagt,  in  dem  bestimmten  Integrale  J       —  sei 

o 

ja  die  obere  Gränze  nicht  eigentlich  erreicht,  haben  wir  bereits 
oben  schon  tadelnd  angeführt  und  müssen  diesen  Tadel  hier  wieder- 
holen. Desshalb  haben  wir  auch  verlangt,  dass  man  bei  der  Ent- 
scheidung über  die  Konvergenz  von  Reihen  scharf  ausspreche,  es 

dürfe  22Ü.  nicht  1  beliebig  nahe  kommen,  da  man  sonst 

auch  hier  eine  so  Nichts  sagende  Ausrede  zu  brauchen  versucht 
sein  könnte. 

An  diese  Untersuchungen  schliesst  sich  die  Theorie  der  Fou- 
rier' sehen  Reihen  an.  DassJ"8"*       ^  ^  d£  =  Ä  kann  doch  wohl  für 


—  CD 


ein  unendliches  n  bestritten  werden,  wenn  gleich  zugegeben  wird, 

join  a  x  k 
dass    I — —  dx— ä  für  a>0;  I  sin  (n  4- ^)  £  d|  ist  für  ein  un- 

 OD   Ct 

endlich  kleines  a  nicht  desshalb  Null ,  weil  sin  ( n  ~\-  \ )  |  —  0,  da 
ja  endgiltig  n—  oo  zu  setzen  ist.  In  allen  Fällen  sind  diese  Be- 
weisformen ,-  in  denen  sich  das  Buch  bowegt,  etwas  schwankender 
Natur.  Die  Betrachtung  der  möglichen  Doppelwerth igkeit  (Sprin- 
gen der  Funktion)  wird  nachträglich  geführt.  Die  Anwendungen 
sind  wieder  sehr  zahlreich  und  gut  gewählt. 

Für  die  vielfachen  Integrale,  die  dem  Geiste  des  Buches  zu- 
folge als  bestimmte  aufgefasst  werden,  sind  trotzdem  die  wichtigen 
Umformungsformeln  wie  für  unbestimmte  gegeben,  d.  h.  es  ist  auf 
die  Bestimmung  der  (neuen)  Gränzen  keine  Rücksicht  genommen. 


uigiiizeci  u 


y  Google 


Prlcei  A  TreAttee  on  Integral  Calculus.  107 

Gerado  darin  aber  scheint  uns  die  eigentliche  theoretische  und 
praktische  Schwierigkeit  zu  liegen.  Die  Darstellung  der  Formel 
als  solcher  ist  eine  ziemlich  einfache  Sache ;  sie  setzt  aber  die  Zu* 
lissigkeit  der  Umkehrung  der  Integrationsordnung  entschieden  vor- 
aus. Die  Differenzirung  vielfacher  Integrale  nach  darin  vorkom- 
menden Parameter  wird  ausführlich  erörtert  und  dann  zu  den  wei- 
tern Anwendungen  übergegangen. 

Diese  betreffen  zunächst  ebene  Flächen,  wobei  als  > Element« 
dxdy  angenommen  wird ;  darauf  werden  Rotationsflächen  qua- 
drirt  und  endlich  drittens  krumme  Oberflächen  im  Allgemeinen.  Die 
Ableitung  der  Formel  ist  so  ziemlich  die  herkömmliche,  welche 
das  Flächenelement  auf  die  Tangentialebene  legt.  Wir  halten  diese 
Methode  nicht  dem  Geiste  strenger  Darstellung  gemäss,  wollen  uns 
aber  hier  nicht  weiter  darüber  verbreiten.*  Auch  krummlinige 
Koordinaten  werden  benützt,  namentlich  die  Gaussischen  Formeln 
in  diesem  Betreff  aufgeführt.  Die  elliptischen  Koordinaten  haben 
wir  nirgends  gefunden. 

Die  zweite  Anwendung  betrifft  die  Berechnung  von  Körper- 
inhalten. Wenn  von  rechtwinkligen  zu  Polarkoordinaten  über- 
gegangen wird  (S.  862),  so  leitet  der  Verf.  die  betreffende  Formel 
unmittelbar  ab.  Es  wäre  aber  sicher  zweckmässig  gewesen,  die- 
selbe auch  durch  Umformung  aus  der  Formel  für  rechtwinklige 
Koordinaten  entstehen  zu  lassen.  Auch  hätte  der  Fall,  da  der  Pol  v 
ausserhalb  liegt,  näher  erörtert  werden  sollen. 

Ala  weitere  Anwendungen  der  Integralrechnung,  die  uns  noch 
in  keinem  Lehrbuche  begegnet  sind,  werden  eine  Reihe  Beispiele 
ans  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  behandelt,  denen  eine  knrze 
Aaseinandersetzung  der  Grundbegriffe  vorhergeht.  Welcher  Art 
diese  Beispiele  sind  mag  gleich  aus  dem  ersten  hervorgehen :  »Eine 
breite  ebene  Platte  ist  mit  gleich  weit  entfernten  geraden  Linien 
überzogen:  eine  dünne  gerade  Nadel,  deren  Länge  kürzer  ist  als 
die  Entfernung  je  zweier  der  Parallelen,  fällt  auf  die  Platte.  Wel- 
ches ist  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  die  Nadel  auf  keine  der  tei- 
lenden Geraden  (theilweise)  zu  liegen  kommt ?€  Daneben  kommen 
dann  auch  die  Grundbetraohtungen  der  Methode  der  kleinsten 
Quadrate,  so  wie  endlich  die  Theorie  der  mittleren  Werthe  vor. 

Zur  eigentlichen  Theorie  zurückkehrend  werden  vielfache  In- 
tegrale nach  verschiedenen  Methoden  reduzirt.  Wir  begegnen  zu- 
erst dem  von  Moigno  (§.  121)  dargestellten  Satze,  der  mit  den 
dortigen  Beispielen  aufgenommen  ist.  In  kaum  anderer  Gestalt 
erscheinen  dann  die  §§.  122—124  von  Moigno,  denen  eine  oder 
die  andere  weitere  Ausfuhrung  angeknüpft  wird. 

Der  Variationsrechnung  ist  ein  verhältnissmässig  grosser  Theil 
iea  Werke8  (ß.  411—512)  gewidmet.  Wir  wollen  gleich  von  vorn 
herein  aussprechen,  dass  uns  die  Darstellung  des  Verf.  verglichen 
mit  der  masterhaften  von  Moigno  und  Lindelöf  (vergl.  diese  Blätter, 


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10S 


Pricet  A  Treatiee  on  Integral  Calcuhis. 


7.  Heft  1862)  verfehlt  erscheint.  Er  ergeht  sich  zunächst  in  weit- 
läufigen Erörterungen  über  die  Veränderung  der  Form  der 
Funktionen  und  was  so  hergebrachter  Weise  die  Redensarten 
sind,  mit  denen  man  diese  »neue«  Rechnungsart  einzuleiten  ge- 
wohnt ist.  Nach  unserer  Meinung  handelt  es  sich  eben  einfach 
um  ein  Problem  über  Maxima  und  Minima  und  die  wissenschaft- 
lichen Regeln  zur  Bestimmung  solcher,  wie  sie  die  Differential- 
rechnung aufstellt,  müssen  hier  wieder  zur  Anwendung  kommen, 
wenn  freilich  diese  Anwendung  etwas  schwieriger  ist,  als  bei  den  ele- 
mentaren Aufgaben.  Aller  Rest  ist  überflüssiger  und  beschweren- 
der Ballast. 

Wenn  (S.  420)  aus  ds^dx*-)  dy'-fdz*  folgen  soll:  <*ds  = 

~  6*  d  x  4-  —  6*  d  v  +  -r^ddz,  so  dürfen  wir  wohl  billiger  Weise 
ds  1    ds      *       ds  6 

fragen,  warum  denn  die  Regeln  der  Differentialrechnung  hier  an- 
gewendet werdon  dürfen.  Und  wenn  nun  gar  bei  Bedingungs- 
gleichungen (S.  437)  kurzweg  die  Theorie  der  Multiplikatoren  an- 
gewendet wird ,  so  hört  ganz  entschieden  alle?  Beweisen  auf  und 
wir  stehen  auf  dem  Gebiete  der  unbedingten  Glauben  heischenden 
Dogmatik.  Bekanntlich  sind  diese  Bedingungsgleichungeu  (relative 
Maxima  und  Minima)  eine  etwas  kitzliche  Sache,  die  Lagrange 
nicht  vollständig  klar  erledigt  hat. 

Nachdem  der  Verf.  den  >  all  gemeinen  Erörterungen«  Zeit  und 
Worte  in  genügender  Zahl  gewidmet,  fasst  er  (S.  450)  das  Problem 
der  Maxima  nnd  Minima  an.    Wenn  u  ein  bestimmtes  Integral 

Jdy 
f  (x,  y,  — , . . )  dx  ist,  so  muss  ö  u  =  0  sein  für  ein  Maximum  oder 

Minimum,  und  das  Zeichen  von  6**u  entscheidet.  Wir  stellen  dazu 
blos  die  Frage :  Warum  ?  Diese  Frage  wiederholen  wir  in  schärfe- 
rer Weise  bei  den  relativen  Maxima  und  Minima  (S.  455).  Wir 
Ubergehen  die  zahlreichen  Anwendungen,  unter  denen  die  geodäti- 
schen Linien  ganz  besonders  ausführlich  behandelt  sind  und  be- 
merken nur  noch,  dass  die  Jacobisclie  Metbode,  zu  entscheiden  ob 
ein  Maximum  oder  Minimum  erhalten  sei,  aufgenommen  wurde. 
Beispiele  der  Anwendung  derselben  haben  wir  nicht  gefunden,  wenn 
•  wir  nicht  die  besondereu  Formulirungen  des  allgemeinen  Satzes  als 
solche  rechnen  wollen. 

Wir  gelangen  nunmehr  zum  drittou  und  letzten  Hauptabschnitte 
des  Buches  (S.  518  —  707):  der  Integration  der  Differentialglei- 
chungen und  zwar  sowohl  gewöhnlicher  als  partieller ,  wobei  wir 
sofort  bemerken,  dass  diese  zweierlei  Gleichungen  nicht  abgesondert 
behandelt  werden,  wie  dies  sonst  wohl  gebräuchlich  ist. 

Bei  der  Darstellung  der  Integrale  als  bestimmte,  welche  über- 
haupt hier  vorwaltet,  erscheint  auch  hier  eine  Art  bestimmter  In- 


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Price:  A  Treatise  on  Integral  Calculus.  109 

tegration  als  erstes.  Ob  dies  nun  so  ganz  zulässig  ist,  wollen  wir 
nicht  geradezu  in  Abrede  stellen;  es  scheint  uns  aber  nicht  ge- 

dy 

eignet,  dass  wenn  F  (x,  y)  das  unbestimmte  Integral  von         f(x>  y) 

sei,  man  nach  der  Theorie  der  bestimmten  Integrale  die  Gleichung 
Ftx,y)  —  P  (xo»yo)  =  0  habe  (S«  516)-  Der  Beweis,  dass  das  allge- 
meine Integral  einer  (gewöhnlichen)  Differentialgleichung  uter  Ord- 
nung n  willkürliche  Konstanten  enthalten  müsse,  mittelst  des  Tay- 
lor'schen  Satzes  geführt  (Seite  518),  ist  bekanntlich  nicht  ge- 


Wenn für  die  Differentialgleichung  Pdx-fQdy  =  0  die  Be- 
<1P  dQ 

erfüllt  ist,  so  ist  daraus  keineswegs  selbstverständlich, 

das  P  d  x  +  Q  d  y  ein  volles  Differential  sei ,  wie  der  Verf.  sagt 
(8.  522).  Auch  ist  die  Bestimmung  des  Integrals,  wie  sie  geführt 
wird,  ganz  ungenügend,  zumal  die  Nothwendigkeit  obiger 
Bedingung  dabei  gar  nicht  zum  Vorschein  kommt.  Dasselbe  gilt 
in  stärkerem  Maasse  von  dem  Differential  Pdx-f-Qdy-fRdz 
(a  525  ff.) 

Bei  don  partiellen  Differentialgleichungen  erster  Ordnung 
(3.  536 ff.)  ist  es  freilich  wahr,  dass  man  behufs  der  Integration 

lA+Q*frB  auf  die  gieichzeitigen  Differentiaigi9ich'ingen 

-ö-  =  -~=  greifen  muss;  die  dx,  dy,  dz  dieser  letztern  sind 
r       vj  xv 

über  ganz  andere  Dinge,  als  die  eben  so  bezeichneten  der  erstem. 
Das  tritt  hier  nicht  klar  hervor,  wobei  noch  zu  beachten  ist,  dass 
die  gleichzeitigen  Differentialgleichungen  viel  später  behandelt  wer- 
den. Die  hier  herrschende  Unklarheit  ist  wohl  Schuld  daran,  dass 
mehrfach  gar  wortreiche  Erläuterungen  erscheinen.  Dieselben  Be- 
merkungen sind  S.  544  zu  wiederholen,  wo  es  sich  um  Integration 

der  Gleichung  PfJ  +  Q^y  +  --  -r=S  bandelt. 

Nach  dieser  Behandlung  der  partiellen  Differentialgleichungen 
erscheint  erst  die  Theorie  des  integrirenden  Faktors  einer  gewöhn- 
lichen Differentialgleichung.  Diese  Anordnung  ist  wohl  desshalb 
gewählt,  weil  bei  Aufsuchung  des  fraglichen  Faktors  eine  partielle 
Differentialgleichung  auftritt.  Ob  dieselbe  aber  nicht  nothwendig 
sei,  muss  stark  bezweifelt  werden. 

Ist  P  d  x  -|-  Q  d  y  =  0  die  vorgelegte  Differentialgleichung,  und 
sind  |u,  u-1  zwei  (von  einander  verschiedene)  integrirende  Faktoren, 
so  ist  ft1  =  c  u  die  Integralgleichung ,  wo  c  die  willkürliche  Kon- 
stante (8.  547).  Soll  dieser  Satz  erwiesen  sein,  so  muss  zuerst  gezeigt 
werden,  dass,  wenn  p  ein  solcher  Faktor  ist,  ferner  ft(Pdx-f-Qdy) 
=  du,  alle  andern  nothweudig  die  Form  ftqp(u)  haben.  Der 


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Ut  Prlee:  A  TreaÜse  on  Integral  Celeste*. 

Verl«  vernachlässigt  überhaupt  die  Umkehrung  deiner  Sätze,  und 
nimmt  gar  oft  diese  Umkehrung  sofort  als  zulässig  an.  Der  Be- 
weis der  eben  aufgeführten  wichtigen  Behauptung  kann  etwa  so 
geführt  werden. 

ßeien  ix ,        zwei   verschiedene  integrirende  Paktoren  von 

»+Q&-i--#(*+Q£)-£. 

wo  n,  v  (bekannte)  Funktionen  von  x  und  y  sind.    Dann  ist 

.du        dv    ,  .  ,  dv        du      _.  .  _ 

u1  —  =u  — ,  d.  h.  wenn  fil  =  o\i:  —  =  p  —  .  Hieraus  folgt, 
r  dx     •ax  r      w     dx     r  dx  °  1 

dass  die  zweite  Seite  dieser  Gleichung  nothwendig  ein  vollständi- 
ger Differentialquotient  ist,  d.  h.  p  -|-  ,  wo  die  Dif- 
fertntialquotienten  nnr  partielle  sind,  ist  ein  solcher  vollständiger 
Differentialquotieat.    Dazu  gehört,  dass                  Ä dx^T^)* 

welche  Gleichung  auf  ~      =     ~  hinauskommt,  und  aussagt, 

(vergl.  meine  Differential-  und  Integralrechnung,  §.  90,  IV),  dass 
q  eine  Funktion  von  n  ist.  Demnach  pi~n<p{xi)f  womit  die  Be- 
hauptung erwiesen  ist. 

Wir  Ubergehen  die  einzelnen  weiteren  Untersuchungen,  die 
allerdings  ziemlich  vollständig  sind,  doch  nicht  Über  das  Maass 
dessen  hinausgehen,  was  man  von  einem  etwas  vollständigen  Lehr- 
buche fordern  kann,  da  die  Bemerkungen,  die  wir  etwa  noch  zu 
machen  hätten,  im  Wesentlichen  ähnlicher  Art  sind,  wie  die  be- 
reits bewährten.  Wir  fügen  etwa  noch  bei,  dass  die  partiellen 
Differentialgleichungen  höherer  Ordnung  nur  kurz  berührt  werden, 
da  der  Verf.  es  vorzieht  (&.  666)  bei  der  mathematischen  Behand- 
lung physikalischer  Probleme  darauf  zurückzukommen. 

Den  Schluss  des  Werkes  bilden  die  gleichzeitigen  Differential- 
gleichungen (S.  687 — 698)  und  die  Integration  mittelst  Reihen 
(S.  699—707).  Die  gleichzeitigen  Differentialgleichungen  sind  hier 
entschieden  zu  kurz  behandelt;  vom  Prinzip  des  letzten  Multipli- 
kators und  ähnlichen  allerdings  etwas  heiklen  Dingen  ist  keine 
Bede, 

Wir  haben  dem  vorliegenden  Werke,  ohne  gerade  dessen  In- 
halt vollständig  übersichtlich  mitzutheile* ,  eine  ausführliche  Be- 
sprechung gewidmet,  da  wir,  trotz  der  vielfachen  Ausstellungen, 
die  wir  in  wesentlichen  Punkten  der  Theorie  machen  mussten, 
dasselbe  für  ein  Buch  halten,  ans  dem  sich  Vieles  lernen 
1  äs  st,  und  wer  an  der  Sprache  und  dem  leider  damit  verknüpf- 
te» etwas  Hohen  Preise  keinen  Anstand  nimmt,  wird  die  Integral- 
rechnung von  Pries  nicht  ohne  Nutzen  zur  Hand  nehmen.  So  lange 


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Bauern  fein  d:  Die  Bedeutung  moderner  Gredmeesungen,  111 


wir  in  dieson  Blättern  noch  neu  erschienene  Werke  besprechen, 
werden  wir  es  uns  znr  Pflicht  machen,  auf  eine  strenge  Theorie 
zu  dringen,  und  dosshalb  überall,  wo  wir  einer  solchen  nicht  be- 
gegnen, unsern  Tadel  aussprechen.  Fehlt  Kef.  selbst,  oder  hat  er 
gefehlt,  so  mag  das  gleiche  Maass  gegen  ihn  gehandbabt  werden, 
und  es  ist  bekannt,  dass  ihm  in  dieser  Beziehung  selten  Etwas 
erlassen  wird,  im  Gegentheil  des  Guten  zuweilen  zu  viel  zn  ge- 
schehen scheint.  Aus  dem  Widerspruch  der  Meinungen  aber  soll 
die  Wahrheit  hervorgehen,  und  die  Methoden  der  höhern  Mathematik 
sind  noch  durchaus  nicht  alle  in  der  Lage,  dass  kein  Widerspruch 
gegen  sie  erhoben  werden  kann. 


Die  Bedeutung  modemer  Gradmessungen.  Vortrag  in  der  öffentlichen 
SiUung  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  am  25.  Juli  1866 
zur  Vorfeier  des  Geburts-  und  Namensfestes  Sr.  Majestät  des 
Königs  gehalten  von  Dr.  C.  M.  Bauernfeind,  Baurath  und 
Prof.,  a.  o.  Mitglied  der  math.-phys.  Klasse.  München*  1866. 
Im  Verlage  der  k.  Akademie.  (42  8.  in  4.) 

Die  vorliegende  Schrift  des  in  der  mathematischen  und  tech- 
nischen Welt  rühmlichst  bekannten  Verfassers  enthält,  wie  ihr 
Titel  aussagt,  eine  öffentliche  Bede.  Sie  ist  also  ganz  selbstver- 
ständlich frei  von  eigentlich  mathematischem  Apparate,  und  konnte 
sich  nur  zur  Aufgabe  stellen,  in  möglichst  allgemein  verständlicher 
Weise  die  Grundsätze  darzulegen,  auf  denen  die  Methoden  der 
Gradmessungen,  wie  sie  im  Laufe  der  Zeiten  sieh  gestaltet  haben, 
aalgebaut  sind,  so  wie  die  Zwecke  zn  bezeichnen,  welche  man  an- 
fänglich verfolgen  mnsste  und  die  heute  maassgebend  sein  sollen. 

Diese  Aufgabe  hat  der  Verf.  in  vortrefflicher  Weise  gelöst.  In 
klarer,  fliessender  Sprache  entwickelt  er  die  Geschichte  der  Grad- 
messungea,  von  den  Zeiten  des  Eratosthenes  (vor  2100  Jahren) 
bis  auf  den  heutigen  Tag,  der  das  Unternehmen  der  mittel-euro- 
päischen  Gradmessung  unter  der  Leitung  des  Generals  Baeyer  be- 
grübst, und  zeigt,  welche  wissenschaftliche  Methoden  nach  und  nach 
zur  Verwendung  kamen. 

Die  Gradmessungon,  welche  besprochen  werden,  sind  die  von 
Eratosthenes,  Posidonius,  die  beiden  arabischen  unter  dem  Ehalifen 
Mamun,  die  von  Snellius,  Picard,  die  der  französischen  Akademiker 
in  Peru  und  Lappland,  die  grosse  Gradmessung  in  Frankreich,  die 
ron  Mudge  und  dann  die  grosse  über  ganz  Grossbritannien,  die 
von  Svanberg,  die  ostindischen ,  die  gaussische  in  Hannover ;  die 
von  Schumacher  bei  Altona,  und  die  von  Bessel  und  Baeyer  in 
Preussen,  und  endlich  die  grosse  russische  unter  Struve.  Auch  der 
Längengradmessungen  wird  ausführlich  gedacht. 


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112       Bau  er  n  fei  nd:  Die  Bedeutung  moderner  Gradmessungen. 


Wir  versagen  uns  ein  näheres  Eingehen  auf  die  eigentliche 
Darstellung,  so  verführerisch  nahe  sie  auch  liegt,  indem  wir  den 
Leser,  der  sich  für  solche  Dinge  interessirt,  auffordern,  sich  selbst 
mit  der  Schrift  bekannt  zu  machen,  die  ihn,  wenn  er  auch  nicht 
Mathematiker  von  Fach  ist,  ganz  entschieden  in  den  Stand  setzen 
wird,  sich  ein  klares  Bild  von  den  Bestrebungen  und  Endzielen 
der  Männer  der  Wissenschaft  zu  machen ,  die  an  diesem  Werke, 
wir  können  wohl  sagen  seit  Jahrtausenden,  gearbeitet  haben.  Nur 
eine  Stelle  wollen  wir  zum  Schlüsse  wörtlich  anfuhren. 

„Das  aus  diesen  mühevollen  und  kostspieligen  Arbeiten  her- 
vorgegangene Endresultat  ist,  dass  die  geometrische  Erdoberfläche, 
oder  diejenige  Fläche,  welche  wie  das  Weltmeer  die  Richtung  der 
Schwere  überall  senkrecht  durchschneidet,  kein  regelmässiges  Um- 
diehungsellipsoid ,  sondern  eine  Fläche  ist,  welche  von  diesem 
Ellipsoid  bald  in  stärkeren  oder  schwächeren,  bald  in  längeren  oder 
kürzeren  wellenförmigen  Erhöhungen  und  Vertiefungen  abweicht; 
eine  Fläche,  welche  sich,  nach  BessePs  Ausdruck,  zum  regelmässi- 
gen elliptischen  Sphäroid  wie  die  Oberfläche  eines  bewegten  Was- 
sers zu  der  eines  ruhigen  verhält.  Die  beobachteten  Unregelmässig- 
keiten der  Erdflgur  sind  indessen  keineswegs  so  bedeutend,  dass 
man  nicht  ein  Umdrehungsollipsoid  als  Grundform  beibehalten 
könnte;  denn  die  Winkel,  welche  die  wirkliche  und  die  ideale 
Krümmung  eines  Parallel-  oder  Meridianbogens  bestimmen ,  wei- 
chen in  der  Regel  nur  wenige  Sekunden  von  einander  ab,  und 
wenn  diese  Abweichungen  an  einer  Stelle  positiv  sind ,  so  werden 
sie  in  geringer  Entfernung  davon  schon  wieder  negativ,  so  dass 
sich  das  gedachte  Umdrehungsellipsoid  fortwährend  über  und  unter 
den  kleinen  Vertiefungen  und  Erhöhungen  der  wirklichen  geome- 
trischen Erdoberfläche  hinzieht.  Dieses  die  Grundform  der  Erde 
bildende  Ellipsoid  hat  nach  Bossels  und  Airys  Bestimmungen  eine 
Abplattung  von  TJ-f  und  einen  Aequatorialhalbmesser  von  8272100 
Toisen." 

Dr.  J.  Dienger. 


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b.  8.      •      HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Annalen  des  Vereins  für  Nassauische  Alterthumskunde  und  Geschichts- 
forschung. VUL  Bd.  iöo'6'.  ö.  Mit  acht  lilhographirien  Tafeln. 
Wiesbadien,  auf  Kosten  des  Vereins,  in  Commission  bei  W. 
Hoth. 

Unter  dun  Publikationen  der  zahlreichen  Aiterthoms-  und  Ge- 
schieh ts vereine  Deutschlands  haben   nicht  blos  die  Annalen  des 
Vereins  fllr  Nassauische  Alterthumskunde  und  Geschichtsforschung 
seit  längerer  Zeit  einen  ehrenvollen  Platz  behauptet,  sondern  auch 
die  übrigen  Schriften  desselben,  wie  Uberhaupt  seine  ganze  Thätig- 
ktit  genugsam  beurkundet,  dass  der  Nassauische  Verein  sich  der 
Aufgabe  klar  bewusst  ist,  deren  Erfüllung  man  allen  historisch- 
antiquarischen  Localvereinen  recht  dringend  empfohlen  sehen  möchte. 
Es  begreifen  nämlich  die  literarischen  Publikationen  jenes  Vereines 
einerseits  die  wissenschaftliche  Vermittelung  theils  urkundlichen 
Materials,  wie  die  Sammlungen  der  römischen  Inschriften  Nassaus 
und  der  Urkunden  der  Abtei  Eberbach  bezeugen,  theils  monu- 
mentaler AlterthUmer,  wie  solche  in  den  »Denkmälern  aus  Nassau« 
in  reicher  Ausstattung  vorliegen,  während  zugleich  andererseits  in 
einer  Reihe  theils  grösserer  Monographien  (Geschichte  der  Abteien 
Eberbach  und  Walsdorf,  der  Herrschaften  Kirchheim  -  Boland  und 
Westerburg),  theils  in  den  Annalen  niedergelegten  grösseren  und 
kleineren   Beiträge  zur  Geschichte  der  römischen  oder  altchrist- 
lichen Zustände  am  Rheine,  des  insbesondere  nassauischen  Mittel- 
alters und  der  neuern  Zeit,  das  bereits  vorliegende  Material  nach 
den  verschiedensten  Richtungen  hin  mit  anerkennenswerthem  Er- 
folge mehrfach  bearbeitet  ist.    Neben  diesen  beiden  Hauptclassen 
der  Vereinsschriften  geben  ausserdem  besondere  »Mittheilungen« 
m  die  Mitglieder  über  Funde  und  Ausgrabungen,  Erwerbungen, 
Personalien  u.  s.  w.  einen  unumgänglichen  Bericht,  für  welchen 
leider  bisweilen  immer  noch  in  den  Schriften  deutscher  Geschichts- 
bild Alterthumsvereine  so  viel  Papier  mit  jener  unerquicklichen 
Breite  und  langweiligen  Weitschweifigkeit  verschwendet  wird,  welche 
oft  einen  so  grellen  Gegensatz  zu  der  Dürftigkeit  des  sonstigen 
Inhalts  bildet.    Auch  die  Sammlungen  von  Büchern  und  Münzen 
sind  in  besondern  Verzeichnissen  zumeist  durch  den  thätigen  Ver- 
ainssekretär Herrn  Dr.  Schalk  für  die  Zwecke  des  Vereins  in 
dankenswerther  Weise  zugänglich  und  nutzbar  gemacht.    Was  nun 
insbesondere  die  »Annalen«  betrifft,  so  schliesst  sich  auch  der  vor- 
liegende neueste  (VIII.)  Band  derselben   seinen  Vorgängern  in 
Reichhaltigkeit  und  Gediegenheit  des  Inhalts  würdig  an  und  liefert 
LX.  Jahrg.  2.  Heft  8 


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114 


Nassauüwhe  AlfcerthumsschrifteiL  BdV  <VÜL 


sowohl  zur  römischen  und  altchristlichen  Alterthomsknnde,  als  anch 
in  der  Geschichte  nnd  den  CulturzustÄnden  dos  Mittelalters  bis  zu 
den  Anfängen  der  neuern  Zeit  herab  nahm  hafte  Beitrage,  weiche 
nicht  allein  reiche  Belehrung  gewähren,  sondern  vielfach  auch  ein 
mehr  als  lokales  Interesse  beanspruchen  dürfen.    In  letzterer  Hin- 
sicht ist  schon  gleich  der  erste  Beitrag  zur  rheinischen  Urgeschichte 
hervorzuheben ,  in  welchem  Herr  Pfarrer  Niök  einige  Bemer- 
kungen Über  das  Baudobrica  des  Itinerarium  Anto- 
nini niedergelegt  hat  (S.  10Ö — 106),  indem  er  die  in  letzteren 
offenbar  fehlerhaft  überlieferten  Wegdistanzen  einer  Boute  von  Trier 
über  Baudobrica  (Boppard)  den  Rhein  aufwärts  bis  Strassbnrg  in 
einer  Weise  zu  rektifizieren  und  zu  ergänzen  versucht,  welcher  man 
im  Ganzen  seinen  Beifall  wird  nicht  versagen  können.  Zu  bedauern 
bleibt  aber  einerseits  dabei,  dass  Herr  Nick,  wie  es  scheint,  ausser 
Stand  wat  die  Berliner  Ausgabe  des  Itinerars  von  Parthey  und 
Pinder  mit  ihrem  kritischen  Apparate  zu  benutzen,  wie  auch  den 
so  wichtigen  Meilenstein  von  Tongern  (Orelli-Henzen  5236),  den 
commentarius  de  columnis  miliariis  ad  Bhenum  repertis  (p.  XIII  sq.) 
Von  Prof.  Brambach  und  E.  Schmidts  Topographische  Untersuchun- 
gen im  XXXI.  Bonher  Jahrbuche,  andererseits,  dass  er  überhaupt 
nicht  zu  der  von  ihm  behandelten  Stelle  (p.  188  der  Berliner  Aus- 
gabe) auch  die  p.  117  u.  168  aus  andern  Bouten  theil weise  wie- 
derholten Wegdistanzen  einer  Anzahl  derselben  Rheinstationen  zur 
Vergleichung  herangezogen  und  zur  Herstellung  der  ganzen  Boute 
Von  Baudobrica  über  S  a  1  i  s  s  o  (welchen  Ort  er  unzweifelhaft  richtig 
zuerst  in  Salzig  statt  Simmern  oder  Sulzbach  wiedererkannt  hat), 
Vosolvia,  Bingium,  Mogontiacum,  Bauconica,  Borbitomagus,  Novio- 
magus,  Tabernae,  Saletio,  Brocomagus  nach  Argentoratum  unter 
gleichzeitiger  Mitverwendung  der  Peutinger  Tafel  benutzt  hat,  zu 
Welcher  die  jüngst  erschienene  »Erklärung«  des  unermüdeten  Paulus 
äo  schätzbare  Beiträge  geliefert  hat.    Für  Nick's  Feststellung  der 
Entfernung  von  Boppard  und  Bingen  mit  15  gallischen  Meilen, 
Welche  eine  andere  moderne  Messung  auf  17  solcher  Meilen  be- 
rechnet hat  (S.  105—106),  würde  dabei  der  wichtige  Stein  von 
Tongern  mit  seinen  16  Leugen  eine  evidentere  Bestätigung  abge- 
geben haben,  als  die  von  ihm  herbeigezogene  Vergleichung  der 
Peutinger  Tafel  mit  ihren  18  Meilen,  in  welcher  letztern,  beiläufig 
bemerkt,  die  entstellten  Kamen  Bontobrice  und  Vosavia  durch  das 
Baudobrica  und  Vosolvia  des  Steines  von  Tongern  verbessert  wer- 
ben können.  Ein  weiteres  Verdienst  um  die  urgeschichtliche  Topo- 
graphie des  Bheinlandes  hat  sich  Herr  Nick  durch  den  in  der 
Miscelle  >  Altes  und  Neues«  S.  597  f.  aus  einer  handschrift- 
lichen Aufzeichnung  beigebrachten  Nachweis  der  editio  prineeps 
(aus  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts)  der  bei  Brambach  a.  a. 
0.  p.  XU  unter  No.  XVI  u.  XVII  (Codex  Inscr.  Bhen.  1940  sq.) 
mitget heilten  Bruchstücke  an  Meilensteinen  erworben,  welche  ober- 
halb Koblenz  bei  Stolzenfels  stehen.  In  dieser  Aufzeichnung  heisst 


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Bd.  vm. 


115 


m:  >Wohl  ist  anzumerken  die  auf  einer  Vor  einigen  Jahren  gleich 
undter  Capellen  gegen  der  Johanns-Kirch  über  im  weeg  längs  den 
ßeiin  ausgegrabener  sanl  mit  der  Schrift«  —  —  weiterhin  heisst 
#t  sodann :  »An  den  aasgegraben  2  grose  stücke r  Vom  dieser  sanl 
habe  ich  noch  folgende  Buchstaben  bemerket.  An  dem  kürzer  stttok: 

M.  L  CaLiCy 
CAESAR  GER 
MAI  B 
HL  IM  IV 
COS.  DES.  R  PP 
MO 

An  dem  länger  stück  stein  Von  dieser  saulen  habe  folgende 
Bachstaben  bemerket: 

M 
ROM 
OS 

0 

LVI 

Der  Schreiber  dieser  Aufzeichnung  hat  demnach  beide  Bruch- 
stücke als  Theile  eines  Meilenzeigers,  welchen  er  dem  Kaiser 
Caligula  zn  Ehren  errichtet  sehen  wollte,  erkannt,  während  sie  jetzt 
seit  Schmidt1  s  Mittheilung  a.  a.  0.  S.  165  f.  als  Bruchstücke  zweier 
Meilensteine  bekannt  sind,  im  übrigen  bringt  auch  diese  editio 
princeps  kaum  neue  Momente  zur  Aufhellung  des  Inhaltes  und  der 
Beziehung  der  Inschrift  auf  einen  bestimmten  Kaiser.  Immerhin 
aber  ist  der  genauere  Nachweis  des  Fundorts  und  der  Lesung  der 
Aufschrift  zu  einer  Zeit,,  in  welcher  sie  jedenfalls  noch  weniger 
zerstört  war,  um  so  mehr  zu  verdanken,  als  eine  befriedigende  Fest- 
stellung des  römischen  Strassennetzes  auf  der  linken  Ilheinseite 
noch  lange  durch  weitere  Fundaufschlüsse  bedingt  bleiben  wird: 
dass  aber  letzteren  nicht  ohne  Hoffnung  entgegengesehen  werden 
kann,  beweist  die  jüngste  Auffindung  eines  leider  bruchstücklichen 
Meilenzeigers  in  Nassau,  dessen  Inschrift  sich  auf  den  Kaiser  Decius 
(249 — 251  n.  Chr.)  bezieht,  welchen  auch  eine  bereits  seit  länge- 
rer Zeit  aufgefundene  leider  gleichfalls  bruchstückliohe  Meileu Stein- 
schrift im  Museum  zu  Speier  bei  Brambach  a.  a.  0.  p.  XI  unter 
Nr.  XXII  (Codex  Inscr.  Rhen.  1946)  betrifft.    Dieses  neu  aufge- 
fundene wie  das  vorerwähnte  Fragment  von  Capellen  bleiben  an 
einem  andern  Orte  weiterer  Betrachtung  vorbehalten,  welche  sich 
zugleich  auch  auf  andere  edirte  und  unedirte  rheinisohe  Inschriften 
erstrecken  soll,  die  in  dem  Corpus  Inscriptionum  Rhenanarum  ihre 
Stelle  nicht  finden  konnten.    Wiewohl  nämlich  die  S.  565 — 585 
des  vorliegenden  Annalenbandes  unter  der  Uebersohrift :  »Römische 
Inschriften  vom  Mittelrheinc  zusammengestellten  grösseren 
Bad  kleineren,  vollständigen  und  fragmentirten,  edirien  und  unedtr- 
ten  Inschriften  der  Rheinlande  aus  den  Museen  zu  Mainz.  Wies- 


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116 


Nasaauischc  AlterthumsBchriften.  Bd.  VIII. 


baden,  Mannheim,  Darmstadt,  Cassel  in  der  Absicht  von  uns  ver- 
öffentlicht wurden,  ihre  Verwerthung  für  das  damals  projektirte 
Corpus  Inscriptionum  Rhenanarum  zu  ermöglichen,  so  konnte  bei 
dem  bereits  erfolgten  Abschlüsse  des  Werkes  doch  nur  eine  nach- 
trägliche Berücksichtigung  und  Aufnahme  in  die  >Addenda  et 
Corrigenda«  p.  XXXIII  sq.  stattfinden.  Indem  es  dahor  vorbehalten 
bleibt,  auch  auf  diese  Inschriften  zurück  zu  kommen,  wird  sich  die 
Gelegenheit  bieten,  einestheils  kleinere  Unrichtigkeiten,  wie  eine 
solche  z.  13.  in  den  rheinischen  Blättern  (Beiblatt  zum  Mainzer 
Journal)  1857.  N.  2.  S.  7.  zu  S.  570  bezüglich  des  Fundjahres 
von  Nr.  7  gerügt  worden  ist,  zu  verbessern,  anderntheils  auch 
Vervollständigungen  in  Text  und  Lesung,  wie  z.  B.  zu  S.  573 
Kr.  14  nachzutragen.  Neben  diesen  inschriftlichen  Beiträgen  in 
lateinischer  Sprache  ist  nun  aber  weiter  die  S.  561  ff.  unter  der 
Ueberschrift  »Ein  Amulet  aus  dem  Museum  zu  Wies- 
baden« behandelte  fünf  zeilige  griechische  Aufschrift  eines  als 
Medaillon  in  Silber  gefassten  Serpertinsteines : 

PE1NAIIAP 
OQ&AAMON 
AETKOTOAA 
UEPWSENO 
 T  

von  ganz  besonderem  Interesse,  indem  sie  sich  nach  vergeblichen 
Deuteversuchen  unter  den  Händen  des  rühmlichst  bekannten  Homeri- 
kers,  Prof.  H.  Rumpf  dahier,  als  ein  Vers  aus  der  Iliade  2£,  291 : 

$iva  nag  otpftaXpov^  Xevxovg  ti*  ijttyrjGBv  oöovxag 

entpuppt  bat,  wie  die  lehrreiche  Auseinandersetzung  in  Fleckeisens 
Jahrbüchern  93.  94.  Bd.  X.Heft  S.  716—20  unter  Erörterung  der 
vermeintlichen  Heilkraft  des  Serpentins  und  entsprechender  Ver- 
wendung homerischer  Verse  in  Überraschender  Weise  das  Nähere 
dargethan  hat.  An  diese  epigraphischen  Mittheilungen  schliessen 
wir  weiter  eine  Hinweisung  auf  die  S.  586  ff.  unter  der  Ueber- 
schrift »Kostheim  und  die  Mainspitze«  eingeführte  Mis- 
celle,  welche  die  in  monumentalen  und  urkundlichen  Zeugnissen 
vorliegenden  Spuren  der  einstigen  Bedeutung  beider  Oertlichkeiten 
am  Ausflusse  des  Mains  in  römischer  Zeit  und  im  Mittelalter  näher 
erörtert  und  insbesondere  für  die  neuerdings  wieder  durch  den  Bau 
der  gewaltigen  Eisenbahnbrücke  wichtig  gewordene  »Mainspitze« 
den  Nachweis  eines  Hafenorts  für  den  Anfang  des  14.  Jahrhun- 
h  undert  s  so  wie  für  den  des  15.  Jahrhunderts  einer  bei  der  Aus- 
mündung der  alten  linksmainischen  Frankfurter  Strasse,  der  Ueber- 
fahrtstelle  nach  dem  gegenüberliegenden  Orte  Weisenau  oberhalb 
Mainz,  unter  dem  Namen  »Bei  dem  guten  Manne«  vorhande- 
nen Station,  deren  Ursprung,  dieser  Benennung  nach  zu  schliessen, 
wohl  auf  eine  ehemalige  Capelle  und  Clause  eines  Einsiedlers 


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Naesaulscho  AlterthumsBchriften.  Bd.  VITT. 


117 


zorückzunlbren  ist,  wolcher  nach  der  Sitte  früherer  Zeiten  die  ein- 
sam ihre  Strasse  dnrch  Wald  nnd  Feld  daher  ziehenden  Wanderer 
liebreich  anfnahm  und  bewirthete,  wie  solches  insbesondere  ans 
dem  Leben  des  hl.  Goar  am  Rheine  berichtet  wird,  woselbst  noch 
jetzt  Neuwied  gegenüber  eine  Capelle  zum  guten  Manne  bekannt 
?enng  ist.  Auch  in  der  Nähe  von  Frankfurt  in  der  Taunusgegend 
bei  Oberursel  ist,  wie  uns  Herr  Staatsarchivar  Prof.  Kriegk  dahier 
mittheilte,  diese  Benennung  urkundlich  nachweisbar. 

Dem  äussern  Umfange,  dem  gediegenen  Inhalte  und  der  Fülle 
«chStzbarer  theologisch-archäologischer  Beiträge  zur  altchristliohen 
Alterthnmskunde  nach  weit  bedeutsamer  als  die  vorerwähnten 
topographisch  -  epi graphischen  Bereicherungen  der  heidnischen  Ur- 
geschichte der  Rheinlande,  führen  uns  die  »Archäologischen 
Bemerkungen  über  das  Kreuz,  das  Monogramm  Christi, 
die  alt-chriB tlichen  Symbole,  das  Crucifixc  von  Herrn 
P.  J.  Münz,  Caplan  zu  St.  Leonhard  dahier  (8.  847  —  558),  auf 
das  Gebiet  eines  Studiums ,  welches  im  Bereiche  der  Alterthums- 
hrade  wie  in  dem  Gebiete  der  Theologie  eine  Zeit  lang  vernach- 
lässigt, erst  in  dem  letzten  Decenninm  wieder  mehr  sowohl  auf 
katholischer  wie  protestantischer  Seite  unter  dem  Vortritte  des 
zelebrten  Cavaliere  de  Rossi  in  Rom  einen  neuen  Aufschwung  und 
<mrch  die  fortschreitende  Ausbeutung  der  Catakomben  zugleich  auch 
für  fast  alle  Disciplinen  der  Theologie  eine  früher  kaum  geahnte 
Bedeutung  .und  Wichtigkeit  erhalten  hat.  Haben  auch  die  Ge- 
richts- und  Alterthumsforscher  am  Rheine  in  den  letzten  Jahr- 
hunderten die  altchristlichen  Denkmäler  neben  den  altheidnischen 
nicht  pranz  unbeachtet  gelassen ,  haben  insbesondere  die  altchrist- 
lichen Inschriften  des  Rheinlandos  zuerst  auch  in  dem  1849  ver- 
dorbenen Dr.  Lorsch  zu  Bonn  bei  verschiedenen  Gelegenheiten 
Hnen  eifrigen  Bearbeiter  gefunden,  dessen  Bemühungen  Steiner 
bekanntlich  in  seinen  beiden  Sammlungen  fortzusetzen  und  zu  con- 
eentriren  bemüht  war,  so  hat  doch  der  zwischenzeitlich  durch 
▼eitere  Funde  stets  anwachsende  8chatz  altohristlicher  beschriebe- 
ner nnd  unbeschriebener  Denkmäler  erst  durch  die  preisgekrönte 
Sammlung  aller  christlichen  Inschriften  des  alten  Galliens  vor  dem 
Jahrhunderte  durch  den  Franzosen  Eduard  Le  Blant  auch  für 
die  Urgeschichte  des  Christenthums  am  Rhein  die  rechte  Grund- 
lage gewonnen.  Im  Anschlüsse  an  dieses  Sammelwerk,  welches  sich 
•farch  eine  Fülle  der  schätzbarsten  aus  der  umfangreichen  Belesen- 
heit nnd  reichen  theologischen  Kenntniss  des  Verfassers  geflossenen 
Forschungen  auszeichnet,  haben  die  von  uns  dem  VIT.  Bande  der 
^assanischen  Annalen  einverleibten  Zeugnisse  über  »die  ältesten 
Spuren  des  Christenthums  am  Mittelrhein c  die  monumentalon 
bellen  zu  einer  Urgeschichte  des  Christenthums  am  Rheine  mit 
Aminen  zu  stellen  versucht,  welchen  eine  emeuete  Betrachtung 
4er  historisch  tiberlieferten  Thatsachen  anzuschliessen  bestimmt 
'«d  vorbehalten  ist.    Indem  nun  einerseits  die  von  Herrn  Dr.  F, 


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118  Ifitsauische 


vm.  Bd. 


Kraus  zu  Pfalzel  bei  Trier  angekündigte  Sammlung  der  christlichen 
Inschriften  der  Rheinlande  bis  zum  11.  Jahrhundert  herab  ein 
tpigraphisches  Urkundenbuch  zur  Geschichte  der  christlichen  Kirche 
am  Rheine  zu  liefern  verspricht,  hat  die  vorliegende  (auch  in  Com« 
mission  bei  Hamacher  dahier  im  Separatabdrucke  erschienene) 
Schrift  des  Herrn  Münz  nicht  blos  unsere  vorerwähnte  Zusammen- 
stellung vielfach  vervollständigt,  sondern  insbesondere  anoh  durch 
systematische  Einreihung  und  archäologische  Betrachtung  dieser 
Alterthümer  im  wissenschaftlichen  Zusammenhange  der  altchrist- 
lichen Symbolik  in  wünschenswerther  Weise  beleuchtet  und  somit 
den  von  uns  in  Aussicht  gestellten  Commentar  in  weit  umfassen- 
derer Weise  als  es  von  uns  hätte  geschehen  können,  herzustellen 
vermocht.  Ausgehend  von  der  Betrachtung  des  Kreuzes  im  All- 
gemeinen und  dessen  ältester  Form  ,  insbesondere  der  muthmasa- 
liohen  Gestalt  des  Kreuzes  Christi  wendet  sich  die  Untersuchung 
zunächst  den  ersten  Kreuzbildern  bei  den  Christen  zu,  erörtert 
die  Bedeutung  der  Kreuze  auf  altohristlioben  Funden  vom  Mittel- 
rheine und  geht  sodann  zu  einigen  Bemerkungen  über  das  Thail- 
and Henkelkreuz  über.  Der  VII.  Abschnitt  betrachtet  weiter 
das  Monogramm  Christi  und  seine  Varietäten  (Seite  371-~403), 
deren  im  Ganzen  76,  worunter  mehrere  neue,  bis  jetzt  noch  gar 
nicht  abgebildete,  nachgewiesen,  in  einer  bis  jetzt,  so  viel  uns  be- 
kannt, noch  nicht  erreichten  Vollständigkeit  zusammengestellt  und 
im  Einzelnen  mehr  oder  weniger  ausführlich  besprochen  werden. 
Während  die  Tafeln  I  und  II  sowie  die  denselben  entspreehenden 
Erklärungen  S.  374^399  eine  Zusammenstellung  der  Monogramme 
der  äussern  Form  nach  bieten,  gibt  S.  100—403  eine  chrono- 
logische Uebersicht  derselben  im  Anschlüsse  an  die  Insobriften- 
werke  von  de  Rossi  und  Le  Blaut.  Weiter  sohliesat  sich  im  VIII. 
Abschnitte  eino  erörternde  Aufzählung  der  gebräuchlichsten  alt- 
christlichen  Thiersymbole,  insbesondere  des  bedeutsamsten  aller, 
des  Fisches  (S.  422—432)  an;  dann  reihen  sich  die  symbolischen 
Pflanzen,  wie  der  Baum  überhaupt,  vornehmlich  aber  Palme,  Zweig 
und  Kranz  des  Oelbaumes,  Lilie,  weiter  Anker,  Bing,  Lampe,  Wage, 
SchiiT,  Dreieck,  ßterne  und  endlich  Alpha  und  Omega.  Von  Ab- 
schnitt IX.  an  wird  zum  erstenmale  sodann  eine  ausführliche  kri- 
tische Geschichte  des  Kreuzes  und  Cruci fixes  gegeben,  daKipping, 
Lipsius  u.  a.  m.  sämmtlioh  in  dieser  Beziehung  als  unkritisch  er- 
klärt werden  müssen  nnd  ihr  Werth  zumeist  nur  in  der  Menge  des 
gesammelten  Materials  besteht.  Es  werden  dabei  zunächst  die 
verschiedenen  Formen  des  Kreuzes,  die  Verzierungen  desselben,  die 
Lammesbilder,  endlich  das  eigentliche  Crucifix  betrachtet,  die  be- 
kannte Crucifixescarrikatur  mit  dem  Eselskopfe  besprochen,  die 
ältere  Form  der  Crucinxe  erörtert,  der  Unterschied  in  den  Crucifix* 
darstellungen  der  morgen-  und  abendländischen  Kirche  hervorge- 
hoben und  mit  der  Besprechung  einer  Anzahl  alter  Crucinxe  vom 
Mittelrheine  geschlossen,  von  welchon  die  beigegebenen  Cruciftxr 


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Niesaniftobe  Altefthtunaschriften.  YHL  Bd. 


tafeln  meistens  die  Abbildungen  solcher  bieten,  die  bis  jetzt  in 
Museen  und  Sakristeien  unbeachtet  lagen.  Bei  dieser  reichen  Fülle 
des  Stoffes  müssen  wir  uns  auf  einige  Einzelbemerkungen  beschrän- 
ken, zu  deren  Mittheilung  die  Güte  des  Herrn  Verfassers  theilweise 
in  den  Stand  gesetzt  hat.    Zuvörderst  mag  bemerkt  werden,  dass 
das  schräge  oder  Andreaskreuz,  welches  als  erste  Kreuzesform  noch 
aufgeführt  wird,  weniger  wohl  als  eine  eigentliche  Form  des  Kreu- 
zes, denn  als  ein  Arcansymbol  anzusehen  ist,  wie  der  Verf.  selbst, 
in  einer  unter  der  Ueberschrifb :  »Zur  Geschichte  des  Kreuzes  und 
Crucifixes«  in  dem  Mainzer  > Katholiken«  demnächst  erscheinenden 
beaondern  Arbeit  zu  berichtigen  veranlasst  ist«    Wenn  der  Ver- 
fasser S.  361  im  Allgemeinen  und  auf  den  hl.  Chrysostomus  sich 
berufend,  sagt,  das  Kreuz  Christi  sei  hoch  gewesen,  so  ist  dieses, 
da  hoch  ein  relativer  Begriff  ist,  wohl  dahin  zu  präcisiren,  dass 
es  nicht  höher  gewesen  sein  kann,  als  ein  Mensch  mit  emporge- 
recktem Arme  und  einem  2 — 3  Fuss  langen  Stängel  auszulangen 
bat,  um  den  Mund  des  Gekreuzigten  zu  erreichen.    Denn  nach 
der  Leidensgeschichte  reichte  ein  Soldat  dem  Heilande  den  Wein- 
essig, o£o$,  auf  einem  Ysopstängel:  der  Ysop  aber  wird  im  Mor- 
genlande nur  2—8  Fuss  hoch.  —  S.  363  ist  gesagt,  dass  seit  dem 
fast  gänzlichen  Untergange  des  Heidenthums  (seit  dem  5 — 6.  Jahr- 
hunderte) das  Kreuz  häufiger  auf  öffentlichen  Denkmälern  begegne* 
Daneben  war  indessen  zu  bemerken,  dass  auch  auf  öffentlichen 
Denkmälern  und  Grabsteinen  in  Afrika  das  Kreuz  schon  gegen 
Ende  des  3.  Jahrh.  ziemlich  häufig  vorkommt.  — -  S.  404  ist  noch 
beixnfügen,  dass  die  Erklärung  der  Symbole  nicht  blos  im  Mittel- 
älter bedeutende  Männer  beschäftigte,  sondern  dass  sohon  Melito, 
Bischof  von  Bardos  (f  gegen  Ende  des  3.  Jahrhunderts),  ein  Werk 
Eber  christliche  Symbolik  unter  dem  Titel  »clavis  sacrae  scripturae« 
Terfa&Bt  hat.  —  S.  448  ist  nachzutragen,  dass  ein  Kreuz  als  Lebens- 
baum aus  dem  14.  Jahrhunderte  in  der  Marienkapelle  zu  Würz- 
burg im  spitzen  Winkel  abwärts  gebogene  Aeste  hat,  und  dass 
über  das  Kreuz  als  Lebensbaum  insbesondere  auch  Piper  im  evan- 
gelischer Kalender  für  1863  gehandelt  hat  —  S.  455  scheint, 
-r  ganzen  Zusammenstellung  nach,  die  Lammesfigur  Taf.  V.  Nr.  8 
in's  6.  Jahrhundert  herabgerückt,  während  dieses  Bild  nach  Garrucci 
and  Martigny  (dict.  p.  626)  doch  dem  2.  Jahrhundert  angehört 
Es  zeigt  freilich  das  Grabmal  des  423  gestorbenen  Kaisers  Hono- 
riua  zu  Häven  na  eine  ganz  ähnliche  Darstellung  auf,  allein  dieses 
ist  kein  Grund,  auch  vorerwähntes  Bild  ins  6.  Jahrhundert  herab- 
airttcken.  —  S.  481  heisst  es,  der  hl.  Cyprian,  welcher  noch  Kreu- 
zigungen gesehen  hatte,  sage,  dass  (zwei)  Nägel  die  hl.  Füsse" 
durchbohrt  hätten.  Diese  Stelle  wird  aber  diesem  Heiligen  fälsch- 
-b  zugeschrieben,  da  die  Schrift  de  passione  domini,  welcher  sie 
entnommen  ist,  nicht  von  dem  hl.  Cyprian,  sondern  erst  in  der 
Zeit  nach  ihm  verfasst  ist.    Ganz  neu,  aber  schlagend  ist  der 
3.  482-485  erbrachte  Nachweis,  zu  welcher  Zeit  in  der  »bendp 


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1*0  Naswnilselie  Alterthtimanchriften.  "VITT.  Bd. 

ländiscben  Kirche  die  Crucifixbilder  mit  drei  Nägel  aufgekommen 
sind.  —  Unter  den  stehen  gebliebenen  Druckfehlern  erscheint  als 
am  meisten  den  Sinn  störend  S.  478.  Z.  1  v.  n.  ctaoiad&ai  statt 
xoucä&ai  bei  Ableitung  des  Wortes  onocoötes.  Wiewohl  nnn  ins- 
besondere zn  dem  Abschnitte  über  die  Symbole/  bei  welchen  der 
Verfasser  in  möglichst  wenigen  Worten  möglichst  viel  zu  sagen 
sichtbar  bestrebt  ist,  noch  Manches  nachzutragen  wäre,  so  schliessen 
wir  doch  hiermit  unsere  Bemerkungen,  da  der  Verfasser  selbst,  so 
viel  wir  wissen,  eine  umfassendere  Separatumarbeitung  besagten 
Abschnittes  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  altchristlichen 
Alterthtimer  in  den  Museen  der  Rheinlande  beabsichtigt. 

Vorerwähnten  mehr  antiquarischen  Untersuchungen  schliessen 
sich  in  würdiger  Weise  die  speziell  historischen  Beitrage  an,  welche 
tbeilweise  als  Fortsetzungen  einzelner  in  den  vorhergehenden  Blin- 
den der  Annalen  niedergelegten  Forschungen  anzusehen  sind.  Vor- 
anzustellen ist  darunter  die  S.  157—292  mitgetheilte  Arbeit  des 
durch  anderweitige  kirchengeschichtliche  Beiträge,  insbesondere  zur 
Geschichte  der  Reformation  in  Nassau  auf  diesem  Felde  bereits  be- 
wahrten Herrn  Prof.  Nebe  am  theologischen  Seminar  zu  Herborn, 
welche  unter  der  Ueberschrift  »Die  heilige  Elisabeth  und 
Egbert  von  Schönau«  zwei  Lebensbilder  aus  dem  12.  Jahr- 
hunderte entrollt,  die  einerseits  einen  vollen  Einblick  in  die  tiefe 
religiös-mystische  Glaubensglutb  der  Zeit  eines  hl.  Bernhard  von 
Clairveaux  und  einer  hl.  Hildegard  vom  Ruppertsberg,  der  Freun- 
din der  Schönauer  Seherin,  andererseits  hinwieder  in  die,  durch 
eine  unglaubliche  Menge  der  mannigfachsten  Ketzereien  und  Sokten 
sich  beurkundende,  zügelloseste  und  wildeste  Verirmng  derselben 
Glaubonserregtheit  eröffnen.    Die  Arbeit  des  Herrn  Nebe  hat  uns 
von  Neuem  in  der  Ueberzeugung  bestärkt,  dass  die  Ketzergescbichte 
jener  Periode  noch  lange  nicht  in  dem  wttnscbenswerthen  Umfange 
aufgehellt  und  namentlich  die  Wirksamkeit  einzelner  ihnen  gegen- 
über thätigen  Apologeten  der  Lehre  der  Kirche,  wie  Egberts  von 
Schönau,  noch  bei  weitem  nicht  allseitig  genug  gewürdigt  ist,  wel- 
cher letztere  insbesondere  durch  innige  Glaubenstreue  und  theolo- 
gische Gelehrsamkeit  uns  ebensosehr  imponirt,  wie  durch  seine 
scharfsinnige  Gewandtheit  und  seinen  unerschrockenen  Muth  :  welch' 
hohe  Bedeutung  seine  Schriften ,  vor  allem  die  S.  261  ff.  ihrem 
Inhalte  nach  näher  dargelegten  Ketzerreden  für  die  innere  Geschichte 
der  Kirche  in  jener  Zeit  haben ,  bedarf  darnach  keines  besondern 
Beweises.  —  Wie  hier  zur  Kirchengeschichte,  so  liegen  auch  zur 
politischen  Geschichte  Nassau* s  nicht  minder  interessante  Beiträge 
weiter  in  den  Arbeiten  der  Herrn  Conrektor  Colombel  zn  Ha- 
damar und  des  Herrn  Assessors  "Dr.  Petri  zu  Wiesbaden  vor. 
Ersterer,  der  schon  bei  Gelegenheit  der  tausendjährigen  Jubelfeier 
des  Hrabanus  Maurus  im  Jahre  1856  in  dem  Osterprogramme 
des  Hadamarer  Gymnasiums    das  Leben  dieses  ersten  Lehrers 
Detttschlands  der  studirenden  Jugend  zur  Nacheiferang  vorgeführt 


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Nassaulsehe  Alterthum  «Schriften.  VITT.  Bd.  121 

hatte,  wandte  seine  Studien  ganz  der  nassauischen  Geschiente  zn 
und  fasste  dabei  die  Geschiebte  einerseits  der  vier  Mainzer  Erz- 
bischSfe  ans  dem  gräflichen  Hanse  Nassau,  andererseits  der  Wal- 
ramischen Linie  dieses  Regentenbauses  besonders  ins  Auge.  Als 
Früchte  seiner  bezüglichen  Forschungen  erschien  zuerst  in  dem 
Osterprogramm  des  besagten  Gymnasiums  von  1861  eine  »Ein- 
leitung zur  Geschichte  der  vier  Grafen  von  Nassau  auf  dem  Erz- 
«tuhle  zn  Mainz «  (24  S.  in  4.),  deren  günstige  Aufnahme  bei  den 
competen  testen  Benrtheilern  Deutscher  Geschichte  den  Verfasser  ver- 
anlasste, schon  1862  einen  weiteren  Beitrag  in  der  Darstellung  des 
»Kampfes  des  Erzbiscbofes  Gerlach  von  Nassau  mit.  Heinrich  von 
Vieneburg  um  das  Erzstift  Mainz«  (34  S.  in  4.)  folgen  zu  lassen. 
Daran  reihte  sich  S.  73  —  194  des  2.  Heftes  dos  VIT.  Annalen- 
bandes  eine  »Geschichte  des  Grafen  Gerlach  I.  von  Nassau«  als 
erste  Vorarbeit  zu  einer  urkundlichen  Geschichte  der  besag- 
ten Walramischen  Linie,  der  sich  jetzt  im  vorliegenden  Annalen- 
bande  S.  293  —  346  unter  der  Ueberschrift  »Der  Sternerb  und 
und  Graf  Ruprecht  der  Streitbare  von  Nassau«  eine 
zweite  derartige  Vorarbeit  ebenbürtig  anscbliesst.  Mit  besonde- 
rer Beziehung  auf  Nassau  ist  sodann  auch  S.  107  —  156  »Die 
Judenverfolgung  in  derMitte  des  XTV.  Jahrhunderts« 
dargestellt.  Alle  diese  Monographien  empfehlen  sich,  soweit  wir 
zu  prüfen  vermochten,  mehr  oder  weniger  dnreh  das  allseitige  Fest- 
halten der  Beziehung  des  Einzelnen  auf  den  allgemein-historischen 
Hintergrund,  durch  kritische  Ausnutzung  der  Qnellon  und  befriedi- 
gende Verarbeitung  des  Stoffs  bei  einer  unbefangenen  Auffassung 
und  ruhigen  klaren  Darstellung  der  urkundlichen  Thatsachen.  Möge 
es  dem  gelehrten  Verfasser  gelingen  auch  die  Geschichte  des  für 
die  bis  1462  freie  Stadt  Mainz  so  verhängnissvollen  Streites  der 
beiden  Gegen  er  zbiseböfe  Diether  von  Isenburg  und  Adolph  von 
Nassau  um  den  Mainzer  Erzstuhl  in  gleicher  Weise  aus  den  ur- 
kundlichen Quellen  mehr,  als  bis  jetzt  geschehen  ist,  aufzuklaren 
und  darzustellen !  —  Auf  ein  ganz  anderes  Gebiet  nassauiseber  Ge- 
schichte führt  uns  schliesslich  die  S.  3  — 99  unter  der  Ueberschrift 
»Der  Auszug  der  Rheingauer  auf  den  Wachholder« 
von  Herrn  Dr.  Petri  theiiweise  nach,  archivalischen  Quellen  be- 
arbeitete Episode  aus  der  Geschichte  des  Deutschen  Bauernkrieges 
von  1525,  deren  Verlauf  und  Ausgang,  wenn  auch  nach  dem  Cha- 
rakter des  Landes  und  den  lokalen  Verhältnissen  modifizirt  und 
nicht  so  blutig,  wie  die  übrigen  damaligen  Bauernaufstände,  doch 
im  Ganzen  dieselben  Endresultate  aufzeigt:  ein  weit  härteres  Loos 
för  die  Bauern  und  völliger  Untergang  der  alten  Freiheiten  und 
Gerechtsame  des  blühenden  Rheingaues. 

Frankfurt  a.  M.  J.  Becker. 


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122  Schriften  rar  btdiflchßn  Va  torlAndakund e< 


/J  Badische  Vaterlandskunde.  Ein  Lese-  und  Lernbüchlein  für 
Schulen  und  die  Jugend  überhaupt,  bearbeitet  van  J,  G.  F. 
Pflügery  Gr.  Bad.  Oberschulrath.  Mit  einer  Karte.  Dritte 
Auflage.  Lahr,  Druck  und  Verlag  von  J.  H.  Krüger.  1867. 
164  S.  12. 

3)  Geographie  vom  Grossherzogthum  Baden,  nebst  einer  kurzen 
Geschichte  desselben.  Von  Dr.  J.  G.  Molitor.  Mit  20  Ab- 
bildungen. Lahr.  J.  H.  Geiger  1867.  189  8.  16. 

Beide  oben  aufgeführte  Schriften  sind  ein  erfreulicher  Beweis, 
dft8S  in  unsern  Tagen  die  schriftstellerische  Unterweisung  in  vater- 
ländischer Topographie  und  Statistik  selbst  für  die  Elementar- 
schulen nicht  dem  Zufalle,  oder  irgend  welchem  »Pastor  minorum 
gentium«  als  Aufbesserung  des  unzulänglichen  Gehaltes  durch  einen, 
wenn  auch  noch  so  geringen  literarischen  Ehrensold  überlassen 
wird,  sondern  dass  Männer  von  allgemeiner  wissenschaftlicher  Bil- 
dung und  hervorragender  Stellung  ihre  Beiträge  darzubringen  nicht 
verschmähen. 

Eine  ähnliche  Erscheinung  für  Hessen  ist  in  diesen  Jahr- 
büchern jüngst  schon  besprochen  worden;  Prof.  Kleins  »Grossher- 
zogthum Hessen  historisch  uud  geographisch  für  Schule  und  Haus.« 

I.  Die  erste  der  beiden  Schriften  erscheint  nun,  nach 
einer  Frist  von  acht  Jahren  in  dritter  Auflage,  was  wir  als  einen 
Beweis  begrüssen,  dass  ihr  die  T  heil  nähme  eben  so  entgegen  kam, 
wie  sie  einem  Bedürfnisse  entgegenzukommen  bemüht  war. 

Die  Einrichtung  der  vorliegenden  Auflage  ist  gleich  geblieben]; 
der  Stoff  hat  sachgemässe  Vermehrung  erhalten. 

Die  Eintheilung  in  einen  topographischen  Theil  (»ausführliche 
Beschreibung«),  eine  statistisch-geographische  Uebersicbt  (»Geogra- 
phisches«) und  eine  geschichtliche  Darstellung  (»Geschichtliches«) 
ist  zweckmässig  und  hat  namentlich  für  den  Selbstunterricht  eine 
sachgemässe  Steigerung  des  Interesses.  Die  ausführliche  Beschrei- 
bung, welche  in  der  Richtung  von  Süden  nach  Norden,  vom  Boden- 
see zum  Hegau,  der  Baar,  dem  obern  Rheinthal,  Werra-  und  Wiesen- 
thal, Breisgau  und  Ortenau,  Schwarzwald,  Pfalz,  bis  zur  Berg- 
strasse und  dem  Odenwald  in  24  Abschnitten  das  ganze  Land 
umspannt,  ist  anziehend,  selbst  anmuthig  mit  den  Gaben  der  Dich- 
tungen von  Schwab,  Kerner,  Mathisson,  Hebel,  Wessenberg  n.  A. 
geschmückt  uud  ganz  geeignet,  dem  Gedächtnisse  sich  einzuprägen. 

Das  Wesentlichste  über  Land  und  Leute  ist  in  dieser  Abthei- 
lung gegeben  und  wir  haben  nur  Weniges,  theils  ergänzend  theils 
berichtigend  beizufügen,  um  dem  Verf.  das  Interesse  zu  bethätigen, 
mit  welcher  wir  seiner  Arbeit  gefolgt  sind. 

S.  4  hätte  bei  dem  Fischreichthum  des  Bodensees  auch  der 
Brachsmen  erwähnt  werden  können,  von  welcher  —  der  Seezunge 
ähnlichen  Art  der  Weissflosser  1858  ein  Ermatinger  Fischer  in 
einem  Zage  30  Centner,  also  bei  5000  Stück,  fing  und  1867  gar 


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Schrift»  zur  badischen  Vaterland skunde.  *  128 


-  wenn  den  Zeitungen  zu  glauben  ist  ■—  zwei  Thurgauer  Fischer 
in  zwei  Zügen  140  und  800  Centner  gefangen  haben. 

3.  5  hätte  wohl  auch  der  Verteidigung  der  Stadt  1633  gegen 
die  Armee  des  Feldmarschall  Horn  erwähnt  werden  können,  bei 
welcher  die  in  weniger  als  100  Jahren  an  den  Katholicismus  wie- 
der gewöhnten  Bürger  vom  8.  September  bis  2.  October  (b.  8t.) 
die  schwache  österreichische  Garnison  aufs  Mannhafteste  unter- 
stützten. 

S.  7  hätte  Mersburg  als  ehemalige  füratbischüflicho  Residenz 
bezeichnet  werden  sollen,  da  die  grössten  Häuser  der  Stadt  das 
Schullehrer-Seminar  und  das  Taubstummeninstitut,  letzteres  das 
neue  Besidenzschloss,  erste  res  das  bischöfliche  Priesterseminar  waren, 
und  das  alte  Schloss  noch  früher  die  Bischöfe  beherbergte. 

S.  6  bei  Reichenau  ist  statt  >  liegt  Karl  der  Dicke«  begraben, 
leider  das  Imperfectum  zu  setzen,  da  die  Gebeine  des  Kaisers  von 
eiiem  badischen  Baupraktikanten  aus  dem  Grabe  entfernt  wor- 
den sind. 

S.  18  hätte  wohl  zur  Aufklärung  des  sonst  schwer  zu  er- 
klärenden Zftringi sehen  Besitzes  angegeben  werden  können,  dass 
Hohentwiel  in  ein  Kloster  zum  hl.  Georg  umgewandelt  wurde, 
dessen  Körperschaft  nachher  nach  Stein  am  Rhein  verpflanzt,  dessen 
Güter  an  Bamberg  verschenkt  wurden  und  schliesslich  grössten- 
teils in  die  Hände  der  Hamberg1  sehen  Schirmvögte,  eben  der 
Herzoge  von  Zarin  gen  gerioth,  nach  deren  Ausgang  die  Herrn  von 
Klingenberg  Klostervögte  wurden,  die  den  Twiel  an  Wirtemberg 
Terkauften. 

8.  20  begegnen  wir  den  in  einem  Schulbuche  störenden  Druck- 
fehlern >Zurzt«  statt  Zurze  und  »Aecke«  statt  »Ancke.f 

Zu  S.  34  hätten  wir  gerne  hervorgehoben  gesehen,  dass  das 
einfache  Hebelhaus  durch  Beiträge  aus  Schopfheim  und  Umgegend 
m  einem  Versorgungshause  für  arme  Greise  umgewandelt  ist. 

S.  44  ist  wohl  die  Geschichte  der  Gefangennahme  Berbtolts 
nnd  Conrads  von  Urach  zu  Oöln  als  Pfand  für  die  Wahlkosten 
ihres  Oheims  Berhtold  V.  von  Zaringen  mit  der  Gefangennehmung 
Berbtold  III.  von  Zäringen  vor  Cöln  verwechselt;  —  jene  blieben 
to  Cöln,  dieser  wurde  vom  Grafen  Dietrich  von  Are  gefangen  ge- 
halten. Uebrigens  bedurfte  er  eines  Aufenthalts  zu  Cöln  nicht,  um 
Cölner  Recht  kennen  zu  lernen,  es  sorgte  dafür  der  Verkehr  und 
dass  Muster  bestehender  Städte  gerne  zur  Nachahmung  jüngerer 
Stiftungen  und  Gründungen  gewählt  wurden,  geht  z.  B.  aus  dem 
Briefe  Otto  III.  für  Villingen  999  hervor,  welche  > Villa«  damals 
Markt  und  Münze  Constanzer  Gewäges  erhielt.  Auch  ist  durch 
H.  Sehreiber's  Forschungen  erwiesen,  dass  nicht  Berhtolt  HI.,  son- 
<krn  sein  Sohn  Konrad  Freiburg  mit  dem  Stadtrecbte  begabte. 

Der  Erbfall  der  Stadt  an  die  Freiburger  Linie  der  Grafen 
▼on  Uraefc  und  ibr  Loskauf  von  der  letztern,  wegen  deren  Be- 
drückung und  schlechten  Wirtschaft,  so  wie  die  Putenwrfung 


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124 


Solu-itten  ror  hadtschan  AlterthumsVuncle. 


unter  das  ländergewinnende  Oesterreich  jener  Zeit,  hätte  schon  er- 
wähnt werden  dürfen ,  ohne  Besorgniss ,  dem  Gedächtniss  zn  viele 
Details  aufzubürden,  da  der  Gewinn  für  die  Kenntniss  der  Cultur- 
geschiebte  der  damaligen  Zeit  nns  bedeutender  erscheint,  als  diese 
kleine  Unbequemlichkeit. 

Auch  hätte  wohl  dio  Erstürmung  des  Schlossberges  durch  die 
Bauern  und  die  Schlacht  am  Schönberg  gegen  Mercy  einige  Worte 
vordient,  vielleicht  auch  bei  Falkenstein  die  Zerstörung  der  Burg 
wegen  einer  unerhörten  Gräueltbat  gegen  einen  armen  Hintersassen 
von  Freiburg,  welcher  von  den  Fenstern  des  Herrenhauses  über  die 
Felsen  in  die  Tiefe  gestürzt  wurde ;  eine  Schauergeschichte,  welche 
nach  der  einfachen  und  darum  um  so  ergreifendem  Sprache  der 
Akten  H.  Schreiber  zuerst  bekannt  gemacht  hat. 

Bei  Breisach  S.  55  war  der  Erwähnung  tvertb,  dass  die  Stadt 
orst  durch  Aendemng  des  Rheinlanfes  auf  das  rechto  Ufer  kam, 
weil  dadurch  die  schwankenden  Verhältnisse  des  Flusseslaufes  der 
Jugend  zugleich  wirksam  dargestellt  werden  konnten ;  auch  hätte 
bei  der  Lintburg  (S.  57)  der  Tod  Hartmanns,  des  Lieblingssohnes 
Rudolfs  von  Habsburg,  erwähnt  werden  mögen ,  der  erste  düstere 
Schatten,  der  in  das  heitere  Leben  des  alternden  Kaisers  fiel. 

S.  64  ist  die  Burg  Oborwolfach  oder  das  eine  Stunde  weiter 
aufwärts  liegende  Valchenstein ,  welches  jetzt  kaum  mehr  erkenn- 
bar und  kaum  je  der  8itz  eines  namengebenden  Geschlechtes  war, 
mit  den  mächtigen  Trümmern  der  stattlichen  Ritterburg  Falcken- 
stein ,  dem  Sitz  eines  freiherrlichen  Geschlechtes ,  im  Berneck- 
thal bei  Scbramberg  verwechsolt ,  wo  Herzog  Ernst  von  Schwa- 
ben im  Kampfe  gegen  seinen  Vater  Aufenthalt  fand,  bis  der 
Verlust  der  Stroithengste  ihn  nöthigte,  in  die  nahe  Baar  auszu- 
brechen, wo  er  im  Kampfe  mit  Manegold  von  Nellenburg  seinen 
Tod  fand. 

Bei  S.  71  hätten  wir  die  Andeutung  gewünscht,  dass  die  See- 
nixen eben  jene  Mummeln  (vgl.  vermummen  u.  s.  f.)  seien,  von 
denen  der  See  den  Namen  hat.  Ebenso  hätte  S.  76  die  Teufels- 
fund Engelskanzel)  klarer  bezeichnet  werden  dürfen,  als  durch  die 
Worte,  »einem  steilen  Felsen,  an  den  sich  eine  interessante  Lage 
knüpft.« 

S.  89  musste  unter  den  Stätten  der  Strohflechterei  Lenzkirch 
erwähnt  werden,  wo  die  Herren  Faller  Tritscheller  u.  Comp,  seit 
1824  die  Fabrikation  Florentinischer  Strohhüte  —  eine  Zeit  lang 
auch  aus  ScbwarzwJÜder  Stroh  —  betreiben,  eine  Handelsgesellschaft, 
die  von  hier  aus  auch  das  grosse  eigene  Fabrikwesen  zu  Vallonara  bei 
Vicenza  leitet.  —  Dass  auf  dersolben  Seite  die  erste  Glashütte  des 
Schwarzwaldes  in  das  16.  Jahrhundert  gesetzt  wird,  ist  wohl  irrig, 
da  schon  im  14.  Jahrhundert  von  einer  eingegangenen  Glashütte 
bei  Gtindelwangen  urkundlich  die  Rede  ist. 

Dass  S.  104  die  400  Pforzheimer  bei  Wimpfen  mit  ihrem 
Bürgermeister  Berthold  Deimling  wieder  der  Geschichte  vindicirt 


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(Schriften  der  badiachen  Alteithumakundc. 


126 


werden,  ist  um  so  mehr  auffallend,  je  klarer  der  Verfasser  in 
seiner  Geschichte  von  Pforzheim  &ich  über  diesen  Gegenstand  ver- 
breitet hat. 

S.  130  musste  —  nach  der  Jahreszahl  der  3.  Auflage  —  die 
Zeit,  seit  Mannheim  als  Festung  —  und  Stadt  —  angelegt  wurde, 
auf  260  Jahre  —  eigentlich  261  —  statt  250  bestimmt  werden. 

Im  geschichtlichen  Theile  haben  wir  nur  S.  155  die  Schreibung 
Constanzia  st.  Constantia  zu  verbessern  gefunden  und  bei  Erwäh- 
nung der  Bömerstädte  die  bedeutenden  Niederlassungen  bei  Neuen- 
heim-Heidelberg, deren  Namen  bis  jetzt  noch  ein  Rüthsei  ist,  und 
Lupodunum  =  civitas  Ulpia,  das  heutige  Ladenburg,  und  etwa  auch 
Sanctio-Säckingen,  Tarodunum-Zarten  und  das  namenlose  Abuoba- 
bad  Baden weilcr  vermisst. 

Es  sollen  diese  Bemerkungen  dem  Herrn  Verf.,  wie  gesagt, 
uur  ein  Beweis  sein,  mit  welcher  Aufmerksamkeit  wir  seiner  Schritt 
gefolgt  sind  und  wir  hoffen,  dass  ihm  recht  bald,  anlässlich  einer 

4.  Auflage  Gelegenheit  werde,  dieselben  zu  prüfen  und  zu  be- 
rücksichtigen. Eine  Karte  Badens  bildet  eine  wünschenswert  he 
Beigabe. 

U.  Die  zweite  der  genannten  Schriften  hat  eine 
strammere,  schulgemässere  Einrichtung  und  Anlage,  die  oft,  z.  B. 

5.  43—52  bei  der  Nomenclatur  der  Gebirgsarten  und  Gesteine  an 
das  Gebiet  des  streng  Wissenschaftlichen  anstreift  und  nur  dann 
Früchte,  dann  aber  auch  schöne,  bringen  wird,  wenn  ein  strebsamer 
Lehrer  sich  in  dieselbe  vertieft  hat  und  dann  durch  die  Anschauung 
and  Erklärung  der  Vorkommnisse  des  Heimathsorts  die  Schüler 
und  Schülerinnen  in  die  Gebiete  der  Naturgeschichte  einführt. 

Sie  beginnt  mit  einem  Ueberblick  des  gesammten  Grossher- 
zogthums, seinei  Lage,  Grenzen,  Grösse  und  Form,  theilt  dann 
dasselbe  in  der  Bichtung  von  Süden  nach  Norden  (Oberland  und 
Unterland)  nach  den  Gruppen  der  Gebirge,  Hochebenen,  See-  und 
Flussthäler  ein,  führt  bei  jeder  dieser  Abtheilungen  die  bedeuten- 
den Wohnorte,  die  naturgeschichtlichen  Vorkommnisse,  die  land- 
wirtschaftlichen, industriellen  und  volkstbümlichen  Erscheinungen 
auf,  gibt  bei  diesen  Abschnitten  von  Zeit  zu  Zeit  eine  Erklärung 
der  Ausdrücke  der  natürlichen  und  politischen  Goographie  in  eben  so 
ansprechender  als  nutzbringender  Weise.  Auf  diese  Beschreibung 
des  Landes  folgt  sodann  die  Aufzählung  der  Landschaften  (Gaue) 
mit  besondern  Namen,  folgen  die  Namen  der  Gebirge  und  Pässe, 
wobei  freilich  einige  Wiederholungen  unvermeidlich  sind,  und  schliesst 
dieselbe  sodann  mit  einem  geschichtlichen  Ueberblick  der  Geschicke 
des  Landes  sowohl,  als  des  regierenden  Fürstenhauses.  . 

Eine  Karte  des  Landes  ist  beigegeben,  wie  bei  der  PflUger'schen 
Schrift,  und  eine  Anzahl  von  Abbildungen,  bei  welchen  freilich  manch- 
mal das  Bild  der  jetzigen  Wirklichkeit  nicht  mehr  ganz  entspricht, 
x.  B.  Konstanz,  wo  noch  die  hölzerne  Bheinbrücke,  der  Münsterthurm 


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116 


mit  drei  Aufsätzen,  Mainau,  wo  noch  der  hölzerne  Steg  zu  sehen 
ist,  der  Heiligenberg  n.  s.  f. 

Haben  wir  dem  Büchlein  des  Verfassers  nach  Inhalt  and  An- 
lage unsern  Beifall  nicht  versagen  können,  so  glauben  auch  ihn 
wir  auf  einige  Unrichtigkeiten  und  Mängel  aufmerksam  machen  zu 
sollen,  weil  gerade  in  einem  Schulbuche  solche  Fehler  doppelt  ge- 
fährlich sind,  da  eben  der  Schüler  sie  nicht  vorbessern  kann. 

So  scheint  uns  die  Eintheilung  der  Linzgauer  Berge  in  drei 
Gruppen  (Heiligenberg,  Höchsten  und  Göhrenberg)  nieht  richtig. 
Der  letztere  ist  ein  von  dem  genannten  Gebirgszug  völlig  isoiirter 
Berg,  der  Höhenzug  aber  bildet  von  Hoohbodmann  bis  zum  Höch- 
sten eine  mauergleiche  zusammenhängende  Höhestrasse  mit  darüber 
gebreiteter  wellenförmiger  Hochebene,  die  von  tiefgefurch  ten  Schluch- 
ten und  Thälern  durchzogen  ist.  Bei  den  geognostisohen  Bestand- 
teilen des  Höhenzuges  war  die  Breocie  und  Nagelfluhe  nicht  zu 
übersehen,  aus  welcher  z.  13.  die  Felsen  der  Freundschaftshöhle 
bei  Heiligenberg,  bei  der  Egge  n.  s.  w.  bestehen. 

Bei  der  Eintheilung  der  Hardt  (§.  10)  hätte  wohl  die  Eeke, 
woher  Emmingen  ab  Egg,  die  Schera,  woher  der  alte  Scheragan 
und  die  Stadt  Scheer  den  Namen  führen,  erwähnt  werden  «ollen. 

Die  Kammerboten  Erchanger  und  Berchtold  (S.  11)  wurden 
zu  Bodman n  weder  gefangen  genommen  noch  enthauptet.  Ersteres 
geschah  auf  dem  Ooncil  zu  Altheim  im  Riess,  letzteres 
an  einem  —  noch  nioht  mit  Gewissheit  bestimmten  —  Orte 
»Adinga.« 

8.  IS  hätten  wir  statt  Schonolitberge  (wohl  Druckfehler 
statt  Phonoli thberge)  lieber  das  deutsche  Klingstein b.  gewünscht, 
—  das  griechische  Wort  hätte  in  eine  Parenthese  verwiesen  wer- 
den sollen.  Die  Lage  des  Wartenbergs  »bei  Neidingen«  ist 
minder  richtig  als  bei  Geisingen,  welches  Städtchen  gerade  am 
Fuss  des  Berges  liegt,  während  jenes  Dorf  durch  die  Donau  von 
demselben  getrennt  ist. 

S.  14  hätte  der  Burgherr,  dessen  Ueber fülle  der  Katholiken 
die  Zerstörung  von  Hohenhöwen  veranlassten,  als  Graf  von  Pappen- 
heim bezeichnet  werden  dürfen.  Wie  Herzog  Ulrich  auf  dem 
Hohentwiel  Zuflucht  suchen  und  finden  konnte,  hätte  durch  die  Ge- 
schichte des  Anfalls  an  Wirtemberg  (s.  o.  bei  Pflüger)  seine  Er- 
klärung finden  können. 

Undeutlich  ist  S.  15  die  Stelle  über  den  Bauernkrieg.  Der 
Heg  au  er  Haufen  hatte  nur  Bedeutung  gewonnen,  als  der  Stü- 
lingenscho  sich  zu  Hilzingen  mit  ihm  vereinigt  hatte.  »J.Müller 
von  Bulgenbach  bei  Staufen c  war  Anführer  eines  Schwarz- 
wälder, nicht  Hegauer  Haufens ;  seine  Heimath  Bulgenbach  liegt 
an  einem  Seitenhange  des  Mettmathais  unfern  der  zum  Schwarzathal 
abfallenden  Berggemeinde  Staufen  (natürlich  von  der  gleichnamigen 
St«dt  im  Breisgau  scharf  zu  sondern).  — 


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QaUAn«    Jljkm    1«*  J  In  „L.«      i  t<  .,11,  u_ 

ocnnnen  aer  DaaiBcnen  Alten nnrnsKttnae. 


Zu  8*  19  bemerken  wir,  dass  die  Stelle  »in  Mittelzell  ist  die 
Grabstätte  Kaiser  Karls  des  Dicken«  unverständlich  ist  ohne  eine 
Vorbemerkung,  dass  anf  der  Insel  8  Pfarreien  bestehen,  »Unter- 
teil« gegenüber  dem  Eingang  in  den  Zeller  See,  »Mittelzell«  oder 
»Münster«  anf  der  Mitte  der  Insel  und  »Oberzell«  oder  »St.  Peter« 
am  südlichen  Ende  der  Insel. 

Wenn  S.  20  die  Stelle :  » Die  Feiehen  nnd  Gangfische  sind  dem 
Bodensee  eigen  thumlich«  heissen  soll,  dass  sie  nur  im  Bodensee 
Torkommen,  so  ist  dieses  irrig,  denn  der  Ferra  im  Genfer  See  ist 
ganc  gleich  dem  Feiehen  (Ooregonus  oder  Salmo  Wartmanni).  Unter 
den  Fischarten  hätte  jedenfalls  der  Braohsmen  (Abramis)  aufge- 
jähH  werden  sollen;  —  sein  Vorkommen,  s.  o.  bei  Pfluger,  be- 
rechtigt ihn  dazu. 

Za  8.  14  bemerken  wir,  da  wir  von  einer  römischen  Be- 
satzung in  Constanz  bis  jetzt  keine  Spur  haben,  so  müssen  wir 
das  Cohortenzoichen  des  Hasen,  woraus  der  »Seehase«  Bich  gebil- 
det haben  soll,  dem  Gebiete  der  Fabel  überlassen  nnd  zwar  der 
Ton  den  Gelehrten  erfundenen  und  im  Volke  verbreiteten. 

Die  Worte  Henlin,  statt  Henglin  =  Ugolino,  S.  27,  Saimons- 
weiler,  statt  Salmansweiler,  S.  28,  Neukrenklingen,  S.  83,  statt 
Keukrenkingen  und  Katarakt  statt  Katarrhakt  sind  Ueber sehen,  die 
wohl  dem  Drucker  zur  Last  fallen,  sowie  Gaisingen  S.  36  statt 
Gisingen  (Gisinga) ,  8.  86 ,  und  Kettach  statt  Köthach ,  8.  37, 
Roggenstein  statt  Rogenstein  S.  42. 

Bedenklicher  aber  ist  es,  wenn  S.  26  die  Aach  bei  RadoJph- 
zell  in  den  Untersee  fliesst,  während  es  eine  Stunde  seeabwärts  bei 
Ueberlingen  am  Riede  geschieht,  wie  überhaupt  S.  33  der  Ur- 
sprung und  Lauf  der  Aach  —  welche  gewöhnlich  die  Beurener, 
—  tob  Beuren  unter  Krähen  —  genannt  wird,  so  geschildert  wird : 
»Sie  hat  mehrere  Quellen:  die  eine  ist  bei  dem  alten  Schlosse 
H "reneck ,  die  andere  beim  Dorfe  Haltingeu,  sie  vereinigen  sich 
bei  der  s.  g.  Thalmühle  und  ziehen  über  Engen.  Bei  Hohentwiel 
!-'/2  Stunde  von  der  Quelle!]  erscheint  die  dritte  Quelle,  welche 
dem  Stadtchen  Aach  entläuft  [dieses  liegt  l/\  Stunde  oberhalb  des 
Dorfes  Aach,  durch  welches  der  jugendliche  Flnss  strömt]  nnd  nun 
ziehen  sie  vereint  dem  Untersee  zu.«  —  Richtiger  ist  gleich  in 
den  nächsten  Zeilen  die  Hauptquelle  als  beim  Städtchen  Aach 
befindlich  angegeben;  nur  ist  die  Volkssage,  dass  dieselbe  das  bei 
Moringen  in  das  Erdreich  versickernde  Donauwasser  sei,  zu  kühn 
als  Wahrheit  angenommen. 

Dass  8.  83  die  Biber  bei  Wolterdingen  [Dorf  an  der  Brege 
bei  Donaueschingen]  entspringe,  ist  vielleicht  Schreib-  oder  Druck- 
^rsehen  statt  Watterdingen. 

8.  34  ist  die  Weller  oder  der  Wels  (Siluris)  mit  dem  Stör 
(Stnrio  accipenser)  verwechselt. 

Wenn  8.  88  die  Breite  des  Schwarzwalds  von  Mtillheim  bis 


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Schriften  der^b&dischen  Alterthumekunde. 


Achdorf  bemessen  wird,  so  ist  zu  bemerken,  dass  letzterer  Ort 
schon  zum  Juragebiet  (Stülinger  Alp)  gehört. 

Sehr  bedenklich  ist  S.  56  der  Lauf  der  Wutach  angegeben, 
»sie  nimmt  die  aus  dem  Schluchtsee  kommende  Schlucht . . später 
die  Steina  und  Schwarza  auf.« 

Dem  Schluchsee  entströmt  die  Schwarza  und  fliesst  in 
fast  unwegsamem  Thale  bis  zur  Wiznauer  Muhle,  wo  sie  sich  mit 
der  Schlucht  vereinigt  und  ihr  den  Namen  abgiebt.  Die  letztere 
aber  entspringt  bei  Gräfenhausen  und  nimmt  unfern  Biedern  die 
yon  Amertsfeld  herabfliessende  Mettma  auf  und  ergiesst  sich  unter- 
halb Thiengen  in  die  Wutach ,  während  oberhalb  des  Stadtchens 
die  ganz  in  der  Nähe  der  Mettma  entspringende  Steina  mündet. 
Der  Verf.  ist  hier  wohl  durch  einen  Fehler  der  Karte  im  Emmer- 
ling' sehen  Schwarz wald  irre  gefuhrt;  Gerbert  hat  die  richtige 
Zeichnung. 

Verwirrend  ist  S.  59,  wenn  zuerst  von  Oberlenzkirch  und 
Unterlenzkirch  richtig  gehandelt  ist,  später  aber  noch  einmal,  und 
zwar  bei  Bondorf,  Lenzkirch  ohne  nähere  Bezeichnung  erscheint. 

Wenn  endlich  bei  Mannheim  S.  114  gesagt  ist,  dass  es  1605 
städtische  Rechte  erhalten  habe,  so  ist  dies  irrig;  —  nur  die  Be- 
dingungen der  Güterabtretungen  des  Dorfes  Mannheim  zum  Behufs 
der  Erbauung  der  Feste  Friedrichsburg  wurden  festgestellt  und 
zugesagt ;  auch  wurde  Frohndefreiboit  gegeben,  —  städtische  Hechte 
aber  erst  nach  dem  Ausbau  der  Stadt  in  Aussicht  gestellt.  Dass 
die  Stadt  1644  von  den  Franzosen  und  Baiern  zerstört  worden  sei, 
ist  irrig.  Es  war  während  der  Berennung  durch  Tilly  1622,  dass 
der  Commandant  des  OhurfÜrsten,  Horace  de  Veer  selbst,  eine  Reihe 
Häuser  nächst  der  Festung  zusammeureissen  liess ;  auch  gingen  bei 
Erstürmung  des  Neckarübergangs  einige  Häuser  in  Flammen  auf; 
—  sonst  geschah  die  erste  Zerstörung  erst  1689. 

Wir  schliessen  —  um  nicht  die  Grenze  einer  Anzeige  zu  über-/ 
schreiten  —  diese  Bemerkungen  mit  dem  Wunsche,  dass  der  Herr 
Verf.  bei  einer  zweiten  Auflage  auf  dergleichen  Versehen  aus  dem 
obenerwähnten  Grunde  ein  recht  scharfes  Augenmerk  richten  möge. 

Mannheim,  Dec einher  1866. 

Fickler. 


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fr.  9. 


HEIDELBERGER 


1867. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


DU  Kirche  St.  Stephan  su  Mains.  Beschrieben  von  Karl  Klein, 
Professor  etc.  Mainz,  Passet  1866.  86  8,  8.  Als  Beilage  zu 
desselben  „Jubelheß  des  hochtnürdigen  Pfarrers  Joh.  Peter  Merz 
tu  St.  Stephan  in  Mains."  Beschrieben  von  Karl  Klein,  Prof. 
etc.  Mainz.  G.  Passet  1866.  16  S.  8. 

Das  Jubelheft  fünfzigjährigen  Wirkens  des  oben  genannten 
Geistlichen  als  Pfarrer  an  der  St.  Stephanskirche  zu  Mainz,  welches 
in  seinem  dreitägigen  Verlaufe  in  der  erwähnten  Beilageschrift  ge- 
schildert ist,  ei ncs  Mannes,  den  mehr  noch  als  die  österreichischen, 
prenssischen  und  hessischen  Orden  das  Wort  seines  protestantischen 
Mitbrnders  ehret,  »dass  er  bei  aller  Treue  in  seinem  Glauben  und 
bei  aller  Entschiedenheit  fUr  das  Bekenntniss  seiner  Kirche ,  doch 
gegen  Andersglaubende  niemals  der  Liebe  und  Milde  vergessen 
habe,  an  welcher  der  Herr  die  Seinen  erkennen  will« ,  gab  dem 
Verf.  Gelegenheit ,  im  Auftrage  der  Schüler  des  Jubilars ,  unter 
welche  er  selbst  gehört,  die  erstgenannte  Schrift  als  Festgabe  zu 
▼erfassen.  Derselbe  beschied  sich,  »aufzuzählen,  was  gegenwärtig 
in  der  Kirche  und  in  den  dazu  gehörigen  Gebäuden  im  Innern  und 
Aenssern  bemerkenswert!}  erscheint.« 

Doch  ist  mehr,  als  das  Versprochene  in  der  Festschrift  ge- 
geben, wie  gleich  Anfangs  die  Geschichte  der  Kirche  und  des  da- 
mit verbundenen  Stifts. 

Dieses  verdankt  seinen  Ursprung  dem  grossen  Erzbischofe 
Willigis,  dem  Gründer  des  jetzigen  Domes  in  der  Unterstadt,  der 
in  der  obern  Stadt  990  dem  Märtyrer  Stephanus  die  Kirche  baute, 
bewidraete  und  die  Kaiser  Otto  III.  und  Heinrich  II.  zu  Mitstif- 
tungen bewog,  so  dass  um  diese  Zeit  das  Stift  schon  sechs  und 
dreissig  Geistliche  zählen  konnte. 

Dass  Willigis  in  dieser  Kirche  seine  Grablege  gefunden,  ist 
durch  die  spätere  Enthebung  der  Reliquien  desselben  bezeugt ;  son- 
stige Zeugnisse  sind  nicht  vorhanden.  Der  neben  dem  Grabe  1714 
—  im  Chor,  der  Sakristei  gegenüber  —  gesetzte  Denkstein  ist  zu 
jung  dafür  und  auch  er  ist  bei  der  letzten  Restauration  zu  Gninde 
gegangen.  Ein  interessantes  Zeugniss  könnte  aus  der  bei  den  Reliquien 
befindlichen  glockenförmigen  Casula  des  Heiligen  (S.  1 7)  hergeleitet 
werden,  wenn  wir  über  die  Gleich-  oder  Vorzeitigkeit  dieses  Mess- 
gewandes bestimmte  Nachweisung  hätten. 

Eine  andere  Frage  ist,  ob  die  Stiftung  des  Willigis  eine  ganz 
neue  sei,  oder  ob  nicht  in  früherer  Zeit  schon  eine  Kirche  oder 
Kapelle  hier  bestanden. 


LEX.  Jahrg.  2.  Heft. 


9 


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Klein:  Dia  Kirche  8t.  Stephan  zu  Maine. 


Dass  am  die  Mitte  des  vierten  und  zu  Anfang  des  fünften 
Jahrhunderts  die  römische  Garnison  und  Bürgerschaft  christliche 
Kirchen  gehabt  haben  müssen,  ist  nach  den  Edikten  des  Constantius 
und  Juvinianus  mehr  als  wahrscheinlich :  dass  oben  im  befestigten 
Lager  auf  dem  Kästrich  eine  solche  gefehlt  habe,  unglaublich.  Der 
Name  Stephanus  endlich  als  Kirchenpatron  kann  den  ältesten  Zei- 
ten des  Christenthums  angehören,  wiewohl  sich  nicht  in % Abrede 
stellen  lässt,  dass  gerade  zu  den  Zeiten  des  Erzbischofs  Willigis 
derselbe  Heilige  in  Deutschland  in  besondere  Aufnahme  gekommen 
zu  sein  scheint,  denn  fast  um  die  gleiche  Zeit  errichtet  und  be- 
widmet der  hl.  Konrad  zu  Constanz  das  Stift  St.  Stephan. 

Gewiss  wäre  der  Verf. ,  wie  kein  anderer ,  der  Mann  über 
diese  Verhältnisse ,  wenn  überhaupt  möglich ,  Licht  zu  verbreite n. 
Jedenfalls  ist  wahrscheinlich,  dass  Willigis1  Bau  nur  von  Holz  ge- 
wesen und  erst  1049,  also  38  Jahre  nach  dem  Tode  und  der  Be- 
stattung des  Erzbischofs  (!)  der  erste  Steinbau  an  dessen  Stelle 
trat,  an  welchem  1099  die  Weberzunft  im  Kästrich  die  westliche 
Halle  anbaute,  durch  welche  an  Bitttagen  Geistliche  und  Laien 
mit  der  Procession  eintraten. 

Uns  will  bedünken,  dass  dieser  Bau  nicht  so  fast  den  Aus- 
bau der  genannten  Kirche,  sondern  eine  an  denselben  ange- 
baute Vorhalle,  Kreuzgang,  Porticus,  Vorzeichen  und  wie  die 
mittelalterlichen  Namen  alle  heissen,  bedeute.  Gewissheit  freilich 
wird  nicht  mehr  zu  erhalten  sein,  denn  der  ganze  Bau  wurde  nach 
zwei  Jahrhunderten  durch  einen  neuen  ersetzt ,  den  jetzigen ,  zu 
welchem  Geistlichkeit  und  Bürgerschaft  mit  freiwilligen  Gaben  und 
Ablassbriefen  aufs  Freigiebigste  beisteuerten. 

Aus  dem  noch  vorhandenen  Verzeichnisse  hat  der  Verf.  die- 
jenige Gerhards  zur  Bosen  (sicher  der  Name  des  Hauses  auf  der 
Gangasse,  nicht  auf  eine  Bosengasse  zu  beziehen)  hervorgehoben. 
Hätte  ihm  doch  der  Baum  und  der  Zweck  der  Festschrift  ver- 
gönnt, das  ganze  Verzeichnis*  abzudrucken,  das  sicher  für  die 
Culturgeschichte  sehr  bedeutsam  gewesen  wäre. 

Es  ist  dieser  Bau  die  jetzige  Pfarrkirche,  die  im  14.  Jahr- 
hundert aufgeführt  wurde,  1542  ihren  hölzernen  Thurm  durch  einen 
Blitzstrahl  einbüsste,  dessen  Neubau  ursprünglich  ein  Altan  mit 
kleiner  Thürmerwohnung  krönte,  die  1740  durch  die  jetzige  Thür- 
merwohnung  und  wahrscheinlich  auch  die  jetzige  Bedachung  ersetzt 
wurde.  Als  Curiosum  mag  erwähnt  werden,  dass  die  Laterne  des 
Thurmes  von  Napoleon  I.  hin  weggenommen  und  durchweinen  Tele- 
graphenarm ersetzt  wurde.  Die  Restaurationszeit  verbannte  natür- 
lich schleunigst  den  jetzt  durch  ganz  andere  Mittel  ersetzten  Fern- 
schreibeapparat. 

Die  letzte  Restauration  fallt  in  unsere  jüngste  Erinnerung.  — 
Die  furchtbare  Pulverexplosion  des  18.  November  1857  hatte  auch 
die  Stephanskirche  so  zu  sagen,  bis  aufs  Mark  getroffen.  Die 
Dächer  und  Fenster  waren  zerstört,  die  Orgel  zertrümmert,  die 


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■ 


Klein:  Di«  Kirche  St.  Stephan  evl  Main*.  181 

Mauern  geborsten,  die  Kirche  mit  Schutt  gefüllt.  Die  Summe  von 
23,000  Gulden,  die  als  Entschädigung  gereicht  wurde,  reichte  kaum 
hin,  das  Notwendigste  herzustellen.  Da  nahm  den  Wiederaufbau 
der  Kirche  nach  einem  umfassendem  Plane  Baumeister  Franz  X. 
Geier  in  die  Hand;  »unentgeltlich,  Gott  zur  Ehre  und  der  Sache 
iu  Liebe.«  Ohne  irgendwo  anzufragen  arbeitete  er  drei  Wochen 
lang  bei  verschlossenen  Thttren  am  —  Aufräumen  des  in  spätem 
Zeiten  Eingebauten,  manchmal  freilich  auch  des  Erhaltungswerthen. 
Dazu  rechnet,  von  den  modernen  Denksteinen  der  Heiligen  Boni- 
fatius und  Willigis  abgesehen,  der  Verf.  mit  Recht  die  alten  Chor- 
stühle, die  dem  Zwecke  der  Erweiterung  des  Chors  weichen  mussten. 
Den  Badicalreformer  traf  Misstrauen  und  Missbilligung  der  Geist- 
lichen und  Laien,  und  die  Beiträge  zur  Vollendung  der  Restau- 
ration waren  spärlich.  Die  Verdoppelung  der  Entschädigungssumme 
half  schliesslich ,  und  es  konnte  in  den  im  Stil  des  XIV.  Jahrb. 
anständig  wiederhergestellten  Bau  die  Gedenktafel  gesetzt  werden: 
»Denkstein  jj  dem  hoch  würdigen  ||  Herrn  Pfarrer  ||  J.  P.  Merz  || 
welcher  diese  von  der  ||  Pulverexplosion  vom  ||  18.  November  1857 
verwüstete  Kirohe  ||  unter  Assistenz  des  Baumeisters  ||  Dr.  Geier  || 
wieder  im  ursprünglichen  ||  Baustile  herstellte  errichtet  ||  am  Tage 
leines  Pfarrjubiläums  |1  den  17.  April  1866.« 

Auf  den  geschichtlichen  Ueberblick ,  dem  wir  bisher  gefolgt 
sind,  folgt  die  Beschreibung  nach  den  Abschnitten :  Das  Innere, 
die  Möbel  (wir  hätten  hier  wohl  nicht  mit  Unrecht  einen  bezeich- 
nendem Ausdruck,  oder  eine  Umschreibung  gewünscht,  denn  unter 
diesen  >  Möbeln«  zählen  u.  A.  die  Altäre).  Die  Reliquien,  unter 
welchen  die  Monstranzen  aufgeführt  sind,  deren  eine  die  auffallende 
Inschrift:  AJoguutiam  MDCCI  haben  soll;  Der  Tauf  stein,  Die  Em- 
porbühoen ;  Grabsteine  mit  Inschriften ;  Die  Sacristei ,  in  welcher 
das  ehrwürdigste  Alterthum  der  Kirche,  ein  Weibwasserkessel  roma- 
nischer Arbeit  sich  vorfindet,  der  wohl  mit  dem  angeblichen  Messer, 
mit  welchem  Bartholomäus  geschunden  worden  sein  soll  (arabische 
Arbeit,  vielleicht  mit  Inschrift)  eine  Abbildung  durch  Linden- 
schmitt  verdient.  Der  Ereuzgang ;  Die  Abschnitte :  Kirchengebäude 
im  Osten;  Das  Portal;  Der  Thurm;  Die  Glocken  bilden  den  Schluss 
der  Beschreibung.  Im  erstem  ist  der  Grabstein  Frielo's  von  Gens- 
fleisch, Canonicus,  von  1460,  des  Bruders  des  Erfinders  der  Buch- 
drnckerkunst.  In  die  Beschreibung  hat  der  Verf.  sehr  verständige 
Bemerkungen  über  das,  was  bei  der  Restauration  hätte  erhalten, 
was  beseitigt  hätte  werden  sollen,  niedergelegt. 

Wir  erwähnen  bei  dieser  Gelegenheit  einer  hier  einschlägigen 
frühern  Arbeit  des  Verf.  »Die  hessische  Ludwigsbahn, 
oder  Worms,  Oppenheim  und  die  andern  an  derBahn 
liegenden  Orte«  Topographisch  und  historisch  dar- 
gestellt nebst  einer  übersichtlichen  Beschreibung 
▼onMainz.  von  KarlKlein  eto.  Mainz,  Seifert.  1856.*) 

*)  8.  diese  Jahrbb.  1866.  6.  815ff. 


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182        Roth  v.  Schrecken  st  ein:  Dm  Interim  Im  Kinzigthal. 

Die  Schrift  gibt  ein  sehr  anziehendes  Bild  namentlich  des 
römischen  Lebens  und  der  mittelalterlichen  Vorkommnisse  in  die- 
ser Gegend ;  gefundene  Inschriften  sind  in  ansehnlicher  Zahl  auf- 
geführt und  auf  Bauten  und  Merkwürdigkeiten  jeder  Art  die  Rei- 
senden aufmerksam  gemacht.  Wir  glauben  zu  Oppenheim  einen 
kleinen  Beitrag  geben  zu  können.  Mit  Recht  schreibt  der  Verf. 
die  schnelle  Aufnahme  der  Stadt  Conrad  III.,  dem  Staufer,  zu. 
Unter  diesem  scheint  die  Burghut  einem  mächtigen  Geschlechte 
Ubergeben  worden  zu  sein,  welches  auch  zu  Worms  in  hohem  An- 
sehen war,  vielleicht  Schirmvogteircchte  über  das  Bisthum  besass. 
Wenigstens  lesen  wir  an  dem  romanischen  Portal  der  im  XII. 
Jahrhundert  erbauten  St.  Martiuskirche  zu  Worms  die  Inschrift: 

HEIRIC9  DE  OP$  ADVOCATVS  =  Heinricus  de  Openheim  ad- 
vocatus. 

Mannheim,  Januar  1867.  Fickler. 


/.  Die  Einführung  des  Interims  im  Kinzigthalc,  nach  urkund- 
lichen Quellen  dargestellt  von  Dr.  K.  H.  Freiherrn  Roth  von 
8chreckenstein,  Vorstand  des  F.  Fürstenb.  Archivs  in  Donau- 
eschingen. Mit  15  archiva  tischen  Beilagen.  45  8.  8. 
//•  Wolfgang  Graf  tu  Fürstenberg ,  Landhofmeister  des  Hersog- 
thums Wirteinberg,  als  oberster  Feldhauptmann  des  schwäbi- 
schen Bundes  im  Schweiserkriege  des  Jahres  1499.  Mit  ur- 
kundlichen Beilagen  von  Dr.  K.  H.  Freiherrn  Roth  von 
Schreckenstein,  Vorstand  des  F.  Fürstenbergischen  Hauptarchivs. 
Wien.  Aus  der  K.  K.  Hof-  und  Staatsdruckerei.  In  Commis- 
sion  bei  Karl  Gerolds  Sohn,  ltiäti.  90  St  8. 

Das  fürstlich  Fürstenberg'sche  Hauptarchiv  zu  Donaueschingen, 
ein  für  das  spätere  Mittelalter  —  seine  ältesten  Urkunden  reichen 
kaum  über  die  Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts  hinaus  —  sehr  rei- 
cher Quellenschatz,  erfreute  sich  seit  dem  vorigen  Jahrhundert  nicht 
nur  eines  stattlichen,  zweckmässigen  Sammlungs-Gebäudes,  sondern 
auch  bis  in  das  erste  Viertel  des  jetzigen  einer  Reihe  fleissiger, 
wissenschaftlich  gebildeter  und  mit  den  CoryphUen  ihres  Faches  in 
steter  Verbindung  stehender  Archivare,  deren  Verdienste  um  die 
vaterländische  Geschichte  Mone  d.  ä.  in  der  Einleitung  zu  seiner 
»Quellensammlung«  etc.  hervorgehoben  hat. 

Dann  aber  erlitt,  da  das  Archiv  mehr  als  eine  Registratur  für 
das  laufende  Geschäft,  zu  Gutachten  in  Processen,  kurz  zu  prakti- 
schen Zwecken  benützt  wurde,  nicht  nur  die  Bearbeitung  der  Ar- 
chivalien für  geschichtliche  Zwecke  eine  Unterbrechung ,  sondern 
man  glaubte  auch  bei  den  Archivaren  die  strengwissenschaftliche 
Vorbildung  für  ihr  eigentliches  Fach  entbehren  zu  können. 

Das  ist  denn  jetzt  durch  die  Vorsorge  des  jetzt  regierenden 
Herren  Fürsten  zum  Vortheile  der  Wissenschaft  ganz  anders  geworden. 

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Roth  v.  Schreckenatein.«  Da«  Interim  im  Kinzlgthal.  188 

In  der  Person  des  Freiherrn  Dr.  Roth  von  Schreckenstein  hat 
das  fürstliche  Archiv  einen  Vorstand  gewonnen,  der  dnrch  Beine 
wissenschaftlichen  Arbeiten  über  das  Patriciat,  die  Reichsritter- 
schaft n.  s.  f.  nnd  durch  seine  Wirksamkeit  am  Archive  des  ger- 
manischen Museums,  dessen  Vorstand  er  gewesen,  in  jeder  Be- 
ziehung seine  Befähigung  zu  dieser  Stelle  glänzend  bewährt  hatte. 

Dass  auch  die  Verwerthung  desselben  für  die  Zwecke  der 
Wissenschaft  nicht  werde  auf  sich  warten  lassen,  war  von  der 
Strebsamkeit  des  in  dieser  Hinsicht  seinem  würdigen  Grossvater 
nacheifernden  Enkels  zu  erwarten. 

Und  in  der  That  sind  auch  als  Aufsätze  in  Zeitschriften  und 
kleine  Monographien  schon  Arbeiten  in  hübscher  Zahl  aus  seiner 
Feder  hervorgegangenen;  an  sie  reihen  sich  die  beiden  obigen 
Schriften  in  ehrenvoller  Weise  an. 

L  Die  erste  derselben  betrifft  eine  für  die  badische  Landes- 
nnd  Kirchengeschichte  bedeutsame  Angelegenheit,  welche  von  dem 
Geschichtschreiber  des  fürstlich  Fttrstenberg'schen  Hauses ,  Ernst 
Münch,  nicht  eben  glücklich  bebandelt  worden  ist,  »insoferne  gründ- 
liche Forschung  und  ein  auf  Thatsachen  ruhendes,  unbefangenes 
Urtheil  den  Historiker  ausmachen«.  Münch  hatte  nemlich  in  seiner 
Weise  (II,  112  ff.)  das  Vorgehen  gegen  den  Protestantismus  im 
Kinzigthale  im  Allgemeinen  zu  schwarz  angestrichen  und  allzu  oft 
mit  einer  Phrase  sich  begnügt,  wo  es  galt,  sein  Urtheil  durch  die 
»papyrenen  Schanzen«  der  Urkunden  sobuss-  und  sturmfrei  zu 
machen.  Dabei  begegnete  ihm  manchmal,  dass  nicht  bloss  durch 
Druckversehen,  sondern  durch  wirklich  falsche  Schreibung ,  Namen, 
Daten  irrig  angegeben  sind.  Dies  war  indessen  freilich  zunächst 
nicht  seine  Schuld ,  sondern  diejenige  der  Vorgänger  des  Herrn 
Ton  Schreckenstein,  welche  die  von  Münch  ausgesuchten  —  oder 
freilich  meistens  ihm  dargereichten  —  Schriftstücke  zu  copiren 
hatten,  soweit  eben  ihre  Kräfte  dazu  reichten.  Deswegen  hätten 
unserer  Ansicht  nach  dergleichen  böse  Stellen,  wie  Vierordt  ge- 
than,  auch  stillschweigend  verbessert  werden  können,  wenigstens 
nicht  mit  besonderer  Betonung  Münch  allein  angerechnet  werden  sollen. 

Vierordt  hat  in  seiner  Reformationsgeschichte  I,  310  ff. 
nach  Privat mittheilungen,  die  Ref.,  mit  Erlaubniss  des  hochseligen 
Fürsten  demselben  aus  dem  F.  F.  Hauptarchive  machte,  auch  diese 
Angelegenheit  mit  der  Gewissenhaftigkeit  und  Objectivität  des  Ur- 
theils  behandelt,  die  seiner  Reformationsgesohichte  ganz  besondern 
Werth  gibt. 

Der  Verf.  unserer  Schrift  gibt  ihm  mit  den  Worten  »Ungleich 
bumr,  (als  bei  Münch)  sind  die  kurzen  Nachrichten,  welche  K.  F. 
Vierordt  in  seiner  Geschichte  der  evangelischen  Kirche  im  Gross- 
herzogthum Baden  I,  388  ff.  gegeben  hat«  seine  Anerkennung,  nur 
vielleicht  etwas  zurückhaltender,  als  dor  Verblichene  verdiente. 

Indessen  werden  auch  bei  Vierordt  einige  Ungenauigkeiten 
hervorgehoben,  die  zumeist,  weil  auf  orthographische  Varietäten 


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184 


Roth  v.  Bchreckenstein:  Das  Interim  im  Klnrigthal. 


der  Namenschreibung  bezüglich,  Ref.  nicht  berübren  würde, 
wäre  nicht  mit  Recht  hervorgehoben,  dass  jener  nach  Abschriften 
arbeitete,  und  Ref.  es  gerade  war,  der  diese  Abschriften  über- 
mittelte. 

S.  7  ist  bemerkt,  dass  der  ortenauische  Amtmann  nnd  Ge- 
sandte des  Grafen  Wilhelm  Mnsler  nicht  Mnsslar  heisse.  Letzte- 
res ist  kein  Schreib-,  sondern  ein  übersehener  Druckfehler.  Vierordt 
hatte  die  Schreibung  Musler  erhalten,  aber  wahrscheinlich  die  bei 
dem  noch  blühenden  Geschlechte  —  welches  unlängst  der  Hoch- 
schule zu  Freiburg  einen  Lehrer  gab  —  übliche  Schreibung  Mussler 
bub  Vorbedacht  oder  Uebersehen  gewählt.  Wenn  Ref.  sich  nicht 
täuscht,  kommt  auch  im  Contexte  eines  Schreibens  o.  0.  u.  Dat. 
von  Jos  Münch  an  Grafen  Wilhelm  von  Fürstenberg  (No.  XI, 
8.  89  der  Schrift),  eines  Schreibens,  welches  Ref.  in  den  Anfang 
Decembers  zu  setzen  geneigt  wäre,  während  der  Verf.  es  Ausgang 
Septembers  1548  ansetzt,  einmal  die  Schreibung  mit  geschärftem 
S  vor. 

Dass  (vg.  S.  28)  hingegen  Pfarrer  Franz  Beckh  zu  Hausag 
galant  Btatt  gelehrt  genannt  wurde,  war  Viorordts  eigene  Wahl. 
Ref.  hatte  ihm  von  dem  Worte  ein  Facsimile  mitgetbeilt,  weil  ihm 
die  Lesung  nicht  ausser  allem  Zweifel  »seinen ,  wie  denn  auch  der 
Name  selbst  fast  ebenso  gut  Borkh,  wie  Beck  zu  lesen  war. 

8.  21  berichtigt  der  Verf.  die  Datirung  eines  Briefes  des 
Grafen  Friedrich ,  den  Vierordt ,  durch  ein  Schreibverseheu  des 
Ref.  verführt  auf  den  15.  Mai  statt  Merz  ansetzt,  mit  gutem  Fug, 
ebenso  S.  17  die  Schreibung  des  Pfarrers  von  Welschensteinach 
Keller  statt  Kälblin,  welches  eine  Vermutbung  Vierordts  gegen  die 
richtige  Mittheilung  war. 

Mehr  zur  Sache  gehörig  ist  die  Stelle  S.  8  wo  der  Verf.  das 
8.  g.  Mandatum  visitat.  eccles.  vall.  Kinzig  vom  25.  April  1546 
für  die  erstmalige  Einsetzung  einer  ständigen  Visitationsbehörde 
hält,  während  Vierordt  I,  389  dasselbe  als  zweite  Anordnung  einer 
Visitation  annimmt. 

Beide  Ansichten  sind  nach  des  Ref.  Ansicht  richtig,  wenn 
man  annimmt,  dass  auf  das  dringende  Ansuchen  der  Pfarrer  vom 
81.  Mai  1542  zwar  eine  Visitation  vorübergehend  angeordnet  wor- 
den sei,  dieselbe  aber  erst  1546  in  definitiver  Weise  und  stUndig 
festgestellt  wurde. 

In  einem  andern  Punkte,  dass  die  beiden  Brüder  Friedrich 
und  Wilhelm  von  Fürstenberg  nicht  schon  seit  1538  entzweit  waren, 
wie  Vierordt  annimmt,  sondern  sich  bis  zum  Jahr  1542  in  leid- 
lich gutem  Einvernehmen  befanden,  muss  Ref.  sich  nach  seiner 
Kenntüiss  der  Akten  ganz  auf  des  Verf.  Seite  stellen,  dem  dazu 
noch  ein  reicher  Briefwechsel  der  Brüder  zu  Gebote  stand,  obwohl 
er  auch  Bücksicht  darauf  nimmt,  dass  mehrere  Güterabtheilangen 
vorübergehende  Trübungen  desselben  veranlasst  haben,  oder  deren 
Folge  gewesen  sein  könnten,  abgesehen  davon,  dass  die  euphemi- 


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Roth  v.  Schreckenstein:  Das  Intetim  im  Kinzigth&l.  186 

stisehe,  scheinbar  milde  Ausdrucksweise  des  XV.  und  XVI.  Jahr- 
hunderts ,  die  sich  sogar  bis  in  die  Crim in algerichts spräche  er- 
streckt, häufig  recht  scharfe  Schneiden  und  Spitzen  unter  dem  ge- 
glätteten Wortlaute  verbirgt. 

Doch  sei  dem,  wie  ihm  wolle,  schon  aus  dem  bisher  Ange- 
lenteten, mehr  aber  noch  daraus,  dass  Vierordt  dem  Plane  seines 
Werkes  nach  die  Angelegenheit  der  Reformation  im  Kinzigthal 
oicht  mit  aller  Vollständigkeit  bebandeln  durfte,  Münch  sie  nicht 
behandelt  hat,  wie  es  seine  Pflicht  gewesen  wäre,  geht  die  Be- 
rechtigung des  Verf.  zu  einer  Revision  der  Akten  und  einer  er- 
schöpfenden Darstellung  der  Thatsachen  genügend  hervor,  —  Er 
hat  dieselbe  mit  der  Gewissenhaftigkeit  gelöst,  welche  seine  übri- 
gen Arbeiten  auszeichnet. 

Nachdem  S.  1 — 23  eine  möglichst  eingehende  Geschichtser- 
zählnng  gegeben  ist,  werden  (S.  24 — 45)  XV  Aktenstücke  des 
F.  F.  Hauptarchivs  mit  archivalischer  Genauigkeit  abgedruckt,  die 
bisher  nur  stellenweise  bekannt  waren.  »Der  getreue  Abdruck  der 
hier  in  Betracht  kommenden  Hauptstücke  soll  den  Leser  in  die 
Uge  setzen,  die  Richtigkeit  der  hier  folgenden,  gedrängten  Dar- 
stellung selbst  prüfen  zu  können.« 

Obwohl  durch  beides,  Darstellung  und  Urkunden,  der  Titel 
der  Schrift  genügend*  erschöpft  ist ,  erlaubt  sich  Ref.  auf  Einiges 
'iufmerksam  zu  machen,  was  ihm  die  Geschichte  der  Refor- 
mation und  Gegenreformation  im  KinZigthale  und  der 
Ottenau  zu  ergänzen  geeignet  scheint. 

Was  zunächst  die  reformatorische  Bewegung  im  Fttrsten- 
berg'schen  Gebiete  und  dessen  Umgebung  betrifft,  so  scheint  im 
Kinzigthal  dieselbe,  wie  Verf.  auch  S.  1  andeutet,  schon  vor 
ihrer  Einführung  durch  die  Her r Schaft,  durch  den  Ver- 
kehr mit  Strassburg,  Wirtemberg  und  anderen  Nachbarn  unter  den 
Einwohnern  sich  still  verbreitet  zu  haben.  Ja  sogar  in  Schwaben, 
in  der  Baar,  fand  Graf  Friedrich  frühe  Veranlassung  dagegen  an- 
zukämpfen. In  einem  Schreiben  vom  22.  Januar  1533  lud  er  d.  d. 
Wartenberg  die  Herrn  von  Tierberg,  Hans  von  Karpfen  und  Jakob 
önt,  nebst  Andern  —  Prior  und  Abt  von  St.  Peter  z.  B.  ent- 
schuldigen das  Nichterscheinen  ihres  Abts  —  zu  einem  Tage  nach 
Villingen,  betreffend  die  Verteidigung  des  alten  Glaubens  gegen 
»Ufsetziger  und  grosser  Pratikhen«  der  Neugläubigen.  Derselbe 
*urde  den  ersten  Februar  gehalten.  Die  Versammelten  haben  »nach 
langer  erzellung  derselben  newglaubigen  seltsame  hochgeschwinde 
'ratekhen«  sich  mitgetheilt  und  gefragt  »wes  sich  ain  Jeder  zu 
'lern  Andern  trosts,  hilff  und  bystands  in  solcher  noth  zu  erhaltung 
Alten  waren  Cristenlichen  glaubens  versehen  und  getrosten  sollte 
oder  mochte.« 

Es  wurde  schliesslich,  da  mehrere  der  Anwesenden  nicht  reichs- 
inmittelbar  waren ,  ausgemacht,  dass  diese  bei  ihren  Obern  deren 
Wülensmeinung  erforschen  und  dem  Grafen  Friedrich  melden  sollen. 


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Roth  t.  Schreck enatein:  Das  Interim  im  Kinrigthal. 


Ja  der  Graf  selbst  ,  der  hier  als  Haupt  der  antireformatorischen 
Strebungen  erscheint,  war  vor  unt  nach  dieser  Zeit,  wenn  man 
einer  Relation  des  Klosters  St.  Georgen  (von  dem  gelehrten  Abt 
M.  Gaisser?)  in  Sachen  des  Klosters  Friedenweiler  folgt,  der  katho- 
lischen Sache  feindselig,  wo  es  sein  Vortheil  mit  sich  brachte.  >So 
hat  doch  mit  der  Zeit,  vornemblich  als  der  Lntberanismus  . . .  ein- 
zureissen  angefangen ,  erstlich  Herr  Graf  Wilhelm ,  hernach  auch 
sein  Bruder  Herr  Graf  Friedrich  von  Fürstenberg  diser  enden  aller- 
lei einträg  zu  erwecken  angefangen ,  solche  auch  durch  embsigen 
Antreiben  Ihres  Obervogts  (Junker  Jos  Münch  von  Rosenberg  ge- 
nannt) eines  vom  Catbolischen  glauben  Abgefallenen  Edelmanns 
desto  leichtlicher  fortgesezt,  weil  die  würtembergiscben  Empörun- 
gen und  bäurische  Aufruhren  Beede  Klöster,  (St.  Georgen  und 
Friedenweiler)  in  Zeit  und  Geistlichem  in  merkliche  Abkraft  ge- 
bracht und  Dero  Vorsteher  Anderwärts  Viel  zu  schaffen  gegeben. c 

Als  Oesterreich  Wirtemberg  besetzt  hatte,  ging  Graf  Fried- 
rich in  der  Angelegenheit  von  Friedenweiler  auf  Schiedsleute  ein; 
—  der  Prälat  von  St.  Peter,  Luz  von  Landau,  Pfandherr  zu  Tri- 
berg,  Hans  von  Landenberg  zum  Schonenberg  und  Jakob  Luz  d.  ä.f 
Bürgermeister  zu  Villingen,  waren  ausersehen.  Nach  der  Schlacht 
bei  Laufen  aber  verwarf  er  diese  Schiedsrichter  und  übergab  die 
Verhandlung  mit  Abt  Johann  seinem  Bruder  Wilhelm,  liess  auch 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  das  ihm  abgetretene  Kloster  Frieden- 
weiler leer  stehen. 

Die  offizielle  Einführung  der  Reformation  im  Kinzigthale  ge- 
schah aber  wahrscheinlich  erst,  als  die  Mutter  der  Grafen  1540  ge- 
storben war.  Denn  dass  diese  nach  dem  Tode  ihres  Gemahls  die 
Herrschaften  im  Kinzigthal  behielt,  dafür  sprechen  nicht  nur  einige 
Aktenstücke  des  Klosters  Wittichen,  sondern  auch  der  Theilungs- 
vertrag  vom  29.  Sept.  1540,  nach  welchem  Hausen  die  Herrschaft 
mit  allen  Städten  etc.  sammt  allem  Silbergeschirr  und  Hausrath 
der  Mutter  an  Graf  Wilhelm  fallen  sollte  (ürk.  d.  a.  F.  A.  No.  295). 

Anders  mochte  es  in  der  Herrschaft  Ortenberg  bez.  v.  Ortenau 
gewesen  sein,  die,  wie  der  Verfasser  betont,  hälftig  Strasburgisches 
Reichspfand  war.  Es  fehlen  über  deren  Reformirung  auch  dem 
Eef.  bündige  Aktenstücke.  Nur  die  Stadt  Gengenbach,  deren  Pfarr- 
satz dem  dortigen  Kloster  gehörte,  gibt  einigen  Aufschluss  Denn 
in  einer  Zuschrift  vom  26.  August,  in  welcher  Schultheiss,  Meister 
und  Rath  der  Stadt  den  Grafen  Friodrich  um  Verwendung  bei  dem 
Abte  (wahrscheinlich  Fr.  von  Kcppenbacb)  angehen,  dass  er  ihnen 
neben  Haltung  der  Messe  u.  A.  ihnen  gewohnten  »predigcanten  her 
lütyum  [Lucius  Kyber]  Der  das  Rein  lutter  Evangelium  und  sust 
nichtzit  änderst  predig  und  verkündigt  »wie  bisher  bleiben  lassen 
wolle,  betonen  sie,  insbesondere  »Dieweii  wir  kein  pfarrher  noch 
predigkanten  weder  zn  sezen  noch  zu  versetzen  haben,  Sonder 
derApt  bei  uns«,  und  betreffend  die  Messe  und  andere  Cereroonien 
>  die  wir  nyt  abgestellt,  auch  denuunsern  dartzu  zugcen  niekeinswegs 


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Roth  v.  Schrec.kenstein:  Da*  Interim  im  KinzigthaL  187 


gebotten  verbotten  noch  gewert  haben.«  Es  scheint  demnach,  dass 
Abts  Friedrichs  von  Keppenbacb  Vorgänger,  Melcbior  von  Horneck, 
wirklich,  wie  Ref.  nach  Kolbs  Lexicon  von  Baden  berichtet  (S.  19), 
die  Reformation  angenommen,  oder  wenigstens  ihrer  Einführung 
sich  nicht  widersetzt  habe.  Dass  dieses  aber  nnter  der  Mitwirkung 
der  Fürstenberg'schen  Beamtnng  geschehen  sei ,  ist  richtig ,  denn 
nach  einem  Schreiben  Jos  Münch's  an  Grafen  Friedrich  (6.  Juni 
1548)  geht  hervor,  dass  die  Schaffner  zu  Ortenberg  (Musler?)  und 
Wolfach  (D.  Ycher)  den  Abt  Friedrich  gefangen  setzten  und  wahr- 
scheinlich auch  im  Kloster  selbst  protestantischen  Gottesdienst  ein- 
führten, so  dass  dasselbe  mit  grossen  Kosten  wieder  geweiht  wer- 
den musste. 

8.  1 1  ff.  wird  vom  Verf.  mit  vollem  Rechte  der  schwankende 
Stand  der  Reichspfandschaft  in  der  Ortenau  unter  den  Bestim- 
mungsgründen des  Grafen  Friedrich  zu  seinem  Verhalten  gegen  die 
Protestanten  im  Kinzigthal  aufgeführt.  So  nahe  aber  war  gesetz- 
lich die  Zeitfrage  der  Ablösung  noch  nicht  gerückt.  Denn  wenn 
anch  König  Ferdinand  1521  das  Recht  der  Einlösung  der  Ortenau, 
wie  der  Verf.  nach  Kolb  angibt,  erhalten  hatte,  so  gab  er  eben  so 
bündig  1526  (Augsburg  22.  Februar  S.  A.  F.  Arch.  No.  267 c)  die 
Versicherung,  dass  die  Pfandschaft  den  beiden  Fürstenberg'schen 
Brüdern  zu  ihren  Lebzeiten  nicht  durch  Ablösung  entfremdet  wer- 
den dürfe,  —  freilich  mit  dem  dehnbaren  Beisatze  »als  wenu  ein 
ausserordentlicher  Fall  es  erheischen  werde.« 

Dringlicher  war  noch  Carl  V.  vom  Verf.  S.  22  angeführter 
Befehl  d.  d.  Brüssel  4.  Juli  1549  an  Graf  Friedrich,  dass  er  sei- 
nen Bruder,  »welcher  sich  der  Schmalkaldischen  Kriegsunruhen  und 
Bebellion  schuldig  gemacht  und  von  Tag  zu  Tag  je  länger  je  mehr 
allerlei  Unschicklichkeiten  die  Iro  K.  M. ,  dem  hl.  Röm.  Reich, 
auch  ihm  selbst  und  seinem  Geschlecht  zu  hohen  Beschwerden 
Schaden  und  Nachtheil  gelangen  möchten ,  fürnemen  und  ausüben 
thne,  allenthalben  nacht  rächt  en ,  auffahen  und  bis  auf  weiteren 
allerhöchsten  Befehl  in  Sichere  Verwahrung  aufbehalten  solle  (F. 
F.  a.  Arch.  No.  298 ,  freilich  stimmt  das  Datum  nicht  ganz  zu 
den  Aufenthaltsorten  bei  v.  Stälin,  Forschungen  zur  D.  G.  V,  580 
da  an  diesem  Tage  der  Kaiser  sich  schon  in  Löwen  befindet).  Ref. 
ist  geneigt  zu  glauben,  dass  Wilhelms  Aufenthalt  zu  Ortenberg  in 
den  letzten  Lebenstagen  eine  Art  libera  custodia  gewesen  sei,  von 
welcher  freilich  nach  wenigen  Wochen  der  Tod  ihn  erlöste. 

Die  Stelle  (S.  21)  aus  dem  Schreiben  des  Grafen  Friedrich 
an  Jos  Münch  »das  Kinzigthal  habe  besondere  Aufseber,  die  dann 
alles  was  daselbst  geschehen  an  den  kaiserlichen  Hof  berichteten«, 
ist  aktenmä88ig  erhärtet  durch  den  Auszug  aus  dem  Warnungs- 
hriefe  —  wahrscheinlich  eines  Insbrucker  Beamten  an  Graf  Fried- 
rich, in  welchem  mit  dürren  Worten  gesagt  ist,  »dass  die  Rom. 
Kün.  M.  Unser  Allergnadigster  Herr  der  Regierung  zu  Inspmgk 
uffeTlegt  sie  ain  gewisse  und  guette  khnndschafft  In  die  Landvogtey, 


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188       Roth  v.  Schreekensteln:  Das  Interim  Im  KlMigthtl. 

Ortnaw  zumachen  wie  Ir  euch  Inhalt  des  Reichsabschidt  wider  ain 
Ordnung  Im  glauben  fürnemen  und  ufriohten  werden,  Derhalben  In 
vertrauen  mein  Rath  und  gnatt  bedunkhen  Ir  vollendt  In  gern  elter 
Landvogtei  widerumb,  wie  von  alterher  Im  glauben  fürnemen  und 
uffrichten  würdt  euch  an  Zweifel  bei  der  Ro.  Ku.  Majt  wol  er- 
schiessen«  u.  8.  w. 

S.  23  finden  wir  angegeben,  dass  Jos  Münch  6.  Aug.  1549 
in  Wittichen  mit  Schritten  zur  Wiederherstellung  des  Klosters  be- 
schäftigt gewesen  sei.  Dieselbe  muss  entweder  misslungen  sein, 
oder  nur  die  ökonomischen  Angelegenheiten,  etwa  die  Versorgung 
des  betagten  Pfarrers  Jakob  Gyr,  oder  wenn  er  durch  den  Tod 
schon  von  weiterer  Verlegenheit  erlöst  war,  die  Versehung  seiner 
Stelle  betroffen  haben.  Denn  im  Jahr  1560  finden  wir  in  den 
Klosterakten,  dass  die  Priorin  Margaretha  Denningin  von  Rottweil 
ans  dem  Kloster  entfliehen  wollte,  um  sich  mit  dem  ehmaligen 
Pfarrer  zu  Wittichen  Albrecht  Nopp  von  Hechingen  zu  verheirathen, 
um  die  gleiche  Zeit  verheirathete  sich  eine  Laienschwester  Agnes 
Heilerin,  und  waren  1569  nur  noch  zwei  Frauen  übrig,  so  dass 
durch  Berufung  von  Nonnen  aus  Valduna  bei  Feldkirch  das  Kloster 
wieder  restaurirt,  dennoch  aber  1577  vollständig  reformirt  werden 
musste.  (Visitationa-Recess  des  Bischofs  von  Ascalon  von  Constam 
5.  Nov.).  In  letzterm  Jahre  wurde  von  demselben  Weihbischofe 
auch  für  noth wendig  erachtet,  die  Kirchen  des  Kinzigthals  neu  zu 
weihen  »die  weyl  mein's  erachtens  die  Kirchen  ün  kintziger  Thal 
in  mancherley  weyss  durch  die  sectirer  und  ketzer  dess  gleycben 
die  Altar  daruff  sy  ire  seelische  nachtmäler  gehalten  sampt  den 
kirchhöffen  darin  sy  wider  die  Ordnung  der  Kirchen  untageliche 
personen  begraben  sind  geunehrt  und  entwichen  worden.« 

Aber  schon  früher  (15.  Mai  1563)  waren  die  katholischen 
Priester  (wo  ?  zu  Wolfach  ?)  in  einer  Conferenz  versammelt  und 
unter  ihren  Beschwerdepunkten  findet  sich,  dass  »der  Altar  zierd, 
Licht,  Wachs,  Oel,  Messgewand  und  Priesterliche  Kleidung  wie 
sichs  gebürt  über  Altar  ein  yedem  Priester  zu  gehen«  mangle, 
ferner  »ein  Obsequial  damit  die  Sacrament  einhellig  mitgetheilt 
werden  mögen.« 

Auf  der  andern  Seite  waren,  besonders  zu  Wolfach  manche 
Bürger  dem  protestantischen  Bekenntniss  treu  geblieben.  Aus  ihrer 
Zahl  beschwerten  sich  Schlosser  Friedrich  Mayer  und  der  Sattler 
Hans  Krausbeck,  darüber,  dass  auf  Sonntag  Judica  1575  verkün- 
det worden  sei,  man  müsse  zu  den  katholischen  Ceremonien,  nament- 
lich bei  der  Communion  zurückkehren ;  — -  wer  sich  beschwert  finde, 
solle  supplicando  einkommen.  Sie  bitten  deshalb  um  Empfang  des 
Abendmals  in  künftiger  Charwoche  nach  lutherischem  Gebrauch  für 
sich  und  ihre  Weiber,  »die  usserhalb  der  Herrschaft  zue  der  Luthe- 
rei,  erzogen.«  Andreas  Kugler  daselbst  betonte,  er  sei  in  der 
lutherischen  Coufession  erzogen,  die  eine  Zeit  lang  allenthalben 


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Roth  v.  Schreckenstein:  Das  Interim  im  Klnrigthal.  189 

angenommen,  »dessen  weiland  Friedrich  Oraf  zu  F.  gnedig  wissens 
gehapt  Mich  und  ander  dabei  pleiben  lassen,  « 

Dieses  zeigt,  dass  der  Verf.  mit  Recht  die  Einführung  des 
Interim  durch  Graf  Friedrich  als  eine  im  Ganzen  milde  und  rück- 
sichtsvolle bezeichnet  hat. 

Ja  obgleich  die  Vormundschaft  über  den  Grafen  Albrecht  von 
F.  dem  Schreiben  des  Grafen  Joachim  an  seinen  Bruder  Heinrich 
(29.  Merz  1575)  folgend,  welches  betonte,  man  müsse  »solche  ein- 
gewurzelte böse  Radices  zu  Verhütung  selbiger  Benamblichen  Uf- 
wachsung  mit  hilflf  des  Allmächtigen  ausradieren  €  den  9.  Dec.  be- 
fahl, dass  man  den  sich  allenthalben  in  die  Herrschaft  einschlei- 
chenden Prädicanten,  die  sich  besonders  in  Wolfach  einmischen, 
streng  untersage,  sich  ferner  dessen  anzumassen,  hatte  doch  noch 
den  5.  November  1577  der  Weihbischof  von  Askalon  zu  klagen, 
dass  z.  B.  zu  Schenkenzel  in  8  Jahren  zum  ewigen  Licht  nur  1  Maass 
Oel  verbraucht  worden,  dass  die  letzte  Oelung  »schier  nimmer  da- 
selbst gebraucht  werde,  dass  der  Amtmann  (von  Wolfach,  Brentz, 
ein  Verwandter  des  Würtemberg'scben  Reformators?)  und  sein 
Gegenschwäher  heuchlerisch  (Kryptoprotestanten)  wären  und  zu 
wünschen  sei,  die  Vorsteher  wären  alter  Religion.« 

Bs  gehören  diese  Verhältnisse  zwar  zunächst  nicht  zum  Gegen- 
stande und  Zweck  der  Schrift  des  Verf.,  sie  werden  aber  vom  Ref. 
doch  berührt,  um  den  Wunsch  zu  betonen,  dass  es  demselben  ge- 
fallen möge,  am  Sitze  der  urkundlichen  Quellen  die  ganze,  so 
interessante,  geschichtliche  Entwicklung  auszuarbeiten. 

Auch  das  Verzeichniss  der  Pfarrer  in  der  Herrschaft  Kinzig- 
thal gibt  Aufschluss  darüber,  wie  lange  es  dauerte,  bis  die  katho- 
lischen Priester  sich  wieder  angewöhnt  hatten  auch  nur  eines  ehr- 
baren Lebenswandels  sich  zu  befleissigen  und  so  die  Pfarrange- 
hörigen zu  sich  heranzuziehen.  Zum  Schlüsse  nur  noch  die  Be- 
merkung, dass  Graf  Friedrich  allerdings  gegen  die  Prädikanten 
hätte  milder  verfahren  können,  wenn  er  dem  Beispiele  Wirtem- 
bergs  gefolgt  wäre,  wo  man  ungeachtet  der  gewiss  noch  drängen- 
dem Umstände,  einen  streng  negativen  Standpunkt  dem  Interim 
gegenüber  behielt,  der  einerseits  dem  Kaiser  genügen  rausste, 
andererseits  die  Möglichkeit  gewährte,  nach  dem  Augsburger  Reli- 
gionsfrieden den  Protestanten  ihre  frühere  Stellung  einzuräumen, 
was  natürlich  nicht  im  Interesse  des  Grafen  Friedrich  lag. 

Der  betr.  Erlass  des  Herzogs  Ulrich  von  Wirtemberg  (d.  d. 
Urach  20.  Juli  1548)  an  seinen  Obervogt  am  Schwarzwald,  Jos 
Münch,  »auch  Unsern  Underthanen  zu  Alpirspach  petter  ziegler 
sammpt  und  Sonders«  lautet  dahin,  am  nächsten  Sonntag  nach  der 
Predigt  sei  durch  den  »Stattschreiber«  die  kaiserliche  Declaration 
za  verkündigen  und  sofort  wenn  Jemand  sich  des  Messlesens  an- 
lasse nicht  zu  wehren  bis  ein  allgemeines  Concil  entscheide.  »Auch 
sozio?:  die  Eusserlichen  kirchengebreuch  mit  klaydung  und  gesan- 
gen die  nit  mit  aberglauben  und    abgotterei  vor- 


140     Roth  v.  Schreokenstein:  Wolfgang  Graf  zu  Fürntenberg. 


mengt  und  Adiaphora  genannt  In  den  ki rohen  unseres  Lan- 
des von  mererer  Eintrechtigkeit  wegen  nit  zu  waigern.« 

Es  ist  darnaob  das  S.  28  angeführte  Schreiben  des  Jos  Münch 
von  Roeenberg,  welches  sich  auf  diese  Beilage  bezieht,  dahin  ge- 
nauer zu  bestimmen,  dass  die  Stelle  »das  mir  sollichs  zu  tbnn  be- 
swerlich  und  nit  gebürlich  (sollt  ich  messpfaffen  uffstellen  und  die 
underthanen  darzu  trengen  ist  wider  mein  gewissen,  kans  und  wills 
auch  nit  thun)«  sich  nicht  auf  dieses  Schreiben  Herzog  Ulrichs, 
sondern  auf  das  Verfahren  des  Grafen  Friedrichs  beziehe. 

Auch  Dietrich  Ycher  macht  in  seinem,  vom  Verf.  nicht  ange- 
führten, Schreiben  von  montag  vor  Lucia  den  Grafen  Friedrich 
aufmerksam,  Herzog  Ulrich  habe  den  predigern  das  predigen  nieder- 
gelegt und  doch  wiederum  erlaubt  die  kranken  zu  versehen,  zu 
taufen  etc.  Es  muss  demnach  wirklich  eine  spätere  Verordnung 
erlassen  worden  sein,  auf  welche  sich  dann  auch  Jos  Münch  in 
seinem  Schreiben  an  den  Grafen  Wilhelm  vom  15.  Jäner  1542 
(S.  42)  bezieht,  durch  welche  die  wirtembergischen  Prädikanten 
zwar  des  Predigtamts  enthoben,  aber  doch  auf  ihren  Pfründen  be- 
lassen wurden. 

II.  Bei  der  zweiten  Schrift  des  Verf.  werden  wir  uns,  so 
interessant  auch  ihr  Inhalt  ist  und  so  manches  Neue  derselbe  bie- 
tet, kurz  fassen  müssen,  um  den  Raum  dieser  Blätter  nicht  allzu- 
sehr in  Anspruch  zu  nehmen. 

Dieselbe  behandelt  den  für  Deutschland  so  schmachvollen  und 
vielleicht  gerade  desshalb  von  den  Zeitgenossen  und  ihren  Nach- 
folgern meistens  mit  seltener  Kürze,  Nachlässigkeit  und  Unge- 
nauigkeit  behandelten  »Schweizer-«,  oder  wie  die  letztern  ihn  nennen, 
»Schwaben- «Krieg  von  1499. 

Schweizer  Quellen  haben  seine  Wechselfalle  allerdings  in  zuver- 
lässigerer Weise  dargestellt;  aber  bei  ihnen  trübt  manchmal  die 
Ueberbebung  des  Siegers  die  historische  Wahrheit,  und  es  konnte 
auch  gerade  die  Hauptursache  seines  unglücklichen  Ausganges,  die 
Zerrissenheit,  Zerfahrenheit  und  die  empörende  Selbstsucht  und 
kleinliche  Anschauuugsweise  der  schwäbischen  kleinen  Reichsstände 
durch  sie  nicht  wohl  eine  eingehende  Schilderung  erhalten. 

Um  so  mehr  war  es  die  Pflicht  des  Geschichtschreibers  des- 
jenigen Hauses,  dessen  zwei  hervorragendsten  Mitglieder  die 
obersten  Führerstellen  in  jenem  unglücklichen  Kriege  bekleideten, 
die  in  dem  Archive  des  Hauses  vorhandenen  Urkunden  über  diese 
Angelegenheit  aufs  Genaueste  zu  benützen ,  kritisch  zu  würdigen 
und  zur  Grundlage  der  Biographien  Wolfgangs  und  Heinrioh's  von 
Fürstenberg  zu  machen. 

Allein  die  eigene  Untersuchung  der  betr.  Aktenstücke  um- 
gehend und  sich  auf  die  ihm  überlassen en  Abschriften  verlassend, 
hatte  er  sich  mit  dem  bequemen  Urtheile  begnügt ,  »dass  die 
betr.  Urkunden  die  im  F.  F.  Archive  sich  vorfinden 
weder  genaues  Datum,  noch  genaue  Ortsangabe  ent- 


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Koth  v.  Schreckensteiii:  Wolfgang  Graf  tu  Fürstenberg.  141 


hielten  und  dass  es  daher  äusserst  schwer  sei,  die 
bekannten  Ereignisse  mit  den  bekannten  Notizen, 
welche  meist  anf  gegebene  Avisos,  Vollmachten  und 
Geheimbriete  sich  bezögen  und  Manohes  nur  leise  an- 
deuteten, mit  Sicherheit  zusammen  zu  schmelzen.« 
—  Und  doch  sind  die  von  dem  Verf  beigebrachten  sechzehn  Ur- 
kunden sämmtlich  datirt  und  geben  nicht  nur  manche  bedeutsame 
Einzelheiten,  sondern  recht  tiefe  Einblicke  in  die  ganze  Misere  jener 
Kriegführung. 

Wenn  daher  gleich  der  Verf.  sehr  bescheiden  sagt,  dass  »Die 
hier  folgenden  Blätter,  in  so  weit  sieSeibstständig- 
keit  beanspruchen,  hauptsächlich  nur  die  Leistun- 
gen der  Grafen  Wolfgang  nnd  Heinrich  von  Fürsten- 
berg zum  Gegenstande  haben  und  selbst  diese  nur  im 
Hinblicke  auf  die  im  fürstlichen  Hauptarcbive  zu 
Donanesohingen  befindlichen  Urkunden  und  Akten- 
stücke«, so  dürfen  wir  schon  hiefür  ihm  um  so  mehr  dankbar 
sein,  je  mehr  sie  »besonders  die  Stellung  des  Grafen 
Wolfgang,  desoberstenFeldhauptmannesdes  Rihwä- 
bischen  Bundes  gründlich  beleuchten.«  (S.  5.) 

Die  Schrift  zerfällt  in  zwei  Abtheilungen,  deren  erste  (S.  1  —  62) 
eine  geschichtliche  Darstellung  des  Schweizerkrieges,  deren  zweite 
die  zur  Grundlage  dieuenden  Urkunden  enthält. 

Nach  der  kurzen  Nach  Weisung  der  Stellung  Wolf  gang' s  von 
F.  zu  seinem  Stamme  und  dessen  Grundbesitz ,  zum  kaiserlichen 
Hofe  und  der  herzoglich  wirtembergischen  Regierung  unter  Eber* 
bard  im  Bart,  Eberhard  d.  j.  und  Ulrich,  während  dessen  Minder* 
jährigkeit  er  an  der  Spitze  der  verordneten  Regierung  stand,  wer- 
den wir  sogleich  in  die  Vorbereitungen  zu  dem  schon  1497  er- 
warteten Schweizerkriege  eingeführt. 

Unter  den  Ursachen  desselben  hebt  der  Verf.  gewiss  mit  Recht 
das  sonst  weniger  betonte  Verhältniss  der  Eidgenossen  zu  Frank- 
reich hervor,  zu  dessen  gegen  das  Haus  Habsburg  gerichteten 
Planen  es  gewiss  nicht  passen  konnte,  dass  seine  jüngst  gewonne- 
nen Bundesgenossen  durch  die  strammere  Verbindung  mit  dem 
deutschen  Reichskörper  die  Politik  eigener  Faust  aufgeben  mussten. 
Das  erste  Vertheidigungsprojekt  des  schwäbischen  Bundes  d.  d. 
üeberlingen  8.  April  1497  ist  S.  12 — 13  angegeben  und  darin  mit 
Glück  bei  dem  einem  der  Sammelplätze,  Stockach,  als  Truppen 
liefernde  Stadt  Riedlingen-Mengen,  statt  Riedlingen  Wangen  ver- 
bessert. 

Bei  dem  Antbeil,  welchen  die  vormundschaftliche  Regierung 
für  Herzog  Ulrich  an  der  erneuerten  Rüstung  beim  wirklichen  Aus- 
bruche des  Krieges  nahm,  nachdem  die  Eidgenossen,  beziehungs- 
weise die  ihnen  zugewandten  Engadiner  nnd  Graubündner  S*  Maria 
in  vaT  Mustair  eingenommen  hatten ,  tritt  der  Verf.  der  Ansicht 
entgegen,  derselbe  sei  durch  den  Wunsch  bedingt  gewesen,  Maxi- 


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142     Roth  v.  Schreckenstat«:  Wolfgang  Graf  zu  Fürttenberg. 

milians  Zustimmung  zu  der  Absetzung  Eberhards  d.  J.  zu  erhalten, 
indem  er  nachweist,  dass  schon  1497  der  letztere  Fürst  40  Rei- 
sige zu  stellen  versprochen  und  Herzog  Ulrichs  Räthe  später  noch 
längere  Zeit  zögerten,  ihren  Antheil  zu  bestimmen.  Freilich  belief 
sich,  was  Ulrich  Anfangs  1499  zu  Tuttlingen  zusammenzog,  auf 
1  OOo  Fussknechte  und  er  hatte  versprochen  aus  den  Aemtern  Tutt- 
lingen und  Balingen  2000  Mann  mit  etlicher  Reiterei  in  den  Hegau 
abzufertigen  und  ihnen  weitere  1000  Mann  folgen  zu  lassen. 

Einen  der  gewaltigsten  Gründe  des  Misserfolges,  das  Miss- 
tranen der  von  ganz  verschiedenen  Stimmungen  beseelten  Bundes- 
mitglieder, hat  Verf.  S.  16—19  treffend  durch  die  urkundlichen 
Belege  gezeichnet.  Es  ging  so  weit,  dass  man  in  und  fürWirtem- 
berg  besorgte,  es  möchte  dessen  Truppenentsendung  vom  Pfalz- 
grafen beim  Rhein,  den  Bischofen  von  Strassburg  und  Wirzburg 
etc.  zur  Wiedereinsetzung  des  Herzogs  Eberhard  d.  J.  benützt 
werden. 

Auch  die  zweite  Ursache  des  schlimmen  Ausgangs,  die  Rath- 
losigkeit  des  Bundesraths,  der  sich  zu  keiner  raschen  Offensive 
entschliessen  wollte  und  —  wegen  der  mangelhaften  Rüstungen  der 
meisten  Bundesmitglieder  —  auch  nicht  konnte,  ist  richtig  hervor- 
gehoben. 

Für  die  letzte,  die  zögernde  und  mangelhafte  Rüstung  finden 
wir  einen  schlagenden  Beweis  in  den  angeführten  Briefen  des  Hans 
Ungelter  an  die  Stadt  Esslingen,  der  ans  übelverstandener  Spar- 
samkeit zu  beschränkterer  Lieferung  von  Artillerie  rieth  und  an 
der  Präsenz  der  auf  dem  Papier  stehenden  Mannschaft  über  80 
Gulden  > sparte c;  ein  Verfahren,  welches  auoh  von  anderer  Seite 
nur  zu  sehr  nachgeahmt  wurde  (S.  24).  So  geschah  es  dann,  dass 
die  Eidgenossen  plündernd  den  Hegau  durchzogen  und  dem  Grafen 
Wolfgang  kaum  eine  andere  Wahl  Hessen,  als  von  den  befestigten 
Burgen  und  Städtchen  des  Hegau's  die  zerstreuten,  marodirenden 
Haufen  der  Feinde  zu  schädigen,  wie  den  23.  Februar  bei  Aach 
geschah. 

Dadurch  geschah  erneuerte  Rüstung  auf  5000  Mann  und  mehr 
—  in  Zeiten  näher  drohender  Gefahr  auf  10,000  Mann  zu  ver- 
stärken —  und  die  Ernennung  des  Grafen  Wolfgang  zum  Bundes- 
feldhauptmann.  Dieser  bereitete  nun  eine  Offensive  gegen  die 
Schaffhausischen  Ortschaften,  Schieitheim,  die  von  den  Eidgenossen 
besetzten  Orte  Neukirch  und  Hallau  vor,  die  nach  mehrerer  Ver- 
Schiebung  um  Ostern  (31.  Merz)  unternommen  wurde.  Zur  Er- 
gänzung der  Angaben,  die  der  Verf.  benützt  hat,  fügt  Ref.  einige 
der  Villinger  Chronik  von  Haug  [Hug,  über  dens.  vg.  Mone,  Quel- 
len IJ  bei  (Vg.  sein  Annivers.  Buch  des  Klosters  Maria  Hof  bei 
Neidingen  II.  Abth.  S.  31).  Nach  diesem  zogen  am  Ostermontag 
(2.  April)  in  Villingen  (wo  ausser  dem  Contingente  dieser  Stadt 
wohl  die  nördlichen  Bundesgenossen  z.  B.  der  Zuzug  von  Mainz 
lagen)  1800  Mann  »vast  woll  gerüst«  aus,  erreichten  an  selbigem 


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B.oih  v.  Schreckenstein:  Wolfgang  Graf  m  Fürstenberg.  143 


Tage  Eutingen  (4  St.),  warteten  des  andern  Tags  daselbst  anf  die 
weitere  Anordnung  der  Expedition  nnd  trafen  Mittwochs  zum  Früh- 
stück in  Neidingen  (l'/2  St.),  Mittags  in  Fürstenberg  (1  St.)  ein, 
»Und  es  wurde  drei  oder  4  tag  werren,  so  wüsste  der  gemayn 
man  nit,  wo  man  angreifen  wollt.«  In  Fürstenberg  traf  um  Mitt- 
woch Mittags  die  wirtembergische  Artillerie  (von  Engen,  4  St.) 
ein;  von  wurtembergisohem  Fussvolk  weiss  der  Chronist  nichts  zu 
sagen,  wenn  aber  auch  nur  die  nöthige  Bedeckung  dabei  war, 
während  die  andern  Truppen  die  Strasse  von  Thaingen-Schaffhausen 
zu  vertheidigen  suchten,  so  waren  die  Truppen  zu  Fürstenberg 
jedenfalls  an  2200  Mann,  inbegriffen  600  wohl  ausgerüstete  Heiter 
des  Erzbischofs  von  Mainz.  Es  erfolgte  nun  noch  desselben  Abends 
der  Abmarsch  »und  zugend  die  gantze  Nacht  Büss  Morgens  do  es 
anfieng  zu  tagen.«  Führer  waren  »Herr  Diebolt  spett  ain  Bütter 
ob  rister  Hauptmann  und  Hanns  Härder  von  Khalb«.    Es  scheint 
daher,  dass  Graf  Wolfgang,  wenn  er  überhaupt  schon  beim  Heere 
war,  Tom  Hegau  aus  gegen  Schaffhausen  operiren  wollte.  Schon  der 
Nachtmarsch  ohne  angegebenes  Ziel  mochte  Misstrauen  erregen :  »Do 
vermayndten  die  fuoss  Knecht  die  haupt  Leith  hetten  einen  guotten 
Anschlag  wass  sy  für  die  bandt  Namendt  oder  Nemen  wollten  do 
wass  es  Lumpen  Werkh«.  Insbesondere  gegen  den  Anführer  rich- 
tete sich  später  der  Unwille.  »Aber  wür  hatten  Ain  haupt  manu  der 
gar  khain  ahnschlag  In  Im  hatt  und  verwahrlossete  die  Sachen 
yberall  das  sagte  Mäniglioh  von  Im«.    Des  Morgens  zog  man  in 
zwei  Abtheilungen,  die  zu  weit  von  einander  getrennt  waren:  »do 
sog  der  forder  hauff  (bei  400  Knecht  unter  Führung  des  Haupt- 
manns Chleybe  Hoffmayer)  undt  Mayndten  der  hinder  hauff  war 
gleioh  auff  oder  Bey  Ihnen  und  zogendt  (nach  der  ßecognoscirung 
von  Schlatt  am  Randen,  Marsch  von  etwa  6  St.)  gehn  Halaw«. 
Hier  lagen  600  Schweizer  im  befestigten  Kirchhoff  hoch  über  dem 
Städtchen,  welche,  als  sie  dio  Landsknechte  im  vollen  Laufe  an- 
springen sahen,  100  Mann  an  einen  Verhau  (Letze)  ihnen  entgegen 
warfen.  Diese  zogen  nach  starkem  Verluste  —  die  40  Mann,  wel- 
ches v.  S.  angibt,  dürften  auch  nach  Haug's  Ausdruck  »aber  der 
Schweitzer  lagendt  veill  darnieder«  die  richtige  Zahl  darstellen  — 
in  den  Kirchhof  zurück,  und  behaupteten  denselben  in  tapferer 
Gegenwehr  mit  grossem  und  kleinem  Geschütze,  selbst  als  die  bün- 
dische Artillerie  eintraf.  »Die  Schüssen  und  wurffen  so  redlich  das 
es  nit  zu  beschreiben  ist,  do  schon  der  zeig  gar  zu  samendt  kam 
so  werthen  sie  sich  so  dapier  das  khain  haupt  Man  sy  dorfft  auf- 
fordern, sy  behielten  den  kürchhoff  vor  Uns  aber  das  halbe  dorff 
verbrannten  Wür  und  zugent  ab  uff  den  Berg  S.  Moritzen  —  wahr- 
scheinlich die  ehem.  Wallfahrtskirche  über  Hallau  '/i  St.  —  das 
Nymands  wüsste  wass  wür  thuon  wollten,  da  hatt  Man  Wein  und 
Brott  hinangefiert  und  gab  unns  zue  Essen  und  do  Termaindten 
wdr  nit  Annderst  dan  Man  Miesste  wüder  in  das  Dorff  Sein  zogen. 
Aber  man  zog  hinweg,  do  kham  Herr  Diettrich  von  Bluomeckh  mit 


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144     Roth  v.  Schrecken  stein:  Wolfgang  Graf  zu  Füf3tenberg. 


der  Landschaft  der  lag  zne  theugen  (Thiengen)  In  einem  Stettlien 
mit  1500  knechten  wollgerüst,  vermayndle  er  hette  uns  da  funden 
und  Branndt  Auch.  Bald  aber  er  uns  nit  fuuden  zog  er  wüder  gen 
Tenga.«  Durch  diese  Darstellung  ist  die  Niederlage  der  Bündischen 
bei  Hallau  und  der  Verlauf  jenes  Tages  ziemlich  klar.  Der  Auf- 
enthalt bei  Hüfingen  geschah ,  um  mit  Dietrich  von  Blumeuegg 
eine  combinirte  Action  auf  die  Schweizer  zu  bereden,  welche  gegen 
5000  Mann  stark  bei  Hallau  und  Neucbilch  standen  (S.  84).  Auf 
erhaltene  Kunde  dieser  combinirten  Bewegung  aber  hatten  die  Eid- 
genossen  von  ihren  5000  Mann  nur  etwas  über  ein  Zehntel  im 
festen  Kirchhof  von  Hallau  zurückgelassen,  die  Übrigen  rüsteten 
sich  wahrscheinlich  zum  Einfall  von  Schaffhausen  aus  in  den  Hegau. 
So  ist  denn  auch  der  abenteuerliche  nächtliche  Zug  Diepold  Späth's, 
des  in  Abwesenheit  des  Graten  Wolfgang  commandirenden  obersten 
Hauptmanns,  gegen  Schlatt  am  Randen  —  etwa  3  Stunden  von 
der  geraden  Richtung  nach  Hallau  abliegend  —  zu  erklären;  — 
er  wollte  nach  einer  nicht  mehr  ganz  ungewöhnlichen  strategi- 
schen Anschauungsweise  »Fühlung«  von  dem  Feinde  auf  seinem 
linken  Flügel  und  wohl  auch  von  den  wir temberg' scheu  Besatzun- 
gen im  Hegau  habeu.  Seine  Avantgarde,  400  Landsknechte  stark, 
kam  nach  angestrengtem  Nachtmarsche  etwa  8 — 9  Uhr  Morgens, 
wahrscheinlich  über  Siblingen  und  Gächlingen  nach  Oberhallau,  wo 
sie  zum  Sturmlaufen  befehligt  zuerst  die  100  Schweizer,  die  als 
verlorener  Haufen  sich  in  der  Letze  ihnen  entgegenwerfen,  schlugen 
uud  in  den  Kirchhof  zurückwarfeu.  Der  Sturm  auf  diesen  wurde 
wohl  nicht  gleich  Anfangs  von  der  Vorhut  (den  Wirtembergern, 
wie  Dietrich  v.  ßlumenegg  berichtete,  S  34)  geweigert,  wohl  aber 
wegen  der  unerwartet  energischen  Vertheidigung  und  der  Ermüdung 
nicht  mit  der  nöthigen  Energie  fortgesetzt.  »Unnd  warendt  von 
uns sern  knechten  von  villingen  ahn  dem  khiiebhoff  geschedigt  siben 
Mann  ...  beten  sich  Alle  khnecht  Im  fordern  b außen  gehalten  Allss 
die  von  Villingen  so  hetten  wir  den  khürchhoff  gewunnen«.  So 
geschah  denn  der  Abzug  zur  Rast  und  ErquickuDg  auf  den  8. 
Morizberg. 

(Schluss  folgt.) 


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Ii.  10.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATM. 


Eoth  von  Schreckenstein:  Wolfgang  Graf  zu 

Fttrstenberg. 


(SchhlSS.) 

In  diesem  Augenblicke  mochte  die  bündische  Artillerie  mit 
ihrer  Bedeckung  angekommen  sein,  daher  die  Vermnthnng  es 
werde  die  Bestürmung  des  Kirchhofs  Nachmittags  erneuert  werden. 
Als  aber  Dietrich  von  Blumenegg,  ohnedies  kein  starker  Heid, 
Nichts  von  sich  blicken  Hess,  geschah  allgemeiner  Bückzug  der 
Bündischen,  der  wirtemberg' sehen  Artillerie  nach  Engen  (5  St), 
des  Haufens,  welchen  Georg  von  Freiberg  anführte,  der  wahrschein- 
lich die  Bedeckung  der  Wirtemberger  gewesen  war,  nach  Radolf- 
zell (6  St.)  und  der  von  Villingen  nach  Bilfingen  (5  St.).  Nach  dem 
Abzüge  kam  endlich  Dietrich  von  Blumenegg  an,  begnügte  sich 
aber  den  andern  Theil  von  Hailau  (Unterhallau?)  zn  verbrennen 
und  zog  sich  wieder  nach  Thiengen  (5  St.)  zurück.  Es  mochte 
dies  etwa  Nachmittags  2  Uhr  gewesen  sein  und  der  Bückzug  einer 
Flucht  ähnlich  gesehen  haben.  Denn  nachdem  sie  Schieitheim 
(2  St.  vom  Kampfplatz)  niedergebrannt  hatten,  kamen  noch  des- 
selben Abends  die  Villinger  und  ihre  Genossen  nach  Hüfingen, 
welches  zum  Mindesten  6  Stunden  vom  Kamplatze  entfernt  liegt: 
»wür  verbrannten  Schlaytta  das  Dorff  gahrr  und  zogen  gehn 
Döffingen,  Am  donstag  und  warendt  fast  All  erlegen  Auoh  gar 
Miedt«. 

Gerne  würde  Bef.  dem  Herrn  Verf.  auch  auf  das  Schlachtfeld 
bei  Schwaderloch  (richtiger  bei  Triboltingen)  folgen,  dessen  Be- 
schreibung beim  Widerspruche  der  Quellen  auch  nach  desselben 
Sichtung  immerhin  noch  einiger  Aufklärung  zu  bedürfen  scheint, 
allein  er  muss  sich  damit  bescheiden,  doch  wenigstens  Einiges  der 
fleissigen  Arbeit  desselben  hinzugefügt  zu  haben. 

Mit  der  Wiederholung  vollster  Anerkennung  derselben  verbin- 
det er  nur  den  Wunsch ,  recht  bald  wieder  mit  einer  ähnlichen 
Quellenforschung  von  ihm  beschenkt  zu  werden. 

Dass  die  urkundliche  Seite  der  Schrift  Nichts  zu  wünschen 
Qbrig  lasse,  glaubt  Bef.  bei  der  bekannten  Gewissenhaftigkeit  des 
Verf.  nicht  besonders  betonen  zu  sollen.  Der  kaiserlichen  Akademie 
der  Wissenschaften  gereicht  es  mit  dem  Verf.  zur  Ehre,  dass  sie 
diese  Arbeit  in  ihren  Schriften  veröffentlicht  bat. 

Mannheim,  Februar  1867.  Fickler. 
LX.  Jahrg.  2.  Heft  10 


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146 


Milow:  Gedichte. 


Gedichte  von  Stephan  Milow.  Zweite  vermehrte  Auagabe.  Heidth 
borg.  Verlag  von  Georg  Weiss.  1867.  IV  u.  2V5  S.  8. 

Der  Unterzeichnetehat  in  diesen  Blättern  die  aus  der  Feder  des 
verdienten  Herren  Verfassers  im  vorigen  Jahre  erschienene  treffliche 
Novelle,  das  verlorene  Glück,  angezeigt  und  ein  nicht  minder 
günstiges  Urtheil  über  die  1665  herausgegebene  Gedichtsammlung 
desselben  ausgesprochen.  Die  günstige  Aufnahme,  welche  die  letztere 
bei  dem  gebildeten  Publikum  gefunden  hat,  ist  der  beste  Beleg  für 
ihren  ästhetischen  Werth.  Schon  nach  kaum  zwei  Jahren  liegt  uns 
eine  zweite  vermehrte  Ausgabe  der  Gedichte  des  reich  begabten 
Herrn  Verfassers  zur  Anzeige  vor.  Die  Eintheilung  der  Gedichte 
ist  die  frühere.  Sie  zerfallen  1)  in  vermischte  Gedichte 
(S.  3—75),  2)  Liebeleben  (S.  75— 113),  3)  Sonette  (S.  113 
—  151)  und  4)  Epigramme  und  Elegien  (S.  151  — 180).  Dazu 
kommen  in  der  neuen  vermehrten  Auf  läge  15  im  Kriegsjahre  1866 
geschriebene  Gedichte  unter  der  Aufschrift :  Mit  Weib  und  Kind. 
Warmes  Gefühl,  Begeisterung  für  das  Schöne,  ein  männlicher  ern- 
ster Sinn,  eine  besonders  glückliche  Auffassung  und  Darstellung 
des  Naturschönen,  eine  feurige  reich  begabte  Phantasie  and  eine 
edle,  den  Gedanken  und  Empfindungen  entsprechende,  abgerundete 
Form  sind  Vorzüge,  welche  die  Gedichte  des  Herrn  Verfassers  aus- 
zeichnen. Die  Liebe,  das  »owig  Weibliche«,  ist  auch  in  der  vor- 
liegenden Sammlung,  wie  in  so  vielen  unserer  bedeutendsten  Lyri- 
ker, der  Grundton.  Das  tiefe  innige  Gefühl,  das  nicht  gemacht 
oder  gekünstelt,  sondern,  wie  jedes,  auch  das  kleinste  Gedicht  zeigt, 
selber  durchlebt  ist,  macht  die  vorliegenden  Gedichte  so  besonders 
anziehend.  Die  Dichtung  dringt  aus  der  Seele  und  versteht  die 
Herzen  der  Leser  anzuziehen.,  dass  sie  mit  ihr  empfinden.  Nor, 
wer  selbst  durchlebt  hat,  was  er  dichtet,  kann  es  empfinden  und 
ähnliche  Empfindungen  wecken.  Es  ist  ein  reiner  idealer  Geist  der 
Liebe,  der  in  diesen  erotischen  Dichtungen  weht  und  sie  wesent- 
lich von  so  vielen  lasciven  und  schlüpfrigen  Liebesgedichten  unse- 
rer und  der  ausländischen  Literatur  unterscheidet.  Nicht  nur  in 
der  Liebeleben  überschriebenen  Sammlung,  sondern  auch  in 
den  vermischten  Gedichten,  Sonetten  und  Elegien 
herrscht  der  erotische  Charakter  vor.  Es  ist  die  Sehnsucht,  die 
Freude  und  der  Schmerz  der  Liebe,  der  in  diesen  Dichtungen 
wiederkehrt.  Die  Eintönigkeit,  die  durch  den  gleichen  Gegenstand 
herbeigeführt  werden  kann,  wird  nicht  nur  durch  das  Einstreuen 
anderer  Gedichte,  sondern  auch  durch  die  wechselnden  Stimmungen 
des  Liobelebens  und  die  in  den  Gedichten  so  häufig  wieder» 
kehrenden  treffenden  Naturschilderungen  vermieden.  Natur-  und 
Liebeleben  sind  so  in  einander  verschmolzen,  dass  wir  auch  aus 
dem  engeren  Kreise  der  Liebe  den  weiteren  Blick  in  die  Welt 
und  ihre  Schönheit  gewinnen.  Mag  auch  bisweilen  die  Anschauung 
des  Herrn  Verfassers  gegenüber  der  menschlichen  Gesellschaft  eine 


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Milow:  Gedicht«. 


U7 


düstere,  Bich  nur  in  sich,  in  die  Waldeinsamkeit  der  Natur  nnd  in 
das  Gefühl  einer  ihn  beseligenden  Liebe  zurückziehende  sein,  seine 
Empfindung  ist  so  naturwüchsig,  dass  wir  in  ihr  wahrem  Menschen- 
gefühle und  echtem  Naturleben  begegnen.*  Es  hat  etwas  Wohl- 
tuendes und  Befriedigendes,  wenn  man  neben  der  Zerfahrenheit  der 
Österreichischen  Zustände,  wie  sie  sich  im  letzten  Kriege  so  recht 
klar  vor  die  Augen  des  unbefangenen  Zuschauers  stellte,  in  der 
Brust  eines  Oesterreichers,  der  sich  mehr  mit  dem  blutigen  Geschäfte 
des  Krieges,  als  mit  der  friedlichen  Muse  der  Dichtkunst  zu  beschäf- 
tigen Gelegenheit  fand,  einem  so  edeln  und  reinen  Gefühle  und 
einem  so  glücklichen  Talente  dichterischer  Sohöpfungskraft  begeg- 
net. Für  Manches,  was  er  im  äussern  Leben  vermisst,  wird  ihn 
gewiss  der  Genius  der  Dichtkunst  und  sein  Gefühlsleben  entschä- 
digen, das,  aus  seinen  Dichtungen  zu  schliessen ,  sich  in  reicher 
Weiso  entfaltet  hat.  Die  neueste  Geschichte  des  österreichischen 
Staates  mag  ihm  wohl  die  Gewissheit  gegeben  haben,  dass  die  zum 
Theile  düstere  Ansicht,  die  er  von  den  ihm  tadelnswerth  erschei- 
nenden Bestrebungen  der  grossen  Volksmasse  hegt,  eine  begründe- 
tere Berechtigung  dem  Adel  und  der  Klerisei,  den  höheren  Standes- 
kreisen, gegenüberhat.  Denn  sicher  wurden  nicht  durch  das  Volk, 
sondern  durch  die  überall  bevorzugte  politische  und  kirchliche  Ari- 
stokratie jene  traurigen  Zustände  herbeigeführt,  welche  nahe  daran 
waren,  mit  dem  Untergange  Oesterreichs  zu  enden.  In  den  neu 
hinzugekommenen  Dichtungen  des  Herrn  Verf.  findet  sich  in  letzter 
Hinsicht  eine  leise  Andeutung.  Treffend  schreibt  er  im  Kriegsjahre 
1866  (S. 186): 

»Weichliches  Traumen  und  Ruh'n  unwürdig  erscheint  es  des  Mannes; 

Doch  nicht  rühm'  sich  der  That,  der  wie  ein  Sklave  gehorcht, 
Wenn  der  verblendete  Eifer,  der  Ehrgeiz  einzelner  Mächt'ger 

Port  in  den  Kampf  ihn  spornt ,  welcher  die  Welt  nur  befleckt. 
Stritten  um  Licht  wir  oder  zum  Schutze  des  eigenen  Heerdes, 

Wie  es  verklungener  Zeit  Sohaaren  begeistert  gethan, 
Jeglicher  flammte  empor,  die  heiligen  Güter  zu  schützen, 

Welche  das  Leben  allein  füllen  mit  edlem  Gehalt. 
Aber  es  ist  nicht  so ;  der  Willkür  frommen  die  Besten, 

Und  —  o  Zwiespalt !  —  stumm  gilt  es  zu  tragen  das  Joch ; 
Denn,  wo  gegen  Gewalt  sieb  Gewalt  auflehnet,  entspringet 

Oft  nur  so  grösseres  Leid  durch  den  entfesselten  Drang. 
Desshalb  schliess1  ich  mich  zu  dem  wogenden  Treiben  des  Tages, 

Weithin  füllt  es  die  Welt,  doch  es  bedeutet  ja  nichts. 
Was  ihr  verfechtet,  so  ruf  ich  hinaus,  ist  klein  und  vergänglich, 

Hasten  sich  Tausende  auch  müde  in  eifriger  Gluth. 
Bringet  Erlösung  der  Welt,  bringt  Heilung  den  nagenden  Uebelu, 

Dann  mag  rasseln  das  Schwert,  Blumen  zertreten  der  Fuss; 
Dann  sei  jeglicher  Bau  des  Friedens  zertrümmert,  und  prächtig 

Treibe  das  Leben  verjüngt  aus  der  Zerstörung  empor. 


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Milow:  Gedichte. 


So  doch  kehr1  ich  mich  ab  und  schaue  zum  Trost  in  die  Schöpfung, 
Die  in  erhabener  Kuh1  rollet  den  sicheren  Kreis; 

Ueber  die  ewige  Pracht  hochragender  säuselnder  Wälder, 
Ueber  die  Fluren,  bewegt  leise  von  fächelndem  Hauch, 

Folgt  mein  Auge  der  Sonne,  die ,  schwimmend  im  goldenen  Dufte, 
Andacht  weckend  und  gross,  ferne  im  Westen  verschwebt.« 

Eine  schöne,  des  Mannes  würdige  Gesinnung  spricht  aus  den 
Worten  (S.  191): 

»Seid  nnr  alle  im  Kreis  stets  treffliche  Väter  und  Mutter, 
Wollt  ihr  dem  eigenen  Sein  Würde  verleihen  und  Werth. 

Vieles  versäumten  wir  selbst ;  so  lasst  ein  Geschlecht  uns  erziehen, 
Welches  mit  stärkerer  Hand  stützet  die  wankende  Welt. 

Ueber  das  pfäffische  Wesen  lesen  wir  S.  194: 

»Kennst  du  im  Innern  mich  auch,  doch  fragst  du  mich  zweifelnd, 

Geliebte, 

Was  einst  lehren  ich  will  unserem  Kiude  von  Gott, 
Gott!  Vieldeutig  erscheint  dies  Wort,  nicht  möcht'  ich's  erklären, 

Ringsum  forsch*  er  darnach,  frage  die  Pfaffen  nur  nicht. 
Machten  sie  d'rob  zum  Schurken  ihn  gern,  nicht  soll  es  ihn  schrecken, 

Ist  es  ihr  schlauester  Kniff,  ist  es  der  frechste  zugleich.« 

Und  S.  195: 

»Unseres  Amtes  ist  nur,  vor  Wahn  ihn  immer  zu  schützen, 
Dass  er  mit  eigenem  Blick  suche  den  waltenden  Gott; 

Sucht  er  in  Kämpfen  ihn  auch,  nur  der,  den  selbst  er  gefunden, 
Wird  ihm  ein  Tröster  und  wird  einzig  der  rechte  ihm  sein.« 

Wie  wahr  wird  S.  196  des  Fürsten  hohe  Bestimmung 
und  der  Missbrauch  absolut  istisch  er  Willkürherrschaft 
geschildert : 

»Arg  noch  ist's  in  der  Welt,  du  wirst  viel  Schmerzliches  sehen, 

Das  von  den  Sternen  uns  nicht,  das  von  den  Menschen  uns  kommt. 
Oftmals  blutet  ein  Volk,  dem  alles  zum  Glücke  sich  einte, 

Zwäng*  es  ein  Einzelner  nicht  rauh  in  das  schimpfliche  Joch. 
Ach !  Wer  kann  sie  verstehen  die  gewaltigen  Beherrscher  der  Erde, 

Dass  sie  der  Macht  nicht  auch  dauernd  vereinen  den  Ruhm ! 
Auf  dem  Throne  geboren  zu  sein,  viel  ist  es  dem  Edlen, 

Welcher,  erwählt  vom  Geschick,  auch  als  ein  Würd'ger  sich 

weist. 

Ohne  verzehrendes  Bingen  vermag  er  zu  wirken,  zu  schaffen, 
Was  er  des  Guten  ersinnt,  spiegelm  ihm  Tausende  gleich ; 

Jeglicher  sieht  ihn  und  dränget  ihm  zu,  nicht  braucht  er  sich  Liebe 
Erst  zu  gewinnen,  genug,  wenn  er  sie  nicht  sich  verscherzt. 

Wenige  fassen  es  aber,  sie  stützen  zumeist  auf  Gewalt  sich, 
Statt  in  der  sicheren  Hut  treuer  Bewund'rung  zu  ru'hn. 


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Spfelhagen:  Paust  und  Nathan. 


149 


Unrecht  säen  sie  ans,  sie  hegen  Verrath  nnd  Parteikampf, 

Wär's  nnwissentlich  anch,  eben  nur,  weil  sie  so  klein; 
Denn,  wo  Schwächliche  herrschen,  zerspalten  sich  alle  in  Hader; 

Nur  die  Grösse  vereint  alles  in  Liebe  um  sich. 
Wer  das  Falsche  verfolgt,  braucht  Helfer  und  schädigt  die  Sitten, 

Niedrige  findet  er  leicht,  welche  ihm  dienen  nm  Lohn. 
Da  giebt's  rings  ein  Jagen,  es  sinkt  das  Verdienst  in  der  Schätzung; 

Einzelne  rauben,  derweil  And're  verschmachten  in  Noth. 

Und  S.  198: 

»Wanket  das  Recht,  so  trag  es  mit  Muth  auf  rüstigen  Schultern 
Fort  durch  die  Schlacken  der  Zeit,  dass  es  in  Keine  besteh*. 

Blühet  die  Lüge,  so  pred'ge  die  Wahrheit  und  merk*  es  für  immer : 
Meistens  geziemet  dir  g'rad,  was  du  am  schwersten  vollbringst« : 

Der  elegische,  speciell  idyllische  Ton  herrscht  in  den  15  neuen 
>mit  Weib  nnd  Kind«  Überschriebenen  Gedichten  vor.  Von  den 
schon  in  der  ersten  Ausgabe  erschienenen  Gedichten  zeigt  sich  die 
schone  Verschmelzung  des  Natur-  und  Liebelebens  vorzüglich  in 
den  Dichtungen :  Frühling(S.  8),  Vorfrühling  (S.  10),  stilles 
Lied  (S.  15  u.  16),  auf  dem  Berge  (S.  27  u.  28).  An  frischer 
lebendiger  Naturzeichnung  reioh  sind  die  Gedichte:  Der  Herbst 
(8.  36),  im  Gebirge  (S.  87— 41),  Seefahrt  (S.  47  n.  48),  im 
Herbste  (S.  63  und 64,  65—67),  von  d  er  Alpenwand  (8. 114), 
im  Sommer  (S.  115),  am  Waldessaum  (S.  116),  Waldes- 
Uille(S.117),  Herbst  (S.  118),  Abend  im  Gebi rge  (S.  119). 
Die  früher  etwas  pessimistische  Anschauung  in  einzelnen  Gedichten  hat 
sieh  in  den  neu  hinzugekommenen  geklärt,  wie  die  hier  mitgetheilten 
Beispiele  zeigen.  Wir  bezweifeln  nicht,  dass  das  besonders  in 
Schilderungen  des  Natur-  und  Liebelebens  glückliche  Talent  des 
Herrn  Verfassers,  welchem  selbst  während  des  letzten  Krieges  eine 
freundliche  Muse  lächelte,  uns  noch  mit  mehreren  gelungenen  dich- 
terischen Schöpfungen  beschenken  wird. 

v.  Reichlin-Meldegg. 


fmut  und  Nathan,  ein  Vortrag  von  Friedrieh  Spielhagen. 
Berlin.  Verlag  von  Frans  Duneker.  1867.  27  8.  8. 

Der  bekannte  Herausgeber  des  Sonn tagsblattes,  einer 
Zeitschrift  »für  Jedermann  aus  dem  Volke« ,  hat  diesen  Vortrag 
am  18.  December  1866  im  Saale  des  Berliner  Handwerkervereins 
gehalten.  Die  Sprache  ist  edel  und  schön  und  die  Durchführung 
der  Parallele  reich  an  Gedanken ,  wenn  man  gleich  ein  Bedenken 
hat,  ob  ein  solcher  Vortrag  für  das  Verständniss  von  Handwerkern 
geeignet  ist,  nnd  ob  die  aufgezählten  Aehnlichkeitsmomente  die 


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ISO 


Splelhagen:  Fetst  und  Nathan. 


Entwicklung  der  Parallele  rechtfertigen.  Der  Vortrag  setzt  näm- 
lich die  genaueste  Kenntnis*  des  Inhaltes  der  beiden  Dichtungen 
Göthe's  und  Lessing's,  ja  selbst  eine  genaue  Kenntniss  des 
Charakters  und  Lebens  dieser  beiden  Dichter  voraus.  Dies  ist  aber 
eine  Voraussetzung,  die  kaum  auf  die  grössere  Masse  der  so  ge- 
nannten Gebildeten,  geschweige  denn  auf  einen  Handwerkerverein 
eine  Anwendung  zulasst.  Doch  sehen  wir  von  dieser  subjectiven 
Beziehung  des  Vortrages  ab  und  halten  wir  uns  an  den  objectiven 
Bestand  desselben.  Wir  erhalten  jedes  Jahr  einen  oder  einige 
Fauste.  Schon  der  Anfang  dieses  Jahres  bringt  uns  einen  neuen. 
>  Faust  ist  ein  Typus,  sagt  Leutbecher  in  seiner  Schrift  über 
den  Faust  von  Göthe  (1838)  S.  93,  wovon  jeder  eine  mehr  oder 
minder  gelungene  Kopie  ist  und  nehmen  kann,  worin  jeder  also 
ein  fruchtbares  Thema  für  seine  Einbildungskraft,  für  sein  Denken, 
für  seinen  Menschenhass  und  für  seine  Menschenliebe,  für  seine 
Gläubigkeit  und  seine  Abergläubigkeit,  für  seinen  Schmerz  und  für 

seine  Freude  findet«          ^ Daher  diente  er  den  Dichtern  auch  von 

jeher  zu  Allem  und  damit  wird  es  auch  so  bleiben.  Er  diente  und 
dient  wohl  auch  noch  ferner  als  Held  des  Lustspiels  und  der  Tra- 
gödie ,  als  Held  des  Romans  und  des  Epos ,  er  konnte  and  kann 
noch  heute  im  Melodrama,  im  Vaudeville,  sogar  im  Ballet  auftre- 
ten. Kurz,  Faust  war  und  ist  ein  Name,  eine  Idee,  und  diese 
Idee  konnte  und  kann,  sobald  sie  einmal  in  eine  nach  Ideen  hun- 
gernde und  lungernde  Welt  von  Dichtern  und  Literaten  eintrat 
und  eintritt,  einem  Menschen  zu  Theil  werden,  welcher  ihr  die 
bunte  Jacke  eines  Hanswursts  anzog,  oder  einem  andern,  der  sie 
in  eine  Mönchskapuze  oder  in  einen  Tartüffe  versteckte,  oder 
einem  dritten,  dem  es  gefiel,  sie  sogar  in  einen  Journalisten 
zu  verkleiden,  der  überall  seine  literarischen  Fluggedanken 
oder  seine  politischen  Saalbadereien  auslegt;  oder  sie  konnte 
endlich  einem  Manne  von  Geist  zu  Tbeil  werden,  der  sie  mit 
Liebe  und  Erbarmen  empfing,  von  allem  ihr  um-  und  ange- 
legten Unrath  und  Schmutz  sie  säuberte,  in  seiner  eigenen  Glorie 
sie  verherrlichte  und  in  der  edelsten  Haltung  und  Fassung  erschei- 
nen Hess.«  Die  Faustidee  kehrt  in  den  verschiedensten  Gestalten 
unter  unsern  Literaten  immer  wieder,  daher  die  vielen  Werke 
über  die  Faustsage,  über  den  Göthe'schen  Faust  und  nun  auch 
die  Faustparallele.  Man  will  aus  der  Gähmng  der  über  die  Schran- 
ken des  Endlichen  hinausstrebenden  Faustseele  Allerlei  herauskochen 
und  das  Produkt  in  einen  Paratlelismus  mit  der  Faustidee  bringen. 
So  hat  im  vorigen  Jahre  Licentiat  Dr.  P.  K  leiner  t  in  einem 
Vortrag  vor  dem  evangelischen  Vereine  zn  Berlin  zn  zeigen  ver- 
snobt, dass  ans  dem  rechten  Faust  ein  August  in  werden  muss, 
als  wenn  das  ganze  orthodoxe  evangelische  Glaubensbekenntniss  als 
Embryo  im  Dr.  Faust  stäcke  und  zuletzt  in  Augustins  kirchlichem 
Systeme  zum  Durchbruche  zu  kommen  hätte.  Jetzt  wird  uns  von 
FrUdrioh  Spielhagen  gezeigt,  dass  der  wahre  Faust  ein 


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Spielhagen:  Faust  und  Kathan. 


161 


Nathan  werden  mnss.    Gewiss  wird  jeder  vorurteilslose  Denker 
den  die  Religion  objectiv- betrachtenden  Nathan,  der  die  religiösen 
Anschauungen  seines  Urhebers ,  Lessings,  vertritt,  dem  von  der 
Wirrniss  eines  zerfahrenen  Lebens  zur  Glaubensseligkcit  und  zum 
kirchlichen  Fanatismus  aufsteigenden  Augustin  vorziehen,  wenn 
auch  der  letztere  heilig  gesprochen  worden  ist.  Trotzdem  ist  aber 
Faust  eben  so  wenig  ein  Nathan,  als  ein  Augustin,  wenn  gleich 
die  religiösen  Anschauungen  Fausts  gewiss  mit  der  Anschauungs- 
weise Nathans  mehr  übereinstimmen,  als  mit  der  Augustins.  Die 
Verschiedenheit  zwischen  Faust  und  Nathan  springt  wohl  mehr  in 
die  Augen,  als  die  Wahlverwandtschaft,  welche  von  dem  Herrn 
Verf.  nachgewiesen  werden  soll.    Darum  beginnt  er  auch  mit  der 
leichteren  Arbeit,  der  Entwickelung  der  Verschiedenheit.  Der  erste 
Blick  in  die  beiden  Welten,  die  Welt  Faust's  und  Natban's,  ist 
fS.  6)  verschieden,  wie  »Tag  und  Nacht,  wie  Sttd  und  Nord, 
Occident  und  Orient«  (nach  der  Beziehung  zu  den  vorausgehenden 
Gegensatzgliedern  werden  hier  wohl  besser  »Orient  und  Occident« 
gesagt)  »und,  wie  sich  auch  das  Bild  erweitert  und  wie  auch  die 
Scenerie  wechselt,  es  bleibt  der  melancholisch  mächtige  Hinter- 
grund hier,  der  sonnig  lachende  dort.«    Auch  in  den  handeln- 
den Personen,  wenn  man  vom  Hintergrunde  absieht,  zeigt  sich 
die  Verschiedenheit,  der  Gegensatz  (S.  8).    Zuerst  wird  mit  den 
einerseits  Faust  und  anderseits  Nathan  umgebenden  Personen  be- 
gonnen. Für  Saladin  und  Sittah  wird  keine  Parallele  in  Faust 
gefanden.    Sieht  es  mit  den  andern  Parallelen  besser  aus?  Zuerst 
Gretchen  und  Recha.    Der  Herr  Verf.  sagt  über  beide  S.  9: 
»Nur  in  Jugend,  Schönheit  und  Herzensgüte  sind  sich  die  lieben 
Kinder  gleich ;  damit  endet  aber  auch  die  Aehnlichkeit.« 
Geistvoll  und  anziehend  ist  die  Entwicklung  des  Unterschiedes. 
»Ob  der  Dichter,  heisst  es  S.  10,  indem  er  Rechas  Schwärmerei 
för  den  Tempelherren  sich  so  bald  abkühlen  lässt,  nur  die  Ab- 
sicht gehabt  hat,  der  glücklich-leichten  Lösung  des  Verhältnisses 
zwischen  den  jungen  Leuten,  die  sich  hernach  als  Geschwister  um- 
armen sollen,  vorzuarbeiten  —  bleibe  hier  dahingestellt.  Jeden- 
falls müssen  wir  ihm  dafür  Dank  wissen  und  jedenfalls  kann  der 
Gegensatz  zwischen  dieser   kühlen  Rechaliebe  und  der 
heissen  Leidenschaft  Gretchens  nicht  grösser  sein. 
Ja  um  so  grösser  ist  dieser  Gegensatz,  als  das  naive 
nnreflectirende  Gretchen  sich  erst  allmälig  in  diese  Leiden- 
schaft  hineinsingt  und  sinnt  und  träumt,  bis  dann  freilich 
ihre  Seele  davon  erfüllt  ist,  wie  der  Thautropfen  vom  Sonnenschein, 
bis  sie  dann  ihr  Alles  an  diese  leidenschaftliche  Liebe  setzt  und 
in  dieser  allesverschlingenden ,  maasslosen  Leidenschaft  zu  Grunde 
geht.«   Gretchen  singt  sich  in  ihre  Leidenschaft  nicht  hinein.  Der 
Dichter  schildert  die  Liebe,  wie  sie  entsteht.  Sie  bedarf  nicht,  wie 
die  andern  Faustscenen,  des  Zaubers  und  der  Magie ;  sie  übt  durch 
rieh  selbst  den  Zauber,  die  Magie.  Der  erste  Eindruck  entscheidet. 


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102  Spielhagen:  Faust  und  Nathan. 

Ehe  Greteben  das  Lied  vom  Könige  von  Thnle  singt,  deutet  sie  in 
einem  kurzen  Monologe  den  Eindruck  an,  den  Faust's  Begegnen 
auf  sie  machte: 

Ich  gäb  was  d'rum,  wenn  ich  nur  wüsst\ 
Wer  heut'  der  Herr  gewesen  ist«  u.  s.  w. 

Verräth  sie  uns  doch  vor  dem  Absingen  ihres  Liedes  ihren 
Seelenzustand,  wenn  sie  sagt: 

>Es  ist  so  schwül  und  dumpfig  hie 

Und  ist  doch  eben  so  warm  nicht  drauss\ 

Es  wird  mir  so,  ich  weiss  nicht  wie  — 

Ich  wollt*,  die  Mutter  käm'  nach  Haus. 

Mir  läuft  ein  Schauer  über'n  ganzen  Leib  — 

Bin  doch  ein  thöricht  und  furchtsam  Weib.« 

Zeigt  sie  uns  doch  in  ihrem  Gespräche  mit  Faust  in  Marthas 
Garten  durch  ihr  naives  Geständniss,  dass  der  erste  Eindruck  ent- 
scheidend war. 

»Gesteh'  ich's  doch!  ich  wusste  nicht,  was  sich 
Zu  eurem  Vortheil  hier  zu  regen  gleich  begonnte ; 
Allein  gewiss,  ich  war  recht  bös'  auf  mich, 
Dass  ich  auf  euch  nicht  böse  werden  konnte.« 

So  ist  das  Lied  vom  Könige  von  Thüle  nicht  der  Grund, 
sondern  die  Folge  ihrer  Liebe.  Sie  singt  allein  ein  Lied,  dessen 
Grundton  ist:  Die  Liebe  nimmt  das  theure  Andenken  der  Liebe 
mit  sich  in's  Grab.  Der  Dichter  lässt  sie  nicht  singen,  um  sich 
in  die  Liebe  hineinzusingen,  sondern  sie  singt  solche  Lieder,  weil 
sie  hebt.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  dem  Liede:  »Meine  Ruh' 
ist  hin.«  Das  Lied  vom  Könige  von  Thüle  ist  ein  Lied  der  Sehn- 
sucht, das  andere  ein  Lied  des  Liebeskummers;  beide  bringen  sie 
nicht  in  die  Liebe  hinein,  sondern  drücken  die  schon  in  ihr  vor- 
handene Liebe  aus.  Der  Herr  Verf.  findet  selbst  zwischen  Gret- 
chen und  Recha  keine  Aehnlichkeit  als  »Jugend,  Schönheit  und 
Herzensgüte.«  Das  sind  aber  keine  charakteristischen  Ueberein- 
stimmungspunkte,  und  auf  diese  Art  könnte  man  noch  viele  andere 
dramatische  Mädchencharaktere  zusammenstellen.  Haben  wir  nicht 
auch  m  Thekla  und  Klärchen  »Schönheit,  Jugend  und  Herzens- 
güte«? Ein  Parallelismus  muss  andere  üebereinstimmungsmomente, 
als  solche  in  so  vielen  Charakteren  wiederkehrende,  aufstellen.  Von 
Recha  und  Gretchen  geht  der  Herr  Verfasser  zum  Tempel- 
herren und  Valentin  über.  Die  Unterschiede  springen  wohl  in 
die  Augen;  aber  wo  sind  die  Uebereinstimmungspunkte ?  »Recha 
und  Gretchen,  heisst  es  S.  10,  ähneln  sich  ungeföhr  so  weit,  wie 
sich  die  Brüder:  der  Tempelherr  und  Valentin  ähneln.«  Wir  haben 
gesehen,  dass  die  Aehnlichkeit  Recha's  und  Gretchen's  sieb  nur  in 


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Spiel  h»gen:  Faust  und  Nathan. 


168 


»leben  Merkmalen  zeigt,  welche  sie  noch  mit  einer  grossen  Anzahl 
anderer  M&dchencharaktere  gemein  haben,  dass  sie  also  keine  charak- 
teristische Aebnlichkeit  ist.  Sieht  es  mit  dem  Tempelherren  nnd 
Valentin  anders  ans?  Der  Herr  Verf.  gesteht  selbst,  dass  sie  sich 
Ähneln  wie  Rccha  nnd  Gretchen.  Diese  Aebnlichkeit  ist  aber  so, 
dasa  es  kanm  zwei  verschiedenere  Charaktere  geben  kann,  als  diese. 
Die  Verschiedenheiten,  welche  der  Herr  Verf.  anfuhrt,  sind  kenn- 
xeichnend,  die  Unterschiede  nicht.  Eben  so  verhält  es  sich  mit  dem 
Tempelherren  nnd  Valentin.  »Es  ist  etwas  Kurzangebundenes 
Gerades,  Kriegsmännisches  in  Beiden".  Warum?  Weil  sie  beide 
Soldaten  sind,  weil  sie  beide  den  allgemeinen  soldatischen  Charak- 
ter haben.  Diesen  aber  haben  sie  mit  vielen  andern,  von  Dichtern 
geschilderten  Soldaten  Charakteren  gemein.  Charakteristisch  ist  nicht 
die  Uebereinstimmung ,  sondern  nur  der  Unterschied.  Der  Herr 
Verf.  furchtet  selbst  (S.  12),  dass  man  über  die  »Zusammenstel- 
lung« von  dem  Derwisch  Al-Hafi  und  dem  Famulus  W a g n e r 
»lächeln«  möchte.  Er  will  aber  doch  ein  »tertium  comparationis« 
finden.  Wir  können  diese  Merkmale  nicht  als  charakteristische 
Vergleichungspunkte  annehmen  (denn  solche  müssen  wir  bei  einer 
Parallele  haben),  dass  beide  »Gesellschafter,  Vertraute  und  Freunde 
der  beiden  Helden«  sind,  dass  Al-Hafi  »viele  Partien  Schach  mit 
Nathan  gespielt«,  was  erst  noch  zu  erweisen  wäre,  und  Faust  mit 
Wagner  »Schweinsleder  gebundene  Tröster  gelesen  hat«,  was  eben- 
falls noch  belegt  werden  müsste.  Denn  nach  der  Art  und  Weise, 
wie  Faust  den  Wagner  beim  ersten  Gespräche  aufnimmt  und  entlässt, 
scheint  er  keine  Lust  zu  verspüren,  mit  ihm  Folianten  durchzu- 
lesen.   Taxirt  er  doch  den  Wagner  nach  dessen  Entfernung: 

»Wie  doch  dem  Kopf  nicht  alle  Hoffnung  schwindet, 
Der  immerfort  an  schaalem  Zeuge  klebt, 
Mit  gieriger  Hand  nach  Schätzen  gräbt 
Und  froh  ist,  wenn  er  Regenwürmer  findet.« 

Mehr  Gewicht  wird  darauf  gelegt,  dass  beide  »in  ihrer  Art 
Fanatiker«  sind.  Es  mag  wohl  sehr  bezweifelt  werden,  ob  Wagner 
ein  Fanatiker  ist.  Auch  Al-Hafi's  Fanatismus  ist  mehr  als  zwei- 
felhaft. Nicht  minder  steht  gewiss  in  Frage,  dass  beide  »Pedanten« 
sind ;  denn,  wenn  der  Pedantismus  unzweifelhaft  ein  Kennzeichen 
Wagner's  ist,  so  kann  man  doch  Bedenken  haben,  ob  Al-Hafi  ein 
Pedant  genannt  werden  kann.  Zum  Pedantismus  gehört  noch  etwas 
Anderes,  als  eine  blosse  einseitige  Anschauung  der  Welt. 

Wir  kommen  zur  Parallele  der  Daja  und  Martha  (S.  12). 
Auch  hier  wird  eine  charakteristische  Aehnlichkeit  schwer  zu  finden 
iein.  wenn  sich  gleich  die  Unterschiede  von  allen  Seiten  zeigen. 
9*gt  doch  der  Herr  Verf.  S.  13  selbst,  dass  man  »im  Grunde 
der  armen  Daja  Unrecht  thue,  wenn  man  sie  in  die 
Gesellschaft  der  Martha  bringe.«  Thut  man  also  »der  armen 
Dsjft  nicht  Unrecht«,  wenn  man  eine  Parallele  zwischen  ihr  nnd 


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154 


Spieibagen:  Faust  und  Nathan. 


der  Kupplerin  Martha  zieht?  Verschiedenheiten  finden  wir  8.  18 
trefflich  angedeutet,  nirgends  aber  eine  auch  nur  scheinbare  Ueber- 
einstimmung. 

Komisch  ist  die  Zusam raenstellung  des  Patriarchen  und 
des  Mephistopheles.  Dass  zwischen  einem  Geistlichen  vom 
Kaliber  des  Patriarchen  und  dem  Teufel  des  Volksglaubens  Aehn- 
lichkeit  vorhanden  ist,  wird  nicht  bezweifelt  werden  können.  Allein 
auch  hier  wird  die  Aehnlichkeit  wohl  nicht  anders  sein ,  als  wie 
sie  sich  zwischen  der  Personifikation  des  bösen  Prinoips  und  schlech- 
ten Charakteren  auch  in  anderen  Stücken,  wie  in  Franz  Moor, 
Richard  III.  u.  8.  w.  nachweisen  lässt.  Das  Charakteristische  fehlt 
auch  hier. 

Wenn  es  sich  mit  den  die  Helden  der  beiden  Dramen  um- 
gebenden Personen  so  verhält,  ist  vielleicht  die  Uebereinstimmung 
zwischen  den  beiden  Helden  selbst  eine  mehr  kennzeichnende  ?  Auch 
hier  ist  der  Herr  Verf.  glücklicher  in  der  Entwicklung  der  Unter- 
schiede,  als  der  Berührungspunkte,  die,  wie  die  Unterschiede, 
charakteristisch  d.  h.  wesentlich  von  allen  andern  Dichtungen  unter- 
scheidend sein  müssen.  Wenn  der  Herr  Verl.  »im  ganzen  Umfange 
der  Poesie«  nur  diese  zwei  Gestalten,  Nathan  und  Faust  findet, 
welche  ein  »so  gleicher,  bestrickender  Zauber  um fliesst«,  so  ist  ein 
aus  subjectiver  Stimmung,  aus  dem  Eindruck  einer  Dichtung  her- 
vorgegangener Gemütbszustand  unmöglich  als  ein  charakteristischer 
Uebereinstimmungspunkt  anzunehmen.  Auch  andere  Dichtungen  der 
Griechen  und  Römer,  in  neuerer  Zeit  Shakespeares,  und  selbst  Dich- 
tungen Schiller's  und  Göthe's  (wir  nennen  Wallenstein,  Teil,  Tasso, 
und  von  Shakespeare  vor  Allem  Hamlet)  rufen  in  uns  ähnliche 
Stimmungen  hervor,  ja,  was  die  Ursprünglichkeit  der  dichterischen 
Schöpfen  gskraft  betrifft,  übertreffen  viele  dramatische  Dichtungen 
Shakespeares  die  höchsten  Leistungen  der  neueren  Klassiker.  Der 
Herr  Verf.  gesteht  selbst  zu,  dass  or  »im  ganzen  Umfange  der 
Poe*sie«  keine  zwei  Gestalten  finden  kann,  »welche  in  Allem,  in 
jedem  Gedanken,  der  durch  ihre  Seele  zieht ,  in  jedem  Ge- 
fühl, das  ihr  Herz  erfüllt,  in  jedem  Wort,  das  aus  ihrem 
Munde  geht,  in  jeder  Miene,  in  jedem  Blick,  in  Haltung 
und  Bewegung  so  verschieden  wären.c  Treffend  wird 
S.  16  diese  Verschiedenheit  nachgewiesen.  Welches  ist  aber  das 
kennzeichnende  Uebereinstimmungsmoment  dieser  beiden  in  Allem, 
in  jedem  Gedanken,  Gefühl  und  Wort,  in  jeder  Miene,  Haltung  und 
Bewegung,  in  jedom  Blick  verschiedenen  Helden?  In  der  »straffsten 
Spannung  der  Gegensätze«,  sagt  der  Herr  Verf.  S.  16,  »liegt  ge- 
nau der  Berührung  9-  und  Vereinigungspunkt.«  Die  Dramen  »schei- 
nen durch  eine  Weltwoite  getrennt« ,  sie  gehören  aber  »in  ihrem 
tiefsten  Grunde  zusammen ,  wie  der  Schmetterling  zur  Cchrysalide. 
In  Faust  wird  »das  Räthsel  aufgegeben,  in  Nathan  gelöst.«  Faust 
kann  —  das  ist  der  Gedanke  des  Herrn  Verf.  —  keinen  andern 
Weg  in  der  Vollkraft  seiner  Entwickelung  nehmen,  als  den,  sich 


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Spielhsgen:  Frost  und  Nathan. 


155 


tu  einem  Natlian  zu  gestalten.  »Vom  Himmel  durch  die  Welt  zur 
Hölle*  ist  das  Losungszeichen  der  Sage.  So  spricht  auch  der 
Theaterdirektor  im  Vorspiel  zum  ersten  Theil  des  Göthe'schen  Faust : 

»Vorwärts  mit  hedächt'ger  Schnelle 
Vom  Himmel  durch  die  Welt  zur  Hölle  !« 

Die  Entwickelung  Faust 's  als  des  Repräsentanten  der  Menschen- 
natur in  ihrem  Hoffen,  Ahnen,  Streben  und  Irren,  Zweifeln  und 
Verzweifeln,  in  ihrem  Falle  und  ihrer  Läuterung  darf  aber  nicht 
nach  der  Idee  einer  starren  befangenen  Dogmatik  oder  der  dogma- 
tischen Faustfabel  mit  der  Höllenfahrt  schliessen.  Das  Losungs- 
zeichen der  Menschheit  ist:  Aus  der  Nacht  zum  Licht,  aus  der 
Hölle  durch  die  Welt  zum  Himmel.  Auf  diesem  Wege  aber  wird 
aus  Faust  ein  Nathan.  Wir  müssen  der  »aufsteigenden  Linie t 
folgen.  Sie  ist  »in  Wirklichkeit  zwar  der  unendlich  schwierigere 
mühevollere,  für  die  rückschauende  Betrachtung  aber  bei  Weitem 
übersichtlichere  Theil  des  Weges «  (S.  21).  Auch  das  »Judenthum* 
wird  zum  Berührungspunkt  gemacht,  wie  wohl  Faust  von  einem 
Juden  so  wenig  an  sich  hat,  als  Nathan,  wenn  gleich  letzterer 
wenigstens  dem  Namen  oder  der  äussern  Schablone  nach  als  Jude 
gilt.  Faust  kann  nämlich  »nicht  leben,  weil  er  es  seinem  Hoch- 
muth  nicht  abringen  kann ,  nur  ein  Mensch  unter  Menschen  zu 
sein.«  Das  führt  den  Herrn  Verf.  auf  Ahasver,  den  ewigen 
Juden,  der  »nicht  sterben  kann,  weil  er  des  Menschen  Sohn  von 
seiner  Thüre  gestossen  und  mit  des  Menschen  Sohn  die  Liebe,  die 
nicht  boffahrtigist  und  Alles  duldet.«  »Ihre  (Fausts  und  Ahasvers)  hof- 
föhrtige,  unduldsame,  hochmtithige  Lieblosigkeit,  heisstesS.  22  weiter, 
das  ist  eben  ihre  Unseligkeit.  Nur  die  Liebe  kann  sie  retten.  Das 
»Ewig- Weibliche «,  das  heisst,  die  Liebe  ziehet  den  Faust  hinan, 
hinauf  in  den  Himmel.  Nur  die  Liebe  kann  den  Ahasver  erlösen; 
Nathan  ist  der  erlöste  Ahasver,  der  sich  selbst  erlöst  hat.«  Das 
ist*8  ja  eben.  Ahasver  ist  nicht  mehr  Ahasver,  sobald  er  Nathan 
ist,  so  wenig  als  Nathan  jemals  Ahasver  sein  kann.  Man  kann 
den  Ahasver  nicht  als  den  Embryo  des  Nathan  bezeichnen;  denn 
aus  einem  Ahasver  kann  kein  Nathan  werden;  darum  ist  auch 
jener  nach  der  Sage  »der  ewige  Jude.«  Aus  Ahasver  kann  so 
wenig  Nathan  werden,  als  aus  dem  thalmudistischen  Judenthum 
eine  reine  Philosophie ;  denn  letztere  ist  erst  dann  da,  wenn  erste- 
res,  so  wie  jedes  auf  blinden  Autoritätsglauben  gestützte  Kirchen- 
system,  vollständig  negirt  ist.  Gerade  so  verhält  es  sich  mit  Faust. 
Wenn  Faust  Nathan  ist,  ist  er  eben  nicht  mehr  Faust.  Der  kranke 
Weltschmerz  des  letzteren  gebiert  die  heitere  Lebensanschauung  des 
ersten  nicht.  Der  Herr  Verf.  denkt  sich  dabei  immer  nur  Faust, 
wie  er  in  seinem  Streben  in  bestimmten  Scenen  des  ersten  Theiles 
dtrgestellt  wird.  Man  muss  sich  aber,  wenn  es  sich  um  die  Faust- 
töcbtung  zum  Gebrauche  einer  Parallele  handelt,  nicht  eine  Seite 
Pmt'*,  sondern  den  ganzen  Faust,  wie  er  im  ersten  und  zweiten 


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166 


Spielhagen:  Faust  und  Nathan 


Theile  dargestellt  ist,  denken.  Schon  im  Prolog  im  Himmel  wird 
die  Rettnng  Faust's  angedeutet,  wenn  von  diesem  die  ewige  Liebe 
in  der  Gestalt  des  Herren  sagt: 

»Wenn  er  mir  jetzt  auch  nur  verworren  dient; 
So  werd*  ich  ihn  bald  in  die  Klarheit  fuhren, 
Weiss  doch  der  Gärtner,  wenn  das  Bäumchen  grünt, 
Dass  Blütb'  und  Frucht  die  künftigen  Jahre  zieren.« 

Dahin  gehören  ferner  die  Worte  des  Herren  in  demselben 
Prologe : 

»Es  irrt  der  Mensch,  so  lang  er  strebt«  .... 

»Steh1  beschämt,  wenn  du  bekennen  musst: 

Ein  guter  Mensch  in  seinem  dunkeln  Drange 

Ist  sich  des  rechten  Weges  wohl  bewusst«  .... 

»Des  Menschen  Tbätigkeit  kann  allzuleicht  erschlaffen, 

Er  liebt  sich  bald  die  unbedingte  Ruh* ; 

D'rum  geb'  ich  gern  ihm  den  Gesellen  zu, 

Der  reizt  und  wirkt  und  muss  als  Teufel  schaffen.« 

Geben  nicht  Faust's  Rede  in  der  Waldhöhle,  sein  Religions- 
gespräch  mit  Gretchen,  sein  Dialog  mit  Mephistopheles  nach  der 
Walpurgisnacht  ein  Zeugniss  von  einer  edleren  Natur  in  Faust 
neben  derjenigen,  welche  mit  der  Personifikation  des  Bösen  oder 
Mephisto  Verwandtschaft  bat?  Zeigt  sich  dieses  Streben  mitten 
unter  mancherlei  Verirrungeu  nicht  auch  im  zweiten  Theile  ?  Welch 
ein  schönes  Zeugniss  von  Faust's  Gesinnung  und  Streben  legen 
seine  Schlussworte  vor  dem  nicht  geahnten  Tode  ab: 

»Das  ist  der  Weisheit  letzter  Schluss: 

Nur  der  verdient  sich  Freiheit,  wie  das  Leben, 

Der  täglich  sie  erobern  muss. 

Und  so  verbringt,  um  rangen  von  Gefahr, 

Hier  Kindheit,  Mann  und  Greis  sein  tüchtig  Jahr. 

Solch  ein  Gewimmel  möcht*  ich  sehn, 

Auf  freiem  Grund  mit  freiem  Volke  stehn. 

Zum  Augenblicke  dürft'  ich  sagen: 

Verweile  doch,  du  bist  so  schön! 

Es  kann  die  Spur  von  meinen  Erdetagen 

Nicht  in  Aeonen  untergehn.  — 

Im  Vorgefühl  von  solchem  hohen  Glück 

Geniess1  ich  jetzt  den  höchsten  Augenblick.« 

Wir  dürfen  uns  darum  Faust  nicht  anders  denken  ,  als  ihn 
Göthe  sich  entwickeln  lässt.  Wenn  wir  einen  Nathan  aus  ihm 
machen,  verwandeln  wir  ihn  in  eine  andere  Person.  Faust  wird 
auch  im  zweiten  Theile  kein  Nathan.  Immer  dauert  die  Sehnsucht 
nach  einem  Andern,  immer  die  Unzufriedenheit  mit  der  Gegenwart, 


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Spielhagen:  Fauat  und  Nathan. 


das  Vorwärtsstreben  über  die  menschlichen  Trieben  gezogene  Schranke. 
Aus  Faust  soll  sich  ein  Nathan  gestalten?    Dann  ist  aber  Faust 
kein  Faust  mehr  und  er  bleibt  Faust  auch  im  zweiten  Theile.  Das 
Antecedens  zu  einem  Faust  liegt  so  wenig  in  Nathan,  als  in  Faust' s 
Charakter  die  Ajilage  zu  einem  Nathan  ist    Die  Verschiedenheit 
ist  da,  aber  die  Aehnlichkeit  nicht.  Auch  chronologisch  geht  Nathan 
(1779)  dem  Faust  (1790)  vor.  Allerdings  ist  es  richtig,  was  S.  24 
gesagt  wird,  dass  »Faust  und  Nathan  durch  die  Jahrtausende 
gehen.«  »Millionen  und  aber  Millionen,  heisst  es  daselbst,  werden 
mit  Faust's  gramesdüstern  Augen  in  das  Dunkel  des  Menschen- 
lebens starren  und  von  Nathans  leuchtender  Stirn  die  Antwort 
lesen,  c  Aber  darum  werden  die  Fauste  immer  keine  Nathane  und 
diese  keine  Faustnaturen  sein.  In  der  Parallele  wird  auf  die  äussern 
Verhältnisse,  in  welchen  die  beiden  Dichter  lebten,  bei  der  Wür- 
digung des  Einflusses  auf  die  beiden  Dichtungen  zu  viel  Gewicht 
gelegt.    Bei  Göthe  wird  S.  26  auf  Strassburg,  Lili,  die  Schweiz 
und  Italien,  auf  Göthe' s  »ganze  Welt  voll  Sonnenschein«  hinge- 
wiesen und  doch  schrieb  er  »die  Tragödie  des  Weltschmerzes.  Das 
scheint  ein  Räthsel  und  ist  doch  keins :  Um  das  tiefste  Weh  schil- 
dern zu  können,  muss  der  Dichter  die  höchste  Lust  erfahren  haben.« 
Nathan  wird  »im  schönsten  Sinne  des  Wortes  das  heiterste  aller 
Gedichte«  genannt.  Dabei  wird  auf  das  wenig  Heitere  in  Lessings 
Leben  aufmerksam  gemacht,  auf  die  Wintermonate  der  Jahre  1778 
and  1779  in  Wolfenbüttel,  den  Schnee  auf  den  Dächern  und  in 
den  Strassen  des  Städtchens,  den  melancholischen  Aufenthalt,  auf 
die  misslichen  Geldverhältnisse  des  Dichters,  auf  das  Dunkel  in 
seinem  Leben  und  daran  S.  27  die  Schlussreflexion  geknüpft:  »Um 
die  höchste  Seligkeit  zu  schildern,  muss  der  Dichter  das  tiefste 
Weh  erfahren  haben.  <  —  Nicht  das  äussere  Glück  hat  in  Göthe  die 
Dichtung  des  Weltschmerzes  hervorgerufen  und  nicht  die  dunkeln 
Wolken  am  Horizonte  von  Lessings  Leben  dessen  heitere  Dich- 
tung.   Nicht,  weil  die  Verhältnisse  so  gestaltet  waren,  dichteten 
sie  so;  sondern,  obschon  die  äusseren  Umgebungen  so  beschaffen 
waren,  dichteten  sie  dennoch  die  mit  diesen  contrastirenden  Schöpf- 
angen.    Das  Genie  steht  über  den  äussern  Verhältnissen,  über 
Sonnenschein  und  Schnee;  es  bahnt  sich  seinen  Weg  mitten  durch 
sie  hindurch.    Das  Glück  konnte  Göthe's  Geist  eben  so  unthätig 
machen  und  abstumpfen,  als  der  Mangel  desselben  Lessing;  aber 
der  Gemus  ist  stärker,  als  das  äussere  Verhältniss.    Nicht  von 
Glück  oder  Unglück,  sondern  von  dem  Genius  stammt  die  dichte- 
rische Schöpfung.  Ein  anderes  Moment  dagegen  sollte  als  Einfluss 
auf  die  Dichter  und  ihre  Werke  mehr  hervorgehoben  werden.  Das 
ist  die  Zeit,  in  welcher  sie  lebten.  Noch  kein  Genie  bat  sich  ganz 
fom  Charakter  der  Zeit  emancipirt.     Diess  zeigt  sich  auch  bei 
Nathan  und  Faust.    Nathan  fällt  in  die  Zeit  der  deutschen 
Aafklürnngsperiode,  welche  in  der  Geschichte  der  Philoso- 
phi$  des  vorigen  Jahrhunderts  noch  immer  nicht  hinreichend  ge- 


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188 


Bpielhagen:  Faust  und  Nathan. 


würdigt  ist.  Die  deutsche  Aufklärungsperiode  in  der  zweiten  Hälfte 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  ist  wesentlich  von  der  gleichzeitigen 
französischen  Aufklärungsperiode   verschieden.    Jene  spricht  sich 
zwar  gegen  den  positiven  OfFenbarungsglauben  aus;  aber  sie  setzt 
an  die  Stelle  desselben  den  religiösen  Vernunftglauben,   sie  ist 
wesentlich  rationalistisch  und  hängt  mit  der  WolfFschen  Schule, 
in  welcher  Kant  seine  philosophische  Bildung  empfing,  zusammen. 
Die  Grundideen,  an  welchen  sie  hält,  sind  Gott,  Freiheit  und  Un- 
sterblichkeit. Ihre  philosophische  Wirksamkeit  bezieht  sich  auf  den 
Menschen  und  seine  Glückseligkeit.  Die  Lebensanschauung  ist  hei- 
ter und  praktisch,  die  DurcbfUhrungsmittel  zum  Lebenszwecke  popu- 
lär oder  volksthümlich ,  sie  wirkt  dem  Aberglauben  entgegen  und 
sucht  gewisse  vernünftig  religiöse  Anschauungen  zum  Gemeingute 
der  Menschheit  zu  machen.  Ihr  Streben  ist  ein  durchaus  edles  und 
achtungswerthes.    Namen,  wie  Mendelssohn,  Garve,  Engel, 
Abbt,  Sulz  er,  die  beiden  Reim  ums,  Basedow,  Stein- 
bart und  viele  andere,   naoh  verschiedenen  Richtungen  hin  zu 
einem  Ziele  wirkend,  gehören  ihr  an.  In  vielfacher  Hinsicht  hängt 
Lessing  mit  ihr  zusammen  und  sein  Nathan  ist  der  schönste 
dichterische  Ausdruck  derselben.    Ein  Geist  heiterer  und  prakti- 
scher Weisheit,  einer  über  den  positiven,  in  einzelne  dogmatische 
Formeln  gebannten  Glaubensbekenntnissen  stehenden  und  diese  vom 
objectiven  Standpunkte  aus  beurtheilenden  Vernunftreligion  wehet 
durch  diese  ganze  Diohtung.  Ein  neuer  Geist  der  deutschen  Lite- 
ratur beginnt  mit  der  Sturm-  und  Drangperiode.    Die  grössten 
deutschen  Dramatiker,  G  ö  t  h  e  und  Schiller,  gehen  aus  ihr  her- 
vor.   Eine  Unzufriedenheit  mit  dem  Bisherigen,  ein  Streben  nach 
einem  höheren  Ziele,  ein  Ringen  und  Kämpfen  in  Kunst  und  Wis- 
senschaft gegen  die  Selbstgenügsamkeit   der  Vergangenheit  und 
gegen  die  dem  höchsten  Ziele  entgegenwirkenden  Schranken  zeigen 
sich  in  Wissenschaft  und  Kunst.    Ist  nicht  Faust  der  dichterische 
Ausdruck  dieser  Zeit  mit  seinem  Weltschmerze,  seinem  unbefrie- 
digten Streben ?    So  stellen  Lessing  und  Göthe  ihr  eigenstes, 
innerstes  Wesen  in  Nathan  und  Faust  dar ;  aber  in  beiden 
Dichtungen  spiegelt  sich  auch  der  Charakter  der  Zeit  wieder,  wel- 
cher sie  angehörten.  Der  Charakter  der  Zeitperiode  eines  Dichters 
aber  hat  einen  grössern   Einfluss  auf  ihn  und  seine  dichterische 
Gestaltnng,  als  Sonnenschein  und  Schnee. 

v.  Reichlin-Mtldegg. 


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Hesse:  Gemeines  Civilrecht 


169 


Hesse,  CÄ.  Av  Dr.  Jusiizrath  und  Gerichtsamtmann :  Taschen- 
buch des  gemeinen  Civilr echte.  Jena,  Druck  und  Ver- 
lag von  Fr.  Mauke.  1867.  ö.  8.  477.  Preis:  1  Hihlr.  20  Sgr. 

Repetitorien ,  Taschenbücher  wie  tabellarische  Gesammtüber- 
sichten  Uber  einzelne  Fachwissenschaften  verdienen  wegen  ihrer 
weiten  Verbreitung  und  wegen  des  bedeutsamen  Einflusses,  den  sie 
auch  auf  die  strebsamsten  und  tüchtigsten  Jünger  der  Wissenschaft 
in  den  letzten  Semestern  des  akademischen  Lebens  ausüben,  eine 
fortgesetzte  kritische  Beachtung.  Ihr  eigentlicher  Vortheil  und  mit- 
hin ihre  Hauptaufgabe  besteht  darin,  dem  Studierenden  das  zeit- 
raubende und  den  Geist  wenig  anregende  Excerpiren  von  Com- 
pendien  und  Collegienheften,  nicht  aber  deren  eingehendes  Studium 
zu  ersparen.  Sie  sollen  nicht  Brücken  gleichen,  auf  denen  man 
bequem  über  die  Tiefen  der  Wissenschaft  hinweggeht,  sondern  einen 
klaren  und  bestimmten  Ueber-  und  Rückblick  gewähren  auf  das 
ganze  durchmessene  Gebiet. 

Für  Juristen  fehlte  bisher  ein  solcher  Rück-  und  Ueber- 
blick  über  ihre  wichtigste  Disziplin,  das  heutige  römische  Recht. 
Zwar  befinden  sich  Repetitorien,  unter  denselben  vor  allem  das  des 
>gesammten  gemeinen  Rechts  von  J.  Bender«  in  Vieler  Hand; 
aber  theils  sind  sie  zu  knapp,  theils  zu  breit,  letzterwähntes  sicher 
zu  ungleichmässig  gearbeitet,  um  auf  die  Dauer  sich  behaupten  zu 
können.  Wir  erblicken  daher  in  dem  uns  vorliegenden  Taschenbuch 
des  gemeinen  Civilrechts  von  Hesse  eine  recht  willkommene  und 
dankenswerthe  Gabe.  Von  einigen  ganz  selbstständigen  Ausfüh- 
rungen des  Verfassers  abgesehen,  ist  es  auf  Grund  der  Lehrbücher 
von  Mackeldey,  Wening-Ingenheim,  v.  Vangerow, 
Puchta,  Arndts,  Brinz,  Sintenis  und  Savigny's  System 
mit  in  allen  seinen  Theilen  gleiohmässiger  Sorgfalt  gearbeitet.  Auoh 
tindet  man  in  den  wesentlichen  Doktrinen  das  preussisebe  Laad- 
recht, Österreich,  bürgerl.  Gesetzbuch  und  das  königl.  sächs.  bür- 
gert. Gesetzhuch  angezogen,  und  noch  ist  die  Brauchbarkeit  des 
Werkchens  durch  ein  zum  Nachschlagen  bequemes  alphabetisches 
Register  erhöht  werden. 

Im  Texte  hat  der  Verfasser  nebenbei  auch  die  wichtigsten  Oon- 
troversen  berührt  oder  doch  wenigstens  durch  ein  (?)  angedeutet.  Die 
Darstellung  ist  angenehm,  man  möchte  fast  sagen,  wohlthuend.  Da 
sich  zu  diesem  Vorzuge  der  einer  fast  durchgängig  präcisen  Fas- 
sung der  Begriffe  gesellt:  so  kann  man  ohne  Bedenken  das  vor- 
liegende Buch  als  das  gelungenste  Unternehmen  auf  dem  beregten 
Gebiete  bezeichnen. 

Bei  einer  zweiten  Ausgabe  des  Werkchens  indessen,  die  vor- 
aussichtlich nicht  lange  ausbleiben  wird,  wären  doch  einige  Aen- 
derungen  erwünscht: 

Zunächst  würde,  schon  bloss  äusserlich  betrachtet,  der  fort- 
laufend gedruckte  Text  durch  Einrücken  der  Ausnahmen  gewinnen. 


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leo 


Hesse:  Gemeines  Civilrecht. 


Das  kleine  hiermit  dem  Verleger  zugemuthete  Opfer  würde  in  völlig 
erreichter  Ueber-  nnd  Durchsichtigkeit  reichlichen  Ersatz  finden. 
Sodann  wäre  bei  den  langen  Aufzählungen  einzelner  Fälle,  wie 
z.  B.  S.  201  i.  d.  M.,  S.  264,  S.  433  — 434,  eine  Grnppirung  der- 
selben, nach  allgemeinen  EintheilungsgrUnden  unschwer  herzustel- 
len, dem  Lernenden  gewiss  aber  sehr  förderlich.  Insbesondere  würde 
es  sich  ferner  als  ein  vorzüglich  geeignetes  Mittel,  zur  geistigen 
Herrschaft  über  den  Stoff  zu  erheben,  empfehlen,  hier  und  da  Fra- 
gen einzustreuen  über  den  Unterschied  ähnlicher  Klagen,  verwandter 
Becht sin sti tute  u.  dgl.  Einige  Beispiele  aus  dem  Erbrecht,  der  ge- 
wöhnlichen crux  tironum,  mögen  unseren  Wunsch  erläutern:  Wel- 
ches ist  der  Unterschied  zwischen  der  rei  vindicatio  und  heredi- 
tates petitio  —  zwischen  dem  beneficium  abstinendi  und  der  Ke- 
pudiation  der  Erbschalt  —  zwischen  dem  Erwerb  durch  Substi- 
tution und  Accrescenz  —  zwischen  der  mortis  causa  donatio,  dem 
Legat  und  Fideicommiss?  In  welchem  Verhält  niss  steht  das  jus 
deliberandi  zum  beneficium  inventarii? 

Im  Einzelnen  sei  noch  bemerkt:  Auf  S.  269  ist  behauptet, 
dasa  Gütergemeinschaft  dem  Begriff  der  Ehe  angemessen  sei  — 
eine  Auffassung,  in  welcher  wir  als  Anhänger  des  Gütereinheits- 
systems nur  eine  petitio  prineipii  erblicken  können.  Ferner  wäre 
S.  388  bei  der  transmissio  ex  capite  in  integrum  restitutionis  die 
Auseinanderhaltung  zweier  Fälle  erwünscht,  nämlich  einmal,  wenn 
in  der  Person  des  Delaten  die  Möglichkeit  zur  restitutio  in  inte- 
grum begründet  war  und  nach  seinem  Tode  das  begründete  bene- 
ficium nach  allgemeinen  Grundsätzen  auf  die  Erben  Ubergeht,  und 
zum  anderen,  wenn  nur  dem  Erwerb  ein  Hinderniss  entgegen  stand, 
die  Erben  mithin  die  restit.  in  integr.  aus  ihrer  Person  heraus 
verlangen.  Noch  wäre  auf  S.  415  eine  anschaulichere  Absetzung 
der  Pupillarsubstitutionen  hinsichtlich  der  Quarta  Falcidia  gelten- 
den Regeln  nicht  zweckmässig. 

Alle  diese  Wünsche  und  Ausstellungen  aber,  deren  Berück- 
sichtigung wir  dem  Verfasser  anheimgeben,  gründen  sich  im  Gan- 
zen auf  so  unwesentliche  Mängel,  dass  wir  zum  Schluss  das  be- 
sprochene Werk  nur  mit  warmer  Empfehlung  begleiten  können. 
Möge  es  recht  vielen  sich  heranbildenden  Juristen  auch  in  den 
Ferien  und  auf  Reisen  ein  treuer  zuverlässiger  Gefahrte  werden! 

Dr.  jur.  O.  Sticke!. 


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Ii.  U.  HEIDELBERGER  1887. 

JM1RBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Brambach  Guih  Corpus  itiscriplionum  Rhenanarum  consilio  et 
aucioritate  aoeietatis  antiquariorum  Rhenann e  ed.',  praefaiu* 
est  FHdr.  HiUcheliua.  Etberfeldae.  1867.  XXX JV  u.  390  8.  4. 

Während  man  die  lateinischen  Inschriften  des  Rheingebiets 
bis  in  nnser  Jahrhundert  herein  nur  in  zerstreuten  Lokalschriften 
verzeichnet  findet,  indem  Niemand  daran  dachte  sie  in  einem  Werke 
zu  vereinigen,  vielleicht  im  richtigen  Gefühle,  dass  erst  die  einzel- 
nen Museen  und  Sammlungen  gut  veröffentlicht  sein  mttssten,  ehe 
ein  Mann  das  Ganze  vereinigen  und  mit  kritischem  und  histori- 
schem Apparat  versehen  könnte:  fing  Steiner,  nachdem  Hüpsch 
und  Lehne  schon  weiter  in  lokaler  Hinsicht  um  gegriffen  hatten, 
zuerst  an  die  rheinischen  Inschriften  in  einem  opus  zu  sammeln; 
seine  erste  editio  im  Jahr  1837  war  dürftig  und  sehr  mangelhaft ; 
auch  die  zweite  Ausgabe  1851  hat,  um  nicht  mehr  zu  sagen,  schon 
durch    die  eigenthümliche  ganz  antiquirte  Einrichtung  nur  den 
Wunsch  lebhafter  fühlen  lasscu,  dass  endlich  eine  würdige  Samm- 
lung veranstaltet  werde.  Und  allererst  konnte  man  von  den  Alter- 
thumsvereinen am  Rheine  eine  solche  Gesammtausgabe  erwarten; 
es  haben  nun  zwar  auch  eiuzelne  Vereine,  wie  der  Nassauer  u.  a. 
die  in  ihren   Bereich  gehörenden  Inschriften  veröffentlicht,  und 
ebenso  einzelne  Gelehrte  wie  namentlich  Janssen  ihr  betreffendes 
Museum   bekannt  gemacht.     Aber  an  eine  rheinische  Sammlung 
dachte  kein  Verein,  besonders  da  Lersch,  welcher  die  Inschriften 
von  Köln,  Bonn,  Trier  u.  8.  w.  edirte,  als  vorsichtiger  und  etwas 
bescheidener  Mann  nicht  weiter  ging  und  namentlich  die  Mainzer 
Inschriften,  die  auch  er  hier  untersuchte,  zu  besprechen  unterliess 
oder  besser  nicht  wagte.    Da  vernahm  man  mit  Freuden,  dass 
Mommsen  im  Namen  der  Berliner  Akademie  demnächst  auch  die 
rheinischen  Inschriften  in  sein  corpus  aufnehmen  werde.  Und  wenn 
schon  hier  und  da  die  Befürchtung  entstand ,  dass  der  gelehrte 
und  thätigeMann,  da  er  doch  nicht  alles  sehen  und  wissen  kann, 
hie  und  da  leicht  abirren  möchte,  besonders  wenn  er  nicht  an  den 
bedeutenderen  Orten  und  Museen  sich  Hilfe  und  Unterstützung 
verschaffen  werde:  so  war  man  doch  überzeugt,  dass  in  dem  cor- 
pus aller  Inschriften  auch  für  die  rheinischen  das  möglichste  ge- 
leistet würde,  und  müsste  um  so  zufriedener  sein  als  unsere  In- 
schriften in  dem  corpus  inscriptionum  nicht  fehlen  dürften.  Man 
erwartete  daher  ohne  grosse  Besorgniss  diesen  rheinischen  Band, 
ond  Unterzeichneter,  der  längst  die  mittelrheinischen  Inschriften 
gesammelt  hatte,  dachte  seitdem  nicht  daran  sie  zu  veröffentlichen. 
L1X.  Jahrg.  8.  Heft.  11 


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112 


Brambach:  Corpus  Tnscrlptt.  Rhenn. 


Da  vernahm  man  nicht  ohne  eine  Art  von  Befremdnng ,  dass  der 
Alterthumsverein  in  Bonn  eine  Gesammtausgabe  der  rheinischen 
Inschriften  beschlossen  habe :  und  wenn  schon  diesem  Vereine,  der 
sich  ja  weitumfassend  den  Verein  von  Alterthumsfreunden  im  Rhein* 
htnde  benennt,  solch  ein  Werk  längst  vor  den  andern  Vereinen 
am  Rhein  wohlgestanden  hätte:  so  war  doch  nunmehr  die  Zeit  zu 
einer  solchen  Sammlung  vorübergegangen  —  oder  wollte  man  in 
aller  Eile  dem  schon  vorbereiteten  Werke  von  Mommsen  Concurrenz 
machen?  Und  noch  mehr  erstaunte  man,  dass  der  Verein  nicht 
seine  alten  bewährten  Mitglieder,  z.  B.  den  Prof.  Freudenberg,  um 
nur  einen  zu  nennen,  damit  beauftragt,  sondern  die  editio  einem 
ganz  jungen  Mann  überlassen  hat ,  der  kaum  die  Studienjahre  * 
zurückgelegt.  Freilich  die  ältern  hätten  es  abgelehnt,  wie  Lersch 
es  unterliess.  Und  wenn  ich  sonst  bei  jungen  Leuten  den  Muth 
lobe:  so  meine  ich  doch,  dass  der  junge  Gelehrte  ausser  Muth  auch 
Umsicht  haben  müsse  um  nicht  sofort  ein  Werk  zu  ediren,  das 
lange  Zeit  und  viele  Vorarbeiten  erfordert.  Denn  vorliegendes  Werk 
ist  nicht  »seit  Jahren  vorbereitet«  wie  die  VerlagEhandlung  eben 
anzeigt,  indem  erst  anderthalb  Jahre  vorher  der  Verein  den  Ent- 
schluss  dazu  fasste  und  wohl  nicht  früher  der  Herausgeber  Bram- 
bach, seit  Kurzem  Professor  in  Freiburg,  die  Vorbereitung  zu 
diesem  Werke  begonnen  haben  wird,  wenn  er  vielleicht  auch  schon 
als  Gymnasiast  die  Bonner  Inschriften  betrachtete.  Ich  kenne  einen 
berühmten  Epigraphiker  Norddeutschlands,  der  schon  vor  40  Jahren 
die  Zahlbacher  Inschriften  hier  abschrieb ;  derselbe  wird  aber,  wenn 
er  eine  Edition  der  Mainzer  Inschriften  vorlegte ,  nicht  sagen,  sie 
sei  seit  40  Jahren  vorbereitet.  Doch  da  derselbe  Brambach  im 
August  1864  den  für  Bonner  Studenten  ausgesetzten  Preis  >über 
die  der  Zeit  nach  bestimmten  und  noch  vorhandenen  Inschriften 
des  Rheingebiets  »erlangt  hat  (das  Accessit  erhielt  ein  Mainzer  Dr. 
K.  Bone) :  so  ist  der  Verein  just  nicht  sehr  zu  tadeln ,  wenn  er 
mit  dem  Gekrönten  in  Unterhandlung  trat,  aber  er  hätte  die  Jugend 
desselben  zügeln  und  auf  keinen  Fall  sofort,  nachdem  kaum  mehr 
als  ein  Jahr  verflossen,  mit  dem  Drucke  beginnen  sollen,  die  Herrn 
in  Bonn  mussten  die  Arbeit  ermessen  können  und  nicht  glauben, 
dass  so  ein  opus  so  schnell  mit  Glück  absolvirt  werden  kann.  Es 
wundert  mich  nur,  wie  der  Vorstaud  des  Vereins  im  November 
vorigen  Jahres,  wo  das  Werk  fast  fertig  war,  noch  folgendes  Ur- 
theil  über  es  ausstellen  konnte:  »Bei  der  Bearbeitung  ist  auf  alles 
das  gewissenhaft  Rücksicht  genommen,  wodurch  ein  solches  Werk 
dem  Geschichtsforscher  wie  dem  Philologen  brauchbar  und  not- 
wendig wird,  die  Quellen  sind  einer  kritischen  Untersuchung  unter- 
worfen und  über  ihre  Benutzung  ist  Rechenschaft  gegeben.  Ferner 
sind  die  erhaltenen  Monumente  aufs  neue  untersucht  und  ihr  jetzi- 
ger Zustand  sowie  ihre  Geschichte  aktenmässig  festgestellt.  End- 
lich ist  eine  bis  in  die  letzten  Cousequenzen  verfolgte  geographische 
Anordnung  der  Inschriften  gewählt,  wie  sie  sonst  mit  gleicher 


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Brambach:  Corpus  Inscriptt.  Rbenn. 


163 


Strenge  noch  nicht  in  epigraphischen  Werken  durchgeführt  worden 
wfc  s.  w.«  Wir  wollen  sehen,  ob  wir  dies  Urtheil  unterschreiben 
töunen  und  zu  dem  Bebufe  die  Mainzer  Inschriften  einer  kleinen 
Durchsicht  unterwerfen,  nachdem  wir  vorher  über  das  was  der 
Verfasser  der  Sammlung  vorausschickt,  nur  wenige  Worte  ge- 
macht haben. 

Die  praefatio  enthält  zwei  Abhandlungen:  die  erste  de  legio- 
nibus  quae  in  Germania  utraque  militaverunt  übergehen  wir  hier 
ganz,  eiumal  weil  sie  nicht  gerade  zum  Werke  gehört  und  dann 
weil  wir  anderwärts  darauf  zurückzukommen  gedenken.  Keinenfalls 
erfüllt  sie  aber,  was  der  Vorstand  am  1.  November  aussprach: 
»Die  reichlichen  Ergebnisse,  welche  sich  für  die  Kunde  unserer  Vor- 
zeit aus  dem  Studium  der  Inschriften  gewinnen  lassen,  sind  in 
einer  historischen  Einleitung  besprochen  worden.«  Bei  solcher  Er- 
klärung erwartet  man  weit  mehr  als  nur  eine  Geschichte  der  rhei- 
nischen Legionen.  Die  andere  Abhandlung  hat  die  Ueberschrift 
de  inscriptionum  Rhenanarum  editoribus.  Nachdem  hier  zuerst  der 
Cmfang  für  diese  rheinische  Sammlung  bestimmt  ist,  so  beginnt 
der  Verfasser  ganz  gut,  die  inschriftlichen  Werke  chronologisch 
anzuführen  und  mehr  oder  weniger  zu  beurtheilen.  Zuerst  gedenkt 
er  des  ersten  Herausgebers  rheinischer  Inschriften  deB  Mainzer 
Hutticb;  dessen  zweite  Ausgabe  vom  Jahr  1525  Apianus  >puram 
putam  transcripsitc  was  nicht  richtig  ist,  indem  schon  die  erste 
und  zweite  Inschrift  bei  Apianus  anders  als  bei  Huttioh  abgetheilt 
sind,  und  nicht  wenige  andere  mehr  Zeilen  zeigen.  Wir  kommen 
darauf  nochmals  im  Verzeichniss  der  Schriftsteller  zurück;  dort 
werden  wir  auch  beifügen,  welche  Bücher  der  Verfasser  weder  hier 
noch  dort  anführt.  Wenn  auch  hier  bei  der  Beurtheilung  der 
Schriftsteller  nicht  alle  können  besprochen  werden,  so  waren  doch 
die  editores  prineipes  oder  Sammelwerke  nicht  auszulassen,  von 
denen  der  Verfasser  viele  nicht  kennt.  Weiterbin  wird  der  Zeit- 
folge nach  der  holländischen  Schriftsteller  gedacht,  wobei  wir  nur 
bemerken  wollen,  dass  es  uns  unangenehm  berührte,  dass  der  treff- 
liche Janssen  hier  wiederum  gegen  die  Angriffe  Fröhners  aus  dem 
Jahr  1858  in  Schutz  genommen  wird;  ich  meine,  wenn  ein  junger 
Mann  in  Uebermuth  und  Eile  sich  an  altern  vergreift,  so  wollen 
wir  es  lieber  vergessen  als  immer  wieder  auftischen  und  zwar 
beider  wegen.  Janssen  bedurfte  weder  damals  noch  jetzt  dieser 
Vertheidigung,  besonders  da  Fröhners  Büchlein  hier  gar  nicht  vor- 
kommt. Nach  üeberspringung  des  Preussen-Landes  boren  wir,  dass 
nach  Hutticb  lange  die  Mainzer  Inschriften  vernachlässigt  wurden, 
Iis  auf  Fuchs,  cuiu»  Studium  laude  magna  dignum  est,  licet  non 
cuneta  ipse  viderit  sed  aliorum  libris  schedisque  plerumque  usus  sit 
—  ich  meine  dies  gilt  von  allen  Herausgebern  —  oder  bat  Brambach 
alles  gesehen  V  und  wie  ist  es  mit  den  nicht  mehr  vorhandenen 
Titeln?  die  muss  man  doch  aus  Büchern  und  Schriften  nehmen; 
oder  wie  machte  es  Brambach  bei  solchen?    Aus  den  Scheden, 


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164 


Brambach:  Corpus  Inacriptt.  Rheim. 


welche  Fuchs  benutzte ,  führt  er  nur  Gamans  an;  er  hätte  noch 
viele  anführen  können  wie  Mich.  Schweighäuser  Jesuit,  Fontana 
Ingenieur,  General  Welsch ,  Hauptmann  Kuhn ,  Pfarrer  Severus  u. 
a.  m.  Bei  den  Inschriften  Nassaus  fehlt  der  höchst  verdienstvolle 
Habel,  dessen  unermüdlicher  Thätigkeit  das  Museum  in  Wiesbaden 
fast  die  Hälfte  seiner  Inschriften  verdankt:  wenn  derselbe  auch 
nicht  im  Verzeichnisse  der  Schrittsteller  steht,  so  mag  dies  daher 
kommen,  dass  er  unter  seinem  Namen  kein  Buch  edirte,  wohl  aber 
trefllicbe  Aufsätze,  namentlich  Uber  Inschriften  in  die  Nassauer 
Annalen  einrückte;  diese  scheint  aber  der  Verfasser  nicht  alle  zu 
kennen.  Jedenfalls  durfte  Habel  hier  nicht  vergessen  werden.  Um 
weiter  nicht  zu  erwähnen,  wie  viele  Mainzer,  welche  iu  diesem  Jahr- 
hundert über  Inschriften  schrieben,  hier  nicht  angeführt  werden,  wie 
Braun,  Müller,  Haupt,  Dahl  u.  a  m. :  wird  zuletzt  noch  vielen  jetzt 
.  lebenden  Gelehrten  Dank  abgestattet,  qui  mihi  inscriptionum  no- 
titiam  utilissimam  paravernnt.  Da  auch  ich  unter  diesen  aufge- 
führt werde,  so  möge  man  das  nicht  so  verstehen,  als  ob  ich  zu 
dieser  Edition  irgend  behilflich  gewesen.  Denn  wenn  ich  den  Ver- 
fasser, im  Herbst  1863,  als  er  wegen  der  erwähnten  Preisfrage 
für  Studenten  auch  das  Mainzer  Museum  besuchte,  mit  Rath  und 
That  wegen  der  Inschriften  unterstützte:  so  ahnte  ich  doch  da- 
mals nicht  —  und  er  äusserte  auch  nichts  davon  —  dass  er  irgend 
wann  an  eine  Edition  der  rheinischen  Inschriften  dachte,  und  ich 
hätte  auch  damals  und  später,  wenn  ich  angegangen  worden  wäre, 
meine  Hilfe  nicht  versagt,  aber  entschieden  gerathen  die  Heraus- 
gabe nicht  so  zu  beeilen,  um  anderes  nicht  zu  sagen. 

Auf  die  Vorrede  folget  das  Verzeichnis*  der  Auetores  praeci- 
pae  adhibiti,  (auf  acht  Seiten).  Bei  einem  Werke  dieser  Art 
fragt  sich  eigentlich  nicht,  welche  Schriftsteller  vorzüglich  adhihirt, 
sondern  ob  die  vorzüglichen  adhibirt  sind.  Zu  den  vorzüglichsten 
Schriften  gehören  hier  aber  die  editiones  prineipes,  besonders  bei 
solchen  Inschriften  die  nicht  mehr  vorhanden  sind,  dann  die 
avxoitxai  und  endlich  Sammelwerke.  Ich  muss  aber  gestehen,  dass 
von  diesen  Werken,  was  die  Mainzer  Inschriften  betrifft,  sehr  viele 
fehlen,  so  um  nur  aus  früheren  Jahrhunderten  anzuführen:  Blum- 
berg Ulis  Druso  —  aufgerichtete  Grabmal  1690 ,  zweite  Ausgabe 
1700;  Hiegell  collectanea  — «  Mog.  1697;  Tenzel  dialogi  menstrui 
1690;  Lazius  resp.  Rom.  1598  (dieser  ist  mit  Vorsicht  zu  gebrau- 
chen); Mömoires  de  la  soc.  des  antiq.  de  Cassel  1780;  Schunk, 
Beiträge  etc.  1787  u.  a.  m.  nicht  zu  gedenken  kleinerer  Schriften 
oder  der  Arbeiten  unseres  Jahrhunderts.  Unter  den  Mainzer  Schrift- 
stellern bespricht  er  hier  wie  billig  am  ersten  den  editor  priu- 
ceps  Huttich,  und  gibt  hier  14  Stellen  an,  wo  Huttich' s  zweite 
Ausgabe  von  der  ersten  abweicht,  mit  Beifügung  von  Apianus,  der 
nur  die  zweite  benutzte,  was,  wie  wir  schon  oben  sagten,  nicht 
richtig  ist;  auch  bemerken  wir,  dass  Huttich  in  der  zweiten  Aus- 
gabe mehr  Varianten  hat  als  der  Verf.  hier  meint  und  dass  auch 


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Brambach:  Corpus  Tnscriptt.  Rhenn.  165 

die  veränderte  Zeilenabtheiltrag  anzugeben  war,  indem  »einer  kri- 
tischen Untersuchung«  nicbt  gentigen  soll  anzugeben,  dies  sei 
plerumque  geschehen.  Wenn  der  Verfasser  weiter  beisetzt,  dass 
Johannis,  welcher  sonderbarer  Weise  unter  defl  Autoren  nicht  mit 
seinem  Namen,  sondern  unter  scriptores  aufgeführt  ist  und  falsch  immer 
Johannes  genannt  wird,  die  zweite  Ausgabe  Huttich  wiederholte, 
30  tibersah  er,  dass  Johannis  in  vier  Inschriften  keine  der  beiden 
Ausgaben  respectirte.  Wir  wollen  noch  einige  Kleinigkeiten  in 
diesem  Verzeichnisse  der  auctores,  immer  nur  bei  Mainzer  Sachen 
bemerken.  Bei  den  »Abbildungen  von  Mainzer  Altertbttmern«  war 
anzugeben,  dass  bereits  6  Hefte  erschienen  sind.  Bei  dem  »Anti- 
quarius  vom  Main  1740«,  den  der  Verfasser,  was  mich  wundert, 
nicht  auffand,  war  auch  der  »Antiquarius  vom  Rheine  nicht  zu 
vergessen.  Fuchs  Geschichte  von  Mainz  ist  nicht  4,  sondern  8. 
Der  Katalog  des  Mainzer  Museum  ist  nicht  1845  erschienen.  Eine 
meiner  Schriften  wird  ganz  mit  demselben  Titel  doppelt  angeführt, 
andere  fehlen.  Unter  den  Manuscripten  ist  kein  Mainzer  genannt, 
und  dennoch  gibt  es  solche  über  Inschriften  dahier  und  in  Frank- 
furt und  in  Wttrzburg  u.  a.  m.,  wie  der  Verfasser  aus  seinen  be- 
nutzten Büchern  abnehmen  konnte.  Steiner's  codex  ist  nicht  1852 
erschienen.  Endlich  vermissen  wir  noch  ungern  die  Anführung 
von  Zell  Inschriftenwerk  hier  in  den  Titeln,  freilich  ein  Werk  das 
in  Bonn  im  Verruf  ist!  Ueberbaupt  lag  dem  Verfasser,  was  hier 
im  allgemeinen  bemerkt  wird,  gar  nichts  daran,  die  hauptsäch- 
lichsten oder  recht  viele  Werke  über  die  vorgelegten  Inschriften 
einzusehen;  dass  man  manche  nur  schwer  erlangen  kann,  wissen 
wir  wohl;  aber  andere  wie  die  Periodischen  Blätter,  die  Vereins- 
raittheilungen ,  die  Quartalblätter  des  Mainzer  Kunstvereins  sind 
fast  noch  immer  umsonst  zu  erhalten;  andere  durch  den  Buch- 
handel, wie  Walthers  Darmstädter  Museum,  denn  wie  kann  einer 
die  dortigen  Inschriften  mit  Gewissenhaftigkeit  ediren  wollen, 
wenn  er  den  neuesten  Katalog  nicht  einsieht!  Allein  Herr  Bram- 
bach eilte. 

Auf  die  Vorrede  folgen  8  Seiten  Addenda  et  corrigenda;  sie 
enthalten  einmal  etwa  65  Inschriften  ,  von  denen  etwa  die  Hälfte 
früher  bekannt  war,  die  andern  im  Jahr  1865  und  1866  veröffent- 
licht wurden,  dann  stehen  hier  fast  100  Verbesserungen  und  Zu- 
sätze zu  den  folgenden  Inschriften ,  so  wie  noch  mehrere  Nach- 
träge aus  dem  neuesten  Nassauer  Heft.  Mir  scheint  ein  Buch  nicht 
genug  vorbereitet,  zu  welchem  der  Verf.  noch  während  des  Druckes 
fast  zweihundert  Nachträge  zu  liefern  für  nöthig  erachtet.  Ans 
Mainz  b'ndet  sich  hier  unter  andern  eine  Inschrift,  die  der  Verein 
im  Jahr  1865  erhalten  hat;  eine  andere,  welche  auf  dem  nämlichen 
citirten  Mainzer  Blatt  ebenfalls  steht,  ist  bereits  im  corpus ;  warum 
nicht  auch  jene?  Lachen  erregt  hier,  dass  der  Weinhändler  Salm 
durch  den  Verfasser  geadelt  wird;  auch  steht  die  Inschrift  nicht 
mehr  in  dessen  Garten,  wie  der  Verf.  aus  dem  citirten  Blatte  er- 


166 


Brambach:  Corpus  Inscrlptt.  Rbenn. 


sehen  konnte,  das  er  also  nicht  las.  Da  die  Dcdication  des  Werkes 
von  der  Mitte  Oktober  ist:  so  konnten  die  Inschriften,  die  während 
des  Sommers  anfgefnnden  wurden,  wohl  auch  hier  nachgetragen 
werden,  wenn  man  sich  etwas  hätte  umsehen  wollen,  allein  die 
Eile  erlaubte  solches  nicht:  ich  will  einige  hier  beifügen: 

MARTI  ET  VIG 
TORIAE  IN  HO 
NOR EM  DOMVS 
DIVINAE  L  ßlT 
TIVS  PAVLINVS 
ANVLAR  VOTO 
8VS0EPTO  POSIT 

■ 

« 

In  Oberolm  mit  noch  zwei  andern,  deren  Inschriften  hier  weg- 
bleiben mögen,  am  18.  Juni  gefunden  und  am  27.  bereits  in  den 
Mainzer  Unterhaltungsblättern  mitgetheilt. 

M  VAL  PVD . . . 
L  ANTO  PLACIDV8 
M  BIRACIVS  INVITVS 
C  SILVIVS  8ENECIO 
PLATIODANNI 
VTCI  NOVI  SVB 
CVRA  SVA  D  8 

Gefunden  am  12.  Juli  in  Mainz  und  am  28.  ebendaselbst  ver- 
öffentlicht. Was  das  Wort  der  5.  Zeile,  das  vollständig  und  ganz 
klar  ist,  bedeutet,  weiss  ich  nicht:  wahrscheinlich  ist  es  ein  colle- 
gium  der  vier  erwähnten  Männer  (Strassenaufseber  ?)  des  vici  novi 
d.  i.  Weisenau,  das  im  Jahr  1253  Vitzenove  hiess.  Diese  In- 
schriften theilte  ich  sogleich  einem  Vorstandsmitgliede  des  Bonner 
Vereins  mit;  er  hat  sie  wohl  an  Brambach  nicht  übergeben? 

Endlich  komme  ich  an  das  corpus  selbst;  doch  fürchte  man 
nicht,  dass  ich  es  im  Yerhältniss  zur  praefatio  bespreche :  ich  will 
ja  auch  nur  besonders  die  Mainzer  Inschriften  betrachten.  Vorerst 
wird  am  Bache  gerühmt:  ^dass  eine  bis  in  die  letzten  Consequen- 
zen  verfolgte  geographische  Anordnung  der  Inschriften  gewählt  sei, 
wie  sie  sonst  in  epigraphischen  Werken  mit  gleicher  Strenge  nicht 
durchgeführt  worden  ist.«  Dies  können  wir  nicht  sagen.  Das  Werk 
beginnt  zwar  mit  Holland ,  kommt  dann  nach  Preussen ,  Rhein- 
hessen u.  8.  w.  bis  in  die  Schweiz,  aber  in  den  einzelnen  Ländern 
sind  die  Orte  nicht  geographisch  geordnet,  z.  B.  wer  die  Orte 
kennt,  wird  nicht  aufeinanderfolgen  lassen ,  Hechtsheim ,  Latiben- 
heim,  Weisenau,  Jungenfelderau,  Bretzenheim;  dies  wäre  jedoch 
weniger  von  Gewicht ,  wenn  es  ein  Ortsverzeichniss  gäbe ,  wovon 
noch  spater.  Die  Mainzer  Inschriften  haben  die  Uebersehrift :  »Mo- 


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Brambach:  Corpus  Ioscriptt.  Rhenn. 


167 


gontiacum  et  Castellum  Mattiacorum ,  Mainz,  Zahlbach ,  Kastel.« 
genau  genommen  auch  nicht  consequent  geographisch;  auch  ist 
noch  ungewiss,  ob  Castell  jenen  Namen  führte:  ebenso  hätte  er 
Sieila  für  Zahlbach  ansetzen  können.  Ehe  die  Inschriften  aufge- 
führt werden,  steht  wie  auch  bei  andern  Städten  ein  alphabetisch 
geordnetes  Verzeichnis»  der  Strassen,  Plätze  kurz  der  Orte,  wo  die 
folgenden  Inschriften  gefunden  wurden,  eine  Neuerung  gegen  die 
früheren  Manieren,  worauf  wahrscheinlich  die  belobte  »consequente 
geographische  Anordnung«  gehen  soll,  die  auch  wir  loben  würden, 
wenn  sie  nur  mit  einiger  Lokalkenntniss  abgefasst  wäre;  auch  ist 
sie  alphabetisch,  was  auf  keinen  Fall  consequent  geographisch  sein 
kann.  Die  Stellen  sind  zuerst  in  intra  moenia  Mogont.  und  extra 
moenia  getheilt  und  hier  werden  die  Mainzer  Wnndorliches  und 
ihnen  ganz  Unverständliches  finden ;  es  stehen  nämlich  die  jetzigen 
Strassen  mitten  zwischen  den  unbekannten  Wohnungen  und  Häusern 
aus  dem  Jahr  1520.  Und  wenn  auoh  einer  weiss,  wo  Schüffers  Haus 
war  (Schustergasse),  oder  glaubt,  dass  Eitelwolf  de  lapide  im  Hause 
zum  Stein  (Zuchthaosstrasse  221)  gewohnt,  so  weiss  doch  Niemand 
mehr,  wo  Gerlach ,  Geyer,  Rosenbach  u.  s.  w.  gewohnt  haben  — 
oder  weiss  der  Verfasser  hierüber  Näheres?  —  und  dann  war 
zu  bemerken,  dass  die  Inschriften  im  Jahr  1520  dort  standen 
nicht  aber  dort  gefunden  wurden,  wie  die  oben  erwähnte  In- 
schrift aus  dem  Garten  von  Salm  ganz  wo  anders  und  viel  frü- 
her ausgegraben  wurde.  So  sind  von  den  82  Stellen ,  wo  nach 
dem  Verfasser  in  der  Stadt  Inschriften  aufgefunden  wurden,  über 
12  jetzt  unbestimmt,  weil  ihre  Benennung  aus  dem  Jahr  1520 
stammt;  einige  andere  fehlen.  Noch  trauriger  sieht  es  mit  den 
18  Stellen  extra  moenia  aus;  von  diesen  gehören  9  intra  moenia, 
die  loca  in  ipsis  moenibus  incerta  gehören  wohl  auch  intra  moenia. 
Zahlbach,  das  hier  steht,  liegt  freilich  ausserhalb  der  Mauern,  ist 
aber  ein  besonderer  Ort,  gehört  also  nicht  hierher.  Die  Kreuz- 
kirche steht  anch  hier  am  unrechten  Orte  u.  s.  w.  Wir  bedanern, 
dass  bei  dieser  Eintheilung  der  Verfasser  nicht  einen  Mainzer  um 
Rath  gefragt  oder  eine  genaue  Karte,  die  freilich  nicht  überall 
geholfen  hätte,  zu  Rathe  gezogen  hat.  So  ist  diese  geographische 
(?)  Scheidung  von  keinem  Nutzen,  weil  sie  weder  für  unsere  Zei- 
ten passt,  noch  genau  noch  vollständig  ist. 

Indem  wir  uns  jetzt  zu  den  Inschriften  wenden,  um  zu  Beben, 
»wie  die  Quellen  einer  kritischen  Untersuchung  unterworfen«  und 
wie  dieselben  benutzt  und  die  erhaltenen  Steine  »neu  untersucht« 
sind ;  wollen  wir  nicht  hie  und  da  eine  Inschrift  ausheben  und  an 
dieser  oder  jener  unsere  Bemerkungen  anknüpfen,  damit  man  nicht 
meine,  wir  suchten  nur  solche,  wo  wir  nicht  einverstanden  sind, 
oder  wo  wir  tadeln  können ,  sondern  wir  wollen  mit  der  ersten 
anlangen  und  auch  die  zunächst  folgenden  betrachten ,  indem  wir 
bei  ihnen  schon  finden  werden,  was  von  der  ganzen  Sammlung 
oder  doch  von  den  Mainzer  Steinen  kann  gesagt  werden.   In  der 


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Brambach:  Corp««  Iwcriptt.  Rhenn. 


I 

ersten  Mainzer  Inschrift  No.  974  steht  in  der  zweiten  Zeile  FESTNVS, 
indem  ein  I  über  dem  N  steht,  wie  Fuchs'  Zeichnung  gibt,  wäh- 
rend er  und  alle  folgenden  FESTINVS  schreiben;  der  Verfasser 
bat  die  Abbildung  vorgezogen,  wiewohl  bekanntlich  Fuchs  und 
Ältere  bei  den  Abbildungen  nicht  genau  sind;  in  der  folgenden 

Zeile  steht  CI,  welchen  Strich  über  I  weder  die  Abbildung  noch 
der  Text  von  Fuchs  haben ;  ich  weiss  auch  nicht,  was  er  bei  Bram- 
bach bedeutet.    Die  editio  princeps  ist  nicht  angeführt,  nämlich 
Hanris.  hist.  rom.  auch  nicht  Ring's  Preisschrift;  letztere  fehlt  unter 
den  auctores.    Endlich  steht  in  den  Anmerkungen  TABVLARIaM 
L.  Dies  soll  wohl  heissen  > Lehne  schreibt  tabulariam«,  er  hat  aber 
im  Text  tabularium  und  schlug  nur  in  einer  Anmerkung  TABVLARIAM 
vor.  —  Die  zweite  Inschrift  975  zeigt  GENIO  und  in  der  Aura. 
NO  Fuchs;  die  lateinische  editio  von  Fuchs,  die  der  Verf.  hier 
nicht  citirt,  wiewohl  sonst  gewöhnlich,  hat  GENIO,  was  doch  auch 
anzuführen  war;  hier  fehlt  wieder  Ring.  —  Bei  976  conjecturirt 
der  Verf.  MENENIVS,  wie  schon  vor  ihm  Becker,  was  anzuführen 
war;  andere  Conjecturen  sind  eben  so  wenig  erwähnt;  unten  ist 
einmal  B  statt  Lersch  zu  schreiben.  —  No.  977  ist  noch  im  Main- 
zer Museum,  wiewohl  der  Verfasser  ein  Fragezeichen  hinstellt,  und 
doch  in  Anmerkung  beisetzt  »gegenwärtig  ist  noch  wenig(er)  les- 
bar«;  daher  hätte  der  Verfasser  die  Inschrift  im  Museum  selbst 
betrachten  sollen.  —  Bei  dem  nächsten  steht  vidi,  wo  kein  Zwei- 
fel obliegt.  —  No.  979  ist  mehr  zu  bemerken,  denn  es  ist  ein 
Sarg,  was  auch  anzugeben  war,  vom  Jahr  1520,  welche  Angabe 
auch  fehlt ;  der  Verf  gibt  die  editio  princeps,  erwähnt  aber  weder 
hier  noch  sonstwo,  wie  derselbe  Huttich  in  der  zweiten  Ausgabe, 
oder  wie  andere  die  Zeilen  abtheilen,  was  doch  zur  Geschichte  der 
Inschriften  gehört.    Auch  habe  ich  weder  hier  noch  anderwärts 
herausgebracht,    nach  welchem  Gesetz  die  Varianten  angegeben 
werden;  hier  sind  nämlich  die  Lesarten  von  Ap.  Sm.  Gr.  ange- 
führt, nicht  aber  die  von  Fuchs,  Lehne,  Steiner;  endlich  fehlen 
hier  noch  drei  Editoren,  Johannis,  Lazius ,  Wien.  —  Aus  diesen 
ersten  Nummern  sehen  wir  zur  Genüge,  dass  der  Verfasser  ohne 
bestimmte  Grundsätze  die  Inschriften  sammelte  und,  »eine  kri- 
tische Untersuchung c  der  frühern  Lesarten  bei  den  verlornen  In- 
schriften fehlt.  Bei  diesen  muss  man  die  editio  princeps  zu  Grunde 
legen,  was  der  Verf.  auch  meistens  gethan  hat,  aber  dann  nicht 
nach  blosser  Willkühr  oder  »in  Eilec  die  eine  Lesart  eines  fol- 
,   genden  avxojttov  oder  Editors  anführen,  die  andere  nicht;  eher 
kann  man  bei  Conjektnren  mit  Auswahl  verfahren ;  besser  ist  aber 
besonders,  da  »eine  kritische  Untersuchung  und  eine  Rechenschaft 
der  Benutzung«  versprochen  ist,  bei  verlorenen  Inschriften  alle 
Conjekturen  vorzulegen ,  woran  der  Verfasser  bei  seiner  Eile  gar 
nicht  denken  konnte.    Ebenso  unbestimmt  sind  die  vorhandenen 
Inschriften  gegeben.  Hier  gentigte  die  Lesart  mitzutbeilen,  welche 


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Brambach:  Corpus  Iuecrlptt.  Rheim. 


der  Verfasser  abschrieb ;  nur  bei  zweifelhaften  Stellen  war  es  noth- 
weu&ig,  die  Lesart  der  frühern,  besonders  der  editio  princeps  an- 
zugeben ;  bei  solchen  unbestimmten  rausste  des  Verfassers  Autopsie 
eintreten,  besonders  in  Museen,  die  er  besuchte.  Wir  wollen  sehen, 
ob  diese  Grundsätze,  die  sich  jedem  Inschriftensammler  Ton  selbst 
ergeben  müssen,  beobachtet  sind.  No.  983  ist  eine  der  sehr  weni- 
gen Inschriften,  die  aus  Huttich's  Sammlung  (1520)  noch  erhalten 
sind.    Dieselbe  hat  der  Verfasser  im  Mainzer  Museum  verglichen. 
Wir  finden  aber  bei  seiner  Vergleichung  und  auch  bei  seinen  Be- 
merkungen manches  zu  erinnern :  Zeile  5  gibt  er  EVENTV  .  MIL. 
8o  hat  schon  ed.  pr.  Ap.  Joh.  was  der  Verf.  nicht  bemerkt;  Fuchs 
EVENTVI  was  wieder  nicht  bemerkt  ist   (obgleich   die  Stellen 
ausser  Job.  citirt  sind);  ihim  folgen  Lehne,  Külb,  was  bemerkt  ist ; 
auf  dem  Steine  stand  ohne  Zweifel  eher  EVENTVI  als  EVENTV, 
denn  es  ist  ein  grosser  Zwischenraum  zwischen  V  und  M,  der  nicht 
nur  durch  einen  Punkt  zu  ersetzen  ist ;  also  lesen  richtig  die  avronxai 
Fachs,  Lehne,  Kttlb.   In  der  8  Zeile  der  nümlichen  Inschrift  lesen 
alle  vor  Lehne  P  .  P  .  P  .  F ;  Lehne  PRP.F;  unser  Verf.  fand 
bei  der  Vergleichung  P  P  F ;  auf  dem  Steine  aber  sind  sichtbare 
ßpuren  von  R  zwischen  den  zwei  P.    Unten  bemerkt  der  Verf., 
dass  Hütt  ich  die  8  Zeilen  in  10  gebe,  richtig  für  die  erste  Aus- 
gabe, die  zweite  gibt  sie  in  9  Zeilen.    Wir  sehen  also,  dass  auch 
bei  den  vom  Verfasser  selbst  verglichenen  Inschriften  eine  noch- 
malige Vergleichung  wohl  nothwendig  ist,  sowie  dass  derselbe  wie 
bei  den  verloronen  Inschriften  in  seinen  Varianten  und  Bemerkun- 
gen willkürlich  und  ungenügend  verfahrt.  —  No.  985  ist  nicht 
mehr  vorhanden ,  also  fehlt  periit ;  dasselbe  gilt  noch  von  folgen- 
den No.  1065,  1066,  1083,  1084,  1085,  1086,  1088,  1089  (hier 
steht  periisse  videtur),  1091,  1105,  1115,  1120,  1121,  1123,  1125, 
1126,  1128,  1131,  1132,  1138,  1151  (in  Dieburg  weiss  näm- 
lich Niemand  etwas  von  diesem  Steine),  1190,  1210,  1240,  1245, 
1249,  1251,  1254,  1255,  1258,  1259,  1265,  1270,  1271,  1280, 
1287  (wo  periisse  opinor)  u.  s.  w.  bis  1309  wo  Mainz  und  Zahl- 
bach endet  Dass  diese  Steine  nicht  mehr  existiren,  kann  man  aus 
den  angezogenen  Schriften  ersehen.    Bei  andern  fehlt  die  Angabe, 
dass  sie  im  Mainzer  Museum  sind  oder  es  steht  dabei  ein  Frag- 
zeichen ,  da  der  Verf.  sie  doch  im  Museum  finden  konnte ,  z.  B. 
977,  1042,  1043,  1045,  1106,  1252,  1282,  1285  u.  s.  w.  End- 
lich sind  die  No.  1036,  1037,  (1109,  wo  der  Besitzer  nicht  an- 
gegeben ist)  1110,  1114,  1122  nicht  mehr  im  Besitz  der  Personen, 
die  bei  Brambach  erwähnt  sind.    Letzteres  konnte  man  nicht  aus . 
Büchern  ersehen,  sondern  man  musste  an  Ort  und  Stelle  sich  er- 
kundigen.   Mir  aber  genügt  eine  Ausgabe  nicht,  in  welcher  bei 
335  Nummern  über  50  Inschriften ,  was  Dasein  und  Ort  betrifft, 
das  Richtige  nicht  gegeben  ist. 

Wir  haben  oben  gesehen ,  wie  wir  bei  jeder  der  ersten  In- 
schriften bald  im  Text,  bald  in  den  Anmerkungen  eine  oder  die 


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170  Brambach:  Corpus  Inscrlptt.  Rheim 

andere  Berichtigung  und  Verbesserung  anbringen  konnten  und  so 
könnte  dies ,  wenn  wir  weitläufig  sein  wollten ,  beinah  tiberall 
geschehen,  doch  gentige  das  Oegebene  und  wir  wollen  noch  Eini- 
ges im  Allgemeinen  bemerken.  Der  Verfasser  hat  viele  In- 
schriften im  hiesigen  Museum  verglichen  oder  von  ihnen  Ab- 
drücke erhalten ,  von  vielen  aber  auch  nicht,  darunter  von  man- 
chen, deren  wiederholte  Vergleichung  wtinschenswerth  gewesen  wäre ; 
so  sind  No.  977,  1028,  1074,  1102—1105,  1109,  1112  b,  1113, 
1114,  1130,  1171,  1175,  1267,  1297,  welche  in  Mainz  sind,  und 
in  Wiesbaden  die  No.  1022,  1030,  1032,  1041,  1042  u.  8.  w. 
nicht  verglichen,  nicht  zu  gedenken  der  Mainzer  Inschriften,  welche 
in  Mannheim,  Kassel  und  an  andern  Orten  sind  (doch  in  Mann- 
heim hat  Brambach  einige  betrachtet)  ;  auch  tibergehen  wir  hier 
jene  Steine,  von  denen  ihm  ein  Papierabdruck  vorgelegen.  Wir 
wollen  einige  anführen,  wo  seine  Vergleichung  nützlich  gewesen 

ENA  Fuchs  gab  IV  ENA  mit 


wäre.  No.  1104  steht  Zeile  3  IV| 
kleinem  Zwischenraum,  ich  IVENA;  hätte  Brambach  den  Stein, 
der  schwer  zu  sehen  ist,  verglichen,  ich  würde  seine  Lesart  vor- 
ziehen. No.  1130  v.  5  gibt  er  MOC,  alle  andern  MOU;  es  ist  wich- 
tig, wie  hier  steht  (vgl.  1067).  Noch  mehr  hätten  wir  eine  neue 
Vergleichung  gewünscht  bei  solchen  Mainzer  Inschriften ,  die  in 
Mannheim,  Kassel,  Darmstadt  sind.  Doch  müssen  wir  leider  wei- 
ter gestehen ,  dass  Brambachs  Vergleichung  oft  nicht  befriedigt, 
d.  h.  das  richtige  nicht  gibt,  wohl  weil  sie  in  Eile  geschehen  ist. 
So  hat,  um  noch  einige  Beispiele  anzuführen  No.  981,  welche  Bram- 
bach abschrieb,  in  v.  1  nicht  Annaeus,  sondern  Annaus,  daher  im 
index  Annaeus  unrichtig  steht,  da  es  ohne  dies  kein  nomen  gentile, 
sondern  ein  barbarischer  Name  ist ;  v.  2  steht  deutlich  F  nicht  I, 
endlich  v.  3  BETA8I.  mit  Punkt,  statt  dessen  Brambach  Spuren 
von  V  schreibt,  die  freilich  nach  dem  Punkte  zu  folgen  scheinen. 
Unter  den  Herausgebern  fehlt  hier  Kat.  122.  —  No.  99  b.  steht 
v.  7  TAD  nicht  TAA ,  wie  Brambach  nach  einem  Abklatsch  gibt 
—  No.  1002  war  Zeile  v.  7  ET  nicht  wegzulassen,  wenn  es  schon 
jetzt  übertüncht  ist;  in  der  Ann.  steht  unrichtig,  dass  ich  in  der 
Mainzer  Zeitschrift  SATYRN  habe,  während  sie  SATVRNIN  gibt 
u  s.  w.  um  nicht  das  erste  hundert  zu  überschreiten,  unter  denen 
bei  40  nicht  mehr  vorhanden  und  viele  so  klar  sind,  dass  keine 
Abweichung  oder  Vergleichung  nöthig  war.  Bei  den  Zahlbacher 
Steinen,  bei  denen  in  Wiesbaden  u.  s.  w.  könnten  wir  noch  viel 
mehreres  mittbeilen,  was  unrichtig  oder  zweifelhaft  gelesen  ist. 
(Das  Wiesbadner  Museum  untersuchte  er  nicht,  wie  wohl  dort  über 
70  Nummern  stehen;  und  das  h  eis  st  »eine  neue  Untersuchung  < !) 
Uebrigens  geRtehen  wir  gerne,  dass  die  wiederholte  Vergleichung 
mehreren  Steinen  zum  Vortheil  gereicht  hat,  dass  der  junge  Mann 
manches  richtiger  gelesen  hat  als  dio  frühern  wie  Lehne,  Ktilb, 
Becker,  ich.  In  so  fern  hat  die  neue  Ausgabe  einiges  Verdienst. 
Sonst  aber  wtisste  ich  wenig  an  ihr  zu  rühmen.    Namentlich  lag 


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Brambach:  Corpus  Inscriptt.  Rhena 


171 


e*  nicht  im  Plane  des  Verf.  zur  Erklärung  der  Inschriften  Beiträge 
m  Uefera,  was  wir  um  so  mehr  bedauern,  da  Brambach  in  kleinen 
Schriften  schon  manches  Brauchbare  Uber  die  rheinischen  Steine 
veröffentlicht  hatte.  Ebenso  sind  die  Erklärungen  anderer  frühe- 
ren fast  nirgends  erwähnt,  so  dass  man  beim  Gebrauch  dieses 
Buches  die  andern  Ausgaben  nicht  entbehren  kann;  es  gehört  je- 
doch zur  Geschichte  der  Steine,  auch  ihre  früheren  Deutungen  zu 
notiren  und  zu  wissen,  ßbenso  gehört  zur  Geschichte  der  Inschrift 
anzugeben,  wenn  irgend  wo  eine  Abbildung  vorliegt,  was  nur  höchst 
selten  bemerkt  ist.  Bei  einigen  ist  nicht  angegeben,  dass  die  In- 
schrift metrische  Theile  enthält  wie  1052,  1053,  1239,  1243.  Dass 
nicht  alle  Editoren  immer  citirt  sind,  haben  wir  schon  gesagt, 
können  auch  nicht  erwarten,  dass  man  immer  weiss,  wo  jede  In- 
schrift einmal  gedruckt  wurde;  ich  meine  aber,  die  Herausgeber 
seien  nach  chronologischer  Ordnung  zu  stelleu,  die  editio  prineeps 
immer  zuerst,  was  sehr  oft  nicht  geschehen  ist.  Noch  einzelne  Be- 
merkungen, welche  theilweise  obenhin  schon  gehörten.  Es  gibt 
noch  keinen  dritten  Band  der  Mainzer  Zeitschrift  wie  No.  1034 
u.  8.  256  steht.  No.  1052  und  1053  halten  wir  die  Abbildung 
nicht  für  einer  genius,  sondern  für  das  Kind.  No.  1002  ist  nicht 
anf  dem  Markte  gefanden;  dieser  ist  nicht  gleich  dem  Höfchen 
wie  998  steht.  Die  Jabresangabe  der  Auffindung  fehlt  sehr  oft, 
z.B.  976,  977,  978,  979  a,  981,  984  bei  vorhandenen,  ebenso  bei 
verlornen  die  Zeit  ihrer  Entdeckung  oder  ersten  Bekanntmachung, 
z.  B.  980,  983  (um  nicht  die  zehn  erston  Inschriften  zu  über- 
schreiten). Gewöhnlich  ist  nicht  angegeben,  dass  die  Inschrift  auf 
einem  Sarge  steht  wie  979,  1048,  1071,  1081,  1088,  1121,  1238 
(1241  steht,  ohne  Deckel,  hier  in  v.  8  steht  FILIIETHE  nicht 
PILITETHE  wie  der  Verf.  gibt)  u.  s.  w.  Auch  genügt  mir  nicht 
zur  Beschreibung  des  Bildes,  wenn  da  steht  armatus,  aquilifer 
oder  ähnlich;  ich  meine,  das  Bild  wäre  mit  mehreren  Worten  zu 
beschreiben  u.  s.  w.  < 

Wir  übergehen,  nm  weiter  zu  kommen ,  vieles  bei  den  Main- 
zer, und  schier  alles,  was  wir  bei  den  Zahlbacher  und  Kassteler  In- 
schriften zu  bemerken  hätten  und  finden  am  Ende  derselben  die 
laterculi  nach  den  Legionen  zusammengestellt,  wobei  also  »die 
geographische  Anordnung  in  letzter  Consequenzt  nicht  beobachtet 
ist.  Aebnliches  gilt  vom  letzten  Abschnitt,  der  die  columnae  mi- 
Hariae  enthält,  wo  sämmtliche  Meilensteine  des  Rheingebietes 
aufgeführt  werden  ,  ohne  dass  vorn  irgend  angegeben  ist ,  wo 
der  Meilenstein  nach  Fundort  hin  gehöre,  was  doch  zu  wünschen 
gewesen  wäre.  Die  Zusammenstellung  war  hier  gerade  nicht  noth- 
wendig,  weil  Brambach  im  Jahr  1865  eine  besondere  Abhandlung 
Ober  diese  Inschriften  veröffentlicht  hatte,  die  hier  vollständig  zu 
Grunde  liegt.  Hier  können  wir  die  Kürze  und  Eile  eher  entschul- 
den, daher  wird  nicht  angegeben ,  warum  No.  1965  dem  obern 
Germanien  abgesprochen  wird;  wir  setzteu  ihn  nach  Niederingel- 


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Brambach:  Corpus  Inscriptt.  Rhenn. 


heim,  was  nicht  beigefügt  wird ,  Dttntzer  nach  Mainz ,  was  ange- 
geben ist.  Ebenso  steht  bei  dem  folgenden  nicht,  dass  die  Mainzer 
Zeitschrift  ihm  das  J.  219  anweist,  was  ich  um  so  mehr  angemerkt 
wünschte ,  als  die  Vermuthung  von  Brambachs  oben  erwähntem 
Mitconcurrenten  Dr.  Bone  herrührt.  Aber  der  Verfasser  beküm- 
mert sieh  wenig  um  die  Ansichten  Anderer;  er  gibt  keine  eigenen 
Erklärungen,  die  anderen  lässt  er  hinweg. 

Am  Schlüsse  des  Werkes  folgen  appendices,  welche  enthalten 
loca  incerta  (hier  ist  ein  Würfel  in  Wiesbaden  erwähnt,  No.  2006, 
der  ohne  Zweifel  nicht  römisch  ist;  Brambach  hätte  ihn  dort 
sehen  sollen,  allein  er  las  daselbst  nur  eine  Inschrift),  nomina 
lapioidarum  Augustaa  Trevirorum  repertae  (sollten  bei  Trier 
stehen) ,  inscriptiones  aliunde  in  terras  Rhenanas  inlatae  (hier 
sind  die  Inschriften  nicht  angeführt ,  sondern  angegeben ,  wo  sie 
stehen ,  ausser  einer) ;  inscriptiones  falso  pro  Rhenanis  habitae 
(wie  so  eben) ;  inscriptiones  graecae  litteris  latinis  exaratae 
et  amuletum  hebraico- latinum  und  endlich  inscriptiones  spuriae. 
Hier  findet  sich  mit  Rocht  unser  berühmter  Stein  in  memoriam 
Drusi  Germanici ,  wiewohl  nach  Hiegell's  Angabo  im  Jahr  1688 
ein  echter  Stein  mit  derselben  [nschrift  dabier  gewesen  war,  also 
vorn  erwähnt  werden  musste.  Warum  das  Bronztäfelchen  Apollini 
Melpom.  etc.  unecht  sein  soll,  sehe  ich  nicht  ein ;  Brambach  hätte 
es  im  Museum  in  Mainz  ansehen  müssen.  Ueber  No.  37  gibt  es  eine 
ganze  Literatur,  von  dor  hier  fast  nichts  steht ;  diese  hätte  man 
als  längst  für  falsch  anerkannt  (vgl.  was  ich  schrieb  Bonn.  Jahrb. 
XVII.  S.  206),  weglassen  können.  Bei  dem  folgenden  No.  hätte 
sollen  bemerkt  werden ,  dass  die  Punkte  unten  stehen,  wie  in  der 
Mainzer  Zeitschrift  angegeben  ist. 

Die  Indices,  deren  es  fünfzehn  sind,  wurden  mit  Fleiss  aus- 
gearbeitet, uud  da  wollen  wir  nicht  kleinlich  suchen,  welches  Wort 
fehlt  oder  ob  vielleicht  eines  an  unpassender  Stelle  steht.  Dagegen 
beklagen  wir  sohr,  dass  ein  index  locorura  fehlt,  so  dass  man  das 
ganze  Buch  oder  die  betreffende  Gegend  durchsuchen  muss,  um 
den  Ort  zu  finden,  dessen  Inschriften  man  will  kennen  leruen. 
Durch  diesen  Mangel  ist  der  Gebrauch  des  Buches  wesentlich  er- 
schwert, und  wir  vermissen  diesen  index  locorum  so  sehr,  dass  wir 
den  Verein  in  Bonn  bitten ,  einen  solchen  nachliefern  zu  lassen ; 
er  würde  sich  dadurch  den  Dank  der  Besitzer  des  Werkes  in  hohem 
Masse  verdienen. 

Nach  dem,  was  wir  bis  hieher  über  die  Mainzer  Inschriften 
sagten,  folgt  von  selbst,  dass'weder  das,  was  bei  der  Ankündigung 
und  Versendung  versprochen  worden  ist,  noch  was  man  von  einem 
corpus  in8criptionum  überhaupt  erwarten  kann,  geleistet  worden  ist, 
noch  vom  Verfasser  geleistet  werden  konnte:  denn  das  Buch  ist 
in  Eile  entstanden.  Und  da  bedauern  wir  nicht  wenig  den  Ver- 
fasser, dass  er  bei  seinem  grossen  Fleisse  und  seinen  schönen 
Keuntnissen  nicht  befriedigt  und  nicht  befriedigen  konnte;  man 


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Brambach:  Corpus  Inscriptt  Rheim. 


173 


kann  bei  dem  angestrengtesten  Fleisse,  den  sicher  der  jnnge  Ver- 
fasser anwendete,  nicht  in  einem  viertel  oder  halben  Jahre  die 
Inschriften  von  Mainz  und  der  Umgegend  nach  Geschichte  und 
Kritik  erschöpfend  behandeln;  das  hätte  der  Verfasser  schon  bei 
den  holländischen  Inschriften  einsehen  sollen,  wiewohl  dort  Janssen's 
treffliche  Vorarbeiten  vorlagen.  Es  ist  nicht  genug  in  einigen 
Museen  einige  Inschriften  zu  sehen,  andere  nicht ;  von  einigen  sich 
Abdrücke  zu  verschaffen,  von  andern  nicht.  Viele  Inschriften  be- 
dürfen keiner  Autopsie,  wie  denn  dies  von  vielen  Mainzern  gilt, 
die  der  Verfasser  ganz  unnöthigerweise  abgeschrieben  hat.  Dagegen 
gibt  es  nicht  wenige,  wo  eine  Vergleichung  nothwendig  erscheint, 
and  diese  muss  man  kenneu,  ehe  man  ein  Museum  betritt,  damit 
man  weiss,  was  hier  zu  thun  ist;  diese  zweifelhaften  mussten  alle 
und  (Iberall  angesehen  und  abgeschrieben  werden,  wenn  wahr  seiu 
soll,  dass  »die  erhaltenen  Momente  aufs  neue  geprüft«,  was  von 
sehr  vielen  nicht  gesagt  werden  kann.  Da  der  Verfasser  ein  schar- 
fes Auge  hat,  so  beklagen  wir  sehr,  dass  er  diese  Inschriften  nicht 
verglichen  hat,  um  so  mehr,  da  manche  bessere  Lesarten  durch 
ihn  gewonnen  wurden.  Denn  wir  erkennen  mit  Freuden  an,  dass 
der  Verf  sowohl  bei  manchen  erhaltenen  als  auch  bei  einigen  ver- 
lorenen das  ßiehtige  gefunden  hat  —  nicht  bei  40  unter  den  400 
Mainzern.  Dies  ist  fast  auch  der  ganze  Gewinn  bei  dem  theuern 
Bache.  Denn  für  Erklärung  ist  äusserst  wenig  geschehen,  dies  lag 
nicht  im  Plane  des  Herausgebers,  was  nicht  zu  loben  ist;  beson- 
ders da  wie  schon  gesagt,  die  frühem  Erklärungen  fast  alle  igno- 
rirt  sind,  so  dass  die  frühern  Ausgaben  nicht  entbehrt  werden 
können,  was  doch  z.  B.  von  Mommsens  helvetischen  Inschrifteu 
gesagt  werden  dürfte.  Diese  und  andere  Mängol  schreiben  wir  der 
Eile  zu,  mit  der  dieses  Werk  ins  Leben  gerufen  wurde:  denn  an 
Fleiss  fehlte  es  dem  Verf.  nicht;  und  so  sind  wohl  nur  wenige 
Inschriften  vergessen  d.  h.  in  den  betreffenden  Büchern  nicht  be- 
merkt worden;  von  hier  vermissen  wir  fasst  nur  einen  Ring  mit 
D.  HEBGVLI  (vgl.  Mainzer  Zeitschrift  I.  8.  506).  Dagegen  schrei- 
ben wir  derselben  Eile  zu,  dass  die  Töpfernamen  ganz  weggelassen 
sind,  denn  die  Bemerkung,  sie  seien  in  Fröhners  Büchlein  enthal- 
ten, hätte  bei  dem  Tadel,  den  dieses  findet,  vielmehr  auffordern 
sollen,  die  Töpfernamen  mit  geographischer  Consequenz  mitzuthei- 
len.  Aus  demselben  Grunde  fehlen  wohl  auch  die  christlichen  In- 
schriften; und  doch  gehören  manche  dieser  namentlich  in  Trier 
bis  in  die  römische  Zeit  hinauf. 

Schliesslich  wiederholen  wir,  dass  wir  nicht  gerne  vorliegen- 
des nicht  gelindes  Urtheil  abgegeben  haben ;  und  was  wir  über 
die  Maiuzer  Inschriften  bemerkten,  glauben  wir  ebenso  über  die 
andern  mittelrheinischen,  die  uns  näher  bekannt  sind,  wie  die 
Aassauischen,  Ober-  und  Kurhessischen,  Badischen,  Bayerischen  etc. 
beweisen  zu  können.  Ob  die  niederrheinischen  Inschriften  mit  mehr 
Sorgfalt  und  Genauigkeit  gegeben  sind,  überlassen  wir  den  dorti- 


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174  Welsai  Beiträge  sur  Kenntnis  der  FeldspathbÜdung. 

gen  Gelehrten  zn  beurtheilen  und  wünschen,  dass  überall  eine  ge- 
naue Betrachtung   vorliegenden  Buches  geschehe ,    schon  damit 
Mommsens  Edition,  die  hoffentlich  durch  diese  Concurrenz  nicht 
unterlassen  wird,  endlich  ein  Werk  liefere,  das  den  Anforderungen 
entspricht  und  so  viel  als  möglich  die  Benutzung  der  vorhergehen- 
den Ausgaben  unnöthig  macht.  Prof.  Bit  schl,  dessen  Vorrede  auf 
dem  Titel  angezeigt  ist,  hat  eigentlich  keine  zu  dem  Buche  geschrie- 
ben.   Denn  was  als  Vorwort  in  deutscher  Sprache  von  ihm  zum 
prospeotus  beigegeben  und  hier  beigebunden  ist,  ersetzt  nicht,  was 
auf  dem  Titel  versprochen  wurde.    Derselbe  hat  bald  nach  dem 
Erscheinen  dos  Werkes  im  Leipziger  Centraiblatte  S.  1380  (vom 
15.  Dec.)  eine  Erklärung  gegeben,  deren  Bedeutung  ich  nicht  ganz 
erratben  kann;  sie  bezieht  sich  auf  die  Dedikation  von  Brambach 
und  das  Vorwort  von  Ritschi.  Druck  und  Papier  sind  gut  und  schön ; 
das  Werk  gerade  nicht  wohlfeil. 

Anm.  Im  neuesten  Monatsbericht  der  Berliner  Akademie  1866. 
S.  758  steht,  dass  nicht  Mommsen,  wie  ich  bisher  mit  Grund 
annahm,  sondern  Hübner  die  Inschriften  von  Britannien,  Gallien 
und  Germanien  ediren  wird.  Klein. 


Beiträgt  *wr  Kenntniss  der  Feldspath- Bildung  und  Ampenduna  auf 
die  Entstehung  von  Quarztrachyt  und  Quarzporphyr.  Von  Ch. 
E.  Weiss,  Dr..ph.t  Lehrer  an  der  k.  Berqschule  tu  Saar- 
brücken. Eine  von  der  holländischen  Gesellschaß  zu  Haar- 
lem  am  19.  Mai  gekrönte  Preisschrift.  Mit  zwei  Tafeln  (Natuur- 
kundta*  Verhandelten ,  Deel  XXV).  Haarlem ,  De  Erven 
Loosjes.  1866.  4.  S.  167. 

Die  holländische  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Haarlem 
hatte  schon  seit  mehreren  Jahren  wiederholt  folgende  Frage  ge- 
stellt: ȧeaucoupde  roches  laissent  encore  les  naturaliates  en  doute, 
si  elles  ont  ete  deposees  d'une  dissolution  de  l'eau,  ou  bien  se  sont 
solidifi^es  apres  une  fusion  par  la  chaleur.  La  Sociöte  dösire  qu'une 
de  oes  reches  au  ohoix  de  l'auteur  soit  soumise  a  des  recherches 
qui  menent  a  decider  avec  certitude  sur  son  origiue  et  qui  c'est 
possible,   jettent  aussi  quelque  lumiere  sur  celle  d'autres  roches 
plus  ou  moins  analogues.«    Es  berührt  diese  Frage  mithin  einen 
Gegenstand   der  in  den  letzten  Jahren  Chemiker  und  Geologen 
vielfach  beschäftigt  bat  —  die  Entstehung  der  krystallinischen  Ge- 
steine. E.  Weiss  bespricht  in  seiner  gründlichen  Abhandlung  in 
der  Einleitung  die  verschiedenen  Theorien,  welche  zeither  über  die 
Genesis  der  krystallinischen  Gesteine  aufgestellt  wurden  und  führt 
dann  alle  die  Mittel  an,  deren  man  sich  zur  Lösung  einer  so  wich- 
tigen Frage  bediente.    Unter  diesen  sind  es  nun  die  zuerst  von 


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Weiss:  Beitrage  wir  Kenntnis«  der  Feidapethbildung.  116 

Descloizeaux  augestellten  merkwürdigen  Untersuchungen ;  sie 
gründen  sich  auf  die  Thatsacbe,  dass  die  optischen  Axen  des  recht- 
winklig spaltenden  Feldspathes  durch  Glühen  gewisse  Veränderun- 
gen erleiden,  so  dass  man  im  Stande  ist  durch  Beobachtung  der 
Lage  der  optischen  Axen  zu  beurtheilen .  ob  ein  Feldspath  seit 
seinem  Festwerden  geglüht  habe  oder  nicht.  Die  interessanten 
Entdeckungen  von  Descloizeaux  hat  nun  E.  Weiss  eben  in 
Bezug  auf  die  von  der  holländischen  Gesellschaft  der  Wissenschaf- 
ten gestellte  Frage  weiter  verfolgt.  Die  Methode  der  Untersuchung 
beschreibt  der  Verfasser  in  vorliegender  Schrift  ausführlich;  von 
mehr  denn  200  Feldspathen  aus  den  verschiedensten  Gesteinen 
wurden  Dünnschliffe  angefertigt,  um  sie  optisch  zu  prüfen. 

Der  erste  Abschnitt  der  Preissschrift  von  Weiss  enthält  eine 
üebersicht  der  optischen  und  geognostischen  Beobachtungen  (S.  84 
—  100).  Weiss  nennt  das  Verhalten  eines  Minerals,  wenn  es  der 
Art  ist,  dass  während  Erhöhung  seiner  Temperatur  der  (scharfe) 
Winkel  der  wahren  optischen  Axen  zunimmt,  dagegen  bei  Abnahme 
der  Temperatur  gleichfalls  abnimmt,  ein  analoges,  jenes  Ver- 
halten aber,  dass  die  Axen  sich  nähern,  während  die  Temperatur 
wächst,  umgekehrt  sich  von  einander  entfernen,  wenn  die  Tempe- 
ratur sinkt,  ein  antilogee. 

Aus  seinen  optischen  Untersuchungen  zieht  nun  der  Verf.  eine 
Reihe  sehr  wichtiger  physikalischer  und  geologischer  Folgerungen. 
Wir  gedenken  hier  nur  der  geologischen  Resultate  insofern  sie  für 
die  Bildungsgeschichte  des  Feldspath  von  Bedeutung  sind.  Wenn 
man  die  optischen  Eigenschaften  der  Feldspatbe  zur  Erklärung 
ihrer  Entstehungsweise  benutzen  will,  so  muss  man  ein  besonderes 
Gewicht  auf  drei  Faktoren  legen:  das  antiloge  oder  analoge 
Verhalten  der  optischen  Axen  beim  Erwärmen;  die 
Grösse  des  Ax  en  winkels  und  denGrad  ih  rer  Empfind- 
lichkeit. In  der  Natur  findet  sich  nun  eine  fortlaufende  Reihe 
von  Feldspathen,  welche  nach  Lage  und  Grösse  des  Axenwinkels 
alle  möglichen  Grade  der  Temperatur  anzeigen  würden,  die  bei  oder 
seit  Entstehung  der  Krystalle  sie  heimgesucht  hat,  von  einer  Tem- 
peratur noch  weit  vor  der  Glühhitze  bis  zu  solcher,  welche, 
etwa  beim  Schmelzen  des  Kupfers  erreicht  wird.  Also  optisch  aus- 
gedrückt: es  finden  sich  alle  möglichen  Winkel  von  der  grössten 
der  antilogen  Periode  bis  zu  ziemlich  grossen  der  analogen.  Diese 
Reibe  wird  noch  mannigfaltiger  durch  die  Empfindlichkeit  mit  wel- 
cher noch  jetzt  die  Krystalle  in  höherem  oder  geringerem  Grade 
den  Einflüssen  der  Wärme  nachgeben.  Wenn  man  diese  mit  be- 
rücksichtigt, kann  man  aus  Grösse  und  Lage  des  Axenwinkels  noch 
keinen  Scbluss  auf  die  Höhe  der  erlittenen  Wärme  ziehen,  da  mög- 
licher Weise  ein  mit  noch  grossem  Winkel  versehener  antiloger 
KrvstaJI  bei  sehr  geringer  Empfindlichkeit  derselben  hohen  Tem- 
peratur ausgesetzt  gewesen  sei,  als  ein  sehr  empfindlicher  analoger 


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176  Weiss:  Beiträge  «ur  Kenntnis*  der  Feldspathbildtmg. 

Krystall,  weil  von  zwei  derselben  Glühhitze  gleich  lange  ausge- 
setzten Krystallen  der  empfindlichere  die  grössten  Eindrücke  er- 
halten wird.  —  Es  sind  nun  die  meisten  Kry  stalle  antilog; 
viele  besitzen  einen  so  beträchtlichen  Axenwinkel,  dass  man  an  die 
gewaltigen  Glutben ,  wie  die  alte  plutonische  Theorie  sie  voraus- 
setzte, gar  nicht  denken  kann.    Dahin  gehören  die  Feldspathe  aus 
Granit,  Gneiss,  Syenit,  aber  auch  viele  glasige  Feldspathe  aus  Tra- 
chyten,  Phonolithen,  während  hingegen  andere  Feldspathe  aus  Por- 
phyren, Pechsteinen,  Trachyten  sich  mit  ihrem  Winkel  der  Grenze 
Null  sehr  nähern  und   so  entschieden  Gluthspuren  zu  erkennen 
geben  ;  merkwürdig  ist,  dass  der  bekannte  künstliche  Feldspath  von 
Sangerhausen  die  stärksten  Gluthspuren  zeigt ;  er  ist  stark  analog 
mit  grossem  Axenwinkel.    Beachtung  verdienen  jene  Fälle,  wo  ein 
und  derselbe  Kry  stall  mit  wesentlich  verschiedenen  Stellen  versehen 
ist,  analoge  neben  antilogen  Stellen  zeigt,  oder  antiloge  mit  sehr 
verschiedeneu  Axenwinkel.  Diese  Fälle  haben  mit  Zwiliingsbildung 
nichts  gemein.  Gewöhnlich  zeigen  dann  die  analogon  oder  voraus- 
geschrittenen Stellen  grössere  Empfindlichkeit,  als  die  zurückge- 
bliebenen antilogen.    Dass  im  nämlichen  Gesteine  Krystalle  sich 
ausgeschieden  finden  in  ihren  optischen  Eigenschaften  sehr  differi- 
rend  darf  nicht  befremden.  Die  Erklärung  aller  derartigen  Erschei- 
nungen ergibt  sich  aus  der  so  verschiedenen  thermischen  Empfind- 
lichkeit und  es  lassen  Krystalle  mit  Recht  auf  Gluthen  schlies- 
sen,  denen  sie  ausgesetzt  waren,  mögen  sie  stark  oder  schwach 
gewesen  sein.  Man  könnte  vielleicht  annehmen,  dass  die  Verschie- 
denheit der  Stellen  eine  begonnene  —  chemische  oder  physikalisohe 
Umwandlung  —  bekunden.  »Bei  Annahme  dieser  Erklärung  —  so 
bemerkt  Weiss  ausdrücklich  —  würden  Schwierigkeiten  eutstehen, 
um  z.  B.  den  Kern  eines  analogen  Krystalls  in  den  antilogen  Zu- 
stand zurückzuführen,   während  der  Mantel   seinen  ersten  Zu- 
stand behält.    Man  würde  entweder  damit,  oder  wenn  man  das 
ganze  Descloizeaux'  sehe  Gesetz  oder  vielmehr  dessen  ümkehrung 
—  dass  ein  antiloger  Krystall  nicht  oder  nur  schwach,  ein  analoger 
stark  geglüht  habe  —  leugnen  wollte,  mit  diesem  Widerspruche  zu 
unerwiesonen ,  vielleicht  unerweisbaren  Annahmen  seine  Zuflucht 
nehmen  müssen,  während  jetzt  Alles  aus  sich  selbst  erklärt.« 

(8chlu8s  folgt.) 


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Ii.  12.  HEIDELBERGER  M»- 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Weiss:  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Feldspathbildung. 


(Schlues.) 

Aus  Allem  geht  aber  unzweifelhaft  hervor  dass:  1)  das  Vor- 
kommen der  Sanidine  in  trachytiscben  Laven  den  Schiusa  widerlegt, 
es  könnten  Phonolith,  Trachyt,  Porphyr  und  Granit  keiner  der 
Gluth  nur  irgend  genährten  Temperatur  ausgesetzt  gewesen  sein, 
weil  ihre  Feldspathe  keine  Glutspuren  tragen.  2)  Die  Temperatur 
in  der  sich  die  Feldspathe  in  den  genannten  Gesteinen  von  Halle, 
Meissen,  Zwickau,  Ungarn,  Siebenbürgen  u.  s.  w.  ausschieden,  war 
keine  so  hohe  als  erforderlich  ist,  um  diese  Gesteine  in  trocknen 
Flnss  zu  bringen,  sondern  im  Ganzen  nur  schwache  Rothglühhitze, 
wahrscheinlich  entsprechend  der  Rothgluth ;  möglich ,  dass  diese 
Hitze  in  manchen  Fällen  nicht  erreicht,  in  andern  überschritten 
wurde.  Der  Schluss,  es  müsse  der  Erstarrungspunkt  bedeutend 
anter  dem  Schmelzpunkt  liegen  ist,  wie  bekannt  schon  früher  von 
Scheerer  u.  A.  gezogen  werden  und  wird  bei  Gegenwart  von  Was- 
ser anwendbar. 

Den  zweiten  Abschnitt  der  Abhandlung  von  We  is  s  bilden  nun 
die  Mittheilungen  Über  Quarztrachyt  und  Quarzporphyr:  es  ist  die 
Anwendung  der  gewonnenen  optischen  Resultate  auf  die  Entstehung 
krystallinischer  Gesteine,  wofür  als  Beispiel  die  beiden  genannten 
Felsarten  gewählt  wurden     Und  hier  liefern  nun  zunächst  für  die 
Quarztrachyte   eben   die   optischen   Verhältnisse   der  Feldspathe 
directe  Beweise  einer  noch  nach  oder  bei  dem  Krystallisiren  statt- 
gefundenen Gluth  —  mag  solche  noch  so  niedrig  gewesen  sein. 
Gegenwart  und  Mitwirkung  von  Wasser  bei  der  krystallinischen 
Ausbildung  ist  als  noth wendig  anzusehen.  Die  Krystallisation  des 
Quarzes  ist  endlich  kein  Beweis  gegen  den  ehemaligen  Schmelzfuss 
—  es  schwindet  also  auch  dieser  Zweifel  an  der  Ausscheidung  der 
Gemengtheile  bei  höherer  Temperatur.    Für  den  Quarzporphyr  ist 
eine  ähnliche  Entstehungsweise  anzunehmen,  der  ja  in  petrogra- 
phischer  Beziehung,  in  den  optischen  Eigenschaften  der  eingewach- 
senen Feldspathe,  in  Lagerungsform  so  mannigfache  Analogien  mit 
Quarztrachyt  zeigt.    Für  beide  Gesteine  ist  keine  Bildung  oder 
Ausbildung  aus  kalter  wässeriger  Lösung  denkbar ;  es  herrschte  viel- 
mehr noch  hohe  Temperatur,  als  die  Eruption  derselben  statt  fand 
and  als  sie  krystallisirten,  so  hoch,  dass  alle  Feldspathe  Glutspuren 
fragen,  bald  stärkere,  bald  schwächere ;  aber  auch  so  niedrig,  dass 
IX  Jahrg.  8.  Heft  12 


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178 


Bolza:  Canzoni  ComaschL 


Wasserwirkungen  gleichzeitig  möglich  waren.  Die  Thatsachen  spre- 
chen sogar  dafür,  dass  bei  Bildung  von  Quarzporpbyr  Hitze  and 
Wasser,  resp.  Wasser  dämpfe  vereint  wirkten. 

G.  Leonhard. 


Cantoni  Popolari  Comasche.  Raccolte  e  pubblicale  colle  melodie  dal 
Doli.  Ob.  Bolza.  Vienna.  In  Commissione  preaso  ü  Figlio  di 
Carlo  Gerold.  1867.  (Tirati  a  parte  dai  liendiconti  delle  lor- 
nate  dell  i.  r.  academia  delle  sciense,  classe  filosoßcoslorica. 
Vol.  Uli.  p.  637—706). 

Die  vorliegende  anziehende  Sammlung  von  Volksliedern  aus  der 
Umgegend  von  Como  besteht  aus  vier  Abtheilungen,  von  denen  die 
erste  die  Kinderlieder,  die  zweite  die  Sprichwörter  und  soge- 
nannten Bauernregeln  so  wie  die  dritte  und  vierte  die  eigent- 
lichen Volkslieder  umfassen,  von  welchen  die  epischen  in  der  letzten 
enthalten  sind.  Wir  finden  auch  hier  wieder,  welch'  ein  allgemei- 
nes Band  die  europäische  Kinderwelt  und  Volksweisheit  umschlingt 
oder  wie  die  nämlichen  Stoffe  in  ganz  Europa,  nicht  selten  aber 
auoh  noch  weiter  hinaus,  die  Gefühle  des  Volkes  an-  und  aus- 
sprechen. So  z,  B.  wollen  die  Kinder  aller  Orten  »die  Hörer«  oder 
dÜe  »Viere«  der  Schnecken  sehen  und  geben  diesem  Verlangen 
überall  einen  mehr  oder  weniger  gereimten  Ausdruck,  und  zwar 
in  der  Gegend  von  Como  folgendermaassen  (No.  2):  »Lümaga, 
lümaga  —  Casoia  föra  i  corni  —  Vegnara  il  bobö  (deutsch:  der 
Bubu,  Schreckbild  der  Kinder)  —  Te  tajarä  via  el  co  (capo).  — 
Das  Liedchen  No.  12  lautet  so:  »Messer  Tom  —  El  m'ha  da  on 
pom  —  Messer  Ambrös  —  MC  l'ha  fä  cös  (cuocere)  —  Messer 
Dona  —  Me  l'ha  pelu  —  E  me  fradel  mß  l'ha  mangiä.«  Dies  er- 
innert sehr  lebendig  an  ein  weitverbreitetes  deutsches  Kinderlied, 
wobei  die  Finger  an  der  Hand  des  Kindes  gleichfalls  zu  Personen 
werden:  »Das  ist  der  Daumen,  —  Der  schüttelt  die  Pflaumen,  — 
Der  liest  sie  auf,  —  Der  trägt  sie  heim  —  Und  der  isst  sie  ganz 
allein.«  Man  möchte  fast  glauben,  dass  die  comaskische  Version 
aus  der  deutschen  herstammt  und  Tom  aus  Daumen  entstanden 
sei ;  die  zweite  Zeile  des  deutschen  Liedes,  wo  das  Pron.  demonstr. 
der  auf  den  Zeigefinger  geht,  wäre  demnach  nur  missverständlich 
gleichfalls  auf  den  Daumen  bezogen.  Denkt  man  sich  daher  statt 
el  einen  Eigennamen,  so  ist  die  Zahl  der  fünf  Finger  vollständig, 
wobei  die  letzte  Zeile  des  deutschen  wie  des  italienischen  Lied- 
chens einander  ganz  genau  entsprechen.  Die  Finger  der  Hand  zu 
personificiren,  ist  übrigens  eine  sehr  alte  mythologische  Idee ;  man 
erinnere  sich  nur  der  Dactyli  Idaei.  —  Aus  der  zweiten  Abthei- 
lung hebe  ich  folgenden  Spruch  hervor  (No.  21):  »La  rasada  de 
San  Giovanu  —  La  guariss  tüce  (tutti)  i  malann.«  Wie  weit  ver- 
breitet der  Glaube  an  die  wohlthätige  und  heilende  Kraft  des  Thaues 


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179 


der  Job&nnisnacht  sei,  so  dass  derselbe  sich  sogar  in  Aegypten 
wiederfindet,  habe  ich  in  meiner  Ausgabe  des  Gervasius  von  TiU 
bury  S.  56  f.  gezeigt.  —  Eine  eigentümliche  Gesundheitsregel  ist 
folgende  (ebend.):  >Se  te  vö  (vuoi)  sta  san  —  Böv  come  i  e 
pissa  come  i  cau«  d,  h.  thue  das  erstere  laugsam,  das  andere  oft» 

—  In  der  dritten  Abtheilung  findet  sich  ein  Spottlied  auf  einen 
armen  Teufel  von  Landgendannen ,  dem  man  nach  und  nach  alle 
seine  Kleidungsstücke  wegnimmt,  obschon  man  sie  ihm  endlich  aus 
purem  Mitleid  wiedergibt  (No.  40).  Die  erste  der  fünf  Strophen 
heisst:  »AI  povero  compagnölo  —  G'han  tolto  la  berretta,  —  E 
per  amöre  ghe  l'han  tornada  a  da.  —  Desberretta  1  —  E  per  amoro 
ghe  rhan  törnada  a  da.«  Die  letzte:  »AI  povero  oampagnolo  -r- 
G'han  tolto  le  calzette  —  E  per  amöre  ghe  i  han  törnado  a  dk. 

—  Desberettä,  —  Desperücca,  —  Desmarsinä  —  Descalzonä,  **-r 
Descalzetta  —  E  per  amöre  ghe  i  han  tornade  a  da.«  In  Bujeaud's 
Cbants  et  Chansons  populaires  de  provinces  de  Touest  etc.  Niori 
1866  findet  sich  vol.  II.  p.  263  eiu  Seitenstück  zu  dem  komaski« 
sehen  Spottliede,  wo  indess  der  Pfarrer  Gegenstand  des  Spottes 
ist,  welcher  aber  von  seinen  sieben  Sachen  nichts  zurückbekommt. 
£s  ist  überschrieben  »Margoton  et  son  eure*«  und  die  erste  Strophe 
lautet:  »Margoton  prend  son  panier,  —  S'en  va-t-aux  meures,  — 
M'sieur  Teure"  s'en  va-t-apres,  —  Lisant  ses  heures;  *w»  »Margo- 
ton, attends-me,  attends  me,  —  »Margoton  attends  ine  dune.«  — 
»M'sieur  Teure*,  je  ne  saurais  —  »Si  n'donnez  qnelqne  clause.«  — 
M'sieur  Teure"  prend  son  rabat  —  Et  le  hü  donne.  —  »En  voub 
r'merciaut,  Monsieur  Teure",  —  »D'm'avoir  si  bien  enrabate \  —  »Vous 
et'  un  honnete  homme.«  Die  siebente  und  letzte  lautet :  »Margoton 
prend  son  panier,  —  S'en  va-t-aux  meures,  —  M'sieur  Teure"  s'en  va-t»- 
apres  —  Lisant  ses  beures:  —  »Margoton,  attends  me,  attends  me, 
»Margoton  attends  me  donc.«  —  M'sieur  l'curö,  je  ne  saurais,  —  »Si 
n'donnez  quelque  chose.«  — •  M'sieur  Teure"  tire  sa  chemise  —  Et  la  lui 
donne.  —  »En  vous  r'merciant,  Monsieur  Teure,  —  »D'm'avoir  si  bien 
enrabate"'  —  »D'm'avoir  si  bien  encalotte"',  —  »D'm'avoir  si  bien 
eneulotte"',  —  »D'm'avoir  si  bien  ensoequette"',  —  »D'm'avoir  si 
bien  enchaussonne' ,  —  »D'm'avoir  si  bien  enchemise',  »Vous 
et'  nn  honnete  homme.«  —  Die  letzte  (epische)  Abtheilung  ent* 
hslt  zehn  Lieder,  von  deren  meisten  sieh  mehr  oder  minder  über- 
einstimmende Versionen  auch  in  andern  italienischen  Sammlungen 
finden,  so  dass  sie  der  Vergleichung  wegen  sehr  willkommen  sind. 
8o  No.  48  »II  Pellegrino«.  Ein  Madchen  sucht  in  Gesellschaft 
eines  Pilgers  ihren  Geliebten  auf.  Unterwegs  macht  ersterer  seiner 
Gefahrtin  Liebesanträge,  über  deren  Aufnahme  nichts  weiter  ver- 
lautet. Eigenthümlich  ist  der  Vorschlag,  die  Bettdecke  mit  lauter 
GJöckJein  (baciocchini)  besetzen  zu  wollen,  von  denen  es  dann  heisst : 
>Nel  voltarsi  e  rivoltarsi  —  Baciocchin  faram  din-din.«  Bei  die- 
ser Musik  denkt  man  an  jene  andere ,  von  welcher  in  der  letzten 
Strophe  eines  Hochzeitsliedes  aus  dem  16.  Jahrh.  die  Bede  ist, 


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160 


Bolia:  CftMonl  Comaechi 


welches  Erlach  1,  80  mittheilt.  Bolza  meint  übrigens  eine  Ver- 
wandschaft des  »Pellegrino«  mit  dem  »Corsaro«  in  Nigra's  Samm- 
lung zu  erkennen.  Zu  des  letztern  Parallelen  (Rivista  Contcmp. 
1861.  p.  166  ff.)  füge  noch  Puymaigre,  Chants  populaires  recueillis 
dans  le  pays  messin.  Metz  et  Paris  1865.  p.  93  ff.  »La  fille  du 
pätissier.c  —  No.  49  »L'Avvelenato«  entspricht  der  bekannten  »Donna 
Lombarda« ;  s.  Volkslieder  aus  Venezien  herausgeg.  von  Widter  und 
Adolf  Wolf.  Wien  1864  No.  72  nebst  der  Anm.  —  No.  50  »Ce- 
oilia«.  S.  hierüber  Wolf  1.  c.  S.  108  Anm.  zu  No.  85  »La  povera 
Cecilia.«  In  vielen  Versionen  dieses  Stoffes  muss  der  Verräther, 
ehe  er  zur  verdienten  Strafe  gezogen  und  hingerichtet  wird,  sich 
erst  vorher  mit  der  von  ihm  entehrten  Frau  vermählen.  S.  Ferd. 
Wolf  Proben  Portugiesischer  und  Catalanischer  Volksromanzen  S. 
75  ff.  und  dazu  Reiuhold  Köhler  in  Ebert's  Jahrb.  für  roman.  und 
engl.  Litter.  3,  57  No.  III.  (Die  zu  Dunlop  S.  493  Anm.  351a 
von  mir  angeführten  Tragica  sind  von  H.  Grosius).  Es  lässt  sich 
übrigens  annehmen,  dass  auch  nach  der  ursprünglichen  Sage,  wor- 
auf die  italienischen  Volkslieder  beruhen ,  der  Verräther  nach  ge- 
schehener Vermählung  mit  der  Entehrten  sein  Verbrechen  mit  dem 
Tode  biisste ;  dies  lässt  sich  nämlich  aus  dem  Vorwurf  schliessen, 
den  Claude  Rouillet  seiner  Tragödie  »Philanive«  zu  Grunde  legte 
(Paris  1563  und  1577)  und  den  er  selbst  also  angibt:  »Quelques 
annöes  se  sont  passees  qu'une  dame  de  Piedmont  impetra  du  prevot 
du  lieu,  que  son  mari,  lors  prissonuier  pour  quelque  concussion,  et 
deja  pret  a  recevoir  jugement,  lui  serait  rendu,  moyennant  une 
nuit  qu'elle  lui  preteroit.  Ce  fait,  son  mari,  le  jour  suivant,  lui 
fut  rendu,  mais  ja  execute  de  mort.  Elle  est  esploröe  de  l'une  et 
de  Tautre  injure,  a  son  recours  au  gouverneur,  qui  pour  lui  garan- 
tir  son  honneur,  contrauit  le  prevot  ä  l'epouser  et  puis  le  fait  de- 
capiter*«  Einen  ähnlichen  Verfall  berichtet  auch  der  Lütticher 
Chronist  Jean  d'Outremeuse  in  dem  noch  nicht  erschieneneu  zwei- 
ten Bande  seines  Myreur  des  Histors  toi.  183,  wornach  im 
Jahr  1307  dem  Ludwig  von  Nyvers,  Sohn  Roberts  von  Flandern, 
vor  dem  Richterstuhl  Philipps  von  Frankreich  vorgeworfen  wurde, 
die  Frau  eines  Ritters,  die  für  das  Leben  ihres  Mannes  bat,  auf 
die  in  Rede  stehende  Weise  betrogen  zu  haben.  Jedoch  läugnete 
er  und  behauptete,  dass  er  der  Klägerin  keineswegs  jenes  Ver- 
sprechen gegeben.  Philipp  glaubte  ihm  und  sprach  ihn  frei.  Noch 
älter  jedoch  ist  ein  Vorfall,  den  Augustinus  in  seiner  Schrift  »De 
sermone  domini  in  monte«  1.  I.  c.  16  berichtet.  Demnach  wurde 
ein  Bürger  von  Antiochia  von  dem  Procnrator  Septimius  Acindy- 
nus  wegen  einer  dem  Fiscus  schuldigen  Summe  ins  Gefängniss  ge- 
worfen und  mit  dem  Galgen  bedroht,  wenn  er  bis  zu  einem  be- 
stimmten Tage  seine  Schuld  nicht  entrichte.  Da  er  sich  dazu  ausser 
Stande  sah,  so  gestattete  er  seiner  Frau  eine  Nacht  bei  einem 
reichen  Manne  zuzubringen,  der  sich  in  sie  verliebt  und  ihr  für 
diese  Gunst  die  erforderliche  Summe  verheissen  hatte.  Ehe  diesen 


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Bolsa:  Canisont  ComMche. 


181 


jedoch  die  Trau  des  Morgens  verliess,  schob  er  statt  des  Beutels 
mit  Geld  einen  andern  mit  Erde  unter,  so  dass  die  Betrogene  sich 
darob  alsobald  bei  Acindynus  beklagte,  der  zuvörderst  seine  eigene 
Härte  verdammte  und  die  betreffende  Summe  aus  eigenen  Mitteln 
dem  Fiscus  einzahlte,  der  Frau  aber  das  Landgut  zusprach,  aus 
dem  jene  Erde  genommen  worden.  Die  ungefähre  Zeit,  zu  welcher 
dieser  Vorfall  soll  Stattgefunden  haben,  ergibt  sich  aus  dem  Um- 
stände, das  Acindynus  zusammen  mit  Valerius  Procnsnl  in  demjeni- 
gen Jahre  Consul  gewesen  war,  in  welchem  Constantin,  der  Sohn 
Constantins  des  Grossen,  bei  Aquileja  fiel,  also  im  Jahr  840.  Noch 
will  ich  bemerken,  dass  die  Romance  del  rey  Don  Sancho  de  Ca- 
stillac  in  Wolf  und  Hoffmanns  »Primavera  y  Flor«  1,  120  No.  39 
gleichfalls  dem  in  Rede  stehenden  Sagenkreis  angehört.  —  No.  51 
»II  Convento  notturno«  schildert  ein  ebenso  gewöhnliches  oder 
noch  gewöhnlicheres  Ereigniss,  nämlich  ein  nächtliches  Stelldichein 
zweier  Liebenden,  woraus  ich  nur  Einen  Zug  hervorheben  will.  Der 
Vater  des  Mädchens  nämlich  belauscht  das  Pärchen  und  frägt  von 
seinem  Fenster  aus  das  Töchterlein ,  wer  denn  bei  ihr  wäre,  wor- 
auf sie  antwortet,  es  wäre  ihre  Schwester  Catherina,  welche  bei  ihr 
gchlafen  wolle.    Hier  also  wird  die  Schwester  vorgeschoben,  sonst 
tritt  dafür  auch  ein  Bruder  oder  Vpttor  oder  sonstiger  Verwandter 
ein,  was  schon  ein  sehr  altes  Aushülfsmittel  sein  muss,  wie  z.  B. 
aus  Tzetzes  zu  Lycophr.  v.  408  erhellt,  wo  er  den  Beinamen  der 
Aphrodite  Kastnia,  ihn  von  xaöig  ableitend  also  erklärt:  *Trjv 
'Aygodixriv  xrjy  iici%i'ttv,  xadxvCav  dl  aÖeXcpOTroiov'  tovg  ya$  %4vovq 
adflrpovg  xal  (pi'lovg  ra  iQcouxa  noiovGiv.  Ot  yctQ  igavrsg  ympa- 
ftdvrsg  Xiyovöivi  'AdsÄyog  p/ov  tj  öiyytvrjg  fiov  itiriv.*  Der 
wackere  Commentator  bat  nun  zwar  von  dem  betreffenden  Epitheton 
sowie  von  dem  gleich  darauf  folgenden  MsXiva(a  eine  unrichtige 
Erklärung  gegeben,  jedoch  aber  bei  dieser  Gelegenheit  gezeigt, 
dass  er  nicht  bloss  mit  Scholien  und  ähnlichen  Dingen  allein  Be- 
scheid wusste  oder  doch  wenigstens  seine  praktische  Lebenserfah- 
rung för  dieselben  mit  mehr  oder  minder  Glück  zu  verwerthen 
suchte.    No.  52  »La  bella  Molinara.«    Ein  einfaches  Liebes- 
abenteuer zwischen  einer  schönen  Müllerin  und  einem  jnngen  Ritter, 
wozu  Bolza  Puymaigre's  Anmerkung  zu  seiner  No.  40  »La  belle 
Meuniere«  (1,  131  ff.)  anführt,  wo  es  beisst:    »Ces  rencontres  de 
seigneurs  et  de  mennieres  semblent  avoir  eu  beaucoup  de  vogue 
dans  la  poesie  popnlaire;  on  les  trouve  redites  de  bien  de  manieres.« 
—  No.  53  »II  Riconoscimento«.   Ein  treuliebendes  Mädchen 
erkennt  den  aus  dem  Kriege  heimkehrenden  Geliebten  nicht  wieder 
und  fällt  bei  der  Nachricht  von  seinem  vorgeblichen  Tode  in  Ohn- 
macht; dann  erst  gibt  er  sich  zu  erkennen.    Ein  vielbehandelter 
Stoff;  s.  Adolf  Wolf,  Volkslieder  aus  Venezien  S.  100  zu  No."81 
>La  Moglie  fedele.«  Füge  hinzu  Puymaigre  p.  8  ff.  »Germaine«. — 
iVo.  54  »La  Rosettina«  entspricht  Nigra's  »La  Tomba«;  vgl. 
Adolf  Wolf  a.  a.  O.  S.  97  zu  No.  75  »Rosinac  —  No,  55  »La 


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Bolza:  Canzonl  Comaeche. 


disobbediente«.  Den  Rath  der  Mutter  verschmähend,  gibt  ein 
Mädchen  dem  der  Brüder  Gehör  und  zieht  zu  dem  Könige  von 
Preussen  (!),  der  um  sie  hat  werben  lassen,  ertrinkt  jedoch  auf 
Meerfahrt.  Bolza  vergleicht  damit  »La  Maladicenza  materna  in 
Marcoaldi's  Canti  popolari  inediti  Umbri,  Liguri  occ.  Genova  1855, 
Widter's  »II  Marinaro  e  la  sua  amorosac  und  die  No.  94  in  Righi's 
Saggio  di  canti  popolari  veronesi«.  —  No.  56  »II  falso  Pelle- 
grinoc.  S.  Widter's  No.  95  »H  Pellegrinoc,  wo  jedoch  der  Pilger 
ehrlicher  verfährt  als  in  dem  vorliegenden  Liede,  welches  gleich- 
wohl nach  Bolza's  Meinung  die  ursprüngliche  Fassung  bietet.  — 
No.  57  »L'Amantedeluso«.  Ein  Mädchen  bewilligt  einem 
Ritter  auf  den  Rath  ihrer  Mutter  eine  Nacht  für  die  Summe  von 
hundert  Thalern,  gibt  ihm  jedoch  einen  Schlaftrank,  so  dass  er 
erst  am  Morgen  erwacht  und  sich  geprellt  sieht.  Eine  gewünschte 
zweite  Nacht  wird  abgeschlagen.  Vgl.  Adolf  Wolf  a.  a.  0.  S.  95 
zu  No.  74  »La  Contadina  allafonto.«  Füge  hinzu  Puymaigro 
p.  112ft.  »L'Amant  discret«  und  p.  1 1 3  ff.  >La  Rencontre«. 
Femer  die  Cent  Nonvelles  Nouvelles  No.  24  »La  Botte  a  demi«  ; 
Bäckström  Oefvertigt  af  Svenska  Folk-Litteraturen  8,  69  No.  12 
»Brudgäfvan<.  Der  den  in  Rede  stehenden  italienischen  Volks- 
liedern zu  Grunde  liegende  spezielle  Zug,  dass  der  Liebhaber  den 
mehr  oder  minder  theuer  erkauften  Genuss  verschläft,  findet  sich 
übrigens  auch  sonst  noch ;  s.  Svend  Grundtvig ,  Danmarks  Gamle 
Folkeviser  2,  337  No.  81  »Sövnerunerne«  und  dazu  Nachtrag  3, 
844,  zu  dessen  Nachweisen  noch  hinzuzufügen  ist  Passow  Tgct- 
yovduc  fPejfi«l'xa  No.  480  *H  RovQyaga.*.  Vergl.  auch  Wolf- 
dietrich  8tr.  1067  —  1070  (S.  165  Holtzmann).  —  Das  soeben 
besprochene  comaskisebe  Volkslied  ist  das  letzte  der  Samm- 
lung, welche  Bolza  Übrigens  auch  noch  mit  einer  höchst  schätz- 
baren Beigabe  ausgestattet  hat,  nämlich  mit  den  Melodien  von 
siebzehn  Nummern  derselben.  Er  beruft  sich  dabei  auf  Leon 
Gautier,  der  im  ersten  Bande  seines  Workes  »Les  Epopees  fran- 
caises«  bemerkt:  »Qui  n'entend  pas  chanter  les  paysans,  ne  sait 
pas  et  ne  saura  jamais  ce  que  c'est  que  la  poösie  populairo,«  Dies 
ist  ganz  richtig  und  ist  auch  schon  oft  ausgesprochen  worden.  Vgl. 
meine  Anzeige  von  Pnymaigre's  und  Bnjeaud's  Sammlungen  in  den 
Gött.  Gel.  Anz.  1866  S.  2015  f.  Ich  sohliesse  mit  dem  Wunsohe, 
dass  wir  dem  Dr.  Bolza  bald  wieder  auf  diesem  oder  ähnlichem 
Felde  begegnen  mögen. 

Lüttich.  Felix  Liebrecht. 


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Memolres  de  Felix  Platter. 


188 


Memoire«  de  Felix  Platter,  medecin  b&loit.  Gentve,  Jmprimerie 
de  Jules  Ome  Fick.  1866.  XV.  und  145  8.  gr.  8. 

Felix  Platter,  'dessen  Aufzeichnungen  uns  hier  in  einer 
meisterhaften  französischen  Bearbeitung  vorliegen,  ist  der  Sohn 
jenes  armen  Hirtenknaben  aus  dem  obern  Wallis  (Thomas  Platter), 
welcher,  nachdem  er  längere  Zeit  herumgezogen  und  durch  Hand- 
arbeit sein  Leben  gefristet,  in  Basel  eine  Heimath  fand,  in  der  er 
segensreich  als  Leiter  der  dort  aus  der  Reformation  hervorgegan- 
genen höheren  Schule,  dem  jetzigen  Gymnasium,  acht  und  dre issig 
Jahre  lang  wirkte,  und  hier  die  neue,  bessere  Methode  in  der  Be- 
handlung des  Gymnasialunterrichts  in  Anwendung  brachte :  die  von 
ihm  in  einem  Alter  von  drei  und  siebenzig  Jahren  im  Jahre  1572 
aufgezeichnete  und  abgeschlossene  Selbstbiographie,  in  welcher  die 
merkwürdigen  Schicksale  seines  Lebens  in  so  anziehender  Weise 
erzählt  werden,  ist  nach  dem  deutschen,  oft  kaum  lesbaren  und 
verständlichen  Original  durch  Fechter  zu  Basel  bekannt  gemacht; 
Herr  Dr.  Eduard  Fick,  dessen  Bemühungen  wir  auch  das  vor* 
liegende  Werk  verdanken,  gab  davon  eine  französische  Bearbeitung, 
deren  wir  in  diesen  Blättern  Jhrgg.  1863  S.  414  ff.  mit  der  An- 
erkennung gedacht  haben,  die  sie  in  jeder  Hinsicht  verdient.  An 
diese  im  Jahr  1862  zu  Genf  erschienene,  auch  durch  die  typogra- 
phische Ausführung  (wie  a.  a.  0.  bemerkt  worden)  so  beachtens- 
werthe  Bearbeitung  schliesst  sich  die  vorliegende  gewissermassen 
an,  indem  sie  die  Selbstaufzeichnnngen  des  Sohnes  in  einem  ähn- 
lichen äusseren  Gewände  uns  vorführt,  und  werden  dieselben  nicht 
minder  unser  Interesse  in  Anspruch  nehmen ,  als  *  die  des  Vaters, 
mit  welchen  sie  auch  schon  der  deutsche  Herausgeber  vereinigt 
hatte,  in  einem  nach  dem  Autographum,  das  zu  Basel  sich  noch 
befindet,  mit  aller  Treue  und  Genauigkeit  veranstalteten  Abdruck. 

Man  hat  wohl  Ursache  sich  dieser  schönen  Gabe  zu  freuen, 
da  sie  nicht  minder  durch  ihren  Inhalt,  wie  durch  die  Form  an- 
ziehend genannt  werden  kann,  und  der  Uebersetzer  mit  aller 
Meisterschaft  der  Sprache  auch  eine  ausgebreitete  Kenntniss  der 
literarischen  und  der  politischen  Verhältnisse,  wie  der  Culturzustände 
der  Zeit,  in  welcher  das  Leben  Platter's  fallt,  verbindet  und  da- 
durch in  den  Stand  gesetzt  war ,  in  seiner  Einleitung ,  so  wie  in 
den  S.  125 — 145  beigegebenen  »Notes«  Alles  das  zu  geben,  was 
sur  Vervollständigung  des  Inhalts  dieser  Aufzeichnungen,  wie  zu 
dem  vollen  Verständniss  und  der  richtigen  Auffassung  derselben 
dienen  kann.  Denn  diese  Aufzeichnungen  Platter's  befassen  zwar 
zunächst  die  eigenen  Erlebnisse,  aber  sie  enthalten  doch  wieder 
auch  so  Manches,  was  im  Allgemeinen  auf  die  Verhältnisse  jener 
Zeit,  die  Culturzustände  des  sechszehnten  Jahrhunderts,  die  Uni- 
versitätseinriebtungen  und  dergl.  ein  Licht  wirft,  das  durch  die 
anziehende,  einfach  natürliche  Darstellungsweise  noch  mehr  g*- 


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184 


M^moires  de  Felix  Platter. 


Kaum  hatte  Platter  das  fünfzehnte  Lebensjahr  hinter  sich, 
als  ihn  der  Vater  nach  Montpellier  schickte,  um  dort,  wo  eine  in 
jeuer  Zeit  berühmte  Schule  der  Medicin  blühte,  für  dieses  Studium 
sich  auszubilden ;  im  ein  und  zwanzigsten  Jahre  nahm  er  dann  das 
Medicinische  Doctorat  in  seiner  Vaterstadt,  die  fortan  der  Schauplatz 
seiner  Wirksamkeit  und  Tbätigkeit  wurde;  denn  er  zeichnete  sich 
eben  so  sehr  als  Lehrer  an  der  dortigen  Universität,  wie  als  prak- 
tischer Arzt  aus;  zu  dem  erstem  trug  insbesondere  die  Errichtung 
einer  Kanzel  für  Anatomie  und  Botanik  und  die  jetzt  mehr  und 
mehr  in  Aufnahme  gekommene  Sitte  der  Leichensectionen  bei :  und 
dabei  unterliess  es  Platter  nicht,  durch  Heransgabe  mehrerer  Werke 
(De  corporis  huraani  structura  et  usu  1583,  Praxis  medica  1602 
bis  1608  in  drei  Bänden,  vielfach  in  der  Folge  wieder  aufgelegt, 
Observationes  in  hominis  affectibus,  in  hohem  Alter  geschrieben, 
die  Frucht  einer  sieben  und  fünfzigjährigen  Erfahrung  und  Beob- 
achtung) sich  einen  Namen  in  der  gelehrten  Welt  zu  verschaffen. 
Was  die  praktische  Wirksamkeit  betrifft,  so  stand  Platter  drei  und 
vierzig  Jahre  lang  an  der  Spitze  des  Medicinalweseus  der  Stadt 
Basel,  mit  der  obersten  Leitung  der  Spitäler  u.  dgl.  als  Archiater 
betraut,  und  bewährte  sich  insbesondere,  als  die  Pest  1563 — 1564 
Basel  verheerte,  und  später  in  den  Jahren  1576.  1582.  1593.  1609 
sich  wiederholend,  neue  und  grosse  Verheerungen  anrichtete.  Am 
28.  Juli  1614  erreichte  auch  ihn  der  Tod,  nachdem  die  treue  Gattin 
und  vieljährige  Lebensgefahrtin  Magdalena  Jeckelraann ,  ihm  eilf 
Monate  vorausgegangen  war:  beide  starben,  ohne  Nachkommen- 
schaft zu  hinterlassen:  aber  reiche  Legate  für  arme  Kranke  und 
deren  Heilung  erhalten  noch  jetzt  ihren  Nameu  in  gutem  Andenken. 
Denn  Platter  muss  sich  durch  seine  Praxis  ein  bedeutendes  Ver- 
mögen erworben  haben,  zumal  wenn  wir  die  bescheidenen  Verhält- 
nisse jener  Zeit  und  den  damaligen  Werth  des  Geldes  in  Anschlag 
bringen. 

Der  Verf.  theilt  uns  in  den  beigefügten  Bemerkungen  eine  von 
der  Hand  Platter's  gemachte  Aufzeichnung  für  Einnahmen  während 
der  Jahre  1558  bis  1612  mit,  es  belauft  sich  auf  120020  Livres 
(der  Livre  zu  12  Batzen)  und  15  Sous.  Die  Einnahme  seiner  me- 
dicinischen  Praxis  bei  Bürgern  der  Stadt  beläuft  sich  auf  5031 
Liv.  5  Sous  4  Heller,  bei  Fremden  auf  23057  Liv.  17  S.  seine 
Reisen  ausserhalb  der  Stadt  stiegen  auf  15050  Liv.  Sein  Gehalt 
als  städtischer  Arzt  stellt  sich  (während  dieser  ganzen  Zeit)  auf 
1660  L.,  als  Prüfer  der  Münze  371  Liv.  als  Proiessor  11139  Liv. 
als  Rector  339  Liv.;  der  Ertrag  der  Examinations-  und  Promo- 
tionsgebühren und  des  Decanats  belief  sich  auf  2850  Liv.;  die 
Rente  seines  Landgutes  betrug  10618,  die  Vermiethung  des  Hauses 
und  anderer  Appartements  29296  Livres  (wir  lassen  die  kleinern 
Zahlen  weg)  und  so  fort.  Noch  erblickt  man  das  Grab  des  Mannes 
mit  der  (hier  S.  XIV  mitgetheilton)  Grabscbrift,  bei  dem  Münster, 
und  nooh  bewahrt  die  Bibliothek  vielfache  Aufzeichnungen  dessel- 


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Memoires  de  Felix  Platter.  185 

ben,  aas  welchen  aach  diese  Selbstbiographie  entnommen  ist  Ein 
1584  von  einem  Basler  Künstler,  Hans  Bock,  gemaltes  Porträt  be- 
findet sich  in  der  Universitätsaula  zn  Basel :  eine  Abbildung  davon 
ist  dieser  Schrift  beigefügt. 

Die  Selbstbiographie,  wie  sie  uns  in  dieser  französischen  Be- 
arbeitung vorliegt,  ist  im  Jahre  1612,  also  wenige  Jahre  vor 
Platteres  Tod,  aufgezeichnet,  sie  zeigt  die  frischen  Eindrücke,  die 
der  bejahrte  Greis  von  seiner  Jugend  sich  bewahrt  hatte,  ja  es 
scheint  fast  Einzelnes  schon  früher  von  ihm  niedergeschrieben  wor- 
den zu  sein,  oder  doch  auf  frühern  Aufzeichnungen  zu  beruhen.  Es 
sind  einzelne,  mit  besondern  Ueberschriften  versehene  Abschnitte. 
Der  erste  handelt  von  seiner  Geburt  und  von  seiner  Familie  und 
knüpft  daran  die  Erinnerungen  aas  seiner  Jugendzeit:  mit  beson- 
derer Vorliebe  erzählt  er  seine  Theilnahme  an  der  Aufführung 
von  Komödien,  wie  sie  damals  durch  Schüler  und  Studenten  zu  ge- 
schehen pflegten,  unter  andern  auch  spricht  er  von  einer  Auffüh- 
rung der  Anlularia  des  Plautus ,  wo  ihm  die  Rolle  des  Lyconides 
zufiel;  eben  so  fanden  im  Hause  des  Vaters,  wenn  Gaste  kamen, 
solche  Aufführungen  durch  die  Pensionäre  statt,  wie  hier  von  einer 
solchen  des  Terenzischen  Phormio  berichtet  wird :  bei  einer  ahn- 
lichen Veranlassung  sollten  im  Hause  des  Froben ,  des  berühmten 
Buchhändlers,  einige  Eklogen  des  Virgils  duich  Schüler,  die  als 
Hirten  verkleidet  waren,  vorgetragen  werden ,  dessen  sich  jedoch 
unser  junger  Platter  weigerte.  Wir  übergehen  Andores  von  nicht 
geringerem  Interesse,  um  aus  den  weiter  folgenden  Abschnitten  noch 
Einiges  anzuführen.  Der  nächste  derselben,  Projecte  und  Ent- 
schlüsse tiberschrieben,  führt  uns  die  Sorge  des  Vaters  vor,  für 
den  heranwachsenden  jungen  Mann  durch  eine  passende  Ehe  zu 
sorgen,  sowie  den  nach  dem  Wunscho  des  Vaters  getroffenen  Ent- 
suhluss ,  dem  Studium  der  Medicin  sich  zu  widmen ,  das  zugleich 
günstige  Aussichten  für  die  Zukunft  in  Basel  eröffnete.  Und  da 
die  medicinisebe  Facultät  zu  Montpellier  damals  in  besonderm  Au- 
sehen stand,  so  fasste  der  Vater  den  Entschluss,  den  Jüngling,  der 
kaum  das  Alter  von  fünfzehn  Jahren  erreicht  hatte,  dahin  zu  schi- 
cken, und,  da  ihm  die  ausdauernden  Mittel  dazu  fehlten ,  durch 
eine  Art  von  Tausch  denselben  in  einer  dortigon  Familie  unterzu- 
bringen ,  die  ihm  dafür  ein  Sohn  in  sein  Haus  anvertraute.  Dio 
Reise  nach  Montpellier,  welche  im  nächsten  Abschnitt  erzählt  wird, 
ist  äusserst  unterhaltend.  Für  sieben  Kronen,  die  aber  geborgt 
sind,  kauft  der  Vater  ein  Pferd  für  die  Reise,  dem  Sohne  selbst 
gibt  er  vier  Goldkronen  mit,  die  er  ihm  in  den  Wams  einnäht, 
and  drei  Kronen  in  Münze,  lauter  geborgtes  Geld,  auch  schenkt  er 
dem  Sohne  einen  Wallisthaler,  den  Dieser  aber  später  wieder  nach  „ 
Hause  bringt;  die  Mutter  gibt  ihm  ebenfalls  eine  Krone.  Am 
9.  October  wird  die  Reise  in  guter  Begleitung,  für  die  der  Vater 
gesorgt  hatte,  augetreten  und  in  zwanzig  Tagen  nicht  ohne  Ge- 
fahren vollendet;    über  Genf,  Lyon,  Aviguou  kommt  der  junge 


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180  Memoire«  de  Felix  Platter. 

Platter  in  Montpellier  an,  die  Kosten  der  Reise,  Alles  mit  einge- 
rechnet, namentlich  die  Unterhaltung  des  Pferdes,  beliefen  sich  auf 
zehn  Livres  12  Schillinge  und  10  Deniers.  Mit  Eifer  verfolgt  der 
junge  Mann  seine  Studien ,  und  da  sein  Hausherr  Apotheker  war, 
so  pflegte  er  auch  mit  grossem  Fleiss  die  Studien  der  Pharmacie. 
Auf  der  andern  Seite  aber  verfehlt  er  auch  nicht  uns  Nachricht 
zu  geben  von  den  Unterhaltungen  und  Festen,  namentlich  den 
nächtlichen  Serenaden ,  wie  sie  besonders  mit  dem  Eintritt  des 
neuen  Jahres  sich  auf  einander  drängten.  Aber  an  ernsteren  Vor- 
gängen fehlte  es  auch  nicht.  Zu  diesen  rechnen  wir  die  Erzählung 
einer  nächtlichen  Expedition,  unternommen  um  Leichname,  dio  des 
Tags  zuvor  beerdigt  waren ,  herauszugraben  zum  Behuf  der  Vor- 
nahme von  Sectionen,  wozu  es  meist  an  Cadavern  fehlte.  Es  ging 
übrigens  Alles  glücklich  von  Statten  Am  20.  Mai  1556  errang 
Platter  die  Würde  eines  Baccalaureus  nach  einer  von  6 — 9  Uhr 
Morgens  vorausgegangenen  Disputatiou  mit  den  medicinischen  Pro- 
fessoren der  Universität.  Nach  Ablauf  derselben  zog  man  ihm  ein 
rothes  Kleid  an  und  stellte  ihm  ein  Diplom  zu,  wofür  1 1  Francs  und 
3  Sous  entrichtet  wurden.  Die  deutschen  Kameraden  wurden  dann 
io  einem  Bauquet  festlich  von  ihm  bowirthet.  Um  dieselbe  Zeit, 
erzählt  er  weiter ,  brach  unter  den  Studirenden  ein  Tumult  aus ; 
der  Grund  war:  weil  die  Professoren  so  wenig  läsen.  Man  sam- 
melte sich  bewaffnet,  durchzog  die  Hörsäle  und  forderte  Jeden,  den 
man  traf,  auf,  mit  zu  ziehen ;  auch  der  junge  Platter  musste,  ob- 
wohl er  widerstrebte,  mitziehen  in  das  Parlamenthaus,  und  hier 
war  es,  wo  der  Procurator  der  Studenten  sich  über  die  Nachlässig- 
keit der  »Doctores«  bitter  beschwerte  und  die  Wiederherstellung 
der  alten  Ordnung  verlangte,  wornach  zwei  von  den  Studenten  er- 
wählte Procuratores  mit  dem  Recht  bekleidet  wurden,  den  Profes- 
soren, die  ihre  Vorlesungen  nicht  hielten,  ihre  stipendia  zurückzu- 
behalten. Ungeachtet  des  von  Seiten  der  Doctoren  eingelegten 
Widerspruches  war  man  der  Bitte  der  Studirenden  willfahrig  und 
der  Tumult  war  gestillt.  Ernsterer  Art  ist  die  Erzählung  von  der 
Hinrichtung  eines  zum  Tode  verurtheilten  Geistlichen,  welcher  auf 
einen  Scheiterhaufen  gebracht,  in  dem  Moment,  als  derselbe  ange- 
zündet ward,  durch  einen  Strick  erdrosselt  und  so  von  den  Flam- 
men verzehrt  wurde. 

Dem  Wunsche  des  Vaters  gemäss  verliess  Platter  Ende  Februar 
1557  die  Universität  und  kehrte  wieder  zurück  nach  Basel,  wo 
zwei  Dinge  alle  Sorge  des  Vaters  in  Anspruch  nahmen,  die  künf- 
tige Verheirathung  und  die  nothwendige  Erlangung  des  Doctorats. 
Zu  diesem  Zweck  präsentirte  sich  der  junge  Mann  vor  dem  aus 
drei  Mitgliedern  bestehenden  Colleginm  medicum,  das  Anfangs  den 
kaum  ein  und  zwanzigjährigen  Jüngling  gar  nicht  zulassen  wollte, 
indem  der  Gandidat  mindestens  vier  und  zwanzig  Jahre  alt  sein 
musste:  doch  waren  sie  bald  andern  Sinnes  und  ward  der  junge 
Mann  sofort  zu  dem  Tentamen  zugelassen,  das  am  16.  August  im 

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Memoires  de  Felix  PUiter.  187 

Hanse  des  Dekans  stattfand,  drei  volle  Stunden  dauerte,  nach  deren 
Verlauf  Margarethe,  die  Tochter  des  Dekans,  die  Anwesenden  mit 
Kuchen  und  Wein  regalirte,  übrigens  auf  meine  Kosten,  setzt  Platter 
hinzu.  Dasselbe  war  auch  am  folgenden  Tage  der  Fall  nach  dem 
Examen,  in  welchem  Platter  zuerst  über  die  ihm  übergebenen 
Themata  einen  Vortrag  aus  dem  Gedächtniss  zn  halten  hatte,  wor- 
auf die  drei  Doctoren  mit  ihm  disputirten,  drei  Stunden  lang ;  nun 
fehlte  noch  die  öffentliche  Disputation ,  die  am  2.  Septbr.  abge- 
halten wurde  und  von  Morgens  7  Uhr  bis  12  Uhr  dauerte,  in  An- 
wesenheit fast  aller  Academici.  Platter  bestand  die  Disputation 
mit  allen  Ehren  und  hatte  nachher  in  der  Krone  viele  Gaste  zu 
bewirthen.  Daraufhin  ward  die  Ertheilnng  der  Doctorwürde  aus- 
gesprochen, und  in  Folge  dessen  die  Promotion  auf  den  26.  Sept. 
anberaumt,  nachdem  Platter  zuvor  eine  Eiuladung  dazu  hatte  dmken 
lassen  und  persönlich  die  Bürgermeister,  Scholarchen  und  andere 
Freunde  dazu  eingeladen  hatte.  Von  dem  Hause  dos  Dekans  aus, 
wo  man  dem  baldigen  Doctor  ein  schwarzes  Kleid  mit  Sammot 
handbreit  verbrämt,  rotho  Hosen  und  einen  rothen  seidenen  Atlass- 
Warn  ms  angelegt  hatte,  begab  man  sich  in  die  medicinische  Aula, 
die  stattlich  tapezirt  und  mit  einem  zahlreichen  Publikum  ange- 
füllt war,  da  so  lange  Zeit  keine  Promotion  stattgefunden.  Platter 
begab  sich  auf  den  untern  Katheder,  der  Promotor  auf  den  oberen 
und  Dieser  begann ,  nachdem  vier  Trompeter  den  Akt  eröffnet, 
seine  Oration ,  worauf  Platter  erwiederte ;  nun  empfiug  ihn  der 
Dekan,  führte  ihn  unter  Vortritt  des  Pedellen  mit  dem  akademi- 
schen 8ceptor  auf  den  obern  Katheder ,  setzte  ihm  ein  Sammt- 
Barett  auf,  steckte  den  Ring  an  seine  Finger  und  vollzog  die  übri- 
gen Ceremouien.  Als  er  ihn  dann  zum  Doctor  ausgerufen,  forderte 
er  ihn  auf,  Öffentlich  eine  Probe  vorzulegen  durch  Auslegung  einer 
Stelle  in  einem  Buche,  das  er  ihm  vorwies.  Kaum  aber  hatte  der 
junge  Doctor  seine  Auslegung  begonnen ,  so  schlug  der  Dekan  das 
Buch  zu  mit  dem  Bemerken,  es  sei  genug,  und  forderte  den  Doctor 
auf,  die  übliche  Danksagungsrede  zu  halten.  Damit  schloss  der 
feierliche  Akt  ,  der  über  vier  Stunden  gedauert.  Die  vier  Trom- 
peter bliesen  und  gaben  damit  das  Zeichen  zum  Aufbruch  :  ihnen 
folgend  setzte  sich  der  Zug  in  Bewegung  aus  der  Aula  zu  der 
Krone,  wo  das  Banquet  bestellt  war.  Sieben  Tische  waren  herge- 
richtet, das  Mahl  gut  servirt,  und  kostete  doch  nur,  wie  Platter 
hinzufügt,  vier  Batzen  ä  Person.  Um  drei  Uhr  war  Alles  beendet 
und  zog  man  heim. 

Nicht  minder  anziehend  ist  der  nächste  Abschnitt,  welcher 
die  Erzählung  seiner  Verlobung  und  Verheirathung  mit  allen  dar- 
auf bezüglichen  Einzelheiten  enthält,  namentlich  die  Beschreibung 
des  Festmahls,  das  auf  die  kirchliche  Einsegnung  erfolgte ;  an  fünf- 
zehn Tischen  nahmen  mehr  als  hundert  fünfzig  Personen  Antheil 
ao  dem  Mahl,  da3  aus  vier  Gängen  bestand,  in  folgender  Ordnung : 
gehakten  Lummel  (hächis  de  filet),  dann  Suppe,  Fleisch,  Hühner, 


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188  Schlömlch:  Höhere  Analysls. 

gesottener  Hecht,  Gebratenes ,  Tauben  ,  Hahnen ,  Gans ,  gekochter 
Reis,  Leber-Gallerte,  Käse  und  Früchte.  Dabei  wurden  gute  Weine 
servirt,  insbesondere  Wein  von  Rangen.  Dazu  ein  Violinspiel,  da- 
mals noch  eine  seltene  Erscheinung,  und  Gesang  durch  die  Schüler. 

Die  folgenden  Abschnitte  haben  den  neuen  Hausstand  und  eine 
Reise  nach  Wallis  zum  Gegenstand ;  anderer  Art  ist  die  Erzählung 
über  David  Joris,  und  das  Anfsehen,  das  derselbe,  auch  nach  sei- 
nem Tode  in  Basel  erregte,  charakteristisch  für  die  Beurtbeilung 
der  damaligen  Zeitverhältnisse ;  durch  die  S.  138  ff.  beigefügten 
Erörterungen  des  Herausgebers  wird  indessen  das  Ganze  erst  recht 
klar  und  verstandlich.  Sehr  interessant  ist  der  Abschnitt  Über  die 
sieben  Pestilenzen,  welche  Platter  in  Basel  erlebte ;  bei  fünf  der- 
selben war  er  als  Arzt  thätig,  ohne  selbst  von  der  Pest 
hinweggerafft  zu  werden;  die  letzte  derselben  (1610)  muss  nach 
der  hier  gegebenen  Schilderung  furchtbar  gewesen  sein ;  über  vier- 
tausend Menschen  erlagen  zu  Basel  der  Seuche,  ganze  Ehen  waren 
ausgestorben,  hundert  fünf  und  sechzig.  Ganz  anderer  Art  ist  die 
den  Schluss  des  Ganzen  bildende  Beschreibung  der  Festlichkeiten, 
welche  bei  der  Taufe  eines  Sohnes  des  Herzogs  von  Würtemberg 
zu  Stuttgart  1596  stattfanden,  von  welchem  Platter  eingeladen  war. 

Wir  schliessen  hier  unsern  Bericht :  die  mitgetbeilten  Proben 
mögen  die  grössere  Ausdehnung  desselben  entschuldigen ;  die  um- 
fassenden literarhistorischen  Erörterungen,  welche  der  Bearbeiter 
beigegeben,  erhöhen  den  Werth  des  Ganzen  nicht  wenig,  da  sie 
auch  dem  mit  der  Zeit  weniger  Bekannten  die  wünsch enswerthe 
Aufklärung  geben  und  in  das  volle  Verstandniss  ihn  einführen.  Die 
äussere  Ausstattung  in  Drnck  und  Papier  ist  eine  vorzügliche,  der 
antiken  Weise  der  Genfer  Typographie  des  Reformationszeitalters 
nachgebildet,  wie  diess  bei  ähnlichen  aus  derselben  Presse  hervor- 
gegangenen Werken  mit  seltenem  Glück  bereits  geschehen  ist. 

Chr.  BÄhr. 


Compendium  der  höheren  Analyst*  von   Dr.  Oscar  Schlömich. 
Zweite  Auflage.  Rraunschweiq  1H6V—1866. 

* 

Mit  dor  zweiten  Lieferung  des  zweiten  Bandes  liegt  jetzt  der 
Schluss  des  in  der  üeberschrift  genannten  höchst  schätzbaren  Wer- 
kes vor,  welches,  obwohl  nur  unter  dem  Titel  der  zweiten  Auflage 
eines  älteren  Werkes,  doch,  wio  der  Verfasser  in  der  Vorrede  selbst 
hervorhebt,  wegen  der  gänzlichen  Umgestaltung  und  bedeutenden 
Erweiterung  füglich  als  ein  ganz  neues  Werk  betrachtet  werden 
kann.  Es  kann  das  Werk  für  das  Studium  der  höheren  Analysis 
in  ihrer  hentigen  Gestalt  um  so  mehr  empfohlen  werden,  als  der 
Verfasser  mit  grosser  Unisicht  und  Sachkenntniss  überall  don  neue- 
sten, seinen  Gegenstand  betreffenden  Untersuchungen  Rechnung  ge- 

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Schlömich:  Höhere  Analysie. 


169 


tragen  bat,  ohne  die  älteren  längst  bekannten  und  feststehenden 
Resultate  allzusehr  hintanzusetzen,  wodurch  auch  dem  in  den  Ele- 
menten weniger  Bewanderten  das  Verständniss  des  Werkes  ermög- 
licht, und  der  Weg  zu  den  höheren  und  schwierigeren  Theilen  der 
inalysis  geebnet  wird. 

Bei  dem  enormen  Umfang,  welchen  in  neuerer  Zeit  die  Ana- 
lysis  gewonnen  hat,  ist  es  natürlich  nicht  mehr  möglich,  in  dem 
massigen  Raum  eines  Lehrbuchs  alle  Theile  derselben  mit  der 
Ausführlichkeit  und  Gründlichkeit  zu  behandeln,  die  sich  der  Ver- 
fasser zur  Aufgabe  gestellt  hat.  Es  war  daher  eine  Auswahl  noth- 
wendig,  und  mancher  Leser  wird  es  dem  Verfassor  Dank  wissen, 
dass  er  dabei  sein  Augenmerk  hauptsächlich  auf  solche  Gegenstände 
gerichtet  hat,  die  unerachtet  ihrer  grossen  nicht  nur  wissenschaft- 
lichen, sondern  auch  praktischen  Bedeutung  in  den  meisten  Lehr- 
büchern ungebührlich  vernachlässigt  werden. 

Wir  rechnen  dahin  namentlich  die  classischen  Untersuchungen 
von  Lejeune-Dirichlet  über  die  Fourier'schen  Keinen  und  über 
mehrfache  Integrale,  ferner  die  Theorie  der  balbconvergenten  Rei- 
hen, die  schönen  Formeln  über  die  höhoren  Differeutialquotienten 
u.  a.  m. 

Wir  heben  schliesslich  noch  hervor  die  ausführlichen  Citate 
und  Verweisungen  auf  die  Originalabhandlungen,  welche  den  Werth 
des  Buches  für  den,  der  tiefer  in  gewisse  Theorien  einzudringen 
wünscht  nicht  unbeträchtlich  erhöhen. 

Wir  werden  nun  im  Einzelnen  nachweisen,  wie  der  Verfasser 
seine  Aufgabe  gelöst  hat. 

Der  erste  Band,  welcher  die  Elemente  der  höheren  Analysis 
enthält,  zerfallt  in  zwei  Theile,  von  denen  der  eine  die  Differential- 
rechnung, der  zweite  die  Integralrechnung  behandelt. 

Hinsichtlich  der  ersten  Capitel,  welche  den  eigentlich  theore- 
tischen Theil  der  Differentialrechnung  enthalten,  können  wir  uns 
kurz  fassen.  Angesichts  der  vielen  zum  Theil  vortrefflichen  Bücher, 
welche  über  die  Prinzipien  der  Differentialrechnung  in  alter  und 
neuer  Zeit  geschrieben  worden  sind,  dürfte  es  schwer  sein,  über 
diesen  Gegenstand  etwas  wesentlich  Neues  zu  sagen.  Alles  was  in 
dieser  Hinsicht  in  einem  neuen  Lehrbuch  noch  erstrebt  werden 
kann,  ist  neben  einer  klaren  und  strengen  Auseinandersetzung  der 
Grundbegriffe  eine  solche  Anordnung  des  Stoffes,  dass  die  Sätze 
naturgemäss  und  ohne  grossen  Rechnungsaufwand  aus  einander 
folgen,  und  sich  zu  einem  Übersichtlichen  Ganzen  zusammenfügen. 
Unseres  Eracbtens  lässt  das  vorliegende  Werk  in  dieser  Hinsicht 
nichts  zu  wünschen  übrig. 

Das  folgende  dritte  Capitel  enthält  Anwendungen  der  Diffe- 
rentialrechnung auf  die  Theorie  der  Curven  und  krummen  Ober- 
flächen. Die  Hauptsätze  dieser  schönen  Theorie  sind  von  dem 
Erfasser  in  klarer  und  anschaulicher  Weise  dargestellt  und  durch 
mannigfache,   gut  gewählte  Beispiele  erläutert.    Wir  hätten  nur 


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190 


Schlöraich:  Höhere  Analyais. 


gewünscht,  namentlich  bei  der  Theorie  der  Krümmung  der  Flächen 
und  räumlichen  Curven  die  symmetrischen  und  eleganten  Methoden 
etwas  mehr  berücksichtigt  zu  sehen,  denen  die  Darstellung  einer 
Fläche  durch  eine  nicht  nach  z  aufgelöste  Gleichung  oder  durch 
drei  Gleichungen  mit  zwei  neuen  unabhängigen  Variablen  zu  Grunde 
liegt.  Dadurch  wären  die  ziemlich  umständlichen  Rechnungen  in 
der  Theorie  der  Krümmung  der  Flächen  bedeutend  abgekürzt  worden. 

Hinsichtlich  der  Theorie  des  Maxima  und  Minima,  welche  im 
fünften  Capitel  behandelt  ist,  haben  wir  eine  Bemerkung  zu  machen, 
welche  vielleicht  unbodeutend  erscheinen  könnte,  welche  aber  unse- 
res Erachtens  dennoch  zum  Verständniss  des  wahren  Wesens  die- 
ser Theorie  von  Wichtigkeit  ist. 

Es  ist  nämlich  bei  der  Untersuchung  der .  zweiten  Variation 
der  Functionen  mit  mehreren  Variablen  der  eine  Fall  ganz  mit 

(d2  F  \ 9  F  d2  F 
- — —  I  t~zt  — — - 
dxdy/     ux*  dy* 

für  die  Werthe  des  Maximums  oder  Minimums  verschwindet,  ein 
Fall  der  zu  denen  gehört,  wo  man  zur  Entscheidung  über  Maximtim 
und  Minimum  zu  den  höheren  Variationen  übergehen  muss.  Es 
hätte  sich  diese  Frage  von  selbst  erledigt,  wenn  der  Verfasser  ein- 
gegangen wäre  auf  den  auch  an  sich  interessanten  Zusammenhang 
der  Existenz  eines  Maximums  oder  Minimums  und  der  Realität  der 
Inflexioustangenten  bei  krummen  Oberflächen. 

Die  folgenden  beiden  Capitel  enthalten  die  Theorie  der  un- 
endlichen Reihen ,  und  zwar  das  erste  derselben  eine  klare  und 
gründliche  Darstellung  des  Begriffes  und  der  allgemeinen  Bedin- 
gungen der  Convergenz,  das  zweite  die  Anwendung  der  allgemeinen 
Grundsätze  auf  die  Potenzreihen.  Am  Schlüsse  dieses  Capitels  findet 
sich  ein  kleiner  Abschnitt  über  das  Unendlichkleine,  in  welchem 
dieser  schwierig  zu  fassende  Begriff,  an  dem  schon  so  Viele  An- 
stoss  genommen  haben,  so  weit  dies  überhaupt  mit  Worten  mög- 
lich ist,  präcis  und  klar  definirt  ist,  wodurch,  wie  wir  glauben, 
ein  grosser  Theil  der  Schwierigkeiten,  die  für  den  Anfänger  mit 
der  Differentialrechnung  verbunden  sind,  hinweggeräumt  ist. 

Mit  den  beiden  folgenden  Capiteln,  von  denen  das  erste  die 
Erweiterung  der  früheren  Resultate  auf  complexe  Variable,  die 
andere  die  Theorie  der  Zerlegung  rationaler  Brüche  in  Partial- 
brüche enthält,  ist  das  Gebiet  der  elementaren  Anwendungen  der 
Differentialrechnung  erschöpft,  und  wir  wenden  uns  nun  zum  zwei- 
ten Theil  des  ersten  Bandes,  der  Integralrechnung. 

Gleich  am  Eingang  ist  hervorzuheben  die  klare  und  bestimmte 
Fassung  der  Aufgabe  der  Integralrechnung,  sowie  der  Nachweis  des 
Zusammenhangs  der  unbestimmten  Integration  mit  den  die  be- 
stimmten Integrale  definirenden  Summen.  Es  folgen  hierauf  die 
allgemeinen  Methoden  zur  Auffindung  unbestimmter  Integrale,  wor- 
unter auch  die  Integration  durch  unendliche  Reiben.  Capitel  XI 
bis  XHI  enthält  eine  elegante  und  ausführliche  Darstellung  der- 


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Sohiaaich:  Höhere  Analysia. 


101 


jenigen  Integrale,  die  sich  durch  die  gewöhnlichen  einfachen  Functio- 
nen ausdrücken  lassen.  Wenn  es  erlaubt  ist,  hier  eine  Bemer- 
kung hinznznfügen ,  so  hätte  bei  dem  trigonometrischen  Integral 


geschehen  mögen,  wodurch,  vorausgesetzt,  dass  F  rational  ist  alle 
Irrationalität  mit  einem  Mal  wegfällt,  und  alle  diese  Integrale  unter 
einen  gemeinsamen  Gesichtspunkt  gebracht  werden. 

Im  folgenden  Capitel  sind  Anwendungen  der  Integralrechnung 
auf  geometrische  Probleme  enthalten,  wobei  nicht  unterlassen  ist, 
gelegentlich  bei  einzelnen  Beispielen  auf  die  Vorsichtsmassregeln 
aufmerksam  zu  machen,  die  hinsichtlich  der  Convergenz  der  Inte- 
grale zu  beobachten  sind.  Auch  die  näherungsweisen  Quadraturen 
mit  genauer  Untersuchung  des  Grades  der  Annäherung  haben  in 
diesem  Capitel  eine  Stelle  gefunden. 

Was  die  Theorie  der  bestimmten  Integrale  anlangt,  so  müssen 
wir  zugeben,  dass  es  kaum  möglich  ist,  in  dem  beschränkten  Raum, 
der  in  einem  allgemeinen  Lehrbuch  diesem  speciellen  Theil  einge- 
räumt werden  kann,  eine  erschöpfende  Darstellung  dieses  sehr  sub- 
tilen Gegenstandes  zu  geben.  Gleichwohl  müssen  wir  hier  einige 
Punkte  hervorheben.  Zunächst  vermissen  wir  den  allgemeinen  ana- 
lytischen Beweis,  dass  die  Grenze,  welcher  sich  die  das  Integral 
definirende  Summe  nähert,  unabhängig  ist  von  der  Art  der  Ein- 
theilung  des  Intervallen  in  Elemente.  Es  wird  dieser  Beweis  zwar 
einigermassen  ersetzt  durch  die  geometrische  Anschauung ;  indessen 
ist  derselbe  doch  zu  einer  rein  theoretischen  Begründung  des  Be- 
griffs des  bestimmten  Integrals  unseres  Erachtens  unerlässlich.  Der 
zweite  Punkt  betrifft  die  allgemeinen  Kriterien  der  Convergenz  be- 
stimmter Integrale.  Der  Verfasser  hat  zwar  an  einzelnen  Beispielen 
nachgewiesen,  auf  welche  Weise  eine  Divergenz  bestimmter  Inte- 
grale zu  Stande  kommt.  Indessen  sind  diese  Beispiele  alle  der 
Art,  dass  sich  die  Integration  unbestimmt  ausführen  lässt,  und  die 
Kenntnis«  der  Kriterien  der  Endlichkeit  von  Integralen,  die  sich 
nicht  unbestimmt  ausführen  lassen ,  erscheint  uns  als  ein  ebenso 
unab  weislieh  es  Bedürfnis«  wie  die  Kriterien  der  Convergenz  unend- 
licher Reihen.  Im  Uebrigen  bewährt  sich  auch  in  diesem  Theil 
die  Meisterschaft  des  Verfassers,  was  Klarheit  der  Darstellung  und 
Gründlichkeit  auch  in  schwierigeren  Partien,  wie  die  Differentiation 
und  Integration  bestimmter  Integrale  anlangt. 

Die  drei  letzten  Capitel  des  ersten  Bandes  sind  den  Elemen- 
ten der  Theorie  der  gewöhnlichen,  d.  h.  nicht  partiellen  Differential- 
gleichungen gewidmet.  Dieser  Abschnitt  enthält  in  einem  verhält- 
nissmässig  geringen  Umfang  alles  Wesentliche,  was  in  einer  ele- 
mentaren Darstellung  über  diese  Differentialgleichungen  gesagt 
werden  kann.  Wir  finden  nach  einer  sehr  anschaulichen  und  fass- 
licbm  Darlegung  des  Begriffs  der  Differentialgleichung  und  ihrer 


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192 


Schlömich:  Höhere  Analysis. 


Erörterung  der  allgemeinen  Methoden,  welche  zur  Auffindung  der 
Lösung  führen  können,  erläutert  durch  zahlreiche,  zum  Tbeil  prak- 
tischen Anwendungen  entnommene  Beispiele. 

Der  zweite  Band  des  Werkes  enthält,  wie  wir  schon  oben  er- 
wähnt haben,  die  Darstellung  einer  sehr  glücklich  getroffenen  Aus- 
wahl von  Gegenständen  aus  den  höheren  Theilen  der  Analysis. 

Das  erste  Capitel  dieses  Bandes  behandelt  unter  dem  Titel 
»Die  höheren  Differentialquotienten«  in  eleganter  und  vollständiger 
Darstellung  diejenigen  Formeln,  welche  sich  beziehen  auf  die  höhe- 
ren Differentialquotienten  der  Functionen  von  Functionen,  und  die 
Differentialquotienten  von  Functionen  nach  neu  eingeführten  Va- 
riablen genommen. 

Bei  der  Theorie  der  Functionen  complexer  Variablen  hätten 
wir  gewünscht,  dass  die  nach  unserer  Ansicht  eiuzig  richtige  und 
auf  den  Grund  gehende  Definition  der  Functionen  complexer  Va- 
riablen, nämlich  die  von  Riemann,  die  der  Verfasser  nur  beiläufig 
in  einer  Anmerkung  erwähnt,  etwas  mehr  in  den  Vordergrund  ge- 
rückt worden  wäre,  anstatt  den  Betrachtungen  mathematische 
Ausdrücke  in  x-f-iy  zu  Grunde  zu  legen;  denn  da  schon  im  fol- 
genden Abschnitt  bei  reellen  Variablen  der  Begriff  der  willkür- 
lichen Functionen  eingeführt  wird,  so  können  hinsichtlich  der  Aus- 
dehnung dieses  Begriffs  auf  complexe  Variable  bei  einem  aufmerk- 
samen Leser  leicht  Zweifel  und  Irrthümer  entstehen.  Dagegen  ist 
sehr  anzuerkennen  der  Theil  dieses  Abschnittes,  der  von  deu  un- 
endlichen Reihen  mit  complexen  Variablen  handelt  Es  ist  darin 
alles  geleistet,  sowohl  was  Vollständigkeit  als  was  Genauigkeit  und 
Strenge  anlangt,  was  billiger  Weise  von  einem  Lohrbuch  verlangt 
werden  kann. 

Der  folgende  Abschnitt  handelt  von  den  periodischen  Reihen. 
Hier  ist  zuerst  die  Ableitung  dieser  Reihen  durch  eine  Substitution 
aus  den  Potenzreihen  mitgotheilt,  eine  Ableitung,  welche  bei  steti- 
gen periodischen  Functionen,  wie  z.  B.  die  elliptischen  Functionen 
vollständig  genügt,  und  auch  unter  gewissen  Beschränkungen  auf 
complexe  Variable  ausgedehnt  werden  kann. 

Hierauf  folgt  der  berühmte  Beweis  von  Dirichlet  für  die  Ent- 
wickelbarkeit  selbst  unstetiger  ^villkürlicher  Functionen  reeller  Va- 
riablen zwischen  gegebenen  Grenzen.  Im  Ganzen  hat  sich  der  Ver- 
fasser dabei  an  die  Darstellung  von  Dirichlet  selbst  ziemlich  genau 
gehalten,  abgesehen  von  einer  kleinen  Abweichung,  deren  Nutzen 
uns  beiläufig  bemerkt  nicht  recht  einleuchtet.  Indessen  lässt  sich 
gegen  die  Strenge  und  Vollständigkeit  sowohl  dieses  Abschnittes 
als  des  folgenden,  der  von  den  Fourier'schen  Integralen  handelt, 
nichts  einwenden. 

(8chlus8  folgt) 


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k.  13.  •  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Schlömich:  Höhere  Analyst 

(SchlUBS.) 

Den  Abschnitt,  welcher  von  den  Beruoullischen  Functionen 
und  halbconvergenten  Reihen  handelt,  möchten  wir  für  einen  der 
gelungensten  Theile  des  ganzen  Werkes  halten.  Viele  der  hier  mit- 
gdtbeilten  Entwicklungen,  welche  sich  durch  Einfachheit  und  Ele- 
ganz auszeichnen,  sind  des  Verfassers  Eigenthum,  und  sehr  klar 
and  durchsichtig  tritt  dabei  der  Begriff  der  halben  Convergenz  zu 
Tage.  Den  Schluss  der  ersten  Lieferung  des  zweiten  Bandes  bildet 
die  Theorie  der  Gammafunctionen. 

Die  zweite  Lieferung  behandelt  in  ihrem  ersten  und  haupt- 
sächlichsten Theil  die  Theorie  der  elliptischen  Integrale  und  ellip- 
tischen Funktionen.    Obwohl  es  keine  leichte  Aufgabe  ist,  eine 
Theorie,  die  einen  solchen  Umfang  gewonnen  hat,  wie  die  der 
elliptischen  Functionen,  in  einem  beschränkten  Raum ,  wie  er  in 
dem  vorliegenden  Werke  derselben  eingeräumt  werden  konnte,  mit 
genügender  Gründlichkeit  zu  behandeln,  so  dass  weder  etwas  Wesent- 
liches ausgelassen,  noch  bei  weniger  wichtigem  allzulange  verweilt 
wird,  so  können  wir  doch  dem  Verfasser  die  Anerkennung  nicht 
versagen,  dass  er  bei  der  Auswahl  mit  grosser  Umsicht  verfahren 
ist  und  dass  ohne  Zweifel  durch  seine  Darstellung  der  Leser  einen 
richtigen  Begriff  von  dem  Wesen  der  elliptischen  Functionen  er- 
halten wird.    Auch  der  Weg,  den  der  Verfasser  zur  Begründung 
der  Theorie  gewählt  hat,  scheint  uns  unter  den  verschiedenen  Wegen 
die  man  schon  zu  gleichem  Zweck  betreten  hat,  wenigstens  für  das 
anfängliche  Studium  bei  weitem  den  Vorzug  zu  verdienen ,  da  er 
naturgemäss  und  fasslich  ist  und  nicht  gleich  von  vorn  herein  mit 
neuen  schweren  Begriffen  und  Definitionen  anhebt.    Es  ist  der 
Weg,  welcher  ausgeht  von  dem  aus  den  Elementen  geläufigen  Be- 
griff des  elliptischen  Integrals,  und  dann  die  elliptischen  Functionen 
als  obere  Grenzen  des  Integrals,  oder  was  auf  dasselbe  hinaus- 
kommt, durch  Differentialgleichungen  definirt. 

Gleichwohl  haben  wir  einige  Punkte  vermisst,  die  uns  zur 
Förderung  des  Verständnisses  und  des  Zusammenhangs  sehr  nütz- 
lich erscheinen.  So  hätten  wir  namentlich  gewünscht,  wenn  auch 
nicht  die  allgemeine  Theorie  der  algebraischen  Transformation, 
doch  eine  genaue  und  systematische  Discussion  der  Substitution 
der  «weiten  Ordnung  zur  Transformation  auf  die  Normalform,  haupt- 
LiX.  Jahrg.  8.  Heft.  13 


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194 


Schiß  mich:  Höhere  Analysia. 


sächlich  aas  der  Kormalform  in  die  Normalform  zurück.  Diese  Sub- 
stitutionen, von  denen  einige  der  Verfasser  auch  gelegentlich  be- 
nutzt, besitzen  die  grosse  Tugend,  dass  sie  sich,  einmal  aufgestellt 
und  richtig  festgehalten ,  wie  ein  rother  Faden  durch  die  ganze 
Theorie  bis  zu  den  letzten  Theileu  hindurch  ziehen  und  System 
und  Ordnung  in  die  ungeheure  Fülle  von  Formeln  bringen ,  die 
sonst  planlos  und  gewissermassen  zufallig  aufgehäuft  erscheinen. 

Ferner  vermissen  wir  bei  der  Einf  ührung  der  Function  sin  am 
den  Beweis  der  Eindeutigkeit  dieser  Function,  was  um  so  mehr 
auffällt,  als  der  Beweis  der  Eindeutigkeit  von  cos  am  z/am  gelie- 
fert ist  unter  der  Voraussetzung  der  Eindeutigkeit  von  sin  am. 

Was  die  Ableitung  der  unendlichen  Entwicklungen  für  die 
elliptischen  Functionen  anlangt,  so  wird  darüber  wohl  kaum  ein 
Bedenken  erhoben  werden  können.  Namentlich  ist  die  Methode  der 
Ableitung  der  unendlichen  Produkte  aus  den  Reihenentwicklungen 
der  Logarithmen  interessant. 

Bei  den  periodischen  Reihen  für  die  elliptischen  Functionen 
hätte  die  Bemerkung  gemacht  werden  sollen ,  dass  diese  Reihen 
auch  noch  für  gewisse  complexe  Werthe  der  Variablen  Geltung  be- 
halten, nämlich  für  solche,  welche  in  einem  unendlichen  Streifen 
liegen,  welcher  der  reellen  Axe  parallel  läuft  und  sich  in  der  Rich- 
tung der  imaginären  Axe  von  — iK'  bis  -{"iE1  erstreckt. 

Wenn  der  Verfasser  angibt,  dass  die  Reihen  für  sin  am  u  cos 
am  u  für  complexe  Werthe  des  Arguments  divergent  werden ,  so 
beruht  dies  auf  einem  Irrthum,  wie  man  sofort  erkonnt,  wenn  man 
2.  B.  das  Argument  rein  imaginär  und  zwisohen  —  iK1  und  -f-iK* 
gelegen  annimmt. 

Den  Schluss  der  Betrachtungen  über  die  Reihenentwicklungen 
für  die  elliptischen  Functionen  bilden  einige  Andeutungen  über  die 
Art  und  Weise,  wie  man  den  Begriff  der  Thetareihen  als  Aus- 
gangspunkt für  die  Begründung  der  Theorie  der  doppelperiodischeu 
Functionen  benuÄen  kann,  eine  gewiss  nicht  tiberflüssige  Zugabe, 
durch  welche  für  die  Theorie  der  elliptischen  Functionen  dem  Leser 
wesentlich  neue  Gesichtspunkte  erschlossen  werden,  die  ihm  bei 
eingehenderen  Studien  von  grossem  Nutzen  sein  können. 

Das  folgende  Capitel  enthält  unter  dem  Titel  »die  vielfachen 
Integrale  zunächst  die  Theorie  der  Transformation  mehrfacher  be- 
stimmter Integrale  auf  neue  Variable,  wobei  auch  in  möglichster 
Kürze  der  Begriff  der  [Determinanten  auseinandergesetzt  ist;  ferner 
die  Darstellung  der  Diricblet'schen  Metbode  der  Auswerthung  viel- 
facher Integrale  mittels  des  diskontinuirlichen  Faktors. 

Der  letzte  Abschnitt  des  Werkes  endlich  beschäftigt  sich  mit 
der  schönen  Theorie  der  Integration  linearer  Differentialgleichungen 
zweiter  Ordnung  mit  verändlichen  Coefficienten. 

Wir  hoffen,  dass  es  uns  gelungen  ist,  durch  diese  Darlegung 
des  Inhaltes  unser  am  Eingang  ausgesprochenes  ürtheil  zu  bekräf- 
tigen, Und  wenn  wir  auch  hin  und  wieder  Ausstellungen  zu  machen 


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Bergmann:  Entwicklung  der  Pfarreien  n.  Klöeter  Vorarlberg^.  196 

karten,  so  bezogen  sich  diese  auf  Einzelheiten,  welohe  dem  Werth 
des  ganzen  Werkes  in  keiner  Weise  Abbruch  thun.  Wir  sohliessen, 
indem  wir  das  Werk  nochmals  angelegentlich  allen  Denen  empfeh- 
len, die,  sei  es  zu  praktischen  Zwecken,  sei  es  Behufs  wissenschaft- 
licher Studien  mit  den  Grundsätzen  der  höheren  Analysis  sich  ver- 
traut zu  machen  veranlasst  sind. 

Heidelberg  im  Marz  1867.  H.  Weber. 


Chronologische  Entwicklung  sämmtlicher  Pfarren  und  ihrer  Filialen, 
wie  auch  der  Klöster  in  den  sechs  Decanaten  Vorarlbergs.  Mit 
topographisch-historisch-statistischen  Anmerkungen  und  einem 
Anhange  ühtr  den  Namen  „Vallis  Drusiana."  Herausgegeben 
von  Dr.  Joseph  Ritter  von  Bergmann,  wirklichem  Mit- 
gliede  der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften.  (Vorge- 
legt in  der  Süsung  der  philosophisch-historischen  Classe  am 
4.  JuU  1866.)  Wien  k.  k.  Hof-  und  Staatsdruckerei.  In  Com- 
mission  bei  Karl  Qerold's  8ohn^  Buchhändler  der  kaiserlichen 
Akademie  der  Wissenschaften  1866.  34  8.  4. 

Der  in  diesen  Blättern  so  vielfach  anerkannte  Forscherfleiss 
des  gelehrten  Verf.  des  oben  angegebenen  Werkes,  hat  in  diesem 
der  geschichtlichen  Spocial Wissenschaft  einen  neuen  Beitrag  gegeben, 
der,  an  und  für  sich  interessant,  ein  Muster  ähnhoher  Arbeiten 
sein  kann,  wie  sie  gerade  in  neuester  Zeit  im  Grossherzogthum 
Baden  in  Angriff  genommen  werden  sollen. 

Das  kleinste  Kronland  des  Österreichischen  Kaiserstaates,  Vor- 
arlberg (45,22  Quadr .-Meilen  mit  109,491  katholischen  Einwoh- 
nern, dazu  mit  jetzt  etwa  400  protestantischen  und  700  jüdischen) 
war  nach  seiner  kirchlichen  Eintheilung  ursprunglich  unter  der 
Pflege  dreier  Bisthümer,  Ohur,  Constanz  ttnd  Augsburg, 
wurde  unter  baieriseber  Herrschaft  1808  tb  eil  weise  dem  Bisthum 
Brixen  untergeordnet  und  endlich  1819  dem  Generalvicariat  zu 
Feldkirch,  da  die  Residenz  Brixen  von  dem  Ländchen  denn  doch 
allzu  ferne  lag. 

Diese  verwickelten  Verhältnisse ,  die  Zerstreuung  der  Akten- 
stücke in  so  viele  Archive  musste  für  die  Erforschung  der  kirch- 
lichen Geschichte  Vorarlberg^  ein  bedeutendes  Hemmniss  sein. 

Prot  Franz  Anton  Sinnacher  in  Brixen  hat  in  seinem  Werke 
»Beitrage  zur  Geschichte  der  bischöflichen  Kirche  von  Sähen  und 
Brixen  (9  Bände  1821  — 1885)  wenigstens  kurze  Notizen  Uber  ein- 
zelne vorarlberg'sche  Pfarren  gegeben.  Vielleicht  war  gerade  sein 
Werk  die  Veranlassung,  dass  1832  das  Landesgubernium  in  Tirol 
dio  beiden  Ordinariate  von  Trient  und  Brixen  aufforderte,  eine 
kirchliche  Topographie  und  Statistik  ihrer  Diocesen 
auszuarbeiten.  Sinnacher  entwarf  den  Plan  dazu  nach  10  Rubriken; 


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196     Bergmann:  Entwicklung  der  Pfarreien  u.  Klöster  Vorarlberg V 


I.  Name,  Ursprung  und  Lage  des  Orts.  II.  Weltliche  Herrschaft. 
Seelenzahl,  Nahrungszweige.  III.  Kirchliche  Verhältnisse.  IV.  Kirch- 
liche Gebäude,  Stiftungen.  V.  Filialkirchen,  Klöster.  VI.  Kirchliches 
Vermögen.  VII.  Reihe  der  Seelsorger.  VEUL  Schulen.  IX.  Wohl- 
thätigkeitsanstalten.  X.  Namen  aasgezeichneter  Personen.  Die  Geist- 
lichkeit sollte  bis  1834  ihre  Arbeiten  hierüber  einsenden.  Eine 
Bearbeitung  derselben  konnte  Sinnacher  nicht  mehr  vollenden;  er 
hinterliess  die  Arbeit  seinem  Schüler,  Regens  Tinkhauser,  der  1855 
den  ersten  Band  erscheinen  liess,  vom  zweiten  Band  bis  1860  acht 
Hefte  herausgab.  Vorarlberg  ist  darin  noch  nicht  vertreten.  Es  war 
deshalb  des  Verf.  Verdienst,  dass  er  1845  aus  den  genannten  Materialien 
Aufzeichnungen  machte  und  nach  denselben  1849  die  chronologische 
Genesis  der  Pfarren  der  Decanate  Montavon,  Sonneuberg  und  Bre- 
genzerwald in  Tabellenform  veröffentlichte.  Ihm  folgte  der  Jesuiteu- 
pater  Franz  Joller  mit  einer  »chronologischen  Entwicklung  der 
Pfarreien  Vorarlberg^«,  die  1862  dem  Bischof  Joseph  Fessler 
(jetzt  in  St.  Pölten)  übergeben  wurde,  aber  nur  den  Ort,  Kirchen- 
heiligen  und  das  Jahr  der  Entstehung  einer  Seelsorge  ohne  weitere 
Bemerkungen  enthält,  also  abgesehen  von  manchen  Berichtigungen 
der  Erweiterung  bedurfte. 

Beides  gab  der  Verf.  in  seiner  Schrift  mit  Hinzufugung  der 
Curatien  und  Exposituren  nach  einem  reichen  Quelle n schätze ,  der 
S.  5  u.  6  aufgeführt  ist.  Seine  Arbeit  ist  in  tabellarischer  Form ; 
die  sechs  Decanate  des  Ländchens  mit  Angabe  ihres  Flächeninhalts, 
der  Einwohnerzahl  auf  je  einer  Tafel,  gefolgt  von  erläuternden  An- 
merkungen. 

Wie  klar  und  plastisch  sich  in  solcher  Bearbeitung  die  Einzel- 
verhältnisse herausstellen,  mag  das  einzige  Beispiel  zeigen  von  Taf. 
IV  Decanat  Bregenz  4,19  Quadr.-Meilen  17  Pfarreien,  2  Fxposi- 
turen  22,295  Einw.  und  36  Schulen.  I.  Columne :  Bregenz.  Capelle 
der  hl.  Aurelia;  Columban  u.  Gallus  610—612.  II.  Columne:  die 
12  von  dieser  Mfctterkirche  nach  und  nach  getrennten  Pfarren  a. 
Lauterach  (villa  Luttraha  u.  Lutaraha  853  u.  855;  ecclesia  de 
Lutrah  1227,  1280  u.  1249  Capella  S.  Georgii  in  Lutrache.  Caplanei 
1444,  Pfarre  zum  hl.  Georg  1618  mit  1824  Einw.  und  2  Schulen, 
b.  Alberschwonde,  c.  Hard  u.  8.  f.  Die  III.  Columne :  hinter  d.  Wol- 
furt,  enthält  dessen  Filiale  Buch,  Capelle  des  hl.  Petrus  seit  1084? 
[Wolfurt  selbst  ist  erst  1512  Pfarre]  eigene  Caplanei  1508,  Pfarre 
zu  St.  Peter  und  Paul  1760.  485  Einw.  u.  1  Schule.  Bildstein, 
Schwarz  ach,  Dören  mit  den  betr.  Angaben.  Nicht  ganz  klar 
ist  die  Bezifferung  a  und  b  bei  den  folgenden  Pfarren  Hohenweiler 
und  Riefensborg.  Die  letztere  Pfarre  ist,  wie  in  einer  Anmerkung 
angegeben  fst,  keine  Tochterkirche  zu  Bregenz.  In  den  folgenden 
Anmerkungen  sind  die  Bestandtheile  des  Decanats  nach  der  poli- 
tischen Eintheilung  gegeben,  sodann  die  Entstehung  einer  kirch- 
lichen Niederlassung  durch  die  oben  erwähnten  Glaubensboten  und 
die  Geschichte  des  Klosters  Mehrerau  behandelt.  —  Schon  hier 


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Bergmann:  Entwicklung  der  Pfarreien  n.  Klöster  Vorarlberg**.    1 97 


sind  anziehende  geschichtliche  Fragen  angeregt.  Mit  vollem  Rechte 
zweifelt  z.  B.  der  Verf.,  dass  die  von  den  Alemannen  zerstörte  und 
von  Gallus  wiederhergestellte  Aureliakapelle  einer  der  10,000  Jung- 
frauen geweiht  gewesen  sei.  Dergleichen  Sagen  von  zurückgeblie- 
benen Gefährtinnen  der  hl.  Ursula  wiederholen  sich  auch  ander- 
wärts z.  B.  bei  der  Chrischonakirche  und  dem  Odilienberg  bei 
Basel  und  Colmar,  und  es  wird  das  Wahrscheinlichste  sein ,  dass 
ihr  Name  in  einem  der  Catakombengräber  oder  einem  der  ältesten 
christlichen  Dypticben  sich  finden  könnte.  Auch  das  ist  eine  feine 
Bemerkung,  die  der  Verf.  bei  Bregenz  macht,  dass  damals  schon, 
als  Gallus  in  jene  Gegend  kam ,  die  Bevölkerung  aus  romanischen 
und  alemannischen  Elementen  gemischt  war.  Durch  diese  Annahme 
erklärt  sich  auch  am  natürlichsten  die  Verdrängung  der  beiden 
Glanbensboten  durch  den  Alemannenherzog  Gunzo,  die  Uebersied- 
lung  des  Columban  nach  Italien  und  das  Zurückbleiben  Galls,  erst 
im  romanischen  Grabs ,  endlich  vielleicht  auch  noch  die  spätem 
Kämpfe  der  rbätischen  und  alemannischen  Gaugrafen  im  Rheinthal, 
von  welchen  die  Petershainer  Chronik  weiss.  Urkundlich  wird  sie 
durch  die  Sonderung  der  Zeugen  in  romanische  und  deutsche  im 
St.  <;  aller  Cod.  Traditionum  und  in  dem  alten  Formelbuche  des 
9.  Jahrhundert  bestätigt,  von  welchem  Ref.  in  seinen  »Quellen  und 
Forschungen«  einige  Bruchstücke  herausgegeben  hat;  —  denn  dass 
Bruchstücke  einem  St.  Galler  oder  Churer  Formelbuch  angehörten 
—  vielleicht  einem  Anhang  der  8  g.  lex  romana  Utinansis,  welche 
nach  HegeVs  scharfsinniger  Ausführung  ja  gerade  hier  ihre  Heimath 
hat  —  ist  dem  Ref.  nach  Autopsie  jener  Bruchstücke  in  der  Kloster- 
bibliothek zu  St.  Gallen  zur  Ueberzeugung  geworden.  (Vgl.  Hegel 
Städteverf.  von  Italien  II.  8.  104 ff. ,  mit  dem  Bemerken,  dass 
S.  124  die  Gerichtstätte  Vinonna  nicht  Venonica  im  Lugnezthal, 
sondern  das  von  unserm  Verf.  S.  9  genauer  behandelte  und  scharf 
geschiedene  Vinomna  —  bei  dem  spätem  alemannischen  Ranckwyl 
im  Rheinthale  —  ist,  die  älteste  Mallstätte  des  rhätischen  Rhein- 
thals und  schon  durch  die  Fridolinslegende  bekannt.) 

Ebenso  richtig  ist  des  Verf.  Bemerkung  gegen  die  Legenden 
Über  das  Alter  von  Mehrerau  (S.  19),  dessen  Nekrologienbuch  der 
Verf.  im  V.  Band  der  Denkwürdigkeiten  der  philologisoh-historischen 
Gasse  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  herausgegeben  hat. 
Ganz  sicher  ist  nach  allen  daselbst  aufgeführten  Merkmalen  die 
Zeit  der  Gründung  nicht  die  des  Aufenthalts  von  Columban  und 
Gall  in  jener  Gegend,  sondern  das  Jahr  1097,  in  welches  man  ge- 
wöhnlich die  Restauration  desselben  sotzt.    Mehrerau  übrigens 
ist  nicht  das  einzige  Kloster  Vorarlberg^,  mit  dessen  Schicksalen 
sich  der  Verf.  beschäftigte,  sondern  sämmtliche  Klöster,  8  Orden 
gehörig,  Bofern  sie  Mannsklöster  sind  und  6  sofern  sie  von  Frauen 
Wohnt  sind,  im  Ganzen  20,  ohne  die  12  Stationen  barmherziger 
Schwestern  zurechnen,  sind  aufgezählt  und  beschrieben  (S.  26  — 29); 
ebenso  S.  29—32  die  Besitzungen  und  Gefalle  auswärtiger  Gottes- 


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106  Dletsch:  Lehrbuch  der  Geschichte  II,  2. 

hüuBor  in  Vorarlberg,  ein  schönes  Stück  rhätisch  alemannischer 
SpecialgeBchichte.  Ein  Anhang  endlich  S.  33 — 34  handelt  über  den 
Namen  Vallis  Drusiana.  Die  bisherige  Annahme,  dass  er  von 
Drusus,  dem  Stiefsohne  des  Augnstus  sich  herleite,  wird  vom  Verf. 
schon  nach  dem  Umstände  bezweifelt ,  dass  durch  dasselbe  keine 
Heerstrasse  zieht  und  dass  die  via  Claudia,  welche  eine  verbesserte 
Führung  der  von  Drusus  angelegten  Strasse  ist,  nach  den  aufge- 
fundenen Steinen  bei  Rabland  und  Cesio  bei  Feltre  in  andern  Rich- 
tungen führt  —  durch  die  Val  Sngana  auf  die  Veroneserstrasse 
und  durch  das  Vintschgau  in  das  Intbal  und  diesem  folgend  in  die 
vindelioische  Ebene  — .  Dagegen  wird  der  Name  Druso,  Drnsio 
schon  801—803  in  diesen  Gegenden  nachgewiesen;  Drucio,  Tri- 
sune  —  wir  fügen  auoh  Truns  bei  —  werden  unserer  Ansicht  nach 
als  verwandte  Stämme  herbeigezogen.  Wir  wiederholen  es,  es  ist 
ein  schöner  Beitrag,  der  auch  über  das  Gebiet  der  Pastot ations- 
angelegenheiten  hinausreicht,  dessen  wir  uns  in  dem  augezeigten 
Werke  erfreuen  und  —  er  erregt  den  Wunsch,  dass  bald  weitere 
Aufklärungen  über  das  Heimathländchen  vom  Verf.  veröffentlicht 
werden  möchten. 

Mannheim  im  März  1867.  Fickler. 


Uhrbuch  der  Geschichte  für  die  oberen  Klassen  der  Gymnasien  und 
9um  Selbststudium.  Von  Rudolf  Dietsch.  Zweite  voll- 
ständig neu  bearbeitete  Auflage.  Zweiten  Bandes  2weite  Ab- 
theilung:  die  Zeit  von  Karl  dem  Grossen  bis  zu  den  Krem- 
sügen.  IMpzig.  Druck  und  Verlag  von  B.  Q.  Teubner  1866. 
VI  und  415  8.  gr.  8. 

Die  vorausgehenden  Theile  dieses  Werkes  sind  in  diesen  Jahrbb. 
1860  8.  523  0.  und  1861  p.  875  ff.  nach  Anlage  und  Ausführung 
näher  besprochen  und  ist  dabei  Zweck  und  Bestimmung  des  Ganzen 
augegeben  worden.  Was  den  letzten  Punkt  betrifft,  so  kommt  der 
Verf.  in  dem  dieser  Abtheilung  vorgesetzten  kurzen  Vorwort  dar- 
auf zurück,  indem  er  sich  gegen  die  (in  diesen  Blättern  wenigstens 
nicht  gemachte)  Unterstellung  verwahrt,  als  habe  er  die  Absiebt 
gehabt  mit  diesem  Buche  ein  Compendium,  einen  Leitfaden  zum 
Unterrioht  in  den  obern  Classen  zu  liefern.  Wer  in  dem  Werke, 
wie  es  in  den  früheren  Theilen,  und  wie  es  in  diesem  Theile  vor- 
liegt, nur  einigormassen  sich  umgesehen  hat,  wird  auf  eine  solche 
Behauptung  niobt  verfallen  können,  da  es  zu  einem  solchen  Zweck, 
schon  bei  seiner  grösseren  Ausführlichkeit  und  nach  der  ganzen 
Darstellung  s-  und  Heb  and  In  ngs  weise  des  Stoffs,  gar  nicht  angelegt 
erscheint.  »Das  Buch  ist  lediglich  bestimmt,  den  Resultaten  der 
wissenschaftlichen  Forschung,  so  weit  ich  dieselben  an  den  Quellen 
zu  prüfen  verooobta,  den  Eingang  in  die  Schulen  zu  öffnen,  und 


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Dietsch:  Lehrbuch  der  Geschichte  II,  2. 


199 


dem  denkenden  und  eindringenden  Selbststudium,  welches  neben 
dem  Vortrag  und  der  Erläuterung  in  den  Unterrichtsstunden  noth- 
wendig  ist,  wenn  das  richtig  erkannte  Ziel  der  Gymnasialbildung 
auch  in  diesem  ihrem  wichtigen  Theile  erreicht  werden  soll,  zu 
dienen.  Nicht  einem  ausgedehnten  Gedächtnisswissen,  sondern  der 
durch  aufmerksame  Leetüre  zu  verarbeitenden  historischen  An- 
schauung von  bedeutenden  Personen,  Völkern  und  Zeiträumen  för- 
derlich zu  werden,  habe  ich  mit  grosser  Anstrengung  unter  vielen 
Störungen  gearbeitet.«  Von  keinem  andern  Standpunkt  aus  haben 
auch  wir  das  Ganze  betrachtet,  und  halten  dasselbe  für  eine  sehr 
passende  Leetüre  eines  Schülers  der  oberen  (  lassen  oder  selbst  der 
Universität ,  der  sich  näher  und  in  gründlicher  Weise  über  das 
belehren  will,  was  im  Unterricht  selbst  ihm  nur  in  Umrissen  ge- 
boten werden  konnte ;  ja  wir  gehen  selbst  weiter  und  nehmen  kei- 
nen Anstand,  auch  weiteren  gebildeten  Kreisen ,  die  sich  über 
die  Vergangenheit  belehren  und  aus  ihr  auch  die  Gegenwart 
kennen  zu  lernen  wünschen,  dieses  Geschichtswerk  zu  empfehlen. 
Denn  es  weht  ein  frischer  und  wohltbuender  Geist  in  dem  Ganzen, 
das  Herbe  und  Schroffe  des  Urtheils  stosst  uns  nicht  ab,  noch 
wird  es  jugendliche  GemUther  zu  absprechender  Anmassung  ver- 
leiten, und  dadurch  einen  Geist  in  ihnen  anregen,  den  oine  gute 
Belehrung  vor  Allem  fern  halten  soll;  eben  darum  glauben  wir 
von  der  sorgfältigen  Leetüre  des  anregenden  Buches  nur  wohl- 
thätige  Folgen  erwarten  zu  können. 

Die  vorliegende  Abtheilung,  die  fllr  sich  einen  ganz  ordent- 
liehen  Band  füllt,  hat  im  ersten  Abschnitt  die  Regierung  Karls 
des  Grossen  zum  Gegenstande,  im  zweiten  den  Verfall  des  Franken- 
reiches bis  zu  dem  Tode  Karls  des  Dioken.  Wir  freuen  uns  in 
diesem  Abschnitte  die  Bedeutung  Karls  des  Grossen  nach  ihrem  vollen 
Grade  gewürdigt  und  dargestellt  zu  sehen,  wir  verweilen  gerne  bei  dem 
Bilde,  das  der  Verf.  von  diesem  wahrhaft  grossen  Regenten  aufstellt, 
mit  dem  allerdings  eine  neue  Welt  beginnt,  die  aber  die  Bildungs- 
keime der  alten  in  sich  aufgenommen,  neu  zu  beleben  und  weiter 
fortzubilden  verstanden  hat.  Durch  Karl  den  Grossen  ist,  abge- 
sehen von  allen  sonstigen  Verdiensten,  die  Wissenschaft  des  clas- 
sischrn,  zunächst  römischen  Alterthums  erhalten  und  zur  Grundlage 
der  höheren  Bildung  für  alle  folgenden  Zeiten  gemacht  worden. 
Der  Verf.  stellt  zuerst  die  äusseren  Verhältnisse  dar,  unter  welchen 
Karls  des  Grossen  Reich  entstanden  ist  und  schliesst  (S.  17)  mit 
folgender  Betrachtung:  »Das  Kaiserthum,  wie  es  durch  Karl  den 
Grossen  aufgestellt  ward,  ist  von  dem  römischen  wesentlich  ver- 
schieden. Denn  wenn  es  auch  als  die  von  Gott  verliehene  höchste 
Gewalt  betrachtet  und  geltond  gemacht  wurde  —  weshalb  Karl 
808  durch  Sendboten  von  allen  Bewohnern  einen  neuen  Hul- 
digungseid, der  höhere  Pflichten  für  ihn  in  Anspruch  nahm,  schwö- 
ren liess  — ,  so  war  es  doch  nicht  despotische  Allgewalt,  sondern 
blieb  auf  den  historisch  entwickelten  germanischen  Verfassungs- 


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200 


Di  et  seh:  Lehrbuch  der  Geschichte  IT,  2. 


Verhältnissen  beruhen,  und  beaufsichtigte,  lenkte,  richtete  nur  die 
freie  Bewegung  in  den  engern  Kreisen,  nm  sie  in  Uebereinstimmung 
mit  dem  göttlichen  Gesetz  zu  erhalten.  Keine  Aufhebung  des  In- 
dividuellen und  Nationalen ,  sondern  nur  die  Einigung  des  Ver- 
schiedenartigen durch  ein  höheres  Band  lag  in  seinem  Wesen.  Und 
dieses  Band  gibt  die  christliche  Kirche,  deren  Schirmer  und  Be- 
wahrer der  Kaiser  ist.  Von  ihr  hat  er  die  göttliche  Majestät,  von 
ihr  empfängt  er  aber  auch  streng  bindende  Richtschnur  und  Be- 
dingung. Noch  steht  er  über  der  Spitze  der  Kirche,  aber  er  ist 
nicht  deren  Oberherr,  nur  der  Leiter  und  Bestätiger  von  deren 
Beschlüssen.  Wie  in  dem  übrigen  ist  auch  hier  seine  Stellung  ab- 
hängig von  der  Art,  wie  er  sie  geltend  zu  machen  vermag.  Darin 
dass  der  Papst  die  Krone  im  Namen  der  Kirche  verleiht,  liegt  ein 
Anspruch,  der  in  Conflicten  bis  zum  Rechte  der  Wiederentziehung 
gesteigert  werden  muss,  während  die  weltliche  Unterthänigkeit  jenes 
denselben  zurückweist.  Die  Kaiserkrönung  Karls  des  Grossen  ist 
das  bedeutendste  Moment  zur  geschichtlichen  Entwicklung  des  Mit- 
telalters, mit  ihr  ist  dasselbe  erst  vollständig  ins  Leben  eingetreten.« 

Darauf  schildert  der  Verf.  in  eigenen  Unterabschnitten  Karls 
des  Grossen  Thätigkeit  im  Innern  des  Reichs,  und  seine  Persön- 
lichkeit, seine  Familie,  seinen  Tod;  er  geht  zuerst  auf  die  seinem 
Reiche  gegebene  Verfassung  und  Verwaltung  ein ,  dann  auf  die 
Kirche,  auf  Wissenschalt  und  Kunst,  wie  auf  Einkünfte,  Handel, 
Industrie  und  Ackerbau.  Wir  können  es  uns  nicht  versagen,  auch 
daraus  eine  Stelle,  als  eine  weitere  Probe,  mitzutheilen,  und  zwar 
diejenige,  welche  die  Erörterung  des  Verhältnisses  Karls  des  Gros- 
sen zur  Kirche  einleitet.  »Am  erhabensten  und  herrlichsten,  so 
spricht  sich  der  Verf.  S.  21  aus,  erscheint  Karl  der  Grosse  durch 
die  Art,  in  welcher  er  sein  Verhältniss  zur  Kirche  auffasste  und 
durchführte.  Factisch  war  er  der  Oberherr  auch  dieser.  Der  Papst 
war  von  ihm  abhängig ;  dessen  Wahl  hieng  von  seiner  Bestätigung 
ab  und  der  ihm  geleistete  Huldigungseid  war  die  dazu  nothwendige 
Bedingung  Weit  entfernt  davon  das  Oberhaupt  der  fränkischen 
Kirche  zu  sein,  bildete  jener  nur  die  Spitze  des  geistlichen  Hirtcn- 
und  Beamtenthums;  er  war  der  oberste  Berather  und  Stimmab- 
geber in  den  kirchlichen  Angelegenheiten,  aber  der  Kaiser  stand 
über  ihm.  Von  diesem  wurden  zwar  die  Bischöfe  und  Aebte  nicht 
selbst  gewählt,  aber  sein  Wille  war  doch  bei  der  Wahl  das  allein 
massgebende,  da  die  Weihe  nur  auf  seinen  Befehl  vollzogen  wer- 
den durfte.  Kirchenversammlungen  durften  nur  auf  seine  Berufung 
oder  mit  seiner  Erlaubuiss  zusammentreten  und  von  ihm  hieng  die 
Bestätigung  der  Beschlüsse  ab;  sie  abzuändern  und  zu  ergänzen 
lag  in  seiner  Befugniss  so  unzweifelhaft,  dass  Karls  des  Grossen 
Gesetze  in  die  kirchlichen  Rechts-  und  Gesetzbücher  Aufnahme, 
fanden.  Um  so  anerkennenswerther  ist,  dass  er  nie  den  Herrn 
der  Kirche  spielte,  sondern  sich  immer  als  den  ersten  Sohn  der- 
selben bewies,  wie  er  die  Freiheit  gewährend  doch  einen  solchen 


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Dietsch:  Lehrbuch  der  Geschichte  II,  2 


Geist  hervorzurufen  verstand,  dass  9ie  in  sich  ein  frisches,  kräftiges 
Leben  entwickelte  und  für  den  Staat  ein  wahrhaft  geistiges  und 
sittliches  Ferment  ward.  Das  eigene  Beispiel  konnte  hierzu  allein 
das  Beste  thun  und,  wer  den  Sinn  jeder  Zeit  zu  fassen  versteht, 
dem  kann  kein  Zweifel  darüber  beigehen ,  dass  Karl  der  Grosse 
nicht  allein  den  kirchlichen  Uebnngen  mit  grösstem  Fleiss  und 
Eifer  oblag,  sondern  dieselben  in  wahrhaft  christlichem  Sinn  trieb, 
nnd,  was  noch  höber,  im  Leben  wahres  Cbristenthum  zu  beweisen 
aafs  treueste  bedacht  war.«  Das,  was  über  seine  8orge  für  die 
Wissenschaft  und  deren  Wiederbelebung  gesagt  ist,  hätte  viel- 
leicht noch  Etwas  weiter  ausgeführt  werden  können,  wenn  anders 
der  Umfang  des  Ganzen  solches  verstattet  hätte ;  richtig  aber  wird 
hier  auch  auf  die  ttMilihunrren  Karls  des  Grossen  um  die  deutsche 
Sprache,  deren  Bildung  und  Förderung  hingewiesen,  worauf  wir  um 
so  lieber  aufmerksam  machen,  als  oftmals  die  entgegengesetzte  An- 
sicht sich  breit  machen,  und  Karl  den  Grossen  als  einen  gewaltsamen 
Unterdrücker  aller  volkstümlichen  Elemente,  blos  zum  Behuf  der 
eigenen  Herrschergewalt  darstellen  will.  Mit  gleichem  Interesse 
wird  man  der  weiter  folgenden  Darstellung  des  geschichtlichen  Ver- 
laufes unter  Ludwig  dem  Frommen,  Karl  dem  Kahlen  u.  8.  w.  bis 
zu  Karl  dem  Dicken  folgen ;  eine  eigene  Erörterung  ist  am  Schlüsse 
auch  hier  den  kirchlichen  Verhältnissen  gewidmet,  dabei  auch  S.  72 
auf  die  vielbesprochenen  Pseudoisidorischen  Decentralen  Rücksicht 
genommen,  deren  Entstehen,  wie  uns  scheint,  ganz  richtig  aus  dem 
Streben  abgeleitet  wird ,  der  Kirche ,  bei  dem  äusseren  Abbruch, 
den  sie  erlitten,  wieder  zu  einer  würdigeren  und  unabhängigeren 
Stellung  zu  verhelfen,  weil  man  die  darin  festgestellten  Satzungen 
für  nothwendige  Consequenzen  der  in  der  Kirche  liegenden  Ideen 
erkannte,  nnd  darum  um  so  lieber  annahm,  wenn  sie,  wie  hier,  als 
der  Kirche  längst  eigene  und  schon  früher  in  Anwendung  ge- 
brachte Satzungen  dargestellt  waren. 

Der  dritte  Abschnitt  enthält  das  deutsche  Reich  bis  zum  Er- 
lösehen des  waiblingischen  Königshauses  (887  — 1125)  in  drei  Ab- 
theilungen ,  deren  erste  die  beiden  letzten  Karolinger  befasst  (887 
—  911),  die  zweite  Deutschland  nach  dem  Erlöschen  des  Karolinger- 
stammes bis  zu  dem  Ende  des  sächsischen  Königshauses,  also  die 
Könige  und  Kaiser  aus  diesem  Stamm,  Heinrich  I.,  die  drei  Otto- 
nen  und  Heinrich  II.  bis  zum  Jahr  1024;  in  der  dritten  Abthei- 
lung folgen  die  fränkischen  (waiblingischen  oder  salischen)  Kaiser, 
Konrad  II.,  Heinrich  III.  IV.  und  V.,  bis  zum  Jahr  1125:  einge- 
schlossen ist  auch  der  Abschnitt,  der  die  Gründung  der  päpst- 
lichen Hierarchie  unter  Gregor  VII.  darstellt,  wobei  der  Verf.  ins- 
besondere Floto  und  Giesebrecht  benutzt  hat,  deren  Auseinander- 
setzungen freilich  in  neuester  Zeit  mehrfach  bestritten  worden  sind. 
Ein  eben  so  interessanter  Rückblick  (S.  288  f.)  schliesst  das  Ganze 
ab  und  sncht  in  allgemeinen  Umrissen  eines  treues  Bild  der  vor- 
hergegangenen Zustände  uns  vorzuführen.    Es  reihen  sich  daran 


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1)2 


Brandes:  Ausflug  nach  Norwegen. 


noch  einige  kleinere  Abschnitte  oder  Paragraphen,  welche  die  Ge« 
sohichte  derjepigen  Lander  oder  Landestheile  bringen ,  die  nicht 
wohl  in  den  vorausgehenden  Rahmen  eingefügt  werden  konnten, 
sondern  allerdings  eine  besondere  Behandlung  erheischten :  zuerst 
Frankreich  von  888  bis  1108  (die  beiden  letzten  Karolinger  und 
die  vier  ersten  Capetinger),  dann  England  von  800—1100,  also 
Alfred  der  Grosse  und  sein  Nachfolger,  die  dänischen  Herrscher, 
Knud  der  Grosse,  die  Rückkehr  des  angelsächsischen  Hauses  und 
die  normannische  Eroberung,  zum  Schlüsse  noch  Schottland  und 
Irland.  Dann  folgen  der  skandinavische  Norden,  Dänemark,  Nor- 
wegen und  Schweden ;  darauf  der  europäische  Osten  mit  Polen, 
Russland,  Ungarn ;  und  die  pyrenäische  Halbinsel,  zuerst  das  muha- 
medanische,  und  dann  das  christliche  Spanien.  Es  ist  zwar  bei 
allen  diesen  Abschnitten  mehr  oder  minder  auf  das  culturge- 
schichtliche  Interesse  Rücksicht  genommen :  indessen  ist,  was  man 
nur  billigen  kann,  am  Schlüsse  noch  ein  besonderer  Abschnitt  hin- 
zugekommen (S.  362  ff.),  welcher  den  Stand  der  Wissenschaft  und 
Bildung,  so  wie  die  einzelnen  hervorragenden  Leistungen  auf  die- 
sem Gebiete,  wie  auch  weiter  auf  dem  der  bildenden  Kunst  über- 
haupt darstellt.  Nun  erst  folgen  die  allerdings  von  dem  Voraus- 
gegangenen zu  trennenden  Abschnitte  über  das  oströmische  (byzan- 
zantinische,  griechische)  Reich  und  über  die  moslimische  Welt, 
während  der  Zeitperiode,  welche  in  dieser  Abtheilung  behandelt 
ist.  Auch  hier  wird  man  das  Culturhistorische,  und  die  Leistungen 
auf  dem  Gebiete  der  Wissenschaft,  Literatur  und  Poesie  in  ge- 
bührender Weise  berücksichtigt  finden. 

Nachdem  wir  auf  diese  Weise  kurz  den  Inhalt  so  wie  die 
Anordnung  des  Ganzen  dargelegt,  können  wir  nur  den  wieder- 
holten Wunsch  ausspreebeu,  dass  auch  dieser  Theil  des  verdienst- 
lichen Werkes  sich  der  gleichen  günstigen  Aufnahme  erfreuen  und 
damit  zur  Verbreitung  einer  richtigen  und  vorurteilsfreien  Er- 
kenntniss  und  Würdigung  der  Zeit,  auf  weloher  auch  unsere  ganze 
Bildung  ruht,  beitragen  möge. 


Ausflug  nach  Norwegen  im  Sommer  1866  von  Dr.  H.  K.  Brande*, 
Professor  und  Rector  des  Gymnasiums  su  Lemgo.  Detmold. 
MtytSsche  Hofbuchhandlung  1867.  112  S.  8. 

Der  letzte  Ausflug  des  Verfassers,  wie  diess  in  diesen  Jahr- 
büchern 1866.  S.  156  ff.  berichtet  worden,  führte  den  Leser  in  die 
so  wenig  bekannte  Üngarisch-Galizische  Gebirgswelt :  der  hier  in  be- 
sprechende führt  in  ganz  anderer  Richtung  nordwärts  zu  einem  Land, 
das  auch  noch  wenig  von  unserer  Reisewelt  durchzogen  und  daher 
auch  minder  bekannt,  doch  reich  an  grossartigen  Naturscenen  jeder 
Art,  den  um  der  Natur  willen  besuchtesten  Ländern  Europas  sich 


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Brandes:  Ausflug  nach  Norwegen. 


an  die  Seite  stellen  kann,  und  durch  die  einfacheren  und  natür- 
lichen Verhältnisse  der  Bewohner  um  so  anziehender  geworden  ist, 
auch  wenn  es  in  seinem  Innern  denjenigen  Comfort  vermissen  lässt, 
der  nns  an  manchen  Orten  der  Alpen  an  das  Treiben  der  grossen 
Weltstädte  erinnert,  das  wir  lieber  in  einer  grossartigen  Natur  ver- 
gessen möchten.    Und  dieses  Land,  welches  das  Ziel  des  vorjähri- 
gen Ausfluges  ward,  ist  uns  jetzt  durch  *lie  Dampfschiffahrt  un- 
gleich näher  gertickt,  indem  von  Hamburg  aus  Christiansand,  nahe 
der  südlichsten  Spitze  des  Landes,  dem  Cap  Lindesnäs,  in  36  Stun- 
den erreicht  ward.  Hier  betrat  unser  Verfasser  zuerst  den  Boden 
Norwegen' s  und  schiffte  sich  dann  nach  kurzem  Aufenthalt  auf  dem 
norwegischen  Dampfer  ein,  der  ihn  zuerst  in  die  altberühmte  Han- 
delstadt Bergen,  und,  nachdem  dieses  besichtigt  war,  von  da  nach 
Drontbeim  brachte.    Wohl  tauchte  in  der  Seele  unseres  Reisenden 
der  Wunsch  auf,  mit  dem  Dampfschiff  noch  weiter  nordwärts  nach 
H .immerfest  zu  fahren  und  von  hier  aus  das  nahe  Nordkap,  Europa' s 
nördlichste  Spitze  unter  dem  ein  und  siebenzigsten  nördlichen  Breite- 
grad zu  besuchen,  eben  so  wie  er  auch  früher  die  südlichsten  und 
westlichsten  Spitzen  Europa' s  besichtigt  hatte ;  allein  die  dem  Aus- 
fluge zugemessene  Zeit  erlaubte  die  Ausführung  nicht,  dagegen  ent- 
schloss  sieh  der  Verf.  von  Drontheim  aus  zu  Lande  über  das  Dovre- 
gebirge  nach  Cbristiania  zn  reisen  —  eine  Strecke  von  achtzig 
Meilen,  die  in  vier  Tagen  nach  landesüblicher  Weise  zurückgelegt 
wurde,  d.  b.  mit  einer  Art  von  Extrapost,  welche  den  Reisenden 
anfeinem  mit  Einem  Pferd  bespannten  Karriol  von  Station  zu  Station 
weiter  befördert.  So  ergab  sich  allerdings  eine  ganz  andere  Gelegen- 
heit, Land  und  Volk  näher  kennen  zu  lernen,  und  unser  Reisender  hat, 
wie  seine  Schilderung  beweist,  auch  davon  besten  Gebrauch  ge- 
macht: gern  folgen  wir  ihm  auch  in  dieser  Schilderung  bis  in 
alle  Einzelheiten  der  Reise,  zuletzt  noch  auf  der  Fahrt  über  den 
36  Stunden  MiÖsensee,  bis  nach  Cbristiania,  der  Hauptstadt  des 
Landes,  von  deren  Lage  der  Verfasser  ein  äusserst  anziehendes 
Bild  S.  53  ff.  entwirft.    Von  hier  aus  ward  ein  Abstecher,  wieder 
landeinwärts,  in  der  Richtung  nach  Westen  gemacht:  es  galt  einer 
Besichtigung  des  Rjukanfoss,  des  grossesten  unter  allen  Wasser- 
fallen Norwegens,  in  einer  Entfernung  von  drei  Tagereisen  von 
Chriatiania.    Auch  diese  Reise,  bald  mit  der  Diligence,  bald  mit 
der  Karriolpost,  bald  wieder  zu  Wassor  mit  dem  Dampfer  oder 
auch  selbst  zu  Fuss  gemacht,  gewährte  eine  reiche  Abwechslung 
und  bot  vielfache  Gelegenheit  zu  näherer  Kenntniss  des  Landes 
und  seiner  Bewohner,  in  Gegenden,  die  im  Ganzen  doch  von  Frem- 
den noch  wenig  besucht,  und  von  der  blasirten  Touristenwelt  noch 
nicht  verdorben  sind.    Diesen  Eindruck  wird  die  lebendige  Dar- 
stellung des  Verf.  auf  Jeden  machen,  der  ihr  mit  Aufmerksamkeit 
folgt.    Drei  Stunden  von  Dale  entfernt  liegt  der  Rjukan.  Von  hier 
aus  nach  dem  Wasserfall  am  andern  Morgen  ziehend,  vernahm  der 
V«rf.  schon  von  Ferne  das  Brausen  des  Wasserfalls;  als  er  dann 


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Brandes:  Ausflug  nach  Norwegen. 


eine  Höhe  erstiegen ,  um  ihm  näher  zn  kommen ,  und  nun  weiter 
über  eine  Bergwiese  wanderte,  durch  Gebüsch  von  Birken  und 
Wachholder,  trat  mit  einemmal  vor  seinen  Blicken  der  Rjukan, 
wie  er  zwischen  zwei  schwarzen  Felsen  von  steiler  finsterer  Wand, 
blendend  weiss  in  einen  tiefen  Schlund  hinabf&llt.  »Ich  sage  nicht 
(so  schreibt  der  Verfasser  S.  68) :  er  siedet  und  brauset  und  tobt 
und  zischt,  auoh  nicht :  er  stürzt  mit  Donnergepolter  in  die  Tiefe ; 
nein,  er  gleitet  und  wallet  und  hebt  sich  und  sinkt  sanft  hernieder, 
schmal  beginnend  und  ganz  allmälig,  nicht  ausfahrend,  nicht  auf- 
fahrend, in  anmuthigster  Haltung  frei  und  gemessen  sich  erwei- 
ternd, gleichwie  der  schönsten  Jungfrau  weissestes  Kleid,  das  von 
der  schmalen  Taille  rund  und  glatt,  abwärts  breiter  und  breiter 
wird,  bis  es  in  langen  Falten  und  Busen  weithin  über  die  Füsse 
wallt.  So  ist  der  Rjukan,  welcher  von  der  stets  über  ihm  schwe- 
benden Dampfwolke  mit  altnordischem  Namen  Rjukan,  der  Rau- 
chende, benannt  ist.    Die  Höhe  des  Falls  beträgt  670  Fuss. 

Dieser  Wasserfall  machte  auf  mich  einen  eigenthümliohen  Ein- 
druck, wie  ich  einen  ähnlichen  nicht  an  dem  Rheinfall  bei  Scbaff- 
hausen ,  nicht  an  dem  schauerlichen  Sturz  der  Aar  bei  Handek. 
nicht  an  den  Reichenbachfallen  bei  Meyringen,  nicht  an  dem  Staub- 
bach bei  Lauterbrunnon,  auch  nicht  am  Traunfall  im  Salzkammer- 
Tut,  auch  nicht  an  den  Fällen  der  wilden  Ache  in  Gastein,  auch 
nicht  an  den  Wasserfällen  des  Clyde  in  Schottland,  noch  auch  an 
den  Kaskaden  und  Kaskatellen  in  dem  römischen  Tivoli,  noch  auch 
an  den  Fällen  der  Dalelf  in  Dalekarlien,  noch  bei  Trolhätta  an  den 
imposanten  Fällen  der  Göthaelf,  wie  ich  an  keinem  derselben  er- 
fahren, wie  überhaupt  keine  Gegend  auf  mich  gemacht  hat.  Die 
alte  heilige  Orakelstätte  des  pytbiscben  Apollo,  Delphi  mit  den 
tausend  Fuss  hohen  senkrechten  Felswänden  der  Phädriaden  und 
dor  übrigen  Folsenumschliessung,  versetzte  mich  in  die  gehobenste 
und  feierlichste  Stimmung,  wie  keines  der  imposantesten  Alpen- 
gebirge vermocht  hatte ;  die  eisengrauen  nackten  himmelhohen  Fel- 
senwände der  Tatra  erfüllten  mich  mit  Bangen  und  Grauen;  die 
so  kunstreich  und  fein  geordneten  Waldgruppen  und  Gärten  und 
Bauragänge  von  Aranjuez  entzückten  mich,  dass  ich  es  innigst  be- 
dauerte, als  die  schönen  Tage  von  Aranjuez  vorüber  waren;  der 
Bosporus  mit  den  sechs  Stunden  lang  auf  Asiens  und  Europas 
Küste  an  einander  gereiheten  bunten  rtschaften  und  Buchten  und 
Vorgebirgen  und  Schlössern  und  dem  finstern  über  Skutari  hän- 
genden Cypressenwalde  und  mit  Stambul  und  seinen  grossen  Mo- 
scheen und  schlanken  Minarets  hoch  auf  der  Bergplatte,  bezauberte 
mich,  dass  ich  der  Erde  entrückt  zu  sein  und  in  himmlischen 
Regionen  zu  schweben  wähnte ;  die  überaus  freundliche  Gegend  der 
Stadt  Bergen  lachte  mich  an  ,  und  ich  lachte  auch  und  war  so 
heiter  und  voll  Freude  über  die  Lieblichkeit  und  Anmuth  auf  Gottes 
Erde  —  aber  vom  Rjukan  geschah  mir,  ich  wusste  nicht  wie ;  denn 
ich  wurde  weich  und  gerührt,  dass  mir  eine  Thräne  in  das  Auge 


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Bundes:  Aueflug  nach  Norwegen. 


205 


kam.  Ich  blickte  hinüber,  sah  ihn  an,  betrachtete  ihn,  mass  ihn 
von  unten  nach  oben,  von  oben  nach  unten,  wie  er  an  dem  schwar- 
zen Felsen  hing,  nicht  tobte  und  lärmte,  nur  wallend  sich  hob 
und  wieder  senkte.  Dann  betrachtete  ich  die  zwei  starren  Fels- 
rucken, welche  von  dieser  Seite  und  von  jener  Seite  gegen  einan- 
der ziehend  vor  ihm  ein  Thor  öffneten,  dass  durch  dieses  der  Strom 
in  der  Tiefe  seines  Weges  ziehen  konnte;  und  diese  zwei  Felsrücken 
waren  schwarz  wie  die  Nacht,  und  aus  dem  Thore  zogen  die  Nebel- 
and Dunstwolken  und  blieben  hoch  in  der  Luft  darüber  stehen, 
nnd  die  waren  es,  an  welchen  ich  aus  der  Ferne  den  Rjukan  er- 
kannt hatte.  Aber  vor  meine  Seele  trat  das  Bild  einer  unschuldi- 
gen Jungfrau  in  weissem  Gewände,  die  von  den  schwarzen  Mächten 
der  Finsterniss  an  den  Felsen  gefesselt,  sich  los  und  frei  machen 
will,  sich  regt  und  biegt  und  krümmt,  aber  sich  nicht  los  und 
frei  machen  kann ;  sie  schreiet  nicht,  sie  tobt  nicht,  sie  raset  nicht, 
sie  springt  nicht  auf,  nur  leise  regt  sie  sich  und  rührt  sich  und 
bewegt  sich;  nnd  in  alle  Ewigkeit  bleibt  sie  gefesselt,  und  in  alle 
Ewigkeit  gelassen  und  geduldig  hängt  sie  da  in  ihrem  langen 
weissen  Engelskleide  an  dem  starren  schwarzen  Felsen.  Die  Un- 
schuld in  die  Macht  der  Finsterniss  hingegeben,  die  zarte  reine 
Seele  von  den  schwarzen  Höllengeistern  überwältigt,  in  Banden  ge- 
legt nnd  ewig  gefesselt,  das  war  es,  was  mein  Herz  bewegte  nnd 
rührte.« 

Zur  Bückreise  ward  ein  anderer  Weg  eingeschlagen,  und  zwar 
südwärts  nach  Skien,  das  unfern  des  Meeres  liegt  und  von  hier 
zu  Wasser  zurück  nach  Christiania ,  von  dessen  Umgebungen  wir 
nun  nähern  Bericht  erhalten.  Wir  können  nicht  dem  Verf.  in  das 
Detail  der  Beschreibung  folgen  und  überlassen  es  dem  Leser,  bei 
dem  zn  verweilen,  was  in  einfacher,  schlichter,  und  doch  anziehen- 
der Weise  uns  hier  erzählt  wird.  Zuletzt  wirft  der  Verf.  noch  im 
Allgemeinen  einen  Blick  auf  Land  und  Volk.  Wir  können  es  uns 
nicht  versagen,  Einiges  daraus  wenigstens  mitzutheilen. 

»Imposant,  so  schreibt  der  Verf.  S.  94,  sind  die  Felsenküsten 
mit  den  unzähligen  so  verschiedenartig  gestalteten  Fiorden  und 
Schären,  zumal  das  Westgestade,  hinter  welchem  nicht  fern  eine 
höhere  theilweise  mit  Schnee  bedeckte  zackige  Felskette  herzieht. 
Hier  ist  Alles  nackt,  dagegen  im  Innern  hängen  die  Wiesen  mit 
dem  frischesten  Grün  von  den  Höhen  der  Berge  in  die  Tbäler  hinab, 
and  überall  liegen  so  allerliebst  die  rothen,  gelben  und  weissen 
Häuser  über  den  grünen  Teppich  bingestreut.  Ich  habe  kein  Land 
gesehen,  in  welchem  es  so  grünt  wie  in  Norwegen;  weder  die 
Schweiz,  noch  das  Salzkammergut  kommt  ihm  darin  gleich.  Aber 
der  Ackerbau  ist  gering,  Weizenfelder  sah  ich  gar  nicht,  Boggen 
wenig,  mehr  Gerste  und  Hafer  und  Kartoffeln  und  Kohlarten.  Es 
steht  daher  in  gradem  Gegensatz  zu  Spanien,  wo  sich  die  unab- 
sehbaren Flächen  mit  ihren  Weizenfeldern  ausbreiten,  dazwischen 
die  weiaslichgrauen  Oliven  in  Reihen  oder  Hainen,  und  die  nackten 


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206 


Brandes:  Ausflug  nach  Norwegen. 


starren  Felsen  ohne  Busch  und  Baum.  Wie  nun  solche  Gegenden 
den  Reisenden  ermüden,  so  erfrischt  und  belebt  das  nordische  Land, 
ein  schweizerisches,  mit  seinen  brausenden  Strömen  und  Wasser- 
fallen, seinen  schönen  grössern  und  kleineren  Seen,  die  bald  in 
majestätischen  Felsen  sich  wiegen,  bald  von  sanft  ansteigenden 
Wiesenufern  umfasst  werden,  mit  seinen  Wäldern  und  grünen  Mat- 
ten. Dooh  Eins  habe  ich  vermisst,  es  fehlen  grüne  Hecken  u.  s.  w.« 

Von  den  Bewohnern  sagt  er  S.  95:  >  Der  Norweger  oder  Nor- 
mann ist  von  Charakter  bieder,  treu  und  redlich,  liebt  sein  Vater- 
land innig  und  freut  sich,  wenn  es  dem  Beisenden  gefallt;  er  ist 
kühn  und  unternehmend,  und  wenn  er  auch  nicht  mehr,  wie  vor 
Zeiten  die  Normänner,  mit  Kriegsflotten  alle  Meere  durchjagt ,  so 
macht  er  doch  gern  weite  Seereisen,  denn  er  liebt  das  See-  und 
Schifferleben  und  schaut  lustig  in  die  Welt  und  kühn  in's  Meer 
hinein.  Auch  der  Bauersmann  hat  Sinn  für  Ordnung  und  Rein- 
lichkeit. In  allen  Stationshäusern  auf  dem  Lande  traf  ich  stets 
ein  sauberes  Gastzimmer,  reinliche  Betten  und  oft  so  feine  schwere 
Handtücher,  wie  sie  mir  nirgends  in  Deutschland  vorgekommen 
sind.  Er  ist  höflich  und  grüsst  freundlich  den  Fremden,  aber  wenn 
der  Deutsche  guten  Tag,  der  Franzose  bon  jour,  der  Italioner  buon 
giorno,  der  Spanier  buenos  dias  und  damit  nicht  guten  Tag,  son- 
dern gute  Tage  wünscht,  —  der  mir  begegnende  norwegische  Bonde 
nahm  nicht  nur  seine  Kopfbedeckung  ab,  sondern  verneigte  sich 
dabei  recht  tief  und  artig,  jedoch  schweigend,  weder  guten  Morgen, 
noch  guten  Tag  sagend. c 

Auch  über  die  Sprache  theilt  der  Verfasser  seine  Wahrneh- 
mungen mit,  wie  er  diess  ja  auch  bei  andern  derartigen  Ausflügen, 
wir  erinnern  nur  an  den  nach  Portugal,  oder  an  den  nach  Grie- 
chenland, gethan  hatte,  ja  er  theilt  selbst  am  Schlüsse  mehrere 
Kirchenlieder  (wie  z.  B.  Nun  danket  Alle  Gott,  oder  Eine  feste 
Burg  ist  unser  Gott,  Meinen  Jesum  lass  ich  nicht)  und  andere 
Lieder  und  Gebete  in  der  Normannischen  Sprache  mit. 

Die  Rückkehr  erfolgte  über  Kopenhagen;  von  hier  fahr  er 
Abends  um  7  Uhr  ab  auf  der  Eisenbahn  nach  Korsöer  und  von 
da  zu  Schiffe  nach  Lübeck,  wo  er  Dienstag  MoVgens  ankam,  und 
am  Mittwoch  (den  8.  August)  befand  er  sich  wieder  in  seiner 
Heimath,  nach  einer  Abwesenheit  von  fünf  Wochen,  und  mit  einem 
Kostenaufwand  von  zweihundert  Thalern.  Wir  wünschen  dem  rüsti- 
gen Verfasser  noch  manchen  derartigen  Ausflug  und  freuen  uns 
jedesmal  seiner  anziehenden,  erfrischenden  Schilderung :  wir  wissen 
aber  unsere  Anzeige  nicht  besser  zu  sohliessen,  als  mit  den  schö- 
nen Worten,  mit  welchen  Derselbe  diesmal  seine  Erzählung  be- 
schlossen hat: 

Mit  Herzenslust  gedenke  ich  dieser  Reise,  auf  welcher  ich  das 
schönste  Wetter  und  in  vier  Wochen  nur  zwei  Regentage  hatte, 
und  freue  mich  Land  und  Volk  kennen  gelernt  zu  haben,  das 
schweizerische  Land  mit  grünenden  Berggehängen,  den  Felsenketten, 


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Chittendem  Göthe's  Faust  von  Reichlin-Meldegg.  207 


den  schönen  Seen,  den  brausenden  Strömen,  den  Wasserfallen,  den 
freundlichen  sauberen  Städten  und  der  imposanten  Felsenküsten 
mit  den  Fiorden    und   Schären.     Aber  das  Schönste  was  mir 
die  Natur  geboten,  beibt  der  Rjukan,  der  steht  mir  vor  Augen, 
wo  ich  gehe  und  weile,  und  führt  in  seinem  glänzend  weissen 
Gewände  an  der  schwarzen  Felsen  wand  ein  Spiel  auf,  wie  ich 
kein  zweites  gesehen;  und  wenn  er  auch  an  Wassermenge  von 
seinem  Nachbar,  dem  Trolhätta  in  Schweden,  weit  übertroö'en 
wird,  so  überragt  er  diesen  doch  durch  seine  eigenthümliche  Hai- 
fang und  seine  wunderbar  wirkende  Umgebung.  Möge  denn  Gottes 
allmächtige  Hand  das  schöne  Land  schirmen,  und  sein  himmlischer 
beglückender  Segen  nimmer  von  ihm  weichen. 

Segen,  Segen 
Für  Norwegen! 
Dass  es  sich  mehre 
In  Jesu  Namen 

Immerdar  an  Lioht  und  Ehre! 


Faust.    An  exposiiion  of  Qöthfs  Faust,  from  the  German  of  Carl 
Alexander  von  Reichlin-Meldegg,  prof.  phif.  at  the  university 
of  Heideiberg  by  Riehard  H.  Chittenden,  esq.  Neitf-York. 
James  Miller  (succeseor  to  C.  8.  Francis  ei.  co.)  522  Broadway, 
141  8.  8. 

Der  dritte  Band  der  von  dem  Unterzeichneten  verfassten,  auch 
im  eilften  Bande  des  Scheible'schen  Klosters  und  im  Schatzgräber 
des  Mittelalters  abgedruckten  deutschen  Volksbücher  von 
Johann  Faust,  dem  Schwarzkünstler,  und  Christoph 
Wagner,  dem  Famulus,  enthält  die  dichterischen  Dar- 
stellungen der   Faustsage.    Der  grösste  Abschnitt  dieses 
dritten  Bandes  beschäftigt  sich  mit  der  Entwickelung  des  ersten 
und  zweiten  Theiles  des  Gö the' schon  Faust.  In  vorliegendem  Buche 
wird  uns  eine  wortgetreue  Uebersetzung  dieses  Abschnittes,  in  wie- 
fern er  sich  auf  den  ersten  Theil  bezieht,  von  kundiger  und  ge- 
übter Hand  geboten.     Der  Uebersetzer  ist  Herr  Richard  H. 
C  bittenden,  Attorney  und  counseller  at  Law  zu  Newyork.  Das 
Interesse  am  Götbe'scben  Faust,   welchen  der  Herr  Uebersetzer 
»das  Meisterwerk  des  grössten  deutschen  Dichters«  (the  chef  d'ouvre 
of  Germany's  greatest  poöt)  nennt,  wurde  unter  den  Amerikanern 
durch  Gounods  Faust  aufs  Neue  hervorgerufen,  da  man  sich  in  der 
nenen  Welt,  wie  in  der  alten,  vor  Allem  der  Oper  zuwendet.  Man 
griff  wieder  auf  Meister  Göthe  zurück,  und  wollte  ein  Verständniss 
för  die  dunkeln  Stellen  desselben.    Die  vorliegende  Uebersetzung 
der  von  dem  Unterzeichneten  verfassten  Erklärung  des  ersten  Thei- 


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208  Chitt enden:  Göthe'a  Faust  von  ReicbUn-Meldegg. 


les  der  Göthe'schen  Faustdichtung  ist  einer  berühmten  amerikani- 
schen Künstlerin,  Miss  Clara  Louise  Kellogg  gewidmet,  welche  in 
dem  üounod'schen  Faust  durch  die  Meisterschaft  ihres  Gesang» 
und  Spieles  eine  allgemeine  Begeisterung  der  amerikanischen  Kunst- 
freunde hervorriet.  Die  Widmung  des  Uebersetzers  lautet :  By  Per- 
mission respectfully  inscribed  to  Clara  Louise  Kellogg  as  a  tribute 
of  admiration  of  her  incomparably  beautiful  impersonation  of  Mar- 
garete. Auch  die  Anmerkungen  des  Unterzeichneten  sind  übersetzt 
und  wurden  mit  einigen  neuen  von  andern  Schriftstellern  oder  dem 
Uebersetzer  versehen.  Die  von  dem  Unterzeichneten  angeführten  Göthe- 
schen  Stellen  werden  nach  einer  englischeu  Uebersetzung  des  Bev. 
Charles  T.  Brooks,  der  »aHein  deu  Buchstaben  und  Geist  des 
Originals  wiedergiebt«,  mitgetheilt.  S.  129  finden  sich  die  sich  auf  den 
Gottesbegriff  beziehenden  Worte  Faust's  aus  der  Gartonscene,  tref- 
fend in  metrischer  Uebersetzuug  von  Herrn  Chittenden  selbst 
übertragen.  Die  schöne  metrische  englische  Paraphrase  der 
Göthe'schen  Zueignung  von  Hai  leck  ist  S.  99  u.  100  abgedruckt. 
Eigene  passende  Bemerkungen  des  Uebersetzers  mit  Belegstellen 
aus  Schubart,  Mitchell,  Hayward,  WalterScott,  Hib- 
bert  on  apparitions,  Brewster  letters  on  natural  magic,  Heine, 
S  c  h  1  e  g  o  1  sind  den  übersetzten  Anmerkungen  des  Unterzeichneten 
beigefugt. 

Der  gelehrte  Herr  Verf.  kündigt  einen  zweiten  Theil  seiner 
Uebersetzung  am  Schlüsse  an,  welcher  den  zweiten  Theil  des 
Göthe'schen  Faust  mit  einer  metrischen  Uebersetzung  enthalten 
soll.  Eine  gelungene  Probe  derselben  wird  S.  139—141  von  dem 
Herrn  Uebersetzer  gegeben.  Ueber  die  erste  Veranlassung  dieser  in 
Amerika  erschienenen,  sehr  gelungenen  Uebersetzung  äussert  sich 
Herr  Chittenden  in  der  Vorrede  also:  Düring  the  winter-semester 
of  1859  —  1860  the  translator,  then  a  law-student  of  the  univer- 
sity  at  Heidelberg,  attended  the  conrse  of  lectures  upon  Goethe's 
Faust  delivered  by  Dr.  Carl  A.  F.  von  Reichlin-Meldegg.  The  idea 
of  placing  before  bis  countrymen  so  much  of  the  learned  Profes- 
sors work,  entitled:  »die  deutschon  Volksbücher  von  Johann  Faust 
u.  8.  w.,  as  particulary  pertains  to  Goethes  tragedy,  was  then 
conoeived.  Das  Buch  wurde  von  der  Verlagshandlung  reich  aus- 
gestattet, v.  Reichlin-Meldegg. 


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b.  14. 


HEIDELBERGER 


1867. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


C.  PUnii  Secundi  naturalis  hisioria.  D.  D  ttlefsen  recemuit.  Vol. 
1.  Libri  i—VL  Derolini  apud  Weidmannos.  MDCCCLXV1. 
278  S.  8. 

Verschiedene  Abhandlungen  des  Herrn  Dr.  Detlefsen,  worin  er 
eine  genaue  Kenntniss  der  Handschriften  und  kritisches  Talent  an 
den  Tag  legte,  Hessen  von  seiner  Ausgabe  des  Plinius  nicht  ge- 
ringe Erwartungen  hegen.  Sie  sind  in  der  bedeutenden  Arbeit, 
deren  erster  Theil  mir  vorliegt,  zum  grossen  Theil  erfüllt  worden. 
Denn  nicht  allein  gibt  Detlefsen  eiue  auf  die  Vergleichung  theils 
neu,  theils  zuerst  von  ihm  benutzter  Handschriften  gegründete  neue 
ßecension  des  Textes,  sondern  er  hat  auch  etwa  160  Stellen  durch 
eigene  Conjecturen  zu  heilen  versucht,  Beides  mit  grossem  Geschick, 
uud  durch  seine  Leistungen  einen  wesentlichen  Fortschritt  in  der 
Kritik  begründet.  Wenn  er  aber  dabei  über  seine  Vorganger  Sillig 
und  v.  Jan  in  der  "Vorrede  von  Neuem  geringschätzig  urtheilt,  so 
wollen  wir  nicht  vergessen,  dass  der  Grund  zur  methodischen  Kri- 
tik von  ihnen  gelegt  worden  ist,  und  namentlich  v.  Jan's  uner- 
mtidete  und  fruchtbare  Thätigkeit  mit  unverminderter  Dankbar- 
keit anerkennen. 

Neu  collationirt  sind  von  Detl.  die  von  Sillig  und  v.  Jan  nur 
theilweise  verglichenen  Codices  Vat.  D  in  Rom,  E  (a  bei  Sill.)  in 
Paris,  a  (o  bei  Sill.)  in  Wien ,  zum  zweiten  Male  A  in  Leyden ; 
ganz  neu  sind  ausser  unbedeutendem  Stücken  hinzugekommen  F  in 
Leyden ,  in  welchem  er  den  verschollenen  Chiffletianus  entdeckt 
hat,  und  zwei  wichtige  Bruchstücke,  Excerpte  des  II.  Buchs  aus 
dem  8.  oder  9.  Jahrhundert  in  München ,  so  wie  andere  aus  dem 
IL,  III.,  IV.  u.  VI.  in  Paris,  die  dem  10.  Jahrhundert  angehören. 

Gegen  die  Classificirung  dieser  und  der  von  Sillig  und  v.  Jan 
verglichenen  Codices  lässt  sich  nichts  Erhebliches  einwenden.  Un- 
bedingt den  ersten  Rang  nehmen  die  Bruchstücke  einer  ältern  und 
bessern  Recension  ein,  welche  von  A ,  in  jenen  beiden  Excerpten 
und  der  zweiten  Hand  von  DEFR  erhalten  sind ;  von  der  zweiten 
Familie  sind  diese  letztern  die  beston  Exemplare;  die  übrigen, 
insbesondere  auch  die  von  Sillig  und  v.  Jan  verglichenen  oder  be- 
nutzten d  in  Paris  und  T  in  Toledo,  gehören  zu  den  schlechtem, 
welche  nur  in  minderm  Grade  in  Betracht  kommen.  Das  schliesst 
aber  nicht  aus,  dass  auch  sie  hin  und  wieder  die  bessere  Lesart 
enthalten,  und  wenn  Detl.  insbesondere  d  ganz  bei  Seite  setzt,  so 
rieht  diese  Strenge  mit  seiner  eigenen  Behauptung  p.  6  in  Wider- 
spruch, dass  d  aus  demselben  Archetypon  herstammt,  welches  von 


LX.  Jahrg.  8.  Heft. 


14 


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HO  Die  netteste  Litterat™  des  Ilten*  Plinius. 

DERF  repräsentirt  wird.  Denn  es  bleibt  dann  d,  wenn  auch  in 
zweiter  Linie,  der  Vertreter  einer  5.  Abschrift. 

Die  Varianten  dieser  Handschriften  werden  in  verständiger 
Auswahl  mit  grosser  Genauigkeit  angegeben ,  die  Conjectnren  der 
Neueren  meist  nur  dann,  wenn  sie  in  den  Text  aufgenommen  sind. 
Hierin  aber  sind  Detl.  Angaben  keineswegs  so  zuverlässig  wie  seine 
diplomatischen.  Gleich  auf  der  ersten  Seite  des  Textes  habe  ich 
nicht  weniger  als  3  Fehler  bemerkt:  nicht  Haupt,  sondern  Dale- 
champ  hat  das  Citat  aus  Catull  praef.  1  zuerst  verbessert ;  nicht 
Mommseu,  sondern,  wie  dieser  selbst  angibt,  Hermolaus  Barbaras 
und  Rhenanus  verbessern  obiter  emolliam,  nicht  Schneide win 
hat  exeat  vermuthet,  sondern  es  steht  schon  im  Text  der  Hackiana 
1669.  Eben  so  hat  VI,  97  nicht  Geier,  sondern  Salmasius 
Ar  bim  vermuthet.  Ich  darf  mich  also  nicht  wundern,  wenn  Detl. 
meine  Aenderungen  an  etwa  40  Stellen  nennt,  an  folgenden  27 
aber,  obgleich  sie  in  den  Text  aufgenommen  sind,  nicht:  a)  ver- 
besserte Interpunktion  II,  121  (s.  m.  Chrestom.),  162,  168,  185. 
III ,  2,  92.  IV,  8,  12,  53.  V,  27.  VI,  25,  58,  157,  171,  182. 
b)  Wortänderungen:  III,  42.  IV,  13,  26,  85.  V,  49,  78,  79,  140 
(vind.  I.  p.  82).  VI,  14,  98,  147,  191. 

Aus  diesem  bereicherten  Material  wählt  Detl.  mit  gesundem 
Urtheil  die  bessern  Lesarten  aus ;  er  wählt  sie ,  denn  zu  jenem 
Eklekticismus ,  welchen  er  mir  ehedem  in  einer  Recension  meiner 
Chrestomathia  als  unwissenschaftlich  vorgeworfen  hat,  ist  er  zu 
meinor  Genugthuung  übergegangen.  Da  er  in  der  jüngsten  Zeit 
auch  den  sog.  Appulejus,  welchen  er  noch  vor  zwei  Jahren  mit 
scharfen  Worten  verworfen  hatte,  als  eine  vorzügliche  Autorität 
anerkennt  (vgl.  N.  Jahrb.  f.  Phil.  XCV  S.  75),  so  sehe  ich  nicht 
recht  ein,  wie  er  mich  p.  1  unter  seine  Gegner  rechnet. 

Die  Conjecturalkritik  handhabt  Detl.  mit  grossem  Glück  und 
noch  grösserer  Vorsicht,  indem  er  eich  fast  nur  auf  Aenderungen 
einzelner  Buchstaben  und  der  Iuterpunktion  beschränkt.  Zum  gröss- 
ten  Theile  sind  seine  Aenderungen  wirkliche  Verbesserungen,  es 
fehlt  aber  auch  nicht  an  solchen  Stellen,  worin  ich  den  v.  Jan'schen 
oder  Sillig'scben  Text  vorziehen  möchte. 

Doch  genug  der  allgemeinen  Bemerkungen.  Ich  wähle  zur 
Charakteristik  seines  Verfahrens  einige  Stellen  ans,  um  sie  zunächst 
mit  Jan's  Ausgabe  zu  vergleichen,  zuerst  die  Fraefatio.  In  den 
ersten  Sätzen  ist  Detl.  mit  Recht  zu  den  früheren  Lesarten  zurück- 
gekehrt. §.3  begegnen  wir  der  ersten  Conjectur,  noc  quiequam 
in  te  mutavit  fortnnae  amplitudo,  nisi  utprodesse 
tantundem  posses  ut  velles  liest  man  gewöhnlich.  Da  aber 
vor  nisi  in  den  Handschr.  in  bis  steht,  schiebt  D.  cunetis 
ein,  dessen  erster  Buchstabe  sehr  leicht  aus  dem  nächsten  o  her- 
übergenommen wird.  Die  Wortstellung  fordert  aber  dann  eine  Trans- 
position nisi  ut  cunetis.  Auch  dass  er  Dalechamps  Aenderung 
et  velles  aufnimmt,  verdient  Billigung,  leichter  würde  aber  ao 


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Die  neueste  Literatur  des  lltern  Plinius. 


Ml 


gewesen  Bein,  tantundem  in  tan  tum  idem  zu  indem  sehe  ich 
keinen  Grund.  Sehr  schön  ist  §.  5  Mommsen's  Verbesserung  tri- 
bunicia  potestas  statt  des  Genetiv»,  vortrefflich  D.'s  Kmendation 
fratris  famas  statt  fratris  amas.  §.11  et  ideo  cura,  ut 
qnae  tibi  dicantur  tui  digna  sint  Da  für  diesen  Theil  der 
praefatio  von  den  guten  Hdschr.  nur  B  (a  Sill.)  zu  Gobote  steht,  läset 
es  sich  nicht  rechtfertigen,  wenn  Detl.  dessen  te  nach  der  schlech- 
tem Lesart  tum  in  tui  ändert  und  mit  v.  Jan  subit  vor  cura 
ausläset.    §.  13.  Nicht  gerade  uothwendig,  aber  ansprechend  ist 
D/8  Conjectnr  steril is  materia  statt  st  er  i  Ii,  wodurch  der 
folgende  Satz,  indem  er  mit  diesen  Worten  anfängt,  grössere  Kraft 
erhält.  §.  16  ia  dem  Citat  aus  Livius  schreibt  D.  richtig  ni  ani- 
mus  in  quiete  pasceretur  oper  o  statt  inquies,  die  Hdschr. 
haben  in  quiesce  oder,  wie  M.  Dalec.  und  &'*t  in  quiete.  §.20 
Ausgezeichnet  bat  D.  die  Stelle  verbessert  ,  worin  PI.  von  seiner 
Zeitgeschichte  redot.    Man  liest  gewöhnlich  tarn  pridem  per- 
aeta  sancitur  et  alioqui  statutum  erat  heredi  man- 
dare  ohne  Sinn  des  ersten  Verbums  und  ohne  Uebereinstimmung 
beider  Verba.    Durch  eine  leise  Aenderung  erzieh  D.  den  schönen 
Satz:  iam  pridem  per  acta  sancitum  et  u.  8.  w. ,  bo  dass 
die  schriftliche  Bestimmung  des  Testaments  zu  der  frühern  Absicht 
hinzukommt.    Den  schwierigen  Satz  §.24  hat  D.  noch  nicht  ganz 
geheilt.  Er  liest :  Nostri  grossiores  Antiquitatum  E  x  e  m- 
plorum  Artinmque,  facetissimi  Lucubrationum  (so  gut 
statt -em,  puto  quiaBibaculus  erat  etvocabatur.  Aber 
ich  vermag  den  Uebergang  vom  Plural  zu  einem  Einzelnamen  nicht 
zu  entschuldigen  und  glaube,  dass  PI.  in  diesem  sorgfältig  ausge- 
arbeiteten Briefe  que  entweder  nicht  oder  zweimal  gebraucht  hätte. 
Da  die  Attraction  des  Subjects  für  seine  gesuchte  Härte  passt, 
lese  ich  mit  einer  ironischen  Steigerung,  als  ob  in  dem  Fortschritt 
Ton  der  trockenen  Inhaltsangabe  ein  Witz  läge,  Nostri  grossi- 
ores Antiquitatum,  Ezempl.  Artiumque  facetissimi, 
Lscubr.  u.  8.  w.    Billigen   kann  man  die  folgende  Conjeotur 
Sesculize.  —  Einfach  und  schön  ist  endlich  die  Art,  wie  D.  die 
verdorbenen  Worte  Cato's  §.  30  lesbar  gemacht  hat,  indem  er  aus 
B  den  Infinitiv  praeterfluere  beibehält  und  die  Lesart  aller 
Hdschr.  sibi  in  sivi  ändert.  Dann  erhält  man  den  verständlichen 
Satz:  eorum  ego  orationes  sivi  praeterfluere. 

Das  Bedeutendste,  was  D.  für  das  II.  Buch  geleistet  hat, 
besteht  in  der  Benützung  zweier  bisher  unbekannten  Excerpte, 
welche  der  ältern  bessern  Recension  des  Textes,  wovon  für  die 
ersten  Bücher  sonst  nur  cod.  A  in  Leyden  zu  Gebote  stand,  ent- 
nommen sind,  eines  Pariser  Codex  aus  dem  10.  Jabrh.  (No.  4860) 
ood  besonders  eines  cod.  Frisingensis  in  München  (No.  164),  wel- 
cher Auszüge  aus  §.  12—84  enthält.  Ich  gehe  diese  Stellen  um 
*)  lieber  genau  durch,  weil  mir  durch  die  Güte  des  Herrn  Dr. 
Hägen  die  Vergleiohung  eines  zweiten  Exemplars  zu  Gebote  steht, 


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312  Die  neueste  Litteratur  des  altern  Pliniua. 

welches  sich  in  einem  Berner  Codex  des  Nonius  aus  dem  10.  Jahrh. 
(No.  347)  befindet.  §.  34  setzt  Detl.  der  Vulgata  inferiorem 
lovib  oirculum  et  ideo  motu  celeriore  duodenis  oir- 
oumagi  annis.  Es  leuchtet  ein,  dass  Bern,  und  R  das  Richtige 
geben  celeriorem.  Ebeud.  Tertium  Mar  tis  (^idus)  -ignea 
ardentis  so  Iis  vicinitate  liest  v.  Jan;  Detl.  wie  Fa  Fris. 
Bern,  igue  ardens,  das  letztere  gewiss  richtig.  Da  es  aber  auf 
eine  Eigenschaft  der  Sonne,  nicht  auf  eine  überflüssige  Bestimmung 
der  Hitze  ankommt,  musste  die  Lesart  von  E  ignea  aufgenom- 
men werden.  —  §.  35.  Schön  ist  D/s  Aenderung  metas  statt 
notas  (J?ar.  inotus).  —  §.43  liest  D.  richtig  mit  F*  Fris.  Bern, 
humilis  et  excelsa  (et  fcblt  gewöhnlich).  Misslungen  ist  da- 
gegen seine  Conjectur  zu  §.  59 ,  wo  es  von  den  Planeten  beisst 
postea  radiorum  eius  (solis)  contactu  reguntur.  Detl. 
liest  regrediuntur  und  beruft  sich  u.  a.  aufVitruv.  IX,  1,  12. 
Gerade  diese  Stelle  beweist  die  Richtigkeit  der  handschriftlichen 
Lesart  —  refrenando  retiuendoque  —  ad  se  cogit  re- 
gred i ,  wie  bei  PI.  §.  69  retroire  cogit.  Auch  wüsste  ich  den 
Ablativ  nicht  mit  jener  Aenderung  zu  vereinigen.  —  Gut  und  durch 
Bern,  bestätigt  sind  ebd.  die  kleinen  Besserungen  et  secundas 
und  assecutus  sol.  —  §.63  habeu  die  Hdschr.  terra  a  verti- 
oibus  duobas  quosappellaveruntpolosoentrum  oaeli 
non  et  signiferi  est,  und  die  Ausgaben  seit  Barb.  nec  non  et , 
Detl.  folgt  jenen.  Aber  nach  der  folgenden  Darstellung  (vgl.  Vitruv. 
L  1.)  ist  die  Erde  mitten  im  Thierkreis,  und  die  Uebereinstimmung 
der  Excerpte  inter  vertices  duos  —  et  signiferum  beweist, 
dass  die  bessere  Recension  nec  non  hatte.  Den  folgenden  Satz 
omnia  autem  haec  constant  ratione  circini  u.  s.  w.  zn 
verwerfen  war  gar  kein  Grund;  nennt  ja  auch  Vitruv.  IX,  I,  1 
dierationesarchitectonicas  circinique  discriptiones. 
Eine  böohst  schätzbare  Vervollständigung  hat  §.  64  erfahren,  der 
in  den  Hdschr.  durch  die  Auslassung  zweier  Zeilen  des  Archetypus 
von  je  28  Buchstaben  verstümmelt  war.  Es  ist  ein  beschämendes 
Gefühl,  womit  die  Vergleichung  der  aus  Fris.  Bern,  ergänzten  Stelle 
mit  ihrer  frühern  Gestalt  den  kritischen  Leser  erfüllt:  Sic  fit 
ut  tardius  moveri  [et  minores]  videantur,  cum  altis- 
simo  ambitu  feruntur,  [cum  vero  terrae  appropin- 
quaverint,  maiores  osse  et  celerius  ferri],  non  quia 
n.  s.  w.  —  §.  69  bessert  Detl.  subiri.  —  §.  71  liest  er  richtig 
aus  Fris.  superveniente  ab  alio  iatere  radio  eademque 
vi  rursus  ad  terras  deprimente  qua  sustulerat  statt 
quae  sustulerit);  aus  Bern,  ist  vor  radio  einzuschieben  so- 
lis, ebenso  §.  70  vapore  percussas  statt  vapor  reper- 
cussas;  vortrefflich  liest  er  §.  72  aus  §.  73  u.  39  XXIII  (statt 
vg.  XX;  nur  ist  es  nicht  seine  Verbesserung,  sondern,  wie  er  aus 
Sillig's  Anmerkung  sehen  konnte,  die  alte  Lesart.  Dagegen  gehört 
ihm  §.  73  die  Emendation  nonnumquam  ßtatt  numquam.  — 


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Die  netteste  Lttteratnr  dee  Ältern  Plinroa.  418 

75  hat  nur  Bern,  das  Rechte:  altitudinem  anbire,  ein 
^erbum,  das  sonst  tiberall  fehlt.  —  §.  77  liest  Bern.  Iovis  ai- 
d«TC  in  triangulo  (besser  tri  quetro)  sibi  posito,  viel- 
leicht mit  Recht.  —  §.  78  gibt  Detl.  nicht  an,  woher  er  omnia, 
das  auch  in  Bern,  fehlt,  aufgenommen  hat;  bei  Bill  finde  ich 
keine  Variante,  in  den  folgenden  Zahlen  gibt  Bern.  L Villi 
und  XII,  letzteres  wie  R,  §.  79  coitns  solis  statt  sol,  §.  81 
wie  Fris.  differentiam,  was  wohl  aufzunehmen  war.  —  §.  84 
statt  dimidinm  et  liest  er  vielleicht  besser  tan  tun  dem  apatio. 
In  diesen  Stellen  ist  Detl.  durch  den  bereicherten  Apparat  unter- 
stützt worden;  seinem  Scharfsinn  allein  verdankt  man  u.  a.  die 
Heilung  folgender  Schäden:  §.  89.  specie  statt  suo,  90.  hu ma- 
nae  faciei  statt  humana  diei,  95.  die  Streichung  der  Ditto* 
graphie  et  aliam  nach  st  eil  am,  100.  die  Angabe  einer  Lücke, 
103.  medio  mundi  statt  mediom,  109.  die  Besserung  der 
Interpunktion,  120.  flatus  statt  elatus,  128.  ita  ut  statt  aut 
nt,  132.  calidi  statt  gelidi,  134.  nebulao  statt  beluae, 
146.  belli  Caesariani  statt  bei  Hees  oder  bei  Ii  eis,  246. 
Nili  Canopicnm  statt  nihil  modicura.  Ich  habe  diese  Bei- 
spiele ans  mehreren  ausgewählt,  weil  sie  mir  die  glänzendsten  zu 
sein  scheinen.  Nicht  befriedigt  hat  mich  u.  a.  die  Behandlung  fol- 
gender Stellen :  97.  fit  et  caeli  ipsius  hiatusquod  vocant 
chasma,  fit  et  sangninea  specie  etu.s.w.  statt  speciea 
et  oder  apeciaes,  denn  die  Farbe  des  Chasma  ist  roth  (Arist. 
meteor.  I,  2  de  mundo  3");  also  ist  das  zweite  fit  et  als  Ditto- 
graphie  zu  streichen  Auch  §.  101  möchteich  ea  als  Dittographie 
von  et  tilgen,  statt  es  in  eas  zu  andern,  und  den  Satz  als  Pa- 
renthese fassen.  —  §.  104  hat  Detl.  den  Fehler  richtig  bemerkt, 
aber  die  Heilung  nicht  gefunden :  Von  den  Winden  heisat  es : 
itaque  praeeipua  eorum  natura  ibi  et  ferme  reliquaa 
complexaa  se  (Varr.  complexa  se,  complexasse)  cau- 
aaa,  Detl.  schreibt  aeris  was  nach  ibi  tautologisch  ist.  Ver- 
gleicht man  die  Schreibfehler  serei  und  rei  §.  110  statt  caeli, 
so  wird  man  auch  hier  lesen  caeli  causas.  §.  118  zieheich  die 
Vulgata  et  dem  handschriftlichen  sed  vor,  da  der  tadelnde  Gegen- 
satz erst  mit  den  Worten  sed  lucro  beginnt. 

In  den  folgenden  Büchern  sind  bei  weitem  die  meisten  Fehler 
in  den  Eigennamen  und  den  Zahleu  zu  suchen.  Es  verdient  nur 
Billigung,  wenn  Detl.  die  unbekannteren  ganz  nach  den  Handschriften 
schreibt,  im  Uebrigen  die  glaubwürdigsten  Quellen ,  Inschriften  u. 
4.  zu  Ratbe  zieht;  auch  ist  es  ihm  an  manchen  Stellen  gelungen, 
den  Teit  wesentlich  zu  berichtigen.  In  manchen  aber  hatte  er  wohl 
besser  getban,  sich  an  seine  Vorganger  zu  halten.  Ich  gehe  zur 
Probe  einige  zufällig  gewählte  Abschnitte  durch. 

Buch  III,  §.  53  —  70.  Einem  unbegreiflichen  Irrthum  begeg- 
nen wir  §.53  (Tiboria)  citra  XVT.  p.  nrbiaVeientem  agrnm 
i  Crostnmino  —  dirimens,  während  das  Richtige  XIII  in 


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Die  neuest«  LiUeratur  des  altern  PliniuB. 


dem  vortrefflichen  Codex  A  steht.  —  §.  56  Cerceios  aus  den 
Hdschr.  mit  Recht,  da  diese  Form  an  mehreren  Stellen  vorkommt. 
—  §.  57  ex  fama  statt  et  faraa,  schon  Sill.  schreibt  nach 
Nitisch  e  faraa.  —  §.  59  Amyclae  sive  Amynclae  aus  den 
Hdschr.  richtig.  Da  aber  die  italische  Namensform  Amunclae 
war  (Solin.  2,  32),  ist  diese  vorzuziehen.  —  Ebend.  Pirae  statt 
Fyrae  aus  Cod.  A  richtig,  da  es  einen  solchen  Ort  auch  im  Ge- 
biete von  Sic  von  gab.  —  §.  60  Hinc  felix  illa  Campania 
est.  Das  Verbum  fehlt. in  A,  ist  also  mit  Recht  von  Sill.  und  v. 
Jan  ausgelassen  worden.  —  §.  64.  Ilionenses,  Lanivini,  die 
Hdschr.  Lavini  oder  Lavinii,  eine  sehr  gute  Verbesserung.  — 
Ebd.  Trebulani  eognomine  Ballienses  aus  A,  Bailinien- 
8 es  die  übrigen  Hdschr.  Da  der  Ort  unbekannt  ist,  thut  D.  wohl, 
dem  besten  Codex  zu  folgen.  —  Ebd.  vortrefflich  Urban  ates  statt 
Urbinates  nach  XIV,  62.  —  §.66.  Urbem  tres  portas  ha- 
bentem  Romalas  reliqnit,  ut  plurimas  tradentibus 
credamus;  aut  ut  die  Hdschr.,  credamus  IUI  F*  D',  d.h., 
dia  A  hier  abbricht,  die  Mehrzahl  der  Reste  der  bessern  Recen&ion. 
Allerdings  kennen  wir  nur  zwei  Thore  des  Palatin  mit  Namen; 
da  aber  jode  nach  etruskischem  Ritus  erbaute  Stadt  wenigstens 
drei  hatte,  Ittsst  sich  kaum  denken,  dass  ein  alter  Schriftsteller 
nur  zwei  angegeben  haben  sollte.  Auf  jeden  Fall  hat  man  sich  um 
so  mehr  an  die  bestbeglanbigte  Zahl  zu  halten,  da  sie  jene  will- 
kürliche Streichung  von  aut  unnötbig  macht.  —  §.  69  last  D. 
die  Mutuoumenses  in  dem  alten  Verzeichnisse  von  53  Völkern 
aus,  weil  es  nur  in  den  oodd.  Gelenii  vorkam.  Dann  hätte  er  aber 
auch  die  Zahl  LI  II,  woran  schon  Piut.  Anstoss  nimmt,  in  LI 
ändern  oder  eine  Lücke  im  Verzeichnisse  anmerken  sollen.  —  §.  70 
richtig  Silerum,  da  diese  Form  des  Namens  §.  71  u.  74  wieder- 
holt wird. 

Buch  IV.  §.  75  —  84.  Auf  die  Zahlen  bat  D.  grosse  Aufmerk- 
samkeit verwandt.  Ich  billige  es,  wenn  er  mit  Mart.  Capella  VI, 
662  für  den  Umfang  des  schwarzen  Meers  §.  77  nach  Varro  nur 
viciens  somel  angibt  und  die  Verderbnisse  der  Hdschr.,  die 
sich  auf  eine  Dittographie  von  semel  zurückfuhren  lassen,  nioht 
beachtet;  die  Varianten  zu  Ende  des  §.  versteho  ich  nioht  und 
weiss  nicht,  warum  LXII  ausgelassen  wird.  —  §.  78  ist  in  allen 
Ausgaben,  auch  bei  D.,  ein  Fehler  stehen  geblieben.  Da  PI.  sagt: 
ab  ostio  eins  (Maeotis)  ad  Tanais  ostium  CCCLXXV  esse 
oonstftt,  kann  er  der  Stelle  II,  245  nicht  widersprechen.  Dort 
wird  der  Abstand  von  Detl.  wieder  falsch  zu  CGLXVI  angegeben; 
R  hat  die  richtige  Zahl  CCLXXV  d.  h.  2200  Stadien,  das  Mass 
des  Strabo  nnd  Agathemerus.  Vgl.  Neumann,  die  Hellenen  im 
Skythenlande  L  S.  535.  —  Histropolin  statt  -im  richtig  aus 
R.  —  §.  79  »ohreibt  D.  Abnovae  statt  Abnobae,  allerdings 
nach  R,  aber  gegen  die  Inschriften  bei  Orell.  1986,  4974.  Der 
Fehler  ist  alt,  da  er  sioh  auch  bei  Mart.  (ad  novem)  findet, 


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Die  neueste  Litteratur  des  ältern  Plinius. 


aber  gerade  bei  diesen  Buchstaben  leicht  erklärlich,  —  Ebd.  gibt 
D.  richtig  eine  Lücke  an  alveus  *  appellatus;  sie  war  nach 
den  Geographen  leicht  auszufüllen:  sacer.  —  Ebd.  Pseudosto- 
mon,  dein  insula  (et  in  insulaEFet  insula  DR)  Cono- 
pon  diabasis,  postea  Borionstoma  et  Spireons  toma. 
Da  die  Inseln  zwischen  den  Mündungen  der  Donau  lagen,  ist  die 
Vnlgata  et  insula  unzweifelhaft  richtig.  Ebenso  ricbtig  schreiben 
Slll.  und  v.  Jan  Psilon  stoma,  vgl.  Sill.  Anm.  und  Mommsen  zu 
Solin.  p.  90.  —  §.  80  gut  Rhoxolani.   Der  Fluss  muss  aber 
Parthiscum  geschrieben  werden,  nach  Ammian.  Marc.  XVII,  13, 

4,  da  auch  Ptolem.  III,  7  eine  Stadt  Ildgriöxov  anführt.  —  §.81 
war  Niebuhr's  Verbesserung  transiit  aufzunehmen.  Falsch  ist 
auch  die  Form  Baste  rnaei,  da  dasselbe  Volk  auch  bei  PI  in. 
§.  100  und  VII,  98  Basternae  heisst;  i  ist  aus  dem  folgenden 
I  entstanden.  —  Die  Vulgata  bis  ad  decies,  wie  Detl.  aus  den 
Hdschr.  herstellt ,  stimmt  nicht  mit  Martian  und  Dicuil ,  a  d  ist 
ans  den  kurz  vorhergehenden  Worten  ad  oceanum  irrig  wieder- 
holt. —  §  82  Cremniscos,  Aepolium.  Der  Buchstabe  s  fehlt 
in   den  Hdschr.  mit  Recht;  die  Stadt  hiess  Kremniskoi  (Neum. 

