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Full text of "Himmel und Erde"

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Himmel  und  Erde 


Urania-Gesellschaft 


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Himmel  und  Erde 


Urania-Gesellschaft 


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Himmel  und  Erde 


Illustrierte  naturwissenschaftliche  Monatsschrift. 


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Himmel  und  Erde. 


Illustrierte 
naturwissenschaftliche  Monatsschrift. 

Herausgegeben 

von  der 

GESELLSCHAFT  URANIA  ZU  BERLIN. 

Redakteur:  Dr.  P.  Schwahn. 
XI.  Jahrgang. 


BERLIN. 

Verlag  von  Hermann  Paetel. 

1891). 


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PUBLIC  LIBRaryI 

*STOW.  LENOX  AND 


t'nberectaligtei'  Nschdrut  k  aus  dorn  Inhalt  dieser  Zeitschrift  uul«r»agt. 
t'ber*et/uo(f8recht  vorbehalten. 


>  •  ■  • 
•    -    •    ••  . 


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Verzeichnis  der  Mitarbeiter 

am  XI.  Bande  der  illustrierton  naturwissenschaftlichen  Monatsschrift 

„Himmel  und  Erde". 


Blankenborn,  M..  Dr.,  in  Cairo.    .       Less,  E.,  Dr.,  in  Herlin. 

Turtze,  M.,  Prof.  Dr.,  in  Thorn  Maafs,  G,  Dr..  in  Berlin. 
Foerster,  W.,  Prof.  Dr.,  in  Berlin.        Müller,  C,  Pn>f.  Dr.,  in  Berlin. 

Fi  eh  de,  P.,  in  Schönebock  a.  K,  Müller,  P.,  in  Zittau. 

Ginzol,  F.  K,  in  Berlin.  Rümker,  G.,  in  Hamburg. 

Günther,  L.,  in  Stettin.  Scbeiner,  J.,  Prof.  Dr.,  in  Potsdam. 

Häpke,  L.,  Dr.,  in  Bremen.  Schmidt,  A.,  Dr.,  in  Berlin. 

Hahn,  R..  in  Leer.  Scliwahn,  P..  Dr.,  in  Berlin. 

Jacobowski,  A.,  in  Bromberff.  Spies,  P.,  Dr.,  in  Berlin. 

Keilhack,  K.,  Dr.,  in  Berlin.  Sürinj;,  F.,  Dr.,  in  Potsdam. 

Kny,  L.,  Prof.  Dr.,  in  Berlin  Wcnsky,  W,  in  Berlin. 

Kronecker,  F,  Dr.,  in  Berlin.  Witt,  G.,  in  Berlin. 

Koerbor,  F.,  Dr.,  in  Steglitz.  Zimmermann,  A.,  Prof.  Dr..  in  Bni- 
Koppe,  C,  Prof.  Dr..  in  BrHun*<.hweijr.  tenzorg. 


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Inhalt  des  elften  Bandes. 


Grössere  Aufsätze. 

Seit« 

Die  hrd-  und  Lander-Vermessung  und  ihre  Verwertung.  V  on  Prof.  C.  Kopp« 

■i.  in 

'Die  Spektralanalyse.    Von  Dr.  F.  Korrber  in  Steglitz     .    .  2K.  (i<).   1 22. 

171 

'Das  Märchenland  des  Yellowstone.    Von  Dr.  P.  Schwann  in  Berlin. 

49 

*Lichtelektri§che  Telegraphie.    Von  Dr.  P.  Spies  in  Berlin 

ot> 

Keplers  Traam  vom  Mond.    Von  Ludwig  Günther  in  Stettin  

97 

Die  üpih'iitung  der  »urzel  lur  das  Leben  der  rtlanze.    von  rrol.  l>.  Kny 

in  Berlin   

14.'. 

'Nicolaus  (]oppernicus.   Von  Prof.  M.  Curtze  in  Thorn  193.  260.  315.  362. 

405 

Die  neueste  Erzeugung  reinen  Sauerstoffes  und  dessen  wirtschaftliche  Be- 

deutung.   Von  Dr.  L.  Hapkc  in  Bremen  

226 

'Der  Botanische  (jarten  zu  üuitenzorg  auf  Java.   Von  Prof.  A.Zimmer- 

241 

Die  Lehre  von  der  Bewegung  der  Erde  im  griechischen  Altertum.  Von  Prof. 

Wilhelm  Foerater  in  Berlin  

2S9 

•Eine  Reise  ins  neue  Goldland  Alaska  im  Jahre  1898.    Von  Oberleutnant 

348 

Nachtrag  zu:    Die  Temperatur  der  Sonne.     Von  Prof.  J.  Scheiner  in 

322 

337 

385 

•Erinnerungen  an  die  Erdbebentage  in  Laibach.    Von  Dr.  P.  Schwann  in 

Berlin  392. 

4<;r> 

Das  lilühen  der  festen  Körper    Von  Prof.  J.  Scheiner  in  Potsdam. 

433 

•Die  Erhaltungsweise  der  vorweltliehen  Lebewesen.  Von  Dr.  K  Keilhack 

in  Berlin  

441 

Die  Meeresforschnng  der  liegenwart,  ihre  Ergebnisse  and  Probleme.  Von 

P.  Joh.  Müller  in  Zittau  

481 

"Südafrikas  Diamanten.    Von  P.  Frehde  in  Schönebeck  a.  E  

501 

'Das  Erreichen  der  Erdpole  mit  Hilfe  von  Eisbrechern.  Von  R  Hahn  in  Leer 

507 

Die  allgemeine  Zirculation  der  Atmosphäre.  Von  Dr.  E.  Legs  in  Berlin     .  52!) 

543 

Der  Malteserritter  d'Angos.   Von  Adol  f  Jacobo  wski  in  Bromberg 

554 

VIII  Inhalt. 


S  f  1 1  r 

Mitteilungen. 

Kin  nener  Planet  zwischen  Erde  nnd  Mar«!   ,  ,  ,  .  ,  ai 

Die  grSfsten  astronomischen  Kefraktoren  40 

Bcwegnng  des  roten  Jnpitertlecks  41 

tieographische  Verhrcitun:;  der  Krdhehen  in  den  Vereinigten  Staaten  nnd  aul 

Hawaii   ,  ;  ,  .  ;  .  ,  .  ,  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  LI. 