5.  354)  d.  h.  Cremniscoe,  die  Pluralendung  ist  noch  leicht  er- 
kennbar. Das  folgende  Wort  ist  schwerer  verdorben,  es  war  N  e  o  p  t  o- 
lemi  sc.  turris  (vgl.  Neum.  a.  a.  0.).  —  Ebd.  Asiaoae  cog- 
nomines  flumini  schreibt  D.  nach  der  Hdschr.  unbegreiflich, 
da  der  Fluss  ^idxrjg  bei  Ptolem.  zweimal  ÜI,  5,  18  und  III,  10, 
14,  der  Fluss  Axiaces  und  das  Volk  Axiacae  bei  Mela  II,  1,  7 
vorkommt.  —  Ebd.  Orobiggi  schreibt  Detl.  nach  Hdschr.  auf 
jeden  Fall  besser  als  die  Vulg.  Crobyzi,  die  hierher  gar  nicht 
gehören,  vgLNeum.  8.  218.  DaR  Crobigni  hat,  ist  wahrschein- 
lich Carbiani  (KaQmavoi  bei  Ptolem.  III,  5,  24)  zu  schreiben, 
sinu  s  Saggarius,  lies  8.  Sagarius,  wie  VI,  4.  —  §.82  r Ur- 
eas litore  unlateiniscb.  R  gibt  rursusque  litori,  woraus 
das  Nothwendige  in  leicht  ergänzt  wird.  §.  83  begegnet  uns  der 
sonderbare  Name  der  Einwohner  der  Hylaea  Enoecadioe,  wel- 
chen Detl.  aus  den  Corrnptelen  der  Hdschr.  enoaecadioe,  enoadioae, 
enoecadioe  macht;  er  sieht  mehr  griechisch  aus  als  er  ist.  Meine 
frühere  Vermuthung  Hellenoscythae  halte  ich  nicht  entschie- 
den fest;  näher  an  die  Züge  der  Hdschr.  kommt  Neoauchatae 
heran.  Aucheten  oder  Auchaten  kennen  Herodot  IV,  5  und  Plin. 
§.  88  in  diesen  Gegenden,  und  dass  sie  von  Asien  eingewandert 
waren,  unterliegt  keinem  Zweifel  (vgl.  VI,  50).  Es  scheint,  dass 
diese  Auchaten  der  Hyläa  Abkömmlinge  der  Anwohner  des  Hypa- 
nis  waren.  —  Leicht  verbessert  man  unter  den  scythischen  Völker- 
schaften, die  VI,  50 ff.  aufgezählt  werden,  die  Bacae  aus  Ptolem. 
VI,  12,  4  in  Pascae. 

Niemand  wird  Detl.  einen  Vorwurf  daraus  machen,  dass  er 
entschieden  verdorbene  Namen  nach  den  Hdschr.  schreibt,  wenn 
sie  sonst  nicht  vorkommen.    Wo  aber  andere  geographische  Werke 


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216 


Die  neueste  Litteratur  des  altern  Flinius. 


▼erglichen  werden  können,  sehe  ich  keinen  Grond  nahe  liegende 
Aenderungen  zu  verschmähen. 


Lucubrationum  Pliniarum  eapita  Irin  scripsit  Carolus  Mayhoff, 
phil.  Dr.  Neosireliliae  apud  Theopkilum  Bamewits.  MDCCCLXV. 
135  5.  8. 

In  dieser  wohlgeschriebenen  Abhandlung  sucht  Herr  Dr.  May- 
hoff,  ein  talentvoller  Philolog  der  guten  Breslauer  Schule,  die  Ge- 
setze der  Kritik  auf  den  Text  des  PI.  anzuwenden  und  dringt  mit 
grossem  Nachdruck  auf  die  Beachtung  der  zuverlässigsten  Quelle, 
des  Mone'schen  Palimpsestes.  Ich  kann  ihm  nicht  beistimmen, 
wenn  er  den  Cod.  d  dem  Cod.  a  (E  bei  üetl.)  gleichstellt  (p.  15), 
bin  aber  ganz  mit  ihm  einverstanden,  wenn  er  das  absolute  Ver- 
werfnissurtbeii  Detlefsens  bestreitet.  Sehr  gründlich  und  iu  vielen 
Punkten  mit  gutem  Erfolg  beachtet  er  den  eigentümlichen  Sprach- 
gebrauch des  Schriftstellers,  wozu  Grasbergers  Abhandlung  de  usu 
Pliniano  (1860)  eine  schöne  und  rühmliche  Vorarbeit  liefert.  Von 
den  in  3  Abschnitten,  »de  locis  interpolatione  suspectis«,  de  locis 
ex  codicibus  optimis  integritati  restitutisc,  »de  locis  ex  deterioribus 
codicibus  aut  coniectnra  restituendisc  behandelten  Stellen  ist  die 
Mehrzahl  von  Detl.  eben  so  wie  von  dem  Verf.  geschrieben  wor- 
den; V,  8  schreibt  der  Letztere  wie  Sill.  richtig  pleriqne  e 
Graecis  (statt  pl.  a  Gr.),  U,  206  scheint  er  richtig  die  Form 
Hercules  statt  Hercule  zu  vertheidigen.  Am  ausführlichsten 
bebandelt  er  die  in  dem  Mone'schen  Palimpsest  enthaltenen  Stüeke, 
an  den  er  sich  nach  dem  Vorgange  von  Fels  meistens  aus  guten 
Gründon  anschliesst.  Ueberall,  auch  wo  man  ihm  nicht  beipflichten 
kann,  wird  man  die  sorgfältigen  und  lehrreichen  sprachlichen  Er- 
örterungen mit  Vergnügen  lesen. 


Quaesiiones  Fliuianae.  Dwserlalio  philoloqica  quam  —  äffende?  Di' 
deHeus  Notteniu*  Bremanus.  Bonnae  MDCCCLXVJ.  32$.  8. 

Der  Verf.  sucht  in  dieser  scharfsinnigen  und  tüchtigen  Ab- 
handlung die  Spuren  der  unvolleude?en  Ueberarbeitung ,  welche 
durch  Plinius  Tod  unterbrochen  wurde,  nachzuweisen,  was  ihm 
wohlgelungen  ist.  Auch  die  Behauptung,  dass  dem  Briefe  an  Titus 
nur  das  Verzeichniss  der  Schriftsteller  u.  s.  w.  (das  I.  Buch)  bei- 
gefügt worden  war,  ist  wenig«tens  beachtenswerth.  Dann  weist  er 
mit  Recht  auf  die  Wichtigkeit  der  defloratio  des  Robertus  hin. 
welche  mit  der  zweiten  Haud  des  Riccard.  und  des  Paris  a  (E  hei 
Detl.),  sowie  dem  Manuscript  des  Cuiacius  viele  Aehnlichkeit  zu 


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Voigt:  Die  lex  MaenU. 


217 


baben  scheint.  Da  er  auch  naturhistorische  und  mathematische 
Kenntnisse  mit  einer  guten  philologischen  Methode  verbindet,  lässt 

sieb  von  der  Fortsetzung  seiner  Arbeiten  für  Plinius  nur  Gutes 

erwarten. 

Würzburg  im  März  1867.  Irlichs. 


Du  lex  Maenia  de  dote  vom  Jahr  DLXVJ1I  der  Stadt.  Festschrift 
zu  Gustav  Härtels  fünf ziq jähr iqem  Doktorjubiläum  von  Moritz 
Voigt  Weimar.  Landes- Industrie' Comptoir  1*66.  I^  und 
84  5.  4. 

Eine  äusserst  geistreiche,  gelehrte  und  scharfsinnige  Combi- 
nation,  durch  welche  die  Existenz,  das  Alter  und  der  Inhalt  einer 
bis  dahin  nicht  bekannten  lex  Maenia  de  dote,  wenn  auch 
nicht  gerade  als  unumstösslich  gewiss  bewiesen,  so  doch  in  hohem 
Grade  wahrscheinlich  gemacht  wird.  Wir  wollen  den  Inhalt  der 
interessanten  Schrift  in  Kurzem  andeuten. 

Der  I.  Abschnitt  sucht  den  Namen,  den  Inhalt  und  das  Alter 
der  lex  Maenia  de  dote  sicher  zu  stellen. 

Bei  Varro  satnr.  menipp.  (S.  8 — 6)  wird  eine  lex  Maenia  er- 
wähnt, welche  sich  nach  dem  Inhalt  der  in  jener  Satire  enthalte- 
nen Fragmente  zu  schliessen  mit  Verhältnissen  des  Familienlebens 
beschäftigt  und  zwar,  wie  es  wahrscheinlich  erscheint,  Vorschriften 
hinsichtlich  der  Ehescheidungsbcfugniss  für  den  Fall  enthielt,  dass 
der  Ehegatte  in  der  patria  potestas  seines  Vaters  stand.  Bei  Gai. 
I.  78  u.  Ulpian  V.  8  (S.  6  —  11)  kommt  eine  lex  Mensia  vor,  wie 
man  gewöhnlich  den  Namen  liest,  welche  ebenfalls  in  einer  direkten 
Beziehung  zu  ehelichen  Verhältnissen  und  somit  auch  zur  eheweiblichen 
dos  steht,  und  wo  höchst  wahrscheinlich  bei  Ulpian  als  dio  ältere 
handschriftlich  gegebene  Form  lex  Mennia  und  bei  Gaius  Maenia  zu 
restitniren  ist.  Dionysius  Hai.  antiq.  Rom.  II.  25  kennt  eine  lex, 
welche  de  restitnenda  vel  recuperanda  dote,  über  die  actio  rei 
oioriae,  das  judiciura  de  moribus  mulieris,  wie  über  Verwandte 
handelt  (S.  11  —  14)  und  in  Jüstinians  Ausspruche  in  1  11  §  2 
Cod.  5.  17:  »iudicium  de  moribus  mulieris  in  antiquis  legibus  posi- 
tnm  esse«,  lässt  sich  eine  Bezugnahme  auf  jenes  ältere  Gesetz  er- 
blicken, indem  das  Judicium  de  moribus  älter  ist,  als  die  lex  Julia 
et  Papia  Pappaea  (S.  14  ff.).  Aus  M.  Porcius  Cato's  oratio  de  dote 
'Vgl.  die  2  Fragmente  bei  Gellins  X,  23)  ist  zu  entnehmen  ,  dass 
m  dessen  Zeit  ein  Gesetzesvorschlag  in  Betreff  der  dos  bei  den 
gesetzgebenden  Faktoren  dos  Staates  discutirt  wurde  (S.  15 — 17). 
Auch  Polybius  XXXII,  13-14,  und  Proculus  II,  Epist.  (S.  17— 
19)  gedenken  einer  lex,  welche  für  die  Numeration,  wie  für  die 
Restitution  der  dos  bestimmte  Zahlungsfristen  vorschrieb.  Aus  der 
Gescbichtserzählung  bei  Polyb.  und  Proculus  1.  o.  wird  zugleich  der 


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Voigt:  Die  lex  Maenia. 


Scbluss  gezogen ,  dass  schon  im  Jabr  592 ,  jenes  Gesetz  über  die 
dos  in  Geltung  war,  und  Cato's  Reden  beginnen  mit  dem  J.  f)59 
und  derselbe  starb  605,  so  dass  also  auch  in  diese  Zeit  seine  Ver- 
teidigung des  Dotalgesetzes  (suasio  legis  Maeviae  —  Maeniae)  fal- 
len muss.  Nach  Livius  XXXIX,  8,  2.  18,  1  war  aber  im  J.  568 
d.  St.  T.  Maenius  Prätor  urbanus  und  es  fallt,  in  dieses  Jahr  die 
Entdeckung  der  Bacchanalien.  Darin  läge  dann  die  occasio  legis 
Maeniae,  die  von  dem  Praetor  T.  Maenius  im  J.  568  d.  St.  rogirt 
und  von  den  Tributcomitien  angenommen  worden  (vgL  das  Resumü 
S.  19—21). 

Der  IL  Abschnitt  der  Schrift  (S.  21 — 40)  schildert  nun  das 
Dotalrecht  vor  der  lex  Maenia  de  d o t e ,  das  Ebescheidungs- 
recht  des  sui  juris  maritus  oder  uxor,  resp.  des  paterfamilias  des  Gat- 
ten, das  Judicium  domesticum  des  paterfamilias  oder  wenn  die  Frau 
sui  juris  war,  das  der  Agnaten  oder  des  Tutor  als  Ehegericbt 
gegen  die  Frau,  und  das  arbitrium  rei  uxoriae  der  gewaltfreien 
oder  aus  der  manus  entlassenen  Frau  wider  den  geschiedenen 
Mann,  oder  wenn  dieser  noch  filius  familias  war,  gegen  dessen 
paterfamilias.  In  dem  judicium  domesticum  konnte  die  strafweise 
gänzliche  oder  theilweise  Einziehung  der  dos  we£en  Criminalver- 
brechens,  Privatdeliktes  oder  Sittenwidrigkeiten  über  die  schuldige 
Ehefrau  verhängt  worden.  Sprach  der  Mann  aber  ohne  Verschul- 
dung der  Frau  und  ohne  verurtheilenden  Richterspruch  des  judi- 
cium domesticum  die  Scheidung  aus,  so  konnte  die  Frau  mit  der 
actio  rei  uxoriae  Restitution  der  dos  verlangen.  Nahm  die  Frau 
oder  deren  Gewalthaber  die  Scheidung  vor,  so  konnte  sie  resp. 
ihr  paterfamilias  die  dos  nur  dann  zurückfordern,  wenn  der  Mann 
durch  sein  Verhalten  Grund  zur  Scheidung  gegeben  hatte.  Abge- 
sehen also  von  der  frivolen  Scheidung  von  Seiten  des  Mannes,  blieb 
also  die  dos  auch  nach  aufgelöster  Ehe  bei  dem  Ehemanne  oder 
seiner  Familie,  weil  auch  die  onera  matriraonii ,  die  Kinder ,  dort 
verblieben. 

Der  III.  Abschnitt  (S.  41  —  84)  legt  das  Dotalrecht  der  lex 
Maenia  selbst  dar. 

Die  lex  Maenia  setzte  an  die  Stelle  des  judicium  domesticum 
in  Bezug  auf  die  Ehescheidung  ein  judicium  de  moribus  mulieris 
(S.  41  —  46),  Hess  dem  Ehemann  die  retentio  eines  Theiles  der  dos 
für  den  Fall  nach,  dass  durch  Verschuldung  der  Frau  oder  ihres 
paterfamilias  die  Scheidung  herbeigeführt  war  (S.  47 — 52).  Die  lex  Julia 
etPapia  Poppaea  machte  an  diesen  retentiones  dotis  insofern  eine 
Aenderung,  als  sie  auch  die  mores  viri  besonders  strafte,  und  damit 
nun  die  Frage  dahin  richtete :  utrius  culpa  divortium  factum  sit,  und 
indem  sie  die  retentiones  propter  mores  mulieris  auf  die  sexta 
propter  mores  graviores  und  auf  die  octava  propter  mores  leviores 
fixirte,  und  die  retentio  propter  mores  mulieris  nicht  mehr  cumu- 
lativ  neben  der  rotentio  propter  liberos,  sondern  nur  noch  subsi- 
diär statt  jener  zuliess.    Ferner  bestimmte  die  lex  Maenia,  dass 


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Hoctsberg:  Geschichte  Griechenlands  unter  den  Römern.  210 


die  in  non  justae  nuptias,  in  nuptiae  juris  gentium  erzengten  Kin- 
der (nothi)  der  ärgeren  Hand  folgen  sollten,  und  die  lex  Maenia 
versagte  die  retentio  propter  liberos  dem  Manne  dann,  wenn  nach 
jenem  Principe  die  Mutterfolge  der  Kinder  eintrat  (S.  52 — 58). 
Das  alte  Princip  dotis  causa  pevpetua  est,  wurde  durch  die  lex 
Maenia  insofern  geändert,  als  sie  die  dos  sowohl  beim  Tode  des 
Empfängers  (des  Mannes  oder  dessen  Gewalthabers)  an  die  Frau 
überwies,  als  auch  beim  Tode  der  Frau  an  deren  Vater,  falls  die- 
ser noch  am  Leben  war  und  selbst  die  dos  bestellt  hatte,  und 
zwar  unter  Gewährung  der  retentio  Ton  */s  der  dos  für  jedes  lobende 
Kind  (S.  58 — 67).  Die  lex  Maenia  bestimmte  auch  ftlrdieNume- 
ration  und  Restitution  der  dos  eine  Frist  von  drei  gleichen  Raten 
mit  einjährigen  und  zwar  10  monatlichen  Terminen  für  res  fungi- 
bile8  (S.  67 — 69).  Sie  verlieh  ferner  auch  dem  filius  familias  mari- 
tus  die  Scheidnng8befugniss  (S.  69  —  78),  und  machte  endlich  den 
Anspruch  auf  Restitution  der  dos  und  der  actio  rei  uxoriae  von 
Seiten  des  paterfamilias  von  der  Uebereinstimmung  seiner  dotirten 
Tochter  abhängig  (8.  78—80). 

Dieses  sind  in  kurzen  Andeutungen  die  Punkte,  welche  der 
Verf  ebenso  gründlich  und  gelehrt  wie  scharfsinnig  in  seiner  Schrift 
näher  ausführt.  Ohne  Auffindung  weiterer  Quellen  dürfte  übrigens 
die  Existenz  der  lex  Maenia,  und  dass  die  angegebenen  Punkte 
gerade  durch  sie  eingeführt  seien ,  wenn  auch  in  hohem  Grade 
wahrscheinlich,  so  doch  immerhin  eine  Hypothese  bleiben 

Verfug. 


Hertsb  er  q ,  0.  Fr.,  Die  Geschichte  Griechenlands  unter  der  Herr» 
schaft  der  Römer.    Nach  den  Quellen  darqestellt.  Halle  Iti66. 

Von  diesem  Werke,  welches  bestimmt  ist,  die  Geschichte  Grie* 
ehenlauds  bis  zum  Absterben  des  antiken  Lebens  auf  der  griechi- 
schen Halbinsel  fortzuführen,  liegt  erst  nur  der  erste  Theil  vor, 
die  Zeit  von  Flarainius  bis  auf  Augustus  enthaltend.  Mit  Fiulay's 
Greece  under  the  Romans  (Lond.  1857,  zweite  Aufl.)  und  Special- 
geschichten anderer  römischer  Provinzen,  z.  B.  von  Sam.  Sharpe 
fttr  Aegypten  u.  s.  w.  rangirend,  kann  es  für  eine  Fortsetzung  der 
Geschichten  Griechenlands  von  Groote,  jedenfalls  der  Geschichte  des 
Hellenismus  von  Droysen  gelten. 

So  sehen  wir  in  der  That  den  Faden  des  Zusammenhanges 
ununterbrochen  von  der  ältesten  Zeit  bis  zum  europäischen  Mittel- 
alter, wo  die  griechische  Race  von  slavisohen  Elementen  durchsetzt 
wird,  den  tüchtigsten  Bearbeitern  anvertraut. 

Wir  wollen  diesen  ersten  Band  des  Hertzberg'scben  Werkes 
nicht  aus  der  Hand  legen,  ohne  darüber  einige  Kenntniss  hier  zu 
geben,  und  behalten  uns  vor,  über  das  gauze  Werk  später  zusam- 
menhängender zu  urtheilen. 


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220       Herteberg:  Geschieht«  Griechenland«  Tinter  den  Römern. 


Uns  interes«urt  vorzugsweise  der  Abschnitt  über  die  Zustande 
Griechenlands  unter  Augustus.  Der  Verfasser  bat  den  Stoff  von 
Flaminius  bis  Augustus  unter  fünf  Capitel  gebracht,  davon  das 
erste  die  Zeit  des  römischen  Protectorats ,  das  zweite  den  Unter- 
gang des  achäischen  Bandes,  das  dritte  die  Geschichte  von  da  ab 
bis  zum  Ende  des  ersten  Mithridatischen  Kriegs  erzählt.  Das  vierte 
geht  in  seiner  Erzählung  bis  zur  Schlacht  bei  Aktium ,  und  das 
letzte,  wie  gesagt,  beschäftigt  sich  mit  den  Zuständen  unter 
Augustus. 

Schon  seit  146  römische  Provinz,  wurde  Griechenland  erst 
jetzt  innig  mit  dem  römischen  Wesen  amalgamirt ,  erst  nachdem 
der  grosse  Kampf  zwischen  Antonius  und  Octavian  zu  Gunsten  des 
Letzteren  durch  die  Schlacht  bei  Aktium  entschieden  worden  war. 
Don  grössten  Theil  der  Darstellung  bei  dem  Verfasser  nimmt  noch 
die  durch  den  Sieger  in  den  nächsten  Jahren  verfügte  Organisation 
in  Anspruch. 

Wir  werden  ihr,  der  entscheidenden  Abrechnung  der  Vergangen- 
heit Griechenlands,  besondere  Aufmerksamkeit  schenken  müssen, 
weil  sie  einen  Massstab  am  evidentesten  bietet,  um  zu  sondiren, 
wie  der  Verfasser  sich  das  provinciale  Verhältniss  dieser  von  der 
Geschichte  der  Cnltur  zuerst  berufenen  Station  gedacht  hat. 

Doch  bevor  wir  diesen  für  die  Geschichte  Griechenlands,  und 
für  seine  Organisation  (in  prnvincine  formam  redactit),  wie  sie, 
einem  Nessusgewande  gleich,  ihm  von  Rom  umgelegt  wurde,  gleich 
schätzbaren  Seiten  uns  zuwenden,  sei  es  uns  vergönnt,  die  Zeit 
vorher  an  der  Hand  des  Verfassers  zu  tiberblicken. 

Es  ist  die  Zeit  nach  der  Zerstörung  Korinth's,  worauf  wir 
zurückgehen,  S.  276  ff. 

In  lichtvoller  Uebersicht  verwerthet  der  Verf.  das  Material 
für  das  Verstündniss  der  Lage  der  Griechen.  Die  Controverse,  die 
er  auf  seinem  Wege  antraf,  ob  nämlich  Griechenland  schon  jetzt 
die  Form  einer  Provinz  erhalten  habe,  hat  ihre  zwei  Seiten.  Wenn 
das  Verhältniss  einer  Provinz  von  dem  Zeitpunkt  datirt  wird,  wo 
das  eroberte  Land  seine  Selbstregierung  verliert,  so  wurde  Grie- 
chenland nicht  schon  nach  dem  J.  146  Provinz.  Wenn  man  aber 
bedenkt,  dass  dio  griechischen  Gemeinden  der  Oberhoheit  des  römi- 
schen Statthalters  von  Makedonien  untergeordnet  wurden,  so  war 
eigentlich  die  Selbstständigkeit  derselben  nur  ein  Schatten  Nach 
der  Begründung  der  Verfassers  wurden  sie  Theile  der  neuen  make- 
donischen Provinz,  S.  284,  eine  Einrichtung,  die  den  römischen 
Feldberrn  und  die  von  dem  Senate  delegirten  Zehnraännercommis- 
aion  längere  Zeit  beschäftigt. 

Uebrigens  hat  die  Geschichte  der  Frage  wegen  der  Stellung 
Griechenlands  zu  Rom  nach  der  Ueberwältigung  der  Achäer,  der 
Boötier  und  der  Chalkidier  eine  von  gründlicher  Belesenheit  zeu- 
gende Erörterung  erfahren.  S.  284  ff.  Die  Unklarheit  in  der  Frage 
ist  dadurch  hervorgerufen  worden,  dass  der  Name  Achaia,  unter 


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Hemberg:  Geschichte  Griechenlande  unter  den  Römern.  221 


welchem  nachmals  durch  Augustus  Griechenland  als  Provinz  orga- 
nisirt  wurde,  schon  seit  jenem  Datum  den  alten  Namen  Peloponnea 
in  verdrängen  begann  und  sich  regelmässig  im  Gegensätze  zu  Nord- 
griechenland angewendet  vorfindet.  Ja  die  Ansicht  konnte  das 
Faktum  für  sich  auf  Uhren,  dass  Mummius  den  Siegesnamen  Achai- 
cus  erhielt.  Aber  aus  dem  Namen  kann  man  nicht  auf  eine  Provinz 
Griechenland  der  Sacho  nach  schliessen. 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  nicht  der  Aufmerksamkeit  verges- 
sen, die  der  Verfasser  dem  EiuÜusse  des  Polybius  widmet,  der, 
durch  seinen  Freund  und  Gönner  Scipio  Aemilianus  begünstigt,  den 
besorgten  Anwalt  seiner  Landsleute  in  jenen  Tagen  des  Unglücks 
machte. 

Was  wird  nach  jener  Katastrophe  der  scharfe  Redner  der  Aka- 
demie, Karneades,  gesagt  haben,  wenn  es  wahr  ist,  was  Lactantius 
erzählt  (Instit.  V,  1*4 ff.),  dass  er  deu  .Mut Ii  gehabt  hatte,  in  Rom 
den  Römern  zu  sagen,  die  Gerechtigkeit  verlange,  dass  die  Römer 
ihre  Eroberungen  den  rechtmässigen  Besitzern  zurückgäben,  und  in 
ihre  Hütten  von  Früher  zurückkehrten? 

Der  Schluss  dieses  Abschnittes,  welcher  einen  Blick  auf  den 
äusseren  Zustand  der  griechischen  Halbinsel  wirft,  zeigt,  wie  zwar 
nicht  Sparta  aber  Athen  von  den  Folgen  jener  Katastrophe  in  sei- 
ner Verfassung  getroffen  wurde.  Unter  den  Inseln  des  Archipel 
erwarb  sich  und  bewahrte  Rhodos  die  meiste  Achtung  unter  den 
Zeitgenossen.  Delos,  das  die  Römer,  um  den  Rhodiern  zu  schaden, 
zum  Freihalen  erklärt  hatten,  hatte  seit  dem  J.  167  einen  grossen 
Aufschwung  genommen.  Aber  nach  dem  Fall  von  Karthago  uud 
Korinth  kam  auch  der  Sclavenhandel  dort  in  Blüthe.  Kreta,  noch 
uuberührt  von  der  Gewalt  römischer  Provincialbeamteu,  wurde  ein 
Uaaptsitz  der  Seeräuberei. 

Der  Verf.  widmet  angeblich  der  Geschichte  Griechenlands 
von  dem  Untergang  des  Achäischen  Bundes  bis  zum  Ausgang  des 
Ersten  Mitbridatischen  Krieges  ein  eigenes  (das  dritte)  Kapitel, 
legt  aber  gleich  Eingangs  das  frappirende  Bekenntniss  ab:  Von 
einer  Geschichte  Griechenlands  während  der  Jahre  seit  146. 
bez.  145  bis  89  v.  Chr.  kann  daher  im  strengeren  Sinne  gar  nicht 
die  Rede  sein;  kaum  dass  wir  im  Stande  sind,  uns  von  der  all- 
gemeinen Lage  Griechenlands  in  dieser  Zeit  eine  gewisse  Vorstel- 
lung zu  macheu.  c  S.  317. 

Demgemäss  ist  der  Verfasser  nur  im  Stande  gewesen,  bei  der 
politischeu  Apathie,  worin  der  Peloponnes  in  Folge  des  unglück- 
lichen Krieges  gegen  die  Römer  versunken  war,  sein  Augenmerk 
auf  eine  andere  Frage  zu  richten ,  deren  Schwerpunkt  die  gegen- 
seitigen Einwirkungen  von  Hellenen  und  Römern  auf  einander  sind. 
Obwohl  er  die  Schwierigkeit  ablehnt,  die  grossartige  Culturbe- 
wegung,  »die  sich  an  die  Verschmelzung  des  italienischen  und 
hellenischen  Wesens  mit  ihren  glänzenden  und  dunkeln  Seiten 
knüpft«,  im  Einzelnen  zu  verfolgen,  hat  er  immerhin  interessante 


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222      Hemberg:  Geschichte  Griechenlands  unter  den  Römern. 


Bemerkungen  zur  Erklärung  dieser  der  römischen  Geschichte  der 
späteren  Zeit  den  Weg  bahnenden  socialen  Entwicklung  zu  verwerthen 
verstanden.  Wenn  man  die  Entartung  des  griechischen  Charakters 
zeitlich  begrenzen  will,  so  wird  man  die  Unterwerfung  dnrch  Mum- 
mius  als  den  Ausgangspunkt  dafür  ansehen.  Die  Griechen  müssen 
vorher  bei  aller  Vorkommenbeit  ihres  einheimischen  Verfassungs- 
lebens doch ,  durch  das  Bewusstsein  der  Freiheit  gestärkt ,  eine 
verh&ltnissmässig  ehrenhaftere  Empfehlung  haben  autweisen  könuen, 
als  nachmals,  wo  die  Bildung  der  Jahrhunderte  nur  noch  als  Dung 
der  römischen  Civilisation  passirte,  über  dem  man  die  Epigonen 
der  Phidias  und  Praxiteles,  der  Sophokles  und  Euripides  vergass 
oder  verwarf. 

Für  das  römische  Boich  überhaupt  waren  die  fünfzig  Jahre 
von  145  bis  89  v.  Chr.  nicht  so  ruhig  und  ungestört  verflossen 
wie  speciell  für  Griechenland.  Die  Nachbarländer  waren  durch 
grosse  Ereignisse  in  ihren  Tiefen  erschüttert  worden ,  z.  B.  Asien 
durch  den  Krieg,  den  Aristonikus,  ein  natürlicher  Sohn  des  zwei- 
ten Eumenes,  nach  dem  Ableben  des  Attalos  III.  um  den  Besitz 
des  pergamenischen  Reiches,  unterstützt  von  asiatischen  Griechen, 
mehrere  Jahre  gegen  Rom  führte  (132  — 139).  Noch  weniger  als 
hiervon,  wurde  das  europäische  Griechenland  von  dem  Cimbern- 
kriege  berührt,  obwohl  (nach  Florus)  die  Thraker  im  Jahr  114 
sehr  weit  nach  Süden  (bis  nach  Thessalien)  vordrangen.  Vergl. 
Mommsen,  R.  G.  Bd.  II.  S.  171  ff.  Endlich  verhinderte  der  jähe 
Untergang  des  Suturninns  und  das  Fiasko  des  C.  Marius,  dass 
Achaia  wenigstens  von  Ansiedlungen  römischer  Bürger  verschont 
blieb  (im  Jahr  100). 

Die  Zeit  der  Ruhe  wurde  bald  darauf  von  einer  blutigen  Ka- 
tastrophe unterbrochen,  welche  in  der  kurzen  Zeit  von  fünf  Jahren 
(88  —  83  v.  Chr.)  Griechenland  ruinirten,  wie  in  seinen  schlimm- 
sten Tagen.  Es  war  die  Zeit,  wo  Mithridates,  der  den  ganzen 
asiatischen  Orient  durch  den  Ruf  seiner  Erfolge  als  Feldherr  in 
Bewegung  gesetzt  hatte,  den  römischen  Interessen  durch  seine  er- 
obernde Politik  gefährlich  wurde.  Durch  seine  Energie  eine  Aus- 
nahme nnter  seinen  Ranggenossen  seit  der  Ausartung  der  Seleuki- 
den  und  Ptolmäer,  durch  seinen  Hass  gegen  Rom  das  Andenken 
an  Hannibel  erneuernd,  die  geheime  Ursache  der  Barbarenangriffe 
von  Norden  her  auf  die  makedonische  Provinz,  veranlasste  er  im 
Jahr  89  durch  seine  Uebergriffe  gegen  kleinasiatische  Völker  einen 
Broch  mit  Rom,  dem  im  Jahre  darauf  der  Feldzug  folgte. 

Den  schwachen  italischen  Streitkräften  der  Römer,  sowie  ihren 
zwar  zahlreichen,  aber  meist  wenig  brauchbaren  Aufgeboten  ihrer 
asiatischen  Verbündeten  in  Kleinasien  überlegen,  kündigte  er  sich 
zugleich  durch  seine  gewinnende  Politik,  S.  343,  als  einen  Befreier 
vom  römischen  Joch  an.  Mit  Jubel  aufgenommen,  konnte  er  bald  von 
Ephesos  aus  jenen  grausamen  Blutbefehl  erlassen,  der  hunderttau- 
send Menschen  römischer  und  italischer  Abkunft  den  Tod  dictirte, 


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Hertzberg:  Geschichte  Griechenlands  unter  den  Römern.  323 

rieb  gelbst  aber  dadurch  das  Verdict  vor  dem  Forum  der  Ge- 
schichte sprach.  Es  war  kein  Akt  der  Politik,  sondern  des  be- 
rechnenden Hasses,  der  bei  Mithridatcs  unter  dem  Firniss  der  Bil- 
dung die  Gemütbsart  des  Barbaren  aufdeckte.  Die  Stellen,  welche 
diese  Römervesper  verewigten,  stehen  Appian.  Mithr.  c.  22.  62. 
Flor.  I,  89.  Eutrop.  V,  6.  Aur.  Vict.  De  vir.  ilL  76. 

Der  Verf.  zeigt,  wie  die  militärischen  Erfolge  des  Königs  auf 
mehreren  Punkten  zum  Stocken  kamen.  Aber  den  Griechen  im 
europäischen  Griechenland,  die  in  ihm  mehr  kennen  gelernt  hatten, 
als  einen  schlaffen  Antiochos,  hatte  er  einmal  das  Vertrauen  ein- 
geflösst ,  dass  er  nicht  sie  wie  einst  Antiochos  die  Aetoler,  im 
Stiche  lassen  wUrde.  Am  gewaltigsten  war  die  Aufregung  in  Athen. 
Hier  sollte  der  Philosoph  Ariston ,  der  die  Erregtheit  seiner  Mit- 
bürger benutzte,  um  sie  in  die  Bahnen  der  raithradatischen  Politik 
hineinzutreiben,  eine  kurze,  aber  traurige  Berühmtheit  erlangen. 
Die  Darstellung  des  Treibens  dieses  politischen  Abenteurers,  dessen 
Matter  eine  ägyptische  Sclavin  gewesen,  und  der  selber  nach  dem 
Tode  seines  Vaters  sich  das  Bürgerrecht  erschlichen  hatte,  ist  be- 
sonders gelnngen  zu  nennen,  dnreh  die  Details  nicht  blos,  sondern 
auch  durch  die  Färbung. 

Kurz  wie  gesagt  dauerte  der  Taumel,  in  den  Aristion  durch 
seine  Heden  die  Athener  versetzt  hatte.  Sie  hatten  die  Wahr- 
scheinlichkeit für  Gewissheit  genommen,  und  Rom,  zwar  durch 
Bürgerkrieg  und  Bundesgenossenaufstand  dabeim  tief  erschüttert, 
wand  sich  eher  los,  als  die  Hellenen  dachten.  Im  J.  87  v.  Chr. 
langte  der  Proconsul  Sulla  mit  einem  Heere  in  Griechenland  an, 
und  in  kurzer  Zeit  erschien  er,  über  Thessalien  durch  die  Ther- 
mophylem  nach  Böotien  marschirend,  und  durch  Requisitionen  an 
Geld,  Proviant  und  Truppen  unterstützt,  zuletzt  vor  Athen,  das 
▼on  jenem  Aristion  vertheidigt  wurde. 

Wichtiger  erschien  dem  römischen  Feldherr  der  Besitz  des 
?on  Archalaos  stark  befestigen  Piräus.  Daher  das  erste  Unter- 
nehmen auf  attischem  Boden  die  Belagerung  dieses  Platzes,  die  zum 
ersten  Male  seit  Karthago's  und  Korinth's  Belagerung  wieder  die 
militärische  Technik  der  Römer  im  Belagern  von  Städten  auf  ver- 
iweifelnde  Weise  erprobte.  Aber  Sulla  bat  Ausdauer  und  Kalt- 
blütigkeit genug,  um  nicht  zu  ruhen,  bis  er  mit  dem  Platze  fertig 
geworden,  hierin  ßcipio  und  Mummius  nacheifernd.  Ehe  er  aber 
zu  seinem  Zwecke  gelangte,  und  die  Festung  zur  Uebergabe  brachte, 
wandte  er  sieb  gegen  Athen,  wo  inzwischen  Aristion  sein  Mög- 
lichstes that,  die  Noth  zu  vergrössern.  Das  Strafgericht,  welches 
Über  die  unglückliebe  Stadt  und  seine  irregeleiteten  Einwohner 
hereinbrach,  die  Hungersnoth  während  der  Belagerung,  die  Blut- 
scenen  bei  der  Einnahme,  die  am  1.  März  im  Jahr  86  erfolgte, 
haben  in  dem  Verf.,  der  sich  nicht  die  geringste  Notiz  hat  ent- 
gehen lassen,  um  Licht  über  diese  ünglückstage  der  altehrwürdi- 
gen Stadt  zu  bekommen,  einen  ergreifenden  Darsteller  gefunden. 


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224       HerUberg:  Geschichte  Griechenlands  unter  den  Römern. 

S.  365  ff.  Nicht  lange  darauf  wurde  auch  über  Aristio ,  der  sich 
nach  der  Erstürmung  mit  seiner  Begleitung,  mit  Truppen  und  eini- 
get! Bürgern  auf  die  Akropolis  entkommen  war,  entschieden.  Durch 
Wassermangel  wurde  die  Besatzung  genöthigt,  sich  zu  ergeben. 
Nicht  so  gut  wie  der  Stadt  Atheu,  erging  es  der  Seestadt  Piräus. 
Wahrend  dort  die  Gebäude  verschont  blieben,  ward  hier  Nichts 
nach  der  Einnahme  geschont.  Sulla  Hess  Alles  niederbrennen,  um 
nicht  geuöthigt  zu  sein,  durch  eine  Besatzung,  die  er  hätte  zurück- 
lassen müssen,  sich  zu  schwächen.  Von  Norden  zogen  bereits  die 
pontischen  Truppenmassen  heran. 

Ueber  diese,  die  ihm  dreifach  Uberlegen  waren  (S.  372  fl.)  er- 
focht er  einen  Sieg  bei  ChUronea  vielleicht  noch  im  März  des  ge- 
nannten Jahres,  wie  der  Verf.  sagt  Aber  er  hatte  den  Feind,  der 
sich  unter  seinem  Feldherru  Archelaus  als  ungeheuer  zäh  erwies, 
noch  nicht  so  überwältigt,  dass  er  schon  hätte  daran  gehen  kön- 
nen, jenen  Sieg  militärisch  verwerthen  zu  können.  Der  Verfasser 
zeigt,  dass  der  König  selbst  seine  Chancen  verdarb,  indem  er  sei- 
nen Feldherrn  Archeläos  zu  früh  aus  seinen  Positionen  zurückgehen 
Hess ;  aber  er  gibt  gleichzeitig  der  Energie  des  Letzteren  die  ganze 
Ehre,  die  doch  wohl  die  Chancen  der  Asiaten  tiberwog,  trotzdem 
dass  in  Rom  selbst  der  Bürgerkrieg  im  Flor  stand.  Es  sollte  sich 
zeigen,  dass  der  Sieg  Sulla's  bei  Chäroneia  doch  wichtige  Folgen 
nach  sich  gezogen.  Indem  die  Niederlage  den  König  compromittirt 
hatte,  trieb  sie  ihn  besonders  dadurch,  dass  er,  um  ein  Heer  zu- 
sammen zu  bringen,  gegen  seine  Versprechungen  handelte,  seinem 
Ruin  entgegen,  der  für  Griechenland  in  der  zweiten  Niederlage  er- 
folgte, die  seiu  neues  Heer  unter  Doryläos  und  Archelaos  dem  Un- 
besonnenen und  dem  Zauderer  bei  Orchomenos  erlitt  (Frühjahr  des 
Jahres  85). 

Mithradates  hatte  sich  die  kleinasiatischen  Hellenen  entfrem- 
det. Je  mehr  er  an  Terrain  verlor,  unter  dem  Nachrücken  der 
Römer,  desto  mehr  gewaunen  diese.  Fimbria,  der  Legat  des  Con- 
suls  Flaccus  von  der  marianischen  Partei,  und  nach  dem  Tode  des 
Letzteren  im  Besitze  seines  Commando,  der  dem  Sulla  hatte  Cou- 
curreuz  machen  sollen,  wurde,  uachdem  Sulla,  im  Sommer  des 
Jahres  84  zu  Dardanos  den  bekannten  Rom  günstigen  Friodeu  ge- 
schlossen hatte,  leicht  beseitigt.  An  den  orientalischen  wie  an  den 
griechischen  Bewohnern  der  Provinz  Asia  wurde  wegen  ihres  Ab- 
falls Rache  genommen. 

(Schluss  folgt.) 


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Ii.  15.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Hertzberg:  Geschichte  Griechenlands  nnter  den 

Römern. 


(SchlMS.) 

Im  Frühjahre  des  Jahres  83  kehrte  Sulla  mit  seiner  für  den 
Bürgerkrieg  in  Italien  bestimmten  Armee  von  Ephesus  nach  Attika 
zurück,  hielt  sich  kurze  Zeit  in  Athen  aui,  wo  er  mit  dem  reichen 
T.  Pomponius  viel  verkehrte,  Hess  die  Bibliothek  des  Apallikon, 
des  bekannten  Complicen  des  Aristion,  verpacken,  und  kehrte  noch 
im  Früblinge  nach  Italien  zurück.  Eine  römische  Besatzung  blieb 
in  Griechenland  zurück. 

Wie  furchtbar  der  Wohlstand  der  Hellenen  erschüttert  war, 
beklagt  der  Eingang  des  folgenden  Oapitels;  der  Unterschied  zwi- 
schen den  Folgen  des  Feldzugs  vom  J.  146 ,  und  den  Folgen  des 
sullaniscben ,  bestand  darin,  dass  es  denselben  nicht  einmal  ver- 
gönnt war,  sich  auf  eine  ähnliche  Dauer  hinaus  zu  erholen.  Denn 
erstens  erlebte  der  erste  Mithradatische  Krieg  noch  Nachspiele  (die 
Belagerung  der  Stadt  Mitylene,  S.  390;  den  kurzen  Krieg  des  L. 
Murena,  eines  sullaniscben  Legaten,  mit  Mithradates  von  83  bis 
82,  (S.  891),  und  ferner  brach  nicht  alleiu  nach  einigen  Jahren 
der  dritte  Mithradatische  Krieg  aus  (74—63),  sondern  Griechen- 
land wurde  noch  durch  die  Seeräuber  verheert,  gegen  die  eine 
eigene  Expedition  abging,  zuerst  unter  Pompeius  im  Jahr  67,  dann 
unter  Metellus,  der  im  Jahr  62  mit  der  Eroberung  von  Kreta  der 
Unabhängigkeit  des  letzten  freien  griechischen  SCÄmmes  in  Europa 
ein  Ende  machte,  und  zuletzt  von  dem  grossen  Kampf,  der  zwischen 
Cäsar  und  Pompeius  im  Jahr  49  ausbrach,  heimgesucht. 

Bis  hierher  geht  ein  Abschnitt  in  dem  Capitel,  aus  dem  wir 
manche  Stellen,  die  des  Interesses  in  hohem  Grade  werth  sind, 
herausheben  könnten,  um  daran  zu  zeigen,  wie  umsichtig  der  Ver- 
fasser seine  Materialien  erforscht,  und  wie  umsichtig  er  sie  ver- 
werthet  hat.  Er  erwähnt  der  Erpressungen  römischer  Beamten, 
die  Frevel  desVerres  in  Lampsakos  eingeschlossen,  zeigt  wie  grie- 
chische Gegenden  das  Ziel  von  Verbannten  und  Touristen  zu  wer- 
den begannen,  wie  insbesondere  Athen  von  römischen  Studirenden 
aufgesucht  wurde. 

Wirksamer  als  oben  kommt  er  hier,  S.  427,  auf  die  Verschlech- 
terung des  griechischen  Volkscharakters  zu  roden,  und  beschliesst 
diesen  ersten  Abschnitt  seines  Capitels  mit  einer  Klage  über  die  In- 
haltslosigkeit des  griechischen  Lebens.  S.  445. 

LDL  Jahrg.  8.  Heft.  15 


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226       Hertzberg:  Geschichte  Griechenland»  unter  den  Römern. 

Die  neuen  Drangsale,  welche  mit  dem  Jahr  49  begannen,  nnd 
die  von  den  Schlachten  bei  Pharsalos  nnd  bei  Philippi  begrenzt 
werden,  hat  der  Verf.  anschaulich  gewürdigt.  Von  Cäsar  begünstigt, 
der  Korinth  neu  gründete,  und  unter  dem  es  zu  neuen  Hoffnungen 
sich  hätte  erholen  können,  wurde  es  zwar  durch  den  Kampf,  der 
zwischen  den  casarischen,  von  Octavian  und  Antonius  geführten 
Heeren  und  der  republicanischen  Macht  des  Brutus  und  Cassius 
auf  der  Ebene  bei  Philippi  sich  entlud,  nicht  unmittelbar,  dagegen 
um  so  mehr  von  den  Erpressungen  ausgesogen,  die  Antonius  nach- 
her sich  erlaubte,  um  seine  Verschwendung  zu  bestreiten. 

Wie  Antonius  zu  Athen  es  trieb,  zuerst  bis  36  an  der  Seite 
Octavian's,  und,  nach  einer  mehrjährigen  Abwesenheit,  dann  (im 
Jahr  32)  mit  Kleopatra,  das  ist  mit  eingehender  Gründlichkeit  vom 
Verf.  dargelegt  worden. 

Wie  die  Athener  sich  Cäsar  unwillig  gebeugt  hatten,  8.  465, 
so  hielten  sie  jetzt,  wo  das  römische  Reich  wieder  einem  entschei- 
denden Kampf  entgegentrieb,  gegen  Octavian  und  Antonius.  Der 
Verf.  verschweigt  nicht,  dass  der  Letztere  Griechenlands  Elend  und 
Verarmung  vollendete.  Bis  zum  Tode  erschöpft,  sagt  er,  nachdem 
er  den  Kampf  bei  Aktion  beschrieben,  lag  Griechenland  zu  den 
Füssen  des  Siegers. 

Wir  konnten  nicht  umbin,  dem  bisherigen  Verlaufe  am  Faden 
des  Verfassers  so  viel  Raum  zu  widmen.  Unsere  Aufmerksamkeit 
hatte  eigentlich  dem  ftlnften  Capitel  gelten  sollen ,  S.  486  ff ,  wo 
die  Provinzialverfassung,  welche  Octavian  der  niedergeworfenen  Be- 
völkerung anpasst,  den  Vergleich  mit  den  Anordnungen  des  Mum- 
mius  und  der  von  dem  Senate  damals  abgeordneten  Commission 
begünstigt.  Die  Organisation  des  Octavian  war  einer  persönlichen 
Initiative  entsprungen. 

Bevor  der  Verf.  sich  dieser  Betrachtung  zuwendet,  widmet  er 
der  Lage  des  Landes  oder  vielmehr  dem  Verfall,  wobei  er  die 
Schilderung  Strabon's  (S.  490)  corrigirt,  sowie  den  Anordnungen 
Octavians,  die  Noth  der  Hellenen  zu  lindorn,  einige  Seiten. 

Die  Regelung  des  staatsrechtlichen  Verhältnisses  der  Letzteren 
zu  Rom  leitet  er,  S.  492,  mit  der  Gründung  zweier  Städte*),  einer 
in  Mittelgriechenland,  und  einer  im  Peloponnes,  nämlich  dort  Niko- 
polis  zum  Andenken  an  den  Sieg  bei  Aktion,  hier  Paträ,  ein.  ßeide 
wurden  von  andern  Städten  aus  bevölkert,  erhielten  Ackerland  an- 
gewiesen, bekamen  Wasserleitungen  u.  s.  w.  Nikopolis  wurde  die 
neue  Hauptstadt  von  Epiros,  Paträ  die  Metropole  von  Westachaia. 
Korinth,  die  junge  Schöpfung  seines  Oheims,  bestimmte  Octavian 
zum  Sitz  des  römischen  Statthalters  für  die  jetzt  neugeordnete 
Provinz.  Alle  drei  Städte  erhielten  Besatzung. 

Die  Feststellung  des  staatsrechtlichen  Verhältnisses  der  euro- 
päischen Hellenen  zu  Rom  erfolgte  erst  in  den  nächsten  Jahren. 

*)  Macchiav.,  II  Principe,  Cap.  m. 


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Hertzberg:  Geschichte  Griechenlands  unter  den  Römern.  227 


Die  Bereisung  eines  grossen  Theils  der  östlichen  Provinzen  zwi- 
schen 22  and  19  t.  Chr.,  bei  welcher  Gelegenheit  der  neue  Augu- 
stus auch  in  Attika  sich  aufhielt,  befestigte  das  bis  dahin  einge- 
führte System  seiner  Provincialordnung,  S.  499.  Wo  der  Verf. 
zusammenhängend  sich  hierüber  aussprechen  soll,  S.  504  ff.,  hören 
wir  leider,  dass  ihm  im  Grunde  viel  darüber  zu  sagen  nach  eige- 
nem Geständnisse  nicht  möglich  ist.  Das  Wichtigste  ist,  dass  nur 
ein  Theil  der  Gemeinden  der  neuen  Provinz  die  alte  »Autonomie« 
behielt:  Athen,  Sparta,  die  Städte  der  Eleutherolakonen,  Delphi, 
Abä  in  Phokis,  Elateia,  Thespiä  und  Tanagra,  Pharsalos,  die  Inseln 
Aegina,  Zakynthos  und  Kephallenia ,  Korkyra ,  daneben  natürlich 
die  Colonien  Nikopolis  und  Paträ. 

Nach  Allem,  was  er  noch  beibringt,  woraus  der  Leser  ent- 
nehmen soll ,  dass  die  Römer  doch  sehr  die  alten  Formen  des 
griechischen  Lebens  schonton ,  S.  508  ff. ,  trotz  des  Gesammtland- 
tages  (xoivov)  in  Argos,  S.  509,  trotz  der  Beform  des  Bundes  der 
Amphiktyonen ,  Anhaltspunkten  einer  Organisation,  die  nach  der 
allgemeinen  Verwüstung  der  letzten  Jahrzehnte  immerhin  werth- 
foll  war,  bekennt  der  Verfasser  mehrfach,  S.  515,  512  ff.,  dass  doch 
das  frische  Leben ,  welches  die  neue  Provinz  Afrika  darstellen 
wollte,  eigentlich  nur  in  den  neuen  Städten  im  Westen  (Nikopolis, 
Paträ)  und  am  Sitze  des  Statthalters  zu  finden  war. 

Gestutzt  auf  die  Thatsache,  dass  Athen,  welches  wegen  seiner 
Vergangenheit  noch  immer  das  meiste  Interesse  erweckte,  lässt  er 
gelten,  dass  die  zahlreichen  Besuche  aus  der  römischen  Welt  zwar 
manche  Wunde  heilten.  Aber  er  macht  auch  begreiflich,  dass  die 
Gunst  der  Kaiser,  welche  durch  Decrete  und  Geschenke  die  alte 
Kraft  nicht  wieder  beleben  konnten,  eigentlich  dem  prunkenden 
Sarkophag  eines  heimgegangenen  grossen  Geschlechtos  galt.  S.  521. 

Obwohl  der  Verf.  sich  im  Wesentlichen  auf  die  Ereignisse  und 
Zustände  in  Griechenland  nach  der  festen  Begründung  der  cäsari- 
schen Monarchie  für  diesen  Band  beschränkt,  hebt  er  doch  noch 
einige  Erscheinungen  aus  der  Regiernngszeit  des  Augustus  hervor, 
nämlich  zunächst  S.  522  das  Thun  und  Treiben  des  reichen  Spar- 
taners Eurykles,  eines  Günstlings  des  Augustus,  der  aber,  von  An- 
klagen verfolgt,  in  Ungnade  fiel ;  dann ,  von  Agrippa's  Aufenthalt 
auf  Lesbos  (23  v.  Chr )  und  des  Tiberius  Aufenthalt  auf  Rhodos 
(?on  6  v.  Chr.  bis  2  n.  Chr.)  zu  schweigen,  die  er  nur  vorüber- 
gehend erwähnt,  den  (von  Schriftstellern  der  spätesten  Zeit,  aber 
weder  seinen  Motiven  noch  seinem  Verlaufe  nach  näher  bekannten) 
angeblichen  Aufstand  der  Athener  in  den  letzten  Jahren  des 
Augustus.  8.  525  ff. 

Wenn  dieses  Ereigniss  nioht  ganz  apokryph  ist,  wie  der  Ver- 
fasser mit  K.  Fr.  Hermann  glauben  möchte,  so  war  es  jedenfalls 
höchst  unbedeutend. 

Indem  der  Verf.  ankündigt,  dass  die  Zahl  der  politischen  Ereig- 
nisse bis  auf  Justinian  nur  noch  gering,  lässt  er  durchblicken,  daas 
die  Geschichte  des  zweiten  Bandes  eine  Culturgeschichte  werden  wird. 


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Bibliotheca  Scriptt  Teubneriana. 


Dem  Sammelfleiss  des  Verf.,  der  noch  während  des  Drucks 
zahlreiche  Anmerkungen  nachtrug,  muss  alles  Lob  gespendet  wer- 
den. Wir  erwarten  von  dem  nächsten  Bande,  wenn  derselbe  ebenso 
ausdauernd  fortfahrt,  neue  tiefeindringende  Details  über  die  ver- 
nachlässigte Geschichte  der  betreffenden  Periode. 

Die  Details  sind  die  Seele  der  Geschichte! 

Heidelberg  im  März.  II.  Doergens. 


1)  Scriptorts  Metrici  0  rat  ci.  Edidit  R.  W  estphal.  Vol.  I. 
Hephaestionis  de  tnetris  enckiridion  et  de  poemate  libellus 
cum  scholäs  et  Trichae  Epitomisf  adjecta  Prodi  Chrestomathia 
Grammatica.  Lipsiae  in  aedibus  B.  G.  Teubneri  MDCCCLXVJ. 
VUl  u.  302  S.  8. 

2)  Nico  machi  Geraseni  Pythagorti  lntroductionis  ariihmeiicae 
libri  IL  Recensuit  Rieardus  Ho  che.  Accedunt  codicis  Cisen- 
sis  Problem  ata  arükmetica.  Lipsiae  etc.  XI  und  198  S.  8. 

3)  Polybii  historia.  Edidit  Ludo  virus  Vindorf ius.  Lipsiae 
etc.  Vol.  L  XCJJJ  und  349  S.  Vol.  iL  XXXV III  u.  412  8.  8. 

4)  M.  Tulli  Cieeronia  scripta  quae  manserunt  omnia.  Re- 
cognovü  Reinholdus  Klotz.  Parlis  IL  Vol.  IL,  confinens  Ora- 
tiones  elc.  Editio  altera  emendatior.  Lipsiae  etc.  LXXXVU1  u. 
460  S.  8. 

Die  aufgeführten  Ausgaben  gehören  sämmtlich  der  Biblio- 
theca Scriptorum  Graecorum  et  Romanorum  Teubne- 
riana  an,  welche,  wie  schon  früher  in  diesen  Blättern  bemerkt 
ward,  sich  nicht  blos  auf  diejenigen  Autoren  beschränkt  hat,  welche 
auf  Schulen  gelesen  werden,  sondern  auch  diejenigen  Schriftsteller, 
welche  ausserhalb  des  Kreises  der  Schule  liegen ,  aber  für  die  ge- 
lehrte Forschung  wichtig  und  bedeutend  erscheinen,  herangezogen 
und  durch  erneuerte,  billige  Abdrücke,  die  aber  keine  blosse  Ab- 
drücke zu  nennen  sind,  sondern  zugleich,  mehr  oder  minder,  als 
neue  ßecensionen  oder  Recognitionen  des  Textes  sich  darstellen, 
dem  weiteren  Kreise  der  Gelehrten  zugänglich  gemacht  hat.  Wer 
die  Schwierigkeit  der  Benutzung  älterer  oftmal«  mangelhafter  Texte 
solcher  wenig  gelesenen  und  doch  für  die  gelehrte  Forschung  not- 
wendigen und  oft  wichtigen  Schriftsteller  kennt  und  selbst  dies  er- 
fahren hat,  wird  das  Verdienstliche  solcher  in  dieser  Weise  er- 
neuerten Ausgaben  um  so  mehr  anerkennen,  und  der  Verlagshand- 
lung, die  diess  unternommen  hat,  um  so  mehr  dafür  zu  Dank  ver- 
pflichtet sein. 

Der  erste  Band  der  Scriptores  metrici  Graeci  bringt 
zuvörderst  das  wichtige,  eigentlich  nur  in  Gaisfords  beiden  Aus- 
gaben —  die  am  Ende  doch  nur  in  wenigen  Orten  und  in  weni- 
gen Bibliotheken  sich  finden  —  zugängliche  Handbuch  der  Metrik 
des  Hephästion,  aber  in  einer,  was  den  Text  betrifft,  weit  be- 


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Bibliotheca  8crlptt.  Teubneriana. 


richtigieren  Fassung,  indem  von  den  bis  jetzt  gefundenen  hand- 
schriftlichen Mitteln  ein  ganz  anderer  Gebrauch  gemacht  worden 
ist,  so  dass  nicht  wenige  Stellen  des  immerhin  vielfach  verdorbe- 
nen Textes  eine  bessere  Gestalt  erhalten  und  lesbar  geworden  sind ; 
wobei  die  Abweichungen  unter  dem  Text  aufgeführt  werden  und 
dadurch  jede  Oontrole  ermöglicht  ist.  Auf  den  Text  des  Enchiri- 
dion folgen  die  Reste  der  andern  Schrift  tisqI  itoiypcctog ,  darauf 
des  Longinns  Prolegomena  zu  dem  Enchiridion,  an  welche  dann 
die  alten  Scholien  sich  anschliessen,  und  zwar  in  der  Weise,  dass 
nach  den  einzelnen  Abschnitten  des  Enchiridion  die  betreffenden 
Scholien  der  einen  wie  der  andern  Sammlung,  der  ausführlicheren, 
die  mit  A,  und  der  kürzeren,  die  mit  B  bezeichnet  sind,  sich  zu- 
sammengestellt finden,  ebenfalls  mit  Angabe  der  wichtigeren  Va- 
rianten unter  dem  Text  (S.  95 — 226).  Nun  folgt,  was  von  des 
Proclus  XgrjöTOfia&fa  yoanuariy.i]  noch  vorhanden  ist,  d.  h.  die 
Aaszüge  in  des  Photins  Bibliothek,  welchen  das  eingereiht  ist,  was 
in  der  Venetianer  Handschrift  der  Ilias  No.  484  und  in  der  des 
Escorial  noch  sich  findet.  Den  Beschluss  macht  das  über  die  neun 
Metra  sich  verbreitende,  bisher  eigentlich  nur  in  der  Einen  ge- 
druckten Ausgabe  von  Fr.  de  Furia  (hinter  G.  Hermann's  Draco) 
zugängliche  Büchlein  des  Tricha,  wobei  die  Varietas  lectionis  aus 
der  Venetianer  und  Florentiner  Handschrift  beigefügt  ist. 

Die  arithmetische  Eisagoge  des  Nicomachus  ans  Gerasa  ist 
seit  dem  Jahre  1817,  in  welchem  Ast  einen  Abdruck  veranstaltete, 
nicht  mehr  im  Druck  erschienen,  wenn  man  von  den  drei  Capiteln 
des  ersten  Buches  absieht,  welche  1828  Nobbe  in  einem  Programm 
herausgab.  Bei  den  mancherlei  Freiheiten,  welche  Ast  bei  der 
Herausgabe  sich  erlaubte,  war  eiu  auf  die  handschriftliche  Ueber- 
lieferung  basirter  Text  um  so  nöthiger,  als  Ast  meist  einer  sehr 
mangelhaften  Münchner  Handschrift  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
(No.  76)  gefolgt  war,  aber  eine  bessere  Münchner  (238)  des  vier- 
zehnten Jahrhunderts  dabei  übersehen  hatte,  während  die  Göttin- 
ger, hier  zum  erstenmal  benutzte  Handschrift  des  zehnten  Jahr- 
hunderts No.  266  vor  dieser  wie  vor  der  Zeitzer  Handschrift  und 
den  übrigen  bis  jetzt  bekannt  gewordenen,  bei  weitem  den  Vorzug 
verdient,  daher  auch  vorzugsweise  dem  Text  dieser  Ausgabe 
zu  Grundo  gelegt  worden  ist,  unter  Benützung  der  übrigen  Codices, 
so  wie  dessen,  was  zur  Erklärung  wie  zur  Richtigstellung  des  Textes 
in  andern  Erklärern  des  Nicomachus  aus  späterer  Zeit  sich  vor- 
findet. Das  Wenige,  was  über  die  Person  des  Nicomachus  und 
seine  Lebenszeit  —  etwa  100  p.  Chr.  —  sich  mit  Sicherheit  fest- 
stellen lässt,  ist  S.  IV  in  einer  Note  angeführt. 

Da  unter  dem  Text  alle  Abweichungen  von  nur  einigem  Be- 
lang angeführt  sind,  so  ist  zugleich  die  Prüfung  des  kritischen 
Verfahrens  erleichtert,  durch  welches  allerdings  an  nicht  wenigen 
Stellen  ein  besserer  Text  erzielt  worden  ist.  Weiter  ist  noch  hin- 
bekommen ein  Abdruck  der  aus  der  Zeitzer  Handschrift  in  einem 


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230 


Bibliothcca  Script!  Teubneriana. 


Wetzlarer  Programm  vom  Jahr  1862  erstmals  edirten,  inhaltsähn- 
lichen Tlqoßlriiiaxa  ccQid'fL^tixd ,  wie  die  vom  Vorf.  gesetzte  Auf- 
schrift lautet.  Was  indess  noch  besondere  Erwähnung  verdient, 
ist  der  hinzugekommene  Index ,  in  welchen  alle  bei  Nicomacbus 
vorkommenden  Worte  aufgenommen  Bind,  blos  mit  Wegfall  der  ge- 
wöhnlichen Partikeln,  wie  6V,  yap,  piv,  cog,  ot),  ftij  und  ähnlichen : 
es  ist  diess  eine  sehr  verdienstliche  und  wenn  auch  mühsame  doch 
sehr  nützliohe  Arbeit,  zumal  mit  der  grossesten  Sorgfalt  und  Ge- 
nauigkeit Alles  Einzelne  bearbeitet  ist.  Wären  nur  einmal  von 
allen  derartigen  Schriftstellern  solche  Indices  vorhanden ,  so  wür- 
den auch  unsere  griechischen  Wörterbücher,  auch  nach  dem  neuen 
Stephan-Dindorf sehen  Thesaurus ,  manche  wünschenswerthe  Ver- 
mehrung gewinnen.  Ein  Catalogus  Auctorum  ist  überdem  noch  bei- 
gefügt. 

Auch  Polybius,  dieser  wichtige  und  für  jede  Forschung 
auf  dem  Gebiet  der  römischen  Geschichte  und  des  römischen  Alter- 
thums unentbehrliche  Schriftsteller  ist  durch  den  vorliegenden  Ab- 
druck allen  denen  zugänglicher  geworden,  die  nicht  im  Besitze  der 
grösseren  Schweighäuser'scben  Ausgabe  sind,  und  selbst  diejeuigeu, 
welche  diese  Ausgabe  zu  benutzen  in  der  Lage  sind ,  werden  in 
allen  Fällen,  wo  es  auf  die  Fassung  des  Textes  ankommt,  die  neue 
Ausgabe  zu  Rathe  zu  ziehen  haben,  da  sie  in  ihr  einen  Text  finden, 
der  vielfach  berichtigt  und  von  mannichfachen  störenden  Interpo- 
lationen befreit  ist.  Der  Herausgeber  hat,  wie  zu  erwarten,  mit 
aller  Consequenz  seine  kritische  Aufgabe  durchgeführt  und  in  der 
Praefatio  beider  Bände  näher  über  sein  Verfahren  sich  ausgespro- 
chen. Diess  unterscheidet  sich  von  seinen  Vorgängern,  insbesondere 
von  Schweighttuser,  darin,  dass  er  für  die  fünf  ersten,  bekanntlich 
allein  vollständig  erhaltenen  Bücher  in  der  Vaticanischen  Hand- 
schrift No.  124  aus  dem  eilften  Jahrhundert,  die  letzte  und  in 
gewisser  Hinsicht  einzige  Quelle  des  Textes  erkennt,  aus  welcher 
die  übrigen  noch  vorhandenen  Handschriften  abzuleiten  sind,  da 
sie  nur  als  mehr  oder  minder  verdorbene  oder  interpolirte  Ab- 
schriften erscheinen,  welchen  in  dem,  was  sie  Abweichendes  von 
von  jener  gemeinsamen  Quelle  bieten,  kein  eigener  Werth  beizu- 
legen ist  (vgl.  pag.  VIII).  In  dieser  Hinsicht  weicht  der  Heraus- 
geber von  Scbweighäuser  ab,  der  die  andern  Handschriften,  wenn 
er  sie  auch  in  ihrem  Werthe  der  Vaticaner  Handschrift  unterord- 
nete, doch  mit  dieser  auf  eine  Urquelle  zurückführen  wollte,  wel- 
cher alle,  also  auch  die  Vaticaner  Handschrift  entstammen,  da- 
durch aber  denselben  eine  gewisse  Beachtung  oder  Berechtigung 
zuerkannte,  welche  der  Herausgeber  nicht  anzuerkennen  vermag. 
Was  derselbe  zur  Begründung  dieser  seiner  Ansicht  in  der  Vorrede 
angeführt  hat,  spricht  allerdings  für  dieselbe,  und  die  Anwendung, 
die  er  dann  im  Einzelnen  gemacht,  hat  allerdings  in  Vielem  dem 
Texte  eine  von  dem  Schweighäuser'schen  Text  abweichende  Gestalt 
vorliehen.    Indessen  ist  der  Herausgeber  doch  nicht  geneigt,  seine 


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Bibliotheca  Scrlptt  Teubneriana.  231 

Handschrift  zu  überschätzen,  die,  wie  er  vielmehr  ausdrücklich 
bemerkt,  und  dann  auch  im  Einzelnen  zeigt,  nicht  frei  von  Fehlern 
ist,  und  im  Verhältniss  zu  dem  Autographum,  wenn  es  uns  noch 
ragängüch  wäre,  manche  Entstellung  nachweisen  würde.  Eine  Reihe 
von  solchen  Stellen  hat  der  Herausgeber  in  der  Praefatio  behandelt 
und  bei  dieser  Veranlassung  auch  manche  Eigentümlichkeiten  in  der 
Sprache  des  Polybius  erörtert,  eben  so  wohl  in  Bezug  auf  einzelne  For- 
men wie  in  Bezug  auf  einzelne  Ausdrücke  u.  dgl.  m.  was  wiederum  zu 
manchen  Verbesserungen  des  Textes  Veranlassung  gegeben  hat.  Auf  die 
Präfatio  folgt  S.  LIX :  »De  Vita  Polybii,  testimonia veterum  et  Polybii 
ipsiusc  entnommen  aus  Schweighäuser's  Ausgabe;  da  nun  seitdem 
das  Leben  und  die  Schicksale  des  Polybius  Gegenstand  mehrfacher 
Erörterung  geworden  ist  in  Verbindung  mit  weiteren  Erörterungen 
über  seine  Behandlung  der  Geschichte,  deren  Charakter,  wie  Über 
das  Werk  selbst,  so  bemerkt  der  Herausgeber  blos:  »De  quibus 
alio  mihi  loco  erit  dicendum«;  wir  wünschen  sehnlichst,  dass  diess 
bald  geschehen  möge,  wiewohl  wir  immerhin  der  Ansicht  sind,  dass 
diess  passender  an  dieser  Stelle  geschehen  wäre,  als  »alio  loco«, 
zumal  da  das,  was  hier  aus  Schweighäuser's  Ausgabe  wieder  ab- 
gedruckt ist,  jetzt  nicht  mehr  genügen  kann.  Der  Abdruck  der 
fönf  ersten  Bücher  nimmt  den  ersten  Band  und  den  zweiten  bis 
S.  232  ein;  es  folgt  dann  noch  das,  was  von  Buch  VI — IX  incl. 
uns  theils  aus  dem  Vaticaner  Palimpsest  durch  Angelo  Mai,  theils 
früher  schon  durch  die  in  die  grosse  Sammlung  des  Constantinus 
Porphyrogennetus  aufgenommene  und  dadurch  erhaltene  Stücke  be- 
kannt geworden  ist.  Auch  hier  hat  sich  der  Herausgeber  keines- 
wegs mit  einem  blossen  Wiederabdruck  begnügt;  da  in  neuester 
Zeit  die  Handschriften,  aus  welchen  jene  Bruchstücke  an  das 
Tageslicht  gezogen  waren,  noch  genauor  untersucht  und  verglichen 
worden  sind ,  so  ist  der  Herausgeber ,  indem  er  davon  Gebrauch 
machte,  dadurch  auch  in  den  Stand  gesetzt  worden,  in  Vielem  dem 
Text  eine  andere  und  bessere  Gestalt  zu  geben.  Auch  darüber 
wird  in  der  Vorrede  des  zweiten  Bandes  in  eingehender  Weise  be- 
richtet und  damit  gewissermassen  ein  Rechenschaftsbericht  über 
das  Ganze  gegoben,  indem  weitergehende  kritische  oder  exegetische 
Erörterungen  durch  den  Plan  und  die  nächste  blos  auf  den  Text 
und  dessen  Herstellung  gerichtete  Bestimmung  dieser  Ausgabe  aus- 
geschlossen sind.  Mit  Verlangen  wird  man  jedenfalls  der  weiteren 
Fortsetzung  des  Ganzen  entgegensehen,  dem  dann  auch  die  nöthi- 
gen  Indices  beigefügt  werden  dürften. 

Was  den  neuen  Band  Cicero'  s  betrifft,  so  kann  auf  die 
frühere  Anzeige  (1&64.  pag.  290  ff.)  der  vorausgegangenen  beiden 
Bände  dieser  neuen  Auflage,  die  sich  mit  Recht  als  eine  »emen- 
datior«  auf  dem  Titel  ankündigt,  verwiesen  werden.  Im  vorliegen- 
den Bande  sind'  enthalten  die  Reden :  pro  M.  Tullio  (was  davon 
noch  vorhanden),  pro  Fontejo,  pro  A.  Caecina,  De  imperio  Cn.  Pom- 
peji, pro  A.  Cluentio  Avito,  De  lege  agraria  tres,  pro  C.  Rabirio 


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232  Bibliotheca  Scriptt.  Teubneri&na. 

perduellionis  reo,  in  L.  Catiliuam  quatuor,  pro  L.  Mure  na,  pro  L. 
Flacco,  pro  P  Sulla,  pro  Arcbia  poeta,  post  reditum  in  senatu, 
post  reditum  ad  Quirites,  de  domo  sua,  de  Haruspicuni  responso, 
und  ist  das  auf  die  Behandlung  des  Textes  in  einzelnen  Stellen 
vielfach  sich  beziehende  Vorwort  der  ersten  Ausgabe  auch  in  die- 
ser zweiten  wiederholt,  was  man  eben  so  zweckmässig  als  selbst 
nothwendig  finden  wird.  Es  reiht  sich  daran  aber  p.  XXVII — 
LXXXXII  ein  in  demselben  kleineren  Druck  gehaltenes  Prooe- 
mium  editionis  secundae,  in  welchem  der  Herausgeber  die 
einzelnen,  in  diesen  Band  aufgenommenen  Reden  durchgeht  und 
die  Veränderungen  naher  bespricht,  welche  in  einzelnen  Stellen  bei 
diesem  erneuerten  Abdruck  statt  gefunden  haben,  zumal  in  Be- 
rücksichtigung dessen,  was  in  einzelnen  Schriften  oder  Ausgaben  seit 
dem  Erscheinen  der  ersten  Ausgabe  für  die  Kritik  geleistet  wor- 
den ist,  und  wird  man  sich  bald  bei  der  Durchsicht  überzeugen, 
„  wie  dem  Herausgeber  Nichts  von  einigem  Belang  entgangen  ist, 
was  für  Ciceronische  Texteskritik  von  Andern  gethan  worden  ist, 
oder  wo  neue  kritische  Hülfsmittel  zu  Tage  gefördert  worden  sind. 
So  ist  z.  B.  bei  den  Catilinarischen  Reden  besondere  Rücksicht  ge- 
nommen auf  Halm's  fünfte  (Berliner)  Ausgabe  dieser  Rede  vom 
Jahr  1863;  bei  den  vier  auf  Cicero's  Rückkehr  au«  dem  Exil  be- 
züglichen Reden  insbesondere  die  Pariser  Handschrift  No.  7794  be- 
rücksichtigt, als  diejenige  Handschrift,  welche  hier  entschieden  den 
Vorzug  vor  den  übrigen  verdient,  wiewohl  der  Herausgeber  durch 
den  Umfang  dieses  Proömiums  sich  genötbigt  sah,  die  kritischeu 
Bemerkungen  zu  der  letzten  Rede  De  haruspicum  responso  wie 
selbst  zu  der  Rede  De  domo  sua  Etwas  kürzer  zu  fassen ;  dass  er 
sich  in  die  Fragen  über  die  Aechtheit  dieser  Reden  wie  anderer, 
die  in  diesem  Bande  sich  finden  und  in  neuer  Zeit  bestritten  wor- 
den sind,  nicht  eingelassen,  war  zu  erwarten ,  und  mag  in  Anbe- 
tracht des  Zweckes  dieser  Ausgabe,  nur  gebilligt  werden :  dass  er 
der  modernen  Hyperkritik  keine  Zugeständnisse  zu  machen  geneigt 
ist,  geht  aus  seinen  früheren  Besprechungen  dieses  Gegenstandes 
hervor,  zumal  seine  Ausführungen  noch  nicht  widerlegt  worden  sind, 
auch  nach  unserer  Ansicht,  nicht  wohl  widerlegt  werden  können. 
Wir  hoffen  indess,  dass  es  dem  Herausgeber  nicht  an  einer  be- 
sonderen Gelegenheit  fehlen  werde,  darüber  im  Ganzen  und  Einzel- 
nen sich  auszusprechen,  wozu  er  ja  selbst  am  Schlüsse  des  Vor- 
worts der  ersten  Ausgabe  Aussicht  eröffnet  hat.  Im  Einzelnen  in 
die  Kritik  des  Textes  einzugehen ,  kann  dieses  Ortes  nicht  sein  : 
wir  begnügen  uns  mit  der  Angabe,  dass  der  Herausgeber  den 
Standpunkt  nicht  verlassen ,  den  er  auch  in  der  Behandlung  des 
Textes  der  beiden  vorausgegangenen  Bände  eingenommen,  und  den 
wir  im  Ganzen  wohl  als  einen  conservativen  bezeichnen  möchten, 
indem  er  nicht  jeder  irgend  wie  vorgeschlagenen  Aenderung  und 
Neuerung  sich  hingibt,  sundern  die  handschriftliche  Basis ,  welche 
die  anerkannt  ältesten  und  verlässigsten  Handschriften  geben,  fest- 


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Ribbeck:  Prolegg.  ad  Vergili  Opp. 


233 


hält,  ohne  damit  in  verdorbenen  und  fehlerhaften  Stellen  sich  der 
nothwendig  gewordenen  Abhülfe  zn  verscbliessen,  die  dann  wenig- 
stens auf  einer  sichern  Grundlage  ruht. 


Prolegomena  critica  ad  P.  Vergili  Maronis  Opera  majora.  Scriprit 
0.  Ribbeck.  Lipsiae  in  aedibus  B.  G.  Teubneri  MDCCCLXVI. 
XXXII  und  467  S.  in  gr.  8.  Auch  mit  dem  weiteren  Titel: 
P.  Vergili  Maronis  Opera.  Recensuit  Otto  Ribbeck:  Prolegomena 
critica. 

Diese  Prolegomena,  die  man  auch  mit  dem  Verf.  Epilegomena 
nennen  könnte,  insofern  sie  erst  nach  Vollendung  der  grösseren 
vom  Verf.  besorgten  Ausgabe  des  Virgilius  erscheinen,  von  welcher 
früher  bereits  in  diesen  Blättern  (Jahrgang  1860  p.  584.  1881 
p.  708 ff.  1862  p.  448)  Nachricht  gegeben  worden  ist,  sind,  wie 
auch  der  Titel  ausdrücklich  besagt,  kritischer  Art,  sie  befassen 
sich  nicht  sowohl  mit  dem ,  was  sonst  im  Prolegomeneh  der  Art 
behandelt  zu  werden  pflegt,  mit  Erörterungen  über  die  Person  des 
Antor's,  seine  Schriften  u.  dgl.  m.  sammt  allen  den  dazu  gehöri- 
gen literarhistorischen  Notizen ,  sondern  sie  sollen  gewissermassen 
eine  Geschichte  des  Textes  der  Virgilischen  Gedichte  und  der  kri- 
tischen Behandlung  derselben  liefern;  »Prolegomenis  —  so  schreibt 
der  Verfasser  —  comprehendere  volui  quidquid  Vergilianis  carmi- 
nibns  inde  ab  ipsius  auctoris  manu  per  decem  amplius  saecula 
accidisse  novimus«  und  als  Zweck  dieser  Darstellung  wird  hinzu- 
gefügt: >non  ut  ad  hujus  tantum  poetae  textum  prudenter  ac  for- 
titer  recensendum  solidum  strueretur  fundaraentum ,  sed  ut  lucu- 
lento  exemplo  etiam  imperitioribus  appareret,  quam  dubia  fide  vel 
ferventissirais  grammaticorum  illustrissimorum  studiis  et  magnifi- 
centissimo  exemplarium.  venerandae  vetustatis  apparatn  integritati 
scriptorum  antiquorum  servandae  provisum  sit. « 

In  dem  Vorwort  gibt  der  Verf.  eine  Reihe  von  Nachträgen  aus 
imn  Theil  erst  später  bekannt  gewordenen  Quellen,  so  wie  einzelne 
Berichtigungen  und  nahmhafte  Nachträge  zu  den  sogenannten  testi- 
moniis,  d.  h.  zu  den  in  seiner  Ausgabe  mit  grosser  Sorgfalt  überall 
angeführten  Citaten  Virgilischer  Verse  und  Worte  bei  späteren 
Schriftstellern ,  Grammatikern ,  Scholiasten  u.  8.  w.  Darauf  folgt, 
oder  vielmehr  es  beginnt  die  Schrift  mit  einer  Erörterung  Über  die 
Zeit  der  Abfassung  und  Bekanntmachung  der  einzelnen  Dichtungen 
Virgils;  zuerst  kommen  die  Bucolica,  deren  Abfassung  und 
Herausgabe  innerhalb  der  Jahre  712  —  715  u.  c.  verlegt  wird, 
hauptsächlich  nach  Asconius  Pedianus,  dem  Probus,  Servius  u.  A. 
Wer  folgen ;  insbesondere  gilt  diess  von  der  zehnten  Ekloge ,  die 
gewöhnlich  in  das  Jahr  717  verlegt  wird,  nach  Ribbeck  (p.  10), 
aber  nicht  über  715  hinaus  sich  vorlegen  lässt.    Was  weiter  die 


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284 


Ribbeck:  Prolegg.  ad  Vergili  Opp. 


Georgica  betriflft ,  mit  welchen  dor  nächste  Abschnitt  sich  be- 
schäftigt, so  führt  der  Verf.  die  Angabe  von  den  sieben  Jahren, 
innerhalb  deren  Vergilius  mit  der  Abfassung  und  Vollendung  die- 
ses Gedichtes  beschäftigt  war,  gleichfalls  auf  Asconius  zurück,  und 
zeigt  dann  weiter,  wie  die  Georgica  weder  nach  der  Mitte  des 
Jahres  717  u.  c.  noch  vor  dem  Ende  von  715  oder  dem  Anfang 
von  716  begonnen  sein  können,  und  auch  in  den  Georgicis  Nichts 
Sachliches  vorkommt,  was  Uber  das  Jahr  725  hinausgeht:  indessen, 
und  diess  ist  im  nächsten  Abschnitt  nachgewiesen ,  liegen  doch 
Spuren  vor,  die  uns  zeigen,  dass  auch  nach  dieser  Zeit  der  Dich- 
ter sein  Werk  nicht  aus  den  Augen  verloren,  sondern  Einzelnes 
geändert  und  nachgebessert ;  es  knüpfen  sich  an  diese  Erörterung 
noch  weitere  Bemerkungen  über  einzelne  Interpolationen,  und  über 
einzelne  Verbesserungen  in  den  beiden  nächsten  Abschnitten,  zu- 
nächst mit  Bezug  auf  Peerlkamp  und  dessen  Kritik  der  Virgili- 
schen Gedichte.  Mit  dem  sechsten  Abschnitt  wendet  sich  der  Ver- 
fasser der  A  e  n  e  i  s  zu ,  wobei  er  den  Weg  einschlägt,  dass  er  aus 
einzelnen  Versen  und  deren  Beziehungen  auf  bestimmte  Zeitereig- 
nisse die  Zeit  zu  ermitteln  sucht,  in  welcher  der  Dichter  mit  Ab- 
fassung der  einzelnen  Bücher  beschäftigt  war :  denn  vollendet  ist 
das  Ganze  bekanntlich  nicht  worden ,  indem  ein  früher  Tod  den 
Dichter  verhinderte,  die  letzte  Hand  an  sein  Werk  zu  legen.  Aus 
dieser  Untersuchung  ergibt  sich  ,  dass  das  erste  Buch  nach  725 
u.  c.  oder  vor  727  geschrieben  worden,  nachher  das  achte,  dritte, 
vierte,  und  etwas  später  wohl  das  zweite,  dann  das  fünfte  und 
neunte;  auch  das  sechste  muss  um  731 — 732  geschrieben  sein;  im 
letzten  Lebensjahre  (784)  war  Virgil  mit  dem  siebenten  beschäftigt  ; 
über  die  drei  letzten  Bücher  lässt  sich  nichts  Näheres  ermitteln, 
als  dass  sie  überhaupt  in  die  letzte  Lebenszeit  des  Dichters  fallen, 
üeber  Varius  und  Tucca,  welchen  Virgil  nach  dem  Zeugniss  des 
Donatus  seine  Gedichte  sterbend  hinterliess,  und  über  ihr  Verfah- 
ren verbreitet  sich  der  siebente  Abschnitt :  der  achte  führt  zu  einer 
Besprechung  Über  Virgils  Gegner  (Obtrectatores)  und  über  die 
wider  dieselbe  zur  Verth  ei  digung  des  Virgilius  gerichtete  Schrift 
dos  Asconius  Pedianus,  welcher,  wie  S.  89  gezeigt  wird,  darin  die 
schriftlichen  Notizen  der  nächsten  Freunde  des  Virgils,  namentlich 
des  L.  Varius  benutzt  hatte;  der  neunte  (S.  1U  — 199)  bringt 
eine  umfassende  Untersuchung  über  die  alten  Erklarer  Virgils, 
welche  mit  Q.  Cäcilius  Epirota,  dem  Freigelassenen  des  Atticus  und 
dem  Lehrer  seiner  Tochter  beginnt,  der  nach  dem  Tode  seines 
Freundes,  des  Dichters  Cornelius  Gallus  eine  Schule  eröffnete,  in 
der  er  zuerst  die  Leetüre  und  Erklärung  der  Gedichte  Virgils  ein- 
führte. Aber  den  Asinius  Pollio,  der  in  nächster  Reihe  unter  den 
Auslegern  Virgil's  gewöhnlich  genannt  wird,  glaubt  der  Verfasser 
nicht  unter  dieselbe  bringen  zu  dürfen:  er  will  bei  den  betreffen- 
den Anführungen  lieber  an  einen  späteren  Grammatiker  Pollio 
aus  Fronto's  Zeit  denken,  was  inzwischen  noch  nicht  so  aus- 


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Ribbeck:  Prolegg.  ad  Vergüi  Opp.  235 

gemacht  zu  sein  scheint,  zumal  wenn  man  annimmt,  dass  Asinius 
Pollio  nicht  sowohl  eigene  Commentare  zu  Virgils  Gedichten  ge- 
whrieben,  wohl  aber  in  seinen  kritischen  oder  grammatischen 
Schriften  auf  Virgil  vielfach  Rücksicht  genommen,  und  in  einzelne 
sprachliche  oder  sachliche  Erörterungen  sich  eingelassen  habe ;  auf- 
fallend beibt  es  immerhin,  dass  einem  alten  Verzeicbniss  der  zu 
Corbey  befindlichen  Handschriften,  welches  A.  Mai  im  Spicileg. 
Vatio.  T.  V.  p.  XIII.  212  hat  abdrucken  lassen,  nach  den  Com- 
mentaren  des  Servius  zu  Virgil,  noch  aufgeführt  wird:  Pollion 
in  Aeneidem;  ob  daraus  ein  Grund  für  oder  gegen  die  An- 
nahme des  Verfassers  genommen  werden  kann,  wollen  wir  jetzt 
nicht  entscheiden.  Nun  folgen  in  der  Reihe  der  alten  Erklärer 
Virgil's  C.  Julius  Hyginus,  Julius  Modestus  und  L.  An- 
nans Cornutus,  über  deren  Betheiligung  an  der  Erklärung  des 
Dichters  kein  Zweifel  obwalten  kann ,  wenn  auch  gleich  nur  dürf- 
tige Nachrichten  über  ihre  Leistungen  vorliegen.  Als  der  erste, 
d<?r  zu  Virgils  Gedichten  einen  »justns  commentarius«,  wie  sich  der 
Verf.  ausdrückt,  lieferte,  wird  Aemilius  Asper,  derselbe  gelehrte 
Grammatiker,  welcher  den  Terentius  und  Sallustius  commentirte, 
betrachtet,  und  seine  exegetischen  wie  kritischen  Bemühungen,  so 
weit  wir  sie  noch  kennen,  werden  im  Einzelnen  durchgangen  und 
gewürdigt ;  auf  ihn  folgt  M.  Valerius  Probus  aus  Beryt,  » no- 
büissimus  omnium  quotquot  Vergilii  carminibus  operam  dederunt, 
grammaticorumc  (wie  es  hier  S.  136  heisst).  Mit  aller  Sorgfalt 
werden  alle  die  einzelnen  Angaben  und  Notizen,  welche  bei  Ser- 
vius, Gellius  u.  A.  sich  finden,  so  weit  sie  auf  die  Texteskritik  sich 
beziehen,  zusammengestellt  und  besprochen,  um  so  eine  Vorstellung  ^ 
von  der  Behandlung  des  Textes  der  Virgilischen  Gedichte  durch 
diesen  Grammatiker,  welchor  wenigstens  bei  dem  ersten  Buch  der 
Georgica  das  von  Virgils  Hand  selbst  geschriebene  Exemplar  noch 
vor  sich  hatte,  möglich  zu  machen :  dann  wendet  sich  der  Verf. 
zu  dem,  was  ans  denselben  Quellen  noch  über  die  sprachliche  und 
sachliche  Erklärung  des  Probus ,  namentlich  auch  in  Bezug  auf 
Grammatik  zu  ermitteln  steht,  und  bespricht  zuletzt  die  kritischen 
Noten  (p.  150 ff.),  welche  Probus  bei  den  von  ihm  kritisch  be- 
handelten Dichtern  (Virgilius,  Horatius,  Lucretius)  nach  alten  Zeug- 
nissen in  Anwendung  gebracht  hat.  Wir  können  nicht  in  das  Ein- 
zelne dieser  Nachweise  eingehen,  wir  beschränken  uns,  das  Resul- 
tat anzugeben,  welches  der  Verf  .  aus  dieser  ganzen  in  alle  Einzel- 
heiten eingehenden  gründlichen  Untersuchung  gewinnt:  dasselbe 
lautet  nach  S.  163  folgendermassen:  >cognovimus  igitur  ex  frustu- 
lia  qua*  hinc  illinc  expiscati  sumus,  commentariorum  et  ex  notarum 
elencho  grammaticum  talem,  qui  in  emendandum  et  acerrime  om- 
ues  in  partes  perscrutandum  scriptoris  textum  intentus  plana  et 
facilia  transierit,  ambigua  tarnen  vel  obscura  vel  corrupta  minime 
arido  commentandi  genere  tractaverit,  denique  quibuscunque  locis 
sive  diligentissima  sermonis  observatione  sive  rerum  ex  phüosophiae 


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M6  Ribbeck:  Prolegg.  ad  Vergili  Öpp. 

arcanis  ant  historiainm  thesauris  repeten darum  enarratione  sivo 
multiplici  Graecorum  Latinorumque  scriptorum  lectione  sive  ingenii 
acumine  novae  aliquid  lucis  adferri  posae  putabat,  ne  qnaostionum 
qnidcm  arabagos  et  devia  fugerit.«  Wenn  nun  die  unter  dein  Namen 
eines  Probus  auf  uns  gekommenen  Scholien  zu  den  Georgicis  und 
Bucolicis  diese  Vorzüge  nicht  erkennen  lassen,  und  deshalb  dem 
Valerius  Probus  abgesprochen  worden  sind,  so  meint  doch  der 
Verfasser,  dass  in  diesen  allerdings  verderbten  und  entstellten  Er- 
klärungen doch  auch  Manches  Gute  sich  finde ,  das  auf  den  Com- 
mentar  des  Prohns  zurückführe  und  diesem  ontnommen  sei,  und 
selbst  dieses  stelle  nicht  den  reinen  Commentar  des  Probus  dar, 
sondern  »lacinias  quasdam  excerptoris  arbitrio  hinc  illinc  desump- 
tas«  (S.  164).  Es  folgt  nun  Flavius  Capor,  der  übrigens,  wie 
auch  unser  Verf.  mit  Andern  anerkennt,  keinen  eigentlichen  Com- 
mentar zu  Virgil's  Gedichten  geliefert  hat ,  wohl  aber  in  seinen 
grammatischen  Schriften  zahlreiche  Stellen  des  Dichters  behandelt 
haben  mag:  es  lässt  sich  insofern  die  Frage  aufwerfen,  ob  Der- 
selbe überhaupt  hier  aufzuführen  war,  indem  dasselbe  fast  bei  allen 
gelehrten  Grammatikern  der  nachaugusteischen  Zeit  der  Fall  war. 
Eher  gehört  hieher  der  demnächst  §.9  genannte  Urbanus,  wel- 
cher nach  Cornutus  und  vor  Velius  Longus  der  Zeit  nach  zu 
setzen  sein  wird :  den  letzten  hat  der  Verf.  mit  vollem  Rechte 
nicht  aufgegeben,  nachdem  man  ihn  unter  den  Erklärern  Virgil's 
streichen  wollte,  im  Widerspruch  mit  einer  Reihe  der  bestimmto- 
sten Zeugnisse,  die  hier  angeführt  und  durchgangen  werden.  Eben 
so  wird  auch  Terentius  Scaurus  nach  den  hier  angeführten 
Stellen  unter  denen,  die  den  Text  und  die  Erklärung  des  Virgilins 
eigens  behandelt  haben ,  seine  Stulle  behalten  müssen ,  so  nahe  es 
sonst  auch  läge,  dasselbe  auznnehmen,  was  von  Flavius  Caper  gilt 
und  auch  wohl  von  den  beiden  hier  weiter  angereihten  berühmten 
Grammatikern  Caesellius  Vindex  undHelenius  Acro  anzu- 
nehmen sein  wird.  Auch  bei  dem,  zunächst  in  den  Veronenser 
Scholien  genannten  Haterianns  wird  es  zweifelhaft  bleiben,  ob 
er  eine  eigeue  Erklärung  des  Virgil  geschrieben,  oder  nicht  viel- 
mehr den  beiden  genannten  in  gleicher  Weise  beizuzählen  ist. 
Anders  verhält  es  sich  mit  dem  von  Serviu«  so  oft  citirten  Do- 
natus, in  welchem  unser  Verf.  mit  Recht  den  berühmten  Gram- 
matiker um  die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts  Aelins  Donatus, 
den  Erklärer  des  Terentius,  den  Lehrer  des  "Hieronymus  erkennt; 
über  seine  Leistungen  ist  der  Verf.  indess  zu  keinem  besonders 
günstigen  ürtheil  gelangt;  »funetus  est,  so  lesen  wir  S.  178,  et 
emendando  et  distinguendo  et  explicando  et  quaestionibus  solven- 
dis  oranibus  fere  interpretis  ofTiciis,  tarnen  ut  restent  vituperatione 
multo  saepius  quam  laude  digna  videantur.  Nara  antiqua,  qualis 
Vergilii  aetate  floruerat,  lingua  et  arte  desuetus  nec  Probi  opti- 
moruraque  grammaticorum  diseiplina  satis  imbutus  ubi  ipse  sapere 
ausus  est,  iongius  fere  quaesita,  saepe  adoo  absurda  vel  ne  tnrpis 


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Ribbeck:  Prolegg.  ad  Vergili  Opp.  237 


ignorantiae  qui  dem  crimine  libera  protulit«  eto.  Und  dieses  Urtheil 
sacht  der  Verfasser  näher  zu  begründen,  indem  er  die  einzelnen 
Spuren  der  Kritik  und  Exegese  dieses  Donatus ,  so  weit  sie  sich 
verfolgen  lassen,  näher  durchgeht  und  bespricht.  Völlig  verschieden 
von  diesem  Donatus  hält  der  Verf.  (S.  185)  den  am  Ende  des 
vierten  Jahrhunderts  lebenden  Tiberius  Claudius  Donatus, 
der  nach  der  Aufschrift  in  späteren  Lebensjahren  >ad  Tib.  Claudium 
Maximum  Donatianum  filium  suum«  eine  kurze  Erklärung  des  Aeneis 
geschrieben  hatte.    Nachdem  der  Verfasser  noch  über  den  etwas 
zweifelhaften  Oarminius,  über  Bufus  Festus  Avienus,  der  Virgili- 
sche Mythen  in  Jamben  gebracht  haben  soll,  und  über  die  Rhe- 
toren,  welche  die  Themata  ihrer  Declamationen  aus  Virgil  entnah- 
men, Einiges  bemerkt,  wendet  er  sich  zu  den  noch  erhalteneu 
Quellen  der  Erklärung  des  Vergilius,  aber  mit  folgenden  Worten 
(§.  19.  S.  189):  >Jam  eorum  commentariorum ,  qui  aetatem  tule- 
runt ,  virtutes  et  vitia  excutere  nostrae  operae  non  est,  qui 
id  maxime  quaerimus,  quid  ad  restituendum  poetae  textnm  auxilii 
ex  antiquorum  auctorum  reliquiis  redundet.«    In  dieser  Beziehung 
wird  nun  zunächst  Servius  in  Betracht  gezogen  und  die  bei  ihm 
erwähnten  Varianten ,  an  welche  Einiges  Aehnliche  aus  den  des 
Prob us  Namen  tragenden  Gommentaren  angereiht  ist,  so  wie  aus 
dem,  was  in  den  Gommentaren  des  Junius  Philargyrins,  den 
der  Verf.  mit  Recht  für  Eine  Person  mit  dem  in  den  Berner  Scho- 
lien genannten  Juni  1  ins  Fla  grins  hält,  derartiges  zu  den  Geor- 
gias und  Bucolicis  vorkommt ;  zuletzt  kommen  in  ähnlicher  Weise 
noch  die  Veronenser,  von  Mai  edirten  Scholien  zur  Besprechung. 
Den  Beschlu88  dieser  ganzen  kritischen  Erörterung  macht  Cap.  X 
8.  200  ff.:  »Veterum  de  carminibus  Vergilianis  praeter  commenta- 
tores  testium  qualis  fides  sit  quaeritur.«  Da  bekanntlich  bei  allen 
Schriftstellern  der  nachaugusteischen  Zeit   so  viele  Anführungen 
einzelner  Worte  und  Verse  des  Virgilius  vorkommen,  so  kommt 
allerdings  dabei  die  Frage  in  Betracht,  welcher  Grad  von  Genauig- 
keit und  Verlässigkeit  diesen  Anführungen  beizulegen  sei,  in  so 
fern  sie  als  Zeugnisse  für  die  wahre  Beschaffenheit  des  Textes 
gelten  sollen.    Dass  hier  nun  mit  grosser  Vorsicht  zu  verfahren 
ist,  zeigen  die  im  Einzelnen  gegebenen  Nachweisungen.  Die  unge- 
meine Verbreitung  der  Gedichte  Virgils,  insonderheit  ihre  Leetüre 
anfallen  Schulen,  war,  wie  der  Verf.  es  ansieht  (S.  203),  sehr 
nachtheilig  für  die  Erhaltung  und  Bewahrung  des  Textes  in  seiner 
ursprünglichen  Beschaffenheit,  führte  Zusätze  und  selbst  Aende- 
mngen  mannichfacher  Art  herbei :  aber  auf  der  andern  Seite  möchte 
doch  auch  zu  erwägen  sein,  dass  gerade  desshalb  die  Sorge  der 
Grammatiker  nud  der  Schulmänner  um  so  mehr  auf  die  Erhaltung 
des  Textes  gerichtet  war,  und  fremdartige  Einschiebsel  in  den- 
selben,   willkürliche  Aenderungen  um  so  weniger  Platz  finden 
konnten,   als  sie  bald  bemerkt   und  dann  auch  gerügt  werden 


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888  Ribbeck:  Prolegg.  ad  Vergilt  Opp. 


Im  eilften  Kapitel  (»Describuntur  quos  adbibui  Codices«)  gibt 
der  Verf.  eine  Beschreibung  der  für  die  Gestaltung  des  Virgilischen 
Textes  wichtigsten  Handschriften,  und  zwar  zunächst  der  in  Uncia- 
len  geschriebenen ,  unter  welchen  der  bekannte  Mediceus  mit  der 
Subscription  des  Apronianus  (die  hier  auf  einer  8.  222  einnehmen- 
den Tafel  genau  wiedergegeben  ist)  insbesondere  besprochen  wird. 
Auch  unser  Verf.  setzt  die  Handschrift  in  das  fünfte  Jahrhundert, 
aber  die  Subscription  sei  im  sechsten  oder  siebenten  Jahrhundert 
aus  dem  Exemplar  des  Macanus ,  also  erst  später ,  in  Folge  der 
mit  dieser  Handsohrift  vorgenommenen  Vergleichung ,  hinzugefügt 
worden.  Ausserdem  kommen  in  Betracht  die  Vatioaner  (Nr.  3225) 
und  St.  Galler  Reste,  der  Codex  Palatiuus  1631 ,  der  Vaticanns 
Nr.  3867,  die  Veronenser  Palimpseste,  aus  welchen  Mai  die  Scholien 
edirte,  und  die  unlängst  von  Pertz  hervorgezogenen  Blätter;  ihnen 
reihen  sich  au  die  WolfenbUttler  Handschrift  des  neunten  Jahr- 
hunderts Nr.  70,  dio  Berner  Nr.  172.  165.  184  des  zehnten  und 
neunten  Jahrhunderts;  zuletzt  wird  noch  der  Handschrift  aus  der 
Abtei  Weissenau  (jetzt  zu  Feldkirch)  gedacht,  dio  indess  nach  den 
darüber  kund  gewordenen  Mittheilungen  doch  kaum  mit  den  Älte- 
ren, in  üncialen  geschriebenen  Handschriften  in  Vergleich  kommen 
kann,  üeber  diese  letztern  folgt  nun  eine  eingehende  Untersuchung 
im  nächsten  zwölften  Capitel:  »De  scriptura  codicum  antiquissi- 
morum«.  und  damit  in  Verbindung  im  dreizehnten  Capitel:  »Libro- 
rum  manuscriptorum  rationes  explicanturc,  wobei  auch  die  übrigen, 
oben  verzeichneten  Handschriften  in  Betracht  kommen.  Der  Raum 
erlaubt  es  nicht  näher  don  Inhalt  dieser  Abschnitte  zu  durchgehen 
und  alle  die  einzelnen  Abweichungen  und  Voränderungen  der  ein- 
zelnen Buchstaben  nach  ihren  Schriftzügen,  so  wie  die  daraus  her- 
v orgegangenen  Verwechslungen  anzuführen,  wie  diess  auf  das  ge- 
naueste in  diesen  Abschnitten  geschieht,  um  hernach  das  Alter  der 
einzelnen  Handschriften,  namentlich  jener  sieben  ältesten,  ihr  Ver- 
hältni8S  zu  einander  und  ihren  Werth  und  Bedeutung  in  Bezug  auf 
die  Herstellung  des  Textes,  mit  Sicherheit  zu  bestimmen.  Durch 
die  am  Schlüsse  des  Werkes  beigefügten  lithographirten  Tafeln, 
welche  die  Schriftzüge  der  einzelnen  Handschriften  zur  Anschauung 
und  Vergleichung  bringen,  gewinnt  die  ganze  Untersuchung  eine 
wesentliche  Unterstützung.  Wir  beschränken  uns  auf  einige  allge- 
meine Angaben,  die  als  Resultate  aus  dieser  Uberaus  genauen  Unter- 
suchung sich  herausstellen.  Hiernach  stehen  sich  die  St.  Galler 
Palimpsesten  und  die  Pertz'schen  Blätter  ziemlich  nahe  und  bilden 
u'ewissermasseu  eine  erBte  Altersstufe,  eben  so  auf  der  andern  Seite 
des  Palati nus  und  der  Vaticanus  Nr.  3867 ,  diesen  zunächst  die 
Veronenser  und  Vaticaner  (Nr.  3226)  Reste;  die  letzte  Stelle  nimmt 
der  Mediceus  ein,  dessen  »species  maxi  ine  exilis  et  rudis  est« 
(S.  233).  Wenn  es  nun  auch  schwer  ist,  näher  und  bestimmter 
das  Alter  dieser  einzelnen  Handschriften  anzugeben,  so  meint  doch 
der  Verfasser  —  und  man  wird  ihm  darin  wohl  Recht  zu  geben 


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Ribbeck:  Prolepg.  ad  Vergili  Opp. 


haben  —  dass  dieselben  sämmtlich  eher  den  letztern  Jahrhunder- 
ten des  römischen  Reichs,  als  der  Periode  des  Augustus  oder  selbst 
des  Hadrianns  nnd  der  Antonine  beizulegen  sind  (8.  238).  Auch 
Über  die  Wolfenbüttler  Handschrift,  die  dem  Codex  Palatinus  ganz 
nahe  kommt  und  verwandten  Ursprungs  erscheint,  verbreitet  sich 
der  Verf.  des  näheren  S.  320  ff.,  oben  so  über  die  Berner  Handschriften 
S.  329  ff.  und  ihren  Werth,  namentlich  im  VerhHltniss  zu  den  andern 
Handschriften,  wenn  die  erste  derselben  (Nr.  172)  im  Ganzen  weni- 
ger Werth  besitzt,  so  wird  den  beiden  andern,  die  einander  ganz 
nahe  stehen,  mehr  Werth  beigelegt,  wie  das  ans  der  Detailunter- 
snchung  hervorgegangene  Urtheil  S.  346  ausspricht:    »Sunt  ergo 
Bernenses  quoque  Codices  b.  c.  vetustiorum  ubi  deficiunt  vicarii  non 
pTorsus  contemnendi,  non  tarnen  ut  certi  alicujus  alteruter  jacturam 
plane  resarciat,  sed  ut  archetypi  potius  indolem,  qualem  descripti- 
rans,  confirment.«  In  einer  Schlussbetrachtung  durchgeht  der  Verf. 
auch  noch  die  übrigen  bekannten  Handschrilten ,  die  Wiener  des 
sehnten  und  eilften  Jahrhunderts,  so  wie  eine  Anzahl  von  andern 
meist  neueren  Handschriften ,  in  so  fern  aus  denselben  Einiges, 
wenn  auch  im  Ganzen  Weniges ,  für  die  Kritik  des  Textes  zu  ge- 
winnen steht.  Eine  Art  von  Corollariura  bildet  caput  XIV  »versus 
acbolastici  quidam«  S.  869  ff. ,  es  enthält  nämlich  einen  Abdruck 
der  auf  Virgil  bezüglichen,  den  Inhalt  (argumenta)  der  einzelnen 
Bücher  gebenden  Epigramme  aus  der  Anthologia  Latina,  mit  eini- 
gen guten  Verbesserungen  des  Textes,  worüber  die  unten  beige- 
fügte Adnotatio  critica  das  Nähere  besagte 

Genaue  Register  erhöhen  die  Brauchbarkeit  des  Werkes  und 
erleichtern  die  Benützung  auch  für  andere  Zwecke  als  den  hier 
zunächst  vorliegenden  einer  möglichst  genauen  Untersuchung  über 
die  Schicksale  des  Textes  der  Gedichte  Virgils  im  Laufe  der  Zei- 
ten. In  dem  ersten  Index  grammaticus  werden  in  alphabetischer 
Reihenfolge  nach  den  einzelnen  Buchstaben  alle  die  einzelneu  Ab- 
weichungen der  Schreibweise  oder  der  Sprachformen  zusammenge- 
stellt (S.  889—454) :  eine  Arbeit  von  riesenhaftem  Fleiss  bei  glei- 
cher Genauigkeit.  Dann  folgt  eine  üebersicht  der  einzelnen  Stellen, 
welche  in  den  sieben  oben  bezeichneten  Handschriften  ersten  Ran- 
des stehen,  dann  ein  Verzeichniss  der  Stellen,  welche  in  den  Pro- 
legomenen  überhaupt  näher  behandelt  sind,  und  zuletzt  ein  Index 
nominum  et  rerum.  Die  äussere  Ausstattung  des  Ganzen  ist  eine 
vorzügliche,  völlig  gleich  den  früher  erschienenen  Bänden. 


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240  HmnBjÄkoh:  Die  Grafen  von  Freiburg. 


Die  Grafen  von  Freiburg  i.  Br.  im  Kampfe  mit  ihrer  Stadt  oder: 
Wie  kam  die  Stadt  Freiburg  i.  Br.  an  da«  Haus  Oesterreich. 
Eine  historische  Abhandlung  von  Dr.  Heinrich  Hansjakoby 
geistl.  Vorstand  der  höhern  Bürgerschule  in  Waldshut.  Zürich 
1867.  Verlaq  von  Uo  Wörl}  Buch-  und  Kunsthandlung.  VI 
und  112  S.  in  8. 

In  dieser  kleinen  Schrift  erhalten  wir  einen  recht  dankens- 
werten Beitrag  zur  vaterländischen  Geschichte.  Der  Gegenstand 
derselben,  wie  er  auf  dem  Titel  angegeben  ist,  war  in  Schreiber's 
Geschichte  von  Freiburg  nur  kurz  berührt  worden,  bei  der  Wich- 
tigkeit desselben  war  eine  nähere  Erörterung  um  so  wünschens- 
werter, als  inzwischen  durch  die  von  Dambacher  veröffentlichten 
Urkunden  zur  Geschichte  der  Grafen  von  Freiburg  ein  neues  bis- 
her nicht  benutztes  Material  geboten  war,  und  der  Verf.  dieses 
durch  die  Benützung  des  Freiburger  Stadtarchiv^  und  die  daraus 
hervorgezogenen  Urkunden  zu  vermehren  wusste.  Auf  dem  Grund 
dieser  Urkunden  ist  die  vorliegende  Darstellung  erwachsen,  die  uns 
die  Streitigkeiten  und  Kämpfe  der  Grafen  von  Freiburg  mit  der 
Stadt  vorführt,  welche  durch  den  Zähringischen  Herzog  Konrad 
um  1120  eine  dem  Stadtrecht  von  Kölln  nachgebildete  Verfassung 
erhalten  hatte,  unter  welcher  das  städtische  Gemeinwesen  auf- 
blühte und  die  Stadt  selbst  Ansehen  und  eine  Macht  gewann,  die 
ihr  das  Uebergewicht  über  ihre  Grafen  verlieh.  Die  vielfachen 
Zwiste  mit  denselben K  die  blutigen,  daraus  hervorgegangenen 
Kämpfe,  die  mit  Brand  und  Verwüstung,  wie  Raub  verknüpft 
waren,  dauerten  fort  bis  zu  dem  Jahre  1386,  in  welchem  endlich 
eiu  Vergleich  zu  Stande  kam,  und  am  30.  März  eine  Urkunde  aus- 
gefertigt ward,  in  welcher  Graf  Egon  IV.  für  sich  und  seine  Erben 
den  Verzicht  auf  alle  seine  Rechte  ^aussprach,  und  die  Stadt  dafür 
ihm  die  Burg-  und  Herrschaft  Badenweiler  abtrat.  Bald  darauf 
traten  die  Herzoge  von  Oesterreich  in  Unterbandlungen  mit  der 
Stadt;  es  erfolgte  eine  Vereinbarung  zwischen  beiden  Theilen, 
und  in  Folge  dessen  der  Uebergang  dor  Stadt  und  Herrschaft  an 
das  Haus  Oesterreich,  unter  dessen  Herrschaft  sie  fast  fünfhundert 
Jahre  bis  zu  der  Uebergabe  an  Baden  geblüht  hat.  Damit  schliesst 
die  Schrift,  der  noch  einige  ungedruckto  Urkunden  von  Belang  bei- 
gefügt sind,  welche  den  Werth  dor  eben  so  gründlichen  wie  an- 
ziehenden Forschung  erhöhen. 


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Ij.  16.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

—   

Fontes  Herum  Austriacarum.  Oesterreichische  Geschichte  -  Quellen. 
Herausgegeben  von  der  historischen  Commission  der  Kaiserl. 
Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien.  Ziveite  Abtheilung. 
Diplomataria  et  Acta.  XXV.  Bd.  Baumgartenberqer  Formel- 
buch. Wien.  Aus  der  k.  k.  Hof-  und  Staatsdruckerei.  1866. 
Auch  unter  dem  Titel: 

Das  Baumgartenberger  Formelbuch.  Eine  Quelle  der  Geschichte  des 
XIU.  Jahrhunderts,  vornehmlich  der  Zeiten  Rudolfs  von  Habs- 
burg. Zum  ersten  Male  herausgegeben  und  erläutert  von  Her- 
mann Baerwald.  Wien  1666. 


Die  Formelbücher  des  Mittelalters  sind  als  urkundliches  Ma- 
terial seit  alten  Zeiten  benutzt,  aber  erst  seit  kurzem  hat  mau  der 
Geschichte  derselben,  die  Lehre  des  Briefstils,  dem  Verhältniss  der 
Sammlungen  zu  einandor  eine  grössere  Aufmerksamkeit  zugewandt ; 
man  hat  namentlich  erkannt,  dass  zur  Prüfung  einzelner  Briefe 
oder  Urkunden  es  oft  unerlässlich  sei,  die  ganze  Sammlung  zu  unter- 
suchen.   Aber  auch  an  sich  bietet  die  Ausbildung  und  der  Verfall 
dieser  Kunst,  welche  im  dreizehnten  Jahrhundert  ihren  Höbepunkt 
erreichte,  ein  nicht  unbedeutendes  Interesse ;  neben  der  einfachen  Ur- 
kunde und  dem  Geschäftsbrief  gehört  in  ihren  Bereich  ein  grosser 
Theil  der  mittelalterlichen  Publicistik,  vorzüglich  die  merkwürdi- 
gen Manifeste ,  durch  welche  Kaiser  und  Päbste  sich  angesichts 
der  gebildeten  Welt  jener  Zeiten  bekämpften.    Deshalb  hielt  Dr. 
H.  Baerwald  es  für  wünschenswertb ,  als  eines  der  vollständig- 
sten, theoretisch  und  praktisch  gleich  reich  ausgestatteten  Hand- 
bQcber  dieser  Kunst  das  schon  seit  früher  Zeit  bekannte  und  be- 
nutzte Baumgartenberger  Formolbuch  aus  dem  Ende  des  dreizehn- 
ten Jahrhunderts,  vollständig  herauszugeben;  schon  1858  gab  er 
darüber  eine  vorläufige  Nachricht.  Bevor  jedoch  die  Ausgabe  fertig 
wurde,  erschien  in  den  Quellen  zur  bayerischen  und  deutschen  Ge- 
schichte die  grosse  Sammlung  der  Formelbücher  von  Rockinger, 
welche  nicht  nur  den  theoretischen  Theil  der  Baumgartenberger 
Sammlang  enthält,  sondern  auch  dessen  Ableitung  aus  dem  älteren 
Werke  T»udolfs  von  Hildesheim  nachweist.  Diese  Publication  konnte 
^on  Baerwald  leider  nur  nachträglich  noch  berücksichtigt  werden; 
«r  gibt  jedoch  in  der  Vorrede  darüber  Auskunft,  und  eigentüm- 
lich bleibt  ihm  die  vollständige  Briefsammlung.  Diese  Ausgabe  er- 
möglicht zu  haben,  ist  ein  neues  Verdienst  der  um  die  Pflege  vater- 
ländischer Geschichte  so  thätig  bemühten  Wiener  Akademie  der 
Wissenschaften. 

LX.  Jahrg.  4.  Heft  16 


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943  Baerwald:  Dm  Baumgartenberger  Formelbuch. 

Zu  Grande  liegt  der  Aasgabe  die  Wiener  Handscbrift  Phil.  61 
von  welcher  Sickel  Mon.  Graph.  IV,  14  eine  Schriftprobe  gibt, 
verglichen  mit  einer  Zwettler  Handschrift,  aus  welcher  noch  am 
Schluss  Verbesserangen  nachgetragen  sind.  Der  Text  ist  im  Ganzen 
correct  genug,  um  die  Vergleichung  anderer  unvollständiger  Hand- 
schriften entbehrlich  erscheinen  zu  lassen ;  doch  ist  für  den  theore- 
tischen Theil  Bockingers  Ausgabe  zu  vergleichen,  u.  a.  wegen  der 
Zusätze  der  Aldersbacher  Handschrift,  über  welche  B.  sich  in  der 
Vorrede  wohl  hätte  äussern  sollen.  Auf  p.  6  wird  der  vierte  Ab- 
satz erst  durch  die  Vergleichung  mit  Bock.  p.  731  verständlich, 
das  sed  ist  einfach  zu  streichen.  Erwähnt  hätte  ferner  noch  wer- 
den sollen,  dass  die  Proverbia  iuris  (p.  XIII)  bei  Bockinger  p.  835 
— 837  gedruckt  sind,  der  Ordo  iudiciarius  aber  ib.  p.  985 — 1026. 
Zu  p.  V  hätten  wir  noch  zu  bemerken,  dass  die  erste  von  Bockin- 
ger herausgegebene  Anleitung,  zu  welcher  sich  hier  ein  Nachklang 
findet,  sicher  nicht  von  Albericus  Casinensis  ist,  wie  die  auf  Ober- 
Italien  weisenden  Beispiele  deutlich  zeigen.  Ferner  ist  gewiss  nicht 
anzunehmen  (p.  IX),  dass  die  magnorum  dictatorum  formularii, 
aus  denen  der  Verfasser  seine  Briefe  geschöpft  hat,  in  Klöstern 
entstanden  sind,  sondern  sie  stammten  direct  aus  den  Kanzleien 
der  Päbste  und  Kaiser,  wie  das  namentlich  von  der  päbstUchen 
bekannt  genug  ist.    Nur  da  fanden  sich  solche  magni  dictatores. 

Das  Hauptverdienst  dieser  Ausgabebestebt  in  der  reichen  Brief- 
sammlung, die  nicht  wenig  neues  enthält,  und  in  der  auch  die  sonst 
bekannten,  aber  an  verschiedenen  Orten  zerstreuten  Schreiben  will- 
kommen sind,  um  so  mehr  da  nicht  nur  das  Begister  der  Anfänge 
ein  treflliches  Hülfsmittel  zur  Orieutirung  darbietet,  sondern  auch 
alle  Briefe  mit  grösster  Sorgfalt  in  Hinsicht  auf  ihren  Inhalt  kri- 
tisch behandelt  sind ;  bei  einigen  war  es  möglich,  das  Original  mit 
der  Formel  zu  vergleichen,  und  so  das  Verhältniss  beider  zu  ein- 
ander ganz  klar  darzulegen.  Die  mit  grösstem  Fleisse  angestellten 
Untersuchungen  werden  gewiss  in  den  meisten  Fällen  sich  bewäh- 
ren; ich  bemerke  nur  zu  p.  198,  dass  doch  wohl  nicht  Nachkom- 
men der  Geistlichen  gemeint  sein  können,  welche  ohnehin  schon 
von  kirchlichen  Würden  ausgeschlossen  waren,  sondern  Seitenver- 
wandte, unter  welchen  ja  so  häufig  die  Prälaturen  gewissermassen 
forterbten.  Ferner  ist  p.  440  Vatatzes  verkannt,  über  den  die 
von  G.  Wolf  1855  herausgegebenen  4  griechischen  Briefe  Fried- 
richs II.  zu  vergleichen  sind.  Endlich  muss  noch  Bef.  sich  da- 
gegen verfahren,  dass  (p.  466)  in  Budolfinischen  Urkunden  nicht 
von  einer  imperialis  aula  die  Bede  sein  könne,  da  Beispiele  für 
diese  Ausdrucks  weise  selbst  in  königlichen  Urkunden  gar  nicht 
selten  Bind. 

Uebrigens  aber  wollen  wir  dem  Herausgeber  für  seine  grosse 
jahrelange  Bemühung  unsere  aufrichtige  Dankbarkeit  aussprechen, 
welche  auch  dadurch  nicht  gemindert  wird,  dass  die  1848  vom 
Bef.  genommenen  Abschriften,  welche  seitdem   in  dem  grossen 


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Apicius.  ExpL  Schach. 


na 


Monumentenschrank  unbenutzt  lagern,  jetzt  neben  so  vielen  andern 
in  ziemlich  wertbloser  Maculatur  geworden  sind.  Im  Gegentbeil 
wiinicbuu  wir  dieser,  auf  die  Ergänzung  des  langsamen  Fort- 
schrittes der  Monumenta  gerichtete  Tbätigkeit  vielfache  Nachfolge 
and  bestes  Gedeihen.  W.  Hattenbach. 


Apiei  Caeli  De  re  coquinaria  libri  decem.  Novem  codicum  ope 
adiutus  au.rU,  re&iüuü,  emendavit  et  correzit,  variarum  lectio* 
num  parte  potissima  ornavü,  strieUm  et  interim  explanavü 
Chr.  Theophil.  Sckuch.  Heidtlbergae  in  libraria  academica 
Caroli  Winter.  1867.  202  S.  in  8. 

Der  Herausgeber  dieses  Apicius  ist  bereits  seit  einer  Reihe 
von  Jahren  aus  dieser  Welt  geschieden:  ein  früher  Tod  raffte  den 
strebsamen  und  rüstigen,  unermüdet  thätigen  Mann  hinweg,  ehe 
er  noch  die  Früchte  seiner  Bemühungen  einerndten  konnte.  In  den 
letzten  Jahren  seines  Lebens  war  es  besonders  der  dunkle  und 
rathselhafte,  dabei  kaum  lesbare  und  verständliche  Apicius,  der 
ihn,  nach  Text  und  Inhalt,  beschäftigte;  das  im  Jahre  1853  zu 
Dunauesch iugen ,  wo  er  an  dem  dortigen  Gymnasium  wirkte ,  er- 
schienene, in  Rastadt  gedruckte  Programm:  »Gemüse  und  Salate 
der  Alten  in  gesunden  und  kranken  Tagen«,  eine  kleinere  Schrift, 
aber  von  bleibendem  Werth,  konnte  schon  als  Vorläufer  einer  künf- 
tigen Bearbeitung  des  Apicius  gelten ,  von  welcher  noch  in  dem- 
selben Jahr  eine  Probe  in  den  Jhrbb.  d.  Philolog.  Sappl.  Bd.  XIX. 
S.  209  ff.  erschien,  mit  Beigabe  einer  deutschen  Uebersetzung  der 
betreffenden  Abschnitte.  Und  erwägt  man,  wie  wenig  die  bisheri- 
gen Ausgaben  dieses  Autors  befriedigen  konnten  —  der  Heraus- 
geber hat  es  in  seinem  Vorwort  näher  nachgewiesen,  —  so  mosste 
das  Bedürfniss  eines  neuen  und  lesbaren ,  auf  handschriftlichem 
Grunde  ruhenden  Textes  um  so  mehr  hervortreten ,  als  dann  erst, 
wenn  dieses  befriedigt  war ,  au  eine  Erklärung  gedacht  werden 
konnte.  Dieser  Gedanke  war  es  auch,  der  den  Herausgeber  er- 
füllte, als  er  mit  aller  Kraft  und  Hingebung  sich  diesem  Schrift- 
steller zuwendete :  Nichts  ward  dann  auch  verabsäumt,  was  zu  dem 
gewünschten  Ziele  führen  konnte.  Mit  dem  nun  auch  längst  hin- 
geschiedenen, trefflichen  Wüstemann,  der  Gleiches  früher  beabsich- 
tigt hatte,  trat  Schuch  in  nähere  Verbindung:  zugleich  fand  er 
aber  an  dem  Orte  seiner  amtlichen  Wirksamkeit  einen  hoben  Gön- 
ner und  Freund,  der  seine  Bemühungen  in  jeder  Weise  zu  fördern 
und  zu  unterstützen  bedacht  war.  In  dem  Vorwort,  welches  an 
den  Freiherrn  von  Pfaffenhofen  gerichtet  ist,  hat  der 
Herausgeber  diesem  Gönner  und  Freunde  ein  schönes  und  ehren- 
des Denkmai  gesetzt,  das  zugleich  als  ein  Zeugniss  der  Pietät 
gelten  kann,  mit  welcher  der  Herausgeber  erfüllt  war.    Wer  den 


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Apiciua.  ExpL  S  c  h  u  c  h. 


Hingeschiedenen  kannte,  wird  in  diesem  Vorwort  den  sprechendsten 
Ausdruck  seiner  ganzen  Individualität  finden ,  und  selbst  an  man- 
cher gesuchten,  aber  absichtlich  gewählten  Wendung  des  in  seiner 
Art  originellen  Mannes  keinen  Anstoss  nehmen :  wir  theilen,  um  eine 
Probe  aus  diesem  Vorwort  zu  geben,  die  Stelle  hier  mit,  in  wel- 
cher der  Herausgeber  über  die  Veranlassung  berichtet,  die  ihn  zu 
Apicius  und  zu  dem  Gedanken  einer  Herausgabe  desselben  geführt ; 
er  schreibt  S.  12  darüber  folgendes: 

»Oreta  notavi  illum  diem  et  unione  signavi  quo  Te  virum 
frugi  cognovi  et  immensam  erga  studiosos  quosque  Tuam  benig- 
nitatem  quae  eos  permovet,  fovet ,  tuetur  perspectam  habui.  in 
noctibus  atticis  eruditorum  virorum  coenantium  qui  deipnosopbistae 
audiunt  mores  secuti  praeter  seria  iocos  multas  super  diversissimis 
argumentis  disputationes  in  iisqae  non  paucas  occasione  capta  a 
variis  patinis  subinde  illatis  habuimus,  disseruimus  tum  de  instru- 
menta coquinatoriis  et  escariis,  tum  de  iuribus  et  impensis,  tum 
de  indice  ciborum  quoque  ordine  sint  inlati  quave  ratione  dulcibus 
oibis  acres  acutosque  miscuerint  ut  obtusus  Ulis  et  oblitus  stoma- 
chus  bis  excitaretur  quotque  instrumenta  gulae  vel  ingenio  cogitata 
sint  vel  studio  confecta,  omnino  de  hedypathia,  gastrologia,  gastro- 
nomia  veterum.  inter  talia  Tu  ex  me  quaesisti  quid  ex  Apicio  eam 
in  rem  luoraremur  sicque  me  medium  tenuisti.  rubore  perfusus  balbe 
pronuntiavi  scripsisse  eum  de  opsoniis  et  condimentis,  sed  adhuc 
ne  unum  quidem  me  exemplum  vidisse  atque  illico  pigneravi  edn- 
lium  syracusanum  quod  dudum  illexerat  oculos  ad  Apicium  coe- 
mendum.  omnium  antiquariorum  catalogis  per  plures  menses  per- 
lu8tratis  tandem  sublatus  manibus  cepi  editionem  Listen  secundam 
quae  prodiit  Amstelodami  1709.  in  ooelo  fui,  devoravi,  somniavi 
coquum  et  culinam.  at  primis  diebus  vidi  hic  rarius  conchas  le- 
gendas  et  verum  esse  qui  nucleo  vesci  velit  ei  frangendam  nucem 
et  solatus  illo  ardua  esse  quae  egregia  etiam  vidi  me  non  fore 
stultiorem  quam  Meietidem,  si  Apicio  misere  neglecto  auxilio  veni- 
rem  post  tot  virorum  remedia  et  tarn  diu  oblivione  sepultum  re- 
suscitarem.€ 

Da  ihn  die  Ausgaben  von  Lister  und  (die  neueste)  von  Bern- 
hold  unbefriedigt  gelassen,  sah  er  sich  nach  den  ältesten  Texten 
um:  es  gelang  ihm,  die  Editio  princeps,  eine  Venetianer,  ohne 
Jahreszahl,  (per  Bernardinum  Venetum),  aus  welcher  die  Mailänder, 
die  gewöhnlich  für  die  Ed.  princeps  genommen  wird,  vom  Jahr 
1488,  die  Venetianer  von  15 03  und  die  Antwerpner  von  1520  als 
fehlervolle  Abdrücke  geflossen  sind,  sich  zu  verschaffen,  und  eben 
so  auch  die  Humelbergische ,  die  ihn  freilich  eben  so  wenig  be- 
friedigte, ja  in  seinen  Erwartungen  täuschte.  So  kam  er  bald  zu 
der  üeberzeugung,  dass  ohne  neue  handschriftliche  Hülfsmittel  nicht 
viel  zu  machen  und  jede  Bemühung  vergeblich  sei.  Da  half  die  freund- 
liche Unterstützung  Wüstemann's,  welcher  die  in  seinen  Händen 
befindlichen  Collationen  der  ältesten  Vatikaner  Handschrift  des 


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Apicros.  "Expl.  Schuck 


246 


zehnten  Jahrhunderts,  wovon  schon  früher  Einiges  bekannt  ge- 
worden war,  dann  einer  jüngeren  minder  wichtigen  Vatikaner  des 
vierzehnten  Jahrhunderts,  und  einer  Pariser  Handschrift,  welche, 
in  Vielem  abweichend  von  den  beiden  andern,  einer  andern  Fami- 
lie anzugehören  scheint,  mittheilte:   die  Collationen  der  beiden 
ersten  hatte  E.  Braun ,  die  der  letzten  Dübner  zu  Paris  gemacht, 
so  dass  also  an  der  Genauigkeit  derselben  nicht  zu  zweifeln  ist. 
Damit  begnügte  sich  jedoch  der  Herausgeber  nicht.    Durch  die 
Verwendung  des  Herrn  von  Pfaffenhofen  erhielt  er  eine  Abschrift 
der  in  einer  Pariser  Handschrift  des  siebenten  Jahrhunderts  be- 
findlichen, schon  von  Salmasius   in  seinen  Exercitatt.  Pliniann. 
mehrfach  angeführten  und  benutzten  Excerpta  Apicii  (Codex 
Salmasianus,  zu  Paris  Suppl.  Lat.  685),  welche  den  bisherigen 
Text  durch  mehrere,  bisher  nicht  bekannte  Recepte  vervollständi- 
gen, wie  diess  z.  B.  im  vierten  Buch  der  Fall  ist,  wo  zwischen 
cap/  I  und  II  der  frühern  Ausgabe  zwei  grössere  Recepte,  hier 
§.  119  und  120  eingeschaltet  werden,  oder  die  Recepte  §.  253  — 
257  am  Schluss  des  sechsten  Buches.    Weiter  kam  ihm  zu  die 
Collation  einer  Florentiner  Handschrift  (cod.  20.  plut.  78),  von  der 
Hand  Peter's  de  Furia  gemacht,  in  Verbindung  mit  der  Collation 
von  drei  andern,  minder  wichtigen  Florentiner  Handschriften.  Aus 
diesem  handschriftlichen  Apparat,  unter  genauer  Vergleichung  der 
F-ditio  princeps,  der  Humelberg'schen  und  der  des  Torinus  ist  der 
Text  der  gegenwärtigen  Ausgabe  hervorgegangen.    Seit  den  Iden 
des  December  des  Jahres  1856,  welches  Datum  das  Vorwort  des 
Herausgebers  trägt,  ist  unseres  Wissens  Nichts  Neues  für  Apicius 
zn  Tage  gefördert,  auch  keine  neue  Handschrift  bekannt  geworden : 
wir  erinnern  uns  nur  einer  einzigen  Handschrift  zu  Paris  (Nr.  8209), 
welche  in  der  Revue  de  philolog.  I.  p.  17  erwähnt  wird,  und  zwar 
als  eine  jüngere,  aber  aus  einer  guten  alten  copirte ,   es  ist  mit- 
hin dnrch  das  nun  zehn  Jahre  spätere  Erscheinen  kein  Nachtheil 
der  Arbeit  erwachsen,  die  von  dem  Herausgeber  ziemlich  fertig  und 
abgeschlossen  zurückgelassen  worden  ist,  als  ihn  am  25.  März  des 
folgenden  Jahres  1857  der  Tod  ereilte.  So  blieb  sein  zum  Druck  voll- 
endetes Werk  der  treuen  Fürsorge  der  Angehörigen  und  Freunde 
überlassen :    bis  die  rühmlichst  bekannte  Verlagshandlung ,  von 
Interesse  für  die  Wissenschaft  bestimmt,  sich  entschloss,  das  Ganze 
in  einer  seiner  würdigen  Gestalt  zu  veröffentlichen.  Und  darum  dürfen 
wir  dasselbe  wohl  der  Theilnahme  und  Aufmerksamkeit  aller  Freunde 
der  alten  Literatur  empfehlen,  welche  dieses  merkwürdige  Produkt 
einer  schon  späteren  römischen  Zeit,  das  aber  nicht  blos  in  culinari- 
scher,  sondern  eben  so  sehr  in  medicinischer,  wie  auch  in  sprachlicher 
Hinsicht  unser  Interesse  anspricht,  näher  kennen  lernen  wollen;  denn 
sie  finden  darin  einen  der  handschriftlichen  üeberlieferung  entspre- 
chenden, lesbaren  Text,  dessen  richtiges  Verständniss  durch  den  beige- 
fügten sprachlich- grammatischen  wie  sachlichen  Commentar  des  Her- 
ausgebers wesentlich  unterstützt  wird.  Der  Text,  um  diesa  gleich  zu 


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Apicius.  Expl.  Schuck 


bemerken,  bat,  wenn  man  die  frühorn  Aufgaben,  die  ältesten,  wie 
die  jüngste  von  Bemhold  vergleicht,  eine  davon  wesentlich  ver- 
schiedene Gestalt  erhalten,  die  uns  dieses  Kochbuch  in  einer  Form 
liefert,  die  der  ursprünglichen  wohl  ziemlich  nahe  kommt,  abge- 
sehen natürlich  von  einzelnen  Verderbnissen,  von  welchen  die  hand- 
schriftliche Ueberlieferung  nicht  frei  ist,  wo  die  Conjecturalkritik, 
wie  sie  auch  von  dem  Herausgeber  geübt  worden  ist,  das  heraus- 
zufinden bedacht  sein  muss,  was  dem  Inhalt  der  Stelle  entspricht 
und  der  ganzen  Fassung  am  nächsten  kommt.  Dadurch  ist  es  aber 
auch  jetzt  möglich  geworden,  zu  einem  sicheren  Urtheil  Uber  die 
Schrift  selbst,  ihren  Charakter  und  ihre  Beschaffenheit  zu  gelan- 
gen, und  wird  dann  auch  jeder  Verdacht  über  dieselben  schwinden 
müssen,  wie  er  noch  unlängst  von  einem  französischen  Gelehrten 
ausgesprochen  worden  ist,  welcher  sich  so  weit  verstieg  zu  be- 
haupten: »tont  porte  ä  croire,  que  le  traitö  en  question  est  un 
ouvrage  suppose*.«  (Douet-d'Arcq  in  der  Bibliotb.  de  l'ecol.  des 
chart.  V  Ser.  [1860]  T.  L  p.  209  f.).  Und  wenn  derselbe  Gelehrte 
dann,  natürlich  ohne  Schuchs  Bemühungen  zu  kennen,  ebenfalls  auf 
dieselbe  Venetianer  Ausgabe,  in  der  Schuch  die  wahre  Editio  prin- 
ceps  erkannt  hatte,  zu  reden  kommt  und  Uber  diese  seltene,  ihm 
vorliegende  Ausgabe,  so  wie  auch  über  die  folgenden  Ausgaben 
von  Torinns  und  Humelberg,  in  ähnlicher  Weise  wie  Schuch  urtheilt, 
so  gelangt  er  darauf  zu  einem  Schluss,  der  uns  Nichts  weniger  al^ 
begründet  erscheint.  Weil  nemlich  die  zehn  einzelnen  Hauptab- 
schnitte oder  Büchor,  in  welche  das  Ganze  zerfallt,  mit  griechi- 
schen Aufschriften  versehen  sind,  die  aber  (in  den  Handschriften) 
mit  lateinischen  Buchstaben  geschrieben  sind,  so  wird  daraus  der 
Schluss  gezogen,  dass  entweder  das  Werk  zuerst  griechisch  ge- 
schrieben worden,  oder  dass  es  durch  einen  der  byzantinischen 
Griechen,  die  sich  bei  dem  Fall  des  orientalischen  Reiches  nach 
Italien  geflüchtet,  abgefasst  worden  und  habe  Derselbe  mit  diesen 
griechischen  Aufschriften  wenigstens  eine  Spur  seines  Vaterlandes 
zurücklassen  wollen.  Indessen  bemerkt  doch  derselbe  Gelehrte, 
dass,  sogern  er  dieser  Annahme  sich  anschliessen  würde,  doch  die 
Vaticaniscbe  Handschrift  im  Weg  stehe,  deren  Varianten  in  der 
Amsterdamer  Ausgabe  von  1709  mitgetheilt  sind,  und  welche  der 
berühmten  Pandekten -Handschrift  zu  Florenz  an  Alter  gleich 
komme,  also  bis  in  das  siebente  Jahrhundert  zurückgehe.  Es  ge- 
hört aber,  wie  schon  oben  bemerkt  worden,  diese  Vaticanische 
Handschrift  in  das  zehnte  Jahrhundert,  und  erscheint  dieselbe  aller- 
dings wohl  als  die  älteste  Quelle  der  handschriftlichen  Ueberliefe- 
rung eines  Textes,  dessen  Verfasser  oder  Ordner  aber  jedenfalls 
einer  weit  früheren  Zeit  angehört,  die  sich  nur  in  so  weit  wird 
näher  bestimmen  lassen,  als  man  über  das  zweite  oder  dritte  Jahr- 
hundert christlicher  Zeitrechnung  nicht  wird  hinausgehen  können, 
abor  auoh  keinen  Grund  hat,  die  Abfassung  in  eine  spätere  Zeit 
zu  verlegen.  Denn  wir  haben  in  diesem  Buohe  eine  naoh  Materien 


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Apiclus.  ExpL  Sohn  eh. 


zusammengestellte  Sammlang  von  Kochrecepten ,  die  nicht  einmal 
gleichzeitig  entstanden  nnd  angelegt  zn  sein  scheint,  sondern  nach 
and  nach  zn  dem  dermaligen  Bestand  erwachsen,  nnd  so  anf  die 
nachfolgenden  Zeiten  gekommen  ist,  aber,  nicht  einmal  in  der  ur- 
sprünglichen ,  vollständigen  Fassung,  sondern  daraus  excerpirt*), 
bezeichnet  mit  dem  Namen  des  Mannes,  der  in  der  römischen 
Gourmanderie  eine  so  hervorragende  Stellung  früher  eingenommen 
hatte,  so  gut  wie  man  in  späterer  Zeit  grammatische  Bücher  mit 
dem  Namen  des  Donatus  und  paränetische  Schriften  mit  dem  Namen 
des  Cato  bezeichnete.  Keinen  andern  Sinn  scheint  die  Bezeichnung 
A  p  i  c  i  u  s  zu  haben,  so  wenig  auch  an  der  Persönlichkeit  des  von 
Tacitus  genannten  Apicius  sonst  zu  zweifeln  ist.  Uebrigens  finden 
sich  unter  den  so  zusammengetragenen  und  geordneten  Ktichen- 
reeepten  such  manche  medicinische,  in  so  fern  die  in  dem  Recept 
angegebene  Bereitung  ein  Produkt  liefert ,  das  selbst  als  Mittel, 
körperliche  Beschwerden  zu  lindern  oder  zu  heben,  erscheint  — 
wir  erinnern  an  IX  §.  443  »hoc  aegrum  stomachum  valde  reficit 
et  digestionem  facit«  oder  an  III,  104  der  Zusatz:  ad  digestionem 
etinflationemt  und  kurz  zuvor  §.  102  »adversus  aegritndinem  sumes 
si  volesc  oder  an  den  öfters  vorkommenden  Zusatz  m,  §.  62,  63 
ad  ventrem,  oder  I,  §.  29:  »Sales  conditi  ad  digestionem,  ad  ven- 
trem  movendnm  et  omnes  morbos  et  pestilentiam  et  omnia  frigora 
probibent  generari,  sunt  autem  et  suavissimi  ultra  quam  speres.« 
Es  mag  daher  das  Ganze  zugleich  wie  eine  Art  von  Hausbuch  zu  be- 
trachten sein,  zum  Gebranch  der  auf  dem  Land  lebenden  Römer 
eingerichtet,  denen  ein  Arzt  und  eine  Apotheke  minder  zuganglich 
war.  Die  Mehrzahl  der  hier  gegebenen  Kochreoepte  scheint  frei- 
lich mehr  für  den  Luxus  der  römischen  Tafeln  berechnet**),  und 
wenn  in  diesem  Kochbuch  die  Ueberschriften,  welche  die  einzelnen 
zehn  Abschnitte  bekommen  haben,  griechisch  sind,  so  wird  man 
daran  schon  aus  dem  Grande  keinen  Anstand  nehmen,  wenn  man 
bedenkt,  dass  die  römisch-italische  Kost,  die  sogenannte  Haus- 
mannskost, ursprünglich  sehr  einfach  war,  und  erst  mit  dem  ans 
Griechenland  und  Asien  nach  der  Zeit  der  punischen  Kriege  ein- 
strömenden Luxus,  auch  der  Luxus  der  Tafel,  die  Schwelgerei  und 
üeppigkeit  der  Tafelfreuden  in  Aufnahme  kam ,  daher  auch  grie- 
chische, technische  Bezeichnungen  hier  eben  so  wenig  befremden 
können,  als  heutigen  Tags  die  französischen,  wie  sie  ja  bei  allen 


*)  Diese  Ansicht  hat  der  Heransgeber  in  einer  Note  mm  Eingang  des 
zehnten  Buches  (zn  g.  445.  S.  196)  ausgesprochen,  und  das  in  den  Schluss- 
wortendes  Ganzen  („Explicit  Apici  alieus  libatus  Uber  deeimus  et  ultlmusu) 
vorkommende  libatus  nimmt  er  in  dem  Sinn  von  excerptns.  Vgl.  auch 
die  Note  zu  g.  811.  p.  1Ö3. 

**)  Daher  auch  Alles  aufgeboten  wird,  durch  die  Kunst  der  Zubereitung 
eine  Speise  zu  schaffen,  welche  den  ursprünglichen  Stoff  nicht  erkennen 
iAsst,  „ad  mensam  nemo  agnoacet,  quid  manducet"  heisst  es  daher  am  Schlnss 
cißei  Recepta  §.  188. 


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Apichis.  Expl.  Schuch. 


feierlichen  Gelegenheiten  eingeführt  auf  den  Speisezetteln  erscheinen. 
Diese  griechischen  Aufschriften  sind  auch  in  vorliegender  Ausgabe 
mit  lateinischen  Buchstaben  gegeben,  was  der  handschriftlichen 
Ueberlieferung  entspricht  und  wohl  auch  ursprünglich  der  Fall  war, 
da  der  Koch  schwerlich  in  allen  Fällen  Griechisch  lesen  und  ver- 
stehen konnte.  Wenn  daher  das  erste  Buch  die  Aufschriit  führt 
Epimeles  (inifisk^g) ,  so  bemerkt  unser  Herausgeber  ganz  rich- 
tig, dass  hier  nicht  an  eine  Ergänzung  etwa  von  ßCßlog  zu  denken 
sei,  sondern  vielmehr  an  oipOTioiog^  also  der  sorgsame  und  fleissige 
Koch  gemeint  ist,  und  darauf  weisen  auch  alle  die  in  diesem  Buche 
enthaltenen  Recepte,  die  auf  die  Bereitung  und  Aufbewahrung  von 
Speisen  sich  beziehen.  Man  wird  demnach  in  der  griechischen  Auf- 
schrift Nichts  Befremdliches  finden,  und  nicht  einmal  nöthig  haben, 
die  in  der  lateinischen  Poesie  vielfach  üblichen,  griechischen  Titel 
hierher  zu  ziehen,  von  welchen  die  Heduphagetica  des  Eunius 
am  ersten  hier  zu  nennen  sind,  weil  sie  die  erste  Erscheinung  der 
Art  sind  und  uns  zeigen  können,  wie  schon  im  sechsten  Jahrhun- 
dert der  Stadt  Rom  die  Freuden  griechischer  Tafelgenüsse  in  Rom 
Eingang  und  Verbreitung  fanden  (s.  Meine  Gesch.  d.  röm.  Liter. 
§.  87  not.  35  der  vierten  Ausg.).  Das  zweite  Buch  des  Apicius 
trägt  die  Aufschrift  Sarcoptes  (GaQxojtTrjg,  der  das  Fleisch  ver- 
hackt =  Wurstler)  und  kommen  in  diesem  Buche  lauter  Küchen- 
reeepte  vor,  welche  auf  die  Bereitung  von  gehaktem  Fleisch,  Füll- 
sel, Würste  u.  dgl.  sich  beziehen.  Das  dritte  Buch  heisst  cepu- 
ros  xsjiovgog,  weil  in  ihm  Vorschriften  enthalten  sind,  die  auf  die 
Küchenkräuter ' u.  dgl.,  deren  Anwendung  zu  Speisen,  Bereitung 
nnd  Aufbewahrung  sich  beziehen,  und  wird  diese  Bezeichnung  um 
so  weniger  auffallen ,  als  ja  auch  von  Sabinus  Tiro  eine  Schrift 

über  die  Gartengewächse  unter  diesem  Titel  (cepuricon  sc.  liber) 
angeführt  wird.  In  der  Aufschrift  des  vierten  Buches  haben  alle 
Codd.  und  auch  alle  Edd.  pandecter,  was  der  Herausgeber  ge- 
wiss mit  vollem  Recht  in  pandectes  verwandelt  hat,  wobei  er 
an  ähnliche  Titel,  die  in  der  römischen  Literatur  vorkommen,  wie 
Tiro's  Pandectes  erinnert ;  eben  so  hat  er  auch  den  Titel  des  fünf- 
ten Buches,  den  fünf  Handschriften  ostreo,  die  Ed.  princ. 
ostreon,  Humelberg  und  die  folgenden  Ausg.  osprios  geben, 
in  ospreos  verwandelt,  insofern  oöitQSog  so  viel  sein  soll  als 
oöTtQtoddxTTjg  oder  6ö7tQSod6%og,  leguminarius,  weil  die  Berei- 
tung und  das  Einmachen  der  Speisen  aus  Hülsenfrüchten,  Bohnen 
u.  dgl.  darin  gelehrt  wird ;  wobei  nur  zu  bemerkon  ist ,  dass  die 
Form  oöTtQSöv  von  den  griechischen  Grammatikern,  welche  oQtcqiov 
vorziehen,  verworfen  wird.  Bei  dem  sechsten  Buch  ist  die  Auf- 
«  schritt  tropetes  (rQOTtdzrjg  i.  q.  iQ6trjg)  aus  der  Mailänder  Aus- 
gabe und  den  Handschriften  zurückgeführt,  die  Edit.  princ.  hat 
trophetes,  woraus  Humelberg ,  dem  die  Andern  folgten,  aero- 
petes  (asQoithrjg)  machte,  weil  er  die  Bedeutung  von  ZQOxizrfg 
ftls  eines  mit  dem  Räderwerk  der  Flügel  sich  bewegenden,  fliegen 


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Apichis.  Expl.  Schlich. 


249 


den,  also  eines  Vogels,  nicht  erkannte :  denn  es  ist  hier  allerdings 
toü  der  Bereitung  der  Speisen  aus  verschiedenen  Vögeln  und  deren 
Tbeilen  die  Rede.  Die  Aufschrift  des  siebenten  Buches  lautet  in 
allen  Codd.  und  Edd.  gleich:  Politeles  (7tolvt€Xrjg  =  der  viel 
Kosten  aufwendende),  »ab  impensarum  et  opsonioram,  quao  in  eo 
ilibro)  traduntnr,  copia  et  multitudine  exposita,  suillo  potissimum 
e  pecore  ut  quo  ganeae  nullnm  plus  praebuerit  materiae  et  cujus 
condiendae  studiosa  Semper  fuerit  gulac,  wie  der  Herausgeber 
erklärt.  Auch  die  Aufschrift  des  achten  Buches  unterliegt  keinem 
Zweifel  tetrapus  (terQciJtovg)^  weil  Recepte  zu  Speisen  ans  dem 
Fleische  der  vierfüssigen  Thiere,  wie  Eber,  Hirsch,  Ziegen  u.  dgl. 
hier  gegeben  werden ;  dasselbe  ist  der  Fall  mit  der  Aufschrift  des 
nennten  Buches  talassa  (&dXa<3<Sa) ,  weil  hier  lauter  Recepte 
über  die  Bereitung  von  Seefischen  u.  dgl.  gegeben  werden ,  und 
des  zehnten  alieus  (aluvg) ,  weil  hier  die  Recepte  über  die  Be- 
reitung von  verschiedenen  Fischen,  namentlich  solchen,  die  in  Flüs- 
sen vom  Fischer  gefangen  werden,  enthalten  sind. 

Nach  diesen  Aufschriften  der  einzelnen  Abschnitten  dürfte 
man  wohl  auch  nach  der  Aufschrift  dos  ganzen  Werkes  fragen. 
Wie  sich  die  vom  Herausgeber  benutzten  Handschriften  dazu  ver- 
halten, finden  wir  nicht  angegeben :  der  von  ihm  genommene  Titel 
ApiciCaeli  de  re  coquinaria  libri  decem  ist  der  in  der 
Editio  prineeps  enthaltene,  während  wir  bei  Torinus  De  re  culi- 
naria,  bei  Humelberg,  dem  die  späteren  folgen,  einen  erweiter- 
ten Titel:  Gaelii  Apicii  de  opsoniis  et  condimentis  sive  arte  coqui- 
naria libri  X  finden ;  ans  welchem  aber  die  Worte  De  opsoniis 
et  condimentis,  nach  unserer  Ansicht  wegzufallen  haben,  und 
eben  so  auch  das  von  ihm  zugesetzte  sive:  sonach  halten  wir 
den  vom  Herausgeber  gelieferten  Titel  für  jedenfalls  richtiger,  zu- 
mal da  in  der  Ed.  prineeps,  wie  wir  aus  dem  oben  erwähnten 
Artikel  eines  französischen  Gelehrten  ersehen,  auf  dem  ersten  Blatt 
der  Inhalt  der  Schrift  weiter  in  folgender  Weise  angegeben  ist: 
»Coquinaria  capita  Graeca  ab  Apicio  posita  haec  sunt:  Epime- 
les  etc.c  Uebrigens  wissen  wir  nicht,  welche  Handschrift  dieser 
Ed.  princ.  zu  Grunde  liegt,  unser  Herausgeber,  der  die  seltene 
Ausgabe  sich  verschafft  hatte,  sagt  blos  von  ihr:  »est  enira  vi- 
caria  codicis  nescio  cujus  quamquam  non  admodum  bor.i.«  Sollte 
übrigens  in  den  Handschriften  sich  keine  weitere  Aufschrift  des 
Ganzen  finden,  so  würden  wir  uns  mit  dem  einfachen  Titel  Api- 
cius  oder  Caelius  Apicius  begnügen  können.  Auf  einen  be- 
stimmten Verfasser  würde  I,  2  führen:  »sed  suaserim  nonnihil 
rini  melizomo  mittas«  wenn  suaserim  in  der  ersten  Person 
wirklich  Lesart  der  Handschriften  wäre,  die  sämmtlich  suaserit 
haben,  wozu  allerdings  das  Subjeot  fehlt,  das  durch  Barth's  Ver- 
besserung suasum  erit  vermieden  würde,  wiewohl  wir  diese  Ver- 
besserung nicht  für  nöthig  halten,  da  suaserit  wohl  eben  so  gut 
w  erklären  sein  wird,  wie  das  bekannte  inquit,  ait  sei.  ali- 


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460 


Apichis.  ExpL  Schlich. 


quis;  suaserim  ist  Verbesserung  dos  Torinns  und  des  Conrad 
Gesner,  die  der  Herausgeber  aufgenommen  hat,  die  indess  durch 
keine  ähnliehe  Stolle  des  Büchleins  bestätigt  wird,  da  in  allen  Vor- 
schriften der  Art  die  zweite  Person,  oder  der  Imperativ  angewendet 
wird,  und  der  Charakter  dieser  Recepte  stets  ganz  allgemein  und  ohne 
alle  persönliche  Beziehungen  gehalton  ist;  die  dritte  Person  (sua- 
serit)  aber  in  der  bemerkten  Weise  aufgefasst,  zu  keiner  Aende- 
rung  drängt.    Wenn  wir  also  hier  auch  anderer  Ansicht  sind,  so 
können  wir  doch  nicht  verschweigen ,  wie  es  allerdings  dem  Her- 
ausgeber gelungen  ist,  zahlreiche  Verderbnisse  des  Textes  zu  be- 
seitigen und  denselben  lesbar  gemacht  zu  haben ;  selbst  da ,  wo 
keine  völlige  Sicherheit  über  die  aufgenommene  oder  vorgeschla- 
gene Verbesserung  zu  gewinnen  steht ,  wird   dieselbe  doch  dem 
Sinne  angemessen  erscheinen  und  überhaupt  in  die  Stolle  einen 
annehmbaren  Sinn  bringen.    Werversteht  z.B.  I,  12  das  Recept, 
das  nach  der  gewöhnlichen  Lesart  also  lautet:    »Ostrea  (unser 
Herausgeber  schreibt  H ostrea,  eben  so  Holus,  Jocur  für  Je  cur, 
Fex  statt  Faex  u.  dgl.  m.)  ut  diu  durent:  vas  ab  aceto  aut  ex 
aceto  vasculum  picatnm  (And.  picitum)  lava  et  ostrea  compone«? 
Der  Herausgeber  hat  durch  folgende  Aenderung  einen  Sinn  in  das 
Recept  gebracht :  vasa  bacato,  ante  ex  aceto  obbas,  c a  1 1  o 
pisito  lava,  und  er  gibt  dazu  auch  die  nöthige  Erklärung,  in- 
dem bacare  so  viel  ist  als  vesca  bacalia  consternere,  obbare  aber 
obba  8eu  vaso  capaciore  humeotare  et  imbuere;  call  um  sc.  salis 
marini  ist  so  viel  als  sal  densatum  und  pisitum  so  viel  wie  con- 
tnsum,  tritum.  An  den  hier  gebildeten  Verbis bacare  und  obbare 
wird  man  um  so  weniger  Anstoss  zu  nehmen  haben,  als  in  diesen 
Recepten  überhaupt  gar  manche  Wörter  und  Ausdrücke  vorkommen, 
welche  in  der  uns  bekannten,  gebildeten  Schriftsprache  sich  nicht 
finden,  die,  zum  Theil  wenigstens,  der  uns  so  wenig  näher  bekann- 
ten lingua  mstica  angehören,  für  welche  überhaupt  dieses  Koch- 
und  Hausbuch  Manches  bietet,  was  in  den  diesem  dunkeln  Gegen- 
stand gewidmeten  Untersuchungen  der  neuesten  Zeit  noch  nicht 
gehörig  benutzt  und  verwerthet  worden  ist.  Dahin  gehört,  um  von 
vielen  nur  Ein  Beispiel  anzuführen,  auch  das  §.  148  vorkommende 
und  gut  erklärte  battuere,  das  französische  battre.  Dasselbe 
gilt  auch  von  so  manchen  hier  vorkommenden  Formen,  welche  in 
der  Schriftsprache  sich  nicht  finden ;  so  haben  z.  B.  sechs  Codices 
T,  18  »ipsam  aquara  pro  idromelli  aegrui  dabisc,  eine  Pariser 
aegro,  Humelberg  gab  aegris;  unser  Herausgeber  schreibt,  der 
Mehrzahl  der  Handschriften  folgend,  aegri  (als  Dativ),  indem  er 
ein  Adjectiv  zweier  Endungen  wie  celebris,  salubris  u.  dgl.  an- 
nimmt.   Wie  in  ähnlicher  Weise  das  Genna  der  Substantive  wech- 
selt, wird  in  der  Note  zu  I,  27  nachgewiesen ,  oder  wie  manche 
Verba  der  zweiten  Conjugation  nach  der  dritten  flectirt  werden 
(z.  B.  miscis  u.  dgl.  m.)  zu  I,  51.  Ein  anderer  Fall  T,  25:  >tu- 
bera  quae  aqua  non  vexaverint,  componia«  etc.    So  achreibt 


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Apiclus.  Expl.  8chuch. 


261 


unser  Herausg.  statt  der  Vulgata  vexaverit,  indem  vexaverint, 
analog  einer  Stelle  bei  Pelagonius,  so  viel  ist  als  vexata  fuerint,  und 
führt  noch  einige  Fälle  aus  Apicius  an.  Soll  in  diesem  Sinne  auch 
das  oben  erwähnte  suaserit  passivisch  genommen  werden,  es 
mag  gerathen  sein?  —  §.  197  und  201  ist  in  dem  Lemma: 
»Pisam  vi  t ellin  am  sive  fabamc  vom  Herausgeber  gesetzt  wor- 
den vitellianam,  eben  so  wie  §.377  porcellura  vitellianum, 
weil  diese  Benennung  nicht  »a  vitellis  ovorumc  herzuleiten,  son- 
dern auf  den  üppigen  und  luxuriösen  Kaiser  Vi te Hins  zurück- 
zuführen ist,  von  Vitellius  aber  wohl  Vitellianus  abzuleiten  ist, 
so  gut  wie  von  Fronto,  Frontonianus  n.  dgl.  m. ,  daher  auch 
§.  378  und  380  Porcellum  Frontonianum ,  §.  230  pullum  Fronto- 
nianum,  und  als  analoge  Fälle  §.145  patina  Lncretiana,  §.134 
und  117  patina  Apiciana  und  sala  cottabia  Apiciana.  Wir 
werden  an  diesen  Bezeichnungen  um  so  weniger  Anstoss  nehmen, 
als  ja  auch  heutigen  Tags  Derartiges  vorkommt,  wie  z.  B.  die 
Cotelettes  ä  la  Soubise  oder  die  abricots  ä  la  Conde ,  an  welche 
der  oben  genannte  französische  Gelehrte  erinnert.  Eine  andere 
Stelle,  in  der  uns  Bedenken  über  die  vorgenommene  Aenderung 
aufgekommen  sind,  ist  §.  215  (im  sechsten  Buch  cap.  II),  wo  die 
gewöhnliche  Lesart  lautet:  »gruem  dum  coquis,  caput  eins  aqnam 
non  conti ngat,  sed  sit  foris  ab  aqua;  quum  cocta  fuerit,  de  sa- 
vano  valido  involves  gruem  etc.  Hier  schreibt  der  Herausgeber: 
caput  ejus  aqua  quam  nontingat,  sud  sit  foris.  ad  aequam  cum 
cocta  fuerit c  etc.  quam  haben  allerdings  sechs  Handschriften,  und 
der  Herausgeber,  welcher  es  aufgenommen,  erklärt  es  quantum 
fieri  potest,  quam  minime  und  führt  dann  eine  Reihe  von 
Stellen  aus  Cicero  an ,  in  welchen  quam  diese  Bedeutung  haben 
soll.  Wir  haben  diese  Stellen  nachgesehen, *aber  gefunden,  dass  in 
allen  diesen  quam  seine  relativisuhe  Bedeutung  als  Partikel  (wio 
sehr)  mit  folgendem  Verbum  finitum  im  Conjunctiv  beibehalten 
bat,  diese  Stellen  mithin  gar  nicht  in  Betracht  kommen  können 
für  den  Gebrauch  von  quam  in  der  bemerkten  Bedeutung  in  die- 
ser Stelle,  in  der  wir  es  wirklich  nicht  zu  erklären  wissen,  sondern 
für  ein  Verderbniss  aus  aqnam  halten,  was  wir  daher  lieber  bei- 
behalten würden.  Auch  selbst  bei  ad  aequam  haben  wir  Be- 
denken, nicht  so  wohl  an  der  Redensart  selbst,  dio,  wie  in  aequam 
sc.  rationem  oder  ex  aequa  au  andorn  8tellen  (s.  die  Note  zu  §.  54) 
zu  fassen  ist,  als  an  deren  Anwendung  in  vorliegender  Stelle,  wo 
erst  das  Kochen  beginnt,  und  ad  aequam  doch  auf  ein  vorhergegan- 
genes Kochen,  dem  dieses  Kochen  gleich  sein  soll,  verweist.  Der 
Herausgeber  war  zu  der  Aenderung  veranlasst  durch  die  Vatikaner 
Handschrift,  welche  für  ab  aqua  bietet  ab  aqnam,  ein  Fehler, 
wie  deren  ähnliche  in  nicht  geringer  Zahl  auch  in  dieser,  wenn 
gleich  ältesten  Handschrift  vorkommen.  Derselben  Handschrift 
schloss  sich  der  Herausgeber  mehr  an  in  der  offenbar  verdorbenen 
Stelle  zu  Anfang  von  §.  252,  weiohe  jetzt  lautot:   »pullum  sicut 


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ApichiR.  Expl.  Schnell 


alicam  coque.  caminatnm  a  cervice  expodies«,  wobei  eine  wesent- 
liche Schwierigkeit  in  der  Erklärung  von  caminatnm  liegt,  wel- 
ches der  Verfasser  lieber  fassen  will  carinatam,  d.  i.  carinam, 
alveum.  Anch  die  Dnlcia  domestica  in  dem  Lemma  §.  300 
boten  der  Erklärung  Schwierigkeiten,  die  selbst  anfangs  zn  Aende- 
rnngen  reizten,  was  jedoch  bei  dem  Widerspruch  der  Handschriften 
wieder  aufgegeben  wurde.  Und  wir  glauben,  dass  die  nun  ver- 
suchte Erklärung  befriedigen  wird,  nach  welcher  Dulcia  im  Sinne 
der  Griechischen  uslfarjxTa  genommen  und  domestica  erklärt 
wird  »per  coquos  domesticos,  doraesticatim  apparata,  domestice 
confecta,  privata,  vernacula,  hausgebackenesc  ;  dieser  Erklärung 
glauben  wir  den  Vorzug  geben  zu  müssen  vor  der  andern,  auf  die 
der  Verf.  später  verfiel:  hiernach  sollen  die  domestica  hier  so 
viel  sein  als  » otxrjtriQia ,  nixoduxityjnxd ,  quibus  medico  non  ad- 
vocato  domi,  pro  medicamento  usni  domestico  destinato  uterentnr, 
also  Hausmittel.«  So  wenig,  wie  oben  bemerkt,  medicinische 
Recepte  von  dieser  Zusammenstellung  ausgeschlossen  sind,  so  würde 
doch  dieses  Hansmittel  hier  gar  nicht  an  seinem  Platze  sein  mitten 
unter  den  andern  kostspieligeren  Deserts  und  Speisen  des  siebenten 
Buches,  des  Politeles.  —  Als  eine  glückliche  Verbesserang  wird  in 
dem  Lemma  §.  309  Tripatinam  (sc.  placentam)  d.  i.  ein  aus 
drei  Dingen  (Milch,  Eier,  Honig)  bereitetes  Gericht  oder  Kuchen 
zu  betrachten  sein,  statt  des  früheren,  in  dieser  Beziehung  sinn- 
losen Tiropatinam  oder  gar  Tyropatina,  wie  bei  Bernhold 
steht.  Wir  wollen  die  schwierige  Stelle  §.  359  (wo  es  im  Text 
cum  faseolis  faratariis  heissen  mnss  statt  sum  f.  f.)  nicht  weiter 
betrachten,  da  wir  das  nach  der  Pariser  Handschrift  aufgenommene 
faratariis  eben  so  wenig  befriedigend  zn  erklären  wissen  als 
das  von  Humelberg  gesetzte  paratariis,  und  nur  noch  an  das 
Lemma  von  §.  386  erinnern,  in  welchem  statt  der  Vulgata:  Por- 
cellum  tragannm,  was  keine  Erklärung  zulässt,  vom  Herausgeber 
unter  verschiedenen  Aenderungen,  dio  ihm  in  den  Sinn  kamen,  zu- 
letzt P.  tari canum  gesetzt  ward,  »seu  taricarum  i.  e.  rapigifpov«, 
von  dorn  §.  440  ein  Substantiv  taricus  vorkommt. 

Wir  wollon  diese  Nachlese  nicht  weiter  fortsetzen,  in  der  wir 
nur  Einzelnes  von  den  vielen  Veränderungen  berührt  haben,  durch 
welche  der  Text  eine  ganz  andere  Gestalt  erhalten  und  vielfach 
erst  lesbar  geworden  ist:  wir  haben  nur  noch  mit  Einem  Worte 
auch  der  gelehrten  Erklärung  zu  gedenken,  mit  welcher  diese  Aus- 
gabe bedacht  ist.  Der  Herausgeber  zeigt  eine  reiche  Belesenheit 
auf  einem  sonst  wenig  bekannten,  für  die  Erklärung  und  das  Ver- 
ständniss  dieser  Schrift  aber  wichtigen  Gebiete,  wir  meinen  die 
verschiedenen  griechischen  und  römischen  Schriftsteller,  zumal  der 
späteren  Zeit,  über  Botanik,  Landban,  Modicin,  Hippiatrik  a  dgl., 
dadurch  ist  er  in  den  Stand  gesetzt  worden,  nicht  Weniges  aut- 
znklären  über  die  verschiedenen  Gagenstände  der  Pflanzen-  und 
Thierwelt,  welche  hier  zu  Bereitung  einzelner  Speisen  und  Gerichte 


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Cor  escn:  Nachträge  zur  l&tein.  Formenlehre.  2ö3 

aogewendet  werden,  und  damit  auch  das  ganze  Recept  verständ- 
lich zu  machen. 

Die  äussere  Ausstattung,  die  dem  Büchlein  zu  Theil  geworden, 
ist  eine  sehr  nette  und  ansprechende ;  durch  die  fortlaufenden  Para- 
graphen wird  der  Gebrauch  und  die  Benützung  erleichtert,  die 
wir  Jedem  empfehlen,  der  zu  irgend  einem  Zwecke  dieser  zur  Kennt- 
nis des  alten  römischen  Privatlebens  so  wichtigen  Schrift  sich 
mwendet;  und  vielleicht  gelingt  es  jotzt  besser  als  früher,  nach 
den  hier  gegebenen  Recepten ,  Gerichte  zu  fertigen  und  Diner's  zu 
veranstalten,  die  vielleicht  dann  eher,  als  die  früher  angestellten 
Versuche  der  Art,  dem  Gaumen  der  modernen  Welt  zusagen. 

Chr.  Hahr. 


Kritische  Nachträgt  sur  Lateinischen  Formenlehre  von  W.  Cor  ssen. 
Leipzig,  Druck  und  Verlag  von  B.  0.  Teubner,  1866.  314  8. 
in  gr.  tf. 

Wir  haben  in  diesen  Jahrbüchern  (Jhrgg.  1865.  Nr.  5  S.  65  ft.) 
der  »Kritischen  Beiträge  zur  lateinischen  Formenlehre  €  gedacht 
and  werden  daher  auch  der  jetzt  erschienenen  Nachträge  dazu  um 
so  mehr  zu  gedenken  haben,  als  sie  zur  Vervollständigung  der  in 
jener  Schrift  vorgetragenen  Lehre  nicht  Weniges  beitragen  und  die 
Grnndanschauung  des  Verfassers  noch  mehr  in  Licht  setzen,  ins- 
besondere auch  durch  das  Vorwort,  das  zugleich  die  Aufschrift 
führt:  Abwehr,  in  so  fern  dasselbe  gewissermassen  eine  Verthei- 
digung  oder  Rechtfertigung  der  in  jenem  früheren  Werke  ausge- 
sprochenen, und  nach  unserer  Ueberzeugung  auch  wohl  begründeten 
Lehre  wider  die  dagegen  erhobenen  Angriffe  enthält.  Wir  haben 
die  Teodonz  dieses  Werkes,  so  wie  den  Zweck,  den  der  Verf.  mit 
der  ganzen  Ausführung  verband,  seiner  Zeit  an  dem  a.  a.  0.  her- 
vorgehoben, und  dem  Bestreben  des  Verfassers:  »der  lateinischen 
Sprache  ihren  besonderen  Entwicklungsgang  zu  wahren,  ihre  eigen- 
tümliche Ausprägung  in  Lautgestaltung,  Wortbildung  und  Wort- 
Wagung  sorgsam  zu  beobachten,  soweit  diess  auf  dem  Grunde  der 
grossen  Hauptergebnisse  der  vergleichenden  Sprachforschung  mög- 
lich ist«,  unsere  Anerkennung  nicht  versagen  können,  auch  sein 
ganzes  aus  der  mühevollsten  und  schwierigen  Detailforschung  her- 
vorgegangenes Verfahren  näher  und  im  Einzelnen  dargelegt.  Es 
*rar  diess  aber  zunächst  dahin  gerichtet,  die  Gränzen  der  mit 
Sicherheit  auf  dem  Gebiete  der  lateinischen  Sprache  erkennbaren 
Umwandlungen  und  Lautwechsel  festzustellen,  und  damit  zugleich 
einen  Damm  aufzurichten  gegen  das  Eindringen  willkührlicher  Be- 
hauptungen, welche,  indem  sie  Lauteigenthtimlichkeiten  der  einen 
Sprache  auf  die  andere  geradezu  übertragen,  die  Eigentümlichkeiten 
der  einzelnen  Sprachen  verwischen  und  durch  eine  solche  Ver- 
aengerei  nur  Verwirrung  jeder  Art  anrichten.    Der  Verf.  geht  in 


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254  Cor 8 Ben:  Nachträge  arar  latein.  Formenlehre. 


dem  Vorwort  näher  auf  die  wider  ihn  erhobenen  Vorwürfe  ein, 
namentlich  auf  den  wider  ihn  geltend  gemachten  Grundsatz,  dass 
die  Etymologie  der  Kernpunkt  aller  sprachlichen  Forschung  sei: 
er  zeigt  vielmehr  —  und  man  wird  diess  nur  billigen  können  -— 
wie  eine  strenge  Handhabung  der  Lautlehre  für  den  Sprachforscher 
unentbehrlich  ist,  die  Etymologie  aber  nicht  als  der  Kernpunkt 
aller  Sprachforschung  zu  betrachten  ist  und  daher  keineswegs  als 
das  einzige  Mittel  erscheint,  die  Lautlehre  zu  fördern,  sondern  nur 
als  eines  unter  mehreren,  und  auch  das  nur,  wenn  sie  mit  M  e  t  b  o  d  e 
und  Behutsamkeit  geübt  werde  (S.  16 f.).  So  wahr  und  rich- 
tig diess  ist,  wird  man  doch  leider  diese  Forderung  oftmals  wenig 
berücksichtigt  finden,  und  daraus  dann  auch  es  sich  zu  erklären 
haben,  warum  diese  ganze  Sprachforschung  vielfach  in  Misskredit 
gekommen  ist,  zumal  durch  das  oft  gar  nicht  motivirte  Heran- 
ziehen sanskritischer  und  anderer  Elemente  zur  Erklärung  der  in 
der  lateinischen  Sprache  hervortretenden  Erscheinungen.  Darum 
will  der  Verf.  nur  derjenigen  Sprachforschung  die  Zukunft  zuwei- 
sen, »welche  die  Laute  der  Sprachen  nicht  als  ein  winziges  Ge- 
sindel ansieht,  mit  dem  man  zur  Erzielung  etymologischer  Frucht- 
barkeit nach  Belieben  schalten  und  walten  könne,  sondern  als 
edle  Sprachwesen,  höchst  merkwürdige  Naturerzeugnisse,  geboren 
aus  Leib  und  Seele  des  Menschen,  die  der  Sprachforscher  mit  mikros- 
kopischer Genauigkeit  untersuchen  muss,  wie  Ehrenberg  das  unend- 
lich Kleine  in  der  Welt  der  sinnfälligen  Dinge  durchforscht  hat.« 
(S.  24). 

Demselben  Zweck,  den  die  »Kritischen  Beiträge«  zu  erreichen 
gesucht  hatten,  sollen  nun  auch  diese  Nachträge  dienen,  in  welchen 
unter  Anwendung  derselben  Methode  und  im  engen  Anschluss  an 
die  früher  gegebenen  Erörterungen  eine  Anzahl  von  Fragen  der 
lateinischen  Lautlehre  behandelt  wird,  insonderheit  sind  es  solche, 
die  seit  dem  Erscheinen  jenes  Werkes  wieder  besprochen  oder  auch 
zuerst  aufgeworfen  worden  sind;  »sie  suchen  also,  wie  der  Verf. 
ausdrücklich  bemerkt,  eigene  Ansichten  zu  begründen  oder  zu  be- 
richtigen, entgegengesetzte  zu  bekämpfen  und  Erweiterungen,  Nach- 
träge und  Zusätze  zu  früheren  Arbeiten  auf  diesem  Felde  zu  liefern.c 

Wir  haben  damit  die  Bestimmung  wie  die  Tendenz  des  Ganzen 
angegeben,  das  eben  so  gut  auch  als  eine  Fortsetzung  des  frühe- 
ren, gleichen  Zwecken  bestimmten  Werkes  angesehen  werden  kann 
und  daher  die  gleiche  Beachtung,  aber  auch  die  gleiche  Anerken- 
nung verdient.  Zuerst  werden  die  Gutturale  (c.  g.  h),  dann  die 
Dentale  (t.  d),  Labiale  (p.  b.  f.),  Nasale  (m.  n),  Liquide  (1),  Sibi- 
lanten (s),  nnd  zuletzt  die  Halbvokale  (j.  v)  behandelt.  Es  kann 
hier,  wo  wir  einen  kurzen  Bericht  über  diese  neue  Erscheinung 
vorzulegen  haben,  nicht  der  Ort  sein ,  näher  in  das  Einzelne  der 
hier  über  einzelne  Buchstaben  und  deren  Veränderung  gegebenen 
Erörterungen  uns  einzulassen;  Alle,  welch«  ein  näheres  Interesse 
an  dem  zur  richtigen  Erkenntnis*  der  lateinischen  Sprache  nnd 


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Cicero'a  Rede  gegen  Verres  IV.  Von  Kl  cht  er. 


260 


deren  Bildung  so  wichtigen  Gegenstande  nehmen,  werden,  ancb 
ohne  unsere  bestimmte  Aufforderung,  sich  mit  dem  Inhalt  dieser 
Forschuugon  und  den  Ergebnissen  derselben  bekannt  machen ;  nur 
möchten  wir  hier  noch  aufmerksam  machen  auf  Vieles,  was  weiter 
über  verwandte,  mit  dem  Hauptgegenstande  mehr  oder  minder  im 
Zusammenhang  stehende  Gegenstände  (wie  z.  B.,  um  nur  Eins  an- 
zuführen 8.  152  ff.  über  das  lateinische  Gerundium)  bemerkt  wird, 
oder  was  die  richtige  Ableitung  so  vieler  einzelnen  Worte  betrifft 
und  die  Beziehungen  zum  Umbrischen  oder  Oskischen  und  andern 
Dialekten  u.  dgl.  m.  Man  braucht  nur  einen  Blick  in  den  beige- 
fügten Index,  in  welchen  alle  einzelnen  Worte,  die  in  diesen  Nach- 
trägen behandelt  werden,  aufgenommen  sind,  zu  werfen,  um  sich 
?on  der  Fülle  der  hier  gegebenen  Erörterungen  zu  überzeugen,  die, 
da  Alles  auf  sicherm  Grund  und  Boden  ruht,  auch  in  ihren  Ergeb- 
nissen als  gesichert  zu  betrachten  sind.  —  Die  äussere  Ausstattung 
ist  eben  so  vorzüglich  ausgefallen,  wie  die  des  früheren  Werkes. 


Cicero'«  Rede  gegen  C.  V  er  res.  Viertes  Buch.  Für  den  Schul' 
gebrauch  herausgegeben  von  Fr.  Richter.  Leipzig,  Druck  und 
Verlag  von  B.  G.  Tcubner.  J866.  VI  und  142  8.  gr.  8. 

Diese  Ausgabe  einer  der  Verrinischen  Beden  schliesst  sich  in 
der  ganzen  Art  der  Behandlung  an  die  ähnlichen  Bearbeitungen 
der  Bede  für  ßoscius  und  der  Bede  für  Milo  an,  welche  seiner  Zeit 
in  diesen  Jahrbüchern  (1864  p.  476  ff.  830)  näher  angezeigt  wor- 
den sind.  Auch  diese  Bearbeitung  ist  für  die  Zwecke  der  Schule 
bestimmt,  wie  diess  der  Titel  besagt,  zunächst  für  die  Privatlektüre, 
dann  aber  auch  selbst  zum  Gebrauch  in  der  Klasse,  obwohl,  wie 
der  Herausgeber  sich  nicht  verhehlt,  manche  Einsprache  dagegen 
sich  erheben  werde,  indess  habe  er  doch  theils  von  Andern,  theils 
auch  durch  eigene  Erfahrung  belehrt,  eingesehen,  dass  auch  für 
den  letztern  Zweck  derartige  Ausgaben  zweckmässig  verwerthet 
werden  könnten.  Denn,  setzt  er  hinzu,  abusus  non  tollit  usum. 
Wir  gestehen,  dass  wir  uns  lieber  denen  anschliessen,  welche  eine 
Ausgabe,  die  so  wie  die  vorliegende  eingerichtet  ist,  für  die  Privat- 
lektüre mehr  geeignet  halten,  weil  wir  überzeugt  sind,  dass  sie 
jedenfalls  hier  mit  allem  Nutzen  und  Erfolg  gebraucht  werden 
kann,  ja  die  ganze  Anlage  derselben  auch  mehr  darauf  berechnet 
erscheint.  Denn  der  Herausgeber  hat  ganz  gut  für  diesen  Zweck 
gesorgt,  indem  er  eine  Einleitung  vorausgeschickt  hat,  in  welcher 
alle  die  historischen  Punkte,  die  zum  Verständniss  der  Bede  not- 
wendig sind,  in  ganz  befriedigender  Weise  klar  und  deutlich  ent- 
wickelt werden ;  er  hat  dann  weiter  dem  Texte  eine  Fülle  von  An- 
merkungen gegeben,  welche  eben  so  sehr  die  sachlichen  Punkte, 
die  einer  Erörterung  bedürfen ,  ins  Lioht  setzten ,  als  namentlich 


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250 


Clcero's  Rede  gegen  Verres  IV.  Von  Richter. 


das  Sprachliche  berücksichtigen  and  in  Erklärung  aller  irgend  be- 
merkenswerthen  grammatischen  Gegenstände,  Constructionen ,  so 
w  ie  einzelner  schwieriger  Ausdrücke  die  Auffassung  und  das  Ver- 
ständniss  erleichtern ,  hier  auch  wohl  —  nach  unserer  Ansicht 
wenigstens  weiter  geheu,  als  wir  in  einer  auch  für  die  Leetüre  in 
der  Schule  bestimmte  Ausgabe  erwartet  hätten.  So  scheint  es  in 
dieser  Beziehung  doch  zu  Viel,  wenn  z.  B.  bemerkt  wird  §.21 
»quod,  insofern«,  §.  25  »homini  der  Person«,  §.  26  »quo  ore  mit 
welcher  Stimme«,  §.  21  »integra  unberührt«,  §.  28  »nunc  nun 
aber«,  »a  ceteris  von  anderen«,  §.  33  »otiose  mit  Müsse«,  credo 
vermuthlich«,  §.  34  »conventu  Gesellschaft«,  §.  37  »quum  indem, 
dadurch  dass«,  §.48  »expers  unbetroffen«,  §.61  »sine  controversia 
unbestritten«,  §.  64  »vulgo  öffentlich«,  §.  103  »satis  ziemlich« 
mari  Meeresarm«,  §.  66  »mirum  sonderbar,  auffällig«  und  was  von 
dergleichen  Bemerkungen  mehr  sich  vorfindet,  was  wir  hier  nicht 
Alles  anführen  können.  Sonst  hat  man  alle  Ursache,  mit  den  ge- 
gebeneu auf  Sprachgebranch  oder  Grammatik  bezüglichen  Erörte- 
rungen zufrieden  zu  sein,  denn  sie  sind  klar  und  präcis  gefasst 
und  werden  dem,  welcher  diese  Rede  sich  zur  Privatlektüre  wählt, 
nicht  blos  das  Verständniss  und  die  richtige  Auffassung  erleichtern, 
sondern  ihn  überhaupt  in  der  Kenntniss  der  lateinischen  Sprache 
weiter  fördern.  Es  liest  sich  überhaupt  diese  Ciceronische  Rede 
recht  gut,  und  sie  erscheint  deshalb  für  die  Privatlektüre  fast 
geeigneter,  als  für  die  Schule  selbst.  Auf  die  Kritik  des  Textes 
konnte  der  Herausgeber  dem  Zwecke  seiner  Ausgabe  gemäss,  sich 
nicht  weiter  einlassen,  er  hat  darum  den  Text  der  Ausgabe  von 
Klotz  und  zwar  der  Opera  Ciceronis  in  der  zweiten  (Teubner'schen) 
Ausgabe,  zu  Grunde  gelegt  und  ist  so  wenig  wie  möglich  von  der- 
selben abgewichen ;  was  von  ihm  in  dieser  Beziehung  geschehen 
ist,  darüber  gibt  der  kritische  Anhang  am  Schlüsse  des  Ganzen 
(S.  137  —  142)  befriedigende  Auskunft,  indem  darin  alle  die  im 
Texte  vorgenommenen  Aenderungen  näher  besprochen  und  begrün- 
det werden.  Ein  näheres  Eingehen  in  diese  kritischen  Erörterungen 
liegt  ausserhalb  des  Zweckes  dieser  Anzeige,  wir  glauben  aber, 
dass  jeder  Herausgeber  des  Cicero  dieselben  zu  berücksichtigen 
hat,  und  wollen  deshalb  darauf  insbesondere  aufmerksam  machen. 


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6. 17.  HEIDELBERGER  1887. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


U  cerveau  ei  la  pensee  par  Paul  Jan  et,  membre  de  l'imtitut, 
professeur  de  philo  top  hie  ä  la  faculU  des  lettre».  Paris,  Ger- 
mer Baillitre.  1867.  179.  ö. 

Ein  für  die  französische  Philosophie  höchst  verdienstvolles 
Unternehmen  geht  vom  Verlage  Germer  Baillieres  in  Paris  aus. 
Wir  meinen  die  philosophische  Bibliothek  der  Gegenwart  (biblio- 
theque  de  philosophie  contemporaine).  Sie  umfasst  Forschungen 
aus  dem  Gebiete  nicht  nur  der  französischen ,  sondern  auch  der 
deutschen  und  englischen  Philosophie  und  von  entgegengesetzten 
Bichtungen.  Das  Sammelwerk  will  das  Exclusive  in  der  einseiti- 
gen Richtung  einer  philosophischen  Schule  vermeiden ,  und  wir 
finden  darum  in  ihm  nicht  minder  Schriften  von  Materialisten,  als 
Ton  den  Gegnern  derselben.  So  enthält  diese  Bibliothek  Moleschotts 
Kreislauf  des  Lebens,  übersetzt  von  Dr.  Gazelles  und  Büchners 
Wissenschaft  und  Natur,  übersetzt  von  August  Delondre  neben  den 
Schriften  des  oben  genannten  Herren  Verfassers,  der  sich  eine  vor- 
urteilslose kritische  Untersuchung  des  Materialismus  zu  einer 
Lebensaufgabe  gesetzt  hat. 

Von  dem  um  die  philosophischen  Wissenschaften  durch  eine 
Reihe  von  ausgezeichneten  Werken  hoch  verdienten  Herren  Ver- 
fasser erschien  ia  dieser  Bibliothek  im  Jahre  1864  der  Materialis- 
mus unserer  Zeit  in  Deutschland  (Le  matörialisme  contemporain 
en  AUemagne).  Von  demselben  Geiste  unbefangener  Prüfung,  wel- 
cher sich  in  diesem  Werke  zeigt,  ist  auch  das  oben  genannte  Buch 
getragen.  Es  ist  aus  zwei  in  dem  Juni-  und  Julihefte  (1865)  der 
revne  des  deux  mondes  erschienenen  Artikeln  hervorgegangen  und 
als  Ergänznng  der  Kritik  des  Materialismus  anzusehen.  Auch 
hier  werden  die  Gegner  desselben  ohne  Hass  oder  Eingenommen- 
heit behandelt,  während  sich  diese  für  eine  wahre  wissenschaftliche 
Forschung  wenig  geeigneten  Eigenschaften  nur  zu  häufig  bei  den 
Vertretern  des  Materialismus  ihren  Gegnern  gegenüber  geltend 
machen.  Man  beruft  sich  von  materialistischer  Seite  immer  wieder 
auf  die  Erfahrung  der  Abhängigkeit  des  Gedankens  vom  Gehirne. 
Der  Herr  Verf.  bemerkt  dagegen  in  der  Vorrede  zu  seinem  Buche : 
Das  Hirn  und  der  Gedanke,  dass  nach  dem  gegenwärtigen 
Standpunkte  der  Wissenschaft  nichts  weniger  erwiesen  ist,  als  die 
absolute  Abhängigkeit  des  Gedankens  vom  Gehirne.  »Was  wird  die 
Wissenschaft,  sagt  der  Herr  Verf.  S.  5,  später  über  diesen  Gegen- 
stand sagen?  Wir  wissen  nichts  über  ihn,  und  unsere  Enkel  wer- 
den auf  Thatsachen,  welche  sie  kennen ,  ihre  Schlüsse  bauen ,  wie 

LIX.  Jahrg.  4.  Heft.  17 


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258 


P.  Janet:  Le  cerveau  et  lapensee. 


auch  wir  nur  auf  die  uns  zu  Gebote  stehenden  Thatsachen  banen 
können.  Wir  können  dem  Materialismus  nach  dem  gegenwärtigen 
Stande  der  Wissenschaft  jene  Abhängigkeit ,  die  sein  einziger  Be- 
weisgrund ist,  nicht  als  einen  bewiesenen  Satz  zugestehen.  Man 
wird  uns  einwenden :  Ist  es  denn  wahr ,  dass  die  Wissenschaft 
über  diese  Wechselbeziehungen  des  Gehirnes  und  des  Gedankens 
nichts  festgestellt  hat?  Wer  kann  behaupten,  dass  das  Hirn  als 
Organ  des  Gedankens  nicht  erwiesen  ist?  Wenn  man  sich  auf  die 
Widersprüche  beruft,  welche  aus  den  wissenschaftlichen  Beobach- 
tungen hervorgehen,  so  sind  diese  lediglich  nach  den  Materialisten 
daraus  zu  erklären,  dass  man  einer  im  Gehirne  liegenden  Bedin- 
gung des  Gedankens  für  sich  allein,  getrennt  von  den  übrigen  Be- 
dingungen, das  den  Gedanken  bildende  Element  zuschreibt.  Nicht 
von  einer  ausschliesslichen  Bedingung,  sagen  die  Materialisten, 
hängt  der  Gedanke  ab,  nicht  allein  von  der  Hirnmasse,  der  Hirn- 
structur,  der  chemischen  Zusammensetzung,  nicht  allein  von  der 
Elektricität,  dem  Phosphor  u.  s.  w.,  sondern  von  der  Vereinigung 
aller  dieser  Bedingungen.  Er  ist  eine  Resultante.  Durch  die  An- 
nahme einer  einzelnen  Bedingung  verwickelt  man  sich  immer  in 
unauflösliche  Widersprüche.  Aber,  wenn  man  auch  diese  Einwen- 
dung der  Materialisten  zugibt,  wer  sagt  uns,  dass  nicht  eine  die- 
ser Bedingungen  die  Denkkraft  selbst  ist,  welche  wir  die  Seele 
nennen?  Kennt  man  denn  alle  Bedingungen  der  Seelenthätigkeit ? 
Da  man  nicht  alle  kennt,  kann  nicht  eine  ein  unsichtbares  Princip 
sein,  das  ausser  unserer  Berechnung  liegt?  Alle  tüchtigen  Beob- 
achter stimmen  darin  tiberoin,  dass  unter  den  physiologischen  Be- 
dingungen der  Seelenthätigkeit  auch  solche  sind,  welche  uns  ent- 
gehen und  sich  immer  etwas  Unbekanntes  findet.  Warum  kann 
dieses  Unbekannte  nicht  die  Seele  sein?<  Wenn  man  die  Seele  mit 
der  Musik  einer  Lyra  verglichen  hat,  welche,  so  schön  sie  ist,  mit 
dem  Instrumente  zu  Grunde  geht,  so  darf  man  nicht  vergessen, 
dass  die  Lyra  die  Töne  nicht  aus  sich  selbst  hervorbringt,  nicht 
durch  ihre  eigene  Kraft,  dass  sie  als  Werkzeug  zur  Hervorbringung 
des  Tones  den  Tonkünstler  voraussetzt.  Dem  Herren  Verfasser  ist 
die  Seele  dieser  Touktinstler.  und  das  Gehirn  das  Werkzeug  (S.  7). 
Wenn  sich  Broussart  über  den  »kleinen  Musikus  im  Gehirne c  lustig 
gemacht  hat,  ist  nicht  die  Annahme  eines  immer  von  selbst  spie- 
lenden Instrumentes  noch  sonderbarer?  Immerhin  bleibt  das  Ganze 
ein  Gleichniss,  aber  ein  für  das  Verhältniss  von  Seele  und  Hirn 
durchaus  zutreffendes  Gleichniss.  Aber  nicht  die  Beschaffenheit  des 
Instruments  allein  macht  den  Künstler.  Ein  Genie  kann  auch  mit 
einem  mittelmässigen  Instrumente  eine  wunderbare  Wirkung  her- 
vorbringen. Das  Genie  wird  nicht  allein  mit  dem  stofflichen  Werk- 
zeuge gemessen.  Der  Geist  ist  das  Unbekannte,  das  über  aller 
Berechnung  steht.  Auch  mit  der  Seele  und  dem  Gehirne  verhält 
es  sich  so.  Nicht  immer  findet  man  in  dem  letztern,  wenn  es 
auch  das  Werkzeug  des  Geistes  ist,  einen  ganz  genauen  Maassstab 


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P.  Jan  et:  Le  cerveau  et  la  pensee. 


109  Beurth eilung  des  innern,  in  ihm  thätigen  Künstlers.  »Paganini, 
sagt  der  Herr  Verf.,  konnte  an!  einer  einzigen  Violinsaite  Wick- 
lungen he  rvorb ringen,  die  der  gewöhnliche  Künstler  auf  einem  voll- 
ständigen Instrumente  vergebens  erstrebte«  (S.  9).  Immer  stossen 
die  Naturforscher  auf  Ausnahmen ,  wenn  sie  das  Verhältnis*  des 
Hirnes  und  Gedankens  strengen  Gesetzen  unterwerfen  wollen.  »Die 
innere,  verborgene,  ursprüngliche  Kraft  entgeht  ihnen  und  sie 
bleiben  bei  plumpen  und  unvollkommenen  Symbolen  stehen.« 

Nach  der  Vorrede,  in  weloher  der  Charakter  der  vorstehenden 
Untersuchung  angedeutet  ist,  folgt  die  Entwicklung  des  Aufgabe 
in  neun  Kapiteln.  Die  Ueberschriften  derselben  sind  1)  die  Arbei- 
ten der  Zeitgenossen  (S.  11 — 22),  2)  das  Gehirn  bei  den  Tbieren 
(&  22—44),  3)  das  menschliche  Hirn  (S.  44—67),  4)  die  Narr- 
heit und  die  Hirnverletzungen  (S.  67 — 84),  5)  das  Genie  und  die 
Narrheit  (S  84—110),  6)  die  einzelnen  Stellen  im  Gehirne  (S  110 
—131),  7)  die  Sprache  und  das  Hirn  (S.  iai— 148),  8)  dar  Hirn- 
mechanismus  (S.  14$ — 159)  ,  9)  Ist  der  Gedanke  seibat  eine  Be- 
wegung? (&  159—179). 

Man  sieht,  dass  in  diesen  Ueberschriften  die  zur  Bestimmung 
des  Seelen-  und  Hirnverh&ltnisses  wichtigsten  Aufgaben  angedeutet 
sind.  Ueberall  sind  die  Forschungen  der  neuesten,  vorzugsweise 
französischen  Naturforscher  zu  Grunde  gelegt  und  die  Untersuchung 
auf  dem  Gebiete,  auf  welchem  sie,  wenn  es  sich  um  den  angedeu- 
teten Zustand  handelt,  allein  geführt  werden  kann,  auf  dam  phy- 
siologischen Boden  geführt. 

Der  gelehrte  Herr  Verf.  geht  in  dem  ersten  Hauptstücke 
(Arbeiten  der  Zeitgenossen)  auf  den  Vorwurf  des  Mangels  an  Un- 
parteilichkeit ein,  welchen  die  Physiologen  den  Philosophen  in  Be- 
treff der  Seelenfrage  machen.  Man  wirft  den  Philosophen  vorge« 
fasste  Meinungen  vor,  metaphysische  Hypothesen,  Umänderung  der 
That sachen  nach  ihren  Stimmungen.  Mit  Recht  wird  hervorgehoben, 
dass  die  Materialisten  selbst  in  die  der  antimaterialistischen  An- 
sicht vorgeworfenen  Fehler  fallen ,  dass  sie  von  einer  vorgefassten 
Meinung  gegen  die  Existenz  der  Seele  ausgehen,  dass  sie  die  Er- 
fahrungen ihrer  Lieblingshypothese  anbequemen,  dass  sie  alles,  was 
sie  nicht  mit  Fingern  greifen  können,  sogleich  für  unwissenschaft- 
lich erklären  Mas  muss  auf  beiden  Seiten  in  der  Prüfung  von 
Tbatsachen  von  keinen  vorgefassten  Ansichten  ausgebn.  Der  Ma- 
ierialist, der  nur  an  die  Existenz  der  Materie  glaubt  ,  soll  nioht 
allein  das  Vorrecht  der  wissenschaftlichen  Wahrheit  für  sich  in 
Anspruch  nehmen  und  denjenigen  nicht  ins  Land  den  Einbildungen 
verweisen,  der  die  Wirklichkeit  des  Geistes  festhalt.  Man  kann 
die  Entscheidung  der  Seelenfrage  aufschieben,  aber  nioht  zu  Gun- 
sten des  einen  oder  andern  Theiles.  Das,  was  der  Materialismus 
als  Errungenschaft  der  Wissenschaft  aufstellt,  ist  noch  kein  von 
ihm  erobertes  Gebiet,  das  er  für  sich  allein  beanspruchen  kann. 
Die  Forschungen  und  Methoden  El  oujrens' ,  Leluts,  Longe  ts, 


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2C0  P.  J»net:  Le  cerveau  et  la  pensee. 

Leurets,  Gratiolets,  Brocas,  M.  Gh.  Darestos,  von  den 
Deutschen  M.  Ch.  Vogts  in  Genf,  in  der  für  die  Seelenfrage 
wichtigen  Lehre  von  den  Geisteskrankheiten  ausser  den  Werken 
Pinels,  Esquirols,  Georgets  die  Untersuchungen  von  Leu- 
ret, ßrierre  deBoismont,  Trelat,  Moreau  von  Tours, 
Castle  werden  in  dem  uns  vorliegenden  Buche  angeführt  und 
beurtheilt.  Diesen  werden  die  Werke  der  französischen  Philosophen 
Adolph  Garnier,  Albert  Lemoine  und  die  Arbeiten  der 
so  eilte*  modico-psycbologique  gegenübergestellt.  Als  das 
wichtigste  physiologische  Werk  wird  das  Buch  Claude  Ber- 
nard s  über  das  Nervensystem  bezeichnet.  »Dieser  grosse  Physio- 
loge, heisst  es  S.  20 ,  der  gegenwärtig  mit  so  vielem  Glaoze  die 
französische  Wissenschaft  vertritt,  der  mit  der  Gesundheit  des 
Denkens  eine  eben  so  grosse  Tiefe  verbindet,  ist  von  neuem  der 
Meister  und  Leiter  für  alle  diejenigen,  welche  in  die  Gänge  des 
dunkeln  Labyrinths  eindringen  wollen,  welche  man  das  Nerven- 
system nennt.  Er  hat  sich  mit  der  uns  vorliegenden  Frage  nicht 
besonders  beschäftigt.  Nach  seiner  Ansicht  ist  sie  nicht  reif  für 
die  Wissenschaft. €  »Aber  die  Philosophen,  fügt  der  Herr  Verf.  bei, 
haben  die  Schwäche,  sich  auch  mit  dunkeln  Fragen,  mit  Contro- 
versfragen,  zu  beschäftigen.«  Schon  der  Nachweis  der  Unerkenn- 
barkeit  des  Sitzes  und  der  organischen  Bedingungen  der  Intelligenz 
ist  ein  Gewinn  für  diejenigen,  welche  sich  mit  dem  Materialismus 
nicht  befreunden  können. 

Im  zweiten  Kapitel  wird  das  thierische  Gehirn  be- 
schrieben und  gezeigt,  wie  die  Intelligenz  des  Thieres  mit  dem 
Vorhandensein  und  der  Ausbildung  des  Gehirnes  zusammenhängt 
und  im  Allgemeinen  wohl  die  Gehirnausbildung  als  Maassstab  der 
thierischen  Intelligenzausbildung  gelten  kann,  dass  auch  die  Ver- 
gleichung  der  thierischen  Gehirne  diesen  Grundsatz  bestätigt.  Ganz 
anders  aber  verhält  es  sich  mit  diesem  Maassstab  des  Gehirnes  für 
die  Geistesausbildung,  wenn  man  nach  einzelnen  Bestimmungen 
forscht.  Das  Gewicht  des  Hirnes  ist  für  die  höhere  oder  geistige 
Thierthäligkeit  kein  befriedigender  Maassstab ,  weil  er  sich  nicht 
regelmässig  durchführen  lässt  Das  Hirn  des  Elephanten  ist  Smal 
schwerer,  als  das  menschliche.  Auch  das  Hirn  des  Wallfisches 
steht  in  dieser  Hinsicht  über  dem  menschlischen.  Nach  diesem 
Maassstabe  wäre  der  Hund  nicht  intelligenter,  als  das  Schaaf  und 
dümmer,  als  der  Ochse  (S.  29).  Aber  bei  dem  Gewichte  des  Ge- 
hirnes muss  man  auch  auf  dessen  Verhältniss  zum  ganzen  Körper- 
gewicht des  Thieres  Rücksicht  nehmen.  Es  handelt  sich  also  nicht 
um  das  absolut,  sondern  um  das  relativ  grössere  Gewicht.  Hier 
erscheint  das  Thier  als  das  intelligenteste,  bei  welchem  die  grösste 
Hirnmasse  im  Verhältniss  zur  ganzen  Körpermasse  vorhanden  ist. 
Allein  auch  hier  lässt  sich  eine  Regel  noch  weniger,  als  beim  ab- 
soluten Gewicht  durchführen.  Denn  nach  diesem  Maassstabe  würde 
der  Mensch  unter  mehreren  Affenarten  und  Singvögeln,  der  Hund 


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P.  Jan  et:  Le  cerveau  et  1*  pensee. 


261 


unter  der  Fiedermaas,  das  Pferd  unter  dem  Kaninchen  stehen 
(S.  32).  Man  vergleicht  auch  dio  Grösse  des  grossen  Gehirnes  mit 
der  des  kleinen  und  des  verlängerten  Markes.  Auch  hier  stösst 
man  auf  gleiche  Widersprüche.  Der  Mensch  würde  darnach  kaum 
Ober  dem  Fuchs,  der  Krähe,  dem  Eber,  dem  Pferd  oder  Hund,  auf 
der  Stufe  des  Ochsen  und  unter  dem  Sapajn  (eine  kleine  Affenart) 
stehen.  Man  denkt  sich  endlich  das  Verhältniss  des  Gehirnes  zum 
jranzen  Nervensystem.  Auch  dieses  lässt  sich  nicht  annehmen,  da 
die  Nerven  verschiedene  Bedeutung  für  das  Leben  und  verschiedene 
Grösse  und  Stellung  haben  und  diese  sich  im  Verhältniss  zum  Ge- 
hirne nicht  bestimmen  lassen,  da  die  einzelnen  Organe  nicht  überall 
gleich  sind.  Andere  halten  sich  darum  mehr  an  die  Gestalt,  den 
Typus  des  Gehirnes,  welche  eben  so  zu  unauflösbaren  Schwierig- 
keiten führt.  Die  Untersuchung  schliesst  S.  43  mit  dem  Resultate, 
dass  es  in  der  Bemessung  der  Intelligenz  nach  einzelnen,  regelrecht 
dnrchzufuhrenden  Bedingungen  keine  Thatsache  gibt,  welcher  man 
einen  entscheidenden  und  absoluten  Werth  beilegen  kann. 

Das  dritte  Kapitel  handelt  vom  menschlichen  Ge- 
hirne. Auch  hier  wird  die  Unsicherheit  in  der  Beurtheilung  der 
Intelligenz  durch  den  Maassstab  des  Gehirnes  nachgewiesen.  Be- 
sonders anziehend  ist  die  Untersuchung  der  Darwinschen  Hypo- 
these, welche,  wenn  es  auch  von  ihrem  Urheber  nicht  ausdrück- 
lich gesagt  worden  ist,  doch  durch  die  Consequenz  des  Princips 
den  Menschen  zum  vervollkommneten  Affen  macht.  Was  Darwin 
versteckt  andeutet,  haben  Lyell  und  Vogt  offen  bekannt.  Man 
richte  das  Affen-  und  Menschenhiro  anatomisch  zu  unterscheiden. 
Owen  io  England  fand  deutliche  Unterschiede,  welche  Gratiolet  in 
Krankreich  nicht  fand.  Dem  Herrn  Verf.  scheinen  jene  mehr  im 
Rechte  zu  sein,  welche  die  Aehnlichkeit  des  Affen-  und  Menschen- 
hirns vertheidigen,  als  die,  welche  darin  zwei  absolut  verschiedene 
Typen  erkennen  wollen  (S.  60).  Aber  da  bleibt  immer  die  schwer 
Hnfiuklärende  Frage:  Wie  können  zwei  so  ähnliche  Gehirne  so 
nngleiche  Geistesvermögen  haben?  Man  will  bald  mit  dem  Ge- 
wichte, bald  mit  der  Form,  bald  mit  dem  absoluten,  bald  mit  dem 
relativen  Gewicht  sich  aushelfen.  Aber  einzeln  lässt  sich  dieses, 
ohne  auf  Widersprüche  zu  stossen,  nicht  durchführen.  Man  will 
die  stufenweise  Entwicklung  in  den  Rassen  nachweisen  und  macht 
die  Negerrasse  zur  üebergangsstufe  vom  Affen  zum  höheren  mensch- 
liehen Typus.  Der  Unterschied  des  physischen  Charakters  in 
jedem  Menschheitsstamme  von  dem  geistigen  Typus  wird  entwickelt 
and  hervorgehoben,  dass,  um  über  den  wesentlich  niederen  Typus 
des  Negers  zu  urtheilen,  Civilisationsversuche  gemacht  werden 
mflssten ,  wie  sie  bis  jetzt  noch  nie  gemacht  worden  sind ,  dass, 
sobald  sich  einzelne  über  den  niederen  Typus  erheben,  dieser  nicht 
als  wesentliches  Unterscheidungsmerkmai  des  Geistigen  in  der 
Negerrasge  bestimmt  werden  kann.  »Vogt  sagt  uns,  heisst  es  S.  64, 
mit  einem  für  einen  Gelehrten  wenig  geziemenden  Tone  der  Ver- 


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P.  Janet:  Le  cerwn  et  fe  pensee. 


achtung:  »Das  Philosophenvolk,  das  nur  Affen  in  den  T hierbehaltern 
und  zoologischen  Gärten  gesehen  hat,  steigt  auf  das  grosse  Robb 
und  beruft  sich  auf  den  Geist,  die  Seele,  das  Gewissen,  die  Ver- 
nunft.« Ohne  auf  das  grosso  Ross  zu  steigen,  sagen  wir  Herrn 
Vogt:  Die  Negerrasse  hat  dem  Institut  Frankreichs  einen  Corre- 
spondenten  geliefert  (den  Geometer  Lislet  Geoffroy  von  Haiti). 
Kennen  Sie  Affen,  von  denen  man  das  sagen  kann«?  Der  Ab- 
schnitt über  das  menschliche  Gehirn  schliesst  mit  den  Worten : 
»Die  Hauptsache  liegt  in  dem  gemeinschaftlichen  Bande,  das  alle 
Zweige  der  Menschheit  umfasst,  in  dem  unermesslichen  Unterschiede 
zwischen  den  niedersten  Menschen  und  den  höchst  stehenden  Affen, 
einem  Unterschiede,  welcher  sieb  durchaus  nicht  aus  der  Verschie- 
denheit der  Gebirnbildung  erklären  lässt«  (S.  66). 

Im  vierten  Kapitel  (die  Narrheit  uud  dieGehirn- 
verletzungen),  werden  die  verschiedenen  Ursachen  hervorge- 
hoben ,  aus  welchen  die  Geisteskrankheit  entsteht.  Nicht  in  der 
Verletzung  des  Gehirns  oder  eines  bestimmten  Gehirnorgans,  nicht 
im  Gewichte  oder  der  Gestalt  des  Gehirnes,  oder  seiner  chemischen 
Zusammensetzung,  auch  nicht  in  irgend  einem  andern  körperlichen 
Organe,  auch  nicht  im  Körper  allein  ist  der  Grund  der  Geistes- 
krankheit abschliessend  zu  suchen.  Verschiedene  physische  und 
psychische  Momente  können  sie  veranlassen.  Auch  kann  man  nicht 
sagen,  ob  eine  gewisse  Missbildung  die  Ursache  oder  die  Folge 
der  Störung  ist,  da  sich  solche  Missbildungen  häufig  nur  in  den 
letzten  Stadien  des  gestörten  Seelenzustandes  zeigen.  Auch  im 
normalen  Znstande  rufen  physische  und  psychische  Momente  in  der 
Seele  Erregungen  hervor.  Die  physiologischen  Bedingungen  der 
Geistesstörung  sind  so  wenig  bekannt,  als  die  physischen  für  die 
Entstehung  des  Gedankens  und  die  Untersuchung  der  Bedingungen 
der  Geisteskrankheiten  löst  die  Aufgabe  einer  Nachweisung  der 
physischen  Bedingungen  dos  Gedankens  nicht  (S.  83  r. 

Im  fünften  Kapitel  kommen  das  Genie  und  die  Narr- 
heit zur  Sprache.  Hier  wird  die  Lehre  des  Moroau  von  Tours 
geprüft,  welcher  die  Narrheit  tind  das  Genie  auf  die  gleichen  or- 
ganischen Bedingungen  zurückführt  und  auf  die  Verwandtschaft 
und  Aehnlichkeit  der  Erscheinungen  im  Genie  und  der  Narrheit 
hinweist.  Nicht  im  Enthusiasmus,  in  der  Extravaganz  und  Maass- 
loBigkeit,  sondern  in  der  Ursprünglichkeit  schöpferischer  Denkkraft, 
im  Wesen  der  Vernunft  beruht  das  Genie.  Niemals  wird  man  die 
Geistesstörung  anf  solche  geistige  Vorzüge  zurückführen  können 
Der  Unterschied  der  Narrheit  und  des  Genies  ist  ein  wesentlicher, 
während  sich  gewiss  der  Unterschied  in  der  Gebirnbildung  nicht 
als  ein  wesentlicher,  ja  nicht  einmal  als  ein  irgendwie  aufiUlüger 
bei  anatomischen  Untersuchungen  oder  Betrachtungen  des  Scbädel- 
baues  herausstellt.  Die  pathologische  Anatomie  hat  keinen  Halt- 
punkt  zur  Aufklärung  der  Frage  nach  der  physiologischen  Iden- 
tität des  Genies  und  der  Narrheit.  Man  mttsste  also  zur  Analogie 


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P.  Janet:  Le  cerveau  etla  pensee. 


and  Biographie  seine  Zuflucht  nehmen.  Aber  weder  Analogie  noch 
Biographie  lassen  eine  Identität  des  genialen  und  verrückten  Zu- 
standes  zu. 

Das  sechste  Kapitel  (die  Gehirnbegrenzungen  in 
bestimmten  Stellen  (les  localisations  cerebrales)  giebt  dem 
Herrn  Verf.  Veranlassung  zur  Prüfung  der  phrenologischen,  mit  Dr. 
Call  beginnenden  Lehre.  Scharfsinnige  Gründe  werden  in  dem- 
selben gegen  die  Haltbarkeit  der  in  der  Neuzeit  vervollkommneten 
phrenologischen  Lehrsätze  aufgestellt  und  als  Fehler  die  rohe  em- 
pirische Methode  (S.  117  u.  118),  die  Vermischung  der  Gehirn- 
organenlehre,  welche  die  Geistesvermögen  in  bestimmten  einzelnen 
Gehirn theilen  nachweisen  will,  und  der  Schädellehre  im  engern 
Sinne,  welcbe  aus  den  Erhabenheiten  und  Vertiefungen  der  äussern 
Scbädelplatte  auf  die  Beschaffenheit  der  Hirnorgane  und  der  ihnen 
entsprechen  sollenden  Geistesvermögen  schliesst  und  mit  dem  Kri-* 
terium  der  äussern  Scbädelplatte  den  anatomischen  Erfahrungen 
widerspricht,  die  Unhaltbarkeit  und  der  Widerspruch  in  dem  bis- 
herigen Nacbweise  bestimmter  Hirntheile  als  der  Sitze  bestimmter  Gei- 
stesvermögen und  der  Widerspruch  dieser  Annahme  mit  den  durch 
die  Erfahrung  selbst  gewonnenen  Thatsachen  angedeutet.  Immer- 
hin aber  betrachtet  der  Herr  Verf.  dieses  als  feststehend,  dass  das 
Hirn  ein  zusammengesetztes  Organ  ist,  in  welchem  die  einzelnen 
Theile  eine  besondere  Rolle  spielen,  über  welche  der  Erfahrung, 
bestimmte  untrügliche  Resultate  zu  geben,  viele  Schwierigkeiten 
im  Wege  stehen.  Das  verlängerte  Mark  scheint  das  Princip  der 
Athmnngsbewegungen  zu  enthalten.  Das  kleine  Gehirn  ist  nach 
Floarens  das  Organ  des  Gleichgewichts,  der  Harmonie,  der  Ord- 
nung der  Bewegungen.  Die  Vierhügel  haben  eine  grosse  Bedeu- 
tung für  das  Sehen  und  ihre  Entfernung  hat  Blindheit  zur  Folge. 
Auch  für  die  Sprache  nimmt  man  einen  besonderen  Sitz  im  Ge- 
hirne an. 

Der  Zusammenhang  des  Hirnes  mit  der  Sprache  wird  im 
siebenten  Kapitel  untersucht.  Auch  hier,  wie  in  der  Unter- 
teilung einzelner  bestimmter  Hirntheile,  als  Organe  einzelner  Gei- 
stesvermögen, wird  das  Resultat  einer  in  die  neuesten  Theorien 
eingehenden  Prüfung  S.  147  dahin  bezeichnet:  »Wenn  es  auch 
billig  ist,  anzuerkennen,  dass  die  Lehre  von  den  einzelnen  Gehirn- 
zellen für  bestimmte  einzelne  Geistesanlagen  noch  nicht  das  letzte 
Wort  sprach,  so  ist  uns  doch  auch  die  Behauptung  gestattet,  dass 
^ie  noch  kein  demonstrirendes,  zu  wissenschaftlichen  Schlüssen  be- 
rechtigendes Resultat  gewonnen  hat.  Man  konnte  wohl  der  Be- 
wegung, der  Empfindungsfähigkeit,  der  Inlelligenz  verschiedene  Sitze 
im  Gehirne  anweisen;  aber  es  ist  nicht  gelungen,  die  Intelligenz 
selbst  und  die  übrigen  Vermögen  ganz  getrennt  auseinander  zu 
halten.  Die  Frage  bleibt  immer  noch  offen,  oder,  um  uns  besser 
auszudrücken,  die  Einheit  des  Gehirns,  als  des  Organes  der  Intel- 
ligenz und  des  Gefühles,  kann  vielleicht  als  die  wahrscheinlichste 


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264 


P.  J*net:  Lc  cerveau  et  la  pen§e>. 


Thatsache  auf  dem  gegenwärtigen  Standpunkte  der  Wissenschaft 
angesehen  werden. 

Das  achte  Kapitel  handelt,  von  der  Mechanik  des  Ge- 
hirnes. Die  Ansicht  von  der  mechanischen  Thätigkeit  des  Ge- 
hirnes soll  auch  einen  Mechanismus  der  Geistesthätigkeit  begrün- 
den. Aber  gerade  hier  zeigt  sich  der  grosse  Unterschied  zwischen 
Hirn  und  Gedanke.  Man  kann  das  Geistesleben  nicht  auf  dem 
physiologischen  Wege  erklaren.  Gesetzt  auch ,  dass  man  dieses 
durch  im  Hirn  zurückbleibende  Spuren  bei  dem  Gedächtniss  könnte, 
so  würde  dieses  immer  noch  nicht  auf  die  Intelligenz  angewendet 
werden  können.  Zwischen  dem  Gedächtnisse  und  der  Intelligenz 
ist  ein  grosser  Unterschied.  Der  Mechanismus  des  -Gedächtnisses 
kann  uns  die  wissenschaftliche  Erfindung,  die  Schöpfungen  des 
Dichters  und  Künstlers,  die  Selbstständigkeit  des  Genies,  den  eigent- 
lichen Gedanken  nicht  erklären  (S.  157).  Unsere  Unwissenheit  in 
Beziehung  auf  die  einzelnen  Hirnfunctionen  gibt  die  Physiologie 
selbst  zu.  Der  berühmte  Cuvier  sagt:  »Die  Verrichtungen  des  Ge- 
hirnes setzen  eine  für  immer  unbegreifliche  Wechselwirkung  zwi- 
schen der  tbeilbaren  Materie  und  dem  untheilbaren  Ich  voraus,  ein 
unausfüllbarer  Sprung  im  Systeme  unserer  Ideen,  ein  ewiger  Stein 
*des  Anstosses  für  alle  Systeme  der  Philosophie.  Wir  begreifen 
nicht  nur  nicht  und  werden  nie  begreifen ,  wie  einige  unserm  Ge- 
hirn eingedrückte  Spuren  von  unserm  Geiste  wahrgenommen  werden 
oder  in  ihm  Bilder  hervorbringen  können,  sondern,  so  genau  auch 
unsere  Untersuchungen  sein  mögen,  stellen  sich  diese  Spuren  auf  keine 
Art  unsern  Augen  dar  und  wir  sind  in  gänzlicher  Unkenntniss  ihrer 
Natur.«  In  gleicher  Weise  spricht  sich  auch  der  deutsche  Physio- 
log  Müller  aus  (S.  158  u.  159).  Der  Herr  Verf.  schliesst  seine 
Untersuchung  mit  den  Worten:  »Ich  glaube  nicht,  dass  der  Schluss 
zu  kühn  ist,  dass  wir  nichts,  durchaus  nichts  von  den  Thätigkeiten 
des  Gehirnes,  von  den  Erscheinungen  wissen,  deren  Schauplatz  das 
Hirn  ist,  wenn  der  Gedanke  im  Geiste  entsteht.  Noch  weniger 
wissen  wir,  welchem  besonderen  Znstande  des  Gehirnes  irgend  ein 
besonderer  Zustand  des  Geistes  entspricht.  Welch  ein  Unterschied 
ist  zwischen  einer  Erinnerung  und  einem  Bilde,  zwischen  der  Hoff- 
nung und  dem  Verlangen,  zwischen  der  Liebe  und  dem  Hasse,  dem 
Egoismus  und  der  Uneigennützigkeit  ?  Die  Physiologie  hat  keine 
Antworten  auf  diese  Fragen,  und,  ohne  der  Zukunft  vorgreifen  zu 
wollen,  darf  man  wohl  den  Glauben  aussprechen ,  dass  sie  noch 
lange  zum  gleichen  Stillschweigen  verdammt  sein  wird«  (S.  159 
und  160). 

Das  neunte  Kapitel  wirft  endlich  die  Frage  auf:  Ist  der 
Gedanke  selbst  eine  Bewegung?  Immerhin  sind  Bewegungen 
des  Gehirnes  und  Gedanken  nur  Wechselwirkungen.  Sie  sind  nicht 
auf  einander  zurückzuführen ,  nicht  mit  einander  zu  vergleichen. 
Der  Gedanke  ist  an  eine  Bewegung  gebunden ;  aber  man  kann 
deshalb  doch  nicht  sagen,  dass  der  Gedanke  eiue  Bewegung  sei. 


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P.  Jan  et:  Le  cerveau  et  lapensee. 


265 


Diese  Formel  ist  in  einigen  Schulen  volksthümlich  geworden  und 
doch  ist  die  Bewegung  eben  eine  Bewegung,  und  der  Gedanke  ein 
Gedanke.  Das  Eine  ist  nicht  das  Andere.  Die  Bewegung  ist  Etwas 
Aensseres,  Objectives,  die  Modifikation  eines  ausgedehnten,  gestal- 
teten, räumlichen  Dinges.  Den  Gedanken  kann  ich  unmöglich  als 
ein  Aeusseres  denken ;  er  ist  wesentlich  ein  innerer  Zustand.  Das 
Bewusstsein  findet  im  Ich  weder  Gestalt  noch  Bewegung  und  auch 
die  Sinne,  welche  uns  Gestalt  und  Bewegung  darstellen,  können 
den  Gedanken  nicht  erfassen.  Eine  Bewegung  kann  gerad-  oder 
kreis-  oder  spiralförmig  sein.  Was  ist  ein  spiraler,  kreisförmiger, 
gerader  Gedanke?  Der  Gedanke  ist  klar  oder  dunkel,  wahr  oder 
falsch.  Was  soll  eine  klare  oder  dunkle,  wahre  oder  falsche  Be- 
wegung bedeuten?  In  einer  denkenden  Bewegung  liegt  ein  Wider- 
spruch. Man  muss  Moleschotts  Satz :  Der  Gedanke  ist  eine  Be- 
wegung umkehren  und  kann  mit  grösserem  Rechte  sagen :  Die  Be- 
wegung ist  ein  Gedanke.  Man  muss  nicht  den  Gedanken  durch 
die  Mechanik,  sondern  die  Mechanik  durch  den  Gedanken  erklären. 
Wenn  auch  die  Bewegung  mehr  als  ein  Gedanke  ist,  so  hat  doch 
eine  solche  Behauptung  einen  Sinn.  Man  beruft  sich  für  den  Satz : 
Der  Gedanke  ist  eine  Bewegung  auf  zwei  Entdeckungen  der  Wissen- 
schaft, dass  sich  die  Aetherschwingungen  in  Licht,  die  Warme  in 
Bewegung  und  die  Bewegung  in  Wärme  verwandeln  (S.  163).  Die 
gleiche  Kraft,  sagt  man,  kann  sich  unter  zwei  verschiedenen  Ge- 
stalten offenbaren  und  danu  ist  kein  Widerspruch  vorhanden,  wenn 
*icb  die  Gehimbewegungen  in  Gedanken  umgestalten.  Aber  die 
Schwingungen  des  Aethers  wirken  auf's  Auge  und  durch  den  Seh- 
nerv rufen  sie  eine  unbekannte  Thätigkeit  hervor,  in  Folge  deren 
die  Empfindung  des  Lichtes  entsteht.  Zu  dem,  was  wir  Licht 
nennen,  gehört  nothwendig  das  Zusammentreffen  eines  empfindbaren 
Objectes  uud  eines  empfindenden  Subjectes.  Vor  dem  ersten  sehen- 
den Thiere  gab  es  kein  Licht,  und  erst  da  konnte  man  sagen,  dass 
das  Licht  wurde  (8  165).  So  ist  dieses  empfundene  Licht  allein 
subjectiv;  es  existirt  nur  durch  das  empfindende  Snbject  und  in 
ihm.  Es  ist  schon  eine  bewusste  Empfindung  und  auf  einer  ge- 
wissen Stufe  ein  Gedanke.  Dass  die  subjective  Lichtempfindung 
eine  Gehirnerscheinung  ist,  steht  noch  immer  in  Frage.  Das,  was 
im  Gehirne  dabei  vorgeht,  kann  den  äussern  Aetherschwingungen 
entsprechen,  aber  dieser  Vorgang  ist  noch  nicht  das  Licht.  Wie 
dieser  Uebergang  vom  Vorgang  im  Hirne  zur  Lichtempfindung  statt- 
findet, wissen  wir  nicht.  Das  Licht  wird  erst  mit  der  Erscheinung 
des  Ichs;  denn  mit  ihm  wird  die  bewusste  Empfindung  (S.  166). 
Auch  bei  der  wechselseitigen  Umwandlung  der  Bewegung  und  Wärme 
verhält  es  sich  so:  Immer  bleibt  das  Aeussere  und  Innere,  das 
Objective  und  Subjective  unterschieden ,  und  man  verwechselt  den 
Gegenstand  mit  der  bewussten  Empfindung  desselben. 

Diejenigen,  welche  eine  denkende  Materie  annehmen,  gerathen 
auf  denselben  Stein  des  Anstosses,  wie  die  Spiritualisten ;  denn  sie 


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P.  Janet:  Le  cerveau  et  la  penaee. 


müssen  ganz,  wie  diese,  den  Uebergang  vom  Materiellen  znm  Im- 
materiellen, von  der  Ausdehnung  zum  Gedanken  erklären.  Indem 
der  Spiritualismus  Geist  und  Materie  vollkommen  trennt,  hat  er 
die  Schwierigkeit  zu  lösen,  wie  der  Körper  auf  den  Geist  und  die- 
ser auf  jenen  wirken  könne.  Aber  die  Gegner  des  Spiritualismus 
haben  eine  noch  viel  schwierigere  Frage  zu  beantworten,  wie  der 
Körper  Geist  werde.  Mag  man,  wie  man  will,  den  Gedanken  er- 
klären, er  ist  eine  geistige,  unter  keiner  sinnlichen  Gestalt  vor- 
stellbare Erscheiuuug.  Ein  denkender  Körper  ist  ein  sich  in  Geist 
umwandelnder  Körper.  Man  will  sich  damit  helfen,  dass  man  das 
Was  und  das  Wie  unterscheidet.  Aber  es  handelt  sich  ja  nicht 
um  die  Frage,  wie  man  denkt,  sondern  darum,  was  das  ist,  wel- 
ches denkt.  Wir  wissen  das  Wie  des  Gedankens  nicht,  aber  wir 
wissen  gewiss,  dass  zwischen  dem  Gedanken  und  seinem  Subject 
kein  Widerspruch  stattfinden  kann.  Der  Gedanke  hat  zum  Grund- 
charakter die  Einheit  und  kann  darum  nicht  das  Attribut  eines 
zusammengesetzten  Subjectes  sein,  so  wenig  ein  Cirkel  ein  Viereck 
ist.  Wir  wollen  von  den  Materialisten  nicht  wissen,  wie  das  Hirn 
denkt;  denn  wir  können  auch  nicht  erklären,  wie  die  Seele  denkt. 
Aber,  da  die  Einheit  des  Gedankens  mit  der  Annahme  eines  orga- 
nischen Substrates  unvereinbar  ist,  sagen  wir,  dass  er  das  Attribut 
eines  nicht  organischen  Subjectes  sei,  dessen  wesentlicher  Charakter 
die  Einheit  ist  (S.  170).  Man  kann  mit  geringerer  Schwierigkeit  be- 
greifen, dass  ein  wesentlich  einheitliches  Subject  ein  Bewusstsein 
von  seiner  Einheit  hat.  Es  ist  die  Natur  des  einheitlichen  Sub- 
jectes zu  denken,  ohne  dass  man  das  Wie  erklären  kann.  Wie 
kann  aber,  wendet  man  ein,  ein  nicht  ausgedehntes  Wesen  die 
Ausdehnung  denken?  Wenn  die  Seele,  wird  S.  172  weiter  ent- 
wickelt, ausgedehnt  und  zusammengesetzt  wäre,  dann  wäre  die 
Wahrnehmung  der  Ausdehnung  unmöglich.  Die  Wahrnehmung  der 
Ausdehnung  ist  nicht  ausgedehnt.  Die  Wahrnehmung  des  Vierecks 
ist  kein  Viereck,  noch  die  eines  Dreiecks  ein  Dreieck.  So  bald  die 
Vorstellung  der  Ausdehnung  selbst  ausgedehnt  ist,  fällt  sie  ins  Ge- 
biet dos  Objectiven,  und  ist  nicht  mehr  Wahrnehmung.  Das  Bild 
auf  der  Netzbaut  ist  auch  in  seiner  grössten  Kleinheit  keine  Wahr- 
nehmung, so  lange  die  Ausdehnung  nicht  verschwunden  ist.  Die 
Ausdehnung  ist  nur  Object  und  nicht  Subject.  Die  Wahrnehmung 
»setzt  ein  einfaches  Subject  und  ein  zusammengesetztes  Object 
voraus.«  Wenn  aber  der  Gedanke,  wendet  man  ein,  sein  Princip 
ausser  der  Materie  hat,  warum  hat  er  zu  seinem  Entstehen  und 
Entwickeln  unbedingt  die  Materie  nöthig?  Allerdings  giebt  es 
keinen  denkenden  Geist  ohne  Werkzeug,  keine  Seele  ohne  Stoff. 
Nur  der  »traurigste  Aberglaube«  vermeint,  in  dieser  Welt  mit  sol- 
chen Geistern  zu  verkehren  (S.  179).  Um  auf  äussere  Dinge  zu 
wirken,  muss  man  Werkzeuge  haben,  selbst  zum  äussern  Ausdruck 
des  Gedankens.  Aber  der  Gedanke  ist  eine  innere  Thätigkeit,  die 
nicht  Aeusseres  nothwendig  zu  haben  scheint.    Begreift  man,  dass 


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P.  Jsnet:  Le  cervemu  et  la  pensee.  »7 

man  mit  Etwas  denken  kann,  was  nioht  wir  selbst  sind?  Das 
Denkende ,  sagt  man ,  nnd  das ,  womit  es  denkt ,  muss  Ein  nnd 
Dasselbe  sein.  Entweder  kann  das  Hirn  nicht  znm  Denken  dienen, 
oder  es  ist  selbst  ein  Denkendes.  Man  kann  ein  Instrument  einer 
Tätigkeit,  aber  nicht  ein  Instrument  des  Gedankens  begreifen. 
Aber,  wenn  dieses  so  wäre,  wie  könnte  dieser  reine  Gedanke  von 
einem  Wellenschlage  des  Blutes  oder  von  einem  Falle  abhängen? 
Immerhin  muss  man,  selbst,  wenn  man  angeborene  Ideen  annähme 
oder  mit  Kant  ursprüngliche  subjective  Stammformen  des  Denkens, 
zugeben,  dass  ein  grosser  Theil  unserer  Ideen  durch  eine  äussere 
Einwirkung  entsteht.  Die  äussere  Welt  muss  auf  die  Seele  wirken, 
damit  sie  denke  (S.  176).  Eine  Vermittlung  zwischen  der  äussern 
Welt  und  der  Seele  ist  nothwendig.    Diese  Vermittlung  ist  das 
Nervensystem,  und  da  alle  Empfindungen ,  die  uns  auf  verschiede- 
nen Wegen  zukommen,  sich  zur  Ermöglichung  des  Gedankens  ver- 
einigen müssen ,  so  ist  ein  Mittelpunkt  des  Nervensystems ,  das 
Gehirn,  nothwendig.    Es  ist  der  Mittelpunkt  für  die  Wirkungen 
der  äussern  Dinge  auf  die  Seele  und  dieser  auf  jene.  Die  Gesetze 
der  empirischen  und  sensualistiscben  Schule  bleiben  im  Allgemei- 
nen wahr,  dass  die  Seele  nicht  ohne  Bilder  oder  Zeichen  denkt. 
Die  Bilder  oder  Zeichen  sind  die  Bedingungen  für  die  wirkliche 
Seelenth&tigkeit.    Die  Wirkungen  der  äussern  Dinge  auf  das  Ge- 
hirn müssen  in  diesem  auf  irgend  eine  Weise  aufbewahrt  werden, 
um  in  der  Seele  empfindbare  Bilder  zu  erwecken,  ohne  welche  der 
Gedanke  unmöglich  ist.    Daraus  folgt,  dass  das  Hirn  das  Organ 
der  Einbildungskraft  nnd  des  Gedächtnisses  ist,  welche  unerläss- 
liche  Htilfsmittel  für  die  Intelligenz  sind.  Der  Mensch  kann  darum 
in  dem  wirklichen  Zustande,  in  welchem  er  sich  befindet,  nicht 
ohne  Hirn  denken.  Der  Gedanke  geht  hervor  aus  dem  Zusammen- 
treffen der  Kräfte  des  Gehirnes,  welche  die  äussern  Einwirkungen 
festhalten,  und  der  innerrt  oder  Denkkraft,   dem  Einheitsprincip, 
dem  einzig  möglichen  Mittelpunkt  des  Einzelbewusstseins.  In  die- 
sem Sinne  kann  man  den  Gedanken  eine  Resultante  nennen ;  denn 
er  existirt  nur  unter  der  Bedingung,  dass  sich  das  Gehirnsystem 
in  einem  gewissen  Znstande  des  Gleichgewichts  und  der  Harmonie 
befindet.    Da  wirft  sich  von  selbst  die  Frage  auf  (S.  177),  was 
einst  aus  der  Seele  wird,  »wenn  der  Tod  nicht  nur  die  Organe 
des  vegetativen  Lebens,  sondern  auch  die  der  Beziehung  zu  andern 
Dingen,  der  Empfindungsföhigkeit,  des  Willens,  Gedächtnisses,  jene 
für  jedes  Bewusstsein  und  jeden  Godanken   unerlässiiehen  Bedin- 
gungen, auflöst.«  »Ohne  Zweifei,  sagt  der  Herr  Verf.  S.  178,  damit 
ist  die  Seele  selbst  noch  nicht  zerstört,  sie  behält,  immer  noch  die 
Kraft  oder  das  Vermögen  zu  deuken ;  aber  was  wird  aus  dem  Ein- 
zelgedanken, aus  dem  von  Bewusstsein  und  Erinnerung  begleiteten 
Gedanken,  aus  dem  Gedanken  des  Ichs,  der  allein  die  menschliche 
Persönlichkeit  ausmacht,  an  welchem  unser  Egoismus  haftet,  als 
wäre  das  Ich  das  einzige  Wesen,  an  dessen  Unsterblichkeit  uns 


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P.  Jan  et:  Le  cerveau  et  1*  penuee. 


liegt,  was  wird  aus  diesem  Wesen  in  dem  schrecklichen  und  ge- 
heim nissy  ollen  Augenblicke,  wo  es  scheint,  als  wenn  die  Seele, 
indem  sie  die  sie  an  ihre  Organe  fesselnden  Bande  zersprengt, 
auch  mit  diesem  Leben  brechen  und  auf  einmal  alle  Freuden  und 
Leiden,  Liebe  und  Hass,  Irrthum  und  Erinnerung,  mit  einem  Worte 
ihre  ganze  Individualität  ablegen  wollte?  Die  Wissenschaft,  sagen 
wir  es  immerhin,  kennt  für  diese  Zweifel  und  Fragen  keine  Ant- 
wort. Hier  beginnt  der  Stützpunkt  des  Glaubens ;  denn  der  Mensch 
will  nicht  ganz  sterben;  wenig  liegt  ihm  daran,  dass  sein  meta- 
physisches Wesen  fortexistirt ,  wenn  er  nicht  fortlebt,  mit  seiner 
Existenz,  seiner  Erinnerung  und  Liebe.  Sagen  wir  wenigstens  die- 
ses, dass,  wenn  die  Beschlüsse  der  göttlichen  Gerechtigkeit  die 
persönliche  Unsterblichkeit  der  Seele  fordern,  eine  solche  Fortdauer 
keinen  Widerspruch  in  sich  schliesst,  wenn  wir  uns  auch  keine 
Vorstellung  von  den  Bedingungen  machen  können,  unter  denen  sie 
möglich  sein  würde.  Der  Embryo  im  Schoosse  der  Mutter  weiss 
von  den  Bedingungen  der  Existenz  nichts,  unter  denen  er  einst 
geboren  wird  und  er  könute  glauben,  dass  seine  Geburtsstunde  für 
ihn  die  Todesstunde  ist.  Vielleicht  ist  für  uns  der  Tod  nur  eine 
Geburt,  und  violleicht  ist  das,  was  wir  für  eine  Vernichtung  des 
Gedankens  halten,  die  Befreiung  des  Gedankens  von  seinen  Fesseln. 
So  ungeheuer  auch  das  Gebiet  der  Wissenschaft  ist,  so  kann  sie 
doch  sich  die  Behauptung  nicht  anmaassen,  sie  habe  den  Abgrund 
der  Möglichkeit  ergründet  und  die  Grenzen  derselben  erreicht.  Das 
Seiende  ist  nicht  das  Maass  für  das  Seinkönnende.  Hier  kommt 
die  Moral  der  Metaphysik  zu  Hülfe.  Was  diese  einfach  für  mög- 
lich erklärt,  bestimmt  jene  als  nothwendig.« 

Der  gelehrte  Herr  Verf.  bat  den  Unterschied  des  Gedankens 
und  des  Hirnes,  aber  auch  die  Zusammengehörigkeit  beider  zum 
Acte  des  Denkens  in  dieser  Wirklichkeit  erwiesen.  Alles  Andere 
gehört  ins  Gebiet  des  Glaubens,  der,  auf  moralische  und  metaphy- 
sische Grundlage  gestützt,  als  Vernunftglaube  von  der  Wissenschaft, 
wie  von  dem  Aberglauben,  wohl  unterschieden  werden  muss.  Shake- 
speare nennt  das  Hirn  die  Mutter,  den  Geist  den  Vater  in  der 
geistigen  Thäügkeit,  die  Gedanken  die  Kinder  dieser  Eltern. 

v.  Reichlin-Meldegg. 


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Bar  ach:  Zur  Geschichte  des  Nominalismus. 


Zur  Geschichte  des  Nominalismus  vor  Roscellin,  Nach  bisher  unbe- 
nutzten handschriftlichen  Quellen  der  Wiener  kaiserlichen  Hof- 
bibliolhek  von  Dr.  C.  S,  Bar  ach,  Docent  der  Philosophie 
an  der  Wiener  Universität  Wien,  IS66,  Wilhelm  Braumüller, 
K.  K.  Hof-  und  Universitätsbuchhändler.  2ö  8.  ar.  8. 

Es  ist  durch  Prantrs  grosses  Werk  (Geschichte  der  Logik  im 
ibendlaude)  zur  Genüge  nachgewiesen ,  dass  die  Keime  za  den 
Gegensätzen  des  Realismus  und  Nominalismus,  wenn  auch  in  un- 
befangener Einheit  und  ohne  Bewusstsein  ihrer  später  entwickelten 
Parteistellung ,  in  der  Uebersetzung  der  Porphyr  ins' sehen  Schrift 
(Einleitung  zu  den  zehn  Kategorien  des  Aristoteles)  durch  Bo&tbius 
and  in  Johannes  Scotus  Erigena,  so  wie  in  dem  Oommentare  des 
Psendo-Hrabanus  Maurus  zur  Isagoge  des  Porpbyrius  liegen.  In 
der  Zeit  des  Mittelalters,  welche  auf  die  Werke  der  genannten 
Schriftsteller  folgte,  prägte  sich  bis  zur  Zeit  des  Roscellin  der 
Nominalismus  immer  schärfer  aus,  bis  er  endlich  durch  jenen  Den- 
ker, einen  entschieden  in  allen  Theilen  der  Seins  und  Erkonnt- 
oiaslehre  scharf  hervortretenden  Nominalisten,  und  den  Kampf 
mit  Anselm  von  Canterbury ,  dem  Realisten ,  eine  völlig  aua- 
gebildete Parteistellung  erhielt,  die  unter  verschiedenen  Formen 
bis  zum  Abschlüsse  des  Mittelalters  fortdauerte.  Johannes  Scotus 
Erigena  ist  noch  als  Ontolog  Realist,  als  Logiker  Nominalist,  ohne 
sieh  des  Gegensatzes  klar  bewusst  zu  sein.  Unter  den  vorroscel- 
linischen  Philosophen  des  Mittelalters  ist  es  besonders  Eric  (Heine, 
EricnB,  Heiricus)  von  Auxerre  (blühend  um  870  n.  Chr.),  welcher 
in  seinen  commentirenden  Glossen  zur  pseudoaugustinischen  Schrift : 
Categoriae  den  nominalistischen  Standpunkt  in  einem  erhöhten 
Grade  einnimmt.  So  heisst  es  in  dieser  Schrift  bei  Barth.  Haureau 
de  la  Philosophie  scolastique,  Paris.  1850,  vol.  II,  S.  141:  Sciendum 
antem,  quia  propria  nomina  primum  sunt  innumerabilia,  ad  quae 
cognoscenda  nullus  intellectus  seu  memoria  sufficit,  haec  ergo  omnia 
coartata  species  comprebendit  et  facit  primum  gradum,  qui  latissi- 
aiüfl  est,  scilicet  hominem,  equum,  leonem  et  species  hujuamodi 
omne8  continet;  sed  quia  haec  rursus  erant  innumerabilia  et  in- 
comprehensibilia,  alter  factus  est  gradus  angustior,  ita  constat  in 
genere,  quod  est  animal,  surculus  et  lapis ;  iterum  haec  genera,  in 
unum  coacta  nomen,  tertium  fecerunt  gradum  aretissimum  jam  et 
mgnstissimum  utpote  qui  uno  nomine  solummodo  constet,  quod 
ett  usia  (ovala).  So  wenig  die  allgemeinen  Begriffe  die  Dinge 
sind,  so  wenig  bezeichnen  die  Qualitäten  die  Dinge.  Ebend.  S.  139  : 
Si  quis  dixerit  album  et  nigrum  absolute  sine  propria  et  certa 
wbstantia,  in  qua  continetur,  per  hoc  non  poterit  certam  rem 
ostendere,  nisi  dicat  albus  homo  vel  equus  aut  niger. 

In  dem  von  der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften 
herausgegebenen  Katalog  der  lateinischen  Handschriften  der  kaiser- 
lichen Bibliothek  (Wien,  Carl  Gerold,  1864),  8.142  ist  eine  latei- 


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«70  B**ach:  Zur  Geschichte  dea  Nominaliamus. 

nisohe  Handschrift.,  Nr.  843  der  lateinischen  Handschriften,  36 
Seiten  in  4to  enthaltend  ,  beschrieben ,  welche  ans  dem  zehnten 
Ja  In  hundert  stammt,  die  Categoriae  decem  ex  Arietotele  decerptae 
des  Pseudo-Augustinus  mit  einer  commentirenden  Marginalglosse 
eines  anonymen  Verfassers.  Dem  Texte  geht  der  metrische  Prolog 
des  Alcuin  an  Karl  den  Grossen  (abgedruckt  in  Alcuins  Werken, 
Ratisb.  1777,  II,  S.  334)  voraus.  Der  Charakter  der  Marginal- 
glosse ist  nominalistisch  und  scheint,  da  sie  in  mehreren  Stellen 
mit  dem  Commentar  des  Heiric  gleich  lautet,  mit  letzterm  iden- 
tisch zu  sein.  Allein  die  wörtlich  in  Heiric  enthaltenen  Stellen 
sind  fast  sämmtlich  solche,  welche  Heiric  aus  Boethius  und 
Johannes  Scotns  Erigena  aufgenommen  hat,  und  der  Nominalismus 
ist  viel  ausgeprägter,  als  in  dem  Heiric'scben  Commentar.  Wenn 
die  Handschrift  nicht  von  dem  Heiric'scben  Commentare  stammt, 
so  gehört  sie  wohl  jedenfalls  seiner  Schule  an. 

Diese  handschriftliche  Quelle  wird  von  dem  gelehrten  Herren 
Verf.  in  der  vorliegenden  Schrift  nach  den  einzelnen,  den  Nomina- 
lismus betreffenden  Randglossen  zum  Erstenmale  mitgetheilt  und 
benutzt.  Die  Arten  und  Gattungen  werden  in  denselben  als  Be- 
griffe, als  Producte  des  Denkens  bezeichnet,  die  sich  in  immer 
höhern  Stufen  bis  zum  Begriff  des  Seins  erheben,  welches  ein  blos- 
ser Name  ist  (nomen  capacissimum  omnium  rerum,  S.  8).  Die 
Dinge  werden,  wie  es  in  dieser  handschriftlichen  Glosse  des  zehn- 
ten Jahrhunderts  heisst,  nur  gedacht,  begriffen  (faujusmodi  species 
oomprehenduntur) ;  das  Allgemeine  ist  Gedankending.  Die  Gattung 
ist  die  Zusammenfassung  vieler  Formen  durch  einen  Namen 
(genus  est  multarum  formarum  per  unum  nomen  complexio,  S.  9). 
Name  und  Substanz,  Denken  und  Sein  werden  unterschieden  (aliud 
est  ipsum  nomen,  aliud  substantia,  de  qua  dicitur,  S.  9).  Die  Worte 
haben  die  höhere  Bedeutung  des  adäquaten  Ausdrucks  der  Ge- 
danken (Verbum  proprio  est  in  mente,  quamdiu  coueipitar,  quod 
dum  foras  profertur,  jam  vox  est.  Vox  vehiculum  verbi  et  mini- 
sterium,  per  quod  verbum,  id  est,  mentis  coneeptio  declaratur,  S.  9). 
Dieses  ist  der  üebergang  zur  spatern  Behauptung,  dass  die  Uni- 
verBalien  Worte  seien.  Die  Worte  müssen  von  der  Seele  aufge- 
löst werden,  um  Zeichen  der  Dinge  zu  sein.  Die  eigentliche  Sub- 
stanz ist  das  sinnlich  Wahrnehmbare.  Nur  das  Einzelwesen  hat 
Wirklichkeit  (Licet  multa  uno  eodemque  nomine  vocentur,  tarnen 
singulis  illud  proprium  est,  et  singuli  suam  habent  substantiara 
rungularem  ad  nulluni  aliud  pertinentem.  Sicut  ergo  substantia  sin- 
■.'Ulis  propria  est,  ita  nomen  etiam  licet  pluribus  aptitnr,  singulis 
tarnen  proprium  est,  S.  11).  Mit  dem  Individualismus  tritt  der 
Nominalismus  dem  Realismus  entgegen.  Mit  dem  Individualismus 
verbindet  der  Glossator  den  Empirismus  (Soutiuntur  ea,  quae  quin- 
que  corporis  sensibus  coguoscuntnr ,  peroipiuntur,  quae  animo  et 
mente  colliguntur.  ..  Intellectus  generalium  rerum  ex  partieularibus 
sumtus  est,  S.  12).  In  Beziehung  auf  die  Unterscheidung  der  par- 


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Baraeh'  Zur  Geschichte  dea  Nomlnaliamufl. 


271 


titio,  welche  das  Ganze  in  Theile  zerlegt,  und  der  divisio,  welche 
das  genus  in  species  sondert,  scheint  die  von  dem  Herrn.  Verf. 
3, 15  ausgesprochene  Ansicht  naoh  den  in  der  vorliegenden  Schrift 
oitgetbeilten  Stellen  die  richtige,  der  Glossator  wolle  behaupten, 
dass  der  T  heil  begriff,  der  auf  die  incorporalia  zu  Ubertragen  sei, 
vjf  die  corporalia  keine  Anwendung  finde. 

Der  Realismus  erklärt  die  körperlichen  Dinge  für  thoilbar, 
die  unkörperlichen  als  Gattungen  für  bloss  in  species  zerlegbar» 
Der  Nominalismus  kehrt  es  um.  Die  körperlichen  Dinge  sind  ihm 
als  körperlich  oder  real  untheilbar;  nur,  inwiefern  sie  als  Begriffe 
aofgefasst  werden  ,  sind  sie  in  Theilbegriffe  zerlegbar.  Von  dem 
Realismus  wird  der  Körperlichkeit  alle  Substantialität  ab-  und  nur 
der  UnkÖrperlichkeit  zugesprochen.  Dem  Nominalismus  dagegen 
ist  das  Körperliche  allein  das  Substantielle,  das  Unkörperliche  das 
Abstracto  (S.  16).  Von  unserem  Glossator  wird  nicht  nur  die  Sub- 
stantialität und  die  Untheilbar keit  des  Körperlichen  behauptet, 
sondern  auch  zu  begründen  versucht.  Quantitative  Bestimmungen 
sind  ihm  dem  menschlichen  Wortausdruck  gleich  zu  setzende  Be- 
stimmungen des  Subjects.  Die  unkörperlichen  geometrischen  Be- 
stimmungen gehören  nicht  zur  ovo  Ca }  sondern  zum  Subjecte. 
Sie  sind  das  geometrische  Quantum,  der  empirisch  gegebene 
Körper  ist  allein  das  natürliche  Quantum.  Das  geometrische  Quan- 
tum ist  etwas  Gedachtes,  das  sich  in  Wirklichkeit  nirgends  vor- 
hndet  (Non  de  naturali  quantitate  dioo,  quae  in  ipsa  usia  videtur, 
aed  de  ea,  quae  in  figuris  geometricis  cognoscitur.  In  geometrica 
enim  de  corporibus  incorporaliter  disputamus  et,  ut  ita  dicam, 
ipsnm  corpus  geometricum  incorporale  est,  ideoque  longitudo,  alti- 
tado,  latitudo  ejus  incorporalia  sunt.  Incorporaliter  corpus  perfi- 
ciunt  et  incorporaliter  traotantur,  cum  divisio  fit  in  his,  S.  18). 
Messen  und  Theilen  geschieht  nur  in  Gedanken  (S.  19).  Worte 
and  mathematische  Verbältnisse  sind  nur  Zeichen  der  Sachen,  be- 
ziehungsweise körperlicher  Verhältnisse  (S.  20).  Der  Körper  ist  in 
Wirklichkeit  nicht  in  seine  mathematischen  Elemeute  auflösbar,  da 
jede  Theilung  eine  gedachte  ist  Die  mechanische  Zertheilbarkeit 
des  Körperlichen,  welche  der  Glossator  zugibt,  soll  nach  ihm  die 
Unauflösbarkeit  des  Körperlichen  und  damit  seine  eigentliche  und 
wahre  Substantialität  beweisen.  Man  kann  den  Körper  nur  des- 
halb mechanisch  ins  Unendliche  theilen,  weil  man  ihn  nicht  in 
seine  mathematischen  Theile  auflösen  kann,  da  diese  urkörperlich  auf- 
zufassen sind,  also  der  Körper  aufhören  müsste,  Körper  zu  sein  (Nullus 
wtem  potest  ita  dividere  corpus,  ut  corpus,  non  sit,  S.  20).  Tref- 
fend wird  S.  16  u.  21  nachgewiesen,  wie  Johannes  Scotus  Erigena 
hiezu  dem  Glossator  die  Veranlassung  gab,  nur  dass  dieser  zum 
Vortheile  des  Nominalismus  ausbeutete,  was  jener  realistisch  er- 
klärte. Das  subjective  Element  ist  ontologisch  und  logisch  durch- 
weg in  der  Glosse  das  entscheidende.  Mit  Recht  erklärt  der  Herr 
Verf.  nach  dem,  was  wir  von  beiden  wissen,  den  Nominalismus 


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272  Barach:  Zur  Geschichte  des  Nominalismiit. 

des  Glossators  für  entschiedener  und  entwickelter,  als  den  Heirics. 
Der  Nominalismus  der  handschriftlichen  Glosse  nähert  sich  dem 
dcä  Roscellin,  ja  erscheint,  wenn  man  die  »Uebertreibungen«  in 
Anselms  und  Abälards  Berichten  und  die  Anwendung  auf  die  Tri- 
mtätslehre  ausnimmt,  so  ausgebildet,  dass  Roscellin' s  Standpunkt 
als  »kein  wesentlich  neuere  (S.  22)  bezeichnet  wird.  Durch  vor- 
liegenden wichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  des  Nominalismus  und 
Realismus  wird  gezeigt,  dass  in  der  Entwickelnng  des  Nominalis- 
mus im  zehnten  Jahrhundert  kein  Stillstand  eiugetreten  ist ,  und 
dass  die  Lehre  des  Johannes  Scotus  Erigena  in  der  Erkenntniss- 
tbeorie  auf  dem  ontologischen  und  logischen  Standpunkt  des  No- 
minalismus in  dieser  Zeit  »fördernde  und  »befruchtend«  einge- 
wirkt hat. 

In  einem  Codex  des  11.  Jahrhunderts,  des  Priscianus  institut. 
grammat.  vol.  maj.,  unter  den  lateinischen  Handschriften  der  kai- 
serlichen Bibliothek  Nr.  220  fand  der  Herr  Verf.  eine  S.  23  u.  24 
mitgetheilte  Randglosse ,  nach  welcher  bewiesen  wird ,  dass  die 
Stimme  oder  das  Wort  kein  Körper  sei,  da  sie  von  der  Luft,  dem 
»feinsten  Körper«,  und  der  »Zunge«,  verschieden  ist.  Es  wird  die 
Vermuthung  ausgesprochen,  dass  diese  Ansicht  nominal  istisch  sei 
Die  vox  erscheint  hier  als  ein  dem  idealen  Denken  nahe  gerücktes 
unkörperliches  Wesen. 

Die  neue,  für  eine  freiere  Entwickelung  der  Philosophie  so 
überaus  wichtige  Periode  der  Auflösung  der  Scholastik  beginnt  im 
13.  Jahrhunderte  mit  dem  Erneuerer  des  Nominalismus,  dem  eng- 
lischen Franciskaner  Wilhelm  Occam,  der  auch  durch  seine  Schrif- 
ten über  die  Rechte  des  Staates  der  Kirche  gegenüber  seine  kirchen- 
rechtlicbe  Bedeutung  hat.  Mit  Recht  findet  der  Herr  Verf.  im 
Nominalismus  das  skeptische  und  kritische  Princip  des  Mittelalters. 
Der  Geist  befreit  sich  in  und  mit  ihm  allmäh lig  von  den  Fesseln 
der  als  unbedingt  und  unfehlbar  geltenden  Kirchenautorität.  Der 
Nominalismus  führt  aus  dem  Gebiete  phantastischer  Träume,  in 
welchen  sich  der  einseitige  Realismus  verloren  hatte,  auf  das  Ge- 
biet der  besonnenen  Erfahrung  zurück.  Die  vorliegende  Schrift 
enthält  einen  auf  handschriftlicher  Grundlage  entstandenen  neuen, 
scharfsinnig  entwickelten  Beitrag  zur  bedeutungsvollen  Geschichte 
dieser  Lehre.  v.  Reichlin-Meldegg. 


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litt.  HEIDELBERGER  1867. 

J.M'.RBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Reise  der  österreichischen  Fregatte  Novara  um  die  Erde  in  den 
Jahren  1857,  1858,  1859  unter  den  Befehlen  des  Commodore 
B.  von  Wullerstorf-Urbair.  —  Linguistis  eher  Theil  von 
Prof.  Dr.  Friedrich  Müller.  4.  (VI,  857  8.).  Wien  1867. 

Der  Verfasser,  durch  eine  Reihe  der  gründlichsten  und  scharf- 
sinnigsten sprachwissenschaftlichen  Untersuchungen,  die  meist  in 
den  Sitzungsberichten  der  historisch  -  philosophischen  Classe  der 
Wiener  Akademie  der  Wissenschaften  niedergelegt  sind,  als  einer 
der  gediegensten  Sprachforscher  wohlbekannt ,  erscheint  hier  als 
Bearbeiter  des  von  der  Fregatte  Novara  auf  ihrer  in  den  Jahren 
1857 — 1859  unternommenen  Rundfahrt  nm  die  Erde  heimgebrach- 
ten sprachlichen  Materials.  Wir  haben  in  der  Bearbeitung  dieses 
auf  den  verschiedenen  Punkten ,  wo  die  Novara  anhielt,  von  Karl 
v.  Scherzer  gesammelten  Materials  eine  der  verdienstlichsten  neue- 
ren Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  Sprachwissenschaft  zu  be- 
grüssen ,  nnd  zwar  um  so  mehr ,  als  die  Arbeit  nicht  nur  dem 
Sprachforscher  selbst  eine  Fülle  interessanten  Stoffes  zuführt,  son- 
dern diesen  auch  in  ein  ansprechendes  Gewand  kleidet,  das  ihn 
auch  dem  gebildeten  Publikum ,  welches  am  Menschen  und  seiner 
Sprache  Antheil  nimmt,  vollkommen  zugänglich  und  verständlich 
macht.  Dies  letztere  ist  jedenfalls  ein  Hauptverdienst  des  Werkes ; 
denn  es  hat  nicht  jedermann  Zeit  und  Lust,  sich  um  das  in  einer 
Menge  von  Einzelschriften  über  die  ganze  Erde  zerstreute  Material 
in  kümmern ;  hier  dagegen  findet  man  eine  Reihe  der  Haupttypen 
menschlicher  Sprache  auf  der  Höhe  der  Wissenschaft  und  doch 
allgemein  verständlich  dargestellt.  Das  ganze  Werk  zerfällt  in  vier 
grössere  Abtheilungen  und  behandelt  eine  Reihe  afrikanischer  und 
australischer,  dann  die  indischen  und  malayo-polynesischen  Sprachen. 
Es  wurde  von  der  jedesmaligen  Haltestation  der  Novara  und  dem 
allenfalls  zufliessenden  Material  Anlass  genommen,  die  an  diesem 
Punkte  herrschende  Sprache  einer  näheren  Prüfung  zu  unterworfen 
und  die  etwaigen  Verwandten  derselben  bis  in  die  entferntesten 
Ausläufer  in  den  Kreis  der  Betrachtung  zu  ziehen.  Die  Sprachen, 
welche  besondere  Alphabete  haben,  sind  mit  den  ihnen  eigentüm- 
lichen Typen  gedruckt  nebst  beigefügter  Transcription,  so  dass  auch 
ohne  Kenntniss  der  fremden  Buchstaben  jedes  Wort  lesbar  er- 
scheint; der  allbekannte  Typenreichthnm  der  Wiener  Hof-  und 
Staatsdmckerei  bewährt  sich  auch  hier  wieder,  wie  denn  die  typo- 
graphische Ausstattung  des  Werkes  eine  prachtvolle  genannt  wer- 
LX.  Jthrg.  4.  Heft  18 


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*74  Müller:  ReM  der  Novara;  nazistischer  TheU. 


den  miiss.  Versuchen  wir  nun,  einen  allgemeinen  Ueberbliok  über 
den  reichen  Inhalt  des  Werkes  zu  geben. 

Der  Aufenthalt  der  Novara  in  der  Capstadt  bietet  zunächst 
Anlass  zur  Behandlung  der  in  Südafrika  herrschenden  Sprachstämme. 
Es  ist  eine  Errungenschaft  der  letzten  Decennien  auf  sprachwissen- 
schaftlichem Gebiete,  zu  wissen,  dass  südlich  vom  Erdgleicher,  mit 
Ausnahme  der  Hotteutoten,  es  nur  eine  einzige,  zwar  in  sich  viel- 
fach getheilte,  allein  gleichartige  Völker*  und  Sprachenbildung  gibt, 
die  mau  die  kongo-kafrige  nennen  könnte,  oder,  wie  sie  der 
Verfasser  nennt,  das  Gebiet  der  Bantu- Sprachen.  Dieses  letztere 
Gebiet  begreift  ein  gut  Vierttheil  der  gesammten  Bevölkerung 
Afrikas  in  sich.  Auf  S.  7  — 19  haben  wir  eine  kurze  Charakteristik 
nebst  Laut-  und  Formeulehre  der  Uottentoten  - Sprache,  die  in 
vier  Dialekte  zerfällt:  den  Nama-,  Kora-,  Capdialekt  und  den  der 
östlichen  Stämme;  auch  die  Sprache  der  sogenannten  Buschman, 
jener  zahlreichen  Stämme,  welche  über  die  Wüste  und  die,  Gebirge 
des  Innern  sich  verbreiten,  gehört  hieher.  —  In  ausführlicher  Be- 
handlung werden  uns  S.  20—50  die  Bantu-Sprachen  vorge- 
führt. Es  erstreckt  sich  dieser  ungeheure  Sprachstamm  vom  Ge- 
biete der  Huttentoten  an  auf  der  östlichen  Seite  bis  zu  den  Stäm- 
men der  Galla,  auf  der  Westküste  bis  zur  Insel  Fernando  Po,  und 
im  Innern  wahrscheinlich  bis  etwa  zum  8°  nördl.  Br#  Es  ist  von 
ungeheurer  Tragweite,  dass  man  mit  der  Eenntniss  einer  dieser 
Sprachen  vom  Aequator  bis  Port  Natal  und  vom  Gabun  bis  Zan- 
zibar  ausreichen  kann.  Sie  zerfallen  in  eine  östliche,  mittlere  und 
westliche  Abtheilung  mit  mehreren  Gruppen  und  einzelnen  Sprachen. 
Die  östliche  Abtheiluog  zerfällt  iu  die  drei  Gruppen  der  Kafir-, 
Zambesi-  und  Zanzibar-Sprachen  y  zur  Kafir-  Gruppe  gehört  das 
eigentliche  Kafir  und  die  Sprachen  der  Ama-zulu  und  Ma-swazi, 
zu  den  Zambesi-Sprachen  die  Idiome  der  Ma-schona,  Ba-yeye  u.  a., 
zu  denen  von  Zanzibar  das  Ki-suahili,  Ki-nika,  Ki-kamba,  Ki-hiau, 
Ki-pokomo  u.  s.  w.  Die  mittlere  Abtheilung  umfasst  die  beiden 
Gruppen  Se-tschuana  und  Tekeza,  wovon  das  Se-tschuana  in  eine 
östliche  Sprache  Se-suto  und  in  die  beiden  westlichen  Se-rolong 
und  Se-chlapi  zerfallt,  das  Tekeza  die  Sprachen  der  Ma-molosi, 
Ma-tonga,  Ma-hloenga  umfasst.  Die  westliche  Abtheilung  enthält 
zwei  grosse  Gruppen,  die  sogenannte  Bunda-  und  Kongo-Gruppe; 
zur  ersteren  gehören  die  Sprachen  Hereru,  Bunda  und  Londa, 
zur  letzteren  die  Sprachen  von  Kongo,  Mpongwe,  Kele,  Isubn, 
Fernaudo  Po.  Alle  diese  Sprachen  sind  derart  mit  einander 
verwandt,  wie  etwa  die  semitischen  oder  indoeuropäischen  unter 
einander,  was  sich  nicht  nur  in  der  vollkommensten  Ueberein- 
stimmung  der  Formen  und  der  dazu  verwendeten  Elemente,  son- 
dern auch  in  wichtigen  lexikalischen  Erscheinungen  offenbart.  Diese 
Verwandtschaft  wird  in  einer  ausführlichen  vergleichenden  Laut- 
un «1  Formenlehre  an  vier  räumlich  so  ziemlich  entfernten  und  aus 
jeder  der  drei  Abtheilungen  ausgewählten  Sprachen,  am  Ka6r-Idiom 
im  engeren  Sinn,  Ki-suahili,  Herero  und  Se-tschuana,  einleuchtend 


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Mulle*:  Reise  der  Novara;  Hagniatiaeher  Thett.  JHe 

darobgefuhrt.  —  In  einem  dritten  Abschnitt,  der  des  Instrnctiven 
TM  enthält,  wird  S.  51—70  eine  dritte  Gruppe  afrikanischer  Spra- 
chen behandelt,  vom  Verfasser  nach  dem  Vorgänge  von  Lepsius 
die  »h  am  i  tischen«  genannt;  doch  weicht  der  Verf.  von  der 
yon  Lepsius  im  Standart ,  Alphabet  S.  303  gegebenem  üebersicht 
»■eseatlich  ab.  indem  natürlich  das  Hottentotische  wegfallen  raus«, 
und  das  Ha-usa  durchaus  zurückgewiesen  wird.  Müllers  Eintbei- 
kng  der  hami tischen  Sprachen  ist  folgende :  I.  Aegyptiaohe  Gruppe. 
Aitägyptisoh  Koptisch.  II.  Lybiscbe  Gruppe.  Ta-mascheq.  IIL 
Aethiopische  Gruppe.   1.  Bedscha.  2.  Saho.  3.  Galla.  4.  Dankali. 

Somali  Der  innige  Zusammenbang  des  Saho,  Galla,  Ta-mascheq 
und  Altägyptiechen  ist  bereits  von  Lottner  in  den  Tran sactions  oi 
tat  philoiogieal  soeiety  1860-1861.  S.  20-27  und  S.  112-132 
aichgewiesen  worden.  Es  ist  von  grosser  Wichtigkeit,  dass  die 
Sprache  den  berühmtesten  Culturvolkes  Afrikas,  der  Aegyptor,  be- 
reits mit  völliger  Sicherheit  hier  eingereiht  werden  kann.  Man  hat 
nun  zwar  schon  seit  einiger  Zeit  eine  Verwandsohaft  dieses  Sprach- 
iUmmes  mit  dem  semitischen  wahrscheinlich  machen  wollen,  aber 
man  wird  gut  tbun,  trotz  mancher  Anklänge,  wohin  namentlich 
'ü*  von  kottner  betonte  Uebereinstimmung  des  Pronomens  und  der 
bei  der  Bildung  der  Vorbalformen  zur  Anwendung  kommenden  aus 
Prunominalelementen  ableitbaren  Pr*-  und  Suffixe  gehört,  noch 
iurückxuhalten.  So  viel  ist  gewiss,  dass  diese  Völkergruppe  mit 
ton  andern  Völkern  des  nördlichen  Mittelafrika ,  den  eigentlichen 
Negern,  nicht  zusammenhängt,  sondern  sich  vielmehr  an  die  über 
des  anstoßenden  Theil  Asiens  verbreiteten  kaukasischen  Stämme 
awchliesat.  Indem  sie  sich  vom  Aaquator  her  längs  der  Küste  -r- 
wi#  weit  sie  sich  ins  Innere  erstrecken,  wissen  wir  noch  nicht  — 
durch  das  Niltbai  über  den  Küstenstrich  des  nördlichen  Afrika 
Erziehen,  erweisen  sie  sich  deutlieh  als  in  diesem  Welttbeile  nicht 
einheimisch,  sondern  sind  wahrscheinlich  in  grauer  Vorzeit  aus  den 
Tigris-  und  Euphratländere  eingewandert.  Es  ist  zu  erwarten, 
daas  von  dem,  Fortschreiten  in  der  Entzifferung  der  Keilschriften 
ooeb  manches  unerwartete  Licht  auf  diese  Frage  fallen  wird.  Die 
Hinsicht  in  die  Zusammengehörigkeit  und  Verwandtschaft  der  hami- 
tacten  Sprachen  bedeutend  gefördert  zu  haben,  ist  ein  besonderes 
Verdienst  Müllers»  der  nach  Darlegung  der  Uebereinstimmung  der 
Pronominal  stamme  die  nähere  Verwandtschaft  dieser  Sprachen  unter 
wnsader  durch  eine  vergleichende  Formenlehre  des  Nomens  und 
Yerhnms  zur  Anschauung  bringt. 

Die  in  dar  afrikanischen  Abtheilung  behandelten  Sprachen 
umfassen  die  Sprachen  alier  jener  afrikanischen  Völker,  welche 
torperUch  und  sprachlich  nicht  zu  den  Negern  gehören.  Es  geht 
aber  hieraus  für  die  afrikanische  Linguistik  die  wahrscheinliche 
Tatsache  b«rvar,  dass  die  Verbreitung  der  einzelnen  Stämme  längs 
<j*r  Küste  stattgefunden  ha\>e,  und  zwar  zunächst  an  der  Ostküste 
m  Netto  nach  Süden ;  erst  später  scheint  eine  zweite  Wände- 


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276  Müller:  Reise  der  Novara;  linguistischer  Theil. 

ning  an  der  Westküste  von  Süden  nach  Norden  gefolgt  zu  sein. 
Die  am  äussersten  Ende  der  Wanderungsrichtung  sesshaften  Stämme 
haben  wir  als  die  ersten  Auswanderer  und  die  ältesten  Bewohner 
anzusehen.  Unzweifelhaft  gehören  daher  z.  B.  die  auf  die  äusserste 
Südspitze  zurückgedrängten  Hotten  toten  zu  den  Urbe  wohnern; 
zwischen  sie  und  die  eigentlichen  Kegerrassen  in  Mittelafrika  scho- 
ben sich  die  Kafir-Kongostämme  ein;  und  diese  Wanderungen  sind 
wahrscheinlich  durch  die  an  der  Küste  des  rothen  Meeres  und  über 
den  nordafrikanischen  Küstenstrich  erfolgte  Ausbreitung  der  hami- 
tischen  Völker  veranlasst  worden. 

Die  zweite  Abtbeilung  des  Werkes  schliesst  sich  an  den 
Aufenthalt  der  Novara  in  den  Häfen  von  Point  de  Galle  auf  Ceylon 
und  in  Madras  an  und  bietet  in  vier  Abschnitten  eine  Reihe  der 
schönsten  und  anziehendsten  Untersuchungen  und  Ergebnisse.  Wir 
haben  auf  der  vorderindischen  Halbinsel  bekanntlich  eine  ähnliche 
Erscheinung,  wie  wir  sie  eben  bei  Afrika  berührten.  Als  die  Arier 
vom  Hindukusoh  herab  durch  das  Pünfströmeland  über  die  indi- 
schen Ebenen  sich  ergossen,  wurden  die  eingebornen  Völker,  die 
Dravidas,  von  den  Siegern  zurückgedrängt,  bis  sie  sich  schliesslich 
auf  den  südlichen  Theil  des  Landes,  das  sogenannte  Dekan,  be- 
schränkt sahen.  Ein  grosser  Theil  der  Dravidas  ging  sicherlich 
in  den  Siegern  auf,  indem  er  Sprache  und  Sitten  derselben  an- 
nahm, und  wiederum  manchen  Einfluss  auf  Bildung  und  Sprache 
der  Sieger  ausübte  (wie  z.  B.  die  Lautgruppe  der  Cerebralen  oder 
Lingualen  diesem  Einflüsse  zugeschrieben  wird).  Einzelne  Dravida- 
Stämme  zogen  sich  im  Innern  in  die  höheren  Gebirge  zurück,  wo 
sie  noch  jetzt  unter  den  Namen  der  Todavar,  (Jon da,  Kotar,  Ku 
u.  a.  sich  erhalten  haben;  die  nördlichsten  soheinen  nach  Westen 
ausgewichen  zu  sein ,  wo  sie  noch  heute  in  den  Gebirgen  Belud- 
schistans  als  Brahui  fortleben.  Die  früher  ziemlich  stiefmütterlich 
behandelten  Dravida-Sprachen  haben  in  R.  Caldwell  (A  compara- 
tive  grammar  ol  tbe  Dravidian  or  South-Indian  family  of  languages. 
London  1856)  eine  vorzügliche  Bearbeitung  gefunden.  Das  gegen- 
wärtige Gebiet  der  Dravida-Sprachen  erstreckt  sich  vom  Vindhja 
und  der  Nerbudda  bis  zum  Cap  Komorin.  Es  sind  deren  vor- 
züglich fünf:  1)  das  wegen  der  Einfachheit  seines  Lautsystems 
und  der  Durchsichtigkeit  seiner  Formen  allen  voranstehende  Tamil 
im  sogenannten  Karnatik,  an  der  Ostküste  unterhalb  der  Ghats 
von  Palikat  bis  Cap  Komorin  und  von  den  Ghats  bis  zur  Bai  von 
Bengalen,  auch  an  der  westlichen  Seite  der  Ghats  von  Cap  Komo- 
lin  bis  Trivandram,  endlich  in  den  nördlichen  Theilen  Ceylons,  es 
wird  von  etwa  10  Millionen  gesprochen.  2)  Telugu,  von  Chicacole 
an  der  östlichen  Küste  bis  Palikat  und  von  der  Ostküste  bis  gegen 
Mysore,  von  14  Millionen  gesprochen.  3)  Das  K  an  aresische ,  in 
Mysore  und  den  Östlichen  Districten  des  Nizam  bis  Beder,  und  im 
Dist  riete  Kanara  an  der  Malabarküste ,  von  ungefähr  5  Millionen 
gesprochen.    4)  Malayalam,  an  der  Küste  Malabar,  an  der  west- 


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Malier:  Reise  der  Novara;  linguistischer  TheO. 


277 


liehen  Seite  der  Gbats  von  Mangalore  bis  Trivandram,  etwa  21/* 
Millionen  umfassend.  5)  Tulu  oder  Tuluva,  ursprünglich  im  Districte 
Kanara  verbreitet,  beute  fast  nnr  noch  in  der  Umgebung  von  Man- 
galore,  kaum  mehr  von  150,000  gesprochen.  Als  sechste  Abtei- 
lung könnte  man  die  Sprache  der  Bergvölker  im  Innern  annehmen. 
Somit  kann  man  die  Anzahl  der  Dravidas  auf  ungefähr  83  Millio- 
nen veranschlagen,  also  fast  */5  der  Gesammtbevölkerung  Indiens. 

Auf  S.  76—104  gibt  nun  der  Verfasser  eine  klare  und  über- 
sichtliche Darstellung  der  Laut-  und  Formenlehre  aller  dieser 
Sprachen.  Caldwell  und  Max  Müller  sind  geneigt,  die  Dravida- 
Sprachen  für  Verwandte  des  grossen  ural-altaischen  Sprachstammes 
anzusehen.  Mit  Recht  ist  ihnen  der  Verfasser  nicht  gefolgt.  Jene 
basiren  ihren  Beweis  auf  die  Aehnlichkeit  des  Typus  der  beiden 
Sprachstamme,  die  Uebereinstimmung  mancher  Flexionselemente  und 
besonders  auf  die  Uebereinstimmung  der  Zahlenausdrücke ;  es  lasst 
sich  manches  davon  nicht  in  Abrede  stellen;  die  Suffixbildungen 
beim  Nomen  und  Verbum,  eine  Art  von  Vocalharmonie,  Postposi- 
tionen, Reichhaltigkeit  des  Verbums  an  Participial-  und  Gerundiv- 
formen, die  Anordnung  der  Satzglieder  erinnern  vielfach  an  die 
oral-altaiscben  Sprachen.  Allein  dasselbe  Hesse  sich  noch  von 
manchen  andern  Sprachstämmen  fast  ebenso  gut  sagen;  und  eine 
nur  einigerraassen  genügende  Uebereinstimmung  im  Wortschätze 
dürfte  schwer  nachweisbar  sein.  Wir  sehen  daher  mit  dem  Ver- 
fasser in  den  Dravi  da  -  Sprachen  einen  besondern,  urthümlichen 
Sprachstamm. 

Den  Glanzpunkt  des  Werkes  bildet  die  im  zweiten  Abschnitt 
dieser  Abtheilung  S.  105  —  202  folgende  meisterhafte  Darstellung 
der  neuindischen  Sanskritsprachen,  die  in  solcher  Voll- 
ständigkeit und  Uebersichtlichkeit  noch  nirgends  gegeben  wurde. 
Nach  einigen  Bemerkungen  über  die  Entwicklung  des  Sanskrit, 
Prakrit  und  Pali  ordnet  der  Verfasser  die  modernen  Sanskrit- 
sprachen, deren  Gebiet  vom  Hinduknsch  und  Himalaja  bis  ins  Dekan 
zum  Dravida-Sprach gebiet  und  vom  Indus  bis  über  den  Brahma- 
putra hinaus  reicht  und  die  von  über  140  Millionen  Menschen  ge- 
sprochen werden,  in  sechs  Gruppen.  I.  <  estliche  Gruppe  mit  Ben- 
raliscb,  das  am  meisten  vom  Sanskrit  influenzirt  ist,  Assamesisch, 
das  von  dem  es  umgebenden  Tibetischen  und  Barmanischen  man- 
ches angezogen,  und  Orija  mit  arabischen  Elementen.  II.  Nörd- 
liche Gruppe :  Nepalesisch,  untermischt  mit  tibetischen  Elementen, 
Kaschmirisch  und  Pendschabisch  mit  manchen  arabischen  und  per- 
sischen Elementeu.  III.  Westliche  Gruppe :  die  Sprachen  von  Sin dh, 
Multan  u.  a.  IV.  Mittlere  Gruppe:  Hindi,  die  Sprache  der  einge- 
bornen  Hindu-Bevölkerung  in  dem  mittleren  Tbeile  des  nördlichen 
Indiens.  Aus  ihm  entwickelte  sich  seit  dem  11.  Jahrhundert  n. 
Chr.  das  sogenannte  Urdu  oder  Hindustani,  stark  mit  arabischen 
and  persischen  Elementen  untermischt;  als  Sprache  der  muham- 
oedanischen  Bevölkerung  Indiens  bat  sich  das  Urdu  über  ganz 


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278  MüHeT:  Reise  der  Nuwa;  Kngulstisbher  Thell. 

Indien  verbreitet  und  kann  ala  Universalsprache  der  Gobi ldeton  von 
ganz  Indien  betrachtet  werden.  V.  Südwestliche  Gruppe  :  die  Sprache 
von  Gudscbarat  mit  den  verwandten  Dialekten.  VI.  Südliche  Gruppe : 
<3as  Marathi.  Von  allen  diesen  Sprachen  wird  dann  unter  steter 
Bezugnahrae  auf  Sanskrit  und  Prakrit  eine  bis  in  das  Einzelnste 
gehende  vergleichende  Laut-  und  Formenlehre  mit  wahrer  Meistsr- 
scnatt  entworfen. 

Hieran  schliesst  sich  in  einem  dritten  Abschnitt  S.  203—218 
eine  besondere  Darstellung  der  singhalesischen  Sprache,  des 
Elu,  der  Sprache  der  Löweninsel  (8inhala-dvipa)  Ceylon,  wie  sie 
besonders  im  südlieben  Theile  der  Tnsel  gesprochen  wird.  Sie  weicht 
nach  Laut  und  grammatischem  Bau  ganz  von  den  Sanskritsprachen 
ab,  und  erinnert  in  manchen  Punkten  an  die  Dravida-Idiome  nnd 
durfte  mit  diesen  vielleicht  in  entfernter  verwandtschaftlicher  Be- 
ziehung stehen,  in  einem  innigen  Verhältnisse  keineswegs ;  der  Ver- 
fasser möchte  das  Elu  am  liebsten  fiir  eine  unter  den  Sprachen 
Indiens  allein  dastehende  selbständige  Sprache  erklären. 

Eine  wahre  Zierde  des  Buches  ist  der  Abschnitt  »ttbeT  Ur- 
sprung, Entwicklung  und  Verbreitun  g  der  indischen 
Schrift«  (S.  219—238).  Der  Verfasser  hat  sich  bereits  in  meh- 
reren Untersuchungen  mit  Vorliebe  der  Schriftfrage  zugewendet: 
über  ü*en  Ursprung  der  armenischen  Sprache  (Sitz.-Ber.  der  kais. 
Akad.  der  Wissensch.  1864),  über  den  Ursprung  der  himjariseb- 
atbie^necneu  Schrift  (1865),  über  den  Ursprung  der  Schrift  der 
malayischen  Völker  (1865).  8eit  den  scharfsinnigen  Unters  Eichun- 
gen Afbr.  Webers  (Zeitschr.  d.  deutschen  morgenl.  (Steseli.  1856. 
X.  889 — 406)  war  kein  Zweifel  mehr  vorhanden,  dass  der  Ur- 
sprung der  indischen  Schrift  kein  anderer  als  derselbe  ist,  welcher 
den  Schriftarten  deT  Semiten  und  der  abendländischen  Völker  zu 
Grunde  liegt,  nämlich  der  phönikische  oder  richtiger  der  ba- 
bylonische. Diese  Einsicht  war  erst  möglich,  seit  es  dem  genia- 
len James  Prinsep  gelungen  war,  auf  den  Felseninschriften  der 
buddhistischen  Könige  (Piyadesi)  die  älteste  Form  der  indischen 
Schrift  to  entziffern  (Journal  of  the  Asiatic  Society  of  Bengal 
18B7.  VI.  S.  461  ff.  1838.  VII);  nur  durch  Zugrundelegung  der 
ältesten  Schriftform,  deren  Alter  in  die  Mitte  des  3.  Jahrhunderte 
v.  Ohr.  zurückreicht,  konnte  die  SchrifWra&e  zu  der  Evidenz  ge- 
bracht werden,  mit  der  wir  jetzt  darüber  urtheilen  können.  Müller 
führt  in  diesem  Abschnitt  die  Sache  systematisch  weiter  und  bringt 
sie  zum  AbschlusB  mit  einer  Klarheit  und  Uebersichtlichkeit ,  die 
nichts  zu  wünschen  übrig  lasst ;  alles  ist  durch  beigefügte  Schrift- 
tafeln veranschaulicht.  Wir  können  darnach  die  Entwicklung  des 
•Itöndisoben  aus  dem  altsemitischen  Alphabet  genau  verfolgen,  ein 
interessanter  Anklang  au  die  semitische  Schrift  seigt  sich  in  den 
indischen  Alphabeten  noch  darin,  dass  der  Vocal  a  als  jedem  Con- 
sonanben  inhärent  aufgefasst  und  in  der  Sebrift  gar  nicht  ausge- 
drückt wird.  Aus  dem  altindischen  Alphabete  eind  dann  nach  und 


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Müller:  Reise  der  Novar»;  linguistischer  TheJL 


379 


nach  alle  Schriftarten  hervorgegangen,  welche  heutzutage  in  den 
verschiedenen  Provinzen  Indiens  im  Gebrauch  sind,  deren  Anzahl 
sehr  gross  ist  (äusserst  belehrend  ist  biezu  die  Taf.  III.  S.  230). 
Aber  auch  die  nichtarischen  Völker  Indiens  haben  ihre  Schriften 
von  den  Indern  überkommen ;  so  zunächst  die  Dravtdas,  bei  denen 
vier  Alphabete  in  zwei  Gruppen  im  Gebrauch  sind,  Tamil-  und 
Malaya-Schrift  einerseits,  und  Tolugu  und  Kanaresisch  andrerseits,  und 
an  diese  wiederum  schliesst  sich  die  singhalesische  Schrift  (Hodiya) 
an,  als  deren  Tochter  weiter  die  alte  Schrift  der  Bewohner  der 
Malediven  zu  betrachten  ist.  Allein  der  indische  Einfluss  reichte 
noch  weit  über  diese  Grenzen  hinaus;  er  brachte  auch  den  Tibe- 
tanern, den  binterindischen  und  malayischen  Völkern  ihre  Alpha- 
bete. Die  tibetanische  Schrift  ist  im  7.  Jahrhundert  aus  der  alt- 
indischen  hervorgegangen ;  an  sie  schliesst  sich  die  alte  Lapidar- 
schrift der  Mongolen,  deren  eckige  Gestalt  aber  bald  (seit  Tschinggis- 
Chan)  durch  die  unter  den  Mongolen  verbreitete  uigurische  Schrift, 
eine  Tochter  der  syrischen,  verdrängt  wurde;  unbedeutend  abwei- 
chend von  der  mongolischen  ist  die  kalmükische.  Die  Schrift  der 
hinterindischen  Völker,  Barmanen  nnd  Siamesen,  ist  auf  ein  Pali- 
Alphabet  zurückzuführen.  Bei  den  malayischen  Völkern  können 
wir  (von  den  eigentlichen  Malayen  abgesehen,  die  seit  der  An- 
nahme des  Islam  sich  der  arabischen  Schrift  bedienen)  zwei  Gruppen 
von  anf  das  altindische  Alphabet  zurückzuführenden  Schriften  unter- 
scheiden ;  die  eine  ist  die  Schrift  der  Javanen,  die  entschieden  auf 
das  Pali  zurückweist ;  die  andere  umfasst  die  Schriften  der  Völker 
auf  Sumatra  (Battak,  Bedschang,  Lampung),  Celebes  (Mankasar, 
Bngis)  und  den  Philippinen  (Tagala),  welche  insgesammt  einem 
altindischen  Alphabet  entstammen.  Sämmtliche  Alphabete  aller 
dieser  Völker  sind  auf  9  Tafeln  mit  den  nöthigen  Erläuterungen 
beigegeben*  Niemand  wird  diesen  Abschnitt  ohne  reiche  Belehrung 
aus  der  Hand  legen.  Wir  übersehen  hier  mit  einem  Blick  eine  der 
merkwürdigsten  Thatsachen  in  der  Culturgeschiohte  des  östlichen 
Asiens.  • 

Die  dritte  Abtheilnng  des  Werkes  behandelt  die  austra- 
lischen Sprachen  (S.  241 — 266).    Leider  ist  hier  das  Material 
ziemlich  dürftig;  nur  einigermassen  näher  bekannt  sind  die  Spra- 
chen in  der  Nähe  der  von  den  Europäern  bewohnten  Küstenstriche. 
In  Westaustralien  kennen  wir  die  Sprache  am  Schwanfluss  in  der 
Umgegend  von  Perth  und  die  Sprache  am  König  Georgs  Sund,  die 
beide  mit  einander  verwandt  sind.    In  Südaustralien  herrscht  die 
Parnkalla-Sprache  auf  Port  Lincoln  und  der  Westseite  von  Spen- 
cer's  Golf,  dann  die  Sprache  in  der  Umgebung  von  Adelaide ;  dazu 
gehören  auch  die  Stämme  am  Murray-Flusse,  an  der  Enconntef 
ßay  und  um  Melbourne;  alle  diese  tragen  Spuren  gemeinsamer 
Abstammung  an  sich.    In  Neusüdwales  endlich  kennen  wir  die 
Sprachen  in  der  Umgegend  von  Sydney,  am  Lake  Maquarie,  der 
tioreton  Bay,  und  die  mehr  im  Innern  gesprochenen  Dialekte  der 


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280  Müller:  Reise  der  Novara;  linguistischer  TheiL 

Kamilarai  und  Wiraturai ;  auch  diese  sind  mit  einander  verwandt. 
Wie  weit  die  Verwandtschaft  der  andern  Sprachen  auf  dem  austra- 
lischen Fcstlande  geht ,  sind  wir  zu  beurtheilen  ansser  Stande ; 
eine  gewisse  gleichartige  Anlage,  einen  einheitlichen  Bau  können 
wir  zwar  nicht  verkennen,  dessbalb  dürfte  aber  ebenso  wenig,  wie 
bei  den  Sprachen  Amerikas ,  auf  eine  Wurzelverwandtschaft  zu 
schliessen  sein.  Der  allgemeine  Charakter,  Laut-  und  Formenlehre 
dieser  Sprachen  ist  von  Müller  S.  244  —  264  ziemlich  ausführlich 
dargestellt.  Erst  nach  Schluss  der  Arbeit  ist  ihm  durch  Scherzer 
noch  neues  Material  zugekommen,  was  ihm  Anlass  geben  wird,  wie 
er  S.  358  bemerkt,  demnächst  die  Abtheilung  über  australische 
Sprachen  in  einer  mehr  umfassenden  und  genaueren  Bearbeitung 
wiederzugeben.  Es  ist  aber  auch  höchste  Zeit  dazu ,  wenn  nicht 
die  Eingebornen  vollends  verschwinden  sollen,  sie  werden  vielleicht 
noch  vor  Ablauf  des  gegenwartigen  Jahrhunderts  vom  Erdboden 
vertilgt  sein ;  in  diesem  Falle  müssten  wir  wahrscheinlich  für 
immer  auf  die  Lösung  eines  linguistischeu  Problems  von  höchster 
Wichtigkeit  verzichten.  Denn  Australien  bat,  wie  die  neueren 
Forschungen  lehren*),  seinen  Zusammenhang  mit  Asien  und  Europa 
erst  in  der  tertiären  Zeit  verloren,  seine  Geschöpfe  haben  noch  die 
Trachten  der  geologischen  Vorzeit  nicht  abgelegt,  und  so  haben 
wir  in  dessen  Bewohnern  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  einen  der 
urältesten  Menschenstämme  zu  suchen. 

Wir  kommen  zur  vierten  und  letzten  Abtheilung :  Malayo- 
polynesiscbe  Sprachen  (S.  269 — 357),  deren  Behandlung  der 
Verfasser  mit  besonderer  Vorliebe  eine  grosse  Sorgfalt  gewidmet 
hat.  Der  malayo - polynesische  Sprachstamm  ist,  was  räumliche 
Ausdehnung  betrifft,  unstreitig  der  grossartigste ;  man  denke  sich 
die  unabsehbaren  Entfernungen  von  Madagaskar  an  der  Ostküste 
Afrikas  und  den  Andamanischeu  Tnseln  im  Westen  von  Siam  bis 
hinüber  zur  Osterinsel  nicht  so  gar  weit  von  Chile,  und  von  For- 
mosa oder  Taiwan  an  der  chinesischen  Küste  und  den  Sandwich- 
Inseln  im  Norden  bis  heraW  nach  Neuseeland :  so  weit  reicht  die- 
ser fast  unübersehbare  Sprachstamm.  Dabei  hat  man  aber  wohl 
zu  unterscheiden,  dass  diese  zahllosen  Inseln  und  Inselgruppen  von 
zwei  verschiedeneu  Rassen  bewohnt  werden.  Die  eine,  von  dunkler 
Farbe  mit  wolligem  Haar ,  an  die  afrikanischen  Neger  erinnernd 
bewohnt  mehr  die  Inseln  nördlich  vom  australischen  Continent 
entweder  ausschliesslich,  oder  im  Verein  mit  der  zweiten  Rasse 
doch  so,  dass  sie  ins  Innere  der  Inseln  zurückgedrängt  erscheint, 
während  diese  sich  auf  den  Küsten  angesiedelt  bat.  Die  zweite 
Rasse ,  von  lichter  Olivenfarbe  mit  glattem  Haar,  ist  mehr  über 
die  Inseln  östlich  vom  australischen  Festland  verbreitet,  in  deren 
Alleinbesitz  sie  steht,  dann  aber  auch  auf  den  nordwestlich  von 


*)  Siehe  den  inatructlven  Aufsatz  von  O.Peschel,  Ausland  1867.  Nr.  8 
8.  178—177. 


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Müller:  Reise  der  Novara;  linguistischer  Thefl.  281 

Australien  gelegenen  Inseln,  besonders  an  den  Küstenrändern  an- 
gesiedelt ;  ferner  am  asiatischen  Festlande  auf  der  Halbinsel  Malaka. 
Die  schwarze  Rasse  nennt  man  gewöhnlich  Papnas  oder  Negritos, 
die  helle  fasst  man  unter  der  Benennung  der  Malayo-Polynesen  zu- 
sammen. Die  schwarze  Rasse  ist  offenbar  die  unterlegene,  von  der 
andern  zurückgedrängte,  wie  sich  aus  ihren  Wohnsitzen  im  Innern 
der  Inselu  ergibt.  Weil  da,  wo  eine  Mischung  der  beiden  Rassen 
stattgefunden  hat,  die  Sprache  durch  den  Einfluss  der  schwarzen 
Bevölkerung  bedeutende  Veränderungen  erfahren  und  sich  von  dem 
ursprünglichen  Typus  mehr  entfernt  bat,  als  dort,  wo  die  helle 
Rasse  sich  unvermischt  erhielt,  so  ist  schon  aus  diesem  Umstände 
auf  die  Grundverschiedenheit  der  Sprachen  der  beiderseitigen  Völker 
in  schliessen.  Auch  von  der  Sprache  der  Neger  auf  dem  austra- 
lischen Continent  ist  die  Sprache  der  Papuas  verschieden,  wie  dies 
anch  physisch  der  Fall  ist.  Müller  vergleicht  das  Verhältniss  der 
Papnas  und  Malayo-Polynesier  treftend  mit  dem  zwischen  Dra- 
ridas  und  Ariern.  Mit  grossem  Scharfsinn  führt  der  Verfasser  die 
Ansicht  aus,  dass  die  Malayo-Polynesier  zu  einer  Zeit,  die  jenseits 
aller  Geschichte  liegt,  vom  Westen  her,  wahrscheinlich  dem  süd- 
lichen Theile  des  asiatischen  Festlandes,  gegen  Osten  zogen,  sich 
«machst  auf  den  grössern  Inseln  wie  Sumatra,  Java,  Romeo,  Ce- 
lebes  niederliessen  und  die  vorgefundene  schwarze  Bevölkerung 
tbeih  vertilgten,  theils  sich  assimilirten ;  von  da  verbreiteten  sie 
sich  gegen  Norden  über  die  Philippinen,  Formosa,  die  Marianen 
and  andere  benachbarte  Inseln ;  ebenso  dehnten  sie  auf  ihren  raschen 
Prahu's  ihre  Wanderungen  über  die  zahllosen  Inseln  des  stillen 
Meeres  aus.  Der  Annahme  einer  umgekehrten  Wanderungsrichtung 
Ton  Osten  nach  Westen,  wozu  man  sich  einestheils  durch  Meeres- 
strömungen und  Windrichtungen,  wie  sie  in  diesen  Gegenden  herr- 
schen, anderntheils  durch  die  primitive  Natur  der  über  die  polyne- 
sischen  Inselgruppen  verbreiteten  Völker  berechtigt  glaubt,  steht 
der  Umstand  entgegen,  dass  es  kaum  denkbar  erscheint,  dass  die 
armen,  dürftigen  Eilande,  die  meistens  nur  vulkanischen  Tbätig- 
keiten  oder  massenhaft  aufgehäuften  Cadavern  kleiner  Thiereben 
ihre  Entstehung  verdanken,  die  Wiege  einer  Menschenrasse  ge- 
wesen wären,  die  an  Zahl  mancher  andern  gleichkommt,  an  Aus- 
dehnung fast  alle  andern  tiberragt.  Wenn  aber  auch  der  südliche 
Theil  des  asiatischen  Festlandes  sammt  den  umliegenden  Inseln  als 
Ausgangspunkt  der  malayischen  Wanderungen  und  als  die  relativ 
älteste  Heimath  derselben  anzusehen  sein  mag,  so  hängen  doch  die 
Malayo-Polynesier  mit  keinem  Volk  Asiens  zusammen.  Dies  führt 
den  Verfasser  auf  die  von  Bopp  aufgestellte  Ansicht  ȟber  die 
Verwandtschaft  der  malayisoh  -  polynesischen  Sprachen  mit  den 
indisch-europäischen  €  (Berlin  1841),  die  nie  sonderlich  viele  An- 
hänger gefunden  hat;  Müller  führt  den  Beweis  dagegen  durch  die 
Hervorhebung  der  Hauptunterschiede  in  den  beiden  Sprachstämmen, 
die  kaum  greller  gedacht  werden  können.    Noch  weniger  Wahr- 


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282 


Müller:  Reise  der  Novara;  Hngmstischer  Thefl. 


scheint  ich  keit  hat  die  Ansiebt  von  Max  Müller,  der  die  malayi schon 
Sprachen  fUr  Verwandte  seines  allumfassenden  tnraniseben  Sprach- 
stammes,  and  insonderheit  der  Tai-Sprachen  ausgibt.  Nach  einigen 
kurzen  Bemerkungen  über  den  allgemeinen  Charakter  der  malayo- 
polynesischen  Sprachen  und  die  Art  ihres  Znsammenhanges  nnter 
einander,  und  nach  einem  Ueberblick  über  ihre  geographische  Ver- 
breitung nebst  Angabe  der  bemerkbarsten  Literatur  werke  in  den 
ausgebildetsten  derselben,  gibt  der  Verfasser  eine  Classification, 
in  welcher  er  drei  grosse  Abtheilungen  macht,  nämlich  inalayische, 
polynesisebe  und  melanesiscbe,  welche  wiederum  in  mehrere  Gruppen 
zerfallen.  Seine  Uebersicht  ist  folgende:  I.  Malayiscbe  Sprachen. 
A.  Tagalische  Gruppe.  1.  Tagala,  Bisaya,  Pampanga,  Ilaca, 
Bicol,  Ybanag,  lengua  Zebuana  (auf  den  Philippinen).  2.  Formosa. 
3.  Marianen.  4.  Madagaskar.  B.  Malayo-ja van ische  Gruppe. 
Malayisch ,  Javanisch,  Sundaisch ,  Battak,  Mankasarisch ,  Bngis, 
Dajak.  II.  Polynesische  Sprachen.  Samoa,  Tonga,  Maori  (Neusee- 
land), Karotonga,  Tahiti,  Hawai-(Sandwich-)Inseln,  Marquesas- Inseln 
u.  s.  w.  III.  Melanesiscbe  Sprachen.  Fidschi,  Annatom,  Erromango, 
Tana,  Mallikolo,  Mare,  Lira,  Baladea,  ßauro,  Guadalcanar  (Nene 
Hcbriden,  Neu  Caledonien)  u.  s.  w.  Die  Classification  stellt  eine 
Stufenleiter  dar,  auf  deren  oberster  Stufe  sich  die  formenreiohsten, 
auf  deren  unterster  sich  die  einfachsten  Sprachen  befinden.  Wollte 
man,  meint  der  Verfasser,  die  auf  andern  Sprachgebieten  gewon- 
nenen Ueberzeugungen  hieber  Übertragen,  so  müsste  man,  wie  z.  B. 
nnter  den  indoeuropäischen  Sprachen  das  Sanskrit  oder  unter  den 
semitischen  das  Arabische  den  ursprünglichen  Sprachzustand  dieser 
Familien  am  reinsten  bewahrt  hat  und  die  andern  durch  Zertrüm- 
merung der  Formen  nach  und  nach  von  diesem  Zustand  abgekom- 
men sind,  hier  zu  der  Ansicht  verleitet  werden,  dass  die  tagalische 
Gruppe  den  ursprünglichen  Spracbzustand  am  getreuesten  repra- 
eentire,  die  malayo-javaniseben  und  die  polynesisch-melanesischen 
Sprachen  dagegen  successive  eine  Degeneration  des  alten  Sprach- 
typus darstellen.  Gegen  diese  Ansicht  verweist  der  Verfasser  auf 
eine  Erscheinung  bei  den  ural-altai sehen  Sprachen,  bei  welchen, 
entgegengesetzt  der  absteigenden  Entwicklung  bei  Indoenropäem 
und  Semiten,  nach  den  Ansichten  der  bedeutendsten  Forscher  ein 
aufsteigender  Entwicklungsgang  stattgefunden  hat.  So  stellen  die 
polynesischen  Sprachen  mit  ihrem  einfaohen  Baue  den  ursprüng- 
licheren Zustand  der  malayo-polynesischen  Sprachclasse  dar,  wah- 
rend die  malayo  -  javanischen  und  Tagala  -  Sprachen  dagegen  als 
Weiterentwicklungen  erscheinen,  eine  Ansicht,  die  auch  W.  v.  Hum- 
boldt theilt;  und  zwar  scheinen  die  beiden  letzteren  ursprünglich 
einen  gemeinsamen  Entwicklungsgang  durchgemacht  und  sich  zu 
der  in  den  Tagala -Sprachen  hervortretenden  Fülle  erhoben  zu  haben; 
von  dieser  Fülle  büssten  die  malayo-javanisoben  nach  nnd  nach 
vieles  wieder  ein,  während  die  tagalischen  dieselbe  ungeschmälert 
beibehielten.    Die  Zeit,  in  welcher  die  Malayo-Polynesier  in  die 


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Rltschelii  Opuscula  phUologica. 


einzelnen  Gruppen  und  Sprachgenossenschaften  sieh  schieden,  möchte 
der  Verfasser  bis  etwa  in  das  Jahr  1000  v.  Chr.  zurückvorlegen. 

Lehrreich  ist  anf  S.  291 — 295  ein  Verzeichnis  altindischer 
Ausdrucke,  die  sich  schon  früh  ins  Malayische  und  Javanische  ein- 
gebürgert haben.  Die  nun  folgende  ausführliche  Laut-  and  Formen- 
lehre der  polynesischen  (S.  296 — 316)  und  der  malayisohen  Spra- 
chen (8.  817 — 857)  ist  ein  Muster  von  gründlicher  nnd  lichtvoller 
Darstellung  und  lässt  uns  von  der  S.  IV  verheißenen  >  Vergleichen- 
den Grammatik  der  malayo- polynesischen  Sprachen«  ein  Werk  er- 
warten, das  sich  W.  v.  Humboldts  Kawi-Sprache  würdig  an  die 
Seite  stellen  wird. 

In  einem  besondern  Bande,  unabhängig  von  den  Publicationen 
der  Novara-Expedition,  wird  der  Verfasser  eine  Grammatik  und  ein 
Lexikon  der  Sprache  der  Marianen ,  so  wie  Vocabulare  mehrerer 
malayisohen  und  Papua-Sprachen,  sammt  einer  sprachwissenschaft- 
lichen Untersuchung  der  letztern,  zusammen  mit  einer  mehr  um- 
fassenden und  genaueren  Bearbeitung  der  australischen  Sprachen 
erscheinen  lassen« 

Wir  haben  das  vorstehende  Werk  ausführlicher  besprochen, 
weil  es,  eine  durch  Methode  und  Gründlichkeit  der  Forschung  her- 
vorragende Leistung,  zu  den  bedeutendsten  Erscheinungen  auf  dem 
sprachwissenschaftlichen  Gebiet  seit  langer  Zeit  gehört.  Wir  woll- 
ten die  Aufmerksamkeit  hauptsächlich  auch  desshalb  darauf  lenken, 
weil  wir  ein  Hauptverdienst  desselben  auch  darin  sehen,  dass,  wie 
der  Verfasser  treffend  sagt,  dasselbe  in  einer  Weise  abgefasst  ist. 
dass  dadurch  nicht  nur  dem  Sprachforscher ,  sondern  auch  dem 
Philosophen  and  Naturforscher,  der  sich  mit  dem  Menschen  und 
seiner  Sprache  beschäftigt,  ein  nützliches  Rüstzeug  geboten  wird. 

Innsbruck  im  April  1867.  Bernhard  JOIg. 


Friderici  Kitscheiii  Opuscula  Philologien,.  Volumen  1 :  ad  Hieras 
Graecas  speclantia.  Fasciculus  I.  IApsiae  in  nedibus  B.  0, 
Teubneri.  MDCCCLXV1.  XII  und  448  8.  in  gr.  8. 

In  ähnlicher  Art  und  in  einer  gleichen  äussern  Ausstattung 
wie  die  unlängst  in  diesen  Blättern  (1866.  S.  878  ff.)  besprochenen 
Akademischen  Schriften  von  Boekh  erscheinen  hier  gesammelt  die 
in  früheren  Jahren  theils  in  Akademischen  Programmen,  theils  in 
grösseren  Sammelwerken  befindlichen  Abhandinngen  von  Ritsohl, 
und  zwar  in  dem  vorliegenden  ersten  Fascikel  des  ersten  Bandes 
diejenigen,  welche  auf  die  griechische  Literatur  sich  beziehen,  nnd 
mit  einem  zweiten  demnächst  erseheinenden  Fasciculus  ihren  Ab- 
schlags erhalten  sollen;  ein  zweiter  Band  soll  dann  die  in  einzel- 
nen Programmen  zerstreuten  Forschungen  aus  dem  Gebiete  der 
PUutiniacben,  Terenaisohen  und  Varronischen  Stadien,  so  wie  was 


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28* 


Ritschelli  Opuacula  phllologlc*. 


sonst  in  die  lateinische  Literatnr  oder  das  römische  Alterthnm 
überhanpt  einschlafet,  bringen ,  ein  dritter  ausschliesslich  das  ent- 
halten, was  auf  das  Gebiet  der  Epigraphik  sich  bezieht.  Wir  haben 
also  hier  diejenige  Abtheilung  vor  uns,  in  welcher  lauter,  auf  das 
Gebiet  der  griechischen  Literatur,  und  zwar  der  Poesie,  bezügliche 
8cbriften  vereinigt  sind,  indem  die  andere  Abtheilung  das  befassen 
soll ,  was  auf  die  Prosaiker  sich  bezieht.  Dass  der  Abdruck 
mit  aller  Sorgfalt  und  Genauigkeit  veranstaltet  ist,  bedarf 
wohl  kaum  einer  besondem  Bemerkung,  und  dass  derselbe  auch 
treu  und  ohne  Veränderung  die  frühere  Schrift  oder  Abhandlung 
wiedergibt,  lag  schon  in  dem  Zweck  und  der  Bestimmung  des  gan- 
zen Unternehmens ,  das  wie  eine  Urkundensammlung  erscheint, 
»welche  gleichsam  Aktenstücke  zur  Geschichte  einzelner  Fragen  der 
Wissenschaft  vorführt,  und  gewisse  Entwickelungsstnfen  der  letztern 
schlicht  und  anspruchslos  aufzeigt,  ohne  auf  den  gegenwärtigen 
Standpunkt  berichtigend,  umgestaltend ,  weiterführend  unmittelbur 
einwirken  zu  wollen  und  zu  sollen.  Damit  ist  nicht  ausgeschlossen, 
dass  literarische  Hinwoisungen  auf  diesen  neuesten  Standpunkt 
nützliche  Verbindnngsfaden  ziehen  zwischen  dem  älteren  Stadium 
der  Forschung  und  den  späteren  Fortschritten,  um  den  Zusammen- 
hang der  wissenschaftlichen  Bestrebungen  festzuhalten  und  in  ihm 
zweckmässig  zu  orientiren.  Aber  erschöpfender  Ausführungen,  mögen 
sie  auch  gelegentlich  nach  Neigung  und  Umstanden  gestattet  sein, 
bedarf  es  principiell  für  diesen  Zweck  nicht;  Andeutungen  in  ge- 
wählten Citaten  werden  meist  genügen,  ohne  doch  darum  die  jetzige 
Meinung  des  Autors  nothwendig  zu  verstecken.  Selbstverständlich 
wird  diesem  ausserdem  freistehen,  einzelne  Versehen  und  Trrthtimer 
im  Kleinen  stillschweigend  zu  beseitigen,  auch  unbeschadet  einer 
im  Wesentlichen  treuen  Wiedergabe  auf  eine  gewisse  Gleichförmig- 
keit in  Aeusserlichkeiten  Bedacht  zu  nehmen  €  (p.  VIII). 

Wir  haben  diese  dem  Vorwort  des  Verfassers  entnommene 
Stelle  hier  darum  mitgetheilt,  weil  sie  die  Grundsätze  darlegt,  nach 
welchen  das  ganze  Unternehmen  veranstaltet  und  ausgeführt  wor- 
den ist,  Grundsätze,  die,  Wenn  von  derartiger  Zusammenstellung 
früherer  meist  Akademischer  Gelcgenheitsschriften  überhaupt  die 
Rede  ist,  als  die  allein  massgebenden  und  richtigen  anzuerkennen 
sind.  Und  nach  diesen  Grundsätzen  ist  auch  durchweg  bei  diesem 
erneuerten  Abdruck  früherer  Schriftstücke  verfahren  worden.  Sie 
sind,  kleine  mehr  äusserliche  Aenderungen  abgerechnet,  wortgetreu 
hier  wiedergegeben,  aber  der  Verfasser  bat  es  nicht  fehlen  lassen, 
da  wo  sich  eine  nähere  Veranlassung  bot,  in  kürzeren  oder  länge- 
ren Bemerkungen  oder  Zusätzen  hinzuweisen  auf  die  neuere,  die- 
sem Gegenstand  gewidmete  Forschung,  um  auf  diese  Weise  es 
Jedem  möglich  zu  machen,  den  Gegenstand  weiter  zu  verfolgen: 
alle  diese  Bemerkungen,  es  sei  unter  dem  Text  oder  am  Schlüsse 
der  betreffenden  Abhandlung  angereiht,  sind  durch  eckige  Klammern 
kenntlich,  eben  so  wie  auch  die  Seitenzahlen  des  früheren  Ab- 


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Ritschelü  Opuicula  philologica. 


drucks  an  der  Seite  des  neuen  beigefügt  sind,  um  den  Gebrauch 
and  die  Benützung  zu  erleichtern,  was  gewiss  zweckmässig  war. 

Die  Anordnung  der  einzelnen  hier  wiederabgedruckten  Schi  Il- 
ten ist  keine  chronologische,  d.  h.  nach  der  Zeit  des  Erscheinens 
bestimmte,  sondern  sie  ist  mehr  durch  sachliche  Rücksichten  be- 
stimmt. An  erster  Stelle  erscheint  die  erstmals  zu  Breslau  1838 
als  eine  besondere  Schrift  erschienene  Untersuchung  über  »die 
Aloxandriuischen  Bibliotheken  unter  den  ersten  Ptolemäern  und  die 
Sammlung  der  Homerischen  Gedichte  durch  Pisistratus,  nach  An- 
leitung eines  Plautinischen  Scholion's«  ;  unter  den  Zusätzen  erinnern 
wir  nur  an  das,  was  S.  59 f.  über  die  Periode  der  Bildung  der 
homerischen  Lieder  bemerkt  ist.  Darauf  folgt  S.  123  ff.  das  in 
einem  Bonner  Programm  des  Jahres  1840  gegebene  »Corollarium 
disputationis  de  bibliothecis  Alexandrinis  deque  Pisistrati  curis 
Homerici8c,  das  allerdings  hier  angereiht  werden  musste,  und  eben- 
falls mit  einigen  weiteren  Verweisungen  und  einem  beachtenswerthen 
Epimetrum  versehen  ist.  An  dritter  Stelle  S.  173  ff.  folgt  aus 
einem  Bonner  Programm  1840— 41 :  »Disputationis  de  stichometria 
deque  Heliodoro  supplementum  €  bei  dem  wir  ebenfalls  mehrfaohe 
Zusätze  und  Verweisungen  nahmhaft  zu  machen  haben.  Dann  folgt : 
IV.  Sticbometrisches  bei  Diogenes  Laertius,  ans  dem  Rheinischen 
Museum  N.  F.  XIII  p.  309  ff.  (1858);  V.  >Joannis  Tzetzae  scho- 
liorum  in  Aristophanem  prolegomena  edita  et  enarrata  ab  Henrico 
Keilio«  aus  dem  Rhein.  Mus.  N.  F.  VI.  p.  108  ff.  243  ff.  (1847). 
Die  drei  nächstfolgenden  Nummern  sind  aus  Ersch  und  Gruber's 
Encyclopädie  entnommen,  und  zwar  VI.  Onomakritus  von  Athen, 
VII.  Ode  (Volkslied)  der  Griechen,  VIII.  Olympus  der  Aulet ;  ihnen 
reiht  sich  an  IX.  zur  Geschichte  der  griechischen  Metrik,  aus  dem 
Rhein.  Mus.  N.  F.  I.  p.  277  ff.  (1841).  X.  Der  Parallelismus  der 
sieben  Redenpaare  in  den  Sieben  gegen  Theben  des  Aeschylus,  aus 
den  Jahrbb.  f.  Philolog.  Bd.  LXXVIL  p.  761  ff.  (1858),  mit  einem 
Nachtrag  ausgestattet.  XI.  De  Aeschyli  in  Septem  adversus  Thebas 
versibus  254—261  Disputatio,  aus  dem  Bonner  Programm  1857. 
XII.  Caroli  Reisigii  emendationes  in  Aeschyli  Prometheum,  aus 
dem  Vorwort  zu  den  zu  Halle  1832  erschienenen  Apparatus  critici 
ei  exegetici  in  Aeschyli  tragoedias,  bekanntlich  einem  Sammel- 
werke, au  welchem  der  Verf.  aus  den  von  ihm  besuchten  Vorlesun- 
gen Reisig1  s  über  den  Aeschyleiscben  Prometheus  einzelne  Bemer- 
kungen und  Erklärungen  dieses  Gelehrten  geliefert,  und  ins  Latei- 
nische übertragen,  dem  ersten  Bande  jenes  Werkes  p.  XIX  ff.  bei- 
gegeben hatte.  Auf  diese  drei  den  Aeschylus  betreffenden  Abhand- 
lungen folgt  unter  XIII.  eine  den  Sophocles  betreffende  Abhandlung : 
De  cantico  Sophocleo  Oedipi  Colonei  aus  dem  Bonner  Sommer- 
programm 1862,  und  dann  folgt  die  im  Jahre  1829  zu  Halle  er- 
schienene Habilitationsschrift  des  Verfassers :  De  Agathonis  tragici 
aetate  mit  den  angeschlossenen  Thesen.  Den  Beschluss  des  Ganzen 
macht  eine  dem  Rhein.  Mus.  N.  F.  XHI  p.  136  ff.  (1858)  entnom- 


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836          Lehmann:  Geschichte  der  Dynasten  von  Westerburg. 


mene  Erörterung  über  »zwei  Rechnungsfehler  in  Xenophon's  Ana* 
basis«;  sie  vermittelt  gewisse rraassou  den  Ueber gang  zu  dem  andern 
Fasoiculns  dieses  ersten  Bandes,  in  welchem,  wie  schon  oben  be- 
merkt worden,  das  kommen  soll,  was  auf  die  griechischen  Pro- 
saiker sich  bezieht,  und  zwar,  wie  wir  aus  dem  auf  dem  Umschlag 
befindlichen  Verzeich niss  ersehen,  die  Abhandlung  De  Marsyis  rernm 
scriptoribus ,  drei  auf  die  Texteskritik  des  Dionysius  von  Hali- 
carnass  bezügliche  Abhandlungen,  zu  Herodian's  Kaisergesohichte, 
Aviston  der  Peripatetiker,  Gnomologium  Yindobonense,  De  Oro  et 
Orione,  Etymologici  Angelicani  Descriptio,  De  Meletio  physiologo 
narratio,  Schedae  oriticae,  Kritische  Miscellen,  Onomatologus  Plau- 
tino-comicus,  Moderne  Adjective  auf  ides ,  ideus ,  Griechische  In- 
schriften aus  Sicilien,  De  amphora  litterata  Galassiana,  Pelopsvase 
von  Ruvo,  Pelops  und  Oenomaus,  römisches  Relief:  lauter  im  Lauie 
der  Jahre  1819  bis  1866  erschienene  Aufsatze  von  grösserem  oder 
geringerem  Umfang ,  die  vereinzelt  nur  Wenigen  zugänglich ,  iu 
dieser  Zusammenstellung  weiteren  Kreisen  zugeführt  werden.  Sorg- 
faltige Register,  wie  sie  versprochen  sind,  werden  dann  auch  nicht 
ausbleiben,  und  die  Benutzung  des  Ganzen  fördern.  Die  vorzüg- 
liche äussere  Ausstattung  dieses  ersten  Fasciculus  bedarf  kaum 
einer  besondern  Erwähnung. 



Geschichte  und  Genealogie  der  Dynasten  von  Westerbur  g  aus 
Urkunden  und  anderen  archivalischen  Quellen,  Im  Auftrage 
des  Vereins  für  nassauische  Alterthumskunde  und  Geschichts- 
forschung von  J.  (?.  Lehm  ann,  proi.  Pfarrer  *u  Nussdorf 
in  der  Pf  als;.  Mitglied  d.  k%  Akademie  der  Wissenschaften  zu 
München  u.  s,  w.  Wiesbaden.  In  Comtnission  bei  W.  Roth. 
1866.  251  S.  in  8.  Mit  einer  genealogischen  Tafel. 

In  dieser  Schrift  liegt  ein  werthvoller  Beitrag  zur  geschicht- 
lichen Kunde  unserer  rheinischen  Gegenden  vor,  indem  darin  eine 
unmittelbar  aus  urkundlichen  Quellen  hervorgegangene  Geschichte 
eines  Geschlechtes  gegeben  ist,  das  mit  dem  Nassauischen  Fürsten- 
hause in  vielfacher  Berührung  stand,  in  Nassau  seinen  Sita 
hatte,  und  um  die  Mitte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  (1423)  durch 
die  Verbindung  des  Grafen  Reinhart  III.  mit  Margaretha ,  einer 
Toohter  des  Grafen  Friedrich  VIII.  von  Leiningen,  die  Grafschaft 
Leiningen  gewann,  um  fortan  als  gräflioh^leiningen'sohes  Geschlocht, 
begründet  durch  Cuno  I.,  den  Sohn  jenes  Reinhart,  zu  blühen.  Bia 
zu  diesem  Zeitpunkt  ist  die  Gesohichte  des  Geschlechtes  in  vor- 
liegender Schrift  geführt,  die  auf  diese  Weise  auch  als  eine  Er- 
gänzung der  von  dem  Verfasser  früher  gelieferten  Geschichte  der 
Grafen  von  Leiningen  angesehen  werden  kann,  indem  in  dieser  die) 
weiteren  Schicksale  dieses  Geschlechtes  besprochen  sind  bis  auf  die 


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Lehmann:  Öesehiehte  der  Dynasten  von  Westerburg.  587 

neuesten  Zeiten  herab.  So  hatte  der  Verein  für  nassauische  Ge- 
schichtsforschung allen  Grund,  die  Ausarbeitung  der  früheren  Ge- 
schabte dieses  Geschlechtes  in  die  Hände  des  Verfassers  zu  legen, 
dar  dieses  Vertrauen  auch  gerechtfertigt  hat. 

Was  über  den  Ursprung  des  Geschlechtes  mit  Sicherheit  sich 
herausstellt,  ist  in  der  Einleitung  angegeben.    Hiernach  unterliegt 
es  kaum  einem  Zweifel,  dass  die  Herrn  von  Westerburg  ursprüng- 
lich mit  den  Herrn  von  Runkel  zusammen  fallen  und  Eine  Fami- 
lie bilden.     Ein  Herr  von  Runkel   kommt  zuerst  im  Jahre  ein- 
hundert vor,  der  Name  Westerburg  hundert  Jahre  später,  obwohl, 
wie  es  hier  sehr  wahrscheinlich  gemacht  wird,  die  Familie  viel 
älter  erscheint,  und,  wie  die  meisten  alten  Gesohlechter  der  Lahn- 
gegend, von  den  uralten  Grafen  des  Lahngau' s  ihren  Ursprung  ab- 
leiten kann:  jener  Gebhart,  Graf  des  Lahngau's,  welcher  878  das 
Stift  Ge münden  gründete,  wird  dann  auch  als  einer  der  Urahnen 
des  Geschlechtes  betrachtet,  dem  über  dieses  Stift  die  Schutz  und 
Schirmgerechtigkeit,  so  wie  auch  das  Patronatrecbt  zustand.  Eine 
halbe  Stunde  von  dem  Stift  entfernt  liegt  im  Lahngau,  in  welchem 
auch  auf  einem    Felsen  an   der  Lahn    die   Burg  Runkel  lag, 
die  Burg  Westerburg,   deren   Namen  allerdings  auf  den  nahen 
Westerwald  hinweist.  Die  eigentlich  geschichtliche  Darstellung  be- 
ginnt mit  Siegfried  I.,  dem  ersten  aus  einer  Stiftungsurkunde  vom 
Jahre  1100  bekannten  Herrn  von  Runkel,  und  ist  dieselbe  fortge- 
führt bis  zu  dem  vierten  dieses  Namens,  welcher,  als  der  Stifter 
der  Westerburg' sehen  Linie  anzusehen  ist,  und  um  1266  oder  1267 
starb :  denn  unter  seinem  Vater  fand  zur  Beseitigung  der  Familien- 
streitigkeiten eine  Theilung  der  Güter  statt  im  Jahre  1226  —  die 
Urkunde  selbst  wird  mitgetheilt  —  unter  die  beiden  Söhne  Sieg- 
fried und  Dietrich  (Theodoricus),  in  Folge  desseu  jener  als  Stifter 
der  besonderen  Westerburger,  und  dieser  der  Runkel'schen  Linie 
anzusehen  ist,  obwohl  er  den  Namen  von  Runkel  erst  später  (1288) 
annahm,  in  Folge  einer  zweiten  Theilung,  die  zur  Beilegung  der 
fortwährenden  Streitigkeiten  im  Jahre  1288  stattgefunden.  Hein- 
rieh I.,  der  Sohn  Siegfrieds  IV.,  nahm  nun  seinen  festen  Wohnsitz 
in  der  Westerburg,  von  deren  Lage  und  Beschaffenheit  der  Verf. 
8.  2  7  ff.  ein  freundliches  Bild  entwirft.    Seinem  Bruder  Siegfried, 
welcher  den  erzbischöflichen  Stuhl  von  Köln  in  den  Jahren  1275 
bis  1297  inne  hatte,  wird  ein  eigener  Abschnitt  (S.  29—43)  ge- 
widmet, wie  diess  auoh  dieser  in  seiner  Art  ausgezeichnete  Mann, 
der  besser  das  Schwert  als  den  Hirtenstab  in  seiner  Hand  geführt 
hätte,  verdient.  Die  wechselvollen  Schieksale  dieses  Kirchenfürsten 
»der  sich  als  Regent,  als  Held  und  teutscher  Patriot  so  vortheil- 
haft  auszeichnete  und  auch  nicht  wenig  zum  Glänze  und  zum 
Wohl  des  westenburger  Geschlechtes  beitrug«,  werden  in  diesem 
Abschnitt  erzählt.    Im  vierten  Abschnitt  (S.  43  — 108)  verfolgt  der 
Verfasser  die  weiteren  Geschicke  des  Geschlechts,  von  Heinrich  I. 
an  bis  zu  Beinhart  III.,  und  der  Verbindung  mit  Leiningen  durch 


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Stark:  Tafel  von  Deutechland. 


die  Leiningen'sche  Erbschaft,  wie  wir  oben  bemerkt  haben;  Alles 
an  der  Hand  der  Urkunden  und  durch  diese  belegt.  Es  war  daher 
gewiss  zweckmässig  in  dem  beigefügten  > Urkundenbach  der  Dyna- 
sten von  Westerburg«  vier  und  achtzig  der  wichtigsten,  sämmt- 
lich  bisher  ungedruckten  Urkunden  in  lateinischer  wie  in  deutscher 
Sprache  mitzutheilen  und  zwar  getreu  nach  den  noch  vorhandenen 
Originalen  oder  alten  Copien  derselben.  Es  ist  diess  um  so  ver- 
dienstlicher, als  diese  Urkunden  noch  Manches  Andere  enthalten, 
was  für  andere  Geschlechter  oder  für  die  Zeit  Verhältnisse  über- 
haupt und  deren  nähere  Kunde  von  Belang  ist.  Nur  auf  der  Grund- 
lage solcher  mit  den  nöthigen  urkundlichen  Belegen  ausgestatteten 
Monographien  wird  eine  gründliche  Landesgeschichte  erwachsen 
können,  und  darum  wird  man  den  Gelehrten,  der  die  gründliche 
Arbeit  unternommen  und  dem  Verein,  der  dieselbe  ins  Leben  ge- 
rufen hat,  die  volle  Anerkennung  nicht  versagen  können. 


Statistische  Tafel  von  Deutschland  seit  der  Bildung  des  norddeutschen 
Bundesstaates  von  Dr.  A.  Stark.  Enthält:  Land- Eint  Heilung, 
Grösse,  Landwirlhschaft ,  Bergbau  und  Hüttenwesen,  Qewerb- 
tHä  tinkeil,  Handel,  Bildungswcsen,  Finanzen,  Armee,  Verkehrs- 
anstalten, Mineralquellen  und  Bäder,  Hauptstädte  und  wich- 
tigste Orte.  Gera  und  Leipzig,  Verlag  von  Hermann  Kautz, 
1Ö66.  Preis  5  Gr.  oder  18  Kr. 

Auf  dieser  Tafel ,  die  eine  Länge  von  circa  vier  und  eine 
Breite  von  fast  drei  Fuss  hat,  findet  man  nach  den  auf  dem 
Titel  genannten  Gegenständen  in  zehn  Rubriken  alle  die  Notizen 
zusammengestellt,  welche  über  den  betreffenden  Gegenstand  sich 
geben  lassen ;  es  wird  der  Leser  auf  diese  Weise  ganz  leicht 
einen  statistischen  Ueberblick  über  alle  grössere  oder  kleinere 
Länder  erhalten,  die  man  bisher  unter  Deutschland  begriff, 
jedoch  mit  Ausschluss  von  Oesterreisch  und  von  den  zu  Holland 
gehörigen  Landestheilen.  Die  einzelnen  Angaben,  namentlich  die 
Zahlen  der  Bevölkerung  u.  dgl.  m.  sind  genau  und  auf  die  neuesten 
offiziellen  Erhebungen  basirt ,  daher  für  den  Leser  verlässig ,  der 
um  geringen  Preis  sich  diese  umfassende  Statistik  verschaffen  kann. 
Insbesondere  umfangreich  im  Verhältniss  sind  Notizen  Uber  Ge- 
werbthätigkeit  und  Handel;  die  über  Finanzen  uud  Armee,  die  in 
Eine  Rubrik  geworfen  sind,  werden  aber  wohl  bei  den  gegenwärti- 
gen Zeitverhältnissen  bald  grössere  Ausdehnung  gewinnen  und  aus- 
einander zu  halten  sein. 


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Ii.  19.  HEIDELEEEGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


1)  Die  Depo  Bit  ion  und  Degradation  nach  den  Grundsätzen  des 
kirchlichen  Hechts,  historisch-dogmatisch  dargestellt  von  Dr. 
F.  Kober,  o.  ö.  Professor  an  der  kathoL  theolog.  Fakultät 
in  Tübingen.  Tübingen  1867. 

2)  Geschichte  der  populären  Literatur  des  römisch- kanonischen 
Recht»  in  Deutschland  am  Ende  des  fünfzehnten  und  am  Anfang 
des  sechssehnten  Jahrhunderts  von  Dr.  Roderich  Stintzing , 
ordentl.  Professor  der  Rechte  in  Erlangen.  Leipzig  bei  Hirzel. 
1867. 

Wir  gedenken  über  zwei  bedeutende  Werke  der  neuesten  Zeit 
eine  kurze  Anzeige  zu  geben. 

Zu  1.  Der  Verfasser  des  ersten  Werkes  gehört  zu  den  gelehrtesten 
Canonisten  Deutschlands.  Er  selbst  wird  nicht  leugnen,  dass  die 
innere  Ordnung  des  katholischen  Kirchensytems  auf  zwei  Rich- 
tungen ruht :  die  Disciplin  der  Kirche  in  den  Kirchenstrafen ,  die 
Disciplin  der  Kirche  in  den  Bussinstituten  —  de  poenis  et  poeni- 
tentiis,  wenn  ich  diese  Worte  im  weitern  und  engern  Sinn  ge- 
brauchen darf.  Der  Verfasser  hat  in  seinem  dreibändigen  Werke 
gezeigt,  dass  die  katholische  Kirche  dem  Bildungsgange  der  Welt, 
gemäss  der  Oulturbildung  entsprechen  kann,  ohne  von  seinem 
historischen  Rechte  Etwas  aufzugeben,  welches  derselbe  vortrefflich 
erklart:  der  Verfasser  wird  aber  auch  zugeben,  dass  die  katho- 
lische Kirche  \n  ihren  Bussinstituten  durch  das  Busssacrament  und 
den  Ablass  nichts,  auch  gar  nichts  in  Form  und  Sache,  besonders 
bei  dem  Sacrament  durch  die  Ohrenbeichte  aufgeben  darf,  weil  es 
in  das  Wesen  der  kirchlichen  Ordnung  gehört.  Von  dem  letztern 
Punkte  haben  wir  hier  nicht  zu  sprechen ;  wir  benützen  aber  diese 
Gelegenheit,  um  ein  anderes  von  einem  protestantischen  Gelehrten 
geschriebenes  gelehrtes  Werk  in  Betracht  zu  nehmen,  der  auch  das 
katholische  Bussinstitut  in  seine  Geschichte  aufgenommen  hat, 
namentlich  hinsichtlich  der  Casuistik  des  Beichtstuhls,  dessen  Ge- 
schichte und  Bedeutung  er,  wie  uns  scheint,  nicht  vollkommen  be- 
griffen hat. 

Was  nun  den  Herrn  Professor  Kober  angeht,  so  hat  er  seine 
Meisterschaft  bewiesen :  1)  indem  er  seinen  Gegenstand  nach  allen 
Seiten  hervorgehoben  hat,  der  bis  auf  diesen  Tag  Monographien 
nicht  aufzuweisen  hat,  2)  indem  er  die  Lehre  von  den  Censuren 
und  Strafmitteln  der  früheren  Zeiten,  wie  sie  noch  bei  Reiffenstuel 
und  Andern  vorgetragen  ist,  ganz  zur  Seite  liegen  lässt,  weil  Man- 
ches hier  verändert  werden  musste.    Besser  ist  freilich  die  Dar- 

LTX  Jahrg.  4.  Heft.  19 


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290  Kobern.  Stintstng:  Zum  Canonisohen  Recht 

Stellung  von  Schmalzgrueber  in  der  Gesammtverbindung  der  Stra- 
fen und  Bussen  bis  zur  Uasuistik.  8)  Dass  er  aber  das  Charakter- 
feste in  dieser  Lehre,  der  poenae  medicinales  und  vindicativae  an 
die  Spitze  stellt.  4)  Dass  er  die  Bedeutung  dieser  Lehren  für  unsere 
Zeit  durch  ein  vor  kurzer  Zeit  eingetretenes  Experiment  in  Deutsch- 
land hervorhebt  und  praktisch  macht.  5)  Dass  er  statt  in  dieser 
Lehre  Terrorismus  und  Unfreiheit  zu  beurkunden  umgekehrt  Aucto- 
rität  und  Liberalität  zugleich  findet,  und  die  Discipiin  durch  das 
geordnete  Gerichtsverfahren  als  höchst  ungefährlich  darstellt.  6) 
Dass  er  die  Gelegenheit  benutzt,  die  interessantesten  Lehren  der 
katholischen  Kirche  gelegentlich  hervorzuheben. 

Sehr  ruhig  eröffnete  er  seinen  Kreislauf  durch  die  Excommu- 
nication,  die  der  Recensent  No.  48  der  Jahrbücher  von  1857  an- 
zeigt hat,  und  wo  Herr  Prof.  Kober  aufgemuntert  wurde,  Indices 
anzuhängen,  die  jetzt  in  den  drei  Bänden  vortrefflich  sind. 

Eben  so  wichtig  war  die  Lehre  von  der  Suspension,  wo  eben- 
falls sehr  bedeutende  Verhältnisse  berührt  sind,  z.  B.  die  Discipiin 
in  Beziehung  auf  das  Recht  zu  predigen.  Das  Recht  zu  predigen 
ist  aber  nur  das  Recht  zu  unterrichten,  und  nicht  das  Recht,  das 
Entscheidungsrecht  in  der  Lehre  zu  üben  (magisterium). 

Aber  den  grössten  Anlauf  hat  der  Schriftsteller  in  der  Lehre 
von  der  Deposition  und  Degradation  genommen,  wo  das  ganze 
System  der  Kirche  gerade  bei  der  Darstellung  einer  Detaillehre 
seine  Vollendung  gefunden,  und  dasjenige  wahr  geworden  ist,  was 
er  vorausgesetzt  hat,  dass  man  sich  jetzt  nicht  mehr  um  Systeme 
des  Kirchenrechts  als  um  die  Darstellung  von  Detaillehren  kümmern 
muss  (S.  die  Vorrede  zum  I.  Bande  oder  dem  Kirchenbann). 

Es  handelt  sich  hier  blos  davon  ,  eine  kurze  Uebersicht  des 
Gesammt werks,  seines  Systems,  die  Art  der  Durchführung  des  Ein- 
zelnen, und  der  Bestrebung  zu  geben,  wo  jeder  Streitpunkt  in  die 
Geschichte  des  Systems  verwickelt  ist.  Eine  Dogmengeschichte  hat 
der  Verfasser  Überall  vorausgesetzt,  er  bedurfte  sie  aber  in  der 
Literatur  nicht  nachzuweisen,  weil  schon  in  der  Consequenz  der 
Begriffe  und  Eintheilungen  und  Kirchengeschichte  das  wesentliche 
Moment  des  kirchlichen  Instituts  liegt,  und  dabei  von  dem  Ge- 
dankengange des  Ungehorsamen,  wie  z.  B.  bei  andern  welt- 
lichen Delicten  des  Rechts  nichts  abhängt.    Es  sind  hier  lauter 
delicta  propria  der  zu  Bestrafenden,  d.  h.  Vergehen,  die  aus  dem 
Standpunkte  der  Unbotmässigkeit  erscheinen.    Dem  Recen- 
senten  wird  es  vielleicht  gelingen,  die  Dogmengeschichte  des  kirch- 
lichen Systems  in  Beziehung  auf  Simonie,  Wucher,  Tödtung  u.  8.  w. 
mit  dem  Thatbestand  und  der  Schuld,  dann  über  die  Einheit  der 
Kirche,  Hierarchie,  dann  des  kirchlichen  Gesetzes  auch  des  Verfahrens, 
namentlich  der  denunciatio  und  inquisitio  in  einer  eigenen  Darstel- 
lung hervorzuheben.  Zur  Uebersicht  des  Systems  unseres  Verfassers 
diene  Folgendes:    Bekanntlich  war  die  Behandlung  des  Kirchen  - 
rechts  in  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  in  Deutschland  so- 


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Sober  u.  StinUing:  Zum  Ctnonisohen  Recht.  391 


•vohl  von  den  Lehrern  wie  von  den  Zuhörern  ganz  zur  Seite  ge- 
stellt, und  erst  die  neueste  Zeit  hat  neue  Kräfte  gesammelt:  ein 
gefährlicher  Punkt  war  eine  Ineinandermischung  katholischer  und 
protestantischer  Ansichten  und  Begriffe;  aber  auch  darauf  wurde 
man  aufmerksam.  Die  drei  Werke  unseres  Verfassers  hatten  fast 
allein  den  katholischen  Standpunkt.  S.  jedoch  III.  Band.  S.  175. 
Ueber  den  ersten  Band  ist  als  in  diesen  Blättern  schon  augezeigt 
weniges  anzuführen:  vorzüglich  gut  behandelt  ist  der  formelle 
Punkt  der  Begründung  der  Excommunicatio  in  der  Person  des 
Excommqnicirten  durch  die  Publication  des  Bxcommunioations- 
bescheides  in  der  Benennung  d e r  P e r  8 o n  entweder  durch  den 
Namen,  oder  durch  eine  Bezeichnung,  die  ohne  allen  Zweifel 
der  Namensbezeiohnung  gleich  ist,  wie  z,  B.  bei  Kapoleon  L  — 
Sowohl  bei  der  Begründung  der  Exoommuuication  wie  bei  der  Ab- 
solution sind  so  zu  sagen  die  römischen  Rechtsformen  im 
Privatreeht  zur  Grundlage  genommen  z.  B.  bei  der  Exheredatio, 
wo  die  sui  männlichen  Geschlechts  eben  so  formell  enterbt  wer- 
den  mussten:  bei  der  Entlassung  aus  der  väterlichen  Gewalt  oder 
resp.  der  Entlassung  der  Sklaven  die  manumissio  per  vindictam, 
wo  eine  Flagellatio  stattfand,  die  im  canonisohen  Rechte  so- 
gar auf  die  Absolution  der  Todten  angewendet  wurde.  Aber  dieses 
waren  Nebensachen:  die  Excommunication  an  sich  war  nicht  von 
so  schweren  Folgen  begleitet,  wie  man  sich  vorstellt  —  und  wurde 
überhaupt  durch  die  neuesten  Constitutionen  der  vitandi  und  to- 
lerati  sehr  erleichtert :  aber  wieder  hinsichtlich  der  Wirkungen  der 
excommunicatio  tritt  ein  römisches  Verbältniss  hervor,  d.  h.  der 
Excommunicirte  verliert  sein  suffragium  —  und  dieses  Wort 
ist  canonisoh  technisch  (S.  Ferraris  8.  v.  suffragium)  —  im 
Einzelnen  kommen  dann  die  Heilmittel,  aber  ohne  Hoffnung 
bleibt  der  Excommunicirte  auch  für  den  Fall  des  Todes  und  im 
Tode  nicht  —  doch  genug. 

Was  nun  die  suspensio  angeht,  so  ist  der  zweite  in  diesen 
Jahrbüchern  noch  nicht  angezeigte  Band  ebenfalls  von  grosser  Be- 
deutung. Die  suspensio  bezieht  sich  blos  auf  die  clerici  und  mit 
Recht  hat  der  Verfasser  unterschieden  das  Verbältniss  der  Indi- 
viduen nach  den  clericis  im  Allgemeinen  und  der  Bischöfe  insbe- 
sondere, dann  das  Verhältniss  der  Corporationen  d.  i.  der  Üapitel, 
Klosterconvente  mit  den  Angehörigen  derselben:  dann  ist  ausge- 
führt die  suspensio  ab  officio  und  a  benefioio,  wo  bei  der  letzteren 
dasjenige  hervortritt,  was  sich  auf  die  Benutzung  des  Beneficial- 
vermögens  und  die  Privation  desselben  gleichsam  im  Sinne  des 
Privatrechts  bezieht:  dann  wird  vortrefflich  hervorgehoben,  der 
Unterschied  der  suspensio  als  Censur  —  und  ausnahmsweise  als 
poena  vindicativ a,  wohin  auch  die  Absolution  bei  der  Censur  und 
als  poena  vind.  unterschieden  wird,  endlich  das  Verfahren,  welches 
züerdiaga  das  gewöhnliche  ist,  wobei  aber  auch  das  Verfahren  ex 
iüform&t*  ©onsoientia  vorkommen  kann. 


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292  Kober  u.  Btintsing:  Zum  Canonischen  Recht* 


Um  nun  zum  dritten  Bande  überzugehen,  der  nicht  blos  den 
Hauptgegenstand  bis  in  das  kleinste  Detail  darstellt,  sondern  zu- 
gleich die  wesentlichsten  Beziehungen  des  Gesammtkirchenrechts 
darstellt,  z.  B.  die  Bischöfe  sind  nicht  Diener  des  Staats  und  von 
ihm  bestellt,  sondern  sie  empfangen  Amt  und  Mission  aus  den 
Händen  der  Kirche  u.  s.  w.  —  das  Concilium  von  Sardica,  den 
Standpunkt  der  africanischen  Kirche  (ad  transmarina),  die  pseudo- 
isidorischen  Decretalen,  die  Einsetzung  und  Absetzung  in  allen 
Kirchenämtern  bis  zum  Papste  hinauf.  Vor  Allem  wird  daher 
nöthig  sein,  den  Inhalt  des  Buches  darzustellen.  Erstes  Capitel :  Die 
Deposition  in  der  älteren  Kirche.  Zweites  Capitel:  Die  Depositum 
und  Degradation  in  der  spätem  Zeit.  Schon  im  ersten  Capitel 
wird  dargestellt,  dass  der  (J  lenk  er  für  immer  deponirt  bleibe, 
und  in  seine  frühere  Stellung  nie  wieder  zurückversetzt  werde 
(8.  29).  Es  blieb  ihnen  nur  die  communio  laica  (S.  60  ff.),  oft 
aber  trat  auch  die  öffentliche  Kirchenbusse  dazu  (S.  69).  Von  der 
traditio  curiae  oder  Degradation  durch  kaiserliche  Constitutionen 
(S.  90).  In  kirchlicher  Hinsicht  aber  besteht  die  Deposition  als 
diejenige  Kirchenstrafe,  vermöge  welcher  die  Cleriker  aller  Amts- 
und Standesrechte,  sowie  der  kirchlichen  Einkünfte  auf  immer  ver- 
lustig gingen,  aus  dem  Clericalstande  Verstössen  und  unter  die 
Laien  zurückversetzt  (Laiisiren).  Kober  behauptet  »bis  gegen 
das  Ende  des  zwölften  Jahrhunderts  wurden  die  Ausdrücke  depo- 
sitio  und  degradatio  durchaus  als  Synonym  gebraucht  und  bezeich- 
neten eine  und  dieselbe  Strafe«  —  allerdings  möchten  wir  hier 
einigen  Zweifei  erheben,  weil  auch  bürgerliche  Gesetze,  wie  schon 
oben  angeführt,  in  der  ersten  Zeit  Bedeutung  haben.  Ebendesshalb 
richtet  der  Verfasser  in  der  zweiten  Abhandlung  eine  eigene  Ab- 
handlung für  seine  eben  angegebene  Meinung  ein.  Zugeben  können 
wir  dem  Verfasser  nur  zweierlei:  1)  dass  die  Todesstrafe  den 
Cleriker  niemals  traf.  Es  war  dieses  im  Geiste  des  Kirchenreohts, 
und  wenn  unsere  Laien  Missethäter  der  grassesten  Art,  Meu- 
chelmörder, Raubmörder,  Elternmörder  die  höhere  Bildung  der 
Cleriker  oder  nur  die  BesserungsfUhigkeit  würden  erlangen  können, 
so  könnte  man  auch  die  jetzt  so  olt  behandelte  Frage  über  die 
Aufhebung  der  Todesstrafe  in  Hinsioht  auf  das  Staatskriminalrecht 
in  Betracht  nehmen.  2)  Dass  die  Degradation  selbst  nicht  in  den 
ersten  Jahrhunderten,  sondern  später  erst  die  begriffliche  und  Unter- 
scheidungsrichtung bis  zur  formellsten  Natur  annahm,  die 
wir  jetzt  finden. 

Von  nun  an  hat  die  Darstellung  in  vier  andern  Capiteln  die 
gegenwärtige  Gestalt  der  Lehre  und  zwar  in  dem  dritten  Capitel 
die  Lehre  von  der  depositio  und  degradatio  verbalis  und  actualis 
(bei  dieser  letzteren  Doppelrichtung  eine  bedeutende  Controverse) 
—  dann  in  dem  vierten  Capitel  von  den  Behörden,  welche  die 
Cleriker  aller  Art  absetzen  können,  im  fünften  Capitel  von  den 
Verbrechen,  auf  welche  die  Deposition  gesetzt  ist  und  im  sechsten 


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Kobe*  u.  Stint*Ing:  Zum  Canonischen  Recht.  198 

Capitel  von  den  mit  der  Degradation  bedrohten  Verbrechen.  Dabei 
müssen  wir  im  Knrzen  anführen;   1)  die  schöne  Ausführung  des 
Princip8,  Christus  habe  die  Strafgewalt  den  Aposteln  und  ihren 
Nachfolgern,  und  nicht  der  Gemeinde  überlassen  (S.  396).  Somit 
die  Handhabung  der  ganzen  Kirchenordnung.  2)  Die  Bischöfe  Äraren 
ursprünglich  an  ihre  Presbyter  als  ihre  natürlichen  Rathgeber  ge- 
baodeu :  der  Verfasser  stellt  hier  den  Zustand  der  Zeit  dos  Decrets 
Gratians  dar,  und  zwar  mit  Recht  nach  dem  Standpunkt  der  orien- 
talischen, afrikanischen,  occidentalen  Disciplinarordnungen ,  beson- 
ders der  sehr  ausgebildeten  afrikanischen  Kirchendisciplin,  er  führt 
die  afrikanischen  Concilien  an  und  den  bekannten  c.  6  Causa  XV. 
qn.  7:  er  entwickelt  die  Anerkennung  des  päpstlichen  Primats  von 
allen  Seiten ,  namentlich   auch  für  die  afrikanische  Provinz  mit 
Rücksicht  auf  Cyprian,  er  stellt  die  spatere  Ausbildung  unter  Gre- 
gor IX.  im  c.  1  X.  1,  31  und  c.  13  X.  2,  2  dar  (S.  310)  und 
gerade  hier  sieht  man,  wie  unentbehrlich  das  Studium  derKirchen- 
gescbichte  ist.  (Der  berühmte  Hirscher  berief  sich  vor  vielen  Jah- 
ren in  einer  eigenen  Schrift  auf  die  c.  6  Causa  XV.  qn.  7  und 
dabei  mit  einer  falschen  Lesart,  gedachte  nicht  der  Stellen  in  den 
Decretalen:  der  Recensent  erliess  damals  eine  Schrift  gegen  ihn 
(Antwort  eines  Laien):  wo  er  die  Bedeutung  der  Stelle  in  eben 
der  Art,  wie  unser  gelehrter  Verfasser  zeigte.)  —  Doch  genug. 
3)  Nunmehr  hat  Herr  Prof.  Kober  bei  Gelegenheit  der  Absetzung 
der  Aebte  sich  in  die  Natur  und  Geschichte  des  Mönchswesens 
eingelassen,  und  den  Hauptpunkt  hervorgehoben,  dass  die  Mönche 
den  Clericis  entgegengesetzt  wurden,  bis  allmählig  durch  das  Ver- 
schwinden des  rohen  Laienwesens  und  der  Erhebung  zur  Wissen- 
schaft und  zum  Clericat  eine  neue  Ordnung  der  Mönchsverbindun- 
gen eintrat,  wobei  der  Verfasser  mit  Recht  bemerkt,  dass  auch 
der  Jesuitenorden  zu  den  Mendicanten  gehört:  —  4)  In  Hinsicht 
der  Bestrafung  der  Bischöfe  geht  der  Verfasser  wieder  an  der  Hand 
der  Geschichte,  untersucht  die  Einwirkung  der Provincialconcilien , 
nod  die  Appellation  an  den  Papst,  wieder  nach  den  einzelnen  Pro- 
rinzen,  Orient  (Concil  von  Sardica):  Afrika,  wo  man  ursprünglich 
das  Concil  von  Sardica  nicht  kannte,  sondern  erst  durch  Nach- 
forschung kennen  lernte,  so  dass  dann  später  der  Pseudoisidor 
keine  Neuerung  in  der  Sache  gab  (von  Hadrian  S.  480).  Dadurch 
kam  er  auf  das  fränkische  Reich,  auf  die  causae  majores,  und  wie- 
der hier  zeigt  sich,  was  vor  vielen  Jahren  der  Recensent  dem  Prof. 
Richter  nachgewiesen  hat,  dass  es  keine  eigentümliche  fränkische 
Kirche  gab,  was  Richter  selbst  dann  zurücknahm  (S.  458.  456). 
Endlich  kommt  unser  Verf   auf  das  Recht  der  Decretalen  zurück 
(8.  464).  Zuletzt  geht  derselbe  auch  auf  das  Verbältniss  der  mög- 
lichen Fehler  des  Papstes  ein,  und  rechtfertigt  den  Cardinalsatz 
der  Hierarchie  »prima  sedes  a  nomine  judicaturc,  denn  die  Lehre 
ron  den  kirchlichen  Strafen  ist  der  Punkt,  von  welchem  aus  der 
Satz  selbst  seine  Bedeutung  hat.  Dabei  gibt  der  Verfasser  zuletzt 


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Kober  u.  Sttntsisg:  Zum  Cmnonlichen  Rocht. 


die  Stufenfolge  der  Kircbenstrafen  (8.  588).  Es  geschieht  dieses 
im  Standpunkte  der  vollen  Ausbildung  des  Kirchensystems,  wo 
bei  der  Cultur  der  Völkor  andere  nicht  geistliche  Strafen,  die  man 
einst  in  den  Pönitentialbüchern  anwenden  Hess,  wegfallen.  Es  zeigt 
sich  dann  auch,  wie  diese  Bücher  jetzt  nur  eine  Bedeutung  haben 
für  das  Busssystem  und  zur  Casuistik  des  Beichtrechts  gleichsam 
als  eine  Fühlung  des  christlichen  Gewissens.  —  Wir  wollen  hier 
des  Raumes  unserer  Heidelberger  Blatter  wegen  abbrechen,  und 
nur  noch  auf  die  schönen  Ausführungen  uns  beziehen,  die  sich  auf 
das  objective  Verhältniss  der  Verbrechen  der  Deposition  und  De- 
gradation beziehen.  Es  war  für  Deutschland  eine  Zeit,  wo  sich 
auch  Laien  an  der  Erhebung  und  Darstellung  des  Kirchenrecbts 
interessirten,  und  so  sagte  dem  Rocensenten  ein  sehr  gelehrter  und 
grosser  Cardinal  der  Kirohe,  dass  dieses  gut  sei,  aber  es  müsse 
dahin  kommen,  dass  deutsche  Cloriker  dieses  Feld  bearbeiteten,  im 
Ueberblick  der  Kirchengesohichte.  Dieses  ist  in  Erfüllung  gegangen 
durch  das  vortreffliche  Werk,  welches  unser  Verfasser  geschrieben 
und  seine  Vollkenntniss  des  Kirchenrechts  gezeigt  bat. 

Zu  2.  Es  ist  der  Zweck  dieser  Recension  nicht,  die  eignen  An- 
sichten und  Urtheile  des  Verf.  hervorzuheben  oder  anzugreifen:  in 
der  Zeit,  welche  der  Verfasser  darstellt,  war,  wie  er  selbst  sagt, 
von  den  doctores  legum  nicht  die  Rede,  aber  vom  canonischen 
Recht,  weshalb  man  nur  die  Geschichte  der  Universitäten  von  Prag 
und  Heidelberg  in  Berücksichtigung  nehmen  darf,  und  keineswegs 
durch  die  Coryphäen  der  Reformation,  sondern  durch  das  cano- 
nische Rech t,  welches  von  jeher  ein  christlich  einheimisches 
auch  in  Deutschland  war,  und  durch  die  Einleitungsschrift  in 
Gratians  Decret  ist  auch  das  römische  Recht  ein  einheimisches 
für  Deutschland  und  für  das  deutsche  Volk  geworden.  Man  hatte 
niemals  von  der  Reception  des  römischen  und  canonischen  Rechts 
sprechen  sollen,  wie  man  etwa  von  der  Reception  des  französischen 
Civilreobts  für  Baden  spricht.  Aber  das  erkennen  wir  bei  Stin- 
tzing  an,  was  er  S.  XXVI  spricht: 

»Nioht  nur  die  Sprache  der  Bildung  allgemein,  sondern  das 
Reich,  die  Kirche,  die  Sprache  der  Andacht  war  römisch,  und  wie 
man  die  Lehren  der  Religion  aus  fremden  Urkunden  schöpfen 
musste,  so  auch  bei  dem  Rechte«  —  »das  römische  Recht,  sagt 
derselbe  Verfasser,  war  dem  Bewusstsein  jener  Zeiten  für  keine 
Nation  ein  Fremdes,  sondern  es  erschien  als  das  Allgemeinere, 
Höhere,  Allumfassende.« 

Den  Sinn  für  Nationalität  hätte  also  der  Verfasser  ebenso 
wie  die  spätere  kirchliche  Entwickelung  und  Wissenschaft  für  seine 
Arbeit  bei  Seite  lassen  sollen.  Auch  war  früher  Sebastian 
Brant  kein  Vorkämpfer  des  jetzt  so  benannten  Humanismus.  Das 
wichtigste  in. der  von  Stintzing  geschilderten  Zeit  ist  der  Ein- 
flus8  der  vorgebrachten  Werke  auf  den  Prozess,  wovon  wir  bei 
einer  andern  Gelegenheit,  sowie  überhaupt  von  diesem  mit  grossem 


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Kober  tl  Stintaing:  Zum  Canontsohen  Recht.  »06 

Fleisse  und  Ausdauer  geschriebenen  Buche  Stintzing's  sprechen 
werden:  das  römische  Recht  ist  allerdings  die  Grundlage  aueh 
unseres  Rechts,  aber  es  ist  nicht  das  römische  Recht  nach  seiner 
Wesenheit,  am  wenigsten  in  Beziehung  auf  das  Kirchenrecht.  Das 
canonische  Recht  hebt  germanische  Ansichten  hervor,  und  mit 
Recht  bemerkt  auch  Richter  in  seinem  Schwanengesang,  dass 
man  im  preuss.  Landrecht  das  Compendium  von  G.  L.  Böhmer 
zum  Grunde  genommen  habe.  Hier  sei  es  uns  gestattet,  zu  dem 
zehnten  Capitel,  der  geistlichen  Jurisprudenz,  einige  Worte  zu 
machen. 

Mit  Recht  wird  angeführt,  dass,  weil  nach  canonischer  An- 
sicht der  Mensch  nicht  sein  eigener  Sittenrichter  sei,  sondern  sich 
einem  von  der  Kirche  bestellten  Sittenrichter  und  zwar  durch  die 
Ohrenbeicht  unterwerfen  müsse,  —  dieser  Sittenrichter  einen  Maass- 
stab seines  Urtheils  haben  müsse,  auf  rein  juristische  Weise,  und 
dass  so  eine  Casuistik  und  Entscheidnngsregel  entstanden  sei.  Um 
nun  dieses  erklärlich  zu  finden,  kann  man  nicht  annehmen,  dass 
das  Bassinstitut  erst  durch  diesen  oder  jenen  Papst  —  durch  diese 
oder  jene  Gewohnheit  entstanden  sei ,  und  muss  sich  daher  der 
Ausfuhrungen  enthalten,  die  Herr  8 1  i  n  t  z  i  n  g  zur  Grundlage  seiner 
Darstellung  gemacht  hat,  und  wornach  derselbe  sich  nur  auf  pro- 
testantische Ansichten  und  Schriftsteller  bezieht.  Wir  hätten  ge- 
wünscht, dass  er  das  Lehrbuch  von  Devoti  sect.  IV.  de  poenitentia 
§.  70.  Note  2  gelesen  und  seine  einseitige  Darstellung  unterlassen 
hätte.  Was  aber  die  Schriften,  welche  er  angeführt  hat,  betrifft, 
so  schätzen  wir,  wie  überall  seinen  Fleiss,  obgleich  ihm  Manches 
fehlt,  wie  z.  B.  die  summa  Pacifica,  die  er  schon  bei  Ligorio  theoL 
moralis  hätte  kennen  lernen  können.  Mehr  noch  hätten  wir  ge- 
wünscht, dass  er  das  System  der  katholischen  Kirche  von  forum 
poli  oder  internum  zum  externum  aufgefasst  hätte,  wie  es  sogar 
in  des  Recensenten  Lehrbuch  des  Kirchenrechts  mit  der  Richtung 
auf  die  Casuistik  steht.  Vieles  ist  von  Stintzing  gut  ausgeführt, 
z.  B.  Alles,  was  er  über  die  bona  fides  bei  der  Verjährung  nach 
canonischen  Ansichten  darstellt,  und  was  eben  unsere  Romanisten 
als  gemeines  deutsches  Recht  nicht  anerkennen  wollen.  Die  Lehre 
von  den  Zinsen  ist  durchaus  ungenügend  behandelt,  und  was  sollen 
hier  die  nncanonischen  Schriften  bei  Hillebrand  S.  540  für  eine 
Bedeutung  haben.  Es  hängt  hier  alles  von  den  usurae  lucratoriae 
und  compensatoriae  ab,  woran  weder  Endemann  noch  Neuraann 
in  Dove's  Zeitschrift  V.  Band  gedacht  haben.  Auch  finden  wir  etwas 
sonderbar  die  unrichtige  und  selbst  als  zweifelhaft  aufgestellte  An- 
sicht S.  505.  Note  x  —  wobei  Stintzing  die  Darstellung  von 
Perrone  in  der  Rechtfertigung  der  unbeflekten  Empfängniss,  auch 
wegen  der  Ansicht  des  Thomas  von  Aquino  hätte  nachsehen  können. 
Ganz  speziell  hat  sich  darauf  und  zur  Rettnng  des  heil.  Thomas 
bezogen  Speil  die  Lehre  der  katholischen  Kirche  gegenüber  der 
protestantischen  Polemik  S.  163  ff.   Doch  lassen  wir  dieses  Alles 


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206  Poeta«  lyrlci  Graeci.  Ree.  Bergk. 

—  sind  wir  dem  Verfasser  Dank  schuldig,  dass  er  in  seiner  pro- 
testantischen Gesinnung  hat  Rücksicht  nehmen  wollen  anf  dieses 
wichtige  Capitel,  welches  er  nennt  geistliche  Jurisprudenz. 

Rosshirt. 


Podae  lyrici  Graeci.  Teriiia  curis  recevmit  Theodor u&  Bergk. 
Pars  1.  Pindari  Carmina  continem.  Pars  11,  poeta»  elegiacos 
et  jambographos  coniinens.  Lipsiae  in  aedibus  B.  0.  Teubner. 
MDCCCLXV1.  804  8.  in  gr.  8. 

Wir  glauben,  auch  ohne  die  Vollendung  des  Ganzen  abzuwar- 
ten, doch  über  die  beiden  hier  vorliegenden  Theile  einer  neuen, 
der  dritten ,  Ausgabe  der  griechischen  Lyriker  einen  Bericht 
abstatten  zu  müssen,  um  in  der  Kürze  auf  das  wenigstens  hinzu- 
weisen, was  dieso  neue  Ausgabe  vor  ihren  beiden,  hinreichend  be- 
kannten und  verbreiteten  Vorgängern  auszeichnet.  Zwar  ist  in  der 
äusseren  Einrichtung  des  Ganzen  keine  Aenderung  eingetreten,  die 
äussere  Ausstattung  selbst  vorzüglicher  ausgefallen,  als  diess  in 
den  beiden  vorausgegangenen  Ausgaben  der  Fall  war:  in  der  Be- 
handlung des  Textes,  und  der  demselben  unterstellten  Anmer- 
kungen tritt  jedoch  die  Verschiedenheit  von  den  früheren  Aus- 
gaben in  einer  Weise  hervor,  die  in  Manchem  wie  eine  völlige 
Umarbeitung  erscheint.  Die  kritischen  Noten,  welche  das  Wesent- 
lichste der  Abweichung  in  demTexte  enthalten  sollen,  haben  eine 
bedeutende  Erweiterung  erhalten,  namentlich  auch  dadurch,  dass 
die  mit  der  Kritik  in  so  vielen  Stellen  zusammenhängende 
Erklärung  berücksichtigt  worden  ist,  und  hier  überhaupt  nicht 
Wenig  Neues  und  Beachtenswerthes  zur  besseren  Auffassung  und 
zum  Verständniss  des  Textes,  daher  auch  mancher  Beitrag  zur 
näheren  Kunde  des  Sprachgebrauchs,  selbst  mit  Beifügung  weiterer 
Belege,  gegeben  ist.  Dass  auf  Alles  das,  was  für  die  lyrischen 
Dichter,  seit  dem  Erscheinen  der  zweiten  Ausgabe  (1853)  in  ein- 
zelnen Ausgaben,  Abhandlungen  oder  gelegentlich  geleistet  worden, 
Rücksicht  genommen  worden  ist,  war  von  der  Sorge,  welcher  der 
Herausgeber  dieser  erneuerten  Ausgabe  zuwendete,  zu  erwarten, 
und  es  wird  kaum  gelingen,  Nachträge  von  Belang  hier  zu  geben. 
Dass  zu  Pindar  die  Ausgabe  von  Tycbo  Mommsen,  dessen  Leistun- 
gen der  Verfasser  alle  Gerechtigkeit  angedeihen  lässt,  noch  nicht 
benutzt  werden  konnte,  lag  in  den  Verhältuissen  der  Zeit,  da  die 
Arbeit  des  Herausgebers  bei  dem  Erscheinen  dieser  Ausgabe  be- 
reits zu  Ende  geführt  war,  also  nur  von  früheren  Aufsätzen  jenes 
Gelehrten  über  Pindar  Notiz  genommen  werden  konnte.  Auch  zog 
sich  der  allerdings  schwierige  Druck  des  Ganzen  etwas  bin,  da  die 
Vorrede  das  Datum  des  December  des  Jahres  1864  mit  einer  Nach- 
schrift vom  December  des  Jahres  1865  trägt.  Aber  ausser  dem, 
was  von  anderer  Seite  zur  Besserung  des  Textes  beigesteuert  oder 
bekanntgeworden,  hat  der  Herausgeber  selbst  das  Ganze  von  neuem 


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Poeiae  lyrlcl  GraecL  Ree.  Bergk. 


sorgf&Uig  durchgesehen,  und  ist  in  Folge  wiederholter  Durchsicht 
ni  manchen  Aeuderuugen  gekommen,  theilweise  auch  zu  weiterer 
Xuaführung  früherer  Ansichten  und  Behauptungen.  Bei  den  vor- 
genommenen Aenderuugen  ist  jedoch  der  Herausgeber  mit  aller 
Vorsicht  und  Umsicht  zu  Werke  gegangen;  eine  direkte  Polemik 
hat  er  meistens  sorgsam  zu  vermeiden  gesucht  »Nostra  studia, 
schreibt  er  in  dem  Vorwort,  verecunde,  aliena  juste  aestimayisse 
mihil  videor,  cavens,  ne  quid  in  alios  acerbius  dicerem,  quamvis 
insignem  levitatem,  qua  hac  nostra  aetate  permulti  criticam  artera 
factitant,  prudenti  homini  fastidium  movere  par  sit.c  Möchten 
diese  Worte  nnr  allgemeine  Beherzigung  finden! 

Der  erste  Theil  enthält  die  noch  erhaltenen  Pindarischen  Ge- 
dichte, die  Siegeslieder  wie  die  Reste  der  verlorenen  Dichtungen; 
dem  Texte  der  Siegeslieder  geht  ein  Index  Carminum  und  ein  zwei- 
ter Index  Temporum,  die  chronologische  Folge  der  einzelnen  Hym- 
nen betreffend,  voraus,  nebst  einer  kurzen  Notiz  Über  die  Codices 
und  Editiones;  dann  folgen  die  einzelnen  Lieder,  mit  vorausge- 
schickter Angabe  des  Metrum's.  Dass  in  der  Behandlung  des  Textes 
der  Herausgeber  nicht  in  Allem  auf  unbestimmte  Zustimmung  wird 
rechnen  können,  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  ohne  das  oben  im 
Allgemeinen  ausgesprochene  Urtheil  zu  andern.  So  z.  B.  gleich  in 
der  ersten  Olympischen  Hymne  hat  Derselbe  Vers  10  beibehalten: 
Kgovov  itattf  ig  atpvtav  Cxo^iivoig  (iccxcuqccv  'Ifycovog  itixiav, 
wo  die  besseren  Handschriften  [xofiivovg  haben,  was  man  vor- 
ziehen dürfte,  wenn  man  den  Accusativ  hier  für  nothwendig  hält, 
den  auch  der  Herausgeber  hier  bei  txouivoig  annehmen  zu  wollen 
scheint,  da  er  hinzusetzt :  »nam  fort.  Pindarus  bic  aeolica  accusa- 
tiv i  forma  usus  est,  vid.  ad  Olymp.  V,  6.«    Hier  nämlich  soll 
xsfiTtafid^OLg  ayilXkcug  nicht  als  Dativ  genommen  werden,  in  dessen 
Erklärung  sich  die  Herausgeber  vergeblich  abgemüht,  sondern  als 
äolisebe  Form  des  Accusativ's,  die  an  manchen  Stellen  durch  die 
Abschreiber  verwischt,  doch  an  einigen  Stellen  sich  noch  erhalten : 
>neqae  tarnen  credo  (setzt  der  Verfasser  jedoch  hinzu)  Pindarum 
ubique  his  Aeolicis  formis  usum  esse,  sed  tantum  in  certo  carmi- 
num genere,  cum  in  aliis  carminibus  vulgares  formas  usurparet: 
atque  fortasse  etiam  in  illo  carminum  genere  aeolicas  clansulas 
non  perpetuo ,  sed  promiscue  adhibuit :  nam  aurium  potissi- 
mum  judicio  haec  te  m  pera  ver  u  n  t  graeci  poetae.«  Ob 
indess  dieser  letzte  Grund  zu  derartigen  Annahmen  überhaupt  ge- 
nügen könne,  mag  immerhin  noch  einigem  Zweifel  unterliegen.  In 
derselben  ersten  Olympischen  Hymne  ist  Vs.  28  ff.  also  gegeben : 
y  ftuvuKTu  nokka  xai  nov  xi  xtcl  ßgoxav  (pect ig  vhIq  xbv  Alafrrj 
loyov  Ö  cd  eud  aktiven  ^svöeöi  noixCXoig  l&Ttaxavxi  [ivfroi.  Hier 
geben  die  meisten  und  besten  Handschriften  (paxt,g,  was  jedenfalls 
beizubehalten  war ;  es  fragt  sich  nur,  ob  als  Accusativ  (für  ydxiag) 
oder  als  Nominativ  aufzufassen:  beides  bat  seine  Schwierigkeiten, 
im  ersteren  Fall,  auch  abgesehen  von  der  metrischen  Schwierigkeit, 


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298 


Poetae  lyriei  Oraeci.  Ree  Bergk. 


pagen  wir  mit  dem  Verfasser:  »neque  enim  figmenta  suavia  homi- 
mim  famam  deeipinnt ,  sed  ipsos  homines  vel  bominum  mentes«; 
will  man  es  aber  als  Nominativ  nehmen,  so  widerstrebt  das  bald 
nachfolgende  /nVhu.  indem  dann  eines  von  beiden  als  überflüssig 
erscheint.  80  kommt  der  Herausgeber  auf  folgenden  Vorschlag, 
den  er  indess  noch  nicht  in  den  Text  aufgenommen  hat :  xal  nov 
xi  xal  ßgoxcSv  Xoyov  vneg  xov  aXa&rj  (porig  Ö edaid aXpivip 
ifrsvdeöi  TCOixiXovg  i^anaxavxi  iivfra,  d.  i.  saepe  etiam  hominnm 
fama  (sive  fabulae)  sermone  speciosis  mendaeiis  supra  veritatem 
exornato  fallit:  poetas  enim  culpat,  qui  antiquam  famam  non  ut 
populi  ore  fertur  memoriae  produnt,  sed  suopte  ingenio  figmentis 
exornant  et  amplificant  «  Auf  diese  Weise  scheint  allerdings  durch 
leichte  Aenderung  der  Stelle  geholfen.  Die  Form  <paxtg  als  Nomi- 
nativ Pluralis,  die  ja  auch  jetzt  bei  Herodot  allgemein  hergestellt 
ist,  hat  der  Herausgeber  mit  gutem  Grunde  in  Schutz  genommen. 
—  In  der  für  die  Erklärung  schwierigen  Stelle  derselben  Hymne 
Vs.  50:  xganilaial  x  dpcpl  devxaxa  xgecov  öi&ev  öuödöavxo 
xal  <pdyov  war  es  gewiss  am  gerathensten,  die  Lesart  der  meisten 
Handschriften  ap(pl  devxaxa  beizubehalten.  In  dem  Schlussvers 
der  neunten  Olympischen  Hymne  auf  Epharmostos,  wo  die  auf  den- 
selben bezüglichen  und  sein  Lob  verkündenden  Worte:  og&iov 
cnpvöat  fragaiav,  xovtf  aviga  datpovia  ysydpev  ev%SLga,  ös^io- 
yvictV)  ogavx  aXxdv  vorausgehen,  schreibt  nun  der  Herausgeber: 
Aldvxsov  xs  ddi&  SV  %JXidSa  vtxcav  ineöxstpdvaMfe  ßaiLOv,  wo 
allerdings  die  meisten  og  OiXcdSa  geben,  und  für  og  die  meisten  Codd. 
sogar  oW  bringen,  oder  das  Wort  ganz  weglassen ;  es  weicht  daher 
auch  seine  Erklärung  von  der  von  Heyne  und  Böckh  gegebenen  ab,  and 
wird  der  von  ihm  gegebene  Text  zu  rechtfertigen  gesucht  durch  die 
Erklärung:  >poetara  cum  virtutes  et  mores  Epharmosti  illustrare 
vult,  non  qnod  semel,  sed  quod  saepissime  fecit,  hic  significare 
oportebat;  —  poeta  insignem  Epharmosti  liberalitatem  laudat,  qui 
solebat,  cum  victoriam  consecutns  esset,  non  solum  sacra  facere 
Aiaci,  sed  etiam  solemnibus  his  epulis  adhibere  cognatos  et  fami- 
liäres« etc.  Wir  theilen  diese  Erklärung  mit,  ohne  weiter  die  Frage 
nach  dem  grammatischen  Zusammenhang  dieses  Verses  mit  dem 
Vorhergehenden,  welcher  og  zu  erfordern  scheint,  weiter  unter- 
suchen zu  wollen.  In  der  zweiten  Ausgabe  war  von  dem  Heraut- 
geber dafür  dg  gesetzt  worden. 

Wir  wollen  diese  aufs  Geradewohl  ausgewählten  Proben  nicht 
weiter  fortsetzen,  da  wir  hier  überhaupt  nur  einen  Bericht  über 
die  neue  Erscheinung  zu  geben  beabsichtigen,  aber  doch  das  Ge- 
sagte auch  für  die,  welche  zu  dem  Werke  selbst  nicht  greifen,  mit 
einigen  Proben  belegen  wollten ;  wir  haben  nur  noch  zu  bemerken, 
dass  auch  den  Fragmenten  Pindars,  welche  von  S.  280 — 882  fol- 
gen, eine  gleiche  wiederholte  Durchsicht  zu  Theil  geworden  ist,  die, 
wenn  auch  die  Zahl  der  Fragmente  im  Ganzen  nicht  vermehrt 
worden  ist,  da  in  dieser  Beziehung  überhaupt  Nichts  Neues  zu 


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Poetae  lyrici  Graeci.  Ree.  Bergk. 


Tage  gefördert  worden  ist,  desto  mehr  das  Einzelne  beachtet  nnd 
hier  der  Kritik  wie  der  Erklärung  die  gleiche  Sorgfalt  hat  ange- 
deihen  lassen.  Neu  hinzugekommen  ist  die  den  einzelnen  Frag- 
menten vorausgeschickte  Besprechung  über  die  verschiedenen  aus 
dem  Alterthnm  auf  uns  gekommenen  Nachrichten  über  die  poetische 
Thatigkeit  Pindars  und  über  die  einzelnen  Poesien  desselben,  deren 
Arten,  deren  Reihenfolge  und  Anordnung.  Die  vom  Herausgeber 
in  der  früheren  Ausgabe  befolgte  Anordnung  der  einzelnen  Frag- 
mente erscheint  auch  in  der  neuer  Ausgabe  nicht  verlassen,  in 
welcher  zuerst  die  Fragmente  der  Isthmioniken,  dann  die  Hymnen, 
Päanen,  Dithyramben,  Prosodien,  Parthenien,  Hyporchemata,  Enko- 
mia,  Skolia ,  Threnoi,  und  die  fragmenta  incerta  folgen.  Den  Be- 
schlus8  macht,  wie  in  der  frühern  Ausgabe,  das  durch  Proclns 
oder  vielmehr  Tzetzes  erhaltene  Epigramm  auf  Hesiodus,  das  aber 
hier  eine  ausführlichere  Besprechung  erhalten  hat. 

Wenden  wir  uns  zu  dem  andern  Theile,  welcher  die  elegischen 
Dichtungen  so  wie  das,  was  aus  dem  Gebiete  der  Jambendichtung 
sieb  noch  erhalten  hat,  befasst,  so  wird  man  auch  bei  diesem  bald 
die  gleiche  Wahrnehmung  der  sorgfaltigen,  über  das  Ganze,  wie 
Aber  Alles  Einzelne  sich  erstreckenden  Durchsicht  zu  machen  im 
8tande  sein,  indem  auch  hier  Alles,  was  für  diese  Dichtungen,  die 
zum  grossen  Theil  nur  aus  Bruchstücken  bestehen,  irgendwie  seit 
dem  Erscheinen  der  zweiten  Ausgabe,  geleistet  worden,  beachtet 
worden  ist,  übrigens  nicht  ohne  die  nöthige  Vorsicht,  wie  es  denn, 
um  ein  Beispiel  anzuführen,  in  Bezug  auf  die  jetzt  so  beliebte 
symmetrische  Anordnung  gelegentlich  heisst,  >quo  artificio  nunc 
homines  inertes  plerumque  satis  intempestive  abutuntur.t  Es  mag 
diese  auch  auf  so  Manches  Anwendung  finden,  was  jetzt  selbst  auf 
dem  Gebiete  der  lateinischen  Poesie  in  dieser  Beziehung  versucht 
wird.  An  vielfachen  kritischen  und  exegetischen  Erörterungen  fehlt 
es  auch  hier  nicht,  und  zwar  nicht  blos  sprachlichen,  sondern  auch 
sachlichen,  wie  z.  B.  über  die  Rhetren  der  Lacedäraonier  zu  Tyrtäus 
IV  (2)  Vs.  10  und*  Manches  Andere  der  Art,  was  der  aufmerksame 
Leser  leicht  selbst  finden  wird,  zumal  da  den  einzelnen  Autoren 
nnd  der  Frage  nach  der  Aechtheit  einzelner,  bestrittener  Fragmente 
alle  Aufmerksamkeit  gewidmet  ist;  so  kann  die  verhältnissmassig 
bedeutende  Erweiterung,  die  auch  dieser  Theil  erhalten  hat,  nicht 
befremden :  wenn  die  elegische  Poesie  in  der  zweiten  Ausgabe  von 
8.  318—532  reichte,  so  erstreckt  sie  sich  hier  von  S.  389—680  ;  die 
Jambographen,  die  in  der  zweiten  Ausgabe  S.  535  —  628  einnah- 
men, gehen  hier  von  8.  688 — 804,  haben  also  allein  eine  Vermeh- 
rung von  beinahe  dreissig  Seiten  erhalten.  Es  kann  auch  hier  die 
Absicht  dieser  Anzeige  nicht  sein,  in  alle  die  Einzelheiten  eingehen, 
welche  die  neue  Ausgabe  von  der  vorhergehenden  unterscheiden, 
auch,  wo  man,  wie  es  in  der  Natnr  der  Sache  liegt,  bisweilen 
«öderer  Meinung  als  der  Herausgeber  sein  kann;  um  indessen  auch 
loi  üegem  Theile  einige  wenige  Proben  anzuführen,  erinnern  wir 


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800  Poetae  lyrlci  Graecl.  Ree.  Berglc 


nur  an  die  dem  Demodoons  beigelegten  Reste,  von  welchen  das 
Fragment  der  Jamben  (wie  auch  bei  Xenophanes)  an  diesem  Orte 
beibehalten  und  nicht  dem  Jambographischen  Theil  einverleibt  ist, 
unter  den  ihm  beigelegten  Epigrammen  aber  nur  das  erste  und 
fünfte  letzte  als  äebt  anerkannt,  die  drei  andern  aber  ihm  abge- 
sprochen und  einer  weit  späteren  Zeit  beigelegt  werden.  Darauf 
weist  auch  nach  unserer  Ueberzeugung  der  Inhalt  wie  die  ganze 
Fassung.  Eine  eingehende,  einleitende  Erörterung  ist  jetzt  auch 
den  unter  Phocylides  Namen  gehenden  Sprüchen  zu  Theil  gewor- 
den. Der  Herausgeber  schliesst  sich  hinsichtlich  des  Verfassers  im 
Ganzen  der  von  Bernays  aufgestellten  Ansicht  an,  welche  einen 
jüdischen  Verfasser  annimmt,  der  zunächst  an  das  alte  Testament 
sich  gehalten,  und  für  Griechen  sein  Gedicht  zunächst  bestimmt 
habe,  in  einzelnen  Punkten  der  Kritik  aber  weicht  er  mehrfach 
von  demselben  ab,  wie  z.  B.  gleich  bei  den  beiden  von  Bernays 
verworfenen  Versen  am  Eingang,  die  nicht  blos  auf  bandschrift- 
liche Autorität  sich  stützen,  sondern  auch  als  nothwendig  in  dem 
Gedicht  erscheinen,  das  sonst  als  axiepakov  erscheinen  würde.  Dass 
die  Reste,  die  des  Theognis  Namen  tragen ,  mit  gleicher  Sorgfalt 
behandelt  sind,  Hess  sich  erwarten ;  es  gilt  diess  namentlich  auch 
in  Bezug  auf  manche ,  diesen  Dichtungen  eingereihte  Verse ,  die 
einem  andern  Dichter  anzugehören  scheinen ,  wie  z.  B.  die  Verse 
467  —  496,  in  welchen  der  Herausgeber  eine  selbständige  Elegie 
erkennt,  die  er  in  einer  näheren  Ausführung  dem  Euonus  beizu- 
legen geneigt  ist,  aber  nicht  dem  Sophisten,  der  des  Sokrates  Zeit- 
genosse war,  sondern  einem  älteren,  dessen  Zeit  sich  nur  in  so 
weit  bestimmen  lässt,  als  in  dem  in  dieser  Elegie  angeredeten 
Simonides,  der  Jambograph  dieses  Namens  aus  Amorgos,  wie  der 
Herausgeber  vermuthet,  zu  verstehen  ist.  Denselben  ältern  Euenus 
werden  auch  Vs.  667 — 682  als  eine  eigene  Elegie  beigelegt,  des- 
gleichen Vs.  1345  —  1370;  eben  so  soll  Vers  508  ff.  wo  Onoma- 
critus angeredet  ist,  insofern  Onomacritus  von  Locri  gemeint  ist, 
nach  des  Verfassers  Vermuthung  auch  hier  ein  Gedicht  des  The- 
letas  angenommen  werden.  Was  Euenus  betrifft,  so  hat  der 
Verfasser  in  dem  bald  darauf  folgenden  Abschnitt  (XXIX),  in  wel- 
chem die  unter  diesem  Namen  auf  uns  gekommenen  elegischen 
Reste  zusammengestellt  sind ,  die  beigefügte  Erörterung  über  die 
Person  dieses  Dichters  einer  gänzlichen  Umarbeitung  unterzogen, 
nach  welcher  dem  eben  bemerkten  älteren  Dichter  dieses  Namens 
die  Fragmente  6  —  9  und  vielleicht  auch  10  zufallen  würden,  die 
Übrigen  Fragmente  1  —  5  dem  jüngeren  Sophisten  dieses  Namens, 
dem  Zeitgenossen  des  Socrates  (um  Olymp.  XC)  beizulegen  sind; 
er  nimmt  dann  weiter  noch  vier  Dichter  dieses  Namens  in  spä- 
terer Zeit  an :  I.  Euenus  Philippi  mit  sechs,  Euenus  Ascalonita  mit 
zwei,  Euenus  Atheniensis  und  Euenus  Grammaticus  mit  je  einem 
Epigramm,  sämmtlich  in  der  griechischen  Anthologie ;  die  Ver- 
keilung der  einzelnen  Gedichte  weicht  von  der  in  der  früheren 


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Poetae  lyrici  Oraeci.  Ree.  Bergt 


301 


Aasgabe  ab.  Das  weiter  folgende  Epigramm  auf  das  Grab  des 
Sopbocles,  welches  unter  dem  Namen  des  Jophon  gegeben  ist, 
bat  eine  nähere  Erörterung  über  den  Verfasser  jetzt  veranlasst, 
für  welchen  der  Herausgeber  Lobon  zu  halten  geneigt  ist,  aus 
dessen  Schrift  irtgi  xoirjrav  Diogenes  von  Laerte  Manches  mit- 
teilt: indessen  der  bestimmte  Ausspruch  des  Valerius  Maximus 
(VIII,  7,  12),  steht  hier  im  Wege  und  hielt  den  Herausgeber  von 
einer  weiteren  Aenderung  ab.  Den  drei  Fragmenten  des  Socrates 
(Nr.  XXXTTJ  wird  jetzt  ein  grösseres  angereiht,  insofern  ihm  die 
von  Athenäus  V,  p.  219  0  aus  Herodicus  mitgetheilten  Verse  bei- 
gelegt werden.  Bei  Plato  (Nr.  XXXIV)  und  der  Erörterung  über 
üe  ihm  beigelegten  Epigramme  sind  auch  die  drei  einem  jüngeren 
Plato  beizulegenden  Epigramme  aus  der  griechischen  Anthologie 
dazugekommen,  und  werden  ihrem  Charakter  wie  ihrer  Fassung 
nach  näher  besprochen.  Hinsichtlich  der  beiden  Epigramme, 
(Nr.  XXXV)  welche  gewöhnlich  dem  Simmias  von  Theben  beige- 
legt werden  und  in  der  Anthologia  Palatina  erhalten  sind,  ist  der 
Heransgeber  jetzt  anderer  Ansicht,  indem,  wozu  auch  Meineke  rieth, 
dieselben  nicht  dem  Philosophen  Simmias,  sondern  dem  später 
lebenden  Simmias  von  Rhodus  und  somit  dem  Alexandrinisohen 
Zeitalter  zufallen  sollen,  dem  auch,  wo  nicht  alle,  so  doch  die 
meisten  der  unter  dem  Namen  des  Simmias  in  der  griechischen 
Anthologie  befindlichen  Gedichte  daun  zufallen  würden,  wenn  auch 
einige  derselben  älter  erscheinen,  so  namentlich  die  Inschrift  auf 
Plato' s  Grab  in  der  Anthol.  Pal.  VII,  60  und  bei  Diogenes  von 
Laerte  III,  43.  Auch  die  nun  folgenden  geringen  Reste  der  Poesien 
des  Zeuxis  (Nr.  XXXVI)  und  Parrhasius  (Nr.  XXXVII)  haben  in 
dieser  neuen  Ausgabe  Veranlassung  gegeben  zu  einer  ausführliche- 
re, einleitenden  Erörterung,  in  welcher  die  Aechtheit  dieser  Reste, 
welche  man  zu  einem  Werke  des  Nicomachus  hat  machen  wollen, 
nachgewiesen  werden  soll.  Dass  auch  das,  was  von  Aristoteles 
angeführt  wird,  namentlich  dessen  Peplos,  in  der  neuen  Ausgabe 
Gegenstand  erneuerter  Durchsicht  und  Prüfung  geworden,  bedarf 
wohl  kaum  noch  einer  besondern  Bemerkung.  Und  dasselbe  gilt 
*ach  in  jeder  Hinsicht  von  der  dritten,  die  Jambographen  befas- 
senden Abtheilung,  deren  erweiterten  Umfang  wir  schon  oben  an- 
gegeben haben.  Auch  hier  fehlt  es  nicht  an  Zusätzen  oder  Aende- 
nmgen  jeder  Art :  es  kann  nur  an  Archilochus  und  die  Reste  sei- 
Poesie  erinnert  werden,  oder,  um  noch  ein  anderes  Beispiel 
anzuführen,  an  Scythinus,  dem  jedoch  nur  das  eine  Bruchstück 
ki  Plutarch  De  Pyth.  orac.  16  zuerkannt  wird,  während  die  bei- 
den unter  diesem  selben  Namen  in  der  griechischen  Anthologie 
(Arth.  Palat.  XII,  22  und  232)  befindlichen  Gedichte  ihm  abge- 
sprochen werden,  als  Dichtungen  weit  späteren  Ursprungs.  —  Es  fehlt 
aan  noch  zur  Vervollständigung  des  ganzen  Werkes  ein  dritter  Theil, 
der  die  Poetae  melici,  die  Scolia,  und  die  Carmina  popularia  zu 
bringen  hat. 


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90%   Müller:  Katalog  der  schweizerischen  Baumaterialien- Aus  Stellung. 

Beschreibender  Kataloa  der  schweizerischen  tiaumaterialicn- Ausstelluriö 

in  OWew.  Von  Albrecht  Müller.  Basel.  Schweighaueersche 
Buehdruckerei.  1866.  Ü.  S.  Ü2. 

Die  Anregung  und  finanzielle  Unterstützung  flir  die  Ausstel- 
lung in  Ölten  ist  vorzugsweise  den  schweizerischen  Eisenbahn- 
Verwaltungen  zu  verdanken.  Die  Eidgenossenschaft  förderte  das 
Unternehmen  durch  Bewilligung  eines  Credits  für  Anschaffung  einer 
Maschine  zur  Bestimmung  der  Festigkeit  der  Baumaterialien,  die 
vorerst  in  Ölten  aufgestellt,  später  dem  eidgenössischen  Polytech- 
nikum übergeben  werden  soll. 

Bekanntlich  ist  die  Schweiz  arm  an  Metallsohätzen.  Der  Berg- 
bau auf  Erze  ist  einzig  auf  Eisen  beschränkt,  welcher  im  Jura  auf 
Bohnerz  mit  Erfolg  betrieben  wird.  Dagegen  besitzt  die  Schweiz 
in  ihren  Gebirgen  einen  grossen  Reichthum  an  vortrefflichen  Bau- 
materialien, geeignet  zu  den  verschiedensten  Zwecken  der  Arcbi- 
tectur  und  bildenden  Kunst.  Ein  Blick  in  vorliegenden  Katalog 
zeigt,  welch  lebhafter  Verkehr  bereits  auf  diesem  Gebiete  herrscht 
und  wie,  bei  Billigkeit  der  Eisenbahntarife,  es  sich  lohnt,  Bau- 
materialien von  dem  einen  Ende  derSohweiz  nach  dem  andern  zu 
senden. 

Die  Abfassung  des  Katalogs  geschah  durch  Albr.  Müller, 
den  mit  den  geologischen  Verhältnissen  der  Schweiz  wohl  vertrau- 
ten Forscher.  Die  verschiedenen  Gesteine  der  Ausstellung  sind 
in  vier  grosse  Abtheilungen  gebracht  worden,  nämlich: 

I.  Granitartige  Gesteine,  mit  Einschluss  der  Syenite, 
Diorite,  Porphyr,  Gabbros  und  Topfsteine. 

IL  Sandsteine,  mit  Einschluss  der  Breccien,  der  Nagel- 
fluhgesteine und  der  Schiefer. 

III.  Kalksteine,  nebst  den  Marmorarten  und  Tufsteinou. 

IV.  Künstliche  Steine  und  Mörtel,  mit  Einschluss  der 
Waaren  von  Gyps,  Cement,  Asphalt,  Thon  und  Glas. 

Unter  den  besonders  ausgezeichneten  oder  der  Schweiz  eigen- 
tümlichen Vorkommnissen  verdienen  namentlich  folgende  Er- 
wähnung. 

Unter  den  Felsarten  der  ersten  Abtheilung  nennen  wir  zumal 
die  Topfsteine,  wie  sie  unter  andern  am  südlichen  Abhänge 
des  Soaleglia,  gegenüber  Dissentis  getroffen  werden.  Sie  dienen 
zu  Feuersteinen  und  Herden,  auch  zu  Monumenten.  Leicht  zu  ver- 
arbeiten, halten  sie  die  grösste  Glühhitze  aus  und  sind  daher  selbst 
bei  Schmelzöfen  brauchbar.  Dient  im  Tavotscher  Thal,  bei  Dissen- 
tis zu  Oefen  die  bereits  500  bis  600  Jahre  alt  sind.  Die  Ver- 
wendung ist  in  den  Gemeinden  des  Vorder-  und  Hinterrheins  und 
des  Albuin-Gebietes  eine  ausschliessliche,  im  Churer  Rheinthale  eine 
bevorzugte  geworden  und  erstreckt  sich  seit  Eröffnung  der  Eisen- 
bahn auch  in  andere  Kantone. 


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Friea  dargestellt  von  Henke. 


Unter  den  Sandsteinen  findet  besonders  grauer  und  rother 
Keupersandstein  von  Sohleitheim ,  Canton  Sohaffhausen  eine  viel- 
fache Anwendung  zn  Statuen,  Monumenten,  zu  feineren  Steinmetz- 
arbeiten an  Kirchen,  zu  Bauten  verschiedenster  Art.  Noch  ausge- 
dehnter ist  die  Verwendung  des  Molasse-Sandsteins  vom  Rooter 
Berg  bei  Disikon,  Ganton  Luzern  zu  Bildhauer-Arbeit,  feinen  Ge- 
simsen, vorzüglich  aber  zu  Platten  und  Bauten;  er  hat  z.  B.  das 
Material  für  die  meisten  Häuser  in  Luzern  und  Umgegend  geliefert» 
-  Von  Schiefern  sind  es  ganz  besonders  die  dem  Geologen 
wegen  ihres  Beichtbums  an  fossilen  Fischen  wohlbekannten  Ge- 
steine vom  Plattenberg  in  Engi,  Canton  Glarus,  die  zu  Dach-, 
Tisch-  und  Ofenplatten  dienen,  die  Rechnentafeln  für  die  ganze 
eirilisirte  Welt  liefern. 

Den  bedeutendsten  Reichthum  an  werthvollem  Gesteins-  Material 
besitzt  aber  die  Schweiz  in  ihren  Kalksteinen.  Sie  sind  auf 
der  Oltener  Ausstellung  in  grossartiger  Weise  vertreten,  spielen 
anter  den  vorhandenen  Gegenständen  die  Hauptrolle.  Albr.  Müller 
stellt  zwei  Hauptabtheilungen,  nicht  nach  dem  geologischen  Alter, 
sondern  nach  der  Herkunft,  auf,  nämlich:  1)  Alpine  Kalk- 
steine, d.  b  Kalksteine  die  aus  den  Alpen  stammen.  Sie  sind 
Torwaltend  dunkelgrau,  dicht  mit  Adern,  Flecken  oder  Streifen 
weissen  Kalkspathes.  Ihrem  geologischen  Alter  nach  entsprechen 
sie  der  oberen  Jura-  oder  der  Kreideformation.  2)  Jurassisohe 
Kalksteine,  aus  dem  Jura-Gebirge;  meist  hellgelbe  oder  gelb- 
lichgraue dichte  Kalksteine  der  oberen  Jura-Formation.  Unter 
ihnen  sind  die  vorzüglichsten  die  Kalksteine  aus  den  Steinbrüchen 
von  Soiothurn,  die  das  weithin  bekannte  Material  zu  Platten,  Ge- 
simsen, Denkmälern,  zu  Kunstarbeiten  der  verschiedensten  Art  lie- 
fern, nnd  den  Einflüssen  der  Witterung  sehr  dauernden  Wider- 
stand leisten.  Es  wurden  schon  Steinmassen  an  einem  Stück  von 
12,000  Cubikfuss  und  18,000  Gentnern  Gewicht  abgelöst. 

G.  Leonhard. 


Jakob  Friedrich  Fries.  Aus  seinem  handschriftlichen  Nach* 
lasse  dargestellt  von  Emst  Ludwig  Theodor  Henke. 
Leipzig.  F.  A.  Brockhaus  1867.  X  und  383  8.  in  gr.  8. 

Dass  ein  Mann,  wie  Fries,  der  auf  den  Entwicklungsgang  der 
Philosophie  in  Deutschland  einen  so  bedeutenden  Einfluss  übte, 
auch  wohl  verdiente,  durch  eine  biographische  Darstellung  uns  in 
seinem  Leben  und  Wirken  näher  gerückt  zu  werden,  bedarf  wohl 
hnm  einer  besonderen  Erinnerung.  Sein  Schwiegersohn  hat  es  in 
vorliegender  Schrift  unternommen,  eine  solche  uns  zu  geben,  zu- 
mal er  durch  hinreichende  Quellen  dazu  auch  in  den  Stand  gesetzt 
*v.   Umfangreiche  selbst  biographische  Aufzeichnungen,  im  Jahr 


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304 


Fries  dargestellt  von  Henke. 


1837  niedergeschrieben,  lagen  ihm  zur  Benutzung  vor,  ausserdem  zwei 
andere  Aufsätze,   vielfache  andere  Mittheilungen  und  zahlreiche 
Briefe  von  Fries  an  seine  nächsten  Freunde  und  Schüler,  und  eben 
80  viele  Briefe  derselben  an  Fries.    Von  diesem  reichen  Apparat 
hat  der  Verfasser  einen  sehr  zweckmässigen  Gebrauch  gemacht, 
und  es  durchweg  vorgezogen,  da,  wo  es  nur  anging,  Fries  selbst  reden 
zu  lassen,  seine  eigenen  Worte  und  Briefe  oder  die  der  Correspon- 
deuten  mitzutheilen,  und  damit  eine  Art  von  Selbstbiographie  zu 
geben,  welche  den  Charakter  des  Mannes,  dessen  Lebensbild  hier 
geliefert,  dessen  Wirken  und  Schaffen  hier  gezeichnet  werden  soll, 
am    treuesten   wiedergibt,    wie    denn    auch    der  Herausgeber 
sorgfältig  bedacht  war,  seiner  eigenen  Darstellung,  die  durchaus 
ruhig  und  besonnen  gehalten  ist,  den  Charakter  der  Wahrheit  und 
Treue  zu  verleihen.    So  wird  man  nicht  ohne  mannichfacbe  Be- 
lehrung diese  Lebensschilderung  aas  der  Hand  legen.    Das  erste 
Buch  führt  uns  die  Jugendzeit  vor,  die  Kind-  und  Schuljahre  in 
der  Brudergemeine,  in  welcher  Fries  am  23.  Aug.  1773  zu  Barby 
geboren  war,  so  wie  die  Studienjahre  im  theologischen  Seminar  zu 
Niesty,  während  das  zweite  Buch  die  Lehr-  und  Wanderjahre  von 
1796 — 1805  befasst.    Das  dritte  Buch  führt  uns  nach  Heidelberg, 
wo  Fries  in  den  Jahren  1805 — -1816  an  der  Universität  wirkte; 
seine  Freundschaft  mit  Martin  zog  ihn  mit  diesem  in  Unannehm- 
lichkeiten, denen  er  durch  eine  Berufung  nach  Jena  entzogen  ward, 
wo  er  nun  vom  Jahr  1816  bis  zu  seinem  Tod  verblieb.    In  diese 
Zeit  seines  akademischen  Wirksamkeit  fallen  die  politischen  Unter- 
suchungen, die  in  unsern  Tagen  fast  unglaublich  erscheinen  wür- 
den, und  hier  mit  Ruhe  und  Unbefangenheit  dargestellt  werden.  Sie 
trübten  allerdings  seine  Stellung,  ohne  seine  geistige  Thätigkeit  zu 
brechen  oder  zu  lähmen.  Gerade  hier,  um  jeden  Schein  von  Bitter- 
keit zu  vermeiden,  ist  die  Darstellung  meist  nach  den  eigenen 
Worten   von  Fries  oder  nach  den  Untersuchungsakten  gegeben, 
ohne  Bitterkeit,  einfach  und  wahr.  Die  Beilagen  enthalten  die  von 
De  Wette  zum  Andenken  an  Fries  im  September  1843  niederge- 
schriebenen Worte,  eine  herrliche  Schilderung,  die  man  nicht  ohne 
Theilnahme  durchgehen  wird,  dann  eine  Reihe  von  Briefen,  welche 
an  Fries  gerichtet  sind,  von  v.  Savigny,  Karl  Benedikt  Hase, 
Clemens  Brentano,  Friedrich  Heinrich  Jacobi,  Reiuhold,  De  Wette 
u.  A.  so  wie  die  von  Fries  gefasste  Selbstvertheidigung  vom  Jahre 
1819  gegen  die  wider  ihn  erhobenen  politischen  Anschuldigungen. 
Den  Sohluss  bildet  ein  mit  aller  Genauigkeit  zusammengestelltes 
Verzeichniss  aller  im  Druck  erschienenen  Schriften  und  Aufsätze 
von  Fries. 


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Ii.  20.  HEIDELBERGER  •  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Die  Juden  in  Deutschland  während  des  Mittelalters  in  politischer^ 
socialer  und  rechtlicher  Beziehung.  Von  Otto  Stobbe.  Braun- 
schweig,  Schwetschke  und  Sohn.  1866.  X  u.  312.  8. 

Geschichte  der  Jnden  in  Köln  am  Rhein  von  den  Rom  er  selten  bis 
auf  die  Gegenwart.  Nebst  Noten  und  Urkunden.  Von  Ernst 
Wey  den  Köln.  Du  Mont-Schauberq  1H67.   VJ  u.  396.  8. 

Geschichte  der  Juden  in  Portugal  von  Dr.  M.  Kayserling.  Ber- 
lin. Springer  1867.  XI  u.  307.  8. 

Obgleich  wir  schon  vortreffliche  Arbeiten  über  die  allgemeine 
Geschichte  der  Juden  besitzen,  unter  denen  die  von  Jost  und  Grätz 
die  erste  Stelle  einnehmen,  so  bleiben  doch  Forschungen  über  ihre 
Verhältnisse  in  einzelnen  Ländern  und  Städten  stets  willkommen, 
theils  weil  durch  solche  Monographien  das  Ganze  mehr  Leben  ge- 
winnt, theils  weil  sie  in  weitere,  auch  nichtjüdische  Kreise  drin- 
gen, als  allgemeine  bändereiche  Geschichtswerke,  besonders  wenn 
sie,  wie  bei  Stobbe,  in  so  volkstümlicher  Form  und  gut  gruppir- 
ter  Ordnung  geboten  werden.  Erfreulich  ist  es  auch,  dass  in  den 
drei  genannten  Werken  der  Gegenstand  vom  rein  objectiven  Stand- 
punkte aus  bearbeitet  worden  ist,  und  dass  Kayserling,  der  israe- 
litische Verfasser  der  Geschichte  der  Juden  in  Portugal,  mit  dem- 
selben Freimuth  die  Fehler  der  Juden  rügt,  als  die  beiden  Andern 
christlichen  Autoren  über  das  unmenschliche  Verfahren  ihrer 
Glaubensgenossen  gegen  die  Juden  den  Stab  brechen  und  Letztere 
gegen  die  ihnen  angedichteten  Verbrechen,  wie  Hostienschändung, 
Kindermord,  Brunnenvergiftung  und  dergleichen  mehr  in  Schutz 
nehmen.  Man  sollte  freilich  glauben,  solche  Apologien  seien  in 
unsrer  Zeit  der  Humanität  und  Aufklärung  überflüssig  geworden, 
aber  ist  nicht  vor  wenigen  Jahren  noch  in  Freiburg  im  Breisgau 
ein  Werk  von  Constantin  Ritter  Cholewa  v.  Pawlikowski  er- 
schienen, das  an  Verhöhnung  und  Verdächtigung  der  Juden  und 
ihrer  Religion  dem  alten  bekannten  Eisenmenger'  sehen  ent- 
deckten Judenthum  würdig  zur  Seite  steht?  Oder  ist  etwa  das 
Volk  überall  in  nnsern  Tagen  von  Judenhass  und  Lust  zur  Juden- 
Terfoigung  geheilt  ?  Wer  denkt  nicht  an  das  Hep  Hep  das  an  vie- 
len Orten  Deutschlands  im  Jahr  1819  ertönte?  Hat  nicht  im  Jahr 
1848  in  verschiedenen  Ländern  der  Pöbel  seine  Freiheitsliebe  da- 
dorch  bethätigt,  dass  er  seinem  Nationalhass  und  Neid  gegen 
Juden  freien  Lauf  Hess?  Haben  wir  nicht  im  verflossenen  Jahre 
vielfache  Vorgänge  erlebt,  die  an  die  Judenverfolgungen  im  Mittel- 
alter erinnern  ?  Und  ist  die  bekannte  Mortarageschichte  nicht  den 

LIX.  Jahrg.  4.  Heft  20 


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306     Stobbe,  Wcyden  u.  K*ys*rlibg:  Geschichte  der  Juden! 


Zwangstaufen  des  vierzehnten  Jahrhunderts  vollkommen  ähnlich? 
Oder  findet  sich  etwa  solcher  verjährter  Fanatismus  und  verrostete 
Unduldsamkeit  nur  unter  dem  nie  dem  Volke?  War  nicht  eiu fran- 
zösischer Oonsul  zur  Zeit  des  Ministerium  Thiers  der  Hauptan- 
stifter der  Gräuel  und  Schandt baten ,  welche  gegen  die  Juden  in 
Damask  verübt  wurden?  Schüren  nicht  fortwährend  politische  und 
kirchliche  Blätter,  da  religiöser  Fanatismus  nicht  mehr  ziehen  will, 
den  Hasä  und  den  Neid  des  Volkes,  durch  Hinweisung  auf  die 
Beichthümer  und  den  Einfluss  der  Juden  an?  In  einem  der  Letzte- 
ren lesen  wir,  nachdem  von  den  colossalen  Reich thümern  der  Juden 
die  Rede  ist:  »Der  Zweckmässigkeitsstaat  wird  erst  recht  seine 
kaiserlichen  Kammerknechte  (so  werden  die  Juden  im  Mittelalter 
genannt)  haben  und  den  Schwamm  sich  nur  vollsaugen  lassen,  um 
ihn  zu  gelegener  Zeit  auszudrücken,  zugleich  aber  vollends  zu  zer- 
zausen. Das  Naturrecht  der  socialen  Revolution  wird  als  seine  ersten 
Opfer  die  jüdischen  Geldfürsten  schlachten.«  In  Einem  der  Ersteren 
aber  heisst  es:  »Die  Einsicht  hat  sich  verbreitet,  dass  nicht  Chri- 
sten und  Juden  einander  gegenüber  stehen,  sondern  dass  Letztere 
in  ihrem  religiös-nationalen  Verband  einen  Staat  im  Staate  bilden. 
Wem  es  in  Deutschland  nicht  gefallt  dessen  Wegziehen  stehen  ja 
keine  Hindernisso  im  Wege:  \  tat  et  exitus.  Ganze  Städte  und  Pro- 
vinzen in  denen  die  Gananiter  bereits  die  Aristokratie  abgegeben, 
würden  bei  dieser  Eventualität  aufjauchzen ,  obgleich  ihr  Eintritt 
sehr  unwahrscheinlich  ist,  da  es  einem  in  Deutschland  gar  wohl 
geht.  Trotz  dem  dürfte  es  heutzutage,  bei  der  ziemlich  allgemei- 
nen Stimmung  in  Betreff  Israels ,  zweckdienlich  sein ,  wenn  man 
möglichst  wenig  von  sich  reden  machte.«  Wie  wenig  aber  der 
Verfasser  dieser  im  Jahr  1858  geschriebenen  Zeilen  die  Stimmung 
kannte,  beweisen  die  inzwischen  in  allen  deutschen  Gauen  von  den 
Volkskammern  votirten  Judengesetze,  wo  theils  eine  vollständige 
Emancipation  ausgesprochen ,  wenn  auch  nicht  ganz  verwirklicht, 
theils  wenigstens  angebahnt  ist.  Man  ist  allmählig  zur  Einsicht 
gelangt,  dass  nur  auf  diesem  Wege  ihre  Verschmelzung  mit  den 
Christen  erreichbar  ist,  während  fortgesetzter  Druck  nur  Hass  und 
Absonderung  erzeugt.  Wir  sehen  schon  im  Mittelalter  in  Spanien 
und  Portugal ,  dass ,  sobald  die  Regierung  die  Juden  nicht  durch 
Ausnahmsgesetze  an  das  Exil  erinnert,  auch  sie  nicht  nur  keine 
Sehnsucht  nach  Jerusalem  haben,  sondern  in  der  Beobachtung 
der  jüdischen  Gesetze  immer  laxer  werden  und  in  Folge  dessen 
sich  ihren  christlichen  Brüdern  immer  mehr  anscbliessen.  So  lesen 
wir  bei  Kayserling,  dass  unter  Alfonso  V.,  unter  welchem  die  Stel- 
lung der  Juden  in  Portugal  eine  überaus  günstige  war,  sich  viele 
dem  Studium  der  Philosophie  hingaben  und  über  alle  religiösen 
Ceremonien  hinwegsetzten.  Die  Sabbat-  und  Festtage  wurden  nicht 
gefeiert,  man  arbeitete  öffentlich  und  Hess  es  an  der  Zubereitung 
frischer  Speisen  am  Sabbat  nicht  fehlen.  In  den  Synagogen  wur- 
den profane  Bücher  gelesen,  und  so  oft  aus  der  Gotteslehre  vor- 


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Stobbe,,  Weydan  u.  Kayeerling:  Geschichte  der  Juden.  BOT 


vorgelesen  wurde  entfernten  sich  die  Meisten.  Die  Juden  wurden 
aber  auch  —  der  jüdische  Verfasser  macht  gar  kein  Hehl  daraus  — 
UbennOtiiig.  Sie  baueteu  sich  Paläste,  ritten  auf  reicbgeschmückten 
Mauleseln,  fahren  in  prächtigen  Carossen,  kleideten  sich  in  Pracht* 
gtwftnder  und  schmückten  ihre  Frauen  und  Töchter  wie  Fürstinnen 
und  Edeldamen  mit  silbernen  und  goldenen  Geschmeiden,  mit  Per» 
ko  and  Edelsteinen,  und  dieser  Luxus ,  diese  Vornehmthuerei  er* 
regten  den  Volkshass  in  hohem  Maasse.  Und  so  mögen  auch  wohl 
—  warum  es  luugnen  ?  —  manche  Juden  unsrer  Zeit ,  die  über- 
miUsigen  Luxus  treiben,  und  bei  denen  die  Frivolität  immer  mehr 
Spielraum  gewinnt,  den  alten  Hass  gegen  das  Judenthum  nähreu. 
Manche  dürften  etwas  bescheidener,  wenn  auch  mit  voller  Wurde 
auftreten,  alles  Vordrängen  und  Prunken  eben  so  sehr  vermeiden 
ah  Andere  jede  Kriecherei  und  Zudringlichkeit.  Die  Klugheit  und 
die  Rücksicht  auf  einmal  vorhandene  Vorurtheile  sollte  es  ihnen 
gebieten,  wenn  sie  sich  auch  für  vollkommen  berechtigt  halten,  es 
vielen  Christen  nachzumachen. 

Kehren  wir  nun  zum  Mittelalter  nnd  den  vorliegenden  Werken 
zurück,  so  zeichnet  sich  das  von  Stobbe  vorteilhaft  dadurch  ans, 
daes  es  nicht  blos  wie  die  beiden  Andern  chronologisch ,  sondern 
auch  nach  Materien  geordnet  ist,  was  die  Uebersicht  des  Gamsen 
sehr  erleichtert  und  dem  Leser,  der  Bich  nur  über  einzelne  Gegen* 
tttnde  unterrichten  will,  viele  Mühe  erspart.  Die  Ueherschrift  der 
Oapitel  lautet:  »Die  Juden  im  römischen  Reich.  Die  Juden  im 
Hakischen  Reich.  Die  deutschen  Juden  und  ihre  Kammer kneoht* 
scbaft.  Der  Uebergang  des  Judensohutzes  auf  Landesherrn  und 
Städte.  Die  Steuern  der  Juden.  Geleitsgeld  und  Zoll.  Die  Be- 
deutung des  Judenschutzes.  Die  besondere  Schutzherrlichkeit  des 
Rrzbischofs  von  Mainz  und  einiger  anderen  Herrn.  Die  Juden  zu 
Nürnberg.  Die  Juden  Fiegenburgs.  Die  Juden  Augsburgs.  Die 
Juden  Cölns.  Die  Juden  von  Frankfurt  am  Main.  Der  Handel  und 
die  Geldgeschäfte  der  Juden.  Aufhebung  oder  Eeduction  der  For* 
Herongen  jüdischer  Gläubiger  durch  Kaiser  und  Laudesherren.  Die 
Gemeinde-  und  Gerichtsverhältnisse.  Der  Beweis  und  der  Efid  der 
Jaden.  Strafrechtliches.  Die  sociale  Lage  der  Juden  und  ihre  Be* 
tchr&nkungen  in  religiöser  und  socialer  Beziehung.  Die  Judenver- 
folgungen.    Die  Juden  Privilegien.« 

In  den  beiden  ersten  Abschnitten  wird  in  Kürze  angedeutet, 
*ie  die  Juden  im  römischen  Reiche,  welche  besonders  seit  ihrer 
Empörung  unter  Titus  massenhaft  nach  dem  Abendlande  auswan- 
derten, in  den  ersten  Jahrhunderten  christlicher  Zeitrechnung  das 
römische  Bürgerrecht  erwerben  konnten,  im  Genüsse  voller  Ge- 
wiiBensfreiheit  waren,  und  an  sämmtlichen  staatsbürgerlichen  Hech- 
ten Tbeil  nahmen.  Erst  unter  Konstantin  dem  Grossen,  als  die 
christliche  Religion  Staatsreligion  wurde,  hörte  auch  die  bürger- 
liche Gleichberechtigung  auf.  Die  Christen  vergasaen  bald  alle  in 
den  ersten  drei  Jahrhunderten  vom  Staate  erlittenen  Verfolgungen 


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808     Stobbe,  Weyden  u.  Kayserling:  Geschichte  der  Juden. 


and  traten  als  Verfolger  der  Bekenner  des  mosaischen  Glaubens 
auf.    Gonstantin  selbst  setzte  harte  Strafen  auf  den  Uebortritt  vom 
Christonthum  zum  Judenthum,  so  wie  auf  Ehen  zwischen  Juden 
und  Christen  und  verbot  den  Juden  ihre  christlichen  Sklaven  zu 
beschneiden.    Die  folgenden  Kaiser  gingen  immer  weiter  in  ihren 
Beschränkungen,  denn  schon  traten  mehrere  Kirchenväter,  beson- 
ders Cyrillus,  Ambrosius  und  Chrysostomus  feindselig  gegen  die 
Juden  auf.    Sie  wurden  bald  von  allen  Aemtern  ausgeschlossen, 
durften  keine  neuen  Synagogen  bauen,  konnten  nur  gegen  Juden 
als  Zeugen  auftreten,  durften  keine  christlichen  Arbeiter  halten 
und  dergl.  mehr.    Unter  den  fränkischen  Kaisern  wird  von  ver- 
schiedenen Concilien  die  Kluft  zwischen  Juden  und  Christen  immer 
mehr  erwoitert:  die  Christen  sollen  sich  jeder  Gemeinschaft  mit 
den  Juden  enthalten.    Auch  kommen  bei  den  Franken  schon  ein- 
zelne Judenverfolgungen  vor.  Chilperioh  von  Soissons  zwang  viele 
Juden  zur  Taufe  und  König  Dagobert  gebot,  dass  die  Juden  sich 
entweder  taufen  lassen  oder  auswandern  sollten.    Das  Loos  der 
Juden  besserte  sich  wieder  unter  den  Carolingern,  besonders  unter 
Carl  dem  Grossen  und  Ludwig  dem  Frommen,  trotz  allen  Remon- 
strationen des  Bischofs  Agobert  von  Lion.  Frühere  Beschränkungen 
werden  aufgehoben  und  ueue  Privilegien  und  Scbutzbriefe  verliehen. 
Schlimmer  war  schon  die  Stellung  der  Juden  unter  den  Fürsten 
aus  dem  sächsischen  Hause ,  die  ihre  Macht  auf  die  Hierarchie 
stützten  und  den  Juden  gegenüber  das  cauonische  Recht  zur  Gel- 
tung brachten.    Besonders  judenfeindlich  waren  die  Bestimmungen 
Kaiser  Heinrichs  II.,  der  unter  Anderm  auch  alle  Juden,  welche 
die  Taufe  nicht  annahmen,  aus  Mainz  verbannte.  Allgemeine  blu- 
tige Verfolgung  brachten  die  Kreuzzüge  mit  sich.    Blinder  Reli- 
gionshasa ,  missverstandener  Bekehrungseifer ,  Rohheit  und  Grau- 
samkeit, Habgier  und  Neid  trieb  die  Kreuzfahrer  zu  den  blutig- 
sten Gräueln.    Während  Pabst  Gregor  I.  sich  dahin  ausgesprochen 
hatte,  dass  die  Juden  nur  durch  Ueberredung  und  Sanftmuth,  nicht 
durch  Gewalt,  dem  Christenthum  zugeführt  werden  sollten,  wurde 
überall,  wo  die  Kreuzfahrer  durchzogen ,  mit  Feuer  und  Schwerdt 
Propaganda  gemacht.  Indessen  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass, 
mit  wenigen  Ausnahmen,  beim  ersten  Kreuzzuge  nur  die  Hefe  des 
Volks  sich  an  den  verübten  Gräuelthaten  betheiligte.  Heinrich  IV. 
that  sein  mögliches  um  den  verschont  gebliebenen  Juden  Recht  zu 
verschaffen  und  gestattete  sogar,  trotz  aller  Vorwürfe  des  Pabstes 
Clemens  HJ.,  den  aus  Todesfurcht  zum  Christenthura  Uebergetre- 
tenen  wieder  zum  Judenthum  zurückzukehren.  Beim  zweiten  Kreuz- 
zug waren  schon  Geistliche  und  vornehme  Bürger  an  der  Spitze 
der  Judenfeinde,  und  hier  mochte  wohl  weniger  religiöser  Fanatis- 
mus als  der  Wunsch  sich  von  lästigen  Gläubigern  zu  befreien  das 
Hauptmotiv  der  Verfolgungen  gewesen  sein,  denen  der  heilige  Bern- 
hard nach  Kräften  zu  steuern  suchte,  und  welchen  Friedrich  I.  der 
Rothbart,  ein  Ende  setzte.    Auch  die  localen  Judenhatzen,  welche 


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Stobbe,  Weyden  u.  Kayserling:  Geschichte  der  Juden.  309 

im  12.  und  18.  Jahrhundert  statt  fanden,  bezweckten  mehr  ihre 
Beraubung  als  ihre  Bekehrung.  Die  verschiedensten  Verbrechen 
wurden  ihnen  aufgebürdet,  um  nicht  blos  Einzelne,  sondern  ganze 
Gemeinden ,  ganze  Landstriche  mit  Confiscation  und  Todesstrafe 
heimzusuchen.  Allgemein  wurde  von  Judenfeinden  der  Glaube  ver- 
breitet,  dass  die  Juden  Christenkinder  tödteten  und  ihr  Blut  beim 
Osterfeste  verwendeten.  Vergebens  erklärte  Pabst  Innocenz  IV.  in 
einer  Bulle  vom  Jahr  1247,  dass  derartige  Mährchen  nur  erdichtet 
werden,  um  Anlass  zu  finden,  sieb  des  Besitzes  der  Juden  zu  be- 
mächtigen, dass  die  heilige  Schrift  den  Juden  wie  den  Christen  jeden 
Mord  verbietet,  dass  die  Juden  an  Festtagen  nichts  Unreines  be- 
rühren dürfen,  geschweige  denn  das  Blut  gemordeter  Christen  ge- 
messen. Der  tief  eingewurzelte  Aberglaube  war  damit  nicht  aus- 
gerottet und  ist  es  ja  auch  in  unsern  Tagen  noch  nicht  vollstän- 
dig, wie  die  Vorfalle  in  Russland  im  Jahr  1823,  am  Unterrhein 
im  Jahr  1834  und  in  Damaskus  im  Jahr  1842  beweisen.  Schreibt 
doch  Ghillany:  »Allerdings  mögen  die  Juden  auch  Öfters  an  dem 
Verschwinden  eines  Kindes  unschuldig  gewesen  sein,  aber  die  Mehr- 
zahl der  angeführten  Fälle  fallt  ihnen  zur  Last«  und  nimmt  auch 
Paulikowski  als  historische  Thatsache  an,  dass  viele  Christenkinder 
ron  Juden  ermordet  worden  seien.  Waren  übrigens  auch  Juden 
vom  Verbreeben  des  Kindermords  einigermassen  freigesprochen,  so 
fehlte  es  nie  an  andern  Vorwfinden  sie  zu  berauben  und  zu  ver- 
bannen. Bald  wurde  die  Hostienschändnng  Veranlassung  zu  neuen 
Verfolgungen,  die  sich  gegen  Ende  des  1 3.  Jahrhunderts,  unter  An- 
führung eines  fränkischen  Edelmanns,  von  Ort  zu  Ort  wälzten.  Die 
Jaden,  so  wurde  die  Sage  verbreitet,  welcher  viele  Tausend  zum 
Opfer  fielen,  hätten  eine  Hostie  in  einem  Mörser  gestossen;  aus 
ihr  sei  Blut  in  so  grosser  Menge  geflossen,  dass  sie  es  nicht  mehr 
verbergen  konnten.  Aehnliche  Klagen  wiederholten  sich  im  Jahr 
1838.  Albrecht  von  Oesterreich  sprach  es  in  einem  Schreiben  an 
den  Pabst  Benedict  unverhohlen  aus,  man  schlachte  die  Juden  an- 
geblich wegen  Hostienscbändung ,  Hauptzweck  sei  aber  sie  zu  be- 
rauben ,  und  der  Pabst  ordnete  eine  Untersuchung  an ,  während 
andere  weltliche  Fürsten  den  Räubern  und  Mördern  Straflosigkeit 
ertheilten  und  ihre  Unterthanen  von  allen  Judenschulden  befreiten. 
Gegen  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  wurden  die  Verfolgungen 
verheerender  und  allgemeiner.  Der  sogenannte  schwarze  Tod,  die 
forebtbare  Pest,  welche  aus  Asien  nach  Europa  herüberzog  und 
unzählige  Menschen  binwegraffte,  sollte  von  Juden  erzeugt  worden 
»in,  die  aus  Christenbass  alle  Brunnen  vergiftet  hätten.  Obgleich 
auch  viele  Juden  der  Seuche  erlagen ,  und  obgleich  sie  in  fielen 
Provinzen  wüthete,  die  kein  Jude  betreten  hatte,  wurde  das  Mäbr- 
chen  doch  geglaubt  und  mit  der  Pest  verbreitete  sich  auch  die 
Jndenschl ächterei  von  Ort  zu  Ort ,  trotz  allen  Ermahnungen  des 
Pabates  Clemens  VI.  und  trotz  allen  Verordnungen  mancher  welt- 
lichen Fürsten,  die  durch  die  Vertilgung  der  Juden  ihre  Einkünfte 


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310     Sterbe,  Weydeii  u.  Kayserliag:  OetoWckte  der  Juden. 


geschmälert  sahen.  Die  Wuth  des  Volkes  wurde  durch  die  Predig- 
ten der  Flagellanten  und  einige  unter  der  Folter  erprossten  Ge- 
ständnisse immer  mehr  gesteigert,  und  eine  Judengemeinde  nach 
der  andern  wurde  hingeschlachtet  oder  gab  sich  selbst  den  Tod, 
zuletzt  auch  die  von  Strassburg  und  Cöln,  welche  der  Rath  längere 
Zeit  gegen  den  raub-  und  mordlustigen  Pöbel  geschützt  hatte.  Au 
Bestrafung  der  Schuldigen  daohte  man  kaum.  Fast  überall  wurden 
von  dem  Kaiser  und  den  Landesherrn  Amnestien  ertbeilt.  An  man- 
ohen  Orten  hatte  der  Kaiser  schon  zum  voraus  für  alle  Verbrechen 
die  gegen  Juden  begangen  würden,  Straflosigkeit  verkündet,  oder 
hatte  er  Dispositionen  getroffen,  wie  es  mit  dem  Nachlass  und  dem 
herrenlos  gewordenen  Gemeindegut  der  Juden  gehalten  werden 
sollte.  Von  nun  an  bis  zur  Zeit  der  Reformation  dauern  die  Juden- 
verfolgungen in  Deutschland  fort,  wenn  auch  nicht  mehr  so  allge- 
mein und  nicht  mehr  in  so  cannibalischer  Weise.  Sie  werden  bald 
hier  bald  dort  des  Landes  verwiesen  und  ihrer  Güter  beraubt.  Fast 
überall  wurde  ihnen  das  Recht  der  Heimath  und  Wohnung  genom- 
men, an  vielen  Orten  durften  sie  sich  gar  nicht  mehr  niederlassen, 
an  andern  wurden  sie  nur  für  wenige  Jahre  gegen  hohe  Steuern 
aufgenommen.  Viele  wanderten  daher  nach  Polen,  Litthauen  und 
Russland  aus,  wo  sie  freilich  unter  vielen  Beschränkungen  sesshaft 
werden  konnten* 

Wir  sind  bisher  Stobbe  gefolgt  und  haben  nur  hie  und  da 
Einzeln  heiten  aus  Wey  den  hinzugefügt,  nach  dem  wir  nun,  da 
Stobbe  nur  die  Geschichte  des  Mittelalters  bearbeitet  hat,  in  Kürze 
die  weitern  Zustände  der  Juden  in  Deutschland  schildern  wollen. 

Mit  der  Reformation  kam  anfänglich  eine  Zeit  der  Ruhe,  man 
war  zu  sehr  mit  der  neuen  Lehre  beschäftigt,  um  sich  viel  um 
das  Schicksal  der  Juden  kümmern  zu  können.  Luther  selbst  trat 
im  Beginne  seiner  reformatorischen  Thätigkeit  für  die  Juden  in 
die  Schranken  und  seinem  Beispiele  folgten  andere  einzelne  christ- 
liche Stimmen.  Im  Jahr  1523  schrieb  er:  »Es  wäre  meine  Bitte 
und  mein  Rath,  dass  man  säuberlich  mit  den  Juden  umginge  und 
aus  der  Schrift  sie  unterrichtete;  so  möchten  mehr  etliche  herbei- 
kommen. Aber  nun  wir  sie  mit  Gewalt  treiben  und  gehen  mit 
Lügenentscheidungen  um,  geben  ihnen  Schuld,  sie  müssten  Christen- 
blut haben,  damit  sie  nicht  stinken ,  und  was  des  Narrenwerks 
noch  mehr  ist,  dass  man  sie  gleich  den  Hunden  hält ,  dass  man 
ihnen  verbeut  zu  arbeiten  und  zu  hantiren  und  andere  menschliche 
Gemeinschaft  zu  haben,  da  man  sie  zu  wuchern  treibt,  was  soll 
sie  da  bessern  ?  Will  man  ihnen  helfen ,  so  muss  man  nicht  des 
Pabstes,  sondern  der  christlichen  Liebe  Gesetz  an  ihnen  üben  und 
sie  freundlich  annehmen ,  mit  lassen  werben  und  arbeiten ,  damit 
sie  Ursache  und  Raum  gewinnen,  bei  uns  und  um  uns  zu  sein, 
unsere  christliche  Lehre  und  Leben  zu  hören  und  zu  sehen.  Ob 
etliche  halsstarrig  sind,  was  liegt  daran  ?  sind  wir  doch  auch  nicht 
alle  gute  Christen.«    Später  änderte  aber  der  grosse  Reformator 


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Stobbe,  Weyden  u.  Kayserling:  Geschichte  der  Juden.  3U 


seine  Ansicht  und  überbot  in  seiner  1543  erschienenen  Schrift: 
»Von  den  Jnden  und  ihren  Lügen«  alle  seine  Vorgänger  an  Ge- 
hässigkeit gegen  die  Juden  und  so  wucherte  fortan  auch  in  prote- 
stantischen Ländern  der  Judenhass  und  die  fanatische  Bedrückung 
derselben  eben  so  schrecklich  als  in  den  Katholischen.  Die  Juden 
blieben  rechtlos,  fortwährend  Gegenstand  der  Bedrückung,  der  will» 
kürlichsten  ihnen  auferlegten  Abgaben,  ausgeschlossen  von  aller 
Gewerbsthätigkeit,  selbst  von  vielen  Handelszweigen ,  nur  auf  den 
niedrigsten  Wucher,  Klein-  und  Hausirhandel  angewiesen.  Grund- 
besitz konnten  sie  gar  nicht  erwerben ,  was  noch  in  Schleswig- 
Holstein  bis  zur  Erobernng  durch  Preussen  der  Fall  war.  Auffallen 
muss  es,  dass,  während  manche  Päbste  für  die  Juden  eine  Lanze 
brachen,  Männer  wie  Luther  in  seinen  späteren  Jahren,  Voltaire 
und  in  unsern  Tagen  Paulus  und  v.  Rotteck  als  ihre  Gegner  auf- 
traten. Doch  fanden  sich  auch  zu  allen  Zeiten  wackere  Männer, 
die  sich  der  Verfolgten  annahmen,  wie  Hosiander ,  Mirabeau ,  der 
Bischof  Grögoire  von  Blois,  Maskow,  Lessing  und  Andere,  so  dass 
endlich  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  ihre  allmählige  Emanci- 
pation  begann.  Schon  1787  wurde  der  Leibzoll  in  Preussen  und 
1803  im  übrigen  Deutschland ,  ausser  in  Heldburg  in  Meiningen, 
aufgehoben.  Den  französischen  Juden  wurde  das  Bürgerrecht  im 
Jahr  1 791  von  der  Revolution  zuerkannt,  auch  in  Deutschland  ge- 
stand man  ihnen  in  Folge  der  französischen  Invasion  und  der  Frei- 
heitskriege manche  Rechte  zu,  die  ihnen  aber  theilweise  im  Jahr 
1814  wieder  entzogen  wurden.  Angebahnt  wurde  in  Deutschland 
ihre  Emancipation  in  den  zwanziger  und  dreissiger  Jahren  unseres 
Jahrhunderts,  ihre  völlige  im  Jahr  1848  ausgesprochene  Gleich- 
stellung aber  auch  nicht  überall  durchgeführt,  und  noch  jetzt  ist 
in  manchen  deutschen  Ländern  die  Gleichheit  der  bürgerlichen  und 
staatsbürgerlichen  Rechte  der  Juden,  wenn  auch  principiell  aner- 
kannt, noch  keineswegs  zur  vollen  Wahrheit  geworden. 

Wir  haben,  an  Stobbe  anknüpfend,  die  allgemeinen  Zustände 
und  die  grossen  Catastrophen  dor  Juden  bis  auf  die  neuere  Zeit 
geschildert,  werfen  wir  nun  noch  einige  Blicke  auf  ihre  Stellung 
in  gewöhnlichen  ruhigen  Zeiten,  so  finden  wir  auch  ihr  Loos  nicht 
beneidenswerth  und  sehen  wir,  dass  ihre  Absonderung  nicht  von 
ihnen,  sondern  von  ihren  Feinden  ausging.  Es  ist  schon  oben 
erwähnt  worden,  wie  die  Concilien  Christen  jeden  Umgang  mit 
Juden  verboten,  wie  diese  von  allen  Aemtern  ausgeschlossen  waren 
und  keine  christlichen  Dienstboten  halten  sollten.  Hiezu  kam  noch, 
dass  man  ihnen  an  vielen  Orten  abgesonderte  Judenviertel  oder 
Strassen  anwiess ,  vor  Allem  aber ,  dass  man  sie  nöthigte,  beson- 
dere Erkennungszeichen  zu  tragen.  Diese,  wahrscheinlich  von  den 
Mohammedanern  entliehene  Bestimmung,  welche,  sobald  der  Islam 
rar  Macht  gelangte,  allen  Nichtmohammedanern  verboten,  sich  wie 
die  Gläubigen  zu  kleiden,  rührt  von  Pabst  Innocenz  III.  her,  nnd 
vrnrdö  von  folgenden  Päbsten  und  Ooncilien  noch  weiter  ausgebil- 


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812     ßtobbe,  Weyden  n.  Kayserling:  Geschichte  der  Juden. 

det.  Das  allgemeine  Abzeichen  der  Männer  war  ein  auf  der  Brost 
getragener  Ring  oder  Rad  von  gelber  Farbe,  nebst  einem  gelben 
Spitzbate  auf  dem  Haupte  statt  der  üblichen  breiten  Kappen. 
Frauen  und  Mädchen  mussten  blaugestreifte  Schleier  und  ein  Glöck- 
lein  am  Gürtel  tragen.  Das  Judenzeichen  war,  wie  Stobbe  nach 
Grätz  richtig  bemerkt,  eine  Aufforderung  für  dio  Gassenbuben  die 
Träger  zu  verhöhnen,  es  war  ein  Wink  für  den  Pöbel  sie  zu  miss- 
handeln, und  selbst  für  höhere  Stände  eine  Gelegenheit  sie  als 
Auswürflinge  der  Menschheit  zu  betrachten  und  nach  Willkür  mit 
ihnen  zu  verfahren.  Schlimmer  als  diese  Entehrung  nach  Aussen 
war  die  Wirkung  des  Abzeichens  auf  die  Juden  selbst.  Sie  ver- 
loren nach  und  nach  alles  Selbstgefühl  und  jede  Selbstachtung. 
Da  sie  doch  einmal,  eine  demüthige  abgesonderte  Stellung  hatten, 
vernachlässigten  sie  ihr  äusseres  und  verwahrlosten  ihre  Sprache, 
sie  wurden,  da  sie  doch  keinen  Zutritt  zu  gebildeten  Kreisen  er- 
langen konnten,  theilweise  so  verächtlich,  wie  es  ihre  Gegner  wünsch- 
ten, verloren  männliche  Haltung  und  Muth,  jeder  christlicho  Bube 
konnte  sie  in  Angst  setzen. 

Auch  in  den  Abgaben,  die  die  Juden  als  solche  zu  entrichten 
hatten,  lag  viel  Dem üthigendes  und  Kränkendes.  Neben  den  ordent- 
lichen und  ausserordentlichen  Steuern  der  Juden,  welche  im  Ver- 
hältniss  zu  denen  der  Christen  übermässig  hoch  waren,  wurde  von 
Ludwig  dem  Baier  der  sogenannte  goldene  Opferpfenning  einge- 
führt. Alle  Juden  und  Jüdinnen  über  12  Jahre,  welche  20  Gulden 
Vermögen  besitzen,  sollen  jährlich  dem  König  einen  Leibzins  von 
einem  Gulden  zahlen.  Auch  diese  Bestimmung  wurde  wahrschein- 
lich aus  dem  Islam  entlehnt,  der  allen  Nichtmohammedanern  eine 
Art  Kopfsteuer  vorschreibt.  Hiezu  kam  der  sogenannte  Leibzoll, 
welchen  jeder  Jude  entrichten  musste,  sobald  er  sein  Domicil  ver- 
liess.  Ausser  dem  Weg-  und  Brückenzoll  mussten  die  Juden  ferner 
den  sogenannten  Würfel  zoll  entrichten,  das  heisst ,  dem  Zoll- 
aufseher oder  Zollknechte  einen  Pasch  Würfel  tiberreichen.  Sie 
waren  daher  genöthigt,  auf  ihren  Reisen  immer  mehrere  Pasche 
Würfel  mit  sich  zu  führen.  Es  war  eine  der  vielen  vexatorischen 
Quälereien,  eine  nichtssagende  Verhöhnung. 

Sehr  belehrend  ist  bei  Stobbe  der  Abschnitt  Über  den  Handel 
und  die  Geldgeschäfte  der  Juden.  Obgleich  ursprünglich  in  Pa- 
lästina ein  Ackerbautreibendes  Volk,  gaben  sich  doch  die  Juden 
nach  ihrer  Auswanderung,  als  sie  keinen  Grundbesitz  mehr  hatten, 
dem  Handel  hin  und  vermittelten  den  Verkehr  des  Ostens  mit  dem 
Westen.  Bis  zu  den  Kreuzzügen  wurde  ihnen  in  Deutschland  als 
Kaufleute  fast  gar  keine  Concurrenz  gemacht.  Durch  die  Verfol- 
gungen, welche  sie  zur  Zeit  der  Kreuzztige  erlitten  und  durch  die 
Verbindungen,  welche  die  Christen  selbst  auf  ihren  Kreuzfahrten 
mit  dem  Orient  anknüpften,  wurden  die  Juden  nach  und  nach 
vom  grossen  Welthandel  verdrängt  und  auf  den  Schacher  und 
Wucher  beschränkt.    Die  verachteten  Juden  hatten  zu  den  sioh 


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ßtobbe,  Weyden  u.  Kayserling:  Geschichte  der  Juden.  813 

bildenden  Kaufmannsgilden  und  Gewerbszünften  keinen  Zutritt,  sie 
durften  nicht  mehr  auf  Messen  und  Jahrmärkten  erscheinen  nnd 
kein  Handwerk  treiben.  Darlehen  gegen  Zinsen,  der  Ein-  und  Ver- 
kauf gebrauchter  Sachen,  das  Hausiren  auf  dem  Lande  waren  jetzt 
ihre  Hauptgeschäfte.  »Dem  Wucher«  sagt  Stobbe  »verdankte  es 
der  Jode  im  Mittelalter ,  dass  ihm  trotz  allen  nationalen  Hasses 
and  religiöser  Unduldsamkeit  fast  überall  der  Aufenthalt  gestattet 
wurde,  ihm  hatte  er  es  aber  auch  zuzuschreiben,  wenn  von  Zeit 
zu  Zeit  sich  jener  Hass  und  jene  Unduldsamkeit  in  Grauen  er- 
regender Weise  Luft  machte.  Das  Bedürfniss,  Geld  in  Zeiten  der 
Bedrängniss  geliehen  zu  erhalten,  Hess  die  Juden  als  willkommene 
Mitbewohner  erscheinen;  aber  die  drückende  Last  der  Schulden, 
die  Höhe  der  schnell  auflaufenden  Zinsen  und  der  Neid,  mit  wel- 
chem die  Christen  auf  die  von  den  Juden  zusammengehänften  Reich- 
tümer sahen,  fachte  anch  wieder  die  Lust  an,  sich  der  verachte- 
ten nnd  verhassten  Gläubiger  zu  entledigen ,  sie  zu  berauben  und 
10  morden.«  Die  Juden  waren  übrigens  nicht  die  einzigen  Geld- 
darleiher, an  manchen  Orten  machten  ihnen  die  sogenannten  Lom- 
barden oder  Gawart'scben  Concurrenz.  Diese  privilegirten  christ- 
lichen Wucherer,  überboten  aber  häufig  die  Juden  an  Härte,  wes- 
halb es  auch  nicht  selten  vorkommt,  dass  sie  vertrieben  und  an 
ihrer  Stelle  Juden  aufgenommen  wurden.  So  lesen  wir  bei  Weydeu, 
dass  der  Erzbischof  Engelbert  im  Jahre  1266  die  Cauwercinen  aus 
Köln  auswei8st,  um  die  Juden  zu  schützen,  und  im  Jahre  1420 
forderte  die  Stadt  Florenz  wegen  des  übermässigen  Zinsfusses  der 
christlichen  Wechselhäuser  Juden  auf,  sich  in  ihrer  Stadt  nioder- 
mlassen.  Die  Zinsen  der  Juden  waren  zwar  auch  zuweilen  sehr 
hoch,  aber  wie  wurden  sie  selbst  von  den  Machthabern  ausgesogen, 
wie  wenig  Sicherheit  hatten  sie  für  Capital  und  Zinsen?  Fürsten, 
Privatleute  und  Gemeinden  hetzen  das  Volk  gegen  die  Juden- 
gllnbiger  und  die  Schulden  sind  auf  einmal  gelöscht.  Päbste,  Kai- 
ser nnd  manche  Landesherrn  konnten  übrigens  auch  ohne  Hülfe 
eines  VolkBauflaufes,  nach  damaligen  Rechtsbegriffen,  nach  Gefallen 
üher  Leben  und  Gut  der  Juden  verfügen  und  Eingriffe  in  die  Ver- 
mögensverhältnisse  dor  Juden,  um  den  Schuldnern  Erleichterung  zu 
▼erschaffen,  kamen  nicht  selten  vor.  Bald  wurden  alle  Forderungen 
der  Juden  für  null  und  nichtig  erklärt,  bald  auf  oino  bestimmte 
Qoote  reducirt,  zuweilen  wurde  auch  verordnet,  dass  nur  das  Capital 
aber  nicht  die  Zinsen  zu  bezahlen  sei.  Letztere  gewissermassen 
noch  humane  Verordnung  wurde  namentlich  von  Päbsten  zur  Zeit 
der  Kreuzzüge  erlassen,  während  Könige  von  Frankreich  und  später 
aoeh  von  Deutschland  noch  weiter  gingen  und  Letztero  die  Kam- 
merbiechtscbaft  dahin  auslegten,  dass  die  Juden  mit  ihrem  Gut 
iod  Blut  dem  Kaiser  gehörten  und  seiner  Willkür  unbedingt  unter- 
worfen seien.  Als  durch  solche  Schuldentilgungen,  die  namentlich 
ooter  König  Wenzel  häufig  vorkamen,  der  Credit  erschüttert  wurde, 
erhielten  die  Juden  hie  und  da  das  Privileg,  dass  ihre  Forderun- 


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814     Stobbe,  Weydeu  u.  KnyserUng:  Geschichte  der  Juden. 


gen  eine  bestimmte  Anzahl  Jahre  durch  keinen  Erlass  getilgt  wer- 
den sollten.  Solche  Schuldenerlasse  kommen  noch  bis  zur  Mitte 
des  15.  Jahrhunderts  vor,  und  die  Lage  der  Juden  blieb  immer 
eine  precäre.  Wie  man  eine  Spaarbüchse  leert,  wenn  sie  voll  ge- 
worden ist,  so  beraubte  man  die  Juden  ihres  Guts,  wenn  es  sich 
der  Mühe  zu  verlohnen  schien.  Die  eigentlichen  Schuldner  fanden 
wohl  auch  einige  Erleichterung,  den  Hauptnutzen  solcher  Berau- 
bungen theilten  die  Städte  und  der  Kaiser. 

Sind  letztgenannte  Verordnungen  aus  gemeiner  Habsucht  ent- 
sprungen, so  lag  den  in  Bezug  auf  den  Judeneid  erschienenen,  wie 
beim  Würfelzoll,  die  Absicht  zu  Grund,  den  Juden  zu  verhöhnen 
und  zu  kränken,  ihn  moralisch  mit  Füssen  zu  treten.  Schon  in 
deu  Gesetzen,  welche  Karl  dem  Grossen  und  Ludwig  dem  Frommen 
zugeschrieben  werden,  heisst  es:  »Streue  Sauerampfer  zweimal  vom 
Kopf  aus  im  Umkreise  seiner  Füsse.«  Aus  dem  11.  Jahrhundert 
findet  sich  folgende  Vorschrift:  »Ein  Dornenkranz  soll  ihm  auf 
seinen  Hals  gesetzt,  seine  Knie  umgürtet  werden,  und  ein  Dornen- 
zweig von  fünf  Ellen  Länge,  voll  Stacheln,  soll  ihm,  bis  er  den 
Eid  vollendet,  zwischen  den  Hüften  durchgezogen  werden.«  Der 
Schwabenspiegel  bestimmt  ,  dass  der  schwörende  Jude  auf  einer 
Sauhaut  stehe.  Sächsisch-Thüringischen  Verordnungen  zufolge  sollte 
er  auf  nacktem  Körper  einen  grauen  Bock  und  Hosen  ohne  Vor- 
lasse an  haben,  einen  spitzen  Hut  auf  dem  Kopfe  tragen  und  anf 
einer  in  Lammblut  getauchten  Haut  stehen.  In  Schlesien  musste 
er  auf  einem  dreibeinigen  Stuhle  stehen,  so  oft  er  herunter  fiel 
eine  Busse  zahlen,  fiel  er  aber  zum  viertenmal  herunter,  so  hatte 
er  seine  Sache  verloren.  Was  die  Worte  des  Schwures  betrifft,  so 
genügte  es  nicht,  dass  er  die  Hand  auf  der  Bibel  bei  dem  Gotte 
schwur,  welcher  Moses  das  Gesetz  gab,  er  musste  hinzufügen,  dass 
der  Aussatz  von  Naaman  und  Siro  seinen  Leib  erfassen,  dass  die 
Erde  ihn  lebendig  wie  Dathan  und  Abiron  verschlingen,  ein  hölli- 
sches Feuer  ihn  wie  Sodom  und  Ghomora  verzehren  möge,  dass  ihn 
die  fallende  Sucht  heimsuche ,  dass  er  wie  Loth's  Frau  in  eine 
Salzsäule  verwandelt  werde,  von  der  Auferstehung  ausgeschlossen 
sei  n.  dgl.  m.,  wenn  er  falsch  schwöre.  Die  Formel  wechselte  nach 
Zeit  und  Land  oder  Stadt,  wie  überhaupt  in  Deutschland,  als  der 
Reichsverband  immer  lockerer  wurde,  jeder  Fürst,  jede  freie  Stadt 
die  Judenordnungen  nach  Belieben  verschärfte  oder  milderte ,  so 
dass  unter  500  bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  bekannten 
Judenordnungen  bei  Weitem  die  Mehrzahl  auf  Deutschland  kommt, 
daher  auch  eine  Judengeschichte  Deutschlands  ihre  grossen  Schwierig- 
keiten hat,  und  beschränkt  man  sie  nicht  auf  das  Wesentliche, 
wie  es  H.  Stobbe  gethan,  so  schreibt  man  nicht  mehr  ein  Buch 
für  grössere  Kreise.  Leichter  war  die  Aufgabe,  die  sich  die  Verf. 
der  beiden  andern  vorliegenden  Werko  gestellt  hatten,  obschon 
Weyden  sich  auch  nicht  damit  begnügt  hat  die  Geschichte  der 
Juden  in  Köln  zu  schreiben,  sondern  sehr  häufig  auf  die  Zustände 


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Stobbe,  "Weyden  «.  Keyserling:  Geschichte  der  Juden.  316 


der  Jaden  in  ganz  Deutschland  umherblickt.  In  Köln,  wo  seit  der 
Römerzeit  Juden  wohnten,  war  ihr  Loos,  im  Vergleich  zu  andern 
Orten,  ein  Leidliches,  obgleich  auch  hier  die  canonischen  Rechts- 
bestimmungen Geltung  hatten  und  die  Geistlichkeit  den  Volkshass 
gegen  sie  nach  Kräften  anfachte.  Sie  standen,  wie  anderwärts, 
roerst  unter  dem  Schutze  des  Kaisors,  wurden  dann  den  Erz- 
bischöfen  gewissermassen  zu  Lehen  gegeben,  die  später  auch  einen 
Theil  ihrer  Rechte  der  Stadt  abtraten.  Gegen  die  blutigen  Ver- 
folgungen zur  Zeit  des  ersten  Kreuzzugs  vermochte  auch  der  da- 
malige Erzbischof  Heinrich  III.,  mit  dem  besten  Willen  nicht  die 
Joden  Kölns  zu  schützen,  es  gelang  aber  dem  Erzbischof  Arnold  I. 
sie  im  Jahr  1146,  als  in  Folge  der  Predigten  des  Mönchs  Rudolf 
nene  Judenverfolgungen  stattfanden,  in  Sicherheit  zu  bringen.  Die 
Jeden  lebten  mit  den  Bürgern  in  bestem  Einverständniss ,  hatten 
ihre  eigene  Gerichtsbarkeit  und  durften  im  Judenviertel  Häusser 
besitzen,  und  es  kamen  Fälle  vor,  in  welchen  die  Stadt  sich  der 
Jaden  gegen  die  Willkür  der  Erzbisehöfe  annahm.  Natürlich  waren 
sie  hier  nicht  weniger  als  an  andern  Orten  eine  reine  Geldquelle, 
m  der  man  so  viel  als  möglich  zu  schöpfen  suchte.  Zu  dem 
doppelten  8chutzgelde,  an  den  Erzbischof  und  die  Stadt,  und  dem 
Grundzins,  zu  den  Heirathsgeldern ,  dem  Zungengeld  für  das  ge- 
Mhlachtete  Vieh,  dem  zehnten  Tbeil  des  Erwerbs,  kamen  noch 
Holdigungsgebtihre ,  Bettsteuer,  Küchenstener ,  Pergamentsteuer, 
Krönungsteuer  u.  dgl.  m.  Trotz  allem  nahm  doch  die  Judenge- 
meinde Kölns  immer  zu  und  ihre  Geldgeschäfte  verschafften  ihnen 
Reichthum  und  Ansehen,  weil  der  damals  blühende  Handel  der 
Stadt  sie  nicht  entbehren  konnte.  Zur  Zeit  des  schwarzen  Todes 
beachlosg  der  Rath  die  Juden  aufs  Kräftigste  zu  schützen,  konnte 
aber,  als  die  zunehmende  Seuche  die  Gewalt  und  das  Ansehen  der 
Gesetze  vernichtete,  und  als  die  Wuth  des  Pöbels  immer  drohen- 
der wurde,  nicht  hindern,  dass  das  Judenviertel  gestürmt  und 
dessen  Bewohner  allen  Gräueln  des  Fanatismus  und  des  Hasses 
preisgegeben  wurden.  Tage  lang  währte  das  Rauben,  Morden, 
Sengen  und  Brennen.  Nur  wenige  Juden  entgingen  dem  Blutbade, 
die  Geretteten  wurden  aus  der  Stadt  verwiesen  und  ihre  liegende 
Habe  wurde  eingezogen.  Der  Ausfall  in  den  Einkünften  und  der 
Waeher  der  Lombarden,  die  noch  höhere  Zinse  als  die  Juden  nah- 
men, veranlasste  den  Erzbischof  und  die  Stadt  im  Jahr  1872,  nach 
23  Jahren  der  Verbannung,  wieder  die  Juden  aufzunehmen.  In 
Folge  von  Differenzen  zwischen  dem  Erzbischof  und  der  Stadt,  die 
Hechte  der  Juden  und  ihr  Schutzgeld  betreflend,  welche  der  Kaiser 
w  Gunsten  des  Erzbischofs  entschied,  wurden  die  Juden  abermals 
im  Jahr  1424  auf  ewige  Zeiten  mit  grösster  Härte  der  Stadt  ver- 
wiesen und  genöthigt,  sich  in  verschiedenen  andern  Orten  des  Erz- 
itiftes  niederzulassen.  Erst  im  Jahr  1798,  als  Köln  mit  der  fran- 
zösischen Republik  vereinigt  war,  Hess  sich  wioder  ein  Jude  da- 
selbst häuslich  nieder  und  ihm  folgten  bis  zum  Jahr  1814  etwa 


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813     Stobbe,  Weyden  u.  Kayserling:  Geschiente  der  Jnden. 


zwanzig  andere  Familien.  Im  Jahr  1827  zählte  die  Jadengemeinde 
dreissig  Familien,  im  Jahr  1851  bereits  1500  Seelen  und  sie  be- 
steht beut  zu  Tage  aus  400  Familien,  welche  nicht  nur  in  allen 
Zweigen  des  Gross-  und  Kleinhandels  thiltig  sind,  sondern  auch 
Gewerbe  aller  Art  betreiben. 

Werfen  wir  nun  noch  zum  Schluss  einen  Blick  auf  die  Juden 
in  Portugal,  wenn  auch  ihre  Geschichte  mit  der  ihrer  Glaubens- 
genossen in  Deutschland  grosse  Aehulichkeit  hat.  Auch  hier  er- 
regten sie  durch  ihren  Besitz  den  Neid  des  Volkes  und  durch  ihre 
freie  Religionsübung  den  Fanatismus  der  Geistlichkeit,  und  ver- 
dankten ihre  Ruhe  nur  den  sie  schützenden  Fürsten.  Es  wurde 
selbst  gegen  Ende  des  14.  Jahrhunderts  nicht  nur  Judenschlftchte- 
reien,  wie  sie  in  Spanien  vorkamen,  vorgebeugt,  sondern  die  Flücht- 
linge aus  diesem  Lande  durften  sich  sogar  in  Portugal  nieder- 
lassen. Joao  L  Hess  päbstliche  Bullen  ins  Portugiesische  über- 
setzen und  veröffentlichen,  welche  jede  Gewaltthat  gegen  Juden 
aufs  Strengste  verboten ,  mnsste  aber  anderseits  auch ,  von  der 
Geistlichkeit  gedrängt,  die  alten  canonischen  Gesetze,  wie  das 
Tragen  der  Erkennungszeichen ,  das  Verbot  des  Umgangs  mit 
Christen ,  und  der  Verleihung  von  Staatsämtern  an  Juden ,  aufs 
Neue  einschärfen,  was  ihn  jedoch  nicht  binderte,  jüdische  Aerzte 
in  seinem  Palaste  zu  halten  und  Juden  als  Steuereinnehmer  zu  ge- 
brauchen, während  sein  Nachfolger  Duarte  mit  grösserer  Strenge 
jene  Gesetze  aufrecht  hielt  und  ihnen  noch  Neue  hinzufügte.  Eine 
überaus  günstige  Stellung  hatten  die  Juden  in  Portugal  unter  Al- 
fonso  V.  Sie  hielten  sich  ausserhalb  des  Judenviertels  auf,  trugen 
keine  Erkennungszeichen  und  bekleideten  allerlei  Aemter,  worüber 
die  Cortes  sich  häufig  beklagten  und  das  Volk  von  Neid  und  Hass 
erfüllt  wurde,  so  dass  es  mehreremale  zu  Aufläufen  kam ,  die  nur 
mit  grösster  Strenge  unterdrückt  werden  konnten.  Mit  dem  Tode 
Alfonso's  (1481)  traten  zwar  wieder  manche  Beschränkungen  für 
die  Juden  ein,  doch  verwandte  auch  sein  Nachfolger  Joao  II.  ge- 
lehrte Juden  in  seinem  Dienste.  So  befanden  sich  Juden  in  dem 
von  ihm  veranstalteten  Congresse  zur  Verbesserung  des  nautischen 
Astrolabiums,  andere  leisteten  bei  den  Entdeckungsfahrten  nach 
Ostindien  wesentliche  Dienste,  wieder  Andere  machten  sich  durch 
Einführung  der  Bucbdruckerknnst  um  das  Land  verdient.  Später 
wurde  Joao  immer  bigotter  und  habsüchtiger.  Er  misshandelte 
zuerst  die  aus  Spanien  herüber  geflüchteten  Juden ,  obgleich  er 
ihnen  gegen  ein  bedeutendos  Eintrittsgeld  Schutz  versprochen  hatte, 
und  versuchte  es  zuletzt  auch  die  seit  Jahrhunderten  in  Portugal 
wohnenden  Juden  zur  Taufe  zu  zwingen.  Zum  Glück  für  die  Juden 
endete  Joao  II.  sein  Leben  (1495),  ehe  sein  Vorhaben  zur  Ausführung 
kam  und  sein  Neffe  und  Nachfolger  Manuel  dehnte  in  den  ersten 
Jahren  seiner  Regierung  seine  Menschenliebe  auch  auf  seine  jüdi- 
schen Unterthanen  aus  und  ernannte  sogar  den  Juden  Cacnto  zu 
seinem  Astrologen  und  Chronisten.    Später  unterdrückte  er  aber 


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Stobbe,  Weyden  u.  Kayserling:  Geechichte  der  Juden.  817 


seine  Toleranz  und  Humanität  aus  politischen  Bücksiebten.  Er 
wollte  eine  spanische  Prinzessin  heirathen,  die  Königin  Isabella 
machte  ihm  zur  Bedingung ,  dass  er  alle  Juden  in  kurzer  Frist 
aus  dem  Lande  jage,  und  die  Prinzessin  selbst  wollte  den  portu- 
giesischen Boden  nicht  betreten,  bis  das  ganze  Land  von  den  ver- 
balsten Juden  gesäubert  wäre.    Vergebens  erhoben  sich  im  Staats- 
rath viele  Stimmen  gegen  die  Vertreibung  der  Juden,  indem  sie 
hervorhoben,  dass  ja  selbst  der  Pabst  solche  in  seinem  Lande 
dulde,  und  dass  es  gegen  jede  Staatsklugheit  sei,  so  viele  üe issige, 
tüchtige    und    gewinnbringende    Menschen    zu    vertreiben.  Der 
Heirat  hsvertrag  wurde  von  Manuel  (1496)  geschlossen  und  Uber 
das  Schicksal  derJnden  war  entschieden.  Es  erschien  eine  Ordon- 
nanz, dass  bei  Todesstrafe  und  Confiscation  des  Vermögens  alle 
Juden  innerhalb  zehn  Monate  Portugal  zu  verlassen  hätten ,  und 
dass  nach  Abiaul  dieser  Frist  kein  Jude  sich  mehr  im  Lande 
aufhalten  sollte.  Aber  auch  diese  gewissermassen  noch  milde  Ordon- 
nanz, da  sie  doch  den  Unglücklichen  freien  Abzog  gewährte,  wurde 
einige  Monate  nach  ihrer  Veröffentlichung  widorrufen.    Manuel  er- 
theilte  den  schauderregenden  Befehl,  dass  den  Juden  alle  Söhne 
und  Töchter  unter  vierzehn  Jahren  gewaltsam  entrissen  und  in  ver- 
schiedene Städte  vertheilt  werden  sollten,  um  im  christlichen  Glau- 
ben erzogen  zu  werden.    Viele  Eltern  zogen  vor,  sich  und  ihre 
Kinder  mit  eigener  Hand  zu  tödten  und  der  Jammer  war  so  gross, 
dass  viele  sonst  judenfeindliche  Christen,  aus  Erbarmen ,  die  Ver- 
folgten in  ihren  Häusern  verbargen,  damit  man  ihnen  ihre  Kinder 
nicht  entreisse.    Damit  war  aber  der  zum  Unmenschen  gewordene 
König  Manuel  noch  nicht  zufrieden.    Er  wollte  unter  keiner  Be- 
dingung die  Juden  mit  ihrem  Besitze  abziehen  lassen,  sondern  sie 
als  Christen  im  Lande  behalten.  Er  hatte  versprochen,  ihnen  drei 
Hafenplätze  zor  Einschiffung  anzuweisen,  zögerte  aber  mit  der  Be- 
zeichnung dieser  Plätze  bis  die  bestimmte  Frist  abgelaufen  war. 
Dann  Hess  er  sie  nach  Lissabon  kommen ,  angeblich  um  sie  ins- 
gesammt  einschiffen  zu  lassen,  aber  dort  angekommen  wurden  auch 
sie  mit  Gewalt  zur  Taufe  gezwungen.    Auch  damit  war  aber  ihr 
Unglück  noch  nicht  zu  Ende.    Sie  waren  in  ihrem  Herzen  Juden 
und  galten  als  solche  in  den  Augen  des  Volkes,  wurden  daher 
auch  als  Ketzer  gehasst  und  angefeindet.    Vielen  gelang  es,  trotz 
allen  Massregeln  Manuels  sie  daran  zu  verhindern,  nach  Italien, 
Flandern  und  dem  Orient  auszuwandern.    Die  Zurückgebliebenen 
wurden  theils  vom  Volke  in  verschiedenen  Erneuten  ermordet,  theils 
später,  trotz  mehrerer  päbstlicher  Breves,  von  den  Häschern  der 
Inquisition  auf  Scheiterhaufen  verbrannt.  Auch  ihre  Nachkommen, 
welche  immer  Neuchristen  genannt  wurden  und  im  Geruch  des  Un- 
glaubens und  der  Anhänglichkeit  an  das  Judenthum  standen,  wur- 
den bis  ins  18.  Jahrhundert  herein  von  der  Inquisition  verfolgt, 
so  dass  auch  die  Auswanderung  derselben  fortdauerte  und  das  Land 
immer  mehr  verödete  und  verarmte.    Eines  der  letzten  Opfer  der 


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318     B*k«r:  Dm  Nilbecken  und  die  Erforschung  der  Nllqnellen. 


Inquisition  war  der  berühmte  Dramatiker  Antonio  Jose  da  Silva, 
welcher  im  Jahr  1739  des  Judaismus  angeklagt  und  zum  Feuer- 
tode verurtheilt  wurde.  Erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts, als  die  Inquisition  ihre  Macht  verloren  hatte,  verschwand 
allmählich  der  Unterschied  zwischen  Alt-  und  Neuchristen,  und 
seit  Anfang  dieses  Jahrhunderts  wurden  auch  wieder  wirklich« 
Juden  in  Portugal  geduldet.  Die  Cortes  vom  Jahr  1821  hoben 
die  Inquisition  ganz  auf  und  erneuerten  alle  frühem  Freiheiten 
und  Privilegien  der  Juden.  Wie  in  den  frühern  Jahrhunderten  be- 
weisen sich  die  Könige  der  Gegenwart  huldreich.  Ein  englischer 
Jude  wurde  im  Jahr  1845  zum  Baron  da  Palmeira  und  ein  Deutscher 
vor  wenigen  Jahren  zum  Com  man  den  r  des  Ordens  der  unbefleck- 
ten Empfängniss  der  heiligen  Jungfrau  ernannt. 

Schliessen  wir,  wie  Weyden,  mit  dem  Wunsche,  dass  der  Tag 
nicht  mehr  fern  sein  möchte,  wo  aller  und  jeder  confessionelie 
Unterschied  in  Bezug  auf  bürgerliche  Rechte  schwindet. 

Weil. 


Der  Albert  Nyansa,  das  grosse  Becken  des  Nil  und  die  Erforschung 
der  Nilquellen  von  Samuel  White  Baker,  Autorisirte  voll- 
ständige Ausgabe  für  Deutschland,  Aus  dem  Englischen  von 
J.  E.  A,  Martin,  Custos  der  Universüäls- Bibliothek  zu  Jena. 
Nebst  33  Illustrationen  in  Holzschnitt,  l  Chromolithographie 
und  2  Karten.  Erster  Band.  Jena,  Hermann  Costenoble,  1867+ 
388  8.  gr,  8. 

Das  englische  Werk ,  das  nicht  ohne  Grund ,  ein  so  grosses 
Aufsehen  erregt  hat,  und  jetzt  sogar  in  einer  neuen  wohlfeileren 
Ausgabe  (zu  16  Schill.)  in  England  erscheint,  liegt  hier  in  einer 
wohlgelungenen  Uebersetzung  vor  uns,  welche  für  Deutschland  zu- 
nächst bestimmt  ist,  und  das  englische  Original,  das  seiner  Natur 
nach  doch  nur  Wenigen  unter  uns  zugänglich  ist,  auch  weiteren 
Kreisen  zuführt.  Es  ist  dasselbe  aber  ein  nicht  blos  vielfach  be- 
lehrendes Werk,  welches  das  Interesse  des  Geographen  und  Ethno- 
logen nicht  minder  wie  das  des  Naturforschers  in  Anspruch  nimmt, 
sondern  auch  ein  sehr  unterhaltendes,  das  durch  eine  lebendige 
Darstellung  anzieht  und  dabei  vielfache  Abwechslung  gewährt.  Es 
war  im  März  des  Jahres  1861,  als  die  Expedition  unternommen 
ward,  deren  Ziel  »die  Entdeckung  des  grossen  Behälters  der  Aequa- 
torialwasser ,  des  Albert  Nyanza  war,  aus  welchen  der  Fluss  als 
ganzer  weisser  Nil  entspringt.«  Naoh  fünfjährigem  Auf  enthalt  in 
Afrika  kehrte  der  Verfasser  zurück,  und  wendete  seine  Muse  der 
Aufzeichnung  der  Begebnisse  zu,  welche  die  mit  unsäglichen  Schwie- 
rigkeiten jeder  Art  verbundene  Wanderung  in  das  Innere  Africa's 
begleiteten,  und  zu  einem  glüokliohen  Endziel  führten.  Zwar  ge- 
langen wir  in  diesem  ersten  Bande  noch  nicht  an  diesem  Ziel,  aber 


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B»ker:  Da*  Nflbecken  und  die  Erforschung  der  Nüqueäen.  3!# 


die  Denn  Abschnitte,  in  welche  der  Reisebericht,  so  weit  er  in 
diesem  Bande  enthalten  ist,  zerfallt,  führen  uns  doch  so  ziemlich 
in  die  Nähe  desselben.  Am  fünfzehnten  April  1861  segelte  der 
Verfasser,  begleitet  von  seiner  treuen  Lebensgefährtin  von  Cairo 
ab,  am  11.  Juni  ward  Berber  erreicht,  das  von  K Hartum  noch  acht 
Kameelt  agereisen  entfernt  ist;  schon  am  13.  gelangte  er  an  die 
Stelle,  wo  mit  dem  Nil  der  Atbara  sich  vereinigt,  der  den  ganzen  Was- 
serabflnss  des  östlichen  Abyssiniens  dem  Nil  zufuhrt,  der,  wie  der 
Verf.  ansdrücklich  bemerkt,  an  keiner  Stelle  eine  so  grosse  Wasser- 
masse enthält,  wie  bei  dieser  Verbindung  mit  dem  Atbara ,  Selbst 
im  Durchschnitt  eine  Breite  von  1350  im  Durchschnitt  hat,  bei 
einer  Tiefe  von  25—80  Fuss  während  der  Regenzeit.  Da  der  Nil 
von  hier  bis  zu  seiner  Mündung  in  das  mittelländische  Meer  durch 
Sand  wüsten  und  das  Delta  hindurch  eine  eiifbundert  (englische) 
Meilen,  d.  h.  Bechstehalbhundert  Stunden  lange  Einsaugung  und 
Verdunstung  auszuhalten  hat,  also  einen  Ungeheuern  Wasserverlust 
erleidet,  so  erklärt  sich  daraus  zur  Genüge,  warum  die  grosseste 
Breite  des  Nils  unterhalb  der  Atbara-Mündung  sich  findet.  Von 
diesem  Strom  gibt  der  Verf.  folgende  Schilderung,  die  wir  als 
Probe  der  Darstellung  hier  beifügen: 

»Der  Atbara,  obgleich  in  der  Regenzeit  Abyssiniens  ein  so 
bedeutender  Strom,  ist  mehrere  Monate  des  Jahres  hindurch  voll- 
kommen trocken,  und  damals,  als  ich  ihn  zum  ersten  Male  sah, 
am  15.  Juni  1861,  war  er  eine  blosse  Fläche  funkelnden  Sandes, 
that sächlich  ein  Theil  der  Wüste,  durch  welche  er  floss.  Von  sei- 
ner Vereinigung  mit  dem  Nil  an  ist  er  über  einhundert  und  fünfzig 
englische  Meilen  weit  von  Anfang  März  bis  Juni  vollkommen  trocken. 
In  Zwischenräumen  von  wenigen  Meilen  gibt  es  Pfahle  oder  Teiche 
von  Wasser,  das  in  den  tiefen  Löchern  zurückgeblieben  ist,  die 
unter  dem  allgemeinen  durchschnittlichen  Niveau  des  Flussbettes 
Hegen.  In  diesen  Pfuhlen ,  von  denen  manche  eine  englische  Meile 
lang  sein  mögen ,  versammeln  sich  alle  Bewohner  des  Flusses, 
die,  sowie  der  Strom  verschwindet,  sich  genöthigt  sehen,  in  diesen 
engen  Zufluchtsstätten  dicht  aneinander  zu  rücken.  So  drängen 
sieh  Krokodile ,  Flusspferde ,  Fisehe  und  grosse  Schildkröten  in 
ausserordentlicher  Anzahl  zusammen,  bis  der  Anfang  der  Regen  in 
Abyssinien  sie  wieder  in  Freiheit  setzt,  indem  er  eine  frische 
Wassermasse  zu  dem  Flusse  herabsendet.  Die  Regenzeit  beginnt 
in  Abyssinien  in  der  Mitte  des  Mai,  da  aber  das  Land  durch  die 
Sommerhitze  versenkt  ist,  so  werden  die  ersten  Regen  vom  Boden 
eingesaugt,  und  die  Giessbäche  füllen  sich  nicht  vor  Mitte  des  Juni. 
Vom  Juni  bis  zur  Mitte  Septembers  sind  die  Gewitter  furchtbar; 
jede  Schlucht  wird  ein  tobender  Giessbaoh ;  Bäume  werden  von 
den  über  ihre  Ufer  geschwollenen  Bergströmen  entwurzelt,  und  der 
Atbara  wird  ein  ungeheurer  Fluss,  der  mit  einer  Alles  Überwälti- 
geoden Strömung  den  ganzen  Abfluss  von  fünf  grossen  Flüssen  — 
dem  Settite,  ßoyän,  Salaam  und  Angrab,  nebst  seiner  eigenen  ur- 


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820      Bftkar:  Dm  Nilbecken  und  die  Erforschung  der  Nil  quellen. 


sprünglichen  Wassermasse  —  herabbringt.  Seine  Wasser  sind  dick 
yon  Erdreich,  das  von  den  fruchtbarsten  Ländereien  weit  von  sei- 
nem Vereinigspunkte  mit  dem  Nil  abgewaschen  wurde;  Massen  von 
Bambus  und  Treibholz,  nebst  grossen  Bäumen,  und  häutig  die 
Leichen  von  Elephanten  und  Büfteln,  werden  längs  seinen  schlam- 
migen Wassern  in  wilder  Verwirrung  fortgeschleudert  und  bringen 
den  an  seinen  Ufern  wohnenden  Arabern,  die  immer  nach  des 
Flusses  Schätzen  /in  Brenn-  und  Nutzholz  auf  der  Lauer  stehen, 
eine  reiche  Ernte. 

Der  blaue  Nil  und  der  Atbara,  die  den  ganzen  Wasserabfluss 
Aby ssiniens  aufnehmen ,  ergiessen  ihre  Hochwasser  in  der  Mitte 
des  Juni  gleichzeitig  in  den  Hauptnil.  In  dieser  Zeit  hat  auch  der 
weisse  Nil  einen  beträchtlich  hohen,  obwohl  nicht  seinen  höchsten 
Stand,  und  der  plötzliche  Wassersturz,  der  von  Abyssinien  in  den 
Hauptkanal  herabkommt,  welcher  schon  durch  den  weissen  Nil  auf 
einen  hübschen  Stand  gebracht  worden  ist,  verursacht  die  jährliche 
Ueberschwemmung  in  Unterägypten.« 

Es  folgt  nun  die  weitere  Reise  bis  Khartum,  die  Beschreibung 
dieses  Ortes,  bei  welcher  Gelegenheit  eine  abschreckende  Schilde- 
rung des  Sclavenhandels,  wie  er  dort  getrieben  wird,  gemacht  wird: 
Nachdem  die  Vorbereitungen  zur  weiteren  Reise  beendigt  waren 
—  eine  Begleitung  von  fünf  und  vierzig  Bewaffneten  zur  Bedeckung, 
vierzig  Matrosen,  so  dass  mit  Inbegriff  der  Dienerschaft  die  Reise- 
gesellschaft beinahe  hundert  Mann  (96  Mann)  zählte,  dabei  Pro- 
viant auf  vier  Monate,  ausserdem  ein  und  zwanzig  Esel,  vier 
Kameele  und  eben  so  viele  Pferde  —  erfolgte  der  Aufbruch  nach 
Gondokoro:  die  schlechte  Aufnahme  daselbst  und  die  Schwierig- 
keiten bis  zu  dem  endlich  erfolgten  Abmarsch  bilden  den  Inhalt 
des  zweiten  und  dritten  Kapitels,  während  die  folgenden  Abschnitte 
über  die  Fortsetzung  der  Reise  berichten,  die  mit  Schwierig- 
keiten und  Gefahren  jeder  Art  verknüpft,  dem  Endziel  immer  näher 
rückte.  Allerdings  müssen  wir  den  Muth  und  die  Ausdauer  des 
Reisenden,  wie  seiner  Gattin  bewundern,  die  in  allen  diesen  Ge- 
fahren ihm  treu  zur  Seite  stand.  In  diesem  Reisebericht  ist  insbe- 
sondere auch  die  Thierwelt  jener  Gegenden  berücksichtigt,  wie 
s.  B.  das  siebente  Kapitel  fast  ganz  mit  den  Elephanten  und  deren 
Jagd  sich  beschäftigt;  aber  eben  so  werden  auch  die  Bewohner 
geschildert  und  so  ein  vielfache  Abwechslung  gewährendes  Bild  uns 
vorgeführt.  Zahlreiche  dem  Werke  eingedruckte  Holzschnitte  steilen 
meistens  Bewohner  der  durchwanderten  Gegenden  in  den  verschie- 
densten Situationen,  Jagdscenen  u.  dgl.,  oder  Waffen,  Gerätschaf- 
ten dar;  der  See  selbst,  dessen  Erreichung  das  Ziel  der  ganzen 
Reise  war,  ist  dem  Titelblatte  in  einem  schönen  Bilde  beigegeben. 


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fc  21.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Verhandlungen  des  natnrkistorisch  -  medizinischen 

Vereins  zu  Heidelberg. 


1.  Vortrag  des  Herrn  Prof.  0.  Weber:  »Ueber  eine 
Nervengesch  wulst  €  ,  am  26.  Oktober  und  21.  Dezember  1866. 

(Da»  Manuscript  wurde  am  1.  Mai  1867  eingereicht) 

Prof.  0.  Weber  bespricht  einen  kürzlich  von  ihm  operirten 
Fall  Ton  sog.  Neurom  des  Norvus  cruralis.  Der  Patient,  ein  2  7jäh- 
riger  schmächtiger  junger  Mann,  hatte  zuerst  im  März  1866  eine 
Geschwulst  an  der  innern  Seite  des  rechten  Oberschenkels  bemerkt; 
sie  hatte  anfangs  die  Grösse  einer  Wallnuss  und  veranlasste  sehr 
bald  heftige,  von  ihr  ausstrahlende  Schmerzen,  welche  die  ganze 
innere  Seite  des  Beines  einnahmen  und  blitzartig  zeitweise  beson- 
dere in  der  Bettwärme  oder  nach  stärkeren  Anstrengungen  auftra- 
ten. Die  Geschwulst  wuchs  rasch  an  und  die  Schmerzen  wurden 
zuletzt  so  heftig,  dass  der  Kranke  sehr  abmagerte  und  seiner  Be- 
schäftigung nicht  mehr  nachgehen  konnte.  Bei  der  Aufnahme  in 
das  Krankenhaus  (am  29.  Sept.)  fauden  wir  eine  Gänseeigrosse  Ge- 
schwulst in  der  Mitte  des  Oberschenkels  die  offenbar  den  Nervus 
cruralis  umgab  und  die  bei  ihrem  raschem  Wacbsthum  und  der 
pseudofluctuirenden  Consistenz  für  ein  Sarkom  des  Nerven  ange- 
sprochen werden  musste.  Nach  der  Meinung  des  Vortragenden  ist 
es  nämlich  nöthig,  auch  die  Nervengeschwülste  oder  sog.  Nenrome 
wieder  ihrer  anatomischen  Natur  nach  zu  classificiren  und  wo 
möglich  diese  auch  schon  am  Lebenden  zu  diagnosticiren.  Die  Ge- 
schwulst war  oval,  6  centim.  breit  5  centim.  lang  und  Hess  sich 
nach  den  Seiten  bin  ziemlich  verschieben,  von  oben  nach  unten 
war  keine  Beweglichkeit  möglich.  Der  untere  Theil  war  vom  m. 
sartorius  bedeckt  und  zeigt  eine  pulsirende  Hebung  und  Senkung 
durch  die,  wie  es  schien,  auch  durch  die  Geschwulst  hindurchlau- 
fende Arterie.  Die  Untersuchung  der  Geschwulst  rief  nur  dann 
Sch  merz  hervor,  wenn  man  sie  zu  umgreifen  suchte  und  stark  hin 
und  her  schob.  Dann  entstanden  auch  die  bereits  erwähnten  bis 
itun  Fusse  ausstrahlenden  Schmerzen.  Für  gewöhnlich  hatte  der 
Kranke  nur  ein  Gefühl  von  Pelzigsein,  welches  besonders  längs  der 
▼ordern  Innenseite  des  Unterschenkels  sich  bemerkbar  machte  und 
genau  bis  zur  crista  tibiae  reichte.  Die  Sensibilität  war  an  den  ent- 
sprechenden Stellen  etwas  vermindert.  Die  Beweglichkeit  war  unge- 
stört, nur  hatte  der  Kranke  zuweilen  leichte  Zuckungen,  besonders 

LX.  Jahrg.  6.  Heft  21 


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322         Verhandlungen  des  naturhistorisch-medirinisclien  Vereins. 

im  unteren  Ende  des  vastus  internus.  Man  konnte  daraus  schlies- 
sen,  dass  hauptsächlich  der  nervus  saphenus  major  und  einige 
Muskeläste  des  cruralis  von  der  Geschwulst  ergriffen  waren. 

Obwohl  in  der  Ruhe  die  lancirenden  Schmerzen  aufhörten, 
kehrten  sie  doch  sofort  wieder,  wenn  der  Kranke  sich  viel  Be- 
wegung machte,  und  da  die  Geschwulst  zusehends  wuchs,  so  ver- 
langte er  dringend  die  Operation.  Dieselbe  wurde  am  11.  October 
ausgeführt.  Nachdem  die  Geschwulst  durch  einen  5  Zoll  langen 
Schnitt  durch  Haut  und  Fascie  blossgelegt  war,  ergab  sich,  dass 
sie  mit  dem  m.  sartorius  theil weise  verwachsen  war  und  es  wurde 
nothwendig  ein  Stück  aus  der  Länge  desselben  hinwegzunehmen, 
die  grössere  Hälfte  der  Muskelbündel  blieb  unversehrt.  Ein  Her- 
auspräpariren  der  Nerven  war  ganz  unmöglich,  da  die  Nervenfasern 
sich  ganz  in  der  weichen  Geschwulstmasse  verloren.  Auch  die 
Arteria  und  Vena  femoralis  verliefen  mitten  durch  die  Geschwulst 
hindurch.  Es  wurde  der  Versuch  gemacht,  die  Arterie  herauszu- 
lösen, allein  die  Geschwulst  hatte  bereits  die  Wände  derselben  er- 
griffen, so  dass  das  Blut  durch  die  mürbe  Gef&sswand  hindurch- 
schwitzte und  nichts  anderes  übrig  blieb  als  ein  drei  Zoll  langes 
Stück  der  Arterie  mit  hinwegzunehraen ,  nachdem  dieselbe  oben 
und  unten  unterbunden  war.  Noch  schlimmer  war  das  Verhalten 
der  Vene,  indem  die  Geschwulst  in  das  Venenlumen  bereits  einge- 
drungen war.  So  musste  auch  die  Vene  doppelt  unterbunden  und 
resecirt  werden. 

Die  herausgenommene  knotig  höckerige  weiche  Geschwulst  von 
grauröthlichem  markigem  Ansehn  erwies  sich  als  ein  Gliosarkom 
mit  runden  blassen  eiterähnlichen  Zellen,  welches  sich  vom  Binde- 
gewebe der  Nervenscheide  entwickelt  hatte  und  diffus  sowohl  in 
die  benachbarten  Muskeln  als  auch  in  die  Gefässhäute  der  Arterie 
und  der  Vene  vordrang.  Die  Vene  war  an  ihrem  unteren  Ende 
stark  verdickt  und  zusammengezogen.  In  der  Mitte  des  heraus- 
genommenen Stückes  hatte  die  Geschwulst  auch  die  Intima  auf  eine 
zolllange  Strecke  bereits  durchbrochen  und  ragte  als  ein  markiger 
mit  weichem  Blutcoagulum  durchwachsener  Zapfen  frei  in  das  Lumen 
der  Vene  hinein.  Daneben  war  aber  noch  ein  Canal  für  den  Rück- 
fluss  des  Blutes  frei  geblieben.  Ohne  Zweifel  würde  die  Geschwulst 
bei  weiterem  Wacbsthume  —  wenn  dies  nicht  schon  geschehen  — - 
zu  secundären  Geschwulstbildungen  auf  dem  Wege  embolischer  Ver- 
schleppungen Anlass  gegeben  haben,  so  dass  also  in  dieser  Hinsicht 
die  Exstirpation  der  Ge&ssstücke  als  ein  Glück  angesehen  werden 
durfte. 

Sehr  interessant  war  nun  der  weitere  Verlauf  des  Falles.  Nach 
den  Anschauungen  der  ältern  Chirurgie  hätte  die  gleichzeitige  Unter- 
brechung des  arteriellen  und  des  venösen  Stromes  in  den  Haupt- 
geftissen  der  Extremität  und  eines  so  wichtigen  Nerven  die  Fort- 
existenz des  Gliedes  in  hohem  Grade  bedrohen  müssen.  Indessen 
durfte  man  auf  eine  baldige  Herstellung  des  Collateralkreislaufes 


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'Verhandlungen  de»  neturhlstoriech-medizintochen  Vereins.  32' 

rechnen,  da  der  vorangegangene  Druck  der  Geschwulst  anf  die  Gefässe 
nothwendig  schon  eine  stärkere  Entwicklung  der  Collateralen  hatte  zu 
Wege  bringen  müssen.  In  der  That  konnte  man  sich  schon  bei  der 
Operation  von  der  Herstellung  des  Collateralkreislaufos  überzeugen. 
Nachdem  das  obere  Ende  der  Arterie  unterbunden  war,  legte  ich 
den  Faden  um  das  untere  Ende,  wo  die  Arterie  wieder  aus  der  Ge- 
schwulst heraustrat,  zunächst  nur  so  um,  dass  derselbe  die  Arterie 
nicht  verschluss  und  schnitt  des  Versuchs  wegen  die  Arterie  mit 
der  Scheere  ab.  Der  hervorspritzende  Strahl  war  fast  so  kräftig 
wie  der  aus  der  nicht  unterbundenen  Arterie  gewesen  sein  würde. 
Es  gerieth  nun  auch  das  Glied  keinen  Augenblick  in  irgend  welche 
Gefahr.  Gleich  nach  der  Operation  blieb  zwar  der  Unterschenkel 
bis  zum  fünften  Tage  hin  sowohl  subjectiv  als  objeotiv  etwas  küh- 
ler, und  erschien  etwas  venös  hyperämisch,  allein  schon  vom  sech- 
sten Tage  an  war  die  Temperatur  ganz  gleich  mit  dem  andern 
Beine  und  liess  sich  kein  Unterschied  mehr  in  Bezug  auf  die  Cir- 
colationsverbältnisse  wahrnehmen.  Das  Gefühl  war  anfangs  vom 
antern  Drittheil  des  Oberschenkels  an  der  Innenseite  des  Knies 
bis  zum  einen  Knöchel  und  längs  der  crista  tibiae  erloschen.  In- 
dess  schon  7  Tage  nach  der  Operation  ergab  sich,  dass  sich  die  un- 
empfindliche Stelle  erbeblich  verkleinert  hatte  und  von  da  an  immer 
beschränkter  wurde.  Die  Wunde  heilte  durch  Granulationen  in 
erfreulicher  Weise  zu.  Die  Beweglichkeit  des  Beines  war  ganz 
ungestört.  • 

Als  der  Kranke  in  einer  späteren  Sitzung  der  Gesellschaft  ge- 
beilt vorgestellt  wurde,  konnte  er  sein  Bein  ohne  alle  Beschwerden 
gebrauchen,  so  dass  er  schon  einen  Weg  von  drei  Stunden  ohne 
Hinderniss  zurückzulegen  vermochte.  Das  Gefühl  war  bis  auf  eine  Stelle 
■in  dem  oberen  Drittel  der  Schienbeinkante  im  Umfange  von  zwei 
Qaadratzoll  vollständig  wieder  hergestellt.  Einige  Monate  später 
war  die  Anästhesie  nur  noch  auf  eine  {j2  Quadratzoll  grosse  Stelle 
beschränkt.  Darnach  unterliegt  es  also  keinem  Zweifel,  dass  sich 
die  Nervenleitung  zum  grossen  Theii  wieder  hergestellt  hat.  Ent- 
weder muss  sich  das  excidirte  3  Zoll  lange  Stück  des  nervus  saphe- 
nns  major  regenerirt  haben,  oder  die  Leitung  muss  durch  Anasto- 
mosen übernommen  worden  sein.  Die  erstere  Ansicht  hat  nach  den 
vorliegenden  Erfahrungen  die  grössere  Wahrscheinlichkeit  für  sich, 
da  man  auch  am  nervus  isohiadious  nach  Exoision  eines  ll/2  Zoll 
langen  Stücks  die  Leitung  sich  wieder  herstellen  sah  und  da  die 
Beobachtungen  von  Hjelt,  Lent  u.  A.  die  Regeneration  grösserer 
eicidirter  Nervenstücke  dargethan  haben. 

2.  Vortrag  des  Herrn  Dr.  Heine:  »Ueber  Ur anoplastik 
bei  Oberkieferresektionen«,  am  9.  November  1866. 

3.  Vortrag  des  Herrn  Dr.  Bernstein;    >Ueber  den 

Nervenstrom«,  am  9.  November  1866. 


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824         Verhandlungen  des  natnrhlstorißch-medizinischen  Verein«. 


4.  Vortrag  des  Herrn  Dr.  C.  W.  C.  Puchs:  »Ueber  das 
Maderanerth al«,  am  23.  November  1866. 

(Das  Manuscript  wurde  am  28.  April  1867  eingereiht.) 

Das  Maderauerthal ,  eines  der  herrlichsten  Hochalpen-Thäler, 
voll  Wasserfälle  und  Gletscher,  ist  ein  Seitentbal  des  Reussthaies. 
Es  erstreckt  sich  von  Ost  nach  West  etwa  sieben  Stunden  lang; 
doch  sind  nur  etwa  4'/i  Stunden  Weges  mit  Vegetation  bedeckt, 
der  hintere  Theil  des  Thaies  ist  von  dem  grossen  Hüfigletscher 
ausgefüllt.  Berge ,  welche  sich  sowohl  durch  ihre  schöne  Form, 
als  auch  durch  ihre  bedeutende  Höhe  auszeichnen ,  begrenzen  das 
Thal;  auf  der  Nordseite  der  zackige  Folskamm  der  Windgälle,  der 
grosse  und  kleine  Ruchi,  auf  der  Südseite  der  Bristenstock,  Wei- 
denalp — ,  Oberalpstock  und  Düssistock;  den  Hintergrund  bildet 
das  zweizackige  Scheerhorn.  Zwischen  dem  Bristenstock  und  Wei- 
denalpstock  mündet  das  Etzlithal,  das  grössto  Seitenthal  des  Ma- 
deranerthales,  indem  dasselbo  von  Süden  kommend,  nahezu  parallel 
mit  dem  Reusstbale  bis  zum  Maderanerthale  sich  erstreckt. 

Indem  das  Madoranorthal  einen  tiefen  Einschnitt  in  eine  sonst 
compakte  und  wenig  gegliederte  Gebirgsmasse  bildet,  ist  es  der 
Ausgangspunkt  zahlreicher  Pässe,  die  aber  ziemlich  schwierig 
und  grösstentheils  mit  langen  Gletscherübergängen  verbunden  sind, 
z.  B.  der  Kreuzlipass,  Brunnipaes  und  Gletscherpass,  die  nach 
Dissentis  führen,  der  Claridenpass  und  Scheerjochpass ,  welche  in 
das  Linth-Thal  münden. 

Der  Htifigletscher ,  welcher  den  Thalboden  im  oberen  Theile 
des  Maderanerthales  bedeckt,  ist  auf  seiner  Oberfläche  am  unteren 
Ende  ziemlich  eben  und  ohne  viele  Spalten,  also  leicht  gangbar; 
da,  wo  er  an  das  Scheerhorn  stösst,  fällt  er  steil  ab  und  besteht 
aus  scharf  zugespitzten  Eiszacken,  welche  durch  tiefe  Spalten  ge- 
trennt sind  —  eine  Eismasse,  die  in  ihrer  Zerrissenheit  an  den 
steilen  Abfall  des  Rbonegletschers  neben  dem  Galenstock  erinnert. 
An  dem  Scheerhorn  spaltet  sich  der  Gletscher  in  zwei  grosse  Arme, 
die  sich  weiter  oben,  vom  Thalboden  aus  nicht  mehr  sichtbar,  noch 
vielfach  theilen  und  von  allen  Gipfeln  jenes  Gobirgsstockes  Zufluss 
erhalten,  einerseits  noch  von  den  Olariden,  andererseits  auch  von 
dem  Tödi. 

Die  hohen,  mit  ewigem  Schnee  und  zahlreichen  Gletschern  be- 
deckten Berge,  welche  das  Maderanerthal  umgeben  und  steil  von 
der  Thalsohle  ansteigen,  erklären  hinreichend  den  ausserordent- 
lichen Wasserreichthum  des  Thaies.  Von  allen  Seiten  stürzt  das 
Wasser  in  den  prächtigsten  Fällen  von  den  steilen  Abhängen  herab, 
jeder  Wasserfall  malerisch  und  schön  und  jeder  doch  in  seiner 
eigenen  Art,  verschieden  von  allen  andern  und  alle,  als  Gletscher- 
bäche, stets  wasserreich.  Auf  der  Südseite  zeichnet  sich  der  Etzli- 
bach  aus,  welcher  das  Etzlithal  bildet  und  am  Ende  desselben  über 
die  hohe  Thalstufe,  welche  dasselbe  vom  Maderanerthal  trennt, 


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Verhandlungen  des  naturhiBtorisch-medkinischen  Vereins.  325 

herabstürzt ;  weiter  oberhalb  der  Stäubibach,  der  überhaupt  zu  den 
schöneren  Wasserfällen  der  Schweiz  gezahlt  werden  kann.  Auf  der 
Nordseite  übertrifft  der  Golzernbach  und  der  Seidenbach  die  übri- 
gen an  Schönheit  und  Wasserreichthum. 

Das  Maderanerthal  ist  ein  Hochthal,  d.  h.  es  steht  mit  dem 
Thalsystem,  zu  welchem  es  gehört,  nicht  in  unmittelbarer  Verbin- 
dung, sondern  ist  von  dem  Reussthai,  in  welches  sich  der  Kär- 
stelenbach  aus  dem  Maderanerthal  ergiesst,  durch  eine  hoho  Tbal- 
stufe  getrennt;  man  muss  eine  steile  Bergwand  zwischen  Wind- 
gälle  und  Bristenstock  binansteigen  um  von  Amstäg  im  Reussthal  auf 
ien  Thalboden  des  Maderanerthales  zu  gelangen.  Ebenso  ist  das 
Etzlithal  ein  Hochthal  in  Bezug  auf  das  Wassersystem  des  Made- 
ranerthales  und  von  diesem  gleichfalls  durch  einen  steilen  Absturz 
getrennt,  so  dass  der  Etzlibach  nur  als  Wasserfall  in  das  Made- 
ranerthal gelangen  kann.  Die  Natur  arbeitet  jedoch  noch  auf  das 
lebhafteste  an  der  Umformung  des  Maderanerthales,  ein  Umstand, 
der  sich  gerade  aus  seinem  Charakter  als  Hochthal  erklärt. 

Das  Maderanerthal  ist  für  den  Geognosten  von  höchstem  Interesse 
und  in  der  letzten  Zeit  auch  ist  hrfach  besucht  und  beschrieben  wor- 
den, z.  B.  von  G.  v.  Rath,  A.  Müller  etc.  Das  Maderanerthal  gehört 
zu  denjenigen  Gegenden ,  in  welchen  man  sich  von  der  Um  Wand- 
lung der  Gesteine  verbältnissmässig  leicht  überzeugen  kann.  Diese 
Gelegenheit  bietet  sich  überhaupt  in  den  Alpen  vielfach  dar.  Die 
grosse  Schwierigkeit  sich  von  den  Veränderungen  im  Gesteinsreich 
«o  überzeugen  und  dieselben  zu  verfolgen,  beruht  in  ihrer  schein- 
baren Geringfügigkeit  und  in  der  Langsamkeit  mit  der  sie  sich 
vollziehen.  Da,  wo  der  Urawandlungsprozess  mit  grösster  Energie 
von  statten  geht,  und  ein  solcher  «  <rt  sind  die  Alpen,  da  ist  auch 
eine  Wirkung  am  grössten  und  in  kürzester  Zeit  von  Bedeutung, 
M  dass  derselbe  leichter  auffällt. 

Die  Centralmasse  der  Alpen,  besteht  aus  einzelnen  Knoten ( 
von  krystallinischem  Silikatgestein,  besonders  Granit,  Gneiss  und 
Glimmerschiefer.  An  dieselben  legen  sich  dann  zu  beiden  Seiten 
sedimentäre  Gesteine,  vorherrschend  Kalksteine  an,  welche  nur  ge- 
ringere Höhe  erreichen.  Ein  solcher  Knoten  bildet  den  Kern  des 
Berner-Oberlandes ,  erstreckt  sich  aber  nach  Westen  bis  in  die 
hegend  von  Lenk,  nach  Osten  hin  bis  zum  Tödi.  Die  eigentüm- 
liche Lagerung  der  Schichten  hat  schon  längst  das  Interesse  der 
Geognosten  auf  diesen  Gebirgsstock  gelenkt.  Die  Schichten  des- 
selben sind  nämlich  sehr  steil  aufgerichtet  und  bilden  einen  riesi- 
gen Fächer.  Auf  der  ganzen  Nordseite  des  Gebirgsstockes  fallen 
die  Schichten  nach  Süden  und  um  so  steiler,  je  näher  dem  Mittel- 
punkte. Auf  der  Südseite  desselben  neigen  sich  die  Schichten  im 
Gegentheil  nach  Norden  und  gleichfalls  in  der  Nähe  des  Mittel- 
punktes am  steilsten. 

Das  Maderanerthal  und  seine  Umgebung  gehört  der  nordöst- 
lichen Seite  des  Gebirgsknotens  an.  Da  es  sich  von  Ost  nach  West 


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326        Verhandlungen  de§  naturhiatorisch-mediflnlsehen  Vereins. 


erstreckt,  so  folgt  dasselbe  dem  Streichen  der  Schichten  und  ist 
also  wenig  geeignet  den  I  icherbau  der  Schichten  klar  zu  machen. 
Dafür  durchschneidet  das  Etzithal  den  Gebirgsstock  und  legt  den 
Fächer  blos.  Das  Maderanertbal  liegt  aber  auch  gerade  auf  dem 
nördlichen  Bande  jenes  Gebirgsknotens ,  wo  die  krystallinischen 
Silikatgesteine  von  den  Kalksteinen  berührt  werden.  Darum  wird 
in  demselben  auch  hauptsächlich  nur  die  südliche  Thal  wand  von 
den  krystallinischen  Silikatgesteinen  gebildet,  die  nördliche  da- 
gegen besteht  aus  dichten  grauen  Kalksteinen.  Dieselben  gehören 
einer  ganz  anderen  Bildungsperiode  an,  wie  die  Silikatgesteine, 
denn  ihre  Schichten  fallen  in  entgegengesetzter  Richtung  und  viel 
weniger  steil. 

Besonders  merkwürdig  sind  die  krystallinischen  Silikatgesteine. 
Man  kann  dieselben  im  Allgemeinen  als  Thonsohiefer ,  Talk-  und 
Glimmerschiefer  bezeichnen,  neben  denen  Granit,  Syenit  und  Diorit 
untergeordnet  auftreten.    Allein  diese  Namen  passen  nur  für  ein- 
zelne Stücke,  für  gewisse  Extreme ;  das  Interesse  beruht  gerade 
darauf,  dass  für  die  Mehrzahl  der  Gesteine  keiner  dieser  Nameu 
passt,  dass  überhaupt  kein  Namen  passt  und  nur  die  seltneren 
Extreme  bestimmte  Species  vorstellen,  welche  durch  zahllose  Ueber- 
günge  mit  einander  verbuuden  sind.    Das  Maderanerthal  ist  eben 
ein  Gebiet,  in  welchem  die  Umwandlung  der  Gesteine,  mitteu  in 
dem  Prozess  begriffen,  alle  möglichen  Zwischenstufen  und  Ueber- 
gänge  wahrnehmen  läset.    Aus  Allem  geht  jedoch  hervor,  dass  der 
Thonsohiefer  das  ursprüngliche  Gestein  war,  welches  durch  chemische 
Einwirkung  eine  allmählige  Umwandlung  erlitt  und  darum  in  den 
weniger  veränderten  Gesteinen  noch  immer  erkennbar  ist,  an  ein- 
zelnen Stelleu  sogar  fast  ganz   unverändert  erscheint.    Die  Um- 
wandlung folgt  zwei  verschiedenen  Richtungen.  Die  eine  derselben 
besteht  in  der  Ausscheidung  von  Quarz  zwischen  den  Thonschiefer- 
Lamellen  und  Umwandlung  der  Thonschiefer- Substanz  in  Talk, 
Chlorit  und  Glimmer,  so  dass  das  Endresultat  ein  ächter  Glimmer- 
schiefer ist.    Man  sieht  bei  dieser  Umwandlung  zuerst  sehr  feine 
Talkschuppen  an  den  Thonschiefer  sich  anlegen,  deren  chemische 
Zusammensetzung  jedoch,  nach  Müller,  noch  nicht  mit  der  des 
Talkes  übereinstimmt,  indem  viel  Thonerde  und  Eisenoxyd,  wenig 
Magnesia  und  Kalk  darin  sich  findet.  Der  Quarz  nimmt  ebenfalls 
von  kaum  merkbaren  Adern  bis  zu  Zwischenlagen  von  beträcht- 
licher Dicke  und  einzelnen  rundlichen  Knoten,  immer  mehr  zu.  In 
derselben  Art,  wie  sich  der  Talk  entwickelt  und  vermehrt,  lässt 
sich  auch  die  Bildung  des  Glimmers  nachweisen. 

Die  andere  Richtung  der  Umwandlung  besteht  darin,  dass  die 
ganze  Masse  des  Thonschiefers  in  eine  grünliche  oder  graue ,  an 
den  Kanten  durchscheinende  Substanz  allmählig  übergeht,  die  ihrer 
chemischen  Zusammensetzung  nach  immer  mehr  mit  der  des  Feld- 
spathes  oder  des  Kieselsäure  reicheren  Feisites  übereinstimmt,  je  ab- 
weichender die  äussere  Beschaflenheit  von  der  des  Thouschiefers  wird. 


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Verhandlungen  de«  nfttarhiatoriich-mediziniachen  Vereins.  327 

Der  ganze  Urawandlungsprozess  bestand  besonders  darin,  dass 
als  nene  Substanz  eine  grössere  Menge  von  Alkalien  und  Magnesia 
hinzutrat,  die  Thonerde  sich  verminderte.  Wahrscheinlich  waren 
die  zugeführten  Substanzen  in  der  Lösung  theils  an  Kohlensäure, 
theils  an  Kieselsäure  gebunden.  Der  nähere  Gang  der  Umwand- 
lung würde  sich  nur  durch  sehr  eingehende  und  zahlreiche  Ge- 
steinsanalysen entziffern  lassen. 

Schon  längst,  ehe  man  auf  die  geognostischen  Merkwürdigkeiten 
des  Maderanerthales  aufmerksam  geworden  war,  war  dasselbe  schon 
wegen  der  Menge  und  Schönheit  der  darin  vorkommenden  Minera- 
lien berühmt.  Hauptsächlich  Bergkrystall,  Chlorit,  Adular,  Anatas 
und  Borokit  kommen  vielfach  in  den  Klüften  der  krystallinischen 
Silikatgesteine  vor. 

Müller  glaubt,  dass  das  atmosphärische  Wasser,  welches  auf 
jene  Gesteine  niederfällt  den  Yerwitterungsprozess  derselben  ein- 
leite und  dass  die  duroh  Verwitterung  im  Wasser  gelösten  Stoffe, 
in  den  Spalten  als  krystallisirf  Mineralien  sich  wieder  ausschei- 
den, dass  z.  B.  der  Albit  aus  der  Zerstörung  des  Feldspathes  sich 
bilde.  Allein  ans  denjenigen  Gewässern,  welche  ihre  gelösten  Stoffe 
ans  der  Verwitterung  anderer  Silikatgesteine  erhalten  haben,  kry- 
stallisiren  nur  sehr  selten  die  complicirt  zusammengesetzten  Sili- 
kate direkt  aus  und  fast  nie  kann  dasselbe  Mineral  entstehen, 
welches  durch  seine  Verwitterung  die  betreffenden  Stoffe  lieferte. 
Denn  die  durch  Verwitterung  im  Wasser  sich  lösenden  Stoffe  haben 
nicht  die  Zusammensetzung  des  zerstörten  Minerals;  es  kann  sich 
aus  Feldspath  nicht  wieder  Feldspath  bilden.  Der  gemeine  Feld- 
spath K*APSi60l(i  geht  durch  Verwitterung  in  Kaolin  H4AlaSi*0» 
über  und  nur  der  Rest  KJSi*09  kann  »ich  lösen,  aber  nicht  wie- 
der als  Feldspath  auskrystallisiren.  Auch  die  ganze  Anschauuug, 
als  wenn  die  Mineralbildung  daselbst  der  Neuzeit  angehöre  und 
wohl  auch  noch  gegenwärtig  stattfinde,  kann  ich  nicht  theilen.  Die 
Mineralien  des  Maderanerthales  sind  vielmehr  grösstenteils  gleich- 
zeitig mit  den  Gesteinen  entstanden,  in  welchen  sie  sich  Enden  und 
die  Gesteinsumwandinng  sowohl,  wie  die  Mineralbildung  hat  da- 
selbst ihr  Ende  erreicht,  sie  unterliegen  gegenwärtig  nur  der  Zer- 
störung durch  Verwitterung.  Man  hat  also  nicht  zu  hoffen,  dass 
die  Gesteine  des  Maderanerthales,  welche  einen  unfertigen  Charak- 
ter an  sich  tragen,  in  späteren  Zeiten  als  ausgebildete  Species  er- 
scheinen werden. 

Man  muss  nämlich  streng  zwischen  dem  Verwitterungsprozess 
und  dem  Umwaudlungsprozess  unterscheiden.  Die  Wirkung  beider 
ist  ganz  verschieden.  Der  Verwitterungsprozess  ist  ein  Zerstöruugs- 
prozess,  eine  Vernichtung  in  dem  Sinne,  wie  die  Verwesung  im 
organischen  Reiche ;  der  Umwandlungsprozess  dagegen  ist  ein  Neu- 
bildung8prozess ,  eine  Entwicklung,  welche  mit  dem  Stoffwechsel 
während  des  Lebens  im  organischen  Reiche  verglichen  werden  kann. 
Durch  Verwitterung  werden  complicirt  zusammengesetzte  chemi- 


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328         Verhandlungen  des  naturhiatoriBch-mcdizinischen  Vereins. 


sehe  Verbindungen  in  einfachere  gespalten,  von  denen  die  einen 
gewöhnlich  löslich,  die  andern  unlöslich  sind.  Indem  das  die  Ver- 
witteruug  verursachende  Wasser  die  neu  gebildeten  chemischen 
Verbindungen  auflöst,  wird  der  Zusammenhang  solcher  verwitternden 
Gesteine  gelöst  und  dieselbe  zerfallen  allmählig.  Der  unlöslich 
zurückbleibende  Bestandteil  wird  dann  in  diesem  zertheilten  Zu- 
stande gewöhnlich  mechanisch  fortgeführt,  er  bildet  den  Schlamm 
der  Flüsse. 

Die  Umwandlung  besteht  dagegen  darin,  dass  das  Gestein 
seinen  Zusammenhang  nicht  verliert,  sondern  dass  ein  Austausch 
der  Bestandtheile  zwischen  den  im  Wasser,  welches  das  Gestein 
durchdringt,  gelösten  und  den  im  Gestein  selbst  enthalteneu  Stoffen 
eintritt,  so  dass  nach  und  nach  die  Eigenschatten  des  Gesteins 
sich  ändern. 

Der  Verwitterungsprozess  wird  hauptsächlich  von  dem  atmos- 
phärischen Wasser  eingeleitet,  denn  die  Verwitterung  besteht  vor- 
zugsweise darin,  dass  aus  den  Silikaten  diejenigen  Basen,  welche 
leicht  kohlensaure  Salze  bilden,  mit  Kohlensäure  verbunden  werden, 
besonders  wenu  dieselben  als  doppelt  kohlensauere  Salze  in  Wasser 
löslich  sind,  und  dass  die  der  Oxydation  fähigen  Körper  Sauerstoff  auf- 
nehmen. Die  dazu  nöthigen  Stoffe,  Kohlensäure  und  Sauerstoff, 
enthält  das  atmosphärische  Wasser  in  höherem  Grade  noch  als  die 
Luft.  Die  atmosphärischen  Niederschläge  uud  das  auf  der  Erd- 
oberfläche circulirende  Wasser  sind  es  darum  hauptsächlich,  welche 
die  Verwitterung  der  Gesteine  veranlassen.  —  Die  Umwandlung  der 
Gesteine  wird  dagegen  durch  die  im  Innern  der  Erde  circulirenden 
Wasser  herbeigeführt.  Nachdem  das  Wasser  der  atmosphärischen 
Niederschläge  die  Gesteine  mit  denen  es  zuerst  in  Berührung  kommt, 
zersetzt  hat,  ist  dasselbe,  wenn  es  tiefer  in  die  Erde  eindringt 
freier  von  Sauerstoff  und  zum  Theil  von  Kohlensaure,  indem  die- 
selben verbraucht  siud,  dagegen  enthält*  es  alle  die  löslichen  Salze 
der  Verwitterung  und  darum  ist  dasselbe,  indem  der  oben  erwähnte 
Austausch  eintritt,  zur  Umwandlung  geeignet.  Daraus  folgt,  daäs 
die  Verwitterung  besonders  an  der  Erdoberfläche,  die  Umwandlung 
in  der  Tiefe  vorherrscht.  Lokale  Umstände  können  Umwandlungen 
an  der  Erdoberfläche  veranlassen,  der  Regel  nach  beschränken  sich 
dieselben  jedoch  auf  das  Erdinnere  und  sind  dort  ebenso  häufig 
und  allgemein,  wie  die  Verwitterung  in  den  der  Erdoberfläche 
nahen  Gesteinsmassen. 

5.  Bericht  des  Herrn  Prof.  Knapp:    »Ueber  100  nach 
der  neuen  Gräfe'schen  Methode  ausgeführte  Staar- 
extraktionen  «,  am  23.  November  1866. 

(Das  Manuscript  wurde  am  26  April  1867  eingereiht.) 

Redner  beschreibt  kurz  die  Technik  dieser  Operationsweise  mit 
Vorzeigung  der  dazu  nöthigen  Instrumente  uud  einiger  mittels  der- 


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Verhandlungen  des  naturhistorisch-medizinischen  Vereins.  320 

selben  geheilten  Kranken.  Er  spricht  sich  sehr  befriedigt  darüber 
ans  und  gibt  an,  dass  Hornhauteiterung  dabei  kaum  vorkomme. 
Nur  ein  Auge  von  jenen  100  sei  ganz  zu  Grunde  gegangen  durch 
Verallgemeinerung  primärer  Glaskörpereiterung.  Auch  die  erzielte 
Sehschäl  fe  erweise  sich  als  günstig.  Die  Methode  habe  den  Vor- 
theil, dass  Panophthalmitis  nur  noch  in  Ausnabmsfallen,  dagegen 
iritische  Prozesse  etwa  in  derselben  Häufigkeit  wie  früher  dabei 
vorkommen.  Die  Statistik  habe  sich  gegen  früher  also  gerade  um 
die  10%  der  übelsten  Misserfolge  —  Hornhautvereiterung  —  ver- 
bessert. Das  wesentlichste  Verdienst  dabei  schreibt 
Redner  dem  Skleralschn  itt  zu,  weil  dieser  keine  eitrigen 
Hornhautentzündungen  in  seinem  Gefolge  habe,  was  zuerst  Jacob- 
son in  Königsberg  richtig  erkannt  und  ausgesprochen  habe.  Er 
gibt  aber  der  Gräfe 'sehen  Operationsweise  vor  der  Jacob- 
son'sehen,  die  er  früher  vielfach,  aber  nicht  mit  gleichem  Glücke, 
geübt,  den  Vorzug. 


6.  Demonstration  der  Holtz* sehen  Electrisirmaschine 
durch  Herrn  Professor  Kirchhoff,  am  7.  Dezember  1866. 

7.  Vortrag  des  Herrn  Prof.  Moos:    »Ueber  das  sub- 
jective  Hören  wirklicher  musikalischer  Töne«, 

am  7.  Dezember  1866. 

(Das  Manuscript  wurde  am  4.  Januar  1867  eingereicht.) 

• 

Nach  einleitenden  Bemerkungen  über  subjective  GehÖrempfin- 
dnngen  überhaupt  wird  die  Seltenheit  des  subjectiven  Hörens  wirk- 
licher musikalischer  Töne  bei  Ohrenkranken  erörtert.  In  der  otia- 
triseben  Literatur  finden  sich  gar  keine  Angaben  über  diesen  Gegen- 
stand. Dagegen  in  der  Biographie  von  Robert  Schumann,  heraus- 
gegeben von  Wasielewski.  Schumann  hörte  eine  Zeit  lang  immer  a. 
Aber  diese  Thatsache  ist  nicht  zu  verwerthen,  weil  es  sich  um 
eine  wirkliche  Hallucination  handelte.  Diese  ist  bei  den  beobach- 
teten Kranken  des  Vortragenden  auszuschliessen.  Beide  Kranke 
waren  zur  Zeit  des  betreffenden  Leidens  und  auch  später  psychisch 
gesund. 

Der  erste  Fall  betraf  eine  26jährige  Dame.  Dieselbe  litt  an 
einem  seit  8  Jahre  bestehenden  doppelseitigen  chronischen  Catarrh 
der  Tuba  Eust.  und  der  Trommelhöhle  mit  lebhaftem  fortwähren- 
dem Sausen  rechts  und  beträchtlicher  Schwerhörigkeit.  Im  achten 
Jahre  des  Leidens  wurde  P. ,  nach  Anhören  eines  Vocal-  und  In- 
strumentalconcerts  14  Tage  lang  vom  subjectiven  Hören  zweier 
musikalischen  Töne  geplagt;  es  war  ihr  als  würden  fortwährend 
auf  dem  Klavier  c  und  e  angeschlagen.  Nach  14  Tagen  ohnge- 
föhr  war  sie  des  Morgens  beim  Erwachen  von  dieser  Erscheinung 
frei  and  blieb  es  auch.    Dagegen  litt  sie  von  da  an,  wie  früher, 


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330        Verhandlungen  des  naturhistoriscb-mediziniachen  Vereins. 


an  dem  gleichen  recht  seit  igen  continuirlichen  Sansen,  das  von  dem 
Hören  der  genannten  Töne  theilweise  übertäubt  war  und  der  Patien- 
tin weit  erträglicher  erschien,  als  das  Hören  jener  Töne,  welches 
sie,  sonst  durchaus  nicht  nervös,  in  hohem  Grad  afficirt  und  nament- 
lich für  geselligen  Umgang  zeitweise  gänzlich  unfähig  gemacht  hatte. 

Der  zweite  Fall  betraf  einon  45jährigen  Stadtschullehrer,  der 
sich  viel  mit  Gesang  und  Klavierunterricht  beschäftigte.  Auf  der 
linken  Seite  will  Patient  10  —  12  Jahre  Ohrenfluss  gehabt  haben, 
der  erst  seit  etwa  1  Jahr  sistirt  bat.  Das  Leiden  entwickelte  sich 
allmählig,  ohne  irgendwelche  dem  Kranken  bekannte  Ursachen. 
Patient  gibt  an,  zuweilen,  besonders  nach  Klavier-  und  Gesang- 
unterricht, wirkliche  musikalische  Töne  zu  hören,  eine  Erscheinung, 
die  aber  nach  mehreren  Stunden  in  der  Regel  wieder  verschwinde. 
Die  musikalischen  Töne  seien  immer  dieselben,  nämlich  g  und  h. 
Die  Untersuchung  ergab: 

Starker  Rachencatarrh,  äusserer  Gehörgang  links  ganz  trocken. 
Drei  von  der  untern,  der  vordem  und  der  hintern  Wand  des  knö- 
chernen Gehörgangs  ausgehende,  weisse,  gegen  Berührung  sehr 
empfindliche  und  in  der  Mitte  des  Meatus  ext.  derart  zusammen- 
stossende  Exostosen,  dass  man  nur  den  obersten  Theil  des  Trommel- 
fells, nämlich  den  kurzen  Fortsatz  und  die  über  ihn  hinausgebende 
obere  Ausbuchtung  des  Trommelfells,  welche  ohne  alle  anomale  In- 
jection  und  ohne  eitrige  Absonderung  waren,  sehen  konnte.  Eine 
Perforation  des  Trommelfells  bestand  nicht,  vielmehr  ein  Catarrh 
des  mittleren  Ohres  mit  freiem  beweglichem  Secret. 

Indem  der  Vortragende  für  den  letzten  Fall  die  Möglichkeit 
einer  lebhaften  Nachempfindung  in  s  Auge  fasst ,  glaubt  derselbe, 
dass  mau  beide  Fälle  am  Besten  mit  Zugruudlegung  der  Helm- 
holtz'schen  Theorie  der  Tonempfindungen  erklären  könne  und  be- 
hält sich  die  ausführliche  Mittheilung  der  Beobachtungen  in  einer 
Zeitschrift  vor. 

8.  Vortrag  des  Herrn  Prof.  H.  Alex.  Pagenstecher: 
»Ueber  die  Muskeln  des  Drill  und  über  die  Unter- 
schiede der  hintern  und  vordem  Extremitäten  der 

Säuger«,  am  21.  Dezember  1866. 

(Das  sofort  vorgelegte  Manuscript  wurde  in  der  Zeitschrift  „der  Zoologische 
Garten"  April  und  Mai  l£67  unter  dem  Titel  „Mensch  und  Affe" 

vollständig  abgedruckt ) 

Es  soll  aus  diesem  Vortrage  hier  nur  das  Wichtigste  in  ab- 
gekürzter Zusammenfassung  hervorgehoben  werden: 

Die  Hautmuskulatur  des  Rumpfes  setzte  sich  bei  Mandrilla  leuco- 
phaea  von  der  jackenförmigen  fascia  lumbo-dorsalis  ausgehend  an  den 
falschen  Rippen  in  Verbindung  mit  der  obersten  Schicht  der  Rücken- 
muskeln, seitlich  bildete  sie  ein  starkes  Büudel  zur  Achselhöhle,  er- 


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Verbandlungen  des  naturhistortach-medteinischen  Vereins.  381 


reichte  aber  den  Oberarm  nicht.  Es  waren  dreizehn  Rippen  vorhanden« 
Die  Ursprünge  dea  pectoralis  major  gingen  bis  znr  neunten  Rippe, 
der  Ansatz  verlief,  die  Spina  tuberculi  raajoris  des  numerus  über- 
schreitend, in  derFascie  bis  gegen  die  Ellenbeuge.  Die  vena  cepha- 
Iica  trennte  nicht  den  deltoideus  vom  pectoralis  major,  sondern 
lag  nach  Innen  von  der  kiavikularen  Portion  des  letztern.  Die 
kl&viknlare  Portion  des  deltoideus  fehlte. 

Man  erlangt  ein  besseres  Verständniss  zunächst  der  Muskeln 
der  Schulter,  wenn  man  den  Oberarm  in  Abduktion  vom  Rumpf 
erhebt,  den  Ellenbogen  nach  Kopf  und  Rücken  zu  wendet  und  die 
Hand  byperextendirt  und  so  eine  Normal  Stellung  bildet,  welche 
man  mit  der  hintern  Extremität  genau  nachahmen  kann.  Durch 
diese  Parallelisirung  gewinnt  man  dann  weiter  für  die  später  fol- 
genden Vergleiche  der  beiden  Gliederpaare  und  für  das  Verständ- 
niss der  Beziehungen  derselben  zu  Bauch  und  Rücken  die  richtige 
Grundlage. 

In  der  Muskulatur  wird  durch  diese  Lagerung  die  Unter- 
schlagung am  Ansätze  des  pectoralis  major  ausgeglichen.  Die  Fest- 
stellung des  gegensätzlichen  Verhaltens  des  pectoralis  minor  als 
eines  dorsalen  Muskels  (im  Gegensätze  der  Rippenkörper  zu  Rippen- 
knorpeln, Brustbein  und  Schlüsselbein)  und  die  Untersuchung  der 
übrigen  Muskeln  an  Schulter  und  Oberarm  auf  ihren  dorsal-  und 
ventral-epaxoniscfaen  und  vielleicht  hypaxonischen  Charakter  schei- 
nen die  Annahme  zweier  parallelen  Elemente  im  Oberarm  zu  ver- 
langen, die  den  claviculae  acromialis  und  coraeoidea  entsprechen 
würden  und  in  den  zwei  Kernen  des  Kopfes,  tuberculum  majus  und 
minus,  wirklich  vertreten  sind.  Es  stehen  dann  dorsale  und  ven- 
trale Oberarmmuskeln  nicht  einfach  opponirt,  sondern  sind  durch 
zweimaligen  Wechsel  getrennt.  Das  korakoideale  Element  erweist 
sich  dabei  in  der  gedachten  Normalstellung  als  das  hintere. 

Ein  darmsaitenartiges  Band  vertrat  bei  diesem  Mandrill  die 
•Uvicula  coraeoidea.  Der  latissimus  dorsi ,  mit  Ursprung  schon 
▼om  ersten  Rückenwirbel  an,  sandte  ein  starkes  Bündel  zur  Ellen- 
bogensehne des  trieeps.  Der  cucullaris  berührte  kaum  die  clavi- 
eula.  Ein  m.  acromiobasilaris  war  vorhanden;  mit  dem  processus 
styloideus  fehlten  dessen  Muskeln. 

Ein  Bündel  des  caput  externum  trieipitis  kombinirte  sich  mit 
dem  supinator  longus.  Durch  Erhebnug  der  supinatorischen  Wir- 
bng  am  brachialis  internus ,  Verminderung  derselben  am  supina- 
tor brevis,  in  Folge  der  Verlagerung  der  Ansätze  dieser  Muskeln 
im  Vergleich  zum  Menschen,  verliert  die  Supination,  anderen  Be- 
wegungen ohne  Weiteres  gesellt,  als  selbstständige  Bewegung  an 
Bedeutung. 

So  kombinirt  sich  auch  durch  Verbindung  der  flexores  carpi 
radialis  und  ulnaris,  des  palmaris  longus  und  des  flexor  digitorum 
profundus  mit  dem  flexor  digitorum  sublimis,  des  flexor  radialis 
weiter  mit  dem  pronator  teres  und  Entwicklung  des  flexor  pollicis 


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333        Verhandlungen  des  naturnietorisch-medizlnlschen  Vereins. 

longus  als  einer  radialen  Portion  des  flexor  digitonim  profundus 
die  Beugung  der  Finger  bis  zu  den  letzten  Phalangen  und  mit  Ein- 
schluss  des  Daumens  sowie  die  Einfaltung  des  letztern  in  die  Hand, 
somit  das  festeste  Zugreifen,  ohne  Weiteres  der  Beugung  des  Hand- 
gelenkes. 

Die  Stelle  der  extensores  d.  indicis  proprins ,  d.  minimi  und 
carpi  ulnaris  nimmt  ein  Muskel  ein,  der,  von  der  äussern  Kante 
und  dorsalen  Flüche  der  ulna  bis  zum  condylus  externus  humeri 
Ursprung  nehmend,  alle  vier  Finger  versorgt  und  mit  der  Exten- 
sion die  Hand  nach  aussen  zieht  und  wendet,  während  die  Gruppe 
dos  extensor  commuuis  uud  der  radiales,  longus  und  brevis,  die 
Hand  zugleich  nach  Innen  zieht  und  wendet. 

Der  Ursprung  vom  lig.  volare  macht  alle  interossei  zu  modi- 
fizirten  Beugern  in  der  Hand ,  die  dorsales  entfalten  dabei  die- 
selbe, die  volares  legen  sie  znsammen.  Im  Ganzen  verbinden  sich 
durch  die  Muskeleinrichtungen  am  Arm  leicht  gewissen  Beugungen 
und  Streckungen  gewisse  Drehungen  des  Vorderarms  und  setzen 
sich  auf  die  Hand  fort. 

Die  Beweglichkeit  der  Handwurzel  wird  durch  den  neunten 
Handwurzelknochen  vermehrt.  Dieser  erscheint  als  ein  vom  os  na- 
viculare  abgelöstes  und  theilweise  in  Platz  und  Funktionen  des 
capitatum  getretenes  8tück. 

Mit  ihren  Ursprüngen  weiter  an  den  Lendenwirbeln  und 
Rückenwirbeln  vorrückend  und  auch  die  Schwanzwirbol  in  Anspruch 
nehmend  finden  die  von  den  Wirbeln  zum  Becken  und  weiter  an 
die  hintern  Extremitäten  sich  begebenden  Muskeln  eine  ausgedehn- 
tere Basis  als  beim  Menschen.  Ausser  dem  m  coecygeus  ist  ein  dem 
lovator  ani  entsprechender  depressor  caudae  vorhanden.  Die  Muskeln 
gracilis,  semitendinosns  und  sartorius  inseriren  sich  tiefer,  dem  m. 
bieeps  fehlt  der  kurze  Kopf.  Er  und  der  addnetor  magnus  drehen 
zugleich  den  Unterschenkel  nach  Aussen.  Von  den  glutaei  ist  der 
medius  der  stärkste. 

Der  flexor  hallucis  longus,  mit  Sehnen  auch  für  die  dritte  und 
vierte  Sehne,  gleicht  in  seiner  Anordnung  dem  flexor  digitum  mag- 
nus profundus  mit  arrogirtem  flexor  pollicis  longus.  Seine  Com- 
bination  mit  dem  flexor  communis  longus  digitonim  pedis,  welcher 
die  zweite  und  fünfto  Zehe  versorgt,  gibt  bei  gemeinsamer  Wirkung 
ein  Zusammenlegen  des  Fusses,  bei  Einzelgebrauch  eine  Begünsti- 
gung der  Wendung  der  Sohle  uach  Innen  und  Aussen. 

Vom  flexor  communis  brevis  digitorum  pedis  sondert  sich  ein 
flexor  digiti  indicis  pedis  proprius.  Dio  interossei  nehmen  den  Ur- 
sprung ähnlich  wie  an  der  Hand,  das  Zusammenwirken  der  inter- 
ossei dorsales  mit  den  langen  Streckern  breitot  die  extendirte 
Hand  aus. 

Das  Geuauero  und  die  Mittheilungen  über  weitere  Muskeln  sehe 
man  an  der  oben  genannten  Stelle  nach. 

Behnfa  des  Vergleichs  dor  Glieder  des  Menschen  und  der  Affen 


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Verhandlungen  des  natu rhi 8 1( irisch- medizinischen  Vereins.  883 


muss  man  zunächst  die  Beziehungen  zwischen  vorderer  und  hinte- 
rer Extremität  der  Sänger  von  Schulter  und  Becken  herab  zu  Hand 
und  Pubs  feststellen,  was  auf  verschiedene  Weise  zu  lösen  versucht 
worden  ist. 

Den  besten  Ausgangspunkt  für  diese  Untersuchung  gibt  die 
oben  bezeichnete  Normalstellung:  Alle  Theile  beider  Glieder 
befinden  sich  dann  in  geeigneter  Lage  für  den  Beweis  der  Ana- 
logie in  der  Reiben  folge.  Am  supinirten  Arm  entspricht 
namentlich  der  radius  der  tibia  des  Beines,  die  ulna  der  gleich 
gelagerten  fibula ;  die  Hyperextension  der  Hand  entspricht  der  ge- 
wöhnlichen Stellung  des  Fusses. 

Gegenüber  vollkommener  Parallelisirung  im  Verlaufe  bleibt 
Opposition  der  Gelenkflächen ,  welche  aus  Entwicklung  dieser  für 
bamerus  und  fomur  in  verschiedener  Richtung  erklärt  werden  muss. 

Die  ungleiche  Anlage  dieser  Flächen  verbindet  sich  mit  ent- 
sprechender Verschiebung  der  Trochanteren  und  Tuberkel  und  der 
Kichtungsampassung  der  Gelenkgruben  des  Schulterblattes  und  des 
Beckens. 

Zum  Vergleiche  dieser  beiden  Gürtel  müssen  wir  die  aus  den 
Eigentümlichkeiten  der  an  sie  eingelenkten  Glieder  resultirenden 
Besonderheiten  wegschaffen,  wir  müssen  die  Schulter  und  das  Becken 
zur  Vertikalen  aufrichten  und  erhalten  dann  auch  hier  eine  voll- 
kommene Analogie  in  der  Reihenfolge.  Die  fossa  subscapularis  ent- 
spricht der  innern  Hüftbeiiifläche ,  die  kleine  Fläche  zwischen  der 
äussern  und  innern  Fläche  des  Axillarrandes  dem  Abschnitte  für 
das  kleine  Becken,  der  axillare  Rand  selbst  der  iucisura  ischiadioa 
major,  der  o-bere  Skapularrand  dem  Vorderrand  des  ilium,  der  hin- 
'tere  untere  AVinkel  der  superficies  anricularis. 

Dass  das  vordere,  akromiaie,  Schlüsselbein  der  Vögel,  als  das 
mehr  nach  vorn  gelegene  seine  Analogie  in  dem  Akromialfortsatz 
and  dem  etwa  daran  befestigten  Schlüsselbeine  der  Säuger  finde, 
dass  also  dieser  akromiaie  Fortsatz  prinzipiell  als  mehr  nach  vorn 
gelegen  und  im  Vergleiche  nach  der  Reihenfolge  dem  os  pubis  ent- 
sprechend erachtet  werden  muss,  erweist  sich  aus  der  Betrachtung 
der  Schulterblätter  von  Walen.  Erhebt  sich  hier  in  gänzlicher 
Ermanglung  einer  spina  scapulae,  wie  bei  Beluga  leucas,  das  acro- 
mion  gar  nicht  über  das  Niveau  der  Fläche  des  Blattes,  so  ist  bei 
vertikaler  Normalstellung  das  acromion,  erkennbar  aus  dem  Ver- 
gleiche mit  andern  Walen,  Phocaena  communis,  Tursiops  Tursio, 
einfach  vordrer  Fortsatz  des  Schulterblattes ,  das  coracoideum 
nintrer.  Das  letztere  muss  also  das  Analogon  des  os  ischii  sein. 
We  Einlenkung  der  claviculae  coracoideae  am  sternum  der  Vögel 
findet  auch  einige  Analogie  an  der  Einschiebung  eines  dreieckigen 
Knochens  zwischen  die  Sitzbeine  im  Schambogen  gewisser  Säuger, 
besonders  solcher  Beutler,  deren  hintere  Extremitäten  in  ähnlicher 
Weise  die  Hauptarbeit  zu  thun  haben,  wie  die  vordem  Giiedmasseu 
der  Vögel. 


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384         Verhandlungen  des  ratuhristori  ach -med  «mischen  Vereins 


Wo  wie  bei  Monotromen  das  Knie  und  der  Ellenbogen  mehr 
naoh  Aussen  als  nach  vorn  und  hinten  gerichtet  sind,  verringert 
sich  die  Opposition  der  Schulter-  und  Beckeneinlenkung  schon  in 
der  Klasse  der  Säuger,  mehr  bei  einem  Theil  der  Reptilien  und 
Amphibien.  Für  Affen  und  Menschen  ist  diese  Verschiedenheit 
der  vordem  und  hintern  Glieder  ziemlich  gleich  gross.  Vorderarm 
und  Unterschenkel  sind  bei  den  Affen  etwas  gleichartiger  durch 
die  ziemlich  gleiche  Stärke  der  sie  zusammensetzenden  Knochen, 
dagegen  ist  der  Unterschied  zwischen  Handwurzel  und  Fusswurzel 
grösser.  Die  Aufsuchung  haudähnlicher  Eigenschaften  kann  am 
Fnsse  erst  jenseits  der  Ferse  beginnen ;  noch  bis  zur  zweiten  Wur- 
zelknochenreihe ist  die  Aehnlichkeit  zwischen  Hand  und  Fuss  ge- 
ringer als  beim  Menschen.  Diese  eingeschlossen  und  von  da  an 
ist  beim  Mandrill  das  Knochengerüst  von  Hand  und  Fuss  fast 
identisch.  Auch  über  diesen  Vergleich  der  Gliedmassen  sehe  man 
das  Genauere  an  der  in  der  Ueberschrift  angeführten  Stelle. 

9.  Vortrag  des  Herrn  Prof.  O.Weber:  »UeberMuskel- 
regeneration  und  Betheiligung  der  Muskeln  bei 

Neubildung«,  um  4.  Jannar  1867. 

10.  Vortrag  des  Herrn  Dr.  Erb:  »Ueber  die  Möglich- 
keit, das  Gehirn  und  das  Rückenmark  des  Menschen 

zu  galvanisiren«,  am  4.  Januar  1867. 

(Das  Manuscrlpt  wurde  am  27.  April  eingereicht.) 

Unter  den  Vorfragen,  welche  vor  einer  methodischen  Anwen- 
dung des  constanten  galvanischen  Stroms  zu  therapeutischen  Zwe- 
cken erledigt  werden  müssen,  ist  ohne  Zweifel  eine  der  wichtig- 
sten die  Frage  naoh  der  Möglichkeit,  den  Strom  nach  den  ein- 
zelnen Körpertheilen  hin  zu  dirigiren. 

Es  muss  festgestellt  werden,  bis  zu  welchen  Organen  der  Strom 
in  genügender  Stärke  hingeleitet  werden  kann,  um  therapeutische 
Effecte  zu  erzielen.  Die  Möglichkeit,  den  Strom  in  die  Centrai- 
organe des  Nervensystems  einzuführen,  ist  noch  nicht  über  jeden 
Zweifel  festgestellt:  während  Remak,  Benedikt,  Brenner  u.  A.  die- 
selbe als  vollkommen  selbstverständlich  betrachten,  spricht  sich 
n.  A.  Ziemssen  in  der  neuesten  Auflage  Beines  Buches  über  Electri- 
cität  mit  Entschiedenheit  dahin  aus,  dasB  Gehirn  und  Rückenmark 
von  den  therapeutisch  anwendbaren  inducirten  sowohl  wie  constan- 
ter  Strömen  nicht  erreicht  werden  könne.  Da  eine  Entscheidung 
dieser  Frage  von  hoher  therapeutischer  Wiohtigkeit  ist,  unterzog  ich 
dieselbe  einer  näheren  Untersuchung. 

Schon  eine  aprioristi sehe  Erwägung  zeigt  jedoch,  dass  die  Mög- 
lichkeit, zunächst  das  Gehirn  mit  electrischen  Strömen  zu  errei- 
chen, gar  nicht  so  weit  abliegt.  Von  einer  Umhüllung  des  Sohädels 


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Verhandlungen  des  naturhistorisch-medkiiilschen  Vereins. 


83Ö 


mit  Massen  von  gntleitenden  Geweben  kann  nicht  die  Rede  sein 
and  auch  der  vermeintlich  so  grosse  Lei tungs widerstand  der  Kno- 
chen ist  lange  nicht  so  bedeutend,  wie  viele  Autoren  angeben.  Eine 
Berücksichtigung  der  bessern  chemischen  Analysen  des  Knochen- 
gewebes, so  wie  noch  mehr  der  anatomischen  Anordnung  desselben 
(besonders  der  zahlreichen  Blutgefässe  in  demselben) ,  sowie  end- 
lich der  verschiedenen  Nähte  und  Löcher  am  Schädel  lässt  es  viel- 
mehr im  höchsten  Grade  wahrscheinlich  erscheinen,  dass  bei  pas- 
send aufgesetzten  Electroden  jedenfalls  ein  grosser  Theil  des  Stro- 
mes den  8chädel  und  somit  das  Gehirn  durchdringt. 

Zur  Prüfung  dieses  Satzes  wurden  verschiedene  Experimente 
an  der  Leiche  angestellt  und  dieselben  ergaben  Ubereinstimmend 
das  Resultat,  dass  bei  Application  selbst  schwacher 
constanter  und  inducirter  Ströme  auf  den  Schädel- 
sich Strom  schleifen  in  solcher  Dichtigkeit  anf  das 
Gehirn  verbreiten,  dass  der  zur  Stromprttiung  mit 
dem  Gehirn  in  Berührung  gebrachte  Froschnerv  da- 
durch erregt  wird. 

Eine  Besprechung  der  Unterschiede  in  den  Leitungswider- 
stftnden  an  der  Leiche  und  am  Lebenden,  sowie  der  Erregbarkeits- 
Yerhältnisse  des  Gehirns  und  des  Froschnerven  führt  zu  dem  Schlüsse, 
dass  man  mit  den  gewöhnlich  am  Kopfe  zu  therapeutischen  Zwecken 
verwendeten  galvanischen  Strömen  sehr  wohl  das  Gehirn  erregen 
kann.  Die  beim  Galvanisiren  des  Kopfs  eintretenden  Erscheinungen: 
Schwindel,  Betäubung,  Uebligkeit,  Ohnmacht  sind  als  Erscheinun- 
gen von  directer  Erregung  des  Gehirns  zu  betrachten. 

Die  vergleichenden  Versuche  mit  dem  inducirten  Strom  haben 
ergeben,  dass  auch  dieser  mit  Leichtigkeit  in  das  Gehirn  ein- 
dringt. Dasselbe  scheint  jedoch  dieselbe  geringe  Erregbarkeit  gegen 
den  inducirten  Strom  zu  besitzen ,  wie  die  Retina  und  die  übri- 
gen höheren  Sinnesnerven.  Daraus  erklärt  sich,  dass  beim  Farn- 
disiren des  Kopfs  gewöhnlich  keinerlei  Erscheinungen  von  Seiten 
des  Gehirns  eintreten. 

Am  Rückenmark  sind  die  Verhältnisse  in  Bezug  auf  das 
Eindringen  des  Stroms  etwas  anders  als  am  Schädel:  es  sind  grös- 
sere Massen  von  Weichtheilen ,  dafür  aber  auch  spongiösere  Kno- 
chen und  grössere  Lücken  zwischen  diesen  vorhanden.  Auf  der 
andern  Seite  kann  man  aber  auch  viel  grössere  Stromstärken  an- 
wenden. 

Versuche  an  dor  Leiche  haben  ebenfalls  gezeigt,  dass  constante. 
Strome  bei  der  gewöhnlichen  Applicationsweise  der  Electroden  auf 
dem  Rücken  in  das  Rückenmark  selbst  eindringen.  Ich  habe  es 
ferner  durch  Versuche  an  Lebenden  im  höchsten  Grade  wahrschein- 
lich gemacht,  dass,  bei  Anwendung  starker  Ströme  auf  den  Rücken, 
8tromschleifen  in  solcher  Menge  und  Dichtigkeit  in  den  Rück- 
gratscanal  eindringen,  dass  Stromeswendungen  und  Stromesunter- 
brechungen im  Stande  sind,  lebhafte  Erregung  der  im  Rückgrats- 


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386        Verhandlungen  des  naturhistorisch-medizinischen  Vereins. 

canal  verlaufenden  Nerven  zu  erzeugen.  Es  kann  somit  kaum  einem 
Zweifel  unterliegen,  dass  man  galvanische  Ströme  in  hin- 
roichenderStärke  in  das  Rückenmark  einftih  renkann, 
um  damit  therapeutische  Effecte  zu  erzielen. 

Es  ist  sonach  eine  Einwirkung  des  constanten  Stroms  auf  die 
Centraiorgane  des  Nervensystems  möglich  and  es  verdient  derselbe 
bei  Erkrankungen  des  Gehirns  und  Rückenmarks  versuchsweise  an- 
gewendet zu  werden. 

Ausführliche  Mittheilung  und  Beweisführung  über  diesen  Gegen- 
stand wird  im  > Deutschen  Archiv  für  klin.  Medicin«  erscheinen. 


11.  Vorstellung  des  mikro  cephalen  Töchterchens  de? 
Georg  Becker  aus  Offenbach,  am  18.  Januar. 


12.  Vorstellung  eines  Falles  von  Faeialparaly se  und 
Demonstration  der  dabei  in  den  gelähmten  Muskeln 
vorhandenen  cigenthümlichen  Veränderungen  der 
Erregbarkeit  gege  n  con  stante  und  inducirte  Ströme, 
durch  Herrn  Dr.  Erb  am  18.  Januar  und  1.  März  1867. 

(Das  Manuscrlpt  wurde  am  29.  AprÜ  eingereiht.) 

Bekanntlich  sind  in  den  letzten  Jahren  einige  Beobachtungen 
von  peripherischen  Facialparalysen  veröffentlicht  worden  (durch 
Baierlacher,  Schulz,  Ziemssen,  Neumann,  Brückner, 
M.  Meyer,  Eulenburg  u.  A.),  welche  sich  durch  ein  höchst 
eigentümliches  Verhalten  der  gelähmten  Muskeln  gegen  electrische 
Ströme  auszeichneten.  Während  nämlich  die  Erregbarkeit  der  ge- 
lähmten Muskeln  gegen  den  inducirten  Strom  vollständig  erloschen 
war,  zeigte  sich  eine  ganz  normale  oder  selbst  bedeutend  gestei- 
gerte Erregbarkeit  gegen  den  constanten  Strom.  Dasselbe  merk- 
würdige Verhalten  findet  sich  auch  in  dem  vorliegenden  Falle. 
Derselbe  betrifft  eine  44jährige,  sonst  gesunde  Frau,  welche  vor 
9  Wochen  plötzlich  und  ohne  nachweisbare  Ursache  an  linksseiti- 
ger Facialparalyse  erkrankte.  Diese  Affection  ist  in  der  ganzen 
Zeit  bis  jetzt  vollkommen  stationär  geblieben. 

Patientin  bietet  jetzt  alle  Erscheinungen  einer  vollständigen 
peripherischen  Paralyse  des  linken  Nervus  Facialis :  vollständig  auf- 
gehobene Motilität  der  vom  linken  facialis  versorgten  Muskeln; 
Verstreichung  der  Stirn-  und  Augenfalten,  der  Nasolabialfalte ; 
normale  Beweglichkeit  des  Gaumensegels  bei  gerade  stehender 
Uvula;  Erhaltung  der  Sensibilität  der  linken  Gesichtshälfte,  be- 
sonders auch  der  Conjunctiva;  Fehlen  jeder  Reflexbewegung  auf 
Reize  der  Conjunctiva;  keine  Gehörstörungen,  keine  Kopferschei- 
nungen. 

(Schluas  folgt.) 


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Jr.  22. 


HEIDELBERGER 


1867. 


\  JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


I   Verhandlungen  des  naturhistorisch  -  medizinischen 

Vereins  zu  Heidelberg. 


Das  electrische  Verhalten  der  gelähmten  Muskeln  ist  ein  sehr 
eigenthtimUches  und  lässt  sich  in  folgende  Sätze  näher  präcisiren. 

Die  Erregbarkeit  der  gelähmten  Muskeln  gegen 
den  inducirten  Strom  ist  vollständig  erloschen;  auf 
der  gesunden  Seite  ist  dieselbe  in  normaler  Weise  vorhanden. 

Die  Erregbarkeit  der  gelähmten  Muskeln  gegen 
den  constanten  Strom  ist  bedeutend  gesteigert,  und 
zwar  in  so  hohem  Grade,  dass  schon  mit  einem  einzigen  Ele- 
mente des  Stöhrer'schen  Apparates  eine  schwache  Oeffnungszuckung 
des  aufsteigenden  Stromes  in  den  Kinnmuskeln  erhalten  werden 
kann;  bei  2  El.  ist  diese  Zuckung  deutlicher;  bei  4  El.  tritt  die 
SchliessDDgszuckung  bei  beideu  Stromesrichtungen  hinzu;  bei  wach- 
sender Elementenzahl  wächst  dann  die  Stärke  der  Schliessungs- 
zockung  rascher  als  die  der  Oeffnungszuckung ;  doch  ist  bei  12—14 
EL  immer  deutliche  Schliessungs-  und  Oeffnungszuckung  bei  bei- 
den Stromesrichtungen  vorbanden. 

Auf  der  gesunden  Seite  treten  erst  bei  8—10  Elementen,  bei 
Beizung  mit  der  Kathode,  schwache  Schliessungszuckungen  ein,  die 
Oeffnungszuckung  fehlt  bei  diesen  Stromstärken  durchaus. 

Besonders  auffallend  ist  in  diesem  Falle  die  Geneigtheit 
der  Muskeln  zur  Oeffnuugsreaction  und  überhaupt  die 
grössere  Erregbarkeit  derselben  gegen  die  Anode. 
Die  erste  Überhaupt  erscheinende  Zuckung  ist  die  Oeffnungszuckung, 
wenn  die  Anode  auf  dem  Muskel  sitzt;  und  auch  bei  der  ganzen 
weitem  Untersuchung  zeigt  sich  constant,  dass  Schliessungs-  und 
Oeffnungsreaction  deutlicher  und  stärker  sind,  wenn  die  Reizung 
des  Muskels  mit  der  Anode,  als  wenn  sie  mit  der  Katbode  ausge- 
gefuhrt  wird. 

Die  gelähmten  Muskeln  sind  nur  durch  intramus- 
culäre  Beizung  in  Contraotion  zu  versetzen;  von  den 
Xervenästeu  aus  ist  dies  nicht  möglich;  dies  ist  besonders  deut- 
lich am  Muse,  frontalis  zu  constatiren.  Auf  der  gesunden  Seite 
zeigt  sich  das  normale  Verhalten  auch  in  dieser  Beziehung. 

Sehr  prägnant  sind  endlich  die  Unterschiede  im  Von- 
stattengehen  der  Gontraction  zwischen  den  gesun- 
den und  den  gelähmten  Muskeln:  bei  den  gesunden  Mus- 


(Schluss.) 


LIX.  Jahrg.  6.  Heft. 


22 


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838        Verhandlungen  des  naturhlstorisch-medizinischen  Vereins. 


kein  eine  rasche,  blitzähnliche  Zuckung,  bei  den  gelähmten  eine  überaus 
träge  und  langsame  Contraction.  Man  scheint  es  hier  mit  einer  reinen 
Muskelcontraction,  d.  h.  einer  durch  directe  Reizung  der  Muskelfasern 
erzeugten  Zusammeuziehung  zu  thun  zu  haben  und  man  wird  dabei 
lebhaft  an  das  von  F ick  näher  beschriebene  Verhalten  des  Muscbel- 
schliessmuskels  erinnert.  —  Endlich  lässt  sich  constant  mit  grosser 
Leichtigkeit  beobachten,  dass  die  Oeffnungszuckung  erst  ein  deut- 
lich unterscheidbares  Zeitintervall  nach  der  Entfernung  der  Electrode 
eintritt  —  ein  Verhalten,  was  mit  den  von  Pflüger  und  Be- 
z  o  1  d  gemachten  Angaben  über  Verzögerung  der  Oeffnungszuckung 
in  Zusammenhang  zu  bringen  ist. 

Soweit  reicht  das  Gebiet  der  Thatsachen  in  diesem  Falle; 
eine  Erklärung  derselben  ist  nach  dem  jetzigen  Stande  unserer 
Kenntnisse  noch  nicht  möglich,  obgleich  sich  für  dieses  Verhalten 
eine  Reihe  der  interessantesten  Anknüpfungspunkte  aus  der  Electro- 
physiologie  ergeben.  Die  Erklärungen,  welche  Neu  mann,  Eulen- 
burg, M.  Meyer,  Ziemssen  u.  A.  gegeben  haben,  sind  durch- 
aus unbefriedigend.  Es  können  nur  weitere  Beobachtungen  Licht 
über  diese  merkwürdigen  Verhältnisse  verbreiten. 

Die  Prognose  dieser  Fälle  scheint  nach  den  bisherigen  Beob- 
achtungen eine  günstige  zu  sein  —  wenn  der  constante  Strom  an- 
gewendet wird.  —  Der  inducirte  Strom  ist  nach  allen  bisherigen 
Erfahrungen  von  sehr  geringer  Wirkung  gegen  diese  Formen  der 
Lähmung.  Dagegen  hat  der  constante  Strom  auf  diesem  Gebiete 
gerade  eine  Reihe  glänzender  Heilerfolge  aufzuweisen  und  hat  auch 
hior  seine  therapeutische  Ueberlegenheit  gegenüber  dem  indneirten 
Strome  zur  Geltung  gebracht.  Die  Kranke  wird  dessbalb  einer 
methodischen  Behandlung  mittels  des  constanten  Stromes  unter- 
worfen werden. 

Nachtrag.  Ich  muss  hier  einen  Irrthum  berichtigen,  der  sich 
in  vorstehender  Mittheilung  findet,  der  aber  wohl  verzeihlich  ist, 
da  er  auf  einem  weiteren  merkwürdigen  Verhalten  der  gelähmten  Mus- 
keln beruht.  Die  gelähmten  Muskeln  reagiren  noch  nicht  auf  ein  einzi- 
ges Element ;  es  entsteht  allerdings  beim  Abheben  der  Anode  vom 
Muskel  jedesmal  eine  deutliche  Zuckung,  die  ich  anfangs  als  Oeffnungs- 
zuckung auffasste.  Dieselbe  Zuckung  entsteht  aber  auch,  wenn  man  die 
gar  nicht  mit  der  Batterie  in  Verbindung  befindliche  Electrode,  oder 
irgend  einen  Körper,  den  aufgesetzten  Finger  oder  einen  Bleistift,  von 
den  Muskeln  abhebt.  Es  besteht  nämlich  in  den  gelähmten  Muskeln 
eine  beträchtlich  gesteigerte  Erregbarkeit  gegen 
mechanische  Reize,  die  sich  dahin  äussert,  dass  schon  das  Weg- 
nehmen eines  leicht  auf  die  Muskeln  drückenden  Körpers  Zuckung 
in  denselben  auslöst.  Dies  ist  besonders  deutlich  in  den  Muskeln 
der  Lippen  und  den  Zygomaticis  zu  constatireh.  Auch  durch  kurzes 
Aufklopfen  mit  dem  Finger  lässt  sich  deutliche  Contraction  erzeu- 
gen, wie  dies  besonders  deutlich  im  Muse,  frontalis  ist  Auf  der 
gesunden  Seite  lässt  sich  in  keiner  Weite  solche  Zuckung  erzeugen. 


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Die  Erregbarkeit  gegen  den  constanten  Strom  gestallet  sich  nun 
bei  genauerer  Untersuchung  (mit  festsitzenden  Electroden,  Schlies- 
sung nnd  Oeffnung  duroh  metallische  Nebenschliessung)  so,  dass 
bei  2  Elementen  eine  ganz  schwache  Zuckung  nur  beim  metalli- 
schen Stromwenden  eintritt.  Bei  4  Elementen  dagegen  treten  beim 
eilfachen  Sohliessen  und  Oeffnen  des  Stroms  schon  deutliche 
Zackungen  auf.  Es  gestalten  sich  dann  die  Verhältnisse  so  wie  oben 
beschrieben :  Schliossungs-  und  Oeffnungszuckung  treten  gleichzeitig 
auf;  die  Erregbarkeit  gegen  die  Anode  ist  grösser  als  gegen  die 
Kathode. 


Ii  Vortrag  des  Herrn  Prof.  Knapp:  »Ueber  metasta- 
tische  Aderhantentzündung  im  Puerperalfieber, 

am  18.  Januar  1867. 

(Das  Manu  scrlpt  wurde  am  26.  Aprfl  eingereicht.) 

Eine  kräftige  Erstgebärende  bekam  am  16.  Tage  nach  regel- 
mässigem Geburtsverlauf  pyämische  Erscheinungen :  Schüttelfröste, 
Fieber,  grosse  Abgeschlagenheit,  Eingenommenheit  des  Kopfes,  An- 
schwellungen verschiedener  Gelenke,  namentlich  des  linken  Knie- 
und  rechten  Schultergelenkes.  Schon  im  Anfang  dieser  Erschei- 
nungen klagte  sie  Über  Schmerzen  im  rechten  Auge  und  rasche 
Abnahme  der  Sehkraft  desselben.  Ich  untersuchte  sie  2  Tage  nach 
Beginn  der  Angenaffection  und  fand  bei  gelinder  Injektion  und 
Senwellung  der  Bindehaut  die  Pupille  leicht  erweitert ,  jedoch  be- 
weglich ;  das  Innere  des  Auges  rauchig  getrübt,  doch  so,  dass  man 
den  Augengrund  noch  schwach  erkennen  konnte,  ausgenommen  den 
itnern  vorderen  Abschnitt  desselben,  welcher  unbeleuchtbar  war 
and  intensiv  grau  schwarz  erschien.  In  den  nächsten  Tagen  trübte 
*icfl  in  dieser  Weise  der  ganze  Augengrund.  8  Tage  später  trat 
unter  stärkerer  Schwellung  und  Eöthung  der  Bindebaut  leichter 
Exophthalmus  ein.  Die  durch  Atropin  bis  dahin  weit  erhaltene 
Pupille  verengerte  sich,  und  wurde  in  ihrem  unteren  Abschnitt 
durch  eine  graue  Trübung  verlegt,  während  der  temporale  Irisab- 
schnitt sich  mit  einer  gelbweissen ,  eiterig  aussehenden  Schichte 
deckte.  Diese  verdeckte  mehre  Tage  lang  den  Schläfenabschnitt 
der  Iris  der  Art,  dass  man  nicht  wusste ,  ob  sie  blos  aufgelagert 
wir,  oder  die  Iris  selbst  zur  eitrigen  Schmelzung  mit  fortgerissen 
niite.  Darauf  trat  Hypopion  ein.  Wieder  8  Tage  später  wurden 
Amtliche  Entzündungserscheinungen  am  Auge  geringer,  nachdem 
an  einem  Morgen  ein  reichlicher  Eitererguss  über  dem  nasalen 
Skleraltheile  vom  behandelnden  Arzte  (Dr.  Vietz)  bemerkt  und  als 
eine  Perforation  gedeutet  worden  war.  Die  Besserung  der  Ent- 
zündung dieses  Auges  ging  fort  bis  zn  dem  7  Wochen  nach  der 
Gebart  —  5  Wochen  nach  Eintritt  der  pyämischen  Erscheinungen 
-  «folgten  Tode  der  Wöchnerin.    Der  Eiter  in  der  vorderen 


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840        Verhandlungen  des  naturhlstorlich-mediriniichen  Verelni. 


Kammer  hatte  sich  bis  auf  ein  dünnes,  auf  der  Iris  liegen  geblie- 
benes Häutchen  aufgesogen.  Die  Pupille  war  ziemlich  eng,  unklar, 
der  Augengrund  nicht  zu  beleuchten.  Der  Augapfel  kleiuer  und 
weicher  als  normal  und  nicht  mehr  vorgetrieben.  Das  Gesicht  schon 
in  den  ersten  4  Tagen  erloschen.  Das  andere  Auge  erschien  wenige 
Tage  vor  dem  Tode,  als  ich  es  untersuchte,  nicht  verändert.  Die 
Patientiu  gab  an,  damit  gut  zu  sehen. 

Die  von  Herrn  Prof.  J.  Arnold  vorgenommene  Sektion  er- 
gab sehr  umfangreiche  Abscedirung  im  Zellgewebe  an  der  innern 
vordem  Beckenwand,  ausgezeichnete  knotenförmige  Blasendiphthe- 
ritis,  sehr  weit  gehende  eitrige  Zerstörung  des  rechten  Schulter- 
und  linken  Kuiegelenkes,  sowie  einige  zarte  wärzchenförmige  Auf- 
lagerungen an  den  Aortenklappen.  Beide  Augen  wurden  von  mir 
herausgenommen,  sogleich  geöffnet  und  übersichtlich  untersucht. 

Das  rechte,  oben  beschriebene,  enthüllte  merkwürdige  Verände- 
rungen. Ein  Meridionalschnitt  zeigte,  dass  eine  vollständige  Eiter- 
kapsel sich  an  die  Innenseite  der  Choroides  und  die  Hinterfläche 
der  Krystalllinse  anlegte.  Diese  war  nach  innen  scharf  begrenzt 
und  umschloss  einen  trichterförmigen  Raum,  in  welchem  sich  noch 
ein  durchsichtiger,  nur  leicht  getrübter  Glaskörper  befand.  Die 
Netzhaut  war  abgelöst  und  umschloss  den  choroidealen  Theil  der 
Eiterkapsel  vollständig,  indem  sie  am  Sehnerven  und  der  Ora  ser- 
rata  ihre  Befestigungen  bewahrt  hatte.  Ringsum  vom  Ciliarkörper 
aber  schob  sich  der  vordere  Theil  der  Eiterkapsel  in  einer  Tiefe 
von  2  bis  5  Mm.  an  der  Hinterfläche  der  Zonula  und  Hinterkapsel 
hin.  Die  Zweitheilung  der  Eiterkapsel  durch  die 
Netzhaut  in  einen  choroidealen  und  ciliaren  Ab- 
schnitt war  das  Eigenthümliche  dieses  Falles,  wo- 
bei ausserdem  noch  die  leicht  wellige  innere  Ober- 
fläche derselben,  welche  einen  ziemlich  durchsich- 
tigen Glaskörperraum  umschliesst,  besondere  Be- 
achtung verdient.  Die  genauere  Untersuchung  ergab  eine  Per- 
foration des  der  Nase  zugewanden  Cboroideal-  und  Skleraltheiles, 
welche  durch  die  Tenon'sche  Kapsel  wieder  verschlossen  war. 
Tenon'sche  Kapsel  und  Sklera  waren  beträchtlich  verdickt.  Erstere 
zeigte  Bindegewebswucherung,  letztere  ausserdem  noch  zahlreiche 
in  ihr  Gewebe  eingebettete  Nester  von  Eitorzellen.  Die  Iris  war 
auf  dem  Querschnitt  gelblich  mit  anliegender  normaler  Pigment- 
schicht. Ihr  Gewebe  bot  eine  tippige  Produktion  von  Kernen  und 
jungen  Zellen,  welche  dicht  gedrängt  das  Stroma  der  Iris  durch- 
setzten und  nur  spärlich  Gefässe  zur  Beobachtung  kommen  Hessen. 
Die  pigmentirten  Stromazellen  waren  in  Gestalt  und  Grösse  nicht 
verändert.  Zwischen  Hinterfläche  der  Pigmentschicht  und  Linsen- 
kapsel lagerte  sich  eine  durchscheinende  leicht  streifige  viele  kleine 
Zellen  und  Eiterkörpereben  enthaltende  Substanz,  welche  beide 
Flächen  aneinander  löthete. 

Die  Linsenkapsel  und  Fasern  waren  normal,  dagegen  schob 

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Verhandinngen  des  naturhistorlsch-medirintschen  Verein«.  841 

sieb  von  den  Aequatorialtbeilen  der  Linse  ans  eine  Menge  von  Ker-  t 
nen  und  Eiterkörpereben  zwischen  die  Linsenfasern  ein,  indem  sie 
tbeils  vereinzelt  lagen,  tbeils  aber  aneb  reihen-  nnd  nesterweise 
die  Fasern  auseinander  drängten.  Nach  dem,  was  wir  sonst  Ent- 
zündung heissen,  muss  man  diese  Veränderung  eitrige  Entzün- 
dung der  Kr  v  stalllinse  nennen. 

Der  Glaskörper  enthielt  reichliche  Eiterzellen  in  einem  Filz 
Ton  feinen  Fäden  (Fibrin)  eingebettet. 

Die  Eiterkapsol  bestand  in  ihren  beiden  Theilen  aus  rei- 
nen, dicht  aneinanderliegenden,  grösstenteils  verfetteten  Eiter- 
zellen, molekularem  Fett  und  Körnchenhaufen. 

Die  Choroides  zeigte  in  ihrem  ganzen  Umfange  eine  üppige 
Wucherung  von  Kernen  und  runden  kleinen  Zellen,  hervorgegangen 
aus  der  Kerntheilnng  der  pigmentlosen  Stromazellen.  Die  grösse- 
ren Gefässstämme  waren  erhalten  und  zeigten  verdickte  Wände 
durch  Wucherung  der  Adventitialzellen.  Nirgends  habe  ich  ihr 
Lumen  gefüllt  gesehen,  es  sei  denn  durch  Blutkörperchen.  Von 
Jer  Choriocapillaris  bekam  ich  nicht  viel  mehr  zu  Gesicht;  ihre 
Stelle  war  eingenommen,  und  zwar  in  3-  und  4facher  Tiefe,  von 
dicht  gedrängten  Eiterzellen,  welche  nach  innen  durch  die  gut  er- 
haltene und  ganz  rein  darstellbare  Glashant  der  Choroides  abge- 
schlossen war.  In  der  That  war  diese  Eiterschiebt  nichts  anderes 
als  das  feine,  der  Choroides  innen  innig  aufliegende  Häutchen,  die 
sogenannte  pyogene  Membran  der  Abscesse.  Sie  ging  unmittelbar 
hervor  aus  der  Kernwucherung  der  pigmentlosen  Choroidealzellen, 
mit  der  sie  auch  ununterbrochen  zusammenhing.  Die  pigmentirten 
Stromazellen  waren  in  ihrer  Form  grösstentheils  normal,  die  innersten 
derselben  aber  in  die  Schichte  der  Eiterzellen  mit  fortgerissen.  An 
einigen  Stellen  hatten  übrigens  auch  die  pigmentirten  Stromazellen 
mehrere  Kerne  und  waren  zerstückelt,  so  dass  Zellkörper  und  Aus- 
läufer von  einander  getrennt  zwischen  den  Eiterkörpereben  lagen. 
Wieder  an  andern  Stellen  zeigten  diese  fortgerissenen  Stücke  eine 
rundliche  Gestalt,  sowie  doppelte  Kerne  nnd  lagen  so  zahlreich  und 
nesterweiss  in  der  Eitermasse  zerstreut,  dass  eine  Wucherung  der- 
selben unzweifelhaft  erschien.  Dieses  wurde  noch  dadurch  bestätigt, 
iass  ganz  ähnliche  pigmentlose  Zellen  mit  mehreren  Kernen  daneben 
lagen.  Aebnlich  verhielt  sich  das  Stroma  des  Ciliarkörpers  und  der 
Iris,  doch  mit  dem  Unterschied,  dass  die  epitheliale  Pigmentlage 
derselben  erhalten  war,  nur  im  Ciliarkörper  etwas  gelockert.  Ausser- 
iem war  die  Bindegewebswucherung,  obzwar  sehr  üppig,  doch  nicht 
so  fortgeschritten,  wie  in  der  eigentlichen  Aderhant,  worin  massen- 
hafte Eiterzellen  gebildet  wurden.  Die  Hinterfläche  der  Iris  war 
mit  einer  zarten,  dünnen  Schicht  von  streifigem  Aussehen  mit  vie- 
len eingestreuten  Kernen  und  Eiterkörporchen  bedeckt,  welche  die 
Iris  an  die  Vorderkapsel  anlöthete. 

Sehr  merkwürdig  war  die  Bildung  des  vorderen  Theiles  der 
ßierkapsel.    Von  dem  glatten  und  gefalteten  Theile  des  Ciliar- 


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körpers  ging  nämlieh  eine  radiär  streifige,  mit  vielen  Kernen  und 
kleinen  Zellen  durchsetzte  Substanz  aus,  welche  unmittelbar  in  die 
sich  hinter  der  Linse  hinziehende  £itermasse  Uberging.  Nach 
aussen  war  sie  vom  Pigment  der  Ciliarfortsätze  und  des  Orbioulus 
ciliaris  begrenzt,  während  das  spärliche  Gewebe  peripherisch  davon 
sich  in  den  normalen  Ciliarmuskel  fortsetzte.  Abwärts  fügte  sich  daran 
ein  an  beiden  Seiten  scharf  begrenztes,  von  grauen  Fasern  durch- 
zogenes und  ganz  mit  Eiterzellen  gefälltes  Häutchen:  die  an  die 
Ora  serrata  sich  anheftende  Netzhaut.  Sie  ging  unmittelbar  Uber 
in  die  streifige,  kleinzellige,  den  CiliarkÖrper  deckende  und  den  vor- 
dem Eiterheerd  bildende  Masse  und  war  in  ihrer  Grundlage  zu- 
verlässig nichts  anderes  als  die  Pars  ciliaris  retinae.  Diese  rein 
bindegewebige  Haut  halte  ich  fUr  die  Erzeugerin  der  vorderen 
Eitermasse,  indem  die  in  die  Radiärfasern  vielfach  eingestreuten 
Kerne  wuchern  und  verfetten.  Neben  den  Kernen,  jungen  Zellen 
und  Eiterkörperohen  zeigte  sich  daselbst  eine  beträchtliche  Zahl 
Fettkörnchenkugeln. 

Die  Netzhaut  bot  ein  vortreffliches  Bild  einer  eitrigen 
Retinitis.  An  einzelnen  Stellen  bestand  sie  fast  nur  aus  Eiter- 
zellen oder  Kernen  und  Körnern,  die  davon  kaum  zu  unterscheiden 
waren ;  an  andern  Stellen  aber  Hessen  sich  die  einzelnen  Schichten, 
ausgenommen  die  Stäbchen  und  Zapfen,  aufs  unzweideutigste  nach- 
weisen. Die  äussere  Körnerschicht  hatte  3  bis  4  Mal  die  gewöhn- 
liche Dicke  und  zeigte  die  Körner  an  manchen  Stellen  ungeordnet 
nebeneinander,  an  andern  aber  reihenweise  übereinander  liegend. 
Die  Zwischenkörnerschicbt  war  schmal,  wenig  radiär  gestreift,  in 
.  der  Mitte  fein  punktirt  und  überall  mit  Körnern  oder  kleinen  Zellen 
dicht  besetzt.  Die  innere  Körnerschicht  sah  dem  Normalzustände 
am  ähnlichsten.  Die  graue  Schicht  war  radiär  gestreift  und  dicht 
mit  kleinen  Zellen  durchsetzt.  Diese  drangen  auch  in  die  Uanglien- 
scfcicht,  in  welcher  ich  die  besterbaltenen  uni-  und  bipolaren  Ner- 
venzellen mit  ihren  grossen  Kernen  reiohlioh  beobachtete.  Die 
Nervenfaserschicht  war  stark  verbreitert,  ihre  gut  erhaltenen  Fasern 
auseinander  gedrängt ,  indem  sich  einzeln ,  reihen-  und  gruppen- 
weise kleine  Zellen  und  Eiterkörperohen  dazwischen  drängten.  Da- 
neben fand  ich  aber  auch  grössere,  spindelförmige  und  runde  Zellen 
mit  zwei,  in  mehreren  bis  zu  sechs  Kernen. 

Die  dem  bindegewebigen  Stützapparat  der  Netzhaut  angehöri- 
gen  Kerne  zeigten  sich  also  in  allen  Schichten  üppig  wuchernd, 
selbst  in  der  Nerveufaserscbioht,  wo  man  im  Normalzustand  Mühe 
hat  sie  nachzuweisen. 

Der  Sehnervenstamm  war  schon  vom  Skleralloch  an  normal. 

In  dem  linken»  während  des  Lebens  bei  der  letzten  Unter- 
suchung scheinbar  noch  normalen  Auge  fand  ich  in  der  Gregend 
des  Gleichers  einen  umschriebenen,  runden  pyämisohen  Heerd  der 
Choroidbs,  Er  war  schon  mit  blossem  Auge  an  seiner  gelben  Fär- 
bung kenatiioh.    Unter  dem  Miakroskope  zeigte  sich  darin  das 


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Choroidesstroma,  namentlich  die  Haargefassschioht  dicht  mit 
Eiteikörperchen  gefüllt.  Daneben  waren  massenweise  ans  den  Ge- 
fawen  ausgetretene  Blutkörperchen  und  viele  stark  tiberfüllte  Blut- 
gefässe, aber  nirgends  Thromben.  Die  übrige  Choroides  war  in 
diffuser  eitriger  Entzündung  begriffen.  Die  Netzhaut  gleichfalls  im 
Anfang  eitriger  Entzündung.  Der  Glaskörper  führte  viele  wuchernde 
Zellen.    Die  übrigen  Theile  waren  normal. 

Ein  drittes  von  mir  während  des  Lebens  gemeinschaftlich 
mit  Herrn  Prof.  v.  Dusch  beobachtetes  und  später  untersuchtes 
Auge,  war  einer  Frau  entnommen,  die  einige  Tage  nach  der  Nieder- 
kunft pyämische  Erscheinungen,  unter  denen  auch  Choroiditis  me- 
tastatica,  bekam  und  im  Beginn  der  dritten  Woche  starb.  Der 
Befund  hielt  die  Mitte  zwischen  jenen  beiden  oben  beschriebenen 
Augen:  ein  umschriebener  choroidealer  Eiterbeerd  mit  partieller 
Netjhautablöaung,  eitriger  Choroiditis,  Kyklitis,  Iritis,  Hyalitis  und 
Betinitis. 

Die  drei  Augenorkrankungsfalle  sind  so  zu  deuten,  das  Capil- 
larembolien  der  Choroides  den  Anstoss  zu  den  hämorrhagisch- 
eitrigen  Infarkten  gaben  und  von  da  aus  sich  die  zerstörende  Ent- 
zündung auf  die  übrigen  Membranen  fortsetzte. 

U.  Vortrag  des  Herrn  Prof.  Moos:    »Ueber  seltenere 
Arterienverstopfungen«,  am  1.  Februar  1867. 

(Das  Manuscrlpt  wurde  sofort  eingereicht.) 

Die  seltenen  Arterienverstopfungen,  über  welche  ioh  Ihnen 
beute  berichten  will,  hatte  ich  Gelegenheit  bei  einem  Kranken  zu 
beobachten,  den  ich  schon  vor  längerer  Zeit  in  Gemeinschaft  mit 
Herrn  Professor  Friedrich,  welcher  als  ooosultirender  Arzt  hin- 
zugezogen war,  behandelt  habe.  Der  Kranke  war  ein  19  jähriger 
Student.    Die  vollständige  Diagnose  der  Krankheit  lautet: 

Rheumatismus  articulorum  acutus.  Icterus  mit 
vorübergehender  Vergrös serung  der  Leber.  Beoidi- 
▼irende  P eri car d i t i s.  Endocarditis  mit  embolischen 
-  e  f  H  s sv e r s t o p f u n gen  in  verschiedenen  Körperregio- 
uen.  Linkseitige  Pleuritis.  Nephritis.  Hydrops.  Ge- 
nesung. 

Nur  über  die  Endocarditis  und  die  in  ihrem  Gefolge  aufge- 
tretenen Strörungen  im  Bereich  verschiedener  arterieller  Stromge- 
biete will  ich  Ihnen  Mittheilung  machen. 

Vermittelst  der  Auskultation  des  Herzens  konnte  die  Endo- 
carditis erst  am  15.  Tage  der  Krankheit  diagnosticirt  werden ;  es 
"igte  sich  nämlich  zu  dieser  Zeit  ein  dem  Mitralisostinm 
sprechendes  systolisches  endocarditisohes  Blasen,  über  dessen 
Sttur  bei  der  weiteren  Beobachtung  des  Kranken  nicht  der  ge- 
ringste Zweifel  sein  konnte,  es  gesellte  sich  auch  bald  noch  an 


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Verhandlungen  des  namrhistoriach-niediainischen  Vereins. 


dem  Blasen  ein  Pfeifen  und  eine  deutliche  Accentuirnng  des  zwei- 
ten Pulmonaltons.  Aber  schon  vorher  waren  Erscheinungen  aufge- 
treten, welche  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  auf  das  Auftreten  resp. 
das  Vorbandensein  einer  Endocarditis  hindeuteten.  Der  Kranke  be- 
hauptete in  der  Nacht  vom  13  —  14.  Krankheitstage  auf  dem  rech- 
ten Auge  erblindet  gewesen  zu  sein.  Bei  dem  Besuch  am  Morgeu 
des  14.  Tages  gab  Patient  an,  er  sei  in  der  Nacht  aufgewacht 
und  habe  bei  verschlossenem  linken  Auge  nicht  einmal  das  bren- 
nende Licht  mit  dem  rechten  gesehen.  Diess  habe  etwa  eine  Stunde 
gedauert,  da  sei  es  wieder  gut  geworden.' 

Einen  Tag  bevor  die  Endocarditis  vermittelst  der  Auskultation 
diagnosticirt  werden  konnte,  zeigten  sich  als  weiteres  auffallendes 
Symptom  in  der  Herzgegend,  namentlich  einwärts  von  der  linken 
Brustwarze  und  von  da  nach  abwärts  etwas  spärlicher,  zahlreiche 
capilläre  Ekobymosen,  die  in  der  Gegend  der  Papille  sehr  dicht 
standen,  und  zusammen  einen  Kaum  etwa  von  der  Grösse  eines 
KronenthalerB  einnahmen.  Bei  dem  Besuch  am  15.  Tage  gab 
Patient  an,  dass  er  in  der  Nacht  ohngefahr  eine  Stunde  lang  auf 
dem  linken  Auge  Doppeltsehen  gehabt.  Im  Laufe  des 
Nachmittags  vom  18.  hatte  Patient  eine  Gesichtsfeldverdunklung, 
als  wäre  Alles  beschattet,  etwa  während  einer  halben  Stunde; 
die  Störung  verschwand  nach  dieser  Zeit,  kehrte  aber  gleichartig 
in  der  Nacht  vom  18  — 19.  und  ohngefähr  gleich  lange  wieder.  Von 
jetzt  ab  blieb  Patient  für  immer  von  Sehstörungen  befreit. 

In  der  Kniekehle  und  in  der  Wade,  besonders  links,  spontan 
und  auf  Druck,  traten  am  Abend  des  15.  Schmerzen  ein  und  waren, 
bald  mehr,  bald  weniger  lebhaft,  4—5  Tage  zugegen,  nämlich  bis 
zum  Morgen. 

Im  weitern  Verlaufe  stellten  sich  anderweitige  Symptome  ein, 
welche,  wie  die  Schilderung  derselben  und  ihre  Dentnng  zeigen 
wird,  ebenfalls  als  mit  der  Endocarditis  im  Zusammenhang  stehend 
betrachtet  werden  mussten. 

Am  19.  Krankheitstag  Abends  zuerst  Leibschmerzen,  insbesondere 
oberhalb  des  Nabels,  dann  Erbrechen,  Tympanitis,  und  in  der  Nacht 
vom  19 — 20.  5  blutige  Stuhlgänge,  Erbrechen  mit  vorhergehendem 
Schmerz  im  Epigastrium ,  dann  kurze  Pause.  In  der  Nacht  vom 
20—21.  abermals  Erbrechen.  Profuse  Darmblutung.  Vor  und  wäh- 
rend derselben  Schmerzen  über  den  ganzen  Unterleib ,  besonders 
im  Epigastrium,  auch  Kreuzschmerzen  aber  nicht  constant,  Sisti- 
rung  des  Schmerzes  nach  jeder  Entleerung.  Mangel  von  Dämpfung 
und  Mangel  vou  Empfindlichkeit  gegen  Druck,  ausser  im  Epigastrium. 
Die  Blutungen  pausirten  vom  Morgen  bis  zum  Abend  vom  21.  Da- 
gegen existirten  periodische  Leibschmerzen  zwischen  Nabel  und 
Symphyse  und  in  beiden  Hypochondrien.  Zwölf  Stunden  später 
liess  sich  der  Schmerz  nicht  mehr  genau  lokalisiren. 

Vom  21—22.  erfolgte  von  Nachts  12  Uhr  bis  Mittags  12  nur 
eine  Darmblutung,  vorher  und  nachher  6  Stunden  Pause.  Dann 


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Verhandlungen  des  naturhistoriach-medizlnischen  Verein«. 


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kamen  2  Blutungen  und  heftiger  Schmerzanfall  tun  1/-il2  Uhr  am 
22.  Bis  jetzt  war  das  entleerte  Blut  schwarz  und  theils  flüssig, 
tbeils  geronnen. 

Am  Nachmittag  des  22.  um  4  und  dann  um  5  Uhr  kamen 
uach  erneuerten  Schmerzen,  aber  ohne  Erbrechen,  die  ersten  hell- 
himbeerfarbenen  geronnenen  ölutabgänge.  Dann  8  Stunden  Pause. 
Während  dieser  Zeit  spontane  Unterleibs-  und  Kreuzschmerzen, 
gegen  Druck  nur  in  den  Hypochondrien. 

Im  Laufe  des  23.  drei  hellhimbeerfarbene  Blutabgänge,  heftige 
Leibschmerzen,  aber  nur  Uebelkoit  und  Würgen,  kein  Erbrechen. 
In  der  Nacht  vom  23 — 24.  waren  die  beiden  flüssigen ,  blutigen 
Entleerungen  wieder  dunkel  gefärbt ,  nicht  geronneu,  am  24.  wie- 
der hellhimbeerfarbig.  Nun  pausiren  die  Darmblutungen,  bis  zur 
Nacht  vom  25 — 26.,  in  welcher,  wie  in  der  folgenden  Nacht  zu- 
sammen wieder  4  dunkelgefärbte  Blutabgänge  kommen,  um 
am  27.  und  28.  wieder  mit  hellrothblutigen  Dejectionen ,  unter 
heftigen  Leibschmerzen  abermals  abzuwechseln.  Vom  28.  Krank- 
heitatage  an  sind  die  subjectiven  Unterleibsbeschwerden  wegen  der 
hinzugetretenen  Niererentztindung  gemischt.  Die  Darmblutungen 
jedoch  si stiren  4  volle  Tage  und  da  am  30.  Tage  der  Krankheit 
normaler  Stuhlgang  erfolgte,  so  wurde  am  folgenden  Tage  Fleisch- 
nahrung gereicht.  In  der  Nacht  vom  31  —  32.  Tag  um  1  Uhr  er- 
folgte noch  normaler  Stuhlgang.  Um  7^5  Uhr  Morgens,  also  nach- 
dem die  Darmblutungen  4  volle  Tage  sistirt  hatten  und  nach  ein- 
stündigen  fürchterlichen  Schmerzen  in  der  Oberbaucbgegend ,  die 
sich  auf  Druck,  ohngefähr  4  Querfinger  unter  der  Spitze  des  Scbwert- 
fortsatzes  vermehren  und  nur  kurze  Pausen  machen,  kommen  inner- 
halb einer  Stunde  6,  und  in  den  nächsten  Stunden  noch  2,  grössten» 
theüs  himbeerfarbige  aber  auch  dunkle  Gerinsel  enthaltende,  Ent- 
leerungen. 

An  der  vorhin  bezeichneten  schmerzhaften  Stelle  hatte  der 
Kranke  auch  das  Gefühl  als  süsse  dort  ein  fremder  Körper.  Nach 
einer  12stündigen  Pause  kommt  dann  in  der  folgenden  Nacht  nor- 
maler Stuhlgang  und  bleibt  dieser  auch  weiterbin  normal. 

Bei  der  Beurtheilung  der  beschriebenen  Zufälle  wollen 
*w  vorzüglich  die  Sehstörungen  und  Darmerscheinungen  ins  Auge 
fassen. 

Was  die  Sehstörungen  betrifft,  so  handelte  es  sich  bei  ihrer 
vorübergebenden  Natur  wahrscheinlich  um  beschränkte  Embolien 
Jm  Gehirne ,  an  den  Ursprungsstellen  eines ,  später  beider  Nervi 
optici,  auch  am  Ursprung  des  Nervus  oculomotorius  (vorübergehen- 
de« Doppeltsehen).  Man  kann  sich  bei  dieser  Erklärungsweise  vor- 
stellen, dass  die  gestörte  Ernährung  jener  Hirnbezirke  durch  das 
Blnt  der  collateralen  Bahnen  sehr  schnell  wieder  hergestellt  wer- 
den konnte  und  desswegen  die  Functionsstörungen  nur  vorüber- 
gehend sein  mussten. 


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348         Verhandlungen  dö8 


Vereins. 


Die  Darm  erscb  einungen  lassen  sich  am  Besten  erklären  durch 
die  Annahme  einer  Embolie  der  beiden  Arteriae  raesentericae, 
wenigstens  mit  Rücksicht  auf  die  vorhandene  Literatur  der  Em- 
bolie dieser  Gefössgebiete ,  insbesondere  unter  Zugrundlegung  der 
von  Gerhardt  und  Kussmaul  über  diese  Embolie  aufgestellten 
charakteristischen  Merkmale. 

Die  ausführliche  Mittheilung  des  Falls  in  einer  Zeitschrift 
wird  vorbehalten. 


15.  Vortrag  des  Herrn  Prof.  Friedreich:  »Ueber  An- 
drogyniec  mit  Vorstellung  von  Katharina  Homeyer 

aus  Meirichstadt. 

16.  Vortrag  des  Herrn  Prof.  0.  Weber:  »Ueber  einen 

geheilten  Blasendefekt *,  am  15.  Februar  1867. 

(Das  Manuscript  wurde  am  1.  Mal  1867  eingereicht) 

Prof.  0.  Weber  stellt  der  Gesellschaft  einen  7jährigen  Knaben 
vor,  welchem  er  einen  angeborenen  Defect  des  Blasenhalses  mit 
glücklichem  Erfolge  durch  eine  plastische  Operation  geschlossen 
hatte.  Es  handelte  sich  um  den  höchsten  Grad  der  Epispadie.  Der 
Hodensack  war  gut  entwickelt;  links  lag  der  Hode  im  Leisten- 
kanale ;  rechts  war  er  vollkommen  herabgestiegen.  Der  Penis,  dessen 
Schwellkörper  und  Eichel  kräftig  und  dem  Alter  des  Knaben  ent- 
sprechend entwickelt  sind,  zeigte  eine  von  der  Eichel  nach  auf- 
wärts ziehende  lange  flache  Rinne.  Diese  ist  mit  Schleimhaut, 
welche  den  Charakter  von  Oberhaut  angenommen  hat,  ausgeklei- 
det, und  geht  in  die  zu  beiden  Seiten  des  Gliedes  herabhängenden 
Hantfalten  über;  diese  vereinigen  sich  unter  der  Eichel  zu  der 
schürzenform  ig  herabhängenden  Vorhaut.  Im  gewöhnlichen  Zu- 
stande erscheint  der  Penis  ganz  zurückgezogen  und  deckt  die  Eiohel 
das  in  die  Blase  führende  Loch.  Zieht  man  aber  den  Penis  her- 
vor, so  erblickt  man  eine  trichterförmige  vor  der  Symphyse  ge- 
legene Vertiefung,  welche  von  blasser  Schleimhaut  ähnlicher  Haut 
ausgekleidet  ist,  etwa  den  Umfang  eines  halben  Taubeneis  hat  und 
von  derbem  Hautfalten  umgeben  wird.  Diese  Vertiefung  führt  in 
ein  Loch,  welehes  dem  kleinen  Finger  Eingang  gestattet,  und  man 
kann  sich  überzeugen,  dass  dieses  Loch  dem  vorn  offenen  Blasen- 
halse entspricht ;  durch  dasselbe  gelangt  man  in  die  stark  contra- 
hirte  und  keinen  Urin  enthaltende  Harnblase.  Die  Symphyse 
ist  zwar  vorhanden  aber  sehr  niedrig  und  dünn.  Der  Harn  wird 
nicht  zurückgehalten,  sondern  träufelt  ab,  so  dass  sowohl  die  Um- 
gebung der  Genitalien  als  die  Beine  stark  exeoriirt  sind. 

Es  bandelte  sich  darum  diesen  sehr  traurigen  Uebelstand  wo  "* 
möglich  durch  eine  Operation  zu  beseitigen.  Man  hat  in  der  neue- 
ren Zeit  verschiedentlich  versucht  hochgradige  Defeote  der  Epis- 


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padie  und  der  sg.  Extroversion  der  Blase  auf  plastischem  Wege 
zn  beseitigen.  Diese  sowohl  von  englischen  als  von  französischen 
Chirurgen  ausgeführten  Versuche  hatten  indess  meistens  keinen  er- 
heblichen Nutzen  für  die  Patienten  erzielt,  indem  gewöhnlich  noch 
fistulöse  Oeffnungen  zurückblieben.  In  einigen  gelang  es  zwar  nach- 
träglich auch  diese  zu  schliessen,  gewöhnlich  aber  traufeite  der 
Harn  nach  wie  vor  abt  und  der  einzige  Vortheil,  welchen  die 
Patienten  erlangten,  war  der,  dass  sich  ein  Urinbebälter  leichter 
anbringen  liess.  Eine  vollständige  Heilung  des  Urinträufeins  wird 
in  keinem  Falle  erwähnt.  Die  zweckmässigsten  der  bisher  ange- 
wendeten Methoden  sind  ohne  Zweifel  die  von  Nelatou  und  von 
Holmes.  Das  Negatorische  Verfahren  ist  im  wesentlichen  die  Trans- 
plantation eines  viereckigen  aus  der  Bauch  haut  entnommenen  Lappens 
der  seine  Basis  an  der  Blase  behält  und  so  nach  abwärts  geschla- 
gen wird,  dass  seine  wunde  Fläche  nach  aussen  sieht.  Durch  ihn 
wird  der  Blasendefect  gedeckt  und  der  Penis  bekleidet.  Um  die- 
sen Lappen  zu  fixiren  wird  eine  breite  von  beiden  Seiten  in  Ver- 
bindung mit  der  Haut  bleibende  Hautbrticke  vom  Hoden  sacke 
abpräparirt,  und  so  nach  aufwärts  gezogen,  dass  der  Penis  unter 
ikr  hindurcbgesteckt  wird.  Nach  dem  Verfahren  von  Holmes 
wird  ein  von  einer  Seite  her  entnommener  viereckiger  Lappen  über 
den  Defect  herübergeschlagen  und  seitlioh  angenäht,  während  die 
btetige  Flüche  nach  aussen  sieht.  Darüber  wird  ein  zweiter  Lappen 
ans  der  vordem  Seite  vom  Hodensacke  befestigt,  so  dass  die  beiden 
wunden  Flächen  einander  decken.  Zeis,  welcher  diese  Methoden 
bespricht,  bezweifelt  ihre  Brauchbarkeit,  besonders  da  die  Haut- 
lappen nioht  überall  anheilen  würden. 

Der  Vortragende  schlug  folgenden  Weg  zur  Heilung  des  Defects 
ein:  In  der  Chloroformnarkoso  wurde  von  der  Vorhaut  nach  auf- 
wärts die  Haut  an  der  Seite  des  Penis  so  eingeschnitten,  dass  sie 
am  Penis  abgelöst  in  der  Form  zweier  Seitenlappen  sich  über  die 
nnienfßrmige  Urethra  herüber  legen  liess  und  dieselbe  bequem 
deckte.  In  den  beiden  Lappen  lag  jederseits  eine  Arteria  dorsalis 
Penis,  welche  unversehrt  blieb.  Nach  aufwärts  von  der  Wurzel  des 
Penis  liefen  beide  Schnitte  indem  sie  den  Trichter  umgingen  oben 
am  Bauehe  in  eine  Spitze  zusammen.  So  wurde  die  schleimhaut- 
utige  Bekleidung  des  Trichters,  ebenso  wie  die  Haut  der  Urethra 
-ach  einwärts  umgeschlagen  und  der  natürliche  Verschluss  von 
oben  bis  zur  Eichel  hergestellt,  indem  von  der  Spitze  ab  die  hei- 
len Lappen  durch  eine  fortlaufende  Lembert'sche  Naht  mittelst 
eines  einzigen  Fadens  zusammengenäht  wurden.  Der  Faden  blieb 
obne  Knoten  und  hing  oben  und  unten  heraus.  Die  wunde  Fläche 
**•  nach  aussen.  Zur  Bedeckung  der  Wunde  und  zur  grösseren 
Sicherung  des  Resultates  wurde  nunmehr  ein  grosser  rhombischer 
Uppen  von  der  rechten  Seito  des  Scrotum  und  der  rechten  Lei- 
jtenfalte  abgelöst.  Die  Basics  blieb  rechts  von  der  Wunde  und 
hüi  eine  Breite  ion  V/t  Zoll.    Damit  der  Lappen  siok  ohne 


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348         Verhandlungen  des  natuhristorisch-roedixinischen  Vereins. 


Wulstbilduug  anlegen  Hess  wurde  auf  dem  mons  pubis  seitwärts 
am  Rande  des  Trichters  ein  kleines  Dreieck  ausgeschnitten.  Der 
Lappen  bedeckte  den  ganzen  früheren  Trichter,  der  nunmehr  durch 
die  umgeschlagene  Haut  und  den  Lappen,  also  doppelt,  gedeckt  war; 
ausserdem  reichte  der  Skrotallappen  noch  hin  um  den  Penis  grössten- 
teils mit  Haut  zu  bekleiden ,  nur  ganz  nahe  an  der  Eichel  blieb 
ein  Theil  des  Penis  nackt.  So  wurde  der  Lappen  mit  Seiden-  und 
Drahtnahten  befestigt.  Als  nach  der  Operation  der  Catheter  ein- 
gelegt wurde f  ergab  sich  das  erfreuliche  Resultat,  dass  der  Urin 
in  der  Blase  zurückgehalten  war.  Freilich  war  die  Menge  des 
Urin9,  der  in  der  Blase  Platz  fand  nur  sehr  gering  und  betrug 
kaum  einige  Esslöffel.  Der  Kranke  wurde  nach  der  Operation 
mehrere  Tage  hintereinander  in  ein  Wasserbad  gesetzt ;  die  beiden 
übereinander  gelegten  Lappen  heilten  vollständig  an  und  der  Kranke 
konnte  den  Urin  wenigstens  theilweise  zurückhalten.  Durch  eine 
methodische  Uebung  unter  männlicher  Aufsicht  wurde  er  allmäblig 
dahin  gebracht,  dass  er  bis  zu  einem  halben  Schoppen  Urin  in 
der  Blase  zurückhalten  kann.  Nachts  muss  er  zweimal  geweckt 
werden,  dann  bleibt  das  Bett  aber  vollkommen  trocken,  während 
es  früher  regelmässig  stark  durchnässt  war;  am  Tage  hält  der 
Kranke  den  Urin  2  bis  3  Stunden  und  kann  ihn  im  Strahle  schön 
entleeren.  Nur  die  Form  des  Penis  hat  sich  nicht  verbessern  lassen, 
indem  derselbe  ziemlich  weit  zurückgezogen  liegt.  Jedenfalls  ist 
das  Resultat  der  Operation  ein  höchst  erfreuliches,  indem  die  An- 
heilung  beider  Lappen  nach  einer  Operation  in  einem  Schlage  ge- 
lang, und  indem  das  fortwährende  Harntränfeln  ganz  aufgehört 
hat.  Offenbar  hat  der  gespaltene  Sphincter  dureb  die  Operation 
einen  andern  Ansatzpunkt  in  der  Narbe  gefunden  und  kann  da- 
durch den  Blasenhals  abschliessen. 


17.  Vortrag  des  Herrn  Dr.  Knauf f:    »Zur  Anatomie 
der  serösen  Häute«,  am  15.  Februar  1867. 

(Das  Manuacrlpt  wurde  sofort  eingereiht.) 

Dringen  fein  zertheilte  Fremdkörper  von  der  innern  Oberfläche 
des  Respiration  st  ractus  in  die  Lymphgefasse  ein ,  wie  diess  bei 
Einathmung  von  Kohle  als  Lampendunst  regelmässig  geschieht,  so 
lagern  sie  sich  unter  Anderm  auch  auf  der  Pleura  ab.  Diese  Ab- 
lagerungen erfolgen  zumeist  in  den  Wandungen  der  Lymphgefässe  und 
präsentiren  sich  dann  als  zwei  parallele  schwarze  Linien ,  welche 
das  Lumen  des  Lymphgefassos  einsäumen.  Ausser  diesen  Linien 
bemerkt  man  aber  auch  —  namentlich  im  vordorn  Mediastinum  des 
Hundes,  das  hier  zunächst  ins  Auge  gefasst  ist  —  schwarze  rund- 
liche und  ovale  Knötchen,  welche  die  Grösse  eines  Hirsekorns  er- 
reichen. Diese  Knötchen  liegen  tbeils  in  der  Pleura,  theils  sind  sie 
gestielt.    Sie  bestehn  —  abgesehn  von  der  Kohle  —  aus  einem 


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Verhandlungen  des  naturhistorisch-medizintechen  Vereins.  B49 

Convolut  von  Gelassen  und  einer  Aufhäufung  zelliger  Elemente.  In 
derselben  Zusammensetzung  finden  sie  sich  auch  präexistirend  bei 
jedem  Hunde. 

Das  Gefassconvolut  stellt  wohlcaracterisirte  Glomeruli  dar: 
eine  kleine  Arterie  tritt  in  das  Knötchen  ein,  löst  sich  rasch  in 
Capillaren  auf,  diese  bilden  ein  sehr  dichtes  Gewirre,  vereinigen 
sich  dann  wieder  zu  einer  kleinen  Vene,  welche  in  der  Nahe  der 
Eintrittstelle  der  Arterie  das  Knötchen  verlässt.  In  den  kleinsten 
Knötchen  werden  die  Glomeruli  nur  von  einer  mehrfachen  Ver- 
scblingung  einer  Capillare  repräsentirt.  Diese  Gefassknäuel  bilden 
der  Masse  nach  den  bedeutendsten  Bestandteil  der  Knötchen,  und 
deren  centralen  Theil  fast  ausschliesslich. 

Die  Peripherie  besteht  aus  einem  Zelleulager,  welches  gewöhn- 
lich frei  an  der  Pleuraoberfläche ,  manchmal  aber  noch  von  dem 
gewöhnlichen  Pflasterepithel  der  Pleura  zum  Tbeil  bedeckt  liegt. 
Seiner  Form  nach  ist  es  dem  lymphatischeu  Gewebe  zuzutheilen. 

Die  regelmässige  Ablagerung  von  Fremdkörpern  in  den  Knöt- 
chen beweist  hinlänglich  deren  Zusammenhang  mit  dem  Lymph- 
kanalsystem. So  unzweifelhaft  die  Existenz  von  Lymphkanälen  in 
den  Knötchen  ist,  so  unsicher  bleibt  eine  Deutung  ihres  Verlaufs, 
solange  eine  Injection  nicht  gelingt.  In  Ermanglung  dieser  kann 
aus  der  unvollkommenen  Füllung  derselben  mit  Kohle  während  des 
Lebens  vermutbet  werden,  dass  sie  die  Blutgefässe  in  ihrem  gan- 
zen Verlauf  durch  die  Knötchen  begleiten.  Da  aber  im  Centrum 
derselben  die  Gefässe  der  Glomeruli  sehr  dicht  au  einander  liegen, 
so  dass  zwischen  denselben  nur  sehr  wenig  Raum  bleibt,  so  muss 
sich  ihre  Ausbreitung  hauptsächlich  auf  den  mehr  peripherischen 
Theil  des  Glomerulus  beschränken.  Dem  entsprechend  finden  wir 
das  Centrum  des  Knötchens  verhältnissmässig  licht,  in  der  Nähe 
der  Peripherie  aber  dichte  Kohlenhäufchen  zu  einem  Ring  gruppirt, 
und  in  der  äussersten  Peripherie  die  Schicht  lymphatischen  Ge- 
webes, welches  fast  kohlenfrei  bleibt. 

An  den  grössern  Gefassen  der  Serosa  —  Arterien  und  Venen 
von  y6 — Vio  Linie  —  liegen  ganz  ähnliche  Bildungen  dicht  an. 
Sie  sind  nur  sehr  gestreckt  und  desshalb  im  nicht  injicirten  Zu- 
stand nicht  leicht  erkennbar,  scheinen  vielmehr  nur  eine  einfache 
Anhäufung  zelliger  und  kernartiger  Gebilde  in  der  Tunica  adven- 
titia  der  Blutgefässe  zu  sein. 

In  dieser  letztern  Modifikation  lassen  sich  nun  auch  diese 
Knötchen  oder  Glomeruli  gewöhnlich  auf  dem  Peritoneum  nach- 
weisen, nur  dass  daselbst  der  Reichthum  an  Blutgefässen,  sowie 
an  Kernen  des  lymphatischen  Gewebes  ein  noch  geringerer  ist.  Ihre 
Deutung  wäre  ohne  die  Kenntniss  der  markirteren  Formen  oft  eine 
schwierige.  Unter  Umständen  nehmen  sie  jedoch  auf  dem  Peritoneum 
ganz  denselben  ausgesprochenen  Habitus  an,  wie  auf  der  Pleura  des 
Hundes:  so  fand  ich  sie  bei  einem  rhachitischen  Kinde  in  ent- 
wickelster  Form.     Die   gleichzeitig  vorhandene  Schwellung  der 


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830         Verhandlungen  des  naturhletoitach-medlziniflchen  Vereins. 


mesenterialen  Lymphdrüsen,  und  der  Milz  weisen  aber  anf  einen 
pathologischen  Beizzustand  hin. 

Aber  gerade  darin  liegt  auch  andererseits  wieder  ein  Beweis 
für  die  Auffassung  dieser  Knötchen  als  Lymphappa- 
rate  —  wenn  man  will:  isolirter  L y  m  phf ollikel  — ,  eine 
Annahme  die  übrigens  durch  das  eigenthümliche  Verhal- 
ten der  Blutgefässe,  den  nachgewiesenen  Zusammen- 
hang mit  dem  übrigen  Lymphkanalsystem,  sowie  die 
Anwesenheit  von  lymphatischem  Gewebe  hinlänglich  ge- 
stützt wird. 


18.  Vortrag  des  Herrn  Prof.  Knapp:    »lieber  Plastik 

des  unteren  Augenlides«,  am  1.  März  1867. 

(Das  Manuscript  wurde  sofort  eingereicht.) 

Redner  stellt  einen  Patienten  vor,  bei  welchem  er,  eingehend 
auf  den  Vorschlag  eines  seiner  klinischen  Zuhörer,  des  Dr.  F. 
Pagenstecher  von  Heidelberg,  ein  Epitheliom  entfernt  und  den 
8/i  des  unteren  Lides  sammt  innern  Winkel  betragenden  Defekt 
dadurch  plastisch  deckte,  dass  er  zwei  horizontale  Lappen,  einen 
nasalen  und  einen  temporalen,  bildete,  diese  durch  Dehnung  ein- 
ander näherte  und  mit  einander  und  ihrer  Umgebung  mit  Knopf- 
nätben  vereinigte.  Die  Heilung  erfolgte  prima  intentione.  Die  Lid- 
spalte ist  etwas  verkürzt,  wird  aber  gut  geöffnet  und  geschlossen 
und  das  neue  untere  Lid  liegt  vortrefflioh  an. 

» 

19.  Bericht  des  Herrn  Dr.  C.  W.  0.  Fuchs:  »Ueber  die 

vulkanischen  Erscheinungen  im  Jahr  1866«. 

am  1.  März  1867. 

(Daa  Manuscript  wurde  am  28.  April  eingereiht.) 

Unter  den  Eruptionen  nimmt  im  Jahre  1866  diejenige  der 
Insel  Santorin  das  vorwiegende  Interesse  in  Anspruch,  indem  eine 
genau  beobachtete  Inselbildung  damit  verbunden  war.  Solche  Insel- 
bildungen sind  daselbst  in  historischer  Zeit  mehrere  vorgekommen. 
Palaeokammeni  entstand  nach  Plutarch  und  Plinius  im  Jahre  184 
oder  107  vor  Christus.  Die  kleine  Insel  Mikrakammeni  im  Jahre 
1578  und  Neokammeni  von  1707 — 1711. 

Die  ersten  Anzeichen  der  neuen  Eruption  im  Jahre  1866  be- 
standen in  schwachen  Erdbeben  am  28.  und  29.  Januar.  Bald 
darauf  brachen,  am  Südende  von  Neokammeni,  Flammen  und  Dämpfe 
aus  dem  Meere  und  zwischen  denselben  erschien  am  3,  Februar 
eine  Insel,  welohe  den  Namen  >Georgios«  erhielt.  Die  neue  Insel 
nahm  beständig  an  Ausdehnung  und  Höhe  zu,  jedoch  ohne  gewalt- 
same Erscheinungen,  ja  die  Erdbeben  und  die  Dampfentwicklung 


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liesaen  sogar  seit  ihrem  Erscheinen  nach ;  es  war  ein  langsames 
Anschwellen  der  Inselmasse.  Schon  am  (J.  Februar  ward  >  Georgios« 
doicii  zunehmende  Ausdehnung  mit  Neokammeni  verbunden  uud 
bildet  seitdem  ein  nach  Süden  gerichtetes  Vorgebirge  dieser  InseL 
Später  kamen  auoh  wirkliche  Eruptiouserscheinungen  vor,  besonders 
zahlreich  Explosionen,  durch  welche  Lavablöcke,  oft  von  bedeuten- 
der Grosse  umhergeschleudert  wurden.  Besonders  heftig  war  eine 
Explosion  am  18.  Juli;  auch  entstand  erst  in  Folge  dieser  Explo- 
ikm  ein  Krater  auf  der  Insel.  Bis  jetzt  hat  Georgios  seine  Tätig- 
keit stets  fortgesetzt. 

Am  13.  Februar  bildete  sich  in  dem  Kanäle  zwischen  Palaeo- 
kammeni  und  Neokammeni  eine  neue  Insel,  welche  Aphroessa  ge- 
nannt wurde.  Auch  diese  schwoll  aUmahlig  zu  immer  bedeutende- 
rer Höhe  und  immer  grösserem  Umfang  an.  Wie  auf  Georgios  er- 
folgten auch  hier  nach  einiger  Zeit  Explosionen,  begleitet  von 
Flammenerscheinungen,  wodurch  sich  besonders  der  18.  Mai  aus- 
zeichnete. Doch  hatte  die  Insel  schon  im  August  soweit  ihre  Thätig- 
keit  eingestellt,  dass  nur  noch  Fumarolen  auf  ihr  vorkamen.  — • 
Aphroessa  ganz  nahe  entstand  am  10.  März  eine  dritte  Insel  * 
>Beka«,  welche  sich  am  13.  März  mit  ihr  vereinigte.  Am  19.  März 
ward  Aphroessa  durch  seine  zunehmende  Ausdehnung  mit  Neokam- 
meni verbunden  Im  Monat  Mai  entstandtn  noch  acht  kleine  Inseln 
die  sich  jedoch  allmiblig  zu  zwei  vereinigten. 

Merkwürdig  bei  der  Eruption  von  Santorin  ist  es,  dass  die- 
jenigen Gase  und  Dämpfe,  welche  bei  andern  Eruptionen  entweder 
räumlich  oder  zeitlich  getrennt  vorzukommen  pflegen,  einander  ganz 
nahe  sich  entwickelten,  dass  Gase,  welche  sich  in  Berührung  mit 
der  glühenden  Lava  entzündeten,  in  grosser  Menge  sogar  aus  dem 
Krater  aufstiegen  und  eine  prachtvolle  Flammenerscheinung  gaben. 
Deberhaupt  ist  das  Phänomen  der  Flammen  noch  nie  so  sicher 
constatirt  worden,  und  bei  keiner  bis  jetzt  beobachteten  Eruption 
waren  die  Flammen  so  gross  und  so  zahlreich. 

Unter  den  gut  beobachteten  Inselbildungen  von  vulkanischer 
Beschaffenheit  nimmt  die  Eruption  von  1866  gleichfalls  einen  hohen 
Hang  ein.  Aus  allen  Beschreibungen  des  Ereignisses  geht  deut- 
lich hervor,  dass  die  Eruption  hauptsächlich  in  einem  submarinen 
Lavaergnss  bestand.  Zuerst  bahnten  die  der  Lava  beigemengten 
Gase  und  Dämpfe  eine  Oeflnung  auf  dem  Boden  des  Meeres  unter 
leichten  Erderschütterungen.  Darauf  quoll  die  Lava  hervor,  kam 
jedoch  sogleich  in  Conflikt  mit  der  über  dor  Ausbrucbsöffnung  be- 
findlichen Wassermasse,  erhitzte  dieselbe  bedeutend,  ward  aber 
selbst  an  der  Oberfläche  so  weit  abgekühlt,  dass  sich  eine  starre 
Binde  bildete.  Die  immer  neu  hervorquellende  Lava  hob  die  er- 
starrte Decke  höher  und  höher  und  breitete  sich  auch  immer  wei- 
ter aus.  Endlich  erschien  die  Lavamasse  Uber  der  Wasserfläche  und 
bildete  eine  InseL  Die  Lava,  aus  welcher  die  neue  Insel  bestand, 
hatte  daher  das  Ansehen  eines  Haufens  glühender  Kohlen  und  durch 


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362         Verhandlungen  des  naturhlstorisch-mediziniaclien  Verelnft. 


die  Spalten,  welche  bei  stets  zunehmender  Yergrössernng  sich  in 
der  festen  Decke  bilden  mussten ,  erblickte  man  die  im  Innern 
glühende  Masse.  Die  verbältnissraässig  so  ruhige  und  wenig  ge- 
waltsame Vergrößerung  erklärt  sich  eben  auch  dadurch,  dass 
immer  neue  Lava  nachschob.  Als  die  Insel  sich  gebildet  hatte, 
trat  eine  lebhafte  Fumarolenbildung  ein  und  es  folgten  bald  rascher, 
bald  langsamer  Explosionen  auf  einander,  durch  welche  grosse  Lava- 
blocke umhergeschleudert  wurden.  Dieselbe  Erscheinung  wird  sehr 
häufig  auf  der  Oberfläche  grosser  Lavaströme  beobachtet,  um  wie 
viel  mehr  musste  sie  hier  eintreten,  wo  kein  Krater  vorhanden 
war,  aus  welchem  der  grösste  Theil  der  Dämpfe  mit  geringerem 
Hinderniss  hätte  entweichen  können.  Durch  die  grosse  Explosion 
am  18.  Juli,  wurde  der  Gipfel  der  Insel  zersprengt  und  ein  Krater 
gebildet,  und  aus  ihm  erfolgten  nun  die  gewöhnlichen  Eruptions- 
erscheinungen, so  dass  auf  dem  Rücken  des  Lavastromes,  dessen 
höchster  Theil  als  Georgsinsel  erschien ,  sich  bald  ein  wirklicher 
Eruptionskegel  erhob  und  dadurch  die  Höhe  der  neuen  Insel  be- 
trächtlich vermehrte.  Die  andern  neuen  Inseln  sind  auf  dieselbe 
Weise  entstanden  und  als  kleinere  seitlich  hervorgebrochene  Arme 
des  grossen  Lavastroms  zu  betrachten. 

Viel  grossartiger  wie  die  Eruption  von  Santorin,  aber  leider 
nur  sehr  ungenügend  beobachtet,  war  der  Ausbruch  des  Mauna 
Loa  auf  Hawai,  einer  der  Sandwichinseln.  Im  Anfang  des  Jahres 
hatte  dieser  gewaltige,  12,000  Fuss  hohe  Vulkan  eine  Eruption, 
die  fast  Alles  übertrifft,  was  die  Geschichte  dieser  Naturereignisse 
berichtet.  In  einer  Höhe  von  10,000  Fuss  öffnete  sich  zuerst  ein 
Krater,  welcher  Lava  ergoss.  Nach  drei  Tagen  trat  kurze  Ruhe 
ein,  bis  sich  auf  halber  Bergeshöhe  ein  Krater  bildete,  ans  dem 
die  Lava  mit  so  ungeheurer  Gewalt  hervorgepresst  wurde,  dass 
eine  Säule  glühender  Lava,  von  100  Fuss  Durchmesser,  wie  ein 
Springbrunnen  tausend  Fuss  hoch  aufgestiegen  sein  soll.  Ist  diese 
Angabe  auch  etwas  übertrieben,  so  muss  doch  das  Schauspiel  ein 
überwältigendes  gewesen  soin.  Der  Ausbruch  dauerte  20  Tage  und 
war  von  heftigen  Erdbeben  begleitet.  Das  unterirdische  Getöse 
verbreitete  sich  40  engliche  Meilen  weit.  Der  ganze  Osten  von 
Hawai  schien  in  Feuer  zu  stehen  und  Seeleute  sahen  den  hellen 
Schein  davon  in  einer  Entfernung  von  200  englisohen  Meilen. 

(8chluse  folgt.) 


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Ir,  23. 


HEIDELBERGER  1867. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

 .  1  .   .  i 

Verhandlungen  des  natnrhistorisch- medizinischen 

Vereins  zn  Heidelberg. 


(ScUum.) 

Am  30.  Januar  1865  geriet  Ii  der  Vulkan  Turrialva,  der  süd- 
lichste in  der  Vulkanreibe  Mittel- Amerika* s  in  Eruption.  Zuerst 
fand  ein  dichter  Aschenregen  statt,  welcher  die  ganze  Hochebene 
von  Gostarica  mit  Asche  bedeckte.  Später  erhob  sich  eine  unge- 
heure Feuersäule  Uber  den  Gipfel  des  Berges.  Die  Eruption  dauerte 
während  des  ganzen  Jahres  und  hielt  bis  gegen  die  Mitte  des  Jah- 
res 1866  an,  wo  der  Vulkan  in  den  früheren  Grad  seiner  Thätig- 
keit, also  in  eine  gemässigte  Thätigkeit,  überging.  Es  war  dies 
die  längste  und  heftigste  Eruption,  welche  seit  der  Entdeckung 
Amerikas  an  diesem  Vulkane  je  vorgekommen. 

Auch  die  Eruption  eines  Schlammvulkans  ist  aus  dem  Jahre 
1866  zu  verzeichnen.  In  der  Nähe  von  Paterno  auf  Sizilien  liegt 
ein-.  Schlammvulkan  »Salinella  de  Paterno«  genannt,  welcher  in 
letzter  Zeit  vollkommen  ruhig  war,  so  dass  seine  Umgebung  zu 
einem  harten,  spröden  Thone  erstarrte.  Am  9.  Januar  spürte  man 
ein  Erdbeben  zu  Paterno  und  darauf  begann  dann  am  22.  von 
neuem  die  Thätigkeit  des  Schlammvulkans  Flüssiger  Schlamm,  dessen 
Temperatur  bis  zu  46°  C.  erhöht  war ,  brach  unter  dem  Boden 
hervor  und  verwandelte  die  Salinella  in  einen  grossen  rauchenden 
Schlammpfuhl.  An  mehreren  Orten  spritzte  der  Schlamm  Spring- 
brunnartig  hervor.  Die  Schlammsäulen  hatten  40 — 50  Centimeter 
im  Durchmesser  und  erreichten  in  den  beiden  ersten  Tagen  der 
Eruption  eine  Höhe  von  6  —  7  Fuss,  später  stiegen  sie  weniger 
hoch.  Die  Schlammstrahlen  und  die  aus  denselben  mit  grosser 
Gewalt  entweichenden  Gase  verursachten  ein  lebhaftes  Geräusch. 
Die  Eruption  erfolgte  aus  sechs  Krateren  von  1,5  —  2  Meter  im 
Durchmesser;  ausserdem  gab  es  jedoch  noch  viele  weniger  thätige 
Kratere,  deren  Temperatur  nicht  höher  war  als  die  der  Atmos- 
phäre. Einzelne  der  Kratere  verschwanden  fortwährend  und  neue 
entstanden  an  andern  Stellen.  Die  Gase  zeigten  schon  durch  ihren 
Geruch  die  Gegenwart  von  Schwefelwasserstoff  und  Bitumen  an; 
das  letztere  brannte  mit  lebhafter  Flamme.  Das  Wasser,  welches 
dem  Schlamm  beigemengt  war,  schmeckte  sehr  salzig.  Es  enthielt 
°\5°/o  Stickstoff  und  ausserdem  noch  Brom-,  Jod- und  Schwefel- Ver- 
bindungen, kohlensaure,  phosphorsaure  und  salpetersaure  Salze. 
LX.  Jahrg.  5.  Heft  23 


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354       Verhandlungen  des  natnrhistorlsch-medteiniachen  Vereins. 


Von  Erdbeben  wurden  ans  dem  Jahre  1866  zusammen  65  be- 
kannt. Dieselben  kamen  an  76  verschiedenen  Tagen  und  an  39 
verschiedenen  Orten  vor.  An  12  Tagen  des  Jahres  fanden  mehrere 
Erdbeben  statt.  Folgende  Orte  wurden  mehrmals  im  Laufe  des 
Jahres  von  Erdbeben  betroffen. 

Orizaba  und  Cordona  in  Mexiko  am  2.  Januar  und  am  16.  Mai. 

ßpoleto  am  1.  Februar,  21.  Februar  und  am  17.  März. 

Fatras  am  6.  und  10.  Februar  und  am  10.  März. 

Füzitö  in  Ungarn  am  27.  Februar  und  20.  März. 

Nizza  am  8.  April,  19.  Mai  und  22.  September. 

Fiume  am  5.  März  und  9.  Dezember. 

Ohios  am  19.,  20.,  21.  Januar,  2.,  20.  Februar,  20.  März. 

Avlona  2.  März,  4 — 16.  März. 

Bhodus  20.  Februar,  20.  März,  20.  Mai,  21-  25.  Mai. 
Santorin  häufig  seit  Eintritt  der  Eruption. 
Monte  Baldo  seit  den  2.  Mai  andauernd  bis  zum  Ende  des 
Jahres. 

Am  heitigsten  waren  die  Erdbeben  am  2.  März  nnd  7.  Juli. 
Am  2.  März  zwischen  11  und  12  Uhr  Vormittags  erfolgten  zu 
Avlona  in  Albanien  zwanzig  heftige  Stösse;  in  Folge  der  dadurch 
verursachten  Zerstörungen  kamen  60  Menschen  um.  Am  7.  Juli 
Buchte  ein  Erdbeben  Nepal  in  Indien  heim.  Die  Hauptstadt  Khat- 
mandn  ward  gänzlich  zerstört  und  viele  Menschen  wurden  getödtet. 
In  demselben  Monat  erschütterte  ein  Erdbeben  das  Land  zwischen 
Euphrat  und  Tigris.  Spalten  zerschnitten  den  Boden  in  allen  Rich- 
tungen und  in  einem  Umkreis  von  30  Stunden  versanken  16  Dör- 
fer sammt  der  ganzen  Bevölkerung. 

Selten  besteht  ein  Erdbeben  aus  einem  einzelnen  Stosse.  Es 
folgen  der  Kegel  nach  mehrere  Stösse  von  verschiedener  Heftigkeit 
auf  einander ;  zuweilen  dauert  ein  Erdbeben  mehrere  Tage ,  auch 
Wochen  und  Monate  lang  und  während  dieses  ganzen  Zeitraumes 
wiederholen  sich  die  Stösse,  mehr  oder  weniger  zahlreich.  Unter 
den  65  gesammelten  Erdbeben  ist  nur  bei  der  kleinen  Zahl  von 
17  die  Summe  der  einzelnen  Stösse  angegeben  und  beträgt  109. 
Die  Zahl  von  65  Erdbeben  im  Laufe  eines  Jahres  könnte  sehr  be- 
trächtlich erscheinen,  allein  je  mehr  man  sich  mit  diesen  Natur- 
erscheinungen beschäftigt,  desto  mehr  gewöhnt  man  sich  daran  die 
Erdbeben  nicht  als  aussergewöhnliohe ,  sondern  als  alltägliche  Er- 
eignisse zu  betrachten.  Wirklich  fanden  jene  65  Erdbeben  nur  in 
Europa,  dem  Westen  Asiens,  dem  Nordrande  Afrikas  und  eines  in 
Mexiko  statt.  Aus  ganz  Amerika,  ganz  Australien,  ganz  Inner- 
Asien und  China  und  dem  grössten  Theile  Afrikas  ist  keine  Nach- 
richt gekommen.  Wir  dürfen  nicht  annehmen,  dass  in  diesen  Lan- 
dern, welche  die  erstem  mindestens  um  das  zehnfache  an  Ausdeh- 
nung übertreflen,  Erdbeben  weniger  häufig  seien.  Von  den  weiten 
Flächen  des  atlantischen,  grossen  und  indischen  Oceans  wird  gleich- 
falls höchst  selten  ein  derartiges  Ereigniss  gemeldet.    Man  kann 


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Verhandlungen  des  n&turliistorIsch--medlzinl9cheD  Vereins,  855 


daher  ans  der  Summe  des  Bekannten  schliessen,  dass  die  Menge 
der  wirklich  vorgekommenen  Erdbeben  ungleich  viel  grösser  ist, 
ja  tlass  wohl  in  jedem  Augenblicke  die  sonst  starre  Erdmasse 
irgendwo  in  Bewegung  sich  befindet  und  ein  Erdbeben  veranlasst. 

Die  Erdbeben  sind  entweder  vulkanische,  sie  stehen  im  Zu- 
sammenhang mit  der  Thatigkeit  der  Vulkane,  oder  nicht  vnlkar 
nisebe,  deren  Grund  verschiedenen  Ursachen  zugeschrieben  werden 
mnss.  Im  Jahre  1866  waren  vulkanische  Erdbeben  die  auf  der  Insel 
Hawai  und  die  auf  Santorin.  Die  Nähe  dieser  Erdbeben  an  dem 
Punkte  der  Eruption  und  die  Abhängigkeit  ihres  Eintrittes  von 
der  Thatigkeit  des  Vulkans  beweisen  den  Zusammenhang  zwischen 
beiden.  Die  vulkanischen  Erdbeben  werden  der  Regel  nach  durch 
explosionsartige  Erscheinungen  zu  erklären  sein.  Wenn  Wasser 
in  dor  glüheuden  Lava  hinzutritt,  so  ist  die  Expansionskraft  der 
dadurch  entstehenden  Dämpfe  im  Stande  eine  Erderschütterung  zu 
veranlassen.  Mehrere  Ereignisse  im  Jahre  1866  zeigten  ganz  deut- 
lich, dass  Explosionen  Erdbeben  erzeugen.  Am  8.  April  fand  zu 
Aspinwall  eine  Explosion  von  Nitroglycerin  im  Hintertheile  eines 
im  Ausladen  begriffenen  Schiffes  statt.  Die  Einwohner,  welche  von 
der  Explosion  nichts  wussten ,  glaubten  ein  heftiges  Erdbeben  zu 
spüren ;  auch  war  die  durch  die  Explosion  bewirkte  Zerstörung  der 
Wirkung  eines  Erdbebens  gleich.  —  Als  am  15.  Dezember  die 
schrecklichen  Explosionen  in  den  Kohlengruben  von  Bamsley  statt- 
fanden, spürte  man  auf  der  Erdoberfläche  auf  dem  Umkreis  einer 
Meile  ein  Erdbeben  und  hörte  dabei  unterirdisches  Getöse.  Aucji 
hier  stimmten  die  Wirkungen  der  Explosion  mit  den  Folgen  eines 
Erdbebens  überein. 

Die  nicht  vulkanischen  Erdbeben  haben  verschiedene  Ursache. 
Am  häufigsten  besteht  dieselbe  in  einer  Senkung  der  festen  Erd- 
masse, einer  einzelnen  Schicht  oder  eines  ganzen  Schichtensystems. 
Sobald  eine  Senkung,  selbst  die  aller  geringfügigste,  nicht  allmäh- 
lig.  sondern  plötzlich  eintritt,  verursacht  dieselbe  ein  Erdbeben 
and  je  nach  dem  geognostischen  Bau ,  wenn  z.  B.  lockere  Massen 
atf  einer  festen  Unterlage  ruhen,  Erdbeben  von  sehr  beträchtlicher 
Kraft.  Liegt  die  Ursache  der  Senkung,  in  deren  Folge  ein  Erd- 
beben eintritt,  nicht  tief  unter  der  Erdoberfläche,  dann  kann  die- 
selbe oft  leicht  erkannt  werden.  Am  29.  Januar  1866  erschütterte 
ein  heftiges  Erdbeben,  begleitet  von  unterirdischem  Getöse  das 
Darf  Rekow  in  Pommern ;  dabei  versank  ein  Stück  Land  von  zwei 
Morgen  in  den  dicht  beim  Dorfe  gelegenen  See.  Dor  Boden,  auf 
welchem  das  Dorf  stand  ward  von  zahlreichen  Spalten  durch- 
schnitten und  mehrere  Häuser  litten  so,  dass  sie  abgerissen  wer- 
den mussten.  Hier  war  orlenbar  das  Wasser  des  See's  in  eine  Schicht 
eingedrungen,  hatte  dieselbe  erweicht  und  darauf  sank  das  darauf 
lastende  Schichtensystem  in  die  Tiefe.  —  Die  Erdersehütterungen, 
welche  von  Mai  bis  Dezember  die  Ufer  des  Gardasee's  heimsuch- 
ten und  vom  Monte  Baldo  ausgingen ,  mtisaen  gleichfalls  4adurch 


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8Ö6       Verhandlungen  des  naturhlatorisch-mediziniflchen  Verein«. 


erklärt  werden,  dass  eine  in  den  See  ausgehende  Schicht  des  Ber- 
ges von  dem  Wasser  erweicht  wurde,  so  dass  der  Berg  nieder- 
sinken musste.  —  Liegt  die  Ursache  der  Senkung  in  grosser  Tiefe, 
dann  ist  sie  schwer  zu  erkennen.  Der  Bergbau  macht  uns  jedoch 
mit  den  Folgen  bekannt.  Die  Verwerfungen  deuteu  uns  die  Stellen 
an,  wo  Senkungen  und  Erdbeben  einst  vorgekommen. 


Geschäftliche  MittheilimgeiL 

Herr  Dr.  Horstmann  und  Herr  Dr.  R u d.  Louis  wurden 
als  ordentliche  Mitglieder  in  den  Verein  aufgenommen. 

Indem  der  Verein  fUr  die  ihm  freundlich  Ubersandten  und 
nachstehend  verzeichneten  Schriften  seinen  besten  Dank  sagt,  wird 
für  den  Schriftenwechsel  dringend  auf  die  in  den  Umschlägen  ab- 
gedruckte Bemerkung  aufmerksam  gemacht. 


Verzeichniss 

der  vom  1.  Dezember  1866  bis  31  Mai  1867  an  den  Verein  ein- 
gegangenen Druckschriften. 

Abhandlungen  der  Senckenbergischen  Naturforsch.  Gesellschaft  zu 

•Prankfurt  a.  M.  VI.  1  u.  2. 
Dr.  W.  F.  R.  Suringar:  de  Sarcine  nebst  extrait. 

Ein  Wort  über  den  Zellenbau  von  Sarcine. 
La  sarcine  de  restomao. 
Sitzungsberichte  der  kaiserl.  Akad.  der  Wissenschaften  zu  Wien. 

1866.  26—28.  1867.  1—13. 
Rendi  Conti  del  Reale  istituto  Lombardo,  classe  di  scienze  raatenia- 

tiche  e  naturali  II.  3 — 8.  Solenni  adunanze  I.  2. 
Von  der  königl.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  München: 
Bauernfeld:  Bedeutung  moderner  Gradmessungen. 
Liebig:  Entwicklung  der  Ideen. 

Meissner:  Geograph.  Verhältnisse  der  Lorbeergewächse, 
Bischof:  Neue  Beobachtungen  zur  Entwicklungsgeschichte  des 
Meerschweinchens. 
Von  der  königl.  Universität  in  Christiania: 

Forhandlinger  i  Videnskabs  Selskabet  i  Christiania.  aar  1864. 
Norges  officielle  Statistik,  nro  4 :  Beretning  om  Sundhedstil- 

standen  og  Medicinalforholdene  i  aaret  1863. 
Maerker  efter  en  Jistid  i  omegenen  af  Hardangerfjorden  af 
8.  A.  Sexe. 

Medizinal-Taxten  for  Norge  1855;  1861;  1865. 
Tillaegen  tü  Medicizinal-Taxten  1862;  1863;  1864. 


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VerhAndlungen  des  naturhietorißch-medlzinischen  Vereint.  367 


Veterinaer  Medizinal-Taxten  1861;  1865. 
Tillaegon  til  Veterinaer  Medizinal-Taxten  1862;  1863. 
Generalberetning  for  Gaustad  Sindsygeasyl  for  aaret  1865. 
Forslag  til  Forandring  i  den  bestaande  Kvaksalverlovgigning. 
Von  der  königl.  baier.  Akademie  der  Wissenschaften  in  München: 
Bischoff:  Schädelbildung  des  Gorilla,  Schimpanse  und  Orang 
mit  22  Tafeln. 

Archiv  des  Vereins  der  Freunde  der  Naturgeschichte  in  Meklen- 
bnrg.  1866. 

Verhandlungen  der  naturf.  Gesellschaft  in  Basel.  IV.  8.  Heft. 
Von  der  königl.  sächsischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften: 

Berichte  der  math.-pbys.  Classe  1865.  XVII.  Bd. 

1866.  L  2.  3.  Heft. 
Verhandlungen  des  naturf.  Vereins  in  Brünn  1865.  IV.  nebst  De- 

sideratenverzeichniss. 
Abhandlungen  der  naturf.  Gesellschaft  zu  Nürnberg  HI.  2.  H.  1866. 
Nachrichten  d.  kgl.  Gesellschaft  d.  Wissensch,  zu  Göttingen.  1866. 
Festschrift  u.  Jahresber.  d.  naturf.  Gesellschaft  zu  Emden.  1865. 
XV.  Jahresbericht  des  Werner  Verein  in  Brünn  1865,  nebst  zwei 

Blättern  Karte  von  Mähren. 
Verhandl.  des  Vereins  f.  Naturkunde  zu  Pressburg  Vin.  u.  IX.  Bd. 

1864—66. 

Schriften  der  naturf.  Gesellschalt  in  Danzig.  Neue  Folge  I.  8  u.  4. 
Memoires  de  l'Academie  des  sciences  et  lettres  de  Montpellier: 

Section  des  sciences  VI.  f.  1.  1864. 

Section  de  mödecine  IV.  f.  1  u.  2.  1863  —  64. 
Jahresbericht  über  die  Verwaltung  des  Medizinalwesens  der  freien 

Stadt  Frankfurt.  VII. 
Abhandinngen  des  naturw.  Vereins  in  Hamburg: 

IV.  4 ;  Klatt :  Die  Gattung  Lysimachia. 

V,  1;  Möbius:  Bau  der  Nesselkapseln  der  Polypen  und  Quallen. 
Uebersicht  der  Verhandlungen  im  Jahr  1865. 

Bericht  über  die  Thätigkeit  der  St.  Gallischen  Naturw.  Gesell- 
schaft. 1864—66. 

Memoires  de  la  sociöte"  des  sciences  physiques  et  naturelles  de  Bor- 
deaux. T.  I— IV. 

Zwölfter  Bericht  der  oberh.  Gesellscb.  f.  Natur  u.  Heilkunde.  1867, 

lenaiache  Zeitschrift  f.  Medizin  u.  Naturwiss.  m.  1—3.  H.  1866. 

Jahresbericht  XXI— XXIV  der  Pollichia  u.  Bibliotheks-Verzeichniss. 

Hericht  der  naturf.  Gesellsch.  zu  Halle  1866. 

Verhandl.  d.  natnrh.  Vereins  d.  preuss.  Rheinlande  u.  Westphalens 
XXIII.  nebst  geol.  Karte  der  Rheinprovinz  u.  Westphalens. 
^orrespondenzblatt  des  zool.  mineral.  Vereins  in  Regensburg.  XX. 
Sitiungsber.  d.  k.  b.  Akad.  d.  Wiss.  zu  München  1866.  II.  H.  2—4. 

1867.  LH.  1-8. 

Würzburger  Medizin.  Zeitschrift.  VII.  3. 

Abhandlungen  des  naturw.  Vereins  zu  Bremen.  I.  2.  H.  1867. 


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Hoefer:  Biographie  generale.  T.  43-46 


A ouv eile  biogr aphie  gine'rale  depuis  les  temps  les  plus  reculfo 
jusqu'ä  nos  jours  avec  les  retiseignemenis  bibliographiques  et 
Vindication  des  sources  ä  consulter ,  publiie  par  MM.  Firmin 
Didot  frtores  sous  la  direeiion  de  M.  le  Dr.  Hoefer.  Paris. 
Firmin  Didot  freres,  fds  et  Cie.  Editeurs  etc.  nie  Jacob  56. 
Tome  quar ante  troisieme  1864  ( von  Saint- Ange  bis  Si- 
miane)  1024  8.  in  doppelten  Columnen.  gr.  8.  Tome  qua- 
rante  quatriöme  1865  (von  Sirnler  bis  Testa)  1040  S. 
Tome  qu  ar  ante  cinquieme  1866  ( von  Teste  bis  Vermond) 
1138  S.  Tome  quarante  sixiime  1866.  (Von  Verne  bis 
Zyll).  1040  S.  gr.  8. 

Mit  diesen  vier  Bänden  hat  das  grossartige  Unternehmen, 
dem  wir  in  diesen  Blättern  seit  seinem  Erscheinen  mit  gebühren- 
der Aufmerksamkeit  gefolgt  sind,  noch  zuletzt  Jhrgg.  1864  S.  373  ff., 
seinen  Abschluss  gefunden  und  die  Unternehmer  wie  der  Heraus- 
geber können  sich  glücklich  schätzen,  in  der  verhältnissraässig 
kurzen  Zeit  von  vierzehn  Jahren,  seit  dem  Jahre  1852,  wo  der 
erste  Band  erschien,  freilich  unter  nicht  gewöhnlichen  Mühen  und 
Anstrengungen  das  Endziel  erreicht  zu  haben.  Wie  viele,  und 
selbst  nicht  geringe  Schwierigkeiten  dabei  zu  überwinden  waren,  kann 
selbst  Denen,  die  nur  mit  einzelnen  Theilen  des  grossen  Werkes 
sich  bekannt  gemacht  haben,  nicht  ontgangen  sein:  wir  haben  selbst 
in  diesen  Blättern  mehr  als  einmal  darauf  hingewiesen.  Aus- 
dauernde und  angestrengte,  aber  nicht  minder  sorgsam  auf  Alles 
Einzelne  bedachte  Thätigkeit  hat  die  Beendigung  schneller  als  man 
erwarten  mochte,  herbeigeführt ;  was  am  Anfang  versprochen  war, 
ist  getreulich  eingehalten ,  kein  Leser  in  seinen  Erwartungen  ge- 
täuscht worden:  die  Reichhaltigkeit  dieses  biographischen  Wörter- 
buchs wie  die  Genauigkeit  und  Verlässigkeit  der  mitgetheilten 
Notizen  gewährt  alle  Befriedigung. 

Nach  diesem  allgemeinen  Urtheil  mag  es  erlaubt  sein,  wie  bei 
den  Anzeigen  der  früheren  Bände,  so  auch  hier  bei  dem  Schluss 
des  Ganzen  nochmals  einen  gleichen  Nachweis  in  der  Anführung 
einer  Reihe  von  einzelnen  Artikeln  zu  geben,  welche  mehr  oder 
minder  zeigen,  wie  auch  diese  vier  letzten  Bände  gleichförmig  den 
früheren  gehalten  und  bearbeitet  sind,  und  wie  die  ersten  Gelehr- 
ten Frankreichs,  jeder  in  seinem  Fach ,  sich  betheiligt  und  man- 
chen Artikeln  sogar  .dnen  eigenen  und  selbständigen  Werth  ver- 
liehen haben  Es  gilt  dies  oben  so  von  Persönlichkeiten  der  alten, 
wie  der  neuen  Welt  bis  auf  unsere  Tago  herab,  und  eben  so  auch 
des  Mittelalters,  und  zwar  bedeutenden  Fürsteu,  wie  Gelehrten  uud 
Künstlern,  Diplomaten  und  Staatsmännern  wie  Feldherrn. 

Beginnen  wir  mit  der  alten  Welt,  so  finden  wir,  wie  sogar 
auf  die  alte  assyrische  Monarchie  Rücksicht  genommen,  und  Herr- 
scher, die  erst  jetzt  aus  deu  wieder  aufgedeckten  Palästen  Ninive's 
uns  nahet  bekannt  zu  werden  anfangen,  mit  eigenen  Artikeln  be- 


» 


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Hoefer:  Biographie  generale.  T.  43  -46.  aö9 

dacht  sind,  wie  Sargon  und  die  Sardanapale  von  E.  Grd- 
goire,  Sanherib,  oder,  wie  er  hier  genannt  ist,  Sennacherib, 
eben  so  wie  der  persische  Xerxes,  nnd  der  phönicische  San- 
chuniathon  von  E.  Renan.  Dass  die  bedeutenderen  Persönlich- 
keiten der  hellenischen  nnd  römischen  Welt,  namentlich  der  ge- 
lehrten Welt  oder  der  Künstlerwelt,  nicht  minder  bedacht  sind, 
zeigen  nicht  wenige  Artikel,  die  zu  den  besten  des  Werkes  gezählt 
werden  können,  so  z.  B.  Sappho,  Sophocles,  Theocrit,  Theophrast, 
Sophocies,  Zeno,  Simplicius,  Tzetzes  oder  Tiberius  (mit  Rücksicht 
auf  die  in  neuester  Zeit  angeregte  Controverse  über  die  Vorzüge 
dieses  Herrschers),  Vitellius  von  Leo  Joubert,  der  auch  zahlreiche 
andere  Artikel  selbst  neuerer  Zeit  bearboitet  hat;  ferner  der  aus- 
führliche Artikel  über  Socrates  von  B.  Aubö,  dem  wir  auch  die 
Artikel  über  Synesius,  Tertullianus  u.  a.  verdanken;  ein  vorzüg- 
licher Artikel  über  Thucydides  von  Ambroise  Firmin  Didot,  zum 
Tbeil  seiner  Uebersetzung  dieses  Schriftstellers  und  der  dieselbe 
begleitenden  Einleitung  entnommen;  Theophylact  verdanken  wir 
noch  dem  seeligen  Hase,  Strabo,  Tyrtftus  und  Xenophon  lieferte 
Guignault;  die  römischen  Kaiser  Titus  und  Trajanus  der  nicht 
minder  bekannte  Noel  des  Vergers.  Von  römischen  Schriftstellern 
erinnern  wir  nur  an  den  Artikel  Tite  Live  von  Fustel  de  Coulanges 
oder  Varro  von  Ed.  Tournier,  Sallustius,  Terentins,  Tacitus,  Virgil 
von  Naudet,  Seneca,  den  Rhetor  wie  den  Philosophen  von  B.  Aube* ; 
bei  ersterem  vermisst  man  bei  der  Angabe  der  Ausgaben  —  denn 
auch  darauf  erstreckt  sich  bei  diesen  Schriftstellern  die  Fürsorge 
der  Verfasser  —  die  Ausgabe  von  Bursian;  ferner  gehört  hierher 
Suetonius  von  J.  P.  Charpentier,  Vitruvius  von  Deheque.  Von  bedeu- 
tenden Persönlichkeiten  des  Mittelalters  mag  an  Gerbert,  (hier 
unter  Sylvester)  von  B.  Haureau  erinnert  werden,  an  Thomas  von 
Aqninnm  von  J.  Morel,  der  noch  manche  andere  Artikel  auch  aus 
der  neuern  Zeit  geliefert  hat,  wie  z.  B.  über  Saint  Simon,  den 
Stifter  der  sogenannten  Simonisten,  an  Savonarola  von  Louis 
Gregoire ,  an  Tancred  von  Henri  Feuiileret ,  der  übrigens  auch 
über  die  unter  dem  Namen  Sand  gefeierte  und  bekannte  Schrift- 
stellerin einen  interessanten  Artikel  beigesteuert  hat ;  ebenso  an  die 
Artikel  über  verschiedene  französische,  englische  und  andere  Schrift- 
steller des  Mittelalter,  über  Tauler,  um  noch  ein  weiteres  Beispiel 
anzuführen,  von  E.  Grögoire;  über  Zwingli,  den  schweizerischen 
Reformator  (etwas  kurz)  von  Michel  Nicolas,  über  Tasso  von  E. 
J.  B.  Ratbery,  Tournefort  vonA.  Fee,  über  Sully  von  L.  Gregoire; 
oder,  um  der  neueren  Zeit  näher  zu  rücken,  Struensee,  Torsten- 
sohn, Thugut  von  Ch.  de  Gagern,  Spinoza  von  Artaud,  die  zahl- 
reichen Sturm,  Saint  Simon,  Saint  Just,  Saint  Pierre,  über  die 
Familie  der  Visconti's  von  L.  Gregoire,  über  den  berühmten  Archäo- 
logen dieses  Namens  in  neuerer  Zeit  von  S.  Rolland  u.  A.  Ueber 
die  beiden  Scaliger,  den  Vater  Julius  Cäsar  und  den  Sohn  Joseph 
Justus,  >le  plus  grand  phüologue  franeois, 


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360 


Hoefer:  Biographie  generale.  T.  43—46, 


wird,  hat  E.  Grögoire  gut  gehandelt,  die  Schriften  dieser  Gelehr- 
ten und  die  dieselben  betreffende  Literatur  verzeichnet,  bei  letzteren 
unter  Benützung  des  Werkes  von  Bernays ,  welches  mit  dem  Zu- 
satz angeführt  wird:  »quoique  un  peu  trop  louangeuse,  cetto  notice 
tres  complete  est  plus  pres  de  la  voritu  que  Celle  de  M.  Ch.  Nisard 
dans  son  Triumvirat  litöraire.«    Ueber  Shakespeare  hat  L6o  Jou- 
bert  ausführlich  gehandelt ;  Über  den  für  die  Geschichte  der  Buch- 
druckerkunst so  wichtigen  Schöffer  gibt  ein  vorzüglicher  Artikel 
von  A.  Firmin  Didot  nähere  und  sichere  Auskunft,  über  Sueden- 
borg  P.  Louisy.    Wenden  wir  uns  den  nächstverflossenen  Zeiten 
zu,  so  sind  die  meisten  bedeutenden  Männer  mit  grösseren  Artikeln 
gut  bedacht  worden,  und  um  vorerst  an  Deutsche  zu  erinnern,  so 
mögen  zunächst  die  Artikel  über  Schiller  und  Wieland  von  L.  Spach, 
über  die  beiden  Schlegel ,  August  Wilhelm  und  Friedrich  von  G. 
Rathe>y  genannt  werden,  dann  die  Artikel  über  berühmte  Rechts- 
gelehrte Deutschlands,  wie  v.  Savigny,  Mohl,  Thibaut  und  Zachariä; 
was  bei  dem  letzten,  der  gleich  den  vor  ihm  genannten  der  Hei- 
delberger Universität  angehörte,  Über  dessen,  zweimal  bekanntlich  in 
das  französische  übersetzte  »Handbuch  des  französischen  Civilrecbts« 
bemerkt  wird,  mag,  als  Zeugniss  der  Unparteilichkeit,  die  in  der 
Beurtheilung  durchweg  sich  kund  gibt,  auch  hier  eine  Stelle  fin- 
den: »Cet  ouvrage,  lesen  wir  S.  927 f.  T.  46  dans  lequel  Tauteur 
a  suivi  l'ordre  methodique  est  le  plus  fortement  concu  et  le  plus 
rigoureusement  deduit,  qui  ait  peut-ßtre        «Scrit  sur  le  nouveau 
droit  civil  francais,  d'une  concision  qu'on  pourrait  appeler  alg6- 
brique ;  il  a  le  grand  avantage  de  montrer  le  developpement  lo- 
gique  de  la  science  du  droit  et  de  faire  penser,  au  lieu  de  fournir 
des  Solutions  tontes  faites.«    Adam  Smith,  der  grosse  National- 
ökonom ist  von  E.  Mallet  geschildert,  mehrere  andere  desselben 
Namens  von  Eugen  Asse,  Washington  von  Leo  Joubert,  Volta  von 
Höfer,  Volney  von  M.  Avenel,  Walter  Scott  von  E.  F.  B.  Rath^ry, 
Frau  von  Stael-Holstein  von  Philarete  Chasles,  Lady  Stanhope 
von  A.  F.  Didot;  von  Staatsmännern  neuester  Zeit  Talleyrand  von 
A.  Boullde,  Villfcle  von  Artaud,  Alex.  Stourdza  (nach  besondern 
Mittheilungen)  Walewski  u.  A.    Dass  über  Voltaire  ein  äusserst 
umfassender  Artikel,  der  von  S.  863 — 448  T.  46  reicht,  gegeben 
ist  von  Eug.  Asse,   der  auch  Alex,  do  Toqueville,  Tugut,  Thiers 
u.  A.  behandelt  hat,  mag  die  Bedeutung  Voltaire's  und  sein  Ein- 
fluss  auf  die  ganze  Zeitrichtung,  zumal  in  Frankreich,  hinreichend 
erklären.    Von  fürstlichen  Personen  nennen  wir  Soulouque ,  den 
Negerfürsten  zu  Haiti  von  Melvil-Bloncourt  und  Victor  Emanuel, 
dem  ein  eingehender  Artikel  von  L.  Colla9  gewidmet  ist ;  selbst 
Schamyl,  von  Demselben  bearbeitet,  fehlt  nicht.    Dass  die  in  den 
Kreis  der  französischen  Revolution  fallenden  Persönlichkeiten  mit 
nicht  geringerer  Aufmerksamkeit  wie  in  den  frühern  Bäuden  be- 
handelt sind ,  ersieht  man  aus  Artikeln  wie  Eulogius  Schneider, 
Sieyes  von  Taillandier,  Vergniaud  von  Ch.  Emmanuel  u.  A.;  die 


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Zacher-  Pseudocallisthenea. 


361 


Kriegshelden  sind  mit  gleicher  Aufmerksamkeit  behandelt,  wie  die 
Artikel  Tnrenno  von  L.  Grögoire,  der  Marschall  von  Sachsen  von  M. 
de  Lescnre,  Vaudoncourt,  Vandamme,  Victor  Duc  de  Belluno,  Valec, 
sämmtlicb  von  Du  Casse,  Sonlt  und  Wellington,  beide  von  Baron 
Ernouf,  Souvorof  von  J.  H.  Schnitzler,  der  auch  Sparanski  be- 
arbeitet hat,  zur  Gentige  zeigen  können,  und  um  zuletzt  noch  das 
Gebiet  der  Kunst  zu  berühren,  machen  wir  auf  die  beiden  Artikel 
aufmerksam,  in  welchen  Tizian  (Vccellio)  von  E.  Breton  und  Leo- 
nardo da  Vinci  von  Georg  Duplessis  behandelt  sind. 

Wir  wollen  diese  Anführungen,  die  vielleicht  Manchem  schon 
das  in  solchen  Dingen  übliche  Maass  zu  überschreiten  scheinen, 
nicht  weiter  fortsetzen,  weil  wir  glauben,  dass  sie  gentigen  wer- 
den, tim  das  Urtheil,  das  über  dieses  umfassende  Werk  in  diesen 
Blättern  mehrfach  ausgesprochen  worden,  und  hier  bei  dem  Schlüsse 
des  Ganzen  nur  wiodorholt  werden  kann,  zu  bestätigen :  die  Aner- 
kennung, die  dasselbe  mit  allem  Recht  verdient,  wird  ihm  auch 
gewiss  nicht  ausbleiben,  die  deutsche  Literatur,  sonst  so  ausge- 
dehnt auf  diesem  Gebiete  hat  Nichts  Aehnliches  aufzuweisen,  was 
nach  seinem  Umfang  und  nach  seiner  Ausdehnung,  so  wie  selbst 
in  der  Ausführung,  dem  vorliegenden  französischen  an  die  Seite 
sich  stellen  lässt.  Noch  ist  zu  bemerken,  dass  am  Schlüsse  des 
46.  Bandes  eine  alphabetisch  geordnete  Liste  der  Gelehrten,  welche 
an  dem  Werke  Theil  genommen  und  dessen  einzelne  Artikel  be- 
arbeitet haben,  beigefügt  ist.  Sonst  ist  die  äussere  Ausstattung 
sich  durchaus  gleich  geblieben  von  dem  ersten  Bande  an  bis  zu 
dem  letzten:  dass  diese  bei  aller  Oekonomie  des  Druckes,  welche 
aus  natürlichen  Ursachen  erstrebt  ward,  durchaus  befriedigend  aus- 
gefallen, ist  ebenfalls  schon  früher  bemerkt  worden. 


P  seudocallisthenes.  Forschwigen  sur  Kritik  und  Geschichte 
der  ältesten  Aufzeichnung  der  Alexandersage ,  von  Julius 
Zacher,  Halle,  Verlag  der  Buchhandlung  des  Waisenhauses 
1867.  VIII  und  193  8.  gr.  8. 

Wenn  man  bedenkt,  wie  frühzeitig  schon  an  die  Geschichte  der 
Züge  Alexanders  des  Grossen  sich  sagenhafte  Darstellungen  jeder 
Art  geknüpft  haben,  die  von  Alexandria  zunächst  ausgegangen  schon 
in  den  vorchristlichen  Jahrhunderten  in  der  alten  Welt  verbreitet, 
später  aber  durch  Uebertragung  in  andere  Sprachen,  zu  den  euro- 
paischen Völkern  des  Westens  gedrungon  und  das  ganze  Mittelalter 
hindurch  hier  eine  reiche  Entwicklung  in  der  Alexandersage  erhal- 
ten haben,  so  wird  man  bei  solcher  Ausdehnung  und  Verbreitung 
der  Sage,  gewiss  mit  aller  Anerkennung  eine  Untersuchung  aufzu- 
nehmen haben,  die  es  sich  angelegen  sein  lässt,  vor  Allem  dem 
Grund  der  Sage  nachzugehen,  ihre  weitere  Entwicklung  und  Aus- 


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Zacher:  Pseudocallißthenea. 


bildung  zu  verfolgen  und  damit  die  verschiedenen  Wandelungen  zu 
erkennen,  welche  diese  Sage  im  Laufe  der  Zeiten  erlitten,  bis  mit 
dem  Wiedererwachen  der  Wissenschaft,  nach  Ablauf  des  Mittel- 
alters, dieselbe  wieder  zurücktreten  und  der  historisch  beglaubigten 
Erzählung  des  Thatsächlichen  Platz  machen  musste. 

Die  Untersuchung,  wie  sie  in  dieser  Schrift  vorliegt,  befasst 
keineswegs  das  ganze  weite  Gebiet  der  Alexandersage,  wohl  aber 
legt  sie  zu  einer  solchen,  wie  wir  sie  wohl  von  dem  Verfasser  noch 
hoffen  dürfen ,  den  Grund ,  indem  sie  zunächst  der  letzten  Quelle 
sich  zuwendet,  aus  welcher  die  Sage  des  Mittelalters  hervorgegan- 
gen ist.  Es  ist  diess  die  unlängst  erst  im  Druck  bekannt  gewor- 
dene, mit  dem  Namen  des  bekannten  Geschichtschreiber's  Alexan- 
ders, des  Callisthenes  bezeichnete  Schilderung  des  Lebens 
Alexanders  von  seiner  Geburt  an  bis  zu  seinem  Tode,  jetzt  ge- 
wöhnlich unter  dem  Namen  des  Pseudocallisthenes  bekannt, 
da  jener  Geschichtschreiber  Alexanders  des  Grossen  der  wahre  Ver- 
fasser nicht  sein  kann.  Diese  Schrift  sammt  der  davon  schon  im 
Altertbum  veranstalteten  lateinischen  Uebersetzung  oder  Bearbei- 
tung, um  von  andern  in  die  Sprachen  des  Orients  übergegangenen 
nicht  zu  reden,  bildet  nun  den  eigentlichen  Gegenstand  der  Unter- 
suchung, die  zunächst  mit  dem  griechischen  Texte,  dem  sogenann- 
ten Pseudocallisthenes  beginnt,  wie  wir  ihn  durch  C.  MtiUer's  Be- 
mühungen seit  dem  Jahre  1846  gedruckt  vor  uns  haben.  Vor  allem 
wird  der  handschriftlichen  Ueberlieferung  eine  eingehende  Unter- 
suchung gewidmet:  alle  die  bis  jetzt  bekannt  gewordenen  Hand- 
schriften werden  der  Reihe  nach  aufgeführt  und  beschrieben ,  vor 
Allem  die  drei  Pariser,  welche  dem  von  Müller  gelieferten  Text 
zu  Grunde  liegen ,  auch  dadurch  genauer  bekannt  geworden  sind, 
was  bei  den  übrigen  Handschriften,  welche  uns  meist  nur  aus  den 
Notizen  von  Berger  de  Xivrey  u.  A.  bekannt  sind,  nicht  in  glei- 
chem Grade  der  Fall  ist.  Jene  drei  Pariser  Handschriften  reprä- 
sentiren  aber  gewissennassen  drei  verschiedene  Recensionen,  von 
welchen  die  älteste  in  der  Pariser  Handschrift  des  eilften  Jahr- 
hunderts Nr.  1711  (A)  vorliegt  und  ist  es  um  so  mehr  zu  bekla- 
gen, dass  die  Handschrift  so  überaus  nachlässig  und  fehlerhaft 
geschrieben  ist,  dadurch  aber  der  Text  an  mauchen  Stellen  ganz 
unverständlich  ist;  die  andere,  aus  jener  hervorgegangene  Recen- 
sion,  wie  sie  in  einer  andern  Pariser  Handschrift  aus  dem 
Jahre  1469  vorliegt,  Nr.  1685  (B)  ist  dio  jüngere,  die  manche 
Veränderung  und  Erweiterung  erhalten ,  überhaupt  eine  jün- 
gere Färbung  erkennen  lässt;  ihr  nahe  stehend  und  in  Manchem 
geschmacklos  und  ungeschickt  erweitert  ist  der  Text  der  dritten 
ganz  jungen  Handschrift  vom  Jahre  1567  Suppl.  Nr.  113  (C),  die 
in  so  fern  kaum  weitere  Beachtung  verdient.  Die  übrigen  Hand- 
schriften zeigen  im  Einzelnen  mehr  oder  minder  bedeutende  Ab- 
weichungen, die  meisten  derselben  schliessen  sich  der  zweiten  jün-  * 
geren  Recension  an,  welche  die  verbreitetste  gewesen  zu  sein  scheint, 


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Zacher:  Peendocallisthenes. 


und  darum  von  unscrm  Verfasser  S.  13  als  die  Vulgata  bezeich» 
net  wird,  daher  auch  Müller  wohl  Recht  hatte,  vorzugsweise  diese 
iii  seinem  Drucke  wiederzugeben.  In  Manchen  noch  naher  stehend 
der  alteren,  von  Alexandria  ausgegangenen  Ueberlieferung  erschei- 
nen aber  die  ältern  Uebersetznngen ,  zuvörderst  die  Lateinische, 
wie  sie  durch  Mai  erstmals  bekannt  geworden  und  nach  einer 
andern  theilweise  davon  abweichenden  Handschrift  auch  von  Müller 
dem  griechischen  Text  beigegeben  ist ;  wenn  auch  der  in  der  Auf- 
schrift als  Verfasser  genannte  Julius  Valerius  uns  durchaus 
unbekannt  ist,  so  lässt  sich  doch  kaum  bezweifeln,  dass  sein  Werk 
gegen  die  Mitte  des  vierten  christlichen  Jahrhunderts,  um  840, 
fällt,  und  in  Manchem  sogar  die  ältere  Fassung  treuer  bewahrt 
hat,  als  diess  in  der  eben  erwähnten  griechischen  Vulgata,  wenn 
wir  dieselbe  so  nennen  wollen,  der  Fall  ist.  Zu  diesem  Resultat 
gelangt  der  Verf.  insbesondere  durch  die  nicht  minder  genaue 
Untersuchung,  welche  an  dritter  Stelle  über  das  sogenannte  Iti- 
nerarium  Alexandri  sich  verbreitet,  dessen  Veröffentlichung  wir 
ja  auch  den  Bemühungen  Mai's  verdanken.  Die  Untersuchung  geht 
genau  in  alle  Einzelheiten  des  Inhalts  ein,  welcher  in  dem  bei 
weitem  grösseren  Theile  (bis  cap.  109)  auf  Arrianus  beruht,  wie- 
wohl auch  in  diesem  Theile  Einiges  von  Aman  Abweichende,  mit- 
hin aus  einer  andern  Quelle  stammende  vorkommt:  auf  dieses,  so 
wie  auf  den  Inhalt  des  andern  kleinern  Theiles  von  cap.  110  — 120 
geht  nun  insbesondere  der  Verf.  prüfend  ein,  und  ist  es  ihm  ge- 
lungen, nachzuweisen,  dass  Einzelnes  in  diesem  Theile  auf  den  An- 
gaben des  Julius  Valerius  beruht  und  dessen  Werk  entnommen 
ist:  damit  ist  dann  auch  zugleich  der  Beweis  geliefert,  dass  das 
Itinerariura  in  der  Zeit  seiner  Abfassung  nach  Julius  Valerius  zu 
setzen  ist,  und  da  nun  aus  dem  Eingang  des  Itinerariurcr  sich  er- 
gibt, dass  dasselbe  um  340,  oder  richtiger  nach  Letronne,  um  345 
n.  Chr.  abgefasst  worden,  so  wird  das  Werk  des  Julius  Valerius 
jedenfalls  noch  vor  diese  Zeit  gesetzt  werden  müssen.  Mit  dieser 
Annahme  liisst  sich  auch,  wie  wir  glauben;  am  ersten  die  Be- 
schaffenheit des  Stils,  der  Sprache  und  des  Ausdrucks  vereinigen, 
denn  dieser  ist  bei  weitem  reiner  und  einfacher  bei  Valerius  ge- 
halten, als  bei  dem  sonst  jedenfalls  ganz  unbekannten  Verfasser 
des  Itinerarium,  dessen  gesuchte  und  gedrechselte  Ausdrncksweise 
und  Anderes  der  Art  uns  allerdings  auf  eine  schon  spätore  Zeit, 
die  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts,  verweist.  Ueber  die  an  vierter 
Stelle  S.  85  ff.  besprochene  armenische  Uebersetzung  des  Pseudo- 
callisthenes,  welche  von  den  Armeniern  zu  S.  Lazaro  im  Jahr  1842 
im  Druck  hei  ausgegeben  ward,  fehlen  allerdings  nähere  Nachrichten, 
zumal  keine  Uebersetzung  in  andere,  alte  oder  neuere  Sprachen 
dem  armenischen ,  nur  Wenigen  verstandlichen  Texte  beigegeben 
ist,  indessen  hat  der  Verf.  (S.  10)  doch  so  viel  eruirt,  dass  diese 
i  Uebersetzung,  die  von  den  Herausgebern  in  das  fünfte  Jahrhundert 
verlegt  wird,  getreu  einen  griechischen  Text  wiedergibt,  welcher 


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Zacher:  Pseudocallisthenes. 


noch  zur  ältesten  alexandrinischen  Recension  gehörte.  Und  dasselbe, 
setzen  wir  hinzu,  ist  auch  bei  der  syrischen  Uebersetzung  der 
Fall,  über  welche  jetzt  -eine  ausführliche  Erörterung  von  Woolsey 
im  Journal  of  the  American  Oriental.  Society.  Vol.  IV.  p.  857  ff.  sich 
findet,  wodurch  die  von  unserm  Verf.  S.  192  gegebene  Notiz  ver- 
vollständigt wird. 

Was  nun  hiernach  der  Verf.  S.  102  ff.  als  das  Gesammtergeb- 
niss  seiner  Untersuchung  über  den  Pseudocallisthenes  vorführt,  er- 
scheint um  so  mehr  begründet,  als  auch  im  Ganzen  Müllers  Unter- 
suchung zu  eiuem  ähnlichen  Ergebniss  gelangt.  Denn  es  wird  sieb 
nicht  bestreiten  lassen,  dass  diese  mythische  Geschichte  Alexan- 
ders des  Grossen  in  ihrem  Ursprung  auf  Alexandria  zurückführt 
und  von  dort  ausgegangen  ist  ;  schon  der  Eingang  weist  darauf 
hin  und  so  Manches  Andere,  was  im  Verlauf  der  Schrift  vorkommt; 
was  aber  die  Bestimmung  der  Zeit  betrifft,  in  welche  die  Abfas- 
sung zu  verlegen  ist,  so  finden  sich  in  dem  griechischen  Texte  kaum 
bestimmte  Anhaltspunkte,  welche  uns  leiten  könnten :  in  dem  latei- 
nischen Texte  des  Valerius,  und  zwar  in  dem  der  Pariser  Hand- 
schrift (nicht  in  dem  von  Mai  veröffentlichen  Texte)  kommt  eine 
Berufung  auf  die  navroöanri  fatOQt'cc  des  Favorinus  vor,  so  dass 
also  die  Aufzeichnung  jedenfalls  nach  der  Lebenszeit  dieses  unter 
Hadrian  blühenden1  Gelehrten  stattgefunden  haben  muss,  und  hier- 
nach werden  wir  es,  in  Erwägung,  dass  ja  die  lateinische  Bearbei- 
tung des  Valerius  noch  vor  die  Mitte  des  vierten  Jahrhundert  fällt, 
für  begründet  halten  dürfen ,  wenn  der  Verf.  die  Zeit  der  Abfas- 
sung um  das  Jahr  200  p.  Chr.  anzusetzen  geneigt  ist. 

Im  sechsten  Abschnitt  S.  108  ff.  bespricht  der  Verf.  noch  eine 
spätere  lateinische  Bearbeitung  des  Archipresbyter  Leo  gegen  die 
Mitte  des  zehnten  Jahrhunderts,  welche  nach  einem  von  demselben 
aus  Konstantinopel  mitgebrachten  griechischen  Text  in  ziemlich 
freier  Weise  veranstaltet  worden  ist,  und  auch  im  Mittelalter  gros- 
ses Ansehen  und  Beifall  wie  Verbreitung  fand,  daher  auch  in  zahl- 
reichen Handschriften,  wie  selbst  in  mehrmaligen  Drucken  vorliegt. 
Der  griechische  Text,  den  Leo  vor  sich  hatte,  gehört  zwar  noch 
der  ältern  alexandrinischen  Recension  an,  hat  aber  auch  Vieles  aus  der 
jüngeren  Recension  aufgenommen.  Im  nächsten  siebenten  Abschnitt 
(S.  112  — 176)  gibt  der  Verfasser  eine  genaue  Inhaltstibersicht  des 
Pseudocallisthenes,  indem  er  Buch  um  Buch,  Capitel  um  Gapitel 
durchgeht,  und  dabei  genau  angibt,  was  der  älteren  oder  jüngeren 
Recension,  was  dieser  oder  jener  Handschrift,  was  dem  griechischen 
Text  und  was  der  lateinischen  Bearbeitung  angehört.  Es  ist  diess  ein 
eben  so  genauer  als  verdienstlicher  Nachweis,  der  zur  Würdigung 
und  Beurtheilung  der  ganzen  Composition  von  wesentlichem  Belang 
ist.  Der  letzte  Abschnitt  S.  177  ff.  betrifft  die  Quelle  der  Trost- 
briefe Alexanders  an  Olympias  und  der  spanischen  Alexandreis  des 
Juan  Lorenzo  Segura  di  Astorga,  und  die  (schon  oben  erwähnte)  . 
syrische  Uebersetzung  des  Pseudocallisthenes. 

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Müller:  Geognostische  KeDDtnisa  der  Erzgebirge.  366 


Man  wird  nach  dem,  was  hier  für  die  älteste  Aufzeichnung 
der  Alexander  betreffenden  Sage,  geleistet  ist,  nur  wünschen  kön- 
nen, dass  die  Forschung  auch  weiter  fortgesetzt  und  auf  das  Mittel- 
aller ausgedehnt  werde,  in  welchem  diese  Sage  eine  so  vielfache 
Entwicklung  und  Verbreitung  erlangt  hat,  bei  den  romanischen 
Völkern,  wie  bei  den  germanischen,  was  die  noch  vorhandenen 
Werke  der  Art  zur  Genüge  zeigen.  Chr.  Bahr. 


Beiträge  zur  geognostischen  Kenntniss  des  Erzgebirges.  Auf  Anord- 
nung des  königl.  sächs.  Oberbergamtes  aus  dem  Gangunter- 
suchungsarchiv, herausgegeben  durch  die  hierzu  bestellte  Com- 
mission.  77.  Heft.  Geognostische  Verhältnisse  und  Geschichte  des 
Bergbaues  der  Gegend  von  Schmiedeberg  ,  Niederpöbel,  Naun- 
dorf und  Sadisdorf  in  der  Altenberger  Bergamtsrevier  von 
Carl  Herrn  ann  Müller,  königl.  Ober  einfahr  er.  Mit  einer 
colorirten  Karte  und  zwei  Holzschnitten.  Freiberg.  In  Commis- 
si bei  Craz  und  Qerlach.  1867.  8.  S.  72. 

Die  Umgebungen  von  Schmiedeberg,  Niederpöbel,  Naundorf 
und  Sadisdorf  umfassen  auf  dem  kleinen  Raum  einer  Viertelquadrat- 
meile ein  Gebiet,  das  seiner  geologischen  Verhältnisse  wegen  von 
besonderem  Interesse  ist  und  ehedem,  zumal  im  16.  Jahrhundert 
durch  einen  ergiebigen  Bergbau  noch  grössere  Bedeutung  besass. 

Ein  Blick  auf  die  schöne  und  sehr  detaillirte  geognostische 
Karte  zeigt,  dass  Gesteine  der  jüngern  Gneiss-Formation 
vorherrschen.  Es  sind  zunächst  amphotere  Gneisse,  die  in 
verschiedenen  Abänderungen  auftreten.  Unter  diesen  erscheinen  in 
der  Gegend  zwischen  Obercarsdorf,  Naundorf  und  Sadisdorf  klein- 
körnig-schuppige amphotere  Gneisse,  bestehend  aus  einem  weissen 
oder  gelben  plagioklastischen  Feldspath,  aus  weissem  oder  röthlich- 
weissem  Orthoklas,  graulicbweissem  Quarz,  kleinen  Schuppen  von 
braunem  oder  schwarzen  Maguesiaglimmer  und  weisslichem  bis 
braunen  Kaliglimmer,  welche  Schuppen,  zwischen  dem  körnigen  Ge- 
menge aus  Feldspath  und  Quarz  angeordnet,  hauptsächlich  die  Schie- 
ferung  des  Gesteins  bedingen.  Diese  Varietät  geht  in  eine  andere 
über,  in  mittelkörnigen,  feldspatreichen  amphoteren  Gneiss,  indem 
der  Magnesiaglimmer  sich  nur  in  vereinzelten  8chuppen  einsteilt. 
Eine  dritte  Varietät  ist  der  langgestreckt  flaserige  und  schmal- 
streitige  amphotere  Gneiss,  in  welchem  der  Magnesiaglimmer  in 
linearen,  höchstens  eine  Linie  breiten,  aber  oft  2  bis  3  Zoll  lan- 
gen parallelen  Flasern  angeordnet  ist.  Endlich  kommt  noch  eine 
eigenthümliche  Varietät  vor,  der  grobflaserige  amphotere  Augen- 
gneisa,  In  einem,  aus  plagio-  und  orthoklastischem  Feldspath  und 
grauen  Quarz  bestehenden  Gemenge  liegen  erbsen-  bis  haselnuss- 
grosse  Knoten  (sog.  Augen)  von,  nicht  selten  in  Zwillings-Individuen 


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366  Müller:  Geognostische  Kenntniss  der  Erzgebirge. 


ausgebildeten  Orthoklas,  um  welche  sich  die  Flasern  von  Magnesia- 
glimmer in  der  Art  anschmiegen ,  dass  auf  dem  Hauptbruch  des 
Gesteins  vorwalten  diese  unebenen  Glimmer-Partien,  auf  dem  Qner- 
bruch  aber  die  Feldspath-Knoten  zum  Vorschein  kommen.  —  Auster 
diesen  verschiedenen  amphoteren  Gneissen  treten  nun  noch  uud 
zwar  in  ansehnlicher  Verbreitung  rothe  Gneisse  auf,  bestehend 
aus  plagio-  und  orthoklastischem  Feldspath,  aus  Quarz  und  Kali- 
glimmer.  Der  Verf.  unterscheidet  zwei  Abänderungen.  Quarz-  und 
feldspathreicher  rother  Gneiss ;  der  weisse  Kaliglimmer  ist  in  das 
faldspathig-quarzige  Hauptgemenge  nur  in  einzelnen  kleinen  Schup- 
pen eingestreut  und  verleiht  durch  seine  parallele  Anordnung  dem 
ganzen  nur  eine  unvollkommen  schieferige  Textur.  Glimmerrcicher 
rother  Gneiss ;  auf  seinem  Hauptbruch  ist  fast  nur  weisser  Kali- 
glimmer in  kleinschuppigen  Aggregaten  sichtbar,  während  auf  dem 
Querbruch  noch  Feldspath  und  Quarz  vorwalten.  —  Die  verschie- 
denen Varietäten  des  amphoteren  und  rothen  Gneisses  sind  selten 
scharf  geschieden,  vielmehr  durch  allmählige  Uebergänge  mit  ein- 
ander verbunden.  Wenn  sie  auch  sämmtlicb,  als  entschieden  erup- 
tive Gesteine  eine  eigentliche  Schichtung  nicht  besitzen,  so  lassen 
sie  doch  deutlich  eine  lagenförmige  Absonderung  und  Gliederung 
erkennen  und  machen  es  hiedurch  möglich ,  sich  ein  ungefähres 
Bild  von  der  inneren  Architectur  der  Massen  zu  entwerfen. 

Im  Gebiete  der  Gneiss-Formation  erscheinen  verschiedene  unter- 
geordnete Gebirgsglieder.  Es  sind  dies  Glimmerschiefer, 
Thonschiefer,  Wetz  schiefer  und  Grauwacke,  die  an 
mehreren  Orten  inmitten  der  amphoteren  und  rothen  Gneisse  auf- 
treten. Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  dieselben  als  insularische 
Schollen  oder  bruchstückeartige  Einschlüsse  von  Resten  der  einst 
in  dieser  Gegend  verbreitet  gewesenen,  bei  dem  eruptiven  Auftre- 
ten der  jüngeren  Gneisse  aber  grösstenteils  zerstörten  oder  zer- 
stückelten älteren  Schiefer-  und  Grauwacke-Formation  anzusehen 
seien.  Dafür  spricht  auch  der  Umstand,  dass  man  nicht  selten 
Bruchstücke  der  älteren  Gesteine,  von  Gneiss  umschlossen  beob- 
achtet hat. 

Auch  oruptive  Massen  erscheinen  im  Gebiete  der  Gneiss- 
Formation.  So  tritt  Grünstein  (Diorit)  in  mehreren  Felsparthien 
zu  Tage.  Noch  häufiger  ist  aber  Felsitporphyr,  der  in  zwei, 
petrographisch  und  auch  wohl  geologisch  verschiedenen  Varietäten 
getroffen  wird.  Die  eine  bezeichnet  der  Verf.  als  G  a  n  g  p  o  r  p  h  y  r ; 
in  fleisch-  oder  gelbiich-rother  Felsitmasse  liegen  Krystalle  und 
Kürner  von  Quurz  nebst  Krystallen  (oft  Zwillinge)  von  Orthoklas, 
denen  sich  noch  kleinere  von  Oligoklas  beigesellen,  die  meist  zu 
Kaolin  umgewandelt  sind.  Man  kennt  iu  dem  geschilderten  Ge- 
biete drei  Züge  von  solchen  Porphyr-Gängen.  Die  einzelnen  Gänge 
sind  1  bis  4,  selten  bis  zu  10  Lacbter  mächtig  und  verfolgen  meist 
die  Streichrichtung  von  N.  0.  gegen  S.  W.  —  In  der  Form  mäch- 
tiger Decken  auf  den  Höben  des  Gebirges  ö.  und  s.  von  Scbmiede- 


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Müller:  Geognostlsche  Kenntniss  der  ErzgeMrge.  867 


berg  und  bei  Niederpöbel  erscheint  ein  jüngerer  Felsitporphyr,  den 
der  Verf.  als  Deckenporpbyr  bezeichnet.  In  einer  braunrothen 
oder  grauen  Felsitmasse  liegen  sparsam  Körner  von  Quarz  und 
kkine  Krystalle  von  Orthoklas,  so  wie  Blättchen  schwarzen  Glim- 
mers. Dieser  Porphyr  zeigt  häufig  eine  bank-  oder  plattenförmige 
Absonderung.  Er  ist  wohl  jüngeren  Alters  als  der  Gangpor- 
phyr ;  denn  man  kann  nie  die  Gänge  des  letzteren  in  das  Gebiet 
des  deckenartig  verbreiteten  Porphyrs  verfolgen  und  hat  ausserdem 
an  einer  Stelle  (beim  Schmiedeberger  Eisenhüttenwerk)  Gelegen- 
heit viele  bis  kopfgrosse  Bruchstücke  eines  mit  dem  Gangporphyr 
übereinstimmenden  Gesteins  in  dem  Deckenporphyr  zu  beobachten. 

Die  Erzgänge,  welche  in  früheren  Zeiten  einen  so  bedeu- 
tenden Bergbau  ins  Leben  gerufen  hatten,  gehören  theils  der  kie- 
sigen Kupfer-  und  Bleiformation,  theils  der  Zinnformation  an. 

Die  Gänge  der  kiesigen  Kupfer- und  Bleiformation 
trifft  man  hauptsächlich  imGebiete  des  amphoteronGneis- 
ses  bauwürdig  ausgebildet.  Eine  Ausnahme  hievon  machen  die 
Kupfer-  und  Bleigänge  im  Eulen-  und  Löwenberge  bei  Niederpöbel, 
die  im  Bereiche  des  rothen  Gneisses  liegen,  in  dem  aber 
auch  hier  die  oben  erwähnten  Schollen  von  Glimmer-  und  Thon- 
schiefer auftreten,  deren  Anwesenheit  durch  die  hiebei  obwaltenden 
Contact- Verhältnisse  wohl  nicht  ohne  günstigen  Einflnss  auf  die 
bauwürdige  Entwickelung  der  Erzgänge  war.  Die  Gänge  der  kie- 
sigen Kupfer-  und  Bleiformation  enthalten  als  wesentliche  Bestand- 
teile :  Quarz,  krystallinisch  oder  hornsteinartig ;  Flussspath,  meist 
violett.  Chlorit,  feinschuppig  oder  erdig ;  Kupferkies,  Arsenkies  und 
Eisenkies,  sämmtlich  silberarm  ;  Blende  von  schwarzer  Farbe ;  klein- 
blätterigen Bleiglanz,  gewöhnlich  mit  3  bis  5,  selten  bis  12  Pfund- 
theilen  (zu  5  Gramm)  Silbergehalt  im  Centner.  Als  mechanisch 
beigemengte  Bestandteile  enthalten  die  Gänge  in  reichlicher  Menge 
thonigen  Letten  und  zersetzten,  oft  chloritischen  Gneiss.  Baryt, 
Braun-  und  Kalkspath  treten  theils  in  Nestern,  theils  als  selbst- 
ständige Trümer  neben  oder  in  der  anderen  Gangmasse  auf.  Ge- 
wöhnlich kommen  die  Erze,  namentlich  Kupferkios  und  Bleiglanz, 
gemengt  mit  den  übrigen  Gangbestandtheilen  oder  darin  einge- 
sprengt war;  seltener  finden  sie  sich,  zumal  auf  Schaarkreuzen  mit 
Trümern  oder  anderen  Gängen,  in  derben  Massen.  Die  Mächtigkeit 
der  Kupfer-  und  Bleigängc  ist  gering,  zwischen  6  und  24  Zoll 
schwankend,  selten  wächst  sie  bis  zu  %  Lachter  an. 

Die  Gänge  der  Zinnformation  sind  auf  das  Gebiet 
des  rothen  Gneisses  beschränkt.  Sie  enthalten  als  wich- 
tigste Bestandtheile :  Quarz ,  krystallinisch  oder  hornsteinartig ; 
Flussspath  von  violetter  oder  pflaumenbrauner  Farbe ;  Chlorit,  fein- 
schuppig bis  erdig;  Glimmer  in  kleinen  Biättchen  von  graulich- 
weisser  Farbe ;  Zinnerz ,  gewöhnlich  fein  eingesprengt  in  Quarz, 
selten  in  derben  Nestern  und  Graupen;  Kupferkies,  Arsenkies  und 
Eisenkies  stellen  sich  gewöhnlich  eingesprengt,  selten  derb  ein; 


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868  Müller:  Geognostlache  Kenntnisa  des  Erzgebirges 


endlich  zersetzter  Gneiss  uud  Letten.  Die  Mehrzahl  dieser  Gänge 
besitzen  eine  geringe  Mächtigkeit  von  2  bis  5  Zollen  die  nur  bei 
einigen  zu  1  bis  3  Lachter  ansteigt.  Im  Allgemeinen  verfolgen 
sie  dieselben  Streich-Dichtungen ,  wie  die  Gänge  der  Kupfer-  und 
Bleiformation ;  d.  h.  einestheils  und  in  der  Mehrzahl  das  Streichen 
in  Stunde  1,4  bis  3,0  bei  Fallen  nach  S.  0.  oder  S. ;  anderntheils 
bei  Streichen  in  Stunde  9,0  bis  12,0  mit  Fallen  nach  N.  0.  Die 
Gänge  der  Zinnformation  lassen  in  ihrer  Ausfüllung  den  charakte- 
ristischen Typus  der  Zinngänge  anderer  Districte  des  Erzgebirges 
vermissen ,  indem  sie  fast  nie  ohne  Beimengung  von  Kiesen  ge- 
troffen werden.  Zuweilen  stellt  sich  aber  auf  denselben  Kupferkies 
so  häufig  und  Uberwiegend  ein,  dass  sie  richtiger  als  Kupfergänge, 
denn  als  Zinngänge  zu  bezeichnen  sein  würden.  Da  nun  in  der- 
artigen Gangregiouen  noch  Arsen-  und  Eisenkies,  selbst  Blende 
und  Bleiglanz  mit  einbrechen,  so  kann  man  darin  einen  wirklieben 
Uebergang  des  mineralogischen  Typus  der  Zinnformation  in  den 
der  kiesigen  Kupfer-  und  Bleiformation  erkennen.  Solches  ist 
namentlich  der  Fall  bei  den  Gängen  des  Zinn-  und  Kupferstock- 
werkes der  Kupfergrube  bei  Sadisdorf.  Dasselbe  erscheint  als  ein 
Knotenpunkt  vieler  unter  verschiedenen  Richtungen  sich  kreuzen- 
der Gänge,  denen  sich  noch  einige  erzführende  Lager  und  Flotze 
beigesellen.  —  Zwischen  den  Gängen  der  kiesigen  Kupfer-  und 
Bleiformation  und  denen  der  Zinnformation  findet  im  Allgemeinen, 
weder  in  ihrer  Ausfüllungsmasse  noch  in  ihrer  räumlichen  Verbrei- 
tung eine  scharfe  Grenze  statt.  Beide  dürften  daher  nur  als  ver- 
schiedene Entwickelungs-Typen  einer  und  derselben  Gangbildung 
zn  betrachten  sein. 

Den  Schluss  vorliegender  Schrift  bilden  geschichtliche  Nach- 
richten über  den  Bergbau  bei  Schraiodeberg ,  Niederpöbel,  Naun- 
dorf und  Sadisdorf,  den  Acten  der  Berglimter  von  Freiberg  und 
Altenberg  entnorameu.  Wie  oben  bereits  bemerkt  war  die  Glanz- 
epoche des  Bergbaues  im  seebszehnten  Jahrhundert;  durch  den 
dreissigjährigen  Krieg  kam  er  zum  Erliegen  und  es  wurden  seit- 
dem nur  wenige,  meist  erfolglose  Versuche  der  Wiederaufnahme 
gemacht.  G.  Leonhard. 


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Ir.  24.  HEIDEIBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Deutsches  Heldenbu  ch.  Theil  7.  Biter olf  und  Dieüeib  heraus- 
gegeben von  Oskar  J änic ke.  Laurin  und  Walberan  mit 
Benutzung  der  von  Frans  Roth  gesammelten  Abschriften  und 
Vergleichungen.  Berlin  1867,  LVI11.  308  8.  2  Thlr.  20  Sgr. 

Obscbon  Referent  an  dem  hier  zn  besprechenden  Unternehmen 
betheiligt  ist,  indem  er  den  II.  Band  dieses  Heldenbuchs  heraus- 
gegeben hat,  so  glaubt  er  doch  dasselbe  anzeigen  und  empfehlen 
zu  dürfen. 

Dies  Ueldenbuch  soll  die  Dichtungen  aus  dem  Kreise  der  deut- 
schen Heldensage,  von  welchen  bisher  meist  nur  Abdrücke  einzel- 
ner Handschriften ,  zuweilen  gerade  nicht  der  besten ,  vorhanden 
waren,  in  gleicbmässiger  kritischer  Bearbeitung  zusammenstellen, 
durch  die  beigegebenen  Einleitungen  die  Stellung  der  einzelnen  Ge- 
dichte innerhalb  der  altdeutschen  Literaturgeschichte  angeben,  und 
durch  die  Anmerkungen  den  etwaigen  Gewinn  für  die  Kenntnis 
des  mittelhochdeutschen  Sprachgebrauchs,  namentlich  des  epischen 
zusammenfassen.  Ausgeschlossen  wurden  die  bereits  in  muster- 
gültigen Ausgaben  vorliegenden  Werke:  die  Nibelungen  und  die 
Klage,  sowie  das  Gedicht  von  der  Kudrun,  welches  eine  eigentlich 
ekkyklische  Sage  behandelt  und  wegen  seines  poetischen  Wertes 
schon  öfters  besonders  herausgegeben  worden  ist  und  vielleicht  noch 
herausgegeben  werden  mag.  Mit  diesen  Gedichten  bildet  das  neue 
Heldenbuch  eine  vollständige  Bibliothek  des  Volksepos,  welche  die 
Entwicklung  dieser  Gattung,  soweit  es  die  auf  uns  gekommenen 
Denkmäler  gestatten,  nach  jeder  Richtung  hin  übersehen  lässt  und 
—  verstärkt  durch  die  nordische  Tbidreksaga  —  die  deutsche 
Heldensago  des  XII. — XIV.  Jahrhunderts,  der  eigentlich  mittel- 
hochdeutschen Zeit  enthält. 

Der  nun  vorliegende  I.  Band  enthält  zwei  Gedichte ,  welche 
durch  das  gemeinsame  Versmass,  die  kurzen  Reimpaare  sowie  durch 
die  nicht  sehr  verschiedene  Zeit  der  Abfassung  einander  nahe  stehn. 
Beide  können,  wenn  auch  aus  verschiedenen  Gründen  höchst  wich- 
tig genannt  werden.  Der  Biterolf  stammt  aus  der  Heimat  und 
aus  der  Schule  des  echten  Volksepos,  aus  der  auch  die  Nibelungen 
und  die  Kudrun  hervorgingen.  Der  Dichter  hat  aber,  was  sein 
Werk  von  jenen  scharf  unterscheidet,  die  Grundzüge  seines  Stoffes 
erfunden  und  dabei  die  höfischen  Erzählungen  nachgeahmt,  trotz- 
dem jedoch  die  Einzelheiten  der  echten,  noch  unverfälschten  und 
nnverwirrten  Volkssage  entlehnt.  Indem  er  bei  einem  willkürlich 
angenommenen  Anlasse  fast  sämmtliche  Helden  der  Sage  versam- 

LIX.  Jahrg.  ö.  Heft.  24 


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370 


Deutsches  Heldenbuch.  I. 


xnelt,  und  dabei  doch  ihre  Verhältnisse  zu  einander  unverändert 
aus  der  echten  Ueberlieferung  entnimmt,  bietet  er  eine  wahrhafte 
Fundgrube  für  den  Forscher,  der  die  Spuren  der  Sage  sonst  oft 
nur  dunkel  und  zerstreut  findet.  Zu  diesem  Interesse  des  Inhalts 
kommt  noch  eines  der  Form.  Stil  und  Verskunst  verbinden  die 
gegen  Ende  des  XII.  Jahrhunderts  aufgekommene  glatte  feine  Form 
der  höfischen  Erzählung  mit  Eeminiscenzen  aus  der  älteren  und 
schlichteren  Volksdichtung.  Ich  erinnere  nur  einerseits  an  die  vielen 
Fremdwörter,  welche  der  Herausgeber  S.  XXV.  gesammelt  hat, 
andererseits  an  die  S.  XXIV.  zusammengestellten  epischen  Aus- 
drücke, an  die  Reime  degene:  Rabene  u.  a.  S.  X,  die  alten  For- 
men äbunt,  verseröt,  minnist  u.  s.  w.  (ebenda). 

Diese  Sammlungen,  welche  durch  die  zahlreichen  in  den  An- 
merkungen nachgewiesenen  Parallelstellen  fortgesetzt  werden,  sind 
ein  besonderes  Verdienst  des  Herausgebers.  Jähnicke  hat  schon 
früher  den  Sprachgebrauch  Wolframs  in  höchst  nutzbringender 
Weise  behandelt,  wobei  namentlich  die  ausdrückliche  Hervorhebung 
der  Hauptschriftwerke,  in  welchen  ein  Ausdruck  sich  nicht  findet, 
lehrreich  war.  An  diese  früheren  Arbeiten  schliessen  sich  die  An- 
merkungen zum  Biterolf  würdig  an. 

Zur  Kennzeichnung  des  Stiles  und  Tons  dient  besonders  die 
Vergleichung  mit  zwei  anderen  Gedichten,  einmal  mit  der  formell 
verwandten  Klage,  zweitens  mit  dem  im  Inhalt  merkwürdig  an  den 
Biterolf  erinnernden  Rosengarten.  Jene  Uebereinstimmung  des 
Biterolf  mit  der  Klage  ist  so  bedeutend,  dass  W.  Grimm  in  seiner 
deutschon  Heldensage  beide  Gedichte  einem  Verfasser  zuschreiben 
wollte  und  Lachmann  in  den  Anmerkungen  zur  Klage  ihm  darin 
beistimmte.  Jähnicke  führt  die  gemeinsamen  Punkte  genau  und 
tibersichtlich  vor.  Aber  er  weist  auch  nicht  wenig  abweichendes 
nach,  und  entscheidet  sich  zuletzt  gegen  die  Annahme  des  gemein- 
samen Ursprungs,  weil  der  Biterolf  eine  viel  ausgedehntere  Sagen- 
kenntnis und  eine  viel  geschicktere  Darstellung  zeigt.  In  Bezug 
auf  den  Rosengarten  aber  meint  er,  dass  dieser  die  Züge,  die  ihm  mit 
dem  Biterolf  gemeinsam  sind,  namentlich  Dietrichs  Weigerung  mit 
Siegfried  zu  kämpfen  und  seine  Ueberredung  durch  Hildebrand, 
wahrscheinlich  aus  dem  Biterolf  entlehnt  hat,  so  dass  der  Rosen- 
garten nur  eine  derbe,  volksthümliche  Wiederholung  der  Kämpfe 
zwischen  Burgunden  und  Amelungen  wäre. 

Auch  für  die  innere  Kritik  des  Biterolf  bietet  die  Ausgabe 
Jähnickes  einige  neue  Resultate.  Vollkommen  sicher  scheint  der 
Nachweis,  dass  der  Eingang  des  Gedichts  bis  v.  1988  erst  später 
zugesetzt  worden  ist :  die  darin  erzählte  Fahrt  Biterolfs  ist  der  im 
Hauptgedichte  beginnenden  seines  Sohnes  Dietleib  nachgebildet. 

Als  Heimat  des  Gedichts  ward  Steiermark  festgehalten  und 
als  Entstehungszeit  das  erste  Jahrzehnt  des  XHI.  Jahrhunderts. 
Als  Beweis  wird  unter  anderem  auch  die  Beziehung  des  Berhtolt 
von  Swaben  (gräve  von  Elsäzen)  auf  Berthold  von  Zaeringen  1186 


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DeutBchee  Heldenbuch.  I. 


371 


bis  1218  geltend  gemacht.  Mag  dies  auch  richtig  sein,  so  glaube 
ich  doch  eine  daran  geknüpfte  Bemerkung  anfechten  zu  müssen. 
S.  XXVII:  »Sodann  muss  Kudr.  744,  2  daz  man  da  ze  Swaben 
solhez  nie  gewan  auf  Berthold  V.  von  Zaeringen  bezogen  werden, 
3.  Wack.  Litt.  §.  43,  Anm.  61.«  Ich  will  dagegen  nicht  geltend 
machen,  dass  Berthold  vom  Abt  Burkhard  von  Ursperg  avarissi- 
nras  et  omni  iniqnitate  plenus  genannt  wird  (Stalin,  Wirtemb. 
Gesch.  2,  298) ;  denn  Berthold  konnte  recht  gut  Habsucht  und 
Uebermuth  gegen  die  Geistlichkeit,  namentlich  die  ihm  feindliche 
staufische  mit  Freigebigkeit  gegen  Dichter,  ritterliche  und  fahrende, 
verbinden.  Aber  der  Ausdruck  ze  Swaben  scheint  mir  zu  allgemein, 
als  dass  er  auf  Berthold  bezogen  werden  müsto;  ja  er  dürfte 
überhaupt  nur  durch  den  gesuchten  Cäsurreim  auf  gäbe  veranlasst 
sein.  Will  man  aber  an  ein  bestimmtes  Factum  denken,  so  könnte 
auch  etwa  ein  Fest  gemeint  sein,  wie  z.  B.  auf  dem  Günzenle  bei 
Augsburg  (dem  auch  Bit.  5745  erwähnten  und  als  ze  Swaben  be- 
ieichneten)  mehrere  gefeiert  wurden.  So  namentlich  die  Schwert- 
leite und  Vermählung  des  späteren  Königs  Philipp  1197,  deren 
Pracht  noch  lange  in  der  Erinnerung  der  Dichter  blieb,  s.  Titurel 
1505  (Hahn).  Auch  Reichstage,  bei  denen  die  Fahrenden  eben- 
falls anwesend  zu  sein  pflegten,  s.  Walther  84,  18,  fanden  mehr- 
fach dort  statt:  1209.  1236  (s.  Pfeiffer,  Germ.  1,  83).  Es  wird 
also  der  Ausdruck  ze  Swäben  nicht  als  Zeitbestimmung  für  die 
Abfassung  der  Kudrun  verwandt  werden  können. 

Der  Text  des  Gedichts  von  Biterolf  ist  zum  ersten  Mal  aus 
der  handschriftlichen  Uoberlieferung  in  das  reine  Mittelhochdeutsch 
übertragen.  Dabei  sind  Verbesserungen  in  grosser  Anzahl  vorge- 
nommen worden,  die  fast  durchaus  überzeugend  Bind.  9982  scheint 
jedoch  nicht  richtig  emendirt  zu  sein:  und  bite  daz  niht  zürnen 
mich  min  neve  und  ouch  der  vater  sin;  zürnen  regiert  nur  den 
Accusativ  der  Sache,  nicht  den  der  Person.  Das  an  der  Hand- 
schrift ist  beizubehalten  und  mit  Umstellung  des  niht  zu  schrei- 
ben: und  bite  daz  zürnen  niht  an  mich  u.  s.  w.  Auch  2127:  wä 
von?  cz  dühte  si  ze  frno  ist  anstössig.  Die  an  sich  ungewöhnliche 
Frage  als  Einleitung  zur  Begründung  tritt  hier  mit  einem  ganz 
nnnöthigen  Nachdruck  ein.  Vielleicht  ist  zu  lesen:  wan  ez  dühte 
si  ze  fruo. 

Während  nun  der  Text  des  Biterolf  auf  einer  einzigen,  aber 
gnten  Handschrift  beruht,  die  Textesherstellung  also  auf  einfache 
Grundsätze  angewiesen  ist,  ist  das  andere  Gedicht,  der  Laurin 
in  einer  Weise  überliefert,  welche  der  Kritik  eine  der  allerschwie- 
rigston  Aufgaben  stellt  und  die  Lösung  der  Aufgabe  als  eine  ausser- 
ordentliche Leistung  erscheinen  lässt.  Hier  sind  über  10  Hand- 
schriften und  dazu  mehrere  Drucke  zu  berücksichtigen ;  aber  keine 
dieser  Handschriften  kann  als  eiue  irgend  sorgfältige  und  zuver- 
lässige Quelle  bezeichnet  werden.  In  ihnen  allen  ist  in  hohem 
Grade  die  lebendige  Weiterbildung  des  Textes  zu  erkennen,  wie  sie 


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372 


Deutsches  Heldenbueh.  I. 


die  im  späteren  Mittelalter  beliebten  Werke  mehr  oder  weniger 
durchgängig  erlahren  haben.  Während  nun  bisher  einzelne  Hand- 
schriften abgedruckt  worden  waren,  ist  jetzt  auf  Grundlage  des  gan- 
zen, von  Franz  Eoth  gesammelten  und  mit  rühmenswerter  Be- 
reitwilligkeit zur  Bearbeitung  überlaseenen  Apparates  nach  Auf- 
stellung bestimmter  kritischer  Grundsätze  ein  Text  hergestellt,  der 
zum  ersten  mal  ein  wirkliches  Verständnis ,  einen  wirklichen  Ge- 
nuas des  Gedichts  erlaubt.  Die  Ueberlieferung  ist  nunmehr  in  fol- 
gender Weise  zu  tibersehn.  Wir  haben  zwei  Handschriftenclassen, 
die  einen  aus  Baiern  und  Oestreicb  stammend,  die  andren  ans 
Mitteldeutschland.  Erstere  Classe  wird  durch  eine  Kopenhagener 
Handschrift ,  die  andere  durch  eine  Pommersfelder  am  besten  ver- 
treten. Charakteristisch  für  die  Verschiedenheit  beider  Classen  ist 
der  Anfang,  der  in  der  ersteren  lautet :  Ez  was  ze  Berne  gesezzen, 
in  der  anderen:  Ze  Berne  was  gesezzen.  Aber  selbst  untor  den 
Handschriften  der  ersteren  Classe  hat  die  Kopenhagener  ganz  allein 
den  vollständigen  Schluss  des  Gedichts,  welchem  noch  eine  Fort- 
setzung, das  Gedicht  von  Walberan  angehängt  ist.  In  den  übri- 
gen Handschriften  sind  die  von  1601  ab  folgenden  Verse  deutlich 
als  abgekürzter,  mangelhafter  Ersatz  für  den  ursprünglichen  Aus- 
gang zu  erkeunen.  Das  Gedicht  von  Walberan  gibt  sich  durch 
Beim,  Ausdruck,  Erfindung  als  ein  Werk  etwa  von  1300  kund; 
auch  das  vorhergehende  von  Laurin  geht  aus  allen  Handschriften 
mit  einer  Reihe  von  Freiheiten  hervor,  welche  dieser  Zeit  anzuge- 
hören scheinen.  Andere  Eigentbümlichkeiten  des  Laurin  weisen 
dagegen  auf  eine  weit  frühere  Zeit,  auf  die  Spielmannspoesie,  welche 
in  der  zweiton  Hälfte  des  XII.  Jahrhunderts  mehrfache  Bearbei- 
tungen der  Heldensage  geliefert  hat.  Das  Resultat  ist  also,  dass 
das  Gedicht  sohon  vor  1200  gedichtet,  dann  das  ganze  XIU.  Jahr- 
hundert hindurch  durch  einzelne  Handschriften  überliefert  ward  und 
um  1300  eine  neue  Umarbeitung  und  zugleich  die  Fortsetzung  durch 
den  Walberan  erfuhr.  Die  meisten  Abschriften  —  alle  bis  auf  die 
Vorlage  der  Kopenhagener  —  liessen  diose  schlechte  Fortsetzung 
weg,  verstümmelten  aber  auch  zugleich  den  Schluss. 

Dass  unter  diesen  Verhältnissen  der  Laurin  nicht  durchaus  auf 
die  älteste  Gestalt  zurückgeführt  werden  konnte,  ist  selbstverständ- 
lich. Es  sind  bei  der  Umarbeitung  des  Gedichtes  um  1300  un- 
zweifelhaft manche  alte  Formen  und  Reime  unwiderbringlich  ver- 
loren gegangen.  Aber  das  Gedicht  liest  sich  jetzt  doch  ganz  anders 
als  es  früher  aus  den  fehlerhaften  Einzelhandschriften  herausstndirt 
werden  konnte. 

Ebenso  wie  die  Ueberlieferung  und  Verbreitung  des  Gedichts 
liegt  nun  auch  die  der  Sage  offen.  Es  ergibt  sich,  dass  eine  Tiro- 
ler Zwergensage  wahrscheinlich  von  dem  Dichter  des  Laurin  zuerst 
mit  der  Sage  von  König  Dietrich  von  Bern  verbunden  worden  ist ; 
dass  ^ diese  anmutigste  und  glücklichste  Schöpfung  der  freieren 
Spielmannsdichtung c  auf  das  Epos  aus  dem  zweiten  Viertel  des 


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Rnbin'B  Gedichte  von  Zupitea. 


XIIT.  Jahrhunderts,  den  Ortnit ,  den  Wolfdietrich,  die  Gedichte 
Albrecbts  von  Kemenaten  eingewirkt  hat;  vor  allem  aber  auf  den 
Rosengarten,  in  welchem  z.  B.  eine  Hauptfigur,  der  Mönch  Ilsan 
auf  eine  Person  des  Laurin  zurückzuführen  ist ;  ja  die  Idee  des 
abgegrenzten  Rosengartens  überhaupt  stammt  ans  diesem  Gedicht. 
Später,  im  Gedicht  vom  Wartburgkriege,  wird  Laurin  selbst  in  die 
Sage  von  Dietrich's  Verschwinden  verflochten. 

Die  auf  den  Text  des  Laurin  folgenden  Anmerkungen  betref- 
fen hauptsächlich  das  Verhältnis  der  mehrfach  umgearbeiteten 
Drocke  zu  den  Handschriften,  sowie  die  Uebereinstimmungen  des 
Stiles  mit  verwandten  Gedichten.  Ernst  Martin. 


Rubins  Gedichte  kritUch  bearbeitet  von  Jul  Zupitza.  Oppeln  1867. 
S.  XU.  86. 

Es  ist  eine  recht  dankbare  Aufgabe,  die  kritischen  Grundsätze, 
welche  die  Meister  der  altdeutschen  Philologie  an  den  wichtigern 
Lyrikern,  an  Walther,  Neidhard,  an  den  Lioderdichtern  des  Xn. 
Jahrhunderts  gefunden  und  geübt  haben,  nun  auch  auf  die  minder 
hervorragenden  Dichter  anzuwenden.  Dies  ist  in  der  vorliegenden 
Sonderausgabe  Rubins  mit  Sorgfalt  und  Liebe  geschehen  und  mit 
dem  besten  Erfolg.  Rubin  verdiente  diese  Arbeit  durchaus.  Zwar 
bewegt  auch  er  sich  fast  ausschliesslich  auf  dem  etwas  einförmigen 
Gebiete  des  Minnesangs;  allein  zwei  Lieder  vom  Kreuzzuge  8,1 
and  22,12  erwecken  noch  ein  weitergehendes  Interesse ;  und  ebenso 
ist  das  Tagelied  19,28  ein  ganz  hübscher  Beitrag  zu  dieser  Art 
der  Lyrik,  welche  durch  ihren  mehr  erzählenden  Inhalt  uns  mehr 
anspricht  als  die  übrige  blos  Gedanken  und  Gefühle  aussprechende 
Minnedichtung.  Eineu  besonderen  Werth  hat  Rubin  als  Nach- 
ahmer Walthers :  wir  können  an  ihm  wie  an  einigen  anderen  Dich- 
tern den  Einfluss  beobachten ,  den  Walther  wie  jeder  bedeutende 
Dichter  auf  die  Nachfolger  in  seinem  Fache'  geübt  hat.  Der  Her- 
anggeber hat  eine  Reihe  von  fast  wörtlich  entlehnten  Versen  nach- 
gewiesen. Vielleicht  hätte  er  hier  noch  etwas  weiter  gehen  und 
auch  einige  Gedanken  Rubins  als  entlehnt  bezeichnen  dürfen.  Wenig- 
stens kommt  Rubin  23,1  —  4  das  Geständnis  einen  Menschen  mehr 
zu  lieben  als  den  andern  und  die  Anforderung,  dass  Gott  diese 
Sünde  vergeben  möge,  nahe  heran  an  Walther  26,10  — 12.  Auch 
Rubin  22,10:  das  beste  Mittel  gegen  Traurigkeit  sei  schöne  Frauen 
zu  sehen  und  ihre  Schönheit  zu  loben,  erinnert  stark  an  Walther 
42,15  fg.  Doch  sind  diese  Verhältnisse  der  Nachahmung  überhaupt 
schwer  mit  Sicherheit  zu  begränzen. 

Sehr  angemessen  hat  Zupitza  das  kleine,  an  Inhalt  und  Form 
gleich  zierliche  Buch  als  eine  Gelegenheitsschrift  erscheinen  lassen, 
alg  Glückwunsch  zu  dem  fünfundzwanzigjährigen  Doctorjubiläura  des 
Prof.  Müllenhoff  in  Berlin.  Ernst  Martin. 


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874  Fichte:  Die  Seelenfortdauer. 

Die  Seelenfortdauer  und  die  Weltstellung  des  Menschen.  Eine  anthro- 
pologische Untersuchung  und  ein  Beitrag  zur  Religionsphilo- 
sophie wie  zu  einer  Philosophie  der  Geschichte.  Von  Im  ma- 
nuel  Hermann  Fichte.  Leipzig,  F.  A.  Brockhaus.  1867. 
L  und  466  S.  gr.  8. 

Kant  hatte  in  seiner  Kritik  der  reinen  Vernnnft  gezeigt,  dass 
die  hergebrachte  rationale  Psychologie  nur  durch  Paralogismen  oder 
Fehlschlüsse  der  reinen  Vernunft  auf  eine  für  sich  bestehende  Seelen- 
substanz komme,  dass  sie  nur  durch  Paralogismen  die  so  genannte 
Seele  zu  einem  Seelendingo  mache  mit  dem  Attribut  der  Immate- 
rialität,  zu  einer  einfachen  Substanz  mit  dem  Attribut  der  Incor- 
ruptibilität,  zu  einer  numerisch  identischen  intellectuellen  Substanz 
mit  dem  Attribut  der  Personalität,  zu  einem  raumlos  denkenden 
Wesen  mit  der  Eigenschaft  der  Unsterblichkeit.  Die  Seeleufrage 
wurde  im  vorigen  Jahrhunderte  durch  die  deutsche  Aufklärungs- 
periode  ein  wichtiger  Gegenstand  einer  freilich  sehr  oberflächlichen 
Untersuchung,  da  der  subjective  Charakter  dieser  Philosophie  sich 
nur  in  der  beschränkt  praktischen  Beziehung  auf  die  menschliche 
Persönlichkeit,  ihren  Nutzen  oder  Vorthoil  geltcud  machte.  Die 
neuere  Philosophie  verhielt  sich  in  der  Form  der  Hegel'schen 
Dialektik  und  im  Systeme  des  Materialismus  der  Seclenfrage  gegen- 
über rein  negativ.  Nach  dem  Systeme  der  absoluten  Idee  ist  das 
wahre  Sein  allein  das  reiue,  allgemeine  Sein,  alles  Einzelseiu  ist 
ein  nichtiges,  entstehendes  und  verschwindendes,  in  das  Nichtsein 
immer  wieder  übergehendes  Sein.  In  dieser  Psychologie  erscheint 
nur  der  allgemeine  Geist,  der  Menschheits-,  Rassen-,  Volks-,  Ge- 
meinde- Familiengeist  als  der  wesenhafte,  der  Einzelgeist  als  der 
nichtige  Durchgangspunkt,  als  das  vorübergehende,  auf-  und  nieder- 
tauchende Element  des  allgemeinen  Geistes,  welcher  allein  das 
Wesenhafte,  Dauernde,  Unsterbliche  in  den  vorübergehenden  Einzel- 
geistern ist.  Bei  Schopenhauer  ist  uns  die  Wolt  als  vorstellenden 
Subjecten  Vorstellung.  Das  An  sich  ist  der  Wille.  Die  Abtödtung 
desselben  im  Einzelleben  führt  zur  Seligkeit,  dem  reinen  Nichts. 
Das  Aufhören  unseres  Bewusstseins  ist  ihm  das  grösste  Glück; 
denn  das  Bewusstsein  giebt  uns  den  Schein  einer  trügerischen  Welt 
und  kettet  uns  an  die  erbärmliche  Objectivation  des  Willens,  in 
welchem  der  baroke  Denker  eher  den  Teufel  als  Gott  erblickt. 
Nicht  im  Einzelgeisto,  sondern  in  der  Negation  desselben  besteht 
das  Wesenhafte,  Dauernde.  Auch  der  Materialismus  hat  einen  ähn- 
lichen negativen  Zug  der  Seelenfrage  gegenüber.  Die  SeelenthHtig- 
keit  ist  die  mechanische  Hirn-  und  Nervonbewegung.  Die  Seele 
ist  ebenso  wonig  als  der  Geist  ein  besonderes,  für  sich  bestehen- 
des Wesen.  Da  es  zur  Modekrankheit  geworden  ist,  im  Allge- 
meinen, also  im  Abstracten,  nirgends  als  in  unserm  denkenden 
Intellect  oder  in  unserer  Phantasie  Existirendon  das  Wesenhafte 
zu  sehen  und  (Jas  Einzelne  als  eine  im  Ocean  des  Lebens  auf-  und 


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Fichte:  Die  Seclenfortdauer. 


375 


abtanchende,  verschwimmende  und  verschwebende  Welle  zu  betrach- 
ten, da  es,  wie  gesagt,  zur  Mode  geworden  ist,  eine  gegenteilige 
Ansicht  für  eine  Art  von  theologischer  Beschränktheit  zu  halten, 
so  ist  es  wohl  immerhin  eine  schwierige  Arbeit,  in  einer  Zeit,  in 
welcher  man  vom  idealistischen  und  realistischen  Standpunkte  zu 
demselben  negativen  Resultate  gelangt,  welche  ungeachtet  aller  son- 
stigen Vorzüge,  zumal  in  der  Erforschung  der  Natur  und  Mecha- 
nik, vorzugsweise  nur  dem  Greifbaren  und  dem  Genüsse  zugewen- 
det ist,  wo  ein  ursprünglicher  Idealist  (L.  A.  Feuerbach)  endlich 
zu  dem  Schlusssatze  kommt :  Der  Mensch  ist ,  was  er  isst ,  gegen 
den  Strom  zu  schwimmen  und  durch  sorgfältige  und  mühsame 
Forschungen  zu  einem  der  Modephilosophie  entgegengesetzten  Er- 
gebnisse, der  Seelenfortdauer,  zu  gelangen. 

Das  Zerstören  ist  leichter,  als  das  Aufbauen,  und  darf  nie  des 
blossen  Zerstörens  wegen  statt  finden,  sondern  lediglich  und  allein 
in  dem  Zwecke,  an  der  Stelle  des  Zerstörten  ein  dauerhafteres  und 
besseres  Gebäude  zu  gründen.  Freilich  ist  ein  solches  nicht  leicht 
zu  errichten.  Nur  langsam  und  mit  Mühe  baut  man  auf.  Man 
bat  die  Wahrheit  nicht ;  man  strebt  nach  ihr.  Kant  hat  die  Fort- 
dauer der  Seele  mit  persönlichem  Bewusstsein  als  ein  Postulat  der 
praktischen  Vernunft  oder  als  eine  unbedingte  Forderung  unseres 
sittlichen  Vernunftglaubens  betrachtet.  Die  Nachfolger  wollen  sich 
dadurch  über  ihn  stellen,  dass  sie  den  Schluss  für  folgerichtig  hal- 
ten: »Ich  weiss  nicht,  ob  die  Seele  sterblich  oder  unsterblich  ist, 
also  weiss  ich,  dass  sie  nicht  unsterblich  ist.«  Die  Seelenfortdauer- 
Frage  ist  für  die  Wissenschaft  immer  noch  eine  offene  Frage.  Die 
Behauptungen  der  Negation  sind  keineswegs  überzeugend  und  haben 
es  über  das  Bereich  des  Zweifeins  oder  Bedenkens  nicht  gebracht. 
Mit  Freuden  wird  darum  der  Unbefangene  die  Forschungen  der- 
jenigen begrtissen,  welche  die  bisher  von  der  Wissenschaft  vorge- 
brachten Zweifel  zu  zerstreuen  und  neue  Ueberzeugungsgründe  für 
den  Unsterblichkeitsglauben  aufzustellen  versuchen.  Zu  diesen  Wer- 
ten gehört  das  vorliegende,  die  Frage  der  Seelenfortdauer  allseitig 
Tom  Standpunkte  der  Anthropologie,  Psychologie,  Ethik,  Religions- 
pbilosophie,  Naturwissenschaft  und  Geschichte  beleuchtende,  in 
schöner,  edler  Diction  geschriebene  und  vielfach  durch  sinnvolle 
and  geistreiche  Bemerkungen  die  Zweifel  der  Unsterblichkeitsgegner 
widerlegende  Buch  des  auch  in  den  weitesten  Kreisen  unseres 
Vaterlandes  rühmlichst  bekannten  Herrn  Verfassers. 

Der  Herr  Verfasser,  welcher,  wie  einst  sein  grosser  Vater,  mit 
einer  patriotischen  und  politisch  freien  Weltanschauung  einen  tiefen 
religiösen  und  von  jedem  blinden  Autoritätsglauben  des  Kirchen- 
tbum8  freien  Sinn  verbindet,  lehnt  sich  in  seinen  Untersuchungen 
an  die  von  ihm  früher  erschienenen  Werke  über  Anthropologie 
(2.  vermehrte  Auflage),  über  Psychologie  und  Ethik  an  und  beruft 
ficb  darum  häufig  in  der  weiteren  Ausführung  auf  dieselben.  Doch 

das  vorstehende  Werk,  auch  davon  abgesehen,  ein  für  sich  be- 


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37G 


Fichte:  Die  Scelenfortdaner. 


stehendes,  dnrch  sich  allein  verständliches,  nicht  nur  mit  wissen- 
schaftlichem Ernste,  sondern  selbst  mit  Begeisterung  geschriebenes, 
den  gebildeten  unbefangenen  Leser  vielfach  anregendes  Buch. 

In  der  Einleitung  wird  auf  die  Spannung  in  den  Gegensätzen 
der  Zeit  hingewiesen.  Es  sind  Extreme,  die  sich  gegenüber  stehen, 
mit  denen  man  sich  nicht  befreunden  kann.  >Was  die  Kirche  uns 
zu  glauben  gebietet,  heisst  es  S.  V,  kann  nicht  mehr  geglaubt 
werden  in  dieserForm  und  Fassung;  denn  es  steht  im  Wider- 
streit mit  der  Verstandesbildung  unserer  Zeit,  die  sich  eben  nicht 

mehr  gefangen  nehmen  lässt  im  Glauben         Soll  durch  Glaubeus- 

auetorität  die  Kirche  gerettet  werden,  so  ist  ihre  Macht  für  immer 
dahin. <  Aber  auch  »in  der  landläufigen  Wissenschaft  auf  den 
literarischen  Märkten«  findet  der  Herr  Verf.  die  »Weisheit«  nicht, 
sondern  viel  »Hohles«  und  »Leeres«,  von  dem  »oberflächlichsten 
Anschein  der  Dinge  obenhin  Abgeschöpftes.«  Die  durch  die  Ne- 
gation der  Wissenschaft  hervorgerufene  »Repristination  der  Gläu- 
bigkeit«, wie  sie  häufig  jetzt  zu  Tage  tritt,  führt  noch  weniger  zu 
einem  befriedigenden  Resultate.  Sio  ist  »ein  vorübergehender,  künst- 
lich herbeigeführter  Zwischenzustand«,  ein  »ungenügendes  Surrogat 
für  eine  tiefer  befriedigende  ,  alle  Conflicte  lösende  Erkenntnis, 
welche  dem  Glauben  seine  wissenschaftliche  Erprobung,  ohne  Zwei- 
fel dadurch  auch  Läuterung  hinzufügt.«  Auch  die  »geheiligten 
Auctoritäten  ziehen  den  kürzeren  vor  der  ewig  regen,  von  allen 
Seiten  anstürmenden  Macht  des  freien  Gedankens.«  Die  jetzt  von 
gewissen  Seiten  beliebte  »Vermittlung  zwischen  einer  gewissen 
dogmatischen  Auffassung  der  Religion  und  einer  eben  so  zeitweisen 
philosophischen  Bildung«  ist  nur  eine  »halbe  und  darum  unge- 
nügende Auskunft«.  Die  Theologie  ist  »wesentlich  historische  Wis- 
senschaft«. Sie  tritt  von  diesem  Standpunkte  aus  mit  der  Philo- 
sophie in  »keinen  unmittelbaren  Conflict«.  Die  Aufgabe  der  Philo- 
sophie ist,  auf  »dem  Gebiete,  welches  sie  mit  der  Theologie  ge- 
meinsam besitzt,  das  religiöse  Bewusstsein  in  seiner  AI  lg  e  m  ei  n- 
heit  zu  erforschen,  in  seinem  psychologischen  Inhalt  zu  erschöpfen, 
die  verschiedenen  Stufen  desselben  und  die  innere  En t Wicke- 
lung, welche  es  durchläuft,  genetisch  zu  verzeichnen«  (S  VII). 
Nur  theologische  Bekenntnisse  können  in  Conflict  kommen.  Die 
Philosophie  lässt  sich  weder  beeinflussen  noch  beschränken  »durch 
eigentümliche  dogmatische  Voraussetzungen  irgend  einer  Theologie«; 
sie  beschäftigt  sich  lediglich  mit  dem  »allgemein  Menschlichen  der 
Religion«.  Sie  bringt  kritisch  das  »ewig  und  gemeinsam  Wahre 
alles  religiösen  Bewusstseins«  an's  Licht.  Durch  die  Religion  wird 
der  Mensch  mit  der  unvergänglichen  Welt  verbunden,  welcher  »seiu 
Wesen  angehört  «  Der  Gehalt  des  Glaubens  ist  aber  kein  »starrer«, 
für  alle  Zeiten  »fixirter«,  er  ist  ein  »ewig  heutiger,  stets  frisch 
sich  erzeugender«,  in  »immer  neuen  Gestalten  dem  Menschen  sich 
einbildend«.  Zu  diesen  »erweckenden  Anregungen«  wirkt  das 
»Wissen«,  das  »Leben«.  Nicht  von  der  Theologie  des  Bekennt- 
nisses, sondern  von  >  den  Ergebnissen  allgemeiner  Wissenschaft  und 


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Fichte:  Die  Seelen  fort  dau  er. 


Bildung«  ist  die  Befreiung  des  Glaubens  von  den  Störungen  wah- 
rer uud  echter  religiöser  Gesinnung  zu  erwarten.  Die  Wissenschaft 
begründet  den  »Wesensgehalt«  des  Glaubens  (S.  XI).  Der  Glaube  wird 
auf  diesem  Wege  Gesinnung,  »feste  Welt-  und  Lebensansicht«.  Den 
Grand  zu  dieser  wahrhaft  vorurtheilsfreien  religiösen  Weltanscbau- 
nng  kann  nur  die  Wissenschaft  legen,  »frei,  nichts  voraussetzend«, 
die  sich  von  »jeder  Beziehung  zu  einer  bestimmten  Theologie  ab- 
l&seu  muss«  (S.  XII).  Die  theologische  Dogmatik,  »ein  Gemisch 
Ton  Glaubensvoraussetzungen  und  einer  ungeläuterten  Metaphysik«, 
ist  nur  ein  »hindernder  Gefahrte«  für  die  Wissenschaft.  Der  »Wie- 
deraufbau« ruht  nur  auf  der  »Grundlage  universaler,  zugleich  un- 
bestreitbarer Weltthatsachen«  sicher  und  fest  (S.  XIII). 

Der  Herr  Verf.  versucht,  sich  auf  Kant  berufend ,  eine  philo- 
sophische Begründung  der  christlich*religiösen  Weltanschauung.  Er 
geht  zu  diesem  Zweck  von  der  »rein  psychologischen,  von 
allen  metaphysisch  theologischen  Beziehungen  freigehaltenen  Er- 
forschung des  religiösen  Gefühles«  nach  seinem  praktischen  und 
theoretischen  Charakter  aus  (S.  XV).  Das  Religionsgefühl  darf  mit 
der  Theologie  nicht  verwechselt  werden.  Die  Vermischung  beider 
Elemente  hat  »unzählige  Verwirrungen«  bis  zur  Stunde  hervorge- 
rufen. Nachdem  der  Herr  Verf.  die  Stellung  seiner  Aufgabe  zn 
den  Bestrebungen  der  Gegenwart  entwickelt  hat,  geht  er  zum  Nach- 
weise des  »Charakters  und  der  Quelle  des  Religionsgefühls«  über. 
Es  ist  ein  aus  dem  Innersten  des  Menschen  stammendes  Gefühl 
der  Abhängigkeit  »von  einer  höheren  sittlichen  Macht,  dessen  letzte 
Quelle  nicht  in  dem  Schein  oder  dem  Phänomenalen  der  Aussen- 
welt,  sondern  im  letzten  Grunde  alles  Seins  und  Denkens,  Gott 
allein  aufgefunden  werden  kann.  Er  deutet  auf  Schleiermachers 
Anschauung  hin,  welcher  der  Religion  wieder  ihre  »menschlichen 
Quellen  eröffnete«  (S.  XXXIII),  indem  er  »Religion  und  Philosophie« 
▼on  der  alten  Dogmatik  befreite.  Die  »bisherige  Theologie«  kann 
nicht  mehr  als  die  »rechte,  vollgenügende  Verwalterin  des  grossen  . 
Schatzes  lebendiger  Gotteserkenntniss  erachtet  werden«,  Philosophie 
und  »allgemeine  Erfahrungsforscbung«  müssen  jetzt  dieses  Amt 
Obernehmen  (S.  XXXIV).  Die  eigentlichen  »Offenbamngs Wahrheiten« 
enthalten  nichts,  dem  Geiste  der  reinen  Gotteserkenntniss  und  ihren 
Ergebnissen  Fremdes.  Sie  sind  vom  »Menschengemtith«  »ewig  be- 
stätigt«. Am  »Menschen  muss  sich  zeigen  lassen«,  was  »glanbens- 
werth«  und  »glaubensnöthig«  sei.  Was  man  in  neuerer  Zeit  zu 
diesem  Zwecke  versucht  hat,  zielt  auf  die  »Verbesserung«  der 
»hinfallig  gewordenen  theologischen  Dogmatik«,  auf  die  »Fülle 
und  Tiefe  des  rein  religiösen  Gehaltes«  (S.  XXXVII).  Nicht  das 
historische  Zeugniss,  Psychologie  und  Ethik  haben  die  Heilswahr- 
heiten in  »ihrer  allgemein  menschlichen  Bedeutung«  zu  unter- 
suchen. Der  Herr  Verfasser  wollte  zunächst  in  seinen  Werken 
Ober  diese  beiden  Wissenschaften  die  Phänomenologie  und  innere 
Stufenfolge  des  religiösen  Bewusstseins  aufzeigen  und  darin  ein 


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Fichte:  Die  Seelenfortdauer. 


»immer  tieferes  Eingehen  des  göttlichen  Geistes  in  den  mensch- 
lichen« nachweisen. 

Das  gegenwärtige  Werk  soll  mit  diesen  beiden  Werken  ein 
abgeschlossenes  Ganzes  bilden.  Die  Frage  nach  der  Seelenfortdauer 
soll  auf  anthropologischem  Wege  untersucht  werden  und  greift  zur 
Erringung  eines  befriedigenden  Ergebnisses,  von  ethischer  Grund- 
lage ausgehend,  eben  so  in  das  Gebiet  der  Eeligionsphilosophie,  wie 
der  Philosophie  der  Geschichte. 

Auf  diese,  die  Stellung  der  Frage  zur  Gegenwart  und  ihre  Be- 
handlungsart auseinandersetzende  Einleitung  folgt  die  Durch- 
führung der  Aufgabe  in  dem  vorliegenden  Werke.  Das  erste 
Buch  behandelt  die  allgemeinen  Vorfragen,  das  zweite 
die  metaphysische,  anthropologische  und  ethische 
Begründung.  • 

Das  erste  Buch  (S.  1 — 91)  zerfällt  in  drei  Kapitel.  Sie 
haben  die  TJeberschriften :  1)  Unser  Standpunkt,  2)  der  natürliche 
(anthropologische)  Glaube  an  dio  Fortdauer,  3)  die  bisherigen  Ver- 
nunftbeweise für  die  Seelenfortdauer.  Das  zweite  Buch  (S.  91 
—  442)  hat  vier  Kapitel.  Sie  sind  überschrieben:  1)  die  reale 
und  die  phänomenale  Welt,  2)  der  allgemeine  Begriff  der  Präfor- 
mation (Präexistenz),  3)  die  allgemeine  Weltstellung  des  Menschen- 
geschlechts und  die  Bedeutung  des  Individualgeistes,  4)  allgemeiner 
Rückblick.  Der  (ethischo)  Unsterblicbkeitsbeweis  aus  dem  Begriffe 
der  Menschengeschichte.  Philosophie  derselben.  Beiden  Büchern 
folgt  die  Schlussanmerkung  (S.  443 — 466). 

Der  Standpunkt  ist  ein  anthropologischer,  er  knüpft  an 
begreifliche  Analogien  an  und  erblickt  die  Spuren  des  künftigen 
Daseins  im  gegenwärtigen  vorgebildet.  Der  Herr  Verf.  sucht  den 
Unsterbliohkeitsglauben  von  seiner  innern  Unbestimmtheit  und  ab- 
stracten  Unbegreiflichkeit  zu  befreien.  Man  muss  das  ethische 
und  natürliche  Element  in  diesem  Glanben  unterscheiden.  Diese 
Elemente  worden  auf  einen  verschiedenen  Ursprung,  den  immanen- 
ten und  tran scen deuten ,  zurückgeführt.  Das  innere  Verhältniss 
dieses  Gegensatzes  zeigt  sich  in  dem,  was  von  dem  Herren  Verf. 
productiver  und  receptiver  Genius  genannt  wird.  Der 
ethische  Unsterblichkeitsglaube  wird  zugleich  als  der  religiöse  im 
echten  Sinne  bezeichnet.  Die  höchste  Aufgabe  der  Religionsphilo- 
sophie ist,  jenen  Glauben  umfassend  zu  begründen.  Dieser  Glaube 
hat  eine  universale  Bedeutung  für  die  Wissenschaft  vom  Menschen. 
Im  Menschen  ist  ein  transcendentaies  Wesen  innerhalb  seines  sinn- 
lichen, in  ihm  liegt,  von  ihm  geht  aus  das  geschichtbildende 
Princip.  Die  Natur  ist  blosser  Kreislauf.  Auch  nach  seinem 
praktischen  Charakter  ist  der  Mensch  ein  trancendentales  Wesen, 
daher  die  unwillkürliche  Zuversicht  seiner  innern  Ewigkeit  der  ver- 
gänglichen Erscheinung  der  Natur  gegenüber.  Hierin  liegt  die  erste 
rein  anthropologische  Quelle  des  Unsterblichkeitsglaubens,  sie  ist 


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Fichte:  Die  Seelenf ortdau er.  879 

die  natürliche,  welche  durch  die  historische  der  Offenbarung  ihre 
Bestätigung  erhält. 

Im  zweiten  Kapitel  wird  der  natürliche  (anthropologische) 
Glaube  an  die  Fortdauer  entwickelt.  Der  Mensch  kann  sich  nur 
als  ein  Thätiges  denken.  Der  Begriff  des  höchsten  Gutes ,  nach 
welchem  der  Mensch  strebt,  kann,  psychologisch  aufgefasst,  nur  in 
einer  absolut  befriedigenden  Thätigkeit  bestehen.  Eine  solche 
Tbatigkeit  wird  als  höchstes  Gut  empfunden.  Ihr  Ziel  ist  kein  für 
das  menschliche  Einzellebcn  —  und  der  Mensch  ist  Einzelgeist,  das 
Wesen  des  Geistes  ist  Persönlichkeit  —  in  diesem  kurzen,  vielfach 
beschränkten  Dasein  erreichbares ;  es  ist  ein  ideales ,  jenseitiges 
Ziel  Darin  liegt  als  »unabtrennlicbe  Nebenbedingung«  die  Ueber- 
zeitlicbkeit «  des  menschlichen  Wesens.  Nur  unter  dieser  Bedingung 
ist  der  Begriff  des  Menschengeistes  widerspruchsfrei.  Die  Grund- 
gefuhle  der  natürlichen  Todesscheu  und  der  Schaam  bezeugen 
die  überzeitliche  Menschenbestimmung.  Dio  beiden  Gefühle  sind 
rein  menschlich  und  fehlen  dem  Thiere  gänzlich.  Auch  die  ethische 
Todesfreudigkeit  hängt  mit  dem  natürlichen  Glauben  an  dio  Fort- 
daner  zusammen.  Das  praktische  Verhalten  des  Menschen  setzt  im 
Todesmuthe  und  in  der  Lebensverschwendung  einen  ähn- 
lichen Glaubon  voraus  oder  deutet  unbewusst  auf  ihn  hin.  Die 
natürliche  Vorstellung  vom  künftigen  Leben  ist  die  auf  die  Ana- 
logie gestützte  Vorstellung  von  einer  Fortsetzung  des  gegenwärti- 
gen Lebens.  Man  setzt  dabei  unwillkürlich  einen  fortdauernden 
Zasammenhang  des  Lebens  im  Diess-  und  Jenseits  voraus.  So  er- 
bält  auch  der  Aberglaube  in  dieser  Hinsicht  einen  psychologischen 
Erklärungsgrund.  Im  Naturglauben  an  dio  Fortdauer  zeigen  sich 
drei  Grundbestandteile,  die  Vorstellung  einer  Schattenwelt,  der 
Glaube  an  einen  innern  Zusammenhang  zwischen  dem  diess-  und 
jenseitigen  Leben  und  an  die  Uebermacht  des  Geistes  über  die 
Vit u r  (Zaubereiglaube).  Für  den  menschlich  natürlichen  Glauben 
spricht  auch  der  wohl  verstandene  consensus  gentium.  Der  philo- 
sophische Beweis  der  Anthropologie  bat  nur  die  im  Menschen  vor- 
handenen Grundgefühle  der  innern  Ewigkeit  seinesGeistes 
zum  Bewusstsein^zu  bringen. 

Das  dritte  Kapitel  enthält  die  bisherigen  Vernunftbeweise 
für  die  Seelenfortdauer.  Spiritualismus  und  Materialismus  sind 
gleich  einseitig  und  kommen  zu  gleich  einseitigeu,  ungenügenden 
Resultaten.  Ihr  gemeinschaftlicher  Grundmangel  besteht  in  dem 
bloss  abstracten  und  darum  undurchforschten  Begriffe  von  Geist, 
Materie,  Seele  und  Leib.  Schon  Kant  wies  die  unhaltbare  Soho- 
lastik  der  früheren  psychologischen  Methode  nach.  Die  Empirie 
i3t  durch  ihn  und  die  Nachfolger  in  ihre  Rechte  eingesetzt  wor- 
den. Der  Herr  Verf.  weist  auf  Schöllings  Verdienste  und  auf  eine 
Abhandlung  desselben  in  den  nachgelassenen  Werken  ȟber  den 
Zasammenhang  der  Natur  mit  der  Geisterwelt«  hin  (neunter  Band 
sämmtücher  Werke,  1.  Abtheilung,  auch  unter  dem  Titel  »Clara« 


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Fichte:  Die  Seelen fortdauer. 


besonders  herausgegeben).  Schelling  nimmt  die  Einheit  von 
Geist ,  Seele  nud  Leib  an ,  hat  jedoch  in  der  Begriffsbestim- 
mung ,  vorzüglich  des  Leibes ,  etwas  Schwankendes.  Mit  Recht 
spricht  sich  der  Herr  Verfasser  gegen  Schöllings  mytholo- 
gisirende  Hypothese  vom  Silndenfalle  und  von  der  Entstehung 
einer  kosmischen  Welt  des  Lichtes  und  der  Finsterniss  und 
einer  geistigen  Trennung  der  Ober-  und  Unterwelt  ans  Wahr- 
haft philosophisch  sind  die  Anschauungen  des  Herrn  Verf.  von  der 
Natur  und  treffend  seino  Bemerkungen  gejien  ein  Verderbniss  der- 
selben. So  sagt  er  eben  so  schön,  als  richtig  S.  23:  »Die  Natur 
ist  gross  und  herrlich,  gesund  und  wahr,  mackellos  und  unstind- 
haft,  das  eindringlichste  Zeugniss  der  unbegrenzten  Vollmacht  und 
der  unergründlichen  Weisheit  eines  schöpferischen  Geistes,  so  weit 
sie  in  sich  und  für  sich  selbst  lebt  und  wirkt.  Sie  ist  in  ihrem 
unüberschreitbaren  Kreis  ein  vollendetes  Kunstwerk ;  oder,  wenn 
nach  einer  hier  zulässigen  Abgrenzung  die  Natur  als  ein  für  sich 
bestehendes,  relativ  (dem  Monschen  gegenüber)  Selbstständiges  be- 
trachtet wird,  können  wir  sagon  :  sie  sei  selbst  vollendete  Künst- 
lerin«. In  gleicher  Weise  S.  71:  »Mit  nichten  gedenken  wir  dabei 
unsere  Zuflucht  zu  nehmen  zu  jener  »später  in  der  Geisterwelt  ein- 
getretenen Verderbniss«,  deren  Schelling  gedenkt  (S.  96).  Dies 
beruht  auf  der  wohl  bekannten,  für  tiefsinnig  geltenden,  aber  uner- 
weislichen Lehre  eines  uranfänglichen  Sündenfalls  im  Geisterreiche 
und  von  der  »verfinsternden«  Rückwirkung  dieses  Sttndenfalls  auf 
den  Menschen  und  dio  gesammte  ihm  untergebene  Natur.  Der- 
gleichen Hypothesen  bleiben  begrifflich  eben  80  unklar  und  unbe- 
stimmt, als  sie  vom  Standpunkt  menschlicher  Erkenntniss  aus  für 
transcendent  und  unerforschlich  gelten  müssen.«  Der  Herr  Verf. 
spricht  sich  mit  Entschiedenheit  gegen  die  dogmatische  Auffassung 
des  Teufels,  der  Hölle  und  der  Wunder  aus.  Er  will  nicht  auf 
dogmatischem ,  sondern  auf  anthropologischem,  speciell  psycholo- 
gischem Wege  seine  Aufgabe  lösen.  Das  Problem  hat  seine  meta- 
physische, ethische  und  religiöse  Seite. 

Im  zweiten  Bucho  geht  nun  der  Herr  Verf.  zur  Losung 
seiner  Aufgabe,  der  metaphysischen,  anthropologischen 
und  ethischen  Begründung  des  Unsterblichkeitsglaubens. 

Das  erste  Kapitel  bebandelt  die  reale  und  die  phäno- 
menale Welt.  Dem  Natnrglauben  tritt  der  rcflectirende  Zwei- 
fel entgegen.  Die  letzte  Quelle  des  Zweifels  ist  »die  Tbatsacbe, 
dass  während  des  Lebens  die  Seele  in  vollständiger  und ,  wie  es 
scheint,  ausnahmsloser  Abhängigkeit  vom  Leibe  und  seinen  Ver- 
änderungen sich  befindet«,  und  dor  »Schein  eines  völligen  Ver- 
schwindens«  der  Seele  im  Tode,  da  man  gerade  hierin  »das  letzte 
und  entscheidende  Zeugniss  jener  unbedingten  Abhängigkeit«  er- 
kennt (S.  96)  Es  ist  nicht  das  Was  der  Fortdauer,  welches  ange- 
zweifelt wird,  es  ist  das  Wie,  von  welchem  man  sich  keine  Vor- 
stellung machen  kann.  Die  Bedonken  gegen  die  Fortdauer  sind  am 


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Fichte:  Die  Seelcnfortdauer. 


361 


> schärfsten ,  kürzesten  und  erschöpfendsten«  in  David  Humes 
Schrift  »über  die  Unsterblichkeit  der  Seele«  in  den  additional 
essays,  hinter  seinem  grössern  Werke:  The  natural  history  of  reli- 
gion  ausgesprochen  (Man  vergleiche  tbe  philosophical  works  of  D. 
Harne,  Boston  and  Edinburgh,  1854,  vol.  IV,  p.  547—555).  Humes 
Zweifelsgründe  werden  aufgestellt  (S.  98  ff.) ,  und  eine  vorläufige 
Kritik  derselben  damit  verbunden.  Zuerst  wird  mit  Recht  der  Satz 
bestritten,  dass  Alles  im  Laufe  der  Zeit  entstehe  und  vergehe.  Nur 
der  »phänomenale  Anschein«  zeigt  uns  ein  solches  Entstehen  und 
Vergehen.  Es  ist  nur  ein  Wechsel  der  Beschaffenheiten,  nicht  ein 
Entstehen  und  Vergehen  der  Substanzen.  Um  den  endlosen,  aber 
doch  zugleich  gesetzniässigen  Wechsel  vergänglicher  Erscheinungen 
zu  erklären,  mnss  eine  geschlossene  Zahl  unvergänglicher  Welt- 
substanzen angenommen  werden.  Diese  bringen  durch  ihre  wech- 
selnden Verbindungen  und  Trennungen  in  unserm  Bewusstsein  das 
Phänomen  der  Vergänglichkeit  hervor,  während  sie  selbst  unver- 
gänglich und  unzerstörbar  sind.  Man  könnte  hier  an  die  alten 
Principien  der  Griechenphilosophie  erinnern  :  Aus  Nichts  wird  Nichts 
und  Etwas  wird  nie  zu  nichts.  Mit  dieser  Anschauung  treten  wir 
aus  dem  Gebiete  des  Scheins  in  die  Welt  des  wahrhaft  Seienden. 
Das  Sichtbare,  Palpable  ist  selbst  nur  die  Wirkung  eines  an  sich 
Unsichtbaren,  Nichtpalpabeln.  Der  Stoff  und  die  Stoffmischung  ist 
noch  nicht  das  wahrhaft  Beale.  Auch  das  Reale  am  Leibe  ist 
darum  unsichtbarer,  unpalpabler  Natur.  Der  Mensch  ist  ein  Ein- 
beitswesen,  nicht  aus  Leib  und  Seele  zusammengcÜickt;  der  Leib 
ist  seine  phänomenale  Erscheinung,  der  Geist  der  Grund  derselben, 
das  eigentlich  Wesenhafte.  Der  Geist  ist  das  Bleibende,  Dauernde 
in  den  wechselnden  Erscheinungen  der  leiblichen  Formen  und  Be- 
schaffenheiten. Der  Geist  ist  aber  kein  von  den  Einzelgeistern 
abstrahirter ,  nur  im  Verstände  existirender,  allgemeiner,  sondern 
Einzelgeist;  sein  Wesen  liegt  darum  im  Einzelbewusstsein,  in  der 
Persönlichkeit.  Das  Bewusstsein  entsteht  nicht  etwa  nur  durch  einen 
äusseren  Factor.  Durch  diesen  erhält  es  wohl  seine  Anregung; 
allein,  zum  Wesen  des  Geistes  gehörig,  liegt  es  dem  Keime  nach 
schon  ursprünglich  in  ihm.  Der  Menschengeist  ist  dem  Wesen 
nach  der  leiblichen  Erscheinung  zu  Grunde  liegend,  die  präformirte, 
die  präexistirende  Substanz,  welche  zuletzt  auf  Gott,  den  absoluten 
Geist,  zurückzuführen  ist.  Jeder  Menscheugeist  ist  Genius  und 
zwar  in  unendlichen  Abstufungen  productiv  oder  reoeptiv. 

Das  zweite  Kapitel  handelt  von  dem  allgemeinen  Be- 
griffe der  Präformation  (Präexistenz). 

Dieser  Begriff  wird  als  ein  unabweislicher  aufgestellt  und  ge- 
zeigt, wie  er  sich  auf  das  Verschiedenste  im  Glauben  des  Menschen 
aasspricht.  Das  »Personificirende« ,  zugleich  »frei  Machende  im 
Menschen«  ist  der  Geist.  Nicht  der  abstracto  Universalgeist,  son- 
dern der  Einzelgeist  macht  dabei  das  Wesen  des  Menschen  aus, 
Tfomit  die  Lehre  des  biblischen  Christenthums  übereinstimmt.  Der 


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Fichte:  Die  Seelenfortdauer. 


Begriff  der  Präexistenz  oder  Präformation  vor  dem  Phänomenalen 
der  leiblichen  Erscheinung  wird  als  untrennbar  von  der  Wesenheit 
der  Geistespersönlichkeit  bezeichnet.  Damit  wird  dem  Pantheis- 
mus, welcher  die  Einzelgeister  in  einem  abstracten  Verstandesbe- 
griff verschwimmen  lässt,  entgegengetreten.  Der  Begriff  der  Prä- 
formation ist,  mit  dem  Schöpfungsbegriff  zusammenhängend,  ein 
universaler.  Die  Bedeutung  desselben  für  Religion  und  tiefere 
Menschenbildung  wird  nachgewiesen  und  damit  die  kritische  Ge- 
schichte der  Lehre  von  der  Präexistenz  verbunden.  Genau  werden 
die  Ansichten  Leibnitzens,  Wolffs,  Bonnets,  Kants  über  diesen 
Gegenstand  entwickelt  und  kritisch  beleuchtet.  Kaut's  Lehre  von 
der  »generischen  Präformation«  nähert  sich  schon  mehr  einer  rich- 
tigen Ansicht,  aber  sie  ist  noch  in  der  falschen  Meinung  vom 
Gegensatze  zwischen  »Naturmechanismus«  uud  »hyperphysischer  Ein- 
wirkung befangen.«  Dieser  Gegensatz  wird  dadurch  aufgehoben, 
dass  die  »mechanische«  Causal Verkettung  die  allgemeine  Form  alles 
Geschehens«  ist,  in  welcher  als  allgemeiner  Inhalt  das  »Zweckmäs- 
sige« sich  verwirklicht.  Die  Weltthatsache  bestätigt  die  metaphy- 
sische Speculation.  Das  System  der  Zwecke  ist,  tiefer  erfasst,  ein 
System  von  präformirten  Anlagen.  Es  ist  eine  Stufenfolge  in  die- 
sen Präformationen,  mit  dem  höchsten  Weltzwecke,  den  Weltwesen, 
Abschliessend.  Ebenso  unhaltbar  erscheint  nach  dieser  Auflassung 
der  Pantheismus,  wie  der  fatalistische  Materialismus.  Auch  die 
Naturwissenschaften  gehen  von  der  Idee  einer  »Entwicklungsge- 
schichte der  Schöpfung«  aus.  Hier  stehen  sich  die  Präformations- 
theorie und  Permutationstheorie  gegenüber.  Dieser  Gegen- 
satz drückt  sich  gegenwärtig  in  Darwin,  dem  Vertreter  des  Per- 
mutationssystems, und  Agassiz,  dem  Vertreter  der  Präformation, 
am  schärfsten  aus.  Darwins  Umwandlungstheorie  wird  kritisch 
geprüft  und  als  höchster  Widerspruch  derselben,  wie  jeder  blos 
naturalistischen  Theorie,  bezeichnet,  dass  hier  das  Vernunftlose,  der 
Zufall,  als  der  letzte  Grund  des  vernuuftvollen  Weltzusammenhanges 
angesehen  wird.  Dieser  Widerspruch  dringt  uns  als  Nothwendigkeit  die 
Wahrheit  des  allgemeinen  Gedankens  einer  Präformation  auf.  Die  Er- 
fahrungswissenschaften bestätigen  den  Begriff  der  inneren  Zweck- 
mässigkeit. Er  ist  im  astronomischen  Kosmos  und  in  der  unorga- 
nischen Natur  aufzuzeigen.  In  der  Welt  der  beseelten  Wesen  aber 
äussert  sich  deutlich  die  Präformation  und  der  Zweck  im  eigent- 
lichen Sinn.  Agassiz  hat  die  Präformation  neu  begründet.  Cuvier 
und  Geoffroy  St.  Hilaire  waren  seine  Vorgänger.  Der  erste  hat  die 
Unveränderlichkeit  des  Gattungs-  und  Arttypus  erwiesen,  was  für 
die  geologischen  Forschungen  wichtig  ist.  Die  vier  Hauptgruppen 
der  Thierwelt  sind  Strahl-,  Weich-,  Glieder-  und  Wirbelthiere, 
von  einander  unabhängig;  nur  bis  zu  einem  gewissen  Punkte  der 
Varietät  kann  der  äussere  physikalische  Einfluss  auf  ihre  Modiffca- 
bilität  zugelassen  werden.  Die  Urzeit  hat  ihre  embryonischen  und 
prophetischen  Typen.    In  der  Thier-  und  Pflanzenwelt  zeigt  sich 


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Pichte:  Die  Seelenfortdauer.  *S3 

eine  teleologische  Wechselbeziehung,  welche  wieder  auf  die  Prä- 
formation zurückweist.  Der  Herr  Verf.  sieht  im  Weltplan  (S.  246) 
>das  Vorhandensein  eines  Systems  urbildlicher,  in  allem  Wechsel 
der  Erscheinungen  beharrlicher  Gestaltungsformen  der  Schöpfung.  € 
In  dem  naturwissenschaftlichen  Nachweise  der  Präformation  folgt 
er  beinahe  durchgehend  Agassiz'  Forschungen.  Zwischen  den  Natur- 
gesetzen und  der  göttlichen  Schöpfungs-  und  Erhaltungsthätigkeit, 
wenn  die  letztere  richtig  aufgefasst  wird,  existirt  kein  Gegensatz. 
Die  präformirten  Typen  dürfen  nicht  etwa  nur  als  etwas  Ideales 
angesehen  werden,  sie  sind  das  Reale,  das  einzig  sich  Realisirende 
in  den  erscheinenden  Dingen.  Damit  verschwindet  der  Dualismus. 
Doch  könnte  man  nach  des  Referenten  Dafürhalten  immer  noch 
ein  Bedenken  dagegen  erheben ,  dass  unsinnliche  Substanzen  das 
Wesen,  der  Grund  der  sinnlichen  Erscheinungswelt  sind.  Die  sinn- 
liehe Welt  i  st  mehr,  als  ein  blosser  Schein ;  sie  ist  sichtbar,  tast- 
bar, sie  stellt  sich  uns  als  ein  Stoffliches,  als  ein  Raum  Einnehmen- 
des nach  den  drei  Dimensionen  der  Länge ,  Breite  und  Tiefe  dar. 
Der  Geist  percipirt  sio  wohl;  aber  sie  ist  etwas  Anderes,  als  der 
percipirende  Geist.  Wir  erhalten  hier  lauter  unsinnliche  Substan- 
zen in  unendliehen  Abstufungen,  präformirte  Kraftwesen ;  aber  wo 
bleibt  der  Stoff,  die  Materie?  Wir  kommen  dann  zum  einseitigen 
Idealismus,  wenn  wir  auch  das  Ideale  das  Reale,  das  sich  einzig 
Bealisirende  nennen,  gerade  se  wie  der  Materialist  oder  Sensualist, 
nnr  von  einer  andern  Seite,  zu  einem  einseitigen  Resultate  führt, 
indem  ihm  der  Stoff  das  Reale,  das  einzig  sich  Realisirende  ist. 
Der  Materialist  kann  die  Thatsache  des  Geistes  nicht  aus  der 
Materie,  der  Idealist  die  Thatsache  der  Materie,  welche  mehr  als 
Schein  oder  blosse  Wirkung,  welche  Etwas,  Realität  ist,  nicht  aus 
dem  Geiste  erklären.  Darum  nimmt  auch  der  Herr  Verf.,  weil  er 
die3  wohl  fühlt,  einen  unsinnlichen  Leib  an  der  unsinnlichen  Sub- 
stanz an.  Wie  kann  aber  eine  unsinnliche  Substanz  eine  sinnliche 
Wirkung  haben?  Die  Welt  müsste  nur  in  Berkeleys  Weise  zur 
blossen  Vorstellung  herabsinken.  Hier  bleibt  immer  ein  zu  über- 
windender Rest  des  Bedenkens.  Die  Immanenz  macht,  wie  der 
Herr  Verl.  mit  Recht  behauptet,  allein  die  Entwicklungsgeschichte 
der  Schöpfung  begreiflich.  Schöpfungsstadien  und  Schöpfungsan- 
fonge  erscheinen  als  Standpunkte  der  richtig  aufgefassten  Präfor- 
mation  begreiflich.  In  dem  Geschaffenen  wird  ein  doppelter  Factor 
unterschieden ,  der  der  allgemeinen  Gesetzlichkeit  oder  des  Typi- 
schen und  der  der  individuellen  Selbstständigkeit.  Präformation  ist 
nicht  Prädetermination;  die  letztere  wird  zurückgewiesen.  Der  Ab- 
schluss  des  allgemeinen  Weltplanes  und  der  theistischen  Weltan- 
schauung und  das  Ziel  dieses  Planes  ist  >die  Hervorbildung  des 
Geistes.«  Das  blosse  gegenwärtige  Erddasein  macht  das  Auftreten 
des  Menschengeistes  in  der  Entwicklung  der  Natur  zu  einer  »pro- 
blematischen« Erscheinung. 


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Fichte:  Die  Seclenfortdauer. 


Das  dritte  Kapitel  urafasst  die  allgemeine  Welt- 
Stellung  des  Menschengeschlechts  und  dieBedeutung 
des  Individualgeistes. 

Die  Stellung  des  Menschen  in  der  Welt  kann  nur  dann  rich- 
tig aufgefasst  werden,  wenn  man  ihn  im  Zusammenhange  mit  dem 
Weltganzen  betrachtet.  Die  Erscheinung  des  Menschengeistes  in 
der  Natur  ist  ein  neues  Schöpfungsstadium.  Der  Geist  des 
Menschen  hat  die  Aufgabe,  geschichtbildendes  Princip  zu 
werden  und  ist  darum  das  höchste  der  Erdenwesen  und  folge- 
richtig das  letzte  in  der  Schöpfung,  was  die  neueren  Entdeckun- 
gen Uber  ein  höheres  Menschenalter  nicht  umstossen.  Der  feind- 
liche Bassen-  und  Völkerunterscbied  deutet  nur  auf  die  Weite  in 
der  Entwicklung  des  Meuschengeistes  hin.  Man  unterscheidet,  was 
den  Ursprung  des  Menschengeschlechtes  betrifft,  die  Einheit  der 
Abstammung,  die  Einheit  der  Art  und  die  Annahme  verschiedener 
Menschenarten.  Die  Hauptsache  bleibt  bei  den  verschiedenen  An- 
sichten die  Einheit  des  Gruudcharakters.  Diese  Einheit 
zeigt  sich  im  Organischen  und  Psychischen.  Nach  dem  psychischen 
Charakter  ist  der  Geist  des  Menschen  ein  »Uberzeitliches«  (ewiges) 
and  ein  »übernatürliches«  (den  Naturkreislauf  überschreitendes, 
weil  mit  seiner  Freiheit  geschichtbildendes)  Wesen.  Er  steht  mit 
der  Natur  und  ihrem  nothwendigen  Kreislaufe  gleichsam  wie  ent- 
zweit da  und  erstarkt  im  Kampfe  mit  der  Natur  und  im  Siege 
Über  ihren  nothwendigen  Mechanismus.  Hieraus  erklärt  sich  die 
Selbstsucht  des  Menschen,  sein  allmähliges  Heranreifen  zur  freien 
Persönlichkeit,  sein  Culturleben,  je  mehr  die  freie  persönliche  Gei- 
stigkeit sich  entwickelt  und  sich  als  solche  fühlt  und  weiss.  Es 
ist  der  freie  Einzelgeist,  der  hier  zur  Herrschalt  Uber  die  Natur 
gelangt.  So  erscheint  gerade  das  Einzelgeistige,  die  Persönlichkeit, 
als  der  Mittelpunkt  aller  Geisteswirkuugen.  Die  Präformation  muss 
sich  daher  auf  den  Einzelmenschen  erstrecken.  Nicht  ein  unbe- 
stimmtes, abstractes  Allgemeines,  die  Einzelgeister,  productive  und 
receptive  Genien ,  machen  die  Geschichte.  Auch  das  Rcligionsge- 
fühl  muss  auf  die  Persönlichkeit  zurückgeführt  werden.  Hier  zei- 
gen sich  das  Gefühl  des  Selbst  und  des  Unterworfenseins  unter  ein 
unbekanntes,  höheres,  geahntes  Wesen-  Dieses  Gefühl,  dessen  Vorhan- 
densein sich  nicht  bestreiten  lässt,  ist  »der  objective  (subjective ?) 
Beweis  für  die  Realität  und  Unvergänglichkeit  unserer  Persönlichkeit.« 
Der  Herr  Verf.  versucht  dieses  aus  der  Phänomenologie  des  reli- 
giösen Bewusstseins  nachzuweisen.  Daher  der  damit  zusammen- 
hängende Naturglaube  an  die  Fortdauer.  Erst  die  anthropologische 
Beweisführung  kann  diesen  Glauben  reinigen  und  rechtfertigen. 

(Schiusa  folgt.) 


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k  25.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Fichte:  Die  Seelenfortdauer. 


(Sehlis.) 

Im  vierten  Kapitel  wird  nach  einem  allgemeinen 
Rückblicke  der  ethische  Unsterblichkeitsbeweis  mit 
dem  Begriffe  der  Menschengeschichte,  also  durch  die  Philosophie 
der  Geschichte  geführt. 

Der  Herr  Verf.  kündigt  hier  zuerst  die  neuen  ethischen 
Fragen  und  ethischen  Gesichtspunkte  an.  Kr  findet  Qott  in  der 
Geschichte  mit  ethischen  Eigenschaften  und  erkennt  den  entschei- 
denden Einfluss  dieses  Begriffs  auf  den  Unsterblichkeitsbegriff.  Er 
wendet  seinen  Blick  auf  die  bisherigen  Ergebnisse  zurück,  nach  welchen 
die  immanente  Teleologie  der  gesammten  Schöpfung  (Harmonie  des 
Reiches  der  Natur  mit  dem  Reich  der  Gnade)  auf  einen  ethischen 
ünsterbliebkeitsbeweis  hinführt.    Von  S.  320 — 323  werden  noch- 
mals die  Gründe  zusammengefasst ,  welche  für  die  Beharrlichkeit 
des  Einzelgeistes  und  die  Fortdauer  seines  Bewusstseins  nach  dem 
Tode  sprechen.  Hierauf  folgen  Charakter  und  Ursprung  des  Sinnen- 
bewus&tseins ,  die  so  genannte  Abhängigkeit  der  Seele  vom  Leibe, 
die  Analogieschlüsse  auf  den  künftigen  Zustand  des  Bewusstseins, 
die  gesammte  Bedeutung  des  Sinnenlebens  für  den  Geist.  Die  Auf- 
gabe der  Psychologie  ist  nun  die  Erklärung  des  Bewusstseins  aus 
dem  in  ihm  liegenden  Einheitsprincip.  Das  Bewnsstsein  dessen,  was 
entsteht  und  vergeht,  ist  das  phänomenale  oder  sinnliche  Bewusst- 
sein.    Aber  der  Mensch  hat  ausser  diesem  in  diesem  Leben,  in 
dieser  Welt  das  Bewusstseiu  eines  ewigen  Lebens,  einer  >innern 
Ewigkeit«.  Das  Gebiet  der  Ideen  des  ganzen  Culturprocesses  bildet 
den  eigentlichen  Inhalt  dieses  ewigen  Lebens.    Wenn  auch  die 
Ideen  des  Wahren,  Guten  und  Schönen,  des  Unendlichen  einen  all- 
gemein menschlichen  Charakter  haben,  so  zeigt  sich  doch  das  In- 
dividaalisirende  derselben  im  Menschengeiste;  er  ist  das  Unver- 
gängliche, das  Ewige  der  Persönlichkeit.  Die  Erfahrung  zeigt,  dass 
alles,  was  man  das  Allgemeine  nennt,  immer  von  Einzelgeistern 
ausgeht.    Dieses  Ewige  der  Persönlichkeit  ist  der  Genius,  in 
anendlich  verschiedenen  Graden  produetiv  oder  reeeptiv.  Nur  darf 
man  wohl  das  Beceptive  nicht  so  vom  Productiven  trennen,  dass 
es  ganz  allein  reeeptiv  ist ;  es  ist  nach  des  Referenten  Dafürhalten 
auch  das  Receptive  wieder  in  gewisser  Beziehung  produetiv.  Der 
Unterschied  des  Receptiven  und  Productiven  liegt  darin,  dass  zwar 
beides,  wenn  auch  in  schwachem  Keime,  im  Genius   liegt,  aber 

LX.  Jahrg.  5.  Heft  25 


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3PG 


Fichte:  Die  Seelenfortdauer. 


beim  receptiven  Genius  das  Receptive,  beim  productiven  das  Pro- 
ductive  vorherrscht.  Keine  Culturfähigkeit  ist  durch  ein  Abstraetum, 
sie  ist  nur  durch  ein  Concretum ,  die  persönlichen  Geister  oder 
Genien,  möglich.  Das  charakteristisch  Menschliche  ist  der  Genius. 
Jeder  Menschengeist  ist  Genius ,  aber  in  unendlich  verschiedenen 
Modifikationen.    Dem  wissenschaftlich  Erleuchteten  ist  der  Tod, 
wie  alles  Vergängliche,  ein  Product  seines  phänomenalen  Bewusst- 
seins,  der  sinnlichen  Erscheinungswelt.  Hinter  dieser  Welt  ist  die 
Welt  der  Ideen,  in  welcher  der  Geist  ewig  lebt.    Sittlichkeit  und 
Religiosität  sind  dem  wahrhaft  Begeisterten  unzertrennlich.  Er 
erhebt  sich  Uber  den  Tod  im  Bewusstsein  seines  ewigen  Lebens  in 
der  Ideenwelt.  Ihm  erscheint  die  gegenwärtige  Lebensform  unter- 
geordnet, nicht  definitiv.  Der  Mensch  stellt  soin  Selbst  dem  Kampfe 
der  Natur  entgegen.  Zuerst  entwickelt  sich  vermöge  des  siunlichen 
Bewusstseins  die  Selbstsucht.    Das  Ethische  wird  erst  durch  den 
culturbildenden  Einfluss  im  Menschen  geweckt  und  er  nimmt  jetzt 
auch  aus  der  Natur  Anregungen  dazu  in  sich  auf.  Das  Zusammen- 
treffen der  Geister  ergibt  ein  geistig  ethisches  Yerhältniss.  Es  ist 
das  VerhäUniss  der  productiven  und  receptiven  Genien.    Die  Be- 
dingungen des  tellurischen  Lebens  reichen  nicht  zu,  dem  Genius, 
dem  Einzelgeist  oder  persönlichen  Geist,  ethisch  genug  zu  thun, 
»ihn  erschöpfend  zu  entwickeln.«    Hier  muss  das  geschichtliche 
Verhalten  des  Menschen  entscheiden.    Der  ethische  Unsterblich- 
keitsbeweis muss  eine  historische  Form  gewinnen.    Die  Menschen- 
geschichte bietet  in  ihrem  f actischen  Bereiche  »keinerlei  vollgenü- 
gende Bedingungen,  um  den  ethischen  Menschheitszweck  weder  in 
der  Gesammtheit  noch  für  den  Einzelnen  zur  Vollendung  zu  brin- 
gen« (S.  355).  Das  Thier  ist  nur  Zwischenglied  zur  Erhaltung  der 
Gattung;  seine  Zwecke  gehen  nicht  über  das  irdische  Dasein  hin- 
aus und  werden  alle  innerhalb  desselben  erreicht.  Es  ist  ein  »in  sei- 
ner Weise  vollkommenes,  mit  sich  und  der  Natur  einiges  Wesen« 
(S.  358).    Es  blickt  weder  vor-  noch  rückwärts  und  gehört  allein 
der  Gegenwart  an.  Bei'm  Menschen  verhält  sich  Dieses  ganz  anders. 
Er  ist  mit  der  Natur  entzweit,  mit  ihr  im  Kampfe ;  er  wäre  mit 
blos  epitellurischem  Dasein   das  »widersprechendste  und  zweck- 
widrigste Wesen,  welches  im  Umkreise  der  ganzen  Schöpfung  zu 
finden  ist,  sonst  aber  da  nirgends  sich  findet«  (S.  359).  Die  Ge- 
schichte  entscheidet.     Der  Mensch   weiss    durch  geschichtliche 
Tbaten  »kein  Ziel  aufzuweisen,  das  zugleich  doch  auch  ein  durch- 
aus irdisebos,  auf  die  Erdverhältnisse  berechnetes  bleibt  und  keiner- 
lei Aussicht  oder  Bedtirfniss  darböte  für  vollendende  oder  rück- 
bildende Ausgleichungen  in  einer  höhern  Welt«  (S.  359).  Handelte 
es  sich  blos  um  das  epitellurische  Ziel  in  der  Geschichtsentwiok- 
lung ,  um  »den  höchst  möglichen  Grad  sinnlichen  Wohlergehens 
und  die  möglichste  Verringerung  der  unvermeidlichen  physischen 
Uebel«  (S.  361),  so  wäre  die  Culturentwicklung  in  Staat  und  Sitte, 
Kunst,  Wissenschaft  und  Religion  durchaus  überflüssig.    Die  Men- 


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Pichte:  Die  ScelenfortdAuer. 


387 


schengeschicbte  zeigt  aber  gerade  den  Menschen  mit  diesen  Cultur- 
zielen,  für  aie  unentäusserlich  bestimmt.  Man  hat  die  Entwicklung 
der  Menschengeschichte  auf  die  Gesetze  des  organischen  Wachs- 
thams  zurückführen  und  Keimalter,  BlUthenepocho,  höchste  Keife, 
Abnahme  und  Untergang  unterscheiden  wollen.  Mag  das  eine  ge- 
wisse annähernde  Wahrheit  für  einzelne  Epochen  und  Völker  in 
der  Geschichte  haben,  für  den  ganzen  Begriff  der  Menschengeschichte 
erscheint  eine  solche  Annahme  unzureichend.  Immer  bliebe  hier 
die  Frage  nach  dem  Inhalte  dieses  Blühens,  Reifens,  Abnehmens, 
nach  dem  Gegenstande,  auf  welohen  es  sich  bezieht,  übrig.  Man 
wüsste  nicht,  worin  sich  diese  Reife  und  Abnahme  zeigen  soll. 
Der  Begriff  des  Fortschrittes  würde  ganz  aufhören;  es  wäre  ein 
ewig  wiederkehrender  Kreislauf.  Der  Herr  Verf.  entscheidet  sich 
bei  der  Frage,  ob  es  rein  immanente  Kräfte  der  Menschheit  sind, 
welche  den  Gesohichtsprocess  erklären,  oder  ob  dabei  eine  gött- 
liche Assistenz,  Vorsehung,  anzunehmen  ist,  für  das  Letztere.  Er 
siebt  in  der  Geschichte  »die  erziehende  Leitung  der  Menschheit 
durch  eine  höhere,  ü  be  r  ihr  waltende  Providentia  11  e  Macht«  (S.  370). 
Er  unterscheidet  das  Menschliche  und  Göttliche  in  der  Geschichte. 
Ihm  ist  nur  »derjenige  Geistesgebalt  in  der  Geschichte,  wie  im 
Leben  des  Individuums,  göttlichen  Ursprunges,  welcher  die  höchste, 
die  dauerhafteste,  die  beseligendste  Liebe  in  uns  entzündet,  vor 
welcher  alle  anderen  Regungen  zurückweichen,  indem  sie,  unwillkür- 
lich oder  mit  klarem  Bewusstsein,  ihr  geopfert  werden.  Diese  Liebe 
trägt  immer  den  Sieg  davon,  und  es  ist  zugleich  der  Sieg  des  sie 
begleitenden  Geistesgehalts«  (S.  374  und  375).  Dieses  göttliche 
Element  in  der  Geschichte  ist  aber  kein  »Fremdartiges«,  »Ueber- 
menschliches«.  Es  »kleidet  sich  in  die  menschliche  Form  des 
Geistes  uud  seines  Bewusstseins ,  seine  Freiheit  und  das  Gefühl 
dieser  Freiheit  nicht  aufhebend  oder  beschränkend,  sondern  gerade 
lungekehrt  es  erhöhond  und  zur  Unüberwindlichkeit  befestigend.« 
Die  Geschichte  ist  der  Einzelgeister  wegen  da.  Der  Charakter  dea 
Geschichtsbegriffs  ist  ein  individualistischer.  Jeder  Einzelgeist  hat 
Antheil  an  der  Geschichte  und  wirkt  mit  zum  grossen,  ganzen  und 
letzten  Cultusziele  in  seiner  Art.  Nur  »die  culturf  ordern  den«  und 
»gemeinschaftstiftenden«  Thatsachen  sind  »wahrhaft  historische« 
(8.  388);  denn  sie  haben  für  die  Menschengeschichte  eine  »dauernde, 
unverlierbare  geistige» Wirknng«.  Diese  sind  von  Begeisterung  be- 
gleitet. Aus  ihr  geht  das  gemeinsam  Wirksame  hervor.  Nicht 
von  einem  allgemeinen,  vagen  und  unbestimmten  Geiste,  sondern 
vom  Einzelgeiste  geht  aber  die  Anregung  und  Wirkung  auch  zum 
höchsten  Ziele  in  der  Geschichte  aus.  Nur  »die  Individuen  sind 
das  in  der  Geschichte  Thätige«.  Sie  ist  »durchaus  menschliche 
Freiheit sthat«  (S.  392).  Indem  die  Geschichte  selbst  das  entschei- 
dendste Zeugniss  für  die  Unvergänglichkeit  des  Menschengeistes  nach 
dessen  Natur  und  Zielen  ablegt,  kann  dieses  Zeugniss  der  »histo- 
rische Unsterblichkeitsbeweis«  genannt  werden  (S.  398).  Der  Geist 


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388 


Fichte:  Die  Seelen fortdauer. 


erhält  durch  die  innere  Ewigkeit  seines  Lobens  auch  seine  höhere 
Stellung  in  der  Geschichte.  Diese  erhält  eine  »mehr  als  epitel- 
lurische  Bedeutung.«  Jede  geschichtliche  Culturform  ist  zwar  eine 
für  sich  selbstständige ;  aber  sie  ist  immer  auch  zugleich  der  Ueber- 
gaug  zu  einer  höhern  Bilduugsgestaltung.  Die  Macht  des  Unten 
ist  das  siegende  Princip.  Das  wahrhaft  vollkommene  Ziel  ist  nur 
das  ethische.  Wahrhafte  Vervollkommnung  ist  in  der  Schöpfung, 
wie  in  der  Geschichte,  das  Ziel.  Beide,  Schöpfung  und  Geschichte, 
leiten  uns  auf  den  letzten  Grund  und  Zielpunkt,  Gott,  zurück,  und 
verlangen  als  Mittel  der  Vervollkommnung  die  Fortdauer  des  wahr- 
haft Wesenhaften  im  Menschen,  des  Geistes,  welcher  eben  nur  als 
Einzelgeist  mit  persönlichem  Bowusstsein  wesenhaft  ist.  Die  Ein- 
gebung grosser  productiver  Genien  zeigt  uns  ihre  Theilnahme,  ihr 
Ausgehen  vom  göttlichen  Geiste.  Der  Mensch  macht  nicht  aus  sich 
Geschichte ;  sie  ist  eine  Wirkung  der  menschlichen  Einzelfreiheiten 
unter  der  Leitung  einer  höhern  göttlichen  Eingebung.  So  betrach- 
tet der  Herr  Verf.  die  ganze  Geschichte  als  »den  factischen  Be- 
weis« für  das  Dasein  Gottes  und  dio  Fortdauer  des  Geistes  (S.  407). 
Das  Endziel  ist  in  den  Formen  des  irdischen  Daseins  nicht  erreich- 
bar, es  ist  kein  »epitellurisches«.  Was  den  Vollkommensten  des 
Menschengeschlechtes  als  das  höchste,  ihnen  erreichbare  Ziel  vor- 
gesteckt ist,  muss  auch  die  allgemeine  Grenze  für  das  Ziel  der 
Menschheit  sein.  Die  Gesammtgeschichte  der  Menschheit  zeigt  aber 
die  »niemals  vollständig  sich  aufhebende  Differenz  zwischen  dem 
Gewollten  und  Erreichten >  zwischen  der  Idee  und  ihrer  factischen 
Verwirklichung.«  Das  nächste  Ziel  wird  erreicht,  aber  es  wird 
dann  immer  wieder  diesem  gegenüber  ein  weiteres,  noch  nicht  er- 
reichtes vorgesteckt,  so  dass  nie  ein  »absolut  Höchstes«  erreicht 
werden  kann  (416).  Wer  in  den  Culturprocess  des  Ethischen  oder 
in  die  Geschichte  aufgenommen  ist,  hat  »oben  darum  Anspruch  auf 
eine  unendliche  Gulturentwicklung,  nicht  blos  auf  eine  abstracte 
Ewigkeit  oder  eine  geistig  iuhaltleere  Fortdauer«  (S.  416).  Es  ist 
das  »ethisch-geschichtliche  Postulat  persönlicher  Fortdauer«.  Hier 
zeigt  sich  die  »Bestimmung  des  Menscheu  zum  ewigen  Leben«.  Die 
Uuiversalthatsache  ethischer  Cultur  »lässt  uns  von  der  einen  Seite 
zurückschliessen  auf  die  Gegenwart  und  Einwirkung  einer  ethischen 
Weltregierung,  von  der  andern  enthält  sie  das  ethische  Postulat 
persönlicher  Fortdauer«  (S.  420).  Nur  die  Persönlichkeiten  sind 
Träger  der  Geschichte.  Von  hier  aus  schwinden  die  Eäthsel,  welche 
durch  den  scholastischen  Begriff  eines  Menschencollectivums  als 
des  Geschichtsträgers  entstehen.  Die  »ethische  Vollkommenheit« 
ist  das  »letzte,  definitive  Ziel  alles  geschichtlichen  Lebens«  (S.  424). 
Nur  die  ethischen  Werthe  haben  absolute  Bedeutung.  Nur  diejeni- 
gen Persönlichkeiten  der  Geschichte  haben  eine  wahre  Bedeutung, 
durch  welche  der  ethische  Zwock  verwirklicht  wird.  Die  Ergeb- 
nisse der  Psychologie  und  Ethik  sind  dahin  zu  bezeichnen ,  dass 
»alle  ethische  Cultur  noth wendig  den  Begriff*  unendlicher  Perfecti- 


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Pichte:  Die  Seelenfortdau er.  880 


bilitat  in  sich  schliefst,  und  dass  diese  ein  völlig  illusorischer  Be- 
griff ohne  die  Annahme  persönlicher  Fortdauer«  ist  (S.  427).  So 
werden  mit  der  historischen  Auffassung  des  ethischen  Zieles  auch 
die  eachatologischen  Vorstellungen  der  Theologie  vom  »künftigen 
Weltgerichte«  oder  dem  »jüngsten  Tage«,  von  den  Höllenstrafen 
und  den  äusserHcb  erkennbaren  Strafen  berichtigt. 

Tn  der  S ch  1  u  ss an  m  erku  n  g  fS.  443—466)  betrachtet  der 
Herr  Verf.  vom  kritisch-apologetischen  Standpunkte  in  kurzer  Zusam- 
menfassung die  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen,  Zurückftihrung 
der  Schöpfung  und  Geschichte  auf  Gott,  die  höchste  Macht  des 
Goten,  und  Hinführung  der  Welt  durch  den  von  Gott  geleiteten, 
individuellen  Menschengeist  unter  der  Bedingung  der  Fortdauer 
nach  dem  Tode  zum  höchsten  ethischen  Ziele1,  stellt  als  Grund- 
prtmisse  dieser  Betrachtungen  die  »Allverbreitung  des  Genius  im 
Menschengescblecbte«  auf,  bezeichnet  seine  Geschichtsauffassung  zu- 
gleich als  die  »wesentlich  christliche  nnd  humanistische«,  findet 
die  Einheit  der  Christlichkeit  und  des  Humanismus  in  »der  Mensch- 
werdung Gottes«,  im  philosophischen  Sinne  aufgefasst,  verlangt  für 
die  gegenwärtige  Geschichtsepoche  die  »Wechseldurchdringung  und 
Versöhnung  von  Religion  und  Humanismus«  und  stellt  für  dies 
Alles  »als  Nebenbedingung  das  ethisch-historische  Postulat  mensch- 
licher Fortdauer«  auf,  deren  Begriff  durch  das  vorliegende  Werk 
als  der  für  die  ethisch-psychologisch-historische  Auffassung  des 
Lebens  unerlSssliche  festgehalten  und  durchgeführt  wird. 

Referent  verweist  am  Schlüsse  dieser  Anzeige  auf  eine  Stelle 
in  dem  vorliegenden  Werke  (S.  81),  mit  welcher  er  vollkommen 
übereinstimmt. 

»Es  gibt  keine  Einzelgründe  oder  Einzelbeweise  ftlr  die  Un- 
sterblichkeit; darum  auch  eben  so  wenig  gegen  sie.  Vielmehr  als 
Gesammtergebniss  einer  umfassenden  Wissenschaft 
vomGeiste  in  seinem  Verhaltnisse  zur  Natur  muss  sich 
eine  Ansicht  vom  Wesen  des  Menschen  bilden,  in  deren  Folge  von 
selbst  sich  entscheidet,  nach  welcher  Seite  hin  die  grössere  Wahr- 
scheinlichkeit falle.  Die  Wahrscheinlichkeit,  sagen 
wir  mit  Vorbedacht,  indem  es  selbstverständlich  von  den  künfti- 
gen factischen  Zustanden  unseres  Wesens  keinen  directen  und  un- 
mittelbaren Nachweis  geben  kann.  Wohl  aber  vermag  ein  auf  In- 
dnction  und  Analogie  gestützter  Wahrsoheinlichkeitsbe- 
weis  einen  gewissen  Grad  von  Ueberzeugung  hervorzubringen, 
welofce  sich  im  Laufe  der  Untersuchung  verstarken  Iftsst,  besonders, 
wenn  es  gelingt,  die  gegen  die  persönliche  Fortdauer  sprechenden 
Gründe  in  ihrer  Nichtigkeit  aufzuweisen.  Ist  nur  die  innere 
Möglichkeit  einer  Fortdauer  gegen  alle  Zweifel  sichergestellt, 
so  wird  der  ursprüngliche  Naturglanbe  daran,  dessen  tiefliegende 
Qnelle  wir  kennen ,  mit  so  siegender  Gewalt  hervorbrechen ,  dass 
der  Erfolg  überzeugender  Gewissbeit  nicht  ausbleibt,  dass  zugleich 
dieser  Naturglaube  willig  den  Aufschlüssen  entgegenkommt,  welche 


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390 


Xenopbontis  Anahaais.  Ree.  Bteitenbach. 


eine  höhere  weltgeschichtliche  Offenbarung  ihm  zu  gewahren  ver- 
mag.« 

Es  ist  also  hier  nicht  von  einem  eigentlichen  Wissen,  sondern 
nur  von  einem  Begründen  des  Glaubens  an  die  Fortdauer  die  Rede 
und  diese  psychologische ,  ethische  und  historische  Begründung  ist 
in  dem  Werke  des  Herrn  Verf.  auf  eine  die  Materialien  der  Natur- 
forschung und  Geschichte  erschöpfend  benützende  Weise  scharf- 
sinnig und  geistvoll  in  schöner  Form  durchgeführt ,  so  dass  die 
Unsterblichkeit  für  den  Glauben  als  ein  psychologisch-historisch- 
ethisches Postulat  erscheint  und  mit  vielem  Geschicke  alle  Zweifels- 
gründe gegen  den  persönlichen  Unsterblicbkeitsglauben  widerlegt 
und  beseitigt  werden.  Das  Buch  wird  darum  nicht  minder  dein 
unbefangenen  Theologen ,  als  dem  denkenden  philosophischen 
Forscher  ein  höchst  willkommener  Beitrag  zur  Aufklärung  vieler 
mit  der  Seelenfortdauerfrage  zusammenhängender ,  metaphysischer, 
psychologischer,  ethischer,  geschichtlicher  und  religionsphilosophi- 
scher Gesichtspunkte  sein.  v.  Reichlin-Meldegg. 


Xenophontis  Anabasis.  Recognovit  et  cum  apparatu  critico  edidit 
Ludovicus  Breitenb  ach.  Halis  Saxonum,  in  fibraria 
Orphanotrophei.  AIDCCCLXVJI.  XLll  u.  284  8.  in  gr.  8. 

Wenn  es  uns  in  der  That  an  Ausgaben  einer  auf  allen  Schulen 
gelesenen  Schrift,  wie  dies  Xcnophons  Anabasis  ist,  nicht  fehlt,  so 
ist  doch  die  vorliegende  Ausgabe  einem  Bedürfniss  entsprungen, 
das  sich  gerade  in  Folge  der  grösseren  Zahl  von  Ausgaben,  immer 
fühlbarer  herausgestellt  und  nun  hier  seine  Erledigung  gefunden 
hat.  Bei  der  grösseren  Zahl  der  Ausgaben  der  Anabasis,  von  wel- 
chen jede  in  kritischer  Hinsicht  irgend  Etwas  Eigenthümliches 
bietet,  bei  der  Verschiedenheit  der  Ansichten  der  Herausgeber  über 
die  bei  Behandlung  des  Textes  einzuhaltenden  Grundsätze,  insbe- 
sondere auch  über  den  Werth  und  die  Bedeutung  der  einzelnen 
auf  die  Gestalt  des  Textes  Einfloss  übenden  Handschriften,  endlich 
auch  bei  den  vielfach  ohne  Noth  in  dem  Texte  wider  die  hand- 
schriftliche Autorität,  also  willkürlich  vorgenommenen  Aenderungen, 
mit  denen  uns  auch  bei  diesem  Schriftsteller  die  Neuholländische 
Schule  überfluthet  hat,  war  es  gewissermassen  nothwendig,  eine 
Zusammenstellung  des  gesammten,  vielfach  zerstreuten  kritischen 
Apparats  in  einer  guten  Uebersicht  zu  geben ,  und  damit  für  den 
Text  selbst  eine  Grundlage  zu  schaffen,  welche  vor  unnöthigen 
Aenderungen  eben  so  sehr  zu  schützen,  als  selbst  in  zweifelhaften 
Fällen  den  Weg  anzudeuten  vermag,  welcher  zur  sicheren  Heilung 
einer  verdorbeneu  Stelle  führen  kann.  Diess  war  das  Aller  Erste 
und  Notwendigste,  und  wenn  dem  Herausgeber,  der  in  vorliegen- 
der Ausgabe  diess  auszuführen  unternommen  hat,  keine  neuen,  bis- 


uigiiizec 


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Xenophontis  Anabasis.  Ree.  Breitenbach.  891 


her  noch  unbekannten  kritischen  Httlfsmittel,  also  neue  Handschrif- 
ten, zu  Gebote  standen,  so  werden  wir  darauf  weniger  Gewicht  zu 
legen  haben,  da  sich  wohl  die  Frage  aufwerfen  lässt,  ob  überhaupt 
noch  neue  handschriftliche  Quellen  aufzufinden  sind ,  welche  den 
bereits  benutzten  vorangehen  und  in  Bezug  auf  die  nur  im  Allge- 
meinen bekannten  aber  noch  nicht  näher  verglichenen  Handschriften 
sich  schwerlich  ein  besondrer  Gewinn  für  die  Gestaltung  des  Textes 
erwarten  lässt,  da  sie  alle  der  zweiten  Classe  angehören :  wir  unter- 
schreiben daher  ganz  das  Urtheil ,  welches  der  Herausgeber  S.  III 
des  Vorworts,  wo  er  einige  dieser  noch  nicht  verglichenen  Hand- 
schriften anführt  (eine  Wiener,  zwei  Vonetianer,  vier  Mailänder 
o.  s.  w.),  nach  dem,  was  aus  diesen  Handschriften  bekannt  gewor- 
den ist,  ausgesprochen  hat:  >si  a  paucis  discesseris,  quibus  melio- 
rum  librorum  scriptura  confirmatur,  ista  sunt  talia,  ut  novi  ad- 
jnmenti  quidquam  ex  integra  illorum  librorum  comparatione  redun- 
daturum  esse  sperare  non  liceat.«  Man  wird  darum  seine  Auf- 
merksamkeit vielmehr  dem  bis  jetzt  Bekannten  zuzuwenden,  den 
bisher  gewonnenen  Apparat  zusammenzustellen  und  zu  sichten  haben, 
so  weit  diess  überhaupt  Beachtung  verdient :  dann  ist  eine  sichere 
Grundlage  gegeben ,  die  wir  als  das  erste  Bedürfniss  einer  gesun- 
den Texteskritik  betrachten,  die  sich  die  Aufgabe  setzt,  dem  Texte 
diejenige  Gestalt  zu  geben,  die  der  ursprünglichen,  von  dem  Autor 
selbst  ausgegangenen,  am  nächsten  steht.  Einer  solchen  gewiss 
uicht  leichten,  vielmehr  in  Manchem  schwierigen  und  jedenfalls 
höchst  mühevollen  Aufgabe  hat  sich  der  Herausgeber  in  einer  Weise 
unterzogen,  welche  seinen  Bemühungen  alle  Anerkennung  zuwenden 
muas ;  ein  Jeder,  der  irgend  wie  mit  der  Texteskritik  und  der  viel- 
fach durch  diese  bedingten  Erklärung  des  Textes  sich  beschäftigt, 
wird  vor  Allem  auf  diese  Ausgabe  und  die  hier  gelieferte  wohlge- 
sichtete Zusammenstellung  des  kritischen  Apparates  zurückkommen 
und  von  hier  den  Ausgangspunkt  zu  nehmen  haben. 

Ueber  die  bisher  bekannt  gewordenen  kritischen  Hülfsmittel 
verbreitet  sich  die  Praefatio  p.  IV  ff.  des  Näheren.  Zuerst  werden 
diejenigen  Handschriften  aufgeführt  und  beschrieben,  welche  der 
ersten  Classe  —  denn  in  der  Annahme  von  zwei  Classen  theilt  der 
Heransgeber  und  mit  Grund,  die  bisherige  Ansicht  —  angehören, 
nemiieh  die  Pariser  1640  (C)  vom  Jahr  1320,  die  Oxforder  (D) 
*us  dem  Ende  des  vierzehnten  oder  Anfang  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts (D),  die  Pariser  1641  (ß),  die  Vaticaner  985  (A),  die 
T«>n  Eton  (E);  an  der  Spitze  der  andern  Classe  erscheint  mit  Recht 
die  Wolfenbüttler,  welche  an  Alter  der  Pariser  B  nicht  nachsteht 
und  der  Vaticaner  noch  vorangeht :  jedenfalls  sind  diess  die- 
jenigen Handschriften,  auf  welche  es  bei  der  Gestaltung  des  Textes 
zunächst  ankommt.  Gleiche  Beachtung  haben  auch  die  gedruckten 
Ausgaben  gefunden ,  über  welche  cap.  II.  p.  XIV  sich  verbreitet. 
Denn  folgt  cap.  III.  p.  XX:  De  consilio  ac  ratione  hujus  editjonis. 
Der  Herausgeber  entscheidet  sich  hier  unbedingt  für  die  Pariser 


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891 


Xenophontia  An&basis.  Ree.  Breitenbach. 


Handschrift  0,  als  die  vorzüglichste  und  beachtenswerteste  von 
allen,  die  allein  in  vielen  Stellen  die  wahre  Lesart  erhalten,  mit 
der  anch  meistens  die  übrigen,  oben  genannten  Handschriften  der 
ersten  Classe  tibereinstimmen,  wahrend  diess  ungleich  seltener  bei 
den  Handschriften  der  andern  Classe  der  Fall  ist,  an  deren  Spitze 
die  Wolfenbtittler  Handschrift  steht;  auch  zeigt  sich  diese  Hand- 
schrift freier  von  all  den  zahlreichen  Zusätzen,  Erklärungen  u.  dgl., 
welche  in  den  Text  der  Vulgata  aus  den  übrigen  Codd.  einge- 
drungen sind;  der  Verf.  hat  daher  anch  das  Verhältniss,  in  wel- 
chem diese,  von  Manchen  überschätzte  Wolfenbtittler  Handschrift 
zu  jener  Pariser  steht,   näher  untersucht  und  darin  nur  eine  Be- 
stätigung seiner  Ansicht  gefunden,  auch  hat  er  nach  der  Präfatio 
S.  XXIX— XXXIX  eine  Zusammenstellung  gegeben,  die  uns  zeigen 
kann,  welche  Beachtung  er  auch  dieser  Handschrift  zugewendet 
hat,  unter  der  Aufschrift :  Scripturae  codicis  Guelferbytani,  quae  in 
Dindorfii  ed.  Oxoniensi  aut  non  recte  relatae  sunt  aut  prorsus  prae- 
termissae.c    Bei  der  Verschiedenheit  der  Ansichten  über  den  bei 
der  Kritik  des  Textes  der  Anabasis  einzuschlagenden  Weg  und  die 
hier  zu   befolgenden  Grundsätze  glauben  wir  diese  Ansicht  des 
Herausgebers,  die,  wie  sich  auch  in  der  Anwendung  selbst  gezeigt 
hat,  als  die  am  meisten  begründete  erscheint,  hervorheben  zu  müs- 
sen. Wir  müssen  aber  noch  einen  andern  Punkt  hervorheben,  über 
den  sich  der  Verfasser  am  Schlüsse  dieses  Abschnittes  näher,  aber 
mit  aller  Bestimmtheit  ausgesprochen  hat.    Man  hat  in  neuester 
Zeit  auf  die  einzelnen,  bei  Xrnophon  wie  auch  bei  anderen  Schrift- 
stellern vorkommenden  Formen,  namentlich  auch  in  Bezug  auf  dia- 
lektische Vorhältnisse,  eine  grössere  Aufmerksamkeit  gerichtet,  um 
eine  feste  Norm  für  jede  dieser  Formen  aufzustellen  und  hiernach 
die  Anwendung  einer  jeden  dieser  Formen  zu  bestimmen  :  so  achtungs- 
werth  gewiss  au  und  für  sich  dieses  Streben  ist,  und  selbst  för- 
derlich für  die  genaue  Kenntniss  der  einzelnen  Formen  und  ihrer 
Anwendung,  so  ist  man  doch  insofern  wieder  über  die  natürliche 
Gränze  hinaus  geschritten,  indem  man ,  nachdem  man  glaubte  für  ' 
eine  jede  einzelne  Form  eine  bestimmte,  auf  die  Mehrheit  der  Stellen, 
wo  sie  vorkommt,  begründete  Norm  gefunden  zu  haben,  dann  alle 
die  andern  Stellen,  in  welchen  diese  Norm  nicht  vorkommt,  hier- 
nach zu  ändern,  oder,  wie  man  sich  auszudrücken  pflegt,  zu  ver- 
bessern und  zu  berichtigen  unternahm.  Der  Schriftsteller  soll  hier- 
nach nur  Eine  und  dieselbe  Form  in  allen  Fällen  angewendet  haben, 
und  was  derselben  Zuwiderlaufendes  vorkommt,  sei  es  auch  auf  die 
Autorität  der  besten  Handschrift  gestützt,  soll  daher  geändert  wer- 
den.   Mit  dieser  Annahme  wird  das  einem  jeden  Schriftsteller  zu- 
stehende Recht,  je  nach  Belieben,  verschiedene  in  seiner  Zeit  ge- 
bräuchliche Formen  anzuwenden,  oder  vielmehr  auszuwählen,  dem- 
selben insoweit  entzogen,  als  in  allen  einzelnen  Formen  völlige 
Gleichheit  und  üebereinstimmung  herrschen  soll.    Es  ist  bekannt, 
zu  welchem  Unfug  diese  Theorie  in  ihrer  Anwendung  bei  Herodo- 


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Xenophontis  Anabasis.  Ree  Breitenbach.  393 

tos  geführt  hat,  über  dessen  dialektische  Formen  selbst  bei  den 
Alten  keine  völlige  Sicherheit  zn  ermitteln  steht,  während  man  die- 
selbe anf  die  Weise  zn  gewinnen  suchte,  dass  man  eine  auf  ein 
rein  numerisches  Verhältniss,  die  Zahl,  gestützte  Norm  aufstellte, 
die  dann  in  allen  einzelnen  Fällen  eingehalten  werden  rauss!  Wenn 
also  der  Schriftsteller  zwei  oder  dreimal  dieselbe  Form  angewendet 
bat,  so  muss  sie  auch  an  der  dritten  oder  vierten  Stelle,  wo  eine 
andere  Form  vom  Schriftsteller  angewendet  worden,  eingeführt 
werden,  wiewohl  Hunderte  von  Fällen  vorkommen,  wo  beide  For- 
men gleichberechtigt  sich  einander  gegenüberstehen !  Ueber  dio 
handschriftliche  Autorität  pflegt  man  natürlich  in  allen  solchen 
Fällen  sich  wegzusetzen,  und  damit  auf  allen  positiven  Grund  zu 
Terzichten.  Auch  bei  Xenophon  ist  in  neuerer  Zeit  Aehnliches  ver- 
geht worden,  und  wenn  wir  die  auf  diese  Weise  hervorgerufene 
Untersuchung  über  die  einzelnen  Formen  und  die  daraus  hervor- 
gegangene Erweiterung  unserer  Kunde  der  attischen  Redeweise 
dankbar  anerkennen,  so  wollen  wir  um  so  weniger  die  Anwendung, 
die  davon  theilweise  gemacht  worden  ist  und  auf  eine  völlige 
Gleichheit  aller  der  anzuwendenden  Formen  hinausläuft,  in  Schutz 
nehmen,  weil  wir  sie  als  eine  Willkür,  als  einen  Eingriff  in  das 
einem  jedem  Schriftsteller  zustehende  Recht,  sich  die  Form  zu 
wählen,  die  ihm  in  jedem  einzelnen  Fall  zusagt,  betrachten,  und 
wir  werden  nicht  berechtigt  sein,  da  wo  wir  eine  andere  Form 
angewendet  finden,  den  Schriftsteller  darum  der  Tnconsequenz  oder 
eines  Mangels  an  Sorgfalt  und  Genauigkeit  zu  beschuldigen,  noch 
weniger  aber  werden  wir  die  handschriftliche  Autorität  in  solchen 
Fällen  völlig  bei  Seite  setzen  dürfen.  Hören  wir  nun,  wie  der 
Herausgeber  darüber  sich  auslässt.  Er  erkennt  allerdings  an,  wie 
über  aller  handschriftlichen  Autorität  die  >ratio«  steht,  aber  eben 
»o  verschieden  erscheint  ihm  auch  die  Ansicht  über  das ,  was 
ihr  entspricht;  »verumtamen  (fahrt  er  dann  fort)  nulla  rationeposci 
?idetur,  ut  formarum  non  solum  atque  elocutionum  quaedam  aequa- 
bilitas ,  sed  orationis  etiam  vel  sententiarum  eadem  conformatio 
obtrudatur  quum  aliis  antiquis  scriptoribns,  tum  Xenophonti,  cujus 
facilitas,  simplicitas,  inaflectata  ratio  loquendi  nihil  magis  respuit 
qnam  certis  quibusdam  regulis  ac  normis  ubique  adstrictum  vel 
eodem  Semper  modo  et  ad  amussin  quasi  comparatum  istud  dicendi 
genas,  in  quo  restitnendo  vel  comminiscendo  potius  operam  per- 
diderunt  prae  aliis  Bisschopius  et  Cobetus,  partim  etiam  Dindorfius 
atque  alii.<  Der  Herausgeber  hat  es  aber  anch  nicht  an  Belegen 
fehlen  lassen,  welche  hinlänglich  beweisen,  wie  Xenophon  sich  so- 
gar gefallen,  in  der  Anwendung  einzelner  Formen  eine  Abwechs- 
lung, eine  Mannichfaltigkeit,  eintreten  zu  lassen ;  und  wie  am  Ende 
Alles  das,  was  uns  theoretisch  als  attische  Form,  und  als  die  allein 
anzuwendende  Form  dargestellt  wird,  unsicher  und  ungewiss  er- 
scheint. Und  hat  man  einmal  in  Einem  Fall  diesen  Weg  einge- 
schlagen, so  wird  man  auch  fortfahren  müssen  in  allen  ähnlichen,, 


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394 


Xenophontis  Anabaais.  Ree.  Breitenbach. 


and  ist  auf  diese  Weise  kein  anderes  Ende  mit  dieser  Gleichst  1- 
lungsmacherei  abzusehen ,  als  ein  Text ,  der  dem  ursprünglichen 
völlig  unähnlich  ist,  willkürlich  dem  Schriftsteller  eine  Gestalt  auf- 
gedrungen hat,  die  ihm  ferno  lag.  Wir  können  dem  Herausgeber 
in  diesem  Punkt  nur  unbediugt  Recht  geben  und  freuen  uns,  dass 
er  sich  durch  moderne  Theorien  nicht  hat  beirren  lassen  in  seinem 
Streben,  die  urkundlich  beglaubigte  Gestalt  des  Textes  möglichst 
herzustellen,  was  ja  doch  am  Ende  das  Ziel  einer  jeden  Kritik  sein 
muss,  die  sich  selbst  nicht  tiberstürzen  will. 

Aus  dem,  was  bisher  bemorkt  worden,  geht  schon  zur  Genüge 
hervor,  dass  diese  Ausgabe  eine  rein  kritische  ist,  welche  nur  in 
wenigen  Fällen,  wo  es  unvermeidlich  war,  und  wo  der  kritische 
Verhalt  eine  solche  Zugabe  nöthig  machte,  kurze  exegetische  Be- 
merkungen enthält,  oder  solche,  die  auf  den  Sprachgebrauch  Xeno- 
phon's  sich  beziehen.  Galt  es  doch,  wie  schon  bemerkt,  zunächst 
um  eine  wohl  gesichtete  und  geordnete  Zusammenstellung  des  ge- 
sammten  kritischen  Apparats,  wie  er  theils  aus  den  (oben  genann- 
ten) Handschriften  oder  älteren  Ausgaben,  theils  aus  den  Aende- 
rungen  der  Herausgeber  neuerer  Zeit  oder  einzelnen  Vermuthungen 
einzelner  Gelehrten  sich  herausstellt,  und  in  dieser  Hinsicht  hat 
der  Verf.  gewiss  Alles  Mögliche  geleistet.  Unter  dem  Text  folgt 
zu  jedem  Paragraphen  die  Zusammenstellung  der  handschriftlichen 
Lesart  über  alle  einzelnen  in  kritischer  Hinsicht  in  Betracht  kom- 
menden Wörter,  insbesondere  auch,  soweit  dicss  zur  Bestätigung 
der  in  den  Text  aufgenommenen  Lesart  dient,  und  finden  hier  auch 
alle  Aenderungen  oder  Vorschläge  einzelner  Gelehrten  die  ge- 
bührende Erwähnung  und  Beachtung.  An  erster  Stelle  wird  die 
vom  Herausgeber  aufgenommene  Lesart  erwähnt,  und  deren  Grund 
in  den  durch  Buchstabenzeichen  beigesetzten  Handschriften  nach- 
gewiesen. Dann  folgt  die  Angabe  der  anderen,  von  dem  Heraus- 
geber nicht  aufgenommenen  Lesarten ,  mit  beigefügtem  Nachweis 
der  Handschriften ,  wenn  nemlich  eine  solche  zu  geben  möglich 
war.  Durch  diese  Einrichtung  ist  eine  feste  Ordnung  in  die  Zn- 
sammenstellung gebracht  und  die  Uebersicht  erleichtert.  Man  er- 
sieht daraus  aber  auch  am  besten  das  besonnene  Verfahren  des 
Herausgebers,  sein  Bemühen  an  der  handschriftlichen  Ueberliefe- 
rung  festzuhalten  und  sie  nicht  ohne  Noth  zu  verlassen,  wiewohl 
auf  der  andern  Seite  der  Herausgeber  in  einer  Anzahl  von  Stel- 
len, in  welchen  die  handschriftliche  Lesart  nicht  ausreichen 
kann,  es  auch  an  eigenen  Verbesscrungsvorschlägen  nicht  hat 
fehlen  lassen ,  ohne  dieselben  aber  auch  sofort  in  den  Text  zu 
setzen.  Davon  hielt  ihn  seine  grosse,  allerdings  nicht  zu  missbil- 
ligende Vorsicht  ab.  Wir  unterlassen  es,  dazu  Belege  im  Einzelnen 
anzuführen,  die  jeder,  der  die  Ausgabe  in  die  Hand  nimmt  und 
prüfend  durchgeht,  eben  so  leicht  selbst  finden  kann:  man 
wird  aber  bei  einer  solchen  näheren  Durchsicht  des  Ganzen  und 
einer  sorgfältigen  Prüfung  bald  sich  selbst  von  dem  überzeugen 


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Minckwlts:  Wörterbuch  der  Mythologie. 


895 


können,  was  wir  im  Vorhergehenden  über  den  Charakter  des 
Werkes  angegeben  haben.  Möchte  es  auf  diese  Weise  möglich 
werden,  für  eine  Schrift,  die  so  viel  gelesen  und  insbesondere  auf 
allen  Schulen  behandelt  wird,  einen  einigermassen  gleichmässigen 
Text  zu  gewinnen,  der  auf  urkundliche  Treue  Anspruch  machen 
und  eben  so  auch  dem  Bedürfniss  der  Schule,  welches  möglichst 
gleichartige  Texte  verlangt,  genügen  kann.  Nech  bemerken  wir, 
dass  S.  268—284  mit  doppelten  Spalten  auf  jeder  Seite  ein  Index 
hinzugekommen  ist,  in  welchem  alle  in  der  Anabasis  vorkommen- 
den Worte,  auch  mit  Einschluss  aller  Partikeln,  aufgeführt  sind. 
Druck  und  Papier  werden  nur  zur  Empfehlung  gereichen. 


Illustrirtes  Taschenwörterbuch  der  Mythologie  aller  Völker  von  Joh. 
Minckwits.  Dritte  verbesserte  Auflage.  Leipzig.  Amoldische 
Buchhandlung  1866.  620  S.  in  12. 

Das  Wörterbuch,  das  hier  in  seiner  dritten  verbesserten 
Auflage  vorliegt,  zeichnet  sich  allerdings  durch  Reichhaltigkeit  und 
Vollständigkeit  in  einer  Weise  aus,  dass  man  kaum  ein  ähnliches 
ihm  an  die  Seite  stellen  kann:  denn  es  umfasst  wirklich  die 
mythologischen  Persönlichkeiten  und  Begriffe  aller  Völker,  wie  der 
Titel  besagt,  insbesondere  die  der  alten  Welt.  Alle  in  der  Mytho- 
logie uud  Götterlehre  Griechenland' s  wie  Rom's  vorkommenden 
Kamen  sind  in  dasselbe  aufgenommen  und  haben  eine  mehr  oder 
minder  umfassende  Erklärung,  je  nach  der  mehr  oder  minder  be- 
deutenden Geltung  des  betreffenden  Namens  erhalten;  eben  so  ist 
aber  auch  Alles,  was  die  ägyptische  und  die  asiatische  Götterwelt 
betrifft,  die  nordasiatische,  phönicisch-syrische,  wie  die  babylonisch- 
assyrische, und  ganz  besonders  die  indische  bebandelt,  ja  bis  nach 
China  und  Japan  erstrockt  sich  die  Bearbeitung.  Dass  die  Personen 
der  altdeutschen  Götterwelt  nicht  fehlen,  war  zu  erwarten ;  es  sind 
aber  auch  die  betreffenden  Erscheinungen  der  slavischen  Welt  be- 
rücksichtigt und  selbst  Amerika  ist  nicht  leer  ausgegangen,  wie 
die  auf  mezicanische  Namen  bezüglichen  Artikel  beweisen.  Die 
Erklärung  ist  möglichst  biindig  gehalten  und  betrifft  zunächst  das 
Thatsächlicbe,  die  historischen  Angaben  und  Erzählungen,  wie  sie 
ans  von  jedem  dieser  göttlichen  Wesen  überliefert  sind ;  denn  auf 
eine  tiefergehende  Deutung  derselben  vom  physikalischen  oder 
ethisch-politischen  Standpunkt  aus  konnte  der  Bearbeiter  sich  be- 
greiflieber Weise  nicht  einlassen,  ohne  den  Charakter  seines  Wör- 
terbuchs zu  verändern,  welches  dem  mit  der  Götterlehre  dieser  Völ- 
ker nicht  näher  Bekannten  die  nöthigen  Aufschlüsse  Uber  die  Stel- 
lung der  einzelnen  Götter,  Heroen  u.  dgl.  und  die  daran  geknüpften 
Sagen  zu  geben  hat,  ihn  sozusagen  mit  der  Geschichte  eines  jeden 
derselben  in  kurzer  und  befriedigender  Weise  bekannt  machen  soll. 


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306 


Mas  Jus:  Deutsches  Lesebuch. 


Diesen  Standpunkt  bat  der  Verf.  durchweg  eingebalten ;  denn  hatte 
er  auf  eine  tiefergeben  de  Deutung  dieser  Gottheiten  und  ihrer  Be- 
ziehungen zu  einander  sich  einlassen  wollen,  so  würde,  selbst  ab- 
gesehen von  der  grossen  Schwierigkeit,  überall  eine  befriedigende 
Deutung  zu  geben ,  da  wo  die  Standpunkte  der  Auffassung  selbst 
unter  den  Gelehrten  noch  so  verschieden  sind,  eine  solche  Behand- 
lungsweise  der  Bestimmung  dieses  für  ein  grösseres  gebildetes 
Publikum  bestimmten  Wörterbuches  nicht  entsprochen  haben. 

Endlich  ist  noch  der  artistischen  Ausstattung  zu  gedenken. 
Hunderte  von  Holzschnitten,  recht  nett  gefertigt  und  eingedruckt 
führen  uns  die  betreffenden  Gottheiten  oder  die  ihnen  beigelegten 
Attribute  vor  und  bringen  dadurch  der  sinnlichen  Auffassung  Alles 
nHber.  Der  Druck  ist  zwar  klein  aber  sehr  deutlich :  nur  auf  diese 
Weise  war  es  möglich,  einen  so  umfassenden  Stoff  in  Einem  Bande 
zu  behandeln. 


Deutsch f s  Lesebuch  für  höhere  Unterrichtsanstalten  von  Dr.  Her- 
rn an  n  Masius.  Dritter  Theil.  Für  obere  Cl  asten.  Halle. 
Verlan  der  Buchhandlung  des  Waisenhauses.  1867.  X  u.  694  S. 
in  gr.  8. 

Dieses  für  die  oberen  Classen  unserer  Gymnasien  bestimmte 
Lesebuch  bringt  eine  sehr  zweckmässig  getroffene  Auswahl  von 
Lesestücken,  wie  sie  in  der  That  geeignet  erscheint,  Schüler  dieser 
Altersstufe  in  ihrer  Bildung,  namentlich  was  die  deutsche  Sprache 
und  Literatur  betrifft,  weiter  zu  fördern,  und  dadurch  mitzuwirken 
zur  Beseitigung  einer  Klage,  die  man  mehrfach  hier  und  dort  ver- 
nommen bat,  als  würde  auf  unsern  Mittelschulen  der  deutschen 
Literatur  nicht  die  gehörige  Sorgfalt  zugewendet,  und  insbesondere 
die  Bildung  unserer  Jugend  in  der  deutschen  Sprache,  im  deutschen 
Ausdruck  vernachlässigt  oder  doch  der  Ausbildung  in  den  classi- 
schen  Sprachen  des  Altcrtlmms  hintangesetzt.  Wir  halten  diese 
Klage  nicht  für  begründet,  da  wir  glauben,  dass  der  Unterricht  in 
den  classischen  Sprachen  ein  recht  gutes  Mittel  ist,  auch  die  Bil- 
dung im  deutschen  Ausdruck,  im  deutschen  Styl  zu  fördern,  und 
dass  ein  tüchtiger  Lehrer  diess  nicht  aus  den  Augen  verlieren  wird. 
Die  Leetüre  deutscher  Musterstücke  wird  aber  gewiss  am  besten, 
und  selbst  mehr  als  alle  Regeln  und  Vorschriften ,  beitragen ,  die 
Jugend  zur  Nachbildung  eines  guten  deutschen  Ausdruckes  zu  fah- 
ren, und  sie  dazu  zu  bringen,  dass  sie  mit  aller  Gewandtheit  und 
Leichtigkeit  im  schriftlichen  wie  mündlichen  Vortrag  auch  in  der 
Muttersprache  sich  bewegen  kann.  Von  diesem  Standpunkt  ans 
betrachten  wir  das  vorliegende  Lesebuch  und  können  ihm  daher 
auch  unsere  Anerkennung  nicht  versagen ,  da  wir  von  dem  Ge- 
brauch desselben  nur  Förderung  des  bemerkten  Zweckes  erwarten. 
Der  Verf.  hat  nämlich  auf  die  Auswahl  der  aufzunehmenden  Stücke, 


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Masius:  Deutsche«  Lesebuch. 


397 


und  diess  ist  am  Ende  die  Hauptsache,  besondere  Rücksicht  ge- 
nommen, un4  in  diesem  Bande  daher  einen  andern  MaasssVib  an- 
gelegt, als  den,  welchen  er  bei  den  beiden  vorausgegangenen  Bän- 
den, welche  für  die  unteren  und  mittleren  Classen  unserer  Bildungs- 
anstalten bestimmt  sind,  allerdings  anlegen  musste.  Bei  den  vor- 
gerückteren Schülern  der  oberen  Classen  war  auf  eine  grössere 
Mannichfaltigkeit  in  dem  Stoff  und  Inhalt,  wie  in  der  Form  und 
im  Ausdruck  zu  sehen,  insbesondere  mehr  Werth  auf  geschichtliche, 
rednerische  und  didaktische  Darstellung  zu  legen  und  selbst  das 
literärgeschichtlicbe  Moment  zu  berücksichtigen,  wie  diess  auch  der 
Verf.  richtig  erkanut  hat.  Demgemäss  nimmt  der  prosaische  Theil 
einen  ungleich  grösseren  Kaum  ein,  S.  1  -—550,  während  der  poetische 
Theil  von  S.  551—672  reicht.  Bei  der  Auswahl  der  einzelneu 
Lesestücke  hat  der  Verf.  nicht  blos  die  classischen  Schriftsteller 
einer  schon  hinter  uns  liegenden  Zeit,  wie  Schiller,  Götbe  u.  8.  w. 
berücksichtigt,  sondern  noch  weit  mehr  diejenigen  Schriftsteller,  welche 
im  eigentlichen  Sinn  unserer  Zeitperiode  angehören,  auch  zu  einem 
nahmhaften  Theil  noch  unter  uns  leben:  dass  damit  das  Ganze 
nnserer  Anschauungs-  und  Begriffsweise  näher  gerückt  ist,  wird 
sich  nicht  in  Abrede  stellen  lassen,  eben  so  wohl,  was  den  aller- 
dings mannichfachen  Inhalt  betrifft,  wie  die  Form,  d.  b.  die  Sprache 
der  gebildeten  Welt  unserer  Zeit  und  Literatur. 

In  der  Prosa  begreift  der  erste  Abschnitt  die  erzählende 
Darstellung,  also  Scenen,  Erzählungen  und  Novellen ;  der  zweite 
diebeschreibende  Darstellung,  d.h.  Bilder  aus  Natur  und 
Knnst,  Sitte  und  Leben.  So  z.  B.  Palästina  und  seine  Woltstellung  * 
von  H.  Leo  und  C.  Ritter  oder  Land  und  Volk  der  Griechen  von 
Cnrtius  und  Vischer,  die  südamerikanische  Steppe  von  A.  v.  Humboldt, 
Rügen  von  Riehl  u.  s.  w.  An  dritter  Reihe  folgt  (S.  216  ff.)  die  ge- 
schichtliche Darstellung ;  sie  enthält  Biographisches,  so  wie  einzelne 
Abschnitte  aus  der  Literatur-,  Kirchen-  und  Staatsgeschichte ;  wir  er- 
innern, um  aus  der  reichhaltigen  Zusammenstellung  nur  einige  wenige 
Proben  zu  geben,  nur  an  die  Abschnitte:  der  Eintritt  des  Christen- 
thums in  die  römische  Welt  von  Ranke,  Florenz  unter  Cosinus  von 
Medici  von  K.  Hase,  Homeros  von  Lasaulx,  Sophocles  von  A.  W.  v. 
Schlegel,  Lessing  von  Hettner,  Gervinus  und  Viimar.  Der  vierte  Ab- 
schnitt befasst  die  didaktische  und  rednerische  Darstellung,  also 
Aphorismen,  Betrachtungen,  Abhandlungen,  Reden,  ebenfalls  ein 
reichhaltiger  Abschnitt,  dem  ein  gleicher  Umfang  (von  S.  873  — 
539)  gewidmet  ist.  In  dem  poetischen  Theile  findet  sich  Lyrisches, 
Episches  und  Didaktisches,  berücksichtigt:  eine  Trennung  in  drei 
Abtheilungen  ist  nicht  vorgenommen,  sie  wäre  auch  kaum  mit  aller 
Strenge  durchzuführen,  da,  wo  die  ausgewählten  Stücke  nicht  immer 
so  streng  in  das  Gebiet  der  einen  oder  andern  Gattung  fallen, 
sondern  oftmals  in  einander  übergehen.  Mit  der  getroffenen  Aus- 
wahl selbst  hat  man  alle  Ursache  zufrieden  zu  sein.  Schliesslich 
haben  wir  noch  der  beiden  Beilagen  zu  gedenken,  von  welohen  die 


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808 


Heinrich  IL  von  Cohn. 


ersto  eine  Erläuterung  einiger  nicht  so  leicht  verstündlichen  Aus- 
drücke in  den  Gedichten  Walther's  von  der  Vogelweide,  Groth's 
u.A.  bringt,  die  andere  aber  literargeschichtliche  und  biographische 
Notizen  Uber  die  Verfasser  der  aufgenommene  LesestUcke  in  alpha- 
betischer Reihenfolge  enthält,  was  man  gewiss  recht  zweckmässig 
finden  wird.  Und  so  hoffen  wir,  dass  dem  nützlichen  Werke  die 
gewünschte  Verbreitung  nicht  abgehen  möge  und  damit  der  Zweck 
erreicht  werde,  welcher  die  Anlage  der  ganzen  Sammlung  bestimmt  hat. 


Ersählungen  aus  dem  deutschen  Miitelalter.  Herausgegeben  von  Otto 
Nasemann,  Vierter  Band.  Kaiser  Heinrich  der  Zweite.  Halle, 
Verlag  der  Buchhandlung  des  Waisenhauses  1S67%  XII  und 
260  S.  8.  Auch  mit  dem  besondern  Titel:  Kaiser  Heinrich  der 
Zweite.  Von  Adolf  Cohn.  Halle  u.  s.  w. 

Ueber  die  vorausgegangenen  Bändchen  ist  in  diesen  Jahrbb. 
1864.  S.  160  f.  1866.  S.  720  Bericht  erstattet  worden.  Das  vor- 
liegende vierte  Bändchen  bringt  eine  Fortsetzung,  die  in  jeder 
Hinsicht  passend  den  früher  erschienenen  Theilen  sich  anreiht,  und 
geeignet  erscheint,  die  Zwecke  des  schönen  Unternehmens  zu  för- 
dern, das  eben  so  sehr  beitragen  soll  zur  Bildung  unserer  Jugend, 
wie  zur  Erweckung  vaterländischen  Sinnes.  Nachdem  Karl  der 
Grosse,  Heinrich  I.  und  Otto  der  Grosse  geschildert  waren,  erhal- 
ten wir  in  diesem  Bändchen  das  Bild  eines  deutschen  Kaisers,  der 
als  der  letzte  aus  dem  sächsischen  Stamme  nach  Aussen  Deutsch- 
land geschützt  und  geschirmt,  in  seinem  Innern  Ruhe  und  Sicher- 
heit begründet,  und  durch  Alles  das,  was  er  gethan,  folgenreich  in 
die  ganze  Entwicklung  des  Mittelalters  während  seiner  zwei  und 
zwanzigjährigen  Regierung  eingegriffen  hat.  Bei  dieser  Bedeutung 
Heiorich's  II.  ist  es  begreiflieb,  wie  seine  Regierung  Gegenstand 
besonderer  Behandlung  in  unsern  Tagen  geworden  ist,  und  zwar  in 
verschiedenem  Sinne.  Für  unsern  Verf.  lag  darin  nur  die  Auf- 
forderung, auf  die  Quellen  selbst  zurückzugehen  und  die  Ergebnisse 
seiner  Quellenforschung,  die  freilich  in  Manchem  von  den  Ansichten 
und  Urtheilen  der  Vorgänger  abweichen,  mitzutheilen.  In  die  ge- 
lehrte Behandlung  selbst  näher  einzugehen,  lag  dem  Zweck  und  der 
Bestimmung  des  Ganzen  fern :  um  jedoch  die  eigenen,  hier  nieder- 
gelegten Ansichten  zu  rechtfertigen,  namentlich  da,  wo  sie  im  Wider- 
spruch mit  der  Auffassung  Anderer  stehen,  sind  am  Schlüsse 
(S.  251 — 260)  in  kleinerer  Schrift  Anmerkungen  hinzugekommenen, 
welche  für  den  Gelehrten  bestimmt,  näher  die  Gründe  darlegen, 
welche  der  Verf.  zu  einer  von  seinen  Vorgängern  abweichenden 
Ansicht  geführt  haben.  Auf  diese  Weise  ist  der  gelehrten  Forschung 
alle  Rechnung  getragen.  In  siebenzehn  Abschnitten  ist  der  Gegen- 
stand behandelt ;  der  erste  beginnt  mit  der  Königswahl,  der  letzte 


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frk  Juste:  Le  Regent  699 

stellt  die  kirchlichen  Reformpläne  und  den  Tod  Heinrich1  s  II.  vor. 
Einen  besonders  anziehenden  Abschnitt  bildet  die  Erzählung  der 
Gründung  des  Bisthums  Bamberg's,  welche  der  Verf.  mit  Recht  als 
die  dauerndste  Schöpfung  Heinrich' s  betrachtet,  mit  welcher  die 
Erinnerung  an  seinen  Namen  für  alle  Zelten  vorknüpft  ist,  S.  73  ff. 
Aber  auch  die  verschiedenen  Kämpfe  in  Böhmen  und  Polen,  die 
ZQge  nach  Italien,  der  burgundische  Krieg  u.  A.  werden  in  gleich 
anziehender  Weise  geschildert ,  um  so  zu  einem  Gesammtbild  zu 
führen,  das  seinen  Eindruck  auf  jugendliche  Gemüther  nicht  ver- 
fehlen kann.  Schliesson  wir  unsere  Anzeige  mit  den  Worten,  mit 
welchen  auch  der  Verf.  S.  249  f.  seine  Darstellung  abgeschlossen 
bat;  sie  mögen  zugleich  eine  Probe  derselben  abgeben  und  zum 
Beleg  unseres  Urtheils  dienen : 

»In  schwierigen  Zeiten  hat  Heinrich  II.  die  Zügel  der  Regie- 
rung ergriffen:  mit  Besonnenheit  und  Thatkraft  hat  er,  so  weit  er 
Termochte,  die  Feinde  des  Reichs  abgewehrt,  empörerische  Lehns- 
mannen gebändigt  und  der  Kirche  ergeben,  ihr  dooh  nicht  in  blin- 
dem Gehorsam  das  Wohl  des  Staats  geopfert:  wo  er  gleichwohl 
Missgriffe  beging  oder  offenbares  Unrecht  übte,  wie  bei  dem  Ver- 
fahren gegen  den  Herzog  von  Kärnthen  und  den  Grafen  von  Ham- 
meratein  wegen  ihrer  Vermählungen ,  oder  der  Vertreibung  der 
Jaden  aus  Mainz,  handelte  er  mit  jener  Befangenheit,  welche  er 
seiner  geistlichen  Erziehung  verdankte  und  aus  deren  Banden  er 
sich  nicht  befreien  konnte.  Die  nachfolgenden  gewaltigen,  glanz- 
und  sturmvollen  Zeiten  der  fränkischen  Kaiser  Hessen  sein  Anden- 
ken als  das  eines  thätigen,  um  das  Wohl  des  Reiches  sich  redlich 
mühenden  Herrschers  verblassen,  und  schon  vier  Menschenalter 
nach  seinem  Abscheiden  war  nur  die  Stiftung  Bamberg's,  in  dessen 
Dom  er  mit  seiner  Gemahlin  bestattet  worden,  in  der  Erinnerung 
lebendig.  Da  wurden  seine  Gebeine  feierlich  erhoben  und  von  der 
Kirche  wurde  ihm  der  Name  verliehen,  der  ihm  fortan  geblieben 
ist  bis  auf  den  heutigen  Tag :  Heinrich  der  Heilig e.c  —  Die 
änsaere  Ausstattung  des  Buches  in  Druck  und  Papier  verdient  alle 
Anerkennung. 


Us  fondateurs  de  la  Monarchie  Beige.  Le  Regent  d'aprts  sea  papiera 
et  d' untres  doeuments  inedits  par  Theodore  Juste.  Bruxel- 
les.  C.  Muguardtf  librairie  Europe'enne-met?ie  maison  ä  Qand 
et  ä  Leipzig  1867.  213  S.  gr.  8. 

Dieses  Buch  lasst  sich  wohl  als  der  zweite  Theil  eines  grös- 
seren Ganzen  betrachten,  welches  unter  dem  Titel  Les  fonda- 
■  C'ürs  de  la  Monarchie  Beige  die  Gründungsgeschichte  der 
Benern  Monarchie  behandelt,  und  zwar  in  biographischer  Weise, 
d.  h.  in  Lebensschilderungen  der  Männer,  die  zu  der  Gründung  am 


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Th.  Juste:  Le  Regent 


meisten  beigetragen  und  mehr  oder  minder  eine  Hauptrolle  bis  zu 
ihrer  definitiven  Constituirung  gespielt  haben.  Ein  vorausgehen- 
der Band  hatte  Joseph  Lebeu  geschildert  und  dabei  aus  unge- 
d ruckten  Documenten  Manches ,  bisher  nicht  bekannte ,  und  doch, 
sowohl  in  Bezug  auf  die  "Hache,  wie  auf  die  Personen  Wichtige 
beigebracht.  Der  vorliegende  Band  enthüll  eine  ähnliche  Schilde- 
rung des  Baron  Surlet  de  Ch  okier,  eines  Mannes,  der  zu  der 
Gründung  des  neuen  Reiches  nicht  wenig  beigetragen  und,  nach- 
dem er  im  Jahr  1830  zum  Präsidenten  des  Nationalcongresses  er- 
wählt worden  war,  bald  darauf,  als  die  Errichtung  einer  Regent- 
schaft beschlossen  war,  durch  das  Vertrauen  seiner  Mitbürger  zu 
der  Stelle  eines  Regenten  erhoben  ward  und  als  solcher  an  die 
Spitze  des  neuen  Staates  vom  Februar  bis  Juli  1831  gestellt  war. 
So  wird  die  Schilderung  der  Thätigkeit  des  Mannes,  über  dessen 
früheren  Lebenslauf  Weniges  zu  berichten  war,  zugleich  zu  einer 
geschichtlichen  Darstellung  der  durch  ihn  geführten  Regentschaft, 
welche  eine  Reihe  der  wichtigsten  Momente  für  die  Feststellung 
des  neuen  Staates  umfasst  und  dabei  von  Schwierigkeiten  jeder 
Art,  die  in  der  Natur  der  politischen  Verhältnisse  lagen,  umgeben 
war.  Nach  der  Wahl  des  Prinzen  Leopold  von  Sachsen-Coburg 
zum  König  von  Belgien  trat  der  Mann,  der  auch  in  seiner  hohen 
Stellung  die  frühere  Einfachheit  und  Anspruchslosigkeit  bewahrt 
hatte,  wieder  in  das  Privatleben  zurück,  geachtet  uud  geehrt  von 
Allen,  die  ihn  kannten ,  bis  zu  seiuem  Tode.  Der  Verfasser  hebt 
die  rühmlichen  Eigenschaften  des  von  ihm  geschilderten  Mannes, 
nach  Gebühr  hervor,  und  da  ihm  bei  seiner  Arbeit  manche  unbe- 
nutzte Quellen,  Correspondenzen  u.  dgl.  m.  zu  Gebote  standen,  so 
erhalten  wir  manche  merkwürdige  Aufschlüsse  über  die  Entwicke- 
ln ng  der  Verhältnisse  in  dieser  für  Belgien  so  wichtigen  Periode. 
Fünf  und  zwanzig  »Notes  et  pieces  justificatives«  sind  der  Dar- 
stellung angeschlossen ,  meistens  Briefe  u.  dgl.  m.  von  den  bedeu- 
tendsten Persönlichkeiten,  welche  damals  in  diesen  Ereignissen 
irgend  wie  thätig  waren.  Im  Ganzen  aber  gewinnen  wir  ein  schönes 
und  würdiges  Bild  eines  einfachen,  biederen  Mannes,  der,  auch  zu 
der  höchsten  Stelle  berufen,  nie  die  Einfachheit  und  Uneigennützig- 
keit  seines  Charakters  verleugnete  und  von  reiner  wahrer  Vater- 
landsliebe in  seiner  ganzen  politischen  Handlungsweise  geleitet  war. 
—  Die  äussere  Ausstattung  ist  eine  in  jeder  Hinsicht  vorzügliohe 
zu  nennen. 


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It.  26.  HEIDELBERGER  1857. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Bibliothek  des  Htterarischen  Vereins  in  Stuttgart.  LXXXVU,  Das 
deutsche  Heldenbuch  nach  dem  mulhmasslich  ältesten  Drucke 
neu  herausgegeben  von  Adelbert  v.  Keller.  Stuttyart  1867, 

Die  Bibliothek  de9  Stuttgarter  litterarischen  Vereins  hat  sich 
schon  längst  eine  so  allgemeine  Anerkennung  erworben,  dass  es  über- 
flüssig ist,  die  glückliche  Wahl  des  Gebotenen,  die  Umsicht  und 
Sorgfalt  des  leitenden  Ausschusses  und  der  Verwaltung  zu  rühmen. 
Auch  die  zunächst  in  Aussicht  gestellten  Publicationen ,  worunter 
eine  vollständigere  Ausgabe  der  Briefe  der  Prinzessin  Elisabeth 
von  Orleans,  das  Gedicht  des  14.  Jahrhunderts  Friedrich  von 
Schwaben ,  die  Chronik  der  Grafen  von  Zimmern  genannt  sind, 
werden  dem  Unternehmen  neue  Freunde  gewinnen.  Werfen  wir 
einen  Blick  auf  die  jüngsten  Gaben  des  Vereins,  so  ist  von  ganz 
besonderer  Wichtigkeit  die  82.  und  83.  Publication,  Flemings 
deutsche  Gedichte  durch  Lappenberg.  Es  ist  wunderbar,  dass  diess 
eigentlich  die  erste  wirklich  lesbare  und  brauchbare  Ausgabe  der 
Gedichte  Paul  Flemings  ist,  denn  alle  früheren  Ausgaben,  die  be- 
kanntlich erst  nach  dem  Tode  des  geistreichen  und  liebenswürdigen 
Dichters  erschienen,  sind  so  überaus  nachlässig  behandelt,  dass  sie 
als  unbrauchbar  bezeichnet  werden  müssen.  Lappenberg  hat  sich 
um  den  Dichter  und  unsere  Litteratur  durch  diese  mit  gewohnter 
Gründlichkeit  besorgte  Ausgabe  ein  grosses  Verdienst  erworben,  um  so 
mehr,  als  er  sich  nicht  begnügte  die  Gedichte  in  zuverlässigster  Ge-, 
stalt  drucken  zu  lassen,  sondern  auch  bemüht  war,  die  Lebensverhält- 
nisse des  Dichters  aufs  gonauste  zu  untersuchen.  Es  ist  erst  da- 
durch möglich  geworden,  die  Gedichte  zu  verstehen ;  denn  Fleming 
hat  mit  den  bedeutendsten  Dichtorn  das  gemein,  dass  Dichten  und 
Leben  nicht  geschieden  werden  können.  Das  Licht,  das  auf  diese 
Weise  die  Gedichte  Flemings  aus  seinem  Leben  erhalten,  ist  frei- 
lich in  einem  Fall  ein  recht  betrübendes,  und  geeignet,  manchem 
den  Genuss  eines  schönen  Liedes  zu  verleiden.  Ich  meine  das  be- 
kannte innige  Gedicht :  Ein  getreues  Herze  wissen,  dessen  Strophen 
scbliessen:  Mir  ist  wohl  bei  höchstem  Schmerze,  denn  ich  weiss 
ein  treues  Herze.  Die  Anfangsbuchstaben  der  Strophen  zeigen,  dass 
dieses  treue  Herze  seine  Geliebte  war,  Eisgen.  Und  nun  erfahren 
wir,  dass  dieses  Eisgen,  dieses  treue  Herz  dem  Dichter,  so  bald 
es  ihn  aus  den  Augen  verloren  hatte,  untreu  wurde,  und  ihn  wahr- 
scheinlich zur  Zeit,  als  er  im  fernen  Asien  sich  mit  diesen  Versen 
tröstete,  bereits  in  den  Armen  eines  Andern  vergessen  hatte.  Ist 
das  nicht  betrübend? 

LJX.  Jahrg.  6.  Hell.  26 


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40?  Bibliothek  das  literarischen  Vereins. 

Die  nächste  Publication  bringt  Oheim's  Chronik  von  Reichenau, 
ebenfalls  eine  werth volle  Gabe,  sorgfaltig  behandelt  von  dem  t nöti- 
gen nnd  bereits  durch  mehrere  treffliche  Leistungen  bekannten 
Bibliothekar  in  Donaueschingen  D.  Barack. 

Es  folgt  Pauli's  Schimpf  und  Ernst.  Man  wird  dieses  Buch, 
das  einst  grossen  Erfolg  hatte  und  die  lange  Reihe  deutscher  Schwank- 
nnd  Anecdotenschriften  des  sechzehnten  Jahrhunderts  eröffnet,  mit 
Vergnügen  wieder  zur  Hand  nehmen.  Einen  besondern  Werth  er- 
halt die  neue  Ausgabe  durch  eine  sehr  mühsame,  auf  langen  Studien 
beruhende  Arbeit,  die  im  Anhang  in  compendiösester  Weise  auf 
wonigen  Seiten  gegeben  wird,  nämlich  ein  Nachweis  über  die  Ver- 
breitung und  die  Herkunft  der  einzelnen  in  dem  Buche  erzählten 
Geschiebt  eben.  Der  Herausgeber,  Oesterloy,  kann  auf  den  Dank 
aller  derer,  die  sich  mit  solchen  Untersuchungen  beschäftigen,  mit 
Sicherheit  rechnen. 

Die  nächste  86.  Publication  bringt  die  Reisen  des  Samuel 
Kiechel,  herausgegeben  von  Hassler.  Schon  früher  hat  Hassler  die 
Reise  eines  Ulmers,  Hans  Ulrich  Krafft,  herausgegeben.  Der  zweite 
Ulmer  Reisende,  den  wir  jetzt  kennen  lernen,  Samuel  Kiechel,  lässt 
sich  allerdings  mit  Krafft  nicht  vergleichen,  aber  er  ist  doch  auch 
eine  interessante  Person,  und  seine  Erzählung  verdiente  gewiss  ver- 
öffentlicht zu  werden.  Im  Mai  1585  verliess  er  Ulm,  blos  dem 
Triebe  folgend,  sich  in  der  Welt  umzusehen,  und  er  erzählt  uns 
mit  der  grössten  Gewissenhaftigkeit  seine  ganz  planlosen  Wande- 
rungen, deren  Ziel  er  sich  vom  Zufall  bestimmen  Hess.  Anfangs 
zwar,  da  er  fast  nichts  angibt,  als  wo  er  übernachtet,  und  wie 
weit  ein  Ort  vom  andern  entfernt  ist,  meint  man  verdriesslich,  er 
hätte  ebensogut  zu  Haus  bleiben  können.  Aber  allmählich  wird 
er  redseliger.  Zuerst  in  London  geht  im  der  Mund  auf.  Das  dor- 
tige Theater,  in  der  Zeit  Shakespeare^,  der  Hof  und  das  >hold- 
ßäiig  und  von  der  Natur  raechtig  schön  Weibsbildt«  machen  ihn 
beredt,  und  es  gefällt  ihm  so  gut  in  London,  dass  er  in  Folge  der 
Art,  wie  er  sich  mit  einigen  Freunden  am  letzten  Abend  den  Ab- 
schied erleichtert,  in  bewusstlosem  Zustand  aufs  Schiff  gebracht 
wird.  Je  weiter  er  von  Hause  wogkommt,  um  so  gehaltvoller  und 
interessanter  werden  seine  Berichte.  Die  Reise  dauerte  mehr  als 
vier  Jahre. 

*  -  ____ 

Der  Herausgeber  hat  ein  Ortsregister  beigegeben  und  ein  Schluss- 
wort, in  welchem  er  nicht  nur  die  schönen  Eigenschaften  des  Rei- 
sendon hervorhebt,  und  einige  weniger  lobenswerthe  entschuldigt, 
z.  B.  die  deutliche  Vorliebe  für  gute  Biere  und  feine  Weine  mit 
Hinweisung  auf  den  bekannten  alemannischen  Durst,  sondern  auch 
die  zahlreichen  Provinzialismen  und  Fremdwörter  erklärt,  wobei 
er  sowohl  im  Specifisch  Ulmischen,  als  auch  in  den  verschiedenen 
andern  Sprachen ,  denen  der  weitgereiste  Mann  Wörter  entlehnte, 
schöne  Kenntnisse  entfaltet. 


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Deutsches  HeJdenbnch  von  Ad.  v.  Keller. 


Mit  der  nächsten  87.  Publica! ion  gelangen  wir  endlich  zu  dem 
Werke,  das  wir  anzeigen  wollen,  die  neue  Ausgabe  des  alten  Helden- 
bnches.  Der  Verein  hat  nach  wiederholten  Wünsohen  den  ältesten 
Druck  genau  wieder  abdrucken  lassen.  Auch  der  Unterzeichnete 
gehört  zu  denjenigen,  die  diesen  Wunsch  ausgesprochen  haben,  und 
er  ist  daher  wohl  berufen,  für  die  Erfüllung  des  Wunsches  in  Bei- 
sein uud  vieler  Anderer  Kamen  zu  danken.  Allerdings  hat  das 
alte  Heldenbuch,  nachdem  die  darin  enthaltenen  Gedichte  in  besse- 
ren Texten  vorliegen,  nicht  mehr  die  grosse  Wichtigkeit  die  man 
ihm  früher  zuerkennen  musste ;  aber  dennoch  verdiente  es  und  zwar 
genau  nach  dem  ältesten  Druck  neu  herausgegeben  zu  werden,  ein- 
lual  weil  es  lange  Zeit  das  einzige  Buch  war  aus  dem  man  die 
alten  fast  vergessenen  Heldengedichte  kennen  lernte,  das  Buch  aus 
dem  z.  B.  Lessing  schöpfte,  und  auf  welches  sich  alle,  freilich  dür- 
ftigen, älteren  Arbeiten  beziehen,  und  sodann  weil  es  bei  kritischen 
Arbeiten  die  Stelle  einer  Handschrift  vertritt  und  daher  benutzt  wer- 
den muss,  was  aber  bei  der  ausserordentlichen  Seltenheit  der  vor- 
handenen Exemplare  fast  nicht  möglich  war.  Ich  selbst  habe  bei 
meiner  Ausgabe  des  Wolfdieterich  den  Mangel  eines  neuen  Ab- 
drucks empfunden;  doch  konnte  ich  mich  einer  spätem  Ausgabe 
bedienen. 

Nun  hat  sich  A.  v.  Keller  selbst  der  Aufgabe  unterzogen  und 
sein  Name  ist  Bürge  dafür,  dass  wir  niohts  zn  wünschen  übrig  haben. 
Keller  hat  nicht  nur  als  Präsident  der  Verwaltung  des  Vereins, 
sondern  auch  als  Herausgeber  zahlreicher  und  wichtiger  Publicatio- 
nen  die  wesentlichsten  Verdienste  um  das  Gedeihen  des  Unter- 
nehmens. Man  kann  auch  in  der  Art,  wie  alte  Werke  wieder  zu- 
gänglich gemacht  werden,  die  Person  des  Herausgebers  erkennen. 
Jeder  hat  seine  besondere  Art.  Keller  gibt  immer  zuerst  die  Haupt- 
sache, den  Text  in  gewisserhafter  Treue.  Dann  litterariscbe  Notizen, 
die  sehr  fleissig  gesammelt  und  öfters  von  grossem  Werth  sind, 
dann  zerstreute  Bemerkungen  zu  einzelnen  Stellen,  die  man  immer 
mit  Nutzen  lesen  wird,  und  zuletzt  ein  Register.  So  ist  er  auoh 
jetzt  wieder  verfahren.  Ich  erlaube  mir  nur  ein  offenbares  Ueber- 
sehen  zu  berichtigen.  Die  Ausgabe  von  1509  wird  unter  zwei  Buch- 
staben, zuerst  H,  dann  I  aufgeführt,  so  dass  mau  bei  flüchtigem 
Lesen  glauben  könnte,  es  gebe  zwei  verschiedene  Ausgaben  von 
1509.  S.  757  sind  die  Worte  »I,  Hagenau  bei  H  Gran.  1509, 
FeL«  zu  streichen. 

Bei  der  Herausgabe  des  Wolfdieterich  gebrauchte  ioh  ein 
Exemplar  der  Ausgabe  von  1560,  das  ich  so  glücklich  war,  bei 
einem  Schweizer  Antiquar  für  mich  zu  kaufen.  Zwar  hatte  ich  bei 
einem  kurzen  Besuch  in  Darmstadt  das  dort  befindliche  Exemplar 
des  ältesten  Drucks  angesehen,  und  mir  einige  Stellen  daraus  ab- 
geschrieben, aus  denen  hervorzugehen  schien,  dass  der  Unterschied 
dor  beiden  Ausgaben  für  den  Wolfdietrich  höchst  unbedeutend  und 
unwesentlich  sei.    Doch  blieb  einige  Besorgniss,  dass  bei  Verglei- 


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404 


Deutsches  Heldenbuch  von  Ad.  v.  Keller. 


chung  längerer  Stellen  sich  ein  grösserer  Unterschied  zeigen  könne, 
und  dass  also  meine  auf  die  Ausgabe  von  1560  gegründete  Unter- 
suchung nicht  auf  den  ältesten  Druck  anwendbar  sei.  Nun  ge- 
reicht es  mir  zur  Beruhigung,  dass  der  vollständige  Text  des  alten 
Druckes  in  meinen  Häuden  ist.  Der  Unterschied  der  beiden  Aus- 
gaben ist  wirklich  ein  ganz  unwesentlicher,  und  die  Ergebnisse 
meiner  Untersuchung  bleiben  dadurch  völlig  unberührt.  Da  aber 
auch  die  Ausgabe  von  1560  zu  den  Seltenheiten  gehört,  so  wird  es 
Manchem  erwünscht  sein,  wenn  ich  'hier,  als  Nachtrag  zu  den  von 
Keller  8.  764  ff.  gegebenen  Notizen,  ihr  Verhältniss  zum  altem  Druck 
deutlich  mache.  Der  Titel  lautet :  Das  Heldenbuch,  Weichs  auffs  new 
Corrigiert  und  gebessert  ist,  mit  schönen  Figuren  geziert.  Gedruckt  zu 
Franckfurdt  am  Mayn,  durch  Weygandt  Han  und  Sygmund  Feierabendt. 
Die  Zahl  1560  steht  an  der  Seite  einer  Titelvignette.  Die  Vorrede 
beginnt:  > Innhalt  des  Heldenbuchsan  den  Leser.  Nachdem  gut- 
herziger Leser  diss  Heldenbuch  zum  offteren  mal  im  Druck  auss- 
gangen, hab  ich  für  gut  angesehen,  wie  ich  denn  auch  von  etlichen 
guten  Freunden  dahiu  bin  bewegt  worden,  solch  Werk  ferner  inn 
den  Druck  zu  bringen.  Iunmassen  es  hie  vor  Augen,  und  mit 
schönen  Figuren  zugericht,  dergestalt,  das  der  Kauffer  ein  wolge- 
fallen  darinn  haben  mügo,  wiewol  mann  nicht  jedermann  kan  recht 
thunc  u.  8.  w.  im  übrigen  fast  wörtlich  wie  in  der  Vorrede  von 
1590,  die  bei  Keller  abgedruckt  ist.  Der  Schluss  lautet:  »Damit 
so  bitt  ich  gutherziger  Leser,  wollet  solche  meine  kleine  mühe  zu 
grossem  Danck  annemmen,  Und  dieses  Werck  euch  gefallen  lassen, 
hiemit  wüntsch  ich  euch  viel  glück  und  heyl.  F.  W.  allzeit  S.  F.« 
Es  folgt  dann  auf  dem  nächsten  Blatt:  »Erster  Theil  sagt  von 
Kaiser  Ottniten«.  Die  im  alten  Druck  voranstehende  prosaische 
Einleitung  steht  hier,  wie  in  der  Ausgabe  von  1509,  am  Schlüsse, 
während  sie,  wie  es  scheint,  in  der  Ausgabe  von  1590  wieder  den 
Anfang  macht.  Die  gereimte  Vorrede,  bei  Keller  S.  12  fehlt  gänz- 
lich. Der  erste  Theil  schliesst  auf  Blatt  73  mit  Keller  313,4. 
Nach  einem  leeren  Blatt  folgt  auf  Blatt  75 :  »Ander  Tbeii  meldet 
von  Herr  Hugdietricben  und  seinem  Son  Wolfdietrichen,  wie  die 
umb  der  gerechtigkeit  willen,  offt  den  trostlosen  Leuthen  haben 
hilff  mit  ihren  trefflichen  thaten  gethan,  neben  andern  khünen 
Helden,  so  inen  in  nöten  beygestanden.«  Dieser  Titel  ist  unrichtig, 
denn  im  zweiten  Theil  ist  nichts  von  Hugdietrich  zu  lesen.  Der 
zweite  Theil  geht  bis  Blatt  141  und  enthält  den  ganzen  Best  des 
Wolfdietrich,  bis  Keller  593.  Dann  folgt  wieder  nach  einem  leeren 
Blatte  auf  Blatt  143:  »Dritt  Theil  zeiget  an  vom  Rosengarten  zu 
Wormbs,  der  durch  Krimhildin,  König  Gibichs  Tochter  ward  ge- 
pflanzet und  gezieret  dar  durch  nachmals  der  mehrer  Theil  Helden 
und  Rysen  zu  abgang  kommen  und  erschlagen  sind  worden,  c  Der 
dritte  Theil  geht  bis  Blatt  167  und  enthält  den  ganzen  Rosen- 
garten sammt  den  Schlussversen  bei  Keller  S.  692.  Wieder  nach 
einem  leeren  Blatte  beginnt  auf  Blatt  169:    »Im  Vierdten  Theil 


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Deutsches  Heldcnbuch  von  Ad.  v.  Keller. 


wird  gemeldet  von  dem  kleinen  König  Lanrin  u.  s.  w.  Die  Titel- 
vignetto  dieses  Theils  ist  dieselbo,  wie  die  des  ganzen  Heldenbuchg. 
Lanrin  gebt  bis  Blatt  184,  Vorderseite.  Darunter  steht:  Ende  des 
vierdten  nnd  letzten  Theil  diess  Heldenbuchs.«  Nichts  desto  weni- 
ger folgt  auf  der  Bückseite:  In  diesem  Tbeil  findet  man  wie  die 
Helden  des  ersten  anf  sind  kommen,  auch  wie  sie  wieder  ab  sind 
gangen  u.  8.  w.  Unter  diesem  Titel  folgt  die  bekannte  Prosa  bis 
187,  Rückseite:  »Ende  des  gantzen  Heldenbucbs.«  * 

Die  Holzschnitte  sind  wie  es  scheint  nach  dem  alten  Druck 
wiederholt :  es  sind  genau  ebensoviel ,  und  sie  haben  dieselben 
Uebersohriften.  nur  stehen  sie  nicht  ganz  an  derselben  Stelle.  Im 
alten  Druck  nJimlich  unterbrechen  sie  die  Strophen  :  in  der  jüngern 
Ausgabe  wird  das  vermieden  und  sie  dienen  als  Capitel Überschriften. 

Vergleicht  man  nun  den  Text  mit  dem  ältern  Druck,  so  ist, 
wie  schon  bemerkt ,  für  den  Otnit  und  Wolfdietrich ,  der  Unter- 
schied sehr  gering,  dennoch  zeigt  sich,  dass  der  Herausgeber  nicht 
mit  Unrecht  auf  den  Titel  gesetzt  hat  »corrigirt  und  gebessert«. 
Es  war  offenbar  seine  Absicht,  veraltete  Ausdrücke  zu  entfernen: 
z,  B.  Statt  gundent  setzt  er  regelmässig  theten,  wie  593,24 
und  gundent  in  da  laben,  dafür  und  theten  ihn  da  la- 
ben. So  wird  168,20  gemelich,  aber  nicht  sehr  passend  durch 
schwerlich  ersetzt.    Einige  scheinbare  Aenderungen  sind  offen- 
bar nichts  als  Druckfehler,  z.  B.  176,9  er  lasz  das  buch  gehüre, 
dafür  Er  lasz  das  auch  gehewre.    Die  Hauptsache  aber  war  dem 
Frankfurter  Herausgeber   eine  Verbesserung  des  Versbaus.  Um 
Hebungen  und  Senkungen  kümmerte  man  sich  damals  nicht  mehr: 
man  zählte  die  Silben  ohne  alle  Berücksichtigung  des  Tongewichts. 
Die  Absicht  war  offenbar,   im  Hildebrandston   jedem  Vers  mit 
stumpfem  Reim  sechs  Silben,  jedem  mit  klingendem  sieben  zu  geben. 
Daher  werden  Verse  von  fünf  Silben,  wie  sie  im  alten  Druck  noch 
zuweilen  vorkommen,  durchaus  nicht  geduldet:  die  Mittel,  um  die 
sechste  Silbe  zu  erhalten,  sind  sehr  einfach :  es  wird  beliebig  einem 
Wort  ein  e  angehängt,  oder  aus  manchen  wird  manichen  gemacht, 
oder  es  wird  ein  Wörtchen  zugesetzt.  Z.B.  166,22  Ach  Walgund 
herre  mein.  166,31  wol  bey  dem  eyde  mein.   592,25  Stösz  und 
manichen  schlag.  593,20  recht  als  er  todte  wer  u.  s.  w.  Ganz 
ebenso  werden  klingende  Verse  siebensilbig  gemacht,  z.  B.  593,9 
die  doten  geist  da  hetten.    Umgekehrt  wird  ebenso  einfach  abge- 
kürzt, wenn  der  Vers  eine  Silbe  zuviel  hat,  z.  B.  16,4  geschrifft 
vil  maniges  plat  hat  eine  Silbe  zuviel:  daher  manches.  17,7  in 
gestirnen  was  er  weisz,  dafür  himraelslauff  was  er  weiss.  Aller- 
dings kommen  auch  unrichtige  Verse  vor,  aber  wahrscheinlich  sind 
sie  als  Druokfehler  anzusehen;  zuweilen  ist  ein  Wörtchen  ausge- 
fallen, oder  ein  stummes  e  stehen  geblieben. 

Es  ist  also  deutlich,  dass  das  ganze  Holden  buch  systematisch 
geändert  wurde ;  im  Otnit  nnd  Wolfdietrich  ist  jedoch  diese  Aende- 
rang  Dicht  sehr  in  die  Augen  fallend,  weil  schon  im  alten  Prack 


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406  Deutsches  Heldenbueh  von  Ad.  v.  Keller. 

die  Verse  meistens  die  geforderte  Zahl  der  Silben  haben,  und  weil 
auch  in  den  Worten  nicht  viel  zu  modernisiren  nötbig  war.  Aber 
schon  merklicher  ist  der  Unterschied  im  grossen  Rosengarten.  In 
dem  altertümlicheren  Versbau  des  alten  Drucks  wusste  sich  der 
silbenzählende  Verbesserer  nicht  zurecht  zu  finden ;  doch  ist  das  Be- 
streben, Verse  von  gleicher  Silbenzahl  zu  erhalten,  überall  bemerklioh. 
594,4  Wormbs  sie  d  a  den  namen  hat ;  da  wird  eingeschoben,  da- 
mit der  Vers  dem  ersten:  an  dem  Rein  da  ligt  ein  Statt  gleich 
gebaut  sei.  Wie  im  Wolfdietrich  sollen  die  Verse  6,  oder  7  Silben 
erhalten,  daher  z.B.  594,15  als  man  von  ir  nun  seit.  595,2  Und 
das  man  doch  Spechte  ist  sicher  ein  Bruckfehler  für  doch  da.  12. 
mit  zwölf  gar  khunen  man.  599,16  Urlaubs  er  da  begerto.  Aber 
es  kommen  Verse  vor  von  acht  oder  sieben  Silben  mit  stumpfem 
Reim,  wie  595  der  eilfte  heisset  studenfusz;  oder  594,10  der  het 
bey  der  frawen  sein ;  diese  verwirrten  den  Verbesserer ,  er  wusste 
sie  nicht  zu  bebandeln :  daher  zeigt  er  in  diesem  T heile  keine  rechte 
Conseqnenz. 

Noch  viel  auffallender  sind  die  Aenderungen  im  kleinen  Rosen- 
garten.   Et  beginnt: 

Ihr  lieben  Herren  hie  besunder 

wölt  ir  vernemen  grosse  wunder 

die  vor  zeiten  geschehen  sin  dt 

wie  man  es  noch  geschrieben  ßndt 

gar  sehr  weyt  in  den  Landen 

von  sehr  guten  weyganden 

Sind  viel  harter  streit  gesohehen. 

Gleich  wie  es  denn  dio  alten  jehen  u.  s.  w. 
Der  Bearbeiter  wollte  den  damals  vorherrschenden  Vers  von 
acht,  oder  klingend  9  Silben  durchführen,  und  es  ist  ihm  grösaten- 
theils  gelungen.  Da  aber  der  alte  Text  meistens  Verse  von  7,  aueh 
6  Silben  hat,  so  musste  die  Aenderung  eine  sehr  merkliche  sein, 
und  zuweilen  blieben  doch  kürzere  Verse  stehen. 

Nun  entsteht  aber  die  Frage  wie  sich  diese  Modernisirung  des 
Laurin  verhält  zu  dem  Druck  von  Gutknecht  in  Nürnberg,  den 
man  ins  Jahr  1560  setzt.  Es  wird  angenommen,  dieser  Gutknecht 
habe  den  Text  modemisirt  und  Feyerabendt  habe  diesen  in  Nürn- 
berg entstandenen  Text  später  in  seine  Ausgabe  von  1590  aufge- 
nommen. Man  sehe  das  Deutsche  Heldenbuch,  Berlin  1866,  I,  Vor- 
rede S.  85.  Es  zeigt  sich  nun  aber,  dass  der  modernisirte  Text 
nicht  erst  in  der  Frankfurter  Ausgabe  von  1590,  sondern  schon 
in  der  von  1560  steht:  und  zwar  ist  diese  Erneuerung  nioht  eine 
von  der  Nürnberger  verschiedene,  sondern  der  Nürnberger  Text 
zeigt  nur  ganz  unerhebHöhe Aenderungen,  z.B.  Vers  14  Weiter  so 
merckt  mein  red  hie  basz  lautet  ebenso,  nur  ist  mit  Verschlechte- 
rung des  Verses  ftirbass  geschrieben  statt  basz.  Der  Nürnberger 
hat  am  Schlösse  die  letzten  12  Verse  mit  dem  Namen  Heinrichs 
WA  Ofterdingaii  weggelassen.    Angeschlossen  ist  im  Nürnberger 


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Mittarrntiaer:  Die  Sprache  der  Bart 


401 


Druck  wie  bei  Feyerabendt  1560  die  prosaische  Einleitung,  aber 
nicht  vollständig,  sondern  nnr  der  Abschnitt,  der  bei  Feyerabendt 
toi  187  beginnt  mit  der  Uebersohrift :  Wie  die  Held  ein  end  haben 
genomen  und  erschlagen  sind  worden  unnd  wie  Dietrich  von  Bern 
verloren  ist  das  niemand  weist  wohin  er  kommen  ist.    Zu  wissen 
als  Konig  Etzel  u.  s.  w.  bisSchluss:  Man  vermeinet  auch  der  ge- 
trew  Ekharte  sei  noch  vor  Fraw  Venus  Berg  unnd  soll  auch  da 
bleiben  biss  an  den  Kingston  tag,  und  warnet  alle  die  in  den  Berg 
geben  wollen.    Im  Nürnberger  Alles  fast  wörtlich  wie  bei  Feyer- 
abendt; im  Schluss  hat  Gutknecht  noch  einen  Druckfehler;  vnd 
sey  auch  da  bleiben,  statt  sol.    Es  kann  nach  Allem  nicht  zwei- 
felhaft sein,  dass  nicht  Gutknecht,  sondern  Feyerabendt  den  Laurin, 
ganz  nach  denselben  Grundsätzen  wie  das  ganze  Heldenbuch,  mo- 
dernisirte.  Der  Nürnberger  Druck  ist  nichts  anderes  als  ein  Nach« 
druck  der  Frankfurter  Ausgabe  von  1560. 

A.  Holt/mann. 


Die  Sprache  der  Bari  in  Central" Afrika.  Grammatik,  Text  und 
Wörterbuch.  Herausgegeben  mit  Unterstützung  der  kaiserh 
Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien  von  Dr.  J.  C.  M Itter» 
rutsner ,  ord.  Mitglied  der  deutschen  morgenländischen  Ge- 
sellschaft in  Leipzig,  der  Akademie  der  kathol.  Religion  in  Rom 
und  des  Comit&s  des  Marienvereins  sur  Beförderung  der  kathol. 
Mission  in  Central- Afrika  su  Wien,  Oym.  Prof.  zu  Brizen. 
8.  (XXV,  261  8.).  Brixen,  1867.  Verlag  von  A.  Wagner* $ 
Buchhandlung. 

Herr  Dr.  Mittor rutzner,  Professor  zu  Brixen  in  Südtirol, 
bei  den  Fachgenossen  durch  mehrere  gediegene  Arbeiten  auf  dem 
sprachwissenschaftlichen  Gebiet  längst  rühmlich  bekannt,  hat  in 
den  letzten  zwei  Jahren,  durch  ein  Zusammentreffen  von  glück- 
lichen Umständen  begünstigt,  auf  dem  Feldo  der  afrikanischen 
Linguistik  zwei  in  jeder  Beziehung  treffliche  Arbeiten  geliefert: 
die  1866  in  gleichem  Verlag  erschienene  Dinka-Sprache  in  Central- 
Afrika,  und  eben  jetzt  das  oben  verzeichnete  Werk.  Beide  Werke 
knüpfen  sich  zunächst  an  die  Bemühungen  der  vom  Marienverein 
in  Wien  zur  Beförderung  der  katholischen  Mission  in  Gentrai- Afrika 
unterstützten  Glaubensboten  und  zwar  an  das  unter  österreichischem 
Schutze  stehende  apostolische  Vicariat  und  dessen  Missionsschule 
in  Chartum,  der  Hauptstadt  des  Sudan.  Gegründet  wurde  diese 
Mission  im  Jahre  1848,  die  Seele  des  Ganzen  war  von  1848  an 
bis  1858  der  in  weiten  Kreisen  bekannte  Provioar  Dr.  Ignaz 
Kn  ob  leebor,  der  auf  einer  Reise  nach  Europa  am  13.  April 
1858  in  Neapel  starb.  Von  Chartum  aus  wurden  unter  seiner  Lei- 
tung MissionssUtionen  am  ober*  Nil  unter  den  Negerstämmen  der 

f' 


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408 


Mittermtaner:  Die  Sprach«  der  Bari. 


Dinka  und  Bari  gegründet.  Die  t)  i  n  k  a  bewohnen  in  verschiede- 
nen Stämmen  im  obern  Nilgebiet  die  beiderseitigen  Ufer  des  Babr- 
el-abiad  in  einer  Länge  von  mehr  als  100  deutschen  Meilen,  vom 
120—90  n,  ßr.  am  östlichen,  vom  10°— 5°  fast  ausschliesslich  am 
westlichen  Ufer  des  Stromes  hausend.  Anstossend  an  die  Dinka  im 
Süden  beginnen  die  Bari  ebenfalls  längs  den  beiden  Ufern  des 
weissen  Flusses  vom  6°  5'— 3°  85'  n.  Br.  und  erstrecken  sich  vom 
280  50'— 800  17' östl.L.  von  Paris.  Bei  den  Bari  wurde  von  Knob- 
lecher 1853  als  Station  das  in  neuerer  Zeit  viel  genannte  Gondö- 
koro  (4°  42'  42"  n.  Br.)  errichtet,  das  als  solche  bis  1860  unter- 
halten wurde,  unter  den  Dinka  ward  1854  von  B.  Mosgan  die 
Station  »Heiligkreuz«  (6°  40'  n.  Br.)  gegründet.  An  beiden  Statio- 
nen wirkten  treffliche  Männer,  unter  denen  besonders  A.  Ueber- 
bacber,  Frz.  Morlang,  A.  Kaufmann  hervorzuheben  sind.  Dem  von 
diesen  eifrigen  Glaubensboten  zusammengebrachten  sprachlichen 
Material  haben  wir  zunächst  die  Kenntniss  der  bisher  unerforsch- 
ten Dinka-  und  Bari-Sprache  zu  verdanken.  Ein  recbt  lebendi- 
ges und  anschauliches  Bild  über  die  Verhältnisse  bei  den  Dinka 
und  Bari  geben  die  von  dem  Mitglied  der  Mission  A.  Kaufmann 
erschienenen  anziehenden  »Schilderungen  aus  Central- Afrika  oder 
Land  und  Leute  im  obern  Nilgebiete  am  weissen  Flusse.«  Mit 
einer  Karte.  Brixen  und  Lienz  1862.  Das  aus  dem  Nachlasse 
Knoblecher's  stammende  sprachliche  Material  befindet  sich  auf  der 
kaiserl.  »Hofbibliothek  in  Wien ,  und  auf  demselben  hatte  Franz 
Müller  sein  Werkchen:  »Die  Sprache  der  Bari.  Ein  Beitrag  zur 
afrikanischen  Linguistik«.  8°  (84  S.)  Wien  1864  aufgeführt,  wel- 
ches eine  kurze  Grammatik,  eine  Auswahl  von  Losestücken  und  ein 
Glossar,  sowohl  Bari-Deutsch  als  Deutsch-Bari,  enthält.  Während 
Müller  nur  spärliches  und  dürftiges  Material  zu  Gebote  stand, 
wurde  Herrn  Mitterrutzner  das  Glück  zu  Theil,  aus  dem  vollen 
Borne  einer  lebendigen  Quelle  schöpfen  zu  können,  die  er  schon 
bei  der  Abfassung  seiner  Dinka  -  Grammatik  mit  so  feinem  Ver- 
ständniss  nutzbar  zu  machen  gewusst  hatte.  Nicht  nur  nämlich 
waren  zwei  Missionäre,  die  beide  mehrere  Jahre  bei  den  Bari  ge- 
wirkt hatten,  Franz  Morlang  4  Jahre  bei  den  Bari  allein,  A.  Kauf- 
mann 4  Jahre  theils  bei  den  Bari  theils  bei  den  Dinka  zu  bestän- 
digem Wohnsitze  nach  Brixen  zurückgekehrt,  so  dass  sich  der  Ver- 
fasser stets  bei  ihnen  Rathes  erholen  konnte,  sondern  es  hatte 
Morlang  1863  auch  einen  aufgeweckten  Negerknaben  aus  dem  Bari- 
Stamme  mitgebracht:  Franz  Xav.  Logwit-lo-Ladü.  Er  war 
zu  Kopajur  bei  Gondökoro  getauft  und  hatte  sich  in  der  Missions- 
schule Chartum,  die  er  von  1853 — 1860  besuchte,  als  talentvoller 
Schüler  ausgezeichnet.  Logwit  hatte  ein  feines  Verständniss  für 
seine  Muttersprache  und  so  war  es  natürlich,  dass  er  Mitterrutzner 
bei  seiner  gelehrten  Arbeit  während  eines  Zeitraumes  von  3  Jab- 
«n  in  täglichem  Verkehre  von  unschätzbarem  Vortheil  werden 
musste.   Wir  selbst  verkehrten  mit  dem  edlen  Jüngling  noch  im 


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Mltterrut£ner:  Die  Bprache  der  Barl. 


400 


Herb8tl866  in  Innsbruck,  und  er  sollte  eben  nach  Afrika  zurück- 
kehren, um  unter  seinen  Landsleuten  das  Licht  der  Aufklärung  zu 
verbreiten,  als  er  am  27.  Dec.  1866  in  Brixen  starb.  Mitter- 
rutzner  versandte  damals  folgenden  Barisch  gedruckten  Todtenzettel : 
Francis-Xaveri  Logwit-lo-Ladü,  lu  atadüe  i  jur  16  Bari  i  kiden  na 
Afrika  i  kinga  1848,  alala  ko"  piom  ti  Ngun  ko  Baba  Ignaci  Knob- 
lecher 1855  i  Gondökoro,  lu  apö  teng  ko  Brixen  i  Tirol  i  kinga 
1863 ,  dika  kwajye  ayökakin  katogweanit  molo-kötyo-16nyet  löke. 
Brixen,  27.  12.  1866.  Baba  Hanna  Kutuk-Näculyeng  Mitterrutzner, 
kadinanit-lönyet ,  lu  mömörökin  lu  ko  töwyli  ling  (d.  h.  Frz.  X. 
Logwit-lo-Ladü,  der  geboren  im  Lande  der  Bari  in  Mitten  von 
Afrika  im  Jahre  1848,  gewaschen  mit  Wasser  Gottes  v.  P.  Ign. 
Knoblecher  1855  in  Gondökoro,  der  gekommen  nach  Brixen  in 
Tirol  im  Jahr  1863,  heute  Nachts  gab  zurück  dem  Schöpfer  Seele- 
seine-reine.   Brixen,  27.  12.  1866.  P.  Joh.  Gold-Mund  (Cbryso- 
stomus)  Mitterrutzner,  Schtiler-sein,  der  dankt  ihm  aus  Herz  ganz). 

Als  Vorarbeiten  hatte  Mitterrutzner  viele  Sprachproben,  die 
ihm  der  verstorbene  Missionär  Ueberbacher  geschickt  hatte;  Mor- 
lang  hatte  eine  Uebersetznng  der  Evangelien,  Bruchstücke  der  bib- 
lischen Geschichte  und  Barisch  geschriebene  Predigten  (die  er  in 
Gondökoro  gehalten)  nach  Europa  mitgebracht;  Msgr.  Kirchner  in 
Bamberg,  der  nach  Knoblecher  von  1858  —  1861  der  Missionsschule 
in  Chartum  vorstand,  stellte  ein  Heft  Barica  zur  Verfügung.  Die- 
ses sämmtiiche  Material  wurde  im  Verein  mit  Logwit  in  wieder- 
holte Verarbeitung  genommen  und  eine  besondere  Sorgfalt  dem 
Wörterbuch  zugewendet.  Auf  diese  Weise  besitzen  wir  ein  gesich- 
tetes und  zuverlässiges  Material,  wie  nicht  leicht  für  irgend  eine 
andere  derartige  afrikanische  Sprache.    Man  wird  hiebei  lebhaft 
an  die  Entstehung  des  Tutschek'schen  Buches  über  die  Galla-Sprache 
(München  1844—1845)  erinnert.    Während  Mitterrutzner  sich  bei 
der  Dinka-Sprache  noch  mehr  der  hergebrachten  Schablone  euro- 
päischer Grammatikon  anbequemt  hatte  und  dadurch  der  eigen- 
thümliche  Charakter  dieser  Sprache  nicht  immer  sofort  zur  augen- 
fälligen Anschauung  kam,  hat  er  sich  nun  bei  der  Bari-Sprache  an 
die  rationelle  Methode  gehalten,  wie  sie  Frz.  Müller  in  seinem 
Werkchen  befolgte,  und  so  hat  dieses  Bari-Handbuch  auch  hierin 
einen  anerkennenswerthen  Fortschritt  gemacht.    Dem  eigentlichen 
Werke  geht  voraus  eine  kurze  Schilderung  des  Landes  (S  IX — XH), 
der  Leute  (S.  XII — XVI),  die  Geschichte  der  Mission  bei  den  Bari 
(8.  XVI— XXI)  und  die  bisherige  Erforschung  der  Sprache  (S.  XXII 
— XXV).  Auf  S.  1— 92  haben  wir  I.  Grammatik  mit  Laut- und 
Wortlehre,  letztere  mit  vielen  trefflichen  syntaktischen  Bemerkun- 
gen und  Beispielen.    Dabei  ist  S.  10—15  als  Losetibung  .ein  von 
Logwit  erzähltes  Barisches  Thiermarchen  mit  Uebersetznng,  in 
welchem  der  Hase  die  Rolle  des  Fuchses  spielt.    Es  ist  dieses 
Märchen  um  so  interessanter,  als  dadurch  der  Zweifel  Grimmas  ge- 
hoben wird,  den  er  über  diese  Rolle  des  Hasen  (Kinder-  nnd  Haus- 


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Stein:  Die  Lehre  von  der  vollziehenden  Gewalt. 


raärchen  1850.  6.  Ausg.  S.  XXIX)  gelegentlich  eines  ähnlichen 
Märchens  der  Basutos  in  Südafrika  ausgesprochen.  Es  findet  sich 
jenes  Märchen  bei  Eug.  Casalis,  Etudes  sur  la  langue  S6chuana. 
Paris  1841.  S.  100—103:  le  petit  lievre.  Dann  folgen  II.  Texte 
von  S.  95 — 156  in  reicher  Auswahl,  und  zwar  zunächst  S.  95  — 109 
ein  kleiner  Katechismus  »kurzer  christlicher  Unterricht«,  der  auch 
als  besonderes  Büchlein  (Brixen  1866,  30  S.)  gedruckt  wurde  und 
den  Logwit  mitnehmen  sollte;  von  S.  109 — 154  die  sämmtlichen 
Evangelien  für  die  Sonn-  und  Festtage  des  katholischen  Kirchen- 
jahres. Zuletzt  III.  Wörterbuch  S.  159—255,  welches  sehr 
sorgfaltig  ausgearbeitet  ist.  Ein  kleiner  Anhang  auf  S.  257—261 
gibt  ein  kurzes  Verzeichniss  von  Wörtern  aus  der  Sprache  der 
Ngyang-Bara,  die  westlich  von  den  Bari  wohnen. 

Die  Ausstattung  des  Werkes  ist  eine  glänzende  zu  nennen,  der 
Verlagshandlung  gebührt  dafür  die  vollste  Anerkennung. 

Wir  dürfen  nicht  anstehen,  Herrn  Mitter rutzner's  Werk  zu  den 
bedeutendsten  Erscheinungen  der  Neuzeit  auf  diesem  Gebiete  zu 
zählen ;  der  Verfasser  hat  sich  mit  seinen  beiden  Werken  um  die 
Aufhellung  dieser  bisher  dunkeln  Partie  innerafrikanischer  Sprachen 
ein  bleibendes  Verdienst  erworben. 

Innsbruck  im  Juni.  Bernhard  Jfilg. 


L.  Stein:  Die  Lehre  von  der  vollziehenden  Gewalt,  ihr  Recht  und 
ihr  Organismus,  mit  Vergleichung  der  Rechtssustände  von  Eng- 
land, Frankreich  und  Deutschland.  Stuttgart»  Cotta  1865. 

Dies  ist  ein  bedeutendes,  anregendes  Werk.  Worin,  fragt  der 
Verfasser  in  der  Vorrede,  worin  liegt  die  Zukunft  der  Rechts- 
wissenschaft, die  Aufgabe  der  neuen  Zeit  für  uns?  Er  antwortet 
»in  der  Auffassung  des  europäischen  Rechtslebens  als  eines  Ganzen, 
im  Begreifen  des  einzelnen  Volks  und  seiner  Bechtsbildung  als 
eines  organischen  Theils  dieses  Ganzen.« 

Zur  Erfüllung  dieser  Aufgabe  ist  der  Verfasser  in  einer 
Richtung  vorzüglich  befähigt.  Er  hat  die  Begabung  die  Masse  der 
Einzelnheiten  unter  leitende  Gesichtspunkte  zu  bringen,  den  esprit 
des  lois  zu  abstrahiren  und  kritisch  zu  beleuchten. 

Von  dieser  Seite  ist  das  Buch  sehr  lehrreich.  Deutschen  Juri- 
sten kann  namentlich  die  Kritik  nicht  genug  empfohlen  werden, 
die  an  den  vielfach  hohlen  Phrasen  des  wunderlichen  Conglomerats 
geübt  wird,  das  man  deutsches  Staatsrecht  nennt. 

Die  schwache  Seite  des  Buches  liegt  aber,  abgesehen  von  der 
bekannten  Sucht  des  Verf.  mit  abstracten  Formeln  zu  klappern, 
darin,  dass  die  Einzelnheiten,  aus  denen  der  esprit  destillirt  wird, 
oft  gar  zu  oberflächlich  und  ungenau  oder  unklar  erfasst  sind.  Dies 
soll  hier  beispielsweise  an  dem  Abschnitt  über  die  geschichtlich»? 


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Stein:  Die  Lohra  von  der  vollziehenden  Gewalt.  411 

Entwickelung  des  Gegensatzes  von  »Gesetz«  nnd  »Verordnung«, 
S.  6  7  ff.,  gezeigt  werden. 

Richtig  ist  die  Darstellung  dieses  Gegensatzes  in  England,  als 
eines  rein  formellen  und  negativen,  wonach  das  Yerordnungsreoht 
der  Executive  keine  andere  Grenze  hat,  als  dass  die  Verordnung 
nicht  gegen  das  geltende  auf  Gewohnheit  und  Gerieb tsgeb rauch  oder 
Parlamentsacten  beruhende  law  Verstössen  darf.  Hier  soll  nur  der 
kleine  Fehler  hervorgehoben  worden,  dass  S.  67  behauptet  wird 
»der  speeifische  Ausdruck  für  den  sanotionirten  Besch luss  der  Ge- 
setzgebung ist  bill.«  Vielmehr  ist  bill  der  Gesetzentwurf  vor  der 
Sanktion,  nach  der  Sanction  heisst  er  act. 

Wenden  wir  uns  zu  Frankreich.  Hier  wird  zuvörderst  auf  die 
declaration  des  droits  de  l'bomme  Bezug  genommen.  Es  folgen 
verschiedene  Citate  aus  der  Verfassung  von  1791,  ohne  dass  aber 
diese  erwähnt  wird.  »Dabei,  heisst  es  S.  69,  ist  der  schon  ganz 
bestimmte  Begriff  der  Verordnung  förmlich  anerkannt  Ch.  II.  Sect. 
4.  art.  4 :  aueun  ordre  du  Boi  ne  peut  etre  exdcute*  s'il  n'est  signe 
par  lni  et  contrasigne  etc.«  Allein  dieser  Art.  hat  mit  dem  Be- 
griff der  Verordnung  im  Gegensatz  zum  Gesetz  gar  nichts  zu  thun. 
Es  wird  damit  nur  die  Notwendigkeit  der  Signatur  und  Contra- 
signatur jeder  königliohen  Verfügung  (ordre)  ausgesprochen  und 
unter  ordre  fällt  nicht  nur  die  »Verordnung«,  d.  h.  der  Regierungs- 
act  der  Normen,  Regeln  aufstellt,  sondern  auch  jeder  andere,  z.  B. 
eine  Anstellung.  Dagegen  wird  nun  sonderbarer  Weise  gerade  der- 
jenige Art.  der  Verfassung  von  1791  mit  Schweigen  übergangen, 
der  speciell  von  der  Verordnung  handelt,  nämlich  chap.  4.  sect.  1. 
art.  6 :  le  pouvoir  executif  ne  peut  faire  aueune  loi  mais  seulement 
des  proolamations  conformes  aux  lois  pour  en  ordonner  ou  en  -rap- 
peler l'ex^cution. 

Theils  unklar,  theils  unrichtig  ist  die  Auffassung  der  Verfas- 
sung von  1793.  »In  ihr,  heisst  es,  ist  der  Unterschied  zwischen 
Gesetz  und  Verordnung  formell  klar,  obwohl  beide  der  Sache 
nach  identisch  sind,  indem  beide  von  der  gesetzgebenden  Ge- 
walt gegeben  werden,  aber  beide  sowohl  verschieden  sind  in  ihren 
Gegenständen  als  in  der  Form.«  Folgt  ein  Citat  aus  den  Art. 
53,  55  jener  Constitution.  Also  der  Sache  nach  identisch,  aber 
verschieden  in  Gegenstand  und  Form!  Nicht  ganz  leicht  zu  be- 
greifen !  Die  wirklichen  Thatsachen  sind  aber  diese. 

Art.  53.  Der  Constitution  von  1793  sagt:  le  corps  legislatif 
propose  des  lois  et  rend  des  decrets.  Art.  54  bestimmt,  dass  die 
actes  du  corps  legislatif  über  gewisse  aufgezählte  Gegenstände  lois 
sind,  Art.  55  dass  die  actes  des  corps  legislatif  über  gewisse  andere 
aufgezählte  Gegenstände  decrets  sind.  Nun  kommt  aber  erst  die 
Hauptsache,  die  der  Verfasser  nicht  einmal  andeutet,  dass  nämlich 
nach  Art.  59  die  lois  noch  einem  Veto  des  Volkes  in  den  assem* 
blees  primaires  unterliegen,  die  decrets  nicht.  Wenn  nun  jede 
mögliche,  Unterscheidung  von  Verordnung  und  Gesetz  darauf  airuckr 


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412 


Stein:  Die  Lehre  von  der  vollziehenden  Gewalt. 


kommt,  dass  das  eine  eine  Norm  ist,  die  die  vollziehende  Gewalt 
allein  errlässt,  das  andere  eine  Norm,  die  nur  nnter  Mitwirkung 
des  Volkes  oder  der  Volksvertretung  ergeht,  so  lässt  sich  nach 
einer  Seite  hin  in  den  obigen  Bestimmurgen  der  Verfassung  von 
1793  etwas  erkennen,  was  zur  Geschichte  des  Begriffs  von  Gesetz 
und  Verordnung  in  Beziehnng  stehen  könnte,  nach  der  anderen 
Seite  aber  fehlt  die  Analogie.  Der  Unterschied  der  lois  und  d^crets 
füllt  nämlich  insofern  mit  der  Unterscheidung  von  Gesetz  und  Ver- 
ordnung gar  nicht  zusammen ,  als  die  döcrets  der  Verfassung  von 
1793  keineswegs  blos  allgemeine  Normen  sind,  sondern  auch  in 
rein  speziellen  Verfügungen,  wie  z.  B.  Anstellungen  von  Beamten, 
Erhebung  von  Anklagen  bestehen  können.  * 

Noch  fluchtiger  ist  das  über  die  Constitution  von  1795  Ge- 
sagte. Von  ihr  wird  berichtet:  »dass  aus  motifs  d'urgence  dio 
Formen  der  Gesetzgebung  von  dem  Conseil  des  Cinq  Cents  über- 
gangen werden  können ;  es  ist  der  Anfang  der  in  Deutschland  sog. 
provisorischen  Gesetze.« 

In  der  That  himmelweit  verschiedene  Dinge!  Nach  Art.  81 
der  Verfassung  von  1795  können  sich  die  Fünfhundert  in  dring- 
lichen Fällen  von  gewissen  Formen  und  Fristen  der  Berathung  der 
Gesetzo  dispensiren  (z.  B.  dreimaliger  Lesung).  Im  Uebrigen  kommt 
das  dringliche  Gesetz  gerade  so  zu  Stande,  wie  ein  anderes,  d.  h. 
durch  die  Ueberoinstimmnng  des  aus  dem  Conseil  des  500  und 
dem  Conseil  des  anciens  bestehenden  Corps  lägislatif.  Wenn  aber 
eine  gesetzgebende  Versammlung  sich  von  gewissen  Formalitäten 
der  Berathung  des  Gesetzes  entbindet,  so  hat  dies  nicht  die  ent- 
fernteste Analogie  mit  dem  Fall  des  provisorischen  Gesetzes ,  das 
ohne  Zuziehung  der  Volksvertretung  von  der  Regierung  allein  er- 
lassen wird. 

Von  den  Verfassungen  von  1814  und  1880  heisst  es  S.  64: 
in  ihnen  erscheine  »der  Grundgedanke  des  verfassungsmässigen 
Verordnungsrechtes,  das  Recht  der  vollziehenden  Gewalt  durch  Ver- 
ordnungen das  Gesetz  nicht  blos  zu  vollziehen,  sondern  auch 
zu  ersetzen,  beschränkt  durch  das  zweite  Prinzip,  dass  keine  Ver- 
ordnung ein  einmal  gegebenes  Gesetz  aufzuheben  vermag.«  Aber 
S.  71  wird  von  der  Charte  von  1880  mit  Recht  gesagt,  dass  sie 
nur  Vollzugsverordnungen  kenne.  Man  fragt  dann  blos,  wie  beides 
zusammenstimme. 

In  der  Verfassung  von  1848,  raeint  Herr  Stein,  sei  »zum 
erstenmal  die  Gewalt  einer  selbstständigen  Verordnung  nicht  blos 
anerkannt,  sondern  formlich  geregelt.«  Allein  diese  Verfassung  be- 
stimmt nnr  Art.  75 :  le  conseil  d'Gtat  pröpare  les  reglemens  d'ad- 
ministration  publique,  d.  h.  er  entwirft  sie,  die  Assembler  nationale 
beschliesst  darüber,  il  fait  seul  ceux  de  ces  reglemens  ä  T^gard 
desquels  l'Assemblöo  nationale  lui  a  donne*  une  del^gation  speciale. 
Kann  man  dies  ein  selbstständiges,  d.  h.  der  gesetzgebenden  Ge- 
walt gegenüber  selbstetändiges  Verordnunggreeht  nennen,  da  es 


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Stein:  Die  Lehre  von  der  vollziehenden  Gewalt.  413 


blos  auf  der  rein  im  Ermessen  der  letzteren  stehenden  Spezial- 
deiegation  beruht? 

Die  Constitution  von  1852  sagt,  dass  das  Staatsoberhaupt  fait 
les  reglemens  et  decrets  necessaires  pour  l'exücution  des  lois.  Stein 
bemerkt  dazu,  dies  sei  eine  Unwahrheit.  In  Wahrheit  seien  die 
Decrete  eine  zweite  selbststUndige  Gesetzgebung,  die  sich  dem  Ge- 
setze nur  insoweit  unterordne,  als  der  vollziehenden  Gewalt  be- 
liebe. Dies  zeigten  die  Decrete  vom  2.  December  1852  (Herstel- 
lung des  Kaiserthums)  und  vom  18.  December  1852  (Ordnung  der 
Thronfolge).  Allein  wenn  man  sich  auch  über  den  reellen  Einfluss 
der  französischen  Volksvertretung  keine  Illusionen  machen  kann, 
so  sind  doch  obige  Angaben  formell  genommen  ganz  ungenau. 

Die  Constitution  vom  14.  Januar  1852.  Art.  31.  32  bestimmte 
nämlich,  dass  Verfassungsänderungen  durch  Senatusconsulte  erfol- 
gen, die  in  gewissen  Fällen  noch  der  Bestätigung  eines  Plebiscits 
bedürfen.  Der  Senat  beschloss  nun  am  7.  November  die  Herstel- 
lung des  Kaiserreichs,  welche  das  Plebiscit  vom  21 — 22.  November 
ratificirte,  und  das  angeführte  Decret  vom  2.  Dezember  1852  ist 
in  der  That  nur  die  Promulgation  jenes  Senatusconsults. 

Ferner  ist  das  Decret  vom  18.  Dezember  1852  wirklich  nur 
ein  solches  pour  Fexecution  de  la  loi.  Denn  das  erwähnte  Senatus- 
consultum  vom  7.  November  hatte  in  Art.  4  dem  Kaiser  die  Rege- 
lung der  Thronfolge  durch  beeret  vorbehalten. 

Hinsichts  der  Geschichte  der  Unterscheidung  von  Gesetz  und 
Verordnung  in  Deutschland  behauptet  Stein  mit  Recht,  es  gebe 
keinen  für  ganz  Deutschland  gültigen  Begriff  von  Gesetz  und  Ver- 
ordnung, jede  rechtliche  Definition  habe  nur  eine  örtliche  Gültig- 
keit, also  gebe  es  auch  keine  gemeindeutsche  Unterscheidung  von 
Gesetz  und  Verordnung.  Man  wird  ihm  auch  zustimmen  können, 
wenn  er  ausspricht:  der  natürliche  Entwickelungsgang  der  einheit- 
lichen Bildung  des  deutschen  Staatsrechts  führe  dahin,  das  Gesetz 
nur  als  einen  formalen  Begriff  zu  erklären,  dessen  Wesen  in 
dem  formellen  verfassungsmässigen  Zusammenwirken  von  Staats- 
oberhaupt und  Volksvertretung  liegt,  während  die  Verordnung 
gleichfalls  nur  ein  formaler  Begriff  wird,  dessen  Wesen  durch  das 
Zusammenwirken  von  Staatsoberhaupt  und  Verwaltungsorganismus 
gesetzt  ist  und  dessen  Grenze  nur  darin  besteht,  dass  die  Verord- 
nung nicht  gegen  das  Gesetz  im  obigen  formalen  Sinne  Verstös- 
sen darf. 

Der  Verfasser  geht  jedoch  noch  weiter.  Er  behauptet,  die 
deutschen  Verfassungen  hätten  bis  auf  die  neueste  Zeit  einen  nicht 
nur  falschen,  sondern  sogar  unmöglichen  Weg  eingeschlagen,  indem 
sie  eine  unhaltbare  Scheidung  der  Gebiete  von  Verordnung  und 
Gesetz  nach  den  Gegenständen  versuchtem  Die  Unklarheiten 
aufzuzeigen,  die  diesem  Tadel  zu  Grunde  liegen,  würde  eine  weit- 
läufigere Darlegung  erfordern.  Aber  eine  einfache  Erwägung  er- 
gibt, dass  bei  Einführung  der  neuen  Verfassungen  in 

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414 


Stein:  Di«  Letre  tob  der  vollziehenden  Gewali 


eine  Abgrenzung  von  Gesetz  und  Verordnung  nach  der  obigen 
blos  formalen  Grenzscheidung  practisch-politisch  unmöglich  gewe- 
sen wäre. 

Denke  man  sich  ein  deutsches  Land,  bis  dahin  ohne  Volks- 
vertretung, dem  eine  Verfassung  octroyirt  wird,  in  der  die  Stein'sche 
rein  formale  Unterscheidung  von  Gesetz  und  Verordnung  auf- 
gestellt und  der  Volksvertretung  das  Recht  der  Zustimmung  zu 
allen  »Gesetzen«  gegeben  wäre,  was  würde  die  Folge  sein?  Un- 
mittelbar nach  Einführung  der  Verfassung  gäbe  es  gar  keine  Ge- 
setze im  formellen  Sinne  und  für  die  Zukunft  ltige  es  durchaus  in 
der  Hand  der  Regierung  das  Zustandekommen  solcher  zu  verhin- 
dern, also  trotz  der  Verfassung,  vielmehr  in  Gemässbeit  derselben 
den  ganzen  Rechtszustand  durch  Verordnungen  zu  bestimmen.  Der 
prinzipiellen  Absurdität  dieses  Zustandes  lässt  sich  nur  dadurch 
vorbeugen,  dass  eine  allgemeine  Regel  anerkannt  wird,  wonach  von 
vornherein  bestimmte,  nieht  erst  durch  den  Fortgang  der  Gesetz- 
gebung sich  bestimmende  Gegenstände  oder  Gebiete  nur  durch 
»Gesetz«,  d.  h.  mit  ständischer  Zustimmung  geordnet  werden 
können. 

Dies  war  also  für  die  deutschen  Länder,  wo  im  19.  Jahrhun- 
dert neue  Verfassungen  eingeführt  wurden,  eine  Notwendigkeit. 
Dagegen  ist  die  obige  rein  formale  Unterscheidung  von  Gesetz  und 
Verordnung  practisch  durchführbar  nur  in  einem  seit  längerer  Zeit 
parlamentarischen  Lande,  wie  England,  in  dem  bereits  eine  aus- 
gedehnte parlamentarische  Gesetzgebung  vorliegt,  und  es  kann  also 
diese  Unterscheidung  für  Deutschland  nicht  unmittelbar  anwend- 
bar, sondern  nur  ein  Ziel  der  Entwickelung  sein. 

Stein's  Betrachtungen  über  die  einzelnen  deutschen  Verfassun- 
gen zeigen  andererseits  mehrfach  einen  bedenklichen  Mangel  gründ- 
lichen Eingehens  in  die  Details. 

Unerlaubte  Flüchtigkeit  bekundet  sich  gleich  bei  der  Bespre- 
chung der  ersten  deutschen  Verfassung,  die  erwähnt  wird.  Der 
verfassungsmässige  Begriff  der  Gesetze,  sagt  der  Verfasser  S.  74, 
beginnt  erst  mit  dem  Weimarischen  Grundgesetz  von  1816.  Ab- 
schnitt II.  §.  5.  »Es  ist  bemerkenswert!],  dass  sich  hier  die  Mit- 
wirkung der  Stände  nur  auf  die  Steuern  bezieht  und  daher  die 
ganze  übrige  gesetzgebende  Gewalt  nach  der  Verordnung  vom 
1.  December  1815  nur  in  Verordnungen  erscheint.  Ein  Begriff  des 
Gesetzes  ist  noch  gar  nicht  vorhanden.«  Diesen  stelle  zuerst  die 
bayrische  Verfassung  von  1818  in  der  Formel  auf,  »allgemei- 
nes neues  Gesetz,  welches  die  Freiheit  der  Personen  oder  das  Eigen- 
thum der  Staatsangehörigen  betrifft.«  Also  mit  dem  Weim arischen 
Grundgesetz  beginnt  der  verfassungsmässige  Begriff  des  Gesetzes, 
aber  in  ihm  ist  ein  Begriff  des  Gesetzes  nicht  vorhanden!! 

Nimmt  man  sich  nun  die  Mühe,  jenes  Weimarische  Grundsatz 
genauer  anzusehen,  so  findet  man  in  §.  ß.  Nr.  6  Folgendes:  Die 
Landstände  haben 


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Stein:  Die  Lehr«  von  der  vollziehenden  Gewell  416 

»das  Recht  an  der  Gesetzgebung  in  der  Art  Tb  eil  zn  neh- 
men, dass  neue  Gesetze,  welche  entweder  die  Landesverfas- 
sung betreffen  oder  die  persönliche  Freiheit,  die  Sicherheit 
und  das  Eigenthum  der  Staatsbürger  in  dem  ganzen  Lande 
oder  in  einer  ganzen  Provinz,  zum  Gegenstande  haben ,  und 
ebendesshalb  das  Allgemeine  angehen,  ohne  ihre,  der  Land- 
stunde, vorgängigen  Beirath  und  ihre  Einwilligung  nicht  er- 
lassen werden  dürfend 
Somit  erweisen  sich  alle  angeführten  Angaben  des  Verfassen 
als  falsch,  und  es  zeigt  sich,  dass  er  den  esprit  des  lois  vortrügt, 
ohne  die  Gesetze  ordentlich  gelesen  zu  haben: 

Die  württembergische  Verfassung  §.  88  bestimmt: 
»ohne  Beistimmung  der  Stände  kann  kein  Gesetz  gegeben, 
aufgehoben,  abgeändert  oder  authentisch  erläutert  werden.« 
Wer  eine  Scheidung  von  Gesetz  und  Verordnung  nach  dem 
Gegenstand  verlangt,  könnte  diese  Bestimmung  als  mangelhaft  oder 
anklar  tadeln.    Aber  Stein  müsste  mit  ihr  zufrieden  sein ,  da  sie 
doch  entschieden  seinen  formalen  Begriff  des  Gesetzes  enthält.  Was, 
sagt  er  statt  dessen?    Es  war  (nach  der  Württombergischen  Ver- 
fassung) »zwar  richtig,  dass  kein  Gesetz  ohne  Beistimmung  der 
Stände  gegeben  oder  geändert  werden  könne,  wohl  aber  blieb  es 
offen  eine  Verordnung  zu  geben.«  Er  erkennt  aber  selbst  an,  dass 
diese  dem  Gesetze  nioht  zuwiderlaufen  konnte.  Es  bleibt  also  un- 
verständlich ,  was  er  von  seinem  Standpunkte  an  der  Württem- 
bergischen Verfassung  auszusetzen  hat. 

Unzutreffend  sind  die  Bemerkungen  S.  74  über  die  Oldenbur- 
gische Verfassung  von  1849,  Art.  153.  154,  welche  es  versuche 
die  Grenze  von  Gesetz  und  Verordnung  dadurch  zu  ziehen,  dass 
sie  18  Gegenstände  der  Gesetzgebung  namentlich  überweise.  In 
Wahrheit  wird  aber  dort  die  Grenze  gar  nicht  zwischen  Gesetz 
and  Verordnung,  sondern  zwischen  der  Competenz  des  allgemeinen 
Landtags  und  der  Provinziallandtage  gezogen. 

Höchst  auffallend  ist  dagegen  das  Lob,  welches  S.  75  der 
Preussischen  Verfassung  ertheilt  wird,  sie  habe  den  allein  richti- 
gen Standpunkt,  den  allein  richtigen  Begriff  des  Gesetzes,  indem 
sie  die  Scheidung  von  Gesetz  und  Verordnung  nach  dem  Gegen- 
stand fallen  lasse  und  das  Wesen  des  Gesetzes  rein  formell  durch 
den  Satz  (Art.  62)  bestimme : 

>Die  gesetzgebende  Gewalt  wird  gemeinschaftlich  durch  den 
König  und  zwei  Kammern  ausgeübt.« 
Hierwider  ist  nur  zu  erinnern*  erstens,  dass  in  Preussen  noto- 
risch Regierung,  Kammern  und  Doctrin  übereinstimmend  der  An- 
sicht sind,  die  Preussischo  Verfassung  scheide  Gesetz  und  Verord- 
nung nicht  blos  formell,  sondern  auch  nach  Gegenständen,  zweitens 
dass  jene  Formel  doch  sachlich  gar  nichts  weiter  enthält,  als  die 
oben  angeführte  der  Württembergischen  Verfassung,  womit  Stein 
nicht  zufrieden  ist  und  die  sich  auch  bereits  in  der  Sächsischen 


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416 


Stein:  Die  Lehre  von  der  vollziehenden  Gewalt. 


Verfassung  §.  86,  in  der  Karhessischen  §.  95  und  der  Darmstädti- 
schen Art.  72  fand. 

Zum  Schiusa  ein  Wort  über  eine  S.  75  irrig  behauptete  Be- 
schränkung der  Anwendbarkeit  des  Begriffs  der  provisorischen  Ge- 
setze. S.  75.  »Ein  provisorisches  Gesetz,  lesen  wir,  ist  eine  Ver- 
ordnung über  einen  Gegenstand,  welcher  der  verfassungsmässigen 
Beschlussnahme  durch  die  Volksvertretung  unterworfen  ist.  Es 
leuchtet  sofort  ein,  dass  dieser  Begriff  wieder  kein  deutscher  staats- 
rechtlicher Begriff  ist,  sondern  nur  für  diejenigen  Verfassungen  gilt, 
welche  die  Theilnahme  der  Volksvertretung  eben  auf  bestimmte 
Gebiete  beschränkt  haben.  Denn  wenn  das  Wesen  des  Gesetzes 
in  der  Gemeinschaftlichkeit  der  Willcusbestimmung  von  Fürst  und 
Volk  liegt,  so  hat  kein  besonderer  Gegenstand  ....  ein  Recht 
darauf,  gerade  durch  ein  Gesotz  geregelt  zu  werden,  während  ande- 
rerseits auch  kein  Gegenstand  der  Gesetzgebung  entzogen  ist.« 

Die  Behauptung,  dass  der  Begriff  des  provisorischen  Gesetzes 
nur  für  solche  Verfassungen  tauge ,  die  die  Gesetzgebung  auf  ge- 
wisse Gegenstände  beschränken,  ruht  auf  einer  Begriffsverwechse- 
luug.  Stein  schliesst  nämlich :  wo  kein  besonderer  Gegenstand  ein 
Kocht  hat  gerade  durch  ein  Gesetz  geregelt  zu  werden,  da  kann 
auch  nicht  von  einer  Verordnung  mit  provisorischer  Gesetzeskraft, 
d.  h.  von  einer  Verordnung  über  einen  Gegenstand  die  Bede  sein, 
welcher  speziell  der  Gesetzgebung  unterworfen  ist.  Und  in  der 
That  kann  die  Ausnahme,  (provisorisches  Gesetz)  nur  da  Statt 
haben,  wo  die  Regel  (Gesetz)  im  Allgemeinen  besteht.  Stein 
übersieht  aber,  dass  auch  bei  seiner  rein  formalen,  nicht  ein  ftlr 
allemal  nach  Gegenständen  gezogenen  Grenzscheidung  zwischen  Ge- 
setz und  Verordnung  ein  bestimmter  Gegenstand,  obschon  er  nicht 
an  8 ich  ausschliesslich  ins  Gebiet  der  Gesetzgebung  fällt,  dennoch 
in  concreto,  wenn  und  soweit  er  einmal  durch  Gesetz  geregelt 
ist,  nunmehr  wirklich  ein  verfassungsmässiges  Recht  hat,  nur  durch 
Gesetz  anderweit  geordnet  zu  werden,  dass  folglich  dann  insoweit 
auch  ein  provisorisches  Gesetz  darüber,  als  Ausnahme  von  der  ver- 
fassungsmässigen Regel,  denkbar  wäre. 

Das  Vorstehende  wird  genügen  um  den  Ausdruck  des  Be- 
dauerns zu  rechtfertigen,  dass  der  geistreiche  Verfasser  es  oft  ver- 
schmäht hat,  seinen  Abstractionen  durch  sorgfältige  und  scharfe 
Erfassung  der  einzelnen  Thatsachen,  auf  denen  sie  ruhen ,  ein  zu- 
verlässiges Fundament  zu  verleiben. 

Dr.  v.  Stockinar. 


uigiiizec 


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Ir.  27.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR.  • 


Kühne,  Gustav,  Deutsche  Charaktere.  U.  Theil.  Aus  dem  Zeit- 
alter der  Revolution:  Georg  Forster  8.  176—231.  Leipzig 
1864.  8. 

Unterzeichneter  konnte  wohl  hoffen,  durch  sein  Werk  »G.  Por- 
ster in  Mainz  1788 — 1793.  Gotha  1863«  beizutragen,  dass  über 
diesen  vielgenannten  Mann  sich  endlich  ein  richtiges  Ortheil  an- 
bahne, namentlich  dass  in  künftigen  Biographien  sein  Benehmen 
gegen  sein  Vaterland  im  wahren  Lichte  dargestellt  werde.  Und  in 
derThat  diejenigen,  welche  vorher  ihn  entschuldigten  oder  gar  ver- 
teidigten, haben  bisher  meist  geschwiegen  und  durch  dies  Schwei- 
gen gleichsam  ihre  Zustimmung  zu  meiner  Aburtheilung  gegeben. 
Da  sehe  ich  vor  Kurzem,  dass  in  Kühne's  deutschen  Charakteren 
auch  Forster  eine  Biographie  wiederum  gefunden  hat:  und  wenn 
ea  mir  sogleich  auffallend  war,  dass  Forster  immer  noch  oder 
wiederum  in  einer  Sammlung  berühmter  Deutscher  eine  Stelle  fand 

—  wie  früher  in  Stricker's,  Paldamus'  und  König's  Biographien  — 
N  schien  es  noch  befremdender,  dass  unter  deutschen  Charakteren 
Forster  aufgenommen  war,  der,  wie  er  selber  sagte,  an  Deutschland 
sieb  »wie  ein  Schurke«  benahm  und  eigentlich  nie  ein  Mann  von 
Charakter  war.  Doch  wir  wollen  nicht  wiederholen,  was  über  ihn 
feststeht,  sondern  wir  wollen  kurz  betrachten  was  Kühne  meint. 
Er  beginnt  zwar  sogleich:  »dass  auf  Forstels  Namen  die  An- 
klage der  Verrätberei  ruhe,  indem  er  Mainz  den  Franzosen  in  die 
iiände  geliefert«  —  was  genau  genommen  nicht  wahr  ist  und  nie 
von  mir  behauptet  wurde  —  was  aber  doch  den  Verfasser  hätte 
abschrecken  sollen,  ihn  unter  deutschen  Charakteren  aufzunehmen 

—  Kühne  will  aber  unter  Vaterland  nicht  »die  Scholle,  die  uns 
trägt«  verstehen ,  senst  wäre  »jeder  Auswanderer  ein  Verräther« 

—  wie  kleinlich  und  unrichtig!  —  sondern  man  verstehe  »im 
höhern  Sinne  nur  das  geistigo  Vaterland«  was  aber  Forster  nicht 
meinte,  indem  er  gerade  Deutschland  sein  Vaterland  nannte:  und 
>so  habe  damals,  wie  Klinger  das  litterarische,  so  Forster  das 
politische  Deutschland  aufgegeben,  indem  er  eine  Verjüngung  der 
Welt  erwartete,  worin  er  sich  freilich  täuschte;  daher  sollte  man, 
wo  nicht  milde,  doch  mit  Besonnenheit  zu  Gericht  sitzen.«  Wir 
meinen  zwar,  es  sei  bisher  mit  Milde  und  auch  mit  Besonnenheit 
über  ihn  geurtheilt  worden,  indem  man  z.  B.  seinen  Verrath 
an  Deutschland  damit  entschuldigte ,  dass  er  ein  Pole  sei  —  was 
Förster  nie  meinte  —  oder  indem  König  mit  vieler  üeberzeugung 
aar  ein  Schreiben  desselben  für  »landesverrätherisch«  erklären 

LX.  Jahrg.  6.  Heft  27 


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418  Kühne:  Deutsche  Charaktere.  II." 

will  (welches  letztere  der  Verfasser  nicht  zu  wissen  scheint).  Da 
aber  trotz  diesen  und  anderen  Vertheidigungen  ich  fortwährend  ihn 
•Vaterlandsverräther  benenne  (und  wenn  der  Verfasser  beisetzt,  auch 
»  einen  gesunkenen  Menschen«,  was  ich  beiläufig,  so  viel  ich  mich 
erinnere,  nicht  that ,  wenn  ich  vielleicht  auch  einmal  schrieb :  er 
sei  so  tief  gesunken) :  so  will  nun  Kühne,  »wenn's  möglich  ist,  als 
Psycholog  zu  Gericht  sitzen,  der,  indem  er  anklagt  und  vertheidigt, 
in  der  Seele  des  Mannes  zugleich  ergründet  und  erklärt. c  Wir 
haben  nun  nichts  dagegen,  wenn  man  einen  Angeklagten  auf  jed- 
wede Weise  zu  vertheidigen  sucht;  wir  können  aber  hierbei  ver- 
langen, dass  die  speziellen  Anklagepunkte  fürmlich  vorgebracht 
werden.  Dies  thut  nun  Kühne  nicht,  erwähnt  gar  nicht,  was  ich 
und  andere  ihm  vor  allem  zu  Last  legten,  sondern  er  spricht  weit 
und  breit  Uber  manches,  und  vieles  passendes  und  unpassendes,  so 
über  Forsters  Bildung  »er  sei  ein  Autodidakt,  ohne  Dressur  einer 
Oertlicbkeit« ,  »ohne  frohe  und  glückliche  Jugend«,  er  sei  durch 
seine  Reise  und  seinen  Vater  frühe  in  litterarischen  Streit  ge- 
rathen,  in  Deutschland  in  eine  ganz  neue  ihm  fast  unbekannte 
Atmosphäre  gekommen  —  was  wir  nicht  ganz  zugeben,  da  die 
Sprache  seiner  Kindheit  deutsch ,  seine  Eltern  Deutsche  waren  — 
in  Kassel  sei  er  nicht  blos  als  Naturforscher,  sondern  auch  als 
Wunderscbauer,  Rosenkreuzer,  und  durch  Jakobi  als  Philosoph  auf- 
getreten —  wobei  Vieles  hier,  wie  wir  meinen,  ziemlich  unnutbiges 
vorgebracht  wird.  —  Hierbei  wird  S.  198  bedauert  »die  spär- 
liche Mittheilung  von  Forster's  Briefen  an  Sommering  (so  schreibt 
der  Verfasser  immer  falsch  statt  Sommer  ring),  indem  wir.  dem 
Plane  der  Rosenkreuzer  durch  sie  mehr  auf  die  Spur  kommen 
könnten.«  Der  Verfasser  meint,  dass  »vielleicht  zu  viel  Männer 
von  Rang  und  Macht  in  diese  Bestrebung  verflochten  waren;  dies 
ist  aber  nicht  die  Ursache,  warum  Forster's  in  Frankfurt  vorhan- 
dene Briefe  nicht  weiter  veröffentlicht  werden,  sondern  wie  wir 
S.  380  unseres  Werkes  angeben,  was  dem  Verfasser  entgangen  ist, 
weil  sie  seine  Frau  compromittirten.  Sein  Aufenthalt  in  Wilna 
wird  nur  kurz  berührt.  Dagegen  seine  damaligen  Schriften  mit 
Wärme  und  Wahrheit  gerühmt.  Im  Jahr  1788  kommt  er  nach 
Mainz  und  hier  finden  wir  sogleich,  wie  wenig  aufmerksam  Kühne 
ist  und  wie  wenige  Kenntnisse  er  bei  Personen  und  Sachen  hat: 
er  meint,  der  Kurfürst  Joseph  Emmerich  habe  ihn  berufen,  der 
schon  14  Jahre  todt  war;  und  so  schreibt  er  in  seiner  Eile  und 
Unkenntniss  diesem  frommen  Mann  »einen  Anstrich  von  Freigei- 
sterei« zu.  Der  Verf.  hätte  sich  doch  um  den  Namen  des  damals 
regierenden  Kurfürsten  umsehen  sollen!  Ueber  die  ersten  Jahre  in 
Mainz  ist  fast  nur  Lobendes  vorgebracht  —  was  wir  bei  einem 
Biograph,  der  nur  feiern  will,  nicht  gerade  tadeln;  so  spricht  er 
von  seinen  philosophischen  Studien  —  die  eigentlich  nie  bedeutend 
waren  —  von  einigen  Aufsätzen  —  wie  er  z.  B.  die  Proselyten- 
macherei  der  Katholiken  in  Mainz  in  Schutz  nahm;  zum  Aerger 


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Kühne:  Deutsche  Charaktere.  TL 


419 


der  Berliner,  freilich  in  Berlin  hätte  er  in  ganz  entgegengesetztem 
Sinne  geschrieben.    Hierüber  meint  der  Verfasser  S.  212:  »Mich 
dünkt,  Forster  war  im  tiefsten  Sinne  des  Wortes  ein  Deutscher, 
weil  er  an  keiner  Besonderheit  festhielt«,  wobei  der  Verfasser  ver- 
gass,  Forster's  Dedikation  an  den  Mainzer  Kurfürsten  anzuführen, 
wo  er  sich  glücklich  priess  und  vom  innigsten  Dank  zu  seinem 
Wohlthäter  überfliesset,  weil  er  ihm  sein  Vaterland  wiedergegeben. 
Solche  Ausdrücke  sind  wichtig  für  die  ganze  Beurtheilung;  der 
Verfasser  meint  »nicht  Deutschland,  sondern  Kur-Mainz  gab  er 
auf«,  und  er  habe  nicht,  »wie  deutsche  Generale,  dem  Feinde 
Festungen  übergeben,  so  Mainz  den  Franzosen  überliefert.«  Das 
haben  wir  auch  immer  gemeint,  und  haben  niemals  gesagt,  dass 
Forster  an  der  Uebergabe  von  Mainz  an  Custine  mit  sohuld  sei. 
Der  Verfasser  weiss  gar  nicht,  was  ich  ihm  zum  Verbrechen  an- 
gerechnet habe,  und  wovon  ihn  nie  jemand  freigesprochen:  ich 
machte  ihm  nicht  zum  Vorwurf,  dass  er  in  den  Klub  ging,  auch 
nicht,  dass  er  französischer  Beamter  wurde  n.  a.  m.    Ich  stempele 
als  Vaterlandsverrath  seine  Anträge  im  Convent:  »Dass  der  Land- 
strich von  Bingen  bis  Koblenz  sich  von  Deutschland  ewig  lossage 
und  sich  den  Franzosen  zur  Einverleibung  anbiete.«  Das  ist  Ver- 
brechen, wie  es  in  Deutschland  kein  schwereres  gibt.    Und  diese 
Dinge  berührt  der  Verf.  gar  nicht;  nirgendswo  in  seinem  Leben, 
man  meint,  er  hätte  mein  Buch,  gegen  das  er  eifert,  nicht  gelesen. 
Oder  hat  der  Verf.  diese  graven  Vorwürfe  absichtlich  ausgelassen, 
nm  die  Sache  ganz  wo  anders  hinzulenken,  da  er  S.  220  schreibt: 
»die  härteste  Anklage  freilich  geht  dahin,  dass  er  preussisches 
Geld  annahm  und  doch  Mainz  nicht  verliess,  sogar  Präsident  des 
Jakob inerklubs  wurde.«   Ich  weiss  Niemauden,  der  jenes  Geld  als 
die  »bärteste  Anklage«  nahm,  ich  habe  nur  diese  Thatsache  her- 
vorgehoben da  man  ihn  lobte ,  dass  er  das  Geld  nicht  nahm, 
während  in  den  von  Gervinus  edirten  Briefen  Forster  wiederholt 
schreibt,  dass  er  es  empfangen  habe.  Die  Preussen  in  Berlin  konu- 
ten  es  ihm  nicht  verzeihen  und  erwarteten  desshalb  ein  anderes 
Benehmen.     Unnöthig  will  Kühne  hierbei   erinnern  an  Preussen 
selbst,  das  sich  von  Napoleon  Hannover  schenken  Hess ;  genug  war 
es,  wenn  man  einfach  Geldnoth  annimmt;  aber  die  Hauptsache 
hierbei  übergeht  Kühne  wiederum :  Förster  nahm  als  französischer 
Administrator  Geld  von  den  Mainz  halb  umlagernden  Preussen ; 
und  Forster  selbst  fühlte  so  sehr  das  Gefährliche ,  dass  ein  Jahr 
später  noch  er  fürchtete,  wenn  es  bekannt  würde,  »an  der  Kehle 
gekitzelt  zu  werden.«    Dies  bat  wiederum  Kühne  nicht  bemerkt. 
Ueberhaupt  versteht  es  der  Verfasser  sonst  gut,  der  vielen  unfeinen 
and  unedlen  Worte  und  Thatsachen  zu  vergessen  und  statt  deren 
nur  schönes  und  gutes  vorzubringen,  fast  wie  Forstels  Lebensbe- 
schreiberin  Elise  Mayer.  So  schreibt  Kühne:  was  Forster  meinte: 
»Die  Bauern  im  Convent  haben  mich  sehr  lieb«,  dass  aber  Custine, 
dem  von   Forster   sehr  geschmeichelt  wurde,  ihn  »einen  stolzen 


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Kahne:  Deutsche  Charaktere.  II. 


Lumpen«  nannte,  übergeht  Kühne,  und  doch  hätte  man  auch  dies 
dem  Gefeierten  zum  Lobe  anrechnen  können.  Um  aber  wegen  der 
Anklagen  —  denn  weiterhin  schweigt  von  solchen  der  Verfasser 

—  aus  Ende  zu  kommen,  habe  ich  nicht  bemerkt,  wie  der  Verf. 
der  vom  psychologischen  Standpunkt  ihn  vertheidigen  will,  uns 
auch  nur  andeutet,  viel  weniger  klar  macht,  wie  Forster's  $vxh 
in  die  Disposition  kam,  den  Verrath  am  Vaterland  in  ihre  An- 
schauung aufzunehmen  und  als  gerechtfertigt  festzuhalten.  Ueber- 
haupt  ist  eine  Untersuchung  oder  Rechtfertigung,  die  sich  auf 
Psychologie  gründet,  nirgends  im  Buche  zu  finden. 

Wenn  aber  vorliegende  Schrift  in  Bezug  auf  Verteidigung 
von  Forster  keinen  Werth  hat  und  keinen  haben  kann  —  denn 
in  Deutschland  kann  er  nie  freigesprochen,  wohl  aber  entschuldigt 
und  bedauert  werden,  wie  wir  es  thaten  —  so  müssen  wir  nur 
noch  beisetzen,  dass  Kühne  sich  auch  andere  historische  Fehler 
nicht  in  geringem  Masse  hat  zu  Schulden  kommen  lassen,  die  doch 
leicht  zu  vermeiden  waren.  Schon  oben  bemerkten  wir,  dass  er 
nicht  einmal  wusste,  wer  damals  in  Mainz  regierte.  Aehnliche 
Versehen  gibt  es  viele;  wir  bemerken  einige.  Namentlich  scheint 
der  Verfasser  die  Uebergabe  von  Mainz  an  (Justine  sich  nicht  recht 
vergegenwärtigt  zu  haben ;  sonst  hätte  er  wohl  eineu  andern  Aus- 
druck gewählt  als  »Custiue  eroberte  Mainz« ;  er  hat  es  durch  Ver- 
rath Einzelner  und  durch  des  Gouverneurs  Schwäche  überkommen. 
Hierbei  wird  wiederum  wiederholt:  »Der  geistliche  Herr  habe  jetzt 
von  der  Ferne  aus  durch  ein  strahlendes  (?  wahrscheinlich  Druckfehler 
statt  strafendes)  Edikt  jede  weitere  Flucht  aus  Mainz  verboten.« 
So  unwahr  hat  noch  Niemand  diese  Sache  dargestellt :  die  gewöhn- 
liche Sage  ist,  dass  Albini  in  Mainz  nach  der  Flucht  des  Adels 
Pässe  verweigert  oder  die  Flucht  dem  gemeinen  Mann  verboten 
habe« ;  nicht  der  Kurfürst,  nicht  aus  der  Ferne  u.  s.  w.  wie  über- 
haupt damals  kein  Verbot  der  Art  erging,  wie  ich  bewiess.  Weiter: 
»Auch  Sömmering  (immer  mit  einem  R)  war  mit  seiner  Familie 
fortgegangen,  nach  Wien.«  Richtig  ist,  dass  Summ  er  ring  im  März 
1792  sich  in  Frankfurt  verheirathete,  später  nach  Wien  reiste  und 
im  Oktober,  als  die  Franzosen  einrückten,  also  nicht  fortging,  viel- 
mehr noch  nicht  zurückgekehrt  war  und  nicht  zurückkehrte  bis 
Juli  1793.  Eben  so  wird  über  Müller  Falsches  vorgebracht  S.  218: 
»er  eilte  nach  Wien,  kam  wieder,  nahm  seinen  Abschied  u.  8.  w.« 
Das  Wahre  ist :  Müller  reiste  im  Sept.  also  vor  Custine's  Ankunft, 
nach  Wien,  eilte  nach  der  Uebergabe  von  Mainz  von  dort  hierher 

—  nicht  umgekehrt.  Hier  fügt  der  Verf.  bei :  »War  in  Mainz  Ver- 
rätherei  im  Spiel,  so  lag  sie  in  der  schlauen  Rathlosigkeit  dieses 
deutschen  Macchiavel.«  Noch  kein  Mensch  hat  den  Müller  der  Ver- 
rätherei  dahier  beschuldigt,  er  war  auch  damals  gar  nicht  in  Mainz 
anwesend,  wie  der  Verf.  irrig  meint.  Weiter  steht  auf  derselben 
Seite:  »Jetzt  erst  nach  dem  Beschluss  der  Bürgerschaft  trat  For- 
ster hervor  und  weil  er  der  Mann  von  Gewicht  war,  ernannte  man 


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Kühne:  Deutsche  Charaktere.  II. 


ihn  zum  Präsidenten  des  Klubs,  zum  Chef  der  Verwaltung.«  Wie- 
derum falsch  und  ohne  Berücksichtigung  der  Verhältnisse.  Die 
Bürpei  schuft  beschloss  nichts  anderes  als  kurfürstlich  und  deutsch 
bleiben  zu  wollen,  und  dachte  nicht  einen  Klub  zu  gründen,  was 
Boebmer  und  einige  meist  aus  der  Fremde  stammende  Leute  t ba- 
ten; Forster  widerräth  die  Bildung  eines  Klubs  anfangs  sehr  und 
nahm  nicht  Theil  —  besondors  weil  er  Geld  von  Preussen  erwar- 
tete. —  Als  dieses  zögerte  und  sein  Freund  Drosch  von  Strass- 
burg  kam,  ihm  eine  Stelle  in  der  Verwaltung  versprach:  trat  er 
in  den  Klub  am  6.  Nov.,  wurde  sofort  am  19.  Nov.  Vicepräsident 
der  Verwaltung  (nicht  Präsident)  und  erst  am  29.  Dec.  im  Klub 
zum  Präsidenten  des  Klubs  erwählt  auf  neun  Monat,  wie  er  auch 
Ende  Januar  abtrat.  Wie  ganz  anders  und  irrig  ist  die  Vorstel- 
lung des  Verfassers!  Ebendaselbst  heisst  es  ferner:  »Weib  und 
Kind  hatte  er  unter  dem  Schutz  des  Freundes  nach  der  Schweiz 
geschickt«,  sollte  heissen :  »Anfang  December  schickt  er  die  Frau 
mit  seinen  zwei  Kindern  in  die  Schweiz  und  im  April  folgte  dort- 
bin ihr  Freund  Huber.«  S.  219:  »Der  briefliche  Verkehr  mit  sei- 
nen Freunden  in  Deutschland  blieb  unausgesetzt«  vollständig  un- 
wahr, indem  seit  Ende  December  jeder  Verkehr  mit  seinen  Freun- 
den aufhörte.  Nur  noch  einen  historischen  Schnitzer.  S.  228  :  »Bald 
nach  seiner  Ankunft  in  Paris,  nöthigte  Kalkreuth  die  Stadt  Mainz 
zur  Kapitulation.«  Am  29.  März  kam  Forster  in  Paris  an  und  am 
23.  Juli  übergab  sich  Mainz.  Kühne  hat  sonderbare  Begriffe  von  Zeit 
und  Raum ;  auch  sonst  steht  er  noch  hie  und  da  auf  dem  Stand- 
punkt vom  jtingern  Deutschland,  da  er  z.  B.  in  der  Abtretung 
seiner  Frau  »eine  schiefe  Idealität,  aber  keine  Ehrlosigkeit,  keinen 
Mangel  an  Rechtssinn  findet.«  Ich  halte  es  nicht  nur  für  unmora- 
lisch, sondern  auch  für  rechtswidrig,  wenn  man  seine  Frau  einem 
Ändern  abgibt,  ohne  den  Weg  Rechtens  d.  h.  ohne  Scheidung. 
Nicht  einmal  den  richtigen  Todestag  hat  Kühne  aus  meinem  Buche 
sich  bemerkt.  Andere  Fehler  übergehe  ich  wie  z.  B.  S.  225:  »Im 
Marz  1793  eröffnet  sich  uns  die  Reihe  seiner  Briefe  an  Frau 
Therese«;  sie  fingen  im  Anfang  December  1792  an.  S.  224:  »Sein 
offenes  lautes  Wort  über  Char.  Corday  ist  ein  Zeugniss  des  anti- 
ken  Römersinnes  in  ihm  wie  bei  Lux.«  Forster  hat  nirgends  laut 
for  sie  gesprochen,  ein  paar  Worte  in  Briefen,  die  37  Jahre  später 
edirt  wurden.  S.  223:  »Forster  wurde  nach  Paris  geschickt  um 
den  Schutz  des  neuen  Staates  zu  erwirken!«  Nein,  um  das  Land 
zwischen  Bingen  und  Speyer  den  Franzosen  zur  Einverleibung  an- 
zutragen !  Das  ist  eben  die  schwere  Schuld ,  die  auf  ihm  lastet ; 
aber  Kühne  umgeht  sie  oder  er  will  sie  gar  nicht  kennen.  Er  hat 
mein  Buch ,  das  er  angreift,  nicht  gelesen ,  wenigstens  weder  die 
Anklagepunkte  sich  gemerkt  noch  sonst  auch  was  über  Forster 
und  seinen  Aufenthalt  in  Mainz  u.  a.  m.  historisch  genau  dort 
dargestellt  ist,  sich  für  seine  Biographie  zu  eigen  gemacht,  son- 
dern manche  verkehrte  von  mir  zurückgewiesene  Dinge  wiederholt 


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Kühne:  Deutsche  Charaktere  II. 


und  auch  so  viel  Fehlerhaftes,  Falsches  und  Unerwiesenes  hier  vor- 
gebracht und  breit  dargelegt,  dass  ich  unter  den  vielen  Biogra- 
phien Forster's,  die  ich  kenne,  keiner  mich  erinnere,  die  so  wenig 
Richtigkeit  und  Wahrheit  enthalt.  Da  also  die  Rechtfertigung  miss- 
glückt ist  —  wie  sie  überhaupt  bei  Forster  niemals  glücken  wird 
—  die  Biographie  in  ihren  Thatsachen  vielfach  verfehlt  ist:  so 
können  uns  dafür  die  schönen  Worte,  die  hie  und  da  aus  Forsters 
Werken  ausgehoben  sind,  die  oft  treffenden  Bemerkungen  Kübne's 
über  Forsters  Schriften,  die  offenen  und  freien  Ansichten  des  Ver- 
fassers, denen  wir  im  Ganzen  beistimmen ,  doch  nicht  hinlänglich 
entschädigen,  keinenfalls  haben  wir  aber  erkannt,  warum  Forster 
immer  noch  in  eine  Sammlung  deutscher  Charaktere  aufgenommen 
zu  werden  verdient. 

Ich  benutze  hier  die  Gelegenheit,  noch  auf  einiges  Andere,  was 
ebenfalls  Forster  betrifft,  einen  prüfenden  Blick  zu  wenden.  Dr. 
Schauenburg  in  Düsseldorf  hat  in  Herrig's  Archiv  für  das 
Studium  der  neuern  Sprachen  und  Literatur  (XXXVII  S.  141  ff) 
zu  zeigen  versucht,  dass  Göthe  in  Hermann  und  Dorothea  Gesang 
VI  unter  dem  ersten  Verlobten  der  Dorothea,  welcher  aus  Liebe 
zur  französischen  Revolution  nach  Frankreich  ging  und  dort  seinen 
Untergang  fand ,  wohl  nnsern  Forstor  im  Auge  hatte.  Dagegen 
habe  ich  nun  ebendaselbst  XXXVIII  S.  470 ff.  gezeigt,  dass  dies 
nicht  angenommen  werden  könne,  ohne  Götbe'n  zu  verkennen, 
welcher  in  demselben  Jahre,  wo  er  in  den  Xenien  gegen  Forster 
und  sein  Treiben  auftritt,  sicher  nicht  bei  der  Schilderuug  jenes 
Verlobten  an  Forster  dachte.  Ich  würde  dieses  hier  nicht  erwähnt 
haben,  indem  die  Zurückweisung  am  angeführten  Orte  genügt, 
wenn  nicht  Hermann  Schauenburg,  der  iu  den  Blätter  für  littera- 
rische Unterhaltung  1865  S.  747  auf  jenen  Aufsatz  seines  Bruders 
hinweisend  ihm  vollständig  beistimmte ,  sogleich  über  sich  und 
seines  Bruders  Ansicht  die  Vernrtheilung  ausspricht  und  somit 
sichtbar  von  der  Nemesis  ergriffen  wurde,  was  ich  hervorzuheben 
nicht  unterlassen  möchte.  Nachdem  er  nämlich  seines  Bruders  An- 
sicht erklärt  hat,  schliesst  er:  »Göthe  setzte  somit  dem  Freunde 
ein  Denkmal  aere  perennius  —  so  ist  dort  gedruckt  statt  aere  — 
d.  h.  »längerdauernd  als  die  Luft«  (nicht  Erz);  nun  das  wollen 
wir  gelten  lassen  in  Bezug  auf  Schauenburg^  Ansicht  über  jenen 
Verlobten  bei  Göthe! 

Wenn  ich  oben  bemerkte,  dass  Kühne  mein  Buch  über  For- 
ster ohne  Aufmerksamkeit  gelesen  hat:  so  kann  ich  dies  von  einem 
andern  Beurtheiler  desselben  nicht  sagen.  Direktor  W.  Buchner 
in  Crefeld  hat  mein  Werk  über  Forster  in  den  Jahrbüchern  für 
Philologie  und  Pädagogik  (Band  94  S.  228  ff.)  besprochen,  im  Gan- 
zen und  in  der  Hauptsache  demselben  lobend  beigestimmt,  aber 
Kleinigkeiten  auf  kleinliche  Art  herausgehoben  und  zuletzt  gemeint : 
»Dass  Forster  noch  immer  des  Biographen  harrt,  der  nach  allen 
jetzt  vorliegenden  Urkunden   ihn   schildere  vom   deutschen  und 


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Kühne:  Deutsche  Charaktere.  II. 


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menschlichen  Standpunkt,  gerecht  und  mild.«    Vorerst  muss  ich 
hiergegen  bemerken,  dass  meine  Schrift  keine  Biographie  Försters 
ist,  sondern  nur  dessen  letzte  fünf  Jahre  behandelt.    Was  nun  die 
Kleinigkeiten  betrifft,  wobei  der  Verfasser  sich  besonders  desshalb 
aufhält,  weil  ich  auch  bei  diesen  ein  Urtbeil,  meist  ein  tadelndes 
beifügte:  was  kann  ich  dazu,  dass  auch  in  Kleinigkeiten  Forster 
zu  tadeln  ist?  Besser  hätte  der  Verfasser  lobende  Dinge  von  Forster 
aufgesucht  und  vorgestellt,  aber  die  fand  er  nicht.    Wie  er  aber 
jenen  entschuldigt  oder  mich  tadelt,  mag  eine  Bemerkung  zeigen : 
Wenn  ich  meinen  Unwillen  ausdrücke,  dass  Forster  wio  andere 
Deutsche  an  Deutsche  in  Deutschland  französisch  schreibe :  wirft 
mir  Buchner  vor,  dass  ich  1856  ein  französisches  Büchlein  über 
Guttenberg  geschrieben  (genau  genommen  habe  ich  es  deutsch  ge- 
schrieben und  der  Eigenthümer  der  Guttenbergspresse  hat  es  in 
das  Französische  übersetzen  lassen).    Das  Büchlein  ist  wenig  be- 
kannt geworden,  und  auch  der  Verfasser  hätte  es  nicht  gekannt, 
wenn  ich  es  ihm  nicht,  wie  ich  glaube,  geschenkt  hätte;  somit 
bin  ich  an  obigem  Vorwurf  selbst  schuld  u.  8.  w.    Was  nun  das 
noch  zu  fallende  Endurtheil  Uber  Forster,  das  nach  Buchner  noch 
zu  erwarten  ist,  betrifft:  so  ist  es  sicher,  dass  vom  »deutschen 
Standpunkt«  Forster  das  härteste  Urtbeil  verdient,  da  sein  Be- 
streben dahin  ging,  einen  ganzen  Landstrich  von  Deutschland  ab- 
zureissen  und  dem  Reichsfeind  zu  schenken  —  Oder  will  Buchner 
hier  mild  urtheilen  ?  —  und  dass  zweitens  von  »menschlichen  Stand- 
punkt« ihm  aus  den  letzten  Jahren  so  vieles  und  schweres  zur 
Last  liegt,  dass  er  während  dieser  Zeit,  wenn  man  gerecht  sein 
will ,  nimmer  den  Namen  edel ,  —  wenn  man  ihn  auch  früher 
manchmal  so  genannt  haben  mag  —  ja  nicht  einmal  das  Beiwort 
honestus  oder  moderatus  verdient  hat,  wenn  auch  noch  einzelne 
Handlungen  ein  Zeichen  von  früheren  besseren  Gesinnungen  geben 
mögen.    Daher  wird  man  schwerlich  ein  milderes  Urtbeil  über  ihn 
fällen  können,  als  ich  abgab,  da  ich  S.  383  schrieb:  »Wir  wollen 
zugeben,  dass  Forster  ein  grosser  Naturforscher,  ein  gelehrter  Reisebe- 
schreiber,  ein  vorzüglicher  Kunstrichter,  ein  gewandter  Briefschreiber, 
ein  guter  Uebersetzer,  einer  der  besten  Prosaiker  seiner  Zeit  war ; 
aber  weder  sein  Charakter  noch  seine  Handlungsweise  erlauben  das 
Beiwort  edel  ihm  zu  geben,  und  an  dem  Vaterland  hat  er  sich  das 
schwerste  Vergehen,  den  Venrath,  zuschulden  kommen  lassen.«  Da- 
her bedauern  wir  ihn,  aber  freisprechen  können  wir  ihn  nimmer, 
aach  kein  milderes  ürtheil  fallen,  ohne  uns  selbst  am  Vaterlande 
zu  versündigen.    Dass  dies  Urtheil  das  allein  richtige  sei,  dies 
hat  meine  Darstellung  von  den  letzten  Jahren  Forster's  darthun  sol- 
len und  hat  es  dargethan.  Daher  habe  ich  auch  Kleinigkeiten  be- 
urtheilt  nicht  aus  »Gehässigkeit«  wie  Buchner  meint.   Dies  haben 
anch  andere  Biographen  Forsters  eingesehen,  wie  denn  ein  frühe- 
rer Lobredner  von  Forster  mir  nach  meinen  Aufklärungen  sagte: 
nun  komme  ihm  Forster  wie  ein  gewöhnlicher  Literat  vor.  Buch- 


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424         Marmor:  Die  Uebergabe  von  Konstan*  an  Oesterreich. 

ner  aber,  der  früher  auch  einmal  eine  Biographie  Porsters  für  eine 
ephemere  Zeitschrift,  die  illustrirte  Welt,  wenn  ich  nicht  irre,  ge- 
schrieben hat,  ist  von  der  dort  kundgegebenen  Meinung  Uber  For- 
ster noch  nicht  zurückgekommen,  sondern  will  sogar  durch  Vor- 
bringung von  einigen  unbedeutenden  Dingen  die  Meinung  anregen, 
man  könne  noch  ein  mildes  Urtheil  über  Forster  haben,  ohne,  wie 
ich  behaupte,  durch  Parteistandpunkt  oder  durch  Unkenntniss  dazu 
bestimmt  zu  werden.  Dem  Schulmann  geziemt  es  zwar,  an  dem 
Erlernten  und  Angenommenen  festzuhalten,  aber  nur  bis  Besseres 
vorliegt,  wie  hier  der  Fall  ist.  Vom  Verfasser  der  »deutschen 
Ehrenhalle«  aber  ist  zu  erwarten,  dass  er  nicht  einen  Mann  wei- 
ter feiern. will,  der  Deutschland  dem  Feinde  verrieth:  er  frage 
sich:  wie  hätten  die  Franzosen  solch  einen  Menschen  behandelt? 
Nur  wir  Deutsche  handeln .  so  verkehrt  und  wollen  gar  nicht  zur 
Einsicht  kommen.  So  wie  ich  aber  am  wenigsten  von  dem  Ver- 
fasser der  deutschen  Ehrenhalle  ein  solches  ziihe  Festhalten  an  der 
früheren  Ansicht  über  Forster  und  meine  Aufforderung  zu  einem 
milden  Urtheil  —  das  hier  gar  nicht  statt  haben  kann  —  erwar- 
tet habe;  so  meine  ich  auch,  dass  in  die  »Neuen  Jahrbücher  für 
Philologie  und  Pädagogik«  eine  Besprechung  über  Forster  gar  nicht 
passe;  der  Mann  gehört  weder  der  Philologie  noch  der  Pädagogik 
an ;  daher  hätte  die  Becension  meines  Buches  dort  keine  Aufnahme 
finden  sollen,  sondern  musste  einer  Zeitschrift  allgemeinen  oder 
geschichtlichen  Inhalts  übergeben  werden.  Klein. 


Uebergabe  der  Stadt  Konstanz  an's  Haus  Oesterreich  im  Jahre  1548. 
Aus  dem  Archive  der  Siadt  Konstanz,  von  J.  Marmor. 
Wien  k.  Ar.  Hof-  und  Staatsdruckerei,  In  Commission  bei  Carl 
Gerold' s  Sohn,  Buchhändler  der  kaiserlichen  Akademie  der 
'    Wissenschaften.  1864.  S.  39.  8. 

Nicht  ohne  des  Ref.  Verschulden  sind  seit  dem  Erscheinen  der 
kleineu  aber  lehr-  und  inhaltreichen  Schrift  zwei  Jahre  hingegan- 
gen, ehe  sie  zur  Kenntnis?  der  Leser  dieser  Blätter  kam.  Und  doch 
ward  auch  ihr  die  Auszeichnung  zu  Tbeil,  dass  die  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  Wien  für  ihre  Veröffentlichung  eintrat.  Die  be- 
handelte Angelegenheit  ist  eine  der  vielen  Aeusserungen  politischer 
und  religiöser  Beaction,  die  nach  der  Schlacht  bei  Mühlberg  ein- 
trat. Die  Stadt  Constanz,  seit  1530  Mitglied  des  schmalkaldischen 
Bundes,  hatte  ungeachtet  des  1527  mit  Zürich,  1528  mit  Bern 
abgeschlossenen  Burgrechtsvertrags  nach  dem  Siege  des  Kaisers 
die  schwerste  Schädigung  schon  darum  zu  befürchten ,  weil  ihre 
Lage  —  nur  durch  den  Stadtgraben  vom  thurgauischen  Gebiete 
der  Eidgenossen  getrennt,  die  Kaiserlichen  zur  grü ästen  Energie 
auffordern  musste,  sie  nicht  vom  deutschen  Reiche  loszulassen. 


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Marmor:  Die  Ueburgabe  von  Konstanz  an  Oesterreich.  425 

Wohl  mochte  jetzt  allgemein  das  Gefühl  der  Reue  darüber 
herrschen,  dass  das  Schreiben  des  Kaisers  vom  14.  Juni  1546, 
welches  unter  Erbieten  wesentlicher  Vortheile  das  Ausscheiden  aus 
dem  schmalkaldischen  Bunde  verlangte,  sogar  unbeantwortet  ge- 
blieben war. 

Jetzt  blieb  nur  übrig  die  Aussöhnung  mit  dem  Kaiser  nach 
Möglichkeit  zu  betreiben.  Die  Stadt  Hess  es  daran  nicht  fehlen. 
In  beweglichen  Schreiben  an  den  kaiserlichen  Landvogt  zu  Nellenburg, 
Jakob  von  Landau,  an  König  Ferdinand  selbst  suchte  sie  zuerst 
Stundung  des  gewaltsamen  Zugriffs  zu  erlangen.  Aber  letzterer 
machte  seine  Aussöhnung  als  deutscher  König  von  der  des  Kaisers 
abhängig  und  ersterer  erklärte  der  Stadt,  16.  October  1547,  dass 
er  den  kaiserlichen  Auftrag  habe,  auf  die  Güter,  Zehnten,  Gülten 
der  Schmalkaldischen  Bundesverwandten  Beschlag  zu  legen.  Und 
schon  nach  2  Tagen  meldeten  die  dem  Konstanzer  Spital  Ange- 
hörigen von  Sipplingen  und  Hedingen  bei  Ueberlingen,  dass  sie  dem 
Kaiser  haben  huldigen  müssen  und  von  allen  Seiten  her  wurden 
durch  die  bischöflichen  Amtleute  ähnliche  Massregeln  in  Aussicht 
gestellt  und  nur  bis  zum  Ausgang  der  Aussöhnungsverbandlungen 
mit  dem  Kaiser  kurze  Stundung  erhalten.  Diese  Verhandlungen 
hatten  mit  der  Bitte  um  Fürwort  an  den  Kanzler  Nicolaus  von 
Granvella  24.  Septbr.  begonnen  und  es  wurde  zu  ihrer  Führung 
Bürgermeister  und  Rath  den  22.  October  von  der  Gesammtbürger- 
schaft  ermächtigt. 

Diese  Verhandlungen  nun  bilden  den  weitern  Inhalt  der  Schrift. 
Während  über  die  Stadt  die  engste  Sperre  von  den  katholischen 
Beichsständen  verfügt  wird,  während  die  Bürger,  in  ihrer  Hoffnung 
durch  Zürichs  Vorwort  und  die  Bemühungen  Heinrichs  II.  den  Bei- 
stand der  Eidgenossen  zu  erhalten  schon  1546  getäuscht,  sich  an 
den  Landvogt  von  Landau,  an  den  bischöflichen  und  österreichi- 
schen Landvogt  von  Ober-  und  Niederschwaben  Dr.  Gienger  ver- 
geblich wenden,  erklärt  der  Rath  dem  erstem,  dass  der  Stadt  Hal- 
tung nicht  ein  Werk  der  Verführung,  sondern  eigenster  Ueber- 
zeugung  gewesen,  ja  dass  sie,  obwohl  den  19.  Februar  1548  ihr 
ßundniss  authöre,  nur  mit  Bewilligung  des  andern  Theils  dasselbe 
absagen  könne,  dass  sie  aber  den  Churfürsten  von  Sachsen,  den 
Landgrafen  von  Hessen  und  die  Stadt  Strassburg  um  Einwilligung 
zu  ihren  Versöhnnngsverhandlnngen  angegangen  und  von  letzterer 
sie  auch  erhalten  habe,  dass  sie  endlich  hoffe,  Milderung  oder  Nach- 
lasB  der  angesetzten  Strafgelder  zu  erhalten.  Der  schwankende 
Zustand  und  die  Uufassbarkeit  der  Verhandlungen  dauerte  bis  in 
den  März  1548  und  wird  von  dem  Fürsprech  der  Stadt,  Dr.  Gien- 
ger dem  Verdachte  des  Kaisers  zugeschrieben,  dass  die  Stadt  in 
Verhandlung  mit  den  Eidgenossen  und  dem  König  von  Frankreich 
stehe.  —  Den  17.  März  endlich  wurde  das  kaiserl.  sichere  Gebiet 
gegeben  für  die  Gesandten,  welche  »Bürgermeister  und  Rath  der 


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426         Marmor:  Die  Uebergabe  von  Konstanz  an  Oesterreich. 

Stadt  Konstanz  zu  Uns  zu  verordnen  und  abzufertigen  haben,  Uns 
um  Huld  nnd  Gnade  untertbäniglicb  anzusuchen  etc.« 

Merkwürdig  ist  für  dieses  Stadium  der  Vorverhandlungen  ein 
vom  Verf.  S.  7  angeführter  Zwischenfall.  Den  8.  Nov.  1547  er- 
hielt der  Stadtrath  ein  Schreiben  des  Freiherrn  (Ulrich)  von  8ax 
zu  Bürglen,  worin  ein  Gesandter  des  Raths  an  ihn  begehrt  wurde. 
Dieser  —  der  Bürgermeister  Thomas  Blarer,  Bruder  des  Reforma- 
tors —  traf  bei  ihm  einen  Freiherrn  von  Schwarzenberg,  —  wie 
in  einer  Anm  von  Ritter  v.  Bergmann?  wohl  lichtig  vermuthet 
wird,  einen  Schwager  des  Herrn  von  Sax  —  welcher  den  Rath 
gab,  die  Stadt  solle  sich  in  keine  beschwerliche  Aussöhnung  mit 
dem  Kaiser  einlassen,  >da  er  von  einem  Herrn  den  Auftrag  habe 
den  Rath  zu  warnen,  weil  er  der  Stadt,  wenn  es  verlangt  würde, 
mit  Leuten  uud  Gütern  boholfen  sein  wollte.«  Sollte  dieser  Herr 
der  Graf  Wilhelm  von  Fürstenberg  oder  der  Herzog  von  Würtem- 
berg  gewesen,  oder  nicht,  vielleicht  das  Ganze  eine  österreichische 
Falle  gewesen  sein,  um  die  widerspenstige  Reichsstadt  noch  mehr 
zu  compromittiren? 

Der  zweite  Akt  des  Drama's  beginnt  mit  der  Instruction  iür 
die  vom  kleinen  und  grossen  Rath  den  14.  April  zum  Reichstag 
nach  Angsburg  abgefertigten  Gesandten,  den  Altbürgermeister 
Thomas  Blarer,  Peter  Labbart  und  Hieronymus  Hürus.  Diese  ging 
dahin,  zuerst  mit  Dr.  Gienger  zu  verhandeln  und  dessen  Rath  ent- 
gegen zu  nehmen,  den  Wunsch  auszusprechen,  mit  dem  Kaiser  zu- 
erst, dann  erst  mit  seinem  Bruder  zu  verhandeln,  eventuell,  wenn 
sie  zum  Fussfall  vor  dem  Kaiser  zugelassen  würdeu,  diesen  zu 
loisten  und  sich  in  desselben  Gehorsam  und  Gnade  zu  ergeben. 
Würden  weitere  »Beschwerlichkeiten«  von  ihnen  verlangt,  so  soll- 
ten sie  sich  dagegen  sträuben,  nötigenfalls  an  den  Rath  berich- 
ten, besonders  wenn  eine  solche  Handlung  »gegen  Gott  und  gutes 
Gewissen«  und  der  Bürgerschaft  verderblich  wäre,  den  ihnen  zuge- 
mutheten  Eid  sollten  sie  nur  in  der  vom  Rath  vorgeschriebenen 
Weise,  oder  auf  andere  ungefährliche  Weise  leiston ,  oder  weitern 
Bericht  erstatten,  endlich  über  der  Stadt  Betheiligung  am  sehmal- 
kaldischen  Krieg  und  die  angeblichen  Bündnisse  mit  Frankreich 
und  den  Eidgenossen  sich  bestens  entschuldigen  oder  rechtfertigen 
und  wegen  des  Güterarrestes  ihr  Möglichstes  thun,  auch  einen  ge- 
schickten und  vertrauten  Dollmetscher  zu  sich  nehmen.  Mündlich 
wurde  dieser  Instruction  beigefügt,  dass  sie  die  erbotenen  guten 
Dienste  mehrerer  genannten  Herrn,  des  Abts  Gerwig  Blarer  zu 
Weingarten,  des  Grafen  Friedrich  von  Fürstenberg,  Sigmund  von 
Landenberg  u.  A.  mit  Dank  in  Anspruch  nehmen  sollen.  Daneben 
erhielten  sie  unbesckränkte  Vollmacht  zur  Verhandlung  Namens  des 
Raths  und  der  Gemeinde  und  einen  Beglaubigungsbrief  an  den 
Minister  Granvella.  So  ritten  sie  den  22.  April  in  Augsburg  ein. 
Granvella  war  krank  und  so  gaben  sie  ihr  Creditiv  an  dessen  Sohn, 
den  Bischof  vou  Anas,  der  dann  auch  fortan  die  Unterhandlungen 


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Marmor:  Die  Uebergabe  von  Konstant  an  Oesterreich.  427 

leitete.  Dieser  drückte  zwar  alle  Bereitwilligkeit  aus,  die  Ungnade 
des  Kaisers  zu  mildern,  hob  aber  gleich  jetzt  die  neue  Beschwerde 
hervor,  dass  Constanz  die  Augsburger  brieflich  in  ihrer  Religion 
—  offenbar  Druck-  oder  Schreibfehler  statt  Bebellion  —  bestärkt 
hätte.  Auf  die  desfallsige  Entschuldigung  oder  Rechtfertigungs- 
schrift vom  5.  Mai  erklärte  Bischof  Granvella  den  13,  dass  er  die 
letztere  wegen  Mangels  ihres  Erbieten*  der  Rückkehr  des  Con- 
stanzer  Bischofs  und  bestimmter  Bussgelder  (der  in  die  Sache  ein- 
geweihte Abt  Gerwig  Blarer  hatte  von  50000  Gulden  gesprochen) 
dem  Kaiser  nicht  vorgelegt  habe.  Aber  würde  auch  Alles  dieses  ange- 
boten, so  könne  er  sie  dennoch  der  kaiserlichen  Gnade  nicht  ver- 
sichern, da  noch  mehrere  Artikel  vorbehalten  sein  möchten. 

Die  Gesandten  erwiederten  zunächst  ausweichend  und  gaben 
nach  vorgängiger  Berathung  mit  ihren  Sachwaltern  Dr.  Mayer  und 
Seiden  den  15.  Mai  die  frühere  Eingabe  mit  Abkürzungen  ein. 
Jetzt  wurde  betont,  dass  die  Stadt  dem  Kaiser  unterwürfig  sei, 
seine  Feinde  nicht  hegen ,  den  Kriegsschaden  in  Verbindung  mit 
den  andern  ausgesöhnten  Städten  ausgleichen,  auch  ein  oder  das 
andere  Geschütz  ausliefern  wolle,  obgleich  sie  seit  dem  Verluste  ihrer 
Artillerie  im  Schweizerkriege  (Treffen  beim  Schwaderloch  vg. 
Schreckensteiu  »Wolfgang  v.  Fürstenberg  etc.«)  wenig  Stücke  mehr 
besitze,  dass  sie  aber  hoffe,  namentlich  bei  der  drohenden  Aus- 
wanderung der  Vermöglichen  nur  wie  die  geringem  Städte  be- 
handelt zu  werden  und  dass  sie  bäte,  die  bischöfliche  Frage  nicht 
in  die  gegenwärtige  Verhandlung  zu  mengen  Gerade  an  diesem 
Tage  aber  wurde  die  letztere  noch  verwickelter  durch  die  gleich- 
zeitige Verkündung  des  »Interim.«  Wahrscheinlich  schlössen  sich 
die  Gesandten  der  Antwort  an,  welche  im  Namen  der  freien  Reichs- 
städte Jakob  Sturm  19.  Mai  einreichte,  die  übrigens  vorerst  vom 
Kaiser  nicht  ungnädig  aufgenommen  wurde.  Gleich  des  folgenden 
Tages  wurden  die  Gesandten  zu  Granvella  d.  j.  berufen,  welcher 
viel  von  der  Ungnade  des  Kaisers  sprach  und  ihnen  rieth  »sich 
jetzt  dazu  zu  schicken,  denn  was  jetzt  versäumt  würde,  könnte 
später  nicht  mehr  geschehen.« 

Den  3.  Juni  wurdeu  die  kaiserlichen  Bedingungen  eröffnet.  Sie 
lauteten  auf  unbedingte  Unterwerfung  auf  Gnade  und  Ungnade, 
Wiederaufnahme  von  Bischof  und  Stift  nebst  deren  Entschädigung, 
Annahme  und  Besoldung  eines  kaiserl.  Hauptmanns  mit  400  fl., 
Abschaffung  aller  Bündnisse,  Annahme  der  geistlichen  und  welt- 
lichen Verordnungen,  welche  der  Kaiser  für  Konstanz  treffen  werde, 
Ablieferung  etlicher  Feldgeschütze  und  einiger  Tausend  Gulden, 
schliesslich  Auslieferung  des  cburpfälziscben  Rentmeisteis  Gabriel 
Arnold.  In  einer  Bittschrift  auf  Milderung  dieser  Bedingungen 
(13.  Juni)  beschwerten  sich  die  Gesandten  natürlich  vorzüglich 
gegen  die  Wiederkehr  der  katholischen  Geistlichheit  und  den  kai- 
serlichen Stadthauptmann,  und  als  der  Bischof  in  persönlicher 
Audienz  darauf  bestand  und  den  Reformator  Ambros  Blarer,  der 


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428         Marmor:  Die  Uebergabe  von  Konstanz  an  Oesterreich. 


inzwischen  zu  Augsburg  sich  eingefunden  hatte  und  seinen  Bruder, 
den  Altbürgermeister,  hart  anfuhr,  machton  sie  eine  letzte  Redaction, 
in  welcher  sie  wegen  der  genannten  Punkte  erklärten,  sie  dürften 
so  wichtige  Dingo  nicht  hinter  dem  Rücken  des  Raths  verwilligen. 
Es  wurde  ihnen  zum  Bericht  an  den  Stadtrath  erst  8  Tage,  dann 
bis  zum  16.  Juli  Frist  gegeben,  zugleich  aber  verlangt,  dass  die 
Angelegenheit  vor  die  gesammte  Gemeinde  gebracht  werde.  — 
Wahrscheinlich  glaubten  die  Räthe  dos  Kaisers  sich  schon  der 
Majorität  sicher  und  zwar  nach  Berichten,  wie  wir  unten  angeben 
werden ,  die  wahrscheinlich  ein  wohl  unterrichteter  Parteigänger 
der  Oesterreicher  erstattet  hatte.  Die  Bescblussnahme  durch  die 
Zünfte  aber,  den  12.  Juli  t  fiel  anders  aus;  es  wurde  mit  Mehr- 
heit ein  Schreiben  des  Raths  an  den  Kaiser  angenommen,  in 
welchem  die  Stadt  zwar  zur  Ablieferung  von  8000  Gulden  und 
4  Kanonen  sioh  erbötig  machte,  diejenigen  Artikel  aber,  welche 
ihre  Religion  gefährden,  ablehnt  und  den  Kaiser  auf  das  Be- 
weglichste bittet,  nicht  zum  Ruine  der  Gemeinde  darauf  zu  be- 
stehen. Als  die  Bittschrift  den  16.  Juli  dem  Bischof  von  Arras 
überreicht  wurde,  verweigerte  er  ihre  Annahme,  weil  der  Kaiser 
kein  Schreiben  einer  ungesühnten  rebellischen  Stadt  annehme ;  nur 
eine  Abschrift  nahm  er  entgegen.  Hiertiber  aufgebracht  berief  der 
Rath  [wohl  etwa  den  21.  Juli,  und  kam  der  Erlass  an  die  Ge- 
sandten etwa  den  26.  Juli]  die  Gesandten  ab,  die  aber  ihre 
Befürchtung  aussprachen,  man  möchte  dieses  als  Halsstarrigkeit 
auslegen  und  baten  sie  noch  einige  Tage  warten  zu  lassen ,  bis 
kaiserliche  Autwort  erginge.  Diese  gab  der  Bischof  Granvella  den 
5.  August,  nachdem  er  die  Gesandton  bis  gegen  5  Uhr  Abends 
hatte  warten  lassen,  beim  Durchgang  vom  Mittagsmahl  in  den 
Garten  dahin,  dass  kaiserliche  Majestät  »befind,  dass  die  von  Kon- 
stanz sich  zu  der  Aussöhnung  nicht  schicken  wollen,  weshalb  J.  M. 
alle  Handlung  abgoschuitten  habe.« 

Hiemit  endigten  die  Geschäfte  der  Gesandtschaft;  des  andern 
Tags  wurde  die  Reichsacht  über  Konstanz  verhängt  und  veröffent- 
licht, die  Gesandten  kehrten  schleunigst  nach  Hause  zurück,  um 
unterwegs  zu  vernehmen,  dass  der  spanische  Oberst  Alphons  Vives 
am  Tage  der  Veröffentlichung  der  Acht  einen  Sturm  gegen  Kon- 
stanz unternommen  und  die  Vorstadt  Petershauseu  niedergebrannt 
habe,  aber  zurückgeschlagen  worden  und  gefallen  sei. 

Die  nochmaligen  Versuche,  die  Eidgenossen  und  die  schwäbi- 
schen Ständo  zur  Verwendung  für  die  Stadt  zu  bewegen,  schlugen 
fehl;  letztere  gaben,  erstere  erhielten  vom  Kaiser  schnöde  Abwei- 
sung. Den  18.  August  wurde  das  Interim  in  der  Stadt  verlesen, 
den  10.  September  zwar  noch  einmal  beschlossen,  nicht  sogleich 
sich  dem  Kaiser  unbedingt  zu  unterwerfen,  sondern  den  Erfolg  der 
eidgenössisebeu  Verwendung  abzuwarten.  Doch  da  die  Nachricht 
von  der  Erfolglosigkeit  derselben  eintraf  [dieses  hätte  der  Verf., 
da  er  S.  39  zum  Schlüsse  eilte,  doch  betonen  sollen],  ging  die 


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Marmor:  Die  Uebergabe  von  Konstanz  an  Oesterreich.  420 


politische  und  kirchliche  Reaction  mit  raschen  Schritten  vorwärts. 
In  diese  Tage  fällt,  was  der  Verf.  nicht  erwähnt  und  auch  J.  Eise- 
lin  (Geschichte  and  Beschreibung  der  Stadt  Konstanz  S.  166)  nicht 
mit  dem  Datum  belegt  hat,  der  Vorwurf  gegen  die  Gesandten, 
dass  durch  ihre  Zähigkeit  es  nicht  zur  Aussöhnung  gekommen  sei 
und  in  Folge  dessen  die  Entsetzung  Th.  Blarers  von  der  proviso- 
risch verwalteten  Bürgermeisterwürde  durch  die  definitive  Wahl 
eines  offenbar  österreichisch  gesinnten  Zunftlers,  des  Bäckermeisters 
Zündelm.  Dieser  lässt  den  Abt  Gerwig  Blarer  über  die  Unter- 
werfung der  Stadt  unter  das  Haus  Oesterreich  unterhandeln ;  ihnen 
geht  durch  Versprechungen  goldener  Berge  ein  Konstanzer  Reis- 
läufer, Hauptmann  Egli  zur  Hand,  der  als  spanischer  Soldat  bei 
dem  Sturme  des  Alpbons  Vives  mitgewirkt  hatte,  jetzt  bei  der 
Österreichischen  Heeresabthoilung  steht,  die  Freiherr  von  Pollweiler 
zu  Bregenz  zur  Vollziehung  der  Reichsacht  sammelt,  nnd,  wie  sicher 
anzunehmen  ist,  schon  vorher  mit  Zündelin  und  seinen  Gesinnungs- 
genossen in  Verbindung  stand.  Jetzt  trieb  er  sich  zu  Konstanz 
hemm  und  bei  einer  Zunftumfrage,  bei  welcher  Zündelin  die  der 
katbolischen  Geistlichkeit  aus  naheliegenden  Gründen  holden  Fischer 
nnd  Bäcker  in's  Vordertreffon  schickt,  ward  den  ll.Oct.  mit  einem 
Mehr  von  50  Händen  die  Unterwerfung  unter  Oesterreich  beschlos- 
sen. Wir  hätten  gewünscht,  dass,  dem  Titel  seiner  Schrift  ent- 
sprechend, der  Verf.  gerade  dieses  Abspielen  der  Katastrophe  ein- 
gangiger behandelt  hätte,  zumal  der  Ausruf  Thomas  Blarers  nach 
der  Abstimmung:  »So  erbarm*  sich  Gott,  dass  ich  in  Augsburg 
nicht  anders  gehandelt  bab',  als  was  ihr  mir  befahlt!«  klar  an- 
deutet, dass  auch  jetzt  noch,  in  der  zwölften  Stunde,  das  Verfah- 
ren der  Gesandten  einer  Kritik  unterworfen  wurde. 

Der  Verfasser  drückt  sich  (S.  39)  hierüber  so  aus:  Wie  man 
einerseits  die  verblendete  Hartnäckigkeit  des  Rathes  und  der  Bür- 
ger von  Konstanz  und  anderseits  das  Verfahren  des  Kaisers  an- 
sehen mag,  so  wird  man  doch  anerkennen  müssen,  dass  Konstanz 
würdig  gefallen  etc.« 

Wir  glauben,  dass  Gesandte  und  Rath  mit  Erfolg  nioht  anders 
bandeln  konnten  und  dass  eben  die  Lage  der  Stadt,  als  Brücke 
zwischen  den  vorarlberg*schen ,  schwarzwäldischen  und  rheinthali- 
schen  Besitzungen  Oesterreichs  der  Nagel  am  Sarge  ihrer  Reichs- 
freiheit war. 