Astronomische  Pendeluhren  ohne  Kompensation  ,  .  43 

Fossile  Krdbehenspuren   u 

•  Blitzphotographie        .        .   1 34 

Pas  Nordlicht  vom  !)  September  !:'■«; 

I>ie  lliintgenstrahlen  .    .  137 

Kin  bedeutender  Fortschritt  in  der  Photographie  Ikhtschwacher  Himmels 

ohjekte   183 

Das  Xecmannsche  Phänomen   18/» 

Astronomische  Fragen  in  der  allorientalisc hen  Chronologie   ls'i 

Über  da«  grofse  Teleskop  der  Pariser  Ausstellung  von  ItioO   ist) 

Her  Weltäther  entdeckt?   232 

lläuligkeit  der  Erdbelien  in  Niederländisch- Indien   233 

Has  Spektra»  von  Atair   23  ö 

I >i t-  Siumenllnstprnis  des  ihalev  .  .  ,  .  ,  ,  ,  ,  .  2IH 

Archäologisch-Astronomisches   281 

Ans  der  interessantesten  l.cheiisperiode  Michael  Karadays  -JS3 
Das  Spektrum  des  Androniedanehels  und  dessen  Beziehungen  zu  unserem  Ki\- 

slernsystem      . 

"Künstliche  Sonnenllecken  3*J> 



Päimncrnngsstreiten  als  Witterungs  Aiizeirlien  ... 

Prähistorische  Meteorsteine   37t; 

*  l>ie  Spandauer  Versuche  zur  Bestimmung  der  mitliefen  Dichte  der  Knie  ■'■77 
Die  Kar  he  des  Wassers                     .  4  '  ■ 

Das  grolsc  Potsdamer  Fernrohr    4L' 4 

•«Helschens  irkung            .  .    .    ,    .  4 '-'■"> 

Kntdccknng  eines  neuen  SaUirnmondes   4Ji: 

Durstige  Schmetterlinge   IJti 

Maniniutriiiid  in  Klondyke   427 

ingeniöse  Verwendung  \  erllhssigtcr  liase   428 

Beichtum  einzelner  Sternhaufen  an  veränderlichen  Sternen  :  :  ,  .  ,  ,  .  473 

Knldeckung  der  Sonnciilinsternis  des  Agalhueles  aul  einer  Inschrift  .    .   .    .  47~> 

Die  Temperatur  des  Mondes                                                                        .  177 

•Blitzableiter  für  elektrische  Leitungen   47S 

Zur  Kntsv  ickelnngsgeschichle  der  liestir  ne   ril3 

Iber  die  I  rsachen  der  l'olscliwankiiiigen   ~>M'. 

Hie  drei  Aggregatzustände   öl 7 

'Lichtenbergs  Figuren  nnd  Wechselslromantersnchong   '<is 

Musi  helkrebse  als  Lnftsihitfer                                                             •  r>22 

Klima  lies  Klond\ ke -(iehietes       3 

Kür  die  Mondtheorie  wirblige  historische  Sonnenfinsternisse  'mh; 

Protuberanzenhöhe  und  Sonnentteckenperiode   .i"0 

Die  Scln\ anklingen  der  Spitze  des  Kifl'elturius                                           .  '»72 


Inhalt.  IX 

Bibliographisches. 

Violle,  J.:  Lehrbuch  der  Physik   45 

Richter.  A.:   Kalendersehe ibc  zur  rmcclmung  aller  möglichen  Daten  in 

jnlianischcs  oder  gregorianisches  Datum    -4 * ■ 

tirnnniarh.  L.:  Die  physikalischen  Erscheinungen  und  Kräfte   96 

ȟllcr-Pouillet:  Lehrbuch  der  Physik  und  Meteorologie.  9.  Aufl.  II.  Bd.  .  130 

Kaiserling,  f.:  Praktikum  der  wissenschaftlichen  Photographie    ....  140 

Verzeichnis  der  der  Induktion  zur  Be sprechnng  eingesandten  Bücher   ...  141 

Studniekit.  F.  J,:  Bis  ans  Knde  der  Welt   ISO 

Thompson.  S.  1'.:   Iber  sichtbares  und  unsichtbares  Licht   1SD 

Hühner:   Geographisch-statistische  Tabellen.  Ausgabe  1VS   10O 

Kohelt.  W.:  Studien  zur  Zoogeogi  aphie   190 

Schulie,  J.:  Nautik   237 

Neubau!"*.  R. :  Die  Farbenphotographie  nach  Lippmauns  Verfahren  .  .  .  238 
Meyers  Konversations  -  Lexikon.   ■">■  Auflage,  18.  Band,  Ergänzungen  und 

Nachträgt»   238 

l'lafsmann.  J.:  Himmelskunde   287 

Rosenberger.  F.:  Die  moderne  KiU  vnckeinug  der  elektrischen  Principien  :'>:.;:; 
Newton.    J:     Optik    oder    Abhandlung   über    Spiegelungen,  Brechungen, 

Beugungen  und  Farben  des  Lichtes   334 

Verzeichnis  der  der  Heilaktion  zur  Besprechung  eingesandten  Bücher   .    .  -<'M 

Müller,  fl  :   Die  Photometrie  der  Centime  ,  ,  .  .  ,  ,  .  ,  ,  3Ä2 

Scheiner.  ■).:  Die  Plmtogi ^phie  d.  r  Gestirne   ;'.s-j 

Brückner.  K. :    Die  feste  Krdrindi-  und  ihn-  Formen    .    ,   l.'il 

Morich.  H-:   Bilder  aus  der  Mineralogie   526 

Schmidt.  K.  ¥,.  F.:  Experirnental -Vorlesungen  über  Elektrotechnik     .    .    .  527 

Hann,  Hochstetter  nnd  l'okorny:  Allgemeine  Erdkunde,  III.  Abt.  ....  573 
F.der.  J.  M.:  Jahrbuch  für  Photographie  und  Reproduktionstechnik  für  das 

■Jahr  iv H)     :,74 

Mix  &  Genest:  Anleitung  zum  Bau  elektrischer  Haustelegraphen-,  Telephon-, 

und  Blitzableiteranlagen   .">T4 

\  "erzeiclinis  der  der  Redaktion  zur  Besprechung  eingesandten  Bücher    .    .    .  57'. 


Himmelserscheinungen. 