Allerdings  hätte  mit  einem  Anerbieten  von  einem  Dutzend 
Feuerschlünden  und  50000  Gulden  die  Stadt  von  vorneherein  bes- 
sere Behandlung  von  Seiten  des  Bischofs  von  Arras  sich  erkaufen 
können.  Allerdings  hätte  die  Aufnahme  des  Domcapitels  und  des 
Bischofs  bei  freier  Ausübung  ihrer  Religion  durch  die  Bürger- 
schaft ebenso  gut  als  zu  Worms ,  Strassburg  u.  s.  f.  bei'm  Augs- 
burger Religionsfrieden  sich  verwinden  können;  der  Bischof  hätte 
ebenso  wohl,  als  früher  und  später  seinen  Sitz  wieder  zu  Mersburg 
genommen,  wo  er  allein  herrschte.  Aber  die  Aufnahme  eines  kaiser- 


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430     Ueberweg  n.  Er  d  mann:  Omndr.  d.  Oes  eh.  d.  Philosophie. 

liehen  Stadthauptmanns  —  natürlich  mit  einer  Garnison  war  dem 
Verluste  der  Reichsfreiheit  gleichbedeutend.  Und  eben  darum  be- 
stunden die  kaiserlichen  Käthe  so  fest  darauf. 

Auch  andere  Umstände  deuten  dahin.  Weniger  vielleicht,  dass 
unter  nichtigem  Vorwande  (S.  28)  zwei  Walsche  sich  spähend  zu 
Konstanz  sich  aufhielten  (Juni  1548)  und  von  dem  städtischen 
Marksteller  —  ein  zu  erklärendes  Wort ,  Marstaller-  Poststallmeister 
der  Stadt  —  nach  Tuttlingen  (wo  die  Spanier  lagen)  geführt  wer- 
den wollten,  denn  dieses  konnte  auch  leerer  Argwohn  sein.  Wohl 
aber  die  schon  oben  angedeuteten  Verbindungen  der  Oesterreicher 
in  der  Stadt,  ohne  welche  Egli  und  Zündelin  sich  gewiss  nicht  so 
gleich  zusammengefunden  hätten,  und  schliesslich  der  Ueberfall  der- 
selben, während  ihre  Gesandten  bei'm  Kaiser  waren  und  zwar  ge- 
rade am  Morgen  der  Achterklärung.  Dass  der  letztere  Umstand 
dem  spanischen  Obersten  nicht  unbekannt  war,  möchten  wir  ans 
dem  Umstände  schliessen,  der  S.  37  angeführt  ist.  Als  die  Ge- 
sandten den  7.  August  bei  Memmingen  an  die  Iiier  kamen,  be- 
gegnete ihnen  mit  der  Post  ein  kaiserlicher  Commissär,  der  zn 
Konstanz  gewesen  —  in  welchen  Geschäften  ?  —  mit  einem  Metz- 
ger, die  damals  wohl  die  besten  Wegweiser  waren,  ans  Ravens- 
burg und  der  letztere  gab  einem  der  Gesandten,  seinem  Zunftge- 
nossen Labhart  die  erste  Nachricht  vom  Ueberfalle  der  Stadt. 

So  klein  die  Schrift  ist,  so  gibt  sie  in  ihrer  actenmässigen 
Genauigkeit  einen  höchst  anerkennenswerthen  Beitrag  zur  Geschiohte 
des  Interims  nnd  wir  können  dem  Verf.  und  der  österreichischen  Aka- 
demie der  Wissenschaften  nur  Dank  für  ihre  Veröffentlichung  wissen. 

Mannheim,  Juni  1867.  Fickler. 


1)  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie  von  Thaies  bis  auf 
die  Gegenwart.  Von  Dr.  Friedrich  Ueberweg,  ausser- 
ordentL  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  *u  Königs- 
berg. Erster  Theil.  Zweite,  durchgesehene  und  erweiterte  Auf- 
lage. Berlin  1865,  Druck  und  Verlag  von  E.  8.  Mittler  und 
Sohn.  2.  Aufl.  Erster  Theil,  XI  u.  244  S.  Zweiter  Theil,  1866, 
XU  und  239  8.  Dritter  Theil,  1866,  VW  und  327  S.  qr.  8. 

2)  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie  von  Dr.  Johann 
Erdmann,  ordentl.  Professor  der  Philosophie  an  der  Uni- 
versität zu  Halle.  Berlin.  Verlag  von  Wilhelm  Herts  (Bes- 
ser9 sehe  Buchhandlung).  London:  Williams  u.  Norqate.  Erster 
Band,  Vlll  und  622  8.  Zweüer  Band,  Vlll  und  812  8.  gr.  8. 

Vor  dem  Erscheinen  der  oben  genannten  beiden  Grundrisse 
war  die  Sch weg ler' sehe  »Geschichte  der  Philosophie  im  Um- 
risse« (Stuttgart,  1848)  in  allgemeinem  Gebrauche  und  für  das 
Alterthura  benutzte  man,  um  die  Umrisse  etwas  genauer  zu  er- 


L 


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TJeberweg  u.  Erdmann:  Orundr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie.  431 


fassen  und  sich  mit  einiger  Literatur  vertraut  zu  machen,  Sch weg- 
lers Geschichte  der  griechischen  Philosophie  (heraus- 
gegeben von  C.  Köstlin,  Tübingen,  1859).  Die  schnell  hinter  ein- 
ander folgenden  Auflagen  des  Sch wegler' sehen  Umrisses  bewiesen, 
wie  sehr  das  Unternehmen  einem  wirklichen  Bedürfnisse  der  Stu- 
dierenden entgegen  kam. 

Es  ist  gewiss  eines  der  Haupt  Verdienste  der  neuern,  insbeson- 
dere der  Hegel'scben  Philosophie,  dass  ihr  Entwickelungsgang  nicht 
nur  zu  einer  scharfen  Kritik  im  Studium  der  Gottes-  und  Rechts- 
wissenschaft geführt,  sondern  dass  auch  die  Geschichte  der  Philo- 
sophie unter  diesem  kritischen  Einflüsse  in  Deutschland  bedeutende 
Fortschritte  gemacht  und  bleibende  Resultate  errungen  hat.  Die 
wichtigsten  Erfolge  wurden  für  das  Alterthum  in  den  grösseren 
Werken  von  Zeller  und  Brandis,  für  die  Neuzeit  durch  Erd- 
mann  und  Kuno  Fischer  gewonnen.  Zu  einem  für  Studierende 
und  Lehrer  gleich  nothwendigen,  zusammenfassenden  Ueberblicke 
sind  die  hoch  verdienten  Werke  dieser  Gelehrten  zu  weit  angelegt 
und  gerade  der  so  bedeutende  Fortschritt  der  Geschichte  der  Phi- 
losophie lässt  uns  eine  Znsammenfassung  als  dringend  geboten  er- 
scheinen. Der  Schwegler'sche  Umriss  entspricht  wohl  im  Allge- 
meinen dem  Geiste  des  Fortschrittes  in  der  Wissenschaft  Er  zeich- 
net die  allgemeine  Tendenz  der  philosophischen  Systeme  klar  und 
scharf  und  unterscheidet  genau  das  Wesentliche,  welches  den  allge- 
meinen Entwickelungsgang  der  Philosophie  und  ihrer  Systeme  um- 
fasst,  von  dem  Ausserwesentlichen,  das  sich  nicht  auf  die  allgemeine 
Tendenz  und  den  allgemeinen  Charakter  der  philosophischen  Systeme 
bezieht.  Allein  wir  erhalten,  da  der  Verfasser  dieses  Umrisses 
nicht  in  die  einzelnen  Theile  der  philosophischen  Systeme  eingeht 
und  im  Umrisse  ohne  alle  Belege,  in  der  Geschichte  der  griechi- 
schen Philosophie  nur  mit  spärlichen  Belegen  seine  Darstellung 
gibt,  also  natürlich  auch  in  keine  einzelne  kritische  Forschung  ein- 
geht, keinen  Begriff  von  der  Wissenschaft  der  Geschichte  der  Phi- 
losophie, wie  sie  sich  unter  den  Einflüssen  kritischer  Forschungen 
entwickelt  hat.  Dogmatisch  wird  dem  Leser  im  Umrisse  das 
System  geboten,  ohne  dass  er  durch  Kenntniss  der  kritischen  Streit- 
fragen in  den  Stand  gesetzt  ist,  selbst  zu  entscheiden,  auf  welche 
Seite  er  sich  wenden  soll.  Fehlt  doch  die  Berührung  solcher  Fragen, 
ja  selbst  nur  der  Hülfsmittel  dazu  ganzlich. 

Hieraus  geht  zur  Genüge  hervor,  dass  ein  Grundriss,  wie  der 
Schwegler'sche,  zur  wissenschaftlichen  Ausbildung  nicht  mehr  hin- 
reichend sein  kann.  So  kommen  die  beiden  vorliegenden,  von  zwei 
r ö limlichst  bekannten  selbstständigen  Forschern  stammenden  Werke 
dem  neuen  Bedürfnisse  entgegen,  auf  der  Grundlage  der  fortge- 
schrittenen Forschung  und  mit  übersichtlicher  Erkenntniss  dersel- 
ben eine  das  Wesentliche  in  den  Systemen  und  ihren  einzelnen 
Theilen  zusammenfassende  Uebersicht  der  Geschichte  der  Philoso- 
phie zu  gewinnen.  Da  die  Verfasser  beider  Werke  auch  als  selbst- 


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432     Ueberweg  u.  Erdmann:  Ornndr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie. 


ständige  Denker  im  Gebiete  dieser  Wissenschaft  erfolgreich  arbei- 
teten, so  ist  natürlich,  dass  ihre  Gescbichtsdarstellung  anch  for- 
schend in  ihre  Aufgabe  eingreift. 

Wie  sehr  die  Arbeit  des  gelehrten  Herrn  Verfassers  von  Nr.  1 
dem  Bedürfnisse  der  Lehrer  und  Schüler  entgegenkommt,  zeigt  die 
günstige  Aufnahme,  welche  sie  in  weiten  Kreisen  gefunden  hat  und 
die  rasch  auf  die  erste  (1862)  erfolgte  zweite,  durchgesehene  und 
erweiterte  Auflage. 

In  der  zweiten  Auflage  des  ersten  T  heiles  wurden  die 
eigenen  und  fremden  Forschungen  seit  1862  aufgenommen  und  die 
literarischen  Angaben  bis  zur  Gegenwart  fortgeführt,  auch  einzelne 
Partien,  besonders  in  der  Darstellung  der  ersten  Periode,  aus  den 
Quellenschriften  erweitert.  Die  äussere  Anlage  ist  dieselbe  ge- 
blieben. 

Der  erste  Band  enthält  das  Alterthum  oder  die  vor- 
christliche Zeit.  Die  Einleitung  umfasst  den  Begriff  der 
Philosophie  und  der  Geschichte,  die  Methoden  der  Geschichtsbe- 
trachtung, die  Quellen  und  Hülfsmittel  der  Geschichte  der  Phi- 
losophie. Zuerst  wird  die  Philosophie  der  vorchristlichen  Zeit 
charakterisirt.  Als  allgemeiner  Charakter  wird  S.  15  angegeben 
»die  vergleichsweise  noch  unmittelbare  und  des  vollen  Bewusstseins 
von  dem  Gegensatze  und  von  der  Ueberwindung  des  Gegensatzes 
ermangelnde  Einheit  des  Geistes  in  sich  und  mit  der  Natur.«  So- 
dann wird  kurz  von  der  »so  genannten  orientalischen  Philosophie« 
gehandelt  und  hierauf  der  Ueborgang  zur  eigentlichen  Philosophie 
des  Alterthums,  zur  griechischen,  gemacht.  Die  Anlage,  Eintheilung 
und  Ausführung  der  letzteren  sind  auch  in  der  zweiten  Auf- 
lage dieselben  geblieben.  Es  werden  drei  Perioden  der  griechi- 
schen Philosophie  unterschieden:  1)  die  vorsophistische  oder  die 
Herrschaft  der  Kosmologie  (S.  29 — 67),  2)  die  Periode  von  den 
Sophisten  bis  auf  die  Stoiker,  Epikureer  und  Skeptiker  oder  die 
Begründung  und  Vorherrschaft  der  Anthropologie  als  der  Lehre* 
von  dem  denkenden  und  wollenden  Subject  (Logik  und  Ethik, 
S.  67 — 196),  8)  die  Periode  der  Neuplatoniker  und  ihrer  Vor- 
gänger oder  die  Vorherrschaft  der  Theosophie  (S.  196 — 234).  Den 
Schluss  bildet  die  Tabelle  über  die  Succession  der  Scholarchen 
in  Athen  (8.  235—237)  und  Berichtigungen  und  Zusätze  (S.  239 
— 244).  Durch  reichlichere  Mittheilungen  von  Quellenschriften,  be- 
sonders in  der  ersten  Periode,  durch  das  sorgfältige  kritische  Ein- 
gehen in  die  seit  1862  erschienenen  Forschungen  hat  die  zweite 
A  u  8  g  a  b  e ,  ohne  an  Umfang  unverbältnissmässig  zugenommen  oder 
die  Grenzen  der  Aufgabe  eines  möglichst  erschöpfenden  Umrisses 
überschritten  zu  haben,  bedeutend  gewonnen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


b.  28.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Cebcrweg  u.  Erdmaaa:  Grundriss  der  Geschichte 

der  Philosophie. 


(Fortsetzung.) 

Auch  vom  zweiten  Bande  liegt  eine  zweite,  durchge- 
sehene und  erweiterte  Auflage  vor.  Er  enthalt  die  Geschichte 
der  patristischen  und  8  cholastischen  Zeit.  Hier  war 
die  oberste  Norm,  welche  so  leicht  der  durch  theologischen  Ein- 
flussbedingte Standpunkt  übersieht,  > nicht  spaterer  Zeit  entstammte 
Reflexion  oder  Speculation  über  die  Geschichte,  sondern  die  Ge- 
schichte selbst  im  treuen  Miniaturbilde  darzustellen.«  Man  darf  die 
eigene  Speculation  nicht  in  die  Geschichte  hineinlegen.  Diesen 
Fehler  begeht  besonders  der  Darsteller  der  christlichen  Philosophie 
anter  dem  Einflüsse  bestimmter  religiöser  Anschauungen.  Auch 
hier  gilt  für  die  Geschichte  der  Philosophie  das  Gesetz  der  Ob- 
jectivität  in  der  historischen  Darstellung,  wenn  gleich  damit  die 
specnlative  Entwicklung  der  philosophischen  Systeme  nicht  ausge- 
schlossen ist.  Philosophische  Systeme  können  nur  mit  philosophi- 
schem Geiste  entwickelt  werden;  aber  man  darf  sie  nicht,  indem 
man  sie  einem  modernen  Systeme  aubequemt,  zu  etwas  raachen, 
was  sie  nicht  sind.  Die  Geschichte  der  Philosophie  muss  philoso- 
phisch dargestellt  werden ;  aber  sie  darf  nicht  kantisch  oder  hege- 
Kch  sein,  d.  h  in  längst  vergangenen  Anschauungen  nach  einem 
modernen  Systeme  zugestuzt.  Diesen  Fehler  hat  das  vorliegende 
Buch  vermieden  und  verdient  darum  nicht  nur  durch  seine  um- 
fassende Gründlichkeit,  sondern  auch  durch  seine  Unbefangenheit 
die  beste  Empfehlung  für  jene,  denen  es  nicht  um  eine  bestimmte 
Parteifarbung,  sondern  um  die  naturgetreue  Entwicklung  des  ge- 
schichtlichen Stoffes  der  Philosophie  zu  thun  ist.  Für  die  Entwick- 
lung der  philosophischen  Gedanken  in  diesem  Abschnitt  war  die 
Aufnahme  dogmengeschichtlicher  und  allgemein  theologischer  Ele- 
mente in  so  weit  nöthig,  als  diese  zum  Verständniss  des  Ursprungs 
nnd  der  Bedeutung  der  christlichen  Philosophie,  besonders  in  der 
patri8 tischen  Zeit  nothwendig  erschien.  In  der  scholasti- 
schen Zeit  ist  die  strengere  Absonderung  der  philosophischen  und 
theologischen  Aufgaben  dem  Ziele,  welches  eine  Geschichte  der 
Philosophie  verfolgt,  entsprechender,  und  da  die  Quellenschriften 
aus  dieser  Zeit  weniger  bekannt  sind,  erschien  eine  reichere  Mit- 
theilung derselben  geboten.  In  der  ersten  Auflage  waren  die 
UX.  Jahrg.  6.  Heft.  26 


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484     TJeberweg  u.  Er d mann:  Grnndr.  d.  Geich,  d.  Philosophie. 


patristische  und  die  scholastische  Zeit  in  zwei  Theile 
getrennt.  In  der  zweiten  erschienen  sie,  als  zusammengehörig, 
zweckmässiger  zu  einem  Bande  vereinigt.  Plan  und  Ausführung 
blieben  auch  hier  im  Ganzen  unverändert.  Mit  Recht  wurde  in 
der  Darstellung  der  patristischen  Zeit  auf  die  allgemeine  religiöse 
Basis  der  späteren  theologisch-philosophischen  Gedankenbildung  ein 
besonderes  Gewicht  gelegt  und  darum  in  der  zweiten  Auflage 
Einzelnes  schärfer  gefasst,  berichtigt  und  erweitert.  Zugleich  wur- 
den an  den  betreffenden  Stellen  die  neuesten  Erscheinungen  der 
Literatur  berücksichtigt.  In  der  Zeit  der  Bildung  der  christlichen 
Fundamentaldogmen  bis  zum  Concil  von  Nicäa  mussten  alle  her- 
vorragenden Träger  der  in  diesem  Abschnitte  entwickelten  An- 
schauungen dargestellt  werden,  um  die  Gesammtentwicklung  rich- 
tig aufzufassen  und  den  Entwicklungsgang  ununterbrochen  festzu- 
halten. In  der  späteren  Zeit  musste  in  der  Behandlung  der  ein- 
zelnen Denker  eine  Auswahl  statt  finden ,  weil  es  sich  nicht  um 
eine  Darstellung  des  positiv-theologischen,  sondern  des  philosophi- 
schen Denkstoffes  handelt.  Die  Patristik  darf  mit  der  patristischen 
Philosophie  nicht  verwechselt  werden.  Nur  da,  wo  die  philoso- 
phische Anschauung  die  vorherrschende  ist,  die  positiv  theologische 
mehr  in  den  Hintergrund  tritt,  konnte  man  eine  mehr  ins  Einzelne 
eingehende  Betrachtung  der  Denker  in  Anwendung  bringen.  Der 
Herr  Verfasser  war  daher  in  seinem  vollen  Rechte,  wenn  er  von 
den  in  dem  Grundrisse  nach  ihrer  Stellung  im  patristischen  Ent- 
wicklungsgange erwähnten  Vätern ,  Athanasius,  Basilius, 
Gregor  von  Nazianz  u.  A.  auch  in  der  zweiten  Auflage 
die  einzelnen  Lehrgebäude  nicht  ausführlich  darstellte.  Gregor 
von  Nyssa  wird  als  Typus  des  griechisch  -  christlichen  Philoso- 
phirenB  der  Zeit  (nach  Clemens  von  Alexandria  und  Origenes), 
Augustinus  als  Typus  für  das  christliche  Philosophiren  im 
Abendlande  aufgestellt  und  darum  auch  genau  und  ins  Einzelne 
eingebend  in  der  Lehre  behandelt.  Die  übrigen  mussten  dann  notb- 
wendig  in  einem  Grundrisse  nur  summarisch  behandelt  werden, 
und  es  würde  dem  Zwecke  eines  solchen  widersprechen,  wenn  man 
auch  bei  den  Nachfolgern  der  beiden  genannten  Väter  eine  Dar- 
stellung der  einzelnen  dogmatischen  Lehrgebäude  geben  wollte, 
welche  man  kaum  von  einer  weiter  angelegten  Geschichte  der  Phi- 
losophie verlangen  kann.  Eingehender  dagegen  musste,  was  ge- 
schehen ist,  Pseudo-Dionysiua  dargestellt  werden  als  Haupt- 
vertreter der  den  Neuplatonismus  mit  der  Eirchenlehre  verschmel- 
zenden Mystik.  Auch  die  gelehrten  platonischen  Studien  einzelner 
Kirchenlehrer  gehören  nicht  in  den  Kreis  eines  Umrisses  und  sind« 
darum  auch  nur  obenhin  erwähnt  worden.  Der  Piatonismus  und 
Stoicismus  haben,  wie  der  Herr  Verf.  richtig  andeutet,  mehr  durch 
die  alexandrinische  Religionsphilosophie  und  durch  die  aus  ihr  in 
die  einzelnen  Schriften  des  neuen  Testamentes  übergegangenen  Be- 
griffe auf  das  ohristliche  Denken  gewirkt,  als  dieses  durch  das  un- 


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U  ob  er  weg  u.  B»§MaU:  Örotfdr.  d.  Oeeöb.  d.  PWoftopbie.  486 


roitlolbare  Studium  der  Platonischen  Schriften  geschah.  Auf  den 
Kmiluss  der  hellenischen  Doktrinen  wird  schon  im  ersten  Theile 
des  Grundrisses  §.  63  bei  Philo  hingewiesen.  Die  scholastische 
Abtheilung  wurde  durch  die  Darstellung  der  deutschen  Mystiker, 
welche  der  Herr  Verf.  seinem  Freunde  A.  Laßson  verdankt,  be- 
deutend erweitert. 

Die  deutsche  Mystik  des  14.  u.  15.  Jahrhunderts  entwickelte 
sieh  in  der  deutschen  Predigt,  vom  Orden  der  Dominikaner  aus- 
gebend. Die  Form  des  Dogmas  wurde  abgestreift.  Der  lebende 
Mittelpunkt  war  die  bei  Albert  und  Thomas  noch  latente  Wesens- 
eitfheit  der  Seele  nach  Vernunft  und  Willen  mit  Gott.  Es  war 
eine  innerlich  empfundene,  nicht  dialektisch  entwickelte  Einheit. 
Der  Realismus  war  die  Voraussetzung ;  die  Elemente  waren  plato- 
nisch und  neuplatonisch.  Man  ging  auf  Pseudo -'Dionysius, 
Augustinus,  zum  Theil  auch  auf  Thomas  zurück.  Der  Vollen- 
der der  ganzen  Richtung  ist  Meister  Eckhart.  Vertreter  dersel- 
ben sind  Johann  Tauler,  Heinrich  Suso  und  Johann 
Rus  brock.  Diese  Zeit  wird  treffend  von  Lasson  geschildert, 
•iessen  eingebende  Studien  in  der  Geschichte  des  mittelalterlichen 
Mytticismus  durchaus  gediegen  sind.  In  Johannes  Scotus 
ßrigena  stellt  sieh  uns  noch  eine  Art  von  Einheit  des  Mysticis- 
mos  und  Scholasticismue  ihren  ersten  Keimen  nach  dar.  In  den 
Nominalisten  und  Realisten,  Pelagianern  und  Augustinianern,  Ari- 
stotelikern  und  Piatonikern  wird  der  Gegensatz  des  scholastischen 
nnd  mystischen  Elementes  erhalten.  In  Bernhard  von  Clair- 
reaux  tritt  die  feindliche  Stellung  des  Mysticismus  gegen  die 
Scholastik  entschieden  hervor;  in  den  Victor  inern  erhalt  der 
Mysticismus  eine  wissenschaftliche  Grundlage.  In  praktisch  refor- 
mtorischen  Associationen  stellt  er  sich  bei  den  Neumanich  äem, 
den  Waiden sern ,  Wiolif fiten  und  Hussiten,  als  den  Vor- 
kämpfern der  Reformation  und  Bekam pfern  des  Kirchenthums  und 
seiner  diesem  dienstbaren  Scholastik,  dar. 

In  der  Darstellung  des  Thomismus  wurde  eine  vergleichsweise 
kürzere  Zusammenfassung  unter  Hinweisung  auf  die  ausführlich  darge- 
stellte Lehre  des  Aristoteles  (Grnndr.  I,  S.  47 — 50)  vorgezogen  und 
für  die  spätere  Zeit  P  r an  1 1  s  Forschung  benützt.  'Das  Mittelalter 
'die  patristische  und  scholastische  Zeit)  und  die  neuere  Philo- 
sophie werden  der  allgemeinen  Kategorie  der  Philosophie  christ- 
licher Zeit  untergeordnet.  Hier  ist  aber  «wohl  Philosophie  der 
christlichen  Zeit  und  christliche  Philosophie  zu  unterscheiden.  Das 
letztere  Pradicat  gebührt  nur  der  mittelalterlichen,  nicht  der  neue- 
ren Philosophie,  welche  die  Befreiung  von  den  Fesseln  des  Kirchen- 
tbnms  und  seiner  Lehre  wesentlich  kennzeichnet,  und  die  eher  eine 
Parallele  zur  antiken,  als  zur  mittelalterlichen  Philosophie  darbietet. 

Treffend  ist  das  Urchristenthirm  auf  der  Grundlage  der  heili- 
gen Schriften  und  unter  der  Benutzung  der  neuesten  theologischen 
Forschungen  dargestellt  und  mit  gleicher  Vorzüglichkeit  die  für 


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436     Ueberweg  u.  Erdmann:  Orundr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie. 


die  mittelalterliche  Philosophie  späterer  Jahrhunderte  so  wichtige 
patristische  Zeit  entwickelt.  Es  ist  dieses  genaue  Eingehen  ein 
Vorzug  dieses  Umrisses,  den  man  vergebens  in  andern  geschicht- 
lichen Umrissen  des  philosophischen  Denkstofles  sucht. 

Die  Philosophie  christlicher  Zeit  umfasst  nach  der  Eintheüung 
des  Herrn  Verf.  drei  Perioden:  1)  die  patristische,  2)  die 
scholastische  Philosophie,  3)  die  Philosophie  der  Neu- 
zeit. Nach  dieser  Eintheüung  erscheint  die  Philosophie  der  Neu- 
zeit als  die  »dritte  Periode  €  im  Entwickelungsgange  der  Philoso- 
phie der  christlichen  Zeit.  Allein,  wie  wir  in  der  politischen  Ge- 
schichte als  charakteristisch  verschieden  die  Zeiträume  des  Alter- 
thums, des  Mittelalters  und  der  Neuzeit  unterscheiden,  so  müssen 
wir,  da  die  Geschichte  der  Philosophie  nur  eine  Seite  im  grossen 
allgemeinen  Entwicklungsgange  der  Menschheit  ist,  auch  in  dieser 
diese  drei  wesentlich  verschiedenen  Charaktere  unterscheiden.  Die 
neuere  Philosophie  erscheint  dem  Unterzeichneten  nicht  als  eine 
Fortsetzung  oder  Vollendung  der  im  Mittelalter  begonnenen  Ent- 
wicklung, sondern  als  ein  Gegensatz  derselben,  der  in  der  Freiheit 
des  Denkens  mehr  Aehnlichkeit  mit  dem  Alterthum,  als  dem  Mittel- 
alter und  auch  ein  von  dem  Mittelalter  ganz  verschiedenes  Resul- 
tat, das  klare  Bewusstsein  der  Gegensätze  und  die  Ueberwindung 
derselben  in  einer  büheru  Einheit,  frei  von  jedem  kirchlichen  Ein- 
flüsse und  jeder  theologischen  Lehrmeinung,  zu  gewinnen  versucht 
und  theilweise  wirklich  gewinnt. 

Die  Philosophie  der  Neuzeit,  welche  den  Inhalt  des 
dritten  Theiles  bildet,  wird  in  drei  Hauptabschnitte 
zerlegt,  1)  die  Uebergangszeit  (S.  6 — 32),  2)  die  neuere  Philoso- 
phie oder  die  Zeit  des  ausgebildeten  Gegensatzes  zwischen  Empiris- 
mus und  Dogmatismus  (S.  32  —  126),  3)  die  neueste  Philosophie 
oder  die  Kritik  und  Speculation  seit  Kant  (S.  126—306).  ' 

Der  erste  Abschnitt  umfasst  die  Erneuerung  des  Platonis- 
mus  und  anderer  Doctrinen  des  Alterthums,  den  Protestantismus 
und  die  Philosophie,  die  Anfänge  selbständiger  philosophischer 
Forschung,  Naturphilosophie,  Theosophie,  Rechtsphilosophie ,  der 
zweite  Baco  und  Hobbes,  Descartes,  Geulinx,  Malebranche  und 
andere  diesen  gleichzeitige  Philosophen,  sodann  Spinoza,  Locke, 
Shaftesbury,  Glarke  und  andere  englische  Denker,  die  Idea- 
listen: Barkeley,  Leibnitz  und  gleichzeitige  Philosophen,  und  die 
deutsche  so  wie  die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert, 
den  Hume'schen  Skepticismus  und  seine  Bekämpfer,  Reid,  Beattie 
n.  s.  w. ,  der  dritte  Abschnitt  Kaufs  Leben  und  Schriften, 
die  Kritik  der  reinen  Vernunft  und  die  metaphysischen  An-, 
fangsgründe  der  Naturwissenschaft,  die  Kritik  der  praktischen 
Vernunft,  die  Religion  in  den  Grenzen  der  blossen  Vernunft, 
Tugend-  und  Rechtslebre,  die  Kritik  der  Urtheilskraft ,  Kant's 
Schüler  und  Gegner,  Reinhold,  Schiller,  F.  H.  Jacobi,  Fries, 


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Ueberweg  u.  Erdmann:  Gmndr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie.  437 

Beck,  Bardiii  u.  8.  w.,  Fichte  und  die  Pichteaner,  Schölling,  dessen 
Anhänger  nnd  Geistesverwandte,  Oken,  Solger,  Steffens,  Baader, 
Kranae  u.  A.,  Hegel,  Schleiermacher,  8chopenhaner ,  Herbart,  Be- 
neke,  den  gegenwartigen  Znstand  der  Philosophie  in  Deutschland 
and  ausserhalb  Deutschlands.  Sehr  richtig  wird  die  Philosophie 
der  Neuzeit  bezeichnet  als  die  »Philosophie  seit  der  Aufhebung  des 
die  Scholastik  charakterisirenden  Dienstverhältnisses  gegen  die 
Theologie,  in  ihrem  stufenweisen  Portgange  zur  freien,  durch  die 
vorangegangenen  Bildungsformen  bereicherten  und  vertieften,  mit 
der  gleichzeitigen  positiv  -  wissenschaftlichen  Forschung  und  dem 
socialen  Leben  in  Wechselwirkung  stehenden  Erkenntniss  des  We- 
sens und  der  Gesetze  der  Natur  und  des  Geistes.«  Treffend  ist, 
was  der  Herr  Verf.  über  den  Entwicklungsgang  der  neue- 
ren Philosophie  S.  2  sagt:  »Einheit,  D i en s tb ar kei t , 
Freiheit  sind  die  drei  Verhältnisse,  in  welche  nach  einander 
die  Philosophie  der  christlichen  Zeit  zu  der  kirchlichen  Theologie 
getreten  ist.  Das  Verhältniss  der  Freiheit  entspricht  dem  allge- 
meinen Charakter  der  Neuzeit,  welcher  in  der  aus  den  mittelalter- 
lichen Gegensätzen  wieder  herzustellenden  harmonischen  Einheit 
liegt.  Die  Freiheit  des  Gedankens  nach  Form  und  Inhalt  wurde 
von  der  Philosophie  der  Neuzeit  stufenweise  errungen,  zuerst,  un- 
vollkommen mittelst  des  blossen  Wechsels  der  Autorität  durch  An- 
lehnung an  8ysteme  des  Alterthums  ohne  die  Umbildung,  welche  die 
Scholastik  mit  dem  Aristotelischen  vollzogen  hatte,  dann  vollstän- 
diger mittelst  eigener  Erforschung  der  Natur  und  endlich  auch  des 
geistigen  Lebens.  Die  Uebergangszeit  ist  die  Periode  des  Auf- 
strebens zur  Selbstständigkeit.  Die  Zeit  des  Empirismus  und  Dog- 
matismus charakteri8irt  sich  durch  methodische  Forschungen  und 
umfassende  Systeme,  die  auf  dem  Vertrauen  beruhen,  mittelst  der 
Erfahrung  und  des  Denkens  selbstständig  zur  Erkenntniss  der  natür- 
lichen und  geistigen  Wirklichkeit  gelangen  zu  können.  Der  dritte 
Abschnitt  wird  angebahnt  durch  den  Skepticismus  und  begrün- 
det durch  den  Kriticismus,  der  die  Erforschung  der  Erkenntniss- 
kraft des  Subjectes  für  die  nothwendige  Basis  alles  streng  wissen- 
schaftlichen Philosophiren s  hält  und  zu  dem  Resultate  gelangt,  dass 
das  Denken  die  Wirklichkeit,  wie  sie  an  sich  selbst  sei,  nicht  zu 
erkennen  vermöge,  sondern  auf  die  Erscheinungswelt  beschränkt 
bleibe,  über  welche  nur  das  moralische  Bewusstsein  hinausführe. 
Dieses  Resultat  wird  von  den  folgenden  Systemen  negirt,  doch 
sind  diese  sämmtlich  dem  Kantischen  Gedankenkreise  entstammt, 
der  auch  noch  für  die  Philosophie  unserer  Gegenwart  von  einer  un- 
mittelbaren (nicht  bloss  von  historischer)  Bedeutung  ist.« 

Nach  der  Charakteristik  der  Philosophie  der  Neuzeit  werden 
die  Werke  angeführt,  welche  die  Geschichte  der  neueren  Philoso- 
phie im  Allgemeinen  enthalten.  Es  ist  zu  loben ,  dass  bloss  die 
Werke  als  Hülfsmittel  nach  ihren  Ausgaben  ohne  eine  Kritik  ihres 
Inhaltes  angeführt  werden.    Man  nimmt  allzuleicht  bei  der  Beur- 


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438     TJeberwe*  u.  Brdmnnn:  Grand».  d,  Geseh.  <L  PbUoeophie. 


theilung  einen  einseitigen  Partei  Standpunkt  ein,  welcher  die  ob- 
joctive  Darstellung  selbst  beeinträchtigt.  Die  Darstellung  der  G*« 
schichte  selbst  soll  uns  ein  Bild  von  dem  Standpunkte  des  Herrn 
Verfassers  geben,  nicht  die  Ueoeusion  der  HüifsmitteL  Immerhin 
ist  in  der  Geschichte  der  Philosophie  auch  die  kritische  Beurthei- 
lung  der  Quellenschriften  der  Philosophen  selbst  und  ihres  Inhaltes 
wichtiger,  als  die  der  blossen  historischen  HüifsmitteL  Standpunkt, 
wie  Darstellung,  bekunden  den  philosophischen  Geist  des  Herren 
Verfassers  ohne  vorgefasste  Parteiansieht.  Bei  den  einzelnen  Philo- 
sophen wurden  dis  grösseren  und  kleineren  Werke,  selbst  die  Ab- 
handlungen in  Zeitschriften ,  welche  von  ihnen  handeln ,  mit  An* 
gäbe  der  Seitenzahl,  die  Quellenschriften  und  die  verschiedenen 
Ausgaben  derselben,  in  den  betreffenden  Paragraphen  der  gedrängte 
Inhalt  der  Entwicklung  im  Allgemeinen  und  der  Lehren  der  ein- 
zelnen Denker  mit  Beisatz  einer  enger  gedruckten  Ausführung  mit- 
getheilt.  Ueberall  soll  die  philosophische  Lehre  durch  sich  selbst 
sprechen  und  wird  bei  bedeutenderen  Denkern  nicht  nur  das  System 
im  Allgemeinen  aus  seinon  Principien  entwickelt,  sondern  auch,  in 
den  einzelnen  philosophischen  Wissenschaften  durchgeführt.  Der 
Grundsatz  ist  wohl  der  richtige,  die  Lehren  der  einzelnen  Haupt- 
philosophen möglichst  mit  ihren  eigenen  Worten  zu  geben ;  dabei 
ist  rühmend  anzuerkennen,  dass  die  Auswahl  und  Zusammenstellung 
der  Quellenstellen  so  getroffen  sind,  ein  möglichst  treues  und  dem 
philosophisch  Gebildeten  verständliches  Bild  der  einzelnen  Philo- 
sophen zu  geben  und  dadurch  den  Einblick  in  den  Gesammtzu- 
sammeuhang  und  in  das  Gesammtresultat  zu  gewinnen.  Die  Heur- 
tbeihing  der  einzelnen  Philosophen  wird  dem  Leser  überlassen.  Nur 
bei  zwei  der  bedeutendsten  früheren  Denker  wird  eine  Ausnahme 
gemacht,  bei  Spinoza  und  Kant.  Sie  werden  nicht  nur  unter 
allen  am  ausführlichsten  behandelt,  sondern  auch  hinsichtlich  des 
Inhaltes  ihrer  Lehren  einer  Kritik  unterzogen,  da  ihre  »Theoreme 
noch  gegenwärtig  unmittelbar  die  Weltanschauung  Vieler  bestim- 
men.« Spinoza  wird  von  8.  56 — 77,  Kant  von  8.  127—183 
dargestellt.  Die  Darstellung  des  Spinoza  ist  nach  Httlfssohriften, 
Quellenwerken,  ihren  Ausgaben  und  nach  dem  Inhalte  der  Lehren 
für  einen  Grundriss  möglichst  erschöpfend  und  bietet  alles  Wissens- 
würdige  in  klarer  Uebersichtliohkeit.  Die  Kritik  geht  hier,  wie 
bei  Kant,  mehr  auf  die  Argumente  oder  die  Beweisgründe,  als  auf 
die  speciellen  Lehren.  So  wenig  der  Scharfsinn  zu  verkennen  ist, 
mit  welchem  die  Mängel  in  Spinoza's  System  dargestellt  werden, 
so  hätten  wir  doch  der  ganzen  Anlage  des  Buches  nach  gewünscht, 
dass  der  Herr  Verf.  sich  auf  eine  blosse  Darstellung,  wie  dieses 
sonst  durchweg  geschieht,  beschränkt  und  höchstens  am  Schlüsse 
der  Darstellung  seine  Ansicht  kurz  dargelegt  hätte.  Hier  aber 
finden  wir  schon  vor  der  Darstellung  eine  Anfechtung  von  Spinoza's 
Definitionen.  Sodann  werden  diese  nicht  im  Zusammenhango  dar- 
gestellt ;  sondern  gleieh  hinter  jeder  einzelnen  Definition  wird  das 


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Ueberweg  u.  Erdma»n:  Orundr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie.  439 


Mangelhafte,  Widersprechende,  Irrthümliche,  ja,  wie  der  Herr  Verf. 
sich  häufig  ausdrückt,  das  »Absurde«  derselben  oder  wohl  auch 
des  daran  angeknüpften  Axioms  angedeutet. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort  die  einzelnen  kritischen  Aussetzun- 
gen des  Herrn  Verf.  zu  besprechen.  Immerhin  verdient  ein  Werk, 
wie  das  Spinoza' s,  die  Anerkennung  jedes  Denkers,  auch  derjenigen, 
welcher  einer  andern  Ansicht  sind.  Spinoza's  Ethik  ist  eine  der 
genialsten  Schöpfungen,  welche  jemals  der  philosophische  Geist  her- 
vorgebracht hat,  aus  einem  Gusse  entstanden,  in  allen  seinen  Thai- 
len organisch  verbunden.  In  ihm  ist  dem  unhaltbaren  Cartesius- 
8chen  Dualismus  gegenüber  ein  grosser  Gedanke  ausgesprochen  und 
folgerichtig  aus  Cartesius  Sätzen  selbst  entwickelt,  der  Gedanke 
der  Einheit  in  Allem,  was  der  menschliche  Verstand  als  von  ein- 
ander abgesondert  und  ohne  ein  Anderes  bestehend  betrachtet,  der 
Gedanke  von  einer  immanenten  Ursache  aller  Erscheinungen.  Wenn 
man  den  Begriff  der  Substanz,  wie  ihn  Cartesius  ursprünglich  fasst, 
im  Ernste  nimmt,  so  entwickelt  Spinoza  folgerichtig  nur  eine 
Substanz.  Die  einzelnen  Dinge  erscheinen  dann  nur  als  bestimmte 
und  begrenzte  Arten  und  Weisen,  wie  diese  eine  Substanz  existirt 
(modi  certi,  determinati,  quibus  haeo  una  vera  substantia  existit). 
Das  Wesentliche,  das  Ewige,  das  Beharrende,  sich  gleich  Bleibende 
in  ihnen  ist  eben  diese  eine  Substanz.  Sie  ist  kein  Abstractum 
nach  Spinoza,  sie  ist  die  Natur;  sie  ist  das  unendliche  Sein,  die 
unendliche  Macht  derselben,  das  unserem  Denken  Gott  ist.  Die 
Attribute  sind  nicht  geschieden,  sie  sind  nur  dem  menschlichen 
Verstände  verschieden.  In  der  Substanz  sind  sie  eines ;  denn  das 
Attribut  ist  nur  das,  was  der  menschliche  Verstand  an  der  Sub- 
stanz wahrnimmt  als  ihr  Wesen  ausmachend,  nicht,  was  das  Wesen 
der  Substanz,  abgesehen  von  der  menschlichen  Auffassung,  bildet. 
Sagt  doch  Spinoza  ausdrücklich  in  der  definit.  IV :  Per  attributum 
intelligo  id,  quod  intellootus  de  substantia  pereipit  tan  quam 
essentiam  eins  constituens.  Nicht  aber  sagt  er,  das  Attribut  sei 
id,  quod  essentiam  substantiae  constituit.  Die  definit.  VI  hebt  die 
4.  Definition  nicht  auf.  Denn,  wird  auch  hier  Gott  die  substantia 
constana  infinitis  attributis  genannt,  so  wird  auch  ausdrücklich 
beigefügt,  dass  sie  nur  in  sofern  Gottes  Attribute  sind,  als  sie  eine 
aeterna  et  infinita  essentia  ausdrücken.  Dieses  Ausdrücken  ist  eben 
die  Auffassung  des  menschlichen  Verstandes,  welcher  die  Attribute, 
die  er  an  dem  Binzeinen  wahrnimmt,  also  die  endlichen  Attribute 
Gott  nur  im  unendlichen  Sinne  beilegen  kann.  Wir  Menschen 
können,  da  wir  in  den  Erscheinungen  Denken  und  Ausdehnung 
unterscheiden,  beide  nur  in  unendlichem  Sinne  Gott  beilegen.  Gott 
ist  unendliches  Denken  und  unendliches  Sein.  Beides  aber  ist  in 
ihm  als  der  ewigen,  unveränderlichen  Einheit  Eines  und  Dasselbe, 
tos  wir  Menschen  von  unserem  endlichen  Standpunkte  mit  unserer 
Anschauungsweise  verschieden  auffassen.  Wenn  Spinoza  in  der 
definitio  L  den  Begriff  der  causa  sui  gibt,  so  will  er  damit  nichts 


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440     Ueberwog  u.  Erdmann:  Orundr.  d.  Gösch,  d.  Philosophie. 

Anderes  bestimmen,  als  den  letzten  Grund  oder  den  Urgrund.  Der 
Wortverstand  ist  nicht  der  Sinn  Spinoza's,  es  ist  ein  Ausdruck  der 
Scholastik,  dem  er  einen  vernünftigen  Sinn  gibt,  indem  er  den 
Ausdruck  nicht  so  nimmt,  dass  Gott  sich  selbst  verursacht,  dass 
die  causa  sui  zuerst  ist,  und  dann  wieder  hintennach  ist,  zuerst 
als  causans,  dann  als  causatum.  Es  ist  damit  nur  so  viel  gesagt 
als  ens  non  causatum  ab  alia  re.  Es  hängt  diese  Behauptung  mit 
dem  Spinozistischen  ersten  Axiom  zusammen :  Omnia,  quae  sunt,  vel 
in  se  vel  in  alio  sunt.  Das  in  se  esse  ist  die  Substanz  (Gott),  das 
in  alio  esse  sind  die  von  ihm  abhängigen  Dinge  oder  nach  Spinoza 
affectiones  substantiae  (modi). 

Was  der  Herr  Verf.  gegen  die  Kant'sohe  vermeintliche  Er- 
kenntniss  a  priori  S.  148  u.  149  sagt,  ist  vortrefflich.  Es  wird 
S.  150  u.  151  nachgewiesen,  dass  weder  die  Mathematik  noch  die 
Naturwissenschaft  apriorische  Erkenntnisse  nach  dem  Kant'schen 
Wortgebrauch  des  a  priori  habe.  Treffend  heisst  es  S.  151: 
»Naturwissenschaft,  sagt  Kant  ferner,  enthält  synthetische 
ürtbeile  a  priori  in  sich  z.  B.  in  allen  Veränderungen  der  körper- 
lichen Welt  bleibt  die  Qualität  der  Materie  unverändert;  in  aller 
Mittheilung  der  Bewegung  müssen  Wirkung  und  Gegenwirkung 
jeder  Zeit  einander  gleich  sein;  ferner  das  Gesetz  der  Trägheit 
u.  s.  w.  Die  Geschichte  der  Naturwissenschaft  zeigt  aber,  dass  sich 
diese  allgemeinen  Sätze,  wozu  das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft 
u.  a.  sich  hinzufügen  lassen,  als  späte  Abstraotionen  aus  wissen- 
schaftlich durchgearbeiteten  Erfahrungen  ergeben  haben  und  keines- 
wegs a  priori  vor  aller  Erfahrung  oder  doch  unabhängig  von  aller 
Erfahrung  als  wissenschaftliche  Sätze  feststanden;  nur  in  sofern 
sich  in  ihnen  nachträglich  eine  gewisse  Ordnung  bekundet,  die  eine 
philosophische  Ableitung  aus  noch  allgemeineren  Principien,  z.  B. 
aus  der  Relativität  des  Raumes,  möglich  zu  machen  scheint,  ge- 
winnen sie  einen  im  Aristotelischen,  aber  wiederum  nicht  im  Kanii- 
schen  Sinne  apriorischen  Charakter.«  Ueberall  werden  die  begrün- 
deten Einwendungen  gegen  die  Entwicklung  des  Kant'schen  Systemes 
eingeklammert  gegeben.  Auch  bei  den  übrigen  auf  dio  philosophische 
Anschauung  unserer  Zeit  einwirkenden  Philosophen  sind  einge- 
klammerte Gegenbemerkungen,  jedoch  weit  spärlicher  als  bei  Spi- 
noza und  Kant,  angefügt.  Wenn  der  Herr  Verf.  die  Kritik  mit 
der  Darstellung  der  Systeme  Spinoza's  und  Kant's  verband,  sollte 
dieses  auch  bei  den  späteren  Denkern  statt  finden.  Bei  Schöl- 
lings transcendentalem  Idealismus  wird  von  dessen  Grundgedan- 
ken der  Naturphilosophie  gesagt,  dass  sie  »bei  allem  Phantastischen 
der  Durchführung  doch  von  bleibendem  Werthe  sindc  (S.  204). 
Sehr  richtig  wird  über  die  spätere  schriftstellerische  Wirk- 
samkeit desselben  behauptet:  »Immer  mehr  wich  von  nun  an 
die  Fülle  philosophischer  Productivitat  einem  Synkretismus  und 
Mysticismus,  der  immer  trüber  und  doch  zugleich "prätensionsvoller 
ward«;  von  Krause,  dass  er  »seinen  philosophischen  Schriften  die 


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Ueberweg  u.  Erdmann:  örundr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie.  441 


Verbreitung  unter  den  Deutschen  durch  seine  wunderliche  Termi- 
nologie, die  rein  deutsch  sein  soll,  aber  undeutsch  ist,  selbst  be- 
schränkt habe«  (S.  217).  Nachdem  auf  das  »Wahre  des  Grund- 
gedankens« und  auf  das  »Grosse  in  der  Durchführung«  der  He  gel - 
sehen  Ansicht  von  der  Geschichte  der  Philosophie  bei  »manchem 
üeberspannten,  Einseitigen  und  Schiefen,  welche  Ansicht  sich  »im 
wesentlich  gleichen  Sinne«  auch  »auf  das  Ganze  des  Systems 
besieht«,  aufmerksam  gemacht  worden  ist,  wird  Schleiermachers 
philosophische  Erkenntnisstheorie  als  eine  solche  bezeichnet,  welche 
»die  apriorische  Einseitigkeit  der  Hegemonen  Dialektik  überwin- 
det« (S.  230).  Von  Schleiermachers  Philosophie  heisst  es 
S.  231 :  »Sie  ist  von  ihm  nicht  zu  einem  allumfassenden  und  in 
Gedankengehalt  und  Terminologie  streng  geschlossenen  Systeme 
fortgebildet  worden  und  steht  daher  au  sachlicher  und  formeller 
Vollendung  sehr  weit  dem  Hegel'schen  und  auch  dem  Herbart'schen 
Systeme  nach,  ist  aber  ebenso  auch  von  mancher  mit  diesen  Syste- 
men unabtrennbar  verwachsenen  Einseitigkeit  frei  und  in  ihrer 
grossentheils  noch  unabgeschlossenen  Gestalt  mehr  als  jede  andere 
nachkantische  Doctrin  einer  reinen,  die  verschiedenartigen  Einsei- 
tigkeiten überwindenden  Ausbildung  fähig.«  Sehr  viele  philoso- 
phische Werke  der  Gegenwsrt  sind  angeführt  und  werden  unter 
die  Rubriken  gewisser  philosophischer  Schulen  gestellt,  wie  wohl 
sich  gegen  einzelne  Rubricirungen  Manches  erinnern  Hesse,  da  sol- 
ches Subsnmiren  bei  selbstständigen  Forschungen  in  dem  Gebiete  ein- 
zelner Wissenschaften  immer  seine  Schwierigkeiten  hat. 

Der  Philosophie  des  Auslandes  ist  der  Schlussparagraph  29 
gewidmet.  Sehr  zweckdienlich  ist  das  ausführliche  Namenregister 
för  alle  drei  Theile  (8.307—327).  Es  enthält  die  »Namen  der  im 
Grundriss  erwähnten  Philosophen,  nicht  der  Historiker  der  Philo- 
sophie und  derLitteratoren.«  Die  Fülle  und  üebersichtlichkeit  des 
Materials,  die  Klarheit  in  der  Anordnung  und  Darstellung  lässt 
kaum  etwas  zu  wünschen  übrig  und  so  begrüssen  wir  vorliegendes, 
mit  dem  dritten  Theile  zum  Abschlüsse  gekommenes  Werk  als  eine 
den  Bedürfnissen  des  Lehrers,  wie  des  Lernenden,  gleich  sehr  ent- 
sprechende Unternehmung,  welche  weder  im  Inhalte,  noch  in  der 
Methode  der  Behandlung  durch  die  Färbung  eines  einzelnen  philo- 
sophischen Sy stemes  getrübt  ist. 

Nr.  2.  Der  Erdraann'sche  Grundriss,  von  einem  Denker,  wel- 
cher durch  seine  umfassende  Geschichte  der  neuern  Philosophie  um 
diese  Wissenschaft  sich  hoch  verdient  gemacht  hat,  umfasst  im 
ersten  Bande  die  Philosophie  des  Alterthums  und  des 
Mittelalters,  im  zweiten  die  Philosophie  derNeuzeit. 

Der  Herr  Verf.  behandelt  die  ganze  Geschichte  der  alten 
Philosophie  auf  den  ersten  192  Seiten  des  ersten  Bandes, 
die  Philosophie  des  Mittelalters  umfasst  alles  Nachfolgende  bis 
3.  622 ,  sie  nimmt  also  einen  mehr  als  dreimal  grösseren  Baum, 
als  die  alte  Philosophie  ein,  welche  gegenüber  der  mittelalterlichen  ^ 


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449     U  et»  er  weg  u.  Er  d  mann:  Grnndr.  d.  Gösch,  d.  Philosophie. 


mit  Recht  eiuen  ungleich  grösseren  Ansprach  auf  eingehende  Be- 
handlung hat.  Der  Herr  Verf.  hat  diesen  Missstand  wohl  gefühlt 
und  sucht  ihn  damit  zu  entschuldigen ,  dass  seine  Geschichte  des 
Mittelalters  mehr  Neues  bietet,  als  die  Geschichte  der  alten  Zeit, 
dass  er  sich  in  letzterer  vorzugsweise  an  die  Forschungen  von 
Brandis  und  Zell  er  halte.  Allein  immerhin  bleibt  die  Frage 
offen,  oh  dasjenige,  was  er  uns  in  dem  Abschnitte  der  mittelalter- 
lichen Philosophie  bietet,  in  einen  »Grundriss«  der  Geschichte  der 
Philosophie  gehört.  Nach  des  Referenten  Anschauung  gehört  die 
weitläufige  Darstellung  der  Lehren  der  einzelnen  Kirchenväter, 
namentlich  derjenigen  aus  der  scholastischen  Zeit,  in  welchen  ein- 
mal der  kirchliche  Lehrbegriff  gebildet  ist  und  keine  wesentliche 
Veränderung  erleidet,  nicht  in  einen  Grundriss.  Die  Unverhält- 
nissmässigkeit  in  der  Vertheilung  des  historischen  Stoffes  bleibt 
immer  der  Mangel  eines  solchen  Buches. 

Die  Einleitung  enthält  die  ersten  14  Paragraphen.  Der 
Herr  Verf.  geht  in  derselben  vom  Hegel*  sehen  Standpunkte  aus 
und  unterscheidet  in  der  historischen  Behandlung  und  Darstellung 
der  Philosophie  die  gelehrte  Methode,  der  »alle  Systeme  gleich 
wahr,  weil  blosse  Meinungen  sind«,  die  skeptische  Methode, 
»welche  in  allen  gleiche  Irrthümer  sieht«  und  die  eklektische, 
»für  die  in  allen  sich  Stücke  der  Wahrheit  finden.«  Er  stellt  die- 
sen Methoden  die  philosophische  gegenüber.  Sehr  richtig  ist, 
was  er  sagt,  dass  die  Geschichte  der  Philosophie  nur  »mit  Hülfe 
der  Philosophie c  dargestellt  werden  könne.  Doch  erregt  besonders 
der  Beisatz  S.  10  Bedenken:  »Da  ein  jedes  Philosophiren  ein  be- 
stimmtes sein  muss  und  da  eine  Entwicklung  nicht  als  vernünftig 
dargestellt  werden  kann,  wenn  sie  nicht  zu  einem  Ziele  hingeführt 
wird,  so  muss  eine  jede  philosophische  Darstellung  der  Geschichte 
der  Philosophie  die  Farbe  desjenigen  Systemes  tragen, 
welches  der  Darsteller  als  don  Schlnss  der  bisherigen  Entwicklung 
ansieht.  Das  Gegentheil  unter  dem  Namen  der  Unbefangenheit 
oder  Unparteilichkeit  fordern  heisst  Widersinniges  anmuthen.«  Aller- 
dings muss  die  Geschichte  der  Philosophie  mit  Hülfe  der  Philo- 
sophie dargestellt  werden,  aber  nicht  mit  Hülfe  eines  exeluaiven 
philosophischen  Systemes.  Unsere  Zeit  hat  Anhänger  Herbart*», 
Hegel' s,  Schopenhauers,  Materialisten,  Idealisten,  Pantheisten  und 
Atheisten.  Wo  ist  die  Wahrheit?  In  der  Philosophie,  welche  die 
wahren  philosophischen  Gedanken  der  einzelnen  Systeme  im  Be- 
wusstsein  sammelt  und  durchdringt,  nicht  in  einem  todten,  son- 
dern in  einem  lebendigen  Eklokticismus.  Vom  Streben  nach  Wahr- 
heit ist  die  Philosophie  durchdrungen,  vom  vermeintlichen  Besitze 
der  ganzen  und  vollkommenen  Wahrheit  das  philosophische  System. 
Es  verhält  sich  mit  den  bestimmten  abschliessenden  philosophi- 
schen Glaubensbekenntnissen  bis  auf  diese  Stunde,  wie  mit  den 
religiösen  Bekenntnissen.  Man  hat,  wie  Schiller  sagt,  keine  Reli- 
gion aus  Liebe  zur  Religion.  Was  würde  man  zur  Geschichte  sagen, 


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Ueberweg  u.  Brdmann:  Oromdr.  d  Gesch.  <L  Philosophie.  US 


aus  welcher  ein  bestimmtes  positives  Roligionsbekenntniss ,  sei  es 
der  Dordrechter  Synode,  der  Magdenburger  Coucordienformel  oder 
des  Tridentinums,  heraussieht?  Man  hat  solche  Geschichten;  aber 
sie  gehören  nicht  zu  den  besten.  Nicht  »die  bestimmte  Farbe« 
macht  die  Geschichte,  sie  steht  über  den  subjeotiven  Farben;  sie 
entwickelt  die  Farben,  aber  sie  färbt,  sie  Ubertüncht  nicht  selbst. 
Sie  hat  als  wahrhaft  philosophische  Auflassung  etwas,  was  höher 
steht,  als  die  einzelnen  Farben,  das  Licht,  aus  dessen  bestimmten 
Brechungen  die  einzelnen  Farben  hervorgehen.  Der  Herr  Verf. 
sieht  in  der  Geschichte  der  Philosophie  » Fortschritt.«  Der  »Welt- 
geist  ist  ihm  nacheinander  der  Geist  der  verschiedenen  Zeiten  und 
Jahrhunderte.«  Jede  Zeit  hat  >ihre  Weisheit,  ihre  Philosophie.« 
Die,  »welche  sie  zuerst  aussprechen,  sind  die  Philosophen  dieser 
Zeiten.«  Sie  sind  die  »eigentlichen  Zeitverständigen.«  Die  Philo* 
sophie  ist  von  einer  »bestimmten  Zeit  abhängig«;  das  schadet 
aber  ihrem  »absoluten  Charakter«  nicht.  Das  Bewusstsein  des 
Weltgeistes  geht  »durch  die  verschiedenen  Zeitbewusstsein  hin- 
durch« Was  die  »eine  Zeit  zum  Resultate  hat,  ist  für  die  folgende* 
Stoff  und  Ausgangspunkt.«  Die  Philosophie  »folgt  stets  als  Frucht 
der  Blüthe  einer  Zeit.«  Aber  der  Fortschritt  kommt  bekanntlich 
nicht  mit  Nothwendigkeit  auf  ein  System ,  so  wenig,  als  auf  eine 
bestimmte  Zeit.  Es  treten  Reactionen  von  Jahrzehnten ,  ja  von 
noch  grösseren  Zeiträumen  ein.  Ist  daun  auoh  die  Philosophie  als 
Frucht  einer  solchen  reaotionären  Blüthe  nothwendig,  so  ist  doch 
kein  Fortschritt,  kein  vernünftiges  Zeitbewusstsein  da.  Hier  macht 
nicht  die  Zeit,  nicht  der  Weltgeist  die  Philosophen,  die  Philoso- 
phen machen  auch  ihn  nicht  aus.  Sie  sind  Ausnahmen  von  ihm, 
rari  nautes  in  gurgite  vasto.  Die  Weisheit  besteht  hier  nicht  in 
der  Zeit,  nicht  im  Zeitbewusstsein,  sondern  gerade  in  den  Aus- 
nahmen der  Zeit.  Man  sagt:  Ihre  Zeit  folgt  auf  sie,  und  dann 
drücken  sie  das  Zeitbewusstsein  aus.  Aber  nicht  immer  kommt 
gleich  ihre  Zeit  nach  ihnen.  Es  verhält  sich  mit  der  Philosophie, 
wie  mit  der  Religion.  Es  dauert  oft  Jahrhunderte ,  bis  die  An- 
schauungen derjenigen,  welche  für  ihre  Ueberzeugung  getödtet  wer- 
den, zur  Herrschaft  gelangen.  Hier  erscheint  die  Philosophie  uicht 
als  die  Frucht  einer  Blüthe,  sondern  umgekehrt,  sie  ist  die  Blüthe 
einer  später  folgenden  Frucht.  Sind  hier  die  Philosophen,  welche 
sieh  über  eine  Zeit  des  unphilosophischen  Rückschrittes  und  der 
Verdunkelung  erheben,  die  das  Zeitbewusstsein,  den  Geist  der  Zeit 
Ausdrückenden ,  die  sogenannten  Zeitverständigen?  Ist  hier  die 
Philosophie  von  der  Zeit  abhängig,  schafft  sie  nicht  vielmehr  um- 
gekehrt die  folgende  Zeit?  Der  Herr  Verf.  ist  Hegelianer  und 
seine  Behandlungsart  der  Geschichte  der  Philosophie  ist  die  He- 
gel'sehe.  Herrscht  in  unserer  Zeit  das  Hegelthum  noch?  Bei  aller 
Achtung,  welche  die  grossen  Leistungen  Hegels  verdienen,  wird 
Niemand  behaupten  wollen,  dass  sein  System  noch  das  des  Zeitbewusst- 
seins  ist.  Man  wendet  sich  tbeils  dem  Eklekticismus,  theils  Herbart 


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444     TJeberweg  u.  Erdmann:  Grnndr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie. 


Schopenhauer,  tbeils  Krause,  tbeils  dem  Materialismus  zu.  Ja,  wenn 
die  vorherrschenden  Zeitleistungen,  die  naturwissenschaftliche  und 
mathematische  sind,  unser  Zeitbewusstsein  kennzeichnen,  so  ist  es 
gewiss  viel  mehr  ein  naturalistisches  als  ein  ideales.  Der  Herr 
Verf.  wäre  also  nach  seiner  eigenen  Methode  nicht  berechtigt,  die 
Geschichte  der  Philosophie  von  seinem  idealistischen,  er  müsste  sie 
eher  vom  materialistischen  Standpunkto  schreiben  ;  denn  jedes  System 
der  Zeit  hat  ja  seine  »Berechtigung«  in  dieser  Zeit.  Nur  dann 
kann  die  Geschichte  der  Philosophie  vom  Hegerseben  Standpunkte 
geschrieben  werden,  wenn  man  in  den  von  Hegel  begangenen  Feh- 
ler verfällt,  die  HegePsehe  Philosophie  als  den  Abschluss  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  zu  betrachten.  Was  hinter  uns  kommt, 
bertthrt  uns  in  diesem  Falle  nicht.  Aber  die  Geschichte  der  Philo- 
sophie geht  ihren  Lauf  fort  im  Zeitenstrome,  der  immerdar  fliesst 
trotz  dem  Zauberstabe,  mit  welchem  ihm' einzelne  Philosophen 
Stillstand  gebieten  wollen  Wie  in  der  Anschauung  der  Geschichts- 
behandlung, so  ist  auch  in  der  geschichtlichen  Durchführung  des 
philosophischen  Stoffes,  der  Hegel'sche  Standpunkt  der  in  Nr.  2 
herrschende.  Die  Trilogie,  Thesis,  Antithesis,  Synthesis  wird  in  der 
Entwicklung  der  philosophischen  Systeme  angewendet,  wie  es  Vischer 
iu  seiner  sonst  so  verdienstvollen  Aesthetik  getban  hat.  Die  Tri- 
logie der  Dialektik  wird  ein  Panzer,  in  welchen  man  den  geschicht- 
lichen Stoff  hineinzwängt,  und  wir  sind  dadurch  verhindert,  den 
Stoff  nach  seinem  wahren  und  eigentlichen  Inhalte  ungetrübt  zu 
würdigen. 

Der  Herr  Verfasser  ist  in  der  Geschichte  der  Philosophie  des 
Alterthums  kürzer,  weil  man  sieb  Rath  und  Belehrung  in  den 
»vortrefflichen  Werken  von  Brandis  und  Zeller  und  in  der 
verdienstlichen  Sammlung  der  wichtigsten  Belegstellen  von  Prel- 
ler und  Ritter«  für  tiefergehende«  Beschäftigung  holen  kann. 
Befolgen  aber  die  Werke,  die  er  hier  anführt,  die  von  ihm  auf- 
gestellten Theilungspunkte,  entwickeln  sie  ihre  geschichtliche  Auf- 
gabe in  dem  beengenden  trilogischen  Modell  der  Hegel'schen  Dia- 
lektik, von  welcher  einige  neuere  Fausterklärer  behaupteten,  sie  sei 
der  glühende  Dreifuss  der  Mütter? 

Der  Herr  Verf.  unterscheidet  drei  Perioden  der  griechischen 
Philosophie,  1)  die  griechische  Philosophie  in  ihrer  Unreife 
(S.  14-56),  2)  in  ihrem  Glänze  (8.  56-157),  8)  in  ihrem 
Verfall  (S.  157-195). 

Nach  dem  trilogischen  Princip  werden  in  der  ersten  Periode 
die  reinen  Physiologen,  die  reinen  Meta physiker  und 
die  metaphysischen  Physiologen  unterschieden.  Zu  den 
ersten  werden  Thaies,  Anaximandros,  Anaximenes,  Diogenes  Apol- 
loniates ,  zu  den  zweiten  die  Pythagoreer  und  Eleaten ,  zu  den 
dritten  Herakleitos,  Empedokles  und  die  Atomiker  gezählt.  In  die 
Periode  des  Glanzes  werden  Anaxagoras,  die  Sophisten,  Sokrates, 
die  somatischen  Schulen,  Plato  und  Aristoteles  eingereiht.  In  der 


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TJeberweg  n.  Erdm.nn:  Grundr.  d.  Gesch.  d.  PhÜotophie.  446 


Periode  des  Verfalles  werden  die  Dogmatiker,  die  Skeptiker  und 
die  Synkretisten  unterschieden.  Wer  sich  an  die  Quellen  hält  und 
nach  diesen  ohne  eine  vorgefasste  Meinung  historisch  kritisch  die 
Ansichten  der  Philosophen  entwickelt ,  der  wird  weder  in  den 
Pythagoreern,  noch  in  den  Eleaten  reine  Metaphysiker  erkennen, 
er  wird  Herakleitos,  Empedokles  uud  die  Atomiker  nicht  zu  meta- 
physischen Physiologen  machen  wollen.  Nach  den  Pythagoreern 
ist  Alles  seinem  Wesen  nach  Zahl,  die  Form  ist  die  Substanz  des 
Dinges.  Die  Unterscheidung  der  Einheit  und  der  unbestimmten 
Zwei  hei t,  als  der  Gottheit  und  Materie  ist  nicht  altpythagoreisch.  Ent- 
weder baut  sich  diese  Unterscheidung  auf  spätere  Schriftsteller, 
welche  keine  Quelle  bezeichnen  oder  sie  werden  in  hinsichtlich 
ihrer  Echtheit  mit  Recht  angezweifelten,  unsicheren  Quellenzeug- 
Dissen  ausgesprochen.  Die  Unterscheidung  selbst  ist  unvereinbar 
mit  der  durch  Aristoteles  und  Philolaos  Fragmente  als  sicher  fest- 
stehenden altpythagoreischen  Behauptung,  dass  die  Zahlen  das 
Wesen  der  Dinge  seien.  Die  Zahlen  wurden  nicht  als  Formen  von 
der  Materie  der  Dinge  getrennt;  sie  waren  die  substantiellen  Be- 
standteile des  Körperlichen.  Wo  liegt  hier  eine  reine  Metaphysik 
gegenüber  einer  reinen  Physiologie  ?  Man  müsste  zum  Behufs  einer 
solchen  Behauptung  die  Quellenzeugnisse  ändern.  Aber  auch  mit 
den  Eleaten  verhält  es  sich  nicht  anders.  Sie  stellen  dem  Werden 
das  Sein,  der  Vielheit  die  Einheit  gegenüber.  Hierin  könnte  man 
den  Unterschied  des  Körperlichen  und  des  Geistigen,  des  Begriffes 
oder  der  Idee  und  des  Dinges  finden  wollen.  Allein  die  Eleaten 
sind  keine  Idealisten,  wozu  sie  Unkenntniss  machen  wollte,  sie 
haben  einen  mit  den  Joniern  und  Pythagoreern  gemeinschaftlichen 
Zag.  Auch  bei  ihnen  herrscht  das  Realistische,  die  Naturauschau- 
uug  vor.  Das  Seiende  ist  dem  Parmenides,  welcher  den  Höbepunkt 
in  der  Entwicklung  des  Eleatismus  darstellt,  alles,  was  ist,  die 
Einheit  von  Allem,  das  Ganze  der  Welt  in  Kugelgestalt.  Die  Be- 
stimmungen des  Parmenides  hinsichtlich  der  Begrenztheit,  Gleich- 
artigkeit und  Untheilbarkeit  des  Seienden  sprechen  entschieden  für 
die  Entfernung  alles  Unräumlichen  oder  rein  Geistigen  aus  seiner 
Lehre  vom  8ein.  So  wenig  die  Pythagoreer  die  Form  vom  Stoffe 
der  Dinge  trennen,  so  wenig  trennen  die  Eleaten  das  Sein  von  dem 
seienden  Ganzen  der  Dinge.  Hier  ist  eben  so  wenig  eine  reine 
Metaphysik,  die  sich  einer  reinen  Physiologie  entgegenstellt. 

Eben  so  wenig  wird  man  berechtigt  sein,  den  Anaxagoras  und 
die  Sophisten  zur  Glanzperiode  der  Griechenphilosophie  zu  zählen. 
Ein  wesentlicher  neuer  Standpunkt,  der  subjeotive,  beginnt  mit 
den  Sophisten  und  Sokrates.  Daher  haben  auch  die  Geschieht* 
Schreiber  der  Philosophie  mit  Becbt  entweder  mit  den  Sophisten 
oder  mit  Sokrates,  nicht  aber  mit  Anaxagoras  die  Blüthenperiode 
der  griechischen  Philosophie  begonnen.  Der  letztere  ist  der  natur- 
gemässe  Abschluss  der  Weltanschauung  der  jüngeren  jonischen 
Schule.    Die  Erklärung  des  Werdens  im  Gegensatze  zum  Sein  ist 


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446     Ueberweg  u.  Brdinann:  Gnftidr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie. 


es,  mit  welcher  sich  die  jüngeren  Jonier,  von  Herakleitos  angeregt, 
beschäftigen.  Die  Lehre  des  Anaxagoras  zeigt  Verwandtschaft  mit 
den  gleichzeitigen  Systemen  des  Empedokles  und  Leukippos.  Sie 
verwerfen  das  Entstehen  and  Vergehen.  Sie  suchen  die  Vielheit 
and  Veränderlichkeit  zu  erklären,  sie  nehmen  unveränderliche  Ur- 
stoffe an,  ans  denen  Alles  dnrch  räumliche  Zusammensetzung  and 
Trennung  gebildet  wird.  Hat  Herakleitos  das  Werden  dynamisch 
aufgofasst,  so  fassen  sie  es  mechanisch  auf.  Hierin  liegen  die  Paukte 
ihrer  Uebereinstimmung.  In  der  Bestimmung  der  Urstoffe  und  in 
dem  Gruud  der  Bewegung  denken  sie  verschieden.  Anaxagoras 
unterscheidet  sich  von  ihnen  dadurch,  dass  er  den  Unterschied  der 
abgeleiteten  und  der  Urstoffe  aufhebt  und  Alles  in  die  Urstoffe 
verlegt  und  den  Grund  der  Bewegung  in  dem  Geiste  (vovg)  findet. 
So  ist  er  die  Vollendung  der  vo r so k ratischen  Ansicht.  Aber  der 
wesentlich  neue  subjective  Standpunkt  ist  noch  nicht  vorbanden. 
Er  findet  sich  erst  einseitig  bei  den  Sophisten,  rieht  ig  und  tiefer 
erfasst  bei  Sokrates.  Mit  ihm  beginnt  darum  die  Glanzperiode  der 
griechischen  Philosophie.  Auch  in  der  Nachwirkung  zeigt  sich  die- 
ses ;  denn  alle  nachfolgenden  Systeme  sind  entweder  mittelbar  oder 
unmittelbar  aus  Sokrates*  Anregungen  hervorgegangen. 

Das  viel  ausführlicher  behandelte  Mittelalter  um  fasst  nach 
der  Eintheilung  von  Kr.  2  die  erste  Periode  oder  die  Zeit  der 
Patristik  (S.  198 — 246),  die  zweite  Periode  oder  die  Zeit  der 
Scholastik  (S.  245 — 466),  die  dritte  Periode  oder  die  Zeit  des  Ueber- 
gangs  (S.  466 — 622).  In  der  ersten  Periode  werden  die  Guo- 
stiker,  die  Neupiaton iker  und  Kirchenväter  unterschieden.  Es  ist 
unpassend,  unter  die  Neuplatoniker  in  der  Periode  der  Patristik 
Plotin  und  die  heidnisch -griechischen  Neuplatoniker  zu  stellen, 
welche  entweder  mit  dem  Christenthum  in  gar  keine  oder  höchstens 
einzelne  in  eine  feindliche  Berührung  kommen;  sie  gehören  der 
Philosophie  des  Alterthums  an.  Sie  können  hier  nur  in  so  fern  er- 
wähnt werden,  als  sie  auf  die  Entwicklung  der  patristischen  Zeit 
einen  Einfluss  äusserten.  Von  Christi  und  der  Apostel  ursprüng- 
licher Lehre,  von  den  heiligen  Schriften  ist  in  der  patristischen 
•Zeit  keine  Bede.  Statt  dessen  werden  einzelne  Kirchenväter  be- 
handelt und  die  wichtige ,  vor  das  Ooncilium  von  Nieäa  fellende 
Zeit  beinahe  übergangen.  Solche  Auseinandersetzung,  wie  sie  sich 
in  gründlicher  Weise  und  guter  Benutzung  der  neuesten  kritischen 
Forschungen  in  Ueberweg's  Buch  findet,  ist  aber  zum  wissenschaft- 
lichen Verstände iss  des  Nachfolgenden  unerlasslioh.  tn  der  Ent- 
wicklung der  Dogmatik  wird  in  Nr.  2  dem  so  genannten  ortho- 
doxen Dogma  überall  der  Vorzug  gegeben.  Ihm  »gewährt  den  er- 
freulichsten Anblick  die  Entstehung  desjenigen  Dogmas,  mit  dessen 
Feststellung  vernünftiger  Weise  der  Anfang  gemacht  werden  rauss, 
weil  es  die  Voraussetzung  aller  andern  bildet:  des  Dogmas  von 
der  Trinität.«  Der  »judaisirende  Monarchianisraus«  und  die  Lehre 
des   >dem   Paganismus«  zugewandten  Arms'  werden  »«inseitige, 


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UcberVfeg     Erdmana:  Grtmdr.  d.  Geeefc.  d.  Philosophie.  447 


Athanasius,  der  diese  Einseitigkeit  über  windet,  »der  grüsste  Kirchen- 
vater <  genannt,  »den  das  Morgenland  erzeugte.« 

Die  Väter  der  nazistischen  Zeit  haben,  wie  der  Herr  Verf. 
8.246  sagt,  »das  Dogma  gemacht «,  die  Scholastiker  »haben  es  ver- 
ständig eu  ordnen  und  verständig  zu  machen.«  »Wenn  daher,  fahrt 
er  fort,  das  Philosophien  der  Scholastiker  immer  von  durch  Aukto- 
rität  feststehenden  Sätzen  ausgeht,  so  ist  dies  keine  Beschränkt- 
heit, es  ist  die  noth wendige  Beschränkung  auf  ihre  Aufgabe.«  Sind 
aber  Dogmenmacher  der  Kirche  und  Dogmenerklärer  derselben 
wirklieh  eigentliche  Philosophen?  Ist  die  Wissenschaft,  die  an 
etwas,  was  nicht  bewiesen,  nicht  gewusst,  nicht  begriffen  werden 
kann,  sondern  unbedingt  geglaubt  worden  muss,  in  ihren  Unter- 
suchungen gebunden  ist,  keine  Beschränkung?  Sind  diejenigen, 
welche  eine  Aufgabe  haben,  die  nioht  von  der  Wissenschaft,  son- 
dern von  einem  ausserhalb  derselben  stehenden  Auktoritätsprincip 
beschränkt  ist,  nicht  eben  durch  diese  Aufgabe  selbst  beschränkt? 

Die  Scholastik  wird  1)  in  die  Jugendperiode  (8.247—304), 
2)  in  die  Glanzperiode  (S.  304 — 403)  und  3)  in  die  Verfallperiodo 
(8.  403 — 466)  eingetheilt.  Die  Jugendperiede  umfasst  die 
Scholastik  als  Religion  s-  und  Vernunf  tlehre,  als  blosse 
Vernunft  lehre  und  als  blosse  Religionslehre.  Unter  die 
Scholastik  als  Religions-  und  Vernunftlehre  werden 
Johannes  Scotus  Erigena,  Anselm  von  Cauterbury,  Roscellin,  Wil- 
helm von  Champeaux,  Abälard,  unter  die  Scholastik  als  blosse 
Vernunf  tlehre  Gilbort  de  lä  Porree  (Porretanus),  unter  die 
Scholastik  als  blosse  Beligions  lehre  Hugo  v.  St.  Victor, 
die  Summisten  oder  die  Verfasser  der  theologischen  summae  (Hu- 
bertus Pnllus,  Petrus  Lombardus,  Alanus  de  Insulis)  und  die  Victo- 
ria er  (Richard  und  Waltber)  gestellt.  Man  kann  aber  den  Gilbert 
sieht  so  von  der  ihm  vorausgestellten  Abtheilung  trennen,  dass 
seine  Scholastik  blosse  Vernunftlehre  ist.  Auch  seine  Scholastik 
ist  theologisch  und  ist  nicht  nur  Vernunft-,  sondern  auch  Religions- 
lehre  und  in  der  auf  Gilbert  folgenden  Abtheilung  wird  man  bei 
den  Summisten,  Victorinern  u.  s.  w.  eben  so  wenig  der  Scholastik 
als  blosser  Religionslehre  begegnen.  Man  gewinnt  drei  dialektische 
Momente,  aber  sie  liegen  nicht  in  der  Scholastik,  welohe  an  sich 
weder  blosse  Religionslehre,  noch  reine  Vernunftlehre,  sondern  in 
allen  von  dem  Herrn  Verf.  bezeichneten  Abtheilungen  ungeachtet 
der  von  ihm  entwickelten  Trennung  immer  eine  von  der  Religions- 
lehre abhängige  Vernunft  lehre  bleibt.  Die  Trennung  wird  durch 
die  Darstellung  vollzogen,  aber  sie  liegt  nioht  in  den  Quellen« 

In  der  Glanzperiode  der  Scholastik  werden  1)  Musel- 
männer und  Juden  und  2)  christliche  Arist-oteliker 
unterschieden.  Von  den  letztern  werden  Alexander  von  Haies  (Ales), 
Bonaventura,  Albert  der  Grosse,  Thomas  und  die  Thomisten,  Lul- 
lu8,  Dante ,  in  der  Verfallperiode  Roger  Bacon,  Duns  Scotus, 
Wilhelm  Occam,  Pierre  d'Ailly,  Gerson,  Raymund  von  Sabunde, 


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448     Ueberweg  u.  Krdmann:  Qrundr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie. 

Nicolaus  von  Cusa  ausführlich  behandelt  und  dabei  zugleich  viel- 
fach neue  Forschungen  und  anregende  Gedanken  mitgetbeilt.  Be- 
sonders genau  und  eingehend  sind  die  Studien  des  Herrn  Verfassers, 
welche  sich  auf  den  Franciskaner  Rainiundus  Lullus  und  seine 
so  genannte  ars  magna  beziehen.  Wenn  man  sich  den  Charakter 
der  Zeit  recht  lebhaft  vor  die  Augen  stellt,  so  wird  man  wohl  be- 
greifen können,  warum  die  Zahl  der  Lullisten  einmal  fast  der  der 
Thomisten  gleich  war.  Freilich  trug  dazu  nicht  bloss  der  Scharf- 
sinn des  Urhebers,  sondern  der  zwischen  den  Dominikanern  und 
Franciskanern  als  den  zwei  Bettelorden  herrschende  Brodneid  nicht 
wenig  bei,  warum  ein  so  hervorragender  Kopf  der  zahlreichen, 
beim  Volke  beliebten  Franciskanerinnung,  die  auch  an  den  Univer- 
sitäten ihre  Vertreter  zählte,  mächtigen  Beifall  erhielt.  Dazu  kamen 
auch  die  körperlichen  Misshandlungen,  welche  Lullus  von  den  Musel- 
männern erlitt,  und  sein  Martertod,  weiche  seine  Bedeutung  ver- 
mehrten. 

Die  dritte  Periode  der  mittelalterlichen  Philosophie 
ist  die  Periode  des  Uebergangs  aus  dem  Mittelalter  zur  Neu- 
zeit Sie  umfasst  nach  der  von  dem  Herrn  Verf.  gegebenen  Ein- 
teilung 1)  die  Philosophie  als  Gottesweisheit  (S.  470—502),  2) 
die  Philosophie  als  Weltweisheit  (S.  502—584),  3)  die  Rechts- 
philosophen (S.  584—622).  Die  Philosophie  als  Gottesweis- 
h e i t  enthält  die  speculative,  die  praktische  und  die  t  h  e  o- 
sophisohe  Mystik.  Zur  speculativen  werden  Meister  Eck- 
hart, Heinrich  Suso,  Johann  Tauler  und  der  unbekannte  Verfasser 
der  deutschen,  von  Luther  1518  herausgegebenen  Theologie,  zur 
praktischen  Johannes  Rliysbroek,  Geert  de  Groot  (Gerhardus 
Magnus),  Thomas  a  Kempis,  im  Uebergang  zum  Höhepunkt  der- 
selben Kaspar  Schwenkfeld,  Valentin  Weigel,  zur  theo'sophi- 
schen  Mystik  Jacob  Böhm,  mit  Recht  am  ausführlichsten  behan- 
delt, gezählt.  Die  Philosophie  als  Welt  Weisheit  hat  als  Haupt- 
abschnitte die  Renaissanoe  oder  Wiedererweckung  anti- 
ker Systeme  (Erneuerung  des  Piatonismus,  die  Aristoteliker  und 
solche,  welche  die  Systeme  der  Verfallperiode  griechischer  Philo- 
sophie wieder  hervorzurufen  suchten)  und  die  Naturphilosophen 
(Paracelsus,  Cardanus,  Telesius,  Patritius,  Campanella,  Bruno,  Franz 
Baco).  Von  den  Rechtsphilosophen  werden  die  kirchlichen  Natur- 
rechtslehrer, die  widerkirchliche,  die  kirchlich  indifferente  Politik 
und  die  naturalistische  Rechtsphilosophie  unterschieden.  Unter  der 
Aufschrift  der  w iderkirchlichen  Politik  werden  Nicolo 
Macchiavelli ,  unter  der  der  kirchlich  indifferenten  Bodin, 
Gentiiis,  Grotius,  unter  der  naturalistischen  Rechtsphilo- 
sophie Thomas  Hobbes  angeführt. 

(Schlüte  folgt) 


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Kr.  29.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


üeberweg  u.  Erdmann:  Grundriss  der  Geschichte 

der  Philosophie. 


(SchhiSB.) 

Der  zweite  Band  enthält  die  Philosophie*  der  Neu- 
zeit, durch  deren  in  seinem  grösseren  Werke  durchgeführte  selbst- 
ständige Forschung  der  Herr  Verfasser  in  der  Literatur  einen 
dauernden  Namen  gewonnen  hat.  Die  zwei  ersten  Perioden  der- 
selben wurden  mit  Benutzung  des  grösseren  Werkes,  der  Quel- 
lenschriften und  besonders   der  Kuno  Fischer'schen  Forschungen 
umgeändert.    An  der  dritten  Periode,  mit  deren  Darstellung  in 
seinem  grösseren  Werke  der  Herr  Verf.  in  allem  Wesentlichen  noch 
einverstanden  ist,  wurde  keine  bedeutende  Veränderung  vorgenom- 
men.   Die  Umgestaltung  besteht  vorzugsweise  in  Abkürzung  des 
grösseren  Erdmann'schen  Werkes,  in  Hinweglassung  der  Citate. 
Die  Einleitung  beginnt  mit  den  Worten:    >Durch  den  Bruch  mit 
dem  Mittelalter  und  ihren  Gegensatz  zu  demselben  btlsst  die  Neu- 
zeit den  christlichen  Charakter  nicht  ein.  Nur  dies  hört  auf,  dass 
das  Cbristenthum  in  dem  geistlich  (d.  h.  weltfeindlich)  Gesinnt 
sein   besteht;  anstatt  dessen  fordert  das  neuzeitige  (moderne) 
Christenthum ,  dass  der  Mensch  ganz  im  Geiste  und  in  sich  lebe, 
indem  er  ganz  in  der  Welt  lebt.«    Die  sich  hier  natürlich  auf- 
drängende Frage  ist.  Was  versteht  der  Herr  Verfasser  unter  dem 
Chrif  tenthum  ?    Die  Antwort  hierauf  finden  wir  im  ersten  Bande 
S.  195  und  196:    »Christenthum  als  bewusstes  Versöhntsein  der 
Menschheit  mit  Gott  kann  Einheit  beider  oder  auch  Gott-Mensch- 
heit genannt  werden,  Ausdrücke,  die  dem  biblischen  Himmelreich 
entsprechen.    Da  das  Ziel  ist,  dass  Keiner  ohne  seine  Schuld  sich 
ausser  dieser  Einheit  befinde,  so  muss  das  Versöhntsein  der  Mensch- 
heit mit  Gott  in  einer  Weise  beginnen,  dass  es  Allen  gewiss  ge- 
macht werden  kann,  d  h.  die  Gott-Menschheit  muss  zuerst  alsein 
sinnlich  pereipirbarer  Gottmensch  erscheinen,  der  und  dessen  Ge- 
schichte den  ganzen  Inhalt  der  Heilsbotschaft  bildet,  der,  weil  er 
das  Christenthum  in  sich  hat,  eben  darum  der  d.  h.  der  einzige  Christ 
ist  Damit  ist  aber  nicht  gesagt,  dass  dieser  Anfang  des  Christen- 
thums die  seinem  Begriffe  adäquate  Existenzweise  sei.  Vielmehr, 
wie  jeder  Anfang,  muss  sich  auch  dieser  aufheben;  der  Zustand, 
wo  die  Gottmenschheit  als  ein  Gottmensch  existirt,  muss 
als  der  niedrigere  dem  böhoren  (die  Erniedrigung  der  Erhöhung 
und  Herrlichkeit)  Platz  machen,  wo  der  Christ  in  den  Christen 
LX.  Jahrg.  6.  Heft  29 


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460     Ueberweg  u.  Erdmann:  Grundr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie. 


existirt,  wie  der  Mensch  in  den  Menschen,  wo  das  Evangelium  von 
ihm  zum  Evangelio  vom  Reich  geworden  und  an  die  Stelle  des 
Wortes :  Es  ist  nur  ein  Name,  in  dem  wir  selig  werden,  die  not- 
wendige Ergänzung  desselben  getreten  ist:  Extra  ecclesiam  nulla 
salus.  Beide  Sätze  besagen  ganz  dasselbe,  dass  die  Versöhnung 
mit  Gott  Alles  in  Allem  ist.  Ist  sich  Versöhnt  wissen  mit  Gott  das 
eigentliche  Princip  des  christlichen  Geistes  oder  des  Christenthums, 
so  wird  jede  Zeit  als  von  diesem  Geiste  gefärbt  oder  als  christlich 
zu  bezeichnen  sein,  in  welcher  diese  Idee  die  Geister  bewegt.  Ein 
Gleiches  wird  von  der  Philosophie  zu  sagen  sein,  wo  die  Ver- 
söhnungsidee in  ihr  Platz  gewinnt  und  mit  dieser  zugleich  der  Be- 
griff der  Sünde  Wichtigkeit  bekommt ,  der  seinerseits  auf  den 
Schöpfungsbegriff  zurückweist.  Eine  jede  Philosophie,  in  der 
dies  statt  findet,  ist  der  Ausdruck  der  christlichen  Zeit.«  Der 
Maassstab  für  die  Ausbildung  der  neueren  Philosophie  ist  also  dem 
Herrn  Verf.  die  Versöhnungsidee.  Findet  man  aber  irgend  etwas 
von  VersÖhnnngsidee  in  den  Systemen  aller  Hauptvertreter  der 
neuern  Philosophie?  Ist  es  überhaupt  das  christliche  Dogma,  von 
welchem  sie  ausgehen?  Ist  es  nicht  vielmehr  umgekehrt  die  Eman- 
eipation  von  demselben  ?  Umsonst  suchen  wir  den  in  allen  Men- 
schen lebendigen  Gottmenschen  und  die  Versöhnungsidee  in  den 
Systemen  des  Baco,  Cartesius,  Geulinx,  Malebranche,  Spinoza,  Leib- 
nitz, Hobbes,  Condillac,  Hume,  Kant  u.  s.  w.  Die  neuere  Philo- 
sophie, namentlich  die  Heger  sehe,  hat  allerdings  in  einem  beson- 
dern Theile  der  Religiousphilosophie  die  Versöbnungsidee  als  die 
Grundsubstanz  der  Christuslehre  und  zugleich  des  philosophischen 
Denkens  entwickelt.  Ist  aber  der  abstracto  Begriff  des  reinen  Seins 
in  Wahrheit  Gott  als  Vater  der  Menschen  im  Christenthum,  das 
Anderssein  des  reinen  Seins  der  Christus  des  neuen  Testamentes 
und  das  Andere  dieses  Andersseins,  welches  zum  reinen  Sein  zurück- 
führt, der  von  Christus  seinen  Anhängern  versprochene  heiligende 
Geist?  Das  suchen  wir  vergebens  in  der  Bibel  und  bei  den  Kir- 
chenlehrern. Die  biblischen  Urkunden  kennen  nur  einen  Messias 
und  einen  Christus.  Die  Gottbegeisterung  in  Christus,  welche  das 
Dogma  zur  Gottmenschheit  oder  zum  Gottmenschen  gemacht  hat, 
ist  die  Begeisterung,  das  Durchdrungensein  einer  concreten  Person 
durch  das  göttliche  Element,  nicht  eine  abstracto  Begeisterung  des 
Gottmonschenthums.  Das  Extra  ecclesiam  nulla  salus  hat  hier 
keinen  andern  Sinn,  als  den:  Ausser  der  Hegerseben  Philosophie 
gibt  es  kein  Heil.  < 

Der  Herr  Verf.  theilt  dio  Geschichte  der  neueren  Philosophie 
bis  einschliesslich  Hegel  in  drei  Perioden,  1)  die  Philosophie 
des  17.  Jahrhunderts  oder  den  Pantheismus  (S.  6—77),  2)  die 
Philosophie  des  18.  Jahrhunderts  oder  den  Individualismus  (S.  77 
— 311),  3)  in  die  Philosophie  des  19.  Jahrhunderts  oder  die  Ver- 
mittlung (S.  311—618).  Zur  ersten  Periode  gehören  Descar- 
tes  und  seine  Schule,  Malebranche,  Spinoza,  zur  zweiten  die 


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Üeberweg  u.  Er  d  mann:  Grundr.  d.  Gesch.  d.  Philosophie.  451 

realistischen  Systeme  und  zwar  die  Skeptiker,  Mystiker  und 
der  Empirismus  des  Locke,  der  englischen  Moralsysteme,  des  Hume 
und  Adam  Smith,  Brown,  Condillac,  ßonnet,  Mandeviile,  Uelvetius 
und  die  idealistischen  Systeme  des  Leibnitz,  der  Vorläufer 
Wolfs,  des  Wolf,  seiner  Schule  und  Gegner,  des  empirischen  Idea- 
lismus, der  Philosophie  als  Selbstbeobachtung  und  der  deutschen 
Aufklärung.    Die  dritte  Periode  enthält  den  Kriticismus 
(Kant,  die  Kantianer  und  Antikantianer  und  die  Halbkantianer), 
die  Elementarphilosophie  und  ihre  Gegner  (Reinhold,  des- 
sen Gegner),  die  Wissenschaftslehre  und  ihre  Ausläufe 
(Fichte   und  die  Wissenschaftslehre,  Ausläufe,  Fichte's  verän- 
derte Lehre,  Schlegel,  Schleiermacher),  das  Identitätssystem 
(Schölling  und  die  Aufnahme  seines  Systems),   den  Pantheis- 
mus, Individualismus    und  ihre   Vermittlung  auf  kri- 
tischer  Basis,    (Herbart  und  Schopenhauer,  v.  Berger,  Solger, 
Steflens,  Schölling' s  Freiheitslehre)  die  Kosmosophie,  Theo- 
sophie und  ihre  Vermittlung  auf  kritischer  Basis  (Oken  und 
Baader,   Krause's   Pantheismus,   Hegels  Panlogismus).  Referent 
kann  die  angegebenen  Theilungsgründe  nicht  als  sachgemäss  er- 
kennen.   Er  erkennt   den   pantheistischen   Charakter   weit  eher  . 
im  neunzehnten,  als  im  1 7.  Jahrhunderte.  Descartes,  Geulinx,  Ma- 
lebranche und  die  Cartesianer  lassen  sich  nicht  unter  die  Periode 
des  Pantheismus  stellen.  Spinoza  und  seine  Anhänger  haben  allein 
diesen  Typus  und  gerade  dieser  Charakter  ist  es,  der  bis  iu  unsere 
Zeit  hereinreicht.  Es  ist  weit  sachgemässer,  die  Systeme  der  Philo- 
sophie nach  dem  subjectiven  und  objectiven  Ausgangspunkte  und 
zwar  jedesmal  wieder  idealistisch  und  realistisch  zu  unterscheiden. 
Dann  bedarf  man  da  auch  des  willkürlichen  Abschneidens  der  philo- 
sophischen Entwicklung  nioht.    Denn  gewiss  lässt  es  sich  nicht 
durchführen,  dass  das  17.  Jahrhundert  in  der  Philosophie  panthei- 
stisch,  das  18.  individualistisch,  das  19.  vermittelnd  ist.  Von  sei- 
nem Standpunkte  aus  betrachtet  der  Herr  Verf.  die  Hegel* sehe 
Philosophie  oder  den  Panlogismus  (so  genannt,  weil  Hegel  sich 
rühmt,  dass  sein  System  »alle  Namen  führen  dürfe,  die  man  je 
einer  philosophischen  Ansicht  beigelegt  habe«)  als  den  Abscbluss 
aller  Philosophie,  was  ein  Nicht-Hegelianer  nicht  zugeben  wird. 
Er  fügt  der  Darstellung  des  Hegel'schen  Systems  einen  Anhang 
bei,  welcher  die  deutsche  Philosophie  seit  Hegel'sTode 
enthält,  so  dass  wir  auch  in  diesem  Umrisse ,  wie  in  Nr.  1 ,  die 
Philosophie  der  Gegenwart  dargestellt  finden.    Mit  der  Beurthei- 
lung  der  Hegel'schen  Philosophie,  wie  sie  in  der  Einleitung  zu  die- 
sem Anbange  S.  619  u.  620  gegeben  wird,  kann  sich  nur  ein  stren- 
ger Althegelianer  einverstanden  erklären.  Strauss,  Ludwig  Andreas 
Feuerbach  und  Andere  haben  längst  das  Gegentheil  nachgewiesen. 

Der  Anhang  (S.  619—798)  unterscheidet  die  Auflösung 
der  Hegel'schen  Schule  (Erscheinungen  im  logisch-metaphysi- 
schen und  im  religions-philosophischen  Gebiet,  Unsterblichkeitsfrage, 


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4Ö2   Duhamel:  Desmethodes  dansles  sciences  de  Raisonnement.  n. 


christologische  und  theologische  Frage)  und  die  Versuche  zum 
Wiederaufbau  der  Philosophie  (Rückweisungen  auf  frühere 
Systeme,  Neuerungsversuche,  Fortbildung  früherer  Systeme,  die 
vierte  Gruppe,  Historiker  der  Philosophie  und  Schluss). 

Das  Werk  ist  auf  der  Grundlage  selbstständiger  Forschung 
entstanden  und  enthält  viele  geistvolle  und  anregende  Gedanken. 
Was  die  von  den  Einflüssen  eines  einzelnen  Systemes  freie  An- 
schauung der  Geschichte  der  Philosophie  im  Allgemeinen  und  ihrer 
einzelnen  Systeme,  die  gleicbmässige  Vertheilung  und  Behandlung 
des  Stoffes,  die  Vollständigkeit  in  der  Angabe  der  Quellen  und 
Hülfsmittel  t  also  Eigenschaften  betrifft,  welche  einen  Umriss  für 
Lehrer  und  Lernende  gleich  empfehlenswerth  erscheinen  lassen, 
verdient  entschieden  das  durch  den  gros  st  en  Sammelfleiss  und  die 
unbefangenste,  gediegenste  Durchdringung  des  philosophischen 
Stoffes  ausgezeichnete  Ueberweg'sche  Werk  vor  dem  Erdmann'schen 
den  Vorzug,  so  reich  auch  das  letztere  an  geistvollen  Gedanken 
und  selbstständigen  Forschungen  ist.       v.  Reichlin-Meldegg. 


Des  Methode*  dans  les  Sciences  de  Raisonnement,  par  J.  M.  C. 
Duhamel,  Membre  de  V Institut,  etc.  Deuxiemc  Partie.  Paris. 
Qauthier-Villars.  Md.  (XIV  u.  450  8.  in  8). 

Wir  haben  im  Jahrgange  1865  dieser  Blätter  den  ersten  Tbeil 
des  interessanten  Werkes  angezeigt,  von  dem  uns  nun  der  zweite 
vorliegt.  Der  erste  Theil  beschäftigte  sich  mit  den  allgemeinen 
Begriffen  und  deren  Feststellung,  während  der  zweite  nunmehr  zur 
Anwendung  jener  allgemeinen  Untersuchungen  auf  die  einzelnen 
Wissenschaften  übergeht,  und  zwar  zu  >den  vollkommensten  Wis- 
senschaften, denen  der  Zahlen  und  der  Ausdehnung.« 

Duhamel,  dem  > langjähriges  Nachdenken  und  eine  Lehrtätig- 
keit von  fast  einem  halben  Jahrhundert«  gar  viele  Mängel  in  nicht 
blos  dem  gewöhnlichen,  sondern  auch  dem  bessern  Unterrichte  in 
den  mathematischen  Wissenschaften  sich  gezeigt,  will  dadurch, 
dass  er  nun  in  dem  vorliegenden  Buche  zeigt,  wie  der  mathema- 
tische Unterricht  wissenschaftlich  und  damit  seiner  Natur  gemäss 
behandelt  werden  soll,  den  Lehrern,  die  noch  nicht  Zeit  hatten, 
alle  die  vielen  Erfahrungen,  die  er  sich  sammelte,  zu  machen,  ganz 
besonders  einen  Dienst  erweisen,  und  sein  Buch  ist  also  auch  vor- 
zugsweise für  sie  bestimmt  »s'adresse  ä  ceux  qui  professent.« 
Schüler,  denen  die  Sachen  schon  bekannt  sind,  um  die  es  sich  hier 
handelt,  mögen  mancherlei  aus  dem  Buche  lernen;  für  sie  aber 
sind  eigentliche  Lehrbücher,  die  freilich  in  dem  Geiste,  der  in 
diesem  Buche  lebt,  verfasst  sein  sollen,  vorzuziehen. 

Wir  haben  schon  vielfach  Werke  des  berühmten  Mathematikers, 
dessen  Name  die  vorliegende  Schrift  trägt,  in  diesen  Blättern  an- 
gezeigt, und  jeweils  besonders  betont,  dass  Duhamel  ganz  entschie- 


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Duhamel:  Des  m&hodes  «Uns  lea  sciences  de  Ralsonnement.  II.  468 

den  auf  völlige  Klarheit  dringt  nnd  jenen  bekannten  Aussprach 
d'Aleraberts :  »Avancezet  la  fois  vous  viendra«  unbedingt  verwirft. 
Wir  können  auf  unsere  mehrfach  in  dieser  Hinsicht  ausgesprochene 
Meinung  nur  immer  wieder  zurückkommen,  und  müssen  dies  um 
so  dringender  und  entschiedener,  als  wir  leider  auch  in  Deutsch- 
land gar  vielfach  jenem  leichtsinnigen  und  nichtsnutzigen  Schlen- 
drian begegnen,  der  sich  begnügt,  die  Darstellung  der  Elemente 
der  Wissenschaft  in  »beiläufig«  richtiger  Weise  zu  geben,  und  vor 
jeder  ernsten  Untersuchung  auf  die  Richtigkeit  zurückschreckt.  Es 
ist  doppelt  nöthig,  an  dem  Beispiele  eines  so  hoch  in  der  Wissen- 
schaft geachteten  Mannes,  wie  Duhamel,  zu  zeigen,  dass  nur 
ernstes  Streben  ein  wirkliches  Gute  schaffen  kann. 

Wie  bereits  gesagt,  ist  der  Gegenstand  des  vorliegenden  Theils 
die  Algebra  und  die  Geometrie.  Beide  Wissenschaften  betrachtet 
der  Verf.  von  ihren  Elementen  an,  dabei  aber  nur  ausführlicher 
bei  denjenigen  Punkten  verweilend,  die  bei  einer  minder  genauen 
Darstellungsweise  Grund  zn  Unklarheit  geben  können.  Gerade 
aber  solche  Unklarheit  hält  Duhamel  für  den  Schüler  für  ganz 
verderblich,  da  er  sich  dann  an  eine  »Gefühlsmathematik«,  wie 
wir  sie  nennen  wollen ,  gewöhnt ,  die  Alles  sein  kann ,  nur  eben 
keine  Mathematik.  Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  dem  Verf. 
auf  jeden  Schritt  zu  folgen,  da  dies  die  Anzeige  seines  höchst 
verdienstlichen  Buches  ungebührlich  weitläufig  machen  müsste.  Wir 
werden  desshalb  nur  einen  oder  den  andern  Punkt  besonders  her- 
vorheben können. 

Bei  der  Besprechung  der  ersten  Grundbegriffe  verwirft  er 
namentlich  auch  die  Existenz  des  Raums,  unabhängig  von  dem  Be- 
stehen der  Körper.  Dieser  »uubegränzte  Raum«,  meint  der  Verf., 
verwirre  und  erschrecke  die  Einbildung,  die  ihn  geschaffen;  trotz- 
dem glaubten  gar  Viele  daran,  während  er  eben  das  eigentliche 
Nichts  wäre. 

Die  gerade  Linie  erklärt  bekanntlich  Legendre  als  die  kür- 
zeste Linie,  welche  man  von  einem  Punkte  zu  einem  andern  ziehen 
kann.  Mit  Recht  verwirft  der  Verf.  diese  Erklärung,  und  hält  ihr 
die  von  Euklid  entgegen,  die  or  dahin  erläutert,  dass  die  gerade 
Linie  eine  Linie  von  beliebiger  Ausdehung  sei  so,  dass  man  durch 
zwei  gegebene  Punkte  nur  eine  einzige  dieser  Art  ziehen  kann. 
Vielleicht  könnte  man  hier  an  den  Ausspruch  Pascals  erinnern 
(Pensäes,  Art.  premier),  der  meint,  dass  man  dergleichen  Dinge 
überhaupt  nicht  definiren  solle  ?  Etwas  Aehnliches  sagt  unser  Ver- 
fasser auch  bei  Gelegenheit  der  Definition  eines  Winkels,  denn  er 
spricht  sich  so  aus:  »l'important  n'est  pas  de  fixer  l'idäe  des 
choses  au  moyen  d'une  phrase,  quand  cette  id6e  est  si  bien  ooncue. 
qu'elle  ne  pent  donner  lieu  a  auoune  möprise.« 

Wir  übergehen  die  wichtigen  und  lehrreichen  Betrachtungen 
über  die  Entstehung  und  Bildung  der  Zahlen,  überhaupt  der  Fun- 
damente der  gewöhnlichen  Arithmetik  in  ganzen  Zahlen.    Eben  so 


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454   Duhamel:  Des  methodes  dans  les  soiencea  de  Raiaonnemente.  II. 


wollen  wir  hinsichtlich  der  Brüche  nur  bemerken,  dass  das  Auf- 
troten  derselben  nothwendig  eine  Erweiterung  des  Zablbegriffs,  der 
zuerst  auf  ganze  Zahlen  sich  einschränkte,  zur  Folge  hat.  Hiebei 
und  in  allem  Folgenden  geht  der  Verf.  von  dem  sicher  einzig  rich- 
tigen Grundsatze  aus,  dass  alle  diese  Erweiterungen  eines  anfäng- 
lich nur  zu  eng,  aber  sonst  richtig  gefassten  Begriffes  erst  dann 
eintreten  sollen,  wenn  die  Nothwendigkeit  dieser  Erweiterung  durch 
das  Fortschreiten  der  Erkenntniss  ganz  unmittelbar  vorliegt. 

Bei  jeder  solchen  neuen  Ausdehnung  einer  früheren  Definition 
muss  dann  gezeigt  werden,  dass  all  die  Ergebnisse  (Regeln),  die 
man  früher  erhalten,  auch  noch  gelten,  wenn  man  die  erweiterte 
Definition  zu  Grunde  legt. 

Die  »Proportion«  ist  Gleichheit  zweier  Brüche;  die  alte  Form 
ist  also  ganz  überflüssig,  wie  sie  denn  auch  nach  und  nach  aus 
den  Lehrbüchern  verschwindet,  obwohl  bekanntlich  die  gar  über- 
mässig »konservativ«  zu  sein  pflegen. 

Bei  den  Dezimalbrüchen  tritt  zum  ersten  Male  in  der  Arithme- 
tik der  für  die  gesammte  Mathmetik  so  wichtige  Gränzbegriff  auf. 
Der  unendliche  Dezimalbruch,  der  einem  bestimmten  Bruche  sich 
unbegränzt  nähert,  gibt  ein  völlig  klares  Bild  einer  Gränze  über- 
haupt, so  wie  auch  die  Rechnung  damit  zeigt,  dass  man  mit  einer 
solchen  (wenn  auch  vielleicht  nicht  kurzweg  angebbaren)  Gränze 
ganz  wohl  rechnen  kann. 

Einer  weitern  Gattung  von  Zahlen  begegnen  wir  bei  der  Wur- 
zelausziehung, den  irrationalen  oder  incommensurablen  Zahlen,  über 
deren  Bedeutung  der  Verf.  sich  nun  gleichfalls  ausführlich  aus- 
spricht. Sie  sind  für  ihn  Gränzen  commensurabler  Zahlen  uud  als 
solche  können  sie  den  Operationen,  die  mit  letzteren  vorgenommen 
werden  dürfen,  ebenfalls  unterworfen  werden. 

Nachdem  er  dann  an  einfachen  Beispielen  gezeigt,  wie  mittelst 
der  analytischen  Methode  Aufgaben  gelöst  werden,  und  betont,  dass 
man  ja  nicht  zu  frühe  mit  den  Formen  und  Formeln  der  gewöhn- 
lichen Algebra  beginnen  solle,  ehe  dor  Schüler  die  Nothwendigkeit 
derselben  gefühlt  hat,  behandelt  er  diese  und  zeigt,  wie  sich  das 
Bedürfniss  der  Verallgemeinerung  der  Resultate  herausstellt  (Buch- 
stabenausdrüoke). 

Die  Rechnung  mit  diesen  letzten  führt  zu  der  Rechnung  mit 
entgegengesetzten  Zahlen.  Dabei  verwirft  der  Verf.  ganz  entschie- 
den die  Existenz  der  negativen  Zahl  als  solcher  und  natürlich  auch 
all  der  Regeln,  die  man  darauf  gründen  wollte.  Er  zeigt ,  indem 
er  auf  diesen  Funkt  in  seinem  Werke  vielfach  zurückkommt,  dass 
überall  das  Auftreten  der  negativen  Zahl  nur  die  Bedeutung  hat, 
dass  man  die  Aufgabe  ursprünglich  etwas  anders  hätte  fassen 
sollen ;  dass  aber  die  herkömmlichen  Regeln  dann  ganz  anwendbar 
sind.  Es  ist,  wenn  man  seine  Entwicklungen  überlegt,  gegen  die- 
selben Nichts  einzuwenden,  und  zur  Klarheit  gelangt  der  Schüler 
erst  auf  die  von  dem  Verf.  verlangte  Weise.    Die  Einführung  der 


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Duhamel:  Des  mdthodes  dans  les  aciences  de  Ralsonnemente.  II.  4Ö5 

negativen  Zahlen ,  als  Abkürzung  der  Rechnung,  verallge- 
meinert zugleich  alle  Resultate,  und  ist  von  diesem  Gesichtspunkte 
aas,  eine  Notwendigkeit.  Das  stellt  sich  dann  auch  bei  den  Po- 
tenzen mit  negativen  Exponenten  u.  8.  w.  heraus. 

Bei  dieser  Gelegenheit  prüft  der  Verf.  auch  den  Beweis  von 
Laplace  in  Bezug  auf  die  Rechnung  mit  negativen  Zahlen  und 
zeigt  dessen  Unhaltbarkeit.  Eben  se  wendet  er  sich  gegen  das, 
was  d'Alembert  und  Carnot  in  dieser  Beziehung  geäussert,  was 
Alles  beweist,  wie  selbst  die  ersten  Männer  der  Wissenschaft  sich 
mit  unklaren  Begriffen  über  die  Fundamente  begnügt  haben. 

Endlich  erscheint  bei  der  Auflösung  der  Gleichungen  des  zwei- 
ten Grades  noch  die  imaginäre  Zahl,  die  selbstverständlich  noch 
viel  weniger  eine  wirkliche  Existenz  beanspruchen  kann.  Die  ganze 
Bedeutung  dieser  Zahlen  liegt  darin ,  dass  wenn  man  mit  ihnen 
nach  den  gewöhnlichen  Regeln  der  Rechnung  verfährt,  die  Glei- 
chung zweiten  Grades  durch  sie  erfüllt  ist.  Dies  aber  ist  für  viele 
Aufgaben  von  grosser  Wichtigkeit,  namentlich  bei  der  Theorie  der 
(algebraischen)  Gleichungen  überhaupt. 

Um  zu  letzterer  tibergehen  zu  können,  werden  die  Begriffe 
einer  veränderlichen  Grösse,  einer  Funktion  und  der  Stetigkeit  er- 
örtert und  dann  auf  die  Theorie  der  ganzen  Funktionen,  also  der 
algebraischen  Gleichungen  angewendet.  Die  wesentlichsten  Grund- 
sätze werden  durchgesprochen  und  dann  die  Auflösung  der  Glei- 
chungen des  dritten  Grades  ausführlich,  des  vierten  nur  andeutungs- . 
weise  behandelt. 

In  Bezug  auf  die  Auflösung  der  höhern  Gleichungen  wird  die 
Trennung  der  Wurzeln  als  Ziel  der  Untersuchung  aufgestellt  und 
das  von  Lagrange  dazn  ersonnene  Verfahren  angegeben  (Gleichung 
mit  den  Quadraten  der  Unterschiede  der  Wurzeln) ,  worauf  dann 
des  allerdings  entscheidenderen  Satzes  von  Sturm  gedacht  wird. 

Einer  klaren  und  eingehenden  Betrachtung  werden  die  Reihen 
unterzogen,  und  auf  die  Berechnung  der  Grundzahl  der  natürlichen 
Logarithmen  angewendet,  wobei  auch  der  Gedankengang  angegeben 
ist,  der  Napier  auf  diese  Formen  geführt.  Die  Euler'sche  Dar- 
stellung der  Entwicklung  von  (l-f-x)m  in  eine  Reihe  wird  vervoll- 
ständigt und  daraus  dann  noch  einige  Folgerungen  gezogen.  Damit 
scbliesst  die  Behandlung  der  Algebra. 

Für  die  »Wissenschaft  der  Ausdehnung«  hat  der  Verf.  sich 
Vieles  dadurch  leichter  machen  können,  dass  er  auf  Euklid,  der 
ihm  immer  noch  mustergiltig  ist,  sich  beziehen  konnte«  Desshalb 
ist  auch  ein  grosser  Theil  seiner  Darstellung  der  Grundsätze  eigent- 
lich eine  Darstellung  der  Methode  des  griechischen  Geometers.  Dass 
er  mit  Legendre  nicht  überall  einverstanden  ist,  haben  wir  be- 
reits oben  gesehen,  und  er  führt  dies  in  seinen  jetzigen  Betrach- 
tungen noch  mehrfach  weiter  aus.  Von  grossem  Interesse  ist  der 
Abschnitt,  der  über  die  methodische  Behandlung  der  (Konstruktions-) 


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456 


Gerneth:  Fünfstellige  Logarithmen. 


Aufgaben  handelt,  wobei  wir  uns  jedoch  mit  diesem  allgemeinen 
Ausspruch  begnügen  müssen. 

Neben  Euklid  hat  Archimedes  durch  die  Einführung  der  Gränz- 
betrachtungen  das  wesentlichste  Verdienst  um  die  Geometrie  er- 
worben und  der  Verf.  geht  nun  auf  diese  des  Nähern  ein,  indem 
er  eine  Reihe  Fundamentalsätze  begründet  uud  zugleich  die  Formen, 
in  welche  diese  Methode  von  den  Neuern  gekleidet  worden  ist, 
darstellt. 

Davon  macht  er  dann  die  gewöhnlich  in  der  Integralrechnung 
behandelten  Anwendungen  auf  Berechnung  der  krummen  Flächen, 
Linien  u.  s.  w.  Eben  so  wendet  er  die  Gränzenmethode  auf  die 
Berechnung  von  Pyramiden  und  ähnlichen  Körpern  an. 

Damit  haben  wir,  wenn  auch  nicht  ganz  vollständig,  den  In- 
halt des  Buches  angedeutet.  Ueber  dasselbe  müssen  wir  nur  wie- 
derholen, was  wir  bereits  zu  Eingang  ausgesprochen.  Es  war  nicht 
Ansicht  des  Verf.,  ein  Lehrbuch  der  elementaren,  aber  wissen- 
schaftlichen Mathematik  zu  schreiben,  soudern  er  wollte  nur  die 
Hauptgesichtspunkte,  die  beim  Unterricht,  und  also  auch  beim  Ab- 
fassen eines  Lehrbuchs  maassgobend  sein  sollen,  aufstellen  und 
nötigenfalls  weiter  erläutern,  um  so  mit  dem  reichen  Schatze 
seiner  langen  wissenschaftlichen  Erfahrung  der  Jugend  und  ihren 
Lehrern  nützlich  zu  sein.  Wir  können  desshalb  letztere  ganz  be- 
sonders das  Buch,  das  wir  mit  dem  regsten  Interesse  gelesen,  nur 
mit  bester  Ueberzeugung  zu  eingehender  Beachtung  empfehlen,  da 
sie  daraus  sicherlich  reichlichen  Gewinn  für  sich  und  die  ihrer 
wissenschaftlichen  Sorgo  Empfohlenen  ziehen  werden. 


Fünfstellige  gemeine  Logarithmen  der  Zahlen  und  der  Wi?ikdf Miktio- 
nen von  10  *u  10  Sekunden  nehst  den  Proportionaltheilen  ihrer 
Differenzen  von  August  Gerneri  h.  Wien.  Friedrich  Becks 
Verlags- Buchhandlung  (VW  u.  144  8.  in  8). 

Die  vorliegenden  neuen  fünfstelligen  Logarithmentafeln  zeich- 
nen sich  vortheilhaft  vor  vielen  andern  derselben  Art,  sowohl  hin- 
sichtlich der  Einrichtung  als  des  Druckes  aus,  so  dass,  trotz  der 
ziemlich  grossen  Anzahl  solcher  Tafeln,  die  wir  bereits  besitzen, 
denselben  eine  günstige  Aufnahme  finden. 

Die  erste  Haupttafel  enthält  die  Logarithmen  der  ganzen  Zah- 
len von  1  bis  10,000  mit  fünf,  uud  von  10,000  bis  10,800  mit 
/  sechs  Dezimalen  und  zwar  auf  jeder  Seite  fünfzig  Linien ,  was 
gegenüber  manchen  andern  fünfstelligen  Tafeln  nur  zu  billigen  ist. 
Daneben  ist  eine  weitere  Aenderung  die  wir  hier  zum  ersten  Male 
sehen,  eingetreten,  in  so  ferne  nämlich  neben  den  herkömmlichen 
Spalten  0—9-  nach  10  aufgenommen  ist.  Wir  können  diese  Neue- 
rung nur  entschieden  loben,  da  dadurch  das  im  höchsten  Grade 


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Gerne th:  Fünfstellige  Logarithmen. 


457 


unangenehme  und  für  das  Ange  nachtheilige  Ueberschauen  einer 
ganzen  Zeile  unnöthig  wird,  wenn  man  bei  der  seitherigen  Ein- 
richtung die  Differenz  bei  einer  mit  9  endigenden  Zahl  aufzu- 
suchen hatte. 

Eine  weitere  Neuerung  besteht  in  der  Bezeichnung  der  zu 
gross  genommenen  Logarithmen,  bei  denen  die  letzte  Ziffer  durch 
einen  feinen  Querstrich  in  ihrer  obern  Hälfte  durchstrichen  ist. 

Endlich  sind  dieser  Haupttafel,  in  ähnlicher  Weise  wie  bei 
den  Schröuschen  Tafeln,  die  Hilfszahlen  s  und  t,  behnts  Aufschla- 
gen der  Sinusse  und  Tangenten  kleiner  Winkel,  und  zwar  von  10 
zu  10  Sekuuden,  beigegeben. 

Die  zweite  Haupttafel  enthalt  die  fünfstelligen  Logarithmen 
der  trigonometrischen  Funktionen  von  10  zu  10  Sekunden,  und 
zwar  ist  auf  je  einer  Seite  ein  vollständiger  Grad  enthalten  (so 
dass  auf  eiuer  Seite  Sinus  und  Tangente ,  auf  der  neben  ihr  fol- 
genden Cosinus  und  Cotangento  enthalten  sind).  Die  Einrichtung 
ist  sonst  die  bereits  in  der  ersten  Haupttafel  bemerkte,  indem  die 
Sekunden  durch  die  Colonnen-Ueberschriften  angegeben  sind  und  je 
die  letzte  Colonno  der  ersten  gleich  ist  (d.  b.  also,  es  sind  etwa 
bei  10  Minuten  in  derselben  Zeile  sieben  Colonnen,  je  mit  0",  10" 
bis  60"  überschrieben,  welche  die  Logarithmen  für  10'  0",  10' 1.0" 
u.  s.  w.  bis  10' 60"  =  11' 0"  enthalten).  Auch  hier  ist  diese  Ein- 
richtung ganz  entschieden  zu  loben. 

Sind  die  trigonometrischen  Tafeln  auch  dadurch,  dass  die 
Winkel  von  10  zu  10  Sekunden  gegeben  sind,  umfangreicher  ge- 
worden, so  ist  dies  sicher  dadurch  mehr  als  aufgewogen,  dass  sie 
in  der  jetzigen  Form  ausserordentlich  leicht  zu  haudhaben  sind. 

Neben  diesen  beiden  Haupttafeln  sind  einige  kleinere,  mehr 
oder  minder  gebräuchliche  Hilfstafeln  beigegeben.  Dieselben  sind : 
Tafeln  zur  Verwandlung  der  gewöhnlichen  Logarithmen  in  natür- 
liche und  umgekehrt  mit  sieben  Dezimalen ;  Verwandlung  der  Grade 
und  Minuten  in  Sekunden  und  umgekohrt;  Länge  der  Kreisbogen 
für  den  Halbmesser  1 ;  Werthe  der  trigonometrischen  Funktionen 
von  Grad  zu  Grad  mit  2  Dezimalen ;  Sehnen  und  Pfeile  aller  Winkel 
von  0  bis  180  mit  2  Dezimalen;  Potenzen  der  Grundzahl  10  mit  15 

Dezimalen;  gemeine  Logarithmen,  des  Produkts  10m .  a  ^1 ... 

mit  15  Dezimalen;  Verwandlung  der  Winkel  in  Zeit»;  und  endlich 
eine  Tabelle  gewisser  Konstanton. 

Eine  ausführliche  Gebrauchsanleitung  ist  diesen  Tabellen,  die  sich 
bis  S.  120  erstrecken,  beigegeben,  wobei  jeweils  nach  einer  »zweiten 
Methode«  die  möglichste  Schärfe  erreicht  werden  soll,  wegen  wel- 
cher wir  auf  das  Buch  selbst  verweisen,  da  für  die  meisten  Fälle 
die  herkömmliche  (als  »erste  Methode«  hier  bezeichnete)  sicher 
ausreicht.  Ein  Schlussanhang  gibt  die  Berechnung  von  log  (a  ±  b) 
aus  loga,  logb  mittelst  nur  zweimaligen  Eingehens  iu  die  Tafeln, 


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Airy:  Treatise  on  partlal  Differential  Equatlons. 


nach  den  Formeln :  log  (a  -f  b)  =  log  I  -  + 1 )  +  log  b,  log  (a  —  b) 


Wie  wir  bereits  zu  Eingang  dieser  kurzen  Anzeige  sagten,  ist 
auch  die  Druckeinricbtung  eine  gefällige,  da  die  Ziffern  scharf  ge- 
schnitten sind  und  die  Zeilen  sich  von  einander  abheben.  Persön- 
lich würden  wir  für  Logarithmentafeln  allerdings  statt  des  weissen 
Papieres  solches  mit  leicht  grüner  Fürbung  (meergrün)  vorziehen, 
wie  Vieweg  in  Exemplaren  der  Schrönschen  Tafeln  gethan.  Wir 
benützen  für  uns  ein  solches  und  wissen  desshalb  aus  Erfahrung, 
dass  dem  Auge  dadurch  eine  wahre  Wohlthat  erwiesen  wird.  Ob 
die  Herstellungskosten  bedeutender  sind,  könuen  wir  allerdings  nicht 
beurtheilen. 

Wir  empfehlen,  aus  den  in  obiger  Uebersicht  begründeten  Vor- 
theilen, die  uns  vorliegenden  logarithmischen  Tafeln  allen  denen, 
welche  viel  mit  derartigen  Rechnungen  zu  thun  haben,  und  eben 
so  den  Mittelschulen,  für  die  sie  entschieden  zweckmässig  einge- 
richtet sind. 


An  elementary  treatise  on  partial  Differential  Equatiom,  designed 
for  ihe  Vse  of  Siudents  in  the  Universily.  Uy  Oeorge  Bid~ 
dell  Airy,  M,  A.,  Astronomer  Royal,  etc.  London  and  Cam- 
bridge: MacmUlan  and  Co.  1866.  (VJJI  u.  58  S.  in  kl.  8.) 

Die  vorliegende  Schrift  des  berühmten  Astronomen  ist,  wie 
ihr  Titel  und  die  Einleitung  aussagen:  >strictly  an  Elementary 
Treatisec,  und  muss  natürlich  auch  von  diesem  Gesichtspunkte  auf- 
gefasst  werden.  Sie  kann,  wie  aus  der  nachfolgenden  Uebersicht 
hervorgehen  wird,  also  keineswegs  als  ein  halbwegs  ausreichendes 
Lehrbuch  angesehen  werden,  wie  sie  das  ja  auch  nicht  verlangt; 
ist  vielmehr  als  eine  Art  besondere  Abhandlung  oder  Einlei- 
tung in  das  Studium  der  partiellen  Differentialgleichungen  zu  be- 
trachten. 

Es  ist  ganz  selbstverständlich,  dass  der  mit  allen  Zweigen  der 
angewandten  Mathematik  ganz  besonders  vertraute  Verfasser,  dessen 
Name  als  Autorität  in  vielen  Gebieten  derselben  gilt,  nur  Lohr- 
reiches  in  den  Schriften  erwarten  lässt,  die  unter  seinem  Namen 
erscheinen,  und  ist  eben  so  selbstverständlich,  dass  wir  uns  dar- 
auf einzuschränken  haben,  den  wesentlichen  Inhalt  seiner  Schrift 
dem  Leser  vorzuführen,  damit  derselbe  selbst  entschieden  möge, 
ob  diese  seinen  Zwecken  und  seinen  Kenntnissen  entspreche.  Dabei 
werden  wir  auf  die  Anführungen  aus  der  Integration  der  gewöhn- 
lichen Differentialgleichungen  nicht  weiter  angehen,  wenn  sie  gleich 
interessant  und  erläuternd  sein  mögen. 

Als  Muster  für  die  Integration   der  partiellen  Differential- 


Airy:  Treatise  on  partial  Differential  Equatlons.  450 

dz  dz 

gleichungen  erster  Ordnung  wird  die  Gleichung  —  behan- 
delt. Es  wird  gezeigt,  dass  ihr  z  =  ax-}-y  gentigt,  aber  eben  so 
auch  z  =  g)(ax-(-y),  wo  <p  eine  willkürliche  Funktion  bedeutet. 
Um  aber  einzusehen,  dass  dies  die  allgemeine  Auflösung  ist,  führt 
der  Verf.  (für  y)  die  eine  unabhängig  Veränderliche  u,  mittelst 
der  Gleichung  u  =  a  x  -j-  y  ein,  und  findet,  dass  die  gegebene  Glei- 
.  .dz 

chung  sich  in  —  =  0  umwandelt,  woraus  sofort  folgt,  dass  z  nur 

eine  Funktion  von  u  ist.  Auch  wenn  man  x  ersotzt,  erhält  man 
dasselbe,  ja  wenn  man  u  =  ax-f-yi  v  =  ex  +  fy  einführt. 

Die  Integralgleichung  wird  nun  geometrisch  ausgelegt,  und  sind 
zu  dem  Ende  stereoskopische  Kärtchen  dem  Werke  beigegeben. 

dz  dz 

Als  zweites  Beispiel  wird  die  Gleichung  —  —  a~  =f(x,  y) 

behandelt,  wo  f  eine  bekannte  Funktion  ist.  Durch  Einführung  von 
u  und  v,  wie  dies  oben  angegeben,  findet  sich  sehr  leicht  das  all- 
gemeine Integral.  Damit  schliesst  die  Untersuchung  für  die  Diffe- 
rentialgleichungen erster  Ordnung.  Beide  Beispiole  gehören  den 
linearen  Differentialgleichungen  an,  und  werden  sofort  nach  dem 
bekannten  Verfahren  allgemein  integrirt.  (Vergl.  des  Ref.  »Inte- 
tegration  der  partiellen  Differentialgleichungen«,  §.  4). 

Zu  den  partiellen  Differentialgleichungen  zweiter  Ordnung  über- 

gehend  wird  zunächst  als  einfachste  vorgelegt:  ^  =  0,  deren  In- 

d2z 

tegral  geometrisch  ausgelegt  wird.  Aus  ihr  wird  f(xi  j)  ß°" 

folgert. 

d2z  d2z 

Die  Gleichung  —  —  a2  —  ==f(x,  y),  welche  als  »die  wich- 
tigste von  allen,  besonders  in  Bezug  auf  physikalische  Tbeorieen« 
erklärt  wird,  behandelt  der  Verf.  dadurch,  dass  er  die  zwei  neuen 
unabhängig  Veränderlichen  u  und  v  mittelst  der  Gleichungen 
u  =  ax-j-y,  v  =  ax  —  y  einführt,  wodurch  sie  auf  die  vorher- 
gehende zurückkommt.  Nach  allgemeinen  Methoden  hat  der  Unter- 
zeichnete diese  Art  Gleichungen  in  §.  13  seines  vorhin  angeführ- 
ten Werkes  behandelt. 

Die  Gleichung  ^  =  a'  -yj        ±         wird  dadurch ,  dass 

z = Ä  (7) geseUt  wird' auf  Tx  (r  S)  - al  n(r  S)  - 0  g0- 

bracht,  wo  sie  sich  nun  leioht  integriren  lässt.  Wollte  man  dieses 
Beispiel  nach  den  angeführten  allgemeinen  Methoden  bebandeln,  so 
würde  man  zu  keinem  Ergebniss  gelangen  ,  da  die  dort  angeführ- 
ten Bedingungen  nicht  erfüllt  sind.  Es  ist  also  die  von  dem  Verf. 


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460 


Wolff:  Arabischer  Dragoman. 


hier  eingeschlagene  Methode  eine  den  besondern  Verhaltnissen  die- 
ser Aufgabe  angopasste.  Als  allgemeines  Beispiel  wäre  das  im  an- 
geführten Buche  §.  15  behandelte  anzusehen ,  das  in  das  obige 
Übergeht,  wenn  man  a  =  -f-2,  ß  =  2  sotzt.  Dadurch  wird  dort 
p  =  2,  plz=  —  1. 

Dass  man  oft  mit  weniger  allgemeinen  Auflösungen  sich  begnügen 
kann,  wird  an  dem  Problem  der  Wellenbewegung  in  einem  äquatoria- 
len Kanal  unter  dem  Einfluss  des  Mondes  gezeigt,  wo  die  Gleichung 
d8X  d^X 

-r-y  =  H8in(it  —  mxJ-J-c' r-  zu  integriren  ist.  Dabei  wird  auf 
dt  dx 

den  Fall  besonders  eingegangen ,  da  der  Kanal  an  seinen  beiden 
Enden  durch  feste  Wände  geschlossen  ist.  Dieses  Beispiel  ist  zu- 
gleich eines  für  die  Bestimmung  der  durch  Integration  eingetrete- 
nen willkürlichen  Funktionen. 

Das  zweite  Beispiel  dieser  Art  ist  das  der  schwingenden  Sai- 
ten, wobei  auch  die  Darstellung  mittelst  der  trigonometrischen 
Reihen  berührt  wird. 

Eine  letzte  Betrachtung  bezieht  sich  auf  den  Zusammenhang 
der.  durch  Integration  gewöhnlicher  Differentialgleichungen  eintre- 
tenden willkürlichen  Konstanten  (unbestimmten  Konstanten  sagt 
der  Verf.)  und  der  Ordnung  der  Gleichung,  und  fragt,  ob  ein  ähn- 
liches Verhältniss  bestehe  hinsichtlich  der  Zahl  der  durch  Inte- 
gration partieller  Differentialgleichungen  eintretenden  willkürlichen 
Funktionen  und  der  Ordnung  der  Differentialgleichung.  Hinsicht- 
lich der  ersten  Frage  sind  wir  mit  dem  Verf.  nicht  darin  einverstan- 
den, dass  die  »besondern  Auflösungen«  der  (gewöhnlichen)  Diffe- 
rentialgleichungen eine  Ausnahme  begründen.  Das  sind  einfach 
keine  Integralgleichungen,  indem  sie  die  Differentialgleichung  keines- 
wegs ersetzen.    Die  zweite  Frage  muss  vorläufig  verneint  werden. 

Damit  schliesst  die  vorliegende ,  elementare ,  immerhin  aber 
für  den  Umfang,  auf  den  sie  angelegt  war,  interessante  und  lehr- 
reiche Schrift.  Dr.  J.  Dienger. 


Grammatik,  Phrasensammlung  und  Wörterbuch  der  neu-arabischen 
Sprache.  Ein  Vademecum  für  Reisende  in  Egypten,  Palästina 
und  Syrien,  sowie  zum  Gebrauch  für  den  Unterricht,  von  Dr. 
Philipp  Wolff.  Zweite,  verbesserte  und  vermehrte  Auflage. 
Leipzig.  F.  A.  Brockhaus.  272  S.  8. 

Der  gelehrte  Verfasser,  welcher  durch  einen  längern  Aufent- 
halt im  Orient  zu  einer  solchen  Arbeit  gut  vorbereitet  war,  hat 
schon  im  Jahre  1857  einen  brauchbaren  arabischen  Dragoman  ver- 
öffentlicht, der  nunmehr,  gänzlich  umgearbeitet  und  erweitert,  und 
durch  einen  kurzen  Abriss  der  neuarabischen  Grammatik  bereichert, 
allon  Anforderungen  entspricht,  welche  an  ein  derartiges  Werk  ge- 


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Wolff:  Arabischer  Dragoman. 


461 


stellt  werden  können,  das  besonders  dazu  bestimmt  ist,  Reisenden 
in  Egypten,  Palästina  und  Syrien  als  Hilfsmittel  zu  dienen,  den 
Verkehr  mit  den  Eingeborenen  zu  erleichtern.  Die  Auswahl  der 
unentbehrlichsten  grammatischen  Regeln  sowohl  als  der  Wörter 
und  Gespräche  ist  gut  getroffen,  um  den  Studirenden  bald  in  Stand 
zu  setzen,  ohne  allzngrosse  Anstrengung,  sich  zu  unterrichten  und 
wenigstens  verständlich  zu  machen ,  wozu  noch  der  Umstand  be- 
sonders förderlich  ist,  dass  sowohl  im  Wörterbuche  als  in  der 
Phrasensammlung,  das  Arabische  auch  mit  lateinischen  Buchstaben 
wiedergegeben  wird.  Gegen  die  Art  dieser  Transscription  dürften 
nur  zwei  Bemerkungen  an  ihrem  Platze  sein.    Der  Buchstabe  j> 

latitet,  wo  er  nicht  vulgär  wie  d  gesprochen  wird,  nicht  wie  ein 
emphatisches  s,  sondern  wie  ds ,  wobei  aber  das  s  wie  das  fran- 
zösische z  auszusprechen  ist  und  der  Buchstabe  jj>  wird  im  Vulgär- 
arabischen häufig  wie  ein  emphatisches  d  ausgesprochen,  so  hört 
man  in  Egypten  z.  B.  jeden  Augenblick  den  Eselstreiber  nicht 
zahrak  (deinen  Rücken)  rufen,  wie  der  Verf.  S.  47  dieses  Wort 
schreibt,  sondern  dahrak.  S.  193  hat  übrigens  der  Verfassor  für 
>Rücken«  ganz  richtig  dahr,  dafür  aber  im  Arabischen  irrthüm- 
lich         für  je  geschrieben.    Als  weitere  ähnliche  Versehen  im 

Arabischen  erwähnen  wir  öy*o\  (S.  16)  für  j^l,  so  wie 

(S.  64  u.  67)  für  G,  lo>  (S.  70)  für  0,  (S.  74)  für  Ä) 

J!<\j  (S.  89)  für  Jjo,  Für  nicht  ganz  richtig  halten  wir  itfaddal 
(S.  69)  statt  tefaddal  und  kattar  cheirek,  ohne  das  Wort  Allah 
dazwischen  (S.  74).  Min  zeman  hedeutet  nicht  »dam als«  (S.  109) 
sondern,  in  Egypten  wenigstens,  »vor  längerer  Zeit«  damals  wird 
durch  »hadak  alwakt«  ausgedrückt.  »Sich  für  etwas  entscheiden« 
heisst  »azam«  das  vom  Verf.  (8. 117)  angegebene  i'tamed  wird 
mehr  für  »sich  auf  etwas  verlassen«  gebraucht.  »Ellbogen«  heisst 
wohl  auch  ktV  ,  doch  wird  mirfak  viel  häufiger  gebraucht.  So 
wird  auch  eine  Tafel  eher  luh  als  Gusdan  (S.  201)  genannt  und 
der  gewöhnliche  Ausdruck  für  »Wasserbehälter«  (S.  229)  ist  höd. 
Pfirsische  heissen  nicht  blos  in  Jerusalem  (S.  185),  sondern 
auch  in  Egypten  »choch«.  Verstand  heifest  nicht  »ruh«,  sondern 
Akl  oder  Dsihn  (vulg.  dihn).  Als  Versehen  in  der  Transsoription 
notiren  wir:  mßn  (S.  18)  für  min,  jiktub  (S.  26)  für  jektub,  iradd 
(S.  33)  st.  aradd  ba't  und  ba'ti  (S.  34)  st.  bi't  und  bi'ti.  lahatta  und 
lakei  (S.  39  u.  A.)  st.  Ii,  agrakum  (S.  49)  st.  agarkum  oder  agrukum, 
je  nachdem  man  es  als  verb.  oder  nom.  nimmt,  muhi  (S.  56)  f.  muhji, 
badritak  (S.  63)  für  hadratak,  kuntu  (S.  64)  für  kunt,  baka  (S.  73) 
für  bika,  auch  scheint  für  den  Artikel  vor  Qabilijah  überflüssig, 
der  Satz  bedeutet  wörtlich  »nicht  ist  übrig  in  mir  Appetit.«  Ferner: 
adar  (S.  78)  für  udr,  sijuf  (S.  110)  für  sujuf,  din  (S.  143)  für 
dein,  Scharba  (S.  212)  für  sohurba,  Macannif  (S.  223)  fürMucannif. 
Statt  miswar  im  Texte  (S.  60)  muss  es  wohl  mismar  heissen  und 


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482  Weliaminof-Zernof:  Die  Kasimofschen  Zaren. 


S.  72  muss  wohl  im  Texte  »alillat«  oder  ein  ähnliches  Wort  vor 
>kefärec  ausgefallen  sein.  Es  ist  wohl  überflüssig  zu  bemerken,  dass 
eine  so  geringe  Zahl  Versehen  in  einem  ähnlichen  Werke  ihm  nicht 
zum  Nachtheil  gereicht  und  dass  der  Verf.  im  Ganzen  durch  seine 
Genauigkeit  alles  Lob  verdient.  Weil. 


Untersuchung  über  die  Kasimofschen  Zaren  und  Zarcwitsche  von 
Weliaminof-Zernof,  aus  dem  Russischen  übersetzt  von 
Dr.  Julius  Theodor  Zenker.  Th.  1.  mit  4  Tafeln,  a.  u.  d. 
T.  Beiträge  sur  Geschichte  der  Völker  Mittelasiens.    Bd.  1. 
Leipzig,  Voss.  1867.  XVI  u.  265  S.  8. 

Zu  den  verschiedenen  Tatarischen  Fürstentümern,  welche  sich 
auf  den  Trümmern  der  goldnen  Horde  erhoben,  die  im  dreizehnten 
Jahrhundert  das  Mongolenreich  in  Kipdjak  gegründet,  gehört  auch 
die  Ghanschaft  Kasimof,  so  genannt  nach  dem  Chan  Kasim, 
dem  ersten  Fürsten  der  Stadt  Meschtscherskij ,  welche  später  den 
Namen  Kasimof  erhielt.  Dieser  Kasim  war  ein  Bruder  Mahmuteks, 
der  sich  im  Jahr  1445  der  Stadt  Kasan  bemächtigte  und  da- 
selbst ein  neues  Reich  gründete,  nachdem  er  seinen  Vater,  den 
Vertriebenen  Chan  der  goldenen  Horde  und  einen  andern  Bruder 
ermordet  hatte.  Kasim  floh  nach  Bussland  und  kämpfte  mit 
den  ihn  begleitenden  Tataren  mehrere  Jahre  hindurch  für  den 
Grossfürsten  Wasilij  III.,  der  ihn  dann  mit  genannter  Stadt 
belehnte,  einerseits  um  ihn  für  seine  geleisteten  Dienste  zu  be- 
lohnen, andrerseits  um  ihn  den  Chanen  von  Kasan  gegenüber  zu 
stellen,  welche  in  dieser  Zeit  eino  für  Russland  gefahrdrohende 
Stellung  einnahmen.  Die  Chanschaft  Kasimof  bestand  über  200 
Jahre.  Vorliegender  Theil  handelt  von  den  neun  ersten  Chanen, 
deren  letzter,  Schah  Ali,  bekannt  durch  seinen  Feldzug  nach  Lief- 
land, im  Jahre  1567  starb.  Die  Aufgabe,  die  sich  der  Verf.  ge- 
stellt hat,  war  keine  leichte,  denn  eine  Specialgeschichte  dieser 
Chanschaft  existirt  nicht,  die  vorhandenen  Nachrichten  über  Kasi- 
mof bestehen  zum  grössten  Theil  aus  zerstreuten  Bruchstücken  in 
verschiedenen  allgemeinen  historischen  Quellen,  die  erst  sorgfältig 
gesammelt  und  kritisch  geprüft  werden  mussten.  Der  Verf.  hat 
sich  übrigens  auch  keineswegs,  namentlich  in  seinen  gelehrten  An- 
merkungen, auf  die  im  Titel  angegebene  Materie  beschränkt,  son- 
dern auch  manche  mit  derselben  im  Zusammnnhang  stehenden  Fra- 
gen aus  der  Geschichte  der  goldnen  Horde,  der  Krim,  Kasans  und 
Astrachans  in  den  Kreis  seiner  Untersuchungen  gezogen,  auch  sind 
die  noch  erhaltenen  Denkmäler  aus  jener  Zeit  entziffert  und  gründ- 
lich erläutert  worden,  wobei  natürlich  die  von  Mulla  Husein  Feiz 
Chan  zusammengestellte  Sammlung  von  Abschriften  und  Abdrücken 
der  Grabinschriften,  die  sich  auf  den  Monumenten  in  Kasimof  er- 


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Süpfle:  De  l'H  Initiale. 


halten  haben,  benutzt  worden  sind.  Wenn  daher  auch  dieses  ge- 
lehrte Werk  zunächst  für  die  Geschichte  Russlands  von  besonderin 
Interesse  ist,  indem  es  über  eine  bisher  noch  dunkle  Periode  der- 
selben viel  Licht  verbreitet,  so  enthält  es  doch  auch  so  Manches, 
was  jedem  Geschichtsforscher  und  Orientalisten  wissenswerth  er- 
scheinen muss,  dass  es  wohl  verdiente,  durch  eine  deutsche  Ueber- 
setzung  auch  den  Gelehrten  die  der  russischen  Sprache  nicht  mäch- 
tig sind  zugänglich  gemacht  zu  werden.  Der  Verf.  stellt  für  den 
Scbluss  des  Werks  eine  vollständige  Aufzählung  aller  von  ihm  be- 
nutzten gedruckten  und  handschriftlichen,  russischen  und  orienta- 
lischen Quellen  in  Aussiebt.  Der  Uebersetzer  gibt  einstweilen  eine 
Uebersicht  der  im  ersten  Theile  am  häufigsten  angeführten  Werke. 
Die  Tafeln  enthalten  Abbildungen  des  von  dem  Chan  Schah  Ali 
im  Jahr  1555  zuKasimof  erbauten  Mausoleums  und  der  darin  be- 
findlichen Grabsteine  mit  ihren  Inschriften.  Besonderes  Verdienst 
bat  sich  der  Verf.,  der  mit  der  Kenntniss  der  russischen  Sprache 
die  der  arabischen,  persischen  und  türkischen  verbindet,  um  die 
Herstellung  der  Genealogie  der  Chane  von  Kasimof  sowohl,  als  ande- 
rer tartarischer  Chane  erworben,  welche  über  Länder  herrschten,  die 
jetzt  dem  russischen  Scepter  unterworfen  sind.  Vollständige  chrono- 
logische Stammtafeln  sollen  noch  am  Endo  des  Werks  beigefügt 
werden.  Weil. 


Dr.  Süpfle:  De  l'H  initiale  dam  la  langue  d'oil  1867.  Gotha. 

In  dieser  Schrift,  einem  zu  Gotha  erschienenen  Programm  des 
dortigen  Gymnasiums,  liegt  eine  recht  verdienstliche  Untersuchung 
sprachlicher  Art  vor,  die  es  wohl  verdient  auch  in  weiteren  Krei- 
sen bekannt  zu  werden.  Sie  betrifft  zwar  nur  einen  einzigen  Buch- 
staben, und  selbst  diesen  nur  in  seiner  Stellung  zu  Anfang  eines 
Wortes,  aber  sie  zeigt  an  diesem  Einen  Buchstaben  die  merkwür- 
digen Wandelungen,  welche  bei  der  Bildung  der  neueren  romani- 
schen Sprachen,  zunächst  bei  der  Langue  d'o'il,  aus  welcher  das 
jetzige  französisch  hervorgegangen  ist,  statt  gofunden  haben  und 
wirft  dadurch  auf  manche  ähnliche  Erscheinungen,  wie  sie  auf  die- 
sem Gebiete  uns  entgegen  treten,  ein  neues  Licht.  So  gewinnt  die 
ganze  Untersuchung  eine  weitergehende  Bedeutung;  sie  ist  dabei 
mit  einer  solchen  Klarheit  und  Präcision  geführt,  dass  die  Ergeb- 
nisse sicher  und  wohl  begründet  erscheinen,  auch  ist  Alles  in  einer  so 
fliessenden  Sprache  vorgetragen,  dass  man  gerne  bei  der  anziehen- 
den Leetüre  verweilt. 

Wir  versuchen,  auch  ohne  in  das  Detail  der  Beweisführung 
einzugehen,  wenigstens  die  Hauptresultate,  zu  denen  die  Unter- 
suchung gelangt  ist,  hier  anzugeben.  Der  Verf.  nimmt,  wie  billig, 
seinen  Ausgangspunkt  von  dem  Altrömischen,  und  zeigt  hier  die 
Anwendung  und  die  Aussprache  des  H.  Wenn  zumal  in  der  ersten 


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464 


8tipflc:  De  l'H  initUde. 


Periode  der  Sprachbildung  Roms  in  Wörtern,  wie  homo,  habere 
n.  dgl.  der  Buchstabe  H  ausgesprochen  wurde,  und  zwar  recht  ver- 
nehmbar und  selbst  als  starke  Aspiration,  so  tritt  doch  schon  frühe 
eine  Abnahme  ein ;  die  Aussprache  ward  unsicher  und  schwankend, 
namentlich  in  der  gebildeten  Sprache  der  Weltstadt  selbst,  wäh- 
rend sich  in  der  Vulgärsprache,  in  der  lingua  rustica,  die  Aus- 
sprache länger  erhielt,  und  wenn  sie  hier  anfangs  stärker  war,  als 
der  griechische  Spiritus  Asper,  so  milderte  sie  sich  doch  auch  hier 
im  Verfolg  immer  mehr,  bis  sie  zuletzt  ganz  in  Abnahme  kam  und 
dann  sogar  völlig  verschwand.  Es  wird  daher  nicht  befremden, 
wenn  wir  in  der  ersten  Bildungszeit  der  romanischen  Sprache,  die 
ja  aus  der  Vulgärsprache  hervorging,  den  Buchstaben  H  noch  aus 
der  älteren  römischen  mit  herübergenommen  finden,  afrer  als  einen 
stummen  und  todten  Buchstaben,  welcher  daher  auch  bald  als 
blosses  orthographisches  Zeichen  ganz  wegfiel,  da  die  aus  dem 
älteren  Latein  entnommenen  mit  H  beginnenden  Wörter  ihre  As- 
piration verloren  (wie  on,  avoir  u.  dgl.).  Und  so  kam  es  denn 
selbst  dahin,  dass  man  das  H  als  eine  orthographische  Super- 
fütation,  wie  der  Verf.  sich  ausdrückt,  vor  Wörter  setzte,  die  aus 
dem  Latein  stammend,  in  diesem  der  Aspiration  entbehren,  wie 
haage  (für  aage,  äge  von  aevum)  habandon,  habondance, 
h  a  1  a  i  g  r  e  (alacer),  heul  (a?eul  von  avolus),  h  u  m  b  r  e  (ombre)  u. 
dgl.  m.  S.  4. 

Wenn  nun  aber  in  Wörtern,  die  nicht  aus  dem  Latein  stam- 
men, am  Anfang  das  II  als  Aspiration  vorkommt,  so  sind  wir  da- 
mit auf  ein  anderes  Element  gewiesen,  welchem  die  Einführung 
dieser  Aspiration  zugeschrieben  werden  muss,  und  dieses  findet  der 
Verf.  ganz  richtig  in  der  Einwirkung  der  Sprache  der  deutschen 
Eroberer  Galliens,  der  Franken,  deren  Idiom  eine  starke  Aspiration 
nicht  verschmähete.  Ohne  den  Einfluss  dos  deutschen  Elementes 
würde  die  langue  d'oel'l  die  Aspiration  kaum  noch  kennen,  und 
diese  beschränkte  sich  daher  auch  auf  die  deutschen,  in  der  Sprache 
der  Gallo-Romänen  eingedrungenen  Worte,  ohne  auf  die  aus  dem 
Latein  stammenden  mit  H  anfangenden  Wörter  sich  weiter  auszu- 
dehnen und  ihnen  den  ursprünglichen  Laut  wieder  zu  verloihen; 
hior  blieb  das  H  ein  stummes,  wenige  Ausnahmen  abgerechnet,  wo 
diess  aus  einem  Einfluss  des  deutschen  Elements  zu  erklären  ist, 
und  zwar  in  indirecter  Weise.  Der  Verf.  hat  diesen  Wörtern  eine 
nähere  Berücksichtigung  im  Einzelnen  gewidmot,  bespricht  dann 
noch  die  Anwendung  des  aspirirten  H  in  den  aus  dem  Deutschen 
stammenden  Wörtern,  und  verbreitet  sich  über  dio  Natur  dieses 
H,  das  im  Altfranzösischen  vielfach  in  ch  überging;  daher  auch 
die  Aussprache  sehr  stark  war,  und  markirtor  als  in  dem  Latei- 
nischen. Eine  Fortsetzung  dieser  Untersuchung  soll  in  einem  zwei- 
ten Theil  folgen,  und  darin  insbesondere  die  Umwandlung  des  H 
in  den  verschiedenen  Dialekten  der  Langue  d'ott  nachgewiesen  wer- 
den. Man  wird,  wenn  man  diesen  ersten  Theil  durchgangen,  nur 
mit  Verlangen  dieser  Fortsetzung  entgegensehen. 


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Kr.  30. 


HEIDELBERGER 


1867. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Friedrich  von  Gents:  ein  Beitrag  zur  Geschichte  Oesterreichs 
im  neunzehnten  Jahrhundert  mit  Benutzung  handschriftlichen 
Materialsvon  Dr.  Karl  Mendelssohn- Bartholdy.  Leip- 
zig, Verlag  von  S.  Hirssel  1867.  VIII  und  126  S.  in  gr.  8. 


Die  vorstehende  Schrift  ist  wohl  geeignet,  die  nngetheilte  Auf- 
merksamkeit Aller  derer  in  Anspruch  zu  nehmen,  welche  an  der 
Geschichte  unseres  Vaterlandes  in  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahr- 
hunderts ein  Interesse  nehmen.  Denn  unter  den  in  die  Geschicke 
dieser  Periode  eingreifenden  Persönlichkeiten  gibt  es  kaum  eine, 
über  welche  das  ürtheil  so  sehr  schwankt,  wie  über  den  Staats- 
mann, der  den  Gegenstand  dieser  monographischen  Darstellung 
bildet.  Wenn  ein  Gervinus  in  Gentz  nur  eine  >  feile  Bedienten- 
seele« zu  sehen  glaubte,  so  urtheilte  Stein  noch  härter:  ihm  war 
Gentz  ein  Mensch  mit  verfaultem  Herzen  und  verbranntem  Ge- 
hirn; W.  v.Humboldt  fand  in  Gentz  einen  Windbeutel,  der  Jeder- 
mann die  Cour  mache ;  endlich  Rüge  und  die  Halle'schen  Jahr- 
bücher sahen  in  Gentz  das  inkarnirte  Priucip  der  Genusssucht,  den 
Üeischgewordeuen  Geist  der  Lucinde.  Auf  der  andern  Seite  musste 
es  auffallen,  dass  ein  sonst  so  strenger  Kritiker,  wie  Varnhagen 
über  Gentz  ein  so  überaus  mildes  Urtheil  fällte,  dass  Prokesch  von 
Osten  sogar  einen  Charakter  von  antiker  Erhabenheit  aus  ihm 
machte,  und  noch  neuerdings  die  Treue,  die  Einheit  der  Gesinnung, 
welche  überall  durchschimmere,  so  wie  die  Umwandelbarkeit  an 
Gentz1  Grundsätzen  anpreist.  Eben  so  bemerkenswerth  erscheint 
es,  dass  alle  die,  welche  persönlich  mit  Gentz  in  Berührung  kamen, 
von  ihm  bezaubert  wurden,  und  überhaupt  das  Andenken  an  seine 
liebenswürdigen  Eigenschaften  unter  all'  seinen  zahlreichen  Freun- 
den fortlebte.  Einen  solchen  Mann,  der  unleugbar  auf  die  Ent- 
wicklung der  deutschen  Geschicke  fördernd  wie  hemmend  einge- 
wirkt hat,  näher  zu  kennen  lernen,  ein  sicheres  Urtheil  über  ihn 
zu  gewinnen,  lohnt  sich  wohl  der  Mühe.  Der  Verf.  dieser  Schrift 
hat  nach  den  im  Druck  vorliegenden  Quellen,  so  wie  nach  andern 
ungedruckten  Quellen,  welche  ihm  die  mit  aller  Liberalität  geöffne- 
ten Archive  des  österreichischen  Kaiserstaates  boten,  es  unternom- 
men diese  Aufgabe  zu  lösen,  und  in  strengem  Anhalt  an  die  Quellen 
und  richtiger  Würdigung  der  Verhältnisse,  ein  Charakterbild  zu 
entwerfen,  das  mitten  unter  diesen  so  entgegengesetzten  Urtheilen 
den  richtigen  Weg  zu  finden,  hier  die  wahre  Mitte  einzuhalten 
weiss,  und  dadurch  den  Leser  zu  einer  richtigen  Auffassung  des 
Charakters,  und  damit  auch  zu  einem  richtigen  Urtheil  Uber  den  Mann 


LIX.  Jahrg.  6.  Heft. 


30 


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466  MendelsBohn-Bartholdy :  Friedrich  von  Gentz. 

selbst  zu  führen  vermag.  Ein  solches  bietet  uns  die  Charakteristik, 
mit  welcher  der  Verf.  S.  119 ff.  seine  Darstellung  beschlossen  hat; 
und  wenn  er  hier  als  wesentliches  Material  seines  Charakters,  Elasti- 
cität  des  Geistes  hervorhebt,  und  darauf  die  Worte  folgen  lässt: 
>Er  wuchs  und  sank  mit  der  Zeit  und  mit  den  Menschen.  Sein 
Urtheil  passte  sich  den  ausserordentlichsten  Verhältnissen  an.  Sein 
Gedanke  fand  sich  in  den  schwierigsten  Problemen  der  grossen 
öffentlichen  Welt  zurecht.  Aber  sein  Wille  war  oft  nicht  stark 
genug,  über  die  gewöhnlichsten  Tagesbegebenheiten  Herr  zu  wer- 
den. Er  strauchelte  in  den  einfachsten  Beziehungen  des  Privat- 
lebens und  der  bürgerlichen  Moral.  Wahrend  Gentz  im  Unglück 
eine  antike  Standhaftigkeit  entfaltete,  löste  das  Glück  alle  Fugen 
seines  sittlichen  Charakters.  Denn  es  liegt  im  Wesen  solcher  Na- 
turen, dass  sie  Unglück  besser  ertragen,  wie  Glück;  nach  Auster- 
litz  und  Jena  war  Gentz  grösser  als  nach  Leipzig  und  nach  dem 
Wiener  Congress.«  und  diess  dann  weiter  ausführt,  so  finden  wir 
darin  nur  das  Ergebniss  niedergelegt,  zu  welchem  die  vorausgehen- 
den Abschnitte  in  einer  eben  so  lebendigen  als  unparteiischen 
Darstellung  geführt  hatten.  Es  sind  derselben  drei:  der  erste, 
überschrieben:  Reaction  ;  der  zweite:  Gentz  in  Preussen;  der  dritte: 
Gentz  in  Oesterreich.  Wenn  der  erste  Abschnitt  einleitender  Art 
ist  und  den  Standpunkt  darlegt,  welcher  überhaupt  bei  der  Beur- 
theilung  der  gesammten  Wirksamkeit  von  Gentz  nicht  aus  den 
Augen  zu  lassen  ist,  so  sind  es  zunächst  die  beiden  folgenden, 
welche  besonders  unser  Interesse  in  Anspruch  nehmen.  Mit  allem 
Recht  weist  der  Verf.  darauf  hin,  wie  man,  um  den  Charakter  von 
Gentz  richtig  zu  würdigen,  die  ganze  Entwicklung  des  Mannes,  vor 
Allem  die  Gesellschaft  in  den  letzten  Decennien  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  ins  Auge  zu  fassen  hat,  in  so  fern  eben  Gentz  als 
deren  ächter  Repräsentant  anzusehen  ist.  Deshalb  schildert  uns 
der  Verf.  das  Treiben  am  Berliner  Hofe  Friedrich  Wilhelm's  II. 
und  in  den  geselligen  Kreisen  der  prenssischen  Hauptstadt;  die 
seichte  Frivolität ,  den  üppigen  Ton,  die  scheinheilige  Gonusssucht, 
wie  sie  in  der  Berliner  Gesellschaft  sich  allerwärts  kund  gab.  Es 
war  nach  Mirabeau's  Urtheil  die  »Fäulniss  vor  der  Reife  gekom- 
men.« Gorade  Mirabeau,  der  wie  Irgend  Einer  das  Genie  Fricd- 
rich's  des  Grossen  erkannt  hat,  hat  auch  mit  aller  Klarheit  er- 
kannt, wie  die  preussischen  Zustände  damals  unhaltbar-  und  cor- 
rumpirt  geworden  waren.  Dass  Gentz  in  dieses  Treiben  mithin- 
eingerissen ward,  bis  die  französische  Revolution  und  der  Ernst 
des  Weltgerichts,  das  über  Frankreich  hereinbrach,  ihn  aufrüttelte, 
verschweigt  der  Verf.  keineswegs;  er  zeigt  vielmehr,  wie  die  so- 
ciale Stellung  von  Gentz  unhaltbar  geworden,  sein  Familienleben 
zerrüttet  war;  die  aus  dem  Nachlasse  Varnhagen's  veröffentlichten 
Tagebücher,  so  wio  der  Aufsatz  von  Haym  (in  Ersch  und  Gruber's 
Encyclopädie  I.  Bd.  57)  boten  hierzu  allerdings  eine  sichere  Grund- 
lage; völlig  neu  dagegen  und  aus  den  bisher  nicht  bekannten  Ur- 


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Mendelseohn-Bartholdy:  Friedrich  von  Gentz.  467 


künden  des  k.  k.  Staatsarchives  zu  Wien  dargelegt,  erscheint  die 
Genesis  der  Beziehungen  von  Gentz  zum  österreichen  Kabinet ;  die 
Schreiben  von  Gentz  an  Thugut  (S.  21),  Kobentzl  (S.  35)  und  vor 
Allem  das  merkwürdige  Memoire  von  Gentz  an  Kaiser  Franz  (S.  89) 
werfen  auf  dieses  Verhältniss  ein  völlig  neues  und  klares  Licht, 
und  werden  daher  besondere  Beachtung  verdienen. 

Mit  grösserer  Ausführlichkeit  verweilt  der  Verfasser  bei  dem 
preussischen  Feldzug  des  Jahres  1806.  Er  verwirft  die  Ansicht 
von  Ad.  Schmidt,  wornach  Preussen  schon  damals  >nationale  Po- 
litikc  getrieben  hat,  und  stellt  die  Politik  des  Grafen  Haugwitz 
als  unzuverlässig  und  schwach  hin ;  zugleich  zeigt  er  aber  auch, 
dass  Gentz  nicht  blos  stark  im  Verneinen  gewesen,  sondern  dass 
er  auch  ein  positives  Programm  der  Neugestaltung  Deutschlands 
aufgestellt  hat :  im  Gegensatz  zu  einem  Grafen  Haugwitz  erscheint 
der  Vertreter  der  österreichischen  Politik  selbst  in  glänzendem 
Lichte,  wie  diess  die  in  der  Anmerkung  S.  53  gegebene  Ausfüh- 
rung nachweist.  Es  wäre  Nichts  irriger,  als  Gentz,  wie  es  von 
Merckel  geschehen  ist,  der  Schadenfreude  zu  zeihen  Uber  die 
preussischen  Niederlagen;  Gentz  war  vielmehr  durch  die  Kata- 
strophe von  Jena  und  Auerstädt  so  niedergeschmettert,  wie  es  ein 
deutscher  Patriot  nur  immer  sein  konnte.  Wie  wenig  Gentz  über- 
haupt zu  heucheln  verstand  und  wie  wenig  er  sich  durch  officielle 
Rücksichten  bestimmen  liess,  ein  Blatt  vor  den  Mund  zu  nehmen, 
dafür  zeugt  sein  hartes,  unerbittliches  Urtheil  über  den  Feldzug 
Oesterreichs  im  Jahre  1809.  Wir  staunen  in  der  That,  wenn  wir 
die  Aeusserungen  von  Gentz  lesen,  wie  sie  der  Verf.  S.  63  mitge- 
teilt hat,  wir  sehen,  wie  Gentz  selbst  des  Kaiser's  Franz  nicht 
schonte,  wie  er  mit  Badetzki  ganz  kaltblütig  die  Frage  erörterte, 
welche  Vortheile  dem  Kaiserstaat  aus  einem  gänzlichen  Wechsel 
der  Dynastie  erwachsen  müssten,  wie  er  erzählt,  dass  selbst  bei 
Officieren  von  Auszeichnung  Gedanken  der  Art  Eingang  gefunden, 
and  wie  Graf  Stadiou  sein  Herz  bei  ihm  ausgeschüttet  u.  s.  w.  Da- 
mals wohl  hatte  sich  Gentz  die  Ueberzeugung  aufgedrängt,  dass, 
so  lange  nicht  ein  Wechsel  der  Persönlichkeiten  in  Wien  einge- 
treten, die  Macht  des  französischen  Gegners  nicht  gebrochen  wer- 
den könne;  und  doch  sah  er  bald,  wie  man  in  Wien  an  einen 
solchen  Wechsel  des  Systems  nicht  dachte,  sich  überhaupt  nicht 
entschließen  konnte,  an  grosse  staatsmännische  Aufgaben  zu  gehen. 
Im  Westen  zurückgeworfen  hätte  Oesterreich  nun  dem  Osten  seine 
Thätigkeit  zuwenden  und  alle  Kräfte  anspannen  müssen,  um  dort 
der  russischen  Propaganda  entgegen  zu  treten.  Aber,  wie  der  Verf. 
nachgewiesen  hat,  war  auch  nach  der  Besiegung  Napoleons  nach 
der  glücklichen  Schiedsrichterstellung,  welche  Oesterreich  in  Europa 
einnahm,  doch  Nichts  in  diesem  Sinne  geschehen,  und  Gentz  selbst, 
der  früher  so  klar  und  richtig  urtheilte,  hat  später  sich  ganz  den 
Anschauungen  Metternichs  anbequemt.  Wir  finden  in  dieser  Schrift, 
bei  dieser  Gelegenheit,  eigentlich  zum  erstenmal  die  österreichische. 


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468  MendelsBohn-Bartholdy:  Friedrich  von  Gent«. 


Politik  in  der  orientalischen  Frage  an  der  Hand  authentischer  Ur- 
kunden beleuchtet,  weshalb  wir  insbesondere  auch  darauf  aufmerk- 
sam machen.    Der  Verf.  zeigt  nämlich,  wie  in  Wien  der  Gedanke 
der  Legitimität  allerdings  überwog,  wie  Metternich  vor  Allem  in 
dem  Sultan  den  legitimen  Herrscher  erkannte,  uud  das  auf  Erobe- 
rung beruhende,  durch  Vertrage  besiegelte  Recht  der  Türken  ver- 
theidigte:  in  so  weit  stimmt  der  Verf.  im  Ganzen  wohl  mit  den 
Resultaten  überein,  zu  welchen  der  neueste  Geschichtschreiber  die- 
ser Ereignisse  mittelst  Benutzung   der  Akten   des  preussischen 
Staatsarchivs  gelangt  ist;  allein  gestützt  auf  die  in  den  Wiener 
Archiven  befindlichen,  bisher  noch  nicht  benutzten  Akten  ist  der 
Verf.  in  der  Lage  noch  etwas  weiter  zu  gehen ;  er  hebt  hier  auch 
die  verständige  Seite  der  Metternich'schen  Politik  hervor,  indem 
er  nachweist,  dass  die  von  allen  liberalen  Blättern  damals  so  hef- 
tig angegriffenen  Österreichischen  Staatsmänner ,  Metternich  und 
Gentz,  doch  wieder  die  Ersten  gewesen  sind,  welche  rein  und  voll 
die  Unabhängigkeit  Griechenlands  verlangten :  es  ist  diess  ein  Punkt, 
der  bisher  noch  nie  so  klar  und   bestimmt  hervorgetreten  ist. 
Metternich  sprach  sich  schon  Tatitschew  gegenüber  1821  und  später 
1825  entschieden  in  diesem  Sinn  aus,  freilich  fasste  or  diese  Un- 
abhängigkeit Griechenlands  nur  als  ein  nothwendiges  Uebel  aui ; 
jeder  andere  Ausweg  wäre  ihm  lieber  gewesen,  ja  er  hätte  es  am 
liebsten  gesehen,  wenn  sich  unter  den  Griechen  eine  monarchische 
Partei  gegründet  hätte ,  die  sich  für  Restauration ,  für  Rückkehr 
unter  das  Scepter  des  Sultans  ausgesprochen  (S.  89):  da  diess  nun 
nicht  geschah,  so  erschien  ihm  die  Unabhängigkeit  unter  andern 
Uebeln  noch  als  das  Erträglichste.  Der  Verf.  findet  das  Irrige  die- 
ser Politik  »in  der  hartnäckigen  Anwendung  abstrakter  Principien 
auf  eine  gegebene  Thatsache  des  Öffentlichen  Lebens«,  er  findet, 
dass  Gentz  und  Metternich  allzusehr  eine  Politik  der  Principien, 
aber  allzuwenig  eine  Politik  der  Interessen  verfolgt  haben,  und  in 
diesem  Sinne  schreibt  er  S.  103  ff. 

*  Gewiss  durfte  man  auch  in  den  orientalischen  Dingen  den 
Widerstreit  der  Principien  entdecken,  der  seit  1789  die  europäische 
Geschichte  bewegt  und  bestimmt  hat.  Statt  sich  aber  der  Furcht 
hinzugeben,  dass  die  demokratischen  Elemente  neue  Nahrung  aus 
jenem  Konflikt  ziehen  und  danach  streben  würden,  Europa  in  all- 
gemeinen Brand  zu  setzen,  hätte  man  andere  positive  Kombinatio- 
nen ins  Auge  fassen  können.  Statt  die  orientalische  Frage  ein- 
seitig aus  dem  starren  Gesichtspunkt  des  Erhaltungsprincips  zu 
betrachten,  hätte  man  versuchen  müssen,  sie  mit  Rücksicht  auf  die 
lobendigen  österreichischen  Interessen  zu  lösen.  Alles  hing  davon 
ab,  ob  die  österreichischen  Staatslenker  ihre  Aufgabe  höher  fass- 
ten,  als  dass  sie  blosse  Legitimität,  Erhaltung  des  Bestehenden  und 
Abwehr  des  Fortschritts  auf  ihre  Fahne  schrieben.  Tradition  und 
natürliche  geographische  Verhältnisse  weisen  dem  Kaiserstaat  die 
Rolle  des  Völkerführers  an  der  östlichen  Donau,  sie  weisen  ihm 


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Mcndelesohn-Bartholdy:  Friedrich  von  Gentz.  469 

die  Politik  zu,  die  er  seit  dem  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  ver- 
lassen und  die  er  erst  in  der  Gegenwart  wieder  aufgenommen  hat. 
Dass  Metternich  und  Gentz  die  österreichischen  Erbstaaten  von 
Deutschland,  von  dem  > Reiche c,  hermetisch  abschlössen  und  den 
flüssigen  Tendenzen  des  Westens  gleichsam  ein  Bollwerk  des  Er- 
haltungsprinzips entgegenstellten:  selbst  eine  solche  Politik  würde 
nicht  verdammt  werden  dürfen,  wenn  man  mit  dieser  kon- 
servativen Aufgabe  im  Westen  nur  die  richtige  Er- 
konntniss  der  progressiven  Aufgabe  verband,  die 
Oesterreich  im  Osten  zugefallen  ist.  Im  Osten  sollte  es 
Russland  den  Rang  ablaufen,  für  abendländische  Kultur  und  Ge- 
sittung Propaganda  machen.  Nur  so  konnte  es  seine  historische 
Mission  erfüllen  und  die  Welt  von  der  Nothwendigkeit  der  Existenz 
eine9  aus  so  verschiedeneu  Nationalitäten  gemischten  Staates  tiber- 
zeugen. Es  galt,  die  Sehnsucht  der  Völker,  welche  durch  die  Be- 
freiungskriege von  1813  und  1814  mächtig  angeregt  war,  nach 
einer  Seite  hin  zu  wenden,  wo  Oesterreichs  wichtigste  Interessen 
geschirmt,  wo  seine  militärische  Kraft  in  steter  üebung  gehalten 
werden  konnte,  nach  dem  Orient.  Dort  konnte  man  den  zudring- 
lichen Erbpräteudenten  der  Türkei  die  glänzendste  Hinterlassen- 
schaft streitig  machen,  die  je  einem  nationalen  Ehrgeiz  winkte, 
dort  zugleich  die  nationale  Fantasie  beschäftigen  und  durch  die 
Idee  von  Ruhm,  Macht  und  Grösse  die  Gemüther  gewinnen. c  — 
»Aber  Metternich  zog  vor,  über  die  Träume  der  Enthusiasten  zu 
lächeln  und  die  Ohnmacht  der  geistigen  und  gemüthlichen  Fakto- 
ren im  Volksleben  so  lange  vornehm  zu  bespötteln,  bis  er  im  Jahr 
1848  durch  die  Wiener  Studenten  sehr  unsanft  von  ihrer  Realität 
überzeugt  und  zu  schimpflicher  Flucht  gezwungen  ward.  Statt  den 
unruhigen  Elementen  und  den  jugendlichen  Brauseköpfen  im  Osten 
eine  für  Oesterreich  und  für  die  europäische  Civilisation  unendlich 
folgenschwere  Aufgabe  anzuweisen,  trat  er  im  Osten  gerade  wie  im 
Westen  auch  vor  jede%  ornsten  Verwickelung  zurück  und  ver- 
schanzte sich  mit  seinem  Vertrauten  Gentz  hinter  einer  Politik  des 
Abwartens  und  Erhaltens,  die  im  Grund  nur  die  Interessen  Russ- 
land's  förderten 

Gentz,  der  auch  im  Jahr  1805  auf  das  Entschiedenste  für  die 
östliche  Kulturmission  Oesterreichs  sich  ausgesprochen,  die  selbst 
in  einem  dem  Kaiser  Napoleon  von  Talleyrand  vorgelegten,  und 
selbst  nach  der  Schlacht  bei  Austerlitz  dringend  aber  fruchtlos 
empfohlenen  Plane,  nach  welchem  Oesterreich  für  seine  Verluste  in 
Deutschland  und  Italien  mit  der  Wallachei,  Moldau,  Bessarabien 
und  Nordbulgarien  entschädigt  werden  sollte,  gewissermassen  einen 
Anhaltspunkt  gewonnen  hatte,  Gentz,  der  selbst  noch  später,  im 
-Jahre  1808  eine  Betheiligung  Oesterreichs  bei  den  im  Orient  dro- 
henden Ereignissen  empfahl,  hat  später  sich  ganz  den  Anschauun- 
gen seines  hohen  Gönners  angeschlossen,  dessen  Politik  nicht  die 


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470 


» 

Baker:  Dor  Albert-Nyanza  und  die  Nilquellen.  II. 


eines  thUtigen  Eingreifens,  sondern  eines  ruhigen  Zuschauens,  zu 
einseitiger  Bewahrung  des  Erhaltungsprincips  war. 

Nicht  weniger  merkwürdig  ist  das,  was  der  Verf.  über  die 
letzte  Periode  des  Lobens,  S.  108 ff.  uns  vorführt.  Am  Abend 
seines  Lebens  trat,  wie  der  Verf.  bemerkt,  eine  Rückkehr  al  segno 
ein,  ein  Zurückgreifen  zu  den  freisinnigen  und  frischen  Tendenzen  der 
Jugend ;  und  während  er  von  Neuem  sich  in  die  Genüsse  des 
Lebens  stürzte,  so  konnte  doch  die  Julirevolution  des  Jahres  1830 
nicht  spurlos  an  ihm  vorübergehen.  »Das  auf  dem  Wiener  Con- 
gress  begründete  politische  System,  ein  Werk  des  Fürsteu  Metter- 
nich, wankte  und  drohte  aus  allen  Fugen  zu  gehen.  Um  so  be- 
zeichnender ist,  dass  öentz  sich  jetzt  damit  begnügte,  zur  Duldung 
des  konstitutionellen  Systems  zu  rathen  und  auf  das  Entschiedenste 
vor  jedem  Principienkrieg  warnte«  (S.  111).  Nicht  anders  war 
seine  Haltuug  zu  der  Zeit  des  polnischen  Aufstandes,  da  er  sogar 
•in  Memoire  zu  Gunsten  der  Polen  verfassto,  wenn  er  auch  nach 
dem  Falle  Warschau' s  das  gescheiterte  Unternehmen  als  Unbeson- 
nenheit bezeichnete.  Der  Verf.  zeichnet  die  politische  Wandelung, 
die  in  dem  Manne  vor  sich  gegangen,  mit  den  Worten:  »Der 
fanatische  Doctrinär  des  Legitimitätssystems  hatte  sich'  in  einen 
politischen  Eklektiker  verwandelt,  die  ehemalige  reaktionäre  Sieges- 
zuversicht war  völlig  verschwunden  und  es  tauchten  dagegen  selbst 
Merkmale  bedeutsamen  Antheils  an  der  gegnerischen  Sache  empor. 
—  Es  lag  in  dieser  Wandelung  der  Keim  des  Gegensatzes  zu  der 
bisher  vertretenen  Politik  des  Fürsten  Metternich  viel  deutlicher 
entwickelt,  als  man  gewöhnlich  meint«  (S.  117).  Aus  diesen  Mit- 
theilungon ,  die  wir  nicht  weiter  fortsetzeil  wollen ,  mag  die  Be- 
deutung der  ganzen  Schrift  erhellen,  ohne  dass  es  noch  weiterer 
Belege  bedürfte  zur  Rechtfertigung  des  oben  ausgesprochenen  Ur- 
theils,  das  in  dem  Inhalt  der  Schrift  wie  in  der  Darstellung  hin- 
reichend seine  Begründung  findet. 


Der  Albert  Nyanza,  das  grosse  Becken  des  NU  und  die  Er- 
fonchunp  der  Nilquellen  von  Samuel  White  Baker,  Au- 
to risirte  vollständige  Ausgabe  für  Deutschland.  Aus  dem  Eng- 
lischen von  J.  E.  A.  Martin,  Ctulos  der  Universitätsbiblio- 
thek su  Jena,  Nebst  33  Illustrationen  in  Holzschnitt  1  Chrono- 
Hihographie  und  zwei  Karlen,  Zweiter  Band.  Jena.  Her- 
mann Costenoble  1867,  VJIJ  u.  303  S.  in  gr'  8. 

Wir  hatten  in  diesen  Jahrbüchern  (S.  318  ff.  Nr.  20)  kaum 
den  ersten  Tbeil  dieses  wichtigen  Reisewerkes  besprochen,  als  uus 
der  zweite  zukommt,  welcher  die  Fortsetzung  des  Reiseberichts 
enthält  und  das  Endziel  der  ganzen  mit  unsäglichen  Beschwerden 
und  Gefahren  verknüpften  Reise  uns  vorführt:  die  endliche  Ent- 


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Baker!  Der  Albert-Nyan»  und  die  Nilquellen.  II. 


471 


deckung  des  seit  Jahrhunderton,  ja  Jahrtausenden  gesueliten  Ur- 
sprungs des  Nil;  wir  haben  daher  um  so  mehr  die  Verpflichtung 
unsere  Leser  mit  dem  Inhalt  dieses  Bandes  näher  bekannt  zu 
machen.  Auch  dieser  Band  ist  reich  an  mannichfachen  Erlebnissen, 
an  Gefahren  jeder  Art,  die  indess  so  wenig  als  öftere  Krankheits- 
anfiille,  den  kühnen  Reisenden  und  seine  Gattin  abschrecken 
konnten,  Alles  daran  zu  setzen,  das  noch  nicht  erkannte  Endziel  zu 
erreichen  und  damit  des  Ruhmes  theilhaftig  zu  sein,  die  vielge- 
suchten und  viel  besprochenen  Quellen  des  Nil  entdeckt  zu  haben. 
»Der  Reisende  ist  hier,  unter  dem  Schutz  der  göttlichen  Vorsehung, 
ganz  auf  sich  selbst  gewiesen  und  muss  sich  und  seine  Mittel  den 
Umständen  anpassen«  (S.  62). 

Die  zwei  ersten  Kapitel,  das  zehnte  und  eilfte,  enthalten  die 
Fortsetzung  der  Reise  bis  zu  der  Nähe  des  Albort  Nyanza,  zu  dessen 
Entdeckung  das  folgende  zwölfte  Kapitel  führt.  Es  war  am  14.  März, 
als  nach  so  viel  schwerer  Arbeit  und  gefahrvollen  Krankheitsan- 
fällen dieses  Ziel  erreicht  ward.  >Die  Sonne,  so  schreibt  der  Verf. 
S.  81,  war  noch  nicht  aufgegangen ,  als  ich  meinem  Ochsen  die 
Sporen  gab  und  dorn  Führer  nacheilte,  der,  weil  ich  ihm  bei  der 
Ankunft  am  See  eine  doppelte  Hand  voll  Perlen  versprochen,  die 
Begeisterung  des  Augenblicks  ergriffen  hatte.  Der  schöne  heitere 
Tag  brach  an,  und  nachdem  wir  ein  zwischen  den  Hügeln  liegen- 
des tiefes  Thal  tiberschritten  hatten,  arbeiteten  wir  uns  mühsam 
den  gegenüberliegenden  Abhang  hinauf.  Ich  eilte  auf  die  höchste 
Spitze.  Unser  prachtvoller  Preis  sprang  mir  plötzlich  in  die  Augen  I 
Dort  lag,  gleich  einem  Quecksilbermeer,  tief  unten  die  grossartigste 
Wasserfläche  —  im  Süden  und  Südwesten  ein  grenzenloser  See- 
horizont, glänzend  in  der  Mittagssonne,  und  im  Westen  erhoben 
sich  in  einer  Entfernung  von  fünfzig  bis  sechzig  Meilen  blaue  Berge 
aus  dem  Busen  des  Sees  bis  zu  einer  Höhe  von  etwa  7000  Fuss 
über  seinem  Wasserstand. 

Den  Triumph  jenes  Augenblicks  zu  beschreiben,  ist  unmöglich  ; 
—  hier  lag  der  Lohn  für  alle  unsere  Arbeit  —  für  dio  jahrelange 
Zähigkeit,  mit  welcher  wir  uns  durch  Afrika  hindurchgeplagt  hatten. 
England  hatte  die  Quellen  des  Nil  orobort !  Lange  zuvor,  ehe  ich  diese 
Stelle  erreicht,  hatte  ich  mir  vorgenommen,  zu  Ehren  der  Entdeckung 
mit  unserer  ganzen  Mannschaft  drei  Hurrahs  in  englischor  Weise  zu 
rufen;  aber  jetzt,  wo  ich  hinabschauto  auf  das  grosse  Binnenmeer, 
das  gerade  im  Herzen  Afrika's  eingenistet  lag,  wo  ich  daran  dachte, 
wie  vergebens  die  Menschheit  so  viele  Jahrhundorte  hindurch  diese 
Quellen  gesucht,  und  erwog,  dass  ich  das  geringe  Werkzeug  gewesen, 
dem  es  verstattet  war,  diesen  Theil  des  grossen  Geheimnisses  zu  ent- 
hüllen, während  es  so  Vielen,  die  grösser  als  ich,  misslang,  da  war 
ich  zu  ernst  gestimmt,  um  meinen  Gefühlen  in  eitlem  Hurrahge- 
schrei für  den  Sieg  Luft  zu  machen,  und  dankte  aufrichtig  Gott, 
dass  er  uns  durch  alle  Gefahren  zum  guten  Ende  geführt  und  uns 
beigestanden  hatte.  Ich  stand  etwa  1500  Fuss  über  dem  See  und 


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472  Baker:  Der  Albert-Nyanza  und  die  Nil  quellen.  II. 

blickte  von  der  steilen  Granitklippe  hinab  auf  diese  willkommenen 
Wasser  —  auf  jenen  Ungeheuern  Behälter,  der  Aegypten  ernährte 
und  Fruchtbarkeit  brachte,  wo  Alles  Wildniss  war  —  auf  jene 
grosso  Quelle  der  Güte  und  des  Segens  für  Millionen  menschlicher 
Wesen,  und  als  einen  der  grössten  Gegenstände  in  der  Natur  be- 
scbloss  ich  sie  mit  einem  grossen  Namen  zu  ehren.  Zum  unver- 
gänglichen Andenken  an  einen  von  unserer  gnädigsten  Königin  ge- 
liebten und  betrauerten  und  von  jedem  Engländer  beweinten  Für- 
sten nannte  ich  diesen  grossen  See  »den  Albert  N'yanza«.  Die 
Seen  Victoria  und  Albert  sind  die  beiden  Quollen  des  Nil«.  Nach- 
dem man  den  steilen  und  nicht  gefahrlosen  Abhang  zu  dem  Ge- 
stade des  Seo's  herabgestiegen  war,  erkannte  man  erst  recht  die 
Bedeutung  des  endlich  erreichten  Ziels.  »Der  erste  Blick,  schreibt 
der  Verf.  weiter  S.  88,  von  der  1500  Fuss  über  dem  Wasser- 
spiegel liegenden  Spitze  der  Klippe  hatte  vermuthen  lassen,  was 
eine  nähere  Prüfung  bestätigte.  Der  See  war  eine  ungeheure  Ein- 
senkung  weit  unter  das  allgemeine  Niveau  des  Landes,  von  jähen 
Klippen  umringt  und  im  Westen  und  Südwesten  von  grossen  Berg- 
ketten begrenzt,  die  sich  fünf-  bis  siebentausend  Fuss  über  den 
Stand  seiner  Wasser  erhoben  —  er  war  daher  der  eine  grosse  Be- 
hälter, in  welchen  alles  Wasser  abflicssen  mussto,  und  aus  die- 
ser Ungeheuern  Felsencisterne  nahm  der  Nil  seinen  Ausgang,  ein 
Riese  schon  bei  seiner  Geburt.  Für  die  Geburt  eines  so  gewalti- 
gen und  wichtigen  Stroms  wie  der  Nil  hatte  die  Natur  eine  gross- 
artige Einrichtung  getroffen.  Spekels  Victoria  N'yanza  bildete  einen 
Wasserbehälter  in  bedeutender  Höhe,  welcher  durch  den  Kitangulä- 
Strom  den  Abfluss  von  Westen  aufnahm,  und  Speke  hatte  in  gros- 
ser Entfernung  den  M'Fumbiroberg  als  eine  Spitze  zwischon  ande- 
ren Bergen  gesehen ,  von  denen  die  Flüsse  herabkamen ,  welche 
durch  ihre  Vereinigung  den  Hauptstrom  Kitaugul£,  den  vorzüg- 
lichsten Speisekanal  des  Victoriasee's  von  Westen  her,  unter  etwa 
2°  südlicher  Breite  bildeten ;  dieselbe  Bergkette,  welche  den  Victoria- 
see im  Osten  speiste,  musste  daher  auch  eine  Wasserscheide  nach 
Westen  und  Norden  haben,  die  in  den  Albertsee  floss.  Da  der 
allgemeine  Abfluss  des  Nilbeckens  von  Süden  nach  Norden  gerich- 
tet ist  und  der  Albert  sich  viel  weiter  nach  Norden  erstreckt  als 
der  Victoriasee,  so  nimmt  er  den  Fluss  aus  dem  letzteren  auf  und 
reisst  also  die  ganzen  Quellwapsser  des  Nil  allein  an  sich.  Der 
Albert  ist  der  grosse  Behälter,  während  die  Victoria  die  Östliche 
Quelle  ist.« 

So  konnte  nun,  da  das  Ziel  erreicht,  und  die  Aufgabe  gelöst 
war,  an  die  Rückreise  gedacht  werden,  um  vor  Ende  April  Gon- 
dokoro  wiedor  zu  erreichen  und  dadurch  die  Möglichkeit  zu  ge- 
winnen, von  danach  England  zurückzukehren.  Während  dieTuiere 
mit  dem  Gepäck  auf  einem  Umwege  zu  Lande  auf  den  Anhöhen, 
welche  den  See  von  der  Ostseite  umgeben  und  an  manchen  Stellen 
so  schroff  ins  Wasser  fallen,  dass  nahe  am  See  den  Weg  zu  neh- 


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Baker:  Der  Albert-Nyanza  und  die  Nilquellen.  II. 


473 


men  nicht  möglich  war,  hingeführt  wurden,  bestieg  die  Reisege- 
sellschaft ein  Boot,  das  eigentlich  nichts  als  ein  ausgehöhlter  Baum- 
stamm war,  aber  etwas  confortäbler  eingerichtet  wurde,  nament- 
lich durch  ein  theilweise  darüber  gespanntes  Dach,  um  so  den  Weg 
längst  der  Küste  des  Sees  zurückzulegen  in  gerader  nördlicher 
Richtung  bis  nach  Magnngo,  wo  der  Victoria-Nil  oder  der  Abfluss 
des  Victoria-Nyanza  mit  dem  Albert-Nyanza  sich  verbindet;  dort 
gedachte  man  auch  mit  den  zu  Lande  dahin  geschickten  Thieren 
zusammenzutreffen.  In  dreizehn  Tagen  ward  die  Fahrt  vollendet, 
die  durch  einen  heftigen  Sturm ,  der  das  Boot  überfiel ,  nicht  ge- 
fahrlos war ,  sonst  aber  des  Interessanten ,  auch  zur  näheren  Be- 
trachtung des  grossen  von  Flusspferden  und  Krokodilen  angefüll- 
ten Sees  nicht  wenig  bot.  Nachdem  die  Umgebungen  des  See's  bei 
Magungo  näher  untersucht  waren,  ward  der  Weg  den  Victoria-Nil 
aufwärts  eingesehlagen  und  zwar  zu  Lande,  da  der  Fluss  wegen 
der  steten  Stromschwellen  bis  Karumna  nicht  zu  passiren  ist.  Von 
da  an  in  nordwestlicher  Richtung  durch  meist  unbewohnte  Prärien 
oder  Sumpfland  erreichte  man  endlich  den  Nil  wieder  bei  Apuddo, 
und  nun  wurde  der  Weg,  und  zwar  zu  Lande,  in  stets  nördlicher 
Richtung  nach  Gondokoro  eingeschlagen,  das  auch  glücklich  er- 
reicht ward.  Aber  ohne  manche  Zwischenfalle  fand  auch  dieser 
Theil  der  Reise  nicht  statt,  und  wir  verweisen  deshalb  lieber  auf 
die  lebendige  Darstellung  des  Verfassers,  der  in  diesem  Theilo  wie 
auch  in  dem  noch  folgenden  Theilo  vielfach  die  Frage  nach  dem 
Sclavenhandel  berührt,  dessen  strenge  Unterdrückung  er  dringend 
zum  Wohle  der  Menschheit  und  zur  Sittigung  des  Landes  selbst 
verlangt.  Die  Tbatsacben ,  die  hier  angeführt  werden  und  auf 
Autopsie  beruhen,  sind  auch  wahrhaftig  so  arg  und  so  schauder- 
erregend zum  Theil,  dass  man  wohl  den  gerechten  Unwillen  des 
Verfassers  begreift  und  seinen  Vorschlugen  zur  Abhülfe  dieses  gräu- 
lichen Uebels  gern  zustimmt. 

Die  Abfahrt  von  Gondokoro  nach  Khartum  gibt  dem  Verf. 
Gelegenheit,  nochmals  einen  Rückblick  zu  werfen  auf  das  durch- 
wanderte Land  und  die  durch  die  Wanderung  erzielten  Resultate. 
»Der  Nil,  schreibt  er  S.  256,  von  seinem  Geheimniss  befreit,  löst 
sich  in  einen  verhältnissniässig  einfachen  Strom  auf.  Das  wirkliche 
Becken  des  Nil  liegt  etwa  zwischen  dem  22°  und  39°  östlicher 
Länge  und  erstreckt  sich  vom  3°  südlicher  bis  zum  18°  nördlicher 
Breite.  Der  Wasserabfiuss  dieses  ungeheuren  Raumes  wird  von  dem 
ägyptischen  Flu3se  aliein  in  Anspruch  genommen.  Dil  Seen  Victoria 
und  Albert,  die  beiden  grossen  Aequatorial-Wasserbehälter,  neh- 
men alle  Flüsse  auf,  die  südlich  vom  Aequator  dem  Nil  zuströmen; 
der  Albertsce  ist  der  grosse  Behälter,  in  welchem  sich  ausser  den 
Nebenflüssen,  die  von  den  blauen  Bergen,  nördlich  vom  Aequator, 
sich  ergiessen,  das  ganze  von  Süden  her  kommende  Wasser  con- 
centrirt.  Der  Albert  N'yanza  ist  das  grosse  Bassin  des  Nil;  der 
Unterschied  zwischen  ihm  und  dem  Victoria  N'yanza  ist  der,  dass 


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474  Baker:  Der  Albert-Nyanza  und  die  Nilquellen.  II. 

der  Victoriasee  ein  Behälter  für  die  östlichen  Nebenflüsse  ist,  und 
er  wird  an  der  Stelle,  wo  der  Fluss  am  Ripon-Wasserfall  aus  ihm 
heraustritt,  ein  Ausgangspunkt  oder  die  am  höchsten  gelegene 
Quelle  desselben;  der  Albertsee  ist  ein  Behälter,  der  nicht  nur 
die  westlichen  und  südlichen  Nebenflüsse  direct  von  den  blauen 
Bergen  empfängt,  sondern  er  nimmt  auch  das  Wasser  aus  dem 
Victoriasee  und  aus  dem  ganzen  Aequatorial-Nilbecken  auf.  Der 
Nil,  wie  er  aus  dem  Albert  N'yanza  hervorgeht,  ist  der  ganze 
Nil;  vor  seiner  Geburt  aus  dem  Albertsee  ist  er  nicht  der  ganze 
Nil.  Ein  Blick  auf  die  Karte  wird  sogleich  die  relative  Bedeutung 
der  beiden  grossen  Seen  zeigen.  Der  Victoriasee  sammelt  alles  auf 
der  östlichen  Seite  befindliche  Wasser  und  giesst  es  in  das  nördliche 
Ende  des  Albertsees,  wahrend  der  letztere,  seiner  Beschaffenheit  und 
Lage  nach,  das  unmittelbare  Bett  des  Nil  ist,  welches  alles  Was- 
ser aufnimmt,  das  zu  dem  Aequatorial-Nilbecken  gehört.  Der 
Victoriasee  ist  daher  die  erste  Quelle;  aber  aus  dem  Albertsee 
tritt  der  Fluss  sogleich  als  der  grosse  weisse  Nil.«  Damit  ist  nach 
des  Verfassers  Ansicht  die  seit  Ptolemaus  gestellte  Frage  über  die 
Quellen  des  Nil  gelöst,  und  die  Angabe  dieses  alten  Geographen, 
welcher  den  Fluss  aus  zwei  grossen  Seen  hervorströmen  lasst, 
welche  den  Schnee  der  in  Aethiopieu  liegenden  Berge  aufnahmen, 
gerechtfertigt. 

Wir  unterlassen  es,  Alles  Andere  anzuführen,  was  hier  noch 
weiter  zur  näheren  Kenntniss  dieses  Beckens  des  Nil  bemerkt  wird, 
um  noch  einen  andern  Gegenstand  zu  berühren,  der  eben  so  nahe 
liegt,  die  Frage  nach  den  natürlichen  Hilfsquellen  dieser  ausge- 
dehnten Flächen,  die  dieser  Theil  Centraiafrikas  in  sich  begreift. 
Der  Verf.  hat  diese  Frage  in  Folgendem  beantwortet  (S.  262): 

>E8  ist  schwer  zu  glauben,  dass  ein  so  herrlicher  Boden  und 
eine  so  ungeheure  Strecke  Landes  bestimmt  sei,  ewig  im  Zustande 
der  Wildheit  zu  bleiben,  und  doch  kann  man  kaum  an  die  Möglichkeit 
denken,  dass  es  in  einem  Theile  der  Welt,  welcher  von  Wilden 
bewohnt  ist,  deren  Glück  in  Müssiggang  oder  Krieg  besteht,  besser 
werden  könne.  Der  Vortheile  sind  wenige,  der  Nachtheilo  viele. 
Die  ungeheure  Entfernung  von  der  Meeresküste  würde  den  Trans- 
port jeder  Waare,  wenn  sie  nicht  einen  ausserordentlichen  Werth 
hat,  unmöglich  machen,  da  die  Kosten  unerträglich  sein  würden. 
Die  Naturprodukte  sind  ausser  Elfenbein  nichts.  Da  der  Boden 
fruchtbar  und  das  Klima  zum  Anbau  günstig  ist,  so  würden  alle 
tropischen  Produkte  gedeihen  ;  —  Baumwolle,  Kaffee  und  das  Zucker- 
rohr sind  einheimisch;  abor  obgleich  Klima  und  Boden  günstig 
sind,  so  fehlen  doch  die  zu  einem  erfolgreichen  Unternehmen  not- 
wendigen Bedingungen;  —  die  Bevölkerung  ist  spärlich  und  das 
Material  das  alierschlcchtesto ;  die  Menschen  sind  lasterhaft  und 
faul.  Das  Klima,  obgleich  für  Landwirtschaft  günstig,  ist  der 
europäischen  Körperbeschaffenheit  zuwider;  von  Ansiedelung  kann 
daher  keine  Kede  sein.    Was  lässt  sich  bei  einer  so  hoflnungs- 


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Opel:  Wallenatein  im  Stift  Halberstadt.  475 


losen  Aussicht  thun?  Wo  das  Klima  für  Europäer  verderblich  ist, 
von  woher  soll  die  Civilisation  eingeführt  werden?  Das  Herz  Afrika's 
ist  so  vollständig  von  der  Welt  abgeschlossen,  und  die  Verkehrs- 
mittel sind  so  schwierig,  dass  trotz  der  Fruchtbarkeit  die  geogra- 
phische Lage  jene  ungeheure  Strecke  Landes  an  der  Verbesserung 
hindert.  So  von  der  Civilisation  ausgeschlossen ,  ist  sie  ein  Feld 
für  zügellose  Greuel  gewordon,  wie  die  Thaten  der  Elfenbeinhiind- 
ler  beweisen.« 

Aber  das  Haupthinderniss  einer  jeden  Besserung  solcher  Zu- 
stünde findet  der  Verfasser  in  dem  Sclavonhandel,  der  wie  ein  wah- 
rer Flucli  auf  diesem  Lande  lastet!  »Afrika  ist  verflucht,  ruft  er 
aus,  und  es  kann  auf  keine  Stufe  emporgehoben  werden,  die  sich  der 
Civilisation  nähert,  bis  der  Sclavenhaudel  gauz  unterdrückt  ist. 
Der  erste  Sehritt,  der  zur  Verbesserung  der  wilden  Stämme  des 
weissen  Nil  notliwendig  ist,  ist  die  Vernichtung  des  Sclavenhandels. 
Bis  diese  herbeigeführt  ist,  lässt  sich  kein  gesetzlicher  Handel  be- 
gründen, und  gibt  es  für  Missionsuntnrnclimuugen  gar  keine  Aus- 
sicht; das  Land  ist  gegen  alle  Verbesserung  versiegelt  und  ver- 
schlossen.« 

Wir  schliessen  damit  unseren  Bericht  über  ein  Reisewerk,  das 
nicht  blos  manchen  neuen  Aufschluss,  manche  neue  Belehrung 
bringt,  sondern  auch  eine  sehr  angenehm  unterhaltende  Lectüre 
bietet  durch  lebendige  Schilderungen  jeder  Art,  welche  die  Ueber- 
setzung  im  Deutschen  gut  wiederzugeben  gewusst  hat.  Noch  haben 
wir  der  artistischen  Beigaben  und  der  schönen  äusseren  Ausstat- 
tung des  Ganzen  zu  gedenken.  Die  beigefügte  Karte  lässt  uns  den 
Zug  der  Reisenden  auf  das  genaueste  verfolgon  und  gibt  ein  rich- 
tiges Bild  der  durchwanderten,  grossentheils  bisher  fast  ganz  un- 
bekannten Landstrecken.  Unter  den  Illustrationen  erwähnen  wir 
nur  das  dem  Titel  beigegebene  Bild  der  Murchison- Wasserfälle  von 
dem  Victoria-Nil  bis  zu  dem  Niveau  des  Albertsee's  in  der  Höhe 
von  etwa  120  Fuss;  oder  das  Bild  des  auf  dem  Albertsee  erlebten 
Sturmes. 


Wallemfein  im  Stift  Halberstadt  1625—1626.  Von  J.  0.  Opel. 
Halle,  \ 'erlag  der  Buchhandlung  des  Waisenhaus?  s.  186*6'.  99  8, 
gr.  8, 

Diese  Schrift  ist  als  ein  wohl  zu  beachtender  Beitrag  zu  der 
Geschichte  des  droissigjährigen  Krieges  zu  betrachten,  eben  so  wie 
sie  auch  beitragen  kann  zu  der  persönlichen  Würdigung  Wallen- 
stein's,  und  zur  Vervollständigung  des  Bildes,  welches  man  in 
neuerer  Zeit  von  diesem  Feldherrn  aufzustellen  versucht  hat.  Es 
wird  dieses  Bild  aber  keineswegs  so  günstig  ausfallen,  wenn  man 
in  dieser  Schrift  die  Schilderung  der  gewaltigen  Erpressungen  durch- 
geht, welchon  das  durch    die  Occupation  des  Wallenstoin'scben 


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476 


Opel:  Wallenstein  im  Stift  Halberstadt. 


Heeres  bedrängte  Stift  Halberstadt  damals  ausgesetzt  war :  und  da 
hier  Alles  unmittelbar  aus  den  Quellen  selbst ,  den  noch  vorhan- 
denen Akten  des  Domcapitels,  und  einem  zu  Leipzig  in  der  Rechts- 
bibliothek befindlichen  Aktenfascikel  entnommen  ist,  auch  in  dem 
Anhang  ein  Abdruck  einer  Anzahl  dieser  Urkunden  gegeben, 
Vieles  Andere  der  Art  aber  in  die  Darstellung  selbst  eingoflochten 
ist,  so  kann  über  die  Richtigkeit  der  einzelnen  Angaben  auch  nicht 
der  geringste  Zweifel  obwalten.  Die  Auflagen,  die  dem  Lande 
wie  einzelnen  Personen  gemacht  wurden,  erinnern  an  Manches,  was 
in  den  Napoleonischen  Kriegen  die  einzelnen  Feldherrn  dosselben 
sich  erlaubt  haben  (man  denke  nur  an  Davoust  in  Hamburg  oder 
Soult  in  Spanien),  und  stellen  den  obersten  Führer  des  Heeres, 
auf  dessen  Anordnung  dioss  Alles  geschah,  in  keinem  besseren  Lichte 
dar,  zumal  da  das,  was  hier  berichtet  wird,  dem  gar  nicht  unähn- 
lich ist,  was  auch  aus  andern  Theilen  Deutschlands,  welche  den  Kriegs- 
schauplatz abgaben,  aus  ahnlichen  Quellen  zu  unserer  Kunde  ge- 
langt ist.  Es  geht  auch  daraus  hervor,  wie  wenig  die  Mittel  einer 
streng  militärischen  Disciplin  in  Anwendung  gebracht  wurden,  und 
»die  Thatsache  steht  fest,  dass  Wallenstein  bereits  jetzt  nicht  ein- 
mal mehr  den  Versuch  machte,  seine  ungeordneten  Heerhaufen  durch 
den  Geist  einer  strengen  militärischen  Disciplin  zu  einem  wohlge- 
gliederten, die  Intentionen  des  Führers  in  strenger  Folgsamkeit 
verwirklichenden  Ganzen  zu  machen  €  (S.  60).  Wenn  der  Verf.  diess 
in  so  fern  zu  Gunsten  Wallensteins  zu  deuten  versucht,  als  er  es 
aus  der  Natur  des  damaligen  Söldnerwesens,  und  der  Art  dor 
Kriegführung  zu  erklären  sucht,  indem  nur  auf  diese  Weise  es  mög- 
lich gewesen,  die  zügellose  Soltadeska  zusammenzuhalten,  deren 
Gier  man  das  Land  selbst,  das  sie  zu  ernähren  hatte,  preis  gab, 
so  mag  er  wohl  Recht  haben,  da  ja  auch  auf  dor  entgegengesetzten 
Seite  Aehnliches  vorkommt,  wenn  auch  nicht  in  dem  Grade,  wie 
bei  Wallenstein,  der  mit  seinem  Heere  eine  in  dieser  Hinsicht 
Allos,  was  vorkam,  überragende  Stellung  einnimmt:  aber  auf  den 
Feldherrn  selbst  wird  es  kein  günstiges  Licht  werfen  und  noch 
weniger  zur  Entschuldigung  für  sein  persönliches  Verhalten  dienen 
können.  Und  darum  können  wir  auch  die  Ansicht  nicht  theilen, 
welche  Wallenstoin  selbst  nicht  als  den  eigentlichen  Urheber  dieser 
alles  Mass  übersteigenden  Erpressungen  und  der  dadurch  herbeigeführ- 
ten Leiden  des  Stiftes  ansehen  will,  sondern  Alles  aufden  Kaiser  Fer- 
dinand II.  werfen  will ,  der  ihm  den  Coramandostab  in  die  Hand 
gegeben,  als  er  sich  anheischich  gemacht,  auf  eigene  Kosten  eine 
Armee  zu  werben.  Die  späteren  Ereignisse  haben  hinreichend  ge- 
zeigt, wie  vollkommen  frei  und  unabhängig  Wallenstein  in  allen 
solchen  Dingen  handelte,  ohne  sich  um  den  Kaiser  irgendwie  zu 
bekümmern.  1 


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Gerlach:  Leben  und  Dichtung  des  Horas. 


477 


Leben  und  Dichtung  des  Horas.  Ein  Vortrag  von  Fr.  Dor.  Ger- 
lach, Professor  der  alten  Literatur.  Basel.  Bahnmaier's  Ver- 
lag (C.  DetlofT)  1867.  39  S.  gr.  8. 

So  Vieles  auch  in  alter  und  neuer  Zeit  Über  den  Dichter  ge- 
schrieben worden  ist,  welcher  den  Gegenstand  dieser  Schrift  bildet, 
man  wird  doch  gern  zu  diesem  fUr  ein  grösseres  gebildetes  Publi- 
kum gehaltenen  Vortrag  greifen  und  sich  an  dem  lebenvollen  Bilde 
laben,  das  uns  hier  vorgeführt  wird,  bestimmt  zugleich  >den  viel- 
gelesenen, viel  bekrittelten  und  vielgeschmähten  Dichter  dem  rich- 
tigen Verständniss  und  dem  Bewusstsein  der  Gegenwart  näher  zu 
führen«  (S.  5).  Und  diesen  Zweck  hat  der  Verfasser  durch  seine 
treffende  Schilderung  dor  Persönlichkeit  des  Dichters,  die  Dar- 
legung seiner  Lebensverhältnisse  wie   die  Charakteristik  seiner 
einzelnen,    mit   durch    diese   Verhältnisse   hervorgerufenen  oder 
doch  dadurch  mit  bestimmten  Dichtungen  erreicht,  so  dass  auch 
der  Mann  des  Faches  gern  bei  dieser  Darstellung  verweilt  und 
in  der  richtigen  Auffassung  aller  der  Verhältnisse,  unter  denen 
Horatius  dichtete,   so  wie  dor  daraus  hervorgehenden  richtigen 
Würdigung   seines    Charakters   wie    seiner   poetischen  Leistun- 
gen eine  Befriedigung  findet,  die  ihn  entschädigen  mag  für  die 
Zerrbilder  Horazischer  Poesie,   welche   die  neueste  Kritik  auf- 
zubringen gewusst  hat.  Und  wohl  mag  ihn  diess  veranlasst  haben, 
einem  solchen  Verfahren  gegenüber  ein  treues  Bild  des  Dichters 
und  seiner  Poesie  aufzustellen,  an  deren  Fortleben  der  Dichter  selbst 
seinen  unumwundenen  Glauben  ausgesprochen  hat.    »Er  wird  ge- 
lesen, bewundert  und  verstanden,  so  weit  die  europäische  Bildung 
sich  erstrecket;  sein  Name  wird  bleiben,  so  lange  die  ächte  Wis- 
senschaft in  Ehren  steht,  er  wird  gepriesen  werden,  so  lange  die 
Weisheit  des  Alterthums  geachtet  wird.    Mögen  Andero  mit  dem 
Materialismus  sich  vergnügen  oder  ihn  beklagen ;  mögen  Sophisten 
und  Dilettanten  durch  Tändeleien  und  Geschwätz  den  Sinn  der 
Jugend  verirren  und  entnerven,  als  ewige  Quelle  geistiger 
Verjüngung  bleibt  das  Alterthum.«    Also  der  Verf.  am 
Schlüsse  seines  auch  mit  gelehrten  Nachweisen  in  den  Beilagen 
ausgestatteten  Vortrages,  welchen  wir  allen  Fremden  des  alton 
Dichters  bestens  hiemit  empfehlen. 


Friderici  Ritschelii  Opuscula  philologica.  Volumen  /;  ad  Hie- 
ras Graecas  spectantia.  Fasciculus  IL  Lipsiae  in  aedibus  B. 
G.  Teubneri  MDCCCLXVIJ.  8.  449—851  in  gr.  8. 

Dom  ersten  Fascikel,  welchor  in  diesen  Jahrbb.  S.  283 ff. 
besprochen  ward,  ist  alsbald  der  zweite  gefolgt,  mit  dem  der 
erste  Band  seinen  Abschluss  erreicht  hat.  Was  a.  a.  0.  über  die 
Anlage  und  Einrichtung  dieser  Sammlung  und  die  dabei  befolgten 


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478  Ritechriii  Opusc.  philologg. 

• 

Grundsätze  bemerkt  worden  ist,  gilt  auch  von  dieser  Fortsetzung, 
insofern  auch  hier  nicht  anders  verfahren  worden  ist,  so  dass  über 
diesen  Punkt  nichts  weiter  zu  bemerken  nöthig  sein  wird.  Was 
den  luhalt  dieser  zweiten  Abtheilung  mit  fortlaufender  Seitenzahl 
betrifft,  so  wird  man  unter  den  siebenzehn  Nummern  (XVI  bis 
XXXII),  welche  den  Bestand  dieses  Heftes  ausmachen,  kaum 
eine  finden,  welche  ohne  erörternde  oder  vervollständigende  Zu- 
sätze geblieben  ist,  die  bei  manchem  Aufsatze  um  so  erwünschter 
waren,  als  sie  Bezug  nehmen  auf  die  weiteren  Ausführungen,  welche 
durch  den  Inhalt  des  Aufsatzes  später  hervorgerufen  worden,  oder 
auf  die  Anwendung,  welche  von  den  kritischen  Grundsätzen ,  wie 
sie  zur  Behandlung  der  Kritik  einzelner  Autoren  gegeben  waren, 
nachher  im  Einzelnen  gemacht  worden  ist. 

Die  erste  Abhandlung  ist  die  zu  Breslau  1836  erstmals  er- 
schienene De  Marsyis  rerum  scriptoribus,  nicht  ohne  weitere  Ver- 
weisungen auf  die  seitdem  über  denselben  Gegenstand  geführten 
Untersuchungen  anderer  Gelehrten,  und  mit  manchen  beachtens- 
wertben  Zusätzen  ausgestattet;  dann  folgon  unter  Nr.  XVII  die 
beiden  Abhandlungen  über  die  Texteskritik  der  römischen  Ge- 
schichte de3  Dionysius  von  Halicarnass,  welche  zu  Breslau  1838 
und  zu  Bonn  1846  erstmals  erschienen  sind,  nebst  der  dazu  ge- 
hörigen dritten  Nr.  XVIII  De  Codice  Urbinate  zu  Bonn  1847,  mit 
Weglassung  des  der  ersten  Abhandlung  beigegebenen  Textes  der 
acht  ersten  Kapitel  und  der  diesen  beigefügten  lateinischen  Ueber- 
setzung  und  kritischen  Adnotatio.  Die  hier  niedergelegten  Ansich- 
ten über  die  Behandlung  des  Textes,  und  das  Verhältniss  der  bei- 
den hier  besonders  in  Betracht  kommenden  Handschriften  zu  ein- 
ander, des  Codex  Urbinas  und  des  Codex  Chisianus  sind  inzwischen 
zur  Anwendung  gekommen  in  der  neuen  Ausgabe  von  Kiessling, 
und  hat  die  Art  und  Weise  dieser  Anwendung  einige  nachträg- 
liche Bemerkungen  hervorgerufen,  auf  die  wir  insbesondere  zu  ver- 
weisen haben,  wie  z.  B.  S.  517  u.  518.  Nun  folgt  unter  Nr.  XIX 
der  aus  dem  Rhein.  Museum  N.  F.  XIII  p.  157  ff.  aufgenommene 
Aufsatz  zu  Herodians  Kaisergeschichte  und  unter  XX  der  eben 
daraus  I.  p.  193  ff.  entnommene  über  Aristo  den  Peripatetiker  bei 
Cicero  De  senectutc;  dann  Gnomologium  Viudobonense  aus  dem 
Bonner  Index  Lectt.  von  1839 — 1840,  die  erste  unter  drei  und 
f  ünf  z  i  g  (oder  nach  der  Berichtigung  S.  834  eigentlich  nur  zwei  und 
fünfzig)  akademischen  Gelegenheitsschriften  oder  Programmen  der 
Art.  Daran  schliesst  sich  passend  unter  Nr.  XXII  die  zu  Bres- 
lau 1834  erschienene,  umfassende  Abhandlung,  die  eigentlich  als 
eine  besondere  Schrift  anzusehen  ist  De  Oro  et  Orione  mit 
manchen  Zusätzen  und  selbst  mit  wiederholtem  Abdruck  des  zu 
dieser  wichtigen  und  gelehrten  Schrift  in  dem  ersten  Druck  bei- 
gefügten Index.  Verwandten  Inhalts  ist  dann  die  folgende  Nr.  XXIII 
Etymologici  Angolicani  brevis  descriptio,  aus  den  Bonner  Ind.  Lectt. 
1846  u.  1847.  Dieser  schliesst  sich  an  XXIV:  De  Meletio  physiologo 


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Schuchardt:  Der  VokaHsmus  des  Vulgärlateins. 


479 


brevis  narratio,  aus  einem  Breslauer  Programm  von  1836.  Daran 
reiht  sieb  die  zur  Erlangung  der  Doctorwürde  an  der  Universität 
zu  Halle  1829  abgefasste  Schrift:  Schedae  criticae,  mit  manchen 
neu  hinzugekommenen  wohl  zu  beachtenden  Bemerkungen.  Die 
folgende  Nummer  XXVI  bringt  unter  der  Aufschrift:  Kritische 
Miscellen  eine  Zusammenstellung  von  einzelnen  kritischen  Bemer- 
kungen und  Verbesserungsvorschlägen  zu  verschiedenen  griechischen 
Schriftstellern,  welche  aus  verschiedenen  Bänden  des  Rheinischen 
Museums  hier  zusammengestellt  sind.  Dann  folgt  Nr.  XXVII: 
Godofredi  Hermanni  de  A.  F.  Naekii  schedis  criticis  Epistola  aus 
einem  Bonner  Programm  vom  Jahr  1859  und  XXVIII:  Medicinische 
Adjective  auf  ides  und  ideus,  ein  wenig  bekanntes  und  doch 
sehr  beachtenswerthes  Gutachten,  das  in  Göschen's  Deutscher  Klinik 
Bd.  VII  vgl.  XI  u.  XII  erstmals  abgedruckt  worden  ist.  Nun  fol- 
gen aus  dem  Rhein.  Mus.  N.  F.  XXI.  p.  137  ff. :  Sicilische  Inschrif- 
ten, und  dann  noch  drei  mehr  in  das  Gebiet  der  Archäologie  ein- 
schlagende Abhandlungen  »De  amphora  Galassiana  litterata«  (aus 
den  Annali  del  Inst.  Archeolog.  Vol.  IX),  dann  Pelopsvase  von 
Ruvo  (ebendaher  Vol.  XII)  und  Pelops  und  Oenomaus:  römisches 
Sarkophagrelief  (eben  daher  Bd.  XXX),  mit  den  dazu  gehörigen, 
hier  ebenfalls  beigegebenen  Abbildungen :  mehrfache  erläuternde  und 
vervollständigende  Zusätze  begleiten  den  erneuerten  Abdruck  dieser 
werthvollen  Abhandlungen.  Und  am  Schlass  von  S.  828  an  folgen 
noch  einzelne  weitere  Nachträge  zu  den  in  beiden  Fascikeln  ent- 
haltenen Abhandlungen,  mitveranlasst  durch  neuere  Funde  oder 
neuere  Erörterungen  der  in  diesen  Abhandlungen  behandelten  Gegen- 
stände. Ein  Sachregister  und  ein  Autorenregister,  welches  die  von 
jedem  Autor  in  diesem  Bande  kritisch  exegotisch  behandelten  Stel- 
len nachweist,  sind  hinzugekommen  und  erleichtern  in  jeder  Hin- 
sicht den  Gebrauch  des  Ganzen. 


Der  Vokalismus  des  Vulgärlateins  von  Hugo  Schuchardt.  Zwei- 
ter Band.  Leipzig.  Druck  und  Verlag  von  D.  0.  Teubner 
1667.  530  8.  in  gr.  8. 

Wir  haben  seiner  Zeit  in  diesen  Jahrbüchern  1866.  S  874  ff. 
den  ersten  Band  dieses  Werkes  näher  besprochen,  und  säumen  nicht, 
das  Erscheinen  des  zweiton  Bandes  anzuzeigen,  mit  welchem  das 
Ganze  seinen  Abschluss  erreicht  hat.  Einige  Nachträge,  so  wie  die 
gewiss  wünschenswerthen  Register  sollen  in  einem  besonderen  Hefte 
nachgeliefert  werden.  Es  wird  wohl  kaum  noch  zu  bemerken  nöthig 
sein,  wie  auch  dieser  zweite  Band  in  der  so  gründlichen  und  um- 
fassenden Behandlung  des  Gegenstandes  dem  ersten  in  Nichts  nach- 
steht und  von  den  umfangreichen  und  mühevollen  Studien  des 
Verfassers  ein  gleicher  Anerkennung  werthes  Zeugnis?  abliefert ;  wir 
haben  eben  so  wenig  hier  noch  weiter  zu  erörtern  nöthig,  welche 
Wichtigkeit  und  Bedeutung  die  ganze  Forschung,  wie  sie  in  diesem 


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480  Schnchardt:  Der  Vokalismus  des  Vulgärlateins, 


Werke  niedergelegt  ist,  nicht  blos  für  die  genauere  Kenntniss  des 
Altrömischen,  seiner  Entwicklung  und  Bildung  gewinnt,  sondern 
wie  sie  insbesondere  noch  dazu  dient,  uns  das  Hervorgehen  der 
romanischen  Sprachen,  die  Bildung  dieser  Sprachen  und  alle  die 
Wandelungen,  alle  die  einzelnen  in  einzelnen  Buchstaben  vorgehen- 
den Veränderungen  und  Uebergänge  des  Einen  in  den  Anderen,  wie 
sie  hier  vorkommen,  zu  vergegenwärtigen  und  näher  kennen  zu  lernen. 

Was  den  Inhalt  selbst  betrifft,  der  nicht  wohl  eines  Auszuges 
fähig  ist,  so  beschränken  wir  uns  auf  die  allgemeine  Angabe,  dass 
in  diesem  zweiten  Band  die  Fortsetzung  des  im  ersten  S.  167  ff. 
begonnenen  Theiles,  welcher  die  qualitativen  Vokalveränderun- 
gen befasst,  gegeben  ist,  und  dass  dieselbe  bis  S.  335  reicht,  mit- 
hin noch  einen  grossen  Theil  dieses  Bandes  fällt.  Mit  S.  336  ff. 
beginnt  der  zweite  Theil,  welcher  die  quan ti t ati ven  Vokalvoi- 
ändorungen  erörtert.  In  jener  Fortsetzung  der  qualitativen  Ver- 
änderungen kommen  zunächst  nach  dem  im  ersten  Bande  S.  167  ge- 
gebenen Schema  zur  Sprache  E  =  I  in  offenen  wie  in  geschlossenen 
Sylben,  dann  eben  so  ü  =  0  (S.  91  ff.),  0  =  ü  (S.  U9ff.),  I  =  Ü 
s=  ü(0)  S.  197  ff.  E(I)  =  0  S.  211ff.  u.s.w.  Ein  Uberaus  reiches 
Material  ist  hier  gegeben,  wie  es  nur  die  ausgedehntesten  Studien 
zusammenzubringen  vermochten,  aber  es  ist  auch  Alles  wohl  ge- 
ordnet, wie  man  sich  bald  überzeugen  wird,  wenn  man  näher  in 
das  Einzelne  einzugehen  sich  veranlasst  sieht,  nud  ist  hier 
eine  Vollständigkeit  erreicht,  der  nicht  leicht  Etwas  entgangen  sein 
dürfte,  zumal  bei  der  ausgebreiteten  Bekanntschaft  des  Verf.  mit 
allen  den  Quellen,  aus  welchen  das  Material  zu  seiner  Erörterung 
zu  gewinnen  war.  In  gleicher  Weise  wird  man  aber  auch  den  eben 
bemerkten  andern  Theil  von  den  quantitativen  Vokalveränderungen 
behandelt  finden.  Nach  dem  auch  hier  vorausgeschickten  Schema 
wird  zuerst  von  der  Prosthese  gehandelt,  dann  (S.  365  ff.)  von  der 
Aphärese,  von  der  Apokope  (S.  384 ff.),  dor  Epithese  (S.  393  ff.) 
wie  der  Synkope  und  Epeuthese,  von  der  Elision  (8.  441  ff.),  von 
der  Vokalisirung  von  Konsonanten  (S.  486  ff.)  wie  von  der  Kon- 
8onantirung  von  Vokalen  (S.  502  ff.)  endlich  von  der  Vokalver- 
setzung (S.  526  ff.)  und  von  der  Attraktion  (S.  528). 

Wir  haben  damit  im  Allgemeinen  den  Inhalt  des  Ganzen  an- 
gegeben ,  ohne  auf  den  Reichthum  des  Details  uns  weiter  einzu- 
lassen, da  wir  mit  dieser  Anzeige  nur  auf  diese  Schrift  aufmerk- 
sam machen  wollen,  die  in  so  manche  Gebiete  der  Wissenschaft 
einschlägt,  und  insbesondere  so  wichtig  ist  für  die  richtige  Schrei- 
bung einzelner  Worte,  welche  in  unsern  Handschriften  so  sehr  variirt 
und  so  manche  Controverse  in  neuerer  Zeit  herbeigeführt  hat ;  wir 
erinnern  ebenso  an  die  damit  verknüpfte  Frage  über  die  richtige 
Aussprache  und  was  dergleichen  Fragen  mehr  sind,  für  deren  Ent- 
scheidung hier  ein  Material  vorliegt,  wie  es  in  dieser  Weise  an 
keinem  andern  Orte  zu  finden  ist.  Die  äussere  Ausstattung  in 
Druck  und  Papier  ist  eben  so  vorzüglich  wie  die  des  ersten  Bandes. 


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HEIDELBERGER 

JAHRBÜCHER 

DER 

LITERATUR. 


Sechzigster  Jahrgang. 
Zweite  Hälfte. 

Juli  b  is  Dezember. 


Heidelberg. 

Akademische  Verlagshandlung  von  J,  C.  B.  Mohr. 

1867. 

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iL  31.  HEIDELBERGER  1867. 

JiHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


1)  An  iniroduciion  io  Kachchäy  an  a' 8  grammar  of  the  Pdli 
language;  wilh  an  introducliont  appendiz,  notes  etc.  by  Jamts 
d' Ahe is.  Colombo  1863.  CXXXVJ.  132.  und  XVI.  pag.  8vo. 

2)  Abhidh  änapp  adtpik ä;  or  diciionary  of  the  Pali  lan- 
guage  by  Moggaldna  Thero.  With  English  and  Singhalese  inter- 
pretations,  notes  and  appendices  by  Waskaduwe  Subhüti  Bud- 
dhist priest.  Colombo  1865.  XV.  204.  und  XI.  pag.  8vo. 

3)  Die  Könige  von  Tibet  von  der  Entstehung  königlicher  Macht 
in  Ydrlung  bis  zum  Erlöschen  in  Laddk  (Mitte  des  l.  Jahrh, 
vor  Christi  Geburt  bis  1834  n.  Chr.)  von  Emil  Schlag- 
ini weit.  München  1866.  87  pag.  u.  18  pag.  tibet.  Text.  4to. 

4)  lieber  ein  Fragment  der  Bhagav  ati.  Ein  Beitrag  zur  Kennt- 
niss  der  heiligen  Sprache  und  Literatur  der  Jaina.  Von  A. 
Weber.  Erster  Theü.  Berlin.  1866.  (Aus  den  Abhandl.  der 
k.  Akad.  der  Wissensch.)  p.  367—444.  4to. 

Die  europäischen  Forschungen  über  den  Buddhismus  haben 
nicht  etwa  in  der  Weise  begonnen,  dass  man  die  Anfange  dieser 
Religion  in  ihrem  eigentlichen  Vaterlande  Indien  aufsuchte  und  der 
Verzweigung  derselben  in  die  einzelnen  fremden  Länder  nachgieng, 
sondern  umgekehrt:   man  lernte  den  Buddhismus  zuerst  in  seinen 
Ausläufern  in  Japan,  China  und  der  Mongolei,  im  Siam  und  Barma 
kennen  und  nur  allmählig  stellte  sich  die  Ueberzeugung  fest,  dass 
alle  diese  verschiedenen  Ausläufer  nach  Indien  als  ihren  gemein- 
samen Mittelpunkt  hinwiesen.  Wir  erinnern  hier  an  diese  genügend 
bekanute  Thatsache,  weil  sich  aus  ihr  am  besten  erklärt  wie  es  kommt, 
dass  der  Buddhismus  der  Ausgangspunkt  geworden  ist  für  For- 
schungen über  die  verschiedensten  Völker  Centralasions  und  Hinter- 
indiens, denn  die  meisten  dieser  Völker  würden  kein  Recht  haben 
unter  die  civilisirten  Nationen  gerechnet  zu  werden,  wenn  sie  nicht 
durch  ihre  Religion  an  der  Bildung  Indiens  Antheil  hätten.  Be- 
kannt ist  es  auch ,  dass  der  indische  Buddhismus  selbst  in  zwei 
Schulen  zerfällt,  eine  nördliche  und  eine  südliche;  die  heiligen 
Schriften  der  nördlichen  Schule  sind  in  Sanskrit  geschrieben,  die 
der  südlichen  in  einer  Volksmundart,  dem  Pali.  Mittelpunkt  für  die 
südliche  Schule  ist,  seitdem  der  Buddhismus  in  Indien  selbst  er- 
loschen ist,  die  Insel  Ceylon.    Von  dieser  südlichen  Schule ,  die 
ihren  Einfluss  auch  Uber  Barma  und  Siam  erstreckt,  werden  wir 
zunächst  Veranlassung  haben  zu  reden. 

Mit  besonderer  Befriedigung  schreiten  wir  zur  Anzeige  der 
beiden  zuerst  genannten  Schriften.    Wir  begrüsaen  hier  nicht  nur 
LX.  Jahrg.  7.  Heft  31 


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482 


ßchriften  über  den  Buddhismus. 


zwei  neue  und  zwar  tüchtige  Mitarbeiter  auf  dem  Felde  des  Bud- 
dhismus, sie  kommen  auch  aus  Kreisen,  von  denen  wir  bisher  Bei- 
träge zu  erhalten  nicht  gewohnt  sind.  Beide  sind  eingeborne  Sing- 
halesenund  einer  der  buddhistischen  Religion  zugethan.  Sie  sind  natür- 
lich von  Jugend  auf  mit  der  Sprach-  und  Denkweise  des  Buddhis- 
mus vertraut  und  wir  verdanken  ihnen  manche  Belehrung,  die  wir 
in  Europa  entweder  gar  nicht  oder  doch  erst  nach  langem  Suchen 
hätten  erhalten  können,  daneben  ist  aber  wenigstens  der  erste  der 
beiden  Verf.  auch  sehr  belesen  in  allen  europäischen  Werken,  die 
von  dieser  Religion  handeln.    Wir  glauben,  dass  die  europäische 
und  besonders  auch  die  deutsche  Wissenschaft  allen  Grund  hat  auf 
die  neu  gewonnenen  Anhänger  stolz  zu  sein.    Es  ist  nicht  eine 
blosse  Curiosität,  welche  uns  hier  entgegentritt,  sondern  der  Be- 
weis eines  allmählig  sich  anbahnenden  geistigen  Verkehrs  zwischen 
Europäern  und  Orientalen.    Man  unterschätze  nicht  diese  kleinen 
Anfänge,  deren  Bedeutung  sich  erst  in  künftigen  Jahrhunderten 
zeigen  wird;  der  Verkehr,   der   hier  auf  einem  sehr  enge  um- 
grenzten Gebiete  beginnt,  wird  nach  und  nach  immer  mehr  an  Um- 
fang gewinnen,  und  sich  endlich,  so  hoffen  wir  wenigstens,  zu  einem 
vollkommenen  Ideenaustausch  des  Morgen- und  Abendlandes  gestalten. 
Fragen  wir  nach  den  Gründen,  welche  die  morgenländischen  Ge- 
lehrten bewogen,  diese  Annäherung  an  Europa  zu  suchen ,  so  giebt 
uns  die  weit  ausgedehnte  Herrschaft  Englands  und  die  dadurch 
bedingte  Bekanntschaft  mit  der  englischen  Sprache  nicht  blos  einen 
Grund  dafür,  sie  erklärt  auch  überhaupt  die  Möglichkeit,  dass  eine 
solche  Annäherung  geschehen  kann.  Irren  wir  aber  nicht,  so  giebt 
es  neben  diesem  noch  einen  andern  Grund,  und  einen  haupt- 
sächlichen möchten  wir  in  der  näheren  Bekanntschaft  mit  den 
Grundsätzen  der  vergleichenden  Sprachwissenschaft  sehen,  welche 
durch  die  englische  Uebersetzung  von  Bopps  vergleichender  Gram- 
matik und  Muirs  Arbeiten  in  Indien  immer  mehr  bekannt  werden. 
Ueber  den  Nutzen  der  Sprachvergleichung  für  die  Wissenschaft  ist 
schon  viel  geschrieben  worden,  von  der  culturhistorischen  Bedeu- 
tung derselben  hat  unseres  Wissens  noch  Niemand  gesprochen  und 
doch  hat  auch  diese  Seite  ihre  vollkommene  Berechtigung.  Für 
uns  freilich  hat  die  Thatsache,  dass  unsere  Sprachen  gerade  mit 
denen  Indiens  und  Persiens  verwandt  sind,  keinen  andern  Werth, 
als  den  geschichtlichen;  im  Morgenlande  ist  dies  anders.    Es  ist 
etwas,  von  dem  fernher  gekommenen  Volke,  welches  Indien  be- 
herrscht, die  Thatsache  anerkannt  zu  sehen,  dass  es  mit  seinen 
Unterthanen  aus  demselben  Stamme  entsprossen  ist,  und  diese  als 
seine  wahren  Anverwandten  ansieht.    Eine  grössere  Annäherung 
zwischen  den  Siegern  und  den  Besiegten  scheint  uns  auf  dieser 
Grundlage  wohl  denkbar  und  unseres  Erachtens  ist  es  auch  die 
Pflicht  der  Wissenschaft,    hierzu  nach  Kräften  mitzuwirken.  — 
Die  beiden  unter  1  und  2  genannten  Werke  sollen  nicht  so  wohl 
unsere  Kenntniss  des  Buddhismus  (obwohl  Nr,  1  auch  dafür  sehr 


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Schriften  über  den  Buddhismus. 


werthvolle  Beitrage  enthalt)  sondern  vielmehr  die  Keuntniss  der 
Sprache  fördern,  in  welcher  die  Werke  der  südlichen  Schule  ge- 
schrieben sind.  Der  eigentliche  Name  dieser  Sprache  istMagadbi 
d.  i.  Sprache  von  Magadba  oder  Bebar  und  es  ist  nicht  unmög- 
lich, dass  er  der  richtige  ist,  da  nach  der  üeberlieferuug  die  älte- 
sten Sendboten,  welche  Ceylon  zum  Buddhismus  bekehrten,  aus  die- 
sem Theile  Indiens  stammten.  Doch  ist  auch  der  bei  uns  ge- 
bräuchlich gewordene  Name  Pali  nicht  unrichtig,  doch  scheint  es  uns 
fraglich,  ob  das  Wort  pali  ohne  den  Beisatz  von  bhasa,  Sprache, 
für  den  Namen  der  Sprache  gelten  könne.  Das  Wort  pali  bedeu- 
tet nämlich  ursprünglich  eine  Reihe,  Linie,  und  wird  dann  auf  die 
Aussprüche  (^akyamunis  Ubertragen,  ganz  ähnlich  wie  auch  sütra 
d.  i.  Faden.  Nur  in  diesem  Sinne  lässt  sich  das  Wort  bis  jetzt 
belegen  und  es  scheint  nicht,  dass  Herr  Alwis  zu  den  bekannten 
Textstellen  noch  neue  hinzufügen  kann.  Ein  dritter  Ausdruck  zur 
Bezeichnung  der  heiligen  Sprache  wird  uns  hier  zuerst  zur  Kennt- 
niss gebracht,  er  hoisst  tanti;  nach  dem  Paliwörterbucbe  heisst 
tanti  zunächst  eine  Laute  und  ist  von  da  aus  zu  der  Bedeutung 
»Text«  gekommen,  aus  den  bis  jetzt  bekannten  Beispielen  ist  nicht 
recht  ersichtlich,  ob  jeder  Text  so  genannt  werden  kann  oder  viel- 
leicht nur  die  metrisch  abgefassten ,  will  man  die  beilige  Sprache 
damit  bezeichnen,  so  wird  wohl  auch  hier  das  Wort  bhasa  nicht 
fehlen  dürfen.  Die  Pälisprache  hat  nun  für  Ceylon,  Siam  und  Barma 
dieselbe  Bedeutung  wie  etwa  das  Latein  für  die  Mönche  des  Mittel- 
alters, in  allen  Klöstern  wird  sie  mit  Eifer  gepflegt,  die  reiche, 
wiewohl  auf  ein  enges  Gebiet  begrenzte  Literatur  eifrig  gelesen, 
die  Sprache  aber  auch  jetzt  noch  mit  derselben  Meisterschaft  ge- 
schrieben wie  in  frühem  Jahrhunderten,  wie  aus  den  vom  Verf. 
mitgetheilten  Proben  erbellt.  Wir  zweifeln  nicht,  dass  die  bud- 
dhi6tisohen  Mönche  auch  jetzt  noch  im  Staude  sind,  sich  des  Pali 
gegen  ausländische  Glaubensgenossen  im  mündlichen  Verkehre  zu 
bedienen.  Unter  den  Zweigen  des  Wissens,  welche  in  der  Päli- 
literatur  reichlich  vertreten  sind,  finden  wir  auch  die  Grammatik; 
Herr  A.  hat  uns  (p.  114.  115)  ein  Verzeichniss  von  nicht  weniger 
als  45  grammatischen  Werken  mitgetheilt,  ohne  jedooh  die  Zahl 
vollständig  zu  erschöpfen.  Die  Grammatiker  theilen  sich  in  drei 
Schulen,  von  denen  die  eine,  Saddaniti,  nur  schwach  vertreten  ist, 
die  zweite  die  des  Moggalana  ist  nicht  sehr  alt  und  ihre  Methode 
uns  bis  jetzt  ganz  unbekannt.  Die  Mehrzahl  der  Grammatiker  folgt 
der  Schule  des  Kaocayana,  der  für  den  ältesten  der  Pal i gram ma- 
tiker  gilt,  eines  der  beliebtesten  Werke  dieser  Schule  ist  der  Bala- 
vatära,  welcher  der  Päligrammatik  von  Tolfrey  uud  Clough  zu 
Grunde  liegt.  Das  eigentliche  Hauptwerk  dieser  Schule  sind  die 
Lehrsätze  des  Kaccäyana  selbst,  dieses  Werk  galt  aber  bis  jetzt  in 
Ceylon  für  verloren,  Herrn  A.  ist  es  jedoch  gelungen  eine  Hand- 
schrift des  Werkes  aufzufinden  (andere  Handschriften  soll  man  in 
Barma  besitzen)  und  diese  Entdeckung  aur  Kenntniss  des  Publi- 


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484 


Schriften  Ober  den  Buddhismus. 


kums  zu  bringen  ist  der  Hauptsweck  der  vorliegenden  Schrift.  Wir 
erhalten  hier  das  Capitel  über  das  Vorbum  als  Probe,  der  Text  ist 
mit  einem  Commentar  versehen,  der  von  einem  Theile  der  Buddhisten 
als  von  Kaccäyana  selbst  herrührend  angesehen  wird  (p.  LXXII), 
in  Wahrheit  aber,  wie  aus  p.  104  hör  vorgeht,  vom  Samghanandin 
herrührt.  Der  Pälitext  ist  sehr  correct  mit  singnalesischen  Buch- 
staben gedruckt  und  eine  sehr  zweckmässige  und  zuverlässige  eng- 
lische üebersetzung  beigefügt.  Für  die  Herausgabe  dos  ganzen 
Werkes,  welche  uns  Herr  A.  in  Aussicht  stellt,  würden  wir  ihm 
allerdings  sehr  dankbar  sein,  doch  müssen  wir  bemerken,  dass  das 
Ganze,  soviel  wir  nach  der  gegebenen  Probe  beurtheilen  können, 
nicht  so  neu  ist  als  es  wohl  scheinen  könnte,  und  die  Abweichun- 
gen dos  neu  bekannt  werdenden  Werkes  mehr  die  Form  als  den 
Inhalt  betreffen.  Ref.  ersieht  aus  einer  ihm  vorliegenden  Kopen- 
hagener Handschrift  des  Bälävatära,  dass  auch  dieses  Werk  auf 
Lehrsätze  des  Kaceayana  gegründet  ist  und  dieselben  —  wahr- 
scheinlich ganz  vollständig  —  aufführt,  wenn  auch  meist  in  ande- 
rer Ordnung  und  mit  einem  andern  Commentare.  So  beginnt  z.  B. 
auch  diese  Grammatik  mit  dem  zweiten  der  auf  p.  XVII  genann- 
ten Lehrsätze  des  Kaceayana  (den  ersten  halten  die  Buddhisten 
nach  p.  XXI  nicht  von  Kaceayana,  sondern  von  ^äkyamuni  selbst 
ausgegangen)  akkharä  pädayo  ekacattälisam  d.  i.  nach  dem  Com- 
mentare akkharäpi  akarädayo  ekacattälisam  »die  41  Buchstaben 
beginnen  mit  a«,  und  fährt  dann  bis  zum  zehnten  Satze  genau  in 
derselben  Weise  fort.  Der  zehnte  Satz  lautet:  pubbam  adhotbitam 
assaram  sarena  viyojaye  was  Herr  A.  etwas  undeutlich  tibersetzt : 
let  the  first  be  separated  from  its  (inherent)  vowel  by  (rendering) 
the  preceding  a  consonant.  Besser:  »man  beraube  den  vorderen 
unten  (zuletzt)  gestellten,  vocallosen  seines  Vocalsc  d.h.  mit  andern 
Worten :  der  erste  Consonant  einer  Consonantenverbindung  ist  sei- 
nes ihm  sonst  inhärirenden  Vocals  zu  berauben.  Dieser  vordere, 
nach  unserer  Ansicht  oben  stehende  Consonant  wird  hier  adhothita, 
unten  gestellt,  genannt,  weil  der  Verfasser  die  grammatische  Be- 
trachtung des  Wortes  mit  dem  Suffixe  beginnt,  somit  der  vordere 
Consonant  zuletzt  kommt.  Das  besagt  auch  der  kurze  Commentar 
des  Baiavatara  zu  diesem  Satze:  pubbabyanjanam  sarato  putha 
katabbam,  der  erste  Consonant  ist  des  Vocals  zu  berauben.  Auch 
in  dem  Capitel  über  das  Verbum  folgt  der  Bälävatära  den  Lehr- 
sätzen des  Kaccäyana  wie  sie  hier  mitgetheilt  werden,  er  citirt 
dieselben  wörtlich,  aber  in  ganz  anderer  Ordnung:  er  beginnt  mit 
bhuvädayo  dhätavo  (=  Kac.  2,  26),  dann  folgt  dhätussanto  lopo 
nekasarassa  (=  K.  4,  40),  dann  dbätulingehi  parä  paccayä  (=  K. 
2,  1),  dann  folgen  1,  9.  1.  8.  5.,  hierauf  2,  14.  1,  6.  7.  2.  u.  s.  w. 
Hiernach  dürfte  für  die  Schule  die  sich  an  Kaccäyana  anschliesst 
die  Anordnung  des  Stoffes  die  Hauptverschiedenheit  sein ;  anders 
stellt  sich  die  Sache  für  Moggaläna,  da  derselbe  schon  über  die 
Buchstaben  von  Kaccäyana  abweicht,  er  zählt  deren  43.  Es  wäre 


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Schriften  Ober  den  Buddhismus 


4*5 


zu  wünschen,  dass  auch  die  Hauptwerke  der  übrigen  Schulen  ver- 
öffentlicht würden. 

Die  Stellung  der  Päligrammatiker  ist  eine  freie,  da  sie  im 
Päli  die  Ursprache  sehen,  so  müssen  sie  auch  die  Vergleichung 
desselben  mit  dem  Sanskrit  abweisen,  doch  sieht  man  aus  ihren 
eigenen  Angaben  (cf.  p.  XXV),  dass  sie  auch  Sanskritgrammatiker 
benützt  haben.  Soviel  ist  nun  freilich  gewiss,  dass  Panini  nicht 
unmittelbar  das  Muster  war,  nach  welchem  sie  sich  richteten,  diess 
erhellt  schon  ans  der  ganzen  Einrichtung,  welche  mehr  an  die  Sid- 
dhänta  Kaumudl  und  ähnliche  Werke  erinnert,  und  Ref.  möchte 
die  Behauptung  nicht  schlechthin  abweisen,  dass  Katantra  (cf. 
p.  XL)  das  Muster  für  die  Päligraramatik  gewesen  sei.  Durch 
diese  freie  Stellung  unterscheidet  sich  die  einheimische  Päligram- 
matik  namentlich  von  den  indischen  Prakritgrammatikern ,  denn 
diese  sehen  die  von  ihnen  zu  behandelnde  Sprache  durchaus  als  aus 
dem  Sanskrit  geflossen  an.  Diese  grössere  Freiheit  hat  nun  sowohl 
nützlich  als  schädlich  auf  die  Behandlung  der  Sprache  eingewirkt, 
nützlich  in  so  fern  weil  die  Päligrammatiker  dadurch,  dass  sie 
dem  Sanskrit  gegenüber  frei  dastanden,  die  Formen  und  ihren  Ge- 
brauch so  darstellten,  wie  sie  ihn  aus  den  von  ihnen  benützten 
Literaturwerken  erkennen  konnten ;  auch  blieben  sie  von  der  Sucht 
befreit,  dem  Pali  mancherlei  theoretische  Formen  aufzubürden, 
welche  sonst  gewiss  erfunden  worden  wären  um  die  heilige  Sprache 
des  Buddhismns  nicht  hinter  dem  Sanskrit  zurückstehen  zu  lassen. 
Andrerseits  hat  aber  die  rein  dogmatische  Ansicht,  das  Pali  sei 
älter  als  das  Sanskrit,  auch  ihre  üblen  Folgen  gehabt  und  nament- 
lich die  richtige  Erkenntniss  der  Lautverhältnisse  und  mancher 
Formen  getrübt,  die  sich  ohne  Zuziehung  des  Sanskrit  schlechter- 
dings nicht  genügend  erklären  lassen.  Für  uns  ist  die  Hauptfrage, 
wie  sich  die  europäische  Wissenschaft  den  nun  sich  erschliessenden 
Quellen  gegenüber  zu  verhalten  habe.  Die  Kenntniss  des  Päli  in 
Europa  ist  bekanntlich  nicht  aus  dem  Studium  der  einheimischen 
Grammatiker  hervorgegangen,  sondern  aus  dem  Gebrauche  ver- 
schiedener Werke  der  Literatur  und  der  Vergleichung  der  Sprache 
derselben  mit  dem  Sanskrit.  So  ist  der  Essai  sur  le  Pali  von  Bur- 
nouf  und  Lassen  entstanden  und  Spätere  haben  auf  diesem  Grunde 
fortgebaut.  Sollen  wir  nun  auf  diesem  Wege  fortgehen  ohne  die 
einheimischen  Grammatiken  zu  benutzen,  oder  sollen  wir  von  jetzt 
ab  blos  auf  die  einheimische  Grammatik  uns  stützen?  Es  liegt  auf 
der  Hand,  dass  weder  der  eine  noch  der  andere  Weg  der  aus- 
schliesslich richtige  ist,  sondern  dass  Benützung  der  Originalgram- 
matik und  freie  Forschung  verbunden  werden  muss.  Namentlich 
jetzt,  wo  wir  noch  keinen  Ueberblick  über  die  Gesammtliteratur 
haben,  müssen  wir  die  Angaben  der  Grammatiker  dankbar  be- 
ntitzen,  doch  stehen  wir  ihnen  anders  gegenüber  als  den  Sanskrit- 
grammatikern. Ref.  glaubt  nicht,  dass  wir  annehmen  dürfen ,  einer 
der  Päligrammatiker  stütze  sich  noch  auf  eine  lebendige  Kennt- 


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Schriften  übet  den  Buddhismus. 


niss  der  Palispracbe,  wie  diess  im  Sanskrit  doch  wenigstens  bei 
Pänini  der  Fall  ist,  ihr  Zweck  ist  wohl  von  allem  Anfang  an  nur 
der :  die  Sprache  zu  beschreiben,  welche  in  ihren  heiligen  Schriften 
vorliegt.  Nun  sind  zwar  diese  heiligen  Schriften  sehr  umfangreich, 
doch  nicht  in  dem  Grade,  dass  wir  nicht  hoffen  könnten  sie  nach 
und  nach  zu  bewältigen.  Es  wird  also  wohl  eine  Zeit  kommen, 
wo  wir  nicht  nur  über  denselben  Stoff  gebieten  wie  die  einheimi- 
schen Grammatiker,  sondern  auch  im  Stande  sind,  ihre  Beobach- 
tungen vermittelst  einer  weiter  fortgeschrittenen  Kritik  zu  berich- 
tigen. Aber  diese  Kritik  ist  niebt  ohne  grosse  Vorarbeiten  zu 
Üben  und  darum  wird  eine  Paligrammatik,  so  wie  sie  wirklich  sein 
soll,  noch  lange  zu  den  frommen  Wünschen  gehören.  Für  die 
Kritik  steht  es  fest,  dass  der  Text  der  heiligen  Schriften  des  süd- 
lichen Buddhismus  so  wie  er  jetzt  liegt,  durch  den  ausführlichen 
Commentar  des  Buddhaghosa  geschützt  ist,  und  seit  Abfassung  die- 
ses Commentars  keine  wesentliche  Veränderung  erlitten  hat.  Allein 
diess  führt  uns  nicht  weiter  als  bis  in  das  5.  Jahrhundert  n.  Chr. 
Geb.  und  es  fragt  sich  ob  derselbe  auch  von  da  aufwärts  bis  zu 
seiner  Aufzeichnung  unter  Vattagamini  (etwa  100  v.  Chr.  Geb.) 
keine  Veränderung  erlitten  hat.  Doch,  selbst  wenn  sich  beweisen 
Hesse,  Buddhaghosas  Text  sei  wirklich  durchweg  der  zuerst  in  Ceylon 
aufgezeichnete,  so  würden  doch  in  der  Periode  der  mündlichen 
Ueberlieferung  bis  zum  Religionsstifter  hinauf  Aendernngen  denk- 
bar sein.  Ausser  auf  die  Authentie  des  Wortgefüges  werdeu  aber 
die  Kritiker  ihre  Augenmerk  auoh  auf  die  Zusammensetzung  der 
Texte  zu  richten  haben.  Wir  glauben,  dass  es  selbst  den  Buddhisten 
einleuchten  rouss,  wenn  wir  sagen,  dass  die  Texte  in  der  Form,  in 
welcher  sie  jetzt  vorliegen,  nicht  von  (Jäkyainuni  herrühren  können, 
dass  die  langen  Einleitungen,  welche  erzählen,  bei  welcher  Gelegen- 
heit Qakyamuni  diesen  oder  jenen  Ausspruch  gethan  habo,  als  Zn- 
that  der  Tradition  anzusehen  seien  und  die  wirklichen  Aussprüche 
des  Religionsstifters  allein  als  massgebend  gelten  können.  Es  fragt 
sich  nun  hauptsachlich,  ob  diese  Aussprüche  nicht  durch  eine  spä- 
tere Redaktion  sprachlich  goändert  worden  seien  oder  noch  in  der 
Sprache  geschrieben  sind,  in  welcher  sie  unter  Asoka  in  Ceylon 
bekannt  gemacht  wurden.  Wie  Ref.  glaubt,  ist  alle  Hoffnung 
vorhanden,  dass  man  Über  diesen  letzten  Punkt  noch  ins  Reine 
kommen  werde.  Bekanntlich  hat  Asoka  in  allen  seinen  Inschriften 
sich  dem  Dialekt  derjenigen  Provinz  anbequemt,  für  welche  sie 
berechnet  waren.  Da  wir  nun  von  ihm  selbst  wissen ,  dass  er  in 
Ceylon  geherrscht  hat,  so  werden  die  zahlreichen  dort  befindlichen 
Inschriften  in  der  von  ihm  gebrauchten  Schriftart  (gewöhnlich 
Nagari  inscriptions  genannt)  kaum  von  einem  Anderen  herrühren 
und  die  Veröffentlichung  einer  zuverlässigen  Abschrift  dieser  In- 
schriften würde  zu  den  grössten  Diensten  gehören,  die  man  der 
Erforschung  des  Buddhismus  leisten  kann.    Wahrscheinlich  würde 


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Schriften  Über  den  Buddhismus 


487 


durch  diese  Texte  eine  feste  Grundlage  zur  Beurtheilung  des  Alters 
und  der  Herkunft  des  Pali  gegoben  werden. 

Die  lange  Einleitung,  welche  dem  Buche  vorausgeschickt  ist 
(136  S.)  und  62  S.  des  Anhanges  behandeln  das  Zeitalter  des 
Kaccayana  und  das  Verhältniss  des  Pali  zum  Sanskrit.  Diese  Theile 
des  Buches  sind  voll  von  den  interessantesten  Mittheilungen,  nament- 
lich von  Texten,  die  uns  zumeist  ganz  unbekannt  waren.  Es  thut 
darum  unserem  Danke  gegen  den  Verf.  durchaus  keinen  Eintrag, 
wenn  wir  in  mehreren  Hauptpunkten,  auf  deren  Feststellung  es 
ankommt,  durchaus  nicht  mit  ihm  übereinstimmen.  Herr  A.  sucht 
die  Ansicht  zu  begründen,  dass  Kaccäyana  und  seine  Grammatik 
bis  in  die  ältesten  Zeiten  des  Buddhismus  zurückgehen,  dass  die- 
ser Grammatiker  ein  Zeitgenosse  (Jakyamunis  und  dessen  unmittel- 
barer Schüler  gewesen  sei,  dass  er  von  ihm  selbst  den  Auftrag  zur 
Abfassung  einer  Päligrammatik  erhielt,  ja  dass  die  erste  Kegel  in 
Kaccayanas  Grammatik  von  (Jäkyamuni  selbst  herrühre.  Dass  die- 
sen Annahmen  bedeutende  Hindernisse  im  Wege  stehen,  weiss  auch 
unser  Verfasser  und  sucht  sie  zn  beseitigen,  aber  nach  Ansicht  des 
Ref.  ohne  Erfolg.  Den  Zweifeln  gegenüber,  die  man  gegen  die 
Thatsache  erhoben  hat,  ob  zur  Zeit  (Jakyamunis  die  Kunst  des 
Schreibens  in  Indien  schon  bekannt  gewesen  sei,  sammelt  er  eine 
Anzahl  von  Stellen  aus  buddhistischen  Schriften,  welche  allerdings 
von  der  Anwendung  der  Schrift  zur  Zeit  (Jakyamunis  sprechen. 
Allein  wir  nehmen  die  Sache  genauer  und  dass  ein  vielleicht  5  bis 
600  Jahre  (oder  auch  mehr)  nach  (Jakyamunis  Tode  lebender  Schrift- 
steller von  schriftlichen  Abfassungen  zu  jener  Zeit  spricht,  kann 
noch  nicht  die  Zuverlässigkeit  der  Thatsache  selbst  erweisen.  Wir 
Nicht-Buddhisten  hegen  auch  mancherlei  Zweifel  nicht  nur,  ob  alle 
den  grössern  buddhistischen  Sutras  beigefügten  Entstehungsge- 
schichten wirklich  alt  seien,  sondern  auch  ob  alle  in  diesen  Schrif- 
ten auf  (Jäkyamuni  zurückgeführten  Aussprüche  wirklich  von  ihm 
herrühren.  Mehr  noch,  wir  glauben  aus  buddhistischen  Schriften 
selbst  zum  Mindesten  wahrscheinlich  machen  zu  können,  dass  bei 
dem  Ableben  (Jakyamunis  keine  geschriebenen  Sammlungen  seiner 
Aussprüche  vorhanden  waren,  dass  diese  selbst  bei  dem  kurz  nach 
seinem  Tode  veranstalteten  grossen  Concile  noch  nicht  niederge- 
schrieben wurden.  Der  Mahävansa  (3,  83.  36)  sagt  zweimal  aus- 
drücklich, dass  die  versammelten  Anhänger  des  dahingeschiedenen 
(Jäkyamuni  die  ihnen  mitgetheilten  Aussprüche  im  Gedächtnisse 
aufbewahrt  haben.  Hiernach  wird  man  schliossen  dürfen,  dass  sie 
höchstens  diese  Aussprüche  des  leichteren  Behaltens  wegen  in  me- 
trische Form  gebracht  haben.  Bei  dem  Berichte  über  das  zweite 
Concil  wird  die  Bemerkung  über  das  Einprägen  in  das  Gedäeht- 
niss  zwar  nicht  wiederholt,  aber  es  wird  gesagt,  dass  das  frühere 
Gesetz  wieder  hergestellt  worden  sei,  vom  Niederschreiben  ist  mit 
keinem  Worte  die  Rede.  Auch  der  interessante  Bericht  des  Dipa- 
vansa  über  die  damals  im  Schwange  gehenden  Ketzereien,  den  uns 


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Schriften  Ober  den  Buddhismus. 


Herr  A.  p.  63  ff.  mittheilt,  scheint  dem  Ref.  mit  der  Nachricht  von 
der  mündlichen  Ueberlieferung  nicht  im  Widerspruch  zu  stehen. 
Ebenso  wenig  ist  bei  den  Mittheilungen  über  das  dritte  Concil  von 
einer  schriftlichen  Bearbeitung  die  Rede,  dagegen  giebt  uns  der 
Mahävansa  die  bestimmte  Nachricht  (c.  33,  102),  dass  unter  der 
Regierung  des  Königs  Vattagämini  die  buddhistischen  Schriften 
zuerst  aufgezeichnet  worden  seien,  nachdem  die  frühern  Priester 
sie  blos  mündlich  fortgepflanzt  hatten.  Nach  Lassens  Berechnun- 
gen kam  Vattagämini  etwa  um  104  v.  Cbr.  Geb.  zur  Regierung, 
die  Aufschreibung  der  heiligen  Schriften  des  südlichen  Buddhis- 
mus fällt  daher  nur  kurze  Zeit  vor  Anfang  unserer  Zeitrechnung. 
Alle  diese  Gründe  nun,  welche  für  die  späte  Aufzeichnung  der 
Schriften  des  singhalesischen  Buddhismus  sprechen ,  nöthigen  uns 
auch  das  Zeitalter  des  Kaccayana  tiefer  herabzusetzen.  Wir  können 
unmöglich  mit  dem  Verfasser  die  Ansicht  festhalten ,  dass  dieser 
Grammatiker  600  v.  Chr.  gelebt  habe,  denn  eine  Grammatik  für 
eine  ungeschriebene  Literatur  scheint  uns  sehr  unwahrscheinlich 
und  die  Stellen ,  welche  von  der  persönlichen  Bekanntschaft 
(Jakyamunis  mit  Kaccayana  sprechen,  rühren  aus  zu  später  Zeit 
her,  um  irgend  etwas  beweisen  zu  können.  Die  Mittheilungen  aus 
der  Geschichte  Kaccäyanas,  welche  Herr  A.  p.  92  ff.  anfuhrt,  sind 
zu  mythisch  um  ernstlich  besprochen  zu  werden,  ebenso  die  p.  XXI 
mitgetheilte  Nachricht,  dass  (,'akyamuni  das  erste  Sutra  inKaccayauas 
Grammatik  verfasst  habe.  Die  in  dem  indischen  Mährchenbuche 
des  Somadeva  mitgetheilte  Notiz,  dass  Katyäyana  oder  Kaccayana 
im  Himälaya  eine  Grammatik  der  Volksmundarten  verfasst  habe, 
scheint  uns  dagegen  wohl  zu  beachten.  Was  Herr  A.  auch  sagen 
mag,  es  scheint  gewiss,  dass  die  eben  genannte  Persönlichkeit  in 
Indien  selbst  als  erster  Grammatiker  für  die  indischen  Volks- 
dialekte angesehen  wurde,  mithin  auch  für  das  Pali,  das  man  mit 
Recht  zu  diesen  Volksdialekten  zählte.  Herr  A.  hat  ganz  Recht, 
wenn  er  (cf.  p.  LXVIIff.)  dem  Mährchenbuche  des  Somadeva  alle 
und  jede  Beweiskraft  für  geschichtliche  und  chronologische  Fragen 
abstreitet,  allein  das  Buch  kommt  in  Frage,  wenn  von  Volkssagen 
geredet  wird  und  blos  um  eine  solche  handelt  es  sich,  wenn  KaccAyana 
als  erster  Grammatiker  der  Volksdialekte  genannt  wird.  —  Eben- 
sowenig können  wir  uns  mit  des  Verfassers  Ansichten  über  die 
Pälisprache  und  ihr  Verhältniss  zum  Sanskrit  einverstanden  er- 
klären ;  Herr  A.  vertritt  auch  hier  die  Ansicht  seiner  Landesge- 
nossen ,  indem  er  im  Päli  die  Mutter  aller  Sprachen  sehen 
will.  Alles  was  wir  zugeben  können  ist,  dass  das  Pali  eine  ganz 
ähnliche  Entwicklung  gewonnen  hat ,  wie  etwa  die  romanischen 
Sprachen  in  Europa.  So  wenig  sich  diese  durchweg  auf  das  schrift- 
mässige  Latein  stützen,  sondern  zum  Theil  auch  auf  die  alte  Volks- 
sprache, die  lingua  rustica  zurückgehen,  ebensowenig  ist  auch  das 
Päli  blos  aus  dem  schriftmässigen  Sanskrit  hervorgegangen ,  son- 
dern zeigt  Eigenthümlichkeiten,  die  uns  im  Vedadialekt  erhalten 


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Schriften  Ober  den  Buddhismus. 


oder  auch  ganz  verloren  gegangen  sind.  Es  mag  sein,  dass  man 
dem  Sanskrit  als  der  verfeinerten  Schriftsprache  das  Prakrit  als 
Volkssprache  entgegensetzen  darf;  wieHr  A.  behauptet  (p.  LXXXIV, 
XCII),  aber,  man  wird  auch  mit  aller  Sicherheit  annehmen  dürfen, 
dass  diese  Volkssprache  auf  dem  grossen  Gebiete,  das  sie  beherrschte 
von  Anfang  an  in  verschiedene  Dialekte  gespalten  war.  Dass  sich 
aber  das  Sanskrit  erst  aus  den  Volksdialekten  als  Schriftsprache 
entwickelt  habe,  ist  eben  so  unmöglich,  als  dass  das  Italienische 
aus  dem  Lateinischen  hervorgegangen  ist,  auch  als  Schwestersprache 
des  Sanskrit  (cf.  p.  CVI.  CXI)  vermögen  wir  das  Pali  vom  sprach- 
wissenschaftlichen Standpunkte  aus  nicht  anzuerkennen.  Wollten 
wir  aber  auch  zugeben,  dass  das  Pali  die  älteste  unter  den  indo- 
germanischen Sprachen  sei ,  so  würde  ein  solches  Zugeständniss 
nicht  einmal  viel  nützen,  denn  aus  dem  p.  CVII  mitgetheilten  Texte 
sieht  man,  dass  diese  Sprache  nicht  nur  die  Mutter  sämmtlicher 
indogermanischen  Sprachen,  sondern  die  Ursprache  überhaupt  sein 
soll,  welche  jeder  Mensch  von  selbst  spricht,  wenn  er  nicht  durch 
fremde  Einflüsse  vom  rechten  Weg  abgelenkt  wird. 

Ueber  Einzelnheiten  in  der  Uebersetzung  von  Palitoxten  ent- 
halten wir  uns  billiger  Weise  mit  Herrn  A.  zu  rechten;  gebildete 
Singhalesen,  wie  der  Verf.,  sind  in  der  Erklärung,  namentlich  der 
religiösen  Texte,  uns  so  entschieden  überlegen,  dass  wir  vor  der 
Hand  gut  thun  werden  von  ihnen  zu  lernen.  Nur  über  die  Texte 
selbst  müssen  wir  noch  einige  Worte  hinzufügen.  Wir  finden  die- 
selben bis  auf  Kleinigkeiten  correct,  wo  sie  in  singhalesischer 
Schrift  gedmekt  sind,  die  in  lateinischer  Schrift  gegebenen  aber, 
namentlich  durch  falsche  Abtheilung  der  Wörter,  vielfach  so  ent- 
stellt, dass  man  erst  mit  Hülfe  der  Uebersetzung  einen  lesbaren 
Text  zu  bilden  vermag.  Der  Verf.  hat  diesen  Uebelstand  selbst 
eingesehen  und  beklagt  (p.  CXXXIV),  Ref.  möchte  daher  den  Wunsch 
aussprechen,  dass  wir  künftighin  solche  Texte  mit  singhalesischer 
Schrift  gedruckt  erhalten  mögen,  wie  sie  ja  in  den  Handschriften 
auch  in  dieser  Schrift  geschrieben  werden.  Wem  es  ernstlich  darum 
zu  thnn  ist  Palitexte  verstehen  zu  lernen,  der  muss  sich  zuerst 
einen  correcten  Text  wünschen  und  wird  die  kleine  Mühe  nicht 
scheuen  eine  ihm  fremde  Schrift  zu  erlernen.  Wir  scheiden  von 
dem  Verfasser  mit  aufrichtigem  Danke  und  den  besten  Wünschen 
für  die  Fortsetzung  seiner  Arbeiten. 

Nr.  2  unter  den  zu  besprechenden  Schriften  bildet  eine  er- 
wünschte Ergänzung  zu  Nr.  1.  Wenn  die  letztere  Schrift  sich  vor- 
zugsweise die  Grammatik  des  Pali  zum  Gegenstand  wählt,  so  giebt 
uns  die  vorliegende  Schrift  das  Lexikon.  An  lexikalischen  Arbeiten 
ist  das  Pali  nicht  so  reich  als  wie  an  grammatischen,  die  hier 
vorliegende  Abhidhänappadipika  ist,  soviel  Ref.  weiss,  die  einzige 
Arbeit  die  bekannt  geworden  ist.  Ueber  die  Zeit  der  Abfassung 
dieses  Wörterbuchs,  so  wie  Über  seinen  Verfasser  geben  die  An- 
fangs- und  Schlnss-Strophen  des  Werkes,  die  früher  schon  von 


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400 


Schriften  über  den  Buddhismus. 


Alwis  veröffentlicht  wurden,  genügenden  Aufschluss.  Es  erhellt  aus 
diesen,  dass  der  Verfasser  des  Wörterbuches  Moggalana  heisst  (es 
ist  wohl  derselbe  den  wir  schon  oben  als  Haupt  einer  grammati- 
schen Schule  zu  nennen  Gelegenheit  hatten)  und  unter  Parakkam- 
abähu  L,  dem  kriegerischsten  und  grössten  Monarchen  Ceylons,  im 
12.  Jahrhundert  n.  Chr.  Geb.  lebte.  Ueber  den  Zweck,  der  ihn  bei 
Ausarbeitung  des  Wörterbuches  leitete,  lässt  uns  Moggalana  nicht 
im  Zweifel:  er  will  hauptsächlich  Substantive  und  Adjective  auf- 
zählen und  erklären,  wie  sie  in  den  heiligen  Schriften  vorkommen. 
Fragt  man,  ob  die  Arbeit  Moggalana's  als  Pälilexikon  genüge,  so 
ist  darauf  zu  antworten,  dass  sie  für  buddhistische  Leser  aller- 
dings genügen  mag,  um  sie  in  die  heilige  Sprache  einzuführen, 
nicht  aber  für  Europäer.  Vieles  von  dem,  was  Moggalana  hier 
giebt,  lässt  sich  für  uns  ohne  Schwierigkeit  aus  dem  Sanskrit  her- 
leiten und  ist  uns  daher  eigentlich  entbehrlich,  dagegen  vermissen 
wir  schmerzlich  Sacherklärungen,  ja  selbst  die  Aufzählung  der 
technischen  Ausdrücke  des  Buddhismus.  Gleichwohl  ist  es  nicht 
zweifelhaft,  dass  auch  ein  europäisches  Wörterbuch  der  Pälisprache 
auf  dieses  Buch  als  seine  erste  Grundlage  sich  stützen  mnss.  Die 
vorliegende  Ausgabe  ist  nicht  die  erste  der  Abhidhänappadlpika, 
wir  besitzen  schon  eine  ältere  von  Clougb  (Colombo  1824),  die, 
wie  diese,  in  singhalesischen  Charakteren  gedruckt  ist.  Ein  alpha- 
betisches Register,  das  für  einen  Europäer  die  Hauptsache  wäre, 
ist  keiner  der  beiden  Ausgaben  beigefügt.  Herr  Subhüti  sagt  uns 
in  der  Vorrede,  dass  er  ein  solches  ausgearbeitet  habe,  äussere 
Umstände  haben  bis  jetzt  die  Veröffentlichung  gehindert.  In  Aeus- 
serlichkeiten  unterscheidet  sich  die  neue  Ausgabe  mehrfach  von  der 
Clough'scheu :  sie  führt  die  rein  indische  Anordnung  durch  und 
streicht  die  (wie  es  scheint  nur  von  Clough  eingeführte)  Unterabthei- 
lung in  Sectionen ,  welche  in  der  That  öfter  in  der  Mitte  eines 
Verses  beginnen.  Die  Verszählung  lauft  hier  durch  das  ganze  Buoh 
fort,  während  bei  Clough  mit  jeder  Section  eine  neue  Zahlenreihe 
beginnt,  beide  Ausgaben  sind  darum  nicht  eben  bequem  neben 
einander  zu  gebrauchen.  Herr  Subhüti  theilt  die  Seite  in  drei 
Columnen,  in  der  ersten  giebt  er  die  singhalesische  Bedeutung  der 
Wörter,  in  der  mittleren  den  Text  der  Abhidhänappadlpika,  in  der 
dritten  endlich  die  englische  Erklärung,  die  letztere  ist  durchweg 
neu  und  von  der  Clough'schen  mehrfach  abweichend.  Die  Angaben, 
wie  die  Wörter  zu  trennen  seien,  die  bei  Clough  unter  dem  Texte 
stehen,  sind  hier  an  das  Ende  des  Buches  verwiesen.  Um  uns  nun 
eine  Ansicht  über  das  Verhältniss  der  beiden  Ausgaben  zu  bilden, 
hat  Ref.  einige  der  schwierigeren  Abtheilungon  des  Buches  ver- 
glichen, für  welche  ihm  noch  eine  Kopenhagener  Handschrift  des 
Textes  und  Auszüge  aus  dem  singhalesischen  Commentare  zu  Ge- 
bote standen.  Die  Vergleichung  hat  uns  gezeigt,  dass  an  Varian- 
ten kein  Mangel  ist  und  dass  eine  kritische  Ausgabe  des  Textes 
mit  Benutzung  aller  vorhandenen  Hülfsmittel  und  den  wichtigsten 


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Schriften  über  den  Buddhismus. 


491 


Lesarten  noch  immer  nicht  überflüssig  wäre.  Es  soll  nicht  ge- 
läugnet  werden,  dass  Herr  S.'s  Ausgabe  manche  Verbesserung  der 
Clough'scben  gegenüber  bietet,  so  z.  B.  wenn  diese  v.  544  (=  II, 
8.  1.  9.  Cl.)  in  den  Worten  vantam  (i.  e.  vrintam)  pupphädiband- 
banam  zwei  Wörter  sieht,  die  >  Blumenstengel«  bedeuten,  während 
Herr  S.  gewiss  Recht  hat,  das  letztere  nur  als  Erklärung  des  erste- 
ren  aufzufassen.  Ebenso  V.  546  (1  c.  v.  11)  wird  durch  die  Worte 
pbalam  tu  pakkamnccate  nur  phalam  erklärt,  nicht  auch  pakkam, 
dessen  Erklärung  an  einer  ganz  andern  Stelle  (v.  1017)  vorkommt. 
An  andern  Stellen  bleiben  Zweifel,  so  z.  B.  wenn  Herr  S.  vv.  540. 
903  vanappati  schreibt,  während  Clough  an  beiden  Stellen  vanaspati 
giebt,  die  letztere  Form  wäre  durchaus  nicht  unerhört,  wenn  auch 
die  erstere  mit  Rücksicht  auf  takkara  =  taskara  unbedenklich  er- 
scheint. Für  »lodh,  the  pale  sort«  giebt  Herr  S.  v.  556  galavo, 
was  sich  allerdings  im  Sanskrit  wiederfindet,  aber  die  Handschrift, 
der  singhalesische  Coramentar  und  Clough  geben  sälavo.  Ebenso 
steht  v.  560  für  t  Ebenholz«  timbarusaka,  timbaru,  diessraal  im 
Einklaug  mit  dem  Commentar,  während  Clough  timbaru,  sakatimbaru 
abtheilt.  In  demselben  Verse  finden  wir  eravato  (orange),  in 
Uebereinstimmung  mit  dem  Sanskrit,  aber  die  andern  Quellen  geben 
eravauo,  zum  Theil  sogar  mit  lingualom  n.  Es  fragt  sich  hier 
natürlich  vor  Allem,  ob  die  in  der  Ausgabe  aufgeführten  Formen 
gleichfalls  auf  handschriftlicher  Autorität  beruhen.  Auch  v.  561 
hat  unsere  Ausgabe  richtig  tilaka  (Tila)  für  Clough's  tillaka.  Doch 
ist  nicht  in  allen  Fällen  das  Recht  auf  der  Seite  der  neuen  Aus- 
gabe, Manches  ist  entschieden  richtiger  bei  Clough:  in  andern 
Fallen  bleibt  die  Entscheidung  mindestens  zweifelhaft.  Dahin  möch- 
ten wir  es  rechnen  von  v.  565  kutasimball  (sort  of  cotton)  steht, 
während  unsere  übrigen  Quollen  kotisimball  gelesen  wissen  wollen; 
v.  569  giebt  die  neue  Ausgabe  harltakl  (yellow  myrobalan),  aller- 
dings in  Uebereinstimmnng  mit  dem  Sanskrit,  aber  alle  unsere 
Quellen  haben  haritakam,  so  steht  auch  zweimal  in  Mahavansa. 
In  demselben  Verse  steht  panaso  karandaklpbalo  gegen  das  Metrum, 
die  übrigen  Quellen  lesen  richtig  kantaklphalo.  Ebendaselbst  ist 
mit  denselben  Quellen  richtiger  dadimo  statt  dalimo  zu  lesen.  V.  575 
steht  bhandiko,  alle  übrigen  lesen  bhandika  (dophariya)  in  Ueber- 
einstimmung mit  dem  Sanskrit.  V.  570  steht  aus  Versehen  arittho 
statt  rittho,  wie  das  Metrum  fordert.  Ebenso  ist  v.  578  devatado, 
die  Lesart  Clough's,  der  von  Herrn  S.  gebilligten  devataso  ent- 
schieden vorzuziehen.  Schwierig  ist  das  in  demselben  Verse  vor- 
kommende amiläto  (globe,  amaranth).  Die  Schreibart  schwankt  gar 
sehr,  die  Kopenhagener  Handschrift  hat  äniiläno,  der  Commentar 
avilanaya,  das  Sanskrit  bietet  nichts  Aehnliches.  Clough  liest  ganz 
abweichend  kotilaro.  V.  580  ist  sicher  rukkhädanl  nicht  rukkhadani 
(a  parasite  plant)  zu  lesen,  wie  das  identische  vrixädanl  des 
Sanskrit  ausweist.  Solche  Beispiele  könnten  wir  noch  viele  an- 
fahren, wir  hoffen  indess,  dass  schon  die  vorstehenden  genügen  um 


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492  Schriften  über  den  Buddhismus. 

zu  erweisen,  dass  beide  Ausgaben  benutzen  muss  wer  eine  Wort- 
form im  PaH  ganz  sicher  stellen  will.  Vollkommen  Neues  bieten 
uns  nur  die  letzten  11  Seiten  des  Buches.  Sie  enthalten  zwei  Ab- 
handlungen, von  denen  die  erste  den  Namen  ekakkharakosa  führt 
und  von  einem  gelehrten  Buddhisten  in  Barma,  Saddhammakitti, 
herrührt.  Sie  erläutert  die  Bedeutung  verschiedener  Endsilben  wie 
a.  ä,  i  l,  ka,  ki,  ku  u.  s.  w.  und  fällt  vielfach  mit  unserer  Lehre 
von  den  Suffixen  zusammen.  Für  uns  Europäer  ist  die  Abhand- 
von  keinem  grossen  Nutzen,  die  Erklärungen  sind  zu  kurz,  es  be- 
dürfte vor  Allem  erläuternder  Beispiele  um  immer  sicher  zu  sein, 
was  der  Verfasser  meint.  Mehr  nach  unserem  Geschmacke  ist  die 
zweite  Abhandlung:  vibhattyatthapakaranam,  deren  Verfasser  sich 
nicht  nennt.  Es  ist  eine  kurze  Angabe  über  die  Functionen  der 
einzelnen  Casus  mit  passenden  Beispielen,  Neues  für  uns  enthält 
jedoch  auch  diese  Abhandlung  nicht.  Wichtiger  wäre  es  gewesen, 
wenn  unserem  Wörterbucho  ein  Verzoichniss  der  Verbalwurzeln  bei- 
gegeben worden  wäre.  Die  Abhidhänappadlpika  beschränkt  sich 
auf  Substantive,  Adjective  und  Partikeln,  die  Verbalwurzeln  wer- 
den besonders  verzeichnet.  Eines  dieser  Verzeichnisse  Dbatu- 
manjarl  ist  von  Clough  veröffentlicht,  doch  lässt  die  Correctbeit 
Manches  zu  wünschen  übrig,  ein  anderes  Dhätupätha,  nach  des 
Ref.  Ansicht  das  bessere,  harrt  noch  der  Herausgabe.  Wir  erlauben 
uns  hier,  auf  diesen  Punkt  aufmerksam  zu  machen. 

Die  dritte  der  anzuzeigenden  Schriften  führt  uns  in  das  Ge- 
biet des  nördlichen  Buddhismus.  Das  gebirgige  Tibet,  das  seiner 
Natur  nach  viel  Aehnlichkeit  hat  mit  dem  im  Westen  gelegenen 
Armenien,  scheint  auch  in  seiner  Entwicklung  ähnliche  Verhält- 
nisse aufzuweisen.  Durch  hohe  Bergzüge  in  seinem  Innern  in  viele 
Thäler  zerklüftet,  die  nur  schwer  mit  einander  verkehren  konnten, 
war  es  auf  das  Sonderleben  der  einzelnen  Stämme  angewiesen  und 
erst  spät  scheint  ein  grösseres  Reich  sich  entwickelt  zu  haben. 
Noch  im  1.  Jahrhundert  n.  Chr.  erwähnen  die  Chinesen  nicht 
weniger  als  52  kleine  Reiche  in  Tibet  und  etwa  im  Jahrhundert 
v.  Chr.  Geb.,  nach  Herrn  S.'s  Berechnung,  wurde  die  Dynastie  ge- 
stiftet, über  deren  Geschichte  die  vorliegende  Abhandlung  einen 
üeberblick  giebt.  Das  Gebiet  des  Yarlungflusses  trennt  Tibet  von 
den  südlichen  Provinzen  des  chinesischen  Reiches  und  das  Clima 
ist  dort  milder  als  in  den  westlichen  Theilen  Tibets.  Das  ur- 
sprüngliche Gebiet  der  Könige  von  Yarlung  ist  nur  klein,  sie  be- 
hielten aber  diesen  Titel,  zur  Unterscheidung  von  andern  Dynastien, 
auch  später  noch  bei,  als  sie  ein  weit  grösseres  Gebiet  beherrsch- 
ten. Als  erster  König  der  Dynastie  wird  Buddbacrt  genannt,  der 
von  Indien  aus  etwa  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  nach  dem  Yarlung- 
gebiete  gekommen  sein  soll,  und  es  scheint  ziemlich  lange  gedauert 
zu  haben,  bis  er  und  seine  Nachfolger  ihren  fremdländischen  Ur- 
sprung in  Vergessenheit  bringen  konnten.  Es  fragt  sich  übrigens, 
ob  die  Erzählung  von   dem  indischen   Ursprung  des  Königsge- 


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Schriften  Über  den  Buddhismus. 


493 


schlechtes  wirklich  wahr  ist,  ähnliche  Ansprüche  werden  gar  oft 
erhoben  von  ausserindischen  Völkern ,  welche  den  Buddhismus 
angenommen  haben.  Die  vorliegende  Abhandlung  giebt  nur  eine 
sehr  gedrängte  üebersicht  der  Schicksale  dieser  Dynastie  von  ihrem 
ersten  Auftreten  im  1.  Jahrb.  v.  Chr.  bis  zu  ihrem  Erlöschon  im 
Jahr  1834.  Der  Herausgeber  Herr  E.  Schlagintweit ,  einer  der 
seltenen  Kenner  der  tibetischen  Sprache  in  Europa,  hat  uns  hier 
den  tibetischen  Originaltext  gegeben  sammt  einer  Uebersetzung 
mit  vielen  erläuternden  Noten ,  ausführlichen  Verzeichnissen  der 
Genealogien  und  reichhaltigen  Registern.  Als  Üebersicht  über  die 
Geschichte  des  für  die  Geschichte  des  Buddhismus  so  hochwichti- 
gen Tibet  ist  die  Abhandlung  sehr  werthvoll,  Vollständigkeit  hat 
der  Verfasser  nicht  beabsichtigt.  Die  geschichtlichen  Notizen  gehen 
mehr  auf  die  Religion  als  auf  die  politischen  Verhältnisse,  wie  das 
Land  in  geistiger  Beziehung  von  Indien  abhängig  war,  so  hat  es 
sich  in  industrieller  an  China  angeschlossen.  Der  Herausgeber  die- 
ser Abhandlung,  dem  wir  schon  so  manchen  schönen  Beitrag  für 
die  Geschichte  und  das  Verständniss  des  nördlichen  Buddhismus 
verdanken,  wird  uns  hoffentlich  mit  noch  manchem  Resultate  sei- 
ner gelehrten  Studien  beschenken. 

Es  wird  nicht  unpassend  sein  an  die  obigen  Schriften  auch 
die  unter  Nr.  4  genannte  Abhandlung  anzuschliessen ,  obwohl  sie 
nicht  den  Buddhismus,  sondern  das  Jainathum  behandelt.  Dass 
die  besonders  im  westlichen  Indien  sehr  verbreiteten  Jainas  mit  den 
Buddhisten  in  engem  Zusammenhange  stehen,  ist  gewiss,  nicht  ganz 
so  ausgemacht  ist,  welcher  der  beiden  Religionen  der  Vorrang  des 
Alters  gebührt.  Männer  wie  Colebrooke  und  noch  neuerdings  Ste- 
venson haben  sich  zu  Gunsten  der  Jainas  erklärt;  Wilson  und 
Lassen  dagegen  diesen  ein  sehr  spätes  Auftreten,  etwa  1100  n. 
Chr.  zugeschrieben.  Diese  letztere  Ansicht  ist  nun  allerdings  in 
neuerer  Zeit  etwas  geändert  worden,  indem  nun  auch  Lassen  (ct. 
Indische  Alterthumsk.  IV,  763)  vorschlägt,  die  Entstehung  des 
Jainathums  ins  1.  Jahrh.  vor  unserer  Zeitrechnung  zu  setzen;  da- 
mit ist  jedoch  keine  grundsätzliche  Annäherung  an  die  erstere  An- 
sicht gegeben,  das  höhere  Alter  des  Buddhismus  wird  vielmehr 
fortwährend ,  und  wohl  mit  Recht  festgehalten.  Dagegen  ist  es 
nicht  unmöglich,  dass  die  Jainas  auf  eine  der  aus  dem  Buddhis- 
mus entstandenen  Sekten  zurückgehen  (vgl.  auch  die  vorlieg.  Abh. 
p.  440.  441).  Was  wir  bis  jetzt  über  die  Jainas  und  ihre  Ent- 
stehung wissen,  hat  Lassen  im  4  Bande  seiner  indischen  Alter- 
thumskunde zusammengestellt,  man  kann  daraus  sehen,  wie  stief- 
mütterlich die  Jainalitteratur  im  Vergleiche  zu  dem  Buddhismus 
noch  bedacht  ist ;  nur  sehr  Weniges  ist  früher  von  Stevenson  und 
Weber  bekannt  gemacht  worden,  dieses  Wenige  zum  Theil  nur  in 
üebersetzung.  So  lange  wir  nun  weder  die  Entwicklung  dieser 
Religion  in  ihren  Hauptztigen  kennen,  zugleich  mit  den  Schriften 
auf  die  sie  sich  vornehmlich  stützt,  ist  es  schwer  über  ihr  Ver- 


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494 


Schriften  Über  den  Buddhismus. 


hältniss  zum  Buddhismus  eiu  gültiges  Urtheii  sich  zu  bilden.  — 
Die  vorliegende  Abhandlung  beabsichtigt  uns  nach  einer  Seite  hin 
weitere  Aufschlüsse  über  die  Jainas  zu  geben,  über  die  Sprache 
niimlich,  deren  sie  sich  in  ihren  Schriften  bedienen.  Wie  nämlich 
die  Buddhisten  das  Sanskrit  und  das  Päli  anwenden,  so  gebrau- 
chen die  Jainas  bald  das  Sanskrit,  bald  das  Prakrit,  aber  auch 
die  neuern  Volkssprachen  Indiens.  Dieses  Prakrit  benennen  die 
Jainas  wie  die  Buddhisten  ihr  Pali,  mit  dem  Namen  Magadhi. 
In  dieser  Sprache  ist  nun  auch  die  Bhagavati  d.  i.  die  glückselige 
(Unterweisung)  geschrieben,  die  zu  den  Hauptschriften  der  Jainas, 
den  elf  oder  zwölf  Angas,  gehört.  Diese  Schrift  will  wenigstens 
in  eine  verhältnissmUssig  frühe  Zeit  gehören  und  unterscheidet  sich 
dadurch  von  den  übrigen  bis  jetzt  bekannten  Jainaschriften ,  die 
ihrem  eigenen  Geständnisse  nach  jung  sind.  Was  die  Sprache  an- 
betrifft, so  kann  Ref.  sein  früheres  Urtheii,  dem  auch  der  Verf. 
dieser  Abhandlung  (p.  373)  beipflichtet,  nur  wiederholen.  Das 
Mägadhi  der  Jainas  unterscheidet  sich,  und  zwar  zu  seinem  Nach- 
theile, von  dem  Pali  der  Buddhisten  und  stellt  eine  weit  jüngere 
Entwicklung  der  indischen  Sprache  dar  als  dieses.  Wenn  das  Pali 
zusammen  mit  den  Dialekte  der  Asokainschriften  die  erste  Stufe 
der  indischen  Dialekten  bildet,  die  sich  aus  dem  Sanskrit  ent- 
wickelt haben,  so  stellt  dagegen  das  Magadhi  der  Jainas  zusam- 
men mit  dem  Prakrit  der  Dramen  die  zweite  Stufe  der  Entwick- 
lung dar.  Man  wird  übrigens  auch  gut  thun  die  Jainatexte  nicht 
blos  mit  den  ältern,  sondern  auch  mit  den  jüngern  Sprachen  In- 
diens zu  vergleichen.  Ref.  ist  tiberzeugt,  dass  nicht  blos  das  Prakrit, 
sondern  auch  das  Sanskrit  der  Jainas  aus  den  Volksdialekten  des 
westlichen  Indiens  wesentliche  Aufklärungen  erhalten  wird.  Diess 
begreift  sich  auch  ganz  leicht,  wenn  man  bedenkt,  wie  viele  die- 
ser Bücher  erst  in  den  letzten  Jahrhunderten  geschrieben  wurden, 
und  dass  die  Verfasser  Wörter  und  Constructionen  des  gewöhn- 
lichen Lebens  in  ihre  Bücher  übertrugen.  In  dem  Umstände,  dass 
die  Jainas  das  Prakrit  als  heilige  Sprache  gebrauchen,  sehen  wir 
nun  allerdings  in  Abweichung  von  Herrn  W.  (cf.  p.  374)  ein 
charakteristisches  Merkmal  für  die  jüngere  Entstehung  der 
Jainareligion.  Es  ist  wahr,  wenn  ein  Buch  im  Sanskrit  oder  im 
Pali  geschrieben  ist,  so  braucht  es  darum  noch  nicht  alt  zu  sein, 
denn  beider  Sprachen  bedient  man  sich  auch  noch  bis  auf  den 
heutigen  Tag  mit  grosser  Gewandtheit.  Anders  stellt  sich  die 
Sache  dar,  wenn  man  die  Verhältnisse  mehr  im  Allgemeinen  be- 
trachtet. Warum  schrieb  man  ursprünglich  im  Pali  und  nicht  im 
Sanskrit?  Ohne  Zweifel  weil  damals  das  Pali  die  geläufige  Volks- 
sprache war,  und  man  sich  dieser  lieber  als  des  gelehrtern  Sanskrit 
bediente,  weil  sich  der  Buddhismus  vorzugsweise  an  das  Volk  wen- 
den wollte,  später,  als  die  sprachlichen  Verhältnisse  sich  geändert 
hatten,  blieb  das  Pali  seiner  Literatur  wegen  eine  heilige  Sprache. 
Aebnlich  wird  sich  die  Sache  auch  mit  den  Jainas  verhalten,  auch 


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Hertz:  De  M«  Plautio.  496 

sie  wollten  sieh  an  das  Volk  wenden,  aber  sie  mussten  sich  eines 
jüiigern  Dialektes  bedienen  als  die  Buddhisten,  weil  sie  in  einer 
spätem  Zeit  auftroten.  Zu  solchen  sprachlichen  Voraussetzungen 
stimmt  auch  der  Inhalt  der  Bhagavatl.  Sie  zeichnet  sich  durch 
ungemeine  Weitschweifigkeit  aus,  und  stimmt  ihrer  Anlage  nach 
zu  den  sogenannten  Mahä-vaipulya-  satras ,  einer  ziemlich  spä- 
ten Gattung  der  buddhistischen  Literatur.  Die  Eigentümlich- 
keit der  Handschrift  erstreckt  sich  bis  auf  die  Schrift,  doch  scheint 
diese  dem  Ref.  nach  den  beigegebenen  Proben  sich  nicht  von  der 
Schreibart  zu  unterscheiden,  welche  wir  in  den  Handschrif- 
ten Neriosenghs  finden,  es  werden  eben  Eigenthümlichkeiten 
in  den  Schriftzflgen  des  westlichen  Indiens  sein.  Ueber  die  Ein- 
zelnheiten der  Sprache  des  Buches  werden  hier  dankenswerthe 
Aufschlüsse  gegeben,  zu  sicherm  Urtheile  bedürfen  wir  jedoch  kri- 
tisch gesichteter  Texte,  aus  den  Schreibweisen  einer  einzelnen  Hand- 
schrift dürfen  nicht  zu  weit  gehende  Schlüsse  gezogen  werden. 
Ganz  auffallend  und  eigenthümlich  ist  die  Verwandlung  der  mei- 
sten Consonanten  (k,  g,  c,  j,  t,  d)  in  y.  Das  Schwanken  zwischen 
u  und  o  ist  als  blos  graphisch,  es  findet  sich  ebenso  im  Guzerati. 
Einschaltung  eines  m  findet  sich  auch  im  Päli  an  mehreren  Stellen« 
—  In  einem  weiteren  Theile  seiner  Abhandlung  wird  Herr  W. 
mehr  dem  Inhalt  der  Bhagavatl  besprechen,  wir  hoffen  bei  Gelegen- 
heit auf  den  Gegenstand  zurückzukommen. 

Fr.  Spiegel. 


Marlini  Herls  de  M.  Plaulio  poela  ac  pictore  commenlalio. 
WratUlaviaeMDCCCLXVll.  168.  4.  (Zu  dem  Index  Leclionum.) 

Diese  Gelpgenbeitsschrift  behandelt  eine  für  die  Kenntniss  der 
ältern  römischen  Poesie  und  damit  zugleich  für  die  Geschichte  der 
römischen  Literatur  überhaupt  nicht  unwichtige  Frage,  die  darum 
auch  hier  besprochen  zu  werden  verdient.  Sie  betrifft  den  angeb- 
lichen Dichter  Plautius,  auf  welchen  nach  dem  Zeugniss  des 
Gellius  (N.  A.  III,  3),  der  selbst  aber  darin  auf  Varro  sioh  be- 
ruft, manche  der  hundert  und  dreissig  unter  dem  Namen  des  Plau- 
tus  in  Umlauf  befindlichen  Komödien  zurückzuführen  seien.  Dieser 
Dichter  ist  uns  sonst  gar  nicht  weiter  bekannt,  wie  diess  leider 
bei  so  manchen  Dichtern  der  früheren  Periode  der  Fall  ist,  die 
wir  auch  nur  dem  Namen  nach  kennen ;  allein  es  liegt  darin  kein 
Grund,  die  Existenz  eines  Dichters  Plautius  zu  bezweifeln,  wie  dies 
theilweise  geschehen  ist,  und  damit  zugleich  der  Autorität  eines 
solchen  Kenners  der  römischen  Literatur,  wie  Varro  es  war,  der 
selbst  seine  gelehrten  Forschungen  über  Plautus  und  die  ältere 
römische  Bühne  ausgedehnt  hatte,  entgegenzutreten.  Wenn  nun 
schon  früher  Ritsehl  gezeigt,  wie  wenig  jener  Zweifel  an  der  Exi- 
stenz eines  Dichters  Plautius  begründet  ist,  so  wird  die  gründ- 


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Hertz:  De  M.Plautio. 


liehe  and  erschöpfende  Untersuchung,  welche  der  Verfasser  in  dem 
ersten  Theile  seiner  Schrift  diesem  Punkte  gewidmet  hat,  dieses 
ErgebnisB  in  jeder  Hinsicht  nur  bestätigen  und  jeden  Zweifel  an 
einem  Dichter  der  römischen  Comödio  Plautius  beseitigen.  Aber 
bei  diesem  Resultat  bleibt  der  Verf.  nicht  stehen,  er  geht  weiter, 
indem  er  die  Person  dieses  Dichters  in  dem  von  den  Ardeaten  ge- 
feierten und  mit  dem  Bürgerrecht  beschenkten  Maler  Plautius 
Marcus,  wie  er  in  dem  Epigramm,  das  den  von  ihm  gefertigten 
Gemälden  in  dem  Tempel  zu  Ardea  beigefügt  war,  genannt  wird 
(s.  Pliniu8  H.  N.  XXXV  g.  115  vgl.  §.  17),  zu  erkennen  glanbt, 
und  in  der  That  auch  Alles  aufgeboten  hat,  um  diese  Vermutbang 
zu  einem  gewissen  Grade  von  Wahrscheinlichkeit  zu  fuhren,  zumal 
wenn  die  weitere  Vermuthung  des  Vorfassers  Grund  hat,  dass  wir 
in  eben  demselben  Maler  dann  auch  den  Verfasser  dieses  in  Hexa- 
metern gefassten,  nach  Versicherung  des  Plinius,  dem  wir  diese 
gauze  Mittheilung  Uberhaupt  verdanken ,  in  altlateinischer  Schrift 
den  Gemälden  beigefügten  Epigramms  zu  erkennen  haben.  Dann 
wäre  der  Dichter  nachgewiesen :  die  Verbindung  eines  Dichters  und 
Malers  in  Einer  Person  aber  schon  durch  dieselbe  Verbindung 
in  Pacuvius  minder  befremdlich.  Endlich  stehen  auch  die  Zeit- 
verhaltnisse nicht  im  Widerspruch,  diesen  Plautius  in  die  nächste, 
uumittelbar  auf  Plautus  folgende  Zeit  zu  verlegen,  und  zwar 
nach  Ennius,  insofern  durch  diesen  der  Hexameter,  in  welchen 
jenes  Epigramm  gefasst  ist,  eingeführt  ward.  Allerdings  läset 
sich  hier  nicht  Alles  mit  völliger  Gewissheit  darstellen,  wie  diess 
in  dem  ersten,  die  Existenz  des  Dichters  nachweisenden  Theil  der 
Fall  ist,  aber  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  —  und  ein  Mehreres 
wird  in  allen  solchen  Fällen  kaum  erzielt  werden  können  —  lässt 
nich  der  wohl  begründeten  Combination  nicht  absprechen.  Auf 
Einzelnes  weiter  einzugehen  ist  hier  der  Ort  nicht :  namentlich  auch 
auf  die  kritischen  Schwierigkeiten,  welche  der  Text  jenes  Epigramms 
bei  Plinius  bietet,  wo  es  noch  immer  zweifelhaft  erscheinen  mag, 
ob  in  dem  im  ersten  Verse  befindlichen  loco,'was  alle  Handschrif- 
ten und  ältern  Ausgaben  bringen,  wirklich  der  Name  Luco  (Jvxm>) 
oder  Loco  als  ursprünglicher  Eigennamen  enthalten  ist.  Wir  er- 
wähnen diess  nur,  um  damit  zugleich  auf  die  kritische  Untersuch- 
ung aufmerksam  zu  machen,  welche  der  Verfasser  seiner  sorg- 
fältigen und  genauen  Erörterung  der  Worte  dieses  Epigramms  bei- 
gefügt hat.  Chr.  BAlir. 


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m.  32.  HEIDEIB'ERGEK  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Qu  int  us  von  Smyrna.  Die  Fortsetzung  der  llias.  Deutsch  in  der 
Vergart  der  Urschrift  von  J.  J.  C.  Donner.  Stuttgart.  Krais 
§  Hoffmann.  1866  u.  1867.  Erstes  Bändchen.  71  S.  Zweites 
Bändchen.  61  S.  Drittes  Bändchen.  57  8.  Viertes  Bändchen. 
51  S.  Fünftes  Bändchen.  39  S.  in  kl.  8. 

Das  Gedicht,  das  uns  hier  in  deutschem  Gewände  geboten 
wird,  verdiente  eben  so  sehr  durch  seinen  Inhalt,  wie  durch  seine 
dichterische  Ausführung,  wenn  dieselbe  auch  an  einer  gewissen 
Breite  leidet,  immerhin  eine  solche  Uebertragung,  wie  wir  sie  hier 
von  derselben  Hand  erhalten,  die  uns  die  Gedichte  des  Homerus, 
wie  der  drei  grossen  Tragiker ,  des  Aristophanes  und  Pindar  in 
so  meisterhaften  Uebertragungen,  wie  deren  keine  Nation  sich  rüh- 
men kann,  geboten  hat.  Kann  sich  zwar  der  Verfasser  dieses  Ge« 
dichtes,  den  wir  eben  so  wenig  näher  kennen  als  die  Zeit,  in 
welche  die  Abfassung  füllt,  jenen  grossen  Heroen  der  hellenischen 
Poesie  nicht  nahe  stellen,  sein  Gedicht,  das  unmittelbar  an  die 
homerische  llias  sich  anschliesst  und  so  ohne  Weiteres  eine  Fort- 
setzung derselben  geben,  die  weiteren  Kämpfe  der  Troer  und  Helle- 
nen, die  Eroberung  Troja's  bis  zur  Abfahrt  der  Griechen  schildern 
soll,  ist  ein  höchst  beachtenswertes  und  gewiss  auch  anerkennens- 
werthes  Produkt,  das  weit  über  die  Zeit,  in  die  es  wahrscheinlich 
zu  verlegen  ist,  das  vierte  christliche  Jahrhundert  hervorragt,  und 
jedenfalls  als  eine  der  besten  Schöpfungen  des  sinkenden  Hellenen- 
thums anzusehen  ist;  insbesondere  enthält  es  manche  schöne  Par- 
tien in  einzelnen  Schilderungen,  namentlich  Schilderungen  von 
Kämpfen  und  Schlachten,  in  welchen  der  Dichter  sich  besonders 
gefällt,  der  auf  homerischer  Grundlage  dichtend  und  an  Homer  in 
der  Form  sich  möglichst  anschliessend,  doch  die  natürliche  Ein- 
fachheit der  homerischen  Dichtung  vermissen  lässt,  und  durch  eine 
kunstvollere,  gesuchtere  Ausdrucks* eise,  durch  die  ungemessene 
Fülle  schmückender  Beiwörter  u.  dgl.  m.  der  Uebertragung  in  unsere 
Sprache  ungleich  grössere  Schwierigkeiten  bietet,  wenn  man  anders 
an  dasselbe  Metrum  sich  halten,  Sinn  und  Charakter  des  Ganzen 
treu  wiedergeben  will.  Diess  aber  war  eben  die  Aufgabe,  welche 
der  Ueber8etzer  sich  bei  seinem  Werke  gestellt,  da  er  gleich 
dem  Verlasser  selbst,  ein  homerisches  Gedicht  in  dieser  Fortsetzung 
der  llias  zu  liefern,  und  dem  Ganzen,  namentlich  auch  von  Seiten 
der  Sprache  und  des  Ausdruckes,  ein  homerisches  Gepräge  zu  verleihen 
bemüht  war,  was  ihm  auch  gewiss  gelungen  ist,  so  dass  wir,  wenn 
nicht  die  Uoberfülle,  auf  die  wir  hierstossen,  und  Anderes,  was 

LIX.  Jahrg.  7.  Heft.  32 

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Quintus  von  Smyrna  von  Donner. 


von  der  Einfachheit  des  homerischen  Gedichtes  sich  allzusehr  ent- 
fernt, bald  ein  Bedenken  hervorrufen  müsste,  in  der  fliessenden 
und  correcten  Uebertragung  eine  wirkliche  Fortsetzung  der  Ilias 
des  alten  homerischen  Sängers  zu  lesen  glauben  würden.  So  sehr 
hat  es  der  Uebersetzer  verstanden,  sich  in  den  Geist  homerischer 
Dichtung  zu  versenken,  den  richtigen  Ton  derselben  zu  treffen  und 
wiederzugeben.  Wir  wollen  diess  mit  einigen  Proben  belegen,  die  wir, 
ohne  lange  zu  suchen,  mehr  aufs  Geradewohl  den  einzelnen  Thei- 
len  des  Gedichtes  entnehmen,  dessen  üebersetzung  übrigens  durch- 
aus gleichmässig  gehalten  ist. 

Das  Gedicht  selbst  knüpft  bekanntlich  ohne  alle  weitere  Ein- 
leitung oder  Uebergang  unmittelbar  an  den  letzten  Gesang  der  Ilias 
an,  um  die  nach  Hektor's  Tod  eingetretenen  Kämpfe  zu  schildern, 
im  ersten  Gesang  die  Kämpfe  der  unter  Penthesilea's  Führung 
ausziehenden  Troer  mit  den  Achäern,  die  anfangs  zurückweichend, 
dann  unter  des  Achill  und  Ajas  Führung  die  Troer  in  die  Flucht 
schlagen,  die  Penthesilea  und  die  Amazonen  niederwerfen.  Wir 
wählen  die  Stelle,  wo  Ajas,  als  die  Trojaner  vordringen,  den  Achil- 
les auffordert  zur  Theiinahme  an  dem  Kampfe  mit  den  Worten 
Vers  503  ff. 

Bings  umdröhnt  mir  die  Ohren  ein  schauriges  Tosen,  Achilleus, 
Dass  mir  ahnt,  wohl  habe  gewaltiger  Kampf  sich  erhoben. 
Gehen  wir  denn ;  sonst  kommen  die  Dardaner  uns  an  den  Schiffen, 
Fürcht'  ich,  zuvor  und  morden  das  Volk  und  verbrennen  die  Schiffe. 
Und  das  wäre  ja  Schande  für  uns  und  ein  kränkender  Vorwurf. 
Uns,  Kronions  Enkeln,  geziemt  nicht,  unserer  Väter 
Heiligen  Stamm  zu  schänden,  die  Troja's  leuchtende  Veste 
Selbst  vordem  mit  den  Lanzen  erstürmt  und  in  Trümmer  geworfen, 
Als  sie  Laomedon  zwangen  im  Bund  mit  dem  starken  Herakles. 
Aehnliches  wird  auch  jetzt  von  unseren  Armen  vollendet, 
HofP  ich;  denn  mächtige  Stärke  verlieh'n  uns  beiden  die  Götter. 
Sprach's,  und  dem  Worte  gehorchte  die  muthige  Kraft  des 

Achilleus. 

Ihm  auch  war  das  Getose  des  Kampfs  in  die  Ohren  gedrungen. 
Und  nun  eilten  die  beiden  in  strahlende  Wehr  sich  zu  hüllen, 
Stellten  sich  dann,  umhüllt  von  der  Wehr,  an  die  Spitze  der 

Völker. 

Graunvoll  dröhnten  die  Waflen,  die  herrlichen  ;  ähnlich  dem  Kriegs- 
gott, 

Brannte  der  Muth  in  den  Seelen  der  Stürmenden ;  solche  Gewalt  gab 
Beiden  in's  Herz  Athenäa,  des  Zeus  siegprangende  Tochter. 
Argos'  Jünglinge  jauchzten,  die  tapferen  Männer  erblickend ; 
Glichen  sie  doch  des  grossen  Aloeus  riesigen  Söhnen, 
Welche  die  mächtigen  Berge  hinan  zu  dem  weiten  Olympos 
Einst  sich  rühmten  zu  wälzen,  des  Pelion  Höh'n  und  des  Ossa 
Ragendes  Haupt,  kühn  strebend,  sogar  in  den  Himmel  zu  klimmen: 


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Quintus  von'Smyrna  von  Donner.  409 

Also  warfen  die  Beiden  der  furchtbaren  Schlacht  sich  entgegen, 
Aeakoa'  Enkel,  zur  Lust  dem  verlangenden  Volk  der  Achäer, 
Beide  zum  Kampf  fortstürzend,  um  Troja's  Heer  zu  vernichten. 
Und  viel  Männer  erschlugen  sie  da  mit  den  grimmigen  Lanzen. 
Wie  zwei  mächtige  Löwen  vereint  auf  wollige  Schafe, 
Die  von  den  schützenden  Hirten  getrennt  sind,  stossen  im  Berg- 
wald, 

Und  sie  würgen  in  Haufen  so  lang,  bis  beide  vom  dunklen 
Blute  geschlürft  und  den  Bauch  mit  dem  leckeren  Raube  gesättigt : 
Also  sandten  die  Beiden  unzählige  Männer  zum  Tode. 

Mit  besonderer  Ausführlichkeit  ist  dann  der  Kampf  des  Achil- 
les mit  der  Penthesilea  geschildert;  Vs.  599  heisat  es  von  Achill: 

Sprach's  und  stürmte  heran,  im  mächtigen  Arme  die  Lanze 
Schwingend,  des  Cheiron  Werk,  die  menschenvertilgende,  starke, 
Stiess  sie  darauf,  nicht  säumend,  der  streitbaren  Penthesileia 
Hechts  in  die  Brust;  schwarz  strömte  das  Blut  aus  klaffender 

Wunde, 

Und  ihr  brach  in  den  Gliedern  die  Kraft;  die  gewaltige  Streitaxt 
Liess  sie  der  Hand  entsinken,  und  ringsum  breitete  Dunkel 
Ihr  um  die  Augen  sich  her,  und  Schmerz  durchzuckte  den  Busen. 
Doch  sie  erholte  sich  bald  und  blickte  dem  Feind  in  das  Antlitz ; 
Denn  er  wollte  sie  schon  von  dem  flüchtigen  Benner  herabziehen. 
Und  sie  erwog,  ob,  reissend  das  mächtige  Schwert  von  der  Hüfte, 
Sie  die  Gewalt  des  beherzten  Achilleus  muthig  bestehe, 
Oder  behend  abspringend  vom  flüchtigen  Rosse,  den  Helden 
Dringend  bestürme  mit  Bitten  und  Erz  und  Goldes  die  Fülle 
Ihm  anbiete  zur  Stelle,  womit  man  sterblicher  Menschen 
Herzen  gewinnt,  wie  trotzig  und  wild  auch  Einer  erscheine, 
Ob  sie  damit  umstimme  die  muthige  Kraft  des  Achilleus, 
Oder,  gerührt  von  den  Reizen  der  ihm  gleichaltrigen  Jungfrau, 
Er  mitleidig  ihr  gönne  den  Tag  der  ersehnten  Zurückkunft. 
Dieses  erwog  sie  im  Geist;  doch  Himmlische  fügten  es  anders. 
Denn  anstürmend  ergrimmt'  in  heftigem  Zorn  der  Pelide, 
Und  durchbohrte  sie  selbst  und  den  sturmschnell  eilenden  Renner. 
So  wie  Einer  an  Spiesse  das  Fleisch  des  geopferten  Thieres 
Steckt  in  die  lodernde  Flamme,  das  Mahl  zurüstend  in  Eile, 
Oder  ein  Jäger  im  Walde,  die  dröhnende  Lanze  versendend, 
Mitten  am  Bauche  den  Hirsch  durchbohrt  in  gewaltigem  Schwünge, 
Dass  durchstürmend  im  Fluge  die  mächtige  Spitze  hinausfuhrt, 
Und  in  dem  Stamme  der  Eiche  sich  einbohrt  oder  der  Fichte: 
So  ward  Penthesileia  zugleich  mit  dem  herrlichen  Rosse 
Vom  wildsausenden  Speer  durchbohrt  des  Peliden  Achilleus. 
Und  sie  vermählte  sich  eilig  dem  Staub  und  dem  Tode,  zur  Erde 
Leicht  hingleitend  im  Fall,  und  enthüllt'  an  den  herrlichen  Gliedern 
Nicht  den  verborgenen  Reiz;  nein,  vorwärts  sank  sie  zu  Boden, 


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ÖOO  Quintua  von  Smyrn*  von  Do[nner. 

Zuckend  am  Speer,  und  lehnte  sich  hin  an  dem  stattlichen  Bosse. 
So  wie  die  Tanne,  gebrochen  vom  schrecklichen  Hauche  des  Nord- 
sturms, 

Sie,  die  gewaltigste  rings  im  geräumigen  Thal  und  im  Bergwald, 
Welche  die  Erd' ,  ihr  selber  zum  Schmuck ,  an  der  Quelle  sich 

aufzog, 

Also  sank  von  dem  Rosse,  dem  flüchtigen,  Fenthesileia, 

Jetzt  noch  ein  Wunder  an  Reiz;  ihr  brach  in  der  Blüthe  das  Leben. 

Man  wird  übrigens  unwillkürlich  in  dieser  Schilderung  den 
Unterschied  homerischer  Schilderung  und  einer  Dichtung  des  vier- 
ten christlichen  Jahrhunderts  bald  wahrnehmen,  so  sehr  auch  in 
Allem  das  Streben,  dem  Ganzen  ein  homerisches  Colorit  zu  ver- 
leihen, vorwaltet.  Um  so  mehr  haben  wir  Ursache  die  grosse  Kunst 
des  Uebersetzers  anzuerkennen,  der  seino  durch  die  Unmasse  von 
Beiwörtern,  durch  die  Eigentümlichkeit  der  Bilder  und  Anderes 
erschwerte  Arbeit  doch  in  so  befriedigender  Weise  durchgeführt 
hat.  Aehnlicher  Art  ist  die  Schilderung  des  Kampfes  des  Achill 
mit  Memnon  im  zweiten  Gesang,  aus  welcher  allzusehr  gedehnten 
und  ins  Breite  gezogenen  Schilderung  wir  nur  Eine  Stelle  hier 
mittheilen  wollen,  die  eben  so  als  Probe  der  Meisterschaft  des 
Uebersetzers  gelten  kann;  Vs.  458 ff. 

So  der  Pelid'  und  ergriff  das  gewaltige  Schwert  mit  den  Händen  ; 
Memnon  erhob  sich  zugleich,  und  ein  wüthendes  Kämpfen  ent- 
brannte. 

Unablässig  im  Herzen  beseelt  von  unendlicher  Streitlust, 
Trafen  die  Zwei,  Streich  führend  auf  Streich,  die  genabelten  Schilde, 
Welche  die  Kunst  des  HephUstos  erschuf;  bei  jeglichem  Angriff 
Prallten  die  Helme  zusammen  und  Helmbusch  streifte  den  Helmbusch. 
Beiden  zumal  wohlwollend,  verlieh  der  Kronide  den  ^Beiden 
Kiesige  Kraft,  und  erhöhte  den  Wuchs  weit  Uber  die  Grösse 
Sterblicher  Leiber  hinaus,  und  Eris  freute  sich  Beider. 
Stürmisch  entbrannt,  alsbald  in  den  Leib  sich  die  Lanzen  zu 

bohren, 

Spähten  sie  nun  nach  Stellen,  wo  Raum  sich  fände  für  Wunden, 
Zwischen  dem  Schild  und  dem  Helm,  oft  dorthin  richtend  den 

Angriff, 

Oft  auch  über  den  Schienen  ein  Weniges,  unter  den  bunten 
Panzer  sodann,  der  eng  an  die  rüstigen  Glieder  sich  anschloss. 
Also  rangen  die  Beiden  im  Streit;  um  die  Schultern  erdröhnte 
Rauschend  die  göttliche  Wehr ;  in  den  heiligen  Aether  empor  drang 
Schlachtruf  hier  von  den  Troern  und  dort  von  beherzten  Achäern, 
Auch  äthiopischem  Volk;  Staub  wölkte  sich  unter  den  Füssen 
Weit  zu  dem  Himmel  hinan ;  schwer  wogte  der  Kampf  im  Gefilde. 

So  wie  die  Berge  der  Nebel  umzieht,  wenn  Regen  vom  Himmel 
Sich  in  die  Fern'  ausbreitet,  erregt  von  den  Hauchen  des  Südwinds, 


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Qulntns  von  Smyrna  von  Donner. 


801 


Wann  in  den  Thalen  die  Bäche  das  herabstürzende  Wasser 
Bransend  erfüllt,  von  den  Schluchten  umher  nnermessliches  Tosen 
Aufschallt,  während  den  Hirten  im  Feld  vor  dem  wilden  Gewässer 
Graut  und  dem  Nebelgewölk,  erwünscht  den  verderblichen  Wölfen 
Und  dem  Gewild,  das  sonst  aufnährt  der  unendliche  Bergwald: 
So  flog  dort  nra  die  Füsse  der  Kämpfenden  Staub  in  die  Höhe, 
Welcher,  in  Nacht  einhüllend  die  Luft,  selbst  Helios'  Lichtglanz 
Ihnen  verbarg;  schwer  drückt'  unseliges  Wehe  die  Völker, 
Die  Staubwolken  umhüllten  in  unheilbringender  Feldschlacht. 
Doch  der  Unsterblichen  Einer  zerriss  die  verdunkelnde  Wolke 
Schnell,  und  die  stolzen  Phalangen  der  Dardaner  und  der  Achäer 
Trieb  das  verhängnissschwere  Geschick,  unermüdlich  zu  schlagen 
Im  wildstöhnenden  Kampfe;  der  Kriegsgott  wüthete  rastlos 
Mordend  umher  in  den  Reihen,  und  weithin  netzten  die  Erde 
Ströme  des  Blut's ;  hoch  jauchzte  der  finstere  Gott  des  Verderbens. 
Leichen  Erschlagener  deckten  das  rossenährende  grosse 
Feld,  so  weit  es  der  Xanthos  umher  und  der  Simois  einschliesst, 
Welche  vom  Ida  strömen  zum  heiligen  Meere  der  Helle.« 

Aus  dem  dritten  Gesang,  der  insbesondere  den  Tod  des  Achil- 
les und  die  Leichenfeier  besingt,  fügen  wir  eine  Probe  anderer  Art 
hior  bei,  nämlich  die  Klage  der  Brisets,  um  Achilles  Vs.  552  ft. : 

>Aber  von  allen  am  tiefsten  betrübt  im  Grunde  der  Seele 
War  Brisets,  die  Gattin  von  Peleus'  streitbarem  Sohne. 
Stets  umkreiste  die  Arme  mit  jammerndem  Rufe  den  Todten, 
Während  sie  wild  mit  den  Händen  die  reizende  Haut  sich  zer- 
fleischte ; 

Ihr  auf  blendendem  Busen  erhoben  sich  blutige  Male 
Rings  von   den  Schlägen   der  Hand ;   doch  *  lieblich  glänzte  die 

Schönheit 

Auch  durch  den  bittersten  Schmerz,  und  Anmuth  strahlte  das 

Antlitz. 

Sie  nun  rief,  ausbrechend  in  gramvoll  klagende  Töne: 

Weh  mir,  welche  vor  allen  der  grauseste  Jammer  getroffen! 
Denn  kein  anderes  Loos,  nicht  als  ich  verloren  die  Heimat, 
Nicht  was  über  die  Brüder  hereinbrach,  traf  mich  so  schmerzlich, 
Als  dein  Tod  mich  betrübt.    Du  warst  mir  heilige  Sonne, 
Warst  mir  leuchtender  Tag  und  wonniges  Leben  und  Hoflnung 
Künftigen  Glücks  und  wider  den  Schmerz  ein  gewaltiges  Bollwerk, 
Warst  mir  stets  viel  theurer  sogar  als  Eltern  und  Schönheit, 
Warst  mir  Alles  allein,  die  dir  nur  Sklavin  gewesen, 
Nahmst  zum  Gemable  mich  an,  und  enthobst  mich  knechtischer 

Arbeit. 

Doch  jetzt  wird  mich  ein  Andrer  vom  Danaervolk  in  den  Schiffen 
Führen  in  Argos'  dürres  Gefild,  in  die  Fluren  von  Sparta; 
Ja,  jetzt  werd'  ich,  die  Sklavin,  unsäglichen  Jammer  erdulden, 


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60* 


Quintus  von  Smyrna  von  Donner. 


Deiner  beraubt:  ach,  dass  mich  der  aufgeschüttete  Hügel 
Hätte  bedeckt,  oh'  als  ich  geseh'n  dein  Todesverhängniss ! 

Also  jammerte  sie  mit  den  unglückseligen  Mägden 
Und  dem  bekümmerten  Volke  der  Danaer  um  den  Peliden, 
Klagt'  um  König  zugleich  und  Gemahl;  nie  wurde  das  Aug'  ihr 
Trocken  und  rastlos  strömte  die  bittere  Zähre  zur  Erde 
Ihr  von  den  Wimpern  herab,  wie  dunkeles  Wasser  des  Quelles, 
Welcher  vom  Fels  sich  orgiesst,  den  hoch  auf  hartem  Gesteine 
Eis  und  Schnee  rings  starrend  bedeckt,  bis  er  unter  des  Ostwinds 
Schmelzendem  Hauche  zerrinnt  und  den  wärmenden  Strahlen  der 

Sonne« 

Welcher  Klage  wir  wohl  auch  die  der  Thetis,  der  Mutter  des 
Achilles,  und  die  Worte  des  Trostes,  die  ihr  die  Muse  Kalliope 
spendet,  an  die  Seite  stellen  können  Vs.  606  ff.  Aus  den  ausführ- 
lichen Beschreibungen  und  Schilderungen  der  zu  Ehren  des  Achilles 
angestellten  Kampfspiele  in  den  beiden  folgenden  Gesängen,  wollen 
wir  nur  einen  Theil  der  Beschreibung  des  Schildes  von  Achilles 
hierhersetzen,  aus  dem  Anfang  des  fünften  Gesanges: 

Aber  nachdem  sie  alle  die  anderen  Kämpfe  vollendet, 
Stellte  die  göttliche  Wehr  von  Aeakos'  tapferem  Enkel 
Thetis  als  Preis  für  den  Sieger  zur  Schau ;  weit  strahlten  im  Glänze 
Alle  die  Wundergebilde  der  Kunst,  die  der  Meister  HephUstos 
Auf  des  Achilleus  Schild,  des  verwegenen  Helden,  geschaft'en. 
Darauf  hatte  der  Gott  voll  ewiger  Schöne  gebildet 
Himmel  zugleich  und  Aether,  das  wogende  Meer  und  die  Erde, 
Wolken  und  Winde  sodann  und  den  Mond  und  die  Sonne,  gesondert, 
Jedes  am  eigenen  Ort;  da  schuf  er  alle  die  Wunder, 
Welche  die  Bahn  hinziehen  am  kreisenden  Himmelsgewölbe. 
Unter  dem  Himmel  ergoss  sich  die  Luft  in  unendlichen  Weiten; 
Allda  schwebten  im  Fluge  dahin  langschniiblige  Vögel; 
Lebende  flögen  umher,  so  schien's,  mit  den  Hauchen  des  Windes. 
Auch  war  Tethys  darauf  und  Okeanos'  tiefes  Gewässer; 
Dem  entquollen  die  Wellen  der  lauthinrauschenden  Ströme, 
Die  ringsher  durch  die  Erde  nach  jeglicher  Seite  sich  wälzen. 

Kunstvoll  sahst  du  gebildet  sodann  auf  hohen  Gebirgen 
Grässlicher  Löwen  Gezücht  und  der  Schakale  trotzige  Wildheit, 
Panther  und  Bären  zugleich,  unbändige  —  mächtige  Eber, 
Ihnen  gesellt,  die  schnaubend  in  unbarmherzigem  Rachen, 
Unnahbar,  mit  Geknirsch  die  verwundenden  Hauer  sich  schärften, 
Jäger  dabei,  die  von  hinten  an's  Wild  hinhetzten  die  Doggen, 
Andere  dann,  die,  mit  Steinen  bewehrt  und  schwingend  den  Jagd- 
speer, 

Rüstig  darauf  einstürmten  von  vorn',  als  lebten  sie  wirklich. 

Menschenzermalmenden  Krieg  und  blutiges  Schlachtengetümmel 
Sähest  du  dann;  erschlagen,  vermischt  mit  ihren  Gespannen, 
Sanken  die  Männer  umher;  ringsum  schien  alles  Gelände 


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Quintua  ton  Smyrna  von  Donner. 


508 


Auf  dem  gediegenen  Schilde  bedeckt  mit  Strömen  des  Blutes; 
Dort  auch  sahst  du  den  Schrecken,  die  Furcht  und  Enyo,  das 

Graungebild, 

Schaurig  gebadet  in  Blut  vom  Haupt  zu  den  Füssen  hernieder, 
Dann  mit  den  wilden  Erinnen  die  unheilbringende  Zwietracht, 
Diese  die  Männer  entflammend  zu  tosendem  Waffengewühle, 
Jene  vom  Mund  ausathmend  die  Gluth  des  vertilgenden  Feuers« 
Weitum  tobten  die  Keren  erbarmungslos ;  in  der  Mitte 
Wallte  des  Todes  Gestalt  voll  Grausen  einher;  in  der  Nähe 
Schritten  die  düsteren  Geister  dahin  dumpfdröhnender  Sohlachten, 
Welchen  das  Blut  und  der  Schweiss  ringsum  von  der  Gliedern 

herabtroff. 

Auch  Gorgonen  erblicktest  du  da,  graunvolle  Gestalten, 
Rings  um  die  Locken  des  Hauptes  mit  furchtbaren  Schlangen  ge- 
gürtet, 

Die  wild  züngelten  alle.    Das  staunenswürdigste  Schauspiel, 
Waren  die  Wundergebilde  zugleich  für  die  Menschen  ein  Grauen; 
Denn  wohl  schien's,  als  lebten  sie  dort  und  regten  sich  wirklich. 

Das  denn  waren  sie  alle,  die  schrecklichen  Bilder  des  Krieges: 
Seitwärts  aber  erschienen  die  reizenden  Werke  des  Friedens. 

Aus  diesen  Proben  mag  zur  Genüge  ersehen  werden,  in  welch* 
wohl  gelungener  Weise  die  griechischen  Verse  hier  Übersetzt  sind 
und  Alles  in  homerischem  Sinn  und  Geist  wiedergegeben  ist.  Wir 
Übergehen  daher  die  allerdings  etwas  zu  breit  und  ausführlich  im 
Einzelnen  ausgesponnene  Schilderung  der  weiter  folgenden  Kämpfe 
der  Troer  und  Achäer  in  den  nächsten  Gesängen,  um  noch  mit 
einem  Worte  der  beiden  letzten  zu  gedenken,  welche  die  Erobe- 
rung der  Stadt  und  die  Abfahrt  der  Achäer  behandeln:  hier  ge- 
fällt sich  der  Dichter  in  ergreifenden  Schildeningen  der  Kampfes- 
wuth  der  Achäer,  wie  der  gräuelvollen  Verheerung  der  Stadt.  So 
heisst  es,  um  von  vielen  derartigen  Stellen  nur  eine  anzuführen, 
von  den  Bewohnern  der  eroberten  Stadt  im  dreizehnten  Gesang 
Vb.  441  ff. 

Aber  die  Dardaner  starben ,  vom  Schwert  der  Achäer  die  Einen, 
Andre  von  Feuers  Gewalt  und  dem  Einsturz  wankender  Häuser, 
Wo  sie  mit  traurigem  Tode  zugleich  sich  errangen  ein  Grabmal. 
Andere  bohrten  das  Schwert  mit  eigener  Hand  in  die  Kehle, 
Wenn  sie  das  Feuer  zumal  mit  dem  Feind  wahrnahmen  im  Vorhof ; 
Andre,  nachdem  sie  die  Gattin  zugleich  mit  den  Kindern  getödtet, 
Stürzten  sich  selbst  in  das  Schwert,  in  der  Noth  Unthaten  verübend ; 
Manchem,  indess  er  im  Hause  dahinfloh,  fiel  von  der  Höhe 
Brennend  Gebälk  aufs  Haupt  und  bereitet1  ihm  jähes  Verderben; 
Viele  der  Frauen  sodann,  in  die  Flucht  von  dem  Schrecken  ge- 
trieben, 

Dachten  in  Angst  an  die  Kinder,  die  trautesten,  die  sie  zu  Hause 
Liessen  allein;  da  wurden  sie,  ach!  heimkehrend  in  Eile, 


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R04 


Qu  intus  von  Smyrna  von  Donner. 


Vom  einstürzenden  Hause  zugleich  mit  den  Kindern  erschlagen. 
Angstvoll  schweiften,  des  Feuers  Gewalt  zu  entrinnen,  die  Rosse, 
Schweiften  die  Hund'  in  den  Gassen  umher;  auf  Leichen  Erschlagn'or 
Traten  sie  hier  und  dort;  auch  Lebenden  Wehe  bereitend, 
Stürmten  sie  fort  in  die  Weite;  Geschrei  durchhallte  die  Veste. 
Doch  die  drinnen  erlagen  der  unbarmherzigen  Aisa, 
Zahllos  wechselnde  Pfade  des  traurigen  Todes  beschreitend. 
Hochauf  flammte  der  Brand  in  den  heiligen  Aether  und  endlos 
Strahlte  der  Glanz  am  Himmel;  die  weitumwohnenden  Völker 
Sahen  die  thrakische  Samos  und  Tenedos'  Meeresgestade, 
Sahen  die  Höhen  des  Ida  bis  hoch  zu  den  Gipfeln  erglänzen. 
Und  so  sprach  wohl  Mancher,  das  Meer  durchsegelnd,  im  Schifte: 

Herrliche  That  vollbrachten  Achäa's  tapfere  Söhne, 
Die  um  die  leuchtenden  Augen  der  Helena  Vieles  erduldet ; 
Troja  vergeht  in  Flammen,  die  einst  so  gesegnete  Veste, 
Und  der  Unsterblichen  Keiner  gewahrt  den  Verlangenden  Hülfe  ; 
Denn  das  gewaltige  Schicksal  ereilt,  was  Menschen  beginnen, 
Und  was,  fliehend  die  Sonne,  geruht  in  verborgenem  Dunkel, 
Zieht  es  empor  an  das  Licht  und  stürzt  in  den  Staub  das  Erhabne. 
Manchmal  keimt  aus  Gutem  das  Leid,  aus  bitterer  Wurzel 
Blühet  das  Heil  in  den  Wechseln  des  vielfachduldenden  Lebens 

So  sprach  Mancher,  indess  er  den  endlos  leuchtenden  Schimmer 
Ferne  gewahrt.  Doch  die  Troer  umfing  noch  schmerzliches  Unheil. 
Argos'  Volk  durchtobte  die  Stadt  gleich  wilden  Orkanen, 
Die  das  unendliche  Meer  in  den  innersten  Tiefen  bewegen, 
Wann  dem  Arkturos  entgegen,  dem  sturmaufregenden  Sterno, 
Dort  der  Altar  aufsteigt  am  strahlenden  Himmelsgewölbe, 
Zum  schwarzwolkigen  Süde  gewandt;  in  den  Wellen  versiuken 
Bei  des  Gestirns  Aufgang  ringsher  unzählige  Schiffe, 
Wann  auftosen  die  Stürmo;  vergleichbar  diesen  verheerten 
Ilio8'  thtirmende  Veste  die  Danaer;  mächtig  umwogte 
Diese  die  Glut,  wie  ein  Berg,  mit  laubigen  Wäldern  bekleidet, 
Brennt,  wann  Winde  das  Feuer  erregt  zu  gewaltiger  Flamme; 
Graunvoll  sausen  und  brausen  die  weithin  ragenden  Berghöh'n, 
Während  das  Wild  mühselig  erliegt  in  den  Qualen  des  Todes, 
Durch  die  Gewalt  des  HephUstos  umher  in  dem  Walde  getrieben : 
Also  fanden  die  Troer  den  Tod,  der  Unsterblichen  Keiner 
Schüzte  sie  mehr,  rings  waren  um  sie  von  den  Moiren  die  langen 
Neze  gespannt,  woraus  kein  Sterblicher  findet  den  Ausgang. 

Es  mag  auch  daraus  die  Art  und  Weise,  wie  der  Dich- 
ter Vergleichungen,  die  freilich  die  Einfachheit  der  homerischen 
nicht  erreichen,  anzuwenden  liebt,  erkannt,  und  darnach  auch  die 
Schwierigkeit  der  Uebertragung  gewürdigt  werden.  Ungeachtet 
aller  Weitschweifigkeit  und  Breite,  mancher  Wiederholungen  und 
Uebertreibungen  wird  man  dem  Verdienste  des  Dichters  doch  An- 
erkennung zu  zollen  haben ,  zumal  als  auch  der  Inhalt  seines  Ge- 
dichtes aus  Quellen  entnommen  ist,  die  nicht  mehr  zugänglich  sind, 


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Kant's Werke  von TTarten stein,  t 


505 


und  durch  diese  späte  Schöpfung  nns  gewissermassen  ersetzt  wer- 
den, namentlich  die  verlorenen  kyklischen  Godichte,  die  Aethiopis 
des  Arktinus,  dio  kleine  Ilias  des  Lesches  u.  a.  Wer  diesen  ganzen 
Kreis  einer  früheren  Poesie  näher  kennen  lernen  will,  mag  sich  an 
diesen  Dichter  einer,  wenn  auch  spätem  Zoit  halten,  wie  er  jetzt 
durch  diese  Uebertragung  auch  weitereu  gebildeten  Kreisen  zugäng- 
lich gemacht  ist.  Chr.  Bahr. 


Immanuel  Kantfs  sämmlliche  Werke.  In  chronologischer  Reihenfolge 
herausgegeben  von  0.  Hartenstein,  Erster  Band.  Mit  drei 
lithographirten  Tafeln.  Leipzig >  Leopold  Voss.  J867. 

Der  grösste  Denker  im  Gebiete  der  neueren  Philosophie  ist 
unbezweifelt  Immanuel  Kant.  Er  scheidet  die  Periode  des 
Dogmatismus  und  Skepticismus  durch  seinen  Kriticismus  von  der 
spätem  Entwicklung  der  Philosophie  und  ist  der  Wendepunkt  einer 
vergangenen,  durch  ihn  überwundenen  Philosophie  und  derjenigen 
philosophischen  Zeit,  welcher  wir  angehören,  und  welche  in  den 
verschiedensten  Anläufen  und  Richtungen  immer  wieder  von  ihm 
ausgeht  und  zu  ihm  zurückführt.  Er  hat  den  allein  richtigen  Weg 
eingeschlagen,  welcher  mit  einer  Untersuchung  über  die  Möglich- 
keit des  Erkennens,  mit  einer  Prüfung  des  Erkeuntnissvermögens 
beginnt.  Er  ist  weder  Dogmatiker  noch  Skeptiker;  er  ist  Kritiker. 
Mit  der  kritischen  Untersuchung  der  Geisteskräfte  muss  man  be- 
ginnen, wenn  man  bestimmen  will,  was  der  Geist  erkennen,  was 
er  wissen  und  was  er  nicht  wissen  kann.  Er  huldigt  weder  der 
einseitigen  Richtung  des  vor  ihm  zur  Entwicklung  gekommenen 
Realismus,  welcher  alle  Erkenntuiss  auf  die  äussere  Einwirkung  der 
Welt  zurückführt  und  Alles  in  der  Materie  untergehen  lässt,  noch 
jenem  einseitigen  Idealismus,  welcher  nur  einen  Factor  der  Er- 
kenntniss,  den  Geist,  zulässt,  und  aus  diesem  die  ganze  Welt  von 
Innen  heraus  construirt ;  er  nimmt  weder  einen  bloss  objectiven, 
noch  einen  bloss  subjectiven  Standpunkt  ein.  Ihm  hat  der  Geist 
Realität,  wie  die  Materie.  Ihm  ist  der  äussere  oder  objective 
Factor  zur  Erkountuiss  so  nothwendig,  als  der  innere  oder  sub- 
jective.  Die  Form  liegt  nach  ihm  im  Geiste,  der  Stoff  ist  das  von 
Aussen  auf  diesen  Wirkende.  Er  zeigt,  dass  wir  nicht  über  die 
Formen  unserer  Erkenntniss  hinaus  können  ,  dass  es  synthetische 
Urtheile  a  priori  nur  für  die  Erfahrungswelt  gibt,  dass  die  so  ge- 
nannten übersinnlichen  Ideen:  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit 
keine  Gegenstände  unseres  Wissens,  sondern  als  unbedingte  For- 
derungen unserer  sittlichen  Natur  Gegenstände  des  Vernunftglaubens 
sind.  Alle  neueren  Philosophen,  die  von  irgend  einer  Bedeutung 
sind,  gehen  von  ihm  aus  und  führen  auf  ihn  zurück. 

Eine  Sammlung  seiner  Werke  war  ein  dringendes  Bedürfniss 
und  in  der  neueren  Zeit  kam  man  demselben  auf  doppeltem  Wege 


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506  Kant's Werke  von  Hartenstein,  t 

entgogen.  Eß  erschienen  fast  zu  gleicher  Zeit  zwei  Gesammtaua- 
gaben  seiner  Werke,  die  erste  von  Gustav  Hartenstein  in 
10  Bänden  (Leipzig  bei  Modes  und  Baumann,  1838  und  1839) 
und  die  zweite  von  Karl  Rosenkranz  und  Fried r.  Wilh. 
Schubert,  Leipzig  bei  Leopold  Voss,  1842  in  12  Bänden,  von 
welchen  der  letzte  Bosenkranz'  Geschichte  der  Kautischen  Philoso- 
phie und  die  zweite  Abtheilung  des  eilften  Kant's  Leben  von  Schu- 
bert enthält.  Beide  Ausgaben  sind  systematisch  geordnet. 

Von  diesen  beiden  Ausgaben  ist  die  eine  im  Buchhandel  längst 
vergriffen  und  von  der  andern  sind  keine  vollständigen  Exemplare 
mehr  vorhanden.  8o  erscheint  eine  neue  Ausgabe  der  Werke  des 
grossen  Denkers  dringend  geboten.  Zugleich  soll  diese  Ausgabe, 
welche  auf  acht  Bände  angelegt  ist,  durch  einen  verhältnissmässig 
billigen  Preis  leicht  und  allgemein  zugänglich  gemacht  werden. 
Der  Preis  des  ganzen,  schön  ausgestatteten  Werkes  ist  auf  12 
Thaler  festgestellt. 

Mit  der  neuen  Ausgabe  der  Kantischen  Werke,  deren  erster 
Band  zur  Anzeige  vorliegt,  wurde  ein  rühmlichst  bekannter  philo- 
sophischer Schriftsteller,  Gustav  Hartenstein,  betraut.  Kaum 
konnte  die  Verlagshandlung  das  Unternehmen  einer  gewandteren 
und  kundigeren  Hand  anvertrauen.  Nicht  nur  durch  seine  philo- 
sophischen scharfsinnigen  Forschungen,  sondern  auch  durch  seine 
mit  grosser  Genauigkeit  1838  und  1839  veranstaltete  erste  Aus- 
gabe der  Kant'schen  Werke  in  zehn  Bänden  hat  Hartenstein 
seinen  Beruf  zur  neuen  Herausgabe  auf  das  Rühmlichste  bewährt. 
Schon  seine  erste  Ausgabe  ist  im  Einzelnen  correcter,  als  die 
Roscnkranz-Schubert'sche.  In  beiden  Ausgaben  war  die  Anordnung 
die  systematische  und  zwar  in  der  Woise,  dass  bei  Hartenstein 
Logik  und  Metaphysik,  die  Lehre  von  der  praktischen  Vernunft, 
von  der  Urtheilskraft  und  die  Naturphilosophie,  bei  Rosenkranz 
und  Schubert  Logik  und  Metaphysik,  Natur-  und  Geistespbiio- 
sophie  sich  folgen.  Für  alle  selbstständig  erschienenen  Werke  und 
Abhandlungen  Kants  ist  in  dieser  neuen  Ausgabe  die  chrono- 
logische Reihenfolge  eingeschlagen  worden  und  wird  darum 
von  dem  eigentümlichen  Charakter  der  zwei  ersten  Ausgaben,  die 
Werke  nach  der  Gleichartigkeit  und  Verwandtschaft  des  Inhalts 
systematisch  zu  gruppiren ,  Umgang  genommen.  So  wünschens- 
wert auch  für  den  Systematiker  eine  solche  Anordnung  sein  mag, 
so  ist  doch  entschieden  die  chronologische  vorzuziehen,  weil 
sie  uns  das  beste,  naturgetroueste  Bild  von  dem  allmähligen  Ent- 
stehen der  Kant'schen  Weltanschauung  giebt.  Ueberweg  hat 
(Grundr.  der  Gesch.  d.  Phil.  Thl.  III,  S.  128)  mit  Recht  die  chro- 
nologische Reihenfolge  als  die  bessere  bezeichnet,  da  sie  Kant's 
Entwicklung  zur  Anschauung  bringt.  Die  chronologische 
Ordnung,  iu  welcher  diese  neue  Ausgabe  erscheint,  ist  darum 
ein  neuer  Vorzug  derselben.  Sie  umfasst  neben  den  entweder  von 
Kant  selbst  oder  mit  seinem  Willen  und  zum  Theil  unter  seiner 


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Kant's  Werke  von  Hartenstein.  I. 


507 


Auf  siebt  und  persönlichen  Mitwirkung  herausgegebenen  Schriften 
alles  das ,  was  als  ein  von  ihm  unzweifelhaftes  Schriftstück  bis 
jetzt  veröffentlicht  worden  ist.  In  die  Sammlung  nicht  aufgenom- 
men sind  die  nicht  authentischen  und  darum  auch  in  den  zwei 
früheren  Ausgaben  nicht  erschienenen  Ausgaben  der  physischen 
Geographie  von  Vollmer,  der  Vorlesungen  über  philoso- 
phische Religionslehre  und  über  Metaphysik  von  K.  H. 
L.  Pölitz,  der  Anweisung  zur  Welt-  und  Menschen- 
kenntniss  von  J.  A.  Bergk  (unter  dem  Namen  Fr.  Chr. 
Starke)  und  der  Anweisung  zur  Menschenkunde  oder  phi- 
losophischen Anthropologie  von  demselben,  so  wie  die 
unterschobene  Schrift:  »Antwortschreiben  des  Prof.  Kant 
an  den  Abbe*  Sieyes  in  Paris,  1796,  aus  dem  lateinischen 
Original  übersetzt  0.0.1797.  Bis  jetzt  ungedruckt  ist  ein  unvollen- 
detes Mauuscript  Kants  zur  Methaphysik  der  Natur  aus 
dessen  letzten  Lebensjahren,  zuerst  von  Schubert  in  den  neuen 
preussischen  Provincialblattern  (Königsberg,  1858,  S.  58  —  61)  und 
ausführlich  von  Rud.  Reicke  in  der  altpreussischen  Monatsschrift 
(Königsberg,  1864,  Bd.  I,  S.  742—749)  beschrieben.  Theils,  weil 
das  Manuscript  »fremdes  Eigenthum«  ist,  theils  auch,  weil  »der 
Eindruck,  den  die  von  Roicke  mitgetheilte  Beschreibung  des  In- 
halts und  der  Beschaffenheit«  dieser  Handschrift  auf  den  Heraus- 
geber gemacht  hat,  nicht  von  der  Art  war,  dass  er  sich  »dadurch 
genötbigt  gesehen  hatte,  eine  Bearbeitung  derselben  als  einen 
wesentlichen  und  unentbehrlichen  Bestandtheil  einer  Sammlung  der 
Werke  Kant's  anzusehen«  (S.  IV),  unterblieb  die  Aufnahme  in  die 
Gesammtausgabe.  Eben  so  wird  in  derselben  auch  von  allen 
»etwaigen  sonstigen  Paralipomena  von  Kant«  abgesehen,  die  »mög- 
licher Weise  hier  und  da  noch  zerstreut  sein  können.«  Der  Herr 
Herausgeber  erklärt  die  Herausgabe  solcher  unvollendeten  und  nach- 
gelassenen zerstreuten  Schriften,  wenn  ihre  Aufnahme  in  die  Ge- 
sammtausgabe  auch  nicht  Zweck  seines  Unternehmens  sein  kann, 
für  »wünschenswerth  und  erfreulich«.  Die  Ausgabe  solcher  Schriften 
könnte  als  Supplementband  zu  allen  Ausgaben  der  Kant' sehen  Werke 
erscheinen.  Ueberweg  bat  (Grundr.  Thl.  III,  S.  168)  die  Heraus- 
gabe des  Kant'schon  Manuscriptes:  Zur  Metaphysik  der 
Natur  durch  Reicke  in  Aussicht  gestellt.  Die  Briefe  Kants 
sind  iu  die  Gesammtausgabe  aufgenommen.  Nur  die  Briefo  und 
kleineren  Abhandlungen  werden  in  dem  letzten  Bande  zusammen- 
gestellt. Zur  Auffindung  der  einzelnen  Schriften  wird  ein  Gesammt- 
verzeichniss  derselben  denjenigen  am  besten  dienen ,  welche  das 
Jahr  ihres  ersten  Erscheinens  nicht  kennen. 

Der  vorliegende  erste  Band  der  Sammlung  enthalt  1)  Ge- 
danken von  der  wahren  Schätzung  der  lebendigen  Kräfte  und  Be- 
urtheilung  der  Beweise,  deren  sich  Herr  von  Leibnitz  und  andere 
Mechaniker  in  dieser  Streitsache  bedient  haben,  nebst  einigen  vor- 
hergehenden Betrachtungen,  welche  die  Kraft  der  Körper  überhaupt 


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P08 


Kant's  Werke  von  Hartenstein.! 


betreffen,  1747  (S.  1 — 179);  2)  Untersuchung  der  Frage,  ob  die 
Erde  in  ihrer  Umdrehung  um  die  Achse,  wodurch  sie  die  Ab- 
wechselung des  Tages  und  der  Nacht  hervorbringt,  einige  Ver- 
änderung seit  den  ersten  Zeiten  ihres  Ursprungs  erlitten  habe, 
1754  (S.  1754  (8.179  —  187);  3)  die  Frage:  ob  die  Erde  veralte? 
physikalisch  erwogen,  1754  (S.  187  —  207);  4)  allgemeine  Natur- 
geschichte und  Theorie  des  Himmels,  oder  Versuch  von  der  Ver- 
fassung und  dem  mechanischen  Ursprünge  des  ganzen  Weltgebäudos 
nach  Newton'schen  Grundsätzen  abgehandelt,  1755  (S.  207—347); 
5)  meditationum  quarundam  de  igne  succincta  delineatio,  1755 
(S.  347  — 365);  6)  principiorum  priraorum  cognitionis  metaphysicae 
nova  dilucidatio,  1755  (S.  365—401);  7)  von  den  Ursachen  der 
Erderschütterungen ,  bei  Gelegenheit  des  Unglücks,  welches  die 
westlichen  Länder  von  Europa  gegen  das  Ende  des  vorigen  Jah- 
res betroffen  hat,  1756  CS.  401—413);  8)  Geschichte  und 
Naturbeschreibung  der  merkwürdigsten  Vorfalle  des  Erdbebens, 
welches  an  dem  Ende  des  1755sten  Jahres  einen  grossen  Tb  eil  der 
Erde  erschüttert  hat,  1756  (S.  413  —  447);  9)  fortgesetzte  Be- 
trachtung dor  seit  einiger  Zeit  wahrgenommenen  Erderschütterun- 
gen, 1756  (S.  447  —  457);  10)  metaphysicae  cum  geometria  junc- 
tae  usus  in  philosophia  naturali,  cujus  specimen  I  continet  mona- 
dologiara  physicam,  1756  (S.  457  —  473);  11)  neue  Anmerkungen 
zur  Erläuterung  der  Theorie  der  Winde,  1756  (S.  473 — 487). 

Auf  die  Revision  und  Feststellung  des  Textes  wurde  vor  Allem 
die  grösste  Sorgfalt  verwendet.  Die  einzige  zuverlässige  kritische 
Grundlage  boten  die  Originalausgaben  der  einzelnen  Schriften.  Sie 
wurden  auch  bei  dor  neuen  Ausgabe  wiederholt  auf  das  Genaueste 
verglichen.  Die  Originalansgaben  bis  zum  Jahre  1770  sind  zum 
Theilo  sehr  selten.  Der  Herr  Heransgeber  kam  grossentheils  in 
den  Besitz  derselben.  Da,  wo  der  Gebrauch  der  Originalausgabe 
nicht  statt  finden  konnte,  wird  dieses  ausdrücklich  bemerkt.  Die 
Originalausgaben  nach  1770,  die  keine  literarischen  Seltenheiten 
sind,  konnten  natürlich  überall  dem  Texte  zu  Grunde  gelegt  werden. 
Im  Sprachgebrauche  wurde,  was  unserer  jetzigen  Sprach-  und 
Schreibeweiso  unorthographisch  und  unsprachlich  erscheint,  in  dem 
Texte  geändert.  So  wurde  der  in  dor  ältern  Zeit  herrschende  Ge- 
brauch des  vor  statt  für,  des  sein  statt  sind,  des  seien  statt 
sein,  des  was  anders  statt  etwas  Anderes  geändert.  Dagegen 
wurden  die  charakteristischen  Formen  des  Sprachgebrauches  der 
ältern  Zeit  beibehalten  und  nicht,  wie  dieses  in  den  spätem  Aus- 
gaben geschah,  modern isirt  Auch  wurden  aus  flüchtiger  Revision 
entstandene  Drnckfehlor  früherer  Ausgaben  sorgfältig  verbessert. 

Die  erste  Kant'sche  Schrift  in  dem  vorliegenden  Bande  sind 
die  Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  der  leben- 
digen Kräfte,  Königsberg,  1746  (gedruckt  bei  Mart.  Eberh. 
Dorn,  XVI  S.  Dedication  und  Vorrede,  240  S.  Text  mit  2  Kupfer- 
tafeln. 8.).  Die  Dedication  an  den  Professor  Bohlius  in  Königsberg 


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Kant's  Werke  von  Hartenstein,  t 


509 


ist  vom  22.  April  1747  und  im  §.  107  wird  eine  »in  der  Oster- 
messe dieses  1747sten  Jahres«  erschienene  deutsche  Uebersetzung 
einer  Schrift  von  Musschenbroeck  angeführt.  Darum  wurde  auf  den 
Specialtitel  dieser  Schrift  in  der  neuen  Gesammtausgabe  das  Jahr 
1747  gesetzt.  Ausser  der  Verbesserung  der  Druckfehler  wurden 
einzelne  kleine  Veränderungen  im  Ausdrucke  vorgenommen,  welche 
in  der  Vorrede  S.  IX  angegeben  sind.  Die  zwei  zunächst  im  ersten 
Bande  folgenden  kleinen  Abhandlungen,  die  Achsenumdrehung 
der  Erde  und  die  Veraltung  derselben  betreffend,  er- 
schienen zuerst  in  den  Königsberger  Frage-  und  Anzeigungsnach- 
richten Nr.  23  u.  24  und  Nr.  32—37  des  Jahrganges  1754.  In 
der  von  Nicolovius  veranstalteten  Sammlung  der  kleinen  Schriften 
Kant's  sind  sie  wieder  abgedruckt  worden.  Da  der  Herr  Heraus- 
geber den  betreffenden  Jahrgang  der  Königsberger  Frage-  und  An- 
zeigungsnachrichten erst  nach  dem  Drucke  der  beiden  Abhandlungen 
erhielt,  sind  die  Verbesserungen  nach  dem  Urtexte  in  der  Vorrede 
S.  X  angegeben.  Die  Originalausgabe  der  allgemeinen  Natur- 
geschichte und  Theorie  des  Himmels  ist  in  Königsberg 
bei  Jon.  Petorsen,  1755  (V  S.  Dedication,  XLVUI  S.  Vorrede, 
V  S.  Einleitung,  sämmtlich  unpaginirt  und  200  S.  Text  ohne  den 
Namen  des  Verfassers)  erschienen.  Sie  ist  ziemlich  nachlässig  ge- 
druckt, die  Druckfehler  wurden  verbessert,  die  einzelnen  Aende- 
rungen  im  sprachlichen  Ausdrucke  sind  in  der  Vorrede  S.  XI  und 
XII  angegeben. 

Die  von  Kant  der  philosophischen  Facultät  zu  Königsberg  im 
Jahre  1755  vorgelegte  Abhandlung:  Meditationes  de  igne  erschien 
zuerst  gedruckt  in  den  beiden  ersten  Gesammtausgaben  der  K auf- 
sehen Werke,  im  V.  Bande  der  Rosen k  ranz- Sch ub  ert' sehen 
Ausgabe  (1839)  aus  der  jetzt  in  der  Universitätsbibliothek  zu 
Königsberg  befindlichen  Originalhandschriit  Kant's,  im  achten  Bande 
der  G.  Harten  st  ein1  sehen  Ausgabe  aus  einer  durch  Verkauf  in 
den  Besitz  des  Buchhändlers  Modes  in  Leipzig  gekommenen  Ab- 
schrift. Die  Abschritt  zeigt  sich  durch  Vergleiohung  mit  der  Ur- 
schrift des  Rosenkranz-Schubert'schen  Textes  als  eine  sehr  richtige« 
Bei  dieser  neuen  Ausgabe  wurden  beide  Texte  genau  verglichen. 
Die  einzelnen  Verbesserungen,  welche  die  von  dem  Herrn  Heraus- 
geber schon  früher  ausgesprochenen  und  theilweise  in  den  Text  der 
ersten  Ausgabe  aufgenommenen  Vermuthungen  bestätigen,  sind 
S.  XII  und  XIII  enthalten. 

Die  Abhandlung:  Principiorum  primorum  cognitio- 
nis  metaphysicae  nova  dilucidatio  (Regiomonti  typ. 
J.  H.  Hartungh,  II  und  38  S.  4)  ist  die  Habilitationsschrift 
Kant's.  Ausser  den  von  demselben  angegebenen  Druckfehlern  sind 
noch  neue  verbessert.  Die  von  dem  Respondenten  in  der  Dispu- 
tation, Christoph  Abraham  Borohard,  stammende,  auf  der 
Rückseite  der  Abhandlung  abgedruckte  Dedication  an  Johannes 
de  Lebwald  wurde  in  dem  Abdrucke  hinweggelassen. 


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610 


Kant'a  Werke  von  Hirtenstein,  t 


Die  auf  die  Habilitationsschrift  folgende  Abhandlung:  von 
den  Ursachen  der  £ r de rschütternngen  bei  Gelegen- 
heit des  Unglücks,  welches  die  westlichen  Länder 
von  Europa  gegen  das  Ende  des  vorigen  Jahres  be- 
troffen hat,  befindet  sich  weder  in  einem  Verzeichnisse  noch  einer 
Sammlung  der  Kant'schen  Schriften.  Der  Herr  Herausgeber  entdeckte 
diese  Abhandlung  in  den  Königsberger  Frage-  und  Anzeigungs- 
nachrichten vom  Jahr  1756  Nr.  4  und  5.  Es  findet  sich  in  den 
augeführteu  Nummern  ein  ausführlicher  und  ganz  selbstständiger, 
von  Kant  unterzeichneter  Aufsatz.  Die  nächste  Veranlassung  zur 
Auffindung  dieses  Aufsatzes  war  diese,  dass  Kant  in  seiner  Schrift : 
Geschichte  und  N  aturbeschreibung  der  merkwürdig- 
sten Vorfälle  des  Erdbebens  u.  b.  w.  selbst  auf  eine  frühere 
Andeutung  dieses  Gegenstandes  iu  den  Königsberger  Anzeigen  hin- 
weist (vorliegender  Band  S.  423).  Zu  dieser  Andeutung  sagt 
Schubert  in  der  Rosenkranz- Schubert 'sehen  Ausgabe  der 
Kant'schen  Schriften  (Bd.  VI,  S.  239)  in  einer  Anmerkung :  >Weil 
in  der  angezeigten  Stelle  dieser  Zeitung  nichts  weiter  als  das  hier 
aufgenommene  Resultat  ausgeführt  ist,  so  habe  ich  eiaen  besondern 
Abdruck  derselben  für  unnöthig  erachtet.«  Aus  dem  vorliegenden 
ersten  Bande  dieser  neuen  Ausgabe  wird  ersichtlich,  dass  der  frag- 
liche Gegenstand  kein»  Zeitungsartikel,  sondern  eine  wirkliche  Ab- 
handlung ist  (S.  401—413),  welche  Kant  selbst  zwar  als  eine 
> kleine  Vorübung«  bezeichnet,  die  aber  doch  viel  mehr  enthält,  als, 
wie  Schubert  sagt,  die  »blosse  Ausführung«  des  in  der  späteren 
Abhandlung  erschienenen  Resultates.  Kant  beruft  sich  noch  an 
einer  zweiten  Stelle  seiner  grössern  Schrift  über  das  Erdbeben  auf 
diese  kleine  Abhandlung.  Wir  sind  darum  gewiss  dem  um  die 
Wissenschaft  hoch  verdienten  Herren  Herausgeber  zu  besonderem 
Danke  verpflichtet,  dass  er  die  kleine  immerhin  interessante  Ab- 
handlung der  Vergessenheit  entrissen  und  ihr  die  gebührende  Stelle 
unter  den  Schriften  Kaufs  gesichert  hat. 

Auf  diesen  Aufsatz  folgt  die  Geschichte  und  Naturbe- 
schreibung der  merkwürdigsten  Vorfälle  des  Erd- 
bebens, welches  an  dem  Ende  des  1755sten  Jahres 
einen  grossen  Theil  der  Erde  erschüttert  hat,  sie 
wurde  im  Februar  1756  als  selbstständige  Schrift  in  Königsberg 
bei  J.  Fr.  Härtung  40  S.  4.  im  Drucke  herausgegeben.  Sie  ist 
in  dieser  Sammlung  nach  der  Originalausgabe  berichtigt.  Sie  ent- 
hält die  exegetischen  Anmerkungen  nicht,  welche  zuerst  von  dem 
Herausgeber  der  1795  zu  Linz  gedruckten  Sammlung  der  kleinen 
Schriften  Kaufs  hingefügt  wurden  und  in  die  späteren  Abdrücke 
übergingen.  Einige  Fehler  der  Originalausgabe  sind  in  der  vor- 
liegenden Sammlung  verbessert  (S.  XV). 

Die  dritte  sich  auf  das  Erdbeben  beziehende  Schrift  ist,  wie 
die  erste,  ebenfalls  zuerst  in  den  Königsberger  Frage-  und  An- 
zeigungsnachrichten, Jahrg.  1756,  Nr.  15  u.  16  erschienen  und 
hat  den  Titel:    Die  fortgesetzte  Betrachtung  der  seit 


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Kaut's  Werke  von  Hartenstein.  I. 


einiger  Zeit  wahrgenommenen  Erderschütterungen. 
Auch  hier  sind  einige  Fehler,  die  sich  im  Original  fanden,  ver- 
ändert (S.  XV). 

Kant  musste,  um  als  Privatdocent  zu  einer  ausserordentlichen 
Professur  gelangen  zu  können,  nach  einer  in  Königsberg  bestehen- 
den Universitätsverordnung  dreimal  öffentlich  disputiren.  Zu  die- 
sem Behufe  schrieb  er  die  nun  in  der  Sammlung  folgende  Abhand- 
lung :  M etaph ysicae  cum  geometria  junetae  usus  in  philosophia  na- 
tu rali  speo.  I  contin.  monadologiam  physicam.  Sie  wurde  gedruckt 
zu  Königsberg  bei  Härtung,  1756,  16  S.  4.  In  allen  bisher  er- 
schienenen Ausgaben  ist  die  von  Kant  und  seinem  Respondenten 
(Lucas  David  Vogel)  an  den  geheimen  Staats-  und  Kriegsminister 
Ludwig  Wilhelm  von  Gröben  gemeinschaftlich  unterzeichnete  Dedi- 
cation  ausgelassen,  welche  in  dieser  neuen  Sammlung  auf  der  Rück- 
seite des  ersten  Blattes  genau  nach  dem  Originale  abgedruckt  ist. 
Das  auf  dem  Titelblatte  von  spätem  Herausgebern  Hinzugefügte: 
Dissertatione  publica  pro  loco  habenda  wurde  mit  Recht  hinweg- 
gelassen, weil  es  nicht  im  Originale  steht.  Auch  hier  wurden  ein- 
zelne verbessernde  Aenderungen  in  den  Ausdrücken  des  Originals 
vorgenommen  (S.  XVI). 

Als  Einladungsschrift  zu  seinen  Vorlesungen  im  Sommer  1756 
gab  Kant  die  Schrift  heraus,  welche  den  ersten  Band  der  vor- 
liegenden Sammlung  schliesst.  Sie  erschien  mit  der  Aufschrift: 
Neue  Anmerkungen  zur  Erklärung  der  Winde  (Königs- 
berg, gedruckt  bei  J.  Fr.  Driest)  1756,  12  S.  4.) 

Am  Schlüsse  der  Abhandlung  folgt  die  Ankündigung  der 
Vorlesungen  Kant's,  welche  in  den  bisherigen  Abdrücken 
fehlt,  aber  in  die  vorliegende  Sammlung  aus  dem  Originale  wieder 
aufgenommen  wurde.  Die  Ankündigung  lautet  wörtlich  also:  »Der 
Raum,  den  ich  dieser  kurzen  Betrachtung  bestimmt  habe,  setzt 
ihrer  weiteren  Ausführung  Schranken.  Ich  beschliesse  dieselbe  da- 
mit, dass  ich  denen  Herren ,  welche  mir  die  Ehre  erzeigen ,  in 
meinen  geringen  Vortrag  einiges  Vertrauen  zu  setzen,  eröffne,  dass 
ich  die  Naturwissenschaft  Uber  des  Herren  D.  Eberhards  erste 
Gründe  der  Natur  lehre  zu  erklären  gesonnen  sei.  Meine  Ab- 
sicht ist,  nichts  vorbeizulassen,  was  eine  gründliche  Einsicht  in  die 
wichtigen  Entdeckungen  alter  und  neuer  Zeiten  befördern  kann  und 
vornehmlich  den  unendlichen  Vorzug,  den  diese  letzteren  duroh  die 
glückliche  Anwendung  der  Geometrie  vor  jenen  erhalten  haben,  in 
deutlichen  und  vollständigen  Beispielen  zu  beweisen.  Ich  fahre  fort, 
in  der  Mathematik  Anleitung  zu  geben,  und  den  Lehrbegriff  der 
Weltweisheit  mit  der  Erläuterung  der  Meyer'schen  Vernunftlehre 
zu  eröffnen.  Ich  werde  die  Metaphysik  über  das  Handbuch  des 
Herren  Prof.  Baumgarten  vortragen.  Die  Schwierigkeiten  der 
Dunkelheit,  die  dieses  nützlichste  und  gründlichste  unter  allen  Hand- 
büchern seiner  Art  zu  umgeben  scheint,  werden,  wo  ich  mich  nicht 
zu  sehr  schmeichle,  durch  die  Sorgfalt  des  Vortrags  und  ausführ- 
liche schriftliche  Erläuterungen  gehoben  werden.    Mich  dünkt,  es 


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512 


Kant'e  Werke  von  Hartenstein.  I. 


sei  mehr  als  zu  gewiss,  dass  nicht  die  Leichtigkeit,  sondern  die 
Nützlichkeit  den  Werth  einer  solchen  Sache  bestimmen  müsse  und 
dass,  wie  ein  sinnreicher  Schriftsteller  sich  ausdrückt,  die  Stoppeln 
ohne  Mühe  oben  fliessend  gefunden  werden,  wer  aber  Perlen  suchen 
will,  in  die  Tiefe  hinabsteigen  müsse.«  Durch  diese  Kant 's  Wesen 
schon  frühe  so  treffend  bezeichnende  Ankündigung  findet  der  vor- 
liegende erste  Band  einen  würdigen  Abscbluss  (S.  486  und  487). 
Zwei  kleine  Berichtigungen  des  Originals  finden  sich  dieser  Schluss- 
abhandlung (S.  XVI)  in  der  Vorrede  angefügt.  Von  den  eilf  in 
diesem  ersten  Bande  enthaltenen  Anfangsarbeiten  Kant's  von  1747 
bis  1756  sind  neun  durchaus  naturwissenschaftlichen  und  mathe- 
matischen Inhaltes.  Nur  bei  zwei  Abhandlungen  findet  sich  eine 
Ausnahme  und  die  eine  davon  bat  selbst  wieder  eine  Beziehung 
zur  Mathematik  und  Naturwissenschaft,  wenn  sie  auch  von  der 
Philosophie  handelt.  Es  ist  dieses  die  lateinische  Abhandlung  über 
den  Gebrauch  der  mit  der  Geometrie  verbundenen  Metaphysik  in 
der  Naturphilosophie.  Man  kann  also  auch  hier  von  keinem  bloss 
philosophischen  Inhalte  sprechen.  Die  einzige  von  diesen  Abhand- 
lungen, nach  ihrem  Titel  allein  und  ausschliessend  Philosophie  be- 
handelnd, ist  demnach  Kant's  Habilitationsschrift:  Principiorum 
primorum  cognitionis  metaphysicae  nova  dilucidatio  vom  Jahre  1755 
(S.  365 — 401).  Kant  untersucht  in  dem  ersten  Abschnitte  dieser 
Abhandlung  das  Princip  des  Widerspruches,  im  zweiten  das  Princip 
des  bestimmenden  oder  zureichenden  Grundes,  im  dritten  stellt  er 
zwei  aus  dem  letzten  Princip  abgeleitete  Principien  auf,  das  Princip 
der  Aufeinanderfolge  (principium  successionis)  und  das  Princip  des 
Zusammenseins  (principium  cocxistentiae).  Es  werden  aus  diesen 
Principien  Sätze  abgeleitet,  die  Sätze  selbst  erklärt  und  ihre  An- 
wendung dargelegt.  Kant  trägt  hier  schon  Ansichten  von  Baum 
und  Zeit  vor,  welche  für  seine  spätere  Entwicklung  nicht  ohne  Be- 
deutung sind.  In  dem  so  genannten  usus  zeigt  sich  überall  die 
Anwendung  auf  die  Natur.  So  ist  der  ganze  Charakter  der  schrift- 
stellerischen Thätigkeit  Kant's  von  1747  —  1756  ein  naturwissen- 
schaftlicher und  mathematischer.  Man  sieht,  dass  er  den  rechten 
Weg  der  Entwicklung  ging.  Soll  man  in  der  Philosophie,  wie  Kant 
will,  »nicht  die  oben  fliessenden  Stoppeln«,  sondern  die  > Perlen  in 
der  Tiefe«  suchen,  so  darf  man  sich  auch  im  Strome  der  Ent- 
wickelung  nicht  nur  leicht  obenhin  bewegen;  man  muss  in  die 
Tieie  dringen,  wenn  man  das  will,  was  in  der  Tiefe  liegt.  Diess 
aber  kann  nur  auf  dem  Wege  der  wissenschaftlichen  Erfahrung  an 
der  Hand  der  Naturwissenschaft  und  Mathematik  geschehen.  Möge 
das  so  gründlich  begonnene  Werk  recht  bald  zum  Abschlüsse  kom- 
men; möge  dasselbe,  das  uns  die  Werke  des  grössten  Denkers 
unserer  Zeit  in  all  müh  liger  Entwickelung  vorführt,  recht  viele  zu 
einem  tieferen  Studium  der  Philosophie,  dieser  Grundlage  aller 
Wissenschaft  und  Bildung,  fruchtbringend  anregen! 

v.  Reichlin-Mcldegg. 


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ffr.  33.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

  i 

I)  Brugsch,  geographische  Inschriften  alt  ägyptischer  Denkmäler. 
Vol.  1.  Nebst  58  Tafeln  und  einer  Karte.  Leipzig,  hinrichs 
1857.  4.  304.  (Vol.  11  handelt  vom  Ausland.  Vol.  III  von 
Palästina).  25  Thr. 

II)  Brugsch,  Recueil  de  Monuments  e'gyptiens.  Vol.  III.  Auch 
unter  dem  litel:  J.  Dümichen,  Monuments  gtographiques. 
Vol  1.  Oder  auch,  denn  das  Buch  ist  deutsch:  Joh.  Dümi- 
chen, Geographische  Imchriflen  altägyptischer  Denkmäler,  in 
den  Jahren  1863—1865  an  Ort  und  Stelle  gesammelt.  I  Ab- 
theilung  100  Tafeln.  Leipzig,  Hinrichs  1865.  Text  dazu  1866. 
40.  20  Thr. 

III)  Jacgues  de  Rouge",  Textes  geographiques  du  temple  d'Edfou, 
Rev.  Archeol  Paris  1865—1867. 

Flaton  bat  in  seinem  Schatz  des  Bhampsinit  eine  recht  ko- 
mische Wirkung  erzielt  durch  Znsammenstellung  der  sogenannten 
historischen  Nachrichten,  welche  über  altägyptische  Sitten  in  den 
griechischen  Quellen  vorliegen.  Die  Weinreisenden  von  Lesbos, 
wenn  sie  von  Naukratis  heimkehrten  ,  mochten  ebenso  interessant 
zu  erzählen  wissen ,  wie  heute  die  Commis-Voyageurs ,  denn  sie 
hatten  wobl  ebenso  gründlich  beobachtet  in  einem  Lande,  dessen 
Sprache  zu  erlernen  ihnen  zu  wenig  war.  Aber  auch  den  ernste- 
ren Reisenden,  wie  Herodot,  lag  es  doch  ebenfalls  nahe,  mehr  das 
Ungewöhnliche,  das  Baroke  aus  der  Fremde  zu  erzählen,  um  so 
mehr  als  die  officiellen  Quellen  ihnen  verborgen  blieben  und  die 
Priester  —  man  kann  es  beweisen  —  die  Zudringlichen  durch  ab- 
surde Antworten  verhöhuten.  Wenn  z.  B.  Plutarcb  erzahlt,  dass 
der  ägyptische  Name  der  Myrrhe  Schal  eigentlich  »Abfertigung  der 
Albernheit«  (AtjQrjoeas  ixtixogmaapog)*)  bedeutet,  so  hat  sich  zwar 
Schal  als  Name  der  Pflanze  bestätigt  gefunden  (in  dem  Recept  bei 
Dümichen,  Monum.  II.  PI.  82),  keineswegs  aber  als  Ausdruck  jener 
Grobheit  die  man  als  Bären  dem  eifrigen  Frager  aufgebunden. 

Ganz  anders  als  dieses  stark  Ubermalte  griechische  Gemälde 
stellt  sich  nun  das  wahre  Bild  des  Nillandes  dar,  ja  bei  der  all- 
mäligen  Entzifferung  der  einheimischen  Tabellen  Uber  die  36  Pro- 
vinzen, deren  Städte  und  Produkte,  wie  sie  aus  den  zahlreichen 
Nomoslisten  der  Tempel  nun  dem  Forscher  vorliegen,  erfasst  den- 
selben das  gleiche  Gefühl,  wie  wenn  auf  einem  Palimpsest  unter 
irgend  einer  albernen  Legende  ein  Capitel  des  Tacitus  oder  Sallust 


*j  De  Is.  a  Os.  80. 
LX.  Jahrg.  7.  Heft 


33 


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514  Zur  Geographie  de«  alten  Aegyptens 


zum  Vorschein  käme.  Nach  dorn  Vorgang  des  Engländers  Harris  *) 
hat  zuerst  in  Deutschland  Herr  Brugsch  einige  Listen  dieser  Art 
bekannt  gemacht  und  sehr  verdienstlich  mit  Hülfe  des  sonst  vor- 
handenen biblischen,  griechischen,  römischen,  coptischen,  arabischen 
und  modernen  Materials  erläutert.  Alle  spätem  Entdeckungen,  die 
wir  namentlich  Herrn  Dtlmichen  verdanken,  haben  Brugsch's  Ar- 
beiten keineswegs  widerlegt,  wohl  aber  vielfach  bestätigt  und  ver- 
vollständigt. Der  Sache  nach  gehören  darum  die  beiden  in  unserm 
Titel  vereinigten  Werke  zusammen  und  liefern  Dtlmichens  Monu- 
ments gCog.  vol.  I.  100  geographische  Tafeln  als  Vervollständigung 
von  Brugsch's  geographischen  Inschriften ;  der  Form  nach  hat  aber 
Dümichen  diese  Tafeln  einem  andern  Werke  seines  Lehrers,  näm- 
lich Brugsch's  Recueil  de  Monuments  Egyptiens  als  III.  Band  des- 
selben angereiht,  so  dass  —  unbequem  genug  —  vorliegender  Band 
mit  gleichem  Recht  citirt  werden  kann  als  Dümichen  Monuments 
ge*ographiques  vol.  L,  oder  als  Brugsch's  Recueil  de  Monuments 
ägypt.  vol.  III.;  zudem  schreibt  der  Lehrer  französisch  und  der 
Schüler  deutsch.  Man  lasse  sich  aber  dadurch  ja  nicht  abschrecken, 
denn  die  Leistung  Beider  ist  eine  sehr  bedeutende  und  die  Methode 
in  Beiden  wirklich  zusammen  gehörenden  Werken,  Brugsch's  In- 
schriften und  Dumichen's  Monuments  I,  ganz  dieselbe,  denn  sie  ruht 
auf  der  klaren  Statistik  der  Aegypter  selbst,  welche  diese  Listen 
immer  nach  demselben  Plane  anlegten,  freilich  mit  jener  Mischung 
von  wissenschaftlicher  Trockenheit  und  gemeinverständlicher  Popu- 
larität, welche  astronomische  Wahrheiten  in  Mythen  zu  kleiden, 
das  Alphabet  als  Bilder  zu  malen  wusste  und  überhaupt  einer  Re- 
gierung wohl  ansteht,  die  in  ihren  Erlassen  sich  nicht  nur  an  ihre 
Beamten,  sondern  an  das  ganze  Volk  wendet.  Der  gemeine  Aegypter, 
wenn  er  den  Tempel  seiner  Vaterstadt  betrat,  konnte  sich  von 
jedem  des  Lesens  kundigen  belehren  lassen,  dass  diese  36  Frauen- 
bilder, mit  wunderlichem  Kupfputz,  welche  der  Gestalt  irgend  eines 
Gottes  Geschenke  zutrugen,  die  Provinzen  seines  Vaterlandes  seien, 
der  Kopfputz  bezeichnet  den  Kamen,  die  Geschenke  Produkte  der 
Provinz.  Sind  die  Wandgemälde  noch  vollständiger  ausgeführt,  so 
erscheinen  hinter  jeder  dieser  bärtigen  Frauen  —  es  mögen  auch 
Männer  sein  aber  mit  Brüsten,  dem  Symbol  der  Produktivität  — 
je  drei  andere  ähnliche  Gestalten,  drei  Unterabtheilungen  jeder 
Provinz  darstellend,  ebenfalls  mit  Namen  und  Produkten.  Die  Auf- 
zählung der  Letztern  in  einer  Beischrift  endet  gewöhnlich  in  eine 
Doxologie  an  die  speciolle  Gottheit  dos  Tempels  (z.  B.  Antimon 
ist  gut,  um  zu  schmücken  deine  Augen  o  Hathor,  Herrin  von 
Denderah ;  das  Ouot  ist  gut  um  sie  zu  erweitern  o  Kind  der  Sonne) 
oder  mit  einer  Anwendung  auf  die  Mythe  der  Landesgottheit  Osiris, 
wobei  oft  Wortspiele  mit  den  geographischen  Namen  das  Beste 


**)  Hieroglyphical  Standards  repreBenting  place»  in  Egypt,  supposed  to 
be  nomes  and  toparchlea.  Lond.  George  Baxcley  1851.  8  Tafeln.  4to. 


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Geographie  de*  alten  Aegyptens.  5 1 5 

tbun  ihtissen.  Z.  B.  Brugsch  Inscnriftett  Taf.  XXI,  Nr.  X,  wo 
der  Name  eines  Teiches  zum  Netzfang  der  Wasservögel  angewen- 
det wird  auf  Min  den  Gott  von  Panopolis,  der  die  Feind«  in's 
Netz  bringe.  Die  Osirismythe  hat  zu  dieser  Art  Heiligung  der 
Geographie  allerdings  in  dem  von  Plutarch  schon  gekannten  Sinne 
beigetragen.  Die  14  Glieder,  sagt  er,  (de  Is.  et  Os.  cap;  18)  des 
von'  seinem  bösen  Bruder  zerrissenen  Osiris  wurden  in  ebenso'  viel 
verschiedenen  Provinzen  begraben.  In  der  That  meldet  uns  jetzt 
eine  hierogl.  Inschrift  in  Denderah  bei  Dümicb.  Text  zu  Brugsch 
Recueil  III  u.  IV  p.  20,  dass  das  linke  Bein  des  Gottes  im  Nomos 
Nubia  und  das  rechte  im  NomoS1  Libya  la&  Auch  lösen  wii*  in* 
Osiriskalender  von  Denderah  bei  Dümichen  am  Schluss  einer  Auf- 
Zählung  von  16  Nomen:  Und  dies  wird  gemacht  in  allen  Nomöri, 
welche  bewahren  die  göttlichen  Glieder.  Wenn  man  es  in  diesem' 
Aktenstück  aber  unterliess ,  jedes  einzelne  Glied  seinem  einzelnen 
Nomos  zuzutheiien,  wenn  überdies  gewöhnlich  1*6  Nömen  und  nur 
14  Glieder  genannt  werden,  so'  erwächst  die  Wahrscheinlichkeit, 
dasB  mehrere  Nomen  auf  dasselbe  Glied  Anspruch  machten ,  was 
eine  sehr  verstümmelte  Inschrift-  aus  Denderah  bestätigt  (Dttmich. 
Text  Ree.  HI  u.  IV  p.  12),  indem1  sie  sagt,  das  rechte  Beitr 
habe  ich  bewahrt  im  Nomos  Libya1  und  im-  Tentyrites.  Wirklich 
findet  sich  im  Nomos  Libya  eine  hervorragende  Stadt  mit  Nameri 
Haus  des  Beines  (Ha-men)  a.  a.  0.  X,  82,  3,  6.  De*  Schinkel1 
war  begraben  im  zweiten  unterägypt.  Nomus,  dessen- NOmossymbol 
ein  (Ochsen)schenkel  zeigt.  Das  Herz,  auf  der  citirten  verstümmelten 
Inschrift  dem  10  unterägypt;  Nomos  (Kakem)  zugetheilt,  erscheint 
in1  der  That  im  Namen  seiner  Hauptstadt  »Haus  des  Herzens«' 
[Habet]  Brugsch  Inschrift  Von*  Philae.  Bei  Dümicb.  Mon.  I.  99.  15. 
besagt  eine  hierogl.  Legende,  dass  in  diesem  Gau  Hbrus  das  Herz" 
seines  Vaters  bewahre.  Bei  der  Ungewissheit  der  Lage  dieses 
Gaues  ist  es  immerhin  erlaubt  mit  Brugsch  au  Athribis  zu  denken, 
von  welcher  Stadt  Btymol.  Mag.  sagt,  sie  liege  an  der  Spitze  einer 
der  Delta1  und  heisse  Herz.  'A&Qißriv  öicsq  eVti$  ßovXoito  ikXrjvnfrl 
<pQCc£eiv  ovx,  äkAmg  li^ai  i%oi  itkrjfv  xagtiiav.  Die  Paust'  (chfa) 
glaube  ich,  war  beherbergt  in  der  »Stadt  der  Faust«  Tfiowxorpäg, 
Auch  die  42  Beisitzer  des  Osiris  im-  unterirdischen  Geschwornen- 
gericht  finden  sich  durch  diese  Mischung  von  Geographie  und  Re- 
ligion localisirt,  und  lassen  sich'  die  wirklichen1  Städte,  ans  welchen 
einzelne  dieser  mythologischen  Wesen  herstammen  sollten,  noch 
nachweisen;  z.  B.  für  den  28.  der  Richter,  Maahtuf  der  Ort  Peminf 
bei  Panopolis*;  für  den  30.  sekt-chru  die  Metropolis*  des  19.  Gaue* 
(Todtenbuch  125.  15  u;  22).  Die  naheliegende  Annahme,  das*  man 
hier  es  vielleicht  mit  Heroen  der  Vorzeit  zu  thun  habe,  die  sieh 
an  der  Spitze  ihres  Stammes  oder  ihrer  Stadt  hervorgethan  *)j 


*)  Ganz  nur  erträumt  ist,  Was  Rossi  in  seinem  Cours  de  droit  consti- 
tutione! I,  p.  28  dritte  Vorlesung  darüber  iu  berichten  weiss. 


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516 


Zur  Geographie  dei  alten  Aegyptens. 


widerlegt  sich  durch  den  dogmatischen  Charakter  ihrer  Namen, 
welcher  sie  als  Höllenrichter  kennzeichnet:  Der  Blntfresser,  der 
Weisszahn,  der  Weitschreitende,  der  Schnellfiissige,  Flammenhaupt, 
des  Augen  Feuer  sind,  der  Fresser  der  Schatten,  der  dessen  An- 
blick fliehen  macht  u.  s.  w.  Es  kommt  also  hior  wieder  die  Thätig- 
keit  einer  Priesterschaft  zu  Tage,  welche  ihr  theologisches  System 
ins  Leben  der  Menschen  und  der  Natur  zu  verweben  bestrebt  war. 
Niemand  verstand  so  genau  wie  sie  die  Berechnung  des  astrono- 
mischen Jahres,  aber  sie  gestalteten  es  um  zu  einem  Kirchenjahr, 
und  seine  Jahreszeiten  zu  religiösen  Festen;  niemand  hatte  ge- 
nauer als  sie  die  geometrische  Vermessung  des  Nillandes  ausge- 
führt; aber  sie  verwandelten  zugleich  seinen  Boden  zum  Schauplatz 
einer  religiösen  Legende.  Von  den  obenbeschriebenen  Bilderreihen 
der  Gaue  hat  Herr  Brugsch  15  benutzt,  römische,  ptolemäische 
und  pharaonische ;  dieselben  sind  von  Herrn  Dümichen  theils  in 
Abbildungen  bekannt  gemacht,  theils  vermehrt  worden  im  vorlie- 
genden Bande.  Die  von  den  Classikern  überlieferte  Zahl  der  Gaue, 
36  ist  die  richtige  Mitte  dessen,  was  diese  einheimischen  Quellen 
bieten.  Eine  ptolemäische  Liste  in  Edfou  gibt  44,  eine  römische 
in  Denderah  40.  Lässt  man  in  Letzteren  die  doppelt  erscheinen- 
den weg,  so  bleiben  35;  für  das  obere  Land  18,  für  das  untere 
17.  Mit  Ausmerzung  der  Doubletten  auf  der  Liste  von  Edfou  er- 
hält und  behandelt  Herr  Brugsch  folgende  22  Nomen  des  oberen, 
22  des  unteren  Landes,  wobei  zu  bemerken  ist,  dass  nach  ägypti- 
scher Ordnung  immer  Süden  dem  Norden,  der  Westen  dem  Osten 
vorgebt.  Oberägypten  1.  Nubia  [ägyptisch  To  Kens].  2.  Apollino- 
polite8  [Thes-Hor].  3.  Latopolites  [Tuen].  4.  Pathyrites  [Zam  näm- 
lich Theben].  5.  Koptites  [Hor-ti].  6.  Tentyrites  [msuh].  7.  Dios- 
polites  [seschesch].  8.  Thinites  oder  von  Abydos  [abz?].  9.  Pano- 
polite8  [Min  oder  sechem].  10.  Aphroditopolites  [Ze  oder  Zez],  11. 
Antaeopolites  [sches  hotep].  12.  Hypselites  [Tuf].  13.  Lycopolites 
anterior  [ches-chent  oder  wie  jetzt  Lepsius  und  Dümichen  lesen 
atef-chent].  14.  Lycopolites  posterior  [atef-pehn].  15.  Hermopolites 
[Un].  16.  Der  nördliche  Theil  des  Hermopolites  [Sah],  17.  Cyno- 
polites  [Anpu].  18.  Oxyrinohites  [Sep].  19.  Aphroditopolites.  20. 
ArsinoStes  anterior  [Neh-t].  21.  Arsinol'tes  posterior  [Neh-t],  22. 
Heracleopolites  [soft].  B.  Unterägypten:  1.  Memphitea  [sebt-bet, 
wörtlich  »der  Gau  der  weissen  Mauer«.  Nach  Herodot  HI,  91  lag 
die  persische  Besatzung  'Ev  tg>  Xevxa  xd%tl  rcS  iv  Mi'ucpt.  2 
Letopolites  [chepsch].  3.  Libya  [ament].  4.  Südl.  Saites  [saj-res]. 
5.  Nördlich  Saites  [saj  mehit].  6.  Athribites  [Ka].  7.  Westlicher 
Sebenytes?  8.  Oestlicher  S.?  9.  [Ati].  10.  [Kakem  »Gau  des  schwar- 
zen Stieres«.  11.  [Ka-hesb].  12.  [Ka-behs].  13.  Heliopolites  [Haq.]. 
14.  [Oestlicher  Chent].  15.  [Heb  Gau  des  Ibis].  16.  [Cheb].  17. 
[Gau  der  Stadt  Samhud].  18.  Chrud-chent].  19.  [Chrud-pehu], 
20.  [sept-achm].  21.  [An].  22.  [Men]. 


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Zur  Geographie  des  alten  Aegyptens. 


517 


Die  Gegenüberstellung  der  griechischen  Benennungen  und  die 
Ausmittlung  der  wahren  Lage  ist  bei  den  Gauen  des  Delta's  viel 
schwieriger,  weil  sie  nicht  mehr,  wie  in  Oberägypten  einander  ge- 
nau von  Süden  nach  Norden  folgen  können. 

Für  jeden  Gau  wird  die  Hauptstadt  angogeben  und  sind  drei 
Unterabtheilungen,  wie  der  Gau  selbst  durch  Frauen  personificirt : 
das  mer,  das  uu  und  das  pehu,  wovon  aber  nur  über  die  Bedeu- 
tung des  mittleren  als  »Landschaft c  das  platte  Land  man  sich 
bisher  hat  einigen  können,  weil  im  coptischen  uoei  agricola  be- 
deutet, rem  ouoi  incola  ruris.  Eine  Landstadt,  eine  Stadt  zwei- 
ten Ranges,  aber  jedenfalls  eine  Stadt  rauss  mit  diesem  Ausdruck 
bezeichnet  worden  sein,  weil  diese  bildlichen  Listen  als  das  Uu  des 
17  unterägyptischen  Nomos  »die  Stadt  des  Nordens«  angeben. 

Dieses  feste  System  der  Einreihung  der  Ortschaften  in  ihre 
Gaue  und  der  Aufzählung  der  Gaue  selbst  leistet  annährend  den 
Dienst  einer  Landkarte,  so  dass  für  Identificirung  griechischer  oder 
neuerer  Namen  mit  den  alten  man  als  ersten  Fingerzeig  den  Gleich- 
%lang  der  Namen,  als  zweiten  ihre  Stelle  in  diesem  System  und 
als  Bestätigung  das  Auffinden  ihrer  hieroglypbischen  aus  den  Listen 
gelernten  Schreibung  in  irgend  einem  Schutthaufen  nun  bereits  sehr 
oft  erlebt  hat. 

Ich  erwähno  z.  B.  Chusae  Xovöcct,  welches  nach  Aeliau  de 
anim.  X.  27  unweit  Hermopolis  gelegen,  eine  der  Venus  Urania 
(Hathor)  geweihte  Kuh  verehrte 

Die  Göttin  und  ihre  Kuh  irrten  bisher,  wie  Schlemihl  und 
sein  Schatten  getrennt  umher,  letztere  in  den  griechischen  Nach- 
richten, erstere  in  den  hieroglyphischen  Inschriften,  wo  die  Hathor 
von  ?  ?  sehr  oft  erschien.  Doch  wusste  man  nicht  wohor  sie  kam, 
nur  mussten  an  ihrem  Ort  auch  Alabasterbrüche  sein,  weil  der 
Fundort  dieses  Minerals  mit  demselben  ?  ?  bezeichnet  ist. 

Nachdem  nun  auf  Grund  der  neuern  Namen  (kopt.  Kos-koo, 
arab.  Qousijeb)  eines  Dorfes,  das  unweit  Hermopolis  liegt,  Brugscb 
die  Lage  des  alten  Chusae  richtig  daselbst  vermuthet,  ent- 
zifferte Herr  Pleyte  auch  die  Hieroglyphe,  die  wir  mit  Doppel- 
fragzeichen umschreiben,  als  che;  versetzt  eine  jetzt  von  Dümi- 
chen  edirte  Nomostafel  Mon.  II.  pl.  53  die  Hathor  von  Chs  in  den 
Lykopolites  anterior,  unweit  Hermopolis  maj.  und  obendrein  finden 
sich  in  der  Nähe  von  El-Qusijeh  alte  Alabasterbrüche  (bei  Gebel- 
Abu-fedah),  die  Trümmer  einer  grossen  Stadt  und  ein  angefange- 
ner Höhlentempel  der  Hathor,  der  ägypt.  Venus. 

Ein  zweites  Beispiel  ist  Oxyrynchus.  Steph.  Byz.  nennt  eine 
Stadt  Hiyi7txr\  und  einen  Nopog  fteiuiTizrjg,  über  deren  Lage  die 
Ausleger  nichts  anzugeben  wissen.  Die  zweifelhaften  koptischen 
Verzeichnisse  identificiren  einen  Nomos  Pemge,  worin  sie  unter 
andern  die  Orte  Pan-coleus  und  Del- Bah  anführen  mit  dem 
Oxyrynchites  der  Classiker  in  der  Heptanomis,  ohne  dass  bisher 
weder  die  Cultusstätte  des  Fisches  Oxyrynchus  noch  der  Name 


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Zur  Geographie  det  ate  Aegypten». 


Pemge  sich  hieroglyphisch  hätte  nachweisen  lassen.  Nun  findet  sich 
auf  den  hieroglyphischen  Risten  von  Oberägypten  an  der  18.  Stelle, 
<i.  h.  an  dem  Ort,  welcher  der  Reihenfolge  nach  wirklich  in  die 
Heptanomis  fällt,  ein  Npmps  Sep  m^t  den  Orten  ^  Haus  des  Phoenix« 
Ha-bennu  und  »Grab  desOsiris*  Pen.-plas  -  Üsiri  und  der  Unter- 
abteilung Bah,  letzteres  dem  Del- Bah  ersteres  dem  Pan-  coleus 
.^er  Kopten  entsprechend.  J^ese  Namensähnljchjceit  in  der  ent- 
sprechen.den  Lage  bestimmten  Herrji  Brngscb  vorläufig  Pemge  gleich 
Sep  zu  setzen  und  die  Bestätigungen  blieben  nicht  aus.  Auf  einer 
Stele  des  Serapeuxn  las  er  den  heiligen  Namen  Sep  neben  dem  de- 
motischen Pemza,  offenbar  das  Pemge  der  Kopten.  Und  dass  die- 
ser Gau  der  Oxynynchites  der  Griechen  ist,  in  weichem  der  heute 
Takinas  genannte  Berg  liegt,  erhellt  jetzt  aus  einer  hieroglyphi- 
sphen  Stele,  welche  Takinas  neben  Pemge  und  den  oben  genann- 
ten Orten  des  Nomos  Sep-Pemge  anfuhrt.  Es  ist  dies  das  hiero- 
glyphische Yerzeichniss  der  Städte,  welche  eine  am  Berge  Barkai 
gefundene  Stele  als  Eroberungen  Piancbi's  aufführt,  dessen  Sieges- 
zug aus  dem  Herzen  Authiopiens  durch  das  ganze  Nilthal  hinap 
bis  Memphis  und  weiter  ging,  ein  Beweis,  dass  es  damals  den 
»Möhren«  auch  nach  Palästina  nicht  zu  weit  war,  wie  dann  II 
Chron.  15,  9  einen  ähnlichen  Zug  eines  Knschiten  gegen  Assa, 
£önig  von  Ju<Ja  erwähnt.  Auf  dem  genannten  Monument  erschei- 
nen hinter  einander  Pemag  [doch  wohl  Pemge]  und  Tekanes  auf 
iclem  Westufer,  Habennu  und  Taiutj  auf  dem  Ostufer.  Taiuti  ist 
das  To4i,  welches  in  den  koptfspben  I^exicjs  als  yipus  nomi  Pemge 
erscheint  und  Habennu  ist  jenes  Haus  des  Phoenix  der  hierpglyphi- 
schen  Listen. 

So  fest  gewoben  ist  dieses  antjk*  Kartennetz,  dass,  obwohl 
fange  Zeit  richtungslos  im  Strome  der  Zeit  dahintreibenfi  zwei  oder 
drei  Anhaltspunkte  (Pen-Klas,  Bah,  Habennu)  genügen,  um  ihm 
sogleich  seine  Brauchbarkeit  wieder  zu  geben.  Also,  den  Hut  ab 
vor  jlerrn  Harris,  der  diese  Ifpmosbilder  zuerst  als  solche  ernannte, 
YQr  Herrn  Bmgsch,  der  sie  reichhaltig  commentirte,  vpr  Herrn  Dü- 
michen,  fler  sie  uns  im  Original  vorlegte,  aber  zweimal  den  Hut 
ab  vor  jenem  Priestercollegium  selbst,  das  diesen  Rahmen  erfand 
und  damit  heute  auch  in  das  Chaos  der  griechischen  und  kopti- 
schen "peberlieferung  Licht  bringt  und  dissociata  )ocis  concordi 
pace  ligavit. 

Es  würde  zu  weit  führen,  hier  noch  von  den  NoinosgÖttern 
zu  sprechen,  welche  Brugscb  ausführlich  behandelt,  und  von  den 
Produkten,  ? welche  ausgehen  aus  dem  Auge  der  Sonne«  (In sehr, 
bei  Du  michen  Mon.  I.  PL  35  1.  3.)  Die  harpyienförmigen  Gestal- 
ten der  NomQSgötter,  jeder  an  besondern  Attributen  kenntlich, 
faden  sich  Dtim.  Mon.  I.  PI.  77—84.  Wie  wesentlich  die  Stadt- 
gütter  für  Wiedererkenuuug  der  alten  Nameq  in  den  neuen  sind, 
hört  man  ja  selbst  aus  dem  lateinischen  Apollinopolis ,  DJaspolis 
fc  fc  w-  heraus. 


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Zur  Geographie  dee  alten  Aegyptens. 


Um  die  Statistik  der  Landesprodukte  fruchtbar  zu  machen, 
bedarf  es  noch  weiterer  Studien  über  deren  Namen.  Gold  bringt 
Nubien,  das  heute  noch  den  ägyptischen  Namen  Nub  dieses  Me- 
talles trägt,  welcher  schon  unter  Eamses  II.  vorkommt  (Brugsch 
Inschr.  III,  pag.  69).  Die  Spuren  alter  Goldminen  daselbst  hat 
Linant-Bey  nachgewiesen;  die  Stele  von  Kuban  und  eine  altägyp- 
tische Karte  in  Turin  beziehen  sich  ebenfalls  darauf.  Smaragd  ist 
wohl  unter  dem  Smer  des  nubischen  Gaus  (Brugsch  a.  a.  0.  I,  102) 
zu  verstehen.  Das  An-hesmen  bei  El-Kab  entspricht  seinem  Namen 
Natronthal  heute  noch  durch  die  zahlreichen  Krystalle,  dis  seinen 
Boden  bedecken.  Bauchwerk  aus  Arabien  (DOm.  Mon.  Text  p  88) 
und  herzerfreuende  Hölzer  von  ebenda  (Leps.  Denkm.  IV.  24),  Ge- 
rüche aus  Canaan  (Brugsch  Inschr.  I.  64)  sind  eben  so  verständ- 
lich als  wenn  es  heisst,  der  Gau  von  Koptos  bringe  kostbare  Steine 
vom  Gebirg,  auch  Gold  und  Lapis  lazuli  (Düm.  Mon.  I.  PL  44) 
und  Antimon  (a.  a.  0.  78,  5).  Oestlich  von  Koptos  öffnet  sich 
nämlich  das  Felsenthal  von  Hamamat,  wo  Lepsius  fünf  bis  sechs 
Steinbrüche  von  rothem  Porphyr  u.  s.  w.  fand  mit  Inschriften 
schon  aus  dem  alten  Beich.  Zugleich  führten  aber  die  Tbäler,  um 
diesen  Gebirgsstock  ans  Meer  nach  Koseir  einerseits  und  nach 
Berenice  andererseits,  und  vermittelten  den  Verkehr  mit  Arabien 
und  Indien.  Aus  Persien  kommt  bekanntlich  der  Lapis  lazuli. 
Der  Weihrauch,  welchen  die  Fürsten  Arabiens  »unter  dem 
Schrecken  Pharao' s  sammeln«,  nennt  in  Hamamat  schon 
die  Inschrift  eines  Beamten  des  Vorgängers  von  Amenemhe  (altes 
Reich),  welcher  den  Weg  beschreibt,  den  er  von  Koptos  nach  Ko- 
seir einschlug,  um  nach  Arabien  überzusetzen  (Leps.  Denkm«  II, 
150.  übersetzt  von  Chabas,  Voyage  d'un  Egyptien  p.  57).  Das 
Sohatzhaus  des  Rhampsinit  in  Medinet-Äbu,  an  dessen  zerstörten 
Wänden  sich  noch  einige  alte  Uebersohriften  des  Fachwerkes,  wie 
Kupfer,  Lapis  ?  ?  aus  Palästina  entziffern  lassen  (siehe 
Dümichens  Monuments  historiques),  würde  hier  weitere  Naohwei- 
sungen  geben,  wenn  nicht  alles  Ruine  wäre.  Einen  Papyrus  aus 
Medinet-Abu,  der  das  Ein-  und  Ausgeben  eines  solchen  Schatzes 
registrirt,  hat  Chabas  bekannt  gemacht. 

Was  aber  den  vorliegenden  geographischen  Schatz  betrifft,  so 
ist  er  weit  entfernt,  ganz  gehoben  und  ausgebeutet  zu  sein,  nament- 
lich was  die  Bei  Schriften  der  Nomosfiguren  betrifft. 

Eine  besonders  eingehende  und  fruchtbare  Studie  über  diese 
geographischen  Inschriftlegenden  des  Tempels  von  Edfou  veröffent- 
licht so  eben  Herr  Jacques  de  Rouge*  in  einer  Reihe  von  Artikeln 
der  Revue  archdologique  (1865  in  den  Nummern  des  Mai,  Septem- 
ber, November,  1866  November,  1867  Mai),  deren  letzter  vom 
Mai  dieses  Jahres  aber  erst  bis  zum  10.  oberägyptischen  Nomos 
(Aphroditopolis)  vorgerückt  ist.  Der  Verfasser  erklärt  da  die  In- 
schriften ,  die  eben  erst  durch  Herrn  Marie tt es  Reinigung  jenes 
prächtigen  Apollotempels  uuter  dem  Schmutz  hervorgekommen  sind. 


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520 


Zur  Geographie  des  alten  Aegyptens 


Wenn  Talleyrand  die  Diplomaten  warnt,  sich  vor  dem  ersten  Ein- 
druck zu  hüten  und  Plautus  empfiehlt,  man  solle  die  Lügen  warm 
serviren,  so  kommt  das  auf  denselben,  auch  durch  die  Archäologie 
bestätigten  Satz  hinaus,  wo  immer  die  ersten  Erklärungen  eines 
neuen  Fundes  mit  Vorsicht  aufzunehmen  sind.  Hier  aber  glaube 
ich  versichern  zu  können,  dass  dieses  warme  Gericht  keine  Lügen- 
kost, sondern  vortreffliche  Nahrung  bietet.  Ist  auch  das  Latein 
des  jungen  Herrn  Verfassers  etwas  mangelhaft  (asech  er  mäht, 
heisst  ihm  metitur ;  verbotene  Dinge  sind  ihm  vetata),  so  ist  seine 
Lesung  der  Hieroglyphen  um  so  besser;  denn  er  ist  im  vollen  Be- 
sitz der  Errungenschaften  seiner  Vorgänger  und  unterstützt  durch 
die  seit  Jahrzehnten  angesammelten  Collectaneen  und  Kenntnisse 
seines  Vaters,  des  berühmten  Vicomte  de  Rouge.  Der  Tempel  vou 
Edfou  enthält  nicht  weniger  als  27  geographische  Listen,  von  denen 
die  wichtigste  aus  der  Zeit  des  Ptolemäus  Philopator,  welche  die- 
ser Arbeit  zur  Grundlage  dient,  bisher  nur  theilweise  bekannt  ge- 
worden war  (durch  Bmgsch  nach  einer  Copie  von  Dümichen  ägyp- 
tische Zeitschrift,  Juni  1864),  was  auch  von  zwei  anderen  zu  gel- 
ten scheint,  denn  dass  die  in  Paris  photographisch  publicirte  iden- 
tisch ist  mit  einer  der  zahlreichen  in  Dümichens  Mon.  vol.  I  kann 
ich  nur  vermuthen  ;  Bruchstücke  von  einer  dritten  gab  auch  Brugsch 
in  der  ägyptischen  Zeitschrift,  Juli  1863.  Schon  aus  der  Ueber- 
schrift  ersieht  man ,  dass  diese  Ptolemüerliste  ausser  den  Namen 
der  Gaue  und  ihrer  Hauptstädte  nebst  den  drei  Unterabtheilungen, 
dem  mer,  uu  und  pehu  auch  die  Osirisglieder  (z.  B.  die  Lippen 
im  Latopolites) ,  die  Rangstufen  der  Priester,  die  Namen  der  hei- 
ligen Barken,  Bäume  und  Schlangen ,  auch  wie  es  scheint,  die  in 
jedem  Gau  verbotenen  Dinge  namhaft  macht. 

Hatte  schon  Lepsius  dargethan ,  dass  jenes  mer  den  Haupt- 
kanal bedeute  und  behauptet,  dass  bei  allen  drei  Unterabtheilungen 
nicht  an  Städte  gedacht  werden  dürfe,  so  stimmt  ihm  der  Verf. 
in  beidem  bei.  Jene  Scheidung  sei  nur  behufs  der  Abgaben  ge- 
macht, indem  das  mer,  der  Canal  besonders  Fische,  das  uu  die 
Landschaft  meistens  Korn,  das  pehu  die  Lagunen  Wasservögel  und 
Wildpret  an  die  Tempel  in  natura  ablieferten.  Hatte  Lepsius  aus 
guten  philologischen  Gründen  das  pehu  als  die  Teiche  voll  Wasser- 
vögel gefasst,  so  beweist  Herr  de  Rouge"  aus  einer  Zusammenstel- 
lung aller  betreffenden  Legenden,  dass  vom  Uferland  überhaupt  die 
Rede  ist,  wo  zwar  in  Lagunen  und  Mooren  das  Ueberschweramungs- 
wasser  stehen  blieb,  ein  ergiebiges  Jagdrevier,  »duftend  von  Lotus« 
(pehu  des  Diospolites),  wo  aber  auch  Matten  voll  Kühe  und  Och- 
sen und  Heerden  vou  Kleinvieh  (pehu  des  9.  Gaues)  sich  fanden. 
Einen  Blick  in  die  Administration,  schon  der  XII.  Dyn.  giebt  die 
Stele  eines  Beamten ,  Vorsteher  des  pehu  des  thinitischen  Gau's, 
welchem  zugleich  die  Aufsicht  über  die  Canäle  von  dem  sechsten 
(dem  von  Denderah)  bis  zum  neunten  anvertraut  war.  Ja  ist  es 
nicht  als  bekomme  man  ein  förmliches  Kataster  zu  Gesicht,  wen:i 


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LiviuB  von  Ger  lach.  17.  B 


621 


neben  einer  Darstellung  des  Tbot  mit  einem  Buch  in  der  Hand  zu 
lesen  ist:  Ich  gebe  dir  einen  Band  aus  der  Bibliothek  deines  Vaters. 
Der  Anfang  dieses  Buches  heisst  neben  jener  Figur  also :  Ich  schaffe 
die  Gefilde  Aegyptens,  immer  zu  dauern  vor  Horns.  Von  Elepban- 
tine  bis  zu  den  Gränzen  des  Meeres  sind  es  12,700  Aah  (ein  noch 
unbekanntes  Maass).  Folgen  ähnliche  Maassbestimmungen.  Denn: 
Aegypten  ist  das  Auge  des  Osiris;  der  Nil  ist  seine  Pupille,  die 
zwei  Gebirge  von  Ost  und  West  seine  Augenbraunen.  Ferner :  Der 
Nil  kommt  her  von  Kerti  (bei  den  Katarakten)  zu  seiner  Zeit,  er 
bat  bei  Elephantine  eine  Höhe  von  24  Ellen,  drei  Palmen  in  24 
Theilen.  Es  ist  nichts  weniger  noch  mehr.  Wenn  der  Nil  kommt, 
so  bewässert  er  das  Land  und  erfüllt  das  Auge  des  Osiris  mit  den 
Produkten,  welche  den  Tisch  des  Horus  bedecken,  des  Sohnes  der 
Isis  u.  s.  w. 

Der  Forscher,  welcher  dieses  antike  Kartennetz  nun  zu  den 
16  Karten  legt,  welche,  jede  speciell  nach  den  Angaben  Eines 
Schriftstellers :  Herodot,  Strabo,  Plinius,  Ptolemäus  und  den  Kopten 
Herr  Parthey  in  den  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  ver- 
öffentlicht hat  (1858),  wird  dankbar  anerkennen,  dass  nun  zur 
Orientimng  in  dem  alten  Land  der  Finsterniss  ein  bedeutender 
Schritt  gethan  worden  ist. 

Bern,  im  Juli.  J.  ZOndel. 


Titus  Livius  Römische  Geschichte.  Deutsch  von  Frans  Doro- 
theus  G  er l ach ,  Professor  an  der  Universität  su  Basel. 
Siehensehntes  Bandchen  42 — 45.  Buch.  Schluss.  Stuttgart.  Hoff- 
7nannfsche  Verlagsbuchhandlung.  Iü67.  S.  77  V — 1015  in  8. 

Die  früher  erschienenen  Bändchen  dieser  Uebersetzung  des 
Livius  sind  in  diesen  Blättern  mehrfach  besprochen  worden,  zuletzt 
noch  Jahrgang  1866.  S.  224;  um  so  mehr  haben  wir  auch  den 
Schluss  des  Ganzen  mit  diesem  siebenzehnten  Bändchen  in  der 
Kürze  noch  hier  anzuzeigen.  Dasselbe  enthält  den  Rest  der  fünf- 
ten Dekade  vom  zwei  und  vierzigsten  Buche  an,  welches  den  Aus- 
bruch des  macedoniscben  Krieges  uns  vorführt;  dessen  Ende  mit 
dem  ftlnf  und  vierzigsten  Buch,  welches  die  Gefangennebmung  des 
macedoniscben  Königs,  den  Triumph  des  Aemilius  Paulus,  die 
römische  Organisation  des  Landes  u.  8.  w.  darstellt,  gegeben  ist. 
Der  Charakter  der  Uebersetzung  in  diesem  wie  in  den  drei  folgen- 
den Büchern  ist  sich  gleich  geblieben,  iusofern  der  Sinn  durchaus 
getreu  und  genau  wiedergegeben  ist,  und  zwar  in  einer  fliessenden 
deutschen  Sprache,  die  durchaus  keinen  Anstoss  bietet  und  die 
Härten  des  Livianischen  Sprachgebrauches,  den  manchmal  schwie- 
rigen und  gedrängten  Periodenbau  in  dem  gefalligen  Fluss  der 
Rede  kaum  erkennen  lässt.  Mehrfache  Proben  sind  bei  den  frühe- 


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B22 


Livius  von  G  erlach.  17.  B* 


ren  Besprechungen  in  diesen  Blättern  davon  gegeben  worden,  ohne 
dass  es  nötbig  wäre,  nochmals  weitere  Proben,  aus  diesem  Bande 
genommen,  mitzutheilen.  Auf  die  jedem  Buche  beigefügten  Anmer- 
kungen haben  wir  auch  bei  diesem  Bande  aufmerksam  zu  machen, 
zumal  sie  meist  allgemeine  Verhältnisse  der  Livianischen  Geschicht- 
schreibung besprechen  oder  die  Quellen,  aus  welchen  die  Erzählung 
geflossen,  in  Betracht  ziehen,  oder  endlich  auch  in  die  Behandlung 
des  lateinischen  Textes  eingeben,  da  wo  derselbe  kritisch  unsicher, 
verdorben  oder  lückenhaft  ist,  was  bekanntlich  gerade  bei  den 
fünf  letzten  Büchern  des  Livius,  die  uns  nur  durch  Eine  Hand- 
schrift tiberliefert  sind,  an  nicht  wenigen  Stellen  der  Fall  ist.  Ein- 
zelne Lücken  des  Textes  sind,  so  weit  es  der  Zusammenhang  er- 
.  heischt,  auch  ausgefüllt  mit  der  nothwendigen  Ergänzung,  die  aber 
in  eckige  Klammern  eingeschlossen  ist.  Wenn  der  Kritiker  des 
Livianischen  Textes  darauf  besondere  Rücksicht  zu  nehmen  hat,  so 
wird  der  Forscher  der  römischen  Geschichte  überhaupt  in  diesen 
Anmerkungen  Manches  finden,  was  er  bei  der  Beurtbeilung  römi- 
scher Staatsverbältnis6e,  zunächst  der  römischen  Politik,  sowie  in 
Bezug  auf  die  gesammte  Lage  des  Staates  wohl  zu  beachten  hat. 
Wir  unterlassen  es,  davon  im  Einzelnen  Belege  zu  geben,  aber 
eine  allgemeine  Bemerkung,  zu  welcher  den  Verf.  die  bekannte  und 
vielbesprochene  Stelle  des  13.  Cap.  Buch  XL  III  veranlasst  hat, 
welche  hier  also  wiedergegeben  ist: 

»Ich  weiss  gar  wohl,  dass  zufolge  derselben  Gleichgültigkeit, 
mit  welcher  man  jetzt  ganz  allgemein  glaubt,  dass  die  Götter  Nichts 
andeuten,  weder  irgend  welche  Wunderzeichen  für  den  Staat  an- 
gezeigt, noch  in  die  Jahrbücher  eingetragen  wurden.  Uebrigens 
wird  mein  Gemüth,  wenn  ich  von  alten  Dingen  schreibe,  alter- 
tümlich gestimmt,  und  ich  empfinde  eine  gewisse  Scheu,  das  für 
ungeeignet  zu  halten,  in  die  Jahrbücher  aufgenommen  zu  werden, 
was  jene  sehr  verständigen  Männer  von  Seiten  des  Staates  glaub- 
ten beachten  zu  sollen«*), 

wollen  wir  hier  um  so  mehr  berühren,  als  sie  auf  unsere  Zeit  be- 
sondere Anwendung  finden  mag.  Unser  Verf.  leitet  nämlich  seine 
Besprechung  dieser  Stelle  mit  folgenden  Worten  ein: 

»Hier  spricht  Livius  in  sehr  bescheidener  Form  eine  tiefe 
Wahrheit  aus,  dass  man  nämlich  jede  Zeit  und  jede  Begebenheit 
in  dem  Sinne  und  dem  Geiste  darstellen  soll,  in  welcher  sie  voll- 
bracht war.  Wenn  also  die  damaligen  Römer  religiös  waren  und 
eine  beständige  Einwirkung  der  Gottheit  auf  die  menschlichen  An- 


*)  Der  lateinische  Text,  den  wir  zur  Vergleichung  beisetzen,  lautet: 
„Non  Bum  nescius  ab  eadem  negligentia,  qua  nihil  deos  portendere  vnlgo 
nunc  credant,  neque  nuntiari  nulla  prodigia  in  publicum  neque  in  annales 
referri.  Caetenira  et  mihi  vetustaa  res  scribenti  nescio  quo  pacto  antiquus 
fit  animus  et  qnaedam  religio  tenet,  quae  illl  prudentissimi  vir!  publice 
suscipienda  censuerint,  es  pro  indignis  habere,  quae  in  meos  annales  referam." 


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Llvius  von  GerlAcJi.  17.  B. 


gelegenheiten  annahmen,  die  sich  durch  Störungen  in  den  Natur- 
gesetzen kund  that,  so  könnte  docb  nicht  das  Gegentheil  behauptet 
werden.  Wenn  eine  spätere  Zeit  diese  für  irrtbttmlich  erkannte, 
so  war  diess  eben  eine  verschiedene  Auffassungsweise  und  Ueber- 
zougnng,  welche  dieses  Geschlecht  beherrschte,  das  eben  darum 
von  andern  Triebfedern  bestimmt  wurde.  Wer  nun  diese  geistigen 
Qrundsätze  unter  einander  wirft  oder  gar  nach  seiner  Subjectivität 
rektificiren  will,  der  sündigt  eben  gegen  den  Grundsatz  der  Ge- 
schichte, die  Wahrheit,  und  gibt  eigen  irrige,  verkehrte  Ansichten 
über  die  Geschichte,  welche  den  Zeiten,  die  er  doch  beschreiben 
will,  ganz  fremd  sind.  Das  ist  Entstellung,  Fälschung,  ünwahr- 
boit,  aber  nicht  Geschichte«  u.  s.  w. 

Nicht  minder  Beachtung  werden  die  allgemeinen  Betrachtun- 
gen finden,  zu  denen  der  Verfasser  sich  durch  den  Inhalt  des  fünf 
und  vierzigsten  Buches  veranlasst  sieht;  namentlich  die  gerechte 
Würdigung  des  Verfahrens  der  Börner  in  der  Behandlung  des  er- 
oberten Landes,  und  die  ganze  von  den  Römern  eingehaltene  Poli- 
tik. So  heisst  es  unter  andern  S.  1005: 

»Die  neue  Eintheilung  von  Makedonien  (s.  cap.  29)  und  die 
gegebene  Verfassung,  so  sehr  sie  gelobt  wird,  zeigt  doch  offenbar 
eine  gänzliche  Verkennung  der  Eigentümlichkeit  des  makedoni- 
schen Volkes,  welches  im  Allgemeinen  nichts  weniger  als  republi- 
kanisch, sondern  durchaus  königlich  uud  ein  Militärstaat  war.  Auoh 
die  Verfolgungen  der  Männer,  welche  zu  Perseus  hinneigten  und 
deren  Wegschleppung  nach  Italien  beweisen,  dass  die  Staatskunst 
einer  Bepublik  noch  viel  argwöhnischer  und  schonungsloser  sein 
kann  als  die  monarchischer  Staaten.  Durch  eben  dieselbe  hat  auch 
das  Schaukelsystem  der  Rbodier  seine  gerechte  Bestrafung  gefun- 
den u.  s.  w.  Wie  sehr  übrigens  die  ganze  Weltlage  durch  die  Be- 
siegung der  Makedonier  verändert  war,  zeigt  sich  am  deutlichsten 
in  der  kriechenden  Demuth  der  asiatischen  Könige,  welche  von  nun 
N  an  nur  noch  als  Vasallen  des  römischen  Volkes  ihre  Existenz 
fristeten.« 

Was  die  eben  erwähnte  neue  Eintheilung  Makedoniens  in  vier 
getrennte  Gemeinwesen  betrifft,  so  hat  sich  der  Verf.  darüber  noch 
eipmal  S.  1007  f.  in  einer  Bemerkung  zu  cap.  28  oder  vielmehr 
29,  welches  über  diese  Organisation  berichtet,  des  Näheren  ausge- 
lassen; er  findet  sie  wohl  im  Interesse  der  römischen  Politik  begrün- 
det, aber  darum  noch  nicht  zweckmässig  hinsichtlich  der  Zukunft. 
Aemilius  Paulus  legte  bei  den  vier  Bezirken,  in  welche  Makedonien 
nun  zerfiel,  allerdings  die  Naturgränzen  zu  Grunde,  indem  er  sie 
durch  Ströme  von  einander  schied,  ohne  zu  bedenken,  dass  Ströme 
unpassende  Schranken  sind,  da  sie  im  Gegentheil  zum  gegenseitigen 
Verkehr  einladen.  »Gerade  nun  dieses  Unterbrechen  des  Verkehrs 
und  die  Aufhebung  aller  verwandtschaftlichen  Verbindungen,  Ver- 
bot des  Kaufs  und  der  Veräusseruug  des  Eigenthums,  das  Verbot 


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524 


The  OdyaBey  of  Homer  by  H.  Ha y man. 


den  Reichthum  des  Landes  zu  benutzen,  das  Untersagen  des  Berg- 
baus und  des  Schiffbaus  musste  den  Lebensnerv  der  neuen  Repu- 
bliken durchschneiden  und  weil  es  die  freie  Bewegung  hinderte, 
sie  erst  recht  ihre  staatliche  Vernichtung  fühlen  lassen.  —  Was 
sollte  ihnen  eine  Freiheit,  die  sie  weder  zur  Vermehrung  materiel- 
len Wohlstandes,  noch  für  ihre  politische  Consolidirung  benutzen 
durften?«  u.  s.  w.  Als  eine  weitere  Beigabe  erscheint  die  Unter- 
suchung über  den  Scipionenprocess  S.  1010 ff.,  zum  Theil  wenig- 
stens gegen  eine  unlängst  im  Herraes  gegebene  Ausführung  gerich- 
tet und  bestimmt,  das,  was  in  diesem  durch  widersprechende  An- 
gaben der  Alten  verwickelten  Process ,  als  sicher  und  annehmbar 
sich  herausstellt,  zu  ermitteln.  Und  hiernach  würde  allerdings  fest- 
stehen, dass  die  Angriffe  gegen  die  Scipionen,  wie  sie  mit  der  von 
den  Petiliern  gestellten  Forderung  einer  Rechenschaftsablage  über 
die  dreitausend  von  Antiochus  abgelieferten  Talente  begannen,  in 
das  Jahr  187  fallen,  und  dass  die  Anklagen  durch  die  Verurthei- 
lung  des  Lucius  Scipio  erledigt  wurden.  Das  Jahr  darnach  sam- 
melt das  römische  Volk  Beisteuer,  weil  die  Vorurtheilung  unge- 
recht erschien. 


The  Odyssey  of  Homer  edited  wifh  marginal  ref er ence,  various 
readings,  notes  and  appendices  by  Henry  Hayman  B.  D. 
late  fellow  of  St.  John* 8  College  Oxford,  Headmaster  of  the 
Cheltenham  School  etc.  Vol.  1.  Books  I  to  V7.  (Mit  dem  Motto : 
trjv'Odvaoeiav,  xalov  av&QOTtivov  ßCov  xazontQOV  Alcidamas 
apud  ArUtotel.  lihet.  HI,  3,  4).  London.  David  Nutt,  270 
Strand.  1866.  CHI.  208  und  CL  S.  in  gr.  8. 

Indem  wir  diese  neue,  nach  einem  grösseren  Maasstab  ange- 
legte Ausgabe  der  Odyssee,  oder  vielmehr  deren  ersten  Band  hier 
anzeigen,  kann  es  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  eine  umfassende  und 
ausführliche,  in  alle  Einzelheiten  eingehende  Kritik  dieses  Werkes 
zu  geben ;  wohl  aber  dürfte,  da  wir  jene  Aufgabe  den  streng  philolo- 
gischen Zeitschriften  zu  tiberlassen  haben,  es  zweckdienlich  er- 
scheinen, deutschen  Lesern  einen  kurzen  Bericht  über  Inhalt  und 
Bestand,  so  wie  über  die  Tendenz  dieser  Ausgabe  zu  geben  und 
ihnen  dadurch  ein  Urtheil  über  diese  neue  Erscheinung  möglich  zu 
machen,  welche  sich  den  über  Homer  in  der  letzten  Zeit  in  Eng- 
land angestellten  Forschungen  und  Uebersetznngon ,  welche  zum 
Theil  von  den  ersten  Staatsmännern  dieses  Landes  (Gladstone, 
Derby  u.  A.)  ausgegangen  sind,  aureiht  und  insbesondere  auch 
das,  was  für  die  homerischen  Gedichte  in  Deutschland  geleistet 
worden  ist,  zu  beachten  und  zu  benutzen  bedacht  ist. 

Dem  Texte  der  Odyssee  vorangeht  eine  Preface,  welche  (Part. 


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The  Odyssey  of  Homer  by  H.  Hayman. 


526 


I.  General  Views)  zuerst  in  eine  Erörterung  Über  Entstehung  und 
Beschaffenheit  der  homerischen  Qedicbte  eingeht  und  des  Verfassers 
Ansichten  über  diesen  Punkt  darlegt.  Dass  diese  in  keiner  Weise 
an  die  Wolf-Lacbraann' sehen  Ansichten  sich  anschliessen,  wird  man 
wohl  schon  im  Voraus  denken,  da  in  England  diese  Ansichten 
durchaus  nicht  den  Eingang  und  die  Verbreitung  gefunden  haben, 
die  ihnen  auf  deutschem  Boden  zu  Theil  geworden  ist.  Der  Ver- 
fasser, welcher  die  Entstehung  der  homerischen  Gedichte  um  1100 

—  1000  v.  Chr.  ansetzt  und  ihre  mündliche  Fortpflanzung  bis  700 

—  600  n.  Chr.  fortführt,  tritt  vielmehr  als  ein  strenger  Vertreter 
der  Einheit  der  homerischen  Gedichte  auf,  und  sucht  dieselbe  durch 
äussere  wie  innere  Gründe  in  jeder  Hinsicht  darzuthun,  manchmal 
freilich  auch  in  einer  Weise,  die  selbst  bei  cien  Vertretern  dieser 
Einheit  in  Deutschland  kaum  Eingang  finden  würde. 

Part.  II.  des  Vorworts  (p.  LVIIIff.)  bespricht  die  Heraus- 
geber und  Erklärer  des  Homer  im  Alterthum ;  die  Aufzählung  im 
Einzelnen  beginnt  mit  Zenodotus,  den  der  Verf.  als  den  eigent- 
lichen Gründer  der  Alexandrinischen  Schule  von  Kritikern  betrach- 
tet ;  sie  schliesst  mit  Tzetzes  und  Eustathius.  Dann  folgt  Part.  III, 
ein  Verzeichniss  der  Handschriften  von  der  Odyssee  mit  deren 
Scholien,  eine  verdienstliche  Arbeit,  bei  der  es  dem  Verf.  in  Folge 
seiner  von  allen  Orten  her  eingezogenen  Erkundigungen  möglich  ge- 
worden ist,  alle  einzelnen,  bis  jetzt  irgend  wie  bekannt  gewordenen 
Handschriften  der  Odyssee  zu  verzeichnen,  und  bald  mehr  bald 
minder  ausführliche  Nachrichten  über  dieselben  mitzutheilen.  (Be- 
kanntlich bat  unlängst  J.  La  Roche  eine  ähnliche  Zusammenstel- 
lung homerischer  Handschriften  zu  geben  gesucht ;  s.  die  homerische 
Texteskritik  S.  433  ff.  insbesondere  p.  479  ff.  zur  Odyssee).  Von  der 
im  Britischen  Museum  befindlichen  Harlejanischen  Pergamenthand- 
schrift des  dreizehnten  Jahrhunderts  Nr.  5674  ist  ein  Facsimile 
als  Probe  beigefügt,  eben  so  von  einer  Bodlej an i sehen  zu  Oxford 
befindlichen  Handschrift  des  eilften  Jahrhunderts,  welche  blos  die 
Scholien  enthält.  Dann  folgt  Part.  IV :  the  present  edition  p.  XCII  ff., 
es  kommt  hier  eben  so  der  Text,  wie  die  beigefügte  Erklärung, 
also  die  ganze  Behandlung  in  Betracht;  von  dem  Text  heisst  es, 
er  sei  basirt  auf  die  Ausgaben  von  Becker,  Bonn  1858,  von  Din- 
dorf  zu  Loipzig  1852,  von  Fäsi  Leipzig  1849,  von  Löwe  1828,  von 
Ernesti  Leipzig  1824,  von  Wolf  Leipzig  1807,  die  Oxforder  Aus- 
gabe von  1800,  die  von  Barnes  zu  Cambridge.  (In  dieser  Reihen- 
folge werden  diese  Ausgaben  genannt;  Dindorfs  vierte  Ausgabe 
vom  Jahr  1855  (Ilias)  und  1856  (Odyssee)  scheint  der  Verf.  eben 
so  wenig  zu  kennen,  wie  die  Ausgabe  der  Odyssee  von  Ameis  und 
Anderes  der  Art);  die  Oxforder  Ausgabe  Dindorfs  mit  den  ge- 
sammelten Scholien  zur  Odyssee,  heisst  es  dann  weiter,  ferner 
Eustathius  und  der  Commentar  von  Nitzsch  seien  beständig  vor- 
gelegen, sowohl  bei  Feststellung  des  Textes  wie  bei  Abfassung  der 


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526  The  Odyssey  of  Homer  by  H.  Kay  man. 

Koten;  aus  der  Oxforder  Ausgabe  von  1800,  welche  Porson's  Ver-' 
gleichung  des  Harlejanischen  Codex  5674  mit  Ernesti's  Text  von 
1760  enthalte,  seien  die  am  Rande  bemerkten  Varianten  meistens 
ert nomine n.  Neue  handschriftliche  Hilfsquellen  standen  nicht  zu 
Gebote;  es  erschien  diess  auch  dem  Herausgeber  als  Etwas,  dem 
nächsten  Zweck  seiner  Ausgabe  schon  ferner  liegendes :  dieser  Zweck 
aber  lief  darauf  hinaus,  den  Studirenden  einen  Text  zu  geben,  der 
auf  die  Ergebnisse  der  besten  (the  mostadvanced)  Collationen  ge- 
stützt, so  weit  als  nur  möglich  die  Unvollkommenheiten  und  Man- 
gel irgend  einer  Handschrift  beseitigen  würde;  der  Herausgeber 
scheint  weiter  gehende  Bemühungen  lieber  Andern  überlassen  zu 
wollen,  und  hat  sich  über  seine  Behandlung  des  Textes  nicht  wei- 
ter erklärt,  auch  über  die  Grundsätze,  nach  welchen  bei  Feststel- 
lung des  Textes  verfahren  Worden,  gibt  er  nichts  weiter  an :  erscheint 
sich  selbst  nicht  völlig  klar  über  diesen  Punkt  gewesen  zu  sein, 
zumal  die  Sorge  für  die  Erklärung  des  Textes,  was  er  als  seine 
Hauptaufgabe  betrachtete,  seine  ganz  Thätigkeit  in  Anspruch  nahm, 
so  wenig  auch  eigentlich  Beides  von  einander  zn  trennen  ist,  und 
eine  gute  Erklärung  eines  Schriftstellers  sich  eben  auf  einen  guten 
d.  h.  richtigen  Text,  der  kritisch  nach  sicheren  Grundsätzen  fest- 
gestellt ist,  stützen  muss.  Nur  an  zwei  Stellen  in  diesen  sechs 
Büchern  hat  der  Verf.  eine  Conjectur  von  sich  in  den  Text  gesetzt, 
nämlich  III,  33,  wo  er  als  richtige  Schreibung  ansieht:  %Qia  mnrwv 
ro./J.a  x  hcsiQOV)  während  Ameis  nach  Bekker  gibt  xqbccx  Stttcov 
ü'/.Xar  inugov,  und  xQtcaa,  die  einen  Fleischstücke,  akkct 
xi  und  andere  ganz  befriedigend  erklärt,  so  dass  die  hier  vor- 
geschlagene Aenderung  weder  nothwendig  noch  richtig  erscheint. 
Die  andere  Stello  ist  IV,  665,  wo  Wolfs  ix  xo<S<s<ov  d*  aixrjTt 
verworfen  und  ix  de  toömv  cdxvjtv  gesetzt  wird.  Auch  hier  wird 
man  mit  Bekker  und  Ameis  lieber  ix  dh  xocKSunttf  aixrjxi  u.  s.  w. 
schreiben,  und  der  von  Ameis  gegebenen  Erklärung  gern  folgen. 
Doch  wir  brechen  ab,  da  das  über  die  Texteskritik  dieser  neuen 
Ausgabe  Bemerkte  genügen  wird,  um  denjenigen;  die  mit  der  die 
Texteskritik  des  Homer  betreffenden  Forschung  der  beiden  letzten 
Decennien  näher  bekannt  sind,  ein  Urtheil  über  das  hier  Geleistete 
möglich  zu  machen. 

Was  nun  die  weitere  Ausstattung  des  Textes  betrifft,  so  geht 
jedem  Buch  ein  (englisches)  Inbaltsverzeicbniss  oder  Summary  vor- 
aus; an  dem  Rande  des  Textes  sind  die  betreffenden  Parallelstellen 
aus  den  Gedichten  des-  Homers,  der  Ilias  wie  der  Odyssee,  mit 
kleiner  Schrift  angegeben,  dann  unter  dem  Text  zuerst  die  Les- 
arten mit  dem  Digamma,  und  in  einer  andern  Rubrik  die  Zu- 
sammenstellung der  bedeutenderen  Abweichungen  des  Textes  in  den 
benutzten  Ausgaben;  darunter  stehen  dann  in  doppelten  Columneff 
die  erklärenden  Anmerkungen,  die  sich  über  Sprachliches  üttd  Sach- 
liches, über  den  Zusammenhang  und  Arideres;  was'  zum  voileü'  Vfer- 


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The  Odyssey  öf  Homer  hy  H.  Ha y man. 


657 


ständniss  nöthig  ist,  verbreiten.    Auf  diesen  Tbeil  der  Arbeit  bat 
der  Herausgeber  besondere  Sorgfalt  verwendet,  nnd  wird  dieselbe 
auch  englischen  Studirenden  wobl  förderlich  bei  der  Leetüre  der 
Odyssee  sein  können,  zumal  der  Verf.  im  Ganzen  mit  der  deutschen 
gelehrten  Forschung  bekannt,  von  dieser  vielfach  Gebrauch  ge- 
macht hat,  zur  richtigen  Auflassung  einzelner  Worte ,  wie  ganzer 
Verse;  dass  überhaupt  der  Verf.  in  der  Art  und  Weise  seiner  Er- 
klärung und  in  der  Fassung  seiner  Anmerkungen,  insbesondere  sein 
englisches  Publikum  berücksichtigt  hat,  wird  aus  manchen  seiner 
Bemerkungen  ersichtlich.  Die  Bearbeitung  der  Odyssee  von  Ameis, 
die  in  ihrer  neuesten  dritten  Auflage  gewiss  zu  dem  gehört,  was 
deutschen  Studirenden,  welche  gründlich  die  Odyssee  studiren  wol- 
len, vorzugsweise  zu  empfehlen  ist,  scheint  dor  Verfasser  nicht  ge- 
kannt, und  daher  auch  nicht  benutzt  zu  haben.  Zu  der  Erklärung 
gehören  weiter  noch  die  auf  den  Abdruck  des  Textes  folgenden 
und  besonders  paginirten  Appendices,  in  welchen  einzelne  Punkte, 
die  eine  umfassendere  Behandlung  erfordern,  als  sie  in  den  Noten 
gegeben  werden  konnte,  behandelt  werden,  also  eine  Art  von  Ex- 
cursen  sprachlich-grammatischen,  wie  mythologisch-geographischen 
und  andern  Inhalts.  So  enthält  Appendix  A.  unter  zwei  und  zwan- 
zig Nummern  die  Erklärung  einzelner  Worte,  die  bei  Homer  vor- 
kommen, wie  ivvezs,  oder  wie  ßovX^,  ayopi},  itetiöot,  xpifn??, 
wobei  auch  andere   auf  Gefässe  bezüglichen  Ausdrücke  erläutert 
werden,  avonata  u.  dgl.  m.,  mitten  darunter  (Nr.  9)  ist  auch  eine 
längere  Besprechung  über  den  Gebrauch  der  Modi  bei  Homer.  Auch 
Appendix  B.  ist  sprachlicher  Art  über  den  Gebrauch  von  alg, 
daAaötfa,  TtdXayog,  scovtog  bei  Homer.    Appendix  C  ist  mytholo- 
gisch und  behandelt  einige  in  dieses  Gebiet  einschlägige  Fragen, 
wie  z.  B.  über  die  der  Sonne  geweiheten  Schafe,  über  Hermes, 
die  Tritogeneia,  Proteus  u.  s.  w.  Appendix  C.  behandelt  in  fünf- 
zehn Nummern  geographische  Gegenstände,  wie  Aifrioitss,  Ogygia, 
Sparta,  Pylus  u.  s.  w.,  auch  die  Styx,  wobei  uns  auffällt,  dass  von 
den  neuesten  Forschungen  und  Beschreibungen  dieser  Lokalität 
kein  Gebrauch  gemacht  ist,  und  nur  auf  Leake  verwiesen  ist« 
Appendix  E,  sehr  umfassend,  behandelt  in  siebenzig  enggedruckten 
Seiten  »the  leading  characters«  und  zwar  in  Bezug  auf  die  Ilias 
wie  die  Odyssee.  Die  Hauptpersönlichkeiten  beider  Gedichte  wer- 
den hier  nach  einander  vorgeführt,  und  zunächst  auch  vom  ethi- 
schen Standpunkt  aus  einer  näheren  Betrachtung  und  Würdigung 
unterzogen.  Odysseus,  Penelope,  Telemachus,  Pallas  Athene  (aus** 
fuhrlich,  kürzer  dann)  Aegisthus,  Antinous,  Eurymachus,  Menelaus; 
(dieser  ausführlich)  und  Helena.  Appendix  F,  der  von  S.  CVI  bis 
CLII  reicht,  bespricht  in  dem  einen  Tbeil  das  homerische  Schiff  und 
dessen  Bau,  im  andern  den  homerischen  Pallast  mit  beigefügtem 
Plan,  in  ausführlicher  Weise  und  in  die  einzelnen  Bestandtheile 
des  Hauses  näher  eingehend,  auch  mit  Bezug  auf  die  Erörterungen 


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528 


Aljurabach  von  Fi  ekler. 


von  Rumpf  über  diesen  Gegenstand,  der  allerdings  Manches  Be- 
achtenswert he  bietet. 

Wir  haben  nur  kurz  den  Gegenstand  dieser  in  die  Appendices 
verlegten  Untersuchungen  angegeben ,  in  welchen  sich  immerhin 
Manches  findet,  was  auch  für  deutsche  Leser  Beachtung  verdienen 
kann,  während  dem  die  ästhetisch  -  moralischen  Betrachtungen  in 
der  App.  £  insbesondere  auf  englische  Leser  berechnet  erscheinen, 
welche  auf  die  Behandlung  derartiger  Gegenstände,  die  vielleicht 
bei  uns  etwas  unterschätzt  werden,  mehr  Werth  legen.  Die  äussere 
Ausstattung  des  Ganzen,  das  auf  drei  Bände  berechnet  ist,  indem 
der  Verfasser  die  noch  übrigen  Gesänge  in  Folge  der  grösseren 
Ausführlichkeit  der  Erklärungen  in  diesem  Bande,  in  zwei  Bände 
zu  bringen  hofft,  ist  eine  vorzügliche  zu  nennen;  es  fehlt  auch 
nicht  an  einigen  artistischen  Beigaben  von  Münzen  u.  dgl.,  ein 
schönes  Bild  der  Pallas  nach  einer  Preisvase  ist  S.  XLI  der  Appendd. 
beigefügt. 


Beiträgt  sur  Geschichte  der  ehemaligen  Benedictiner- Abtei  Alpin- 
bach  von  C.  B.  A.  Fickler.  Mannheim.  Buchdruckerei  von 
Heinrich  Hogrefe.  1866. 

Die  kleine  Schrift  bringt  allerdings  einen  recht  werthvollen 
Beitrag  zur  vaterländischen  Geschichte  und  verdient  daher  alle 
Beachtung.  Ihr  Gegenstand  ist  eine  Stiftung  aus  dem  Ende  des 
eilften  Jahrhunderts,  ausgegangen  von  dem  Hause  der  Grafen  von 
Zollern ;  dieselbe  ist  auch  bald  zu  einer  gewissen  Bedeutung  gelangt, 
und  hat  auch  nach  der  lieformatiou  noch  eine  gewisse  Selbst- 
ständigkeit bewahrt,  die  erst  mit  diesem  Jahrhundert  ihr  völliges 
Ende  erreicht  hat.  Der  Verfasser  führt  uns  die  Geschichte  dieser 
Abtei  an  der  Hand  der  Urkunden  vor  und  zeichnet  damit  auch 
die  wechselvollen  Schicksale ,  von  denen  sie  im  Laufe  der  Zeiten 
betroffen  wird ;  er  giebt  dann  noch  nähere  Nachricht  über  den 
jetzigen  Ort  Aspirsbach,  dessen  erste  Anlage  mit  der  des  Klosters 
zusammenhängt  und  verbindet  damit  eine  nähere  Beschreibung  der 
noch  vorhandenen  Gebäulichkeiten  des  Klosters  und  seiner  Kirche, 
welche  in  mehr  als  einer  Hinsicht  gesehen  zu  werden  verdient,  da 
der  Bau  in  einigen  noch  vorhandenen  Theilen  bis  in  das  zwölfte 
Jahrhundert  zurückgeht,  während  Anderes  dem  fünfzehnten  Jahr- 
hundert angehört,  das  Ganze  aber  gewiss  einer  uäheren  Betrach- 
tung würdig  erscheint. 


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Kr.  34.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


J.  J.  Ampere,  U Empire  romain  ä  Rome.  Tome  pr  emier  et  aecond. 
Paris  1867. 

Der  seit  einigen  Jahren  verstorbene,  berühmte  französische 
Geschichtscbreiber  über  Rom,  J.  J.  Ampere,  ist  am  bekanntesten 
durch  seine  Histoire  romaine  ä  Home,  die  im  Jahr  1862  in  vier 
Bänden  herausgekommen  ist.*) 

Es  ist  eine  Huldigung  an  das  Andenken,  dass  wir  dieser  Ge- 
legenheit, über  dieses  Werk  etwas  Weniges  nachzuholen,  uns  nicht 
entziehon.  Den  Stoff  desselben,  die  römische  Geschichte  von  Romu~ 
lus  bis  znm  Tode  Cato's  in  Afrika  hat  der  Verfasser  durch  einige 
Studien  Uber  das  ursprüngliche  Rom  (la  Rome  primitive)  einge- 
leitet. Boden  und  Bodenbescbaftenheit ,  Clima  und  Urbe wohner, 
dichterische  Traditionen  über  Rom ,  die  Sabiner  und  Etrusker  in 
Rom  vor  Romulus  sind  die  Gegenstände  seiner  Betrachtung.  Je 
remonterai,  leitet  er  sie  ein,  encore  plus  haut,  guand  on  devrait 
m'accuser  de  ne  pas  m'arreter  au  deluge;  ü  platt  ä  mon  imagi- 
nalion,  gui  tfappuie  sur  les  re'sultats  de  la  science,  tfapercevoir,  ä 

travers  la  distance  des  äges,  la  formation  du  sol  eilebre    Das 

Capitel  ist  eine  geologische  Beschreibung,  zur  Illustrirung  des  Ver- 
ses: Tantae  molis  erat  Romanam  condere  —  nicht  geniemf  son- 
dern :  ttrram !  Wahrscheinlich  soll  das  aber  keine  Emendation  der 
berühmten  Dichterstelle  sein,  sondern  nur  ein  Beweis  ihrer  Ver- 
wendbarkeit im  Dienste  der  Wissenschaft.  **)  Es  heisst  sehr  gründ- 
lich zu  Werke  gehen,  zn  untersuchen,  woher  das  Material  komme, 
woraus  Rom  seine  stolzen  Paläste  in  späterer  Zeit  entstehen  sah, 
der  Tuff,  Puzzolan,  Travertin  etc. 

Nach  diesem  Capitel,  welches  die  monumentale  Geschichte 
Roms  anticipiren  sollte,  geht  der  Verf.  zn  dem  der  Entstehung 
RonTs  zunächst  vorhergehenden  Zeitalter  über,  welches  die  äussere 
Erscheinung  beschreibt,  ein  physikalisch  -  geographisches  Capitel, 
wiedergegeben,  wie  es  sich  der  Einbildungskraft  seines  Malers  vor- 
gestellt hatte.  Der  Aventin,  mit  seinen  Lorbeerbüschen,  der  Pa- 
latin  mit  seinen  Matten,  die  Eichenwälder  des  Cölius,  und  Gehölz 
auf  dem  Esquilin,  die  Weiden  des  Viminal  sind  die  Bestandteile 
des  landschaftlichen  Bildes  jener  Urzeit.  Wer  zählt  die  Zahl  der 
Veränderungen,  denen  dasselbe  durch  Flüsse  nnd  Seen  bis  zn  der 


*)  Er  starb  in  der  Nacht  vom  26.  auf  den  27.  März  des  Jahres  I8Ö4. 
**)  Es  gibt  von  Pentland  eine  Geology  of  Rome.  (VgL  den  Guide  of 
Rome  von  Mnrray). 

LIX.  Jahrg.  7.  Heft.  34 


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680 


Amp&ro:  I/Empfre  roraain  a  Rome. 


Zeit  unterworfen  gewesen  war,  wo  die  Geschichte  sich  dieses  Ge- 
biet als  Schauplatz  aneignete.  Les  spectateurs  manqubrenl  aux  pre- 
miers  aetes  de  et  drame  qui  se  jouait  obscurtment  hin  du  monde 
grec,  dam  un  coin  recult  du  Latium,  entre  les  monlagnes  ei  la  mer. 
Mais  le  jour  arriva  oä  ce  coin  du  monde  en  devint  le  centre,  oü 
It  drame,  en  se  continuant,  commanda  V  attention  universelle  et  forqa 
lous  les  peuples  ä  le  ngarder  et  ä  y  prendre  pari. 

Eine  gründliche  Untersuchung  widmet  der  Verfasser  der  Ma- 
laria, von  der  er  glaublich  macht,  dass  sie  schon  den  Bemühun- 
gen des  Augustus,  die  Gesundheit  der  Stadt  zu  befördern,  getrotzt 
habe,  Aus  dem,  was  er  Alles  darüber  (aus  Nibby,  Brocchi  etc.) 
beibringt,  scheint  hervorzugehen,  dass  sie  in  einer  bestimmten  Höhe 
eine  Luftregion  bildet,  die  sich  über  der  Stadt  halt,  zuweilen  be- 
lästigender, zuweilen  weniger  empfindbar.*) 

Si  Von  cherche  aüleurs  Vinßuence  qu'exerca  sur  cette  destine'e 
la  Situation  oü  furent  places  ses  commencements ,  on  se  trompera. 

Cette  Situation,  de  toute  maniere,  äait  mauvaiset  mais  Vobstacle 
fut  Vaiguillon.  Ainsi  seulement  on  peui  trouver  une  intenlion  de  la 
Providence  dans  le  choix  du  Heu  pr6par6  pour  etre  le  berceau  du 
peuple  r omain,  Ce  berceau  fut  dur  et  pauvre  comme  celui  de  Ho- 
rn ulus  est  comme  lui  envahi  par  les  eaux.  Cest  en  ce  sens  quyon 
peut  dire  avec  Tite-Live;  Non  sine  consilio  ad  incrementum  urbis 
natum  unice  locum:  Heu  forme  providentiellement  pour  l'agrandis- 
sem&il  de  Rome.**) 

Betrachtet  der  Verfasser  bis  jetzt  den  Boden,  vor  der  Zeit 
des  Menschen ,  der  ihn  bewohnen  sollte ,  so  macht  er  im  vierten 
Capitel  seinen  Leser  mit  den  Urbewohnern  der  beschriebenen  Land- 
schaft fSiculern,  Ligurern)  bekannt.  Alle  bisherige  Beschreibung 
berührte  sich  mit  der  Aufgabe  der  Geologen,  qui,  avec  quelques 
dt'bris,  recomposenl  une  cre'alion  tvanouie.  Nunmehr  tritt  der  Ver- 
fasser von  sich  aus  seine  Aufgabe  an,  zunächst  als  Entzifferer  von 
Legenden,  die  noch  Bornums  vorher  gehen.  Er  adoptirt  für  sie  den 
Ausdruck:  Dämmernde  Geschichte  (Vhistoire  ertpusculaire) ,  und 
sieht  sich  für  seine  Consultationen  an  die  Inspirationen  der  Philo- 
sophen und  Dichter  gewiesen.  Er  hält  die  Siculer  für  die  ersten 
Bewohner  (S.  89),  denen  er  die  Ligurer  folgen  lässt,  einen  Theil 
der  grossen  iberischen  Race,  welche  längst  Spanien  und  Südgallieu 
besass.  Hier,  sind  sie  der  keltischen  Race  vorhergegangen.  In  den 
Basken  findet  er  die  Reste  jener  Iberer  wieder.  S.  97.  Die  italie- 
nischen Iberer  (Ligurer)  und  die  Basker  hält  er  für  Brüder;  die 
liguri8che  Sprache  war  baskisoh:   Differents  noms  de  Heu  dans  la 


*)  Es  ergibt  sich  aus  Allem,  dass  nicht  die  Sümpfe,  nicht  die  Abwesen- 
heit des  Baumwuchses,  nicht  die  Feuchtigkeit,  nicht  die  Menschenleere  die 
Ursache  der  Malaria  sind.  Er  folgert  aus  dem  Umstände,  dass  das  Ghetto 
eines  von  den  Quartieren  der  Stadt  ist,  wo  sie  sich  am  schwächsten  aeigt, 
dass  sie  mit  der  Zunahme  der  Bevölkerung  nachlasse. 
**)  Liv.  V,  54. 


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Ampere:  L'Empire  romain  a  Rome 


631 


Ligurie  ont  une  radne  qui  se  reirouve  dans  le  basque,  le  nom  mSme 
de  la  nation  est  basque.  Der  Schluss  daraus  ist:  on  a  parle  bas- 
que  ou  a  peu  pres,  d  Rome.  Man  wird  dieses  Faktum  sonderbar 
finden.  Mais,  beschwichtigt  der  Verfasser,  Home  est  la  ville  oü  Von 
rencotilre  tout  et  ou  il  ne  faut  s'etojiner  de  rien.  S.  99. 

Am  Faden  der  Humboldt' sehen  Untersuchungen*)  verfolgt  er 
die  Spuren  der  Ligurer ;  er  erklärt  den  Namen  Esquilinus  aus  Esk 
(Basken)  und  tlia  (Stadt)  =  Wohnort  der  Ligurer;  Argüeium  ist 
ein  ligarisches  Wort,  u.  s.  w.  Von  den  Ortsnamen  wendet  er  sich 
zu  den  sprachlichen  Spuren,  welche  die  Ligurer  im  Latein  zurück- 
liessen.  Car  un  peuple  ne  passe  jamais  par  un  pays  sans  deposer 
quelques  inots  dans  la  lanque  de  ce  pays}  comme  un  voyageur  laisse, 
en  partant,  un  souvenir  ä  eeux  qui  Vont  re$u.  Die  Frage,  ob  es 
lateinische  Worte  ligurischen  (iberischen)  Ursprungs  gebe,  und  ob 
man  Analoga  im  Baskischen  vorfinde,  beantwortet  er  mit  einer 
Keine  frappanter  Resultate.  S.  105. 

Die  Aborigines  und  die  Pelasger  hält  er  für  zwei  verschiedene 
Racen,  die  aber  später  und  jünger  als  Ligurer  sind.  Den  Abori- 
ginern  gibt  er  einen  sabinischen  Ursprung  (S.  111);  die  Pelasger 
sind  die  Hellenen  der  Vorzeit.  Er  weist  die  etymologische  Ver- 
flüchtigung des  Namens  Aborigines  ab,  und  behauptet  das  ehe- 
malige Vorhandensein  dieser  Völkerschaft  in  der  Gegend  von  Reate, 
und  in  der  Zeit  vor  den  Pelasgorn.  Sie  haben  die  Siculer  und 
die  Ligurer  vom  Septimontium  vertrieben.  Sie,  die  Aborigines  er- 
kennt er  in  den  Sacrani  bei  Dionysius  von  Halicarnass.  **)  An 
Ver  sacrum  knüpft  er  den  Anlass,  welcher  zu  einer  Verbindung 
der  Pelasger  mit  den  Aborigines  führte. 

Der  Spuren  der  Pelasger  findet  er  viele  in  Ortsnamen  (Vela- 
brum,  Velia,  Roma  etc.).  Es  gab  nach  ihm  eine  Roma  quadrala, 
aber  von  geringerem  Umfange,  schon  vor  der  Romuluschen  S.  118. 
Die  pelasgische  Roma  quadrala  befand  sich  auf  der  Westseite  des 
Palatin,  sie  bezeichnete  Rom  in  seinem  embryohaften  Zustande, 
um  mich  eines  Ausdrucks  des  Verfassers  zu  bedienen.  S.  121. 

Es  würde  zu  weit  führen,  dem  Verfasser  in  alle  Details  zu 
folgen,  und  mit  ihm  die  polasgischen  Spuren  zu  revidiren,  wie  er 
das  im  sechsten  Capitel  unternimmt.  Eine  Spur  der  Pelasger  findet 
er  noch  heute  vor  in  dem  Glauben  dor  Römer  an  den  bösen  Blick. 
S.  149. 

//  n'est  pas  ttonnant  que  la  puissance  de  nuire  par  le  regard 
aü  ete  aüribuie  ä  cette  race  qu'on  disail  maudiU.  Peut-elre  les 
Päasges  eux-mimes  ont-ils  adopte  et  propage  une  croyance  qui  les 
rendait  formidablts. 

Kurz,  ainai,  d  Rome  le  passe'  le  plus  lointain  touche  au  präsent, 


*)  Prüfung  der  Untersuchungen  über  die  Urbewohner  HLspanienB,  ver- 
mittelt der  Vaaklschen  Sprache. 
**)  Dlonye.  I,  16. 


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Am p Are:  I/Empire  romain  &  Rome. 


ce  qui  a  vicu  trenle  sieele  vü  encore ,  une  super  stition  populaire 
qu'on  peut  rencontrtr  chaque  jour  dans  les  rues  et  mime  dans  les 
salons  de  Rome  est  plus  ancienne  que  Home  elle-mime. 

Immer  heller  steigt  der  Morgen  herauf;  aber  deutlich  sehen 
kann  man  immer  noch  nicht.  Sagen,  deren  Bedeutung  den  Ver- 
fasser, S.  152  ff.,  beschäftigt,  umgeben  die  ersten  Ansiedlungen  auf 
dem  Palatinus  (Evander),  dem  Aventinus  (Kakos),  dem  Capitolinus 
(Herkules).  Er  nennt  sie  die  hypothetische  Geschichte,  welche  mit 
den  Pelasgern  schliesst,  und  der  Platz  gehört  nunmehr  der  Fabel, 
deren  Hauptvertreter  Virgil  ist.  Er  eröffnet  die  Behandlung  der 
troischen  Fabel  mit  dem  ersten  Zweifel,  dass  Aeneas  nach  Italien 
gekommen  sei,  obwohl  diese  Meinung  dem  Stolz  der  vornehmen 
römischen  Familien  ehemals  so  sehr  schmeichelte,  besonders  dem 
Stolze  Cäsar's,  der  sich  derselben  bediente,  pour  itablir  la  tyrannie 
par  la  It'gitimüe.  S.  187.  Er  weist  nach,  dass  eine  derartige  Sage 
der  Stütze  in  der  alten  griechischen  Poesie  entbehre,  die  durch 
Homer  selbst  dem  Aeneas  ewige  Herrschaft  über  die  Trojaner  ge- 
weissagt habe  (II.  XX,  307).  Est  die  spätere  griechische  Poesie 
(Stesichoros)  lässt  den  Aeneas  nach  Italien  fahren.  Die  Geschicht- 
schreibung (Kallias,  Timäos)  hat  freilich  dieser  Phantasie  den 
Schein  des  Rechtes  gegeben.  Ampere  erklärt  die  Tradition  aus  der 
Vermongung  gewisser  gleichlautender  Namen  (z.  B.  Anna  Perenna 
und  Anna,  der  Schwester  Di  du 's). 

Wenn  man  versicherte  qu*Enie  avait  rapporU  de  Troie,  avec 
la  atatue  de  la  Pallas  greeque  qu'on  appela  le  Falladium,  les  Pt- 
nates,  dieux  du  foyer  romain,  so  erkennt  man  darin  nichts  weiter, 
als  den  Anspruch,  der  Träger  der  Cultur  von  Anfang  gewesen  zu 
sein. 

Das  Capitel  zeichnet  sich  durch  ein  geschicktes  Zurücküber- 
setzen der  condensirten  Sage  in  die  lebendige  Sprache  der  Ein- 
drücke durch  Natur  und  Gegend,  die  der  Einwanderer  (Aeneas  ist 
als  ein  X  zu  betrachten)  durch  den  Einwohner  sich  erklären  liess. 

Dans  notre  laborieuse  exploration  d'une  epoque  tenibreuse  et  ä 
peu  prts  inconnue  —  der  Verfasser  hat  das  Gefühl  davon,  wir  er- 
zeigen ihm  dafür  unsere  Anerkennung  durch  das  Lob  der  Aus- 
dauer —  nous  avons  eu  la  fortune  de  renconlrer  sur  notre  chemin 
la  poesie  de  Virgile.  Aber  vom  neunten  Kapitel  ab,  weder  mehr 
histoire  cr&pusculaire,  noch  histoire  hypothetique  —  Nous  aüons  re- 
venir  aux  tätonnemenls  de  t histoire  conjeclurale ;  ü  faul  nous  y 
risigner  pour  achever  cette  priface  aventureuse,  mais 
je  ne  crois  pas  imaginaire,  des  annales  romaines. 

Der  Verf.  befindet  sich  unmittelbar  vor  Bomulus.  Mit  den 
Pelasgern  sehen  wir  sich  die  Sabiner,  deren  Gebiet  bis  nach  Rom 
reichte,  vereinigen,  eine  Vereiuigung,  deren  Resultat  nicht  weniger 
wichtig  befunden  werden  kann,  als  die  etruskische  Niederlassung 
auf  dem  Capitolinus.  Begreiflich,  wie  beide  Racen,  als  Rom  ent- 
stand, etwas  Fertiges  mitbrachten.    Uebrigens  gab  es  neun  Rome 


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538 


vor  dem  definitiven  Rom.  Der  Verfasser  zählt  ihre  Namen  auf 
(S.  262). 

Den  Rest  des  Bandes  bilden  die  Könige  Romulus,  S.  264  ff., 
Numa,  S.  853  ff.  und  Tnllus  Hostilins,  S.  442  ff.  Eingeschoben  ist 
ein  historischer  Gang  in  das  sabinische  Rom  zur  Zeit  des  Numa 
(S.  891  ff.) 

Wir  übergehen  dieses,  und  ebenso  überblicken  wir  flüchtig 
die  folgenden  Bände,  wovon  der  zweite  die  späteren  Könige 
Ancus,  Tarquinius  L,  Servius  Tullius,  und  den  zweiten  Tarquinius 
enthält.  Eingeschoben  ist  eine  Untersuch nng  des  Einflusses  der 
Etrusker  auf  Rom  (La  Rome  itrusque),  ein  in  antiqnarischer  Hin- 
sicht sehr  lehrreiches  Capitel.  Das  Uebergewicht  Rom's  über  die 
Nachbarstädte ,  welches  sich  unter  Servias  unleugbar  behauptete, 
erklärt  der  Verfasser  aus  der  Racenvermisohung,  welche  das  Wesen 
der  römischen  Bevölkerung  bildete.  Cest  mime,  je  crois,  la  seule 
expliealion  qu*on  puisse  donner  de  la  mperioriti  de  Rome  sur  les 
villes  voisines,  qui  lui  e'taient  pareilles  dam  les  commevcements.  Elle 
leur  devint  suptrieure ,  parceque,  au  Heu  <VHre  comme  elles  une 
seule  ville,  eile  fut  plusieurs  villes.  8.  116. 

Wir  sollten  uns  bei  der  Servianischen  Gesetzgebung  aufhalten, 
welche  die  Bestimmung  hatte,  das  aristokratische  (sabinische) 
Element  und  das  plebeische  (latinische)  zu  amalgaroiren,  wir  soll- 
ten die  Localtribus,  die  Classen,  das  Censusprincip,  das  Eigenthum 
als  Grundlage  und  Massstab  der  politischen  Bedeutung,  erörtern. 
Aber  es  gentige,  auf  den  Eingang  des  achtzehnten  Capitels  hie- 
durch  aufmerksam  gemacht  zu  haben.  S.  117. 

Den  ferneren  Inhalt  des  zweiten  Bandes  zeigen  wir  durch  die 
Ueberschriften  an:  Befreiungskrieg,  politische  Orte  in  Rom,  An- 
fang der  Republik  (de  la  UberU),  Cincinnatus,  die  Decemvirn,  erste 
auswärtige  Kriege  (Einnahme  von  Veji),  die  Gallier. 

Von  den  Galliern  wurde  Rom  durch  seine  Malaria  befreiet. 
S.  551. 

Der  dritte  Band  setzt  die  Kriegsgeschichte  fort ,  und  zu- 
gleich die  Geschichte  der  Republik. 

Die  Samniterkriege ,  und  Pyrrhus  sind  der  Gegenstand  des 
siebenten  Capitel,  8.  1  ff.  Die  punischen  Kriege  folgen  im  achten 
Capitel,  8.  5  9  ff.  Mit  dem  neunten,  worin  der  Verfasser  den  Ver- 
lauf der  Kriege  in  Griechenland  und  im  Orient  erzählt,  sohliesst 
die  erste  Hälfte  des  Bandes. 

Die  andere  beschäftigt  sich  mit  Griechenland  in  Rom ,  d.  h. 
mit  der  griechischen  Kunst;  eigentlich  sind  diese  Capitel  Excurse, 
denn  sie  könnten  separirt  existiren.  Sie  sind  eine  Vorbereitung  auf 
das  letzte  Capitel  im  Bande,  das  sie  natürlich  mit  unfehlbarer 
Competenz  erläutern,  auf  das  Capitel  Spoliations  et  eolleeixons ,  ein 
grosses  Register  von  Raub  und  Plünderung  griechischer  Denkmäler 
in  allen  den  Gegenden,  wohin  griechische  Cultur  gedrungen  war. 
Hierbei  drängt  sich  der  Betrachtung  der  Gedanke  an  den  Gogen- 


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Ampere:  L'Empirc  roraata  k  Rome. 


satz  zwisohen  dem  erbauenden  und  dem  zerstörenden  Volke  auf,  dem 
Volke,  das  die  Bestimmung  hatte  nur  politisch  als  Nation,  als  Cultur- 
princip  aber  universell  der  Geschichte  der  Nachwelt  zu  prüsidiren, 
und  dem  Römervolke,  das  darauf  ausging,  sich  politisch  auszudehnen, 
und  diese  Cultur  sich  zu  verbinden.  Griechische  Kunstwerke  gab 
es  überall.  Quand  on  ressuscite  Home  par  la  pensee,  il  faut  di&lrir 
buer  tous  ce»  chefs-d'oeuvre  dam  la  eile  gu'ils  remplissaient,  dans 
les  Umple» ,  les  portiques,  les  maisons,  oft  nous  les  avons  replacts, 
alors  o?i  a  h  speciach  complei  de  la  Grece  ü  Rome,  el  par  ce 
spectaele  on  acquieri  1c  »entiment  de  ce  que  Rome,  en  taut  genre, 
a  recu  de  la  Grece.  S.  619. 

Die  hier  begonnene  Erörterung  wirkt  noch  in  den  ersten  bei- 
den Capiteln  auf  den  vierten  Baud  herüber.  Natürlich,  man  wird 
fragen,  was  die  Römer  selbst  in  der  Kunst  geleistet  haben?  Die 
Antwort  gibt  das  dreizehnte  Capitel ,  S.  1  ff  Wieder  treffen 
wir  mit  dem  Resultate  lehrreichen  Eindringens  in  die  Alterthümer, 
ein  Capitel  gleich  hier:  IjU  Tombeaux  romains,  S.  137 ff.  Dort 
wird  zuerst  der  Vorläuferschaft  der  etrurischen  Kunst,  dann  der 
griechischen  selbst  nach  der  Zeit  ihrer  Einführung  und  der  Ver- 
tretung in  Monumenten  gedacht,  recht  ein  Capitel  für  den  Verf., 
der  den  Monumenten  einen  so  hohen  Rang  bei  der  Geschichtschrei- 
bung einräumt  (vgl.  S.  260).  Die  Circi,  Theater,  Amphitheater, 
Triumphbogen  und  Basiliken  werden  besprochen,  dann  S.  109  die 
Vasenbilder  (graphiti),  forner  die  Malerei,  S.  111,  zuletzt  das  Mo- 
saik, ein  Complement  derselben,  S.  128  ff. 

Hier,  in  dem  Capitel  von  den  römischen  Gräbern  wird  das 
Grab  in  seinen  verschiedenen  Epochen  betrachtet,  von  der  primi- 
tiven Form  des  Tumulus  angefangen ,  wovon  es  aber  keine  Bei- 
spiele gibt.  Der  nächste  Schritt  war  die  Pyramide  (nach  Art  der 
egyptiseben,  z.  B.  die  Pyramide  des  Cestius  aus  der  Zeit  Cäsar's). 
Die  letzte  Form  des  Grabhügel  war  das  Mausoleum,  eine  nach  dem 
Könige  von  Carien  Mausolos  gebildete  Bezeichnung,  vorhandon  in 
Monumenten  des  Augustus  und  Hadrian. 

Die  Todtonkammern  in  den  Gräbern  an  der  appiseben  Strasse 
waren  Nachahmungen  der  Kammern ,  welche  man  früher  in  den 
natürlichen  oder  künstlichen  Hügel  grub.  Endlich,  als  die  Zahl 
der  Nischen  and  Urnen  sich  immer  vermehrte,  entstand  das  Co- 
lumbarium.  Die  Bauart  der  römischen  Gräber  war  ursprünglich 
etruskiscb,  S.  143,  und  vergegenwärtigte  mehr  die  Idee  der  Woh- 
nung nach  dem  Tode.  8.  149.  Hieran  knüpft  der  Verfasser  eine 
Betrachtung  über  Grabrcliefs,  und  eine  Erklärung  der  typischen 
Bilder,  die  sich  nicht  blos  mit  der  Mythologie,  sondern  auch  mit  der 
Geschichte  der  Mysterion  sehr  nahe  berühren.  Zum  Schlüsse  kommt 
er  noch  darauf  zurück,  aulässlich  der  Vasenbilder  von  Palästina. 
Man  findet  darauf  kleine  Figuren,  das  Messer  in  der  einen,  einen 
Körper  in  der  anderen  Hand,  der  nicht  ein  Leichnam  ist.  Elle 
consistait  peut-etre  ä  paraitrt  vouloir  mätre  ä  mort  VinUU  pour 


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Amp6re:  L'Empire  romain  k  Rome. 


686 


eprouver  son  courage;  mais  cela  meme  est  bien  douteux,  et  Je  voile 
qui  entourait  Vadmission  aux  mysleres  ne  aaurait  ctre  soulevt  par 
Vi  in  dt  des  sarcophages  romains» 

Sie  enthalten  unbestreitbar  Anspielungen  auf  die  Mysterien 
und  enthüllen  den  Sinn  der  meisten  darauf  bezüglichen  Symbole. 

Steigen  wir  zur  Oberwelt  der  Geschichte  wieder  hinauf. 

Der  Verfasser  ist  mit  dem  fünfzehnten  Capitel,  d.  h.  S.  259, 
zum  Anfange  des  sechsten  Jahrhunderts  Rom's  gelangt.  Es  ist 
überschrieben:  Caton  ei  les  Oracques.  Er  gruppirt  die  römische 
Geschichte  schon  jetzt  um  gewisse  Persönlichkeiten.  Ganz  recht! 
Die  Gracchen  imprägniren  die  Zeit  mit  dem  Streben  nach  einer 
Umwandlung  der  Gesellschaft  zu  Gunsten  der  Selbstständigkeit  der 
woniger  vermögenden  Classen.  Die  Gracchen  stehen  auf  der  Grenze 
zwischen  einer  alten  Anschauung,  und  einem  neuen  Geist.  Seit 
Marius  lag  Rom  im  Todeskampfe,  es  handelte  sich  um  die  Frei- 
heit der  Vorfassung.    In  Cäsar  ging  sie  unter. 

Avant  que  cetie  agonie  ait  commenci  ä  Marius  pour  flnir  ä 
Cisar,  deux  type»  se  prisentent:  —  Vun,  des  hommes  qui  embrassent 
le  passe0  sans  pouvoir  le  ranimer:  c'est  Caton  le  Censeur ;  —  Vautre, 
de  ceux  qui  s'efjorcent,  hilasl  en  vain  de  fonder  Vavenir:  ee  sont 
le»  Qracques,  S.  261.  So  leitet  der  Verfasser  seine  Schilderung 
Cato's  ein,  des  alten  Ccnsor's,  der  die  Zerstörung  Carthago's  wollte, 
eines  stolzen,  und  ebenso  kurzsichtigen  Staatsmannes:  Venergie  de 
Caton,  so  schliesst  der  Verfasser,  itait  dirigie  (out  entiere  vers  la 
resurrection  d'un  Hat  de  choses  qui  riitcnt  plus  et  ne  pouvaü  re- 
naitre. 

Die  Nothwendigkeit  einer  Erscheinung,  wie  das  ßrüderpaar 
der  Gracchen  erklärt  er  aus  dem  Bedürfniss  neuer  Elemente  in  der 
alten  Ordnung,  um  ihr  neues  Leben  zu  geben.  S.  272  ff. 

War  Cato  ein  Sabiner,  so  findet  er,  Gracchus  ist  eiu  Aequer : 
Peut-Ure  est-ee  ä  la  suite  du  triomphe  obtenu  au  mUieu  du  cin- 
q/tieme,  ä  Voecasion  avune  vietoire  definitive  sur  les  Aeques  par  un 
Sempronius  que  les  Qracchi,  venu*  ä  Rome,  furent  incorporis  dam 
la  gens  Sempronia.  Der  hier  angedeutete  Triumph  über  die  Aequer 
war  der  des  P.  Sempronius  Sophus  (450).  Der  erste  Gracchus, 
dessen  die  römische  Geschichte  gedenkt,  warConsul  516.  Gracchen 
und  Scipionen  gehen  einander  zur  Seite,  aber  sie  sind  völlig  ver- 
schieden durch  die  Gesinnung,  S.  279.  Die  Scipionen  ausgezeich- 
net durch  ihren  Patriciorstolz ,  die  Gracchen  durch  ihre  Liebe  zur 
Sache  der  Demokratie.  Et  c'est  aux  Gracques  qu'on  a  donni  le 
nom  de  factieux.  Der  Verfasser  verwahrt  sioh  gegen  eine  Verglei- 
chung  ihres  Vorhabens  mit  den  Projekten  Baboeufs;  wohl  gestat- 
tet er  die  Anwendung  der  Proudhon'schen  Parole  auf  die  Engher- 
zigkeit der  besitzenden  Patricier  gegenüber  den  des  Grundbesitzes 
entbehrenden  Armen.  Das  Besitzrecht  war  auf  dem  Wege  ein 
Eigenthumstitel  zu  werden;  die  Reichen  machten  es  wie  der,  wel- 
cher Geld  für  sein  erklären  würde,  was  man  ihm  geliehen.  Diesem 


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Ampere:  I/Empire  t omain  k  ttome. 


Znstande  oder  vielmehr  Missatande  waren  die  Gracchen  entschlos- 
sen abzuhelfen.  Der  Verfasser  lässt  Plutaroh  reden,  und  knüpft 
daran  an  S.  283.  Mit  ausführlicher  Anschaulichkeit  führt  er  die 
Auftritte  zwischen  Tiberius  und  Octavius,  und  später  zwischen  sei- 
nem jüngeren  Bruder,  der  gleichfalls  Tribun  war,  und  seinem  Geg- 
ner Li  vi  us  Drusus  vor.  Bekanntlich  waren  die  Hauptpropositionen 
des  Tiberius  gerechtere  Aeckervertheilung  und  Reparation  der  per- 
gameniscben  Erbschaft  S.  292;  die  Proposition  des  Caius  ausser 
der  Erneuerung  des  Ackergesetzes  noch  die  Verleihung  des  Bürger- 
rechts an  die  Italier,  S.  807.  On  peut  le  considerer  comme  le  pre- 
mier  prlcurscur  de  Vunite  italienne;  il  voulait  rialiser  d'avance  le 
voeu  que  formait  plus  tard  Virgile: 

Sit  romana  potens  itala  virtute  propago. 

Ein  besonderes  Augenmerk  hatte  Caius  auf  die  Verbesserung 
der  LandstrasBen ,  zur  Erleichterung  der  Beziehungen  unter  jenen 
Völkerschaften ;  er  gilt  für  den  Urheber  der  Meilensteine  an  den 
Römerstrassen.  Auch  nahm  er  Theil  an  dem  Ausbau  der  appischen 
Strasse.  Diese  Mittel,  sich  populär  zu  machen,  war  für  die  Senats- 
partei Anlässe  der  Gegenanstrongnngen.  Man  kennt  sein  Ende  auf 
dem  Aventin,  und  den  Untergang  vieler  Tansende  mit  ihm.  Sein 
Haupt  wurde,  gemäss  dem  Versprechen  des  Consuls  (Opimius),  mit 
Gold  aufgewogen.  Vhisioire  ne  dit  pas  que,  mnlgre'  la  supercherie 
employie,  le  consul  ait  marchande  sur  le  prix:  mais  il  ne  permit 
pas  qu'un  tombeau  füt  flevt  au  petit-fils  de  Scipion  VAfricain.  Die- 
ser Consul  verewigte  seinen  (d.  h.  der  Aristokraten)  Triumph  durch 
einen  Tempel  und  eine  Basilika.  Die  Basiliken  kamen  damals  in 
Aufnahme,  üebrigens  liess  er  sich  später  durch  Jugurtha  bestehen,  und 
wurde  deshalb  aus  Rom  verbannt.  On  eprouve  quelque  plaisir  ä 
ptmer  que  la  fin  d'un  tel  homme  fut  honteuse  ei  triste,  et  ä  lire 
dans  Ciciron  qu'autant  sa  basilique  tiait  frtquenlie  ä  Rome,  aulant 
en  Epire  sa  tombe  Mail  abandonnie  (pro  Sest.  67).  S.  323. 

Trotz  seiner  Sympathien  für  jene  beiden  edlen  Schlachtopfer, 
hat  er  sich  ihre  Fehler  nicht  verhehlt.  Er  würdigt  kurz  noch  ein- 
mal den  wahren  Sachverhalt  in  ihrem  Unternehmen.  Iis  voulaieni 
prevenir  par  une  transaction  /quitable  le  ronflict  qui  allait  s'ilercr 
entre  la  pauvretl  du  grand  nombre^  augmenUe  par  des  envahisse~ 
ments  ilUgaux  sur  la  proprio/,  et  la  richesse  de  quelques-uns,  im- 
moderement  accrue  par  une  flagrante  iniquiti.  Die  Mutter  über- 
lebte ihre  Söhne;  aber  sie  verliess  Rom  und  verlebte  den  Rest 
ihrer  Lebenszeit  auf  einer  Villa  bei  Linternum.  S.  328. 

Das  f siebenzchnte)  Capitel,  welches  von  Marius  und  Sulla  han- 
deln soll,  leitet  der  Verf.  mit  einem  Citat  aus  Mirabean's  Reden 
ein:  Qu  and  Caius  Gracchus,  a  dit  Mirabeau,  tomba  sous  le  fer 
des  patriciens,  ü  ramassa  une  poignfe  de  poussiere  teinie  de  son 
sang  et  la  lanra  vers  le  ciel;  de  eette  poussiere  n'aquit 
Marius:  Die  Begründung  der  Wahrheit  die  hierin  liege,  mussieb 
noch  wörtlich  entlehnen :  Les  patriciens  riavaitnt  rien  voviu  Uder 


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Ampere:  LTSmpire  rommin  k  Rome. 


537 


aux  Gracques  et  ils  furent  de'cime's  par  Marius.  La  lutie 
changea  de  nature,  On  ne  ne  combattit  phis  seulement  avec  des 
loiftf  tnais  encore  avec  des  proscriptions. 

Er  verfolgt  die  Herkunft,  die  Thaten  n.  8.  w.  dieses  fleisch- 
gowordcnen  Demokraten,  was  natürlich  nicht  ohne  Hereinziehnng 
des  jngurthinischsn  nnd  des  Oimbernkrieges ,  zuletzt  des  Bürger- 
krieges geht.  Der  Tod  des  Tiberius  Gracchus  war,  nach  des  Va- 
lerius Maximus  Ausdruck*),  der  Anfang  des  Bürgerblutes  gewesen. 
Zwischen  Marius  und  Sulla  wurde  dessen  reichlich  vergossen ,  und 
nicht  einmal  siegte  die  Aristokratie ;  ja  sie  gab,  indem  sie  von  der 
Regel  abwich  und  die  Dictatur  für  längere  Zeit  verfügte,  das  Sig- 
nal, welches  die  Zukunft  in  ihren  Umrissen  anzeigte.**) 

Wir  ziehen  aus  diesem  Capitel  nur  die  Polgerungen  für  die 
Projekte  Catilina's.  Man  muss  sich  vorstellen,  dass  der  Bürger- 
krieg viele  Familien  ruinirt  hatte.  Daraus  schliesst  man  weiter, 
dass  die  Zahl  der  Ruinirten  nicht  gering  war,  ein  adliger  Paupe- 
rismus, dem  es  an  einem  Haupte  fehlt,  bis  sich  ein  solches  in  Ca- 
tilina  fand. 

Nicht  diesen,  aber  einen  Cäsar  hatte  der  politische  Blick 
Sulla' s  geahnt,  aber  selbst  den  Letzteren  nur  als  bessere  Copie  des 
Marius.  Wichtig  an  dieser  Stelle  wäre  die  Ansicht  Ampere's  von 
der  Verfassung  Sulla's  zu  hören.  Aber  er  selbst  hat  nicht  eine 
tiefe  Zergliederung  gegeben ;  daher  will  ich  die  Motive  beleuchten, 
die  Ampere  der  Abdankung  Sulla's  unterschiebt,  oder  vielmehr  das 
Motiv:  //  jugea  la  re* forme  de  Ja  socie'tS  romaine  par  Varistocratie 
impossible  et  ü  abdiqua.  S.  898.  Mit  diesen  Worten  rechtfertigte 
er  den  Marius,  und  erklärte  prophetisch  das  Bedtirfniss  eines  Man- 
nes wie  Cäsar. 

Uebrigens  versöhnte  er  durch  den  Wiederaufbau  des  Tempels 
des  Jupiter  Capitolinus,  welcher  so  sehr  seinem  Stolz  schmeichelte, 
doch  zuletzt  nicht  die  Gerechtigkeit,  und,  wenn  auch  die  Einwoh- 
ner Roms  nicht  die  Freude  hatten,  das  Gericht  Gottes  an  ihm  sich 
vollziehen  zu  sehen ,  gut  a  pour  les  oppresseurs  de  la  liberte'  des 
peines  infamantes,  so  gilt  es  Ampere  doch  nicht  für  weniger  wahr, 
dass  er  wirklich  an  der  Krankheit  gestorben,  welche  man  sich  be- 
müht hat,  für  eine  Erdichtung  auszugeben.  S.  402.  Die  die  Ver- 
brennung seines  Leichnams  begleitenden  Umstände  sollten  das  Werk 
der  Gerechtigkeit  ergänzen.    Zuerst  ein  Wind,  der  die  Flamme  des 

Holzstosses  anfachte,  dann  der  Regen          Les  ennemis  purent  tirer 

de  eette  pluie  un  prisage:  eile  lavait  le  sang  verse  par  Sylla  et  son 
otuwre  Mail  noy/e  sans  retour. 

Auf  einem  Umwege,  ähnlich  demjenigen,  auf  welchen  der  Kai- 
ser Napoleon  TIT.  zu  seiner  eigentlichen  Geschichte  Cäsar's  kam, 


*)  Initium  in  Roma  civilis  sanguinis,  Val.  Maxim.  II,  3,  3. 
**)  Vgl.  unsere  Anzeige  über  Napolion  III.,  Histoire  de  Jules  Cesar  In 
den  Jahrbb.  1866.  No.  47. 


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Ampere:  L'Empire  romain  a  Rome. 


aber  geleitet  dnrch  den,  wie  wir  glauben,  berechtigten  Grund,  das 
Andenken  an  diese  grosse  Arbeit  des  verstorbenen  Akademikers 
aufzufrischen,  kommen  wir  erst  auf  den  Gegenstand  unserer  Anzeige. 

Die  letzten  Capitel  dieses  vierton  Bandes  leiten  dazu  hinüber. 
Sie  sind  eine  Vorbereitung  auf  das  nachgelassene  Werk  des  Ver- 
fassers über  das  römische  Kaiserreich.  Pompee,  Oiceron,  Ce'sar 
lautet  die  Ueberschrift  des  vorletzten,  8.  405. 

Pompeius  und  Cäsar,  zwei  sich  nicht  gleiche,  und  doch  ge- 
schichtlich unzertrennliche  Menschen,  setzen  die  politische  Bolle  des 
Sulla  und  Marius  fort.  Pompeius  ist  sabellischer  Abkunft  (S.  407), 
Ce'sar  sorlait  <Tune  race  antiqut  et,  et  qui  est  trts  rare  pour  des 
famiUes  romaines,  d'vne  race  latine,  S.  470*),  dazwischen  Cicero, 
ein  Landsmann  des  Marius,  mithin  von  sabellischer  Abkunft,  nicht 
fähig  die  Gegensatze,  wie  jene  beiden  Männer  darstellten,  auszu- 
gleichen, weil  kein  Charakter.  Als  junger  Mann  interessant  durch 
seine  Bildungsgeschichte**),  schwächt  er  als  älterer  Mann  durch 
seine  schwankende  Haltung  unsere  Theilnahme  für  ihn.  Am  Ende 
dieses  Capitels  ist  Cäsar  erst  Prätor;  Pompeius  und  Ciceron  sind 
mithin  die  Hauptgegenstände.  A  cdte  de  Pompte,  qui,  (Tabord, 
tient  Je  premier  rann,  parait  Ciclron  qui  joue  le  premier  role,  mais 
Ciciron  sera  bientot  effact,  et  Pompee  disparaUra  devant  Ce'sar,  so 
kündigt  er  den  geschichtlichen  Verlauf  an,  den  er  in  diesem  Ca- 
pitel erzählt,  und  der  Verlauf  selbst  bestätigt  diese  Ankündigung. 

Wir  müssen  weiter;  die  kriegerischen  Erfolge  des  Pompeius, 
die  rednerischen  Cicero's  sind  in  den  Zusammenhang  der  römischen 
Geschichte  verwebt. 

Als  Prätor  verfiel  Cäsar  der  Anklage,  in  die  Verschwörung 
des  Catilina  verwickelt  gewesen  zu  sein,  S.  484.  Der  Senat  wollte 
Cäsar  absetzen,  er  kam  zuvor,  entledigte  sich  der  Abzeichen,  und 
eilte  schleunigst  in  seine  Wohnung,  welche  zwei  Schritte  entfernt 
war.  Das  Volk  sammelte  sich  vor  seinem  Hause  (in  der  Subura) 
und  bot  ihm  seine  Hülfe  an.  Inzwischen  hatte  den  Senat  die  Nach- 
richt von  der  gewandten  und  edelmtithigen  Haltung  Cäsar's  bereits 
entwaffnet.  Das  Volk  sah  die  ersten  Persönlichkeiten  aus  dem 
Senate  über  das  Forum  gehen,  um  Cäsar  zu  danken,  und  ihn  ein- 
zuladen, seinen  Platz  unter  ihnen  wieder  einzunehmen,  und  seinen 
Titel  als  Prätor  zu  behalten. 

Cäsar,  immer  Herr  über  sich  selbst,  liess  sich  doch  eines  Tages 
in  seiner  Zornaufwallung  hinreissen,  Juba  dem  König  des  mauri- 
schen Reiches,  der  einen  anderen  afrikanischen  Fürsten  und  Freund 
Cäsars  vor  Letzterem  anklagte,  in  den  Bart  zu  greifen.  Celle  m- 
vaeiU  de  Ce'sar,  sagt  der  Verf. ,  ne  ful  peul  etre  pas  oublU'e  plus 
tard,  lorsque  Juba  le  combattil,  aüU  en  Afrique  aux  debris  du 
parti  de  Pompee. 


•)  Interessant  Ist,  was  Ampere  über  seine  Büste  bomerkt,  S.  468  ff. 
•*)  Vgl.  Dial.  de  oral.  30. 

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Ampere:  I/Empire  romain  k  Romc. 


Di©  Gewandtheit  seiner  Manoeuvres  als  Prätor  nnd  Sachwalter 
hatte  CHsarn  populärer  gemacht  als  alle  Siege  und  Eroberungen 
den  Pompeius.  Zwischen  ihnen  fehlte  der  Mann,  ßie  zu  vereinigen. 
Casar  selbst  gab  den  Kitt  her,  aber,  um  den  Einen  auszunutzen, 
wahrend  er  dem  Anderen  schmeichelte.  Seine  politische  Gewandt- 
heit führte  das  erste  Triumvirat  herbei,  ein  dreihäuptiges  Unge- 
heuer, nach  Varro's  Ausdruck,  eine  für  die  Freiheit  unheilvolle 
Ooalition  dreier  Ehrgeizigen. 

Das  folgende  und  letzte  Gapitel  kann  daher  keine 
andere  Ueberschrift  tragen,  als  Fin  de  la  HbtriL  Es  ist  auffallend, 
Ampere  führt  aus  Dio  Cassius*)  Vorzeichen  an,  welche  Rom  das 
Jahr  60  als  unheilvoll  ankündigten.  Ein  plötzliches  Sturmwetter, 
welches  sich  über  der  Stadt  und  der  Umgegend  entlud ,  Bäume 
entwurzelte,  Städte  zerstörte,  Schiffe  in  der  Tiber  versenkte,  die 
Pfahlbrücke  fortschleuderte,  und  ein  hölzernes  Theater  zertrüm- 
merte, und  viele  Zuschauer  unter  seinen  Trümmern  begrub. 

Bei  Cicero,  der  fortfahrt  Gegenstand  des  Verf.  zu  sein,  ist 
natürlich  die  erste  Frage,  ob  er  auf  der  Seite  steht,  wo  Theodor 
Mommson,  oder  auf  der,  wo  Forsyth,  Boissier,  Gerlach  u.  A.? 

Er  lehrt  uns  Eingangs,  Cicero  wieder  als  einfachen  Bürgor 
kennen,  wie  er  sich  von  Neuem  der  Rednerbühne  als  Sachwalter 
widmet.  Er  datirt  von  seiner  Rede  für  P.  Sulla,  das  Aufhören  der 
politischen  Rolle  in  Cicero's  öffentlicher  Thätigkeit:  Ptfmlre  du 
sentit»  ent  de  sa  faiblesse,  ü  se  re'siqne  avec  amertume  a  plier  sous 
Cesar  et  Pompte.  Der  Rede  für  Archias  legt  der  Verf.  eine  Ten- 
denz unter  zur  Begründung  seinev  eigenen  Behauptung:  En  vain 
efforQait-ü  dt  se  passer  de  leur  appui  en  gagnant  la  faveur  de 
plusieurs  homm.es  d'une  importance  secondaire  parmi  la  noblesse. 
S.  492.  In  der  Verteidigung  des  Sestius  findet  Ampere  eine 
Selbstverteidigung  Cicero's.  Mindestens  war  es  Noblesse  für 
Noblesse.  Denn  Sestius  hatte  auf  Cicero's  Zurtickbe rufung  gedrun- 
gen. Zugleich  sieht  Ampere  in  seiner  Verteidigung  eine  indirecte 
Verurtheilung  gegen  die  falsche  Popularität.  S.  493.  Die  ihm  un- 
glaublich vorkommende  Rede  gegen  Vatinius  deutet  or  als  eine 
verhüllte  Demonstration  gegen  Cäsar,  „mis  hora  de  cause  au 
moyen  d'une  pre'caution  oratoire  gui  ne  pouvait  le  tromper ;  car 
Oceron  reproehait  d  Vancien  tribun  les  mauvais  traitements  subia 
par  Bibulus  Vinforiunt  collegue  de  CSsar ,  traitements  que  celui-ci 
avait  atdorise's  de  $a  pre'sence  et  certainement  encouragfs.  S.  495. 

Mit  Cicero  ist  Ampere  fertig.  Im  Begriff  seinen  Cäsar  kennen 
zu  lernen,  müssen  wir  wieder  fragen ,  ob  er  auf  der  Seite  derer 
steht,  die  Cäsar  verurtheilen  (Montesquieu,  Lamartino,  Rogeard) 
oder  derer,  die  ihn  vorherrlichen  (Moramsen,  Napoleon  III.)  ? 

Noch  steht  es  uns  bevor,  die  acht  Jahre  Lebensgeschichte 
während  seines  Proconsulats  in  beiden  Gallien  kennen  zu  lernen. 


*)  XXVII,  68. 

« 

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640 


Ampere:  I/Empire  romain  k  Rome. 


Ferner  würde  es  interessant  sein,  eingehend  das  vierte  Buch  über 
die  Geschichte  des  Cäsar's  von  Napoleon*)  mit  Arapere's  Darstel- 
lung zu  vergleichen. 

Aber  es  würde  beides  zu  weit  führen ,  und  beschränken  wir 
uns  einerseits  hervorzuheben ,  dass  der  Standpunkt  dieser  beiden 
Schriftsteller  verschieden  ist,  wie  wir  das  aus  einigen  Anlässen 
belegen  werden.  Andererseits  können  wir  nicht  umhin,  das  Streben 
des  Kaisers,  eine  Parallele  zwischen  den  Bonaparte  und  den  Juliern 
zu  ziehen,  als  das  grösste  Unglück  dieses  Werkes  zu  bezeichnen, 
das  ihm  für  immer  anhaften  wird. 

Es  ist  unleugbar,  Parallelen  bestehen  zwischen  diesen  Fami- 
lien, insbesondere  zwischen  den  Häuptern  derselben  (Julius  Cäsar 
und  Napoleon  I ).  Nur  nicht  er  selbst  sollte  glauben  formuliren  zu 
müssen.  Die  Objectivität  der  Wahrheit  hat  nur  einmal  sich  in 
Person  der  Welt  gegenttbersetzen  dürfen,  weil  sie  nicht  durch  die 
Partei  gehoben  und  getragen  wurde.  Das  war  Jesus  Christus. 
Alles  üebrige  ist  durch  Relation  motivirt.  und  mag  besser  in  Unter- 
ordnung unter  die  Vorsehung  sich  der  Versuchung  erwehren,  den 
Schein  von  Parallelen  als  Wahrheitsbesitz  zu  beanspruchen. 

Die  Napoleoniden  nehmen  durch  den  Rückgang  auf  die  Pa- 
rallele mit  dem  Imperium  der  Cäsaren  ebensowenig  den  Glauben 
der  Gesellschaft  lür  sich  gefangen ,  wie  Jul.  Cäsar  selbst  durch 
seine  Berufung  auf  die  Venns,  als  die  angebliche  Ahnin  seines 
Geschlechtes.    Wo  die  Parallele  liegt,  liegt  auch  der  Unterschied! 

Doch  vielleicht  greifen  wir  der  Lösung  eines  Rätbsels  vor,  das 
der  Kaiser  Napoleon  in  seiner  Histoire  de  Jules  Cesar  der  Gegen- 
wart noch  vorlegt  und  das  jene  Parallele  für  den  Unterschied  erst 
noch  fruchtbar  macht.  Vielleicht  wird  der  dritte  Band,  der  Ver- 
fassungsparallelen zu  bieten  bestimmt  ist,  die  Perspective  eines 
Regimentes  für  Frankreich  ankündigen,  das  mit  dem  oranischen 
um  die  Sympathien  der  Geschichte  buhlen  wird. 

Wir  wollen  warten  und  sehen.  Den  Standpunkt  Ampere's,  der 
für  die  nächsten  fünfzig  Seiten  durch  die  kriegerischen  Pflichten 
Cäsar's  als  Proconsul  in  Gallien  gehindert  ist.  sich  vollständig  aus- 
zusprechen, lernen  wir,  erst  kennen,  nachdem  er  Pompeius  und 
Crassus  sich  mit  Cäsar  aufs  Neue  in  Luca  hat  einigen  lassen.  S.  543. 

Er  hat  eben  gezeigt,  anlässlich  des  zwanzigtägigen  vom  Senat 
Cäsar  zu  Ehren  decretirten  Dankfestes,  wie  begeistert  das  Volk 
Rom's  für  Cäsar  war.  Er  hat  sich  nicht  verhehlt,  La  gloire  tni/t- 
taire  est  la  plus  danger  euse  sirene  pour  les  peuples  Uhr  es.  Nun  fragt 
er  sich:  que  faire  contre  le  torrent?  Er  läset  Cato  gegen  das 
Ackergesetz  CäBar's  sprechen,  und  erklärt  den  Zorn  Cato's  für  ge- 
rechtfertigt durch  die  Nachrichten  von  den  Erpressungen  und 
Räubereien  Cäsar's  in  Gallien. 

Hierbei  macht  er  sich  die  Entrüstung  Laboulaye's  zu  eigen: 


*)  Bd.  n,  s  849ir. 

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Ampfer c:  L'Empire  romain  a  Homo.  541 

„Verrt»,  Pison,  Gabinius  ont  lais»e  dam  Vhistoirt  un  nom  extcrable; 
mais  la  conduite  de  Cisar  ne  fut  pas  moins  infdtne;  je  ne  sai» 
pour  quo  i  le»  Historien»,  e'blouis  pur  son  genie,  n'ont  point 
marque  du  meme  sc  tau  d'ignominie  ce  voleur  ehonti.  S.  546. 

Erst  jetzt  mögen  wir  dem  Faden  unseres  Verfassers  folgen, 
da  die  Seite  unzweifelhaft  ist,  auf  der  er  sich  befindet. 

Zunächst  ist  es  noch  Cicero,  um  den  es  sich  bei  ihm  handelt. 
Wir  lernen  seine  Schrift  de  Oratore  kennen.  Dann  führt  er  die 
Bauten  des  Pompeius  an  (Theater,  Hallen)  und  die  Spiele  desselben 
als  Mittel,  sich  die  Popularität  auf  seine  Weise  zu  verschaffen. 

Die  Begegnung  Milons  und  des  Clodius,  der  Tod  des  Clodius, 
S.  578,  der  Brand  der  Curia  u.  8.  w.  bei  der  Verbrennung  der 
Leiche  desselben*),  die  Vertheidigung  des  Milo  durch  Cicero,  S.  583, 
wobei  man  nicht  weiss,  ob  die  Rechtssache,  oder  seine  Person  das 
wahrere  Motiv  war,  autzutreten.  Kurz,  die  Analyse  der  Rede  pro 
Milone  fehlt  nicht.  S.  585  ff. 

Das  geschah  Alles  während  der  Zeit,  wo  der  Mann,  der  bald 
Alles  über  Hügeln  sollte,  ruhmreichere  Schlachten  führte,  als  die, 
welche  das  Forum  blutig  färbten.  Mit  der  Besiegung  des  Verein- 
getorix  war  die  Pacification  Galliens  im  römischen  Sinne  als  eine 
Thatsache  anzusehen.  S.  590. 

Von  diesem  Augenblicke  an,  sagt  Ampere,  ging  der  Gedanke  des 
Senats  beständig  dahin,  dem  Cäsar  seine  Provinz  und  seine  Armee 
zu  entreissen.  Cäsar  hatte  kein  anderes  Mittel,  als  die  Bestechung, 
die  er  denn  auch  anwendete ,  um  in  dieser  Körperschaft  einfluss- 
reiche Persönlichkeiten  auf  seine  Seite  zu  bringen.  Es  glückte  ihm 
mit  dem  Consul  Aemilius  Paulus  und  dem  Tribunen  Curio,  die 
ihren  Kamen  durch  Bauten  verewigten.  Aemilius  Paulus  blieb 
übrigens  nicht  treu;  wie  er  den  Pompeius  verlassen  hatte,  ver- 
liess  er  bald  Cäsar  und  später  Uberwarf  er  sich  mit  seinem  Bru- 
der**). Von  jener  Zeit  an,  wo  Cäsar  das  Terrain  ankaufte,  welches 
für  sein  Forum  bestimmt  war,  datirt  Ampere  schon  die  Absicht 
bei  ihm,  die  höchste  Gewalt  zu  erlangen.  S.  598. 

Er  stellte  Bauten  in  Aussicht,  die  Ansioht  dieser  Projekte 
war  nicht  zweifelhaft,  ü  sfagusait  de  gagner  le  peuple  pour  h  sou- 
metlre;  mais  ü  itail  puirü  de  dire  comme  Pompic,  es  sei  mir  er- 
laubt die  Worte  Ampere's  vollständig  zu  geben,  que  ce»  projel» 
fureni  une  des  cause»  de  »a  rebcllion  et  qu'ü  voulait  renverser  VEtat 
pour  pouvoir  le»  aecomplir 

Wie  sollte  er  die  Befürchtungen  des  Senats  beschwichtigen? 

Ampere  erzählt,  er  Hess  eine  Villa  bei  Nemi  bauen,  die  er 
hernaeh  niederreissen  Hess,  weil  sie,  wie  er  Sueton  mit  wenig  Ein- 
sicht in  politische  Perspective  sagen  lässt  ***) ,  nicht  nach  seinem 


*)  Die  Curia  soll  angezündet  worden  sein,  Dio  XL,  60. 
**)  Er  entging  kaum  den  Proscriptionen  und  starb  In  der  Verbannung. 
Seine  Basilika  vollendete  sein  Sohn. 
w)  Caes.  LI  (76). 


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542 


Ampere:  L'Empire  romain  k  Rome. 


Qeschmacko  war,  on  plutot  parceque  l'cffect  qu'il  avait  destine'e  ä 
produire  Haü  produit,  Ampere  selbst  bezeichnet  sie  mitbin  als 
eine  fantaisk  ä  but  poliliquej  S.  599.  Cicero  war  damals  in  Cili- 
cien  Procousul ;  aber  die  Zeit  der  Rückkehr  war  da.  Er  hatte  den 
Stoff  zu  seiner  Schrift  De  Republiea  gesammelt;  Ampere  erklärt, 
dass  Cicero  sich  dieses  Wortes  bedient,  wenn  er  von  der  Monar- 
chie spricht.  Damals  wogte  die  öffentliche  Meinung  in  Gerüchten 
über  Cäsar  auf  und  ab  Cicero  blieb  im  fernen  Asien  nicht  ohne 
Nachricht  davon.  Aber  ihn  konnte  schon  der  Triumph  ganz  be- 
seligen, der  ihm  trotz  Cato's  Widerrede  zuerkannt  wurde.  Die 
Triumviren  hatten  ihn  denselben  hoffen  lassen.  Er  schmeichelte 
sich  mit  der  Rolle  eines  Vermittlers  zwischen  Boiden,  welche  er 
nicht  im  Stande  war  zu  spielen. 

Der  letzte  Augenblick  war  im  Anbruch  für  die  Republik. 
La  lüfte  allaü  s'engager  entre  la  rt'publique  et  l'empire, 
entre  Iiome  et  Cesar,  entre  la  libertt  mal  proU'gt'e  contre  la  tyran- 
nie  des  facliom  ei  le  pouvoir  absolu  d'un  maitre. 

Ampere  zieht  in  Erwägung,  was  Cäsar  gethan  haben  würde, 
wäre  er  ein  Washington  gewesen,  zeigt,  dass  man  um  jeden  Preis  ihm 
seine  Provinz  und  sein  Heer  nehmen  musste,  macht  begreiflich, 
dass  die  Heftigkeit  der  Conservativen  der  Sache  Cäsar's  einen 
Schein  von  Recht  gab:  On  devanQaü  Vevcnement  pour  prevenir  le 
danger.  Man  hatte  Cäsar  mächtig  werden  lassen,  und  plötzlich 
wollte  man  ihn  vernichten. 

Le  rappel  de  Cisar  devint  la  grande  question.  Marcellus  hatte 
sie  auf  die  Tagesordnung  gebracht. 

Pompeius  war  abwesend  in  der  Sitzuug,  und  war  mithin  nicht 
veranlasst  gewesen,  sich  auszusprechen.  Iu  der  nächsten  war  seine 
Sprache  ausweichend.  Natürlich  il  avait  VEspagne  pour  cinq  ans 
au  mime  tilre  que  Ct'sar  avait  la  Gaule,  et  cela  par  la  uiolation 
dJune  loi  dont  lui-meme  ttait  Vauteur. 

Man  wundert  sich,  dass  die  beiden  nicht  wieder  einen  dritten 
fanden,  und  so  sich  für  Lebenszeit  im  Besitze  der  Vorrechte  der 
Triumvirn  erhielten.  Es  musste  entweder  ungeheuer  schwer  halten, 
den  Gedanken  an  einen  lebenslänglichen  Triumvirat  zu  fassen,  oder 
Cäsar  hatte  die  Absicht  vor  der  Ausführung,  die  Absicht  sich 
zum  Herrn  der  Republik  zu  macheu.  Letzteres  ist  die  Meinung 
Ampere's. 

Man  kennt  den  Vorlauf  des  Bürgerkriegs  zwischen  Pompeius 
und  Cäsar  hinlänglich;  die  Erzählnug  unterliegt  seiner  Analyse 
nur  in  einigen  Punkten.  Ampere  lässt  Cäsara  die  Thüren  zum 
Schatze  erbrechen,  und  erklärt  dadurch  die  Darstellung  Cäsar's  für 
unwahr,  was  sehr  wichtig.**) 


*)  Ampere  citirt  einen  Brief  Cicero,  der  ein  solches  on  dit  bringt  (Ad 
Farn.  VIII,  1). 

**)  Beü.  civü.  I,  14. 


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Ampere:  L'Empirc  romain  a  Korne 


543 


Für  den  Standpunkt  des  Werkes  ist  es  ferner  wichtig,  zu 
wissen,  dass  es  die  Campagne  in  Spanion  nnerörtert  lässt,  höch- 
stens die  Belagerung  Massilia's  berücksichtigt,  S.  612  ff. 

De  retour  ä  Marseille,  erfuhr  Cäsar,  dass  er,  wie  er  gewünscht, 
zum  Dictator  ernannt  worden  war,  de  la  maniere  la  plus  illegale. 
Aber,  fragt  Cäsar,  qu'imporlait  la  Itgaliti,  le  temps  du  droit  etaü 
passe'  sans  retour. 

Iu  Rom  war  nicht  lange  seines  Bleibens.  Aber  die  kurze  Zeit 
reichte  hin,  bisher  ehrwürdigen  Titeln  ihren  ernsten  Inhalt  zu 
nehmen.    Cesar  fut  le  maitre  jusqu'au  jour  oü  il  ful  tu6.  S.  614. 

Ampere  ist  durchaus  selbstständig  in  seinem  Urtheii ;  er  eignet 
sich  die  Stellen  au,  die  Cäsarn  nicht  schmeicheln,  desto  mehr  ihn 
in  seinen  Entschlüssen  und  Unternehmungen  kennen  lehren.*)  Wie 
die  Campagne  in  Spanien  (gegen  Petronius  etc.),  so  weicht  er  auch 
dem  Feldzuge  nach  Thessalien  aus :  Je  riai  pas  ä  raconter  cetie  cam- 
pagne d'Epire  äc.  S.  613. 

Kurz  und  gut:  Pompee  6lail  vaincu  et  avec  lui  tonte  chanee 
de  liberte  däruite.  —  Sonderbar!  War  nicht  Pompeius  praesidens 
urbi  gewesen,  wio  Vellerns  sagt,  und  was  würde  er  zuletzt  erstrebt 
haben,  wenn  Cäsar  nicht  war?  Vielleicht  nicht  den  Principat? 

Jetzt  wird  Ampere  extrem;  er  urgirt  die  Sache  der  Gegner 
Casars  und  verkennt  die  in  der  Gesellschaft  schlummernden  Keime, 
die  den  Principat  in  sich  enthielten.  Er  sagt :  Le  parti  vaincu  ä 
Pharsale  ctait  le  bon  parti,  celui  de  la  Constitution  qu'il  fallaü  re- 
former,  transformer  s'il  etait  possible  et  non  detruire 
Die  Transformation  lag  in  der  Entwicklung,  welche  ich  oben  durch 
die  Perspective  eines  beständigen  Triumvirats  andeutete,  oder  aber 
in  dem  Drang  aller  Faktoreu  zur  Monarchie.  Wenn  Ampöre  glaubt, 
en  la  detruisant  on  creait  le  pouvoir  absotu,  le  mal  sans  remide, 
so  ist  das  gewiss  richtig;  aber  es  hätte  der  Zeit  bedurft,  um  zu 
zeigen,  dass  die  absolute  Gewalt  das  Ziel  der  socialen  Entwick- 
lung war.  Pompeius  hätto  die  nöthigo  Trägheit  gehabt,  bis  diese 
Frucht  reif  und  die  Freiheit  davon  geflogen  war.  Aber  Cäsar  hielt 
sich  für  berufen,  zu  erstreben,  was  möglich  war,  indem  er  nicht 
warten  wollte,  war  Zerstörung  der  Freiheit  die  Bedingung.  Hätte 
sie  sich  selbst  zerrieben,  Niemand  hätte  Aufhebens  gemacht.  Den 
Zerstörer  belastet  das  Odium  ihrer  Liebhaber.  Nach  der  Schlacht 
bei  Pharsalus  gab  es  für  Cicero  nur  noch  Trost  in  der  Philosophie. 
Zu  ihr  kehrte  er  zurück,  comme  le  joueur  revient  ä  sa  maitresse; 
lui  aussi,  ayant  perdu  la  partie,  s'ccriait :    0  ma  chere  Angelique ! 

Es  fehlte  noch,  dass  Cäsar  seine  Gegner,  dio  in  Afrika  ge- 
rüstet ihn  erwarteten,  besiegte. 

Die  Anstrengung,  welche  ihm  die  Schlacht  bei  Thapsus  zuge- 
müthet  hatte,  war  bekanntlich  nicht  die  letzte.    Abor  er  kehrte 


*)  Zu  den  Problemen  für  den  Interpreten  seines  Charakters  gehört  das 
Lob  der  dementia,  siehe  S.  616. 


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644 


Atnpere:  L'Etoplre  f  omain  a  Rome. 


nach  Italien  zurück ,  landete  bei  Ostinm ,  und  was  tbat  Cicero : 
Taut  en  ecrivanl  un  livre  ä  la  louange  de  CaU>n,  se  eonsolaii  en 
soupant  ....  ches  les  vainqueurs.* ') 

In  diese  Zeit  verlegt  Ampere  seinen  Brutus  de  elaris  ora- 


Er  holt  noch  Einiges  nach,  dessen  wir  ebensowenig  nachträg- 
lich entrathen  wollen,  weil  sich  daran  Controversen  knüpfen. 

Die  Quellen  lassen  Cäsarn  beim  Anblicke  des  Hauptes  des 
Pompeiu8,  nachdem  er  ihn  erkannt,  Thränen  vergiessen,  uud  er 
glaubt,  diese  Thränen  waren  aufrichtig.  Er  glaubt  es  im  Wider- 
spruch mitLucan,  der  von  Lacrimae  non  sponte  cadentes")  spricht. 

Das  Grab  des  Pom  peius  ist  bei  Rom.  Ampere  erzählt,  Cäsar 
habe  das  Haupt  verbrennen  lassen,  und  die  Asche  in  einem  Heilig- 
thum der  Nemesis  vor  dem  Thore  Alexandriens  beisetzen  lassen 
(App.  II,  90).  Der  übrige  Leichnam  sei  von  besorgten  Händen 
gleichfalls  verbrannt  und  beigesetzt  worden.  Von  dort  habe  beides 
Cornelia,  die  zweite  Gattin,  mit  nach  Rom  gebracht. 

Den  Schluss,  S.  625,  widmet  er  Cato  und  seinem  politischen 
Wirken.  Er  vermisst  bei  den  Historikern  unserer  Zeit  die  Achtung 
vor  diesem  Typus  sittlicher  Männlichkeit. 

Dem  Verfasser,  der  noch  die  Freude  hatte,  den  Erfolg  zu  er- 
fuhren, den  die  auf  den  vorstehenden  Blättern  in  ihren  Resultaten 
kurz  gewürdigte  Histoire  romaine  hatte,  war  daran  gelegen  ge- 
wesen, sie  fortzusetzen.  Aber  ehe  er  noch  bis  zur  Regierung  des 
Tiberius  gekommen,  war  die  Stunde  seines  Abschiedes  vom  Leben 
da.  Vier  Capitel  waren  ihm  noch  vergönnt  gewesen;  mit  dem 
fünften,  welches  den  ersten  Band  des  oben  erschienenen  Empire 
mmain  ä  Korne,  schliesst,  hatte  er  die  Zeit  Tiber's  erzählen  wollen. 

Indem  durch  Aufnahme  gewisser  einschlägiger  Artikel,  welche 
in  den  Jahren  1856  und  1857  in  der  Revue  dt  deux  Mondes  er- 
schienen sind,  noch  ein  zweiter  Band  zu  Stande  kam,  darf  das 
Werk,  dessen  Anzeige  der  eigentliche  Zweck  unseres  gegenwärtigen 
Artikel  ist,  das  Empire  romain  als  ein  für  sich  bessehendes  Werk 
hingenommen  werden. 

Dem  Wortlaut  seines  Testaments  zufolge  war  die  Sorge  des 
Verfassers  dahin  gerichtet,  die  Fortsetzung  der  Histoire  romaine 
in  sichere  Hände  zu  legen. 


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— 


Ampere:  L'Empire  romain  ä  Rome. 


(SchluBS.) 

Als  Fortsetzung  verräth  sich  der  erste  Band  unleugbar  schon 
auf  seinen  ersten  Seiten.  Seine  Gesinnung  transspirirt  in  der  Kritik 
des  Senats,  S.  5,  alles  Uebrige  ist  Erzählung.  Ihr  Inhalt  würde 
hier  eine  Wiederholung  Aller  sein,  nicht  blos  Ampere's.  Drum, 
wo  es  niohts  Wesentliches  in  dieser  Darstellung  vor  der  Huttoirt 
romaint  hervorzuheben  gibt,  beschränken  wir  uns  auf  das  was 
Ampere  dem  Inhalte  gegenüber  sich  selbst  verdankt. 

Spannend  sind  die  Details  verwerthet,  welche  der  Winterauf- 
enthalt in  Rom  nach  der  Rückkehr  aus  Aegypten  bez.  dem  Pon- 
tus  bietet,  die  Untersuchung  über  Dolabella,  und  der  Aufstand  der 
Legionäre.  Hierdurch  ergänzt  diese  erste  Abhandlung  das  letzte 
Capitel  im  letzten  Bande  der  Hütoire  romaine. 

Ampere  kann  es  Cäsarn  schlecht  verzeihen,  dass  er  den  Heroen 
der  Gallier,  der  einen  Augenblick  gehofft  hatte,  ihr  Befreier  zu 
sem,  beim  Hinaufziehen  zum  Capitol  in  den  Carcer  abführen,  und 
dort  erdrosseln  Hess.  Si  quelqu'un  itevait  etre  epargne  par  C6sart 
c'elait  nolre  grand  Vercinqetorix.  S.  21.  Der  Verf.  hält  sich  bei 
der  Beschreibung  des  Triumphes  auf ;  er  sammelt  geschickt  die 
verschiedenen  Anhaltspunkte,  welche  die  Annahme  begünstigen, 
dass  Cäsar  's  Regiment  trotz  aller  Verteidigungen  Absolutismus 
war,  zunächst  des  Forums ,  worin  er  dem  römischen  ein  julisches 
entgegenstellte,  eines  Gebäudes  für  Gerichtssitzungen,  dann  des 
Tempels  der  Venus  Genitrix,  der  Spiele. 

Was  im  Schlusscapitel  der  IJistoire  romaine  gleichfalls  nicht 
erwähnt  ist ,  die  Campagne  nach  Spanien ,  sie  beschreibt  er  hier. 
8.  30  ff. 

Mit  grossem  Geschick  hat  er  die  Notizen  bei  Sueton  gesichtet, 
und  nebst  der  Darstellung  des  Dio  Cassius  zu  seiner  Arbeit  ver- 
werthet: den  letzten  Triumph,  den  Auftritt  mit  Pontius  Aquila, 
die  Eitelkeit  des  alternden  Cäsar,  die  ihm  zuerkannten  höchsten 
Huldigungen,  den  Verfall  der  republikanischen  Einrichtungen  hat 
er  mit  dem  Schmerz  um  den  Untergang  der  Republik  nicht  min- 
der als  mit  der  Ueberzeugung,  dass  sie  Cäsar's  Untergang  herbei- 
führen würden,  beschrieben.  Die  Brücke  zu  letzterem  bahnte  Cäsar's 
eigenes  Auftreten.  Wenn  Alles  wahr  ist,  was  in  letzterer  Be- 
ziehung zu  vermuthen  gegeben  wird,  so  ist  Cäsar  ein  mustergülti- 
ges Beispiel  dafür,  dass  die  Selbstüberhebung  noch  gefährlicher 
LX.  Jahrg.  7.  Heft  35 


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646  Ampere':  L'Emplre  romain  k  Rome. 

ist,  als  die  Unterdrückung  der  Freiheit.  Celui  qui  avüit  les  hommes 
rCa  pas  le  droit  de  les  mepriser,  car  leur  honte  est  son  ouvrage,  et 
il  doit  commencer  par  se  mepriser  lui-meme.  8.  36.  Drum  sieht 
der  Verfasser,  der  nach  einigen  den  Verschönerungen  Rom's  (S.  36), 
Cäsar's  gesetzgeberischen  Verfügungen ,  S.  38 ,  der  Senatszeitung, 
S.  40,  der  Aufzählung  von  Cäsar's  Projekten,  S.  42,  gewidmeten 
Seiten  hierauf  zurückkommt,  die  gerechte  Strafe  des  Despotismus  im 
Rausche,  S.  46 :  La  juste  punüion  da  despotisme,  c'est  V enivrement. 
Wenige  Männer  haben  ihm  widerstanden,  grosse  zumal,  Cäsar  selbst 
war  davon  erfasst.  Er  geizte  nach  dem  königlichen  Titel,  wofür 
Ampere  sich  an  ein  Citat  aus  Cicero  hält*),  Cäsar  der  bereits  die 
Macht  ohne  den  Titel  hatte.  Die  wiederholt  gemachten  Versuche 
des  Antonius,  am  Luperealienfeste,  Cäsarn  das  königliche  Diadem 
auf  das  Haupt  zu  setzen,  mussten  jene  Absicht  praktisch  bestätigen, 
und  sollten  die  Anfmerksamen  beleidigen.  Der  königliche  Name 
war  das  Beleidigende. 

Anlässlich  der  Verschwörung  und  der  theils  politischen,  theils 
persönlichen  Motive  der  Verschwornen ,  ist  doch  auch  Ampere  der 
Meinung,  dass  Decimus  Brutus  ein  wirklicher  Verräther  war,  der, 
da  er  innige  Anhänglichkeit  an  Cäsar  geheuchelt  hatte,  von  der 
Geschichte  verdient  verflucht  zu  werden,  S.  51.  Dem  Marcus  Bru- 
tus, den  er  im  Namen  der  Freiheit  walten  lässt,  lässt  er  Gerech- 
tigkeit wiederfahren,  seine  muthmassliche  Abkunft  bestimmte  ihn 
für  die  Aufgabe  eines  Befreiers.  Aber  er  wollte  doch  nicht  con- 
spiriren:  La  conspiration  vint  le  chereher  jusque  ehest  lui.  Ein  Be- 
such des  Cassius  bei  Brutus  entschied  über  seinen  Entschluss.  In 
die  Wohnung  des  Brutus  verlegt  der  Verfasser  den  schönen  Auf- 
tritt zwischen  Brutus  und  Porcia.  Ort  und  Datum  des  Attentats, 
die  Beurtheilung  desselben,  wo  Montesquieu  citirt  wird,  die  Er- 
zählungen über  Cäsars  Ansichten  von  der  wünschenswerthesten 
Todesart,  die  ominöseu  Auftritte  der  letzten  Nacht,  das  Schwanken 
Cäsar's  am  Morgen  der  Iden,  zwischen  Gehen  und  Bleiben,  sein 
letzter  Gang,  die  Möglichkeit,  noch  während  dieses  Ganges  ge- 
rettet zu  werden,  die  bösen  Vorzeichen  bei  dem  Opfer  vor  dem 
Beginn  der  Sitzung,  der  Auftrag  den  Trebonius  hatte,  den  Anto- 
nius an  der  Thüre  zu  unterhalten,  das  Attentat  und  sein  Gelingen, 
das  ist  der  Inhalt  der  nächsten  Seiten. 

Der  Verfasser  sollte  in  der  Geschichte  weiter  gehen,  und  die 
Folgen  des  tragischen  Ausgangs  des  Lebens  Cäsar's  für  Rom  er- 
örtern. Das  tbut  er  nicht  Er  wendet  sich  einem  Manne  zu,  der, 
solange  der  Bürgerkrieg  gewährt  hatte,  eine  halbe  Rolle,  und  unter 
Cäsar  gar  keine  spielte,  der  aber  nach  Cäsar's  Ermordung  va  re- 
prendre  de  l'imporlance.  Wir  haben  ihn  kennen  gelernt,  und 
lernen  wieder  hier  S.  68  ihn  als  den  Verfasser  des  Bruhts  de  cla- 
ris  oratoribus  und  des  Orator,  de  partibm  Oratioais,  der  Paradoxa, 


*)  Suet.  Caes.  XIV  (9). 


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Ampere:  L'Empire  romain  k  Rome. 


«ls  Vertheidiger  des  Marcellus  bei  Cäsar  kennen.  Ein  trauriges 
Ereignis«  in  der  Familie  gab  seiner  schriftstellerischen  Thätigkeit 
eine  Richtung  neuer  Art.  Der  Tod  seiner  geliebten  Tochter  (Tullia) 
im  Alter  von  zwei  und  dreissig  Jahren,  versenkte  ihn  in  tiefen  Kum- 
mer; er  wandte  sich  philosophischen  Studien  zu,  deren  Ergebnis? 
die  Schriften  Hortensiue,  De  summo  bono,  Academica  waren.  Aber 
er  hörte  nicht  auf,  wann  der  Fall  ihn  rief,  zu  plädiren.  Zum 
Schlüsse,  wo  doch  Ampere  nicht  umhin  kann,  sein  ürtheil  über 
Cicero  abzugeben,  einverstanden  mit  Montesquieu,  der  ihm  eine 
schöne  geistige  Begabung  nachrühmt,  aber  eine  oft  gewöhnliche 
Seele  beilegt,  protestirt  er  contre  les  injures  adressees  de  notre 
temps,  en  Allemagne  et  en  France,  ä  et  beau  genie,  ä  ceite 
dme  jtlutöt  faible  que  commune,  et  naturellement  genereuse. 

Am  Ende  des  ersten  Capitels  angelangt,  können  wir  unser 
Befremden  darüber  nicht  verheimlichen,  dass  Ampere  auf  keiner 
Seite  von  der  napoleonischen  Geschichte  Cäsar' 8  Notiz  genommen 
hat,  wozu  doch  hin  und  wieder  Anlass  sich  gefunden  hätte.  Wir 
finden  uns  nicht  versucht  die  Motive  bei  Ampere  zu  ermitteln,  noch 
weniger  es  zu  formuliren,  und  wenden  ans  dem  folgenden  Ca- 
pitel  zu:  Triumvirat-  Oct ave. 

Der  Tod  Cäsar'  s  war  für  Born  das  Vorzeichen  neuer  Kriege 
im  Inneren,  und  zwar  was  Niemand  ahnen  mochte,  unabsehbarer 
Kriege,  welche  erst  mit  einer  Wiederholung  des  Erfolges  bei  Phar- 
salus  enden  sollten.  Es  kam  das  siebente  Jahr  des  Krieges  seit  49. 

Wir  wollen  weder  die  Haltung  des  Antonius,  noch  die  Hal- 
tung des  Cicero  oder  der  Verschwornen  dem  Verfasser  nacherzäh- 
len. Die  Verlesung  des  Testaments  brachte  den  Namen  Octavios 
zur  Kenntniss  des  römischen  Volkes,  und  änderte  die  Lage  der 
Dinge.  S.  100.  Dolabella  trat  der  Anhänglichkeit  des  Volkes  an 
Cäsar  in  den  Weg;  aber  wer  ihn  kannte,  den  hätte  er  durch  seine 
Entschlossenheit,  den  Altar  zu  zerstören ,  vor  welchem  das  Volk 
-Cäsarn  opferte,  nicht  auf  immer  täuschen  können.  Eine  Provinz 
und  das  Geld  'des  Antonius  brachten  ihn  auf  die  Seite  des  Letzte- 
ren. Soin  Schwiegervater  (Cioero),  der  jene  Entschlossenheit  be- 
wundert und  gepriesen  hatte,  war  mal  wieder  compromittirt  wor- 
den. Ampere  verweilt  bei  der  Beschreibung  des  Tempels,  der  sich 
an  der  Stelle  des  zerstörten  Altars  auf  dem  Forum  erhob  und 
zeigt  die  Schwierigkeit  der  Lage,  der  bald  der  Erbe  Cäsar's  erst 
eine  Richtung  geben  sollte.  Die  Mittel  zu  finden,  sioh  der  Lage 
zu  bemächtigen,  moohte  Octavius  schwer  werden.  Aber  schwer 
wird  dem  Geschichtschreiber  heute,  auf  diesem  Schlangenwego  des 
Macohiavellismus  trotz  Hülfe  der  Quellen  sich  zurecht  zu  finden. 
Sich  zu  verfeinden,  und  die  Feindschaft  bis  zum  Kriege  zu  treiben, 
hatte  Octavius  gemieden,  bis  er  zuletzt  sah,  dass  der  Senat  sich 
gegen  Antonius  erklärte.  Da  trat  er  in  den  Dienst  des  Senats,  in 
desson  Sitzungen  Cicero  den  Antonius  durch  seine  philippischen 
Reden  auf  seine  Weise  bekriegte.    Noch  einmal  war,  der  sioh  der 


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Ampere:  L'Empire  romain  a  Rome. 


philosophischen  Schriftstellerei  ergeben  hatte,  S.  123,  auf  den  alt- 
gewohnten Kampfplatz  geeilt.  Dass  er  auf  Octavius  Vertrauen 
setzte,  war  sein  Fehler,  dass  er  gegen  Antouius  in  die  Schranken 
trat,  darin  hatte  er  Hecht.  Die  Zergliederung  der  Reden  gegen 
Antonius  bilden  ein  wesentliches  Darstellungsmittel  bei  Ampere. 
S.  128  fif.  In  der  letzten  Philippica  konnte  er  die  Niederlage  des 
Antonius  verherrlichen,  ein  literarischer  Triumph!  Derselbe  Cicero 
macht  im  Senate  den  Vorschlag,  dem  jungen  Cäsar  für  seinen  Siog 
den  Imperatortitel  zu  verleihen.  Ampere  bestreitet,  dass  Cicero, 
verführt  von  Octavius,  der  Meinung  gewesen  ist,  ihm  das  Consulat 
zu  geben,  pour  ne  pas  le  pousser  ä  bout  et  ait  insinue  qu'un  collegue 
dge,  tel  que  lui,  eontiendrait  avantageusement  le  jeune  comul/J  In 
der  That  verlangt  Octavius,  den  die  Verweigerung  eines  Triumphes 
verwundet  hatte,  S.  141,  vom  Senat  die  Erlaubniss,  sich  um  das 
Consulat  zu  bewerben.  S.  142.  Aber  die  einzige  Stütze  seiner  Can- 
didatur  waren  die  Truppen,  und  wie  er  sich  dieser  Stütze  bedient, 
das  ist  bekannt.  Unter  den  Augen  der  auf  dem  Marsfelde  bivoua- 
kirenden  Truppen  stimmten  die  Comitien  über  die  Wahl  ab.  Octavius 
ging  aus  der  Abstimmung  hervor,  und  nun  im  Besitze  dieser  Function 
als  Consul  promulgirte  er  das  berüchtigte  Gesetz  gegen  die  Mörder 
des  Cäsar;  das  hatte  er  erreichen  wollen.  Un  seid  komme  osa  voter 
contre  cette  condamnation,  c'est  lä  le  dernier  acte  romain,  Disons 
adieu  ä  lout  vestige  d'independance  et  de  liberle.  Nous  so  mm  es  entrös, 
pour  n'en  plus  sortir,  dam  Vtre  de  la  servilude. 

Die  erste  Form  des  Kaiserthums  war  das  Triumvirat,  aber 
die  Umwandlung  dieses  Despotismus  langte  zuletzt  bei  dem  Prin- 
ceps  an,  wie  das  erste  Triumvirat  sich  zuletzt  in  dem  Dictator 
concentrirt  hatte.  Den  Vergleich,  welchen  Ampere  macht,  billigen 
wir  nicht,  weil  er  uns  nicht  zu  stimmen  scheint.  Wer  mochte 
zwischen  Octavius  und  Robespierre  politische  Aehnlichkeit  finden, 
ausser  ihm? 

Mit  der  Erneuerung  des  Triumvirats  erneuerten  sich  die  Pro- 
scriptionen. Wir  sehen  davon  ab,  diese  durch  neuere  Arbeiten  so 
vielfach  aufgefrischten  Erinnerungen  der  römischen  Geschichte  hier 
zu  verwerthen,  wo  das  abweichende  historische  Urtheil  die  einzige 
berechtigte  Prüfung  bietet.  Der  Tod  Cicero's  führt  übrigens  den 
Verfasser  nach  Formiä.  Die  Schlacht  bei  Philippi,  der  Perusinische 
Krieg,  der  Krieg  gegen  Pompeius,  S.  169.  Die  wiederkehrenden 
Zerwürfnisse  zwischen  Antonius  und  Octavius,  S.  173,  die  Bauten 
des  Agrippa,  S.  172 ff.,  die  Anfange  der  Verschönerungen  Rom's, 
S.  176,  die  Ausschweifungen  des  Antonius  und  sein  letztes  ent- 
scheidendes Zerwürfniss  mit  Antonius,  die  Kenntnissnahme  des 
Letzteren,  die  Kriegserklärung  an  Cleopatra,  sind  der  Inhalt  der 
übrigen  Seiten. 

Bei  Aktium  war  über  das  Schicksal  der  Verfassung  entschie- 
den ;  die  Sehnsucht  nach  dem  Frieden  war  gestillt ;  die  Liebe  zum 

*)  Drumann,  Geschichte  Rom's,  I,  829. 


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Ampere:  I/Emplre  romain  a  Rome. 


549 


Frieden  bei  Allen  wurde  die  Quelle  der  Vollmachten,  in  deren 
Besitz  Octaviua  nunmehr  treten  sollte.  S.  187. 

Das  dritte  Capitel  (Regne  d' Auguste)  hätte  verdient  mit  Kupfern 
illustrirt  zu  werden ;  es  ist  ein  gliinzender  Commentar  zu  den  Quellen. 
Ampereist  nicht  versöhnt ;  er  muss  bekennen,  dass  der  Despotismus 
don  Frieden  nicht  gab.  Man  beachte  seine  Aeusserungen.  Vempire  c'est 
In  "pnix  ist  das  Losungswort  des  französischen  Octavius  im  XIX. 
Jahrhundert.  Er  nennt  die  Bezeichnung  der  Regierung  des  Augustus 
als  einer  Aera  des  Friedens  eine  Uebertreibnng  S.  283.  Er  belegt 
sein  Urtheil  mit  Beweisen  des  Gegentheils,  ganz  so  wie  man  heute 
in  dem  Krimkrieg,  dem  italienischen  Krieg,  den  auswärtigen  Krie- 
gen Widerlegungen  der  Friedensparole  des  Kaisers  Napoleon  an- 
führen hört.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  diese  Parallele  zu  erörtern, 
so  wenig  wir  auch  die  Aehnlichkeit  ablehnen  können.  Nur  müssen 
wir  sagen,  Ampere  hat  Recht,  wo  er  allgemein  urtheilt:  Comentir 
au  despotüme  pour  (murer  la  paix  est  une  des  plus  grossitrs  illu- 
sinns  qui  puissent  seduire  hs  Hammes  et  eile  les  seduit  toujours.  Le 
despotisme  a  besoin  de  la  guerre,  parcequ'il  a  besoin  des  soldat*. 
Man  merkt,  der  Geschichtschreiber,  der  es  nicht  der  Mühe  werth 
fand,  gegen  ein  literarisches  Unternehmen  wie  die  Hisloire  de  Jules 
(  esar  die  Lanze  einzulegen,  wird  auf  einmal  daran  erinnert,  dass 
es  doch  eine  Pflicht  ist,  die  Leser  zu  tiberzeugen,  er  sei  nicht  un- 
empfindlich gegen  die  Ansprüche  ihres  Patriotismus.  In  dieser 
Stelle  ist  Ampere  der  Gegner  des  gegenwärtigen  Regierungssystems 
und  das  französische  Coblenz  im  Auslande  mag  ihn  zu  den  Seini- 
gen rechnen.  Er  war  ein  Gegner  der  Robe  des  Berufsmannes, 
nicht  des  Parteimetaphysikers. 

Er  nennt  den  Frieden  die  grosse  Verführung,  Auguste  offrii 
aux  Romains,  fatigues  des  dvtcordes  civiles  dans  lesquelles  lui-meme 
avait  joue  le  principal  role  S.  801.  Er  meint  dieses  Mal  den  Frie- 
den im  Innern.  Er  gesteht  ein,  man  genoss  ihn,  aber  man  bezahlte 
ihn  —  mit  der  Freiheit ! 

Er  hoffte,  wie  sich  durch  seine  Monumente,  einen  Ausdruck 
seines  politischen  Gedankens,  so  auch  seine  Familie  dem  römischen 
Volke  werth  machen  zu  können.  Aber  in  dieser  Hoffnung  täuschte 
er  sich.  Augustus  konnte  den  Despotismus  befestigen ,  aber  keine 
Dynastie  gründen. 

Seine  Familie  war,  nach  dem  Urtheil  Amperes,  bestimmt,  ihn 
zu  strafen.  Ce  genre  de  ehätiment  atteint  parfois  les  despotes  ä 
qui  tout  rSussit.  S.  803.  Was  Ampere  lobt  an  Augustus,  ist  das, 
was  auch  schon  Andere  an  ihm  gelobt  haben ,  die  politische 
Gewandtheit:  sans  doute,  il  eut  besoin  (Tun  savoir  faire  veritabU 
pour  arriver  ä  Vexagerer.  Er  meint  damit,  das  Hauptcapitel  An- 
ziehung, was  er  mitbrachte,  war  der  Name  und  der  Erbe  Cäsars, 
S.  305  ff.  Es  ist  ihm  eine  ausgemachte  Sache,  Augustus  war  ein 
Heuchler.  Welches  war  das  Resultat  seiner  klugen,  bald  unver- 
schämten Verstellung,  fragt  er.    Die  Antwort  ist:  Der  Friede  im 


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550 


Ampöre:  I/Emplre  romaln  k  Rome. 


Innern,  aber  der  gleichbedeutend  ist  mit  Knechtschaft  (nach  Taci- 
tus  Ausdruck). 

Die  letzten  Seiten  sind  der  Beantwortung  der  wichtigen  Frage 
gewidmet:  Comment  jusiifier  Auguste?  In  der  Beantwortung  zeigt 
der  Verfasser,  dass  das  einseitige  Verdienst,  die  Wissenschaften  zu 
beschützen,  welches  im  XVI.  Jahrhundert  das  grÖsste  Verdienst 
eines  Fürsten  war,  ttber  den  wahren  Charakter  des  Augnstus  ge- 
täuscht habe,  aber  nicht  mehr  täuschen  dürfe.  Man  habe  durch 
das  Lob  des  Horaz  und  des  Virgil,  dann  durch  das  Schweigen  des 
Tacitus,  endlich  durch  den  Verlust  einer  Lebensgeschichte  des  Au- 
gnstus von  Plutarch  sich  dafür  entschieden,  bei  den  Dichtern  den 
wahren  Massstab  zu  suchen.  Zu  diesem  dreifachen  Glücke  habe 
Augustus  noch  das  Schicksal  gehabt,  dass  seine  Regierung  mit  der 
Geburt  des  Messias  zusammenfiel.  Gemäss  seiner  Ankündigung  im 
ersten  Bande  seiner  Histoire  romaine  *)  hält  ungeachtet  alles  dessen 
der  Verfasser  für  das  ürtheil  über  Augnstus  an  Machiavelli,  Mon- 
tesquieu, Gibbon  und  Voltaire.  S.  818  ff.  Geschieht  dieses  aus  An- 
lass  seiner  Monumente,  so  verificirt  er  das  Resultat  noch  durch 
die  Sprache  seiner  Portraits.  Die  Antwort  auf  die  oben  erhobene 
Frage  lässt  Ampere  die  ganze  Erzählung  des  Sueton  sich  zu  eigen 
machen ,  welche  die  Meinung  verewigt ,  Aagustus'  Leben  sei  ein 
Leben  voll  von  Verstellung  gewesen. 

Ueber  das  vierte  Capitel  (La  famille  en  les  coniemporains 
(P Auguste),  welches  bei  der  Familie,  den  Monumenten,  dem  Leben 
in  Rom  verweilt,  geben  wir  hinweg,  um  das  Urtheil  des  Verfassers, 
über  Tiberius  sogleich  an  das  über  Angustus  anzuschliessen.  Der 
Verfasser  selbst  betrachtet  das  vierte  Capitel  als  eine  Episode,  die 
für  den  Leser  fast  eine  nothwendige  Erholung  ist,  weil  sie  ihn  mit 
den  Dichtern  unter  Angustus  bekannt  macht. 

Schon  gleich  auf  der  ersten  Seite  spricht  sich  der  Verfasser 
voll  aus:  nT%bere  aprls  Auguste;  apres  Jet  dcspotisme  doux  que 
Von  accepte,  le  despotisme  cruel  que  Von  subita  tfeit  la  mar  che  na- 
turelle des  choses  ei  la  justice  de  Dieu»  S.  416. 

Indem  ihn  auf  den  ersten  Seiten  die  Monumente  beschäftigen, 
dio  theils  noch  der  Regierung  des  Augustus,  und  nur  tbeilweise  der 
eigenen  Regierung  des  Tiberius  angehören,  verschieben  wir  noch  unsere 
Wünsche  an  die  Vergleichung.  Das  Erste,  was  er  thut,  ist  dies, 
er  lässt  Tiberius  an  dem  Vordienste,  welches  Augustus  sich  er- 
warb, den  Frieden  zu  erhalten,  Theil  nehmen.  In  politischer  Be- 
ziehung sieht  er  Tiberius  ganz  dem  Augustus  folgen:  Tibbre  suivit 
la  politique  dt  Auguste,  seulemmt  il  la  poussa  encore  plus  tom,  als 
Beispiel  diene :  Auguste  avait  salarie  des  tnagistrats  dont  les  fonc- 
tions  etaient  jusque  Ut  gratuites,  Tibete  paya  les  consuls.  Uebri- 
gens  räumt  er  ein:  U  conservaü  quelques-unet  des  forme*  de  la 
liberte:  speciem  quandam  Ubertatis  indumt,  dit  Suäone.  S.  483. 
—  . .  . 

•)  Bd.  L  8.  XLIV. 

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Ampere:  L'Empirc  romain  k  Rome. 


Wir  kommen  zu  seiner  Ansicht  von  der  Physiognomie.  Er 
findet  Tiber  weniger  falsch  von  Gesicht  als  Augnstus.  Ii  semble 
qu'une  hypocrisie  encore  perfeetionnee  lui  a  permis  de  mieux 
dissimüUr  la  noirceur  de  son  dme.  Le  front  et  le  regard  sont  plus 

sereins  chez  Tibcre  que  chez  Auguste           Wie  kommt  das?  Die 

Erklärung  bleibt  er  nicht  schuldig;  aber  für  hier  soll  sie  ihm  ge- 
hören. Wir  haben  uns  an  seinem  Urtheil  gentigen  lassen  wollen: 
Voeil  de  Tibere  n'a  plus  besoin  de  se  baisser,  l'ennemie  rtexiste 
plus,  merne  ä  Vetat  de  eadavre.  S.  435. 

Wir  kommen  zu  einem  zweiten  Bande,  welcher  noch  acht 
Capitel  enthält. 

Tiberius  ist  abgemacht,  kurz  genug.*)  Aber  er  hat  doch  ein 
ganzes  Capitel  eingeräumt  erhalten.  In  diesem  Bande  geht  es  noch 
viel  summarischer  zu:  Caligula,  Claudius  und  Nero  zusammen  bil- 
den das  sechste,  S.  1  ff. ,  Galba ,  Otho ,  Vitellius ,  Vespasian  und 
Titus  das  siebente,  S.  70  ff.  Von  der  Bedeutsamkeit  des  Jahres  69 
hat  der  Herausgeber  keine  Notizen  zu  sammeln  gehabt.  Domitian, 
ein  zweiter  Tiberius,  trug  von  seiner  Familie  dreierlei  an  sich, 
von  seinem  Vater  die  Gier,  von  seinem  Bruder  den  Geist,  von  der 
Familie  die  Verschlagenheit.  Diesem  widmet  er  das  achte  Capitel, 
S.  117  ff.  Auffallenderweise  gehen  Nerva,  Trajan  und  Hadrian, 
S.  158  ff. ,  aber  noch  auffallenderer  Weise  zugleich  Pius,  Marcus, 
und  Commodus  in  ein  einziges  Capitel,  S.  216  ff.  Die  drei  letzten 
sind  Summarien  über  die  Kaisergeschichte  nach  Commodus,  wor- 
aus die  Integrität  der  Darstellung  verbietet  besonderen  Passus 
herauszuheben ,  weil  die  Discussion  sich  in  diese  Gegenden  nicht 
so  vertheilt  hat,  wie  in  den  ersten  Jahren.  Man  kann  die  bisheri- 
gen Capitel,  so  wie  die  Schlusscapitel  als  Commentare  zu  seiner 
Introduction  im  ersten  Bande  seiner  Histoire  romaine  betrachten. 

Mit  dem  Tode  des  Commodus,  der  den  Uebergang  bildete,  be- 
ginnt der  Verfall  der  Zustände,  soweit  sie  unter  den  Kaisern  für 
blühend  gelten  konnten,  S.  262.  Eigentlich  begann  der  Verfall 
nach  ihm  mit  dem  Kaiserreich.  Quand  une  socüte  te  dissout  au 
dedains,  eile  conserve  encore  assez  longtemps  im  air  de  grandeur 
et  un  semblant  tfcclat,  trompant  ainsi  ceux  qui  ne  retfardent  que 
la  surfaee.  S.  262.  Nach  Heliogabal,  scheint  es,  ist  man  zum 
letzten  Tage  des  Reiches  gekommen.  Alexander  erhebt  es  aus 
dieser  äussersten  Erniedrigung.  Man  kann  sich  nicht  dem  ver- 
schliessen  was  Ampere  sagt:  Son  regne  est  un  de  ces  ümps  oVarrct 
qui  suspendent  le  progres  de  la  decadence  et  prouvcnt  combien  ce 
progrts  est  irresistible  par  leur  impuissance  ä  le  supprimer.  S.  815. 
Das  Wichtigste,  was  ihm  nachzurühmen,  ist  seine  Duldung  gegen  die 
Christen,  und  als  ein  bemerkenswerthes  Monument  aus  jener  Zeit 
gilt  die  Basilika  Santa  Maria  in  Trastevere.  Die  ganze  Succession 
bis  auf  Constantin  hat  er  noch  in  dieses  Capitel  hereingenommen. 

*)  Die  ganzr  Controverse  Ober  Tiberiua  hat  Ampere  ignorirt.  Vgl.  unsere 
Anzeige  von:  Puch,  Zur  Kritik  der  Geschichte  d.  Kais»  Tib.  etc.  Heidelb. 
Jahrbb.  1866.  No,  84. 


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652 


Ampere:  L'Empirc  romain  a  Rome. 


Das  Ende  des  kaiserlichen  Rom's  (Fin  de  la  Rome  imperiale) 
ist  auch  das  Ende  der  Darstellung  des  Verfassers,  S.  367.  Es 
gibt  nicht  leicht  eine  historische*  Parallele ,  die  der  geistreiche 
Franzose  anzuziehen  nnterlässt  Die  Verlegung  des  Kaisorsitzes 
nach  Constinopel  hat  in  der  Verlegung  der  Regierungsgeschafte  von 
Moskau  nach  Petersburg  ein  Pendant  erhalten.  Er  hatte  auch  die 
Verlegung  von  Brussa  nach  Stambul,  von  Turin  nach  Florenz  her- 
ziehen können.  Aber  Nanking  bat  er  genannt,  mit  dein  er  das 
von  den  Kaisern  verlassene  Rom  vergleicht.  Elle  est  devenue  une 
de  ccs  capitales  du  passe  sacrifie'es  ä  la  nouvelle  capitale  qu'on 
destine  ä  Vavenir,  comme  Nanking,  la  ville  chinoise  et  lettree,  le 
sera  ä  Pi-Mng. 

Welches  Bild  bietet  ihm  Rom  im  vierten  und  5.  Jahrhundert? 
Trotz  der  Ausbesserungen ,  welche  hier  und  da  nöthig  werden,  ist 
in  monumentaler  Hinsicht  der  Anblick  Roms  glänzend.  Die  Leiden- 
schaft für  die  Spiele  hat  auch  unter  den  christlichen  Kaisern  nicht 
aufgehört.  Aber  im  Grunde  ist  die  Stadt  elend  geworden.  Bald 
muss  sie  gegen  Barbaren  vertheidigt  werden,  die  Statuen  am  Mau- 
soleum Hadrians  dienen  zu  Projektilen.  Die  Canäle  werden  abge- 
schnitten, Rom  und  die  Campagna  werden  verödet. 

Wollen  wir  dem  gelehrten  Verfasser  und  seiner  Grundrichtung 
Rechnung  tragen,  so  werden  wir  zu  seinem  Problem  zurückkehren, 
wofür  er  den  Monte  Testaccio  hält,  bevor  wir  schliessen.  Nachdem 
er  nachgewiesen,  dass  in  dem  ganzen  letzten  Jahrhundert  ausser 
Kirchen  sonst  fast  kein  Monument  sich  in  Rom  erhoben  hat,  kommt 
er  auf  die  Entdeckung,  dass  sich  dafür  ein  Berg,  mindestens  ein 
Hügel  gebildet  hat.  Le  Monte-Testaccio,  sagt  er,  est  pour  moi  des 
nombreux  problimes  qu'offrent  les  qntiquites  romaine*  le  plus  dif~ 
ficiU  ä  rtsoudre.  On  ne  peut  s'arrfter  ä  diseuter  se'rieusement  la 
tradition  d*  apres  la  quelle  il  aurait  ät  forme'  avec  les  d<fbris  des 
vases  contenant  les  tributs  qu'apportaient  ä  Home  les  peuples  sou- 

mis  par  eile.    Cest  lä  evidemment  une  legende  du  moyen  (ige   

Wie  soll  die  wunderbare  Anhäufung  von  Materialien  zu  dem  Monte 
Testaccio  erklärt  werden?  Er  antwortet,  nachdem  er  den  Zweck 
der  vases  Tie  lerre  erörtert  hat,  qufon  suppose  toutes  les  fabriques 

de  vases  e'tablies  cn  ce  Heu         ou  bien  une  mesure  de  policc   

Dann  ist  aber  noch  nicht  Alles  erklärt:  Comment  de  persuader 
qu'on  a  continue'  ä  faire  un  semblable  de'pot,  quand  ce  dcpöt  avait 
atteint  une  teile  (livation  qufil  eüt  iti  extrtmement  penible  de  por- 
ter des  vases  brisis  au  sommet  de  ce  monticule,  dou  Von  a  une  des 
plus  belle»  vues  de  Hornel  Auf  diese  Frage  ist  es  nicht  möglich 
eine  Antwort  zu  geben.  II  termine  cette  pctite  dissertation  sur  les 
causes  qui  ont  pu  former  U  Monie-Testaccio  par  ces  mots,  qu'on 
ferait  bien  de  p  rononcer  plus  souvent,  quand  il  s'agü 
d'anfiquites  et  de  beaucoup  d'autrcs  choses:  Je  ne  sais  pas. 

Er  nennt  Beiisar  den  letzten  Römer.  S.  396:  Apres  Itti,  la 
barbarie  a  vaineu.  Erinnerungen  an  ihn  haften  an  der  Porta  Pin- 

i 

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Ampere:  L'Empire  romain  a  Rome. 


553 


ciana.  Diese  Pforte  hat  durch  ihre  Inschrift  Anlass  zu  einer  Le- 
gende gegeben.  Beaumarchais  hat  auf  sie  den  tragischen  Ausgang 

seines  Be'lisairc  gebaut          Yingratitude  si  fr/quente  des  souverains 

envers  ceux  qui  hur  ont  rendu  hs  plus  grands  Services. 

Gegen  Ende  kommt  er  auf  die  MaVaria  zu  reden,  deren  Ur- 
sache er  in  der  Abschneidung  der  Canäle  ßndet.  *) 

Die  eigentliche  Ureache  des  Untergangs  der  Stadt  sind  die 
Barbaren  gewesen ,  nicht  durch  die  Zerstörung  der  Monnmente, 
derenthalben  er  sie  in  Schutz  nimmt,  sondern  durch  die  Zerstö- 
rung des  Reichs.  Apres  eur,  la  Rome  antique  a  cessi  de  comp» 
ter  dorn  U  monde.  S.  511. 

Wenn  es  die  Absicht  Ampere's  war,  auch  die  Annalen  des 
christlichen  Rom's  zu  bearbeiten,  und  seine  Geschichte  durch  das 
Mittelalter  bis  auf  die  neuere  Zeit  zu  verfolgen  —  vgl.  Auertisse- 
ment,  Bd.  I.  p.  VI  — ,  so  müssen  wir  bedauern,  dass  das  Leben 
dieses  Mannes  nicht  für  die  Verwirklichung  dieses  umfassenden 
Planes  ausgereicht  hat.  Gregorovius,  der  auf  die  früheren  Zei- 
ten der  ewigen  Stadt  verzichtet  hat,  wird  die  Geschichte  Rom's 
im  Mittelalter  gewiss  dafür  desto  sicherer  zu  Ende  führen.  Für 
die  Zeiten  von  Anfang  an,  für  das  vorchristliche  und  das  christ- 
liche bez.  päpstliche  zugleich  ist  neuerdings  in  v.  Reumont  ein 
zusammenfassender  Darsteller  aufgetreten. 

Sie  alle  drei  werden  den  Vorzug  haben,  unter  den  Augen  der 
Monumente  geschrieben  zu  habeu.  Die  beiden  noch  lebenden  Ge- 
schichtschreiber werden  der  Civilisation  Italien's  Rom  anheimfallen 
sehen.  Aber  Ampere  musste  Rom's  Geschichte  da  schliessen,  wo 
es  an  die  Barbaren  tibergeht.  Darin  sieht  er  die  Wirkung  der 
absoluten  Gewalt,  die  in  Rom  zur  Herrschaft  gelangt  war. 

Die  letzten  Worte  sind  eine  feierliche  Verwahrung:  La  main 
sur  la  conscience,  je  ne  puis  trouver  que  j'ai  calomnie  Vempire 
romain.  On  m'a  accust  de  refaire  Vhistoire  romaine;  out,  y  ai 
dü  la  refaire,  car  on  Vavait  de  faxte,  On  s^tait  lasse'  de  la 
verite'  historique:  on  avaij  tent/,  souvent  avec  beaucoup  oVart,  de 
rehabiliter,  comme  on  dit,  cette  epoque  nrfa&te  de  Vempire.  Vem- 
pire romain,  tel  que  je  V  ai  peint  d apres  les  monuments  et  les 
textes,  Haii  celui  de  tout  le  monde,  jtisqu'ä  ce  qu'on  en  ait  de'couvert 
un  autre  qu'il  faudrait  admirer.  Ce  quefai  raconte'  Va  iti  par  Tacite, 
et,  si  on  rejette  Tacite  comme  suspect  oVindignation,  par  Sudtone, 
qui  ne  s'indigne  jamais,  par  Dion  Casaius,  ce  pauvre  diahle  de 
senaUur  qui  avait  si  grand'peur  quand  Commode  fui  montrait  son 
glaive  teint  de  sang  et  la  tete  oVautruche  quHl  venait  de  couper, 
par  les  avides  chroniqueurs  de  VHistoire  Auguste.  Wir  wollen  nicht 
dabei  verweilen,  dass  dieses  ein  unvollständiger  Katalog  der  Quel- 
len ist,  die  überhaupt  über  die  Kaiserzeit  vorhanden  sind.  Er  hat 


*)  Man  vergleiche,  was  er  im  ersten  Bande  der  Histoire  rom.  dar- 
über sagt.  8.  oben  S.  630. 


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564  Eyssenhardt:  Lectiones  Panegyricae. 

nicht  gesagt,  dasB  die  Absicht  dieser  Auf  Zählung  dem  bowussten 
Zwecke,  von  seinen  Quellen  Rechnenschaft  zugeben,  dient.  Im  rapi- 
den Fluss  seines  Epilogs  will  er  noch  einmal  mit  dem  ganzen 
Ernste  des  Geschichtschreibers  vor  den  Leser  treten:  Mais  on 
auait  changi  tont  cela  dcpuis  quelque  temps.  On  avait  mis  le  coeur 
ä  droite.  Und  wie  hat  er,  Ampere,  es  gemacht?  Je  Vai  remis  ä 
(jauche;  et  riest  pas  ma  faute  s'ü  ne  convient  pas  ä  iout  le  mondc 
qu'ü  soit  ä  sa  place. 

Dass  die  beiden  Werke,  die  Histoire  romaine  und  das  Empire 
romain  zusammengehören,  hat  der  Herausgeber  schliesslich  durch 
seine  analytischen  Tafeln  äusserlich  bethätigen  wollen. 

Heidelberg,  im  Juli.  II.  Doergens. 


Lectiones  Panegyricae.  Scripsit  Franciscus  EyssenhardL 
Commentalio  ex  proqrammale  aymnasii  Friderico- Werderam 
seorsim  expressa.  Berolini  MDCCCLXMJ.  Typis  Nauckianis 
24  S.  in  4to. 

Die  Schriftsteller,  um  welche  es  in  dieser  Gelegenhoitssohrift 
sich  handelt,  die  sogenannten  Panegyriker,  oder  die  Sammlung 
panegyrischer  Reden  aus  der  späteren  römischen  Kaiserzeit,  haben 
seit  dem  Zweibrticker  Abdruck  (1789)  in  Deutschland  weder  einen 
erneuerten  Abdruck  gefunden,  noch  seit  Jäger  (1779)  und  Arntzen 
fl 790)  eine  neue  Bearbeitung  erhalten,  und  wenn  sie  auch,  in 
Folge  ihres  Inhalts  mehrfach  der  gelehrten  Forschung  gedient  und 
benutzt  worden  sind,  so  bedürfen  sie  doch  einer  sorgfältigen  Re- 
vision des  Textes ,  welche  auf  eine  sichere  handschriftliche  Grund- 
lage sich  stützen  kann.  So  nothwendig  diess  ist,  um  eben  der 
Benutzung  und  dem  Gebrauch  eine  sichere  Unterlage  zu  verschaffen, 
eben  so  sehr  fehlt  es  hier  noch  an  allen  Vorarbeiten  einer  kriti- 
schen Bearbeitung,  um,  was  das  nächste  ist  und  das  erste,  einen 
sicher  beglaubigten  und  lesbaren  Text  herbeizuführen.  Die  hier 
vorliegende  Gelegenheitsschrift  weist  diess  klar  nach,  und  verbin- 
det damit  eine  Reihe  von  VorbesserungsvorschlKgen  zu  einzelnen 
Stellen,  in  welchen  die  tiberlieferte  Lesart  in  keinem  Fall  befrie- 
digen kann.  Der  Verf.  zeigt,  dass  die  Handschrift,  auf  welche 
Schwarz  und  die  ihm  darin  nachfolgenden  Herausgeber,  Jäger  und 
Arntzen  besonderes  Gewicht  legten,  eine  jüngere  Handschrift,  mit 
dem  Datum  des  6.  Juli  1454  ist,  die  selbst  nicht  einmal  genau 
verglichen  worden,  und  dass  es  mit  einer  andern  Wolfenbüttler, 
die  ebenfalls  in  das  fünfzehnte  Jahrhundert  fällt,  nicht  besser  steht, 
und  die  Angabe  des  Laurentius  Patarol,  welcher  bei  seiner  Aus- 
gabe eine  Venetianische ,  eine  Ambrosianische  und  drei  Vatikaner 
Handschriften  benutzt  zu  haben  versichert,  fast  wie  eine  Flunkerei 
aussieht;  mehr  Werth  dürfte  nach  der  Ansicht  des  Verfassers  auf 


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Bttdinger:  Ein  Buch  tingarischer  Geschichte. 


565 


eine  Handschrift  der  Abtei  St.  Bertin  bei  St.  Omer  zn  legen  sein, 
welche  Modins  anführt,  die  aber  indess  verschwunden  ist.  Weitere 
Forschungen  sind  also  vor  Allem  hier  nöthig,  um  eine  sichere 
Grundlage  des  Textes  zu  gewinnen,  der  übrigens,  wie  es  fast  schei- 
nen will,  eben  so  wie  diess  bei  dem  Panegyricns  des  Plinius  der 
Fall  ist,  nur  in  verhältnissmassig  jüngeren  Handschriften  noch 
vorhanden  ist,  die  immerhin  auf  eine  ältere  Quelle  verweisen,  die 
bis  jetzt  wenigstens  nicht  näher  aufgefunden  ist.  Möchte  es  den 
Bemühungen  des  Verf.  gelingen ,  diese  Quelle  zu  ermitteln  und 
hiernach  uns  dereinst  einen  Text  dieser  Reden  zu  liefern,  welcher, 
von  den  Verderbnissen,  an  denen  er  jetzt  mehr  oder  minder  lei- 
det, frei,  anf  urkundliche  Treue  Anspruch  machen  kann.  Wie  sehr 
aber  der  gegenwärtige  Text  einer  Revision  bedarf,  geht  aus  den 
Stellen  hervor,  welche  von  S.  5  an  kritisch  behandelt  werden :  auch 
ohne  neue  handschriftliche  Hülfsmittel  ist  es  dem  Verf.  gelungen,  auf 
dem  Wege  der  Conjecturalkritik ,  die  freilich  durch  eine  genaue 
Kenntniss  dieser  Redner,  ihrer  Sprach-  und  Ausdrocksweise  ge- 
stützt ist,  das  Richtige  zu  finden  und  damit  einen  Sinn  in  die  ver- 
dorbene und  dadurch  unlesbar  gewordene  Stelle  zu  bringen.  In 
ähnlicher  Weise  werden  auch  S.  21  ff.  einige  Stellen  der  von  An- 
gelo  Mai  aus  einem  Ambrosianischen  Palirapsest  hervorgezogenen 
Reden  des  Symmachus  behandelt. 


Ein  Buch  ungarischer  Geschichte  1058—1100  von  Max  Büdin- 
aer.  Leipzig.  Druck  und  Verlag  von  B.  0.  Teubner.  1866. 
VU1  u.  166  S.  in  gr.  8. 

In  der  gegenwärtigen  Zeit,  in  welcher  die  Blicke  so  Vieler  auf 
Ungarn  gerichtet  sind ,  wird  die  vorliegende  Schrift  ein  doppeltes 
Interesse  erwecken,  wie  sie  diess  in  jeder  Hinsicht  verdient, 
so  sehr  sich  auch  der  Verf.  überall  auf  eine  rein  objective  Dar- 
stellung beschränkt  und  es  sorgfaltig  vermieden  hat,  auf  gegen- 
wärtige Zuständo  hinzuweisen  oder  in  Vergleichungen  früherer  Zu- 
stände mit  heutigen  sich  einzulassen.  Diese  mag  der  Leser  sich  selbst 
machen,  wenn  er  mit  Aufmerksamkeit  dem  Verfasser  in  seiner  an- 
ziehenden, durchweg  auf  die  urkundlichen  Quellen  gestützten  Dar- 
stellung folgt,  die  übrigens  nach  seiner  ausdrücklichen  Versiche- 
rung »nicht  als  eine  eigentliche  Fortsetzung«  der  österreichischen 
Geschichte  des  Verf.  wie  sie  allerdings  schon  längst  gewünscht 
wird,  sondern  »als  eine  fortsetzende  Ergänzung  derselben«  ange- 
sehen werden  soll.  Und  allerdings  enthält  sie  einen  werthvollen 
Beitrag  zn  der  Geschichte  des  Kaiserthums  Oesterreich,  das  ja  auch 
die  ungarischen  Völker  in  seinen  Rahmen  einschliesst.  Die  Epoche 
ungarischer  Geschichte,  welche  dieses  Buch  behandelt,  ist  eine  für 
die  Nation  ruhmvolle  and  bedeutsame  gewiss  «u  nennen.  »Sie  be- 


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556 


Schmidt:  Tableaux  de  la  revolution  Francaiße. 


ginnt  mit  dem  Friedensschlüsse,  durch  welchen  Ungarn  im  Jahr 
1058  sich  auf  dem  Fusse  stolzer  Gleichberechtigung  mit  der  da- 
maligen legalen  Obergewalt  romanisch-germanischer  Nationen,  dem 
deutschen  Königthume,  freundlich  verständigte.  Sie  endet  mit  der 
Gesetzgebung,  welche,  nach  einer  schweren  Niederlage  durch  die 
Russen,  Ungarn  sich  mit  dem  Beginne  des  zwölften  Jahrhunderts 
in  politischer  und  kirchlicher  Selbstherrlichkeit  gegeben  hat.  Sie 
zeigt  die  Anstrengungen  der  Nation,  die  von  allen  Seiten  mit  welt- 
lichen und  geistlichen  Waffen  bedrohte  Selbständigkeit  zu  wahren 
und  deren  glänzenden,  von  Reich serweiterungen  begleiteten  Erfolg. 
In  der  Znsammenfügung  der  Doppelkrone,  auf  deren  Besitz  sie 
noch  heute  so  stolz  ist,  gewinnt  ihre  ausdauernde  Bemühung,  wie 
ihr  Sieg  einen  bleibenden  Ausdruck  u.  s.  w.  —  »Ich  habe  ver- 
sucht, eine  energische  Erhebung  des  ungarischen  Volkes  aus  der 
dreifachen  Gefahr  äusserer  Abhängigkeit,  innerer  Parteiung  und 
socialer  Auflösung  zu  einem  Zustande  starker  Selbstständigkeit, 
voller  Einheit  und  eines  für  jenes  Zeitalter  unvergleichlich  wohl- 
geordneten Rechtslebens  zur  Anschauung  zu  bringen  u.  s.  w.«  Also 
spricht  sich  der  Verf.  selbst  über  sein  Unternehmen  aus,  das  in 
der  Weise  ausgeführt  ist,  dass  der  erste  Abschnitt  mit  König 
Bela  I.  beginnt,  ein  zweiter  dann  die  Ausgleichungsversuche  unter 
Salomon  darstellt,  dann  die  Regierung  des  Königs  Geisa  I.  und 
des  Königs  Ladislaus  I.  geschildert  wird.  Es  folgen  weitere  Er- 
örterungen über  die  Thronfolgeordnung  und  über  den  Ausgang  des 
kroatisch-dalmatischen  Reiches;  darauf  des  Königes  Koloman  Re- 
gierungsanfang und  die  neue  Legislation,  welche  S.  144  —  159  be- 
sprochen wird.  Zwei  Anhänge:  Zum  Marchfeldfrieden  von  1058  und 
Ueber  Koloman's  Namen  und  Herkunft,  bilden  den  Schluss  dieser 
Schrift,  die  auch  einer  vorzüglichen  äusseren  Ausstattung  sich  erfreut. 


Tableaux  de  la  revolution  Franqaise  publie*  sur  Iis  papiers  ineditn 
du  departemeni  et  de  la  police  secrele  de  Parin  par  Adolphe 
Schmidt,  professeur  d'hUioire  ä  Vumversiti  de  JSna.  Tome 
premier.  Leipzig,  Veit  et  Comp.  1867.  X//  und  3T9  S. 

Das  Werk,  dessen  erster  Theil  hier  vorliegt,  enthält  eine  Reihe 
von  Aktenstücken,  welche  auf  die  französische  Revolution  sich  be- 
ziehen und  bisher  noch  nicht  an  das  Tageslicht  gezogen  worden 
sind,  veröffentlicht  hier  (mit  nur  wenigen  Ausnahmen)  zum  ersten- 
mal nach  den  Abschriften,  welche  der  Herausgeber  vou  den  im 
kaiserlichen  Archiv  zu  Paris,  das  ihm  zum  Zweck  seiner  gelehrten 
Forschung  geöffnet  war,  befindlichen  Originalen  genommen  hatte. 
Der  Herausgeber  hat  sich  indessen  nicht  auf  die  nackte  Veröffent- 
lichung dieser  Dokumente  beschränkt,  sondern  auch  überall  die 
nöthigen  Erläuterungen  zum  richtigen  Verständniss  derselben  bei- 


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Kleiner t:  ßchiller'fl  religiöse  Bedeutung. 


657 


gefügt  und  den  Zusammenhang,  in  dem  sie  mit  den  Ereignissen 
selbst  stehen ,  genau  nachgewiesen.  Dass  diess  in  französischer 
Sprache  geschehen,  kann,  da  in  diesem  Werke  nur  französische  Ur- 
kunden veröffentlicht  werden,  deren  Inhalt  auch  zunächst  auf  Frank- 
reich und  die  französische  Revolution  sich  bezieht,  kaum  befrem- 
den, und  wird  der  Verbreitung  und  Benützung  des  Ganzen  nur 
förderlich  erscheinen.  Es  zerfällt  dieser  erste  Band,  dem  noch 
zwei  weitere  nachfolgen  sollen,  in  zwei  Abtheilungen,  von  welchen 
die  erste  lauter  Dokumente  enthält,  welche  auf  den  Sturz  des  König- 
tbums,  bis  auf  die  Hinrichtung  Ludwig's  XVI.  sich  beziehen;  die 
andere  dagegen  den  Sturz  der  Gironde  und  die  Erhebung  der  Berg- 
partei aus  einer  Reihe  von  Aktenstücken  des  Pariser  Stadtrathes 
und  der  geheimen  Polizei  uns  näher  und  im  Einzelnen  kennen 
lernen  lässt,  wobei  der  Herausgeber  es  nirgends  an  den  nöthigen 
Erläuterungen  hat  fehlen  lassen,  durch  welche  der  Inhalt  dieser 
Mittbeilungen,  und  ihre  Beziehung  zum  Ganzen  klar  gemacht  wird 
So  gewinnen  allerdings  die  in  dieser  zweiten  Abtheilung  mitge- 
teilten Aktenstücke  eine  besondere  Bedeutung,  weil  wir  daraus 
auch  zugleich  die  Organisation  und  das  Verhalten  der  geheimen 
Policei,  wie  sie  damals  eingerichtet  war,  nach  ihren  einzelnen  Per- 
sönlichkeiten ersehen ,  und  über  die  ganze  Einrichtung  ein  Urtheil 
zu  fällen  im  Stande  sind.  Man  wird  hiernach  in  diesen  Tableaux 
eine  wesentliche  Bereicherung  des  Materials  und  der  Quellen  zur 
Geschichte  der  französischen  Revolution  in  ihren  wichtigsten  Mo- 
menten zu  erkennen  haben. 


Schillert  religiöse  Bedeutung.  Ein  Vortrag  von  Lic.  Dr.  P.  Klei' 
nert.  Berlin.  Verlag  von  Wiegandt  und  Grieben.  1867.  46  S. 

Der  Unterzeichnete  hat  im  vorigen  Jahre  den  von  dem  ge- 
lehrten Herren  Verfasser  im  evangelischen  Verein  zu  Berlin  ge- 
haltenen Vortrag  über  Augustin  und  Göthe's  Faust  ange- 
zeigt. Faust  sollte  durch  jene  Parallele  eine  religiöse  Bedeutung 
gewinnen  und  zu  kirchlichen  Zwecken  benützt  werden,  was  in  dem 
WeBen  der  Faustdichtuug  nicht  zur  folgenrichtig  durchzuführenden 
Anwendung  vorliegt.  Denn  Faust  hat  so  wenig  etwas  von  Augustin, 
als  Göthe  etwas  von  einem  Augustinermönch. 

In  vorliegendem  Vortrage  soll  ebenfalls  für  den  evangelischen 
Verein  in  Berlin  Schiller's  religiöse  Bedeutung  hervorgehoben  werden. 
Die  Stelle,  von  welcher  der  Herr  Verf.  seinen  Vortrag  hält,  ist 
> religiösen  Zwecken  geweiht«  (S.  7).  Er  schickt  darum  seiner 
eigentlichen  Aufgabe  einige  geschichtliche  Bemerkungen  voraus,  um 
hervorzuheben,  wie  auch  die  christlichen  Lehrer  des  Alterthums, 
ein  Clemens  von  Alexandria,  Origenes,  Gregor  von  Nazianz,  Basi- 
lius, der  Grosse,  Augustin  und  selbst  der  mönchische  Hieronymus 


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568  Kleine  rt:  Schill  er'  s  religiöse  Bedeutung. 

den  Werth  der  klassischen  Bildung,  insbesondere  der  klassischen 
Philosophie  und  Dichtkunst  sehr  hoch  stellten. 

Die  Sprache  ist  schön  und  blühend,  die  Gedanken  sind  tref- 
fend entwickelt  und  zeigen  von  genauer  Kenntniss  der  Schiller'schen 
Poösie.  Doch  müssen  einem  ruhigen,  objectiven  Beobachter  die  Be- 
strebungen auffallen,  mit  welchen  der  Herr  Verf.  sich  zu  recht- 
fertigen sucht,  wenn  er  an  der  »religiösen  Zwecken  geweihten 
Stelle  c  von  der  Bedeutung  Schiller'*  spricht  und  kirchliche  Aucto- 
täten  anführen  muss,  um  »alle  Gewissen,  auch  die  ängstlichen,  für 
die  Meinung  zu  gewinnen,  dass  es  ein  gutes  und  im  besten  Sinne 
christliches  Werk  ist,  auch  unsere  grossen  deutschen  Klassiker  für 
die  christliche  Hausbibliothek,  sei  es  zu  erhalten,  sei  es  zu  er- 
obern und  ihr  Andenken  auch  in  der  Kirche  im  Segen  zu  erhalten.« 
Man  hat  es  also  hier  auch  wohl  mit  solchen  zu  tbun,  welche  es 
für  eine  ganze  oder  mindestens  halbe  Sünde  halten,  einen  deut- 
schen Klassiker  zu  lesen. 

lief,  stimmt  dem  Herren  Verf.  vollkommen  bei,  wenn  er  S.  7 
sagt:  »Der  Glaube  ist  im  Versiegen  und  Verdorren,  der  sich  scheu 
zurückzieht  von  Allem,  was  ihm  auf  den  ersten  Anblick  fremd  er- 
scheint.« Der  Herr  Verf.  will  sich  nicht  in  die  Beleuchtung  aller 
einzelnen  Vorwürfe  gegen  Schillers  Religiosität  einlassen.  Er  will 
die  religiöse  Bedeutung  desselben  aus  seinen  Werken  darthun.  Sie  ist 
eine  »den  Weg  weisende;  es  ist  der  Weg  der  Erziehung  zur 
Religion«  (S.  12).  Der  Weg  der  Erziehung  zur  Religion  ist  der 
Weg  in  der  Geschichte  der  Menschheit,  wie  in  der  Geschichte  des 
Einzelnen.  Diese  Richtung  der  Erziehung  ist  der  Begriff  des 
Sittengesetzes  und  der  sittlichen  Weltordnung,  von 
welchem  Schiller  ausgeht.  Er  ist  von  »keinem  deutsohen  Dichter 
60  ernst  und  gross  aufgefasst  worden,  als  von  ihm«  (S.  14).  Frau 
von  Stael  nannte  seine  Muse  das  Gewissen.  Nicht  nur  zeigt  sich 
dieses  in  seinen  dichterischen  Arbeiten,  er  ging  der  Macht  des  Ge- 
wissens auch  als  Geschieht  Schreiber  nach;  denn  er  schrieb 
Geschichte  vom  Standpunkte  der  sittlichen  Weltordnung  (S.  17). 
Auch  in  seinen  Schauspielen  und  ästhetischen  Arbeiten  zeigt  sich 
immer  dieser  sittliche  Ernst.  Mit  Recht  wird  gezeigt,  dass  der 
Dichter  eine  Fülle  göttlicher  Gestalten  des  Alterthums  in  seinen 
Gedichten  verwenden  und  doch  dabei  von  einem  religiösen  Sinn 
getragen  sein  kann.  S.  23  wird  das  schöne  Epigramm  Sohiller's 
an  Göthe  angeführt: 

Ist  das  Auge  gesund,  so  begegnet  es  aussen  dem  Schöpfer; 
Ist  es  das  Herz,  dann  gewiss  spiegelt  es  innen  die  Welt. 

Die  Gottheiten  des  Alterthums  sind  dem  Dichter  die  »künst- 
lerische Vervielfältigung  des  Einen,  der  Über  der  Welt  und  in  der 
Welt  ist  und  in  allem  Seienden  in  wandelnder  Wirkung  gefühlt  und 
gefunden  wird«  (ß.  2&). 


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Klelnert:  Schillers  religiöse  Bedeutung. 


659 


Der  Herr  Verfasser  findet  eine  Analogie  zwischen  den  beiden 
grösten  Dichtern  des  Mittelalters,  Wolfram  »von  Eschenbach  und 
Gottfried  von  Strassburg  einerseits  und  den  beiden  grösten  Dich- 
tern der  Neuzeit,  Schiller  und  Göthe,  andrerseits.  Diese  haben  die 
griechische  Mythologie,  jene  die  keltische  Sage  als  Stoff  verwendet. 
Die  Parallele  wird  S.  25  gezogen.  »Gottfried,  heisst  es  daselbst, 
verliert  sich  an  die  Sage  und  kommt  dadurch  zu  einer  vollendeten, 
in  sich  gesättigten  Gestaltung,  der  aber  der  keusche  und  ernste 
deutsche  Geist  abhanden  gekommen  ist.«  Mit  Gottfried  wird  nun 
Götho,  auf  welchen  das  Griechenthum  einen  ähnlichen  Eindruck 
machte,  und  mit  Wolfram,  >dem  Träger  der  tiefen  deutschen  Ge- 
danken von  Zweifel  und  Glauben«  Schiller  verglichen.  Die  Paral- 
lele lässt  sich  wohl  nioht  durchführen.  Denn  man  wird  eben  so 
wenig  sagen  können,  dass  in  Göthe  »vor  dem  griechischen  Geist« 
die  dentsche  Ader  zurücktrete«,  und  dass  »für  uns  seine  Schöpfungen 
um  so  fremder  werden,  je  in  sich  gesättigtor  und  gerundeter  sie 
sind.«  Gehört  denn  zum  Wesen  der  deutschen  klassischen  Dicht- 
kunst, »nicht  gesättigt  und  nicht  gerundet  zu  sein«,  und  kann  man 
diesen  Vorwurf  den  Schiller' schon  Dichtwerken  machen?  Ist  denn 
der  Redestrom  Gottfrieds  deshalb  deutsch,  weil  er  nioht  nur  krystall- 
hell  flios8t«  und  »glitzert«,  sondern  auch  »dunkel  und  labyrintisch« 
erscheint?  Kommt  man  durch  »das  Verlieren  an  eine  Sage«  zur 
»künstlerisch  vollendeten,  in  sich  gesättigten  Gestaltung«? 

Von  dem  sittlichen  Geiste  in  Schiller's  Dichtungen  wird  der 
Uebergang  zu  dessen  religiöser  Weltanschauung  gemacht,  indem  in 
ihm  »das  deutsche  Gemüth«  hervorgehoben  wird,  das  ihm  »zum 
Schmuck  und  zur  Hülle  des  tief  ernsten  religiösen  Gedankens  dient. « 
Er  weist  als  Beleg  für  Schiller's  religiöseu  Sinn  vorzugsweise  aut 
sein  Gedicht:  das  Ideal  und  das  Leben  hin  und  hebt  die  Stelle 
hervor : 

Nehmt  die  Gottheit  auf  in  Euren  Willen, 
Und  sie  steigt  von  ihrem  Weltenthron! 

Natürlich  hört  die  Nachweisung  von  selbst  auf,  wenn  man  ein 
specifisch-christliohes  Bekenntniss  oder  einen  christlichen  Dogma- 
tismus in  Schiller  finden  wollte.  Das  aber  will  natürlich  der  Herr 
Verf.  von  einem  Dichter,  wenn  er  ganz  ist,  wie  er  nach  seinem 
Vorbilde  Bein  Boll.  Er  sagt  S.  84:  »Schiller  hat  die  Gedanken 
des  Reiches  (Gottes),  aber  er  führt  nur  bis  zum  Thor  und  zeigt 
die  lichten  Gestalten,  die  drinnen  sind;  dieThüre  öffnet  er  nicht.« 
Wenn  unter  diesen  lichten  Gestalten  die  Dogmen  der  Erbsünde, 
der  Erlösung  und  Gnade  verstanden  werden,  so  werden  sie  uns 
wohl  schwerlich  durch  Schiller  gezeigt;  das  Thor  ist  nicht  offen, 
soudern  geschlossen.  Es  gehört  eine  specifisch-religiöse  Phantasie 
dazu,  in  der  Braut  von  Messina  »das  sühnende  Kreuz  aus  der  Erde 
sich  erheben«  zu  sehen,  auf  dem  »die  Rechtfertigung  aus 
Gnaden  eingegraben  ist.«  Als  »Signatur«  seiner  schriftstellerischen 


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680  Kobcll:  Zur  Berechnung  der  Krystallformen. 


Thätigkeit  wird  »nicht  die  christliche  Religion«,  sondern  »der  Weg 
bis  zu  ihr«  bezeichnet.  Er  »bleibt  an  der  Schwelle  stehen.«  Wie 
erhaben  müssen  sich  hier  specifisch  fromme  Seelen  fühlen;  sie 
stellen  sich  über  Schiller,  weil  sie  über  der  Schwelle  sind,  sie  sind 
im  Heiligthum,  zu  welchem  Schiller  uns  den  Weg  gewiesen  hat. 
Man  vergisst  bei  solchem  Vorwurfe  die  schönen  Worte  des  Dichters  : 

Welche  Religion  ich  bekenne?  Keine  von  allen 

Die  du  mir  nennst!  Und  warum  keine?  Aus  Religion. 

v.  Reichlin-Meldegg. 


Zur  Berechnung  der  Kr y stall formen.    Von  Franz  von  Kobell. 
München.  Joseph  Lindauer'sche  Buchhandlung.  1H67.  8.  8.  54. 

Im  Anschluss  an  frühere  Arbeiten  hat  der  Verfasser  hier  die 
Berechnung  der  Krystallformen  vermittelst  der  sphärischen  Trigo- 
nometrie weiter  ausgeführt  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Be- 
rechnung der  Zeichen  Naumanns. 

Die  Anwendung  der  sphärischen  Trigonometrie  —  so  bemerkt 
von  Kobell  —  hat  schon  vor  anderen  Methoden  darin  einen 
Vorzug,  dass  sie  die  Basis  der  Rechnung  jederzeit  darlegt:  denn 
diese  Basis  ist  wesentlich  das  sphärische  Dreieck.  Wenn  solches 
an  der  zu  berechnenden  Gestalt  zweckmässig  golegt  ist  und  man 
seine  Seiten  und  Winkel  richtig  deutet ,  daun  ist  die  Rechnung 
mit  den  bekannten  Formeln  klar  vorgezeichnet  und  gewöhnlich  ohne 
Schwierigkeiten  auszuführen.  Es  ist  dies  besonders  der  Fall,  weil 
man  öfter  mit  rechtwinkligen  sphärischen  Dreiecken  zu  thun  hat, 
wie  mit  schiefwinkligen  und  eine  Berücksichtigung  der  Haupt- 
schnitte an  den  Krystallformen  hiobei  wesentliche  Vortheile  gewährt. 

Das  vortreffliche  Werk  N.  v.  Kokscharows  »Materialion  zur 
Mineralogie  Russlands«,  welches  mit  Auwendung  der  Naumann'schen 
Bezeichnung  und  Ableitung  die  erforderlichen  Winkel  für  die  ver- 
schiedensten Fälle  mit  grosser  Genauigkeit  angibt,  wird  von  Fr. 
v.  Kobell  allen  Denen  empfohlen,  welche  sich  mit  Berechnungen 
von  Krystallformen  beschäftigen  wollen. 

O.  Leonhard. 


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Kr.  38.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Immanuel  KanVs  sämmtliche  Werke.  In  chronologischer  Reihenfolge 
herausgegeben  von  G.  H artenstein.  Zweiter  Band.  Leipzig, 
Leopold  Voss.  1867.  XI  u.  464  S.  Vierter  Band  XU  u.  507  8. 
gr,  8. 

Der  Unterzeichnete  hat  in  Nr.  32  de9  gegenwärtigen  Jahr- 
ganges den  ersten  Band  der  höchst  verdienstvollen  neuen  Ausgabe 
der  Kant'schen  sämmtlichen  Werke  durch  den  geistvollen  und 
gründlich  gelehrten  Philosophen,  G.Hartenstein,  angezeigt.  Das 
Bedürfniss  und  die  Bedeutung  dieser  Ausgabe  wurden  in  der  An- 
zeige des  ersten  Bandes  besprochen  und  Refer.  beschränkt  sich 
daher  darauf,  die  Reichhaltigkeit  und  die  genaue,  dem  ursprüng- 
lichen trefflichen  Plane  in  Allem  vollkommen  angemessene  Anord- 
nung des  Inhaltes  der  beiden  vorliegenden  Bände  in  gegenwärtiger 
Anzeige  anzudeuten. 

Während  der  erste  Band  Kant's  naturwissenschaftliche  und 
mathematische  Schriften  aus  der  Zeit  9einer  ersten  schriftstelleri- 
schen Entwicklung  vom  Jahre  1747  bis  1756  enthält,  umfasst  der 
zweite  Band  die  ziemlich  lange  Reihe  von  Abhandlungen  und 
kleineren  Schriften,  welche  zwischen  das  Jahr  1757  und  die  erste 
Ausgabe  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  (1781)  fallen.  Es  sind  in 
chronologischer  Ordnung  folgende  19  Schriften  und  Abhandlungen 
in  demselben  enthalten :  1)  Entwurf  und  Ankündigung  eines  Ool- 
legii  der  physischen  Geographie,  nebst  dem  Anhange  einer  kurzen 
Betrachtung  über  die  Frage:  ob  die  Westwinde  in  unseren  Gegen- 
den darum  feucht  seien,  weil  sie  über  ein  grosses  Meer  streichen, 
1  757 ;  2)  neuer  Lehrbegriff  der  Bewegung  und  Ruhe  und  der  da- 
mit verknüpften  Folgerungen  in  den  ersten  Gründen  der  Natur- 
wissenschaft, 1758;  3)  an  Fräulein  Charlotte  von  Knobloch  über 
Swedenborg,  1758;  4)  Versuch  einiger  Betrachtungen  über  den 
Optimismus,  1759;  5)  Gedanken  bei  dem  frühzeitigen  Ableben  de9 
Herren  Joh.  Friedr.  von  Funk  in  einem  Sendschreiben  an  die  Frau 
Agnes  Elise  verwittw.  Frau  Rittmeisterin  von  Funk,  1760;  6)  die 
falsche  Spitzfindigkeit  der  vier  syllogistischen  Figuren,  1762;  7) 
Versuch,  den  Begriff  der  negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit  ein- 
zuführen, 1763;  8)  der  einzig  mögliche  Beweisgrund  zu  einer  De- 
monstration für  das  Dasein  Gottes,  1763;  9)  über  den  Abenteurer 
Jan  Pawlikowicz  ZdomozyrRkich  Komarnicki,  1764;  10)  Versuch 
über  die  Krankheiten  des  Kopfes,  1764;  11)  Beobachtungen  über 
das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen,  1764;  12)  Untersuchung 
über  die  Deutlichkeit  der  Grundsätze  der  natürlichen  Theologie  und 
LIX.  Jahrg.  8.  Heft.  86 


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Kant's  Werte  von  Hartenstein. 


der  Moral.  Zur  Beantwortung  der  Frage,  welche  die  königliche 
Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  auf  das  Jahr  1763  aufge- 
geben hat,  1764;  18)  Nachricht  von  der  Einrichtung  seiner  Vor- 
lesungen in  dem  Winterhalbjahre  von  1765  — 1766,  1765;  14) 
Träume  eines  Geistersehers,  erläutert  durch  Träume  der  Metaphy- 
sik, 1766;  15)  von  dem  ersten  Grunde  des  Unterschiedes  der  Ge- 
genden im  Baume,  1768;  16)  de  mundi  sensibilis  et  intelligibilis 
forma  atque  prineipiis,  1770;  17)  Recensionen  der  Schrift  von  Mos- 
cati  über  den  Unterschied  der  Structur  der  Menschen  und  Thiere, 
1771;  18)  von  den  verschiedenen  Racen  der  Menschen,  1775;  19) 
(Druckfehler  XIV)  das  Basedow'sche  Philanthropin  betreffende  Re- 
censionen und  Aufsätze,  1776 — 1778. 

Der  Herr  Herausgeber  konnte  von  Nr.  1  der  hier  aufgezähl- 
ten Abhandlungen  kein  Exemplar  des  Originaldruckes  auftreiben. 
Die  Angabe  des  Jahres  gründet  sich  auf  eine  Bemerkung  in  der 
Darstellung  des  Lebens  Kant's  von  Borowski.  Sie  findet  sich  ein- 
zig in  Nicolovius'  Sammlung  der  kleineren  Schriften  Kant's.  Das 
Jahr  1757  ist  auch  nach  Borowski  das  Jahr,  »seitdem  Kant  mit 
nie  sinkendem  Beifall  die  Vorlesung  Über  physische  Geographie  ge- 
halten hat.«  Darauf  deutet  auch  die  Aufschrift  der  Abhandlung: 
Entwurf  und  Ankündigung.  So  sagt  er  auch  am  Schlüsse 
Seiner  Abhandlung  vom  neuen  Lehrbegriff  der  Bewegung 
und  Ruhe:  »Ich  habe  in  dem  verwichenen  halben  Jahre  (Winter 
1757 — 1758)  die  physische  Geographie  nach  meinen  eigenen  Auf- 
sätzen vorgelesen.«  Auch  weist  er  in  seiner  Nachricht  von  der 
Einrichtung  seiner  Vorlesungen  im  Winter  1765  —  1766, 
in  welchem  er  wieder  Vorträge  über  physische  Geographie  ankün- 
digt, darauf  hin,  dass  er  »gleich  zu  Anfang  seiner  akademischen 
Unterweisung c  auf  diese  Wissenschaft  aufmerksam  gemacht,  und 
bezeichnet  zugleich  die  Veränderungen,  die  er  »jetzt«  in  ihrem  Vor- 
trage vorgenommen  habe.  Mit  Unrecht  ist  daher  in  der  Ausgabe 
der  Werke  Kant's  von  Rosenkranz  und  Schubert  im  Specialtitel 
der  Abhandlung  und  im  Gesammtverzeichniss  der  Schriften  Kant's 
für  den  »Entwurf  und  Ankündigung  des  Collegii  der  physischen 
Geographiec  das  Jahr  1765  anstatt  des  Jahres  1757  angegeben. 

Nr.  2  erschien  zu  Königsberg  bei  Driest  1758.  8  Seiten  in  4to 
im  Drucke.  Es  ist  ein  Programm  zur  Ankündigung  der  Vorlesun- 
gen Kant's  im  Sommerhalbjahre  1758.  In  den  bisherigen  Aus- 
gaben fehlt  die  am  Schlüsse  folgende  Ankündigung  der  Vorlesungen 
selbst.  Sie  ist  in  diese  Ausgabe  zur  Vervollständigung  aufgenom- 
men worden.  Das  Original  ist  »sehr  nachlässig«  gedruckt.  Die 
Sprach-  und  Scbroibfehler  wurden  an  den  betreffenden  Stellen  ver- 
bessert. 

Nr.  3.  Schreiben  an  Fränlein  Charlotte  vonKnob- 
loch  über  Swedenborg,  zuerst  von  Borowski  mit  dem  in  der 
gegenwärtigen  Sammlung  gebrauchten  Titel  bekannt  gemacht,  bat 
dem  Inhalte  nach  mit  den  Träumen  eines  Geistersehers, 


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Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


erläutert  durchTräume  de r  Metaphysik,  einen  verwand- 
ten Inhalt,  und  da  die  Briefform  nur  eine  ausserwesentliche  Ein- 
kleidung ist,  wnrde  die  Schrift  sehr  passend  hier,  wohin  sie  dem 
Inhalte  und  der  Zeitfolge  nach  gehört,  aufgenommen  und  aus  der 
Briefsammlung  entfernt. 

Auch  für  Nr.  5  stand  dem  Herrn  Herausgeber  das  Original 
(gedr.  Königsberg,  bei  Driest,  1760.  8.  S.  4)  nicht  zu  Gebote.  Die 
Schrift  Hndet  sioh  nur  in  den  Sammlungen  der  kleineren  Schriften 
Kaufs  von  Eink  und  Nicolovius. 

Nr.  6  erschien  in  Königsberg  bei  Joh.  Jac.  Kanter,  1762 
(33  8.  8).  Ein  Nachdruck  wurde  zu  Frankfurt  und  Leipzig  1797 
ausgegeben. 

Von  Nr.  8  (einzig  möglicher  Beweisgrund  zu  einor 
Demonstration  des  Daseins  Gottes)  ist  die  erste  Ausgabe 
in  Königsberg  bei  Joh.  Jac.  Kanter  1763  (XIV  S.  Vorrede  und 
205  S.  8.)  erschienen.  Vor  der  Aufnahme  in  die  kleinern  Schriften 
wurden  noch  zwei  Ausgaben  dieses  Buches  veranstaltet,  zuerst  1770, 
in  welcher  Ausgabe  in  dem  von  dem  Herren  Herausgeber  ver- 
glichenen Exemplar  die  Vorrede  fohlt.  Diese  Ausgabe  hat  den 
einfacheren  Titel :  Der  einzige  mögliche  Beweis  vom  Da- 
sein Gottes.  Eine  zweite,  beziehungsweise  dritte  Ausgabe  er- 
schien 1794  unter  der  ursprünglichen  Aufschrift.  Die  Angabe  des 
Jahres  der  Originalausgabe  1783  statt  1763  ist  falsch.  Noch  ist 
ein  Nachdruck  als  ^neue  Auflage«,  Leipzig  1794,Nza  nennen.  Die 
Auflagen  siud  sich  gleich  und  sind  sogar  in  Druckfehlern  mit  der 
ersten  sehr  nachlassig  gedruckten  gleichlautend. 

Der  Aufsatz  Nr.  9  (über  Zdomozyrskioh,  nicht  Idomo- 
zyrskich,  wie  in  den  beiden  Abdrücken  sieht)  erschien  in  den 
Königsberger  gelehrten  und  politischen  Zeitungen 
1764,  Nr.  3  und  wurde  zuerst  von  Borowski  wiederaufgenommen. 
In  dieser  Sammlung  ist  er  als  Ankündigung  der  zunächst  folgen- 
den Abhandlung  Nr.  10,  Versuch  über  die  Krankheiten 
des  Kopfes,  eingereiht.  Vorausgedruckt  ist  dem  Urthoile  Kaufs 
über  den  Ziegenpropheten  Zdomozyrskich  ein  Auszug  aus  einem 
Aufsatze  Hamanns  in  dessen  Schriften,  herausgegeben  von  Roth, 
Bd.  III,  S.  236—241,  welcher  den  Leser  über  den  Gegenstand 
orientirt.  Daran  reiht  sich  die  genannte  benrtheilende  Anzeige 
Kaufs  aus  den  Königsberger  gelehrten  und  politischen  Zeitungen. 

In  dieser  genannten  Zeitschrift  erschienen  auch  unmittelbar 
darauf  im  Jahrgang  1764,  St  4—8  Nr.  10,  der  Versuch  Uber  die 
Krankheiten  des  Kopfes,  und  später  noch  andere  Beiträge 
von  Kant  ohne  Nennung  seines  Namens. 

Nr.  XI,  die  Beobachtungen  über  das  Gefühl  des 
Schönen  und  Erhabenen,  erschien  zuerst  Königsberg  bei  J. 
J.  Kanter,  1764,  110  S.  8;  dann  im  gleichen  Verlage  1766  und 
1771  bei  J.  F.  Hartknoch  in  Riga.  Die  beiden  letzten  Abdrücke 
unterscheiden  sich  von  dem  ersten  nur  durch  sinnstöreude  Druck- 


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664 


Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


fehler,  welche  nach  der  ersten  Ausgabe  mit  kleinen  Aendernngen 
verbessert  wurden. 

Nr.  12,  die  Untersuchung  über  die  Deutlichkeit  der 
Grundsätze  der  natürlichen  Theologie  und  der  Moral, 
wurde  zuerst  ohne  Nennung  des  Verfassers  als  Anhang  zu  Moses 
Mendelssohns  »Abhandlung  über  die  Evidenz  in  metaphysischen 
Wissenschaften,  welche  den  von  der  königlichen  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Berlin  auf  das  Jahr  1763  ausgesetzten  Preis 
erhalten  hat>,  abgedruckt. 

Dazu  kam  noch  (Berlin,  1764)  der  Beisatz:  »Nebst  noch 
einer  Abhandlung  über  dieselbe  Matche,  welche  die  Akademie 
nächst  der  ersten  fUr  die  beste  gehalten  hat.«  Diese  Abhandlung 
ist  die  hier  (S.  281—311)  gegebene. 

Nr  13  wurde  in  keinem  Exemplare  des  ursprünglichen  Druckes 
aufgebracht.  Der  Text  blieb  unverändert  nach  dem  Abdrucke  in 
der  Sammlung  der  kleinen  Schriften  Kant's  von  Rink  und  Nico- 
lovius.  Nr.  14  (die  Träume  eines  Geistersehers)  erschien 
anonym  in  Königsberg  bei  J.  J.  Kanter  1766,  128  S.  kl.  8;  auch 
steht  in  andern  Exemplaren  mit  demselben  Jahre  und  den  gleichen 
Seiten;  Eiga  bei  J.  F.  Hartknoch.  Eine  weitere  Ausgabe  dieser 
Schrift  ist  nicht  bekannt. 

Die  Abhandlung  Nr.  15  (von  dem  ersten  Grunde  des 
Unterschiedes  der  Gegenden  im  Baume)  ist  aus  den 
Königsberger  Frage-  und  Anzeigenachrichten,  1768,  St.  6 — 8  ab- 
gedruckt. 

Die  Abhandlung  Nr.  16  (de  mundi  sensibilis  atque  intelligi- 
bilis  forma  et  prineipiis)  ist  nach  dem  Originalabdrucke  (Regio- 
monti,  typ.  G.  L.  Hartungb,  1770,  38  S.  4.)  in  manchen  Einzeln- 
heiten berichtigt.  Mit  dieser,  eine  neue  Richtung  in  der  philoso- 
phischen Weltanschauung  andeutenden  Schrift  trat  Kant  die  ihm 
übertragene  Professur  der  Logik  und  Metaphysik  an.  Als  Tag  der 
Antrittsdisputation  ist  auf  dem  Titel  nicht  der  20.,  sondern  der 
21.  August  1770  angegeben.  Sodann  ist  die  in  den  bisherigen 
Abdrücken  fehlende  Zueignung  an  Friedrich  den  Grossen,  wie  im 
Originale,  auf  der  Rückseite  des  Specialtitels  hinzugefügt.  Die 
Widmung  lautet:  Augustissimo  Serenissimo  atque  Potentissimo 
Principi  ac  Domino  Domino  Friderico  Regi  Prussorum,  Marchioni 
Brandenburgico,  S.  R.  J.  Archicamerario  et  Electori,  Supremo  Sile- 
siae  Duci  etc.  etc.  Patri  Patriae  Clementissimo  Regi  ac  Domino 
suo  Indulgentissimo  has  demandati  sibi  muneris  primitias  devota 
mente  offert  subjectissimus  Immanuel  Kant  (S.  394).  Auch  einige 
andere  kleinere  Aenderungen  sind  aus  dem  Originale  hinzugekommen. 

Nr.  17  ist  eine  Recension  der  Beckmann'schen  Ueber- 
setzung  der  Schrift  vonMoscati  über  den  Unterschied 
der  Structur  der  Thiere  und  Menschen.  Für  ihre  Echtheit 
spricht  das  Zeugniss  von  Kant's  violjährigem  Freunde  und  Colla- 
gen, Christ.  Jac.  Kraus.    Sie  ist  den  Königsberger  gelehrten  und 


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Kant'e  Werke  von  Hartenstein. 


665 


politischen  Zeitungen  1771,  St.  67  entnommen,  und  in  Rudolph 
Reick e' s  Kantiana,  Beiträge  zu  J.  Kant's  Leben  und  Schriften, 
Königsberg,  1860  wieder  abgedruckt. 

Nr.  18  (Abhandlung  von  den  verschiedenen  Racen  der 
Menschen)  wurde  von  Kant  zur  Ankündigung  der  Vorlesungen 
über  physische  Geographie  im  Sommerhalbjahre  1775  geschrieben 
und  erschien  in  diesem  Jahre  zu  Königsberg  bei  Gr.  L.  Härtung, 
12  S.  4.  im  Drucke.  Später  wurde  dieselbe  Schrift  in  J.  J.  Engels 
»Philosoph  für  die  Welte  (Leipzig,  1777)  im  Bd.  II,  S.  125  — 164 
abgedruckt.  Diese  Bearbeitung  ist  im  Vergleiche  zur  ersten  Ausgabe 
verändert  und  besonders  am  Schlüsse  erweitert.  Der  Abdruck  in 
der  neuen  G.  Hartenstein'schen  Ausgabe  ist  nach  dem  Texte  bei 
J.  J.  Engel  mit  Angabe  der  Abweichungen  vom  Texte  der  ersten 
Ausgabe  veranstaltet. 

Unter  Nr.  19  schliessen  drei  Aufsätze  über  das  Basedow'sche 
Philanthropin  aus  den  Jahren  1776—1778  den  zweiten  Band. 
Der  zweite  dieser  Aufsätze  ist  »unzweifelhaft  echte  und  hat  die 
Ueberschrift  »an  das  gemeine  Wesen«  (S.  457).  Ursprünglich  stand 
er,  mit  K.  unterzeichnet,  im  25.  Stück  des  Jahrgangs  1777  der 
Königsberger  gelehrten  und  politischen  Zeitungen ;  bald  darauf  auch 
in  den  von  Basedow  und  Campe  herausgegebenen  »pädagogischen 
Unterhaltungen«  (Dessau,  1777,  St.  3)  unter  Kant's  Namen.  Er 
fehlt  in  der  ältern  Hartenstein'schen  und  Rosenkranz-Schubert'schen 
Ausgabe  von  Kant's  sämmtlichen  Schriften.  Karl  von  Raumer  hat 
in  seiner  »Geschichte  der  Pädagogik  seit  dem  Wiederaufblühen  der 
klassischen  Studien«  (Stuttgart,  1843)  Tbl.  II,  S.  259  auf  diesen 
Aufsatz  zuerst  wieder  hingewiesen  und  ihn  durch  den  Druck  mit- 
getbeilt.  Diplomatisch  genauer  und  vollständiger  ist  der  Abdruck 
in  Reicke's  Kantiana  S.  72.  Zwei  andere  Aufsätze  über  denselben 
Gegenstand  aus  den  Königsberger  gelehrten  und  politischen  Zei- 
tungen, 1776,  St.  26  und  1778.  St.  68  (Beilage)  sind  ebenfalls 
in  Reicke's  Kantiana  aufgenommen  und  werden  als  »unzweifelhaft 
echte  Beiträge  zu  Kant's  Schriften«  bezeichnet.  Unser  Herr  Heraus- 
geber überläast  die  Entscheidung  über  die  Echtheit  des  ersten 
Aufsatzes  dem  subjectiven  Gefühl  des  Einzelnen,  spricht  sich  aber 
entschieden  gegen  die  Echtheit  des  zweiten  aus.  Der  Aufsatz  ist 
»zu  redselig«  und  wird  am  Schlüsse,  um  Kantisch  zu  sein,  »viel 
zu  theatralisch.«  Auch  war  Kant  nach  einem  Briefe  an  den  Hof- 
prediger Wilh.  Crichton ,  den  damaligen  Redacteur  der  Königs- 
berger Zeitung,  vom  29.  Juli  1778  dem  Basedow'schen  Institute 
nur  »sehr  bedingungsweise  geneigt.«  Ermuntert  in  seinem  Schrei- 
ben Crichton  auf,  für  das  Institut  zu  schreiben,  und  der  Herr 
Herausgeber  vermuthet,  dass  der  mehr  als  3  Wochen  nach  diesem 
Schreiben  erschienene  beredte  Aufsatz  der  Königsberger  Zeitung 
Crichton  zum  Verfasser  habe. 

Der  vierte  Band  enthält  die  der  Zeitfolge  nach  zwischen  die 
Kritik  der  reinen  Vernunft  (1781)  und  zwischen  die  Kritik  der 


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5Gfi 


Kant's  Werlte  von  Hartenstein. 


praktischen  Vernunft  (1788)  fallenden  Schriften  und  Abhandlungen. 
Er  umfasst  im  Ganzen  16  Nummern,  welche  sich  in  chronologischer 
Ordnung  also  folgen:  1)  Prolegomena  '/u  einer  jeden  künftigen 
Metaphysik,  die  als  Wissenschaft  wird  auftreten  könuen  (1783); 

2)  Recension  von  Schulz's  Versuch  einer  Anleitung  zur  Sittenlehre 
für  alle  Menschen  ohne  Unterschied  ihrer  Religion,  Thl.  I  (1788)  ; 

3)  Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbttrgerlicher  Ab- 
sicht (1784);  4)  Beantwortung  der  Frage:  Was  ist  Aufklärung? 
(1784);  5)  Recensionen  von  J.  G.  Herder's  Ideen  zur  Philosophie 
der  Geschichte  der  Menschheit,  Thl.  1.  2.  (1785);  6)  über  die 
Vulcane  im  Monde  (1785);  7)  von  der  Unrechtniässigkeit  des 
Büchernachdrucks  (1785);  8)  Bestimmung  des  Begriffs  einer  Men- 
schenrace  (1 785) ;  9)  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  (1785) ; 
10)  mutmasslicher  Anfang  der  Menschengeschichte  (1786);  11) 
Recension  von  Gottl.  Hufeland's  Versuch  über  den  Grundsatz  dos 
Naturrechts  (1786);  12)  was  heisst  sich  im  Denken  orientiren? 
(1786);  13)  metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft 
(1786);  14)  Bemerkungen  zu  Ludwig  Heinrich  Jakob's  Prüfung  der 
Mendelssohn'schen  Morgenstunden  (1786);  15)  über  deu  Gebrauch 
teleologischer  Principien  in  der  Philosophie  (1788);  16)  sieben 
kleine  Aufsätze  aus  den  Jahren  1788—1791. 

Aussor  einem  Nachdrucke  (Frankf.  u.  Leipz.  1791)  existirt  in 
besonderm  Abdrucke  von  Nr.  1  nur  die  erste  Originalausgabe  (Riga 
bei  J.  Fr.  Hartknoch,  1783,  222  8.  8).  Doch  muss  im  gleichen 
Jahre  von  der  ersten  Ausgabe  der  Prolegomena  zu  jeder 
künftigen  Metaphysik»  rücksichtlich  des  Formats,  der  Lettern, 
überhaupt  der  ganzen  Einrichtung  des  Drucks  ein  ganz  gleicher« 
zweiter  Abdruck  veranstaltet  worden  sein  ;  deun  die  Lesearten  sind 
in  zwei  von  dem  Herren  Herausgeber  verglichenen  Exemplaren  ver- 
schieden. Nr.  2,  die  Recension  über  Schulz'  Sittenlehre, 
schrieb  Kant  für  das  »raisonnirende  Bücherverzeicbniss« ,  Königs- 
berg, Härtung,  1783  (Nr.  7,  S.  93).  Die  Schrift  ist  in  Borowski's 
Leben  Kant's  und  in  der  Sammlung  der  kleineren  Kant'schen 
Schriften  von  Nicolovius  abgedruckt.  Nr.  3  u.  4  erschienen  in  der 
Berliner  Monatsschrift  1784  und  zwar  die  erste  (Idee  zu  einer 
allgemeinen  Geschichte)  im  November,  (S.  386 — 410),  die 
zwoite  (über  die  Aufklärung)  im  Dezember  (S.  481 — 495). 
Nr.  5  (Recensionen  von  Herders  Ideen)  erschien  in  der 
Jenaischen  allgemeinen  Literaturzeitung  1785  (Bd.  I,  S.  17  ff. 
Bd.  IV,  S.  153  ff.)  »Die  Erinnerungen  dos  Recensenten«  gegen  Her- 
der's Vertheidignng  finden  sich  als  Anhang  zum  Märzmonat  der 
Jenaischen  allgemeinen  Literaturzeitnng  vom  Jahre  1785  auf  dem 
letzten  Blatte  des  betreffendca  Bandes.  Der  Aufsatz  Nr.  6  (über 
die  Vulcane  im  Monde)  ist  aus  der  Berliner  Monatsschrift, 
1785,  März,  S.  199-213).  Nr.  7  und  8  (über  Btichernach- 
druck  un<l  über  den  Begriff  der  Menschenracen)  stehen  in 
der  gleichen  Zeitschrift,  1785,  Mai,  S.  403-417  und  November 


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Kant'e  Werke  von  Hartenstein. 


567 


S.  390—418.  Von  Nr.  9  (Grundlegung  zur  Metaphysik  der 
Sitten)  existireu  vier  besondere  Ausgaben.  Die  erste  erschien  zu 
Eiga  bei  Hartknoch  (XVI  S.  Vorrede,  123  S.  8.),  die  zweite  1786. 
Die  zweite  ist  von  Kant  selbst  durchgesehen  und  wird  in  gegen- 
wärtiger Ausgabe  als  Text  zu  Grunde  gelegt.  Die  dritte  und  vierte 
Ausgabe  sind  blosse  Abdrücke  der  zweiten.  Nr.  10  (über  den 
Anfang  der  Menschengeschichte)  ist  aus  der  Berliner  Mo- 
natsschrift, 1786,  Januar,  S.  1—28;  Nr.  11  (die  Recension 
über  G.  Hufeland's  Naturrecht)  aus  der  Jenaischen  allge- 
meinen Literaturzeitung,  Bd.  II,  S.  113;  Nr.  12  (über  das  sich 
Orientiren  im  Denken)  aus  der  Berliner  Monatsschrift,  1786, 
October,  S.  304  —  330.  Von  Nr.  13  (metaphysische  An- 
fangsgründe der  Naturwissenschaft)  erschienen  ausser  einem 
Nachdrucke  (Frankf.  u.  Leipzig,  1794)  bei  Kaufs  Leben  drei  Aus- 
gaben, die  erste  1786  (Riga  bei  J.  F.  Hartknoch,  XXIV  u.  158  S. 
gr.  8.),  die  zweite  1787,  die  dritte  1800.  Nr.  14  (über  L.  H. 
Jakobs'  Prüfung  der  Mendelssohn'schen  Morgenstun« 
den)  steht  im  Jakobs' sehen  Buche  selbst,  nach  der  Vorrede  des- 
selben S.  XLIX — LX.  Jakobs  theilte  in  einem  Briefe  Kant  den 
Entschluss  der  Prüfung  der  Mendelssohn'schen  Morgenstunden  mit 
und  erwähnte  in  demselben  die  Stelle  S.  116  in  den  Morgenstun- 
den. Kant  versprach  ihm  eine  Berichtigung  dieser  Stelle.  Den  Auf- 
satz, der  aus  dieser  Berichtigung  entstand,  schickte  Kant  an  Jakobs, 
der  ihn  in  seine  Prüfung  aufnahm.  S.  464  wird  diese  Veranlassung 
mitgetheilt.  Nr.  15  (über  den  Gebrauch  teleologischer 
Principien  in  der  Philosophie)  erschien  durch  Karl  Leon- 
hard Reinhold'3  Vermittlung  in  dem  von  Wieland  herausgegebenen 
deutschen  Merkur,  1788,  Januar,  S.  36—52.  Zum  Schlüsse  wur- 
den 7  kleinere  Aufsätze  aus  den  Jahren  1788—1791  in  den  vier- 
ten Band  aufgenommen.  F.  W.  Schubert  machte  sie  in  der  von 
ihm  und  Rosenkranz  veranstalteten  Ausgabe  von  Kant's  sämmt- 
lichen  Werken  (Bd.  XI,  Abth.  1,  S.  261-272)  zuerst  bekannt. 
Die  sieben  Aufsätze  sind:  1)  Beantwortung  der  Frage:  Ist  es  eine 
Erfahrung,  dass  wir  denken?  2)  über  Wunder;  3)  Widerlegung  des 
problematischen  Idealismus ;  4)  über  partieuläre  Providenz;  5)  vom 
Gebet;  6)  über  das  Moment  der  Geschwindigkeit  im  Anfangsaugenf- 
blicke des  Falls ;  7)  über  formale  und  materiale  Bedeutung  einiger 
Wörter.  Zweimal  hielt  sich  Professor  Kiesewetter  bei  Kant  in 
Königsberg  im  Jahr  1788  —  1789  und  1791  auf.  Aus  Gesprächen, 
welche  Kant  mit  jenem  hielt,  entstanden  diese  kleinen  Aufsätze, 
welche  Kiesewetter  von  Kant  erhielt  und  handschriftlich  nach 
chronologischer  Reihenfolge  1808  bezeichnete.  Die  Mittbeilung  der- 
selben verdankte  Schubert,  ihr  erster  Herausgebor,  der  Vermitt- 
lung des  Varnhagen  von  Ense.  Diese  Veranlassung,  welche  von 
Schubert  in  der  Rosenkranz-Schubert' sehen  Ausgabe  der  Kant1  sehen 
Schriften  a.  a.  O.  erzählt  wird,  wird  auch  in  der  neuen  G.  Harten- 
atein'schen  Ausgabe  als  Einleitung  zu  den  Aufsätzen  mitgetheilt 


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503 


Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


Unter  sorgfältigster  Vergleiehung  der  verschiedenen  Ausgaben  wur- 
den bei  allen  einzelnen  Schriften  der  beiden  vorliegenden  Bünde 
theils  sprachliche  offonbare  Unrichtigkeiten,  theils  Druckfehler  in 
den  theilweise  sehr  nachlassigen  Einzelausgaben  der  Kant'schen 
Schriften  von  dem  gelehrten  Herren  Herausgeber  verbessert 

Nicht  aufgenommen  Wirde  die  von  Borowski  unter  dem  Jahre 
1784  erwähnte  und  auch  von  Sam.  Gottl.  Wald  in  seinem  zweiten 
Beitrag  zur  Biographie  Kant's  (Einladungsschrift  zur  Gedächtniss- 
rede auf  den  Obertribunalrath  Schimmelpfennig,  Königsberg  1804) 
als  eine  1784  selbstständig  in  4.  erschienene  Schrift  bezeichnete 
Abhandlung:  >Betrach  tun  gen  über  das  Fundament  der 
Kräfte  und  die  Methoden,  welche  die  Vernunft  anwen- 
den kann,  sie  zu  beurtheilen.«  Nach  einem  Briefe  Kant's  an 
Christ.  Gottfr.  Schütz  vom  13.  September  1783  ist  der  Gebeime- 
rath  von  Elditten  ihr  Verfasser. 

Was  die  chronologische  Anordnung  betrifft,  so  wird  im  vier- 
ton Bande  S.  27  der  Brief  über  Swedenborg  an  Fräulein 
Charlotte  von  Knobloch  nach  Nicolovius  in  das  Jahr  1758 
gesetzt.  Ueberweg  gibt  (Grnndriss  der  Geschichte  der  Philosophie, 
III,  8.  137)  als  Datum  dos  Briefes  den  10.  August  1763  an.  Das 
Jahr  ergibt  sich  aus  der  Vergleichung  der  historischen  Data  mit 
Gewissheit.  Dazu  passt  auch  ,  dass  die  Vermahlung  der  Charlotte 
Araalia  von  Knobloch  (geb.  10.  August  1740)  mit  dem  Haupt- 
mann Friedrich  von  Klingsporn  am  22.  Juli  1764  statt  fand  (Nach- 
weis bei  Ueberweg  a.  a.  O.) 

Nr.  10  fttber  die  Krankheiten  des  Kopfes)  hängt  wohl  nicht, 
wie  aus  der  Stellung  der  Kant'schen  Schriften  bei  Ueberweg  (III, 
S.  137)  hervorgeht,  mit  Kant's  Schriften  über  Swedenborg,  dem 
Briefe  an  die  Knobloch  und  den  Träumen  eines  Geistersehers,  zu- 
sammen ;  die  Schrift  ist  vielmehr  nach  dem  Nachweise  des  Herren 
Heransgebers  dieser  Sammlung  veranlasst  durch  Kant's  Bemerkun- 
gen über  eine  Geschichte  dos  Ziegenpropheten  Zdomozyrskich  in 
den  Königsbergor  gelehrten  und  politischen  Zeitungen,  1764,  Nr.  3. 
Der  Artikel  über  die  Lebensart  dieses  Wilden,  der  in  dieser  Zei- 
tung anonym  enthalten  ist,  schliesst  mit  den  Worten:  »Wir  kün- 
digen zugleich  den  ersten  Originaivorsuch  in  uusern  nächsten  Blät- 
tern an  und  versprechen  uns  für  die  Zufriedenheit  unserer  Leser 
mehrere  Beiträge  von  der  Gefälligkeit  dieses  scharfsinnigen  und 
gelehrten  Gönners.«  Unmittelbar  auf  diese  Ankündigung  folgt  nuu 
vom  4.  bis  8.  Stück  der  Aufsatz  über  die  Krankheiten  des 
des  Kopfes. 

Der  naturwissenschaftliche  und  mathematische  Charakter,  wel- 
cher in  den  ersten,  im  ersten  Bande  enthaltenen  Schriften  Kant's 
vorherrscht,  tritt  in  den  vorliegenden  Bänden  zurück.  In  dem 
zweiten  Bande  beziehen  sich  nur  drei  kleine  Schriften  auf  Natur- 
wissenschaft, Nr.  1  (Entwurf  und  Ankündigung  eines  Collegii  der 
physischen  Geographie  u.  s.  w.  1757),  Nr.  2  (neuer  Lehrbegriff  der 


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Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


669 


Bewegung  und  Ruhe,  1758)  und  Nr.  17  (die  Recension  über  die 
Schrift  des  Anatomen  Moscati  vom  Unterschied  der  Structur  der 
Menschen  und  Thiere,  1771),  im  vierten  Baude  Nr.  6  (Ober  die 
Vulcane  im  Monde,  1785),  der  kleine  Aufsatz  unter  Nr.  16  (aus 
den  Jahren  1788  —  1791)  »über  das  Moment  der  Geschwindigkeit 
im  Anfangsaugenblicke  des  Falls«  und  die  grössere  Schrift  Nr.  13 
(metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft).  Alle  andern 
grösseren  und  kleineren  Schriften  der  beiden  vorliegenden  Bände 
haben  einen  philosophischen  Charakter  und  behandeln  Gegenstände 
aus  dem  Gebiete  der  Logik,  Metaphysik,  Psychologie,  Anthropolo- 
gie, Moralphilosopbie,  Aestbetik,  des  Naturrecbtes. 

Die  Schriften  des  ersten  und  des  vorliegenden  zweiten  Bandes 
bis  Nr.  16  (S.  393)  gehören  der  genetischen  Periode  an  d.  h.  jener 
Zeit,  welche  dem  Kant'schen  Kriticismus  vorangeht  und  äusserlich 
mit  seiner  Stellung  als  Privatdocent  zusammenhängt,  einem  Zeit- 
räume ,  in  welchem  er  zwar  noch  im  Allgemeinen  sich  an  den 
Leibnitziscb-Wolff'schen  Dogmatismus  anschloss,  aber  bereits  viel- 
fach unter  Newtons  und  Eulers  Einfluss  über  diesen  Standpunkt 
hinausging  und  theils  empirische,  tbeils  skeptische  Anschauungen 
entwickelte,  welche  den  spätem  Charakter  seiner  kritischen  Philosophie 
vorbereiteten.  Mit  der  Schrift  Nr.  16  des  zweiten  Bandes,  (de  mundi 
sensibilis  et  intelligibilis  forma  atquo  prineipiis  vom  Jahre  1770), 
welche  äusserlich  mit  dem  Antritte  seiner  Professur  in  Königsborg 
verbunden  ist,  beginnt  die  Periode  seines  Kriticismus  und  die  nach- 
folgenden, im  zweiten  und  vierten  Bande  mitgetheilten  Schriften 
tragen  mehr  oder  miuder  dieses  Gepräge.  Schon  in  der  ersten 
Schrift  dieses  mit  1770  beginnenden  Zeitraumes  nimmt  Kant  die 
Apriorität  des  Raumes  und  der  Zeit  an,  nicht  aber  der  Kategorien. 
Man  bezeichnet  den  jetzt  folgenden  Zeitraum  bis  zur  Kritik  der 
reinen  Vernunft  (1781)  als  die  Periode  des  Suchens  nach  einem 
ganz  neuen  Lehrgobäude,  dessen  Aufstellung  mit  dem  eben  ge- 
nannten Werke  beginnt.  Die  im  vorliegenden  vierten  Bande  ent- 
haltenen Schriften ,  welche  in  den  zwischen  die  Kritik  der  reinen 
und  praktischen  Vernunft  fallenden  Zeitraum  eingereiht  werden, 
gehören  also  Kant's  neu  gewonnener  Weltanschauung  an.  Unter 
den  kleineren  Schriften  ragen  hier  als  die  bedeutendsten  die  im 
vierten  Bande  enthaltenen  Prolegomena  zu  einer  j eden  k  ünf- 
tigen  Metaphysik  (S.  1  — 133),  die  Grundlegung  zur  Me- 
taphysik der  Sitton  (S.  233—337)  und  die  metaphysi- 
schen Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  (S.  355 — 
460)  hervor.  In  der  ersten  Schrift  wird  das  realistische  Element 
in  Kant's  Ansicht  mehr  hervorgehoben  und  Kant  betont  in  der 
Vorrede  den  Einfluss  Hume's  auf  sein  eigenes  Forschen.  »Seit  Locke's 
und  Leibnitz's  Versuch,  sagt  er  (Bd.  IV,  S.  5),  oder  vielmehr  seit 
dem  Entstehen  der  Metaphysik,  so  weit  die  Geschichte  derselben 
reicht,  hat  sich  keine  Begebenheit  zugetragen,  die  in  Ansehung  des 
Schicksals  dieser  Wissenschaft  hätte  entscheidender  werden  können, 


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570 


Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


als  der  Angriff,  den  David  Harne  auf  dieselbe  machte.  Erbrachte 
kein  Licht  in  diese  Art  von  Erkenntniss,  aber  er  schlug  doch 
einen  Funken,  bei  welchem  man  wohl  ein  Licht  hätte 
anzünden  können,  wenn  er  einen  empfänglichen  Zan- 
der getroffen  hätte,  dessen  Glimmen  sorgfältig  wäre 
unterhalten  und  vergrössert  worden.«  Kant  sah  ein,  dass 
es  Hume's  Ansicht  von  der  Verknüpfung  der  Ursache  und  Wirkung, 
mithin  auch  dessen  Folgenbegriffe  der  Kraft  und  Handlung  u.  s. 
w.  seien,  die  man  prüfen  müsse,  dass  man  von  der  Untersuchung 
dieser  Frage  ausgehen  müsse,  wenn  man  eine  »gänzliche  Reform« 
der  Wissenschaft  zu  Stande  bringen  wolle.  Wie  vortrefflich  ist, 
was  Kant  Uber  die  dogmatische  Metaphysik  seiner  Zeit  sagt 
(S.  114):  »Alle  falsche  Kunst,  alle  eitle  Weisheit  dauert  ihre  Zeit, 
denn  endlich  zerstört  sie  sich  selbst,  und  die  höchste  Cultur  der- 
selben ist  zugleich  der  Zeitpunkt  ihres  Unterganges.  Dass  in  An- 
sehung der  Motaphysik  diese  Zeit  jetzt  da  sei,  beweist  der  Zu- 
stand, in  welchen  sie  bei  allem  Eifer,  womit  sonst  Wissenschaften 
aller  Art  bearbeitet  werden,  unter  allen  gelehrten  Völkern  ver- 
fallen ist.  Die  alte  Einrichtung  der  Universitätsstudien  erhält  noch 
ihren  Schatten,  eine  einzige  Akademie  der  Wissenschaften  bewegt 
noch  dann  und  wann  durch  ausgesetzte  Preise,  einen  uud  andern  Ver- 
such darin  zu  machen ;  aber  unter  gründliche  Wissenschaften  wird 
sie  nicht  mehr  gezählt,  und  man  mag  selbst  urtheilen,  wie  etwa 
ein  geistreicher  Mann,  den  man  einen  grossen  Metaphysiker  nennen 
wollte,  diesen  wohlgemeinten,  aber  kaum  von  Jemanden  beneideten 
Lobspruch  aufnehmen  würde.«  Wie  wahr  ist,  was  Kant  über  jenes 
eud-  und  nutzlose  Construiren  metaphysi scher  Dogmen 
S.  88  sagt:  »Man  kann  in  der  Metaphysik  auf  mancherlei  Weise 
herumpfuschen,  ohne  eben  zu  besorgen,  dass  man  auf  Unwahrheit 
werde  betreten  werden.  Denn,  wenn  man  sich  nur  nicht  selbst 
widerspricht  (auch  das  thatcn  und  thun  manche  Metaphysiker  un- 
gescheut),  welches  in  synthetischen,  obgleich  gänzlich  erdichteten 
Sätzen  gar  wohl  möglich  ist,  so  können  wir  in  allen  solchen  Fällen, 
die  gar  nicht,  ihrem  ganzen  Inhalte  nach,  in  der  Erfahrung  ge- 
geben werden  können,  niemals  duroh  Erfahrung  widerlegt  werden. 
Denn,  wie  wollten  wir  es  durch  Erfahrung  ausmachen,  ob  die  Welt 
von  Ewigkeit  her  sei,  oder  einen  Anfang  habe?  ob  Materie  in's 
Unendliche  theilbar  sei  oder  ans  einfachen  Theilen  bestehe?  Der- 
gleichen Begriffe  lassen  sich  in  keiner,  auch  der  gröstmöglichsten 
Erfahrung  geben,  mithin  die  Unrichtigkeit  des  behauptenden  oder 
verneinenden  Satzes  durch  diesen  Probierstein  nicht  entdecken.« 
Wie  scharf  sondert  er  die  Grenze  des  Verstandes  und  der  Ein- 
bildungskraft und  wie  fein  bezeichnet  er  die  Quelle  des  Irr» 
thums  in  der  Metaphysik  und  der  Anziehungskraft  des- 
selben für  die  Jugend  S.  65;  »Es  kann  der  Einbildungskraft 
vielleicht  verziehen  werden,  wenn  sie  bisweilen  schwärmt,  d.  i.  sich 
nicht  behutsam  innerhalb  der  Schranken  der  Erfahrung  hält ;  denn 


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Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


671 


wenigstens  wird  sie  durch  einen  solchen  freien  Schwung  belebt  und  ge- 
stärkt, und  es  wird  immer  leichter  sein,  ihre  Kühnheit  zu  massigen, 
als  ihrer  Mattigkeit  aufzuholfen.  Dass  aber  der  Verstand,  der  denken 
soll,  an  dessen  statt  schwärmt,  das  kann  ihm  niemals  verziehen 
werden  ;  denn  auf  ihm  beruht  alle  Hülfe,  um  der  Schwärmerei  der 
Einbildungskraft,  wo  es  nöthig  ist,  Grenzen  zu  setzon.  Er  fangt 
es  aber  hiermit  sehr  unschuldig  und  sittsam  an.  Zuerst  bringt  er 
die  Elementarerkenntnisse,  die  ihm  vor  aller  Erfahrung  beiwohnen, 
aber  dennoch  in  der  Erfahrung  immer  ihre  Anwendung  haben 
müssen,  in's  Reine.  Allmählig  lässt  er  die  Schranken  weg,  und 
was  sollte  ihn  auch  daran  hindern,  da  der  Verstand  ganz  frei  seine 
Grundsätze  aus  sich  selbst  gewonnen  hat?  Und  nun  geht  es  zuerst 
auf  neu  erdachto  Kräfte  in  der  Natur,  bald  hernach  auf  Wesen 
ausser  der  Natur,  mit  einem  Wort  auf  eine  Welt,  zu  deren  Ein- 
richtung es  uns  an  Bauzeug  nicht  fehlen  kann,  weil  es  durch 
fruchtbare  Erdichtung  reichlich  herbeigeschafft  und  durch  Erfah- 
rung zwar  nicht  bestätigt,  aber  auch  niemals  widerlegt  wird.  Das 
ist  auch  die  Ursache,  weswegen  junge  Denker  Metaphysik  in  ächter 
dogmatischer  Manier  so  lieben  und  ihr  oft  ihre  Zeit  und  ihr  sonst 
so  brauchbares  Talent  aufopfern.« 

Die  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  (S.  283 
— 313)  bildet  den  Uebergang  zur  Kritik  der  praktischen  Vernunft. 

In  den  metaphysischen  Anfangsgründen  derNatur- 
wissenschaft  (S.  355— 463)  wird  die  Matorie  auf  Kräfte  zurück- 
geführt und  der  Dynamismus  entwickelt.  In  formaler  Bedeutung 
ist  Kant  die  Natur  »das  innerste  Princip  alles  dessen,  was  zum 
Dasein  eines  Dinges  gehört.«  In  diesem  Sinne  hat  jedes  Ding 
seine  »Naturwissenschaft«  und  es  gibt  so  »vielerlei  Naturwissen- 
schaften« ,  als  es  »speeifisch  verschiedene  Dinge  gibt.«  Jedes 
bat  ja  »sein  eigentbümliches  inneres  Princip  der  zu  seinem  Dasein 
gehörigen  Bestimmungen.«  Natur  iu  materieller  Bedeutung  ist 
»der  Inbegriff  aller  Dinge,  so  fern  sie  Gegenstände  unsererSinne, 
mitbin  auch  der  Erfahrung  sein  können«,  also  »das  Ganze  aller 
Erscheinungen  d.  i.  die  Sinnenwelt  mit  Ausschliessung  aller  nicht 
sinnlichen  Objecto.« 

Auch  in  den  kleinsten  Schriften  Kaut's  offenbart  sich  sein 
grosser  Geist,  welcher  bestimmt  war,  im  Entwicklungsgange  der 
Philosophie  den  Abschluss  des  dogmatischen  und  den  Beginn  des 
kritischen  Geistes  dieser  Wissenschaft  zu  bezeichnen.  Seine  Schrift  über 
den  Optimismus  (1759),  den  er  ganz  anders,  als  Leibnitz  fasst, 
endet  er  mit  den  Worten  (Bd.  II  der  vorliegenden  Sammlung, 
S.  43) :  »Ich  rufe  allem  Geschöpfe  zu,  welches  sich  nicht  selbst  un- 
würdig macht:  Heil  nns,  wir  sind!  und  der  Schöpfer  hat  an  uns 
Wohlgefallen.  Unermessliche  Räume  und  Ewigkeiten  werden  wohl 
nur  vor  dem  Auge  des  Allwissenden  die  Reichthümer  der  Schöpfung 
in  ihrem  ganzen  Umfange  eröffnen;  ich  aber  aus  dem  Gesichts- 
punkte, worin  ich  mich  befinde,  bewaffnet  durch  die  Einsicht,  die 


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Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


meinem  schwachen  Vorstande  verliehen  ist,  werde  um  mich  schauen, 
so  weit  ich  kann,  und  immer  mehr  einsehen  lernen,  dass  das 
Ganze  das  Beste  sei  und  alles  um  des  Ganzen  willen 
gut  sei.c  Eine  bilderreiche  Phantasie,  ein  tiefes  Gern Oth  und  jene 
Kant  überall  kennzeichnende  Klarheit  und  Tiefe  des  Gedankens 
zeichnen  sein   schönes  Trostschreiben  an  die   verwittwete  Frau 
Rittmeister  Funk  bei  dem  frühzeitigen  Ableben  ihres  Sohnes,  des 
Studenten  Funk  (im  zweiten  Bande  Nr.  5  vom  Jahr  1760)  aus. 
Das  Haschen  der  menschlichen  Begierde  und  die  Vergänglichkeit 
menschlicher  Bestrebungen  schildert  uns  daselbst  der  Weise  S.  47  : 
»Der  grösste  Haufen  der  Menschen  mengt  sich  sehr  begierig  in  das 
Gedränge  derjenigen,  die  auf  der  Brücke,  welchedie  Vorsehung  über 
einen  Theil  des  Abgrundes  der  Ewigkeit  geschlagen  hat,  und  die 
wir  Leben  heissen ,  gewissen  Wasserblasen  nachlaufen  und  sich 
keine  Mühe  nehmen,  auf  die  Fallbretter  Acht  zu  haben,  die  Einen 
nach  dem  Andern,  neben  ihnen,  in  die  Tiefe  herabsinken  lassen, 
deren  Maass  Unendlichkeit  ist,  und  wovon  sie  selbst  endlich  mitten 
in  ihrem  ungestümen  Laufe  verschlungen  werden.«    Er  schliesst 
sein  Schreiben  (S.  52)  mit  den  Worten:    »Die  demttthige  Ent- 
sagung unserer  eigenen  Wünsche,  wenn  es  der  weisesten  Vorsehung 
gefällt,  ein  Anderes  zu  beschliessen,  und  die  christliche  Sohnsucht 
nach  einerlei  seligem  Ziele,  zu  welchem  Andere  vor  uns  gelangt 
sind,  vermögen  mehr  zur  Beruhigung  des  Herzens,  als  alle  Gründe 
einer  trockenen  und  kraftlosen  Beredsamkeit  «  Ein  leben s heite- 
rer Humor  spricht  aus  Kant's  Aufsatz  über  die  Krankheiten 
des  Kopfes  (Nr.  X  vom  Jahr  1764).  So  lesen  wir  gleich  im  An- 
fange die  Worte:  »Die  allge  meine  Achtung,  darin  beide  gepriesene 
Eigenschaften  (des  Kopfes  und  des  Herzens)  stehen,  macht  gleich- 
wohl diesen  merklichen  Unterschied,  dass  Jedermann  weit  eifer- 
süchtiger auf  die  Verstandesvorzüge,  als  auf  die  guten  Eigenschaf- 
ten des  Willens  ist  und  dass  in  der  Vergleichung  zwischen  Dumm- 
heit und  Schelmerei  Niemand  einen  Augenblick  ansteht,  sich  zum 
Vortheil  der  letzteren  zu  erklären ;  welches  gewiss  auch  sehr  wohl 
ausgedacht  ist,  wenn  alles  überhaupt  auf  Kunst  ankömmt,  da  feine 
Schlauigkeit  nicht  kann  entbehrt  werden,  wohl  aber  die  Redlich- 
keit, die  in  solchem  Verhältnisse  nur  hinderlich  ist.  Ich  lebe  unter 
weisen  und  wohl  gesitteten  Bürgern,  nämlich  unter  denen,  die  sich 
darauf  verstehen  so  zu  scheinen,  und  ich  schmeichle  mir,  man 
werde  so  billig  sein,  mir  von  dieser  Feinigkeit  auch  so  viel  zuzu- 
trauen, dass,  wenn  ich  gleich  im  Besitze  der  bewährtesten  Heilungs- 
raittel  wäre,  die  Krankheiten  des  Kopfes  und  des  Herzens  aus  dem 
Grunde  zu  heben,  ich  doch  Bedenken  tragen  würde,  diesen  alt- 
väterischen  Plunder  dem  öffentlichen  Gewerbe  in  den  Weg  zu  legen, 
wohl  bewusst,  dass  die  beliebte  Modecur  des  Verstandes  und  des 
Herzens  schon  im  erwünschten  Fortgange  sei,  und  dass  vornehm- 
lich die  Aerzte  des  ersteren,  die  sich  Logiker  nennen,  sehr  gut  dem 
allgemeinen  Verlangen  Genüge  leisten,  seitdem  sie  die  wichtige 


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Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


Entdeckung  gemacht  haben,  dass  der  menschliche  Kopf  eigentlich 
eine  Trommel  sei ,  die  nur  darum  klingt ,  weil  sie  leer  ist.  Ich 
sehe  demnach  nichts  Besseres  für  mich,  als  die  Methode  der  Aerzte 
nachzuahmen,  welche  glauben,  ihrem  Patienten  sehr  viel  genutzt 
zu  haben,  wenn  sie  seiner  Krankheit  einen  Namen  geben,  und  ent- 
werfe eine  kleine  Onomastik  der  Gebrechen  des  Kopfes,  von  der 
Lähmung  desselben  an  in  der  Blödsinnigkeit  bis  zu  dessen 
Verzückungen  in  der  Tollheit;  aber  um  diese  eckelhaften  Krank- 
heiten in  ihrer  allmähügen  Abstammung  zu  erkennen,  finde  ich 
nöthig,  zum  voraus  die  milderen  Grade  derselben  von  der  Dumm- 
kopfigkeit  an  bis  zur  Narrheit  zu  erläutern,  weil  diese  Eigen- 
schaften im  bürgerlichen  Verhältnisse  gangbarer  sind  und  dennoch 
zu  den  ersteren  führen. c    Besonders  wichtig  für  unsere  Zeit  und 
die  in  ihr  herrschenden  Anschauungen  des  Materialismus  ist  Kant's 
Andeutung  über  die  verschiedenen  Racen  der  Menschen 
zur  Ankündigung  der  Vorlesungen  der  physischen  Geographie  im 
Sommerhalbjahre  1775.    Refer.  führt  die  Stelle  im  zweiten  Bande 
dieser  Sammlung  S.  440  an:  »Die  in  der  Natur  eines  organischen 
Körpers  (Gewächses  oder  Thieres)  liegenden  Gründe  einer  bestimm- 
ten Aus  wickelung  heissen,  wenn  diese  Auswickelung  besondere  Theile 
betrifft,  Keime;  betrifft  sie  aber  nur  die  Grösse  oder  das  Verhält- 
niss  der  Theile  unter  einander,  so  nenne  ich  sie  natürliche  An- 
lagen. In  den  Vögeln  von  dersolben  Art,  die  doch  in  verschiede- 
nen Klimaten  leben  sollen,  liegen  Keime  zur  Auswickelung  einer 
neuen  Schicht  Federn,  wenn  sie  im  kalten  Klima  leben,  die  aber 
zurückgehalten  werden,  wenn  sie  sich  im  gemässigten  aufhalten 
sollen.    Weil  in  einem  kalten  Lande  das  Waizenkorn  mehr  gegen 
feuchte  Kälte  geschützt  werden  muss,  als  in  einem  trockenen  oder 
warmen,  so  liegt  in  ihm  eine  vorher  bestimmte  Fähigkeit  oder 
natürliche  Anlage,  nach  und  nach  eine  dickere  Haut  hervorzubrin- 
gen.   Diese  Vorsorge  der  Natur,  ihr  Geschöpf  durch  versteckte 
innere  Vorkehrungen  auf  allerlei  künftige  Umstände  auszurüsten, 
damit  es  sich  erhalte  und  der  Verschiedenheit  des  Klima  oder  des 
Bodens  angemessen  sei,  ist  bewundernswürdig  und  bringt  bei  der 
Wanderung  und  Verpflanzung  der  Thiere  und  Gewächse,  dem  Scheine 
nach,  neue  Arten  hervor,  welche  nichts  Anderes,  als  Abartungen 
und  Racen  von  derselben  Gattung  sind,  deren  Keime  und  natür- 
liche Anlagen  sich  nur  gelegentlich  in  langen  Zeitläuften  auf  ver- 
schiedene Weise   entwickelt  haben.     Der  Zufall  oder  allge- 
meine mechanische  Gesetze  können  solche  Zusammenpassun- 
gen nicht  hervorbringen.  Daher  müssen  wir  dergleichen  gelegent- 
liche Auswickelungen  als  vorgebildet  ansehen.  Allein  selbst  da,  wo 
sich  nichts  Zweckmässiges  zeigt,  ist  das  blosse  Vermögen,  seinen 
besondern  angenommenen  Charakter  fortzupflanzen,  schon  Beweises 
genug,  dass  dazu  ein  besonderer  Keim  oder  natürliche  Anlage  in 
dem  organischen  Geschöpf  anzutreffen  gewesen.  Denn  äussere  Dinge 
können  wohl  Gelegenheits-  aber  nicht  hervorbringende  Ursachen 


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574 


Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


von  demjenigen  sein,  was  nothwendig  anerbt  und  nachartet.  So 
wenig,  als  der  Zufall  oder  physisch-mechanische  Ursach  en 
einen  organischen  Körper  hervorbringen  können,  so  wenig  werden 
sie  zu  einer  Zeugungskraft  etwas  hinzusetzen  d.  i.  etwas  bewirken, 
was  sich  selbst  fortpflanzt,  wenn  es  eine  besondere  Gestalt  oder 
Verhältniss  der  Theile  ist.  Luft,  Sonne  und  Nahrung  können  einen 
tbieriscbcn  Körper  in  seinem  Wachstbum  modificiren,  aber  diese 
Veränderung  nicht  zugleich  mit  einer  zeugenden  Kraft  versehen, 
die  vermögend  wäre,  sich  selbst  auch  ohne  diese  Ursache  wieder 
hervorzubringen ;  sondern,  was  sich  fortpflanzen  soll,  muss  in  der 
Zeugungskraft  schon  vorher  gelegen  haben,  als  vorher  bestimmt  zu 
einer  gelegentlichen  Auswickelung,  den  Umständen  gemäss,  darein 
das  Geschöpf  gerathen  kann  und  in  welchen  es  sich  beständig  er- 
halten soll.  Denn  in  die  Zeugungskraft  muss  nichts  dem  Tbiere 
Fremdes  hineinkommen  können,  was  vermögend  wäre,  das  Geschöpf 
nach  und  nach  von  seiner  ursprünglichen  Bestimmung  zu  entfernen 
uud  wahre  Ausartungen  hervorzubringen,  die  sich  perpetuiren. « 

Im  vierten  Bande  macht  Refer.  auf  die  Idee  zu  einer 
al  Ige  meinen  G  es  oh  ich  te  in  weltbürgerlicher  Absicht, 
1784,  (S.  141—159)  aufmerksam.  Es  sind  in  derselben  Gedanken 
zu  einer  Philosophie  der  Geschichte  niedergelegt.    Die  Schrift  be- 
ginnt mit  dem  Satze:  »Was  man  sich  auch  in  metaphysischer  Ab- 
sicht für  einen  Begriff  von  der  Freiheit  des  Willens  machen 
mag,  so  sind  doch  die  Erscheinungen  desselben,  die  menschlichen 
Handlungen,  eben  so  wohl  als  jede  andere  Naturbegebenheit,  nach 
allgemeinen  Naturgesetzen  bestimmt.«  Nicht  die  »eigene  Absicht« 
des  Menschen,  sondern  »die  Naturabsicht«  soll  angedeutet  werden. 
Dieses  geschieht  in  neun  Sätzen.  Sie  lauten:    »1)  Alle  Natur- 
aulagen eines  Geschöpfes  sind  bestimmt,  sich  einmal  vollständig 
und  zweckmässig  auszuwickeln;  2)  am  Menschen  (als  dem  ver- 
nünftigen Geschöpf  auf  Erden)  sollten  sich  diejenigen  Naturan- 
lagen, die  auf  den  Gebrauch  seiner  Vernunft  abgezielt  sind ,  nur 
in  der  Gattung,  nioht  aber  im  Individuum  vollständig  entwickeln ; 
3)  die  Natur  hat  gewollt,  dass  der  Mensch  Alles,  was  über  die 
mechanische  Anordnung  seines  Daseins  geht,  gänzlich  ans  sich  selbst 
herausbringe,  und  keiner  anderen  Glückseligkeit  oder  Vollkommen- 
heit theilhaftig  werde,  als  die  er  sich  selbst,  frei  von  Instinct, 
durch  eigene  Vernunft  verschafft  hat;  4)  das  Mittel,   dessen  sich 
die  Natur  bedient,  die  Entwickelung  aller  ihrer  Anlagen  zu  Stande 
zu  bringen,  ist  der  Antagonismus  derselben  in  der  Gesellschaft, 
sofern  dieser  doch  am  Ende  die  Ursache  einer  gesetzmässigen  Ord- 
nung derselben  wird  (Antagonismus  ist  nach  Kant  die  »ungesellige 
Geselligkeit  der  Menschen  d.  i.  der  Hang  derselben  in  Gesellschaft 
zu  treten,  der  doch  mit  einem  durchgängigen  Widerstande ,  wel- 
cher diese  Geselligkeit  beständig  zu  trennen  droht,  verbunden  ist«) ; 
5)  das  grösste  Problem  für  die  Menschengattung,  zu  dessen  Auf- 
lösung die  Natur  ihn  zwingt,  ist  die  Erreichung  einer  allgemein 


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Ktnt'a  Werke  von  Hartenstein. 


das  Recht  vorwaltenden  bürgerlichen  Gesellschaft;  6)  die- 
ses Problem  ist  zugleich  das  schwerste  und  das,  welches  von  der 
Menschengattung  am  spätesten  aufgelöst  wird ;  7)  das  Problem  der 
Errichtung  einer  vollkommenen  bürgerlichen  Verfassung  ist  von  dem 
Problem  eines  gesetzmässigen  äussern  Staatenverhältnisses 
abhängig  und  kann  ohne  das  letztere  nicht  aufgelöst  werden ;  8) 
man  kann  die  Geschichte  der  Menschengattung  im  Grossen  als  die 
Vollziehung  eines  verborgenen  Plans  der  Natur  ansehen,  um  eine 
innerlich  nnd  zu  diesem  Zwecke  auch  äusserlich  vollkommene 
Staatsverfassung  zu  Stande  zu  bringen,  als  den  einzigen  Zustand, 
in  welchem  sie  alle  ihre  Anlagen  in  der  Menschheit  völlig  ent- 
wickeln kann  ;  9)  ein  philosophischer  Versuch,  die  allgemeine  Welt- 
geschichte nach  einem  Plane  der  Natur,  der  auf  die  vollkommene 
bürgerliche  Vereinigung  in  der  Menschengattung  abziele,  zu  be- 
arbeiten, muss  als  möglich  und  selbst  für  diese  Naturabsicht  be- 
förderlich angesehen  werden.  € 

Wie  treffend  beginnt  der  unsterbliche  Denker  den  Aufsatz  vom 
Jahre  1784:  Beantwortuug  der  Frage:  Was  ist  Aufklärung? 
(S.  158 — 168)  mit  den  Worten:  >  Aufklärung  ist  der  Ausgang 
des  Menschen  aus  seiner  selbstverschuldeten  Unmün- 
digkeit. Unmündigkeit  ist  das  Unvermögen,  sich  seines  Ver- 
standes ohne  Leitung  eines  Andern  zu  bedienen.  Selbstverschuldet 
ist  die  Unmündigkeit,  wenn  die  Ursache  derselben  nicht  am  Mangel 
des  Verstandes,  sondern  der  Entschliessung  und  des  Muthea  liegt,  sich 
seiner  ohne  Leitung  eines  Andern  zu  bedienen.  Sapere  aude !  Habe 
Muth  dich  deines  eigenen  Verstandes  zu  bedienen!  ist  also  der 
Wahlspruch  der  Aufklärung.  Faulheit  nnd  Feigheit  sind  die  Ur- 
sachen, warum  ein  so  grosser  Theil  der  Menschen,  nachdem  sie 
die  Natur  längst  von  fremder  Leitung  freigesprochen  (naturaliter 
majorennes),  gerne  Zeitlebens  unmündig  bleiben,  und  warum  es 
Andern  so  leicht  wird,  sich  zu  deren  Vormündern  aufzuwerfen.  Es 
ist  so  bequem  unmündig  zu  sein.  Habe  ich  ein  Buch,  das  für  mich 
Verstand  hat,  einen  Seelsorger,  der  für  mich  Gewissen  hat,  einen 
Arzt,  der  für  mich  die  Diät  beurtheilt  u.  s.  w.,  so  brauche  ich 
mich  ja  nicht  selbst  zu  bemühen.  Ich  habe  nicht  nöthig  zu  den- 
ken, wenn  ich  nur  bezahlen  kann.  Andere  werden  das  verdienst- 
liche Geschäft  schon  für  mich  übernehmen.«  In  dem  Artikel: 
Particuläre  Providenz  sagt  Kant  (S.  504):  >Es  entsteht  die 
Frage:  Sorgt  Gott  blos  für  das  Allgemeine,  oder  auch  für  das 
Besondere?  Wir  nehmen  die  Frage  in  dem  Sinn:  Hat  Gott  nur 
blos  einen  grossen  allgemeinen  Zweck,  dem  Alles  untergeordnet 
sein  muss,  oder  hat  er  sich  mehrere  einzelne  Zwecke  vorgesetzt, 
die  zusammengenommen  einen  Zweck  ausmachen?  Man  muss  die 
erste  Frage  bejahen,  die  andere  verneinen;  denn  ich  kann  es  mir 
nicht  vorstellen,  wie  mehrere  Zwecke  zusammengenommen  einen 
ausmachen;  unsere  Vernunft  geht  vielmehr  den  entgegengesetzten 
Weg  und  nimmt  eins  an,  von  dem  sie  auf  mehrere  herunter- 


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Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


steigt.  Dessen  ungeachtet  können  mehrere  Beschaffenheiten  als 
zweckmässig  gedacht  werden,  ohne  jedoch  wegen  eines  besonderen 
Zweckes  da  zu  sein.«  In  dem  Aufsatze  vom  Gebet  sagt  Kant 
(S.  505):  »Dem  Gebete  andere  als  natürliche  Folgen  beizulegen 
ist  thöricht  und  bedarf  koiner  ausführlichen  Widerlegung;  man 
kann  nur  fragen:  Ist  nicht  das  Gebet  seiner  natürlichen  Folgen 
wegen  beizubehalten?  Zu  diesen  natürlichen  Folgen  zählt  man, 
dass  durch's  Gebet  die  in  der  Seele  vorhandenen  dunkeln  und  ver- 
worrenen Vorstellungen  deutlicher  gemacht,  oder  ihnen  ein  höherer 
Grad  von  Lebhaftigkeit  ertheilt  werde,  dass  es  den  Beweggründen 
zur  Tugend  dadurch  eine  grössere  Wirksamkeit  verleiht  u.  s.  w. 
Hiorbei  ist  nun  erstlich  zu  merken,  dass  das  Gebet  aus  den  an- 
geführten Gründen  doch  nur  subjectiv  zu  empfehlen  ist;  denn  der- 
jenige, welcher  die  vom  Gebet  gerühmteu  Wirkungen  auf  eine  andere 
Weise  erreichen  kann,  wird  desselben  nicht  uöthig  haben.  Ferner 
lehrt  uns  die  Psychologie,  dass  sehr  oft  die  Auseinandersetzung 
eiues  Gedankens  die  Wirkung  schwächt.«  ..  »Aber  endlich  ist  bei 
dem  Gebete  auch  Heuchelei;  denn  der  Mensch  mag  laut  beten, 
oder  seine  Ideen  innerlich  in  Worte  auflösen,  so  stellt  er  sich  die 
Gottheit  als  etwas  vor,  das  den  Sinnen  gegeben  werden  kann,  da 
sie  doch  blos  ein  Priucip  it»t,  das  seine  Vernunft  ihn  anzunehmen 
zwingt.  Das  Dasein  einer  Gottheit  ist  nicht  bewiesen,  sondern  es 
wird  postulirt  und  es  kann  also  blos  dazu  dienen,  wozu  die  Ver- 
nunft gezwungen  war,  es  zu  postuliren.  Denkt  nun  der  Mensch: 
wenn  ich  zu  Gott  bete,  so  kann  mir  dies  auf  keinen  Fall  schaden ; 
denn,  ist  er  nicht,  nun  gut,  so  habe  ich  des  Guten  zu  viel  gethan ; 
ist  er  aber,  so  wird  es  mir  nützen,  so  ist  diese  Prosopopöia  Heu- 
chelei, indem  bei'm  Gebet  vorausgesetzt  werden  muss,  dass  der- 
jenige, der  es  verrichtet,  gewiss  überzeugt  ist,  dass  Gott  existirt. 
Daher  kommt  es  auch,  dass  derjenige,  welcher  schon  gewisse  Fort- 
schritte im  Guten  gemacht  hat ,  aufhört  zu  beten ;  denn  Redlich- 
keit gehört  zu  seinen  ersten  Maximen.  In  den  öffentlichen  Vor- 
trägen kann  und  muss  das  Gebet  beibehalten  werden,  weil  es  wirk- 
lich rhetorisch  von  grosser  Wirkung  sein  und  einen  grossen  Ein- 
druck machen  kann  und  man  überdies  in  den  Vorträgen  an  das 
Volk  zu  ihrer  Sinnlichkeit  sprechen  und  sich  zu  ihnen  so  viel  wie 
möglich  herablassen  muss.« 

I.SchluBB  folgt.) 


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Ii.  37.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Kant's  Werke  von  Hartenstein. 


(SCMUBB.) 

In  seinem  Aufsatze  über  Wunder  wird  die  Unmöglichkeit 
derselben  also  bewiesen.  »Wären  Wunder  im  Baume  möglich,  so 
wäre  es  möglich ,  dass  Erscheinungen  geschehen ,  bei  denen  Wir- 
kung und  Gegenwirkung  nicht  gleich  gross  sind.  Alle  Veränderungen 
im  Räume  sind  nämlich  Bewegungen.  Eine  Bewegung  aber,  die 
durch  Wunder  hervorgebracht  werden  soll,  deren  Ursache  soll  nicht 
in  den  Erscheinungen  zu  suchen  sein.  Das  Gesetz  der  Wirkung 
und  Gegenwirkung  aber  beruht  darauf,  dass  Ursache  und  Wirkung 
zur  Siunenwelt  (zu  den  Erscheinungen)  gehören  d.  i.  im  relativen 
Räume  vorgestellt  wurden ;  da  dies  nun  bei  den  Wundern  im  Räume 
von  der  Ursache  nicht  gilt,  so  werden  sie  auch  nicht  unter  dem 
Gesetz  der  Wirkung  und  Gegenwirkung  stehen.  Wird  nun  durch 
ein  Wunder  eine  Bewegung  bewirkt,  so  wird,  da  sie  nicht  unter 
dem  Gesetz  der  Wirkung  und  Gegenwirkung  steht,  durch  sie  das 
centrum  gravitatis  der  Welt  verändert  werden,  d.  i.  mit  andern 
Worten,  die  Welt  würde  sich  im  leeren  Raum  bewegen;  eine  Be- 
wegung im  leeren  Raum  ist  aber  ein  Widerspruch ;  sie  wäre  näm- 
lich die  Relation  eines  Dinges  zu  Nichts;  denn  der  leere  Raum 
ist  eine  blosse  Idee.  Eine  Erscheinung  in  der  Zeit  ist  ein  Wunder, 
wenn  die  Ursache  derselben  nicht  in  der  Zeit  gegeben  werden 
kann,  nicht  unter  den  Bedingungen  derselben  steht.  Da  aber  allein 
dadurch,  dass  beide,  Ursache  und  Wirkung,  zu  den  Erscheinungen 
gehören,  die  letztere  in  der  relativen  Zeit  bestimmt  werden  kann, 
so  wird  dies  bei  einer  Wirkung,  die  durch  ein  Wunder  hervorge- 
bracht wird,  nicht  geschehen  können ,  weil  ihre  Ursache  nicht  zu 
den  Erscheinungen  gehört.  Es  wird  also  eine  übernatürliche  Be- 
gebenheit nicht  in  der  relativen,  sondern  in  der  absoluten  (leeren) 
Zeit  bestimmt  sein.  Eine  Bestimmung  in  der  leeren  Zeit  ist  ein 
Widerspruch,  weil  zu  einer  jeden  Relation  zwei  Correlata  gegeben 
werden  müssen.«  Die  Schriften  dieses  grössten  Denkers  unserer  Zeit, 
welcher  mit  tiefem  Kennerblick  alle  Seiten  der  Natur  und  des 
Geistes  zu  umfassen  strebt,  sind  es,  aus  denen  vorzugsweise  die 
geistige  Bildung  der  Gegenwart  hervorging  und  welche  durch  vielfach 
zu  neuen  Forschungen  anregende  Gedanken  den  Grund  zur  Welt- 
anschauung unserer  Zukunft  legen.  Die  Vielseitigkeit  des  in  diesen 
Schriften  mit  der  Kraft  des  Genies  behandelten  Stoffes  entspricht 
nicht  nur  dem  wissenschaftlichen  Bedürfnisse  des  Philosophen  vom 
LX.  Jahrg.  8.  Heft  37 


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Piderit:  System  der  Mimik  und  Physiognomik. 


Fache,  sondern  auch  des  Theologen,  Rechtsgelehrten  und  Natur- 
forschers, wie  jedes  Freundes  der  Geistesbildung.  Möge  die  trefflich 
angelegte  und  bis  jetzt  mit  der  grössten  Sorgfalt  von  dem  rühm- 
lichst bewährten  Herren  Herausgeber  durchgeführte  Sammlung  recht 
bald  zum  Abschlüsse  kommen! 

v.  Reichlin-Meldegg. 


Wissenschaftliches  System  der  Mimik  und  Physiognomik  von  Dr. 
Theodor  Pider  iL  Mit  94  photolithographischen  Abbildungen. 
Detmold.  Klingenberg1  sehe.  Buchhandlung.  1867.  XVI  u.  204  S. 
gr.  8, 

Der  bekannte  gelehrte  Herr  Verfasser  des  vorliegenden  Werkes 
hat  schon  im  Jahre  1858  eine  Schrilt  über  Mimik  und  Phy- 
siognomik (Braunschweig  bei  F.  Vieweg  und  Sohn)  herausge- 
geben. Sie  entbült  die  leitenden  Ideen,  welche  dem  vorliegendeu 
Buche  zu  Grunde  liegen.    Als  diese  Schrift  erschien,  hielt  sich 
ihr  Verfasser  in  Südamerika  auf.    Zu  einer  ausführlicheren  Be- 
arbeitung fehlte  ihm  die  Müsse  und  die  Anfertigung  der  dazu  ge- 
hörigen Illustrationen  konnte    nicht  gehörig   überwacht  werden. 
So  fielen  die  Tafeln  mangelhaft  aus.  Die  von  verschiedenen  Stand- 
punkten erschienenen  Kritiken  waren  sämmtlich  günstig.  Doch 
stand  der  weiteren  Verbreitung  jener  Schrift  nicht  nur  die  »apho- 
ristische und  schmucklose  Darstellungsweise«  (S.  IX),  sondern  auch 
die  Behandlung  zweier  verschiedener  Gegenstände  im  Wege.  Im  ersten 
Theile  derselben  wurden  nämlich  die  Grundzüge  einer  physiologischen 
Psychologie  entworfen,  der  zweite  Theil  aber  behandelte  die  Mimik 
und  Physiognomik,  den  bruchstückweise  gegebenen  Hauptgegenstand. 
Mit  Recht  hat  nun  der  Herr  Verfasser  diese  beiden  verschiedenen 
Gegenstände   in  besonderen   Schriften   getrennt   behandelt.  Die 
psychologischen  Fragen  wurden  in  der  von  dem  Unterzeich- 
neten in  diesen  Blättern  angezeigten  Abhandlung:   Gehirn  und 
Geist  (Leipzig  und   Heidelberg,    Winter' sehe  Vcrlagshandlung, 
1863)  besprochen.  Der  andere  Theil,  die  Mimik  und  Physio- 
gnomik, wurde  zum  Gegenstande  der  vorliegenden  Arbeit  gewählt. 
Ein  Vorläufer  derselben,  der  Abschnitt  Uber  die  Augen,  erschien 
1861  im  18.  Bande  der  allgemeinen  Zeitschrift  für  Psychiatrie. 

Das  vorliegende  Buch  wird  in  zwei  Theile  zerlegt,  den  mi- 
mischen und  phy  siognomische  n.  Der  erste  Theil  soll  unter- 
suchen, wie  und  warum  bei  gewissen  Leidenschaften  und  Stimmun- 
gen gewisse  Gesichtsmuskeln  in  Zuckung  und  Spannung  gerathen, 
der  zweite  zeigen,  dass  »diese  mimischen  Züge  durch  häufige  Wie- 
derholung zu  bleibenden ,  zu  physiognomischen  Zeichen  werden« 
(S.  X).  Schon  im  mimischon  Theile  wird  dasjenige,  was  als  phy- 
siognomisches  Resultat  bezeichnet  wird,  an  den  betreffenden  Stellen 


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Piderit:  System  der  Mimik  nnd  Physiognomik. 


579 


kurz  und  mit  verändertem  Drucke  angedeutet.  Die  physiognomi- 
scben  Bemerkungen  erscheinen  also  im  ersten  Tbeile  nur  als  Neben- 
sätze und  werden  erst  im  zweiten  oder  physiognomischen  Theile 
als  Hauptsätze  aufgestellt  und  näber  erläutert  und  ausgeführt.  Als 
Hauptzweck  der  Schrift  wird  die  Untersuchung  der  mimi- 
schen Gesichtsbewegungen  bezeichnet. 

Der  erste  Theil  (Mimik)  umfasst  1)  Einleitung,  insbesondere 
Literatur,  2)  Psychologisches,  3)  Mimik  der  Augen,  4)  Mimik  dos 
Mundes,  5)  Mimik  der  Nase,  6)  Lachen  und  Weinen,  7)  Besume* 
der  mimischen  Bewegungen  der  Gesichtsmuskelü. 

Der  zweite  Theil  (Physiognomik)  enthält  1)  das  künstle- 
rische, 2)  das  literarische  Material,  3)  Rückblick,  4)  Physiognomik 
der  Gesiohtsrauskeln,  5)  Resume"  der  physiognomischen  Merkmaie. 
Angeschlossen  ist  ein  Verzeichniss  der  zu  dem  Werke  gehörenden 
Illustrationen. 

Der  Herr  Verf.  geht  in  der  Einleitung  von  der  richtigen 
Wahrnehmung  aus,  dass  die  mimische  Gesichtsbewegung  die  stumme 
Sprache  des  Geistes,  dass  die  Mienensprache  aller  Orten  und  zu 
allen  Zeiten  dieselbe  geblieben,  dass  sie  selbst  dem  Säuglinge  und 
Thiere  verständlich  ist.  Er  knüpft  daran  einzelne  Bemerkungen 
von  Johannes  Müller,  Lotze,  Oken,  E.  Harless  u.  s.w.., 
und  berichtiget  sie,  spricht  seine  Freude  darüber  aus,  dass  auch 
die  neueren  Physiologen,  wie  Gratiolet,  Vierordt,  Dame- 
row  u.  A.  ihre  Aufmerksamkeit  der  Mimik  und  Physiognomik  zu- 
wenden, führt  Werke  von  Malern  in  Beziohnng  auf  diesen  Gegen- 
stand an,  wie  die  methode  pour  apprendre  ä  desiner  les  passions 
(Amsterdam,  1702)  von  Lebrun,  den  »Tractat«  des  Leonardo  da 
Vinci  »von  der  Malerei,  Nürnberg  1724t,  eine  deutsche  üeber- 
tragung  des  für  Künstler  nützlichen  Originals.  Von  den  älteru 
Künstlern  wird  Hogarth,  von  den  neueren  Kau  Ibach  unter 
denjenigen  genannt,  welche  am  glücklichsten  und  treuesten  das 
Mienenspiel  darstellen. 

Es  handelt  sich  um  die  Frage,  »wie  und  warum  gewisse 
Geisteszustände  von  gewissen  Muskelbewegungen  begleitet  werden c 
(S.  14).  Wenn  man  diese  Frage  ein  Ruth  sei  genannt  hat,  so  ver- 
sucht dieses  der  Herr  Verfasser  zu  lösen.  Er  will  die  Sprache  der 
Leidenschaften  bis  zu  ihrem  Ursprünge  verfolgen,  das  flüchtige  und 
complicirte  Mienenspiel  in  seine  Einzelnbeiten  zerlegen,  die  mimi- 
schen Muskelbewegungen  systematisch  eintheilen,  und  erklären.  Es 
soll  dadurch  dem  Künstler  möglich  werden,  »einen  beliebigen  ver- 
langten Gesichtsausdruck  gleichsam  mit  mathematischer  Bestimmt- 
heit zu  construiren«  (S.  15).  Durch  selbstgefertigte,  einfache, 
schematische  Zeichnungen  hat  der  Herr  Verf.  den  mimischen  Aus- 
druck der  Geraüthsbewegung,  des  intellectuellen  und  sittlichen 
Charakters  anschaulich  zu  machen  gesucht.  Zur  möglichst  fehler- 
losen Darstellung  derselben  wurde  die  Photolithographie  gewählt. 
Wenn  aber  auch  dadurch  eine  grössere  Genauigkeit,  als  durch  Hoiz- 


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bbO 


Piderit:  System  der  Mimik  und  Physiognomik. 


schneiden,  erzielt  wird,  so  erscheinen  dieKöpfe  doch  eigenthümlich  platt 
und  leblos.  Die  gezeichneten  Originale  haben  mehr  Ausdruck  und 
plastische  Rundung,  weil  in  den  Zeichnungen  einzelne  Partien  mehr 
durch  dunklere  Striche  hervorgehoben  sind.  Die  markirteren  Stellen 
lassen  -sich  durch  die  Photolithographie  nicht  wiedergeben ,  das 
Markirte  aber  deutet  gerade  die  Nüancirung  des  leidenschaftlichen 
Zuges  genauer  an. 

Nach  den  Grundsätzen  der  Mimik  werden  Geisteszustände  aus 
den  Bewegungen  der  Gesichtsmuskeln  am  leichtesten  erkannt.  Der 
Herr  Verf.  findet  darin  den  Hauptgrund,  dass  die  »Wurzeln  der 
Nerven,  welche  die  Gesichtsmuskeln  in  Bewegung  setzen,  in  der 
unmittelbaren  Nachbarschaft  des  Geistesorganes«  (des  Gehirnes) 
sind.  Als  der  bedeutendste  unter  den  Bewegungsnerven  der  Ge- 
sichtsmuskeln wird  der  nervus  facialis,  der  Gesichtsnerv,  bezeich- 
net. Er  ist,  heisst  es  S.  19,  »der  eigentlich  mimische  Nerv  und 
jede  heftige  Geisteserregung  verursacht  eine  Zuckung  der  Muskeln, 
welche  unter  seiner  Herrschaft  stehen.«  Die  mimischen  Gesichts- 
bewegungeu  verhalten  sich  zu  den  Geisteszuständen,  wie  die  »Wir- 
kungen zu  ihren  Ursachen.«  Es  handelt  sich  um  den  Nachweis, 
welcho  bestimmte  Muskeln  und  Muskelgruppen  bei  bestimmten 
Geisteszuständen  in  Bewegung  gerathen.  Dieser  ist  die  Aufgabe 
des  ersten  oder  miraischen  Theiles.  In  dem  Abschnitt  »Psycholo- 
gisches« stellt  der  Herr  Verf.  die  Fundamentalsätze  der  Mimik 
auf.  Der  erste  lautet:  »Da  jede  Vorstellung  dem  Geiste  gegen- 
ständlich erscheint,  so  beziehen  sich  die  durch  Vorstellungen  ver- 
anlassten mimischen  Muskelbewegungen  auf  imaginäre  Gegenstände«. 
Der  zweite:  »Die  durch  angenehme  oder  unangenehme  Vorstel- 
lungen verursachten  mimischen  Muskelbewegungen  beziehen  sich  auf 
imaginäre  harmonische  (angenehme)  oder  disharmonische  (unange- 
nehme) Sinneseindrücke.«  Die  durch  Geisteszustände  hervorgerufe- 
nen raimischen  Muskelbewegungen  haben  eine  Beziehung  zu  den 
imaginären  Gegenständen  und  zu  den  imaginären  Sinneseindrücken. 
Je  intensiver  der  Geist  durch  eine  Vorstellung  afficirt  wird,  um 
so  gewisser  tritt  die  mimische  Muskelbewegung  ein.  Die  Vorstel- 
lung ist  aber  um  so  intensiver,  je  ausgeprägter  der  angenehme 
oder  unangenehme  Charakter  ist  und  je  plötzlicher  die  Vorstellung 
auftritt. 

Was  die  Mimik  der  Augen  betrifft,  werden  der  Blick, 
d.  h.  die  Bewegung  des  Angapfels,  das  Schliessen  und  Oeffnen  der 
Augen,  und  als  Anhang  der  veränderliche  Glanz  des  Augapfels 
unterschieden,  beim  Blicke  besonders  dessen  Arten  nach  dem  ver- 
schiedenen Grade  der  Beweglichkeit  und  der  besonderen  Richtung 
des  Augapfels  und  das  Resume  der  sich  auf  den  Blick  beziehen- 
den Bewegungen  dargestellt.  Der  Blick  ist  nach  dem  Grade  der 
Beweglichkeit  ein  müder  und  träger,  lebhafter,  fester,  sanfter, 
umherschweifender,  unstäter,  nach  der  Art  der  Richtung  ein  ver- 
stockter, pedantischer,  eutzückter.    In  Betreff  des  Schliesseus  und 


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Piderit:  System  der  Mimik  und  Physiognomik. 


581 


Oeffuens  der  Augen  wird  von  den  Augenschliessrauskeln  (Augen- 
blinzeln),  Augenbrauenmuskeln  (senkrechten  Stirnfalten),  Augen- 
deckelhebern (Aufreissen  der  Augen ,  schläfrig  gesenkten  Augen- 
deckeln) ,  Stirnmuskeln  (horizontalen  Stirnfalten  und  empor- 
gezogenen Augenbrauen) ,  von  den  sich  auf  das  Schliessen  und 
Oeffnen  der  Augen  beziehenden  mimischen  Bewegungen  und  Com- 
binationen,  hinsichtlich  des  veränderlichen  Glanzes  des  Augapfels 
von  den  Thränen ,  der  grösseren  oder  geringeren  Spannung  der 
häutigen  Kapsel  des  Augapfels,  von  dem  Einflüsse  der  Irisfarbe  auf 
den  Augenglanz  gehandelt. 

Die  Mimik  des  Mundes  umfasst  die  Bewegungen  der  Mund- 
muskeln in  ihren  Beziehungen  zum  Geschmacksinn  (den  bittern,  süssen, 
prüfenden,  verbissenen,  verachtenden  Zug  mit  den  jedesmaligen 
Combinationen) ,  die  Bewegungen  der  Mundmuskeln  in  ihren  Be- 
ziehungen zum  GehÖmnu  (den  offen  stehenden  Mund).  Hierauf  folgt 
die  Mimik  der  Nase,  sodann  das  Oeffnon  der  Nasenlöcher  (ge- 
schwellte Nüstern)  und  das  Schliessen  derselben ,  das  Lachen  und 
Weinen,  die  Bewegungen  der  Athem-  und  Gesichtsmuskeln  bei  dieser 
Erscheinung,  die  stärkeren  und  schwächeren  Grade  des  Lachens, 
das  weinende  Gesicht,  die  mimischen  Combinationen  mit  dem 
lächelnden  Ausdrucke. 

Im  zweiten  Theile,  der  Physiognomik,  wird  zuerst 
das  künstlerische  und  das  literarische  Material  unterschieden,  wel- 
ches dem  Physiognomiker  zu  Gebote  steht.  Das  künstlerische 
Material  umfasst  die  Zeichnungen ,  Kupferstiche ,  Photographien, 
plastischen  Darstellungen  der  Köpfe  u.  s.  w. ,  das  literarische  die 
Schriftsteller  über  Physiognomik.  Hier  wird  von  Aristoteles  und 
dessen  Nachfolgern,  von  Lavater  und  seinen  Nachfolgern,  Gail, 
Carus,  Camper  und  den  neueren  Schädelmessungen  gehandelt. 

Die  physiognomischen  Züge  sind  der  Physiognomik  die  blei- 
bend gewordenen  mimischen  Züge.  Ausser  den  mimischen  Mus- 
kelbewegungen veranlassen  auch  noch  andere  Ursachen  die  Bildung 
der  Gesichtszüge,  wie  körperliche  Leiden  und  Krankheiten,  das 
häufige  Leben  in  freier  Luft,  die  Gewohnheit,  bei  den  Arbeiten 
Grimassen  zu  schneiden,  gewisse  eine  Anstrengung  einzelner  Ge- 
sichtsmuskeln bedingende  Arbeiten,  der  Nachahmungstrieb,  das 
Temperament,  die  Fettigkeit  und  das  Alter  der  Menschen  (S.  153 
—  155).  Ist  die  Physiognomik  die  im  Gesicht  fest  gewordene  Mimik, 
so  müssen  in  jener  dieselben  Gesichtspunkte  berührt  werden,  welche 
in  dieser  zur  Darstellung  kommen. 

Daher  werden  auch  im  physiognomischen  Theile  die  Physiog- 
nomik des  Auges,  Mundes,  der  Nase,  die  durch  Lachen  und  Lächeln 
entstehenden  physiognomischen  Merkmale,  so  wio  das  Resnme  der 
physiognomischen  Kennzeichen  unterschieden.  Die  Arten  des  Blickes 
sind  die  in  dem  mimischen  Theile  dargestellten.  Dazu  kommen  noch 
die  senkrechten  Stirnfalten  als  Folge  von  Leiden,  einer  unzufriede- 
nen verdriesslichen  Sinnesart,  angestrengter,  aber  unbefriedigter 


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58* 


Piderit:  ßystem  der  Mimik  und  Physiognomik. 


(resp.  »kritischer,  analysirender«)  Denkthätigkeit ,  von  empfind- 
lichen Augen,  von  Kurzsichtigkeit.  Es  kommen  sodann  das  offene, 
das  schläfrige  Auge,  die  horizontalen  Stirnfalten  mit  hoch  gezogenen 
Augenbrauen  als  Folge  von  Neugierde,  von  angestrengter  (»recep- 
tiverc)  Denkthlitigkeit  u.  s.  w.  zur  Sprache. 

Der  Stoß  ist  durchweg  anziehend  und  mit  physiologischer  und 
psychologischer  Sachkenntniss  behandelt.  Was  der  Herr  Verf.  für 
die  Wahrheit  der  Mimik,  die  Unhaltbarkeit  der  Kranioskopie  und 
der  Schädelmessungen  sagt,  ist  überall  begründet.  Ob  aber  der 
Schluss  vom  beweglichen  Gesichte  des  Menschen  auf  das  feststehende, 
sich  um  den  Knochenkopf  ablagernde,  also  von  der  Mimik  auf  die 
Physiognomik  begründet  ist,  ist  eine  andere  Frage.  Die  Mimik 
gründet  sich  auf  die  Pathognomik  und  diese  will  das  bewegliche 
und  veränderliche  Innere  des  Menschen  aus  dem  beweglichen  oder 
veränderlichen  Aeussern  erkennen.  Sie  erkennt  die  Gemüthsbe- 
wegungen,  Zustände  des  Affectes  und  der  Leidenschaft,  aus  den  Be- 
wegungen des  Körpers.  Eine  besondere  Behandlung  verdient  ausser 
dem  von  dem  Herrn  Verfasser  Dargestellten  die  Mimik  und  Physio- 
gnomik der  Stirne,  welche  nur  gelegenheitlich  bei  den  Augenmuskeln 
berührt  wird.  Die  Mimik  des  Kopfes  selbst,  der  Hände,  Füsso,  die 
Haltung  des  ganzen  Körpers,  der  Gang,  die  allgemeinen  Erschei- 
nungen im  Körper,  wie  die  Einflüsse  der  bewegten  Seelenthätigkeit 
auf  das  Athemholen,  den  Ernährungsprocess ,  Blutumlauf  u.  s.  w. 
verdienen  in  der  Pathognomik  eine  eigene  Darstellung  und  sind 
in  der  vorliegenden  Schrift  tibergangen.  Lichtenberg  hat  den  Werth 
der  Pathognomik  in  seiner  Antipbysiognomik  (vermischte  Schriften, 
Band  iii,  S.  471)  anerkannt,  wenn  er  schreibt:  »Unstreitig  gibt  es 
eine  unwillkürliche  Gebärdensprache,  die  von  den  Leidenschaften 
in  allen  ihren  Gradationen  über  die  ganze  Erde  geredet  wird.  Ver- 
stehen lernt  sie  der  Mensch  gemeiniglich  vor  seinem  fünf-  und 
zwanzigsten  Jahre  in  grosser  Vollkommenheit.  Sprechen  lehrt  sie 
ihn  die  Natur  und  zwar  mit  solchem  Nachdruck,  dass  Fehler  darin 
zu  machen,  zur  Kunst  ist  erhoben  worden.  Sio  ist  so  reich,  dass 
bloss  die  süssen  und  sauern  Gesichter  ein  Buch  füllen  würden  und 
so  deutlich,  dass  die  Elephanten  und  die  Hunde  den  Menschen  ver- 
stehen lernen.  Dieses  hat  noch  Niemand  geleugnet  und  ihre  Kenut- 
niss  ist,  was  wir  Pathognomik  genannt  haben.«  Bei  der  Physio- 
gnomik wird  von  dem  Herren  Verf.  nicht  auf  die  Beschaffenheit 
des  Körpers,  des  Schädels,  des  Kehlkopfes,  Halses,  der  Brust  und 
Haare  Rücksicht  genommen,  wie  Lavater  und  andere  Physiognomen 
ohne  solide  Begründung  gethan  haben.  Er  hält  sich  lediglich  an 
die  durch  häufige  gleichartige  Bewegung  der  Gesichtsmuskeln  fest 
gewordenen  Züge  und  kennt  darum  keine  andere  Grundlage,  als 
die  Gesichtsraimik,  deren  Grundsätze  auf  die  dauernde  Beschaffen- 
heit des  Gesichtes  angewendet  werden.  Gewiss  steht  eine  solche 
Auffassung  der  Physiognomik  höher,  als  die  Lavater'sche ,  welche 
den  Charakter  mehr  erräth  und  natürlieh  bei  bekannten  Grössen 


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Piderit:  System  der  Mimik  und  Physiognomik. 


688 


richtig  schildert,  als  dass  sie  auf  feste  anatomisch-physiologische 
Grundsätze  ihr  Theorem  baut.  Sie  hat  eine  festere  Grundlage  und 
führt  nicht  zu  einseitigen  und  excentrischen  Träumereien,  wie  wir 
sie  bei  Lavater  und  selbst  bei  Herder  finden.  So  ist  nach  Herder 
die  Unterlippe  9  das  Rosenkissen,  auf  welchem  die  Krone  der  Herr- 
schaft (der  Oberlippe)  ruht.«    Ein  kurzer  Hals  ist  nach  Lavater 
das  Zeichen  der  Kraft  und  des  Muthes.    Der  Grund  soll  darin 
liegen,  weil  bei  kurzhalsigen  Menschen  und  Thieren  das  Herz  dem 
Hirne  näher  liegt.    Eine  grosse  Körpermasse  soll  sich  nicht  durch 
Kraft  des  Geistes  auszeichnen,  politisch  Unzufriedene  sind  »hager 
und  dünnleibig. «    Eine  breite  Brust  lässt  auf  Kraft  schliessen. 
Selbst  die  Haare  sollen  nach  Lavater  ein  Kriterium  der  Menscben- 
kenntniss  werden.  Blonde,  flache,  zarte  Haare  bedeuten  Schwäche, 
Passivität,  eine  feine,  reizbare  Organisation,  dichtes  kurzes  Haar 
mehr  Energie,  Selbstständigkeit,  hartes,  struppiges,  borstiges  Haar 
Eigensinn,  Trotz.  Ein  Mensch  mit  vielen  Haarwirbeln  auf  dem  Kopfe 
rauss  nach  Herder  auch  ein  Mensch  mit  krausen  Gedanken  sein. 
Das  sind  lächerliche  Behauptungen,  die  jeden  Augenblick  thatsUch- 
lich  widerlegt  werden,  und  die  weder  eine  physiologische  noch  eine 
psychologische  Begründung  zulassen.  Durchaus  begründet  sind  die 
gegen  die  Phrenologie  vorgebrachten  Einwendungen  (S.  128  — 145). 
Nichts  desto  weniger  darf  man  in  der  physiognomischen  Kenn- 
zeichnung gewiss  die  Stirne  nicht  tibergehen  und  hier  erhält  man 
Gelegenheit,  die  Bedeutung  und  Stellung  der  Stirnfalten  zu  be- 
rühren. Wenn  auch  die  mimischen  oder  pathognomischen  Züge  bis- 
weilen auf  den  constanten  Ausdruck  des  Gesichts  schliessen  lassen, 
und  so,  wie  der  Herr  Verf.  S.  149  sagt,  ein  »physiognomischer 
Ausdruck  als  ein  habituell  gewordener  mimischer  Ausdruck  anzu- 
sehen ist«,  so  kann  eine  solche  Behauptung  doch  nicht  unumstöss- 
lich  als  Regel  gelten.    Man  stützt  sich  dabei  auf  »die  physiolo- 
gische Thatsache«,  dass  »Muskeln,  welche  häufig  in  Spannung  ge- 
setzt werden,  sich  kräftiger  ausbilden,  leichter  erregbar  werden 
und  auch  im  Zustande  der  Ruhe  in  einer  gewissen  Spannung  ver- 
harren.« Dass  sich  häufig  in  Spannung  gesetzte  Muskeln  kräftiger 
ausbilden,  wird  durch  die  in  Folge  der  Uebung  stärker  werdenden 
Arme  der  Schmiede,  die  ausgebildeteren  Wadenmuskeln  der  Berg- 
bewohner u.  s.  w.  bewiesen.    Zum  Belege  für  die  dauernde  Span- 
nung der  oft  bewegten  Muskeln  wird  auf  die  Thatsache  hingewie- 
sen, dass  bei  Manchen,  denen  die  eine  Gesichtshälfte  gelähmt  ist, 
bei  welchen  also  die  gelähmten  Muskeln  vollständig  erschlafft  sind, 
durch  die  natürliche  Spannung  (durch  den  so  genannten  Muskel- 
tonus) der  andern  Gesichtsbälfte  das  Gesicht  schiefgezogen  wird.« 

Immerhin  wird  man  gegen  die  Ableitung  einer  Menschen- 
kenntnissregel für  die  ruhenden  Gesichter  aus  der  Beschaffenheit 
derselben  im  bewegten  Zustande,  gegen  die  Zuverlässigkeit  des 
Maassstabes  der  Mimik  und  Pathognomik  bei  Beurtheilung  des 
physiognomischen  Zustandes  Bedenken  erheben  können.  Die  patbo- 


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584  Piderit:  System  der  Mimik  und  Physiognomik. 

gnomischen  Zeichen  lassen  nicht  immer  Spuren  im  Gesichte 
zurück.  »Dem  einen  füllt  nach  einer  durchschwärmten  Nacht,  sagt 
Lichtenberg  (vermischte  Schriften  HI,  S.  483),  die  Wange  in  die 
Zahnlücke,  da  den  andern  die  aufgehende  Sonne  so  jugendlich  hin- 
ter der  Bouteille  udd  beim  Mädchen  sieht,  als  ihn  die  untergehende 
gesehen  hat.«  Die  Form  der  weichen  Theile  hängt  so  wenig,  als 
die  der  festen,  allein  von  der  Erregbarkeit  der  Seele,  sondern  oft 
von  der  Russern  Erregung  ab,  welche  man  unmöglich  von  dem  Ge- 
sichte ablesen  kann.  Lichtenberg  sagt  ebend.  S.  435  u.  436:  >So 
steht  unser  Körper  zwischen  der  Seele  und  der  übrigen  Welt  in 
der  Mitte.  Spiegel  der  Wirkungen  von  beiden,  erzählt  er  nicht 
allein  unsero  Neigungen  und  Fähigkeiten,  sondern  auch  die  Peit- 
schenschläge des  Schicksals,  Klima,  Krankheit,  Nahrung  und  tau- 
send Ungemach ,  dem  uns  nicht  immer  unser  eigener  böser  Ent- 
schluss ,  sondern  oft  Zufall  und  oft  Pflicht  aussetzen.  Sind  die 
Fehler,  die  ich  iu  einem  Wachsbilde  bemerke,  alle  Fehler  des 
Künstlers  oder  nicht  auch  Wirkungeu  ungeschickter  Betaster,  der 

Sonnenhitze  oder  einer  warmen  Stube?   »Bezieht  sich  denn 

Alles  im  Gesicht  auf  Kopf  und  Herz?  Warum  deutet  ihr  nicht 
den  Monat  der  Geburt,  kalten  Winter,  faule  Windeln,  leichtfertige 
Wärterinnen,  feuchte  Schlafkammern,  Krankheiten  der  Kindheit  aus 
den  Nasen?«  u.  s.  w.  Auch  glatte,  keine  Spur  von  Leidenschaft 
zeigende  Gesichter  bergen  trügerische  Seelen.  So  heisst  es  bei 
Lichtenberg  a.  a.  0  S.  449  n.  450:  »Freilich,  wer  schöne  Spitz- 
buben, glatte  Betrüger  und  reizende  Waisenschinder  sehen  will, 
muss  sie  nicht  gerade  immer  hinter  den  Hecken  und  in  Dorfker- 
kern suchen.  Er  muss  hingehen,  wo  sie  aus  Silber  speisen,  wo  sie 
Gesichterkenntniss  und  Macht  über  ihre  Muskeln  haben,  wo  sie 
mit  einem  Achselzucken  Familien  unglücklich  machen ,  und  ehr- 
lichen Namen  und  Credit  über  den  Haufen  wispern  oder  mit  affec- 
tiver Unschlüssigkeit  wegstottern.« 

Allerdings  leiten,  wie  der  Herr  Verf.  ausführt,  die  Bewegung 
der  Gesichtsmuskeln  und  vorzüglich  die  Beobachtung  des  Auges 
als  des  Seelenspiegels  sicherer,  als  die  von  Lavater  angegebenen, 
aus  der  Beschaffenheit  des  Knochengerüstes  abgeleiteten,  unsichern, 
theilweise  lächerlichen  physiognomischen  Kennzeichen,  und  der  Herr 
Verf.  deutet  selbst  darauf  hin,  dass  ausser  den  Gemüthsbewegun- 
gen  noch  andere,  nicht  in  der  Willenskraft  des  Menschen  liegende 
Ursachen  die  pbysiognoraische  Erscheinung  bedingen.  Aber  ge- 
rade deshalb  können  die  mimisch  festgestellten,  untrüglichen  Regeln 
nicht  als  physiognomische  gelten.  Deutlich  zeigt  dies  der  Unter- 
schied eines  Gesichtes  in  der  Ruhe  und  in  der  Bewegung.  »Drei 
Köpfe,  sagt  Lichtenberg  a.  a.  0.  S.  502,  die  sich,  wie  aus  einer 
einzigen  Form  gegossen,  glichen,  könnten,  wenn  sie  zu  lächeln 
oder  zu  sprechen  anfingen,  alle  Aehnlichkeit  verlieren.« 

Ein  zuverlässigerer  Maassstab  für  die  Beurtheilung  des  Cha- 
rakters bleibt  gewiss  immer  die  Handlungsweise  des  Menschen. 

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Caro:  Gütheatudien. 


685 


Nicht  umsonst  sagt  man,  dass  der  Schein  trügt,  und  dass  man 
einen  Menschen  nicht  nach  dem  blossen  äussern  Eindruck  beur- 
theilen  müsse.  Diese  Bemerkungen  sollen  das  Verdienst  des  Herrn 
Verf.  nicht  schmälern.  Die  Arbeit  desselben  ist  eine  gründliche, 
die  früheren  physiognomischen  Vorurtheile  beseitigende  und  eine 
neue  bessere  Grundlage  legende.  Sie  ist  anziehend  geschrieben  und 
lehrreich  Das  dem  Buche  angehängte  Verzeichniss  enthält  die 
Erklärung  der  94  pbotolithographirten  Abbildungen.  Diese  sind 
gelungen ,  treu  abgebildete  Zeichnungen  des  Herrn  Verf. ,  welche 
zur  Erhärtung  seiner  Theorie  Köpfe  von  bestimmtem  und  verschie- 
denem physiognomischem  Ausdruck  geben.  Doch  ist  auch  ein  sol- 
cher Ausdruck  im  strengen  Sinne  mehr  mimisch  oder  pathogno- 
misch,  als  physiognomisch,  weil  eben  der  Zeichner  die  Seele  dabei 
in  einem  Zustande  der  Bewegung  auffasst,  welcher  irgend  eine  be- 
stimmte Seelenerregung  ausdrückt,  z.  B.  Köpfe  mit  verstecktem, 
entzücktem  Blicke ,  mit  bitterem ,  prüfendem ,  verbissenem  Zuge 
u.  s.  w.  Die  Zeichnungen  sind  für  das  Studium  der  Mimik  sehr 
brauchbar.  In  einzelnen  Köpfen  werden  auch  nach  Meistergemälden 
die  Züge  berühmter  Männer  wiedergegeben ,  so  der  prüfende  Zug 
aus  der  Weinprobe  von  Hasenklever  (S.  78),  der  verbissene  Zug 
im  Kopfe  Gregor's  VII.  aus  dem  Bilde :  Gregor  VII.  in  der  Verbannung 
zu  Salerno  v.  J.  Schräder  (S.  36.  82),  die  intensiv  gespannte  Aufmerk- 
samkeit im  Burghesischen  Fechter  (S.  88),  der  Ausdruck  der  Auf- 
merksamkeit in  der  Garnwinderin  von  Gerard  Douw  (S.  88),  die 
heilige  Elisabeth  aus  Murillo's  Madonna  von  Sevilla  (S.  105), 
Göthe  von  Chodowiocki  (S.  188),  Göthe's  Marmorbüste  und  Sil- 
houette (S.  138),  Katharina  II.  von  Chodowiecki  (S.  141),  Napo- 
leon I.  von  J.  Guerin  (S.  172,  189,  195),  Schubart  von  J.  Oelen- 
hainz  (S.  174,  191,  195),  ein  Kopf  aus  dem  Irrenhaus  von  Kaul- 
bach (S.  178),  Photographie  des  Generals  W.  Scott  (S.  188)  und 
des  Ministers  Guizot  (S.  189),  Cromwell  von  Cooper  (S.  189)  u.  a.  m. 

v.  Reichlin-Meldegg. 


Guthc'Studien  von  E.  Caro.  Aus  dem  Französischen  von  Iwan 
Germak.  ZrsemysX  In  Commission  bei  Gebrüder  Jele'n.  1867. 
151  S.  8. 

Uober  Göthe's  Philosophie  erschienen  in  den  Jahren  1865  und 
1866  in  der  Revue  des  deux  mondes  fünf  Abhandlungen.  Der 
erste  Göthe's  Philosophie  darstellende  Aufsatz  behandelt  »die 
Geschichte  seines  Geistes,  Göthe  und  Spinoza,  der  zweite  die 
wissenschaftlichen  Arbeiten,  Göthe  und  Gooffroy  Saint-Hilaire,  der 
dritte  seine  Begriffe  von  Natur,  Gott  und  menschlicher  Bestim- 
mung, Eklekticismus  und  Pantheismus,  der  vierte  die  philosophi- 
schen Spuren  in  der  Dichtkunst  Göthe's,  Prometheus,  Mephisto- 


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686 


Caro:  Götheatudien. 


pheles,  Faust,  der  fünfte  die  philosophischen  Theorien  des  zwei- 
ten Faust.  Die  dritte  und  fünfte  Abhandlung  Caro's  werden 
von  dem  Herrn  Herausgeber  in  deutscher  Bearbeitung  als  die  wich- 
tigsten getreu  nach  Sinn  und  Inhalt  des  Textes  mit  Uebergehnng 
weniger  Pleonasmen  wieder  gegeben.  Sehr  zweckmässig  war  es, 
die  Citate  des  Textes  den  Originalwerken  zu  entnehmen,  oder,  wo 
sich  Lücken  fanden,  diese  zu  ergänzen.  Wo  die  Originalwerke  dem 
Herrn  Herausgeber  nicht  zu  Gebote  standen ,  musste  das  franzö- 
sische Citat  in  die  deutsche  Sprache  zurück  übersetzt  werden  und 
wird  dieses  durch  Hin  weglassung  der  Anführungszeichen  angedeu- 
tet. Wenn  Vilmar  in  seiner  Geschichte  der  deutsohen  National- 
literatur (4.  Aull.  2.  Band,  S.  227)  bemerkt,  dass  »nach  fünfzig 
Jahren  der  ganze  zweite  Theil  des  Faust  fast  ganz  ohne  Verständ- 
niss ,  mithin  auch  ohne  Interesse  sein  wird«,  so  kann  man  eine 
solche  Stelle  wohl  kaum  zum  Belege  für  die  Behauptung  gebrau- 
chen, dass  die  Franzosen  gegen  den  grossen  Dichter  und  Philoso- 
phen gerechter  sind,  als  die  ganze  grosse  deutsche  »Götbe-  und 
Faustliteratur. €  Die  letztere  wird  übrigens  durch  einige  Urtheile 
so  wenig  vertreten ,  als  die  französische  Anschauung  durch  einige 
Abhandlungen  in  der  revue  des  deux  mondes. 

Es  sind  also  zwei  Abhandlungen ,  die  uns  hier  ans  der  ge- 
nannten, dem  Fortschritte  huldigenden  Zeitschrift  geboten  werden 
und  sich  mit  Göthe's  Philosophie  befassen.  Die  erste  entwickelt 
Göthe's  Begriffe  von  Natur,  Gott  und  menschlicher 
Bestimmung  (S.  1  —  81).  Es  ist  ein  schwieriges  Unternehmen, 
die  philosophische  Weltanschauung  eines  Dichters,  der  in  seinen 
Gedichten  und  prosaischen  Werken  die  Natur  in  so  vielseitiger 
Gestaltung  auffasst  und  darstellt,  auf  einigen  Seiten  wieder  zu 
geben  und  dabei  noch  die  wörtlichen  Belege  aus  dessen  eigenen 
Werken  anzuschliessen.  Die  eigene  Anschauungsweise  des  Lesers 
wird  auch  eine  nicht  systematische,  sondern  aphoristische,  je  nach 
dichterischer  Stimmung  oder  Lebenseindrücken  verschiedene  philo- 
sophische Denkweise  in  poetischen  Werken  in  der  Weise  auslegen, 
dass  sie  ihre  eigenen  Gedanken  und  Anschauungen  in  dem  Dichter 
wieder  zu  finden  glaubt.  Die  erste  Abhandlung  ist  bei  der  Kürze 
des  Raumes,  den  sie  einnimmt,  eine  umfassende  und  durchweg  ge- 
lungene zu  nennen.  Von  den  Götbe'schen  Schriften  gaben  des  Dich- 
ters Erinnerungen  aus  seinem  Leben,  die  Sprüche  in  Prosa,  Falk 
über  Göthe,  GötLe's  Gott  und  Welt,  Eckermann's  Gespräche  mit 
demselben,  einige,  jedoch  wenige  Stellen  aus  dem  Faust  vielerlei 
Materialien,  wiewohl  auch  der  ersto  und  noch  mehr  der  zweite 
Theil  zum  Tbeile  sehr  bezeichnende  Belege  bieten. 

Der  Herr  Verf.  zeigt,  dass  Göthe's  Philosophie  Pan- 
theismus und  Eklekticismus,  aber  kein  todter,  sondern  ein 
lebendiger  ist,  dass  er  mit  seinem  Pantheismus  keine  todte,  me- 
chanische, sondern  eine  lebenvolle,  dynamische  Weltanschauung  ver- 
bindet, dass  er  in  seiner  Weise  Spinoza's  Lehre  von  der  Einheit 

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Caro:  Götbestudien. 


687 


mit  Leibnitzen's  Monadenlehre,  oder  der  Lehre  von  der  einheitlichen, 
sich  stufenweise  entwickelnden,  in  Tbätigkeit  sich  offenbarenden 
Kraft  verbindet,  dass,  so  entgegengesetzt  Spinoza  nnd  Leibnitz  sind, 
beide  in  Göthe's  pantheistischem  Djnamismus  ihre  Berührungspunkte 
finden.  Sein  Hylozoismus  hat  nach  dem  Herrn  Verf.  mit  Thaies 
und  Herakleitos  Berührungspunkte.  Ref.  möchte  als  Parallele  lieber 
des  letztern  ewigen  Werdeprocess ,  die  Metamorphosentheorie  an- 
führen, als  Thaies,  bei  welchem  sich  am  wenigsten  Belegstellen  für 
den  später  ausgebildeten  Hylozoismus  der  jonischen  Schule  vor- 
finden. Das  letzte  Zeugniss,  auf  welches  alle  andern  zurückgeführt 
werden  müssen,  ist  hier  das  des  Aristoteles  und  dieses  diont  nicht  wei- 
ter, als  zur  Behauptung,  die  als  gewiss  feststeht,  dass  nach  Thaies 
das  Wasser  der  Stoff  ist,  aus  dem  Alles  bestehen  und  aus  dem 
Alles  entstanden  sein  soll.  Göthe  betrachtet  Gott  und  Natur,  Seele 
und  Leib,  Geist  und  Materie  nicht  als  absolute,  von  einander  ge- 
trennte Gegensätze.  Er  hält  Bich  an  die  Durchdringung  beider. 
Es  ist  ein  anfangs-  nnd  endloses,  in  immer  neuen  Umwandlungen 
sich  gestaltendes  göttliches  Leben  in  der  Natur.  Bei  Falk  nennt  er  diese 
absolute  Trennung  »unseelig«;  denn  sie  ist  ihm  die  bedeutendste 
Quelle  philosophischer  Irrthümer.  Es  ist  eine  Substanz  in  Allem. 
Kein  Wesen  kann  in  Nichts  zerfallen.  Die  einheitliche,  in  Allem 
wirkende  Kraft  ist  Göthe  bald  »die  liebevolle  Hauptmonas  im 
Mittelpunkte  der  Schöpfung,  die  sich  aller  untergeordneten  Mona- 
den des  ganzen  Weltalls  bedient,  wie  sich  unsere  Seele  der  sich 
ihr  zum  Dienste  untergebenen  Monaden  bedient«,  bald  ist  sie 
»die  Weltseele«,  die  »allen  Kräften  ihre  Arbeit  vorzeichnet.«  Nach 
Göthe  ist  »Gott  dort  gegenwärtig,  wo  actuelle  Bewegung,  Umbil- 
dung, Leben  ist« ;  sonst  existirt  er  »in  dem  Andern  oder  dem 
Todten  nur  dem  Vermögen  nach  (virtualitor)«  (S.  47). 

Seine  Auffassung  über  die  Principien  der  Moral  und  das  Ganze 
der  menschlichen  Bestimmung  bilden  die  Ergänzung  und  Folge 
seiner  Philosophie.  Die  Natur  ist  der  »realisirte  Gott«  und  darum 
»die  Moralität  eine  Sache  des  Instinctes,  eine  innere  Offenbarung 
des  göttlichen  Princips,  das  deti  Menschen  mit  dem  Weltganzen  in 
Harmonie  zu  setzen  strebt.«  Die  Moralität  ist  »die  auf  das  Leben 
angewandte  Aesthetik«  (S.  50),  Die  wahre  Quelle  derselben  ist 
»die  Betrachtung  schöner,  edler,  heroischer  Existenzen.«  Die  wah- 
ren sittlichen  Regeln  sind  jene,  welche  edle  Naturen  aus  sich  selbst 
schöpfen.  Zu  den  schönsten  moralischen  Inspirationen  gehört  Göthe's 
Spruch:  »Pflicht  ist,  wo  man  liebt,  was  man  sich  selbst  befiehlt« 
(Sprüche  in  Prosa,  7.  Abtheilung).  Die  höchste  Regel  für  den 
Menschen  ist  die  »unversehrte  Bewahrung  seiner  innern  Freiheit« 
(S.  55).  Göthe  wendete  bei  der  Fortdauer  der  Seele  die  Monaden- 
lehre an.  Die  Hauptmonade'  löst  sich  im  Tode  von  den  übrigen, 
sich  um  sie  grnppirenden  Monaden  ab,  welche  in  ihrer  Weise  eben 
so  weuig  vernichtet  werden,  sondern  andere  Verbindungen  ein- 
gehen.   Ihm  ist  die  Fortdauer  derjenigen  Monas  gesichert,  welche 


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5=8 


Caro:  Götheetudien. 


Grosses  in  sich  trägt,  bei  welcher  es  der  Mühe  werth  erscheint, 
mit  ihrer  Errungenschaft  fortzuexistiren. 

Sein  Pantheismus  ist  »nicht  der  dogmatische  oder  idealistische 
unserer  Zeit,  es  ist  ein  durchaus  naturalistischer,  ich  möchte  sagen, 
ein  heidnischer  Pantheismus;  die  Vorfahren  seines  Zeichens  sind 
unter  den  klassischen  Heiden  zu  suchen«  (S.  75).  Des  Dichters 
Eklekti  cismus  bezeichnet  der  Herr  Verf.  also:  »Eine  eklektische 
Philosophie  kann  es  nicht  geben,  wohl  aber  eklektische  Philosophen. 
Ein  Eklektiker  aber  ist  ein  Jeder,  der  aus  dem,  was  ihn  umgibt, 
aus  dem,  was  sich  um  ihn  ereignet,  sich  dasjenige  aneignet,  was 
seiner  Natur  gemäss  ist,  und  in  diesem  Sinne  gilt  alles,  was  Bil- 
dung und  Fortscbreitung  heisst,  theoretisch  und  praktisch  genommen, 
als  Eklekticismus.«  (Sprüche  in  Prosa.)  Göthe,  der  viel  auf  Cousin  hielt, 
von  welchem  er  dreimal  (1817,  1825  u.  1831)  besucht  wurde,  wen- 
dete die  Eintheilung  der  Geschichte  der  Philosophie  in  vier  Perio- 
den auf  die  vier  Lebensalter  an.  Er  sagt  bei  Eckermann:  »Wir 
sind  Sensualisten,  so  lange  wir  Kinder  sind,  Idealisten ,  wenn  wir 
lieben  und  in  den  geliebten  Gegenstand  Eigenschaften  legen ,  die 
nicht  eigentlich  darin  sind ;  die  Liebe  wankt,  wir  zweifeln  an  der 
Treue  und  sind  Skeptiker,  ehe  wir  es  glauben.  Der  Rest  des 
Lebens  ist  gleichgiltig,  wir  lassen  es  gehen,  wie  es  will  und  endi- 
gen mit  dem  Quietismus,  wie  die  indischen  Philosophen«  (S.  80). 
In  Göthe's  Philosophie  spiegelt  sich  die  philosophische  Riebtang 
des  19.  Jahrhunderts  ab.  Denn  bei  Göthe  herrscht,  wie  der  Herr 
Verf.  S.  81  sagt,  »der  eklektische  und  zugleich  naturalistische 
Geist  in  einem  seiner  vollendetsten  Typen.« 

Die  zweite  Abhandlung  enthält  die  philosophischen 
Theorien  des  zweiten  Faustdramas.  Wir  finden  hier  eine  ge- 
rechte Würdigung  dieser  im  Verlaufe  von  50  Jahren  unter  verschie- 
denen Einflüssen  und  Stimmungen  entstandenen  Dichtung,  eine  unbe- 
fangene Beurtheilung  ihrer  Vorzüge  und  Mangel  In  einigen  Punkten 
ist  jedoch  Ref.  nicht  einverstanden.  Der  Kaiser,  von  welchem  im 
zweiten  Tbeile  die  Rede  ist,  ist  nicht  etwa  eine  Nachbildung  Lud- 
wigs XV.  und  seiner  Zeit  und  der  Feuerquell  im  Mumenschanz 
keine  Anspielung  auf  die  Revolution ,  eine  Ansicht ,  welche  von. 
Düntzer  besonders  hervorgehoben  worden  ist.  Göthe  lehnt  sich  in 
der  Wahl  dor  äussern  Staffage  im  ersten,  wie  im  zweiten  Theilo, 
an  die  alte  Faustsage  an,  und  zwar,  wie  gewisse  Specialitäten,  die 
in  seinen  Faust  übergingen,  unumstößlich  beweisen,  an  die  spätere 
Bearbeitung  der  Faustsage  durch  G.  R.  Widman  (1599).  Nach 
der  ältesten  Faustsage  trat  Faust  am  Hofe  des  deutschen  Kaisers 
Karls  V.,  nach  Widman  am  Hofe  Maximilian's  I.  auf.  Die  Um- 
gebungen und  die  ganze  Einrichtung  werden  im  ersten  Acte  des 
zweiten  Theiles  geschildert,  wie  sie  in  jener  Zeit  am  Hofe  des 
deutschen  Kaisers  waren.  Der  Kaiser  hat  seinen  Canzler,  welcher 
auch  Erzbischof  genannt  wird,  seinen  Schatzmeister,  Marschalk, 
Heermeister  und  Hofnarren.    Im  vierten  Acte  werden  sogar  vom 


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Caro:  Göthestudien. 


Kaiser  die  Bestimmungen  der  goldenen  Bulle  angeführt  und  er 
tbeilt  die  Erb-  oder  Erzämter  im  Sinne  einer  Beilage  der  golde- 
nen Bulle  an  die  deutschen  Fürsten  aus.  Unverkennbar  wird  uns 
hier  ein  Stück  deutscher  Staats-  und  Reichsgeschichte  geboten. 
Die  Erfindung  des  Papiergeldes,  welche  als  eine  satanische  hinge- 
stellt wird,  soll  dem  Kaiser  aus  der  Noth  helfen,  und  die  sich  dar- 
auf beziehenden  Seesen,  die  mit  dem  Ganzen  im  nothwendigen  Zu- 
sammenhange stehen,  sind  in  dieser  Abhandlung  völlig  Ubergangen. 
Es  unterliegt  aber  keinem  Zweifel,  dass  der  Mumenschanz  in  sei- 
nen verschiedenen  Figuren  zu  dieser  Erfindung  einleitet  und  dass 
man  nur  gesucht  darin  die  Schilderung  des  Gefährlichen  der  Re- 
volution erblicken  kann.  In  diesem  altdeutschen  Fastnachtszuge 
stellen  uns  die  allegorischen  Figuren  die  das  Leben  beherrschenden 
Mächte  dar,  bis  zuletzt  der  Dichter  zu  den  höchsten ,  das  Leben 
in  seinem  Genüsse  bedingenden  Mächten,  dem  Knabe-Leuker  (der 
Pottsie),  welche  uns  die  geistigen  Genüsse  spendet,  und  dem  Plutus 
oder  Reichthumsgotte ,  welchem  wir  den  Genuss  des  materiellen 
Daseins  yerdankon,  den  Uebergang  macht.  Es  soll  die  Bedeutungs- 
losigkeit des  Geldes  an  sich  und  die  Gefahr  seiner  unbedingten 
Herrschaft  anschaulich  gemacht  werdon,  um  zu  der  Scene,  welche 
die  Erfindung  des  Papiergeldes  darstellt,  einzuleiten.  Der  schöne 
Schein  der  Poösiemuss  auf  dem  Maskenzuge  verschwinden,  der  Knabe- 
Lenker  abtreten,  damit  der  Reichthumsgott  allein  herrschen  kann. 
In  der  Maske  des  Plutus  steckt  Faust,  der  unter  Assistenz  des 
Teufels  das  Papiergeld  herbeigeschafft  hat,  welches  der  Canzler  dem 
Kaiser  zur  Unterschrift  präsentirt.  Mepbistopbeles  hat,  als  Geiz 
maskirt,  den  Reichthumsgott  Faust  begleitet.  Auf  dem  von  Dra- 
chen geführten,  mit  den  Schätzen  des  Reichthums  beladenen  Wagen 
steht  er  hinter  Plutus  als  ironischer  Doppelgänger  desselben.  Der 
Kaiser,  den  Absolutismus  der  Monarchie  veranschaulichend,  er- 
scheint in  der  Maske  des  Pan,  welcher  nach  den  griechischen 
Mysterien  das  All  versinnbildlicht.  Faust  berührt  als  Reichthums- 
gott mit  seinem  Zauberstabe  die  vor  dem  lüsternen,  das  Leben 
darstellenden  Maskenzuge  aufgespeicherten  Schätze,  und  das 
Gold  und  die  Edelsteine  verwandeln  sich  unter  dieser  zauberischen 
Ruthe  in  Flammen,  welche  das  geldgierige  Publikum  zu  versengen 
drohen.  Eine  Deputation  der  die  Geldmacht  darstellenden  Gnomen 
führt  den  Kaiser  zu  der  unter  dem  Zauberstabe  flüssig  gewordenen, 
verheerenden  Feuerquelle  des  Goldes,  bis  endlich  durch  Faust's 
Zauber  an  die  Stelle  der  Flamme  ein  kühlender  Wolkenthau  tritt. 
Hier  unterzeichnet  der  Kaiser  das  vom  Teufel  geschaffene  Papier- 
geld. Dies  deutet  ja  unbezweifelt  die  neue  Scene  an,  in  welcher 
Faust  knieend  den  Kaiser  wegen  des  »Flammengaukelspielat  um 
Verzeihung  bittet  und  demselben  die  von  ihm  während  dieses  die 
Gefahr  der  Geldherrschaft  veranschaulichenden  Zauberspieles  voll- 
zogene Unterzeichnung  der  neu  erfundenen  Papierscheine  von  seinem 
Canzler  erzählt  wird.    So  hat  diese  Scene  einen  ganz  natürlichen 


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690 


Caro:  Götheatudien. 


Zusammenhang  mit  dem  vorausgehenden  Mumenschanze  und  mit 
der  nachfolgenden  Helenabeschwörnng ,  in  welcher  der  Dichter  die 
erste  Anregung  von  der  Faustsage  erhält.  Durch  das  Papiergeld 
ist  vor  der  Hand  für  die  leibliche  Noth  des  Hofes  gesorgt,  die 
Helena  soll  die  geistige  Unterhaltung  gewähren.  Darum  sagt  Faust 
zu  Mephistopheles : 

Du  hast,  Geselle,  nicht  bedacht, 

Wohin  uns  deino  Künste  führen; 

Erst  haben  wir  ihn  reich  gemacht, 

Nun  sollen  wir  ihn  amüsiren. 
Homunculus  und  Helena  sind  ferner  nicht  so  zu  trennen,  dass 
in  jenem  die  antike  Kunst,  in  dieser  die  antike  Wissenschaft  zu 
Tage  tritt.  Nach  dem  Stücke  ist  Homunculus  der  Wegweiser  zur 
klassischen  Walpurgisnacht,  in  welcher  Faust  seine  Helena  sucht 
und  findet.  Er  trägt  den  schlafenden  Faust  auf  den  klassischen 
Boden  Thessalieus,  wo  die  klassische  Walpurgisnacht  abspielt,  und 
Faust  erwacht,  sobald  er  diesen  Boden  berührt.  Seine  erste  Frage 
lautet:  »Wo  ist  sie?«  Sie  gilt  seiner  Helena.  Darum  ruft  er  aus: 
Hier!  durch  ein  Wunder,  hier  in  Griechenland! 

Ich  fühlte  gleich  den  Boden,  wo  ich  stand. 
Wie  mich,  den  Schläfer,  frisch  ein  Geist  durchglühte, 

80  steh'  ioh,  ein  Antäus  an  Gemüthe. 
Homunculus  sieht,  ehe  er  unserem  Faust  den  Weg  nach  Pbar- 
salus  voranleuchtet,  in  der  Seele  desselben  während  seines  Schlafes 
die  sich  mit  der  schönen  Helena  beschäftigenden  Gedanken.  Er 
ist  der  in  Gestalt  des  Traumes  Faust  zum  klassischen  Boden  füh- 
rende antike  Forschungstrieb.  Helena  ist  die  Vertreterin  der  anti- 
ken Wissenschaft  und  Kunst;  ihre  Vermählung  mit  Faust  symbo- 
lisirt  des  Menschen  künstlerisch-wissenschaftliche  oder  ideale  Thätig- 
keit, die  ihn  auf  den  aus  Helena1  s  Gewändern  gebildeten  Wolken 
eine  Zeit  lang  über  der  Gemeinheit  des  Lebens  schwebend  erhält. 
Wenn  diese  Wolken  verschwinden,  ist  Faust  wieder  dem  materiellen 
Leben  und  der  Wirksamkeit  für  dasselbe  hingegeben. 

Sehr  riobtig  sagt  der  Herr  Verfasser  S.  137:  »Faust  ist  der 
menschliche  Geist,  die  Menschheit  in  ihrem  Elend,  ihrer  Grösse. 
Er  verdient  es  gerettet  zu  werden  um  dieser  Eigenschaft  willen  als 
Idee  der  Meuschheit,  die  sich  durch  die  Kraft  einer  immer  höhe- 
ren und  reineren  Thätigkeit  über  alle  Zeitalter  erhebt.«  Treffend 
ist  das  Schöne  der  Schlussscene  des  zweiten  Theiles  hervorgehoben, 
gegen  welche  so  oft  mit  Unrecht  wegen  der  darin  angewandten 
christlichen  Symbolik  von  den  Kunstrichtern  vielerlei  Bedenken  er- 
hoben wurden.  Der  Unterzeichnete  stimmt  der  Behauptung  (S.  189) 
vollkommen  bei:  »Der  ästhetische  Bau  des  zweiten  Faustdramas 
findet  eine  Art  Einheit  in  der  fortschreitenden  Thätigkeit  Faust's, 
die  ihn  rettet  und  triumphiren  lässt.« 

v.  Reichliii-Meldegg. 


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Müller:  Bodenverhältnisse  der  Stadt  Btsel.  591 

lieber  das  Grundwasser  und  die  Bodenverhältnisse  der  Stadt  Basel. 
Von  Prof.  Albr.  Müller.  (Separat- Abdruck  aus  der  Fest- 
schrift der  Natur  forschenden  Gesellschaft.)  Mit  einer  lilhogr. 
Tafel.  Basel.  Buchdruckerei  von  C.  Schultse.  1867.  8.  8.  71. 

Nicht  wenige  in  Wachsthum  begriffene  Städte  Europas  haben 
in  den  letzten  Jahren  die  Erfahrung  gemacht ,  dass  ihre  Grund- 
wasser, aus  welchen  die  Sodbrunnen  ihre  Wasser  erhalten,  mehr 
und  mehr  verunreinigt  wurden.  Man  hatte  diesem  Umstand  von 
Anfang  an  nicht  die  verdiente  Beachtung  geschenkt,  bis  wieder* 
holt  die  auftretenden  Seuchen,  insbesondere  Typhus  und  Cholera, 
ernstliche  Nachforschungen  geboten.  Auoh  in  Basel  waren  Unter- 
suchungen nöthig  geworden ,  da  die  Grundwasser  der  Stadt  durch 
Abfälle  aus  Anilinfabriken  obschtfn  nur  lokale,  dennoch  gefährliche 
Verunreinigungen  erlitten  hatten.  Diese  Untersuchungen  hat  —  in 
Auftrag  der  Bundesbehörden  —  Prof.  Albert  Müller  vorge- 
nommen und  seine  Aufgabe,  wie  zu  erwarten,  mit  Meisterschaft 
gelöst.  Die  Hauptresultate  zu  welchen  der  treffliche  Geognost  durch 
seine  Forschungen  gelangte,  sind  folgende. 

Der  Boden  der  Umgebungen  Basels  besteht  aus  den  Gerölle- 
Ablagerungen  die  das  Rheinthal  erfüllen,  in  die  mit  regelmässigen 
terassenförmigen  Abstufungen  die  Wasser  des  Rheins  in  der  Diluviai- 
Periode  Einschnitte  bis  auf  eine  Schicht  tertiären  Lettens  eingegraben 
haben.  Die  Wasser  des  Birsigs,  der  Birs  und  der  Wiese  wühlteu 
ahnliche  Einschnitte  in  den  Geröllemassen  aus  und  bildeten  so 
Querrinnen,  welche  die  grossen  Terassen  das  Rheinthaies  durch- 
schneiden. Der  Boden  der  grossen  Stadt  Basel  (mit  einer  Höhe 
von  90  —  115  Fuss  über  dem  Nullpunkt  des  Rheinpegels)  liegt 
durchschnittlich  70  Fuss  hoher  als  des  Areal  der  kleinen  Stadt, 
mit  Ausnahme  der  Strassen  des  Birsigthales,  die  bei  20—40  Fuss 
Pegelhöhe  ungefähr  im  Niveau  der  kleinen  Stadt  liegen.  Nur  an 
den  tiefsten  Stollen  der  Stadt,  längs  der  Rhein-  und  Birsigufer, 
geht  der  tertiäre  Letten  zu  Tage,  welcher  die  Unterlage  der  Ge- 
rölleablagerungen  des  Rheinthaies  und  ihres  Grundwassers  bildet. 
Schon  öfter  wurde  er  bei  Brunnengrabungen  im  Birsigthale  und 
in  der  kleinen  Stadt  schon  bei  geringer  Tiefe,  10  bis  20  Fuss  er- 
reicht. An  der  Basis  der  Gerölleablagerungen  über  der  wasser- 
dichten Lettenschicht  sammelt  sich  nun  das  Grundwasser  und  strömt 
von  den  äusseren,  höher  gelegenen  Stadttheilen ,  von  einer  mittle- 
ren Höhe  von  50 — 60  Fus3  in  Gross-Basel  und  von  10 — 20  Fuss 
in  Klein-Basel  den  Neigungen  der  Lettenschicht  folgend  unter  dem 
Boden  der  Stadt  hindurch ,  dem  Rhein  zu.  Die  Strömung  ist  um 
so  stärker,  je  höher  das  Niveau  des  Grundwassers  den  jeweiligen 
Rheinstand  überragt  und  geht  in  Klein-Basel  in  eine  rückgängige 
Bewegung  landeinwärts  über,  wenn  bei  niedrigem  Stand  des  Grund- 
wassers der  Rhein  anschwillt  und  seitlich  in  die  Geröllelager  ein- 
dringt.   Es  richtet  sich  demnach  der  Stand  des  Grundwassers  im 


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692 


Müller:  Bodenverhältnisse  der  Stadt  Basel. 


Allgemeinen  nach  dem  Rheinstand;  jedoch  weniger  in  Gross-  wie 
in  Klein- Basel,  schneller  in  den  dem  Rhein  nahe  liegenden,  lang» 
sanier  in  den  entfernteren,  höher  gelegenen  Brnnnen,  in  denen  auch 
die  Schwankungen  des  Wasserstandes  geringer. 

Im  Jahre  1866  betrug  der  Wasserstand  der  Sodbrunnen  über 
den  Bruunensohlen  durchschnittlich  in  Gross-Basel  372  Fuss,  in 
Klein-Basel  7  Fuss ;  also  etwa  das  Doppelte.  Man  wird  daher  in 
der  grossen  Stadt  von  den  Hochflächen  aus  in  einer  Tiefe  von  50 
bis  60  Fuss,  in  der  kleinen  schon  bei  10  bis  20  Fuss  Tiefe  auf 
Wasser  stossen.  Es  entnehmeu  die  Sod-  und  Lochbrunnen  ihr 
Wasser  der  nämlichen  Grundwasserschicht.  Die  Speisung  erfolgt 
entweder  vom  Rheine  her,  durch  seitliche  Infiltration,  namentlich 
auf  der  Seite  von  Klein-Basel  bei  höherem  Wasserstand;  oder  von 
der  Birs,  dem  Birsig,  insbesondere  aber  von  der  Wiese  und  ihren 
Nebencanälen ;  oder  von  den  Quellon  der  benachbarten  Hügel  des 
Rheinthaies;  oder  auch  von  den  atmosphärischen  Niederschlägen. 

Mit  der  Zunahme  der  Bevölkerung  nimmt  auch  die  Verunrei- 
nigung des  Grundwassers  in  steigender  Progression  zu  durch  die 
Infiltration  des  Inhaltes  der  Dohlen,  Cisternen  u.  s.  w.,  durch  die 
Abfülle  der  chemischen  Gewerbe.  Nur  sehr  gering  dürfte  der  Ein- 
flusB  der  Gottesäcker  sein. 

Je  tiefer  der  Stand  des  Grundwassers  um  so  grösser  ist  sein 
Gehalt  an  Salzen  und  organischen  Substanzen  und  die  Verunreini- 
gungen werden  immer  merkbarer.  Nach  den  Analysen  von  Dr. 
Goppelsröder  beträgt  der  Gehalt  des  Gruudwassers  durch- 
schnittlich in  runden  Zahlen  in  1000  Theilen  Wasser  in  Gross- 
Basel:  0,5-1,2  Theile;  in  Klein-Basel :  0,1-0,3  Theile  ;  des  Was- 
sers der  bisherigen  Brunnenleitungen:  0,4;  des  Angensteiner-  und 
Greilinger  Wassers  (die  Kaltbrunnen  ausgenommen):  0,2  —  0,3;  des 
Birs,  Birsigsund  Bheinwassers :  0,2  —  0,3;  endlich  des  Wassers  der 
Wiese:  0,06;  folglich  besitzt  das  Grundwasser  von  Gross- Basel  die 
geringste,  das  Wiesenwasser  die  grösste  Reinheit.  Die  der  sehr 
interessanten  Schrift  von  Albr.  Müller  beigefügten  geologischen 
Durchschnitte  durch  den  Boden  der  Stadt  Basel  und  ihrer  Um- 
gebung bringen  die  geologische  Structur  des  Bodens  und  die  Lage 
des  Grundwassers  in  übersichtliche  Darstellung. 

G.  Leonhard. 


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Nr.  38.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

■  U  ,  U...VL!  ..  x«^».^!  ..^t».  -  ■■    ■,-,■,..!■-.  H„i—._  I    «11»»  — mt 

Lconardy ,  Johann.  Die  angeblichen  Trierischen  Inschriften- 
Fälschungen  älterer  und  neuerer  Zeit ;  ein  Beitrag  sur  Kritik 
des  corpus  inscriptionum  Rhenanarum  ed.  0.  Brambach.  Ge- 
druckt auf  Kosten  der  Oesellschaft  für  nützliche  Forschungen. 
Trier  1867.  68  8.  4. 

Als  ich  am  Anfang  dieses  Jahres  Brambachs  corpus  inscriptio- 
num ithenanarum  in  diesen  Blättern  besprach  und  zeigte,  wie  das- 
selbe in  Bezug  auf  die  Mainzer  Inschriften  wenig  genüge,  da  es 
in  Eile  entstanden  sei:  so  wünschte  ich  (S.  174),  dass  überall  eine 
genaue  Betrachtung  dieses  Buches  geschehe,  namentlich  am  Niedor- 
rhein, wo  ich  die  Frage  aufwarf,  ob  die  niederrheinischen  Inschrif- 
ten mit  mehr  Sorgfalt  und  Genauigkeit  gegeben  sind,  als  die  Main- 
zer, Nassauer  u.  s.  w.  Ich  dachte  damals  nicht,  dass  ehe  noch 
ein  halbes  Jahr  vergehe,  am  Niederrhein  ein  ganzes  Buch  gegen 
jenes  corpus  erscheinen  werde.  Vorliegende  Schrift,  deren  Vorrede 
vom  4.  Juni  ist,  will  nämlich  zoigen,  dass  Brambach  echte  In- 
schriften aus  Trier  unter  die  spurii  und  unechte  unter  die  echten 
Steine  gesetzt  habe.  Um  dies  darzuthun,  holt  der  Verf.  weit,  ja 
sehr  weit  aus.  Wir  sagen  dies  nicht,  weil  er  mit  den  Urtheilen 
über  die  Nenniger  Inschriften  beginnt  —  worüber  wir  hier  einst- 
weilen schweigen  wollen,  besonders  weil  wir  noch  in  diesem  Jahr 
eine  genaue  Darstellung  der  Aufßndung  u.  8.  w.  erwarten  dürfen 
—  sondern  der  Verfasser  ergeht  sich  zu  breit  über  die  alte  Sage, 
dass  Trier  von  der  Semirarais  Stiefsohn  Trebeta,  erbaut  sei,  in- 
dem er  zeigt,  wie  die  lokale  Sage  wahrscheinlich  aus  missverstan- 
denen Fragmenten  von  Inschriften  entstanden  und  dann  von  Trierer 
Chronisten  mit  Hilfe  von  Auszügon  aus  Justiuus,  Ürosius  u.  a.  m. 
weiter  ausgebildet  sei ,  wie  auch  mehrere  Ueberreste  des  Alter- 
thums der  vorrömischen  Zeit  fälschlich  zugeschrieben  wurden.  Wie 
hier  eine  echte  Inschrift  jene  Sage  hervorrief,  so  ist  eine  im  Jahr 
979  gefundene  Inschrift  auf  einen  Bischof  Celsus  bezogen  worden 
mit  gleichem  Unrechte  —  der  Verf.  hält  S.  27  die  dabei  aufge- 
fundenen Verse  für  echt,  wir  zweifeln  daran;  Brambach  übergeht 
sie,  weil  er  die  Inschrift  wahrscheinlich  für  christlich  hielt,  was 
sie  nicht  ist.  Jetzt  wendet  sich  der  Verf.  zum  Haupttheil  seines 
Werkchens  und  zeigt  vorerst,  wie  einige  ältere  Inschriften  theils 
mit  Hecht  von  Brambach  (wie  auch  von  früheren)  für  unecht  er- 
klärt wurden,  so  spurii  Nr.  52,  welchen  Stein  Brambach  unrichtig 
nach  Saarbrücken  verlegt,  statt  nach  Castel  bei  Saarburg,  oder 
wie  andere,  welche  Brambach  aufnahm,  nach  dessen  Grundsätzen 

LIX.  Jahrg.  8.  Heft.  38 


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594 


Leonard y:  Die  Trieriachen  Inschriften. 


für  falsch  gehalten  werden  könnten,  so  786,  960 ;  einige  Inschriften- 
Bruchstücke,  die  Hontheim  ans  echten  Steinen  Gruter's  nahm,  er- 
klärt Brambach  für  falsch ,  ohne  an  deren  Ursprung  zu  denken. 
Diese  Inschriften  überschreibt  Brambach  lapides  Honthemiani  ani 
suspecti;  Leonardy  fügt  dem  ani  ein  sie!  bei;  ich  würde  unwillig 
werden,  wenn  ich  es  nicht  für  einen  Druckfehler,  sondern  Honthe- 
miani ani  für  einen  Genetiv  halten  sollte.  Wie  wohl  schon  andere 
an  einigen  Trierer  Inschriften  gezweifelt  haben,  so  hat  doch  Bram- 
bach vor  allem  das  Ehrgefühl  der  dortigen  Gelehrten  angegriffen, 
indem  er  viele  Inschriften,  namentlich  alle,  welche  Clotten  im  vori- 
gen Jahrhundert  auffand  und  veröffentlichte,  unter  die  falschen 
setzte.  Dieses  Mannes  nun  und  seiner  Inschriften  nimmt  sich  vor 
allem  Leonardy  an.  Clotten  und  seine  Nachfolger  haben  zwischen 
den  Jahren  1779  und  1840  im  Ganzen  42  Inschriften  bekannt  ge- 
macht, von  denen  hier  die  Rede  ist.  Clotten  hatte  die  meisten 
sogleich  nach  ihrer  Auffindung  nebst  Fundbericht  in  einem  Trierer 
Tagblatt  veröffentlicht  und  auch  oft  bei  gefügt,  dasser  der  Besitzer  der- 
selben sei.  Da  nun  die  meisten  dieser  Inschriften  verloren  sind  und 
desshalb  eine  oder  die  andere  Abschrift  einmal  Verdacht  erregte: 
so  erklärte  nach  Mommsen's  gelegentlicher  Aeussernng  Brambach 
alle  Clottenische  für  falsch,  bemerkte  aber  in  der  Eile,  mit  der  er 
das  corpus  edirte,  manches  nicht.  Vorerst  sah  er  sich  nach  jenen 
Fundberichten  gar  nicht  um,  welche  ein  offenes  Zeugniss  der  Echt- 
heit sind ;  dann  sah  er  nicht,  wie  drei  Inschriften,  welche  Clotten 
besass ,  noch  vorhanden  sind  und  ein  Zeugniss  für  Clottcns  Mit- 
theilung geben;  er  zählt  sie  zu  den  echten  Nr.  773.  727.  828. 
Ebenso  hat  Brambach  eine  Nr.  768  aufgenommen,  die  nicht  mehr 
vorhanden  ist,  welche  nach  Brambachs  Ansicht  für  unecht  zu  hal- 
ten ist,  weil  sie  nur  auf  Clotten  beruht.  Ungefähr  zehn  Clottenische 
Inschriften  sind  christliche:  sie  sind  nie  angefochten  worden;  ob 
Brambach  sie  ausgelassen  hätte,  wenn  er  die  christlichen  aufge- 
nommen? Nachdem  der  Verfasser  dies  und  anderes  gezeigt  hatte, 
wobei  er  S.  50  dem  Herausgeber  des  corpus  »  Flüchtigkeit  des  Quel- 
lenstudiums« und  »unverantwortlichen  Leichtsinn«  (dies  nament- 
lich wegen  der  Igeler  Inschrift)  vorwirft,  zeigt  er  gelegentlich,  wie 
bei  Brambach  einige  Inschriften  711 — 715  dem  Orte  Karden  zu- 
geschrieben werden,  die  eigentlich  nach  Trier  gehören,  und  wendet 
sich  dann  zu  den  spurii  bei  Brambach.  Der  Verf.  kann  sie  alle 
nun  nicht  rechtfertigen,  wie  überhaupt  es  schwer  ist,  wenn  ein 
Verdacht  über  eine  verlorene  Inschrift  ausgesprochen  ist,  sie  als 
sicher  echt  hinzustellen.  Doch  wird  man  meistens  der  Verteidi- 
gung beistimmen ;  ja  Brambach  selbst  wird  sich  wundern,  wie  er 
manchmal  in  Eile  geirrt:  so  hält  er  Nr.  85  für  eine  unechte  trie- 
rische, während  Hetzrodt  sie  aus  Grut.  111,  wo  sie  nach  Ungarn 
gehört,  entlehnt  hat,  weil  das  Wort  TREVER  vorkommt.  Bei 
sp.  8 ,  quae  suapte  natura  originem  adulterinam  testatur  (Br. ) 
hätte  dieser  vielleicht  eine  andere  Ansicht  bekommen,  wenn  er  die 

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Leonardy:  Die  Trleriachen  Inschriften. 


695 


editio  princeps  gelesen  hätte,  wo  das  leidige  X  zwischen  o  und  LEG 
nicht  steht ;  noch  half  dieser  Inschrift  Leonardy  durch  eine  leichte 
Conjectnr,  indem  er  II  iür  VI  schrieb;  auch  gibt  hier  Brambach 
den  Fundort  unrichtig  an.  Wenn  einige  andere  von  demselben  ver- 
worfen werden,  weil  Clotten  TREVIR  statt  TREVER  edirte:  so 
muss  man  dies  nicht  so  hoch  anschlagen ,  weil  man  im  vorigen 
Jahrhundert  TREVIR  für  richtig  hielt,  und  man  gar  nicht  gewohnt 
war,  die  Buchstaben  auf  den  Steinen  ganz  genau  anzusehen  und 
abzuschreiben.  (Gelegentlich  bemerkt  der  Verf.  S.  58,  dass  Bram- 
bach Nr.  1773  den  Ort  Limbach  aus  dem  preussischen  Kreis  Saar- 
louis in  die  bayerische  Pfalz  verlegt,  dass  er  Nr.  764  einen  Flur- 
namen zum  Ortsnamen  macht  u.  a.  m.)  Wenn  weiter  einige  In- 
schriften Clottens  als  falsch  erklärt  werden,  weil  FACIT,  FACIVNT 
u.  ä.  steht:  so  erklärt  dies  Leonardy  entweder  als  Schreibfehler 
statt  FEOIT  wie  denn  Clotten  sp.  56  FACIT  übersetzt  »hat  er- 
richtet oder  als  Lesefehler  statt  FAC.  CVR,  besonders  da  Clotten 
bei  andern  Inschriften  FECIT  hat,  er  also,  wenn  er  falsarius  wäre, 
wohl  überall  das  Gebräuchliehe  hätte  angeben  können.  Auch  die 
Clottenschen  inscriptiones  sacras  sucht  der  Verfasser  durch  Bei- 
bringung ähnlicher  Widmungen  zu  vertheidigen  und  bemerkt  end- 
lich, dass  Brambach  über  zehn  Inschriften  dem  Fälscher  Clotten 
zuschreibt,  die  von  ihm  gar  nicht  herrühren. 

Ans  diesem  wenigen,  was  ich  aus  vorliegender  Schrift  mit- 
theilte, erhellt  zur  Genüge,  dass  Brambach  zu  eiffertig,  und  ohne 
den  Ueberlieferungen  nachzusehen ,  Trierer  Inschriften  namentlich 
die Cotten'schen  für  unrichtig  erklärte;  die  allermeisten  sind  eben 
so  gewies  wie  alle  älteren,  deren  Steine  verloren  sind,  so  die  Main- 
zer bei  Huttich,  Heräus,  Fuchs  u.  s.  w.,  von  denen  viele  dieselben 
Schreib-  oder  Lesefehler  haben,  welche  bei  Clotten  originem  adul- 
terinam  beweisen  sollen.  Leonardy's  Schrift  ist  wiedorutn  ein  Be- 
weis, mit  welcher  Eile  und  Ungenauigkeit  jenes  corpus  entstanden 
ist  und  man  kann  sich  nicht  wundern,  wenn  der  Verfasser  zum 
Schlüsse  sich  mit  gerechtem  Unwillen  also  äussert:  »Während  tau- 
sende  von  anerkannt  echten  Inschriften  von  den  abscheulichsten 
Steinmetz-  und  Lesefehlern  wimmeln,  die  man  arglos  hinnimmt  und 
verbessert,  während  abertausendo  von  Inschriften  nur  in  Abschrif- 
ten ganz   unbekannter  und  ungewandter  Leute  vorhanden  sind, , 
während  die  Schriftzüge  von  den  elegantesten  Formen  bis  zu  den 
liederlichst  eingekratzten  Zerrbildern  der  Capitalschrift  in  dersel- 
ben Periode  wechseln  und  herabsinken:  erklärt  man  in  Trier  eine 
Reibe  von  strebsamen  Männern  zu  Inschriftenfalschern,  weil  die  er- 
haltenen Abdrücke  durch  Druckfehler  entstellt,  ja  weil  sogar  nur 
die  Citate  falsch  sind  und  man  es  nicht  der  Mühe  werth  achtet 
genauer  nachzuforschen,  weil  durch  combinirte  Les-  und  Druck- 
fehler regelwidrige  Formeln,  Namen  u.  ä.  entstanden  sind  und  um 
die  Zahl  der  angeblichen  Falsificate  recht  ansehnlich  zn  vermehren, 
scheut  man  sieh  nicht  sogar  anerkannt  echte  Inschriften  unter  die 


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696 


Grotefend:  Stempel  der  römischen  Augenärzte. 


suspecti  und  spurii  zu  setzen  und  einen  Menschen  als  Zeugen  für 
seine  Behauptungen  aufzuführen,  dem  man  selbst  in  den  feierlich- 
sten Ausdrücken  deu  ehrlichen  Willen  abgesprochen  hat  u.  s.  w.« 

Zum  Schlüsse  meine  ich  der  Verf.  hätte  sich  viel  kürzer  fassen 
können ;  wahrscheinlich  aber  hat  der  Trierer  Verein,  der  das  Buch 
edirte,  die  Lokalsagen  im  Anfange  des  Werkchens  in  dieser  Aus- 
führlichkeit nicht  ungern  gesehen,  worauf  dann  der  Verf.  auf  gleich 
ausführliche  Weise  die  späteren  Inschriften  gegen  Brambach  ver- 
theidigte:  bei  manchen  wäre  genug  gewesen  auf  den  alten  Fund- 
bericht hinzuweisen  und  so  zu  zeigen,  wie  Brambach  auch  bei  den 
Trierern  es  an  Fleiss  und  Kritik  hat  fehlen  lassen ;  daher  kann  ich 
dem  Verfasser  nicht  beistimmen,  wenn  er  S.  6  meint,  im  corpus 
inscr.  Rhenanarum  gebe,  »die  oft  übertrieben  genau  angeführte 
Literatur  zu  den  einzelnen  Nummern  Anleitung  znm  Nachschlagen 
in  ausreichendem  Maasse«.  Gerade  bei  den  Trierer  Inschrilten 
konnto  der  Verfasser  sehen,  dass  Brambachs  Literatur  nicht  aus- 
reiche; dass  dies  auch  anderwärts  nicht  der  Fall  ist,  haben  wir 
in  der  oben  citirten  Besprechung  gezeigt.  Die  Allgemeine  Zeitung 
bat  zwar  dem  Brambach'schen  Werke  ein  hohes  Lob  ausgestellt, 
indem  sie  die  empfehlenden  Worte  des  Bonner  Vereins  und  des 
Verlegers  wiederholte  und  erweiterte  (Nr.  63  Beilage),  welchen 
Artikel  der  Allgemeinen  Zeitung  der  Philologus  (XXV,  S.  565) 
»eine  lobhudelnde  Anzeige«  nannte;  aber  die  Allgemeine  Zeitung 
hat  bis  jetzt  auf  den  Tadel,  den  Brambach  sich  zuzog,  ganz  ge- 
schwiegen —  und  wird  auch  schweigen? 


Grotefend,  C.  L.  Die  Stempel  der  römischen  Augenärzte  gesam- 
melt und  erklärt.  Hannover  1867.  134  S.  8. 

Es  ist  noch  nicht  lange  Zeit,  dass  die  Alterthumsforscher  auch 
den  Stempeln  römischer  Augenärzte  ihre  Aufmerksamkeit  zuwen- 
deten und  seitdem  hat  die  Zahl  derselben  sich  bedeutend  vermehrt : 
während  im  Jahr  1855  nur  60  bekannt  waren,  gibt  es  jetzt  112. 
Der  bekannte  Epigraphiker  Grotefend  iu  Hannover,  dem  wir  schon 
.manche  schöne  Untersuchung  aus  der  Inschriftenkunde  verdanken, 
wie  über  die  römischen  tribus,  über  die  Legionen  u.  s.  w.  hat  nun 
im  vorliegenden  Buche  diese  sämmtlichen  Stempel  zum  erstenmal 
gesammelt  und  mit  den  nothwendigen  Erklärungen  verseben.  In 
der  Vorrede  bespricht  der  Verfasser  zuerst  Allgemeines,  woraus  wir 
einiges  hervorheben.  Früher  wollte  der  Vorfasser  diese  Stempel 
nur  etwa  den  ersten  150  Jahren  unserer  Zeitrechnung  zuschreiben ; 
nun  ist  er  der  richtigem  Ansicht,  dass  »eine  Anzahl  bedeutend 
tiefer  hinabreiche« ;  wir  meinen,  sie  gehören  der  ganzen  römischen 
Zeit  au.  Nach  den  Namen  zu  schliessen,  waren  die  meisten  Aerzte 
Griechen  von  Geburt  und  Freigelasseue,  wenige  nur  Celten,  mehrere 


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Grotefend:  Stempel  der  römischen  Augen&rrte. 


597 


haben  römische  Familiennamen,  doch  meint  der  Verf.  mit  Recht, 
dass  sie  wohl  alle  niederer  Herkunft  seien.  Dass  diese  Stempel  nur 
für  Augenmittel  dienten,  hat  man  hie  und  da  bezweifeln  wollen; 
eine  neue  Auffindung  zu  Reims  hat  dies  unzweifelhaft  gemacht. 
Die  Stempel  sind  fast  alle  in  den  gallischen,  germanischen  und 
britannischen  Provinzen  gefunden,  nur  einer  in  Dacia  und  ein  paar 
jenseits  an  den  Alpen,  einer  bei  Jena  u.  s.  w.  Dass  in  Italien  und 
Griechenland  bis  jetzt  keiuer  ausgegraben  wurde,  schreibt  der 
Verf.  dem  gewiss  richtigen  Umstände  zu,  dass  die  Provinzialen 
leichter  der  Quacksalberei  zugänglich  waren  als  die  gebildeten  Völ- 
ker des  Südens.  Einige  Inschriften  zeigen  auch,  dass  ein  Wechsel 
der  Mittel  eintrat,  mehrere  Aerzte  sich  verbanden,  Händler  die  Sache 
tibernahmen  u.  a.  m  Alle  bezeichnen  trockne  Mittel,  nur  zwei 
sind  an  Töpfen  für  flüssige  Collyrien  angebracht.  Am  Schlüsse  der 
Vorrede  spricht  der  Verfasser  von  der  hierher  gehörigen  Literatur 
und  hier  loben  wir  gerade  nicht,  dass  er  die  frühere  Literatur  nicht 
vollständig  gibt,  tfaeils  weil  Prof.  Schreiber  in  Freiburg  sie  vor 
12  Jahren  in  einem  Hefte  des  historischen  Vereins  für  Steiermark 
aufgestellt,  theils  weil  der  Verf.  selbst  bei  jedem  Artikel  in  vor- 
liegendem Buche  die  früheren  Herausgeber  erwähnt  hat.  Für  die 
Sache  wäre  es  gut  gewesen,  hier  auch  die  Titel  der  älteren  Werke 
verzeichnet  zu  sehen.  So  viel  aus  der  Vorrede.  Der  Verf.  gibt 
nun  die  Stempel  (wie  früher  im  philologu9  XIII.  1858)  nach  den 
Namen  der  Aerzte  (nomina  oder  cognomina)  geordnet  mit  Angabe 
des  Fundorts,  der  Literatur  und  einer  Erklärung,  die  sich  sowohl 
auf  den  Arzt  als  die  Heilmittel  und  was  sonst  zu  bemerken  ist 
bezieht;  solcher  Stempel,  wo  der  Arzt  erwähnt  ist,  sind  es  104, 
dann  folgen  noch  7  bis  8  ohne  Namen  des  Arztes.  Bei  den  gros- 
sen Kenntnissen  und  dem  emsigen  Sammlerfleisse  des  Verfassers 
wird  man  im  Ganzen  immer  mit  dem,  was  er  gibt,  zufrieden  sein, 
und  nur  selten  hie  und  da  eine  Bemerkung  nachtragen  können. 
Auch  wollen  wir  nur  weniges  andeuten.  Der  Verf.  gibt  überall 
den  Fundort  an  —  oft  aber  nicht  die  Fundzeit,  worauf  wir  zwar 
weniger  Gewicht  legen  —  aber  ob  die  Inschrift  noch  vorhanden 
ist  und  wo,  ist  meist  nicht  angegeben;  Vieles  ist  freilich  hierbei 
unbestimmt  und  unbekannt  und  so  kann  auch  ich  nur  weniges  bei- 
fügen Nr.  2  ist  sicher  nicht  mohr  vorhanden;  Nr.  7  ist  im  Wie- 
ner Antiken-Cabinet ,  was  nicht  gerade  aus  dem  Citate  der  Be- 
schreibung dieses  Cabinets  folgt;  Nr.  14  ist  in  Oppenheim  gefun- 
den und  im  Mainzer  Museum;  Nr.  23  ist  1808  gefunden;  Nr.  36 
wie  bei  Nr.  7,  hier  steht  Wien  oben  als  Fundort  angegeben,  wäh- 
rend derselbe  unbekannt  ist;  Nr.  50  ist  im  Londoner  Museum; 
ebenso  Nr.  51;  Nr.  62  besitzt  Prof.  Schreiber  in  Freiburg;  Nr.  73 
ist  1818  gefunden  und  im  Besitz  des  P.  P.  Pnrnell  in  Stanscombe 
Park;  Nr.  78  ist  wahrscheinlich  nicht  mehr  vorhanden,  was  ich 
auch  noch  von  andern  glaube,  wie  namentlich  90,  93;  Nr.  81  ist 
1858  bei  Dalheim  gefunden  und  im  Luxemburger  Museum;  Nr.  94 


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698  Grotefend:  Stempel  der  römischen  Augenärzte. 


ist  im  Leidener  Museum;  Nr.  96  ist  zu  Edinburg;  Nr.  97  ist  im 
Bonner  Museum  als  Gipsabdruok,  Original  verloren  (Brambach  1875 
gibt  Dacbsberg  im  Elsass  als  Fundort  an ,  Grotefend  Daspicb  im 
Departement  der  Mosel ;  war  hier  nicht  Genaueres  zu  ermitteln  ? 
Overbeck  zwar  im  Bonner  Katalog  kennt  keinen  Fundort);  Nr.  107 
im  Bonner  Museum  u.  s.  w. 

Auf  die  Angabe  des  Ortes  folgt  der  Stempel  und  bei  diesen 
Inschriften  sehe  ich,  dass  der  Verfasser  kühner  geworden  ist  d.  h. 
während  er  früher  den  Uberlieferten  wenn  auch  fehlerhaften  Text 
gab,  setzt  er  seine  Verbcsserungen  und  Conjekturen  nun  sofort  in 
den  Text  ein,  was  doch  nicht  diplomatisch  richtig  erscheint.  So- 
gleich Nr.  1  gibt  er  DIACE),  wahrend  alle  Herausgeber  DIAGE ; 
Nr.  5  wird  ...IBRIIBMINI  geändert  in  [...H]IRR.[F]IRM1NI,  wo  F 
wenigstens  durch  nichts  gerechtfertigt  wird,  wonu  auch  das  cog- 
nomen  Firminus  besser  klingen  mag  als  Irminus.  Nr.  10  wird 
LENEM  getrennt  in  LENE  .  Medicamentnm ,  woran  der  Verfasser 
selbst  zweifelt;  kann  es  nicht  heissen  lenem  ad  impetum  Llppitu- 
dinis,  wiewohl  diese  zwei  Buchstaben  LI  nicht  ganz  gewiss  sind; 
früher  gab  Grotefend  LP,  Brambach  hat  I.I;  dieser  hat  unrichtig 
v  7  H£LI  mit  Helius  gegeben,  da  schon  ein  nomen  Junius  da  ist ; 
richtiger  unser  Verfasser  Heliodorus,  vielleicht  noch  besser  flelias. ; 
Nr  47  liest  er  nun  anders  als  vor  zehn  Jahren,  allein  diese  Con- 
jektur  wird  auch  nicht  richtig  sein,  weil  lippitudo  niemals  vor 
impetum  gestellt  vorkommt,  wie  Nr.  7.  72.  76.  90  etc.  ausweisen ; 
vielleicht  könnte  man  schreiben  AD  .  OMNEM  IMPETVM,  wiewohl 
ich  solche  Bezeichnung  nicht  finde,  doch  vergleiche  73  ad  omnem 
dolorem.  Manchmal  weiss  man  gar  nicht,  wie  die  Inschrift  eigent- 
lich ist,  weil  der  Verf.  seine  oder  anderer  Lesart  unmittelbar  in 
den  Text  setzt  und  in  der  Erklärung  die  Worte  der  Inschrift  nicht 
gibt  so  Nr.  39.  74.  Anderwärts  ist  der  Verf.  vorsichtiger  und 
ändert  nicht  sofort  die  Inschrift»  wiewohl  sein  Vorschlag  sicher 
ist,  so  konnte  wie  bei  Nr.  1  G  in  C,  auch  bei  Nr.  11  u.  23  C  in 
Cr  im  Text  schon  verwandelt  werden.  Nr.  16  kann  SIACI  ohne 
Anstand  in  STACT  geändert  werden ;  auch  Nr.  40.  48.  52  u.  s.  w. 
machte  ich  des  Verfassers  Vermuthung  in  den  Text  setzen ,  wenn 
man  denn  nicht  Uberall  die  überlieferten  oder  noch  vorhandenen 
Buchstaben  festhalten  will.  Noch  einige  Kleinigkeiten.  Nr.  53 
Zeile  5  lese  ich  die  Abkürzung  dianaisum,  ebendaselbst  Zeile  7  hat 
er  nun  seine  Conjectur  im  pbilologus  nicht  mehr  anerkannt.  Bei 
dem  Wormser  Stempel  32  ist  nicht  bemerkt,  dass  auf  Seite  2  u.  4 
ein  M  seitwärts  steht ;  anch  hätten  die  paar  Buchstaben  der  letzten 
Zeile  im  Text  stehen  können  statt  in  der  Erklärung.  Auffallend 
ist  uns  noch,  dass  sehr  oft  die  Ligaturen  nicht  angegeben  sind, 
was  doch  hätte  geschehen  sollen  und  was  der  Verfasser  im  philo- 
logus  nicht  unterlassen  hatte.  Dass  die  Punkte  zwischen  den  Wor- 
ten uud  Abkürzungen  Uberall  angebracht  sind,  auch  wo  keine  im 
Original  stehen,  wollen  wir  hingehen  lassen;  sie  dienen  manchmal 


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Grotefend:  Stempel  der  römischen  Augenärzte. 


599 


die  Vermuthung  des  Verf.  zu  bestärken:  so  ist  in  dem  Mainzer 
Stempel  Nr.  14  Zeile  2  kein  Punkt  zwischen  den  zwei  L;  hier 
fehlen  auch  alle  Ligaturen,  im  pbilologus  sind  sie  angegeben  ausser 
eine  nämlich  EP  in  vierter  Zeile.  Wir  unterlassen  weitere  Kleinig- 
keiten aufzuführen,  sie  werden  dem  Verf.  bei  nochmaliger  Ansicht 
von  selbst  leicht  einfallen.  Noch  machen  wir  aufmerksam  auf  die 
oft  scharfsinnigen  Erklärungen  der  Augenmittel,  wobei  der  Verf. 
überall  die  betreffenden  Stellen  der  alten  Aerzte  verglichen  hat. 
Dur  indices  sind  drei:  der  Augenärzte  und  Pharraaceuten  im  Ganzen 
180,  da  auf  mehreren  Stempeln  zwei  bis  drei  Namen  genannt  sind  ; 
der  Collyrien,  die  auf  den  Stempeln  genannt  werden,  deren  an  180 
sind,  freilich  manche  unbestimmt  oder  wiederholt  und  der  Fund- 
orte, deren  72  sind,  wiewohl  mancher  Ort,  wie  wir  schon  anzeig- 
ten, nicbt  den  Fund,  sondern  die  Aufbewahrung  anzeigt.  Zum 
Schlüsse  wollen  wir  dem  Verfasser  zwei  ihm  nicht  bekannte  Stem- 
pel mittheilen ,  von  denen  der  eine  zwar  längst  veröffentlicht  ist. 
In  der  Bev.  archeol.  1862  S.  247  —  und  ich  wundere  mich,  dass 
dieses  dem  Verfasser  entgangen  ist  —  wird  ein  Glasfläschchen  er- 
wähnt, das  folgenden  Stempel  hat: 

FIRM.  HILARI.  ATYLAR, 
welcher  dort  gedeutet  wird :  collyre  aromatique  de  Firrous  Hilarius 
(wohl  richtiger  Firmius  Hilarus)  contre  l'atylosis ;  Fundort  Clor- 
marais  bei  Reims  —  wo  bereits  in  der  Nähe  sieben  Stempel  ge- 
fanden worden  sind  —  und  nun  im  Museum  der  erwähnten  Stadt. 
Vergl.  auch  hierüber  den  XXXI.  Jahresbericht  des  historischen 
Vereins  in  Mittelfranken  (Ansbach  1863)  wo  S.  32  das  hier  er- 
wähnte atyloticura  aromaticum  als  »Mittel  für  das  Schwellen  am 
Angenlied«  erklärt  wird.  —  Der  andere  Stempel  ist  noch  nicht 
bekannt  gemacht.  Unter  den  Papieren  des  verstorbenen  Kupfer- 
stechers Lindenschrait  dahier  fiudet  sich  die  Abbildung 

HERMIAE .  SM 

CICAE  CILIS 

d.  h.  wahrscheinlich  Hermiae  smyrne  cicatricum  e  ciliis  d.  i.  des 
Hermias  aus  Myrrhen  bereitetes  collyrium  gegen  Verwundung  des 
Auges  durch  die  (einwärts  gekehrten)  Augenwimpern.  Wo  der 
Stempel  gefunden,  oder  wo  er  hingekommen,  weiss  man  nicbt. 
Endlich  will  ich  noch  zur  Literatur  der  Augensterapel  eine  Schrift 
anführen,  die  sowohl  bei  Schreiber  als  Grotefend  fehlt  und  mir 
auch  nur  dem  Titel  nach  bekannt  ist,  welcher  lautet:  Triller  Dan. 
Wilh.  progr.  de  variis  veterum  medicorum  oculariorum  colliriis, 
quorum  memoria  in  priscis  lapidibus  inscriptis  adhuc  superest.  Wit- 
tenberg. 1772.  Aus  diesen  kleinen  Beiträgen  möge  der  verehrte 
Verfasser  ersehen,  wie  sehr  uns  seine  gelehrte  und  belehrende  Schrift 
angesprochen  hat. 


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1300 


Eick:  Römische  Wasserleitung. 


Eick,  C.  A.  Die  römische  Wasserleitung  aus  der  Eifel  nach 
Köln,  mit  Rücksicht  auf  die  zunächst  gelegenen  römischen  Nieder- 
lassungen, Befestigungswerke  und  Heerstrassen;  ein  Beitrag  sur 
Alterthumskunde  im  Rheinlande;  mit  einer  Karte.  Bonn  lö(>7. 
VJJ1  und  187  S.  8. 

Vorliegendes  Buch  ist  ein  wichtiger  Beitrag  zur  Alterthums- 
kunde des  Niederrbeius  und  löset  so  ziemlich  vollständig  eine 
Untersuchung,  die  schon  vielfach  in  Frage  gekommen  war.  Die 
Schrift  hat  fUnf  Abschnitte.  Der  erste  beginnt  mit  den  ältesten 
Nachrichten  über  den  Kanal,  der  nach  alten  Ueberlieferungen  von 
der  Vordereifel  oder  Trier  nach  Köln  führte  und  entweder  Wasser 
führte  oder  wodurch  die  Trierer  mit  ihrem  Weine  die  liebe  Stadt 
Köln  beschenkten.  Das  Werk  galt  als  ein  Wunderwerk  und  wird 
in  der  Volkssage,  die  jetzt  noch  lebt,  dem  Teufel  zugeschrieben, 
indem  dieser  eifersüchtig  auf  den  Baumeister  des  Kölner  Doms 
mit  ihm  wettete,  »eher  die  Wasser  der  Mosel  von  Trier  in  einem 
unterirdischen  Kanal  über  die  Höhen  der  Eifel  nach  Köln  zu  füh- 
ren nnd  als  Zeuge  davon  eine  Ente  binabschwimmcn  zu  lassen,  ehe 
der  Kölner  Dom  vollendet  sei«,  und  siehe  als  einst  die  Arbeiter 
auf  dem  südlichen  Hauptthurm  standen ,  öffnete  sich  plötzlich  vor 
der  Kirche  die  Erde,  der  Kanal  war  gemauert  und  auf  dem  dauer- 
st römenden  Mosel wasser  schnatterte  eine  schwimmende  Ente,  wor- 
auf der  Baumeister,  da  zugleich  der  Teufel  in  Lachen  ausbrach, 
sich  vom  Thurm  herabstürzte  und  sein  Hund  ihm  im  Tode  folgte. 
So  die  Sage.  Nachdem  hierauf  der  Verfasser  noch  über  die  Lite- 
ratur gesprochen  hat,  woraus  wir  ersehen ,  wie  wenig  bisher  er- 
mittelt ist:  theilt  er  im  zweiten  Abschnitte  »den  Ursprung  und 
Lauf  des  Kanales«  vollständig  mit,  wie  seine  Jahre  lange  und 
mühevolle  Untersuchung  es  festgestellt  hat.  Der  Kanal  beginnt  bei 
Nettersheim  300  Schritte  unterhalb  der  Rosenthaler  Mühle  auf  dem 
sogenannten  »grönen  Pütz«.  »Bei  einer  lichten  Weite  von  20  Zoll 
beträgt  die  Höhe  der  Gussmauern  von  der  Sohle  bis  zum  Anfange 
der  Wölbung  26  Zoll,  die  Höhe  der  Wölbung  selbst  8  Zoll.«  Von 
diesem  Ursprünge  verfolgt  der  sorgfältige  Verfasser  die  Wasser- 
leitung ,  die  immer  unter  der  Erde  ist ,  ganz  genau  von  Dorf  zu 
Dorf,  überall  nachgrabend,  überall  die  römischen  Spuren  aufsuchend, 
überall  bemerkend,  wo  seine  Mauern  ausgebrochen  sind,  aber  seine 
Spur  noch  deutlich  in  Gräben,  Steinen  u.  s.  w.  vorhanden  ist ;  nur 
an  einer  Stelle  bei  dem  Dorfe  Vussem  liegt  der  Kanal  zu  Tage, 
indem  der  Viaduct  Uber  ein  Thal  von  280  Fuss  Breite  geht,  wie 
noch  heute  übrige  Substructioneu  zeigen.  Anderwärts  geht  der 
Kanal  unter  einem  Flusse  (der  Erft)  durch.  Nicht  sehr  weit  von 
Köln  tritt  er  allmählig  an  die  Oberfläche,  so  dass  bei  Rodderbof 
und  Hochkirchen  seine  Wölbung  beim  Ackern  von  der  Pflugschaar 
berührt  wird.  Hinter  der  Koblenzer  Strasse  an  der  alten  Burg 
erreicht  er  auf  Substruktionen  die  Stelle,  wo  wahrscheinlich  das 


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Fick:  Römische  Wasserleitung. 


601 


römische  Sommerlager  war.  Die  Leitung  endlich  nach  Köln  hin- 
ein ist  gänzlich  verwüstet,  war  sicher  ein  opns  supra  terram ;  viel- 
leicht auch  gingen  zwei  Arme  in  die  Stadt.  Die  Erbauung  des 
Kanals  schreibt  der  Verfasser  dem  Trajan  und  Hadrian  zu  und 
meint  auf  letzteren  ginge  der  noch  übliche  Volksname  des  Kanals 
>  Aderich  Adersgravon.c  Die  Länge  des  Kanals  übertrifft  alle  bis 
jetzt  bekannten  römischen  Kanäle,  ist  in  gerader  Richtung  12,  mit 
den  Biegungen  wenigstens  17  preussische  Meilen  lang.  Das  erste 
Wasser  schöpft  er  1304  Fuss  über  dem  Nullpunkt  des  Amster- 
damer Pegels,  bei  Köln  ist  die  Höhe  etwa  150  Fuss;  der  Fall  ist 
natürlich  nicht  immer  gleich.  —  Wir  übergehen,  was  der  Verf. 
Über  das  Material,  die  Bauart  des  Kanales,  von  der  er  zwei  Profile 
abbildet,  über  den  Sinter  und  dessen  Gebrauch  u.  s.  w.  mittheilt 
und  bemerken  nur  noch,  dass  er  auf  dem  ganzen  Wege,  den  der 
Kanal  nimmt,  die  irgendwo  in  der  Nahe  aufgefundenen  Inschriften 
beifügt;  die  meisten  sind  anderwärts  bekannt,  mehrere  sind  hier 
zum  erstenmale  edirt,  und  da  wundere  ich  mich,  dass  sie,  da  sie 
schon  längere  Zeit  aufgefunden  sind,  nicht  in  Brambachs  Werke  sich 
finden  —  ans  der  Nähe  von  Bonn  sollten  doch  dort  keine  In- 
schriften fehlen.  —  Wir  vermissen  aber  bei  Brambach  mehrere 
nicht  unbedeutende  Fragmente,  welche  bei  Eick  stehen  S.  21  (eine 
andere  Inschrift  auf  dieser  Seite  möchte  der  Verf.  für  christlich 
halten,  was  sie  doch  nicht  ist;  sie  steht  bei  Brambach);  S.  46 
interessante  Ziegelfragmente  mit  Stempeln«  wie  der  Verf  schreibt; 
S.  97  eine  sehr  defecte  ara,  die  der  Verf.  dem  Jahre  214  p.  Chr. 
zuweist,  was  ungewiss  bleibt;  S.  119  unklarer  Name  auf  einem 
Fingerringe  1863  gefunden  und  vielleicht  noch  eine  oder  die  andere, 
da  bei  Fragmenten  das  Aufsuchen  im  corpus  inscr.  Rhen,  äusserst 
schwer  ist,  weil  ein  index  locorura  fehlt.  Auch  einige  Töpfernamen, 
die  wir  bei  Fröhner  vermissen,  stehen  hier  wie  FIDENATIS  S.  100, 
SECVNDM  S.  119.  Auch  germanische  Gräber  und  Fundstücke 
hie  und  da  kommen  vor,  wie  S.  48,  109,  111,  141  u.  s.  w.  Dies 
wenige  möge  genügen,  um  diese  Schrift,  welche  mit  vielem  Fleisse 
ausgearbeitet  ist,  und  einen  längst  angeregten  Gegenstand  aus  dem 
Alterthum  des  Niederrheins  zum  endlichen  Abschluss  bringt,  den 
Freunden  der  Geschichte  und  Alterthtimer  so  wie  auch  den  Archi- 
tekten, wenn  sie  sich  um  die  Bauart  alter  Zeit  bekümmern,  in 
empfehlende  Erinnerung  zu  bringen.  Klein. 


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Drossel:  Die  Pasaltbildung. 


Die  Basdltbildung  in  ihren  einseinen  Umstanden  erläutert  von  L. 
D  res  sei.  Eine  von  der  holländischen  Gesellschaft  der  Wis- 
senschaften zu  Haarlem  am  19*  Mai  gekrönte  Preisschrift. 
Mit  vier  Tafeln.  Haarlem.  4.  8.  178. 

Die  von  der  holländischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften 
gestellte  Preisfrage  lautete  folgendermassen :  Beaucoup  de  roches 
laissent  encore  les  naturalistes  en  doute,  si  elles  ont  öte"  deposees 
d'une  dissolution  dans  l'eau,  ou  bient  se  sont  solidifides  apres  une 
fusiou  par  la  chalenr.  La  Sociöte*  desire  qu'une  de  ces  roches  an 
cboix  de  Tauteur  soit  soumise  ä  de  recherches  qui  menent  ä  deci- 
der  avec  certitude  sur  son  origine  et  qui,  si  c'est  possible,  jettent 
aussi  quelque  lumiere  sur  celle  d'autres  roches  plus  ou  moins 
analogues.« 

Es  war  oin  glücklicher  Gedanke  von  L.  Dressel  den  Ba- 
salt zum  Gegenstand  seiner  Forschungen  zu  wühlen.  Denn  kein 
Gestein  hat,  was  seine  Entstehungsweise  betrifft,  zu  so  verschiede- 
nen und  extremen  Ansichten  Veranlassung  gegeben.  Wie  bekannt 
war  der  berühmte  Lehrer  der  Freiberger  Bergakademie  und  Grün- 
der geognostischer  Wissenschaft,  Werner,  der  entschiedenste  Ver- 
fechter der  wässerigen  Bildung  des  Basalt ;  seine  Lehren  riefen  im 
Anfang  dieses  Jahrhunderts  jenen  erbitterten  Kampf  zwischen 
Neptunisten  und  Plutonisten  hervor,  an  dem  sich  die  hervorragend- 
sten Naturforscher  damaliger  Zeit  betheiligten,  ein  Kampf  der  noch 
nicht  beendigt,  sondern  im  letzten  Decennium  mit,  durch  die  Fort- 
schritte der  Wissenschaft  geschärften  Waffen  weiter  geführt  wurde. 
Denn  obschon  ein  grosser  Theil  der  Geologen  und  Chemiker  der 
Gegenwart  —  unter  ihnen  besonders  bedeutende  Lehrer  an  jenem 
Orte,  wo  Werner  einst  wirkte  —  an  der  plutonischen  Abkunft 
des  Basalt  nicht  zweifeln,  so  sind  dennoch  für  dessen  wässerige 
Entstehung  Autoritäten  aufgetreten,  die  sich  eine  nicht  geringe 
Zahl  von  Anhängern  zu  erwerben  wussten.  Wenn  die  Geologen 
der  älteren  Schule  bei  ihren  Meinungskämpfen  über  die  Bildung 
des  Basalt  sich  einzig  auf  ihrem  heimischen  Boden,  d.  h.  auf  dem 
Boden  der  Geognosie  bewegton,  so  hat  man  in  neuerer  Zeit  — 
und  dies  mit  vollem  Rechte  —  Chemie  und  Physik  mit  in  das 
Gebiet  der  Geologie  hineingezogen.  Manche  und  darunter  ange- 
sehene Forscher  sind  aber  dabei  ins  Extreme  verfallen,  indem  sie 
bei  derartigen  Fragen  —  wie  die  Genesis  des  Basalt  —  Alles  durch 
die  Gesetze  der  Chemie  zu  erklären  strebten  und  die  geologischen 
Verhältnisse  dabei  gänzlich  ausser  Acht  Hessen.  L.  Dressel 
spricht  sich  entschieden  in  der  Einleitung  gegen  diose  einseitige 
Richtung  in  der  Geologie  aus  und  bezeichnet  hiedurch  den  Stand- 
punkt, welchen  er  bei  der  Beurtheilung  der  Basalt- Bildung  ein- 
nimmt. 

Die  vorliegende  Schrift  zerfällt  in  zwei  Theile.  Der  erste  be- 
trachtet die  Basalt-Bildung  nach  den  am  Basalte  selbst  auftreten- 


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Press el:  Die  Bwaltbildung. 


608 


den  Eigenschaften:  1)  Chemische  Constitution  des  Basalt;  2)  mi- 
neralogische Constitution ;  3)  physikalische  Eigenschaften ;  4)  Con- 
tinuitäts-VerhUltnisse  und  5)  Gebirgs-Formen  des  Basalt.  —  Der 
Kaum  gestattet  uns  nicht,  auf  alle  die  Gründe  einzugehen,  die  der 
Verf.  zu  Gunsten  einer  plutonischen  Entstehung  des  Basaltes  gel- 
tend zu  machen  sucht;  wir  können  hier  nur  einige  der  gewichtig- 
sten hervorheben. 

Die  Uebereinstimmung ,  die  in  der  chemischen  Constitution 
zwischen  basaltischen  Gesteinen  und  gewissen  Laven  obwaltet, 
spricht  dafür,  dass  in  jenen  unterirdischen  Räumen,  denen  die 
Laven  entstammen,  auch  das  Material  für  die  Masse  der  Basalte 
gebildet  sein  könne,  und  solche  ebenso  gut  wie  die  Laven,  unver- 
sehrt zu  Tage  gefördert  werden  konnten ;  dass  also  der  Basalt, 
seiner  chemischen  Natur  nach ,  gleich  den  Laven ,  feurig-flüssigen 
Ursprungs  sein  könne. 

Die  Mineralien,  welche  die  Basalte  zusammensetzen^  sind  die 
nämlichen,  aus  denen  eine  Gruppe  gewisser  Laven  besteht ;  Labra- 
dorit,  Augit,  Olivin,  Nephelin ,  Anorthit ,  Magueteisen.  Also  auch 
hier  eine  grosse  Uebereinstimmung.  Besondere  Beachtung  verdienen 
aber  in  dem  Abschnitt  über  die  mineralogische  Constitution  des 
Basalt;  erstens  die  Beschreibung  der  Ausscheidungen  die  in  der 
Masse  der  Basalte  vorkommen;  der  Aufenthalt  des  Verf.  in  Laach 
bot  ihm  vielfache  Gelegenheit  zu  interessanten  Beobachtungen. 
Zweitens  aber  die  Wahrnehmungen  die  Dressel  an  höchst  dünn- 
geschliffenen Basalt-Stückchen  von  verschiedenen  Fundorten  machte, 
denn  sie  lüften  hauptsächlich  den  Schleier,  mit  dem  die  Grund- 
masso  der  Basalto  für  das  gewöhnliche  Auge  verhüllt  ist.  (Die 
beiden  ersten  Tafeln  enthalten  viele  aus  dem  Mikroscop  gezeichnete 
Bilder.)  Bekanntlich  ist  Basalt  noch  wenig  microscopisch  unter- 
sucht worden,  bisher  nur  durch  F.  Zirkel.  Alle  die,  theils  bei 
92maliger,  theils  bei  380raaliger  Vergrössernng  gesehenen  Erschei- 
nungen :  das  Verlaufen  grösserer  Feldspath-Krystalle  in  die  sie  um- 
gebende Masse,  das  Verschmelzen  des  Olivins  mit  der  Grundmasse, 
das  Zerbersten  ganz  frischer  Olivine  und  Feldspathe,  das  Eindrin- 
gen der  umgebenden  Masse  in  die  Sprünge  reden  einer  plutoni- 
schen Bildung  des  Basaltes  das  Wort.  Die  Poren,  die  oft  inmitten 
grösserer  Krystalle  des  Feldspath  liegen,  beweisen,  dass  während 
der  ganzen  Entstehungs-Zeit  Flüssigkeiten  und  Gase  eine  Rolle 
spielten. 

Die  häufige  poröse  Structur  des  Basaltes  und  die  Analogien, 
welche  er  auch  in  dieser  Beziehung  mit  Laven  zeigt,  wird  von  dem 
Verf.  als  ein  weiterer  Grund  für  seine  plutonische  Abkunft  her- 
vorgehoben. Auch  die  Absonderungs  Formen  des  Gesteins  sprechen 
dafür;  besonders  die  säulenförmige,  welche  ja  ein  Resultat  der  Ab- 
kühlung und  der  hiedurch  bedingten  Volumen- Verminderung  wäh- 
rend des  Festwerdens  der  Masse  ist. 

Die  Gebirgsformen  des  Basalt  sind  ebenfalls  zu  Gunsten  eines 


« 

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604 


D  r  e  s  e  e  1 :  Die  BAsaltbUdung. 


Heraufdringen  in  heissflüssigem  Zustande;  wahrscheinlich  waren 
dabei  Gase  und  Dämpfe  sehr  tbätig.  Die  massenhaft  im  Basalt- 
Magma  vorhandenen  Gase  —  so  bemerkt  Drossel  —  der  vom 
Erdiunern  gegen  die  Erdkruste  ausgehende  Druck  bewirkten  ein 
Zeri  eissen  der  Gesteine ,  die  Bildung  von  Spalten ,  in  welche 
der  Basalt  nun  ein-  und  heranfdrang.  Die  ganze  Art  des  Auf- 
tretens dieser  Felsart  wird  hierdurch  erklart.  Die  Basalte  —  so 
sagt  D  res  sei  —  sind  nur  unter  andern  Umstünden  formal  anders 
ausgebildete  Laven.  Sie  sind  dasselbe,  was  die  Laven,  wenn  man 
nur  mineralogische  und  chemische  Constitution,  Abkunft,  die  zur 
Erdoberfläche  führenden  Ursachen,  den  Vorgang  des  Aufsteigens 
betrachtet,  in  wie  fern  solches  durch  ein  in  der  aufsteigenden  Masse 
selbst  liegendes  Agens,  die  Expansivkraft  der  Gase  und  Dämpfe 
bewirkt  wird.  Die  Basalte  sind  aber  verschieden  von  den  Laven, 
wenn  man  die  Umstände  erwägt,  unter  denen  sie  ihre  charakteri- 
stischen Absonderung*»-  und  Gebirgsformen  in  einem  etwas  ver- 
schiedenen Entwickelungs-Process  annahmen.  Die  Basalte  entstan- 
den nnter  Verhältnissen,  die  keine  ächte  vulkanische  Krater-Bildung, 
kein  Ergiessen  in  Lava-Strömen  gestatteten. 

In  dem  zweiten  Theile  seiner  interessanten  Schrift  beurtheilt 
Dressel  die  Basaltbildung  in  Hinsicht  auf  ihre  äussere  Verbält- 
nisse. Es  ist  zunächst  von  den  localen  Beziehungen  der  Basalt- 
Vorkommnisse  die  Rede.  Als  beacbteuswert.he  Erscheinungen  tre- 
ten hier  hervor:  dass  die  Eruptionen  der  Basalte  häufig  in  früher 
schon  vielfach  gestörtem  Boden  statt  fanden;  dass  sie  häufig  in 
Gesellschaft  von  Tracbyten  und  Phonolitben  auftreten;  die  nicht 
selteno  Association  von  Basalt-  und  Quellen-Ztigeu.  Ferner  wird 
besprochen  der  Eiufluss  den  die  Basalte  auf  ihre  Nebengesteine 
ausübten,  die  mechanischen,  chemischen  und  physikalischen  Con- 
tactwirkungen.  Dressel  stellt  alles  darüber  Bekannte  mit  grosser 
Vollständigkeit  zusammen.  Unter  den  Ergebnissen  eigener  For- 
schungen, welche  Dressel  in  diesem  Abschnitt  mittheilt,  verdienen 
besondere  Beachtung  die  im  Gebläse-Feuer  eines  Schmiedeofens 
vorgenommenen  Schmelzversuche  mit  Basalt- Pulver;  sie  zeigen,  dass 
zähflüssiger,  seinem  Erstarrungs-Punkte  völlig  naher  Basalt  nicht 
jene  Wirkungen  hervorbringt,  wie  man  sie  dem  dünnflüssigen  zu- 
schrieb. Er  besass,  als  er  flüssig  aufstieg,  eine  niedrigere  Tempe- 
ratur, als  selbst  seine  Wärmeschmelzung  unter  den  günstigsten 
Umständen  verlangt.  Dafür  spricht  auch  das  Verhalten  des  ge- 
schmolzenen Basalt  zum  kohlensauren  Kalk.  Denn  es  büssten  Kalk- 
stein-Einschlüsse ihre  Kohlensäure  nicht  ein,  die  —  nach  auge- 
stellten Versuchen  —  schon  im  dickflüssigen  Basalte  entweicht. 

G.  Leonhard. 


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Bastian:  Reisen  in  Siam. 


GOß 


Bastian,  Adolf,  Dr.,  Reisen  in  Siam  im  Jahre  1863.  Nebsteiner 
Karle  Hinterindiens  von   Professor  Dr.  Kiepert.    Jena  1867. 

Das  vorstehende  Reisewerk  ist  der  dritte  Band  der  Studien 
und  Reisen  des  berühmten  Arztes,  die  unter  dem  gemeinsamen 
Titel  »Die  Volker  des  östlichen  Asiens«  jetzt  vollendet  dem  Publi- 
kum vorliegen.  Als  wir  die  beiden  ersten  Bände  bereits  in  diesen 
Jahrbüchern  bald  nach  der  Zeit  ihres  Erscheinens  anzeigten*), 
hatten  wir  uns  die  Absicht  vorbehalten,  über  den  dritten  Band 
noch  zu  seiner  Zeit  zu  sprechen. 

Wir  erreichten  damals  mit  dem  Verf.  die  siamesische  Grenz- 
station Maetata,  ein  mit  Anpflanzungen  umgebenes  Walddorf  am 
Mailmount-Flusse ,  das  von  dem  Gouverneur  und  seinen  Beamten, 
sowie  den  Bearbeiteru  der  Teakholzungen  bewohnt  ist.**) 

Mit  dem  dritten  Bande  betreten  wir  den  Boden  von  Siam.  »Am 

15.  November  1862,  so  beginnt  der  Verfasser,  hatte  ich    die 

birmanisch-siamesische  Grenze  passirt  und  war  am  folgenden  Tage 
in  Maetata  angekommen.« 

Wir  wollen  nun  den  Verfasser  auf  der  Reise  nach  Bangkok 
begleiten. 

In  Maetata  traf  er  den  siamesischen  Beamten  (den  Schan- 
Min  oder  Edelmann,  wie  ihn  die  Birmanen  nennen),  der  grosse 
Freude  über  seinen  Besuch  kundgab.  Sein  Haus  aus  Bambu,  das, 
wie  alle  dortiger  Gegend,  auf  Pfählen  stand,  war  von  einer  Ve- 
randa bekleidet.  Derselbe  machte  anfangs  Schwierigkeiten,  unseren 
Reisendon  seinen  Weg  fortsetzen  zu  lassen,  geschweige  ihm  einen 
Elephanten  für  die  Reise  nach  Rahein  zu  gewähren.  Der  Weg 
um  Bangkok  zu  besuchen,  sei  zur  See,  nicht  bei  Lande  von  Nor- 
den her,  und  überdies  könnten  Fremde  nur  unter  einem  Pass  des 
englischen  Consuls  in  Bangkok  in  Siam  reisen.  Da  unser  Reisen- 
der ihm  erklärte,  die  von  dem  englischen  Gouverneur  in  Molmein, 
woher  er  zunächst  käme,  ausgestellten  Pässe  seien  für  den  Consul 
bestimmt,  verstand  sich  der  Beamte  in  Ermangelung  eines  ent- 
scheidenden Präcedenzfalles  dazu,  ihn  nach  Rahein  Weiterreisen  und 
die  zunächst  höhere  Behörde  daselbst  die  Verantwortlichkeit  über- 
nehmen zu  lassen.  Nachdem  endlich  die  Elephanten  aus  den  Karen- 
Dörfern  der  Umgegend  eingetroffen  sind,  und  Alles  zur  Reise  fertig, 
wird  am  25  November  aufgebrochen,  und  auf  einem  schmalen 
engen  Wege  die  Reise  fortgesetzt,  wobei  der  Wog  dem  Mailmont- 
Flusse  entlang  lief,  aber  nicht  immer  auf  demselben  Ufer,  sondern 
bald  auf  diesem,  bald  auf  jenem,  so  dass  die  Carawane  hin  und 
herkreuzeu  musste.  Ihr  Weg  ging  durch  menschenleere  Gegenden, 
die  Einsamkeit  der  Reise  wurde  durch  die  Gefahr  vor  Raubthieren 
unterbrochen  und   durch   eine  Carawane  siamesischer  Kaufleute, 


*)  Vgl.  Heidelb.  Jahibb.  1866.  Nr.  83  ff. 
—)  Vgl.  Bd.  II.  S.  488. 


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Bastian:  lletoen  In  8iam. 


Endlich  kommt  man  an  den  Fluss  Metong*),  der  dem  Menam  zu* 
fiiesst ;  hier  zeigte  die  Gegend  Spuren  von  Anbau.  Bald  befanden 
sie  sich  zwischen  Menschenwohuungen,  aber  erst,  als  sie  die  Mün- 
dung des  Metong  erreichten ,  sahen  sie  auf  der  anderen  Seite  die 
Häuser  und  Strassen  der  Stadt  Bah  ein  oder  Yahein  (Lahaing)**) 
sieh  auf  eine  weitere  Ausdehnung  am  Ufer  hinstrecken,  S.  11. 

Die  Berathungen,  die  er  mit  dem  Gouverneur  (Cbao-Myang) 
darüber  hatte,  ob  die  von  ihm  beabsichtigte  Reise  nach  Bangkok 
zulässig  sei,  eine  Aufwartung  bei  dem  Gouverneur,  wo  die  Politik 
des  Tages  bei  Braten,  Tbee  und  Cigarren  die  Unterhaltung  bildete, 
ein  Besuch  bei  dem  Abte  des  nahegelegenen  Klosters  ***)  der 
Kokonuss-Palmen ,  das  in  einem  weiten,  dichtbeschatteten  Garten 
lag,  die  Beschreibung  der  Stadt  Rahein,  unterbrechen  den  Faden 
der  Reisebeschreibung. 

Der  Gouverneur  hatte  unseren  Reisenden  ersucht,  bis  zu  sei- 
ner Rückkehr  zu  warten,  da  er  eine  Pilgerfahrt  nach  einer  nahe- 
gelegenen Pagode  zu  unternehmen  habe  (S.  17).  Der  Verfasser 
machte  nach  der  Rückkehr  noch  einen  Abschiedsbesuch  bei  dem 
Gouverneur,  der  mit  der  Ertheilung  der  Erlaubniss  zur  Thalfahrt 
auf  dem  Menam  nach  Bangkok  unbeschreiblich  gezögert  hatte,  und 
schiffte  sich,  unter  Zurücklassung  seiner  birmanischen  Diener,  die 
an  chroHischen  Krankheiten  litten,  am  10.  Dezember  auf  einem 
geraumigen,  wohlbedeokten  Boote  ein,  das  ausser  dem  Steuermann 
durch  fünf  Ruderer  bemannt  war.  8.  20.  Er  behielt  es  bis  zu  dem 
Orte  Kampengpet,  der  in  der  siamesischen  Geschichte  berühm- 
ten Hauptstadt  der  diamantenen  Mauer,  von  der  sich  noch  Ruinen 
mit  Steininschriften  finden.  Bis  so  weit  reichte  die  Gerichtsbarkeit 
des  Gouverneurs  von  Rahein,  und  musste  deshalb  das  von  ihm  ge- 
gebene Boot  dort  durch  ein  anderes  ersetzt  werden.  Er  machte 
also  Rast  in  einem  Kloster  auf  Ersuchen  des  Gouverneurs,  den  er 
am  nächsten  Morgen  besuchte.  Da  passende  Regierungsboote  nicht 
da  waren,  so  erlangte  uuser  Reisender  die  Aushülfe,  dass  das  von 
Rahein  mitgebrachte  Boot  noch  bis  zur  nächsten  Station  ihn  wei- 
terführen sollte.  Am  Mittag  des  nächsten  Tages  begab  er  sich 
wieder  an  Bord  des  Kahnes,  den  der  Gouverneur  mit  frischen 
Kokosnüssen,  Zuckerröhren  und  anderen  Erfrischungen  hatte  füllen 
lassen.  Am  folgenden  Tage  Abends  kam  er  in  Müangklang,  der 
Station  eines  neuen  Distrikts  an,  wo  der  mir  beigegebene  Beamte 
seine  Papiere  abzugeben  hatte,  um  das  Boot  durch  ein  anderes  zu 
ersetzen.    Dieses  Mal  war  der  »Amtmann«  seit  mehreren  Wochen 


*)  Wohl  derselbe,  den  die  beigefügte  Karte  M.  Ta  nennt. 
**)  Die  Karte  hat  dafür  noch  den  Namen  Rahaing;  Belehrung  Ober  das 
Variiren  in  diesem  Namen  giebt  Bastian  selbst.  8.  18:  „Der  siamesische 
Name  Rahein,  oder  eigentlich  Raheng,  wird  von  den  Birmanen,  die  r  und  y 
verwechseln,  Yahein  gesprochen,  während  die  Laos,  die  statt  r  nur  1  ken- 
nen, Lahein  sagen.44 

Kyaung  im  Birmanischen,  Vat  im  Siamesischen  Si  it. 


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Bastian:  Reisen  in  Slam. 


nach  Bangkok  abgereist,  und  musste  sein  Stellvertreter,  der  sich 
auf  seinem  eine  halbe  Tagereise  entfernten  Laudgute  befand,  wo 
er  die  Feldarbeiten  beaufsichtigte,  herbeigeholt  werden.  Er  kam, 
and  »auf  mein  Drängen.,  erzählt  der  Verfasser,  nach  möglichst 
rascher  Abfertigung  konnte  ich  um  Mittag  in  das  andere  Boot 
übersiedeln,  empfing  noch  einen  Besuch  des  Beamten,  der  mir  Ge- 
schenke in  Confeot  brachte,  so  wie  des  Richters,  von  dorn  der  Koch 
mit  Htlhnern  und  Reis  verproviantirt  wurde,  und  liess  dann  auf- 
brechen.« S.  27.  Kauiao,  Brankün,  Nakkonhayen  (eine  neue 
Wechselstation),  sind  die  nächsten  Dörfer,  wo  angelegt  wurde.*) 
Er  sollte  das  mitgebrachte  Boot  noch  weiter  benutzen  dürfen. 
S.  30.  Nach  dem  Berichte  einiger  Bootsleute  lagen  in  der  Nähe  die 
Ruinen  des  alten  Kampleng  phet.  Die  Weiterfahrt  wurde  am  Nach- 
mittage des  folgenden  Tages  angetreten. 

Der  erste  bedeutende  Ort  auf  der  Weiterfahrt  war  die  Stadt 
Monnrohm,  >nach  der  Zerstörung  der  früheren  Stadt Xangrohm 
gebaut,  die  an  der  Stelle  gegründet  worden  war,  wo  ein  zur  Be- 
lohnung in  den  Adelstand  erhobener  Jäger  einen  weissen  Elephan- 
ten  gesehen  hatte«,  S.  34,  die  nächstfolgende  Myang  Xainat, 
8.  37.  Bei  einem  Besuche,  den  er  hier  dem  Gouverneur  machte, 
erfuhr  er,  in  früheren  Zeiten  lag  Zeinnat  oder  Xainat  auf  der  an- 
deren Seite  des  Flusses,  wo  im  Walde  noch  alte  Ruinen  zu  sehen, 
aber  die  Stadt  wurde  in  Folge  der  ungesunden  Umgebung  verlegt. 
Die  Gegend  ist  reich  an  wildem  Bambu.  Auf  der  Weiterreise 
zeigten  sich  parkähnliohe  Anlagen  am  Ufer,  wo  Chinesen  eine 
Zuckerfabrik  angelegt  hatten.  Bald  darauf  erreichten  sie  Myang 
Ing,  eine  noch  neue  Stadt.  Die  Stelle  der  alten  Stadt,  die  zur 
Zeit  der  birmanischen  Invasion  zerstört  worden  war,  war,  wie  er 
vom  Gouverneur  hörte,  jetzt  ganz  von  Jungle  tiberwachsen;  mit- 
unter fände  man  wohl  Topfe  und  Goldmünzen,  die  auf  höheren 
Befehl  nach  Bangkok  geschickt  würden. 

Dieses  Mal  trat  ein  Bootwechsel  ein.  »Das  eine  der  beiden 
Boote,  die  ich  jetzt  erhalten  hatte,  war  chinesisches  Eigenthum.« 
S.  39.  »Die  *aldfreien  Ufer  waren  jetzt  mit  Häusern  und  Dörfern 
besetzt,  schreibt  er,  und  eine  abwechselnde  Fahrt  zwischen  ihnen 
führte  uns  mit  Einfall  der  Nacht  nach  Myang  Phrom.«  Auch  in 
dieser  Stadt  traf  er  den  Gouverneur  nicht  mehr,  weil  derselbe  zur 
bevorstehenden  Festlichkeit  nach  Bangkok  berufen  war.  Daher 
kam  sein  Stellvertreter  an  Bord,  um  die  nöthigen  Massregeln  zur 
Weiterfahrt  zu  besprechen.  »Nach  einem  durch  vorheriges  Bad 
gewürztes  Frühstück,  bei  dem  ich  aber  die  von  dem  Beamten  ge- 
schickten Gerichte  nur  zum  Schein  berücksichtigen  konnte,  wurden 
die  Boote  umgepackt  und  in  den  Strom  hinausgewendet.«  Die 


•)  In  letzterem  Orte  war  der  Gouverneur  auf  dem  Punkte  gewesen, 
nach  Bangkok  abzureisen,  wo  der  König  die  Kopfscbeerung  eines  seiner 
Prinzen  feierlich  begehen  wollte.  S.  20. 


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Bastian:  Reisen  in  Slam. 


Fahrt  ging  bis  Myang  Angstong,  wo  er  Mühe  hatte»  vom  Gou- 
verneur Boote  zu  bekommen.  Die  Stadt  liegt  nach  des  Verfassers 
Beschreibung  auf  einer  vorspringenden  Landzunge  von  zwei  Armen 
des  Menam  gebildet.  S.  41.  »Wir  fuhren,  erzählt  er  weiter,  zwi- 
schen wohlangebauten  Ufern  bin,  und  auch  der  Fluss  war  von  vie- 
len Booten  belebt.  Eines  derselben ,  das  mit  seiner  Waare  von 
Bangkok  heraufgekommen  war,  bot  in  seinem  schwimmenden  Laden 
Zeuge,  Kleider,  Töpfergesch  irre  und  Aehnliches  feil,  indem  es  die 
Bedürfnisse  der  Dörfer  am  Ufer  versorgte  oder  auch  zum  Handel 
längs  den  herabkommenden  Schiffen  anlegte.«  Sie  passirten  einige 
Dörfer,  »deren  Häuser  zum  Theil  auf  schwimmende  Flösse  in  Was- 
ser gebaut  waren,  dann  öffnete  sich ,  wie  er  sagt ,  eine  fruchtbare 
Ebene,  aus  der  eine  Menge  von  Pagodenspitzen  hervorblickten,  und 
bald  darauf  liefen  wir  in  Ayuthia  ein  d.  h.  die  neuerdings 
so  genannte  Stadt  *),  die  in  kurzer  Entfernung  von  den  Ruinen  der 
hochberühmten  Hauptstadt  des  alten  Siam  gebant  ist.  **)  Die  Nacht 
brachte  er  in  dem  Zayat  eines  Klosters  zu.  Am  anderen  Morgen 
besuchte  er  die  Ruinen ,  ohne  dazu  ermächtigt  zu  sein ,  aber  man 
controlirte  ihn  nicht.  Man  bestahl  ihn  in  einer  Nacht,  und  es 
gab  eine  Untersuchung,  die  in  Bangkok  weitergeführt  werden  sollte. 
Zur  Sicherheit  erhielt  er  die  nächste  Nacht  zwei  Schildwachen  an 
jede  Thür  seines  Hauses  (vgl.  S.  42),  Hess  packen,  um  mit  dem 
Frühesten  in  dem  neuen  Boote  abzureisen,  und  erhielt  von  dem 
Vicegouverneur  das  Versprechen,  mitzureisen,  damit  die  Entschei- 
dung über  jenen  Fall  keinen  Aufenthalt  erfahren  sollte.  8.  51.  Man 
fuhr  also  ab,  und  legte  mit  Einbruch  der  Nacht  im  Dorfe  Sanck- 
hock  an,  »dessen  erleuchtete  Häuser  sich  in  weiter  Länge  am  Ufer 
hinstreckten.«  S.  52.  Der  Amtmann,  bei  dessen  Wohnung  man 
endlich  anlangte,  war  in  Bangkok  anwesend;  sein  Stellvertreter 
schaffte  das  andere  Boot  herbei,  und  Hess  die  Bagage  durch  ein 
Paar  an  den  Beinen  zusammengeketteter  Sträflinge  umpaoken. 

• »  Die  Karte  des  Verfassers  enthält  den  Namen  Krung-Rau  (Ayuthia). 
**)  Er  bringt  aus  der  Gründungsgeschichte  Einiges  S.  43. 

(Schluss  folgt) 


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Ir.  39.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Bastian:  Eeisen  in  Siam. 


(SchluBS.) 

In  Myang  Notumberi  war  gleichfalls  nur  der  Vice-Amtmann 
zu  Hause ;  doch  zeigte  sich  derselbe ,  wie  unser  Reisender  erzählt, 
eifrig,  rasch  die  gewünschten  Boote  zu  schaffen  um  noch  vor  Abend 
einzupacken.  Der  Fluss  wurde  zusehends  breiter,  und  bald  zeigten 
sich  die  hohen  Pagoden,  die  buntgeschmückten  Palastthürme  Bang- 
koks, wo  meine  Bootsleute  an  der  Wohnung  des  Phra-Klang*)  an- 
legten, um  ihre  wichtige  Fracht  sogleich  in  die  richtigen  Hände 
zu  liefern.  Es  war  gerade  am  31.  Dezember,  als  unser  Reisender 
in  Bangkok  anlangte.  Nachdem  die  Passangelegenheit  mit  vielen 
Umständen  wegen  der  Unbekanntschaft  mit  der  Stadt  vorab  ge- 
regelt war,  wurde  der  Abend  in  einem  heiteren  Kreise  deutscher 
Landsleute  verbracht,  unter  den  Gefühlen,  »als  ob  mich  unverhofft 
ein  wohlwollender  Zauberscblag  aus  der  birmanisch-siamesischen 
Vergangenheit  in  die  ferne  Heimath  entrückt  habe.«  Da  er  un- 
wohl war,  blieb  er  bis  zu  seiner  Wiederherstellung  im  Hause  des 
Chefs  einer  dortigen  deutschen  (hanseatischen)  Firma,  und  nahm 
er  Wohnung  bei  einem  Missionar  (Herrn  Chandler)  zum  Behufe  der 
Erlernung  des  Siamesischen.  Er  hatte  einen  weiten  Weg  zu  Stadt- 
visiten. Gegen  das  Ende  seines  Aufenthalts,  als  seine  Bekannt- 
schaften ausgedehnter  und  die  bei  den  Siamesen  abzustattenden 
Besuche  häufiger  wurden,  gab  er  den  Einladungen  des  englischen 
Gesandten  (Sir  Robert  Schomburgk)  nach  und  zog  in  das  englische 
Consulatsgebäude,  wo  er  dem  Mittelpunkt  der  Stadt  näher  war. 

Der  Aufenthalt  in  Bangkok  nimmt  einen  eigenen  Abschnitt  in 
Anspruch,  S.  61  ff.  Unser  Reisender  nennt  sie  die  Stadt  der  wil- 
den Oelbäume,  beschreibt  den  Verkehr  auf  dem  Mcnam,  sowie  das 
Interessante,  was  eine  Fahrt  auf  dem  Menam  bietet.**)  Es  geht 
aus  seiner  Beschreibung  hervor,  dass  die  europäischen  Verkehrs- 
mittel beginnen  die  chinesischen  zu  verdrängen.  Manche  europäische 
Schiffe  sind  siamesisches  Eigenthum.  Den  Handmühlen  der  Chine- 
sen zur  Reinigung  von  Reis,  die  die  ganze  Strasse  eines  Kanals 
einnahmen,  von  den  Bergen  der  aufgeschütteten  Hülsen  umgeben, 


*)  Des  Ministers  der  auswärtigen  Angelegenheiten. 
**)  Die  schwimmenden  Häuser  an  jeder  Seite  des  Flusses  bieten  ihm 
einen  Vergleich  mit  den  Pfahlbauten  bei  Hippokratee  (am  Phasls)  und  He- 
rodot  (im  See  Prasias).  8.  61. 

LX.  Jahrg.  6.  Heft  39 


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610 


Bastian:  Reisen  In  Siam. 


babon  die  Europäer  (Engländer)  und  Amerikaner  angefangen,  Con- 
currenz  zu  macben.  Die  Mittheilung  über  eine  Audienz  bei  dem 
Könige  veranlasst  ibn,  auch  von  den  Brüdern  dos  Königs  zu  spre- 
chen, ferner  von  dem  Minister  Phra  Kalahom  und  dem  Schatz- 
meister Phra-Klang.  Jener  liebte  die  Fremden  nicht;  dieser  zeigte 
eino  offene  Hinneigung  zu  europäischer  Civilisation.  *)  Er  beschreibt 
einige  Gerichtssitzungen.  S.  74.  Darauf  giebt  er  die  Ergebnisse 
seines  Besuchs  der  Pagoden  und  Klöster  (Vat)  zum  Besten  S.  75, 
Predigten  anlässig  eines  Festes  in  der  Wohnung  des  Phra-Klang, 
8.  81,  Theegespröche ,  wobei  der  Minister  Aeusserungen  aus  dem 
Munde  katholischer  Priester  (Batbluang)  und  protestantischer  Mis- 
sionäre kritisirt,  S.  85. 

Als  eine  seiner  wichtigsten  Bekanntschaften  bezeichnete  er  die 
des  Phra-Alak  (königlichen  Schreibers)  genannten  Edelmannes  d.  h. 
des  Bibliothekars,  der  über  die  Archive  des  Palastes  gesetzt  war. 
Er  beschreibt  seinen  Besuch  mit  folgenden  Worten:  >Er  hauste 
mit  seinen  Secretären  in  einer  niedrigen  Kammer,  zu  der  man  auf 
einer  engen  und  verdeckten  Bodenstiege  emporklomm,  und  benutzte 
ich  jede  Gelegenheit,  ihn  dort  heimzusuchen,  und  ein  Stündchen  in 
der  Atmosphäre  antiquarischen  Staubes  zu  verplaudern.«  Unter 
den  Bücherschätzen,  'die  dann  aus  ihrem  sicheren  Verschlusse 
herausgenommen  und  zum  bequemen  Durchblättern  neben  uns  auf 
die  Erde  gelegt  wurden,  befanden  sich  »die  dicken  Bände  der 
Geschichte  Ayuthias  in  eleganten  und  reinlichen  Schriftzügen  hin- 
gemalt, die  alten  Chroniken,  so  viele  ihrer  noch  vorhanden,  die 
Uebersetzungen  von  Epen  und  Dramen,  Romane,  Märchen  und 
Fabeln.  Auch  Bildwerke  fehlen  nicht,  sowie  einige  Palischriften 
mit  zugefügter  Erklärung  im  Vernacular   Manche  der  engli- 
schen Bücher,  erzählt  er,  die  der  König  theils  als  Geschenke,  theils 
im  Auftrage  erhalten  hatte,  wurden  dort  ebenfalls  aufbewahrt,  und 
oft  sah  ich  die  Abzüge  englisch  abgefasster  Aktenstücke,  die  der 
König  aus  seiner  Privatdruckerei  zur  Correctur  dahin  geschickt 
hatte.« 

Durch  den  Phra-Alak  machte  er  die  Bekanntschaft  noch  ver- 
schiedener anderer  Gelehrten.  Der  weisse  Elephant,  den  er  bei 
seiner  Aukunft  im  Palaste  gesehen  hatte,  führt  ihn  in  seiner  Er- 
zählung auf  die  woissen  Elephanten  überhaupt,  und  auf  den  Stamm- 


•)  Hier  war  eines  Abends  das  GesprHch  auf  eine  neue  Sekte  des  Bud- 
dhismus gekommen,  die  der  König  zu  stiften  suchte,  als  reformatorischer 
Versuch,  alles  Fabelhafte  und  Unglaubwürdige  aus  den  Palischriften  auszu- 
scheiden und  nur  die  moralische  Essenz  derselben  beizubehalten.  „Alle  Re- 
ligionen auf  der  Erde",  lüsst  er  den  Phra-Klang  bemerken,  könnten  in  zwei 
K  fassen  get  heilt  werden,  einmal  diejenigen,  die  andere  Mächte  zu  Hülfe 
rufen,  wie  Kinder  nach  ihren  Eltern  schreien,  und  dann  solche,  die  die  Hülfe 
in  ihrem  eigenen  Geist  finden."  Der  Unterschied  zwischen  Religion  und 
Philosophie,  behauptet  der  Verf.,  ist  für  den  Buddbismus  im  Sinne  der  west- 
lichen Civilisation  vorhanden.  S.  73. 


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Bastian:  Reisen  in  Siam. 


611 


bäum  der  Elephanten.  Dann  erzählt  er  von  den  Bramanentempeln 
und  den  Bramanen,  was  ihn  auf  eine  meiner  abgelegenen  Vorstadt 
Bangkok's  angesiedelte  Colonie  der  Kha  fährt.  S.  100  ff.  König- 
licher Palast,  königliche  Titel,  Anreden  u.  s.  w.  sind  der  Gegen- 
stand der  nächsten  Seiten,  aus  denen  wir  das  Faktum  herausheben, 
dass  in  der  siamesischen  Geschichte  die  Könige  sich  häufiger  um 
Siegel  aus  der  Hand  des  chinesischen  Kaisers  bewerben  und  dass 
sich  noch  jetzt  ein  solches  finde,  dasPhayaTak  geschenkt  wurde.*) 
Noch  einige  Mittheilungen  über  die  Palastdiener,  die  das  Engel- 
heer (Phuek  thevada)  genannt  werden,  über  ihr  Gehalt,  über  die 
Missionäre  katholischen  und  protestantischen  Bekenntnisses,  und 
das  Wesentliche  über  seinen  Aufenthalt  in  Bangkok  haben  wir 
erfahren. 

Dass  er  noch  nachher  eines  Elephantenkampfes  erwähnt,  hat 
darin  Beinen  Grund,  dass  dieses  Schauspiel  mit  seiner  Abschieds- 
audienz beim  Könige  zusammenfiel,  und  beides  noch  kurz  seiner 
Abreise  vorherging.  S.  116  ff. 

Wenn  der  Verf.  der  christlichen  Missionäre  erwähnt,  so  be- 
obachtet er  das  lobenswerthe  Verfahren,  sie  gleich  zu  halten,  nicht 
die  eine  Confession  vor  der  anderen  zu  heben  und  so  einen  Schluss 
auf  seine  Vorliebe  zu  riskiren.  Diese  Objectivität  ist  ein  Vorzug 
seiner  Reisedarstellung. 

Nun  folgt  noch  ein  specielles  Capitel  über  die  Klöster  und 
ihre  Bewohner,  S.  119,  woraus  wir  nur  Einiges  herausheben.  Wäre 
die  Absicht  dieses  Abschnittes  eine  Beschreibung  derselben,  so 
wären  einige  Seiten  hinreichend.  Aber  der  Verf.  schaltet  Details 
über  heilige  Bäume  ein,  8.  121,  über  Loose  d.  h.  Holzstäbe,  die 
mit  günstigen  oder  ungünstigen  Prophezeiungen  beschrieben  waren, 
8.  125,  über  Alchemisten,  die  nach  dem  Ajecke  oder  versteinerten 
Drahte  suchen,  S.  127,  über  Klosterschweine  (Mu-Vat),  S.  129, 
über  Wandgemälde  (die,  alfresco,  die  Pfeiler  und  Wände  des  Both 
im  Vat  Suthat  bedecken),  8.135,  über  Bilderunterschriften,  S.  187, 
über  Tempelärzte,  S.  139,  über  das  wunderbare  Buddhabild,  das 
(700  Jahre  nach  Buddha' s  Neibban  gegossen)  von  Ceylon  nach 
Myang  Lakhon  (Ligor)  gekommen  war  und  durch  Phaya  Ruang 
nach  Siam  gebracht  wurde,  S.  143**),  über  brahmanische  Bilder, 
8.  145. 

Das  grösste  Kloster  Bangkoks  ist  der  Vat  Pho  oder  (in  könig- 
licher Sprache)  Vat  Phra-Chattupon,  der  beide  Seiten  einer  breiten 
Strasse  in  der  Nähe  eines  Palastes  einnimmt.  In  der  einen  Hälfte 
stehen  die  Wohnungen  vieler  Hunderte  von  Mönchen,  die  seine 


#)  Es  ist  beschrieben,  erzählt  er, 

Thaeh  (Vorname  des  Königs)  Syam  (Siam) 
Beng  (Zuname  des  Königs)  Kok  (Land) 
in  viereckiger  Form.  S.  110. 

**)  Obwohl  von  Metall,  schwamm  es  nicht  nur,  sondern  selbst  Btrom- 
aufwärta.  S.  148. 


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Insassen  bilden,  und  deren  Strassen  numerirt  sind,  weil  es  sonst 
unmöglich  sein  würde,  Jemanden  aufzufinden. 

Ich  will  die  Beschreibung  nicht  ausschöpfen;  im  Allgemeinen 
erinnert  sie  durch  ihre  vergleichende  Methode  an  frühere  Arbeiten 
des  gelehrten  Verfasser,  z.B.  über  den  Menschen  in  der  Geschichte. 
Der  Schluss  dieses  Abschnittes  beschäftigt  sich  noch  speciell  mit 
dem  Beruf  der  Mönche,  S.  146  ff.,  besonders  mit  den  Pali-Exami- 
nationen,  mit  der  Ernennung  zu  höheren  Würden,  und  mit  der 
Prüfung  der  Aechtheit  der  Reliquien.  Ein  eigenes  Interesse  bietet 
die  Beschreibung  des  Lebensganges  eines  Siamesen  bis  zu  seiner 
Ordination  als  Priester ,  S.  154 ff.  Es  sei  die  Pflicht  jedes 
Siaiuoson,  dass  er  zum  Wenigsten  einen  Monat  seines 
Lebens  imStande  eines  G  eist  lieh  en  zugebrach  t  habe, 
und  solche,  die  niemals  ordinirt  (buet)  waren,  heissen  Khon  dib 
(rohe  Menschen).  Man  sagt  von  ihnen,  dass  sie  verkehrt  geboren 
(Köt  phit),  da  sie  für  ihre  Eltern  ohne  Verdienst  (bun)  bleiben 
(S.  159). 

Solche,  die  erst  ganz  kürzlich  aus  dein  Kloster  ins  bürgerliche 
Leben  zurückgekehrt  und  noch  au  ihrem  kahlen  Kopfe  zu  erkennen 
sind,  werden  (dem  Xieng  der  Laos  entsprechend)  Thit,  auch  Ban- 
thit (Pandit)*)  oder  Athit  genannt.  Im  Kloster  fügen  sie  ihren 
Namen  Khun  zu,  ausserhalb  des  Klosters  Thit,  bis  das  Haar  wie- 
der ganz  gewachsen  ist. 

Wenn  wir,  indem  wir  über  die  Rechtsverhältnisse  Siam's  an 
dem  Faden  des  Verfassers  Einiges  hier  zur  Kenntniss  bringen,  uns 
kurz  fassen,  so  hat  das  den  Zweck,  nur  auf  die  Anlage  und  den 
reichen  Inhalt  des  dritten  Bandes  aufmerksam  zu  machen. 

Sollte  ein  Bürger  Bangkok's  einen  Civilprocess  haben ,  der 
weder  in  das  Departement  des  Kalahom  (über  die  südlichen  Pro- 
vinzen) iällt,  noch  auch  unter  das  Departement  des  Nikrabodin 
(über  den  Norden),  und  der  auch  nichts  mit  den  ansässigen  Frem- 
den, die  unter  dem  Schutze  des  Phra-Klang  stehen,  zu  thun  hat, 
so  nimmt  er  die  Intercession  seines  Nai  in  Anspruch,  der  den 
Fall  weiter  verfolgt,  bis  er  einem  der  Prinzen  vorgelegt  ist,  die 
dann  entweder  nach  eigenem  Urtheil  enscheiden  oder  vorher  mit 
dem  San-Luang  berathen.  Im  San-Luang  wird  die  Sache  von  den 
Luk-Khun  untersucht,  die  weiter  an  den  Richter  (Tralakan)  be- 
richten. Das  Urtheil  wird  von  dem  Phra-Krai-Si  oder  Phra-Krai- 
Lem  publicirt.  Der  Präsident  des  Richtercollegiums  ist  gewöhnlich 
der  Jommarat,  zu  dessen  Jurisdiction  auch  alle  Crimiualfälle  ge- 
hören. Der  König  bestimmt  die  Luk-Khun  als  Beisitzer  im  San- 
Luang  und  wechselt  mit  ihnen  nach  den  verschiedenen  Tagen. 

Ueber  den  Gerichtshof  San-Luang  präsidiren  abwechselnd  der 
Khun  Sithammarat  und  der  Khun  Chason,  die  schriftlich  abge- 
fasste  Klagen  den  Luk  Khun  einreichen,  um  sie  zu  prüfen,  und, 


*)  In  Vorderindien  ist  dies  die  Benennung  des  Vedagelehrten. 


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wenn  richtig,  durch  den  Phra-Racbanichai  einem  der  vier  Khtm- 
San  vorzulegen.  Wenn  die  Parteien  examinirt  sind,  wird  der  Fall 
den  Luk  Khun  zur  Entscheidung  zurückgeschickt  und  das  Urtheil 
von  dem  Tribunal  gesprochen.  Jeder  Gouverneur  hält  täglich  Ge- 
richtssitzung im  Kromakan  mit  seinen  Beamten.  Hohe  Angostelite 
sprechen  Recht  im  Chang-vang.  Tm  Salaluk-khun,  dem  königlichen 
Oberappellationsgericbt,  führt  der  Phaya  Rong  myang  den  Vorsitz, 
und  daneben  finden  sich  die  Lakhon  ban. 

Nicht  allein  eine  so  tiefe  Bekanntschaft  mit  den  Organen  der 
Gesetzgebung  zeigt  hier  der  Verfasser ;  er  macht  uns  sogar  mit  den 
Capiteln  der  dortigen  Gesetzbücher  eingeheud  bekannt,  S.  180 ß. 
und  geht  auf  die  Geschichte  der  Herkunft  derselben  in  einer  Weise 
ein,  die  uns  mit  dor  Geschichte  der  Entstehung  des  Dekalogs  be- 
kannten Lesern  durch  ihre  Aehnlichkeiten  frappirt.*) 

Bei  dem  reichhaltigen  Material,  worüber  der  Verfasser  ver- 
fügt, ist  es  ihm  möglich,  concret  zu  bleiben.  Diese  Methode 
zeigt  sich  wieder  im  folgenden  Capitel:  >Sitten  und  Gebräuchec 
S.  191  ff.  »Ehe  man  den  Bau  eines  Hauses  beginnt,  erzählt 
er  hier  eingangs,  legt  man  auf  die  Erde  Opfergaben  u.  s.  w. 
Er  prüft  die  Bauart  der  Häuser,  kommt  auf  die  Architektur 
im  höheren  Sinne  zu  reden,  zieht  dio  Pagoden  herein,  die  an 
der  Küste  als  Leuchtzeichen  oder  Landmarken  dienen,  wie  die 
Thürme  mit  den  Bildsäulen  Baal's**).  Wir  wollen  uns  nicht 
bei  den  Gebräuchen  verweilen,  die,  sofern  sie  ein  Ausfluss  ihres 
Aberglaubens  sind ,  ein  paar  Seiten  in  Anspruch  nehmen  (Wahr- 
sagen, Gelübde,  Glauben  an  Anmiete  und  Talismane).  Uebrigens 
sind  sogar  die  Gegenstände  der  Toilette  und  Eleganz  in  der  Klei- 
dang dnrch  ein  besonderes  Buch  (das  Buch  Raxavatoli)  geregelt. 
Die  Berauschung,  welche  die  Siamesen  durch  den  Genuss  der  Lam- 
phongfrucbt  oder  durch  das  Suragetränk  oder  dnrch  zu  frische 
Areca-Nüsse  erzielen,  bildet  einen  wichtigen  Passus  S.  204  ff.  Für 
dio  Kenntniss  des  Handelns  und  Wandels  ist  Geld  und  Geldprft- 


*)  „Nun  ereignete  es  sich  oines  Tages,  dass  Phra-Pathara,  der  Ein- 
siedler, sich  In  die  Luft  erhob  und  sich  nach  dem  Khob-Chakkravan  'dem 
den  Erdkreis  umgebenden  Bergwall)  begab.  Dort  verfertigte  er  eine  Ab- 
schrift von  der  einen  Art  der  Pethangkha  und  den  magischen  Zauberfor- 
meln der  Vetha.  Dann  auf  dem  Rückwege  seinen  jüngeren  Bruder  Mano- 
aan  mit  sich  nehmecd,  begab  er  sich  nach  der  Residenz  des  Königs  Maba- 
Sammutirat  und  legte  den  heiligen  Text  der  Pethangkha  vor  ihm  nieder, 
sowie  die  den  König  betreffenden  Zauberformeln.  Nicht  lange  nachher  gab 
Pathara-Dabot  das  Einsiedlerleben  auf  und  wurde  mm  Paxa-Parohit  er- 
nannt, um  den  König  Maha-Sammutirat  zu  unterrichten.  Auch  Manosan 
folgte  seines  Bruders  Beispiel  und  trat  in  die  Dienste  des  Königs.  Und  der 
Kftnig  erhob  Manosan  eu  hohen  Würden,  mit  der  Verwaltung  der  Menschen 
betraut.  Und  Manosan,  sum  Richter  ernannt,  entschied  mit  der  vollkom- 
mensten Weisheit  die  seinem  Urtheil  vorgelegten  Fälle,  so  dass  ihn  die  De- 
vata  mit  Gold-  und  Maisähren  und  Blumen  überschütteten."  8  1*1  ff. 

**)  Die  phönicischen  Herakles-Säulen  (nach  Nilsson),  auf  denen  Feuer 
angezündet  wurden.  S.  196. 


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gung  sehr  wichtig.  Der  Verfasser  ist  auf  diese  Erörterung  durch 
die  Landessteuern  (8.211)  geführt  worden.  Die  Normalmünze  ist 
der  Tikal,  eine  Silbermünze.  Doch  werden  auch  goldene  geprägt. 
Der  silberne  Tikal  gilt  drei  Franken. 

Dann  kommt  der  Verfasser  auf  die  Zuckerplantagen,  S.  215, 
auf  den  Ackerbau.  Säen,  Pflügen  und  Ernten  werden  beschrieben. 
S.  216.  Es  wäre  zweckmässig  gewesen,  wenn  der  Verfasser  mehr 
Unterabtheilungen  durch  besondere  Ueberschriften  angedeutet  hätte. 
Im  Anschluss  an  die  Erzählung,  wie  es  bei  den  Feldarbeiten  zu- 
geht, folgt  ein  Unterabschnitt  über  die  Kindernamen,  über  eigen- 
thümliche  Ausdrücke,  über  Redensarten,  über  Ammen-Reime  und 
Sprichwörter,  Über  Rüth  sei,  über  Clima,  über  Hausweibe,  über 
Haarscheeren.  Hier  sind  wir  bei  einem  Punkte  angekommen,  des- 
sen Wichtigkeit  wir  schon  oben  anerkennen  lernten.*) 

Am  wichtigsten  ist  für  uns  ihr  astronomisches,  physikalisches 
und  kriegswissenschaftliches  Wissen,  über  das  der  Verf.  nach  per- 
sönlichen Erfahrungen  und  Büchern  Mittheilungen  von  sehr  fesseln- 
dem Detail  macht.  S.  238  ff.  Beiläufig  erfahren  wir,  dass  die  sia- 
mesichen  Truppen  schon  nach  der  Gesandtschaft  Louis  XIV.  durch 
den  Chevalier  de  Forbin  in  Exercitien  geübt  wurden,  und  seitdem 
oft  durch  europäische  Officiere  geschult  worden  sind,  auch  zum  Theil, 
wenigstens  die  Leibgarden  des  Königs,  eine  der  englischen  nach- 
geahmte Uniform  tragen. 

Da  der  Zweck  unserer  Anzeige  ein  allgemeines  Referat  ist, 
nicht  eine  eingehende  Detailzergliederung,  so  können  wir,  wenn 
wir  die  noch  restirenden  Abhandlungen  über  »die  Pbantasiewelt 
des  Uebernatürlicben«,  S.  247  ff.,  Uber  »FeBte  und  Spielet,  S.  303  ff., 
Über  »religiöse  Vorstellungen t ,  S.  346  ff.  nicht  ganz  übergehen 
wollen,  doch  kurz  darüber  sein ,  um  nicht  über  der  zu  umständ- 
liche Vereinzelung  den  Ueberblick  zu  verlieren,  welche  das  erste 
Erforderniss  an  eine  Anzeige  ist,  die  gut  geschnoben  heissen  will. 
Ich  verhehle  mir  nicht  die  Schwierigkeiten,  welche  die  Beschäfti- 
gung mit  den  Details  des  Verfassers  stellenweise  hat,  geschweige 
die,  welche  die  Beurtheilung  der  letzteren  mit  sich  bringt.  Man 
weiss  bei  der  Lektüre  nicht,  worüber  man  mehr  staunen  soll,  ob 
über  die  Ausdehnung  jener  Phantasiowelt  z.  B. ,  über  die  Vielheit 
der  Feste  und  Spiele,  endlich  über  die  Ausgebildetheit  des  reli- 
giösen Vorstellungssystems,  oder  über  das  theils  kühne,  theils  tief- 
eindringende,  theils  umspannende  Auge  des  Verfassers.  Gewisse 
Details  hier  niederschreiben,  hiesse  den  Letzteren  ausschreiben,  ge- 
wisse combiniren,  hiesse  die  klare  Unterscheidung,  die  des  Ver- 
fassers Zusammenstellungen  auszeichnen,  trüben  und  verwirren. 
■ 

*)  Ee  giebt  eine  Ceremonie,  Tban  Khnan  genannt  (Ktraan  heisst  Haar), 
die  die  Eltern  am  Ende  des  ersten  Monats  beobachten;  dann  schneiden  aie 
das  Haar  ab,  das  bei  der  Geburt  auf  die  Welt  gebracht  wird.  Zum  zwei- 
ten Mal  ist  ein  feierliches  Kopfscheeren  mit  dem  Abschneiden  des  Hoar- 
knotena  verboten.  S.  237. 


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Wir  müssen  uns  darauf  beschränken,  aufmerksam  auf  dies 
oder  Jenes  zu  machen,  was  über  die  Glaubenswelt  aus  jenem  Süden 
zu  erzählen  ist  und  vom  Verfasser  verwerthet  worden  ist. 

Aberglaube  der  Siamesen  (Glaube  an  Dämonen,  an  Spuk)  und 
darauf  gegründete  Künste  (Taschenspielerei,  gordische  Verknotun- 
gen, Diebs-Magik,  Scbatzgräberei ,  Schwarzktinstelei) ,  aber  auch 
Opfer,  die  durch  sie  nöthig  geworden  sind,  werden  hier  mit  lehr- 
reicher Behaglichkeit  erzählt.  Krankheiten  und  das  Redürfniss  ihrer 
Heilung  haben  den  Glauben  an  übernatürliche  Heilkräfte  in  Dienst 
genommen.  Höher  im  Glauben  der  Patienten  als  die  Aerzte,  ste- 
hen die  Priester,  zu  denen  in  letzter  Noth  noch  geschickt  wird, 
die  Priester  weisser  oder  schwarzer  Magie.  Der  Kranke  geht  wo 
möglich  auch  noch  weiter,  bis  zu  dem  Gotte  selbst.  *) 

Ein  einheimisches  Manuscript  spricht  sich  nach  dem  Verfasser 
folgendermassen  ans :  In  Siam  giebt  es  viele  Klassen  der  Mo  (Aerzte), 
die  Mo  Luang  (des  Königs),  die  Mo  Phong  Chao  (des  Adels)  und  die 
Mo  Rasadon  (des  Volkes).  Mit  Ausnahme  der  Mo  Luang  heissen  die 
übrigen  Aerzte  Mo  Xaloi  sak  (Einrollirte).  Nach  ärztlicher  Taxe 
muss  der  aus  einer  Krankheit  genesende  Patient  den  Reis  der  Satis- 
faktion geben  (song  khuen  khao)  und  an  Geld  für  die  Kosten  der 
Arzneien  2  Bath  (Tikal)  zahlen,  sowie  6  Salüng  zur  Sühne  (khnan). 
Ausserdem  wird  eine  Schüssel  mit  Confect  und  ein  Schweinskopf 
zugefügt.    So  ist  der  Gebrauch,  sagt  der  Verfasser. 

Zum  Schlüsse  des  Abschnittes  stellt  und  erörtert  der  Verf. 
noch  die  Frage,  ob  die  siamesischen  Aerzte  (Pbuek  Mo  Thai)  im 
Stande  sind,  die  in  einen  Besessenen  eingefahrenen  Dämonen  (Phi 
Pisat)  auszutreiben,  und  wie  sie  sich  dabei  benehmen?  S.  800 ff. 
Es  wandelt  dort  noch  Alles  im  Dunkeln. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Feste  und  Spiele  kann  über  diesen 
geistigen  Znstand  der  Siamesen  nicht  hinwegdenken  lassen. 

In  ihren  religiösen  Vorstellungen,  welche,  wie  oben  bemerkt, 
die  letzte  unter  den  Abhandlungen  bilden,  müssen  wir  das  Krite- 
rium für  jene  traurigen  Erscheinungen  im  Gebiete  ihres  Geistes- 
lebens suchen.**)  Die  Verarbeitung  der  einschlägigen  Vorstellun- 
gen verdient  unsere  Bewunderung.  Die  Abhandlung  beginnt  in 
johanneischer  Weise  mit  einem  Griff  in  die  Physik  des  Alls:  »Die 
Welt  ging  aus  dem  Gesetze  hervor  (Köt  thammada)  und  das  Ge- 
sotz bestand  durch  sich  selbst  (thammada  pen  eng)  u.  s.  w.«  Wir 


*)  In  indischen  Tempeln  findet  sich  mitunter  eine  Stelle,  durch  die  sich 
der  Kranke  hindurchwinden  muss,  wie  in  der  Moschee  der  1001  Säulen  bei 
Kairo.  Die  Kelten  zogen  ihn  durch  einen  Dolmen,  und  die  Chinesen  kennen 
für  ein  kränkliches  Kind  (nach  Doolittle)  „the  ceremony  of  passing  through 
the  door/  S.  297. 

**)  Der  Verfasser  hat  in  seinen  Bruchstücken,  wie  er  sie  bescheiden 
nennt,  die  objektive  Form  bewahrt,  in  der  sie  empfangen  worden,  und  die 
zusammenhangende  Darstellung  des  Buddhismus  einem  spateren  Bande  vor- 


/ 

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Bastian:  Reisen  in  Slam. 


haben  hier  nicht  die  Absicht,  weiter  am  Faden  des  Verfassers 
hinzugehen ,  die  Kosraogonie  der  Siamesen  u.  s.  w.  zu  erörtern. 
Eigen  ist  die  Lehre  von  der  Menschenerschaffung.  Die  Menschen 
hatten  vorher  in  den  Palästen  der  Pbrohra  die  Luft  durchschifft, 
und  stiessen  im  Raum  auf  die  neugebildete  Erde  (gleich  befruch- 
tende Keime  der  Luft).  So  sagt  der  Verfasser:  »Die  ersten  Men- 
schen, die  zur  Bevölkerung  der  neuen  Erde  aus  den  Pallisten  der 
Phrohm  herabstiegen,  waren  durch  sich  selbst  in  Existenz  getreten, 
in  Folge  des  ihnen  zukommenden  Verdienstes  (bnn).  Als  sie  durch 
den  Genuss  irdischer  Speisen  allmiihlieh  ihren  Glanz  und  durch 
zxinohmende  Schwere  ihre  Fähigkeit  dos  Fliegens  verloren,  fing  all- 
gemeine Dunkelheit  an  den  Umkreis  zu  decken,  und  sie  begannen 
zu  jammern  und  zu  klagen,  da  Tod  sich  ihnen  drohond  zu  nähern 
schien.  Da  stieg  plötzlich  die  glühende  Sonne  empor  und  füllte 
sie  alle  mit  Freude,  bis,  als  sie  am  Abend  niedersank,  sich  hinter 
dem  Berge  Meru  verbergend ,  mit  der  Finsterniss  die  Traurigkeit 
zurückkehrte.  Aus  der  Kraft  ihrer  heissen  Wünsche  jedoch  ging 
als  Erzeugniss  der  Mond  hervor,  der  deshalb  Chanda,  der  Er- 
wünschte, genannt  wurde.« 

Auf  diese  Klarlegung  des  Processes  der  Entstehung  der  Natur- 
körper ist  nichts  mehr  zu  sagen!  Der  brahmanische  Pantheismus 
hält  einer  Kritik  nicht  Stand.  Die  vergleichende  Erläuterung  des 
folgenden  Kapitels  (Nirwana,  S.  355),  des  Begriffs  Ariya  (Besieger 
der  Feinde  d.  i.  der  Leidenschaften),  S.  357,  der  Unterschiede  Gut 
und  Böse,  S.  461,  zeigt  den  Verf.  wieder  wie  gewöhnlich  im  Be- 
sitze überraschender  Parallelen.  Zuletzt  kommt  er  auf  die  heiligen 
Bücher  (Vedas)  und  die  Kasten,  worunter  die  Kaste  der  Brahma- 
nen  oben  an  stehen.  Diese  (die  Phrahm)  kamen  auf  dem  Land- 
wege von  Norden  her  und  wurden  die  Lehrer  der  Kambodier,  die 
inde8s  später  das  Pali-Alphabet  adoptirten.  Dann  unterrichteten 
sie  die  Siamesen.  S.  414. 

Damals  brachten  sie  nach  Siam  die  Rup-Thcvada  (Götter- 
figuren) von  Phra-Insuen,  Phra-Narai,  Phra-Uma,  Phra-Mahakinek 
und  Phra-Thevakam  mit  sich,  wie  auch  ihre  heiligen  Bücher.  In 
den  Phongsavadan  Myang  nüa  beginnt  die  siamesische  Geschichte 
mit  den  Brahmanen-Dörfern  Moggalas  und  Saributes. 

Es  wäre  jetzt,  wenn  wir  nämlich  von  den  Beilagen,  die  in 
zahlreicher  Fülle  diesem  dritten  Bande  beigegeben  sind,  S.  422  ff., 
Umgang  nehmen,  an  der  Zeit,  die  Geschichte  Siams,  welche  schon 
im  ersten  Bande  enthalten  ist ,  durchzugehen.  Aber  wir  müssen 
uns  trotz  unseres  früheren  Vorbehalts,  hierauf  in  seinem  Zusam- 
menhang noch  zurückzukommen  *),  hier  kurz  fassen. 

Hundert  Seiten  hat  der  Verf.  der  Geschichte  Siams  in  seinem 
ersten  Bande  gewidmet. 


*)  Vgl.  unsere  Anzeige  der  früheren  beiden  Bände  von  A.  Bastian,  die 
Völker  des  östlichen  Asien  In  den  Heidelb.  Jahrbb.  186G,  S.  535  (No.  84). 


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Bastian:  Reisen  in  Siam. 


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Zuerst  handelt  er  von  der  Vorgeschichte  der  nördlichen  Städte, 
dann  verwerthet  er  die  traditionellen  Erzählungen  aus  den  Königs- 
hüchern.  Ein  besonderes  Kapitel  bilden  die  Mythen  der  alten  Resi- 
denzen, ein  besonderes  die  Könige  der  Laos.  Den  Schluss  dieser 
geschichtlichen  Abthoilung  macht  die  Geschichte  Ayutbia's  (Krung- 
Rau'sV 

Es  sei  mir  gestattet,  die  letzten  dreissig  Seiten  zu  berühren ! 

Der  Verfasser  ist  nicht  der  Erste,  der  den  Capiteln  über  die 
moderne  Geschichte ,  wie  sie  in  den  dicken  Bauden  enthalten  ist, 
welche  das  königliche  Archiv  im  Palaste  zu  Bangkok  birgt,  einen 
Durchblick  gewidmet  hat.  Er  sagt  selbst,  der  Bischof  Pallegoix 
hätte  schon  das  Wesentliche  und  besonders  schon  das  Interessan- 
tere mitgetheilt,  und  hätte  er,  der  Verfasser,  Gelegenheit  gehabt, 
sich  zu  Uberzeugen  ,  dass  der  bei  Pallegoix  gogebene  Abriss  im 
Allgemeinen  richtig  ist. 

Es  beginnt  dann  die  Geschichte  Ayuthia's  mit  der  Gründung 
dieser  Stadt,  und  mit  den  Kriegen,  die  Uthong  unternommen  habe, 
um  seine  neue  Hauptstadt  durch  die  aus  den  Tempeln  und  Palä- 
sten Kambodia's  fortgeführten  Kostbarkeiten  zu  schmücken.  Die 
Krönung  Uthong1 8  setzt  der  Verfasser  in  das  Jahr  711  der  Cbun- 
losakkharat  (1850  p.  d.).  Nach  Ramathibodi's  Tode  (1369)  succe- 
dirte  sein  Sohn  Ramesuen,  aber  nur  für  ein  Jahr.  Des  Thrones 
habe  sich  schon  im  folgenden  Jahre  (1370)  sein  Bruder  Boromma- 
raxa  bemächtigt  (bis  1382  p  d.).  Dann  habe  Ramesuen,  der  Stadt- 
halter von  Lophburi  zuerst  den  Sohn  des  Verstorbenen  und  damit 
zugleich  seinen  eigenen  Neffen  erschlagen,  und  sich  die  Nachfolge 
in  Ayuthia  mit  Erfolg  gesichert.  Der  Kaiser  von  China  beehrte 
ihn  mit  einer  Gesandtschaft  (1386)  und  als  sein  Sohn  Phaya  Rain- 
chao  auf  dem  Throne  folgte  (1387),  schickte  er  sogleich  nach 
China,  um  seines  Vaters  Tod  anzuzeigen  und  um  Bestätigung  zu 
bitten  Ein  Eunuch  von  hohem  Range  wurde  abgeschickt,  um  die 
Investitur  zu  vollziehen.  Unter  spätem  Königen  kam  Siam  sehr 
herunter  und  erholte  sich  erst  sehr  spät  wieder  (unter  dem  König 
Pretien,  einem  Talapoinen).  S.  369.  Ein  Krieg  mit  Pegu,  der  sich 
zweimal  erneuerte,  war  zuletzt  so  verderblich  (1556),  dass  Siam 
wie  zu  Boden  geworfen  schien.  Ayuthia  war  eine  Ruiuenstätte 
geworden.  S  371.  Die  Erzählung  zeigt  zwanzig  Jahre  später  den 
Zustand  geändert.  Phra  Naret  errang  einen  Sieg  über  den  kam- 
bodiseben  König,  und  dieser  war  der  Anfang  eines  Umschwungs. 
Siam  setzte  Kambodia  einen  Fürsten.  Um  nun  einen  entscheiden- 
den Schlag  gegen  Pegu  zu  führen,  bot  Phra  Naret  die  ganzen 
Kräfte  seines  Reiches  auf.  Die  Siamesen  drangen  bis  an  den  Sittu 
vor.  Wir  verlassen  den  Faden  des  Verfassers  bis  zu  dem  Ziel- 
punkte, wo  die  Chunlosakkharat  1000  Jahre  vollendet  hatte.  Der 
König  wollte  die  Aera  erneuern  lassen  (1638  p.  d.),  stand  aber 
davon  ab,  weil  der  König  von  Angva  (Ava)  seine  Zustimmung  ihrei 
Annahme  verweigerte. 


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Bastian:  Reißen  In  Blam. 


Unter  Phra-Narai  (Narayana),  die  den  Titel  Phra  Chao  Xang- 
pbuek  annahm ,  gewann  der  griechische  Abenteuerer  Constantin 
Palco  grossen  Einfluss  bei  Hofe,  und  von  dem  König  zu  der  hohen 
Stelle  eines  Phaya  Vixaien  (1657)  befördert,  zeigte  er  sich  dieses 
Vertrauens  würdig,  das  er  durch  grosse  dem  Lande  erwiesene  Dienste 
belohnte.  Auf  seine  Veranlassung  schickte  der  König  eine  Ge- 
Bandschaft  nach  Frankreich,  und  der  gern  geschmeichelte  Louis  XIV. 
erwiederte  dieselbe  durch  die  Sendung,  von  der  Loubere  seinen 
werthvollen  Bericht  veröffentlicht  hat. 

Der  Verfasser  citirt  das  Lob,  das  D'Orleans  dem  Könige  spen- 
det (S.  380):  „11  eslimait  les  gen*  de  me'rite  et  les  voyait  volon- 
tiert dans  sa  cour.  11  avait  le  meme  gout  pour  les  beaux  arts  et 
sHl  ne  füt  point  mort  sitot,  il  avait  pris  toutes  les  mesures  ntees- 
saires  pour  les  faire  passer  de  Paris  ä  8iam." 

Der  neue  König  schickte  gleichfalls  eine  Gesandtschaft  nach 
Frankreich,  um  im  guten  Einvernehmen  mit  dem  grossen  Monar- 
chen zu  bleiben,  mit  dem  sein  Vorgänger  in  so  engen  Freund- 
schaftsbund getreten  war  (1688). 

Wir  überschlagen  einige  Seiten,  um  von  dem  Gründer  Bang- 
koks zu  redeu.  »Der  Gründer  Bangkok's,  schreibt  der  Verfasser, 
gewöhnlich  als  Phendin-ton  (der  erste  Erdenbeherrscher)  bekannt, 
warf  verschiedene  Angriffe  der  Birmanen  von  den  Gronzen  zurück, 
verlor  aber  die  Stadt  Thalang,  die  bei  Einbruch  der  Nacht  (in  der 
Zeit,  wenn  die  Kinder  schlafen,  sagt  die  Chronik)  überrumpelt 
wurde  (1810).«  S.  388.  Sein  Nachfolger  (1811)  geht  im  Volke 
unter  dem  Namen  Phendi-kiang  (der  mittlere  Erdenbeherrscher); 
ihm  folgte  1825  der  Vorgänger  des  jetzigen  Königs.  Er  war  ein 
Usurpator,  vor  dem  sein  legitimer  Halbbruder  als  gerathener  fand, 
sich  in  das  Kloster  zurückzuziehen,  bis  er  bei  seinem  Tode  (1851) 
das  Mönchsgewand  abwarf,  um  sich  mit  dem  Königsornate  zu 
schmücken,  und  jetzt  als  erster  König  Siam  beherrscht. 

Dies  ist  im  Wesentlichen  die  Geschichte  Aynthia's.  Es  folgt 
im  ersten  Bande  nun  noch  ein  vierter  Abschnitt:  Kambodia.  Er 
enthält  die  Sagenkreise,  Chroniken  und  die  neuere  Geschichte. 
Aber  wir  müssen  darauf  verzichten,  näher  darauf  einzugeben  Bis- 
her beobachten  wir  hier  anlässlich  der  Reiseerzählungen  unseres 
Verfassers,  zuerst  von  diesen  Bericht  zu  geben,  und  dann  sich  die 
Geschichte  der  durchreisten  Länder  als  reifes  Ergeboiss  anschlies- 
8en  zu  lassen. 

Für  die  Geschichte  Karabodia's  fehlt  es  nun  bei  dem  Verf. 
noch  an  der  Erzählung  seiner  Reise  dahin.  Seine  vortreffliche 
Karte,  die  dem  dritten  Bande  beigegeben  ist*),  zeigt  seine  Route, 
die  er  noch  von  Bangkok  aus  bis  nach  Saigun  im  Delta  des  Me 


*)  Sie  ist  nach  seinen  Angaben  von  H.  Kiepert  gezeichnet  und  In  der 
lithographirten  Anstalt  von  Kraatx  in  Berlin  ausgeführt  worden.  Vgl.  noch 
die  Bemerkungen  zur  Karte.  Bd.  III.  S.  633  ff. 

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Atlas  rar  Hiatoire  de  Jules  C6sar. 


619 


kong  unternommen  hat.  Indess  wir  in  Erwartung  dieses  jedenfalls 
ebenso  interessanten  Reiseberichts  bleiben,  machen  wir  auf  die  ge- 
schichtlichen, das  Reich  Kambodia  (Srok-Khmer)  betreffende  Auf- 
sätze aufmerksam. 

Der  Verfasser  hat  in  dem  ersten  Bande  dem  Principe  der 
Vollständigkeit  in  einer  für  seine  Leser  anerkennenswerthen  Weise 
durch  Aufnahme  geschichtlicher  Notizen  über  Annam  gehuldigt. 
Vgl.  den  Zusatz  Annam  (Tonquin  und  Cochinchina),  Bd.  L  S.  493  ff. 

Mit  dem  dritten  Bande  liegt  jetzt  ein  Reisewerk  fertig  vor 
uns,  das  zu  den  schönsten  in  der  einschlägigen  Literatur  gehört. 
Die  Verlagsbandlung  hat  das  Ihrige  dazu  beigetragen.  Der  Ver- 
fasser hat  sich  eine  hohe  Stellung  unter  den  wissenschaftlichen 
Reisenden  durch  sein  Werk  für  immer  gesichert. 

Heidelberg,  im  September.  H.  Doergens. 


Histoire  de  Jules  Cesar.  Atlas.  Paris,  H.  Plön, 

Vor  einiger  Zeit  gaben  wir  von  den  beiden  Bänden  des  kai- 
serlichen Werkes  über  die  Geschichte  Julius  Cäsars  Rechnenschaft*). 
Das  hatten  auch  viele  Andere  in  vielen  anderen  Zeitschriften  ge- 
than.  Aber  über  den  Atlas,  wie  er  jedem  dieser  beiden  Bände 
beigegeben  ist,  hat  unseres  Wissens  noch  keine  Zeitschrift  ein  Wort 
gesagt.  Und  doch  verdienen  gerade  diese  kartographischen  Arbei- 
ten gerade  sehr  zur  Kenntniss  der  Freunde  römischer  Geschichte, 
wenn  auch  nicht  des  napoleonischen  Werkes  gebracht  zu  werden. 

Wir  haben  nicht  die  Absicht,  hier  kritisch  ins  Detail  einzu- 
gehen ;  das  gehört  in  eine  geographische  Fachzeitschrift.  Nur  einen 
Bericht  wollen  wir  hier  erstatten.  ■ 

Zum  ersten  Bande  erschien  ein  Atlas  in  vier  Karten  bestehend., 
die,  obwohl  sie  den  Namen  Pietro  Rosa's  tragen,  der  sie  zeichnete, 
damals  nicht  die  Erwartung  erreichten,  die  man  von  ihnen  gehegt 
hatte.  Heute  können  wir  denselben  mehr  Gerechtigkeit  widerfah- 
ren lassen,  weil  sich  die  hochgehende  Fluth  der  Erwartungen  be- 
ruhigt hat,  und  der  Frage  nach  dem  Competenten  gewichen  ist. 

Die  erste  Karte  zeigt  das  Gebiet  der  Stadt  Rom  zur  Zeit  der 
Vertreibung  des  Tarquinius  Superbus,  nebst  den  Gebieten  der  ab- 
hängigen Staaten  im  Nordosten  (Sabiner),  im  Osten  (Herniker),  im 
Süden  (Rutuler)  und  Nordwesten  (Cäriten)  sowie  der  Verbündeten 
(Capenaten  in  Etrurien  und  Aequer).  Dem  Gebiete  Roms  dienten 
damals  Flüsse  zu  natürlichen  Grenzen,  wie  denn  Flüsse  auch  nach- 
mals diese  Rolle  spielten  (Rubicon  und  Macra)**).  Damals  waren 

•)  Vgl.  Heidelb.  Jahibb.  1866.  Nr.  46  u.  47;  ferner  Nr.  53  u.  54. 
**)  Ob  dieses  wohl  ein  Schlüssel  zu  der  Ansicht,  die  in  Frankreich  ge- 
pflegt wird,  ist,  der  Rhein  sei  die  natürliche  Grenze? 


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G20 


Atlaa  nur  Histoire  de  Jules  Ceaar. 


es  derNumicius  im  Süden  und  der  Arno  im  Nordwesten,  endlich  Neben- 
flüsse des  Tiberis  im  Nordosten  gewesen.  Die  Küstenansdebnung, 
wie  sie  durcb  die  Karto  repräsentirt  ist.  geht  von  Anxur  bis  zum 
Umbro  (Ombrone). 

Der  Ansbreitung  der  römischen  Herrschaft  über  Italien ,  wie 
wir  im  Lanfe  des  ersten  Bandes  erzählt  erhalten ,  entsprechend 
schliesst  sich  an  jene  Karte  nunmehr  eine  Generalkarte  des  alten 
Italiens,  des  peninsularen  sowohl,  wie  des  continentalen  mit  Ein- 
8chluss  des  illyrischen  Littorale.  Sie  zeichnet  sich  vor  andern  «'ihn- 
liehen  Karten  durch  Genauigkeit  in  der  Verzeichnung  der  grossen 
Heerstrassen  aus,  und  nicht  minder  durch  die  Verschiedenheit  der 
Schriftfarben,  wodurch  die  Uebersicht  und  der  Gebrauch  der  Karte 
erleichtert  wird. 

Zu  dem  berühmten  Kapitel  des  ersten  Bandes:  Prospfritf  du 
bassin  de  In  Med  Herr  ante  gehört  die  Karte,  welche  jetzt  folgt, 
und  welche  eine  Anschauung  von  der  Ausdehnung  der  römischen 
Herrschaft  in  der  Zeit  des  ersten  punischen  Krieges  giebt.  Auf 
europäischer  wie  auf  afrikanischer  Seite  erscheint  je  Republick  im 
westlichen,  Monarchie  im  östlichen  Theile;  auf  asiatischem  Boden 
ist  die  Monarchie  heimisch.  Noch  war  die  Herrschaft  auf  dem 
Mittelmeere  gemeinschaftlich  für  Rom  und  Carthago.  Auch  zeigt 
die  gelbe  Farbe  noch  bedeutende  Terrains,  wo  das  griechische 
Element  autonom  ist  (Südgallien,  Corsica,  Ostsicilien,  die  Staaten- 
bünde der  Aetolier  und  Achäer).  Die  Karte  ist  durchaus  geeignet, 
dem  bewussten  Essay  zu  Grunde  gelegt  zu  werden. 

Mit  einer  Karte  der  Halbinsel  von  Peniche  schliesst  dieser 
nur  auf  vier  Karten  berechnete  Atlas  zum  ersten  Bande.  Er  zeigt 
die  Halbinsel  gegen  den  Continent  durch  eine  Befestigungsreihe 
gedeckt,  welche  Oberpeniche  (Poniche-de  eima)  und  ünterpeniche 
(Peniche-de  baixo)  verbindet.  Die  Beschreibung  dieses  in  das  Cabo 
Garvoeiro  auslaufenden  Terrains  (portug.  Estremadura)  hat  hier  zum 
erstenmal  seine  Erledigung  gefunden. 

Bedeutender,  ja  ein  bedeutendes  Werk  sind  die  Karten  zum 
zweiten  Bande,  zwei  und  dreissig  an  der  Zahl.  Einige  darunter 
haben  wegen  der  an  den  Schauplätzen  haftenden  Erinnerungen  be- 
sonderes Interesse.    Es  ist  am  Besten ,  wir  gehen  der  Reihe  nach. 

Die  Karten  Nr.  3  bis  6  illustriren  die  Schauplätze  des  ersten 
Coramentars  de  hello  Gallico,  nämlich  die  fünfte  die  Schlacht  bei 
Bibracte,  die  sechste  die  Schlacht  bei  Cernay.  Dort  hielt  Cäsar 
die  Helvetier  auf,  hier  trat  Ariovist  ihm  entgegeu.  Diesen  Special- 
karten geht  eine  Generalkarte  des  Feldzugs  vom  Jahr  696  1 58) 
vorher  (Planche  4),  Die  dritte  Karte  erläutert  speciell  den  Rhone- 
lauf von  Genf  bis  Pas  de  l'Ecluse,  eine  Strecke,  auf  der,  am  lin- 
ken Ufer,  die  Verschanzungen  angebracht  sind,  welche  Cäsar  mit 
mn rus  fosxayte  bezeichnet. 

Zum  zweiten  Commentar  enthält  das  Werk  im  Ganzen  fünf 
Karten,  nämlich  vior  Specialkarton  und  eine  Goneralkarte  zum  Feld- 


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Aüas  zur  Ilisloire  de  Jules  Cesar. 


021 


zuge  während  des  Sommers  697  (57).  Die  erste  der  Specialkarten 
(Nr.  8)  zeigt  das  Schlachtfeld  an  der  Aisne  (gegen  die  Belgier), 
die  dritte  (Nr.  10)  das  Schlachtfeld  an  der  Sambre  (gegen  die 
uuter  Anführung  der  Belgier  kämpfenden  vereinigten  Nervier,  Ve- 
romanduer  und  Atrebaten),  die  vierte  (Nr.  11)  veranschaulicht  die 
Lage  eines  Oppidum  der  Aduatuker.  *) 

Wir  kommen  zum  dritten  Commentar,  der  die  Feldzüge  gegen 
gegen  dio  Veneter  nnd  gegen  die  Uneller  erzählt,  die  Feldzüge 
des  Jahres  698  (56).  Für  den  ersten  stellt  der  Atlas  die  zwölfte 
Karte  zur  Verfügung,  den  Schauplatz  des  zweiten  veranschaulicht 
die  darauffolgende  dreizehnte  (Sabinus  siegt  über  die  Uneller). 

Das  Hauptinteresse  dos  vierten  Cemmentars  concentrirt  sich 
bekanntlich  in  dem  Capitel  Uber  die  Rheiubrücke,  und  in  den  Ca- 
piteln,  welche  den  Uebergang  nach  Britaunien  erzählen.  Demge- 
mäss  giebt  die  fünfzehnte  Tafel  die  Darstellung  eines  Brückenjocbs 
von  vorn,  von  oben  gesehen ,  und  die  Seitenansicht  dreier  Joche. 
Dieses  ist  eine  Tafel  für  sich.  Die  sechszehnte  enthält  eine  Karte 
des  Canals  und  der  beiden  Littoralon  (Kent  und  Normandie),  da- 
mit man  sich  Abfahrtspunkte  und  Landungsplätze  sowohl  für  dio 
erste  Expedition,  wie  für  die  zweite  vorstellen  könne,  weshalb 
diese  Karte,  sowie  die  vorhergehende  aulässlich  des  zweiten  Ithein- 
überganges auch  für  den  fünften  Commeutarius  de  bello  Gallico 
bestimmt  sind.**)  Uebrigens  gehört  noch  der  Plan  von  Aduatuca 
(PI.  18)  hieher.  Die  Goneralkarte  für  das  Jahr  699  (55),  nnd 
weil  die  Ereignisse  desselben  sich  im  kommenden  wiederholten, 
zugleich  für  das  Jahr  700  (54)  enthält  die  Planche  14. 

Die  Reihenfolge  der  Commentare  beachtend,  kommen  wir  jetzt 
zu  dem  Feldzuge  des  Jahres  703  (52)***).  Die  Generalkarten, 
welche,  der  Regel  nach,  auch  hier  den  Specialkarten  vorausgeht, 
veranschaulicht  dem  Leser  des  siebenten  Commentars  de  bello 
Gallico  die  Ausdehnung,  welche  der  Aufstand  in  Gallien  während 
jenes  Jahres  hatte.  Das  Jahr  52,  gleich  merkwürdig  für  die  In- 
surrektion der  Gallier,  wie  für  die  Taktik  Cäsars,  ist  im  Atlas 
durch  mehrere  Tafeln  gedacht. 

Die  erste  der  sich  mit  den  Ereignissen  dieses  in  der  Lebens- 
geschichte des  römischen  Oberfeldherrn  beschäftigenden  Karten  ent- 
hält einen  Plan  von  Avaricum  (Bourges).  Die  Lage  des  heutigen 
Bourges,  welche  durch  punetirte  Linien  angedeutet  ist,  hilft  der 
Vorstellung  nach,  Nachgrabungen  haben  zur  Ermittlung  der  Spuren 


#)  Die  Planche  9  hat  mehr  technischen  Werth,  denn  sie  giebt  Profile. 
**)  Eine  Zugabe  zu  der  Karte  von  Dovres  (PI.  17)  ist  der  vergleichende 
Plan  für  diesen  Hafenplatz  aus  der  Zeit  Hadrians  und  Sever's. 

***)  Das  sechste  Buch  erzählt  Eingangs  gewisse  Rüstungen  Cäsar's,  die 
einer  kommenden  Insurrektion  die  Spitze  bieten  sollen,  und  ist  im  Uebrigen 
einer  vergleichenden  Ethnographie  von  Gallien  etc.  gewidmet  (Vgl.  Contzen, 
Wanderungen  etc.). 


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Atlas  zur  Histoire  de  Jules  Casar. 


des  römischen  Lagers  geführt.  Die  Karte  giebt  eine  Anschauung 
von  allem  diesem  (PL  20).  Die  übrigen  Vignetten  auf  dieser  Tafel 
enthalten  technische  Pläne. 

Die  zweite  Karte  enthält  einen  Plan  des  Oppidums  Gergovia 
und  seiner  Umgebungen.  Das  Interessante  an  dieser  Karte  ist  die 
Vereinigung  der  Terrainzeichnung  mit  den  taktischen  Bewegungen, 
woraus  sich  für  den  Interpreten  der  berühmten  Stelle,  welche  die 
Bestürmung  dieser  Arvernerveste  erzählt*),  Alles  ergiebt,  was  er 
nöthig  hat.**) 

Wir  erwähnen  die  Karten  zn  dem  Feldzuge  des  Labienus  nach 
Lutetia  (PI.  23)  und  zu  dem  Sohlachtfelde  von  Vingeanne  (PI.  24) 
nur  im  Vorbeigehen. 

Die  zwarte  Hauptkarte  zum  siebenten  Commentar  ist  der  Plan 
von  Alesia  (PI.  25),  dem  noch  besondere  Ansichten  vom  Berge 
Auxois  (PI.  26)  und  zwei  Tafeln  mit  Vignetten,  welche  gewisse 
Ausdrücke  (Cippi,  Scrobes  und  Stimuli  bei  der  Contravallation, 
Pluteus  nebst  Pinna  und  Lorica,  sowie  Cervi)  erläutern  sollen 
(PI.  27)  und  mit  technischen  Detaih  (Grabenprofilen)  beigegeben 
sind« 

Bekanntlich  war  es,  da  es  zwei  Alise  heute  giebt,  eine  Con- 
troverse  gewesen,  welches  Alise  das  alte,  im  siebenten  Commentar 
de  hello  Gallico  erwähnte,  gewesen  sei.  Die  vom  Kaiser  Napoleon 
beauftragten  Genie-Officire  haben  sich  für  den  bei  Alise  St.  Beine 
belegenen  Mont  Auxois  entschieden.***)  Die  bewusste  Tafel  25 
zeigt  nun  das  Plateau  der  Bergveste  der  Mandubier,  mit  ihren 
Umgebungen.  Indem  sie  mit  der  Terrainstudie  die  technische  Inter- 
pretation der  berühmten  Capitel  im  siebenten  Commentar  f)  ver- 
bindet, veranschaulicht  sie  zugleich  die  Contravallation,  die  drei 
und  zwanzig  dort  beschriebenen,  die  Gallier  im  Oppidum  bedro- 
henden Redouten,  endlich  aber  auch  die  im  Anmarsch  begriffenen 
Hülfstruppen  von  der  Insurrektionsarmee,  ff) 

Wir  gehen  zu  der  Karte  für  den  Peldzug  gegen  die  Bello- 
vaker  über.  Sie  zeigt  die  beiden  einander  gegenüber  liegenden 
Lager,  das  Bellovakische  auf  dem  Mont  St.  Marc,  das  römische, 
von  Cäsar  befehligte,  auf  dem  Mont  St.  Pierre  ttt)i  und  die  Stel- 
lung der  beiden  Armeen.  Sie  gehört  mithin  zn  den  ersten  zwei  und 
zwanzig  Capiteln  des  achten  Commentars.  f*). 


•)  Cap.  87. 

**)  Die  Tafel  22  mit  Ihren  technischen  Details  und  mit  ihrer  Platcau- 
aneicht  ist  eine  werthvolle  Ergänzung  zu  PI.  21. 
**•)  Vgl.  Histoire  de  Jules  Cesar.  T.  II.  p.  800. 
•fr)  Cap.  68  und  69,  ferner  83—89. 
ff  J  Den  Marsch  dieser  Armee  ist  ein  Specialkärtchen  zu  veranschau- 
lichen bestimmt  (cfr.  PI.  25  oben  rechts), 
ff f)  Vgl.  noch  PI.  30. 

f*)  Es  wäre  interessant,  den  unmittelbaren  Antheil  Napoleons  an  die- 
Plane  zu  kennen.   Wir  befinden  uns  nämlich  in  der  Nähe  von  Com- 


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Atlas  edp  Hietoire  de  Jules  Cesar. 


623 


Die  Beschreibung  der  Belagerung  von  Uxellodunum  hat  zu 
einem  Plan  dieses  Oppidum*)  Anlass  gegeben,  wovon  die  PI.  81 
ein  Beleg  ist.**) 

Das  sind  die  hauptsächlich  für  die  Commentare  de  hello  Gal- 
lico  in  Betracht  kommenden  Karten  aus  dem  Atlas  zum  zweiten 
Bande  der  Histoire  de  Jules  Cesar. 

Allen  diesen  hat  der  Kaiser  eine  Völkerkarte  vorhergehen  las- 
sen (PI.  2).  Unter  die  allgemeine  Eiuthcilung  in  Celtae  s.  Galli, 
Belgae  und  Aquitani  sind  eine  grosse  Anzahl  namhafter  und  weni- 
ger bedeutender  Völkerschaften  einbegriffen,  über  die  in  der  Revue 
archeologique  und  sonstwo  gelehrte  Forschungen  angestellt  worden 
sind.  Es  ist  ein  Katalog  von  neunzig  Völkernamen.  Das  Charakte- 
ristische ist,  Gallien  reicht  bis  an  den  Rhein.  Uebrigens  ist  noch 
das  britische  Littorale,  Germanien  bis  zur  Elbe,  die  Donauvölker 
bis  W  ien ,  das  continentaliscbe  Italien ,  und  die  Hälfte  vom  pen- 
insularischen  in  den  Rahmen  der  Karte  hereingenommen  worden. 
Diese  Karte  hat  den  Zweck,  die  Vertheilung  der  Völkerschaften  zu 
veranschaulichen. 

Aber  ausserdem  haben  wir  noch  einer  Karte  zu  erwähnen,  der 
ersten,  die  allen  vorangeht,  der  Geueralkarte  von  Gallien,  welche 
die  Vertheilung  von  Gebirgen  und  Ebenen  zur  Anschauung 
bringt. 

Wir  haben  hiemit  nnsern  Bericht  über  den  Atlas  erstattet, 
und  es  würde  uns  noch  die  Pflicht  obliegen,  mit  oinigen  Worten 
die  Fortschritte  zu  erörtern,  welche  seit  v.  Göler's  epochemachen- 
der Arbeit***)  in  der  speciell  das  cäsarische  Gallien  betreffenden 
Kartographie  gemacht  worden  sind. 

Aousserlich  hat  der  napoleonische  Atlas  vor  der  v.  Göler'scben 
Arbeit  zunächst  dadurch  einen  Vorzug  voraus,  dass  er  vollständi- 
ger ist,  indem  er  zu  dem  siebenten  und  achten  Commentar  bei  Cäsar 
noch  Karten  geliefert  hat.  Die  letzten  Karte  bei  v.  Göler  gehört 
zum  sechsten  Commentar;  dann  folgt  keine  mehr.  Seine  übrigen 
Karten  beziehen  sich  auf  das  Bellum  civile. 

Vergleichen  wir,  wo  beide  Schriftsteller  dieselben  Karten  bei- 
geben, die  bezüglichen  Karten  mit  einander,  so  ist  es  zu  verwun- 
dern, wie  v.  Göler,  der  doch  auf  sich  und  auf  das  angewiesen  war, 
was  er  selbst  sehen  konnte,  so  nahe  an  das  Resultat  der  napoleo- 
nischen Karten  heranreichte.  Wirklich  haben  diese  hauptsächlich 
das  Ergebniss  der  Nachgrabungen  voraus,  und  wird  Niemand  um 
dieses  Verdienstes  willen,  das  v.  Göler'n  fehlt,  die  Karten  des 
Letzteren  unterschätzen.  Diese  leisten  Alles,  was  man  mit  Hülfe 
einer  Generalstabskarte  und  einiger  Autopsie  leisten  kann.  Ueber- 


*)  j-  Pny  d'Issolu. 

**)  Details  dazu  und  Ansicht  von  Puy  d'Issolu  giebt  die  letzte  PI.  32. 
***)  Casare  gallischer  Krieg  in  den  Jahren  von  58  bis  63  v.  Chr.  Stutt- 
gart 1858. 


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024 


Atlas  zur  Histoire  de  Jules  Ccsar. 


dies  hat  die  napoleonische  Karte  das  Zusammenwirken  mehrerer 
tüchtiger  Officire  und  Geographen  wesentlich  gefordert. 

In  sich  betrachtet,  sind  die  Karten,  welche  bisher  zu  der 
Histoire  de  Jules  Cäsar  erschienen  sind,  ausgezeichnet  zu  nennen, 
sowohl  in  Bezug  auf  Entwurf  an  der  Hand  des  Cäsar'schen  Textes 
und  der  Conjecturaltechnik,  wie  in  Bezug  auf  kartographische  Aus- 
führung. 

Mit  Recht  siud  die  Erwartungen  auf  das  Erscheinen  der  Kar- 
ten zum  dritten  Bande  der  Histoire  de  Jules  Cösar,  oder  was  das- 
selbe sagt,  zu  den  Commentarii  de  bello  oivili  und  den  Büchern 
des  Hirtius  und  Pseudohirtius  über  die  Kriege  der  Jahre  47 —  45 
gespannt.  Hier  hat  v.  Göler  sich  nur  auf  die  Karte  des  österrei- 
chischen Generalstabs  stützen  können.  Aber  welche  Hülfsmittel  der 
Commission  des  Kaisers  zu  Gebote  stehen,  werden  wir  erst  er- 
fahren, wenn  seine  Karten  zu  seinem  dritten  Bande  werden  aus- 
gegeben werden. 

Wir  wollen  über  dieser  persönlichen  Betheiligung  bei  der  För- 
derung der  Specialstudien  über  römische  Geschichte  durch  ein  so 
vortreffliches  Kartonwerk,  wie  das  eben  angezeigte,  nicht  den  mit- 
telbaren Antheil  vergessen,  wodurch  der  Kaiser  in  seiner  einfluss- 
reichen Stellung  seinen  Namen  mit  wichtigen  Nachforschungen  auch 
auf  fremdem  Boden  in  epochemachender  und  grundlegender  Weise 
verbunden  hat.  Ohne  seine  Munificenz  würde  schwerlich  sobald 
Licht  in  die  Souterrains  der  Kaiserpaläste  auf  dem  Palatinus  ge- 
druugen  sein.  Ebensowenig  möchten  Bithynien  und  Galatien  eine 
so  gediegene  Erforschung  erfahren  haben,  wie  sie,  der  reichhaltigen 
Sammlung  über  diese  beiden  ehemaligen  Provinzen  des  römischen 
Reiches  nach  zu  urtheilen,  dem  Archäologen  Perrot  und  seinen 
eifrigen  Freunden  gelungen  ist.  Dieser  mittelbare  Antheil  des 
Kaisers  darf  als  eines  der  schönsten  Blätter  in  der  Lorbeerkrone 
gelten,  womit  das  Andeukcn  der  Gelehrten  seine  greise  Stirne 
zieren  wird! 

Heidelberg,  im  September.  II.  Doergens. 


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»r.  40.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

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Eusebii  Caesaricnsis  Opera.  Recognovit  Ouilielmus  Din~ 

dorfius.  Lipsiae  etc.  Vol.  I.  Praeparationis  Evangelicae  libri 

/— X  XLVI1  u.  588  S.  Vol.  IL  Praeparationis  Evangelicae 

libri  XI-XV.  474  S.  8. 
L.  Anna  ei  Senecae  tragoediae.    Accedunt  incertae  originis  tra- 

goediae  tres.  Recensuerunl  Rudolf  us  Peiper  el  Qustavus 

Richter.  Lipsiae  etc.  XLVIII  und  592  S.  8. 
P.  Verqili  Maro  nie  Opera  in  usum  scholarum  recognovit  Otto 

Ribbeck.    Praemisit  de  vita  et  scriplis  poelae  narrationem. 

Lipsiae  etc.  XXXVI  u.  430  8.  8. 
Censorini  de  die  natali  Uber.  Recensuit  Fridericus  Hui  lach. 

Lipsiae  etc.  XIII  u.  98  S.  8. 
Qai  Sallusti  Crispi  libri  de  Catilinae  coniuratione  et  de  bello 

Jugurthino.    Accedunt  orationes  et  epistulae  ex  Iiistoriis  ex- 

cerplae.    Edidit  Rudolfus  Dietsch.    Edüio  quarta  emen- 

datior.  Lipsiae  etc.  XIV  u.  128  8.  8. 

Auf  die  in  diesen  Blattern  S.  228  ff.  besprochenen  Fortsetzun- 
gen der  Bibliotheca  Scriptorum  Graecorura  et  Romanorum  Teubne- 
riana  ist  in  rascher  Folge  wieder  eine  namhafte  Zahl  von  Aus- 
gaben, wio  sie  hier  aufgeführt  sind,  gefolgt;  auch  diese  gehören 
nicht  sowohl  dem  Kreise  der  auf  Schulen  gelesenen  Schriftsteller 
an,  sondern  befassen  Schriftsteller,  die  ftir  die  Alterthumswissen- 
schaft wichtig,  auch  weiteren  Kreisen  zugänglich  gemacht  werden 
sollen  durch  erneuerte  Abdrücke,  welche  zugleich  als  neue  Recen- 
sionen  oder  Recognitionen  des  Textes  zu  betrachten  sind  und  darin 
den  Fortschritt  der  kritischen  Forschung  erkennen  lassen. 
UX.  J«hrg.  8.  Heft.  40 


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Bibllotheca  Scriptorum  Teubnerlan». 


Wir  beginnen  mit  Athenaus,  zu  dessen  in  drei  Bänden 
(1858  und  1859)  gelieferten  Ausgabe  in  diesem  vierten  eine 
kritische  Nachlese  oder  auch,  wenn  man  es  so  nennen  will,  eine 
Art  von  Rechenschaftsablage  über  das  in  einzelnen  Stollen  von  dem 
Herausgeber  eingeschlagene  kritische  Verfahren  gegeben  ist.  Mit 
welchen  Schwierigkeiten  die  Kritik  bei  einem,  aus  so  vielen  und 
verschiedenartigen  Excerpten  zusammengesetzten  Schriftsteller,  wie 
Athenäus,  zu  kämpfen  hat,  wie  Vieles  hier  noch  zu  verbessern  und 
zu  berichtigen  steht,  weiss  Jeder,  der  mit  diesem  Autor  sich  nur 
Etwas  beschäftigt  hat:  es  werden  daher  die  kritischen  Erörterun- 
gen und  Besprechungen  einzelner,  mehr  oder  minder  schadhafter 
Stellen,  die  Begründung  aufgenommener  Lesarten,  wie  die  Ver- 
besseruugsvorschläge ,  welche  zu  zahlreichen  Stellen  gegeben  sind, 
und  vielfach  auch  mit  der  Erklärung  und  richtigen  Auffassung  zu- 
sammenhängen, eine  erwünschte,  wie  selbst  nothwendige  Zugabe 
zu  dem  Texte  selbst  bilden,  zumal  als  das,  was  Derartiges  in  den 
beiden,  früher  schon  in  den  Jahren  1848  und  1846  erschienenen 
Exercitationes  philologicae  Specimen  I  und  II,  die  beide  zunächst 
auf  Athenäus  sich  beziehen,  bemerkt  worden  war,  in  diese  Ana- 
locta  aufgenommen  und  am  gehörigen  Orte  eingeschaltet  ist.  Bei 
dem  Umfang  und  der  Reichhaltigkeit  der  hier  in  Einem  Bande 
vereinigten,  über  alle  Bücher  des  Athenäus  sich  verbreitenden,  kri- 
tischen und  erklärenden  Bemerkungen  sind  daher  die  beigefügten 
ludices  erwünscht  und  zwar  I.  Index  Graecus  über  die  einzelnen, 
in  diesem  Bande  besprochenen  oder  erklärten  griechischen  Aus- 
drücke. II.  Index  Latinus  sachlicher  Art,  übor  Personen  und  Sa- 
chen, welche  behandelt  sind,  und  III.  Index  Scriptorum  über  andere 
Schriftsteller,  von  welchen  einzelne  Stellen  bei  dieser  Gelegenheit 
kritisch  behandelt  werden. 

Der  in  zweiter  Keine  oben  aufgel'ürte  dritte  Band  der  römi- 
schen Geschichte  des  Dionysius  von  Halicarnass  enthält  im  un- 
mittelbaren Anschluss  an  den  zweiten  Band  ebenfalls  drei  weitere 
Bücher,  nämlich  Buch  VII.  VIII.  IX.,  in  gleicher  Weise  kritisch 
behandelt,  wie  die  vorausgegangenen  Tbeile,  von  welchen  in  diesen 
Blättern  18G5.  S.  351  ff.  berichtet  worden;  eine  Adnotatio  critica, 
welche  eine  Zusammenstellung  der  hauptsächlichen  Abweichungen 
dos  Textes  mit  manchen  woiteren  Verbesserungsvorschlägen  zu  nicht 
wenigen  Stollen  enthält,  geht  auch  diesem  Bande  voraus :  es  lässt 
sich  daraus  im  Einzelnen  ersehen,  in  wie  weit  der  Herausgeber 
dem  Codex  Urbinas,  auf  den  er  seine  neu  Recension  des  Textes 
zunächst  basirt  hat,  den  Vorzug  gibt,  vor  dem  Codex  Chisianus, 
dessen  Verhältniss  noch  unlängst  Ritsehl  in  einer  Note  zu  den 
Opuscc.  Philologg.  I  Fase.  2.  p.  517  und  518  richtig  bestimmt  zu 
haben  scheint. 

Die  neue  Ausgabe  des  D  i  o  d  o  r  u  8 ,  von  welcher  zwei  Bände 
vorliegen,  die  bis  zum  dreizehnten  Buche  inclus.  den  Text  bringen, 
ist  die   vierto   von   Ludwig  Dindorf  besorgte  Ausgabo  diesos 


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Schriftstellers,  dessen  Text,  wie  man  hiernach  wohl  erwarten  kann, 
in  einer  allerdings  mehrfach  gereinigten  und  gebesserten  Gestalt 
nun  hier  vorliegt,  namentlich  im  Vergleich  mit  den  drei  früheren 
Ausgaben.  Die  inzwischen  erfolgte  genauere  Untersuchung  und 
Vergleichung  der  Handschriften,  aus  welchen  die  Bruchstücke  der 
verlorenen  Bücher  VI — X  hervorgezogen  sind,  und  die  dieseu  Thoi- 
len  gewidmete  Bemühung  mehrerer  Gelehrten  kam  der  neuen  Aus- 
gabe wohl  zu  statten:  aber  auch  die  sorgfältige  Prüfung  der  noch 
erhaltenen  Bücher  machte  es  möglich,  dem  Text  an  mehr  als  tau- 
send Stellen  eine  bessere  Gestalt  zu  vorleihen  *),  insbesondere  nach 
der  Wiener  Handschrift  Nr.  79,  der  besten  für  die  fünf  ersten 
Bücher,  die  in  dieser  Ausgabe  mehr  als  in  den  früheren  Berück- 
sichtigung gefunden  hat.  Ein  weiteres  Hülfsmittel  zur  Beseitigung 
mancher  Fehler,  welche  im  Laufe  der  Zeiten  sich  eingeschlichen, 
lag  aber  auch  in  der  näheren  und  genaueren  Kenntniss  der  Sprache, 
des  Dialekts  (wenn  man  anders  diesen  Ausdruck  hier  gebrauchen 
kann),  in  welchem  Diodorus  geschrieben  hat.  Der  Herausgeber 
hat  diesem  bisher  wenig  beachteten  Gegenstand  besondere  Sorge 
zugewendet  und  ist  in  der  Praefatio  naher  auf  die  zur  Herstellung 
einer  bestimmten  Norm  in  Betracht  kommenden  Eigen thümlich- 
keiten  im  Einzelnen  eingegangen,  um  auch  hier  zu  zeigen,  wie 
Diodor  in  dem  Gebrauch  und  in  der  Anwendung  einzelner  Formen, 
Ausdrucksweisen  u.  dgl.  keiner  Willkühr  sich  hingegeben ,  wie  sio 
jetzt  in  den  Handschriften  theilweise  uns  entgegentritt,  sondern 
einer  festen  Norm  gefolgt  ist**),  deren  Durchführung  daher  bei 
den  dieser  Norm  in  Handschriften  und  Ausgaben  widersprechenden 
Formen  u.  dgl.  der  Herausgeber  mit  aller  Strenge  verlangt.  So 
hat,  wie  hier  im  Einzelnen  nachgewiesen  wird,  Diodorus  stets  Cra- 
sis  und  Contraction  angewendet,  eben  so  dio  Elisiou  statt  des 
Hiatus,  er  hat  in  den  Casusformen  der  Declinatioueu,  so  wie  auch 
in  den  Foimen  der  Conjugationon  bestimmte  Normen  eingehalten, 
die  freilich  mehrfach  in  den  Handschriften  verwüscht  und  verändert, 
um  so  sorgfältiger  herzustellen  sind. 

Wir  erinnern  beispielshalber  an  das  über  die  Anwendung  des 
Augments  hier  bemerkte,  über  den  Gebrauch  der  zusammengezoge- 
nen Form  des  Futurums  bei  den  auf  ifa  ausgehenden  Wörtern, 
oder  über  die  dem  Futurum  Mcdii  mehrmals  snbstituirte  Form  des  Fu- 
turum Passivi,  obwohl  auch,  wie  die  beigebrachten  Beispiele  zei- 
gen, Fälle  des  Gegcntheils  vorkommen,  über  dio  Form  der  dritten 
Person  Pluralis  des  Optativs  (äisv  für  7iav)  u.  dgl.  m.;  so  soll 


* )  „Sed  etiam  superstites  libros  quindecim  partim  codicum  ope  opti- 
morum  partim  accuratiori  singulorum  instituto  examine  millenis  ampliuB 
locis  emendatiores  potui  reddere"  fp.  IV  der  Praefatio). 

**)  „ Diodorus,  so  schreibt  der  Herausgeber  8.  VII  der  Praef.,  in  ora- 
tione  sua  quasdam  eibi  leges  scripsit  satis  severas,  quas  nunqnam  ipso, 
saepissime  vero  migrasse  videntur  librarii,  quibus  debcmus  Codices  millc 
amplius  annis  post  ejus  actatem  scriptos." 


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z.  B.  die  zweite  Person  Singularis  im  Präsens  Ind.  und  Futur  de  > 
Passivs  und  Mediums  stets  auf  TT,  nicht  auf  7/  geschrieben  werden. 
Daran  reiht  sich  aber  weiter  in  alphabetischer  Ordnung  eine  Reihe 
von  einzelnen  Worten  in  Bezug  auf  die  Form,  in  welcher  sie  bei 
Diodor  vorkommen.    Da  nemlich  die  Handschriften  von  einander 
hier  oftmals  abweichen,  so  glaubt  der  Verf.  in  jedem  einzelnen  Fall 
oino  feste  Norm  aufstellen  zu  müssen,  nach  welcher  dann  gleich- 
förmig das  Wort  bei  Diodor  geschnoben  werden  muss.    Man  wird 
nicht  in  Abrede  stellen  können,  dass  in  vielen  Fällen  es  möglich 
ist,  eine  solche  feste  Norm  zu  gewinnen,  und  hiernach  die  Schrei- 
bung in  allen  Stellen,  wo  das  Wort  oder  die  Form  vorkommt, 
gleichmassig  zu  reguliren:  aber,  wird  man  billig  fragen,  soll  denn 
der  Schriftsteller  so  fest  an  Eine  Norm  gebunden  soin,  dass  es 
ihm  nicht  gestattet  sein  könnte,   auch  eine  andere,   im  Gebrauch 
soinor  Zeit  vorkommende  Form  anzuwenden,  wie  z.  B.  neben  mvvg, 
was  allerdings  in  der  ungleich  grössoren  Zahl  von  Stellen  vor- 
kommt, auch  die  Form  vutg,  die  in  der  einen  Stelle,  wo  sie  bei 
Diodor  vorkommt,  dann  auch  in  movg  zu  ändern  wäre.  Aehnlicher 
Art  ist  wohl  auch  aonlog,  das  für  avonkog  überall  eintreten  soll, 
so  wie  doixtjrog  für  ävoCxi}rog^  ferner  avxinigag  für  avTLirigai^ 
alio%Qtcig  für  d^ioxQBovg,  ^AitoXka  im  Accusativ  stets  für  'AitoX- 
Aora,  eben  so  stets  a%Qf>  und  p/gpt  für  a%Qug  und  pi%Qig\  das 
nach  nt'xoi  an  vielen  Steilen  vorkommende  ov  oder  orot»  soll  aber, 
wie  in  einer  längeren  Ausführung  S.  XXVI  ff.  zu  zeigen  gesucht 
wird,  bei  Diodor  so  gut  wie  »-bei  andern  Schriftstellern  gestrichen 
werden,  wovon  man  indessen  sich  schwer  wird  überzeugen  können ; 
auch  bei  der  Formel  noitlöftui  QOTtrjv,  die  zweimal  vorkommt, 
wird  man  wohl  kaum  berechtigt  sein,   das  sonst  vorkommende 
itoulv  geradezu  zu  substituiren.    Eher  noch  möchte  man  bei  dem 
Schwanken  der  Handschriften  ofrero)  für  richtiger  halten  als  qiutco, 
da  nicht  blos  Herodotus,  sondern  selbst  attische  Schriftsteller,  wie 
Thucydides  (IV,  95)  und  selbst  Luciau  zum  öfteren  jene  Form  an- 
wenden, wenn  anders  nicht  beide  Formen  als  zulässig  und  anwend- 
bar gelten  sollen.    Doch  wir  brechen  mit  derartigen  Aufzählungen 
ab,  durch  die  wir  nur  aufmerksam  machen  wollten  auf  die  Be- 
mühungen des  Herausgebers,  die  auf  eine  durchgreifende  Verbesse- 
rung des  Textes  und  Zurückführung  auf  seine  ursprüngliche  Form 
gerichtet  sind.  Anderes  der  Art  soll,  wie  ausdrücklich  am  Schiuss 
der  Praefatio  bemerkt  wird,  in  den  (später  beizugebenden)  Adao- 
tationes  seine  Erörterung  finden.  Auf  die  Praefatio  folgt  ein  Wie- 
derabdruck von  Heyne's  Abhandlungen  über  die  Quellen  Diodor's, 
und  zwar  der  Commentatio  prima   und  altera  (zu  Buch  II— V), 
von  der  der  eine  Theil  dem  ersten,  der  andere  dem  zweiten  Bande 
vorgedruckt  ist ;  eben  so  folgen  in  jedem  der  beiden  Bände  darauf 
die  lateinischen  Argumente  der  einzelnen  in  dem  Bande  befind- 
lichen Bücher.    In  dem  einen  Bande  ist  der  griechische  Text  der 
vior  ersten  Bücher  enthalten,-  im  andern  der  Text  des  fünften 


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Buches,  dann  die  Fragmente  der  folgondon  verlorenen  Bücher 
(VI.  VII.  VIII.  IX.  X)  und  der  vollständige  Text  der  drei  folgen- 
den Bücher  XI.  XII  und  XIII.  Eine  Adnotatio  critica,  wie  sie 
anderen  Ausgaben  dieser  Bibliotheca  classica  beigefügt  ist,  und  die 
kurze  Angabe  der  Abweichungen  oder  vorgenommenen  Aenderun- 
gen  enthält,  findet  sich  hier  nicht,  sie  ist  wohl  in  den  Annotatio- 
nes  zu  erwarten,  abgesehen  von  Einzelnem,  was  in  der  vorhin  er- 
wähnten Praefatio  sich  besprochen  findet.  In  den  Fragmenten  der 
fünf  verlorenen  Bücher  ist  Allos  wohlgeordnet  zusammgenstellt, 
was  früher  Valois,  dann  neuerdings  A.  Mai,  Feder  und  Müller  aus 
den  Handschriften  des  Vatican  und  des  Escorial  zu  Tage  gefordert 
haben,  und  zwar  mit  Rücksicht  auf  eine  genaue  Vergleichnng  die- 
ser Handschriften;  damit  verbunden  sind  diejenigen  Bruchstücke, 
die  bei  andern  Schriftstellern  sonst  wie  vorkommen,  so  dass  jetzt 
hier  eine  wohlgesichtete  und  wohlgeordnete,  für  die  Benutzung 
dienliche  Zusammenstellung  gegeben  ist,  die  uns  freilich  auch  auf 
der  andorn  Seite  die  grossen  Verluste,  die  wir  hier  erlitten  haben, 
vor  die  Augen  führt. 

Das  Werk  des  Eusebius,  das  hier  in  einem  gereinigten  und 
gebesserten  Texte  in  einer  bequemen  Handausgabe  vorgelegt  wird, 
bat  durch  die  vielen  Mittheilungen  über  die  Mythologie  und  Philo- 
sophie der  altheidnischen  Welt,  so  wie  durch  die  vielen  Excerpte 
aus  alteren  meist  verlorenen  Werken  der  altgriechischen  Literatur, 
für  die  gesammte  Alterthumsforschung  einen  solchen  Werth,  dass 
wir  der  Verlagshandlung  nur  danken  können ,  durch  einen  hand- 
lichen und  wohlfeilen  Abdruck,  auch  dieses  Werk,  das  nur  in  grös- 
sern und  theuern  Ausgaben  (zuletzt  der  von  Gaisford  zu  Oxford 
1843  in  vier  Bänden)  bisher  zugänglich  war,  einem  weiteren  Kreise 
von  Gelehrten,  Alterthumsforschern  wie  Theologen,  zugänglich  ge- 
macht zu  haben.  Den  Text,  der  in  den  älteren  Ausgaben  des 
Robert  Stcphanus  und  Franz  Viger  auf  jüngere  Handschriften  des 
fünfzehnten  Jahrhunderts  basirt  war,  hatte  schon  Gaisford  auf 
ältere  handschriftliche  Quellen  zurückzuführen  gesucht,  um  die  viel- 
fachen Verderbnisse  des  Textes  zu  beseitigen  :  das  Gleiche  war  auch 
die  Sorge  des  neuen  Herausgebers ,  der  deshalb  die  handschrift- 
lichen, bis  jetzt  bekannten  Quellen  einer  näheren  Untersuchung  in 
der  Praefatio  nochmals  unterzogen  hat.  Als  die  ältesten  derartigen 
Quellen  erscheinen  eine  Pariser  Handschrift  aus  dem  Jahre  914 
(Nr.  455)  und  oine  Venetianer  (Nr.  343)  aus  dem  eilften  Jahr- 
hundert, zwei  Pergamenthandschriften,  die  jedoch  leider  nur  die 
fünf  ersten  Büchor  enthalten,  und  beide  iu  der  Weise  mit  einander 
übereinstimmen ,  dass  sie  beide  fast  für  Eine  Handschrift  gelten 
können,  wenn  sie  auch,  was  aus  andern  Spuren  hervorgeht,  nicht 
von  einander  abgeschrieben  sind.  Wenn  beide  Handschriften  nun 
allerdings  die  Grundlage  des  Textes  für  die  fünf  ersten  Bücher 
bilden  müssen,  so  fehlt  es  doch  bei  ihnen  nicht  an  solchen  Stellen, 
deren  Verderbniss    durch  die  Benutzung  jüngerer  Handschriften 


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sich  horstellen  liisst.  Diese  jüngern  Handschriften  hat  unser  Her- 
ausgeber nach  G.  WolfTs  Vorgang  in  zwei  Classen  geschieden,  deren 
eine  die  fünf  bei  Gaisford  mit  B.  C.  D.  F.  D  bezeichneten  Hand- 
schriften des  dreizehnten  bis  fünfzehnten  Jahrhunderts  befasst,  unter 
welchen  die  Pariser  (B),  Nr.  465  welche  das  ganze  Werk  enthält, 
allerdings  an  erster  Stelle  zu  setzen  ist;  die  andere  Classe  enthalt 
drei  jüngere  Handschriften,  unter  welchen  eine  Venetianer  Papier- 
handschrift Nr.  341  des  fünfzehnten  Jahrhunderts,  aus  der  die  bei- 
den andern  abgeschrieben  erscheinen,  grössere  Bedeutung  anspricht. 

Wenn  nun  diese  Handschriften  kaum  genügen  können,  um  mit 
voller  Sicherheit  don  Text  in  seiner  Urschrift  wiederherzustellen, 
so  kommt  noch  eine  besondere  Schwierigkeit  hinzu  bei  den  vielen, 
von  Eusobius  aus  andern,  noch  vorhandenen  Schriftstellern  des 
griechischen  Alterthums  angeführten  Stellen,  welche  mehrfach  ab- 
weichende, in  Manchem  selbst  bessere  Lesarten  bieteu,  als  die  vor- 
handenen Texte  dieser  Autoren,  dann  aber  auch  nicht  Weniges,  ja 
Viel  Mehreres,  was,  es  sei  absichtlich  oder  aus  Nachlässigkeit  und 
Versehen,  so  wesentlich  verändert  und  umgestaltet  erscheint,  dass 
es  auf  ältere  von  Eusebius  benutzte  Handschriften  als  die  noch 
vorhandenen  dieser  Schriftsteller  keineswegs  sich  zurückführen  lässt. 
Der  Herausgeber  hat  sich  indess  wohl  gehütet,  den  Text  dieser 
Exccrpte,  wie  sie  bei  Eusebius  gegeben  werden,  nach  dem  Texte 
der  Schriftsteller,  wie  er  jetzt  gedruckt  vorliegt  s  zu  ändern  oder 
vielmehr  zu  corrigiren ,  und  mau  wird  ein  solches  Verfahren  nur 
billigen  können*),  wenn  man  erwägt,  wie  manche  derartige  An- 
führungen aus  blosser  Erinnerung,  wie  es  scheint,  stammen  und 
nicht  auf  einer  genauer  Einsichtsnahmo  des  Originals  beruhen. 
Auch  Anders  findet  sich  in  dieser  Präfatio  noch  berührt;  wir  er- 
innern nur  an  das,  was  am  Schluss  S.  XXIV  über  den  jüdischen 
Dichter  Ezechiel  bomerkt  ist,  welchen  auch  unser  Herausgeber  in 
die  Mitte  oder  gegen  Ende  des  zweiten  vorchristlichen  Jahrhunderts 
mit  gutem  Grunde  verlegt. 

Auf  die  Vorrede  folgen  die  griechischen  Summarien  oder  In- 
haltsverzeichnisse der  einzelnen  Bücher  und  Capitol  (Ktycclaiav 
xaraygecyri)  nach  Gaisford's  Ausgabe,  und  dann  der  Text  der  ein- 
zelnen Bücher,  wobei  am  Rande  die  Seitenzahlen  der  Stephan'scben 
und  Viger'schen  Ausgabe  bemerkt  sind.  Am  Schluss  fehlen  nicht 
die  wünschenswerthen  Indices:  zuerst  ein  Index  der  Schriftsteller, 
aus  welchen  sich  Excerpte  in  dem  Werke  des  Eusebius  vorfinden, 
dann  ein  Index  der  angeführten  Bibelstellon  und  an  dritter  Stelle 
aus  Viger's  Ausgabe  ein  Index  rerura  et  nominum.  Eine  Adno- 
tatio  critica,  wie  sie  sonst  den  Ausgaben  dieser  Bibliotheca  sich 
beigefügt  findot,  um  einzelne  Aenderungen,  die  im  Text  vorgeuom- 


*)  „His  igltur  rationibua  duetus,  schreibt  der  Verf.  S.  XVIII,  excerpta 
Eusebiana  raro  ex  scriptorum  codiclbus  correxi  nec  nisi  in  locifl,  quorum 
de  scriptura  dubitari  prorsus  non  poterat"  (folgen  nun  Beispiele). 


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raen  werden,  zu  verzeichnen  und  so  selbst  eine  kurze  Rochen- 
schaftsablage zu  liefern,  ist  nicht  hinzugekommen ;  sie  wird  wahr- 
scheinlich in  den  vom  Herausgeber  beabsichtigten  Annotationes 
kommen,  auf  welche  S.  IV  der  Präfatio  verwiesen  wird ;  und  die- 
sen wird  man  allerdings  verlangend  entgegen  sehen,  um  über  Alles 
das,  was  die  hier  gegebene  Gestaltung  des  Textes  betrifft,  eine 
sichere  Ansicht  zu  gewinnen. 

Von  den  Ausgaben  lateinischer  Schriftsteller  ist  vor  Allem 
der  Ausgabe  der  unter  Seneca's  Namen  auf  uns  gekommenen 
Tragödien  zu  gedenken:  denn  sie  füllt  ein  längst  gefühltes  Bedürf- 
niss  aus,  indem  sie  einen  auf  die  urkuudliche  Grundlage  so  weit 
als  möglich  zurückgeführten  Text  eines  Schriftstellers  bringt,  der 
eigentlich  seit  Jahrhunderten,  seit  den  Ausgaben  des  Gronovius 
und  Schröder  (1728),  sich  keiner  besondern  Beachtung  mehr  er- 
freut hat,  und  selbst  in  unserem  Jahrhundert  bis  jetzt  weder  eino 
kritische,  noch  eine  exegetische  Behandlung  erfahren  hat.  Es  mag 
diess  um  so  auffallender  erscheinen,  als  die  Gedichte,  um  die  es 
sich  hier  handelt,  noch  im  sechzehnten  Jahrhundert  so  viel  gelesen 
wurden  und  selbst  auf  die  Meister  des  neuem  Drama's  in  Frank- 
reich, Spanien  und  England  ihren  Einfluss  geäussert  haben,  in  den 
neueren  Zeiten  aber  zur  Seite  gelassen  wurden,  was  sie  gewiss  nicht 
verdienen,  schon  als  die  einzigen,  noch  vollständig  erhaltenen  Reste 
der  römischen  Tragödie ,  freilich  nioht  mehr  aus  der  Zeit  ihror 
Blüthe,  sondern  aus  einer  spätem  Zeit,  in  der  keine  derartigen 
Stücke  mehr  auf  die  Bühne  gebracht,  wohl  aber  Gegenstand  der 
Leetüre,  namentlich  auch  in  den  öffentlichen  Vorlesungen  gewor- 
den waren.  Um  so  erfreulicher  ist  es  zu  sehen,  wie  in  der  jüng- 
sten Zeit  die  gelehrte  Forschung  sich  diesem ,  man  kann  wohl 
sagen,  im  Verbältuiss  zu  andern  Autoren,  verlassenen  Schriftsteller 
wieder  zugewendet,  und  zwar  zuerst  den  metrischen  Verhältnissen 
und  deren  genauer  Erörterung,  wie  diess  aus  mehreren  darauf  be- 
züglichen Schriften  und  Abhandlungen  hervorgeht  (sie  sind  S.  577 
dieser  Ausgabe  vor  dem  Index  metricus  aufgeführt),  dann  aber  auch, 
was  das  erste  und  nächste  ist,  der  Behandlung  des  Textes,  der  von 
vielfachen  Interpolationen,  Verderbnissen  und  Fehlern  nicht  frei  in 
den  bisher  zugänglichen  Ausgaben ,  wohl  einer  sorgfältigen  Revi- 
sion bedurfte,  wolche,  indem  sie  auf  die  handschriftliche  Ueber- 
lieferung  sich  stützt,  eine  sichere  Grundlage  für  den  Text  selbst, 
und  damit  auch  einen  sicheren  Anhaltspunkt  für  alle  weitere  Unter- 
suchung zu  bieten  vermag,  welche  eben  so  wohl  die  früher  vielbe- 
sprochene Frage  nach  der  Authenticität  dieser  Dramen,  d.  h.  nach 
deren  Verfasser,  als  die  Erklärung  und  Auffassung  im  Einzelnen, 
so  wie  die  daraus  hervorgehende  ästhetische  Würdigung  dos  Gan- 
zen in  Betracht  zu  ziehen  hat.  Eine  solche  Revision  bringt  uns 
nun  diese  Ausgabe,  die  einem  wahren  Bedtirfniss  gewiss  entspricht, 
darum  aber  um  so  mehr  auf  gerechte  Anerkennung  zu  rechnen  hat, 
auch  wenn  im  Einzelnen,  in  der  Handhabung  der  Kritik  und  was 


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Bibliothec*  Scriptorum  Teubneriana. 


damit  zusammenhangt,  nicht  auf  unbedingte  Zustimmung  Aller  in 
allen  oinzelnen  Fällen  wird  gezählt  werden  können.  Indess  ein 
sicherer  Grund  ist  nun  gelegt,  eine  kritische  Ausgabe  geliefert,  die 
einen  auf  die  urkundliche  Ueberliefcrung  zurückgeführten  Text 
bringt  und  dabei  auch  durch  Mittheilniig  der  Abweichung  der 
Haupthandschrifteu  unter  dem  Texte  eine  Rechenscbaftsablage  der 
kritischen  Behandlung  gibt,  die  Jedem  die  Prüfung  des  Einzelnen 
ermöglicht.  In  so  fern  kann  sie  wohl  auch  als  eine  neue  Recension 
mit  Recht  betrachtet  werden. 

Die  vorausgeschickte  Praefatio  enthält  zunächst  eine  eingehende 
Untersuchung  über  die  handschriftlichen  Quellen  und  deren  Ver- 
hältniss  zu  einandor.  In  der  handschriftlichen  Ueberliefcrung,  wie 
sie  uns  vorliegt,  wird  eine  doppelte  Recension  unterschieden,  eine 
bessere,  wie  sie  in  der  Florentinischen  Handschrift  und  in  den 
Thuaneischen  Excerpten  vorliegt,  und  eiuo  minder  gute,  welche, 
abgesehen  von  den  Ambrosianischen  Palimpsest-Blättern ,  in  den 
jüngern  Handschriften  vom  vierzehnten  Jahrhundert  an  sich  vor- 
findet und  von  der  andern  wesentliche  Verschiedenheiten  aufzeigt. 
Ungeachtet  dieser  nachweisbaren  Verschiedenheit  haben  doch  beide 
Classen  nicht  wenige  gemeinsame  Fehler  n.  dgl,  so  dass  beide  auf 
Einon  Codex  Archetypus  sich  zurückführen  lassen,  der  wieder  auf 
das  von  Seneca  selbst  geschriebene  Exemplar  zurückgehen  soll, 
dessen  Beschaffenheit  eben  die  Verschiedenheit  der  daraus  abge- 
leiteten beiden  Recensiouen  erklären  soll,  insofern  jenes  Exemplar 
nicht  für  den  Gebrauch  Anderer,  also  für  die  weitere  Vorbereitung 
durch  die  davon  zu  nehmenden  Abschriften  bestimmt  gewesen,  und 
daher  auch  der  letzten  Feile  ermaugelt  habe;  die  Herausgabe  der 
einzelnen  Stücke  soll  aber  durch  Seneca  selbst  geschehen  sein.  Nach 
der  Ansicht  des  Herausgebers  enthielt  nun  das  ursprüngliche  Ori- 
ginal nur  acht  Stücke,  indem  dio  beiden  Stücke  Agamemnon  und 
Hercules  Oetaeus  weder  von  Seneca  noch  von  einem  Zeitgenossen 
gedichtet  worden,  was,  wie  S.  IX  bemerkt  wird,  »certissimis  (?) 
argumentis  potest  evincU;  beide  Stücke  zeigen  nach  der  Ansicht 
der  Herausgeber  in  metrischen  Dingen  eine  solche  Abweichung  von 
den  Normen,  die  Seneca  in  den  übrigen  Stücken  streng  eingehalten 
hat,  desgleichen  eine  nicht  geringe  Verschiedenheit  in  der  Anlage 
wie  der  Durchführung,  dass  sie  nicht  von  dem  Dichter  der  übri- 
gen Stücke  verfasst  soin  können,  deren  Nachahmung  vielmehr  hier 
hervortrete,  weshalb  sie  auch  in  nicht  allzu  ferner  Zeit  nach  Seneca, 
als  Werke  ähnlicher  Art,  wenn  auch  verschiedenen  Ursprungs,  den 
Dramen  des  Seneca  angereiht  worden  seien ;  unter  beiden  Stücken, 
so  wird  geurtheilt,  verdiene  der  Agamemnon  noch  den  Vorzug  vor 
dem  Hercules,  in  welchem  selbst  Einzelnes  aus  jenem  Stück  nach- 
geahmt erscheine.  Allerdings  zeigen  diese  beiden  Stücke  einige 
Verschiedenheit  von  den  übrigen,  aber  diese  Verschiedenheit  reicht 
nach  unserer  Ausicht  kaum  hin ,  um  dieselben  andern  Verfassern 
zuzuweisen,  zumal  da  Ton  und  Färbung  im  Ganzen  den  übrigen 


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« 


Bibliotheca  Scriptonim  Teubneriana.  638 

Stückeii  ziemlich  gleich  gehalten  ist.  Auch  stehen  beide  Stücke 
in  der  Florentiner  Handschrift,  in  welcher  dagegen  die  Octavia 
fehlt,  wahrend  sie  in  allen  Handschriften  der  andern  Classe  sich 
noben  den  übrigen  Dramen  des  Seneca  befindet.  Dass  die  neulich 
ausgesprochene  Behauptung,  die  Octavia  sei  ein  Product  des  Mittel- 
alters, hier  keinen  Anklang  gefunden  hat,  war  zu  erwarten;  die 
Abfassung  der  Octavia  wird  vielmehr  in  das  vierte  Jahrhundert 
(S.  XIII)  verlegt  und  die  weitere  Vermuthung  —  denn  für  mehr 
soll  sie  nicht  angesehen  werden  —  daran  geknüpft,  dass  der  Ver- 
fasser derselbe  sei ,  von  dem  auch  die  andere  Recension ,  die  in 
jüngern  Handschriften  vorliegt,  ausgegangen  sei,  da  diese  in 
dassolbe  Jahrhundert  fallen  dürfte.  Dass  die  Octavia,  die  Seneca 
gar  nicht  gedichtet  haben  kann,  der  Zeit  nach  doch  ihm  etwas 
nüber  liegt,  scheint  uns  indessen  doch  aus  andern  Spuren 
hervorzugehen,  auffallend  ist  es  immerhin,  dass  sie  in  jener 
Florentiner  Handschrift,  die  bis  in  das  eilfte  Jahrhundert  zurück- 
geht, vermisst  wird.  Diese  Handschrift  bietet  jetzt  allerdings 
die  Grundlage  des  Textes  (s.  p.  XVII),  da  sie  den  entschiedenen 
Vorzug  vor  den  andern  Handschriften,  welche  der  andern  Recension 
angehören,  besitzt;  allein  manche  Fehler,  die  darin  vorkommen, 
machen  es  notbwendig,  auch  die  andern  jüngern  Handschriften  an 
nicht  wenigen  Stellen  zu  Bat  he  zu  ziehen,  wo  in  diesen  der  Fehler 
berichtigt  erscheint.  Dicss  ist  daher  aach  in  dieser  Ausgabe  in 
anerkenncn8werther  Weise  geschehen ;  für  die  Octavia ,  die  dieser 
sicheren  Grundlage  der  Florentiner  Handschrift  entbehrt,  indem 
sie  nur  in  den  jüngeren  Handschriften  der  andern  Recension  sich 
findet,  dio  auch  unter  einander  wenig  verschieden  sind,  ward  dem 
Codex  Rhcdigeranus  13,  einer  Papierhandschrift  des  vierzehnten 
Jahrhunderts,  insofern  ein  Vorzug  vor  don  übrigen  Handschriften 
dieser  Classe  zuerkannt,  als  dieselbe  dem  Codex  Archetypus,  wie 
er  angenommen  wird  als  letzte  Quelle  aller  Handschriften ,  am 
nächsten  zu  stehen  kommt. 

Alle  den  beiden  Classen  oder  Recensiouen  angebörigen  Codices 
werden  von  S.  XXIII  an  genau  verzeichnet  und  beschrieben;  von 
deu  sogenannten  Excerpta  Thuanea  d.  h.  den  Stellen,  welche  sich 
in  einer  Pariser  Handschrift  (Nr.  8071)  des  neunten  oder  zehnten 
Jahrhunderts  finden ,  wird  ein  vollständiger  Abdruck  nach  einer 
genauen  von  Fr.  Dübner  genommenen  Abschrift  gegeben  S.  XXIV ff., 
dann  die  Florentiner  Handschrift  genau  beschrieben;  eine  genaue 
Vergleichung  derselben  zum  Zweck  dieser  Ausgabe  ward  durch 
Herrn  H.  Peter  besorgt ;  dann  werden  die  Handschriften  der  andern 
Classe  aufgeführt,  welche  für  diese  Ausgabe  benutzt  wurden  (wie 
verhalt  es  sich  mit  den  zu  Rom  befindlichen  Palatini  Codices, 
angeblich  acht  der  Zahl  nach?),  so  wie  die  Editio  Aldina  von 
1516,  zuletzt  auch  noch  über  die  früheren  Ausgaben  in  gedrängter 
Weise  berichtet. 


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634  Bibllotheca  Scriptomm  Teubneriana. 

Was  den  auf  die  bemerkte  Grundlage  zurückgeführten  Text 
selbst  betrifft,  so  macht  hiernach  der  Hercules  |Turens]  den 
Anfang:  der  in  Klammern  eingeschlossene  Zusatz  fehlt  in  der  Flo- 
rentiner Handschrift:  unter  dem  Text  ist  die  Zusammenstellung  der 
vana  lectio  gegeben,  und  lässt  sich  Alles  bequem  übersehen ;  dann 
folgt  der  Thyestes,  und  darauf  das  bisher  als  Thebais  (nach 
den  jüngern  Handschriften  der  andern  minder  guten  Recension) 
bezeichnete  Stück,  das  in  der  Florentiner  Handschrift  die  Auf- 
schrift Phoenissae  trägt,  in  zwei  Theile  hier  gespalten,  die 
ersten  362  Verse  als  Oedipi  Fragraentum  (wobei  als  Perso- 
nen nur  Oedipus  und  Antigona  erscheinen),  das  übrige,  was  in  den 
Handschriften,  in  der  Florentiner  wie  in  den  übrigen  daran  sich 
schhesst,  als  ein  besonderes  Stück :  Phoenissarum  Fragmen- 
tiim  bezeichnet,  ob  mit  genügendem  Grunde,  mag  hier  unerörtert 
bleiben;  sicher  steht  jedenfalls,  dass  nach  Vs.  862  Etwas  ausge- 
fallen sein  muss,  indem  Vs.  363  sich  dem  Vs.  362  nicht  als  un- 
mittelbare  Folge   oder  Fortsetzung  anreihen  kann.    Nun  folgt 
Phaedra,  denn  so  lautet  die  Aufschrift  in  der  Florentiner  Hand- 
schrift, nicht  Hippolyt us,  was  den  Handschriften  der  andern 
Recensiou  angehört;  dann  Oedipus,  die  Troades  und  dieMe- 
doa.    Daran  reiht  sich:  Incerti  Agamemnon  und  Incerti 
Hercnles  [Oetaeus],  da  Oetaeus  in  der  Florentiner  Handschrift 
fehlt ,  zuletzt:  Incerti  Octavia.  Es  kann  nachdem,  was  schon 
oben  bemerkt  ward,  hier  nicht  der  Ort  sein ,  in  die  bestrittene 
brage  der  Aechtheit  und  Unächtheit  dieser  Stücke  uns  einzulassen, 
die  mit  Ausnahme  der  Octavia,  neben  den  übrigen  Stücken  als 
W  erke  des  Philosophen  Seneca  in  der  Florentiner  Handschrift  be- 
zeichnet sind,  und  zwar  in  der  Neunzahl;  auch  scheinen  die  Her- 
ausgeber an  der  Autorschaft  Seneca's  für  die  übrigen  hiernach 
keinen  Zweifel  zu  hegen,  wie  diess  schon  aus  dor  ihrer  Ausgabe 
gesetzten  Aufschrift  hervorgeht.  Wie  es  sich  nun  auch  damit  ver- 
halte: für  die  Herstellung  des  Textes  durch  Zurtickftthrung  auf  die 
handschriftliche  Autorität  und  möglichst  genaue  Bereinigung  von 
jeder  Interpolation  wie  von  falschen  Lesarten  ist  das  Möglichste 
geschehen,  und  darin  lag  ja  Ziel  und  Bestimmung  der  neuen  Aus- 
gabe. Hinzugekommen  sind  noch  drei  brauchbare  Indices,  an  erster 
Stolle  ein  Index  Nominura  und  Kerum,  an  zweiter  ein  In- 
dex orthographicus  in  nächster  Beziehung  auf  die  Schreib- 
weise der  Florentiner  Handschrift,  er  verbreitot  sich  zuuächst  über 
Vocale  und  Consonanten  und  die  hier  stattfindenden  Veränderungen, 
dann  über  Einzelnes  aus  der  Flexion  der  Nomina  und  Verba,  und 
endlich  über  die  Art  der  Verbindung   und   Trennung  einzelner 
Worte;  ein  dritter  Index  Mctricus  gibt  eine  sehr  genaue  und 
übersichtliche  Zusammenstellung  der  in  den  lyrischen  Abschnitten 
dieser  Dramen  augewendeten  Metra,  namentlich  auch  in  dem  Con- 
spectus  Eurytbmiae. 

Die  Ausgabe  des  Virgilius  oder  Vergilius,  wie  der  Ver- 


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Bibliotheca  Scriptorum  Teubneriana. 


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fasscr  geschrieben  haben  will*),  unterscheidet  sich  von  der  grösse- 
ren des  Herausgebers,  deren  vierter  Band  unlängst  in  diesen  Jahr- 
büchern S.  233 ff.  besprochen  ward,  durch  ihre  Bestimmung  für 
den  Bedarf  der  Schule,  und  den  dadurch  gebotenen  Wegfall  des 
gesammten  kritischen  Apparates,  insofern  eine  theilweise  Mitthei- 
lung desselben  in  einer  Auswahl  von  Varianten  dem  Kritiker  doch 
kaum  von  Nutzen  sein  würde,  welcher  den  Ueberblick  des  ganzen 
Apparates  nöthig  hat,  wenn  er  mit  aller  Sicherheit  zu  Werke 
gehen  will.  Auf  der  andern  Seite  ist  aber  diese  Ausgabe,  indem 
sie  sich  auf  den  Text  beschrankt,  doch  kein  blosser  Wiederabdruck 
des  in  jener  grösseren  Ausgabe  gelieferten  Textes:  itextum  propo- 
sui,  heisst  es  in  der  Vorrede,  non  prorsus  eundem,  qui  in  majore 
editione  expressus  est,  sed  et  novis  conjecturis,  quas  maximam 
partem  in  prolegoraenis  nuper  defendi,  aliquotiens  mutatum  et  in 
orthographico  genere  partim  ad  nostri  aovi  consuetudinem,  quantum 
salva  antiqnitatis  fide  fieri  poterat,  aecommodatum ,  partem  sicuti 
meliora  dies  docuerat  reformatum.c  Diess  ist  nun  auch  geschehen, 
wie  man  bei  näherer  Durchsicht  und  Vergleichung  sich  bald  über- 
zeugen wird:  immerhin  konnte  man  übrigens  wünschen,  dass  in 
einem  Beiblatt,  das  nur  geringen  Raum  in  Anspruch  genommen 
haben  würde,  ein  Verzeichniss  der  einzelnen  Stellen  gegeben  wäre, 
in  welchen  der  Text  dieser  Schulausgabe  von  der  grösseren  ab- 
weicht, auch  über  die  in  orthographischer  Hinsicht  befolgte  Norm 
(z.  B.  qnoi,  opstiterit  u.  A.  der  Art)  würde  eine  kurze  Notiz 
nicht  unerwünscht  gewesen  sein.  Dagegen  geht  dem  Text  der  Ge- 
dichte Virgils  eine  »Narratio  de  vita  et  scriptis  P.  Vergilii  Ma- 
ronis«  voraus,  die  eine  gedrängte,  aber  durchweg  auf  die  Quellen 
gestützte  und  verlässige,  zusammenhängende  Darstellung  von  dem 
Leben  Virgils  und  dessen  Schriften  enthält,  wie  sie  der  Heraus- 
geber, nach  seinen  diesem  Schriftsteller  gewidmeten  Forschungen, 
gewiss  zu  geben  im  Stande  war,  und  auch  in  befriedigender 
Weiso  gegeben  hat.  Wir  erlauben  uns  nur  Einen  Punkt  zu  er- 
wähnen. In  die  Frage  nach  der  Aechtheit  der  kleineren,  dem 
Virgil  beigelegten  Gedichte  geht,  wie  begreiflich,  diese  Narratio 
nicht  ein ,  da  der  Verf. ,  wie  aus  dem  Vorwort  ersichtlich  wird, 
diese  Frage  in  einem  fünften  Bande  seiner  grössern  Ausgabe  in  ^aus- 
führlicher Weise  zu  behandeln  gedenkt.  Es  wird,  da  dieso* Ge- 
dichte auch  in  die  vorliegende  Ausgabe  aufgenommen  worden  sind, 
(was  schon  die  Vollständigkeit  gebot)  am  Schluss  der  Narratio 
folgendes  bemerkt:  »Inter  minora,  quao  huic  volumini  vulgarem 
consuetudinem  secuti  adjunximus  carmina,  certum  videtur  Vergilii 
non  esse  catalecton  V  et  XI  et  Cirin  poema :  genuina  et  omni  du- 


*)  „Indoctorum  hominum  magistcllorumque  ridiculam  contumaciam,  qui 
pTaodUectam  a  pueria  nominis  Virgilius  formam  ab  impils  novarumque 
rerum  Btudiosis  cripi  sibi  lamentantur,  argumentis  teatimoniisque  dclcnire 
pudet  taedetque  etc."  leaen  wir  in  einer  Note  zu  pag.  VIII. 


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Bibliothcca  Scriptorum  Tcubneriana. 


bitatione  libcra  catal.  VI.  VII.  VIII.  X;  nec  cetera  si  unum  aut 
alterum  exemeris,  abjudicandi  a  nostro  causam  video  idoneam.« 
(p.  XXXVI).  Der  Verf.  ist  Übrigens  in  der  Behandlung  des  Textes, 
wenn  er  auch  mehrfach  an  die  grössere  Ausgabe  sich  anschliesst, 
mit  aller  Vorsicht  insofern  zu  Werke  gegangen,  als  er  das,  was 
nach  seiner  Ansicht  auf  Interpolation  oder  auf  einer  Dittographie 
beruht,  nicht  sofort  aus  dem  Texte  weggelassen  hat:  er  hat  es  im 
Texte  belassen  und  die  Verse,  die  nach  seiner  Vermuthung  der 
Dichter  solbst  seinem  Exemplar  beigefügt  (eine  allerdings  oft 
weitgehende  Vermuthung),  mit  eiuem  vorgesetzten  Sternchen  kennt- 
lich gemacht,  während  die  von  Andern,  wio  er  annimmt,  inter- 
polirten  Verse  in  eckige  Klammern  eingeschlossen,  die  Dittographien 
aber  ebenfalls  eckige  Klammern  mit  vorgesetztem  Sternchen  er- 
halten haben.  Endlich  ist  am  Schluss  des  Ganzen  ein  Index  No- 
minum  beigefügt. 

Die  Ausgabe  des  Censorinus  kann  füglich  als  eine  Revi- 
sion des  von  0.  Jahn  in  seiner  Ausgabe  (1845)  gelieferten  Textes 
gelten,  insofern  ihm  eiue  genauere  Vergleichung  der  beiden  Hand- 
schriften zu  Grunde  liegt,  welche  bei  der  Gestaltung  des  Textes 
zunächst  in  Betracht  kommen,  der  Darmstädter  des  siebenten  und 
der  Vonetianer  des  zehnten  Jahrhunderts.  Nach  beiden  Hand- 
schriften hatte  der  eben  genannte  Herausgeber  eine  neue  Recensiou 
des  Textes  zu  liefern  unternommen ;  indessen  blieb  doch  eine  ziem- 
lich bedeutende  Nachlese  übrig,  wie  sich  aus  der  dem  Herausgeber 
von  Halm  mitgetheilten  genaueren  Vergleichung  der  Darmstädter 
Handschrift,  und  aus  einer  an  Ort  und  Stelle  durch  Herrn  Wil- 
manns  vorgenommenen  nochmaligen  Vergleichung  der  Vatikaner 
Handschrift  bald  ergab.  Beide  Handschriften  stimmen  zwar  in  den 
meisten  Fällen  überein,  wo  eine  Abweichung  der  zuletzt  genannten  sieb 
findet,  stimmt  sie  meist  mit  der  jüngeren  Hand  überein,  die  in 
der  Darmstädter  Handschrift  so  Manches  anders  gestellt  bat.  Dem 
Herausgeber  aber  war  es  hauptsächlich  darum  zu  thun,  die  ur- 
sprüngliche Gestalt  des  Textes,  wie  sie  in  dieser  Darmstädter  Hand- 
schrift sich  findet,  in  seiner  Ausgabe  darzustellen,  die  sich  daher 
mehr,  als  diess  in  der  eben  genannten  Ausgabe  der  Fall  ist,  au 
diese  „  Handschrift  anschliesst.  Mit  aller  Genauigkeit  und 
Sorgfalt  sind  unter  dem  Text  die  Abweichungen  beider  Hand- 
schriften von  dem  gegebenen  Texte  angeführt:  man  sieht,  wie  diese 
beiden,  gewiss  alten  Handschriften,  doch  von  Fehlern  jeder  Art  nicht 
frei  sind  und  selbst  nahmhafto  Lücken  und  Verderbnisse  aufweisen, 
welche  es  kaum  möglich  machen,  das  merkwürdige  Büchlein  in 
seiner  ursprünglichen  Vollständigkeit  herzustellen.  Was  schon  Carrio 
trennto  von  der  Hauptschrift  des  Censorinus,  die  mit  Cap.  24  auf- 
hört, ohne  zum  Ende  gelangt  zu  sein,  ist  auch  in  dieser  Ausgabe 
nach  Jahu's  Vorgang  getrennt,  obwohl  die  beiden  genannteu  Hand- 
schriften eine  solche  Trennung  nicht  kennen,  sondern  dem  unmittel- 
bar Vorhergehenden  es  geradezu  anreihen ;  es  folgt  hier,  wie  bei  Jahn, 


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Fuss:  De  Lygdami  Elegiis.  ß37 

Frugmentum  Censorino  ad  scriptum,  und  vor  dem  Text 
steht  die,  wenn  wir  nicht  irren,  von  Carrio  gesetzte  Aufschrift  Do 
natural]  i  n  s  t  i  t  u  t  i  o  n  e.  Ein  Iudox  und  zwar  der  Personen,  wie  der 
Sachen  und  selbst  einzelner  Phrasen  und  Wendungen  ist  am  Schlüsse 
beigefügt. 

Die  vierte  Ausgabe  des  Sallustius  ist  kein  blosser  Ab- 
druck der  zunächst  vorausgegangenen,  sondern  als  eine  Revision 
derselben  zu  betrachten,  welche  zu  manchen  Aonderungen  im  Ein- 
zelnen geführt  bat,  ohne  dass  der  Standpunkt  des  Herausgebers 
überhaupt  einer  Aenderung  unterlegen  wäre.  Die  nächste  Veran- 
lassung dazu  gab  H.  Jordan's  Ausgabe  (Berlin  1866),  so  wie  die 
im  Rheinischen  Museum  und  im  Hermes  niedergelegten  kritischen 
Uemcrkuugen  dieses  Gelehrten:  Alles  ward  einer  genauen  Prüfung 
unterzogen,  aber  darum  noch  nicht  Alles  angenommen :  im  Gegen- 
theil,  in  uicht  wenigen  Stellen  fand  sich  der  Herausgober  nicht 
veranlasst,  von  dor  von  ihm  gewühlten  Lesart  abzugehen:  da  in 
der  Priifatio  eine  zwar  gedrängte,  aber  genaue  Besprechung  dieser 
Punkto  gegeben  ist,  so  wird  der  Kritiker  zunächst  darauf  zu  ver- 
weisen sein.  Dass  in  der  Correctbeit  des  Druckes  diese  Ausgabe 
den  andern  nicht  nachsteht,  bedarf  wohl  kaum  einer  Bemerkung 

Chr.  Bahr. 


M^alth.  Guilelm  us  Fuss:  De  Elegiarum  libro  quem  Lygdamum 
esse  pulant  guidem.  Monasterii  1867.  77  S.  in  8. 

Der  Verfasser  beginnt  seine  Schrift  mit  einem  Ueberblick  der 
verschiedenen  Bemühungen  neuerer  Kritiker  um  die  Wiederherstel- 
lung des  Textes  der  unter  des  Tibullus  Namen  auf  uns  gekommenen 
Gedichte,  wobei  er  seinen  Ausgang  von  Joseph  Justus  Scaliger 
nimmt,  und  über  sein  allerdings  übereiltes  Verfahren  ein,  wie  uns 
scheint,  wohl  begründetes  Urtheil  fallt.  Er  lässt  dem  Scharfsinn 
dieses  Kritikers,  zumal  in  Aufdeckung  der  Verderbnisse  alle  Ge- 
rechtigkeitwiderfahren, schliesst  aber  mit  den  Worten:  »Caetorum 
vir  iugenii  vi  spectatissimus  hoc  in  opere  nimia  festinatione  — 
nam  intra  unum  mensem  ipse  ait  se  tractasse  atque  absolvisse  carmiua 
Catulli  Tibulli  Propertii  —  a  recta  via  videtur  abduetus  esse.« 
Wir  halten  diess  für  richtig:  bei  der  von  manchen  Seiten  über- 
triebenen Verehrung,  die  Alles,  was  von  diesem  gewiss  scharfsinni- 
gen Kritiker  ausgeht,  für  trefflich  und  unumstösslicb  hält,  glauben 
wir  dieses  Urtheil,  das  uns  auf  den  richtigen  Weg  in  der  Beur- 
theilung  führt,  anführen  zu  müsson.  Der  Verf.  lässt  dann  die  ver- 
schiedenen Ansichten  neuerer  Gelehrten  über  des  Tibullus  Gedichte 
folgen,  zumal  über  das  dritte  Buch,  das  die  neueste  Zeit  dem  Ti- 
bullus abgesprochen  und  einem  nicht  weiter  bekannten  Dichter 
Lygdaraus*  zugewiesen,  Haase  aber  noch  zuletzt  einem  Valerius 
Me8salinu8  als  Verfasser  zugetheilt  hat.    Und  diess  führt  ihn  nun 


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688 


Fuss:  D«  Lygdami  Eleglis. 


seinem  eigentlichen  Gegenstande  uäher,  welcher  von  Cap.  II.  p.  9  ff. 
dahin  gerichtet  ist,  nachzuweisen,  dass  dioses  dritte  Buch  in  kei- 
ner Weise  von  einem  andern  Verfasser  herrührt  als  von  dem,  dem 
wir  auch  die  beiden  vorhergehenden  Bücher  verdanken,  demnach 
von  Tibullus.  Er  schliesst  sich  damit  zum  Theil  an  Spohn  an, 
der  schon  früher  in  gleichem  Sinne  sich  ausgesprochen  und  sucht 
im  Einzolnen  die  Gründe,  welche  wider  die  Aechtheit  des  dritten 
Buches  vorgebracht  worden  sind,  zu  widerlegen,  und  damit  zu- 
gleich den  Nachweis  zu  geben,  dass  in  den  Elegien  des  dritten 
Buches  sich  Nichts  finde,  was  mit  dem  Geiste  und  dem  Charakter 
der  übrigen  Elegien  in  Widerspruch  stehe,  der  Art,  dass  wir  einen 
andern  Verfasser  anzunehmen  genöthigt  wären.  Cap.  IV.  V  und 
VII  sind  wider  die  von  Joh.  Heinrich  Voss  vorgebrachten  Gründe 
gerichtet,  und  zeigen  die  Unhaltbarkeit  derselben  in,  wie  uns  dünkt, 
schlagender  Weise.  Auf  einen  im  Cap.  IV  verhandelten,  die 
Lebenszeit  des  Tibullus  betreffenden  und  mit  der  ganzen  Streit- 
frage zusammenhiingenden  Punkt  glauben  wir  insbesondere  auf- 
merksam machen  zu  müssen.  Für  die  Lebenszeit  des  Tibullus  be- 
stimmend erscheint  das  Distichum  in  der  fünften  Elegie  dieses 
Buches  Vs.  17: 

Natalein  primo  nostri  videre  parentes, 
Cum  cecidit  fato  consul  uterque  pari, 
was  auf  das  Jahr  711  u.  c.  als  Geburtsjahr  des  Tibullus  füh- 
ren würde,  was  aber,  wie  schon  mehrfach  auch  von  Andern,  wie 
von  dem  Verfasser  ganz  richtig  bemerkt  worden  ist,  nicht  wohl 
richtig  sein  kann,  da  uns  andere  Thatsacheu  auf  eine  frühero  Zeit 
zurückweisen.  Man  hat  sich  mit  Aenderungen  des  Textes  in  dieser 
Stelle  zu  helfen  gesucht,  die  aber  you  der  Art  sind,  dass  sie  wohl 
nicht  auf  Billigung  Anspruch  machen  können;  oder  man  hat  dar- 
aus einen  Grund  genommen,  das  ganze  dritte  Buch  der  Elegien 
dem  Tibullus  abzusprechen.  Zu  einer  derartigen,  viel  zu  weit 
gehenden  Annahme  hat  sich  unser  Verfasser  nicht  cntschliessen 
können:  und  die  gewöhnliche  Logik  steht  ihm  wohl  darin  schon 
zur  Seite.  Er  sucht  daher  die  Schwierigkeit  auf  andere  Weise  zu 
lösen.  Er  vorweist  auf  die  Stelle  Ovid's  in  den  Trist.  IV,  10,  G, 
wo  dieser  Dichter  sein  Geburtsjahr  auf  ähnliche  Weise  in  folgen- 
den Worten  angibt: 

Editus  hinc  ego  sum,  nec  non  ut  tompora  noris, 
Cum  cecidit  fato  consul  uterque  pari. 
Hat  nun,  entsteht  die  Frage,  der  eine  Dichter  von  dem  andern 
diesen  Vers  entlehnt?  Weder  Tibullus  oder  der  angebliche  Lygda- 
mus  konnte  von  Ovidius,  der  seine  libri  Tristium  erst  nach  Tibull's 
Tode  herausgab,  diesen  Vers  entlehnen,  noch  auf  der  andern  Seite 
Ovidius  von  Tibull ;  so  lautet  die  Antwort  des  Verfasser's,  die  durch 
hinreichende  Gründe  unterstützt  wird:  seine  eigene  Ansicht  geht 
aber  dahin,  den  fraglichen  Vers,  der  bei  beiden  Dichtern  sich  fin- 
det, in  der  fünften  Elegie  des  dritten  Buches  von  Tibull  für  ein 


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Fuss:  De  Lygdami  Eleglis. 


639 


in  neuerer  Zeit  nach  jenem  Ovidischen  Vers  gemachtes  Einschiebsel 
zu  erklären,  wie  denn  ähnliche  Einschiebsel  nachgewiesen  werden, 
die  wir  zumeist  den  italienischen  Gelehrten  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts verdanken.  Ueber  die  in  den  Elegien  des  ersten  Buches 
besungene  Delia  verbreitet  sich  der  Verfasser  cap.  VI,  um  dann 
im  cap.  VII  zu  zeigen,  dass  die  im  dritten  Buch  besungene  Neaera 
von  ihr  nicht  verschieden  sei,  und  was  von  der  einen  gesagt  werde, 
auch  auf  die  andere  passe,  wie  diess  auch  früher  sehon  Spohn  an- 
genommen hatte,  mithin  eine  und  dieselbe  Geliebte  unter  beiden 
Namen  besungen  sei,  eben  so  wie  die  Nemesis  in  den  Elegien 
des  zweiten  Buches  mit  der  Glycera  zusammenfalle,  welche  beide 
von  der  Neaera-Delia  verschieden  seien  (S.  22—25).  Ist  nun  dem- 
nach die  Neaera  nicht  verschieden  von  der  Delia,  so  folgt  weiter 
daraus  (s.  cap.  VIII  p.  41  ff.),  dass  auch  der  Lygdamus  des  dritten 
Buches  kein  anderer  als  der  Tibullus  des  ersten  Buohes  ist,  beide 
Bücher  demnach  einen  und  denselben  Dichter  zum  Verf.  haben. 
Und  dass  die  Elegien  des  dritten  Buches  in  Bezug  auf  Sprache 
und  Ausdruck  wie  pootischen  Schwung  denen  des  ersten  Buches 
nicht  nachstehen,  ist  Cap.  X.  p.  52  ff.  näher  nachgewiesen.  Anderes 
von  Belaug  für  einen  von  Tibullus  verschiedenen  Dichter  des  drit- 
ten Buches  ist  kaum  vorgebracht  worden,  nur  Lachmann  glaubte 
aus  dem  abweichenden  Gebrauche  einzelner  Wörter  und  aus  metri- 
schen Gründen  diese  Verschiedenheit  constatiren  zu  können.  Darum 
ist  der  Verfasser  Cap.  XI  S.  64  ff.  auch  auf  diesen  Punkt  näher 
eingegangen,  um  zu  zeigen,  wie  diese  angeblichen  Abweichungen 
oder  Verschiedenheiten  nicht  von  der  Art  sind,  um  darauf  eine 
Verschiedenheit  der  Verfasser  begründen  zu  können.  Eine  kürzere 
Widerlegung  konnte  die  Behauptung  (S.  72  ff.),  dass  Ovidius,  oder 
dass  Cassius  von  Parma  als  der  Verfasser  der  Elegien  des  dritten 
Buches  anzusehen  sei,  allerdings  finden.  Auch  die  zuletzt  noch  von 
Haase  ausgesprochene  Vermuthung,  welche  den  jugendlichen  Valerius 
Messalinus  zum  Verfasser  der  Elegien  dieses  dritten  Buches  machen 
will,  entbehrt  jeder  Begrüuduug  uud  jedes  Anhalts :  es  wird  darum 
rathsam  sein,  bei  der  herkömmlichen  und  auch  handschriftlich 
Überlieferten  Ansicht,  die  auch  das  dritte  Buch  der  Elegien  dem 
Tibullus  zuspricht,  zu  bleiben,  indem  ein  genügender  Grund  davon 
abzugeheu,  nicht  vorliegt,  wohl  aber  die  behauptete  Unächtheit  dos 
dritten  Buches  beigetragen  hat,  die  Identität  des  Verfassers  dieses 
Buches  mit  dem  der  beiden  andern  vorausgehenden  Bücher  in  ein 
noch  helleres  Licht  zn  setzen.  Nach  der  Vermuthung  unseres  Ver- 
fassers (S.  77  vgl.  49)  hat  Tibullus  die  Elegion  des  ersten  Buches 
selbst  herausgegeben,  da  sie  zur  Publication  von  ihm  bestimmt 
waren;  die  des  dritten  Buches,  die  blos  für  die  Geliebte  oder  für 
wenige  Freunde  bestimmt  gewesen,  und  daher  selbst  minder  ge- 
feilt erscheinen,  wären  dann  erst  nach  Tibuirs  Tod  zugleich  mit 
den  übrigen,  mehr  ausgearbeiteten  Gedichten  von  den  Freunden 
des  Dichters  herausgegeben  worden.  Chr.  Hahr. 


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640  Brandes:  Deutsche  Wörter  in  der  franz.  Sprache. 

Die  Wörter  deutschen  Stammen  in  der  französischen  Sprach*  zu- 
sammengestellt von  Dr.  ff.  K.  Brandes,  Prof.  und  Rektor 
des  Gymnasiums  su  Lemgo.  Detmold.  Meyer'schc  Hofbuchhand- 
lung. 76  S.  in  8. 

In  dieser  Schrift  sind  ungefähr  vierhundert  Wörter  und  zwar 
in  alphabetischer  Reihenfolge  zusammengestellt,  welche  deutschen 
Ursprungs  sind  und  von  dem  deutschon  Stamme  der  Pranken,  der 
gegen  Ende  des  fünften  Jahrhunderts  das  romanisirte  Gallien  in 
seine  Gewalt  brachte,  auch  jetzt  noch  Zeugniss  geben  könnon.  Denn 
wenn  auch  als  Grundlage  der  neuen  Sprache,  die  sich  in  diesem 
Lande  spitter  bildete  —  die  französiche  —  das  Romanische  her- 
vortritt, so  hat  doch  auch  die  Sprache  der  früher  schon  besiegten 
Landesbowohner,  der  Kelten,  wie  die  der  späteren  Sieger  und  Herr- 
schor, der  Franken,  nicht  ohne  Einfluss  bleiben  können,  sondern 
Spuren  hinterlassen,  die  zu  verfolgen  sich  wohl  dei  Mühe  lohnt. 
Einen  solchen  Versuch  hat  der  Verfasser  hier  unternommen,  indem 
er,  nachdem  er  zuvor  einige  in  der  heutigen  französischen  Sprache 
noch  vorkommende  keltische  Wörter,  so  wie  einige  auffallende, 
au9  der  römischen  Sprache  stammende  aufgeführt,  mit  S.  13  zu 
der  bemerkten  Zusammenstellung  übergeht,  die  im  Einzelnen  Man- 
ches Interessante  bietet,  zumal,  wie  der  Verf.  es  wünscht,  diese 
Schrift  auch  als  ein  Unterhalten  gs-  und  Räthselbüchlein  dienen 
soll,  zur  Aufklärung  über  manche  Ausdrücke,  die  uns  wohl  geläufig 
sind,  ohne  dass  wir  jedoch  über  den  wahren  Sinn  des  Wortes  eine 
nähere  Rechenschaft  zu  geben  wissen.    Auf  eine  tiefere,  streng 
wissenschaftliche  Behandlung  des  Gegenstandes  verzichtet  die  Dar- 
stellung, die  mehr  für  ein  grösseres  gebildetes  Publikum  bestimmt 
erscheint,  dem  sie  auch  die  beabsichtigte  Unterhaltung  wohl  zu 
gewähren  vermag.  In  das  Einzelne  weiter  uns  einzulassen,  gestat- 
tet kaum  der  uns  zugemessene  Raum:  dass  Manches  auch  noch 
problematischer  Art  ist,  wird  man  sich  nicht  verhehlen  können,  so 
z.  B.  S.  29,  wenn  das  Wort  clique  (Gesellschaft  hier  übersetzt, 
was  es  doch  wohl  kaum  besagt),  das  von  dem  Deutschen  gleich 
abgeleitet  wird,  als  Verbindung  zu  gleichen  Zwecken ,  lieber  von 
kleben,    Kley  (klebrige   Erde)   abgeleitet,   oder  wenn   S.  33 
echapper  auf  Kampf  zurückgeführt  wird,  da  es  eigentlich  heisse, 
dem  Kampfe  entrinnen;  oder  wenn  S.  37  evanouissement, 
Ohnmacht,  in  unserra  schwinden,  schweizerisch  schwanen, 
englisch  swoon  (Ohnmacht)  wurzeln  soll,  da  es  doch  hier  viel 
näher  liegt ,  an  das  Lateinische  evanesco,  evanui  zu  denken, 
und  davon  das  Wort  abzuleiten.    Im  Uebrigen  verweisen  wir  auf 
die  Schrift  selbst. 


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It.«.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


üeber  die  Nationalität  der  Kelten,  von  Joseph  Rott,  königlicher 
Gymnasialprofessor.  Passau,  1866. 

Im  ersten  Abschnitt  zeigt  der  Verfasser,  dass  die  Briten  keine 
Kelten  sind:  im  zweiten,  dass  die  Belgier  Kelten,  und  im  dritten, 
dass  sie  auch  Germanen  sind,  daraus  folgt  dann  im  vierten  Ab- 
schnitt, dass  Kelten  und  Germanen  gleicher  Nationalität  sind;  im 
fünften  Theil  beweist  der  Verfasser,  dass  die  Einwanderung  der 
Kelten  in  Italien  nicht  von  Gallien,  sondern  von  Pannonien  aus- 
ging, und  im  letzten  Abschnitt  wird  ausgeführt,  dass  die  in  Grie- 
chenland einfallenden  Kelten  ebenfalls  nicht  aus  Gallien  kamen, 
sondern  von  den  Donaulandern.  In  allen  diesen  Hauptsachen  hat 
der  Verfasser  Recht,  dagegen  im  Einzelnen  möchte  ich  nicht  alle 
seine  Behauptungen  unterschreiben.  Ebenso  stimmt  zwar  der  Ver- 
fasser im  Grossen  und  Ganzen  mir  bei,  aber  im  Einzelnen  weicht 
er  von  mir  ab:  seine  Untersuchung  ist  eine  selbstständige.  Leid 
thut  es  mir  z.  B. ,  dass  hier  S.  17  meine  oder  vielmehr  Strabo's 
Deutung  des  Namens  der  Germanen  eine  Grille  genannt  wird :  und 
ich  hoffe,  dass  der  Verfasser  hierüber  noch  anderer  Ansicht  wird. 
Dagegen  hat  er  gewiss  Recht  S.  4  in  seiner  Erklärung  von  Tacitus 
Agric.  1 1 ,  wenn  er  anders  als  ich  gethan  habe ,  den  Abschnitt, 
der  mit  in  Universum  tarnen  aestimanti  beginnt,  nicht  auf  die  Bri- 
tanni  im  Allgemeinen  bezieht,  sondern  nur  auf  die  zuletzt  erwähn- 
ten Proximi  Gallis;  wenigstens  muss  man  die  Stelle  so  auffassen, 
wenn  man  nicht  zugeben  will,  dass  Tacitus  höchst  leichtsinnig  und 
oberflächlich  und  im  Widerspruch  mit  seinen  eigenen  Angaben  über 
die  Briten  abgesprochen  habe.  Zu  S.  19  bemerke  ich,  dass  in 
Germ.  43  die  lingua  gallica  sicher  durch  einen  Schreibfehler  ent- 
Stauden ist  aus  lingua  getica,  da  die  Gothini  als  Dacisches  Volk 
nachgewiesen  werden  können.  Doch  kann  ich  diess  hier  nicht  aus- 
führlich darlegen,  und  muss  darauf  verzichten,  so  wohl  das  Werth- 
volle in  dieser  Schrift  als  auch  das,  wie  mir  scheint,  Verfehlte 
und  Gewagte  hervorzuheben,  da  ich  nicht  die  Absicht  habe,  mich 
für  jetzt  in  eine  neue  Discussion  der  ganzen  Frage  einzulassen. 

In  Baiern  hat  man  immer  eine  Vorliebe  gehabt  für  keltische 
Studien ;  aber  mit  Ausnahme  des  bekannten  Oorrespondenten  der  All- 
gemeinen Zeitung,  der  die  Keltenfrage,  wie  alle  andern,  immer  mit 
liebenswürdiger  Urbanität  und  glücklichem  Humor  behandelt,  haben 
die  bairischen  Keltologen  nicht  immer  die  Gabe,  ihre  Arbeiten  für 
uns  andern  Nichtbaiern  schmackhaft  zu  machen ,  wenn  sie  auch 
nicht  gerade  die  urbojoarische  Derbheit  anwenden,  die  einen  nun 
LX.  Jahrg.  9.  Heft  41 


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642 


Reumont:  Geschichte  der  Stadt  Rom. 


verstorbenen  Münchner  Keltologen  auszeichnete.  Es  freut  mich 
daher,  eine  bairische  Schrift  zur  Anzeige  zu  bringen,  die  in  schlich- 
ter Untersuchung  der  schwierigen  Keltenfrage  Verdienstliches  leistet, 
und  auch  im  Verfehlten,  wie  mir  scheint,  noch  lesenswerth  und 
sinnreich  ist.  Indem  ich  freudig  den  Verfasser  als  einen  Mitstrei- 
ter für  die  verkannte  Wahrheit  begrilsse,  hoffe  ich,  dass  er  mit 
rüstigen  Kräften  fortfahren  wird,  den  falschen  Meinungen  entgegen- 
zutreten ;  ich  selbst  werde  von  meiner  Seite  wohl  ebenfalls  wieder 
Gelegenheit  finden,  die  Grundlosigkeit  der  herrschenden,  von  unsern 
Autoritäten  gestützten  Ansicht  darzulegen.  Auf  einen  raschen  Sieg 
wird  sich  Herr  Rott  so  wenig  Hoffnung  machen,  als  ich. 
Heidelberg  im  Mai  1867.  A.  HoltzRiann. 


A.  v.  Reumontj  Geschichte  der  Stadt  Rom.  Erster  Band.  Von 
der  Gründung  der  Stadt  bis  zum  Ende  des  Westreichs.  Ber- 
lin 1867. 

Das  vorliegende  Werk,  welches  auf  drei  Bände  berechnet  ist, 
verdankte  einer  Anregung  des  verstorbenen  Königs  von  Bayern, 
Maximilian' s  II.,  seine  Entstehung,  der  der  Verf.,  wie  er  von  sich 
bescheiden  gesteht,  nur  zögernd  nachgab,  wegen  der  Schwierigkeit 
der  Aufgabe  und  des  Umfangs  des  Unternehmens.  An  einem  Werke 
dieser  Art  und  Herkunft,  zumal  es  den  Ehrgeiz,  eine  gelehrte 
Arbeit  sein  zu  wollen,  von  sich  ferne  hält,  ist  Zweck  und  Plan 
von  vorneherein  das  Wichtigste.  Ueber  Beides  spricht  sich  der 
Verfasser  in  dem  Vorworte,  S.  VIII ff.,  aus.  Die  wesentlichsten 
Ergebnisse  unermüdeter  Forschung  älterer  wie  neuerer  Zeiten  soll- 
ten gebildeten  Kreisen  zugänglich  gemacht  werden,  erzählend  und 
schildernd,  ohne  gelehrten  Apparat  noch  kritische  Erörterung. 

Unter  dem  zweiten  Gesichtspunkte  hat  der  Verfasser  zwischen 
einer  Geschichte  der  Stadt  Rom  und  der  römischen  Geschichte 
unterschieden  und  sich  durch  diese  Unterscheidung  bei  der  Be- 
handlung leiten  lassen.  Vermöge  dieser  Einschränkungen  machte 
er  den  Weg,  den  schon  J.  J.  Ampere  gegangen  war,  seinerseits 
noch  einmal,  wie  sich  denn  fast  als  eine  Bestätigung  hiefür  der 
Umstand  ausnimmt,  dass  sein  Buch  auch  in  Rom  entworfen  und 
grossentheils  geschrieben  sei.  S.  797. 

Im  Allgemeinen  hat  es  uns  bedünkt,  dass  er  sich  diese  Art, 
über  Rom  zu  schreiben,  zum  Vorbilde  hat  dienen  lassen,  nur  dass 
er  den  geistreichen  Franzosen,  durch  übersichtlichere  Gruppirung 
des  Materials  übertrifft.  Den  ersten  Abschnitt  mit  der  Abschaf- 
fung der  königlichen  Würde  zu  schliessen,  hat  der  Verfasser  zwar 
mit  allen  Geschichtschreibern  über  das  alte  Rom  gemein.  Aber 
die  Begrenzung  des  zweiten,  den  er  mit  dem  Ende  des  Bundes- 
genossenkriegs bezeichnet,  ist  seine  Wahl,  ebenso  die  des  dritten. 


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Reumont:  Gf schichte  der  Stadt  Rom. 


Bürgerkriege  und  Weltherrschaft  lautet  seine  Ueberschrift.  Er  geht 
bis  zum  Jahr  30.    Hiemit  schliesst  das  erste  Buch. 

Dieser  erste  Band  enthält  drei  Bücher.  Die  Eintheilung  des 
ersten  muss  man  nach  der  Gruppirung  der  Materialien,  welche  die 
Geschichte  der  Republik  constituiren,  unter  die  bewussten  zwei 
Collectivgesichtspunkte  für  ihn  eigenthümlich  gelten  lassen.  Im 
zweiten  Buch  kann  nicht  fehlen,  dass  die  Hereinziehung  des  Cbriaten- 
thums  in  die  Darstellung  besondere  Grenzen  feststellen  läsat.  Den 
ersten  Abschnitt  füllt  er  mit  der  Gründung  und  Organisation  der 
Alleingewalt  und  der  Regierungszeit  des  Augustns.  Dass  er  nicht 
schon  mit  dem  Epochenmann  der  Casaren  beginnt,  können  wir 
nicht  billigen.  Aber  es  scheint,  dass  er,  der  ihn  im  Strudel  der 
Bürgerkriege  auftreten  und  untergehen  sieht,  gefürchtet  hat,  eines 
Eintheilungsgrnndes  zu  entbehren,  der  eine  Massengruppirung  in 
gleichem  Grade  gestatten  würde,  wie  es  in  seinem  Falle  die  Augu- 
steische Epoche  gestattet.  Indem  er  die  solidere  Abtheilung  der 
traditionellen  geopfert  hat ,  ist  er  allerdings  seinem  gebildeten 
Publikum  willkommener,  das  zwar  Lesedetails  geboten,  aber  nicht 
Untersuchungsdetails  betont  haben  will. 

Ueber  die  folgenden  Abschnitte  kann  man  sich  eher  mit  dem 
Verfasser  einverstanden  erklären.  Der  zweite  zeigt  gleich,  wie  er 
politische  oder  Regierungsgeschichte,  Baugeschichte  und  Religiona- 
geschichte  verbindet.  Er  beschäftigt  sich  mit  den  Cäsaren,  mit  der 
Ausbildung  der  Monarchie,  mit  dem  Auftreten  des  Christenthums. 
Das  erste  halbe  Jahrhundert  nach  dem  Ableben  des  Angustus  ist 
in  ihm  zusammengedrängt,  man  kann  nicht  sagen,  unverhältniss- 
mässig,  weil  in  den  folgenden  ungefähr  eine  gleiche  Einschränkung 
befolgt  ist.  Für  das  methodisch  Wichtigste  in  diesem  Capitel,  die 
Anfange  des  Cbristenthums,  hat  sich  der  Verfasser  durch  die  Bau- 
ten Nero'a  bestimmen  lassen.  Die  Unzufriedenheit  des  Volkes  von 
Rom  über  Nero's  Bauunternehmungen  brachte  diesen  auf  das  grau- 
same Mittel,  die  des  fremden  Glaubens  Ueberwiesenen  hinrichten 
zn  lassen.  Indem  der  Verfasser  sich  mit  dieser  Einschiebung  mitten 
in  der  Entwicklung  sieht,  greift  er  in  die  Geschichte  des  Judenthums 
bis  auf  die  Wiedererbauung  des  Tempels  in  Jerusalem  zurück, 
8.  339  ff.  Er  verfolgt  dieselbe  bis  herab  auf  das  Märtyrthum  der 
Apostel.  Das  Christenthum,  anfangs  an  dasjenige  Element  gebun- 
den, erscheint  nur  als  änssorlicbes  Contingent  zu  der  Bevölkerung 
Roms,  kündigt  sich,  wie  seine  Fortschritte  zeigten,  allmählich  aber 
als  Bocialen  Faktor  durch  seine  Anerkennung  auch  bei  Römern  an. 

Verlieren  wir  unseren  Standpunkt  nicht  aus  dem  Augel 

Den  dritten  Abschnitt  beginnt  der  Verfasser  mit  dem  Bürger- 
kriege, womit  er  den  Krieg  zwischen  Galba  und  Otho,  und  dann 
zwischen  Otho  und  Vitellius  meint;  den  eigentlichen  Inhalt  bildet 
die  Regierung  der  Flavier.  Dem  Jahre  69  hätten  wir  S.  391  gern 
eine  Auffassung  abgewonnen  gesehen,  wie  sie  durch  eine  Verglei- 
chung  mit  der  Verwirrung  nach  Cäsar's  Ermordung  erlangt  wird 


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644  Reumont:  Geschichte  der  Stadt  Rom. 

Das  Gebeimnis8  der  Erklärung  liegt  hier  in  der  Aufmerksamkeit, 
dass  nicht  für  eine  Nachfolge  gesorgt  war,  nnd  so  die  Anarchie 
—  dies  ist  wohl  der  richtigere  Ausdruck  —  sich  als  die  erste  Folge 
nnd  der  Bürgerkrieg  als  die  entferntere  herausstellte.  Wir  wollen 
nicht  wiederholen,  worauf  wir  schon  oben  hindeuteten,  dass  der 
Verfasser  sich  für  seine  Darstellung  an  die  Combination  des  Poli- 
tischen, Baugeschichtlichen  und  der  christlichen  Tradition  hält. 
Nor  wie  er  der  ältesten  kirchlichen  Eintheilung  der  Weltstadt 
nachgeforscht  hat,  nnd  dann,  was  er  für  sie  gefunden  hat,  wollen 
wir  hier  herausheben.  Wir  lassen  ihn  am  Besten  selbst  reden. 
>Wie  rasch  und  stetig,  sagt  er  S.  423,  der  neue  Glaube  sich  hier 
ausbreitete,  wie  bald  er  festen  Fuss  fasste,  ergiebt  sich  aus  nichts 
deutlicher  als  aus  der  frühen  christlichkirchlichen  Eintheilung  der 
Stadt.«  Dann  fährt  er  fort:  »So  dunkel  die  Geschichte  der 
Entstehung  der  sieben  kirchlichen  Regionen  ist,  so 
trifft  doch  Vieles  zusammen  derselben  das  höchste  Alterthum  zu- 
zuweisen; denn  wo  in  der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts 
die  Institutionen  sich  entwickeln,  ist  es  klar,  dass  man  mit  schon 
lange  Bestehendem  zu  thun  hat.  Wir  sahen  Rom  durch  Augustus 
in  vierzehn  Regionen  eingetheilt:  dass  das  Christenthum  für  seine 
Einrichtungen  die  Hälfte  dieser  Zahl  annahm,  hat  begreiflicher- 
weise die  Meinung  veranlasst,  dass  die  kirchlichen  Regionen  mit 
den  städtischen  im  Zusammenhang  standen,  ein  Zusammenhang, 
welcher  aber  örtlich  durchaus  nicht  zu  erweisen  ist.  Die  aposto- 
lische Kirche  Jerusalems  hat  in  ihren  sieben  Diakonen  der  römi- 
schen ohne  Zweifel  das  Vorbild  gegeben,  welches  wir  bei  der  Ent- 
wicklung der  bischöflichen  Verwaltung  Roms  auch  in  anderen  Fäl- 
len erkennen  werden.  Die  älteste  Erwähnung  der  Regionen 
findet  sich  im  Leben  des  hl.  Clemens,  des  Schülers  und  dritten 
Nachfolgers  des  Apostels.  Er  Hess,  so  heisst  es,  die  sieben  Re- 
gionen unter  die  gläubigen  Notare  der  Kirche  vertheilen,  auf  dass 
diese  die  Thaten  der  Märtyrer  rasch  nnd  sorgsam,  jeder  in  seinem 
Bezirk,  mit  Fleiss  erforschen  sollten.  Vielleicht  ist  in  dieser  Nach- 
richt nur  eine  nachmalige  Einrichtung  auf  den  vierten  Bischof 
Rom's  und  seine  Vorsorge  für  die  Bewahrung  der  Geschichte  der 
Blutzeugen  übertragen.  Die  zweite  hiehergehörige  Nachricht  vom 
Anfange  des  zweiten  Jahrhunderts  erwähnt  der  Regionen  nicht, 
wohl  aber  der  »Titel«  oder  Kirchen  und  der  Diakonen.  Papst 
Evaristus,  so  besagt  diese  Stelle  in  den  Lebensbeschreibungen  der 
Päpste,  vertheilte  den  Presbytern  der  Stadt  die  Kirchen  und  setzte 
sieben  Diakonen  ein,  den  Bischof  im  Predigen  der  Wahrheit  zu 
behüten.  Jedenfalls  liegen  hier  die  Keime  der  Institution  vor  die 
sieb  wohl  allmählich  ausgebildet  hat,  denn  dass  im  zweiten  Jahr- 
hundert die  Kirche  sich  örtlich  organisiren  musste,  war  durch  ihre 
Natur  bedingt,  wie  durch  die  grosse  Ausbreitung  des  Christen- 
thums unter  den  Antoninen.« 


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Reumont:  Geschichte  der  8tndt  Rom. 