Für  October  und  November  1808   46 

»    Detember  1808  und  Januar  1800                                          ....  142 

„    Februar  und  März  1899    230 

„    April  und  Mai  1809    331 

,    Juni  und  Juli  1800    429 

„    August  und  September  1809    525 

Sprechsaal. 

Herrn  Prot.  ß.  in  Ulm   102 


Mitteilung,  betreffend  die  Heransgabe  eines  astronomischen  Jahresberichte«  .  336 


Namen-  und  Sachregister 

zum  elften  Bande. 


Agathokles,  Entdeckung  der  Sonnen- 
finsternis des,  auf  einer  Inschrift  475. 

A  ^gregatzustände,  Die  drei  517. 

Alaska,  Eine  Reise  ins  neue  Gold- 
land, im  Jahre  1898.   300.  348. 

Andromedanebels,  Das  Spektrum 
des,  und  dessen  Beziehungen  zu 
unserem  Fixsternsystem  325. 

d'Angos,  Der  Malteserritter  554. 

Archäologisch -  Astronomisches 
281. 

Astronomische  Fragen  in  der  alt- 
orientalischen Chronologie  18G. 

Astronomischen  Jahresberich- 
tes, Mitteilung,  betreffend  die  Her- 
ausgabe eines  336. 

Astronomische  Pendeluhren  ohne 
Kompensation  43. 

Atair,  Das  Spektrum  von  235. 

Atmosphäre,  Die  allgemeine  Zir- 
kulation der  529. 

Blitzableiter  für  elektrische  Lei- 
tungen 478. 

Blitzphotographie  134. 

Botanische  Garten,  Der,  in  Buiten- 
zorg  auf  Java  241. 

Brückner,  E.:  Die  feste  Erdrinde  und 
ihre  Formen  431. 

Bücher,  Verzeichnis  der  der  Re- 
daktion zur  Besprechung  einge- 
sandten 141.  334.  574. 

ßuitenzorg  auf  Java,  Der  Botanische 
Garten  zu  241. 

Chronologie,  Astronomische  Fragen 
in  der  altorientalischen  18G. 

Coppernicus,  Nicolaus  193.  260.  315. 
362.  405. 

Dämmerungs  -  Streifen  als  Witte- 
rung»-Anzeichen  330. 


Diamanten,  Südafrikas  501. 
Dichte,  Die  Spandauer  Versuche  zur 

Bestimmung  der  mittleren,  der  Erde 

377. 

Ed  er,  J.  M.:  Jahrbuch  für  Photo- 
graphie und  Reproduktionstechnik 
für  das  Jahr  1899.  574. 

Eiffelturmes,  Die  Sch  wankungen  der 
Spitze  des  572. 

Eisbrechern.  Das  Erreichen  der  Erd- 
pole mit  Hilfe  von  507. 

Elektrische  Haustelegraphen, 
Telephon-  und  Blitzableiteranlagen. 
Herausgegeben  von  Mix  und  Genest. 
574. 

Elektrische  Leitungen,  Blitzab- 
leiter für  478. 

Elektrischen  Prinzipien,  Die 
moderne  Entwickelung  der.  Von 
F.  Rosenberger  333. 

Elektrotechnik,  Experi mental- Vor- 
lesungen über.  Von  E.  F.  Schmidt 527. 

Entdeckung  eines  neuen  Saturn- 
mondes 426. 

Erdbeben,  Geographische  Verbrei- 
tung der,  in  den  Vereinigten  Staaten 
und  Hawaii  42. 

Erdbeben,  Häufigkeit  der,  in  Nieder- 
ländisch-lndien  233. 

Erdbebenspuren,  Fossile  91. 

Erdbebentage  in  Laibach,  Erinne- 
rungen an  die  392.  400. 

Erd-  und  Länder-Vermessung  und 
ihre  Verwertung  1.  49.  127.  209. 

Erde,  Die  Lehre  von  der  Bewegung 
der,  im  griechischen  Altertum  289. 

Erde,  Die  Spandauer  Versuche  zur 
Bestimmung  der  mittleren  Dichte  der 
377. 


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XII 


Inhalt. 


Erdo  und  Mar9,  Ein  neuer  Planet 

zwischen,!  .'57. 
Erdkunde,  Allgemeine.    Von  Hann, 

Hochstettcr  und  Pokorny  57.*;. 
Erdrinde,  Die  feste,  und  ihre  Formen. 

Von  E.  Brückner  431. 
Ei  d  pole,  Das  Erreichen  der,  mit  Hilfe 

von  Eisbrechern  507. 
Erhaltungsweise,  Die.  der  vorwelt- 

licheu  Lebewesen  441. 
Faradays,  Aus  der  interessantesten 

Lebensperiode  Michael  28."». 
Farbcnphotographie   nach  Lipp- 

manns  Verfahren.  Von  Ii.  Neuhaufs 

23*. 

Feuer  bergen,  Von  Javas  543. 

Fernrohr,  Das  grofse  Potsdamer  424. 

Fixsternsystem,  Das  Spektrum  des 
Androniedanobels  und  dessen  Be- 
ziehung zu  unserem  '525 

Gase.  Ingeniöse  Verwendung  verflüs- 
sigter 428. 

Geographisch  - statistische  Tabellen, 
Ausgabe  1SJ.S.    Von  Hübner  190. 

Gestirne,  Die  Photographie  der.  Von 
J.  Scheiner  382. 

Gestirne,  Die  Photometrie  der.  Von 
G.  Müller  382. 

Gestirne,  Zur  Entwickelungs  -  Ge- 
schichte der  5 Iii. 

Gletscherwirkung  425. 

Glühen.  Das,  der  festen  Körper  4.'»".. 

•  loldland  Alaska,  Eine  Reise  ins 
neue,  im  Jahre  1S!»8.    300.  34S. 

Gravitation.  Die  337. 

Griechischen  Altertum,  Die  Lehre 
von  der  Bewegung  der  Erde  im  28!). 

Grunmach,  L. :  Dio  physikalischen 
Erscheinungen  und  Kräfte 

Hann,  Hochstetter  und  Pokorny:  All- 
gemeine Erdkunde  573. 

Hawaii,  Geographische  Verbreitung 
der  Erdbeben  in  den  Vereinigten 
Staaten  uud  auf  12. 