645 


Man  sieht  ans  dieser  Stelle  bei  dem  Verfasser,  wie  letzterer 
sich  der  Nachforschung  der  bewussten  ältesten  Eintheilnng  der 
Christenzahl  beflissen  hat.  Hören  wir  ihn  nun  noch  über  ein  be- 
stimmtes Detail,  was  in  diesen  Zusammenhang  gehört.  »Die  voll- 
ständige Regionar-Eintheilung  wird  dem  hl.  Fabian  zugeschrieben, 
über  dessen  Pontificatsantritt  die  Nachrichten  zwischen  den  Jahren 
236  bis  240  schwanken.  Dieser,  so  heisst  es  in  seiner  Lebensbe- 
schreibung, vertheilte  die  Regionen  unter  die  Diakonen,  und  be- 
stellte sieben  Subdiakonen  zur  Beaufsichtigung  der  mit  der  Auf- 
zeichnung der  Märtyrerakten  beauftragten  sieben  Notare.  Diesem 
zufolge  bestand  der  Regionenklerus  um  die  Mitte  des  dritten  Jahr- 
hunderts aus  der  dreifachen  Siebenzabi  der  Diakonen,  Notare  und 
Subdiakonen,  welchen  Fabianus'  Nachfolger  Cornelius  die  Regionar- 
Akolythen  hinzufügte,  während  erst  Gregor  der  Grosse  den  Armen- 
und  Kirchen- A  dvokaten  oder  Defensores,  gleichfalls  sieben  an  der 
Zahl,  den  Regionartitel  beilegte.  Sehen  wir  von  letzterem  ab,  so 
ist  es  also  die  auf  Alexander  Severus  folgende  Zeit,  welche  eine 
längst  im  Keime  vorhandene  Institution  zur  Entwicklung  brachte, 
die  nicht  für  die  kirchliche  Verwaltung  Rom's  lange  massgebend 
geblieben  ist,  sondern  auch  auf  die  Gestaltung  des  nachmaligen 
päpstlichen  Patriarchium  und  seinor  Würdenträger  bestimmenden 

Ein  flu ss  geübt  hat   Weder  die  Ausdehnung  noch  die  Namen 

8äramtlicher  Regionen  sind  bekannt,  und  wir  müssen  bei  der  Be- 
zeichnung des  Ursprungs  derselben  vielfach  in  spätere  Zeiten  hin- 
übergreifen, da  die  Nachrichten  über  dieselben  in  den  alten  Papst- 
biographien äusserst  spärlich  und  raeist  nur  zufallig  sind.  Die 
erste  war  die  aventinische ,  zu  welcher  auch  die  Paulskirche  vor 
dem  ostiensischen  Thore  gehörte.  In  der  zweiten  lag  die  Via 
Mamertina  und  die  Diakonie  von  S.  Giorgio ,  so  dass  sie  das  Fo- 
rum und  Velabrum  umfasst  haben  muss.  Die  dritte  war  nach 
dem  Caelius  benannt  und  erstreckte  sioh  bis  S.  Lorenzo  vor  dem 
tiburtini8chen  Thor.  Die  vierte  scheint  den  Quirinal  umfasst  zu 
haben  mit  dem  diesen  Hügel  von  dem  Viminal  scheidenden  Thale, 
in  welchem  die  Kirche  S.  Vitale  liegt.  Caput  Tauri  wird  die 
fünfte  Region  genannt,  worunter  man  gewöhnlich  den  Palatin 
versteht.  Die  sechste  und  siebente  Region  umfassten  das 
Marsfeld  und  die  Via  Lata  und  scheinen  sich  bei  Sta  Martina  am 
Fusse  des  Capitolinischen  Hügels   der  zweiten  angeschlossen  zu 

haben  c  Soweit  der  Verfasser  über  die  älteste  kirchliche  Ein- 

theilung  Rom's.  Weiter  dürfen  wir  ihm  nicht  folgen,  weil  wir  hie- 
mit  den  Boden  der  allgemeinen  Prüfung,  worauf  wir  uns  einst- 
weilen befinden,  verlassen  würden.  Es  genüge  also,  diesen  Passus 
unter  den  Gesichtspunkt  der  Eintheilungsmomente  gestellt  zu  haben. 

Da  das  zweite  Buch  vier  Abschnitte  hat,  so  müssen  wir  noch 
vom  vierten  reden.  Dieser,  der  mit  Nerva  beginnt,  dann  die 
Regiernngszeit  Trajan's  und  Hadrians  bebandelt,  führt  eine  Ueber- 
schrift,  die  vermuthen  lässt,  dass  der  Verfasser  diese  übergangen 


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Renmont:  Ocschichtc  der  SUdt  Rort. 


hat.  Nun  aber  wirklich  die  Seiten  S.  441 — 475  jene  zum  Inhalte 
haben,  muss  man  sich  wundern,  die  Ueberschrift  auf  die  orst  fol- 
genden Antoninen  bezogen  zu  sehen.  Nach  einiger  Prüfung  kann 
man  sich  der  Beobachtung  nicht  verschliessen ,  dass  Trajan ,  der 
doch  eigentlich  der  Epochenkaiser  des  Universalstaates  ist,  durch 
jene  Abfertigung  als  Vorzeit  zu  den  Antoninen  zu  kurz  kommt. 
Hier  hat  der  Verfasser  gewiss  der  Tradition  in  der  Auffassung  von 
den  Antoninen  seine  Ueberzeugung  von  der  in  staatsrechtlicher  Be- 
ziehung epochemachenden  Kegierungszeit  Trajan's  zum  Opfer  ge- 
bracht. Er  verhehlt  sich  nicht,  dass  sie  epochemachend  ist,  nur 
sieht  er  sie  auf  zu  beschränktem  Boden  an,  er  erklärt  die  Epoche 
Nerva's  d.  h.  Trajan's  >als  Reaktion  wider  die  scharfsinnig  ge- 
lehrte, trübselig  misstrauische  Tyrannei  Domitian's«,  wie  ihm  schon 
die  Flavier  eine  Reaktion  der  Mässigung  uud  gleichsam  der  Pro- 
test des  gesunden  Menschenverstandes  wider  die  wahusinnigen  Aus- 
schweifungen und  die  blutigen  pha^tontischen  Irrfahrten  eines  Ca- 
lignla  und  Nero  erschienen.  Jedenfalls  ist  jene  negative  Abschätz- 
ung des  Epochemachenden  in  Trajan  nicht  erschöpfend. 

Das  dritte  Buch  beginnt  mit  Septimins  Severus.  Mit  der  Zeit 
von  Maro  Aurels  Tode  an  die  Zeit  des  Verfalls  beginnen  zu  lassen, 
ist  ganz  in  der  Sache  begründet.  Die  Ursache ,  dass  die  Demo- 
kratie in  Waffen  an  die  Stelle  der  coneurrirenden  Gewalten  trat, 
ist  oben  so  richtig  angedeutet.  Indess  die  politische  und  Bauge- 
schiohte  ihre  letzten  Tage  kommen  sieht,  dringt  duroh  die  Dar- 
stellung mit  immer  mehr  verstärkten  Ansprüchen  die  christliche 
Lehre  und  Religion  duroh.  Es  wäre  eine  Consequenz  gewesen, 
jenem  Edicte  Constantin's  oder  etwa  der  ökumenischen  Kirchen- 
versammlung in  Nioäa  oder  einem  sonst  wichtigen  Faktura  aus  der 
Entwicklungsgeschichte  dos  Christenthums  unter  Constantin's  Re- 
gierung die  Geltung  einer  Epoche  zu  vindiciren.  So  weit  ist  der 
Verfasser  nicht  gegangen;  er  ist  bei  dor  politischen  Geschichte 
stehen  geblieben,  und  hat  in  ihr  die  Epoche  seines  zweiten  Ab- 
schnittes gesucht. 

Der  Fund,  den  er  auf  diesem  Pfade  der  Forschung  und  Prü- 
fung gethan  hat,  ist  ihm  eigenthümlich  und  verdient  Beachtung. 
Er  nennt  das  erste  Capitel  Kampf  um  Rom  zwischen  Coustantin 
und  Maxentius,  was,  da  Constantin  das  Christenthum,  Maxentius 
das  Heidenthum  vertrat,  im  Resultate  mit  einem  dem  Entwick- 
lungsgange des  Christenthums  entnommenen  Moment  zusammen- 
fallt. In  der  That  war  der  bezeichnete  Kampf  wichtig  genug,  um 
damit  eine  Periode  zu  beginnen.  Der  Sieg  Constantin's  vor  Rom, 
über  Maxentius  davon  getragen,  war  die  erste  grosse  und  noch 
dazu  politische  Epoche  des  Christenthums,  deun  er  bahnte  an  Stelle 
der  Göttervielheit  im  Pantheon  der  religiösen  Einheit  den  Weg. 
8.  601. 

Ais  dritten  Abschnitt  bezeichnet  er  die  Tage  des  Untergangs 
des  Heidenthums,  oder  was  gleichbedeutend  damit  ist,  des  endlich 


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Reumont:  Geschichte  der  Stadt  Rom. 


647 


erfolgten  Sieges  des  Christenthums  (S.  708).  In  diesem  Abschnitt 
bezeichnen  die  ,  Julian'schen  Bestrebungen  Beides  auf  untrügliche 
Weise;  dieselben  sind  nichts  weniger  als  eine  Epoche  gewesen. 

Niemand  wird  gegen  die  Zweck m ässi gkeit ,  mit  dem  Regie- 
rungsantritte des  Honorius  einen  Abschnitt  zu  beginnen,  Einwen- 
dungen machen.  Wir  sind  mit  dem  Verfasser  einverstanden , 
wenn  er  seinen  vierten  Abschnitt  hiemit  beginnt.  Dieser  Abschnitt 
ist  der  letzte  dieses  Buches  und  des  vorliegenden  Bandes. 

Wir  haben  uns  der  allgemeinen  Prüfung  nicht  entziehen  kön- 
nen, aber  trotz  des  Interesses,  welche  die  Anschauung  eines  Ver- 
fassers von  der  Wichtigkeit  eines  Ereignisses  im  Vorzuge  vor  einem 
anderen  und  die  Betonung  dieses  oder  jenes  als  Epoche  erweckt, 
uns  so  kurz  als  möglich  hierüber  fassen  wollen,  um  nicht  Raum 
für  besondere  Bemerkungen  zu  verlieren. 

Wir  müssen,  soll  die  Uebersicht  nicht  leiden,  der  Reihe  fol- 
gen, und  wenden  uns  zuerst  zur  politischen  Seite  dieses  Bandes. 
Die  vergleichende  Prüfung  soll  sich  nur  auf  wenige  Punkte  er- 
strecken, woraus  man  dann  auf  den  Standpunkt  des  Werkes  und 
seines  Verfassers  in  ihm  sohliessen  möge! 

Ihm  ist  Rom  ursprünglich  ein  patricischer  Staat.  Von  den 
Stämmen  Ramnes,  Tities  und  Luceres  hält  er  die  beiden  ersten  für 
gleich  alt  wie  die  Stadt;  die  Luceres,  behauptet  er  auf  Grund  der 
Verschiedenheit  zwischen  latinischem  und  etruskischem  Wesen,  kön- 
nen nicht  etruskischen  Ursprungs  gewesen  sein;  er  ist  geneigt, 
darin  Latiner,  stammverwandte  Bewohner  Albalonga's  zu  sehen, 
»welche  der  dritte  König  der  Tradition  nach  Rom  verpflanztem 
Diese  Tradition  melde  nämlich  von  der  Einfügung  der  albanischen 
Gesohlechter  in  den  römischen  Vollbürgerstand.  Aus  dem  Umstand, 
dass  der  dritte  Stamm,  wonngleich  sonst  mit  den  beiden  anderen 
gleichberechtigt,  vom  Königthum  ausgeschlossen  gewesen  zu  sein 
scheint,  und  in  sacraler  Beziehung  von  jenen  nicht  ganz  als  voll 
anerkannt  wurde,  folgert  er  vermutungsweise ,  dass  die  Luce- 
res, ungeachtet  der  S  t  am  m  verwand  t  schaft ,  erst  in 
Folge  einer  Eroberung  in  den  schon  bestehenden  ur- 
sprünglichen Staat  eingefügt  wurden.  S.  88. 

Im  ältesten  römischen  Staate  gab  es  nur  Gives  (Patricier), 
Clienten  und  Sclaven.  In  den  Clienten  sieht  er  spätere  Ansiedier 
verschiedener  Herkunft.  Unsere  Frage  gilt  den  Plebeiern.  Wie 
lässt  er  diese  herein?  —  »Der  patricische  Staat,  sagt  er,  wie  er 
sieb  nach  festbestimmten  Principien  consequent  gegliedert  darstellte, 
hatte  keinen  Raum  mehr  für  die  Aufnahme  neuer  Elemente  unter 
gleichen  Bedingungen.  Während  er  durch  seine  fortschreitenden 
Eroberungen  solche  Elemente  local  anzog,  schloss  er  sich  politisch 
gegen  dieselben  ab.  So  bildeten  die  übergesiedelten 
Einwohner  latinischer  Städte,  wie  Politorium,  Ficana, 
Tellenä  u.  s.  w.  deren  Unterwerfung  in  die  Zeit  des  vierten  Königs 
▼ersetzt  wird,  bei  ihrer  Uebersiedlung  nach  dem  Aventin  und  dessen 


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Reumont:  Geschiohtc  der  St»dt  Rom. 


Umgebungen,  einen  wesentlich  fremden  Bestandteil  untergeordneter 
Gattung,  sei  es  dass  wir  auf  die  Staats-  oder  auf  die  sacralrecht- 
liche  Stellung  blicken.  Innerhalb  ihres  eigenen  Kreises  ebenso  frei 
und  rechtlich  bestehend  wie  die  VollbUrger,  genossen  die  neuen  An- 
siedler letzteren  gegenüber  nur  das  Eigenthuras  oder  Erwerbungsrecht, 
welches  sie  schon  vor  ihrer  Unterwerfung  gehabt  hatten,  nicht  aber 
ein  Stimmrecht,  noch  das  Eberecht,  welches  ihnen  dann  erst  ein- 
geräumt wurde,  als  sie  schon  die  politischen  Rechte  erhalten  hat- 
ten.« Das  ist  die  Ansicht  des  Verfassers  von  der  Herkunft  der 
Plebeier.  S.  42.  Bis  zur  Umgestaltung  der  Verfassung  durch  Ser- 
vius  Tullius  bildet  ihm  der  ganze  Stand  den  Vollbürgern  gegen- 
über eine  ungegliederte  Masse,  die,  im  Privatbesitz  einestheils  ihrer 
alten  Feldmark,  meist  auf  dem  Lande  lebt,  aber  auch  in  der  Stadt 
sich  ankauft,  wo  seine  Glieder  auf  dem  aventinischen  Hügel  die 
Neustadt  gründeten. 

Bekanntlich  schlug  der  Unterschied  der  Stände,  nachdem 
Standesvorrechte  bei  den  Patriciern  nicht  mehr  existirten,  allmäh- 
lich in  den  der  Optimaten  und  kleinen  Leute  um,  worauf  der  Ver- 
fasser S.  116  ff.  zu  reden  kommt.  Eine  dritte  Wandlung  erlitt  das 
sociale  Leben  nach  der  Umwandlung  der  republikanischen  Regie- 
rungsform in  die  principale  durch  die  Gliederung  nach  grossen 
Familien,  Ritterstand  und  Volk.  Von  dieser  handelt  der  Verfasser 
im  ersten  Abschnitt  des  zweiten  Buches.  S.  221  ff. 

Bei  jeder  neuen  Arbeit  Uber  die  römische  Geschichte,  die  zu- 
gleich die  Gründung  des  Principats  erörtert,  sind  wir  berechtigt 
die  Frage  nach  der  Stellung  uns  beantworten  zu  lassen,  welche 
der  Verfasser  zu  Cäsar  einnimmt,  ob  er  auf  der  Seite  seiner  Geg- 
ner oder  seiner  Bewunderer  steht?  Wir  müssen  gestehen,  es  ist 
nichts  zu  ermitteln,  was  bei  ihm  auf  diese  oder  jene  Seite  deuten 
müsste.  Nur  scheint  er  in  Cäsar  schon  früh  »die  Hoffnung  künf- 
tiger Machtstellung«  Wurzeln  fassen  zu  lassen,  vgl.  S.  147,  und 
im  Verlaufe  des  Bürgerkriegs  seine  politisch  gebotene  Milde  gegen 
den  Ciceronischen  Vorwurf  der  Hinterlist  decken  zu  müssen,  vgl. 
S.  156.  Cäsarn  besser  darzustellen,  als  die  bisherigen  Gegner  des 
Genannten,  gelingt  ihm  dadurch,  dass  er  andeutet,  Pompeius  würde 
bei  mehr  Energie  eben  dasselbe  gethan,  z.  B.  sich  des  Schatzes  be- 
mächtigt haben.  Ihn  weniger  zu  preisen,  als  seine  Bewunderer,  ist 
er  in  dem  Falle,  weil  er  den  Blick  auf  die  ganzo  Entwicklung  vor 
Cäsar  hat.  Wichtig  ist  bei  ihm  die  Unterscheidung  zwischen  einem 
politischen  Princip,  und  der  persönlichen  Macht.  Gerade  die  letztere 
ist  der  Schlüssel  zu  Cäsar's  energischem  Auftreten,  wie  er  nach- 
mals die  Politik  Octavian's  erklären  wird.  Durch  die  Aufmerk- 
samkeit auf  diesen  Unterschied  und  auf  das  was  bei  Cäsar  ent- 
schied, hat  er  sich  vor  den  Parteiextreraen  bewahrt,  und  seiner 
Darstellung  jene  Unparteilichkeit  gegeben,  die  sich  in  seinem  Falle 
am  besten  schickte. 

Wir  haben  mit  Befriedigung  ferner  wahrgenommen,  dass  er 


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Reumont:  Geschichte  der  Stadt  Rom.  649 

den  politischen  Charakter  des  Augustus  mehr  aus  seiner  negativen 
Naturanlage  (vgl.  S.  232),  als  aus  einem  planvollen  Hintergedanken 
erklärt.  Er  zieht  Umstände,  Weisen  und  Helfer  heran,  um  die 
Umwandlang  der  Verfassung  zu  erklären,  die  Augustus  bewirkte, 
soweit  nämlich  schon  er  sie  bewirkte,  und  widmet  auf  dieser  Grund- 
lage der  Regierung  und  Verwaltung  des  Reiches  ein  gewandt  ge- 
schriebenes Capitel.  Eine  Probe  kritischer  Betrachtung  ist  das 
Capitel  »Rom  in  der  Augusteischen  Zeit«,  worin  er  der  Schärfe, 
mit  der  man  sein  letztes  Wort  gegen  ihn  angewendet  bat,  die 
Spitze  abzubrechen*),  und  der  Vorstellung  von  den  Bauunterneh- 
mungen des  Augustus  die  richtige  Ausdehnung  zu  geben  sucht. 
»Im  Regieren,  wie  im  Bauen,  sagt  er,  war  er  ein  grosser  Künst- 
ler. In  dem  Staate  und  unter  dem  Volke,  welche  das  Herrschen 
instinctmässig  hassten,  hat  er  den  Gegensatz,  der  sich  in  dem  „Le 
roi  rfyne  et  ne  gouveme  pas  ausspricht,  auf  den  Kopf  gestellt.« 
S.  243. 

Wir  können  nicht  umhin,  noch  von  seinem  Urtheile  über  Ti- 
berius  Kenntniss  zu  geben,  bevor  wir  uns  zu  dem  zweiten  Ge- 
sichtspunkte unserer  speciellen  Prüfung  wenden.  Die  Controverse 
über  seinen  Charakter  ist  ihm  bekannt  (vgl.  S.  304) ;  sie  schlägt 
sogar  in  der  Darstellung  durch,  S.  291.  Sie  ist  eines  Auszugs  zu 
Gunsten  seiner  Ansicht  nicht  fabig,  und  muss  man  dieses  Capitel 
über  den  Staat  des  Tiberius  selbst  lesen,  um  seine  Ansicht  kennen 
zu  lernen.  Er  behauptet,  die  schlimmen  Seiten  des  Charakters  sei- 
nes Geschlechtes  haben  erst  in  spätem  Jahren  die  Oberhand  ge- 
wonnen, als  eine  Menge  unseliger  Einflüsse  im  Bunde  mit  ungün- 
stigen Umständen  sein  besseres  Gefühl  verkehrten  und  jene  trau- 
rige Zeit  heraufbeschworen,  an  und  in  welcher  er  unterging,  er- 
schrecken d  genug  selbst  ohne  willkürliche  Uebertreibungen.  Die 
Belege  dieser  Behauptung  enthalten  die  Seiten  298  ff.  Im  Ganzen 
kommt  er  auf  die  Darstellung  von  dem  dämonischen  Greise  hin- 
aus, zu  dem  ein  anfangs  tüchtiger  Mann  mit  den  Jahren  ausge- 
artet war. 

In  dem  Capitel  über  Diocletian  und  die  Reicbstheilung  hat 
er  die  Motive  zur  letzteren  richtig  in  der  politischen  Einsicht  des 
Ersteren  begründet  gefunden.  S.  535.  »Der  Umstand,  sagt  er,  dass 
Diocletian  durch  sein  bisheriges  Leben  mehr  dem  Osten  angehörte 
und  im  Osten  zur  höchsten  Gewalt  gelangt  war,  dass  die  Verhält- 
nisse dieses  Theiles  des  Reiches  rasche  Abhülfe  erforderten,  dass 
zur  selben  Zeit  die  Zustände  Galliens  und  dadurch  bedingt  jene 
Britanniens  wieder  höchst  bedrohlich  wurden,  mag  den  Ausschlag 
gegeben  haben  —  «  nämlich  zur  Annahme  eines  Mitregenten! 
»Diocletian«,  fUhrt  er  fort,  »welcher  in  der  colossalen  Ausdehnung 
des  Staates  den  Grund  einer  Schwäche,  der  Macht  der  Heere  gegen- 


*)  VgL  Festschrift  zur  XXIV.  Versammlung  der  Philologen  etc.  Leipz. 
1866.  8.  82. 


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Reumont:  Geschichte  der  SUdt  Rom. 


Uber  die  Macht  des  einzelnen  Herrsebers  als  unzulänglich  erkannte, 
entschloss  sich  zu  einer  vollständigen  Theilung  der  Reichsgewalt, 
erst  unter  beschränkten,  dann  mit  gleichen  Befugnissen  eines  Mit- 
regenten, und  fortschreitend  mit  neuer  Theilung  und  regelmässiger 
allmählich  vervollständigter  Gliederung  der  Autorität  der  Personen 
und  des  Zusammenhangs  der  Provinzen.«  Soweit  der  Verfasser. 
Bekanntlich  gilt  diese  diocletianische  Eintheilung  als  Vorläufer  und 
Grandlage  der  constantinischen.*)  Diese  Initiative  von  Oben  war 
durch  das  Bedtirfniss  der  Uebersicht  geboten;  hundert  und  mehr 
Jahr  später  vollendete  eine  Initiative  von  Unten ,  durch  die  Ab- 
neigung gegen  die  Angehörigkeit  eingegeben,  der  Abfall  und  Aus- 
einandcrfall  des  Westens  den  Untergang  des  römischen  Universal- 
reiches  Aus  der  Zeit,  in  welcher  das  Christenthum  den  vollstän- 
digen Sieg  in  Rom  errang,  restirt  für  unseren  Plan  hier  noch  ein 
Problem,  das  Geschlecht  der  Anicier.  »Man  kann,  äussert  der  Ver- 
fasser, dieser  Zeit  nicht  gedenken,  ohne  lebhaft  an  das  Geschlecht 
erinnert  zu  werden,  welches  den  Ruhm  erlangte,  dem  christlichen 
Patriciat  der  Stadt  den  höchsten  Glanz  verliehen  zu  haben;  ein 
Ruhm  der  tönend  durch  das  ganze  Mittelalter  und  die  späteren 
Jahrhunderte  klang,  so  dass  die  Abstammung  von  diesem 
Geschlecht,  oft  beansprucht  und  niemals  erwiesen,  als  die 
gWSsste  Auszeichnung  berühmter  Familien  erschien.«  S.  687.  Die 
Anmerkung  des  Verfassers  zu  dieser  Seite  (vgl.  S.  812)  beklagt, 
dass  die  Geschichte  der  Anicier  uoch  sehr  im  Argen  liege.  Die 
Darstellung  S.  688  ff.  hat  nur  das  Beglaubigte.  Der  Verfasser  ver- 
sucht eine  Genealogie  der  Anicier  vom  Jahr  834—406  im  Zusam- 
menhange der  gedachten  Anmerkung.  Dieses  Geschlecht  ist  für 
die  gedachto  Zeit  dasselbe,  was  ehemals  das  Cornelische  bedeu- 
tet hatte. 

Wir  müssen  nun  dorn  zweiten  Gesichtspunkte  unsere  Aufmerk- 
samkeit zuwenden,  dem  baugeschichtlichen  nämlich.  Der  ganze 
Band  ist  von  einschlägigen  Bemerkungen  durchzogen,  die  von  gründ- 
lichen Studien  des  Verfassers  im  Ruinen -Inventar  der  Weltstadt 
Zeugniss  ablegen.  In  dieser  Frage  hat  v.  Reumonts  Werk  Aehn- 
lichkeit  mit  dem  Ampere'schen**) ,  und  wird  der  zweite  Band, 
wenn  ein  Schluss  erlaubt  ist,  wahrscheinlich  dem  Werke  von  Gre- 
gorovius  ähneln.  Die  bedeutenderen  erläuternden  Schriften  aus  der 
archäologischen  Literatur,  sowohl  die  das  ältere  Rom,  wie  die  Zeit 
der  Entstehung  der  Basiliken  betreffenden,  sind  in  den  Anmerkun- 
gen namhaft  gemacht.  Die  archäologischen  Details,  welche,  wie 
gesagt,  durch  die  ganze  Darstellung  zerstreut  sind,  geben  der  letzte- 


•)  Vgl.  den  Anhang  zu  Th.  Mommsen's  Verzcichniss  der  römischen 
Provinzen,  aufgesetzt  um  297. 

•*)  S.  unsere  Anzeige  in  den  Heidelb.  Jahrbb.  1867.  Nr.  37  ff.  DieAehn- 
lichkeit  zwischen  Beiden  erstreckt  sich  bis  auf  den  M.  Testaccio  (v.  Reumont, 
Anm.  zu  S.  731.) 


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Reumont:  Geschichte  der  Stadt  Rom, 


651 


ren  eine  drastische  Wirkung,  die  Ereignisse  heben  sich  unier  dem 
Eindruck  dieser  Hälfen  verständlicher  ab,  man  ist  der  Lektüre 
sicherer. 

In  Bezug  auf  das  Christenthum  und  dessen  Erfolg  für  die 
römische  Welt,  haben  wir  bei  dem  Verf.  eine  Eigenschaft  wahr- 
genommen, die  ihre  nachhaltige  Wirkung  nicht  verlieren  wird,  die 
Eigenschaft  des  aobtsamen  Betrachters  und  Beurtheilers  dieser 
grandiosen  Stiftung,  welche  nicht  allein  der  neuerdings  eingerisse- 
nen Feindseligkeit  gegen  die  Entwicklung  der  religiösen  Verhält- 
nisse nicht  haidigt,  sondern  ihr  sogar,  obwohl  nicht  polemisch, 
aber  durch  die  That  entgegentritt.  Diese  Eigenschaft,  welche  einen 
Charakterzug  des  v.  Reumont'schen  Werkes  bildet,  wird  das  Gute 
haben, ^gewisse  gebildete,  durch  die  literarischen  Ereignisse  der  letzten 
Jahre  erschütterte  Kreise  wieder  mit  einem  Verstandnisse  für  die 
welthistorische  Bedeutung  des  Sieges  des  Christenthums  zu  be- 
freunden. 

Die  Anmerkungen  enthalten  die  wichtigste  Literatur,  Quellen 
und  Monographien,  die  letzten  aus  romanischen  und  germanischen 
Federn ,  und  verhehlen  hin  und  wieder  nicht ,  dass  der  Verfasser 
die  Kritik  einzelner  Fragen  auch  in  ihren  Details  studirt  hat. 

Mit  besonderer  Freude  begrüssen  wir  den  inschriftlichen  An- 
hang, S.  819 ff. ,  als  einen  Beleg  für  die  Art,  wie  Inschriften  in 
solchen  Fällen  am  com  potentesten  einem  Geschichtsbuche  dienen 
können.  Nahezu  siebenzig  finden  sich  hier  abgedruckt,  die  schon 
für  sich  eine  einladende  Lektüre  sind,  ganz  abgesehen  davon,  dass 
sie  als  Pikees  justificatives,  um  französisch  zu  reden,  der  Darstel- 
lung untergeordnet  sind.  Mit  besonderem  Interesse  wird  man  die 
Inschriften  von  den  Triumphbögen,  Brücken,  Fora,  Säulen  und 
Aquaeducten  lesen. 

Die  chronologische  Uebersicht  ist  zu  vollständig ;  man  glaubt 
ihr  die  Absicht  abmerken  zu  müssen,  ihre  Details  sollen  die  präg- 
uante  Darstellung  der  Bücher  ergänzen. 

Die  Stammtafeln  sind  eine  unentbehrliche  Beigabe. 

Zwei  Karten  machen  den  Schluss,  Rom  in  der  Zeit  der  Könige 
mit  den  Regionen  des  Servius  Tullius,  und  vergleichender  Plan  des 
alten  und  neuen  Rom,  auf  dem  u.  A.  mit  grosser  Dotailrücksicht 
diu  Ruinenstätten  auf  dem  Palatin  verzeichnet  sind,  die  Domus 
Augusti  unterm  rechten  Winkel  mit  der  Langseite  des  Circus 
Maximus,  westlich  von  der  Domus  Augusti  die  D.  Flaviana,  west- 
lich davon  die  D.  Tiberiana,  nördlich  von  letzterer  die  D.  Cali- 
gulae  (die  Nordwestspitze  des  Berges),  auf  der  entgegengesetzten 
Seite  (die  Nordostspitze)  die  D.  Neroniana.  Die  Südostspitzo  bil- 
dete bekanntlich  das  Septizonium. 

Hiermit  beschliessen  wir  zwar  unsere  Prüfung  des  von  Reu- 
mont'schen Bandes,  aber  nicht  unseren  Artikel. 

Schon  früher  haben  wir  gelegentlich  unsere  Freude  darüber 


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Reumont:  Geschichte  der  Stadt  Rom. 


ausgedrückt*),  dass  die  historische  Tradition  Griechenlands  ihre 
bewährten  Erforscher  und  Darsteller  gefunden  hat.  Wir  meinten 
damit  G.  Grote  und  Dunker,  Droysen,  Hertzberg,  G.  Finlay  (von 
Leo  IV.  bis  zum  Untergang  des  byzantinischen  Reiches),  Tennent. 

Aus  Anlass  des  v.  Reumont'schcn  sei  es  uns  vergönnt,  uns  in 
ähnlicher  Weise  auszusprechen.  Hier  gebührt  u.  A.  Schwegler'n 
der  Vortritt,  dem  sich  rühmlich  Theodor  Mommsen  und  Peter  an- 
schliessen.  Der  (auch  v.  Reumont  bekannte)  Engländer  Long  be- 
handelt gediegen  The  Decline  of  the  Roman  Republic  (bis  zum 
Tode  des  Sertorins)  **).  Dann  folgt  Merivale  mit  derHistory  ofthe 
Romans  under  the  Empire.***)  Schon  früh  hatten  Montesquieu, 
sowie  Gibbon  f)  sich  des  Unterganges  des  römischen  Reiches  an- 
genommen. Pendant  zu  allen  Genannten ,  weil  er  den  Faden  bis 
zu  Ende  fortspinnt,  verdient  er  auch  je  zu  einer  Periode  als  ge- 
wandter Vorarbeiter  der  disponiblen  Materialien  anerkannt  zu  wer- 
den. Es  mus8  am  Ende  eines  den  Musen  und  der  Wissenschaft 
gewidmeten  Lebens  ein  lohnendes  Bewusstsein  sein,  auf  ein  Werk 
von  solchem  Inhalt  und  solcher  Arbeit  zurückblicken  zu  können. 
Dass  es  dem  Verfasser  vergönnt  sein  möge,  dieses  Werk  in  seinen 
folgenden  Bänden  zu  Ende  zu  bringen,  ist  der  feurige  Wunsch  des 
Unterzeichneten ! 

Durch  die  würdige  Ausstattung  des  ersten  Bandes  hat  sich  die 
geheime  Ober-Hofbuchdruckerei  einen  begründeten  Anspruch  auf 
Anerkennung  erworben. 

Eine  wichtige  Frage  haben  wir  uns  bis  zum  Schlnss  aufsparen 
wollen,  eine  Frage  allgemeiner  Natur,  nämlich  die  Frage,  ob  es 
nicht  einen  Gesichtspunkt  giebt,  unter  dem  der  Bearbeitung  der 
römischen  Geschichte  noch  eine  sehr  interessante  Seite  abzugewin- 
nen wäre.  Es  giebt  einen  solchen  Gesichtspunkt,  zu  dessen  Com- 
petenz  sogar  die  Geschichte  der  Stadt  Athen  gehört.  Man  achte 
einmal  darauf,  dass  die  Centren  beider  Städte  im  Laufe  ihrer  Ge- 
schichte verlassen  wurden,  und  forsche  der  Ursache  davon  nach! 
Mau  wird  dann  finden,  dass  das  allmähliche  Verlassen  des  topo- 
graphischen Mittelpunktes,  wie  er  für  Rom  im  Forum,  ftir  Athen 
in  der  Agora  vorliegt,  der  durch  den  in  dem  öffentlichen  Leben 
ausgeprägten  Nationalgeist  dieser  Völker  bedingt  war,  sich  auf  die 
allmähliche  Abreibung  dieses  Geistes  in  der  historischen  Bewegung 
zurückführen  lässt.  Sie  liisst  sich  in  der  Weise  darauf  zurückführen, 
dass  sogar  bezüglich  einzelner  Perioden  eine  Gongruenz  zwischen 
dem  Aufgeben  des  Centrums  und  dem  Entnationalisirungsprocess 
nachweisbar  ist. 


*)  Gelegentlich  Hertzberg's  Geschichte  Griechenland  (vgL  Heidelberger 
Jahrb  1867.  Nr.  14  ff.). 
**)  London  1864. 
***)  London  1863. 

t)  Consideratlons  pur  la  grandetir  est  la  decadence  des  Romains  Paris 
1734.  —  Decline  and  Fall  of  the  Roman  Empire  1780. 


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Röder:  Grundlehren  von  Verbrechen  und  Strafe. 


Wir  können  hier  nicht  näher  auf  die  Ausbeutung  dieses  Ge- 
sichtspunktes eingehen,  möchten  aber  den  nächsten  Bearbeiter  der 
römischen  Geschichte  auf  seine  fruchtbringende  Tragweite  hinwei- 
sen, und  ihn  denselben  verwertheu  sehen. 

Wir  sagen  nicht,  dass  das  Geschäft  der  kritischen  Sichtung 
des  Materials  auf  diesem  (Tebiete  schon  seinem  Kechnungsabschluss 
nahe  ist,  glauben  aber  sagon  zu  können,  dass  die  wichtigste  aller 
Bearbeitungen  für  die  zweite  Hälfte  der  römischen  Geschichte,  die 
auf  dem  Boden  jener  Nachforschungen  liegt,  noch  auf  ihren  Be- 
arbeiter wartet. 

Heidelberg,  im  September  II.  Doergens. 


K.  D.  A.  Röder,  die  herr sehenden  Grundlethren  von  Verbrechen 
und  Strafe  in  ihren  inneren  Widersprüchen.  Eine  kritische 
Vorarbeit  tum  Neubau  des  Strafrechts.  Wiesbaden.  J.  Niedmr's 
Verlagshandlung.  1867.  X  u.  I3d  S.  gr.  8. 

Diese  Schrift  enthält  die  Ergebnisse  eines  vieljährigen  Nach- 
denkens des  Verfassers  über  die  bedeutenderen  jener  zahllosen  wis- 
senschaftlichen Versuche,  die  seit  etwa  achtzig  Jahren  gemacht 
worden  sind,  um  über  den  Rechtsgrund  und  Zweck  der  Strafe, 
mithin  auch  über  das  Wesen  des  Verbrechens,  als  des  Strafwürdi- 
gen, ins  Klare  zu  kommen.  Der  Verfasser  hat  das  Seinige  gethan, 
um  sich  genaue  Rechenschaft  zu  geben  sowohl  über  das  Korn  von 
Wahrheit,  das  sich  in  jedem  jener  Versuche  findet,  als  über  die 
daran  geknüpften  und  zum  Theil  dadurch  beschönigten,  zahlreichen 
und  mehr  oder  minder  verderblich  gewordenen,  Irrthümer  und  Fehl- 
richtungen; er  glaubt  nachgewiesen  zu  haben,  dass  keine  der  bis 
heute  vorherrschenden  sog.  Straftheorieen  frei  ist  von  vielen  unbe- 
fugten Voraussetzungen,  inneren  Widersprüchen,  Sprüngen  und  Folge- 
widrigkeiten, zum  Theil  der  gröbsten  Art,  dass  sie  also  sammt  und 
sonders,  auch  wenn  mau  sie  lediglich  im  Licht  der  Denkgesetze 
betrachtet,  durchaus  mangelhaft  und  wissenschaftlich  unhaltbar  sind ; 
ebenso  auch  die  auf  einer  so  ungenügenden  Unterlage  aufgebauten 
heutigen  Strafgesetzgebungen.  Keine  einzige  der  letzteren  war  eben- 
darum im  Stande  sich  so  streng  und  abschliessend  an  irgend  eine 
der  bisherigen  Straftheorieen  zu  halten,  um  auch  nur  entfernt  als 
eine  folgerechte  Durchführung  derselben  betrachtet  werden  zu  kön- 
nen, wogegen  sich  überdiess  die  meisten  Gesetzgebungen  sogar  aus- 
drücklich verwahrt  haben.  Von  selbst  ergibt  sich  ferner  hieraus 
die  Forderung,  dass  jene  inuerlich  haltlosen  und  Widerspruch  vollen 
Straftheorieen  und  Strafgesetzgebungen  je  eher  je  lieber  aufzugeben 
seien,  um  so  mehr  als  sie  obendrein,  wie  der  Verf.  es  in  andern 
Schriften  näher  ausgeführt  hat,  mit  den  wahren  Grundgedanken 
des  Rechts  und  der  Rechtsordnung  des  Staats  nicht  minder  un- 


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File ssl In  und  die  Trennungshaft. 


vereinbar  sind  als  mit  der  gesammten  heutigen  Bildung  und  Mensch- 
lichkeit, die  längst  über  jene  überlebten  Vorstellungen  binausge- 
sohritten  ist,  kurz  mit  allen  Grundlagen  unsers  gesellschaftlichen 
Lebens.  Wie  immer  beim  Kampf  eingerosteter  veralteter  Ansichten 
mit  dem  Neuen  und  Besseren ,  wird  freilich  auch  die  gründliche 
Lösung  dieser  Frage,  wie  so  vieler  andern  brennenden  gesellschaft- 
lichen Fragen,  noch  manches  Jahrzehnt  auf  sich  warten  lassen. 
Für  eine  solche  günstige  Lösung  thut  aber  vor  Allem  Noth  die 
wissenschaftliche  Erkenntniss  des  faulen  Flecks.  Diese  nach  Kräf- 
ten zu  fördern,  war  der  Hauptzweck  der  Schrift,  in  welcher  auf 
wenigen  Bogen  die  Frucht  mühevoller  Untersuchungen  eines  ganzen 
Lebens  in  strengem  Zusammenhang  mitgetheilt  ist.  Es  galt,  die 
Grossmeister  der  bisherigen  strafrechtlichen  Weisheit  endlich  zu 
veranlassen,  auf  die  bestimmte,  über  Sein  oder  Nichtsein  des 
ancien  rögime  pönal  entscheidende,  Frage  eine  bestimmte  Ant- 
wort zu  geben,  die  Gründe,  womit  dessen  Verwerflichkeit  in  der 
vorliegenden  Schrift  dargethan  ist,  entweder  zu  widerlegen  oder 
sie,  und  ebendamit  die  Hinfälligkeit  der  alten  Strafgebäude,  anzu- 
erkennen. Je  unbefriedigender  aber  jede  bloss  verneinende  Kritik  ist, 
um  so  nöthiger  schien  es  dem  Verfasser,  in  den  letzten  Paragraphen 
nochmals  gedrängt  alle  die  Wahrheiten  zusammenzufassen,  die  sich 
aus  der  Prüfung  aller  einzelen  Theorieen  mehr  oder  minder  licht- 
voll ergaben  und  die,  in  ihrer  gegenseitigen  Ergänzung,  gleichsam 
das  unwidersprechliche  fruchtbare  Endergebniss  der  ganzen  Unter- 
suchung bilden  und  die  nothwendige  Grundlage  für  jeden  Neubau 
des  Strafrechts  abgeben  müssen,  wenn  anders  or  dauerhaft  sein 
und  den  höchsten  Forderungen  des  Rechts  wenigstens  soweit  sich 
nähern  soll,  als  der  dermalige  Zustand  unsrer  gesammten  Bildung 
und  Sitte,  sowie  unsrer  Rechts-  und  Staatskunst  insbesondere,  ea 
möglich  macht  und  fordert.  Eine  spanische  und  englische  Ueber- 
setzung  des  Buchs  sind  dem  Verfasser  in  Aussicht  gestellt. 


Direktor  Julius  Füesslin  und  die  Trennungshaß  in  Baden 
Stuttgart,  Buchdruckerei  von  J.  Kreuzer.  (Herder* seht  Ver- 
lagshandlung su  Freiburg  i.  B.?)  1867.  IV  u.  32  S.  gr.  8. 

In  dieser  kleinen  Schrift,  die  den  bereicherten  Abdruck  eines 
Aufsatzes  aus  don  »historisch -politischen  Blättern«  enthält,  be- 
grüssen  wir  mit  aufrichtiger  Freude  vor  Allem  ein  wohlverdientes 
Ehrendenkmal  für  einen  zu  früh  verstorbenen  Freund,  zugleich  eine 
bündige  Verteidigung  Desselben  —  und  mit  ihm  aller  Derer,  die 
ihm  in  seinen  unermüdlichen  menschenfreundlichen  Bestrebungen 
im  Dienst  der  Wahrheit  treulich  beigestanden  haben  —  gegen 
zahlreiche  gehässigen  Verunglimpfungen.  Als  Hauptmittel  für  diesen 
Zweck  dient  dem  uugenannten,  ebenso  sachkundigen  als  geistreichen, 

\ 


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,Ftt  eesl in  and  die  Trennungehaft. 


655 


Verfasser  der  denkwürdige,  streng  aktenmässige,  Nachweis  des  eng- 
herzigen bUreaukratischen  Geistes,  in  welchem  seit  Jagemann 's 
Tode  die  Oberleitung  des  badischen  GefUngnisswesens  geschah.  Ins- 
besondere wurden*  dabei  die  guten  Erfolge  der  Trennungshaft  nach 
Möglichkeit  verkümmert  und,  soweit  Diess  nicht  gelang,  wenigstens 
verleugnet.  Die  Nachwirkungen  dieses  bedauerlichen  Geistes  sind 
leider  noch  immer  vorbanden  und  geben  sioh  deutlich  genug  kund 
in  der  Redaktion  der  > Blätter  für  Gefängnisskunde«  und  den  Be- 
schlüssen des  jüngsten  Gefängnisskongresses  zu  Dresden,  wodurch 
die  Trennungshaft  ihrem  Wesen  nach  völlig  vereitelt  wird.  Auch 
der  Schreiber  dieser  Zeilen  darf  sich  rühmen  zu  deu  Freunden  und 
Mitkämpfern  Füesslin's  gehört  und  ein  gutes  Theil  von  Zorn 
von  Seiten  der  Gegner  des  wackern  Mannes  und  der  unverpfusch- 
ten Einzelhaft  auf  sich  geladen  zn  haben.  Die  gute  Sache  dieser 
»Trennungs-  oder  Besserungshaft«  (wie  der  Verf.  sie  abschliessend 
genannt  wissen  möchte)  wird  jedenfalls  durch  die  von  dem  Verf. 
beigebrachten  Thatsachen  zu  Gunsten  Füesslin's  noch  mehr  ge- 
winnen, als  sie  kürzlich  durch  den  Aufsatz  des  Niederländers  Nieu- 
wenhuis  im  »Gerichtsaal«  gewonnen  hat,  wodurch  die  mangelnde 
Sachkunde  ihrer  heftigsten  Gegner,  der  eifrigen  Lobhudler  des  sog. 
irländischen  Gefangnisssysteins ,  in  ein  so  treffendes  Licht  gestellt 
worden  sind,  dass  deren  Nachtreter  doch  allmählich  einiges  Scham- 
gefühl ergreifen  wird.  Ausser  Stande,  hier  aus  dem  reichen  In- 
halt der  Schrift  auch  nur  das  Erheblichste  mitzutheilen,  beschrän- 
ken wir  uns  auf  Folgeudes,  um  den  erwähnten,  in  der  That  fast 
unglaublich  engherzigen  Geist  zu  veranschaulichen,  der  im  Gefäng- 
nisswesen  des  »Musterstaats«  Baden  waltete.  Man  wollte  alles 
Ernstes,  um  zu  sparen,  im  Sommer  den  weiblichen  Strafgefangenen 
die  Unterröcke  entziehen!  Man  geizte  mit  der  Kost,  namentlich 
mit  den  Brodzulagen,  ebenso  hinsichtlich  des  Verdienstantheils  der 
Sträflinge.  Der  »Ernst  der  Strafe«  sollte  gehörig  empfunden  und, 
selbst  auf  Kosten  der  höheren  Zwecke,  der  grösstmögliche  Ertrag 
aus  der  Sträflingsarbeit  herausgeschlagen  werden,  deren  fabrik- 
mässiger  Betrieb  sich  durch  immer  weiter  getriebene  Theilung  der 
Arbeit  steigerte.  Nächst  der  Dunkelhaft  und  Hungerkost,  die  ohne- 
diess  schon  als  gesetzliche  Strafschärfungen  in  verderblicher  Fülle 
zuerkannt  waren,  wurde  daher  als  Ordnungsstrafe  des  Hauses  auch 
die  schmähliche  Folter  des  sog.  Strafstuhls  noch  zeitweilig  gehand- 
habt. Man  entzog  den  Sträflingen  nicht  etwa  bloss  den  Schnupf- 
taback,  sondern  beschränkte  auch  die  Besuche,  auf  die  sie  An- 
spruch hatten,  und  schloss  sie,  zu  Gunsten  des  Arbeitertrags,  den 
man  auch  noch  durch  Einführung  raehrer  (z.  B.  Näh-)Maschinen 
zu  steigern  suchte,  immer  mehr  vom  Besuch  der  GefUngnissschule 
aus.  Diese,  deren  Leistungen  geradezu  staunenswerth  waren,  suchte 
man  allmählich  auf  den  Richtstand  einer  Dorfschule  herabzudrücken. 
Zu  den  Prüfungen  ferner  in  unbeschränkter  Zahl  Fremde  zuzulas- 
seu,  fand  man  »unverträglich  mit  dem  System  der  Einzelhaft«  1  — 


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666 


Füeeslin  und  die  Trennungshaft. 


Man  setzte  überhaupt  der  Anstalt  immer  mehr  >die  Tarnkappe 
btireaukratischer  Geheim  thuerei«  auf,  verwies  dem  Vorstand  die 
Mittheilung  der  Jahresberichte  —  sogar  an  Mittermaier,  verbot 
den  Besuch  der  Anstalt  ohne  höhere  Erlaubniss,  den  Besuch  der 
Zellen  ohne  Begleitung;  man  verleugnete  halbamtlich  die  Vorzüge 
der  Einzelhaft,  sogar  in  der  Allgemeinen  Zeitung  (die  überhaupt 
der  Zellenhaft  soviel  möglich  entgegenwirkte,  was,  beihin  gesagt, 
seinen  Hauptgrund  hatte  in  der  Befreundung  ihres  verstorbenen 
Hauptredakteurs  mit  einem  der  heftigsten,  zudem  durch  Eigennutz 
mitbestimmten,  Gegner  derselben).    Man  begünstigte  die  Unbot- 
mässigkeit  der  übrigen  Beamten  gegen  den  Vorstand  planmässig, 
nicht  minder  wie  das  gegenseitige  Denunziren  Derselben  mittelst 
der  vorgeschriebenen  einzusendenden  Tagbucheinträge,  gab  dem 
Vorstand  auf  seine  Beschwerden  über  dienstwidriges  Verhalten  sei- 
ner Mitbeamten  und  unbefugte  Einmischungen  Derselben ,  die  man 
offen  begünstigte,  gelegentlich  nicht  einmal  Antwort,  Hess  seine 
Anträge  grossentheils  unberücksichtigt,  »ahndete  seine  Verranntheit 
in  Recht,  Gesetz  und  Menschenwohl  auch  finanziell  empfiudlich«, 
ärgerte  ihn  geflissentlich  und  verleidete  ihm  überhaupt  seine  Stel- 
lung dermassen,  dass  er  sie  endlich  aufgab,  so  aber  seine  seltne 
Kraft  dem  badischen  Gefängnissdienst  verloren  ging!    Diess  sind 
die  Umrisse  des  traurigen  Bildes,  das  uns  der  Verfasser  mit  ge- 
nauester Kennt  niss  und  meisterhaftem  Geschick  bis  ins  Feinste  aus- 
malt, zugleich  mit  einer  Wärme  dos  Kolorits,  wie  sie  nur  durch 
die  treueste  Befreundung  mit  dem  heimgegangenen  Märtyrer,  durch 
die  regste  Theilnahme  an  der  Einzelhaft  und  überhaupt  an  dem 
wahren  Besten  der  Gefangenen,  endlich  durch  die  sittliche  Ent- 
rüstung über  das  ganze  geschilderte  Verfahren,  sich  erklären  lässt. 
Die  Schrift  ist  ohne  Frage  ein  Beitrag  von  bleibendem  Werth  zur 
Geschichte  der  Entwicklung  des  Gefangnisswesens. 

K.  Röder. 


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Nr.  42.  *  HEIDELBERGER  1867. 

V 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

■^wwjjl^    i      ii    i  L.j.l.ii!m.,^iu  ^jl-jowm 

Quaesiionts  Valerianae  seripnt  0  ustavus  Meyncke.  Bonnae  apud 
Eduardum  Weberum  MDCCCLV.  8vo.  p.  56. 

Es  ist  noch  nicht  lange  her,  dass  man  eingesehen  hat,  wie 
bei  der  Herstellung  eines  alten  Schriftstellers  zu  verfahren  sei ;  vor- 
her hatte  Willkür  und  Urteilslosigkeit  hierin  geherrscht  zum  gros- 
sen Nachtheile  des  gelehrten  Publikums,  welches  so  nicht  im  Stande 
war,  die  wirkliche  Beschaffenheit  der  Ueborlieferung  zu  erfahren. 
Ob  man  die  eigenen  Worte  des  Classikers  oder  die  ihm  von  einem 
modernen  Leser  geliehenen  vor  sich  hatte;  ob  jene  aus  einer  neuen 
uud  interpolirten,  oder  aus  einer  alten  und  ungefälschten  Hand- 
schrift herrührten,  konnte  man  nie  wissen.  Jetzt  ist  durch  viele 
und  gründliche  Ausgaben  für  die  wichtigsten  Autoren  Sicherheit 
gewonnen;  ihnen  schliesst  sich  die  neueste  des  Valerius  Flaccus 
von  G.  Thilo  würdig  an;  wir  wollen  wünschen,  dass  der  in  man- 
chem Betracht  lesenswerthe  Epiker,  welcher  sich  an  poetischer  Be- 
gabung und  Kunst  über  seinen  griechischen  Vorgänger  Apollonius 
Rbodius  bedeutend  erhebt,  dadurch  in  weiterem  Kreise  als  bisher 
bekannt  werde,  da  ein  eingehendes  Studium  desselben  so  sehr  er- 
leichtert ist.  Freilich  hat  Thilo's  sorgfältige  Bearbeitung  auch  die 
starken  Verderbnisse,  in  welchen  die  Argonautica  auf  uns  gekom- 
men sind,  aufgedeckt  und  die  Nothwendigkeit  der  Conjektur  allent- 
halben Raum  zu  geben  dargethan.  Er  betrachtet  den  Vaticanus  3277 
als  die  einzige  zuverlässige  Tradition;  die  in  jüngern  codd.  vor- 
kommenden richtigen  Varianten  geben  ihnen  keinen  diplomatischen 
Worth,  da  sie  seiner  Ansicht  zufolge  durchgängig  Emendationen 
der  Italienischen  Gelehrten  sind,  die  im  15.  Jahrhundert  dem  kürz- 
lich von  Poggio  (1416)  entdeckten  Werke  grosses  Interesse  wid- 
meten und  eifrigst  bemüht  waren  es  lesbarer  zu  machen.  Aus  sol- 
chen Handschriften  ging  der  durchcorrigirte  Text  in  die  editiones 
principes  (Bononiensis,  Aldina)  über,  und  lag  den  spätem,  selbst 
von  N.  Heinsius  und  Burmann  ebenfalls  zu  Grunde,  erst  Th.  basirt 
seine  Diorthose  auf  jene*  ehrwürdigen  schon  im  9.  saec.  geschrie- 
benen cod. ,  der  demnach  eine  bedeutende  diplomatische  Sicherheit 
gewährt ;  da  diese  aber  mehr  negativer  Art  ist,  und  sonst  der  cod. 
den  Kritiker  sehr  häufig  im  Stich  lässt,  entsteht  die  Frage,  ob 
wirklich  keine  andern  Htilfsmittel  derselben  Gattung  existiren;  wir 
dürfen  sie  bejahen,  wenn  anders  Meyncke  hierüber  zu  haltbaren 
Resultaten  gelangt  ist. 

Als  wesentliches  Verdionst  der  Abhandlung  betrachten  wir 
nemlich  die  Beurtheilung  des  von  L.  Carrio  1565  benutzten,  bald 

LEX.  Jahrg.  9.  Heft.  42 


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Mcyncke:  Qufteet.  ValerUroae. 


darauf  aber  verschwundenen  cod.  0,  von  welchem  Thilo  annimmt, 
daas  er  nicht,  wie  Carrio  versicherte,  sehr  alt  gewesen,  sondern 
im  fünfzehnten  Jahrhundert  aus  dem  Vat.  abgeschrieben,  dann  aber 
durch  eine  Menge  schlechter  und  guter  Gonjecturen  der  Gelehrten 
jener  Zeit  umgestaltet  worden  sei.  Nun  will  M.  keineswegs  leugnen, 
dass  stellenweise  C.  interpolirt  war,  aber  bemerkt  dasselbe,  wenn 
auch  in  geringerem  Maasse,  im  Vat.  Wo  das  Original  unleserlich 
oder  unverständlich  war,  versuchte  man  sich  wohl  oder  übel  mit 
Conjekturen;  man  schrieb  wol  auch  zu  vielen  Versen  Parallel- 
stellen bei,  oder  glossirte  einzelne  Ausdrücke.  Die  aus  einer  sol- 
chen Vorlage  gemachten  Copieen  konnten  entweder  den  ursprüng- 
lichen, wenn  auch  lückenhaften  oder  sinnlosen  Text  wiederholen, 
oder  die  versuchte  Ergänzung,  wie  die  vermeinte,  vielleicht  auch 
wirklich  gelungene  Herstellung  annehmen;  sie  konnten  dem  Citat 
den  Vorzug  einräumen,  und  durch  die  Glosse  das  echte  Wort  ver- 
drängen. Dieses  Verfahren  erklärt  zwar  die  zahlreichen  Abweichun- 
gen in  den  Handschriften,  welche  nur  aus  einer  Quelle  geflossen 
sind;  in  vorliegendem  Falle  erhebt  sich  aber  doch  ein  Zweifel 
daran,  ob  der  Codex  des  Carrio  (C),  soweit  wir  ihn  aus  den  An- 
gaben dieses  Herausgebers  kennen,  wirklich  als  bloa  stark  inter- 
polirte  Abschrift  des  Vat.  zu  betrachten  sei,  wie  Thilo  behauptet, 
indem  ihm  alle  die  zahlreichen  Lesarten,  welche  er  selbst  aus  C 
aufzunehmen  nicht  umhin  konnte,  nur  wie  Conjecturen  erscheinen, 
welche  zu  machen  keine  Kunst  war  —  oder  bei  genauer  und  vor- 
urteilsloser Prüfung  ein  anderes  Verhältniss  der  beiden  wichtigten 
Fundamente  der  Texteskritik  sich  ergebe.  Nun  kommen  unter  den 
Varianten  des  C  eine  beträchtliche  Anzahl  vor,  die  viel  mehr  das 
Aussehen  einer  tiberlieferten  Lesart  als  einer  gelehrten  Vermuthung 
haben;  wie  I,  831  pontum  polumque,  wo  mancherlei  gerathen 
wurde,  ehe  man  das  richtige  erfuhr ;  Vat.  hat  da  eine  verunglückte 
Interpolation  potumque  Cretamque;  wie  II,  600  celeres  hic  prima 
piacula  ferte  manu,  weniger  bedeutet  in  Vat.:  hic  prima  pia  sol- 
lemnia  Phrixo  ferte  manu ;  in  III,  9  ist  die  Ergänzung  des  unvoll- 
ständigen Verses  cui  tradit  am i eis  zwar  nichts  weniger  als  sinn- 
gemäss, eben  darum  auch  keine  Interpolation,  sondern  Corruptcl, 
welcher  M.  geschickt  abhift  mit  Cyzicus.  abscessum  nunc  tardat 
aniicis;  ferner  ist  anzuführen  V,  134  quam  vexerit  amnis  in  aequor, 
schwerlich  durch  Emendation  entstanden  aus  quam  sanguine  ve- 
xerit amnis;  VI,  165  aut  is  apud  fluvios  volucrum  quatit  aethera 
clamor  für  aut  is  a.  f.  v.  clamor  aethera  quantus.  Es  ist  ein  sehr 
ansprechender  Gedanke  M/s,  VI,  163  —  165  vor  166—170  zustel- 
len, indem  er  mit  Benützung  der  angeführten  Lesung  des  C  und 
ausserdem  noch  concentus  agit  mit  demselben  schreibend,  einen 
bei  weitem  vorzüglichem  Zusammenhang  gewinnt ;  denn  jetzt  lesen 
wir,  wie  das  Geschnatter  der  Flussvögel  nicht  so  laut  als  der 
Schall  der  Zinken  zum  Himmel  dringt,  was  auch  nach  dem  Vor- 
gang zweier  andern  Vergleichungen ,  die  dieser  letzten  etwas  von 


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Meyncke:  Qu*est.  Valeriana. 


ihrem  Gewichte  abzugeben  bestimmt  sein  könnten,  schlechten  Ein- 
druck macht.  Ferner  erwühnen  wir  VI,  651  flcxit  in  admoti 
capat  in  fatumque  Monesi,  gewiss  dem  flexit  ad  ignotum  caput 
infletumque  M.  in  Vat.  sehr  vorzuziehen,  wenn  man  nur  adtoniti 
mit  M.  liest.  Ein  Uberaus  geschickter  coniector  war  erforderlich, 
um  aus  dem  Texte  des  Vat.  VII,  873  dat  dextram  blandique  pa- 
vens  vocem  Venus  quam  adloquiis  —  trahit  per  moenia  das  rich- 
tige dat  dextram  vocemquo  Venus  blandisque  paventem  adloquiis 
—  trahit  p.  m.  herauszubringen ;  der  Kritiker  der  Aldina ,  mit 
welchem  Thilo  die  Bedacteure  des  0  auf  gleiche  Linie  stellen  möchte, 
hat  mit  seinem  dat  dextramqne  blandeque  pavens  Venus  et  qua 
nur  einen  grossen  Abstand  von  jenem  verrathen.  In  VII,  533  würde 
ebenfalls  nicht  leicht  jemand  auf  heu  tantis  iterum  carpende  peri- 
clis  verfallen  sein,  wonn  er  h.  t.  i.  mihi  care  periclis  im  Manuscript 
fand. 

Diese  und  manche  andere  Beispiele  machen  die  Ableitung  des 
C  ans  V  unwahrscheinlich  und  führen  eher  darauf,  die  Existenz 
eines  andern  Originals  für  C  zu  vermuthen,  welches  theilweise 
einen  bessern  Text  als  V  hatte,  aber  auch  mitunter  noch  mehr 
entstellt  war  und  in  diesem  Fall  viele  unglückliche  Heilungsver- 
suche erfuhr,  die  in  die  Handschrift  Carrions  übertragen  wurden. 

Angelus  Pontianus  und  Baptista  Pius  benutzten  einen  Cod. 
oder  violleicht  auch  zwei,  welche  nicht  mit  V  stimmten,  vgl.  VII, 
201.  Ein  Bobiensis  wird  von  Muratori  Ant.  It.  III,  818  verzeich- 
net. Einer  von  diesen  mag  dem  C  zu  Grunde  gelegen  haben. 
Interpolationen  hat  nun  Thilo  in  grosser  Anzahl  aus  diesem  an- 
geführt, die  offenbar  keine  blos  handschriftliche  Lesarten  sein  können, 
sondern  eher  das  ungeschickte  Bemühen  verrathen,  in  verblichene  und 
unleserlich  gewordene  Schriftzüge  einen  Sinn  zu  bringen,  wie  II, 
283  nou  patriis  bustis  accendere  saltus,  HI,  359  agros  ad  patrios, 
VI,  208  gravitor  iacit;  bisweilen  wirkte  auch  eine  Eeminiscenz 
Übel  ein,  wie  V,  25  supremo  in  funere  aus  V,  226  und  VII,  160 
me  nunc  furiata  reliquit  aus  VIII,  443.  Hier  darf  man  nur  nicht 
übersehen,  dass  auch  im  V.  solche  Experimente  keineswegs  fehlen, 
vgl.  I,  831.  An  vielen  Stellen  bietet  aber  C  auch  Ergänzungen, 
wo  V.  defect  ist,  wie  I,  132  von  illaV,  197  placidus,  287  ingens 
VI,  300  quem  quaerit,  666  sensere,  VH,  211  levis,  welche  nebst 
zahlreichen  andern  sich  so  ungezwungen  dem  Gang  der  Bede  an- 
sdiliessen,  dass  man  nicht  leicht  an  eine  künstliche  Restitution 
denken  wird;  diese  dürften  nun  ebenso,  wie  das  oben  bemerkte 
erweisen,  dass  wir  in  C  kein  blosses  Magazin  von  Conjecturen  der 
verschiedensten  Qualität  zu  sehen  haben,  sondern  eine  auf  guter 
Tradition  beruhende,  wenn  auch  stark  alterirte  Quelle,  aus  welcher 
wenigstens  mittelbar  die  ältesten  Ausgaben  echtes  und  unechtes  pro* 
miscue  schöpften,  vgl.  Thilo  Prolegg.  p.  83  sq. 

So  viel  ist  gewiss,  dass  bei  der  grossen  Verderbtheit  des 
Textes  der  Divination  noch  ein  weiter   Spielraum  offen  steht; 


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C60 


Meyncke:  Quacst.  Valeriana^. 


durch  Thilo's  Vorgang  veranlasst  hat  Ph.  Wagner  (N.  J.  f.  Ph. 
89,  382  sqq.  sehr  dankenswert  he  Beiträge  geliefert;  auch  schon, 
ehe  Thilo's  Ausgabe  erschien,  im  Philol.  XX,  618  sqq.  mit  Bezug 
auf  Eyssenhardt's  emendationes  Valerianae,  Rh.  M.  XVII,  378  sqq. 
Ihm  ist  jetzt  Meyncke  mit  Glück  gefolgt. 

Unter  den  Vorschlugen  M.'s  werden  diejenigen  am  ersten  Ein- 
gang selbst  bei  scrupulösen  Richtern  finden,  welche  nur  geringe 
Aenderungen  verlangen,  wie  II,  16  vetus  ecce  denm  damnataque 
bello  Pallene  statt  metus  etc.  was  keinen  rechten  Sinn  gibt,  iuso- 
fern  Pallene  doch  nicht  metus  deum  heissen  kann;  der  Ort  war 
ihnen  nur  als  Schlachtfeld  der  Giganten  verhasst.  Zu  vetus  ver- 
gleicht M.  Val.  II,  633  und  Ovid.  Fast.  VI,  48.  Eben  so  anspre- 
chend ist  IV,  229  rapitur  für  lavitur :  der  Sieger  eilt  an  den  Fluss, 
um  sich  den  Staub  abzuwaschen  in  ähnlicher  Weise  als  Iason  VII, 
644  und  Achilles  bei  Statius  Achill.  I,  178;  ferner  VI,  191  rapit 
ille  pedem  für  r.  i.  necem,  was  von  dem  Krieger,  welcher  bedrängt 
den  von  ihm  verwundeten  und  an  den  Haaren  fortgeschleppten 
Moneses  fallen  lässt,  nicht  gesagt  werden  kann,  da  rapere  necem 
überall  Selbstmord  bedeutet ;  für  jenes  wird  Sen.  Med.  380  citirt ; 
feiner  viridis  circum  horrida  late  silva  tremit,  wo  man  bisher  nach 
Barth  viridi  (statt  viridis)  circum  horrida  tela  8.  t.  las,  mit  Ver- 
gleichung  für  late  von  Val.  III,  584,  V.  Aen.  IX,  379.  In  VII, 
552  wird  die  Tautologie  vellora  et  ipsa  terga  gehoben  durch  ipsa 
templa;  dass  das  Vliess  in  einem  Tempel  aulbewahrt  wurde,  sagt 
Valerius  V,  632,  VIII,  438,  welcher  Zug  ihm  eigentümlich  ist. 
V.  686  schreibt  M.  sehr  annehmlich  quantura  luet  und  deutet 
impia  =  scelera ;  auf  die  Medea  bezogen  konnte  das  Epithet  nur  zu 
verkehrten  Conjekturen  führen.  V,  480  gibt  propius  keinen  ver- 
nünftigen Sinn,  wohl  aber  das  naheliegende  promptus ;  VIII,  75 
passt  nicht  te  quoque  —  custos,  sondern  teque  o  —  custos,  und 
da  diesen  Medea  verächtlich  behandelt,  wird  miseraude  (meistande 
ut  V.)  gewiss  den  Vorzug  vor  den  vielen  von  me  staute  ausgehen- 
den Besserungsversuchen  verdienen. 

Auch  im  Rheinischen  Museum  (XXII,  362  sqq.)  theilt  M.  meh- 
rere eben  so  leichte  als  treffende  Emendationen  mit;  z.B.  V,  455 
setzt  er  an  die  Stelle  des  kaum  verständlichen  Minyas  operum  de- 
fixerat  error  den  horror,  vgl.  III,  74  und  226,  von  den  mord- 
lustigen Lemnierinnen,  die  ihre  Gatten  aufallen,  lautet  der  Bericht 
EL,  220  invadunt  aditus  et  quondam  cara  suorum  corpora  sehr 
sonderbar;  das  hebt  sich,  wenn  man  mit  M.  artus  liest.  Für  ante 
aperit  VII,  32,  was  zu  der  Aenderung  paratas  zu  nothigen  schien, 
bietet  er  ante  premit;  das  lächerliche  caicantem  lumiua,  VII,  536, 
verwandelt  er  in  calcare  volumina.  VIII,  54  kann  Iason  die  Medea 
nicht  bedauern,  wohl  aber  bewundern,  miseratur  muss  in  miratur 
übergehen.  Die  formale  Schwierigkeit  von  VIII,  232,  dass  Valerius 
nie  unanimis  braucht,  die  syntaktische,  dass  von  adsunt  nnanimes 
Venus  hortatorque  Cupido  auf  suscitat  noch  dazu  asyudetisch  ohne 


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Meyncke:  Quaeat.  Valerianac. 


681 


ein  demonstratives  Pronomen  anzuwenden  übergesprungen  wird,  ver- 
schwindet durch  M.'s  adnuit  unanimis. 

Einigemale  hilft  er  ohne  einen  Buchstaben  zu  ändern  durch 
Umstellung  von  Versen:  von  VI,  163  — 170  war  bereits  die  Redo; 
VII,  295,6  müssen  nur  beide  Hexameter  ihre  Plätze  vertauschen, 
so  bedarf  es  keiner  der  zahlreichen  hier  gemachten  Versuche; 
Medea  verbirgt  von  Zorn  und  Schamgefühl  ergriffen  ihr  Antlitz  im 
Kopfkissen  und  vernimmt  daher  nichts  von  dem ,  was  sie  nicht 
hören  mag,  V,  584—6  erhalten  die  rechte  Stelle  vor  606,  wo 
das  Gespräch  mit  einem  allgemeinen  Ausspruche  passend  endet; 
da,  wo  jene  Verse  sich  jetzt  befinden,  bat  Iason  noch  nicht  nach 
den  Helden  Aron  und  Jaxartes  sich  erkundigt,  worauf  Aeetes  das 
nöthige  erwiedert ;  also  wird  dieser  schwerlich  weiteren  Fragen  mit- 
telst einer  solchen  Andeutung,  wie  dort,  entgegen  getreten  sein. 

Sonst  bringt  der  Verf.  viele  Emendationen  vor,  die  auch  ohne 
auf  die  Aehnlichkeit  verwechselter  Schriftzüge  sich  zu  stützen, 
doch  vermöge  der  Angemessenheit  des  Sinnes  und  Ausdrucks  als 
solche  betrachtet  werden  dürfen.  II,  19  scheint  ihm  scopulis  tra- 
bibusque  Reminiscenz  aus  VI,  384,  welche  das  richtige  scopulis 
saxisque  verdrängt  habe,  desgleichen  II,  473  veteris  aus  II,  580 
wiederholt ,  und  zu  ersetzen  durch  felix  oder  florens.  Statt  des 
unpassenden  parco  corpora  Baccho  vermuthet  M.  amico  robora 
Baccho;  die  dadurch  enstehendo  Tautologie  vires  —  robora  findet 
ihre  Belege  in  III,  110,  VI.  18,  VIII,  101;  wozu  aber  VIII,  60 
oculos  et  lumina  nicht  gezählt  werden  darf,  vgl.  p.  37.  II,  413 
scheint  pressit  acu  kaum  möglich  und  expressit  der  erforderliche 
Ausdruck.  IV,  26—29  verbindet  M.  mit  der  Lesart  in  ed.  Bono- 
niensis:  limina  coeli  und  Dilthey's  Verbesserung  hoc  nemus  hou 
fatis  seine  eigene  iungit  socios  et  fontis  honores,  vgl.  Ovid.  Met. 
XIII.  949.  Auf  die  Handschrift  C  gründet  sich  IV,  175  dolor  et 
durae  consurgere  mentes,  vgl.  II.  165,  525;  dolor  für  dolet  (V) 
gibt  C,  welcher  doras  insurgere  mentes  hat ;  ohne  Zweifel  richtig 
ist  iuvat  statt  iubet  im  folgenden  Verse.  Nur  beiläufig  wird  IV. 
187  monitis  cessere  timentes  empfohlen.  V,  224  will  inde  canens 
nach  ineipe  cantus  nicht  recht  passen ;  sehr  sinnreich  ist  daher  die 
Abhülfe,  welche  M.  mit  Benutzung  von  Apollonius  II,  1153  angibt, 
iam  canens  Scythica  genitoris  Solis  zu  lesen.  Genitor  kann  der 
Sonnengott  beissen,  wie  bei  Aeschylus  Ch.  986;  canens  interpre- 
tirto  ein  Leser  mit  senior  iam;  war  das  einmal  in  den  Text  ge- 
rathen,  so  verlor  canens  seine  wahre  Bedeutung  und  der  scheinbar 
unmetrisch  gewordene  Anfang  dos  Verses  wurde  durch  inde  schein- 
bar berichtigt.  V,  571  ist  patitur  gut  mit  ponit  vertauscht.  Der 
VI,  614  in  die  angefüllten  Ställe  eingebrochene  Löwe  kann  nicht 
famem  spargere  aber  saniem,  wobei  que  wegfallen  muss;  und  der 
Soldat,  welcher  ein  grosses  Blutbad  anrichtet,  bewirkt  nicht, 
dass  pugnae  rarescunt;  die  Metonymie  pugna  für  acies  ist  ja  un- 
möglich, sondern  dass  sie  crudescunt.    Zu  VII,  533  ist  o  tandem 


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662 


Meynckc:  Quaeat.  Valeriana«. 


statt  o  utinam,  und  549  in  pestem  Graiüra  für  parti  Qraiüm  za 
erwähnen.  In  Rh.  M.  p.  371  schreibt  M.  sehr  angemessen  madent 
für  meant  VI,  362,  wo  dieses  nicht  so  viel  als  e  mann  in  manum 
migrant  heissen  kann,  und  ib.  364  inlicet  (inlicit)ire  III  63  nach 
Vat.  indiciere.  Eine  der  schlagendsten  Verbesserungen  möchte 
noch  ib.  371  sq.  das  an  die  Stelle  des  vielbesprochenen  ille  dies 
VI,  356  getretene  diluvies  sein.  Burmann's  Auffassung,  welche  Thilo 
billigt,  dass  die  Winde  sich  streiten,  quem  sequatur  ille  dies  ist 
höchst  gezwungen.    Für  sequatur  würden  wir  sequetur  vorziehen. 

In  der  verhältnissmllssig  grossen  Anzahl  dieser  lectiones  Va- 
lerianae  finden  sich  nach  unserm  Gefühl  nur  wenige,  gegen  die 
etwas  eingewendet  werden  könnte.  Zweifelhaft  scheint  es  ob  I, 
211  per  quot  discrimina  rerum  expedior  in  pro  q.  d.  r.  experior 
zu  verandern,  und  damit  das  glückliche  Bestehen  vieler  Gefahren 
angedeutet  sei;  in  derselben  prophetischen  Rede  des  Mopsus  hat 
man  223  bei  quem  circum  vellera  Martern  aspicio  wohl  an  den 
Kampf  zu  denken,  welchen  Iason  mit  dem  Drachen  zu  bestehen 
haben  wird,  und  es  bedarf  dann  nicht  der  Correktur  quod  c.  v. 
monstrum  asp.  II,  250  muss  man  laesi  von  der  nicht  erfolgten 
Rache  der  Thracier  verstehen,  die  von  den  Lemniern  bekriegt  und 
stark  beschädigt  worden  waren ;  mit  saevi  wäre  kein  bedeutender 
Gedanke  gewonnen.  EU,  321  wird  darum,  weil  Clita  ganz  wie  die 
Homerische  Andromacho  in  ihrem  Gatten  zugleich  Vater  und  Bruder 
verloren  zu  haben  klagt,  doch  nicht  fraternas  rapuero  domos  ge- 
lesen werden  müssen,  vielmehr  liegt  in  natales  —  domos  nach 
patrem  die  von  M.  selbst  p.  37  bei  Valerius  öfter  wahrgenommene 
Tautologie.  V,  187  nimmt  er  Anstoss  an  dem  Pario  de  marmore, 
wie  Maserius  mit  Burmann's,  Heinsiu's  und  Thilo's  Beifall  das  hand- 
schriftliche parvo  de  marmore  corrigirte,  und  schlägt  pariter  de 
marmore  vor;  vgl.  Rh.  M.  365.  II  466  zeigt  wenigstens,  dass  der 
Dichter  von  Bildsäulen  mit  Parischem  Marmor  sprechen  konnte. 
V,  246  will  M.  haec  tua  für  haec  tibi,  so  würde  tua  dreimal  wie- 
derholt, aber  ohne  auch  haec  an  zweiter  Stelle  zu  repetiren  würde 
so  oine  grosse  Härte  entstehen.  Vielleicht  ist  vor  haec  tibi  ein 
Vers  ausgefallen  und  das  Asyndeton  genitor  tutela  zu  tilgen  durch 
pater  et  tutela.  V,  329  ist  zwar  sorto  für  forte  sehr  leichte  Aen- 
derung,  aber  da  326  sorte  potit  hervorgeht,  stört  die  Wiederkehr 
des  Wortes,  welches  auch  zu  der  Sendung  des  Traumes  nicht  recht 
passen  will;  Ref.  dachte  an  ante  deum  etc.  ehe  noch  Iason 
zu  Aeetes  ging,  erhob  sich  Medea  von  ihrem  Lager,  um  sich  vor 
den  Wirkungen  jenes  Traums  zu  sichern. 

Ein  vorzügliches  Hülfsmittel  der  Valerianischen  Kritik  findet 
M.  noch  in  der  Nachbildung  des  Statins.  Er  macht  zu  H,  151 
darauf  aufmerksam,  dass  die  Emendation  von  N.  Heinsius  hos  aliis 
forsan  solabero  casus  tu  thalamis  statt  hos  tales  f.  8.  c  t.  t.  eine 
Bestätigung  erhalte  durch  Thob.  V,  138  ipsa  faces  alias  meliora- 
que  foedera  iungam,  woran  ihr  Urheber  sich  selbst  nicht  erinnerte. 


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Pin  der:  Der  Fünfkampf  der  Hellenen.  603 

Zu  II,  233,  welche  Stelle  Theb.  V,  172  imitirt  ist,  bemerkt  M. 
wol  mit  Recht,  dass  nicht  it  cruor,  wie  Sabellicus  wollte  und 
Thilo  aufgenommen  hat,  auch  nicht  his  er.  nach  den  Handschriften, 
sondern  hinc  er.  zu  lesen  sei.  Dem  Valerius  selbst  schwebte  hier 
Soph.  El.  95  vor.  Ausser  seinem  griechischen  Vorbild,  welchem 
er  ohne  dessen  Ostentation  mythologischer  Gelehrsamkeit  zu  theilen 
in  der  Anlage  meistens  folgt,  sucht  er  besonders  aus  Vergil  ge- 
eignetes zu  übertragen;  der  Sturm  im  ersten  Buoh  der  Aeneide 
kehrt  im  ersten  der  Argonautika  wieder  und  selbst  die  Aeolische 
Insel  und  Neptun  fehlt  nicht.  Auch  eine  Benutzung  des  Lucan 
(VII,  5)  weist  M.  VI,  31  nach,  und  verwendet  jene  Stelle  zugleich 
zur  Correktur :  tunc  gens  quaeque  suis  commiscet  proelia  telis  statt 
tunc  et  quisque  suis  commisit  proelia  telis,  was  keinen  erträglichen 
Sinn  gibt.  Kayser. 


Ueber  den  Fünfkampf  der  Hellenen  von  Dr.  Eduard  Pin  der.  Mit 
sncei  Abbildungen.  Berlin  Verlag  von  Wilhelm  Herls.  (Bmer- 
sehe  Buchhandlung)  1867.  136  pgg.  8vo. 

Der  Verfasser  dieser  Schrift  glaubt  in  einer  Stelle  des  Philo- 
stratus  X€qI  yv^iaöTixrjg  den  bisher  vermissten  Aufschluss  über  die 
Folge  der  fünf  Kämpfe  des  Pentathlon  gefunden  zu  haben,  wodurch 
ihm  sowohl  möglich  werde,  die  sehr  divergirenden  Ansichten  von 
Boeckh  und  Hermann  zu  beurtheilen  als  auch  hinsichtlich  der 
Forschungen  Späterer  nach  jenen  Koryphaeen,  wie  Philipp's  de 
pentathlo,  E.  Meier'  s  (in  der  AI  lg.  Encykl.)  Olympische  Spiele, 
Krause's  Gymnastik  und  Agonistik  der  Hellenen,  und  des  Unter- 
zeichneten Becension  des  Krause'schen  Werkes  (in  den  Wiener 
Jahrbüchern  Bd.  95),  > welche  neue  und  befriedigende  Resultate 
nicht  gehabt  haben,«  zur  Tagesordnung  überzugehen.  Dass  über 
die  Bostandthoilo  des  quinquertium  keine  Controverse  besteht,  wenn 
auch  einige  unwissende  Scholiasten  meinten,  das  Pankration  ge- 
höre dazu,  dürfen  wir  als  bekannt  voraussetzen.  Der  Irrthum 
gründet  sich  vielleicht  (vgl.  p.  23)  auf  H.  Od.  &.  186  sqq.  Wohl 
aber  hat  die  Stelle  Pind.  N.  VII,  70  Anlass  gegeben,  nach  der 
Reihenfolge  der  den  Pentathlos  bildenden  Kämpfe  zu  fragen. 
P.  referirt  p.  52 — 58  ausfuhrlich  die  Meinungen,  die  von  den  Inter- 
preten des  Lyrikers  geäussert  worden  sind,  zieht  dann  auoh  Herod. 
IX,  33  und  Paus.  III,  11  zu,  von  welchen  man  auch  früher  schon 
Gebrauch  gemacht  hat,  erweist  aus  Paus.  VI,  14, 13  dass  Tisamenus 
allerdings  von  Hieronymus  besiegt  wurde,  gelangt  aber  schliess- 
lich zu  dem  Ergebniss,  allen  bisherigen  Vermuthungen  stehe  die 
beinahe  unerklärlich  scheinende  Thatsache  entgegen,  dass  das  Un- 
terliegen in  vier  einzelnen  Kämpfen  in  dem  mythischen  Pentathlon 
dem  Peleus  den  Gesammtsieg  nicht  unmöglich  machte,  c  Freilich 


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664 


Pin  der:  Der  Fünfkampf  der  Hellenen. 


durfte  man  niobt  mit  Hermann  glauben,  der  Sieger  im  Pentathlon 
habe  immer  in  allen  fünf  Theilen  seinen  Gegner  überwunden,  denn 
sonst  wäre  auch  Hieronymus  nicht  gekrönt  worden,  welcher,  zu- 
folge der  Annahme  unseres  Verf.  nur  im  Kingkampf  siegte;  aber 
auch  Boeckhs  Vorstellung  ist  nicht  annehmlich,  in  jenem  Falle  seien 
sich  beide  Athleten  gleichgekommen,  was  aber  schon  durch  Paus. 
VI.  14,  18  widerlegt  wird.  Auch  Philipp's  System,  welches  bereits 
Butgersius  hatte,  und  auf  welches  Ree.  unabhängig  von  beiden  längst 
verfallen  ist,  hält  P.  nicht  für  glücklich,  «  Denn  wenn  die  Ueberzabl 
der  Siege  in  den  einzelnen  Theilen  entschied,  so  konnte  diese  schon 
im  dritten  Kampf  erreicht  sein  und  die  beiden  letzten  blieben 
gegenständ*-  und  interesselos  ebensowohl  für  den,  der  bereits  Sieger 
war,  als  für  den  der  es  nicht  mehr  werden  konnte.  Andrerseits 
konnte  jeder  Einzelkampf  einen  andern  Sieger  ergeben,  oder  je 
zwei  denselben,  der  fünfte  einen  dritten,  wo  war  dann  eine  Ueber- 
zabl von  Siegen?«  Dagegen  kann  eingewendet  werden,  dass  häufig 
die  Mehrzahl  erst  am  Ende  sich  ergab,  und  wir  über  das  Verfahren 
der  Hellanodiken ,  wenn  die  Preise  billigerweise  mehr  als  einem 
Athleten  ertheilt  werden  mussten ,  nicht  unterrichtet  sind.  Was 
aber  die  Erzählung  Herodot's  betrifft,  zu  welcher  Pausanias  gewisser- 
massen  den  Coramentar  liefert,  darf  man  sich  wundern,  wie  sie 
von  vielen  Gelehrten  missverstanden  werden  konnte :  na$  av  Jtalaiafxu 
heisst  nicht  dasselbe  was  naoa  tiovrjv  rrjv  itafa]v ,  sondern  der 
Ringkampf  bestand  aus  drei  Gängen  (Plat.  Phaedr.  256,b),  von 
welchen  aber  der  letzte  die  Entscheidung  brachte :  mochte  auch  der 
Gegner  vorher  zweimal  überlegen  gewesen  sein,  er  galt  doch,  wenn 
ihm  das  dritte  7takaiG\ka  misslang,  für  tiberwunden.  Hätte  Tisamenus 
dieses  noch  glücklich  bestanden,  dann  würde  er  und  nicht  Hiero- 
nymus den  Preis  erhalten  haben;  denn  tu  övo  t]v  ng&cog.  Der 
Sieg  des  Hieronymus  war  mithin  erst  dadurch  gewonnen,  wenn  er 
ebenfalls  noch  in  zwei  Kampfarten  seine  üeberlegenheit  darthat, 
und  so  ta  tqCcc  den  Gegensatz  zu  ta  övo  bildeten. 

Doch  soll,  wie  schon  bemerkt,  der  einzige  Weg,  der  zu  einer 
Lösung  der  Frage  fuhren  kann,  erst  erschlossen  sein  seit  der  Auf- 
findung der  Schrift  des  Philostratos.  Dieser  sagt  cap.  3  ed.  Darem- 
berg.  »Vor  Iason  und  Peleus  erhielten  Sieger  im  Sprung,  Diskus, 
Wnrfspiess  besondere  Preise.  Telamon  war  nun  der  beste  Diskus- 
werfer, Lynkeus  der  beste  axovxiöxrig,  im  Lauf  und  Sprung  zeichneten 
sich  die^  Boreaden  aus ;  Peleus  hatte  in  allem  dem  nur  den  zweiten 
Rang  (rjy  öevrsoog),  Übertraf  aber  die  anderen  im  Ringen.  Ihm 
zu  gefallen  vereinigte  zuerst  Iason  tec  tcevxs  als  die  Argonauten 
in  Lemnos  Wettspiele  aufführten  und  Peleus  ging  so  als  Gesammt- 
sieger  aus  diesem  Complex  von  früher  getrennten  Agonen  hervor. 
P.  meint  es  gut  mit  Philostrat,  wenn  er  aus  ihm  die  Aufklärung 
über  einen  lang  dunkel  gebliebenen  Punkt  der  agonistischon  Alter- 
thtimer  herleiten  möchte;  der  Mythus  ist  auch  ganz  artig,  aber  P. 
beweist  eigentlich  nur,  dass  er  selbst  kein  Rechenmeister  ist.  Wenn 


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Pin  der:  Der  Fünfkampf  der  Hellenen 


Peleus  im  Ringen  der  erste  war,  in  den  andern  Theilon  des  Pen- 
tathlon der  zweite,  die  übrigen  Heroen  dagegen  ausser  in  dereinen  Gat- 
tung, worin  sie  excellirten,  auf  einer  tiefem  Stufe  standen  als 
Peleus,  mus8te  er  ja  notbwcndig  im  Pentathlon  einen  Vorzug  vor 
allen  behaupten,  statt  früher  nur  in  der  %dlt\  zu  siegen,  sonst 
aber  besiegt  zu  werden. 

Der  Ringkampf,  glaubt  P.,  wurde  im  Pentathlon  an's  Endo 
gestellt,  vorher  ging  der  Wurf  des  Diskus;  p.  74—77.  Doch  kann 
man  die  Stelle  Xen.  Hell.  VIT.  4,  28  nur  von  der  Folge  des  Ringens 
auf  den  Lauf  (ra  ÖQOfuxd)  verstehen ;  dass  die  Zuschauer  bei  diesem 
fünffachen  Agon  ihre  Platze  verlassen  mussten,  wenn  der  vermeint- 
lich letzte  Theil  begann,  ist  nicht  glaublioh,  Xenophon  berichtet, 
was  P.  merkwürdigerweise  ganz  übersieht,  einen  Ausnahmsfall, 
verursacht  durch  den  Angriff  der  Eleer  auf  die  Arkader  und  Pi- 
saten,  die  sich  die  Leitung  der  Olympischen  Spiele  angemasst 
hatteu;  wäre  diese  damals  nothgedrungene  Aenderung  sonst  üblich 
gewesen,  hätte  der  Geschichtschreiber  keinen  Grund  gehabt,  sie  zu 
erwähnen.  Gewaltsam  deutet  P.  rec  ÖQOfiixd  als  denjenigen  Theil 
des  Pentathlon,  »deren  Ausführung  im  ÖQopog  stattfand,«  was  er 
übrigeus  für  »einfach«  hält. 

Eine  weitere  Schwierigkeit  erhebt  sich,  wenn  der  Verf.  die 
Vorstellung  geltend  machen  will,  es  seien  der  Kämpfer  in  dem 
Pentathlon  allmählig  weniger  geworden,  und  zuletzt  nur  zwei  Ringer 
übrig  geblieben.  Demnach  hätten  die  in  den  ersten  Theilen  minder  glück- 
lichen die  Befriedigung  wenigstens  in  den  letzten  einen  Vorzug  zu 
zeigen,  nie  haben  können.  Nichts  kann  Plut.  Symp.  IX,  2  beweisen,  als 
dass  ein  sehr  ausgezeichneter  Athlete  dieser  Gattung  immer  mehr 
Anerkennung  finde  und  schliesslich  alle  Mitkämpfer  tibertreffen 
konnte,  wio  das  a  die  übrigen  Buchstaben,  und  auch  in  gloichem 
Maass  die  Inferiorität  der  übrigen  mehr  und  mehr  ans  Licht  trat, 
aber  nichts  zwang  diese  sich  aus  dem  Wettkampf  zurückzuziehen. 
Das  Institut  der  Ephedrie  scheint  P.  übersehen  zu  haben ;  von  der 
Zweiheit  der  Ringer  schliesst  er  aber  sehr  kühn  zurück  auf  die 
Dreiheit  der  Diskobolen,  die  er  scheinbar  begründet  durch  die 
Notiz  bei  Pausanias,  VI,  19,  4  dass  jlrei  Disken  in  dem  Thesauros 
der  Sikyonier  aufbewahrt  wurden,  otiovg  h  xov  nevtad-kov  xo 

Wir  sehen,  wie  es  mit  den  Argumenten  steht,  welche  P.  aus 
den  angeführten  Stellen  entnohmen  zu  können  behauptet;  aber 
seiner  Sache  ganz  gewiss  proklamirt  er  p.  52  :  »Das  hier  dargestellte 
System  ist  das  einzige,  durch  welches  ein  solcher  Sieg,  wio  ihn 
Peleus  nach  dem  Mythos  erfochten  haben  soll,  möglich  wird,  es 
ist  ein  dem  Gleichniss  von  dem  Vorzuge  des  a  vor  allen  andern 
Buchstaben  entsprechendes,  es  erhält  eine  besondere  Stütze  iu  der 
Nachricht  bei  Pausanias  von  den  drei  Disken  im  Pentathlon.  Dieses 
System  also  einer  sich  fortschreitend  vermindernden  Kämpferzahl 
je  nach  der  geringeren  oder  höheren  Leistung  der  Einzelnen  in 


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66« 


Pin  der:  Dar  Fünfkampf  der  HeHenen 


den  einzelnen  stellt  das  Ergebnies  eines  Siegers  und  zwar  nur  eines 
Siegers  in  jedem  Pentathlon  fest.  —  Auch  die  Durchführung  aller 
Theile  ist  durch  dieses  System  gesichert.«  Und  doch  sind  diese 
Resultate  unrichtig  und  beruhen  nicht  auf  den  hier  angewandten 
Thatsachen. 

Er  fahrt  in  dem  nun  folgenden  Abschnitt:  »Erklärung  des 
SolbBtvergleiches  des  Pindar  mit  einem  Peutathlos  (Nem.  VII,  70) 
in  Gemässhoit  des  vorgeschlagenen  Systems«  so  fort:  »Die  Be- 
trachtung kehrt  zu  dem  Punkte  zurück,  von  welchem  sie  ausging. 
Wenn  das  vorgeschlagene  System  eine  innere  Wahrheit  hat,  so 
muss  es  auch  zu  der  Erklärung  jenes  Vergleiches  bei  Pindar  dienen, 
welcher  ohne  Hypotheson  und  Conjckturen  über  die  Natur  des  dem 
Pentathlon  zu  Grunde  liegenden  Systems  nicht  gedeutet  werden 
könnte«  etc.  Und  was  ist  die  Erklärung  des  Verf.?  Abermals 
eine  solche,  wobei  der  Sprache  Gewalt  angothan  wird.  Pindar 
schwört  1.  c.  firj  tfoua  agoßag  axovtf  ane  %akxonaQaov  oqöui 
&oav  yk&Gtfav,  og  s^enefi^ev  7taXcu<S[ucT(ov  av%iva  xal  ö&dvog 
döcavtov  atfrovi  xqIv  aXca  yvtov  i^imöstv.  Hält  man  diese^Stelle 
mit  der  Pyth.  I,  42  zusammen,  ilnopai  ^irj  %akxQ%<tQaov  **<>v& 
coCeCt  dyavog  ßaXetv  ifa  xalauct  dovi&v,  uuxqu  dl  §fya$  dfuv- 
Gaotf  dvxCovg,  so  ergibt  sich  d  ie  Aehnlicbkeit  beider,  dasa  Pindar 
einen  zu  weiten  Spoerwurf  mit  einer  Uebertreibung  im  Urtheile 
verglich.  Die  Pentathlon,  welche  über  den  Kampfplatz  hinaus- 
warfen in  P.  I,  42  kommen  auf  den  heraus,  welcher  N.  VII,  71 
als  reglet  ngoßag,  worin  P.  irrig  den  Vorwurf  des  Frevels  erkennen 
will,  bezeichnet  ist.  Der  zu  weite  Wurf  gibt,  wenn  er  auch  ein 
Beweis  von  Stärke  ist,  doch  keinen  Anspruch  an  den  Siegeskranz, 
weil  auch  das  Ziel  getroffen  sein  muss,*)  welches  entfernt  genug 
war,  um  eine  bedeutende  Kraft  des  Athleten  zu  erfordern.  Wer, 
wenn  auch  weiter  geworfen,  doch  die  Aufgabe  dieses  Theiles  vom 
Pentathlon  nicht  erfüllt  hatte,  vorlor  den  Preis  dafür,  keineswegs 
aber,  wie  auch  Dissen  und  andere  wähnten,  konnten  dadurch  die 
Mitbewerber  von  dem  Ringkampfe,  der  »letzten  und  schwersten 
Partie  des  quinquertium  abgeschreckt  werden.  Diese  Ansicht  ist 
nun  auch  nicht  die  P.'s,  wol  aber  meint  er,  ein  ungehöriger  Lan- 
zenwurf, odor,  nach  seiner  Vorstellung,  gar  ein  frevelhafter,  habe 
den  Kämpfer  selbst  vom  Weiterkampf  ausgeschlossen.  Diese  Be- 
deutung von  exTTHtTTHv  wäre  erst  noch  zu  belegen.  Die  Wirkung 
eines  solchen  Wurfes  soll  auch  gar  nicht  besprochen  werden,  son- 
dorn  er  selbst  wird  bewirkt  durch  einen  mit  Leichtigkeit  aus- 
geführten, also  noth wendig  vorausgegangenem  Ringkampf:  ein 
solcher  lässt  ein  ungewöhnliches  Mass  von  Kraft  übrig ;  der  äxov 
leitete  aus  den  TtaXaiöfiata  den  Peutathlos  über,  ehe  er  noch  mürbe 
gemacht  seinen  Nacken  fühlte,  ehe  er  noch  die  Gluth  der  Sonne 


*)  Der  Speerwurf  in  Pentathlon  hatte  dieselbe  Gesetze,  wie  der  ver- 
einzelte, vgl  0  XI,  74,  XIII,  90. 


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P Inder:  Der  Fünfkampf  der  Hellenen.  667 

empfand,  daher  der  Wurf  wenigstens  eine  gewaltige  Kraftfülle,  von 
seiner  Zweckmassigkeit  abgesehen,  bewies.  P.  interprotirtr^ta  ngoßag 
als  Verletzung  des  Anlaufes,  wodurch,  um  nicht  von  der  falschen 
Auffassung  des  i&Ttepipsv  naXaLöfidtcov  zu  sprechen,  die  darauf 
folgende  Schilderung  eines  noch  frischen  Kampfers  ganz  müssig 
und  unnütz  wird. 

Mithin  wird  die  Folge:  alaa,  dpopog,  nato],  äxav,  dfoxog 
zunächst  für  die  drei  mittleren  Agone  feststehen  und  hiermit  auch 
für  die  beiden  übrigen  jeder  Zweifel  wegfallen. 

Was  der  Verf.  in  dem  Abschnitt:  »Der  Sprung,  der  Speer 
—  und  Diskoswurf  als  Theile  des  Pentathlon  q.  96— 114  vorbringt, 
darf  als  haltbar  gelten  mit  Ausnahme  der  Behauptung,  die  wir  so 
eben  bestritten  haben.  Auf  p  115,  116  gibt  der  Verf.  eine  Ueber- 
sicht  vom  Verlauf  des  Pentathlon,  natürlich  als  Resultat  der  neuen 
Entdeckungen  darüber.    Ein  Missverständniss  des  Philostrat  §.  55 

cC   VOflOl    —    OV    —    %Vy%G)QOVGl    ÖltAliTOEtV    TO    JTjJdl/fMK,  TjV 

4  <jr. ag  ipj  tov  ?%vovg  verrathen  die  Worte:  »nach  dem  Nieder- 
spruug  untersucht  das  strenge  Gericht  der  Droimänner  erst  genan 
die  Spur  der  Füsse.  Dann  werden  die  gethanen  Sprünge  dem  Volk 
Torktindigt  «  Denn  1.  c.  meint  der  Schriftsteller,  jene  Bedingung 
des  sichern  Niedersprungs  sei  den  Bewerbern  um  den  Preis  gestellt 
worden,  in  der  Weise,  dass  wer  sie  nicht  bei  den  Vorübungen  er- 
füllte, zum  Wettkampf  gar  nicht  zugelassen  wurde.  Dass  auf  den 
Sprung  der  Akon  folgte,  ist,  wie  alles  weitere,  individuelle  Vor- 
stellung Pinder's.  Es  folgt  ein  Verzeichniss  sämmtlicher  Pentath- 
lon, von  welchen  wir  Kunde  haben  :  zuerst  die  in  bekannten  Olym- 
piaden, dann  die  in  unbestimmten  aufgetretenen  Olympischen  Fünf- 
kämpfer. Darunter  ist  nur  ein  Knabe,  weil  das  nivra&kov  Ttaiötov 
nur  in  der  38.  Olympiade  vorkam,  dann  wieder  aufgehoben  wurde. 
Iirthümlich  sagt  P. :  »nach  Pausanias  V,  9,  1  und  Philostratos 
de  Gymn.  c.  XIII.  veranlasste  die  Eifersucht  über  diesen  lacedao- 
monisohen  Sieg  die  Eleier  den  Knabenfünfkampf  sofort  wieder  auf- 
zuheben.« Daselbe  ist  p  32  zu  lesön.  Aber  beide  Schriftsteller 
wissen  von  einem  solchen  Motive  nichts.  Zu  den  Siegern,  deren 
Jahre  nicht  genau  bestimmt  werden  können,  gehören  Damaretos 
von  Heraea,  sein  Sohn  und  Enkel,  beide  Theopompos  genannt ;  der 
Grossvater  war  Hoplitodrome,  der  Sohn  Pentathlos,  der  Enkel 
Ringer.  Was  Pausanias  VI,  10,  4  davon  sagt,  hat  Philipp  de 
quinquertio  nicht  verstanden  und  Pinder  wenigstens  falsch  tiber- 
setzt, weil  er  die  bei  diesem  Autor  gewöhnliche  Ellipse  nicht 
kennt.  Denn  SeonofutG»  öh  tcS  dapaghov  xal  erutfrs  ixstyov 
itaidl  op&vvpG)  in\  nsvxa&ka,  '  ®eoTt6pit(p  r<p  devri^tp  Tcdlrjg 
iyivovxo  aC  v'txat  heisst  nicht:  »Der  Vater  Th.  und  wieder  dessen 
Sohn  im  Pentathlon ;  die  Siege  des  Sohnes  aber  waren  Ringsiege,« 
sondern  dem  Vater  Th.  und  wieder  dessen  gleichnamigem  Sohn  ge- 
langen Siege;  dem  einen  (ersten  Th.)  im  Pentathlon,  dem  zweiten 
Theopompos  im  Ringen.    P.  tadelt  mit  Recht  Philipp's  Einfall  vor 


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668 


Zink:  Der  Mytholog  FulgentitiB. 


itdXvg  ein  xai  einzuschieben,  wenn  er  aber  selbst  glaubt  riß  fuv 
dürfe  vor  nswdftXco  nicht  fehlen  und  Rutgers,  der  dasselbe  ver- 
langte, habe  nicht  ungeschickt  conjicirt,  so  verweisen  wir  ihn  zu 
besserer  Instruktion  auf  das  > Zeitschrift  für  Alterthumswissenschaft 
1848,  p.  1097<  bemerkte.  Unrichtige  Schreibung  ist  Klearestos 
für  Klearetos;  nicht  nur  Rutgers,  sondern  auch  Schubart  liest  so 
Paus.  VI,  IG,  9.  Dass  die  Zahl  der  PentatblonkHrapfer  in  Nemea 
und  auf  dem  Isthinos  möglicherweise  noch  um  den  Antiochus  ans 
Lepreon  bereichert  werden  könnte,  wenn  nämlich  mit  Schulart 
und  Dindorf  Paus.  VI,  3,  9  ölg  mvtd&Aa  zu  lesen  gestattet  w&re, 
das  ist  der  Verfasser  wol  gar  nicht  gewahr  geworden. 

Kayser. 


Oer  tiytholog  Fulgentius.  Ein  Beilrag  zur  römischen  Literatur- 
geschichte und  zur  Grammatik  des  afrikanischen  Latein?.  Von 
Dr.  Michael  Zink,  k.  Studienlehrer.  Würzburg,  A.  Stuber' s 
Buchhandlung.  96  S.  in  gr.  4. 

Diese  Schrift  zerfallt,  wie  schon  der  Titel  andeutet,  in  zwei 
Theile:  der  eine  verbreitet  sich  über  einen  Schriftsteller  der  spä- 
teren römischen  Zeit,  dessen  Heimath  Africa  war,  der  andere  nimmt 
daraus  Veranlassung,  die  Sprache  dieses  Schriftstellers  nach  ihren 
Eigenthümlichkeiteu  im  Einzelnen  naher  zu  verfolgen  und  damit 
die  sogeuannt  Afrikanische  Redeweiso  ins  Licht  zu  setzen,  wie  diess 
unlängst  durch  eine  ähnlicho  Schrift  über  die  Ausdrucksweise  des 
Appulejus  (von  Kretschmann)  geschehen  ist.  Was  den  ersten  Theil 
botrifft,  oder  die  Erörterung  über  Loben  und  Schriften  des  Ful- 
gentins,  so  hat  Ref.  früher  den  Gegenstand  in  einem  Artikel 
der  Halle'schen  EncyklopHdie  Sect.  I.  Bd.  LI.  S.  26  ff.  behandelt, 
welcher  dem  Verfasser  unbekannt  geblieben  zu  sein  scheint,  da  er 
sonst  manche  Erörterung  über  das,  was  dort  schon  erwiesen  ist, 
sich  hatte  ersparen  können.  An  einigen  abweichenden  Punkten 
fohlt  es  nicht:  wir  haben  hier  derselben  in  der  Kürze  zu  geden- 
ken. Den  Namen  des  Schriftstellers  stellt  der  Verf.  in  Ueberein- 
stimmung  mit  dem  Ref.  nach  der  handschriftlichen  Ueberlieferung 
fest  in  Gajus  Fabius  Planciades  Fulgentius,  und  wenn 
er  weiter  diesen  Fulgentius  von  dem  Bischof  dieses  Namens  zu 
Rüspe,  so  wie  von  einem  andern  Fulgentius  (Ferrandns),  dessen 
Schüler,  unterschieden  wissen  will,  so  hat  Ref.  diesen  Unterschied 
sowohl  an  dem  angeführten  Ort  als  in  seiner  Geschichte  der  Römischen 
LiteraturSuppl.il.  (Christi.  Röm.  Theologie)  §  1 84  ff.  mit  aller  Evi- 
denz, wie  er  glaubt ,  nachgewiesen,  so  dass  selbst  die  neueren,  dem 
Verf.  ebenfalls  nicht  bekannten  Versuche,  den  Grammatiker  mit 
dem  Bischof  zu  identificiren  (Jahrbb.  d.  Philol.  XLIII  p.  79  ff.), 
schwerlich  ein  anderes  Resultat  hervorrufen  werden.    Dass  ausser 


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Zink:  Der  Mytholog  Fulgentius. 


diesen  beiden  noch  andere  Männer  und  Gelehrte  mit  dem  Namen 
Fulgentius  in  der  spateren  römischen  Zeit  bis  in  den  Beginn  des 
Mittelalters  vorkommen ,  die  aber  alle  von  dem  Grammatiker  zu 
unterscheiden  sind,  hat  lief.  a.  a.  0.  ebenfalls  gezeigt.  Dass  der 
Grammatiker  nach  Afrika  gehört,  dort  als  Lehrer  lebte  und  wirkte, 
hat  Ref.  gleichfalls  nachzuweisen  gesucht  und  findet  sich  darin  mit 
dem  Verf.  (§.  3)  im  Einverständniss,  welcher  ebenfalls  in  Fulgen- 
tius einen  Lehrer,  und  zwar  einen  öffentlich  angestellten  zu  Car- 
thago  erkennt,  der  aber  dnrch  die  Vandalische  Occupation  seine 
Lehrstelle  verloren  (welches  letztere  wir  jedoch  nicht  zu  beweisen 
vermochten).  Wenn  nun  dazu ,  wie  es  dem  Ref.  bedünkte ,  der 
Titel  V.  C.  (vir  clarissimus),  welcher  in  einer  Wiener  Handschrift 
dem  Namen  beigefügt  ist,  nicht  passt,  daher  in  mehr  als  einer 
Beziehung  verdiichtig  erscheint,  so  meint  der  Verf.  doch,  dass  der- 
selbe solchen  Lehrern  oder  Professoren  zugetheilt  werden  konnte, 
während  Fulgentius  in  seiner  an  den  Presbyter  Catus  gerichteten 
Vorrede  in  einer  so  demüthigen  und  unterwürfigen  Weise  sich  aus- 
spricht, dass  er  wohl  kaum  eine  solche  Stellung  und  einen  solchen 
Rang  eingenommen  haben  kann ,  welchem  dieses  Ptädicat  zukam. 
Auch  die  in  den  Handschriften  befindliche  Bezeichnung  Episcopus 
ist,  wie  Ret.  gezeigt  hat,  ebon  so  falsch  und  irrig.  Richtig  da- 
gegen erscheint  die  Annahme,  die  auf  bestimmte  Aeusserungen  ge- 
stützt ist,  dass  Fulgentius  zu  den  Katholiken,  und  nicht  zu  den 
Arianern  zählte.  Schwieriger  wird  die  genaue  Bestimmung  der 
Zeit,  in  welche  Fulgentius  und  die  Abfassung  seiner  Schriften  zu 
verlegen  ist.  Der  Verf.  denkt  an  die  Jahre  480 — 484  unter  dem 
Vandalenkönig  Hunerich,  und  bezieht  auf  die  Vandalen  sogar  die 
»Gallogetici  impetus«  in  der  Stelle  p.  600  (»Sopitis  in  favilla  si- 
lentii  rauciaouis  jurgiorum  classicis,  quibus  me  Gallogetici  quassa- 
verunt  impetus«  etc.)  was  nach  unserer  Ueberzeugung  nicht  wohl 
angeht,  indem  bei  Gallogetici  (was  übrigens  Verbesserung  von 
Salmasius  ist  statt  Galagetici),  doch  nur  an  eine  etwas  ver- 
ächtliche Bezeichnung  eines  aus  Galliern  und  Geten  (Gothen)  ge- 
mischten Haufens  gedacht  werden  kann,  mithin  nicht  an  Vandalen, 
sondern  an  Gothen  und  Gallier,  unter  welchen  hier  auch  Bewohner 
des  nördlichen  Italiens  verstanden  werden  können;  Ref.  hat  diese 
Stelle  auf  ein  unter  dem  König  Hilderich  im  Jahr  523  stattge- 
fundenes Ereigniss,  das  einzige,  von  dem  wir  wissen,  das  eine 
solche  Beziehung  verstattet,  bezogen,  und  darnach  auch  in  diese 
und  die  nächst  folgende  Zeit  die  Abfassung  der  Schriften  des 
Fulgentius,  der  hiernach  in  die  drei  ersten  Decennien  des  sechsten 
Jahrhunderts  zu  verlegeu  wäre,  gesetzt:  er  vermisst  auch  sichere 
und  bestimmte  Gründe,  welche  auf  eine  frühere  Lebensthätigkeit 
noch  im  fünften  Jahrhundert  führen  können.  Was  die  Bemerkun- 
gen §.  7  über  den  Bildungsstand  des  Fulgentius  im  Allgemeinen 
betrifft,  so  hat  sich  Ref.  in  ähnlicher  Weise  auch  früher  darüber 
ausgesprochen  und  diess  im  Einzelnen  zu  begründen  gesucht.  Auch 


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670 


Zink:  Der  Mytholog  Fulgeatiiu. 


unser  Verfasser  schliesst  seine  Erörterung  mit  der  Bemerkung,  dass 
bei  Fulgentius  »Oberflächkeit  und  unwissenschaftliche  Eitelkeit  an 
die  Stelle  der  Gründlichkeit  und  ernsten  Wissenschaftlichkeit  ge- 
treten seienc  (S.  20).  Dann  wendet  sich  Derselbe  zu  den  Schriften, 
welche  dem  Fulgentius  beigelegt  werden,  den  nicht  mehr  vorhan- 
denen, aber  von  ihm  erwähnten  und  den  noch  erhaltenen,  unter 
welchen  an  erster  Stelle  das  mythologische  Werk  erscheint,  in  wel- 
chem Einheitlichkeit  des  Planes  vermisst  wird,  die  allerdings  aus 
der  Tendenz  des  Ganzen,  wie  selbst  aus  der  geistigen  Beschaffen- 
heit unseres  Autors  sich  hinreichend  ergibt.  Es  folgt  dann  die 
Schrift  über  Virgil,  und  an  dritter  Stelle  die  Eipositio,  über  welche 
der  Verf.  sich  nur  kurz  ausiässt.  »Sie  enthält,  heisst  es  S.  28, 
eine  Reihe  von  Erklärungen  veralteter  und  seltener  Wörter  in  will- 
kürlicher Auswahl  mit  vieleu  gefälschten  und  theilweise  ganz  er- 
dichteten Citaten  aus  wirklichen  oder  ebenfalls  fingirten  Autoren.« 
Im  üebrigen  wird  auf  die  Schrift  von  Lersch  verwiesen,  nach  des- 
sen Untersuchungen  es  kaum  möglich  sein  dürfte,  Etwas  wesent- 
lich Neues  darüber  beizubringen.  Eef.  war  früher  und  ist  noch 
jetzt  nicht  ganz  der  gleichen  Ansicht,  er  hat  sich  deshalb  die  Mühe 
genommen,  die  sämmtlichen  Anführungen  von  Schriftstellern,  welche 
in  diesem  Büchlein  vorkommen,  im  Einzelnen  prüfend  zu  durch- 
gehen, und  ist  in  Folge  dessen  zu  dem  Resultate  gelangt,  dass  von 
einer  absichtsvollen  und  schlau  angelegten  Fälschung  hier  nicht  die 
Rede  sein  könne,  wohl  aber  von  einem  Mangel  an  Genauigkeit, 
von  Nachlässigkeit  jeder  Art,  woraus  die  Irrthümer,  Unrichtigkeiten 
u.  dgl.  m.  zu  orklären  sind,  die  uns  hier  entgegentreten ;  s.  S.  38. 
41.  Auch  der  Verfasser  scheint  das  Bedürfniss  einer  näheren  Er- 
örterung dieses  Gegenstandes  erkannt  zu  haben,  indem  er  unter 
Abschnitt  IV.  eine  solche  in  ausführlicher  Weise  zu  geben  gesucht 
hat;  wir  kommen  darauf  zurück.  Noch  verbreitet  sich  der  Verf. 
§.  11  über  Bedeutung  und  Deutung  des  Mythus  und  §.12  über 
die  Methode  des  Fulgentius  so  wie  dessen  Etymologieen ;  den  Schluss 
dieser  Abtheilung  bildet  S.  35  ein  kritisches  Corollar,  in  welchem 
einige  Stellen  der  Mythologie  kritisch  behandelt  und  Verbesserun- 
gen des  Textes  in  Vorschlag  gebracht  werden. 

Der  andere  Theil  oder  Abschnitt  in.  hat  die  Latinität  des 
Fulgentius  zum  Gegenstand  und  beginnt  mit  einer  allgemeinen 
Charakteristik  der  Sprache  und  des  Ausdruckes,  welcher  in  den 
Schriften  des  Fulgentius  angetroffen  wird,  um  dann  die  einzelnen 
Belege  zu  den  hier  aufgestellten  Behauptungen  zu  geben.  Es  folgen 
daher  Zusammenstellungen  der  einzelnen  bei  Fulgentius  vorkom- 
menden, aus  dem  Griechischen  entlehnten  und  unverändert  über- 
tragenen Wörter,  Substantive  wie  Adjective,  dann  von  neugebilde- 
ten lateinischen  Wörtern,  Substantiven,  Adjectiven,  Verben,  dann 
von  vereinzelten  Idiotismen  in  den  Formen;  daran  schliesst  sich 
eine  ähnliohe  Zusammenstellung  der  syntaktischen  Anomalien,  und 
zwar  zuerst  in  der  Rection  der  Casus,  wobei  auch  die  merkwürdi- 


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Zink:  Der  Mytholog  FulgentiuB. 


671 


gen  Irregularitäten  in  dem  Gebrauche  der  Präpositionen  aufgeführt 
werden,  was  auf  manche  ähnliche  Erscheinungen,  wie  sie  zum  Theil 
bei  den  Schriftstellern  des  karolingischen  Zeitalters,  und  noch  mehr 
in  der  späteren  Zeit  vorkommen,  ein  Licht  wirft.    Auch  der  Ge- 
brauch der  Adjectiva,  Pronomina  und  Numeralia  zeigt  manche  Ab- 
weichungen, die  aber  noch  mehr  in  der  Rection  der  Tempora  und 
Modi  hervortreten,  wie  die  S.  47  ff.  gegebene  Zusammenstellung  gleich- 
falls zeigt,  die  auch  die  unregelmässige  Participialconstruction  in 
dem  häufigen  Gebrauch  des  Nominativus  absolutus  zuletzt  noch  be- 
rührt.    Es   folgen  Seite  49  ff.  die  stilistischen  Eigentümlich- 
keiten, die  poetische  und  figürliche  Ausdrucksweise,  die  bei  einem 
Schriftsteller,  welcher  seine  Prosa  durchweg  mit  poetischen  Wör- 
tern und  Phrasen  aufzuputzen  sucht  und  die  zwisohen  Prosa  und 
Poesie  zu  ziehende  Schranke  gar  nicht  mehr  kennt,  eine  reiche 
Ausbeute  liefert:  im  Zusammenhang  damit  stehen  die  Katachresen 
und  SolÖoismen,  Pleonasmen  und  Ellipsen,   wie  die  zahlreich 
angeführten  Belege  erweisen:    so  dass  wir  hier  eine  dankens- 
werthe  Zusammenstellung  der  Eigenthtlmlichkeiten  des  Sprachge- 
brauchs erhalten:  die  Lexicographie  wie  die  Grammatik  wird  aus 
diesem  dritten  Absohnitt  Manches  gewinnen,  was  bisher  in  den  be- 
treffenden Schriften  noch  unbeachtet  geblieben  ist,  und  wird  dar- 
aus, da  Fulgentius,  als  Afrikaner,  die  Schreibart  des  Appulejus 
und  Tertullianus  (s.  S.  38)  insbesondere  nachzuahmen  sucht,  auch 
der  Charakter  der  sogenannten   afrikanischen   Redeweise  immer 
klarer  werden.    Unter  Abschnitt  IV  S.  62  ff.  folgt  die  schon  oben 
erwähnte  Besprechung  über  die  »Quollen  und  Citate  des  Autors c; 
und  werden  hier  die  übrigen  Schriften  des  Fulgentius,  und  die  in 
ihnen  vorkommenden  Citate  zunächst  berücksichtigt,  die  derExpo- 
sitio  nur  insofern,  als  die  beiden  andern  Schriften  dazu  eine  Ver- 
anlassung bieten.    Der  Verf.  unterscheidet  ächte  Citate,  die  er  im 
Einzelnen  nachweist,  dann  die  wahrscheinlich  ächten,  zu  welchen 
unter  Andern,  insbesondere  die  aus  Petronius  gezählt  werden;  dann 
erweisbar  und  wahrscheinlich  unächte  Citate,  an  welche  sich  noch 
eine  Anzahl  von  unbestimmbaren  Citaten  anreiht.    Das  Resultat 
dieser  umfassenden  und  eingehenden  Untersuchung,  die  bis  S.  92 
reicht,  läuft  dahin  aus,  dass  nahezu  zwei  Drittel  aller  Citate  sich 
als  wahrscheinlich  ächt  bezeichnen  lassen,  auch  wenn  hie  und  da 
ein  lapsuB  memoriae  unterlaufen,  bei  dem  übrigen  Drittel  aber  nur 
bei  verhältnissmässig  wenigen  Stellen  die  Absicht  zu  täuschen  oder 
auch  nur  die  offenbare  Unrichtigkeit  derselben  sich  erweisen  lasse,  der 
weitaus  grössere  Theil  dagegen  in  suspenso  bleiben  müsse,  wie 
diess  bei  dem  Untergang  so  mancher  Schriftsteller,  aus  deren 
Werke  diese  Citate  entnommen  sind,  begreiflich  ist;  wobei  wir 
freilich  uns  nicht  verhehlen  werden,  dass  diese  Citate,  wenn  sie 
anders  ächte  sind,  schwerlich  aus  den  betreffenden  Schriftstellern 
selbst  entnommen  sind,  sondern  aus  andern  Schriften  späterer  Zeit, 
grammatischen  oder  encyclopädischen  Inhalts,  ausgesucht  worden 


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072 


Hase:  Wormser  Lutherbuch. 


sind,  um  das  Ansehen  der  Gelehrsamkeit,  das  sich  Fulgentius  zu 
geben  sucht,  damit  aufrecht  zu  halten.  Eben  desshalb  stimmen 
wir  dem  Verf.  bei,  wenn  er  S.  93  sich  dahin  ausspricht,  es  hiesso 
eben  den  Fulgentius  unbillig  in  seinem  Rechte  verkürzen,  wollte 
man  auf  blosse  Wahrscheinlichkeitsgrüude  hin  solche  Citate  aus 
verlorenen  oder  auch  unbekannten  Autoren  als  Falsifikate  erklären, 
eben  so,  wenn  er  glaubt,  dass  in  dieser  Beziehung  Lersch  in  sei- 
ner Besprechung  der  Expositio  zu  weit  gegangen;  wir  wissen  je- 
doch es  nicht  ganz  damit  zu  vereinigen,  wenn  wir  weiter  am 
Schluss  dieser  Untersuchung  die  Worte  lesen:  >Im  Ganzen  aber 
bin  ich  auch  durch  meine  Untersuchung  zu  derselben  Ansicht  ge- 
langt, welche  Lersch  zu  Eude  seiner  Schrift  (S.  87)  bezüglich  der 
Expositio  auspricht:  »dass  sich  ein  absichtlicher  Betrug  in  Verbin- 
dung mit  der  vollsten  Gedankenlosigkeit  nicht  läugnen  lasse.«  Nur 
tritt  ersteror  in  den  beidon  von  uns  behandelten  Schriften  noch 
schüchterner  und  seltener  auf,  während  letztere  sich  allenthalben 
geltend  macht.«  Ref.  so  wenig  er  die  Schwächen  dieses  Schrift- 
steller's,  so  unläugbar  sie  überall  hervortreten,  in  Schutz  nehmen 
will,  kann  doch  auch  jetzt  noch  nicht  zu  der  Annahme  einer 
absichtlich  und  schlau  angelegten  Fälschung  sich  entschliessen,  in- 
dem das ,  was  in  diesen  Bereich  gebracht  wird ,  wohl  aus  andern 
Schwächen  des  Autors  sich  wird  erklären  lassen. 

Chr.  Bahr, 


Wormser  Luther-Buch  zum  Feste  des  Reformation*- Denkmals  von 
Dr.  Carl  Alfred  Hase,  Collaborator  an  der  Hofkircht,  su 
Weimar.    Mainz.  C.  G.  Kunst' s  Nachfolger  1867.  384  S.  8. 

Die  äussere  Veranlassung  zum  Erscheinen  dieser  Schrift  gab 
das  in  diesem  Jahre  enthüllte  Lutherdenkmal  zu  Worms;  einem 
grösseren  Publikum  soll  hier  eine  biographische  Schilderung  ge- 
geben werden,  welche  aus  den  eigenen  Schriften  Luthers  geschöpft 
und  selbst  an  dessen  eigene  Worte  sich  haltend,  in  beredter  und 
anzehender  Weise  die  Lebensmomente  uns  vorführt,  und  so  ein  Bild 
des  Mannes,  seiner  Bedeutung  und  seines  Einflusses  vor  die  Seele 
führt.  Das  Buch  »will  keiner  Partei,  nur  dei  Wahrheit  dienen, 
aber  es  dankt  seinen  Ursprung  der  Liebe  und  Verehrung  für  Luther.« 
Und  in  diesem  Sinne  bittet  der  Verf.  dasselbe  aufzunehmen ;  nach- 
dem im  ersten  Kapitel  ein  Blick  auf  die  reformatorischen  Erschei- 
nungen, die  Luther's  Auftreten  vorangingen,  geworfen  ist,  wird  in 
den  neunzehn  folgenden  Kapiteln  eine  Darstellung  des  Lebens  von 
den  Kinder-  und  Klosterjahren  an  bis  zu  den  letzten  Lebensjahren 
und  seinem  Hinscheiden  gegeben  in  einer  Fassung,  welche  dem 
Zweck,  den  der  Verfasser  damit  verband,  wohl  zu  entsprechen  ge- 
eignet ist. 


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Nr.  43.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

Schriften  über  den  Parsismus. 


J)  Over  het  woord  Zarathustra  en  den  mythischen  persoon  van 
dien  naam.  Door  J.  H.  C.  Kern.  Amsterdam  1867.  33  p.  8. 

2)  Gäthä  Ahunavaiti  Sarathustrica  carmina  Septem.  Latine  vertit 
et  explicavit,  commentarios  crilicos  adjecit,  textum  archetypi 
recensuit  C.  Kossotoicz.  Pelropoli  1867.  VI  u.  165  pg.  8vo. 

Die  kleine  Schrift,  mit  welcher  wir  diese  Anzeige  beginnen, 
hat  Anspruch  auf  unsere  Aufmerksamkeit  sowohl  durch  den  Gegen- 
stand welchen  sie  behandelt,  als  auch  durch  die  Art  und  Weise 
in  welcher  die  Untersuchung  geführt  wird.  Dass  man  gerade  in 
der  jetzigen  Zeit  eingebend  den  Werth  der  verschiedenen  Nach- 
richten erörtert,  die  uns  über  Zarathustra  erhalten  sind,  ist  sehr 
natürlich  und  begreiflich,  da  man  eben  jetzt  angefangen  hat  sich 
ernstlich  mit  dem  Religionssysteme  zu  beschäftigen,  welches  auf 
ihn  als  Urheber  zurückgeführt  wird.  An  seine  Persönlichkeit 
knüpfen  sich  wichtige  Probleme,  und  unsere  Ansicht  über  die  Ent- 
stehung dieser  Religionsform  ist  vielfach  von  der  Anschauung  be- 
dingt die  wir  uns  von  dem  Stifter  gebildet  haben.  Auch  die  vor- 
liegende Schrift  hat  sich  die  Aufgabe  gestellt  das  Dunkel  zu  lich- 
ten, welches  noch  über  Zarathustra  ausgebreitet  ist,  und  das  End- 
resultat derselben  lässt  sich  bereits  aus  dem  Titel  erkennen.  Für 
den  Ref.  zerfällt  dieselbe  in  zwei  Theile,  dem  einen  kann  er  bei- 
stimmen, dem  andern  muss  er  seine  Zustimmung  versagen.  Wir 
billigen  es  vollkommen,  wenn  Herr  K.  darauf  dringt,  man  solle 
sich  vor  Allem  klar  machen,  was  man  unter  mythisch  verstehe. 
Bios  darum,  weil  wir  von  den  Lebensumständen  einer  Person  nichts 
mehr  wissen,  hört  diese  noch  nicht  auf  historisch  zu  sein. 
»Eine  mythische  Person   sagt  Herr  K.  (p.  3.  4)  sehr  richtig,  ist 

eine  Person  aus  der  Mythologie  des  einen  oder  andern  Volks  

Unter  einer  mythischen  Person  braucht  man  nicht  gerade  einen 
Menschen  zu  verstehen,  sondern  ein  Wesen ,  das  in  grösserm  oder 
geringerm  Grade  uns  gleichförmig  ist,  oder  wenigstens  diese  Gleich- 
förmigkeit anzunehmen  vermag.  Für  den  Ungläubigen  bestehen  die 
mythologischen  Wesen  nicht  als  solche,  nicht  als  Persönlichkeiten 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes.  Natürlich  erkennt  auch  der 
Ungläubige  z.  B.  das  Bestehen  der  Sonne  an,  aber  nicht  als  Per- 
sönlichkeit im  gewöhnlichen  Sinne :  Apollo  ist  für  ihn  eine  mythische 
Person«.  Um  nun  zu  ermitteln,  ob  Zarathustra  blos  eine  Person 
LX.  Jahrg.  0.  Heft.  43 

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674 


Schriften  Ober  den  Par8i8mus. 


sei  von  der  wir  nichts  mehr  wissen ,  oder  ein  Mythus,  unterwirft 
Herr  K.  die  vorhandenen  Zeugnisse  einer  gerechten  Kritik,  die  Ref. 
nur  in  Bezug  auf  die  Alten  etwas  zu  scharf  findet.  So  möchten 
wir  namentlich  den  Agathias  und  Berosus,  und  selbst  den  Ammi- 
anus  Marcellinus  gegen  das  zu  harte  Verdammungsurtheil  des  Ver- 
fassers (p.  8.  9.)  in  Schutz  nehmen.  Gewiss,  hätten  die  genannten 
Schriftsteller  eine  Geschichte  Persiens  von  den  ältesten  Zeiten  an 
geschrieben,  so  könnten  wir  ihnen  mit  Recht  den  Vorwurf  machen, 
sie  hätten  es  mit  dem  Studium  der  Quellen  gar  zn  leicht  genom- 
men; so  sind  aber  die  Nachrichten,  die  sie  uns  geben,  nur  ganz 
gelegentliche  Bemerkungen,  sie  erzählen  blos  was  sie  gehört  oder 
gelesen  haben,  und  wir  sind  ihnen  auch  dafür  dankbar,  wir  wissen 
nun  wenigstens,  was  man  in  jener  Zeit  über  diese  Angelegenheiten 
dachte.  Wir  sind  z.  B.  überzeugt,  dass  Agathias  nichts  viel  Ande- 
res über  Zarathustra  gehört  hat,  als  wir  auch  aus  der  Legende 
wissen,  er  hörte,  dass  Zarathustra  unter  einem  Könige  Vlstäcpa 
gelebt  und  gewirkt  habe,  er  sah  ein,  dass  dies  derselbe  Name  sei, 
den  Herodot  Hystaspes  schrieb,  aber  er  vermochte  nicht  zu  sagen, 
ob  auch  mit  diesem  Vlstäcpa  der  Vater  des  Darius  gemeint  sei 
wie  bei  Herodot.  Wenn  ferner  Berosus  die  Religion  der  Perser 
aus  der  babylonischen  ableitet,  so  ist  diess  freilich  ein  grosser 
Irrthum,  allein  Berosus  hat  gewiss  nicht  gelogen,  es  war  seine 
üeberzeugung ,  und  diese  üeberzeugung  wurde  auch  von  Andern 
getheilt.  Es  ist  eine  uns  auch  sonst  bekannte  Ansicht  der  späte- 
ren Bewohner  Babylons,  dass  alle  Völker  sammt  ihrer  Religion 
von  ihnen  abstammten,  Ref.  hat  darüber  schon  anderswo  Zeugnisse 
zusammengestellt,  das  Buch  des  Berosus  war  aber  wahrscheinlich 
zum  Theil  deshalb  geschrieben,  um  das  Alter  Babylons  den  Grie- 
chen und  umwohnenden  Völkern  gegenüber  hervorzuheben.  Aehn- 
lich  wird  es  sich  nun  auch  mit  den  Nachrichten  des  Ammianns 
verhalten :  er  erzählt  was  er  gehört  hat.  Seine  Nachricht,  dass  der 
mit  Zarathustra  in  Verbindung  stehende  Hystaspes  der  Vater  des 
Darius  sei,  ist  falsch,  die  Angabe,  dass  er  der  Magie  etwas  hinzu- 
fügte, ist  wahrscheinlich  unwahr,  aber  man  darf  nicht  vergessen, 
dass  auch  die  christliche  Welt  jener  Zeit  Weissagungen  des  Hys- 
taspes kannte,  von  welchen  Kunde  zn  Ammianus  Marc,  gedrangen 
sein  kann,  und  durch  die  er  sich  für  berechtigt  hielt,  denselben 
für  eine  Art  von  Propheten  zu  halten.  Selbst  für  manche  Berichte 
noch  späterer  Muhammedaner  möchte  Ref.  ein  gutes  Wort  einlegen, 
im  Ganzen  aber  stimmt  er,  wie  gesagt,  Herrn  K.  vollkommen  bei : 
alle  abendländischen  Berichte  geben  uns  nicht  das  Recht,  den 
Zarathustra  für  eine  historische  Person  zu  halten,  unter  den  mor- 
genländischen verhält  es  sich  bereits  mit  den  ältesten  derselben, 
den  Angaben  des  Avesta  ebenso,  nirgends  ist  ein  Zug  angegeben, 
der  uns  nöthigte,  den  Zarathustra  als  historische  Person  anzusehen, 
und  Herr  K.  ist  in  seinem  vollkommenen  Rechte,  wenn  er  sich 
weigert  auf  Grund  dieser  Zeugnisse  ihn  als  historisch  anzuerkennen. 


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Schriften  über  den  Parslsmus. 


Nichts  desto  weniger  nehmen  wir  doch  Anstand  Herrn  K.  in  sei- 
nem Endresultate  beizustimmen.  Die  historische  Persönlichkeit 
Zarathustras  ist  nämlich  nach  unserer  Ansicht  zwar  nicht  durch 
äussere  Zeugnisse  sichergestellt,  wohl  aber  durch  innere.  Wenn  wir 
auch  alle  U  eberlief  er  ung  über  Zarathustra  verwerfen,  den  Namen 
mit  eingeschlossen ,  so  tritt  doch ,  sobald  wir  das  nach  ihm  be- 
nannte Religionssystem  ernstlich  untersuchen,  an  uns  die  Frage 
heran,  ob  wir  dasselbe  iür  eine  allmählige  Schöpfung  des  irani- 
schen Volkes  oder  für  das  Werk  eines  Einzelnen  halten  wollen, 
und  in  diesem  Falle  entscheiden  wir  uns  mit  voller  Ueberzeugung 
für  das  letztere.  Natürlich  wird  der  Volksgeist  Jahrhunderte  lang 
thätig  gewesen  sein  dem  Schöpfer  dieser  Religion  vorzuarbeiten, 
aber  die  letzte  Hand,  das  wiederholen  wir,  kann  nur  ein  einzelner 
und  zwar  ein  hochgebildeter,  genialer  Mann  angelegt  haben,  denn 
Alles  ist  so  genau  bedacht  und  abgemessen,  wie  es  sonst  nur  in 
philosophischen  Systemen,  nicht  in  Religionen  vorkommt.  Wir 
gehen  sogar  noch  weiter.  Aus  denselben  innern  Gründen  legen 
wir  auch  der  wenigstens  im  Oriente  überwiegend  beglaubigten 
Tradition  ein  grosses  Gewicht  bei,  dass  Zarathustra  im  westlichen 
Erän  geboren  und  von  dort  nach  Baktrien  gekommen  sei,  um  seine 
Lehre  zu  verkünden.  Untersuchen  wir  nämlich  dieses  Religions- 
system, so  trägt  es  allerdings  unzweifelhafte  Spuren  in  sich,  dass 
es  im  Osten  des  iranischen  Reiches  entstanden  sei,  allein  ebenso 
unzweifelhaft  ist  die  Beimischung  semitischer  Ideen,  die  doch  nur 
aus  dem  Westen  nach  Ostiran  gekommen  sein  können  und  die  am 
leichtesten  ihre  Erklärung  finden,  wenn  man  annimmt,  der  Stifter 
der  Religion  habe  sie  mitgebracht.  Die  iranischen  Priester  waren 
ein  bewegliches  Volk,  das  im  Lande  umherzog,  und  der  Einzelne 
vertauschte  leicht  seinen  Aufenthaltsort  mit  einem  andern,  wenn 
er  hoffen  durfte  sich  dort  besser  zu  nähren,  sie  waren  also  ganz 
darnach  angetban  in  jener  alten  Zeit  die  Cultur  zu  verbreiten. 
Auf  diese  Art  werden  wir  zur  Annahme  eines  aus  dem  Westen 
gekommenen  iranischen  Religionsstifters  gedrängt,  wenn  wir  auch 
nicht  angeben  können  wie  er  geheissen  habe. 

Bisher  sind  wir  mit  unsern  Ansichten  mit  Herrn  K.  nicht  in 
einen  unversöhnlichen  Gegensatz  getreten.  Nichts  beweist,  dass  der 
historische  Stifter  der  iranischen  Religion  der  in  unserm  Texte 
genannte  Zarathustra  sein  müsse,  es  wäre  möglich,  dass  die  histo- 
rische Persönlichkeit  mit  einer  mythischen  zusammengeworfen  wor- 
den sei,  ja  sogar,  dass  sie  sich  absichtlich  hinter  dieselbe  versteckt 
habe.  Um  nun  zu  zeigen,  in  wie  fern  wir  von  den  weiteren  Er- 
mittelungen Herrn  K.'s  abweichen,  werden  wir  etwas  weiter 
ausholen  müssen.  Bekanntlich  hat  sich  in  neuerer  Zeit  aus  der 
noch  jungen  vergleichenden  Sprachwissenschaft  die  vergleichende 
Mythologie  abgezweigt,  welche  für  die  Mythologie  dasselbe  zu  lei- 
sten versucht  was  die  Sprachwissenschaft  für  die  Sprache  leisten 
will.    Sie  sucht  die  mythologischen  Vorstellungen  zu  ermitteln. 


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676 


Schriften  Ober  den  ParsiemuB. 


welche  nicht  nur  einem  einzelnen  Volke  angehören,  sondern  sich 
bei  alten  oder  doch  den  meisten  indogermanischen  Völkern  vor- 
finden, nnd  von  denen  man  daher  annehmen  darf,  dass  sie  aas  der 
Zeit  herrühren,  in  welcher  sich  der  indogermanische  Sprachstainni 
noch  nicht  in  seine  verschiedenen  Zweige  gespalten  hatte,  mithin, 
dass  sie  die  ursprünglichsten  sind.  Es  lässt  sich  hoffen,  wenn  nur 
erst  eine  genügende  Anzahl  von  solchen  ursprünglichen  mytholo- 
gischen Gestalten  ermittelt  ist,  dass  man  einen  Einblick  gewinne 
in  die  allgemeinen  Ideen,  von  welchen  die  indogermanische  Mytho- 
logie ausging.  Ref.  gehört  nicht  zu  den  Verächtern  dieser  Wissen- 
schaft, erwartet  im  Gegentheil  Grosses  von  ihr,  um  so  mehr  aber 
muss  er  wünschen,  dass  sie  nicht  aus  den  ihr  durch  die  Natur  der 
Sache  angewiesenen  Gränzen  heraustrete,  und  namentlich  sich  aller 
unberechtigten  Eingriffe  in  das  Gebiet  der  Einzelforschung  ent- 
halte.   Die  vergleichende  Mythologie  hat ,  wie  ihr  Name  sagt,  ver- 
schiedene durch  die  Einzelforschung  bei  den  verschiedenen  indo- 
germanischen Völkern  ermittelte  Mythologeme  zu  vergleichen,  zu 
untersuchen  ob  sie  ursprünglich  identisoh  sind  oder  nicht.  Am 
sichersten  erreicht  man  diesen  Zweck,  wenn  mau  nachweisen  kann, 
dass  dersolbe  Name  eines  Gottes  bei  verschiedenen  indogermani- 
schen Völkern  vorkommt,  doch  kann  in  Ermanglung  eines  gemein- 
samen Namens  die  ursprüngliche  Identität  auch  aus  gleichartigen 
mythologischen  Zügen  erschlossen  werden,  die  sich  bei  verschiede- 
nen Völkern  desselben  Stammes  finden,  nur  muss  dann  natürlich 
begründet  werden,  dass  diese  Züge  nicht  blos  gleichartig,  sondern 
identisch  sind.  Ist  einmal  nach  diesen  Regeln  eine  genügende  An- 
zahl von  Mythologemen  nachgewiesen,  welche  den  ursprünglichen 
mythologischen  Zusammenhang  zweier  oder  mehrerer  Völker  be- 
gründen, so  mag  man  in  einzelnen  Fällen  einen  Schritt  weiter 
gehen   und   den   ursprünglichen  Charakter  einer  mythologischen 
Figur  nach  Analogie  der  übrigen  herstellen,  wenn  nämlich  das  uns 
überlieferte  mythologische  Material  durchsichtig  genug  ist  um  uns 
diess  zu  gestatten. 

Kehren  wir  nach  dieser  Abschweifung  wieder  zu  Zarathustra 
zurück,  so  ist  zuerst  wohl  als  unzweifelhaft  hinzustellen,  dass  die 
Avestaphilologie  als  solche  die  Frage  nach  dem  ursprünglichen  Ge- 
balt der  Zarathustramythe  nicht  kümmert.  Es  ist  gewiss,  dass 
schon  das  Avesta  in  Zarathustra  einen  Religionsstifter  sieht,  einen 
Menschen  wie  andere,  wenn  auch  mit  besondern  Gaben  ausgerüstet, 
die  ihm  nothwendig  waren,  da  er  mit  einer  besondern  Sendung 
betraut  war.  Was  er  in  früherer  Zeit  war,  in  einer  Zeit  die  jeden- 
falls von  unseren  ältesten  Urkunden  durch  Jahrhunderte  getrennt 
ist,  kann  die  Avestaphilologie  nur  in  so  weit  berühren,  als  diese 
frühere  Gestaltung  der  Mythe  geeignet  ist  auch  über  die  späteren 
Texte  noch  Licht  zu  verbreiten.  Aber  auch  für  die  vergleichende 
Mythologie  scheint  Ref.  Zarathustra  keine  geeignete  Persönlichkeit 
zu  sein.    Den  Namen  Zarathustra  bei  andern  indogermanischen 


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Schriften  über  den  Parirfimns 


677 


Völkern  nachzuweisen,  ist  nicht  gelungen,  obwohl  man  es  versucht 
hat,  ebensowenig  werden  sich  die  ihn  umgebenden  Legenden  in  den 
übrigen  Mythologien  wiederfinden  lassen.    Für  uns,  die  wir  den 
Zarathustra  im  Zusammenhang  mit  den  übrigen  iranischen  Mythen 
aufzufassen  gewohnt  sind ,  bat  diese  Erscheinung  nichts  Auffallen- 
des, wir  halten  ihn  nämlich,  selbst  für  den  Fall,  dass  er  ganz  und 
gar  mythisch  sein  sollte,  für  ein  speciell  iranisches  Gebilde,  und 
namentlich  die  mit  ihm  in  Zusammenhang  stehenden  Vista^pa- 
mytben  lassen  sich  deutlich  als  bewusste  Nachahmung  der  alten 
Heldensage  nachweisen,  wenn  diese  Nachahmung  auch  älter  ist  als 
unsere  ältesten  iranischen  Denkmale.    Der  Weg  indess ,  auf  dem 
Herr  K.  den  mythischen  Gehalt  Zarathustras  zu  erforschen  sucht, 
ist  ein  anderer  als  der  obeu  von  uns  angedeutete.    Er  geht  näm- 
lich von  der  Etymologie  aus  und  sucht  aus  der  ursprünglichen  Be- 
deutung des  Wortes  die  mythische  Vorstellung  zu  ermitteln.  Er 
erklärt  (p.  19)  Zarathustra  mit  »Goldstern«  aus  zara  Gold  und 
thustra,  zusammengezogen  aus  thwistra.    Nachdem  er  gefragt  hat 
ob  nicht  etwa  Zarathustra  nur  ein  anderer  Name  sei  für  Mithra, 
fährt  er  fort  (p,  24):    »Der  Name  »glänzend  wie  Gold«  zwingt 
uns  sicher  nicht,  denn  obwohl  die  Sonne  %Qvöo<paris  ist,  obwohl 
sie  vorzüglich  zaratbuströtema  heisst ,  so  kann  das  Appellativ  im 
Positiv  wenigstens  auch  auf  andere  Sterne  passen.  Ist  es  aber  ein 
Stern  (oder  die  Personificirung  eines  Sternes),  so  muss  es  ein  sehr 
beller  Stern  sein,  z.  B.  Canopns  oder  Sirius ,  oder  unter  den  Pla- 
neten, Venns.  Nun,  in  der  indischen  Mythologie  heisst  dieser  Pla- 
net (Kavi  Ucanas,  (Jukra,   Bhrigu  u.  s.  w.)  der  weisseste,  d.  i.  der 
hellste  unter  den  Sternen,  er  ist  der  Meister  oder  der  Lehrer  (im 
Sanskrit  gehen  diese  Begriffe  in  einander  über,  gerade  wie  bei  uns) 
der  Asuras,  welches  Wort  im  Baktrischen  abnra  lautet;  es  wird 
also  nicht  ungereimt  sein,  wenn  wir  einmal  Zarathustra  für  den- 
selben halten  wie  Kavi  Ucanas:  für  den  Abeudstern,  Hesperus.« 
Als  Vervollständigung  dieser   Ansicht   dient  was  Herr  K.  über 
(>oshyanc  bemerkt  (p.  30);  »Was  und  wer  ist  (^aoshyant  ?  Gram- 
matisch ist  es  das  pari  fut.  act.  einer  sogenannten  Wurzel,  die 
sowohl  im  Sanskrit  als  im  Altbaktri sehen  euc  heisst  und  »glänzen, 
leuchten«  bedeutet,  (^aoshyant  kommt  überein  mit  sc.  coxyant  und 
bedeutet  also  »leuchten  werdende.  Von  eben  diesem  (juc  kommt  im 
Sanskrit  eukra,  welches  als  Adjectiv  »leuchtend«  als  Snbst.  »der 
Planet  Venus«  ist,  das  Avesta  versteht  unter  Qaoshyant  eine  mythische 
Person,  welche  der  Bringer  eines  neuen  Morgens  für  die  Menschen  sein 
soll  .. .«    Ferner  (p.  32)  »(Jaoshyant  wird  aus  dem  Samen  Zara- 
thustras geboren,  heisst  es  in  der  Bildersprache  der  Mythologie, 
in  schlichter  Prosa,  er  ist  eine  spätere  Form  von  Hesperus,  er  ist 
eigentlich  eins  mit  diesem.  Eine  Zeitlang  wird  Hesperus  verschwin- 
den, heliacisch  untergegangen  sein,  aber  nach  einiger  Zeit  wird  er 
sich  wieder  im  Osten  zeigen,  dort  soll  er  heliacisch  aufgehen.«  — 
Ref.  spricht  diesen  Ansichten  nicht  den  Scharfsinn  ab,  aber  bei- 


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678 


Schriften  über  den  ParslsmuB 


stimmen  kann  er  unmöglich,  dazu  ist  seine  eigene  Methode  bei 
solchen  Forschungen  allzu  verschieden.    Schon  dass  Herr  K.  von 
der  Etymologie  bei  seinen  mythologischen  Untersuchungen  ausgeht 
können  wir  nicht  billigen ,  obwohl  wir  wissen ,  dass  er  hierin  mit 
seiner  Ansicht  nicht  allein  steht.    Wir  halten  die  Etymologie  in 
mythologischen  wie  in  andern  Fällen,  wo  die  specielle  Bedeutung 
eines  Wortes  in  Frage  kommt,  für  einen  sehr  unsichern  Führer.  Noch 
hat  die  vergleichende  Grammatik  keine  objectiv  gültigen  Gesetze 
für  die  Bedeutungslehre  geschaffen,  sondern  die  Meisten  verfahren 
hierin  nach  ihrem  subjectiven  Gutdünken,  wie  neulich  Schleicher 
treffend  bemerkte;  um  so  weniger  können  solche  Etymologien  als 
Ausgangspunkt  für  objective  Forschungen  dienen.     Wir  können 
also  in  den  Etymologion  nur  dann  eine  wichtige  Beigabe  für  eine 
mythologische  Erklärung  sehen,  wenn  schon  andere  Gründe  für  die- 
selbe sprechen.  Sodann  können  wir  in  dem  vorliegenden  Falle  auch 
die  Etymologien  selbst  nicht  billigen  auf  denen  die  mythologische 
Erklärung  ruht.    Die  Uebersetzung  des  Wortes  zarathustra  durch 
»Goldstern«  ist  nicht  neu,  aber  sie  ist  von  dem  Urheber  dieser 
Erklärung,    Fr.  Windischmann,   selbst  zurückgenommen  worden 
(cf.  dessen  zoroastrische  Studien  p.  46.  47);  mit  grossem  Rechte, 
denn  eine  Wurzel  thwish,  glänzen,  gibt  es  im  AI tbaktri sehen  nicht, 
und  selbst  wenn  sie  vorhanden  wäre,  so  würde  eine  Zusammenzieh- 
ung in  thustra  immer  noch  unerhört  sein.  Noch  bestimmter  müs- 
sen wir  uns  gegen  die  Etymologie  von  (Jaoshyanc,  erklären.  Nach 
der  traditionellen  Auffassung  ist  Qaosbyanc  stets  »der  Nützende«, 
und  so  erklären  das  Wort  auch  die  alten  Texte  selbst,  cf.  Yt.  13, 
129  avatha  (jaosbyanc.  yatha  vlQpom  ahum  aetvantem  cävayät  d.  i. 
er  ist  so  hülfreich,  dass  er  die  ganze  bekörperte  Welt  erretten 
wird,  (^aoshyanc  ist  mithin  nach  der  Ansicht  der  zarathustrischen 
Religionsbücher  selbst  »der  Retter« ,  und  diese  Ansicht  ist  auch 
mit  der  Etymologie  sehr  wohl  vereinbar,  da  die  Wurzel  eu,  nützen, 
im  Avesta  oft  genug  vorkommt  und  aus  dieser  in  der  That  ganz 
regelmässig  ein  part.  fut.  act.  c,aosbyanc  gebildet  werden  muss, 
während  dagegen  <juc,  leuchten,  regelmässig  caoksbyanc,  bilden 
würde,  und  wir  annehmen  mttssten,  das  kh  sei  unregelmäisiger 
Weise  ausgefallen. 

Noch  ein  Punkt  ist  zu  erwähnen,  in  welchem  die  grösste 
Strenge  dringend  geboten  ist,  wenn  wir  über  das  Avesta  und  die 
Sprachen,  in  welchen  dasselbe  verfasst  ist,  zu  objektiven  Resultaten 
kommen  wollen:  wir  meinen  die  Etymologie.  Nach  unserer  An- 
sicht sind  die  traditionell  überlieferten  Wortbedeutungen  zwar 
nicht  auf  Treu  und  Glauben  anzunehmen,  aber  auch  nicht  leicht- 
sinnig zu  verwerfen  und  zwar  muss  man  vor  Allem  suchen,  die 
älteren  Wörter  und  ihre  Geschichte  innerhalb  der  iranischen  Spraoben 
selbst  zu  verfolgen,  nur  auf  diese  Art  können  wir  hoffen,  den  in- 
dividuellen Charakter  der  Sprache  zu  finden,  der  uns  doch  die 
Hauptsache  sein  muss.    Daher  können  wir  es  nicht  billigen,  wenn 


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Schriften  Ober  den  Parsisnms. 


679 


Hr.  K.  sagt  (p.  16):    >Es  ist  wahr,  dass  das  Bäk  tri  sehe  so  nahe 
mit  dem  Altindischen,  besonders  dem  Veda,  verwandt  ist,  dass  es 
ohne  Uebertreibung  ein  Dialekt  desselben  heissen  kann ;  ans  diesem 
Grunde  dürfen  wir  meist  unsere  Zuflucht  zum  Sanskrit  nehmen.  € 
Wir  halten  diesen  vielfach  ausgesprochenen,  aber  in  diesem  Um- 
fange  nicht  richtigen  Satz  für  sehr  gefährlich.     Es  lässt  sich 
zeigen,  dass  eine  ganze  Reihe  von  falschen  Erklärungen  diesen 
Voraussetzungen  ihren  Ursprung  verdankt  und  da  diese  Erklärungen 
nicht  selten  wieder  verwendet  werden,  um  zu  beweisen,  dass  das 
Sanskrit  so  nahe  mit  dem  Altbaktrischen  verwandt  sei,  so  bewegt 
man  sich  fortwährend  im  Kreise.    Auch  der  Verfasser  vorliegender 
Abhandlung  hat  sich  nicht  frei  von  den  unrichtigen  Erklärungen 
halten  können,  welche  aus  jener  Voraussetzung  stammen.    So  er- 
klärt er  z.  ß.  (p.  15  not.)  aparazäta  durch  »im  Westen  geboren. < 
Der  Gedankengang  ist  natürlich  der  folgende:  das  Altbaktrische 
ist  so  ziemlich  ein  Dialekt  des  Sanskrit,  im  Sanskrit  heisst  apara 
westlich,  folglich  heisst  es  im  Altbaktrischen  auch  westlich.  Un- 
sere Methode  ist  eine  ganz  andere.    Wir  gehen  nicht  von  oben 
hinab,  sondern  von  unten  herauf.  Wir  sehen  zuerst,  dass  die  tra- 
ditionellen Uebersetzungen  dem  Worte  apara  nur  die  Bedeutung, 
der  hintere,  spätere,  andere  geben,  wir  sehen  ferner,  dass  man  in 
der  That  mit  diesen  Bedeutungen  für  die  Texte  ausreicht  und 
ebenso  auch  die  neueren  iranischen  Dialekte  das  Wort  nur  in 
diesen  Bedeutungen  kennen.    Aus  den  Texten  sehen  wir  ferner, 
dass  sich  die  Eranier  überhaupt  anderor  Ausdrücke  für  die  Benennung 
der  Himmelsgegenden  bedienen,  als  die  Inder  und  daraus  schliessen 
vrir,  dass  sich  Bedeutungen  wie  pürva  östlich,  apara  westlich,  die 
ja  auch  im  Sanskrit  zu  den  abgeleiteten  gehören,  noch  nicht  ent- 
wickelt hatten,  als  Inder  und  Er;\nier  sich  trennten.    Es  ist  dem- 
nach ganz  richtig,  wenn  Justi  in  seinem  Wörterbuche  aparazäta 
mit  » nachgeboren c  tibersetzt.    Hr.  K.  fragt  zwar  sehr  erstaunt: 
>  nachgeboren,  nach  wem  oder  was?«,  aber  diese  Frage  ist  nur 
t heilweise  berechtigt.  Gesetzt  es  würde  uns  gesagt,  dass  drei  jetzt 
lobende  Individuen  x.  y.  z.  das  Prädicat  »naehgeboren«  erhielten 
und  wir  würden  gefragt,  warum  dies  geschehe,  so  würden  wir  in 
aller  Ruhe  antworten:  dass  wir  dies  nicht  wttssten,  weil  uns  die 
Verhältnisse  der  genannten  Individuen  unbekannt  seien,  wir  wür- 
den   aber   nicht    schliessen,    der   Titel   müsse    unrichtig  sein, 
weil  er  uns  unverständlich  ist.    Ganz  im  ähnlichen  Falle  befinden 
v  ir  uns  mit  den  Personen  die  im  Avesta  aparazäta  genannt  wer- 
den, wir  wissen  von  ihnen  sehr  wenig,  eine  Erklärung  lässt  sich 
zwar  geben,  aber  keine  ganz  sichere.    Es  wäre  ein  grosser  Miss- 
griff, wenn  wir  so  objektiv  ermittelte  Wortbedeutungen  wie  die 
vorliegende  darum  für  unrichtig  halten  wollten,  weil  sie  uns  nicht 
ganz  verständlich  sind.    Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  p.  16 
mit  grosser  Bestimmtheit  vorgetragenen  Ansicht  epento  mainyus 


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«80 


Schriften  über  den  ParslnimiB. 


Geist.  Bekanntlich  verstehen  die  Eranier  aller  Zeiten  unter  gpento 
mainyns  den  vermehrenden,  nnter  agrö  mainyus  den  schlagenden, 
zerstörenden  Geist  und  diese  Bedeutungen  lassen  sich  etymologisch 
so  leicht  vermitteln,  dass  kein  Grund  vorhanden  ist,  von  dieser 
Ansicht  abzuweichen. 

Wir  haben  bereits  so  lange  bei  dieser  kleinen  Schrift  ver- 
weilt, dass  es  endlich  Zeit  sein  wird,  unser  Urtheil  zusammenzu- 
fassen. Wir  wissen  es  dem  H.  Verf.  aufrichtig  Dank,  dass  er 
ernstlich  und  hoffentlich  mit  Erfolg  an  dem  historischen  Zara- 
thustra  gerüttelt  hat,  wenn  wir  uns  auch  mit  den  mythologischen 
Begründungen,  die  er  an  die  Stelle  setzt,  nicht  einverstanden  er- 
klaren konnten. 

Das  zweite  Werk  führt  uns  unmittelbar  in  die  alt^ranische 
Literatur  hinein  und  zwar  in  den  schwierigsten  Theil  derselben. 
Herr  Kossowicz,  dessen  früheres  Werk  (decem  Sendavestae  excerpta) 
wir  bereits  in  diessen  Blättern  besprochen  haben ,  beschenkt  uns 
hier  mit  einer  Ausgabe  der  Gätha  Ahunavaiti  (Yaenacap.  28— 34.) 
Die  Gesänge,  zu  denen  diese  Abtheilnng  gehört,  bilden  den  ältesten 
aber  auch  den  schwierigsten  Theil  des  Avesta,  mehrere  unter  den 
gerade  hier  veröffentlichen  Stücken  sind  vergleichungsweise  durch- 
sichtig und  wichtig,  so  z.  B.  c.  29  das  von  der  Sendung  Zara- 
thustras  handelt  und  c.  30  über  die  Schöpfung  durch  die  beiden 
sich  entgegenstehenden  Principien.  Die  vorliegende  Ausgabe  ent- 
hält den  Urtext  mit  lateinischer  Uebersetzung,  der  auch  noch  eine 
lateinische  Paraphraso  beigefügt  ist,  wo  es  nöthig  schien,  dazu 
kurze  Anmerkungen  meist  kritischen  oder  grammatischen  Inhalts. 
Der  Verf.  vorspricht  uns,  späterhin  noch  andere  Theile  der  Gathäs 
zu  bearbeiten.  Der  Text  ist  nicht  etwa  nach  einer  der  bereits 
vorhandenen  Ausgaben  abgedruckt,  sondern  mit  Hülfe  der  zugäng- 
lichen Varianten  selbständig  constituirt  und  in  nicht  wenigen 
Fällen  eigen thtimlich.  Nicht  billigen  können  wir  es,  wenn  Hr.  K. 
dio  Präpositionen  mit  dem  dazu  gohörigen  Verbum  Uusserlicb  ver- 
binden will,  wie  z.  B.  paitlzanata  (29,  11)  upajacat  (30,  6)  aibl- 
vaenata  (31,  13)  pairlgaetbe  (34,  2)  parövaokhema  (34,  5).  Der 
lange  Endvokal  der  Präposition  zeigt  in  allen  diesen  Fällen  deut- 
lich, dass  man  sie  vom  Verbum  abgetrennt  wissen  wollte ;  wo  diess 
nicht  der  Fall  ist,  wird  der  auslautende  Vocal  auch  in  den  Gathas 
kurz  geschrieben.  Druckfehler  haben  sich  trotz  der  Sorgfalt  des 
Verf.  im  Texte  mehrere  eingeschlichen,  ausser  den  vom  Verf.  selbst 
schon  aufgeführten,  haben  wir  noch  die  folgenden  bemerkt:  p.  113, 
4.  1.  managhö  124,  pen.  vlcpe*ng  128  pen.  skyaothanäca  132,  8 
ye*  135,  4.  v.  u.  vakbsbyante  ib.  pen.  ahnrahyä  138,  5  v.  u.  dregvatö 
150,  5  yäo.  Sehr  häufig  ist  auch  die  seltenere  Form  des  g  für 
c  gesetzt  worden.  Von  der  Uebersetzung  und  den  Noten  mag  es 
genügen,  hier  im  Allgemeinen  zu  sagen ,  dass  die  ganze  Arbeit 
nach  dos  Ref.  Ansicht  mit  grosser  Sorgfalt  und  Sachkenntniss  aus- 
geführt ist  und  von  Niemanden  übersehen  werden  darf,  der  sich 


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Schriften  Ober  den  Parslsmns. 


681 


mit  den  Gäthäs  beschäftigt.  Es  bandelt  sich  bei  diesen  Stücken 
ganz  besonders  dämm,  den  Gedankengang  wieder  aufzufinden,  wel- 
cher die  einzelnen  Verse  und  Strophen  verbindet,  und  gerade  bierin 
scheint  uns  Hr.  K.  Treffliches  geleistet  zu  haben.  Dem  Texte  und 
der  Uebersetzung  im  Einzelnen  zu  folgen,  unsere  tbeils  zustimmende 
theils  abweichende  Ansicht  auszusprechen  und  zu  begründen,  scheint 
Ref.  nicht  rätblich,  es  wtirdo  dies  zu  weit  führen,  andrerseits  aber 
auch  nicht  einmal  von  grossem  Nutzen  sein.  Die  Interpretation 
der  Gäthäs  steht  noch  in  ihren  ersten  Anfangen,  es  handelt  sich 
hier  noch  nicht  um  Einzelheiten,  sondern  um  Allgemeines  und  All- 
gemeinstes. Zwei  philologische,  oder  besser  zwei  linguistische  Rich- 
tungen bekämpfen  sich  auf  diesem  Gebiet,  welche  beide  unverein- 
bar sind  und  desshalb  ist  es  nöthig,  gleich  von  Anfange  an  sich 
zu  entscheiden,  welcher  von  beiden  man  folgen  will.  Es  ist  auch 
hier  die  Frage,  ob  man  von  oben  herab  odor  von  unten  hinauf 
gehen  soll.  Die  Richtung,  welche  Hr.  K.  gewählt  hat  und  zu  der 
auch  Ref.  sich  bekennt,  geht  von  unten  hinauf,  man  pflegt  sie  ge- 
wöhnlich die  traditionelle  zu  nennen,  aber  mit  Unrecht;  Ref.  hat 
schon  vor  langen  Jahren,  gleich  bei  dem  Beginn  seiner  Studien 
über  die  Gäthäs  die  Ueberzeugung  ausgesprochen,  dass  die  Tra- 
dition in  diesen  Stücken  nicht  so  zuverlässig  sei,  als  in  den  üb- 
rigen Thcilen  des  Avesta  und  diese  Ueberzeugung  ist  auch  bisher 
nicht  erschüttert  worden.  Leider  ist  aber  mit  einem  solchen  ne- 
gativen Resultate  gar  nichts  geholfen,  wenn  man  die  Gäthäs  be- 
arbeiten soll.  Um  die  Gäthäs  zu  Ubersetzen  und  verstehen  zu 
lernen,  bandelt  es  sich  nicht  darum,  was  man  nicht  brauchen, 
sondern  was  man  brauchen  kann,  es  muss  also  die  Tradition  im 
Einzelnen  goprüft  werden,  was  etwa  als  haltbar  sich  erweisen 
möchte.  Dazu  wird  man  am  besten  von  den  übrigen  leichter  ver- 
ständlichen Texten  ausgehen  und  namentlich  werden  mit  Hülfe 
dieser  Texte  die  Wortbedeutungen  festzustellen  sein.  Eine  solche 
Prüfung  führt  nun  zu  dem  Resultate,  dass  die  Tradition  hinsichtlich  der 
Wortbedeutungen  zuverlässig  ist  und  nur  hinsichtlich  der  Wortver- 
bindungen sich  Unzukömmlichkeiten  erlaubt;  es  wird  also  um  so 
mehr  geboten  sein  ihr  zu  folgen,  als  der  grösste  Theil  des  Wort- 
schatzes zu  dem  des  übrigen  Avesta  stimmt  und  man  also  gar 
nicht  einsieht,  wie  die  Wörter  in  den  Gäthäs  eine  total  verschie- 
dene Bedeutung  haben  sollen.  —  Die  andere  Richtung  geht  von 
oben  her.ib.  Der  Satz,  dass  Veda  und  Avesta  auf  das  innigste 
verwandt  sind,  wird  an  die  Spitze  gestellt,  es  versteht  sich  also, 
dass  die  ältesten  Stücke  des  Avesta  mit  den  ältesten  indischen  die 
grösste  Verwandtschaft  haben  müssen.  Mit  Hülfe  des  Sanskrit 
nnd  der  übrigen  indogermanischen  Sprachen  werden  die  Wortbedeu- 
tungen in  den  Gäthäs  festgestellt,  zeigt  sich  dann  unwiderleglich,  dass 
die  späteren  Schriften,  des  Avesta  und  die  neueren  eränischen  Sprachen, 
den  Worten  eiue  andere  Bedeutung  geben,  so  kann  diess  nur  ein 
Abfall  von  dem  Ursprünglichen  sein.    Bei  dieser  Richtung  wird 


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8*2 


Schriften  Ober  den  Parsiemua 


ob  sich  hauptsächlich  darum  fragen ,  ob  die  Sprachvergleich- 
ung eine  objektive  Metbode  besitzt,  um  Wortbedeutungen  aus  ihren 
Wurzeln  mit  Sicherheit  zu  ermitteln.  Ist  diess  der  Fall,  so  thut 
man  natürlich  sehr  Recht,  von  dieser  Methode  Gebranch  zu  machen, 
nicht  blos  im  Altbaktrischen ,  sondern  auch  in  vielen  anderen 
Sprachen,  bis  jetzt  aber  müssen  wir  leugnen,  dass  eine  solche  Me- 
thode gefunden  sei.  Wie  dem  auch  sein  möge,  das  kann  nicht  ge- 
leugnet werden,  dass  man  zu  ganz  andern  Resultaten  gelangt,  je 
nachdem  man  sich  der  einen  oder  der  anderen  Methode  bedient. 
Während  wir  auf  unserem  Wege  zu  der  Ueberzeugung  gelangen, 
dass  die  Gäthäs  sich  in  demselben  Tdeenkreise  bewegen  wie  die 
Übrigen  Schriften  des  Avesta,  findet  die  andere  Richtung  in  ihnen 
ein  ganz  neues  mythologisches  System,  das  weder  mit  dem  übrigen 
Avesta  noch  mit  einer  anderen  Religion  tibereinstimmt. 

Um  aber  nun  den  Beweis  zu  geben,  dass  wir  das  vorliegende 
Buch  auch  im  Einzelnen  mit  Aufmerksamkeit  geprüft  haben,  heben 
wir  aufs  Gerathewohl  einige  Stollen  aus,  in  welchen  uns  der  Verf. 
das  Richtige  getroffen  zu  haben  scheint  28,  8  hat  Hr.  K.  wohl 
richtig  die  Lesart  raoghaoghöi  vorgezogen,  die  sich  schon  aus 
metrischen  Gründen  empfiehlt,  und  übersetzt  demnach  die  2  ps. 
6g.  (pergas  impertire),  wahrend  Ref.  bei  der  Lesart  raoghöi  ge- 
zwungen war  die  1.  ps.  sg.  zu  wählen.  —  c.  29  scheint  uns  im 
Ganzen  etwas  zu  spiritual istisch  gefasst,  doch  ist  auch  hier  im 
Einzelnen  manches  beachten swerth.  So  möchte  Ref.  Hr.  K.  Recht 
geben,  wenn  er  29,  2  dregvödibls  als  Instr.  tibersetzt:  una  cum 
omnibus  malignis,  wahrend  Ref.  das  Wort  im  Sinne  des  Abi.  fassen 
wollte.  Die  Form  dregvödibls  jst  nach  den  Hdschr.  ebenso  zu- 
lässig wie  dregvödebls,  wir  wollen  also  nicht  missbilligen,  wenn 
Hr.  K.  sie  vorgezogen  hat,  nur  war  dann  31,  3  auch  cazdöghvadibyö 
zu  schreiben  str.  5,  welche  Hr.  K.  den  Priestern  zutheilt,  wird 
nach  der  Tradition  von  Asha  gesprochen  str.  8  wird  dem  Vöhu- 
mano,  str.  10  dem  Goshurun  in  den  Mund  gelegt.  In  30,  3  hat 
Hr.  K.  nach  unserer  Ansicht  sehr  mit  Recht  die  Uebersetzung  des 
Wortes  ye*mä  durch  »Zwillinge«  verlsasen  und  übersetzt  in  terra, 
dann  hätte  aber  auch  31,  8  für  yazu  nicht  die  Bedeutung  maxime 
venerabilis  beibehalten  werden  sollen,  sondern  die  traditionelle 
Bedeutung  »abstammend«  gewählt  werden  müssen.  30,  11  hat  Hr. 
K.  das  dunkle  Sx.  Aey.  qlli,  das  ich  rein  conjectural  mit  »von 
selbst«  tibersetzt  habe,  wohl  richtiger  in  Uebereinstiramung  mit 
Neriosengh  durch  alacriter  oder  cum  voluptate,  desiderio  wieder- 
gegeben, indem  er  an  gr.  gorAn,  xaTi%&  und  einige  slavische  Ana- 
logien erinnert.  An  andern  Stellen  möchte  Ref.  seine  und  die 
traditionelle  Ansicht  gegen  Hr.  K.  festhalten,  z.  B.  28,  6  wo  Hr. 
K.  asbadäo  als  ein  Wort  lesen  will,  während  die  Tradition  in 
ftsha  einen  Vocativ  sieht  und  dao  als  2.  pr.  sg.  betrachtet  wissen 
will.  Ebensowenig  können  wir  uns  entschliessen,  29,  1.  5.  die 
Formen  Khsbmaibya  und  vao  als  Duale  aufzufassen.    In  30,  5 


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Die  Ritler  des  Aristophanes  von  W.  Ribbeck.  688 

ist  kein  Grund,  von  der  Lesart  und  gut  beglaubigten  Bedeutung 
von  vacte  abzugeben  und  dafür  vastc  aufzunehmen  und  zu  über- 
setzen. Auch  31,  7  dürfte  die  Correktur  ya<;  tä  sich  nicht  be- 
stätigen und  bei  der  Lesart  yaetä  sein  Bewenden  haben.  Doch 
die88  sind  Kleinigkeiten,  im  Ganzen  stimmen  wir  der  Erklärungs- 
weise des  Verf.  bei  und  hoffen,  dass  auch  diese  neue  Bearbeitung 
der  Gathäs  gute  Früchte  tragen  werde.  Fr.  Spiegel. 


Die  Ritter  des  Aristophanes  griechisch  und  deutsch  mit  kriti- 
schen und  erklärenden  Anmerkungen  von  W.  Ribbeck.  Ber- 
lin.   Verlag  von  F.  Guitcntag.  1867.  VIII  u.  333  8.  in  gr.  8. 

Diese  Bearbeitung  der  Ritter  des  Aristophanes  schliesst  sich 
ganz,  nach  Plan  und  Einrichtung,  an  die  ähnliche  Bearbeitung  der 
Acharner  an,  welche  der  Verfasser  im  Jahre  1864  hatte  erscheinen 
lassen,  sie  unterscheidet  sich  in  dieser  Beziehung  nur  dadurch,  dass 
der  Verf.  unter  dem  Texte  nicht  etwa  blos  eine  Ausnahme  der 
nabmhaftesten  Abweichungen  angegeben,  sondern  die  bandschrift- 
liche Varia  lectio  aufgeführt  hat  in  der  Weise,  wie  sie  von  den 
verschiedenen  Herausgebern  bis  jetzt  mitgetheilt  worden  ist ;  aller- 
dings nehmen  hier  die  ravennatische  und  venetianische  Handschrift 
die  erste  Stelle  ein,  und  lassen  die  Abweichungen,  welche  in  Be- 
zug auf  die  erstere  Handschrift  zwischen  den  Mittheilungen  Yon 
Bekker  und  Dindorf  stattfinden ,  allerdings  dringend  eine  neue, 
sorgfaltige  Collation  dieser  Handschrift  wünschen,  wie  diess  über- 
haupt bei  allen  den  von  Bekker  verglichenen  und  benutzten  Hand- 
schriften auch  bei  andern  Autoren  der  Fall  ist,  da. man  sich,  wie 
Ref.  zur  Genüge  erfahren  hat,  auf  keine  der  Collationen  Bekker's, 
namentlich  was  die  für  die  kritische  Würdigung  doch  nothwendige 
Vollständigkeit  und  Genauigkeit  derselben  betrifft,  verlassen  kann. 

In  der  vorliegenden  Ausgabe  der  Ritter  erhalten  wir  demnach 
zuerst  eine  Einleitung,  in  welcher  die  historischen  Beziehungen, 
unter  welchen  dieses  Stück  auf  die  Bühne  gebracht  wurde,  erörtert, 
der  Inhalt  des  Stückes  genau  nach  seinen  einzelnen  Theilen  ange- 
geben, und  zuletzt  noch  die  in  neuester  Zeit  vielbesprochene  Person 
des  Kleon  in  ihrem  Verhältniss  zu  Aristophanes  gewürdigt  wird, 
indem  davon  allerdings  die  richtige  Auffassung  des  ganzen  Stückes 
abhängig  ist.  Aristophanes  kann  nach  dem  Verf.  (S.  17)  nicht 
als  ein  unparteiischer  Beurtheiler  des  Kleon  gelten,  da  er  ein  po- 
litischer Gegner  desselben  war  und  die  Rittor  schrieb  nach  einem 
Processe,  den  er  sich  durch  seine  früheren  Angriffe  auf  Kleon  zu- 
gezogen hatte,  was  begreiflicher  Weise  auch  auf  die  Darstellung 
des  Kleon  in  diesem  Stücke  Einfluss  üben  musste  und  die  üeber- 
treibungen  hinreichend  schon  zu  erklären  vermag,  welche  der  Dich- 
ter sich  in  dem  Bilde  erlaubte,  das  er  von  Kleon  für  die  Bühne 

* 


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684  Die  Ritter  des  Aristophane«  von  W.  Ribbeck. 

entwarf.  »Kloon  war,  so  urthoilt  der  Verf.  S.  19,  ein  in  Partei- 
Ansichten  befangener  aber  tbätiger  und  mit  populärer  Redegabe 
ausgestatteter  radicaler  Demokrat  von  höchst  sanguinischem  Tem- 
perament, der  dem  Vaterland  zu  dienen  glaubte,  aber  einerseits 
falsche  Vorstellungen  von  dem  hatte,  was  zum  Heile  des  Vater- 
landes gereichte,  andererseits  vermöge  seiner  Eitelkeit  und  seines 
ungezügelten  lebhaften  Natureis  bisweilen  unbewusst,  bisweilen  ab- 
sichtlich als  Staatsmann  persönliche  Zwecke  verfolgte.  Im  Einzel- 
nen hat  Aristophanes  ihm  Motive  und  Handlungen  angedichtet  Mer 
scheint  sie  ihm  anzudichten,  die  nicht  als  böswillige  Verl  äum  dun  gen 
aufzufassen  sind  und  deren  wahre  Meinung  das  Publikum  gewiss 
sofort  wird  erkannt  haben.  So  kann,  wer  den  Kleon  aus  Aristo- 
phanes allein  kennen  lernen  will,  abgesehen  von  dem  anmuthigen 
Bilde,  das  er  dann  von  der  persönlichen  Erscheinung  des  unglück- 
lichen Mannes  bekommt,  ihn  nur  für  den  abgefeimtesten  Gauner 
und  ruchlosesten  Räuber  halten,  der  je  mit  rafflnirter  Bosheit  einen 
Staat  ruinirt  und  ausgesogen  hat.  Aber  Aristophanes  hat  sich 
sicherlich  nicht  träumen  lassen,  dass  es  einem  späten  Geschlechte 
beikommen  würde,  alle  seine  Crimina  für  vollkommen  buchstäb- 
lich gemeint  zu  nehmen«  u.  s.  w.  »Dergleichen  Erfindungen,  so 
schlichst  der  Verf.  seine  ins  Einzelne  der  gemachten  Anschuldigun- 
gen noch  näher  eingehende  Betrachtung,  gehören  aber  zum  Apparat 
der  Komödie  und  dürfen  nicht  mit  dem  Maassstabe  der  strengen 
Wahrheit  gemessen  werden.« 

An  die  Einleitung  schliesst  sich  noch  eine  TJebersicht  der  von 
dem  Dichter  in  diesem  Stücke  angewendeten  Metra,  Vers  um  Vers, 
und  nun  folgt,  nach  den  vorausgeschickten  griechischen  Argumen- 
ten oder  'Titoftitisis,  der  Text  des  Stückes  mit  der  gegenüberstehen- 
den deutschen  Uebersetzung :  darunter  auf  beiden  Seiten  die  Zn- 
sammenstellung der  Varia  lectio  nach  den  Handschriften  und  Ci- 
taten,  welche  bei  den  Grammatikern  vorkommen ,  die  hier  mit 
vieler  Sorgfalt  und  in  aller  Vollständigkeit  angeführt  sind.  Auf 
den  Text,  der  mit  S.  227  schliesst,  folgt  der  Coramentar,  d.  h. 
die  auf  dem  Titel  bezeichneten  kritischen  und  erklärenden  An- 
merkungen. Dieselben  sind  kritisch,  insofern  sie  in  einzelnen  Fällen 
die  aufgenommene  Lesart  rechtfertigen  oder  in  zweifelhaften  Stellen 
auf  die  richtige  Lesart  führen  sollen ;  die  Mehrzahl  dieser  Anmer- 
kungen betrifft  das  richtige  Verständniss  und  die  richtige  Auffas- 
sung einzelner  in  sprachlicher  wie  sachlicher  Hinsieht  schwierigen 
Stellen  und  namentlich  finden  sieb  auch  die  sachlicheu  Punkte  be- 
rücksichtigt. Es  kann  hier  nicht  der  Ort  sein,  in  das  Einzelne 
der  kritischen  Behandlung,  die  allerdings  manche  Abweichung  von 
den  bisherigen  Herausgebern  bietet  und  das  selbständige  Verfahren 
des  Herausgebers  kennzeichnet,  oder  auch  in  die  Einzelheiten  der 
Erklärung  näher  einzugehen,  indem  diess  billig  den  philologischen 
Zeitschriften,  die  dazu  mehr  Raum  bieten,  zu  überlassen  ist;  man 
wird  aber,  bei  näherer  Durchsicht,  auch  wenn  man  über  Einzelnes 


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Die  Ritter  des  Arietophanes  von  W.  Ribbeck. 


eine  andere  Ansicht  hegen  sollte,  wie  diess  in  der  Natur  der  Sache 
selbst  liegt,  im  Allgemeinen  kein  Bedenkeu  tragen,  diese  Anmer- 
kungen für  befriedigend  und  den  Bedürfnissen  des  Lesers,  der  diese 
Ausgabe  benutzt  und  ein  volles  Verständniss  dieses  Drama' s  ge- 
winnen will,  für  entsprechend  zu  erklären.  Was  die  deutsche  Ueber- 
setzung  betrifft,  dis  sich  streng  an  daB  griechische  Original  hält 
und  dieses  getreu  wiederzugeben  bemüht  ist,  mit  Beibehaltung  des- 
selben Metrum's  (was  bekanntlich  keine  geringe  Schwierigkeit  ist), 
so  wird  ihr  Charakter  am  besten  aus  einer  Probe  ersichtlich  sein, 
welche  wir  hier  beifügen  wollen.  Wir  wählen  dazu  die  in  Ana- 
pästen gehaltene  erste  Parabase  Vs.  506  ff.  (492  ff),  in  welcher  an 
die  Zuhörer  folgende  Worte  vom  Chor  gerichtet  werden: 

Ihr  aber,  wir  bitten,  verleiht  uns  Gehör  und  vernehmet  des  Chors 

Anapaiste. 

Kam  sonst  ein  Komödienscbreiber  und  hiess  zum  Theater  uns  spre- 
chen, ein  alter, 

was  er  über  dieses  und  jenes  gedacht,  in  muthiger  Festparabase, 

nicht  leicht  wohl  geschah  ihm  der  Wille  sodann ;  doch  diesmal  ver- 
dient es  der  Dichter, 

denn  er  hasset  von  Herzen  dieselben  wie  wir,  und  was  Recht  ist, 

das  sagt  er  mit  Kühnheit, 

Trotz  bietet  er  mannhaft  des  SturmeB  Gebrüll  und  der  tobenden 

Wuth  des  Orkanos. 

Mit  Staunen  —  so  spricht  er  —  ist  mancher  von  euch  schon  zu 

ihm  gekommen,  zu  fragen, 

warum  er  nicht  selber  in  eigner  Person  schon  lange  den  Chor  sich 

gefordert ; 

das  sollen  wir  jetzt  euch  erklären,  will  er.    Nicht  Thorheit  war's, 

was  ihn  also 

im  verborgenen  hielt  —  das  trug  er  uns  auf  — ,  vielmehr  es  bewog 

ihn  die  Meinung, 

nicht  geV  es  ein  schwieriger  Ding  auf  der  Welt  als  Komödien 

schreiben  und  spielen, 

denn  viele  schon  hätten's  versuchet,  und  doch  nur  wenigen  sei  es 

gelungen ; 

und  dann  auch,  dass  er  veränderlich  euch  schon  immer  und  launen- 
haft kannte, 

wie  die  früheren  Dichter  im  Alter  noch  stets  ihr  missachtet  und 

treulos  verlassen. 

Da  dacht1  er  zuerst,  wie  es  Magnes  erging,  als  grau  sich  der  Scheitel 

ihm  färbte, 

der  die  Gegner  doch  früher  mit  Chören  so  oft  aufs  beste  zu  schla- 
gen verstanden; 

zu  ergötzen  wohl  wusst'  er  mit  allerlei  Klang,  mit  der  Laute,  mit 

Vögelgezwitscher, 


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686  Die  Ritter  des  Arietophanes  von  W.  Ribbeck. 

mit  Lydergesang,  Gallwespengesumm,  laubfroscbgrünschimmerndem 

Anstrich; 

doch  gefiel  er  zuletzt  euoh  nicht  mehr,  er  ward  (ein  Greis,  nicht 

da  er  ein  Jungling), 

weil  im  Spotten  der  Meister  dem  Alten  sich  fand,  vom  Theater 

gar  schimpflich  verbannet. 

Und  weiter  gedacht  er  des  wackern  Kratin,  wio  er  einst  weit  strah- 
lendes Ruhmes 

einherfuhr  über  das  flache  Gefild  ein  gewaltiger  Strom  und  ent- 
wurzelnd 

mitführte  Platanen  und  Eichen  mit  Macht  und  zu  Boden  geschmet- 
terte Feinde; 

bei  Gelagen  vernahm  man  nichts  anderes  mehr,  als  'Bestechung  mit 

Feigensandalen 

und  'Bildner  des  Sanges  voll  edelster  Kunst',  so  hoch  stand  jener 

in  Blüthe. 

Doch  nun,  da  ihr  seht,  dass  zum  Aberwitz  ward  sein  Witz,  wo 

fühltet  ihr  Mitleid, 

da  der  Schmuck  ihm  dahin  und  der  mächtige  Klang  aufhört  von 

der  Leier  zu  strömen 

und  die  Saiten  verstimmt  und  die  Fugen  gesprengt?  so  irrt  er  als 

Greis  nun  verlassen, 

gleich  Konnas  bewahrend  den  trockenen  Kranz,  doch  verschmach- 
tend mit  durstiger  Zunge ; 

der  ob  früherer  Siege  doch  wahrlich  verdient  hochpreislich  im 

Rathhaus  zu  zechen 

und  nimmer  zu  faseln,  ansehnlich  vielmehr  ein  Geselle  des  Bakchos 

zu  thronen. 

Und  Krates,  was  hat  er  für  Launen  von  euch  zu  erdulden  gehabt 

und  für  Tritte, 

der  mit  massigen  Kosten  ganz  tüchtig  verstand  euch  bewirthet  von 

hier  zu  entsenden 

gar  spasshafte  Sachen  nach  Hausmannsgeschmaok  zurüstend  für 

eueren  Gaumen; 

doch  hat  er  sieb  allein  noch  gehalten,  manchmal  durchfallend  und 

manchmal  gefallend. 
Dies  allos  hat  immer  in  Angst  ihn  versetzt,  und  dazu  noch  erfüllt 

ihn  die  Meinung, 
erst  müsse  man  gründlich  das  Rudern  verstehen,  eh'  am  Steuer  zu 

sitzen  man  tauge, 
dann  Untersteuermann  werden  gemach  und  die  Winde  studieren 

mit  Eifer, 

und  zuletzt  erst  komme  des  Steuermanns  Kunst.    Aus  all  den 

Gründen  nun  also, 

weil  mit  Sinn  und  Verstand  er  die  Sachen  betreibt  und  nicht  albern 

ins  Haus  mit  der  Thür  fallt, 


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Vering:  Geschichte  v.  Institutionen  des  röm.  Rechte.  8.  Aufl.  687 

hoch  lasset  des  Beifalls  Wogen  ihm  geh'n  und  erhebet  mit  elf- 
fachem Schlage 
des  lenaischen  Festes  willkommenen  Lärm, 
dass  der  Dichter  hübsch  fröhlich  das  Haus  nns  verlässt, 
weil  es  heut  ihm  gelahg, 
hell  strahlend  mit  leuohtendem  Antlitz! 

Oder  die  Ansprache  an  die  Pallas  in  der  Antistrophe  in  Gly- 
coneen  581  ff. 

Schützer  in  Pallas,  unsres  hoch- 
heiligen Landes  Königin, 
welches  der  Dichter  Ruhm  und  Kriegs- 
thaten  und  Macht  erheben  weit 
über  die  Länder  alle; 
nah'  dich,  o  komm  mit  unserer 
Gönnerin  Nike  auf  den  Feld- 
zügen  und  in  den  Schlachten, 
die  der  festlichen  Chorlieder  sioh  freuet 
und  den  Feinden  mit  uns  stehet  genüber. 
Komm  o  Göttin,  erscheine  jetzt! 
gilt's  mit  jeglicher  Kunst  doch  heut 
uns  den  Männern  des  Ritterstands 
Sieg  zu  schaffen,  wenn  jemals. 

Nooh  ist  zu  bemerken,  dass  ein  Index  beigefügt  ist,  in  wel- 
chen jedes  griechische  Wort,  das  in  diesem  Stücke  vorkommt,  auf- 
genommen ist.  Die  äussere  Ausstattung  des  Ganzen  in  Druck  und 
Papier  ist  vorzüglich  zu  nennen. 


Geschichte  und  Institutionen  des  römischen  PHvatrechts  von  Dr. 
Friedrich  H.  Vering,  Professor  der  Rechte  an  der  Uni- 
versität au  Heidelberg.  Zweite  umgearbeitete  sehr  vermehrte 
Außaqe.  Mainz.  Verlag  von  Frans  Kirchheim.  1867.  XI  und 
564  S.  gr.  &  (2  Thlr.) 

In  meiner  Selbstanzeige  der  ersten  Auflage  in  diesen  Jahr- 
büchern 1865.  Nr.  30.  S.  476  ff.  habe  ich  mich  über  Zweck  und 
Plan  meines  Werkes  des  Näheren  ausgesprochen.  Die  vorliegende 
zweite  Auflage  ist  eine  umgearbeitete  und  sehr  vermehrte.  Der 
Text  des  Buches  ist  um  118  Seiten  vermehrt,  dagegen  das  Regi- 
ster durch  oompresseren  Druck  auf  einen  um  einen  halben  Bogen 
kleineren  Raum  zusammengedrängt.  Ich  habe  im  Wesentlichen  den 
ursprünglichen  Plan  festgehalten,  ein  Lehrbuch  der  Geschichte  des 
römischen  Privatrechts  und  des  heutigen  gemeinen  Rechts  zu  bie- 
ten, welches  sich  durch  Einfachheit  und  Fassliohkeit  der  Darstel- 


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688     Vering:  Geschichte  n.  Institutionen  des  röm.  Rechts.  2.  Aufl. 

lung  als  Eiuleituugswerk  für  Anfanger  und  durch  Vollständigkeit 
seines  Inhalts  auch  zur  Repetition  und  zum  Nachschlagen  eigene. 
Durch  viele  grössere  und  kleinere  Verbesserungen  in  der  Fassung 
und  Darstellung,  durch  einige  Erweiterung  der  äussern  Rechtsge- 
scbichte,  Vervollständigung  der  inneren  Rechtsgeschichte  und  theii- 
weise  neue  Aufnahme  einer  Anzahl  dogmatisch  wichtiger  Lehren  hoffe 
ich  das  Buch  für  seinen  Zweck  noch  brauchbarer  gemacht  zu  haben. 
Statt  der  früheren  18  Bücher,  in  die  das  Werk  zerfiel,  habe  ich 
aus  Buch  I — IX  jetzt  ein  erstes  Buch:  Allgemeine  Lehren 
mit  9  Kapiteln  gemacht  (1.  von  dem  Rechte  und  den  Rechtsregeln 
im  Allgemeinen,  2.  die  Bearbeitungen  und  Sammlungen  des  römi- 
schen Rechts,  3.  die  Natur  der  Rechte  im  6ubjectiven  Sinne,  4.  von 
der  Rechtsfähigkeit  oder  Persönlichkeit,  5.  Begriff  und  Arten  der 
Sachen,  6.  von  dem  Erwerbe  und  Verluste  der  Rechte,  7.  vom 
Einflüsse  der  Zeit,  8.  die  Sicherung  und  Vertheidigung  der  Rechte, 
9.  der  Besitz).  Buch  II  behandelt  in  5  Kapiteln  die  dinglichen 
Rechte  (1.  Eigenthum,  2.  Servituten,  3.  Emphyteuse,  4.  Superficies, 
5.  Pfandrecht).  Buch  III  das  Obligatiouenrecht.  Buch  IV  in  3  Ka- 
piteln das  Familienrecht  (1.  das  Eherecht,  2.  die  patria  potestas, 
3.  die  Vormundschaft).  Buch  V  das  Erbrecht. 

Auch  die  Zahl  der  Paragraphen  ist  von  236  auf  274  ver- 
mehrt, iudem  mehrere  ganz  neu  hinzugefügt  und  einige  durch  Zer- 
legung in  kleinere  Abschnitte'unter  Erweiterung  des  Inhalts  dersel- 
ben hinzugekommen  sind.  Im  ersten  Buche  sind  namentlich  ganz 
neu  hinzugefügt,  die  Paragraphen  22  —  24  über  die  Anwendung 
der  Gesetze  in  Ansehung  der  Personen,  in  örtlicher  Beziehung  und 
in  Ansehung  der  Zeit,  §.27  über  die  römischen  Juristen  in  ihrer 
Aufeinanderfolge  und  deren  Tbätigkeit  im  Einzelnen,  §.  83  von 
der  Stellvertretung  u.  s.  w.  Auch  habe  ich  jetzt  an  verschiedenen  Stel- 
len kurz  die  Grundabweichungen  des  germanischen,  des  canonischen 
und  des  modernen  Rechtes  von  den  römischen  Rechtsgrundsätzen 
mit  Petitschrift  hervorgehoben.  So  S.  222  die  Ausdehnung  des 
Begriffes  der  juris  quasi  possessio  im  canonischen  und  germanischen 
Rechte,  S.  278  die  deutschrechtliche  Erbpacht  im  Unterschiede  von 
der  Emphyteusis,  S.  317  die  modernen  Obligationen  auf  den  In- 
haber im  Gegensatze  zur  römischrechtlichen  Unübertragbarkeit  des 
Forderungsrechtes,  S.  462  die  Grundabweichungen  des  germanischen 
und  canonischen  Begriffes  der  Erbschaft  und  Erbfolge  von  der  Auf- 
fassung des  römischen  Rechts.  Im  Einzelnen  ist  so  zu  sagen  kein 
Paragraph  ohne  grössere  oder  kleinere  Veränderungen  und  Verbes- 
serungen geblieben.  Auch  der  Druck  in  der  2.  Auflage  zeichnet 
sich  durch  viel  grössere  Correktheit  von  der  1.  Auflage  aus,  wäh- 
rend im  Uebrigen  die  Ausstattung  vielleicht  noch  mehr  wie  bei 
der  1.  Auflage  befriedigen  wird.  Fr.  H.  Vering. 


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Nr.  44. 


HEIDELBERGER 


1867. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Traiie  d'Algebre,  ä  l'usage  des  candidats  aux  Ecoles  du  Gouver- 
nement, par  //.  Laurent,  Repe'tileur  d*  Analyse  ä  VEcole 
Polytechnigue  et  ancien  Eleve  dt  cette  Ecole.  Paris,  Qauthier- 
Villars.  1867.  (XVI.  u.  520  8.  in  8). 


Das  vorliegende  Buch  hat  sieh  zur  Aufgabe  gestellt,  dieje- 
nigen, welche  in  die  Schulen  der  französischen  Regierung  eintreten 
wollen,  in  der  Algebra  so  weit  zu  führen,  als  das  von  der  Regie- 
rung festgesetzte  Programm  es  fordert.  In  einigen  Punkten  ist  es 
übrigens  insoferne  von  diesem  Programme  abgewichen,  als  eine 
oder  die  andere  Theorie  etwas  weiter  entwickelt  wurde,  als  nach 
der  Vorschrift  gerade  nöthig  war. 

Indem  wir  nachstehend  eine  kurze  üebersicht  des  Inhalts 
geben,  bezwecken  wir  zugleich  damit,  das  Maass  der  elementaren 
Kenntnisse  in  der  Mathematik  zu  bezeichnen,  welche  in  Frankreich 
für  den  Eintritt  in  die  polytechnische  Schule  und  ähnliche  An- 
stalten gefordert  werden.  Dazu  bemerken  wir  gleich  von  vorn 
herein,  dass  die  Darstellung  im  Allgemeinen  eine  untadelhafte  ist. 

Das  Buch  beginnt  mit  der  Theorie  der  >vier  Operationen«, 
nachdem  es  die  negative  Zahl  nicht  als  für  sich  bestehend  ange- 
sehen wissen  will,  sondern  sie  immer  nur  als  Theil  einer  Formel, 
in  der  die  übrigen  Glieder  eben  nicht  besonders  angegeben  wer- 
den, betrachtet.  Darauf  wird  der  Gränzbegriff  eingeführt  und  auf 
die  Behandlung  der  incommensurablen  Grössen  angewendet,  und 
endlich  die  Grundprinzipien  der  algebraischen  Rechnung  augegeben. 

Das  zweite  Kapitel  behandelt  die  Polynome,  die  algebraischen 
Brüche  und  die  mit  diesen  Grössen  auszuführenden  (vier)  Rechnungs- 
arten, worauf  im  dritten  Multiplikation  und  Division  geordneter 
Polynome,  die  Eigenschafton  ganzer  Funktionen  und  die  dabei  in 
Betracht  kommende  Methode  der  unbestimmten  Koeffizienten  dar- 
gestellt werden. 

Das  nächste  Kapitel  betrachtet  die  arithmetischen  Warzol- 
grüssen, bezüglich  deren  Theorie;  beweist  sodann  die  Binomial- 
formel,  welche  auf  ein  beliebiges  Polynom  erweitert  wird,  wozu 
noch  die  Ausziehung  der  Quadratwurzel  aus  einem  Polynom  hinzu- 
kömmt. Im  fünften  Kapitel  werden  die  Gleichungen  ersten  Grades 
mit  einer  und  mehrern  Unbekannten  nach  verschiedenen  Methoden 
aufgelöst,  wobei  auch  die  Ausnahmsfalle,  die  dabei  auftreten  können, 
berücksichtigt  werden.  Hieran  schliest  sich  naturgemäss  eine  ele- 
mentare Theorie  der  Determinanten,  dann  einige  Aufgaben,  sowie 
einige  Fuudamentalsätze  der  Theorie  der  Gränzwerthe. 


LDL  Jahrg.  9.  Heft 


44 


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L»urent:  Tralte  d'Algebre. 


Das  sechste  Kapitel  behandelt  die  Gleichung  zweiten  Grades 
in  eingehender  Weise,  woran  die  Auflösung  von  Aufgaben  Aber 
Maxima  mittelst  der  Gleichungen  zweiten  Grades  geknüpft  werden. 
Die  arithmetischen  und  geometrischen  Reihen  in  kurzer  Darstel- 
lung bilden  den  Inhalt  des  siebenten  Kapitels,  indess  das  achte  in 
grösserer  Ausführlichkeit  die  combinatorischo  Analysis  behandelt, 
wobei  das  Binom,  die  figurirten  Zahlen,  die  Berechnung  der 
Anzahl  Kugeln  in  Kugelhaufen,  die  Factoriellen  und  einige  Sätze 
aus  der  Zahlenlehre  als  Anwendung  der  allgemeinen  Sätze  auf* 
treten.    Damit  schliesst  der  erste  Theil  des  Buches. 

Der  zweite  Theil,  welcher  die  > algebraische  Analysis«  ent- 
halt, beginnt  mit  dem  Begriffe  der  Stetigkeit  und  einigen  Sätzen 
über  stetige  Funktionen,  worauf  dann  die  einfache  algebraische 
Funktion  (x10),  die  Eponentialfnnktion  (a*)  und  die  logarithmische 
Funktion  (log  x)  hinsichtlich  ihrer  Eigenschaften  untersucht  wer- 
den. Bei  letzterer  vorweilt  das  Buch,  wie  das  in  der  Natur  der 
Sache  liegt,  länger,  indem  namentlich  die  geschichtliche  Entwick- 
lung des  Logarithmus  dargestellt  wird.  Als  Anwendung  erscheint 
die  Zinseszins-  und  Annuitäten-Rechnung. 

Im  dritten  Kapitel  wird  die  Theorie  der  imaginären  Grössen 
dargestellt.  Der  Verf.  geht  dabei  von  der  Cauchyschen  Theorie 
der  algebraischen  Schlüssel  (clefs)  und  dessen  symbolischen  Gleich- 
ungen aus.  Die  ganze  Theorie  erhält  aber  dadurch  so  sehr  einen 
Anstrich  von  Willkürlichkeit,  dass  wir  nicht  dafür  halten,  in  einem 
elementaren  Kursus  so  verfahren  zu  sollen.  Ohnehin  ist  die  Be- 
deutung von  V-  Ii  wenn  man  von  einer  solchen  reden  will,  in 
dieser  Weise  nicht  festzustellen. 

Das  vierte  Kapitel  behandelt  in  eingehender  Untersuchung 
die  allgemeine  Theorie  der  Reihen,  also  vorzugsweise  die  Konver- 
fenz und  Divergenz  unendlicher  Reihen,  dann  die  Rechnung  mit 
lenselben,  woran  die  Summirung  einiger  unendlicher  Reihen  sich 
schliesst,  wie  etwa  des  (allgemeinen)  Binomiums ;  daraus  dann  Be- 
stimmung des  Gränzwerthes  von  ^1  +~^»  die  exponentiale  und 

die  trigonometrischen  Reihen,  die  logarithmische  Reihe,  Berech- 
nung von  n  u.  s.  w. 

Das  fünfte  Kapitel  handelt  von  den  unendlichen  Produkten 
und  den  Kettenbrüchen,  wobei  namentlich  auch  die  Verwandlung 
von  Reihen  in  Kettonbrüche  erläutert  wird.  Im  sechsten  Kapitel 
wird  sodann  die  Theorie  der  ganzen  Funktionen,  also  die  Elemente 
der  höheren  algebraischen  Gleichungen  gegeben;  die  eigentliche 
Auflösung  der  numerischen  Gleichungen  findet  sich  sodann  im  fol- 
genden Abschnitte,  in  dem  alle  Sätze  zusammengestellt  sind,  na- 
mentlich werden  die  bekannten  Lehrsätze  von  Descartes,  Budan 
(Fourier),  Rolle  und  Sturm  erwiesen.  Die  thatsächliche  Auflösung 
mittelst  der  theoretisch  angedeuteten  Näherungsmethoden  ist  wohl 
etwas  zu  kurz  abgethan. 


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Europäische  Gradmewung  für  1866. 


691 


Zur  Theorie  der  Gleichungen  gehört  aaeh  noch  das  achte 
Kapitel,  das  von  der  Elimination  handelt,  bei  der  dann  natürlich 
der  Satz  von  Bezout  (nach  Lionyille)  bewiesen  wird.  Einige  be- 
sondere Arten  von  Gleichungen  (binomische,  dritten  und  vierten 
Grades)  löst  der  nächste  Acshnitt  auf. 

Im  zehnten  Kapitel  wird  die  Zerfällung  in  PartialbrUche  ge- 
lehrt, während  das  elfte  (nnd  letzte)  die  Elemente  der  Differential- 
rechnung (unter  der  Bezeichnung:  theorio  des  fonctions  därivees) 
auffuhrt.  Die  Anwendungen  beziehen  sieh  auf  eine  kurze  Darstel- 
lung der  Maxima  und  Minima,  den  Beweis  des  allgemeinen  Taylor? 
sehen  Satzes  und  die  Untersuchung  der  scheinbar  unbestimmten 
Formen. 

Damit  haben  wir  in  Kurze  den  Inhalt  des  Buches  näher  be- 
zeichnet und  empfehlen  dasselbe,  seiner  im  Allgemeinen  gründ- 
lichen Darstellung  wegen,  der  Aufmerksamkeit  der  jungen  Mathe- 
matiker. 

Generalbericht  über  die  europäische  Qradnxemmg  für  das  Jahr 
1866.    Berlin.  Druck  und  Verlag  von  Qeorg  Reimer.  1867. 

Indem  wir  für  die  gütige  Zusendung  des  Generalberichtes  für 
1866  unsern  Dank  hiermit  aussprechen,  wollen  wir  den  Leaern 
dieser  Blätter  durch  eine  Uebersicht  des  Inhalts  den  Stand  des 
für  die  Wissenschaft  so  wichtigen  Unternehmens  am  Schlüsse  des 
Jahres  1866,  das  allerdings  für  solche  Arbeiten  nioht  günstig  war, 
bezeichnen. 

Wie  aus  unsern  früheren  Anzeigen  bekannt,  enthält  der  „Ge- 
neralbericht c  die  Zusammenstellung  der  Berichte  der  einzelnen 
Kommissäre  (Länder)  jeweils  auch  noch  mit  wissenschaftlichen 
oder  praktischen  Beigaben,  die  dem  angestrebten  Ziele  dienen. 

Der  alphabetischen  Ordnung  folgend,  beginnt  Baden  die  Reihe 
dieser  Berichte.  Nachdem,  in  Folge  der  Aufforderung  des  Zentral- 
bureaus für  die  europäische  Gradmessung,  von  der  Grossherzog- 
lichen Regierung  die  Originaldreiecke  erster  Ordnung  an  jenea 
eingereicht  waren,  stellte  sich,  wie  schon  aus  den  früher  vorgelegten 
Koordinaten,  heraus,  dass  zwischen  der  badischen  Vermessung 
nnd  den  an  sie  angeschlossenen  Differenzen  bestehen,  welche  als 
unzulässig  erklärt  werden  müssen.  Es  wird  also  wohl  eine  neue 
Messung  nothwendig  werden  und  es  hat  sioh  dessbalb  das  Central? 
bureau  (Vorstand:  General  Baeyer)  erboten,  Beobachter  und  In? 
strumente  dazu  zu  stellen,  natürlich  unter  der  Voraussetzung,  daas 
die  badiache  Regierung  —  wie  sie  dies  selbst  vorgesehlagen  —  die 
weitern  Kosten  trage. 

Aus  Baiern,  Belgien,  Dänemark  gingen  bis  zur  Ab- 
fassung des  Berichts  noch  keine  Naohrichten  ein.  Frankreich,  das 
bekanntlich  nicht  in  den  Bereich  der  eigentlichen  Gradmessung  fällt, 


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692 


Europäische  Gradmessung  für  1866. 


hat  aber  sonst  seine  Mitwirkung  durch  Anschluss  seiner  ausge- 
dehnten Messungen,  sowie  durch  Messung  von  Längengraden  u.  s.w. 
zugesagt.  Yvon  Villarceau  hat  in  einer  kleinen  Schrift :  Notice 
snr  les  travaux  soieutifiques,  Paris  1866,  eine  historische  Über- 
sicht über  die  wissenschaftlichen  Arbeiten  in  Frankreich  gegeben, 
aus  der  nun  der  Generalbericht  so  viel  heraushebt,  als  zum  Ver- 
ständnisse dessen  nöthig  ist,  was  durch  die  Mitwirkung  Frankreichs 
für  die  europäische  Gradmessung  geschehen  ist.  Diesen  Auszügen 
ist  ein  Aufsatz  von  Y.  Villarceau  beigegeben }  in  dem  ein  neues 
Theorem  in  Bezug  auf  den  Eiufluss  der  Lokalanziehungen  auf  Länge 
und  Azimuth  erwiesen  und  dann  zum  Beweise  des  von  Laplace 
in  der  »Mecanique  Celeste«  (Ausgabe  von  1799,  tome  II,  pag.  177, 
Zeile  5  v.  u.)  durch  eine  sehr  umständliche  Behandlung  gefundenen 
Satzes  verwendet  wird.  Die  allgemeine  Anwendung  dieses  Satzes 
auf  das  Studium  der  Erdfigur  wird  dann  noch  angedeutet.  End- 
lich ist  eine  neue  Bestimmung  des  Haupt  -  Azimuthes  zur  allge- 
meinen Orientirung  der  Karte  von  Frankreich,  von  demselben  Ge- 
lehrton, angegeben. 

Aus  Darm  stadt  ging  kein  Bericht  ein;  aus  Holland  ging 
wohl  ein  solcher  ein,  der  aber  wesentlich  nur  Pläne  für  die  Zu- 
kunft enthält.  Aus  Italien  wird  eine  »Kelazione  sugli  studii 
fatti  per  assegnare  il  coefficiente  di  temperatura,  e  la  lunghezza 
della  Tesa  del  Macchsto  Spano  inviata  a  Berlino«  mitget heilt, 
deren  Titel  ihren  Inhalt  genügend  bezeichnet  und  wozu  wir  nur 
bemerken,  dass  die  Beobachtungen  selbst  mitgetheilt  sind. 

Mecklenburg  und  Oesterreich  haben  keine  Berichte 
eingesendet;  dagegen  ist  aus  Oldenburg  ein  solcher  über  die 
Feststellung  eines  Beobachtungspunktes  am  Jade-Busen  und  über 
dort  gemachte  Beobachtungen  vorgelegt. 

Nachdem  die  spanische  Regierung  sich  aus  freien  Stücken  er- 
boten, bei  der  europäischen  Gradmessung  ihrerseits  mitzuwirken, 
wurde  auch  die  portugiesische  darum  ersucht,  und  es  hat  letztere 
den  Direktor  des  geographischen  Instituts  in  Lissabon  beauftragt, 
sich  hierwegen  mit  dem  Centraibureau  in  Verbindung  zu  setzen. 

Aus  Preussen  erstattet  zuerst  General  Baeyer  Bericht  über  die 
durch  den  Krieg  leider  beschränkten  Arbeiten  des  Jahres  1866; 
sodann  werden  Berichte  aus  Holstein,  Hannover,  Kurhessen,  zum 
Theile  unter  Mittheilang  von  Originalbeobachtungen,  aufgeführt. 
Eine  höchst  wichtige  Zugabe  bildet  ein  Auszug  aus  dem  »Monats- 
bericht der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin«  worin  die 
Beobachtungen  besprochen  werden,  welche  General  Baeyei  über 
>die  Veränderungen,  welche  Maassstäbe  von  Eisen  und  Zink  in 
Bezug  auf  ihre  Länge  und  ihren  Ausdehnungs-Koeffizienten  mit  der 
Zeit  erleiden«,  gemacht  hat. 

Russland  sandte  den  27.  Band  der  Memoiren  des  Kriegs- 
karten-Depots ein;  die  telegraphischen  Lungenbestimmungen  wur- 


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Europaische  Gradmesaung  für  1866.  698 


den  von  Saratow,  wo  sie  1865  abgebrochen  wurden,  bis  Orenborg 
fortgesetzt. 

Aus  Sachsen  erstattet  Weisbach  Bericht  über  eine  Reihe 
von  Nivellirarbeiten ,  und  Bnihns  über  die  begreiflich  sehr  be- 
schränkten geodätisch-astronomischen  Arbeiten.  Aus  Schweden 
wird  angezeigt,  dass  ungeachtet  der  beständig  misslichen  Witte- 
rung, behufs  Umarbeitung  des  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  ge- 
messenen Dreiecksnetzes,  die  Ausstreckung  des  (neuen)  Netzes  voll- 
zogen wurde. 

Aus  der  Schweiz  wird  ein  Protokoll- Auszug  der  Commissions- 
Sitzung  vom  4.  April  1866,  Nivellirungsarbeiten  betreffend,  mitge- 
tbeilt;  Spanien  ist  mit  seinem  Berichte  noch  im  Rückstand  und 
Württemberg  erwartet  noch  bestimmte  Entscbliessung  seiner 
Regierung. 

So  weit  der  Generalbericht,  wie  er  der  diesjährigen  Conferenz 
in  Wien  vorzulegen  war  (25.  April).  Nachträglich  sind  nun  noch 
weitere  Einzelberichte  eingegangen,  die  also  auch  als  »Nachtrag« 
zu  dem  eigentlichen  Berichte  erscheinen. 

Aus  Oesterreich,  in  dem  die  geodätischen  Arbeiten  zu 
feiern  hatten ,  werden  (ausführlich)  astronomische  Beobachtungen 
zur  Feststellung  von  Azimuth  und  Polhöhe  mitgetheilt,  die  durch 
diese  vollständige  Darlegung  von  grossem  Interesse  sind ;  aus 
Preussen  ist  ein  Bericht  des  Prof.  Förster  über  die  Längebe- 
stimmung Berlin-Königsberg  gegeben,  in  dem  ganz  besonders  auf 
die  persönliche  Gleichung  zwischen  den  Beobachtern  Rücksicht  ge- 
nommen wird;  endlich  enthält  eine  »Beilage«  den  Beweis,  dass 
auch  in  Preussen,  wie  anderwärts,  zuweilen  Missverständnisse  vor- 
kommen. Unsers  Wissens  ist  die  hier  berührte  Sache,  welche 
schon  in  dem  Generalbericht  für  1865  (S.  30)  angodeutet  wurde, 
auch  anderweitig  zur  öffentlichen  Besprechung  gelangt. 

Zum  Schlüsse  unserer  Anzeige  können  wir  nur  den  Wunsch 
aussprechen,  dass  der  um  die  Wissenschaft  und  die  Anwendung 
derselben  so  hochverdiente  General  Baeyer  noch  lange  mit  unge- 
schwächter Kraft  an  dem  von  ihm  unternommenen  und  ins  Leben 
gerufene  Werken  thätig  sein  möge. 

Dem  Generalbericht  liegt  das  »Protokoll  der  Sitzungen  der  per- 
manenten Comraission  der  mitteleuropäischen  Gradmessung  in  Wien 
vom  25.  — 30.  April  1867«  bei.  Diese  Sitzungen  wurden  unter  dem 
Vorsitze  von  Hansen  und  mit  den  Schriftführern  Bruhns  und 
Hirsch  an  den  eben  angegebenen  Tagen  gehalten.  Ihnen  wohnten, 
ausser  den  Genannten,  noch  die  Mitglieder  der  permanenten  Kommis- 
sion :  Baeyer  und  v.  F 1  i g e  1  y ,  sowie  die  (Rcgierungs-)Commissare 
Peters,  Wittstein,  Herr,  Schering,  Hornstein  und  v. 
Ganahl  bei.  Die  Verhandlungen  bewegten  sich  im  Kreise  der  bereits 
im  Generalbericht  angedeuteten  Gegenstände ;  sodann  wurden  einzelne 
Berichte  über  die  im  Aliegmeinon  freilich  nicht  tibervielen  Ar- 
beiten des  Jahres  1866  erstattet,  und  endlich  eine  Geschäftsord- 


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604 


Ligowski:  Taschenbuch  der  Mathematik. 


nung  für  die  allgemeine  Conferenz,  welche  am  30.  September  1867 
in  Berlin  zusammentreten  soll,  festgeset.  Ebenso  unterstützte,  be- 
züglich befürwortete  die  permanente  Kommission  in  einem  Schreiben 
an  das  k.  pr.  Ministerium  des  Unterrichts  die  Gründung  eines 
geodätischen  Instituts  in  Berlin. 


Taschenbuch  der  Mathematik.  Tabellen  und  Formeln  zum  Gebrauche 
für  den  Unterricht  an  höheren  Lehranstalten  und  zur  An- 
wendung bei  den  in  der  Praxi*  vorkommenden  Berechnungen. 
Bearbeitet  von  Dr.  W.  Ligowski,  Prof.,  Lehrer  an  der 
ver.  Art:-  und  Ing. -Schule  in  Berlin.  Mit  Holzschnitten.  Berlin 
Verlag  von  Ernst  und  Korn.  tS67.  (XVI.  u.  172  8.  in  kl.  8). 

Das  Torliegende  Taschenbuch  ist,  trotz  der  verhältnisemässig 
geringen  Seitenzahl,  vollständig  und  zweckmässig,  wenn  man  die 
Anforderungen  nicht  gar  zu  hoch  spannt.  Natürlich  sind  blos  die 
Sätze  angeführt,  ohne  dass  ein  Beweis  derselben  angedeutet  wäre, 
wie  dies  auch  ganz  in  Ordnung  ist.  Ob  die  Logarithmentafeln  in 
einem  solchen  Buche  aufzuführen  sind  oder  nicht,  lässt  sich  be- 
streiten; sie  sind  in  dem  vorliegenden  enthalten  und  wir  wollen 
des8halb  über  die  theoretische  Frage  der  Zwekmässigkeit  ganz 
wegsehen. 

Die  Bedeutung  des  Buches  wird  sich  für  den  Lehrer  am  besten 
aus  einer  Uebersicht  des  Inhalts  ergeben,  da  ja  daraus  auch  am 
sichersten  entnommen  werden  kann,  ob  dasselbe  etwa  den  persön- 
lichen Wünschen  entspreche  oder  nicht. 

Den  Beginn  des  Buches  bilden  Vorschriften  für  den  Gebrauch : 
der  gewöhnlichen  Logarithmen,  sowie  der  natürlichen  und  der 
Gaussischen ;  der  trigonometrischen  Logarithmen ;  der  Tabelle  zur 
Ermittelung  der  hyperbolischen  Funktionen  und  der  hyperbolischen 
Cosinus  und  Sinus. 

Diesen  Anweisungen  folgen  nun  die  Tabellen  Selbst  und  zwar: 
eine  Tabelle  der  gewöhnlichen  Logarithmen  mit  vier  Dezimalen, 
in  einer  etwas  von  der  gebräuchlichen  verschiedenen  Form,  für  die 
Zahlen  Von  1  bis  999 ;  sodann  eine  Tabelle  der  Gaussischen  Lo- 
garithmen, für  Addition  und  Subtraktion  eingerichtet,  ebenfalls 
mit  vier  Dezimalen;  eine  Tabelle  der  Logarithmen  der  vier  trigo- 
nometrischen Funktionen  von  10  Minuten  zu  10  Minuten;  die 
Werthe  derselben  Funktionen  in  derselben  Ausdehnung,  sowie  der 
Sekante  und  Cosekante;  die  Werthe  der  Bögen  wieder  in  der- 
selben Weise ;  die  Werthe  von  1  tg  ^45<>  +-|) ;  die  Werthe  der 
hyperbolischen  Sinus  und  Cosinus  des  Fogens  ip,  wenn  ip  von  o 


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Ligowtkl:  Taschenbuch  der  Mathematik.  895 

t 

.  2  Pu 

bis  8'45  gebt ;  daneben  sind  die  Werthe  von  — - 1  e  dt  angeföbrt 

o 

t 

wenn  —  von  0  bis  5  gebt  (q  =  0*47694)  oder  t  von  0  bis  2*3 : 

eben  so  die  Wertbe  von  log  T(a)  f ür  a  von  l'Ol  bis  1*99;  Zablen- 
werthe  und  Logarithmen  häufig  vorkommender  (meist  mit  %  zu- 
sammenhängender) Zahlen;  eine  Tabelle  rationaler  Dreiecke;  Ta- 

3 

bellen  für  d»,  d*>  d1,  Y^d,  V^d,  wenn  d  in  ganzen  Zahlen 

von  1-1000  gebt;  endlich  eine  Tabelle  für  «j,  e(-|-,  b  ), 

wenn  e  =  Sin  a  und  a  durch  halbe  Grade  von  0°— 90°  geht. 

Nach  diesen  Tabellen  werden  nun  die  einzelnen  Zweige  der 
mathematischen  Wissenschaften  behandelt. 

Aus  der  Arithmetik  erscheinen:  die  Grundformeln  in  posi- 
tiven und  negativen  Zahlen;  die  Potenzen  und  Wurzeln;  die  ima- 
ginären Zahlen ;  die  Lehrsätze  der  Logarithmentheorie ;  die  Ketten- 
brüche ;  die  Factoriellen  und  Binominalkoeffizienten ;  die  Combi- 
nationslehre ;  die  Determinanten ;  die  endlichen  Reihen ;  die  arith- 
metischen Reihen;  Entwicklung  der  Funktionen  in  Reihen;  allge- 
meiner binomischer  Lehrsatz ;  Exponential-  und  logarithmische  Rei- 
hen ;  die  hyperbolischen  Funktionen ;  Gleichungen  und  die  Elimi- 
nationsmethoden ;  Proportionen ;  Theilungs  -  und  Zinsrechnung ; 
allgemeines  arithmetisches  Mittel ;  Gleichungen  des  zweiten,  dritten 
und  vierten  Grades ;  höhere  Gleichungen ;  reziproke  Gleichungen. 

Die  Goniometrie  enthält  die  Beziehungen  der  vier  trigo- 
me  tri  sehen  Funktionen  in  den  vier  Quadraten ;  die  Auswertbung 
derselben  durch  einander ;  die  zwischen  den  trigonometrischen 
Funktionen  verschiedenen  Winkel  bestehenden  Verhältnisse ;  Sum- 
mirung  trigonometrischer  Reihen ;  die  Formeln  zur  Berechnung  der 
Funktionen  kleiner  Winkel;  die  Gleichungen  zwischem  dem  Arcus 
(letzteres  unserer  Meinung  nach  nicht  vollständig,  da  wir  hinsicht- 
lich dieser  Arcus  gewisse  Einschränkungen  machen). 

Ans  der  ebenen  Trigonometrie  werden  die  allgemeinen 
Gesetze  aufgeführt  für  das  rechtwinklige,  gleichschenklige  und  schief- 
winklige Dreieck,  wobei  die  Formeln  für  Flächeninhalt  ebenfalls 
gegeben  sind,  sowie  für  die  ein-  und  umgeschriebenen  Kreise.  Dann 
werden  die  Formeln  zur  Berechnung  der  Stücke  ebener  Figuren 
für  die  obigen  dreierlei  Dreiecke,  das  Parallelogramm,  Trapez, 
Viereck  im  Kreise,  Trapezoid  und  die  regulären  Vielecke  gegeben, 

Die  sphärische  Trigonometrie  enthält  die  Grundfor- 
meln und  deren  Anwendung  in  gedrängter  Kürze. 

Aus  der  S  t  e  r  e  o  m  e  t  r  i  e  (die  ebene  Geometrie  ist  übergangen) 
werden  die  Berechnungen  der  gewöhnlichen  Körper  mitgetheilt; 
dann  die  Guldin'sche  Regel  angewendet  auf  Rotationskörper  und 
endlich  die  Gewölbe  und  Fässer  berechnet 


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606 


Llgoweki:  Taschenbuch  der  Mathematik. 


Die  analytische  Geometrie  der  Ebene  enthält  die  Er- 
klärung der  Koordinaten ;  die  Verwendung  derselben ;  die  Lehrsätze 
für  die  gerade  Linie;  die  Kegelschnitte  sowohl  im  Einzelnen  als 
auch  die  allgemeine  Untersuchung  der  Gleichung  des  zweiten  Grades. 

Für  die  analytische  Geometrie  im  Räume  werden 
eben  so  zunächst  die  Fnndamentalsätze  aufgeführt;  dann  Ebene 
und  Gerade  betrachtet ;  die  axonometrische  und  perspectivische 
Projektion  kurz  behandelt;  endlich  der  Flächen  zweiten  Grades 
gedacht,  ohne  dass  jedoch  die  Untersuchung  der  allgemeinen 
Gleichung  zweiten  Grades  gehörig  durchgeführt  ist. 

In  der  Differentialrechnung  werden  die  Differenzirungs- 
regeln  ausführlich  angegeben;  die  Taylor'sche  Reihe  aufgeführt; 
die  unbestimmten  Formen  behandelt;  Maxima  und  Minima  finden 
gelehrt  und  endlich  die  Zerfällung  nationaler  Brüche  vorgenommen. 

Die  Integralrechnung  enthält  eine  vollständige  Zusam- 
menstellung der  Hauptformeln;  Einiges  aus  der  Theorie  der  be- 
stimmten Integrale  mit  Werthen  von  einzelnen  solcher ;  die  Euler- 
schen  Integrale  und  die  Gamma-Funktionen ;  die  näherungsweise 
Berechnung  bestimmter  Integrale. 

Aus  der  Theorie  der  Differentialgleichungen  werden 
blos  die  Fälle  getrennter  Veränderlichen,  unmittelbarer  Integration, 
des  integrirenden  Faktors,  homogener  Gleichungen  und  der  Ricca- 
tischen  Gleichung  betrachtet.  Von  höherer  Ordnung  sind  nur  li- 
neare Differentialgleichungen  aufgeführt. 

Die  Anwendung  der  Differentialrechnung  auf  Geo- 
metrie behandelt  die  ebenen  Kurven  (Tangente,  Krümmung, 
Asymptoten),  daun  die  doppelt  gekrümmten  Kurven  und  die  krum- 
men Flächen.  Daran  schliesst  sich  Einiges  über  die  Berechnung 
gewisser  elliptischer  Integrale  und  Tabellen  für  E(qp,  f),  F(g?,f), 
wo  «  =  sina  und  op,  a  von  10°  zu  10°  gehen. 

Den  Schluss  macht  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
mit  den  Hauptsätzen  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate. 

Als  Anbang  figuriren  vergleichende  Maass-  und  Gewichttabelle 
mit  Hilfstabellen  ;  Münzwerthe ;  mittlere  Zeit  für  den  wahren  Mittag 
(in  Minuten);  Proportionaltheile  und  Multiplikationstabelle,  und 
endlich  eine  Ortstafel  (Länge  und  Breite),  die  übrigens  nur  Stern- 
warten enthält. 

Wir  glauben,  dass  diese  Uebersicht  des  Inhalts  völlig  hin- 
reichen wird,  das  Buch  zu  empfehlen,  ohne  dass  wir  etwas  Weite- 
res zufügen.  Dr.  J.  Dienger. 


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Zur  juristischen  Lexicographie. 


697 


Zur  juristischen  Lexicographic. 


Wir  beschränken  nns  auf  die  Lexicographie  der  lateinischen 
Sprache:  Was  nun 

1)  das  römische  Recht  angeht,  so  hat  es  seit  dem  Mittelalter  viel 
Mühe  und  Anstrengung  gekostet,  um  Etwas  zu  leisten :  Wir  sind  lange 
nicht  den  Darstellungen  gewachsen,  welche  die  allgemeinen  lateini- 
schen Lexica  enthalten.  Man  vergleiche  die  Lexica  von  Klotz,  Freund, 
and  die  Rücksicht,  welche  bei  einer  neuen  Ausgabe  von  Facciolati- 
Forcellini  selbst  die  Italiener  auf  die  deutschen  Werke  nehmen, 
die  obenerwähnten,  dann  die  Schriften  von  D öd erlein  und  Andere, 
und  die  Arbeit  ist  so  grossartig,  dass  wir  viel  aber  doch  nicht 
das  gethan  haben,  was  die  Philologen  geleistet  haben.  Die  Ge- 
schichte für  die  Lexicographie  des  Rechts  ist  Folgende :  Brissonius 
hat  viel  geleistet  zunächst  wohl  in  der  Hervorhebung  der  Stellen, 
und  H  e  ineccius  hat  dessen  Werke  eine  bessere  Ordnung  gegeben 
und  so  konnte  Hugo  in  seiner  dritten  und  letzten  Ausgabe  seiner 
Literärgeschichte  sagen : 

»Wir  haben  von  ihm  oder  durch  ihn  (Brissonius  und  Heineccius) 
das  grosse  civilistische  Wörterbuch,  welches  neuerlich  das  Lob  er- 
halten hat,  den  Sprachgebrauch  der  Alten  genau  beobachtet  zu 
haben.« 

Die  frühere  Ausgabe  des  Brissonius  von  Tabor  und  Itter, 
die  vor  mir  liegen,  haben  nur  einige  neue  Stellen  zugetban. 

Darauf  kam  Dirksen  in  seinem  Buche  Manuale  Latinitatis 
fontium  juris  Civilis  Romanorum  thesauri  latinitatis  epitorae  in 
usum  tironura ,  er  hat  eine  Dogmatik  hereingebracht  durch  Para- 
graphen, wo  einestheils  der  verschiedene  Inhalt  des  Wortes  ange- 
zeigt wird,  anderntheils  die  dazu  gehörenden  andern  Worte  als 
opposita  oder  in  der  Mitte  stehend  als  conjuneta  oder  theilweise 
contraria  angezeigt  werden.  Epitome  nennt  der  Verfasser  sein  Buch 
weil  er  noch  ein  ausgedehnteres  derselben  Art  herausgeben  wollte. 
Auch  er  war  dem  Brissonius  und  Heineccius  darin  zugethau,  dass 
es  ihm  nicht  an  Worten  und  Stellen  der  Quellen  fohlte,  so  z.  B. 
führt  er  eine  Stelle  aus  1.  28.  ü.  48,  5  über  die  condictio  ex  lege 
an  und  zwar  bei  condicticius  (quae  ex  lege  descendit)  die  Brisso- 
nius hat,  obgleich  in  dem  Titel  de  condictione  ex  lege  nicht  darauf 
verwiesen  ist.  Im  Reiche  der  Condictionen  ist  noch  Vieles  streitig. 
Gibt  es  wirklich  eine  c.  ex  lege?  Wir  hätten  auch  von  Calvinus 
oder  Kahl  sprechen  können,  der  sich  ebenfalls  viele  Mühe  ge- 
geben hat,  und  von  Dionysius  Gothofredus  sehr  gelobt  wird,  der 
sich  auch  auf  das  Canonische,  Feudal  und  Criminalrecht  einlässt, 
aber  viel  ungenauer  ist,  wie  Brissonius,  auch  im  canonischen  Reoht 
blos  die  graeca  anführt,  nicht  aber  die  Fortbildungen  nach  ger- 
manischen Wörtern,  wofür  freilich  du  Cange  du  Fresne  nicht  viel 
für  das  canonische  Recht  geleistet  hat.    Dieses  führt  uns  nun 


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098 


Zur  joriBtißchen  Lexlcographie. 


2)  auf  das  canonische  Recht.  Hier  ist  nicht  viel  geschehen,  und 
zwar  nicht  ohne  guten  Grund.  Es  kommen  hier  griechische,  ger- 
manische, mittelalterlische,  theologische,  aus  dem  römischen  Recht 
herübergezogene  Worte  vor,  und  der  Manualist  weiss  nicht, 
wem  er  es  recht  machen  soll.  Daher  ist  es  erklärlich,  das9  des 
Verfassers  manuale  latinitatis  juris  canonici,  obgleich  schon  fünf 
Jahre  ausgegeben  keine  Beurtheilung  erfahren  hat.  Es  sollte  ein 
rein  juristisches  Werk  sein,  aber  alle  canouistischen  Schriften  ebenso 
benützen,  wie  einst  die  juristischen  Schriftsteller  über  das  rumische 
Rechtes  gethan  haben.  Der  Verf.  hat  wenigstens  zehn  Jahre  seines 
Lebens  darauf  verwendet.  Dass  Theologen  nicht  befriedigt  sind, 
lässt  sich  erklären,  aber  die  germanistischen  Rechtsquellen  hat  der 
Verf.  berücksichtigt.  In  seiner  Vorrede  hat  er  den  Zweck  seiner 
Arbeit  und  seine  Hilfsmittel  genau  angeführt.  Allerdings  fehlt  an 
dem  Buche,  dem  ersten  Versuch  dieser  Art,  sehr  viel,  und  er  hat 
dieses  in  seinem  neuesten  Werke  »äussere  Encyclopädie  des  Kir- 
chenrechts bemerkt,  S.  275,  namentlich  über  die  Worte,  die  er 
vergessen  hat.  Ob  das  manuale  eine  zweite  Auflage  erleben  wird, 
ist  zweifelhaft,  daher  gedenkt  er  schon  hier  über  einige  Worte 
sich  zu  erklären:  z.  B.  über  aes  et  libra  (dieses  Wort  hat  nicht 
einmal  Calvinus)  es  kömmt  bei  der  Baulast  vor,  die  Besitzer  der 
Güter  sollen  nicht  pro  capita  personarum  vel  domorum,  sondern 
als  opulentes  nach  ihrem  Einkommen  vom  Bischof  besteuert  wer- 
den, die  Püehter  aber  arbiträr.  Wiestner  Instt.  Jur.  Can.  tom.  III 
p.  910.  Nr.  52.  53.  Vergl.  auch  Barbosa  und  die  declar.  zum  Concil 
von  Trient.  Ampullae  sind  Krtiglein,  wo  Wein  und  Wasser  zum  Opfer 
gebracht  wird,  Amictus  ein  Kleid  der  Geistlichen  s.  Bona  de  rebus 
liturg.  lib.  2.  c.  24.  Arcosolia  sind  Gräber  der  Märtyrer  in  den 
Katacomben  von  arcus  und  solium  Aureola  ist  ein  Licht,  welches 
die  Figuren  Gottes  und  der  Heiligen  beleuchtet  nach  Didron  Icono- 
graphie  chretienne  Paris  1848.  Epiclesis  nach  der  neueren  Dar- 
stellung von  Hoppe  1864.  Faldistorium  episcopi,  stalla  canonicorum. 
Polytichum  i.  e.  ordo  Romanus.  PhilJipps  Kirchenrecht  VI.  Band 
S.  404.  Regionales  i.  e.  legati.  Sacratarium  i.  e.  absida.  tigna  oris 
Bernard  summa  decretalium  lib.  II.  tit.  18.  Zancha  —  Stiefel 
Watterich  pag.  4  —  es  mögen  diese  Worte  genügen. 

In  unserer  Zeit  wird  so  viel  gedruckt,  dass  ein  Buch  von 
192  Seiten  nicht  den  Zweck  haben  kann,  umfassend  zu  sein,  son- 
dern die  einzelneu  Forscher  nur  hinzuweisen  auf  Werke,  wo  sie 
sich  orientiren  können.  Man  kann  keine  lexicographische  Werke  für 
alle  Fächer  schreiben,  sondern  es  genügt  vor  Allem  der  Zweck, 
Dirksen  hat  seinem  Werke  ein  Buch  über  Lexicographie  voraus- 
gehen lassen  und  doch  ist  sein  Buch  nur  in  usum  tironum  ge- 
schrieben. Der  Verfasser  des  manuale  latinitatis  juris  Canonici 
hat  Aehnlichee  in  seiner  Vorrede  angegeben.  Noch  ist  die  Zeit  nicht, 
da  seit  dem  vollendeteu  Drucke  neun  Jahre  vergangen  sind,  aber 
der  Verf.  sieht  jetzt  schon  ein,  dass  er  sich  an  Etwas  Unausführbares 


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Weise:  Die  Komödien  des  Plautus. 


699 


gewagt  bat,  und  er  bittet  ganz  besonders  Alle,  welche  sich  um 
diese  Arbeit  interessiren  mögen,  mit  vollster  Güte  und  Nachsicht 
don  Verfasser  zu  beurtheilen.  Rosshirt. 


Die  Komödien  des  Plautus.  Kritisch  nach  Inhalt  und  Form  beleuchtet 
zur  Bestimmung  des  Echten  und  Unechten  in  den  einzelnen 
Dichtungen.     Von  K.  H.   Weise.     Quedlinburg,  Druck  und 
Verlag  von  G.  Basse  1866.  189  8.  in  gr.  8. 

Die  Stücke  des  Plautus  sind  in  der  neuesten  Zeit  Gegenstand 
erneuerter  Sorge  von  Seiten  der  Gelehrten  geworden,  und  hat  diese 
Sorge  insbesondere  der  Kritik  des  Textes,  in  Herstellung  des  ur- 
sprünglichen von  Plautus  selbst  ausgegangenen  Textes,  wie  in  rich- 
tiger Auffassung  und  Erklärung  desselben,  auch  in  metrischer  Hin- 
sicht sich  zugewendet.  Mit  diesen  Bemühungen  hängt  allerdings 
auch  das  Bemühen  zusammen,  von  dem,  was  als  richtig  im  Texte 
ermittelt  ist,  dann  das  Unächte,  d.  h.  das  später  hinzugekommene 
auszuscheiden,  und  so  einen  ächten  und  wahren  Plautus  zu  ge- 
winnen. Dass  diess  schon  im  römischen  Alterthum  eine  schwierige 
Sache  war,  welche  die  gelehrten  Kritiker  des  augusteisohen  Zeit- 
alters viel  beschäftigte,  zeigen  uns  die  Nachrichten  des  Gellius 
über  die  zahlreich  unter  Plautus  Namen  gehenden,  aber  nicht  von 
ihm  verfassten  Stücke,  und  die  Nothwendigkeit ,  die  ächten  und 
anerkannten  Stücke  des  Diohters  von  der  ganzen  Masse  der  soge- 
nannt Plautinischen  Stücke  auszuscheiden.  Bekanntlich,  wie  uns 
derselbe  Gellius  mittheilt,  unternahm  der  gelehrte  Varro  eine  solche 
Ausscheidung,  und  ein  und  zwanzig  von  ihm  vorzugsweise  ausge- 
lesene und  als  ächte  Stücke  des  Plautus  erkannte  Dramen  galten 
im  Alterthum  auch  unzweifelhaft  als  solche  und  haben  daher  sich 
auch,  mit  Ausnahme  eines  einzigen,  das  den  Schluss  bildete,  und 
verloren  ging,  erhalten:  ein  Umstand,  der  uns  gewiss  auf  die  Be- 
deutung dieser  sogenannt  Yarronischen  Becension  und  den  Werth, 
den  man  in  der  nachfolgenden  Zeit  darauf  legte,  hinweist.  Denn 
die  Autorität  dieses  Mannes,  allerdings  des  gelehrtesten  Kenners 
der  römischen  Welt  in  ihrer  nächsten  Vergangenheit  wie  in  der 
Literatur,  überwog  selbst  in  dem  Grade,  dass  uns  von  den  übrigen 
Plautinischen  Stücken,  deren  Gesammtzahl  (diese  21  mit  einbe- 
griffen), Gellius  auf  hundert  und  dreissig  berechnet,  kaum  eine 
nähere  Notiz  vorliegt,  indem  dieselben  in  der  nachfolgenden  Zeit 
nicht  mehr  beachtet  oder  abgeschrieben  wurden.  Der  Verf.  dieser 
Schrift  hat  auch  keinen  Zweifel  darüber  (S.  8),  dass  die  noch  vor- 
handenen zwanzig  Stücke  des  Plautus  keine  andern  sind,  als  die 
von  Varro  ausgewählten;  allein  er  meint,  dass,  wenn  auch  alle 
Kunstlichter  in  Born  über  die  Aechtheit  dieser  Komödien  einig  ge- 
wesen, so  könnten  doch  alle  diese  Autoritäten  uns  nicht  verge- 


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700 


Weise:  Die  Komödien  des  Plautus. 


wi88ern,  dass  nicht  immer  noch  eine  und  die  andere  darunter  sich 
befinde,  die  man  dem  Plautus  mit  Unrecht  beigelegt  habe,  und 
müsse  uns  immer  auch  in  Hinsicht  ihrer  die  Authenticität  offen 
stehen.  So  wenig  man  einem  blinden  Glauben  an  Alles  das,  was 
uns  nun  einmal  ans  dem  Alterthum  überliefert  ist,  das  Wort  reden 
will,  eben  so  bedenklich  wird  man  doch  auf  der  andern  Seite  die 
Aufstellung  eines  Satzes  finden,  der  auf  einer  rein  subjektiven  Un- 
terlage ruht,  und  nicht  auf  sichere  und  verlftsaige  Zeugnisse  des 
Alterthums  sich  zu  stützen  vermag,  ja  vielmehr  sich  mit  denselben 
in  offenen  Widerspruch  zu  setzen  geneigt  ist.  Als  eine  solche 
rein  subjektive  Grundlage  werden  wir  aber  es  zu  betrachten  haben, 
wenn  die  Grundsätze,  nach  denen  wir  zu  verfahren  haben,  um  ein 
Stück  als  ein  plautinisches  oder  als  ein  nicht  plautinisches  anzuer- 
kennen, nicht  von  den  vorhandenen  Stücken  abstrahirt,  sondern 
apriorisch  aufgestellt  werden  sollen,  wie  S.  10  verlangt  wird,  und 
das  Hauptkriterium  der  Aechtheit  eiues  plautinischen  Stückes, 
nächst  der  zeitgcmässen  Sprache  und  Rhythmik,  in  der  Usthetiscben 
Beschaffenheit  und  indem  ästhetischen  Werthe  gesucht  wird  (S.  16). 
Und  wenn  diess  S.  22  näher  dahin  bestimmt  wird,  dass  »Interesse, 
Charakter,  logischer  Bau  in  der  Zusammensetzung,  Natürlichkeit 
der  Sprache  und  des  Witzes,  Rhythmus  und  antikes  Idiom  des 
Ausdrucks«  die  Kriterien  sein  sollen,  nach  welchen  über  die  Vor- 
trefflichkeit und  Plantinität  plautinischer  Stüdce  entschieden  wer- 
den soll,  so  wird  man  das  Allgemeine  dieser  Bestimmungen,  welche 
jeder  nach  seiner  Subjectivität  auslegen  und  anwenden  wird,  nicht 
verkennen  und  in  allen  derartigen  Bestimmungen  nur  subjektive 
Ansichten,  nicht  aber  allgemein  gültige  und  feststehende  Grund- 
sätze zu  erkennen  vermögen.  Der  ächte  Meister  Plautns,  heisst  es 
S.  79,  konnte  nur  Harmonisches,  nur  Vernünftiges  nur  Logisches, 
nur  relativ  Richtiges  dichten.  Alles,  was  diesen  Forderungen  nicht 
entspricht,  kann  und  muss  mit  dem  Obelus  bezeichnet  worden  u.  s.  w. 
Aber  eben  über  das,  was  als  vernünftig,  logisch  und  richtig  anzu- 
sehen sei,  werden  die  Ansichten  eben  so  verschieden  sein,  als  es 
die  Individualität  der  Forschenden  ist,  und  verlieren  daher  alle  Macht- 
sprüche der  Art,  näher  betrachtet,  ihre  Geltung.  Wir  stossen  hierauf 
Aehnliches,  wie  man  es  früher  und  tbeilweise  noch  in  neuester 
Zeit  auch  bei  anderen  Schriftstellern,  wir  erinnern  nur  an  Plato, 
und,  um  einen  anderen  römischen  Dichter  zu  nennen,  auch  bei 
Horatius  versucht  hat,  jedoch  trotz  alles  angewendeten  Scharfsinnes, 
ohne  Erfolg,  da  kein  besonnener  Forscher  die  sichere  positive 
Grundlage  aufgeben  wird,  die  schon  durch  die  handschriftlich  be- 
glaubigte, feste  Ueberlieferung  gegeben  ist,  und  nicht  dem  sub- 
jektiven Urtheil  und  der  persönlichen  Anschauung,  die  je  nach  der 
Individualität  des  Einzelnen ,  bald  so  bald  anders,  auch  im  ent- 
gegengesetzten Sinn,  ausfallt,  preisgegeben  werden  darf. 

Wir  haben  damit  den  Standpunkt  des  Verfassers  und  unsere 
davon  durchaus  abweichende  Ansicht  andeuten  wollen  und  wenden 


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Weise:  Die  Komödien  des  Plautus. 


701  ,  , 


uns  nun  zu  dem  Inhalt  der  Schrift  selbst,  in  welcher  von  S.  24 
an  die  einzelnon  unter  des  Plautus  Namen,  nach  Varro's  Recen- 
8ion,  auf  uns  gekommenen  zwanzig  Komödien  (mit  Ausnahme  der 
beiden  letzten)  nach  Inhalt  und  Form  näher  besprochen  und  nach 
dem  bemerkten  Massstab,  der  an  jede  einzelne  angelegt  wird,  be- 
urtheilt  werden,  nicht  blos  was  ihren  künstlerischen  Werth,  die 
mehr  oder  minder  gelungene  Ausführung  wie  die  Anlage  des  Ganzen 
betrifft,  sondern  auch  in  Bezug  auf  die  Frage  nach  ihrer  Aecht- 
heit,  d.  h.  der  wirklichen  Abfassung  durch  den  Dichter  Plautus 
und  keinen  andern,  ihm  näher  oder  ferne  stehenden  Dichter.  Wenn 
man  auf  das,  was  den  ersten  Punkt  betrifft,  also  auf  die  mehr 
ästhetische  Betrachtung  des  Einzelnen  sieht,  so  wird  man  auf 
manche  wohl  zu  beachtende  Bemerkung  stossen,  ohne  damit,  was 
den  anderen  Punkt  betrifft,  zu  einem  gleichen  Resultat  zu  gelangen, 
auch  abgesehen  von  Manchem,  was  dem  ruhigen  und  besonnenen 
Leser  doch  {ibertrieben  erscheint,  insofern  es  nur  darauf  berechnet 
ist,  ein  Urthoil  der  Unttchtheit  hervorzubringen  oder  zu  erhärten. 
Dass  damit  die  zahlreichen  Einschiebsel,  die  in  alter  und  neuer 
Zeit  gomacht  sind,  die  in  neuerer  Zeit  zum  Theil  hinzugedichteten 
Prologe  u.  A.  der  Art,  nicht  in  Abrede  gestellt  werden  sollen,  ist 
begreiflich:  es  handelt  sich  hier  zunächst  um  das  Endurtheil,  das 
über  die  Aechtheit  oder  Unachtheit  eines  ganzen  Stückes  abgegeben 
werden  soll. 

In  der  Betrachtung  der  einzelnen  Stüoke  ist  die  alphabetische 
Reihefolge  eingehalten.  Es  kommt  daher  zuerst  der  Amphitruo 
an  die  Reihe,  welches  Stück  als  eines  der  vorzüglichsten  des  Plautus 
anerkannt  wird;  »da  Plautus,  so  heisst  es  S.  30.  stets  nur  für 
die  Belustigung  des  grösseren  Publikums  schrieb,  und  da  es  über- 
all darauf  ankam,  dem  Pubiikum  nur  das  Geeignetste  vorzutragen, 
um  es  in  möglichst  grösster  Masse  anzuziehen  und  festzuhalten, 
so  erscheint  allerdings  der  Amphitruo,  in  Betracht  seiuos  Gegen- 
standes, als  Etwas  Aussorgcwöhnlichos  unter  den  übrigen  Stücken, 
und  nur  die  ganz  vortreftlicho,  lebendigo  und  abgerundete  Durch- 
führung desselben,  nebst  der  Idee,  dass  Plautus  für  diesen  Fall 
das  Publikum  wohl  auch  einmal  höher  genommen  haben  könne, 
lässt  uns  in  Hinsicht  seiner  Anthenticität  über  alle  Bedenklich- 
keiten wegschreiten.  —  Dass  aber  Sprache  und  Rhythmik  und 
Witz  und  Lebendigkeit  der  Darstellung  ganz  plautinisch,  d.  h.  eines 
so  bedeutenden  und  lebendigen  Dichters,  wie  wir  uns  den  Plautus 
zu  denken  haben,  würdig  erscheinen,  bedarf  wohl  keiner  besonderen 
Darlegung  noch  umständlichen  Beweises.«  Man  wird  gern  einem 
solchen  Ürtheil  beitreten.  Auch  die  Asinaria,  die  nun  folgt, 
wird  zu  den  Normalstücken  piautinischer  Dichtung  gezählt,  ebenso 
gilt  die  Aulularia  in  den  hier  als  ächt  bezeichneten  Scenen 
für  eines  der  vorzüglichsten  Stücke  des  Piautas,  welches  für  die 
zweifelhaften  vorzüglich  als  Norm  der  Entscheidung  genommen 
werden  muss.     Anders  fällt  das  Urtheil  über  die  Bacohides 


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703 


Welse:  Die  Komödien  dei  Plautus. 


aus,  welchem  Stücke  eine  längere  Besprechung  (8.  47—62)  ge- 
widmet ist.    Bei  der  Gestalt,  in  welcher  das  Stück  auf  uns  ge- 
kommen, bei  den  aus  diesem  Stück  von  alten  Grammatikern  an- 
geführten Stellen,  welche  sich  in  dem  vorhandenen  Stück  nicht  vor- 
finden nnd  noch  auf  ganz  andere  Scenen  schliefen  lassen  sollen, 
glaubt  der  Verf.  mit  Nothwendigkeit  eine  doppelte  Recension  an- 
nehmen oder  andernfalls  das  Stück  in  seiner  gegenwärtigen  Ge- 
stalt als  ein  sehr  verkürztes  betrachten  zu  müssen.  »Genug,  setzt 
er  hinzu,  die  jetzt  vorhandenen  Bacchides  sind  nicht  die  eigent- 
lichen des  Plautus.     Wir  können  aber  unter  diesen  Umstanden 
weiter  nichts  thun,  als  das  Produkt  nehmen ,  wie  es  uns  gegen« 
wartig  nach  der  Ueberlieferung  der  vorhandenen  ächten  Codices 
vorliegt,  das  gut  Poetische  darin  anerkennen,  das  Auffallende  je- 
doch und  Unpassende  bemerken,  damit  man  nicht  auch  das  Falsche 
für  gerade  aufgehen  lasse. c    Wir  haben  hier  nicht  den  Raum,  um 
in  die  Besprechung  des  Einzelnen  einzugehen,  wodurch  dieses  Ur- 
theil  begründet  werden  soll,  nach  welchem  das  Ganze,  wie  es  jetat 
vorliegt,  einer  Ueberarbeitung  und  neuern  Bearbeitung  sehr  ähn- 
lich sieht,  und  demnach  ein  solches  Stück  nicht  als  Normalstück 
bei  kritischer  Beurtheilung  fraglioher  Stücke  gebraucht  werden 
darf,  es  wäre  denn  mit  der  allerstrengsten  Sichtung  der  ächten 
von  den  unächten  Scenen ;  und  da  das  Letztere  sehr  schwierig  und 
unsicher  sei,  will  der  Verf.  lieber  das  Stück  selbst  als  problema- 
tisch betrachten  (S.  62).    Darauf  läuft  das  Endergebniss  der  hier 
geführten  Besprechung  hinaus,  das,  wir  zweifeln  kaum,  in  seiner 
Begründung  auf  manchen  Widerspruch  stossen  dürfte.    Auch  die 
Captivi,  oder,  wie  der  Verfasser  schreibt,  Capteivei  gelten 
für  plautinisch,  jedoch  mit  Unterscheidung  dessen,  was  später  hin- 
zugekommen, und  werden  zu  den  trefflichsten  Stücken  des  Dichters 
gezählt,  dessgleichen  gilt  die  Gasina  für  ächt  und  unbezweifelt 
plautinisch,  aus  der  Blüthezeit  des  Dichters;  ebensowenig  werden 
C  istellar  ia  und  Cur culio  bezweifelt.  Dagegen  wird  der  Ep  i di- 
en 8  mit  dem  Bacchides  auf  Eine  Stufe  gestellt,  und  für  die  Ar- 
beit oder  Bearbeitung  eines  Dichters  erklärt,  der  bei  ganz  hübschem 
Talent  doch  nicht  die  Umsicht  bewährt,  die  man  von  einem  guten 
Dichter  überall  erwarten  könne,  wenn  auch  gleich  das  Stück  auf 
dem  Theater  Glück  gemacht,  da  das  Unterhaltung  suchende  Pub- 
likum einen  grossen  Theil  der  Mängel  nicht  erwartet  habe.  Die 
Erklärung  des  Dichters  selbst  (in  den  Bacchides  heisst  es:  »Epi- 
dieum,  quam  ego  fabulam  aeque  ac  me  ipsum  amo)  verdient  nach 
dem  Verf.  keine  Berücksichtigung,  weil  sie  von  Plautus  nicht  her- 
rührt, wie  denn  die  ganze  Scene,  in  welcher  dieser  Vers  vorkommt, 
schon  früher  nicht  ächt  plautinisch  befunden  worden,  sondern 
als  ein  Surrogat  zu  betrachten  sei,  an  die  Stelle  einon  ächt  plan« 
tinischen  hinzugedichtet  (S.  83).    In  wie  weit  nnn  die  hier  gege- 
bene Besprechung  eine  solche  Annahme,  die  nach  dem  Ermessen 
des  Ref.  eine  ganz  andere  Begründung  erfordern  würde,  zu  recht- 


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Weise:  Die  Kemödien  des  Plaut™. 


fertigen  vermag,  wollen  wir  auch  hier  nicht  weiter  erörtern;  die 
Freunde  der  plautinisehen  Muse  werden  aber  gewiss  Veranlassung 
finden,  mit  diesem  Gegenstand  sich  näher  zu  beschäftigen  und  die 
ganze  Beweisführung  weiter  zu  prüfen.  Demselben  verwerfenden 
Urtheil  unterliegen  die  Menächmen ,  bis  auf  diesen  Tag  allge- 
mein als  ein  ächtes  plautinisches  Stück  betrachtet,  wie  der  Verf. 
selbst  S.  122  hervorhebt,  mit  dem  Bemerken,  wie  er  sich  Dank 
zu  verdienen  glaube,  wenn  er  der  Welt  diesen  Irrthum  benehme. 
Wer  freilioh  diesen  Irrthum  nicht  aufgeben  will,  weil  er  noch  nicht 
davon  überzeugt  ist,  der  wird  auch  der  weiteren  Vermuthung  des 
Verfassers,  (S.  122)  dass  die  drei  Stücke,  Baochides,  Epidious  und 
Menäcbmi  von  Einem  und  demselben  Theaterdichter  herrühren, 
und  zwar  von  einem  solchen,  der  dem  Sclavenstande  angehört  und 
selbst  Schauspieler  gewesen ,  schwerlich  seinen  Beifall  schenken 
kön  nnen.  Nicht  besser  als  den  genanuten  Stücken  ergeht  es  dem 
Mercator  (S.  123  — 185),  der  nach  der  Ansicht  des  Verf.  zu  den 
schlechtesten  plautinisehen  Stücken  gehört  und  nicht  für  ächt  gelten 
kann;  Pseudotalent,  Stümperei  und  Unverstand  treten  auf  allen 
Seiten  hervor,  Unpassendes  in  der  Sache  wie  in  der  Diction  thut 
sich  darin  auf,  Alles  zusammeugestoppelt  aus  andern  Stücken  n. 
dgl.  m.  Zu  solchem  Urtheil  gelangt  der  Verf.,  indem  er  die  ein- 
zelnen Akte  und  Soenen  dieses  Stückes  durchgeht;  ob  bei  Andern 
diess  in  gleicher  Weise  der  Fall  sein  wird,  möchten  wir  bezweifeln ; 
auch  wenn  man  das  Stück  nicht  zu  den  vorzüglicheren  des  Plau- 
tus  zählt,  so  wird  daraus  noch  kein  bestimmter  Grund  seiner  Un- 
ächtheit  abzuleiten  sein.  Auch  in  dem  Miles  werden  so  manche 
Widersprüche  und  Unstatthaftigkeiten  gefunden,  dass  dieses  Stück 
nicht  für  eine  Dichtung  des  wahren  Plautus  gelten  kann,  wenn  auch 
aus  der  besten,  muntersten  und  freiesten  Zeit  der  römischen  Ko- 
mödie (S.  142).  Die  Mostellaria  wird  im  Ganzen  dem  Miles 
gleich  gestellt,  soll  jedoch  noch  einige  Vorzüge  vor  demselben  haben 
(S.  148);  Persa  dagegen  wird  einer  weit  späteren  Periode  zuge- 
teilt, vielleicht  als  eine  Art  von  Nachahmung  des  Pseudolus,  in 
keinem  Fall  der  eigentlich  plautinisehen  Periode  angehörig  (S.  148), 
»eine  Scheinplautine ,  keine  wahre,  €  das  Produkt  eines  Dichters, 
»der  jedooh  nicht  ganz  unglücklich  den  Ton  und  Gang  plautinischer 
Dichtung  in  ihren  untersten  Darstellungen  nachzuahmen  strebte c 
(S.  157).  Entschieden  aus  der  Reihe  der  ächten  Plautinen  zu 
streichen  ist  nach  S.  158  der  Pönulus,  der  unverkennbar  das 
Siegel  der  Unächtheit  an  sich  tragen  soll  und  von  dem  Verf.  dann 
im  Einzelnen  in  der  Weise  durchgangen  wird,  dass  nichts  als 
Fehler,  Stümpereien  u.  dgl.  darin  gefunden  werden.  Besser  kommen 
noch  die  beiden  letzten  Stücke  wog;  der  Pseudolus,  der  nach 
Cicero'8  Zeugniss  ein  Lieblingsstück  des  Plautus  war,  nach  unserm 
Verf.  es  auch  ist,  wenn  man  die  gegenwärtige  Gestaltung  des 
Stücks  nicht  als  seine  ursprüngliche  betrachten,  sondern  die 
mancherlei  Pfuschereien,  die  hinzugekommen  sind,  ausscheiden  will: 


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704  Weise:  Die  Komödien  des  Plsutus. 

so  aber  ist  der  Pseudolus  »eine  Beute  der  Zeit,  der  Verfälschung, 
der  Pfuacheranmassung  und  Gewaltthat  geworden.  Es  fand  sich 
nämlich  ein  unvollkommeues  Manuscript  ächter  Scenen  dos  Plautns 
vor.  Diese  achten  Scenen  wurden  durch  irgend  einen  Dichtergeist 
ergänzt,  so  gut  es  ging.  Das  Ende  fehlte  und  wurde  hinzugedichtet. 
Die  echten  Scenen  selbst  waren  entweder  schon)  oder  wurden  durch 
den  Dichterpfuscher  hier  und  da  verlängt  und  neue  Motive  hinzu- 
gefügt. Nur  Weniges  blieb  von  diesen  Harpyenkrallen  gänzlich 
verschont,  das  herauszufinden  und  das  Echte  darzutbun,  eine  Pflicht 
der  Kritik  und  eine  Genngtbuung  ist,  die  wir  dem  wahren  Plantus 
für  so  viele  Beeinträchtigungen  durch  Afterpoeten  und  Afterkunst, 
die  er  erlitten,  wenn  auch  spät,  nach  aller  Macht  zu  verschaffen 
bestrebt  sein  müssen.«  Also  der  Verf.  S.  183.  Wir  dächten,  es 
sei  die  Pflicht  der  wahren  Kritik,  uns  mit  allen  derartigen  Phan- 
tasiegebilden zu  verschonen  und  auf  sichere  Pfade  uns  zu  leiten: 
übrigous  ist  auch  Niemand  genöthigt,  solchen  Gebilden  Glauben 
zu  schenken,  und  wird  der  unbefangene  Leser  des  Plautus  und 
der  Freund  der  plautinischen  Muse  sich  durch  derartige  Urtheile 
nicht  beirren  lassen.  Im  Rüden 8  werden  nur  einige  Stellen  ge- 
fälscht oder  untergeschoben  gefunden,  das  Ganze  mithin  für  ächt 
uud  vollständig  erklärt:  »Hier  ist  antike  Sprache,  ernste  kräftige 
Komik  und  gute  Gestaltung  von  Anfang  bis  Ende«  (S.  184.)  Und 
diesem  Urtheil  schliessen  auch  wir  uns  an,  da  es  wohl  begründet 
erscheint  und  ohne  alles  Vorurtheii  gefasat.  Von  dem  Stichus  und 
Trinummus  ist  nicht  die  Rede. 

Wir  haben  hiernach  Inhalt  und  Charakter  der  Schrift,  so  ge- 
nau als  es  bei  dem  beschränkten  Räume  dieser  Blätter  möglich 
war,  angegeben :  die  nähere  Prüfung  der  über  die  einzelnen  Stücke 
des  Piautus  aasgesprochenen  Urtheile  und  Ansichten  wird  man  billig 
den  Lesern  und  Verehrern  des  alten  Dichters  überlassen  können, 
welche  wohl  Veranlassung  genug  findeu  werden ,  mit  die«er  Schrift 
sich  näher  zu  beschäftigen.  Und  darauf  hinzuweisen,  war  der 
Zwock  dieser  Anzeige,  welche  sich  darauf  beschränken  rausate,  den 
Gegenstand  und  die  Tendenz  der  Schrift  in  der  Kürze  zu  bezeich- 
nen, und  damit  den  Leser  in  den  Stand  zu  setzen,  selbst  zu  be- 
messen, was  von  einer  solchen  »kritischen  Beleuchtung«  der  Stücke 
des  Plautus  überhaupt  zu  halten  ist. 


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1fr.  46.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Konrad  der  Zweile.  Historisches  Schauspiel  in  sechs  Handlungen  von 
Albert  Bulk.  Leipziq.  F.  A.  Brockhaus.  2867.  Erster  Theü 
156  S.  Zweiter  Theü  184  8.  8. 

* 

Die  deutsche  Geschichte  ist  reich  an  grossen  Charaktereu  und 
bietet  in  den  politischen  und  kirchlichen  Couflicten  feindselig  ein- 
ander entgegenwirkender  Mächte  mannigfachen  Stoff  zu  dramati- 
scher Bearbeitung.  Die  Ziele  einer  wahrhaft  volksthümlichen  Ent- 
wickelung  sind  die  Einheit  und  Freiheit.  Aber  schon  diese 
beiden  höchsten  Güter  der  Nation  stehen  vielfach  zu  einander  im 
feindlichen  Gegensatze.  Die  Einheit  beeinträchtigt  die  Freiheit  und 
die  Freiheit  steht  häufig  hindernd  der  Eiuheit  im  Wege.  Das 
deutsche  Volk  ist  ein  Freiheit  liebendes ;  aber  es  ist  auch  nur  dann 
ein  Volk  im  wahren  Sinne  dos  Wortes,  wenn  es  ein  einheitliches 
ganzes  Volk  ist.  Nirgends  zoigt  sich  dieser  Kampf  entschiedener,  als 
in  der  deutschen  Geschichte.  Das  heilige  römische  Reich  deutscher 
Nation,  von  Otto  dem  Grossen  wieder  hergestellt,  umfasst  die  deut- 
schen FUrstenthUmer  und  viele  ausserdeutschen  Lande.  Die  Son- 
dergelüste der  bevorrechteten  Stände ,  der  kleinen  deutschen  Für- 
sten, des  deutschon  Adels  und  der  deutschen  Geistlichkeit  streben 
nach  möglichster  Unabhängigkeit  und  schmälern  dadurch  das  ein- 
heitliche, im  deutschen  König  und  römischen  Kaiser  alle  verknüpfende 
Band  Es  ist  nicht  die  wahre  Freiheit,  wie  sie  soin  sollte, 
um  die  es  sich  hier  handelt ,  es  ist  das  Lostrennen  vom  Ganzen 
auf  Kosteu  der  einheitlichen  Entwickelung  des  Ganzen,  die  Kasten- 
willkür auf  Kosten  der  wahren  Freiheit.  Die  bessern  deutschen 
Könige  haben  diesem  Sondertreiben  durch  ihr  Festhalten  an  der 
Idee  der  Einheit  des  Reiches  und  durch  die  Verwirklichung  alles 
dessen,  was  diese  Idee  förderte,  entgegengearbeitet.  Erst  später  kam 
die  bürgerliche  Freiheit  zu  den  die  Reichseinheit  gefährdenden 
Adels-  und  Geistlichkeitsbestrebungen  hinzu,  und  mit  der  indivi- 
duellen Freiheit,  einem  Resultate  der  politischen  Entwicklung  unse- 
rer Zeit,  hat  jenes  Streben  nach  Freiheit  einen  vernünftiger  An- 
forderung entsprechenden  Wog  gefunden.  Auch  zur  Einheit  sind 
mächtige  Schritte  vorwärts  getban,  und  das  Ziel  ist  erreicht,  wenn 
mit  möglichster  individueller  Freiheit  die  Einheit  der  Macht,  des 
Gesetzes,  der  über  alleu  waltenden  Staatsvernunft  sich  verbindet. 
Wenige  deutsche  Könige  haben,  wie  der  erste  Salier  Konrad  II. 
(gewählt  am  8.  September  1024  gest.  4.  Juni  1039),  für  Hebung 
der  einheitlichen,  im  deutschen  König  und  römischen  Kaiser  ver- 
einigten Macht  des  deutschen  Reiches  gewirkt.  Weber  zeichnet 
LX.  Jahrg.  0.  Heft.  45 


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706 


Dulk:  Konrad  II. 


den  Charakter  desselben  in  seiner  Geschichte  des  Mittelalters  (Thl. 
II,  S.  185)  also:  »Er  besass  alle  Eigenschaften,  die  in  jener  eiser- 
nen Zeit  einem  Herrscher  unentbehrlich  waren:  feste,  unbeugsame 
Willenskraft,  Kriegsmuth  und  Tapferkeit  und  alle  ritterlichen  Tu- 
genden, und,  wenn  auch  sein  strenger  durchfahrender  Charakter 
mehr  geneigt  war,  jeden  Widerstand  mit  starker  Hand  niederzu- 
werfen und  zu  zermalmen,  so  fehlte  es  ihm  doch  auch  nicht  an 
Klugheit  und  Gewandtheit,  wo  es  galt,  widerstreitende  Elemente 
zu  versöhnen,  und  seine  fürstliche  Grossmuth  und  Freigebigkeit 
gewann  ihm  Freunde  und  Anhänger  unter  allen  Ständen.  Im  blü- 
henden Mannesalter  stehend,  von  imponirender  Gestalt  und  Hal- 
tung, war  Konrad  eine  gebieterische,  zum  Herrschen  geschaffene 
Persönlichkeit.  Ein  wechselvolles,  von  manchen  Widerwärtigkeiten 
durchzogenes  Leben  hatte  ihn  frühe  zum  Manne  gereift  und  aus 
den  Erfahrungen  hatte  er  ein  sicheres  Urtheil  über  Menschen  und 
Dinge  erworben,  c  Die  vielen  Unfälle  seiner  Regierung  wurden  be- 
sonders durch  das  unruhige  Treiben  seiner  Vasalien  hervorgerufen. 
Eine  Situation  in  Konrad's  II.  Leben  ist  besonders  zu  dramatischer 
Bearbeitung  geeignet,  die  Stellung  zu  seinem  Stiefsohne  Ernst. 
Konrad  hatte  seine  an  sich  nicht  bedeutenden  Stammgüter  durch 
eine  Heirath  mit  Gisela,  der  verwittweten  Herzogin  von  Schwaben, 
vermehrt.  Die  nicht  minder  schöne,  als  geistig  hochbegabte  Frau 
hatte  einen  Sohn  aus  früherer  Ehe,  Ernst,  ihrem  neuen  Gatten 
zugebracht.  Die  Ansprüche  Ernst's  auf  Burgund  hatten  eine  feind- 
liche Stellung  zu  seinem  Vater  zur  Folge.  Für  seine  Gefahr  dro- 
hende Erhebung  gestraft,  wurde  der  Sohn  auf  seiner  Mutter  Gisela 
Verwendung  mit  dem  Vater  ausgesöhnt.  Er  sollte  für  seine  ge- 
störten Hoffnungen  auf  das  burgundische  Reich  zum  Ersätze  das 
Herzogthum  Schwaben  als  Lehen  unter  der  Bedingung  erhalten, 
seinen  treuen  Waffengefährten,  Werner  von  Kyburg,  den  Geächteten, 
zu  bekriegen.  Ernst  weigerte  sich,  seinen  Freund  zu  verlassen  und 
wurde  mit  der  Reichsacht  vom  Kaisor,  mit  dem  Bann  von  der 
Kirche  belegt.  Unstet  irrte  er  mit  Werner,  seinem  Freunde  und 
einer  Schaar  treuer  Auhänger  in  den  öden  Gegenden  des  Schwarz- 
waldes umher.  Ernst  und  Werner,  die  geächteten  Freunde,  werden 
von  einem  Geschichtschreiber  unserer  Zeit  »friedlose  Waldgänger c 
genannt.  Sie  fanden  zuletzt  auf  der  Burg  Falkenstein  eine  Zu- 
flucht. Sie  fielen  nach  heldenmüthiger  Gegenwehr  im  Kampfe  gegen 
Mangold,  Schirm vogt  des  Klosters  Reichenau,  der  vom  Bischöfe 
Warmann,  dem  Verweser  des  Herzogthums  Schwaben,  den  Auftrag 
zum  Vollzuge  der  Reichsasht  erhalten  hatte.  Der  Kampf  des  Vaters 
gegen  den  Sohn,  zwischen  welchen  vergebens  vermittelnd  die  Gattin 
und  Mutter  Gisela  steht,  der  Opfertod  des  Freundes  für  den  Freund, 
der  Untergang  eines  heldenmüthigeu,  eines  bessern  Looses  würdi- 
gen Jünglings  bieten  einen  willkommenen  Stoff  für  die  dramatische 
Dichtung.  Ein  bedeutender  Geschichtschreiber  sagt  von  Ernst: 
»Das  deutsche  Volk,  von  Alters  her  geneigt,  jedes  Anringen  gegen 


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Dulk:  Konrad  II. 


707 


die  Uebermacht  fürstlicher  Allgewalt  als  ein  ruhmwtirdiges  Track« 
ten  nach  angeborner  Mannesfreiheit  nnd  Selbständigkeit  zu  preisen, 
besang  Ernst's  Kampf  in  lange  nachhallenden  Liedern. €  Aus  die- 
sen Liedern  entstand  im  Laufe  der  Zeit  eine  Ernst  und  Liudolf, 
Sohn  Otto's  I.,  zu  einer  Person  verbindende  Heldendichtung.  Ernst 
wurde  zuletzt  ein  Herzog  von  Baiern,  Gisela,  als  seine  Mutter,  Adel- 
heid, Konrad,  als  Stiefvater,  Otto,  der  Unheil  verbreitende  Feind 
Ffalzgrai  Heinrioh.  So  entstand  das  Volksbuch  vom  Herzog  Ernst. 
Aber,  was  tiefer  ergreift,  als  der  Kampf  des  Vasallen  gegen  den 
Lehnsherren,  des  Stiefsohnes  gegen  den  Stiefvater  und,  was  drama- 
tischer, als  dieser  Kampf,  wirkt,  ist  die  bis  in's  Elend  der  Aechtung 
und  des  Kirchenbannes  und  bis  zum  Heldentode  sich  gleich  blei- 
bende, aufopfernde  Treue  des  Freundes,  der  den  Kampf  für  den 
gebannten  und  geächteten  Freund  dem  Besitze  eines  Herzogthums, 
der  Gunst  eines  mächtigen  Herrschers  vorzieht.  Das  ist  auch,  was 
unser  unsterblicher  Unland  in  seinem  schönen,  1817  erschienenen 
Trauerspiele:  Ernst,  Herzog  von  Schwaben,  besonders  her- 
vorgehoben hat. 

Wenn  auch  der  Boden  geschichtlich  ist,  so  sind  die  Charaktere 
in  Uhlands  Dichtung  veredelt  und  aus  dem  Conflicte  der  Lehns- 
Unterthanen-  und  Sohnespflicht  mit  der  Pflicht  gegen  den  von  aller 
Welt  verlassenen,  ihm  stets  treu  gebliebenen  Freund  zu  einer  ein- 
heitlichen, psychologisch  und  dramatisch  trefflich  durchgeführten 
Handlung  verbunden. 

Während  in  Uhlands  Dichtung  Konrad,  der  Mann  des  eiser- 
nen Willens,  in  den  Hintergrund  tritt,  die  beiden  Freunde  dagegen 
die  Helden  des  Dramas  werden,  ist  es  Konrad,  der  in  dem  vor- 
liegenden historischen  Schauspiele  als  der  eigentliche  Held,  als  der 
Angelpunkt  der  ganzen  dramatischen  Entwicklung  erscheint. 

Der  Unterzeichnete  hat  schon  früher  in  diesen  Blättern  die 
genialen  schriftstellerischen  Leistungen  des  talentvollen  Herrn  Verf. 
mit  der  ihnen  gebührenden  Anerkennung  besprochen.  Gewiss  ver- 
dient diese  Anerkennung  auch  das  vorliegende  Gedicht  im  vollen 
Maasse.  Eine  geistvolle  Auffassung,  eine  gründliche  geschichtliche 
Durchbildung,  eine  reich  und  lebendig  gestaltende  Phantasie,  be- 
sonders glücklich  in  Darstellung  der  Volksscenen,  sind  Vorzüge, 
durch  welche  sich  auch  das  vorliegende  historische  Schauspiel  aus- 
zeichnet. Konrad  wird  als  der  Mann  der  That  aufgefasst,  wie  ihn 
die  Geschichte  darstellt,  als  der  Fürst,  welchem  als  das  höchst© 
Ziel  die  Erhaltung  und  Förderung  der  deutschen  Reichseinheit,  der 
Fürsten-  und  Pfaffenwillkür  der  Einzelnen  entgegen,  vorschwebt 
In  seiner  Zeit  thut  die  Einheit  gegenüber  der  Scheinfreiheit  und 
der  Willkür  bevorzugter  Stände  Noth.  Ernst,  der  Stiefsohn,  ge- 
hört mit  zu  diesen  Aufrührern  und  muss  nothwendig  fallen.  Seine 
Erhebung  gegen  den  Vater  muss  gesühnt  werden.  Agnese,  die 
Gattin  Ernst's,  die  ihn  selbst  zum  Kriege  gegen  den  Kaiser  ange- 
trieben, muss  nach  einer  wunderbaren  Rettung  vom  sichern  Tode 


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708 


Dulk:  Konrad  II. 


und  nach  dein  Falle  ihres  Gatten  der  sühnende  Engel  seines  Ver- 
gehens im  Reiche  werden.  Als  geheimnissvolle  Schicksalsgüttin 
Vala,  dem  Heere  die  Fahne  voraustragend,  im  Kriege  gegen  Puleu, 
Böhmen,  Ungarn  warnend  und  rettend,  hat  sie  das  für  die  Ein- 
heit des  Reiches  gethan,  was  der  ehrgeizige  Gatte,  falschem  Ruthe 
nnd  blindem  Herrschertriebe  folgend ,  versäumte.  Sie  stirbt  als 
Opfer  für  die  Vergehen  ihres  Gatten ,  und  glanzvoll ,  wie  zu  den 
Tagen  Otto's  des  Grossen,  steht  des  Reiches  ungebrochene  Einheit 
da,  ein  Unterpfand  für  seine  spätere  einige  und  freie  Entwicklung. 
Konrad  schliesst  mit  den  Worten: 

»So,  fromm  und  hoffnungsvoll,  lasst  uns  beten: 
Gott  walte  Deutschland  —  einig,  gross  und  frei!« 

Das  vorliegende  historische  Schauspiel  bat  zwei  Theile* 
Jeder  Theil  hat  drei  Acte  oder,  wie  dieso  von  dem  Herrn  Verf. 
zur  Vermeidung  eines  Fremdwortes  genannt  werden,  Handlungen. 

Die  erste  Handlung  des  ersten  Theiles  spielt  in  Konstanz, 
beginnt  nach  der  Krönung  Konrads  und  Giselas  und  schliesst  nach 
dem  Erscheinen  des  Stadtmeisters  von  Pavia  als  Abgesandter  mit 
dem  Entschlüsse  des  deutschen  Königs  zur  Römerfahrt.  Die  zweite 
Handlung  hat  Rom  zum  Schauplatze.  Die  Thaten  Konrads  werdeu 
erzählt.  Er  tritt  in  Rom  auf.  Die  Verschwörung  seiner  deutschen 
und  italischen  Gegner  bildet  sich  wider  ihn.  Er  ist  entschlossen 
zur  Krönungsfeier  am  Osterfeste.  Treffend  schildert  Gebhard,  König 
Konrad's  Halbbruder,  die  um  sich  greifende  Macht  des  Klerus 
(Theil  I,  S.  89): 

Was  PfafF  ist,  wird  mit  Reichsgut  aufgemästet, 

Mit  Exemptionen,  Privilegien, 

Wär's  auch  als  Erbe  einer  halben  Lanze, 

Ja  nur  als  nakter  Musikant  geboren! 

Wir  aber,  der  Geschlechter  Fürsten,  wir, 

Die  unabhängig  freien  Mänuer,  werden 

All  noch  Vasallen  der  verwünschten  Pfaflen. 

Auch  die  dritte  Handlung  spielt  in  Rom.  Treffend  sind  hier 
die  Volkssccnen,  die  Gruppen  des  einander  gegenüber  stehenden 
römischen  und  deutschen  Kriegsvolkes  geschildert.  Das  römische 
Kriegsvolk  singt: 

Otto  rex 
Tua  lex 

Vili  asse  venditurl 
Romae  quid 
Gratum  sit 

Auro  Romae  penditur. 


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Dnlk:  Konrad  TL 


Das  deutsche  Kriegsvolk  aber  erhebt  das  Lied : 

Des  Slaven  Sinn 
Schwankt  her  nnd  hin. 
Des  Lombarden  Treu 
Ist  des  Kukuks  Ei. 
Und  der  römische  Aberglaube 
Ist  Herrn  Valand's  Daumenschraube. 
Doch,  wer  will  übel  fahren,  heran, 
Der  binde  mit  dem  Deutschen  an! 
Kommt  dor  Deutsche  h'nein,  schlage  drein ! 
So  wird  Fried'  im  Reiche  sein. 
Schlag  drein! 

Der  Krönungszug  wird  dargestellt,  der  Aufruhr  unterdrückt. 
Ernst,  sich  gogen  den  Kaiser  erhebend,  ist  mit  seinem  Anhange 
aus  Rom  entwichen.  Der  Kaiser,  durch  die  Verlobung  seines  Soh- 
nes Heinrich  mit  Gunhild,  der  Tochter  Kanuths,  des  Grossen,  des 
Königes  von  Dänemark  und  England,  in  seiner  Herrscherkraft  ge- 
stärkt und  im  Süden  gesichert,  ist  entschlossen,  der  Gefahr  in 
Deutschland  und  den  angrenzenden  Ländern  entgegenzutreten.  Auch 
hier  ist  die  Einheit  des  Reiches  sein  Ziel.  Er  schliesst  mit  den 
Worten : 

So  lasst  uns  das  Panier  der  Einheit  tragen! 

Unbeugsam  kämpfend  lasst  uns  nicht  verzagen, 

Ob  spät  das  Licht  auch  tagt  —  doch  muss  es  tagen. 

Der  Chor  der  dem  Kaiser  ergebenen  Mönche  aber  singt: 

Gib,  Herr,  des  Geistes  Kraft, 
Der  uns  dem  Zwist  entrafft, 

Einheit  ersohafft! 
Gib  aus  des  Krieges  Brand, 
Gib  an  Verderbens  Rand 
Ein  Einig  Vaterland, 

Ein  Reich  der  Kraft! 

Die  erste  Handlung  des  zweiten  Theiles  wird  in  der  grossen 
Halle  der  Kaiserpfalz  zu  Ulm  dargestellt.  Es  ist  die  falsche  Frei- 
heit des  Sonderfürstenthums,  welche  aus  Ernst  spricht,  wenn  er 
(S.  48)  sagt: 

Erbärmlich,  wer  die  angestammte  Freiheit 
Nicht  über  Alles  setzt!  Und  müsst'  ich  Krieg 
Entzünden,  wie  des  grossen  Otto  Sohn, 
Ruhmvollen  Namens,  Liudolf,  einst  im  Trachten 
Nach  Mannesfreiheit  that  — :  ich  diene  Keinem ! 
Ich  3teh'  und  falle  mit  der  Freiheit. 


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710 


Dulk:  Konr»d  II. 


Ernst  erhält  nach  des  Kaisers  Konrad  Macbtgebot  Schwaben 
als  ReichsleheD,  wenn  er  an  dem  Genossen  seines  Aufstand  es,  We- 
helo,  Grafen  von  Kybnrg,  die  Reichsacht  vollzieht.  Er  will  am 
> Freunde  nicht  zum  Schurken  werden«  und  seine  Meinung  spricht 
er  S.  51  dahin  aus  : 

Des  Mannes  erster  Ruhm  ist  Ehr1  und  Freiheit, 
Das  Vaterland,  das  Ehre  gibt,  der  «weite. 

Konrad  spricht  über  den  Trotzigen  die  Reichsacht,  Erzbischof 
Aribo  von  Mainz  den  Kirchenbann.  Bei  Unland  spricht  den  Kir- 
chenfluch Warmann,  der  Bischof  von  Konstanz ,  Schwabens  Statt- 
halter. Das  durch  Wohelo  beabsichtigte  Verhaften  Heinrichs,  des 
jtingern  Sohnes  Konrads,  misslingt.  Statt  Gisela  wird  Agnese  in 
einem  Kahne  fortgeschleppt.    Man  glaubt  an  ihren  Untergang. 

Die  zweite  Handlung  spielt  in  der  Abtei  von  St.  Gallen.  Man 
hört,  dass,  fUr  die  Schicksalsgöttin  Vala  gehalten,  eine  stumme, 
geheimnissvolle  Frau  (die  gerettete  Agnese)  die  Heere  des  Kaisers 
gegen  die  Angriffe  des  Auslandes  schützt,  und  dass  die  gebannten 
und  geächteten  Freunde  Ernst  und  Wehelo  im  Schwarzwalde  mit 
feindlichen  Schaaren  herumziehen.  Der  Schauplatz  ihror  verwüsten- 
den Wirksamkeit  ist  die  »Hölle« ,  Baargegend  in  den  Ausläufen 
des  Schwarzwaldes,  unter  Burg  Falkenstein.  Ernst  und  Wehelo 
ziehen  mit  ihren  Schaaren  gegen  das  Heer  des  Grafen  Mangold 
aus,  der  an  ihnen  die  Reichsacht  vollziehen  soll.  Die  todten  Freunde 
werden  vom  Schlachtfelde  dem  siegreichen  Kaiser  gebracht  und  die 
Angriffe  der  Feinde  an  des  Reiches  Grenzen  gemeldet.  Die  uner- 
kannte Vala  erhält  zum  Kampfe  die  Reichssturmfahne. 

Der  Schauplatz  der  dritten  Handlung  des  zweiten  Theiles  oder 
der  sechsten  der  ganzen  Dichtung  ist  der  Gonciliensaal  zu  Kost- 
nitz (Konstanz).  Aribo,  Erzbisohof  von  Mainz,  der  dem  Kaiser 
entgegenwirkte,  fällt  in  Ungnade,  Piligrim  von  Köln  wird  mit 
Gnade  ausgezeichnet.  Die  mit  des  Kaisers  Bewilligung  abgehaltene 
Synode  spricht  sich  für  den  letzten  aus.  Die  Vala  wird  als  die 
Herzogin  Agnese  erkannt,  sie  hat  den  Sieg  des  kaiserlichen  Heeres 
drohend,  warnend,  kämpfend  gefördert,  sie  wird  als  fürstliche  Sie- 
gerin gefeiert  und  stirbt,  sie  hat  die  Vergehen  ihres  Gatten  am 
Reiche  gesühnt.  Von  allen  Seiten  kommen  Boten,  welche  Siege 
der  kaiserlichen  Heere  melden.  Des  Reiches  Einheit  steht  befestig- 
ter als  je  da.    Die  letzten  Worte  der  sterbenden  Agnese  sind: 

Heil, 

Heil  sei  dem  deutsohen  Land! 

Das  historische  Schauspiel  des  Herrn  Verf.  ist  von  denen 
Schiller's  und  seiner  Nachahmer  wesentlich  verschieden.  Es  ist 
ein  Stück  Geschichte,  das  zur  Aufführung  kommt  und  etwa  zehn 
Jahre  umfasst.  Der  Aufstand  Ernst's  gegen  den  Kaiser  und  sein 
Ausgang  sind  nicht,  wie  bei  Unland,  die  einzige  dramatische  Hand- 


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Dulk:  Konrad  II. 


711 


lung.  Es  ist  nicht,  wie  bei  Unland,  eine  Tugend  Erast's,  ideali- 
sirt  aufgefaast,  die  Tugend  der  Freundestreue,  welche  im  Conflicte 
mit  den  Reichspflichten  dargestellt  wird,  nicht  der  Ausgang  einer 
edlen  Seele,  welche  den  ganzen  Rahmen  des  Dramas  erfüllt,  ühlands 
Trauerspiel  ist  ein  organisches  Ganzes,  das  uns  das  Ideal  der 
Freuudestreue  bis  zum  Tode  in  einem  vergeistigten  Geschichtsbilde 
veranschaulicht.  Herrlich  sind  die  Schlussworte  Gisela's,  der  Mutter, 
vor  der  Leiche  ihres  Sohnes: 

Hat  so  viel  Wärme  nicht  ein  Mutterherz, 
Dass  es  beleben  kann  den  todten  Sohn? 
Soll  der  mir  todt  sein,  dessen  Leben  eins 
Mit  meinem  ist,  den  meine  Brust  gesäugt? 
Nein!  leben,  leben  soll  mein  treuer  Ernst, 
Fortleben  wird  er  in  dem  Mund  des  Volks, 
Er  lebt  in  jedem  fühlenden  Gemtith, 
Er  lebt  dort,  wo  reines  Leben  ist. 
Nicht  wieder  deckt  mir  diesen  Vorhang  auf, 
Darunter  Leiche  neben  Leiche  liegt  1 
Dort  oben  öffnet  sich  ein  himmlisch  Zelt. 
Wo  Freund  in  Freundes  Arm  erwacht  und  wo 
Der  Frühgealterte  verjüngt  erscheint. 

Im  Sinn  und  Geiste  der  Schiller'schen  historischen  Dramen 
nnd  doch  mit  origineller,  echt  dramatischer  Auffassung  hatühland 
das  treffliche  Trauerspiel:  Ernst  von  Schwaben  gedichtet. 

Nirgends  zeigt  sich  der  Unterschied  der  Auffassung  des  histo- 
rischen Schauspieles  durch  unsern  Hrn.  Verf.  einerseits  und  durch 
die  Sobiller'sche  Schule  anderseits  deutlicher,  als  gerade  in  dem 
vorliegenden  Schauspiele,  Konrad  IL,  weil  es  einen  wesentlichen  Theil 
soinos  Stoffes,  von  Uhland  in  seinem  Ernst,  Herzog  von  Schwaben,  be- 
handelt, der  Geschichte  entnimmt.  Die  Charaktere  sind  bei  Uhland, 
wie  bei  Schiller,  idealisirt ;  doch  von  erstcrem  im  Ganzen  mehr  der 
Geschichte  gemäss  gehalten ;  die  Handlung  bildet  ein  aus  dem  sitt- 
lichen Conflicte  der  auftretenden  Charaktere  hervorgehendes  Ganzes. 
Bei  unserem  Herrn  Verfasser  ist  Ernst's  Auftreten  nur  ein  bedeu- 
tendes Stück  des  grossen  dramatischen  Gemäldes,  das  uns  den 
historisch  treu  gehaltenen  und  dramatisch  gut  durchgeführten 
Charakter  Konrad's  EL  darstellt.  Es  sind  zwei  Ideen,  die  als  die 
belebenden  Mächte  in  den  Handlungen  des  Stückes  wirken,  die 
Einheit  uud  die  Freiheit.  Die  Freiheit  ist  in  jener  Unstern, 
eisernen  Zeit  noch  nicht  zur  ganzen  und  vollkommenen  Entwick- 
lung gediehen.  Es  ist  das  Streben  des  willkürlich  sich  gebaren- 
den Sondergelüstes  im  Einzelfürstenthume ,  des  Theiles,  der  sich 
gegen  das  Ganze  auflehnt,  das  hier  anschaulich  gemacht  wird.  Die 
Einheit  ist  dem  Reiche  noth wendig,  damit  die  Freiheit  erwachse. 
Die  Einheit  erhebt  die  Siegesfahne  durch  Konrad,  die  Scheinfrei- 


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712 


Dulk:  Konrad  II. 


beit  unterliegt  und  das  Vergeben  der  Selbstüberhebung  gegenüber 
dem  Reiche  wird  durch  Agnesens  aufopfernde  Hingabe  gesühnt. 
Dadurch  erhält  auch  ein  Zeitraum  von  10  Jahren  einen  die  Hand- 
lung als  organisches  Ganzes  abschliessenden  Rahmen.  Die  Charaktere 
sind  historisch  treu  gehalten.  Konrad  ist  der  Mann,  um  den  das  Stück 
sich  bewogt,  von  ihm  geht  es  ans,  auf  ihn  lauft  es  zurück ;  denn  er 
ist  der  Vertreter  der  siegreichen  Idee  des  Stückos,  der  deutschen  Ein- 
heit. Durch  diesen  Kampf  der  Einheit  und  der  noch  nicht  zur  Klarheit, 
zum  rechten  Verständniss  gekommenen  Freiheit  erhält  das  Stück  eine 
besonders  anziehende  Stellung  zur  Gegenwart,  in  welcher  die  Hebel 
der  Bewegung  dieselben  Ideen  unter  andern  Formen  und  Verhält- 
nissen sind.  Die  in  der  Sprache  des  Dichters  gebrauchten  Bilder 
sind  ursprünglich,  nicht  von  andern  entlehnt,  treffend  und  unge- 
zwungen, der  Dialog  lebendig,  die  Gruppirung  anschaulich.  Das 
Stück  hat  einen  dichterischen  Werth  in  Form  und  Inhalt.  Für  die 
Aufführung  ist  das  Ganze  zu  breit  angelegt.  Schon  der  erste  Theil 
hat  156  Seiten,  der  zweite  30  mehr.  Das  müsste  an  zwei  Aben- 
den abgespielt  werden.  Dadurch  wird  das  Interesse  getheilt.  Es 
wäre  besser,  wenn  man  das  Ganze  in  fünf  Akte  theilte,  was  leicht 
geschehen  könnte,  wenn  man  den  ersten  Akt  mit  dem  zweiten  und 
den  letzten  mit  dem  vierten  verschmelzen  würde.  Der  in  den  bei- 
den zur  Abkürzung  empfohlenen  Akten  vorhandene  Stoff  ist  so  be- 
schaffen, dass  er,  wie  z.  B.  der  Bärenkampf  im  Anfange  des  ersten 
Theiles,  oder  die  Synodalverhandlung  im  letzten  Akte  sich  leicht 
ohne  Störung  in  Erzählungen  kurz  andeuten  Hesse,  während  er 
hier  zur  genauen  Ausführung  kommt.  Manches  von  dem,  was  im 
Stücke  als  zur  Scenerie  gehörig  angeführt  wird,  muss,  wenn  der 
dramatische  Eindruck  nicht  verwischt  werden  soll,  hin  weggelassen 
werden.  Der  Herr  Verf.  scheint  diesen  Missstand  selbst  zu  fühlen, 
daher  hat  er  auf  der  Rückseite  des  ersten  Blattes  angedeutet,  dass 
die  »Einrichtung  für  die  Bühne  von  ihm  in  Stuttgart  zu  beziehen 
sei.«  So  hängen  bei  Dulk  den  besiegten  Römern  niederen  Ranges 
Stricke,  den  Vornehmen  Schwerter  vom  Halse  herunter,  was  wohl 
kaum  einen  ernsten  Eindruck  machen  wird,  wenn  es  auch  ganz 
geschichtlich  treu  ist,  und  von  Uhland  in  seinem  Ernst  von  Schwa- 
ben einfach  erzählt  wird,  weil  es  sich  besser  zur  Erzählung,  als 
zur  Darstellung  eignet.  Zu  den  schönsten  Scenen  gehören,  wie  schon 
angedeutet  wurde ,  die  lebenvollen ,  charakterischen  Volksscenen, 
welche  bei  Uhland  gänzlich  fehlen,  da  er  in  der  Darstellung  seines 
Ernst  von  Schwaben  andere  Zwecke  verfolgt  und  darum  andere 
Mittel  wählen  muss.  Dem  grossen  Publikum  durchaus  unverständ- 
liche Worte,  wie  die  bei  den  einzelnen  Versen  immer  widerkeh- 
renden Anfangsworte  des  deutschen  Kriegsliedes:  »Gare,  Gare« 
müssen  hinweggelassen  oder  durch  andere  verständliche  ersetzt  wer- 
den. Eine  Umänderung  und  Zusammenziehung  lassen  sich  ohne 
Nachtheil  für  das  Ganze  ausführen  und  dann  wird  eine  gute  Dar- 
stellung der  gelungenen  Dichtung  den  Eindruck,  welchen  sie  schon 


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Agthe:  Die  Parabase. 


718 


in  der  jetzigen  Gestalt  bei  dem  Leser  hervorruft,  gewiss  ancb  auf 
der  Bühne  bei  dem  Zuschauer  nicht  verfehlen. 

v.  Reiclilin-Meldegg. 


Die  Parabane  und  die  Zirischenaktc  der  alt-attischen  Komödie  von 
von  C.  Agthe.  Mit  sechs  Holzschnitten.  Altona,  Verlag  von 
Adolf  Lehmkuhl  et  Co.  (O.  Sorge)  1S66.  192  S.  in  gr.  8. 

Die  Parabase,  diese  eigentümliche  Erscheinung  der  älteren 
attischen  Komtidie,  ist  in  neuester  Zoit  Gegenstand  mehrfacher 
Besprechung  geworden,  um  ihr  Verhältniss  zu  den  übrigen  Theilen 
des  Drama  richtig  aufzufassen  und  damit  zu  einer  richtigen  Wür- 
digung des  alten  Drama  selbst  zu  gelangen.  Die  vorliegende 
Schrift,  welche  diesen  Gegenstand  in  umfassender  Weise,  und  mit 
Rücksicht  auf  die  densolben  Gegenstand  behandelnden  Vorgänger 
zu  erfassen  bemüht  ist,  zerfällt  in  zwei  Theile,  deren  erster  allge- 
meiner Art  ist  und  die  Frage  nach  dem  Ursprung  und  Wesen  der 
Parabase  behandelt,  der  zweite  Theil  dann  zur  Anwendung  der  im 
ersten  Theil  gewonnenen  Kriterien  tibergeht  und  hiernach  in  den 
noch  vorhandenen  eilf  Stücken  des  Aristophenes  diejenigen  Ab- 
schnitte zu  ermitteln  sucht,  welche  als  Parabasen  angenommen 
werden  können.  Bedingt  ist  die  Parabase  durch  das  Abtreten 
sämmtlicher  Schauspieler  von  der  Bühne,  durch  das  dann  er- 
folgende Auftreten  des  Chors,  der  um  den  Zwischenakt  auszufüllen, 
nicht  etwa  ein  auf  die  Handlung  des  Stückes  bezügliches  Lied 
vorträgt,  sondern,  ganz  aus  Inhalt  und  Gegenstand  desselben  her- 
austretend, diese  Gelegenheit  benutzt,  um  über  irgend  einen  andern 
Gegenstand  oder  irgend  eine  andere,  mit  dem  Stücke  in  gar  keiner 
Verbindung  stehende  Persönlichkeit  sich  spottend  auszulassen,  oder 
auch  durch  eine  Ansprache  des  Chorführers  (Dichters)  sich  un- 
mittelbar an  das  Publikum  wendet  und  dieses  anspricht,  meist  in 
persönlichen  Angelegenheiten,  wie  diess  in  der  späteren  Komödie  durch 
den  Prolog  der  Fall  war.  Es  entsteht  nun  allerdings  die  Frage,  wie  die 
alte  attische  Komödie  zu  einer  solchen  Einrichtung,  mag  man  dieselbe 
als  eine  Abnormität  mit  dem  Verf.  betrachten,  welche  den  Fort- 
gang der  Handlung  unterbrach  und  aller  dramatischen  Illusion 
widersprach,  gelangte,  und  diese  Frage  sucht  der  Verf.  dahin  zu 
beantworten,  dass  er  nachzuweisen  sich  bemüht,  wie  diese  Ein- 
richtung doch  nicht  in  dfrektem  Widerspruch  mit  dem  Wesen  des 
Drama  stehe,  sondern  ihre  Erklärung  in  der  Entstehung  der  Ko- 
mödie aus  dem  alten  xcopog  finde,  dessen  in  bestimmte  Normen  und 
Fesseln  gebrachter  Ueberrest  die  Parabase  gewesen,  die  mithin 
den  ältesten  Theil  der  Komödie  gebildet  und  für  den  Dichter  selbst 
der  wichtigste  Theil  der  ganzen  Komödie  geworden  sei,  weil  sie 
ihm  eine  Gelegenheit  geboten,  sich  und  seine  Poesie  wider  die 


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Aßt  he:  Di«  Par&bue. 


Angriffe  neidischer  und  lästiger  Gegner  zu  vertheidigen,  und  zu- 
gleich als  eine  bedeutende  politische  Waffe  gedient,  die  mit  Erfolg 
zu  politischen  Zwecken  augewendet  werden  konnte  (Vgl.  S.  27). 
Wir  theilen  diese  Auffassung  der  Parabase  hier  mit,  ohue  weiter 
in  eine  Prüfung  uns  einzulassen,  in  wie  weit  dadurch  die  ganze 
Erscheinung  ihre  hinreichende  Erklärung  findet,  indem  dazu  hier 
der  Raum  nicht  ausreicht  und  wir  überhaupt  mit  dieser  Anzeige 
nur  den  Zweck  verbinden,  die  Leser  auf  eine  Schrift  aufmerksam 
zu  machen,  welche  diesen  wichtigen  Bestandtheil  der  alten  attischen 
Komödie  einer  neuern  gründlichen  Besprechung  zu  unterwerfen  und 
diese  eigontbümliche  Erscheinung  zu  erklären  und  zu  erörtern  ver- 
sucht hat.    Nachdem  der  Verf.  auf  die  bemerkte  Weise  den  Ur- 
sprung und  Bestand  der  Parabase  behandelt,  geht  er  dann  S.  28  ff. 
über  zu  einer  Betrachtung   der  Parabase  in  ihren  Einzelheiten, 
wobei  zuerst  der  Ausdruck  selbst  (Tcccgaßctöig)  besprochen  wird 
und  Veranlassung  gibt  zu  einer  näheren  Erörterung  über  die  Art 
und  Weise  des  Vortretens  des  Chors,  seiner  Stellung  und  Bewegung 
während  dorn  Vortrag  dieses  Theils  des  alten  Drama's,  welcher 
dann  selbst  mit  diesem  Namen  bezeichnet  ward.    Dann  geht  der 
Verf.  zu  der  näheren  Bestimmung  der  einzelnen  Theile  einer  Para- 
base über,  wie  sie  schon  bei  Pollui  (IV,  112)  und  noch  besser  in 
den  Scholien  zu  den  Wolken  518  aufgeführt  werden,  also  zuerst 
das  sogenannte  xofifiatiov,  dann  die  itccgdßaöig  im  eigentlichen 
oder  engern  Sinne  des  Wortes,  wie  sie  vom  Chorführer  gesprochen, 
nicht  aber,  es  sei  von  ihm  oder  vom  Chor  gesungen  ward,  dann 
der  vom  ganzen  Chor  gesprochene  Abschnitt  fiaxgov  oder  7tvtyo$ 
genannt.    Diesen  drei  Theilen  der  vollständigen  Parabase  reihen 
sich  dann  noch  an  (4  und  6)  oidi}  und  avraÖ^  vom  ganzen  Chor 
gesungen,  und  (5  und  7)  txt'omjuu  und  ävzemQQrjfuc,  von  einem 
der  Choreuten  gesprochen.    Nachdem  noch  das  Metrum  der  ein- 
zelnen  Theile    besprochen  worden,  folgt  zum   Schluss    S.  59 ff. 
eine  Besprechung  der  tragischen  Parabase,  mit  Bezug  auf  die  Stelle 
des  Pollux  IV,  111,  wornach  Euripides  wie  Sophocles  in  ihren 
Dramen  mehrmals  einer  Art  von  Parabase   sich  bedient  haben 
sollen,  insofern  sie  dem  Chor  in  irgend  einem  Zwischenakt  Worte 
in  den  Mund  gelegt,  die  auf  den  Dichter  selbst  sich  bezogen,  der 
also,  wie  bei  der  Komödie,  hier  von  sich  selbst,  dem  Publikum 
gegenüber  gesprochen  habe.    Die  ganze  Sache  ist  etwas  unsicher, 
aus  Mangel  an  nähern  Angaben;  und  daher  auch  unsicher  die 
weitere  Vermuthung,  die  am  Schlüsse  dieser  ganzen  Erörterung 
ausgesprochen  wird,  dass  auch  im  Satyrdrama  eine  Parabase  wie 
in  der  Komödie  und  Tragödie  stattgefunden  habe. 

Der  zweite  praktische  Theil,  wie  wir  ihn  wohl  nennen  dür- 
fen, wendet  sieb,  nach  einer  einleitenden  Erörterung  über  die  Kri- 
terien und  über  die  hier  einzuschlagende  Methode,  den  einzelnen 
Stücken  des  Aristophanes  zu,  und  sucht  hier  prüfend  nachzuweisen, 
welche  Theile  bei  einem  jeden  Stück  als  Parabasen  anzusehen  seien. 


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Cicero'B  Parti«,  oratt  von  Piderit 


715 


Wir  können  anch  hier  dem  Verf.  in  das  Einzelne  seiner  Unter- 
suchung nicht  folgen,  die,  wir  zweifeln  nicht,  anf  wohlbegründe- 
ten Widerspruch  stossen  wird,  namentlich  in  Bezug  auf  das 
Verhältni8s,  in  welches  hier  die  Parabase  zu  dem  Episodium  ge- 
setzt wird,  indem  der  Verf.  (S.  182)  annimmt,  dass  in  der  Ko- 
mödie am  Ende  eines  jeden  Episodinms  sich  eine  Parabase  finde  (?). 
Demnach  werden  z.  B.  in  den  Acharnern  vier  Parabasen  angenom- 
men, welche  auf  die  vier  Episodien  folgen  sollen,  eine  erste  voll- 
ständige Parabase  (626—718)  am  Ende  des  ersten  Episodiums, 
eine  zweite  (836 — 59)  am  Ende  des  zweiten  Episodiums,  und  so 
fort  eine  dritte  (971—999)  und  vierte  (1143-1173)  nach  Ende 
des  dritten  und  vierten  Episodiums.  In  den  Rittern  wird  eben- 
falls eine  erste  vollständige  Parabase  (498  —  610)  angenommen  am 
Ende  des  ersten  Episodiums,  eine  zweite  (wir  zweifeln,  ob  mit  ge- 
nügendem Grunde),  am  Ende  des  zweiten  Episodiums  978  —  996, 
und  eiue  dritte,  die  auch  wir  für  richtig  halten,  von  1263 — 1315 
am  Ende  des  dritten  Episodiums.  In  den  Wolken  findet  der  Verf. 
eine  erste,  des  Pnigos  ermangelnde  Parabase  510 — 626  nach  dem 
ersten  Episodium,  und  eine  zweite  1113 — 1130  am  Ende  des  zwei- 
ten Episodiums;  am  Ende  des  dritten  Episodiums  wird  eine  jetzt 
fehlende  Parabase  angenommen.  In  den  Wespen,  im  Frieden  und 
in  den  Fröschen  werden  zwei  solche  Parabasen  angenommen,  in 
den  Vögeln  gar  fünf,  die  auf  die  fünf  Episodien  gefolgt,  in  den 
Thesmophoriaznsen  drei  nach  eben  so  vielen  Episodien;  in  der 
Lysistrata  fehlen  die  Parabasen  zwar,  allein  am  Schlüsse  eines 
jeden  der  vier  Episodien  werden  diesen  ähnliche  Chorika  gefunden, 
auch  in  den  Ekklesiazusen  eine  erste  Parabase  von  1155 — 1162 
angenommen.    Vom  P latus  kann  bekanntlich  keine  Rede  sein. 

Die  auf  dem  Titel  erwähnten  Holzschnitte  beziehen  sich  auf 
die  Stellung  des  Chors  während  der  Parabase  und  sind  dem  be- 
treffenden Abschnitt  S.  33  IßT.  eingedruckt. 


Cicero'' 8  Partitiones  oratoriae.  Für  dm  Schulgebrauch  erklärt 
von  Dr.  Karl  Wilhelm  Piderit,  Direcior  des  Gymna- 
siums 2u  Hanau.  Leipzig.  Druck  und  Verlag  von  B.  0.  Teub- 
ner.  1867.  96  8.  in  gr.  8. 

Diese  Bearbeitung  einer  der  kleineren  rhetorischen  Schriften 
Oicero's  schliesst  sich  ganz  den  von  demselben  Verfasser  besorgten 
Ausgaben  der  Bücher  De  oratore,  des  Brutus  und  des  Orator  an, 
sie  ist  ihnen  ähnlich  in  ihrer  ganzen  Einrichtung  und  nach  ihrer 
ganzen  Fassung.  Sie  ist,  wie  schon  der  Titel  andeutet,  keine  neue 
kritische  Ausgabe,  sondern  zunächst  der  Erklärung  dieser  Schrift 
gewidmet,  die  in  früherer  Zeit  vielfach  in  Schulen  gelesen  und  er- 
klärt,  wie  diess  selbst  Melanohthon's  Ausgaben  und  Erklärungen 


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Cicero's  Partitt.  oratt.  von  Piderlt. 


beweisen  können,  in  den  letzt  verflossenen  hundert  Jahren  weniger 
Beachtung  gefunden  hat,  so  dass  selbst  Zweifel  über  ihre  Aecht- 
heit  auftauchen  konnten,  die  indess  Niemand,  der  Cicero's  Schrif- 
ten nur  einigermassen  kennt,  theilen  wird.  Uro  so  erwünschter 
mag  diese  neue  Bearbeitung  erscheinen,  die  es  sich  zur  Aufgabe 
gestellt  hat,  das  Verständniss  dieser  Schrift  durch  eine  eingebende 
Erklärung  in  sachlicher  wie  sprachlicher  Hinsicht  herbeizuführen 
und  damit  die  Leetüre  dieser  vielfach  vergessenen  oder  selbst  ge- 
ringschätzig angesehenen  Schrift  zu  fördern,  in  der  auch  wir  mit 
dem  Verfasser  »einen  trefflichen  rhetorischen  Katechismus 
erkennen,  der  sich  durch  die  Vorzüge  einer  geschickten  systema- 
tischen Anordnung  des  Lehrinhalts,  wie  durch  prägnante  Fassung 
der  rhetorischen  Begriffe  auszeichnet  und  auch  noch  in  mancher 
andern  Hinsicht  nützliche  Dienste  leistet.«  Denn  es  werden  in  die- 
ser Schrift  die  Hauptpunkte  der  gesammten  Lehre  von  der  Bered- 
samkeit, also  das  ganze  rhetorische  System  in  wohlgeordneter  Folge 
und  in  fasslicher. Weise,  wie  es  die  Bestimmung  der  Schrift,  die 
zunächst  dem  Sohn  eine  zweckmässige  Anleitung  zu  geben  beab- 
sichtigt, dargelegt;  wir  erhalten  also  damit  ein  Compendium  oder 
ein  kurzgefasstes  Lehrbuch  der  römischen  Beredsamkeit,  das  sieb 
durch  manche  Eigenschaften  empfiehlt,  daher  wohl  auch  auf  Schu- 
len gelesen  zu  werden  verdient. 

Die  Ausgabe  beginnt  mit  einer  Einleitung,  wie  diess  auch  bei 
den  ähnlichen ,  oben  genannten  Bearbeitungen  der  Fall  ist ,  und 
werden  darin  alle  auf  die  Abfassung  der  Schrift,  ihre  Tendenz  nnd 
ihren  Inhalt  bezüglichen  Fragen  näher  behandelt;  daran  schließet 
sich  eine  genaue  Uebersicht  des  Inhalts  im  Einzelnen  S.  16  ff.  Die 
Abfassung  der  Schrift  wird  (S.  7)  in  das  Jahr  46  v.  Chr.  (708 
n.  c.)  vorlegt,  woran  wohl  nicht  zu  zweifeln  ist;  die  Bedeutung 
der  Schrift  selbst  nach  Gebühr  in  dieser  Einleitung  betont.  Nun 
folgt  der  Text  mit  der  darunter  gesetzten  Erklärung,  welche, 
wie  schon  oben  bemerkt,  Sachliches  und  Sprachliches  gleichmässig 
berücksichtigt  und  dabei  auf  den  Nachweis  des  Zusammenhangs, 
so  wie  auf  die  Erörterung  Alles  Dessen,  was  in  das  Gebiet  der 
Rhetorik  einschlägt,  besondere  Rücksicht  nimmt  ,  namentlich  auch 
durch  die  Anführung  passender,  das  richtige  Verständniss  und  die 
Auffassung  fördernden  Parallelstellen  aus  dem  Auetor  ad  Herennium 
wie  aus  den  andern  rhetorischen  Schriften  Cicero's.  Ohne  näher 
in  das  Einzelne  einzugehen,  wird  man  doch  bald  sich  überzeugen, 
wie  das,  was  in  diesen  Punkten  geleistet  worden  ist,  dem  beab- 
sichtigten Zwecke  entspricht  und  befriedigend  ausgefallen  ist.  Auch 
der  Text  selbst  ist,  wenngleich  die  Kritik  zunächst  der  Aufgabe 
des  Verf.  ferne  lag,  doch  einer  Revision  unterzogen  und  an  man- 
chen Stellen,  wo  es  der  Vorf.  für  nöthig  erachtete,  geändert  oder 
berichtigt  worden.  Darüber  gibt  der  am  Schluss  des  Ganzen  be- 
findliche kritische  Anhang  nähere  Auskunft.  So  bereitwillig  man 
nun  manche  der  vorgenommenen  Aenderungen  als  Verbesserungen 


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Cicero's  Partitt.  oratt.  von  Pider  it. 


717 


anerkennen  wird,  so  finden  Bich  doch  auch  Stellen,  in  welchen  man 
anderer  Ansicht  sein  kann.    So  wird  man  IV,  §.  14  der  von  dem 
Verf.  in  den  Text  gesetzten  Lesart :  »quod  accusator  rerum  ordinem 
prosequitnr  et  singula  argumenta  quasi  hasta  in  manu  co  Ho- 
est u,  vehementer  proponit,  concludit  acriter«  etc.  wohl  unbedenk- 
lich den  Vorzug  geben,   selbst  vor  der  in  dem  kritischen  Anhang 
ausgesprochenen Vermuthung  »quasi  hasta  sit  in  manu  collocata«, 
wozu  die  in  den  beiden  massgebenden  Handschriften,  der  Pariser 
und  Erlanger,  befindliche  Lesart  hastas  die  Veranlassung  gab; 
denn  der  Vorschlag :  hastas  —  collocatas  zusetzen,  passt  nicht, 
schon  um  des  Verbums  willen,  der  Ablativ  aber  führt  hier  ganz 
gut  das  Bild  vor,  das  Cicero  anwendet,  indem  er  den  anklagenden 
mithin  angreifenden  Redner  vergleicht  mit  dem  Krieger,  oder  viel- 
mehr mit  dem  Feldherrn,  der  seine  Streitkräfte  zum  Angriff  vor- 
führt, mit  den  Waffen  in  der  Hand,  wohlgeordnet  in  die  Beihen. 
Der  Verf.  vergleicht  uuser  Deutsches:  »gleichsam  zur  Attaque  das 
Gewehr.«    Minder  noth wendig  erscheint  V,  §.  15  die  Aenderung: 
>nam  auditorum  aures  moderantur  oratori  prudenti  et  pro  vi  du«, 
wo  die  beiden  eben  genannten  Handschrifteu  auditoris  haben, 
was  eben  so  gut  stehen  kaun,  zumal  da  auch  oratori  im  Sin- 
gular folgt;  in  der  Stelle  III,  §.10  auf  welche  verwiesen  wird 
(»auditorum  eam  genere  distingui«),  liegt  kein  uäherer  Grund, 
auch  hier  den  Plural  zu  setzen.    Aber  cap.  XXXIX,  §.  136  glau- 
ben wir  nicht,  dass  die  in  den  Text  gesetzto  Lesart :  »non  in  ver- 
bis  ac  in  literis«,  wie  die  Erlanger  Handschrift  hat,  richtig  ist, 
da  wir  uns  nicht  überzengon  können,  dass  Cicero  in  dieser  Weise 
ac  vor  einen  Vokal  und  vor  das  einsilbige  in  gesetzt  habe;  wir 
bleiben  daher  bei  der  Vulgata  ac  literis,  oder  lesen  lieber  atque 
in  literis,  was  dem  vorausgegangenen  in  consilio  atque  in  mente 
dann  völlig  entspricht;  auch  hat  eine  Handschrift  (Behdigeranus) 
für  ac  wirklich  atque.    Eher  möchte  sich  die  VII,  24  vorgenom- 
mene Aenderung  empfehlen:  »in  conjunetis  autem  verbis  duplex 
adhiberi  potest  commutatio,  nou  verborum  sed  tautummodo  ordi- 
nis,  ut  cum  semel  dictum  sit  directe,  sicut  natura  ipsa  tulerit,  in- 
vertatur  ordo  et  idem  quasi  sursum  versum  retroque  dicatur,  deinde 
idem  intercise  atque  perraixte.«  Hier  ist  statt  des  aufgenommenen 
duplex  die  Lesart  der  Codd.  und  Edd.  triplex,  was  aber  nicht 
passt.    Denn,  wie  hier  richtig  bemerkt  wird,  schon  das  nachfol- 
gende deinde  zeigt  deutlich,  dass  hier  nur  eine  zweifache  Form- 
ver Änderung  mittelst  der  Wortstellung  angeführt  werden  soll;  wie 
diess  von  dem  Verfasser  woiter  ausgeführt  wird.  Dagegen  III,  §.  9 
ist  die  Vulgata:   »adhibenda  sunt  illa  etiam,  quae  ad  motum 
animorum  pertinent«  belassen,  wo  die  beiden  Handschritten  ad 
m  o  t  u  s  haben ,  was  im  Hinblick  auf  die  vom  Verf.  selbst  ange- 
führten Stellen  doch  den  Vorzug  zu  verdienen  scheint.  Wir  setzen 
diese  kleine  Nachlese  nicht  weiter  fort:  das  Angeführte  mag  ge- 


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718  .  Paul:  Quaeetiones  Claudiancae. 

nügen ,  um  dieser  Bearbeitung  die  wohlverdiente  Aufnahme  und 
Verbreitung  zu  sichern. 


Quaestiones  Claudianeae.   Vom  Oberlehrer  Dr.  Paul.  Ber- 
lin 1866.  Druck  von  E.  v.  HuUen.  36  S.  in  4to. 

Es  ist  gewiss  an  der  Zeit,  auch  einmal  an  den  Dichter  Clau- 
dianus  zu  denken,  der  in  früheren  Zeiten  viel  gelesen  und  be- 
achtet, in  der  neuesten  Zeit  fast  ganz  vergessen  erscheint,  wenn 
man  etwa  absieht  von  dem  historischen  Gebrauch,  welcher  von 
einigen  seiner  Dichtungen  gemacht  und  selbst  näher  erörtert 
worden  ist.  Aber  auch  zu  diesem  Gebrauch  wird,  abgesehen  von 
Allem  Andern,  ein  richtiger  und  reiner  Text,  den  wir  leider  noch 
nicht  besitzen,  nötbig  sein,  und  erscheint  ein  solcher  als  das  nächste 
Bedürfnis«.  Auch  die  vorliegende  Abhandlung  hat  es  zunächst  mit 
dem  Texte  der  Gedichte  Ciaudian's  zu  thun,  indem  sie  nicht  blos 
zahlreiche  Verderbnisse  nachweist,  sondern  auch  eine  nahmhafte 
Anzahl  von  Stellen  auf  dem  Wege  der  Conjecturalkritik  und  unter 
Benutzung  der  ältesten  Ausgaben  wiederherzustellen  versucht,  und 
in  diesem  Streben  durch  eine  genaue  Kenntniss  der  Sprache 
des  Dichters  und  seiner  Ausdrucksweise  unterstützt  wird;  davon 
gibt  auch  die  längere  Erörterung  Uber  die  Nachbildung  des  Luc*- 
nus  (nicht  des  Statius,  wie  Barth  behauptete),  die  in  so  vielen 
Stellen  des  Claudianus  neben  der  des  Virgilius  hervortritt,  S.  31  flf. 
einen  befriedigenden  Beweis.  Man  wird  daher  in  den  meisten 
Fällen  dem  Verfasser  zustimmen  und  die  vorgeschlagene  Aende- 
rung  als  eine  Verbesserung  betrachten  können.  Allerdings  steht 
einer  durchgreifenden  Verbesserung  des  Textes  der  Umstand  im 
Wege,  dass  wir  noch  keine  genaue  Kenntniss  der  noch  vorhande- 
nen Handschriften  des  Dichters  besitzen,  wie  sie  doch  nötbig  ist, 
um  mit  einiger  Sicherheit  in  der  Gestaltung  des  Textes  voranzu- 
gehen; und  möchten  wir  das  anerkennenswerthe  Streben  des  Ver- 
fassers insbesondere  auf  diesen  Punkt  lenken,  wenn  derselbe  auch 
mit  manchen  Mühen  und  Schwierigkeiten  verknüpft  ist.  Eine  auf 
genaue  Kenntniss  der  vorhandenen  Handschriften  gestutzte  Classifi- 
cation der  Handschriften,  welche  den  Werth  der  einzelnen  mit  Sicher- 
heit bestimmt  und  damit  der  Texteskritik  eine  feste  Grundlage  tu 
schallen  vermag,  wird  um  so  wünschenswerter  sein,  als  die  frü- 
heren Herausgeber  diesen  Gegenstand  mit  der  in  früherer  Zeit  aller- 
dings noch  nicht  verlangten  oder  nöthig  erachteten  Akribie  be- 
bandelt haben.  Es  hat  seine  vollkommene  Richtigkeit,  wenn  wir 
S.  19  bei  dem  Verfasser  lesen:  »Pessime  accidit,  quod  optimorum 
librorum,  quos  Nicolaus  Heinsius  et  reperit  et  primus  emendandis 
Claudiani  carminibus  adhibuit,  oondioio  et  species  plane  ignoratur. 
Itaque  ubi  quove  saeculo  confecti  sint  et  quo  literarum  genere 


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T.  CotU:  EntwickdüngBgeaeU  der  Erda. 


710 


exarati,  qui  fuerit  versuum  in  unaquaque  pagina  numerus  et  quae 
sunt  cognitu  commoda  id  genus  alia  frustra  quaesieris,  nisi  quod 
Vaticanum  primum,  cui  plurimum  tribuit  ille ,  undecimo  fere  sae- 
cuio  scriptum  esse  commemorat.<  Diese  Unsicherheit  in  Bezug  auf 
die  handschriftliche  Ueberlieferung  zu  heben,  erscheint  darum  vor 
Allem  geboten  und  der  Verfasser  dieser  Abhandlung  bei  seiner 
gründlichen  Eenntniss  des  Dichters,  die  ihn  in  den  Stand  gesetzt 
hat ,  so  manchen  Stellen  ihre  wahre  Gestalt  wieder  zu  verleihen, 
wohl  berufen,  diese  nächste  Aufgabe  zu  lösen.  Was  die  einzelnen 
in  diesen  Quaestiones  behandelten  Stellen  des  Clatidianus  betrifft, 
so  verweisen  wir,  da  auf  das  Einzelne  einzugeben,  der  Baum  die- 
ser Blätter  nicht  verstattet,  auf  die  Schrift  selbst,  die  wir  allen 
denen,  die  sich  für  einen  Dichter,  wie  Claudianus,  interessiren,  zu 
empfehlen  allen  Grund  haben. 


Heber  das  Enttpickelungs-Oesäz  der  Erde.  Von  Bernhard  von 
Cotta,  Professor  der  Geologie.  Leipzig,  Verlagsbuchhandlung 
von  J.  /.  Weber.  1867.  8.  S.  20. 

Den  Bau  der  Erde  naturgemäss  zu  erklären,  ist  die  höchste 
Aufgabe  der  Geologie.  Die  Gegenwart  lässt  uns  hiebei  auf  die  Ver- 
gangenheit schliessen;  auf  die  unzähligen  Vorgänge  und  Aenderun- 
gen  deren  Schauplatz  unsere  Erde  war.  Auf  den  dauernden  Polgen, 
welche  alle  diese  Zustände  hinterliessen,  beruht  das  Entwickelungs- 
Gesetz,  welches  folgendermassen  lautet:  die  Mannigfaltigkeit  der 
Erscheinungs-Formen  ist  eine  nothwendige  Folge  der  Summirung 
von  Resultaten  der  Einzelvorgänge  die  nach  einander  eintraten 
oder  kürzer:  die  Mannigfaltigkeit  der  Entwickelungs-Formen  ist 
die  Folge  der  Einzelvorgänge. 

Die  geologischen  Forschungen  führen  uns  auf  einen  heissflüs- 
sigen  Zustand  der  Erde  zurück,  d.  h.  zu  der  Annahme,  dass  die 
gesammte  Erde  sich  seiner  Zeit  in  einem  derartigen  Zustande  be- 
funden, wovon  das  Gegenwärtige  nur  noch  ein  Ueberrest  sei,  ur- 
sprünglich umgeben  von  einer  —  im  Vergleich  mit  der  jetzigen 
Atmosphäre  —  dicken,  an  Stoffen  reicheren  Gas-Hülle,  jedoch  ohne 
eine  Hülle  von  Wasser.  Diese  Annahme  bildet  die  Grundlage.  Die 
Erdmasse  wurde  nun  —  indem  sie  fort  und  fort  Wärme  in  den 
Weltraum  ausstrahlte  —  allmählich  kälter:  es  entstand  eine  feste 
Rinde  der  Erstarrung.  Es  ist  dies  die  erste,  die  älteste  Gesteins- 
Bildung.  Aber  die  kaum  entstandene  Kruste  erlitt  alsbald  mannig- 
fache Störungen;  sie  wurde  von  den  aus  dem  Erdinnern  her- 
vordringenden heissflüssigen  Massen  gesprengt  und  durchbrochen 
—  die  Bildung  der  ersten  Eruptiv  -  Gesteine  fand  statt,  welche 
sich  von  nun  an  mit  verschiedenem  Wechsel  fortdauernd  wieder- 
holte. 


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720 


v.  Cotta:  Entwickelungsgesetr  der  Erde. 


Mit  der  Abkühlung  fing  aber  auch  die  Wasser-Bildung  auf  der 
nun  starren  Einste  an,  welche  unter  dem  Druck  einer  dichten 
Atmosphäre  und  bei  hoher  Temperatur  eintrat.  Und  von  nun  an 
begann  das  Wasser  seine  unausgesetzte  Thätigkeit ;  hier  zerstörend 
und  fortführend,  dort  ablagernd  und  aufbauend.  Die  sedimentären 
Gesteine  wurden  in  einem  langen  Zeiträume  abgesetzt.  Es  ent- 
wickelte sich  aber  auch  mit  der  zunehmenden  Abkühlung  das  orga- 
nische Leben,  dessen  Ueberbleibsel  wir  in  Schichten  des  verschie- 
densten Alters  begraben  finden.  Durch  die  stete  Abkühlung  der 
Erde  von  ihrer  Oberfläche  aus  prägten  sich  allmählig  die  Unter- 
schiede der  Erwärmung  durch  die  Sonne  mehr  und  mehr  aus  zu 
den  gegenwärtigen  Klimazonen;  es  wurde  die  Bildung  von  Eis 
möglich. 

Am  Schlüsse  seiner  interessanten,  die  Beachtung  aller  Geolo- 
gen in  hohem  Grade  verdienenden  Schrift  stellt  B.  v.  Cotta  in 
sehr  anschaulicher  Weise  die  Reihenfolge  der  Vorgänge  in  der 
Entwickelung  der  Erde  zusammen,  nämlich: 

1)  Ballung  der  Materie  und  dadurch  immense  Temperatur  des 
Gasballes. 

2)  Durch  Wärme-Ausstrahlung  in  den  kälteren  Weltraum  geht 
ein  Theil  der  gasförmigen  Stoffe  in  den  flüssigen  Zustand  über; 
ein  flüssiger  Kern  ist  von  einer  Gashülle  umgeben. 

3)  Durch  weitere  Abkühlung  erstarrt  ein  Theil  des  flüssigen 
Kerns.  "Es  bildet  sich  eine  aus  Mineral-Substanzen  bestehende  feste 
Kruste  um  den  flüssigen  Kern,  umgeben  von  einer  Gashülle. 

4)  Durch  noch  grössere  Abkühlung  wird  auf  die  Oberfläche 
der  festen  Kruste  Wasser-Bildung  möglich  und  von  da  an  Wasser- 
Wirkungen.  Zwischen  die  feste  Kruste  und  die  Gashülle  tritt  dem- 
nach eine  unterbrochene  Wasser-Schicht. 

5)  Nach  einer  gewissen  Temperatur-Erniedrigung  bilden  sich 
organische  Stoff- Verbindungen  und  aus  diesen  Organismen,  deren 
Mannigfaltigkeit  sich  nun  stetig  vermehrt,  wie  die  der  unorgani- 
schen Gestaltungen. 

6)  Die  Wärme- Unterschiede  der  Sonnen- Bestrahlung  werden 
bemerkbar;  es  bilden  sich  Klima-Zonnen  und  endlich  Eisregionen. 
Von  da  an  auch  Eis-Wirkungen. 

7)  Im  Thiei-reiche  entwickelt  sich  mehr  und  mehr  das  geistige 
Leben  und  erreicht  im  Menschen  sein  augenblickliches  Maximum. 

Die  Ausstattung  vorliegender  Schrift  ist,  wie  man  solches  von 
dem  Verleger  der  >Ulustrirten  Zeitung«  gewohnt,  eine  sehr  ge- 
diegene. G.  Leonhard. 


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Ir.  46.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Auf  der  Scholle.    Elegien  von  Stephan  Milow.  Heidelberg.  Ver- 
lag von  0.  Weiss.  Iß67.  84  S.  8. 

Von  dem  talentvollen  Herren  Verf.  oben  genannter  Elegien 
wurden  in  den  Jahrbüchern  die  zweite  vermehrte  Ausgabe  seiner 
Gedichte  und  die  Erzählung :  Das  verlorene  Glück  durch  den  Unter- 
zeichneten angezeigt.  Dieselbe  glückliche  dichterische  Schöpfungs- 
und Gestaltungsgabe,  durch  welche  sich  die  beiden  genannten  Werke 
des  Herrn  Verf.  auszeichnen,  bekundet  sich  in  gleicher  Weise  auch 
in  der  vorstehenden  Elegiensammlung,  welcher  die  bezeichnende 
Aufschrift:  Auf  der  Scholle  gegeben  wird.  Sie  ist  »meinem 
Weibe  zugeeignet«  und  die  ganze  Reihe  der  hier  gegebenen  fünfzig 
Elegien  wird  mit  einem  Prologe  begonnen  und  einem  Epiloge  ge- 
schlossen. Vom  heimischen  Heerde,  von  Weib  und  Kind,  gehen 
die  sinuigeo,  gedankenvollen  Gedichte  aus  und  rücken,  Vergangen- 
heit, Gegenwart  und  Zukunft  umfassend,  der  ewig  wahren  und 
schönen  Natur,  dem  All  der  Erscheinungen,  näher,  mit  welchem 
sich  der  Dichter  durch  die  Liebe  Eins  fühlt.  Er  ruft  dem  Weibe 
und  Kinde  im  Prologe  zu: 

Und  so  fühl'  ich,  indem  ich  in  euch  mich  liebend  versenke, 
Jedem  mich  näher  gerückt,  fühl'  ich  mich  Eins  mit  dem  All. 

Die  Gedichte  sind  1866  —  1867  geschrieben.  Der  Kriegslärm 
tobt  an  das  Ohr  des  Verfassers  (eines  österreichischen  Kriegers) 
und  wir  lesen  S.  9  u.  10: 

Weichliches  Träumen  und  Ruhe  unwürdig  erscheint  es  des  Mannes, 

Doch  nicht  rühm1  sich  der  That,  der  wie  ein  Sklave  gehorcht, 
Wenn  der  verblendete  Eifer,  der  Ehrgeiz  einzelner  Mächt'ger 

Fort  in  den  Kampf  ihn  spornt,  welcher  die  Welt  nur  befleckt. 
Stritten  um  Licht  wir  oder  zum  Schutze  des  eigenen  Heerdes, 

Wie  es  verklungener  Zeit  Schaaren  begeistert  gethan, 
Jeder  entflammte  im  Drang,  die  heiligen  Güter  zu  schützen, 

Welche  das  Leben  allein  füllen  mit  edlem  Gehalt  

Denn,  wo  Gewalt  sich  gegen  Gewalt  auflehnet,  entspringet 

Oft  nur  so  grösseres  Leid  durch  den  entfesselten  Drang. . . . 
Bringet  Erlösung  der  Welt,  bringt  Heilung  den  fressenden  Uebeln, 

Dann  mag  rasseln  das  Schwert,  Blumen  zertreten  der  Fuss, 
Dann  sei  jeglicher  Bau  des  Friedens  zertrümmert  und  prächtig 

Blühe  das  Leben  verjüngt  aus  der  Zerstörung  empor. 
MX.  Jahrg.  10.  Heft.  46 


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722 


Milow:  Elegien. 


Bo  doch  kehr'  ich  mich  ab  und  schaue  zum  Trost  in  die  Schöpfung, 
Die  in  erhabener  Hub'  rollet  den  sicheren  Kreis ; 

Ueber  die  ewige  Pracht  hochragender,  säuselnder  Wälder, 
Ueber  die  Fluren,  vom  Hauch  laulicher  Lüfte  bewegt, 

Folgt  mein  Auge  der  Sonne ,  die  schwimmend  im  goldenen  Dufte 
Andacht  weckend  und  gross  ferne  im  Westen  verschwebt. 

Meisterhaft  sind  Friede  und  Herrlichkeit  der  Natur  gegenüber 
dem  wilden  Treiben  der  Menschen  in  der  fünften  Elegie  geschil- 
dert (S.  11  u.  12).  Die  Liebe  ist  es,  deren  Athem  die  Natur 
durchweht  und  sich  in  immer  neuen  Geschlechtern  der  Menschheit 
beseligend  wiederholt.  Darum  fühlt  sich  der  Dichter  im  Besitze 
seines  Weibes  und  des  theuern  Kindes  glücklich,  beseligt  in  der 
Gegenwart,  vorgeniessend  in  der  Zukunft,  sich  rückerinnernd  an 
den  heiligen  Bund,  welcher  ihm  das  höchste  Glück  des  Lebens 
schuf.  Nur,  wer  die  Liebe  kennt,  kennt  auch  das  geheimnissvolle 
göttliche  Walten  der  Natur.  Des  Kindes  Auge  schafft  ihm  das 
Eden,  ist  ihm  ein  Gruss  von  »jenseits  irdischer  Schranke«,  es 
hellet  ihm  das  »Dunkel  des  Seins.«  Für  das  »selige  Kind«  gibt 
es  kein  »Schicksal«,  keinen  »Tod«  in  der  Welt.  Von  dem,  welcher 
das  Kind  begreift  und  mit  ihm  zum  seligen  Kinde  wird,  sagt  der 
Dichter  in  der  Elegie  an  seinen  Sohn  S.  18: 

Schwerstes  erscheint  ihm  ein  Spiel,  an  des  Daseins  dräuendem  Ab- 
grund. 

Ahnungslos,  wie  du,  schreitet  er  lächelnd  dabin. 
Wenn  der  schlummernde  Knabe  aus  seinen  Träumen  erwachet, 
er  erschrickt  und  weint,  kehrend  zurück  in  die  Welt« 

Wie  schön  lUsst  der  Dichter  die  Liebe  als  Lehrerin  des  künf- 
tigen Geschlechtes  auftreten,  wenn  er  S.  26  singt: 

Seid  nur  Alle  im  Kreis  stets  treuliche  Väter  und  Mütter, 
Wollt  ihr  dem  eigenen  Sein  Würde  verleihen  und  Werth. 

Vieles  versäumten  wir  selbst,  so  lasst  ein  Geschlecht  uns  erziehen, 
Welches  mit  stärkerer  Hand  stützet  die  wankende  Welt.« 

Die  Jugend  ist  es,  die  Blume,  an  welche,  als  die  Frucht  der 
Zukunft,  er  sich  hält.  Jeder  sei  in  seinem  Kreise,  wozu  ihn  Be- 
ruf und  Gaben  bestimmen.    So  heisst  es  S.  30: 

Ganz  sei  Jeder,  wofür  er  sich  giebt,  dann  blühet  uns  Einklang, 
Dies  mein  Glaube  —  so  lass*  stets  nur  die  Tadler  mich  flieh'n. 

Durch  seine  Anschauungen  über  Gott  und  Welt  bewegt  sich 
ein  tiefer,  wahrhaft  philosophischer  Gedanke.  Nicht  die  »Pfaffen« 
sollen  seinen  Sohn  lehren,  was  Gott  ist,  auch  »die  arme  gedunsene 
Weisheit  nicht«,  welche  »die  Seele  des  Seins  schon  im  Atome  ver- 


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Milow:  Elegien. 


meint.«  Nicht  das  »Aufdringen«  dessen,  was  wir  »bebend  nur  ahnen 
können«,  nicht  »das  kecke  Läugnen«  dessen,  was  »sich  dem  Tasten 
entzieht«,  fuhrt  zum  Ziele.  Er  will  seinem  Knaben  »nur  das  Eine« 
sagen,  dass  »hinter  dem  Kleinsten  noch  ein  Geheimniss  sich  birgt, 
das  auf  das  Ewige  weist ,  dass  ihn  der  fallende  Stein  anhalte  zu 
staunendem  Sinnen,  wie  der  wachsende  Keim  und  der  zerstäubende 
Mensch«  (S.  31).  Der  Vater  will  ihn  nur  »vor  dem  Wahne 
schützen«;  er  soll  den  » waltenden  Gott  mit  eigenem  Blicke«  suchen. 
Wenn  er  ihn  auch  in  »Kämpfen«  suchen  muss,  nur  der,  den  er 
»selbst  gefunden«  ,  kann  ihm  »Tröster«  und  »einzig  der  rechte« 
sein  (S.  32).  Die  wahre  Liebe  lehrt  ihn  das  Leben  ernster  und 
tiefer  erfassen  (S.  33  u.  34),  Vielfach  sieht  er,  von  der  schönen 
Natur  abgewendet,  das  Schmerzliche,  das  »nur  von  den  Menschen 
kommt.«  Ein  Volk  »blutet«,  dem  »Alles  sich  zum  Glücke  einte, 
zwäng'  es  ein  Einzelner  nicht  rauh  in  das  schimpfliche  Joch"  (S.  37 
u.  38).  Freiheit  ist  der  Ruf  des  Einzelnen,  des  Volkes.  Ihm  er- 
scheint eben  so  nachtheilig  »des  Gewaltherrn  Joch«,  wie  der  »ent- 
fesselte Schwärm  der  fauatiscben  Menge«  (S.  39  und  40).  Nur 
die  Herrschaft  über  uns  selbst  giebt  uns  die  wahre  Freiheit  und 
macht  uns  der  äussern  würdig.  Darum  ruft  der  Vater  dem  Kinde 
S.  41  zu: 

Fest  im  Wahren  und  Echten!  Du  folg'  dem  Spruche  im  Leben, 
Müsstest  du  Tausenden  auch  stürzen  die  Götzen  in  Staub. 

Alles  verzeih',  was  dir  die  Anderen  Schmerzliches  anthun; 
Aber  verzeihe  du  nie,  dass  sie  verschänden  die  Welt. 

Nur  das  Gute  soll  bestehen.  Zum  Kampfe  gegen  das  Böse 
sollen  sich  alle  Gutgesinnten  verbinden  (S.  42  u.  43).  Wer  nicht 
im  All  wie  ein  verlorener  Schrei  dahin  zittern,  als  »ein  Nichts«  vor- 
übergehen will,  soll  sich  »dem  Grossen  im  innersten  Herzen  er- 
sohliessen«  (S.  44).  Nicht  Genuss  und  Glück  allein  sind  die  »Be- 
stimmung des  Daseins«,  auch  die  »Schmerzendesselben«  muss  man 
kennen  lernen  und  »als  einen  Schatz  hegen.«  Das  »ewige  Weh« 
klagt  neben  dem  Jubel  vom  »Schauer  des  Baumes,  den  rüttelnd 
entblättert  ein  Windstoss,  bis  zum  Menschen  empor.«  Das  Gefühl 
des  Schmerzens  läutert  die  Brust  und  stählt  den  in  uns  »Wunder 
bewirkenden  Glauben«  (S.  45).  Wenn  wir  auch  den  Schmerz  mit 
andern  fühlen,  so  erscheint  uns  doch  »jegliche  Rose  im  Lenz«  als 
»holdes  Symbol  des  herrlichen  Schönen  der  Erde«.  Der  Tod  ist, 
wie  das  Leben,  die  Blüthe,  wie  das  Verwelken,  nothwendig.  Die 
Selbstsucht  weckt  des  Menschen  Kräfte,  aber  sie  wird  auch  zur 
»Hölle  der  Welt«.  Sie  »treibt  und  belebt«,  aber  sie  »verzehrt« 
auch.  Wenn  des  Dichters  Sohn  auch  vor  dem  schlechten  Menschen 
gewarnt  wird,  so  soll  er  sich  desto  fester  an  die  »Guten«  halten, 
und  an  »einen  erhabenen  Geist  in  der  Menschheit  glauben,  fabig 
den  Schwärm  zu  durchschauen  und  zu  belächeln  verklärt.« 


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724 


Milow:  Elegien. 


Besonders  hervorzuheben  ist  die  treffliche  Elegie  XTY  (S.  52), 
welche  das  Schone  beschreibt.  Das  Schöne  ist  dem  Dichter  das 
Höchste.    Er  schildert  es  also  in  dieser  Elegie  an  seinen  Sohn: 

Wenn  ich  als  Höchstes  das  Schöne  dir  rühme,  so  fasse  nnr  recht  mich ; 

Denk  nicht  blos  an  das  Werk,  welches  der  Meissel  vollbringt, 
Oder  der  Pinsel  des  Künstlers,  der  Griffel  des  sinnenden  Dichters, 

Nein,  nimm  Alles  dazu,  was  zum  Gestalten  sie  drängt; 
Sei's  die  liebliche  Form,  das  seelische  Auge  des  Menschen; 

Sei's  der  Reiz  der  Natur,  wenn  sie  erblüht  und  verwelkt. 
Schön  auch  nenn'  ich  das  Gute,  die  siegende  Wallung  des  Herzeus, 

Das,  wie  tief  es  gehasst,  endlich  dem  Feinde  verzeiht; 
Auch  den  gläubigen  Muth,  der  ruhig  den  Sternen  vertrauet, 

Und  die  begeisterte  That,  die  das  Gemüth  uns  erhebt. 
Schön  ist  Alles  im  Kreis  und  würdig  verehrender  Liebe, 

Wo  das  Ew'ge  mit  Macht  über  das  Nichtige  siegt. 

Das  »Wirkliche«  ist  »allein  nur  das  Jetzt«.  Das  Leben  von 
Jahrtausenden  mit  den  Völkern  und  ihren  Gewaltigen  ist  zersto- 
ben; wir  leben  und  tragen  das  Leben  (S.  54  u.  55)  Nicht  Klug- 
heit und  List,  Liebe  und  Weisheit  sollen  das  Leben  leiten;  denn 
nur  diese  stammen  von  dem  Göttlichen.  Jede  Zeit  hat  Schlechte 
und  Gute,  wie  auf  jeden  Winter  die  belebende  Frische  des  Lenzes 
folgt.  Die  Zeit  ist  ein  Traum.  Das  Gottesgeschöpf  frage  sich  nicht, 
wie  lange  es  lebe.  Genug,  wenn  es  vollendet  gelebt.  Die  Gräber 
bergen  den  Moder;  der  siegende  Gedanke  erhebt  sich  über  sie. 
Die  Welt  gewinnt  ihre  Schönheit  allein  im  liebenden  Auge  des 
Herzens.  Den  Schöpfer  verehrt  die  Liebe  in  seinem  Geschöpfe.  Wie 
der  Einzelne,  so  darf  das  Volk  nie  verblendeten  Eifer  erproben. 
Jeder  Tropfen  seines  Blutes  sei  der  Freiheit  Saamen,  nicht  der 
Cäsaren  Raub.  Dauernd  ist  das  Glück  nur,  wo  uns  der  Stern  des 
Rechtes,  der  segnenden  Freiheit  schimmert.  Nur  der  schaut  die 
Harmonie  in  der  Welt,  der  sie  in  der  eigenen  Brust  trägt.  Sich 
herrlich  fühlen  im  All  ist  Mensch  sein.  Nur  der  Mensch  lebt  in 
den  Sternen,  auf  der  Scholle,  schauert  mit  den  Wettern,  fühlt  den 
sonnigen  Lenz.  Jahrtausende  gräbt  er  aus  dem  Moder,  Jahrtau- 
sende spiegelt  er  ahnend  voraus.  Der  Liebe  Erinnerung  erhebt  ihn 
über  den  Staub.  Alles  Einzelne  dient  dem  schaffenden  Weltgeist. 
Die  Kunst  ist  die  höhere  Auffassung  der  Natur.  Wie  der  Prolog 
mit  der  stillen  beseligenden  Liebe  am  häuslichen  Heerde  beginnt 
und  die  Geist  und  Natur  umfassenden  Elegien  aus  dieser  hervor- 
gehen, so  führen  sie  im  Epiloge  wieder  auf  die  Liebe,  den  Born 
der  Dichtung,  zurück.  Den  philosophischen  Geist,  der  diesen  Dich- 
tungen eigen  ist,  bezeichnet  die  31.  Elegie  (S.  53): 

Knabe,  verschwindendes  Glied  der  endlos  rollenden  Kette, 

Punkt  im  unendlichen  Kaum,  schwindelnder  Blick  in  das  All, 

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Reckendorf:  Das  Leben  Monis. 


72ß 


Schlick  nicht  bange  zusammen,  wie  riesig  die  Welten  sich  dehnen, 

Lass  dir  der  Kräfte  Gewog  nimmer  bedrängen  die  Brust. 
Bist  du  der  Ewigkeit  ein  flüchtig  zerstäubendes  Nichts  auch, 

Fühl  es:  in  diesem  Moment  bist  du  das  Auge  der  Welt. 
Zwischen  Entsteh'n  und  Vergehen  ruh'  fe9t  als  Spiegel  des  Daseins, 

Bebst  du,  so  bebt  mit  dir  auch  der  gewaltige  Bau. 
Schaue  zurück  in  die  Zeit  und  mache  das  Todte  lebendig, 

Dass  im  zerbröckelten  Schutt  einst'ge  Vollendung  du  ahnst; 
Flieg'  in  die  Zukunft  dann  und  bringe  dem  hoiligen  Sehnen, 

Das  in  die  Brust  uns  gelegt,  holde  Erfüllung  im  Traum, 
Und  so  spinn1  ihn  weiter  den  ew'gen  Gedanken  der  Menschheit, 

Bis  dich  das  kreisende  Rad  wieder  zu  Staube  zermalmt. 

Besonders  gelungen  sind  die  Naturbeschreibungen.  Die  Form 
ist  in  allen  Elegien  eine  durchaus  correcte ;  jeder  Elegie  liegt  ein 
abgerundeter  Gedanke  zu  Grunde,  welcher  sich  in  ungezwungener, 
einfacher  Schönheit  zum  Gedichte  gestaltet.  Tiefe  Empfindung  ist 
mit  einer  glücklich  gestaltenden  Phantasie,  richtigem  Urtheile  und 
einer  odeln  Gesinnung  verbunden.  Die  Weltanschauung  ist  eine 
wahrhaft  philosophische.  Aus  dem  Strome  der  Mittelraässigkeit,  der 
in  dem  Gebiete  einer  Dichtkunst  reichlich  fliesst,  die,  wie  beson- 
ders in  unserer  Zeit,  mehr  in  der  Form  oder  dem  blosen  Kling- 
klang des  Rythmus,  als  in  der  Tiefe  des  Gedankens  und  dessen 
bildlicher  Erscheinung  das  Schöne  sucht,  taucht  diese  Sammlung 
als  eine  rühmliche  Ausnahme  auf  und  verdient  in  jeder  Hinsicht 
die  Aufmerksamkeit  des  denkenden,  künstlerich  gebildeten  Lesers. 

v.  Reichlin-Meldegg. 


Das  Leben  Mösts.    Allen  denkenden  Bibelfreunden  gewidmet  von  Dr. 
Herrn.  Reekendorf.  Leipzig,  Wolf  gang  Gerhard.  7868.  8. 

Den  Sagen  von  dem  Aufenthalte  der  Jnden  in  Aegypten,  von 
ihrer  Befreiung  durch  Moses  und  von  der  Wirksamkeit  dieses  als 
Religionsstifter,  Feldherr,  Staatsmann  und  Gesetzgeber  gleich  gros- 
sen Mannes  liegt  unbezweifelt  ein  historischer  Kern  zu  Grunde,  wenn 
gleich  das  Wunderbare  in  den  von  den  mosaischen  Urkunden  er- 
zählten Geschichten  in  ein  mythisches  Dunkel  gehüllt  ist  und  die 
von  der  Orthodoxie  angenommene  Zeit  der  Abfassung  und  der  Ur- 
sprung dieser  Quellen  von  der  Kritik  beanstandet  werden.  In  dem 
vorliegenden  Buche  wird  uns  die  Lebensgeschichte  des  merkwür- 
gen Mannes  gegeben,  dessen  Lehre  noch  jetzt  der  Glaube  einer 
auf  allen  Theilen  der  Erde  verbreiteten  Bekennerschaft  ist  und 
welche  ihrem  Grundkeime  nach  auf  die  Gestaltung  der  Religionen 
der  gebildetsten  Völker,  auf  das  Christenthum  und  den  Islam, 
mächtig  einwirkte. 


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Reckendorf:  Das  Leben  Mösls. 


..—  Bileam 
^folgend 


Der  gelehrte  Herr  Verf.  legte  seiner  Darstellung  des  Lebens 
Mosis  überall  die  mosaischen  Urkunden  zu  Grunde,  von  deren  Echt- 
heit und  Ürsprtinglichkeit  er  ausgeht,  indem  er  die  ErzHhlung 
Mosis  von  seinen  Tbaten  als  eine  wirkliche  Selbstbiographie  be- 
trachtet. Mit  vielem  Fleisse ,  mit  genauer  Sachkenntniss ,  anzie- 
hender, volkstümlicher  Darstellungsgabe  und  mit  einer  wahren  Be- 
geisterung für  seinen  Stoff  gibt  er  uns  auf  der  Grundlage  der  Mo- 
saischen Urkunden  und  unter  Hinweisung  auf  dieselben  ein  treues, 
freisinnig  aufgefasstes  Bild  von  dem  Leben  und  Wirken  des  grossen 
Religionsstifters.  Dabei  werden  die  andern  Quellen  neben  den 
mosaischen  Urkunden,  Philo,  Josephus  Flavius,  für  die  bildlichen 
und  mystischen  Auffassungen  und  Auslegungen  der  einzelnen  Haupt- 
momente im  Leben  und  Lehren  Mosis  der  Thalmud ,  die  Hülfs- 
mittel  jüdischer  und  nichtjtidischer  Gelehrter  mit  Sorgfalt  benutzt. 
Wie  genau  der  Herr  Verf.  in  das  Detail  seiner  Aufgabe  eingeht, 
zeigt  am  besten  eine  kurze  Uebersicht  seiner  Schrift.  Sie  zerfällt 
in  drei  Bücher.  Das  erste  Buch  endiget  mit  der  Geschichte 
der  Anbetung  des  goldenen  Kalbes  und  umfasst  zehn  Haupt- 
stücke: 1)  Vorgeschichte  (S.  1  —  5),  2)  die  Kindheit  Mosis  (8.5 
— 7),  8)  die  Jugend  Mosis,  Flucht  nach  Midjan  (S.  7 — 11),  4) 
Moses  in  Midjan,  erste  Offenbarung,  Antritt  des  Prophetenthums 
(S.  11 — 21),  5)  Moses  und  Ahron  vor  Pharo,  die  zehn  Plagen 
(S.  21  —  26),  6)  Einsetzung  des  Passahfestes,  Auszug  aus  Aegypten, 
Zug  dureb's  rothe  Meer,  Danklied  (S.  26— 37),  7)  erste  Beschwerde 
des  israelitischen  Volkes  während  seines  Zuges  durch  die  Wüste, 
das  Manna,  Krieg  mit  Amalek,  Jethros  Besuch  (S.  37 — 42),  8)  die 
sinaitische  Gesetzgebung  (S/42— 48),  9)  die  zehn  Gebote  (S.  48—57), 
10)  Rückfall  Israels  in's  Heidenthum,  Anbetung  des  goldenon  Kalbes 
(S.  58—61). 

Das  zweite  Buch  beginnt  mit  der  Fortsetzung  des  Zuges 
durch  die  Wüste  und  endet  mit  der  Geschichte  von  Balak  und 
Bileam.  Es  hat  neun  Hauptstticke :  1)  Fortsetzung  des  Zuges  durch 
die  Wüste ,  Unzufriedenheit  des  Volkes  und  Strafe ,  Aufruhr  in 
Mosis  eigenem  Hause  (S.  61 — 69),  2)  Aussendung  der  Kundschaf- 
ter in  das  Land  Kanaan,  Beschreibung  des  Landes  und  seiner  Ein- 
wohner (S.  69  — 78),  3)  Fortsetzung,  Religion  derKananiter  (S.  78 
—94),  4)  Rückkehr  der  Kundschafter,  Unzufriedenheit  des  Volkes 
und  Strafe  (S.  95—99),  5)  Empörung  Korach's,  höhere  Anerken- 
nung des  Ahronischen  Priesterthums  (S.  99  —  102),  6)  Mirjam^ 
Tod,  abermalige  Unzufriedenheit  des  Volkes,  Mosis  und  Ahrons 
Ungehorsam  und  Strafe,  fehlgeschlagene  Unterhandlung  mit  Edom 
(S.  102-109),  7)  Ahron's  Tod  (S.  102-116),  8)  Kampf  gegen 
Arad,  abermalige  Unzufriedenheit  des  Volkes  und  Strafe,  Kampf  gegen 
8ichon  und  Og  (S.  116— 120),  9)  Balak  und  Bileam  (S.  120-135). 
Das  dritte  Buch  geht  von  der  Geschichte  von  Balak  und 
bis  zu  Mosis  Tod  und  gibt  sieben  Hauptstücke,  welche 
lgende  Aufschriften  hüben:   1)  Abermaliger  Abfall  Israels  und 


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Reckendorf:  Das  Leben  MobIs. 


727 


Strafe,  Ernennung  Josua's  zum  Nachfolger  Mosi's  (8.  186 — 189), 
2)  Kampf  gegen  die  Midjaniter,  Vertrag  mit  den  dritthalb  Stäm- 
men, Gründung  der  Asylstädte  (S.  139—143),  3)  letzte  Reden 
Mosis  (S.  143  —  153),  4)  Schlussrede  Mosis  an  das  ganze  versammelte 
Volk  (8.  154-158),  5)  der  Sang  Mosis  (S.  158-162),  6)  der  Segen 
Mosis  (8.  163-168),  7)  Mosis  Tod  und  Charakter  (8.  168-175). 

Mit  dem  zweiten  Hauptstticke  des  ersten  Buches  beginnt  die 
Zugrundelegung  des  zweiten  Buches  des  Pentateuchs  und  dauert 
ununterbrochen  bis  zum  zweiten  Hauptstücke  des  zweiten  Buches.  Von 
da  wird  der  geschichtlichen  Darstellung  das  vierte  Buch  Mosis 
(vom  dreizehnten  Kapitel  an)  mit  Ausnahme  des  Schlusses  des 
zweiten  und  des  ganzen  dritten  Hauptsttickes,  welche  sich  mit  dem 
Lande  Kanaan  nach  neueren  Htilfsmitteln  befassen,  durch  die  wei- 
teren Hauptstticke  hindurch  bis  zum  zweiten  Hauptstück  des  dritten 
Buches  zu  Grunde  gelegt.  Mit  dem  zuletzt  genannten  Hauptstücke 
beginnt  bis  zum  Schlüsse  die  Benutzung  dos  fünften  Buches  des 
Pentateuchs.  Die  nöthigen  archäologischen  und  geographischen  Er- 
klärungen sind  an  den  betreffenden  Stellen  eingefügt.  Besonders 
anziehend  sind  die  moralischen  Auslegungen  der  Wundergeschichten 
durch  den  Verfasser  und  dessen  genaue  und  mit  den  nöthigen 
Quellenstellen  belegten  Mittheilungen  der  mystischen  und  allegori- 
schen Stellen  aus  den  Auslegungen  des  Thalmud.  Ueberall  zeigt 
sich  das  Bestreben,  das  rein  sittliche  Element  in  der  Religion  als 
das  Wesentliche  hervorzuheben.  Der  Herr  Verfasser  gehört  dem 
Mosaischen  Religionsbekenntnisse  an  und  schreibt  von  diesem  Stand- 
punkte, welcher  in  der  Vorrede  angedeutet  wird.  Er  stellt  als 
Hauptgegner  des  Judenthums  das  »Heidenthum«,  wohin  er  nicht 
nur  den  »Götzendienst«,  sondern  auch  den  »Unglauben«  zählt,  und 
»die  später  entstandenen  Offenbarungen«  auf,  »welche  zwar  den 
geschichtlichen  Moses  anerkennen,  aber  dessen  Gesetz  als 
anfgehoben  erklären.«  »Gegen  beide  hat  sich  das  Judenthum  von 
jeher  verwahrt  und  noch  zu  verwahren.  Beide  sind  dem  Mosais- 
mus gleich  entgegengesetzt :  ersteres ,  weil  dieser  an  eine  Offen- 
barung glaubt,  letztere ,  weil  er  sich  in  sich  abgeschlossen  hält 
und  jede  Fortsetzung  verneint.«  Der  Herr  Verfasser  nennt  »den 
Glauben  Mosis«  den  »Glauben  der  ewigen  Zukunft.«  Er  rühmt  an 
diesem  Glauben,  dass  er  »aus  der  That,  nicht  die  That  aus  dem 
Glauben  hervorgehe«,  dass  die  Seligkeit  nach  Moses  »nicht  im  Glau- 
ben, sondern  im  Bewusstsein  der  That  ruhe.«  Er  nennt  diesen 
Glaubon  »die  Flamme,  die  bestimmt  ist,  einst  die  ganze  Mensch- 
heit zu  erleuchten  und  zu  erwärmen« ,  er  weist  auf  die  grossen 
Bildungsresultate  des  Christenthums  hin,  nennt  dieses  aber  gegen- 
über dem  Judenthume  als  der  »Ur flamme«  »einen  abseits  gefalle- 
nen Funken.«  Bei  einer  objectiven  Betrachtung  des  Sachverhaltes 
stellt  sich,  von  allen  Bekenntnissstandpunkten  abgesehen,  das  Ur- 
theil  wohl  anders  heraus.  Das  Christenthum  will  das  Gesetz  des 
Judenthums  nicht  aufheben,  sondern  erfüllen  und  vollenden.  Diese 


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728 


R eckendorf:  Das  Leben  MoMb. 


Erfüllung  findet  sieb  in  der  Gottes-  und  in  der  allgemeineren, 
der  Selbstliebe  gleichen  Menschenliebe.  Hierin  erhalten  Gesetz  und 
Propheten  ihre  Vollendung.  Es  ist  aber  ein  Fehler  des  Mosais- 
mus, dasa  er  »sich  in  sich  abgeschlossen  hält  und  jede  Fortsetzung 
verneint. c  Eine  verwandte  Form  findet  sich  im  Romanismus.  Aber 
der  rationelle  Protestantismus  kennt  keine  Glaubensscbranke ,  er 
fasst  das  Christenthum  in  seiner  universellen  oder  allgemein 
menschheitlichen  Bestimmung.  Er  verneint  den  Fortschritt  nicht, 
er  steht  höher,  als  der  des  sieben  zehnten  und  achtzehnten  Jahrhun- 
derts stand,  und  ringt  nach  einer  immer  geistesfreieren  Vervoll- 
kommnung. Ihm  ist  die  Vernunft  die  Quelle  des  Göttlichen  und 
die  Offenbarung  hat  für  ihn  nur  in  ihrer  üebereinstimmung  mit  den 
Forderungen  der  Menschenvernunft  ihre  Bedeutung.  Das  Cbristen- 
thum  ist  für  die  ganze  Menschheit  bestimmt.  Das  ethische  Element 
ist  das  Ziel  und  alle  Glaubensformen  sind  nur  das  Mittel  zu  die- 
sem Ziele.  Sein  Vorzug  ist  oben  dem  Mosaisraus  gegenüber,  dasa 
es  nicht  »in  sich  abgeschlossen  ist«,  dass  es  nicht  »die  Fort- 
setzung verneint.«  Was  man  im  Mosaismus  »thun«  nennt,  war  von 
jeher  nicht  immer  das  Beste.  Es  bezog  sich  auf  das  Gesetz  und 
dieses  wurde  immer  mehr  äussere  oder  Ritualvorschrift  und  ist  es 
bei  der  strengen  Partei  des  Judenthums  bis  auf  den  heutigen  Tag. 
Aeussere,  an  sich  gleichgültige  Handlungen,  welche  nur  eine  kli- 
matische oder  lokale  Beziehung  haben ,  wurden  dieses  Thun.  Im 
Christenthum  ist  es  die  Gesinnung,  welche  über  alle  Legalitat  des 
äussern  Handelns  gesetzt  wird.  Die  Liebe  wird  über  den  Glauben 
gestellt.  Wer  einen  Glauben  besitzt,  welcher  so  stark  ist,  dass 
er  Berg  und  Thal  versetzen  könnte  und  keine  Liebe  hat,  ist  ein 
»tönendes  Erz«  und  eine  »klingende  Schelle«.  Der  Glaube  ist 
eben,  weil  er  ans  der  Liebe  hervorgeht,  That,  und  hat  ohne  diese 
keinen  Werth.  »An  ihren  Früchten  werdet  ihr  sie  erkennen«,  sagt 
der  in  Charakter  und  Leben  weit  über  Moses  stehende  Stifter  des 
Christenthuras.  Der  Protestantismus  kennt  keine  Exclusive  und 
kein  Alleinseligmachen ;  er  verneint  die  Weiterentwicklung  nicht, 
sondern  fordert  sie  als  eine  notbwendige  Bedingung  seines  Lebens. 
Er  erkennt  in  jeder  Religionsform  das  Gute,  das  Lebenskräftige 
und  will  sie  alle  einer  höhern  religiösen  Vernunftentwickelung  ent- 
gegenfuhren. Wenn  der  Glaube  Mosis  ein  »Glaube  der  gesammten 
Menschheit«  werden  soll,  so  muss  er  das  starre  Gesetz  des  äussern 
Werkes,  das  opus  operatum,  aufgeben  und  mit  dem  geläuterten 
Protestantismus  darin  übereinstimmen,  dass,  frei  von  allen  äussern 
Formen  des  Gesetzes,  von  einem  absolut  bindenden  Dogmenzwang, 
die  vernünftige  Entwicklung  der  sittlichen  Natur  des  Menschen  das 
Ziel  aller  Religion  wird,  und  dass  diese  sittliche  Entwicklung  von 
dem  Innern,  der  Gesinnung  des  Menschen,  ihren  Ausgang  nehmen 
muss.  Nur  eine  solche  Religion  kann  »Gemeingut  der  Mensch- 
heit« werden.  Immer  aber  gehört  der  Herr  Verf.  hinsichtlich  sei- 
ner religiösen  Grundsätze  nicht  der  alten  thalraudistischen,  sondern 


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Krebs:  AntlbarWus,  4.  Aufl.  von  Allgiyer. 


729 


der  Fortschrittspartei  des  Jndenthums  an.  Er  will  mit  der  Lösung 
seiner  Aufgabe  »den  Anforderungen  der  vernünftigen  Forschung 
genügen.«  Der  jüdische  Glaube  fordert,  wie  er  sagt,  »den  Gläubi- 
gen zum  Forschen«  auf.  Von  dem  Juden  wird  bei  solcher  For- 
schung »keine  Bnchstabengläubigkeit«  verlangt.  Er  führt  selbst 
eine  Stelle  aus  dem  Thalmnd  (tract.  Kidduschin  49,  1)  an,  welche 
also  lautet:  »Wer  die  Schrift  buchstäblich  auslegt,  ist  ein 
Lügner  und  Gotteslästerer.«  Ein  besonderer  Theil  soll  später 
über  das  Mosaische  Gesetz  ausgegeben  werden 

v.  Reichlin-Meldegg.  • 


Krebs,  Antibarbarus  der  lateinischen  Sprache.  4.  Auflage,  neu  be- 
arbeitet von  Dr.  F.  H.  Allqayer,  Gymnasiair ector  a.  D. 
Frankfurt  a.  M.  Christian  Winter.  1866. 

V 

Das  Buch,  das  hier  in  neuer  Auflage  erscheint,  ist  ein  in  Phi- 
lologen-, besonders  Schulmännerkreisen  so  wohl  bekanntes,  dass  es 
nicht  mehr  nötbig  ist,  seine  Bedeutung  und  Stellung  in  der  philo- 
logischen Litteratur  länger  zu  erörtern.  Wir  beschränken  uns  da- 
her in  der  nachfolgenden  Anzeige  auf  die  Besprechung  dessen, 
worin  dio  neue  vierte  Auflage  Über  die  vorhergehende  hinausge- 
gangen ist.  Die  keineswegs  leichte  und  einfache  Aufgabe,  das  seit 
dem  Jahr  1843  nicht  mehr  aufgelegte  Krebs'sche  Buch  zu  revi- 
diren,  hat  die  Verlagshandlung  den  Händen  eines  erprobten  Schul- 
mannes und  ausgezeichneten  Kenners  der  lateinischen  Litteratur 
anvertraut,  des  Herrn  Dr.  Allgayer,  früheren  Gymnasialrectors 
in  Ehingen  (Württemberg),  jetzigen  Pfarrers  in  Kocherthürn,  der 
schon  im  Jahr  1862  Zusätze  und  Berichtigungen  zum  Antibarbarus 
veröffentlicht  und  nun  uenestens  die  Müsse,  dio  ihm  das  geistliche 
Amt  gewährt,  darauf  verwendet  hat,  die  Früchte  seiner  Leetüre 
und  praktischen  Uebung  in  solch  gemeinnütziger  Weise  zu  ver- 
werthen. 

Wenn  schon  dem  verstorbnen  Krebs  bei  Bearbeitung  der 
3.  Auflage  der  Gedanke  kam,  ob  nicht  eine  gänzliche  Umarbeitung 
des  Buchs  vorzunehmen  sei ,  so  mnsste  dieser  Gedanke  dem  neuen 
Herausgeber  noch  näher  liegen ;  aber  wir  glauben,  dass  beide  Male 
mit  Recht  davon  Abstand  genommen  wurde.  Eine  wesentliche 
Umarbeitung  hätte  doch  nur  darin  bestehen  können,  dass  die  ein- 
leitenden Abschnitte  systematischer  oder,  wenn  man  so  will,  posi- 
tiver geworden  wären,  damit  aber  hätten  sie  nothwendig  zu  einer 
formlichen  Grammatik  oder  Stilistik  werden  müssen,  während  die 
Aufgabe  eines  Antibarbarus  die  mehr  negative  ist,  die  Grammatik 
und  Stilistik  praktisch  zu  ergänzen  durch  Hervorhebung  der  bei 
Neulateinern  vorkommenden  unclassischen  Wörter  und  Redensarten, 
natürlich  mit  gelegentlicher  Angabe  der  an  die  Stelle  zu  setzenden 


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730 


Krebs:  AntibarbaruB,  4.  Aufl.  von  Allgiyet. 


classiachen  Wendungen.  —  Nur  von  diesem  praktischen  Standpunkt 
aus  ist  auch  die  Ii  tierarge  s  ch  i  ch  t  liehe  Einleitung  zu 
fassen:  sie  soll  nur  die  Grenzen  zwischen  classisch,  weniger  clas- 
sisch  und  uuclassisch  oder  barbarisch  angeben.  Der  neue  Heraus- 
geber hat  in  diesem  Abschnitt  einmal  einige  Lücken  ergänzt,  so- 
dann aber  hinsichtlich  der  nachclassischen  Zeit  auf  einen  Punkt 
aufmerksam  gemacht,  der  in  der  That  naher  ins  Auge  gefasat  zu 
werden  verdient,  auf  die  Bedeutung  der  patristischen  Latinität 
(S.  10  f.  109  f.).  Man  wird  zugeben  müssen,  dass  die  Kirchenväter, 
•abgesehen  von  der  Verwerthung  ihres  antiquarischen  Inhalts,  von 
den  Philologen  in  Bausch  und  Bogen  bei  Seite  gelegt  zu  werden 
pflegen ;  theologi  sunt,  non  legunlur  —  diess  ist  die  Maxime,  die 
sich  stillschweigend  schon  aus  der  unvermeidlichen  Theilung  der 
Arbeit  ergeben  bat.  Und  doch  wird  man  nicht  läugnen  können, 
dass  die  älteren  Kirchenvater  ein  formell  wie  materiell  wohl  zu 
beachtender  Tbeil  der  lateinischen  Litteratur  sind :  brachte  doch 
das  Christenthum  einen  neuen  Kreis  von  Ideen  —  sowohl  speci- 
fisch  religiösen  als  allgemein  menschlichen  —  in  die  heidnische 
Welt  herein  zu  einer  Zeit,  in  welcher  die  Sprache  noch  nicht  er- 
starrt war,  in  welcher  sie  jedenfalls  noch  so  viel  Leben  hatte,  um 
aus  sich  heraus  für  diese  neuen  Ideen  neue  Ausdrücke  zu  finden. 
Wir  halten  es  daher  für  eine  wirkliche  Bereicherung  des  Krebs- 
schen  Buchs,  dass  Herr  Dr.  Allgayer,  dem  vermöge  seiner  Berufs- 
stellung die  Beschäftigung  mit  der  patristischen  Litteratur  näher 
lag  als  Andorn,  diesen  Gesichtspunkt  geltend  gemacht  und  auch  in 
dem  lexicalischen  Theil  des  Antibarbams  verwerthet  hat.  Sonst 
bemerken  wir  hiusichtlich  dieses  litterargeschichtlichen  Theils  nur 
noch,  dass  S.  10  bei  Erwähnung  des  Pomponius  Mela  von  Krebs 
her  die  Notiz  stehen  geblieben  ist,  es  werde  an  dessen  Aechtheit 
stark  gezweifelt.  Unsres  Wissens  ist  dieser  Zweifel  nur  ganz  ver- 
einzelt in  wenig  bedeutender  Weise  aufgetreten  und  jetzt  so  ziem- 
lich verschollen ;  er  findet  sich  nämlich  nur  in  einem  Briefe  von 
Schultz  an  Göthe  vom  29.  Januar  1829  (Rhein.  Museum  4,  327 
bis  331).  Schultz  behauptet  zwar,  Osann  und  Welcker  hätten  ihm 
beigestimmt,  allein  Niemand  hat,  so  viel  wir  wissen,  seitdem  die 
Sache  aufgenommen.  —  Hinsichtlich  des  grammatisohenTheils 
bemerkt  der  Herausgeber  mit  Recht,  dass  hierin  Krebs  eher  des 
Guten  zu  viel  als  zu  wenig  gethan,  enthält  sich  aber  seinerseits  be- 
deutendere Abzüge  zu  machen:  wir  meinen,  Regeln  wie  die  über 
die  Tempora  in  §§.  108.  113  u.  ähnl.  hätten  ohne  Schaden  weg- 
bleiben können.  Dagegen  hätte  die  Formenlehre  wohl  gewon- 
nen, wenn  gewisse  auf  dinem  Grunde  beruhende  Regeln,  die  unter 
versebiednen  Rubriken  zerstreut  Bind,  einheitlich  zusammen  gefasst 
oder  wenigstens  ihrem  Grunde  nach  erkenntlich  gemacht  worden 
wären.  Gewiss  ist  es  nicht  die  Aufgabe  des  Antibarbams,  sich 
auf  die  Ergebnisse  der  genetischen  Sprachforschung  näher  einzu- 
lassen, da  er  seiner  Natur  nach  auf  dem  Standpunkt  der  fertigen 


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Krebs:  Aniibarbanis,  4.  Aufl.  von  Allgayer. 


731 


Classicität  steht  und  diese  als  etwas  positiv  Gegebenes  auffasst; 
allein  bei  einigen  Punkten  wäre  darum  doch  das  Eingehn  auf  Ge- 
schichtliches und  Principielles  dem  Zweck  des  Buchs  nahe  gelegen. 
So  wären  die  Regeln  über  die  Doclination  der  ins  Lateinische  auf- 
genommenen griechischen  Wörter,  wenn  sie,  statt  durch  alle 
Declinationen  zerstreut  zu  sein,  zusammengefasst ,  ans  Ende  der 
Declinationslehre  gestellt  und  schriftlich  motivirt  worden  wären, 
zum  Theil  auch  materiell  modificirt  worden.  Bekanntlich  sind  die 
Grundsätze  in  Behandlung  der  griechischen  Wörter  nicht  immer 
dieselben  gewesen ;  zwei  Richtungen  lösen  sich  theils  geschichtlich 
ab,  theils  gehen  sie  neben  einander  her,  die  eine,  welche  zuerst 
unwillkürlich,  dann  bowusst  und  principiell  die  griechischen  Namen 
romisch  umlautet  und  flectirt,  die  andere,  welche  die  griechischen 
Formen  in  der  Flexion  beibehält.  Da  nun  eben  in  der  ciceroni- 
schen  Zeit  dieser  Gegensatz  als  ein  völlig  bewusster  auftritt,  so 
fragt  sich,  ob  man  nicht  hier  den  sonst  Üblichen  Weg  verlassen 
und  statt  bloss  die  vorkommenden  Beispiele  zu  constatiren ,  sich 
für  das  eine  oder  andere  Princip  entscheiden  muss,  also  entweder 
mit  Cicero,  der  zwar  nicht  immer  consequent  ist,  aber  diese  In- 
conseqnenz  selbst  an  sich  tadelt*),  römisch  flectiren  oder  wie  die 
Classiker  der  augusteischen  Zeit  griechisch.  Allerdings  sprechen 
sieb  sowohl  Krebs  als  der  neue  Herausgeber  in  §.  25  im  Allge- 
meinen für  das  erstere  Princip  aus  und  auch  den  Regeln  der  §.  30  ff. 
liegt  dasselbe  als  das  herrschende  zu  Grunde ;  allein  dann  muss 
man  z.  B.  den  Aecusativ  des  Pluralis  der  consonantischen  Decli- 
nation  auf  -as  (§.  32)  vorwerfen  trotz  der  Beispiele  bei  Cicero  und 
trotzdem,  dass  Cäsar  sogar  Allobrogas  sagt.  Dabei  kann  man 
für  einzelne  Wörterclassen  immer  noch  Zngeständnisse  machen  und 
unter  verschiedenen  Möglichkeiten  solche  Formen  wählen ,  welche 
dem  griechischen  Gebrauch  näher  liegen,  wenn  auch  die  lateinische 
Analogie  sie  nach  einer  andern  Seite  ziehen  sollte,  also  z.  B.  für 
die  Accusative  Sing,  latinisirter  griechischer  i-Stämme  die  Endung 
-im,  ferner  in  der  Flexion  der  griechischen  Neutra  auf  -a  die  con- 
sonantis'che  Declination,  statt  wie  im  Altlateinischen  die  der 
a-Stämme ;  sie  können  dann  als  Neutra  behandelt  werden ,  welche 
zu  masculinischen  und  femininischen  -at-Stämmen  (primas,  ci- 
vitas)  gehören.  Ein  anderes  Beispiel  von  den  Vortheilen  einer 
gewissen  Systematisirung  ist  folgendes:  in  §.  23  wird  die  Vor- 
schrift gegeben,  im  Plural  von  deus  nicht  dii,  sondern  di  oder 
dei  zu  schreiben;  ferner  wird  §.  24  gelegentlich  bemerkt,  dass  statt 
divum,  equum  —  divom,  equom  geschrieben  werde ,  was 
bekanntlich  die  Schreibart  der  augusteischen  Zeit  ist.  Mit  Recht 
bringt  Corssen,  Aussprache,  Vocal.  1,  308—313  diese  beiden 


*)  Ad  AU.  7,  8,  10:  Venio  ad  Piraea,  in  quo  magis  reprehendendns 
sum,  quod  homo  Romanus  „Piraea"  Bcripserim,  non  „Piraeum1,4  —  eic 
onim  omnes  noetri  Iocuti  sunt  —  etc. 


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732  Krebsr  AntlWbaroB,  4  Aufl.  von  Allgaycr. 

Punkte  zusammen  mit  noch  andern  Erscheinungen  unter  den  Ge- 
sichtspunkt eines  Strebens  nach  Dissimilation  der  Vocale.  Ge- 
rade für  einen  Antibarbarus  nun  scheint  uns  dieser  Gesichtspunkt 
besonders  verwcrthbar  und  ausdrücklich  erwähnenswerth  zu  sein;  von 
ihm  aus  wäre  dann  z.  B.  §.  21  die  daselbst  als  classisch  consta- 
stirte  Schreibung  Appi,  ingeni  festzuhalten,  ferner  beim  Pronomen 
nachzutragen,  dass  statt  ii,  iis  entweder  i,  is  oder  ei,  eis  zn 
schreiben  sei,  nicht  minder  bei  der  Lehre  vom  Verbum  zu  erwäh- 
nen, dass  zwar  emundus,  vendundus  von  Cicero  gesagt  wer- 
den konnte  (vgl.  §.48),  aber  nicht  restituundus,  fruundus, 
und  derselbe  Gesichtspunkt  ist  es  auch,  welcher  §§.  56  und  51 
(qnaesivisse  oder  quaesisse,  nicht  quae süsse  u.  dgl.)  mo- 
tivirt.  —  Beim  Pronomen  hätte  auch  noch  hice  statt  hicce, 
wie  noch  Georges  schreibt,  empfohlen  werden  können.  Diese  ortho- 
graphischen Fragen,  eine  Frucht  der  epi graphischen  Studien,  sind 
bekanntlich  gegenwärtig  auf  der  Tagesordnung;  indem  der  neue 
Herausgeber  sich  auf  dieselben  nicht  näher  einliess,  mag  er  wohl 
gedacht  haben,  man  müsse  die  neue  Orthographie,  wie  sie  vor- 
läufig in  Fleckeisens  50  Artikeln  zusammengefasst  ist,  sich  erst 
mehr  befestigen  lassen,  ehe  sie  als  gesicherter  Theil  des  Anti- 
barbarus auftreten  dürfe. 

Besondrer  Bereicherungen  hatte  sich  der  syntaktische 
Abschnitt  zu  erfreuen;  die  §§.  65,  67,  71,  75,  116,  118  n.  a. 
sind  gegenüber  der  dritten  Auflage  namhaft  erweitert  worden,  an 
die  Stelle  von  unbedeutenderen  Paragraphen  sind  wichtigere  ge- 
treten, zum  Theil  ist  die  Anordnung  eine  andere  geworden.  Wir 
erlauben  uns  zu  diesem  Theil  nur  einige  wenige  Bemerkungen  über 
Punkte,  in  denen  wir  mit  dem  Herausgeber  nicht  ganz  überein- 
stimmen: In  §  89  ist  gesagt,  Adjectiva  wie  infinitus,  immen- 
sus,  ferus,  rudis  lassen  keine  Gradfonnen  zu;  allein  hier  wird 
doch  ein  Unterschied  zu  machen  sein;  bei  immensus,  infini- 
tus ist  es  der  Sinn,  welcher  eine  Gradation  ausschliesst,  bei  fe- 
rus bloss  der  vielleicht  zufällige  Umstand,  dass  die  Gradformen 
nirgends  vorkommen,  wesshalb  sollten  ihm  aber  dieselbe  abgespro- 
chen werden,  während  immanis,  das  dem  infinitus  und  im- 
mensus näher  steht,  dieselbe  hat?  Iu  §.  121(=120  der  3.  Aufl.) 
ist  der  Gebrauch  der  Bescheidenheitsconjunctive  mal  im,  puta- 
verim  u.  dgl.  gegen  Krebs  in  Schutz  genommen;  indessen  hatte 
Krebs  darin  wenigstens  Recht,  dass  er  dem  Missbrauch  gegenüber, 
der  mit  solchen  Phrasen  getrieben  wird,  eine  bestimmtere  Aus- 
drucksweiso  empfahl.  §.  147  (früher  146)  hatte  Krebs  gesagt: 
> gewagt  ist  es  und  ohne  Beispiel  eines  Klassikers,  wenn  Florus 
III,  21  sagt  >adversariis  hostibus  iudicatis,  wo  Object 
und  Prädicat  eines  Verbums  beide  in  den  Ablativ  gesetzt  sind«  ; 
der  neue  Herausgeber  weist  nun  allerdings  eine  Reihe  von  Stellen 
bei  Klassikern  nach,  in  denen  sich  dieselbe  Construction  findet, 
aber  empfehlenswert!!  dürfte  sie  darum  doch  nicht  sein.  Dagegen 


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Krebs:  Antibarbmrus,  4.  Aufl.  von  Allgayer. 


733 


ist  in  §.  156  der  Gräcismus,  Adverbia  mit  Substantiven  als  Stell- 
vertreter für  Adjective  zu  gebrauchen,  für  die  Adverbia  des  Raums 
nnd  der  Zeit  für  die  Fälle,  wo  ein  Genetiv  als  Stütze  vorhanden 
ist,  mit  Recht  gegen  Krebs  in  Schutz  genommen  (z.  B.  Deorum 
saepe  praesentiae),  und  so  könnten  wir  noch  eine  Reihe  treffender 
Bemerkungen  hervorheben,  wenn  es  der  Raum  gestattete. 

Der  zweite  Theil  des  Antibarbarns  wird  bekanntlich  er- 
öffnet durch  allgemeine  Vorschriften  über  die  Wahl  der  Wörter. 
Diese  Vorschriften  hat  der  neue  Herausgeber  zum  Theil  emendirt. 
Die  zweite  Vorschrift  lautete  bei  Krebs:  »Vermeide  wo  möglich 
alle  dichterischen  Wörter« ;  diese  ist  ganz  gut  angebracht  gegen- 
über von  Geschmacklosigkeiten,  wie  sie  in  §.  174  aufgeführt  sind, 
nichts  desto  weniger  aber  müssen  wir  es  billigen,  wenn  in  der 
neuen  Ausgabe  beigesetzt  ist:  »Doch  lässt  der  historische  Stil,  der 
mit  der  Sprache  der  Dichter  am  nächsten  verwandt  ist,  am  rech- 
ten Orte  manches  sonst  poetische  Wort  zu.  Livius  schon  gibt  dar- 
über reiche  Ausbeute ;  soweit  er  gegangen  ist ,  dürfen  wir  zutref- 
fenden Falls  auch  gehn.«  Nur  möchten  wir  diess  genauer  mit  dem 
rhetorischen  Charakter  der  lateinischen  Geschichtschreibung 
motiviren  und  für  Neulateiner  poütische  Ausdrücke  in  historischen 
Darstellungen  eben  nur  in  dem  Masse  empfehlen,  als  ihr  ganzer 
Stil  jenes  rhetorische  Gepräge  angenommen  hat.  —  Die  dritte  bis 
fünfte  Vorschrift  sind  zusammenzunehmen ;  sie  lauteten  bei  Krebs 
Nr.  3:  »Gebrauche  die  classischen  Wörter  nur  in  der  Bedeutung 
und  Verbindung,  in  welcher  sie  bei  nachfolgenden  spätem  Schrift- 
stellern gefunden  werden.  Nr.  4;  »Vermeide  alle  nachclassischen 
und  spätlateinischen  Wörter ,  wenn  classische  aus  den  bessern 
Schriftstellern  vorhanden  sind,  besonders  diejenigen,  welche  erst  in 
der  vierten  Sprachperiode  sich  neben  altclassische  in  die  Sprache 
unnöthig  eingeschlichen  haben.«  Nr.  5 :  »Zulässig  dagegen  und  an- 
wendbar sind  alle  nachclassischen  und  spätlateinischen  Wörter,  zu 
deren  Begriffsbezeichnung  sich  noch  kein  Wort  aus  der  bessern 
Zeit  vorfindet  und  welche  demnach  classische  Geltung  haben  müs- 
sen. Bei  mehreren  gleichbedeutenden  sind  die  älteren  immer  den 
späteren  vorzuziehn.  Diese  Vorschrift  gilt  vor  Allem  für  die  tech- 
nischen Wörter,  aus  welcher  Sprache  und  Zeit  sie  auch  sein  mögen.« 
Die  neue  Ausgabe  setzt  zu  Nr.  3  hinzu:  »Haben  aber  die  Nach- 
classiker  ein  classisches  Wort  in  neuer,  natürlich  entwickelter  Be- 
deutung oder  Verbindung  gebraucht,  so  ist  auch  diess  nicht  zu 
verwerfen«  und  fasst  in  demselben  Sinn  Vorschrift  Nr.  4  so:  »Ver- 
meide alle  spätlateinischen  Wörter,  wenn  classische  und  nach- 
cla8siBche  u.  8.  w.«  Auch  hier  wieder  geben  wir  der  neuen 
Fassung,  welche  S.  106  und  109  f.  an  einzelnen  Beispielen  ausge- 
führt wird,  Recht  und  führen  ein  weiteres  Beispiel  aus  Krebs  selbst 
an,  welches  zugleich  das  oben  über  die  patristische  Litteratur  Ge- 
sagte belegt:  Krebs  selbst  hat  im  lexicalischcn  Theil  unter  dem 
Artikel  »religio«   zugegeben,  dass  an  religio  Christiana 


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734 


Krebs:  Antibarbarug,  i.  Aufl.  von  Allgayer. 


kein  Anstoss  zu  nehmen  sei,  obgleich  es  in  der  Litteratur  erst  im 
4.  Jahrhundert  auftritt  (vgl.  das  Religionsedict  in  der  Schrift  de 
mortibus  persecutorum  c.  48).  Ein  höchst  merkwürdiger  inschrift- 
licher Beleg  für  diesen  Gebrauch  von  religio  in  vorconstantinischer 
Zeit  ist  neuestens  gefunden  worden  auf  der  von  Rossi  Bullett.  cri- 
atiano  1865  Juli  S.  58  mitgetheilten  Grabschrift  aus  Villa  Patrizi, 
wo  Jemand  bestimmt,  dass  von  dem  Grab  ausgeschlossen  sein 
aollen  alle  »non  ad  religionem  pertinentes  meamc.  Die 
betreffende  Inschrift  ist  ohne  Zweifel  christlich,  für  jene  Bedeutung 
von  religio  also  auch  hiedurch  der  specifisch  christliche  Ursprung 
constatirt.  Die  fünfte  Vorschrift  wird  von  Dr.  Allgayer  wiederum 
specifisch  angewendet  auf  das  theologisobe  Gebiet,  nämlich  auf  die 
Frage,  ob  die  theologische  Sprache  ihre  Termini  dem  classischen 
Latein  nachbilden  oder  die  Ausdrücke  der  Vulgata  und  der  bessern 
lateinischen  Theologen  gebrauchen  solle.  Er  entscheidet  sich  con- 
sequenter  Weise  für  das  Letztere,  natürlich  immer  mit  der  Re- 
striction,  dass  das  Betreffende  nicht  den  Grundgesetzen  und  dem 
Geist  der  lateinischen  Sprache  zuwiderlaufen  dürfe.  Wir  führen 
wieder  ein  Beispiel  aus  dem  lexicalischen  Theil  an:  der  kirchliche 
Ausdruck  saecula  saeculorum  ist  sicherlich  nicht  classisch- 
latein,  er  ist  aus  dem  neutestamentlichen  Griechischen  in  das  La- 
teinische, in  das  Neue  Testament  selbst  aber  aus  dem  Hebräischen 
gekommen;  allein  er  findet  sieb  schon  bei  Tertullian,  ist  also  für 
den  theologischen  kirchlichen  Gebrauch  sicher  gerechtfertigt.  — 
Die  eben  besprochene  Auseinandersetzung  läuft  S.  112  aus  in  den 
Krebs'schen  Satz:  »gut  wäre  es,  wenn  jede  Wissenschaft  und  jede 
Kunst  ihr  eigenes  Lexicon  hätte,  worin  für  jeden  Begriff  die  besten 
und  verständlichsten  Wörter  nach  der  besten  Auctorität  aufgeführt 
wären.«  Dazu  bemerken  wir  nur,  dass  für  mehrere  technische  Ge- 
biete, besonders  für  Staats-  und  Sacralwesen  solche  Lexica  schon 
bestehen,  nämlich  in  den  Indices  zu  den  Sammlungen  römischer 
Inschriften.  Nicht  bloss  die  gewöhnliche  Lexicographie ,  sondern 
auch  ein  Antibarbarus  kann  darin  reiche  Ausbeute  finden ;  so  hätte 
sich  z.  B.  für  die  S.312  behandelten  Ausdrücke  corpus  und  Cor- 
pora t  u  s  ein  weiterer  Gebrauch  nachweisen  lassen , .  als  dort  ge- 
schehen ist. 

Natürlich  ist  es  der  lexicalische  Theil,  in  welchem  wie 
die  Hauptbedeutung  des  Antibarbarus  selbst,  so  auch  der  schwie- 
rigste Theil  der  Arbeit  des  neuen  Herausgebers  zu  suchen  ist 
Derselbe  führt  in  der  Vorrede  S.  Vif.  eine  Reihe  von  Artikeln  an, 
die  er  sich  veranlaset  sah  zu  ändern.  Vergleicht  man  dieselben 
mit  der  8.  Auflage,  so  wird  man  sich  überzeugen,  dass  diese  Aen- 
derungen  durchweg  beruhen  auf  dem  Princip,  das  sie  zugleich 
rechtfertigt,  nämlich  auf  einer  umfassenderen  Erforschung  des  Sprach- 
gebrauchs. Herr  Dr.  Allgayer  wird  aber  darauf  Anspruch  machen 
dürfen,  dass  man  das  Verdienst  und  den  Werth  seiner  Thätigkeit 
nicht  bloss  nach  dem  Umfang  des  Neuen  berechne,  sondern  auch 


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parwin:  Entstehung  un4  Erhaltung  der  Raa 8 en.  786 


der  Mühe  Rechnung  trage,  welche  die  Prüfung  und  Revision  dessen 
kostete,  was  sich  als  richtig  bewährte.  Einer  Besprechung  im  Ein- 
zelnen entzieht  sich  dieser  lexicalische  Tbeil  durch  die  Natur  der 
Sache;  Einzelnes,  was  mit  allgemeinen  Regeln  zusammenhängt, 
haben  wir  schon  oben  angeführt.  Das  Gesammturtheil  aber,  das 
man  daraus  gewinnen  wird,  ist  das,  dass  die  praktische  Brauch- 
barkeit des  Krebsfschen  Werks  durch  die  sorgfaltige  und  gediegene 
neue  Revision  noch  wesentlich  erhöht  worden  ist. 

Tübingen.  E.  Herzog. 


C Harle»  Darwin,  über  die  Entstehung  der  Arten  durch  natür- 
liche Zuchtwahl  oder  die  Erhaltung  der  begünstigten  Hassen 
im  Kampfe  um's  Dasein,  Aus  dem  Englischen  übersetzt  von 
H.  G.  Bronn.  Nach  der  vierten  englischen  sehr  vermehrten 
Auflage  durchgesehen  und  berichtigt  von  J.  Victor  Carus. 
Drüte  Auflage.  Mit  dem  Portraü  des  Verfassers.  Stuttgart. 
E.  Schweizer barV sehe  Verlagshandlung  und  Druckerei.  1867. 
8.  S.  571. 

Dio  Entstehung  der  Arten  bietet  der  Naturforschung  ein  wei- 
tes Feld.  Erwägt  man  die  gegenseitigen  Verwandtschafts- Verhält- 
nisse der  Organismen,  ihre  embryonalen  Beziehungen,  ihre  geogra- 
phische Verbreitung,  endlich  ihre  geologische  Aufeinanderfolge,  so 
wird  man  wohl  zum  Schlüsse  gelangen :  die  Arten  seien  nicht  un- 
abhängig von  einander  erschaffen,  sondern  stammen  —  nach  der 
Weise  der  Varietäten  —  von  anderen  Arten  ab.  Aber  ein  solcher 
Schluss  bedarf  des  Beweises:  wie  denn  die  zahllosen,  unsere  Erde 
bevölkernden  Arten  abgeändert  worden  sind.  Klima,  Nahrung,  wenn 
sie  auch  dazu  beigetragen  haben,  können  nicht  die  einzigen  Ur- 
sachen der  Aenderung  sein.  Charles  Darwin  hat  ein  eifriges 
und  langjähriges  Studium  darauf  verwandt,  eine  klare  Einsicht  in 
die  Mittel  zu  gewinnen,  durch  welche  die  merkwürdigen,  rätsel- 
haften Umänderungen  der  Arten  bewirkt  werden.  Er  glaubte  in 
einer  sorgfältigen  Beobachtung  der  Hausthiere  und 
Cultarpflanzen  Aussicht  zur  Lösung  der  Aufgabe  zu  finden, 
und  hat  in  der  Tbat  gefunden,  dass  die  gewonnenen  Erfahrungen 
über  die  im  gezähmten  und  angebauten  Zustande  erfolgenden  Ver- 
änderungen der  Lebens-Formen  den  besten  Aufschluss  gewähren. 
Mit  diesem  Gegenstand  beginnt  er  auch  sein  berühmtes  Werk, 
dessen  Hauptinhalt  wir  hier  nur  andeuten  können. 

Das  erste  Capitel  handelt  von  der  Abänderung  der  Arten 
im  Cultur-Zustande;  der  Verfasser  zeigt,  dass  erbliche  Ab- 
änderungen in  grosser  Ausdehnung  möglich  sind  und  dass  —  was 
namentlich  beachtenswerth  —  das  Vermögen  des  Menschen:  ge- 
ringe Abänderungen  durch  deren  besondere  Aus  wähl 


« 


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736  Darwin:  Entstehung  und  Erhaltung  der  Rassen. 


zur  Nachzucht,  d.  h.  durch  Zuchtwahl  zu  häufen  sehr 
betrachtlich  ist.  Sodann  wendet  sich  Darwin  im  zweiten 
Capitel  zur  Veränderlichkeit  der  Arten  im  Naturzu- 
stände; sucht  zu  beweisen,  was  für  Umstände  solche  vorzugs- 
weise begünstigen ,  wie  weit  und  sehr  verbreitete  Arten  am  mei- 
sten variiren,  wie  die  Arten  der  grösseren  Gattungen  jedes  Landes 
viel  häufiger  variiren,  als  die  der  kleineren  Genera,  und  wie  end- 
lich viele  Arten  der  grossen  Gattungen  der  Varietäten  darin  glei- 
chen, dass  sie  sehr  nahe  aber  ungleich  mit  einander  verwandt  sind 
uud  beschränkte  Verbreitungs-Gebiete  haben. 

Das  dritte  Capitel  schildert  den  Kampf  ums  Dasein  unter 
den  organischen  Wesen.  Es  entstehen  mehr  Individuen  jeder  Art, 
als  fortleben  können ,  als  Mittel  zu  ihrer  Erhaltung  vorhanden. 
Desshalb  das  dauerde  und  stets  wiederkehrende  Ringen  um  Exi- 
stenz in  welchem  nur  diejenigen  Arten  (und  deren  Nachkommen) 
überdauern,  die  eben  durch  ihre  Organisation  zu  diesem  Kampfe 
gerüstet  sind,  die  unter  mannigfachen,  oft  veränderlichen  Bedin- 
gungen des  Lebens  mehr  Aussicht  auf  Fortdauer  haben  und  also 
von  der  Natur  selbst  zur  Nachzucht  auserkoren  sind 
Solche  durch  natürliche  Züchtung  gowählte  Varietäten  stre- 
ben dann  nach  dem  strengen  Erblichkeits-Gesetze  jedesmal  seine 
neue  und  abgeänderte  Form  fortzupflanzen.  Im  vierten  Capitel 
wird  die  natürliche  Zuchtwahl  noch  weiter  betrachtet  und  ge- 
zeigt, dass  dieselbe  die  unvermeidliche  Veranlassung  zum  Erlöschen 
weniger  geeigneter  Lebensformen  ist  und  das  herbeiführt,  was  der 
Verfasser  als  Divergenz  des  Charakters  bezeichnet. 

Das  fünfte  Capitel  bespricht  die  zusammengesetzten  und  wenig 
bekannteu  Gesetze  der  Abänderung  und  der  Correlation  dos  Wachs- 
thums.  In  den  folgenden  Capiteln  (6  —  9)  geht  der  Verfasser  nun 
auf  die  Schwierigkeiten  ein,  die  seiner  Theorie  entgegenstehen.  Es 
sind  dies  ganz  besonders  die  Schwierigkeiten  der  Ueber- 
gänge;  die  Möglichkeit,  dass  ein  einfaches  Wesen  oder  Organ  zu 
einem  höher  entwickelten  Wesen  oder  zu  einem  vollkommen  aus- 
gebildeten Organ  werde.  Ferner  der  Instinkt,  die  geistigen 
Fähigkeiten  der  Thiere  bieten  Schwierigkeiten,  so  wie  die  die 
Bastard- Bildung  oder  die  Unfruchtbarkeit  der  gekreuzten  Species 
und  die  Fruchtbarkeit  der  gekreuzten  Varietäten ;  endlich  die  U  n- 
vollkommonheit  der  geologischen  Urkunde. 

(Schluss  folgt.) 


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Nr.  47. 


HEIDELBERGER 


1867. 


JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Darwin:  Entstehung  und  Erhaltung  der  Eassen. 


Aus  letzterer  und  aus  der  im  zehnten  Capitel  betrachteten 
geologischen  Aufeinander-Folge  organischer  Wesen  hebt 
Darwin  folgende  Momente  zu  Gunsten  seiner  Theorie  hervor. 
Die  Unvollständigkeit  geologischer  Schöpfuugs-Urkunde;  wie  klein 
der  Tbeil  der  Erdoberfläche,  welcher  bis  jetzt  untersucht;  dass  nur 
gewisse  Classen  organischer  Wesen  zahlreich  in  fossilem  Zustande 
vorkommen  und  dass  die  Zahl  der  in  uuseren  Sammlungen  aufbe- 
wahrten Individuen  und  Arten  verschwinde  gegen  die  unermessliche 
Zahl  von  Generationen,  die  nur  während  einer  Formations-Zeit  auf 
einander  gefolgt  seiu  müssen;  dass  gewöhnlich  ungeheuere  Zeit- 
räume zwischen  je  zwei  einander  folgenden  Formationen  verflossen 
sein  müssen,  weil  fossilieureiche  Bildungen  —  mächtig  genug,  um 
künftiger  Zerstörung  zu  widerstehen  —  sich  in  der  Regel  nur 
während  Senkungs-Perioden  ablagern  können,  dass  demnach  wahr- 
scheinlich während  der  Senkungs-Zeit  mehr  Aussterben,  während 
der  Hebungs-Zeit  mehr  Abändern  organischer  Formen  stattgefunden 
hat.  Darwin  weist  darauf  hin,  wie  unvollständig  der  Schöpfungs- 
Bericht  aus  den  ältesten  Perioden ;  dass  die  einzelnen  Formationen 
nicht  in  ununterbrochenem  Zusammenhang  abgelagert  wurden ;  dass 
die  Dauer  jeder  Formation  vielleicht  nur  kurz  zur  mittleren  Dauer 
der  Arten-Formen ;  dass  Einwanderungen  einen  wesentlichen  An- 
theil  am  ersten  Erscheinen  neuer  Formen  in  der  Formation  irgend 
einer  Gegend  hatten ;  dass  die  weit  verbreiteten  Arten  am  meisten 
variirt  und  am  öftesten  Veranlassung  zur  Entstehung  neuer  Arten 
gegeben  haben ;  dass  Varietäten  von  Anfang  nur  local  gewesen  sind 
und  dass  es  endlich  —  obschon  jede  Art  zahlreiche  Uebergangs- 
Stufen  durchlaufen  haben  muss  —  wahrscheinlich  dass  die  Zeit- 
räume, während  deren  eine  Art  der  Modification  unterlag,  wohl 
zahlreich  und  lang,  aber  mit  den  Perioden  verglichen,  in  denen 
sie  unverändert  blieben,  kurz  gewesen  sind.    Alle  diese  Ursachen 
zusammengenommen  —  so  folgert  Darwin  —  werden  es  grossen- 
theils  erklären,  warum  wir  zwar  viele  Mittelformen  zwischen  den 
Arten  einer  Gruppe  findeu,  aber  nicht  endlose  Varietäten-Reihen 
die  erloschenen  und  lebenden  Formen  in  den  feinsten  Abstufungen 
mit  einander  verketten  sehen. 

Das  elfte  und  zwölfte  Capitel  handelt  von  der  geographi- 
schen Verbreitung  der  Organismen;  im  dreizehnten  wird 
LX.  Jahrg.  10.  Heft.  47 


(Schluss.) 


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788  Darwin:  Entstehung  und  Erhaltung  der  Rassen. 

ihre  Classification  oder  gegenseitige  Verwandtschaft  im  reifen 
wie  im  Embryonal-Zustande  besprochen  ;  im  vierzehnten  und  letzten 
Capitel  eiue  Zusammenfassung  des  Inhaltes  vom  ganzen  Werke  ge- 
geben, nebst  einigen  Schluss-Bemerknngen.  Da  in  diesen  der  be- 
rühmte Verfasser  in  sehr  klarer  Weise  nochmals  ein  Resumö  seiner 
Forschungen  gibt,  mögen  sie  hier  eine  Stelle  finden.  Schrift- 
steller ersten  Ranges  —  so  sagt  Darwin  —  scheinen  voll- 
kommen von  der  Ansicht  befriedigt  zu  sein,  dass  jede  Art  unab- 
hängig erschaffen  worden  ist.  Nach  meiner  Meinung  stimmt  es 
besser  mit  den,  der  Materie  vom  Schöpfer  eingeprägten  Gesetzen 
überein,  dass  Entstehen  und  Vergehen  früherer  und  jetziger  Be- 
wohner der  Erde,  so  wie  der  Tod  des  Einzelwesens,  durch  sekun- 
däre Ursachen  veranlasst  werde,  denjenigen  gleich,  welche  Geburt 
und  Tod  des  Individuums  bestimmen.  Wenn  ich  alle  Wesen  nicht 
als  besondere  Schöpfungen,  sondern  als  lineare  Abkommen  einiger 
weniger,  schon  lange  vor  der  Ablagerung  der  silurischen  Schichten 
vorhanden  gewesener  Vorfahren  betrachte,  so  scheinen  sie  mir  da- 
durch veredelt  zu  werden.  Und  nach  der  Vergangenheit  zu  ur- 
theilen,  dürfen  wir  getrost  annehmen,  dass  nicht  eine  der  jetzt 
lebenden  Arten  ihr  unverändertes  Abbild  auf  eine  ferne  Zukunft 
tibertragen  wird.  Ueberhaupt  werden  von  den  jetzt  lebenden  Arten 
nur  sehr  wenige  durch  irgend  welche  Nachkommenschaft  sich  bis 
in  eine  sehr  ferne  Zukunft  fortpflanzen;  denn  die  Art  und  Weise 
wie  alle  organischen  Wesen  im  Systeme  gruppirt  sind  zeigt,  dass 
die  Mehrzahl  der  Arten  einer  jeden  Gattung  und  alle  Arten  vieler 
Gattungen  keine  Nachkommenschaft  hinterlassen  haben,  sondern 
gänzlich  erloschen  sind.  Man  kann  insofern  einen  prophetischen 
Blick  in  die  Zukunft  werfen  und  voraussagen :  dass  es  die  gemein- 
sten und  weitverbreitetsten  Arten  in  den  grossen  und  herrschen- 
den Gruppen  jeder  Classe  sind,  welche  schliesslich  die  andern  tiber- 
dauern und  neue  herrschende  Arten  liefern  werden.  Da  alle  jetzige 
Lebensformen  lineare  Abkommen  derjenigen  sind,  welche  lange  vor 
der  silnrischen  Periode  gelebt  haben,  so  können  wir  überzeugt  sein, 
dass  die  regelmässige  Aufeinanderfolge  der  Generationen  niemals 
unterbrochen  worden  ist  und  eine  allgemeine  Fluth  niemals  die 
ganze  Welt  zerstört  hat. 

Kaum  hat  in  neuerer  Zeit  ein  wissenschaftliches  Werk  solches 
Aufsehen  erregt,  als  das  Darwinsche.  Die  rasch  einander  fol- 
genden Auflagen  sind  der  bündigste  Beweis  hiefür.  Im  November 
1859  erschien  die  erste  (englische)  Ausgabe,  im  Januar  1860  die 
zweite,  im  April  1861  die  dritte,  im  Juni  1866  die  vierte.  Die 
Uebersetzung  ins  Deutsche  verdanken  wir  bekanntlich  Bronn,  die 
Durchsicht  der  vorliegenden  dritten  deutschen  Auflage  Professor 
Gar us.  Die  Ausstattung  ist  geschmackvoll  und  den  zahlreichen 
Verehrern  Darwin's  das  der  dritten  Lieferung  beigefügte  Por- 
trait des  Verfassers  gewiss  eine  erwünschte  Zugabe. 

G.  Leonhard. 




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Lieleggr'Die  Spectral-Analyae.  789 

Die  Spectral- Analyse.  Erklärung  der  Spectral- Erscheinungen  und 
deren  Anwendnng  für  Wissenschaft  liehe  und  praktische  Zwecke, 
mit  Berücksichtigung  der  ssu  ihrem  Verständnisse  wichtigen 
physikalischen  Lehren  in  leicht  fasslicher  Weise  dargestellt. 
Von  Andreas  Lielegg,  ordentl.  öffentl.  Lehrer  der  Chemie 
an  der  Landes  -  Oberrealschule  in  St  Pölten.  Mü  9  in  den 
Text  eingedruckten  Figuren  und  einer  lithographiiien  Tafel. 
Weimar  1867.    Bernhard  Friedrich  Voigt.  8.  8.  99. 

Gewiss  hat  die  merkwürdige  Entdeckung  der  chemischen  Ana- 
lyse durch  Spectral-Beobachtungen  bei  vielen  Gebildeten,  welche 
aber  durch  ihren  Beruf  nicht  in  unmittelbarer  Berührung  stehen 
mit  der  Wissenschaft,  den  Wunsch  erregt,  sich  einen  Begriff  dieser 
Forschungen  zu  verschaffen.  Einem  solchen  Wuusche  entspricht 
nun  in  sehr  geeigneter  Weise  vorliegende  Schrift.  Der  Verfasser 
hat  in  derselben  mit  grossem  Geschicke  —  eine  streng  wissen- 
schaftliche Behandlung  des  Gegenstandes  vermeidend  —  eine  solche, 
allgemein  fassliche  versucht,  durch  die  es  ihm  gelingen  wird,  Ge- 
setze und  Resultate  jener  wichtigen  Beobachtungen  auch  in  wei- 
teren Kreisen  bekannt  und  verständlich  zu  machen. 

In  der  Einleitung  gibt  zunächst  Professor  Lielegg  eine  Er- 
klärung aller  der  physikalischen  Lehren,  die  als  Vorbereitung  zum 
Verständniss  der  zu  schildernden  Erscheinungen  unumgänglich  not- 
wendig; er  bespricht  also  die  theoretischen  Ansichten  über  das 
Licht,  chemisohe  Wirkungen,  Fortpflanzung,  Brechung  des  Lichtes ; 
das  Sonnen-Spectrum,  so  wie  die  Spectra  anderer  Lichtquellen,  u. 
s.  w.  Alsdann  folgt  die  Beschreibung  der  Spectral-Apparate ,  so 
wie  eine  genaue  Besprechung  der  Bedingungen,  von  welchen  die 
Darstellung  der  Spectra  abhängig  ist ;  sie  wird  Jedem,  der  Spectral- 
Beobachtungen  machen  will,  die  Ausführung  wesentlich  erleichtern. 
Für  diejenigen,  welche  sich  noch  eingehender  zu  unterrichten  wün- 
schen, sind  bei  Beschreibung  der  Apparate  von  der  verschiedensten 
Construction ,  die  wichtigsten  Abbandlungen  im  Texte  angeführt. 
Im  letzten  Abschnitt  zeigt  der  Verfasser  die  grosse  Bedeutung  der 
Anwendnng  der  Spectral -  Analyse  zur  Lösung  wissenschaftlicher 
Fragen ;  wie  solche  für  den  Chemiker  und  Mineralogen  bei  der 
Untersuchung  von  Gesteinen,  von  Mineral- Wassern,  zur  Auffindung 
von  Stoffen  von  unberechenbarem  Nutzen.  Denn,  was  für  die  mei- 
sten schweren  Metalle  die  Löthrohrprobe ,  das  ist  für  die  Metalle 
der  Alkalien  uud  alkalischen  Erden  und  für  einige  schwere  Metalle 
die  Spectral  probe ;  diese  kann  in  manchen  Fällen  jene  ergänzen, 
zu  Aufschlüssen  über  die  chemische  Zusammensetzung  führen.  Da- 
bei ist  die  Ausführung  der  Untersuchung  nioht  viel  schwieriger, 
als  die  vormittelst  des  Lötbrohrs.  Aber  auch  dem  Physiologen  und 
Arzte  gibt  die  Spectral-Aualyse  Mittel  in  die  Hand  Flüssigkeiten 
und  Aschen  pflanzlichen  wie  thierischen  Ursprungs  näher  zu  unter- 
suchen. Endlich  gewinnt  sie  für  den  Teohniker,  den  Färber  grosse 


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7*0 


Soldan:  Praktischer  Gebrauch  der  latein.  Sprache. 


praktische  Bedeutung  zur  Unterscheidung  von  Farbestoffen.  So  ist 
durch  die  Spectral-Analyse  eine  Bahn  gebrochen  worden  die  ohne 
Zweifel  noch  zu  weiteren  Entdeckungen  über  die  Natur  des  Lich- 
tes, über  die  chemischen  Bestandteile  vieler  Körper  führen  wird. 

Die  Ausstattung  der  nützlichen  und  werthvollen  Schrift  des 
Prof.  Lielegg  ist  sehr  gut.  Besondere  Sorgfalt  wurde  auf  die  bei- 
gegebene Spectral-Tafol  verwendet,  welche  zum  besseren  Verständ- 
niss  der  Beschreibung  der  Spectra  dient,  die  beim  Gebrauche  eines 
Apparates  mit  einem  Prisma  und  der  Bunscn'scben  Gaslampe  er- 
halten werden  können.  G.  Leonhard. 


Praktischer  Gebrauch  der  lateinischen  Sprache.  Nach  seiner  frühe- 
ren und  jetzigen  Beschaffenheit  und  Bedeutung  beleuchtet  Neb$t 
einer  Methodik  für  höhere  Lehranstalten  und  Selbstunttrricht. 
Von  Dr.  August  Ferd.  Soldan.  Marburg  N.  G.  ElwerV sehe 
Universitätsbuchhandlung  1867.  X  u.  148  S.  in  gr.  8. 

Diese  Schrift  mag  wohl  als  eine  zeitgemässe  betrachtet  wer- 
den, in  so  fern  ihr  die  Absicht  zu  Grunde  liegt,  einem  Missstande 
entgegenzutreten,  der  in  der  letzten  Zeit,  zum  Nachtheil  aller  wah- 
ren und  gründlichen  wissenschaftlichen  Bildung  immer  mehr  her- 
vorgetreten ist.  >  Der  Entschluss  zu  vorliegender  Arbeit,  so  lesen  wir 
in  der  Vorrede,  erhielt  durch  die  gegründete  Ansicht,  dass  in  der 
praktischen  Handhabung  der  lateinischen  Sprache  seit  mehreren 
Decennion  die  Mangelhaftigkeit  und  Schwäche  in  bedenklieber  Zu- 
nahme begriffen  wäron,  seine  erste  Anregung,  mehr  Nachdruck  aber 
durch  die  deutliche  Wahrnehmung,  dass  sachkundige  und  vorur- 
theilsfreie  Männer  diese  Ansicht  nicht  allein  theilten,  sondern  dem  ge- 
rechten Anstoss ,  den  sie  an  dem  argen  Uebelstande  nahmen ,  in 
eindringlichen  Klagen  lebhaften  Ausdruck  gaben.«  Und  Niemand 
wahrhaftig,  der  auf  diesen  Gegenstand  seine  Blicke  gerichtet  hat, 
wird  das  Begründete  dieser  Klagen  in  Abrede  stellen  können,  deren 
Hebung  die  nächste  Aufgabe  derjenigen  sein  muss,  welchen  die  Er- 
haltung einer  gründlichen  Jugendbildung  am  Herzen  liegt.  Der 
Verf.  als  vieljähriger  Schulmann  hat  vielfache  Gelegenheit  gehabt, 
diese  Missstände  wahrzunehmen :  er  sucht  darum  nach  den  Mitteln 
einer  Abhülfe,  und  legt  in  dieser  Schrift  das  Ergebniss  langjähriger 
Erfahrung  und  einer  diesem  Gegenstand  unausgesetzt  gewidmeten 
Sorge  einem  weiteren  Kreise  vor,  insbesondere  aber  ist  seine  Auf- 
gabe dahin  gerichtet,  »denjenigen  jungen  Philologen,  die  in  der 
lateinischen  Darstellungskunst  einem  würdigen  Ziele  zustreben,  zur 
beharrlichen  Verfolgung  des  zu  demselben  führenden  Weges ,  An- 
leitung, Anregung  und  Ermunterung  zu  geben.«  Sind  allerdings 
die  künftigen  Lehrer  an  unsern  Mittelschulen ,  welchen  die  Vorbe- 
reitung der  Jugend  zu  einem  wissenschaftlichen  Beruf  obliegt,  Ton 


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Soldnn:  Praktischer  Gebrauch  der  lateio.  Sprache. 


741 


dieser  Ansicht  durchdrungen,  haben  sie  die  Bedeutung  und  Wich- 
tigkeit der  schriftlichen  Üebung  in  dem  lateinischen  Ausdruck  er- 
kannt, so  werden  sie  am  besten  im  Stande  sein,  dem  fühlbaren 
Uebelstande  mit  allem  Erfolg  entgegenzutreten,  und  die  ihnen  an- 
vertraute Jugend  zu  derjenigen  Kenntnis«  der  Sprache  und  Lite- 
ratur des  alten  Rom's  heranzuführen,  welche  die  Grundlage  aller 
wissenschaftlichen  Bildung  ausmacht,  und  ohne  derartige  Uebungen 
nicht  zu  erringen  steht,  indem  wir  nur  durch  solche  Uebungen 
dabin  gelangen  können,  die  lateinische  Sprache  in  dem  Grade,  wie 
es  jedem  wissenschaftlich  gebildeten  Mann  nötbig  ist,  zu  vorstehen 
und  uns  dann  auch  richtig  in  derselben  auszudrücken.  Liegt  doch 
hier  der  Grund  und  der  Boden,  auf  welchem  die  ganze  wissen- 
schaftliche Entwicklung  unserer  Zeit  ruht,  und  sich  auf  diesem 
Boden  sicher  zu  wissen,  ist  die  erste  Bedingung  eines  thätigen  und 
erfolgreichen  Eingreifens  in  die   aus  diesem  Boden  herangewach- 
sene geistige  Entwicklung  unserer  Zeit.  Diesen  inneren  Zusammen- 
hang, in  welchem  die  geistige  Entwicklung  unserer  Zeit  mit  der 
ganzen  vorausgegangenen  seit  dem  Wiederaufblühen  der  Wissen- 
schaft überhaupt  steht,  hat  der  Verf.  wohl  erkannt  und  darum 
seine  Darstellung  mit  einer  geschichtlichen  Uebersicht  der  Leistun- 
gen in   der  praktischen  Anwendung  der  lateinischen  Sprache  in 
Italien,  Frankreich,  Holland  und  Deutschland  vom  fünfzehnten  Jahr- 
hundert an  bis  auf  die  neuere  Zeit,  begonnen.    Die  bedeutendsten 
Gelehrten,  welche  in  dieser  Beziehung  sich  ausgezeichnet  und  die 
Anwendbarkeit  der  lateinischen  Sprache  für  alle  Gebiete  mensch- 
lichen Wissens  dargethan  haben ,  werden  hier  charakterisirt ,  und 
der  Zusammenhang,  in  welchem  diess  mit  der  Gesammtbildung  der 
Zeit  steht,  nachgewiesen.    Gern  wird  man  dem  Verf.  in  dieser 
Charakteristik  folgen,  in  welcher  insbesondere  Muretus,  dann  Eras- 
mus, Melanchthon  u.  A.  hervortreten,  eben  so  wie  in  neueren  Zei- 
ten ein  Kuhnken  u.  A.,  welche  als  Muster  der  Latinität,  in  jeder 
Hinsicht  uns  vorleuchten ,  weil  wir  aus  ihnen  am  besten  die  An- 
wendung der  lateinischen  Sprache  zum  Ausdruck  moderner  An- 
schauungen und  Begriffe  ersehen  und  von  ihnen  lernen  können, 
diese  Sprache,  und  zwar  im  Sinn   und  Geist  der  altrömischon 
classischen  Zeit,  auf  Gegenstände  der  neueren  Zeit  anzuwenden, 
und  damit  selbst  unserem  Ausdruck  in  der  Muttersprache  Bestimmt- 
heit und  Klarheit  zu  verleihen.  Den  hier  genaunten  Gelehrten  aus 
der  italischen  und  französischen  Welt  würden  wir  noch  den  früh 
verstorbenen  Perpinianns  (f  1536)  anreihen,  da  er  einem  Muretus 
u.  A.  in  Ausdruck  und  Sprache  beinahe  gleich  steht. 

Auf  diesen  historisch-literarischen  Ueberblick  folgt  die  Beleuch- 
tung der  verschiedenen  Vorwürfe  und  Anklagen,  welche  in  neuerer 
Zeit  wider  die  Anwendung  der  lateinischen  Sprache  gemacht  wor- 
den sind,  nachdem  vorher  S.  32  ff.  auf  den  Werth  und  die  hohe 
Bedeutung  des  Gegenstandes  hingewiesen  war,  wobei  insbesondere 
und  mit  allem  Recht  darauf  hingewiesen  wird,  dass  die  Sprache, 


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742  Soldan:  PrnVtlacher  Grhrauch  der  latein.  Sprache. 


am  deren  Anwendung  es  sich  hier  handelt,  die  Grandlage  nnd  die 
Vermittlerin  uoseres  gaozcn  modernen  Culturlebens  geworden  ist; 
durch  Rom  ist  die  Wissenschaft  ein  Gemoingat  der  europäischen 
Welt,  aad  die  Sprache  Rom's  das  Organ  der  wissenschaftlichen 
Mittbeiluog  geworden,  ihre  Handhabung  ist  daher  auch  jetzt  noch 
die  Grundlage  wissenschaftlicher  Bildung.  Wir  wollen  diess  nicht 
weiter  ausführen  und  lieber  auf  die  Schrift  selbst  verweiseu ,  in 
welcher  dann  auch  die  Anklageu  der  Gegner,  die  hier  zunächst  auf 
drei  Punkte  zurückgeführt  werden,  ihre  Abfertigung  erhalten  ;  näher 
betrachtet  liegt  allen  diesen  Anklagen  zum  Grunde  die  Trägheit 
nnd  Faulheit,  die  Bequemlichkeit  aud  Oberflächlichkeit  unserer  Zeit, 
die  jede  Anstrengung  scheut,  und  mit  möglichst  geringer  Mühe  das 
Ziel  materiellen  Lebensgenusses  zu  erreichen  sucht. 

Im  vierten  Abschnitt  S.  42  ff.  wird  gegeben  eine  »Beleuch- 
tung des  im  praktischen  Gebrauche  der  lateinischen  Sprache  jetzt 
herrschenden  Zustandes,  so  wie  der  Hindernisse,  die  seiner  Ver- 
besserung entgegenstehen.«  Wenn  der  scblafle  Betrieb  des  Latein- 
schreibens und  Sprechens  in  der  neuesten  Zeit  hier  hervorgehoben 
wird,  so  wird  darin  um  so  mehr  Grund  gefunden,  dieser  Verschif- 
fung entgegenzutreten,  und  mit  allen  Mitteln,  wie  sie  die  Wissen- 
schaft an  die  Hand  gibt,  kräftig  dieselbe  zu  bekämpfen.  Den  Leh- 
rern, als  den  Vertretern  der  Wissenschaft,  wie  den  Behörden,  welche 
das  höhere  Schulwesen  zu  leiten  uud  zu  beaufsichtigen  haben,  liegt 
in  dieser  Hinsicht  die  gleiche  Pflicht  ob,  und  wenu  in  der  Erfül- 
lung dieser  Pflicht  beide  Hand  in  Hand  geben,  so  wird  auch  an 
einem  günstigen  Erfolg  nicht  zu  zweifeln  sein,  und  es  gelingen,  dem 
Drängen  des  sogenannten  Zeitgeistes,  d.  b.  der  Verflachimg  nnd 
Verschiffung  Halt  zu  gebieten.  Dazu  aber  ist  allerdings  bei  dem 
Unterricht  selbst  nothwendig,  den  richtigen  Weg  und  die  richtige 
Methode  in  der  Behandlung  des  Gegenstandes  einzuschlagen,  weil 
dadurch  der  gewünschte  Erfolg  bedingt  ist.  Deshalb  verbreitet  sich 
der  Verfasser  darüber  des  Näheren  in  dem  sechsten  Abschnitt 
8.  57 ff. ,  in  welchem,  nachdem  die  bisher  befolgten  Methoden  in 
ihren  beiden  Hauptrichtungen  dargelegt  sind,  der  Verf.  ausführ- 
licher, aus  eigener  langjähriger  Erfahrung,  diejenigen  Mittel  und 
Wege  bespricht,  welche  vorzugsweise  zur  Erreichung  jenes  Zieles 
führen.  Wir  finden  hier  eine  Anleitung  über  die  Art  und  Weise, 
in  welcher  der  lateinische  Stil  in  den  verschiedenen  Classcn  eines 
Gymnasiums,  von  den  beiden  untersten  an  bis  zu  der  obersten  be- 
bandelt  werden  soll,  und  wie  er  mit  der  Leetüre  der  lateinischen 
Schriftsteller  zu  verbinden  ist,  um  die  gewünschten  Erfolge  her- 
beizuführen. Der  Verf.  will  die  schriftliche  Uebung  in  Verbindung 
gesetzt  wissen  mit  der  mündlichen  Uebersetzung  aus  dem  Deutschen 
in's  Lateinische  und  schon  auf  der  untersten  Stufe,  in  den  beiden 
untern  Classen,  der  letzteren  sogar  ein  Uebergewicht  über  die 
schriftlichen  Uebuugen  einräumen,  und  er  will  ein  ähnliches  Ver- 
fahren in  der  Tertia  fortsetzen,  hier  dem  zusammenhängenden  Dnter- 


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Sold  an:  Praktischer  Gebranch  der  lateln.  Sprache.  743 

rieht  in  der  Grammatik  Eine  Stunde  wöchentlich  widmen,  während 
die  schwierigeren  Parthien  der  Behandlung  in  der  Secnnda  vorbe- 
halten bleiben  sollen,  so  dass  in  dieser  Classe  der  selbständige 
grammatische  Unterricht  znm  Abschluss  kommt.  Die  deutschen 
Aufgaben  zum  Uebersetzen  sollen  mit  der  Grammatik  wie  mit  der 
Leetüre  in  Beziehung  gebracht,  und  auch  hier  noch  mehr  münd- 
lich als  schriftlich  behandelt  und  von  den  neun,  dem  lateinischen 
Unterricht  in  den  mittleren  und  oberen  Classen  zugewiesenen  Stun- 
den, vier  zu  diesen  Uebungen  wöchentlich  verwendet  werden,  von 
welchen  »eine  der  Grammatik  und  drei  den  andern,  tbeils  münd- 
lichen, tbeils  schriftlichen  Leistungen  zuzuwenden  ein  nnerlässliches 
Erforderniss  ist«  (S.  69).  Als  ein  weiteres,  eben  so  unerlässliches 
Erforderniss  möchten  wir  freilich  auch  einen  Lohrer  bezeichnen, 
der  nicht  etwa  blos  die  dazu  nöthigen  Kenntnisse  (was  doch  in 
der  Regel  vorausgesetzt  werden  kann),  sondern  auch  die  dazu 
nöthige  Gewandtheit  und  das  Geschick  besitzt,  diese  üebrigen  in 
der  Weise  zu  leiten,  dass  ein  sicherer  Erfolg  dann  zu  erwarten 
steht.  Der  Verf.  der  von  dem  richtigen  Grundsatz  ausgeht,  dass 
die  Uebungen  im  Sprechen  und  Schreiben  nicht  blos  als  eines  der 
bewährtesten  geistigen  Bildungsmittel  Überhaupt  anzusehen  siud, 
sondern  auch  als  der  sicherste  Weg  zum  Eingang  in  den  Tempel  der 
alt-classischen  Denkmäler  (S.  70),  verhehlt  sich  nicht  die  Einwürfe, 
welche  gegen  diese  Vermehrung  der  Stundenzahl  für  die  Stil- 
übungen, die  er  auch  für  die  beiden  oberen  Classen  festhält,  etwa 
gemacht  werden  können  und  hat  ihre  Widerlegung  in  eingehender 
Weise  versucht,  wobei  er  den  Nutzen  bespricht,  den  die  Lectüre 
der  Schriftsteller  auf  die  stilistische  Entwicklung  in  diesen  beiden 
Classen  ausüben  soll,  was  freilich  eben  so  hinwiderum  durch  die 
richtige  Wahl  der  Schriftsteller  wie  deren  Behandlung  bedingt  ist. 
Wir  können  die  goldenen  Worte,  in  welcher  ein  erfahrener  Schul- 
mann hier  über  beides  die  nöthige  Anweisung  gibt,  jüngern  Leh- 
rern im  Interesse  der  Sache  nicht  dringend  genug  empfehlen ;  eben 
so  das,  was  er  über  die  höheren  Anforderungen  vorschreibt,  welche 
in  der  Prima  in  dieser  Beziehung  zu  stellen  sind.  Werden  die  von 
ihm  gegebenen  Vorschriften  in  Anwendung  gebracht,  so  fallen  die 
sogenannten  Extemporalien  so  zu  sagen  von  selbst  weg,  da  ihre 
vermeintlichen  Vortheile  besser  auf  anderem  Wege  erreicht,  die 
kaum  zu  vermeidenden  Nachtheile  aber  beseitigt  werden  (Vgl. 
S.  87  ff.).  Zuletzt  berührt  der  Verf.  noch  das  Lateinspreohen,  wie 
es  als  ein  Mittel,  zur  Geläufigkeit  und  Gowandtbeit  im  schriftlichen 
Gebrauche  der  Sprache  zu  verhelfen,  vielfach  in  Vorschlag  gebracht 
worden  ist.  Der  Verf.  ist  weit  davon  entfernt,  die  Zweckmässig- 
keit der  Uebungen  im  Sprechen  in  Abrede  zu  stellen,  aber  er  will 
sie  an  die  Bedingung  geknüpft  wissen ,  dass  sie  zur  rechten  Zeit 
und  mit  den  geeigneten  Mitteln  betrieben  werden;  er  gibt  daher 
auch  hier  eine  Anleitung,  nach  welcher  bei  dieser  Uebnng  verfah- 
ren werden  soll,  um  sie  erfolgreich  zu  machen;  dazu  gehört  aber 


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744 


Sold  an:  Prafctiscbrr  Opbrauch  der  Utein.  Sprache. 


vor  Allem  eine  gute  Vorbereitung,  wie  sie,  wir  setzen  es  mit  Be- 
dauern hinzu,  nicht  immer  angetroffen  wird,  und  dann  treten  leicht 
Nachtheile  ein,  welche,  wie  unser  Verf.  ganz  richtig  bemerkt,  den 
Nutzen  überwiegen,  und  es  selbst  rathlich  machen,  die  ganze  Uebung 
zu  unterlassen.  So  gelangt  der  Verfasser  zu  dem  Scblnss,  »dass  die 
mündlichen  und  schriftlichen  Uebungen  in  der  lateinischen  Sprache 
auf  dem  Gymnasium  noch  nicht  ihren  Abschluss  erhalten,  sondern 
vielmehr  nur  darauf  berechnet  sein  können,  für  die  weitere  Fort- 
bildung eine  geordnete  Basis  dem  Lernenden  zu  schaffen.  War  für 
denselben  bis  dahin  Richtigkeit,  Reinheit  und  Verstiindlichkeit  das 
Hauptziel  der  Anleitung  und  Uebung,  so  muss  jetzt  sein  Streben 
nicht  allein  auf  immer  grössere  Festigkeit  und  Fertigkeit,  sondern 
auch  auf  die  Aneignung  der  höheren  Vorzüge,  lichtvolle  Klarheit, 
Leichtigkeit,  Gefälligkeit  und  Schönheit  der  Darstellung  gerichtet 
sein.  Zur  Erwerbung  dieser  Eigenschaften  aber  soll  die  akademische 
Laufbahn  demjenigen,  der  sich  dem  Studium  der  altclassiscben 
Philologie  gewidmet,  den  angemessene  Spielraum  bieten  €  u.  s.  w. 
(S.  92).    Diess  ist  auch  unsere  üeberzeugung,  und  Alles,  was  der 
Verf.  weiter  zur  Begründung  seiner  Ansicht  ausführt,  die  Rath- 
schläge, die  er  in  dieser  Boziehung  zur  ErreicbuEg  dieses  Zieles 
dem  angehenden  Philologen  gibt,  verdienen  gewiss  alle  Berücksich- 
tigung: sie  werden  besser,  als  alle  äusseren  Zwangs  Vorschriften, 
welche  keine  wahre  geistige  Bildung  hervorzurufen  vermögen ,  im 
8tande  sein,  tüchtige  Lehrer  in  den  classischen  Spracheu  für  unsere 
Mittelschulen  zu  bilden,  und  so  auch  am  besten  in  den  Erfolgen 
alle  die  Vorwürfe  widerlegen,  welche  eine  in  Oberflächlichkeit  und 
8innengenuss  versunkene  Zeit  wider  die  classischen  Studien  und 
deren  Pflege  auf  unsern  höhern  Bildungsanstalten,  und  damit  gegen 
die  Wissenschaft  selbst,  erhebt.    Und  so  geben  wir  uns  auch  der 
Hoffnung  hin,  die  der  Verf.  am  Schlüsse  seiner  beberzigenswertheu 
und  durchaus  ruhig  gehaltenen  Erörterung  dieses  Gegenstandes 
ausspricht,  »es  werde  trotz  der  zahlreichen  Klagen  über  die  nach 
allen  Richtungen  verbreitete  Zerstreuungs-  und  Genusssucht,  so  wie 
über  zunehmende  Verweichlichung,  Erschlaffung  und  Arbeitsscheu, 
doch  nicht  an  Jüngern  der  Wissenschaft  in  Deutschland  fehlen, 
die  noch  Willenskraft  und  Strebsamkeit  genug  bewähren ,  um  in 
der  vorgezeichneten  Richtung  nach  einem  ihrer  grossen  Vorgänger 
würdigen  Ziele  zu  ringen.« 

Die  Anmerkungen,  welche  von  S.  105  — 148  angereiht  sind, 
beziehen  sich  zum  grösseren  Theil  auf  den  ersten  Abschnitt,  dessen 
Inhalt  wir  oben  kurz  angegeben  haben :  es  sind  biographische  nnd 
literarhistorische  Notizen  über  die  in  diesem  Abschnitt  erwähnten 
Gelehrten,  deren  Lebensverhältnisse  in  der  Kürze  angegeben,  deren 
Hanptschriften,  so  wie  die  Ausgaben  derselben  aufgeführt  und  kurz 
charakterisirt  werden:  gewiss  eine  recht  erspriessliche  Zugabe  ge- 
rade für  diejenigen ,  für  welche  der  Verf.  überhaupt  seine  Schrift 
bestimmt  hat;  der  Rest  der  Anmerkungen  etwa  von  Nr.  74  an 


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Opel:  MHtheilungen  d<*  Thllrfng.  Sächs.  Vereins.  Bd.  XI.  745 

(S.  187  ff.)  bringt  einzelne  Belege  zn  dem,  was  in  der  theoretischen 
Erörterung  des  Verf.  enthalten  ist,  indem  die  bezüglichen  Aeusse- 
rnngen  einzelner  Gelehrten  wörtlich  angeführt  werden,  da  dieselben 
um  die  Erörterung  nicht  zu  unterbrechen,  in  diese  selbst  nicht 
wohl  aufgenommen  werden  konnten.  Den  Nutzen  dieser  Mittbei- 
lungen wird  Niemand  verkennen.  Chr.  B&hr. 


Neue  Mittheilungen  aus  dem  Gebiet  historisch-antiquarischer  Forsch- 
ungen. Im  Namen  des  mit  der  königl.  Universität  Halle- 
Wittenberg  verbundenen  Thüringisch  -  Sächsischen  Vereins  für 
Erforschung  des  vaterländischen  Alterthums  und  Erhaltung 
seiner  Denkmale  herausoeaeben  von  dem  Secretär  desselben 
Rector  ./.  O.  Opel  Eilfter  Band.  Halle,  Bureau  des  Thü- 
ringisch-Sächsischen  Vereins.  Nordhausen,  in  Commission  bei 
Ferd.  Förstemann.  1867.  IV  und  522  S.  in  gr.  8. 

Der  vorliegende  Band  zeigt  eine  grosse  Reichhaltigkeit  und 
Mannichfaltigkeit  in  seinem  Inhalt,  der  nicht  blos  den  engern  Kreis 
betrifft,  welchem  der  Verein  zunächst  seine  Thätigkeit  gewidmet 
hat,  sondern  auch  die  Gränzen  dieses  nächsten  Kreises  überschrei- 
tend, nicht  Weniges  bringt,  was  eine  Bedeutung  für  die  Kenntniss 
deutscher  Zustände  in  früheren  Zeiten,  der  politischen  Geschichte, 
wie  der  Culturgeschichte  überhaupt  gewinnt  uud  kein  blos  örtliches 
Interesse  in  Anspruch  nimmt.  Es  wird  sich  diess  bald  heraus- 
stellen, wenn  wir  nur  in  der  Kürze  die  einzelnen  grösseren  oder 
kleineren  Aufsätze  und  Mitteilungen ,  welche  den  Inhalt  dieses 
Bandes  bilden,  hier  anführen,  wobei  wir  allerdings  der  Fürsorge 
des  leitenden  Secretiirs  dankbar  zu  gedenken  haben,  der  diese  ein- 
zelnen Mittheilungen  zu  einem  so  schönen  Ganzen  verbunden  und 
selbst  einige  der  werthvollsten  Aufsätze  beigesteuert  hat. 

Der  erste  Aufsatz  von  G.  A.  von  Mülverstedt  gibt  zu  der 
früher  im  neunten  Bande  gelieferten  Erörterung  Uber  den  sächsi- 
schen Rautenkranz  einen  weiteren  Beitrag,  welcher  zunächst  durch 
die  inzwischen  erschienene  Schrift  des  Fürsten  von  Hohenlohe- 
Waldenburg  über  denselben  Gegenstand  veranlasst  ward  (s.  diese 
Blätter  Jahrgg.  1864.  Nr.  10.  S.  148  ff.).  Der  letztere  bat  in  der 
andern  später  erschienenen  Abtheilung  dieses  Bandes  auch  darauf 
eine  Erwiederung  gegeben,  S.  515  ff.  in  der  er  bei  seiner  Ansicht 
beharrt,  dass  der  sächsische  Rantenkranz  ein  wirklicher  Laubkranz 
ist,  und  kein  ornamentirter  Strich  oder  Balken,  und  geht  diess 
auch  aus  der  beigefügten  Abbildung  eines  Siegels  des  Herzog  Erich 
von  Sacbsen-Lauenburg  aus  der  Zeit  von  1315— 1360  so  klar  her- 
vor, dass  billig  jeder  Zweifel  darüber  verschwinden  sollte.  Eben 
so  erklärt  sich  auch  dieser  grosse  Kenner  der  Heraldik  —  und 
man  wird  ihm  auch  hierin  nur  beistimmen  können,  gegen  die  An- 


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746 


Opel:  Mitteilungen  des  ThOring.  Sieht.  Vereins.  Bd.  XI. 


sieht,  welche  dieses  Wappenbild  in  dem  Sinne  eines  heraldischen 
Beizeicbens,  als  eine  Minderung  des  Stammwappens  auffasst,  da 
im  Gegentheil  in  dem  vorliegenden  Fall  eine  Mehrung  des  Wappens 
den  Verhältnissen  entsprechender  gewesen  wäre.  Wer  der  ein- 
gehenden, alle  die  hier  in  Betracht  kommenden  Punkte  so  gründ- 
lich erwägenden  Untersuchung  des  Fürsten  Hohenlohe  mit  Aufmerk- 
samkeit gefolgt  ist,  wird  auch  darüber  kaum  ein  Bedenken  haben 
können ;  er  wird  vielmehr  das  hier  gewonnene  Resultat  als  ein 
wohlbegründetes  und  sicheres  zu  betrachten  haben-  Es  folgt  nun 
Otto  von  Guericke's  Bericht  an  den  Magistrat  von  Magdeburg  über 
seine  Sendung  nach  Osnabrück  und  Münster  1646 — 1647;  wir  ver- 
danken diese  Mittheilung  dem  Herrn  Opel ,  von  dessen  eigenen 
worthvollen  Beiträgen  wir  hier  anführen  die  Notizen  zur  Eroberung 
Magdeburgs  durch  Tilly,  die  Visitationsakten  der  Universität  Wit- 
tenberg ans  den  Jahren  1614  und  1624;  die  Chronik  des  St.  Cla- 
renklosters  zu  Weissenfeis.  Zur  Kunde  der  geistliehen  Verhältnisse 
des  Landes  Baruth  als  eines  abgesonderten  Bestandteiles  der  magde- 
burger  Diöcese  dienen  die  Mittbeilnngen  von  Ed.  Jakobs  S.  95  ff 
so  wie  die  Nachrichten  über  die  Bibliothek  und  das  Archiv  des 
Klosters  Ilsenburg;  eben  so  beachtenswert  erscheinen  die  Wetti- 
nischen  Studien  von  Ad.  Cohn,  als  Beiträge  zur  Genealogie  des 
Sächsischen  Fürstenhauses,  ferner  das  zum  erstenmal  von  Q.  A.  v 
Mülverstedt  herausgegebene  Landrecht  von  Burg  (S.  159  —  169), 
das  alte  Merseburger  Todtenbuch  von  E.  Dümmler  S.  223  ff.  und 
die  Hallische  Lehntafel  von  W.  Wattenbach  S.  444  ff.  Auf  die 
musterhafte  Sorgfalt  und  kritische  Umsicht,  mit  welcher  diese 
Publikationen  hier  veranstaltet  sind,  brauchen  wir  wohl  kaum  noch 
besonders  aufmerksam  zu  machen.  Auf  die  Stadt  Halle  beziehen 
sich  weiter  die  »Hallensiac  von  E.  M.  Lambert  S.  425  ff.;  sie  ent- 
halten aus  einem  in  dem  Provincialarchiv  zu  Magdeburg  befind- 
lichen Aktenfascikel  mehrere  auf  die  Geschichte  der  Stadt  Halle 
im  Mittelalter  bezügliche  Dokumente  in  einem  erstmaligen  correcten 
Abdruck,  zuerst  (in  lateinischer  Sprache)  ein  die  Rechte  des  Erz- 
bisebofs,  des  Burggrafen  und  Schultheissen  an  der  niedera  Ge- 
richtsbarkeit zu  Halle  betreffendes  Aktenstück,  dann  (in  deutscher 
Sprache)  die  Statuten  der  sechs  alten  Innungen,  die,  wenn  auch 
die  vorliegende  schriftliche  Aufzeichnung  in  das  vierzehnte  Jahr- 
hundert fällt,  doch,  wie  hier  wahrscheinlich  gemacht  wird,  in  den 
Anfang  des  dreizehnten  oder  in  das  letzte  Jahrzehnt  des  zwölften 
Jahrhunderts  fallen;  an  dritter  Stelle  erfolgt  der  Abdruck  eines 
alten,  bisher  unbekannten  Thalrechtes  von  Halle,  ebenfalls  aus  dem 
vierzehnten  Jahrhundert  in  deutscher  Sprache.  Weiter  nennen  wir 
noch  die  aus  dem  städtischen  Archiv  zu  Braunschweig  (Scbmal- 
caldice  Bd.  21)  von  Dr.  G.  Schmidt  in  Haunover  mitgetbeilten 
gleichzeitigen  Berichte  über  Naumburg  und  Halle  im  Schmalkalder 
Kriege  S.  477  ff. ;  recht  interessant  sind  auch  die  zur  Geschichte 
der  Kleidertrachten  im  16.  und  17.  Jahrhundert  von  Dr.  M.  Heyne 


V 


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Opel:  Mittheilungen  de  Thüring.  Sächs.  Vereins.  Bd.  XI.  747 


gegebenen  Beiträge  S.  461  ff.,  entnommen  einem  alten  Innnngebnch 
der  Schneider  zn  Halle  vom  Jahre  1579;  es  sind  meist  Vorschriften, 
welche  auf  die  Fertigung  des  Meisterstückes  sich  beziehen.  Auf 
die  Stadt  Nordbausen  bezieben  sich  die  aus  dem  Nachlass  des 
Prof.  Dr.  G.  E.  Försteraann  von  Dr.  Th.  Perschmann  veröffent- 
lichte Nordhusana  S.  265  ff.,  welche  über  die  Juden  in  Nordbansen 
sich  verbreiten,  und  zwar  über  die  ältere  Geschichte  derselben, 
indem  die  Juden  schon  in  der  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  aus 
der  Stadt  vertrieben,  erst  im  Anfange  des  neunzehnten  (1808) 
wieder  aufgenommen  wurden :  daran  reiht  sich  eine  Besprechung 
über:  »Slaven  und  Fläminger  bei  Nordhausen  in  der  goldenen 
Aue«,  mit  einer  beigefügten  Abbildung  eines  der  ältesten  Denk- 
mäler dieser  Gegend,  es  ist  der  Pomai  Beg  in  Windhausen,  ein 
ziemlich  roh  ans  Holz  gefertigtes  Marienbild,  das  Maria  als  Mutter 
sitzend,  mit  dem  todtcn  Christuskind  auf  ihren  Knieen,  darstellt. 
Ueber  den  Verfasser  selbst  und  dessen,  zunächst  die  Stadt  Nord- 
hausen und  ihr  Gebiet  betreffende  literärische  Thätigkeit  ver- 
breitet sich  der  Herausgeber  näher  in  dem  Vorwort.  Auf  diese 
Nordhusana  folgt  von  S.  289  —  834  ein  längerer  Aufsatz  von  Gust. 
Sommer :  Archäologische  Wanderungen  in  den  königl.  preuss.  land- 
räthlichen  Kreisen  Zeitz,  Weissenfeis  und  Merseburg,  unternommen 
während  der  Jahre  1856  bis  1866.  Der  Inhalt  dieses  Aufsatzes 
zerfällt  in  zwei  gleich  interessante  Theile:  I.  Allgemeines.  II.  Ein» 
zelnes.  In  dem  ersteren  Theile  ergebt  sich  der  Verf.  über  die 
Beschaffenheit  der  Landschaft  im  Allgemeinen ,  und  das  Verhält- 
niss  des  jetzigen  Zustandes  zu  dem  frühem,  dessen  Spuren  immer 
seltener  geworden  sind,  so  dass  auch  das  Alterthümliche  der  frü- 
heren Feldeintheilung  immer  mehr  verschwindet ;  nachdem  Uber 
Hünengräber  Einiges  bemerkt  worden ,  verbreitet  sich  die  Darstel- 
lung insbesondere  über  die  Anlage  der  Dörfer,  deren  Namen  mehr 
oder  minder  auf  Niederlassungen  von  Slaven  (Sorben- Wenden) 
zurückführen,  zu  welchen  im  Ganzen  nur  wenig  Deutsche  hinzuge- 
kommen sind.  Plan  und  Anlage  dieser  Dörfer,  der  Bau  der  Woh- 
nungen u.  dgl.  wird  besprochen  und  selbst  durch  beigefügte 
Abrisse  klar  gemacht,  es  wird  gezeigt,  wie  dieses  Volk  »in  seiner 
vorzugsweise  der  Landwirtschaft  ergebenen  Beschäftigung  ein  durch 
und  durch  praktisches  Volk,  mit  Umsicht  die  brauchbarsten,  pas- 
sendsten Plätze  für  Ansiedelungen  wählte  und  die  Höfe  auf  Grund 
seiner  socialen  Lebensweise  ziemlich  constant  nach  denselben  durch 
Alter  und  Bewährung  geheiligten  Gesetzen  rund  um  einen  in  der 
Regel  mit  einem  kleinen  Teiche  versehenen,  freigelassenen  Dorf- 
platz gruppirte,  nur  einen  einzigen  Zugang  von  der  in  einiger  Ent- 
fernung daran  führenden  Strasse  uns  enthaltend,  welcher  im  ge- 
meinen Leben  mit  »Sackgasse«  bezeichnet  wird.«  In  dem 
andern  Theile  durchgeht  der  Verf.  die  einzelnen  Ortschaften  der 
genannten  Landrathsbezirke,  und  verbreitot  über  die  (meist  auf 
das  Wendische  zurückführenden)  Namen  derselben,  so  wie  über  die 


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748 


Meyer  v.  Knonau:  Die  Bedeutung  Karls  des  Grossen. 


Eigentümlichkeiten  derselben  in  Bezug  auf  Anlage,  Baulichkeiten 
zumal  Kirchen,  und  werden  stets  die  Spuren  des  Wendiscben  nach- 
gewiesen Wir  tibergehen  einige  andere  Mittbeilungen  antiquarischer 
Art,  welche  noch  weiter  in  diesem  Bande  enthalten  und  t  heilweise 
selbst  mit  Abbildungen  begleitet  sind  ;  wir  denken,  dass  das,  was 
hier  über  Inhalt  und  Gegenstand  dieses  Bandes  bemerkt  ist,  ge- 
ntigen wird ,  die  Freunde  vaterlandischer  Forschung  auf  diese 
Erscheinung  aufmerksam  zu  machen  und  Allen  denen,  welche  dazu 
beigesteuert,  die  gebührende  Anerkennung  zu  sichern. 


Ueber  die  Bedmlung  Karls  des  Grossen  für  die  Entwicklung  der 
Geschichtschreibung  im  neunten  Jahrhundert,  Probevorlesung, 
gehalten  am  22.  Dezember  IH6G  zum  Behuf  der  Habilitation 
an  der  Hochschule  Zürich  von  Gerold  Meyer  von  Kno- 
nau  Dr.  phil.  Zürich,  gedruckt  bei  Friedrich  Schullhess.  1667. 
24  S.  in  gr.  8. 

Der  Verf.  dieses  Vortrags  hat  es  unternommen,  in  frischen 
und  lebendigen  Ztigen  die  Entwicklung  der  Geschichtschreibung 
unter  Karl  dem  Grossen  und  der  auf  ihn  zunächst  folgenden  Zeit 
darzustellen ,  und  auf  diese  Weise  eine  im  Allgemeinen  gehaltene 
Schilderung  der  einzelnen  Geschichtschreiber  dieser  Periode  zu 
geben.  So  stellt  sich  hier  uns  in  ihren  Folgen  Eine  Seite  der  Be- 
mühungen Karls  des  Grossen  um  die  Wiedererweckung  der  Wissen- 
schaft und  deren  erneuerte  Pflege  dar,  welche  der  Verf.  mit  sicht- 
barer Vorliebe  schildert  und  in  einem  fast  zu  günstigen  Lichte 
erscheinen  lässt.  Als  den  Ausgangspunkt  aller  dieser  Bemühungen, 
und  damit  auch  der  wieder  erstehenden  Geschichtscbreibung  be- 
trachtet der  Verf.  die  von  diesem  Herrscher  gegründete  Hofschule 
(Schola  Palatina) ;  und  wenn  man  im  Allgemeinen  auch  diess  wollte 
gelten  lassen,  so  dürften  sich  doch  dafür  im  Einzelnen  schwerlich 
bestimmte  und  genügende  Zeugnisse  beibringen  lassen,  da  bekannt- 
lich unsere  Nachrichten  über  diese  Hochschule  sehr  dürftig  sind, 
am  wenigsten  aber  der  Art  sind,  um  solche  Folgerungen  daraus 
zu  gestatten.  Wo  findet  sich  z.  B.  ein  Beweis  für  den  S.  10  hin- 
gestellten Satz,  dass  ein  Hauptbestandtheil  der  Leistungen  dieser 
Hochschule  auf  dem  historischen  Felde  zu  suchen  sei,  oder  für  den 
8.  12  hingestellten  Satz,  dass  von  Karl  die  Anregung  zu  einer 
Reichsannalistik  ausgegangen,  welche  durch  Einhard  zur  Kunstform 
erhoben  worden,  in  dessen  Arbeit  sich  dessen  eigene  stylistisebe 
Fortschritte,  Folgen  des  Einflusses  der  Hochschule  (?),  noch  sollen 
erkennen  lassen.  Dahin  gehört  auch,  wenn  z.  B.  S.  16  Einharde 
Leben  Karls  des  Grossen  »in  formaler  Hinsicht  der  Triumph  der 
Latiuität  der  Hochschule t  (ist  uns  über  diese  auch  nur  Irgend 
Etwas  bekannt?)  genannt  wird,  »wo  nicht  blos  wie  eine  Verklei- 


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Weidner:  Quellenbuch  für  alten  Geschichte 


dung  für  deutsch  gedachte  Sätze  fremde  Worte  erscheinen,  sondern 
in  dem  die  fremde  Sprache  selbst  im  Dienste  des  Schreibenden 
auftritt«  u.  s.  w.  Auch  wird  mau  dabei  nicht  übersehon  dürfen 
dass  in  jener  Zeit  mit  den  Cathedralsitzen  wie  mit  angesehenen 
Abteien  bereits  Schulen  verbunden  waren,  in  welchen  ein  ähnlicher 
Unterricht  zur  wissenschaftlichen  Bildung  gegeben,  die  (römischen) 
Classiker  gelesen  und  die  sieben  Künste  gelehrt  wurden;  in  Süd- 
frankreich hatte  sich,  wie  manche  Spuren  beweisen,  ohnehin  noch 
ein  Rest  altrömischer  Bildung  erhalten,  der  nun  neue  Stärkung 
erhielt,  ^ian  wird  daher  bei  manchen  einzelnen  Angaben  und  Be- 
hauptungen, die  hier  mit  aller  Sicherheit  und  Gewissheit  vorge- 
tragen werden,  doch  eine  gewisse  Vorsicht  anzuwenden  haben,  um 
sich  nicht  von  der  glänzenden  Darstellungsweise  des  Verf.  forl- 
reissen  zu  lassen:  so  sehr  man  auch  geneigt  ist  anzuerkennen,  in 
welcher  beredten  Weise  hier  die  grossen  Verdienste  Karls  des 
Grossen  um  die  Förderung  oder  vielmehr  Wiedererweckung  wissen- 
schaftlicher Pflege  und  Bildung  hervorgehoben  werden.  Auf  Ein- 
zelnes weiter  einzugehen  unterlassen  wir,  zumal  als  wir  nicht 
manche  der  allzu  günstig  ausgefallenen  Urtheile  unterschreiben 
möchten,  die  über  einzelne  Schriftsteller  dieser  Zeit  hier  gefällt 
werden,  und  allerdings  den  mehr  panegyrisch  gehaltenen  Vortrag 
des  Verfassers  kennzeichnen. 


Historisches  Qmllenbuch  zur  allen  Geschichte  für  obere  Gymnasial- 
klassen.  IL  Abiheilung.  Römische  Geschichte,  bearbeitet  von 
Fr.  A.  Weidner ,  Conre.ctor  am  Domgymnasium  in  Merse- 
burg. Leipzig,  Druck  und  Verlag  von  B.  G.  Teubner.  1807: 
Erstes  Heft.  VI  u.  141  S.  Zweites  Heß  IV  u.  214  8.  in  gr.  8. 

Dass  das  Verständniss  der  alten  Geschichte,  wie  es  der  ge- 
schichtliche Unterricht  auf  unsern  Gymnasien  erzielen  soll,  durch 
die  Leetüre  der  betreffenden  Abschnitte  der  alten  Historiker  wesent- 
lich gefördert  wird,  und  es  daher  räthlich  ist,  aut  die  Quellen 
selbst  zurückgehen  und  aus  ihnen  die  geschichtlichen  Thatsachen, 
so  wie  selbst  deren  innern  Zusammenbang  kennen  zu  lernen,  wird 
Niemand  bestreiten  wollen,  Niemand  aber  auch  verkennen,  dass 
die  praktische  Anwendung  dieses  Satzes  eine  natürliche  Gränze  in 
der  ungemeinen  Ausdehnung  des  zu  beachtenden  Stoffes  findet,  in 
so  fern  man  von  der  Schule  nicht  erwarten  kann ,  dass  sie  auf 
diese  Weise  ihre  Schüler  mit  der  alten  Geschichte  in  ihrem  Ge- 
8ammtumfang  bekannt  mache,  auch  wenn  es  sich  nur  um  die  grie- 
chische und  römische  Geschichte  handelt.  Es  wird  sich  aber  auch 
hier  nur  um  einzelne  wichtige  Partien  handeln,  welche  auf  diesem 
Wege  der  Erkenntniss  des  Schülers  näher  gebracht  werden  können. 
Und  von  diesem  Standpunkt  aus  wird  sich  auch  das  vorliegende 


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760 


Weidner:  Quellenbuch  tur  alten  Geschichte. 


Quellenbach  in  der  reichen  Auswahl  die  es  bietet,  dem  Lohrer 
empfehlen,  der  mit  dem  geschichtlichen  Unterricht  die  Lectüre 
einzelner  Abschnitte,  so  weit  nur  immer  die  Zeit  ausreicht,  in 
zweckmässiger  Weise  zu  verbinden  versteht.  Allerdings  wird  der 
Schüler  schon  eine  gewisse  Fertigkeit  und  Gewandtheit  in  dein 
Lateinischen  wie  Griechischen  erlangt  haben  müssen ,  um  die  hier 
rein  nach  historischen  Rücksichten  zusammengestellten  Lesestücke 
ohne  besonderen  Anstoss  zu  lesen,  indem  das  Grammatisch-Sprach- 
liche mehr  in  den  Hintergrund  tritt,  so  sehr  auch  das  richtige 
Verständniss  von  der  sprachlich-grammatischen  Auffassung  bedingt 
ist.  Wir  können  daher  hier  kaum  an  eine  andere  Ülasse,  als  die 
oberste  unserer  Gymnasien  und  an  eine  andere  Loctüre,  als  die 
cursorische  denken,  die  indessen  bei  Schriftstellern,  wie  Polybiu?, 
Flutarcbus  oder  Appian,  und  selbst  bei  Livius  in  Manchem  doch 
ihre  eigenen  Schwierigkeiten  hat,  wiewohl  6ie  auf  der  andern 
Seite  beitragen  kann,  den  geübteren  Schüler  mit  Schriftstellern 
bekannt  zu  machen,  welche  sonst  nicht  auf  Schulen  gelesen  zu 
werden  pflegen.  Der  Herausgeber  selbst  scheint  auch  bei  seinem 
Unternehmen  zunächst  Schüler  der  obersten  Classe  in's  Auge  ge- 
fasst  zu  haben,  da  er  ausdrücklich  verlangt,  ein  Primaner  solle  es 
dahin  bringen,  den  griechischen  oder  lateinischen  Text  eines  Histo- 
rikers als  Etwas  Bekanntes  und  Heimisches  zu  begrtissen  und  zu 
erfassen  (S.  IV).  Ob  indess  einer  solchen  Forderung  allerwärts 
entsprochen  werden  dürfte,  ist  eine  andere  Frage,  die  wir  kaum 
zu  bejahen  vermögen,  znmal  angesichts  der  vielen  andern  Anfor- 
derungen, die  man  jetzt  an  einen  Primaner  zu  stellen  pflegt,  wel- 
cher, wie  man  sich  jetzt  auszudrücken  beliebt,  auch  den  Anforde- 
rungen der  Zeit  (!)  genügen  soll.  Um  so  mehr  wünschen  wir  dem 
Herausgeber  solche  Schüler,  die  durch  ihn  zu  dem  bezeichneten 
Ziele  gelangen  können. 

Was  die  Einrichtung  dieses  Quellenbuches  betrifft,  so  enthält 
das  erste  Heft  zunächst  Lesestücko  aus  Livius,  welche  die  römische 
Geschichte  von  Romulus  an  bis  auf  Pyrrhus  incl.  behandeln  und 
kann  das  Ganze  hiernach  auch  als  eine  zu  historischen  Zwecken 
wohl  zu  benutzende  Chrestomathie  aus  Livius  betrachtet  werden, 
indem  nur  einmal  aus  Ovid  Fast.  II,  687  —  852  die  schöne  Schil- 
derung über  den  Sturz  des  Königthums,  und  ein  andermal  bei  der 
Verfassung  des  Servius  Tullius  die  betreffende  Darstellung  ans 
Dionysius  von  Halicarnass  eingeschaltet  ist;  dieses  und  das  letzte 
Lesestück,  welches  den  tarentinischen  Krieg  und  Pyrrhus  enthalt, 
aus  Plutarch's  Leben  des  Pyrrhus  entnommen,  sind  die  einzigen 
griechischen  Stücke  dieses  Heftes.  Unter  dem  Texte  finden  sich 
kurze  deutsche  Bemerkungen,  welche  in  schwierigen  Fällen  dem 
Schüler  nachhelfen,  oder  in  sachiieheu  Punkton  die  nöthige  Auf- 
klärung geben  sollen:  bei  dem  griechischen  Lesestück  sind  diese 
Bemerkungen  etwas  ausführlicher,  was  in  der  grösseren  Schwierig- 
keit, die  dieser  Text  dem  Schüler  bietet,  wohl  seiuen  natürlichen 


uigiiizea  uy  Vjüo 


Oft erd Inger:  Beiträge  i.  Geschichte  d.  Mathematik  in  Ulm.  751 


Grund  hat.  Das  zweite  Heft  führt  in  ähnlicher  Weise  die  römische 
Geschichte  fort  bis  zur  Zerstörung  Carthago's  und  zu  dem  Ende 
des  dritten  punischen  Krieges ;  die  Lesestücke,  welche  den  ersten 
punischen  Krieg  betreffen,  sind  aus  dem  ersten  Buch  des  Polybius 
sämmtlich   genommen ;    die    des  zweiten  punischen  Krieges  aus 
Livius,  mit  einziger  Ausnahme  der  Beschreibung  der  Schlacht  bei 
Carinii,  die  aus  dem  dritten  Buche  des  Polybius  gezogen  ist,  da- 
gegen die  Belagerung  und  Eroberung  von  Syracus,  das  Schicksal 
Capna's,  die  Schlacht  bei  Zama  und  das  Gespräch  des  Hannibal 
und  Scipio  u.  A.  aus  Livius,  wobei  jedoch  in  den  Anmerkungen 
auch  die  betreffenden  Stellen  des  Polybius,  der  Vergleichung  wegen, 
wörtlich  angeführt  werden.    Man  kann  übrigens  aus  diesen  An- 
führungen ersehen,  dass  die  von  dem  Herausgeber  getroffene  Aus- 
wahl hervorragende  und  wichtige  geschichtliche  Momente  betroffen 
bat,  die  durch  Inhalt  wie  durch  die  Darstellung  das  Interesse  des 
Schülers  steigern.  Die  beiden  folgenden  Abschnitte,  der  zweite  mace- 
donische  Krieg  (200 — 196  v.Chr.)  und  der  syrische  Krieg  (192  — 
189)  enthalten  lauter  Stücke  aus  Livius,  mit  Ausnahme  des  letzten 
Lesestückes,  welches  den  Frieden  mit  Antiochus  betrifft  und  mit 
der  Erzählung  des  Livius  auch  die  des  Polybius  verbindet.  Der 
fünfte  Abschnitt,  welcher  den  dritten  macedonischen  Krieg  befasst, 
ist  ganz  aus  Stücken  des  Livius  gebildet,  der  sechste  und  letzte, 
welcher  deu  dritten  punischen  Krieg  enthält ,  aus  Appian  in  zwei 
Abschnitten,  von  welchen  der  eine  die  Lage  und  Befestigung  Car- 
thago's, der  andere  die  Eroberung  und  Zerstörung  desselben  bringt; 
zur  besseren  Orientirung  ist  auch  ein  ganz  netter  Plan  von  Car- 
thago  beigefügt.    Im  Uebrigen  ist  Einrichtung  wie  Behandlung 
ganz  gleich  den  Lesestücken  des  ersten  Heftes.    Und  so  mag  das 
Ganze  für  den  oben  bemerkten  Gebrauch  empfohlen  werden.  Druck 
und  Papier  sind  ganz  befriedigend. 


Beiträge  zur  Geschichte  der  Mathematik  in  Ulm  bi9  zur  Mitte  des  XVII. 
Jahrhunderts^  von  Professor  Dr.  L.  F.  Ofterdinger  (Pro- 
gramm des  Gymnasiums  von  Ulm)  1867.  Druck  der  Wagner- 
sehen  Buchdruckerei  (J.  A.  Walter).  12  8.  in  gr.  4. 

Da  in  den  freien  deutschen  Reichsstädten  frühzeitig  Handel 
und  Gewerbe  blühte,  so  ward  auch  dadurch  frühzeitig  eine  Pflege 
mathematischer  Studien  hervorgerufen,  welche  selbst  zur  Gründung 
mathematischer  Schulen,  wie  diess  in  Ulm  der  Fall  war,  führten. 
Der  Verf.  dieser  Schrift  beabsichtigt  nun  in  ähnlicher  Weise,  wie 
diess  von  Nürnberg  in  den  1730  erschienenen  Nachrichten  Doppel- 
maiers  über  die  Nürnberger  Mathematiker  und  Künstler  geschehen 
ist,  die  Mathematiker,  welche  Ulm  hervorgebracht,  und  welche 
theils  in  ihrer  Vaterstadt,  theils  auswärts  wirkten,  namentlich  als 


752     Ofterdinger:  Beiträge  %.  Geschichte  d.  Mathematik  in  Ulm. 

Lehrer  in  Norddeutschland ,  zu  Leipzig,  Wittenberg  u.  A.  aufzu- 
führen, und  die  Leistungen  eines  jeden,  insbesondere  die  von  ihm 
verfassten  Schriften  zu  verzeichnen.  Er  beginnt  mit  drei  Mathe- 
matikern, deren  Thätigkeit  noch  vor  die  Reformationszeit  fällt 
J.  Engel  (f  1411),  J.  Pflaum  und  G.  Precelhus;  mit  dem  Refor- 
mationszeitalter beginnt  eine  eifrigere  Pflege  der  Mathematik  iu 
den  Schulen,  wie  diess  auch  Melanchthon's  Rath  verlangte;  ein 
Zeitgenosse  und  Freund  desselben,  aus  Ulm,  Michael  Stiefel, 
der  in  hohem  Alter  1567  zu  Jena  starb,  war  ein  Hauptbeforderer 
mathematischer  Studien ;  ihm  reihen  sich  mehrere  andere  an ,  bis 
auf  Johann  Faulhaber,  der  als  ein  bedeutender  Mathematiker  sei- 
ner Zeit  erscheint  und  auch  als  Ingenieur  grossen  Ruf  hatte;  er 
war  es,  der  die  Recheuschule  in  Ulm  zu  einer  wahren  mathema- 
tischeu  Schule  und  dabei  zugleich  zu  einer  Artillerie-  und  Ingenieur- 
schule erhob.  Und  neben  ihm,  der  1635  von  der  Pest  dahinge- 
rafft ward,  wirkten  noch  einige  andere  tüchtige  Männer,  welche 
hier  ebenfalls  aufgeführt  und  nach  ihren  Leistungen  gewürdigt 
werden.  Faulhaber  selbst  war  der  Sohn  eines  Webers  und  hatte 
sich  von  dem  Handwerke  des  Vaters,  das  er  erlernt,  durch  eigene 
Thätigkeit  die  wissenschaftliche  Bildung  gewonnen,  die  ihm  in  jener 
Zeit  ein  so  grosses  Ansehen  verlieh  und  Ulm  zu  einem  Vereinigungs- 
punkt vieler  Mathematiker  damals  machte.  Der  Verf.  hat  daher 
mit  aller  Genauigkeit  die  einzelnen  zahlreichen  Schriften  dieses 
Mannes,  die  in  ihren  ausführlichen  Titeln  auch  meist  schon  ihren 
Inhalt  zu  erkennen  geben,  so  weit  sie  im  Druck  erschienen  sind, 
verzeichnet,  und  lässt  dann  eine  eingehende  Betrachtung  über  die 
Verdieuste  desselben  folgen,  die  eben  so  sehr  in  der  Ausbreitung 
der  mathematischen  Wissenschaft  überhaupt  als  in  der  Entwick- 
lung einzelner  Theile  derselben  liegen ,  wie  denn  Faulhaber  insbe- 
sondere bemüht  war,  neuer  Entdeckungen  sich  zu  bemächtigen,  sie 
näher  zu  entwickeln  und  in  weitere  Kreise  zu  führen:  diesB  wird 
im  Einzelnen  hier  nachgewiesen:  eine  Reihe  vou  Mathematikern, 
die  von  ihm  abstammten,  und  in  Ulm  bis  zu  Ende  des  achtzehn- 
ten Jahrhundert  den  Ruhm  ihres  Ahnen  aufrecht  erhielten,  wird 
in  der  Einleitung  noch  genannt. 

Es  erhellt  aus  diesem  Bericht,  dass  der  Verf.  einen  anerken- 
nenswerthen  Beitrag  zur  Culturgeschichte  seiner  Vaterstadt,  wie 
überhaupt  zur  Geschichte  der  mathematischen  Studien  in  Deutsch- 
land gegeben  hat,  und  wird  man  daher  mit  Verlangen  der  weite- 
ren Fortsetzung  dieser  Beiträge  in  der  Schilderung  der  späteren 
Mathematiker  Ulms  entgegensehen,  zumal  die  Forschung  mit  aller 
Gründlichkeit  und  Genauigkeit  geführt  ist. 


uigiuzec  uy  Vjüü 


Sp.  48.  HEfDElBERGiER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Die  Weltgeschichte  für  höhere  Schulen  und  Selbstunterricht  über- 
sichtlich dargestellt  von  Dr.  Karl  Kiesel,  Director  des  Gym- 
nasiums su  Düsseldorf.  Zweiter  Band:  die  christliche  Zeit. 
Erste  Abtheilung:  die  fünfsehn  ersten  Jahrhunderte.  Zweite 
Abtheilung:  die  vier  letsten  Jahrhunderte.  Zweite  verbesserte 
Auflage.  Freiburg  im  Breisqau.  Herder'sche  Verlagsbuchhand- 
lung 7867.  A7  und  VIII.  1402  S.  in  gr.  8. 

Von  dem  ersten  Bande  dieser  Weltgeschichte  in  ihrer  erneuer- 
ten und  verbesserten  Auflage  ist  in  diesen  Jahrbüchern  1866.  Nr.  13 
S.  193  ff.  ein  eingehender  Bericht  erstattet  und  der  Charakter  wie 
das  Ziel  dieses  Werkes  näher  angegeben  worden.  Es  unterscheidet 
sich  dasselbe  von  andern  ahnlichen,  wie  sie  unsere  Literatur  be- 
sitzt, durch  das  Festhalten  an  dem  christlichen  Standpunkt,  wel- 
cher auch  die  Abtheilung  des  Ganzen  in  zwei  Bünde,  von  welchen 
der  eine  die  vorchristliche,  der  andere  die  christliche  Zeit  behan- 
delt, veranlasst  hat.    Wenn  in  dem  ersten  Bande,  wie  a.  a.  0. 
bemerkt  ward,  die  Darstellung  sich  streng  an  die  Quellen  halt, 
durchweg  auf  positivem  Grunde  ruht,  und  alles  Spiel  mit  unsichern, 
oder  wie  man  es  jetzt  zu  nennen  beliebt,  geistreichen  Combinatio- 
nen  und  Vermuthungen  vermeidet,  durch  wolche  die  Lücken  aus- 
gefüllt oder  die  Berichte  der  Alten  nach  der  eigenen  subjectiven 
Anschauung  gemodelt  werden,  wenn  eine  christliche  Anschauung 
und  Auffassung  der  einzelneu  Ereignisse  wie  des  ganzen  geschicht- 
lichen Verlaufs  in  der  vorchristlichen  Zeit  vorwaltet,  so  konnte 
man  schon  erwarten,  dass  dieser  Standpunkt  in  dem  zweiten  Bande, 
der  in  seinen  beiden  Abtheilungen  die  Geschichte  von  den  römi- 
schen Kaisern,  zunächst  von  Caligula  und  Claudius  an  bis  auf 
unsere  Zeit,  d.  h.  bis  zu  dem  Schluss  des  Jahres  1866  fortführt, 
nicht  verlassen  werde;  aus  den  diesen  Band  einleitenden  Bemer- 
kungen tibor  den  Gang  und  die  Gliederung  der  christlichen  Ge- 
schichte wird  diess  aber  auch  zur  Gentige  ersichtlich.  Im  Uebrigen 
wird  man  auch  in  diesem  Bande  nirgends  die  ruhige  Darstel- 
lung und  die  besonnene  Haltung  vermissen,  welche  schon  bei  dem 
ersten  Bande  hervorgehoben  ward  und  welche  in  dieser  Fortsetzung, 
wo  der  Gegenstand  auch  gewissermassen  näher  liegt,  überall  so 
sehr  anspricht.    In  den  einleitenden   Bemerkungen  zeichnet  der 
Verfasser  trefflich  die  Lage  des  römischen  Reichs,  die  verschiede- 
nen Bemühungen,  den  Bestand  desselben  zu  erhalten,  im  Innern 
gegen  Willkür  zu  schützen  und  nach  Aussen  gegen  die  zerstörende 
Macht  der  Rohheit  zu  vertheidigen ;  aber  er  zeigt  auch  das  Ver- 
LIX.  Jahrg.  tO.  Heft.  48 


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764 


Kiesel:  Weltgeschichte.  2.  Bd. 


gebliche  dieser  Bemühungen,  welche  »dem  Reiche  das  Leben  fristen 
sollten,  damit  es  in  allmähligem  Verfall  die  Kraft  zum  Widerstand 
gegen  die  neue  Weltordnung  verliere  und  die  Kraft  zur  Ueberlieferung 
seiner  Civilisation  bewahre.  Der  Verfall  entscheidet  sich,  sobald 
das  Reich,  die  von  dem  Ghsistenthum  gemachten  Fortschritte  ge- 
wahrend, sich  gegen  dieses,  als  seinen  Feind  zur  Wehre  setzt.  Ein 
nie  erlebtes  Schauspiel,  den  Anbruch  einer  neuen  Zeit  in  wunder- 
barer Weise  bezeugend,  eröffnet  sich  ein  Kampf,  in  welchem  der 
Duldende  siegt.  Das  grosste  Reich,  das  je  bestanden,  mit  geord- 
neten Mitteln  der  Gewalt,  wie  keines  ausgestattet,  bricht  zusam- 
men unter  den  Schlagen,  die  es  auf  den  in  seinem  Innern  erstan- 
denen wehrlosen  Gegner  führt.  Aus  dem  Blute  der  zur  Rettung 
des  Heidenthums  Geopferten  steigt  die  christliche  Kirche  empor, 
durch  die  Art  ihres  Entstehens  für  alle  Zeiten  der  Geschichte  Zeug- 
niss  davon  gebend,  was  der  Menschen  Meinung  gegen  Gottes  Willen, 
was  die  Gewalt  gegen  die  Wahrheit  vermag.  c 

In  diesem  Sinne  nun  wendet  sich  der  Verf.  an  die  Darstel- 
lung des  Einzelnen,  indem  er  in  dem  nächsten  Abschnitt  die  Ge- 
schichte des  römischen  Reiches  unter  den  Imperatoren  bis  zu  den 
Anfängen  germanischer  Herrschaft  in  Italien  durchführt,  am  Schlüsse 
auch  das  Verhältniss  der  Kirche  zu  der  Staatsgewalt,  so  wie  die 
kirchliche  Veifassung  selbst  zur  Zeit  des  Untergangs  des  west- 
lichen Reiches  bespricht,  um  dann  in  dem  folgenden  dritten  Ab- 
schnitt das  oströmische  Reich  bis  gegen  Ende  des  achten  Jahr- 
hunderts, die  Ostgothen  und  die  Longobarden  zu  schildern.  Der 
vierte  Abschnitt  hat  die  Geschichte  der  Araber  bis  zu  dem  oben 
bemerkten  Zeiträume,  so  wie  die  der  Westgothen  zum  Gegenstand, 
der  fünfte  das  fränkische  Reich  bis  auf  Karl  den  Grossen.  Diesen 
und  seinen  Nachfolgern  ist  der  sechste  Abschnitt  gewidmet,  wel- 
cher die  Aufschrift  trägt:  das  karolingische  Reich.  Die  Bedeutung 
Karls  des  Grossen  und  seiner  grossartigen  Schöpfung,  seine  Ver- 
dienste um  Staat  und  Kirche,  seine  Gesetzgebung  und  Verwaltung, 
seine  Sorge  für  geistige  Bildung,  für  Unterricht  und  Wissenschaft, 
wird,  wie  sich  kaum  anders  erwarten  lässt,  in  gebührender  Weise 
hervorgehoben  und  im  Einzelnen  dargelegt.    Man  vgl.  z.  B.  nur 
S.  187  ff.  wie  das  Ergebniss  der  Kriege  Karls  des  Grossen  darge- 
stellt wird  und  wie  seine  auf  diese  Weise  gemachten  Eroberungen 
als  solche  betrachtet  werden,  welche  die  menschliche  Kultur  ge- 
macht, wie  das  Schwert,  mit  dem  sie  gemacht  worden,  überall 
im  Dienste  der  höchsten  Macht,  deren  Geltung  die  allein  sichere 
Gewähr  wahrer  Cultur  ist,  des  Christenthums,  gestanden  u.  s.  w., 
so  dass  das  neue,  durch  Karl  den  Grossen  geschaffene  Reich  wesent- 
lich ein  christliches  Reich  geworden.    Durch  die  Erneuerung  des 
weströmischen  Kaiserthums  ward  Karl  zum  Nachfolger  der  alten 
Imperatoren  und  Auguste  erklärt,  aber  zu  einem  Nachfolger,  dem 
die  inzwischen  durch  das  Christenthum  bewirkten  Veränderungen 
neue  Rechte  und  Pflichten  zutheilten.    In  welchem  Sinn  diess  zu 


Kiesel:  Weltgeschichte.  2.  Bd. 