Himmelserscheinungen,  übersieht 
der,  für  Oktober  und  November  1898 
4fi. 

Uini  in  elserschein  ungen,  Übersicht 
der,  Tür  Dezember  und  Januar 
18(ti>.  142. 

H  i  ra  m o  1  s e  r s  c  h  e  i  n  u  n  ge  n.  Ü bersicht 
der.  für  Februar  und  Miirz  18:<f>.  23!». 


Himmel  so  rsch  ein  ungen,  Übersicht 

der,  für  April  und  Mai  18!)!).  331. 
Himraelse  rsch  ein  ungen,  Übersicht 

der,  fdr  Juni  und  Juli  18!)!*.  42!). 
Hirn  melsersch  ein  ungen,  Übersicht 

der,  für  August  und  September  18!»!). 

525. 

Himmelskunde.    Von  J.  Plassmann 

287. 

Himmelsobjckte,  Ein  bedeutender 
Fortachritt  in  der  Photographie  licht- 
schwacher 183. 

Hübners  Geographisch  -  statistische 
Tabellen,  Ausgabe  18?8.  l!)0. 

Java,  Der  Botanische  Garten  zu  Bui- 
tenzorg  auf  241. 

Javas,  Von,  Fouerbergon  .543. 

Jupiterfleckes,  Bewegung  des  roten 
41. 

Kaiserl  ing.C.:  Praktikum  der  wissen- 
schaftlichen Photographie  140. 

Kalenderscheibe  zur  Umrechnung 
aller  möglichen  Daten  in  julianisches 
oder  gregorianisches  Datum.  Von 
A.  Richter  40. 

Keplers  Traum  vom  Mond  ;»7. 

Klima  des  Klondyke-tiebietes  523. 

Klondyke,  Mammutfund  in  427. 

Klondyke-Gebiotes,  Klima  des  523. 

Kobelt,  \V. :  Studien  zur  Zoogeo- 
graphie rjo. 

Konversations  - Lexikon,  Meyers 
238. 

Körper,  Das  Glühen  der  festen  433. 

Laibach,  Erinnernugen  an  die  Erd- 
bebentage von  3!»2.  4»;0. 

Licht,  Über  sichtbares  und  unsicht- 
bares. Von  Silvanus  P.  Thompson 
1S:>. 

Lichtelektrisohe  Tolegraphio  86. 

Lichtenbergs  Figuren  und  Wechsel- 
strom-Untersuchung 518. 

Lippmanns  Vorfahren,  Die  Farben-. 
Photographie  nach.  Von  R.  Neuhauf» 
238. 

Luftschiffer,  Muschelkrebse  als  522 
Malteserritter,  Der,  d'Angos  554. 
Mammutfund  in  Klondyke  427. 
Meeresforschung  der  Gegenwart. 

ihre  Ergebnisse  und  Probleme  181. 
Meteorsteine,  Praehistorische  375. 
Meyers  Konversationslexikon  23*. 


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Inhalt. 


XIII 


Mineralogie,  Bilder  aua  der.  Von 
H.  Morien  .V27. 

Mix  und  Genest:  Anleitung  zum  Bau 
elektrischer  Haustelegraphen,  Tele- 
phon- und  Blitzableiteranlagen  574. 

Mond,  Keplers  Traum  vom  97 

Mondes,  Die  Temperatur  des  477. 

Mondtheorie.  Für  die,  wichtige 
Sonnenfinsternisse  566. 

Morich.  H.:  Bilder  aus  der  Minera- 
logie 527. 

Müller,  O.:  Die  Photometrie  der  Ge- 
stirne 382. 

Mülle  r-Pouillets  Lohrbuch  der  Physik 
und  Meteorologie  Vi'.h 

Muschelkrobse  als  Luftschiffer  522. 

Nautik.    Von  J.Schulze  237. 

Nernstsche  Licht.  Das  385. 

Neuhau  Ts,  R.:  Die  Farbcnphoto- 
graphie  nach  Lippraanns  Verfahren 
•238. 

Newtons,  Sir  Isaak:  Optik  oder  Ab- 
handlung über  Spiegelungen,  Brech- 
ungen. Beugungen  und  Farben  des 
Lichtes  334. 

Niederliindisch-Indien,  Häufig- 
keit der  Erdbeben  in  233. 

Nordlicht,  Das,  vom  !>.  September 
i:sg. 

Pariser  Ausstellung  von  li»00,  Über 
das  grorse  Teleskop  der  18'J. 

Pendeluhren,  Astronomische,  ohne 
Kompensation  43. 

Pflanze,  Die  Bedeutung  der  Wurzel 
für  das  Leben  der  145. 

Photographie,  Die,  der  Gestirne. 
Von  J.  Scheiner  382. 

Photographie  und  Reproduktions- 
technik für  das  Jahr  189'J,  Jahrbuch 
der.    Von  J.  M.  Eder  574. 

Photographie.  Ein  bedeutender  Fort- 
schritt in  der.  lichtschwacher  Him- 
melsobjekte 183. 

Photographie,  Praktikum  der  wissen- 
schaftlichen. Von  C.  Kaisorling  140. 

Photometrie,  Die,  der  Gestirne.  Von 
G.  Müller  3S2. 

Physik,  Lehrbuch  der.  Von  J.  Violle. 
45. 

Physikalischen  Erscheinungen  und 
Kräfte,  Die.    Von  L  Grunmach  '.'6. 


Physik  und  Meteorologie,  Lehrbuch 
der.    Von  Müller-Pouillet  13!). 

Planet,  Ein  neuer,  zwischen  Erde 
und  Mars!  37. 

Plassmann,  J.:  Himmelskunde  287. 

Potsdamer  Fernrohr,  Das  grofse 
424. 

Praehis  torische  Meteor  steine  37»;. 

Protuberanzenhöhe  und  Sonneu- 
lleckenperiode  571. 

Refraktoren,  Die  gröfsten  astro- 
nomischen 40. 

Richter,  A.:  Kalendorecheibo  zur 
Umrechnung  aller  möglichen  Daten 
in  julianisches  oder  gregorianisches 
Datum  46. 

Röntgenstrahlen,  Die  137. 

Rosenberger,  F.:  Die  moderne  Eut- 
wickelungder elektrischen  Prinzipien 
333. 

Saturn mondes,  Entdeckung  eines 
neunten  426. 