755 


nehmen  ist,  wird  darauf  im  Einzelnen  gezeigt.  Wie  aber  der  Verf. 
im  Allgemeinen  diesen  Fürsten  auffasst,  namentlich  auch  in  seinem 
Verhältnis«  zu  den  drei  auf  ihn  folgenden  Jahrhunderten,  mag  am 
besten  aus  den  oben  erwähnten  einleitenden  Bemerkungen  ersehen 
werden,  wo  es  S.  6  heisst:  »Karl  der  Grosse  ist  ein  Held  der 
Christenheit.  Sein  Walten  zeugt  von  der  Erkenntniss,  dass  christ- 
liche Gesinnung  die  Grundlage  des  Staates  sein  muss  und  der 
Herrscherberuf  nur  in  Uebereinstimmung  mit  der  Kirche  zu  er- 
füllen ist.  Erobernd  vergrössert  er  mit  dem  fränkischen  Gebiete 
auch  das  Gebiet  des  Christenthums,  indem  seine  Eroberungen  den 
Boten  des  Glaubens  die  Wege  zu  heidnischen  Völkern  öffnen  und 
durch  das  Bestreben,  die  fränkische  Hoheit  über  die  Unterwortenen 
zu  behaupten,  zugleich  jedem  von  den  Anhängern  des  Heidenthums 
ausgebenden  Versuche  zu  dessen  Wiedererhebung  wehren  müssen. 
Dadurch  endlich,  dass  er  fttr  das  Abendland  die  römische  Kaiser- 
würde mit  der  Bedeutuug  eines  zugleich  den  Schutz  der  Kirche  in 
sich  schliessenden  Amtes  erneuert,  ist  eine  höchste  weltliche  Macht 
ganz  neuer  Art  geschaffen.  Es  ist  eine  Macht,  die  sich  dem  Papst- 
thum als  der  höchsten  geistlichen  Macht  zu  gemeinsamem  Wirken 
verbindet  und  so  die  doppelte  Pflicht  übernimmt,  der  geistlichen 
Gewalt  ein  freies  Walten  in  ihrem  Bereiche  zu  sichern  und  die 
weltliche  Gewalt  so  zu  gebrauchen,  dass  bei  allen  Entscheidungen 
und  Anordnungen  die  kirchlichen  Bücksichten  nicht  verletzt  wer- 
den. Indem  so  zu  einem  Gesammtstaate  der  Christenheit,  in  wel- 
chem alle  christlichen  Staaten  Glieder  bilden,  die  Grundzüge  ge- 
geben sind,  ist  zugleich  eine  grosse  Aufgabe  für  die  geistlichen 
und  weltlichen  Regenten  gestellt.  Sie  haben  fortan  das  in  diesen 
Grundzügen  Geforderte,  das  den  natürlichen  Verhältnissen  der  Völ- 
ker und  den  persönlichen  Vortheilen  der  Herrscher  in  vieler  Be- 
ziehung so  sehr  entgegen  sein  muss,  mit  der  nämlichen  Selbst- 
überwindung zu  verwirklichen,  mit  welcher  der  Einzelne  sich  aus 
dem  Menschen  zum  Christen  zu  machen  bestrebt  sein  soll.  Die  Be- 
mühungen, dieser  Aufgabe  zu  entsprechen,  so  wie  die  Störungen, 
welche  durch  Mangel  an  Erkenntniss  derselben  entstehen ,  bilden 
für  den  Kreis,  in  welchem  Karl  der  Grosse  gewaltet,  einen  grossen 
Theil  der  Geschichte  von  drei  mit  der  erneuerten  Kaiserwürde  be- 
ginnenden Jahrhunderten.« 

In  dem  siebenten  Abschnitt  wird  das  deutsche  und  das  römisch- 
deutsche  Reich  bis  zum  Ende  des  eilften  Jahrhunderts  behandelt, 
in  den  vier  folgenden  Frankreich,  England  und  der  Norden,  die 
Reiche  der  Moslemen  und  das  christliche  Spanien,  das  oströmische 
Reich  bis  zu  demselben  Zeitraum ;  dann  beginnt  im  zwölften  Ab- 
schnitt das  Zeitalter  der  Kreuzzüge  und  die  Bildung  des  Abend- 
landes in  dieser  Zeit;  die  Rückwirkung  der  Kreuzzüge  auf  das 
Abendland,  das  Ritterthum  wie  das  Mönchthum,  die  Ritterdichtung 
wie  die  Wissenschaft,  an  beides  sich  anlehnend,  werden  geschildert, 
und  dann  im  Einzelnen  das  römisch-deutsche  Reich.  Frankreich 


.Kiesel:  Weltgeschichte  2.  Bd. 


England  and  Spanien  während  dieser  Periode  in  den  beiden  folgen- 
den Abschnitten  behandelt.  Nnr  nngern  versagen  wir  es  nns,  aus 
der  Darstellung  Einzelnes  zur  Würdigung  des  Ganzen  hier  anzu- 
führen. Die  drei  folgenden  Abschnitte  behandeln  die  Geschichte 
der  beiden  nächsten  Jahrhunderte  nach  dem  Ende  der  Kreuzzüge. 
zuerst  die  des  römisch-deutschen  Reiches,  dann  die  Geschichte  von 
Frankreich  und  England,  zuletzt  von  der  pyrenäischen  Halbinsel, 
Soandinavien  und  Bussland. 

Die  zweite  Abtheilung  beginnt  mit  der  Erzählung  der  grossen 
Entdeckungen  zu  Ende  des  fünfzehnten  und  zu  Anfang  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts,  insbesondere  in  der  amerikanischen  Welt; 
zunächst  werden  aber  auch  die  Folgen  dieser  Entdeckungen  und 
der  Ansiedlungen,  die  daraus  hervorgingen,  erörtert,  so  dass  wir 
daraus  mit  die  Ereignisse,  die  sich  in  unsern  Tagen  dort  zugetra- 
gen, und  als  die  Folge  früherer  Zustände  zu  betrachten  sind,  uns 
zu  erklären  vermögen.  »Die  Ansiedelungen  der  Spanier,  lesen  wir 
S.  638,  beruhten  nicht  auf  dem  Ackerbau,  durch  welchen  Ansied- 
ler in  der  Fremde  heimisch  werden  und  sich  in  den  Schranken  ge- 
sitteten Lebens  zu  bewegen  lernen  oder  fortfahren,  nicht  auf  dem 
Handel,  der  zwar  die  Völker  in  Abhängigkeit  von  den  Ankömm- 
lingen bringen  kann,  aber  die  persönliche  Freiheit  bestehen  lässt 
und  in  steter  Berührung  die  höhere  Bildung  den  geistig  minder 
Ausgestatteten  allmählig  mittheilt.  Ihr  Zweck  war  die  unbedingte 
Herrschaft  und  die  unmittelbare  Hebung  der  Schätze  des  Landes 
zum  Nutzen  des  spanischen  Staates  und  zum  Nutzen  der  in  die 
neue  Welt  ausgewanderten  Spanier.  So  ward  der  Einbeimische 
auf  seinem  Boden  zum  Fremden  gemacht  und  hatte  daselbst  nur 
noch  in  sofern  Bedeutung,  als  er  dem  Spanier  zum  Werkzeuge  bei 
der  Gewinnung  des  Reichthums  diente.  Er  sank  daher  zu  einer 
Dienstbarkeit  herab,  die  ihn  zu  geistiger  Erhebung  unfähig  machte. 
Die  Härte  der  Arbeit,  die  ihm  in  Bergwerken  und  Pflanzungen 
auferlegt  wurde,  rieb  ihn  allmählig  auf  und  setzte  diejenigen,  welche 
durch  Entbehrung  und  Misshandlung  zur  Empörung  getrieben  wur- 
den, der  grausamsten  Bache  aus.  Die  Religion  aber,  die  sie  zu 
sich  einlud,  war  ihnen  die  Religion  ihrer  bartherzigen  und  ver- 
hassten  Dränger,  da  sie  nicht  wussten,  dass  diese  im  Widerspruche 
mit  ihrer  Religion  also  handelten.  Dazu  kam,  dass  in  Spanien 
selbst  die  Regierung  in  Betreff  der  Grundsätze,  nach  welchen  die 
Verhältnisse  der  neuen  Länder  geordnet  werden  sollten,  im  Schwan- 
ken war.«  Und  was  die  Rückwirkung  dieser  Entdeckungen  und 
Eroberungen  in  der  neuen  Welt  betrifft,  so  heisst  es  unter  Andern 
S.  634:  »Den  Wissenschaften,  welche  zu  jenen  Erfolgen  geführt 
hatten  und  zu  deren  vollständigerer  Benutzung  thätig  sein  mussten, 
ward  eine  allgemeinere  Pflege.  Noch  nie  hatte  die  Wissenschaft 
die  Fähigkeit,  auf  das  Leben  einzuwirken,  so  glänzend  bethätigt. 
Was  in  stiller  Znrückgezogenheit  erdacht  worden,  war  herausge- 
treten, der  Mensohheit  neue  Schätze  zu  erschliessen.    Ob  schon  die 


Kiesel:  Weltgeschichte.  2.  Bd. 


7ß7 


wissenschaftlichen  Mitte),  womit  dies  erreicht  worden,  schon  die 
vorige  Zeit  bereitet  hatte,  glaubte  man  sich  jetzt  plötzlich  weit 
Aber  die  Kenntnisse  der  bisherigen  Zeit  hinausgelangt.    Bei  dem 
Werthe,  den  die  Menschen  auf  Vermehrung  dessen,  was  zur  Er- 
leichterung und  Verschönerung  des  Labens  dient,  zu  legen  pflegen, 
richtete  sich  alle  Tbeilnahme  dahin ,  wo  jener  grosse  Fortschritt 
erzielt  worden  war.    Die  Wissenschaft  der  Natur  fing  daher  an, 
sich  auszubilden.    Wie  das  Dunkel,  das  über  einem  Theile  des 
Erdballs  gelegen  hatte,  verscheucht  war,  begründete  Copernicus  aus 
der  prenssiscben  Stadt  Tborn  mittelst  eines  Workes,  das  im  Jahre 
seines  Todes  1543  bekannt  wurde,  die  richtige  Ansicht  von  dem 
Verhalten  der  Erde  zur  Sonne.    Alle  diese  Fortschritte,  verbunden 
mit  der  ebenfalls  erst  jüngst  begründeten  Wissenschaft  des  Alter- 
thums und  der  damit  zusammenhängenden  Pflege  der  redenden 
Künste,  sowie  mit  den  zur  höchsten  Blüthe  gelangten  Künsten  des 
Pinsels  und  des  Meisseis,  bildeten  einen  Schmuck,  der  für  den  Ab- 
gang der  scholastischen  Wissenschaft  zu  entschädigen  schien.  Zwar 
blieb  hinsichtlich  der  auf  der  Erde  und  am  Himmel  gemachten 
Entdeckungen  die  grosse  Mehrheit  der  Menschen  auf  die  äussere 
Kunde  von  dem  letzten  Ergebniss  beschrankt,  aber  die  daraus 
fliessenden   Veränderungen   der  Lebensverhältnisse  Hessen  Jeden 
empfinden,  dass  jene  Entdeckungen  auch  für  ihn  gemacht  seien.« 
In  welcher  Weise  aber  auch  die  Stellung  der  einzelnen  Staaten  zu 
einander  davon  berührt  wurde,  wie  Handelsthätigkeit  und  Gewerbs- 
thätigkeit  hervortraten,  und  die  Kraft  des  Staates  auch  durch  das 
Zurücktreten  des  Adels  eine  andere  Grundlage  erhielt,  diess  und 
Anderes  mag  man  lieber  in  der  wohlgelungenen  Darstellung  selbst 
nachlesen. 

Die  geschichtliche  Darstellung  selbst  beginnt  mit  den  Kriegen 
in  Italien  und  der  Lage  des  deutschen  Reichs  am  Ende  des  fünf- 
zehnten und  zu  Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts ,  worauf  in 
den  beiden  folgenden  Abschnitten  (XX  und  XXI)  Kaiser  Karl  V. 
und  die  Kirchentrennung  in  Deutschland ,  dann  in  England ,  im 
Norden  nnd  in  Polen  folgt.  Abschnitt  XXII  hat  Spanien,  Deutsch- 
land und  Italien  zur  Zeit  Philipp's  II.  zum  Gegenstande,  Abschnitt 
XXIII  Frankreich  in  seinen  durch  die  Kirchentrennung  veranlass- 
ten inneren  Kämpfen,  Abschnitt  XXIV  den  Sieg  des  Protestantis- 
mus in  England  und  Schweden.  Eine  möglichst  unbefangene  Dar- 
stellung des  d  reissigjähr  igen  Krieges  gibt  der  folgende  Abschnitt, 
an  dessen  Schluss  auch  die  Kämpfe  Spaniens  mit  Frankreich  und 
den  Niederlanden ,  so  wie  der  schwedisch-polnische  Krieg  darge- 
stellt sind.  Auch  werden  die  innern  Angelegenheiten  Frankreichs 
und  die  Verwaltung  von  Richelieu  und  Mazarin  besprochen;  Ab- 
schnitt XXVI  behandelt  die  Staatsumwälzung  in  England ,  Ab- 
schnitt XXVII  setzt  die  Darstellung  der  französischen  Verhältnisse 
unter  Ludwig  XIV.  und  was  daran  sich  weiter  knüpft,  fort,  und 
befasst  die  Kriege  in  der  Pfalz,  wie  in  der  Türkei,  den  spanischen 


758 


Kiesel:  Weltgeschichte.  2.  Bd. 


Erbfolgekrieg,  den  nordischen  Krieg,  mit  besonderen  Bezng  anf 
Karl  XII.  Der  Verf.  bat  diesem  wichtigen  Abschnitt  die  Anfschrift 
gegeben:  »Die  Zeit  des  französischen  Uebergewicbtes  nnd  der  von 
den  Vorurtheiien  des  Handels  bestimmten  Staatskunst <  auch  in 
einem  einleitenden  Paragraphen  die  ganze  Richtung  des  französi- 
schen Staatslebens,  die  bestimmend  für  ganz  Europa  wurde,  sehr 
gut  auseinandergesetzt.  Er  zeigt,  wie  mit  der  Selbstregierung 
Ludwig's  XIV.  für  Frankreich  die  Zeit  völliger  Allgewalt  des  Königs 
beginnt,  dem  alle  Kräfte  des  Staats  unbedingt  zur  Verfügung  stehen, 
und  dem  gegenüber  jede  Vertretung  von  Ansprüchen  des  Staates 
(wir  denken  dabei  an  die  Worte  Tötat  c'est  moi)  aufhört,  und  wie 
für  Europa  eine  Zeit  französischen  Uebergewichts  beginnt,  das  sich 
in  allen  Verhältnissen  mehr  oder  minder  kund  gibt,  indem  bald 
Alles,  was  von  Frankreich  ausging,  eine  europäische  Bedeutung  ge- 
wann ,  sowohl  in  politischen  Dingen ,  wie  auf  dem  Gebiete  des 
Geistes,  in  der  Wissenschaft,  und  im  Gebiete  der  Sitte.  »Das 
Beispiel  des  französichen  Hofes  erschien  kleineren  Fürsten  auch 
nachahmungswerth  wegen  der  Höhe,  in  welche  dort  die  Person  des 
Herrschers  gestellt  war.  In  Deutschland  und  Italien  fehlte  es 
nicht  an  Fürsten,  welche  in  ihrem  Bestreben  nach  Steigerung 
fürstlicher  Gewalt  und  fürstlichen  Ansehens  eben  so  sehr  von 
Frankreich  her  Förderung  und  Schutz  erwarteten,  wie  die  Be- 
wunderung französischen  Glanzes  und  die  Neigung  für  französi- 
schen Genuss  die  Unterwürfigkeit  gegen  den  zu  Paris  in  der  Fülle 
von  Glanz  und  Genuss  thronenden  Herrscher  vorbereitete.«  Dabei 
verhehlt  der  Verf.  nicht  die  gefahrlichen  Folgen  dieser  von  Frank- 
reich auf  die  Geister  ausgehenden  Richtungen.  »In  dem  Masse, 
heisst  es,  wie  das  Jagen  nach  Gennss  allgemeiner  wurde,  musste 
der  christliche  Glaube  bei  Vielen  nicht  allein  an  Macht  zur  Ge- 
staltung des  Lebens  einbüssen,  sondernihnen  in  dem  Maasse  fremd 
werden,  dass  sie  eine  feindliche  Stellung  gegen  denselben  und  gegen 
die  ihn  bewahrende  Kirche  erhielten.  Die  Leiter  der  Staaten  aber 
wurden  einer  auf  Pflege  der  höchsten  menschlichen  Zwecke  gerich- 
teten Tbatigkeit  entfremdet.  Sie  wandten  sich  ausschliesslich  dem 
äusserlichen  Zwecke  einer  Vermehrung  des  Besitzes  nnd  der  Herr- 
schaft zu.  Es  entstand  ein  allgemeines  Ringen  nach  Erweiterung, 
Behauptung  und  Erwerbung  äusserer  Herrlichkeit.  Die  Gewinnung 
der  dazu  erforderlichen  Kräfte  wurde  ein  Hauptgegenstand  der 
Fürsorge  der  Regierenden.  Da  die  Leistungsfähigkeit  der  Unter- 
thanen  durch  Handelsthätigkeit  am  meisten  gesteigert  werden  konnte, 
wurden  die  Verhältnisse  des  Handels  für  die  Richtung  des  staat- 
lichen Lebens  eben  so  bestimmend,  wie  es  in  der  vorhergegangenen 
Zeit  die  religiösen  Angelegenheiten  gewesen  waren.  Dadurch  wur- 
den die  Länder  fremder  Erdtheile,  die  von  Ansiedlungen  europäi- 
scher Völker  besetzt  waren ,  mehr  und  mehr  in  die  Streitigkeiten 
derselben  hereingezogen.  Die  Kriege,  die  in  Europa  entbrannten, 
verbreiteten  sich  bei  der  Ausbildung,  welche  einzelne  derselben 


Kiesel:  Weltgeschichte.  2.  Bd. 


750 


ihrem  Seewesen  gegeben  hatten  oder  zu  geben  bemüht  waren,  auch 
über  die  Meere  bis  zu  jenseitigen  Küsten.«    Wie  bei  diesem  Eifer 
für  blos  äusserliche  Zwecke  die  Kirche  ihren  Einfluss  auf  das  staat- 
liche Leben  verlor,  wie  die  Staatsweisheit,  so  Viel  Neues  sie  auch 
ersann,  darüber  vergass,  dass  die  staatliche  Ordnung  Europa1  s  sich 
auf  kirchlichem  Grunde  aufgebaut,  und  dass  nur  auf  diesem  Grunde 
ihr  Bestehen  gesichert  war ,  und  wie  sich  so  eine  Umwälzung  der 
staatlichen  Verhältnisse,  die  in  der  französischen  Revolution  später 
ihren  vollen  Ausdruck  fand,  vorbereitete,  wird  gezeigt.    »Das  Be- 
streben ,  die  Kirche  in  ihrem  lange  an  den  Völkern  geübten  Er- 
zieheramte zu  beschränken,  und  dem  Geiste  persönlichen  Beliebens 
und  Dafürhaltens  eine  früher  nicht  gekannte  Berechtigung  zu  ge- 
währen, fand  in  dem  Frankreich  Ludwig's  XIV.  eine  Fortsetzung, 
welche  zur   tiefsten   Erschütterung   aller  menschlichen  Zustände 
führte.«  Mit  diesen  allzu  wahren  und  nicht  genug  zu  beherzigenden 
Worten  verbinde  man  noch  das,  was  weiter  unten  §•  32  über  »die 
Staatskunst  der  Herrschsucht  und  der  Habsucht«  bemerkt  wird. 
Passend  reiht  sich  daran  der  Abschnitt  XXVIII:    Die  Zeit  der 
falschen  Aufklärung  und  der  gewaltthätigen  Staatskunst.    Er  be- 
greift die  Zustände  Frankreichs  vor  dem  Ausbruche  der  Revolution, 
insbesondere  das  Verderbniss  des  französischen  Hofes  und  die  von 
da  ausgebende  Entsittlichung,  er  führt  uns  die  schlesischen  Kriege 
Friedrich's  II.  und  den  siebenjährigen  Krieg,  die  Theilung  Polen's, 
die  Neuerungen  des  Kaiser's  Joseph  II. ,  den  amerikanischen  Frei- 
heitskrieg und  was  sonst  noch  von  Belang  in  diese  Zeitperiode 
fällt,  vor,  und  weist  aus  der  Darstellung  selber  nach,  wie  es  zu 
einer  Revolution  kommen  musste,  deren  Ausbruch  wio  deren  Sieg 
bis  zu  dem  zweiten  Sturze  Napoleon's  Gegenstand  des  folgenden 
Abschnittes  XXIX  wird ,  während  der  letzte  Abschnitt  XXX  dann 
die  darauf  folgende  Zeit  bis  auf  unsere  Tage  in  einer  eben  so  ruhi- 
gen als  unparteiischen,  von  aller  Parteifärbung  freien  und  das  That- 
8ächliche  gut  gruppirenden  Darstellung  vorführt.  Wenn  die  im  An- 
fang des  erwähnten  Abschnittes  XXVHI  gegebenen  Erörterungen 
über  die  in  jener  Zeit  auftanchonden  Gleichgewichtsbestrebungen, 
über  mechanische  Staatsverwaltung  und  falsche  Aufklärung,  so  wie 
über  die  daraus  hervorgegangene  revolutionäre  Staatslehre  den  Leser 
passend  einführen  in  die  geschichtliche  Erzählung,  um  den  Gang 
der  Ereignisse  und  die  Folgen  derselben  richtig  zu  erkennen  und 
zu  würdigen,  so  kann  damit  wohl  noch  verbunden  werden,  was  am 
Anfang  des  folgenden  Abschnittes  über  das  Wesen  der  Revolution 
selbst  bemerkt  wird ,  und  was  man  darunter  eigentlich  zu  ver- 
stehen hat.    Wir  würden  gern  den  betroffenden  Paragraphen  hier 
wörtlich  mittheilen ,  wenn  wir  nicht  befürchten  müssten ,  die  uns 
gesteckten  Gränzen  zu  überschreiten ,  zumal  wir  schon  mehrere 
Proben  der  Auffassung  und  Darstellung  des  Verfassers  den  Lesern 
mitgetheilt  haben,  und  desshalb  auf  weitere,  umfangreichere  Mit- 
theilungen verzichten  müssen.    Wohl  aber  mag  das  Gesagte  hin- 


760  Kiepert;  Atlas  witiquas. 

reichen,  um  einen  richtigen  Begriff  von  einem  Werke  zn  geben, 
das  dem  Zwecke  der  Selbstbelehrung,  wie  des  höheren  Schulunter- 
richts so  wohl  entspricht,  und  frei  von  aller  ParteifUrbung,  welche 
den  Götzen  des  Tages  fröhnt,  die  geschichtlichen  Thatsachen  in 
einer  den  Quellen  entsprechenden ,  wohlgeordneten  Weise  darlegt, 
und  von  einem  höhern  Standpunkt  aus  betrachten  und  würdigen 
lenrt. 

Noch  ist  der  Zugabe  eines  doppelten  ausführlichen  Registers 
zu  gedenken,  das  in  doppelten  Columnen  nnd  in  kleinerer  Schrift 
von  3.1216  bis  znm  Scbluss  des  Bandes  S.  1402  reicht;  das  erste 
Register  befasst  die  geographischen  Namen  mit  Einschluss  aller 
Völkernamen,  das  zweite,  ein  sachliches,  die  Namen  von  Zustän- 
den, Tbätigkeiten,  Werken,  Begebenheiten,  Einrichtungen,  Genossen- 
schaften, Parteien  und  Aemtern. 


Alias  antiquus.  Zehn  Karten  der  alten  Geschichte,  entworfen 
und  bearbeitet  von  Heinrich  Kiepert.  Inhalt:  l)  Orbis 
Urrarum  antiquus  notus.  2)  Imperia  Persarum  et  Macedonum. 
3)  Ana  citerior.  4)  Graecia  cum  insulis  et  orte  maris  Aepaei. 
5)  Graecia  ampliore  modulo  descripla.  6)  Jtalia.  7)  Italien 
pars  media  cum  delineatione  urbis  Jiomae.  8)  Hispania,  Mau- 
retania  et  Africa.  9)  Gtülia,  Britannia,  Germania,  iß)  Im- 
perium Romanum.  Vierte  vollständig  umgearbeitete  Auflage. 
Preis  geheftet  I  Thlr.  15  8gr.  Gebunden  2  Thlr.;  jede  Karte 
einzeln  ä  6  8gr.  Berlin,  Verlag  von  Dietrich  Heimer.  16Ü7.  Fei. 

Dieser  bereits  in  drei  Auflagen  verbreitete  Atlas  der  alten 
Welt  wird  in  dieser  neuen  vierten  Auflage  noch  mehr  zu  empfeh- 
len sein,  indem  sie  wirklich  eine  »  vollständig  umgearbeitete ct  wie  sie 
der  Titel  bezeichnet,  zu  nennen  ist  und  sich  vortheilhaft  von  den 
früheren  Auflagen  unterscheidet.  Schon  der  Name  des  Verfassers 
kann  eine  Bürgschaft  geben  für  die  Sorgfalt  und  Genauigkeit,  mit 
welcher  alle  die  auf  dem  Gebiete  der  alten  Geographie  in  neuester 
Zeit  angestellten  Forschungen  und  deren  Ergebnisse  benutzt  wor- 
den sind;  man  wird  sich  auch  bei  einem  näheren  Einblick  in  die 
so  schön  und  nett  ausgeführten  einzelnen  Karten  bald  davon  über- 
zeugen: das  Ganze  enthält  zehn  Karten,  die  auch  kurz  auf  dem 
Titel  angegeben  sind ;  die  erste  enthält  die  gesammte  den  Alten 
bekannte  Welt  im  zweiten  christlichen  Jahrhundert,  wobei  durch 
drei  verschiedene  Farben  die  Völker  Indogermanischen  Stammes, 
die  Semitischen  und  die  übrigen,  keinem  der  beiden  genannten  zu- 
zuzählenden Völker  unterschieden  werden  und  anch  die  Gränzen 
des  römischen,  des  parthisch-arsacidischen ,  des  scythischen  (in 
Baktrien  und  Indien)  und  des  ainesischeu  Reiches  angegeben  sind. 
Eine  besondere  Zeichnung  in  der  einen  leeren  Ecke  dieser  Tafel 


Kiepert:  Athw  antlquuB. 


7G1 


stellt  den  Erdkreis  noch  Ptolomäus  dar.  Die  zweite  Karte  bringt 
die  Reiche  der  Perser  und  der  Macedonier :  die  einzelnen  Satrapien 
der  alt-persischen  Monarchie  sind  genau  abgegrenzt  und  die  Grän- 
zen  der  Monarchie  Alexanders  des  Grossen  durch  eine  besondere 
Farbe  kenntlich  gemacht.  Dio  Züge  Alexanders  und  seiner  Feld- 
herrn sind  genau  verzeichnet  und  lassen  sich  bequem  verfolgen; 
auch  die  grosse  Strasse,  die  von  Sardes  nach  Susa  führte,  wie  wir 
sie  aus  Herodot  kennen,  ist  angegeben;  durch  grössere  oder  klei- 
nere Schrift  sind  die  verschiedenen  Städtenamen  unterschieden, 
und  die  griechischen  Colonien  durch  einen  farbigen  Strich  unter 
dem  Worte  hervorgehoben.  Das  dritte  Blatt:  Asia  citerior,  ent- 
halt Kleinasien  mit  den  ostwärts  daran  stossenden  Ländern  mit 
Einschluss  von  Armenien  und  den  Tigrisländern ,  also  von  Ninus 
wie  von  Babylon ;  Phönicien  und  Palastina  ist  ebenfalls  aufgenom- 
men. Dann  folgt  auf  dem  vierten  Blatt  Griechenland  mit  den  In- 
seln und  den  Gestaden  des  ägäischen  Meeres,  also  den  griechischen 
Küstenstrichen  Kleinasiens  mit  den  anstossenden  Ländern,  Phrygien, 
Mysien,  Lydien  und  Carion  nebst  einem  Theile  von  Lycien ;  durch 
verschiedene  Farben  sind  die  dorischen,  jonischen  und  aeolischen 
Staaten  unterschieden,  im  Norden  des  Festlandes  sind  die  Gränzen 
des  Macedonischen  Reiches  vor  den  Perserkriegen  und  vor  Philipp  II. 
ebenso  durch  verschiedene  Farben  bezeichnet;  in  einer  Seitentafel 
ist  der  Hellespont  und  die  Landschaft  Troas  eben  so  nett  eingezeich- 
net: wir  ersehen  daraus  mit  Befriedigung,  dass  unser  Verfasser  in 
Bezug  auf  die  Lage  des  alten  Troja  dem ,  wie  wir  es  ansehn ,  in 
neuester  Zeit  durch  wiederholte  Untersuchung  der  Oertlichkeit  ge- 
wonnenen sicheren  Resultat  beipflichtet,  wornach  das  alte  Troja 
nicht  bei  Neu  Ilium,  sondern  mehr  landeinwärts  bei  Bunar-Baschi 
zu  suchen  ist.  Das  folgende  Blatt  bringt  in  grösserem  Umfang  das 
eigentliche  Griechenland  mit  den  unmittelbar  an  der  Küste  des- 
selben liegenden  Inseln ,  und  nach  Norden  zu  abschliessend  mit 
Epirus  und  dem  südlichen  Theile  Macedoniens,  namentlich  Cbaldi- 
dice;  auch  hier  sind  die  einzelnen  Staaten  und  Länder  jonischer, 
dorischer,  Holischer  Abstammung  durch  verschiedene  Farben  unter- 
schieden ;  ein  Plan  von  Athen  ist  in  der  einen  Ecke  beigefügt,  in 
der  andern  ein  Plan  von  den  nächsten  Umgebungen  Athens.  Das 
sechste  Blatt  bringt  Italien  und  die  gegenüberliegende  liburnisch- 
dalmatische  Küste,  das  siebente  stellt  in  vorzüglicher  Ausführung 
den  mittleren  Theil  der  italischen  Halbinsel,  den  eigentlichen  Sitz 
der  römischen  Herrschaft,  dar,  und  wird  gewiss  Niemand  die  Nütz- 
lichkeit, ja  Nothwendigkeit  eines  besonderen  Blattes  für  diesen 
Theil  Italiens  verkenuen,  zumal  auf  besondern,  in  den  Ecken  ein- 
gefügten Tafeln  ein  genauer  Plan  von  Rom ,  ein  anderer  von  sei- 
nen nächsten  Umgebungen,  und  noch  ein  kleinerer  Plan  von  Neapel 
und  seinen  Umgebungen  beigefügt  ist.  Denn  es  soll  dieser  Atlas 
eben  so  sehr  dem  Schnlgebrauch  wie  dem  Privatstudium  dienen, 
und  kommen  gerade  diese  Tbeile  Italiens  bei  der  Leetüre  der  alten 


768 


Ltppische  Regenten.  Bd.  IV. 


Schriftsteller  wie  bei  dem  Studium  der  römischen  Geschichte  ins- 
besondere in  Betracht.  Das  achte  Blatt  stellt  Spanien  nebst  dem 
südlichen  Theil  Galliens,  und  die  nordafrikanische  KOste  dar; 
HannibaPs  Zug  bis  nach  Italien  ist  genau  darauf  verzeichnet.  Das 
neunte  Blatt  enthüll  das  alte  Gallien,  das  gegenüber  liegende  Bri- 
tannien, soweit  es  den  Römern  bekannt  war,  dann  das  an  Gallien 
östlich  an8tosscnde  Germanien  sammt  den  untern  Donauländern, 
also  mit  Einschluss  von  Dacien  und  Mösien.  Das  letzte,  zehnte 
Blatt  schliesst  mit  einer  Uebersicht  des  römischen  Kaiserreichs, 
soweit  dasselbe  in  den  ersten  christlichen  Jahrhunderten  reichte, 
das  Ganze  passend  ab.  Die  artistische  Ausführung  ist  eine  vor- 
zügliche zu  nennen ,  dabei  der  Preis  so  billig  gestellt ,  dass  die 
Anschaffung  nicht  wenig  erleichtert  wird. 


Lippisch  e  Reqesten.  Aus  gedruckten  und  ungedruckten  Quellen 
bearbeitet  von  O.  Preuss  und  A.  F  al  k  m  an  n.  Vierter 
Band.  Vom  Jahr  1476  bis  eum  Jahr  1536  nebst  Nachtragen 
su  den  drei  ersten  Bänden.  Mit  14  Sieqelabbüdunqen  (Taf.  65 
bis  72).  Detmold.  Meyer'schc  Hofbuchhandlung  1868.  V1J1  u. 
527  S.  in  gr.  8. 

Mit  diesem  vierten  Bande  hat  das  ganze  Werk  seinen  Ab- 
8chluss  erreicht.  Ursprünglich  auf  drei  Bande  berechnet,  zeigte 
sich  bald  für  die  spätere  Zeit  eine  solche  Masse  des  Stoffs,  dass  es 
unmöglich  erschien,  Alles  in  dem  dritten  Bande  zusammenzufassen, 
und  somit  ein  weiterer  vierter  Band  nothwendig  ward,  wie  er  hier 
nun  vorliegt  und  schon  durch  seinen  Umfang  die  grössere,  aber 
nöthig  gewordene  Ausdehnung  des  Werkes  in  vier  Bände  recht- 
fertigen kann.  Unmittelbar  an  den  dritten  Band,  der  mit  dem 
Jahre  1475  abschliesst,  sich  anreihend,  führt  dieser  vierte  Band 
das  Verzeichni88  der  Repesteu  fort  bis  zu  dem  17.  September  des 
Jahres  1536,  dem  Todestage  Simon's  V.,  weil  seine  Regierungs- 
zeit den  Uebergang  vom  Mittelalter  zur  Neuzeit  bildet,  eine  neue 
Entwicklung  in  kirchlichen  wie  staatlichen  Verhältnissen  beginnt, 
und  das  Zeitalter  der  Urkunden  in  die  der  Akten  üborgeht.  Mit 
dem  Tod  dieses  Fürsten,  auf  den  eine  vormundschaftliche  Regie- 
rung folgte,  tritt,  auch  durch  Einführung  und  Durchführung  der 
Reformation,  der  er  abhold  war,  eine  neue  Zeit  ein,  namentlich  in 
allen  inneren  Verhältnissen,  so  dass  der  mit  ihm  gemachte  Ab- 
schluss  der  Regesten  vollkommen  gerechtfertigt  erscheint.  Seio 
älterer  Sohn  und  Regierungsnachfolger  Bernhard  VIII.  (f  1563) 
ward  durch  seinen  1554  gebornen  Sohn,  Simon  VI.,  der  Stamm- 
vater aller  noch  blühonder  Linien  des  Lippischen  Hauses. 

Es  beginnt  also  der  vorliegende  Regestenband  mit  einer  Ur- 
kunde aus  dem  Januar  des  Jahres  1476  und  läuft  dann  fort  bis 


Lippischc  Regesten.  Bd.  IV. 


763 


zu  dem  bemerkton  Zeitraum ,  vorausgeschickt  ist  noch  von  Nr. 
2497—2582  incl.  eine  Anzahl  Regesten  der  früheren  Jahre,  von 
1204  —  1474,  welche  zu  den  vorhergehenden  Bänden  gehören  und 
hier  nachträglich  noch  eine  Stelle  erhalten  haben,  eben  so  wie  am 
Schlüsse  dieses  Bandes  von  S.  433  an,  unter  Nr.  3258  —  8294  eine 
Anzahl  Regesten  von  1140  — 1515  als  Nachträge  zu  diesem  und 
den  früheren  Bänden  gebracht  werden. 

Ueber  die  Einrichtung  des  Ganzen  und  die  Bearbeitung  dieser 
Regesten  ist  schon  bei  der  Besprechung  der  früheren  Bände ,  zu- 
letzt noch  1866  S.  767  ff.,  in  diesen  Blättern  das  Nöthige  bemerkt 
worden :  die  Behandlung  in  diesem  vierten  Bande  schliesst  sich 
ganz  an  die  der  früheren  Bände  an  und  verdient  gleichmässig  die 
Anerkennung  der  grossesten  Sorgfalt  und  Genauigkeit  in  allen  ur- 
kundlichen Mittheilungen,  wie  in  den  daran  geknüpften,  in  kleine- 
rer Schrift  jeder  Urkunde  beigefügten  Erörterungen.  Dadurch  hat 
allerdings  das  Ganze  eine  Wichtigkeit  und  Bedeutung  erhalten, 
welche  über  den  Kreis  des  kleinen  Landes  und  dessen  Dynastie, 
wofür  die  ganze  Bekanntmachung  zunächst  berechnet  ist,  hinaus- 
reicht ;  denn  es  enthalten  diese  Urkunden  in  ihrem  Inhalt  so  viele 
Beziehungen  zu  den  anstoßenden,  wie  überhanpt  zu  den  in  der 
Nähe  liegenden  Territorien  von  Westphalen  und  Niedersachsen,  dass 
sie  auf  diese  selbst  vielfach  ein  Licht  werfen ,  das  uns  dann  wei- 
tere Blicke  in  die  grössere  deutsche  Geschichte,  in  die  Culturge- 
schiehto  zumal,  eröffnet;  die  verschiedenen  Rechtsverhältnisse  frü- 
herer Zeiten,  die  kirchlichen,  städtischen  und  bäuerlichen  Zustände, 
Handel  und  Ackerbau,  kurz  die  Verhältnisse  des  gesammten  Ver- 
kehrs in  Verbindung  mit  dem  Lehnwesen  u.  A.  der  Art  treten  in 
einer  Weise  hervor,  welche  auch  für  die  Zustände  anderer  deutschen 
Länder  und  deren  Erkenntniss  von  gleichem  Belang  ist.  In  den 
Regesten  gegen  den  Schluss  dieses  vierten  Bandes  treten  auch 
schon  die  Anfange  der  Reformation  hervor  und  die  dadurch  her- 
beigeführten Streitigkeiten,  die,  wie  bemerkt,  erst  nach  dem  Tode 
Simon's  V.  mit  der  Durchführung  der  Reformation  ihr  Ende  er- 
reichten. Wir  unterlassen  es,  einzelne  Beispiele  als  Belege  des  Ge- 
sagten anzuführen,  da  Jeder,  der  in  diese  Regesten  einen  Blick 
werfen  will,  sich  bald  davon  überzeugen  wird.  Uebrigens  ist  die 
grössere  Mehrzahl  der  Regesten  deutschen  Urkunden  entnommen, 
die  in  ihrer  Mehrheit  im  fürstlichen  Haus-  und  Landesarchiv  zu 
Detmold  sich  befinden  —  An  den  nöthigen  Registern,  die  aller- 
dings bei  einem  derartigen  Werke  als  eine  nothwendige  Zugabe 
erscheinen,  hat  es  die  Sorgfalt  der  Heransgeber  nicht  fehlen  lassen. 
Zuerst  kommen  einige  Ergänzungen  und  Berichtigungen  zu  dem 
Register  über  die  beiden  ersten  Bände  S.  455—458;  dann  folgt 
von  8.  459 — 523  auf  doppelton  Colnmnen  jeder  Seite  ein  sehr  ge- 
naues Namen-  und  Sachregister  zu  dem  dritten  und  vierten 
Bande.  Schon  der  grosse  Umfang  dieses  Registers  mag  für  die 
Vollständigkeit  und  Genauigkeit  desselben  ein  Zeugniss  ablegen. 


764   v.  Falk enst ein:  Die  Veteranen  d.  deutschen  Befreiungskampf eB. 


Endlich  sind  noch  acht  Blätter  beigefügt  mit  netten  Abbildungen 
von  Siegeln,  die  sich  den  in  den  früheren  Bänden  beigefügten  mit 
Nr.  94 — 107  anreihen,  es  sind  einige  Klostersiegel,  so  wie  das 
Siegel  der  Stadt  Salzuflen,  dann  verschiedene  Siegel  Bernhardts  VII. 
und  Simon's  V.,  von  letzterem  fünf  verschiedene,  unter  denen  ins- 
besondere das  vom  Jahre  1530  zu  beachten  sein  wird. 


Ein  Lorberhain  auf  den  Gräbern  der  Veteranen  des  deutschen  Be- 
freiungskrieges. Von  einem  Veteranen  und  Mitkämpfer  Louis 
Baron  von  F  alk  enstein ,  Oberstlieut.  der  Cavall.  s.  D. 
( Freimund  Ohnesorgen).  Ente  Reihe.  Erster  Band  228  S. 
Zweiter  Band  221  S.  8.  Potsdam.  Verlag  von  Eduard  Döring. 

Wer,  wie  Ref.  sich  noch  die  Erinnerung  an  die  Befreiungs- 
kämpfe aus  seiner  Jugendzeit  bewahrt  hat,  und  an  die  Begeiste- 
rung denkt,  welche  damals  Alles  ergriffen  hatte,  aber  auch  an 
den  Druck,  an  die  Noth  und  das  Elend,  dnreh  welches  die  Be- 
geisterung mit  hervorgerufen  war,  der  wird  sich,  wenn  er  diese 
Blätter  durchgeht,  im  Geiste  wieder  in  jene  Zeit  versetzt  fühlen, 
welche  der  Verf.,  selbst  ein  alter  Veteran  aus  jener  Zeit,  in  Schil- 
derung ihrer  hervorragendsten  Träger,  zum  Tbeil  nach  eigenen 
Wahrnehmungen  und  Erlebnissen  darstellt,  er  wird  die  kernige, 
kräftige,  man  möchte  fast  sagen  derbe  Sprache,  die  der  Verfasser 
führt,  verstehen  und  auch  darin  den  Ausdruck  jener  Zeit  wieder 
erkennen,  an  welche  unsere  jüngere  Generation  nicht  oft  genug 
erinnert  worden  kann. 

»Vor  einem  halben  Jahrhuudert,  so  beginnt  der  Verf.  sein  Vor- 
wort, war  der  Geist  des  Krieges  wie  der  Krieger  ein  anderer  als 
heute,  wo  der  Fortschritt  des  speculativon  Zeitgeistes  Alles  aus 
den  Fugen  des  politischen  und  Conventionellen  Lebens  getrieben«, 
wo  die  gewaltigen  Erfindungen  der  Neuzeit,  sowohl  in  der  Ver- 
vollkommnung der  Zerstörungswerkzeuge,  der  Waffen,  als  in  der 
Schnelligkeit  der  Communicationsrnittel  in  Eisenbahnen,  Dampf- 
schiffen u.  dgl.  in  allen  Verhältnissen  einen  solchen  Umschwung 
haben,  »dass  das  jetzt  nachgewachsene,  verfeinerte  Menschenge- 
schlecht, welches  die  alte  Zeit  in  deren  einfacher  Derbheit  nicht 
mehr  versteht,  seine  eigenen  Voreltern  in  der  offenen  Ehrlichkeit 
und  biederen  Geradheit  nicht  mehr  begreift  und  vom  gehobenen 
Standpunkt  aus  das  Denken  und  Handeln  der  Alten  nicht  in  deren 
Sinn  aufzufassen  und  richtig  zu  würdigen  vermag,  ja  zu  deren 
deutschem  Wort  und  deutscher  That  auch  wohl  die  Nase  rümpft 
und  die  Achseln  zuckt.« 

»Die  alten  Helden  jener  grossen  Zeit  des  deutschen  Befreiungs- 
krieges —  sie  sind  uicht  mehr.  —  Es  war  ein  anderes  Geschlecht, 
es  waren  eiserne  Naturen  an  Körper  und  Geist,   die  nur  in  ihre 


v.  Falkensteln:  Die  Veteranen  d.  deutschen  Befreiungskampfes.  765 


Zeit,  in  die  einfacheren,  beschränkteren  Verhältnisse  passten,  wo 
es  in  den  Freilagern  nnd  auf  den  Schlachtfeldern  noch  keine  Män- 
tel mit  Kapuzen,  keine  Kaffeetöpfchen ,  kein  Hoifsches  Magenbier, 
keinen  Daubitz-Liqueur ,  keine  Gratis-Gigarren  und  keine  herbei- 
fliegenden  Transporte  von  Speck  und  Wurst,  Zwieback  und  Kuchen 
gab  —  wo  keine  Krankenträger-Compagnien  die  gefallenen  Tapfe- 
ren aus  ihrem  Blute  aufhoben,  wo  in  keinen  Jobanniter-Lazarethen 
liebreiche  barmherzige  Sohwestern  die  Verwundeten  pflegten  und 
die  alten  Feldscheerer  noch  nicht  zu  Doctoreu  vermenschlicht,  aber 
freilich  auch  noch  keine  Cholera  und  keine  Trichinoso  von  der  me- 
dicinischen  Fakultät  erfunden  war«  (S.  6).  —  »Die  damals  leuch- 
tenden Sterne  des  kriegerischen  Horizonts  waren  von  altem  Schrot 
und  Korn,  fest,  wie  deutsche  Eichen,  von  rauber  Borke,  aber  von 
gesundem  Kern.  Es  waren  oft  eigenthümliche  Charaktere  —  aber 
Preussen  von  der  narbigen  Stirne  bis  zur  Bandsohle  des  Reiter- 
stiefels. Der  Marschall  Vorwärts  war  der  eigentliche  Typus 
der  alten  Ehren-  und  Haudegen,  von  der  ganzen  Schaar  der  Unter- 
genorale  bis  zu  den  jüngsten  Subalternen  hinab«  (S.  9).  Darum 
ist  auch  der  Fürst  Blücher  an  die  Spitze  der  hervorragenden  Per- 
sönlichkeiten jener  Zeit  gestellt,  welche  in  diesem  Lorberhain,  und 
zwar  als  erste  Reihe  geschildert  werden  sollen ;  die  persönliche 
Stellung  des  damals  noch  jungen,  aber  doch  scharf  beobachtenden 
Verfassers,  in  der  or  mit  diesen  Persönlichkeiten  in  nähere  Ver- 
bindung kam,  liess  ihn  Manches  aus  unmittelbarer  Nähe  wahrneh- 
men und  setzte  ihn  in  den  Stand,  »die  verschiedenen,  oft  sich 
widersprechenden  Urtheile  über  Personen  und  deren  Denk-  und 
Handlungsweise  durch  eigene  Anschauungen  und  Wahrnehmungen, 
manches  verfärbte  Bild  in  anderem  Lichte  erblicken  und  für  sich 
berichtigen  zu  können«  (S.  9).  Auch  von  dieser  Seite  aus  gewinnen 
diese  Schilderungen  eine  Bedeutung,  welche  zu  mancher  Berichti- 
gung in  der  Auffassung  dieser  Persönlichkeiten  zu  führen  vermag; 
immer  aber  wird  der  Leser  dem  Verf.  gern  folgen,  wenn  er  mit 
jugendlicher  Frische  nnd  mit  dem  Feuer  jugendlicher  Begeisterung 
uns  die  Helden  jener  Zeit  nach  ihren  Thaten  und  in  einzelnen 
Zügen  schildert. 

Den  Anfang  dieser  Lebensbilder  macht,  wie  bemerkt,  der  Fürst 
Blücher  von  Wahlstatt,  auf  welchen  Graf  York  von  Wartenburg 
folgt :  beide  füllen  den  ersten  Band ,  und  ist  es  dem  Verf.  insbe- 
sondere gelungen,  aus  einer  Reihe  von  einzelnen  frappanten  Zügen 
Wesen  und  Charakter  dieser  Männer  erkennen  zu  lassen,  welchen 
Deutschland  hauptsächlich  seine  Befreiung  von  der  Fremdherrschaft 
verdankt,  und  die  blutigen  Siege,  durch  welche  diess  bewirkt  ward. 
Beide  treten  als  ächte  Soldatennaturen  vor  uns,  in  alter  Derbheit 
und  selbst  Schroffheit,  aber  darum  nicht  leer  der  edleren  Gefühle, 
wie  diess  aus  mancher  pikanten  Erzählung,  die  uns  hier,  vielfach  als 
Selbsterlebtes  mitgetheilt  wird,  erhellt.  Und  darum  wird  selbst  der 
Mann  des  Fachs  gehörige  Rücksicht  auf  diese  Lebensbilder  zu  neb- 


766  Die  leteten  Räuberbanden  in  Oberachwaben. 


men  haben,  die  zunächst  bestimmt  sind,  das  Andenken  an  diese 
starken  Helden  zu  erhalten  uud  zu  bewahren.  Im  zweiten  Band 
erscheint  zuerst  Graf  ßülow  von  Deunewitz,  wohl  würdig  den  bei- 
den genannten  als  einer  der  Retter  der  preussischen  Monarchie  an 
die  Seite  gestellt  zu  werden,  und  daher  in  grösserer  Ausführlich- 
keit geschildert,  von  seiner  Jugend  an  bis  zu  seinem,  bald  nach 
dem  Ende  der  Befreiungskriege  erfolgten  Tod  im  Februar  dea 
Jahres  1816.  An  ihn  reihen  sich  einige  kürzer  gefasste  Lebens- 
bilder, die  aber  auch  des  Piquanten  und  Interessanten  genug 
bieten  und  den  Leser  auf  gleiche  Weise  zu  fesseln  vermögen,  zuerst 
der  General  von  Horn  und  der  General  von  Hünerbein,  der  Major 
von  Platen,  Major  von  Zastrow,  zuletzt  noch  General  von 
Dobschütz,  Graf  Henckel,  von  Losthin,  von  Oppen,  Oberst  von 
Sohr,  Major  Holtsche.  Wir  versagen  es  uns  ungern,  weiter  in  das 
Einzelne  einzugehen  und  aus  der  Darstellung  einzelne,  frappante, 
charakteristische  Züge  dieser  Soldaten  von  altem  Schrot  und  Korn 
hier  anzuführen.  Die  oben  mitgetheiltcn  Proben  mögen  von  der 
ganzen  Art  und  Weise  der  Darstellung  wie  der  Auffassung  einen 
Begriff  geben.  Wer  übrigens  einmal  die  Leetüre  angefangen,  wird 
sie  auch  nicht  aussetzen  bis  er  zum  Ende  gelangt  ist.  % 

In  einem  weiteren  Theile  sollen  auch  merkwürdige  Männer  aus 
der  Zahl  der  Verbündeten,  die  mit  diesen  preussischen  Helden  in 
engere  Berührung  traten,  eigenthümlicbe  Charaktere,  die  auf  den 
Sohlachtfeldern  des  deutschen  Befreiungskampfes  mit  einwirkten, 
in  ähnlicher,  wenn  auch  nicht  so  umfassender  Weise  geschildert 
werden.  —  Die  äussere  Ausstattung  in  Druck  und  Papier  ist  sehr 
befriedigend. 


Die  letzten  Räuberbanden  in  Oberachwaben  in  den  Jahren  1818 — 1819. 
Ein  Beitrag  zur  Sittengeschichte.  Nach  den  Akten  und  nach 
mündlicher  U eberlief erung  dargestellt  von  Dr.  M.  P.  Mit  6 
Holzschnitten  nach  Originalzeichnungen  Joh.  Baptist  Pfiu<f$. 
Stuttgart,  Verlag  von  Albert  Koch  1866.  XVI  u.  256  8.  in  8. 

Diese  Schrift,  welche  eine  geschichtliche  Darstellung  der  letzten 
Gauner-  und  Räuberbanden  Scbwaben's  aus  den  Jahren  1818  und 
1819  liefert,  zeigt  in  ihrem  Inhalt  manche  Aehnlichkeit  mit  der 
Darstellung,  welche  über  die  Gauner  und  Räuber  des  Odenwaldes 
und  Spessarts  in  kurz  vorhergehender  Zeit  von  Pfister  geliefert 
worden  ist.  Wenn  das  Treiben  der  Letzteren  einen  blutigen 
Ausgang  durch  die  zu  Heidelberg  1812  erfolgte  Hinrichtung 
der  Häupter  dieser  Bande  machen,  so  trat  ein  solcher  Ausgang 
hier  nicht  ein,  da  die  von  dieser  Bande  begangenen  Verbre- 
chen, in  Raub  und  Diebstahl  bestehend,  blos  zu  lebenslänglicher 
oder  vieljähriger  Zuchthausstrafe,  die  mit  körperlicher  Züch- 
tigung verbunden  war,  führten:  aber  das  Interesse,  das  wir  auch 


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Die  letzten  Räuberbanden  in  Oberschwaben.  767 


an  dieser  Erscheinung  nehmen,  ist  kein  geringeres,  und  das  Ganze 
erscheint  als  ein  wahrer  »Beitrag  zur  Sittengeschichte <  jener  Zeit, 
zumal  nach  den  jetzt  bestehenden  Verhältnissen  und  der  wohl  ge- 
ordneten Polizei  Verbrechen  der  Art,  und  Gauner  und  Räuber,  wie 
sie  hier  uns  vorgeführt  werden,  kaum  noch  vorkommen,  ohne  dass 
darum  die  Verbrechen   selbst  aus  der  menschlichen  Gesellschaft 
verschwunden  wären,  in  der  sie  nur  in  anderer  Weise  und  zum 
Tbeil  an  andern  Orten  desto  raffinirter  hervortreten.     Die  ge- 
schichtliche Erzählung,  wie  sie  in  dieser  Schrift  gegeben  ist,  be- 
ruht theils  auf  den  zu  Ulm  bei  dem  dortigen  Gerichtshof  noch 
aufbewahrten  Akten,  theils  auch  den  Mittheilungen  und  Aufzeich- 
nungen eines  Freundes,  des  Maler' s  Pflug,  welcher  zu  Biberach, 
wo  die  Untersuchung  geführt  ward,  in  jeuer  Zeit  lebte,  die  Gauner 
während  ihrer  langen  Haft  selbst  besuchte  und  mit  ihnen  ver- 
kehrte, ja  selbst  damals  schon  die  Absicht  hatte  eine  Schrift  dar- 
über herauszugeben ,  von    der  aber  nur  ein  kleines  Bruchstück 
in  einem  Ulmer  Tagebuch  erschien;  sie  entbehrt  nicht  des  viel- 
fachen Interesses  zur  Würdigung  der  damaligen  Oulturzustände,  so 
wie  auch  in  psychologischer  Hinsicht:  sie  verdient  daher  die  Be- 
achtung Aller  derer,  welche  durch  ihren  Beruf  mehr  oder  minder 
hingewiesen  sind  zu  einer  Besserung  unserer  socialen  Zustände  und 
zur  Bewahrung  der  menschlichen  Gesellschaft  vor  Verbrechen  jeder 
Art.  Zwar  haben  sich  die  hier  geschilderten  Verbrecher  geflissent- 
lich auf  eine  niedere  Sphäre  des  Verbrechens  beschränkt  und  vor 
schwereren  Vergehungen,  wie  Mord  u.  dgl.  gehütet,  so  dass  das 
Grässliche  und  Blutige,  wie  der  Verf.  selbst  bemerkt,  seiner  Dar- 
stellung abgeht ;  aber  es  geht  ihr  darum  doch  nicht  ein  gewisses 
Interesse  ab ,  welches  die  bis  in  alle  Einzelnheiten  der  verübten 
Verbrechen  eingehende  Erzählung  hervorruft.    Nach  dem  Verfasser 
selbst  i  S.  X)  beruht  aber  dieses  Interesse  auf  der  klaren  und  voll- 
ständigen Einsicht,  die  man  in  das  ganze  Leben  und  Treiben  der 
Gauner,  in  ihre  Wohn-  und  Zufluchtsorte,  Nahrung  und  Unterhalt, 
Umgang  und  Verkehr  untereinander,  wie  mit  Andern,  kurz  in  ihre 
ganze  Lebensweise  ebensosehr  gewinnt,  wie  in  ihr  inneres  Leben, 
in  ihre  ganze  Denk-  und  Gefühlsweise,  in  ihre  Begierden  und  Lei- 
denschaften.   Diess  Alles  in  ein  klares  Licht  zu  setzen,  war  ein 
Hauptbestreben  des  Verfassers,  das  insbesondere  in  der  Schilderung 
der  einzelnen  Peinlichkeiten  hervortritt.     »Man  wird,  bemerkt 
Derselbe  S.  XI,  durch  diesen  biographischen  Theii  den  alten  Satz 
bestätigt  finden,  dass  der  Mensch  noch  weit  mehr  ist,  was  Geburt, 
Erziehung,  Beispiel  und  äussere  Umstände  aus  ibm  machen,  als 
wozu  er  sich  mit  freier  Selbstbestimmung  ausbildet  und  wenn  auf 
der  einen  Seite  die  Rohheit  und  Brutalität  jener  Menschen,  wie  sie 
besonders  bei  den  zum  Zweck  der  Gelderpressung  verübten  Miss- 
handlungen hervortritt,  sittlicher  Ekel  und  Abscheu  erregen,  so 
wird  man  doch  auf  der  andern  Seite  immer  wieder  erwägen  müs- 
sen, was  wohl  aus  diesem  oder  jenem  geworden  sein  würde,  wenn 


766 


Die  letzten  Räuberbanden  in  Oberschwaben. 


seine  Intelligenz  und  Tbatkraft  zu  rechter  Zeit  auf  andere  Bahnen 
gebracht  worden  waren,  so  wie  auch  was  aus  so  vielen  der  ehr- 
lichen Leute  geworden  sein  würde,  wenn  das  Böse  so  frühe  und 
mit  solcher  Gewalt  durch  Erziehung  und  Beispiel,  Noth  und  Ent- 
blössung  an  sie  herangetreten  wäre.  Wir  werden  sehen,  wie  ein- 
zelne jener  Menschen  nach  den  Einflüssen,  unter  denen  sie  auf- 
wuchsen ,  gar  nichts  anderes  werden  konnten  als  Verbrecher  und 
wie  bei  den  meisten  wenigstens  sehr  starke  äussere  Antriebe  dazu 
vorhanden  waren.  Mangel  an  Schulunterricht  und  geistiger  Pflege, 
besonders  bei  dem  frühe  geübten  Gewerbe  des  Viehhütens,  erzeugt 
nothwondig  eine  sittliche  Verwilderung,  welche  die  Unterschiede 
des  Guten  und  Bösen  verwischt,  und  das  von  den  Eltern  auf  die 
Kinder  übergegangene  Vaganteuleben  ist  nichts  anderes  als  eine 
Vorschule  des  Verbrechens,  c  Man  mag  aus  diesen  Worten  des 
Verfassers  entnehmen,  in  welchem  Sinn  er  die  ganze  Erscheinung 
auffasst  und  dann  auch  im  Einzelnen  dargestellt  hat.  Nach  einer 
Einleitung,  in  welcher  zuerst  berichtet  wird  über  die  Verhaftung 
einiger  Glieder  dieser  Gauner,  die  zu  weiteren  Aufschlüssen  über 
die  Existenz  von  Räuber  und  Diebesbanden  führte,  und  so  die  erste 
Veranlassung  zum  policeilichen  Einschreiten  überhaupt  gab,  wird 
dann  insbesondere  die  Frage  untersucht ,  wie  es  möglich  gewesen, 
dass  noch  in  dem  Jahre  1819  solche  Banden  entstehen  und  ihr 
Unwesen  treiben  konnton,  und  dann  wird  in  dem  ersten  Kapitel 
nus  die  erste  Bande  vorgeführt,  die  unter  der  Leitung  des  alten 
Bregenzer  Seppel ,  Joseph  Lang  stand ;  die  Mitglieder  derselben 
werden  nach  ihrer  Persönlichkeit  gezeichnet  und  ihr  Umherschwei- 
fen wie  ibre  Verbrechen  geschildert;  im  zweiten  Kapitel  kommt 
die  zweite  Bande  an  die  Reihe,  die  unter  der  Leitung  des  schwar- 
zen Veri,  Xaver  Hohenleiter  stand,  und  auch  hier  werden  die  Glie- 
der dieser  Bande  und  ihre  Verbrechen  geschildert;  im  dritten 
Kapitel  wird  die  dritte  Bande  unter  Leitung  des  Schleiferstoni, 
Anton  Rosenberger  in  ähnlicher  Weise  dargestellt ,  während  das 
vierte  Kapitel  diese  Gauner  in  der  Gefangenschaft  betrachtet,  ihre 
verschiedenen  Ausbrüche  aus  derselben  und  ihre  Wiederverhaftung 
erzählt,  so  wie  den  im  GefUngniss  erfolgten  Tod  einiger  der  Haupt- 
Verbrecher,  von  welcher  einer  sogar  in  der  Zeit  seiner  Gefangen- 
schaft, noch  ehe  das  Urtheil  erfolgt  war,  durch  einen  Blitzstrahl 
in  seiner  Gefängnisszelle  erschlagen  ward ;  dann  werden  die  Straf- 
erkenntnisse,  welche  über  die  einzelnen  Verbrecher  und  die  mit 
ihnen  in  Verbindung  gestandenen  Personen  verhängt  wurden,  mit- 
getheilt,  und  am  Schlüsse  noch  über  einige  Bilder,  welche  der 
obengenannte  Maler  von  diesen  Gaunern  im  Gefängniss  genommen 
hatte,  berichtet.  Nach  diesen  Bildern  sind  auch  die  der  Schrift 
eingefügten  zierlichen  Holzschnitte  gemacht,  welche  die  Hauptführer 
dieser  Banden  darstellen. 


Sr.  49.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Kaiser  Maximilian'1  a  Erhebung  und  Fall.  Originalcorrespondensen 
und  Doeumente  in  geschichtlichem  Zusammenhange  dargestellt 
von  Emil  Grafen  Keratry.  Leipzig,  Verlag  von  Dunker 
und  Humblot.  1867.  VI  u.  328  S.  in  8. 

Diese  Darstellung  der  Erhebung  und  des  Untergangs  des  neu 
errichteten  Mexicanischen  Kaiserthums  ist  eine  deutsche  Bearbei- 
tung einer  Reihe  von  Aufsätzen,  welche  zuerst  in  der  Revue  Con- 
temporaine  französisch  erschienen  sind,  in  der  Absicht  ein  näheres 
Licht  über  dieses  Ereigniss  zu  verbreiten,  insbesondere  durch  Mit- 
theilung wichtiger  darauf  bezüglicher,  officieller  Aktenstücke,  welche 
noch  nicht  an  das  Tageslicht  gedrungen  waren,  und  dadurch  zu 
einer  richtigen  Auffassung  und  Beurtheilung  des  Ganzen  zu  führen, 
wie  sie  das,  was  bisher  in  den  Tagesblättern  darüber  veröffentlicht 
worden,  nicht  zu  geben  vermag.  Es  war  aber  der  Verfasser  in  der 
Lage,  nähere  und  sichere  Aufschlüsse  über  Alles  zu  geben  und 
Aktenstücke,  die  ein  ganz  neues  und  von  der  gewöhnlichen  Auf- 
fassung vielfach  abweichend  Licht  auf  das  Ganze  werfen,  und  dies  s 
dann  auch  anders  beurtheilen  lassen,  der  Oeffentlichkeit  zu  übergeben, 
da  er  als  Ordonanzofficier  dem  Marschall  Bazaine  beigegeben  war, 
und  so  in  den  Besitz  dieser  Aktenstücke  gelangte;  in  der  deut- 
schen vorliegenden  Bearbeitung  sind  sogar  noch  mehrere  hinzuge- 
kommen,  welche  in  der  Revue  Contemporaine  aus  Rücksicht  auf 
die  französischen  Pressverhältnisse  nicht  mitgetheilt  werden  konn- 
ten.   Es  bestehen  aber  überhaupt  diese  mitgetheilten  Aktenstücke 
in  Briefen,  Depeschen,  Anordnungen,  Berichten  u  8.  w.  aller  der 
bei  diesem  Drama  näher  betheiligten  Personen,  des  Kaisers  Maxi- 
milian wie  der  Kaiserin  Charlotte,  der  verschiedenen  Minister  von 
Frankreich,  der  Gesandten  uud  Generale,  sowie  in  don  von  der  franzö- 
sischen Regierung  ertheilten  Instructionen;  sie  sind  in  wörtlichem 
Abdruck  gegoben  uud  begleiten  die  Erzählung,  welche  mit  der  ersten 
Abseudnng  einer  französischen  Expedition  nach  Mexico  in  Folge 
der  mit  England  und  Spanien  am  30.  Nov.  1861  abgeschlossenen 
Uebereinkunft  beginnt,  und  die  daran  sich  reihenden  Ereignisse, 
die   Rückkehr  der  Spanier  und  Engländer  nach  erreichtem  Ziele 
darstellt,  dann  zu  der  französischen  Invasion  übergeht,  welche  die 
Erhebung  Maximilians  auf  den  neu  gegründeten  Thron  zur  Folge 
hatte,  und  die  weiteren  Begebnisse  berichtet  bis  zu  dem  Abzug  des 
französischen  Heeres  unter  Bazaine,  im  März  des  Jahres  1867. 
Damit  endigt  die  Schrift,  indem  die  Ereignisse,  welche  die  drei 
letzten  Lebensmonate  Maximilians  ausfüllen,  dem  Bereich  der  mexi- 
LX.  Jahrg.  10.  Heft  49 


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770 


Käratry:  Kaiser  Maximilian^  Erhebung  und  Fall. 


canischen  Geschichte  angehören  und  von  dem  Verf.  ausgeschlossen 
blieben,  der  nur  in  einer  Sohlussbetrachtuug  das  traurige  Geschick, 
das  den  edlen  Fürsteu  beU'wfTeu ,  näher  von  seinem  Standpunkte 
aus  zu  beurtheilen  sucht.  Sein  Zweck  ist  vielmehr  darauf  zunächst 
gerichtet,  die  französische  Intervention  in  Mexico  darzustellen,  die 
Motive,  welche  zu  derselben  die  Veranlassung  gaben,  zu  entwickeln, 
und  das  Verhalten,  das  nachher  eingeschlagen  ward  und  die  Gründe 
desselben  darzulegen.  Und  wer  dem  Verf.  mit  Aufmerksamkeit 
folgt,  die  von  ihm  mitgetheilten  Aktenstücke  prüfend  durchgeht, 
der  wird  bald  sich  überzeugen  von  dem  Verfehlten  des  ganzen 
Unternehmens,  das  von  Anfang  an  unhaltbar  geworden  war,  und 
nach  Missgriffen  jeder  Art  einen  so  traurigen  Ausgang  nahm; 
um  so  mehr  wird  man  den  Fürstensobn  beklagen ,  der  das 
Opfer  grossartiger  Ideen  ward ,  die  er  ins  Leben  zu  rufen  ver- 
meinte, ohne  an  ihre  UnausfÜhrbarkeit  zu  denken  und  an  die 
Täuschung,  die  ihm  von  der  Seite  bereitet  werden  sollte ,  von  der 
er  am  wenigsten  es  erwarten  konnte ;  an  der  Reinheit  seiner  Ab- 
sichten, die  er  mit  dem  Tod  besiegelte,  lässt  auch  diese  Dar- 
stellung nicht  zweifeln,  welche,  indem  sie  zuuächst  Frankreich  im 
Auge  hat,  gleich  am  Anfang  die  darauf  bezügliche  Frage  (S.  2) 
aufwirft,  welche  Absicht  dem  ganzen  Unternehmen  von  Seiten 
Frankreichs  zu  Grunde  gelegen  und  was  die  eigentliche  Veranlas- 
sung zu  dem  Verlassen  der  Uobereinkunft  von  Soledad  und  zu  der 
Kriegserklärung  wider  den  Präsidenten  Juarez  gewesen.  In  einem 
hier  mitgetheilten  Schreiben  des  Kaisers  von  Frankreich  aus  Fon- 
tainebleau  den  3.  Juli  1862,  an  den  General  Forey,  als  dieser  den 
Oberbefehl  über  das  französische  Armeekorps  gegen  Mexico  erhielt, 
heisst  es:  »wenn  in  Mexico  eine  feste  Regierung  unter  dem  Beistande 
Frankreichs  gebildet  wird,  haben  wir  der  lateinischen  Race  jen- 
seits des  Oceans  ihre  Kraft  und  ihren  Glanz  wiedergegeben«;  dazu 
bemerkt  der  Verf.  Folgendes:  »Der  Zweck  der  Expedition  ist  also 
von  nun  an  der  Sieg  der  lateinischen  Race  auf  dem  amerikanischen 
Boden,  dem  Umsichgreifen  der  Anglosachsen  gegenüber.  In  diesem 
Dokument  enthüllt  sich  zum  erstenmal  deutlich  der  eigentliche 
Gedanke  und  Wille  des  Kaisers.«  Der  Verf.  zeigt  dann  weiter,  wie 
das  Vorgeben,  die  verletzten  Interessen  Frankreichs  zu  schützen, 
nur  der  Vorwand  gewesen  zur  Unternehmung  des  Krieges,  und  wie 
schon  vorher  der  Plan  mit  dem  Erzherzog  Maximilian  als  künfti- 
gem Herrscher  des  Landes  angelegt  und  verabredet  war.  Wie  dar- 
aus eine  Inconsequenz  in  Allem  erwuchs,  lauter  halbe  Massregeln 
vom  Beginn  der  Expedition  bis  an  ihr  Ende  ergriffen  wurden,  und 
Frankreich  zuletzt  durch  die  Drohungen  der  Vereinigten  Staaten 
sich  einschüchtern  Hess  und  den  unglücklichen  Kaiser  von  Mexico 
preis  gab,  kurz  das  ganze  Unternehmen  scheitern  musste,  wird 
darauf  weiter  ausgeführt.  Dass  der  Verf.  das  ungünstige  Urtheil, 
das  er  über  das  ganze  Unternehmen  fällt,  nicht  auf  die  franzosische 
Armee  ausdehnt,  war  zu  erwarten.  Die  frauzösche  Armee,  schreibt 


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K*ratry:  Kaiser  Maximilian1»  Erhebung  und  Fall. 


771 


er,  Land-  und  Seetruppen,  stand  allein  auf  der  Höhe  ihrer  Mission 
und  blieb  ihrer  Pflicht  streng  getreu ,   ohne  nur  einen  Augenblick 
von  ihrer  grossen  Traditiou  sich  zu  uatfeiuen.    Jene  Expedition, 
die  so  viel  Menschenleben  kostete,  wird  ihren  Ruhm  nur  mehren 
und  erhöhen.    Die  französische  Tapferkeit  hatte  selten  Gelegenheit 
auf  einem  so  grossen  Felde  der  Thätigkeit  sich  zu  zeigen  n.  8.  w. 
Ja,  wenn  man  das  liest,  was  S.  318  ff.  bei  der  Rückkehr  des  Mar« 
schall  Bazaine  bemerkt  wird,  scheint  der  Verf.  selbst  diesen  in 
Schutz  zu  nehmen,  als  er,  nachdem  er  den  Fuss  wieder  auf  hei* 
mischen  Boden  gesetzt,  mit  Missachtung  empfangen  ward,  während  er 
doch  das  Bewusstsein  gehabt,  seine  Pflicht  als  französischer  Soldat 
erfüllt  zu  haben.    Was  die  vielfach  gegen  denselben  gemachten 
Angriffe   in  der  Presse  betrifft,  die  schon  vor  seiner  Rückkehr  in 
Frankreich  eingeleitet,  nur   die  Bestimmung  haben  konnten,  die 
öffentliche  Meinung  über  denselben  irre  zu  führen ,  so  macht  der 
Verf.  aufmerksam,  wie  man  dabei  zu  rasch  vergessen,  dass  ein 
Marschall  dem  Gebote  militärischer  Verschwiegenheit  zu  gehorchen 
verpflichtet  ist  und  dass  die  Regierung  die  Bewahrerin  der  Ehre 
ihrer  Grosswürdonträger  wie  der  eigenen,  das  Recht  zu  reden  allein 
besitzt.   »Aber,  setzt  er  dann  hinzu,  diess  Recht  enthält  auch  eine 
unverjährbare   Pflicht,   welche  keine  Verschweigung  duldet  und 
welche  befiehlt,  nach  einer  eindringenden  Untersuchung  entweder 
den  General  zu  degradiren,  wenn  er  seinen  wirklichen  Auftrag  un- 
erfüllt gelassen  oder  gegen  die  Delicatesse  und  Ehre  gesündigt  hat, 
oder  aber,  nachdem  man  Alles  streng  untersucht  hat,  öffentlich  zn 
verkündigen,  dass  er  sich  um  sein  Land  wohl  verdient  gemacht 
habe.    Die  Armee,  Frankreich  und  Europa  warten  mit  Ungeduld 
auf  diesen  höchsten  Spruch«  (S.  319).  Wir  zweifeln,  ob  diese  Er- 
wartung je  erfüllt  wird,  aber  man  wird  in  diesem  Verlangen  einen 
schweren    Vorwurf  gegen  die  französische  Regierung   oder  viel- 
mehr gegen  den  Kaiser  selbst  ßnden,  auf  welchen  überhaupt  die 
ganze  Darstellung,  wenn  man  ihr  mit  einiger  Aufmerksamkeit  folgt, 
die  ganze  Schuld  der  eben  so  ungerecht  als  unklug  unternommenen, 
und  dann  gänzlich  gescheiterten  Expedition  zn  werfen  sucht.  Wir 
können  uns  selbst  kein  Urtheil  in  dieser  Sache  erlauben,  die  kaum 
noch  in  Allem  völlig  spruchreif  erscheint,   da  sie  noch  zu  nahe 
liegt  und  weitere  Aufschlüsse  auch  von  andern  Seiten  her  noch  zu 
erwarten  sind.  Aber  diess  thut  der  Schrift  selbst  keinen  Abbruch, 
die  durch  ihre  durchaus  ruhige  und  würdig  gehaltene  Darstellung 
unwillkürlich  unser  Interesse  in  Auspruch  nimmt,  abgesehen  selbst  von 
der  Mittheilung  so  vieler  wichtigen,  bisher  nicht  bekannten  Akten- 
stücke der  bei  dieser  Sache  irgendwie  betheiligten  Personen.  Das 
Ganze,  obwohl  eine  Uebersetzung  aus  dem  Französischen,  liest  sich 
sehr  gut  und  lässt  uns  kaum  daran  denken,  dass  wir  hier  eine 
Uebersetzung  vor  uns  haben ;  auch  die  äussere  Ausstattung  ist  sehr 
befriedigend. 


772 


Hankel:  Theorie  der  complexen  Zahlensysteme. 


Theorie  der  complexen  Zahlensysteme  insbesondere  der  gemeinen  ima- 
qinären  Zahlen  und  der  Hamilton' sehen  Quaterinonen  netd 
ihrer  geometrischeti  Darstellung  von  Dr.  Her  mann  Bank  et, 
Leipzig,  Leopold  Voss.  1867.  (XJJ  u.  W6  S.  in  8.). 

Die  vorliegende  Schrift  ist  der  erste  Theil  der  in  zwei  Thei- 
len  bestehenden  »Vorlesungen  über  die  complexen  Zahlen  und  ihre 
Funktionen«,  die  sich,  wie  der  Titel  wohl  schon  klar  genug  sagt, 
mit  einem  in  neuerer  Zeit  vielfach  behandelten,  wir  möchten  sagen 
im  Werden  begriffenen  Gegenstande  beschriftigen  Die  Absicht  des 
Verfassers  gebt  dabei  auf  Begründung  der  ganzen  Theorie  und  er 
hält  dafür,  dass  diese  Begründung  durch  seine  Schrift  ondgiltig 
geschehen  sei. 

Wir  sind  nicht  gemeint,  in  eine  kritische  Untersuchung  der 
hier  vorgetragenen  Lehren  einzutreten,  sondern  wollen  nur  unserer 
Aufgabe  genügen,  die  hier  in  einer  Anzeige  des  in  vieler  Hinsicht 
interessanten  Werkes  besteht.  Ein  eigentliches  Urtheil  wird  ohne- 
hin ein  jeder  aufmerksame  Leser  erst  dann  sich  bilden  können, 
wenn  das  Werk  vollendet  ist.  Aber  auch  eine  Anzeige  in  dem 
Sinne,  dass  über  den  Inhalt  in  einer  Art  Auszug  referirt  wird, 
scheint  uns  nicht  wohl  anzugehen ,  da  wir  nothwendiger  Weise 
weitlänfig  werden  müssten ,  wenn  wir  den  Gegenstand  des  Buches 
einigermassen  deutlich  bezeichnen  wollten.  Theilweise  sind  die 
Grundanschauungen,  theilweise  die  Ausführungen  deutschen  Lesern 
neu  oder  doch  ziemlich  fremd,  so  dass  wir  nicht  an  Bekanntes 
anzuknüpfen  im  Stande  wären. 

Wir  begnügen  uns  daher ,  dem  Leser  eine  Art  Inhaltsanzeige 
zu  geben,  aus  der  er  doch  mindestens  entnehmen  kann,  was  in 
dem  Buche  betrachtet  wird;  genauere  Anskunft  wird  er  aber  iu 
letzterem  selbst  suchen  müssen,  was  für  ihn  sicher  nicht  ohne 
Nutzen  sein  wird. 

Der  erste  Abschnitt  bebandelt  die  ganzen  Zahlen  und  ihre 
thetischen  Verbindungen,  die  lytiseben  Operationen,  die  Erweite- 
rung des  Zablbegriffs  und  das  Prinzip  der  Permanenz  formaler 
Gesetze. 

Der  zweite  Abschnitt  —  allgemeine  Formenlehre  —  handelt 
von  dem  Algorithmus  assoziativer  Rechnungsoperationen  ohne  oder 
mit  Commutation,  sodann  betrachtet  er  die  Addition  und  Sub- 
traction,  Multiplication  und  Division,  immer  natürlich  unter  Be- 
zugnahme auf  die  allgemeinen  Gesetze. 

Im  dritten  Abschnitte  —  reelle  Zahlen  in  ihrem  formalen  Be- 
griffe —  erscheint  der  Begriff  eines  Zahlensystems,  die  positiven 
und  negativen  ganzen  Zahlen;  während  der  vierte  Abschnitt  die 
reellen  Zahlen  in  der  Grössenlehre  bebandelt. 

Im  fünften  Abschnitte  —  die  gemeinen  imaginären  Zahlen  — 
wird  zunächst  die  »formale«  Theorie  der  imaginären  Zahlen  ge- 
geben, dann  die  geometrische  Addition  von  Strecken  in  der  Ebene 


Hankel:  Theorie  der  complexen  Zahlensysteme. 


773 


und  im  Räume  gelehrt;  eben  so  die  commutative  Multiplikation 
solcher  Streckon  in  der  Ebene,  worauf  die  Darstellung  der  gemei- 
nen imaginiiren  Zahlen  in  einer  Ebene  und  die  Anwendung  der- 
selben in  der  Geometrie  folgt.  Endlich  werden  die  verschiedenen 
Beweise  des  bekannten  Fundamentalsatzes  der  Theorie  der  höhern 
Gleichungen  mehr  angedeutet  als  wirklich  durchgeführt  (was  im 
zweiten  Theile  wohl  geschehen  wird). 

Der  sechste  Abschnitt  —  die  höhern  complexen  Zahlen  —  ent- 
halt eine  Theorie  der  complexen  Zahlen  im  Allgemeinen,  dann  die 
eines  begränzton  Systems,  eines  solchen  mit  zwei  imaginären  Ein- 
heiten und  eines  unbegränzten  comrautativen  Systems;  endlich  noch 
die  Addition  von  Strecken  und  Punkten  (baryzentrischer  Calcnl). 

Im  siebenten  Abschnitt  —  Theorie  und  geomntrische  Darstel- 
lung der  alternirenden  Zahlen  —  wird  ein  besonderes  System  ima- 
ginärer Einheiten  gewühlt ,  das  den  >alteruirenden<  Zahlen  zu 
Grunde  liegt.  Angewendet  werden  diesolben  auf  die  Zerlegung  der 
Determinanten  in  Produkte.  Endlich  wird  die  Multiplikation  von 
Strecken  und  Punkten  betrachtet. 

Der  achto  Abschnitt  enthalt  die  reine,  der  neunte  (und  letzte) 
die  geometrische  Theorie  (und  Darstellung)  derQuaterinonen.  Der 
Verf.  bezweckt  damit ,  diese  von  Hamilton  erfundene  und  ausge- 
bildete Theorie  (mathematische  Methode)  auf  deutschen  Boden  zu 
verpflanzen.  In  wie  ferne  ihm  dies  gelingen  wird,  kann  natürlich 
erst  die  Zukunft  lehren ;  jedenfalls  hängt  aber  auch  viel  von  den 
in  dem  zweiten,  noch  erwarteten  Theile  seines  Werkes  ab,  in  dem 
sich  herausstellen  muss,  wo  »die  neue  Lehre  für  die  Wissenschaft 
nützlich  ist.  Es  ist  allerdings  immerhin  von  Werth ,  wenn  man 
bereits  bekannte  Sätze  durch  neue  Methoden  leichter  und  bequemer 
beweisen  kann ;  nach  unserer  unmaassgeblichen  Meinung  ist  das 
aber  nicht  empfehlend  genug.  Es  müssen  auch  neue,  durch  andere 
Methoden  nur  schwer  beweisbare  Sätze  mittelst  einer  sich  als  neu 
und  wichtig  ausgebenden  Methode  gefunden  werden,  wenn  man  sich 
die  immer  nicht  geringe  Mühe  machen  soll,  mit  ganz  ungewohn- 
ten Bezeichnungen  und  Anschauungen  sich  vertraut  zu  machen.  Der 
Verf.  wird  es  uns  nicht  verargen ,  wenn  bei  den  vielen  neuen, 
künstlichen  und  gar  willkürlichen  Dingen,  die  jetzt  in  der  Mathe- 
matik auftauchen,  man  znweilen  froh  ist,  schon  in  einem  gewissen 
Alter  zu  sein,  um  nicht  gerade  Alles  mehr  sich  aneignen  zu  müs- 
sen. Das  mag  aber  ohne  Beziehung  auf  das  vorliegende  Buch  ge- 
sagt sein,  das  wir  den  Lesern,  welche  sich  für  rein  theoretische 
Untersuchungen  und  für  > neuere  Mathematik«  überhaupt  interessi- 
ren,  zu  aufmerksamem  Studium  empfehlen.  Auch  wenn  sie  nicht 
gesonnen  sind,  Alles  sich  eigen  zu  machen,  werden  sie  wesentlichen 
Gewinn  für  die  etwaige  Klärung  ihrer  eigenen  Anschauungen  dar- 
aus ziehen.  Vom  Verf.  aber  wünschen  wir,  dass  er  im  zweiten 
Theile  uns  die  Anwendung  des  im  ersten  Gelehrten  zeige.  Dieser 


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774  Delabar:  Anleitung  zum  Linearzeichnen. 

zweite  Theil  soll  die  Theorie  der  Functionen  complexer  Veränder- 
licher enthalten. 


Anleitung  zum  Linear  zeichnen,  mit  besonderer  Berücksichtigung  des 
gewerblichen  und  technischen  Zeichnens,  ah  Lehrmittel  für  Leh- 
rer und  Schüler  an  den  verschiedenen  gewerblichen  und  tech- 
nischen Lehranstalten,  so  wie  zum  Selbststudium,  von  Professor 
0.  Delabar,  Conrector  der  Kantonsschule  und  Vorstand  der 
Fortbildungsschule  in  St.  Gallen.  In  drei  Theilen.  Freiburg 
im  Breisgau.  Herder' sehe  Verlagsbuchhandlung. 

Von  diesem  tüchtigen  Werke  des  in  der  technischen  und  wis- 
senschaftlichen Literatur  bekannten  Verlassers  liegen  uns  die  bei- 
den ersten  Theile  (in  drei  Heften)  vor,  von  denen  der  erste  1866, 
der  zweite  1867  erschienen  ist.  Sie  behandeln:  im  ersten  Theile 
das  geometrische  Linearzeichnen,  im  zweiten  die  Elemente  der  dar- 
stellenden Geometrre  und  die  weitere  Ausführung  der  rechtwinkli- 
gen Projektiousart. 

Den  Erklärungen  sind  jeweils  Tafeln  in  vortrefflich  ausgeführ- 
ter Zeichnung  beigegeben  und  zwar  dem  ersten  Hefte  16  solcher 
mit  111  Figuren,  dem  zweiten  ebenfalls  16  Tafeln  mit  86  Figuren, 
und  dem  dritten  28  mit  125  Figuren. 

Im  ersten  Hefte  begegnen  wir  nach  einer  Einleitung  zunächst 
der  Beschreibung  der  zum  Linearzeiohnen  nöthigen  Materialien, 
Instrumente  und  Apparate,  so  wie  der  Anweisung  zum  besten  Ge- 
brauche derselben.  Sodann  werden  die  verschiedenen  Bezeichnungsarteu 
der  Linien  erläutert  und  üebungen  im  Zechnen  derselben  angestellt; 
die  Konstruktion  verschiedener  Senkrechten  und  Parallelen  gelehrt ; 
Linien  und  Winkel  getheilt;  Proportionallinien  konstruirt;  Maass- 
stäbe gezeichnet ;  regelmässige  Vielecke  auf  eine  gegebene  Seite  er- 
höhtet; die  wichtigsten  Konstruktionen  im  Kreis  durchgenommen; 
regelmässige  Vielecke  in  Kreise  eingezeichnet ;  Ovalen  und  Eiformen, 
so  wie  die  Kegelschnitte  konstruirt ;  eben  so  die  jonische  Schnecken- 
linie, die  Evolvente  (des  Kreises),  die  Herzform,  die  Cykloiden, 
Sternfiguren,  Rundbogen  und  Rosette;  und  endlich  werden  Ver- 
zierungen und  geradlinige  nebst  krummlinigen  Dessins  gegeben. 

Das  zweite  Heft  geht  nach  einer  Einleitung  in  die  darstellende 
Geometrie  überhaupt  und  die  rechtwinklige  Projektionsart  insbe- 
sondere zu  den  Hauptaufgaben  der  darstellenden  Geometrie  (in 
rechtwinkliger  Projektion)  über.  Wir  finden :  Die  Projektionen  der 
Punkte,  geraden  und  krummen  Linien  im  Räume ;  die  Projektionen 
der  begränzten  ebenen  Flächen  und  der  Ebenen  im  Räume;  die 
Erzeugung  und  Darstellung  der  krummen  Flächen ;  die  Darstellung 
der  einfachen  Körper;  dann  die  der  Prismen  und  Pyramiden  in 
beliebig  schiefer  Lage ;  Abwickelung  und  Netzebestimmung  bei  den- 


Rapports  sur  les  progres  des  sciencea  en  France.  775 

selben;  Darstellung  und  Abwickelung  der  drei  elementaren  runden 
Körper  (Zylinder,  Kegel,  Kugel)  und  endlich  die  Darstellung  der 
gewundenen  Körper. 

Das  dritte  Heft,  das  eine  Fortsetzung  und  Erweiterung  des 
zweiten  ist,  enthält:  Lehrsätze  und  Aufgaben  über  die  rechtwink- 
ligen Projektionen  der  Geraden  und  Ebeneu  im  Räume ;  Durchschnitts- 
konstruktionen der  Körper  mit  Ebenen  bei  der  Pyramide,  dem 
Prisma,  Kegel,  Zylinder  und  den  Umdrehungs-  und  windschiefen 
Flächen;  Konstruktion  der  Tangenten  an  krumme  Linien;  Tangi- 
rungsebenen  an  Zylinder,  Kegel,  Umdrehungs-  und  windschiefe 
Flüchen  ;  Durchschnittskonstruktionen  bei  Durchschnitten  von  Pris- 
men, Pyramiden,  Kegeln  und  Zylindern  unter  sich,  so  wie  bei  Um- 
drehungskörpern unter  sich ;  endlich  Anwendungen  auf  Dachzer- 
legungen, Rohrentwicklungen,  Gewölbekonstruktionen  u.  s.  w. 

Wir  begnügen  uns  mit  der  Anzeige  de9  Inhalts,  da  bei  der 
Gewissenhaftigkeit  und  den  Kenntnissen  des  Verfassers  ein  weite- 
res Eingeben  überflüssig  ist.  Die  Angabe  des  Inhalts  reicht  hin 
zur  Charakterisirung  des  bis  jetzt  vorliegenden  Theils  des  Werkes, 
das  allen  Betreffenden  möge  empfohlen  sein.  Wir  bemerken  zum 
Schlüsse  nur  noch,  dass  das  Ganze  auf  zwölf  Hefte  berechnet  ist, 
von  denen  die  zwei  nächsten  das  > projektive  Zeichnen«  abscblies- 
sen,  und  die  folgenden  das  Bau-  und  Maschinenzeichnen  enthalten 
werden.  Jedes  Heft  bildet  ein  für  sich  bestehendes  Ganzes  und 
wird  auch  einzeln  verkauft. 


Recueil  de  Rapports  sur  les  progres  des  heitres  ei  des  Science»  en 
France. 

Rapport  sur  les  progres  les  plus  rt'cents  de  V Analyse  mathimaiique, 
par  J.  Bertrand,  Membre  de  V Institut. 

Rapport  sur  les  progrte  de  V Astronomie ,  par  M.  Delaunay , 
Membre  de  VJnstilut  et  du  bureau  des  lonqitudes. 

Publica tion  faite  sous  les  auspices  du  minister e  de  Vinstruction  pub- 
lique. Paris,  lmprimi  par  aulorisation  de  son  Exc.  le  garde 
des  sceaux.    A  Vimprimerie  imperiale.  1867. 

Von  den  Berichten,  welche  durch  verschiedene  Gelehrte  über 
die  Fortschritte  der  Wissenschaften  in  Frankreich  an  den  Minister 
des  öffentlichen  Unterrichts  erstattet  werden,  liegen  zwei  vor  uns : 
über  die  Fortschritte  der  mathematischen  Analyse  und  der  Astro- 
nomie. Nebst  diesen  werden  noch  —  was  die  mathematischen  Wis- 
senschaften betrifft  —  Berichte  über  die  reine  Geometrie,  die  an- 
gewandte Mechanik,  die  Himmels- Mechanik ,  die  mathematische 
Physik  erscheinen. 

Diese  kurzen  Berichte  (die  uns  vorliegenden  zählen  38  Seiten 
in  gr.  8.  jeder)  sind  im  höchsten  Grade  interessant  für  jeden,  der 


776 


Rapports  sur  lee  propres  des  eciences  en  France. 


sich  einen  Ueberblick  über  die  wichtigsten  unter  den  ausserordent- 
lich vielen  Arbeiten  der  letzten  Jahre  verschaffen  will.  Ohne  aut 
den  eigentlichen  Inhalt,  bezüglich  die  Methoden  der  Hauptreprä- 
sentanten  der  Wissenschaft,  einzugehen,  was  begreiflich  in  solch 
engem  Rahmen  nicht  zulässig  war,  werden  doch  die  Arbeiten  der- 
selben dermassen  bezeichnet,  dass  ein  Bild  des  Gesammtfortscbritts, 
so  weit  Franzosen  daran  Theil  hatten,  sich  ergibt. 

Wir  wollen  versuchen,  dem  Leser  in  kurzem  Umrisse  den  In- 
halt der  Berichte  darzuthun. 

Lagrange  und  Laplace,  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts, 
waren  in  Frankreich  die  in  der  Wissenschaft  herrschenden  Geister. 
Ihnen  standen  zur  Seite,  oder  folgten  ihnen  unmittelbar:  Monge, 
Legendre,  Ampere,  Poinsot,  Poisson,  Fourier,  Caucby,  Fresnel, 
Dupin,  Poncelet,  Duhamel,  Lamö,  Sturm,  Liouville,  Chasles  — 
Männer,  welche  der  Bericht  nur  anfuhrt,  denn  »das  sind  die  Namen 
unserer  Meister  und  Lehrer«,  deren  Werke  nicht  mehr  zu  beur- 
theilen  sind.  Es  handelt  sich  also  nur  um  die  jtingern  Männer, 
deren  Arbeiten  als  Fortschritte  in  der  Wissenschaft  bezeichnet 
werden  können. 

Die  Theorie  der  imaginären  Funktionen,  welche  Cauchy  völlig 
erneuerte,  hat  in  ihrem  Gefolge  die  grössten  Fortschritte  der  raathe- 
matischen Analyse  in  diesem  Jahrhundert  gehabt.  Liouville,  Her- 
mite,  Puiseux,  Briot  und  Bouquet  haben  ihre  Namen  in  glänzen- 
der Weise  in  das  Verzoichniss  derer  eingeschrieben,  welche  diese 
Fortschritte  hervorriefen.  Die  zwei  ersten  haben  ihre  Arbeiten 
allerdings  noch  nicht  veröffentlicht;  doch  haben  die  Vorträge, 
welche  Liouville  in  dem  College  de  France  vor  einem  ausgewählten 
Publikum  hält,  grossen  Einfluss  geübt,  und  die  Arbeiten  Hermites 
sind  durch  einen  höchst  anerkennenden  Bericht  Cauchy's  genauer 
bezeichnet  worden. 

Puiseux  hat  eine  Funktion  von  A,  definirt  durch  die  ratio- 
nale Gleichung  <p  (x,  A)  =  0  studirt,  für  alle  möglichen  Werthe  von 


A.  Diese  Untersuchung  hängt  eng  zusammen  mit  der  über  I  z  d  A,  in 


welchem  »längs  einer  Kurve«  (bei  imaginären  Werthen  von  A  und  z) 
integrirt  wird.  Diese  Untersuchungen  hängeu  dann  weiter  mit  der 
Theorie  der  elliptischen  Funktionen  zusammen,  bei  denen  Pniseni 
nicht  blos  schon  bekannte  Resultate  wieder  ableitete,  sondern  auch 
neue  fand,  welchen  auf  ganz  anderm  Wege  auch  Hermite  begegnete. 

Briot  und  Bouquet  haben  diese  Untersuchungen  in  ihrem  klas- 
sischen Werke  über  die  doppelt  periodischen  Funktionen  zu  einer  Art 
Abschluss  geführt,  und  wenn  auch  heute  die  Darstellungsweise 
Biemanns  überwiegend  zu  werden  verspricht,  so  wird  ihr  Werk 
doch  noch  auf  lange  hin  mit  grossem  Nutzen  gelesen  werden. 

Der  Geniekoramandant  Alpbons  Laurent,  der  vor  kaum  zehn 
Jahren  der  Wissenschaft  durch  den  Tod  entrissen  wurde,  hat  unter 
den  austrongenden  Arbeiten  zur  Vergrösserung  Havre's  mehrere 


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Rapports  sur  les  propres  des  sciences  en  France. 


777 


wichtige  Abhandlungen  über  reine  Mathematik  verfasst.  Die  erste 
(1848)  Uber  die  Variation  vielfacher  Integrale  wurde  nur  zu  spät 
der  Akademie  eingereicht,  um  von  derselben  eben  so  würdig  be- 
funden zu  werden,  wie  die  gekrönte  Abhandlung  von  Sarrus.  Zu- 
letzt beschäftigte  er  sich  mit  den  schwierigsten  Fragen  der  mathe- 
matischen Physik. 

Hermite,  dessen  Name  wir  schon  oben  genannt,  hat  neben 
jenen  Arbeiten  auch  die  Algebra  und  die  Zahlentheorie  durch  tief- 
sinnige Untersuchungen  bereichert.  Schon  als  Zögling  des  ersten 
Jahres  in  der  polytechnischen  Schule  schikte  er  Jacobi  eine  Ab- 
handlung, von  der  letzterer  aussagte,  dass  dadurch  der  analyti- 
schen Methode  ein  bedeutender  Aufschwung  gewounen  sei.  Von  da 
an  hat  der  berühmte  Mathematiker  fortwährend  über  die  schwie- 
rigsten Probleme  der  Algebra  und  Zahlentheorie  Untersuchungen 
veröffentlicht. 

Serret  hat  die  geometrische  Darstellung  der  elliptischen  Funk- 
tionen zum  Gegenstande  einer  seiner  ersten  Arbeiten  gemacht,  und 
dadurch  den  Beifall  der  Akademie  sich  erworben.  Auch  der  Pater 
Jonbert,  Moutard,  Mathet,  Emile  Mathien,  Despeyrous  haben  hierin 
wichtige  Arbeiten  geliefert.  Der  Name  Serret's  ist  übrigens  in  allen 
Theilen  der  mathematischen  Analyse  bekannt,  und  in  seinem  Tratte 
d'Algebre  supörieure  (Heidelberger  Jahrbücher,  1866)  hat  er  die 
höchsten  und  schwierigsten  Parthieen  mit  gleicher  Klarheit  behan- 
delt, wie  die  einfacheren. 

Camille  Jordan,  ein  hervorragender  Ingenieur,  hat  einige  wich- 
tige Arbeiten  über  die  schwimmenden  Körper  und  die  Polyeder 
geliefert,  deren  Beurtbeilung  einem  andern  Berichte  angehört.  Er 
bat  aber  auch  die  Arbeiten  von  Galois  über  die  durch  Wurzel- 
grössen  auflösbaren  algebraischen  Gleichungen  bedeutend  weiter- 
geführt. 

Maximilian  Marie,  der  der  Theorie  der  imaginären  Funktionen 
seine  besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet ,  hat  sich  zunächst  als 
Hauptaufgabe  die  geometrische  Darstellung  der  reellen  und  imagi- 
nären Auflösungen  einer  Gleichung  mit  zwei  Veränderlichen  gestellt. 

Lebesgue  hat  der  Zahlentheorie,  insbesondere  dem  Fundamen- 
talwerke von  Gauss ,  seine  Kräfte  gewidmet ,  und  er  wird  einen 
Kommentar  darüber  der  Oeffentlichkeit  übergeben ;  Bonnet  beschäf- 
tigt sich  neit  mehr  als  zwanzig  Jahre  mit  der  Theorie  der  krummen 
Oberflächen  und  doppelt  gekrümmter  Kurven  ;  auch  Abel  Transon 
hat  darüber  wichtige  Studien  veröffentlicht,  während  der  Ingenieur 
de  la  Gournerie,  als  Professor  der  darstellenden  Geometrie  an  der 
polytechnischen  Schule,  ebenfalls  die  Anwendungen  der  Analyse  auf 
die  Geometrie  gefördert  hat. 

Die  Theorie  der  geographischen  Karten  (Abbildung  krummer 
Oberflächen  auf  einer  Ebene),  welche  Gauss,  Lambert,  Lagrange 
schon  bearbeiteten,  hatseither  von  Bonnet,  Tissot,  Collignon,  Dave- 
zac,  Germain  weitere  Behandlung  und  Erörterung  erfahren.  Hieher 


778 


Rapporte  sur  lee  progres  des  •eiences  en  Franoe. 


gehört  auch  die  von  Bour  golöste  Preisaufgabe  der  (Pariser)  Aka- 
demie für  1860  über  die  auf  einander  abwickelbaren  Oberflächen. 
Derselbe  hat  ebenfalls  eine  wichtige  Abhandlung  über  die  Inte- 
gration der  Differentialgleichungen  der  analytischen  Mechanik  der 
Akademie  vorgelegt,  über  welche  Bertrand  und  Liouville  einen  sehr 
günstigen  Bericht  verfassten. 

Neben  diesen  Arbeiten,  die  gewisserinassen  als  solche  ersten 
Ranges  angesehen  werden  (der  Berichterstatter  selbst  hat  seine  eigenen 
Arbeiten  gar  nicht  angoführt),  wird  nun  auch  noch  einer  Anzahl 
Männer  der  Wissenschaft  gedacht ,  die  als  Herausgeber  von  Zeit- 
schriften, als  Professoren  u.  s  w.  an  der  Verbreitung  der  ma- 
thematischen Wissenschaften  tbätig  Antheil  nehmen ,  so  dass  wir 
durch  denselben  ein  sehr  lebendiges  und  anschauliches  Bild  der  in 
diesen  Gebieten  mehr  oder  minder  hervorragenden  Männer  und 
ihrem  Wirken  erhalten ,  das  —  wenn  es  auch  nicht  vollständig 
sein  kann  —  doch  so  weit  uns  orientirt,  dasB  wir  den  Schritten 
der  einzelnen  leichter  nachforschen  können.  Wenn  Referent  sich 
zum  Schlüsse  einen  Wunsch  erlauben  darf,  der  freilich  nicht  in 
Erfüllung  geben  kann,  so  wäre  es  der,  dass  jeweils  angeführt  wäre, 
wo  die  betreffenden  Arbeiten  veröffentlicht  sind. 

Der  zweite  Bericht  —  über  die  Fortschritte  der  Astronomie 
in  Frankreich  —  enthält  bedeutend  weniger  Namen ,  als  der  so 
eben  besprochene  erste.  Dafür  konnte  er  eingehender  und  also  auch 
zusammenhängender  sein,  und  —  was  wir  oben  vermissten  —  es 
werden  die  Schriften  bezeichnet,  in  denen  die  Arbeiten  der  ein- 
zelnen Männer  der  Wissenschaft  niedergelegt  sind. 

Einleitend  bezeichnet  der  Verf.  die  eigentliche  Aufgabe  der 
theoretischen  Astronomie  und  wendet  sich  dann  zu  den  einzelnen 
Arbeiten,  welche  dieser  Aufgabe  gewidmet  sind.  Wie  begreiflich, 
ist  der  Name  Leverrier's  der  weitaus  meist  genannte. 

Die  Entwicklung  der  Störungsfunktion  nach  Sinus  und  Cosinus 
von  Winkeln,  die  von  den  Vielfachen  der  mittlem  Anomalien  der 
verschiedenen  Planeten  abhängen,  und  der  Koeffizienten  der  ein- 
zelnen Glieder  nach  steigenden  Potenzen  der  Exzentrizitäten  und 
der  Neigungen  der  Bahnen ,  ist  schon  von  Laplace  durchgeführt 
worden.  In  der  Regel  hat  derselbe  aber  sich  mit  geringeren  Grade 
der  Näherung  begnügt.  Leverrier  hat  diese  Arbeit  bedeutend  wei- 
ter geführt,  und  zwar  bis  zur  siebenten  Ordnung  der  eintretenden 
(kleinen)  Grössen ;  in  Folge  dessen  konnte  er  frühere  Ergebnisse 
verbessern  und  dazu  neue  erhalten.  So  hat  er  die  sekularen  Stö- 
rungen (ine'galites  söculaires)  für  Merkur,  Venus,  Erde,  Mars,  Ju- 
piter, Saturn,  Uranus  genau  festgestellt.  Das  war  seine  erste  astro- 
nomische Arbeit. 

Er  hat  sodann  die  Störungen  in  der  Bewegung  der  Erde  neu 
untersucht  und  zu  den  schon  von  Laplace  gefundenen  noch  einige 
weitere  zugefügt.  Auf  Grund  dieser  Untersuchungen  hat  er  neue 
Sonnentafeln  konstruirt,  welche  die  scheinbare  Bewegung  diese» 


Rapports  stir  lee  pro^röa  des  «clenoea  en  France. 


Gestirns  sehr  genau  darstellen.  Auch  in  der  Theorie  der  Bewegung 
des  Merkur  waren  den  Resultaten  Laplace's  Verbesserungen  zuzu- 
fügen, worauf  auch  für  diesen  Planeten  Tafeln  berechnet  wurden. 
In  ähnlicher  Weise  wurden  Venus  und  Mars  behandelt. 

Von  den  bis  jetzt  bekannten  91  kleinen  Planeten  zwischen 
Mars  und  Jupiter  wurden  in  Frankreich  27  entdeckt,  und  zwar 
14  von  Goldschmidt  (in  Paris),  6  von  Chacornac  (Marseille  und 
Paris),  4  von  Tempel  (Marseille),  2  von  Stephan  (Marseille)  und 
1  von  Laurent  (Nimes).  Eine  vollständige  Theorie  der  Ceres  und 
der  Juno  lieferte  Damoiseau;  Leverrier  untersuchte  die  Bewegung 
der  Pallas,  die  grosse  Schwierigkeit  darbietet. 

Die  Tafeln  des  Uranus,  welche  Bouvard  (1821)  nach  der. 
Theorie  Laplace's  berechnete,  zeigten  bekanntlich  eine  Abweichung 
von  der  wirklichen  Beobachtung  und  Bouvard  selbst  spricht  sich 
schon  im  Vorwort  dahin  aus,  dass  »eile  dopend  de  quelque  action 
ötrangere  et  inaper^ue  qni  aurait  agi  sur  la  planete.«  Delaunay 
versichert,  von  demselben  persönlich  gehört  zu  haben,  dass  er,  als 
diese  nooh  unbekannte  Ursache  einen  unentdeckten  Planeten  be- 
zeichnete, dessen  Entfernung  von  der  Sonne  wohl  das  Doppelte  von 
der  des  Urauus  sei. 

Der  Verfasser  beschreibt  uun  näher  die  wissenschaftliche  Ent- 
deckung des  Neptun  durch  Leverrier,  die  bekanntlich  den  Naraeu 
dieses  Astronomen  8.  Z.  populär  gemacht  hat.  Er  gedenkt  dabei 
auch  des  englischen  Astronomen  Adams ,  der  seine  Rechnungen 
freilich  später  veröffentlichte,  zu  einer  Zeit,  da  bereits  Neptun  auch 
physisch  entdeckt  war. 

Die  Mondtheorie  bietet  bekanntlich  keine  geringen  Schwierig- 
keiten dar,  und  es  sind  desshalb  auch  die  Mondtafeln,  deren  man 
sich  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  bediente,  halb  theoretisch, 
halb  empirisch  konstruirt.  Die  Pariser  Akademie  stellte  darum  1820 
als  Preisaufgabe:  Mondtafeln  mittelst  bioser  Theorie  zu  konstruiren, 
eben  so  genau  als  die  mittelst  Erfahrung  und  Theorie  verfertigten. 
Zwei  Arbeiten  lösten  die  Aufgabe :  die  eine  von  Damoiseau,  die 
andere  von  Plana  und  Carlini  (Italienern).  Die  letztere  hatte  den 
Vortheil  der  völlig  analytischen  Auflösung ;  ihre  Ergebnisse  wurden 
durch  Lubbock  (England)  und  Pontöcoulant  bestätigt.  Unser  Han- 
sen hat  neue  Mondtafeln  konstruirt,  die  1857  auf  Kosten  der  eng- 
lischen Regierung  gedruckt  wurden,  und  in  England  und  Frank- 
reich benützt  werden.  In  den  vereinigten  Staaten  werden  Tafeln 
gebraucht,  die  nach  den  theoretischen  Untersuchungen  Planas  ver- 
fertigt sind. 

Auch  Delaunay  (der  Berichterstatter)  hat  die  Arbeit  Planas 
weiter  geführt,  indem  er  eine  Theilung  der  fast  unermesslichen 
Arbeit  durchgehend  anwandte.  Die  genaue  Bestimmung  des  Ein- 
flusses, den  die  säkulare  Verminderung  der  Exzentrizität  der  Erd- 
bahn auf  die  mittlere  Bewegung  des  Mondes  übt,  die  Adams  fand, 
wurde  von  Delaumay  bestätigt ,  der  den  ziemlich  heftigen  Wider- 


780 


Rapports  sur  los  propres  des  eHences  en  France. 


Spruch  in  der  Akademie  abzuweisen  hatte.  Wir  haben  einen  hie- 
her  gehörigen  Punkt  bereits  in  diesen  Bliittem  (7.  Heft  1866)  an- 
gezeigt, wollen  also  darauf  nicht  näher  eingehen.  Auch  eine  Arbeit 
Hansens  wurde  von  Delaumay  abermals  aufgenommen. 

Simon  zeigte,  dass  die  Mondaxe  eine  halbmonatliche  \utation 
erleide,  was  Poisson  nicht  vollständig  erklärt  hatte. 

In  Bezug  auf  die  Erdbewegung  werden  zunächst  die  bekann- 
ten Experimente  Foucaults  beschrieben.  Dann  wird  der  geodäti- 
schen Arbeiten  Y.  Villarceau's  gedacht,  die  wir  jüngst  bei  Anzeige 
des  »Generalberichts  über  die  europäische  Gradmessung<  ebenfalls 
berührten ;  ferner  der  Bestimmung  der  Breite  der  Sternwarte  von 
Paris  durch  Laugier  und  Mauvais. 

Leverrier  und  Foucault  haben  sich  mit  der  Bestimmung  der 
Sonnen-Parallaxe  beschäftigt.  In  Bezug  auf  die  Beschaffenheit  der 
Sonne  selbst  werden  die  Hypothesen  von  Faye  aufgeführt.  Kennt 
der  Verf  die  Arbeit  Kirchhoff's  nicht? 

Himmelskarten  wurden  von  Valz  und  Cbacornac  geliefert ;  ein 
Katalog  von  140  Fundamentalsternen  von  Laugier.  Bravais  ist  in 
Bezug  auf  die  Bewegung  des  Sonnensystems  zu  den  Ergebnissen 
Argelanders  gelangt;  Villarceau  hat  sich  mit  den  Doppelsternen 
näher  beschäftigt,  und  Laugier  einen  Katalog  von  53  Nebelflecken 
veröffentlicht. 

Ueber  die  Kometen  hat  Loverrier  (Komet  von  Lexell)  Unter- 
suchungen angestellt ;  Faye  sich  mit  der  Ursache  des  Kometen- 
schweifes beschäftigt  und  Roche  die  Hypothese  Faye's  analytisch 
zu  bestätigen  gosucht.  Die  Ansichten  Schiaparelli's  in  Mailand 
über  die  Sternschnuppenschwärme  hat  Leverrier  ebenfalls  analytisch 
geprüft,  wenn  auch  beide  Gelehrten  nicht  ganz  derselben  Meinung 
sind. 

Endlich  wird  noch  der  parabolischen  Spiegel  mit  versilbertem 
Glase  von  Faucoult  (später  als  Steinheil),  und  dessen  Belegung  des 
Objektivs  mit  einer  dünnen  Silberschichte  bei  Sonnenbeobachtungen, 
so  wie  des  Verfahrens  von  Wolf  gedacht,  den  persönlichen  Fehler 
bei  Durchgangs- Beobachtung  zu  bestimmen. 

Wir  müssen  schliesslich  nochmals  bemerken ,  dass  die  Dar- 
stellung des  Berichtes  eine  zusammenhängende  und  —  so  viel  dies 
bei  dem  Umfange  desselben  möglich  war  —  eingehende  ist  Selbst^ 
verständlich  konnten  wir  nur  die  Sachen  anführen,  wenn  wir  nicht 
eine  Uebersetzung  liefern  sollten ,  die  doch  wohl  für  diese  Blätter 
nicht  geeignet  wäre. 


Brahay:  Exereices  de  Calcul  differentiel 


Exercicts  methodiques  de  Calcul  dif/rrentiel  par  M,  Ed.  Brahay, 
Prof.  ä  Vaihtnh  royal  de  Jirurjes  etc.  BruxtUes.  1S67.  ('263  S. 
in  8.). 

Sein  Zweck  bei  Herausgabe  der  vorliegenden  Schrift  sei  einzig 
der  gewesen ,  den  jungen  Leuten ,  die  den  Infinitesimal-Calcul  zu 
studireu  beginnen,  wirklich  nützlich  zu  sein,  sagt  der  Verfasser. 
Das  ist  nun  allerdings  in  kurzen  Worten  die  Aufgabe  jeder  ver- 
nünftigen Aufgabensammlung ,  zu  welcher  Kategorie  die  des  Ver- 
fassers ebenfalls  zu  rechnen  ist. 

Dieselbe  erstreckt  sich  über  die  gesaramte  Differentialrechnung 
und  deren  Anwendungen  auf  analytische  Geometrie  und  ist  auch 
im  Einzelnen  wieder  sehr  vollständig ,  so  dass  wirklich  aus  der- 
selben Vieles  gelernt  werden  kann.  Wir  wollen  den  Inhalt  etwas 
näher  betrachten ,  wobei  wir  auch  Gelegenheit  haben  werden, 
unsere  Ansicht,  in  so  weit  sie  von  der  des  Verf.  abweicht,  näher 
darzulegen. 

Die  Einrichtung  des  Buches  ist  derart,  dass  bei  jedem  Ab- 
schnitte zuerst  die  eigentlichen  theoretischen  Hauptsätze  sich  an- 
gegeben finden,  worauf  Aufgaben  folgen ,  denen  zuweilen  eine  An- 
deutung für  die  Art  der  Auflösung,  jedenfalls  aber  das  Ergebniss 
derselben  beigegeben  ist. 

Zunächst  erscheint  die  Differenzirung  der  entwickelt  gegebe- 
nen Funktionen  einer  einzigen  Veränderlichen.  Neben  den  Diffe- 
rentialqnotienten  (derivee)  erscheiut  natürlich  auch  das  Diflerential, 
wenn  auch  in  löblicher  Weise  anfänglich  die  ersten  die  Hauptrolle 
spielen.  Es  ist  nun  einmal  so  Brauch,  mit  den  Differentialen  zu 
operiren,  und  wir  werden  diesen  alten  Brauch  nicht  ändern.  Darum 
lasseu  wir  dem  Verfasser  getrost  seine  Differentiale.  Dass  er  in 
seinem  »Tableau  des  difförentielles  des  fonctions  simples«,  wo  z.  B. 

d  xm  =  m  xm  - 1  d  x ,  dl(x)  =  ^,  u.  s.  w.  erscheint,  als  ganz  beson- 
ders wichtig  hervorhebt,  dass  »x  nicht  eine  blose  Veränderliche, 
sondern  jede  entwickelte  Funktion  von  x«  vorstelle,  ist,  abgesehen 
von  dem  Widerspruch  in  den  Zeichen,  ganz  unnöthig.  Wer  den 
Satz  dor  Differenzirung  einer  Funktion  von  einer  Funktion  ver- 
steht, begnügt  sich  damit,  x  als  blose  (unabhängig)  Veränderliche 
anzusehen.  Die  Beispiele  sind  zahlreich  und  gut  gewählt.  Nur 
müssen  wir  gegen  die  unbedingte  Differenzirung  unendlicher  Rei- 
hen, die  hier  und  auch  noch  später  öfters  vorkommt,  Einsprache 
erheben.  (Siehe  S.  10,  59  u.  s.  w.). 

Die  Differenzirung  entwickelt  gegebener  Funktionen  mehrerer 
Veränderlichen  wird  nun  ganz  im  Geiste  der  > Differentiale«  getrie- 

,r,,  *  m  «     i       du,    idu,     ,du,  . 

ben.  Aus  u  =  F(x,  y,  z, .. )  folgt  du  =  —  dx-f-  -dy-f,  dz-f... 

dx         dy  dz 

Wir  brauchen  nicht  zu  wiederholen,  dass  wir  eine  derartige  Glei- 


782 


Brahay:  Exercices  de  Calci:  1  differentiel. 


chung  als  durchaus  bedeutuugslos  ansehen,  und  ihr  höchstens  einen 
symbolischen  Werth  beilegen.  Bewiesen  kann  sie  ohnehin  nie 
werden,  und  wenn  sie  auch  von  Lehrbuch  zu  Lehrbuch  wiederholt 
wird.  So  bildet  nun  der  Verf.  eine  ganze  Schaar  von  totalen 
Differentialen ,  ans  denen  er  nötigenfalls  wohl  das  eigentlich  in 
Betracht  Kommende  —  die  partiellen  Differentialqnotienten  —  be- 
stimmt. Uebrigens  müssen  wir  anführen,  dass  in  dem  ersten  Bei- 
spiele diese  letztern  bestimmt  und  daraus  das  totale  Differential 
geleitet  wird. 

Für  Funktionen  einer  Veränderlichen  werden  blos  höhere  Dif- 
ferentialquotienten gebildet,  wobei  lehrreiche  und  sehr  allgemeine 
Beispiele  vorkommen,  wie  die  nten  Differentialquotienten  von  (a-f- 
bx-{-cxv)m  in  zwei  von  Lagrange  (Memoires  von  Berlin,  1772) 

dn 

gegebenen  Formen  u.  s.  w.,  woraus  z.  B.  — -  arc  (sin  =s  x)  abge- 
leitet wird.  Bei  Funktionen  mehrerer  Veränderlichen  verlässt  der 
Verf.  seine  gute  Gewohnheit  theilweise  und  er  fallt  den  Differentia- 
len wieder  zu.  Wir  finden  da  dQ  u  =       d  x         d  y  -f-  ~  d  z  +  • 

als  symbolische  Gleichung  u.  a.  m.  Allerdings  zeigt  er  ebenfalls, 
wie  man  die  partiellen  Differentialquotienten  bildet  und  die  meisten 
seiner  Beispiele  sind  diesem  Geschäfte  gewidmet. 

Vollständig  anders  verfahrt  er  bei  der  Differenzirung  von  Glei- 
chungen (also  bei  unentwickelt  gegebenen  Funktionen),  da  er  hier 
nur  von  totalen  Differentialen  spricht  und  die  (ebenfalls  totalen) 
Differentialquotienten  daraus  ableitet.  Das  hat  nun  nicht  gerade 
Vieles  aut  sich,  so  lauge  es  sich  um  eine  einzige  unabhängig  Ver- 
änderliche handelt.  Wahrhaft  verwirrend  wird  aber  die  Darstel- 
lung, wenn  mehrere  unabhängig  Veränderliche  vorkommen.  Aus 

dF         dF  dF 
F (x,  y,  z)  =  0  folgt  j^dxT"        v  +  j-~  d z  =  0,  woraus  (sagt  der 

x  y  z 

Verf.)  man  (aisement)  ziehe:    das  totale  Differential  dz  und  die 

dz  dz 

partiellen  Differential quotienten  — - ,  — .    Wie  dies  geschehe,  ist 

nicht  gesagt.  Eine  zweite  Differenzirung  (die  aber  nicht  ausge- 
führt wird)  gebe,  wenn  man  dx,  dy  als  konstant  ansehe,  das 
totale  Differential  d2z,  sowie  die  partiellen  Differentialquotienten 
d*z     d'z  d?z 

-— ,  — — -r— i.  Brauchen  wir  zuzusetzen,  dass  das  Alles  ver- 
d  x^     dx  dy    d  y* 

kehrt  ist.  Dass  der  Verfasser  mit  seiner  entsetzlich  verwirrenden 
Rechnungsweise  sich  selbst  verwirrt,  beweist  sein  Exemple  IV 
(S.  47).    Dort  ist  ax  +  by +  cz  +  ku  =  l,  a'x*+ b*ya +  •*■*+ 

d2z 

k'u2  =  m  und  er  findet  durch  seine  künstliche  Methode  — ;= — 

dx* 

d'u      a*  l+(ax-kn)3  +  (cz-ax)3         ,      ,  _  ...  , 

— j  —  r-  --c~  ,    während  thatsächhch 

dxa       o  (ku  —  cz)3 


Brahay:  Exercices  du  Cftlcul  diflförenttel. 


783 


von 


tfz       .d^u         (ku  —  C7,)'  +  (ax-ku)<  +  (cz-ax)V 

c — — — %      =a*   /1  v,  ist,  ein 

dx*         dx'  (ku  —  ex)* 

Resultat,  das  sich  in  der  einfachsten  Weise  vou  der  Welt  ergibt, 

und  das  man  auch  einzig  braucht.  Diesen  Abschnitt  würden 

wir  somit  aus  dem  Buche  ausgemerzt,   d.  h.  gänzlich  gelindert 

wünschen,  wenn  er  wirklich  einigen  Nutzen  stiften  soll. 

Den  Taylor'schen  Satz  stellt  der  Verf.  mit  dem  Ergänzungs- 

hn 

glied  in  der  einen  Form :  — -Fn(x-f-®h)  dar;  erbenützt  dieses 

l  ..  n 

Ergünzungsglied  aber  blos  zur  Schätzung  des  Fehlers,  den  mau  be- 
geht, wenn  man  bei  einem  bestimmten  Gliede  scbliesst.  Die  ent- 
stehenden Reihen  scheint  er  sofort  für  unendlich  und  ohne  Weite- 
res giltig  zu  halten,  wie  denn  z.  B.  die  Gleichungen  ^  =  ^-J- 

sin  <jp+  \  sin  2<p  +  J  sin  3qp  + 0=  \  -fcos  q>  -f-  cos  2qp  -f  008  3qp-)-... 
vorkommen ,  die  für  <p  =  0  etwas  wunderliche  Resultate  ergeben. 
Eine  Menge  Reihenentwickelungen,  die  hier  vorkommen,  leiden  an 
dem  Grundfehler,  dass  nicht  untersucht  wird,  in  wie  weit  sie  gelten. 
Ohne  diese  Untersuchung  gelten  aber  diese  hübschen  Sächelchen 
nicht  viel.*  Auch  für  das  Lagrangesche  Theorem  erscheint  dieselbe 
Unbestimmtheit.  Ohnehin  ist  da  nicht  entschieden,  welche  der 
Wurzeln  denn  eigentlich  durch  dieses  Theorem  entwickelt  sei.  So 

ist  die  letzte  Aufgabe :  ^y-q—^===^  nach  steigenden  Potenzen 

e  2 

e  zu  entwickeln.  Setzt  man  v=t— ; — - — — ,  so  ist  y3  y  4-  1  =  0, 

l  +  /l-e»  e  J  1  ' 

Q 

welche  Gleichung  aber  auch  die  Wurzel  =  -  hat.  Welche 

1  —  VI- e» 

der  zwei  wird  nun  durch  das  Lagrangesche  Theorem  ausgedrückt? 

Der  Vertauschung  der  unabhängig  Veränderlichen  ist  sehr  viele 
Sorgfalt  gowidmet.  Für  den  Fall  einer  unabhlingig  Veränderlichen 
haben  wir  nichts  Besonderes  zu  erinnern.  Auch  der  Fall  zweier 
solcher  Grössen  ist  theoretisch  in  Ordnung.  Anders  aber  verhält  es 
sich  bei  den  Beispielen.  Es  ist,  um  gleich  das  erste  Beispiel  zu 
nehmen,  wohl  nicht  ganz  in  Ordnung,  eine  Aufgabe  so  zu  stellen: 

d*z  d*z 

Was  wird  aus  der  Gleichung  -r—x  4-  z-^r  =  0,  wenn  x  und  y  durch 

dx'  dy« 

r  ersetzt  werden,  wobei  x24-y2~r'?  Denn  hier  sind  zwei  unab- 
hängig Veränderliche ,  die  durch  zwei  andere  ersetzt  werden 
müssen.  Aehnliches  wird  man  bei  mehrern  andern  Beispielen  zu 
bemerken  haben. 

Bei  der  Elimination  von  Konstanten  und  Funktionen  (mittelst 
Differenzirung)  hätten  wir  etwa  zu  bemerken,  dass,  aus  einer  Glei- 
chnngFfx,  y,  z,  qp(u ),  0(v)]  =  O,  wo  9>(u),  #(v)  willkürliche  Funk- 
tionen von  n,  v  sind ,  welche  Grössen  in  bekannter  Weiße  aus  x, 
y,  z  sich  bilden,  man  im  Allgemeinen  nicht  beide  Funktionen  eli- 
miniren  kann,  auch  wenn  man  zu  zweiten  Differentialquotienten  geht. 


784 


Brahay:  Exerclces  du  Calcul  dlfferentlel. 


Damit  ist  der  theoretische  Thuii  der  Differentialrechnung  zu  Ende. 

In  den  Anwendungen  erscheinen  die  unbestimmten  Formen 
zuerst.  Die  Beispiele  sind  zahlreich  und  uuch  lehrreich  gewählt.  Ob 
es  eine  Funktion  f(x)  gibt,  für  welche  alle  Differentialquotienten 
Null  sind  für  x=a?  (S.  105). 

Auch  die  Maxima  und  Minima  lür  Funktiouen  einer  Veränder- 
lichen sind  reich  bedacht.  Für  die  Funktionen  mehreror  Veränder- 
lichen und  mit  Bedingungsgleichungen  wird  die  Theorie  in  folgen- 
der Weise  gegeben:  »Sei  u-.f(x,y,z,  v,  w, ,.)  eine  Funktion  von 
m+n  Veränderlichen,  an  einander  gebunden  durch  die  nGleicb- 
uugen  L  =  0,  M  =0,  N  =  0,    Um  die  Werthe  der  Veränder- 
lichen zu  finden  die  u  zu  einem  Maximum  (oder  Minimum)  machen 
kötinen,  bilde  man  das  totale  Differential  von  u,  und  eben  so  dif- 
ferenzire  man  die  Bedingungsgleichungen ;  aus  den  n-fl  so  erhal- 
tenen Gleichungen  eliminire  man  die  nDifferentiale  der  abhängigen 
Veränderlichen  und  setze  in  der  Endgleichung  den  Koeffizienten 
jedes  bleibenden  Differentials  Null  «  Wir  wären  auf  einen  Beweis 
begierig,  der  diese  Behauptung  ohne  möglichen  Widerspruch  recht- 
fertigte. Die  Beispiele,  auch  für  mehrere  Veränderliche,  sind  sehr 
zahlreich.  # 

Die  Anwendung  auf  analytische  Geometrie  betreffen  Tangenten 
und  Normalen  an  ebene  Kurven  in  rechtwinkligen  und  Polarordi- 
naten;  dann  die  Asymptoten  und  bosondern  Punkte  ebener  Kurven; 
Krümmungshalbmesser  nnd  Evoluten  derselben  —  immer  in  sehr 
zahlreichen  Beispielen.  Für  die  krummen  Oberflächen  werden  Tan- 
gentialebene, Normale,  Hauptkrümmungshalbmesser,  so  wie  beson- 
dere Pnnkte  allgemein  und  an  vielen  Einzelfullen  ermittelt;  Aehn- 
liches  gilt  für  die  doppelt  gekrümmten  Kurven  (courbes  gauebes); 
die  zweite  Krümmung  wird  als  »angle  de  torsion«  aufgeführt 
Stellt  —  sagt  der  Verfasser  —  s  diesen  Winkel  vor,   so  ist 

/ds\6      a/d*yd3x     d'xd3y\  ,  _     .  _ 

*UJ  Ä*Wl3-ISfiV  dB»  wo  ds  das  Bogenelement, 

q  der  Halbmesser  der  (ersten)  Krümmung  und  x=9>(z),  y  =  ^(i) 
die  Gleichungen  der  Kurve  sind. 

Endlich  werden  die  Einhüllenden  für  (ebene)  Kurven  und  krumme 
Oberflächen  bestimmt  und  die  Theorie  an  zahlreichen  auch  in  das 
Gebiet  der  Anwendungen  eingreifenden  Beispielen  geübt. 

Den  Schluss  des  Buches  bildet  die  Zerfallung  rationaler  Brüehe 
in  Einzel-(Partial-)Brüche  in  theoretisch  und  praktisch  genügender 
Weise. 

Aus  dem  Vorstehenden  ergibt  sich,  wenn  wir  auch  mancher- 
lei Anstände  erheben  mussten,  doch  jedenfalls,  dass  das  Bnch  von 
Anfängern  in  der  Differentialrechnung  mit  grossem  Nutzen  zur 
Uebung  gebraucht  werden  kann,  und  in  so  ferne  die  Sprache  kein 
Hinderniss  ist,  kann  es  denselben,  und  also  auch  dem  Lehrer,  dem 
Uebungsbeispiele  erwünscht  sind,  empfohlen  werden. 

Dr.  J.  Dienger. 


Ir.  50.  HElDKlBERGlER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


P  lato' s  Phädon.  Eine  Reihe  von  Betrachtungen  zur  Erklärung 
und  Beurtheilung  des  Gesprächs  von  Alb  er  l  Bischoff,  Er- 
langen  1866.  Verlag  von  Andreas  Deichert.  37,3  S.  in  8. 

Der  grössere  Theil  der  Schrift,  fast  zwei  Drittel  des  Ganzen 
(S.  3—235),  enthalt  eine  zusammenhängende  Darlegung  des  In- 
halts  des  platonischen   Phädon,  wobei  die  einzelnen  Theile  des 
Gesprächs,  wie  sie  auf  einander  folgen,  genau  durchgangen,  ihr  In- 
halt angegeben  und  mit  Erörterungen  begleitet  ist,  welche  auf  die 
richtige  Auffassung  des  betreffenden  Abschnittes,  oder  auch  ein- 
zelner Stellen  desselben ,  zumal  wo  die  Auslegung  auf  verschiedene 
Weise  gegeben  wird,  sich  beziehen.    Die  genaue  Darlegung  dieses 
Inhalts  und  die  Ausführlichkeit,  womit  Alles  Einzelne  behandelt 
wird,  um  so  den  Gang  der  Untersuchung  und  den  inneren  Zusam- 
menhang aller  einzelnen  Theile  derselben  erkennen  zu  lassen  und 
dadurch  zur  richtigen  Auffassung  des  Ganzen  wie  zum  richtigen 
Verständniss  des  Einzelnen  zu  führen,  erhellt   schon  aus  dem 
grossen    Umfang    dieser  Darlegung  und   Erklärung  des  Inhalts 
und  ist  damit  jedem  Leser  des  Phädon  ein  Hülfsmittel  an  die 
Hand  gegeben,  das  er  mit  Nutzen  gebrauchen  kann,  um  zu  dem 
vollen  Verständniss  zu  gelangen.    Im  Zusammenhang  damit  steht 
noch  Abschnitt  III ,  S.  241  ff. ,  in  welchem  eine  Uebersicht  des 
Gedankenganges  gegeben  ist,  während  Abschnitt  II,  8.  236 ff.  die 
Frage  zu  beantworten  sucht,  ob  der  Stoff  des  Gesprächs  histo- 
rich  oder  erfunden  sei:  eine  Frage,  auf  welche  wir  übrigens  eine 
so  grosse  Bedeutung  nicht  legen  möchten,  insofern  es  sich  am  Ende 
doch  nur  um  die  Verbindung  und  Anknüpfung  des  Inhalts  an  einige 
äussere  Momente  der  Wirklichkeit,  wie  hier  der  Tod  des  Socrates 
es  ist,  handelt  und  damit  zugleich  um  ein  Denkmal  der  Erinnerung 
aller  Zeiten,  welches  von  dem  treuen  Schüler  dem  geliebten  Lehrer 
gestiftet  werden  sollte.   Der  Verf.  betrachtet  es  als  zuverlässig  (?), 
dass  das  von  Plato  hier  gezeichnete  Bild  des  Socrates  im  Wesent- 
lichen ein  getreues  gewesen  und  dass  Diesem  Untersuchungen  wie 
die  im  Phädon  geführten,  in  keinem  Fall  fremd  geblieben.  »Und 
wenn  wir,  so  schliesst  der  Verf.  S.  240,  hiezu  die  andern  Wahr- 
scheinlicbkeitsgründe  nehmen,  so  werden  wir  Grund  genug  haben 
anzunehmen,  dass  Socrates  in  seinen  letzten  Stunden  Unterredungen 
ähnlich  der  von  Plato  erzählten  mit  seinen  Freunden  werde  geführt 
haben  «    Ref.  kann  sich  nicht,  aus  Mangel  an  allen  näheren  Be- 
weisen, mit  der  gleichen  Sicherheit  zu  einer  solchen  Annahme  für 
berechtigt  halten,  so  sehr  er  auch  sonst  die  in  diesem  Dialog  von 
LIX.  Jahrg.  10.  Heft.  50 


7S6 


Plato's  Phädon  von  Biacboff. 


Plato  durchweg  erstrebte  ntd'avotrjg  anzuerkennen  bereit  ist. 
Abschnitt  IV,  S.  256  ff.  erörtert  den  Grundgedanken  und  die  Be- 
deutung des  Gesprächs.  Ausgehend  von  dem  Satze,  dass  es  nicht 
gentige,  einfach  zu  sagen,  Plato  habe  die  Absicht  gehabt,  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  zu  beweisen,  durchgeht  der  Verf.  dann  die 
verschiedenen  Versuche,  wie  sie  seit  Schleiermacher  gemacht  wor- 
den sind,  um  den  letzten  Zweck  und  die  Hauptabsicht  zu  bestimmen, 
welche  Plato  mit  der  Abfassung  des  Phädon  verbanden;  der  Verf.  fin- 
det diese  Versuche  nicht  genügend,  um  die  Frage  in  ihrem  ganzen 
Umfang  zu  lösen ;  am  nächsten  der  Wahrheit  scheint  ihm  Schmidt 
zu  kommen,  wenn  derselbe  den  wissenschaftlichen  Zweck  des  Dia- 
logs in  die  philosophische  Begründung  der  Unsterblichkeitslehre 
setze ,  den  künstlerischen  Zweck  aber  in  die  Freudigkeit,  mit  wel- 
cher der  wahre  Weise  in  den  Tod  gehe,  durch  den  er  das  wahre 
Leben  gewinne.  Der  Verf.  findet  in  dieser  Annahme  eines  doppel- 
ten Zweckes  einen  Vorwurf  gegen  Plato,  einen  Vorwurf  wegen  Man- 
gels an  Einheit,  der  freilich  erst  noch  zu  beweisen  wäre;  er  ist 
vielmehr  geneigt,  in  dem,  was  Schmidt  den  künstlerischen  Zweck 
nennt,  den  Grundgedanken  des  ganzen  Dialogs  zu  erkennen  und  in 
dem ,  was  sich  bei  Vergleichung  aller  Theile  als  der  dem  Plato 
vorschwebende  Zweck  herausstelle,  auch  den  alleinigen  Zweck  des 
Gespräches  zu  erblicken.  > Dieser  ist  aber  zu  zeigen,  dass  der  Tod 
für  den  Philosophen  kein  furchtbares,  sondern  das  wtlnschenswer- 
theste  Ereigniss  ist,  dass  der  Tod  dem  Philosophen  nicht  des  Le- 
bens Vernichtung,  sondern  des  Lebens  höchste  Vollendung  ist. 
Diess  wird  bewiesen,  indem  gezeigt  wird,  dass  das  ganze  Leben 
des  Philosophen  ein  Sterbenwollen  ist,  da  er  nur  im  Tod,  im  Leben 
nur  insofern  es  dem  Tod  nahe  kommt,  die  Erfüllung  seines  Strebens 
erwarten  kann,  indem  weiter  gezeigt  wird ,  worauf  es  am  meisten 
ankam,  dass  diese  Erwartung  eine  berechtigte,  an  philosophischer 
Betrachtung  sich  bewährende  ist«  u.  s.  w.  Auch  wird  noch 
weiter  bemerkt,  wie  für  den  Gedanken,  dass  der  Tod  des  Lebens 
höchste  Vollendung  ist,  die  Unsterblichkeit  bewiesen  werden 
musste  und  wie  diese  Beweise  mit  der  Schilderung  des  sterben- 
den Socrates  und  der  Todesfreudigkeit  desselben  passend  verbun- 
den werden.  Und  so  lassen  sich  —  damit  schliesst  der  Verf.  — 
alle  einzelne  Theile  des  Dialogs  und  ihr  gegenseitiges  Verhältnis« 
zu  einander  aus  dem  Grundgedanken  erklären :  Sterben  ist  für  den 
Weisen  Gewinn  (S.  262).  Indessen,  meint  der  Verf.,  wäre  noch 
nicht  das  volle  Verständniss  des  Phädon  gewonnen,  wenn  man 
den  Zweck  des  Gesprächs  in  den  Erweis  der  Unsterblichkeit  oder 
der  Todesfreudigkeit  setze,  und  darum  müsse  man  weiter  fragen, 
welche  Bedeutung  der  Inhalt  dieses  Gesprächs  im  System  der 
platonischen  Philosophie  habe.  Diese  Bedeutung  findet  der  Verl 
in  dem,  was  schon  im  Pbädrus  und  im  Gastmahl  angefangen,  im 
Phädon  vollkommen  ausgesprochen  sei,  in  dem  Gedanken,  wie  das 
Einzelne  und  Besondere  im  Allgemeinen  ein  reales  Sein  gewinnen 


Plato't  Phädon  von  Biso  hoff. 


78t 


kann,  als  selbstbewusster  Geist,  also  in  dem  Realwerden  des  Ein- 
zelnen im  Allgemeinen  als  Geist  (S.  266).  Nur  dem  Allgemeinen 
kommt  ein  wahres  Sein  zu,  das  Einzelne  als  solches  hat  für  das 
Allgemeine  keinen  Werth  und  ist  etwas  blos  vorübergehendes ;  aber 
indem  das  einzelne  Sein  (die  Seele)  auf  das  Andere  verzichtet  und 
für  sich  selbst  zu  sein  sich  entschliesst ,  d.  h.  indem  es  selbstbe- 
wußter Geist  wird,  erhebt  es  sich  zum  Allgemeinen  Sein,  erhält 
reale  Existenz  und  gehört  somit  selbst  der  realen  Welt  der  Ideen 
an.  Eine  solche  > Vergeistigung  und  Verselb stständignug  der  Seele 
konnte  nicht  besser,  nicht  lebendiger  dargestellt  werden  als  durch 
die  Schilderung  des  dem  Tod  mit  erhöhtem  Lebensgefühl  entgegen- 
gehenden Philosophen«  (S.  267). 

Wir  sind  absichtlich  etwas  länger  bei  diesem  Abschnitt  ver- 
weilt, in  Betracht  seiner  Wichtigkeit  für  die  Beurtheilung  des 
Phädon;  wir  haben  die  Ansicht  des  Verfassers  meist  wörtlich  mit 
dessen  eigenen  Werten  hier  mitgetheilt,  um  jedes  Missverständniss 
zu  beseitigen,  namentlich  anch  seine  Polemik  gegen  Schmidt,  der, 
wie  wir  es  ansehen,  nicht  den  Vorwurf  eines  dualistischen  Zweckes, 
mit  Hintansetzung  der  erforderlichen  Einheit  des  Zweckes  verdient, 
indem  der  künstlerische  Zweck,  wie  ihn  Schmidt  bezeichnet,  doch 
nur  als  ein  Nebenzweck  erscheint,  der  mit  dem  Hauptzweck  in 
Verbindung  stehend  zugleich  mit  demselben  erreioht  werden  soll, 
nicht  aber  als  Hauptzweck  und  als  Grundgedanken  gelten  kann, 
welcher  doch  immer  kaum  in  Etwas  Anderem,  als  in  der  Begrün- 
dung der  UnsterbÜchkeitslebrc  aus  dem  Begriff  der  Seele  zu  suchen 
ist,  zumal  im  Gegensatz  zu  andern  darüber  aufgestellten  und  ver- 
breiteten Ansichten,  welche  ihre  Widerlegung  finden  sollen,  so  wie 
in  Verbindung  mit  der  aus  Allem  sich  ergebenden  Lehre,  wor- 
nach  das  wahre  Streben  des  Philosophen ,  als  Zweok  dieses  irdi- 
schen Daseins,  in  die  Erkenntniss  der  Seele,  und  damit  in  das  Frei- 
sein von  Allem  Aeusseren  nnd  Materiellen,  also  in  das  Streben 
nach  dem  Tod,  der  diese  Befreiung  uns  bringt,  zu  setzen  ist. 

Abschnitt  V,  S.  268  ff.  betrachtet  die  künstlerische  Form,  wo- 
bei am  Schlüsse  auch  der  Gebrauch  der  Mythen  erwähnt  wird,  in 
deren  Anwendung  der  Verf.  keineswegs  eine  Lücke  in  der  wissen- 
schaftlichen Erkenntniss  finden  möchte,  sondern  in  folgender  Weise 
sich  ausspricht:  >es  ist  das  Wahre  für  Plato  einerseits  ein  durch- 
aus Unsinnliches,  Jenseitiges,  so  dass  es,  um  erkannt  zu  werden, 
eine  Entäusserung  von  aller  sinnlichen  Vorstellung  erfordert,  aber 
andererseits  doch  vollkommen  real  und  konkret,  so  dass  ihm  die 
Abstraction  nicht  entspricht.  Um  nun  beides  darzustellen,  dazu 
diente  die  poetische  Form  des  Mythus,  in  welcher  eben  so  sehr 
das  Ueb  ersinn  liehe  wie  das  Konkrete  der  Idee  zum  Ausdruck  kommt.« 
Also  der  Verf.  S.  281 ;  in  wie  weit  damit  die  Anwendung  des 
Mythus  seine  volle  Erklärung  erhält,  möchte  man  doch  bezweifeln. 
Abschnitt  VI,  S.  282 ff.  welcher  über  die  wahrscheinliche  Abfas- 
aungszeit  des  Phädon  und  dessen  Stellung  in  der  Reihe  der  plato- 


Plato'e  Phiidon  vod  Bischof  f. 


nisohen  Schriften  sich  verbreitet,  führt  uns  gewissermassen  zu  dem 
vierten  Abschnitt  zurück  und  steht  damit  in  Verbindung,  in  so 
fern  aus  dem  im  Phädon  nach  der  Ansicht  des  Verf.  entwickelten 
Grundgedanken  und  dessen  Verhältuiss  zu  andern  Dialogen  auch 
die  Zeit  der  Abfassung  erkannt  werden  soll;  diese  will  nun  der 
Verf.  in  die  späteren  Jahre  Plato's  verlegen,  vor  die  Abfassung  der 
Bücher  vom  Staat,  aber  unmittelbar  nach  Abfassung  des  Sympo- 
sium's.  »Im  Phädrus  und  Qastmahl  wird  angebahnt,  was  im  Phä- 
don vollendet  wird;  dort  geht  er  aus  von  der  Welt  und  dem 
Schönen  in  ihr,  im  Pbädon  kommt  er  bis  dahin,  dass  er  das  ewige 
Leben  der  Seele  erkennt.  Wenn  er  aber,  um  zu  dieser  Kenntniss 
zu  gelangen,  das  Irdische  preisgeben  musste,  so  gewinnt  er  das- 
selbe wieder  in  den  Büchern  vom  Staat«  (S.  294).  Da  nun  das 
Gastmahl  nicht  vor  335  a.  Chr.  geschrieben  sein  kann,  wegen  der 
in  der  Stelle  p.  193  A  enthaltenen  Anspielung,  so  würde  also  die 
Abfassung  des  Phädon  jedenfalls  nach  diesem  Jahre  fallen,  und  vor 
das  Jahr  365,  und  zwar,  wie  es  der  Verf.  für  wahrscheinlich  hält 
(S.  305),  nicht  lange  vor  diesem  Zeitpunkt.  Zwischen  dem  Tode 
des  Socrates  (399  a.  Chr.)  und  der  Abfassung  des  Pbädon  würde 
hiernach  jedenfalls  eine  Kluft  von  etwa  dreissig  Jahren  liegen,  was 
uns,  offen  gesagt,  etwas  zu  lange  erscheint,  da  eben  die  Verbin- 
dung ,  in  welche  der  Tod  des  Socrates ,  als  äussere  dramatische 
Einkleidung,  mit  der  philosophischen  Erörterung  gebracht  ist,  auf 
eine  Zeit  hinführt,  in  welcher  die  Erinnerung  an  den  hingeschie- 
denen Lehrer  noch  so  frisch  und  lebendig  war,  um  eine  solche 
Verbindung  herbeizuführen;  immerhin  aber  würde  die  Abfassung 
nach  der  Rückkehr  Plato's  von  den  Reisen  fallen,  in  welchen  Plato 
mit  den  Pythagoreern  in  nähere  Beziehung  getreten,  welche  auf 
die  Ausbildung  seines  System's  und  namentlich  auf  den  Inhalt  des 
Phädon  einen  wesentlichen  Einfluss  gehabt  hat. 

Abschnitt  VII,  S.  306  ff.  lässt  sich  über  die  Gültigkeit  der 
platonischen  Beweise  für  die  Unsterblichkeit,  wie  sie  in  dem  Phä- 
don gegeben  sind,  näher  aus,  und  steht  damit  gewissermassen  in 
Verbindung  der  nächstfolgende  Abschnitt  VIII,  S.  342  ff.,  welcher 
über  den  jetzigen  Stand  der  Frage  und  die  Möglichkeit  der  Lösung 
sich  verbreitet;  da  nämlich  die  von  Plato  vorgebrachten  Beweise  nicht 
für  vollständig  befriedigend  in  dem  vorhergehenden  Abschnitt  be- 
funden worden,  so  knüpft  sich  daran  die  natürliche  Frage,  ob  die 
Nachfolger  Plato's  eine  solche  Befriedigung  uns  zu  geben  im  Stande 
sind,  und  hat  daher  der  Verf.  auch  diese  wichtige  Frage  in  den 
Kreis  seiner  Erörterung  gezogen.  In  dem  Abschnitt  VII  hat  sich 
Derselbe  auf  eine  Prüfung  der  einzelnen  von  Plato  für  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  im  Phädon  vorgebrachten  Beweise  eingelas- 
sen und  dabei  auch  die  verschiedenen  Einwendungen  berührt,  die 
von  verschiedenen  Seiten  wider  dieae  Beweise  gemacht  worden  sind, 
namentlich  auch  die  Behauptung,  dass  die  hier  entwickelte  Lehre 
Plato's  im  Widerspruch  stebe  mit  seinem  eigenen  System  —  eine 


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Plato's  Ph&don  von  Bisch  off. 


Behauptung,  die  als  eine  irrige  nachgewiesen  wird  —  und  so  ge- 
langt der  Verf.  zu  der  Frage,  ob  denn  die  Unsterblichkeit  der 
Seele  von  Plato  vollständig  bewiesen,  die  Untersuchung  damit  ab- 
geschlossen sei ,  oder  eine  Lücke  bemerkbar ,  und  wie  viel  über- 
haupt Plato  in  dieser  Lehre  geleistet.  Wir  wollen  die  Antwort  mit 
den  eigenen  Worten  des  Verfassers  S.  339  beifügen :  >Der  wesent- 
liche Mangel  in  diesem  Tbeil  des  platonischen  Systems  besteht 
darin,  dass  das  Verbältniss  der  Seele  zum  Körper  theils  zu  wenig 
beachtet,  theils  falsch  anfgefasst  ist,  und  dieser  Mangel  benimmt 
auch  seinen  Beweisen  für  die  Unsterblichkeit  die  volle  Ueberzeu- 
gung.  Für  Plato  besteht  kein  notbwendiger  Zusammenbang  zwi- 
schen Seele  und  Leib ,  dieser  ist  ihm  nur  etwas  Aeusseres ,  rein 
Zufälliges ,  wofür  er  keinen  nothwendigen  Grund  anzugeben  weiss. 
Er  hätte  aber  eben  dieses  Verbältniss  zu  begreifen  suchen  sollen, 
um  für  die  Unsterblichkeit  der  Seele  einen  vollkommen  befriedi- 
genden Beweis  zu  liefern.«  Der  Verf.  bemerkt  weiter,  wie  aus 
dieser  Lehre  von  der  zu  erstrebenden  Trennung  des  Leibes  von  der 
Seele  leicht  irrige  Folgeningen  gezogen  und  eine  unvernünftige  Ver- 
achtung dos  Leibes  abgeleitet  werden  kann,  und  wie  es  ungenügend 
sei,  nur  die  höhere  und  unabhängige  Stellung  der  Seele  zu  bewei- 
sen ,  ohne  ihren  Zusammenhang  mit  dem  Körper  und  die  Noth- 
wendigkeit  dieses  Zusammenhangs  zu  erklären.  Wenn  also,  meint 
der  Verf.,  hier  eine  Lücke  in  der  platonischen  Beweisführung  er- 
kennbar ist,  so  wird  auf  der  andern  Seite  um  so  mehr  anzuer- 
kennen sein,  dass  Plato  das  nachgewiesen  hat,  was  vom  höchsten 
Belang  ist,  die  Freiheit  der  Seele  im  Denken  und  Wollen,  und  dass 
die  Seele  keine  Wirkung  des  Körpers  ist,  nicht  im  Leib  den  Grund 
ihres  Daseins  hat.  Und  dass  die  Nachfolger  des  Plato  über  diese 
Beweisführung  im  Ganzen  nicht  hinausgekommen  sind  ,  und  dass 
die  Philosophie  als  solche  die  Unsterblichkeit  nicht  neu  zu  begrün- 
den und  zu  entwickeln  vermocht,  ist  in  dem  oben  bemerkten,  sich 
unmittelbar  anschliessenden  achten  Abschnitt  gezeigt.  Mit  einer 
Betrachtung  >über  den  religiös-ethischen  Charakter  der  platonischen 
Philosophie  mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  Pbädon«  schliesst 
die  Schrift  in  Abschnitt  IX.  Es  ist  darin  der  sittliche  wie  der 
religiöse  Charakter  des  Phödon,  wodurch  er  zu  einem  der  herr- 
lichsten Denkmale  der  gesammten  alten  Literatur  wird  ,  gut  her- 
vorgehoben und  daraus  auch  eine  Empfehlung  der  Lectüre  dessel- 
ben hergeleitet.  Wir  theilen  vollkommen  diese  Ueberzeugung  und 
haben  stets  den  Pbädon  als  eine  Schrift  betrachtet,  die  kein  wis- 
senschaftlich gebildeter  Mann  ungelesen  lassen  sollte,  am  wenigsten 
ein  Theologe.  Allein  für  eine  Lectüre  auf  Gymnasien  können  wir 
darum  den  Phädon  doch  nicht  als  geeignet  betrachten.  Mag  man  wohl 
die  Schlussscene  von  dem  Hinscheiden  des  Socrates  in  ihrer  dramati- 
schen Fassung  mit  den  Schülern  der  obersten  Classe  lesen,  für 
welche  sprachlicher  Seits  keine  besondere  Schwierigkeiten  hervor- 
treten: aber  der  Dialog  selbst,  d.  h.  die  philosophische,  voraus- 


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T90        Verwijs:  Bloemleelng  uit  mtddelnederlandache  dichters. 


gehende  Untersuchung  und  Beweisführung  erfordert  doch  weit  mehr 
Reife,  um  in  ihrem  vollen  Sinne  verstanden  zu  werden ,  eben  so 
eine  Kenntniss  der  früheren  philosophischen  Anschauungen,  wie  sie 
bei  einem  Schüler  des  Gymnasiums  nicht  erwartet  und  auch  nicht 
vorausgesetzt  werden  kann :  es  wird  demselben  hier  Manches  un- 
verständlich bleiben,  da  er  nicht  diejenigen  Vorkenntnisse  und  die- 
jenige philosophische  Vorbildung  besitzt,  um  in  das  volle  Ver- 
ständniss  einzudringen ,  wie  es  doch  nothwendig  ist ,  wenn  das, 
was  diese  ßchrift  bieten  will,  wahrhaft  erkannt  und  erfaset  wer- 
den soll. 


Bio  emlesing  uit  middelnedtrlandsche  dichters ,  bijeenversameld 
door  Dr.  E.  Verwijs,  Archiv  aris-Bibliothecaru  der  Provincie 
Friesland.  Met  Woordenlijst  en  Spraakkunst.  Zutfcn  (1858 — 
1867).  D.  1  182,  11  216,  III  196,  IV  242  SS.  fl.  6. 

Der  Verfasser ,  der  unter  den  jüngeren  Kräften ,  die  sich  an 
De  Vries  angeschlossen  haben,  eine  der  bedeutendsten  ist  und  sieh 
bereits  durch  verschiedene  kritische  Ausgaben,  darunter  die  in  Ge- 
meinschaft mit  De  Vries  besorgte  des  Spieghel  historiael  von  Jacob 
van  Maerlant  bekannt  gemacht  hat,  gibt  im  vorliegenden  Werke 
eine  Reibe  von  ziemlich  umfangreichen  Proben  aus  den  bedeutend- 
sten Schriftwerken  der  mittelniederländischen  Literatur.  Auch  diese 
Arbeit  des  Herrn  Verwijs  verdient  alle  Achtung,  namentlich  wenn 
man  sie  vergleicht  mit  denen  seiner  Vorgänger,  z.  B.  mit  dem 
Handboek  van  den  vroegsten  bloei  der  Nederlandsche  letterkunde 
von  Lulofs,  Groningen  1845.  Freilich  ist  seitdem  in  den  Nieder- 
landen die  alte  Literaturgeschichte  mit  besonderem  Eifer  und  Er- 
folg betrieben  worden,  so  dass  ein  Werk  dieser  Art,  das  vor  20 
Jahren  erschienen  ist,  als  unbedingt  veraltet  gelten  muss;  aber  es 
muss  doch  hervorgehoben  werden ,  dass  das  vorliegende  Buch  ge- 
rade einer  höheren  Auffassung  von  den  Aufgaben  einer  solchen 
Chrestomathie  nachstrebt  und  nahe  kommt.  In  den  drei  ersten 
Thoilen  werden  die  ausgewählten  Stücke  in  einem  kritisch  gereinig- 
ten Texte  mit  kurzer  literarhistorischer  Einleitung  gegeben,  und 
Sm  viorten  ein  Wörterbuch  und  eine  mnl.  Laut-  und  Formenlehre 
beigefügt.  Es  lässt  sich  also  die  Einrichtung  im  allgemeinen  mit 
dem  freilich  weniger  umfangreichen  mhd.  Lesebuch  von  Weinhold 
vergleichen. 

Beginnen  wir  bei  Besprechung  der  Einzelheiten  mit  einer  Aus- 
stellung, die  sich  gegen  die  äussorliche  Erscheinung  der  Proben 
richtet.  Die  Niederländer  behalten  in  ihren  Ausgaben  mehr,  als 
wir  es  bei  den  unsrigen  thnn,  die  Orthographie  der  Handschriften 
bei.  Sie  haben  dafür  ihre  guten  Gründe,  namentlich  bei  Hand- 
schriften eines  gewissen  Alters  oder  bei  solchen,  die  allein  die 
Ueberlieferung  vertreten.    Allein  bei  einer  Anthologie,  die  doch 


Verwijs:  Bioemi ezing  uit  middelnederlandeche  dichter«.  TOI 

niemals  die  Ausgaben  selbst  zu  ersetzen  beanspruchen  kann,  hätte 
von  diesem  Prinzip  wol  abgegangen  werden  können ;  es  hätte  in 
den  Texten  die  Orthographie,  wie  sie  die  wissenschaftliche  Gram- 
matik verlangt,  durchgeführt  werden  sollen.  Jetzt  findet  man  in 
der  Bloemlezing  von  Verwijs  Formen  wie  jamberlike  kaitivo  huze 
beeren,  nnd  andere  Schreibungen,  welche  zum  Theil  wenigstens 
gewiss  nur  dem  späteren  Abschreiber,  nicht  aber  dem  Dichter  zu- 
kommen. Ks  müsste  eine  einheitliche  Orthographie  namentlich  auch 
den  Angehörigen  höherer  Schulen,  für  die  das  Buch  doch  wol  in 
erster  Linie  bestimmt  ist,  die  Auffassung  wesentlich  erleichern. 

Die  Texte  sind  nach  den  besten  Ausgaben  wiederholt :  wo  die 
Ausgaben  nicht  befriedigten,  ist  auf  die  Handschriften  selbst  zurück- 
gegangen worden,  wie  wir  dies  beim  Fergunt  durch  die  Güte  eines 
Freundes  zu  beurtheilen  in  den  Stand  gesetzt  sind.  Einige  Stüoke 
sind  mitgetheilt,  welche  bis  jetzt  wenigstens  noch  nicht  herausge- 
geben sind,  deren  kritische  Bearbeitung  nach  den  Handschriften 
Hr.  Verwijs  also  selbst  besorgt  hat.  So  ein  Stück  der  in  einer 
Oxforder  Handschrift  vorhandenen  Teesteye  dos  Jan  Boendale  ge- 
nannt de  Clerc;  ein  Stück,  welches  die  demokratischen  und  anti- 
klerikalen Ideen  des  Antwerpeuer  Stadtschreibers  in  höchst  anzie- 
hendem, kräftigem  Ausdrucke  erkennen  lässt  und  welches  die  von 
einer  künftigen  Ausgabe  des  gesammten  Werkes  gehegten  Erwar- 
tungen allerdings  durchaus  rechtfertigt.  Ebenfalls  bis  jetzt  noch 
nicht  herausgegeben  ist  der  Mellibeus,  eine  Sittenlehre,  die  sich 
freilich  mit  der  Teestoye  nicht  messen  zu  können  scheint. 

Weniger  befriedigt  die  lyrische  Abtbeilung  (III,  S.  115 fg.). 
Die  Minnelieder  Herzog  Jans  I.  von  Brabant  sind  nach  der  mnl. 
Herstellung  von  Willems  mitgetheilt.  Diese  Herstellung  aus  mhd. 
Formen  ist  unstreitig  eine  sehr  schwierige  Aufgabe  und  überzeu- 
gend ist  sie  bis  jetzt  noch  nicht  gelöst.  Aber  ganz  unglaublich 
wird  wol  allen  deutschen  Lesern  die  Art  erscheinen,  in  welcher 
Hr.  Verwijs  selbst  die  mnl.  Lyrik  um  ein  Lied  zu  bereichern  gewusst 
hat.  S.  124  heisst  es  unter  dem  einfachen  Titel  Zoet  gedenken: 

Onder  der  linden 
Uptie  weide, 

Waer  (müsste  doch  wol  heissen  Daer)  ons  twe«r  bedde  was, 
Daer  moochdi  vinden, 
Scone  beide 

Ghebroken  bloemen  ende  gras, 
Vore  dat  wout  altemael, 
Tandaradei ! 

Scone  sanc  die  nachtegael. 
Ic  quam  ghegaen  enz. 

Im  Ernste  kann  Herr  Verwijs  doch  nicht  angenommen  haben, 
dass  Walther  von  der  Vpgelweide  mittelniederländisch  gedichtet 


792     Jan  ten  Brink:  GeucMedeni«  der  nederUndscbe  letterknnde. 


hat.  Soll  es  aber  ein  Scherz  sein,  so  fragt  es  sich  doch  sehr,  wie 
viel  verstandige  Leser  daran  Gefallen  finden.  Für  Unkundige  ist 
es  doch  wol  nicht  ganz  unverfänglich,  dass  Walthers  Lied  ohne 
weiteres  unter  niederländischen  Volksliedern  erscheint,  ohne  dass 
irgendwie,  in  der  Ueberschrift ,  oder  in  einer  Anmerkung  oder  im 
Register  die  leiseste  Andeutung  der  Wahrheit  zu  finden  ist.  Wo 
bleibt  da  die  Philologie?  wo  bleibt  die  Wissenschaft? 

Um  mit  Erfreulicherem  zu  schliessen,  so  ist  auch  dem  letzten 
Theile,  dem  Wörterbuch  und  der  Grammatik,  Kürze  und  dabei 
Inhaltsfülle  nachzurühmen.  Von  der  Grammatik  sagt  der  Heraus- 
geber :  er  müsse  geltend  machen ,  dass  la  recherche  de  la  pater- 
nite  interdite  sei.  Auch  wir  halten  darum  unsere  nicht  grundlose 
Vermuthung  zurück.  Es  genüge  zu  sagen ,  dass  die  Grammatik 
einen  vortrefflichen  Abriss  der  Laut-  und  Formenlehre  bietet.  Ein- 
zelnes, wie  die  in  einer  Anmerkung  gegebene  Ableitung  von  diet, 
gotisch  thiuda  aus  griechisch  thjg  dyrog  wird  freilich  kaum  Bei- 
iall  finden.  Für  eine  spätere  Arbeit  dieser  Art  möge  der  Wunsch 
ausgesprochen  werden,  dass  sie  das  vollständige  Material  der  mnl. 
Grammatik  und  zwar  mit  den  Belegstellen  liefere. 

Ernst  Martin. 


Dr.  Jan  ten  Brink,  ßchets  eener  geschiedene  der  nederlandsche 
letterkunde.  (Nederlandsche  klassieren,  uitgegeven  en  met  aan- 
teekeningen  vooreien  dnor  Dr.  Eeleo  Veririjt.)  I^eewrarden, 
1867,  l*  aflevering.  S8.  128.  fl.  0,85. 

Die  von  Herrn  Verwijs  veranstaltete  Sammlung  niederländi- 
scher Klassiker,  der  wahrscheinlich  deutsche  Unternehmungen  dieser 
Art  zum  Muster  gedient  haben,  soll  hauptsächlich  die  wichtigsten 
Werke  aus  der  neueren  Blütezeit  der  holländischen  Literatur,  aus 
dem  XVII.  Jahrhundert  in  einzelnen  Bändchen  und  mit  Erläute- 
rungen weiteren  Kreisen  zugänglich  und  verständlich  machen.  Aus- 
nahmsweise sind  auch  andere  Arbeiten  von  gleichem  populären 
Interesse  aufgenommen  worden,  darunter  die  Skizze  einer  nieder- 
ländischen Literaturgeschichte  von  Herrn  ten  Brink.  Die  erste 
Abtbeilung  dieses  Werkes  umfasst  den  grössten  Tbeil  der  mnl. 
Literatur,  ein  Gebiet,  das  auch  deutschen  Philologen  von  beson- 
derem Interesse  sein  muss ,  von  grösserem  jedesfalls  als  die  aus 
Nachahmung  der  Alten  und  der  Franzosen  hervorgegangene  zweite 
Blüteperiode.  Es  wird  daher  auch  für  deutsche  Leser  eine  Be- 
sprechung dieses,  wenn  brauchbar,  recht  willkommenen  Hilfsmittels 
nicht  unpassend  erscheinen. 

Gehen  wir  bei  der  Besprechung  von  der  Form  der  Arbeit 
aus,  von  der  Darstellung,  dem  Ausdrucke:  so  ist  zunächst  daran 
zu  erinnern,  dass  in  den  Niederlanden  überhaupt  unter  dem  Ein- 


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Jan  ten  Brink:  Geschieden!*  der  nederlandeche  letterkunde.  793 


fluss  französischer  Werke  eiu  grösseres  Gewicht  auf  eine  blühende, 
lebhafte  Diction  gelegt  wird  als  bei  uns.    Dass  gerade  Herr  ten 
Brink  dieser  Darstellungsweise  zuneigt ,   zeigte  uns  eine  feurige 
Rede  über  einen  Dichter  des  XVII.  Jahrhunderts,  die  wir  auf  dem 
Niederländischen  Congress  zu  Gent  im  August  d.  J.  zu  hören  Ge- 
legenheit hatten.  Dem  entspricht  nun  auch  der  Stil  dieses  Buches, 
und  niemand  würde,  zumal  bei  dem  populären  Zwecke  etwas  daran 
auszusetzen  haben,  wenn  nicht  das  Mass  eben  zuweilen  Überschrit- 
ten wäre     Das  scheint  aber  doch  der  Fall  zu  sein,  wenn  es  S.  92 
heisst:  »Sant  Brandan  erscheint  in  seiner  Legende  theils  als  Faust, 
theils  als  Colnmbus,  theils  als  Odysseus.    Er  fangt  an  als  Zweifler 
und  gibt  die  Wunder  der  göttlichen  Schöpfung  auf.    Darum  der 
Befehl  eines  Engels,  dass  er  sich  auf  Reisen  begeben  solle  um  mit 
eignen  Augen  das  zu  sehen,  was  ihm  unglaublich  vorkam.  Nun 
schweift  er  ziellos  umher  wie  der  Fürst  von  Ithaka  und  sieht  die 
unerhörtesten  Wunder  und  Seeungethüme.«  Das  genügt  denn  doch 
kaum  um  Brandan  mit  Faust,  Columbns  und  Odysseus  zu  verglei- 
chen.   Ein  zweiter  Vorwurf,  den  man  gegen  die  Darstellungsweise 
des  Verf.  erheben  könnte ,  ist  das  Uebermass  des  Citirens.  Von 
einem  Autor  geht  er  zum  andern  über  und  namentlich  die  Litera- 
turgeschichte von  Jonckbloet  wird  stark  in   Contribution  gesetzt. 
Etwas  anderes  ist   die  Einmischung  von  Proben  aus  der  alten 
Poesie;  es  ist  dies  freilich  die  einzige  Art  demjenigen,  der  die  be- 
treffenden Werke  nicht  nachlesen  will  oder  kann,  eine  gewisse  An- 
schauung von  ihnen  zu  geben.    Ein  drittes  endlich  ist  das  Anfüh- 
ren von  Werken,  die  ausserhalb  des  eigentlichen  Kreises  der  Be- 
schreibung liegen,  und  hier  scheint  uns  wieder  von  dem  Verfasser 
etwas  zu  viel  getban  zu  sein.  Z.  B.  S.  6  sollen  die  verschiedenen 
Arten  der  lyrischen  Gattung  aufgeführt  werden:  »Unter  die  lyrische 
Dichtungsart  reihen  wir  unter  anderem  das  Volkslied  des  Mittel- 
alters und  des  XVI.  Jahrhunderts ,  insonderheit  die  Ode  in  ihren 
verschiedenen  historischen  Formen  von  den  Dithyramben  Pindars 
bis  zu  den  Chören  von  Sophokles ,  von  Racine  und  Vondel ,  von 
Göthes  unnachahmlichem  Lied  bis  zu  Heines  Jugendgesängen,  von 
den  Elegien  des  Tibuil  und  Properz  bis  zu  den  Chansons  von  B6- 
ranger.«  Wer  die  hier  angeführten  Beispiele  kennt,  der  wird  schwer- 
lich aus  der  Einleitung  des  Verf.  über  die  Dichtungsarten  etwas 
zu  lernen  haben;  und  was  helfen  sie  dem,  der  sie  nicht  kennt? 
Zur  letzteren  Classe  von  Lesern  dürften  doch  wol  sämmtliche  Schü- 
ler der  höheren  Bürgerschulen  gehören,  für  die  der  Verf.  in  sei- 
nem Vorworte  das  Buch  vorzüglich  bestimmt. 

Gehen  wir  zur  Anordnung  des  Stoffes  über,  so  ist  die  Perio- 
deneintheilung  des  Verfassers  die  folgende:  »I,  1150-1550  Mittel- 
alter :  Ritterpoesie  —  Ascetische  Literatur  —  Didaktische  Richtung 
der  bürgerlichen  Literatur;  1550  —  1600  Uebergangszeit ;  II,  1600 
—1795  DieLitoratur  der  Republik  der  Vereinigten  Provinzen  unter 
dem  Einfluss  der  Renaissance;  1795  —  1830  Uebergangszeit;  III, 


704     Jan  tcn  Brink:  Geschieden!*  der  nederUndB€he  letterknnde. 


1830  bis  beute:  Moderne  Literatur  des  konstitutionellen  König- 
reichs der  Niederlande  unter  dem  Einflnss  der  Romantik.«  Spreeben 
wir  blos  von  der  ersten  Periode,  so  scheinen  deren  Grenzen  nicht 
ganz  richtig  festgestellt  zu  sein.  Abgesehen  von  Veldekes  Ser- 
vatius (den  wir  uns  erlauben  zur  deutschen  Dichtung  zu  rechnen) 
ist  auch  nicht  ein  mnl.  Dichtwerk  als  sicher  vor  1200  entstanden 
nachzuweisen:  vermuthen  kann  man  es  höchstens  bei  einigen  der 
Karlromane.  Und  ebenso  ist,  als  das  Ende  der  eigentlich  mittel- 
alterlichen Dichtung  und  als  der  Beginn  der  Uebergangsliteratur 
ein  anderes  Datum  gewiss  passender:  1430,  um  welche  Zeit  das 
bnrgundische  Herrscherhaus  ganz  Niederland  erworben  hatte  und 
damit  die  französische  Sprache  durchaus  in  den  Vordergrund  ge- 
drängt wurde,  während  zu  gleicher  Zeit  die  Poesie  der  Rhetorykers, 
ebenfalls  unter  französischem  Einflüsse  stehend,  die  übrige  dich- 
terische Production  so  gut  wie  ganz  erstickte.  Auch  innerhalb  die- 
ser Zeit  scheint  uns  eine  Periodeneinrichtung  nicht  unmöglich.  Ist 
doch  seit  Maerlands  Reimbibel  1271  bis  zu  Jan  Boendales  Tod 
1365  die  bürgerlich-didaktische  Richtung  die  unbedingt  siegreiche, 
der  die  Menestreeldichtung  nach  französischen  Romanen  voraus- 
geht, die  allegorische  Poesie  der  Sprekers  folgt.  Wir  denken  diese 
Eintheilung  an  einem  anderen  Orte  auszuführen.  —  Wirft  man  da- 
gegen alle  der  ersten  Periode  angehörigen  Werke  derselben  Gat- 
tung und  desselben  Stoffes  zusammen,  wie  Herr  ton  Brink  thut, 
so  erscheinen  Werke  ganz  verschiedenen  Charakters,  z.  B.  Brandaen 
und  S.  Amand  nebeneinander.  Aber  auch  abgesehen  vom  Princip 
kann  man  mit  der  Ausführung  des  Verf. ,  mit  seiner  Einordnung 
der  einzelnen  Gedichte  unter  die  Sagenkreise  nicht  durchaus  ein- 
verstanden sein.  Floris  ende  Blaucefloer  erscheint  unter  den  Karl- 
romanen ;  aber  die  Anknüpfung  an  diese  ist  doch  eine  ganz  äusser- 
liohe  —  Baerte  motten  breden  voeten  soll  die  Tochter  des  Floris 
gewesen  sein  —  ;  die  eigentliche  Sage  ist  vielmehr  byzantinisch.  Ein 
ähnliches  Verhältniss  ist  bei  der  Sage  von  Parthenopeus  und  Me- 
liur  vorhanden,  welche  man  in  der  Literaturgeschichte  des  Herrn 
ten  Brink  vergebens  sucht. 

Frägt  man  weiter  nach  der  Richtigkeit  des  Mitgetheilten,  so 
ist  im  Allgemeinen  die  Sorgfalt  des  Verfassers  anzuerkennen.  Dass 
W.  Grimms  Rolandslied  1858  erschienen  sein  soll  (S.  31)  ist  wol 
nur  ein  Druckfehler  für  1838.  Mehr  verdient  Rüge,  dass  der  Verl 
öfters  Vermnthungen  anderer  als  Gewissheit  gegeben  hat,  selbst 
wenn  sie  seitdem  ihre  Widerlegung  gefunden  haben  und  von  den 
Urhebern  selbst  zurückgezogen  worden  sind.  So  wird  S.  75  be- 
hauptet und  S.  74  und  116  wiederholt,  dass  Jacob  von  Maerlant 
seine  Alexanders  Geesten  1246  geschrieben  habe.  Jonokbloet  hatte 
dies  allerdings  in  seiner  Literaturgeschichte  behauptet  und  den 
Widerspruch,  der  darin  liegt,  dass  Pabst  Innocenz  IV.  als  gestor- 
ben (1254)  erwähnt  wird,  hiuwegzuräumen  gesucht;  allein  bei  den 
Verhandlungen  des  Niederländischen  Congresses  zu  Brügge  sagte 


Jan  ten  Brink:  Geschieden!*  der  nederUndsche  letterknnde.  795 

er  selbst:  »Die  Vergleicbung  des  Maerlant' sehen  Werkes  mit  sei« 
ner  lateinischen  Quelle,  der  Alexandreis  Ganthiers  von  Cbatillon  lehrt 
deutlich,  dass  ich  mich  irrte,  als  ich  das  Jahr  1246  als  Zeitpunkt 
für  die  Abfassung  der  Uebersetzung  annahm ,  die  sicher  erst  10 
Jahre  später  fallt.«  Dies  Datum  ist  aber  von  grosser  Wichtigkeit, 
nicht  nur,  weil  es  eins  der  ersten  in  der  mnl.  Literaturgeschichte 
ist,  sondern  weil  im  Alexander  auch  verschiedene  andere  mnl. 
Dichtungen  und  Sagen  angeführt  werden,  die  natürlich  noch  früher 
entstanden  sein  müssen.  Eher  darf  man  einem  Niederländer  ver- 
zeihen, dass  er  das  mhd.  Rolandslied  des  Pfaffen  Eonrad  noch  nach 
W.  Grimm 8  Vermuthung  1173—1177  entstand  en  sein  lässt,  wäh- 
rend jetzt  bei  den  deutschen  Fachgenossen  die  Ueberzeugung  so 
ziemlich  allgemein  sein  dürfte,  dass  es  1131  oder  1132  gedichtet 
ist.  8.  Oskar  Schade,  veterum  monumentorum  Theotiscorum  decas, 
Hallenser  Habilitationsschrift.  Weimar  1860. 

Am  meisten  aber  tritt  das  zuversichtliche  Behaupten  der  von 
Anderen  als  Vermuthung  aufgestellten  Ansichten  störend  hervor  in 
dem  Abschnitt  X  vom  Thierepos.  Schon  der  Name  Thierepos  ist 
ein  unzweifelhaft  misbräuchlicher.  J.  Grimm,  desselben  Ansicht  man 
mit  diesem  Namen  wiederzugeben  glaubt,  scheint  ihn  fast  absicht- 
lich vermieden  zu  haben.  Er  spricht  von  einer  Thiersage,  die  er 
aus  der  ältesten  Zeit  nicht  nur  des  deutschen ,  sondern  des  indo- 
germanischen Urvolkes  stammen  lässt.  Er  meint  damit  z.  B.  die 
Erzählung  von  dem  Fuchse,  der  in  eine  Färberkufe  gefallen  und 
so  unkenntlich  geworden  den  Wolf  oder  andere  Thiere  täuscht, 
oder  die,  wie  der  Fuchs  den  Wolf  zum  Fischfang  auf  das  Eis 
führt.  Dergleichen  Erzählungen  finden  sich  allerdings  .heutzutage 
bei  vielen  Völkern  und  sie  können  schon  eine  geraume  Zeit  als 
Märchen  von  Mund  zu  Mund  gegangen  sein.  Aber  das  ist  doch 
nicht  genügend  um  von  einem  Epos  zu  sprechen.  Zum  Epos  ge- 
hört nothwendig  die  dichterische  Form  und  zwar  die  Liederform. 
—  Gehn  wir  nun  auf  die  einzelnen  Bemerkungen  des  Herrn  ten 
Brink  ein.  »Schon  im  IV.  V.  VI.  Jahrhundert  entstand  inmitten 
der  germanischen  Wälder  bei  den  umherschweifenden  Stämmen  ein 
lebendiges  Interesse  für  alles,  was  die  Thierwelt  anging.«  Woher 
hat  der  Verfasser  dies  Datum?  Und  weiss  er  nicht,  dass  schon  zu 
Tacitus'  Zeit  die  Deutschen  keine  Nomaden  mehr  waren  ?  —  Ebenso 
zuversichtlich  und  dabei  halb  unrichtig  ist  Grimms  Ansicht  wieder- 
gegeben in  der  Anmerkung  auf  S.  77:  »Grimm  bat  bereits  bewie- 
sen, dass  Beinhart  eine  Zusammenziehung  war  von  Beginhart  oder 
von  dem  gotischen  Raginohart  mit  der  Bedeutung  Bathgeber, 
welche  Bedeutung  in  den  späteren  französischen  Bearbeitungen 
nicht  verloren  gegangen  ist.«  Grimm  selbst  ist  sehr  ungewiss,  ob 
in  den  Worten  des  Benart:  si  ai  maint  bon  conseil  done*,  par  mon 
droit  non  ai  non  Benart,  wirklich  eine  Erinnerung  an  die  von  ihm 
aufgestellte  Bedeutung  des  Namens  Beinhart  liege.  Dabei  begeht  er 
auch  nicht  den  grammatischen  Fehler  von  einem  gotischen  Bagino- 


706 


Die  Urform  der  VossMachen  UebersetBung. 


hart  zu  sprechen  (denn  znr  Zeit  des  Ulfilas  würde  der  Name  Ra- 
ginabardus  gelautet  haben,  im  westgotischen  des  IX.  Jahrhunderts 
lautete  er  Rainbart,  s.  Haupts  Zeitschrift  für  deutsche  Alterthums- 
wissenschaft I,  390) ;  sondern  er  spricht  nur  von  einer  ältern  d.  h. 
noch  immer  althochdeutschen  Form  Raginohart.  Endlich  ist 
Grimms  Uebersetzung  des  Namens  Reginbart  als  Ratbgeber  un- 
zweifelhaft falsch. 

Wie  der  Verf.  nun  für  den  Ursprung  der  Thiersage  die  An- 
sicht J.  Grimms  als  gewiss  hinstellt,  so  gibt  er  auch  bei  der  Dar- 
stellung der  unmittelbaren  Quelle  des  Reinaert,  des  französischen 
Roman  du  Renart  die  Versuche  Jonckbloets  diesen  spröden  Stoff  zu 
bewältigen  mit  der  grüssten  Zuversicht  wieder.  S.  78.  79.  Anm.  I. 
Und  doch  scheinen  diese  Versuche  nicht  das  richtige  getroffen  zu 
haben  und  sie  mussten  verunglücken,  so  lange  sie  sich  nur  auf  die 
Ausgabe  Meons  stützen  konnten. 

Wir  müssen  hoffen ,  dass  die  folgenden  Bändchen  über  die 
neuere  Blüteperiode  der  niederländischen  Literatur,  ein  Gebiet,  auf 
dem  der  Verf.  schon  selbständige  Arbeiten  veröffentlicht  hat,  mehr 
ihrem  Zwecke  entsprechen  als  das  erste. 

Ernst  Martin. 


Die  Urform  der  Voss*ischen  Uebersetzung  vom  Lob  Italiens.  Vergihi 
Georgica,  IL  136—176. 

Vor  vielen  Jahren  fand  ich  in  einem  Leipziger  Antiquariat 
zwei  alte  Quartblätter,  welche  die  metrische  Uebersetzung  eines 
Bruchstückes  aus  dem  zweiten  Gesänge  der  Georgiken  Vergil's  ent- 
halten. Die  Voss'iscbe  Uebersetzung  kannte  ich  damals  noch  nicht, 
und  jene  Blätter  kamen  bald  in  Vergessenheit.  Erst  später  stellte 
sich  mir  durch  Vergleichung  der  letzteren  mit  der  ersten  Ausgabe 
(1789)  die  Vermuthung  heraus,  dass  jene  aus  einer,  vor  dem 
Druck  angefertigten  Handschrift  der  Uebersetzung  Voss'  stam- 
men mtissten,  ja,  die  spätere  Einsicht  in  Voss'ische  Original- 
manuscripte gab  mir  sogar  die  erfreuliche  Gewissheit,  dass  die 
Blätter  von  Voss'  eigener  Hand  geschrieben  sind.  Es  sind  die  kräf- 
tigen, aber  schon  zur  plastischen  Schönheit  seiner  spätem  Schrift- 
ztige  neigenden  Charaktere;  die  ganze  äussere  Form  der  Scriptor 
aber  zeugt  von  jener  ehrenhaften  Solidität,  von  jenem  reinen  Formen- 
sinn, welche  die  Grundzüge  vom  Charakter  Voss1  selbst  bilden.  Da 
der  erste  Gesang  seiner  Georgika  (unter  dem  Titel :  >Virgirs  Land- 
leben «)  1783  im  »deutschen  Museum«,  der  ganze  »Landbau«  aber 
zuerst  1789  erschien,  so  müssen  jene  Blätter  aus  den  dazwischen 
liegenden  Jahren  stammen,  was  auch  aus  der  auffallenden  Gleich- 
heit der  Schrift  mit  Manuscripten  aus  dieser  Periode  erhellt. 


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Die  Urform  der  Voas'iachen  Ucberaetmng. 


797 


Wenn  ich  mm  dieses  Bruch  stück ,  das  glücklieber  Weise  das 
grandiose  »laus  Italiae«  ganz  enthält,  hier  mittheile,  so  will  ich 
die  Berechtigung  dazu  nicht  einmal  herleiten  weder  aus  Lessing's 
treffendem  Worte  (in  den  > Literaturbriefen«  in  der  Anzeige  des 
> Messias«)  über  Veränderungen  und  Verbesserungen,  welche  die 
Dichter  in  ihren  Werken  machen,  und  den  Werth  des  Studiums 
derselben ,  noch  aus  Vischer's  (Aesthetik,  III.  20.)  Werthbestim- 
mung der  Skizzen  finden,  »der  in  die  Gebeimuisse  des  Werdens 
des  Kunstwerks  eindringen  will.«  In  dieser  Zeit  der  oberflächlich- 
sten und  gewissenlosesten  Schnellproduction,  wo  Platens  Mahnung : 
»Früh  von  der  Stirn  mühevoll  rinne  der  männliche  Schweiss«  — 
nicht  oft  genug  wiederholt  werden  kann,  dürfte  schon  das  ethische 
Beispiel  Voss'  nicht  ohne  segensreiche  Wirkung  bleiben,  der  sich 
selbst  nie  genug  that  und  Tag  und  Nacht  seine  Werke  läuternd  in 
der  Seele  wälzte. 

Was  für  ein  sprachliches  und  ästhetisches  Werthverhältniss 
zwischen  den  Formen  des  ersten  Gesanges  in  den  Drucken  von 
1783  und  1789  besteht,  weiss  ich  nicht,  da  mir  erstere  bisher 
unbekannt  geblieben  ist;  aber  das  ästhetische  (das  philologische 
muss  ich  Fachmännern  überlassen)  zwischen  den  nachfolgenden 
Versen  und  ihrer  Gestalt  im  Druck  von  1789  bezüglich  innerer 
und  äusserer  Formschönheiten  ist  ein  so  gewaltig  verschiedenes, 
dass  wir  aus  ihm  nur  mit  Rührung  den  neuen  Beweis  von  Voss* 
»ernster  und  ausdauernder  Arbeit  und  seines  unermüdlichen  Fleis- 
ses«  (Prutz,  Gött.  Dichterb.)  entgegen  nehmen  kennen. 

Ich  gebe  nun  folgend  nicht  nur  das  »Lob  Italiens«,  sondern 
selbstredend  das  ganze  erhaltene  Manuscript,  und  zwar  mit  diplo- 
matischer Genauigkeit. 

Manuscript. 

»Oder  was  Indien  sonst  in  der  Erde  fernesten  Winkeln 
Nah   dem  Meere  für   Wälder   trägt?   wo  den  Wipfel  der 

Bäume 

Kein  Pfeil  von  der  straffesten  Sehne  verschossen  erreichet: 
125  So  gesehickt  auch   diess  Volk   den  Bogen  zu  führen  ver- 
stehet. 

Media  erzeuget  den  Apfel  (die  Citrone)  von  lange  dauernder 

Herbe, 

Dessen  heilsamer  Saft,  die  schleunigste  Hilfe  gewähret, 
Wenn  Stiefmütter  voll  Tücke,  den  anvertraueten  Kindern, 
Ihr  Getränk  vergiften,  mit  Kräutern  und  schädlichen  Sprüchen, 
180  Kühlend  befreyet    er  bald   die  Glieder  vom  schleichenden 

Tode. 

Hoch  ist  der  Baum,  und  gleicht  an  Gestalt  und  an  Farbe 

dem  Lorber. 


798 


Die  Urform  der  Vois'lschen  TJebersetiung. 


Jedermann  hielt  ihn  dafür,  wofern  er  nicht  andere  Düfte 
Weit  umher  verströmte.  Kein  Sturm  entreisst  ihm  die  Blätter, 
Noch  die  festen  Blühten:  des  Mundes  widrigen  Odem 
135  Bessert  der  Meder  durch  ihn,  und  heilet  die  keuchenden  Greis*,  c 

(Lob  Italiens.) 

>Aber  weder  India,  reichgesegnet  an  Wäldern, 
Noch  der  stolze  Ganges,  noch  Hermus  von  Golde  getrübet, 
Ringt  um  den  Preis  mit  Italien :  weder  der  Indus,  noch  Baktra, 
Noch  das  fette  Panchäa,  mit  weibrauchtragendem  Sande. 

140  Hier  hat  niemals  ein  Stier,  von  feuerschnaubendem  Rachen, 
Zähne  schrecklicher  Hydern,  dem  Boden  untergepflüget : 
Niemals  starrte  die  Saat,  von  Speeren  bepanzerter  Krieger. 
Aber  schwangere  Halmen,  und  Libers  Massische  Traube, 
Füllen  die  selige  Flur,  und  Oliven  und  fröliche  Heerden. 

145  Hier  zeucht  muthig  zum  Kampfe,  mit  stolzer  Mähne  das 

Streitro8S ; 

Weisse  Heerden,  gebadet  im  heiligen  Strome  Klitumnens, 
Und  den  mächtigen  Stier,  (der  Sioger  erhabenstes  Opfer) 
Führet  der  Römer  hier  oft,  im  Triumph  zu  den  Tempeln  der 

Götter. 

Hier  herrscht  ewiger  Lenz,  mit  dem  8ommer  in  lieblichem 

Wechsel: 

150  Zweymahl  gebieret  das  Vieh,  und  zweymal  blühet  der  Frucht- 

baum. 

Fern  ist  der  Löwen  schreckliche  Brut,  und  der  reissenden 

Tiger. 

Auch  betrüget  den  Kräuterleser,  kein  tödtliches  Wolfskraut: 
Keine  schuppichte  Schlange,  zioht  in  entsetzlichen  Krümmen, 
üeber  das  Feld,  und  keine  lauscht  in  geringelten  Kreisen. 
155  Denke  dir  noch  die  Werke  der  Kunst:  so  viel  prangende 

Städte : 

So  viel  Festen,  auf  unersteigliche  Felsen  gethtirmet: 
So  viel  Ströme  die  sich  um  Mauren  des  Alterthums  winden. 
Wie  besing  ich  den  Adrischen,  wie  den  Thuscischen  Pontut. 
Wie,  den  Larischen  See,  und  deine  Tiefen  Benakus, 
160  Der  du  dein  brausendes  Wasser,  gleich  Meereswogen  empor- 
schwellst. 

Wie  besing  ich  den  Port,  und  den  schützenden  Damm  des 

Lnkrinsees, 

Oder  den  Donner  der  zürnenden  Fluth,  wo  die  Julische  Welle, 
Die  Gewässer  des  Meers,  in  rasendem  Kampfe  zurückdrängt, 
Und  Tyrrheniens  Wagen,  in  den  Avernischen  Schlund  wirft. 
165  Ja,  diess  nämliche  Land  hegt  Kupfer  und  Adern  von  Silber 
In  den  Busen  der  Berge,  und  wälzt  Gold  in  den  Strömen. 


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Die  Urform  der  Voss'ischen  Uebereeteung. 


799 


Dieses,  erzeugte  die  kriegerischen  Marser,  die  harten  Ligurer, 
Und  Sabiniens  Volk,  und  die  lanzeniübrenden  Volsker: 
Dieses,  die  Decier,  Manier  und  die  erhabnen  Kamillen, 
170  Der  Scipionen  Heldengeschlecht,  und  dich  mächtiger  Caesar! 
Der  du  jetzt  an  Asiens  fernesten  Ufern  ein  Sieger 
Schon  den  entwaffneten  Inder,  durch  Römische  Festen  zurück- 
schreckst. 

Heil  dirl  grosse  Mutter  der  Früchte,  Saturnische  Tellus 
Mutter  der  Helden!  dich  lehr'  ich  die  nähmliohen  Künste  der 

Vorwelt, 

175  Dir  eröfn'  ich  voll  Mutb,  der  Dichtkunst  heiligen  Quell  und 
Sing  in  Romulischen  Städten,  das  Lied  des  Barden  von  Askra. 
»Izü  betrachte  mein  Blick,  der  Felder  Färb1  und  Naturart, 
Und  der  Erde  Gehalt,  und  ihre  verschiedenen  Kräfte. 
Karge  Hügel,  ein  Feld  das  den  Pflüger  zu  lohnen  sich  weigert, 

180  Kies  und  magerer  Thon,  mit  Haidekrautstauden  bewachsen, 
Lieber  der  Haine  Minervens  langelebenden  Oelbanm. 
Solches  bezeugt  der  Oleaster  (Oleaster,  wilder  Oelbaura),  der 

häufig  in  solcher 
Erde  spriesst,  und  den  Boden  mit  wilden  Beeren  bestreuet. 
Aber  ergiebiges  Land,  von  milder  Nässe  geschwängert, 

185  Das  von  Fruchtbarkeit  strotzt,  und  dicht  in  Kräuter  gehüllt  ist, 
(Wie  wir  oft  in  den  Thälern  zwischen  Gebirgen  erblicken 
Wo  der  waldichte  Fels  geschlängelte  Bäche  herabgiesst 
Reich  an  düngendem  Schlamm)  ein  Berg  der  vom  Mittag  be- 
leuchtet 

Wildes  Farrenkraut  nährt,  zu  des  krummen  Pfluges  Ver- 
derben, 

190  Diese  verheissen  dereinst  uns  starke,  vom  Safte  Lyäens 
Ueberfliessende  Reben,  diese  verheissen  uns  Trauben, 
Diese  den  Opferwein,  den  wir  aus  goldener  Schale  vergiessen, 
Wenn  der  Rauch  der  Geweide,  von  heiligen  Schüsseln  empor- 
steigt, 

Und  der  frohe  Tyrrbener,  die  Flöte  von  Helfenbein  spielt. 

195  Hast  du  beschlossen  für  Kälber  und  Rinderheerden  zu  sorgen, 
Oder  Sohaafe  zu  ziehn,  und  staudenverheerende  Ziegen ; 
So  benutze  des  fernen  Tarents  gesegnete  Forsten, 
Oder  ein  Feld,  wie  Mantua  jüngst  an  die  Sieger  verlohren, 
Das  den  glänzenden  Schwan,  in  Mincius  grasichter  Flur  nährt. 

200  Nie  vermisset  die  Heerde  hier  Gras,  nie  lautere  Quellen; 
Und  was  weidende  Rinder,  in  langen  Tagen  entrupfen, 
Das  ersetzet  der  Thau,  in  der  letzenden  Kühle  der  Nächte. 
Fettes  und  schwärzliches  Land,  dass  unter  dem  Pfluge  sich 

lockert 

(Denn  die  Lockerkeit  ist  des  Pfltigers  nachahmender  End- 
zweck) 


800  Die  Urform  der  Vosei'schen  Uebersetrung. 

205  Ist  dem  Getreidebau  hold :  von  keiner  anderen  Ebne, 
Zieht  der  träge  Stier,  uns  mehrere  Wagen  zur  Tenne. 
Auch  der  Boden  ist  günstig,  von  dem  der  zürnende  Pflüger, 
Wälder  vertilgt,  die  Jahrelang  müssigen  Haine  hinwegfahrt 
>Und  der  Vögel  veraltete  Sitze,  tief  aus  der  Wurzel 

210  Reisset:  sohnell  entflieht  das  verscheuchte  Geflügel  gen  Himmel, 
Und  die  verwilderte  Flur  lacht  unter   dem  Schnitte  des 

Kolters.  *) 

Aber  kaum  Rosmarin,  für  Bienen  kaum  milderen  Zeilau, 
Träget  der  magere  Kies,  auf  hügelvollem  Gefilde, 


Es  ist  nioht  nötbig,  an  einzelnen  Beispielen  die  ungemein  fort- 
geschrittene Vollendung  der  Uebersetzung  von  1789  nachzuweisen, 
in  der  äussern  Form  durch  die  Tilgung  der  zahlreichen  weichlichen 
weiblichen  Cäsuren,  Cäsurmangels,  matter  Trochäen,  falschen  Arsen 
und  Scansionen,  auch  untergelaufener  Hiaten,  durch  die  flüssiger  ge- 
wordene Sprache  und  melodischem  Rhythmus ;  in  der  inneren  Form 
durch  das  plastischer  herausgearbeitete  Bild.  Indess  kann  nicht  ge- 
läugnet  werden,  dass  schon  hier,  wie  später  in  zahlreichen  Werken 
von  Voss,  allerdings  in  der  Umarbeitung  doch  auch  einzelue  Schön- 
heiten der  ersten  Gestalt  matteren  Formen  haben  Platz  machen 
müssen,  wie  beispielshalber  Vs.  144.  Mscr.  »Füllen  die  selige  Flur, 
und  Oliven  und  fröliche  Heerden«  —  Ausg.  1789:  »Füllten  das 
Land,  Oelgärteu  sind  rings,  und  fröhliche  Rinder«  ;  Vs.  151.  Mscr. 
»Fern  ist  der  Löwen  schreckliche  Brut  etc.«  —  Ausg.  1789: 
»und  grausamer  Löwen  Zeugungen  etc.« 


•)  „Kolter",  Pflugschaar,  engl,  coulter  (colter);  franz.  coutre;  itaL 
coltro;  lat.  culter.  8  Eduard  Müller,  ei.  Wörterb.  der  engl.  Sprache  L 
8.  242.,  u.  Frisch,  tentsch-lat.  Wörterb.  I,  588.  II,  b.  26.  unter  „culter.- 

H alber stadt.  Dr.  Frani  Weber. 


St.  61.         •  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Franci8cua  Bopp,  Glossarium  comparativum  linguat  sanscrilae, 
in  quo  omnes  sanscritae  radices  et  vocabula  usitatissima  ezpli- 
cantur  et  cum  vocabulis  graecis,  lalinisy  germanicis,  liluanicis, 
slavicis,  celticis  comparantur.  Editio  tertia,  i?i  qua  vocabula 
sanscrita  accentu  noiata  sunt  latinisque  literis  transcripta. 
Berolinij  prostat  in  liberaria  Dummkriana.  AIDCCCLXVIL 

Es  war  in  den  Heidelberger  Jahrbüchern,  dass  der  Name  Franz 
Bopp  vor  mehr  als  fünfzig  Jahren  der  gelehrten  Welt  zum  ersten 
Mal  genannt  worden.  Diese  Blätter  standen  damals  in  hohem  An- 
sehen ;  ihre  Mitarbeiter  waren  die  besten  Männer  der  Zeit.  So 
fand  sich  August  Wilhelm  von  Schlegel  veranlasst,  über  eine  Er- 
öffnungsrede, welche  A.  L.  Cbezy  in  Paris  beim  Beginne  seiner  Vor- 
lesungen über  Sanskritspracbe  und  Literatur  gehalten,  darin  einen 
Bericht  zu  erstatten.    Die  Bede  war  schon  darum  bedeutungsvoll, 
weil  sie  den  ersten  Lehrstuhl  einzuweihen  bestimmt  war,  welcher 
Überhaupt  in  Europa  für  Sanskrit  hergerichtet  worden.  Wie  natür- 
lich kam  der  Berichterstatter  am  Schlüsse  seiner  Anzeige  und  Re- 
cension  auch  darauf  zu  sprechen ,  was  zur  Zeit  wohl  in  Deutsch- 
land für  jene  Studien  zu  thun  sei.    Es  sei  noch  zu  früh,  meinte 
er,  auch  dort  bereits  Lehrstellen  für  die  indische  Sprache  stiften 
zu  wollen.     Bis  man  einen  reicheren  gedruckten  Vorrath  habe, 
könne  dies  nur  da  gedeihlich  werden,  wo  eine  Sammlung  von  Hand- 
schriften sei,  daran  es  bei  uns,  die  wir  keinen  Nacblass  von  Mis- 
sionaren haben,  gänzlich  fehle.    Das  Nützlichste  würde  vor  der 
Hand  sein,  junge  Männer  von  Geist  und  besonders  von  beharr- 
lichem Eifer  zu  diesem  Behuf  reisen  zu  lassen.  Zuerst  nach  Paris, 
dann  nach  London,  und  wen  sein  Muth  und  seine  Mittel  so  weit 
trUgen,  der  »wallfahrte  zu  den  geheiligten  Fluten  des  Ganges  und 
frage  die  Weisen  von  Benares.«    Er  freue  sich  hier  erwähnen  zu 
können,  dass  dies  wirklich  durch  die  Freigebigkeit  einer  deutschen 
Regierung  bereits  geschehe.    »Herr  Bopp  aus  Aschaffenburg,  ein 
ebenso  fleissiger  als  bescheidener  Forscher  hält  sich  seit  mehreren 
Jahren  mit  königlich  baierischer  Unterstützung  in  Paris  auf  und  hat 
neben  seiner  Kenntniss  anderer  morgenländischer  Sprachen  sehr 
beträchtliche  Fortschritte  im  Sanskrit  gemacht.«  —  So  Schlegel  im 
im  Jahre  1815.  Er  hatte  in  eben  demselben  Jahro  in  Paris  Sans- 
krit zu  lernen  begonnen,  hatto  dort  die  Bekanntschaft  des  jungen 
Bopp  gemacht,  und  —  wie  er  an  anderer  Stelle  später  erzählt  — 
häufig  mit  ihm  zusammen  gearbeitet. 

LÄ.  Jahrg.  11.  Heft  51 


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801 


Bopp:  Gloiiarlum  comptrathnim« 


Ein  zwanzigjähriger  Jüngling  war  Franz  Bopp  im  Jahre  1812 
nach  Paria  gekommen ,  damals ,  in  den  ersten  Zehenden  unseres 
Jahrhunderts,  dem  Mittelpunkt  der  orientalischen  und  besonders 
auch  der  altindiscben  Studien.  Dort  bot  eine  an  Handschriften 
reiche  Bibliothek  die  Gelegenheit  unmittelbar  aus  den  Quellen  zu 
schöpfen,  und  Männer  von  Ruf  und  Gelehrsamkeit  waren  dort,  be- 
fähigt und  gern  bereit,  den  Strebsamen  zu  unterstützen.  Da  waren 
Sylvestre  de  Sacy,  Abel-Rdmusat ,  Etienne  Quatremere,  da  war 
Langlös,  der  gelehrte  und  um  seine  Liebenswürdigkeit  nicht  min* 
der  gerühmte  Conservator  der  Bibliothek,  da  war  endlich  —  um 
andere  zu  geschweigen,  — Alexander  Hamilton,  ein  englischer  Marine- 
Offizier  und  Mitglied  der  asiatischen  Gesellschaft  zu  Calcutta,  ein 
grosser  Kenner  sowohl  vieler  asiatischer  Idiome  als  namentlich  auch 
des  Sanskrit.  Nach  dem  Bruche  des  Friedens  von  Amiens  als  Ge- 
fangener in  Paris  zurückgehalten,  hatte  er  seine  unfreiwillige  Müsse 
der  Durchsicht  und  Anordnung  altindischer  Mannscripte  gewidmet, 
welche  schon  im  siebzehnten  Jahrhundert  durch  Missionare  in  die 
dortige  königliche  Bibliothek  gebracht  waren  aber  freilich  gleich 
den  ägyptischen  Papyrusrollen  da  lagen,  da  Niemand  sie  zu  lesen, 
geschweige  denn  zu  erklären  vorstand.  Um  diesen  Alexander  Ha- 
milton nun  sammelte  sich  die  gelehrte  Welt  von  Paris  und  alle 
diejenigen  namentlich,  welche  Sanskrit  lernen  wollten.  Wie  der 
vorhin  genannte  Chözy,  so  hatte  dort  und  bei  ihm  auch  Friedrich 
Schlegel  gelernt,  der  erste  Deutsche,  welcher  mit  wissenschaftlichem 
Sinn  altindiscbe  Sprachstudien  getrieben. 

Das  bekannte  Werk  dieses  jüngeren  Schlegel  >über  die  Sprache 
und  Weisheit  der  Indier«,  welches  1808  in  Heidelberg  erschienen, 
war  epochemachend  gewesen.  Nicht  weniger  freilich  dnrch  seine 
offenbaren  Mängel  und  Lücken  als  durch  seinen  Inhalt  hatte  es  die 
Neugierde  überall  gestachelt  und  angeregt.  Und  der  Verfasser 
selbst  hatte  darin  die  Hoffnung  ausgesprochen,  dass  sich  »wie  einst 
bei  der  Wiederauflebung  der  Wissenschaften,  so  auch  jetzt  Deutsche 
finden  möchten,  das  begonnene  Werk  fest  zu  begründen  und  weiter 
zu  fuhren. <  Dies  Alles  reizte  nun  aber  dahin  zu  gehen,  wo  sich 
jener  seine  Kenntniss  um  die  merkwürdige  Sprache  geholt,  reizte 
namentlich  den  jungen  und  strebsamen  Franz  Bopp,  welcher  sich 
bereits  als  Knabe  unter  Windischmanns  Leitung  mit  ausnehmendem 
Fleiss  und  Eifer  auf  das  Studium  der  Orientalia  und  des  orienta- 
lischen Alterthums  geworfen.  Er  hatte,  wie  Windischmann  erzählt, 
seinen  »Scharfblicke  und  seine  »vorwaltende  Neigung  zu  ernster 
Wissenschaft«  vor  allem  der  Sprachforschung  gewidmet,  sogleich 
von  Anbeginn  mit  der  Absicht,  auf  diesem  Wege  in  das  Geheim- 
niss  des  menschlichen  Geistes  einzudringen  und  demselben  etwas 
von  seiner  Natur  und  von  seinem  Gesetze  abzugewinnen.  So  habe 
er  denn  die  Sprachen  des  klassischen  Alterthums  sowohl  als  die 
gebildetsten  des  neueren  Europa  gelernt  und  dieselben  seinem  tief 
erforschenden  Sinne  gleichsam  als  Organe  anzueignen  gesucht.  Dies 


Boppt  Glossarium  oompar*tlvum. 


808 


Alles  —  fügt  der  entzückte  Lehrer  hinzu  —  sei  in  der  Stille  ge- 
schehen, and  eben  in  ihr  habe  er  auch  das  Verlangen  gehegt,  den 
Sinn  fUr  die  innere  Natur  der  Sprache  durch  Bekanntschaft  mit 
den  ältesten  Sprachen  der  Welt  zu  üben  und  zu  schärfen.  —  Ge- 
nug, der  Schüler  Windiscbmanns  wollte  wo  möglich  der  erste  sein, 
welcher  jener  Hoffnung  Schlegels  entspräche.  Wo  möglich,  —  denn 
allerdings  stellten  sich  seinem  Vorhaben  Schwierigkeiten  entgegen, 
der  zwischen  Deutschen  und  Franzosen  noch  immer  wüthende 
Krieg,  dessen  erste  Schrecken  bereits  an  seine  Wiege  in  Mainz 
getreten,  und  dann  das  Unvermögen  seiner  sonst  braven  Eltern.  — 
üeber  das  eine  half  ihm  sein  entschlossener  Math  hinweg,  wie 
Friedrich  Schlegel  in  seinom  Buche  gerathon,  über  das  andere,  — 
ebenfalls  nach  Friedrich  Sohlegels  Voraussicht,  —  die  Freigebig- 
keit des  Königs  von  Baiern,  welcher  ihm  für  seinen  Zweck  ein 
kleines  Stipendium  gewährte.  So  konnte  Franz  Bopp  nach  Paris 
gelangen. 

üeber  die  Art  seines  Lebens  und  Arbeitens  dort,  wollen  wir 
uns  hier  nicht  verbreiten.    Wir  denken  an  anderer  Stelle  bald  zu 
erzählen,  wie  er  die  Schwierigkeiten  in  beider  Hinsicht  durch  eine 
seltene  Ausdauer,  durch  mässige  Enthaltsamkeit  und  unermüdlichen 
Fleisa  Uberwunden,  wie  er  mit  nüchternem  Ernst  auf  einem  noch 
gänzlich  unangebauten  Felde  der  Forschung  immer  weiter  vor-  und 
immer  tiefer  eindrang.  Auch  Uber  die  Erstlingsschrift  Franz  Bopp's, 
welche  1816  bald  nach  jener  Ankündigung  durch  Wilhelm  Schlegel 
erschien ,  wollen  wir  hier  kurz  hinweggehen.    Es  war  die  erste 
Fracht  seiner  Arbeiten,  durch  welche  sich  ihr  Verfasser  selbst  der 
gelehrten  Welt  auf  das  Vortheilhafteste  empfahl.  Die  Vorerinnerungen 
dazu  hat  bekanntlich  Karl  Joseph  Windischmann  geschrieben,  welcher 
die  Idee  seines  vormaligen  Schülers,  »das  Sprachstudium  als  ein 
historisches  und  philosophisches  zu  behandeln«,  mit  dessen  eigenen 
Worten  darin  ausgesprochen.    Es  ist  ferner  bekannt  genug,  wie 
diese  Schrift  ȟber  das  Conjugationssystom  der  Sanskritsprache  in 
Vergleichung  mit  jenem  der  griechischen ,  lateinischen ,  persischen 
und  germanischen  Sprache«  der  erste  glückliche  Versuch  zur  Aus- 
führung jener  Idee  war,  den  »Grundbau  der  Sprachen«  in  durch- 
gängiger Beziehung  offen  und  klar  darzulegen,  der  Anfang  einer 
neuen  wissenschaftlichen  Methode,  der  vergleichenden  Sprachfor- 
schung« —  Schon  Friedrich  Schlegel  hatte  in  seinem  Werke  den 
entscheidenden  Punkt,  der  Alles  aufhellen  werde,  in  »die  innere 
Struktur  der  Sprache  und  die  vergleichende  Grammatik«  gesetzt 
und  von  dieser  ganz  neue  Aufschlüsse  über  die  »Genealogie  der 
Sprachen«  auf  ähnliche  Art  erwartet,  »wie  die  vergleichende  Ana« 
tomie  Uber  die  höhere  Naturgeschichte  Licht  verbreitet.«  —  Aber 
was  er  dazu  von  »der  inneren  Entfaltung  des  eigentlich  wunder- 
baren und  geheimnissvollen  Theils  der  Sprache«  vorgebracht,  hatte 
die  Sache  viel  mehr  verdunkelt  als  aufgehellt    Seine  Erklärungen 
waren  uach  Art  der  Creuzer'sohen  Symbolik  auf  jene  Begabtheit 


804 


Bopp:  Glossarium  comparatlvum. 


»des  lichten  Gefühls  und  der  unmittelbaren  Anschauung«  gestützt, 
deren  sich  die  »Urmenschheit«  dereinst  in  üb  erschwinglichem  Masse 
erfreut;  wie  des  Heidelberger  Professors  Enthüllungen  über  Götter 
und  Göttermythen ,  so  waren  des  frommen  Dichters  Offenbarungen 
Über  »Sprache  und  Weisheit«  der  Inder.  —  Diesen  Standpunkt 
nun  hatte  die  Arbeit  Franz  Bopp's  gründlich  überwunden.  Statt 
der  dunkeln  Ahnungen  von  »innerer  Umbildung  und  Veränderung 
des  Wurzellauts«  war  bei  ihm  eine  klare  Analysis  der  vergliche- 
nen Flexionsformen  gegeben ;  statt  der  Mystik  und  Romantik  war 
bei  ihm  eine  nüchterne  und  besonnene  Forschung  eingetreten ;  der 
jugendliche  Forscher  selbst  aber  war  auf  der  von  ihm  gebrochenen 
Bahn  vom  Jünglinge  zum  Manne  gereift. 

Schon  damals  nun  im  Jahre  1816  war  Franz  Bopp  darauf 
bedacht,  die  Mittel  zu  beschaffen,  welche  die  Erlernung  des  Sans- 
krit erleichtern  und  die  Ausbreitung  dieser  Kenntniss  namentlich 
auch  in  Deutschland  ermöglichen  könnten.    Diese  Mittel  sind  be- 
kanntlich Texte,  Grammatik  und  Wörterbuch.    Wie  schlimm  es 
damals  noch  um  diese  Dinge  aussah,  braucht  ebenfalls  nicht  erst 
gesagt  zu  werden.  Die  wenigen  Bücher,  welche  seit  William  Jones 
Ausgaben  der  Sakuntala  (1789)  und  des  Manu  (1794)  durch  andere 
englische  Gelehrte,  wie  Wilkins,  Colebrooke,  Carey  und  Marsh  man 
besorgt  in  Calcutta  oder  Serampore  gedruckt  erschienen,  hatten 
sich  durchweg  aufs  engste  den  älteren  schriftlichen  und  theilweise 
den  mündlichen  Ueberlieferungen  damals  lebender  Brahmanen  an- 
geschlossen.   Mit  ihnen  fertig  zu  werden  und  daraus  die  fremde 
Sprache  zu  erlernen,  setzte  deren  Kenntniss,  so  zu  sagen,  schon 
voraus.    Dazu  waren  diese  Bücher  nur  sehr  schwer,  nur  um  vieles 
Geld,  eine  Zeitlang  sogar,  während  der  Contineutalsperre,  gar  nicht 
zu  erhalten.    Diesem  Uebelstande  war  unser  Bopp  abzuhelfen  ge- 
sonnen.   Während  seines  nahezu  fünfjährigen  Aufenthalts  in  Paris 
hatte  er  sich  mit  den  wenigen  dort  vorhandenen  Hilfsmitteln  in 
die  Sprache  gründlich  hineinzuarbeiten  gewusst  und  bald  hernach, 
aufgemuntert  —  wie  er  sagt  —  durch  den  bedeutsamen  Inhalt 
desaun,   was  Wilkins  in  englischer  und  Friedrich  von  Schlegel  in 
deutscher  Sprache  davon  bekannt  gemacht  hatten,  das  Durchlesen 
jenes  riesenhaften  Epos  der  alten  Inder,  des  Mahä-Bbärata,  unter- 
nommen.   Ueberzengt,  dass  das  grosse  Ganze,  ein  Sammelwerk 
vieler  Zeitalter  und  verschiedener  Redaktionen,  nicht  geeignet  sei, 
»jemals  ganz  in  der  Ursprache  herausgegeben  oder  in  einer  voll- 
ständigen U eber setzung  bekannt  gemacht  zu  werden«,  hatte  er  eine 
Auswahl  getroffen  und  mit  feinem  Gefühl  und  kritischem  Sinn  eine 
Anzahl  der  schönsten  Episoden  sorgfaltig  nach  den  Handschriften 
copirt.  Jede  einzelne  derselben  konnte  als  ein  Ganzes  für  sich  an- 
gesehen werden.    Einige  Proben  davon  waren  bereits  seiner  Erst- 
lingsschrift in  deutscher  Uebertragung  angehängt  worden.  Und 
König  Maximilian  Joseph  von  Baiern  nnd  der  Kronprinz,  sein 
Sühn,  denen  Windisohmann  daraus  vorgelesen,  hatten  Geschmack 


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Bopp!  Glossaritim  comparatimm. 


805 


genug  daran  gefunden,  um  dem  jungen  Uebersetzer  ihre  weitere 
Unterstützung  gern  zu  gewähren. 

Hiernach  war  Franz  Bopp  dann  zur  Fortsetzung  seiner  Arbei- 
ten nach  London  gegangen,  wo  ihn  Wilkins  und  Colebrooke  mit 
offenen  Armen  empfingen.  Die  >o  st  indische  Bibliothek«  dort,  mit 
welcher  auch  Colebrooke's  Sammlung  war  vereinigt  worden,  lieferte 
ihm  weitere  Manuscripte  zur  Vergleichung  seiner  Pariser  Abschrif- 
ten. Und  so  erschien  im  Jahre  1819  zu  London  zum  ersten  Mal 
jenes  wunderherrliche  Gedicht  von  »Nalas  und  Damayanti«  im  Ur- 
text mit  lateinischer  Uebersetzung ,  das  zweite  Buch ,  welches  mit 
indischen  Lettern  in  Europa  gedruckt  worden.  Wilkins,  der  Her- 
ausgeber des  ersten,  des  Hitopadesa,  jenes  indischen  Spruch-  und 
Fabelbuchs,  vom  Jahre  1810,  hatte  seine  Typen  bereitwilligst  her- 
geliehen. Die  Wahl  jenes  Stückes  aber  war  so  überaus  trefflich 
gewesen,  die  Arbeit  mit  so  vielem  Geschick  und  kritischem  Urtheil 
gemacht  worden,  dass  selbst  August  Wilhelm  Schlegel  seine  ge- 
wohnte Eitelkeit  und  absprechende  Manier  darüber  vergass  und  bis 
auf  geringe  Ausstellungen  in  der  Uebersetzung  die  Eigenschaften 
des  Buches  und  seines  Herausgebers  nicht  genug  zu  rühmen  und 
anzupreisen  wusste.  »Wir  können  —  sagt  er  —  Herrn  Bopp 
nicht  genug  für  diese  schöne  Mittheilung  danken.  Wir  haben  nun- 
mehr ein  zweckmässiges  und  leicht  anzuschaffendes  Buch  für  den 
ersten  Unterricht.  Denn  die  epische  Poesie  ist  ohne  Vergleich  die 
leichteste  Gattung  in  der  indischen  Literatur.«  —  Dazu  war  Schlegel 
von  der  in  ihrer  Art  unübertrefflichen  Schilderung  ähnlich  wie  einst 
Göthe  von  der  Sakuntala  ergriffen,  und  der  Reiz  des  behandelten 
Gegenstandes  hatte  ihn  so  hingerissen,  dass  er  meinte,  jenes  in 
Indien  so  unendlich  volksmässige  Mährchen  von  der  heldenmüthi- 
gen  Treue  und  Ergebenheit  der  Damayanti,  einer  andern  Penelope, 
verdiene  bei  uns  in  Europa  eben  so  berühmt  zu  werden.  Wir  wis- 
sen auch,  wie  viel  seitdem  durch  die  wiederholten  Ausgaben  und 
Ueber8etzungen  von  Bopp  selbst,  Rückert  u.  A.  dazu  geschehen. 

In  demselben  Jahre  1819,  —  das  sich  nächst  dem  Jahre  1816 
auch  noch  durch  andere  höchst  wichtige  Erscheinungen  auf  dem 
Gebiete  der  Wissenschaft  auszeichnet,  —  war  aber  auch  zu  Oal- 
cutta  das  erste  Sanskritwörterbuch  erschienen,  welches,  mit  Schlegel 
zu  reden,  »auf  europäischem  Fusse«  verfasst  worden.  Der  Englän- 
der H.  H.  Wilson,  der  gelehrte  Herausgeber  des  Megha-Duta,  hatte 
dasselbe  aus  dort  vorgefundenen  Wörtersammlungen  mit  gross tem 
Fleisse  zusammengestellt.  Man  muss  diese  Arbeiten,  die  Kosha's 
(Thesauren)  der  aitindischen  Lezicographen  kennen,  muss  wisaen,  wie 
sie  allzumal  bis  auf  den  besten  und  bekanntesten,  den  nach  seinem 
Verfasser  Amara(-Sinha  oder  Deva)  sogenannten  Amara-Kosha,  gar 
nicht 8  weiter  als  blosse  Vooabnlarien  sind,  welche  für  den  der 
Sprache  Kundigen  beim  Nachschlagen  fast  unübersteigbare  Schwie- 
rigkeiten haben,  für  den  Anfänger  aber  gänzlich  unbrauchbar  sind, 
um  das  grosse  Verdienst  Wilson's  vollkommen  würdigen  und  be- 


greifen  zu  können,  warum  man  das  Erscheinen  seines  Werkes  mit 
Hecht  als  ein  Ercigniss  begrüsst  bat.  Dennoch  war  das  Werk 
durchaus  nicht  ohne  Mängel.  Auch  in  ihm  war  zuerst,  wie  in  den 
meisten  früheren  und  tbeilweise  noch  beutigen  Wörterbüchern  an- 
zutreffen, dass  man  aus  ihnen  wohl  ersiehet,  was  ein  Wort  zum 
ersten,  zweiten,  dritten  n.  s.  f.,  nicht  aber  was  es  ein  für  alle- 
mal zu  bedeuten  hat,  —  ein  Fehler,  der  gerade  mit  deT  Kenntniss 
des  Sanskrit  aufhören  soll.  Indem  es  ferner  aber  in  der  einen 
Hinsicht  zn  viel ,  in  der  andern  aber ,  da  Belegstellen  fehlten, 
zu  wenig  gab,  Hess  auch  bei  allem  Umfang  die  Vollständigkeit  zu 
wünschen  übrig,  und  manches  Wort,  manches  Vernum  compositum 
konnte  man  da  vergebens  suchen.  Endlich,  um  Anderes,  was  sich 
bei  dem  damaligen  Stand  deT  Sprachkenntniss  eher  entschuldigen 
lässt,  zu  geschweigen,  war  ein  grösster  Fehler  des  Buches  immer- 
hin der,  dass  es  wieder  viel  zu  tbeuer  und  bei  der  geringen  An- 
zahl der  gestellten  Exemplare  nicht  sowohl  allzubald  vergriffen  als 
überhaupt  schwer  zu  erlangen  war.  Die  geringe  Verbreitung  des 
Werkes,  dass  es  manchen  selbst  grösseren  Bibliotheken  lange  ge- 
fehlt, auf  einigen  noch  heute ,  nachdem  es  die  dritte  Auflage  er- 
lebt hat,  nicht  angetroffen  wird,  ist  wohl  dem  letzteren  Uebelstande 
vor  Allem  zuzuschreiben.  Man  sieht  indess,  ein  Wörterbuch,  wie 
es  Franz  Bopp  beabsichtigt,  war  damit  keineswegs  tiberflüssig, 
sondern  im  Gegentheil  nur  noch  mehr  nothwendig  geworden.  An- 
fangs gewillt,  seinem  Nalus  sogleich  ein  kurzes  Glossar  beizugeben, 
besann  er  sich  eines  Besseren.  Er  wollte  nun  erst  die  ganze  Reihe 
seiner  Mahäbbarata- Episoden  herausgeben,  um  sein  Wörterbuch 
dann  für  diese  alle  und  etwa  einige  andere  bis  dahin  gedruckte 
leichtere  Stücke  ans  der  indischen  Literatur  einzurichten.  —  Noch 
volle  zehn  Jahre  sollten  darüber  hingeben. 

Unterdessen  war  auch  in  Deutschland  das  Interesse  für  Sans- 
kritstudien  lebendiger  geworden.  August  Wilhelm  von  Schlegel  war 
nach  dem  Tode  der  Frau  von  Stael  aus  Paris  zurückgekehrt  und 
Professor  an  der  Rheinischen  Universität  geworden.  Auf  sein  Be- 
treiben hatte  im  Jahre  1820  die  königlich  preussisobe  Regierung 
unter  dem  Fürsten  von  Hardenberg  die  Mittel  zur  Anlegung  einer 
»Indischen  Druckerei  c  in  Bonn  bewilligt.  Damit  hatte  sieb  Schlegel, 
der  sich  dessen  oft  gerühmt,  in  der  That  kein  geringes  Verdienst 
erworben.  »Sollten  —  hatte  er  gefragt  —  die  Engländer  etwa 
auf  ein  Monopol  mit  der  indischen  Literatur  Anspruch  machen  ! 
Der  Zimmet  und  die  Gewürznelken  mögen  ihnen  bleiben ;  diese 
geistigen  Schätze  sind  ein  Gemeingut  der  gebildeten  Weit.«  Die 
»Indische  Bibliothek«  (1820—1826),  eine  Episode  des  MahabhA- 
rata,  religionsphilosophischen  Inhalts,  die  Bhagavad-Gita ,  und  die 
ersten  Theile  vom  Epos  Ramayana  sind  aus  jener  Offlein  bekannt- 
lich hervorgegangen.  Auoh  noch  andere  Arbeiten  auf  diesem  Ge- 
biete wurden  und  —  blieben  von  Schlegel  zugesagt.  Mit  wahrem 
Verlangen  aber  sah  er  der  Zurttckkunft  Franz  Bopp's,  seines  >ge- 


uigiiizea  uy  Vjüo 


Boppt  Glossarium  compar&tlvum. 


lehrten  Landsmannes«  entgegen,  gewiss,  an  ihm  »einen  eben  so 
freundlichen  als  redlichen  Mitarbeiter «  nnd  »reiche  Mittheilun- 
gen der  im  Auslände  durch  den  beharrlichsten  Fleiss  gesammelten 
Schätze«  zu  erhalten.  —  Und  wirklich  dachte  auch  die  baierische 
Regierung  daran,  den  »jungen  und  tüchtigen«  Gelehrten ,  welchen 
sie  bisher  unterstützt  hatte,  auf  die  Dauer  zu  gewinnen  nnd  ihm 
einen  Lehrstuhl  in  Würzburg  anzutragen.    Da  dachten  jedoch  die 
Herren  Professoren  der  Landesuniversität  anders  und  hielten  Sans- 
krit nnd  vergleichende  Sprachforschung  für  unnützes  und  über- 
flüssiges Studium,  was  man  ihnen  auch,  beiläufig  bemerkt,  nicht 
in  schlimm  anrechnen  darf,  denn  Andere  haben,  noch  lange  nach- 
her, nioht  viel  anders  gedacht.  —  Franz  Bopp  aber,  naohdem  er 
noch  in  London  eine  erweiterte  englische  Bearbeitung  seines  Con- 
jugationssystems  herausgegeben,  war  gleichwohl  nach  Deutschland 
zurückgekommen,  nicht  nach  Würzburg,  sondern  einer  Einladung 
Ottfried  Müllers  folgend  nach  Göttingen,  wo  er  den  Winter  1820 
—21  znbrachte  nnd  die  Doctorwürde  honoris  causa  erhielt.  Diese 
Universität,  welche  sich  rühmen  darf,  die  Begründer  der  neuen 
Sprachwissenschaft  zu  den  ihrigen  zu  zählen,  —  denn  Wilhelm  von 
Humboldt  hatte  in  den  Jahren  1788—99  dort  seine  Studien  ge- 
macht und  vollendet,  und  Jacob  Grimm  sollte  mit  seinem  Bruder 
Wilhelm  bekanntlich  später  dort  Aufnahme  und  Anstellung  finden, 
—  die  Georgia  Augusta  hätte  auf  ein  gleiches  Ansinnen  von  Sei- 
ten ihrer  Regierung  vielleicht  anders  als  ihre  baierische  Schwester 
geantwortet.    Franz  Bopp  aber  trug  sich  damals  immer  noch  mit 
dem  Gedanken  nach  SchlegePs  nnd  Windischmann's  Rath  auch 
nach  Indien,  dem  ürsitz  der  heiligen  Sanskrita,  zu  pilgern.  Da 
traf  ihn  ein  Ruf  nach  Berlin,  an  die  Hochschule,  welche  vor  einem 
Jahrzehend  ungefähr  gegründet  und  durch  Heranziehung  der  besten 
Kräfte  bereits  zu  hohem  Glänze  gediehen  war.    Wie  einige  andere 
früher ,  deren  Namen  die  junge  Universität  ihren  raschen  Auf- 
schwung verdankte,  hatte  Wilhelm  von  Humboldt  auch  Franz  Bopp 
empfohlen,  bei  dem  er  als  Gesandter  in  London  Unterricht  im 
Sanskrit  genossen.  Der  ergangene  Ruf  ward  angenommen,  die  Reise 
nach  dem  Orient  damit  aufgegeben,  nnd  im  Herbst  1821  naoh 
Berlin  tibergesiedelt,  das  fortan  die  zweite  Heimath  unseres  Bopp 
geworden. 

Ueber  seine  Wirksamkeit  dort  als  Lehrer  nnd  Schriftsteller 
viel  mehr  mitzntheilen,  als  unser  besonderes  Thema  angeht,  müssen 
wir  nns  hier  versagen.  Im  Jahre  1825  (durch  Ministerialrescript 
vom  15.  Februar)  wurde  Bopp  vom  ausserordentlichen  zum  ordent- 
lichen Professor  »der  orientalischen  Sprachen  und  besonders  des 
Sanskrit«  gemacht,  nachdem  ihn  bereits  1823  die  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  ihrem  Mitgliede  ernannt  hatte.  Als  solches  las 
er  jene  Abhandlungen,  welche  vom  Jahre  1824  anfangend  alljähr- 
lich und  mit  nur  geringen  Unterbrechungen  in  den  Berichten  der 
Akademie  gedruckt  erschienen,  die  ersteren  unter  dem  gemeinsamen 


808 


Bopp:  Glossarium  compar&tivnm. 


Titel  einer  »vergleichenden  Zergliederung  de9  Sanskrit  und  der  mit 
ihm  verwandten  Sprachen. «  Wir  gewahren  in  ihnen  die  Fortschritte, 
welche  der  vergleichende  Sprachforscher  auf  seinem  Wege  machte, 
wie  er  allmählich  seine  Resultate  gewann,  um  sie  nachher  als 
Baumaterial  in  einem  grossen  Gesammtwerke  zu  vereinigen. 

Es  versteht  sich,  dass  man  nun  auch  in  Berlin  einer  typogra- 
phischen Einrichtung  nicht  mehr  entbehren  konnte,  wie  sie  Schle- 
geln in  Bonn  gewährt  war.  Das  erste  Erzengniss  dieser  Art,  wel- 
ches die  akademische  Druckerei  lieferte,  war  wieder  eine  Samm- 
lung der  von  Bopp  ausgewählten  Mababhärata-Episoden,  —  Ard- 
schuna's  Himmelsreise  nebst  drei  anderen,  —  welche  1824  erschie- 
nen, von  dem  dankbaren  Herausgeber  dem  Staatsminister  Stein 
von  Altenstein  gewidmet.  Wiederholt  war  auch  in  der  Vorrede 
zu  dieser  Ausgabe  das  verheissene  Glossar  bald  nachzuliefern  ver- 
sprochen. Ehe  dies  aber  nach  einer  dritten  Sammlung  solcher 
Mahäbharatastücke  endlich  erfolgte,  war  unter  den  Händen  des  arbeit- 
samen Gelehrten  noch  ein  Werk  fertig  geworden,  dessen  wir  hier  wenig- 
stens kurz  erwähnen  müssen.  Wir  meinen  Franz  Bopp's  »Lehr- 
gebäude der  Sauskritspracbe« ,  welches  1827,  zugleich  mit  seiner 
Bekämpfung  der  Jacob  Grimmschen  Theorie  vom  Ablaut  in  den 
Jahrbb.  für  wissenschaftliche  Kritik,  —  später  1886  als  »Vocalis- 
mus«  besonders  abgedruckt,  —  erschien  und  seinem  ersten  Sans- 
kritschtiler  und  nachherigen  Freunde  und  Gönner  Wilhelm  von 
Humboldt  in  sinniger  Weise  zugeeignet  war. 

Es  war  dies  nicht  nur  die  erste  deutsche  Sanskritgrammatik, 
es  war  ohne  Frage  auch  das  beste  Lehrbuch  dieser  Sprache,  wel- 
ches bis  dahin  überhaupt  zu  Tage  getreten;  denn  Othmar  Frank's 
misslungener  und  alsbald  nach  Schlegeln  vernichtender  Kritik  ver- 
gessener Versuch  vom  Jahr  1828  kann  wohl  nicht  in  Betracht 
kommen.  —  Zwar  nicht  ganz  so  schlimm  wie  mit  dem  Wörter- 
buch, aber  doch  auch  nicht  viel  besser  hatte  es  für  den  Lernenden 
mit  der  altindischen  Grammatik  ausgesehen.  Lehrbücher,  wie  sie 
Bopp  schon  in  Paris  vorfand,  das  von  Carey  (1806),  Wilkins 
(1808),  Forster  (1810),  und  auch  das,  welches  er  später  erst  kennen 
lernte,  von  Colebrooke  (1805),  waren  alle  unzulänglich  genug,  alle 
theils  nach  indischen  Grammatikern,  —  jene  besonders  nach  Vopa- 
deva,  letzteres  allein  nach  Pänini,  —  theils  und  sogar  vornehm- 
lich nach  Aussagen  von  Brahmanen  verfasst  Selbstständige  Er- 
kenntniss,  Kritik  und  wissenschaftlichen  Geist  musste  man  ihnen 
absprechen.  Und  gerade  mit  allem  diesem  ging  Bopp  zuerst  in 
gründlicher  Weise  vor  und  lieferte  ein  Buch,  das  an  Klarheit, 
Schärfe  und  fasslicher  Darstellung  noch  heute  unübertroffen  dasteht. 
Später,  1832,  als  Grammatica  critica  in  lateinischer  Sprache,  nach- 
her in  kürzerer  Fassung  deutsch  in  noch  drei  verbesserten  Auf- 
lagen erschienen,  ist  das  Work  heute  in  aller  Lernenden  Händen 
und  hat  zur  Erleichterung  nnd  Verbreitung  der  Sanskritstudien  mehr 
als  irgend  ein  anderes  beigetragen.    Auch  in  der  Vorrede  zu  die- 


uigiiizea  uy  Vjüo 


Bopp:  Glossarium  comparativum. 


Ö09 


dem  Buche  hatte  der  Verfasser  das  baldige  Erscheinen  seines  be- 
reits begonnenen  Glossars  angekündigt;  es  sollte  noch  vor  Bear- 
beitung einer  Syntax  fertig  werden.  Den  gewissenhaften  Lehrer 
trieb  das  Bedürfniss  seiner  Schüler.  Und  wirklich,  nach  einer 
dritten  Sammlung  von  Episoden  —  Diluvium  cum  tribus  aliis  Mabä- 
Bbärati  episodiis,  1829  —  erschien  im  Jahre  darauf  endlich  in 
zwei  getrennten  Hälften  das  lange  verbeissene  Buch. 

Es  war  Franz  Bopp's  Glossarium  sanscritum  im  Verhältniss 
zu  dem  umfangreichen  Werke  Wilson's  immerhin  ein  kleines  fast 
unscheinbares  Werk,  eine  alphabetisch  geordnete  Sammlung  von 
Sanskritwörtern  mit  lateinischer  Uebersetzung,  einzig  für  das  Lesen 
der  bisher  von  ihm  edirten  Episoden  —  einschliesslich  der  einen 
von  Schlegel  nach  Wilkins  herausgegebenen  Bbagavad-Gita  —  be- 
stimmt.   Und  dennoch,  die  Behauptung  ist  nicht  zu  gewagt,  es 
war  das  beste  von  allen  bis  dahin  erschienenen  Wörterbüchern. 
Ein  Wörterbuch,  alphabetisch  geordnet,  ist  an  und  für  sich  frei- 
lich kein  wissenschaftliches  Werk,  nicht  einmal  im  Sanskrit,  ob- 
wohl dessen  Alphabet  systematischer  Ordnung  folgt.    Franz  Bopp 
aber  verstand  es,  Geist  und  Leben,  Wissenschaft  in  die  einzelnen 
Theile  seiner  Arbeit  zu  bringen.  Seine  gründliche  Erforschung  der 
durchsichtigen  Sprache  hatte  ihm  das  Werden  der  Wörter,  ibre 
Bildung  und  Bedeutung  erschlossen,  und  die  beständige  Rücksicht 
auf  diese  Erkenntniss  leitete  ihn  bei  Bearbeitung  seines  Glossars. 
Weit  entfernt,  auch  dem  bequemen  Gebrauche  desselben  damit  Ein- 
trag zu  thun,  erhöhte  er  vielmehr  dessen  Werth.   Denn  nun  wur- 
den die  an  dem  Wilson'schen  Werke  gerügten  Mängel  vermieden, 
»die  zahlreichen  Bedeutungen,  deren  eine  Wurzel  in  Verbindung 
mit  verschiedenen  Präfixen  fähig  ist,  unter  einem  Gesichtspunkt 
zusammengestellt« ,  und  auch  den  Bedeutungen  die  bestimmt  zu- 
treffenden   Belegstellen  beigegeben.     Kurz,  je  grösser  die  Vor- 
züge   waren,    durch    welche   Bopp's    kleinere    Arbeit   vor  der 
grösseren   Wilson's  hervortrat,  um  so  mehr  verschwinden  auch 
die  einzelnen  Ausstellungen,    welche    ein   Recensent  damals  in 
den  Jahrbüchern  für  wissenschaftliche  Kritik  an  dem  Buche  zu 
machen  fand,  da  »der  Schüler  zufallig  seinen  Lehrer  und  Meister 
des  Besseren  belehren«  zu  können  vermeinte.  Auch  die  nicht  einmal 
mit  Unrecht  von  Rückert,  —  denn  eben  der  war  es,  —  ausge- 
sprochenen Rügen,  wie  »Aufopferung  der  Eigennamen  und  unge- 
nügende Erklärung  der  sogenannten  Expletivpartikeln«  können  da- 
gegen geringfügig  erscheinen.  —  Wie  drei  Jahre  früher  in  seinem 
»Lehrgebäude«  den  grammatisch  formellen,  so  hatte  Bopp  hier  von 
dem  lex icali sehen   Reichthum   der  merkwürdigen  Sanskrita,  eine 
ganze  Summe  selbstständig  erlangten  Wissens  niedergelegt.  Er 
hatte  nicht  nur  sein  Versprechen  glänzend  erfüllt  und  ein  Buch 
geschaffen,  das,  wie  es  sollte,  sich  dem  Anfanger  sowohl  als  auch 
dem  vertrauteren  Kenner  nützlich  erwies,  —  er  hatte  auch,  soweit 
sich  dies  von  dem  unausgesetzt  stetigen  Fortschritte  dieses  Mannes 


810 


sagen  läset,  seinem  eigenen  Wirken  damit  eine  Art  von  erstem  Ab- 
Bchluss  gegeben. 

Ein  Zeitraum  von  fast  zwanzig  Jahren  trennt  diese  erste  von 
einer  andern  Vollendung  deB  Wörterbuchs.  Wie  bedeutungsvoll 
diese  Zeit  für  die  Fortschritte  der  vergleichenden  Sprachforschung 
geworden,  brauchen  und  vermögen  wir  hier  nicht  des  Weiteren  dar- 
zuthun.  Schon  zeigten  sich  die  Schüler,  welche  in  die  Fnsstapfen 
des  Meisters  tretend  mit  frischen ,  rüstigen  Kräften  auf  dem  Ge- 
biete mitzuwirken  begannen,  auf  welchem  Franz  ßopp  bisher  thätig 
gewesen.  So  war  es  vor  Allem  der  leider  allzu  früh  verstorbene 
Fr.  Rosen,  der  es  sich  nach  Abfassung  einer  ersten  Sanskritwnrzel- 
sammlung  zur  Lebensaufgabe  machte ,  die  heiligen  Schriften  der 
Inder,  die  Veden,  und  damit  die  ältesten  Denkmäler  der  Sprache 
zu  veröffentlichen;  schon  1830  konnte  er  ein  erstes  Specimea  des 
Rig-veda  erscheinen  lassen.  Andere  namhafte  Gelehrte  haben  nach- 
her fortgesetzt  und  ausgeführt,  was  jenem  fortzusetzen  und  auszu- 
führen nicht  vergönnt  gewesen.  Männer  wie  Lassen,  wie  Pott  und  Ben- 
fe y  sind  in  dieser  Zeit  der  dreissiger  Jahre  zuerst  aufgetreten.  Es 
hat  Georg  Curtius  diese  Zeit  später  einmal  eine  »Periode  der  Er- 
oberung« für  die  vergleichende  Sprachforschung  genannt.  Und  in 
der  That,  ein  Gebiet  nach  dem  andern  galt  es  sich  erobern  nod 
dienstbar  machen,  gegen  die  herrschenden  Vorurtbeile  und  Meinun- 
gen, wie  sie  namentlich  von  Seiten  der  klassischen  Philologen  der 
neuen  Forschung  entgegen  getragen  wurden ,  vertheidigen ,  dabei 
aber  auch  denjenigen  gewaltig  Einhalt  thun,  welche  im  Siegesge- 
fühl über  die  gewonnenen  Resultate  übereilten  Schrittes  vorangehen 
sich  erkühnten.  Ein  wackerer  Vorkämpfer,  unbeirrt  durch  Lob 
oder  Tadel,  verfolgte  da  Franz  Bopp  den  Pfad,  weichen  er  einmal 
eingeschlagen. 

Die  Arbeiten  der  nächsten  drei  Jahre,  1830 — 33,  bezeichnen 
«eine  akademischen  Abhandlungen  als  ein  neues  Studium ,  das  in 
den  Kreis  seiner  Forschungen  getreten.  Sie  betrafen  das  alte  Bäk- 
triscb,  die  Sprache  der  Zendbücher.  Seit  der  Zeit,  dass  die  erste 
ungenügende  Kenntniss  dieser  Sprache  und  Schrifton  durch  Anquetil 
Duperron  nach  Europa  gebracht  worden,  bis  beute,  wo  Friedrich 
SpiegeVs  Grammatik  der  altbaktrischen  Sprache  die  Formen  der- 
selben mit  wissenschaftlicher  Gründlichkeit  dargelegt,  sind  ganze 
hundert  Jahre  verflossen,  und  die  grosse  Bedeutung  dieses  erani- 
schen  Sprachzweiges  sowohl  an  sich  als  innerhalb  der  indoeuropäi- 
schen Spraohfamilie  überhaupt  ist  vollkommen  erkannt  und  gewür- 
digt worden.  —  Anders  noch  damals,  als  Eugene  Burnouf  in  Paris 
unsern  Franz  Bopp  einlud,  mit  ihm  an  seinen  Studien  des  Zend- 
Avesta  Antheil  zu  nehmen.  Damals  war  es  mit  der  Kenntniss  jener 
ßprache  sowohl  als  mit  den  Hilfsmitteln  sie  zu  erwerben  noch  durch- 
aus übel  bestellt.  Und  nicht  mit  Unrecht  durfte  es  Franz  Bopp 
stets  als  eine  seiner  schwierigsten  Arbeiten  ansehen,  zuerst  so  gut 


Bopp:  Glossarium  comparatlvuni. 


911 


als  möglich  den  grammatischen  Bau  dieser  Sprache  in  seinem  gros- 
sen sprachvergleichenden  Werke  anfgestellt  zu  haben. 

Hiermit  waren  aber  auch  die  ersten  Vorarbeiten  dieses  WerkeB 
vollendet,  davon  der  erste  Theil  bekanntlich  schon  1883  heraus- 
kam, welchem  dann  noch  fünf  andere  bis  zum  Jahre  1849  gefolgt 
sind.  So  lange  nebon  anderen  mehr  oder  minder  grossen  Arbeiten, 
—  wie  eine  weitere  Reihe  akademischer  Abhandlungen,  welche 
immer  neue  Sprachgebiete  in  die  Vergleichnng  zogen,  wie  die  er- 
wähnten wiederholten  Ausgaben  seiner  kleineren  Sanskritgrammatik, 
wie  die  deutschen  üebertragungen  seiner  Mababbarata-Episoden, 
welche  er  auf  Anratben  seiner  Freunde  herausgab,  —  so  lange, 
sagten  wir,  beschäftigte  Franz  Bopp  die  erste  Ausgabe  seiner 
>  vergleichen  den  Grammatik  des  Sanskrit,  Zend,  Lateinischen.  Grie- 
chischen ,  Li t h au i sehen  ,  Gothischen  und  Deutschen c,  das  Werk, 
daran  sein  Name  ewig  ruhmvoll  geknüpft  bleibt.  Wir  haben  hier 
nicht  über  die  neuen  und  gewaltigen  Aufschlüsse  zu  sprechen,  welche 
dasselbe  Über  alle  Partien  des  grossen  Sprachgebiets  verbreitet, 
weder  über  seinen  Inhalt  und  seine  Bedeutung,  noch  über  Lob  oder 
Tadel,  welchen  es  gefunden.  Denn  allerdings  konnte  noch  nicht 
Alles,  was  dem  grossen  Ganzen  angehört,  als  solches  erkannt  und 
gewürdigt,  nicht  jedes  Einzelne  gleich  ausreichend  und  vollkommen 
richtig  behandelt  werden.  Nur  zu  häufig  aber  wird  es  vergessen, 
wie  gerade  auch  die  Lücken  und  Mängel,  welche  der  eine  Vor- 
ganger gelassen,  die  Handhaben  des  Fortschritts  für  seine  Nach- 
folger werden  Auch  nicht  über  das  Aufsehen  und  die  steigende 
Theilnahme,  welche  die  vergleichende  Grammatik  bewirkte,  ist  hier 
zu  reden,  wie  sich  die  Zahl  der  Schüler,  Freunde  und  Anhänger 
mehrte,  der  Arbeiter  und  Arbeiten,  welche  bald  einen  Theil,  bald 
das  Ganze  des  sprachverwandten  Gebiets  umfassten.  Nur  Eines  sei 
hier  bemerkt.  Mittels  seiner  bewährten,  wissenschaftlich  strengen 
Methode  hatte  Franz  Bopp  beobachtet,  verglichen  und  nach  festen 
Regeln  die  Erscheinungen  zu  bestimmen  gesucht,  welche  im  Wan- 
del der  sprachlichen  Formen  seit  ihrer  Trennung  vom  mütterlichen 
Boden  hervortreten.  Jede,  auch  die  geringste  Veränderung,  welche 
sie  im  Wechsel  der  Zeiten  erfahren,  musste  als  Thatsache  des 
sprachschaffenden  Volksgeistes  aufgefasst  werden ,  der  Zusammen- 
hang dieser  Tbatsachen  und  ihre  Verkettung  als  eine  Geschiebte 
der  indoeuropäischen  Sprachgemeinschaft,  welche  die  vergleichende 
Sprachforschung  darzustellen  bat.  8ie  im  grossen  Ganzen  auszu- 
führen, im  Einzelnen  wo  immer  möglich  und  noth wendig  zu  be- 
richtigen und  zu  ergänzen  blieh  einer  weiteren  Arbeit  vorbehalten. 
Wie  nun  aber  am  Leben  einer  Volksgemeinschaft  auch  jedes  ein- 
zelne Glied  derselben  Antheil  hat  und  je  nach  seiner  Geltung  mehr 
oder  minder  hervortritt,  so  haben  auch  die  einzelnen  Formen  einer 
Sprachgemeinschaft  in  der  Geschichte  der  Gesammtbeit  jedes  seine 
Entstehungs-  und  Bildungsgeschichte,  treten  jedes  nach  seiner  Be- 
deutung mehr  oder  minder  hervor,  und  sind  tbeilB  bald  verloren 


815 


Bopp:  Glossarium  comparatlvum. 


oder  verdunkelt,  theils  in  den  Sprachen  weit  verzweigt  und  fort» 
dauernd  erhalten.  Die  vergleichende  Grammatik  der  betreffenden 
Sprachen  lehrt  diesem  möglichst  genau  nachzugehen,  —  ein  Ver- 
zeichniss  aller  Wortfamilien  aber,  oder  —  wie  es  noch  Bernhardj 
von  ihr  verlangt  —  > ein  sicheres  Verzeichnis»  nackter  Wurzeln«  zu 
geben,  war  nicht  mehr  Aufgabe  jener,  der  Grammatik,  sondern 
der  vergleichenden  Lexioographie  geworden.  Und  soweit  dies  an- 
ging, suchte  Franz  Bopp  ihr  in  einer  andern  Ausgabe  seines 
Glossars  seines  Theils  gerecht  zu  werden. 

Die  lezicaliscben  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  des  Sanskrit 
hatten  nicht  geruht.  Schon  1832  war  eine  zweite  Ausgabe  des 
Wilson'schen  Wörterbuchs  erschienen  und  bald  wieder  selten  ge- 
worden. In  den  Jahren  1840 — 41  hatte  N.  L.  Westergaard ,  ein 
dänischer  Gelehrter,  eine  neue  und  vollständige  Sammlung  aller 
Sanskrit  wurzeln  herausgegeben ,  darin  die  einfachen  Verben  und 
Verbalformen,  ihre  Weiterbildung  durch  Präfixe  und  dadurch  ver- 
änderte Bedeutung  aufgestellt  und  durch  Belege  aus  der  Literatur 
nachgewiesen.  Aufs  sorgfältigste  waren  neuere  Forschungen  in  Ver- 
bindung mit  den  Arbeiten  altindischer  Grammatiker  benutzt  und 
zu  Rathe  gezogen  worden.  Ein  Werk  von  bleibendem  Werth  ver- 
diente dasselbe  als  »ein  erster  Versuch  die  Sanskritstudien  auch 
in  Dänemark  aufzubringen«,  dem  Könige  des  Landes  gewidmet 
zu  werden.  —  Bald  darauf,  im  Jahre  1842,  hatte  dann  auet 
Franz  Bopp  die  zweite  Bearbeitung  seines  Glossars  begonnen, 
welche  noch  vor  dem  letzten  Theil  seiner  vergleichenden  Gramma- 
tik vollendet  ward.  Sie  trägt  die  Jahreszahl  1847  und  den  alten 
Titel  eines  »Glossarium  sanscritum« ,  aber  mit  dem  bedeutenden 
Zusätze:  »in  quo  oinnes  radices  et  vocabula  usitatissima  explican- 
tur  et  cum  vocabulis  graecis,  latinis,  germanicis,  litbuanicis,  celti- 
eis  comparantur. «  —  Und  in  der  That,  Plan  und  Anlage  des  Buchs 
waren  dieselben  geblieben,  im  Uebrigen  aber  war  es  ein  ganz  ande- 
res geworden.  Denn  nicht  allein  war  die  Anzahl  der  Wörter  be- 
deutend vermehrt  worden,  —  sollten  sie  doch  neben  den  früheren 
auch  für  die  Leetüre  des  Hitopadesa  und  des  (von  Lenz  edirten) 
Drama  des  Dichters  Kalidasa,  der  Urvasi,  ausreichen;  —  nicht 
allein  waren  auch  die  Belegstellen  bedeutend  vermehrt  und  tbeil- 
weise  vollständig  hergestellt  worden:  es  war  aus  der  bisheriger 
Forschung  des  Verfassers  ein  ganz  Neues,  die  entsprechenden  Wort- 
formen aus  den  andern  Zweigen  der  grossen  Sprachverwandtschaft 
hinzugefügt  worden.  Das  konnte  nun  Alles  freilich  nur  unter  vor- 
ausgesetzter Bekanntschaft  mit  den  Waudlungsgesetzen,  Manches  nur 
vennuthungsweise,  mit  einem  »fortasse«  neben  sich,  Einiges  sogar 
nooh  immer  gewagt  erscheinen.  Indessen  hatte  der  Herausgeber  auch 
nur  sicher  Erkanntes  als  sicher  ausgegeben  und  durfte  darum  von 
seiner  an  Umfang  und  Inhalt  erweiterten  Arbeit  recht  wohl  wie 
von  der  ersten  Ausgabe  sich  sagen,  sie  werde  nicht  allein  Anfangern, 
sondern  auch  erfahrenen  Kennern  sich  nützlich  erweisen. 


Bopp:  Glossarium  oompArativum. 


818 


Wiederum  zwanzig  Jabre  sind  seit  dem  Erscheinen  dieser 
anderen  Ausgabe  verflossen.  Auch  die  vergleichende  Grammatik 
war  1852  in  der  ersten  Ausgabe  vollendet,  und  eine  neue  Periode 
der  vergleichenden  Sprachforschung  sollte  beginnen.  Abermals  aber 
und  viel  mehr  noch  als  vorhin  müssen  wir  hier  davon  abstehen, 
die  Überaus  frnchtreiche  Thatigkeit,  welche  seitdem  auf  diesem  gan- 
zen Gebiete  gewaltet,  auch  nur  annähernd  zu  schildern.  —  Der 
neuen  Forschung  und  ihren  Ergebnissen  konnte  die  allgemeine  An- 
erkennung auch  seitens  der  klassischen  Philologie  nicht  länger  vor- 
enthalten werden.  Hatte  ihr  dies  doch  längst  der  geniale  Philipp 
Buttmann  geweissagt,  welcher  die  Mängel  in  seinem  Lexilogns 
lediglich  einer  mangelhaften  Kenntniss  in  jener  Hinsicht  zuschrei- 
ben durfte.  Hatte  sich  doch  Gottfried  Hermann  selbst  einmal 
dazu  herbeigelassen ,  griech.  ioti  mit  altind.  asti  zu  vergleichen. 
Und  wenn  die  älteren  Meister,  wie  ein  Lobeck  gar,  sich  zu  alt  er- 
klärten, nm  noch  Sanskrit  zu  lernen,  so  war  den  jüngeren  solcher 
Vorwand  nicht  gestattet.  Mit  der  allgemeinen  Anerkennung  wuchs 
aber  auch  die  Theilnahme ,  und  mit  der  wachsenden  Theünahme 
und  den  vermehrten  Kräften  trat  auch  das  ein,  was  den  Fort- 
schritten einer  Wissenschaft  vor  Allem  zu  Statten  kommt,  die  Vei- 
theilung der  Arbeit.  Ihr  konnte  mit  der  Zeit  gelingen,  was  dem 
Einzelnen  niemals  möglich  gewesen,  die  eingehende  und  genaue 
Durchforschung  eines  jeglichen  Theils  im  grossen  Ganzen  der  indo- 
europäischen Sprachgemeinschaft.  Und  eben  dies  ist  für  die  neue 
Periode  charakteristisch  geworden. 

Mit  welcher  innigen  Theilnahme  aber  Franz  Bopp  selbst  alle 
diese  Arbeiten  verfolgte,  das  können  uns  neben  manchen  beurtei- 
lenden Aufsätzen,  die  er  geschrieben ,  zunächst  wieder  seine  aka- 
demischen Vorlesungen  beweisen,  welche  er  in  diesem  und  in  den 
vorausgehenden  Jahren  gehalten.  Da  finden  wir  ihn  bald  im  äus- 
sersten  Wesen  des  Sprachgebiets,  bis  wohin  die  Kelten  vorgedrun- 
gen, bald  im  äussersten  Osten,  mit  den  mala yo-poly nesischen  Mund- 
arten ,  den  nach  seiner  Meinung  entarteten  Töchtersprachen  des 
Altind ischen,  beschäftigt ;  bald  sind  es  die  Letten  und  Altpreussen 
im  Norden,  bald  im  Süden  die  Albauesen  oder  Chipewaren,  bald 
endlich  die  kaukasischen  Stammesglieder,  welche  seine  Thätigkeit 
nach  den  Mittheilungen  des  einen  oder  andern  Gelehrten  in  An- 
spruch nehmen.  —  Eine  Abhandlung  Boebtliugk's  über  die  Be- 
tonung im  Sanskrit  veranlasste  Bopp  auch  diesen  wichtigen  Gegen- 
stand einer  näheren  Forschung  zu  unterwerfen,  deren  Resultate, 
die  merkwürdige  Uebereinstimmung  zwischen  der  altindischen  und 
griechischen  Accentuation ,  er  in  einem  besonderen  Werke,  dem 
> vergleichenden  Accentnationssystem«,  1854,  niedergelegt  hat. 

Mehr  aber  als  in  allem  diesem  erweist  sich  der  unermüdliche 
Fleiss  Franz  Bopp's  und  seine  aufmerksame  Theilnahme  an  allen 
neuen  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  seiner  Wissenschaft  in  der 
nun  alsbald  begonnenen  zweiten  Ausgabe  seiner  vergleichenden 

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814 


Bopp:  Glossarium  comparaüvum. 


Grammatik.  Da  ist  denn  kein  Werk  von  einigem  Belang,  kein 
Name  von  gutem  Klang,  dem  wir  dort  nicht  begegnen.  So  konnte 
er  für  das  Sanskrit  bereits  die  ersten  Tbeile  des  grossen  > Peters- 
burger Wörterbuchs«  benutzen,  welches  seit  1-S51  von  Böhtlingk 
und  Roth  herausgegeben  erscheint  und  die  neue  Epoche  hier  so  zq 
sagen,  inaugurirt  bat.  So  rinden  wir  da  neben  den  Namen  eint- 
Pott,  Benfey,  Max  Müller  u.  a.  unsern  rüstigen  und  arbeitsamen 
Albrecht  Weber,  der  seit  Ende  der  vierziger  Jahre  unermüdlich  die 
Schätze  der  indischen  Literatur  an's  Licht  zu  bringen  bestrebt  ist,  in 
seinen  »Indischen  Studien«  aber  bereits  selbst  einen  reichen  Schatz 
von  dahin  gehörigen  Kenntnissen  und  gelehrtem  Wissen  niederge- 
legt hat.  So  linden  wir  einen  Neriosengb,  Olshausen,  Brockhans,  Spie- 
gel genannt,  welche  auf  eranischem  Sprachgebiete  thätig,  die  Keunt- 
niss,  namentlich  des  Altbaktriscben,  mächtig  gefordert  haben,  der- 
jenigen Sprache,  welche  auch  der  Entzifferung  der  altpersischen 
Keilin Schriften  die  ersten  guten  Dienste  geleistet.  Auch  die  Namen 
und  Leistungen  der  Gelehrten,  welchen  wir  diese  Enthüllungen  ver- 
danken, ein  Grotefend,  Burnouf,  Lassen,  Holtzmann,  Westergaard, 
Rawlinson  u.  A.  konnten  in  dem  Werke  Bopp's  nicht  wohl  unbe- 
rücksichtigt bleiben.  So  mussten  für  das  Armenische  die  Namen 
und  Werke  eines  Schröder  und  Petermann,  für  andere  kaukasische 
Mundarten  eines  G.  Rosen  angeführt,  so  auf  litauischem  und  slavi- 
schem  Sprachgebiet  zu  den  alteren,  den  Mücke  und  Dobrowsky, 
jüngere  wie  Nesselmann,  wie  August  Schleicher  und  Miklosich,  au: 
keltischen  ein  Pictet,  (VReilly  u.  A.  genannt  werden.  Und  wie  für 
die  altitalischen  Sprachdenkmäler,  für  Oskisch  und  ümbrisch  ein 
Mommsen,  Aufrecht  und  Kirchhoff,  für  das  Lateinische  nächst 
Grotefend  und  Madvig  ein  Ritscbl,  Ag.  Benary  und  Corssen,  s* 
werden  für  die  griechische  Dialectforschung  nächst  einem  Bntt- 
rnann  die  Schüler  und  Mitarbeiter  des  kürzlich  dahingegangenen 
Altmeisters  August  Boeckh,  ein  Ahrens  und  Härtung,  ein  Kuhn,  G. 
Curtias  u.  A.  gerühmt.  So  müssen  wir  endlich  auf  germanischem 
Sprachgebiet  neben  einem  Rask,  einem  Jakob  und  Wilhelm  Grimm, 
die  Namen  eines  Graff,  Schmeller,  von  der  Gabelentz  und  Löhe, 
eines  Holtzmann,  L.Diefenbach,  Müllenhoff  u,  A.  antreffen.  Doch  wozn 
Namen  und  Namen  nennen,  die  aller  Welt  wohl  bekannt  sind  ?  Die 
meisten  von  ihnen  und  noch  viele  andere  mehr  hat  die  »Zeitschrift 
für  vergleichende  Sprachforschung«  in  der  immer  grösseren  und  glän- 
zenderen Reihe  ihrer  Mitarbeiter  aufzuzählen.  Schon  1846  hatte,  bei- 
läufig bemerkt,  A.  Höf  er  eine  Zeitschrift  für  allgemeine  Sprachwissen- 
schaft herauszugeben  begonnen,  die  aber,  sei  es  weil  sie  ihre  Grenzen 
zu  wenig  oder  zu  weit  bestimmt  hatte  und  an  dem  Zuviel,  was  si* 
wollte,  sei  es  aus  andern  Gründen  bald  uuterging,  nachdem  im 
Jahre  1852  jene  von  Aufrecht  und  Kuhn  gegründet  worden,  welche 
alsdann  unter  des  Letzteren  alleiniger  Redaktion  überall  Anklang 
und  Aufnahme  fand.  Schon  1856  konnte  ihr  eine  andere,  unter 
desselben   Kuhn  und  Schleichers  Leitunc  zur  Seite  treten.  als 


Heppi  Glossarium  coraparatlvum. 


Beiträge  u.  8,  w.,  namentlich  für  keltische  und  slavische  Sprachen. 
Und  nicht  mit  Unrecht  ist  auch  das  Auftreten  der  »Zeitschrift  für 
vergleichende  Sprachforschung«  als  herrliches  Zeichen  für  die  neue 
Periode  begrüsst  worden. 

Fünf  Jahre  nachher  war  der  erste  Band  von  der  zweiten  Aus- 
gabe des  Bopp'schen  Werkes,  —  diesmal  nicht  im  Selbstverlage 
des  Verfassers,  —  ftlnf  Jahre  später  das  ganze  Werk  in  drei  starken 
Bänden  erschienen;  ein  vierter,  die  Sach-  und  Wortregister  enthaltend, 
und  durch  Carl  Arendt  bearbeitet,  ward  ihnen  angeschlossen.  —  Da 
war  nun  fast  kein  Abschnitt  der  vergleichenden  Grammatik  gänzlich 
unverändert  geblieben,  Vieles  war  ergänzt,  nicht  gar  Weniges  be- 
richtigt worden.  Als  ein  ganz  Neues  war  namentlich  das  Arme- 
nische in  die  Vergleichung  gezogen  worden.  —  Doch  genug,  der  Be- 
gründer dieser  Methode  hatte  seinem  Werke  die  Vollendung  gegeben, 
deren  es  ihm  fabig  war.  Nach  einer  Seite  Entstehen  und  Werden, 
nach  einer  andern  Wechsel  und  Wandel,  und  also  in  engster  Ver- 
knüpfung die  Bedeutung  und  Geschichte  der  indoeuropäischen  Sprach- 
formen aufhellend,  war  das  weltberühmte  Werk  Franz  Bopp's,  weit 
entfernt  davon,  ein  blosses  Compendium  zu  sein,  —  eine  Art  von 
Evangelium  für  die  historisch  -  philologische  Sprachforschung  ge- 
worden. 

Noch  drei  Jahre,  —  und  ein  halbes  Jahrhundert  war  seit  ihrer 
Begründung  und  dem  Erscheinen  der  Bopp'schen  Erstlingsschrift 
verflossen.  Wie  zum  16.  Mai  1866  Schüler,  Anhänger  und  Ver- 
ehrer des  greisen  Jubilars  wetteiferten,  ihm  ihre  Huldigungen  dar- 
zubringen, wie  aus  allen  Ländern  von  nah  und  fern  »dem  Lehrer 
zweier  Welttheile«  Ehrenbezeugungen  und  Glückwünsche  zukamen, 
wie  von  allen  Seiten  endlich  Gaben  der  Liebe  für  die  Stiftung  zu- 
sammengebracht wurden,  welche  seinen  Namen  dauernd  verherr- 
lichen nnd  seine  Wissenschaft  unterstützen  sollte,  —  von  allem 
diesem  ist  hier  nicht  der  Ort  zu  erzählen. 

Aber  trotz  getrübter  Sehkraft,  trotz  Altersschwäche  und  ab- 
nehmender Körperkraft  hatte  der  greise  Gelehrte  auch  in  diesen 
und  den  letzten  Jahren  nicht  zu  arbeiten  aufgehört.  Noch  gegen 
Ende  des  vorigen  Jahres  erschien  die  eine,  in  diesem  Jahre  die 
andere  Hälfte  der  dritten  Ausgabe  seines  Wörterbuchs,  —  diesmal 
kurzweg  als  Glossarium  comparativum ,  in  quo  omnes 
sanscritae  radices  ....  comparantur.«  Auf  dem  Tittelblatte  ist  dieser 
Editio  tertia  nun  der  fernere  Zusatz  beigefügt:  »in  qua  vocabula 
sanscrita  accentu  notata  sunt  latinisque  literis  trän  scripta,  c  Und 
wirklich  ist  es  vornehmlich  dies,  worin  sich  die  dritte  von  der 
zweiten  Ausgabe  vortheilbaft  unterscheidet.  Dadurch,  dass  jede 
aufgeführte  Wortform  oder  Wurzel  nur  einmal  in  Nägari-Characteren 
erscheint,  ist  die  Uebersicht  leichter,  durch  die  hinzugestellte  Um- 
schrift mit  Accentzeichen  die  Aussprache  und  Bedeutung  sicherer 
geworden.  —  Durchgehende  sind  ferner  die  ursprünglichen  und 


816 


Böpp:  Glossarium  comparativum. 


stärkeren  Formen  der  Wörter  und  Wurzeln  da  gesetzt,  wo  früher 
die  »  schwächeren«  —  wie  z.  B.  die  Wortausgänge  at ,  rnat,  vat 
statt  der  jetzt  gegebenen  antt  mant,  vant  —  standen ;  besonders  be- 
trifit  dies  die  Wurzeln  mit  K Vokal,  welche  jetzt  unter  den  ursprüng- 
licheren Formen  auf  ar  —  wie  mar,  marg  statt  mr,  mrg  —  zu 
suchen  sind.  Langer  RVokal  ist  dabei  ganz  weggefallen.  Abgesehen 
davon,  dass  die  primitive  Form  namentlich  bei  solchen  initialem  B 
zweifelhaft  sein  kann,  ist  dadurch  in  diesen  Fällen  allerdings  die  Wurzel 
von  ihren  abgeleiteten  verkürzten  Wortformen  weiter  entfernt  wor- 
den ;  aber  der  Verfasser  wollte  auch  am  Abende  seines  Lebens  und 
in  diesem  seinem  letzten  Werke  einem  durch  die  Auctorität 
geheiligten  Missbrauch  der  altindischen  Grammatiker  nicht  mehr 
nachgeben,  gegen  deren  Irrthümer  er  schon  als  Jüngling  in  seiner 
ersten  Schrift  mit  selbstständigera  U i  theil  aufgetreten  war.  —  Die  der 
vorhergebenden  Ausgabe  nachgeschickten  »Addenda  et  corrigendac, 
welche  besonders  des  früher  zu  wenig  berücksichtigten  Keltischen 
ziemlich  viel  enthalten,  sind  diesmal  an  Ort  und  Stelle  gekommen. 
Uebrigens  ist,  was  Anzahl  und  Erklärung  der  Wörter  angeht, 
kaum  noch  etwas  anders  geworden.  Nur  Eines  noch  darf  nicht 
verschwiegen  werden.  Angefügt  ist  der  neuen  Ausgabe  ein  »Index 
verborum  comparatorum«,  und  damit  die  Möglichkeit  gegeben,  auch 
ein  anderes  Wort  als  nur  altindische  nachzuschlagen  und  im  Ver- 
ein mit  seinen  Verwandten  leicht  aufzufinden.  Und  offenbar  ist 
damit  der  Werth  dieser  dritten  Ausgabe  um  nicht  wenig  erhöht 
worden.  —  Durfte  der  Verfasser  ein  drittes  Mal  sich  sagen  und 
hoffen,  seine  Arbeit  werde  auch  in  dieser  Gestalt  nicht  allein  dem 
Anfänger,  sondern  auch  dem  erfahrenen  Kenner  sich  nützlich  er- 
weisen ? 

Am  28.  October  ist  Franz  Bopp  gestorben.  Das  Glossarium 
comparativum  war  sein  letztes  Werk.  Dieses  und  die  vergleichende 
Grammatik  und  alles  Andere  seinen  Schülern  überlassend,  hat  er  die 
Hoffnung  mit  sich  hinüber  ins  Jenseits  genommen. 

Leflnm 


Hr.  52.  HEIDELBERGER  '  1887. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Julii  V alerii  Epitome.  Zum  erstenrn al  herausgegeben  von  Jul. 
Zacher.  Zur  Begrüssung  der  Oermanistischen  Section  der 
XXV.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner  zu 
Halle.  Halle.  Verlag  der  Buchhandlung  des  Waisenhauses  1867, 
XIV  und  64  S.  ingr.  8. 

Indem  wir  diese  Gelegen hoitsscbrift,  weleho  uns  ein  Ineditum 
bringt,  anzeigen,  haben  wir  uns  vor  Allem  auf  die  in  diesen  Jahr- 
büchern S.  36 1  ff.  angezeigte  Schrift  des  Verfassers,  den  Pseudo- 
callisthenes  zu  beziehen,  insofern  die  vorliegende  Schrift  gewisser» 
massen  als  ein  Corollarium  und  selbst  als  eine  Vervollständigung 
und  Ergänzung  der  in  jener  Schrift  geführten  Untersuchung  über 
die  älteste  Aufzeichnung  und  Verbreitung  der  Alexanderfrage  an- 
zusehen ist.  Es  war,  wie  a.  a.  0.  in  diesen  Blättern  gezeigt  ward, 
in  dieser  genauen  und  gründlichen  Untersuchung  nachgewiesen 
worden,  wie  die  unter  dem  Namen  des  Julius  Valerius  auf  uns  ge- 
kommene und  erst  in  neuerer  Zeit  durch  den  Druck  bekannt  ge- 
wordene, lateinische  Schrift  über  das  Leben  und  die  Thaten  Ale- 
xanders des  Grossen  eigentlich  Nichts  Anderes  ist,  als  eine  latei- 
nische Bearbeitung  der  unter  dem  falschen  Namen  des  Callisthenes 
im  zweiten  christlicheu  Jahrhundert  zu  Alexandria  entstandenen,  mit 
manchen  Zuthateu,  Fabeln  u.  s.  w.  ausgeschmückten  und  für  die 
Lesewelt,  die  eitie  angenehme  Unterhaltung  suchte,  berechneten 
Geschichte  Alexanders  des  Grossen ,  die  bald  im  Abendlande  wei- 
tere Verbreitung  fand  und  diese  lateinische  Bearbeitung  eines  uns 
unbekannten  Verfassers  hervorrief,  welche,  wie  Herr  Zacher  dort 
nachgewiesen  hat,  jedenfalls  vor  340  p.  Ch.  fallen  muss,  wahr- 
scheinlich selbst  noch  bedeutend  früher.  Diese  lateinische  Bearbei- 
tung existirt  nur  noch  in  zwei  lückenhaften  Handschriften,  nach 
welchen  deren  Veröffentlichung  durch  den  Druck  in  der  Weise  von 
Angelo  Mai  erfolgte,  dass  Derselbe  einige  Lücken  dieser  Handschriften 
durch  einen  aus  dioser  lateinischen  Bearbeitung  gemachten  Auszug, 
auf  den  er  bei  seinen  Forschungen  stiess,  zu  ergänzen  suchte.  Schon 
von  dieser  Seite  her  gewinnt  dieser  Auszug  eine  gewisse  Bedeutung, 
die  eine  nähere  Untersuchung  und  dann  auch  eine  Veröffentlichung 
desselben  um  so  Wünschenswerther  machen  mnsste,  als  dieser  Auszug, 
schon  frühe  veranstaltet,  in  den  nachfolgenden  Jahrhunderten  schon 
um  seiner  Kürze  und  Bequemlichkeit  willen  mehr  beachtet  und  ab- 
geschrieben, sein  Original,  das  nun  nicht  weiter  mehr  abgeschrie- 
ben wurde,  verdrängt  zu  haben  scheint,  so  dass  selbst  Vincens  von 
Beauvais  nur  den  Auszug,  aus  dem  er  längere  Stücke  in  sein  Spe- 
LIX.  Jahrg.  11.  Heft  52 


818 


Julii  Vftlerli  Epitome  von  Zacher. 


culum  aufnahm,  kannte.  Dieser  Auszug  bat  daher  insbesondere  zur 
Verbreitung  der  Alexandersage  im  Westen  Europa's  beigetragen, 
eben  weil  er  öfters  abgeschrieben  ward,  und  liegt  daher  noch  eine 
ziemliche  Anzahl  von  Handschriften  desselben  vor,  nach  welchen 
eine  Veröffentlichung  durch  den  Druck  möglich  war.    Der  Ver- 
fasser dieser  Schrift  hat  sich  dieser  Aufgabe  in  vorliegender  Ge- 
legenheitsschrift   unterzogen,    und    seinerseits    Alles  aufgeboten, 
um  uns  in  derselben  einen  auf  die  ältesten  Quellen  der  handschrift- 
lichen Ueberlieferung  begründeten,  kritisch  gesichteten  Text  vorzu- 
legen ;  er  hat  in  der  Tbat  keine  Mühe  gescheut,  dieses  Ziel  zu  er- 
reichen, was  man  bei  einem  Schriftstück,  das,  wie  das  hier  vor- 
liegende zum  ersteumal  im  Druck  erscheint  und  nicht  die  Aussiebt 
hat,  alsbald  wieder  in  einem  erneuerten  Abdruck  zu  erscheinen, 
mit  doppeltem  Dank  anzunehmen  hat.    Es  ist  aber  nicht  blos  der 
Text  selbst,  der  hier  zum  erstenmal  im  Druck  erscheint,  sondern  da- 
mit ist  zugleich  verbunden  die  Zusammenstellung  aller  der  Abweichun- 
gen der  von  dem  Verfasser  verglichenen  und  benutzten  Hand- 
schriften, und  zwar  unter  dem  Texte  selbst,  so  dass   wir  da- 
mit einen  kritischen  Apparat  erhalten,  welcher  zugleich  ein  Mittel 
der  Prüfung  wird  zur  Beurtheilung  der  in  den  Text  aufgenomme- 
nen Lesart.    Es  ist  aber  die  handschriftliche  Grundlage  des  Textes 
eine  ziemlich  alte  zu  nennen,  da  sie  bis  ins  neunte  Jahrhundert 
zurückgeht.    Donn  in  dieses  Jahrhundert  fällt  eine  zu  Haag  be- 
findliche, wahrscheinlich  in  Italien  geschriebene  Pergamenthand- 
schrift, und  eine  andere  jetzt  zu  Leiden  befindliche,  wo  noch  drei 
andere  sich  finden,  zwei  Pergamenthandschriften  des  zehnten  und 
zwölften  Jahrhunderts,  und  eine  von  Perizouius  nach  einer  (noch 
vorhandenen)  Oxforder  Pergamenthandschrift   dos  zwölften  Jahr- 
hunderts gemachte  Abschrift,  die  aber  schon  im  fünften  Kapitel 
abbricht.    Weiter  kommen  dazu  zwei  Wolfenbtittler  Pergament- 
handschriften, die  eine  wohl  noch  aus  demselben,  die  andere  aber, 
obwohl  von  verschiedenen  Händen  geschrieben,  aus  dem  zehnten 
Jahrhundert.    Diese,  hier  genannten  Handschriften  hat  der  Verf. 
selbst  eingesehen,  abgeschrieben  oder  verglichen :  und  werden  diesen 
Handschriften  von  ihm  noch  zwei  Pariser,  die  eine  Nr.  8518  aus 
dem  X.— XI.  Jahrhundert,  die  andere  8519  aus  dem  XIU.  Jahr- 
hundert, die  ebenfalls  benutzt  wurden,  angereiht,  so  wie  zwei  Va- 
tikaner, nach  welchen  Mai  in  seiner  Ausgabe  des  Julius  Valerius 
die  bei  diesem  vorkommenden  Lücken  ergänzt  hat;  auch  der  Text 
des  Valerius  ward  hier  und  dort  zu  Bathe  gezogen  und  selbst  der 
griechische  Text  des  Pseudocallisthenes  hier  und  dort  verglichen. 
Dass  ausser  den  hier  benutzten  Handschriften  noch  andere.,  die 
aber,  so  viel  wir  wissen,  nicht  über   das  zwölfte  Jahrhundert 
zurückreichen,  vorhanden  sind,  unterliegt  keinen  Zweifel ;  wir  nen- 
nen hier  nur  die  beiden  nachher  noch  anzuführenden  Handschriften 
zu  Montpellier,  ferner  die  bei  Pertz  Archiv  XI.  p.  289  aufgeführt« 
Pariser  Nr.  8501  (wenn  sie  anders  von  der  eben  genannten  8519 


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Jixlil  Valeril  Epitome  von  Zacher. 


819 


wirklich  verschieden  ist),  eine  Brüsseler,  eine  Erlanger,  und  wahr- 
scheinlich auch  noch  einige  andere  von  den  boi  Pertz  a.  a.  0.  VII. 
p.  491 — 493  und  1025  genannten,  über  welche  zum  Theil  noch 
nähere  Angaben  verraisst  werden ,  eben  so  die  bei  Pertz  a.  a.  0. 
IX.  p.  497.  502  angeführten  englischen  Handschriften;  ob  aber  die 
Vergleich ung  dieser  Handschritten  ein  anderes  Resultat  ergeben 
würde,  bezweifeln  wir  aus  mehr  als  einem  Grunde.  Man  wird  sich 
daher  bei  der  hier  gegebenen  handschriftlichen  Grundlage  wohl 
beruhigen  können. 

Aus  diesen  Angaben  mag  ersichtlich  werden,  welche  Mühe  der 
Herausgeber  auf  seine  Bekanntmachung  verwendet  hat:  nicht  min- 
der anzuerkennen  ist  die  Sorgfalt,  mit  welcher  die  Herausgabe  ver- 
anstaltet wordon  ist.  Hier  galt  es  vor  Allem,  das  Verhältniss  der 
benutzten  Handschriften  zu   einander  festzustellen ,   um  hiernach 
ihren  Einfluss  auf  die  Gestaltung  des  Textes  zu  bestimmen.  Be- 
stimmte Classen  oder  Familien  der  bandschriftlichen  Ueberlieferung 
aufzustellen,  ging  bei  der  Beschaffenheit  der  Handschriften  nicht 
wohl  an,  die  bei  einzelnen  Fehlern  auch  wieder  einzelne  Vorzüge 
zeigen,  ohne  dass  es  möglich  wäre,  eine  Beziehung  der  einen  Hand- 
schrift auf  die  andere,  oder  eine  Ableitung  der  einen  aus  der 
andern  mit  genügendem  Grund  zu  erweisen.  Das  beste  Lob  ertheitt 
der  Verfasser  der  einen  Wolfenbüttler  des  zehnten  Jahrhunderts 
(E),  da  sie  aus  einer  verhältnissmässig  reinen  Quelle  stamme  und 
einen  kundigen,  sorgfältigen  und  enthaltsamen  Schreiber  bewähre 
(S.  X).  Auf  diese  Weise  rausste  der  Verf.  bei  der  Aufstellung  des 
Textes  mit  aller  Vorsicht  vorfahren,  da  keine  der  genannten  Quel- 
len ein  so  entschiedenes  Uebergewicht  besitzt,  um  vorzugsweise  die 
Grundlage  des  Textes  zu  bilden  und  keine  wiederum  so  werthlos, 
um  sofort  unbeachtet  zu  bleiben;  es  war  vielmohr  »eine  jede  nach 
ihrem  eigenthümlichen  Charakter  mit  richtiger  Einsicht  und  zu- 
treffendem Tacte  für  die  Kritik  des  Textes  auszunutzen  €,  und  dass 
diesa  auch  geschehen,  wird  ein  Jeder  ersehen,  der  einen  Blick  in 
die  oben  erwähnte  Zusammenstellung  der  abweichenden  Lesarten, 
die  unter  dem  Texte  mit  aller  Genauigkeit  aufgeführt  sind,  werfen 
will.    Er  wird  dann  bald  wahrnehmen,  wie  der  Verf.  sioh  seiner 
schwierigen  Aufgabe  mit  glücklichem  Takt  entledigt  und  einen  Text 
geliefert  hat,  der  auf  urkundliche  Treue  Anspruch  machen  kann  und 
selbst  in   zweifelhaften  Fällen,  d.  h.  in  Stellen,  wo  die  älteren 
Handschriften  schwanken  und  von  einander  abweichen,  doch  das 
Richtige  nach  unserem  Gefühl  meist  bietet.    Mit  grosser  Vorsicht 
ist  der  Verf.  in  Aufnahme  eigener  Verbesserungen  vei fahren;  er 
hat  es  auch  nur  da  gethan,  wo  die  zu  bessernden  Fehler  nicht  als 
Fehler  des  Auszuges  selbst,  sondern  als  Folge  der  mangelhaften 
schriftlichen  Ueberlieferung  sich  herausstellten.  Denn  der  Verfasser 
dieses  Auszuges,  der  uns  gänzlich  unbekannt  ist,  und  jedenfalls  vor 
das  neunte  Jahrhundert  gehört,  weil  wir  aus  diesem  Handschriften 
besitzen,  ist  nicht  gerade  ein  grosser  Geist  oder  ein  besonderer 


620 


Julll  Valerii  Epltome  von  Zacher. 


kritischer  Forscher  zu  nennen,  da  er  sich  mit  sclavischer  Treue 
an  sein  Original  hält,  abgesehen  von  manchen  Ungenauigkeiten, 
die  wir  auf  seine  Rechnung  setzen  können,  und  von  einem  Verfah- 
ren, das  als  höchst  ungleich  in  der  Fertigung  des  Auszugs  sich 
darstellt,  und  in  so  fern  kaum  besondere  Erwartungen  von  seiner 
Tüchtigkeit  erwecken  kann.    Er  hat,  wie  der  Verf.  im  Einzelnen 
nachweist  (S.  XII),  Vieles  gänzlich  übergangen,  dann  am  Anfang 
seinen  Auszug  ziemlich  ausführlich  begonnen ,  im  weiteren  Verlauf 
aber  immer  mehr  gekürzt ,  und  im  dritten  Buch  den  Bericht  von 
Alexanders  Verkehr  mit  deu  Brahmanen  und  mit  den  Amazonen, 
so  wie  die  Briefe  an  Aristoteles  und  an  Olympias  theils  ganz  weg- 
gelassen, theils  nur  mit  wenigen  Worten  angedeutet,  wie  der  Ver- 
fasser vermuthet,  weil  der  Brief  an  Aristoteles  und  der  Brief- 
wechsel Alexander'B  mit  den  Brahmanen  damals  schon ,  von  dem 
Ganzen  losgerissen,  als  abgesonderte  Schriften  in  Umlauf  gekom- 
men waren,  in  diesem  aber  wohl  wieder  in  Manchem  eine  abwei- 
chende Gestalt  oder  auch  Zusätze  erhalten  hatten,  was  diese  Aus- 
lassung und  Verkürzung  erklärt.    Keine  der  vorhandenen  Hand- 
schriften gibt  den  Namen  des  Verfassers  dieses  Auszugs,  oder  auch 
den  des  Julius  Valerius  an,  nur  in  der  Perizonischen  Abschrift 
stehen  als  Aufschrift  die  Worte:    »Julii  Valerii  Alexandri  regis 
magni  Macedonum  ortus  vita  et  obitus«,  wenn  anders  diese  Auf- 
schrift nicht  von  Perizonius  herrührt,  was  wir  fast  vermuthen,  da 
nach  Pertz  Archiv  VII,  p.  237  die  Aufschrift  in  der  Oxforder  Hand- 
schrift lautet:  » Ortus  vita  et  obitus  Macedonis  Alexandri.«  Die- 
selbe Aufschrift  haben  auch  die  beiden  Handschriften  zu  Mont- 
pellier aus  dem  dreizehnten  Jahrhundert  (s.  Catalog.  d.  Mss.  de 
Departt.  I,  pag.  297  und  437)  und  die  Euglischen  (siehe  Pertz, 
Archiv  IX,  p.  497),  während  eine  Brüsseler  des  zwölften  Jahr- 
hunderts (s.  Pertz,  Archiv  VII,  p.  539):  »Uber  historiae  magni 
Alexandri  imperatoris«  enthält    Die  Haager  Handschrift  hat  als 
Aufschrift:  »Exceptio  historiae  magni  Aloxandri  regis  Macedonum«, 
die  eine  Leidner  (des  neuuten  Jahrhunderts)  sogar:  »Incipit  über 
Esopi  cujusdam  greci  fabulatoris  prosaico  aeditus  stilo  de  ortu 
actuve  ac  fine  Alexandri  Magni  Macedonis« ,  die  ältere  Wolfen- 
büttler:  »Incipit  textus  de  ortu  Magni  Alexandri  Macedonis.«  In 
andern  Handschriften  findet  sich  »Gesta«  oder  »Vita  Alexandri 
regis  magni  Macedonis«,  und  geht  aus  allen  diesen  Bezeichnungen 
dieses  Auszug's  nur  die  völlige  Unbekanntschaft  mit  dem  wahreo 
Verfasser  schon  im  neunten  Jahrhundert  hervor,  sonst  hätte  man 
nicht  das  Buch  dem  Aesopus,  dessen  Fabeln  in  jenem  wie  in  den 
vorausgehenden  Jahrhunderten  weit  verbreitet  waren  und  dessen 
Namen  für  jede  Art  von  Fabeln  oder  fabelhafter  fingirter  Erzäh- 
lung, es  sei  in  Poesie  oder  in  Prosa,  gebraucht  ward,  zuschreiben 
können.    Wir  möchten  daraus  nur  so  viel  schliessen,  dass  die  Ab- 
fassung des  Auszugs  doch  geraume  Zeit  vor  das  neunte  Jahrhundert 
fällt,  in  welchem  alle  Erinnerung  an  den  Verfasser  des  Auszugs 


Julli  Valeril  Epltome  von  Zacher. 


831 


selbst  verschwunden  war,  den  wir  in  eine  viel  frühere  Zeit  setzen 
möchten,  im  Hinblick  auf  die  Sprache  nnd  den  Ausdruck,  wie  den 
ganzen  Periodenbau,  kurz  die  ganze  stylistische  Fassung.  Denn  das 
Ganze  ist  in  einer  einfachen  und  ziemlich  reinen  Sprache  gehalten, 
die  nur  in  wenigen  Ausdrücken  und  Wendungen  Anstoss  erregen 
kann,  und  Einiges  der  Art  ist  gerade  dem  excerpirten  Original  ent- 
nommen, an  welches  sich  der  Verfasser  des  Auszugs  möglichst  zu 
halten  sucht.    Wenn  wir  z.  B.  etwa  anstossen  I,  24  bei  der  von 
der  Olympias  in  ihrem  Verhältniss  zu  Pausanias  gebrauchten  Phrase: 
cum  —  mnlier  consentiret,  scilicet  ut  deserto  Philippo  ad  illum 
tran  snuberet«   an  dem  transnuberet  ad  illum,    so  ist 
zu  bemerken,  dass  dieselbe  Phrase  im  Original  vorkommt,  und  das- 
selbe finden  wir  bei  Ausdrücken,  wie  aetatnla,  homullus  u.  dgl.t  die 
übrigens  noch  in  der  älteren  Latinitat  vorkommen.  Wenn  es  I,  35 
beisst:    >Sed  quum  vos  primi  omnium  extitistis,  qni  meis  jussis 
insolentius  obviaretis,  terribile  exemplnm  aliis  praebebitis  etc.«,  so 
ist  der  Tndicativ  extitistis  wohl  daraus  zu  erklären,  dass  es  in 
dem  Original  an  der  entsprechenden  Stelle  beisst:    >At  enim  vos 
primi  omnium  extitistis,  qni  mihi  insolentius  obviaretis«  nnd  der 
nun  folgende  Satz  von  dem  Epitomator  als  Nachsatz  in  seine  Dar- 
stellung, in  abgekürzter  Form  verwendet  worden  ist.  Ueberhaupt 
wird  man  nirgends  bei  der  Betrachtung  der  Sprache  nnd  Darstel- 
lung des  Autors  diesen  engen  Anschluss  an  sein  Original  ausser 
Acht  lassen  dürfen.  Wir  stossen  daher  auch  z.  B.  II,  12  bei  den  Wor- 
ten: »His  Alexander  auditis  promissi  et  audaciae  laudatnm  ad  pro- 
pria  redire  concessit«  nicht  an,  wo  die  eine  (jüngere  Wolfenbütt- 
ler)  Handschrift  promissi«  bietet  und  das  folgende  et  weglässt, 
da  die  Phrase  gerade  so  bei  Valerius  sich  findet  und  die  mit  lau- 
datum  zu  verbindenden  Genitive  promissi  et  audaoiae  als 
Nachbildung  Griechischer  Construction  erscheinen,  wie  schon  bei 
Silius  Punicc.  IV,  259  »laudabat  leti  juvenem«  (ifiaxccgiös  rov 
d-avdrov).  An  einer  andern  Stelle  IT,  15:  »At  vero  Alexander  — 
incidit  in  alium  (alvei  locum)  non  congelatum  simulque  in  flumen 
ipse  et  equus  in  profunda  cernuantes  prosilinnt,  jam  quippe  nox 
erat«  kann  allerdings  der  Ausdruck  cernuantes  befremden,  wenn 
auch  gleich  das  Verbura  cernuare  (sich  überschlagen,  einen  Pur- 
zelbaum schlagen),  bei  Appulejus  wie  bei  Fronto,  um  von  Späteren 
nicht  zu  reden,  vorkommt;  allein  er  pa9st  doch  ganz  gut  in  den 
Zusammenbang,  ja  selbst  besser  als  das,  was  wir  bei  Mai  lesen, 
der  bei  der  Lückenhaftigkeit  des  Originals  diese  Stelle  aus  zwei 
Vaticanischen  Handschriften  des  Auszugs  ergänzt  hat;  hier  beisst 
es:  > incidit  in  alveum  non  congelatum  simulque  in  flumen  ipse  et 
equus  jam  profunda  rimantes   prosiliunt;  jam  quippe  nox 
erat.«  Was  soll  hier  jam  profunda  rimantes?  es  scheint  sogar 
dem  Gedanken  zu  widersprechen,  und  sieht  beinahe  aus  wie  eine 
Aendemng  von  Seiten  dessen,  welcher  den  Ausdruck  cernuan- 
tes nicht  verstand  und  nicht  zu  erklären  wusste.    Es  war  daher 


8*2 


Ueberweg:  Geschieht«  der  Phüosophie.  3.  Aufl. 


von  dem  Herauegeber  gewiss  wohlgethau,  die  Lesart  ce rnu an- 
te s,  die  in  allen  seinen  Handschriften  sich  findet  (nur  in  einer, 
der  jüngeren  Wolfenbüttler,  steht  cacientes,  ein  offenbarer  Feh- 
ler) im  Texte  zu  belassen.  Anderes,  wie  z.  B.  der  öftere  Gebrauch 
von  enim  vero,  oder  von  corapetens,  oder  e  contra  u.  dgi. 
m.  tibergeben  wir,  da  sich  diess  Alles  auch  in  dem  Original  findet. 
Wir  wollten  nur  an  einigen  Beispielen  zeigen,  wie  selbst  das,  waa 
man  von  Seiten  des  Sprachlichen  etwa  beanstanden  könnte,  nicht 
dem  Verfasser  des  Auszugs,  sondern  dem  Original,  an  das  er  sich 
möglichst  an8chloss,  zuzuschreiben  ist.  Weitere  und  nähere  Indicien 
über  die  Zeit,  in  weloho  der  Verfasser  des  Auszugs  zu  setzen  wäre, 
liegen  nicht  vor :  wir  möchten  aber  wegen  der  verhaltnissmässigen 
Reinheit  der  Sprache  und  dor  Einfachheit  des  Stils  in  der  Dar- 
stellung im  Ganzen ,  den  Epitomator  nicht  in  das  karolingische 
Zeitalter  oder  in  die  unmittelbar  vorausgehende  Zeit  setzen ,  son- 
dern lieber  in  eine  frühere,  bald  nach  dem  vierten  Jahrhundert. 

Der,  wie  schon  früher  bemerkt,  mit  aller  kritischen  Sorgfalt 
behandelte  Text  ist,  da  er  in  den  Handschritten  ununterbrochen 
fortläuft,  hier  mit  den  Capiteln  der  Müller'schen  Ausgabe  des 
Pseudocallisthenes  und  des  Valerius  versehen  und  überdem  ist  in 
eckigen  Klammern  die  abweichende  Capiteleintheilung  der  beiden 
Ausgaben  von  Mai  eingefügt  mit  den  Zeichen  M  und  R.  Es  ist 
auf  diese  Weise  für  die  Bequemlichkeit  der  Leser  in  der  Be- 
nützung des  Auszugs  gut  gesorgt.  Chr.  Bahr. 


Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie  von  Thaies  bis  auf  die 
Gegenwart.  Erster  Theil.  Das  Alterthum.  Von  Friedrich 
Ueberweg,  Professor  dtr  Philosophie  an  der  Universität 
Königsberg.  Drille,  berichtigte  und  ergänzte  und  mit  einem 
Philosophen-  und  JMteratorenregister  versehene  Auflage.  Berlin, 
Ernst  Siegfried  Mittler  und  Sohn.  1867.  XI  und  298  S.  8. 

Kaum  war  ein  Jahr  seit  der  Vollendung  des  dritten  und  letzten 
Tbeiles  des  vorliegenden  Werkes  verflossen,  als  schon  eine  dritte 
Auflage  des  ersten  Theiles,  welcher  die  Philosophie  des  Alterthums 
enthält,  nötbig  wurde.  Dies  beweist  wohl  mehr,  als  jede  Anzeige, 
wie  sehr  das  Buch  einem  dringend  gefühlten  Bedürfnisse  des  leh- 
renden und  lernenden  Publikums  entgegenkommt.  Es  existirt  auch 
in  der  That  kein  Grundriss,  der,  wie  der  vorliegende,  durch  eine 
so  passende  Anlage  und  Ausführung  des  Textes  und  seiner  Erläu- 
terung, durch  ein  in  allen  T heilen  gleichmässiges,  genaues  Quellen- 
studium, durch  Unbefangenheit  in  der  Beurthoilung  der  Lehr- 
meinungen, durch  eine  alle  philosophischen  Disciplinon  umfassende 
Darstellung,  durch  eine  erschöpfende,  zuverlässige  Angabe  aller 
Quellen  und  Hü  Iis  mittel,  durch  die  Vereinigung  möglichster  Kürze 


>gle 


üeberweg:  Geschichte  der  Philosophie.  8.  Aufl. 


823 


mit  umfassender,  eingehender  Stoffbebandlung,  klarer  ansprechen- 
der Darstellungsgabe  mit  gerechter  Würdigung  aller  andern  ge- 
lehrten Forschungen  sich  so  vorteilhaft  auszeichnete  und  dem 
Lehrer,  wie  dem  Lernenden  ohne  den  beengenden  Einfluss  eines 
Schulsystems  so  viele  Winko  zum  weiteren  Nachdenken  und  Er- 
forschen böte.  Der  Unterzeichnete  hat  die  drei  Theilo  des  werth- 
vollen Buches  in  diesen  Blättern  ausführlich  angezeigt  und  be- 
schränkt sich  daher  in  gegenwärtiger  Anzeige  lediglich  auf  die 
Angabe  des  neu  Hinzugekommenen. 

Der  Grundri8s  wurde  in  dem  vorliegenden  ersten  Theile  seiner 
Anlage  nach  nicht  erweitert,  dagegen  aber  an  sehr  vielen  Stellen 
im  Einzelnen  berichtigt  und  vervollständigt.  Ueberall  wurden  die 
neuesten  literarischen  Erscheinungen  berücksichtigt.  Zugleich  wurde, 
um  der  didaktischen  Aufgabe  zu  genügen,  Manches  klarer  darge- 
stellt. 

Die  bedeutende  Erweiterung  (Berichtigung  und  Ergänzung) 
dieses  Tbeiles  wird  eine  Uebersicht  der  Zusätze  am  besten  dar- 
thun. 

S.  12  werden  als  II  Ulfs  mittel  für  die  Geschichte  der  Philoso- 
phie die  seit  der  zweiten  Auflage  erschienenen  Werke  von  F.  Mi- 
che  Iis  (1865),  Er  d  mann  (1866),  F.  Schmid  aus  Schwarzen- 
berg (1867),  E.  Zell  er  (geschichtliche  Abhandlungen,  1865), 
Prantls  Fortsetzung  der  Geschichte  der  Logik  im  Abendlande 
(bis  inclns.  Bd.  III,  1867)  angeführt.  Hermanns  Geschichte  der 
Philosophie  ist  nicht  erwähnt.  Was  die  Geschichte  der  einzelnen 
philosophischen  Doctrinen  betrifft,  so  wurden  schon  in  den  frühe- 
ren Ausgaben  die  darauf  bezüglichen  historischen  Schriften  nam- 
haft gemacht.  In  der  neuen  Auflage  kommen  (S.  18)  hinzn  das 
System  der  Ethik  von  J.  G.  Fichte,  die  Werke  von  Boss- 
bach,  Röder,  Trendelenburg,  Rob.v.Mohl,  Bluntschli 
(S.  14). 

Bei  den  orientalischen  Theoremen  folgt  (S.  19)  als  Zusatz  die 
Erwähnung  von  Bluntschlis  asiatischen  Gottes-  und  Weltideen 
(1866),  Gobineau's:  Les  röligions  et  les  pbilosophies  dans  l'Asie 
centrale  (Paris,  1865)  und  von  Joh.  Heinr.  Plath:  Die  Beligion 
und  der  Cultus  der  alten  Chinesen  (in  den  Abhandl.  der  philos. 
philolog.  Classe  der  k.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften,  Bd.  IX« 
Abth.  8,  München  1863,  S.  731—969),  von  Emil  Scblagint- 
weit  Über  den  Buddhismus  (1864),  L.  Die  steh  Ueber  Set- 
ypbon,  Asahel  und  Satan  in  Niedners  Zeitschrift  für  histo- 
rische Theologie  (1860),  Ollivier  Banregard:  Les  divinites 
ägyptiennes  (Paris  1866).  Ueber  die  jüdischen  Religionsanschau- 
ungen wird  A.Ewald 8  und  L.  Herzfelds  Geschichte  des  Volkes 
Israel,  über  die  jüdische  Dämonologie  Alexander  Kohut  in  den  Ab- 
handlungen für  Kunde  des  Morgenlandes,  herausgegeben  von  Herrn. 
Brock  haus  (besonders  abgedruckt  Leipzig  1866)  als  Hülfsmittel 
aufgeführt  (S.  20). 


824  TJeberweg:  Geschichte  der  Philosophie.  3.  Aufl. 


Bei  den  Quellen  der  griechiflchen  Philosophie  finden  wir  (S.  22) 
die  Zusätze  der  umfassenden  Schrift  des  Theophrastos  rrfpl 
(f  vöixGir,  von  der  Fragmente  erhalten  sind ,  und  von  welcher  ein 
Auszug  Späteren  als  eine  Hauptqnelle  ihrer  Angaben  gedient  zu 
haben  scheint  (Usencr,  Analecta  Theophrastea,  Lips.  1858)  und  der 
polemischen  Schriften  des  Epikureers  Kolotes.  Als  Anfangsjahr 
der  Regierung  des  Ptolomäus  Philadelphia  wird  285  v.  Chr.  be- 
zeichnet und  beigefügt ,  dass  die  alexandrinische  Bibliothek  schon 
unter  seinem  Vater  durch  Demetrius,  den  Phalareer,  der  294  v. 
Chr.  nach  Alexandrien  kam,  verbreitet  wurde,  dass  Kallimachns 
ans  Cyrene  294 — 224  v.  Chr.  als  Vorsteher  der  Bibliothek  dem 
Zenodotus  folgte  (S.  22).  Ferner  wird  Aristophanes  von  Byzanz 
(254 — 177  v.  Chr.)  nach  Eratosthcnes  (267—194)  und  nach  der 
um  144  v.  Chr.  verfassten  metrischen  Chronik  des  Apollodorus  ge- 
nannt. Zugleich  wird  auf  Naucks  Sammlung  der  Fragmente  des 
Byzantiners  Aristophanes  hingewiesen.  Der  letztere  lieferte  eine 
ErgUnznngsaTbeit  zu  den  Tafeln  (7tCvaxs<s)  des  Kallimachns  aus 
Cyrene  (ebend.).  Ebenso  hat  Hermippus  aus  Smyrna  (um  200  v. 
Chr.)  ein  Supplement  zu  den  Kalliraachischen  Tafeln  geliefert,  wor- 
aus Favorinus  und  mittelbar  auch  Diogenes  Laörtius  Vieles  ent- 
nahmen. Auch  wird,  was  die  Alexandriner  betrifft,  (S.  23)  beige- 
fügt: >Wie  unkritisch  viele  jener  Alexandriner,  insbesondere  Her- 
mippus und  Satyrns,  in  ihren  biographischen  Angaben  verfuhren, 
indem  sie  manche  Fictionen  früherer  für  historische  Wahrheit  nah- 
men und  mit  eigenen  Erdichtungen  vermehrten,  hat  schon  Luzac 
(lectiones  Atticae,  Lugd.  Bat.  1809)  nachgewiesen.« 

Von  den  Schriften  Späterer  werden  für  die  Geschichte  der 
Philosophie  genannt  ausser  Suidas  (etwa  um  1000  im  Lexikon)  noch 
ein  spät  verfasster  Auszug  aus  Diogenes  Laörtius  erwähnt  und 
daran  die  Bemerkung  geknüpft,  Suidas  scheine  die  dem  Hesychins 
von  Milet  zugeschriebene  Schrift :  Ilsgl  t(3v  iv  itaiöeCa  ÖiaXa^av* 
tatv  öoepnv  (Lehrs  im  rhein.  Mus.  XVII,  1862,  S.  453 — 457)  be- 
nutzt zu  haben. 

Bei  Eusebius  (de  praeparat.  evang.)  wird  (S.  25)  bemerkt, 
dieser  habe  den  Pseudo-Plutarch :  De  placitis  philosophorum  stark 
gebraucht,  bei  den  Belogen  des  Jo.  Stobaeus,  dass  die  betreffen- 
den Partien  der  eclogae  mit  Pseudo-Plutarch:  De  placitis  philoso- 
phorum und  mit  Pseudo-Galen  übereinstimmen ,  stellenweise  aber 
die  gemeinsame  Quelle  vollständiger  exeorpiren.  Bei  den  neuem 
Hülfsmitteln  zum  Studium  der  griechischen  Philosophie  sind  (S.  26) 
neu  hinzugekommen  die  Fortsetzung  der  Geschichte  der  Entwicklungen 
der  griechischen  Philosophie  von  Brandis  (von  den  Stoikern  und 
Epiknreern  bis  auf  die  Neuplatoniker),  nobst  den  1866  erschienenen 
Ausführungen  als  2.  Abth.  des  3.  Th.  des  Handb.  (1864),  von  L. 
Lenoel:  Les  pbilosophes  de  l'antiquite\  Paris  1865,  von  M.  Morel, 
bist,  de  la  sagesse  et  du  gout  chez  les  Grecs,  Paris  (1865),  Franco 
Fiorentino,  Saggio  storico  sulla  filosofia  greca,  Firenze,  1865,  W.  A. 


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TJeberweg:  Geschichte  der  Philosophie.  3.  Aufl.  825 


Bntler,  lectures  on  the  history  of  ancieut  philosophy ,  edited  by 
M.  H.  Thomson,  2  vols.  London,  1866. 

Ueber  Rechts-  und  Staatslehre  der  Griechen  sind  als 
Zusätze  aufgeführt:  Ibering's  Werk:  Geist  des  römischen  Rechts 
auf  den  verschiedenen  Stufen  seiner  Entwicklung,  Leipzig,  1852  ff.; 
über  antiko  Aesthetik :  Eduard  Müller,  Geschichte  der  Theorie 
der  Kunst  bei  den  Alten  (1834— 1 837),  Zimmermann^  Aesthe- 
tik, A.  Kuhn,  die  Idee  des  Schönen  in  ihrer  Entwicklung  beiden 
Alten  bis  in  unsere  Tage,  2.  Auflage,  Berlin,  1865,  über  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  Karl  Arnold  (1864);  über  die 
Einheit  Wagener  de  uno  sive  unitate  apud  Graecorum  philo- 
sophos,  Potsdam,  1863. 

In  der  ersten  Periode  der  griechischen  Philosophie,  der  vor- 
sophistischen oder  der  Vorherrschaft  der  Kosmologie,  wird  bei  Thaies 
der  Saros  d.  h.  die  von  den  Chaldäern  durch  fortgesetzte  Beob- 
achtung aufgefundene  Periode  der  Mond- und  Sonnen- Verfinsterungen 
schon  in  der  früheren  Auflage  als  Etwas  angeführt,  mit  welchem. Thalea 
möglicher  Weise  bekannt  war,  und  dazu  bemerkt  (S.  88),  dass  auf 
Grund  dieses  Saros  nur  die  Mond-,  nicht  die  Sonnenfinsternisse  für 
einen  bestimmten  Ort  mit  zureichender  Wahrscheinlichkeit  voraus- 
erkanntwerden  konnten  und  dass  daher  die  dem  Thaies  zugeschriebene 
Vorausverkttndigung  nur  alseine  vielleicht  auf  Grund  seiner  naturwis- 
senschaftlichen Erklärung  einer  schon  wirklich  eingetretenen  Sonnen- 
finsterniss  entstandene  Sage  anzusehen  sei.  Hiezu  ist  Henri  Martin  :  Sur 
quelques  prödictions  d'öclipses  mentionnöes  par  des  autenrs  anciens 
(revue  arcböologique  IX,  1864,  S.  170  — 199)  erwähnt.  Zugleich  sind 
Zusätze  über  Thaies'  Abstammung,  seine  Auszeichnung  in  der  Politik, 
die  ihm  später  beigelegten  Schriften  z.  B.  vavtixrj  «ffrpoAoyj'a,  die 
Aensserungen  des  Aristoteles  über  diesen  Jonier  (S.  88)  eingeschalten. 

Zu  den  Schriften  über  Anaximander  von  Milet  werden 
ausser  der  älteren,  in  Hissmanns  Magazin  verdeutschten  Abhand- 
lung des  Abbe'  de  Canaye  auch  Kriscbe,  Forschungen  I,  S.  42  — 52 
hinzugesetzt,  eben  so  bei  Anaximenes  von  Milet  und  Dioge- 
nes von  Apollonia  (S.  40  u.  41).  Bei  Erwähnung  der  Monographie 
Ferd.  Lassalle's :  Die  Philosophie  Heraklei  tos'  des  Dunkeln 
von  Ephesns,  2  Bde.  Berlin,  1858  ist  zur  Vergleichung  angeführt: 
Raflaele  Mariano:  Lassalle  e  il  suo  Eraclito,  Saggio  di  filosofia 
Egbeliana,  Firenze,  1865  (S.  43). 

Die  Pyth  agoreer  erhalten  die  Zusätze:  Ed.  Zell  er:  Pytha- 
goras  und  die  Pytbagorassage  (Vorträge  u.  Abhandl  Leipz  1865, 
S.  30 — 50),  Georg  Rathgeber:  Grossgriechenland  und  Pytha- 
goras,  Gotha,  1866,  L.  Prowe:  Ueber  die  Abhängigkeit  des  Co- 
pernicus  von  den  Gedanken  griechischer  Philosophen  und  Astrono- 
men, Thoru,  1865,  S.  48  n.  49);  insbesondere  Alcmaeo  von  Kro- 
ton:  Krise  he,  Forschungen  I,  S.  68 — 78,  die  Fragmente  des 
Ep icharmus:  Leopold  Schmidt,  quaestioues  Epicharmeae,  spec.  I, 
Bonnae,  1846,  Jacob  Bernays,  Epicharmos  im  rhein.  Mus.  1853, 


83« 


Ueberweg:  Geschichte  der  Philosophie,  8.  Aufl. 


Aug.  0.  Fr.  Lorenz,  Leben  und  Schriften  des  Koörs  Epichannos 
nebst  einer  FragmentenRaramlung ,  Berlin,  1864,  G.  Bernhardy, 
Grnndris8  der  griech.  Litt  zweite  Bearbeit.  1859,  IIb,  S.  458 ff. 
(8.  49). 

S.  50  und  51  enthalten  Zusätze  von  Scbaarscbmidt's  Unter- 
suchungen über  die  Unechtbeit  vieler  von  Bück h  gesammelter  Pin- 
iol aos*  scher  Fragmente. 

S.  52  wird  die  pythagoreische  Tafel  der  fundamentalen  Gegen- 
sätze behandelt  und  dieselbe  als  von  einigen  Pytbagoreern«,  nicht 
von  Alkmfton  verfasst,  bezeichnet.  Von  dem  letzteren  wird  beige- 
fügt, dass  er  ein  Arzt  war  und  Aristoteles  Metapb.  I,  5  von  ihm 
sagt:  'Eyivsxo  trtv  rjAixtav  inl  yigovri  Ilvfrayoga,  und  dass  er 
ohne  Annahme  einer  bestimmten  Zahl  von  Gegensätzen  die  Viel- 
heit des  sich  auf  die  Menschen  Beziehenden  auf  eine  Zweiheit 
zurückgeführt  habe. 

S.  53  rinden  wir  bei  Epichannos  aus  Kos  die  Bemerkung, 
Plato  habe  Theaet.  p.  152  A  gesagt,  der  Komiker  Epicbarm  hul- 
dige, wie  Homer,  der  von  Heraklit  auf  ihren  allgemeinsten  philo- 
sophischen Ausdruck  gebrachten  Weltanschauung,  die  in  dem  Wahr- 
nehmbaren und  Veränderlichen  das  Reale  finde,  und  eine  Hinwei- 
sung auf  die  Nacbbilduug  eines  pythagoreischen  Lehrgedichtes  des 
Epicharmus  durch  den  römischen  Dichter  Ennius  und  auf  die  früh- 
zeitigen Fälschungen  unter  Epicbarms  Namen. 

Die  Lehren  des  Philolaos  werden  wegen  der  Bestreitung  der 
Echtheit  der  Fragmente  nicht,  wie  früher,  im  Texte ,  sondern  am 
Schlüsse  der  in  engerem  Drucke  mitgetheilten  Ausführungen  (S.  53) 
gegeben. 

Bei  den  Eleaten  werden  ausser  den  früheren  Hülfsraitteln 
erwähnt :  Theodor  Vatke,  Parmen.  Veliensis,  doctrina  qnalis  fuerit, 
diss.  inaug.  Berol.  1864  (S.  54),  bei  den  Sophisten:  R.  Weck- 
lein, die  Sophisten  und  die  Sophistik  nach  den  Angaben  Plato's, 
Würzburg,  1866  (S.  76),  bei  Protagoras  das  neue  Citat:  Plu- 
tarch.  adv.  Coloten,  IV,  2  (S.  78).  Zu  Protagoras  wird  eine  Aeus- 
serung  Götbe's  (Göthe-Zelter'scher  Briefwechsel,  V,  854),  welche 
Jac.  BernayB  in  seiner  Abhandlung  über  »die  Wirkung  der  Tra- 
gödie, Breslau,  1858  anführt,  erwähnt  und  auf  das  Verdienst  jenes 
Sophisten  um  sprachliche  Untersuchung  hingewiesen.  Dabei  werden 
die  Stellen  Plato  Pbaedr.  267,  c,  Diog.  Lae*rt.  B.  IX,  53,  Aristo!. 
Poöt.  c.  19  zur  Erörterung  eingeflochten  (S.  79). 

Bei  Gorgias  aus  Leontini  bemerkt  der  Herr  Verf.  (S.  80), 
sein  Leben  falle  nach  Frei  etwa  zwischen  483  und  375,  er  habe 
nach  einer  unzuverlässigen ,  jedoch  möglicherweise  wahren  Angabe 
des  Athenäus  XI,  505  D  das  Erscheinen  des  Platonischen  Dialogs 
Gorgias  noch  erlebt  und  denselben  missbilligt  und  scheine  die  letzte 
Zeit  seines  Lebens  in  dem  thessalischen  Larissa  zugebracht  zu 
haben,  er  habe  die  Tragödie  als  einen  wohlthätigeu  Trug  bezeich- 
net (Plut.  de  gloria  Atheniensium  8.). 


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Ueherweg:  Geschichte  der  Philosophie.  3.  Aufl. 


Bei  dem  Sophisten  Prodikus  aus  Keos  folgen  ausser  andern 
Hülfsmitteln  die  Zusätze:  Hummel  de  Prodico  Sophista,  Leyden, 
1847,  E.  Cougny,  1858,  Diemer,  Corbach,  1859,  Krämer,  die  Alle- 
gorie des  Prodikos  und  der  Traum  des  Lukianus  in  den  N.  Jahrb. 
f.  Phil.  u.  Päd.  Bd.  94,  1866,  (S.  81)  und  die  Bemerkung,  in  der 
Synonymik  des  Prodikus  liege  dessen  erheblichstes  Verdienst.  Zu- 
gleich ist  hier  eingeschalten,  dass  die  Menschen  der  Vorzeit  das 
Nutzen  Bringende  vergötterten,  das  Brod  als  Demeter,  den  Wein 
als  Dionysos,  das  Feuer  als  Hephästos  verehrten  (Cic.  de  nat. 
Deorum  I,  42,  118;  Sextus  Empir.  adv.  Mathem.  IX,  18,  51). 

Bei  den  spätem  Sophisten  werden  als  Hülfsmittel  ge- 
nannt: Vahlen:  Der  Sophist  Lykophron,  der  Rhetor  Polykrates 
frhein.  Mus.  N.  F.  XXI,  S.  143  ff)  Unter  diesen  Sophisten  wird 
auch  Antiphon  erwähnt,  nicht  mit  dem  Redner  gleiches  Namens 
zu  verwechseln,  der  sich  mit  Problemen  der  Erkenntnisslehre  (itegl 
aXr\&eCa$,  nach  welcher  Schrift  nur  das  Individuelle  Realität  hat), 
Mathematik,  Astronomie,  Meteorologie  und  Politik  beschäftigte, 
ferner  der  Architokt  Hippodamus  von  Milet,  wie  auch  Phaleas, 
der  Chalkedonier,  mit  ihren  politischen  Theorieen  (S.  82  u.  83). 

Als  politischer  Grundgedanke  des  Sokrates  wird  S.  87  die- 
ser bezeichnet,  dass  dem  Einsichtigen,  philosophisch  Gebildeten  die 
Herrschaft  gebühre.  Bei  den  Hülfsmitteln  zum  Studium  des  Sokra- 
tes ist  hinzugesetzt:  Ferd.  Friedr.  Htigli,  das  Dämoniura  des  Sokra- 
tes, Bern,  1864  (S.  90),  bei  den  Me gar i kern  Scbaarschmidfs 
Sammlung  der  Plat.  Schriften,  Bonn,  1866,  S.  210  fi.  (S.  94),  bei 
P  h  ä  d  o  von  E 1  i  s  Prellers  kleine  Schriften,  herausg.  von  R.  Köhler, 
bdi  Antisthenes,  dem  Gründer  der  cynischon  Schule,  Krische, 
Forschungen  I,  S.  234 — 246,  bei  Krates  die  ihm  zugeschriebenen 
unechten  38  Briefe,  herausg.  von  Boissonade  in :  Notices  et  extraits 
de  manuscripts  de  la  bibliotheque  du  roi  t.  IX.  Paris,  1827  (S.  96). 
Zugleich  werden  unter  der  Rubrik  der  cynischen  Schule  die  Frag- 
mente des  Demouax  aufgeführt,  von  welchen  F.  V.  Fritzsche 
de  fragm.  Demonactis  philos ,  Rostock  und  Leipzig  1866,  handelt. 

S.  98  weist  der  Herr  Verf.  unter  Anführung  einer  Stelle  aus 
Zeller  über  den  Stoicismus  auf  den  Cynismus  des  ersten  Jahr- 
hunderts n.  Chr.  hin,  welcher  als  blosse  Siitenpredigt  aufs  Neue 
hervortrat,  erwähnt  dessen  viele  leere  Ostentationen  und  zählt 
unter  den  besseren  Cynikern  der  spätem  Zeit  Demetrius,  Sene- 
ca's  und  des  Thrasea  Paetus  Freund,  Oenomaus  von  Gadara  zur 
Zeit  Hadrians  (Eusseb.  praepar.  evang.  V,  18 ff.),  welcher  das 
Orakelwesen  bekämpfte,  den  von  Lucian  gepriesenen  Cyprier  Do- 
rn onax  (50  —  150  n.  Chr.),  welcher  am  Cynismus  mehr  sokratisch 
mild,  als  schroff  festhielt,  auf. 

Unter  den  Hülfsmitteln  für  die  Philosophie  der  Cyrenaiker 
ist  S.  99  die  Abhandlung  von  Ganss  über  Euemerns  (Quaestioues 
Euhemereae,  Kempen,  1860,  genannt.  Wenn  H.  von  Stein  in  seiner 
Schrift :  De  philosophia  Cyrenaica  die  chronologischen  Verhältnisse 


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828 


Ueberweg:  Geschiebte  der  Philosophie.  8.  Aufl. 


dabin  bestimmt,  dass  Aristipp,  der  Gründer  der  cyrenaischen  Schale 
nm  435  geboren,  seit  416  in  Athen,  399  in  Aegina,  389  —  388  mit 
Plato  bei  dem  ältern ,  361  mit  ebendemselben  bei  dem  jüngern 
Dionysius  und  nach  356  wieder  in  Athen  gewesen  sei,  so  betont 
derselbe  Schriftsteller  in  seiner  Geschichte  des  Piatonismus,  II, 
S.  61  die  Unsicherheit  der  Ueberlieferung  dieser  Annahme  (S.  99). 

Auf  die  in  der  ersten  Auflage  genannte  Lebensbeschreibung 
Plato's  von  Olympiodorus  folgt  S.  103  :  Vita  Piatonis  cx  cod. 
Vindob.  ed.  A.  H.  L.  Heeren  in  Bibl.  der  alten  Litt,  und  Kunst, 
Gött.  1789;  auch  in  Bioygatpoi  ed.  Westermann,  Brunsv.  1845. 
Die  Vita  rindet  sich  im  sechsten  Bande  der  K.  F.  Hermann'schen 
Ausgabe  der  Platonischen  Schriften. 

Zu  den  Schriften  über  Plato  kommen  neu  hinzu  (S.  103) 
die  Arbeiten  von  George  Grote :  Plato  and  the  other  companions 
of  Soerates,  London,  1865,  von  Heinrich  von  Stein,  welcher  in 
seinem  Werke :  Der  biographische  Mythus  und  die  literarische  Tra- 
dition die  Angaben  über  das  Leben  des  Plato  kritisch  behandelt 
und  fast  das  ganze  Leben  desselben  als  unhistorisch  und  unzuver- 
lässig ansieht,  von  Scbaarschmidt :  Sammlung  der  Platonischen 
Schriften,  Bonn,  1866,  von  E.  Welper  das  romanhafte  Werk :  Plato 
und  seine  Zeit,  1866.  Bei  der  Prüfung  der  Echtheit  der  Platoni- 
schen Schriften  ist  von  Aristoteles  auszugehen.  Vieles  ist  zweifel- 
haft. Die  echt  scheinenden  Dialoge  werden  von  den  unechten  ge- 
trennt und  Ansichten  des  Herrn  Verf.  über  die  Aufeinanderfolge 
der  Platonischen  Schriften,  wobei  sehr  Weniges  als  gewiss  fest- 
steht, angedeutet  (S.  108  u.  109).  Von  den  fremden  Ucbersetzun- 
gen  der  Platonischen  Werke  wird  die  italienische  Uebersetznng 
von  Rüg.  Bonghi:  Opere  di  Piatone  nuovamente  tradotte,  Milane, 
1857  genannt  (S.  109),  von  Monographien  über  einzelne  Schriften 
Plato's  Meinardus:  Wie  ist  Plato's  Protagoras  aufzufassen?  Progr. 
Oldenb.  1865  (S.  110).  Der  Herr  Verf.  entwickelt  in  seinen  Zu- 
sätzen die  Ansichten  Grote's  und  Schaarschmidt's  über  die  Echt- 
heit und  Zeitfolge  der  Platonischen  Dialoge  (S.  112  und  113).  Zn 
den  Monographien  über  Plato's  Ideenlehre  werden  als  Znsatz  an- 
gefügt (S.  120)  die  platonische  Ideenlehre  von  Hermann  Cohen  in 
der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft  von 
Lazarus  und  Steinthal,  Bd.  IV,  Berlin,  1866,  Schneidewins  dis- 
quisitiones  philosophicae  über  Plato's  Theätetus,  Trendelenburg's  Fest- 
gruss  an  Gerhard  (1865).  Bei  der  Platonischen  Sprachphilo- 
sophie wird  nachträglich  C.  Scbaarschmidt,  die  Uuechtbeit  des 
Dialogs  Kratylus,  im  rhein.  Mus.  N.  F.  XX,  1865  genannt.  Zn 
Plato's  Gotteslehre  werden  als  neuere  Httlfsmittel  beigesetxt 
die  Abhandinngen  von  Ant.  Erdtmann  (1855),  G.  F.  Rettig  (1866), 
bei  Plato's  Naturlehre  Heinr.  von  Stein  (Gött.  Anz.  1862),  Friedr. 
Ueberweg  (Zeitschr.  für  Philos  Bd.  42,  1863),  Böckh  im  dritten 
Bande  seiner  gesammelten  kleinen  Schriften,  1866,  bei  der  Un- 
sterblichkeitslehre Alb.  Bischoff  (Phädon,  Erlangen,  1866) 


Ueberweg:  Geschichte  der  Philosophie.  3.  Aufl. 


angeführt  (S.  126).  Bei  Plato's  Ethik  und  Politik  finden 
wir  (S.  131  u.  132)  die  neuen  Zusätze  von  Eman.  Grundey  (Berl. 
1865),  Glasers  Jahrb.  für  Gesellschafts-  und  Staatswissenschaften, 
Bd.  VI,  Heft  4,  1866,  bei  Plato's  Erziehungslehre  Hahn  (die 
pädagog.  Mythen  Plato's,  1860).  S.  138  ist  unter  der  Rubrik  der 
Akademie  bei  Krantor  beigefügt:  Er  > starb  vor  Polemo 
(Diog.  L.  IV,  27)«  und  »Krates  leitete  nach  Polemo  die  Schule, 
wie  es  scheint,  auf  kurze  Zeit.« 

8.  143  werden  ausser  den  in  frühem  Auflagen  erwähnten 
Uebersetzungen  und  Erklärungen  der  Aristoteles' sehen  Werke 
von  Barthelemy  St.  Hilaire  die  französischen  Uebersetzungen  der 
Meteorologie  (1863),  der  Schriften  de  coelo  (1866),  de  generatione  et 
corruptione,  de  Melisso,  Xenopbane  et  Gorgia  und  des  Uebersetzers 
introduetion  sur  les  origines  de  la  philosophie  grecque  (1866)  ge- 
nannt. Als  nachträgliche  neuere  Hülfsmittel  zur  Aristoteles'scben 
Politik  sind  eingeschalten  die  Abhandlungen  von  W.  Oncken  und 
Susemihl  (S.  144),  zur  Beurtheilung  der  Schriften  des  Aristoteles 
(S.  145)  die  Arbeiten  von  W.  Eucken  (1866),  E.  Essen  (1866), 
Aristoteles  Pseudepigraphus  (Lips.  1863),  Emil  Heitz  (die  verlore- 
nen Schriften  des  Aristoteles,  1865).  Bei  der  Geschichte  der 
Schriften  des  Aristoteles  findet  sich  S.  52  der  Beisatz:  »Die 
Annahme,  dass  mehrere  philosophische  Hauptschriften  des  Aristoteles 
in  der  Zeit  nach  Theophrast  und  Neleus  bis  auf  Apelliko  und  An- 
dronikus  unbekannt  gewesen  seien,  erhält  eine  gewisse  Bestätigung 
durch  das  Verzeichniss  der  Aristotelischen  Schriften  bei  Diog.  L. 
V,  22  —  27,  dessen  letzte  Quelle  höchst  wahrscheinlich  der  (wie  es 
Bcheint,  durch  Hermippus  angefertigte  oder  erläuterte)  Katalog 
Aristotelischer  Schriften  auf  der  Alexandrinischen  Bibliothdk  ist.« 
Dabei  wird  auf  Emil  Heitz:  Die  verlorenen  Schriften  des  Aristo- 
teles (Leipz.  1865)  verwiesen.  Von  neueren  Specialschriften  Uber 
die  logischen  Schriften  des  Aristoteles  kommen  hinzu  J.Her- 
mann (Quae  Arist.  de  ultimis  cognoscendi  priaeipiis  docuerit,  1864), 
Aristotle  on  fallacies  or  the  sophistical  elenchi,  with  a  translation 
and  notes  von  Edward  Poste,  London,  1866  (S.  154). 

S.  155  wird  weiter  ausgeführt  das  Verhältniss  der  Logik  des 
Aristoteles  als  Propädeutik  seines  ganzen  Systems.  S.  164  wird  die 
populäre  Bebaudlung  des  Gottglaubens  durch  Aristoteles  mit 
Hinweisung  auf  eine  Stelle  in  Bernays'  Schrift:  Die  Dialoge  des 
Aristoteles  angedeutet.  Zu  den  naturwissenschaftlichen 
Aristotelischen  Schriften  werden  die  Hülfsmittel  von  George  Lewes 
(Aristotle,  a  chapter  from  the  history  of  science,  London  1864, 
deutsch  von  Jul.  Victor  Carus,  1865,  Anzeige  von  J.  B.  Meyer  in 
Gött.  Gel.-Anz.  1865),  zu  den  psychologischen  A.  Gratacap 
Arist.  de  sensibus  doctrina,  Montpellier,  1866,  angeführt  (S.  165 
und  166).  S.  168  findet  sich  eine  interessante  Bemerkung  Uber  die 
Zeugungslehre  des  Aristoteles  und  dessen  Ansicht  von  der  generatio 
aequivoca  oder  spontanea  eingeschalten.    Bei  der  Aristotelischen 


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830 


U  eher  weg:  Geschichte  der  Philosophie.  8.  Aufl. 


Ethik  wird  die  Schrift  von  Traug.  Bruckner,  das  Verbältniss  der 
Kantischen  Moral  (de  tribus  ethiccs  locis  etc.  Berol.  1866),  bei  der 
Lehre  von  Poe* sie  und  Kunst  die  Abbandlungen  von  Gerb.  Zill- 
genz,  1865,  von  Paul  Grafen  York  von  Wartenburg,  1866,  Unter- 
suchungen von  Wachsinnth,  Vablen,  Susemihl,  Teichmüller  n.  A., 
bei  der  Erziehungslehre  die  Dissertation  von  Alb.  Janke,  1866, 
zu  den  früher  erwähnten  Hülfsmitteln  hinzugefügt.  Unter  der 
Kunstlehre  ist  S.  178  eingeschalten:  »Schön  ist  das  Gute,  wenn 
es  als  solches  zugleich  angenehm  ist  (Rbet.  I,  9).  Die  Schönheit 
besteht  in  Grösse  und  Ordnung  (Poe*t.  c.  7).« 

Von  Aristoteles  kommen  wir  zu  den  Aristotelikern.  Ah 
Zusätze  folgen  die  neueren  I Hilfsmittel  für  Theophrast  von  Jacob 
Bernays,  Theophrastos'  Schrift  über  die  Frömmigkeit,  1866,  für 
Eudemus  Spengel's  Eudemi  Bhodii  fragmenta,  Berol.  1866,  für 
Aristoxenus  Paul  Marquard  (de  Aristox.  Tarent.  element.  bar- 
monicis,  1863),  für  Straton  von  Lampsakus  Krische's  For- 
schungen I,  S.  349 — 358,  für  Aristo  von  Keos  die  Unter- 
suchungen von  F.  Ritsehl  und  Krische  (S.  181).  Von  den  spätem 
Peripatetikern  wird  Adrastus  genannt  und  über  ihn  auf  Martins 
Schrift:  Theo  Smyrnacus  (Paris,  1849)  verwiesen,  ferner  Nico- 
laus von  Damascus  und  über  ihn  Conrad  Trieber  (Quaest.  La- 
conic.  Berol.  1867).  Bei  Aristoxenus,  dem  Musiker,  wird  be- 
merkt, dass  er  ausser  den  Elementen  der  Harmonik  auch  Biographien 
von  Philosophen,  insbesondere  von  Pytbagoras  und  Plato  verfasst 
habe  (S.  183).  S.  184  werden  nachträglich  Diodotus,  der  Bru- 
der des  Boöthus,  und  Xenarchus  als  Peripatetiker  angeführt 
und  die  compondiarische  Darstellung  der  peripatetischen  Philosophie 
durch  Nicolaus  von  Damaskus  und  die  Bearbeitung  der  Logik  und 
Physik  durch  den  Peripatetiker  Aristo  angedeutet  (S.  184).  S.  184 
und  185  finden  wir  eine  Einschaltung  über  die  Exegese  der 
Aristotelichen  Schriften ,  welche  in  der  Kaiserzeit  das  Hauptver- 
dienst der  Peripatiker  ist.  Es  findet  sich  hier  eine  Andeutung  der 
exegetischen  Leistungen  des  Alexander  von  Aegae,  eines  Lehrers 
Nero's,  des  Aspasius,  Adrastus,  Herminus,  Aristokles  und  beson- 
ders des  Alexanders  von  Aphrodisias. 

Es  folgen  die  hervorragenden  Stoiker  (S.  186).  Ueber  Ze- 
no' s  Gotteslehre  handelt  nach  den  neuen  Zusätzen  (S.  1S6)  Krische. 
Forschungen  I,  S.  365  —  404,  über  dieselbe  Lehre  nach  Aristo 
von  Chios  derselbe  a.  a.  0.  S.  404  —  415,  über  Persäas  der- 
selbe a.  a.  0.  S.  436 — 443,  über  Kleanthes  derselbe  a.  a.  0. 
S.  436—445,  über  Diogenes  von  Babylon  derselbe  8.  482 
— 491,  über  den  römischen  Stoicismus  Martha  (les  Mora- 
listessous  l'empire  Romain,  philosophes  et  poe"tes,  Paris,  1864), 
P.  Montec  (le  Stoicisme  ä  Rome,  Paris,  1865),  über  Musonius 
Ruf us  Bäbler  im  N.  Schweizerischen  Museum  IV,  1,  1864,  Otto 
Bernhardt  (Monographie  über  den  genannten  Philosophen,  Sorau, 
1866),  Über  Marc  Aurel  E.  Zeller  in  dessen  Vortr.  u.  AbbandL 


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Ueberweg:  Geschichte  der  Philosophie.  8.  Aufl.  881 


Leipz.  1865.  Als  Schüler  des  Stoikers  Panätius  wird  nachträglich 
G.  MuciusScaevola  (gest.  82  v.Chr.)  genannt  und  dessen  Unter- 
scheidung der  dreifachen  Theologie  angeführt.  Auch  M.  Terentius 
Varro  (115—25  v.  Chr.)  huldigte  denselben  Ansichten  (S.  190). 
Von  den  Stoikern  unter  den  römischen  Kaisern  kommt  vor  Hera- 
klitus  oder  Heraklides  zur  Zeit  des  Augustus,  Attalas  zur 
Zeit  des  Tiber  ins  und  Chäremon  zur  Zeit  des  Nero  (S.  191), 

Als  Stoiker  werden  auch  die  Republikaner  Thrasea  Paetus  und 
Helvidius  Priscus  mit  den  bezüglichen  Citaten  genannt.  Zur  Er- 
klärung der  stoischen  Schlusslehre  sind  Stellen  aus  Prantl's 
Geschichte  der  Logik  und  Zeller's  Philosophie  der  Griechen  ange- 
führt (S.  195). 

Wir  kommen  zü  den  Epikureern.  Hier  finden  wir  (S.  203) 
die  Erwähnung  neuer  Bruchstücke  aus  der  Schrift  Epikurs  (neQi 
(pvöeag)  in  dem  6.  Bande  der  Uercul.  voll,  collectio  altera,  dessen 
erster  Fascikel  zu  Neapel  1866  erschien,  der  Herkulanischen  Studien 
von  Theodor  Gumperz,  zweites  Heft:  Philodem  über  Frömmig- 
keit, 1866,  der  Brieger'scben  Uebersetzung  des  Lucrez  vom 
Wesen  der  Dinge  (1866).  Epikurs  Naturphilosophie  wird 
(S.  209)  also  cbarakterisirt :  »Nur  auf  Abwehr  theologischer  Er- 
klärung und  Feststellung  des  naturalistischen  Princips,  nicht  auf 
gesicherte  naturwissenschaftliche  Erkenntniss  gebt  Epikurs  wesent- 
liches Interesse  in  seiner  Naturphilosophie.«  Unter  der  U Über- 
schrift der  Epikureischen  Ethik  lesen  wir  (S.  212):  »Die  sitt- 
lichen Gesetze  sind  nach  der  Epikureischen  Doctrin  weder  den 
Menschen  angeboren ,  noch  auch  von  Gewalthabern  denselben  auf- 
genöthigt  worden,  sondern  aus  der  Einsicht  der  hervorragenden 
und  leitenden  Männer  in  das  der  menschlichen  Gesellschaft  Nütz- 
liche {ev^fpigov)  hervorgegangen  (Hermarchus  bei  Porphyr,  de 
abstin.  I,  o.  7  — 13;  Bernays,  Theophr.  Schrift  über  Frömmigkeit, 
Berlin,  1866,  S.  8  ff.).  Hinsichtlich  der  Bedeutung  des  Epikureis- 
mus  wird  S.  214  A.  Lange's  Gesch.  des  Materialismus,  1866, 
angeführt. 

An  die  Epikureer  reiht  sich  der  Skepticismus.  Hier  finden 
wir  in  Zusätzen  bei  Pyrrho  (S.  219)  erwähnt  D.  Zimmermann, 
Darstell,  der  Pbyrrh.  Philos.  u.  s.  w.,  im  römischeu  Eklekti- 
zismus bei  der  Religion  der  Römer  E.  Zeller  (24.  Heft  der 
gemeinverst.  wissensch.  Vorträge  von  Rud.  Virchow  und  Fr.  von 
Holtzendorf,  1866),  bei  Cicero  als  Philosophen  die  Abhandlungen 
von  C.  M.  Bernhardt  (1865),  F.  Hasler  und  Hugo  Jentsch  (1866). 

Der  Herr  Verf.  macht  nicht  den  Sokrates,  sondern  die  Sophi- 
sten zum  Wendepunkte  in  der  Geschichte  der  griechischen  Philo- 
sophie, während  Ref.  das  Erstere  für  zweckmässiger  hält,  da  der 
Einfluss  des  Sokrates  ein  auf  alle  Hanptsysteme  späterer  Zeit 
dauernder,  nachhaltiger  ist.  Er  nennt  die  Periode  der  vorsophi- 
stischen Philosophie  den  Zeitraum  der  Vorherrschaft  dor  Kosmo- 
logie.   In  der  zweiten  Periode  bis  zu  den  Skeptikern  ist  die  An- 


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832  Ueberweg:  Geschichte  der  Philosophie.  8.  Aufl. 

tbropologie,  in  der  dritten,  der  Prriode  der  Neuplatoniker  und 
ihrer  Vorgänger,  die  Theosophie  vorherrschend. 

In  diesem  dritten  Zeiträume  findet  sich  bei  der  allgemeinen 
Kennzeichnung  des  Neupiatoni smus  als  Beisatz  die  Bemer- 
kung: »Der  Neuplatonismus  ist  der  Synkretismus  der  orientalischen 
(insbesondere  der  alexandrinisch -jüdischen)  und  der  hellenischen 
Bildung  unter  der  Form  des  Hellenismus;  die  jüdisch- alexandrinische 
Religionsphilosophie  und  die  christliche  Gnosis  ist  derselbe  Syn- 
kretismus unter  der  Form  des  Orientalismus.«  Zugleich  wird  auf 
eine  Stelle  in  Zimmermann^  Geschichte  der  Aesthetik  hingewiesen, 
nach  welcher  Plato's  Versuch,  orientalische  Mystik  in  wissenschaft- 
liche Forschnug  zu  übersetzen,  im  Nenplatonismus  mit  einer  Rück- 
tibersetzung des  Gedankens  in  Bilder  endet  (S.  225).  Bei  den  ein- 
zelnen Ncuplatonikorn,  insbesondere  dem  Pseudo-Phokylides 
(eine  moralpbilosopbiscbe,  judaisirende  Poösie)  finden  wir  die  Ab- 
handlung Leopold  Schmidts  im  75.  Bande  von  Jahu's  Jahrbüchern 
(S.  .228),  bei  den  Neupythagoreern,  iusbesondere  bei  Apollo- 
nias Tyanensis  A.  Chassang,  le  merveilleux  de  l'antiquite ,  Apoll, 
de  Tyan.  (1862,  2  ed.  1864),  Iwan  Müller  in  der  Zeitschr.  f.  TheoL 
und  Kirche  von  Delitzsch  und  Guerike,  24.  Jahrg.  (S.  285),  was 
das  Verbot  des  Floiscbgenusses  durch  die  Neupythagoreer  betrifft, 
eine  Stelle  aus  Bernays:  Theopbrast's  Schrift  über  Frömmigkeit 
(S.  236),  bei  den  Neuplatonikern  überhaupt  Heinrich  Kellner, 
Hellenismus  und  Christenthum,  1865  in  Köln  erschienen,  (S.  242 J 
bei  £  r  e  n  n  i  u  s  insbesondere  dessen  Beziehung  der  Metaphysik  aci 
das  jenseits  der  Natur  Liegende  nach  Brandis*  Andeutung  im  Jahrg. 
1831  der  Abbandl.  der  Berl.  Akad.  (S.  243),  bei  P lotin  Arthur 
Richter'snenplatonische Studien  (1864 — 1867),  dieSchrift  von  E.Grn- 
cker,  de  Plotinianis  libris,  bei  Porpbyrius  dio  1866  erschienene  Jacob 
Bernays'sche  Schrift  des  Theophrastos  über  die  Frömmigkeit  (S  246 
und  247)  erwähnt,  und  bei  den  Lehren  Plotius  einige  Zusätze 
(S.  247)  eingeschalten.  In  Bezug  auf  die  Schönheit  nach  Plotins 
Auffassung  wird  S.  254  bemerkt:  »Nicht  in  der  blossen  Symmetrie, 
sondern  in  der  Herrschaft  des  Höheren  über  das  Niedere,  der  Idee 
über  den  Stoff,  der  Seele  über  den  Leib,  der  Vernunft  und  des 
Guten  über  die  Seele  liegt  das  Wesen  der  Schönheit.  Die  künst- 
lerische Darstellung  ahmt  nicht  bloss  die  sinnlichen  Objecto  nach, 
sondern  zuhöebst  die  Ideen  selbst,  deren  Abbilder  die  Objecte  sind.« 

iSchluss  folgt) 


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Sl.  63.  HEIDELBERGER  1887. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Ueberweg:  Geschichte  der  Philosophie.  3.  Aufl. 


(SchlUM.) 

Als  Gegner  der  Schrift  des  Porpbyrius  gegen  die  Christen  sind 
Methodius,  Eusebius  aus  Cösarea,  Apollinarius  und  Philostorgius 
genannt  (S.  256).  Zu  den  Schriften  der  Neuplatoniker  ist  die 
von  L.  Spengel  in  München  1859  zuerst  herausgegebene  Schrift 
des  Dexippus,  dubitationes  et  solutiones  in  Aristotelis  categorias, 
hinzugefügt  (S.  257).  Als  Hülfsmittel  kommen  hinzu  bei  dem  römi- 
schen Kaiser  Julian,  dem  Apostaten,  Baur's  christliche  Kirche  vom 
4 — 6.  Jahrb.,  Schaffs  1867  erschienene  Geschichte  der  alten  Kirche 
und  der  Jahrgang  1867  der  Zeitschrift  für  bist.  Theol.  herausgeg. 
von  Kahnis,  als  Quelle  bei  Themistius  die  von  Spengel  1866 
herausgegebene  Schrift  dieses  Neupiatonikurs:  Themistii  paraphra- 
ses  Aristot.  librornm,  quae  supersunt  (S.  258).  Bei  Proklus  ist 
die  Unvollständigkeit  des  Mediceisoben  Codex  der  Abhandlung 
desselben  über  Plato's  Staat  mit  dem  Index  des  vollständigen 
Oommentars  erwähnt  unter  Hinweisung  auf  Val.  Rose  in  Hermes  II., 
and  beigefügt,  der  Sal viatische  Codex  aus  Florenz,  jetzt  in  Born 
befindlich,  enthalte  die  fehlenden  Abschnitte,  doch  mit  manchen 
Lücken,  wobei  auf  Mais  Spicileg.  Rom.  VIII.  praef.  hingewiesen 
wird  (S.  260).  Als  neue  Hülfsmittel  zum  Studium  des  Proklus  wer- 
den A.  Berger  (Proclus,  exposition  de  sa  doctrine,  Paris,  1840), 
Steinhart  (Art.  Proklus,  in  Paul y 's  Realencykl.  d.  cl.  A.  Bd.  VI, 
S.  62 — 76)  bezeichnet.  Nachträglich  sind  (S.  261)  zu  den  Com- 
mentaren  des  Simplicius  K.  Enks  deutsche  Uebersetzung  des 
Commentars  des  Simplicius  zu  Epiktets  Enchiridion  (1867)  und 
der  Commentar  des  Simplicius  zu  den  vier  Büchern  des  Aristoteles 
vom  Himmel  (Utrecht,  1865)  erwähnt. 

Von  S.  265—267  folgt  in  einem  Anhange  die  Tabelle  über 
dieSuccession  der  Scholarchen.  Daran  reihen  sich  Berich- 
tigungen und  Zusätze  zur  dritten  Auflage  des  ersten  Theiles,  zur 
zweiten  Auflage  des  zweiten  und  zur  ersten  Auflage  des  dritten  Theiles 
(S.  269—275)  und  ein  alphabetisches  Register  zum  ersten,  die  Philo- 
sophie des  Alterthums  enthaltenden  Bande  der  vorliegenden  Ausgabe 
des  Grundrisses  (S.  277  —  298).  Es  ist  genau  und  vollständig  von 
Dr.  Ferd.  Ascherson  ausgearbeitet,  > der  sich,  wie  früher,  auch 
diesmal  wiederum  in  mehrfacher  Weise  um  die  Correctbeit  des 
Baches  verdient  gemacht  hatc  (Vorrede  zur  dritten  Auflage  des 
ersten  Theiles  S.  VII).    Das  Register  enthält  sowohl  die  Namen 

LX.  Jahrg.  11.  Heft-  53 


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884 


Qu  et  ol  et:  Sciences  msthÄm.  et  phyiiques  etc. 


der  in  diesem  Theile  erwähnten  Philosophen,  als  auch  der  darin 
vorkommenden  Geschichtsschreiber  der  Philosophie  und  Litteratoren. 
Es  ist  so  angelegt,  dass  es  durch  verschiedene  Zeichen  für  die  Be- 
sitzer aller  drei  Ausgaben  brauchbar  wird. 

v.  Reichlin-Meldegg. 


Sciencts  mathimatiques  et  physiques  au  commencement  du  XIX'  sitcU. 
Par  Ad.  Quetelet,  directeur  de  Vobservatoire  royal  dt 
Bruxelles,  de.  Bruzelles,  librairie  evropt'enne  de  C.  Muquardi. 
1867.  (IV  u.  754  8.  in  8.). 

Das  vorliegende  umfangreiche  Werk  des  berühmten  Verfassers 
ist  eine  Art  Fortsetzung  seines  frühern  Buches:  »Histoire  des 
scienoes  mathematiques  et  physiques  chez  les  Beiges«,  dies  wenig- 
stens in  so  ferne,  als  er  hier  die  Dokumente,  die  er  bei  Abfassung 
des  letztgenannten  Werkes  sammeln  musste,  und  welche  die  Ge- 
schichte des  laufenden  Jahrhunderts  betreffen,  niederlegt  oder  teil- 
weise verarbeitet,  damit  sie  zu  einer  eigentlichen  Geschichte  später 
verwendet  werden  können.  Wir  haben  es  also  auch  keineswegs  mit 
einer  systematisch  zusammenhängenden  Darstellung  zu  thun,  da  — 
wie  so  eben  gesagt  —  das  nicht  Absicht  des  Verfassers  war ;  viel- 
mehr spielt  derselbe  in  weitaus  dem  grössten  Theile  des  Buches 
die  Rolle  des  Biographen,  der  jedooh  ganz  besonders  bei  dem  ver- 
weilt, was  er  selbst  gesehen  und  gehört,  selbst  mit  erlebt  hat.  Das 
aber  erzählt  er  in  einer  so  lebendigen  und  dabei  herzgewinnenden 
Weise,  dass  man  das  Buch  mit  immer  steigendem  Interesse  liest, 
und  sich  wahrhaft  stärkt  und  aufrichtet  an  den  Beispielen,  die  von 
liebender  Freundeshand  uns  vorgeführt  werden.  Glücklich  der 
Mann,  welcher  einen  solchen  Biographen  erhält ;  glücklich  aber  auch 
das  Land,  das  seine  Kinder,  die  sich  auszeichnen,  so  behandelt, 
wie  wir  dies  in  den  meisten  dieser  Biographieen  sehen,  wenngleich 
auch  hier  das  hässliche  Bild  verächtlicher  und  intriguanter  Mittel- 
mässigkeit  im  Streite  mit  dem  wirklich  verdienten  Manne  zuweilen 
erscheint. 

Wenn  wir  hier  von  einem  einzigen  Lande  sprechen  dürfen,  so 
rührt  dies  daher,  dass  weitaus  der  grösste  Theil  der  Männer  der 
Wissenschaft,  deren  Leben  hier  ganz  oder  theilweise  geschildert 
wird,  Belgier  oder  in  Belgien  naturalisirte  Fremde  sind.  Der  Titel 
des  Buches  ist  also  scheinbar  etwas  zu  weit  gehalten,  und  wirk- 
lich ist  demselben  auf  8.  1  gleich  der  Znsatz  »chez  les  Beiges« 
zugefügt. 

Das  ganze  Werk  zerfällt  in  vier  Bücher ,  von  denen  die  drei 
letzten  den  eigentlich  biographischem  Theil  ausmachen. 

Das  erste  enthält  don  >  allgemeinen  Stand  der  Wissenschaften« 
(im  Anfange  und  Verlauf  des  19.  Jahrhunderts).    Der  Verf.  bebt 


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QueUlet:  Science«  mathem.  et  physiqnee  etc.  886 


dabei  ganz  vorzugsweise  auf  die  Gesammtarbeiten  ab,  indem 
er  die  im  19.  Jahrhundert  wesentlich  ausgebildeten  Wissenschaft* 
liehen  Verb ün düngen  beschreibt,  boi  denen  also  mehrere  Männer 
der  Wissenschaft  zu  einem  und  demselben  Endzwecke  (namentlich 
der  Beobachtung)  zusammentreten  und  dadurch  Ziele  erreichen,  die 
einem  Einzelnen,  und  sei  er  noch  so  begabt  und  thätig,  immer 
unerreichbar  bleiben  müssen.  Dazu  gehören  auch  die  wissenschaft- 
lichen Kongresse,  wissenschaftliche  Zusammenkünfte  u.  8.  w.  Die 
allgemeine  Uebersicht  schliesst  mit  der  nähern  Bestimmung  des 
Standes  der  betreffenden  Wissenschaften  in  Belgien. 

Wir  mUssen  uns  enthalten,  hier  auf  das  Nähere  einzugehen, 
da  das  Buch  selbst  ja  nur  eine  Art  Uebersicht  ist,  und  also  eine 
Uebersicht  der  Uebersicht  geliefert  werden  müsste,  wenn  wir  über 
Weiteres  berichten  wollten. 

Das  zweite  Buch,  mit  dem  nun  die  Lebensbeschreibungen  beginnen, 
enthält  die  »savauts  beiges.«  Wir  finden  hier  behandelt:  Charles- 
Francois  lePrud'homuied'Hailly,  vicomte  de  Nieuport(1746 — 1827); 
Jean-Baptisto  van  Möns  (1765  — 1842);  le  Colonel  G.  P.  Dandelin) 
(1794—1847);  Pierre  Francois  Verhulst  (1804—1849);  Gaspard- 
Michel  Pagani  (1796  —  1855);  Jean  -  Guillaume  Garnier  (1766— 
1840);  Jacques  -  Guillaume  Crahay  (1789 — 1855);  Pierre  Simons 
(1797—1843);  Francois-Pbilippe  Cauchy  (1795—1842);  Antoine 
Belpaire  (1789—1839);  Jean  Ricka  (1775—1831);  dessen  gleich- 
namigen Sohn  (1803  —  1864);  Daniel- Joseph- Benoit  Mareska  (1803 
—1858);  Henri-Guillaume  Galeotte  (1814—1858),  sämmtlich  Mit- 
glieder der  belgischen  Akademie. 

Neben  der  mehr  oder  minder  ausführlichen  Darstellung  der 
wissenschaftlichen  Leistungen  dieser  Mäuner,  behandelt  Quetelet 
ganz  besonders  ihr  Leben,  wir  möchten  sagen,  ihren  menschlichen 
Tbeil  am  Leben,  so  weit  derselbe  ihm  persönlich  bekannt  war  — 
und  er  ist  mit  allen  diesen  seinen  »confreres«  genau  bekannt  und 
vertraut  gewesen.  Gerade  dieser  Theil  macht  das  Buch  zu  einer 
angenehmen  und  liebenswürdigen  Lektüre,  da  der  Verf.  ein  weiches 
Herz  besitzt,  das  selbst  da,  wo  vielleicht  einmal  etwas  zu  viel  ge- 
schah, immer  entschuldigt  und  möglichst  verschönert.  So  erscheinen 
denn  eine  Reihe  Züge,  die,  wenn  sie  manchmal  auch  nioht  zu  einem 
vollendeten  Bilde  vereinigt  sind,  doch  den  Charakter  und  das  Her» 
des  geschilderten  Mannes  in  dem  Lichte,  das  der  Verf.  für  das 
richtige  erachtet,  erscheinen  lassen. 

Wir  sehen  da  den  alten  »Kommandeur«  Nieuport,  dem  die 
französische  Revolution  seine  Stelle  als  Kommandeur  des  Maltheser- 
Ordens  entrissen  und  ihn  sonst  schwer  geschädigt,  sein  Leben  lang 
»effarouche«  von  dem  Liberalismus,  der  ihm  noch  obendrein  ver- 
haaster  wurde  durch  heftige  Angriffe  von  Seiten  unliebenswürdiger 
Jünglinge  der  Presse,  welche  der  Verdienste  des  alten  Mannes  um 
Vaterland  und  Wissenschaft  nicht  gedachten,  der  durch  beissenden 
Witz  freilioh  auch  manchem  unangenehme  Stunden  bereitete.  Dabei 


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Quetelet:  Sciences  math^m.  et  physiques  etc. 


sehen  wir  ihn  voll  Liebenswürdigkeit  gegen  talentvolle  Anfänger, 
denen  er  mit  väterlicher  Liebe  entgegenkam,  nnd  die  in  der  Kegel 
vom  ersten  Besuche  das  Geschenk  seiner  Werke  mit  nach  Hanse 
nahmen. 

Van  Möns  wird  uns  geschildert  in  seinem  freundschaftlichen 
Verhältnisse  zu  dem  als  Kommissär  in  Belgien  weilenden  Convents- 
mitgliede  Roberjot,  wie  er  in  jeder  Weise  das  Wohl  seines  mit 
Frankreich  vereinigten  Vaterlandes  zu  fördern  strebt,  und  ganz  be- 
sonders für  den  Unterricht  thätig  ist.  Wir  trauern  mit  ihm,  wenn 
seine  schönen  Baumschulen  in  Brüssel  und  Löwen,  wegen  Verwen- 
dung des  Terrains  »in  öffentlichem  Nutzen«  mit  wahrer  Barbarei 
zerstört  werden.  Im  ersten  Orte  wurden  Strassen  und  Hänser,  im 
zweiten  eine  Gasfabrik  darauf  errichtet,  welche  ganz  eben  so  wohl 
anders  wo  hätte  stehen  können.  Aber  die  Herren  Ingenieuro  voll- 
zogen »un  acte  d'ignorance  et  du  plus  grossier  vandalisme.«  In 
welchem  Maasse  der  Mann  als  rechtlich  bekannt  war,  geht  aus  der 
Anekdote  hervor,  die  der  Verf.  aus  der  Zeit -der  Deportation  von 
Pichegru  von  ihm  erzählt.  Eine  dem  General  beigegebene  Person, 
mit  ihm  im  Temple  gefangen,  wollte  ein  Packet  von  grossem  Werth, 
das  sie  bei  Brüssel  vergraben  hatte,  sichern.  In  der  Verzweiflung 
wusste  dieselbe  nicht  an  wen  sich  zu  wenden,  und  schrieb  endlich 
an  den  ihr  nur  dem  Namen  nach  bekannten  Gelehrten. 

Ein  ganz  besonders  mif  dem  Verf.  befreundeter  Gelehrter  war 
Dandelin,  der  sich  mit  ihm  neben  andern  wissenschaftlichen  Din- 
gen auch  mit  der  Verfertigung  von  Theaterstücken  beschäftigte.  So 
entstand  »Jean  Second«,  und  ward  1816  in  Gent  aufgeführt.  Der 
Vater  Dandelin's,  der  nicht  übermässig  erbaut  war  über  des  Sohnes 
literarische  Thätigkeit,  wollte  anfänglich  auf  das  Durchfallen  des 
Stücks  hinarbeiten,  Hess  sich  jedoch  von  väterlicher  Zärtlichkeit 
während  der  Aufführung  von  seinem  grausamen  Vorhaben  abbrin- 
gen und  suchte  den  Sohn  auf.  Wonig  bekannt  mit  den  Geheim- 
gängen  der  Kulissen  gerieht  er  aber  in  den  unrechten,  und  erschien 
urplötzlich  auf  der  Szene,  zum  mächtigen  Ergötzen  der  Zusohauer. 
Nachdem  die  künstlerische  Laufbahn  aufgegeben  war,  wurde  die 
wissenschaftliche  genauer  eingehalten  und  beide  Freunde  brachten 
es  in  dieser  weiter,  als  es  ihnen  wohl  in  der  andern  würde  ge- 
glückt sein. 

Da  ist  der  alte  Garnier,  der  vor  lauter  Pünktlichkeit  sich 
seine  Vorträge  aufschreibt  und  sie  dann  textgetreu  abliest  —  zur 
geringen  Aufmunterung  seiner  Zuhörer  — ,  immer  aber  als  tüchti- 
ger und  gewissenhafter  Mann  erscheint.  Herumgeworfen  in  Frank- 
reich, wo  er  seine  Stellen  verlor,  wird  er  nach  Belgien  gerufen, 
wo  ihm  abermals  die  Revolution  (1830)  seine  ziemlich  einträgliche 
Stelle  entzieht,  bis  endlich  die  belgische  Regierung  dem  alten  Manne 
seine  wohl  verdiente  Pension  gewährt.  Rührend  ist  die  Schilde- 
rung, die  Quetelet  von  den  letzten  Tagen  dieses  Mannes  gibt,  wo 
er  und  seine  eben  so  alte  Frau,  die  ein  langes  Leben  glücklich 


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Quetelet:  Science»  mathem.  et  physlques  etc.  837 

mit  einander  durchlebt,  beide  auf  den  Tod  krank  zu  Bette  liegen, 
und  jedes  doch  nur  um  das  andere  besorgt  ist. 

Wir  lernen  das  Herz  Caucby's  (eines  Verwandten  des  berühm- 
ten Mathematikers)  am  besten  aus  folgender  Thatsache  kennen. 
Ein  junger  Mann,  Sohn  eines  alten  Militärs  und  unbemittelt,  war 
vor  der  Commission,  welche  die  öffentlichen  Prüfungen  abhielt  und 
zu  der  Cauchy  gehörte,  als  nicht  befähigt  erklärt  worden.  Dem 
jungen  Manne  stürzten  bei  der  Eröffnung  dieses  Urtheils  die  Thrä- 
nen  aus  den  Augen  und  die  Commission  war  um  so  mehr  von  die- 
sem Schmerzens-Erguss  ergriffen,  als  man  einsah,  dass  die  Schuld 
nicht  sowohl  in  dem  Verstände  und  Fleisse  des  Kandidaten,  als  in 
seinen  beschrankten  Mitteln  lag.  Cauchy  war  desselbigen  Abends 
bei  dem  Kriegsminister  eingeladen  und  erschien  da  zerstreut  und 
träumerisch.  Auf  die  Nachfrage  nach  dem  Grunde  dieses  Zustan- 
des  erzählte  er  den  betrübenden  Vorfall  des  laufenden  Tages,  und 
schon  den  folgenden  Tag  erhielt  der  junge  Mann  Staatsunterstützung, 
die  er  so  gut  verwendete,  dass  er  ein  Jahr  später  mit  Auszeich- 
nung promovirt  wurde.  In  welchem  Ansehen  der  von  der  Regie- 
rung viel  verwandte  Ingenieur  stand,  beweist  die  Thatsache,  dass 
in  dem  Theile  des  Königreiches,  der  seiner  Inspection  untergeben 
war,  die  Regierung  keinen  einzigen  Prozess  zu  führen  hatte.  Wenn 
Cauchy ,  nachdem  er  eine  Sache  geprüft,  sich  ausgesprochen,  war 
kein  Widerspruch  zu  erwarten. 

Wir  wollen  diese  Auszüge  nicht  fortsetzen,  wie  wir  sie  denn 
auch  nur  gemacht,  um  ungefähr  zu  zeigen,  was  unter  Anderm 
auch  in  dem  Buche  zu  finden  sei,  und  was  man  nach  dem  Titel 
nicht  von  vorn  herein  darin  vermuthet.  Ob  wir  das  Rechte  ge- 
troffen, müssen  wir  dahin  gestellt  sein  lassen ;  es  ist  eben  gar  Vie- 
les da,  unter  dem  eine  Auswahl  schwer  ist. 

Das  dritte  Buch  behandelt  die  Literaten  und  Künstler  Belgiens. 
Wir  finden  die  Lebensschilderungen  von :  Charles- Joseph-Emmanuel 
van  Hulthem  (1764—1833);  Louis-D<§odat  Dowez  (1760  —  1834); 
Egide-Norbert  Cornelissen  (1769  — 1849);  Philippe  Lesbroussart 
(1781 — 1855);  Goswin-Joseph-Augustin  baron  de  Stassart  (1780  — 
1854);  Fr.  Aug.  Ferd.  Th.  baron  de  Reiffenberg  (1795—1850); 
Louis-Vincent  Raoul  (1770 — 1848);  Jean-Thöodore- Hubert  Weusten- 
raad  (1805—1849);  Leonard  Pycke  (1781  —  1842);  Philippe  Rer- 
nard  (1797  —  1853);  Mattbieu-Edouard  Smits  (1789-1852);  Jean 
Baptiste  van  Eycken  (1809  — 1852)  —  wie  man  sieht,  eine  Reihe 
wohl  bekannter  Namen.  Dass  hier  in  fast  noch  grösserem  Maasse 
als  im  ersten  Buche  Anekdoten  ernsthaften  und  witzigen  Inhalts 
erscheinen,  liegt  in  der  Natur  der  Sache*);  aber  auoh  den  Werken 


#)  Wir  erwähnen  hier  der  Inschrift,  welche  der  oberall  aushelfende 
Cornelissen  den  guten  iientern  Ober  das  Thor  der  „petlte  Boncherie"  bei 
dem  Besuche  Napoleons  setzte:  ,.Les  petita  boochers  de  Gand  a  Napoleon 
le  Grand",  die  aber  „par  ordre"  sofort  unterdrückt  wurde. 


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Quetelet:  ßefenees  mathem.  et  physiques  etc. 


der  Männer  hat  Qaetelet  grosse  Aufmerksamkeit  gewidmet,  wie  sich 
denn  ganze  Abschnitte  von  Gedichten  verzeichnet  finden. 

Das  vierte  Buch  behandelt:  »Savants  et  litterateurs  ätrangers ; 
lenrs  relations  avec  la  Belgique«,  oder  —  wohl  eigentlich  —  mit 
dem  Verf.,  der  ganz  eigentlich  hier  sein  Vaterland  repräsentirt. 
Diese  Fremden  sind:  Arago,  Humboldt,  Bouvard ,  Schumacher, 
Gauss,  Göthe,  Gioberti,  Droz,  Malthus,  Falck,  van  Eywick,  Kever- 
berg  v.  Kessel. 

Auch  hier  wird  das  innerste  Leben  der  berühmten  Männer, 
deren  Namen  eben  niedergeschrieben  wurden ,  so  weit  es  Quetelet 
durch  eigene  Anschauung  kannte,  mit  Liebe  und  unverwüstlichem 
Hnmor  wiedergegeben. 

Da  fahren  wir  mit  Arago  und  unserm  Verf.  in  einem  Coupe 
der  Eisenbahn  in  Gemeinschaft  noch  mit  einem  wohlbeleibten  Phi- 
lister, der  ausser  seinem  Platze  einen  guten  Theil  des  dem  Verf. 
zukommenden  occnpirt.  Den  fibernimmt  nun  Arago,  und  bringt 
ihn  durch  haarsträubende  Schilderungen  von  Eisenbahn  -  Unglück 
in  eine  wahre  Verzweiflung,  so  dass  er  bei  der  nächsten  Station 
eiliget  aussteigt,  und  so  unsere  Reisenden  bequemer  sich  einrichten 
können.  Der  lustige  Gelehrte  hat  aber  eine  wahre  Kinderfreude 
an  der  gelungenen  Kriegslist. 

Wir  hören  Humboldt  und  Arago  im  Pariser  Observatorium 
sich  über  wissenschaftliche  Gegenstände  so  lebhaft  unterhalten,  daF? 
sie  in  ernstlichen  Streit  gerathen  und  ersterer  in  vollem  Zorne  das 
Zimmer  verlässt,  ohne  nur  den  Hut  mitzunehmen.  Arago  eilt  ihm 
mit  diesem  unentbehrlichen  Kleidungsstück  nach ,  aber  Humboldt 
will  Nichts  davon  wissen,  bis  endlich  die  gar  zu  komische  Situation 
sich  in  einen  unwillkürlichen  Ausbruch  von  Lachen  auflöst*).  Wir 
sehen  aber  auch,  wie  der  sonst  so  heitere  Arago  mit  der  web- 
mtithigsten  Empfindung  von  dem  Verluste  seiner  Frau  spricht. 

Die  treue  und  aufopfernde  Anhänglichkeit  Bouvards  an  Laplacc 
wird  in  vollstem  Maasse  gewürdigt,  eben  so  wie  die  Liebe,  mit  der 
dieser  thätige  Astronom  an  einigen  seiner  Schüler  hing,  von  denen 
Gambart  ihn  geradezu  Vater  hiess. 

Wir  sind  mit  Quetelet  in  der  Familie  Göthes,  der  den  belgi- 
schen Astronomen  und  dessen  Frau  mit  grösster  Zuvorkommenheit 
aufnahm  und  dem  er  über  die  Aufnahme  seiner  optischen  Arbei- 
ten bei  der  Naturforscherversaramlung  in  Heidelberg  zu  berichten 
hatte. 

Wir  wiederholen  schliesslich  nochmals,  dass  natürlich  die  Wür- 
digung der  Arbeiten  der  Männer,  von  denen  hier  gesprochen  wird, 
den  grössten  Theil  des  Werkes,  das  wir  hier  anzeigen,  ausmacht, 
und  wir  eben  die  Anekdoten,  die  allerdings  ebenfalls  sehr  zahlreich 


•)  Eines  der  lustigsten  Stückchen  zwischen  Humboldt  und  Arago  Ist 
8.  687  erzählt. 


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Houel:  Essai  Bur  lee  principe»  de  U  Geometrie.  830 

sind,  nur  besonders  hervorheben  ,  weil  gerade  sie,  wenn  man  nur 
auf  den  Titel  des  Buches  achtet,  nicht  in  demselben  gesucht  wer- 
den dürften. 


Essai  eritique  sur  les  principe»  fondamentaux  de  Ja  Oiome'trie  ile- 
mentaire  ou  Commentaire  sur  les  XXII  premitres  propositions 
des  Siemens  d'Euclide.  Par  J.  Houel,  ane.  tleve  de  VEc. 
Norm.,  Prof.  de  Math,  pures  ä  la  Fac.  des  Sc.  de  Bordeaux. 
Paris.  Gauthier-Villars.  1867.  (VW  u.  88  8.  in  8). 

Die  vorliegende  kloine  Schrift  des  um  die  mathematischen 
Wissenschaften  wohl  verdienten  Verfassers  behandelt  eine  Aufgabe 
mit  der  schon  Viele  sich  beschäftigt  haben,  und  wohl  noch  Viele 
beschäftigen  werden:  der  Beseitigung  des  bekannten  (sogenannten) 
Postulatums  Euclids  in  der  Theorie  der  Parallelen.  Nicht  als  wollte 
der  Verf.  diesen  Satz  beweisen  —  er  erachtet  einen  Beweis  nicht 
für  möglich ,  sondern  er  will  denselben  durch  ein  anderes  Axiom 
ersetzen,  das  ihm  natürlich  zweckmässiger  für  den  Unterricht  er- 
scheint. 

Die  Schrift  beginnt  mit  einer  Einleitung,  die  im  Grunde  nur 
für  französische  Leser  geschrieben  ist,  da  sie  die  Bedeutung  der 
> Elemente«  Euclids  gegenüber  den  (mehr  oder  weniger  Legendre- 
schen) französischen  Lehrbüchern  hervorhebt.  In  Deutschland  ist 
Jas  nicht  nöthig,  da  wir  die  grosse  Bedeutung  des  mustergiltigen 
Werkes  des  griechischen  Mathematikers  nie  verkannt  haben,  über- 
dies bis  jetzt  auch  viel  zu  »particularistisch«  gesinnt  waren,  um 
uns  vor  einer  Autorität  in  der  Wissenschaft  zu  beugen.  Ob  die 
uns  bevorstehende  politische  Kur  das  ändern  wird,  steht  sehr  in 
Frage. 

Daher  rührt  es  denn  auch,  dass  der  Verfasser  zunächt  die  22 
ersten  Sätze  des  ersten  Buches  von  Euclid,  wie  sie  dieser  erwiesen 
bat,  darstellt,  und  je  nur  in  Noten  anzeigt,  was  ihm  nicht  ganz 
genau,  oder  nicht  deutlich  genug  erscheint.  Das  Letztere  ist  nun 
allerdings  von  Wichtigkeit  und  hätte,  ohne  den  Text  der  Euclid- 
schen  Beweise  zu  geben,  nicht  leicht  geschehen  köunen. 

Der  eigentliche  Gegenstand  der  Schrift  beginnt  jedoch  erst  mit 
S.  37,  als  >  Essai  d'uue  exposition  rationelle  des  principes  de  la 
geomätrie  el£mentaire«,  wo  er  nun  die  Art  darstellt,  nach  der  — - 
seiner  Meinung  gemäss  —  diese  Wissenschaft,  in  ihren  ersten  Ele- 
menten, zu  behandeln  ist. 

Die  Geometrie  ist  dem  Verfasser  auf  den  durch  Erfahrung 
gegebenen  undefinirbaren  Begriff  der  Unveränderlichkeit  der  Figu- 
ren gegründet.  Ueberdies  entlehnt  sie  der  Erfahrung  einige  Sätze, 
die  als  solche  keines  Beweises  fähig  sind,  die  sie  dann  Axiome 
heisst. 


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840  Hon  81:  Essai  «ur  les  prindpes  de  la  Geometrie. 

Nach  den  sich  im  Allgemeinen  dem  Herkömmlichen  anschlies- 
senden Erklärungen  von  Punkt,  Linie  u.  s.  w.,  wobei  der  Verf.  mit 
Recht  sich  auch  der  Bewegung  bedient,  erscheinen  diese  Axiome, 
der  Zahl  nach  vier.  Das  erste  beisat:  Drei  Punkte  genügen  im 
Allgemeinen,  um  im  Räume  die  Lage  einer  Figur  testzustellen. 

Bewegt  sich  eine  Figur,  indem  sie  sich  um  zwei  ihrer  Punkte 
dreht ,  so  zeigt  uns  die  Erfahrung ,  dass  ein  ganzes  System  von 
Punkten  in  Ruhe  bleibt.  Diese  Punkte  reihen  sich  aneinander  längs 
des  Weges ,  den  ein  Lichtstrahl ,  der  von  einem  der  zwei  festen 
Punkte  zum  andern  geht,  beschreibt,  und  bilden  die  gerade 
Linie.  Daraus  ergibt  sich  als  zweites  Axiom:  Es  gibt  eine 
Linie,  deren  Lage  im  Räume  durch  zwei  Punkte  völlig  bestimmt 
ist,  und  von  der  jeder  einzelne  Theil  genau  auf  einen  andern  be- 
liebigen Theil  gelegt  werden  kann,  sobald  beide  Theile  zwei  Punkte 
gemeinschaftlich  haben.  Hieraus  folgert  der  Verf.,  dass  von  einem 
Punkt  zu  einem  andern  nur  eine  Gerade  möglich  sei;  dass  zwei 
Gerade,  die  zwei  Punkte  gemeinschaftlich  haben,  zusammenfallen  in 
ihrer  beliebigen  Ausdehnuug;  dass  also  eine  Gerade  nur  in  einer 
einzigen  Weise  verlängert  werden  kann. 

Hinsichtlich  der  Ebene  wird  durch  Bewegung  und  Drehung 
einer  Geraden  deutlich  gemacht,  dass  man  als  drittes  Axiom  auf- 
stellen könne :  Es  gibt  eine  Fläche  so  beschaffen,  dass  eine  Gerade, 
die  zwei  Punkte  derselben  verbindet,  ganz  in  ihr  liegt,  und  dass 
ein  beliebiger  Theil  dev  Fläche  sieb  auf  die  Fläche  legt,  entweder 
unmittelbar,  oder  indem  sie  umgewendet  ist  (indem  man  habe 
Drehung  gemacht). 

Hierauf  erklärt  der  Verf.  den  Winkel  (»wenn  zwei  Gerade  sich 
begegnen,  so  sagt  man,  sie  bilden  einen  Winkel«)  und  zeigt,  in 
welcher  Weise  derselbe  mit  der  Drehung  einer  Geraden  um  einen 
ihrer  Punkto  (den  Durchschnittspunkt)  zusammenhängt.  Ebenso 
erklärt  er  den  Kreis  und  das  Maass  der  Winkel  mittelst  Kreisbögen. 

Zu  der  Parallelentheorie  übergehend,  werden  die  Parallelen 
erklärt  als  Gerade,  die  sich  nie  treffen  können,  und  gezeigt,  dass 
wenn  man  eine  Gerade,  die  beide  schneidet,  zieht  und  es  bestehen  die 
bekannten  Beziehungen  der  Winkel,  die  Geraden  nothwendig  paral- 
lel sind. 

Um  nun  aber  umgekehrt  zu  erweisen,  dass  wenn  zwei  Gerade 
parallel  sind,  auch  nothwendig  z.  B.  die  innern  Gegenwinkel  zu- 
sammen zwei  Rechte  betragen,  bedarf  der  Verfasser  eines  (letzten) 
Axioms,  das  vierte,  das  heisst:  Durch  einen  Punkt  kann  man  mit 
einer  Geraden  eine  einzige  Parallele  ziehen.  Daraus  folgt  dann 
leicht,  dass  der  eben  geforderte  umgekehrte  Satz  richtig  ist.  So 
wäre  denn  ein  anderes  Axiom  an  die  Stelle  der  Euclidschen  gesetzt, 
das  uns  allerdings  nicht  schwieriger  erscheint,  und  Ref.  selbst  bat 
in  frühern  Zeiten,  als  er  noch  elementare  Geometrie  vortrug,  sich 
dieses  Axioms  bedient,  um  die  Parallelentheorie  zu  begründen. 
Auch  ist  er  seiner  Sache  nicht  ganz  sicher,  wenn  er  meint,  schon 


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Hon  81:  Essai  sur  los  prfticlpes  de  la  Geometrie. 


841 


irgend  wo  und  zwar  vor  vielen  Jahren,  diese  Theorie  so  darge- 
stellt zu  haben. 

Bekanntlich  folgt  dann  leicht  das  vielbesprochene  elfte  Axiom 
Eoclids  und  auch  damit  der  Satz  von  der  Summe  der  Winkel  in 
einem  Dreieck. 

Referent  macht  bei  dieser  Gelegenheit  darauf  aufmerksam,  dass 
man  den  Satz,  dass  die  Winkel  in  einem  Dreiecke  zusammen  zwei 
Rechte  betragen,  ganz  unmittelbar,  ohne  irgend  einen  Lehrsatz, 
beweisen  kann,  und  —  wenn  er  sich  recht  erinnert  —  rührt  die- 
ser Beweis  von  Thibaut  her;  daraus  folgt  ganz  von  selbst,  dass 
wenn  die  innern  Gegenwinkel  zwei  Rechte  betragen,  die  Geraden 
sich  nicht  schneiden  können ,  und  dass  wenn  zwei  Gerade  sich 
schneiden  (und  man  zieht  durch  dieselben  eine  Querlinie)  die  innern 
Gegenwinkel  auf  der  Seite,  auf  der  sie  sich  schneiden,  kleiner,  auf 
der  andern  also  grösser  als  zwei  Rechte  sind.  Damit  ist  freilich 
der  umgekehrte  Satz  noch  nicht  erwiesen.  Wollte  man  ihn  hier 
beweisen,  so  hätte  man  zu  zeigen,  dass  bei  zwei  sich  schneidenden 
Geraden  die  Summe  der  innern  Gegenwinkel  so  nahe  an  zwei  Rechte 
kommen  kann  als  man  will,  woraus  sich  dann  ergibt,  dass  immer 
zwei  Winkel,  die  zusammen  noch  unter  zwei  Rechten  sind,  in  einem 
Dreiecke  vorkommen  können.  Daraus  würde  dann  folgen,  dass  so 
lange  die  innern  Gegenwinkel  unter  zwei  Rechten  sind,  nothwendig 
ein  Schneiden  der  Geraden  auf  der  betreffenden  Seite  stattfindet; 
dass  es  auf  der  andern  Seite  eintritt,  wenn  diese  Winkel  grösser 
als  zwei  Rechte  sind.  Daraus  dann  endlich  würde  sich  ergeben, 
dass  wenn  die  Linien  parallel  sind ,  die  innern  Gegenwinkel  noth- 
wendig zwei  Rechte  betragen.  Es  liegt  allerdings  in  dieser  Dar- 
stellung auch  eine  Art  Annahme  verborgen  —  dass  nämlich  zwei 
Winkel ,  die  zusammen  unter  zwei  Rechten  sind ,  immer  in  einem 
Dreiecke  vorkommen  können  —  ;  doch  scheint  dieselbe  sich  ziem- 
lich fest  begründen  zu  lassen.  Wir  begnügen  uns  hier  mit  diesen 
Andentungen.  In  dem  neuesten  Hefte  seines  Archivs  hat  Grunert 
diesem  Gegenstande  eine  Abhandlung  gewidmet,  welche  namentlich 
den  letzten  Punkt  vollständig  erledigt. 

Der  Verf.  stellt  nun  noch  die  Sätze  Euclids,  die  er  in  seinem 
ersten  Tbeil  aufgeführt,  in  der  Folge  zusammen,  die  ihm  die  zweck- 
mässigstc  erscheint,  worüber  wir  jetzt,  da  doch  im  Grunde  die 
Hauptsache  das  Ersetzen  des  Postulatums  Euclids  ist,  weggehen 
dürfen. 

Ein  Anhang  enthält  als  Noten  einige  weitere  Ausführungen 
und  zwar:  Ueber  die  Unveränderlichkeit  Mer  Figuren;  über  die 
geometrische  Bewegung ;  Uber  die  auf  die  Existenz  der  geraden 
Linie  nnd  der  Ebene  bezüglichen  Axiome ;  über  die  Definition  der 
geraden  Linie;  über  die  Winkeleinheit;  über  das  Postulaturo  Eu- 
clids ;  Uber  die  Theorie  der  Parallelen ;  über  die  Länge  einer  krum- 
men Linie;  Gedanken  über  den  Unterricht  in  der  elementaren 
Geometrie. 


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S42 


WitiBtein:  Mathematische  Statistik. 


Diese  Noten ,  zu  weitläufig ,  um  den  früheren  Erörterungen 
unten  beigesetzt  werden  zu  können ,  zum  Tbeil  auch  Dinge  ent- 
haltend, die  eben  erst  hier  vorkommen,  enthalten  recht  lehrreiche 
Untersuchungen  über  die  durch  die  Ueberschriften  bezeichneten 
Gegenständen,  in  so  weit  dies  eben  mit  don  Zwecken  der  Schrift 
zusammenhing.  Wir  begnügen  uns  mit  der  Hinweisung  darauf,  da 
wir  nichts  Besonderes  zu  erinnern  haben. 

Hinsichtlich  des  ganzen  Buches  aber  sprechen  wir  zum  Schlosse 
aus,  dass  der  Lehrer  der  Geometrie  in  demselben  vieles  für  seine 
Zwecke  Wichtiges  finden  wird  und  wir  dasselbe  desshalb  der  Auf- 
merksamkeit empfehlen  wollen. 


Mathematische  Statistik  und  deren  Anwendung  auf  National-Oekonomit 
und  Versicherungswissenschaft  von  Theodor  Wi  ttst  ein ,  Dr. 
Phil,  und  Professor.  Hannover.  Hahn* sehe  Hofbuchhandlunc. 
1867  (55  S.  in  4.). 

Der  gelehrte  Verfasser,  von  dessen  mathematischer  Tbätigkeh 
wir  in  diesen  Blättern  schon  mehrfach  berichteton,  betritt  mit  dem 
vorliegenden  Buche,  dessen  Umfang  allerdings  ziemlich  mässig  ist, 
ein  so  ziemlich  neues  Gebiet,  indem  er  die  strengern  Formeln  der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  auf  die  Probleme,  die  sich  bei  den 
Untersuchungen  über  die  menschliche  Sterblichkeit  darbieten ,  an- 
wendet. Nicht  als  ob  man  seither  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
nicht  angewendet  hätte ;  das  geschieht  ja  ganz  selbstverständlich  bei 
jedem  Lebensversicherungs-Institut ;  der  Verf.  behandelt  in  so  ferne 
die  ganze  Sache  neu,  als  er  auf  den  wahrscheinlichen  Fehler,  den 
man  bei  den  fraglichen  Untersuchungen  begeht,  wesentlich  Rück- 
sicht nimmt.  Um  den  mathematischen  Leser  in  Stand  zu  setzen, 
sich  im  Allgemeinen  ein  Urtheil  über  die  Schrift  zu  bilden,  wollen 
wir  den  Gedankengang  des  Verf.  im  Nachfolgenden  darzustellen 
versuchen. 

Sind  von  L  jetzt  Lebenden,  die  sämmtlich  n  Jahre  alt  sind, 
noch  ihrer  M  nach  einem  Jahre  am  Leben,  so  pflegt  man  den  Brach 

-  die  Wahrscheinlichkeit,  noch  ein  Jahr  zu  leben  (für  einen  n-jäh- 
L 

rigen)  zu  nennen.  Der  Verf.  erklärt  dies  aber  nur  für  den  wahr- 
scheinlichsten Werth  dieser  Wahrscheinlichkeit,  der  also  auch  mit 
einem  wahrscheinlichen  Fehler  behaftet  sein  muss. 

Ist  w  die  (bekannte)  Wahrscheinlichkeit  für  einen  n-jührigen, 
noch  ein  Jahr  zu  leben,  so  ist  die  Wahrscheinlichkeit  y,  dass  von 
k  Personen  dieses  Alters  nach  Umlauf  einer  Jahres  noch  u  leben, 

offenbar  *(*-l)-(*-ft+D  ^  (1  _w)W  Diege  Gr8Me  erreicht 
1.2..../; 

ihren  grössten  Werth  bekanntlich,  wenn  k  so  beschaffen  ist,  das» 


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Wittstein:  Mathematische  Statist!*.  843 

?  i  ?  ^w^1  , 1  y   ,  woraus,  wenn  A  eine  grosse  Zahl:  /Lt=Aw, 

A  -}—  1  A  -p  1 

so  dass  also  A  w  der  wahrscheinlichste  Werth  von  (d.  h.  der  nach 
einem  Jahr  noch  Ueberlebenden)  ist. 

Setzt  man  A0  =  Aw  und  ft  =  A0-fz,  so  ist,  wenn  man  diesen 
Werth  oben  einsetzt,  A,  Aq-J-z,  A  — Ao  — w  als  grosse  Zahlen  be- 
ll -b?z2  1 
handelt,  z  klein  gegen  A:  y  —  —  e      ,  wo  h»=  -  — ^  , 

was  wir  hier  natürlich  nicht  weiter  herleiten  wollen.  Diese  Grösse 
drückt  also  die  Wahrscheinlichkeit  aus,  dass  von  A  Lebenden  ihrer 
A0-j-z=Aw-[-z  am  Ende  des  Jahres  überleben.  Dabei  kann  z 
natürlich  vou  —  A0  bis  A  —  A0  gehen.  Ist  dabei  A ,  also  auch  Ao 
unendlich  gross,  so  gehen  die  äussersten  Werthe  von  z  von  — oo 
bis  -f-  oo. 

Wenn  der  Verf.  sagt,  obige  Grösse  y  drücke  auch  die  Wahr- 
scheinlichkeit aus,  es  sei  die  Zahl  der  wirklich  Ueberlebenden  von 
ihrem  wahrscheinlichsten  Werthe  um  z  verschieden,  so  mag  man 
das  zugeben;  die  Wahrscheinlichkeit  aber,  dass  ein  beliebig  ge- 
he -h««» 

wählter  Werth  von  z  gorade  der  richtige  sei,  ist  —  e      ,  wenn  e 

eine  unendlich  kleine  Aenderung  von  z  ist  (Satz  des  Rückschlusses 
auf  das  Bestehen  einer  Ursache);  daraus  ergibt  sich  dann  erst, 
dass  die  Wahrscheinlichkeit,  die  Ueberlebenden  von  A  Personen  seien 

t 

2h  P-h**1 

zwischen  A0-f£  und^  —  £,  ist    -  I  e     dz.  Diese  Grösse  nimmt 

0 

den  Werth  \  für  an,  so  dass  (wenn  man  h  einsetzt) 

11  y  & 

man  1  gegen  1  wetten  kann,  die  Anzahl  von  Ueberlebenden  liege 
zwischen  Aw  ±  0*6745  /iw(l-w).  Die  Grösse  0  6745  yf  iw(i-w) 
bildet  den  wahrscheinlichen  Fehler,  der  in  der  Beobachtung  von  ft 
zu  erwarten  ist. 

Wir  haben  dabei  vorausgesetzt,  w  sei  (genau)  bekannt.  Diese 
Voraussetzung  ist  in  den  Anwendungen  nicht  zulässig. 

Gesetzt  die  Erfahrung  habe  aus  1  Lebenden  A  Ueberlebende  (nach 
einem  Jahre,  beim  Alter  n)  ergeben,  und  sei  x  die  (unbekannte) 
Wahrscheinlichkeit,  ein  Jahr  zu  leben,  so  würde  die  Wahrschein- 
lichkeit für  A  Ueberlebende ,  wie"  oben,  sein  — — 

1 .  m  .  •  •  A 

x*(l — x)1""*;  daraus  folgt,  dass  die  Wahrscheinleichkeit  <&,  x  sei 
der  wahre  Werth  ist  -=  ,  wo  der  Verf.  den  (unend- 


x*(l—  x)wdx 


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844  W  i  1 1  s  t  e  i  n :  Mathematische  Statistik. 

lieh  kleinen)  Faktor  e  nicht  hat,  was  ihm  noch  vielfach  begegnet. 

Sl  ist  ein  Maximum  für  x=-^,  so  dass  diese  Grösse  eben  der 

1  x 
wahrscheinlichste  Werth  von  x  ist.    Setzt  man  x=--f°>  nimmt 

an,  dass  A,  1  grosse  Zahlen,  n  aber  klein  sei  gegen  1,  so  findet  sich 

h  -h2u»  13 
Sl=  —  e       ,  wo  h2=  — — — -.  Darausfolgt  dann  wieder,  dass 
y n  2A(1 — A) 

der  wahrscheinliche  Fehler  obiger  Bestimmung  von  x  gleich  0*6745 

V^SB)  ist. 

13 

Hat  man  aus  Beobachtungen  so  x  (mit  seinem  wahrschein- 
lichsten Werthe)  und  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  irgend  ein  Werth 
von  x  der  richtige  sei,  gefunden,  so  ergibt  sich  leicht,  dass  die 
Wahrscheinlichkeit  y,  von  irgend  k  neuen  der  Beobachtung  unter- 
worfenen Personen  (von  demselben  Alter  n)  werden  nach  einem 
Jahre  noch  p  überleben,  ist 


k(k-l)..(k-p  +  l) 
1*2  •••Ii 


J^+^l-^i-H-k-fvi 

o  

1 

JVo-x)1-* 


dx 


kA 

Daraus  folgt  als  wahrscheinlichster  Werth  von  fi:-y-,   mit  dem 

wahrscheinlichen  Fehler  0*6745  V/^*kU-*)0+'O 

13 

Der  Verf.  betrachtet  dann  noch  den  Fall,  dass  man  die  Er- 
fahrungen mehrerer  auf  einander  folgender  Jahre  vor  sich  habe  und 
daraus  Schlüsse  ziehen  wolle.  Wir  übergehen  dies,  da  dasselbe  im 
Wesentlichen  nur  eine  Anwendung  des  Gesagten  ist.  Eben  so  über- 
gehen wir  die  durchaus  willkürliche  Art,  die  aus  Todtenlisten  sich 
ergebenden  Wahrscbeinlichheiten  zu  gruppiren  (§.  23). 

Zur  Anwendung  seiner  Lehren  zeigt  der  Verf.  die  Bildung  einer 
Sterblichkeitstabelle  aus  den  Ergebnissen  der  Listen  eines  Ver- 
sicherungs-Instituts. Er  wählt  als  solches  —  natürlich  nur  als  Bei- 
spiel ,  da  die  Zahleu  sonst  zu  klein  sind  —  die  Hannoverische 
Lobens  Versicherungsanstalt ,  aus  deren  Erfahrungen  er  eine  Sterb- 
lichkeitstafel kunstruirt.  Wollte  man  vom  wahrscheinlichen  Fehler 
abseben  (also  blos  den  wahrscheinlishsten  Werth  der  SterblichkeiU- 
wabrscbeinlicbkeit  erhalten),  so  käme  das  Verfahren  eben  doch  dar- 
auf hinaus,  zu  untersuchen,  wie  viel  von  1  Personen  die  n  Jahre  alt 
sind,  noch  nach  einem  Jahre  lebten.    Sind  es  ihrer  u ,  so  ist  die 

Sterbenswahrscheinlichkeit  — p».  Das  ist  sicher  der  rationelle  Weg, 


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Lieblein;  Aufgaben  aus  der  An&lysls. 


den  man,  wenn  man  den  einfachsten  Regeln  der  Wahrscheinlich- 
keitsrechnung folgt,  einschlagen  wird ;  die  Untersuchungen  des  Verf. 
haben  aber  den  Vortheil  erreichen  lassen,  auch  noch  den  wahr- 
scheinlichen Fehler  ermitteln  zu  können,  dies  treilioh  unter  der 
etwas  unbestimmten  Aunahme  grosser  Zahlen.  Neben  dieser 
Sterblichkeitstafel  ist  auch  die  aus  der  allgemeinen  Wittwenver- 
pflegungs-Anstalt  in  Berlin  von  Brune  berechnete  nochmals  vom 
Verf.  berechnet. 

Eine  Art  Anhang  bildet  eine  Untersuchung  über  den  Capital« 
werth  des  Menschen.  In  der  »Sammlung  gemeinverständlicher 
wissenschaftlicher  Vorträge,  herausgegeben  von  Virchow  und  Holtzen- 
dorfif«  findet  sich  ein  solcher  (oder  vielmehr  zwei)  von  Engel:  »Der 
Preis  der  Arbeit«,  der  ohne  den  mathematischen  Apparat  doch  im 
Wesentlichen  das  gibt,  was  der  Verf.  sagt,  wenn  wir  uns  nicht 
irren.  Ob  dieser  Vortrag  in  der  Note  zu  S.  52  gemeint  ist,  ist 
nicht  ersichtlich. 

Die  so  eben  besprochene  Schrift  erscheint  nach  dem  Vorste- 
henden als  werthvoller  Beitrag  zur  Theorie  der  Sterblichkeitstafeln 
und  also  zu  einem  wichtigen  Zweige  der  mathematischen  Statistik, 
und  wir  können  im  Interesse  der  Sache  nur  wünschen,  dass  der 
Verf.  sein  Versprechen,  diese  Untersuchungen  fortzusetzen,  bald 
erfülle. 


Sammlung  von  Aufgaben  aus  der  algebraischen  Analysü.  Bearbeitet 
von  Johann  Lieb  l  ein,  a.  o.  Professor  am  Polytechnikum 
su  Praq.  Prag,  X erlag  von  H.  C.  J.  Satow.  1867.  (VJII  und 
192  8.  in  8.) 

Die  uns  vorliegende  Sammlung  von  Aufgaben  aus  der  eigent- 
lichen Analysis  ist  eine  der  vollständigsten,  die  wir  noch  zu  Ge- 
sichte bekommen,  so  dass  schon  durch  die  einfache  Thatsache  der 
Sammlung  der  Verfasser  sich  den  Dank  von  Lehrern  und  Schülern 
erworben.  Denn  beide  werden  diese  Sammlung  mit  Nutzen  ver- 
wenden können,  da  sie  nicht  blos  dem  Anfänger  dienen  soll. 

Es  ist  begreiflich,  dass  wir  nicht  auf  den  Inhalt  im  Einzelnen 
eingehen  können,  da  das  eben  hiesse,  wir  sollten  die  einzelnen  Auf- 
gaben, die  wir  natürlich  nicht  revidiren  wollen,  anführen.  Wir  müssen 
uns  somit  begnügen,  die  einzelnen  Hauptabtheilungen  zu  bezeich- 
nen, nach  denen  der  Verfasser  seine  Sammlung  geordnet  hat,  wor- 
aus der  Leser  schon  entnehmen  kann,  was  er  in  dem  Buche  fin- 
den wird. 

Diese  Hauptabtheilungen  sind  der  Anzahl  nach  zehn,  die  fol- 
gende Theile  behandeln. 

Zuerst  begegnen  wir  Aufgaben  ȟber  die  verschiedenen  Arten 
von  Funktionen«,  die  sich  namentlich  mit  ganzen  und  symmetri- 
schen Funktionen  beschäftigen  und  auch  nach  der  Art  und  Weise 
fragen,  irrationale  Formen  rational  zu  machen. 


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846 


Serret:  Calcul  differentiel. 


Der  zweite  Abschnitt:  »über  cyclo  metrische  Funktionen«  be- 
schäftigt sich  im  Grande  nur  mit  den  Formeln  der  Addition  und 
Subtraktion  dieser  Funktionsformen ;  während  der  dritte:  »über 
Grenz werthe«  ein  sehr  reiches  Material  darbietet. 

Im  vierten  Abschnitt  begegnen  wir  Aufgaben  über  Unstetigkeit 
der  Funktionen;  der  fünfte  enthält  die  Convergenz  und  Divergeni 
unendlicher  Reihen.  Die  Anzahl  der  hier  vorgeführten  Beispiele  (und 
daneben  auch  allgemeiner  Lehrsätze)  ist  ganz  ausserordentlich  gross 
und  sind  diese  Beispiele  in  den  verschiedenartigsten  Formen  ge- 
bracht So  ziemlich  dasselbe  lässt  sich  von  dem  folgenden  Ab- 
schnitte, welcher  die  Doppelreihen  behandelt,  aussagen. 

Der  siebente  Abschnitt  bringt  uns  in  mehreren  Abtheilungen 
Reihenentwickelungen,  und  zwar  in  der  Form  rüoklaufender  Rei- 
hen, Binominal-  und  Exponentialreihe,  logarithmische  Reihen,  gonio- 
metrische  Reihen. 

Die  unendlichen  Produkte  sind  ebenfalls  reichlich  im  achten 
Abschnitt  vertreten,  während  im  neunten  die  Reiben  und  Produkte 
für  complexe  Veränderliche  und  endlich  im  zehnten  (und  letzten 
die  Kettenbrüche,  natürlich  hier  in  allgemeinen  Formen,  erscheinen. 

Diesen  Aufgaben  sind  nun  (S.  129  bis  Schluss)  »Erläuterun- 
gen und  Resultate  zu  den  vorhergehenden  Aufgaben  c  beigegeben, 
in  denen  allerdings  nicht  alle  Aufgaben  gelöst,  dagegen  vielfach 
die  Theorie  erörtert  wird,  was  denen,  die  das  Buch  benützen  wollen, 
entschieden  angenehm  sein  wird. 

In  der  Vorrede  gibt  der  Verf.  an,  dass  er  als  Quellen  die  in 
Crelles  Journal,  Grunerts  Archiv,  Schlömilchs  Zeitschrift,  Terquems 
Nouvelles  Annales,  Liouville's  Journal  enthaltenen  Arbeiten  von 
Arndt,  Bossel,  Bertrand,  Betti,  Bonnet,  Catalan,  Cauehy,  Clausen, 
Dienger,  Eisenstein,  Euler,  Gauss,  Hankel,  Heine,  Jacobi,  Lagrange, 
Möbius,  Prouhet,  Roborts,  Schellbach,  Sohlörailch,  Stern,  Waring, 
Whitworth  benützt  habe,  und  er  von  dieser  Berücksichtigung  so 
vieler  Originalarbeiten  eine  günstige  Aufnahme  seinos  Buches  von 
Seiten  des  mathematischen  Publikums  hoffen  dürfe.  Das  wünschen 
wir  dem  Verf.  nun  ebenfalls  und  empfehlen  sein  Buch  recht  sehr 
allen  denen,  die  sioh  selbst  üben  oder  Stoff  zu  üebungen  für  andere 
haben  wollen. 


Cours  de  Calcul  differentiel  et  intigral,  par  J.  A.  Serret,  Membre 
de  l'Institut,  Professeur  au  ColUge  de  France  et  ä  la  FacuUe 
des  Sciences  de  Paris.  Tome  pr emier.  Calcul  differentiel.  Pari*. 
Gaulhier-Villars.  1868.  (618  S.  in  8.1 

Allerdings  als  1868  erscheinend  datirt,  haben  wir  das  Werk 
des  berühmten  französischen  Mathematikers  doch  bereits  1867, 
wenigstens  in  seinem  ersten  Bande,  vor  uns  liegen.    Der  zweite 


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Serret:  Calcul  diflferentiel. 


847 


Band,  die  Integralrechnung  enthaltend,  wird  uns  freilich  erst  1868 
zu  Gesicht  kommen  und  wir  werden  ihn  auoh  dann  erst  anzeigen 
können. 

Es  erscheinen  nachgerade  in  allerlei  Sprachen  so  viele  Werke, 
welche  die  Differential-  und  Integralrechnung  behandeln,  dass  man 
sich  nur  über  die  grosse  Verbreitung,  welche  das  Studium  der 
böbern  Mathematik  nothwendig  gewonnen  haben  muss,  wenn  so 
viele  Bücher  sollen  Absatz  finden  können,  freuen  muss.  Es  läuft 
freilich  mitunter  auch  arg  faule  Waare  in  die  Oeffentlichkeit  hin- 
aus, und  wir  haben  in  diesen  Blättern  mehrfach  Gelegenheit  ge- 
nommen, darüber  zu  sprechen.  Es  ist  uns  das  freilich  nicht  zum 
Besten  bekommen,  denn  neben  der  Oeffentlichkeit  hat  man  auch 
die  löblichen  Postanstalten  mit  Briefen  belästigt,  die  an  den  Unter* 
zeichneten  gerichtet  waren  und  ihm  den  Standpunkt  gehörig  klar 
machten.  Leider  hat  der  hochachtbare  Verfasser  des  freundlichen 
Schreibens  vergessen,  seinen  Namen  beizusetzen,  und  wir  sind  also 
nicht  in  der  augenehmen  Lage  gewesen,  ihm  persönlich  danken  zu 
können.  Wenn  der  Unterzeichnete  soust  auch  ziemlich  träge  im 
Briefeschreiben  ist,  so  hätte  er  in  diesem  Falle  gewiss  der  schul- 
digen Pflicht  genügt.  Da  der  betreffende  Mathematikus  die  Heidel- 
berger Jahrbücher  liest,  so  entspricht  er  vielleicht  noch  nachträg- 
lich der  hiermit  an  ihn  gerichteten  Bitte,  das  Vergessene  nach- 
zuholen. 

Nach  dieser  persönlichen  Abschweifung  wenden  wir  uns  wieder 
zu  dem  vorliegenden  Werke.  Es  ist  ganz  selbstverständlich,  dass 
eine  Schrift  von  diesem  Umfange,  welche  den  Namen  Serret's  auf 
ihrer  Stirne  trägt,  als  ein  vortreffliches  Werk  auftreten  wird  und 
die  Kritik  nicht  in  der  Lage  ist,  nach  etwaigen  Mängeln  oder  zu 
verbessernden  Theilen  zn  suchen.  Von  diesem  Gesichtspunkte  ans, 
der  uns  freilioh  nicht  von  aufmerksamem  Durchlesen  des  Buches 
abhalten  durfte,  werden  wir  uns  begnügen,  den  Unterschied  des 
vorliegenden  Buches  gegenüber  der  sonst  herkömmlichen  Anordnung 
in  der  Differentialrechnung  besonders  hervorzuheben,  wobei  wir  so- 
gleich zufügen,  dass  die  einzelnen  Abiheilungen  eben  doch  auch  die 
herkömmlichen  sind,  da  für  die  Differentialrechnung  sich  in  dieser 
Beziehung  bereits  ein  Gebrauch  festgestellt  hat,  der  nicht  mehr 
leicht  wird  geändert  werden. 

Es  ist  wohl  überflüssig,  diese  einzelnen  Abtheilungen,  als  in 
dem  Buche  enthalten,  besonders  zu  benennen;  nur  die  Anwendun- 
gen auf  analytische  Geometrie  wollen  wir  hier  aufführen. 

Die  Gränzmethode  bildet  für  den  Verf.  gleichfalls  die  Grund- 
lage der  Differentialrechnung.  Wie  fast  alle  französischen  Schrift- 
steller gebt  er  dann  zu  den  Differentialen  Über,  wobei  dx  eben  ein 
willkürlicher  Zuwachs  von  x  und  dy  der  »erste  Theil  von  z/y« 
ist,  wenn  ^  f(x)  =  f(x)  -j-  h)  —  f(x)  =  h  f  '(x)  -f-  h  £,  und  s  mit  h  zu- 
gleich unendlich  klein  wird.  Demgemäss  wäre  d  f(x)  =  f  *(x)  b,  und 
wenn  f(x)  =  x  :  dx  =r.  h,  so  dass  d  f(x)  =  f '(x)  dx.  Der  Verf.  spricht 

/ 

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6 er r et:  Calcul  differentiel. 


sich  hierüber  (S.  27)  wörtlich  so  aus:  >On  voit  en  resume  que  la 
diflereutielle  d'une  fonction  est  egale  ä  la  dörive"  de  cette  fonction 
multiplie'e  par  la  difförentielle  de  la  variable  indöpendante ;  quaut 
a  cette  derni&re  diff£rentielle,  eile  n'est  autre  chose  qu'tra  accrois- 
sement  arbitraire  attribue'  ä  la  variable  indäpendante.« 

Unsere  Meinung  hierüber  haben  wir  in  diesen  Blättern  schon 
oft  ausgesprochen,  und  wiederholen  sie  hier  desshalb  nicht, 
dy 

Dass  nun  7^-  in  zweierlei  Weisen :  als  Moses  Zeichen  (als  d«S- 
dx 

rivöe  oder  Differentialquotient)  und  als  wirklicher  Bruch ,  dessen 
Zähler  d  y,  dessen  Nenner  d  x  ist,  aufgefasst  werden  kann,  sagt  der 
Verf.  ganz  ausdrücklich  an  derselben  Stelle,  welche  den  oben  an- 
geführten Ausspruch  enthält.    Diese  Doppeldeutigkeit  gestattet  ihm 

aus  y  =  f(u)  zu  schliessen:  4- =f,(u)      »  dy  =  f'(u)du.  Dabei 

dx  dx 

müssen  wir  aber  bemerken ,  dass  die  Ableitung  der  Differentiale 
der  einzelnen  Funktionen  immer  streng  nach  der  Gränzmethode 
geschieht,  also  die  Auffassung  als  Differentialquotient  vorherrscht. 

dy  dy 

Ist  y  —  f(u,  v) ,  so  schliesst  der  Verf. :  dy^-^du-l-r^dv, 

du  dv 

verwahrt  sich  aber  jetzt  entschieden  dagegen,  das  man  hier  ~  ,  -~ 

a  u  d  v 

als  Brüche  behandeln  könne.  Die  Bezeichnung  der  partiellen  Dif- 
ferentialquotienten als  solcher  kennt  er  in  seinem  Buche  nicht. 

Der  Theorie  der  (unendlichen)  Reihen  hat  der  Verfasser  viele 
Sorgfalt  gewidmet,  und  dann  diese  Sätze  bei  Gelegenheit  der  An- 
wendungen des  Taylor'schen  Satzes  verwerthet.  Selbst  der  Ent- 
wicklung von  f(x-j-h)  nach  steigenden  Potenzen  von  h  wird  ge- 
dacht in  dem  Falle,  da  diese  Potenzen  nicht  blos  ganze  positive 
Exponenten  haben.  Die  unendlichen  Reihen  für  arc(sin  =  x),  arc 
(tg  — x)  haben  wir  nicht  gefunden. 

Den  grössten  Theil  des  Buches  nehmen  die  Anwendungen  der 
Differentialrechnung  auf  Geometrie  ein  (S.  248  —  540).  Ausser  den 
gewöhnlichem  Anwendungen  finden  wir  die  Benützung  der  von 
Hesse  in  die  analytische  Geometrie  eingeführten  »homogenen 
Koordinaten«,  wie  auch  die  bekannte  Funktionalderminante  geradem 
durch  das  Zeichen  H(u)  bezeichnet  wird. 

(Schluß«  folgt) 


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Sr.  64.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Serret:  Calcnl  ditferentiel. 


(SchhlBS.) 

Die  besondern  Punkte  (ebener  Kurven)  werden  in  einer  sonst 
nicht  häufig  vorkommenden  allgemeinen  Weise  untersucht ,  so  wie 
dann  auch  den  Kegelschnitten  gauz  besondere  Sorgfalt  zugewendet 
wird.  Die  Zykloiden  und  Spiralen,  sowie  die  Kreisevolvente  bieten 
ebenfalls  Beispiele  für  die  allgemeine  Theorie. 

Sehr  ausführlich  wird  die  Theorie  der  doppelt  gekrümmten 
Kurven  (courbcs  gauches)  behandelt.  Die  in  einem  Punkte  einer 
Kurve  dieselbe  in  eiuer  Oskuiation  dritten  Grades  berührende  Kugel 
wird  besonders  untersucht.  Die  einhüllenden  und  abwickelbaren 
Flächen  sind  hier  naturgemäss  mit  hereingezogen.  Eine  ausführ- 
liche Untersuchung  der  Evoluten  und  Evolventen,  so  wie  der  Be- 
rührungen von  Kurven,  schliesst  diesen  Abschnitt. 

Der  nächste  ist  den  krummen  Linien  auf  Oberflächen  gewid- 
met. Dass  hier  die  bekanutcn  Sätze  über  die  Normalscbnitte  er- 
scheinen, ist  natürlich ;  es  wird  diese  Untersuchung  aber  dann  auch 
noch  in  der  Weise  Dupin's  durchgeführt.  Die  Krümmungslinien 
rinden  ebenfalls  ihren  gebührenden  Autheil  von  Beachtung.  Die 
»dreifachen  Systeme  orthogonaler  Flächen«  (Lame*)  werden  darge- 
stellt und  die  speziellen  elliptischen  Koordinaten  angewendet.  Die 
Definitionen  und  allgemeinen  so  wie  partiellen  Differential-Gleich- 
ungen der  bekannten  Flächenfamilien  werden  zum  Schlüsse  gegeben. 
Damit  ist  natürlich  auch  die  Theorie  der  krummen  Flächen  selbst 
erledigt. 

Ein  besonderes  Kapitel  widmet  der  Verfasser  den  Funktionen 
imaginärer  Veränderlichen.  Namentlich  findet  sich  hier  die  Cau- 
cby'sche  Theorie  des  (allgemeinen)  Maclaurin'schen  Satzes,  so  wie 
dio  Ableitung  des  Lagrange'schen  Satzes  (für  selbst  imaginäre 
Veränderliche). 

Den  Schluss  des  Werkes  bildet  die  Zerfallung  der  rationalen 
Brüche  in  einfache  Brüche  in  der  Ausführlichkeit,  wie  sie  bereits 
in  der  dritten  Auflage  des  »Cours  d'Algebre  supörieure«  enthal- 
ten ist. 

Dies  mag  hinreichen ,  um  den  mathematischen  Leser  in  den 
Stand  zu  setzen ,  sich  ein  ungefähres  Bild  von  dem  Inhalte  des 
neuesten  Werkes  des  Mathematikers  zu  machen ,  dessen  Name  in 
allen  Theilen  der  Wissenschaft  hoch  geehrt  ist.    Dr.  J.  Dienger. 

LDL  Jahrg.  11.  Heft.  54 


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860 


Bü  chmann : 


igelte  Worte. 


Geflügelte  Worte.  Der  Citatenschats  des  deutschen  Volkes  von  Georg 
Büchm  ann*  Vierte  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage. 
Berlin  1867.  203  Seiten  Octav. 

Dass  seit  dem  ersten  Erscheinen  dieser  Sammlung  im  Jahr 
1864  jetzt  bereits  eine  vierte  Auflage  nöthig  geworden,  bezeugt 
hinlänglich  ihren  Werth,  und  allerdings  lässt  sich  leicht  einsehen, 
dass  die  darin  enthaltenen  Nachweise  nach  vielen  Seiten  hin  will- 
kommen sein  milssen ;  denn  nicht  nur  das  gebildete  Publikum  im 
allgemeinen,  sondern  auch  der  Gelehrte  führt  oft  »geflügelte  Worte « 
im  Munde,  Uber  deren  Ursprung  er  im  Dunkeln  ist  oder  wohl  gar 
eine  irrige  Meinung  hegt  oder  die  er  doch  wenigstens  ungenau  an- 
fuhrt. Beispiele  aller  Art,  die  das  hier  Gesagte  belegen,  bietet 
das  Buch  in  grosser  Menge ;  eines  der  auffallendsten  dürfte  wohl 
das  allbekannte  »Ceterum  censeo«  sein,  das  sich  bei  keinem 
alten  Autor  rindet  und  wahrscheinlich  nichts  weiter  ist  als  die 
Uebersetzung  einer  Stelle  des  Plutarch ;  auch  der  Schlaf  des 
Gerechten,  der  zwar  »ganz  biblisch  aussieht«  und  nicht  bloss 
bei  den  Deutschen,  sondern  auch  bei  andern  Völkern  (Franzosen, 
Engländern,  Italienern)  geschlafen  wird,  kommt  in  der  Bibel  nicht 
vor,  und  dürfte  wohl,  wie  dem  Ref.  scheint,  aus  irgend  einem  latei- 
nischen Mystiker  des  Mittelalters  stammen.  Diese  und  ähnliche 
überraschende  oder  sonst  willkommene  Angaben  machen  die  Samm- 
lung belehrend  und  anziehend,  die  übrigens  sich  nicht  allein  mit 
Citaten  aus  Schriftstellern ,  sondern  auch  mit  nur  gesprochenen 
oder  gelegentlich  geschriebenen  Worten,  namentlich  politischen  und 
historischen,  befasst  und  ausser  der  deutschen  Sprache  auch  die 
französische,  italienische,  griechische  und  lateinische  hereinzieht; 
denn  aller  dieser  bedienen  wir  uns  beim  Citiren.  Freilich  kann 
man  in  den  genannten  Dingen  keine  festen  Grenzen  ziehen ;  Citat 
und  Sprichwort  lassen  sich  oft  nicht  scheiden/  auch  die  Natur  bei- 
der überhaupt  sich  nicht  sicher  bestimmen;  denn  wer  z.  B.  weiss, 
ob  Terenz  sein  hinc  illae  lacrumae  nicht  schon  als  Citat  oder 
Sprichwort  vorgefunden  und  nur  passend  verwandt  hat ;  und  wenn 
ferner  von  der  Häufigkeit  der  Anführung  abhängen  muss,  was  als 
»geflügeltes  Wort«  betrachtet  werden  soll,  so  ist  dies  ein  sehr 
relativer  Begriff.  Mancher  selbst  gelehrte  Leser  wird  sicher  als 
solches  hier  Sprüche  rinden,  die  er  wohl  nur  selten  oder  vielleicht 
nie  vernommen  oder  selbst  bloss  gelesen.  Um  gleich  wenigstens 
ein  Beispiel  zu  bringen,  so  muss  Ref.  zu  seiner  tiefsten  Beschämung 
gestehen,  dass  er  das  »una  voce  poco  fa«  aus  Rossini's  Barbier 
noch  nie  als  »geflügeltes  Wort«  gehört  und  so  noch  manches 
andere.  Jedoch  sieht  man  von  Einzelheiten  ab ,  so  ist  freilich  die 
bei  weitem  überwiegende  Mehrzahl  der  hier  gesammelten  Aussprüche 
allgemein  bekannt ;  und  zwar  belaufen  sich  die  deutschen  etwa  auf 
800,  die  lateinischen  auf  250,  die  englischen  auf  121,  die  franzö- 
sischen auf  115,  die  griechischen  auf  19,  die  italienischen  auf  10. 


Büchmann:  Geflügelte  Worte. 


851 


Daraus  gebt  also  hervor,  dass  wir  ausser  deutsch  am  häufigsten 
lateinisch  citiren,  dass  Englisch  und  Französisch  sich  fast  gleich 
stehen,  Italienisch  aber  eine  sehr  kleiue  Rolle  spielt  und  sogar 
vom  Griechischen  fast  um  das  doppelte  ttbertroffen  wird.    Ob  die 
Folgerungen,  die  sich  aus  diesen  Verhältnissen  ergeben  möchten 
und  anf  die  Ref.  hier  nicht  näher  eingehen  kann,  auch  alle  richtig 
wären,  lässt  er  dahingestellt.  Dahingegen  will  er  lieber  einige  kleine 
Beiträge  zur  Geschichte  einzelner  Citate  liefern  und  zu  späterer 
weiterer  Vervollkommnung  der  vorliegenden  Arbeit  auch  ein  Scherf- 
lein beitragen ;  so  z.  B.  in  Betreff  der  Anführung  aus  Shakespeare^ 
König  Heinrich  VIII.  (S.  96):  »Men's  evil  manners  live  in 
brass;    their  virtuos  —  We  write  in  water.«    Percy  in 
der  Einleitung  zur  Ballade  »Jane  Shore«  (Reliques  vol.  II.  B.  2. 
No.  26)  bemerkt,  dass  sich  bei  Thomas  More,  Hist.  of  Richard  III. 
(Works  1557.  p.  57)  folgeude  Stelle  findet:  »Men  use,  if  they  have 
an  evil  turne ,  to  write  it  in  marble ;  and  whoso  doth  us  a  good 
tourne,  we  write  it  in  duste«,  und  dass  Shakespeare,  der  in  seinem 
Richard  dem  Dritten  More's  Geschichte   dieser  Regierung  folgt, 
auch  diese  Worte  gesehen  haben  inuss  und  benutzt  haben  wird.  — 
Cicero's  Patria  est,  ubicumque  est  bene  (S.  124)  stammt 
wahrscheinlich  aus   dem  griechischen  x<fi  yccQ  xccX&g  itQetGGovxi 
TtätSa  yij  naxQlg  in  den  yvafim  fiovoöxix0^  597  bei  Brunck  Poett. 
gnomico.  p.  321  ed.  Schaef.  —  Der  Ausspruch  des  Virgil  »Facilis 
descensus  Averno«  (p.  141)  findet  sein  Vorbild  in  dem  Philo* 
sophen  Bias,  der  auch  noch  einen  witzigen  Nachsatz  hinzufügte; 
er  sagte  nämlich:    *EvxoXov  xr\v  slq  aöov  oöov  xaxa^ivopxag 
yow  xaxiivai.*  Diog.  Laert.  L  IV,  c.  7.  s.  3.  §.  49.  —  Den  Ver- 
sen des  Ovid  »Donec  eris  felix  etc.  (p.  144)  entsprechen  die 
des  Theognis  697  f.  »Ev  n\v  €%ovxog  i[iov  noXlol  (pCkoi'  rjv  de  xi 
ösivov  —  Eyxvgöfl,  tmxvqoi  mGxov  e%ovOi  voov.*    Dass  Lucian 
seinen  Spruch  (Anthol.  gr.  10,  35:  *Ev  Ttgdooav  etc.«)  aus  Theog- 
nis erweitert,  ist  wahrscheinlich.  —  Ausser  dem  »Prediger  in 
der  Wüste«  (S.  167),  voii  dem  Jesaias  spricht,  hat  es  auch  noch 
einen  andern  »Prediger  in  der  Wüste,  wie  wir  lesen  im  Evange- 
listen«, gegeben,  nämlich  Jobannes  den  Täufer,  der  freilich  mit  dem 
des  genannten  Propheten  verglichen  wird.  Matth.  3,  3.  Luc.  8,  4. 
Es  wäre  gut  in  der  Sammlung  auch  auf  jene  Stelle  des  Kapuziners 
in  Wallenstein's  Lager  hinzuweisen.  —  Der  lateinische  Spruch: 
»Quidquid   agis,  prudenter  agas  et   respice  finem« 
(S.  169)  stammt  nicht  aus  Jesus  Sirach.  Uebrigens  findet  er  sich 
bereits  in  den  Gesta  Romauorum  c.  103,  im  Dialogus  Creaturarum, 
in  den  Flores  poetarum  Colon.  1472  so  wie  in  Handschriften  des 
13.  Jahrh. ;  s.  Edölestand  du  Meril,  Poösies  in^dites  du  moyen  äge. 
Paris  1854.  p.  162,  welche  Schriften  sich  sämmtlich  auf  Aesop 
berufen,  wodurch  also  des  Ref.  schon  früher  in  Ebert's  Jahrbuch 
der   roman.  n.  engl.  Litter.  3,  154  f.  ausgesprochene  Vermuthung 
und  Verweisung  bestätigt  wird;  es  heisst  nämlich  in  Aes.  Kor, 

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862 


Büchmann:  Geflügelt«  Worte. 


Nr.  4.  Halm  Nr.  45:  »outö  xal  tav  av&QGniGW  rovg^  <p(>ovi'uovg 
äst  tiqozsqov  tu  tih]  tg>v  xQuyuaTwr  öxoitstv,  ovtcjg  ccvzoig 
iiuiEiQSlv.*  —  Sonst  will  Ref.  noch  anführen,  dass  das  dänische 
Wort  für  Kanne gi esser  (S.  67)  »kandestöber«  ist  und  dies  im 
Dänischen  ursprünglich  nicht  einen  »Bierliebhaber«,  sondern  eben 
einen  Kannegiesser  bedeutet;  ferner  dass  in  dem  Verse:  »Prin- 
cipiis  obsta;  sero  medicina  paratur«,  das  Wort  medi- 
cina  nicht  »Heilung«  zu  übersetzen  ist  (denn  diese  kommt  nie  zq 
spät),  sondern  »Heilmittel«,  welches  allerdings  oft  zu  spät  in  An- 
wendung gebracht  wird,  und  endlich ,  dass  ausser  dem  nicht  ge- 
sagten mot  de  Cambronne  (S.  199)  auch  das  Wort  anzuführen 
war,  welches  von  Cambronne  wirklich  gesagt  und  unlängst  so  viel- 
fach in  den  öffentlichen  Blättern  discutirt,  auch  von  Victor  Hugo 
lebhaft  vertheidigt  und  gepriesen  worden  ist,  nämlich:  »merde«! 
—  Als  Curiosum  zu  dem  aus  dem  Propheten  Daniel  angeführten 
»Mene  Tekel  Peres«  (S.  167)  will  Ref.  beiläufig  erwähnen, 
dass  nach  der  patriotischen  Behauptung  eines  neueren  italo-albane- 
Biseben  Gelehrten  die  Albaneser  ein  semitisches  Volk  und  zur  Zeit 
der  Hyksos  nach  Europa  gekommen  sein  sollen;  auch  mene  tekel, 
f  a  r  e  noch  zu  dieser  Stunde  in  ihrer  Sprache  das  nämliche  bedeute 
wie  zur  Zeit  Belsazers!  S.  Rapsodie  d'un  Poema  Albanese  etc. 
Tradotto  da  Girolamo  de  Rada.  Firenze  1866.  p.  11.  —  In  Be- 
treff des  Spruches :  »Quos  Deus  perdere  vult  dementat 
prius«  (S.  117)  mag  hier  angeführt  werden,  was  Guitard  sagt  in 
seinen  Etudes  histor.  litter.  et  morales  sur  les  Proverbes  francais. 
Paris  1860.  p.278:  Quos  Jupiter  vult  perdere,  dementat 
prius.«  Les  auteurs  et  commentateurs  des  seixieme  et  dix-septieme 
siecles  ont  souvent  rapporte*  ce  vers  en  l'estropiant  et  que  voili 
rectifie  par  M.  Boissonade  conformement  aux  regles  de  la  versifi- 

cation          II  est  certain  que  ce  vers  n'appartient  ä  aueun  poete 

de  l'antiquite*  et  qu'il  ne  peut  etre  attribue  qu'ä  un  de  ces  compi- 
latenrs  erudits  qui  vers  la  fin  du  moyen  äge  s'appliquerent  ä  re- 
cueillir  toutes  les  pensces  remarquables  des  bons  classiques  et  ä 
les  convertir  en  sentences  redigees  sous  une  forme  metrique.« 
Guitard  v-  rweist  dann  auf  Vellej.  Paterc.  2,  33:  »IneluctabilU 
fatorum  vis,  cujnseumque  fortunam  mutare  constituit,  consilia  cor- 
rumpit«,  so  wie  ferner  auf  ein  französ.  Sprüchwort:  »Qnand  Dien 
veut  chätier  une  homme,  il  lui  öte  la  cervelle«  oder  »Quand  Dien 
veut  quelqu'un  chätier  —  De  bons  Bens  le  fait  varier.«  Vgl.  das 
oben  zu  »Quid quid  agis  etc.  Bemerkte.  —  Die  folgenden  zwei 
Berichtigungen  aus  der  Anzeige  des  vorliegenden  Buches  in  der 
Augsb.  AHgem.  Zeitung  1867.  S.  4371  f.  mögen  gleichfalls  hier 
wiederholt  werden.  Zu  S.  38:  »Erlaubt  ist  was  gefällt«; 
dies  soll  aus  Dante's  »Libito  fe'  licito«  stammen.  Göthe  im  Tasso 
hatte  aber  vielmehr  eine  Stelle  aus  Tasso's  Aminta  im  Sinne; 
Schluss  des  ersten  Akts,  dessen  zweite  Strophe  mit  den  Worten 
endet:  »Malegge  aurea  e  felice  —  Che  Natura  scolp\.  »»S'eipiace 


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Bnchmannt  Geflügelte  Worte 


863 


ei  lice««;  und  zn  S.  55:  »Der  Freiheit  eine  Gasse«;  nicht 
erst  bei  Herwegh,  sondern  bei  Körner.  Zn  S.  98:  »It  is  a  wise 
father  that  knows  his  own  child«  aus  Shakespeare  bemerkt 
ferner  der  genannte  Ree.,  dass  dieser  Ausspruch,  jedoch  umgekehrt, 
schon  Od.  1,  216  stehe:  »ov  yaQ  nto  tig  sov  yovov  ccvtog  aviyvco.* 
Dies  besagt  indess  ganz  das  nämliche  wie  der  Shakespear'sche  Text, 
der  eigentlich  statt  »Das  ist  ein  weiser  Vater,  der  sein  eigenes 
Kind  kennt«,  wo  »Das«  ausser  dem  Zusammenhang  leicht  deiktisch 
gefasst  werden  und  irreführen  kann,  genauer  durch :  »Das  müsste 
ein  kluger  Vater  sein,  der  u.  s.  w.«  zu  tibersetzen  wäre.  —  Noch 
ist  zu  erwähnen,  dass  mancherlei  Citate  und  historische  Worte  bei 
Büchmann  ohne  genaueren  Nachweis  der  Quelle  bleiben,  wahrschein- 
lich weil  er  annahm,  diese  könne  leicht  gefunden  werden,  und  das 
mag  bei  solchen,  wie  evgrpca,  agiörov  vdag  u.  dgl.  allerdings  der 
Fall  sein ;  indess  hätte  das  Hinzusetzen  jener  Angabe  keinen  gros- 
sen Raum  weggenommen.  Anders  verhält  es  sich  aber  noch  mit 
Citaten  wie:  »Dum  Roma  deliberat,  Saguntum  perit«  (S.  128), 
ferner  mit  den  historischen  Worten  auf  S.  183  ff.  (Huss,  Oxenst- 
jerna)  auf  S.  208  (Hie  Weif,  Ludwig  der  Baier,  Ulrich  von  Hutten) 
n.  s.  w. ,  in  Betreff  deren  man  gern  ohne  langes  Suchen  wtisste, 
wo  ihre  erste  Quelle  authentisch  nachgewiesen  ist.  Dann  würde 
sich  ausserdem  auch  noch  manches  zu  berichtigen  Veranlassung 
finden ;  denn  Ref.  ist  fest  überzeugt,  bei  einem  dergleichen  genauen 
Nachweis  würde  sich  herausstellen,  dass  Nelson's  bekannter  Tages- 
befehl vor  der  Schlacht  bei  Trafalgar  lautete:  »England  expects 
every  man  to  do  his  dnty«  oder  doch  ganz  ähnlich,  auf  keinen 
Fall  aber,  wie  ihn  Büchmann  citirt  (S.  188):  »England  expects  that 
every  body  does  his  duty.«  Gern  erführe  man  dann  auch  genau, 
wie  Friedrich  der  Grosse  in  seinem  eigenhändigen  Testament  sich 
genannt,  ob  des  Staates  ersten  ministre  oder  serviteur  oder 
domestique.  Nicht  jeder  hat  das  Werk  von  Prenss  oder  ähn- 
liche zur  Hand ;  ebenso  wenig  wie  die  Sammlungen  Edouard  Four- 
nier's,  die  Büchmann  im  allgemeinen  anführt  und  deren  Angaben  er 
als  bekannt  vorauszusetzen  scheint.  Noch  will  Ref.  hinzufügen,  dass 
mehrmals  (wo,  hat  er  sich  leider  nicht  angemerkt)  Porphyrius  mit 
einer  Kapitelzahl  ohne  Angabe  der  genannten  Schrift  angeführt 
ist;  und  endlich  wäre  es  interessant  zu  erfahren,  was  das  wohl  für 
eine  Fabel  ist,  auf  die  Terenz  mit  seinem  »lupus  in  fabula« 
anspielt.  Von  Druckfehlern  sind  Ref.  folgende  aufgefallen.  S.  46 
Z.  17  v.  o.  statt  irgend  lies  nirgend;  —  S.  118  Z.  12  v.  o. 
lies  »Sycophanta« ;  —  S.  138  Z.  3  v.  u.  L  Parva;  —  S.  139 
Z.  28  v.  o.  lies  »Infandum.«  —  Hiemit  schliesst  Ref.  diese  An- 
zeige, aus  der  erhellt,  wie  sorgfältig  er  das  Werkchen  gelesen,  für 
wie  anziehend  und  belehrend  er  es  hält,  und  deshalb  auch  wünscht, 
dass  es  in  den  neuen  Ausgaben  immer  vervollkommneter  erscheine. 
Der  Verf.  hat  sich  durch  dasselbe  jedenfalls  grossen  Dank  erworben. 
Lütt  ich.  Felix  Liebrecht. 


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Lob aen:  Beechrelbung  des  Kreises  Kreuznach. 


Geognostische  Beschreibunq  der  linksrheinischen  Fortsetzung  den  Tau- 
nus in  der  östlichen  Hälfte  des  Kreises  Kreuznach,  nebst  ein- 
leitenden Bemerkungen  über  das  Taunus- Gebirge  als  gcognosti- 
sches  Ganses.  Von  C.  Lossen.  Mit  2  Tafeln.  (Abdruck  aus 
der  Zeitschrift  der  deutschen  geologischen  Gesellschaft,  Jahrg. 
1867.)  Btrlin.  8.  8.  509—700. 

Die  in  vorliegender  Arbeit  niedergelegten  Beobachtungen  sind 
das  Resultat  einer  Reihe  von  Excursionen,  die  der  Verf.  im  Jahre 
1864  von  Kreuznach  aus  unternahm  und  vergleichender  Studien  in 
den  akademischen  Sammlungen  zu  Halle,  Würzburg  und  Bonn.  Die 
Aufgabe,  welche  sich  C.  Lossen  stellte,  ist  eine  schwierige.  Denn 
das  Taunus-Gebirge  —  obschon  sehr  bewährte  Forscher  sich  mit 
demselben  beschäftigen  —  ist  keineswegs  noch  genügend  erkannt, 
sowohl  was  die  mineralogische  Besch affenheit  als  was  das 
Alter  seiner  Gesteine  betrifft.  Ein  Blick  schon  in  Lossens 
Schrift  ergibt ,  dass  sie  des  Wichtigen  und  Neuen  Vieles  bietet, 
und  dass  sich  der  Verfasser  als  einen  gründlichen  und  scharfen 
Beobachter  zeigt. 

Die  allgemeine  Einleitung  bringt  zunächst  ein  topographisches 
Bild  des  geschilderten  Gebietes.  Fasst  man  die  topographischen 
Verhaltnisse  und  die  schöne^  das  Werk  begleitende  Karte  ins  Auge, 
so  erkennt  man ,  dass  der  Verfasser  in  der  Auswahl  des  Gebirgs- 
theiles  zum  Gegenstand  seiner  Untersuchungen  eine  glückliche  Wahl 
getroffen ;  denn  man  darf  die  Theilung  der  Hauptkette  in  drei  nicht 
allzuhohe  Nebenketten,  die  Aufschliessung  derselben  durch  drei 
Hauptquerthaler  in  drei  nur  eine  Meilo  im  Streichen  von  einander 
entfernten  Profilen,  die  bequeme  Zugänglichkeit  durch  die  in  den 
Hauptthälern  verlaufenden  Kunststrassen,  die  Möglichkeit,  in  den 
verschiedenen  Seitentbälern  die  in  den  Hanptprofilen  gewonnenes 
Resultate  auch  innerhalb  der  durch  die  Querthäler  abgetheilten 
Massivs  zu  verfolgen  wohl  als  Vortheile  bezeichnen,  wie  sie  an 
keiner  anderen  Stelle  des  Taunus  sich  bieten.  Allerdings  werden 
dieselben  wieder  aufgehoben  durch  starke  Bewaldung  des  Gebietes, 
durch  Seltenheit  von  Steinbrüchen,  Mangel  an  Tiefbauten  und  die 
nur  zu  häufige  Bedeckung  durch  Tertiär-  und  Diluvial-Ablagerungen. 

An  die  topographische  Einleitung  reiht  sich  eine  Aufz&blung 
der  Taunus-Literatur,  aus  welcher  ersichtlich,  dass  in  früherer  und 
neuerer  Zeit  sich  bedeutende  Geologen  mit  dem  Gebirge  beschäf- 
tigten und  zu  sehr  verschiedenen  Ansichten  über  dasselbe  gelang- 
ten. Die  Gesammtre8ultate  der  bisherigen  Forschungen  sind  etwa 
folgende:  1)  die  krystallinischen  Taunus-Gesteine  sind  entweder 
ursprüngliche,  kryptogene,  chemische  Gebilde  oder  umgewandelt«, 
ursprünglich  Versteinerungen  führende  Sedimente.  2)  Die  Umbil- 
dung der  ursprünglichen  Sedimente  zu  dem  jetzigen  krystallinischen 
Zustand  ist  erfolgt  entweder  durch  plutonische  Einwirkungen  oder 
durch  chemische  Umsetzung  auf  nassem  Wege.    S)  Das  Altor  der 


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Lossen:  Beschreibung  des  Kreises  Kreuznach. 


855 


Taunus-Gesteine  —  nach  paläontologischen  und  Lagerungs- Verhält- 
nissen —  ist  entweder  devonisch  oder  untercarbonisch,  sog.  Culm. 

Die  Petrographie  der  Taunus-Gesteine  bildet  nun 
den  Hauptgegenstand  vorliegender  Abhandlung.  Lossen  beginnt 
solche  mit  einigen  Bemerkungen  über  die  Mineralien ,  welche  als 
Bestandteile  der  geschichteten  Silicat-Gesteine  des  Taunus  von  ihm 
erkannt  wurden.  Dann  folgt  die  specielle  Petrographie,  die  äusserst 
sorgfältige  und  durch  viele  Analysen  noch  werthvollere  Beschrei- 
bung der  Taunus-Gesteine.  Dieselbe  umfasst:  A.  Krystallinische 
geschichtete  Gesteine.  Gneisse,  Glimmerschiefer,  Phyllite,  Augit- 
schiefer ,  Magneteisengestein  ,  Quarzite ,  Kieselschiefer ,  Kalksteine, 
Dolomit  und  körniges  Rotheisenerz.  B.  Krystalliniscb-klastisch  ge- 
schichtete Gesteine.  Quarzbreccien  mit  krystallinischem  Scbiefer- 
bindemittel  und  mit  Albit-Körnern.  Quarzite  und  conglomeratische 
Quarzite  mit  Schiefer-  und  Quarz -Einschlüssen.  Kieselscbiefer- 
Breccie.  Qnarzit-Sandstein.  C.  Klastische  geschichtete  Gesteine. 
Grauwackesandstein.  Thonschiefer.  D.  Krystallinische  ungeschichtete 
Gesteine.  Hyperit.  Glimmerporphyr.  Eine  grosse  Mannigfaltigkeit 
von  Gesteinen  auf  verhältnissmässig  kleinem  Gebiete, 

Am  Schlüsse  seiner  petrographischen  Betrachtung  der  Taunus- 
Gesteine  fasBt  Lossen  die  Resultate  zu  welchen  er  gelangte  in 
kurzen  Sätzen  zusammen.  Die  wichtigsten  derselben  seien  hier 
besonders  hervorgehoben. 

Der  Südrand  des  Rheinischen  Schiefergebirges  wird  von  der 
Wetterau  bis  zur  Saar  durch  ein  rechtsrheinisch  eingliedriges,  links- 
rheinisch parallelgliedrige8  Kettengebirge  gebildet,  das  nach  Höhe, 
Gipfel-  und  Thalbildung,  so  wie  Gesteins-Beschaffenheit  verschieden, 
von  dem  übrigen  Schiefergebirge  als  ein  geognostisches  Ganzes  für 
sich  gelten  musa  und  als  solches  die  Taunuskette  heissen  mag.  — 
Der  innere  Schicbtenbau  dieser  Kette  stimmt  gleichwohl  wesentlich 
im  Streichen  und  Fallen  mit  dem  übrigen  Rheinischen  Schiefer- 
gebirge tiberein  und  zeigt  höchstens  graduelle  Verschiedenheiten. 
Durch  den  Wechsel  von  Gesteinen  von  sehr  verschiedener  Wider- 
stands-Fähigkeit hat  in  der  Taunus-Kette  der  Schichtenbau  auch 
äusserlich  Gestalt  gewonnen.  Die  härteren  Quarzite  bilden  die 
Hauptkette  oder  die  Parallel-Ketten ,  die  krystalliniscben  Schiefer 
den  Abfall,  parallele  Plateaustrecken  oder  Hochthäler.  —  Es  gibt 
nicht  nur  Sericitphyllite ,  sondern  auch  Sericitgneisse,  Sericitglim- 
merschiefer  u.  s.  w.  im  Taunus.  Der  Sericit  ist  eine  selbst- 
ständige Mineralspecies,  welche  dem  Glimmer  verwandt, 
aber  kein  Glimmer,  noch  weniger  ein  Gemenge  aus  Glimmer  und 
Thonschiefer.  Die  Beobachtung  ausgezeichneter  Glimmer  (beson- 
ders eines  weissen,  seltener  eines  schwarzbraunen)  beweist,  dass 
auch  ächter  Glimmer  als  wesentlicher  Gemengtheil  der  Sericitge- 
steine  und  anderer  Taunus-Gesteine  auftreten  kann.  —  Der  als 
oonstituirender  Gemengtheil  in  den  S ericitgneissen, 
S  ericitphy lliton  des  Taunus  vorkommende  Fei  dspath 


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856        Haushofe  r:  Hülfstabellen  zur  Bestimmung  der  Gesteine. 

ist  nach  drei  übereinstimmenden  Analysen  ein  fast  kalifreier  Al- 
bit;  es  findet  sich  also  dieses  Mineral  als  wesentlicher  Gemeng- 
theil in  geschichteten  krystallinischen  Gesteinen  und  nicht  einzig 
in  Drusen  uud  auf  Gangen.  —  Die  in  der  Taunus-Kette,  als  dem 
Südrande  des  Rheinischen  Schiefergebirges  lagerartig  auftretenden 
Gneisse,  Glimmerschiefer,  Pbyllite,  Quarzite,  Eisenglimmerschiofer, 
entsprechen  petrographisch  vollkommen  analogen  krystallinischen 
Schiefergesteinen  der  Alpen,  Schlesiens,  Brasiliens.  Nichtsdesto- 
weniger sind  dieselben  mit  Versteinerungen  führenden  devonischen 
Qnarziten,  Sandsteinen,  Thonschiefern,  Kalken,  Dolomiten  zum  Theil 
durch  halbkrystallinische  Mittelgesteine  derart  innig  petrographisch 
wie  stratigraphisch  verbunden,  dass  man  sie  nur  a  l  s  gleichaltrige 
devonische  Gebilde  bezeichnen  kann. 

Die  vorliegende  Arbeit  ist  in  der  Zeitschrift  der  deutschen 
geologischen  Gesellschaft  enthalten,  welche  letztere  im  Jahrgang 
1867  bereits  einige  vortreffliche  Aufsätze  brachte  von  G.  Rose, 
F.  Zirkel,  Th.  Wolf,  Hornstein  u.  A.  denen  sich  nun  Los- 
sens Schrift  würdig  anreiht.  Hoffentlich  wird  der  Verfasser  bald 
seinem  Versprechen  gemäss  den  zweiten  Theil  seiner  Abhandlung, 
die  Schilderung  der  paläontologischen  und  Lagorungs- Verhältnisse 
der  Taunus-Gesteine  bringen.  G.  Leonhard. 


Hülfstabellen  zur  Bestimmung  der  Gesteine  (Gebirgsarten)  mit  Be- 
rücksichtigung ihres  chemischen  Verhaltens.  Zusammengestellt 
von  Dr.  Karl  Haushof  er,  Privaldocent  an  der  Universi- 
tät München.  München  1867.  Lindauer' sehe  Buchhandlunq 
(Schöpping).  8.  S.  151. 

Während  wir  verschiedene  Leitfaden  zur  Bestimmung  der  Mine- 
ralien —  sei  es  nach  ihren  krystallographiscben ,  physikalischen 
oder  chemischen  Eigenschaften  —  besitzen,  fehlt  es  an  einer  ähn- 
lichen Schrift  zum  Bestimmen  der  Gesteine.  Es  ist  daher  mit 
Dank  zu  erkennen,  dass  Dr.  Haushofer,  welcher  bereits  mehrere 
schätzbare  Abhandlungen,  wie  z.  B.  über  Glaukonit,  lieferte,  sich 
entschloss  eine  solche  auszuarbeiten.  Seine  sehr  tleissige  und  gründ- 
liche Schrift  erfüllt  ihren  Zweck  vollkommen;  die  vorliegenden 
Tabellen  gewähren  dem  in  der  Bestimmung  von  Gesteinen  weniger 
erfahrenen  eine  gute  Unterstützung,  indem  in  ihnen  die  wichtig- 
sten Gesteine  nach  einfachen,  aber  hervorragenden  Kennzeichen  in 
Gruppen  getrennt  sind,  welche  das  Aufsuchen  eines  zu  bestimmen- 
den Gesteins  uuter  einer  beschränkten  Anzahl  von  Arten  erlaubt. 
Die  auf  chemischem  Verhalten  beruhenden  Merkmale  wurden  dabei 
besonders  berücksichtigt. 

Die  Anordnung  des  Ganzen  ist  folgende.  In  der  Einleitung 
erläutert  der  Verf.  den  Begriff  von  Gestein,  von  Structur  u.  s.  w. ; 


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Sickel:  Urkunden  der  Karolinger. 


857 


alsdann  folgen  einige  Mittheilnngen  über  Einthoilnng  der  Gesteine 
sowohl  vom  geologischen  Standpunkt,  hinsichtlich  der  Genesis,  als 
vom  chemischen,  in  Bezug  auf  Constitution  der  Gesteine.  Bekannt- 
lich kommen  hier  nur  die  krystallinisehen  Felsarten  in  Betracht, 
die  nach  ihrem  Kieselsäure-Gehalt  classificirt  werden.  Endlich  gibt 
der  Verfasser  Gang  der  Untersuchung,  Art  der  Ausführung  bei 
Bestimmung  einer  Gesteiusart  näher  an.  Alsdann  folgen  nun  die 
Tabellen.  I.  Tabelle  Uber  die  Mineralien,  welche  als  wesentliche 
oder  sehr  häufige  accessorische  Gemengtheile  krystallinisch  gemeng- 
ten Gesteine  auftreten.  II.  Einfache  und  scheinbar  einfache,  soge- 
nannte kryptomere  Gesteine.  III.  Oolithische,  spbärolithiscbe,  vario- 
litbische,  mandelsteinartige  und  verwandte  Gesteine.  IV.  Porphyr- 
Gesteine.  V.  Krystallinisch  gemengte,  körnige  und  schiefrige  Ge- 
steine, nebst  den  entsprechenden  Breccien.  VI.  Trümmer-Gesteine. 

Der  Verf.  hat  —  wie  zu  erwarten  war  —  im  Verlaufe  seiner 
Arbeit  gefunden,  dass  gewisse  Kennzeichen  der  Gesteine  nur  äusserst 
sparsam  bestimmt  sind,  so  z.  B.  das  Verhalten  vor  dem  Löthrohr 
und  gegen  Säuren ,  das  specifische  Gewicht.  Er  hat  daher ,  und 
dies  verleiht  seiner  Schrift  einen  um  so  grösseren  Werth,  die  hier- 
auf bezüglichen  Versuche  bei  nicht  wonigen  Gesteinen  auf  das  Ge- 
naueste wiederholt  und  verglichen. 

Was  die  Anordnung  der  Tabellen  betrifft,  so  gibt  Haushofer 
selbst  zu,  dass  dieselbe  oftmals  von  den  Anforderungen  wissen- 
schaftlicher Systematik  abweicht.  Dies  liegt  aber  in  der  prakti- 
schen Teudenz,  welche  die  Tabellen  verfolgen. 

Es  ist  zu  hoffen,  dass  Hausbofer's  Schrift  die  verdiente  An- 
erkennung in  einer  vielfachen  Anwendung  finden  wird. 

G.  Leonhard. 


Ada  Regum  et  Imperatorum  Karolinorum  digesta  et  enarrata.  Die 
Urkunden  der  Karolinger  gesammelt  und  bearbeitet  von  Th. 
Sickel.  Erster  Theil:  Urkundenlehre.  Gedruckt  mit  Unter' 
Stützung  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften.  Wien,  C.  Gerold 
u.  Sohn.  1HG7.  8.  XV III  u.  433  S.  Isweiler  Theil.  Urkunden- 
regeslen.  1.  Abtheilung  200  S.  Auch  unter  dem  Titel:  Lehre 
von  den  Urkunden  der  ersten  Karolinger  (751 — 840);  und: 
Regelten  der  Urkunden  der  ersten  Karolinger  (751 — 840). 

Schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren  hat  Th.  Sickel  sich  durch 
seine  »Beiträge  zur  Diplomatik«  und  die  »Monumenta  Grapbica« 
allgemeine  Anerkennung  als  würdiger  Nachfolger  Mabillon's  er- 
worbeu  ;  es  ist  seit  diesem  ersten  Begründer  der  Diplomatik  und 
den  Arbeiten  der  Mauriner,  die  sich  ihm  unmittelbar  anschliessen, 
kein  Werk  von  ähnlicher  Bedeutung  erschienen,  und  wenn  begreif- 
licher Weise  nach  einem  so  langen  Zeitraum  eifriger  Forschung 

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R68 


ßiokel:  Urkunden  der  Karolinger 


vieles  nachzutragen,  weit  weniger  besser  zu  machen  war,  so  dürfte  jetzt, 
nachdem  das  vorhandene  Material  wohl  fast  vollständig  erschöpft 
ist,  die  nun  vorliegende  Bearbeitung  vielleicht  als  abschliessend 
für  alle  Zeit  bezeichnet  werden,  abgesehen  natürlich  von  einzelnen 
Nachträgen  und  Correcturen.  Erst  durch  Sickel  ist  es  überhaupt 
zum  Bewusstsein  gebracht,  was  bei  einer  vollständigen  Urkunden- 
lehre alles  zu  berücksichtigen  ist.  Nichts  ist  hier  unbedeutend, 
nicht  die  geringste  Aeusserlichkeit,  denn  bei  der  kritischen  Unter- 
suchung fallen  oft  gerade  sehr  kleinliche  Umstände  stark  ins  Ge- 
wicht, und  wer  nur  irgend  mit  diesen  Dingen  sich  beschäftigt  hat, 
wird  sehr  bald  bemerkt  haben,  wie  wenig  mit  allgemeinen  Regeln 
und  Beobachtungen  auszukommen  ist.  Es  müssen  deshalb  die 
Merkmale  der  Echtheit  für  alle  einzelnen  Gegenden  und  Zeiträume 
besonders  gesammelt  werden;  für  keine  andere  Gattung  von  Ur- 
kunden aber  ist  das  so  wichtig,  wie  für  die  kaiserlichen,  welche 
durch  so  viele  verschiedene  Archive  zerstreut  sind.  Um  so  dankens- 
werter ist  es,  dass  Sickel  so  weit  es  irgend  erreichbar  war,  allen 
noch  vorhandenen  Originalen  nachgegangen  ist  und  durchweg  nur 
von  diesen  seine  Regeln  gewonnen  hat.  Er  hat  keine  Mühe  ge- 
scheut, um  Vollständigkeit  zu  erreichen,  und  da  diese  doch  vor 
allem  der  Wissenschaft  zu  gute  kommt,  für  niemanden  aber  von 
grösserem  Werthe  ist,  wie  für  den  künftigen  Herausgeber  der 
Kaiserurkunden ,  so  ist  es  in  der  That  kaum  begreiflich  (um  kein 
härteres  Wort  zu  gebrauchen),  dass  ihm  von  G.  H.  Pertz  die  Ein- 
sicht der  für  die  Monumenta  Germaniae  gesammelten  Urkunden 
verweigert  wurde,  im  scharfen  Gegensatze  zu  der  sonst  überall  be- 
wiesenen Bereitwilligkeit  seine  Arbeit  zu  unterstützen  und  zu  for- 
dern. Sickel  hat  sich  darüber  in  der  Vorrede  in  sehr  beachtens- 
werthen  Worten  ausgesprochen,  und  auch  G.  Waitz  hat  in  einer 
Anzeige  des  Buches  sein  Bedauern  über  dieses  Verfahren  nicht 
verhehlt. 

Da  übrigens  bei  den  äusserlichen  Merkmalen  Worte  allein 
nicht  ausreichen,  die  Mon.  Graphica  aber  ihrer  Kostbarkeit  wegen 
wenig  verbreitet  und  schwer  zugänglich  sind,  so  ist  es  sehr  erfreu- 
lich zu  erfahren,  das«  Sickel  auch  die  Ausgabe  einer  Sammlung 
von  Schriftproben  vorbereitet,  auf  welche  im  Texte  schon  Bezug 
genommen  ist.  Ganz  besondere  Sorgfalt  ist  der  sachlichen  Unter- 
suchung der  Urkunden  gewidmet,  der  Scheidung  ihrer  verschiede- 
nen Arten  und  Tbeile,  und  hier  ist  namentlich  auch,  was  sehr  zu 
loben,  durchgehend^  auf  die  alten  Formularien  Rücksicht  genommen, 
überall  aber  der  tiberlieferte  und  formelhafte  Theil  der  Ausferti- 
gung von  dem  wechselnden  und  individuollen  genau  unterschieden, 
während  unerfahrene  Historiker  sehr  geneigt  sind,  aus  dergleichen 
stereotypen  Redensarten  der  Kanzlei  sich  Schlüsse  auf  die  Gesin- 
nung des  Ausstellers  zu  erlauben.  Zu  bemerken  ist  jedoch,  dass  die 
von  Rockinger  an  erster  Stelle  herausgegebenen  Rationes  dictand. 
nichts  mit  Albericus  zu  thun  haben,  und  nicht  wie  hier  p.  IÖS. 


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Siokel:  Urkunden  der  Karolinger 


859 


401.  403  geschieht,  unter  seinem  Namen  citirt  werden  dürfen,  da 
sie  vielmehr  lombardischen  Ursprungs  sind. 

Ausser  dieser  Bemerkung  habe  ich  nur  noch  an  einer  Stelle 
Anlass  zum  Widerspruch  gefunden ,  nämlich  p.  288  wo  der  Verf. 
sich  gegen  die  übliche  Unterscheidung  von  italienischem  und  deut- 
schem Pergament  ereifert.  Denn  dass  dieser  Unterschied  allerdings 
bestand  und  wohl  bekannt  war,  zeigt  das  Schreiben  des  Albertus 
Bohemus  bei  Hoefler  p.  111,  worin  der  Erzbiscbof  von  Salzburg 
gebeten  wird,  einen  Boten  cum  pergamena  Teutonica  zur  Ourie  zu 
schicken,  um  einen  Schuldbrief  darauf  schreiben  zu  können.  Ein 
wesentlicher  Unterschied  bestand  darin,  dass  in  Deutschland  -in  der 
Regel  beide  Seiten  gleich  behandelt  sind,  während  in  Italien  die 
Rückseite  der  Urkunden  andere  Färbung  hat.  Diese  ganze  Sache 
bedarf  noch  genauerer  Untersuchung,  einfach  ableugnen  aber  lösst 
sie  sich  nicht. 

Besonders  dankenswerth  ist,  um  nur  eines  hervorzuheben,  der 
sorgfältige  Nachweis  der  von  den  ersten  Karolingern  gebrauchten 
Siegel,  über  welche  durch  die  vielen  schlechten  Abbildungen  grosse 
Verwirrung  entstanden  war.  Hat  doch  noch  Pertz  seiner  neuesten 
Ausgabe  der  Vita  Karoli  ein  angebliches  Porträt  Karls  des  Grossen 
vorangestellt,  welches  nur  eine  sehr  missrathene  Zeichnung  der 
Gemme  mit  dem  Kopfe  des  Comraodus  ist,  womit  Karl  zu  ziegeln 
pflegte.  Sickel  hat  diesen  Fehlgriff  gar  nicht  erwähnt,  was  ich  be- 
dauere,  weil  solche  Dinge,  besonders  wenn  die  Autorität  eines 
grossen  Namens  sie  schützt,  nicht  leicht  wieder  ganz  zu  beseiti- 
gen sind. 

Doch  wir  wollen  uns  von  diesen  Einzelheiten  zu  dem  unge- 
mein wichtigen  Abschnitte  >Hof  und  Kanzlei«  wenden,  welcher  auch 
direct  für  die  Reiohsgeschichte  von  grosser  Bedeutung  ist.  Hier 
ist  nämlich  alles  gesammelt,  was  sich  aus  den  Urkuuden  und  ande- 
ren Quellen  Uber  die  Einrichtung  der  Kanzlei  und  das  dabei  be- 
schäftigte Personal,  so  wie  über  die  Behandlungsweise  der  Geschäfte 
gewinnen  Hess.  Fruchtbar  war  dafür  namentlich  auch  die  Ent- 
zifferung der  Bemerkungen  in  tironischen  Noten ,  welche  in  jener 
Zeit  noch  gebräuchlich  waren ,  während  es  andererseits  nicht  an 
grundlosen  Angaben  fehlte,  die  beseitigt  werden  raussten.  Für 
die  Kritik  der  Urkunden  und  ihrer  Zeitbestimmung  ist  die  Sicher- 
stellung jener  Verhältnisse  natürlich  vom  höchsten  Werthe,  aber  die 
Wichtigkeit  dieser  Untersuchung  reicht  viel  weiter,  uud  mit  gros- 
sem Scharfsinn  sind  die  Folgerungen  entwickelt,  welche  sich  aus 
den  Thatsachen  ergeben.  Wir  sehen,  dass  unter  Karl  dem  Grossen 
der  clericale  Einfluss  noch  nicht  in  die  Kanzlei  gedrungen  ist,  dass 
Mittel personen  noch  keinen  hervorragenden  Einfluss  gewonnen  haben, 
während  unter  Ludwig  sich  sofort  alles  ändert.  Das  rohe  Urkun- 
denlatein, welches  sich  bis  dahin  trotz  der  wissenschaftlichen  Re- 
generation auf  anderen  Gebieten  unberührt  erhalten  hatte,  ver- 
schwindet und  neue  Formeln  werden  ausgearbeitet,  deutlich  aber 


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800 


v.  Heu  gl  in:  Reise  nnch  Abesainlen. 


tritt  zugleich  der  verstärkte  Einfluss  des  geistlichen  Personals  der 
Kanzloi  hervor,  und  anch  die  grossen  Wechselfälle  jener  kläglichen 
Regierung  bähen  deutliche  Spuren  im  Urkundenwesen  hinterlasser.. 
Niemand  der  sich  mit  der  Geschichte  jener  Zeiten  beschäftigt,  wird 
das  Studium  dieser  Urkundenlehre  unterlassen  dürfen,  und  er  wird 
durch  die  Reichhaltigkeit  des  Inhalts  sich  nicht  selten  überrascht 
finden.  Gewiss  ist  es  nicht  nöthig,  alle  Theile  auch  nur  der  kaiser- 
lichen Diplomatik  mit  gleicher  Ausführlichkeit  zu  behandeln  ;  nach- 
dem einmal  diese  Grundlage  gewonnen  ist,  genügt  es  die  Verände- 
rungen kurz  zu  bemerkeu ,  und  das  stellt  Sickel  für  die  spateren 
Karolinger  in  Aussicht. 

Die  zweite  Abtheilung  des  Werkes,  die  in  fortwährender  Wech- 
selbeziehung zur  ersten  steht ,  enthält  die  Regesten ,  die  an  Zahl 
seit  Böhmers  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  bedeutend  gewachsen, 
vorzüglich  aber  auch  weit  gründlicher  durchgearbeitet  sind.  So  i?t 
namentlich  bei  jeder  Urkunde  Auskunft  gegeben ,  ob  und  wo  da? 
Original  oder  eine  alte  Abschrift  noch  vorhanden  ist,  oder  woher 
unsere  Kunde  stammt.  Eingereiht  sind  auch  interpolirte  oder  ganz 
unechte  Urkunden,  wenn  sich  voraussetzen  Hess,  dass  eine  echte 
der  Fälschung  zu  Grunde  liege.  Dagegen  sind  unechte,  welche  sich 
zur  Einreihuug  nicht  eigneten ,  so  wie  Nachweise  über  verlorene 
Urkunden  von  unbekannten  Daten  abgesondert ,  und  für  den  noch 
fehlenden  zweiten  Theil  des  Bandes  bestimmt,  welcher  anch  An- 
merkungen zu  den  Urkunden  bringen  soll.  Erst  nach  dem  Er- 
scheinen dieser  letzten  Hälfte  wird  über  die  Regesten  ein  begrün- 
detes Urtheil  möglich  sein;  die  drei  Monate,  binnen  welcher  sie 
erscheinen  sollte,  sind  bereits  abgelaufen,  hoffen  wir,  dass  sie  nicht 
lange  mehr  ausbleibt.  W.  Wattenbach. 


Reise  nach  Abesnnien,  den  Gala- Ländern,  0*t-8uda'n  und  Chartern 
in  den  Jahren  1861  und  1862  von  M.  Th.  von  Heuglin. 
Mit  Vorwort  von  Dr.  A.  E.  Brehm.  Nebst  10  Illustrationen 
in  Farbendruck  und  Hoteschfiitt,  ausgeführt  von  J.  M.  Bernatt, 
l  lithographirten  Tafel  und  l  Originalkarte.  (Dm  Recht  der 
Ueberselsung  wird  vorbehalten).  Jena,  Hermann  CoslenobU, 
1868.  XII  und  459  S.  in  qr.  8. 

Das  vorstehende  Reisewerk  erscheint  in  einer  Zeit,  in  welcher 
Aller  Blicke  nach  dem  Lande  gerichtet  sind,  das  den  Gegenstand 
der  hier  beschriebenen  Reise  ausmacht,  und  allerdings  durch  die 
treue  nnd  genaue  Schilderung,  die  wir  in  diesem  Bericht  davon 
erhalten,  uns  näher  gertickt  ist;  aber  auch  abgesehen  von  diesem 
natürlichen  Interesse,  das  wir  unwillkürlich  an  dieser  so  genauen 
und  verlässigen  Schilderung  des  Landes  wie  seiner  Bewohner  und 
deren  Zustände  nehmen,  knüpft  sich  noch  ein  weiteres  Interesse 


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v.  Heu  gl  in:  Reiso  nach  Abessinlen. 


an  diese  Darstellung,  indem  sie  die  Wissenschaft,  die  geographische 
sowohl  wie  die  naturwissenschaftliche,  im  Allgemeinen  zu  bereichern 
und  zu  erweitern  im  Stande  ist.  Habesch  oder  Abessinien,  so 
schreibt  der  Vorredner,  hat  von  jeher  die  Aufmerksamkeit  der  ge- 
bildeten Welt  auf  sich  gezogen  und  jedem  Reisenden ,  welcher  es 
besuchte,  von  den  Ptolemäer  Zeiten  an  bis  zum  heutigen  Tage  eine 
Fülle  von  Erfahrungen  und  Erinnerungen  gebracht,  von  denen  nur 
der  geringste  Theil  durch  Wort  und  Bild  wiedergegeben  wurde  und 
wiedergegeben  werden  konnte,  weil  es  eben  unmöglich  ist,  Alles 
zu  schildern,  Alles  wieder  zu  erzählen,  was  der  Fremdling  hier  er- 
schaut, erlebt,  in  sich  aufgenommen  und  später  geistig  verarbeitet. 
In  ihm  hat  jeder  wissenschaftliche  Beisende  Etwas  gefunden:  der 
Erd-  und  Völkerkundige  wie  der  Sammler  und  Beobachter  natur- 
geschichtlicher Gegenstände ,  der  Geschichtsforscher  wie  der  Send- 
bote einer  Glaubensgenossenschaft.  Ein  Gebirgsland,  welches  an 
erhabener  Schönheit  kaum  von  einem  andern  der  bekannten  Erde 
übertroffen  werden  dürfte,  die  Schweiz  Afrika's,  eine  Alpenwelt  unter 
die  Tropen  gerückt,  in  welcher  alle  Klimate  vom  Gletscher  an  bis 
zum  Polarkreise  sich  vereinigen,  das  Quollengebiet  des  Asrakh, 
Takaz^io,  Barka  und  Juba,  bot  und  bietet  dem  Erforscher  wie  dem 
Pflanzenkundigen,  dem  Erdbeschreiber  wie  dem  darstellenden  Künst- 
ler mit  gleicher  Freigebigkeit  seine  unendlichen  Schätze,  von  denen 
bisher  nur  ein  geringer  Theil  erworben  und  zum  Eigenthum  der 
gebildeten  Menschheit  gemacht  werden  konnte  u.  s.  w.  (S.  VIII). 

Was  der  Vorredner  in  dieser  Weise  von  diesem  Land 
schreibt,  das  wird  auch  durch  die  vorstehende  Keiseboschreibung 
in  nicht  geringem  Grade  bestätigt.  Nicht  blos  der  gelehrte  For- 
scher auf  dem  Gebiete  der  Natur  im  weitesten  Sinne  des  Worts, 
sondern  eben  so  auch  der  gebildete  Leser  überhaupt  wird  nicht 
ohne  Befriedigung  das  Werk  aus  der  Hand  legen,  zumal  der  Ver- 
fasser nicht  blos  mit  dem  Lande  selbst  und  seiner  Beschaffenheit 
sich  beschäftigt,  sondern  auch  auf  die  Bewohner  desselben,  ihre 
Sitten  und  Gebräuche,  ihren  gesammten  Culturzustand  gleiche  Rück- 
sicht genommen  hat ,  und  selbst  über  den  Herrscher  des  Landes, 
den  jetzt  so  viel  besprochenen  Negus  Theodor,  mit  dem  er  in  freund- 
schaftlichem Verkehr  stand ,  Aufschlüsse  bringt ,  die  in  Manchem 
von  dem  abweichen,  was  man  von  anderer  Seite  über  diesen  Herr- 
scher vernommen  hat. 

Im  ersten  Capitel  werden  die  Reisezurüstungcn  und  die  Ab- 
fahrt von  Triest,  die  am  9.  Februar  des  Jahres  1861  erfolgte,  ge- 
schildert, dann  die  Fahrt  über  Syra,  Constantinopel,  Smyrna,  nach 
Alexandria  und  von  da  nach  Cairo,  während  das  zweite  Capitel 
das  Tagebuch  der  Fahrt  nach  Suez  und  auf  dem  rothen  Meer  wei- 
ter nach  dem  auch  jetzt  so  viel  genannten  Masaua  enthält,  die 
letztere  Stadt  mit  ihren  Umgebungen,  insbesondere  den  Archipel 
von  Dahlak  schildert.  Dio  natürlichen  Verhältnisse  dieser  Gegen- 
den, die  Pflanzenwelt  wie  die  Thierwelt  werden  sorgfältig  besebrie- 


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862 


v.  Heuglin:  Reise  nach  Abessinien. 


ben  und  auch  den  Handelsverhältnissen  gleiche  Sorgfalt  zugewen- 
det, namentlich  bei  Masaua,  das  fast  nur  von  Handelsleuten  be- 
wohnt, als  Hauptstapelplatz  für  den  Verkehr  mit  dem  Innern  zu  be- 
trachten ist. 

Das  dritte  Kapitel  bringt  nach  einer  Beschreibung  des  Küsten- 
landes von  Masaua ,  des  sogenannten  Samhar,  die  weitere  Fort- 
setzung der  Reise  nach  Keren  und  den  dortigen  Aufenthalt  in  dem 
Lande  der  ßogos;  auch  die  nahen  Berge  Debra  Sina  auf  der  öst- 
lichen und  Tsad-Amba  auf  der  westlichen  Seite  wurden  bestiegen: 
von  letzterem  Gebirge  sind  zwei  Abbildungen  beigefügt,  die  uns 
von  dieser  in  der  That  grossartigen  Gebirgswelt  einen  Begriff  geben 
können.  Von  Keren  ward  die  Reise  weiter  südwärts  nach  dem 
Lande  Hamasen  fortgesetzt,  und  im  folgenden  Kapitel  näher  be- 
schrieben. Von  Tsazega,  der  kleinen  Hauptstadt  des  Landes  und  dem 
Sitz  des  Statthalters,  wird  ein  recht  unterhaltendes  Bild  entworfen, 
besonders  von  dem  Besuch  bei  der  Schwiegertochter  des  Statt- 
halters, und  der  Bewirthung  daselbst.  Das  nächste  Ziel  war  Adoa, 
die  bedeutendste  Stadt  in  diesen  Gegenden,  welche  den  ganzes 
Handelsverkehr  zwischen  dem  Meere  und  Gondar  vermittelt;  dass 
die  nahen  Ruinen  von  Aksum  oder  Axum  ebenfalls  besucht  uni 
näher  beschrieben  werden,  bedarf  wohl  kaum  einer  besondern  Er- 
wähnung. Das  nächste,  fünfte  Kapitel  bringt  die  Fortsetzung  der 
Reiso  bis  Gondar  und  den  Aufenthalt  daselbst.  Es  fehlt  auch  hier 
nicht  an  einzelnen  interessanten  Punkten,  wie  der  Uebergang  über 
den  Takazie-Strom  und  die  Nilpferdejagd  wie  die  Arienjagd,  nicht 
minder  der  Uebergang  über  die  Gebirge  in  einer  Höhe  von  mehr 
als  zehntausend  Fuss,  bis  endlich  Gondar,  die  Residenz  des  abessi- 
niscben  Herrschers  erreicht  ward.  Die  Lage  der  Stadt  wird  genau 
angegeben,  sie  selbst  mit  ihren  Umgebungen  näher  beschrieben, 
und  von  dem  Schlossbezirk  sogar  eine  Abbildung  beigegeben.  Der 
längere  Aufenthalt  an  diesem  Orte,  vom  24.  Januar  bis  16.  Fe- 
bruar gab  Gelegenheit  zu  meteorologischen  Beobachtungen,  und 
bietet  die  Veranlassung,  hier  über  das  Land  Abessinien  eine 
Reihe  von  allgemeinen  Bemerkungen  anzuknüpfen,  die  zur  näheren 
Kunde  des  Landes  allerdings  von  Belang  sind.  So  verbreitet 
sich  der  Verfasser  näher  über  den  Feldbau  und  die  Bepflanzung. 
über  die  Hausthiere,  wie  über  die  übrigen  Thiere,  da  Berge, 
Wälder  und  Steppen  des  Landes  eine  äusserst  mannigfaltige  thie- 
rische Welt  beherbergen,  die  uns  hier  im  Einzelnen  genauer 
beschrieben  wird.  Aber  auch  die  Industrie ,  Münze ,  Maas?  und 
Gewicht  wird  besprochen,  dann  auch  die  religiösen  Verhältnisse 
behandelt,  da  in  diesem  Lande  Mohamedaner,  Juden  und  Christen, 
letztere  mit  manchen  eigenthümlichen  Festen  und  Gebräuchen,  sich 
finden.  Einige  geschichtliche  Angaben,  welche  die  neueste  Geschichte 
des  Landes  betreffen,  machen  den  Beschluss  der  lehrreichen  Er- 
örterung. 


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v.  H  engl  in:  Reise  nach  Abessinien. 


863 


Das  sechste  Kapitel  fuhrt  uns  noch  weiter  südwärts  von  Gon- 
dar,  zuerst  nach  Dembea  und  dem  Tana-See,  dann  in  südöstlicher 
Richtung  von  demselben  weiter  Uber  Eifag,  Quafat  nach  Magdala 
und  Tenta,  und  von  da  über  das  Kologebirge  zu  dem  Lager  des 
damals  auf  einem  Feldzug  in  die  Gala-Lander  begriffenen  Herr- 
schers Theodor,  welches  in  dem  District  Etsabed,  dem  südlichsten 
Punkt,  welchen  die  Reise  des  Verfassers  berührte,  sich  beiand. 
Diess  führte  dann  zu  einem  Zusammentreffen  mit  diesem  Herrscher, 
und  wird  uns  die  Audienz,  die  dem  Verf.  zu  Theil  ward,  mit  allen 
Details  erzählt,  dann  aber  auch  eine  Schilderung  des  Lagers 
wie  des  Heeres  entworfen ,  die  in  dem  jetzigen  Moment  gerade 
unsere  besondere  Aufmerksamkeit  allerdings  ansprechen  mag.  Nach 
des  Verfassers  Schätzung ,  die  er  eher  zu  niedrig  als  zu  hoch  ge- 
griffen erklärt,  müsste  das  Lager  mehr  als  150,000  Köpfe  gezählt 
haben,  aber,  abgerechnet  den  zahlreichen  Tross  von  Knechten, 
Dienern,  Frauen  u.  dgl.  m.  würde  doch  immer  eine  streitbare 
Mannschaft  von  mindestens  50,000  Köpfen  übrig  bloiben.  (Sollten 
hier,  nach  Allem,  was  uns  der  Verf.  selbst  über  Abessinien  be- 
richtet, die  Zahleu  nicht  zu  hoch  gegriffen  sein?)  Weiter  südwärts 
ward  die  Reise  nicht  fortgesetzt,  sondern  der  Rückweg  angetreten, 
und  auf  demselben  Wege  bis  zu  dem  Punkte,  wo  der  Tana-See 
erreicht  ward,  fortgesetzt,  dann  aber  statt  gerade  nördlich  nach 
Gondar,  in  nordwestlicher  Richtung  nach  Metaraeh,  der  Hauptstadt 
der  Provinz  Qalabat,  welche  hier  näher  beschrieben  wird.  Das 
siebente  Kapitel  bringt  den  Schluss  des  Ganzen,  mit  der  Beschrei- 
bung der  Reise  von  Metameh  über  Dokab,  Qedaref  nach  Abu  Haraz, 
wo  sich  der  Verf.  auf  dem  blauen  Nil  nach  Chartum  einschiffte, 
welches  auch  nach  einer  viertägigen  Fahrt  glücklich  erreicht  ward, 
und  den  Endpunkt  der  ganzen  Reise  bildete.  In  einem  Anhang 
wird  noch  eine  Zusammenstellung  der  während  der  Reise  durch 
Abessinien  und  Ost-Senar  gemachten  astronomischen  Ortsbestim- 
mungen gegeben. 