Sauerstoffs,  Die  neueste  Erzeugung 
reinen,  und  dessen  wirtschaftliche 
Bedeutung  226. 

Scheiner.  J  :  Die  Photographie  der 
Gestirne  382. 

Schmetterlinge,  Durstige  426. 

Schmidt,  E.  F.:  Experimental -Vor- 
lesungen über  Elektrotechnik  527. 

Schulze,  J.:  Nautik  237. 

Schwankungen.  Die,  der  Spitze  des 
Eiffelturmes  572. 

Silvanus,  P.Thompson:  Über  sicht- 
bares und  unsichtbares  Licht  18t>. 

Sonne,  Die  Temperatur  der.  Nach- 
trag zu:  322. 

Sonnenfinsternis,  Die,  des  Thaies 
27'.). 

Sonnenfinsternis,  Entdeckung  der, 
des  Agathocles  auf  einer  Inschrift 
475. 

Sonnenfinsternisse,  Für  die  Mond- 
theorie wichtige  historische  5f>6. 

Sonnenflecken,  Künstliche  328. 

Sonnen  flecken  periode,  Protu- 
beranzenhöhe und  571. 

Spektralanalyse,  Die  26.  •>:».  122. 
171. 

Spektrum,  Das,  des  Andmmeda- 
nebels  und  dessen  Beziehungen  zu 
unserem  Fixsternsystem  325. 


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XIV 


Inhalt. 


Spektrum,  Das,  von  Atair  23"). 

Spreche  aal  192.  336. 

Sternhaufen,  Reichtum  einzelner, 
an  veränderlichen  Sternen  473. 

Studnicka,  F.  J.:  Bis  ans  Ende  der 
Welt  189. 

Südafrika»  Diamanten  501. 

Teleskop,  Uber  das  grofee,  der 
Pariser  Ausstellung  von  1900.  189. 

Tclegraphie,  Lichtolektrische  86. 

Temperatur,  Die,  des  Mondes  477. 

Temperatur  der  Sonne  322. 

Thaies,  Die  Sonnenfinsternis  des  279. 

Veränderlichen  Sternen,  Reich- 
tum einzelner  Sternhaufen  au  473. 

Vereinigten  Staaten,  Geogra- 
phische Verbreitung  der  Erdbeben 
in  den,  und  auf  Hawaii  42. 


Vermessung,  Die  Erd-  und  Länder- 
und ihre  Verwertung  1.  49.  127. 

Violle,  J.:  Lehrbuch  der  Physik  45. 

Vorweltlichen  Lebewesen,  Die 
Entstehungsweise  der  441. 

Wassers,  Die  Farbe  des  423. 

Wechselstromunter  Buchung, 
Lichtenbergs  Figuren  und  518. 

Welt,  Bis  ans  Ende  der.  Von  F.J.Stud- 
nicka  189. 

Weltäther,  Der,  entdeckt?  232. 

Witterungs- Anzeichen.  Dämme- 
rungs-Streifen als  330. 

Wurzel,  Die  Bedeutung  der,  für  das 
Leben  der  PUanze  145. 

Yellowatono,  Das  Märchenland  dos 
49.  109. 

Zeemannsehe  Phänomen,  Das  1S">. 
Zoogeographie.  Von  W.  Kobelt  190. 


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Dreiecksnetz  L  Ordnung  der  Königl.  Preufsischen  Landes- Aufnahme. 

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Die  Erd-  und  Länder- Vermessung  und  ihre  Verwertung. 

Von  Professor  Dr.  C.  Koppe  in  Braunschweig. 

ie  Anschauungen  und  Vorstellungen  der  Menschen  von  der 
Gestalt  und  Gröfse  der  Erde,  welche  ihren  Wohnsitz  bildet, 
entsprechen  dem  jeweiligen  Stande  ihrer  Naturerkenntnis  und 
gewähren  ein  charakteristisches  Abbild  der  letzteren,  sowie  ihrer  fort- 
schreitenden Entwickelung.  Ungezählte  Jahrtausende  galt  ihnen  die 
Erde  dem  unmittelbaren  Anscheine  nach  als  eine  Scheibe,  vom  Ozean 
umflutet  und  vom  Himmelsdome  überwölbt,  der  auf  ihr  ruhte;  auch 
Homer  beschreibt  sie  als  solche.  Die  griechischen  Philosophen  aber, 
unter  ihnen  namentlich  Pythagoras,  erkannten  die  Unhaltbarkeit  dieser 
primitiven  Anschauung.  Sie  ersetzten  die  Scheibe  durch  eine  Kugel, 
und  nahezu  zwei  Jahrtausende  hindurch  wurde  dann  ihrer  Lehre  ent- 
sprechend als  unumstößliche  Wahrheit  angenommen,  dafs  die  Erde 
eine  kugelförmige,  also  durchaus  regelmäßige  Gestalt  habe,  bis  der 
Scharfsinn  des  großen  Newton  aus  theoretischen  Erwägungen 
folgerte,  auch  diese  Ansicht  könne  der  Wahrheit  nicht  entsprechen, 
vielmehr  müsse  die  Erde  die  Gestalt  eines  an  den  Polen  abgeplatteten 
Ellipsoides  haben.  Auch  er  ging  noch  von  der  Voraussetzung  aus, 
dafs  die  mathematische  Erdoberfläche  eine  nach  einfachen  Gesetzen 
gebildete  und  daher  durch  eine  geschlossene  Formel  (Kugel,  Rotations- 
ellipsoid) darstellbare  Fläche  sei.  Erst  die  Erdmessungsarbeiten  der 
letzten  Jahrhunderte  und  namentlich  diejenigen  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  haben  diese  Vorstellung  wesentlich  modifiziert;  zugleich 
erfuhren  die  Untersuchungen  zur  Bestimmung  der  wahren  mathe- 
mathischen  Erdgestalt  eine  weit  gröfsere  Ausdehnung  und  Ver- 
tiefung. 

Himmel  und  Erde.  1898    XI.   1.  I 


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2 


Wäre  die  Erde  ganz  mit  Wasser  bedekt  und  dieses  in  Ruhe,  so 
würde  seine  Oberfläche  der  ^mathematischen"  Erdoberfläche  ent- 
sprechen. Diese  Fläche  würde  in  jedem  ihrer  Teile  normal  zur 
Schwererichtung  sein,  und  zugleich  müfste  der  Druck  auf  die  Flächen- 
einheit an  allen  Stellen  derselbe,  d.  h.  die  Fläche  eine  „Niveaufläche" 
sein.  Die  Oberflächen  unserer  Meere,  aus  denen  die  Kontinente  her- 
vorragen, sind  in  ihrer  mittleren  Ruhelage  Teile  ein  und  derselben 
Niveaufläche,  wenigstens  sehr  nahe;  sie  bilden  also  den  einen  sicht- 
baren Teil  der  mathematischen  Oberfläche  der  Erde.  Denkt  man  sich 
dieselben  unter  den  Kontinenten  fortgesetzt  zu  einer  zusammen- 
hängenden, die  ganze  Erde  umschliefsenden  „Niveauflächeu,  d.  h.  einer 
solchen,  welche  den  obigen  beiden  Bedingungen  genügt,  so  erhält  man 
die  wahre  mathematische  Erdoberfläche,  d.  h.  die  Oberfläche  des 
öeoides.  Dieselbe  entsteht  unter  der  Einwirkung  der  Schwerkraft,  d.  h. 
der  Anziehung  aller  Massenteilchen  auf  jeden  ihrer  Punkte  sowie 
unter  der  Centrifugalkraft  infolge  der  Umdrehung  der  Erde.  Da  die 
verschiedenen  Massen,  aus  denen  die  Erdo  zusammengesetzt  ist,  un- 
gleiche Dichte  häben  und  unregelmäfsig  gelagert  sind,  so  wird  diese 
mathematische  Erdoberfläche  keine  regelmäfsige ,  durch  einfache 
mathematische  Formeln  ausdrückbare  Gestalt  haben  können.  An 
Stelle  eines  geschlossenen  mathematischen  Ausdruckes  ist  daher  die 
folgende  Definition  zu  setzen:  Als  mathematische  Erdoberfläche  ist 
diejenige  Niveaufläche  der  Erde  zu  betrachten,  von  welcher  die  Be- 
grenzungsflächen der  Ozeane  in  ihrer  mittleren  Lage  den  einen  sicht- 
baren Teil  bilden,  und  die  man  sich  unter  und  durch  die  Kontinente 
entsprechend  fortgeführt  zu  denken  hat. 

Die  Beobachtungen  und  Messungen  zur  Bestimmung  der  mathe- 
matischen Oberfläche  der  Erde  geschehen  auf  ihrer  physischen 
Oberfläche,  d.  h.  ihrer  festen  oder  flüssigen  Begrenzung.  Diese  ist 
ganz  regellos  gebildet  und  gestaltet,  wie  der  unmittelbare  Augenschein 
lehrt.  Aber  auoh  die  eben  zuvor  als  wahre  mathematische  Erdober- 
fläche definierte  Niveaufläche  hat  infolge  ihrer  Abhängigkeit  von 
der  Schwere,  d.  h.  der  Gesamtanziehung  aller  Massenteilchen,  eine 
sehr  komplizierte  Gestalt  Auch  sie  läfst  sich  nur  empirisch  und  immer 
nur  stückweise  ermitteln,  durch  Messung  des  Abstandes  einer  Anzahl 
ihrer  Punkte  von  ein  und  derselben  als  Vergleichsfläche  angenommenen 
regelmäßig  gebildeten  Fläche,  ganz  analog  wie  man  die  plastische 
Form  der  natürlichen  Erdoberfläche  durch  Höhenmessungen  zahl- 
reicher Terrainpunkte  in  Bezug  auf  einen  gemeinsamen  Vergleichs- 
horizont bestimmt.    Dies  ist  natürlich  ein  sehr  langwieriger  Prozefs, 


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3 


und  da  jodo  solohe  Punktbestimraung  die  genauesten  und  feinsten 
astronomisch-geodätischen  Messungen  verlangt,  so  ist  die  Arbeit  der 
Bestimmung  der  wahren  mathematischen  Erdgestalt  zugleioh  mit 
der  tieferen  Erkenntnis  und  genaueren  Definierung  derselben  gleichsam 
ins  Endlose  gewachsen. 

Solange  die  mathematische  Erdgestalt  als  kugelförmig  galt,  ge- 
nügte die  Messung  eines  Grades  eines  gröfsten  Kreises  dieser  Kugel 
zur  Bestimmung  ihres  Durchmessers  und  somit  auch  ihrer  Oröfse, 
daher  die  Bezeichnung  „ Grad m essungen"  für  die  älteren  Erdmessungs- 
arbeiten.    Diese  waren  somit  verhältnismäfsig  einfacher  Natur.  Die 


Newton. 


Höhe  desjenigen  Punktes  über  dem  Horizonte  einer  Beobachtungs- 
station, in  welchem  die  verlängerte  Erdaxe  das  Himmelsgewölbe  trifft, 
und  den  alle  Gestirne  in  ihrem  scheinbaren  täglichen  Laufe  als  festen 
Pol  umkreisen,  ist  um  so  gröfser,  je  weiter  vom  Äquator  und  je 
näher  am  Pol  der  Erde  der  Beobachter  sich  befindet,  und  bekannter- 
inafsen  gleich  der  geographischen  Breite  des  Standortes.  Mifst  man 
die  Entfernung  zwischen  zwei  Punkten  auf  der  Erde,  von  denen  der 
eine  genau  nördlich  vom  anderen  liegt,  also  in  demselben  Meridiane 
mit  ihm,  so  findet  man  für  einen  Polhöhen-  oder  Breiten-Unterschied 
der  beiden  Punkte  von  einem  Grade  einen  linearen  Abstand  von 
nahezu  111  km.  Ist  die  Erde  eine  Kugel,  so  hat  man  in  diesem 
Längenmafse   den  dreihundertundsechzigsten  Teil  des  ganzen  Erd- 


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m  ist  die  Auf- 
ewton.  Schon 
if  den  Gedanken 
Jen  Mond  anstatt 
■isen,  die  auf  der 
Wirkt  diese  Kraft 
irten  quadratischen 
tvitations-Gesetz  als 
n,  welches  das  ganze 
vifsten  Himmelskörper 
littlere  Entfernung  des 
uesser.   Aus  der  Gröfse 
des  läfst  Bich  sein  Fall 
liichst  in  Teilen  des  Erd- 
nach  bekannt  ist,  auch  in 
gegen  die  Mitte  H«»^  sieben- 


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4 


umfanges  gemessen  und  kann  daraus  die  Länge  des  gräteten  Kugel 
kreises  und  den  Radius  der  Erdkugel  leioht  berechnen.  Auf  solche  Weise 
bestimmte  schon  Erathostenes  angenähert  die  Gröfse  der  Erde. 