Wir  haben  im  Vorhergehenden  nur  einen  kurzen  Ueb erblick 
der  Reise  und  der  von  dem  Reisenden  berührten  Punkte  gegeben: 
es  ist  wohl  zu  einem  grossen  Theil  dieselbe  Route,  die  auch  das 
englische  Heer,  das  jetzt  gegen  den  Herrscher  des  Landes  zu  Felde 
zieht,  zu  nehmen  genöthigt  ist,  und  es  mag  schon  aus  diesem 
Grunde  der  überaus  genaue  und  sorgfaltige  Bericht,  der  hier  ge- 
geben wird,  alle  Beachtung  verdienen ,  uns  aber  auch  zeigen ,  mit 
welchen  Schwierigkeiten  in  einem  solchen  Gebirgslande  jedes  Vor- 
rücken eines  Heeres  verknüpft  ist ;  es  kommen  dazu  in  diesem 
Werke  noch  die  vielen  Erörterungen  aus  dem  Kreise  der  Natur- 
forsebung,  welche  in  reichem  Grade  überall  und  bei  jedem  Orte 
gegeben  werden ,  um  uns  ein  genaues  Bild  der  Beschaffenheit  des 
Landes,  seiner  Gebirgswelt,  seiner  Flüsse  und  Seen,  seines  Gesteins, 
seiner  Pflanzenwelt,  wie  insbesondere  seiner  Thierwelt  zu  geben: 
alle  Theile  der  Naturforschung,  welche  damit  sich  beschäftigen, 

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864 


Hübner:  Statistische  Tafel. 


werden  manche  Belehrung  aus  dieser  Reisebesehreibung  gewinnen, 
die  darum  aber  doch  auch  für  den  gebildeten  Leser,  der  nicht 
Fachmann  ist,  nicht  Weniges  bietet,  was  eine  angenehme  und  be- 
lehrende Unterhaltung  gewähren  kann.  Die  äussere  Ausstattung 
des  Ganzen  ist  sehr  befriedigend;  die  beigefügten  Illustrationen 
geben  meist  wohl  ausgeführte  landschaftliche  Bilder,  und  die  grosse 
dem  Werke  angeschlossene  Karte  führt  uns  diesen  ganzen  Theil 
Africa's  in  grosser  Genauigkeit  vor ;  sie  lässt  uns  genau  die  Reise- 
route des  Verfassers  verfolgen. 


StctülUche  Tafel  aller  Länder  der  Erde.  Von  Dr.  Otto  Hübnet, 
Director  des  statistischen  Centraiarchivs  su  Berlin.  Sechs- 
sehnte  völlig  umgeänderte  u.  vermehrte  Auflage.  1S67.  Frank- 
furt. Verlag  der  F.  BosellVschen  Buchhandlung  (W.  Rommel;. 

Die  vorliegende  Tafel,  für  deren  Brauchbarkeit  und  Nützlich- 
keit schon  ihre  ungemeine  Verbreitung  sprechen  kann,  da  sie  hier 
in  einer  sechzehnten  Auflage  erscheint,  vereinigt  auf  verhält- 
nissmässig  geringem  Raum  und  doch  klar  und  übersichtlich  zu- 
sammengestellt, Alles  Mögliche  von  statistischen  Notizen,  die  ein 
gebildeter  Leser  zur  Hand  zu  haben  wünscht.  Sie  verbreitet  sieb, 
wie  die  Aufschrift  besagt,  über  alle  Länder  der  Erde,  auch  die 
amerikanischen  Staaten  mit  eingerechnet,  und  gibt  bei  jedem  die 
Grösse  und  die  Bevölkerung,  die  Regierungsform  und  das  Staats- 
oberhaupt, die  Ausgaben  und  Schulden,  das  Papiergeld  und  den 
Banknotenumlauf  an,  dann  ebenso  den  Bestand  des  stehenden 
Heeres  und  der  Kriegsflotte  wie  der  Handelsflotte,  die  Aus-  und 
Einfuhr,  die  Zolleinnahmen,  die  Haupterzeugnisse ,  die  Münze,  (die 
Reduction  der  Silbermünzeu  auf  30  Thaler  per  1  Pfund  Silber  und 
50  Thaler  Kronen  per  1  Pfund  Gold  ist  durchgeführt)  dann  Ge- 
wicht und  Maass  für  trockene  und  flüssige  Stoße,  Eisenbahnen, 
Telegraphen,  die  Hauptstädte  und  deren  Einwohnerzahl,  Alles  in 
tabellarischer  Form,  so  dass  man  sich  leicht  überall  zurecht  finden 
kann.  Bei  den  steten  Veränderungen ,  die  in  Bezug  auf  die  ge- 
nannten Gegenstände  eintreten,  ist  Alles  nach  den  neuesten  Ergeb- 
nissen festgestellt,  und  in  Folge  der  grösseren  Ausdehnung  der  ein- 
zelnen Notizen  auch  das  Format  der  ganzen  Tafel  um  einen  halben 
Fuss  vergrössert  worden,  ohne  Erhöhung  des  Preises  von  5  Sgr. 
oder  18  Kreuzer.  Wir  zweifeln  daher  nicht,  dass  diese  neue  be- 
richtigte und  vervollständigte  Auflage  sich  einer  günstigen  Auf- 
nahme erfreuen  wird. 


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Ir.  U.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Memoires  pour  servir  ä  Vhütoire  de  mon  temps  par  Guizot.  Tome 
\Ulhne.  Pari»  Leipzig  1867. 

Wer  noch  nicht  weiss,  dass  Guizot  von  geistigem  Hochmuth 
förmlich  verzehrt  wird,  dem  werden  bei  der  Lektüre  des  VIII.  Ban- 
des seiner  Memoiren  gewiss  die  Augen  aufgehn.  Wenn  er  am  Ein- 
gang seines  Werkes  erklärt:  dass  der  Tag  noch  nicht  gekommen 
sei  um  freimüthig  über  Personen  und  Ereignisse  zu  sprechen,  dass 
er  dagegen  seine  eigene  persönliche  und  innere  Geschichte,  was  er 
empfunden,  gewollt  und  gedacht,  erzählen  wolle;  so  hat  er  damit 
bereits  das  offene  Geständniss  abgelegt,  dass  die  nun  folgenden 
Memoiren  eine  fortlaufende  Selbstbespiegelung  sein  werden,  und 
dass  über  fremde  Personen  und  Ereignisse  nur  insofern  ein  frei- 
müthiges  und  wahres  Wort  zu  erfahren  ist,  als  dasselbe  der  Per- 
sönlichkeit des  Genfer  Doktrinärs  nicht  zu  nahe  treten  darf.  Die 
ganze,  die  wahre  Wahrheit  soll  nicht  zum  Vorschein  kommen.  Da- 
gegen ist  das  philiströse  Wohlgefallen  an  dem  eigenen  Scharfsinn 
tiberall  massgebend;  es  verlässt  ihn  selbst  da  nicht,  wo  er  die 
grössten  Thorheiten  begehn  will,  und  so  darf  es  uns  nicht  wundern, 
dass  auoh  dieser  letzte  Band,  der  die  Geschichte  von  Guizots  eige- 
nem Sturz  von  den  Irrthümern  die  zur  Februarrevolution  geführt 
haben,  enthalten  soll,  nichts  ist  als  eine  fortdauernde  Selbstver- 
herrlichung und  von  unbelehrbarem  Hochmuth  strotzt.  Wer  die 
Weltgeschichte  nur  aus  den  Guizot'scben  Memoiren  kennen  lernt, 
muss  sich  in  der  höchsten  sittlichen  Entrüstung  über  das  franzö- 
sische Volk  hinein  lesen,  welches  dem  so  hochverdienten  und  wohl- 
meinenden Minister  eines  Tages  plötzlich  die  Thüre  wies. 

Da  finden  wir  gleich  zu  Beginn  des  Werkes  eine  lange  Er- 
örterung über  die  »freie  Regierung c,  deren  Segnungen  Guizot  den 
undankbaren  Franzosen  zugedacht  hatte.  Auf  die  Formen  derselben 
komme  es  nicht  an.  Wohl  aber  darauf,  dass  die  Verantwortlichkeit 
der  Regierung  gewahrt  sei.  Der  Parlamentarismus  sei  eine  der 
Formen  einer  freien  Regierung.  Die  Bildung  politischer  Parteien 
müsse  als  Kriterium  einer  parlamentarischen  Regierung  angesehn 
werden. 

Alle  diese  Bedingungen  des  Parlamentarismus  und  der  Frei- 
heit seien  in  dem  Kabinett  vom  29.  Oktober  1840  geboten  ge- 
wesen; Guizot  beginnt  nun  mit  der  ungescheutesten  Naivetät  sein 
eigener  Lobredner  zu  werden.  Er  war  von  seiner  Unfehlbarkeit 
80  durchdrungen,  dass  ihn  der  Widerstand,  auf  den  seine  Regierung 
etiess,  nicht  im  Geringsten  irre  machte:  hatte  er  doch  den  Trost, 
Iä.  Jahrg.  Ii.  Heft  55 


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666 


Oulsot:  Mdmoitea  eto. 


dass  die  Majorität  der  Kammer  auf  Seiten  der  Regierung  stand, 
dass  die  Fiktion  des  Parlamentarismus  treu  gewahrt  War.  Als  ihm 
der  Herzog  von  Broglio  am  80.  Oktober  1844  den  verständigen 
Rath  ert  heilte,  er  möge  sich  von  den  Geschäften  zurückziehn,  wenn 
die  übrigen  Minister  und  die  Kammer  nicht  Jede  seiner  Bedingun- 
gen auch  die  strengste  annähmen  :  La  meilleure  chance  ponr  yous 
seroit  une  sortie  par  la  grande  porte  (S.  25)  fand  sich  Guizot  be- 
reits so  unentbehrlich  für  Frankreich,  dass  er  erwiederte  »er  wolle 
lieber  auf  der  Bresche  bleiben.«  Das  Gefühl  der  Mangelhaftigkeit 
alles  politischen  Thun  und  Treibens  wär  so  lebendig  In  ihm  ge- 
worden, dass  es  ihn  zu  einer  gewissen  Resignation  in  sein  schwe- 
res Loos  brachte;  über  welche  er  dem  gläübigen  Leser  seiner 
Memoiren  wahrhaft  rührende  Dinge  zu  sagen  weiss. 

Ueber  die  Vorwürfe  der  Wahlbestechung  gleitet  Guizot  tot- 
sichtig  hinweg ;  er  findet  dass  die  Fälle  wo  die  Regierung  schuldig 
war,  aussi  peu  graves  que  peu  nombreui  gewesen  seien,  und  dass 
mit  einigen  Ausnahmen  ä  travers  l'exagerätion  de  quelques  paroles 
et  Tinconvenance  de  quelques  dt- mar  che  3  die  Wählen  frei  und  legal 
von  Statten  gingen. 

Trotz  der  Missbräüche  die  einer  jeden  grossen  Wahlbewegung 
anhafteten,  sei  in  Frankreich  ehrlicher  und  unabhängiger  Verfahren 
worden  als  in  England  und  Amerika. 

Uebrigens  tröstet  sich  Guizot  vollkommen  Über  diese  hämi- 
schen Vorwürfe  der  Opposition,  da  ihn  die  Kammer  selbst  mit  225 
gegen  105  Stimmen  freispricht.  Dass  diese  105  Stimmen,  welche 
das  Ministerium  grober  Umtriebe  bei  den  Wahlen  beschuldigten, 
gegenüber  den  Satisfaits  der  künstlichen  Regierungsmajorität  immer 
eine  bedeutsame  Minorität  repräsentirten,  kommt  dem  selbstgefälli- 
gen Minister  nicht  in  den  Sinn.  Ebenso  wie  die  W ab lum triebe 
gesteht  er  auch  die  Käuüigkeit  der  Stellen,  Welche  unter  seinem 
Ministerium  Gang  und  Gäbe  war,  nur  freilich  mit  sehr  verhüllten 
Worten,  ein.  Ce  n'ütoit  point  l'ancienne  venälite*  des  charges  admise 
en  principe :  c'etoit  une  tolerance  abusivement  appliquee  ä  certaines 
transactions  particulieres  dont  le  gouvernement  restoit  toujoors  libre 
de  ne  pas  tenir  compte.  Noch  offener  bekennt  er  gleich  darauf, 
dass  er  unter  den  von  der  Anklage  der  Kammer  wegen  Stellen- 
kauf bedrohten  Personen  Freunde  gehabt  habe ;  aber  auch  hier  ward 
ihm  die  Gcnugthuung  zu  Theil,  dass  die  Kammer  im  Vertrauen 
auf  den  guten  Willen  der  Regierung  die  Untersuchung  fallen  Hess 
und  zur  Tagesordnung  überging. 

Mit  einigen  allgemeinen  Redensarten  wird  der  sittlichen  Ffiol- 
niss  gedacht,  die  sich  in  den  Regierungs-  und  Beamtenkreisen 
Kund  gab.  Die  diplomatische  Kunst,  mit  welcher  Guizot  des  Pro» 
cesses  Teste  erwähnt,  verdient  wirklich  die  Bewunderung  Aller 
derer,  die  naiv  genug  sind,  das  damalige  Ministerium  von  der  mo- 
ralischen Mitschuld  freizusprechen.  De  graves  soupcons  s'öleverent 
contre  un  homme  de  talent,  nagueres  membre  du  cabinet  et  qui 
en  etoit  sorti  pour  devenir  Tun  de  prösidents  de  la  oonr  de  cassa- 


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Guizot:  Memoire*  etc. 


■ 


tion;  nous  y  regardames  avec  une  attention  aussi  scrupuleuse  quo 
dauloureuse  ....  C'etoit  la  de  la  part  dn  cabinet  un  de  oes  actes 
dont  le  märite  n'est  senti  que  tard  

Mit  einer  ähnlichen  sentimentalen  Katzenpfote  berührt  Guizot 
den  Mord  der  Herzogin  von  Praslin,  der  die  in  der  höchsten  Ari- 
stokratie um  sich  greifende  Verderb niss  so  furchtbar  offenbarte.  Er 
zahlt  ihn  zu  den  incidents  deplorablea,  bemerkt  in  einer  momentanen 
Erleuchtung  seines  übrigens  verloren  gegangenen  historischen  Bewusst- 
seins,  dass  die  Luft  damals  gleichsam  von  moralischen  Unordnun- 
gen nnd  unvorgesehenen  Unthaten  infizirt  gewesen  sei,  um  sogleich 
wieder  in  das  salbungsvollste  Selbstlob  zu  verfallen,  sich  mit 
Washington  zu  vergleichen,  den  man  im  Leben  verlästert,  dem  man 
aber  nach  dem  Tode  Statuen  errichtet  habe,  und  sich  implioite  für 
einen  vollendeten  Tugendbürger  auszugeben. 

Dann  rühmt  er  sich  der  polizeilichen  Geschicklichkeit  die  er 
entfaltete,  um  die  im  Ausland  reisenden  Mitglieder  der  älteren  legi* 
timen  Herrscherlinie  zu  chikaniren ,  und  gibt  einen  ausführ- 
lichen Bericht  über  die  diplomatische  Schwierigkeit  zu  dem  der 
Aufenthalt  des  Duc  de  Bordeaux  in  London  und  die  dabei  statt- 
goh&bte  legi timi s tische  Manifestation  Anlass  gegeben.  Auch  in 
der  Kammer  entstand  damals  eine  lebhafte  Diskussion»  ob  man  den 
starken  Aasdruck  flötrir  für  die  Verurtheilung  dieser  Skenen  in  London 
brauchen,  oder  den  Legitimisten  zu  Gunsten  die  mildere  Wendung 
setzen  wolle,  dass  »das  öffentliche  Gewissen  solche  schuld  volle 
Manifestationen  mit  starkem  Tadel  treffe.«  Die  heftigsten  persön- 
lichen Vorwürfe  über  Guizot's  ganze  frühere  Laufbahn  wurden  hier- 
bei von  Seiten  der  Opposition  erhoben ;  oder ,  wie  sich  der  un- 
parteiische Memoirenschreiber  ausdrückt,  die  revolutionären  bonar- 
partistischen  und  legitimistisohen  Leidenschaften  vereinten  sich  um 
alten  und  neuen  Groll  gegen  mich  auszuhauchen.  Aber  Guizot  war 
so  »glücklich«  diesen  »brutalen  Angriff  ohne  Mühe  und  Ermüdung  € 
aaszuhalten.  Als  er  von  der  Tribüne  herunterstieg,  »machte  er  sich 
das  Vergnügen«  der  Opposition  die  berühmten  Worte  zuzuschleu- 
dern:  »Häuft  Zorn,  Beleidigungen  und  Verleumdungen  so  viel  ihr 
wollt;  sie  werden  die  Höbe  meiner  Verachtung  nie  erreichen.«  Ob- 
wohl der  Ausdruck  »fi6*trir«  ihm  selbst  eingestandenermaassen  eini- 
ges Unbehagen  verursachte,  hielt  er  nun  mit  aller  Zähigkeit  daran 
fest  und  die  getreue  Kammermajorität  setzte  ihn  auch  schliesslich 
durch.  Guizot  durfte  sich  durch  den  Beifall  des  Monarchen  über 
das  »unvernünftige  Gebahren«  seiner  Gegner  hinwegsetzen,  und  wenn 
er  die  zahlreichen  Beweise  der  Huld,  die  vielen  billigenden  Billets 
und  Briefe  erwähnt,  womit  der  Bürgerkrieg  ihn  während  seines 
Ministeriums  erfreute,  so  konnte  er  kein  für  ihn  selbst  und  Louis 
Philippe  charakteristischeres  Schreiben  wählen  als  jenes  vom  21* 
August  1847,  auf  das  die  kommenden  Ereignisse  schon  gleichsam 
ihren  Schatten  im  Voraus  werfen :  II  faut  que  les  hommes  substi- 
tuent  oomme  vous  et  peutetre  pnis-je  dire  aussi  oomxne  moi  le 
oourage  de  rimpopularitö  a  la  soif  des  applaudissements.«  Dass 


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868 


Guizot:  Memoires  etc. 


Gaizot  die  vollkommene  Entente  die  zwischen  ihm  und  seinem 
Monarchen  bestanden  haben  soll ,  nicht  in  egoistischem  Interesse 
ausgebeutet  hat,  dass  er  nach  Titeln  und  Ehrenbezeugungen  nicht 
lüstern  war,  glauben  wir  ihm  gern,  obwohl  wir  es  ihm  lieber  glau- 
ben möchten,  wenn  er  bei  seiner  Bescheidenheit  und  Uneigennützig- 
keit  weniger  laug  und  wohlgefällig  verweilte.  Mit  wahrem  Un- 
willen berichtet  er,  dass  die  Opposition  diese  Harmonie  zwischen 
dem  Ministerium  und  dem  König  auf  dem  Mangel  eines  selbst- 
ständigen Willens  bei  diesem  schob,  und  den  König  wegen  seiner 
antikonstitutionellen  Einmischung  und  Beeinflussung  der  Ministerial- 
berathungen  tadelte.  Gegenüber  der  Maxime:  Le  roi  regne  et  ne 
gou verne  pas  hielt  er  mit  grosser  Energie  an  dem  Satz  fest,  dass 
der  Thron  kein  Fauteuil  sei,  auf  den  man  einen  Schlüssel  ange- 
bracht habe,  so  dass  Niemand  sich  darauf  setzen  könne,  sondern 
dass  eine  intelligente  und  freie  Persönlichkeit  auf  diesem  Thron 
sitze.  Man  möge  immerhin  wiederholen  Le  Roi  regne  et  ne  gou« 
verne  pas ;  mit  solchen  Principien  würde  man  darum  in  der  Praxis 
nie  bewirken,  dass  der  herrschende  König  eine  Null  in  seiner  Re- 
gierung würde. 

Louis  Philippe  hat  begreiflicherweise  dieser  sophistischen  Ver- 
theidigung  der  königlichen  Prärogative  seinen  vollsten  Beifall  ge- 
zollt; und  es  scheint  in  der  Tbat,  dass  er  den  treuen  Minister  so 
lieb  gewonnen  hat,  wie  es  seiner  egoistischen,  berechnenden  Natur 
überhaupt  möglioh  war  zu  lieben.  Dafür  erntet  er  denn  aber  auch 
die  reichlichsten  Lobsprüche  und  wird  als  ein  »im  besten  Sinn  des 
Wortes  liberaler,  echt  konstitutioneller  Fürst«  in  den  Himmel  er- 
hoben. Interessant  ist  es  immerhin  zu  verfolgen,  wie  wenig  Illu- 
sionen sich  der  Bürgerkönig  über  das  Prekäre  seiner  Stellung  ge- 
macht hat,  und  wie  er  es  eigentlich  gewesen  ist,  der  die  rosen- 
farbene  Anschauung  seines  Ministers  bekämpfen  musste.  Dass  dies 
in  den  für  Guizot  schmeichelhaftesten  Formen  geschah,  ist  selbst- 
verständlich :  Tenez  mon  eher  ministre,  sagte  Louis  Philippe  eines 
Tages  in  Neuiii y  zu  seinem  optimistischen  Vertrauten :  »je  souhaite 
de  tout  mon  coeur  que  vous  ayez  raison:  mais  ne  vous  y  trompex 
pas:  un  gouvernement  liberal  en  face  des  traditions  absolutestes 
et  de  l'esprit  revolu t ion n aire,  c'est  bien  diflicile ;  il  y  faut  des  oon- 
servateurs  liberaux  et  il  ne  s'en  fait  pas  assez.  Vous  etes  le  der- 
nier  des  Romains.«  Und  ein  anderes  Mal  wehklagte  der  Bürger- 
könig :  Quelle  confusion !  quel  gachis !  une  machine  toujours  pres  de 
se  dötraquer!  Dans  quel  triste  temps  nous  avons  ete  destiues  a 
vi vre  1 

So  entschieden  Guizot  den  König  gegen  den  Vorwurf,  dass  er 
dem  Kabinett  stets  seinen  Willen  aufgezwungen  habe,  in  Schutz 
nimmt,  er  kann  doch  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  die  entgegen- 
gesetzte Meinung  begründet  gewesen  sei.  Der  König  habe 
einen  üeberfluss  von  Ideen  über  jede  Frage  gehabt;  er  habe  et 
dann  nicht  verstanden  mit  denselben  hauszuhalten,  zu  schweigen 
oder  gleichgültig  zu  erscheinen.    II  etait  de  plus  si  profondement 

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GnlKot:  M&nolres  etc. 


869 


convaincu  de  la  sagesse  de  sa  politique  et  de  l'importance  de  son 
sncces  pour  le  bien  du  pays  qu'il  lui  en  cofttoit  d'en  voir  atiribuer 
ä  d'autres  le  me*rite  et  qu'il  De  pouvait  se  rösoudre  ä  n'en  pas 
rerendiquer  bautement  sa  part.  Einen  unverhältnissmässig  grossen 
Raum  in  Guizot's  Werk  nimmt  die  Erzählung  des  Hergangs  bei  den 
spanischen  Heiratben  ein,  welche  jetzt  ziemlich  vergessen,  damals  eine 
Reibe  diplomatischer  Verwickinn  gen  zwischen  England  und  Frank- 
reich hervorriefen.  England  agirte  insgeheim  zu  Gunsten  eines  Kobur- 
ger  Prinzen  für  die  Hand  Isabella's.  Fürst  Metternich  war  für  den 
Sobn  Don  Carlos'  thätig.  Gnizot  erlebte  den  Triumph  dass  die  fran- 
zösische Combination  durchdrang,  dass  Isabella  sieb  mit  ihrem 
Vetter  dem  Herzog  von  Cadix,  und  ihre  Schwester  die  Infantin 
Fernanda  mit  L.  Philippe's  letzten  Sohne  dem  Herzog  von  Montpensier 
vermählte.  Es  ist  ihm  wohl  zu  gönnen,  dass  er  bei  dem  gegen- 
wärtig historisch  wenig  bedeutsamen  Ereigniss  mit  besonderer  Vor- 
liebe verweilt  und  238  Seiten  damit  ausfüllt;  denn  diplomatische 
Erfolge,  sei  es  über  England  oder  Oesterreich,  sind  in  seiner  Lauf- 
bahn sonst  sehr  dünn  gesät;  und  dass  er  gar  den  Plan  des  Fürsten 
Metternich  durchkreuzte,  muss  man  ihm  um  so  höher  anrechnen, 
da  er  sich  ja  gewöhnlich  von  diesem  Ministor  der  diplomatischen 
Kunst  ganz  schulmeisterlich  zurechtweisen  liess.  Ein  Zug  des 
Respekts,  wenn  auch  gewiss  nicht  der  Vorliebe  für  den  österreichi- 
schen Staatsmann,  geht  merkwürdig  genug  durch  das  ganze  Werk, 
und  gern  gedenken  wir  dabei  der  Hormayr'sehen  Bemerkung,  dass 
Fürst  Metternich  ein  besonderes  Geschick  besessen  habe  die  » Doktri- 
när in  seinen  Netzen  zu  fangen,  dass  er  stets  nach  ihnen  so 
wohlgefällig  und  gütig  mit  seinem  klaren  Auge  geblickt  habe,  wie 
der  Vogelsteller  nach  dem  Gimpel  auf  der  Leimruthe.  Die  im  46. 
Kapitel  erzälten  Verhandlungen  mit  dem  Pabat  Pius  IX.  besitzen 
gerade  für  die  Gegenwart  ein  unleugbar  hohes  Interesse.  Schon  zu 
der  Zeit,  da  Pius  von  den  Liberalen  bejubelt  ward,  das  Volk  ihm 
auf  der  Strasse  Coraggio  Santo  Padre !  und  Thiers  von  der  Redner- 
bühne Courage  saint  Pere  zurief,  zeigt  sich  die  Abneigung  dos 
Pabstos  gegen  jeden  entschiedenen  Fortschritt,  gegen  eine  Reform 
an  Haupt  und  Gliedern,  die  gerade  für  die  Regierung  des  Kirchen- 
staats dringend  erforderlich  war.  Der  Weihrauch  der  Popularität 
behagte  Pius  IX.,  aber  er  zögerte  stets  wenn  eine  Reform,  die  ver- 
langt wurde,  durchzuführen  war,  er  reizte  das  Verlangen  des  Volkes 
ohne  es  zu  befriedigen.  Die  Berichte  Rossi's  verdienen  vollen 
Glauben,  wenn  derselbe  schreibt  (28.  Juni  1846):  »On  touebe  k 
tont,  on  se  döcide  in  petto,  on  persövere  dans  ses  r^solutions  mais 
on  n'agit  pas.  Ce  n'est  pas  l'idöal  du  gouvernement  c'est  le  gou- 
vernement  ä  1*6* tat  d'idee.  —  La  popnlarite*  du  pape  est  entiere, 
je  crains  seulement  qu'il  n'en  abuse,  croyant  pouvoir  s*y  endormir 
comme  sur  un  lit  de  roses.  Guizot  ist  von  der  Weisheit  der  Rath- 
schläge die  er  damals  dem  Pabst  ertheilte,  so  durchdrungen,  dass 
er  sich  nicht  enthalten  konnte  die  Politik  des  damaligen  französi- 
schen Ministeriums  im  Mai  und  Juniheft  der  Se'ances  et  travaux 


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8T0 


Guiaot:  Mfcnoiree  etc. 


de  l'Academie  1867  in  den  Himmel  erbeben;  um  zu  erweisen,  wie 
er  stets  die  richtige  Mitte  zwischen  den  Extremen  gehalten  habe, 
citirt  er  einen  Brief,  den  Mazzini  im  Januar  1848  an  ihn  in  die 
Zeitungen  drucken  Hess,  und  einen  anderen  des  Fürsten  Metternich 
vom  81.  Oktober  1847,  aus  denen  erhellt,  dass  sowohl  Gegner  wie 
Klimpe  des  Bestehenden  unzufrieden  mit  ihm  waren. 

Wenn  man  aber  erfährt,  dass  Guizot  und  der  König  am  Ende 
Januar  1848  eine  französische  Truppenmacht  in  Toulon  und  Port- 
VendrtB  zum  Einschiffen  bereit  hielten,  welche  dazu  bestimmt  war, 
den  bedrohten  Pabst  zu  unterstützen,  d.  h.  wie  die  Dinge  schon 
damals  standen  die  weltliche  Autorität  des  römischen  Stuhls  auf- 
recht zu  erhalten,  so  sieht  man  nicht  recht  ein,  in  wiefern  eich 
diese  vielgerühmte  Politik  von  der  so  getadelten  Politik  späterer 
Herrscher  zu  ihrem  Vortheil  unterscheidet.  Guizot  sieht  schliess- 
lich sehr  dunkel  in  die  Zukunft  Italiens.  Krieg  und  Revolution, 
so  meint  er,  hätten  den  Italienern  nur  die  eine  grosse  Wohl t hat 
gebracht:  Vertreibung  der  Fremden.  Sie  sei  vielleicht  zu  gross. 
Es  gebe  Erfolge,  die  ein  Volk  sich  selbst  danken  müsse  um  stolz 
darauf  zu  sein.  Soweit  können  wir  dem  französischen  Historiker 
gerne  beipflichten.  Dagegen  kommt  sein  papistisober  Standpunkt 
klar  au's  Licht,  da  er  gleich  darauf  von  Italien  schreibt:  Ses 
exigences  et  ses  coups  envers  la  Papante  et  l'Eglise  catholique 
jettent,  un  epais  nuage  et  un  peril  immense  sur  son  avenir.  Nock 
deutlicher  kennzeichnet  sich  Guizot  als  geheimer  Anhänger  der 
Hierarchie  in  seiner  Behandlung  der  Sonderbundstrage.  Er  erwähnt, 
dass  Louis  Philippe  eine  sehr  gute  Meinung  von  den  Schweizern 
gehabt,  aber  den  Radikalismus  herb  getadelt  habe,  der  sioh  eine 
Stätte  unter  ihnen  gesucht  habe.  Beau  pays,  me  disait-il,  et  boa 
peuple,  vaillant,  laborieux,  econome,  un  fond  de  traditions  et  d'ba- 
bitndes  fortes  et  bonnetes.  Mais  ils  sont  bien  malades;  l'esprit 
radical  les  travaille.  Wir  werden  keinen  Augenblick  darüber  im 
Zweifel  gelassen ,  dass  Guizot  vollkommen  mit  den  Augen  seines 
Herrn  sah  und  bemüht  war  diesen  radicalen  Geist,  der  sioh  frei- 
lich in  diesem  Falle  mit  Allem  was  lebenskräftig  und  Arisch  in  der 
Schweiz  war  identifizirte,  zu  ersticken  Die  Aufbebung  der  Klöster 
in  Aargau  erscheint  ihm  als  höchst  bedenkliches  Symptom  der 
revolutionären  Leidenschaft,  welche  die  Schweizer  ergriffen  habe. 
L'abolition  des  associations  religieuses  et  la  oonfisoation  de  leurs 
bien,  sont  des  violations  flagrantes  de  la  liberte*  et  de  la  propriete 
Dass  der  grosse  Rath  von  Luzern  die  Jesuiten  berufen  und  ihnen 
die  öffentliche  Erziehung  im  Kanton  anvertraut,  will  Guizot  nicht 
gerade  vertheidigen ;  es  erscheint  ihm  aber  als  ein  kleines  Ver- 
gehen im  Vergleich  zu  der  Sünde  des  Radikalismus  in  Zürich,  der 
dortbin  den  berüchtigten  Strauss  berufen  habe  celebre  par  soi 
hostilite  contre  l'histoire  erangelique  et  le  dogme  chretien.  Die 
Stiftung  des  Sonderbunds  wird  bei  dieser  Anschauungsweise  zu 
einem  Akt  gerechter  Nothwehr  gegen  die  Attentate  der  radikalen 
Partei;  Guizot  bringt  sie  in  tendentioser  Weise  mit  der  Bratet- 


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Guliot:  MÄmoiret  etc. 


871 


düng  Jacob  Lena  von  Eber  so!  in  Verbindung.   Au  touffle  de  Tin- 
diguation  populaire  le  parti  menace  resolut  de  se  uiettre  en  defense 
et  de  s'organiser.    Er  findet ,  das»  diese  allerdings  exceptionellen 
Bündnisse  innerhalb  eines  Staatenbundes  doch  nicht  ohne  Präce- 
denzfall  in  der  Schweizergeschichte  selbst  gewesen  seien.    Er  halt 
den  Tadel  über  das  Vorgehen  der  Majorität  des  Bundes  gegen  diese 
Minorität  nur  mühsam  zurück,  wenn  er  sich  auch  zu  der  Kühn- 
heit des  Fürsten  Metternich  nicht  aufschwingen  kann,  der  in  die- 
ser Frage  von  Anfang  an  seinen  Frincipien  getreu  auf  die  Inter- 
vention zu  Gunsten  des  Sonderbunds  losgesteuert  war.    Als  die 
Akkession  des  Kanton  St  Gallen  zu  den  »radikalen  Kantonen« 
die  Bildung  einer  zum  Aeussersten,  zum  Krieg  gegen  den  Sonder- 
bund entschlossenen  Majorität  gesichert  hatte ,  schlug  Metternich 
vor  zu  erklären,  >dass  die  Mächte  nicht  dulden  werden,  dass  die 
cantonale  Souveränetät  verletzt  werde.«    Aber  Guizot  rousste  erst 
dnreh  den  vollkommen  klerikal  gesinnten  Gesandten  Boisle  Comte, 
den  er  taktlos  genug  bei  der  Eidgenossenschaft  akkreditirt  hatte, 
zu  ähnlichen  Kreuzzugst baten  angespornt  werden.  Dieser  verlangte 
sogar  am  6.  Jannar  1647,  dass  ihm  die  Operationsarmee,  welche 
in  der  Schweiz  interveniren  sollte,  vollkommen  zur  Bisposition  ge- 
stellt werde.    Er  gehe  davon  aus,  dass  die  Intervention  im  Fall 
des  Bürgerkriegs  entschieden  sei.    Aber  es  sei  sehr  zu  wünschen, 
dass  die  Sache  sich  nicht  in  die  Länge  ziehe;  denn  sonst  sei  er 
in  völliger  Abhängigkeit  von  den  drei  nordischen  Mächten.  Damit 
hatte  Boisle  Comte  die  Lage  in  der  Tbat  richtig  charakterisirt. 
Er  setzte  voraus,  dass  Guizot  ebenso  handeln  werde,  wie  er 
sprach.  Aber  zwischen  That  und  Wort  ist  der  Abstand  nirgends 
weiter  als  bei  einem  so  vollendeten  Doktrinär  wie  der  damalige 
franzosische  Minister  war.    Er  hatte  wohl  den  Ehrgeiz,  aber  ihm 
fehlte  die  Bosheit  um  mit  Lady  Macbeth  zu  reden.  Darin  liegt  die 
Ueberlegenheit  der  konsequenteren  Politik  des  Fürsten  Metternich; 
desshalh  empfand  ein  so  fanatischer  Anhänger  des  Pabstes  und  der 
Jesuiten,  wie  Boisle  Comte,  es  schwer,  dass  er,  anstatt  energisch  im 
klerikalen  Sinne  vorzugehen,  seine  Impulse  erst  von  den  Nord- 
mächten  holen  musste.    Guizot  machte  vielmehr  jetzt  vergebliche 
Versuche  die  Grossmächte  zu  einem  Collectivschritt  beim  Bund  zu 
vermögen.    Die  religiöse  Frage,  die  die  Schweiz  tbeile,  solle  dem 
Schiedsspruch  des  Pabstes,  die  politische  Frage  der  Vermittlung 
der  Grossmächte  anheimgegeben  und  dadurch  der  Ausbruch  der 
Feindseligkeiten  in  der  zwölften  Stunde  verhütet  werden.  Nun 
aber  zeigte  sich ,  dass  die  Ostmächte  zwar  einverstanden  waren, 
Metternich  sogar  die  identische  an  den  Bundesrath  zu  richtende 
Note  zu  gelind  fand,  dass  aber  Palmerston  sich  gegon  jeden  Col- 
lectivschritt sträubte  und  Gnizot's  schwaches  Drohen  zu  stark  fand. 
In  Berlin  nannte  man  nun  freilich  Palmerston  einen  Revolutionär,  in 
Wien  liess  man  dem  Aerger  über  die  englische  Politik  vollen  Lauf. 
Während  aber  die  Grossmächte  Uber  die  Abfassung  der  Note  hin  und 
her  haderten,  handelten  die  Schweizer,  und  die  Guizot'sche  Politik 


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872 


Guizot:  Memoire«  etc. 


sah  sich  durch  das  Resultat,  durch  den  völligen  Sieg  der  Eidge- 
nossenschaft schliesslich  um  die  Frucht  ihrer  so  lange  sorgfältig 
gehegten  Vermittlungsweisheit  gebracht. 

Lord  Palmerston  hatte  nur  eine  richtige  Witterung  der  Er- 
eignisse, da  er  sich  weigerte  die  Kastanien  für  den  Pabst  and  die 
Jesuiten  aus  dem  Feuer  zu  holen ;  und  aus  den  Gesprächen  die  er 
mit  dem  Herzog  von  Broglio  über  die  beabsichtigte  grossroächtliche 
Vermittlung  hatte,  leuchtet  die  Einsicht  in  die  Schwachen  der  son- 
derbündischen  Sache  für  einen  Jeden  dor  nicht  mit  Guizot'seber 
Brille  sieht,  klar  hervor.  Guizot  aber  findet  unerklärliche  Wider- 
sprüche in  der  britischen  Politik,  und  es  nimmt  sich  deshalb 
sonderbar  genug  aus ,  wenn  er  dieselbe  für  das  eigene  Mil- 
lingen verantwortlich  macht,  und  schliesslich  berichtet,  dass  im 
selben  Augenblick,  wo  die  identische  Note  endlich  ausgebeutet  wer- 
den sollte,  Lord  Palmerston  Herrn  Peel  Befehl  gegeben  habe,  Gene- 
ral Dufour  davon  zu  benachrichtigen  und  ihn  zu  drängen,  dass  er 
die  Einnahme  Luzerns  beeile;  damit  wenn  die  Note  eintreffe  der 
Krieg  bereits  aus  und  die  Vermittlung  ohne  Gegenstand  sei.  Dieser 
Hergang  ist  freilich  auch  ohne  das  Geständniss  Peel's,  das  Gnizot 
anführt  auf  Treu  und  Glauben  anzunehmen ,  und  das  Erstaunliche 
ist  nnr  das  Staunen  Guizot's  über  den  Streich  den  ihm  die  eng- 
lische Politik  gespielt  hatte.  Dass  die  grosse  Diplomatie,  die  er 
begonnen  ihr  Spiel  würdig  fortsetzte,  den  Sonde; bund,  auch  da  er 
geschlagen  war,  anerkannte,  und  dass  erst  die  grösseren  Begeben- 
heiten des  Jahres  1848  dem  diplomatischen  Schmollen  das  Guizot 
angesichts  der  vollendeten  Thatsachen  beliebte,  und  der  Spannung 
zwischen  Frank  reich  und  der  Schweiz  ein  Ende  machte  ist  bekannt: 
weniger  bekannt,  dass  Guizot  in  der  That  noch  jetzt  mit  der  mo- 
ralischen Mitschuld  an  dem  ganzen  Ausgang  auch  in  den  Augen 
der  Sonderbündler  behaftet  ist,  die  es  ihm  nie  vergessen  haben, 
dass  er  seinen  Sekretär  Hamon  in  ihr  Lager  sandte  und  ihnen  den 
Wunsch  aussprechen  Hess,  dass  sie  den  Kampf  bis  aufs  Aeusserste 
fortsetzten  (Siegwart  III,  955).  Guizot  ist  geneigt  die  Angelegen- 
heit des  Sonderbundes  als  geringfügig  darzustellen:  aber  sie  be- 
deutete immerhin  eine  energische  Zurückweisung  aller  Interventions- 
gelüste und  damit  eine  völlige  Niederlage  seiner  eigenen  Politik,  die 
freilich  minder  entschlossen  und  minder  klar  war  als  die  des  öster- 
reichischen Staatskanzlers.  Dass  er  seinen  eigenen  Sturz  und  die 
Februarrevolution  zu  guter  Letzt  in  einer  Weise  darstellt,  die  uns  Louis 
Philippo  als  das  Ideal  eines  Königs,  Guizot  als  das  Ideal  eines  liberalen 
Ministers,  und  Frankreich  als  einen  Tummelplatz  rasender  Leiden- 
schaften erscheinen  lässt,  ist  nach  Allem  Vorausgehenden  nur  allzn 
erklärlich.  Die  Doktrinärs  sind  ja  nach  Guizot's  eigener  Definition 
die  grossen  politischen  Wohlthäter  Frankreichs,  die  nur  verlangen, 
»dass  Frankreich  aus  dem  Chaos  tauche,  in  welches  die  Nation 
gestürzt  war,  und  dass  es  den  Blick  wieder  gen  Himmel  richte, 
um  dort  das  Licht  zu  suchen.« 

C.  Mendelssohn-Bartholdv. 

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Martins:  Von  Spitzbergen  zur  Sahara. 


878 


Von  Spitsber gen  sur  Sahara.  Stationen  eines  Naturforschers 
in  Spitzbergen,  Lappland,  Schottland^  der  Schweiz,  Frankreich, 
Italien,  dem  Orient ,  Aegypten  und  Algerien.  Von  Charles 
M ar  tins ,  Professor  der  Naturgeschichte  su  Montpellier ,  Di- 
rektor des  botanischen  Gartens  u.  s.  w.  Auforisirte  und  unter 
Mitwirkung  des  Verfassers  übertragene  Ausgabe  für  Deutsch' 
land.  Mit  Vorirort  von  Carl  Vogt.  Aus  dem  Französischen 
von  A.  Bartels.  Jena,  Hermann  Costenoble.  1868.  Erster 
Band  XX  und  354  8.  Zweiter  Band.  VI  und  333  S.  gr.  8. 

Scbon  aus  dem  hier  wörtlich  mitgetheilten  Titel  mag  die 
Mannichfaltigkeit  der  in  diesen  beiden  Blinden  behandelten  Gegen- 
stande entnommen  werden.  Und  doch  führen  sie  alle  anf  einen  ge- 
raeinsamen Mittelpunkt  zurück;  es  sind  lauter  naturwissenschaft- 
liche Schilderungen,  die  das  Selbsterkannte  und  Erlebte  getreulich 
wiedergeben  sollen,  und  zwar  in  einer  auch  für  ein  grösseres  ge- 
bildetes Publikum ,  als  das  der  Fachgelehrten ,  geeigneten  Form. 
Alle  die  Gegenstände,  die  hior  zur  Sprache  kommen,  sind  von  dem 
Verf.  erst  wissenschaftlich  behandelt  worden  und  haben  den  Stoff 
za  einer  Reihe  von  Aufsätzen  geliefert,  welche  in  verschiedenen 
gelehrten  Zeitschriften  nach  ciuander  erschienen  sind ;  sie  erschei- 
nen hier  in  einer  »einfachen  Uebortragung  in  gewöhnliche  Sprache 
von  rein  wissenschaftlichen  Abhandlungen.«  Aber  der  Verfasser 
bezweckt  damit  nicht  sowohl  die  angenehme  Unterhaltung  des  ge- 
bildeten Lesers,  sondern  er  war  stets  dabei  bemüht  ihn  zu  beleh- 
ren ;  und  in  diesem  Sinn  mag  man  insbesondere  die  eben  so  lehr- 
reichen als  anziehend  geschriebenen  und  daher  auch  wohl  unter- 
haltenden Aufsätze  Über  die  vormaligeu  und  jetzigen  Gletscher 
von  Spitzbergen,  der  Alpen  und  der  Pyrenäen,  und  Anderes  der 
Art  betrachten.  Die  in  beiden  Bänden  enthaltenen  Darstellungen 
beziehen  sich  auf  die  physische  Geographie  im  weitesten  Sinne  des 
WorteB  (S.  XVI),  vorwiegend  ist  allerdings  dabei  »die  Pflanzen- 
geographie oder  die  Kunde  von  den  Gesetzen  dor  Pflanzenverthei- 
lung  auf  der  Oberfläche  der  Erde.  Diese  Gesetze  knüpfen  sich  an 
die  der  Meteorologie,  der  physischen  Geographie  uud  der  Geologie, 
welche  abwechselnd  citirt  und  angewandt  werden.  Nach  der  Pflan- 
zengeographie sind  die  Gletscher  seit  fünf  und  zwanzig  Jahren  der 
Gegenstand  meiner  Studien  und  Reisen  gewesen,  und  zwar  hat  mich 
eben  so  sehr  die  Frage  über  ihre  ehemalige  Ausdehnung  wie  die 
gegenwärtigen  Erscheinungen  derselben  beschäftigt.«  Also  spricht 
sich  der  Verfasser  über  den  Inhalt  und  Gegenstand  seines  Werkes 
aus :  gern  wird  aber  der  gebildete  Leser,  wie  der  Fachmann  seinen 
anziehenden  Darstellungen  von  dem  Nordpol,  von  Spitzbergen,  und 
bis  zur  Sahara  und  zur  Sonnenglut  Africa's  folgen,  und  angenehme 
Belehrung  daraus  gewinnen :  denn  die  Ergebnisse  der  Wissenschaft, 
zunächst  auf  Reisen  in  den  verschiedensten  Weltgegenden ,  an  Ort 
und  Stelle  gesammelt,  in  allgemein  verständlicher  Weise  darzu- 
legen, war  ja  der  Zweck  des  Verfassers:  und  wir  dürfen  wohl  an- 


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874 


Martins:  Von  Spltibergen  rar  Sahara. 


Dehmen,  dass  er  diesen  Zweck  auch  erreicht  hat.  Nicht  ohne  Be- 
friedigung und  vielfache  Belehrung  wird  man  die  Schrift  ans  der 
Hand  legen. 

Der  erste  Band  beginnt  mit  dem,  was  in  fast  allen  einzelnen 
Abschnitten  mehr  oder  minder  zur  Sprache  kommt,  mit  einer  Ein- 
leitung, welche  über  die  Pflanzengeographie  und  deren  neueste  Fort- 
schritte sich  verbreitet :  dann  folgt  das  von  dem  Verf.  selbst  besuchte 
Spitzbergen  in  einer  eingehenden  Schilderung,  welche  zuerst  die 
Entdeckung  und  Erforschung  dieses  Nordlandes  darstellt,  dann  das 
Klima,  die  physische  und  geologische  Beschaffenheit,  und  die  ganze 
Flora,  diese  sehr  genau,  wie  die  Fauna  bespricht;  daran  schliesst 
sich  passend  das  Nordkap  von  Lappland  und  ein  wissenschaftlicher 
Winteraufenthalt  in  Lappland  mit  all  den  während  desselben 
unternommenen  wissenschaftlichen  Untersuchungen  in  meteorologi- 
scher Hinsicht,  über  Temperatur,  atmosphärischen  Druck,  Nordlicht, 
Erdmagnetismus  u.  s.  w.  Von  dem  Orte  des  Aufenthalts ,  Bosse- 
kop,  einer  kleinen  Handelsniederlassung,  wird  S.  147  ein  schönes 
landschaftliches  Bild  entworfen.  Es  mag  erlaubt  sein,  einige  Züge 
dieses  Bildes  hier  wörtlich  wiederzugeben. 

»Haramerfest  verlassend,  dringt  der  Reisende,  welcher  sich  nach 
Süden  wendet,  durch  ein  enges  Gat  in  den  Fjord  von  Alten.  Eine 
Zeit  lang  bemerkt  er  nur  grünende  Abhänge,  deren  dichtes  Gras 
bis  ans  Ufer  binabzieht  und  sich  mit  den  Tangen  vermischt.  Bald 
aber  erheben  sich  schroffe  Felsen  um  ihn  herum,  und  ihr  von  dem 
klaren  Gewässer  zurückgeworfenes  Bild  scheint  die  Höhe  der  Steil- 
ufer zu  verdoppeln.  In  spärlichen  Zwischenräumen  verrathen  leichte 
Bauch säulen  die  Hütte  eines  einsamen  Lappen.  Ein  am  Strande 
aufgelaufener  Nachen  und  einige  an  der  Sonne  trocknende  Schell- 
fische, an  langen  Stangen  aufgehängt,  künden  den  Aufenthalt  eines 
armen  norwegischen  Fischers  an.  Im  Allgemeinen  aber  ist  das  Ufer 
verlassen,  und  der  traurig  umherschweifende  Blick  entdeckt  nicht 
einmal  einen  Baum,  der  mit  seinem  regelmässigen  Wiegen  diese 
regungslose  Natur  belebte.  Tiefes  Schweigen,  nie  vom  Rascheln 
des  Laubes  unterbrochen,  herrscht  in  dieser  Einöde.  Nor  selten 
fliegen  plumpe  Eidergänse ,  in  einsamen  Seitenbuchten  versteckt, 
geräuschvoll  auf  und  zerstreuen  sich  in  der  Ferne,  auf  den  Ge- 
wässern hingleitend,  oder  ein  schäumender  Wasserfall  braust  in- 
mitten der  Felsen.  Eine  Weile  vernimmt  man  sein  eintöniges  Bau- 
schen, dann  beim  Umbiegen  um  ein  Vorgebirge  bricht  es  plötzlich 
ab  und  gleicht  nur  noch  einem  fernen  Murmeln,  das  sich  endlich 
in  Schweigen  verliert.  Oft  löst  sich  ein  schwarzes  und  kahles  Kap 
von  der  Küste  ab  und  scheint  den  Hintergrund  des  Meerbusens  zu 
versperren ,  allein  je  mehr  sich  das  Boot  nähert,  desto  mehr  öffnet 
sich  die  Durchfahrt  vor  ihm  und  ein  weites  Becken  nimmt  es  in 
seine  ruhigen  Gewässer  auf.  Hat  man  endlich  einen  grossen,  au? 
sonderbar  gewundenen  Schichten  gebildeten  Felsen  umschifft,  so 
lässt  der  Wind  nach,  das  erschlaffte  Segel  hängt  am  Mast  herunter 
und  der  Nachen  steht  von  selbst  im  Hintergrunde  einer  Bai  von 


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Martine:  Voo  Spitzbergen  «ur  Bahara.  Ö76 

geringer  Tiefe  still,  deren  anmuthige  Krümmung  sich  am  Ufer  ent- 
faltet. Einige  Magazine  umgeben  den  Landungsplatz,  und  die  am 
Abhänge  eines  langen  Hügels  zerstreuten  Wohnungen  scheinen  den 
Reisenden  einzuladen,  sich  daselbst  ein  Unterkommen  zu  suchen. 
Es  ist  das  Dorf  Bossekop.  Der  Distriktsvorsteher  und  ein  paar 
norwegische  Kaufleute,  welche  mit  den  Lappen  Handel  treiben,  be- 
wohnen diese  bescheidenen  Holzhäuser.  Hinter  dem  Dorfe  dehnt 
sich  ein  grosser  Kiefernwald  aus,  unter  dessen  Schatten  Wachbol- 
der,  Haidekräuter,  Heidelbeeren  und  andere  die  Kälte  hebende 
Pflanzen  wachsen.  Durchschreitet  man  den  Wald  in  östlicher  Rich- 
tung, so  gelangt  man  wieder  an  die  stets  ruhigen  und  klaren  Ge- 
wässer des  Fjords.  Gegen  Süden  sind  Torfmoore,  auf  denen  einige 
verkrüppelte  Kiefern  sich  hervorwagen,  aber  unter  dem  feindlichen 
Einflüsse  dieses  schwammigen  und  feuchten  Bodens  in  buschförmi- 
gem  Zustande  verharren.  Weiterhin  entdeckt  man  den  Altenfluss, 
welcher  zwischen  den  sandigen  Ufern,  die  er  sich  selbst  geschaffen, 
majestätisch  dem  Eismeere  zuströmt.  Ueberall  am  Horizonte  hohe 
schneebedeckte  Berge  und  bei  jeder  Wegbiegung  unerwartet  der 
Fjord,  dessen  bläuliche  Gewässer  sich  zwischen  die  Flächen  des 
Bildes  drängen.  In  den  seltenen  Augenblicken,  wo  die  Sonne  nicht 
durch  Wolken  verhüllt  wird,  ist  diese  Landschaft  denjenigen  ver- 
gleichbar, welche  die  Seen  der  Schweiz  und  des  südlichen  Norwegens 
einrahmen.  Wie  schön  dünkte  sie  mich,  als  nach  der  Rückkehr 
von  Spitzbergen  mein  so  lange  vom  Anblick  schwarzer  Felsen  und 
schneebedeckter  Ufer  betrübtes  Auge  sich  an  diesem  lachenden  An- 
blick erquicken  konnte!  Wie  mir  die  Bäume  hoch  und  dicht,  der 
Rasen  grün,  die  Luft  milde  und  mit  harzigem  Duft  der  Kiefern 
lieblich  erfüllt  schien!  Aber  leider  hüllt  zumeist  ein  Nebelschleier 
die  ganze  Gegend  ein,  oder  ein  lichtloser  Tag  entfärbt  das  Bild; 
denn  die  stets  dicht  am  Horizonte  verweilende  Sonne  vermag  mit 
ihren  bleichen  Strahlen  die  Wolken,  welche  der  Seewind  beständig 
auf  den  Bergen  ansammelt,  nicht  zu  durchbrechen.« 

Ein  ähnliches,  eben  so  anziehendes  landschaftliches  Bild  gibt 
uns  die  S.  190  ff.  daran  sich  reihende  »Reise  in  Lappland  vom  Eis- 
meer bis  zum  Bottuischen  Meerbusen.«  Die  Reise  ward  im  Septem- 
ber unternommen,  weil  diess  in  der  schönen  Jahreszeit  fast  die 
einzige  Zeit  ist,  in  welcher  man  eine  Reise  durch  Lappland  unter- 
nehmen kann,  wenn  man  nicht  —  vom  20.  November  bis  30.  April 
—  in  einem  mit  Rennthieren  bespannten  Schlitten  die  Reise  machen 
und  allen  Beschwerden,  welche  die  strenge  Kälte  wie  der  Schnee 
verursacht,  sich  aussetzen  will.  Denn  in  den  nächsten  Monaten,  wo 
der  Schnee  schmilzt,  ist  eine  Reise  kaum  ausführbar.  Als  der  Ge- 
birgsrücken überschritten  war,  gelangten  die  Reisenden  auf  ein 
breites  Plateau,  von  welchem  S.  196  folgende  Schilderung  gegeben  wird. 

»Nichts  vermag  eine  Vorstellung  von  dem  öden  und  doch  gross- 
artigen Anblick  dieser  Hochebene  zu  geben.  Die  breiten  wellen- 
förmigen Erhebungen  des  Terrains  folgen  sich  unabsehbar  stets 
in  derselben  Art.    Selten  unterbricht  ein  Fels  mit  schloffen  For- 


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876 


Martins:  Von  Spitrbergen  *ur  Sahara. 


men,  die  allgemeine  Bodenfläcbc  überragend,  auf  Augenblicke  die 
Einförmigkeit  der  Landschaft.  Ueberall  ist  der  Fels  nackt ,  nur 
hier  nnd  da  verstecken  sich  verkrüppelte  Büsche  der  Zwergbirke 
und  einige  noch  niedrige  Gewächse  in  den  Bodenfalten,  wo  sie  ge- 
schützt sind  gegen  die  eisigen  Winde,  welche  sich  auf  diesen  ent- 
blösten  Flächen  frei  umhertummeln.  Einsame  Seen  schlummern  in 
den  grossen  Bodensenken.  Die  einen,  von  ungeheurer  Ausdehnung, 
tragen  noch  zur  Einförmigkeit  dieses  Anblicks  bei.  Die  andern, 
kleiner,  vermögen  ihn  nicht  zu  beleben,  denn  kein  Baum,  kein  Kraut 
badet  seine  Wurzeln  in  ihren  gelblichen  Gewässern ,  kein  Weich- 
thier kriecht  an  ihren  nackten  Gestaden,  kein  Vogel  bestreicht  mit 
schnellem  Fittich  ihre  Oberfläche,  nur  ihre  Tiefen  sind  von  zahl- 
reichen Fischen  bewohnt,  zu  deren  Fange  die  Lappen  im  Herbst 
hierher  kommen.  Während  des  Sommers  steigen  Myriaden  von 
Schnaken  aus  diesen  Seen  auf  und  verbieten  dem  Reisenden  die 
Wanderung  über  dieses  Plateau.  Im  Winter  gefriert  Alles,  und 
acht  Monate  lang  verschwinden  Erde  und  Wassor  unter  einem 
Leichentuch  von  Schnee.  Das  Gefühl  der  Einsamkeit  und  Verlas- 
senheit beschleicht  den  Reisenden,  welcher  diese  Wüsten  des  Nor- 
dens durchzieht.  Nichts  um  ihn  her  lebt,  Alles  ist  still  und  todt 
Stets  im  Mittelpunkt  einer  Landschaft,  die  sich  nicht  verändert, 
stets  in  derselben  Richtung  die  Schneekuppen  der  fernen  im  Westen 
sich  verlierenden  Lyngenkette  vor  sich ,  möchte  er  fast  glauben, 
er  komme  nicht  vom  Fleck,  sondern  drehe  sich  unaufhörlich  in 
eiuem  magischen  Kreise.  < 

Nun  folgt  ein  Aufsatz  über  die  Pflanzenbesiedelung  der  briti- 
schen, der  Shetland-  und  Faröerinseln,  sowie  Islands,  S.  222  ff.  nnd 
ein  Bericht  über  die  Zwanzigste  Versammlung  der  brittischen  Ge- 
sellschaft zu  Edinburg  im  August  1851.  S.  239  ff.  Der  Rest  dieses 
Bandes  ist  den  Alpengletschern  gewidmet,  und  enthält  eine  Reihe 
von  Betrachtungen  und  Erörterungen  über  die  jetzigen  Gletscbei 
der  Alpen,  wie  über  deren  frühere  Ausdehnung  in  den  Ebenen  der 
Schweiz  und  Italiens.  Hiernach  erfüllte  der  Rhonegletscher  einst 
>das  ganze  heutige  Wallis  und  dehnte  sich  in  der  zwischen  den 
Alpen  und  dem  Jura  liegenden  Ebene  vom  Fort  l'Ecluse  bei  der 
Perte  du  Rhöne  bis  in  die  Umgegend  von  Aarau  aus.  Er  war  der 
Hauptgletscher  der  Schweiz;  er  hat  jene  zahllosen  Blöcke,  welche 
den  Jura  bis  zur  Höhe  von  1040  Meter  über  dem  Meere  bedecken, 
verführt.  Die  übrigen  Gletscher  waren  nur  schwache  Zuflüsse  des 
Rhonegletschers,  unfähig,  ihn  von  seiner  Richtung  abzulenken.  So 
erkennt  man ,  wenn  der  Arvegletscher  ihm  auf  dem  Kamme  der 
Sarves  oder  an  den  Abhängen  der  Voirons  begegnet,  an  der  Ver- 
theilung  der  Moränen,  dass  der  Rhonegletscher  seinen  Marsch  fort- 
setzt, während  der  dor  Arve  plötzlich  stillsteht.  Desgleichen  drängt 
ein  reissender  Strom  das  kleine  Bächlein  zurück,  welches  ihm  den 
Tribut  seiner  Welle  zuträgt. 

Die  übrigen  sekundären  Gletscher  nahmen  die  Haupttbäler  der 
Schweiz  ein.    Dergleichen  waren  die  Aargletscher,  dessen  letzte 


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Martins:  Von  Spitzbergen  *ur  ßahara. 


877 


Moränen  die  Hügel  in  der  Umgegend  von  Bern  krönen.  Der  Reuss- 
gletscher, welcher  die  Ufer  des  Vierwaldstättersees  mit  den  den 
Spitzen  des  St.  Gotthard  entrissenen  Blöken  bedeckt  hat.  Der  Linth- 
gletscher  hielt  am  Ende  des  Züricher  Sees  inne,  und  die  Stadt  ist 
auf  der  Endmoräne  desselben  gebaut.  Der  Rheingletscher  endlich, 
weniger  als  die  andern  untersucht,  nahm  das  ganze  Becken  des 
Eonstanzer  Sees  ein  und  dehnte  sich  bis  zu  den  Grenzpartien  Deutsch- 
lands aus. 

So  war  also  während  der  Kältezeit,  welche  dem  Erscheinen 
des  Menschen  auf  der  Erde  gefolgt  ist,  die  Schweiz  ein  mächtiges 
Eismeer,  dessen  Wurzeln  sich  in  die  Hochthäler  der  Alpen  senkten, 
während  die  Endböschung  sich  auf  den  Jura  stützte.  Desgleichen 
stiegen  auf  dem  Südabhange  der  Kette  die  Gletscher  in  die  Ebenen 
Piemonts  und  der  Lombardei  hinab.    Die  der  Südseite  des  Mont- 
blanc vereinigten  sich,  um  den  Gletscher  des  Aostathales  zu  bilden. 
Die  Endmoräne  desselben  erhebt  sich  wie  ein  riesiger  Damm  in 
der  Umgegend  der  Stadt  Ivrea,  es  ist  die  Serra  von  Piemont. 
Dio  Mehrzahl  der  Seen  Oberitaliens  verdankt  ihr  Daseiu  den  Stirn- 
wällen dieser  grossen  Gletscher;  indem  sie  den  Lauf  der  Flüsse 
stauten,  zwangen  sie  dieselben,  sich  unter  der  Form  stiller  Wasser- 
spiegel auszubreiten.    Unter  den  hervorstechendsten  Moränen  will 
ich  die  drei  konzentrischen  Bögen  erwähnen,  welche  das  Ende  des 
Lago  Maggiore  bei  Sesto  Oalende  umschreiben  ;  die  des  Gardasees 
sind  nicht  minder  gut  in  der  Nähe  von  Desenzano  und  Peschiera 
charakterisirt.     Die  Schlacht  von  Solferino  ist  auf  diesen  alten 
Moränen  geliefert  worden,  die  Oesterreichor  hatten  die  Höhen  der- 
selben besetzt«  u.  s.  w.  Wir  können  nach  Mittheilung  dieser  Probe 
nicht  in  das  weitere  Detail  uns  einlassen,  müssen  aber  noch  der 
beiden  Besteigungen  des  Montblanc  gedenken,  deren  Erzählung  von 
S.  298  an  den  Rest  des  Bandes  füllt.  Zuerst  wird  die  am  1.  August 
1787  von  Saussure  unternommene  erstmalige  Besteigung  des  Mont- 
blanc in  anziehender  Weise  beschrieben  und  dann  der  sieben  und 
zwanzig  Besteigungen  dieses  Berges  gedacht,  welche  in  den  Zwi- 
schenraum von  sieben  und  fünfzig  Jahren  (1787  bis  1843)  fallen; 
von  1844  an  bis  zu  Ende  des  Jahres  1863  haben  sich  diese  Be- 
steigungen in  dem  Grade  vermehrt,  dass  die  Gesammtsumme  auf 
nicht  weniger  als  hundert  ein  und  siebenzig  sich  beläuft.  Von  be- 
sonderem Interesse  ist  aber  die  eingehende  Beschreibung  der  wissen- 
schaftlichen Besteigung,  welche  der  Verf.  selbst  im  Spätsommer  des 
Jahres  1844  mit  einigen  Freunden  unternahm.  Zweimal  wurde  der 
Versuch  gemacht;  Unwetter,  welche  jedes  Weitergehen  unmöglich 
machte,    nöthigte  zur  Umkehr,  ehe  noch  der  letzte  Gipfel  erreicht 
war:   erst  zum  drittenmal  gelang  diess,  nachdem  die  Gesellschaft 
in  der  Nacht  des  27.  Augusts  aufgebrochen,  und  am  folgenden  Tage 
ein  und  drei  viertel  Uhr  glücklich  den  Gipfel  erreichte.  Nach  län- 
gerem Verweilen  auf  dem  Gipfel,  wie  es  der  wissenschaftliche  Zweck 
des  Ganzen  mit  sich  brachte,  machte  man  sich  erst  gegen  Abend, 
Us  die  Sonne  unterzugehen  begann,  auf  den  Rückweg,  der  auch 


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Martins:  Von  Spitzbergen  sur  Sahir». 


ohne  allen  Unfall  vor  sich  ging.  Wir  überlassen  es  dem  Leser  du 
Schilderung  dieses  Verweilens  anf  dem  Gipfel  und  die  Eindrücke, 
welche  die  Betrachtung  der  grossartigen  Naturerscheinung  hervor- 
rief, und  die  wissenschaftlichen  Erörterungen,  welche  sich  daran 
knöpften,  in  der  Schrift  selbst  nachzulesen,  um  noch  Einiges  über 
den  Inhalt  des  zweiten  Bandes  zu  bemerken,  der  uns  in  eine  mm 
Theil  ganz  verschiedene  Welt  führt  und  andere  Darstellungen  bringt, 
denen  ein  gleiches  Interesse  nicht  abgeht.    Zuerst  eine  kurze  Er- 
örterung über  die  Sohneemaus  und  eine  weitere  Betrachtung  über 
die  Ursachen  der  Kälte  auf  den  Hochgebirgen ,  darauf  ein  Beriebt 
über  die  Versammlung  der  schweizerischen  natnrforschenden  Gesell- 
schaft im  August  1863  zu  ßamaden  im  oberen  Engadin.  Eine  ein- 
gehende wissenschaftliche  Untersuchung  ist  dem  Mont  Ventoui  in 
der  Provence  gewidmet  (S.  94— 134)  mit  besonderer  Rücksicht 
auf  die  Erscheinungen  in  der  Pflanzenwelt;  daran  schliesst  sich 
eine  Beschreibung  der  »Crau  oder  der  französischen  8aharac,  unter 
welchem  Namen  eine  zwischen  der  grossen  Rhone  und  den  Vor- 
alpen  im  Norden,  den  Hügeln  von  Salon  und  Saint-Cbamas  im 
Süden  sich  ausbreitende  Ebene  von  980  Quadratkilometern  Ober- 
flache  begriffen  wird.  »Die  Bodenfläche  ist  vollständig  mit  dicken, 
ovalen,  auf  einer  röthlichen ,  sehr  fein  zertheilten  Erde  ruhenden 
Kieseln  bedeckt.  Während  der  Sommerhitze  erscheint  dieser  Bodes 
völlig  kahl  und  jeglicher  Vegetation  beraubt;  indem  die  Sonne  mit 
ihren  Gluten  die  aufgehäuften  Kiesel  erhitzt,  dehnt  sich  die  Luft 
bei  der  Berührung  mit  denselben  aus,  und  das  Phänomen  der  Luft- 
spiegelung ist  in  der  Crau  ebenso  gewöhnlich  wie  in  den  Wüsten 
Afrikas.    Der  Reisende,  den  der  Dampf  durch  diese  dörre  Ebene 
dahinträgt,  erblickt  in  der  Perne  Bäume  und  Häuser,  deren  Fuss 
vom  Wasser  bespült  wird,  und  der  Spielbail  einer  Tftusohung,  glaubt 
er  das  Meer  zu  gewahren,  von  dem  er  noch  weit  entfernt  ist.  Wen» 
aber  die  in  Strömen  aus  den  vom  Südwinde  anfgethürmten  Wolken 
herabfallenden  Herbstregen  diesen  steinigen  Boden  erfrischt  und 
befeuchtet  haben,  so  spriessen  feine  Gräser  zwischen  den  Kieseln 
hervor;  der  Thymian,  von  der  Sonne  verbrannt,  erwacht  wieder 
zum  Leben,  und  die  von  den  Alpentriften,  welche  die  Entholznng 
der  provenzalischen  Alpen  verschont  hat,  herabkommenden  Schafe 
finden  in  diesen  kurz  vorher  noch  entblössten  Ebenen  eine  reich- 
liche Weide.  Im  Frühling  lassen  ebenso  starke,  ebenso  anhaltende 
Regengüsse,  wie  die  im  Herbst,  noch  einmal  diese  Kräuter  zwischen 
diesen  Kieseln  hervorspriessen ,  welche  der  Schnee  nur  ein  paar 
Stunden  lang  im  Winter  bedeckt.  Von  der  Eisenbahn  aus  bemerk* 
man  hier  und  da  lange  und  niedrige  Schafställe ,  wo  die  Mutter- 
schafe während  der  kalten  Nächte  der  rauhen  Jahreszeit  Schott 
und  Obdach  finden.    Anfangs  Juni  aber  setzt  sich  das  Heer  der 
Hirten  in  Bewegung,  um  das  Gebirge  zu  gewinnen,  von  dem  es 
Ende  Oktober  zurückkehrt«  (S.  136).    Der  Verf.  zeigt,  wie  schon 
im  Alterthum  die  Beschaffenheit  dieses  kieselartigen  Landstriches 
die  Aufmerksamkeit  erregte,  ja  er  bringt  damit  selbst  die  Sagen 


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Martini:  Von  Spitzbergen  xn  Sahara. 


879 


in  dem  befreiten  Prometheus  des  Aeschylus  in  Verbindung,  wor- 
nacb  die  Kiesel,  welche  diese  Fläche  bedecken,  vom  Himmel  herab- 
gefallen, als  Jupiter  seinem  Sohne  Herkules  im  Kampf  mit  den 
Liguriern  durch  einen  Steinregen,  den  er  vom  Himmel  fallen  lässt, 
zu  Hülfe  eilt,  um  seine  Feinde  zu  vernichten:  daher  die  Bezeich- 
nung Campus  lapideus  sive  Herculeus,  welche  im  Alterthum  dieser 
Ebene  gegeben  ward ,  deren  geologische  Verhältnisse  hier  näher 
untersucht  und  besprochen  werden.  A eh nl icher  Art  ist  der  folgende 
Abschnitt,  der  uns  mit  einemmal  zu  den  Pyrenäen  führt  und  einen 
geologischen  Ueberblick  Uber  das  Vernetthal  bringt  und  damit  eine 
Untersuchung  verbindet,  welche  die  Unterscheidung  der  ächten  von 
den  unächten  Moränen  in  den  Östlichen  Pyrenäen  zum  Gegenstand 
hat.  S.  165  ff.  folgt  dann  die  Galilei tribune  zu  Florenz,  und  S.  178  ff. 
ein  botanischer  Spaziergang  längst   der  Küsten  von  Kleinasien, 
Syrien  und  Aegypten:  nacheinander  werden  Malta,  Syra,  Smyrna, 
Bosporus,  Bujukdere,  Rhodus,  Pompejopolis,  Alexandretta,  Latakieh, 
Tripoli,  Beyrut,  Jaffa,  Alexandrien,  Kairo  und  die  Pyramiden  be- 
sucht und  neben  andern  ansprechenden  Reisebildern  insbesondere  die 
Verhältnisse  der  Pflanzenwelt  an  diesen  Orten  besprochen.  Der 
Akklimatisationsgarten  von  Hamma  bei  Algier,  im  Jahre  1852  und 
zwölf  Jahre  später,  im  Jahre  1864  ist  der  Gegenstand  eines  ande- 
ren Abschnittes  S.  221  ff.  Dann  kommt  der  Wald  von  Edough  bei 
Bona  S.  240  ff.    Den  Beschluss  des  Ganzen  macht  ein  > physisches 
Gemälde  der  Östlichen  Sahara  in  der  Provinz  Konstantin  S.  248  ff., 
bei    welchem  insbesondere    die  Wüstenregion,  die  Formen  der 
Wüste,  die  Oasen,  das  Leben  in  der  Wüste  u.  dgl  m.,  von  dem 
Standpunkt    des   Naturforschers    aus,    in    Betrachtung  gezogen, 
aber  auch  die  Reiseerlebnisse  in  gleicher  Weise  geschildert  wer- 
den, insbesondere  das  Leben  in  dieser  africanischen  Welt  in  ein- 
zelnen Zügen  vorgeführt  wird.    Wir  erlauben  uns  auch  hier  den 
Schlnss  S.  329  ff.  mitzutheilen ,  und  schliessen  damit  auch  unsern 
Bericht,  durch  den  wir  jedem  gebildeten  Leser  ein  Werk  empfeh- 
len möchten,  »das,  wie  der  Vorredner  am  Schlüsse  seines  Vorwortes 
bemerkt,    in  anmuthiger  Form  und  tadelloser  Darstellung  seine 
Kenntnisse  bereichern,  seine  Anschauungen  erweitern  und  vielleicht 
selbst  ihn  zu  Gebieten  führen  wird,  die  ihm  bisher  unbekannt  blieben. c 
»Solcher  Art,  schreibt  unser  Verf.  a.  a.  0.,  war  unser  Leben  in 
der  Sahara  beschaffen;  ein  schöner  Himmel,  eine  massige  Temperatur, 
einige  RegenfUlle,  von  denen  die  Wüste  wieder  ergrünte,  trugen  noch 
zum  Reiz  der  Reise  bei.  Jeden  Tag  boten  sieb  unserm  Anblicke  gross- 
artige Schauspiele  dar.  Bald  war  es  die  Unermesslichkeit  eines  gren- 
zenlosen Plateaus,  breite  Thäler,  grosse  Seen,  mannichfach  geformte 
Dünen,  eine  fruchtbare  Oase,  von  Dörfern  gedeckt,  die  mit  malerischen 
Befestigungen  umgeben  waren.  Der  Anblick  der  fernen  Gebirge  fügte 
diesen  Ansichten  einen  unaussprechlichen  Reiz  hinzu.  —  Das  Schau» 
spiel,  welches  der  Himmel  bot,  war  nicht  minder  interessant  als  das 
der  Erde.  Auf  dem  Meere  und  in  allen  flachen  Ländern,  wo  die  Him- 
molskuppel  sich  über  einer  ebenen  Fläche  ohne  Erhabenheiten  und 


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Martins:  Von  Spitzbergen  m  Sahara. 

» 


Unterbrechungen  rundet,  lenkt  der  Mensch  seine  Blicke  gen  Him- 
mel; der  Anblick  der  Wolken,  der  Sonne,  der  Morgenröthe,  der 
Dämmerung,  der  Gestirne  ersetzt  den  Anblick  der  Fernen  der  Erde, 
der  Flüsse,  der  Seen,  der  Hügel  und  der  Berge.  Jeder  Sonnenunter- 
gang war  ein  Fest  für  unsere  Augen,  ein  Staunen  für  nnsern  Ver- 
stand, namentlich  wenn  die  Atmosphäre  nicht  völlig  heiter  war. 
Die  Färbungen  sind  dann  lebhafter  und  mannichfaltiger.  Je  mehr 
das  Gestirn  sich  dem  Horizonte  nähert,  befransen  sich  die  grauen 
und  zersausten  Wolken  des  Himmelsgewölkes,  die  letzten  Ausläufer 
der  nordischen  Nebel,  mit  mehr  oder  minder  intensiven  Purpur- 
tinten, während  die  gerundeten  Umrisse  der  weissen,  auf  den  fer- 
nen Bergspitzen  ruhenden  Wolken  sich  mit  einem  hellleuchtenden, 
gelben  Streifen  besäumen  und  in  das  Gold  eingerahmt  zu  sein 
scheinen,  welches  den  Abendhimmel  erfüllt.  Sobald  die  Sonne  unter 
den  Horizont  gesunken  ist,  verbreitet  sich  eine  ungemein  sanfte 
Eosatinte  über  den  ganzen  westlichen  Himmel.  Ein  Ansfluss  des 
verschwundenen  Gestirns ,  färbt  sie  alle  Gebirge.  Eins  derselben, 
von  Biskra  aus  sichtbar,  heisst  Dschebel  Harn  mar- Kreddu  (der 
Bosenwangenberg) ;  er  verdient  diesen  Namen,  denn  noch  lange  nach 
dem  Untergange  der  Sonne  bewahrt  er  einen  rosigen  Abglanz,  gleich 
dem  Inkarnat  auf  den  Wangen  eines  jungen  Mädchens.  Durch  einen 
Kontrasteffekt  mit  dem  Roth  nimmt  das  Blau  des  Himmels  eine 
wassergrüne  Farbe  an.  Allmälig  erbleicht  das  Rosa,  der  helle  Bogen 
zieht  sich  zusammen ;  allein  das  Licht,  welches  ihn  erleuchtet ,  ist 
weiss  und  rein  wie  das,  welches  im  Aether  jenseits  der  Grenzen 
unserer  Atmosphäre  glänzen  mnss.  Dank  der  Durchscheinenheit  der 
Luft  sind  alle  Umrisse  der  irdischen  Gegenstände  vollkommen  be- 
stimmt. Die  feinen  Einschnitte  der  Palmenblätter  werden  sicht- 
barer als  am  hellen  Tage,  und  wenn  der  Baum  sich  völlig  auf  die- 
sen wechselweise  gelben ,  rothen  und  weissen  Hintergründen  ab- 
hebt, so  scheint  es,  als  ob  die  Poesie  dieses  edlen  Gewächses  sich 
dem  Auge  zum  ersten  Male  enthülle.  Indess  wird  es  Nacht.  Zu- 
erst kommen  die  Planeten,  dann  die  grossen  Sternbilder  zum  Vor- 
schein, der  Himmel  bevölkert  sich  mit  Myriaden  von  Gestirnen, 
sein  Gewölbe  erhellt  sich;  die  Milchstrasse,  in  den  hohen  Breiten 
eiu  weissliches  und  verloschenes  Band,  scheint  eine  über  die  Him- 
melskuppel geworfene  Schärpe  funkelnder  Diamanten  zu  sein.  Der 
Mond  ist  nicht  mehr  jenes  fahle  Gestirn  ,  desseu  melancholischer 
Blick  die  Schwermuth  unserer  nebeligen  Länder  mitzuempfinden 
scheint,  sondern  eine  glänzende  Scheibe  vom  reinsten  Silber,  welche 
die  Strahlen,  die  sie  empfängt,  ohne  sie  abzuschwächen,  zurück- 
wirft, oder  eine  Sichel,  vervollständigt  durch  das  Halblicht,  welches 
sichtlich  die  Umrisse  dos  vollen  Balles  abzeichnet.  Das  war  der 
Sonnenuntergang  des  13.  Dezember  1863  am  Tage  vor  unserer  Ab- 
reise von  Biskra,  er  bewegte  uns  tief,  es  war  unser  Abschied  von 
den  Abenden  in  der  Wüste,  c 


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».  66.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Verhandlungen  des  naturkistorisch  -  medizinischen 

Vereins  zu  Heidelberg. 


1.  Vortrag  des  Herrn  Professor  Friedreich:  »Ueber 

wichtige  auskultatorische  Phänomene«, 
am  1.  März  nnd  am  27.  Mai  1867. 

2.  Vortrag  des  Herrn  Professor  Weber:  >üeberdas 
epidemische  Vorkommen  der  Rose«,  am  3.  Mai  1867. 

(Nach  dem  Protokolle.) 

Herr  Prof.  Weber  sprach  über  das  epidemische  Vorkommen  der 
Rose.  Ausgehend  von  dem  durch  die  Hospitalkrankheiten  veranlass- 
ten schlechten  Credit  der  Heilanstalten,  hat  der  Vortragende  das 
in  den  letzten  Jahren  häufigere  und  gefährlichere  Vorkommen  der 
Rose  genauerer  Untersuchung  unterworfen.  Er  glaubt  zunächst 
nachweisen  zu  können,  dass  eine  grosse  Anzahl  sogenannter  spon- 
taner Rosen  doch  von  Eitorresorption  kleiner  oder  versteckter  Ge- 
schwüre herrühre.  Die  traumatischen  Rosen  können  nicht  allein  von 
bösen,  sondern  auch  vou  ganz  gut  aussehenden  Wunden  ausgehn. 
Dio  Rose  muss  aus  verschiedenen  Ursachen  entstehn.  In  einigen 
Fällen  handelt  es  sich  einfach  um  Lymphangitis,  deren  eigenthüm-- 
liebes  Wandern  allerdings  seltsam  und  kaum  durch  Bilroth  erklärt 
ist.  Der  lokale  oder  epidemische  Charakter,  die  Ansteckbarkeit  sind 
kritisch.  Ist  nun  das  epidemische  Erysipel  identisch  mit  dem  trau- 
matischen, ist  es,  wie  Roser  meint,  ganz  analog  mit  Pyaemie?  Ge- 
nauere Untersuchung  kann  über  diese  Frage  allein  Klarheit  geben. 
Fälle  von  Erysipel  kommen  unter  ähnlichen  Verhältnissen  wie  in 
dem  Hospital  auch  unter  den  aller  unschuldigsten  Umständen  ausser- 
halb desselben  vor.  Bevor  der  Vortragende  die  Frage,  ob  vielleicht 
die  erysipelatöse  Epidemie  demnach  im  ganzen  Lande,  nicht  blos 
in  den  Spitälern  verbreitet  sei,  weiter  untersucht,  spricht  er  noch 
von  der  Mortalität  dieser  Krankheit.  Kaum  ein  einziger  Todesfall 
konnte  eigentlich  auf  die  Krankheit  selbst  geschoben  werden,  wenn 
man  die  an  späterer  Pyaemie  nicht  in  Rechnung  nimmt.  Die  Ge- 
storbenen hatten  dem  Vortragenden  schon  in  Bonn  akute  Nephritis 
und  Hepatitis  bis  zum  Zerfall  der  Sekretionszellen ,  wie  bei  akuter 
gelber Leberatrophio  gezeigt;  das  wiederholte  sich  bei  den  hiesigen 
Sektionen  der  später  gestorbenen  und  jedenfalls  spielen  diese  Er- 
krankungen bei  den  tödtlich  verlaufenden  Fällen  eine  grosse  Rolle. 
LX  Jahrg.  12.  Heft  56 


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882 


Verhandlungen  des  naturhiatorlflch-mediiintochen  Vereins. 


Dazu  kommen  aber  noch  Muskelveränderungen  und  Erkrankung  des 
Gefassepithels.  Die  Muskelfibrillen ,  besonders  im  Herzen,  werden 
glasig  und  brüchig,  bis  zum  fettig  breiigen  Zerfall.  In  den  grössern 
und  kleinern  Arterien  gewinnt  eine  fettige  Degeneration  der  Endo- 
thelien  eine  kolossale  Ausdehnung,  wie  Herr  Ponfick  entdeckte, 
geht  selbst  auf  die  media  über  und  ist  vielleicht  mit  in  Rechnung 
zu  zjehen  als  Ursache  der  Atherome  in  den  Gefassen.  Ist  nun  die 
Höhe  des  Fiebers,  der  Temperatur,  wie  nach  Liebermeister  bei 
Scharlach,  abhängig  vom  Grad  der  Leber  und  Nierenentzündung? 
Die  geführten  Tabellen  ergeben  für  die  später  gestorbenen  Kranken, 
sei  es  von  Pyaemie,  Pneumonie,  Tuberkulose,  ein  Mittel  der  Maxi- 
maltemperatur von  40,2  C,  der  Minimal  von  37,5  C,  ein  Maximum 
von  41,5  C. ;  die  nicht  tödtlich  abgelaufenen  hatten  40,4  Durch- 
schnittsmaximum, 37,3  Durchscbnittsminimum.  Ein  Fall  erreichte 
das  Maximum  von  41,6  C.  Sehr  hohe  Fiebertemperaturen  werden 
also  ohne  tödtiiche  Veränderungen  der  genannten  Organe  über- 
standen.  Jedenfalls  wird  durch  diese  Erkrankungen  tödtlicher  Aus- 
gang eher  erklärt  als  durch  seröse  Hirndurchtränkung,  die  wohl 
sekundär  der  Niurenerkraukung  folgt.  Die  Uebertragungsversuche 
haben  bisher  kein  positives  Resultat  gegeben.  Kaninchen ,  denen 
man  kranke  Haut  unter  ihre  Haut  brachte,  bekamen  Fieber,  Nieren 
und  Leberentzündnng  und  starben,  aber  Rose  bekamen  sie  nicht. 
In  der  Praxis  stimmten  mehrere  Fälle  für  die  Kontagiosität.  Zur 
Kritik  des  Vorkommens  im  Spital  wurde  eine  Tabelle  gemacht  auf 
die  der  Krankenstand,  die  eiternden  Wunden  und  die  Rosenfalle 
eingetragen  wurden.  Eine  Relation  der  Zahlen  ergab  sich  für  1865 
nicht,  bei  abnehmender  Zahl  der  Patienten  und  eiternden  Wunden 
hatte  die  Rose  ihr  Maximum ;  ebensowenig  stimmte  dio  Zahl  der 
Erysipele  zu  der  der  Phlegmone.  Auch  für  1866  blieben,  besonders 
wenn  man  dio  Auhäufung  von  zum  Wunderysipel  geneigten  Fälle 
in  Rechnung  bringt,  Abweichungen  genug  um  die  Maxima  nicht 
von  einander  abhängig  erscheinen  zu  lassen.  Der  Vergleich  mit 
der  Verbreitung  ausserhalb  des  Spitals,  sowohl  in  Heidelberg  als 
weiter  im  Lande  und  den  Nachbarländern  ergiebt,  dass  die  Spital- 
rosen mit  denen  der  Umgebung  zusammenfallen,  und  dass  eine 
merkliche  Uebereinstimmung  des  Vorkommens  der  Rose  in  weitem 
Kreise  herrscht.  Es  handelt  sich  also  bei  dor  Rose  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  um  eine  epidemische  Affektion,  bei  deren  Zu- 
nahme die  auffallende  Zunahme  der  Diphtheritis  sowohl  als  Angina 
wie  als  Hospitalbrand  in  Vergleich  genommen  werden  mag.  Die 
Therapie  der  Rose  hat  örtlich  nur  dio  Jodtinctur,  innerlich  das 
Chinin  als  förderlich  erwiesen. 


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Verhandlungen  des  naturhistorisch-medizinischen  Vereins.  883 


8.  Vortrag  des  Herrn  Geheimrath  Helmholtz:  »Ueber 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Reizung  in  den 
Nerven«,  am  17.  Mai  1867,  (bereits  am  29.  April  in  die  Sitzungs- 
berichte der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften 

aufgenommen.) 

Die  bisher  über  die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Reizung 
in  den  menschlichen  Nerven  angestellten  Versuche  beziehen  sich 
auf  die  sensiblen  Nerven,  und  leiden  an  dem  grossen  Uebelstande, 
dass  ein  Tbeil  der  dabei  gemessenen  Zeit  von  psychischen  Proces- 
sen abhängt.  Es  wurde  dabei  nämlich  immer  die  Zeit  gemessen, 
welche  nach  der  Erregung  eines  sensiblen  Nerven  vergeht,  bis  der 
Inhaber  dieser  Nerven,  der  die  Erregung  empfindet,  in  Folge  da- 
von eine  willktihrliche  Bewegung  eines  Muskels  eintreten  lassen 
kann.  Die  Uebertragung  der  Reizung  von  den  sensiblen  auf  die 
motorischen  Nerven  geschieht  also  hierbei  durch  einen  Willensact 
des  Experimentirenden,  bei  recht  gespannter  Aufmerksamkeit  aller- 
dings ziemlich  regelmässig  in  etwa  dem  zehnten  Thei)  einer  Secunde, 
aber  doch  immerhin  nicht  regelmässig  genug,  dass  nicht  die  klei- 
nen, verschieden  langer  Nervenleitung  entsprechenden  Zeitdifferenzen 
bei  verschiedenen  Beobachtern  und  auch  bei  demselben  Beobachter 
zu  verschiedenen  Zeiten  ziemlich  erhebliche  Abweichungen  zeigten. 
Meine  eigenen  ersten  Beobachtungen  vom  Jahre  1850  hatten  mir 
für  die  Leitung  in  den  Armen  eine  Geschwindigkeit  von  61,0  +  5,1 
Meter  für  die  Secunde  ergeben ,  für  die  Beine  62,1  +  6,7  Meter. 
Spätere  Fortsetzungen  dieser  Versuchsreihen  ergaben  mir  immer 
wieder  ähnliche  Zeitdifferenzen,  nur  bei  zweien,  wo  ich  statt  mit 
der  Hand  den  Strom  mittels  der  Zähne  geöffnet  hatte,  um  eine 
grossere  Sicherheit  der  Action  zu  erreichen,  erhielt  ich  Zahlen,  die 
mit  den  später  von  dem  Astronomen  Herrn  A.  Hirsch  gefunde- 
nen besser  übereinstimmen.*)  Letzterer  Beobachter  faud  dagegen 
eine  Geschwindigkeit  von  84  Meter,  Herr  Dr.  Schelske  29,6 
Meter,  Herr  F.  0.  Donders  26,09  Meter,  Herr  F.  Kohlrausoh 
wieder  Werthe,  die  bis  zu  94  Meter  stiegen. 

Unter  diesen  Umständen  schien  es  mir  wünschenswerth  einen 
älteren  Versuchsplan,  bei  dessen  Ausfuhrung  ich  früher  gescheitert 
war,  wieder  aufzunehmen,  und  nach  der  für  die  motorisohen  Ner- 


*)  Ein  Rechenfehler,  Auslassung  des  Factor  2,  den  ich  anfangs  den 
Beobachtungen  von  Hirsch  gegenüber  selbst  vermuthete,  ist  bei  jenen  Be- 
obachtungen nicht  gemacht  worden,  wie  auch  die  Nebeneinanderstellung 
der  unmittelbar  beobachteten  Zeiten  zeigt.    Es  brauchte  die  Uebertragung 

von  Hand  zu  Hand,      von  Gesicht  zu  Hand. 

1.  Bei  mir,  altere  Versuchsreihe    0",lä&24  0",12040 

2.  Bei  mir,  spatere  Versuchsreihe  j  {p^IJS  j  0",  1 1820 

8.  Bei  Herrn  Guillaum  e  (Beob- 
achter Hirsch)  0",1424  O",1110. 


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884        Verhandlungen  des  naturhiatoriBch-medizlnlüchen  Vereins. 


yen  des  Frosches  so  sehr  geeigneten  Methode  auch  am  Menschen 
Versuche  anzustellen.  Wenn  man  einen  menschlichen  Bewegungs- 
nerven an  zwei  verschiedenen  Stellen  seines  Verlaufes  erregt,  und 
die  dadurch  ausgelösten  Zuckungen  am  Myographien  aufschreiben 
lässt,  so  lässt  der  horizontale  Abstand  der  beiden  Zuckungscnrven 
von  einander  den  Zeitunterschied  wegen  der  Fortpflanzung  im  Ner- 
ven erkennen.  Eiue  erste  Schwierigkeit  für  die  Uebertragung  die- 
ser Versuchsmethode  auf  den  Menschen  liegt  aber  in  dem  Um- 
stände, dass  jede  Reizung  eines  Nervenstamms  an  einem  höheren 
Punkte  mehr  Muskeln  in  Bewegung  setzt,  als  die  an  einem  tiefe- 
ren Punkte,  und  deshalb  auch  andere  Bewegungsformen  der  Glie- 
der zu  Stande  kommen.  Indessen  versprach  die  von  Marey  an- 
gewendete Methode,  die  Anschwellung  der  Daumenballenrauskeln 
bei  ihrer  Zuckung  aufschreiben  zu  lassen,  die  Schwierigkeit  zu  be- 
seitigen, und  ich  forderte  deshalb  Herrn  N.  Baxt  auf,  zu  ver- 
suchen, ob  auf  diesem  Wege  das  Ziel  zu  erreichen  sei. 

Es  geschah  das  schliesslich  nach  vielen  vergeblichen  Versuchen 
folgendermaassen :  Der  Experimentirende  (d.  h.  derjenige,  dessen 
Nerven  gereizt  wurden  ;  denjenigen,  welcher  am  Myographion  operirt, 
werde  ich  den  Beobachter  nennen)  umfasst  mit  seiner  rechten  Hand 
in  Supinationsstellung  einen  kurzen  Holzcylinder,  der  in  etwa  drei 
Zoll  Entfernung  Uber  einem  horizontalen  Brette  festgelegt  ist.  Der 
Ellenbogen  wird  auf  das  Brett  gestützt.  In  dieser  Lage  wird  der 
Vorderarm  mit  Gyps  umgössen ,  so  dass  eine  aus  drei  Stücken, 
einem  unteren  und  zwei  oberen,  bestehende  Gypsform  für  den  Arm 
gebildet  wird.  Das  untere  Stück  der  Form  umfasst  den  Ellen- 
bogen, die  Dorsalseite  des  Vorderarms  und  der  Hand ,  und  reicht 
bis  an  die  Enden  der  ersten  Fingerphalangen.  Von  den  beiden 
Deckelstücken  überdeckt  eines  die  Hand  und  den  von  ihr  umfass- 
ten  Holzcylinder  bis  zum  Handgelenk  hin.  Das  zweite  Deckelstück 
bedeckt  die  Volarseite  des  Vorderarms.  Zwischen  diesen  beiden 
letzteren  Stücken  bleibt  ein  Zwischenraum  von  zwei  Zoll  Länge 
dicht  Über  dem  Handgelenk,  in  welchem  man  das  untere  Paar  von 
Elektroden  anlegt,  und  zwar  auf  den  ulnaren  Rand  der  Sehne  des 
Flexor  carpi  radialis,  unter  welchem  die  Zweige  des  N.  medianus 
liegen,  die  zum  Daumenballen  gehen. 

Das  erste  Deckelstück  der  Gypsform  hat  ausserdem  gerade 
Über  dem  Daumenballen  eine  Oeffnung,  so  dass  die  Muskeln  dieses 
Theils  frei  liegen,  die  Knochen  der  Handwurzel  dagegen  und  das 
Köpfchen  des  Metacarpalknochens  des  Daumens  von  der  Form  über- 
deckt und  festgehalten  werden. 

So  sind  die  Knochen  des  Vorderarms  und  der  Hand  in  dieser 
Weise  vollständig  festgehalten  und  unbeweglich;  reizt  man  aber 
den  N.  medianus  entweder  dicht  über  dem  Handgelenk  an  der  ge- 
nannten Stelle,  oder  weiter  oben  am  Oberarm  neben  dem  M.  bieeps, 
so  sieht  man  die  Muskeln  des  Daumenballens  zucken  und  bei  der 
Zuckung  Bchwellen.    Auf  die  Mitte  dieser  Muskeln  wurde  nun  das 


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Verhandlungen  des  naturhiatorlBch-medizin Ischen  Vereins.  885 


Ende  eines  dünnen  Glasstabs  gestellt,  dessen  oberes  Ende  sich  von 
unten  gegen  einen  Stab  stemmte,  der  den  Schreibhebel  des  Myo- 
graphion  rückwärts  verlängerte.  Zuckten  die  Muskeln  des  Daumen- 
ballens, so  hoben  sie  den  Glasstab  und  drängten  den  Schreibhebel 
des  Myograpbion  nach  abwärts,  wobei  dieser  eine  Zuckungscnrve 
auf  den  rotirenden  Cylinder  schrieb.  Eine  passend  angebrachte 
Spiralfeder  hob  den  Schreibhebel  wieder  empor. 

Damit  die  zu  vergleichenden  Zuckungscurven  immer  genau  von 
gleicher  Grundlinie  ausgehen,  und  die  Gleicbmässigkeit  des  Muskel- 
tonus vor  der  Zuckung  constatirt  wird,  diente  der  erwähnte  Stab 
am  Schreibhebel.  Derselbe  war  etwa  IV2  Fuss  lang,  und  trug  an 
seinem  Ende  eine  Nadelspitze,  welche  sich  dicht  vor  einer  Milli- 
metertheilung  bewegte.  Der  Experimentirende  hatte  darauf  zusehen, 
dass  die  Nadel  vor  jeder  Zuckung  immer  auf  denselben  Punkt  der 
Theilung  zeigte. 

Uebrigens  war  das  Verfahren  wie  bei  den  entsprechenden  Ver- 
suchen an  den  motorischen  Nerven  des  Frosches.  Das  Myographion, 
wenn  es  die  normale  Umlaufszeit  erlangt  hatte,  unterbrach  den 
primären  Strom  eines  Inductionsapparates ,  der  inducirte  Strom 
wurde  dem  N.  medianus  zugeleitet,  und  zwar  bald  am  Handgelenk, 
bald  am  Oberarm  neben  dem  unteren  Ende  des  M.  coracobrachialis. 
Zwei  solche  von  den  beiden  verschiedenen  Nervenstellen  her  aus- 
gelöste Zuckungen  wurden  bo  auf  den  Cylinder  geschrieben,  dass  sie 
von  gleicher  Grundlinie  ausgingen,  und  dass  der  dem  Augenblick  der 
Reizung  entsprechende  Punkt  in  beiden  derselbe  war.  Hatten  die 
Curven  gleiche  Höhe  und  congruente  Form,  so  entsprach  die  hori- 
zontale Differenz  ihrer  Stellung  dem  Zeitunterschiede  wegen  der 
Nervenleituug. 

Bei  den  Fröschen  ist  es  verhältnissmässig  leicht,  Zuckungs- 
curven von  congruenter  Gestalt  zu  erlangen ,  indem  man  die  elek- 
trischen Schläge  so  stark  macht ,  dass  man  von  beiden  Nerven- 
stellen aus  das  Maximum  der  Zuckung  erhält.  Beim  menschlichen 
Arme  stellte  sich  dagegen  heraus,  dass  das  Maxiraum  der  Zuckung 
bei  momentaner  Reizung  des  Nerven  desto  grösser  ausfallt,  je  höher 
oben  der  Nerv  gereizt  wird. 

Es  ist  dies  ein  wichtiger  Umstand,  weil  er  zeigt,  dass  mo- 
mentane Reizungen  der  motorischen  Nerven  des  Men- 
schen sich  nicht  in  vollständig  unveränderlicher 
Form  durch  längere  Nerven  strecken  fortpflanzen. 
Schon  Pflüger  hat  nachgewiesen,  dass  die  von  den  Muskeln  ent- 
fernteren Theile  der  Nerven  schwächere  Reizungen  erfordern,  um 
schwache  Zuckungen  zu  erzeugen.  Dasselbe  zeigte  sich  auch  bei 
diesen  Versuchen  am  menschlichen  Arme ;  trotzdem  im  Allgemeinen 
die  Nervenstämme  desselben  höher  oben,  zwischen  dickere  Muskeln 
verpackt,  viel  ungünstiger  für  die  elektrische  Reizung  liegen,  waren 
schwächere  Schläge  erforderlich  zur  Erregung  der  Muskeln  des 
Daumonballens,  je  höher  oben  die  Reizung  ausgeführt  wnrde. 


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886 


Verhandlungen  dea  nÄturhlatorisch-medizlnißchen  Vereins. 


Unter  diesen  Umständen  müssen  die  Bedingungen,  unter  denen 
von  einer  Portpflanzungsgeschwindigkeit  die  Rede  sein  kann,  enger 
begrenzt  werden.  Wir  haben  die  Versuche  so  ausgeführt,  dasa  der 
elektrische  Schlag  für  die  obere  Stelle  des  Nerven  so  weit  abgeschwächt 
wurde,  bis  die  von  ihm  erregte  Zuckung  dieselbe  Stärke  und  Höhe 
erhielt,  wie  das  Zuckungsmaximum  von  der  unteren  Stelle  aus  er- 
regt. Wir  hatten  dann  also  zwei  momentaue  Erregungen  des  Ner- 
ven, welche  gleiche  mechanische  Wirkungen  nach  aussen  hervor- 
brachten, und  da  der  Muskel  in  beiden  Fällen  gleich  arbeitete, 
waren  wir  sicher,  dass  die  Verzögerung  der  Wirkung  bei  Reizung 
der  oberen  Stelle  nur  der  Leitung  im  Nerven  angehörte. 

Da  es  nicht  immer  gelang,  die  Stärke  der  Reizung  für  die 
obere  Stelle  so  zu  treffen,  dass  die  entsprechende  Zuckungscnrve 
genau  gleich  hooh  mit  der  für  die  untere  Nervenstello  wurde,  so 
wurde  aus  längeren  Versuchsreihen ,  die  unter  übrigens  gleichen 
Umständen  angestellt  waren,  eine  Interpolationsformel  berechnet 
von  der  Form. 

D  =  A-f  Bd 

worin  D  das  Mittel  der  HorizontalabstUnde  eines  einzelnen  Curven- 
paars  bezeichnet,  dieselben  in  verschiedenen  Hohen  über  der  Grund- 
linie gemessen,  Ö  dagegen  den  Höhenunterschied  der  beiden  Zuck- 
ungen, A  und  B  zwei  empirisch  zu  bestimmende  Constanten,  die 
nach  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  aus  sämmtlicbeu  Ourven- 
paaren einer  Versuchsreihe  bestimmt  wurden.  Die  Constante  A  ist 
der  gesuchte  mittlere  Horizontalabstand  der  Curven. 

Um  den  Grad  der  Uebereinstimmung  der  Versuche  zu  zeigen, 
setze  ich  die  Resultate  einer  Reihe  von  Versnoben  hierher ,  wobei 
Herr  Studiosus  F.  als  Experimentirender ,  Herr  Baxt  als  Beob- 
achter fungirte;  h0  ist  die  Zuckungshöhe  von  der  unteren,  h4  die 
von  der  oberen  Nervenstelle,  das  obige  d  =  b0  —  h,.  Unter  Differenz 
sind  in  der  letzten  Columne  die  Unterschiede  der  beobachteten  und 
der  aus  der  Interpolationsformel  berechneten  Werthe  angegeben. 


D 

b0 

b, 

A  +  Bd 

Differenz 

1 

6,9875 

12,725 
13,025 

11,95 

6,8409 

-0,0966 

a 

6,65 

12,475 

6,6797 

0,0297 

3 

5,966 

9,45 

9,5 
9,15 

6,2704 

0,3044 

4 

5,566 

9,1 

6,2687 

0,7027 

5 

6,195 

17,6 

17,8 

6,2186 

0,0236 

6 

6,27 

10,5 

10,9 

5,9885 

-0,2815 

7 

6,06 

10,25 
17,325 

10,65 

5,9798 

-0,0802 

8 

6,7 

18,075 

5,9436 

-  0,7564 

9 

5,925 

9,7 

10,15 

5,9169 

—  0,0081 

10 

6,0875 

11,575 

12,125 

5,9066 

-0,1809 

11 

6,6166 

9,8 

10,5 

5,7006 

—0,9160 

12 

4,2 

10,25 

11,15 

5,5592 

+  1,2592. 

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Verhandlungen  des  naturhistorisch-medisiirischen  Vereins.  887 

A  =  6,3160  Millimeter.  B  =  8,6193.  Nervenlänge  =  400  Mil- 
limeter. 

Aus  dem  Werthe  von  A  ergibt  sich  als  mittlerer  Werth  der 
Fortpflanzungsgeschwindigkeit  für  diese  Reihe. 

31,5389  Meter  per  Seen  n  de. 

Eine  andere  vorher  ausgeführte  Versuchsreihe  von  1 5  Curven- 
paaren,  wobei  Herr  Baxt  Experimentirender ,  ich  selbst  Beobach- 
ter war,  und  wobei  der  Schreibhebel  vor  der  Zuckung  einen  festen 
Anschlag  gehabt  hatte,  statt  in  seiner  Stellung  durch  den  langen 
Hebel  controlirt  zu  sein,  hatte  bei  44  Centimeter  Nervenlänge 
ergeben. 

33,395  Meter. 

Eine  dritte  Reihe  von  10  Curvenpaaren ,  wo  ebenfalls  Herr 
Baxt  Experimentirender,  ich  selbst  Beobachter  war,  die  Anord- 
nung des  Apparats  übrigens  wie  bei  der  ersten  Reihe,  ergab 

37,4927  Meter. 

Der  Mittelwerth  aus  allen  diesen  Bestimmungen  würde  sein 

33,9005  Meter 

sehr  nahe  übereinstimmend  mit  dem  von  Herrn  A.  Hirsoh  er- 
haltenen Resultate. 

Nach  der  oben  gegebenen  Interpolationsformel  treten  schwä- 
chere Zuckungen  von  der  oberen  Nervenstelle  später  ein,  als  stär- 
kere; es  scheint  dies  nicht  blos  eine  Folge  der  grösseren  Steilheit 
der  höheren  Zuckungscurven  zu  sein,  sondern  schwächere  Zuckun- 
gen von  der  oberen  Nervenstelle  erregt,  lösen  sich  auch  merklich 
später  von  der  Grundlinie  ab,  als  stärkere  Zuckungen,  während 
dies  bei  den  von  der  uuteren  Nervenstelle  erregten  Zuckungen  nicht 
in  gleichem  Maasse  der  Fall  ist.  Daraus  scheint  zu  folgen,  dass 
schwächere  Reizungen  sich  im  Nerven  langsamer  fortpflanzen,  als 
stärkere.  Versuchsreihen,  bei  denen  absichtlich  schwächere  Zuck- 
ungen von  beiden  Nervenstellen  aus  hervorgerufen  wurden,  haben 
noch  keine  hinreichende  Zahl  guter  Resultate  ergeben. 

Eine  andere  Versuchsreihe,  wobei  die  obere  gereizte  Stelle 
dicht  über  dem  Ellenbogen  lag,  schien  eine  etwas  schnellere  Fort- 
pflanzung der  Reizung  in  den  Nerven  des  Vorderarms  zu  ergeben, 
den  Angaben  von  H.  Münk  für  Froschnerven  entsprechend ;  doch 
war  der  Unterschied  zu  klein,  um  ihn  bei  der  nicht  sehr  grossen 
Zahl  gelungener  Versuche  schon  als  sicher  zu  betrachten. 

Die  Abreise  des  Herrn  Baxt  und  die  Notwendigkeit,  die 
Apparate  den  Versuchen  besser  anzupassen,  hat  für  den  Augen- 
blick die  Versuche  unterbrochen. 


4.  Vortrag  des  Herr  n  Professor  N.  Friedreich:  »TJeber 
Beobachtungen  an  rothen  Blutkörperchen«, 

am  31.  Mai  1867. 

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8E8 


Verhandlungen  des  naturhistorlBch-medizinischen  Vereins. 


5.  Vorstellung  eines  Kranken  mit  Knocbenhyperpla- 

sie  durch  Herrn  Professor  N.  Friedreich 

am  31.  Mai  1867. 

6.  Vortrag  des  Herrn  Professor  0.  Weber:  >Ueber 
Impfung  mit  Kuhpockenlymphe«,  am  31.  Mai  1867. 

7.  Vortrag  des  Herrn  Pr  of  e  s  s  o  r  H  of  m  e  i  s  t  er :  »Ueber 
die  Entstehungsfolge  seitlicher  Spro  ssun  gen  «, 

am  U.  und  28.  Juni  1867. 

8.  Vortrag  des  Herrn  Dr.  Heine:  »Ueber  die  Winkel- 
stellung bei  Colitis  und  ein  neues  Coxanky  1  o  m  e  ter«, 

am  28.  Juni  1867. 

(Das  Manuscript  wurde  am  29.  November  1867  eingereicht.) 

Unter  vollständiger  Verkennung  der  allein  maassgebenden  Ver- 
hältnisse hat  man  in  früherer  Zeit  (und  es  geschieht  diess  auch 
jetzt  noch  von  manchen  Seiten)  die  Verkürzung  oder  Verlängerung 
eines  Beines,  die  seitliche  Beckenerhebnng  oder  Beckensenkung, 
oder  eine  (Ulschlich  vermuthete  spontane  Luxation  des  Oberschen- 
kels der  Beurtheilung  einer  Hüftgelenksankylose  als  Maassstab  zu 
Grunde  gelegt.  Die  verstecktere  Lage  des  Hüftgelenks  und  vor 
Allem  der  complicirtere  Mechanismus  desselben  als  Kugelgelenk 
verhinderten  es,  dass  man  hier  dieselbe  Frage  sich  stellte,  wie  bei 
dem  leicht  zugänglichen  nach  Art  eines  Charniers  beweglichen  Knie- 
gelenke, nämlich  die  Frage  nach  dem  Winkel,  in  welchem  der 
Oberschenkel  fehlerhafter  Weise  gegen  das  Hüftbein  fixirt  ist,  wäh- 
rend doch  dieser  Winkel,  oder  richtiger  die  Bestrebungen  des  Kran- 
ken, denselben  beim  Gehen  und  Liegen  in  eine  für  diese  Zwecke 
vortheilhaftere  Lage  zu  bringen,  die  sekundäre  Beckenschiefstellung 
und  relative  Verkürzung  oder  Verlängerung  des  Beins  erst  bedingt. 
Von  diesem  relativen  Längenuuterschiede  der  Beine,  von  welchem 
mit  gleichem  Rechte  bei  einer  Kniegelenksankylose  die  Rede  sein 
kann,  sind  wohl  zu  unterscheiden  wahre  Verkürzungen  oder  Ver- 
längerungen, welche  in  anatomischen  Veränderungen  der  knöcher- 
nen Gelenktheile  durch  kariöse  Zerstörung,  einer  Erweiterung  der 
Pfanne  (gewöhnlich  nach  Oben  und  Hinton  oder  nach  Unten  und 
Vorn)  und  einem  Schwunde  des  Kopfes  bestehen,  und  die  aus  einer 
Annäherung  oderEntfernung  des  Trochanters  zu  oder  von  einem  Punku 
der  Crista  ilei  unter  Berücksichtigung  der  gleichzeitigen  Winkel- 
stellung erschlossen  werden.  Diese  Alterationen  der  Formverhält- 
nisse der  Gelenktheile  sind  aber  als  Ursachen  von  Längendifleren- 
zen  besonders  in  den  ersten  Stadien  und  bei  geringem  Graden  von 
Hüftgelenksentzündung  von  ganz  untergeordneter  Bedeutung  gegen- 
über dem  Antheil,  welchen  der  zwischen  Hüftbein  und  Oberschenkel 
bestehende  Winkel  an  der  Stellungsanomalie  hat.  Die  Messung  die- 


Verhandlungen  dea  rfthirhietorlsch-medteinischen  Vereins  889 

868  Winkels  ist  daher  auch  allein  im  Stande,  aller  Verwirrung  im 
Kapitel  der  Hüftgelenksankylose  ein  Ende  zu  machen.  Nur  freilich 
darf  man  diesen  Winkel  nicht  auf  die  gleiche  Weise  wie  bei  einem 
Charniergelenke  messen  wollen,  wie  es  bisher  stets  geschehen.  Das 
Hüftgelenk  gestattet  Bewegungen  um  drei  Axen,  eine  horizontale,  um 
welche  Flexion  und  Extension,  eine  sagittale  (von  Vom  nach  Hinten 
verlaufende),  um  welche  Adduktion  und  Abduktion  und  eine  vertikale, 
um  welche  Auswärtsrotation  und  Einwärtsrotation  erfolgt.  Aus 
Winkelstellungen  nach  diesen  drei  Richtungen,  die  also  in  drei 
versch4edenen  Ebenen  zu  Stande  kommen,  setzt  sich  die  jeweilige 
Stellung  des  Oberschenkel  zum  Becken  bei  Coxitis  zusammen.  In 
diese  drei  Componenten  muss  daher  auch  der  Hüftgelenkswinkel 
jedesmal  zerlegt  werden.  Die  seitliche  Beckenverschiebung  ist  nur 
dann  der  getreue  Ausdruck  des  Adduktions  oder  Abduktionswinkels, 
wenn  ein  vollständiger  Parallelisraus  der  Beine  sich  herstellen  lässt ; 
unter  der  gleichen  Voraussetzung  entspricht  die  Vorwärtsneigung 
des  Beckens  dem  Flexions-  und  die  Rotation  desselben  dem  Ro- 
tationswinkel des  Oberschenkels.  Es  lässt  sich  dieses  durchaus 
folgerichtige  Verhältniss  sehr  einfach  an  einem  mit  dem  femur 
durch  Kantschnkbänder  verbundenen  Becken ,  welches  beliebige 
Winkelstellungen  gestattet,  demonstriren  (wie  von  dem  Redner  ge- 
schieht). Am  besten  ist  es  nun  bei  der  Vornahme  der  Messung 
von  der  Normalstellung  des  Beckens  unter  Berücksichtigung  der 
physiologischen  Lordose  der  Lendenwirbelsäule  auszugehen ,  indem 
man  das  ankylosirte  Bein  soweit  flektirt,  abducirt,  rotirt,  bis  beide 
Spinae  antt.  supp.  in  jeder  Beziehung  gleichstehen.  Dann  legt  man 
seinen  Massstab  an,  aber  nicht  wie  Roser,  Volkmann  etc.  einen 
solchen,  mit  dem  man  nur  den  Adduktions-  oder  Abduktionswinkel 
misst,  sondorn  einen  solchen,  welcher  dem  Hüftgelenke  (als  Kugel- 
gelenkl  nachgebildet  ist  Ich  habe  dazu  einen  nach  dem  Principe 
eines  Universalgelenkes  verbundenen  Massstab  konstruiren  lassen, 
der  allein  den  Namen  eines  Coxankylometers  verdient.  Derselbe 
besteht  aus  einem  kürzeren  platten,  stählernen  und  einem  längeren 
(aus  drei  Stücken  zusammenschraubbaren)  runden,  messingenen 
Arme,  welche  beide  mittelst  dreier  in  einander  geschalteter  halb- 
kreisförmiger Messingbögen  verbunden  sind.  Zwischen  äusserem  und 
mittlerem  Bogen  findet  Flexion  und  Extension,  zwischen  mittlerem 
und  innerem  Adduktion  und  Abduktion  statt;  die  Bögen  sind  an 
ihrer  konvexen  Seite  in  Grade  eingetheilt  und  ermöglichen  so  die 
unmittelbare  Ablesung  des  gefundenen  Winkels.  Der  an  die  Aussen- 
seite  des  Oberschenkels  angelegte  vertikale  Arm  lässt  sich  zugleich 
um  seine  eigene  Axe  drehen  und  zeigt  mittelst  eines  Zeigers  auf 
einem  zu  den  obigen  Bögen  rechtwinklig  stehenden  Kreisbogen  den 
Drehungswinkel  an.  Auf  diesem  vertikalen  Arm  kann  ein  recht- 
winklig aufgesetztes  Fussstück  auf-  und  abbewegt  werden,  das  der 
Richtung  des  Fusses  parallel  gestellt  wird.  Der  platte,  mit  einem 
kleinen  Quergriff  versehene  horizontale  Arm  kommt  Lei  der  Vor- 

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890         Verhandlungen  des  n&tnrhistorisch-mrdkiniBchen  Verein*. 


nähme  der  Messung  unter  das  Becken  zu  liegen ,  so  dass  er  die 
Spitzen  der  beiden  Trochanteren  rechtwinklig  schneidet.  Wird  jetzt 
der  absteigende  Arm  dem  in  die  Höhe  gehobenen  kranken  Beine 
von  Aussen  angelegt ,  so  gibt  derselbe  zu  gleicher  Zeit  winklige 
Abweichungen  in  den  drei  oben  genannten  Richtungen  genau  auf 
den  Grad  hin  an. 

In  den  Fällen  von  Hüftgelenksankylosen,  in  welchen  das  bri- 
sement  force"  zur  Correktur  der  Winkelstellung  vorgenommen  wird, 
lässt  sich  das  durch  die  Streckung  gewonnene  Resultat  nach  der- 
selben aus  den  noch  zurückbleibenden  Winkeln  berechnen. 

Schliesslich  erübrigt  noch,  auf  den  grossen  praktischen  "Werth 
des  von  dein  Vortragenden  schon  früher  in  seinem  Buche  über 
>Schu88 Verletzungen  der  unteren  Extremitäten«  vorgeschlagenen 
Hüftgelenk-Gypsverbandes  mit  Gypsbecken  und  doppelter  Gypsspica 
behufs  Sicherung  der  erzielten  Stellungsverbesserung  bei  Hüftge- 
lenksankylosen hinzuweisen,  welcher  auf  der  hiesigen  chirurgischen 
Klinik  bereits  durch  eine  Reihe  der  schönsten  Erfolge  sich  be- 
währt hat. 


9.  Vortrag  des  Herrn  Dr.  Knauff:   »Ueber  einen  Fall 

von  Anthrakose  der  Milz«,  am  12.  Juli  1867, 

10.  Vortrag  des  Herrn  Prof.  Knapp:    »Ueber  Mark- 

schwamm des  Auges«,  am  12.  Juli  1867. 

11.  Vorstellung  einer  Patientin  mit  Blepharoplastik 
durch  Herrn  Professor  Knapp,  am  12.  Juli  1867. 

12.  Vortrag  des  Herrn  Professor  E  rlenmeyer:  >Ueber 
die  Umwandlung  des  a  m  eisen  sauren  Natrons  in 

oxalsaures«,  am  26.  Juli  1867. 

(Das  Manuscrlpt  wurde  am  28.  September  eingereicht). 

Es  wurde  bisher  ziemlich  allgemein  angenommen ,  ameisen- 
saures Salz  verwandle  sich  beim  Erhitzen  mit  Kalihydrat 
in  oxal saures  Salz,  es  bleibe  dagegen  beim  Erhitzen  mit  Kalikalk- 
hydrat unverändert. 

Diese  Annahmen  gründen  sich  auf  Mittheilungen  von  Peligot 
einerseits  (Ann.  chim.  phys.  73  (1840)  220  und  von  Dumas  und 
Stas  anderseits  ibid.  122  u.  128. 

Peligot  giebt  an,  dass  ameisensaures  Kali,  mit  einem  Ueber- 
schuss  von  Alkali  erhitzt  bei  massiger  Temperatur  unter  Wasser- 
stoffentwicklung in  oxalsaures  Salz  verwandelt  werde,  dass  letzteres 
selbst  aber  beim  Erhitzen  mit  Alkalihydrat  übergehe  in  kohlen- 
saures Salz. 

Dumas  und  Stas  geben  an: 


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Verhandlungen  des  nnturhl«torisch-medizinischen  Vereins. 


891 


1)  Dass  beim  Erhitzen  von  Methylalkohol  mit  Kalikalkhydrat 
unter  Wasserstoffentwicklung  eine  Salzmasse  entsteht,  die  bei  der 
Uebersättigung  mit  Schwefelsäure  und  nachfolgendem  Destilliren 
eine  Ameisensaure  enthaltende  Flüssigkeit  liefert. 

2)  Dass  bei  Anwendung  von  Kalibydrat  statt  des  Kalikalk- 
hydrats ein  noch  reineres  Wasserstoffgas  erhalten  wird,  die  Bildung 
desselben  beruhe  aber  auf  einer  complicirten  Reaction ;  denn  der 
Rückstand  enthalte,  wie  eine  genauere  Prüfung  ergeben  habe,  oxal- 
saures  Kali  in  Menge.  Sie  verweisen  dann  auf  die  Reaction  von 
Peligot  und  erwähnen ,  dass  sie  ein  Gemenge  von  ameisensaurem 
Salz  mit  Barythydrat  (Mengenverhältnisse  sind  nicht  angegeben) 
erhitzt  haben.  Es  bildete  sich  dabei  ohne  Schwärzung  der  Masse 
eine  grosse  Menge  Gas,  das  hauptsächlich  Wasserstoff  war,  dem 
sich  bei  einem  Versuch  etwas  Kohlenoxyd  beigemischt  fand.  Der 
Salzrückstand  scheint  in  diesem  Fall  gar  nicht  auf  oxalsaures  Salz 
untersucht  worden  zu  sein.  Sie  sagen  weiter:  Man  muss  hinzu- 
fügen, dass  sich  die  Reaction  hier  nicht  aufhält  und  dass  die  Oxal- 
säure weiter  zersetzt  werden  kann  unter  neuer  Wasserstoffentwick- 
lung. Sie  fanden,  dass  sich  beim  Erhitzen  von  oxalsaurem  Kali 
mit  Barythydrat  unter  Wasserstoffentwicklung  farbloses  kohlen- 
saures Salz  bildet. 

Zum  Scbluss  bemerken  sie,  es  sei  evident,  dass  man  die  Misch- 
ung von  Holzgeist  mit  dem  Alkali  weder  zu  rasch ,  noch  zu  stark 
erhitzen  dürfe ;  denn  statt  des  ameisensauren  Salzes  als  Rückstand 
würde  man  sonst  finden  oxalsaures  oder  kohlensaures,  statt  einer 
Quelle  von  Wasserstoff,  würden  drei  verschiedene  zur  Bildung  die- 
ses Gases  beitragen. 

Es  geht  aus  diesen  Angaben  hervor,  dass  Dumas  und  Stas  der 
Ansicht  waren,  das  Ka  Ii  hydrat  führe  das  araeisensaure  Salz  in 
oxalsaures  und  dieses  in  kohlensaures  über. 

Merkwürdigerweise  haben  sich  die  Chemiker  daran  gewöhnt, 
die  Reaction  des  Kalihydrats  auf  die  Salze  verschiedener  kohlen- 
stoffhaltigen Säuren  meistens  mit  vollständiger  Vernachlässigung 
des  Kalihydrats  auszudrücken.  So  findet  man  z.  B.  fast  immer 
die  folgende  Gleichung  zur  Erläuterung  der  Zersetzung  eines  essig- 
sauren Salzes  durch  Alkalihydrat  angegeben: 

02  H4  02  =  COa  +  CH4. 

Würde  man  diesen  letzteren  und  ähnliche  Prooesse  in  Glei- 
chungen schreiben,  die  den  Thatsacben  entsprechen,  nämlich : 

CaH3KO,  +  HOK  =  CH4  +  C03K2  oder 

H3C  —  COOK  +  HOK^H4C-f  00°* 

so  hätte  es  schon  längst  auffallen  müssen,  dass  bei  der  Ueberfüh- 
rung  des  ameisensauren  Salzes  in  oxalsaures  das  Kalihydrat  c hä- 
misch gar  nicht  mitwirken  kann,  denn  man  hat: 

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892 


Verhandlungen  des  natuhrMnriscn-rnedhrinischen  Vereins. 


COOK 

HCOOK  +  HCOOK[4(HOK)x]  =  H2+  |  [+(HOK)x] 

COOK 

dass  es  also  auch  voraussichtlich  ganz  überflüssig  ist. 

Ja  wenn  man  auf  der  einen  Seite  die  Zersetzung  des  essig- 
sauren Kali's  resp.  der  Salze  anderer  Säuren  von  der  Zusammen- 
setzung CnH2n02  durch  Kalihydrat  richtig  würdigt  und  anderer- 
seits daran  denkt,  dass,  wie  Peligot,  Dumas  und  Stas  gefunden 
haben,  oxalsaures  Salz  beim  Erhitzen  mit  Kalihydrat  wie  folgt  zer- 
setzt wird: 


so  muss  man  sogar  auf  den  Gedanken  geführt  werden,  dass  da* 
Kalihydrat  bei  der  üeberführung  von  ameisensaurem  in  oxalsaures 
Salz  nur  schädlich  wirken  kann. 

Denn  entweder  folgen  die  Salze  der  Ameisensäure  der  allge- 
meinen Regel,  welche  wir  für  die  Zersetzung  der  Salze  Ctt  C2n-i  K02 
durch  Kalihydrat  kennen  und  welche  durch  folgende  Gleichung  ver- 
sinnlicht  werden  kann: 


Es  wird  dann  aus  ameisensaurem  Salz  nicht  oxalsaures,  son- 
dern kohlensaures  Salz  und  Wasserstoff  gebildet: 


Oder  das  ameisensaure  Salz  macht  eine  Ausnahme  von  der 
Regel  und  wird  von  Kalihydrat  gar  nicht  angegriffen,  sondern  ohne 
die  Mitwirkung  von  Kalihydrat  in  Wasserstoff  und  oxalsaures  Sah 
umgesetzt:  auch  dann  wird  das  letztere  nicht  als  solches  besteben 
bleiben,  weil  es  ja  durch  Kalihydrat  nach  der  obigen  Gleichung 
weiter  zersetzt  wird.  In  beiden  Fällen  müsste  also  das  Endresultat 
kohlensaures  Salz  und  Wasserstoff  sein,  vorausgesetzt,  dass  gleiche 
Molekulargewichte  ameisensaures  Salz  und  Kalihydrat  zusammen- 
gebracht wurden  und  dieses  Gemisch  bis  zur  Beendigung  der  Gas- 
entwicklung erhitzt  wird. 

Nach  diesen  Erwägungen  schien  es  mir  von  höchstem  Interesse 
zu  sein,  experimentell  nachzuweisen,  1)  dass  ameisensaures  Sah 
beim  Erhitzen  für  sich  —  ohne  Zusatz  von  Kalihy  d  rat  - 
unter  Wasserstoffentwicklung  in  oxalsaures  Salz  übergeführt 
werden  könne ,  weil  dies  ein  sehr  schönes  Beispiel  der  einfachsten 
Erzeugung  eines  Dicarbonids  aus  einem  Monocarbonid  abgeben 
würde,  indem  ohne  die  Mitwirkung  eines  andern  Kör- 
pers  aus  zwei  gleich  zusammengesetzten  Molekülen  Mono- 
carbonid je  1  Atom  desselben  Elements  heraustritt,  und  die 
Reste  sich  mit  einander  verbinden  zu  1  Mol.  Dicarbonid. 


COOK    OKH  CO 

I        +  = 
COOK    OKH  CO 


OK 
OK 
OK 
OK 


+  I 
H 


H 


Cn  H2n_i  K02  -f  H  OK  =  C03  K2  +  Cn_i  H2n . 


CH  K02  -f  H  OK  =  C03  K2  -f  H2. 


Verhandhingen  des  naturhistorisch-medisinischen  Vereins.  808 


2)  Schien  es  mir  nothwendig  zu  sein,  den  Beweis  zu  liefern, 
dass  sich  das  ameisensaure  Salz  dem  Kalihydrat  gegenüber  ganz 
analog  verhalte,  wie  die  Salze  der  andern  Säuren  von  der  Zu- 
sammensetzung Cn  H2n  Oa  und  dass  in  Gegenwart  von  Kalibydrat 
kein  oxalsaures  sondern  nur  kohlensaures  Salz  gebildet  wird. 

Ich  stellte  zu  diesem  Behufe  in  Gemeinschaft  mit  Herrn  Dr. 
Gütschow  aus  St.  Petersburg  einige  Versuche  an,  die  ich  im  Fol- 
genden mittheilen  will. 

Wir  erhitzten  zunächst  ameisensaures  Natron  für  sich  ohne 
jeden  Zusatz  in  einer  mit  Gasleitungsrohr  versehenen  Retorte 
im  Asbestbad.  Das  geschmolzene  Salz  schäumte  auf  und  entwickelte 
chemisch  reines  Wasserstoffgas  in  einem  sohr  regelmässigen  Strome. 
Wir  setzten  die  Erhitzung  so  lauge  fort,  bis  sich  dem  Wasserstoff 
Kohlenoxyd  beimischte  und  Hessen  erkalten.  Die  rückständige 
Salzmasse  reagirte  alkalisch  von  kohlensaurem  Natron.  Ameisen- 
saures  Salz  liess  sich  nicht  mehr  nachweisen,  dagegen  fand  sich 
eine  beträchtliche  Menge  oxalsaures  Natron,  das  beim  Behandeln 
mit  Wasser  zum  grüssten  Theil  ungelöst  blieb.*) 

Trotzdem,  dass  durch  die  einfachsten  Ru  actio  neu  schon  die 
Gegenwart  von  oxalsaurem  Natron  festzustellen  war,  haben  wir 
doch  eine  Reihe  von  Analysen  sowohl  von  dem  Oxalsäuren  Natron 
selbst,  als  auch  von  daraus  gefälltem  oxalsaurem  Kalk  und  oxal- 
saurem Silber  ausgeführt,  wir  haben  Oxalsäuren  Aethyläther  dar- 
gestellt und  daraus  Oxamid  gebildet  etc.  um  jeden  Zweifel  zu  be- 
seitigen. 

Nachdem  diese  interessante  Thatsache  gewonnen  war,  schien 
es  uns  wichtig  zu  sein,  zu  ermitteln,  ob  Kalihydrat  in  der  That 
auf  ameisensaures  Salz  gar  nicht  einwirkt,  d.  h.  ob  dieses  letztere 
in  Gegenwart  von  Kalihydrat  ebenso  in  oxalsaures  Salz  übergeht, 
als  wenn  das  Kalihydrat  gar  nicht  vorhanden  wäre  oder  ob  sich  dieses 
gegen  ameisensaures  Salz  analog  verhält,  wie  gegen  essigsaures  Salz. 

Es  wurden  zunächst  gleiche  Molekulargewichte  Kalihydrat  und 
ameisensaures  Natron  in  derselben  Weise,  wie  früher  ameisen- 
saures  Natron  für  sich,  erhitzt.  Es  entwickelte  sich  reines  Wasser- 
stoffgas. Das  Erhitzen  wurde  so  lange  fortgesetzt,  bis  keine  Gas- 
entwicklung mehr  stattfand,  aber  es  war  dem  Wasserstoff  kein  Kohlen- 
oxyd beigemischt.  Der  Salzrückstand  enthielt  kein  ameisensaures 
Salz  mehr,  auch  keine  Spur  vou  oxalsaurem,  sondern  nur  kohlen- 
saures Salz. 

Es  war  denkbar,  dass  sich  zuerst  oxalsaures  Salz  gebildet 
hatte,  das  dann  durch  die  Einwirkung  des  Kalihydrats  nach  der 
oben  angegeben  Gleichung  in  Wasserstoff  und  kohlensaures  Salz 
umgewandelt  wurde. 

Desshalb  erhitzten  wir  jetzt  die  Mischung  aus  gleichen  Mole- 


*)  Der  erwähnte  Versuch  lässt  sich  so  leicht  und  in  so  kurser  Zeit 
ausführen,  dass  man  ihn  sehr  gut  als  Vorlesungsversnch  zeigen  kann. 


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894        Verhandlungen  des  naturhietorisch-medizinischen  Vereins 


kulargewichtcn  ameisensaurem  Natron  nnd  Kalihydrat  nur  halb  so 
lange,  wie  im  vorigen  Fall.  Es  traten  wieder  dieselben  Erschei- 
nungen auf,  aber  der  Salzrückstand  enthielt  jetzt  neben  kohlen- 
saurem Salz  unverändetes  ameisensaures ,  allein  keine  Spar  Oxal- 
säuren Salz. 

Zwei  den  oben  erwähnten  ganz  parallele  Versuche  mit  Natron- 
kalkhydrat  statt  Kalihydrat  ergaben  ganz  parallele  Resultate. 

Es  geht  hieraus  wohl  als  unzweifelhaft  hervor,  dass  sich  dem 
Kalihydrat  gegenüber  ameisensaures  Salz  ganz  analog  verhält,  wie 
essigsaures  Salz  und  zwar: 

HCOOK+HOK  =  HH  +  C()££ 

sowie,  dass  Natronkalkhydrat  in  der  gleichen  Weise  wirkt,  wie 
Kalihydrat. 

Jetzt  blieb  noch  die  Frage  zu  beantworten,  wie  sich  neben 
diesen  Resultaten  die  von  Peligot  einerseits  und  die  von  Dumas 
und  Stas  andererseits  angegebenen  erklären  lassen.  Bei  den  Ver- 
suchen dieser  Chemiker  hat  es  offenbar  in  den  Fällen,  wo  sie  oxal- 
saures  Salz  bekamen  an  Kalihydrat  gemangelt.  In  dem  Falle,  wo 
Dumas  und  Stas  aus  Methylalkohol  mit  Kalikalkhydrat  ameisen- 
saures Salz  erhielten,  ist  die  Reaction  nicht  zu  Ende  geführt  wor- 
den; denn  sonst  hätte  als  Endresultat  kohlensaures  oder  neben  die- 
sem oxalBaures  Salz  erhalten  werden  müssen,  vorausgesetzt,  dass 
kohlensaures  Salz  die  Bildung  von  oxalsaurem  aus  ameisensaurem 
nicht  hindert. 

Ein  Versuch,  wobei  zwei  Molekulargewichte  kohlensaures  Natron 
mit  einem  Molekulargewicht  ameisensaurem  Natron  erhitzt  wurden, 
zeigte,  dass  sich  anfangs  reines  Wasserstoffgas  entwickelt,  dem  sieh 
später  Kohlenoxyd  beimischt.  Unterbricht  man  in  diesem  Augen- 
blick die  Erhitzung,  so  findet  man  im  Salzrückstand  neben  kohlen- 
saurem Salz  nur  oxalsaures  aber  kein  ameisensaures  Salz  mehr. 

Zu  demselben  Resultat  gelangt  man,  wenn  man  ein  Gemisch 
von  1  Molekulargewicht  Kalihydrat  oder  Natronkalkhydrat 
mit  2  Molekulargewichten  ameisensaurem  Salz  erhitzt,  bis  sich 
Kohlenoxyd  zu  entwickeln  beginnt. 

Die  Angabe  von  Peligot  und  von  Dumas  und  Stas,  nach  wel- 
cher oxalsaures  Salz  durch  Kalihydrat  in  Wasserstoff  und  kohlen- 
saures 8alz  zersetzt  wird,  haben  wir  durch  den  Versuch  bestätigt 
gefunden. 

Da  in  der  Wirkung  des  Alkalihydrats  auf  den  Methylalkohol 
eine  Aufeinanderfolge  von  2  Reactionen  zu  beobachten  ist,  inso- 
fern sich  zuerst  ameisensaures  Salz  bildet,  so  hielten  wir  es  fflr 
möglich,  dass  das  oxalsaure  Salz  durch  Kalihydrat  zuerst  in  amei- 
sensaures und  kohlensaures  Salz  und  das  erstere  dann  weiter  in 
kohlensaures  Salz  und  Wasserstoff  zerlegt  werde.  Die  folgende 
Gleichung  möge  den  ersten  Process  versinnlichen: 


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Verhandlungen  des  nahirhistoriich-medlzinlsehen  Vereine.  895 


COOK    „       hcook   ,  mOK 

I        +OK==  +CÜOK 
CO  OK 

Wir  erhitzten  1  Molekulargewicht  Kalihydrat  mit  1  Moleku- 
largewicht oxalsaurem  Salz,  bis  die  Wasserstoffentwicklung  lebhaft 
geworden  war  und  untersuchten  den  Salzrückstand.  Er  enthielt 
oxalsaures  und  kohlensaures  Salz,  aber  kein  ameisensaures.  Ent- 
weder wirken  also  hier  gleich  zwei  Moleküle  Kalihydrat  auf  1  Mol. 
oxalsaures  Salz  oder,  das  durch  1  Mol.  Kalihydrat  auf  1  Mol.  oxal- 
saures  Salz  hervorgebrachte  Mol.  ameisensaures  Salz  wird  sofort 
durch  ein  zweites  Molekül  Kalihydrat  weiter  zersetzt. 


13.    Vortrag  des  Herrn  Dr.  Erb:    >Ueber  elektroto- 
nische  Erscheinungen  am  lebenden  Menschen«, 

am  26.  Juli  1867. 

(Das  Manuskript  wurde  am  15.  November  eingereicht.) 

Anknüpfend  an  Versuche,  die  ich  an  einer  andern  Stelle  schon 
veröffentlicht  habe  (Deutsch.  Archiv  t.  klinische  Medicin.  Band  III. 
S.  271)  habe  ich  die  electrotonischen  Erscheinungen  am  lebenden 
Menschen  einer  wiederholten  Prüfung  unterzogen,  zunächst  desa- 
balb,  weil  A.  Eulenburg  bei  ähnlichen  Versuchen  (Deutsch. 
Archiv  für  klin.  Med.  ßd.  III.  p.  117  ff.)  zu  gerade  entgegenge- 
setzten Resultaten  gekommen  war,  wie  ich.  Eulenburg  hatte  in 
Uebereinstimmung  mit  den  Pf  lüger 'sehen  Gesetzen  eino  Erhöhung 
der  Erregbarkeit  im  extrapolaren  katelectrotonischen  Bezirk,  eine 
Herabsetzung  derselben  im  extrapolaren  anelectrotonischen  Bezirk 
gefunden.  Mir  hatte  sich  bei  meinen  Versuchen  immer  das  Gegen- 
tbeil,  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  im  katelectrotonischen  und 
anelectrotonischen  Bezirk  ergeben.  Dies  veranlasste  mich,  meine 
Versuche  mit  verbesserten  Methoden  zu  wiederholen,  um  etwaige 
Fehler  in  der  früheren  Versuchsanordnung  auszumerzen  und  die  so 
wünschenswerthe  Uebereinstimmung  über  diese  wichtige  Frage  wie- 
derherzustellen. 

Trotz  aller  Vorsichtsmassregeln  jedoch  und  trotz  verschiedener 
Modificationen  der  Versuche,  blieben  doch  die  Resultate  aller  der 
zahlreichen  Versuche  in  vollkommener  Uebereinstimmung  mit  dem, 
was  ich  früher  schon  gefunden  hatte:  d.  h.  es  zeigte  der  kat- 
electrotonische  Bezirk  constant  eine  Herabsetzung, 
der  aneleotonische  dagegen  eine  Erhöhung  der  Er- 
regbarkeit. 

Ich  habe  die  Versuche  grösstentbeils  an  mir  selbst,  am  Nerv, 
ulnaris  oberhalb  des  Ellbogens  angestellt,  habe  jedoch  auch  andere 
Versuchspersonen  und  andere  Nerven  Stämme  zu  ähnlichen  Versuchen 
benützt  —  immer  blieb  das  Resultat  dasselbe.  —  Auch  wenn  ich 
die  Versuche  möglichst  genau  nach  der  Eulenbu  rg' sehen  Me- 


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896        Verhandlungen  des  naturhistoriech-medürinlschen  Verein«. 

tbode  anstellte,  blieben  diese  Resultate  gleich.  Die  Versuche  wor- 
den bei  verschiedener  Stärke  des  polarisirenden  Batteriestroms  an- 
gestellt, bei  verschieden  langer  Dauer  des  polarisirenden  Stroms; 
es  wurde  dabei  die  Stellung  und  Grösse  der  Eiectroden  des  er- 
regenden Stroms  mannichfach  verändert,  es  wurde  die  Erregbar- 
keit bei  verschiedener  Richtung  des  erregenden  Stromes  geprüft  — 
immer  blieb  das  Resultat  das  gleiche:  Erhöhung  der  Erregbarkeit 
im  anelectrotoniscben,  Herabsetzuug  im  katelectrotonischen  Bezirk. 
Die  Aendorung  der  Erregbarkeit  selbst  wurde  bestimmt  entweder 
durch  die  Aenderung  des  Rollenabstandes  des  inducirten  Stroms, 
bei  welchem  noch  eine  Minimalcontraction  eintrat,  oder  durch  die 
Aenderung  in  der  sichtbaren  Contractionsgrösse  der  erregten  Mus- 
keln, oder  endlich  durch  die  Aenderung  der  fühlbaren  Widerstände, 
welche  die  erregten  Muskeln  dem  Zuge  der  Antagonisten  entgegen- 
stellten. Bei  allen  3  Metboden  waren  die  Resultate  Ubereinstim- 
mend, nur  die  erste  Methode  gab  natürlich  in  Zahlen  ausdrückbare 
und  tabellarisch  zusammengestellte  Resultate. 

Die  Resultate  waren  zunächst  nur  für  den  extrapolaren  ab- 
steigenden olectrotonischen  Bezirk  gewonnen :  eine  Prüfung  der 
intrapolaren  Erregbarkeitsänderungen  zeigte  jedoch  auch  hier  eine 
Umkehr  der  Pflüger'schen  Gesetze:  der  intrapolare  Anelectrotonns 
wirkte  erhöhend,  der  intrapolare  Katelectrotonus  herabsetzend  für 
die  Erregbarkeit  des  motorischen  Nerven  gegen  inducirte  Ströme. 

Die  Thatsache  dieses  anomalen  Verhaltens  der  motorischen 
Nerven  im  lebenden  Körper  gegen  die  Polarisation  ist  somit  über 
jeden  Zweifel  festgestellt.  Es  handelt  sich  nur  um  eine  Erklärung 
der  gefundenen  Differenz  mit  den  Resultaten  der  physiologischen 
Forschung. 

Verschiedene  naheliegende  Möglichkeiten  konnten  schon  im 
Verlaufe  dieser  Versuche  durch  eine  geeignete  Modifikation  dersel- 
ben ausgeschlossen  werden.  Da  die  von  Andern  (Valentin)  auf- 
gestellten Erklärungen  nicht  befriedigend  erscheinen,  so  musste  ich 
vorläufig  auf  eine  genügende  Erklärung  des  anomalen  Verhalten» 
verzichten.  Es  handelte  sich  mir  zunächst  nur  um  die  Feststellung  der 
Thatsachen.  (Eine  ausführlichere  Mittheilung  dieser  Untersuchungen, 
eine  genaue  Beschreibung  der  Methode  und  Zusammenstellung  der 
Resultate  wird  im  Deutsch.  Aich.  f.  klin.  Med.  demnächst  erscheinen. ) 

(Fortsetzung  folgt) 


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Sr.  57.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 

-   -  -  -  .  m 

Verhandlungen  des  natnrhistorisch  -  medizinischen 

Vereins  zn  Heidelberg. 


(FortBeteung.) 

Nachtrag.  Als  ich  dem  Vereine  die  vorstehenden  Mitthei- 
lungen gemacht  hatte,  äusserte  der  Vorsitzende,  Herr  Geh. -Rath 
Helmholtz  die  Ansicht,  dass  die  gefundene  Differenz  sich  wohl 
dadurch  erklären  lasse,  dass  bei  diesen  Versuchen  am  lebenden 
Körper  sich  ausser  dem  polarisirten  Nerven  noch  eine  grosse  Menge 
gutleitenden  Gewebes  im  Stromkreis  befinde ;  daher  komme  es,  dass 
nur  in  dem  unmittelbar  unterhalb  der  Electroden  befindlichen  Stücke 
des  Nerven  der  Strom  eine  gewisse  Dichte  besitze,  während  die- 
selbe nach  beiden  Seiten  von  jedem  Pole  so  rasch  abnehme,  dass 
man  ohne  grossen  Fehler  annehmen  könne,  schon  in  geringer  Ent- 
fernung von  jedem  Pole  befinde  sich  gleichsam  der  andere  Pol. 
Wenn  man  also  mit  der  erregenden  Electrode  z.  B.  nicht  sehr 
nahe  an  die  Kathode  heranrücke,  sei  es  sehr  leicht  möglich,  dass 
dieselbe  sich  schon  im  anelectrotonischen  Bezirk  befinde,  während 
man  glaube,  den  Katelectrotonus  zu  prüfen. 

Zur  Prüfung  dieser  Ansicht  suchte  ich  den  erregenden  Reiz 
möglichst  sicher  in  den  zu  prüfenden  Bezirk  zu  bringen.  Dies  er- 
reichte ich  durch  Construction  einer  plattenförmigen  Electrode  für 
den  polarisirenden  Strom,  die  an  einer  Stelle  von  einem  Glasrohr 
durchbohrt  war,  durch  welches  die  erregende  Electrode  des  indu- 
eirten  Stroms  eingeführt  werden  konnte.  Der  erregende  Strom 
musste  also  an  einer  Stelle  des  Nerven  eingreifen  die  mit  Sicher- 
heit unter  dem  vollen  Einflüsse  desjenigen  Pols  stand,  mit  dem 
ich  die  neue  Electrode  in  Verbindung  brachte.  Bei  dieser  Ver- 
suchsanordnung zeigte  sich  dann  auch  eine  vollkommene  üeberein- 
stimmung  mit  den  Pflüger' sehen  Gosetzen:  Erhöhung  der  Er- 
regbarkeit im  Bereich  der  Kathode,  Herabsetzung 
im  Bereich  der  Anode.  Zugleich  waren  die  Resultate  sehr 
frappant,  die  Erregbarkeitsdifferenzen  erreichten  beträchtlich  höhere 
Werthe  als  bei  den  früheren  Versuchen.  Gleichzeitig  zur  Controle 
angestellte  Versuche  nach  den  früheren  Methoden  ergaben  auch  den 
früheren  con forme  Resultate. 

Es  scheint  damit  die  üebereinstimmung  zwischen  den  beim 
Frosch  gefundenen  und  den  am  Menschen  zu  beobachtenden  eiectro- 
tonischen  Erscheinungen  in  genügender  Weise  hergestellt;  es  kann 
LIX.  Jahrg.  12.  Heft  57 


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898 


Verhandlungen  des  naturhistorlach-medkinischen  Vereins. 


keinem  Zweifel  unterliegen ,  dass  auch  am  lebenden  Menseben 
electrotonische  Erscheinungen  beobachtet  werden  nnd  dass  diesel- 
ben bei  richtiger  Versuchsanordnung  in  Uebereinstimmung  mit  den 
Pflüger'schen  Gesetzen  sind.  Die  entgegengesetzten  Resultate,  welche 
sich  bei  einer  gewissen  Versuchsanordnung  ergeben,  erklären  sich 
demnach  einfach  aus  physikalischen  Verhältnissen,  aus  der  Lage- 
rung des  nicht  isolirten  Nerven  im  lebenden  Körper. 

14.  Vortrag  des  Herrn  Dr.  Knanff:  >Ueber  Histologie 

des  Miliartuberkels«,  am  26.  Juli  1867. 

15.  Vortrag  des  Herrn  G eh eimrath  Helm holtz :  »Ueber 
die  Mechanik  der  Ge  hörknöchelchen  «,  am  9.  Aug.  1867. 

(Dm  Manuacript  war  bereits  am  26.  Juli  überreicht  worden,  der  Nachtrag 

dazu  am  9.  August.) 

Die  Autgabe  des  Trommelhöhlenapparats  kann  so  bezeichnet 
werden:  Derselbe  hat  die  Schallschwingungen  der  Luft,  die  mit 
relativ  kleinen  Druckkräften  aber  in  grossen  Excursionen  geschehen, 
zu  tibertragen  auf  das  relativ  schwere  Labyrinth wasser,  dessen  Be- 
wegung eben  wegen  seiner  Schwere  grössere  Druckkräfte  verlangt, 
während  wegen  der  mikroskopischen  Kleinheit  der  mitschwingenden 
Endapparate  der  Nerven,  welche  gleichsam  die  Reagentien  für  die 
Schallschwingungen  des  Labyrinth wassers  bilden,  sehr  kleine  Ampli- 
tuden seiner  Schwingungen  genügen. 

Um  die  nöthige  mechanische  Kraft  für  die  Schwingungen  der 
genannten  Flüssigkeit  zu  gewinnen,  wird  der  Druck  der  schwin- 
genden Luft  von  der  verhältnissmässig  grossen  Fläche  des  Trommel- 
fells gesammelt  und  durch  die  Reihe  der  Gehörknöchelchen  inner- 
halb der  sehr  viel  kleineren  Fläche  des  ovalen  Fensters  auf  das 
Labyrinthwasser  tibertragen.    Die  genaue  üebertragung  so  kleiner 
Bewegungen  erfordert,  wie  Riem  an n  in  den  von  ihm  nachge- 
lassenen Papieren*)  mit  Recht  hervorhebt,  eine  ausserordentlich 
grosse  Präcision  und  Festigkeit  in  den  Verbindungen  der  Gehör- 
knöchelchen. Damit  steht  es  nun  in  einem  sonderbaren,  aber  frei- 
lich nur  scheinbaren,  Widerspruche,  dass  man  bei  der  anatomi- 
schen Untersuchung  alle  einzelnen  Gelenke  nnd  Bandverbindungen 
innerhalb  dor  Trommelhöhle  schlaff  und  nachgiebig  findet.  Nament- 
lich war  die  Existenz  des  in  den  meisten  Richtungen  sehr  nach- 
giebigen Hammer-Ambossgelenkes  in  sehr  entschiedenem  Wider- 
spruche mit  der  älteren,  und  von  mir  selbst  in  der  Lehre  von 
den  Tönempfindungen  vorgetragenen  Theorie,  wonach  Ham- 
mer und  Amboss  zusammen  ein  um  zwei  Spitzen  (den  Processus 
Folianus  des  Hammers  und  den  kurzen  Fortsatz  des  Ambosses) 


*)  Zeitschrift  für  rationelle  Medicln.  1867. 


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Verhandinngen  des  natnrhlstorisch-medirinlichen  Vereins.  899 


drehbares  System  bilden  sollten,  mit  zwei  nach  unten  reichenden 
Hebelarmen,  dem  Handgriff  des  Hammers  und  dem  langen  Fort- 

Anatomische  Untersuchungen  über  die  Verbindungen  der  Ge- 
hörknöchelchen, die  ich  während  dieses  Sommers  angestellt,  haben 
mir  nun  folgende  Resultate  gegeben: 

1)  Der  Hammer  behält  seine  Stelluug  mit  nach  innen  gezoge- 
nem Trommelfell  und  seine  Drehbarkeit  um  eine  querlaufonde  Axe 
auch  noch  bei,  wenn  man  den  Amboss  vorsichtig  herausnimmt,  und 
sogar  auch  noch,  wenn  man  die  Sehne  des  Tensor  Tympani 
durchschneidet,  doch  macht  die  letztere  Operation  die  Stellung 
des  Hammers  allerdings  viel  weniger  fest  als  sie  vorher  war. 
Die  Drehungsaxe  des  Hammers  wird  gebildet  durch  einen  ziemlich 
straffen  sehnigen  Faserzug,  der  von  der  Spitze  der  Spina  Tympa- 
nica  posterior  sich  gegen  eine  knöcherne  Hervorragung  am  hinteren 
Rande  des  Trommelfells  (etwa  der  Grenze  der  ursprünglichen  Pars 
tympanica  entsprechend)  hinzieht,  und  in  welchen  Faserzug  der 
Hammer  selbst  eingeschaltet  ist.  Der  vordere  Theil  dieses  Bandes 
ist  das  bekannte  Ligamentum  Mallei  anticum,  welches  den  Pro- 
cessus Folianus  umschliesst.  Die  Spina  tympanica  posterior  von 
der  der  obere  straffste  Theil  dieses  Bandes  entspringt,  reicht  übri- 
gens ,  wie  man  mit  einer  Staarnadel  fühlen  kann ,  bis  ganz  nahe 
an  den  Hals  des  Hammers,  so  dass  die  Bandverbindungen  an  dieser 
Stelle  eine  sehr  kurze  ist.  Der  Processus  Folianus  ist  in  den  von 
mir  untersuchten  Ohren  von  Erwachsenen  immer  bis  auf  einen 
kleinen  Stumpf  geschwunden,  nicht  blos  abgebrochen  gewesen.  Mit 
einer  feinen  Nadel,  die  ich  zwischen  die  Fasern  des  Ligamentum 
anterius  einschob,  konnte  ich  immer  sein  Ende  fühlen,  noch  ehe 
irgend  welche  heftigere  Bewegungen  der  Gehörknöchelchen  an  dem 
Präparate  vorgenommen  waren,  und  andrerseits  war  keinerlei  etwa 
abgebrochene  Fortsetzung  jenes  Processus  in  der  Bandmasse  fühl- 
bar. Der  hintere  Theil  des  genannten  Faserzuges  dagegen,  den  ich 
Ligamentum  Mallei  posticum  nennen  möchte,  liegt  in  der  Schleim- 
hautfalte, welche  die  hintere  Trommelfelltasche  bildet,  oberhalb  der 
im  Rande  dieser  Falte  verlaufenden  Chorda  Tympani,  nach  hinten 
stärker  als  diese  aufsteigend.  Ich  möchte  diesen  gesammten  Faser- 
zug, das  Axenband  des  Hammers  nennen,  wegen  seiner  Beden- 
tang für  die  Bewegung  dieses  Knöchelchens.  Dadurch  dass  das 
vordere  Ende  dieses  Bandes  von  der  Spina  Tympanica  posterior 
ausgeht,  die  sich  sehr  merklich  von  der  Ansatzebene  des  Trommel- 
fells, nach  innen  hervorragend,  entfernt,  bleibt  zwischen  dem  Axen- 
bande  des  Hammers  und  dem  Trommelfell  ein  hinreichender  Zwischen- 
raum, um  dem  kurzen  Fortsatze  des  Hammers  Platz  zu  gewähren. 
Wenn  die  Sehne  des  Tensor  Tympani  durchschnitten  ist,  ist  das 
Axenband  des  Hammers  nicht  so  prall  gespannt,  dass  es  nicht 
kleine  Verschiebungen  zuliesse.  So  lange  aber  jene  Sehne  erhalten 
ist,  und  einen  massigen  Zug  ausübt,  bringt  dieser  Zug  in  dem  Axen- 


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900        Verhandlungen  des  natnrhistorlaoh-medhintechen  Verein». 


bände  eine  verhältnissmässig  ziemlich  strafte  Spannung  hervor,  nach 
demselben  Principe,  wonach  ein  horizontal  nicht  ganz  straff  ge- 
spannter unausdehnsamer  Faden  durch  ein  kleines  Gewicht,  was 
man  an  seine  Mitte  hängt,  sehr  kräftig  gespannt  werden  kann. 

2)  In  der  Fortsetzung  jener  Schleimhautfalte,  welche  die  hin- 
tere Trommeltasche  bildet,  und  das  Lig.  M.  posticum  enthält,  da 
wo  sie  sich  am  oberen  Bande  des  Trommelfells  entlang  zieht,  liegen 
noch  andere  Sehnenstreifen,  welche  zugleich  mit  dem  bekannten 
Ligamentum  Mallei  superius  HemmungsbUnder  für  die  Bewegung 
des  Handgriffs  and  des  Trommelfells  nach  aussen  bilden. 

8)  Das  Hammerambossgelenk  ist  zwar  für  eine  ganze  Reihe 
kleiner  Verschiebungen  ein  schlaffes  und  widerstandsloses  Gelenk, 
ausserdem  auch  nur  von  einer  sehr  zarten  und  zerreisslichen  Kapsel- 
membran umschlossen,  aber  einer  Art  der  Verschiebung  wider- 
steht es  in  der  natürlichen  Lage  der  Knochen  vollkommen  sicher 
und  fest;  bei  der  Eiuwärtsdrehung  seines  Handgriffs  fasst  nämlich 
der  Hammer  den  Amboss  fest,  wie  eine  Zange,  während  bei  der 
Answärtsdrehung  des  Hammergriffs  beide  Knochen  sich  von  einan- 
der lösen.  In  dieser  Beziehung  entspricht  die  mechanische  Wirkung 
des  Gelenks  vollkommen  den  Gelenken  mit  Sperrzähnen,  wie  man 
sie  an  Uhrschlüsseln  anzubringen  pflegt.  Man  kann  das  Hammer- 
ambossgelenk betrachten  als  ein  solches  Uhrscblüsselgelenk  mit 
zwei  Sperrzäbncn.  Von  diesen  ist  je  einer  an  der  untern  Seite 
beider  Geleukflächen  sehr  deutlich  ausgebildet.  Der  des  Hammers 
liegt  nach  der  Seite  des  Trommelfells,  der  des  Ambosses  gegen  die 
Trommelhöhle  gewendet.  Der  obere  Theil  beider  Gelenkfläcben  ent- 
spricht der  Stossfläche  der  beiden  zweiten  Sperrzähne,  neben  welcher 
die  Schraubenfläcben,  mit  denen  die  Sperrzähne  übereinander  glei- 
ten, zu  schmalen  Streifchen  geschwunden  sind.  Wenn  man  sich 
übrigens  einen  Hammer  und  den  zugehörigen  Amboss  an  kleinen 
Holzstäbchen  mit  Siegellack  passend  befestigt,  so  dass  das  eine 
Hölzchen  etwa  in  Richtung  dos  Processus  Folianus  liegt,  das  andere 
den  Processus  brevis  des  Amboss  verlängert,  dann  die  Knochen  mit 
ihren  Gelenküächen  aneinander  setzt,  während  man  sie  an  den 
Hölzchen  hält,  so  fühlt  man  sehr  deutlich,  wie  fest  und  sicher  der 
Hammer  den  Amboss  packt,  sobald  man  seinen  Handgriff  nach 
innen  dreht.  Dagegen  weichen  die  Knöchelchen  durch  die  entgegen- 
gesetzte Drehung  sogleich  von  einander,  und  lassen  sich  gegenseitig 
los.  Am  unverletzten  Ohre  hat  dies  zur  Folge,  dass  der  Hammer 
durch  Luft,  die  in  die  Trommelhöhle  dringt ,  ziemlich  weit  nach 
aussen  getrieben  werden  kann,  ohne  den  Steigbügel  mitzunehmen, 
und  ohne  ihn  aus  dem  ovalen  Fenster  auszureissen. 

4)  Da  die  Spitze  des  kurzen  Fortsatzes  des  Amboss  im  Am- 
bosspauken gelenke  befestigt  ist  an  einer  Stelle,  die  eine  Strecke 
nach  innen  von  der  verlängerten  Drehungsaxe  des  Hammers  liegt, 
und  der  Hammerkopf  mit  dem  Hammerambossgelenk  sich  bei  Ein- 
wärtsziehung des  Trommelfells  nach  aussen  bewegt,  also  vom  Am- 


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Verhandlungen  des  wirurhistorisch-medlztolschen  Vereins. 


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bosspauken gelenk  entfernt,  so  werden  die  Gelenkbänder  des  Amboss 
dadurch"  gespannt,  und  die  Spitze  des  kurzen  Fortsatzes  des  Am- 
boss wird  von  ihrer  Unterlage  ein  wenig  abgehoben,  so  weit  es 
die  über  diesem  Gelenke  gelegenen  starken  sehnigen  Verstärkungs- 
bänder zulassen.  Man  sieht  aber  deutlich  an  passenden  Präparaten, 
wenn  man  mit  einer  Nadel  von  oben  auf  den  kurzen  Fortsatz  des 
Amboss  drückt,  wie  er  sich  dann  senkt  und  nun  erst  an  seine 
knöcherne  Unterlage  anlegt,  wobei  die  genannten  sehnigon  Ver- 
stärkungsbHnder  sich  schlaff  zusammenfalten.  Also  auch  hier  wer- 
den die  Gehörknöchelchen  nicht  durch  eine  feste  Unterlage,  sondern 
durch,  wenn  auch  kurze,  gespannte  Bänder  festgehalten,  so  lange 
sie  sich  in  der  Stellung  befinden,  in  der  sie  für  das  Hören  ge- 
braucht worden. 

5 )  Die  Spitze  des  langen  Fortsatzes  des  Amboss  drückt  gegen 
das  Köpfchen  des  Steigbügels,  wenn  der  Hammergriff  nach  innen 
gezogen  ist,  soweit  es  das  Trommelfell  zulässt;  er  liegt  also  dem 
Steigbügel  an,  selbst  wenn  die  Bänder  des  Ambosssteigbügelgelenks 
durchschnitten  sind.  Wird  der  Hammer  aber  nach  aussen  bewegt, 
so  nimmt  er  bei  durchschnittenem  Ambosssteigbügelgelenk  den 
Amboss  mit  nach  aussen.  Ist  dagegen  die  Verbindung  des  Steig- 
bügels mit  dem  Amboss  erhalten,  so  geht  der  Hammer  allein  nach 
aussen,  was  er  ohne  einen  zu  starken  Zug  auf  Amboss  und  Steig- 
bügel auszuüben  thun  kann  wegen  der  oben  beschriebenen  Form 
des  Hammerambossgelenks.  In  Summa  also  sind  die  Gehörknöchel- 
chen in  derjenigen  Stellung,  wo  sie  sich  beim  Hören  befinden,  nur 
durch  ein  System  gespannter  sehniger  Bänder  in  ihrer  Lage  ge- 
halten, Bänder,  welche  alle  einzeln  genommen  nicht  sehr  straff 
gespannt  sind,  aber  so  angeordnet,  dass  wenn  der  Zug  des  Mus- 
culus Tensor  Tympani  hinzukommt,  der  auch  im  unthätigen  Zu- 
stande immer  noch  als  ein  elastisch  gespanntes  Band  zu  betrach- 
ten ist,  alle  die  genannten  Befestigungsbänder  mit  dem  Trommel- 
fell zugleich  straff  gespannt  werden,  wobei  sich  die  drei  Knöchel- 
chen fest  an  einander  schliessen,  Hammer  und  Amboss  mittels  ihrer 
Sperrzähne,  der  Amboss  an  den  Steigbügel  in  ihrem  Gelenk.  Andrer- 
seits gewährt  dieselbe  Befestigung  einen  breiten  Spielraum  für  Ver- 
schiebungen durch  äussere  zufallige  Störungen,  wie  z.  B.  auch  für 
die  von  Riemann  besprochenen  Temperaturänderungen,  ohne  dass 
dabei  die  zarte  Einfügung  des  Steigbügels  in  das  ovale  Fenster 
gefährdet  wyrd. 

Ich  habe  mir  ein  Model)  der  Gehörknöchelchen  in  vergrösser- 
tem  Maassstabe  nachgebaut,  in  welchem  die  Sebnenbänder  durch 
unausdehnsame  Hanf fü Jon ,  der  Muskel  durch  ein  elastisches  Kaut- 
schukband, das  Trommelfell  durch  Handschuhleder  ersetzt  ist.  Die 
mechanischen  Wirkungen  dieses  Modells  sind  denen  der  Gehör- 
knöchelchen nach  der  von  mir  gegebenen  Beschreibung  ganz  ent- 
sprechend, namentlich  Uberträgt  dasselbe,  trotzdem  die  hölzernen 
Modelle  der  Knöchelchen  nur  durch  Fäden  festgestellt  sind,  Stösse, 


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die  von  aussen  gegen  den  Hammergriff  geführt  werden,  ganz  sicher 
und  kräftig  auf  den  Steigbügel. 

6)  Die  Gehörknöchelchen  des  Menschen  bringen  bei  der  Ueber- 
tragung  der  Bewegungen  des  Nabels  des  Trommelfells  auf  den  Steig- 
bügel keine  erbebliche  Veränderung  der  Amplitüde  der  Schwingun- 
gen hervor,  weil  die  Spitze  des  Hammergriffs  nicht  viel  weiter  von 
der  Drebungsaxe  absteht,  als  die  Spitze  des  langen  Fortsatzes  des 
Ambosses,  der  auf  den  Steigbügel  drückt.  Beim  Kalbe  ist  der 
Handgriff  des  Hammers  dagegen  in  der  That  viel  länger,  und  hier 
muss  eine  beträchtliche  Vermehrung  der  Kraft  der  Schwingungen 
mit  gleichzeitiger  Verminderung  ihrer  Amplitüde  bei  der  Ueb er- 
tragung auf  den  Steigbügel  eintreten.  Beim  Menschen  wird  die 
Aufgabe,  die  Kraft  der  Luftschwiugungen  durch  Verminderung  ihrer 
Amplitüde  zu  vergrösseru  mittels  eines  ganz  andern  Mechanismus 
gelöst,  auf  den  man  bisher,  so  viel  ich  weiss,  noch  gar  nicht  auf- 
merksam geworden  ist,  und  der  auch  bisher  noch  nicht  einmal 
empirisch  bei  musikalischen  Instrumenten  angewendet  worden  ist. 
Es  geschieht  dies  nämlich  durch  die  besonderen  mechanischen  Eigen- 
schaften ,  welche  das  Trommelfell  als  eine  gekrümmte  Membran 
darbietet. 

Das  Trommelfell  enthält  radiale  und  ringförmige  Faserzüge, 
beide  aus  Sehnensubstanz  gebildet,  daher  sehr  wenig  dehnbar:  von 
gelbem  elastischem  Gewebe  bleibt  beim  Kochen  des  Trommelfells 
in  verdünnter  Kalilösung  kaum  eine  Spur  übrig,  die  den  Gefäss- 
stUmmen  und  dem  inneren  Schleimhautblatte  anzugehören  scheint. 
Die  Mitte  oder  der  Nabel  des  Trommelfells  ist  durch  den  Hammer- 
griff beträchtlich  nach  einwärts  gezogen,  und  die  radialen  Faser- 
züge desselben  sind  nach  aussen  convex  gewölbt,  so  dass  sie  gegen 
die  Spitze  des  Hammergriffs  in  einer  nahehin  rechtwinkeligen  Kegel- 
spitze convergiren. 

Wenn  nun  ein  gerader  Faden  von  der  Länge  1  in  einen  Bogen 
vom  Krümmungsradius  r  übergeführt  wird,  so  wird  die  Länge  A 
der  Sehne  dieses  Bogens 


Die  Annäherung  der  Endpuncte  der  Linie,  während  diese  sich 
krümrot.  ist  also 


oder  wenn  r  sehr  gross  gegen  1  ist 


Die  Hervorwölbung  des  Bogens,  oder  der  Abstand  s  seiner  Mitte 
von  der  Sehne  ist 


Verhandlungen  de«  naturhi8torisch-medlzini8chen  Vereins. 


908 


oder  für  ein  sehr  grosses  r 

8~ 8  T I  8 

oder  wenn  man  r  aus  1  und  2  eliminirt 

3  1" 

Es  wächst  also  die  Verkürzung  der  Sehne  des  Bogens  wie  das 
Quadrat  der  Verschiebung  seiner  Mitte,  und  bei  sehr  flachen  Bögen, 
deren  Wölbung  zunimmt,  ist  die  Verschiebung  ihrer  Endpuncte  ver- 
schwindend klein  gegen  die  Verschiebung  ihrer  Mitte. 

Nun  sind  aber  die  Kadialfasern  des  Trommelfells  solche  unaus- 
dehnsame  Bögen,  deren  Mitte  der  Luftdruck  zu  verschieben  strebt, 
während  ihre  Wirkung  auf  den  Hammergriff  nur  von  der  verhält- 
nissmässig  geringen  Verlängerung  oder  Verkürzung  ihrer  Sehne  ab- 
hängt, und  durch  die  Richtung  des  Ansatzes  unter  etwa  45°  gegen 
die  Axe  die  Verschiebung  noch  verkleinert  wird.  Der  Luftdruck 
wird  also  eine  verhältnissmässig  grosse  Verschiebung  der  Mitte  die- 
ser Bögen  bewirken  müssen,  um  eine  sehr  kleine  Verschiebung  des 
Hammergriffs  und  der  Knöchelchen  hervorzubringen. 

Eben  deshalb  steigert  sich  aber  nun  auch  die  Kraft  dieser 
letzteren  Bewegung  in  demselben  Maasse,  in  welchem  sie  kleiner 
wird.  Ist  t  die  Spannung  des  Fadens,  und  p  der  Luftdruck,  der 
gegen  die  Einheit  seiner  Länge  wirkt,  so  ist  nach  bekannten  Gesetzen 

t 

P=r 

oder  indem  wir  r  gegen  1  als  sehr  gross  betrachten,  nach  Gleichung  2 

8st 

*—  87—  pr 

das  heisst:  bei  gleichbleibender  Länge  des  Bogens  wächst  der 
Zug  t  den  der  Faden  ausüben  muss,  um  dem  Drucke  p  das  Gleich- 
gewicht zu  halten,  direct  wie  der  Radius,  oder  umgekehrt  wie  die 
Höhe  der  Wölbung.  Dieser  Zug  kann  also  bei  einem  sehr  flachen 
Bogen  jede  beliebige  Höhe  erreichen. 

Beim  Trommelfell  wird  nun  die  Krümmung  der  Radialfasern 
nicht  durch  den  Luftdruck,  sondern  durch  die  Spannung  der  Ring- 
fasern unterhalten,  und  durch  den  Luftdruck  nur  vermindert  und 
vermehrt.  Die  mathematische  Untersuchung  des  Gleichgewichts 
einer  solchen  gekrümmten  Membran  zeigt,  dass  dadurch  an  den 
oben  angegebenen  Resultaten  nichts  Wesentliches  geändert  wird. 

Snb8tituirt  man  statt  des  wirklichen  ein  ideales  Trommelfell, 
welches  rings  um  seine  Mitte  symmetrisch  ist,  so  ergibt  sich,  dass 
die  vortheilbafteste  Form  eines  solchen  die  einer  Rotationsfläche 
ist,  welche  bei  gleichbleibender  Länge  ihrer  Meridianliuien  das 
kleinste  Volumen  an  ihrer  convexen  Seite  abgrenzt.    Die  Form 


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einer  solchen  Fläche  lässt  sich  mit  Hülfe  der  elliptischen  Functio- 
nen berechnen  und  zeichnen.  Das  Trommelfell  ist  in  der  That, 
wenn  man  von  der  durch  den  oberen  Theil  des  Hammerstiels  ver- 
ursachten Asymmetrie  absieht,  einer  solchen  Flüche  ähnlich  ge- 
staltet. Die  Stärke  der  elastischen  Ringfasern  müsste  in  jener 
Fläche  nach  Aussage  der  mathematischen  Theorie  ebenfalls  von  der 
Mitte  nach  dem  Rande  zunehmen,  wie  sie  im  Trommelfelle  wirk- 
lich thut. 

Um  die  Wirkungen  solcher  gekrümmter  Membranen  auf  die 
Schallleitung  zwischen  Luft  und  festen  Körpern  practisch  zu  prüfen, 
habe  ich  einen  gläsernen  Lampencylinder  an  seinem  Ende  mit 
nasser  Schweinsblase  überspannt,  deren  Mitte  durch  einen  beschwer- 
ten Stab  nach  innen  gedrängt,  und  sie  so  trocknen  lassen.  Dadurch 
erhielt  ich  eine  Mombrau,  die  ungefähr  die  Form  des  Trommel- 
fells hat.  Dann  stützte  ich  auf  die  Mitte  der  eingezogenen  Mem- 
bran ein  hölzernes  Stäbchen,  dessen  anderes  Ende  als  Steg  für  eine 
Darmsaite  diente,  welche  auf  einem  nicht  resonirenden  starken 
Brette  ausgespannt  war.  Die  Membran,  so  mit  der  Saite  verbun- 
den, gab  eino  mächtige  Resonanz,  der  einer  Violine  ähnlich,  selbst 
wenn  die  Membran  nur  vier  Centimeter  Durchmesser  hatte.  Die 
Wirkung  ist  so  Uberraschend,  dass  manche  Zuschauer  aafangs  gar 
nicht  glauben  wollten,  dass  von  einer  so  kleinen  Membran  ein  so 
mächtiger  Ton  ausgehen  kann ,  bis  ich  sie  durch  Gegenversuche 
davon  tiberzeugte. 

7)  Da  vom  Hammer,  wie  vom  Ambos  ein  beträchtlicher  Theil 
ihrer  Masse  über  der  Drehungsaxe  liegt,  das  Trommelfell  dagegen 
als  eine  Belastung  des  untern  Endes  des  Hammers,  der  Steigbügel 
als  eine  solche  des  unteren  Endes  des  Ambosses  angesehen  werden 
kann,  liegt  der  Schwerpunkt  des  schwingenden  Systems  wahrschein- 
lich der  Drebungsaxe  sehr  nahe.  Ich  schliesse  dies  namentlich  aus 
der  relativ  schlechten  unmittelbaren  Leitung  des  Schalls  von  den 
Kopfknochen  an  die  Gehörknöchelchen.  Denn  die  sogenannte  Kopf- 
knochenleitnng  geht  wesentlich  durch  den  knorpeligen  Theil  des 
Gehörganges.  Wenn  man  mit  der  Hand  oder  einer  das  Ohr  um- 
greifenden Kapsel  einen  Luftraum  von  dem  Ohre  abschließt,  hört 
man  die  eigene  Stimme  oder  eine  an  die  Zähne  gesetzte  Stimm- 
gabel gut,  so  lange  die  Wurzel  des  Obrknorpels  nicht  gedrückt 
wird;  so  wie  letzteres  geschieht,  verschwindet  der  Ton  bis  auf 
einen  verhältnissmässig  kleinen  Rest.  Es  geschieht  offenbar  die 
Leitung  von  den  Kopfknochen  an  den  Ohrknorpel  und  von  diesem 
an  die  Luft  des  Gebörganges  viel  leichter,  als  von  den  Kopfknoohen 
direct  auf  das  Trommelfell. 

8)  Durch  solche  Versuche,  bei  denen  ein  mässig  grosser 
Luftraum  vor  dem  Ohre  abgeschlossen  wird,  sei  es  durch  eine  auf- 
gesetzte feste  Kapsel,  sei  es  durch  die  Uber  das  Ohr  gelegte  hoble 
Hand,  kann  man  auch  den  Eigeuton  des  scbwingungsfähigen  Appa- 
rates bestimmen,  den  das  Trommelfell  in  seiner  Verbindung  mit 


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Verhandlungen  des  naturbistorisch-msdirinischen  Vereins.  906 


den  Gehörknöchelchen,  dem  Labyrinthwasser  und  der  Luft  der 
Trommelhöhle  bildet.  Man  erkennt  leicht  schon  durch  die  Stimm- 
resonanz, dass  diese  am  stärksten  ist  an  der  Grenze  der  ungestri- 
chenen und  eingestrichenen  Octave.  Genauer  gelang  diese  Bestim- 
mung mit  Hülfe  einer  schwach  gespannten  und  deshalb  schwach 
tönenden  Darmsaite,  die  ich  auf  einem  schmalen  Brettchen  befestigt 
hatte.  Das  Brett  legte  ich  flach  an  die  Ohrmuschel,  wahrend  ich 
die  Saite  anschlug,  und  suchte  die  Stelle  des  Steges,  wo  der  Ton 
am  lautesten  wurde.  Es  fand  sich  das  h  der  ungestrichenen  Octave 
von  etwa  244  Schwingungen.  Dieser  Ton  ist  in  ziemlich  weiten 
Grenzen  unabhängig  von  der  vor  dem  Ohre  abgeschlossenen  Luft- 
masse. Nur  wenn  man  diese  sehr  verkleinert,  zum  Beispiel  den 
Tragus  auf  die  Oeffnung  des  Gehörgangs  andrückt,  wird  die  Reso- 
nanz etwa  um  eine  ganze  Tonstufe  höher.  Auch  die  Percnssion 
des  Schädels  oder  des  Zitzenfortsatzes  giebt  denselben  Resonanzton. 
Nun  ist  der  genannte  Ton  viel  zn  tief,  als  dass  er  den  abgeschlos- 
senen kleinen  Luftmassen  allein  angehören  könnte.  Dass  er  kein 
Eigenton  des  Ohrknorpels  sei,  ergiebt  sich  aus  dessen  schlaffer  Be- 
schaffenheit, und  da  raus ,  dass  man  den  grössten  Tbeil  desselben 
fest  halten  kann,  ohne  dass  sich  die  Stärke  der  Resonanz  ändert. 
Ich  schliesse  daraus,  dass  es  ein  Resonanzton  des  Trommelhöhlen- 
apparates sein  müsse. 

Nachtrag  zu  dem  Vortrage  Uber  Mechanik  der  Gehör- 
knöchelchen. 

Ausser  dem  in  meiner  ersten  Notiz  angezeigten  Resonanztone  h 
des  bedeckten  menschlichen  Ohres  habe  ich  seitdem  noch  einige 
andere  gefunden ;  es  bewog  mich  namentlich  der  Umstand  zu  fort- 
gesetztem Suchen,  dass  ich  keine  Aenderung  dieser  Resonanz  durch 
veränderte  Spannung  des  Trommelfells  mittels  Lufteinblasens  ent- 
decken konnte.  Nun  fand  ich  zunächst ,  dass  auch  die  Obertöno 
desselben  h1  und  fis1  verstärkte  Resonanz  geben;  namentlich  ist 
die  des  h1  noch  deutlicher  als  die  des  h. 

Ausserdem  aber  habe  ich  gefunden ,  dass  das  C_i  der  sechs- 
zehnfüssigen  offenen  Orgelpfeiffen  ein  Resonanzton  des  Ohre?  ist. 
Es  ist  dieser  Ton  derselbe,  den  Wollaston  schon  als  Tonhöhe 
des  Muskelgeräusches  angegeben  hat.  Ich  finde,  dass  derselbe  Ton 
zum  Vorschein  kommt,  wenn  man  den  äusseren  Gehörgang  durch 
einen  leisen  Luftstrom  anblässt.  Ferner  wird  das  Muskelgeräusch 
deutlich  höher,  um  etwa  einen  ganzen  Ton,  wenn  man  das  Trommel- 
fell nach  innen  spannt  durch  Verringerung  des  Luftdrucks  in  der 
Trommelhöhle.  Bei  einer  früheren  Gelegenheit  habe  ich  gezeigt, 
dass  die  Zitterungen  der  willkührlichen  Muskeln,  die  das  Muskel- 
geräusch bewirken  nicht  regelmässig,  wie  die  eines  musikalischen 
Tones  erfolgen,  und  ausserdem  nicht,  wie  Wollaston  und 
Haughton  aus  der  erwähuten  Beobachtung  geschlossen  hatten, 
in  der  Anzahl  von  33  bis  37  Schwingungen,  sondern  dass  im 


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906         Verhandlungen  des  naturhiatoriach-medürfnlachen  Verein«. 

Mittel  nur  etwa  19  unregelmässige  Zuckungen  in  der  Secnnde  er- 
folgen. Da  sich  die  Tonhöhe  dieses  Tones  mit  dem  geänderten 
Zustande  des  Trommelfells  ändert,  so  schliegse  ich  daraus,  dass 
das  Muskelgeräusch  ein  Resonanzton  des  Trommelfells  ist,  hervor- 
gebracht durch  unregelmässige  Erschütterungen  der  Muskeln. 

Durch  Einblasen  von  Luft  in  die  Trommelhöhle  wird  das  Muskel- 
geräusch ein  sehr  viel  schwächerer  und  tieferer  Ton. 

Die  früher  genannten  höheren  Resonanztöne  h,  hl  und  fis1  sind 
wahrscheinlich  Klirrtöne  zwischen  Hammer  und  Ambos.  Dass  der- 
gleichen vorkommen  können,  zeigt  sich  sohon,  wenn  man  eine  stark 
schwingende  tiefe  Stimmgabel  nahe  vor  das  Ohr  bringt.  Der  tiefe 
Resonanzton  C_i  giebt  besonders  starkes  Klirren,  was  durch  Span- 
nung des  Trommelfells  nach  innen  merklich  geschwächt  wird,  beim 
Einblasen  von  Luft  aber,  die  die  Sperrzäbne  des  Hammers  und 
Ambosses  von  einander  abdrängt  ganz  aulhört. 

Danach  sind  die  früher  gemachten  Angaben  über  den  Ton  h 
zu  verbessern. 

16.  Vorstellung  zweier  Operirten,  die  eine  mit  Pla- 
stik des  Antlitzes,  die  andere  mit  Oberkiefer- 
resektion durch  Hrn.  Dr.  Heine,  am  9.  Aug.  1867. 

17.  Vortrag  des  Herrn  Dr.Heine:  »Ueber  eineMethode 

Buprakondylärer  Oberschenkelamputation«, 

am  9.  August  1867. 

18.  Vortrag  des  Herrn  Professor  H.  A.  Pagenstecher: 
»Ueber  einen  überzähligen  Backzahn  bei  Hylobates 

syndaety lus «,  am  25.  October  1867. 

(Das  Manu script  wurde  sofort  eingereicht.) 

Es  sind  durch  Prof.  Bischoff  in  seiner  besonderen  Abhandlung 
Über  die  Schädel  der  menschähnlichen  Affen  und  in  den  Münchener 
Sitzungsberichten  1867, 1,  einige  Fälle  von  Vorkommen  eines  sechsten 
Backzahns  bei  diesen  Thieren  verzeichnet  werden  und  zwar  drei  welche 
den  Orang,  zwei  welche  den  Gorilla  treffen  und  einer  welcher  den 
Chimpanse  angeht.  In  der  zoologischen  Sammlung  der  Heidelberger 
Universität  findet  sich  der  Schädel  eines  Hylobates  syndactylos 
von  einem  alten  und  grossen  Männchen ,  welcher  gleichfalls  einen 
sechsten  Backzahn  führt  und  damit  vom  Vortragenden  schon  seit 
Jahron  zur  Demonstration  einer  Verbindung  zwischen  den  Zahn- 
zahlen der  Affen  der  alten  und  der  neuen  Welt  benutzt  worden 
ist.  Dieser  Backzahn  steht  in  der  linken  Unterkieferhälfte  und  hat 
die  Gestalt  eines  kleinen  Kornzahnes  mit  gerundeter  Krone  und 
vermuthlich  einfacher  Wurzel.  Da  die  oberu  fünften  Backzähnein 
dem  vollständigen  Gebibse  die  untern  kaum  überragen,  so  kauu 
dieser  sechste  Zahn  keine  bedeutende  Funktion  gohabt  haben. 


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Verhandlungen  de»  naturhlstorisch-medizlnlachen  Vereins  907 


Es  erscheint  von  Wichtigkeit ,  dass  eiue  solche  Sechszahl  der 
Backzähne,  welche  bekanntlich  den  echten  Affen  der  neuen  Welt 
normal  zukommt,  obwohl  dieselbe  bei  diesen  allerdings  lieber  als 
eine  Vermehrung  der  kleinen  Backzähne  denn  als  ein  Zuwachs  am 
Ende  der  Reihe  bezeichnet  wird,  abnormer  Weise  demnach  bisher 
nur  von  den  vier  höchsten  Gattungen  der  Affen  der  alten  Welt 
bekannt  wurde.  Man  darf  diesem  Umstände  vielleicht  eine  grössere 
Wichtigkeit  zuschreiben,  wenn  man  eine  Reihe  anderer  Aehnlich- 
keiten  berücksichtigt,  welche  diese  höchsten  Gattungen  ebenfalls 
mehr  als  die  nachfolgenden  der  alten  Welt  den  Affen  der  neuen 
Welt  nähern.  Ueber  die  Grösse  des  Gesichtswinkels  der  Affen  der 
alten  Welt,  welche  ihren  Schädeln  zum  Theil  ein  menschähnliches 
Ansehn  giebt  wie  es  die  Antbroporaorphen  kaum  aufweisen,  hat  man 
sich  öfter  erstaunt.  Diesen  wie  jenen  fehlen  die  Backentaschen  und 
die  Gesässschwielen ,  welche  erst  gerade  bei  Hylobatcs  schwach 
auftreten.  Die  Einfarbigkeit  der  einzelnen  Haare  des  Pelzes,  welche 
den  Affen  der  neuen  WTelt  zukommt,  erlischt  bei  denen  der  alten 
Welt  mit  den  Gattungen  Semnopithecns  und  Colobus,  welche  auf 
Hylobates  folgen  und  dabei  ist  Colobus  die  einzige  Gattung,  welche 
einen  buschigen  Schwanz  hat,  wie  das  den  Aneturen  der  neuen 
Welt  gewöhnlich  ist.  Der  Schädel  eines  Hylobates  gleicht  durch 
die  Breite  und  EUrze  des  Nasenbeines,  die  stark  nach  Aussen  tre- 
tenden Jochbögen,  die  kleinen  Schneidezähne,  die  geringe  Entwick- 
lung des  Oberkiefers,  die  fast  vertikale  Stellung  der  Hinterhaupt- 
schuppe vielmehr  dem  eines  Eriodes  der  neuen  als  dem  eines  Cyno- 
cephalus  der  alten  Welt.  Auch  ähnelt  die  Form,  wenn  auch  nicht 
die  Grösse  der  äussern  Oeffnung  des  knöchern  Gehörganges  mehr 
zu  jenen.  Wir  sehen  so,  aufmerksam  gemacht  durch  die  abnorme 
Vermehrung  der  Zähne,  welche  die  Entfernung  beider  Affengruppen 
von  einander  verringert,  auch  die  übrigen  Eigenschaften,  wie  es 
scheint  sich  am  meisten  nicht  etwa  an  den  niedersten  Gruppen  der 
alten  Welt,  sondern  auf  dem  Punkte  dieser  Unterordnung  sich  be- 
gegnen, wo  die  Anthropomorphie  anfängt.  Man  dürfte  bekanntlich 
die  amerikanischen  Affen  auch  nach  ihrer  Lebensweise  nicht  als  die 
am  Tiefsten  stehenden  ansehn,  man  verraisst  an  ihnen  ebenso  sehr  das 
den  Raubtbieren  ähnelnde  Wesen  der  Paviane  als  die  intellektuelle 
Erhebung  der  Chimpansen  und  Orangs. 

Die  grosse  Zahl  der  Arten  und  die  Veränderlichkeit  der  Cer- 
kopitheken,  Makaken  und  Cynocephalen  beweist  ohnebin,  dass  wir 
in  ihnen  eine  Entwicklung  neuerer  Epochen  vor  uns  haben ,  über 
welche  ganz  grosse  Territorialumänderungen  noch  nicht  weggegan- 
gen sind.  So  haben  diese  Gruppen  durch  die  Zahl  der  Arten  sich 
eine  Geltung  arrogirt,  welcher  der  innere  Werth  und  die  Bedeut- 
samkeit für  die  Entwicklungsgeschichte  des  Thierreichs  nicht  gleich- 
steht. Am  meisten  dürfte  aus  ihnen  zu  machen  sein  durch  speziel- 
lere Beachtung  der  schwanzlosen  Jnui  und  Vergleicbung  der  kurz 
und  lunggesuhwänzten  Paviane.  Ihre  ganze  Entwicklung  dürfte  ge- 


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908         Verhandlungen  des  naturhistorisch-medurinischen  Vereins. 

scbuhn  sein,  nachdem  die  amerikanischen  Affen  sich  von  denen  der 
alten  Welt  auf  einer  Linie  geschieden  hatten,  deren  Verlängerung 
am  ersten  zwischen  Hylobates  einerseits  und  Colobns  und  Semno- 
pithecns  andererseits  gedacht  werden  darf.  Das  zerstückelte,  ver- 
einsamte Vorkommen  dieser  Gattungen  und  namentlich  der  höhem 
Anthropomorphen ,  die  faunale  Verbindung  mit  gewissen  andern 
Faunairesten,  namentlich  Halbaffen  und  Edentaten ,  lässt  die  über 
den  Cercopitheken  stehenden  Affen  ohnehin  älter  erscheinen  ,  ah 
diese  und  die  weiter  folgenden  der  alten  Welt.  Betreffende  Schädel 
wurden  zum  Vergleiche  vorgezeigt. 

19.  Vortrag  des  Herrn  Professor  Erlenmeyer:  »Ueber 
die  Analogie  der  sauren  schwefligsauren  Salze  mit 
don  am  eisen  9  au  ren  Salzen  und  über  die  Constitution 
des  Taurius«,  am  29.  November  1867. 

(Das  Manuskript  wurde  am  6.  Deiember  eingereicht). 

Mitscherlich  hat  zuerst  im  Jahre  1833  die  Benzoesäure 
als  Benzolkohlensöure  mit  der  Benzolschwefelsfture  verglichen,  nach- 
dem er  gefunden  hatte,  dass  einerseits  durch  Erhitzen  von  beozoS- 
saurem  Kalk  mit  Kalkhydrat,  Benzol  (C6H6)  und  kohlensaurer  Kalk 
gebildet  wird,  dass  andererseits  Benzol  mit  wasserfreier  Schwefel- 
säure zu  Benzolschwefelsäure  (Sulfobenzolsäure)  verbunden  werden 
kann. 

Dann  hat  Regnault  im  Jahre  1838  auf  die  Analogie  zwi- 
schen Cblorkohlensäure  (C0C12)  nnd  Chlorschwefelsäure  (S02CJ2) 
aufmerksam  gemacht.  Er  zeigte,  dass  sich  die  beiden  Verbindun- 
gen gegen  Ammoniak  parallel  verhalten,  indem  beide  ihre  2  Atome 
Chlor  gegen  2  NH2  austauschen  und  folgende  Verbindungen  liefern: 

CO  Cl2  +  (NH3)4  ss  CO  (NH2)2  +  (NH4  Cl)2 
S02  Cl2  +  (NH3)i  =  S02  (NH2)2  +-  (NH4  Cl)2. 

Hierauf  haben  Gerhardt  und  Chancel  (1852)  bei  Gelegen- 
heit  der  Mittheilung  ihrer  Untersuchung  über  die  Produkte  der  Ein- 
wirkung von  wasserfreier  Schwefelsäure  auf  kohlenstoffhaltige  Ver- 
bindungen folgende  Verbindungen  miteinander  verglichen: 

CO  Kohlenoxyd  mit  S02  Schwefligsäureanhydrid. 
COO  Kohlensäureanhydrid  mit  S020  Schwefelsäureanhydr  d. 
C0C12  Chlorkohlenoxyd  mit  S02C12  Chlorschwefelsäure. 
COC,HjCl  Chlorbenzoyl  mit  S02CfeH»Cl  Phenylschwefligchlorür. 

CO(CfiH3)2  Benzophenon  mit  SO,  (Cfi  H5)2  Sulfobenzid. 
COC6H5NH2  Benzamid  mit  SO^HjNH,  Phenylschwefligamid. 
COCfiHjOH  Benzoesäure  mit  S02CßH5OH  Sulfobenzolsäure. 
COOCßH5OH  Salicylsäure  mit  SO,  OCfi  H5  OH  Phenylschwefelsänre. 
CO06H5NH2O  Anthranilsäure  mit  8020,  H5NH20  Sulfanilsänre. 
CO .  CO . 0  C6H5 OH  Phtalsäure  mit  S02C0 0  C6  H5  OH  Benzoöschwefels. 


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Verhandlungen  des  naturhlstorisch-medlxinischen  Verein». 


909 


Später,  im  Jahre  1859,  hat  Kolbe  folgende  Verbindungen  mit 
einander  in  Parallele  gestellt: 

CO  0  S02  0 

Kohlensaure  Schwefelsäure 

C2  H5  CO  OH  C2  H5  SO,  OH 

Aethylkohlensäure  Aethylechwefelsäure 

(Propionsäure) 

(c2  |c!4)cOOH  (Pi  |5)80,  OH 

Cbloräthylkohlensäure  Chlorathylschwefelslure 
(Chlorproplonsänre) 

(o,  |h«)coci  (c,  |5)bo,ci 

ChlorBthylcarbonchlorld  Chlorätbylsulfonchlorid 
(Chlorpropioxylchlorid) 

(o,  jgj,2)C00H  iNk>°'0H 
Amidoätbylkohlens&ure  Amidoäthylschwefele&ure 
(Alanin)  (Taurin) 

(c2  |ofi)COOH         (c»  |oh)s°2°h 

Oxy  ät  hylk  ohlensäure  Oxy  äth  yl  ■  chwefels  äu  re 

(Milchsäure)  (IsäthionsäureJ 

Kolbe  denkt  sich  die  S02  OH  enthaltenden  Säuren,  die  er  spä- 
ter Sulfonsäure  genannt  hat,  als  Abkömmlinge  der  wasserfreien 
Schwefelsäure,  wie  er  die  CO  OH  enthaltenden,  welche  er  als  Car- 
bonsäuren bezeichnet  hat,  als  Derivate  der  wasserfreien  Kohlensäure 
betrachtet. 

Da  ich  es  für  experimentgemässer  erachte  die  Carbonsäuren 
von  der  Ameisensäure  abzuleiten,  so  kann  mir  der  Gedanke,  ob  es 
nicht  möglich  wäre,  auch  die  Sulfonsäuren  von  einer  der  Ameisen- 
Rllure  analogen  Verbindung  abzuleiten. 

Wenn  man  die  Ameisensäure  als  eine  Verbindung  von  der 
Formel 

H 

CO      (als  Wasserstoffcarbonsäure) 

'  OH 

anzusehen  hat,  so  müsste  die  ihr  correspondirende  Sulfonsäure  fol- 
gende Zusammensetzung  haben: 

H 

S02 
OH 

Eine  solche  Verbindung  besitzen  wir  nun  nicht.  Wir  wissen  aber 
nach  Berthelots  Versuch,  dass  CO  sich  mit  KOH  zu  araeisen- 
saurem  Kali  verbindet.  Wenn  nun  CO  und  S02  in  vielen  ihren 
Verbindungen  soviel  Aehnlichkeit  zeigen,  so  dachte  ich,  muss  auch 
die  Verbindung,  welche  entsteht,  wenn  man  S02  mit  KOH  ver- 


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§10       Verhandlungen  des  naturhistorisch-medlrinischen  Vereins. 


einigt  (das  saure  schwefligsaure  Kali)  eine  dem  ameisensauren  Kali 
entsprechende  Verbindung  sein: 

H  H 
CO  S02 
OK  OK. 

Gehen  wir  noch  einen  Schritt  weiter  und  erinnern  uns  daran, 
dass  aus  ameisensaurem  Salz  oxalsaures  gebildet  wird,  wenn  wir 
aus  2  Mol.  des  ersteren  die  2  Atome  Wasserstoff  hinwegnehmen: 

H  —  CO  OK  COOK 

-H2=| 
H  —  COOK  COOK 

so  werden  wir  zu  der  Vermuthung  gefuhrt,  dass  auch  eine  dem 
oxalsauren  Kali  entsprechende  Verbindung 

SO.  OK 

I 

SO,  OK 

existiren  wird. 

Wir  haben  in  der  That  eine  solche  Verbindung  in  dem  unter- 
schwefelsauren  (dithiousauren)  Kali,  das  wir  uns  auf  ganz  ahn- 
liche Weise  aus  saurem  schwefligsauren  Salz  entstanden  denken 
können,  wie  das  oxalsaure  Salz  ans  dem  ameisensauren,  das  sich 
auch  dem  oxalsauren  Salz  ganz  entsprechend  beim  Erwärmen  zer- 
setzt. 

C2  04  Ka  c=  CO  -f  C03  K2 
S2  06  K2  as  S02  +  S04  K2 

Obgleich  diese  Analogie  überraschend  ist,  so  könnte  man  mir 
doch  den  Einwand  machon ,  das  ameisensaure  Salz  und  das  saure 
schwell  igsaure  Salz  lassen  sich  nicht  als  analoge  Verbindungen  be- 
trachten ,  weil  sich  das  saure  schwefligsaure  Salz  sehr  wesentlich 
von  dem  ameisensauren  dadurch  unterscheidet,  dass  jenes  an  die 
Stelle  seines  Wasserstoffs  1  Atom  Kalium  aufzunehmen  vermag, 
während  das  ameisensaure  Salz  dazu  nicht  im  Stande  ist.  Wir 
haben  aber  ein  ganz  entsprechendes  Verhalten  bei  Nitroform  und 
Chloroform,  die  trotz  dieses  Unterschieds  als  analoge  Verbindungen 
angenommen  werden. 

Wenn  ferner  die  Analogie  der  wasserfreien  Schwefelsäure  die 
1  Atom  Schwefel  und  3  Atome  Sauerstoff  enthält  mit  der  wasser- 
freien Kohlensäure,  die  1  Atom  Kohlenstoff  und  2  Atome  Sauer- 
stoff enthält,  die  also  iu  ihrer  Zusammensetzung  sehr  wesentlich  von 
einander  abweichen,  die  sich  ausserdem  noch  sehr  auffallend  dadurch 
von  einander  unterscheiden,  dass  die  letztere  mit  Wasser  keine  Ver- 
bindung eingeht,  während  sich  die  erstere  ungemein  leicht  damit 
verbindet  etc.  etc.,  wenn  diese  Analogie  trotzdem  zugegeben  wird, 
so  muss  man  auoh  die  Vergleichung  von  saurem  schwefligsauren 
Kali  mit  ameisensaurem  Kali  trotz  des  oben  angegebenen  Unter- 
schieds für  zulässig  halten. 


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Verhandlungen  des  natnrhietoriach-mediiinfachen  Vereins.  911 


Es  lag  nun  sehr  nahe,  auch  die  Verbindungen,  welche  durch 
Vereinigung  von  anderen  Substanzen  mit  Ameisensäure  entstehen, 
zu  vergleichen  mit  solchen ,  welche  durch  Vereinigung  derselben 
Substanzen  mit  saurem  schwefligsaureu  Kali  gebildet  werden. 

Wir  wissen  nach  den  Experimenten  von  Wislicenus,  dass 
sich  Ameisensäure  mit  Aldehyd  zu  Gährnngs-  d.  i.  Aethyliden- 
milchsäure  verbindet.  Wir  wissen  ferner  nach  den  Versuchen  von 
Bertagnini,  dass  sich  saure  schwefligsaure  Alkalien  mit  Alde- 
hyd vereinigen  zu  sog.  aldehydschwefligsauren  Salzen.  Diese  letzte- 
ren Verbindungen  hielt  man  bisher  ebenso  wie  die  Verbindungen 
von  sauren  schwefligsauren  Alkalien  mit  andern  Aldehyden  und  mit 
Ketonen  entweder  für  molekulare  Aneinanderlagerungen  oder  für 
Verbindungen,  welche  sich  von  dem  sauren  schwefligsaureu  Natron 
so  ableiten ,  dass  an  die  Stelle  von  1  Atom  Wasserstoff  in  dem- 
selben z.  B.  das  Radical  C2H3  aus  dem  Aetbylaldehyd  eingetre- 
ten sei. 

Ich  nehme  an ,  dass  das  aldehydschwefligsaure  Kali  mit  dem 
milchsauren  Kali  ebenso  analog  ist,  wie  sulfobenzolsaures  Kali  mit 
Benzoösaurem  und  sage,  wenn  die  Bildung  der  Milchsäure  nach 
folgender  Gleichung  von  Statten  geht: 

CH3  CH3 

t  I 
H — C=0  und  H  -  CO  OH  giebt  H— 0— OH 

Aldehyd  CO  OH 

Ameisensäure  Milchsäure 

so  verläuft  die  Bildung  von  aldehydschwefligsaurem  Kali  ganz  ana- 
log wie  folgt: 

CH8  C — OH 

H-C=0  und  H-S02OK  giebt  H-C-OH 

I 

Aldehyd  S02  OK. 

säur,  schwefligs.  Kall   Aldehydschwefllgs.  Kali. 

Wir  wissen  nuu  aber,  dass  das  aldehydschwefligsaure  Kali  beim 
Erwärmen  mit  Alkalien  oder  Wasser,  beziehungsweise  verdünnten 
Säuren  wieder  Aldehyd  ausgiebt. 

Ich  halte  die  Zersetzung  des  aldehydschwefligsauren  Kali'« 
durch  Kalihydrat  für  ganz  analog  mit  der,  welche  KekuU,  Wart*, 
Dusart  in  neuerer  Zeit  bei  dem  sulfobenzolsauren  Kali  beobach- 
tet haben: 

C6  H5  C6  H5 

und  K  OH  giebt  |  -f-KSO^OK. 
S06OK  OH 


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911         Verhandinngen  des  naturhiBtorisch-medlzinischen  Verein*. 

C  H3  CHg 


  1 


H — C— OH  und  KOH  giebt  H— C=OH  undK-S04  OK 

S02  OK  OK 

Wirkt  Wasser  (in  Gegenwart  von  Säuren)  ein,  so  treten  nur 
die  Bestandtheile  von  1  Mol.  Wasser  mit  dem  aldehydschweflig- 
sauren  Kali  in  Reaction : 

CHS  CHS 
I  nndH— SOjOK. 

H— C-OH  und  HÖH  giebt  H— C-OH 

I  '  I 

S02  OK  OK 

Die  Verbindung  CH3 

H-C-OH 
I 

OH 

(Aethylidenglycol) 
ist  nicht  existenzfähig,  sie  zersetzt  sich  sofort  in 

CH3 

|         und       H  OH 
H-C=0 
Aethylldenoxyd  Wasser. 

Säuron  zersetzen  das  saure  schwofligsaure  Kali  weiter  z.  B.  Chlor- 
wasserstoff in: 

SO.,,  C1K  und  HÖH. 

Ich  dachte  nun,  wonn  Milchsäure  eine  der  Aldehydschwefiigsäare 
analoge  Constitution  bat,  so  wird  sie  sich  auch  gegen  Wasser  (bei 
Gegenwart  von  Säuren)  der  letzteren  ähnlich  verhalten,  d.  b.  sich 
nach  folgender  Gleichung  zersetzen: 

CH3  CH, 

H-C— OH  und  HÖH  giebt  H— COH  und  H-CO OH. 

I  I 
CO  OH  OH 

Milchsäure  Aethylidenglycol  Ameisensäure 

wobei  natürlich  der  Aethylidenglycol  wieder  zerfallt  in  Aldehyd 
und  Wasser. 

(Schluss  folgt) 


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Hr.  58.  HEIDELBERGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR 


Verhandlungen  des  naturkistorisck  -  medizinischen 

Vereins  zu  Heidelberg. 


(SchluBB.) 

Ich  erhitzte  daher  Milchsäure  mit  verdünnter  Schwefelsäure 
mehrere  Stunden  bei  130°  im  zugoschmolzenen  Rohr.  Beim  Oeffnen 
des  Rohrs  zeigte  sich  starker  Aldehydgeruch  (bei  Anwendung  von 
Säure,  die  aus  gleichen  Theilen  Schwefelsäurehydrat  und  Wasser 
bestand  war  von  gebildetem  Kohlenoxyd  Druck  im  Rohr).  Beim 
schwachen  Erwärmen  des  Röhreninhalts  auf  dem  Wasserbad  destil- 
lirte  reichlich  Aldehyd  über.  Der  Rückstand  im  Destillations- 
gefäss  wurde  stark  mit  Wasser  verdünnt  und  weiter  auf  freiem 
Feuer  destillirt.  Das  saure  Destillat  wurde  mit  kohlensaurem  Natron 
neutralisirt  und  abgedampft.  Das  erhaltene  Salz  war  ameisen- 
saures  Natron. 

Hieraus  scheint  mir  hervorzugehen ,  dass  sich  die  Milchsäure 
nach  obiger  Gleichung,  also  ganz  analog  dem  aldehydschwefligsauren 
Kali,  zersetzt  hat.  Die  ersten*  bildot  sich  also  in  ganz  analoger 
Weise  wie  das  letztere  und  zersetzt  sich  auch  in  analoger  Weise, 
aber  der  Bildungsprocess  wie  der  Zersetzungsprocess  vollzieht  sich 
bei  der  ersteren  schwieriger  als  bei  dem  letzteren. 

Nach  meiner  Ansicht  steht  die  Aldehydschwefligsäure  zur 
Gährungsmilcbsäure  in  derselben  Beziehung,  wie  die  Isäthionsäure 
zur  Fleischmilchsäure  oder,  die  Aldehydschwefligsäure  zur  Isäthion- 
säure in  derselben  Beziehung,  wie  die  Gährungsmilchsäure  zur  Fleisch- 
säure : 

CH3  CH8 

I  I 
H-COH  H— COH 

I  I 

CO  OH  S02OH 

Gährungsmilchsäure  Aldebydschwefligs&ure. 

H2COH  HoOOH 

I  I 
Ho  C  Ho  C 

I  I 

CO  OH  S02OH 

Fleischmilchsäure  Is&thlonsfture. 
Kolbe  nimmt  die  Isäthionsäure  als  die  der  Gährungsmilch- 
säure  parallele  Verbindung  an,  und  in  neuester  Zeit  tbut  diess  auch 
LDL  Jahrg.  12.  Heft.  58 


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914       Verhandlungen  des  naturhlstorUch-medtzinischen  Vereins. 


Kekule,  Nach  den  oben  gegebenen  Betrachtungen  bin  ich 
rer  Ansicht.  Dass  die  Isäthionsäure  von  dem  Aethylen  abstammt, 
zeigt  schon  die  Bildung  derselben  durch  Oxydation  von  Aethylen- 
oxysulfbydrat  mit  Salpetersäure,  welche  Carius  beobachtet  bat, 
und  ihr  üebergang  in  Methionsäure. 

Ich  stimme  daher  auch  nicht  mit  Kolbe  in  der  Ansicht  über- 
ein, dass  das  Tauri n  die  dem  Alanin  entsprechende  S02- Verbindung 
ist,  sondern  ich  bin  der  Meinung,  dass  das  Taurin  und  die  nach 
Gibbs  daraus  darstellbare  Isäthionsäure  ebenso  wie  die  Fleisch- 
milchsäure  das  Radical 

H2C— 


H3<L- 


enthalten. 

Zum  Schluss  noch  einige  Bemerkungen  über  die  nähere  Con- 
stitution des  Taurins.  Bekanntlich  hat  Strecker  im  Jahr  1854 
Taurin  künstlich  dargestellt  durch  Erhitzen  von  isäth ionsaurem 
Ammoniak.  Man  hat  danach  angenommen,  das  Taurin  sei  das  Amid 
der  Isäthionsäure,  trotzdem,  dass  das  künstliche  Taurin  Streckens 
ebensowenig  wie  das  natürliche  mit  Kalilauge  Ammoniak  entwickelt. 
Kolbe  hat  dann  im  Jahre  1862  ebenfalls  Taurin  künstlich  er- 
zeugt, indem  er  Ammoniak  auf  chloräthylschwefligsaures  Silber  ein- 
wirken Hess.  Das  auf  diese  Weise  entstandene  Product  zeigte  wie 
das  Strecker' sehe  alle  Eigenschaften  des  natürlichen  Taurins. 

Wenn  man  die  Bildung  des  künstlichen  Taurins  nach  der 
Methode  von  Strecker  mit  der  gewöhnlichen  Zersetzungsweise 
der  Ammoniaksalze  erklären  will,  dann  muss  man  annehmen,  dass 
sie  in  folgender  Weise  von  Statten  gegangen: 

Ca  H4  OH  C,  H4  OH 

SOaOtfHt     Ha°~~"  SOgNH, 

Dass  also  Isäthionsäureamid  entstanden  ist.  Dieses  müsste  aber, 
wie  auch  Kolbe  bemerkt  mit  Kalilauge  Ammoniak  entwickeln  and 
es  könnte  ein  solches  Product  nicht  identisch  sein  mit  dem  von 
Kolbe  dargestellten ;  denn  dieses  wäre  von  dem  Strecker' scheu 
eben  so  verschieden  wie  Glycocoll  von  Glycolamid. 

Da  nun  nach  den  Angaben  von  Strecker  und  von  Kolbe 
die  resp.  Abkömmlinge  der  Isäthionsäure  beide  mit  dem  natür- 
lichen Taurin,  also  auch  mit  einander  identisch  sind,  da  ferner  das 
Taurin  weder  die  Eigenschaften  einer  Säure,  noch  die  einer  Basis 
zeigt,  so  halte  ich  es  für  gerechtfertigt,  die  Annahme  zu  macber. 
dass  das  Taurin  weder  ein  Amid ,  noch  eine  Amidosäure  ist,  son- 
dern ein  Ammoniumsalz  von  folgender  Constitution: 

H3N — CHj 

0<  | 
0,S  —  CH2 


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Verhandlungen  des  naturhistorisch-medizinischen  Vereint, 


916 


also  die  Säureseite  mit  der  Amidseite  verbunden  ist.  Macht  man 
diese  Annahme,  dann  lässt  sich  auch  ein  Mittel  Anden,  zu  erklären, 
wie  es  möglich  ist,  dass  Strocker  und  Kolbe  auf  zwei  ganz 
verschiedenen  Wogen  zu  demselben  indifferenten  Körper  gekommen 
sind.  Man  kann  sich  nämlich  denken,  dass  sich  der  Process  von 
Strecker  so: 

H3 

HO — CH2  N — CH2 
I  0<  | 

H4NOS-CH2  —  HaO*)=        S— CH2 
02  02 
IsÄtbionsaureB  Ammoniak  Tatirin 

der  Process  von  Kolbe  so: 

H3 

C1CH3  N-CH. 

|    +  (NH3)a=  0<      l  a+NH4Cl 
HOS-CH2  8— CHj 

02  02 
Chloräthylschweflig-  Taurin 
sture 

vollzogen  hat. 

Wenn  man  annehmen  wollte,  das  Taurin  bestehe  aus  2  Mol. 
Amidoäthylschwefligsäure,  die  sich  gegenseitig  sättigen: 

02  H3 
H2  C  —  8  —  0 — N  —  CHa 

I  I 
H2C  —  N — 0  —  S  —  CHj 

H3  02 

so  wäre  damit  zwar  auch  seine  Indifferenz  erklärt,  nicht  aber  die 
Identität  des  nach  dem  Strecker '  sehen  Verfahren  dargestellten 
mit  dem  von  Kolbe  gewonnenen  Product. 

Ich  bin  damit  beschäftigt,  das  künstliche  Taurin  nach  beiden 
Verfabrungsweisen  darzustellen,  um  weitere  Aufschlüsse  über  seine 
nähere  Constitution  zu  erhalten. 


20.    Vortrag  des  Herrn  Dr.  Erb:     »Ueber  die  soge- 
nannte wachsartige  Degeneration  der  quergestreif- 
ten Muskelfasern«,  am  29.  November  1867. 

(Das  Manuskript  wurde  alsbald  eingereicht.) 

Die  Ansichten  der  einzelnen  Beobachter  über  die  von  Zenker 
als  »wachsartige  Degeneration«  beschriebene  Veränderung  der  Mus- 
keln sind  keineswegs   übereinstimmend.     Die   Einen  (Zenker, 


•)  Das  Wasser  würde  in  diesem  Fall  gebildet  worden  sein  aus  dem 
Hydroxyl,  das  mit  CH,  verbunden  war  und  aus  1  Atom  Wasserstoff  des 


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016        Verhandlungen  des  naturhistorisch-medizlnischen  Vereins. 

Waldeyer,  0.  Wober,  C.  E.  Hofmann)  halten  dieselbe  für 
eine  während  des  Lebens  schon  entstehende  mehr  oder  weniger 
schwere  Veränderung  der  Muskelsubstanz,  Uber  deren  näheres  Zn- 
standekommen allerdings  die  Ansichten  wieder  getbeilt  sind;  die 
Andern  dagegen  (Klob,  VV.  Krause)  erklären  die  wachsartige 
Degeneration  in  vielen  Fällen  ftlr  eine  Leichenerscheinung ,  deren 
Bedeutung  für  die  Pathologie  des  Muskels  vielfach  überschätzt 
worden  sei.  Da  die  sog.  »wachsartige  Degeneration«  eine  wie  es 
scheint,  äusserst  häufig  vorkommende  Erscheinung  ist,  und  ihre  richtige 
Würdigung  für  die  Auffassung  vieler  krankhafter  Vorgänge  im  Mus- 
kel von  fundamentaler  Bedeutung  ist,  so  wäre  eine  Lösung  der 
oben  angedeuteten  Widersprüche  sehr  erwünscht.  Die  im  folgen- 
den kurz  mitzutheilenden  Versuche  und  Beobachtungen  liefern  viel- 
leicht einen  kleiuen  Beitrag  zu  dieser  Lösung.  Diese  Versuche 
wurden  gelegentlich  einer  zu  andern  Zwecken  unternommenen  Expe- 
rimeutaluntersuchung  angestellt,  bei  welcher  nur  in  den  Muskeln 
die  wachsartige  Degeneration  unter  so  wechselnden  Umständen  zur 
Beobachtung  kam,  dass  ich  es  für  nothwendig  hielt,  ihr  Vorkom- 
men etwas  näher  zu  prüfen. 

Die  Untersuchung  erstreckte  sich  zunächst  auf  ganz  normale 
Muskeln.  Die  Untersuchung  sehr  zahlreicher  Präparate  vom  Frosch, 
Kaninchen,  Hund  und  Menschen  zeigte,  dass  wenn  man  ganz  frische, 
noch  lebende  Muskelpräparate  herausschneidet  und  rasch  unter  dem 
Microscop  untersucht,  sich  an  denselben  keine  Spur  von  der  wachs- 
artigen Degeneration  findet ;  dass  aber,  wenn  man  diese  Präparate 
in  einer  indifferenten  Flüssigkeit  (Blutserum,  filtrirtes  Hühner- 
ei  weiss,  Jodserum,  lu/0  Kochsalzlösung)  conservirt,  nach  kurzer 
Zeit  (7a — 1  Stunde)  sich  Veränderungen  in  den  Muskelfasern  ein- 
stellen, welche  in  ihrem  Aussehen  durchaus  mit  der  wachsartigen 
Degeneration  identisch  sind.  Dass  wirklich  diese  Identität  des 
Aussehens  besteht,  kann  keinem  Zweifel  uuterliegen;  einmal  passen 
die  Beschreibungen  und  Abbildungen  Zenker's  und  Waldeyer  's 
genau  auf  die  Veränderungen,  welche  sich  an  meinen  Präparaten 
finden  und  dann  habe  ich  auch  durch  directen  Vergleich  mit  Typhus- 
muskeln, welche  die  Degeneration  zeigten,  diese  Identität  constatirt. 

Als  nächste  Veranlassung  zu  dieser  eigenthümlichen  Verände- 
rung bieten  sich  zunächst  zwei  Momente  dar:  die  Veränderung 
der  Muskelfasern  und  die  Todtenstarre.  Um  ihre  Wirkung 
etwas  näher  abzugrenzen,  wurde  zunächst  geprüft,  ob  dieselbe  Ver- 
änderung der  verwuudeten  Fasern  auch  eintrete,  wenn  dieselben 
in  dem  lebenden  Tbierkörper  bleiben.  Eine  Reibe  von  Versuchen 
an  Fröschen ,  Kaninchen  und  Hunden  ergab  nun,  dass  dieselben 
Veränderungen  auch  an  den  Muskelfasern  noch  lebender  Thiere  sich 
einstellen,  sobald  diese  Fasern  verwundet  werden.  Wenn  demnach 
allerdings  die  Verwundung  der  Fasern  als  das  Hauptmoment 
für  die  Entstehung  der  wachsartigen  Degeneration  erscheinen  könnte, 
so  zeigt  doch  eine  genauere  Ueberlegung  unter  Berücksichtigung 


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Verhandlungen  des  nfthirbistoriaeh-medudnischen  Vereins.  917 

der  Aufeinanderfolge  der  Erscheinungen ,  dass  unmöglich  die  Ver- 
wundung an  und  für  sich  die  fragliche  Muskelveränderung  hervor- 
rufen kann.  Es  scheint  vielmehr,  dass  auch  an  den  verwundeten 
Muskeln  des  noch  lebenden  Thiers  erst  das  Auftreten  eines  der 
Todtenstarre  ähnlichen,  vielleicht  mit  ihr  identischen  Gerinnungs- 
vorgau gs  erforderlich  ist,  um  die  Erscheinungen  der  »waebsartigen 
Degeneration«  hervorzubringen.  Die  Verwundung  muss  dann  als 
prädisponirendes  Moment  betrachtet  werden,  als  das  Moment,  wel- 
ches die  >wachsartigo  Degeneration«  unter  dem  Einflüsse  der 
Todtenstarre  erst  ermöglicht,  während  die  Todtenstarre  in  der  un- 
verwundeten normalen  Muskelfaser  nicht  im  Stande  ist,  diese  Ver- 
änderung hervorzubringen.  Dass  an  lebenden  Muskeln  es  nicht  die 
active  Contraction  der  Muskelfasern  ist,  welche  das  Entstehen  der 
wachsartigen  Degeneration  bedingt,  wurde  durch  Versuche  an  ge- 
lähmten Muskeln  von  Fröschen  und  Kaninchen  erwiesen,  an  wel- 
chen sich  nach  der  Verwundung  die  »Degeneration«  mit  derselben 
Schnelligkeit  und  Intensität  entwickelte,  wie  an  nicht  gelähmten 
Muskeln. 

In  allen  bisher  besprochenen  Versuchen  konnte  dor  Einftuss 
der  Verwundung  von  dem  der  Todtenstarre  nicht  getrennt  werden. 
Selbst  in  den  am  lebenden  Thiere  angestellten  Versuchen  konnte 
das  Auftreten  von  GerinnuugsvorgUngen  nicht  mit  Sicherheit  aus- 
geschlossen werden.  Man  musste  desshalb  nach  Fällen  suchen,  in 
welchen  mit  Sicherheit  bloss  der  Einfluss  der  Todtenstarre  vor- 
handen ist.  Es  mussten  unverletzte  Muskeln  vor  und  nach  der 
Todtenstarre  untersucht  werden:  mit  andern  Worten,  es  handelte 
sich  darum ,  das  postmortale  Entstehen  der  wachsartigen  Degene- 
ration in  unverletzten  Muskelfasern  zu  constatiren. 

Nur  auf  diesem  Wege  kann  man  zur  Entscheidung  der  Frage 
gelangen,  ob  die  sog.  wachsartige  Degeneration  in  einer  Reihe  von 
Fällen  Leichenerscheinung  ist  oder  nicht.  Es  muss  entweder  nach- 
gewiesen werden,  dass  die  Degeneration  in  dem  noch  lebenden  und 
unversehrten  Muskel  existirt,  oder  es  muss  ihr  postmortales  Ent- 
stehen mit  Sicherheit  constatirt  sein. 

^tir  die  letztere  Beweisführung  kann  ich  nun  eine  Reihe  von 
Tbatsachen  beibringen.  Ich  fand  bei  Gelegenheit  einer  Untersuchung 
über  peripherische  Lähmungen ,  dass  sich  nach  Nervenquetschung 
bei  Kaninchen  in  den  gelähmten  Muskeln  nach  einiger  Zeit  die 
»waebsartige  Degeneration«  in  grosser  Ausdehnung  finde.  Bei  sol- 
chen Thieren  nun  untersuchte  ich  die  Muskeln  noch  während  des 
Lebens  und  unmittelbar  nach  dem  Tode,  noch  vor  dem  Eintritt  der 
Todtenstarre;  dann  wieder  später  nach  Ablauf  der  Todtenstarre. 
In  den  verschiedensten  Stadien  der  Lähmung  ergab  sich  nun  con- 
stant  in  den  ganz  frischen  Präparaten  nie  eine  Spur  von  Degene- 
ration ;  während  sich  bei  der  spätem  Untersuchung  in  einigen 
Fällen  in  vielen  Präparaten,  bei  einzelneu  Fällen  sogar  in  allen 
Präparaten  mehr  oder  weniger  zahlreiche  degenerirte  Fasern  fan- 


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918        Verbandlungtn  des  n»turhUU>ri»eh-medixioiscb«n  Verein 


den.  Da  dio  Zahl  der  angefertigten  Präparate  gross  genug  ist,  um 
die  Wirkung  des  Zufalls  auszuschliessen,  scheint  es  mir  durch  diese 
Beobachtungen  erwiesen,  dass  wenigstens  bei  diesen  Läh- 
mungen die  wachsartige  Degeneration  während  des 
Lebens  nicht  existirt,  so nd er n  er 1 1  pos t mor tal  unter 
dem  E  inf  1  us  s  der  To  dt  enstarre  entsteht.  Es  wird  dadurch 
allerdings  die  Annahme  nothwendig,  dass  schon  während  des  Lebens 
eine  —  nicht  näher  definirbare  —  Veränderung  in  den  Muskelfasern 
entsteht,  welche  das  Eintreten  der  Veränderung  unter  dem  Einfluss 
der  Todtenstarre  auoh  ohne  vorausgegangene  Verletzung  ermöglicht. 
Es  dürfte  wohl,  wie  mir  durch  eine  neuere  Beobachtung  an  einer 
Typhusleiche  wahrscheinlich  geworden  ist ,  auch  für  den  Typhus 
möglich  sein,  durch  eine  methodische  Untersuchung  den  Beweis  zu 
liefern,  dass  die  fragliche  Veränderung  eine  Leichenerscbeinung  ist. 

Ais  Resultat  vorstehender  Beobachtungen  glaube  ich  folgende 
Sätze  aufstellen  zu  können : 

1)  Die  sog.  wach  sartige  Degen  er  ation  findet  sieb 
an  allen  gesunden  Muskeln,  sobald  dieselben  ver- 
letzt worden  sind,  mögen  sie  mit  dem  lebenden  Körper  in 
Verbindung  bleiben  oder  nicht. 

2)  In  manchen  pathologisch  veränd er ten  Muskeln 
tritt  dieselbe  Veränderung  nach  dem  Tode  auch  in 
unverletzten  Pasern  ein.  Die  >  wachsartige  Degene- 
ration« ist  in  diesen  Fällen  Leichenerscheinung. 

In  diesen  letzteren  Fällen  kann  nun  das  Auftreten  der  wachs- 
artigen Degeneration  in  den  Muskeln  keineswegs  als  der  Ausdruck 
einer  numerischen  Atrophie  des  Muskels,  als  der  Beweis  für  einen 
unrettbaren  Zerfall  der  Fasern  angesehen  werden.  Das  Auftreten 
der  Degeneration  beweist  uns  nur,  dass  eine  gewisse  Veränderung 
der  quergestreiften  Substanz  vorhanden  sein  muss.  Es  ist  möglich, 
dass  diese  Veränderung  eine  tiefgreifende ,  auch  im  Leben  schon 
zur  endlichen  Resorption  der  Faser  führende  ist;  aber  bewiesen 
ist  das  nicht.  Das  Auftreten  der  Veränderung  in  jeder  normalen 
Faser,  die  eine  Gontinuitätstrennung  erlitten  hat,  scheint  vielmehr 
dafür  zu  sprechen,  dass  es  sich  nicht  um  sehr  tiefgreifende,  picht 
um  irreparable  Veränderungen  handelt. 

21.  Vortrag  des  Herrn  Professor  H.  Knapp:  »Oeber 
plastische  Bindehautoperationen  bei  Hornhaut-  und 
Bindehau  tcancroidenc,  am  13.  Dezember  1867. 

(Das  Manuscript  wurde  sofort  eingereicht) 

Die  plastischen  Operationen  der  Bindehaut,  bisher  zu  wenig 
geübt,  sind  noch  einer  weiteren  Ausbildung  fähig.  Besonders  gute 
Dienste  leisteten  sie  mir  bei  den  nicht  seltenen  Geschwülsten,  die 
ihren  Ausgangspunkt  in  dem  Limbus  Conjunctivae  nehmen  and 


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Verhandlungen  des  naturhistoriach-medlzintschen  Vereins.  919 

wohl  meistens  in  die  Grnppe  der  Cancroide  gehören.  Ich  operire  die- 
selben in  der  Weise,  dass  ich  ihren  episkleralen  Theil  so  umschneide 
dass  ein  Bindehautsaum  von  ungefähr  2  Mm.  in  ihrer  Umgrenzung 
mit  entfernt  wird.  Wie  bei  der  Enukleation  des  Auges  die  Binde- 
baut um  die  Hornhaut  mit  der  Scbeere  ringförmig  eingeschnitten 
wird,  so  thue  ich  es  hier  um  den  Tumor  herum.  Dieser  wird  dar- 
auf mit  einer  breiten  Hakenpincette  an  der  Basis  fest  gehalten  und 
mit  dem  Staarmesser  in  grossen  glatten  Zügen  aus  seiner  Unter- 
lage, Hornhaut  und  Sklera,  herausgeschnitten,  wobei  ich  von  die- 
ser Unterlage  eine  dünne  Schicht  mit  fortnehme.  Ist  dieses  ge- 
schehen, so  bilde  ich  zwei  seitliche  Bindehautlappen,  ziehe  sie  heran 
and  vereinige  sie  mit  zwei  Nähten,  wovon  die  peripherische  immer 
den  anliegenden  conjunktivalen  Wundrand  mitfasst,  damit  nicht 
nur  hier  keine  Lücke  entsteht,  sondern  auch  die  vereinigten  Lappen 
aasgebreitet  und  von  der  wunden  Hornhaut  abgezogen  erhalten 
werden. 

22.  Vortrag  des  Herrn  Professor  H.  Knapp:  tüeber 
Staphylomabtragung  und  Vereinigung  der  Wunde 

durch  Bindehautnäthe  «,  am  13.  Dezember  1867. 

(Das  Manuscript  wurde  am  19.  Dezember  1867  eingereicht.) 

Redner  hörte  in  London,  dass  auf  die  Crit oh  ett*  sehe  Sta- 
phylomamputation  (mit  nachfolgender  Vereinigung  der  Wunde  durch 
Nähte,  welche  durch  die  Sklera  und  den  Ciliarkörper  geführt  wer- 
den) sympathische  Entzündung  des  andern  Auges  gefolgt  war.  Er 
schlägt  deshalb  die  Vereinigung  durch  Conjunktivalsuturen  vor,  und 
ein  Fall,  den  er  auf  diese  Weise  operirte,  lieferte  eine  ebenso  voll- 
kommene Vereinigung  und  rasche  Heilung  der  Wunde,  als  es  die 
Critchett'scbe  Operation  thut,  ohne  die  Gefahren  dieser  duroh  Ciliar- 
körperprozesse  befürchten  zu  lassen. 

23.  Vortrag  des  Herrn  Professor  H.  Knapp:  »lieber 
Pterygiumoperation  durch  doppelt e  Transplan tation 

und  plastische  Deckung  des  Defectes«, 
am  13.  Dezember  1867. 

(Das  Manuacript  wurde  sofort  eingereicht.) 

Redner  fand,  dass  die  Desmar res' sehe  Transplantation  des 
Flügelfells  einen  unschönen  Wulst  im  innern  Augenwinkel  setzte, 
in  manchen  Fällen  auch  nicht  heilte  und  daher  Recidive  er- 
zeugte. Er  theilt  deshalb  das  abgelöste  Pterygium  in  der  Mitte 
und  verpflanzt  die  eine  Hälfte  in  den  oberen,  die  andere  in  den 
unteren  Uebergangstheil ,  während  er  gleichzeitig  die  ganze  wunde 
Skleralstelle  plastisch  deckt  durch  aufwärts  und  abwärts  gebildete 
und  herbeigezogene  Bindehautlappen.    Seit  7  Jahren  operirt  er 


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920         Verhandlungen  des  natnrhistorigch-medizinischen  Vereins. 

Pterygien  in  dieser  Weise  und  findet  die  Ergebnisse  des  Verfah- 
rens ganz  befriedigend,  namentlich  besser  als  die  der  andern  Ver- 
fahrensarten, welche  er  so  ziemlich  alle  versucht  hat. 


24.  Mittheilung  des  Herrn  Professor  H.  Knapp:  »Ueber 
Operation  eines  Symblepharon  totale  des  unteren 
Lides«,  am  13.  Dezember  1868. 

(Das  Manuscrlpt  wurde  am  19.  Derember  eingereicht  ) 

Ein  8  jähriger  Knabe  hatte  eine  Kalkverbrennuug  vor  4  Mo- 
naten erlitten  und  eine  völlige  Verwachsung  des  untern  Lides  mit 
der  Sklera  und  dem  unteren  Hornhautabschnitt  davongetragen.  Vom 
Lidrand  brückte  sich  ein  4  Mm.  breiter,  narbiger  Bindehautstreifen 
gerade  auf  den  Augapfel  hinüber,  an  welchem  eine  weiche,  kirch- 
korngrosse  Excrescenz  sass.  Redner  löste  die  Verwachsung  bis 
zur  Insertion  des  unteren  geraden  Augenmuskels,  schnitt  das  un- 
brauchbare Narbengewebe  fort,  bildete  zwei  Lappen  ans  der  oberen 
Bindehaut  des  Augapfels,  nähte  sie  im  unteren  Uebergangstheil 
fest ,  indem  er  zugleich  damit  den  schmalen  Rest  der  narbigen 
Bindebaut  des  unteren  Lides  vereinigte  und  deckte  sc-  die  blosslie- 
gende  Sklera  bis  auf  eino  kleine,  dreieckige  Stelle  unter  der  Hornhaut 
Die  Wunde  heilte  per  primam  und  die  Form  und  Bewegung  des 
Auges  und  Lides  wurden  befriedigend  wieder  hergestellt.  Wiewobl 
der  untere  Theil  des  Bindehautsacks  verkümmert  blieb,  so  war  doch 
die  Verwachsung  von  Lid  und  Bulbus  geheilt,  die  Hornhaut  frei 
und  die  Oeffuung  und  Schliessung  der  Lidspalte  vollkommen. 


25.  Vortrag  des  Herrn  Professor  H.  Knapp:  >Ueber 
Sarkom  und  Gliosarkom  des  Auges«,  am  S.Januar  1868. 

(Das  Manuscrlpt  wurde  sofort  eingereicht) 

Meine  Klinik  hat  mir  seit  mehreren  Jahren  ein  recht  reiches 
Material  an  intraokularen  Geschwülsten  geliefert  und  ich  habe  nicht 
ermangelt,  dasselbe  klinisch  und  anatomisch  so  genau  zu  unter- 
suchen als  es  meine  Zeit  und  Fähigkeiten  gestatteten. 

Die  8arkome  sind  die  häufigsten  der  intraokularen  Geschwülste. 
Ich  will  mir  erlauben  Ihnen  eine  kurze  Mittheilung  über  die  ana- 
tomischen Eigenschaften,  soweit  ich  sie  bis  jetzt  an  sechs 
dieser  Geschwülste  kennen  lernte,  zu  machen. 

Die  zusammensetzende  Elemente  der  Augensarkome 
in  ihrem  ausgebildeten  Zustande  sind  :  1)  Z e  1  le  n.  Diese  sind  ent- 
weder rund,  oder  spindelförmig  mit  den  Uebergangsformen 
beider,  oval  und  ästig.  Sämmtliche  Zellen  besitzen  Kerne  und  meist 
auch  KernkÖrperchen ,  welche  beide  in  der  Regel  schon  ohne  Rea- 
gentien  gross  und  scharf  hervortretend  sind.  Die  Hülle  fehlt  offen- 


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Verhandlungen  des  n&tnrhistoriscn-medteinischen  Vereine.  92t 

bar  bei  den  jüngeren  Zellen  beider  Arten,  namentlich  der  runden, 
während  sie  in  älteren  als  scharfe  Contour  hervortritt.  Der  Zellen- 
inhalt, das  Proto-  oder  Cytoplasma,  ist  bei  den  spindelförmigen 
meist  reichlich,  dagegen  bei  den  kleineren  runden  Zellen  immer  ein 
dünner  Mantel.  Es  ist  seiner  Natur  nach  amorph  oder  feinkörnig, 
niemals  fand  ich  es  längs  oder  quergestreift. 

2)  Eine  Zwischensubstanz,  in  welcher  die  Zellen  einge- 
bettet liegen.  Diese  ist  meistens  amorph  oder  in  erhärteten  Prä- 
paraten feinkörnig,  manchmal  auch  streifig,  zwar  nicht  wie  die 
lockigen  Fibrillenbündel  des  Bindegewebes,  sondern  in  breiteren, 
steifen,  unregelmässig  mit  einander  verflochtenen  Bändern.  Wenn 
auf  irgend  eine  Art  die  zelligen  Gebilde  entfernt  sind,  so  stellt  der 
Zwischenzellstoff  ein  vielgestaltiges,  unregelmässiges  Maschenwerk 
(Reticulum)  dar,  und  seine  Menge  wird  auf  diese  Weise  reeht  an- 
schaulich. In  manchen  Formen  ist  die  Zwischensubstanz  sehr  spär- 
lich, besonders  bei  Spindelzellensarkomen,  an  andern  so  reichlich, 
tlass  dadurch  Uebergangsforncen  zu  den  Fibromen  gebildet  werden. 

3)  Pigment  kommt  als  autochtones  in  braunen  und 
schwarzbraunen  runden  Körnchen  und  als  hämorrhagisches  in  röth- 
lichen  und  gelblichen  Körnern  vor.  Ersteres  ist  das  überwiegende 
und  seine  Erzeugung  wird  von  Virchow  der  metabolischen  Thätig- 
keit  der  Zellen  zugeschrieben.  Das  braune  Pigment  haftet  an  den 
Zellen  und  zwar  fast  ausschliesslich  am  Protoplasma. 

4)  Gefässe  sind  in  den  Sarkomen  immer  vorhanden,  aber 
in  wechselnder  Menge.  Bei  den  Anfangsformen  kann  man  sie  noch 
als  die  erhaltenen  Blntcanäle  des  Muttergewebes  nachweisen,  später 
verschwinden  diese  in  der  Masse  der  neugebildeten. 

5)  Fett  ist  das  einzige  Produkt  regressiver  Metamorphose, 
welches  ich  in  den  von  mir  untersuchten  Fällen  fand,  doch  kom- 
men auch  Kalkablagerungen  darin  vor.  Die  Verfettung  ist  sehr 
ausgedehnt  und  häufig  bei  den  Sarkomen,  die  Verkalkung  jeden- 
falls eingeschränkter  als  bei  den  Gliomen. 

In  Bezug  auf  den  Sitz  kommen  die  Sarkome  in  allen  drei 
Bezirken  der  Gefässhaut  des  Auges  primär  vor,  am  seltensten  in 
der  Iris,  am  häufigsten  in  der  Cboroides. 

Die  Ausbreitung  des  Sarkoms  geschieht  zuerst  immer  in 
der  Continuität  des  Muttergewebes.  In  der  Aderhaut  wächst  es 
es  nach  allen  Richtungen  bin  und  bildet  runde  oder  elliptische 
Knoten,  Diese  werden  nicht  selten  von  kleineren  Nebeuknoten  um- 
lagert. Im  Ciliarkörper  verbreitet  sich  die  Neubildung  der  Art,  dass 
zuerst  das  Stroma  desselben  ergriffen  wird ,  dann  schieben  sich 
Gänge  von  Sarkomgewebe  zwischen  Sklera  und  Ciliarmuskel  ein 
und  von  diesen  und  dem  Stroma  der  Fortsätze  kleinere  zwischen 
die  Bündel  der  glatten  Muskelzellen.  Diese  werden  damit  immer 
mehr  zusammengedrängt  und  verschwinden  zuletzt  ganz.  Dann  dringt 
die  Freradbildung  in  Irisstroma  ein,  bildet  daselbst  kugelförmige 
Geschwülste,  welche  einzelne  Abschnitte  und  die  ganze  Iris  zerstören. 


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922        Verhandlungen  des  naturhiatoriach-medkinlschen  Vereint. 

Die  Netzbant  üherlagert  eine  Zeit  lang  die  Geschwulst, 
wird  dann  in  ihrem  ganzen  Umfang  abgehoben,  doch  so,  dass  sie 
die  Geschwulst  oder  einen  Theil  derselben  dauernd  überzieht,  wäh- 
rend sie  an  den  geschwulstfreien  Stellen  der  Aderhaut  durch  serösen 
Erguss  von  dieser  getrennt  ist. 

Der  Glaskörper  verschwindet  durch  Resorption.  Die  Linse 
wird  nach  vom  geschoben  und  erhalt  sich  lange.  Zuletzt  gehen 
alle  innern  Theile  in  der  Fremdbildung  unter  und  die  fibröse  Augen- 
kapsel ist  von  der  Masse  der  Neubildung  gleichmässig  ausgefüllt 
Aber  lange  vorher  schon  bemerkt  man  Sarkomknoten  auf  der 
Anssenfläche  der  Sklera.  Diese  sind  mitunter  ganz  klein, 
stecknadelkopfgross,  mitunter  übertreffen  sie  das  Volumen  des  Aug- 
apfels um  ein  vielfaches.  Sie  treten  immer  an  solchen  Punkten 
der  Skleralaussenfläche  auf,  welche  den  Geschwülsten  auf  der  Innen- 
flache entsprechen.  Auf  Durchschnitten  sieht  man  beide  Skleral- 
oberflächen  von  Sarkommasse  besetzt  und  den  Skleralquerschnitt 
scheinbar  frei  von  sarkomatöser  Affektion.  Die  Vermittlung  ge- 
schieht durch  Zellenstrilnge  des  Fremdgebildes  durch  das  Gewebe 
der  Sklera.  Anfangs  sind  dieselben  mikroskopisch  und  bleiben 
auch  so  bis  der  perisklerale  Knoten  eine  beträchtliche  Grösse,  oft 
den  endoskleralen  tiberwiegend,  erreicht  hat.  Ist  einmal  der  Bul- 
bus mit  der  Masse  der  Fremdbildung  ganz  erfüllt,  so  bricht  diese 
auch  in  grösseren  Oeffnungen  durch  die  Sklera. 

Daneben  findet  man  dann  Sarkomknoten  in  der  Orbita, 
welche  aber  auch  noch  als  Nebengeschwülste  der  okularen  zu  be- 
trachten sind ,  d.  h.  zwischen  denen  und  der  Augapfel ge schwulst 
unmittelbarer  Zusammenbang  durch  Sarkomgewebsstrange  besteht. 
Will  man  Zellenwanderung  hier  annehmen,  so  ist  der  Weg  für 
dieselben  in  der  Orbita  allerdings  leichter  als  durch  die  derbe 
Sklera. 

Eigentliche  Metastasen  sind  bei  den  Sarkomen  gar  nicht  selten 
und  die  auf  Leber,  Gehirn  und  Lunge  die  gewöhnlichsten.  Die 
Leute  sterben  an  Erschöpfung  bei  Hydrops  im  Bauchfell  und  den 
untern  Extremitäten,  auch  unter  cerebralen  Erscheinungen. 

Bezüglich  der  Arten  des  Sarkoms  habe  ich  bis  jetzt  drei  der- 
selben am  Auge  beobachtet: 

1)  Spindelzellensarkom,  melanotisch  und  unge- 
färbt. Dieses  und  zwar  die  melanotische  Abart  ist  die  häufigere. 
In  manchen  findet  man  nur  Spindelzellen  von  den  ersten  Grenzen 
der  Geschwulst  an.  Auch  die  periokularen  und  metastatisohen 
Sarkome  haben  dann  gewöhnlich  ganz  genau  denselben  Bau. 

2)  Bundzellensarkome,  wieder  melanotisch  und  unge- 
färbt. Sie  scheinen  rascher  zu  wachsen,  früher  äussere  und  meta- 
statische Geschwülste  zu  liefern. 

Uebergänge  zwischen  beiden ,  sowie  zwischen  gefärbten  und 
ungefärbten  Formen  sind  durchaus  häufig.  Einzelne  Partien  der 
Geschwulst  enthalten  vorwiegend  Spindel-,  andere  Rundzeilen,  ebenso 


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Verhandlungen  dea  nfttiirMstorlach-medieinischen  Vereint.  923 


trifft  man  irgendwo  eingebettet  in  weisse  Bnndzellensarkome  ein- 
zelne Knoten  von  weissen  oder  melanotischen  Spindelzellen  an. 

3)  Gliosarkom.  Davon  beobachtete  ich  einen  Fall  f  den 
ich  als  Combinationsgeschwulst  auffasse.  An  der  Sklera  lag  in 
der  Hälfte  ihrer  Ausdehnung  ein  melanotiscbes  Sarkom  von  grossen 
runden  und  zum  Theil  spindelförmigen  Zellen ;  diese  hatte  neben 
dem  Sehnerven  die  Sklera  durchbrochen  und  aussen  fortgewuchert. 
Der  übrige  Augapfelraum  war  aber  eingenommen  von  unzweideu- 
tigem Gliomgewebe  (Elemente  wie  die  Retinakörner),  in  wel- 
chem auch  die  vom  melanotischen  Sarkom  nicht  befallene  Choroi- 
des  zusammengepresst  und  gefaltet  eingebettet  lag,  genau  so  wio 
man  dieses  beim  reinen ,  primären  Gliom  findet.  Andere  Theile 
im  Bulbus  waren  nicht  zu  finden.  Diese  Gliommasse  hatte  die 
Sklera  am  Aeqnator  durchbrochen  und  wucherte  aussen  üppig 
weiter.  Ihre  Elemente  wurden  indessen  grösser  je  mehr  man  sich 
von  der  äquatorialen  Dnrcbbruchsstelle  entfernte,  erreichten  den 
doppelten  und  dreifachen  Durchmesser  der  Retinakörner  und  hatten 
um  ihre  grossen  deutlichen  Kerne  breite  Umhüllungen  von  amor- 
phem Protoplasma,  waren  also  in  die  runden  Sarkomzellen  über- 
gegangen. Beide  Abschnitte  der  Geschwulst  hatten  im  Bulbus  und 
zum  Theil  auch  ausserhalb  nicht  nur  ihren  von  einander  verschie- 
denen und  eigenthümlichen  Charakter,  sondern  waren  auch  von 
verschiedenen  Grundgeweben  ausgegangen,  wie  ihr  Sitz  bekundete, 
nämlich  das  Sarkom  von  der  Aderhaut,  das  Gliom  von  der  Netzhaut. 

Die  Entwicklung  des  Augensarkoms  beobachtete  ich 
in  beiden  von  Virchow  aufgestellten  Entwicklungsarten  sarkoma- 
töser Geschwülste: 

1)  Direkt  aus  dem  Mu 1 1 e r ge w ebe.  Dieses  war  hier 
immer  das  Stroma  der  Aderhaut  und  zwar  der  Lage  der  grösseren 
Geffcsse.  Eine  unmittelbare  Vervielfältigung  der  vorhandenen  Ge- 
webszellen führte  ohne  Brücke  vom  gesunden  Gewebe  in  den  ähn- 
lich aussehenden  Tumor,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  in  letz- 
terem bloss  die  spindelförmigen  und  runden  Zellen  mit  Zwischen- 
substanz blieben,  aber  die  Schichtung  und  Gefassvertheilnng  der 
Aderhaut  vollständig  unterging.  Die  grösseren  Gefasse,  sammt  der 
Choriocapillaris  und  Epitheliale  blieben  noch  eine  Zeit  lang  als 
Decke  der  geschwulstbildenden  Hyperplasie  des  Stromas  der  äusseren 
Schichte  erhalten. 

2)  Durch  vorh  erige  Einlagerung  von  kleinen  run- 
d  e  n  Z  e  1 1  e  n  (Primordial-,  Bildungs-,  Granulationszellen)  in's  Grund- 
gewebe, welche  gleichfalls  im  Stroma  der  grösseren  Gefasssioht  auf- 
traten und  dann  sehr  bald  zu  runden  oder  spindelförmigen  Zellen 
sich  gestalteten. 

In  Bezug  auf  die  Pigmentirnng  fand  ich,  dass  jene  ersten 
Entwicklungsformen  von  Anfang  an  melanotische  Elemente  erzeugen, 
die  Formen  aber,  welche  aus  Bildungszellen  hervorgehen,  sind  ur- 
sprünglich ungefärbt  und  nehmen  erst  später  Farbstoff  auf. 


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924        Verhandlungen  des  natnrhistoriseh-medürinisehen  Verein». 

Geschäftliche  Mitteilungen. 

Alf»  ordentliche  Mitglieder  wurden  in  den  Verein  aufgenommen 
die  Herren  Dr.  F.  Bergmann,  Dr.  N.  J.  C.  Müller,  Dr.  Lü- 
roth,  Dr.  Darmstädter,  Dr.  Paul  du  Bois  Reymond  Dr. 
Heinrich  Weber  und  Dr.  v.  PI  a  n  ta  -Re  i  chen  a  u. 

Dagegen  verlor  der  Verein  an  Mitgliedern  durch  Austritt  den 
Herrn  Weydung,  durch  Verzug  die  Herren  Dr.  Hub  er  und  Dr. 
Faber,  endlich  durch  den  Tod  die  Herren  Amtsarzt  Horgt  in 
Neckargemünd  und  Professor  Dr.  Otto  Weber. 

Der  letztere,  ord.  öffentl.  Professor  der  Chirurgie  und  Direktor 
der  chirurgischen  Klinik  an  unserer  Universität,  erlag  am  11.  Juni 
1867  nach  ganz  kurzer  Erkrankung  einer  Diphtheritis.  8eit  kaum 
zwei  Jahren  Mitgliod  unserer  Gesellschaft  war  er  durch  seine  aus- 
gebreiteten Kenntnisse,  seinen  unermüdlichen  Forschungstrieb  und 
die  uneigennützigste  Hingebung  an  die  Wissenschaft  wie  an  der 
ganzen  Hochschule  so  auch  in  unserm  Kreise  eins  der  vorzüglich- 
sten Lebenselemente  geworden.  Gerade  einer  seiner  letzten  Vor- 
träge behandelte  die  Krankheit,  in  deren  Untersuchung  und  Be- 
kämpfung er  sich  selbst  den  Tod  holte.  Seine  edlen  Eigenschaften 
werden  in  unserm  Gedächtnisse  leben. 

Durch  die  Wahl  am  25.  Oktober  1867  wurde  der  Vorstand 
für  das  nächste  Verwaltungsjahr  gebildet.  Es  wurden  ernannt: 

Herr  Geheimrath  Holmholtz  zum  ersten  Vorsitzenden. 

Herr  Hofrath  Kopp  zum  zweiten  Vorsitzenden. 

Herr  Prof.  H.  A.  Pagenstecher  zum  ersten  Schriftführer. 

Herr  Dr.  Fr.  Eisenlohr  zum  zweiten  Schriftführer. 

Herr  Professor  Nuhn  zum  Rechner. 

Man  bittet  wie  bisher  alle  Zusendungen  an  den  ersten  Schrift- 
führer zu  richten  und  im  Nachfolgenden  die  Empfangsbescheinigung 
für  die  zuletzt  eingegangenen  empfangen  zu  wollen. 

Mehrfachen  Anfragen  gegenüber  müssen  wir  mit  Bedauern  mit- 
theilen, dass  von  den  beiden  ersten  Bänden  der  Verhandlungen  des 
Vereins  nichts  mehr  vorrätbig  ist  und  auch  der  dritte  nicht  mehr 
ganz  vollständig  geliofert  werden  kann. 


Verzeichniss 

der  vom  1.  Juni  bis  31.  Dezember  1867  an  den  Verein  einge- 
gangenen Druckschriften. 

Mittheilungen  des  naturw.  Vereins  für  Steiermark,  H.  4. 
Berichte  über  die  Verhandlungen  der  naturf.  Gesellschaft  zu  Frei- 
burg i.  Br.  IV.  H.  1  «.  2. 


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Verhandlungen  des  naturhistorisch-mediiinlschen  Vereins.  925 

Sitzungsberichte  der  k.  k.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Wien. 
Nr.  14-30. 

Bulletin  de  l'acaddmie  Impör.  des  sciences  de  Petersbourg.  X,  XI, 
XII  1—6. 

Vierteljahrsschrift  der  naturf.  Gesellschaft  zu  Zürich.  IX— XI. 
Sitzungsberichte  der  naturw.  Gesellschaft  Isis  zu  Dresden.  1867. 
Nr.  1-8. 

Bulletin  de  la  Society  des  naturalistes  de  AIoscou.  1866.  Nr.  3  u.  4. 
1867.  Nr.  1. 

Giornale  die  scienze  naturali  ed  economiche  del  consiglio  di  perfe- 
zianamento  al  Reale  Istituto  tecnico  di  Palermo.  II.  1866. 
f.  2—4. 

Recherches  sur  la  fecondation  et  la  germination  du  Preissia  cow- 

mutata  par  M.  L.  Lortet. 
Recherches  sur  la  vitesse  du  cours  du  sang  par  le  meme  auteur, 

beide  in  2  Exempl. 
Observations  meteorologiques  faites  ä  Luxembourg  par  F.  Reuter. 
Societe  des  sciences  naturelles  du  Grand  Duche  de  Luxembourg. 

IX.  annee  1866. 
Joanne  Z'ycki:  Cholerae  pathologia  et  therapia,  Vilnae  1867. 
Jahresber.  des  physik.  Vereins  zu  Frankfurt  a.  M.  für  1865 — 66. 
Der  Zoologische  Garten.  VIII.  H.  1  —  12. 
Annual  report  1866  of  the  Surgeon  Generali  office. 
Von  der  Smithsonian  society  of  Washington: 

Annual  report  for  1865.  List  of  works  published. 

Mackall:  an  essay  on  the  life  in  nature.  1855. 

Mackall:  extrait  from  an  essay  on  physikal  force.  1865. 

Mackall:  an  essay  on  the  law  of  muscalar  action.  1865. 

Binney:  land  and  fresh water  shells.  II  et  III.  1865. 

Prime:  Monograph  of  american  corbiculidae.  1865. 

Stimpson:  Researches  upon  the  hydrobiidae.  1865. 
Annual  report  of  the  museum  of  comparative  Zoolog  at  Harward 

College  in  Cambridge.  1866. 
Von  der  Boston  Society  of  natural  history: 

Memoirs,  Volume  L  parts  1  et  2. 

Proceedings  X.  p.  289  tili  end.  XI  p.  1  —  96. 

Condition  and  doings  of  the  society.  1866. 
Sitzungsberichte  der  Gesellschaft  zur  Beförderung  der  Naturwissen- 
schaften zn  Marburg.  1866. 
Würzburger  medizinische  Zeitschrift.  VII.  H.  4.  1867. 
Bulletin  de  la  soci«  t.  d'bistoire  naturelle  de  Colmar  6  et  7  annees 
1865-1866. 

Archivio  per  la  Zoologia,  l'anatomia  e  la  fisiologia,  Giov.  Cane- 

strini,  Modena.  HL  2.  IV.  1.  1865—66. 
Annuario  della  Societa  dei  naturalisti  in  Modena  anno  II,  1867. 
Sitzungsberichte  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Münchei.. 

1867.  I.  H.  4.  II.  H.  1. 


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026        Verhandlungen  des  natnhrtetorlsch-mediriniselien  Vereine. 

52ster  Jahresbericht  der  naturf.  Gesellschaft  in  Emden.  1866. 
Rendi  Conti  del  Reale  Istituto  Lombardo  di  scicnze  e  lettere.  Vol. 

TL  faso.  10.  vol.  III.  fasc.  1—9. 
II  secondo  congresso  sanitario  ed  il  regno  d'Italia.  1866. 
44ster  Jahresbericht  der  schlesischen  Gesellschaft  f.  vaterländische 

Cultur.  1866. 

Schriften  der  k.  physikal.  Ökonom.  Gesellschaft  zu  Königsberg.  VI 
2.  VII  1  u.  2. 

Annales  de  l'observatoire  physique  central  de  Russie  1868.  U.2. 
1864. 

Campte  rendu  annnel  (Supplement  am  annales  pour  1862). 

Memoires  de  la  sociöte*  des  sciences  physiques  et  naturelles  de  Bor- 
deaux. Tome  IV.  Cahier  1.  suite.  Tome  V.  Cahier  1. 

Acad^mie  Royale  de  Belgique:  Annuaire  1867.  XXXIII.  Bulletins 
XXII,  XXIII  1866  u.  1867. 

Verhandlungen  der  physik.  medizin.  Societät  zu  Erlangen.  1865  — 
1867.  Heft  L 

Fünfzehnter  Bericht  der  Philomathie  in  Neisse  1865  —  67. 
(jiornale  di  scienze  naturali  ed  economiche  del  istituto  Uonico  di 
FäleHno. 

Würzburger  mecftziffische  Zeitschrift  VII.  5  —  6  Heft. 
Lotos.  XVI.  Jahrgang. 

Report  on  epidemic  cholera  fromme  surgeon  generals  office  at 
Washington. 

Jahresbericht  1864  über  Verwaltung  des  fcfodicinalwesens  in  Frank- 
furt a.  M. 

Statistische  Angaben  über  Kindersterblichkeit  in  Frankfurt  a,  M. 
1851—1866. 

Tageblatt  des  41.  Naturforscherversammlung  zu  Frankf,  a.  M.  1867. 
Jenaisch«  Zeitschrift  für  Medizin  u.  Naturwissenschaft.  III.  H.  4. 
33ster  Jahresbericht  des  Mannheimer  Vereins  für  Naturkunde.  1867. 
Notice  sur  Michel  Faraday  par  M.  le  Prof.  de  la  Rive.  Gene v"©  1867. 
Abhandlungen  der  Senckenbergi sehen  naturf.  Gesellschaft.  Vi*  8  u. 

4.  Frankfurt  1867.  ; 
XV.  Bericht  des  Vereins  für  Naturkunde  zu  Cassel.  1867.  \ 
Mittheilungen  aus  dem  Osterlande  von  der  naturf.  Gesellschaft  de* 

Osterendes  zu  Altenburg.  XVIII.  1.  u.  2.  Heft.  1867. 
Mitgliederverzeichniss  derselben. 
Bulletin  de  la  Sociätö  des  sciences  medicales  du  Grand  duche*  de 

Luxembourg.  1867. 
Festschrift  der  naturf.  Gesellschaft  in  Basel.  1867. 
Verhandlungen  der  naturf.  Gesellschaft  in  Basel  IV.  Th.  4.  Heft. 

1867. 

Ueber  die  physik.  Arbeiten  der  Societas  physica  helvetica  1751 — . 
1787.  Festrede  von  Dr.  F.  Burckhardi  1867.  Basel. 


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Basti  an:  Reise  nach  Cochinchlna. 


927 


Bastian,  Adolf,  Dr.,  Reise  durch  Kambodja  nach  CocMnchina. 
Jena,  1868. 

Unerwartet  rasch  ist  dem  dritten  Bande  der  »Studien«  über 
die  Völker  des  Östlichen  Asien  ein  vierter  gefolgt.  Er  schliesst 
die  hinterindische  Halbinsel  ab,  wird  aber  der  letzte  Band  des 
ganzen  Werkes,  welches  sein  berühmter  Verfasser  herauszugeben 
beschäftigt  ist,  auch  noch  nicht  sein.  Jedoch  bildet  er  ein  Ganzes 
für  sich,  nur  dass  bereits  im  ersten  Bande  gewisse  historische  Er- 
gebnisse der  im  vierten  beschriebenen  Reise  durch  Kambodja  zum 
Voraus  verwerthet  sind.  Obwohl  die  Würdigung  der  Reiseerfahrun- 
gen der  Hauptzweck  für  uns  hier  ist,  dürfen  doch  auch  jene  ge- 
schichtlichen Resultate  sich  einer  Berücksichtigung  erfreuen,  wie  man 
denn  vielleicht  so  am  richtigsten  über  Werk  und  Werkmeister  ur- 
theilen  wird.  Beides  gehört  sogar  zu  einander,  und  werde  ich  da- 
her, indem  ich  zunächst  dem  Faden  seiner  Erzählung  folge,  später 
mich  auf  jene  historischen  Ergebnisse  beziehen. 

Am  30.  November  gedachten  Jahres*)  verliess  unser  Reisender 
die  Hauptstadt  Bangkok  auf  Booten,  die  zuerst  durch  die  Canäle 
fuhren,  welche  die  Vorstädte  bewässern,  und  dann  in  den  Canal 
einliefen,  welcher  den  Menam  mit  dem  Pachimfluss  verbindet.  Das 
Wasser  dieses  Canals  zeigt  allmählich  erst  eine  Strömung,  die  stär- 
ker und  stärker  wurde,  bis  sie  die  Reisenden  nach  Kanap,  der 
Einmündungsstelle  in  den  Pachimfluss,  brachte.  Sie  machten  aber 
in  Pak-K h long  Halt,  wo  sich  die  Polizeistation  (Dan)  befand.  In 
den  Fluss  fuhren  sie  erst  am  nächsten  Morgen  ein.  Den  Arm,  der 
nach  Norden  (nach  Nakhon-najok)  führt,  Hessen  sie  liegen,  und  fuh- 
ren auf  dem  Kabin-Arm  weiter,  um  nach  der  Stadt  Pachim  zu  kom- 
men. Ueber  die  Entfernung  getäuscht,  waren  sie  genöthigt  noch 
eine  Nacht  in  einem  Kloster  zuzubringen.  Da  der  alte  Ohao  Myang 
(Gouverneur)  in  Pachim  nach  Bangkok  abgereist,  der  neue  nach 
Kambodja,  und  der  Prälat  (Vicegouverneur)  gleichfalls  sich  abwesend 
fand,  so  begab  er  sich  nach  dem  Hause  des  Jockabat  (Beistandes). 
Dieser  war  ausgegangen.  So  war  er  auf  den  Phu  Xuai  (den  Gehül- 
fen des  Jockabat)  reduoirt.  Aber  was  ihn  am  Meisten  interessirte, 
konnte  er  von  einer  Frau  erfahren.  Er  fragte  dieselbe  nach  den 
Xong  der  umliegenden  Berge,  da  sie  längere  Zeit  in  der  Nähe 
der  Xong -Dörfer  gelebt  hatte,  und  fuhr  dann  weiter.  Die 
Nacht  blieben  sie  im  Dorfe  Kathum,  dessen  Häuser  auf  einer  hohen 
Bank  liegen.  Obwohl  sie  schon  mit  Mondlicht  aufbrachen,  so  kamen 
sie  doch  erst  am  Nachmittage  in  Paknam  an:  So  schwierig  war 
die  Fahrt  auf  dem  Flusse  gewesen!    Dort  wurde  bei  dem  Zusam- 


•)  Nämlich  1868  Laut  Band  III.  S.  1  hatte  er  am  16.  Nov.  1862  die 
birmanische  Grenze  passirt.  Ein  Jahr  war  Aber  der  Bereisung  Slams  ver- 
flossen. Vgl.  unsere  Anseige  des  III.  Bandes  in  diesen  Jahrbb.  Jahrg.  1867. 
Nr.  38  ff. 


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028 


Bastian:  Reise  nach  Cochiochina. 


menfluss  des  Bankraphong  und  des  Samokuai  ein  Markt  auf  ge- 
ankerten Böten  abgebalten  *).  Sie  schickten  zum  Dorfbeamten 
(AmpbO  oder  Kveng)  um  Karren  für  Kabin  geliefert  zu  erhalten, 
da  von  dort  die  Landreise  bis  Kambodja  beginnen  sollte.  Das 
setzte  bis  zur  Erreichung  des  Wunsches  umstUndlicbe  Auftritte  ab, 
unter  denen  die  Ausbesserung  der  Räder  nicht  der  heiterste  war. 
Die  Weiterfahrt  ging  über  eine  grüne  mit  bunten  Blumen  ge- 
schmückte Wiese.  In  Kabin  liess  unser  Reisender  sein  Boot  nach 
Bangkok  zurückkehren.  Karren  zur  Weiterreise  bekam  er  nach 
einigen  Tagen  Wartens  duroh  den  Gouverneur  (S.  19).  Er  fand  in 
Kabin,  wie  in  Baugkok ,  vierr  Tralakan  (Richter)  vor.  Der  eine 
war  der  Gouverneur,  der,  gleich  dem  Jommarat  der  Hauptstadt, 
Criminalfälle  zu  entscheiden  hatte.  Ein  zweiter  präsidirt  dem  Civil- 
gericht.  Vor  den  dritten  kommen  Sachen  dasRegierungseigentham 
oder  das  des  Königs  betreffend,  und  dem  vierten  steht  das  Urtbeil 
Uber  Alles  zu,  was  sich  auf  den  Ackerbau  bezieht.  Als  Karren, 
Büffel  und  Führer  sich  neben  seinem  Standquartier  (cfr.  S.  11) 
eiugefundeu  hatten,  wurden  alle  Vorbereitungen  für  den  Aufbruch 
getroffen. 


*)  Wir  müssen  hier  constatlren,  dass  die  Karte  für  die  indochinesi- 
schen Reiche  nach  dem  Entwürfe  Kieperts  vermöge  der  ausgezeichneten 
Umsicht  dieses  Chartographen ,  wovon  seine  Bemerkungen  zur  Karte  zeu- 
gen (cfr.  Band  III.  S.  638  ff.),  recht  genau  das  disponible  Material  ver- 
werthet  hat.  Man  nehme  die  Karte  zur  Hand,  und  lese  im  Zusammen- 
hange des  Berichts  (Bd.  IV,  p.  7)  folgenden  geographischen  Excura :  „Von 
den  beiden  Flüssen  entspringt  der  Khuay  Bankraphong  oder  der  Menam-yal 
(der  grosse  Strom)  in  Kambodja,  der  Menam  noi  oder  kleine  Strom  kommt 
von  den  Bergen  Phaya  Fai  bei  Korat  herab.  Beide  Flüsse,  besondere  der 
letztere,  der  zum  Aufstauen  des  Wassers  mit  Flechtenwerk  durchzogen  ist, 
sind  sehr  flach  und  fliessen  in  sandigen  Betten,  so  dass  sie  nur  in  ganz  klei- 
nen Böten  noch  für  ein  paar  Tage  weiter  aufwärts  befahren  werden  können, 
um  die  an  ihren  Ufern  liegenden  Dörfer  zu  besnehen  Der  Menam  noi  hebst 
auch  der  Kuay  Ilanuninn  (der  Bach  Hanuman's),  und  ein  an  ihm  gelegenes 
Dorf  führt  den  Namen  Chantakham  oder  die  Ansledlung  der  Chandala,  In- 
dem die  ganze  Gegend  vom  Dong  Phram  bei  Pachim  bis  au  Kabin  (der 
Affenstadt)  und  weiter  ....  mit  brahmanischen  Anspielungen  auf  das  Ramayani 
gefüllt  ist" 

(Schluss  folgt) 


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Kr.  59.  HEIDELBEEGER  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Bastian:  Reise  nach  Cochinchina. 


(SchluSB.) 

Wir  werden  von  jetzt  ab  unseren  Reisenden,  der  bisher  theils 
Canalwege  und  Fluss  benutzt  hatte,  auf  seiner  Fahrt  über  Land 
begleiten.  Es  war  noch  dunkel  Nacht,  als  die  Morgenglocken  der 
Klöster  aufs  Neue  ihr  Geläut  begannen,  und  er  rief  die  Leute 
wach,  um  die  Karren  mit  den  für  sie  bestimmten  Gepäcken  zu  be- 
laden. Einer  der  Mahathai  genannten  Beamten  kam  selbst,  um  die 
Arbeit  zu  überwachen.  Als  dor  erste  Dämmerungsschein  hervor- 
brach, wurde,  am  10.  Dezember,  die  Fahrt  angetreten,  die  anfangs 
durch  Wasserpfuhle ,  welche  die  Regenzeit  zurückgelassen  hatte, 
daun  über  Sandwege,  endlich  durch  einen  Wald  führte.  Erst  folg- 
ten sie  hier  einer  breiten  Strasse,  und  brachen  sich  aut  weichem, 
grünem  Moosgrunde  in  den  dichten  Büschen  eine  Bahn.  Mehrere 
tief  eingeschnittene  Bäche  mussten  mittelst  Brücken  passirt  wer- 
den. Nach  vielem  Ungemach,  wie  es  das  Reisen  in  solcher  Gegend 
mit  sich  bringt,  machten  sie  am  Packnam-Flusse  Halt.  Man  war 
bei  Prathong,  doch  weder  im  Bereich  von  Dörfern,  noch  mensch- 
licher Ansiedlungen.  *)  Die  Schlafhalle  stand  in  einer  Lichtung,  von 
dichtem  Jnngle  umgeben,  an  dessen  Ende  sich  ein  Götzentempel 
fand.  Eine  andere  Reisegesellschaft,  die  auf  Elephanten  von  Kam- 
bodja  anlangte,  quartierte  sich  in  einem  verfallenen  Gebäude  neben 
dem  ihrigen  ein.  Noch  vor  der  Dämmerung  liess  B.  aufbrechen, 
und  die  Karren  unter  Fackelbeleuchtung  über  die  lange  Brücke 
hinüberziehen,  welche  über  den  Strom  führte,  der  von  dem  nörd- 
lich gelegenen  Chantabun  kommt.  Bald  kam  wieder  eine  Brücke, 
die  aber  eingefallen  war,  so  dass  die  Gespanne  eine  weniger  ab- 
schüssige Stelle  des  Ufers  zum  Durchfahren  erst  suchen  mussten. 
In  dem  Walde,  den  man  darauf  zu  passiren  hatte,  mehrten  sich 
die  Schwierigkeiten  dermassen,  dass  es  zuletzt  der  ganzen  Ent- 
schiedenheit B.'8  bedurfte,  um  vorwärts  zu  ziehen.  Das  Vertrauen 
trug  den  Sieg  davon,  und  gerade  als  sich  das  Licht  mit  dem  Schat- 
ten der  Dämmerung  zu  mischen  anfing,  schimmerte  es  heller  durch 
die  Bäume  des  Waldes,  und  fuhren  sie  bald  darauf  in  die  ange- 


*)  Es  war  ein  Wachtposten.  Der  Officier  war  herübergekommen,  und 
orientirte  sie.  Er  bemerkte  auch,  dass  in  den  helssen  Monaten,  wenn  alle 
Wasserpfützen  am  Wege  ausgetrocknet  seien,  die  Büffel  nur  bei  Nacht  rei- 
sen konnten.  Dann  sei  die  Sternebeobachtung  wichtig  Die  übrigen  Gestirne 
verändern  jede  Nacht  die  Zeit  ihres  Niedergehens,  aber  Orion  (Dao  Thai) 
und  Plejaden  (Dao  kai)  bleiben  sich  immer  gleich,  so  dass  sie  als  Uhr  be- 
nutzt werden  können  [wie  in  den  An  des  das  Kren*].  8.  24. 

LX  Jahrg.  12.  Heft.  59 

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Bastian:  Reise  nach  Cochinchina. 


bauten  Felder  Bahn  Sa-Keoh's  hinab.  Bahn-Sakeoh  heiast  s. 
v.  a.  Dorf  des  Juwelenteiches.  Der  Fluss  Sa-Keoh  fliesst  in  einiger 
Entfernung  dos  Dorfes.  Er  entspringt  auf  den  Bergen  Chantabnn's 
und  verbindet  sich  etwas  hinter  Prathong  mit  den  dort  aus  Korat 
herabfliessenden  Gewässern,  um  vereinigt  den  Kbnai  jai  des  Kabin- 
flusses zu  bilden.  Die  in  Bahn-Sakeoh  angesiedelten  Khamen  (Kam- 
bodier)  kommen  meistens  aus  den  Pa-Sisen,  einer  zum  Theil  zu 
Chantabun,  zum  Theil  zu  Battambong  gehörigen  Waldgegend.  Er 
fand  auch  einige  Siamesen  (Thai)  darunter;  aber  dieselben  pflegen 
es  nicht  lange  auszuhalten,  sagt  er,  wogegen  die  Khamen,  wie  auch 
die  Xong  ihre  Wahnsitze  bewahrten.  Das  Dorf  war,  wie  er  von 
Einwohnern  erfuhr,  erst  nach  Anlage  der  Heerstrasse  von  Siam 
nach  Kambodja  entstanden.  Sein  Pochen  auf  seine  Pässe  aus  Bang- 
kok half  ihm  auch  in  Bahn-Sakeoh,  und  ging  es  mit  dem  Beiais 
hier  wieder  gut.  Erst  nahm  sie  ein  Wald  auf,  dann  eine  wellige 
Ebene,  die  mit  Bäumen  bedeckt  und  von  Jungle  eingefasst  war. 
An  einigen  Baumzweigen  sah  er  Strohbüschel  befestigt,  die  durch 
Verdienstsucher  dort  angebunden  waren,  um  den  Beisenden  anzu- 
deuten, in  welcher  Richtung  die  Wege  am  besten  im  Stande  seien. 
Bald  darauf  wurden  die  Häuser  Vattana's  durch  das  Gebüsch  sicht- 
bar und  fuhren  sie  nach  der  Sala,  um  dort  abzusteigen. 

Vattana  ist  eine  Oolonie  von  Viengtchan.  Zerstreut  unter 
den  Lao  daselbst  leben  die  Lao  Suai.  Einige  stammen  von  Nong- 
chang  (8  Tage  von  Viengtchang  entfernt).*)  Hier  sollte  wieder 
Wechsel  der  Karren  stattfinden.  Deshalb  schickte  er,  worauf  der 
Prälat  erschien,  ein  Schwiegersohn  des  Ohao  Myang  in  Kabin,  der 
B.  schon  von  ihm  gesprochen  hatte.  Was  er  mit  dem  Prälat  ver- 
handelte, sagt  er  nicht.  Am  folgenden  Tage  wurde  er  von  dem 
Phu  Xuai  besucht. 

Der  in  Rede  stehende  Platz  ist  insofern  von  Wichtigkeit,  als 

er  naoh  der  alten  geographischen  Eintheiiung  der  erste  Ort  auf 

khamischem  Boden  war.  **)  Er  liess  sich  von  Goldgruben  erzählen, 
n — ,  

*  j  Der  Verfasser  greift  mit  seinen  auf  den  grossen  kambodiechem  Bin- 
nensee (Thalesab)  n.  s.  w.  bezüglichen  Details  hier  S.  84 ff.  bedeutend  dem 
Zusammenhange  des  Reiseberichts  vor;  wie  wir  uns  hier  Ober  dieVerfrüh- 
ung  wundern  müssen,  verursacht  uns  ein«  spatere  Seite  (878)  ähnliche  Ge- 
fühle. Das  hindert  natürlich  nicht,  die  Sch&tzbarkeit  der  Details  anzuerkennen. 
Auch  erkennen  wir,  dass  die  frühe  Erwähnung  und  die  späteje  sich  ergänzen. 
Aber  es  ist  eine  Schwierigkeit,  sich  zu  Orientiren,  und  vielleicht  haue  sich 
das  geographische  Material  als  separates  Kapitel  sehr  Viel  besser  da  ein- 
schalten lassen,  wo  der  Verfasser  doch  genöthigt  ist  vom  See  zu  sprechen, 
z.  B.  8.  184. 

Es  würde  wenig  interesBiren,  ein  Verzeichniss  von  Namen  zu  erschöpfen. 
Darum  beschränke  ich  mich  auf  die  Angabe,  die  er  aufstellt  (6.  86),  da&a 
aer  grosse  Kambodische  See  in  seinem  Umkreis  eilf  Znflüsse  in  sich  auf- 
nimmt. Es  heisst  (cfr.  S.  878)  Bienho  (der  grosse  See)  bei  den  Cochin- 
chinesen,  und  Sri-Rama  nach  dem  Sanskritischen  bei  den  Siamesen.  Das 
südliche  Ende  des  See's  bildet  in  der  Zeit  des  niedrigen  Wasserstande«  einen 
See  für  sich,  Tale-ma-Poke  genannt. 

•*)  „Die  Grenze  zwischen  Siam  und  Kambodja  war  früher  in  Angsela. 
halbwegs  «wischen  BahnSakeoh  und  Wattana,  wo  nooh  im  Dikicht  des  Wal- 

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Bastian;  Reise  nach  Cochinobina, 


aai 


die  sich  in  der  Nähe  von  Vattana,  auf  Tagereisen  Entfernung, 
fanden,  nnd  Hunderte  von  Arbeitern  beschäftigten.  Ueber  die 
Weiterbeförderung  gab  es  noch  einen  Disput  mit  dem  Prälat,  Doch 
verstand  dieser  sich  dazu,  die  volle  Zahl  der  Fuhrleute  zu  geben, 
Gegen  Ende  der  Nacht  Hess  er  bei  Fackellicht  aufbrechen.  Der 
Weg  ging  durch  eine  Sandfläcbe.  Zum  Frühstück  hielten  sie  am 
Nong  Bua  (Lotusteich)  neben  einem  Bananengarten.  Aus  einem 
bjätyerreichen  Walde  traten  sie  dann  in  wohlgebaute  Felder  hin- 
aus. Es  war  schon  dunkel,  als  sie  die  Sala  im  Dorfe  Myang 
Aran  erreichten.  Die  Excnrsion,  die  er  sich  am  anderen  Tage  ge- 
stattete, ist  eine  Excursion  auch  für  seine  Darstellung  gewesen, 
von  der  er  S.  45  zurückkehrt,  um  sich  zum  Aufbruch  zu  rüsten. 
Bevor  wir  daher  Aran  mit  ihm  verlassen,  wollen  wir  nooh  die 
Mittheilung  nachholen,  dass  die  alte  Stadt  Aran  (Aran  Khao)  fünf- 
zehn Jahre  vorher  nach  der  gegenwärtigen  Lokalität  versetzt  wurde, 
wo  bis  dahin  ein  Flecken,  Sungkeb  genannt,  gelegen  hatte.  (S.  41).  *) 
Gleich  hinter  Aran  nahm  sie  ein  dichter  Wald  auf,  den  bald  ein 
Gehölz  junger  Bäume  ablöste,  in  dem  die  Strasse  mit  Holzplanken 
eingefaBst  und  an  beiden  Seiten  über  die  nebenher  laufenden  Grä- 
ben erhoben  war  —  Ueberbleibsel  der  grossen  Heerstrasse,  die  der 
General  Chaokhun  Bodin  während  der  Feldzüge  gegen  Kambodja 
hatte  von  Siam  nach  diesem  Lande  anlegen  lassen!  Dann  kam 
eine  Ebene,  die  bis  zu  dem  Mahotflusse  sich  erstreckte,  an  dem 
Tüktelah  liegt,  und  auf  dessen  anderer  Seite  sich  Gebirge  er-* 
heben.  In  diesem  Orte  angekommen,  schickte  er  nach  Sisuphon, 
um  Boote  zu  requiriren.  Tüktelah  bedeutet  reines  Wasser.  Er  nenni 
jenon  Fluss  auch  Sisuphon  und  Tasavai,  und  lässt  sich  auf  eine 
hydrographische  Beschreibung  ein  (S.  50)  **)  Er  erhielt  vom  Prälat, 
der  nach  Einbruch  der  Nacht  angekommen  war,  um  sich  nach  einem 
Landgute  zu  begeben,  am  nächsten  Morgen  den  Gebrauch  seiner 
Boote,  um  damit  nach  Sisuphon  zu  fahren.  Hier  liess  er  sich 
den Rath  geben  bis  Bahn  Paniet  weiter  zu  fahren,  und  erst  von 
dort  wieder  Karren  zu  nehmen.  Aber  er  fuhr  noch  bis  Pangro, 
was  allerdings  seinen  Grund  hatte  (S.  53).    Hier  wurde  das  Gen 


des  ein  beschriebener  Steinpfeiler  zu  finden  ist.  Dort  liegt  die  Wasser* 
scheide,  indem  die  Bäche  bei  Bahn-Sakeoh  durch  den  Fluss  Lam-Sathüng 

nach  Slam  abfliessen,  die  Wasser  des  Nong  Bna         dagegen  durch 

den  Fluss  Mahnt  nach  K  am  b  od, ja  Der  Menam  Lam  Sathüng  fliesst  als 
der  Fluss  Pachim  und  dann  als  der  Fluss  Petrin,  bei  Bangplaaoi  in  den 
See  aus,  der  Menam  Mahot  mündet  in  den  Tbaleeab."  8.  », 

*)  Die  Khamen,  die  früher  Aran  Khao  bewohnt  hatten,  bauten  die  Stadt 
Sisuphon  wieder  auf.  Das  heutige  Aran  ist  mit  Laos  bevölkert. 

*#)  Man  hat  Mühe,  jene  Beschreibung  ganz  zu  verstehen.  Von  dem 
Oberschulzen  (Kasung)  in  Pangro  hört  er,  dass  der  Fluss  Tasavai  sich  in 
der  Nähe  von  Tüktelah  aus  zwei  Armen  bilde,  der  eine  komme  von  den  um 
Aran  gelegenen  Feldern,  der  andere  von  den  Ebenen  (Changhan )  Sing  u.  s,  w. 
8.  54.  Vervollständigt  wird  diese  Beschreibung  durch  folgende:  Der  Fluss 
von  Tasavai  oder  Sisuphon  kommt  vom  Khao  Taphrum  in  den  Khao  Don- 
Rek  und  verbindet  sich  vor  Tüktelah  mit  einem  von  den  Ebenen  Arans  ab- 
messenden Bache.   Er  mündet  in  den  Thalesab  jenseits  Dan-Sema.tt  S.  6ö. 


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932 


Bastian:  Reise  nach  Cochlnchlna. 


päck  wieder  auf  Karren  verladen,  und  auf  einem  schweren  Lehm- 
wege durch  die  Felder  bis  P  a  n  i  e  t  p  r  a  die  Reise  fortgesetzt.  Die- 
ses Dorf  steht  unter  Myang  Tescho ,  der  von  Battambang  (Phra 
Tabong)  abhängt. 

Die  Uebersicht  Uber  den  folgenden  Abschnitt  des  Bandes,  wel- 
cher uns  mit  dem  oberen  Kambodja  und  seinen  Monumenten  be- 
kannt macht,  wollen  wir  in  drei  bis  vier  Abtheilungen  geben. 

Die  erste  wird  uns  um  den  grossen  kambodischen  See  (Tba- 
lesab)  herum  nach  Siemrab  bringen,  der  letzten  grössten  Stadt  im 
Osten,  die  von  Bangkok  aus  verwaltet  wird  S.  57  flf.  Wir  verlassen 
das  obengenannte  Dorf  Panietpra,  dessen  Bewohner  von  Tabaks- 
bau und  Seidenzucht  leben,  und  kommen  einige  Tagereisen  weiter 
nach  den  gewöhnlichen  Hindernissen  nach  Bahn  Thiengkam, 
einem  Dorfe,  das  neun  Häuser  zählte.  Die  Bewohner  gehören  als 
Bao  (Diener)  für  die  Frohndienste  zu  Panomsok.  Der  Verf.  zeigt 
durch  Beispiele  den  Reichthum  der  Kambodjer  an  Romaogeschich- 
ten.  Die  nächste  Stadt  ist  Panomsok  oder  Preeasok,  die  vor 
30  Jahren,  als  die  in  Korat  eingefallenen  Laos  durch  die  Siame- 
sen  vertrieben  waren,  auf  der  Stelle  der  früheren,  die  verwüstet 
worden,  durch  den  Vater  des  gegenwärtigen  Gouverneurs  angelegt 
wurde.  Die  innere  Stadt  enthält  fünfzig  Häuser,  die  Aussenquartiere 
eine  grössere  Zahl.  Nachdem  er  einer  Einladung  zum  Gouverneur 
gefolgt  und  Mancherlei  mit  ihm  gesprochen,  lässt  er  sich  einen 
Führer  nach  der  Steile  des  alten  Palastes  (Prasat-it)  geben,  be- 
sucht ferner  noch  ein  Kloster,  und  bricht  dann  von  dort  auf.  Ein 
Sandweg  führte  sie  durch  den  Wald  zu  einer  mit  Bäumen  besetzten 
Ebene  und  dann  zu  welligen  Feldern,  die  aber  noch  theilweise 
überschwemmt  waren  und  öftere  Berathungen  über  die  einzuschla- 
gende Richtung  nöthig  machten.  Beim  Weiterfahren  machten  die 
überschwemmten  Felder  einer  welligen  Ebene  Platz,  in  der  Häus- 
chen mit  Bananengärten  zerEtreut  standen,  und  dann  schlugen  sie 
ihr  Nachtlager  in  einem  Gehölz  auf,  nicht  weit  von  der  Stelle,  wo 
der  Lamsengfluss  einen  Felsendamm  durchbricht,  der  die  in 
Bogen  zusammentretende  Pfeiler  einer  hohen  Steinbrücke  trägt. 
Nach  dem  Passiren  der  letzteren  fielen  sie  wieder  in  bahnlose 
Waldpfade.*)  Später  gelangten  sie  über  eine  buschige  Wellenebene, 
beim  Bahn  Palieng  wieder  auf  die  alte  Heerstrasse,  der  sie  eine 
kurze  Strecke  zwischen  Gebüsch  folgten.  Doch  lenkten  die  Karren- 
treiber bald  aufs  Neue  ab,  um  über  Stock  und  Stein  wegzarum- 

peln,   **)  Durch  parkähnliche  Anlagen  gelangten  sie  nach  Bahn 

Sakiiet  und  dann  nach  Bahn  Jung,  welch*  letzteres  Dorf  aber 
nicht  an  der  vorgeschriebenen  Route  lag,  so  dass  sie  einen  Theil 


*)  Die  Brücke  ruht  auf  dreissig  Pfeilern,  die  in  Paare  zusammenstehen, 
und  jeder  derselben  besteht  aus  15  Quadern  colossaler  Steintafeln  u.  s.  w. 
B.  72. 

**)  „Die  mit  der  herausgenommenen  Erde  der  seitlichen  Graben  aufge- 
worfene I leeret ras se  (Sanong)  kann  von  Phrabat  (bei  Nopburi)  bis  nach 
Siemrab  verfolgt  werden  Sie  Ist  jetzt  meistens  überwachsen.4*  8.  7*. 


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Bastian:  Reise  nach  Cochinchlna. 


038 


des  Weges  zurück  mussten,  um  auf  dem  richtigen  Stationsdorfe/ 
das  nur  aus  drei  Häusern  bestand,  zu  wechseln.  Ein  Weg  zwischen 
wohlangebauten  Feldern  brachte  sie  nach  Bahn  Sanuel,  das  an 
einem  Kreuzwege  lag.  Auf  einem  in  nassen  Niederungen  durch 
Felder  bingeschläugelten  Wege  kamen  sie  dann  nach  Bahn  Ja- 
Ii  e  n  und  sahen  beim  Fluss  Paleng  die  Ueberreste  einer  gewölbten 
Steinbrticke.  An  Baumgruppen  vorüber  kamen  sie  nach  dem  Dorfe 
(Bahn)  Jeng,  dessen  Fruchtgärten  durch  Palmen  geschmückt 
waren.  Den  folgenden  Tag  ging  es  unter  Bäumen  über  eine  Wellen- 
ebene hin.  Man  passirte  das  Dorf  Schalieng.  Am  Horizont  hoben 
sich  die  Khao  Don-Rek  ab.  Der  Boden  ist  sehr  fruchtbar.  Man 
begegnete  reisenden  Mönchen  und  Regierungsboten  mit  Depeschen. 
Durch  offenen  Wald  und  grüne  Wiesen  gelangten  sie  neben  einen 
Teich  mit  weissem  Lotos  zu  einer  Sala,  wo  Nachtrast  gemacht 
wurde.  Die  Pfeiler  der  Halle  waren  mit  allerhand  Schriftzügen, 
meist  mit  den  Namen  von  Durchreisenden  und  beigefügten  Be- 
merkungen oder  Scherzen  bedeckt.  Nach  dem  Aufbruch  fuhren  sie 
bei  Mondschein  durch  den  Wald,  wechselten  die  Büffel,  für  die  der 
Ersatz  bei  Bahn  Kalai  am  Wege  wartete,  und  gelangten,  über 
einen  sandigen  Weg  ansteigend,  auf  eine  grüne  Baumfläche,  wo  sich 
vor  ihnen  der  Anblick  auf  die  Stadtmauern  Sie  mr  ab 's  anfthat, 
von  hohen  Palmblättern  tiberragt. 

Die  Wälle,  erzählt  er,  S.  77,  sind  mit  grossen  Quadern,  zum 
Theil  von  Nakhon  Tom  entnommen,  zwischen  den  Ziegelsteinen  auf- 
gebaut, und  Thore  mit  Spitzdächern  leiteten  hinein.  In  einiger 
Entfernung  blinkt  das  Wasser  des  Flusses  zwischen  sandigen  Ufern. 
B.  schätzt  das  Alter  der  Stadt  auf  dreissig  Jahre.  Sie  ist  neu 
angelegt,  und  besteht  aus  200  Häusern.  Er  macht  dem  Kha  Luang 
(den  politisoheu  Residenten  des  siamesischen  Königs)  seinen  ofßciel- 
len  Besuch,  und  besieht  dann  die  Klöster  und  Kapellen  der  Um- 
gegend. Speciell  nach  Nakhon  Vat  brach  er  am  28.  December 
auf.  S.  80.  Die  nächsten  Tage  wurden  mit  einer  genauen  Besich- 
tigung der  dortigen  Kunstbauten  verbracht.  An  die  Beschreibung  . 
reiht  der  Verfasser  einige  kurze  Bemerkungen  über  die  Palibücher. 
Dann  kehrt  er  wieder  zur  Beschreibung  zurück.  Sculpturen  an  den 
Wänden,  in  den  Corridoren,  in  den  Gallerien  der  verschiedenen 
Stockwerke,  die  Hallen  fesselten  die  Aufmerksamkeit  des  gelehrten 
Besuchers.  Die  Betrachtung  über  die  Entstehung  dieser  Monumente 
verschiebt  er  auf  den  nächsten  Band.*) 

Das  grosse  Interesse  dieser  kambodischen  Sculpturen  liegt  ihm 
darin,  dass  sie  geschichtliche  Daten  geben         Obwohl  Illustratio- 


#)  Hier  wird  von  Java  gehandelt  werden,  an  dessen  Ge schichte  sie  sieh 
anknöpfen  solle.  Er  bezeichnet  Java  als  die  Zufluchtsstätte  einer  brahma- 
nisch-buddhlsttechen  Cultur,  die  eich  von  dort  wieder,  als  einem  neuen  Cen- 
tralsitze.  Ober  die  umliegenden  Länder  ausbreitete,  und  den  heiligen  Spra- 
chen Siam's,  Kambodja's  und  Japan*.«  jene  sanskritische  Mischung  gegeben 
bat,  die  durch  das  spatere  Ueberwiegen  der  Pali-Literatur  zwar  verdeckt, 
aber  nicht  ganz  erdrückt  wurde.-  S.  102. 


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Bai t!&n:  Reiie  nach  Cochlnchma. 


nen  aus  dem  Ramayana  und  den  Purauas  auch  in  Kainbodja  nicht 
fehlen ,  so  stehen  doch  daneben  zwei  deutlich  historische  Fakta, 
einmal  die  erste  Einwanderung  des  Cnltnr- Volkes ,  und  dann  die 
Gründung  der  Hauptstadt,  neben  welcher  der  Tempel  erbaut  Wurde. 
Die  permanente  Durchführung  des  Racencharakters  iu  den  verschie- 
denen Nationalitäten ,  die  damals  dem  ßcepter  des  kambodischen 
Kaisers  gehorchten ,  scbliesst  an  die  ägyptischen  und  assyrischen 
Bildwerke  in  der  Behandlungsart  an ,  ohne  in  Vorder-Indien  ein 
anderes  Analogon  zu  finden.  Was  immer  sich  weiter  auf  die  Mytho- 
logie unter  den  Sculpturen  Nakhon  Vat's  bezieht,  ist  dem  Brah- 
manismus  entnommen.  Einen  der  Tage  seines  Aufenthaltes  in  Nak- 
hon Vat  benutzte  er  zu  einem  Ausfluge  nach  Nakhon  Tom ,  oder 
der  grossen  8tadt  (Nagara).  Der  heilige  Name  ist  Inthapatbaburi. 
Es  ging  durch  einen  Wald  dorthin. 

Als  die  Tage  de*  Aufenthalts  in  Nakhon  Vat  zu  Ende  gegan- 
gen waren,  Hess  er  Wagen  und  Zugthiere  zur  Weiterreise  in  Stand 
setzen.  Man  wollte  noch  die  übrigen  Ruinenstädte  besuchen,  tou 
denen  sich  Reste  nördlich  vom  See  erhalten  haben ,  und  kam 
zuerst  nach  dem  Dorfe  Bahn  Sasong.  Die  Beschreibung  orientirt 
über  den  Gegenstand,  führt  dann  durch  einen  Wald,  soweit  eine 
gebahnte  Strasse  war,  bis  zum  Dorfe  Pum-Stting,  in  dessen 
Nähe  ein  Kleinodienpallast  (Prasat-Keoh)  zum  Besuch  anzog,  dann 
YOU  dort  zur  Hauptstadt  Patontaphrom  oder  der  Festung 
(Pantenta)  Brahma's.  Der  innerste  der  weiten  Ringe  der  Stadt- 
mauer schloss  den  Palast  ein,  und  hicss  Kampeng  Keoh  oder  die 
Juwelen-Mauer.  Wegen  der  Details  muss  ich  auf  die  Beschreibung 
des  Verfassers  verweisen  (S.  118  ff.)  Abends  war  B.  Zeuge  gemüth- 
licher  Zusammenkünfte  aus  dem  Dorfe  bei  seinem  Lager,  wo  dann 
die  beiden  Edelleute  auf  den  erhöhten  Sitzen  ihres  ZelteB  saBsen; 
es  wurde  beim  Feuer  erzählt,  recitirt. 

Am  nächsten  Morgen  Hess  er  das  Gepäck  vorangeben  uud  folgte, 
nachdem  er  mit  dem  Maler  noch  einen  Besuch  in  Patentaphrom 
abgestattet  hatte.  Sie  verloren  den  Weg  uud  nahmen  einen  neuen 
Wagen  im  Dorfe  Pntill,  wo  der  Katnnang  erfrischenden  Palmsaft 
für  seine  Ankunft  kühl  gesetzt  hatte.  Das  Dorf  besteht  aus  zehn 
Häusern,  und  übt  Gerichtsbarkeit  über  die  umliegenden  Dörfer 
aus.  Da  der  Wagen  am  Wege  stecken  blieb,  ging  er  zu  Fuss,  voraus 
und  erreichte  die  Gepäckkarren  gerade  bei  der  Ankunft  inLailan. 

Am  Nachmittag  fuhren  sie  durch  die  buschige  Ebene  und 
dann  Über  Felder  nach  BangkoUg,  einem  künstlich  in  Terassen 
aufgebauten  Hügel  kegliger  Gestalt.  Nachdem  er  am  anderen 
Morgen  verschiedene  Inschriften  abgeschrieben  und  beim  Verbrauch 
seine«  Papiers  chinesisches  vom  Abte  daselbst  erhalten  hatte, 
packten  sie  am  Nachmittag  die  Karren  und  zogen  auf  sandigen 
Strassen  durch  die  Ebene.  An  einem  Teiche  am  Wege  wurden 
die  Büffel  getränkt  ,  und  eine  buschige  Fläche  brachte  sie  gegen 
Abend  uacb  Siemrab  zurück,  wo  der  Kba  Luang,  in  seinem  Ba- 
nanengarten sitzend,  unsere  Ankunft  erwartete. 


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Basti  ad:  Reise  nach  Cochinchlna. 


Hiermit  ist  die  zweite  Abtheilung  unserer  üebersicht  beendigt ; 
wir  beginnen  die  dritte,  p.  125  u.  ff.  Die  ersten  Tage  des  nenen 
Jahres  (1864)  sind  schon  vergangen.  Am  6.  Januar  besuchte  er 
den  Chao  Myang,  in  dessen  Empfangssaal  eine  servirte  Tafel  zur 
Bewirthung  bereit  stand.  Die  Darstellung  verbreitet  sich  über 
Fabrikation,  Leben  u.  s.  w.  in  Siemrab.  Nach  einem  Abriss  der 
Geschichte  von  Vovong,  die  einer  der  Mönche  des  Klosters,  den 
er  in  seiner  Zelle  traf,  oopirte  (S.  128—136)  und  einer  Parallele 
dazu  (S.  136  —  142),  sowie  nach  einigen  Bemerkungen  über  die 
Verskunst  bei  den  Khamen  u.  s.  w.  kommt  die  Stunde  der  Abreise 
von  Siemrab.  S.  145. 

Gegen  Mittag,  am  7.,  kam  der  Führer,  um  anzuzeigen,  dass 
das  zur  Weiterreise  verlangte  Boot  unterhalb  der  Stadt  fertig  läge. 
Aber  er  musste  es,  weil  es  zu  klein  und  schlecht  war,  nach  der 
Stadt  zurückschicken  und  auf  ein  anderes  warten. 

Während  er  in  Wirklichkeit  die  Zwischenzeit  zu  einem  Bade 
benutzte,  wie  er  selbst  erzählt,  unterhält  er  uns  durch  eine  Erin- 
nerung an  die  vielen  Reste  der  alten  Ruinen,  die  in  der  Stadt- 
mauer SiemraVs  eingefügt  sind,  und  durch  vergleichende  Bemer- 
kungen, die  er  noch  daran  anknüpft*). 

Auf  S.  184  sind  wir,  nachdem  das  Boot  bepackt  ist,  so  weit, 
den  Fluss  hinabzutreiben.  Aber  der  Wasserstand  ist  zu  niedrig, 
und  muss  es  daher  grösstenteils  über  das  sandige  Bett  fortge- 
schleppt werden. 

In  der  Nähe  eines  Dorfes  war  der  Fluss  so  von  Sandbänken 
durchsetzt,  dass  er  Hülfe  nöthig  hatte,  und  durch  etwas  energische 
Ansprache  von  dem  anfangs  zögernden  Schulzen  fünf  Mann  erhielt. 
Im  nächsten  Dorfe  wurden  sie  durch  Andere  ersetzt,  da  die  dort 
erwarteten  Elephanten  nicht  zu  haben  waren.  Noch  eiu  drittes 
Dorf  (Apailok)  wurde  erreicht,  aber  dann  Halt  gemacht.  Am  an- 
deren Morgen  (am  8.  Januar)  waren  sie  bei  der  Stelle,  wo  der 
Siemrab  sich  in  zwei  Arme  tbeilt,  und  beeilten  sich  in  die  See 
auszulaufen  (S.  185).  Man  lief  durch  einen  schmalen  Kanal,  und 
wand  sich  durch  einen  buchigen  Schilfwald  hindurch.  Dann  wurde 
dem  Boote  das  Steuer  angehäugt  und  das  bisherige  Stocken  durch 
Rudern  ersetzt.  Es  zeigte  sich  eine  wogende  Bewegung,  und  nicht 
daran  Gewöhnte  sollen  leicht  seekrank  werden.  Auch  sah '  man 
weiter  hinaus  kleine  Wellen  kräuseln  und  brechen ,  wie  überhaupt 
die  Aussicht  über  die  See  unbeschränkt  war,  bis  sich  am  Horizont 
das  Wasser  mit  Luft  mischte,  und  die  in  waldigen  Spitzen  ausge- 
zackten Ufer  verschwanden.  Die  nach  Battambong  bestimmten 
Boote  hielten  sich  in  West,  die  nach  üdong  bestimmten  in  Ost,  da 
sie  es  nicht  wagen,  den  See  direkt  nach  Süden  zu  kreuzen.  Als 
sich  am  Nachmittag  etwas  Wind  erhob,  legte  der  Schiffer  das 
Boot  unter  einem  dicken  Baumstamme  bei  und  befestigte  es  an 


*  >  Ueberhaupt  unterbricht  eine  TJebersicht  über  die  buddhistische  Lehre 
von  den  Meditations-Himmeln  der  Byamha  oder  Phrom  (S.  147—184)  den 
Faden  der  ReiBedarsteUung. 


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Bastian:  Reise  nach  Cocbincblna. 


den  aus  dem  Wasser  hervorragenden  Zweigen.  An  den  Sussersten 
Bärnnen  war  die  Tiefe  17  Fuss,  nahm  aber  rasch  weiter  hinaus  zu. 
Gegen  Abend  brachen  sie  wieder  auf  und  kreuzten ,  nicht  ohne 
Zagen  ihrer  kühnen  Matrosen,  an  einer  offenen  Stelle  von  einer 
waldigen  Spitze  zur  andern,  d.  h.  zur  Mündung  des  Battambong- 
flusses  über.  Mit  Einbruch  der  Nacht  fuhren  sie  in  das  Dickicht 
hinein,  uro  das  Boot  für  die  Nacht  dort  fest  zu  machen. 

Am  anderen  Morgen  brachen  sie  auf,  und  fuhren  den  Flnss 
hinauf  bis  zum  Zollhause  Dan  Sema,  wo  von  Osten  der  Lam- 
Seng  in  den  Fluss  fallt.  Sie  machten  aber  erst  Rast  nach  dem 
Eintritte  dos  Flusses  von  Konburi.  Auf  der  Weiterfahrt  änderte 
der  Fluss  seine  Farbe.  Bisher  bräunlich-roth  wurde  er  weisslicb- 
grau.  Man  passirte  die  Mündung  des  Sthttng-Kamao,  das  Zollhaus 
Dan  Chambong,  wo  die  Steuern  bezahlt  werden*),  einige  Dörfer, 
zuletzt  kam  man  an  dem  Landungsplatze  von  Battambong  an. 

Battambong  streckt  sich  weit  am  Ufer  hin,  und  steht  mit  den 
Pfahlbauten  der  äussersten  Strassen  im  Wasser.  Er  schickte  zum 
Gouverneur,  und  hörte,  dass  derselbe  noch  schliefe.  Daher  ging 
er  einstweilen  auf  dem  Markte  und  zwischen  den  Klöstern  umher. 
In  einem  hörte  er,  Battambong  sei  erst  vor  80  Jahren  gebant, 
als  der  Fluss  seinen  Lauf  veränderte.  An  dem  alten  Strombette 
trifft  man  die  mit  Figuren  und  Inschriften  bedeckten  Steinruinen 
von  Baset.  Am  Fluss  aufwärts  finden  sich  an  einem  Berge  die 
Ruinen  von  Banan,  einem  Phra  Prong  ähnlich.  Als  er  des  Kbao 
Myang  ansichtig  wurde,  Hess  er  ihm  ein  langes  grosses  Staatsboot, 
das  im  Flusse  ankerte,  an's  Ufer  legen,  und  durch  Ketten-Gefangene 
zu  einer  Wohnung  während  des  Aufenthaltes  in  Battambong  zurichten. 

Der  Fluss  kann  etwa  noch  vier  Tagereisen  oberhalb  der  Stadt 
befahren  werden.  Seine  Quelle  liegt  auf  steilen  Bergen,  die  mit 
den  Chantabum-Gebirgen  zusammenhängen,  und  von  den  Khamen 
Dong  oder  Khamen  Nak  Pri  bewohnt  sind,  die  das  Kambodiscbe 
mit  besonderer  Pronnnciation  sprechen.  Sehr  interessant  ist,  was 
B.  über  Steuern,  und  Frohnen  berichtet,  S.  191  u.  ff.;  er  meint, 
durch  die  Annectirung  der  Provinzen  Siemrab  und  Battambong 
habe  sich  Siam  den  besten  Theil  Kambodia's  anzueignen  gewusst, 
eben  diejenigen,  die  durch  ihre  begünstigte  Lage  allein  zur  Ent- 
wicklung befähigt  waren,  und  dieselbe,  wie  die  Monumente  zeigen, 
auch  zu  einer  nicht  unbedeutenden  Vollendung  gebracht  haben. 
Er  erwähnt  auch  der  Gesetzbücher,  der  hinterindischen  Völker,  die, 
wie  er  angibt,  sich  in  Birma  sowohl  wie  in  Siam  und  Kambodia 
an  den  Namen  des  vorderindischen  Menu  anknüpfen**). 

Mit  S.  222  beginnen  wir  am  Faden  des  Verfassers  die  Reise 


*)  Bei  dem  früheren  Wachtposten  Dan  Sema  werden  nur  die  Papiere 
inaplcirt.  S.  1*9. 

**)  Er  widmet  dem  schon  von  Richardson  behandelten  Pammathat,  das 
in  zwölf  Bücher  abgetheilt  ist,  ein  Dutzend  und  mehr  Seiten,  S.  196 — 221. 
Eigentlich  ist  es  ein  Nachtrag  zum  zweiten  Bande.  Penn  es  ist  das  binna- 
nesische  Pammathat.  Vgl.  uns.  Anzeige  des  II.  B.  Heid.Jhrb.  1866.  Nr.  33  f. 


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Bastian:  Reise  nach  Cochinchlna. 


westlich  vom  kambodischen  See.  Er  holt  hier  naoh,  dass 
in  einem  früheren  Kriege  der  grösste  Theil  der  Bewohner  Battam- 
bongs  nach  Siam  geschleppt  nnd  dort  meistens  ermordet  wnrde. 
Am  zweiten  Tage  nach  seiner  InstalHrung  (18.  Jannar)  wurden 
nach  Befehl  des  Chao  Myang  zwei  Elephanten  gebracht,  auf  denen 
er  den  Fluss  kreuzte,  und  nach  dem  Verlassen  der  Vorstädte  erst 
durch  einen  offenen,  dann  durch  einen  dichten  Jungle  ritt.  Auf 
einem  gelichteten  Platze  hatten  zwei  durch  den  Chao  Myang  vor- 
ausgeschickte Kdelleute  mit  ihren  Sclaven  und  den  unter  den 
Schulzen  requirirten  Bauern  der  nächsten  Dörfer  drei  Häuschen 
für  ihn ,  seine  Dienerschaft  und  Begleitung  aufgerichtet.  Die 
beiden  Beamten  kamen  mit  hohen,  goldberanderten  Spitzhüten  zu 
seiner  Begrüssung  herbei  und  überwachten  die  Abladung  des  Ge- 
päckes. Die  Ruinen  der  alten  Stadt  Basot  lagen  in  der  Nähe, 
und  dem  Besuche  dieser  galt  diese  Einrichtung  (S.  227).  Am  Nach- 
mittage kehrte  B.  nach  Battambong  zurück,  und  am  nächsten  Tage 
fuhr  er  zum  Besuche  der  westlich  gelegenen  Monumente  von  Vat 
Eck  einen  engen  Bach  hinauf,  bis  zu  einer  Stelle,  wo  derselbe  ab- 
gedeicht war,  und  begab  sich  dann  durch  Felder  zu  einem  See  mit 
einer  Ruhehalle  daneben,  von  wo  eine  Brücke  über  den  schlammigen 
Boden  zu  dem  in  Terrassen  aufsteigenden  Tempel  führte.  Auch 
zu  dem  drei  Tagereisen  den  Fluss  hinauf  gelegenen  Bergscblosse 
Banon  wurde  ein  Besuch  auf  Booten  angetreten.  Nur  noch  eine 
Tagereise  oberhalb  ist  der  Fluss  Battambong  schiffbar;  dann  wird 
er  von  Felsen  unterbrochen.  Er  findet  die  um  Battambong  d.  b. 
im  Distrikt  umherliegenden  Monumente  westlich  vom  See  weit 
jüngeren  Ursprungs,  verglichen  mit  denen  des  oberen  Karabodia's. 
An  einigen  Strukturen  Basets  soll  noch  im  vorigen  Jahrhundert 
weiter  gebaut  sein,  und  wurde,  wie  er  sagt,  diese  Stadt  überhaupt 
erst  in  neuerer  Zeit  von  ihren  Bewohnern  verlassen.  Indem  ich 
die  Details  über  Baset's  und  Banon's  Ruinen  (S.  236  u.  ff.),  sowie 
über  die  Technik  der  Pagodenarchitektnr  (S.  239),  und  Geschicht- 
liches über  Battambong  (S.  241),  endlich  Details  eines  Vocabula- 
riurns  der  Dscham*)  (S  243)  für  diesen  Bericht  übergehe,  sei  es 
mir  erlaubt,  den  Verfasser  auf  seiuer  Weiterreise  zu  begleiten. 

Am  20.  Januar  reiste  man  von  Battambong  ab  ,  kreuzte  den 
Fluss,  und  betrat  nach  dem  Durchschreiten  der  Felder  das  Dickicht 
des  Walde«  S.  247.  In  dem  Dorfe  Ka  m  p  o  n  g  P  r  a  (s.  v.  a.  Mönchs- 
hafen) hielt  man,  um  zu  frühstücken**).  Quartier  für  die  Nacht 
nahm  man  im  Dorfe  Lok. 

Die  eingehenden  Mittheilungen  über  die  Sprache  der  Ehamen 
boran  (der  Alt-Kambodier) ,  auf  deren  Boden  wir  uns  jetzt  befin- 
den, und  der  Siamesen,  wie  er  sie  als  Episode  S.  248  u.  ff.  ein- 
schiebt, dienen  hauptsächlich  dem  Beweise,  dass  die  siamesische 


*)  Die  eine  der  Vorstädte  Battarabong's ,  das  Bahn  (Dorf)  Khek,  be- 
wohnen, vgl.  P.  229. 

**)  lu  der  Regenzeit  überschwemmt  der  8ee.  die  ganze  Gegend  mit  Aus- 
nahme des  erhöhten  Grundes,  auf  dem  die  Häuser- stehen. 


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018 


Bastian:  Reise  nach  Cochinchlna. 


Cultur  von  der  Kambodischen  entlehnt  ist,  nnd  diese  weiterhin 
mit  der  javanischen  zusammenhängt. 

Auf  der  Strasse  wurde  des  Weiteren  Halt  bei  dem  Dorfe 
Asaijeh  gemacht,  an  einer  Sala,  die  sich  im  Gehöfte  eine?  Edel- 
mannes fand,  der  die  dortige  Gegend  als  Beamter  verwaltete  Der 
Fluss  Asaijeh,  an  dem  das  Dorf  liegt,  und  der  kleine  Teiche  bildet, 
fällt  in  den  Thalesab.  Er  variirt  die  Reiseerzählung  durch  Schil- 
derung der  Gefahr,  wenn  Elephanten  in  Aufregung  gerathen.  Man 
ritt  bei  Mondlicht  dahin  ,  und  erreichte  das  Dorf  T  a  n  e  a  h  ,  das 
aus  zehn  Häusern  besteht  und  von  Pursat  abhängig  ist.  Man  hielt 
sich  nicht  auf,  und  machte  erst  Bast  in  Pursat  oder  Photisat. 

Diese  Stadt ,  die  früher  bedeutend  gewesen  sein  soll ,  zahlt 
jetzt  nur  fünfzig  Häuser,  nnd  die  meisten  Klöster  stehen  leer. 
Hier  konnte  er  keine  Elephanten  zur  Weiterreise  bekommen ,  er 
musste  sich  mit  Karren  begnügen  (S.  266).  Mit  drei  Karren,  einem 
Reitpferd  für  sich  und  acht  Mann  Begleitung  passirte  er  den  Fluss 
und  zog  durch  morastige  Felder  und  dann  auf  dem  mit  Gras  be- 
wachsenen Boden  eines  Waldes  über  Wellenerhebungen  hin.  Der 
Weg  brachte  sie  nach  Takro,  einem  Orte  von  300  männlichen 
Einwohnern.  Früher  sei  es  ein  Bahn  und  von  Photisat  abhängig 
gewesen,  jetzt  aber  sei  es  ohne  Cbao  Myang.  Es  liegt  eine  Tage- 
reise von  Thalesab  entfernt,  am  Krong,  der  in  denselben  mündet*). 
Auch  hier  musste  er  sich  auf  Karren  beschränkt  sehen.  In  dem 
Flecken  K  r  o  n  g ,  wo  die  Nacht  zugebracht  wurde,  quartirte  er  sieb 
in  dem  Hause  des  Chao  Myang  ein,  da  dieser  nach  Udong  abge- 
reist war,  und  erlangte  vom  Kramnang  (Schulzen)  die  Requisiten 
an  Karren  und  Führern,  womit  er  seinen  Weg  nach  Klong  fort- 
setzte. Hier  kam  der  Kamnang  herbei,  um  ein  Geschenk  an  Ba- 
nanen zu  bringen,  und  den  Wechsel  der  Zugthiere  zu  besorgen. 

Beim  Weiterziehen  im  Waldo  trafen  sie  einen  Bach  so  hoch 
angeschwollen,  dass  der  kleinere  Karren  abgeladen  werden  musste, 
um  hindurchgetragen  zu  werden.  Ueber  einer  (sie)  welligen  Baum- 
ebene kamen  sie  nach  einem  Flecken,  der  zum  Gebiet  (Khet)  der 
Stadt  Boribun  gehört.  Die  ermüdeten  Büffel  wurden  hier  durch 
frische  im  Hause  des  Schulzen  ersetzt;  im  folgenden  Dorfe  (Sok), 
wo  der  Schulze  die  nöthigen  Wagen  zum  Voraus  besorgt  hatte, 
blieben  sie  die  Nacht.  Beim  Dorfe  Kabalah  standen  die  Karren 
fertig  am  Wege,  aber  ohne  Büffel.  Man  musste  Hand  an  solche 
Büffel  legen,  die  sich  auf  der  Weide  oder  in  den  Ställen  fanden. 
Der  Kamnang  eines  Nachbardorfes  leistete  dabei  Hülfe.  Sie  hatten 
einen  Fluss  zu  passiren  und  kamen  in  Myang  Bobo  oder  Bori- 
bun an.  Kloster  und  Tempel  sind  alten  Ursprungs.  In  Abwesen- 
heit des  Gouverneurs,  der  zwei  Tage  vorher  abgereist  war,  und 
der  übrigen  Beamten,  die  nach  dem  Landungsplatze  am  See  sich 


*)  Der  von  den  Einwohnern  Takro's  benutate  Landnngs-  und  Einschif- 
fungsplaU  heist  Kampong  l&veng,  die  Einwohner  von  Krong  gehen  nach 
Kampong  Luang.  S.  268. 


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Bastian:  Reise  nach  Cochinchin*. 


939 


begeben  hatten,  konnte  nnr  der  Abend  ibn  nöthigen  zu  bleiben. 
Aber  schon  bei  Aufgang  des  Mondes  fuhr  man  über  die  Ebene 
weiter,  nnd  langte  um  Sonnenaufgang  bei  dem  Dorfe  Pumroh  an. 
Der  Weg  wand  sich  dann  in  eine  waldige  Schlucht,  mit  dem  Berge 
Tlotkabek  znr  Rechten  und  dem  Kräng  dei  miah  links.  Aus  einem 
offenen  Walde  traten  sie  in  Felder  und  gelangten  dann  nach  Lei- 
biah, wo  sie  in  dem  leerstehenden  Hause  des*)  Cbao  Myang  ab- 
stiegen. Nur  die  Schreiber  waren  dort  zurückgeblieben,  und  so 
mu8ste  nach  dem  Dorfe  Tukuroh,  auf  der  anderen  Seite  des  Flusses, 
wegen  der  Ausfertigung  der  Papiere  geschickt  werden.  Aufenthalt 
gab  es  nicht.  Man  setzte  sich  mit  dem  Monde  in  Bewegung  und 
als  es  tagte,  waren  sie  im  Gebüsch.  Der  Boden  war  holprig,  un- 
eben, und  die  Fuhrleute  stöhnten  über  ihre  ermüdeten  Thiere.  Sie 
zogen  in  den  Hliusern  Erkundigungen  ein,  an  welcher  Stelle  die 
Strasse  trocken  sei,  nnd  erreichten  gegen  Sonnenaufgang  das  Dorf 
Seb  im  Gebiet  Laweks.  Auf  eine  Mittheilung  aus  dem  Munde 
des  jüngeren  Bruders  des  Prälat,  dass  eine  Colonie  Dscham  zwi- 
schen den  Dörfern  Pusik  und  Tukso  angesiedelt  sei,  nahm  er  den 
Umweg  über  diese  Ansiedelungen,  und  fuhr  in  die  Lichtung  ihrer 
Felder  bei  den  Dürfern  Pusik  und  Tuksoh  (Tschukro)  ein.  Der 
besondere  Ritus  zog  ihn  dahin. 

Am  Nachmittag  fuhren  sie  weiter  und  erreichten  auf  einem 
im  Wald  auf-  und  absteigenden  Wege  um  Sonnenuntergang  das 
Dorf  Liek,  ausserhalb  welchem  er  unter  einem  Baume  halten,  und 
von  dem  Kamnang  Führer  nach  dem  Vat  Tambongkeng  fordern 
Hess.  Man  traf  auf  den  verfallenen  Erdwall  des  alten  Lawek,  der 
ausser  durch  die  Thore  noch  an  manchen  andereren  Oeffnungen 
Einlass  gestattete.  Im  Innern  findet  sich  unter  Bäumen  ein  Klum- 
pen ärmlicher  Hütten,  die  das  jetzige  Dorf  Lawek  bilden.  Ich 
übergehe  die  Bemerkungen  über  die  Ruinen  des  alten  Lawek,  über 
das  ebengenannte  Kloster,  und  lasse  den  Verfasser  weiter  reisen. 
Man  kommt,  nachdem  man  in  Zwischenräumen  zwei  grossere  Bäche 
passirt  hat,  zu  der  Holzpalisade,  die  die  äosserste  Stadtmauer 
r  Jungs  bildet.  Die  Häuser  waren  halb  in  Büschen  oder  Gärten 
versteckt,  und  die  Hauptstrasse,  von  wo  man  Uber  die  Teiche  der 
Niederungen  auf  die  nmkränzenden  Hügel  und  ihre  Pagoden  blickte, 
war  von  einem  regen  Marktverkehr  belebt**).  Er  Hess  sich  nach  der 
Sala  des  Vat  Salakhun  fahren,  da  er  an  den  Abt  desselben  einen 
Einführungsbrief  aus  Bangkok  mitgenommen  hatte***).  Was  er  von 
den  Sitten  der  Kambodier,  Japanesen  und  Chinesen  bei  Krank- 
heiten erzählt,  kann  ich  selbst  im  Auszuge  nicht  mittheilen.  Nur 
der  Audienz,  die  er  bei  dem  jungen  Könige  hatte,  sei  noch  beson- 


*)  Gleichfalls,  wie  fröhere,  nach  Udong  zum  Krönungsfeste  gegangenen. 
**)  Der  Name  Udong  stammt  ans  dem  Pali.    Das  Volk  erklärt  diesen 
Namen  aus  Grossvater  nnd  Grossmutter,  die  dort  das  Feld  bebaut  haben. 
Aehnlich  klügeln  die  Siamesen  aus  Ayuthia  die  Ur-Ahr-en  Ayu-Thaya  her- 
aus. 8.  284. 

Die  Bibliothek  des  Klosters  hat  seinen  Beifall.  S.  310. 


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940 


Basti  an:  Reise  nach  Cochinchina. 


ders  gedacht.  Sie  war  am  80.  Janaar.  Ein  Vocabularinm  der 
Kba  So,  der  Kha  Tampuen,  der  Xong,  der  Lao  Suay,  der  Karen, 
der  Palonng  unterbricht  die  Beschreibung  (S.  293  u.  ff.).  Er  kommt 
nachträglich  auf  die  Geschichte  Udong's  zu  reden  (S.  307). 

Da  wir  noch  fünfzig  Seiten  lang  über  Udong  uns  durch  B. 
unterhalten  lassen  müssen,  ich  sage  müssen,  nicht  weil  seine  Mit- 
theilungen uninteressant  wären,  sondern  weil  erst  um  so  viel  später 
die  Reise  nach  dem  unteren  Mekhoug  fortgesetzt  werden  wird,  so 
wollen  auch  wir  uns  nicht  den  Thatsachen  entziehen ,  die  gewisse 
Leser  des  Buches  zu  unserer  Beschämung  möchten  wenigstens  der 
vorübergehenden  Erwähnung  werth  halten  können.  Wir  lassen  uns 
gerne  über  die  Verfertigung  der  Seide  aus  Cocon's  (S.  308),  über 
die  Gewinnung  einer  Wachsart  ans  dem  Sullah-Banme  (S.  309), 
über  das  Aussehen  der  Combodier  (S.  309),  über  ihre  heiligen 
(Pali)  Bücher  und  ihre  Schrift,  sowie  über  das  Vernacular  mit 
seinen  dialektischen  Verschiedenheiten  (S.  310)  unterrichten.  Auch 
lernen  wir  ausserdem  gerne  von  Erklärungen  zur  birmanischen  und 
siamesischen  Grammatik  (S.  316),  von  Fabeln,  von  Moralbüchern. 
Erzählungen,  Epen,  Volksschwänken,  und  was  sonst  alles  B.  noch 
an  jene  Mittheilungen  über  Udong  angeknüpft  hat ,  wie ,  um  anch 
dieses  Mal  wie  so  oft,  der  Monotonie  des  Reiseberichts  durch  jene 
Einscbiebungen  abzuhelfen.  Aber  fast  kommt  es  uns  vor ,  als  ob 
er  der  Langeweile  des  Wartens  auf  eine  günstige  Gelegenheit,  um 
von  Udong  Abschied  zu  nehmen ,  einen  Ausdruck  habe  in  compe- 
tenter  Weise  geben  wollen. 

Uebrigens  können  wir,  bei  der  Ueberschrift  angelangt,  die 
von  Siam  nach  Cochinchina  lautet  und  uns  einladet,  uns 
aufs  Neue  der  Führung  des  Reisenden  anvertrauen ,  doch  nicht 
umbin,  unsere  Zufriedenheit  zu  bezeugen,  und  jenen  Labyrinth  von 
Sprachnüancen ,  das  selbst  die  Geduld  eines  Special  Uten  zu  er- 
müden die  Kraft  hat,  hinaus  auf  den  Weg  zu  kommen,  und  sollt«? 
es  einstweilen  noch  nicht  weiter  als  nach  dem  Landungsplatze 
Eampong  luang  am  Seo  gehen. 

Begleiten  wir  also  B.  zu  dem  Thore  der  Udong  umziehenden 
Palissaden  hinaus  nach  der  Hafenstadt.  Zwischen  letzterer  und 
Pinhalü,  einer  Stadt  unterhalb,  gibt  es  malayische  Colonien.  Längst 
des  Flusses  fand  er  die  Häuser  verschiedener  Colonien  Kriegsge- 
fangener mit  kambodischen  Ansiedlungen  gemischt.  Die  rebelli- 
schen Dscham ,  denen  der  König  Sitze  zwischen  Udong  und  Pa- 
nompeng  angewiesen  hatte ,  suchten  nach  ihrer  früheren  Heimath 
in  Cochinchina  zu  entfliehen ,  kehrten  aber  meistens  freiwillig  zu- 
rück, da  ihrer  dort  noch  härtere  Unterdrückung  wartete.  B.  ver- 
weilte einige  Zeit  in  dem  Hause  des  Nai  (Aufsehers)  Dscham 
(S.  356).  Was  er  sonst  noch  von  denselben  mittheilt,  übergehe 
ich.  Sehr  lehrreich  ist  das,  was  er  von  der  Nachahmung  der 
demüthigen  Anreden  der  Einheimischen  durch  Malajen  und  Chinesen 
sagt.  Er  sucht  richtig  den  Grund  für  die  sclavische  Unterwürfig- 
keit der  Tropenvölker  gegen  Mächtige  in  ihrem  Kolig  Uns  System. 

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Bastian:  Reise  nach  Cochinchlna 


941 


und  zieht  eine  Parallele  zwischen  der  ans  Glaubenszwang  verur- 
sachten Apathie  des  Buddhisten  und  der  Fortbildung  des  Europäers, 
am  Ergebnisse  des  Kampfes,  den  die  Wissenschaft  in  ihrem  Zwie- 
spalt mit  der  Religion  hier  herbeiführte. 

Zuvorkommend  unterstützte  ihn,  um  unter  den  eingeborenen 
Christen  Ruderer  und  ein  Boot  für  die  Reise  nach  Saigon  zu 
miethen,  die  französische  Mission. 

Er  schiii'te  sich  am  11.  Februar  ein,  und  legte  in  Pinhalu 
an ,  um  bei  den  Familien  der  Schiffer  Vorschuss  zurückzulassen, 
und  befand  sich  gegen  Abend  in  Panompeng  an  dem  breiten 
Zusammenflusse  des  Mekhong  und  des  Kambodiaflusses ,  die  dort 
eine  Insel  uraschliessen.  Ein  Brand  in  seinem  Boote,  der  ihn  mit 
grossem  Verluste  bedrohte,  aber  bei  Zeiten  bewältigt  wurde,  war 
keine  angenehme  Unterbrechung  (S.  371).  Doch  gingen  die  Re- 
paraturen gut  von  Statten,  uud  konnten  sie  nach  einigen  Tagen 
mit  günstigem  Strom  sich  abwärts  treiben  lassen,  bis  sie  nach 
Mytho  kamen.  Die  Ufer  fand  er  flach,  mit  vielen  Dörfern  be- 
setzt. In  Mytho  fand  er  ein  französisches  Kriegsschiff  vor  Anker, 
und  eine  Strasse  am  Ufer  mit  französischen  Boutiquen  besetzt,  »so 
dass  ich  mich  wieder  im  Bereich  der  Civilisation  und  ihrer  Luxus- 
gegenstände befand«  (S.  377). 

Mytho  ist  mit  Saigon  durch  Canäle  verbunden*),  deren  Be- 
nutzung von  einer  günstigen  Ebbe  abhängt.  Bei  dem  französischen 
Fort  Djam  hielten  sie  Frühstück.  Am  17.  Februar  wurden  die 
Kanäle  in  der  Vorstadt  Saigon 's  erreicht  und  bald  kam  man 
nach  Saigon  selbst,  in  die  Hauptstadt  des  französichen  Territo- 
riums**), während  es  früher  zu  Anam  gehört  Tratte.  Die  franzö- 
sischen Kaufleute  haben  die  volle  Freiheit  den  grossen  Fluss  Kam- 
bodia's  mit  allen  Nebenflüssen  zu  befahren.  Ich  muss  darauf  ver- 
zichten, über  die  Erwähnung  hinaus  von  den  Glaubensmeinungen 
der  Cocbinchinesen,  ihren  philosophischen  Ansichten,  von  ihren 
früheren  Zeitaltern,  was  Alles  er  wieder  zwischen  den  Reisebericht 
eingeschoben  hat ,  zu  erzählen.  Er  beschreibt  das  Grabdenkmal 
eines  Bischofs  (S.  401),  das  Monument  des  Kaisers  Tanong  vor 
einer  buddhistischen  Pagode  im  Dorfe  Fanyün ,  der  zuerst  den 
Ackerbau  eingeführt  hatte,  und  andere  Denkmäler.  Er  referirt 
vieles  auf  die  Geschichte  Bezügliche  aus  dem  Munde  seines  in 
chinesischer  und  tonquinesischer  Literatur  bewanderten  Begleiters 


*)  Die  aber  durch  die  Räubereien  der  Wasserpiraten  unsicher  gemacht 
sind,  wesshalb  ihm  der  Vorschlag  gemacht  wurde,  die  französische  Escorte 
zu  erwarten,  die  einmal  in  der  Woche  Güter  und  Passagiere  begleitet. 

•*)  Seit  dem  im  Januar  1862  abgeschlossenen  Frieden,  dessen  dritter 
Artikel  die  Provinzen  Bienhoa,  Giadinh  und  Dinh  Tuong  (Mytho)  nebst  der 
Insel  Pulo  Condor  für  Frankreich  verlangte.  Eine  anamitische  Gesandt- 
schaft war  in  Paris  und  Ende  1863  legte  der  französ.  Marineofficier  Aubaret 
am  Hofe  von  Hu4  einen  neuen  Vertrag  vor.  Die  drei  Provinzen  sollten  dem 
K.  Tü-düe  zurückgegeben  werden,  Saigon,  Thu-diau-mot  und  Mytho  aus- 
genommen. Dagegen  sollte  Frankreich  das  Protektorat  Uber  die  sechs  Pro- 
vinzen von  Unter-CochinchinA  erhalten.  Cfr.  S.  880. 

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m  Bastian:  Reise  n ach  Coch in china . 

(S.  405 — 412).  Bei  einem  Besuche  der  einheimischen  Stadt  Sai- 
gons wurden  mehrere  Pagoden  wegen  der  Mannigfaltigkeit  ver- 
schiedener Bilder,  die  sich  darin  befinden,  besucht 

Das  Po8tdampfschiff  blieb  ein  Paar  Tage  Uber  seine  Zeit  aus. 
So  kam  er  zur  Bekanntschaft  von  einigon  Missionären,  von  denen 
mehrere  längere  Zeit  unter  den  Bergstämmen  des  Inneren  verweilt 
hatten.  Die  Vocabularien  der  Banar  und  der  Sedan,  S.  413  u.  ff. 
zeigen,  welche  linguistische  Erndte  die  Unterhaltung  bei  diesen 
Männern  gehalten  hatte. 

Obwohl  jetzt  die  Geschichte  der  Länderstrecken,  die  der  Ver- 
fasser uns  hat  durchwandern  lassen ,  uns  beschäftigen  müsste ,  so 
habe  ich,  verlässlieh  derselben,  die  im  ersten  Bande  als  besonderer 
Abschnitt  behandelt  ist  (vgl.  Band  I,  8.392  u.  ff ),  doch  nicht  die 
Absicht,  den  Sagenkreis  der  Steinmonumente  hier  zu  zergliedern. 
Ebensowenig  denke  ich  Über  die  Chroniken  Inthapataburi'a*)  za 
referiren.  Auch  die  Zeugnisse  der  Nebenländer  will  ich  bei  Seite 
lassen.  Es  möge  genügen,  die  Ueberschriften  namhaft  gemacht  zu 
haben,  nachdem  wir  die  Erkenntniss  gewonnen  haben,  dass  die 
Kambodier  ein  weiteres  Beispiel  für  die  Thatsache  sind ,  die  in 
der  Geschichte  der  Cultur  sich  an  Modern,  Griechen  und  Italienern 
gezeigt  hat;  ihre  Eroberer  (die  Siamesen)  wurden  ihre  gelehrigen 
Schüler,  wie  hier  die  Perser,  die  Römer,  die  Franken. 

Mögen  uns  dafür  die  wenigen  Seiten  tiefer  interessiren,  welche 
von  den  Hauptstädten  der  Niederungen  und  der  neue- 
ren Geschichte  handeln.  Vgl.  Band  I,  S.  478  u.  ff.  Der  Ver- 
fasser hat  nach  seinem  eigenen  Geständniss  für  die  spätere  Ge- 
schichte Kambodia*B  zwei  Quellen  vorgefunden,  ein  kurzes  Königs- 
verzeichuiss  aus  den  Archiven,  das  er  im  Schlosse  Udong'a  ver- 
fertigte, und  eine  siamesische  Uebersetzung  der  kambodischen  Ge- 
schichte von  dem  am  Hofe  angestellten  Dolmetscher,  die  er  schon 
dort  gelesen  und  excerpirt  hatte. 

Die  in  Udong  durchgesehene  Geschichte  Kambodia's  beginnt 
mit  der  Herrschaft  Phra  Borammaniphanbot's ,  der  von  1264  bis 
1272  (der  Mahasakkharat)  in  Nakbon  Vat  regierte,  nennt  seinen 
Nachfolger  Phra  Sithaen,  den  nächsten  Borommalompongraxea  und 
erzählt  dann  in  derselben  Weise  die  Eroberung  Ramathibodi's. 

Bei  dem  Tode  des  Königs  Basat  (1277  M.  S.)  folgte  sein 
jüngerer  Bruder  Khänsongrat  (oder  Baos  nach  der  kambodischen 
Ausgabe)  und  dann  (1279)  sein  Sohn  Kadongbongphisi  (Chao  Kam- 
bongphisi)  noch  im  zarten  Kindesalter.  Einen  Monat  später  kehrte 
König  Ramathibodi  aus  Siam  zurück  und  trieb  alle  die  Einwohner 
Kambodia's  mit  sieh  fort,  90,000  der  Gefangenen  in  Ayuthia  an- 
siedelnd. 

Nachdem  Ramathibodi  das  Land  verlassen  hatte,  wurde  Phra 
Sri  Surijavongraxah,  ein  Kambodier  von  Abkunft,  in  Nakhon  Tom 
oder  Nakhon  Luang  auf  den  Thron  gehoben,  und  ihm  folgte  (1288) 


*)  Nakhon  Tom's  (Siemrab'a)  vgl  Bd.  IV,  S.  23* 

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Bastian:  Reise  nach  Cochip«hlna# 


943 


sein  Neffe  Pbra  Borommaraina,  der  in  Nakhon  Vat  regierte.  Auf 
ihn  folgte  1290  (nach  dem  Kambodischen)  oder  1292  (nach  dem 
Siamesischen)  sein  jüngerer  Bruder  Phra  Thammasokkharat  in  Na- 
khon Tom,  welche  Stadt  (1294)  durch  Phrachao  Borommaraxa,  den 
König  von  Siam,  belagert  und  nach  sieben  Monaten  (1295)  erobert 
wurde.  An  der  Stelle  des  gefallenen  Thammasokkharat  setzte  der 
Sieger  seinen  Sohn  Phaya  Phrek  unter  dem  Titel  Phra  Intharaxa 
ein.  Er  wurde  durch  ausgesandte  Emisäre  Phaya  Jaht's  ermordet, 
der  sich  dann  des  Thrones  in  der  Residenzstadt  Nakhon  Tom  be- 
mächtigte. Nachdem  er  12  (11)  Jahre  regiert  hatte,  liess  er  seine 
Krönung  mit  dem  feierlichen  Ceremoniel  des  alten  Herkommens 
begehen.  FUnf  Jahre  später  verlegte  er  seine  Residenz  nach  der 
Stadt  Panompben,  die  erneuert  und  verschönert  wurde  (1310 — 1311). 
Nachdem  der  König  45  Jahre  hier  regiert  hatte,  Ubergab  er  das 
Scepter  seinem  Sohne  Phra  Ongkan-Närai-Ramathibodi ,  der  aber 
schon  im  nächsten  Jahre  starb  (1356)  und  Phrachao  Siraxa  zum 
Nachfolger  hatte.    Dieser  führte  Kriege  u.  8.  w. 

Ich  setzte  die  Darstellung  des  Verfassers  nicht  fort.  Man 
sieht  schon  aus  dem  Bisherigen,  dass  Letzterer  sich  mit  Erfolg  hat 
angelegen  sein  lassen,  einen  lesbaren  Zusammenhang  zu  erzielen. 

Die  kambodische  Geschichte  nimmt  verschiedene  Male  Rück- 
sicht auf  Beziehung  zu  Farang*)  genannten  Ausländern,  aber,  wie 
er  findet  nur  selten  unter  hinlänglich  deutlichen  Ausdrücken,  um 
zu  entscheiden,  wann  die  Holländer  oder  wann  die  Portugiesen  zu 
verstehen  sind. 

Ueber  die  neueste  Geschichte  Kambodia's  habe,  sagt  er,  der 
erste  König  Siam's  (Mongkut)  in  Bangkok  eine  kleine  Broschüre 
in  englischer  Sprache  drucken  lassen,  um  die  Ansprüche  seines 
Königshauses  auf  die  Oberberrlichkeit  Kambodia's  zu  begründen 
seit  ihm  die  Uebergriffe  der  Franzosen  von  Saigon  aus  Besorgnisse 
zu  erregen  beginnen. 

In  diesem  Pamphlete,  so  bezeichnet  B.  die  Brochüre,  beginnt 
ihr  königlicher  Verfasser  die  Darstellung  der  Verwicklungen  mit 
dem  J.  1100  (Ch.  S.  oder  1750  p.  d.).  Eine  kurze  Inhaltsangabe 
enthalten  die  Seiten  489 — 492  des  ersten  Bandes.  Den  Einfällen 
der  Chochinchinesen  wurde  zuletzt  durch  das  Anerbieten  eines 
dreijährigen  Tributs  Seitens  des  Vicekönigs  (Phra  Harirak)  vorge- 
beugt**), und  1851  liess  Letzterer  dem  gegenwärtigen  König  von 
Siam  huldigen.  Als  Phra  Harirak  starb  (1860),  brach  zwischen 
seinen  Söhnen  ein  Krieg  aus,  der  mehrere  Jahre  gedauert  hat.  Bei 
seiner  Durchreise  in  Kambodia  (1864),  war  aber  Friede,  und  der 
neue  Vicekönig  erwartete  die  siamesischen  Bevollmächtigten,  um 
ich  krönen  zu  lassen. 

Eine  besondere  Schwierigkeit  bietet  dem  Verständnisse  der 
Geschichte  dieser  Länder  die  Zeitrechnung.  Bastian  hat  einen  be- 
sonderen Abschnitt  den  Aerabestimmungen  bei  den  Siamesen  und 

*)  Franken. 

*•>  Tribut  wurde  durch  Kambodia  bezahlt  von  1116  bis  1432. 


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MI 


Bastian:  Reise  nach  Cochinchina. 


den  Birmanen  gewidmet.  Die  Schwierigkeit  besteht  darin ,  dass 
zwei  Arten  der  Zeitrechnung  neben  einander  in  Gebranch  sind, 
eine  heilige*)  und  eine  profane**).  Die  erstere  wird  nach  dem 
Todesjahre  Bnddha's ,  die  zweite  in  der  vulgären  Aera  gerechnet 
Ausserdem  soll  es  noch  verschiedene  andere  Versuche  birmanischer, 
siamesischer  und  kambodiseber  Könige ,  die  Aera  zu  verändern 
geben,  z.  B.  durch  Vergrabung  von  Reliquien  eine  neue  Periode 
festzustellen. 

In  den  siamesischen  Geschichtsbüchern  hat  B.  meistens  nach 
der  profanen  gerechnet  gefunden ,  in  denen  Kambodia's  aber .  wo 
die  profane  erst  mit  Gründung  Lawek's  eingeführt  sein  soll,  fand 
er  häufig  die  grosse  Zeitrechnung  (Mahasakkharat ,  mit  p.  d.  be- 
ginnend) fortgeführt.  Diese  letztere,  in  der  auf  den  Steininschriften 
Sukothay's  gebrauchten  Weise,  soll  durch  einen  König  Kambodia's 
eingelührt  sein  (540  p.  d.)  und  wird  zuweilen  Pbaya  Krek  zuge- 
schrieben (547  p.  d.). 

Die  Buddha-Sakkharat  zählt  die  siamesische  Aera  von  543 
a.  d.  (S.  515);  die  Daten  werden  nach  ihrem  Abstände  von  Bn- 
ddha's Todesjahr  fixirt,  aber  nur  die  Palitexte  selbst  können  einiger- 
massen  zuverlässige  Anhaltspunkte  für  Alles  geben,  was  jenseits 
der  Grenzen  des  Landes  liegt.  In  dem  Uebrigen  findet  sich  das 
confuseste  Zeug  hingeworfen  (S.  522). 

Nach  Berücksichtigung  dieser  dem  ersten  Bande  und  den  ge- 
schichtlichen Ergebnissen  des  Verfassers  zugehörigen  Details  kehre 
ich  zum  vierten  Bande  zurück. 

Es  findet  sich  hier  S.  424  u.  ff.  eine  Beilage  vor,  welche  die 
Annalen  Annam's  betrifft,  die  ebenso  schätzbar,  wie  schwierig  ist***). 

Der  Schlussaufsatz  (S.  429  u.  ff.  hat  die  Stadt  Saigon) ,  ihre 
Geschichte  und  ihren  Handel  zum  Gegenstande. 

Die  Kritik  muss  auch  diesem  Bande  ein,  wenn  auch  noch 
nicht  ganz  Übersichtlich  geordnetes,  doch  tief  verarbeitetes,  reich- 
haltiges Material ,  wie  es  sich  nur  eine  verhältnissmässig  gründ- 
liche  Kenntniss  der  Landessprachen  hat  dienstbar  machen  können, 
nachrühmen. 

Die  Ausstattung  ist  sich  gleich  geblieben,  und  wird  man 
wünschen  dürfen,  dass  es  der  Verlagshandlung  vergönnt  bleibt, 
durch  Fortsetzung  des  Werkes  den  Verfasser,  und  die  Wissenschaft 
zu  unterstützen! 


*)  Die  Phutthasakkharat  hei  den  Siamesen. 
••)  Die  Chunlosakkharat    Sakkharat  ist  diejenige  Periode,  In  der  ein 
Mächtiger  oder  Saka,  gleich  dem  Könige  der  Saka,  regiert. 

***)  Wir  würden  gern  hiervon  ausführliche  Notiz  genommen  und  den 
Zusatz:  Annam  Ton  quin  und  Cochinchina  (Band  I.  S.  493  —  511),  sowie  den 
Precls  historique  de  la  nation  annamite  (Band  I.  S.  554  -567)  herangezogen 
haben,  wenn  ein  besonderer  Reisebericht  B.'s  nach  diesem  Küatenlande  vor- 
läge. So  viel  aus  der  Vorrede  «um  IV.  Bande  erhellt,  wird  selbst  der  fünfte 
Band  hierauf  nicht  führen. 

Heideiberg,  Ende  December's. 

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Hr.  60.  HEIDELBERGER  '  1867. 

JAHRBÜCHER  DER  LITERATUR. 


Bibliotheca  Scriptornm  Graecornm  et  Romanoram 

Teulmeriana. 


Diodori  Bibliotheca  Historica.  Ex  recensione  et  cum  annotationi- 
bus  Ludovici  Dindorfii.  Lipsiae  in  aedibus  B.  0.  Teub- 
neri.  MDCCCLXVIl.  Vol.  III.  LXXXIV  und  618  8.  Vol.  IV. 
XL  VIII  und  407  S.  in  8. 

Polybii  Historia.  Kdidit  Ludovicus  D indorfius.  Lipsiae  etc. 
Vol.  III.  5W  S.  in  8. 

Eusebii  Caesariensis  opera.  Hecognovit  Quilielmus  D indor- 
fius. Vol.  III.  Demonslrationis  Evangelicae.  Libri  I — X  Lip- 
siae etc.  XX  und  700  8.  in  8. 

M.  Tut  Iii  Ciceronis  scripta  quae  manserunt  omnia.  Hecognovit 
Ii  ein  hol  du  s  Klott.  Partis  11.  Vol.  III.  continens  Oratio- 
nes  pro  P.  Sestio,  in  P.  Vatinium,  pro  M.  Caelio,  De  pro- 
vinciis  consularibust  pro  L.  Cornelio  Balbo,  in  L.  Calpumium 
Pisonem,  pro  Cn.  Plancio,  pro  C.  Rabirio  Postumo,  pro  T. 
Annio  Milont ,  pro  M.  Marcello,  pro  Q.  Ligario,  pro  Rege 
Deiotaro,  in  M.  Antonium  Philippicas  XIV.  Editio  altera  etnen- 
datior.  Lipsiae  etc.  XLIX  und  478  8.  in  8. 

Anicii  Manlii  Torguati  Severini  Boetii  De  institutione 
arühmeiica  libri  duo,  De  institutione  musica  libri  quinqut. 
Accedit  geometria  quae  fertur  Boäii.  E  libris  manuscriptis  tdidit 
Qodofredus  Friedlein.  Lipsiae  etc.  VIII  i*.  492  8.  in  8. 

Die  hier  anzuzeigenden  Fortsetzangen  der  Bibliotheca  Teubne- 
riana  reihen  sich  an  die  zuletzt  in  diesen  Blättern  Nr.  40  (S.  625  ff.) 
besprochenen  Bände  an  und  können  aufs  Neue  zeigen,  mit  welcher 
Thätigkeit  das  preisswürdige  Unternehmen,  wie  es  in  dieser  Weise 
keine  Nation  aufzuweisen  hat,  im  Sinne  des  ehrwürdigen  Grün- 
ders fortgesetzt  wird.  Denn  es  handelt  sich  hier  nioht  blos  um 
einen  Wiederabdruck  von  vorliegenden  Texten,  wie  es  bei  ähn- 
lichen Unternehmungen,  wenn  auch  nicht  so  ausgedehnten,  in  an- 
dern Ländern,  Frankreich,  England,  Italien,  vorkommt,  sondern 
um  sorgfältig  revidirte  und  gereinigte,  auf  die  ursprüngliche 
Form  möglichst  zurückgeführte  Texte,  unter  sorgfältiger  Berück- 
sichtigung der  über  die  Texteskritik  der  betreffenden  Schriftsteller 
geführten  Untersuchungen  und  mit  Benützung  der  anerkannt  wich- 
tigsten und  auf  die  Gestaltung  des  Textes  einflussreichsten  Hand- 
schriften. Es  ist  darauf  schon  in  den  früheren  Besprechungen  hin- 
LX.  Jahrg.  12.  Heft.  60 

/ 

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946 


Blbliotheca  ßerfptorum  TeubnerUna. 


gewiesen  worden,  und  wird  diess  eben  so  von  den  hier  anzuzeigen- 
den Fortsetzangen,  wie  von  der  neu  hinzugekommenen  Ausgabe  der 
Schriften  des  Boetius  gelten.  Was  die  äussere  Ausstattung  betrifft, 
so  zeichnen  auch  diese  Ausgaben  sich  durch  deutlichen  Druck  und  gutes 
Papier  aus,  und  sind  im  Uebrigen  gleichförmig  den  früheren  ge- 
halten. An  erster  Stelle  erscheinen  die  beiden  Bände  der  Fort- 
setzung des  DiodorusSiculus;  sie  reichen  im  dritten  Bande 
von  Buch  XIV  bis  XVIII  inclus.  im  vierten  folgt  Buch  XIX  und 
XX,  woran  sich  die  Fragmente  von  Buch  XXI  bis  XXX  in  voll- 
ständiger und  wohlgeordneter  Zusammenstellung  anreiben.  Die  latei- 
nischen Argumente  der  einzelnen  Bücher  und  Capitel  gehen  in 
beiden  Bänden  dem  griechischen  Text  voraus ;  die  kürzeren  griechi- 
schen Argumente  oder  Inhaltsverzeichnisse  sind  dem  Texte  selbst 
und  zwar  vor  jedem  einzelnen  Buche  vorangestellt.  Die  Praefatio 
des  dritten  Bandes  setzt  die  Besprechung  einzelner  Stellen  der  in 
diesem  Bande  enthaltenen  Bücher  in  ähnlicher  Weise  fort,  wie  diess 
bereits  in  der  Praefatio  des  ersten  Bandes  geschehen  und  in  dem 
Bericht  darüber  (s.  oben  S.  627)  angegeben  worden  ist.  Leider 
sind  die  Handschriften  der  letzten  zehn  Bücher  dieses  Autor's  un- 
gleich fehlerhafter,  als  die  der  vorausgehenden,  und  treten  selbst 
nahmhafte  Lücken  und  Gebrechen  dos  Textes  hervor,  welche  zu 
beseitigen  die  Aufgabe  des  Herausgebers  um  so  mehr  sein  musst«, 
als  die  Hoffnung,  welche  durch  das  Auffinden  einer  Handschrift 
aus  dem  Ende  des  zehnten  oder  Anfang  des  eilften  Jahrhunderts 
zu  Patmos,  welche  Buch  XI— XVI  enthält,  erregt  worden,  sich  doch 
später,  nach  genauer  Einsicht  der  Handschrift,  von  welcher  uns 
S.  XIV ff.  eine  nähere  Beschreibung  mitgetheilt  wird,  als  trüge- 
risch erwies,  da  die  Handschrift  im  Ganzen  sich  nicht  besser,  ja 
selbst  im  Einzelnen  fehlerhafter  gezeigt  hat  als  die  andern  bis  jetzt 
bekannten;  auf  diese  Weise  ist  die  Wiederherstellung  des  Textes 
nur  wenig  durch  diese  Handschrift  gefordert  worden ;  »praeter  illos 
ex  homoeoteleutis  ortos  errores,  so  schreibt  der  Herausgeber  S.  XVU, 
librarius  indoctus  quum  alia  intulit  vitia  tum  vehementer  corrupit 
nomina  Graeca  et  Romana.  Haud  pauca  ipse  correxit,  alia  recentior 
mannt,  aive  alius  sive  ejusdem  Gregorii  Chii,  qui  etiam  brevia  in 
margine  apposuit  summaria.  Nova  quae  ceteris  desint  libris  saepe 
lacunosis  ad di tarnen ta  praeter  versus  illos  initio  memoratos  [den 
Zusatz  am  Schluss  des  57.  Capitels  Buch  XII]  nuUa  praebet,  sed 
partim  vitia  quaedam  tollit  partim  jam  sublatorum  correctiones 
confirmat,  ut  ne  hujus  quidem  codicis  ope  multa  nova  inferentis 
vitia  vel  leviora  corrigantur,  nedum  ut  gravissima  illa  quae  in 
ceteris  sunt,  em  enden  tu  r.«  Und  schwerlich  dürften  überhaupt  noch 
Handsohriften  des  Diodorus,  zumal  bessere,  aufzufinden  sein,  so 
dass  die  Verbesserung  hauptsächlich  auf  der  genauen  Kenntniss 
der  Sprache  dieses  Schriftstellers,  und  der  von  ihm  angewendeten 
Formen  und  Wörter  beruht :  von  diesem  Standpunkt  ist  daher  auch 
der  Herausgeber  bei  seinen  Verbesserungen  ausgegangen:  Manches 

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Bibliotheca  Scrfptomm  Te*bnerUna. 


947 


was  im  Text  nicht  sofort  geändert  worden,  Wird  in  der  Vorrede 
berührt.  Nicht  besser  steht  es  mit  der  handschriftlichen  Grundlage 
in  den  nnr  fragmentaripcb  vorhandenen  Büchern,  vom  ein  und  zwan* 
zigsten  an,  da  wir  in  diesen  Excerpten  nicht  sowohl  wörtgetreue 
Auszüge  aus  dem  Werke  selbst  finden,  sondern  Diodor's  Darstellung 
oftmals  interpolirt,  zusammengezogen ,  mit  eigenen  Zusätzen  erwei- 
tert und  selbst  entstellt  ist,  so  dass  es  doppelt  schwierig  wird,  zu 
ermitteln,  was  wirklich  für  Worte  Diodor's  anzusehen  ist,  und  was 
dem  Excerptor  angehört,  der  mit  grosser  Freiheit,  ja  Willkühr* 
lichkeit  in  seinem  Geschäft  verfuhr.  Der  Herausgeber  hat  in  dem 
Vorwort  zu  Band  IV  darüber  sich  des  Näheren  ausgelassen,  und 
hier  eine  Anzahl  von  Berichtigungen,  zunächst  in  einzelnen  Worten 
und  Formen,  niedergelegt,  auf  welche  hiermit  verwiesen  werden 
soll.  Bei  den  mannichfachen  Irrthümern,  welche  in  Bezug  auf 
Chronologie,  in  den  vom  eilften  Buch  an  erzählten  Gegenständen 
sich  bei  Diodor  finden,  erachtete  es  der  Herausgeber  für  nöthig, 
im  dritten  Band  auf  die  Vorrede  nooh  eine  Abhandlung  De  Chro* 
nologia  Diodori  (p.  XIX— XXXVIII)  folgen  zu  lassen,  welche  eine 
Zusammenstellung  der  betreffenden  chronologischen  Angaben  Jahr 
für  Jahr  aus  Clinton's  Fasti  enthält,  begleitet  mit  einzelnen  Zu- 
sätzen des  Herausgebers  und  dem  genauen  Nachweis  der  bei  Clin- 
ton vorkommenden  Anführungen  anderer  griechischen  Schriftsteller ; 
diese  Zusammenstellung  reicht  von  480  vor  Ohr.  bis  819  vor  Chr. 

Der  von  demselben  Gelehrten  in  ähnlicher  Weise  behandelte, 
dritte  Band  des  Polybius  enthält  Alles,  was  vom  zehnten  bii 
dreissigsten  Buch  noch  vorhanden  ist,  wobei  wir  nur  bemerken* 
dass  die  Bruchstücke  des  siebenzehnten  Buches  hier  zu  dem  acht- 
zehnten geschlagen  und  mit  diesem  zu  Einem  Ganzen  verbunden 
sind.  Ueber  das  Einzelne  der  Kritik  gibt  weder  eine  l'raefatio, 
noch  eine  Adnotatio  Aufschluss;  wir  dürfen  wohl  hoffen,  später 
dafür  entschädigt  zu  werden. 

Der  dritte  Band  der  Werke  des  Eusebius  bringt,  nach* 
dem  in  den  beiden  ersten  die  Praeparatio  Evangelien  beendigt 
worden,  nun  die  Demonstratio  Evangelica  in  ihrer  einen 
allein  noch  vorhandenen  Hälfte,  d.  h.  den  zehn  ersten  Büchern,  zu 
welchen  in  neuester  Zeit  noch  ein  von  A.  Mai  hervorgezogenes 
Bruchstück  des  fünfzehnten  Buches  gekommen  ist,  das  übrigens  auch 
in  diesem  Bande  einen  erneuerten  Abdruck  erhalten  bat.  Die  letzte 
Erwähnung  des  vollständigen  Werkes  findet  sich  in  der  Bibliothek 
des  Photius  Cod.  10;  nach  dieser  Zeit  muss  wohl  der  Verlust  der 
zweiten  Hälfte  erfolgt  sein,  und  selbst  für  die  erste  Hälfte  ist  die 
handschriftliche  üeberlieferung  schwach,  da  sie  eigentlich  nur  auf 
einer  Pergamenthandschrift  des  zwölften  Jahrhunderts  beruht,  welebe 
jetzt  zu  Paris  (Nr.  469)  sich  befindet  Und  als  das  Original  der 
übrigen  Papierhandschriften  des  fünfzehnten  Jahrhunderts,  welche 
sich  zu  Oxford  und  Paris  befinden  und  nach  jener  offenbar  copirt 
sind,  gelten  kann.    Die  Handschrift  aber,  aus  welcher  der  in  der 


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948  Bibliothec*  Scriptorum  Teubneriana. 

Pariser  Handschrift  fehlende  Anfang  ergänzt  worden,  ist  mit  dem 
Tode  ihres  Besitzers  Mavrocordatos  (1730),  des  Fürsten  der  Wa- 
lachei, verschwunden  und  seitdem  nicht  wieder  zum  Vorschein  ge- 
kommen. Für  die  Texteskritik  waren  die  Schwierigkeiten  minder  er- 
heblich als  in  der  Praeparatio,  die  öfter  gelesen  und  abgeschrieben 
ward,  als  dieses,  zwar  unmittelbar,  nach  der  Absicht  des  Verf., 
daran  sich  schliessende  Werk,  welches  in  seiner  Beweisführung  für 
die  Wahrheit  der  evangelischen  Lehre  hauptsächlich  gegen  die 
Jnden  sich  richtet,  und  darum  voll  ist  von  Bibelstellen  aus  den 
Büchern  des  Alten  wie  des  Neuen  Testament's,  insofern  auch  mehr 
Wichtigkeit  für  den  gelehrten  Theologen  schon  wegen  der  vielen, 
hier  wörtlich  angeführten  Stellen  des  Neuen  Testamentes  als  für  den 
Alterthumsforscher  besitzt.  Der  Herausgeber  hielt  sich  nun  vor- 
zugsweise an  jene  Pariser  Handschrift,  als  Hauptquelle  des  Textes 
und  hat  hiernach  einen  correcten  und  lesbaren  Abdruck  des  Gan- 
zen zu  geben  gesucht.  Dem  Texte  vorangestellt  ist  das  griechische 
Inhaltsverzeichnis^  der  einzelnen  Bücher  und  Capitel  (KefpaXcaov 
xatayQCKprj)  und  am  Schluss  des  Ganzen  ist  ein  Index  Scriptorum 
(der  angeführten  Schriftsteller)  und  ein  zweiter  Index  locorum  S. 
Soripturae  (der  in  dem  Werke  so  zahlreich  und  stets  wörtlich  an- 
geführten Bibelstellen  Alten  und  Neuen  Testaments)  beigefügt. 

Die  Fortsetzung  der  neuen  Ausgabe  des  Oicero  befasst  die 
auf  dem  Titel  verzeichneten  Reden,  und  schliesst  damit  die  Reden 
überhaupt  ab.  Dasselbe  Verfahren,  das  der  Herausgeber  auch  bei  den 
vorhergehenden  Bänden  der  erneuerten  Ausgabe  eingeschlagen  hatte, 
ist  auoh  bei  diesem  Bande  eingehalten  worden :  die  vorsichtige  Be- 
nützung dessen,  was  für  die  Texteskritik  dieser  Reden,  sei  es  auf 
handschriftlichem  Wege  oder  durch  die  Untersuchungen  einzelner 
Gelehrten  gewonnen  war,  hat  mancher  Stelle  eine  bessere  Gestalt 
verliehen,  und  gibt  dazu  das  Prooemium  einen  Beleg,  in  welchem 
der  Herausgeber  in  ähnlicher  Weise,  wie  es  von  ihm  auch  bei  der 
ersten  Auflage  geschehen  war,  (deren  Prooemium  desshalb  auch  mit 
allem  Recht  hier  wieder  abgedruckt  ist)  sich  Uber  eine  nahmhafte 
Zahl  von  Stellen  der  in  diesem  Band  enthaltenen  Reden  verbreitet, 
mit  einziger  Ausnahme  der  Philippischen  Reden,  in  welcher  der 
Herausgeber  zunächst  zwar  an  Halm  und  die  Vaticanische  Hand- 
schrift sioh  anschloss,  aber  eine  nähere  Untersuchung  an  anderem 
Orte  in  Aussicht  stellt,  eben  so  wohl  über  eine  Reihe  von  einzel- 
nen Stellen,  als  insbesondere  Uber  die  Frage  nach  dem  Werth  und 
der  ausschliesslichen  Bedeutung  der  Vaticanischen  Handschrift,  zu- 
mal von  der  richtigen  Beantwortung  dieser  Frage  auch  die  Be- 
stimmung mancher  jetzt  aufgenommenen  Lesart  abhängig  ist.  Man 
wird  um  so  mehr  eine  genaue  Erörterung  dieser  Frage  wünschen, 
als,  wenigstens  nach  des  Ref.  Ermessen,  die  Vaticanische  Hand- 
schrift bei  manchen  offenbaren  Fehlern  schwerlich  eine  so  unbe- 
dingte Geltung  wird  ansprechen  können  und  jedenfalls  der  Gegen- 
stand wichtig  genug  ist,  um  eine  solche  Erörterung  hervorzurufen. 


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BibMotlieca  Scriptorom  Teubneriana. 


Noch  mus8  bemerkt  werden,  dass  die  Sorgfalt  des  Heransgebers 
ancb  die  von  Klein  unlängst  ans  der  Handschrift  von  Cus  ans 
Tageslicht  gezogenen  Stücke  zn  den  Reden  pro  Sestio  nnd  in  Pi- 
sonem  auf  besondern  Blättern  beigefügt  hat. 

Die  neue  Ausgabe  der  mathematischen  Schriften  des  B  o  e  t  h  i  n  s, 
oder  wie  man  wohl  richtiger  nach  der  Autorität  der  Handschriften 
zu  schreiben  hat,  B  o  e  t  i  u  s ,  ist  mit  einem  in  der  That  erheblichen 
bandschriftlichen  Apparat  unternommen  worden,  welcher  sich  in  den 
unter  dem  Text,  zur  grösseren  Bequemlichkeit  d^s  Lesers,  befindlichen 
Anmerkungen  zusammengestellt  findet.  Für  die  beiden  Bücher  De 
arithmetica  institutione ,  welchen  Titel  der  Herausgeber  jetzt  dem 
Werke  auf  Grundlage  einer  Anführung  des  Boetius  selbst  (De  in- 
stitut.  mus.  p.  192)  gegeben  bat,  wurden  drei  Bamberger  Hand- 
schriften des  zehnten  Jahrhunderts  (worunter  eine  von  Gerbert  an 
Otto  m.  geschickte,  in  ihrem  Werth  aber  der  andern  nachstehende) 
benutzt  und  weiter  noch  eine  Bamberger  des  eilften,  eine  Münch- 
ner (aus  Tegernsee)  des  eilften  und  eine  andere  (aus  St.  Emmeran) 
des  zwölften,  eine  des  neunten  bis  zehnten,  und  eine  vierte  des 
eilften  Jahrhunderts  benutzt;  im  Ganzen  weichen  sie  auch  nicht 
sehr  von  einander  ab,  sie  führen  vielmehr  auf  einen  gemeinsamen 
Ursprung  zurück,  und  lassen  nach  unserer  Ansicht  auch  kaum  eine 
auf  wesentliche  Verschiedenheit  begründete  Scheidung  .  in  zwei 
Familien  zu;  jedenfalls  war  das  Geschäft  des  Herausgebers,  der 
einen  urkundlichen  und  doch  auch  lesbaren  Text  zu  geben  bemüht 
war,  erleichtert.  Mit  grosser  Genauigkeit  sind  die  Abweichungen 
dieser  Handschriften  unter  dem  Texte  verzeichnet,  welcher  hier- 
nach an  nicht  wenigen  Stellen  eine  bessere  Gestaltung  erhalten, 
und  dadurch  lesbarer  geworden  ist,  abgesehen  von  der  Fehlerhaftig- 
keit der  früheren  Abdrücke,  die  der  Heransgeber  auch  gar  nicht 
weiter  berücksichtigt  hat,  da  ihm  in  den  genannten  Handschriften 
bessere  Quellen  wahrhaftig  zu  Gebot  standen.  Auch  die  an  den 
Rand  einiger  Handschriften  gezeichneten  Figuren  sind  beigefügt. 

Ein  gleicher  handschriftlicher  Apparat  stand  dem  Herausgeber 
für  die  fünf  Bücher  der  Schrift  De  institutione  musica, 
welcher  Titel  gleichfalls  auf  die  eigenen  Anführungen  des  Boetius 
sich  stützt,  zu  Gebote.  Ausser  einer  Bamberger  Haudschrift  des 
neunten  und  zwei  Pariser  Handschriften  des  zehnten  Jahrhunderts 
sind  sechs  Münchner  Handschriften  zu  nennen,  die  eine  aus  Tegern- 
see aus  dem  eilften,  eine  aus  Freisingen  aus  dem  eilften,  eine  aus 
St.  Emmeran  aus  dem  zehnten,  eine  andere  (aus  Tegernsee)  aus 
dem  eilften,  und  zwei  aus  dem  zwölften  Jahrhundert.  Auch  diese 
Handschriften  weichen  im  Ganzen  nicht  so  sehr  von  einander  ab, 
sie  weisen  vielmehr  alle  auf  einen  gemeinsamen  Ursprung,  wenn  auch 
einzelne  von  ihnen  vollständiger  und  fehlerfreier  sind:  in  welcher 
Beziehung  der  Herausgeber,  und  wie  uns  dünkt,  mit  gutem  Grund 
den  drei  Münchner  (Nr.  18480.  14528  und  867)  aus  dem  zwölften 
Jahrhundert  den  Vorzug  gibt:  will  man  Gassen  oder  Familien 


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Bibliotheca  Scriptorum  Teubnexiana. 


unterscheiden ,  so  würden  diese  allerdings  eine  erste  Classe  bilden, 
die  übrigen  Handschriften,  welche  minder  genau  den  Text  wieder- 
geben, können  dann  als  eine  zweite  Classe  betrachtet  werden.  Dass 
aber  der  Herausgeber  in  der  Gestaltung  des  Textes  auf  jene  erste 
Classe  besondere  Rücksicht  nahm ,  ist  begreiflich ,  und  wird  sein 
Verfahren  auch  dnreh  die  unter  den  Text  gebrachte  Zusammen- 
stellung der  Abweichungen  gerechtfertigt.  In  wie  weit  eine  jetit 
zu  Born  befindliche  ehedem  Pfälzische  Handschrift  des  zehnten  Jahr- 
hunderts, (Nr.  1342)  und  eine  andere  Vaticaner  Nr.  5904,  so  wie 
eine  Neapolitaner  des  dreizehnten  Jahrhunderts  eine  Aenderung  in 
diesem  Verfahren  verursachen  kann,  vermag  Ref.  nicht  zu  bemessen, 
da  er  diese  Handschriften  nur  aus  einer  in  dem  Archiv  des  mis- 
sions  I.  p.  642  gegebenen  Notiz  kennt.  Schliesslich  ist  noch  bei- 
gefügt die  Schrift,  die  hier,  nach  den  eigenen  Anführungen  des 
Verfassers  der  Schrift  die  Aufschrift  Ars  Geometrioa  erhalten 
bat.  Wenn  nemlioh  bisher  Boetius  als  der  Verfasser  dieser  Schrift 
galt,  und  dafür  selbst  das  Zeugniss  des  Cassiodorus  angeführt  wird, 
der  in  derselben  eine  lateinische  Bearbeitung  des  Euclides  erkennt 
—  Euclidem  translatum  in  ftomanam  linguam  idem  vir  magnificus 
Boetius  dedit,  sehreibt  er  De  artt.  cap.  6.  T.  II.  p.  589  —  so 
glaubt  doch  der  Herausgeber,  dass  die  Schrift,  so  wie  sie  jetzt 
vorliegt,  nicht  für  ein  Werk  des  Boetius  anzuerkennen  sei,  und 
hat  bereits  an  einem  andern  Orte  (in  der  Schrift:  Gerbert,  die 
Geometrie  des  Boetius  u.  s.  w.  Erlangen  1861,  so  wie  in  den  Jahr- 
büchern der  Philolog.  Bd.  LXXXVI1  p.  422  ff.)  seine  Ansicht  näher 
su  begründen  gesucht,  im  Gegensatz  zu  der  von  andern  Gelehrten, 
namentlich  von  Cantor  vertheidigten  Aochtbeit  dieser  Schrift.  Es  kann 
hier  nicht  der  Ort  sein ,  diese  Frage  näher  zu  erörtern ,  in  jedem 
Fall  aber  war  es  zweckmässig,  der  Besprechung  und  Entschei- 
dung dieser  Frage  eine  sichere  Grundlage  zu  geben  durch  einen 
möglichst  verlässigen,  auf  die  handschriftliche  Ueberlieferung  zurück- 
geführten Text:  und  diesa  ist  dem  Herausgeber  möglich  geworden 
duroh  die  von  ihm  verglichenen  Handschriften,  unter  welchen  eine 
Erlanger  des  eilften  Jahrhunderts  und  eine  mit  dieser  meist  über- 
einstimmende Münchner  (23511)  des  zwölften  Jahrhunderts  nebst 
einer  aweiten  Münchner  (560),  ebenfalls  des  eilften  oder  zwölften 
Jahrhunderts  insbesondere  massgebend  für  die  Gestaltung  des  Textes 
waren ;  anch  die  Figuren  sind  aus  diesen  und  andern  Handschriften 
aufgenommen,  und  so  jedenfalls  jetzt  eiu  lesbarer  Text  gewonnen. 
Als  eine  recht  verdienstliche  Zugabe  sind  die  beigefügten  Indices 
von  S.  329  an  zu  betrachten :  an  erster  Stelle  ein  Index  rerum  et 
verborum,  und  wenn  in  domselben  auch  die  ganz  bekannten  Wär- 
ter »quae  ut  notarentur  singularis  causa  non  exstitit«,  ausgelassen 
sind,  so  ist  doch  in  diesem  Index  fast  der  ganze  Sprachschatz  ent- 
halten, wie  ihn  diese  Schriften  bieten,  welche  in  Bezug  auf  Lexi- 
cograpbie  noch  so  wenig  benutzt  und  ausgebeutet  sind ;  was  nun 
durch  diesen  Index  möglich  ist,  welcher,  wie  ein  Bück  iu  deusd- 


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Huscbke:  JurUprud.  Ante  just  Ed.  altera. 


961 


ben  zeigen  kann,  sich  keineswegs  blos  auf  seltene  und  ungewöhnliche, 
fremdartige  Ausdrücke  beschränkt  hat,  da  z.  B.  Wörter  wie  abdu- 
cere,  abesse,  abhorrere ,  absolvere,  accedere,  accipere,  accendere, 
accidere  und  andere  der  Art  (um  nur  aus  dem  Anfang  des  Buch- 
stabens A  Einiges  anzuführen),  aufgenommen  sind.  Diesem  sohlieast 
sich  noch  ein  Index  Nominum,  d.  h.  der  vorkommenden  Eigen- 
und  Personennamen  und  ein  Index  Graecus  an,  welcher  die  in  diesen 
8chriften  vorkommenden  griechischen  Ausdrücke  verzeichnet. 

Wir  reihen  hier  weiter  noch  an  eine  erneuerte  Auflage  aus 
dieser  Bibliotheca  Teubneriana: 

Jurüpradentiae  Anteiustinianae  quae  supersunt.  In 

academicum  composuit,  recensuit,  adomavit  PA.  Eduardus 
Huschke.  Editio  altera,  aucta  et  multis  loci»  cmendata.  Lip- 
siae  in  aedibus  B.  0.  Teubneri  MDCOCLXVII.  XV l  und  770 
8.  in  8. 

Von  der  ersten  Auflage  dieses  Werkes,  welches  die  sämmt- 
lichen  noch  vorhandenen  Quellen  des  vorjustinianischen  Reobts  in 
einer  eben  so  wohl  geordneten  als  kritisch  gesichteten  und  mit  den 
nöthigen  Erläuterungen  ausgestatteten  Zusammenstellung  bringt, 
ist  ein  eingehender  Bericht,  wie  es  der  Umfang  und  die  Bedeutung 
dieses  Werkes  erheischte,  in  diesen  Jahrbüchern,  bald  nach  dessen 
Erscheinen,  Jahrg.  1862  S.  130  ff.  erstattet,  der  Bestand  der 
Sammlung  im  Einzelnen  verzeichnet  und  auf  den  grossen  Nutzen 
einer  solchen  Sammlung  für  den  gelehrten  Gebrauch  wie  für  das 
Quellenstudium  des  römischen  Rechtes  hingewiesen,  dabei  aber  auch 
des  grossen  Verdienstes  gedacht  worden,  welches  der  Herausgebet 
sich  erworben,  indem  er  auf  diese  Weise  die  zum  Theil  nioht 
Jedermann  so  leicht  zugänglichen  Quellen  Allen  zugänglich  gemacht 
und  dadurch  ein  gründliches  Studium  des  römischen  Rechts  nicht 
wenig  gefördert  hat.  Man  kann  sich  daher  nur  freuen,  wenn  ein 
solches  Werk  auch  die  wohlverdiente  Aufnahme  gefunden  und  da- 
durch nach  verhältnissmässig  kurzem  Zeitraum  eine  neue  Auflage 
nöthig  geworden  ist,  die  wir  hier  zur  Kenntniss  unserer  Leser  um 
so  mehr  zu  bringen  haben,  als  dieselbe  keineswegs  ein  blosser 
Wiederabdruck  der  früheren  Ausgabe  zu  nennen  ist,  sondern  durch 
eine  ins  Einzelne  gehende  sorgfältige  Revision,  unter  Benutzung 
Alles  dessen,  was  inzwischen  für  diese  Quellen  und  deren  Text  ge- 
schehen ist,  mit  Recht  als  eine  vermehrte  und  verbesserte  bezeichnet 
werden  kann.  Schon  der  äussere  Umfang  bei  gleichem  Druck  und 
Lettern,  wie  denn  die  äussere  Einrichtung  und  Ausstattung  sich 
gleich  geblieben,  vielmehr  in  Papier  und  Lettern,  in  der  Deutlich- 
keit und  Klarheit  des  Druckes  vorzugehen  scheint,  mag  diess  be- 
weisen. Die  erste  Auflage  hatte  748  Seiten,  in  der  zweiten  ist 
die  Seitenzahl  auf  770  gestiegen.  Aber  nioht  blos  in  einzelnen 
Zusätzen  und  Erweiterungen,  sondern  auch  in  einzelnen  Aenderungen 

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962  Huschle e:  Jorisprud.  Antejubt.  Ed.  alter*. 

gibt  sich  diese  Revision  des  (ranzen  kund.  So  sind  z.  B.  die  Frag- 
mente der  Schrift  über  das  jus  pontifioium ,  welche  in  der  ersten 
Ausgabe  dem  Servius  Pabius  Pictor  zugewiesen  waren,  jetzt 
dem  Numerins  Fabius  Pictor,  der  als  jüngerer  Zeitgenosse 
des  Cato  bezeichnet  wird,  zugewiesen,  dieser  ist  aber,  so  weit  wir 
wissen,  eigentlich  nur  aus  einer  Stelle  des  Cicero  (De  divinat.  T,  21) 
als  Verfasser  von  griechischen  Annalen  uns  bekannt,  während  Ser- 
vius Fabins  Pictor,  Prätor  608  a.  c.  bei  Cicero  Brut.  21  ausdrück- 
lich als  et  juris  et  literarum  et  antiquitatis  bene  peritus  bezeichnet 
wird,  und  in  den  übrigen  Stellen  (De  legg.  I,  2  De  orat.  11,  12 
vgl.  De  Divinat.  I,  26),  welche  hier  in  Betracht  kommen,  es  sich 
darum  handelt,  ob  an  diesen  Servius  Fabius  Pictor  oder  an  den 
ältern  Q.  Fabins  Pictor,  wie  Manche,  nach  des  Ref.  Ansicht,  nicht 
mit  genügendem  Grund  annehmen,  zu  denken  ist.  Neu  hinzuge- 
kommen ist  C.  Cornelius  Baibus  wegen  der  von  Macrobius 
Sat.  III,  6,  16  im  achtzehnten  Buch  citirten  ElrjyrjTixa,  welche 
als  Indigitamenta  aufgefasst  werden,  was  noch  nicht  so  ausgemacht 
erscheinen  mag.  Dass  Granius  Flaccus,  der  Verfasser  der 
Schriften  De  indigitamentis  und  de  jure  Papiriano,  eine  und  die- 
selbe Person  ist  mit  dem  Ganius  Licinianus  (bei  Macrob 
Sat.  I,  16,  30),  wird  man  dem  Verf.  gern  zugeben,  der  dadurch 
die  erst  genannte  Schrift  mit  einem  weiteren  Fragment  zn  ver- 
mehren im  Stande  war. 

Ein  nahmbafter  Zusatz  findet  sich  boi  M.  Valerius  Probus, 
in  so  fern  hier  die  inzwischen  durch  Mommsen  erfolgte  Ausgabe 
der  notarum  laterculi  dazu  eine  nähere  Veranlassung  gab:  ausser 
einzelnen  Verbesserungen  im  Texte  sind  die  aus  der  Einsiedler 
Handschrift  des  zehnten  Jahrhunderts  von  Mommsen  hervorgezogenen 
Notae,  die  in  der  erston  Ausgabe  fehlen,  jetzt  hinzugefügt.  Nach 
der  Ansicht  des  Verfassers  sind  diese  Notae  aus  den  Büchern  juris 
civilis  genommen  und  darum  hat  derselbe  ihnen  jetzt  die  Aufschrift 
gegeben:  »M.  Valerii  Probi  de  juris  civilis  notarum  significatione 
oommentariusc,  statt  der  früheren:  »de  notis  antiquis«. 

Mit  grosser  Sorgfalt  sind  in  der  neuen  Ausgabe  die  Reste  des 
Gajns  behandelt:  in  der  dem  Abdruck  vorausgehenden  Abhandlung 
über  die  Person  und  Schriften  desselben  ist  zwar  das  Wesentliche 
geblieben,  wie  es  in  der  Natur  der  Sache  lag,  aber  es  ist  im  Ein- 
zelnen mancher  passende  Zusatz,  manche  Berichtigung,  wie  auch 
selbst  Rechtfertigung  hinzugekommen,  wie  der  aufmerksame  Leser 
bald  wahrnehmen  wird.  Zu  einer  erneuerten  Durchsicht  des  Textes 
selbst  war  allerdings  durch  die  neue  inzwischen  erschienono  fünfte 
Ausgabe  von  Böoking  mit  dem  getreuen  Abdruck  der  Veroneser 
Handschrift  eine  Veranlassung  gegeben,  welche  auch  nicht  ohne 
Erfolg  geblieben,  und  zu  einer  nicht  unbedeutenden  Zahl  von  Aen- 
derungen  goftlhrt  bat,  von  welchen  der  Verf.  selbst  die  erheblich- 
sten in  dem  der  Einleitung  nun  beigefügten  Schlusswort  S.  100 
angegeben  hat,  wesshalb  wir  hier  die  Angabe  derselben  unterlassen 


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Hus chice:  Jorisprud.  Antejnst.  Ed.  altera.  958 

können.  Ueber  sein  Verhältniss  zu  jener  Ausgabe  spricht  er  sich 
bei  dieser  Gelegenheit  also  aus:  Caoterum  neque  haec  fere  neque 
permnlta  omnino  fuere,  quae  a  Boockingio  mutuari  licuit.  Plus 
monitori  quam  largitori  debeo  et  (quod  doleo)  non  raro  sive  im- 
pugnationibns  eius  sive  noviter  repertis  palam  obloquendum  fuit. 
Et  vereor  ne  in  Universum  magis  ingeniomm  et  in  critica  arte 
exercenda  consilii  et  rationum  diversitati  tribnendum  sit  quod  is 
de  »libidine«  mea,  et  raea  tantum  in  supplendis  reformandisve 
his  commentariis  queritur.  Qua  tarnen  in  re  tantum  abest,  ut  mea 
tantum  mihi  placeant,  ut  et  optom  et  fore  sperem,  ut  Boeckingii 
editio  cum  omnino  tum  praesertim  iis ,  quorum  textus  harura  In- 
stitutionum  historiam  accurate  nosse  interest,  in  pretio  et  in  usu 
sit«  So  wird  man,  um  ein  Beispiel  zu  geben,  der  in  die  neue 
Ausgabe  I,  2  aufgenommenen  Lesart:  »constat  autem  jus  civile 
populi  Romani  ex  legibus«  etc.  gewiss  den  Vorzug  zu  geben  haben 
vor  der  früheren:  »constant  autem  jura  (propria)  ex  legibus  etc., 
indem  doch  kaum  über  das  Unrichtige  des  Plurals  jura,  wie  über 
der  Lesung  des  Wortes  propria  ein  Zweifel  sein  kann,  und  andere 
Verbesserungsvorschläge  sich  von  der  handschriftlichen  Lesart  zu 
sehr  entfernen,  da  propria  aus  der  Abbreviatur  PR  entstanden 
sein  mag.  Wir  wollen  nicht  weiter  in  die  Besprechung  einzelner 
Stellen  eingehen,  was  unserer  Aufgabe  fern  liegt,  welche  nur  einen 
getreuen  Bericht  über  die  neue  Auflage  und  ihr  Verhältniss  zur 
früheren  abzustatten  beabsichtigt:  wir  hiitteu  dann  auch  so  man- 
cher einzelner  Bemerkungen  zu  gedenken,  welche  in  der  neuen  Auf- 
lage hinzugekommen  sind  und  den  grösseren  Raum,  den  der  Ab- 
druck der  Institutionen  in  der  neuen  Ausgabe  einnimmt  (S.  101 
bis  324,  in  der  filteren  S.  91  bis  307),  erklären.  Auf  Gajus  folgt 
wie  in  der  ersten  Ausgabe  L.  Volusins  Maecianus,  dann  das  von 
Dositheus  erhalteue  Stück  aus  dem  liber  regularum  des  Cervidius 
Scävola,  wie  man  gewöhnlich  annimmt,  und  das  eine  Fragment 
des  Aemilius  Papinianus ;  dann  Julius  Paullus  und  Domitius  Ulpia- 
nus,  wie  in  der  ersten  Ausgabe,  Herennius  Modestinus,  die  Lex 
Dei  s.  Mosaicc.  et  Romm.  legg.  collatio ;  die  Fragraenta  juris  Romani 
Vaticana  und  die  Consultatio  nebst  den,  den  Schluss  bildenden 
Griechisch-Lateinischen  Resten  des  Cyrillus,  Domninus  u.  8.  w. 
reihen  sich  wie  in  der  ersten  Ausgabe  daran  an.  Bei  allen  diesen 
Abschnitten  haben  wir  im  Einzelnen  manche  Nachbesserung,  man- 
chen Zusatz  bemerkt,  im  Ganzen  aber  ist  in  der  Anlage  und  Ein- 
richtung Nichts  verändert,  auch  kein  nahmhaftes  grösseres  Stück 
hinzugekommen:  wie  es  denn  gewiss  zweckmässig  war,  bei  aller 
auf  das  Einzelne  gerichteten  Sorgfalt,  doch  in  der  Anlage  des  Ganzen 
keine  Aenderung  vorzunehmen.  So  ist  allerdings  eine  editio  aucta 
et  multis  locis  emendata  geliefert,  die  den  Werth  des  Ganzen  und 
seinen  Nutzen  wesentlich  erhöht  hat,  damit  aber  der  neuen  Aus- 
gabe eine  noch  grössere  Verbreitung,  wie  wir  sie  im  Interesse  der 
Wissenschaft  und  eines  gründlichen  Quellenstudiums  wünschen, 
sichern  wird.    Jedenfalls  verdient  sie  eine  solche  Aufnahme. 


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Vitruvius.  Ed.  Rose  ei  Müller. 


Diesen  neuen  Erscheinungen  der  Bibliotheca  Teubneriana  lässi 
sich  wohl  anreihen  eine  ähnlicho  neue  Ausgabe  des  Vitruvius, 
wenn  sie  auch  im  Aeussern,  was  Format  und  Druck  betrifft,  nicht 
ganz  gleich  gehalten  ist,  sondern  durch  ein  grösseres  Format,  Let- 
tern und  Papier  von  denselben  verschieden  ist: 

Vitruvii  de  Architeclura  libri  deeem.  Ad  antiquimmos  codiett 
nunc  primum  ediderunt  Valentinus  Rose  et  Her  man  Müller- 
Strübinq.  Upsiae  in  aedibus  B.  G.  Teubneri.  MDCCCLXV1I. 
XII  und  319  S.  in  gr.  tf. 

Dass  bei  diesem  für  die  Geschichte  der  alten  Kunst  und  An- 
deres so  wichtigen  Schriftsteller  eine  neue  Ausgabe,  und  zwar  eine 
solche  nöthig  war,  die  einen  auf  die  ältesten  Quellen  der  Ueber- 
lieferung  zurückgeführten,  also  urkundlichtreuen  und  verlässigen 
Text,  der  als  sichere  Grundlage  zu  allen  den  umfassenden,  an  den 
Inhalt  geknüpften  Untersuchungen  dienen  kann,  uns  schafft,  wird 
wohl  keinem  Zweifel  unterworfen  sein  können.  Eine  solche  war 
uns  angekündigt  von  C.  Lorenzen  schon  im  Jahr  1857:  es  ist  auch 
von  dieser  Ausgabe  Voluminis  I.  Pars  prior,  worin  die  fünf  ersten 
Bücher  enthalten  sind,  d.  h.  der  lateinische  Text  mit  gegenüber- 
stehender deutscher  Uebersetzung  (um  dem  Bedürfnisse  der  des 
lateinischen  unkundigen  Architekten  und  Künstler  zu  genügen)  er- 
schienen und  seiner  Zeit  in  diesen  Blättern  angezeigt  worden 
(Jahrgg.  1857.  S.  146  f.),  allein  jede  weitere  Fortsetzung  blieb  aus, 
eben  so  wie  der  versprochene  kritische  Nachweis  u.  dgl. ,  so  dass 
das  Ganze  unvollendet,  wie  es  ist,  für  die  Sicherheit  des  Textes 
gar  keine  Garantie  bietet,  sondern  Alles  unsicher  lässt.  Es  war 
also  gewiss  an  der  Zeit,  an  eine  neue  kritische  Ausgabe  zu  denken, 
die  dem  Bedürfniss  eines  gesicherten  und  urkundlichen  Textes  auch 
zu  entsprechen  vermag,  wie  er  bisher  nicht  vorhanden  war.  Und 
diess  ist  der  Zweck  dieser  Ausgabe,  und  darauf  bezieht  sich  auch 
wohl  das  auf  den  Titel  gesetzte  nunc  primum  (ediderunt),  in  so 
fern  in  dieser  Ausgabe  allerdings  erstmals  ein  solcher  Text  gegeben 
ist,  der  auf  die  älteste  Quelle  der  haudschriftlichen  Ueberliefernng 
sich  stützt.  Bekanntlich  fehlt  es  zwar  nicht  an  Handschriften  des 
Vitruvius:  in  Rom  allein  befinden  sich  nach  Marini's  Angabe  an 
fünf  und  zwanzig,  andere  zu  Paris  und  andern  Orten.  Wenn  nun 
das  Verhältniss  dieser  Handschriften  zu  einander  bisher  noch  nicht 
näher  untersucht  und  festgestellt  war,  um  hiernach  ihren  Werth 
im  Einzelnen  und  ihren  Einfluss  auf  die  Gestaltung  des  Textes  zu 
bestimmen,  so  glaubt  nun  der  eine  der  beiden  Herausgeber,  wel- 
chem der  Hauptantheil  an  dieser  neuen  Ausgabe  überhaupt  zufallt 
(Rose),  die  ältesten  Quellen  der  Ueberlieferung  in  zwei  aus  Einem 
Archetypus  stammenden  Handschriften  gefunden  zu  haben ,  die  als 
alleinige  Richtschnur  für  die  Gestaltung  des  Textes  nun  zu  gelten 


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Vitruvius.  Ed.  Rose  et  Müller. 


965 


haben,  da  die  übrigen  nooh  vorhandenen,  zumal  die  jüngeren  Hand- 
schriften auf  diese  beiden  nach  seiner  Ansicht  mehr  oder  minder 
zurückzuführen  sind,  und  in  so  fern,  im  Vergleich  zu  jenen  beiden, 
keine  weitere  Berücksichtigung  anzusprechen  vermögen.  Die  eine 
derselben,  und  zwar  die  älteste  von  allen,  ist  ein  jetzt  zu  London 
befindlicher  Codex  Harleianus  des  neunten  Jahrhunderts,  welober, 
wie  hier  nachgewiesen  wird,  aus  Deutschland  und  zwar  aus  der  Karo- 
lingischen Zeit  stammt,  in  welcher  ein  Exemplar  des  Vitruvius  zu 
Fulda  sich  befand,  wie  denn  auoh  Einhard,  der  die  Bauten  Carls 
des  Grossou  ausführte,  ein  Exemplar  des  Vitruvius  vor  sich  gehabt 
hat.  Aus  ihm  stammt  die  Zweitälteste  Handschrift  zu  Paris,  der 
Cod.  Pithoeanus  des  zehnten  Jahrhunderts,  jetzt  Nr.  10277,  daraus 
ein  anderer  Pariser  (7227)  des  eilften  oder  zwölften  Jahrhunderts, 
so  wie  auch  der  von  Marini  so  hoch  gestellte  Vaticanus  1504  der- 
selben Zeit,  aus  der  Bibliothek  der  Königin  Christine,  ebenso  die 
in  dieselbe  Zeit  fallende  Handschrift  des  Escurial,  die  durch  Herrn 
Fedor  Jagor  für  den  Herausgeber  verglichen  ward,  und  andere, 
die  einer  weit  spätem  Zeit  angehören.  Die  andere  Handschrift, 
die  eine  gleiche  Geltung  für  den  Text  ansprechen  kann,  ist  nach 
dem  Urtheil  des  Herausgebors  eine  Wolfenbtittler  (Gudianus)  des 
eilften  Jahrhunderts  Nr.  69,  die  selbst  vor  einer  andern  und  älte- 
ren Wolfenbüttler  Handschrift  Nr.  132  aus  dem  zehnten  Jahr- 
hundort den  Vorzug  verdient  und  als  die  Quelle  von  zahlreich 
daraus  genommenen  Copien  erscheint:  beide  Handsohriften  sind 
gleichfalls  in  Deutschland  geschrieben  und  mögen  so  dio  Behauptung 
des  Verfassers  rechtfertigen,  welcher  Carl  dem  Grossen  und  Ein- 
hart die  Erhaltung  des  Vitruvius  Uberhaupt  verdanken  zu  können 
glaubt.  Während  nun  die  Harlejanisohe  Handschrift  von  dem  Her- 
ausgeber nicht  blos  eingesehen,  sondern  von  dem  auf  dem  Titel 
genannten  Mitherausgeber  (Müller-Strübing)  zu  London  aufs  ge- 
naueste verglichen  worden  ist,  sind  die  beiden  Wolfenbüttler,  so 
wie  die  Leidner  Handschrift  von  dem  Herausgeber  selbst  genau 
verglichen  worden ,  so  dass  über  die  daraus  ermittelten  Lesarten 
kein  Zweifel  herrschen  kann ;  und  da  die  Harlojanische  und  die 
eine  Wolfenbüttler  als  die  allein  für  die  Gestaltung  des  Textes  zn 
beachtenden  und  massgebenden  Quellen  betrachtet  werden,  so  wer- 
den auch  ihre  Lesarten  in  der  unter  dem  Text  zusammengestellten 
Varietas  Lectionum  vollständig  mitgetheilt,  von  den  übrigen  Hand- 
schriften aber  nur  in  den  Fällen  die  Lesart  bemerkt,  wo  der  Wol- 
fenbüttler und  Harlejaner  Codex  von  einander  abweichen.  Uebrigens 
ist  diese  ganze  Zusammenstellung  mit  grosser  Genauigkeit  gemacht, 
und  haben  dabei  die  älteren  wie  selbst  die  neueren  Ausgaben  Be- 
rücksichtigung gefunden :  über  die  Handschriften  selbst  wird  in  der 
Praefatio  berichtet  und  dauu  ein  sorgfältiges  Verzeichuiss  der  Hand- 
schriften gegeben,  welchem  ein  Stamm  vorangestellt  ist,  das  uns 
die  Ratification  derselben,  und  damit  ihr  VerhältnisB  zu  einander 
klar  übersehen  lässt.    In  der  Aufschrift  des  Ganzen  ist  blos  Vi- 


066      Feddersen:  Geschichte  der  schweizerischen  Regeneration. 

truvii  gesetzt,  weil  der  Herausgeber  diesen  Namen  ftir  den  ein- 
zigen handschriftlich  beglaubigten  ansieht,  Polio  aber,  was  bei- 
gefügt worden,  auf  keinem  andern  Grund  beruhe,  als  auf  der  Au- 
torität des  gleich  zu  nennenden  Excerpts,  in  dessen  Anfang  Vi- 
truvius  Polio  genannt  wird;  die  verschiedentlich  gesetzten  Vor- 
namen (bald  L  =  Lucius,  bald  M  ss  Marcus)  erscheinen  zugesetzt  von 
Italienischen  Gelehrten  des  fünfzehnten  Jahrhunderts.  Beigefügt  ist 
noch  nach  drei  Handschriften  des  zehnten  Jahrhunderts  zu  Paris, 
Wolfenbüttel  und  Valenciennes,  ein  aus  Vitruvius  noch  in  ziemlich 
alter  Zeit  gemachtes  Excorpt,  welches  die  Aufschrift  führt:  De 
diversis  fabricis  arch  itectonicae.  Ein  Index,  der  die 
Eigennamen  verzeichnet,  welche  in  dem  Werke  des  Vitruvius  vor- 
kommen, macht  den  Beschluss. 


Geschichte  der  Schweizerischen  Regeneration  von  1830 — 1848.  Nach 
den  besten  Quellen  hearheitet  von  P.  Feddersen,  MitaHed 
des  grossen  Raths  von  Baselstadt.  Zürich,  Verlagsmagarin  786*7. 
XÜ  und  654  8.  gr.  8. 

Mit  Recht  konnte  der  Verf.  dieses  Werkes  bei  seinem  Unter- 
nehmen von  dem  Satz  ausgehen ,  dass  keine  Periode  der  neueren 
Schweizergeschichte  von  so  tiefem  und  mannichfaltigem  Interesse 
sei,  wie  die  Zeit  von  1830  bis  1848.  Innerhalb  derselben  ist,  und 
zum  grossen  Theil  doch  auf  friedlichem  Wege,  eine  Umwälzung  vor 
sich  gegangen,  welche  dem  politischen  Charakter  der  Eidgenossen- 
schaft eine  andere  Gestalt  verliehen  und  für  die  Schweiz  den  Grand  ge- 
legt hat  zu  einer  neuen  Aera,  in  welcher  die  Verhältnisse  der 
Schweiz  nach  Aussen  besser  geregelt  erscheinen,  im  Innern  der  Wohl- 
stand und  die  Wohlfahrt  des  Ganzen  gefördert  worden,  dadurch 
aber  es  möglich  geworden,  durch  alle  Wirren  und  drohenden  Gefahren 
sich  bis  jetzt  glücklich  durchzuschlagen.  Wie  diess  gekommen, 
und  wie  der  alte  Bundesvertrag  von  1815  nicht  mehr  sich  halten 
konnte,  ohne  mit  so  manchen  Errungenschaften  der  neueren  Zeit 
sich  in  Widerspruch  zu  setzen,  wie  er  daher  durch  Etwas  Anderes 
und  Besseres  ersetzt  werden  rausste,  das  Alles  wird  in  ruhiger  und 
besonnener  Darstellung,  die  streng  auf  die  Quellen  sich  stützt,  uns 
hier  vorgeführt.  Vorausgeschickt  ist  eine  geschichtliche  Einleitung, 
welche  in  gedrängtem  Umrisse  den  Zustand  der  Schweiz  bis  zum 
Untergang  der  alten  Eidgenossenschaft,  dann  die  Helvetik,  die 
Mediation  und  die  Restauration  behandelt.  Dann  wendet  sich  der 
Verf.  zum  Gegenstand  selbst  und  erzählt  im  ersten  Abschnitt  (die 
Regeneration)  den  Lauf  der  Ereignisse  von  den  ersten  Bewegungen 
nach  der  Junirevolution  1830  bis  zur  Auflösung  des  Sarnerbundes 
(S.  30 — 178);  ein  zweiter  Abschnitt  geht  von  da  bis  zur  Züricher 
Septemberreaction ,   also  bis  1839  (S.  179  —  305),   ein  dritter 


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Schaf  er:  Quellenkunde  der  griechischen  Geschichte.  967 

dann  weiter  bis  zur  Berufung  der  Jesuiten  in  Luzern  1844  (S.  306 
—384)  ein  vierter,  der  von  da  bis  zur  Einführung  des  neuen 
Bundes  1848  (S.  885—599)  reicht,  bringt  den  Schluss.  Als  An- 
hang ist  beigefügt  ein  Abdruck  der  Verfassung  der  helvetischen 
Republik  vom  12.  April  1798,  der  helvetischen  Verfassung  vom 
20.  Mai  1802,  der  Vermittlungsurkunde  vom  19.  Hornung  1808, 
des  Bundesvertrags  vom  7.  August  1815  und  der  Bundesverfassung 
vom  12.  Herbstmonat  1848. 

Man  wird  die  Eintheiiung  und  Gliederung  des  Ganzen  passend 
und  durch  sachliche  Rücksichten  geboten  erachten;  auch  mit  der 
Ausführung  im  Einzelnen  sich  befriedigt  finden.  Um  an  Einzelnes 
zu  erinnern,  führen  wir  nur  aus  dem  zweiten  Abschnitt  die  Dar- 
stellung des  Louis  Napoleon  Handels,  oder  die  Erzählung  der  Züri- 
cher Septemberreaction  (S.  279  ff.)  an,  wiewohl  jeder  der  vier 
Abschnitte  ähnliche,  gelungene  Parthien  bietet.  Mit  der  Klarheit 
der  Darstellung  verbindet  sich  eine  wohlthuende  Ruhe  und  ein 
Streben  nach  Unparteilichkeit,  die  Niemanden  verletzt,  und  Aner- 
kennung erheischt.  So  wird  das  Buch  dem  Schweizer  wie  dem 
Ausländer,  der  die  Neugestaltung  der  Schweiz  näher  kennen  lernen 
will,  eine  eben  so  belehrende  als  unterhaltende  Lektüre  gewähren. 


Abriss  der  Quellenkunde  der  griechischen  Geschichte  bis  aufPolybios 
von  Arnold  Schäfer.  Leipzig.  Druck  und  X erlag  von 
B.  G.  Teubner  1867.    108  S.  in  gr.  8. 

Der  Verf.  hat  diesen  Abriss  dazu  bestimmt,  >  Vorlesungen  über 
Quellenkunde  der  griechischen  Geschichte  zur  Unterlage  zu  dienen, 
und  den  Zuhöreru  die  wichtigsten  Nachweisungen  und  Zeugnisse 
an  die  Hand  zu  geben €.  Sie  werden  zu  diesem  Zweck  nicht  blos 
mit  den  Quellen  selbst,  und  der  darauf  bezüglichen  Literatur  be- 
kannt gemacht,  sondern  es  wird  auch  in  möglichster  Kürze  bei 
jedem  Autor  das,  was  über  sein  Leben  und  seine  Schriften  aus 
diesen  selbst  oder  aus  anderwärtigen  Schriftstellern  des  Alterthums 
zu  unserer  Kunde  gelangt  ist,  in  dem  Abdruck  der  betreffenden 
Stellen  selbst  zusammengestellt,  und  auf  diese  Weise  ein  Ueber- 
blick  erzielt,  welcher  in  leichter  und  doch  sicherer  Weise  den  Leser 
oder  Zuhörer  mit  dem  Wesentlichsten  bekannt  macht,  was  über 
jeden  einzelnen  Autor  ihm  zu  wissen  nöthig  ist.  Und  darin  liegt 
der  wesentliche  Nutzen  dieses  Abrisses,  der  es  dabei  dem  Lehrer 
möglich  macht,  über  diesen  wichtigen  Punkt  —  die  Quellen  der 
geschichtlichen  Kunde  —  sich  kürzer  in  seinem  Vortrag  zu  fassen. 
Allerdings  war  eine  gewisse  Beschränkung  bei  dem,  was  über  jeden 
einzelnen  Autor  mitzutheilen,  also  hier  aufzunehmen  war,  geboten : 
wir  glauben  nicht,  dass  der  Verf.  in  seinen  Mittheilungen  das 
richtige  Maass  überschritten:  denn  wenn  er  über  Autoren,  wie 


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&6Ö         Scblferi  Quellenkunde  der  griechischen  Geschichte. 

Herodotus  und  Thuoydides,  Etwas  mehr  gibt  und  sich  etwa«  aus- 
führlicher verbreitet,  so  lag  dies  schon  in  der  Bedeutung  und 
Wichtigkeit  dieser  Schriftsteller,  mitbin  in  der  Natur  der  Sache 
selbst.    Das  Ganze  ist  in  vior  Abtheilungen  geordnet;  die  erste, 
welcher  die  Anführung  einiger  Schriften  über  griechische  Geschicht- 
schreibung, Geographie,  Topographie  und  Chronologie  vorangeht, 
befasst  die  ältere  Zeit  bis  auf  Herodotus,  beschränkt  sich  aber  hier 
nicht  auf  die  eigentlichen  Geschichtschreiber,  sondern  gibt  auch 
literarische  Notizen  und  Nachweisungen  über  epische,  lyrische  und 
dramatische  Poesie,  wie  es  scheint  aus  dem  Grunde,  weil  in  dieser 
Poesie  auch  so  Vieles  für  die  Geschichte  der  griechischen  Stamme 
Belangreiches  vorkommt,  dass  auch  sie  zu  den  Quellen  und  deren 
Kunde  gezählt  werden  kann:  übrigens  sind  diese  Notizen  ganz 
kurz,  Mancher  würde  sie  vielleicht  ganz  weggelassen  haben,  zumal 
sie  in  dieser  kurzen  Fassung  oder  vielmehr  Erwähnung  nicht  Allen 
genügen  werden.    Dann  folgt  die  Angabe  der  ältesten  Jahrbücher 
und  Urkunden,  welche  die  kalendarischen  Aufzeichnungen,  wie  die 
Verzeichnisse  der  Priester  und  Priesterinnen,   der  Könige  und 
höheren  Beamten,  so  wie  die  ersten  Aufzeichnungen  geschichtlicher 
Art  durch  Priester,  und  die  schriftliche  Fassung  der  Gesetze  be- 
fasst.   Mit  Pherekydes  von  Syros  beginnt  dann  die  eigentliche 
Geschichtschreibung:  an  ihn  werden  dio  übrigen,  gewöhnlich  mit 
dem  Namen  der  Logographen  (welche  Bezeichnung  wir  hier  nicht 
gebraucht  finden)  bezeichneten  Schriftsteller  angereiht,  wie  Heka- 
täos  von  Milet,  Charon  von  Lampsakos  u.  A.,  zuletzt  Hellanikos 
von  Mytilene,  dessen  Geschlechterfolge  und  Königsreihe  den  über 
Person  und  Schriften  mitgetheilten  Stellen  sich  anschliesst;  eine 
Notiz  über  die  Inschriften  und  Münzen,  da  beides  eine  wesent- 
liche Quelle  der  geschichtlichen  Kunde  von  Hellas  ausmacht,  bildet 
den  Schlu8S.    Der  zweite  Abschnitt  reicht  dann  von  Herodotus  bis 
zur  Begründung  der  makedonischen  Macht  durch  Philipp  IL  S. 
18—46.  Dass  in  diesem  Abschnitt  Thucydides  und  auch  Xenophon 
ausführlicher  gehalten  sind,  mag  die  Bedeutung  dieser  Schriftsteller 
wohl  rechtfertigen:  indessen  sind  darüber  die  übrigen,   in  diese 
Zeit  fallenden,  uns  leider  nur  aus  Bruchstücken  bekannten  Schrift- 
steller nicht  verkürzt.    Der  übertriebenen  Scepsis,  wie  sie  sich  in 
neuester  Zeit  bei  mehreren  dieser  Schriftsteller,  in  Bezug  auf  ihre 
Person  und  ihre  Schriften  geltend  zu  machen  gesucht  hat,  ist  der 
umsichtige  Verfasser  nicht  gefolgt,  wie  er  z.  B.  auch  die  Herodo- 
teisohen  Vorlesungen  aufführt,  und  demnach  wohl  an  deren  Wirk- 
lichkeit nicht  zweifelt,  da  sie  durch  bestimmte  Zeugnisse  beglaubigt 
sind.    Auf  der  anderen  Seite  aber  versohliesst  er  sich  wirklichen 
Resultaten  der  neueren  Forschung  nicht :  dies  zeigt  z.  B.  die  Stel- 
lung, die  er  der  unter  Xenophon's  Schriften  befindlichen  'Afrrjvaüav 
nokxsia  gegeben  hat,  die  §.  25  8.  44  von  den  ächten  Schriften 
des  Xenophon  getrennt  und  besonders  aufgeführt  ist.  Am  Schlüsse 
^leses  Abschnittes  wird  noch  kurz  der  Bedner  gedacht. 


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Florians  Fabeln  von  Zipp. 


969 


Der  dritte  Abschnitt  befasst  die  Zeiten  der  macedoniRcheu 
Herrschaft  S.  46—92,  und  zwar  zuerst  die  Geschichtschreiber, 
dann  noch,  was  von  Rednern,  staatswissenschaftlichen  Schriftstellern, 
insbesondere  Peripatetikern  u.  dgl.  in  diesen  Kreis  gehört.  Epborns 
und  Theopompns,  welche  diesen  Abschnitt  beginnen,  sind  ausführ- 
licher behandelt,  dann  die  Geschichtschreiber  der  Züge  Alexander's 
nnd  seiner  Nachfolger  u.  8.  w. ,  zuletzt  noch  die  Sicilischen  Ge- 
schichtschreiber, insbesondere  Timäus.  Der  vierte  Abschnitt  befasst 
die  letzten  Zeiten  des  griechischen  Staatswesens  und  die  Alexan- 
drinische  Gelehrsamkeit;  er  schliesst  mit  Polybius. 

Man  wird  das  Nützliche  dieser  Zusammenstellung,  welche  ein 
brauchbares  Htilfsmittel  bei  dem  Studium  der  griechischen  Ge- 
schichte bietet,  nicht  verkennen  und  den  Bemühungen  des  Ver- 
fassers, der  ein  gründliches,  auf  die  Quellen  gestütztes  Studium 
der  griechischen  Geschichte  damit  zu  fördern  beabsichtigt,  den 
besten  Erfolg  wünschen.  Die  äussere  Ausstattung  lässt  nichtB  zu 
wünschen  übrig. 


Florians  Fabeln  mit  geographischen,  grammatischen,  historischen 
und  mythologischen  Erörterungen,  einer  gedrängten  Lehre  über 
die  Participes  und  über  die  Bildung  der  Zeiten,  so  wie  mit 
einem  etymologischen  Wörterverzeichnisse  versehen  von  Ernst 
Zipp,  Grossh.  Bad,  Professor,  Lehrer  der  frans.  Sjyrache 
am  Lyceum  su  Freiburg  i.  Br.  Zum  Gebrauche  für  gelehrte 
Mittelschulen.  Erstes  Buch.  Freiburg  im  Breisgau.  Fr.  Wag- 
nerische Buchhandlung  1867.  VI  und  106  8.  in  S. 

Diese  Bearbeitung  des  ersten  Buches  der  Fabeln  von  Florian 
empfiehlt  sich  für  den  Gebrauch  unserer  Mittelschulen,  zunächst 
der  Tertia  nnd  Quarta,  durch  besondere  Eigenschaften,  welche  ihr, 
wie  wir  hoffen,  nicht  blos  den  Eingang  in  unsere  gelehrten  An- 
stalten, in  welchen  französischer  Unterricht  ertheilt  wird,  verschaf- 
fen werden,  sondern  auch  ihre  Verbreitung  im  Interesse  dieses 
Unterrichts  wünschenswerth  machen.  Da  auf  unseren  Anstalten 
der  Unterricht  in  der  französischen  Sprache  neben  dem  Unterricht 
im  Lateinischen  und  Deutschen  ertheilt  wird,  so  war  der  Verf.,  dem 
eine  vieljährige  Uebung  uud  Erfahrung  zur  Seite  steht,  schon  früher 
zu  der  gewiss  richtigen  Ansicht  geführt  worden,  dass  dieser  Unter- 
richt im  Französischen  in  eine  nähere  Verbindung  mit  dem  übrigen 
sprachlichen  Unterricht  zu  bringen  sei,  namentlich  mit  dem  Unter- 
richt in  der  lateinischen  Sprache,  indem  man  dann  im  Stande  sei 
grössere  Vortheile  zu  gewinnen  und  ganz  andere  Resultate  zu  er- 
zielen. In  diesem  Sinne  hat  er  diese  Bearbeitung  der  Fabeln 
Florians  unternommen,  welche,  wie  derselbe  mit  richtigem  Takt 
erkannt  hat,  allerdings  zu  einer  derartigen  Leetüre  beim  Schul- 


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960 


Florians  Fabeln  von  Zlpp. 


Unterricht  sich  insbesondere  eignen.  Drs  vorliegende  erste  Heft 
enthält  das  erste  Buch  dieser  Fabeln  und  man  kann  nach  der 
ganzen  Art  der  Behandlung  nur  wünschen,  dass  auch  die  übrigen 
Bücher  in  gleicher  Weise  bearbeitet,  bald  nachfolgen  möchten. 
Einige  Kegeln  über  das  Participe  Präsent,  das  Participe  Passe  und 
über  die  Bildung  der  Zeiten  sin(}  vorausgeschickt;  Alles  ist  klar 
und  deutlich  in  der  Kürze  entwickelt,  aber  genügend  für  das  Ver- 
stündniss  des  Schülers,  der  Uberhaupt  nicht  mit  Regeln  und  Vor- 
schriften im  Beginn  des  Unterrichts  überhäuft  werden  soll.  Dann 
folgt  der  Text  der  einzelnen  Fabeln  mit  darunter  gesetzten  erklä- 
renden Bemerkungen,  meist  sprachlicher  Art  und  zugleich  vielfach 
auf  die  hier  hervortretenden  Unterschiede  des  Deutseben  vom  La- 
teinischen hinweisend.  Auf  das  alsdann  folgende  von  S  46  an  bis 
zum  Schluss  reichende  Wörterbuch  möchten  wir  noch  insbesondere 
aufmerksam  machen.  Hier  ist  nemlich  besondere  Rücksicht  auf  die 
Etymologie  und  zwar  die  Ableitung  aus  dem  Lateinischen  genom- 
men ;  das  betreffende  lateinische  Wort ,  dem  das  französische  ent- 
stammt, ist  in  Klammern  beigefügt  und  so  stets  auf  die  Verbin- 
dung beider  Sprachen  hingewiesen.  Dass  diess  für  den  Schüler 
eine  grosse  Erleichterung  ist,  sein  sprachliches  Wissen  in  jeder 
Hinsicht  fördert,  ihn  weiter  fuhrt,  als  alles  mechanische  Auswendig- 
lernen, wird  man  sich  nicht  verhehlen  können.  Der  Verfasser  ist 
dabei  mit  aller  Umsicht  verfahren,  da  er  nur  da,  wo  die  Ableitung 
sicher  und  unbezweifelt  steht,  die  Hinweisung  auf  das  Lateinische 
gegeben  und  in  der  Angabe  verschiedener  Bedeutungen  desselben 
Wortes  sich  stets  an  die  Grundbedeutung,  aus  welcher  die  weitere 
Bedeutung  abzuloiten  ist,  gehalten  hat.  Ueberhaupt  sieht  man  dem 
Ganzen  wobl  an,  dass  es  das  Werk  einer  vieljährigen  und  gereiften 
Erfahrung  ist,  welche  den  Schüler  sicher  und  gründlich  vorwärts 
zu  bringeu  und  in  die  Kenntniss  der  Sprache  einzuführen  sucht. 
Und  daher  kann  man  auch  dem  Büchlein  baldige  Fortsetzung  und 
eiue  weitere  Verbreitung  im  Interesse  des  Schulunterrichts  wünschen. 


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Chronik  der  Universität  Heideibers  fllr  das  Jahr  1867 


Am  22.  November  leierte  die  Universität  in  herkömmlicher 
Weise  das  Fest  der  Geburt  des  erlauchten  Restaurator1  s  der  Uni- 
versität, des  höchstseligen  Grossherzogs  Karl  Friedrich.  Die 
von  dem  zeitigen  Prorector  der  Universität,  Professor  Friedreich 
gehaltene  seitdem  im  Druck  erschienene  Hede  *)  verbreitet  sich 
»über  die  heutigen  Standpunkte  der  Medizin«  und  giebt  in  ge- 
drängten Zügen  ein  Bild  von  den  Bestrebungen  und  Zielen  der 
wissenschaftlichen  Medizin,  und  von  den  Standpunkten,  auf  denen 
sich  die  Medizin  unserer  Tage  befindet.  Begreift  man  unter  »Medizin« 
lediglich  das  Bestreben,  die  Krankheiten  zu  heilen,  so  vordieut  sie 
allerdings  die  Benennung  einer  altehrwUrdigen ;  denn  Versuche,  die 
Krankheiten  auf  empirischem  Wege  zu  heilen,  wurden  zu  allen  Zei- 
ten gemacht  und  datiren  zurück  in  die  Tage  des  grauesten  Alter- 
thums. Versteht  man  aber  unter  »Medizin«  das  Bestreben,  in  das 
Wesen  der  Krankheiten  vorzudringen  und  nach  der  strengen,  in- 
duktiven Metbode  der  Naturforschung  das  Gesetzmässige  in  der 
Krankheit  zu  erforschen,  so  ist  sie  wohl  die  jüugste  der  Wissen- 
schaften, welche  die  Natur  zum  Objekte  der  Forschung  besitzen. 
Redner  zeigt  nun  unter  Hervorhebung  der  Hauptperioden  der  Ge- 
schichte der  Medizin,  wie  man  zu  allen  Zeiten  bestrebt  war,  durch 
Uebertragung  philosophischer  Systeme,  theoretischer  Dogmen  und 
Hypothesen  eine  Einsicht  in  das  Wesen  der  Krankheiten  zu  ge- 
winnen, wie  aber  alle  diese  Bestrebungen  nicht  zum  Ziele  führen 
konnten,  weil  man  dabei  mehr  oder  weniger  abwich  von  dem  Boden 
der  Erfahrung  und  der  reinen,  vorurteilslosen  Beobachtung.  Nur 
einzelne  hervorragende  Geister  waren  es ,  welcho  im  Verlaufe  der 
Jahrhunderte  inmitten  der  philosophischen  und  speculativ-apriori- 
schen  Richtungen  das  Banner  der  unbefangenen  Naturbeobachtung, 
als  des  einzigen  Mittels  einer  erfolgreichen  Entwickelung  der  Heil- 
kunde, erhoben,  und  die  grossen  Verdienste,  welche  sich  in  dieser 
Beziehung  Hippokrates,  Paracelsus,  Sydenham,  Boer- 
haave,  Schön  lein  u.  A.  um  die  wirklichen  Fortschritte  und  die 

*)  Rede  zum  Geburtsfeste  des  höchstseligen  Grossherzogs  Karl  Fried- 
rich von  Baden  und  zur  akademischen  Preisverteilung  am  22.  Nov.  1867, 
von  Dr.  N.  Fried  reich,  o.  o.  Professor  der  Medicin,  dermal  igem  Prorector. 
Heidelberg  1867.  Buchdruckerei  von  Georg  Mohr.  47  8.  4 

LX.  Jahrg.  12.  Heft.  61 


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962 


Chronili  der  Univf  rsitat. 


Begründung  einer  richtigen  Metbode  erwarben,  werden  in  kurzen 
Zügen  hervorgehoben.  Redner  schildert  im  Gange  seiner  Darstel- 
lung die  vielfachen  Schwierigkeiten  und  Hemmnisse,  welche  sich  der 
wissenschaftlichen  Medizin  auf  ihrem  Wege  zur  richtigen  Methode 
der  Forschung  entgegenstellten,  und  bezeichnet  die  durch  Schön- 
1  e  i  u  begründete  naturhistorische  Schule  als  die  Uebergangsperiode 
aus  der  naturphilosophischen  Medizin  zur  naturwissenschaftlichen 
Heilkunde  unserer  Tage.  Das  Verdienst,  den  Umschwung  der  natur- 
histurischen  Medizin  zur  naturwissenschaftlichen  Medizin  vermittelt 
zu  haben,  wird  Virchow  zuerkannt. 

Redner  geht  nach  dieser  geschichtlichen  Einleitung  zu  einer 
Darstellung  der  Hülfsmittel,  deren  sich  die  wissenschaftliche  Medizin 
in  ihrem  Streben,  in  die  Natur  der  Krankheiten  vorzudringen,  be- 
dient. Als  solche  werden  bezeichnet  die  klinische  Beobachtung,  die 
pathologische  Anatomie  und  das  Experiment.  Mittels  dieser  Hülfs- 
mittel, welche  in  ihren  Grundprinzipien  geschildert  werden,  sucht 
die  heutige  Medizin  die  gesetzmässigen  Vorgänge  des  kranken  Lebens 
zu  ergründen  und  jene  Wissenschaft  immer  weiter  zur  Ausbildung 
zu  bringen,  welche  man  als  pathologische  Physiologie  bezeichnet. 
Der  letzte  Abschnitt  der  Rede  verbreitet  sich  über  die  Standpunkte, 
welche  die  Medizin  in  der  Therapie  festzuhalten  berechtigt  ist. 


An  der  Universität  selbst  fanden  im  Laufe  des  Jahres  die 
folgenden  Veränderungen  statt: 

Durch  den  Tod  verlor  die  Universität  am  17.  März  den  Geb. 
Rath  und  Professor  Ludwig  H  ausser,  am  11.  Juni  den  Professor 
der  Chirurgie  und  Director  der  chirurgischen  Klinik  Otto  Weber; 
am  28.  August  den  Nestor  der  Universität,  Geh.  Rath  und  Professor 
Karl  Joseph  Mittermaier,  welcher  am  8.  Mai  des  Jahres  1859 
sein  fünfzigjähriges  Jubiläum  (s.  diese  Blätter  Jhrgg.  1859  Nr.  30 
p.  465  ff.)  gefeiert  hatte.  *) 

Aus  dem  Kreise  der  akademischen  Lehrer  schieden:  der  Geh 
Kirchenrath  und  ordentl.  Professor  der  Theologie  Dr.  Karl  Ludwig 
Hundeshagen,  welcher  einem  Ruf  nach  Bonn  folgte;  der 
ausserordentl.  Prof.  in  der  philosoph.  Fakultät  Dr.  Karl  Dietzel, 
welcher  als  ordentlicher  Professor  an  die  Universität  Marburg  be- 
rufen ward,  und  der  Privatdocent  Dr.  Leonhard  Rabus  in  der- 
selben Fakultät,  welcher  als  Professor  der  PhiJosophie  an  das  Lyceuxn 
zu  Speyer  berufen  wurde. 


•)  Ueber  sein  Leben  und  Wirken  siehe  die  in  dem  Archiv  für  civili- 
Btische  Praxis  Band  L  enthaltene  und  auch  besondere  gedruckte  Schrift: 
Zum  Andenken  an  Carl  Joseph  Anton  Mittermaier  von  Dr.  Gold- 
schmidt, Professor  in  Heidelberg.  Heidelberg.  Bucbdruckerei  von  O.Mohr. 
1867.  28  8.  8. 


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Cbronlk  d#r  Universität. 


968 


In  die  theologische  Fakultät  wurde  der  Oberkirchenrath 's- 
Assessor  Dr.  Adolph  Hausrath  als  ausserordentlicher  Professor 
berufen,  in  die  medicinische  Professor  Dr.  Gustav  Simon  aus 
Rostock  als  ordentlicher  Professor  und  Director  der  chirurgischen 
Klinik;  dem  ausserordentlichen  Professor  derselben  Fakultät  Dr. 
Knapp  wurde  die  Facbprofessur  der  Augenheilkunde  übertragen. 

Zu  ausserordentlichen  Professoren  wurden  ernannt, 
in  der  theologischen  Fakultät  der  Privatdocent  Licentiat  Dr. 
Friedrich  Nippold;  in  der  philosophischen  Fakultät  die 
Privatdocenten  Dr.  Karl  Lemcke  und  Dr.  Mendelssohn- 
Bartboldy. 

Zum  Ordinarius  des  Spruchcollegiums  wurde  Geh.  Hofrath  Prof. 
Dr.  Ben  au  d  ernannt;  die  Leitung  des  an  die  Stelle  des  bisheri- 
gen evangelisch  -  protestantischen  Prediger  -Seminar's  getretenen 
»evangelisch-protestantischen,  theologischen  Seminar's«:  dem  frü- 
hern Director  des  Seminar's,  Kirchenrath  Dr.  Schenkel  als  Ordi- 
narius der  praktischen  Theologie  tibertragen. 

Als  Privatdocenten  habitilirten  sich  in  der  juristischen  Fakul- 
tät Dr.  Edgar  Löning,  in  der  philosophischen  Fakultät  die 
Doctoren  Jacob  Lüroth,  August  Ho rs mann  u. Herrn.  Dörgens. 

Dem  Prof.  Kopp  wurde  der  Charakter  als  Hofrath  verliehen. 
Dem  Geb.  Rath  Mit  termaier  wurde  noch  kurze  Zeit  vor  seinem 
Tode  das  Grosskreuz  des  Ordens  vom  Zähringer  Löwen,  sowie  das 
O  rosskreuz  des  österreichischen  Franz  Josephs  Ordens  zu  Theil;  Geh. 
Rath  Bluntschli  erhielt  das  Commandeurkreuz  2.  Classe  vom 
Zähringer  Löwenorden,  Geh.  Hofr.  Renaud,  die  Professoren  Zel- 
ler, Friedreich,  v.  Dusch,  erhielten  das  Ritterkreuz  1. Klasse 
vom  Zähringer  Löwenorden.  Dem  Geh.  Hofrath  Dr.  Renaud  wurde 
das  Ritterkreuz  des  österr.  Franz  Joseph  Ordens,  dem  Geh.  Rath 
Dr.  Helm  ho  Hz  der  k.  bayr.  Maximiliansorden  für  Kunst  und 
Wissenschaft,  dem  Prof.  Dr.  Mendelssohn-  Barth oldy  das 
Ritterkreuz  des  k.  Griechischen  Erlöserordens  zu  Theil.  Prof.  Hof- 
meister wurde  zum  Doktor  der  Medizin  in  Halle ,  sowie  der 
ausserordentliche  Prof.  Stoy  zum  Ehrendoktor  der  Theologie  in 
Glessen  promovirt. 

Im  Laufe  des  Jahres  fanden  die  folgenden  Promotionen  statt: 
In  der  juristischen  Fakultät  erhielten  die  Dootorwürde : 
Am  31.  Jan.:  J.  D.  Mitropulos  aus  Griechenland;  am  23.  Jan.: 
Fridolin  Härder  aus  Donaueschingen ;  am  5.  Febr. :  Anton  Battag- 
lini  aus  Lugano  in  der  Schweiz;  am  19.  März:  C.  B.  Buddecke 
aus  Amerika;  am  21.  März:  Job.  Weber  aus  Hamburg;  am  28. 
März :  P.  von  Benckendorf  aus  Reval ;  am  25.  März :  Anastasius 
Ladas  aus  Griechenland;  am  25.  April:  C.  N.  Demetriades  aus 
Griechenland;  am  21.  Mai:  Berthold  Geiger  aus  Frankfurt  a.  M. ; 
am  25.  Mai:  Philipp  Müller  von  Rorschach  in  der  Schweix;  am 


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964 


Chronik  der  rntveroität. 


5.  Juli:  Ed.  HofFschläger  aus  Bremen;  am  13.  Juli:  G.  A.  Wirk 
aus  Braunschweig ;  am  18.  Juli:  Jacob  Bach  mann  aus  Stettfurt  im 
Canton  Thurgau ;  am  23.  Juli:  A.  Fürst  Trubetzkoi  aus  Moskau; 
am  27.  Juli:  Carl  Lardy  aus  Neuchatel ;  am  30.  Juli:  M.  K.  Wal- 
lare aus  Schottland;  am  3.  Aug.:  Otto  Pausa  aus  Leipzig;  am  7. 
Aug.:  Joh.  Heinrich  Eduard  Mohr  aus  Hamburg;  am  10.  Aug.: 
Moriz  Ritter  aus  Hamburg;  am  13.  Aug. :  Ernst  Müller  aus  Luxem- 
burg; am  17.  Aug.:  Adolph  Dochow  aus  Tempi  in  :  am  22.  Oct.: 
Graf  Paul  Scbuwaloff  a.  Petersburg  ;  am  6.  Nov. :  Joseph  Kleczynski 
aus  Polen;  am  6.  Nov.:  Karl  Schenkel  aus  Schaphausen;  am  19. 
Nov.:  Theodor  Heinrich  Schräder  aus  Hamburg;  am  3.  Dez.:  Carl 
Schulz  aus  Meiningen;  am  12.  Dez.:  E.  Philon  aus  Griechenland; 
am  17.  Dez.:  Ch.  P.  Taft  aus  Cincinnati  in  Amerika;  am  24.  Dez.: 
Daniel  Isenhorst  aus  Hamburg. 

In  der  medicinischen  Facultät  erhielten  die  Doctorwürde : 
Am  31.  Jan.:  Emil  Ponfick  aus  Frankfurt;  am  9.  Febr.:  Friedr. 
Pagenstecher  aus  Elberfeld ;  am  19.  Jan.:  Theodor  Schauenburg 
aus  Oldenburg;  am  27.  Mai:  Joh.  Woodacre  Kirk  aus  Liverpool 
in  England;  am  2.  Juli:  Gustav  Lebon  aus  Frankfurt;  am  18. 
Juli:  Julius  Carl  Wilhelm  Heye  aus  Londou ;  am  12.  Aug.:  G.  E. 
Yarrow  aus  London ;  am  23.  Sept. :  Chr.  Jenkins  aus  England ;  am 
21.  Oct.:  Francis  Alfred  Turton  aus  Demerara;  am  23.  Oct. :  Gustav 
A.  Abrath  aus  Huckingen;  am  14.  Dez.:  Wladislaus  de  Beiina 
Swiontkowski  aus  Warschau. 

In  der  philosophischen  Facultkt:  Am  9.  Jauuar:  Ludwig 
Darmstädter  ans  Mannheim;  am  21.  Jan.:  Adolph  Hess  aus  Hun- 
gen in  Oberhessen;  am  23.  Jan. :  Emil  Bossels  aus  Heidelberg ;  am 
30.  Jan.:  Philipp  Fresenius  aus  Fraukfurt;  am  18.  Febr.:  Albert 
Günther  aus  Langensalza ;  am  20.  Febr. :  Eduard  Wiechmann  aus 
Bockenheim  bei  Frankfurt;  am  22.  Febr. :  Wilh.  Maler  aus  Karls- 
ruhe; am  26.  Febr.:  Karl  Haase  aus  Frankenthal;  am  27.  Febr.: 
Otto  Bury  aus  Hanau;  am  1.  März:  Adalbert  Rost  aus  Erfurt; 
am  2.  März :  Marcus  Warschawski  aus  Pultawa  in  Rusuland  ;  am 
8.  März:  Victor  von  Miller  aus  Wien;  am  14.  März:  Eduard  Just 
aus  Marienberg  in  Sachsen;  am  16.  März:  Heinrich  Vincent  aus 
Frankfurt  a.  M. ;  am  2.  Mai:  Edwin  Kreis  aus  Zürich;  am  7.  Mai: 
Arnold  Gädeke  aus  Königsberg;  am  10.  Mai:  Isidor  Waltz  aus 
Kaiserslautern;  am  13.  Mai:  Victor  Mayer  aus  Berlin;  am  3.  Juni: 
August  König  aus  Willstädt ;  am  4.  Juni :  Woldeinar  von  Schnei- 
der aus  Petersburg;  am  14.  Juni:  Martin  Goldschmidt  aus  Berlin; 
am  15.  Juni:  Anton  Gütschow  aus  Petersburg ;  am  29.  Juni:  Gust. 
Engel  aus  Frankreich;  am  13.  Juli:  Alfred  Bamberg  aus  Rudol- 
stadt; am  17.  Juli:  Engen  Köhler  aus  Augsburg;  am  29.  Juli: 
Caspar  Caro  aus  Lodz  in  Preussisch-Polen ;  am  30.  Juli :  Vincent 
Stadtnicki  aus  Polen;  am  1.  Aug,:  Otakar  Cech  aus  Prag;  am  3. 


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Chronik  der  Universität 


960 


Aug.:  Albert  Goldmann  aus  Kirchheimbolanden ;  am  T.Aug.:  Wilh. 
Frost  aus  Guhlen  inPreussen;  am  15.  Aug. :  Julius  Au  aus  Posen; 
am  17.  Octob. :  Hermann  Mühlbäuser  aus  Speyer;  am  18.  Oct. : 
Adolph  Lewin  aus  Pinne  bei  Posen;  am  23.  Oct.:  Adolph  von 
Jelowicki  aus  Volhynien  (Russisch-Polen) ;  am  8.  Nov. :  Adam  Hoff- 
niann  ans  Mannheim;  am  14.  Nov. :  P.  F.  de  Vianna  Bandeira  aus 
Bahia  in  Brasilien ;  am  26.  Nov. :  Hermann  Gude  aus  Thorn  in 
Pieussen;  am  4.  Dez. :  Adolph  Buff  ans  Giessen ;  am  5.  Dez. :  Otto 
Büt8chli  aus  Frankfurt  a.  M. 


Unseren  Anstalten  und  Sammlungen  sind  auch  in  diesem  Jahre 
von  Seiten  vieler  Gönner  und  Freunde  namhafte  Gaben  zugegangen. 
Vor  Allem  ist  die  grossartige  Schenkung  des  Geh.  Käthes  Mi t  ter- 
rnaier  hervorzuheben,  welcher  seine  so  reichhaltige  und  für  alle 
Zweige  der  Jurisprudenz  so  wichtige  und  werthvolle,  in  manchen 
Beziehungen  selbst  einzig  dastehende  Buchersammlung  noch  kurz 
vor  seinem  Hinscheiden  der  Universität  üborliess.  Unsere  Hoch- 
schule, in  voller  Anerkennung  dieser  uneigennützigen  Gabe  hat 
ihrem  Danke  einen  schwachen  Ausdruck  verliehen  durch  die  Ueber- 
reichung  einer  Adresse,  welche  bei  dem  leider  dazwischengetretenen 
Tode  des  edelmüthigen  Gebers  den  Hinterbliebenen  dargebracht 
wurde.*)  Eine  zweite  werthvolle  Bereicherung  ward  der  Universi- 


*)  Dieselbe  lautet :  Ihrem  hochverehrten  Collegen  Herrn  Geheimerath 
Carl  Joseph  Anton  Mittermai  er,  Doctor  und  ordentlichem  Professor 
der  Rechte,  Grosskreuz  des  kaiserl.  österreichischen  Franz-Joseph-Ordens, 
Comraandeur  des  Orossh  badischen  Ztihriiiger  Löwen-Ordens,  des  Grossh. 
oldenburgischen  Haus-Ordens»,  des  kgl.  wflrtembcrgischen  Friedrich-Ordens, 
Ritter  des  königl.  preußischen  Ordens  pour  le  meritc,  des  kaiserl.  franzö- 
sischen Ordens  der  EhrenU-glon,  des  kaiserl.  russischen  3t.  Stanislaus-Ordeus 
II.  Cl.  m  St.,  des  kftnigl  italienischen  Mauritius-  und  Lazarus-Ordens,  des 
königl.  belgischen  Leopold-Ordens,  de»  königl.  portugiesischen  Ordens  vom 
heiligen  Jakob,  Mitglied  vieler  Academieen  und  gelehrten  Gesellschaften; 
dem  unermfldlichen  Forscher,  welcher  bis  auf  den  heutigen  Tag  mit  eben- 
soviel Eifer  als  Erfolg  daran  gearbeitet  hat,  die  Quellen  seiner  Wissenschaft 
zu  sammeln  und  aufzuschliessen ,  ihr  Lehrgebäude  zu  vervollkommnen,  eine 
vergleichende  Rechtswissenschaft  zu  begründen,  das  Strafrecht,  das  Straf- 
verfahren mit  dem  Geist  der  Gerechtigkeit  und  der  Humanität  zu  durch- 
dringen; dem  gefeierten  Lehrer,  dem  väterlichen  Führer  und  Freunde  der 
akademischen  Jugend,  welcher  ihr  eeit  mehr  als  einem  halben  Jahrhundert 
als  hohes  Vorbild  wissenschaftlicher  Arbeit  und  Pflichttreue  voranleuohtet ; 
dem  würdigen  Senior  der  Universität,  deren  Gedeihen  er  in  scchsund.ierzig- 
jähriger  aufopfernder  Hingebung  gefördert,  unter  deren  Zierden  er  schon 
frühe  geglänzt  hat;  dem  rastlosen  Kämpfer  für  Recht  und  Freiheit,  für  das 
Wohl  des  Vaterlandes  und  des  Volkes,  sprechen  Prorector  und  Senat  der 
Universität  Heidelberg  nach  einmüthigem  Beschlüsse  des  grossen  Senate«  für 
die  von  ihm  nm  Tage  seines  vollendeten  achtzigsten  Lrbcnsjahres,  den  5. 
August  l£rfi7,  vollzogene  Stiftung  seiner  in  ihrer  Art  einzigen  Sammlung  von 
deutschen  und  ausländischen  Rechtsqnellen  und  rechtswissenschaftlichen 
Schriften,  in  warmer  Anerkennung  der  Gesinnung,  welche  den  Stifter  zu 


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Chronik  der  Universität. 


t.tttsbibliothek  dadurch  zu  Theil,  dass  die  Bibliothek  des  Geb.  Ratbes 
H ausser,  Dank  der  Thätigkeit  einer  grösseren  Anzahl  Ton  Ver- 
ehrern und  Freunden  des  Verblichenen,  dauernd  für  dieselbe  er- 
worben wurde.  Beide  Bibliotheken  werden  besonders  aufgestellt 
werden  und  ein  bleibendes  Denkmal  der  Erinnerung  bilden  an  zwei 
der  ausgezeichnetsten  Glieder  unserer  Uuiversit&t.  Ausserdem  sind 
der  Universitätsbibliothek  uambafte  Geschenke  zugeflossen  von  den 
Akademieen  der  Wissenschaften  zu  Wien,  Petersburg,  München. 
Brüssel,  der  Royal  Society  in  London,  voq  der  Hanrard's  University 
und  ßmithsonian  Institution  in  Amerika  und  der  Public  Library 
zu  Melbourne;  andere  Gaben  erhielt  sie  von  Seiten  der  Grossber- 
zoglichen  badischen  Ministerien  der  auswärtigen  Angelegenheiten, 
des  Innern  und  des  Handels,  von  dem  Königlich  sächsischen  Mini- 
steriam  des  Innern,  von  dem  handelsstatistischen  Bureau  zu  Ham- 
burg, wie  dem  statistischen  Bureau  zu  Kassel,  von  der  Kgl.  Preus- 
sischen  Regierung,  wie  von  der  Kgl.  Italienischen  und  Kaiserl. 
Französischen  Regierung.  Von  Sr.  Majestät  dem  Kaisor  der  Fran- 
zosen ist  die  Bibliothek  auch  in  diesem  Jahre  wieder  mit  werth- 
v ollen  Gaben  bedacht  worden.  Das  evang.  prot.  theologische  Se- 
minar unserer  Universität  verdankt  dem  Herrn  Stationsvorstand 
Adolf  Storch  in  Oeynhausen  eine  Prachtbibel  ans  dem  Nach- 
lasse des  Herrn  Geh.  Kirchenrathes  Dr.  Rothe.  —  Dem  archäo- 
logischen Institut  tioss  in  diesem  Jahre  ein  namhafter  Geldbeitrag 
zu  aus  den  Erträgen  der  von  mehreren  akademischen  Lehrern  auf 
dem  hiesigen  Museum  im  vergangenen  Winter  abgehaltenen  Öffent- 
lichen Vorträge;  ferner  erhielt  dasselbe  zum  Geschenke  mehrere 
kleinere  antike  Gegenstände  von  hier  studirenden  Fremden  aus 
Kreta  und  Siebenbürgen,  sowie  GypsabgUsse  einheimischer  Funde 
von  dem  Mannheimer  Alterthums  verein,  endlich  ein  werthvolles 
Werk  von  dem  verstorbenen  Geh.  Rath  Professor  Eduard  Ger- 
son  in  Berlin.  —  Das  mineralogische  Kabinet  verdankt  der  Güte 
des  Privatdocenten  Dr.  Reis 8  zwei  Reliefkarten,  darstellend  die 
Kaimeni-Inseln  vor  und  nach  den  vulkanischen  Neubildungen  in  den 
Jahren  1866  und  1867,  sowie  eine  Suite  vulkanischer  Gesteine  der 
neueren  und  neuesten  Ausbrüche.  —  Endlioh  sind  dem  zoologischen 
Institut  die  sämmtlichen,  von  dem  Direktor  desselben  Prof.  Alex. 
Pagenstecher  auf  seiner  zweiten  Reise  nach  Mallorka  gesam- 
melten Gegenstände  zum  Geschenke  überwiesen  worden,  sowie  dem 
Museum  auch  noch  mehrfach  kleinere  Gaben  von  Fremden  und 
Studirenden  zugegangen  sind. 


seinen  vielen  Verdiensten  um  unsere  Hochschule  dieses  werthvolle  Geschenk 
hinzufügen  hiess ,  den  vollen  Dank  der  Universität  sus,  und  sie  verbinden 
mit  diesem  Ausdrucke  ihres  Dankes  den  Wunsch,  dass  der  Mann,  welchen 
Alls  verehren,  seiner  Familie,  seinen  Freunden,  seinem  Volke,  seinen  Sehn* 
lern  und  seinen  Collagen  noch  lange  Jahre  in  rostiger  Kraft  erhalten  bleibe1 
Heidelberg,  den  10.  August  lfc67. 


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Chronik  der  Universität. 


Von  den  im  vorigen  Jahre  gestellten  Preisfragen  hatte  die 
theologische  Fakultät  die  Aufgabe  gestellt: 

»Ex  evangelio  quod  appellatur  secundum  Hebraeos  quae  super- 
sunt  diligenter  congerantur  atque  inquiratur  in  praeoipuas  causas 
varietatis  et  inconstantiae ,  qnae  si  modura  rationomqne  narrandi 
spectamus,  interoedit  inter  ipsum  et  Ebionaeorum  evangelium. « 

Es  ist  der  theologischen  Fakultät  ein  einziger  Versuoh  zur 
Lösung  der  von  ihr  gestellten  Preisfrage  mit  dem  Motto:  »Nec 
pigebit  autem  me  sicubi  haesito  quaerere,  nec  pudebit,  sicubi  erro 
discere«  überreicht  worden.  Der  Verfasser  hat  sieb  der  deutschen 
Sprache  bedient,  wogegen  die  Fakultät  um  so  weniger  etwas  ein- 
znwendon  hat,  als  dadurch  im  vorliegenden  Falle,  was  Eigentüm- 
lichkeit der  Darstellung  und  Frische  des  Ausdrucks  anlangt,  wirk- 
liche Vortheile  gewonnen  wurden.  Mit  noch  grosserer  Befriedigung 
bat  die  Fakultät  wahrgenommen,  dass  das  zu  Gebote  stehende 
Material  vollständig  aufgefunden  und  die  Prüfung  der  hierauf  be- 
züglichen altkircblichen  Zeugnisse  mit  kritisch  geschultem  Blicke 
und  nach  correkter  Methode  vorgenommen  wurde.  Die  neuern  Be- 
handlungen der  Frage  haben  in  richtig  bemessener  Auswahl  Be- 
rücksichtigung gefunden.  Nur  Keims  neuestes  Werk  ist  noch  nicht 
benützt  worden.  Von  um  so  grösserem  Werthe  erscheinen  die  un- 
gesuchten Berührungen  mit  demselben,  die  besonders  in  der  Auf- 
zeigung einer  schiohtenweisen  Entstehung  der  Hebräer-Evangelien 
zu  Tage  treten.  Dass  diese  Schriften  keineswegs  blos  als  tenden- 
ziöse Bearbeitungen  der  Synoptiker  aufgefasst  werden,  sondern  viel- 
fach die  conservativen  Triebe  und  ursprünglichen  Traditionen  des 
jüdischen  Christenthums  erkennen  lassen,  während  sie  erst  in  ihren 
spätem  Gestaltungen  dem  kanonischen  Typus  näher  gerückt  er- 
scheinen, ist  eine  Aufstellung,  die  eingehendere  Beaohtung  verdient. 
Jedenfalls  hat  der  Verfasser  mit  besonnenem  Urtheil  das  immerhin 
nur  mässig  zu  nennende  Gewicht  erwogen,  welches  aus  der  literar- 
historischen Kritik  dieser  trümmerhaften  Reste  für  Entscheidung 
der  Frage  nach  den  Entstehungsverhältnissen  der  unversehrt  erhal- 
tenen Evangelien  resultirt.  Einzelne  Ausstellungen,  wozu  der  Ver- 
fasser Anlass  geboten  hat,  beiseite  lassend,  freut  sich  die  Fakultät, 
in  der  Lage  zu  sein,  seine  Arbeit  als  eine  fleissige  und  gehaltvolle 
Leistung  mit  dem  verdienten  Preise  zu  krönen. 

Nach  Eröffnung  des  mit  dem  erwähnten  Motto:  Nec  pigebit 
etc.  bezeichneten  Briefes  befindet  sich  der  Name:  Albrecbt 
Thoma,  Stud.  theol.  von  Dertingen. 

Die  Juristenfakultiit  hatte  das  Thema  gegeben: 

»Die  gerichtliche  Auflassung,  ihre  geschichtliche  Entwickelung 

und  heutige  Bedeutung.« 

Es  sind  zwei,  in  deutscher  Sprache  geschriebene  Bearbeitungen 

desselben  eingegangen,  von  denen  die  eine  das  Motto:  »Vorwärts« 


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Chronik  der  Universität. 


führt,  die  andere  durch  die  Worte  des  Sachsenspiegels :  >Ane  des 
vogts  ding  mag  nieman  eeyn  eygeu  hin  geben.« 

Die  erstgenannte  Arbeit  bietet  zunächst  in  ihrer  äusseren  Er- 
scheinung die  Eigentümlichkeit,  dass  sie  ohne  irgend  eine  äusser- 
lich  hervortretende  Gliederung  der  Masse,  ja  sogar  ohne  Trennung 
des  dogmatischen  vom  historischen  Theile  geschrieben  ist.  Auch  hat 
der  Verfasser  nicht  aHein  keinerlei  selbstständiger  Quellenstudien 
sich  befliessen,  sondern  sogar  die  Literatur  nur  in  sehr  unvollstän- 
diger Weise  benutzt.  Selbst  bei  der  Bearbeitung  des  an  sich  dürf- 
tigen Materiales ,  dessen  sich  der  Verfasser  bemächtigte,  fehlt  es 
nicht  allein  überall  an  strenger  Sichtung  der  Masse  uud  logischem 
Gedankengange,  sondern  an  jedem  Versuche,  rechtshistorische  oder 
dogmatische  Streitfragen  zu  lösen.  Wenn  nun  unter  so  be wandten 
Umständen  die  Juristenfakultät  ausser  Stande  war,  die  unter  dem 
Motto  »Vorwärts«  versehene  Arbeit  zu  krönen,  so  glaubte  Sie  doch 
der  Frische  der  Darstellung,  sowie  einer  gewissen,  allerdings  noch 
sehr  der  Pflege  bedürftigen  Gabe  für  geschichtliche  Entwickelungen, 
welche  daselbst  bekundet  ist,  ihre  Anerkennung  nicht  vorsagen  zu 
sollen. 

Die  Schrift  mit  dem  aus  dem  Sachsenspiegel  entnommenen 
Motto  hat  gegenüber  der  vorbenannten  mehrfache  Vorzüge,  indem 
sie  sich  von  dieser  durch  bessere  Methode,  vollständigere  Benützung 
der  Literatur ,  sowie  durch  eine  quellenmässigere  Behandlung  des 
rechtshistorischen  Materials  auszeichnet.  Auch  steht  die  Arbeit  ab- 
gesehen von  den  angedeuteten  Beziehungen  in  so  ferne  über  der 
Schrift  mit  dem  Motto  »Vorwärts«,  als  der  Verfasser  jener  seine 
Aufgabe  von  einem  höheren  Standpunkte  erfasst  und  den  Zusammen- 
hang der  canonischen  Investitur  mit  der  germanischen  Auffassung 
verfolgt  hat.  Dessenungeachtet  erschienen  die  wenig  eingehende,  ja 
höchst  dürftige  Behandlung  des  beutigen  Rechts,  sowie  die  Art 
und  Weise,  wie  der  behandelte  Stoff  ohne  alle  Ausführung  der  Ent- 
wicklung in  die  Form  eines  Grundrisses  untergebracht  worden, 
als  so  erhebliche  Mängel,  dass  die  Fakultät  auch  dieser  Arbeit,  hei 
aller  Anerkennung  des  Fleieses  und  Talentes  des  Autors,  den  Preis 
zu  ertheilen  nicht  vermochte. 

Die  im  verflosseneu  Jahre  von  der  medicinischon  Fakul- 
tät gegebene,  sowie  die  erste,  von  der  philosophischen  Fa- 
kultät gestellte  historische  Aufgabe  hat  keine  Bearbeiter  gefunden. 
Dagegen  sind  zwei  Beantwortungen  des  zweiten ,  von  der  philoso- 
phischen Fakultät  gestellten  landwirtschaftlichen  Themas  einge- 
laufen, welches  in  nachstehender  Weise  lautete  : 

»Es  sollen  die  in  einem  kleineren  oder  grösseren  Bezirk  von 
Baden  vorkommenden  Bodenarten  beschrieben  und  es  soll  nachge- 
wiesen werden,  welchen  Einfluss  ihre  Beschaffenheit  auf  die  land- 
wirtschaftliche Benützungsart,  auf  den  rohen  und  reinen  Ertrag, 
auf  Kaufpreis  und  Pachtzins  ausübt.« 


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Chronik  der  Universität. 


969 


Die  erste  der  vorliegenden  Arbeiten  trägt  den  Spruch: 
>Wer  alles  aufs  Spiel  setzt,  bat  sieber  zu  viel  gesetzt«. 

Die  zweite  hat  das  Motto: 

»Die  Wissenschaft  ist  die  beste  Freundin  der  Praxis.« 

Der  Verfasser  der  ersten  Sebrift  hat  die  Aufgabe  richtig  auf- 
gefasst  und  zu  ihrer  Lösung  den  zweckmässigen  Weg  eingeschlagen. 
Der  von  ihm  gewählte  Bezirk,  nämlich  die  Gemarkungen  von  Mann- 
heim und  sechs  naheliegenden  grossen  Ortschaften,  ist  von  ihm 
durch  Augenschein  und  Erkundigungen  an  Ort  und  Stelle  mit  Sorg- 
falt und  Einsicht  erforscht  worden,  die  vorkommenden  Bodenarten 
sind  nach  Beschaffenheit  und  Umfang  beschrieben  und  die  davon 
herrührenden  Verschiedenheiten  der  Fruchtfolge,  der  Bearbeitung 
und  Düngung,  der  ErtragsvorbHltnisse ,  der  Pachtzinse  und  Kauf- 
preise des  Landes  angegeben  worden.  Finden  wir  aber  in  der  Ver- 
arbeitung der  gesammelten  Thatsacben  überhaupt  schon  manche 
Mängel,  so  treten  diese  ganz  besonders  bei  der,  allerdings  sehr 
schwierigen  Ermittlung  des  rohen  und  reinen  Ertrags  hervor.  Hier 
treffen  wir  theils  manche  Rechnungsfehler,  tbeils  nicht  zu  billigende 
Berechnungsarten,  wesshalh  die  Zahlenergebnisse  dieser  Schätzung 
unzuverlässig  geworden  sind.  Die  Ursache  hievon  glauben  wir  in 
dem  Umstände  zu  finden,  dass  diese  Bewerbungsschrift  schon  im 
Frühling  abgeliefert  worden  ist  und  dem  Verfasser  also  muthraass- 
lich  die  Zeit  gefehlt  hat,  seinem  Aufsatz  diejenige  Reife  zu  geben, 
welche  derselbe  bei  längerer  Bearbeitung  hätte  erhalten  können. 
Wegen  dieser  ünvollkommenheit  der  Schrift  vermögen  wir  zu  unserm 
Bedauern  nicht,  dem  Verfasser  den  Preis  zu  ertheilen. 

Die  zweite  Abhandlung,  überschrieben  »die  Wissenschaft  ist 
die  beste  Freundin  der  Praxis«,  hat  in  formeller  Hinsicht  Vorzüge 
vor  der  ersten,  sie  ist  wohlgeordnet  und  gut  geschrieben ;  auch  bat 
der  Verfasser  Bücher,  gedruckte  Aufsätze  und  handschriftliche  amt- 
liche Angaben  fleissig  und  zweckmässig  benützt.  Aber  während  er 
bei  allgemeinen  vorbereitenden  Sätzen  zu  lange  verweilt,  gibt  er 
im  4.  Capitol  keine  ausführliche  Beschreibung  eines  Bezirkes  nach 
allen  in  der  Aufgabe  genannten  Beziehungen,  sondern  Vergleichun- 
gen  grösserer  Abschnitte  des  badischen  Landes,  ohne  in  die  ört- 
lichen Verschiedenheiten  des  Bodens  und  des  Ertrages  näher  ein- 
zugehen. Er  versucht  keine  Reinertragsberechnungen,  hält  sich  nur 
an  die  Pachtzinse  dor  Doinanialgrundstücke  und  erklärt  nicht  die 
grosse  Ungleichheit  in  denselben  von  Ort  zu  Ort.  Wie  schätzbar 
auch  die  übersichtlich  mitgetheilten  statistischen  Angaben  über 
Pachtzins  und  Rohertrag  von  Hofgütern  und  einzelnen  Pachtstücken 
in  7  Landestheilen  sind,  so  fehlt  es  doch  an  der  gehörigen  Ver- 
arbeitung derselben  und  an  der  durchgeführten  Darstellung  des  Ein- 
flusses, den  die  Bodeubescbaffenheit  bei  übrigens  gleichen  Verhält- 
nissen ausübt,  sowie  au  Ergebnissen  eigener  Anschauung,  wio  sie 


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•70 


Chronic  der  Universitlt 


in  der  ersten  Abhandlung  niedergelegt  sind.  Es  kann  daher  auch 
dieser  zweiten  Schrift  der  Preis  nicht  zuerkannt  werden. 

Da  jedoch  beide  Bewerber  gute  Kenntnisse  and  lobenswerthen 
Eifer  bewiesen,  auch  nützliche  Beiträge  und  Bemerkungen  darge- 
boten haben,  so  hat  die  Fakultät  ihnen  beiden  eine  ehrende  Er- 
wähnung zuerkannt. 

Als  Verfasser  der  Arbeit  mit  dem  Motto:  »Wer  Alles  auf's 
Spiel  setzt  etc.«  bekannte  sich  Stud.  ehem.  Deurer  in  Mannheim. 

Für  das  kommende  Jahr  sind  folgende  Preisaufgaben  gestellt,  bei 
deren  Bearbeitung  der  Gebrauch  der  deutschen  Sprache  gestattet  ist. 

Von  der  theologischen  Fakultät. 

»Anni  Hebraeorum  sacri  Jobel  nuneupati,  in  mentem  quae 
Hubgit  atque  originem  nec  non,  ad  quem  usque  terminum  lege  va- 
luerit,  diligentius  inquiratur,  virorumque  doctorum  de  ea  re  sen- 
tentiao  examinentur. « 

Von  der  juristischen  Fakultät: 

»Die  Haftung  des  Staates  aus  den  Handlungen  seiner  Beamten.« 

Von  der  medizinischen  Fakultät: 

»Sind  die  von  den  Galvanotherapeuten  als  »kataly tische«  be- 
zeichneten Wirkungen  des  elektrischen  Stromes  in  der  Therapie 
verwerthbar?  Welches  sind  ihre  physiologischen  Grundlagen? 

Von  der  philosophischen  Fakultät: 
Als  erste  Frage: 

»Es  werde  an  der  Hand  der  Quellen  untersucht,  welche  Theile 
der  stoischen  Lehre  auf  Zeno  von  Cittium  zurückzuführen  sind.« 

Als  zweite  Frage: 

»Es  wird  verlangt  ein  analytischer  Beweis  dos  Pascal'schen 
Satzes  vom  Hexagrammum  mystioum  uud  den  bekannten  Erweite- 
rungen desselben  naoh  folgender  Vorschrift: 

Wenn  man  mit  ^  und  (p,q)  die  Determinanten  bezeichnet: 

A=(J;cB)(Piq)=(Acf) 

so  stellen  die  Gleichungen: 

A  =  °>  (p»q)Ä<> 

in  der  Voraussetzung,  dass  ABC  lineare  Ausdrücke  der  Coordi- 
naten  x,  y  und  p,  q  Constanten  bedeuten,  irgend  einen  Kegelschnitt 
und  irgend  eine  gerade  Linie  in  der  Ebene  dar. 

Bedeuten  ferner  a,  b,  c,  d,  e,  f  irgend  welche  6  Constanten, 
80  sind: 

(ab)=o,  (bc)  =  o,  (cd)  -  o,  (de)=o,  (ef)  =  o,  (fa)  =  o 
die  Gleichungen  der  auf  einander  folgenden  Seiten  eines  dem  Kegel- 

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Chronik  der  Universität. 


schnitt  A  =  o  ein  beschriebenen  Sechseckes  und  allgemein  (p,q)  =  o 
die  Gleichung  einer  von  den  15  geraden  Linien,  welche  zwei  Ecken 
des  Pascal'scben  Sechseckes  verbinden,  wenn  man  für  pt  q  zwei 
verschiedene  von  den  6  Constanten  setzt.  Mit  diesen  analytischen 
Elementen  soll  der  Pascal'scho  Satz  vom  Hezagrammum  mysticum 
und  die  Erweiterungen  dieses  Satzes  durch  Steiner,  Kirkman,  Cayley 
und  Salmon  bewiesen  werden.« 


S 

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Inhalt 

der 

Heidelberger  Jahrbücher  der  Literatur. 


Sechsig*1er  Jahrgang,  1867, 

Seit« 

Agthe:  Die  Parabaee   713 

Airy:  Treatiae  on  pertial  Differential  Equatlone      ....  468 

▲  1  Beladsori:  Liber  expugnatt.  ed.  de  Ooeje      ....  6 

J.  d'Alwis:  Introduction  to  Kaohchayana'a  gram  mar     ...  481 

Ampere:  L'Empire  Romain   529 

Annalen  des  Vereins  f  Naaaauieehe  Geachichtaforechung.  VIII.  US 

Aplci  Caeli  de  re  ooq.  Ed.  So hu  ch    243 

Arlatophanea  Ritter  von  W.  Ribbeek   686 

Back  er:  Daa  Nilbecken  und  die  Erforechung  der  Nilquellen  .  818 

n        Der  Albert  Nyanza  IX  ♦   470 

Barach:  Zur  Geschichte  den  Nom  in  allem  us   269 

Haerwald:  Daa  Baumgarten  berger  Formel  buch       .       ...  241 

Bastian:  Reisen  in  Slam   605 

„        Reise  durch  Cambodja  nach  Cochinchlna                !  927 

Bauernfeind:  Die  Bedeutung  moderner  Gradmeesungen      .  111 

v.  Bergmann:  Pfarreien  und  Klöster  Vorarlberg^  ....  195 

Bericht  über  die  europäische  Gradmeaaung   691 

Bibliotheca  8criptt  Graeoc.  et  Komm.  Teubner.  (Athens aus  IV.  Dio- 

nyaiua  in.  Diodorua.  Euaebii  Praepe*.  Ann.  Senecae  tragoediae. 

Verglliua.  Censorinus.  Sallustius)     ....  .626 
Bibliotheca  Seriptt.  Graecc.  et  Romo.  Teubneriana  (Diodorua, Polybias, 

Eusebius,  Ciceronie  Oratt.  Boetiua  De  instit.  arithmet.  et  muaica)  946 

Bibliothek  d.  litt  Vereine.  Deutsches  Heldenbuch  von  Keller       .  401 

Bolza:  Canaoni  popolare  Comascbe   176 

Bopp:  Glossarium  comparativum  ling.  aanscr   801 

Brahay:  Exercicea  du  Calcul  differentlal   7*1 

Brambach:  Corpus  Inscriptt.  Rhenn   161 

Brandes:  Ausflug  nach  Norwegen   201 

«    .     Wörter  deutschen  Stammes  im  Französischen  640 

Brugsch:  Geographische  Inschriften  Aegyptens      ....  618 

Büchmann:  Geflügelte  Worte.  4.  Auf)   860 

Badinger:  Ein  Buch  ungarischer  Geschichte  665 

Caro:  Göthestudlen   685 

Histoire  de  Ceaar.   Atlas   619 

Ctaltt  enden:  Göthens  Faust  von  Reichlln-Meldegg        ...  207 

Clcero'a  Partitt.  oratt.  von  Piderit   716 

Cieero'a  Rede  gegen  Verrea  IV.  Van  Richter        .             .  266 

Cioeronie  acripta.  Ree.  Klota.  II,  2    228 

Cohn:  Kaiser  Heinrich  II.   398 

Cor a aen:  Kritische  Nachtrage  aar  latein.  Formenlehre         .  263 

Cotta:  Daa  Entwickelungageaetz  der  Erde   719 

Darwin:  Enjatehjang  und  Fj-haltung  der  Raaaen      ....  786 

Delabaj:  Anleitung  zum  Linearseichnen   774 

Demos thenis  Or.  adv.  Leptinem.  Ree.  Voemel               .       .      .  28 

Dictionary  of  tho  Pali  language   481 

Dietaeh:  Lehrbuch  der  Geschieh te  II,  2.       .       .             j  198 

Dreaael:  Die  BaaaltbUdung   602 

Duhamel:  Methode«  dana  lea  aclencea  de  Raleonnement       .      .  462 

Dulk:  Konrad  II   706 

Dfimichen:  Geographische  Inschriften  Aegyptens                       .  513 

Eick:  Die  römische  Wasserleitung  aus  der  Eifel     ....  600 


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974  Inhalt. 

Seite 


Erb:  Ueber  das  Galvanisiron  des  Gehirn  und  Ruckenmarke    .       .  32A 

„     Ein  Fall  von  Facialparalyse  u.  b.  w.   33ß 

,«     Elektrotonische  Erscheinungen  an  Menschen    ....  fiiifi 

n     Wachsartige  Degeneration  der  Muskelfasern    ....  OK* 

Er  d  mann:  Orundriss  der  Geschichte  der  Philosophie     .       .       .  120 

Erlenmeyer:  Umwandlung  des  ameisensauren  Natrons        .       .  tiiü 

r             Analogie  der  sauren  schwefligsauren  Sake  u.  b  w.  BOB 

Eyssenhardt:  Lectiones  Panegyricae   m 

v.  Falkenstein:  Lorberhain.  L   7b4 

Feddersen:  Geschichte  der  schweizerischen  Regeneration     .       •  ?1± 

Fichte:  Die  Seelen fortdauer   all 

Fi  ekler:  Die  Benediktiner-Abtei  Alpersbach   $2h 

Farster:  Ueber  Zeitmaasse  und  ihre  Verwaltung    ....  Iß 

Fu  chs:  Ueber  daa  Maderanerthal   UfiA 

v        Ueber  die  vulkanischen  Erscheinungen  im  Jahr  1866        .  25Ü 

Director  FQe sslin  und  die  Trennungshaft   QM 

Fuss:  De  Lygdaml  Elegiis   ßai 

Ger  lach:  Leben  und  Dichtung  des  Horaz       .....  III 

Gerneth:  Fünfstellige  Logarithmen                                     ,       .  Ufi 

Gräfe:  Ueber  eine  Formel  z.  Bestimmung  des  Schwerpunktes       .  75 

Grotefend:  Stempel  der  römischen  Augenarzte       ....  6JN" 

Guizot:  Memoires  etc.  VIII   SfiS 

Hankel:  Theorie  der  complexen  Zahlensysteme       ....  Hl 

Hanejakob:  Die  Grafen  von  Freiburg   2Li 

Hase.  Wormser  Luther-Buch   All 

Haupt:  Untersuchungen  zur  deutschen  Sage.  Gudrun     ...  13 

Haushofer:  Tabellen  zur  Bestimmung  der  Gesteine       .       .       .  £££ 

Heine:  Winkelstellung  bei  Coxitis  u.  s.  w  

Heimholt 7:  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  der  Reizung  d.  Nerven  S63 

„         Mechanik  der  Gehörknöchelchen   S2& 

Henke:  J.  Fr.  Fries   303 

Hertz:  De  M.  Plautio  poeta  

Hertzberg:  Geschichte  Griechenlands  unter  den  Römern     .       .  219 

Hesse:  Taschenbuch  des  Civiirecbts   ISA 

v.  Heu  gl  In:  Reise  nach  Abessinien   £tt 

Hoefer:  Biographie  geuenüe.  T  43—46   SSi 

H  U  b  n  e  r :  Statistische  Tafel   &4 

The  Odyssey  of  Homer  by  IL  Hayman   624 

Hon  -  1:  Essai  sur  les  prineipes  de  la  Geometrie      ....  Säfi 

Huschke:  Jurisprud.  Antejust.  Ed.  altera   951 

Neue  Jahrbücher  der  jüdischen  Literatur  von  Gurland         .       .  1 

P.  Janet:  Le  cerveau  et  la  pense*e   241 

J&nike:  Deutsches  Heldenbnch   flÜ 

Jordan:  Trigonometrische  Höhenmessung   77 

Juste:  Les  fondateurs  de  la  Monarch.  Beige  899 

Kant's  Werke  von  Hartenstein.  L  II.  IV.  Bd   Ml 

Kayserling:  Geschichte  der  Juden  in  Portugal                   #  Mili 

Keratry:  Kaiser  Maximilians  Erhebung  und  Fall  30 

Kern:  Over  het  woord  Zarathustra    ft*8 

Kiepert:  Atlas  antiquus.  A  Aufl.      .       .      .      ;      I      |      2  7* 

Kiesel:  Weltgeschichte.  Bd  II  ;       .       .  Ol 

Klein:  Die  Kirche  St  Stephan  zu  Mainz        ....  149 

Kleinert:  Scbiller's  religiöse  Bedeutung          ....  551 

Knapp:  Ueber  Staarextractionen   325 

„        Ueber  metastatische  Aderhautentzündung    ...  £di' 

„        Ueber  Plastik  des  untern  Augenlides         ....  flöQ 

*        Plastische  Bindehaut-Operationen        ....  .019 

n      •  Ueber  Staphylomabtragung         ......  ä!9 

fi        Ueber  Pterygiumoperation   91V 


ed  by  Google 


Inhalt.  976 

Seite 

Knapp:  Operation  eines  Symblepharon   92Q 

„       Ueber  Sarkom  und  Gliosarkom  dee  Auges  ....  P2Q 

Knauff:  Zur  Anatomie  der  serösen  Häute   34g 

K  ob  eil:  Zur  Berechnung  der  Krystallformen                 ,  560 

Kober:  Die  Deposition  nach  kirchlichem  Recht      ....  2t- 9 

Krebs:  Antibarbarus  von  Allgayer                                            .  729 

Kühne:  Deutsche  Charaktere  II.  (G.  Forster)        ....  4i7 

*  Laurent:  Trait6  d'Algebre   6fi9 

Lehmann:  Geschichte  der  Dynasten  von  Westerburg     .       .       .  286 

Leonardy:  Die  angeblich  Trierischen  Inschriften    ....  593 

Lieblein:  Autgaben  aus  der  Analysis      .......  845 

Llelegg:  Die  Spcctral- Analyse   73;) 

L  i  g  0  w  8  k  i :  Taschenbuch  der  Mathematik   694 

Lippischc  RegeBten.  IV   762 

Livlus.  deutsch  von  Gerlaoh.  iL  Bdchep   &21 

Lossen:  Geognost.  Beschreibung  des  Kreises  Kreuznach       .      .  S54 

Macoudi:  Les  prairies  d'or   g 

Marmor:  Die  Uebergabe  von  Konstanz  an  Oesterreich    .             .  424 

Martins:  Von  Spitzbergen  zut  Sahara     ......  siü 

Masius:  Deutsches  Lesebuch.  <L  Theil           .....  äfiß 

C.  May  hoff:  Lucubratt.  Plinn.  cap.  trla               ,  2_Üi 

Men  delssoh  n-Barth  oldy:  Friedrich  von  Gentz        .  . 

Meyer  v.  Knonau:  Die  Bedeutung  Karls  d.  Gr.  f.  Geschichte  748 

M  e  y  n  c  k  e :  Quaest.  Valerianae  

Mllow:  Gedichte   146 

„       Auf  der  Scholle     .   jll 

Minckwltz:  Wörterbuch  der  Mythologie   Sj^ 

Mitterrutzner:  Die  Sprache  der  Bari  in  Centraiafrika        .      .  407 

Molitor:  Geographie  von  Baden   jj>2 

Moos:  Ueber  das  subjective  Hören  musikalischer  Töne  .      .       .  329 

„       Ueber  seltenere  Arterienverstopfungen   343 

Müller:  Linguistischer  Theil  der  Novarareise   213 

„        Gcognosti6che  Kenntniss  des  Erzgebirges                 .       .  305 

„        Bodenverhältnisse  von  Basel   59j 

*        Katalog  d.  Schweiz.  Baumaterialien-Ausstellung        .  302 

Nicomachi  Introd  arlthm.  rec.  Ho  che   22B 

Noltenius:  Quaestiones  Plinn.   2iü 

Ofterdinger:  Beitrage  z.  Geschichte  der  Mathematik           .      .  ilil 

Opel:  Wallenstein  im  Stift  Halberstadt    4jß 

n      Mittheilungen  des  Thüring.  S&chs.  Vereins.  XI.    .             .  740 

Pagenstecher:  Ueber  die  Muskeln  des  Drill  u.  s.  w.         .  gflg 

Ueberzfthliger  Backenzahn  bei  Hylobates  synd.    .  9qg 

Paul:  Quaestiones  Claudianeae   71g 

Pauli:  Schimpf  und  Ernst  von  Oesterley   66 

Pflüger:  Badische  Vaterlandskunde   122 

Piderit:  System  der  Mimik   52& 

Pin  der:  Der  Fünfkampf  der  Hellenen   6ß3 

Piatos  Phädon  von  Bisch  off    7g6 

Memoires  von  Felix  Platter   183 

Plinii  Nat.  Hist.  rec.  Detlef sen   2ufi 

Poetae  lyrici  Graecl  ed.  Bergk   29ü 

Porybii  hist.  Ed.  L.  D  indor  f.  L  et  II   22s 

Pomponius  Mela.  Ed  G.  Parthey   21 

Price:  Treatise  on  Integral  Calculus  

Quetelet:  Sciences  mathem.  et  physiques   ^.35 

Quintus  von  Smyrna,  deutsch  von  Donner   497 

Rapports  sur  les  progr^s  des  lettres  et  de  sciences        .             .  725 

Die  letzten  Rauberbanden  in  Oberschwaben                                .  7J& 

Reckendorf:  Das  Leben  Mösls      ....             .  72B 


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976  Inhalt. 

« 

Reumout:  Geschichte  der  Stadt  Rom.  L   ^&42 

Ribbeck:  Prolegg.  eritt.  in  VergUU  Opp.  233 

Rltscbelii  Opuöcula  Acadd.  L  L  2  47* 

Röder:  Die  herrschenden  Grund  lehren  von  Verbrechen  und  Strafe  553 
Roth  v.  Schreckenstein:  Das  Interim  im  Klnsigthal  \22 
ji  r  Wolfgang  Graf  tu  Fürstenberg        .  1^2 

Rott:  Nationalität  der  Kelten  041 

J.  de  Rouge:  Textes  geographiqnes   513 

Rubin'«  Gedichte  von  Zupits   ....  373 

Sarathustrica  carmm.  ed  Kossowios   123 

Schafer:  Quellenkunde  der  griechischen  Geschichte       .      .       .  h5> 

Scher  er:  Leben  WUlirams  42 

Sc hlagintweit:  Könige  von  Tibet   4gi 

S chl ö mich:  Höhere  Analysis  1^ 

Schmidt:  Tableaux  de  la  revolution  Francaise  9  y0, 

S'huchardt:  Der  Vokalismus  des  Vulgärlateins  II.  .       .  47jj 

Scriptt.  metricl  Graeci  Ed.  Westphal.  Vol.  1   22£ 

Serret:  Cakul  dlfferentiel  

Sickel:  Acta  Regg  et  Impp.  Kmrolinorr.        .....  857 

Soldan:  Praktischer  Gebrauch  der  latdn.  8prache        .  .  74^ 

Fr.  Spielhagen:  Faust  und  Nathan   Uv 

Stark:  Statistische  Tafel  von  Deutschland   28b 

Stein:  Lehre  von  der  vollziehenden  Gewalt   4üj 

Stintsing:  Geschichte  der  Literatur  des  canea.  Rechts        .  «flfl 

Stobbe:  Die  Juden  in  Deutschland   ä^fi 

Süpfle:  De  l'H  initiale  dans  la  langne  doil   4^ 

Toeche:  Jahrb.  des  deutschen  Reichs.  Heinrich  VI.  (I.  IL)       52  81 

TJaberweg:  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie.  2  Aufl.    .  42ü 

„  Geschichte  der  Philosophie.  L  iL  Aull.  .       .  822 

Urform  der  Voss'ischen  Uebersetsung   7i> 

Julil  Valerli  Epitome  von  Zacher   .  817 

Verhandlungen  des  naturhistoriscb-medislniscben  Vereine  .  32 1  581 
Vering:  Geschichte  u.  Institutionen  des  röm.  Rechte.  ~L  Aufl.  . 

Verwijs:  Bloemlezing  etc.   290 

„         Dr.  Jan  ten  Brink   792 

Vitruvins:  De  architect.  Ed.  Rose  et  MO  1 1  er-8 tro bin g      .  954 

Voigt:  Die  lex  Maenia  de  dote  211 

Weber:  Ueber  ein  Fragment  der  Bhagavati   481 

Weber:  Allgemeine  Weltgeschichte,  6\.  Bd  U 

Weber:  Ueber  eine  Nervengeschwulst   321 

n      Ueber  einen  geheilten  Blasendefect.   Saü 

„      Das  epidemische  Vorkommen  der  Rose     ....  881 

Weidner:  Historisches  Quellenbuch  aur  alten  Geschickt«      .      .  7i£ 

Weise:  Die  Komödien  des  Plautne   6UH 

Waise:  Zur  Kenntnis»  der  Feldspathbildung  171 

Weliaminof-Zernof:  Ueber  die  Kasimof  sehen  Zaren        .  4U2 

Wey  den:  Geschichte  der  Juden  in  Köln   306 

Witt  stein:  Mathematische  Statistik   &tf 

Wolf  f:  Grammatik  und  Wörterbuch  der  nenarab.  Sprache  460 

Xenophontis  Anabasis.  Ree.  Breit  enbaeh      .  •  .  390 

Zacher:  Pseudocallisthenes   Ml 

Zink:  Der  Mytholog  Fulgentius  

Zipp:  Florians  Fabeln   .  v*5P 

Zur  juristischen  Lexicographle   697 


1 
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