Nahezu  zwei  Jahrtausende  vergingen,  bevor  man  erkannte,  dafs 
die  Länge  der  Meridian-Grade  nicht  unter  allen  geographischen  Breiten 
die  gleiche  ist,  sondern  um  so  gröTser  wird,  je  mehr  man  sich  den 
Polen  nähert  Erst  die  im  vorigen  Jahrhundert  von  den  Franzosen 
in  Peru  und  in  Lappland,  also  unter  sehr  verschiedenen  geographischen 
Breiten  vorgenommenen  Gradmessungsarbeiten  bewiesen  dies  zweifel- 
los. Sie  führten  zu  einer  genaueren  Kenntnis  der  Gestalt  und  Gröfse 
der  Erde,  sowie  zugleich  zur  Bestimmung  des  metrischen  Mafssytems, 
indem  man  die  Einheit  desselben,  das  Meter,  als  vierzigmillionsten 
Teil  eines  Erdmeridianes  definierte.  Teilt  man  den  Kreis  nach  der 
sogenannten  neuen  Teilung  in  400  Grade  und  den  Grad  in  100  Bogen- 
minuten,  so  wird  eine  solche  Bogenminute  gleich  dem  vierzigtausend- 
sten Teile  des  ganzen  Utnfanges,  somit  in  Längenmafs  gleich  1000  m 
sein,  wenn  man  den  gröfsten  Kreis  der  kugelförmig  angenommenen 
Erde  nach  Längenmafs  in  vierzig  Millionen  Meter  teilt;  daher  die  Ein- 
teilung des  Erdumfanges  in  40  Millionen  Teile,  weil  dabei  eine 
Bogenminute  die  Länge  von  einem  Kilometer  erhält. 

Der  grofse  Königsberger  Astronom  Bessel  bewies  sodann  zu 
Anfang  unseres  Jahrhunderts  durch  einheitliche  Bearbeitung  der  in- 
zwischen in  verschiedenen  Erdteilen  ausgeführten  Gradmessungen, 
dafs  das  Meter  als  „Naturmafs"  nioht  eindeutig  definiert  sei,  insofern 
die  verschiedenen  Erdmeridiane  nioht  ein  und  dieselbe  Längenaus- 
dehnung besitzen.  Den  Vorteilen  gegenüber  jedoch,  welche  ein  ein- 
heitliches metrisches  Mars-  und  Gewichtssystem  bietet,  konnte  dieser 
Umstand,  wie  die  Erfahrung  gelehrt,  nicht  so  schwer  ins  Gewicht 
fallen,  um  seiner  allgemeinen  Einführung  hindernd  in  den  Weg  zu 
treten,  und  nicht  das  geringste  Verdienst  der  Erdmessungsarbeiten  ist 
es,  den  gesitteten  Nationen  zu  diesem  einheitlichen  Mafs-  und  Gewichts- 
systeme verhoifen  zu  haben. 

Bossels  Berechnungen  und  Untersuchungen  zeigten  ferner,  dafs 
die  raathematische  Erdgestalt  angenähert  derjenigen  eines  an  den 
Polen  abgeplatteten  Rotationsellipsoides  entspricht,  dafs  aber  die 
wahre  mathematische  Erdoberfläche  im  einzelnen  mancherlei  Ab- 
weichungen von  einer  gesotzmäfsig  gebildeten  Ellipsoidfläche  besitzt, 
und  dafs  diese  Unregelmäfsigkeiteu  nur  durch  ausgedehnte  und  plan- 
mäßig vorgenommene  Spezialuntersuchungen  ermittelt  werden  können. 
Letztere  in  grofsem  Stile  und  auf  der  ganzen  Krde  nach  einheitlichem 


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Plane  durchzuführen,  hat  sich  die  „internationale  Erdmessung-*  zur 
Aufgabe  gestellt.  Anfang  der  sechziger  Jahre  vom  preufsischen 
General  Bayer,  dem  Mitarbeiter  Bessels,  in  bescheidenem  Umfange 
als  „mitteleuropäische  Gradmessung"  begründet,  ist  dieselbe  in  wenigen 
Jahrzehnten  zur  großartigsten  wissenschaftlichen  Vereinigung  aller 
Kulturvölker  angewachsen.  Entsprechend  ihrem  Umfange  und  ihren 
Mitteln  hat  sioh  dieselbe,  nachdem  zwei  Jahrtausende  hindurch  die  Erde 
als  Kugel  gegolten  hat,  nachdem  im  vergangenen  Jahrhunderte  die 
ausgezeichneten  Arbeiten  der  grofson  französischen  Geometer  in  der 
Ermittelung  ihrer  ellipsoidischcn  Gestalt  der  Wahrheit  einon  Schritt 
naher  geführt  hatten,  nunmehr  als  Ziel  gestellt,  ihre  wahre  mathema- 
tische Gestalt  zu  erforschen,  eine  schier  endlose  Riesenarbeit,  welche 
mit  der  fortschreitenden  Erkenntnis  und  Vertiefung  durch  das  Hinein- 
greifen in  andere,  verwandte  Wissenszweige  und  Forschungsgebiete 
stetig  an  Umfang  noch  zunimmt.  Der  Zweck  der  Vereinigung  und 
ihrer  gemeinsamen  Arbeiten  ist  zunächst  ein  rein  wissenschaftlicher. 
Ihr  Einflufs  aber  auf  das  praktische  Leben  tritt  unverkennbar  hervor 
in  den  internationalen  Schöpfungen  zur  Feststellung  und  Sioherung 
der  metrischen  Mais-  und  Gewichts-Einheiten,  der  elektrischen  Mars- 
einheiten etc.  und  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  praktischen  Geometrie. 
Am  nächsten  ist  naturgemäß  der  Zusammenhang  der  wissenschaft- 
lichen Geodäsie  mit  der  Astronomie,  da  die  Bestimmung  der  mathema- 
tischen Erdoberfläche  durch  die  Verbindung  und  Vergleichung 
geodätischer  und  astronomischer  Ortsbestimmungen  erfolgt. 

Eine  der  folgenreichsten  Entdeckungen  aller  Zeiten  ist  die  Auf- 
findung des  allgemeinen  Gravitations-Gesetzes  duroh  Newton.  Sohon 
in  seinem  23.  Jahre  war  der  große  Naturforscher  auf  den  Gedanken 
gekommen,  dafs  es  dieselbe  Kraft  sein  müsse,  welohe  den  Mond  anstatt 
geradlinig  fortzueilen  zwingt,  um  die  Erde  zu  kreisen,  die  auf  der 
Erde  selbst  die  Gesetze  des  freien  Falls  bedingt  Wirkt  diese  Kraft 
auch  auf  den  Mond,  wie  auf  der  Erde,  im  umgekehrten  quadratischen 
Verhältnifs  der  Entfernung  ein,  so  raufs  das  Gravitations-Gesetz  als 
ein  allgemeingültiges  Naturgesetz  betrachtet  werden,  welches  das  ganze 
Universum  beherrscht  und  die  Bahnen  der  gröfsten  Himmelskörper 
wie  der  kleinsten  Weltteilchen  regelt  Die  mittlere  Entfernung  des 
Mondes  von  der  Erde  beträgt  ca.  60  Erdhalbmesser.  Aus  der  Gröfse 
des  letzteren  und  der  Umlaufszeit  des  Mondes  läfst  sich  sein  Fall 
gegen  die  Erde  in  jeder  Zeit  berechnen,  zunächst  in  Teilen  des  Erd- 
halbmessers, und,  wenn  dieser  seiner  Länge  nach  bekannt  ist,  auch  in 
dem  gleichen  Längenmaße.    Als  Newton  gegen  die  Mitte  des  sieben- 


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zehnten  Jahrhunderts  diese  Berechnung  anstellte,  war  die  Gröfse  der 
Erde  noch  so  wenig  genau  bestimmt,  und  die  Abweichung  des  von 
ihm  mit  dem  unriohtigen  Erdhalbmesser  berechneten  Wertes  von  dem 
den  Fallgesetzen  entsprechenden  Resultate  so  grofs,  dafs  Newton  an 
der  allgemeinen  Gültigkeit  dieses  Gesetzes  zweifelte  und  seinen  Ge- 
danken nioht  weiter  verfolgte.  Erst  15  Jahre  später,  als  er  von  einer 
neueren,  genaueren  französischen  Gradmessung  hörte,  welche,  unter 
Picards  Leitung  ausgeführt,  das  Mars  des  mittleren  Erdradius  wesent- 
lich gröfser  ergeben  hatte,  nahm  er  seine  früheren  Rechnungen  wieder 
auf  und  bemerkte  nun  sehr  bald,  dafs  das  Endergebnis  dem  von  ihm 
ermittelten  Gesetze  entsprechen  würde.  Diese  Bemerkung  versetzte  ihn 
in  eine  solohe  fieberhafte  Aufregung,  dafs  er  nioht  weiter  rechnen 
konnte  und  einen  Freund  bitten  murste,  die  begonnene  Rechnung  zu 
Ende  zu  führen.  Als  ihm  einstmals  sein  Lieblingshund  ein  kostbares 
Manuskript,  die  Frucht  langjähriger  Geistesarbeit,  während  seiner  Ab- 
wesenheit vom  Tische  in  das  Kaminfeuer  gezerrt  hatte,  wo  es  verkohlte, 
strafte  Newton  ihn  nur  mit  den  Worten:  „Wenn  du  wüfstest,  welchen 
Schmerz  du  mir  bereitet  hast".  Wie  weitschauend  mufs  der  Geist 
eines  solchen  Mannes  gewesen  sein,  dafs  die  Erkenntnis,  seine  Ver- 
mutung in  Betreff  des  Gravitations-Gesetzes  bestätigt  zu  sehen,  ihn 
unfähig  machen  konnte,  eine  einfache  Rechnung  zu  Ende  zu  führen, 
welohe  ihm  die  Gewifsheit  verschaffen  mutete!  Aber  in  der  That  ist 
kaum  eine  wissenschaftliche  Entdeckung  folgenreicher  gewesen  als 
diese.  Ruht  dooh  auf  ihr  das  ganze  stolze  Gebäude  der  theoretischen 
Astronomie,  ausgebaut  namentlich  von  dein  grofsen  Geometer  Laplace 
in  seiner  „Mechanik  des  Himmels"  und  weiterhin  immer  mehr  bestätigt 
durch  theoretische  Vorausberechnungen  und  ihnen  entsprechende  Er- 
gebnisse der  verfeinerten  Beobachtungskunst. 

Einen  weitgehenden  Einflute  auf  die  Beobachtungskunst,  nament- 
lich in  der  Astronomie  und  Geodäsie,  hatte  die  Entdeckung  der 
Fehlerausgleichung  nach  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  durch 
den  grofsen  Braunschweiger  Mathematiker  und  Geodäten  Karl 
Friedrich  Gauss.  Diese  Ausgleichungsmethode  dient  allen  Messungen 
der  höheren  und  der  niederen  Geodäsie  in  gleicher  Weise  als  leitende 
Richtschnur,  den  ersteren,  um  mit  den  feinsten  Mitteln  die  genauesten 
Resultate  zu  erzielen,  den  anderen,  um  in  rationeller  Weise,  d.  h. 
mit  zweckentsprechendem  Aufwände  von  Zeit  und  Kosten,  eine  aus- 
reichende Genauigkeit  zu  erreiohen.  Bei  den  feineren  Messungen 
auf  allen  Gebieten  der  Beobachtungskunst,  welohe  auf  wissenschaft- 
liche Genauigkeit  Anspruch  machen,  ist  die  Bestimmung  des  jeweils 


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erreichten  Genauigkeitsgrades  durch  eine  Ausgleichung  und  Fehler- 
berechnung nach  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  ein  als  ganz 
selbstverständlich  betrachtetes  Erfordernis.  Aber  auch  bei  den 
praktischen  Vermessungs-Arbeiten  der  niederen  Geodäsie  gründen 
sich  die  Genauigkeitsanforderungen,  wie  solche  z.  B.  von  Seiten  des 
Staates  in  Bezug  auf  Länge  und  Winkeltnessungen,  Flächeninbalts- 
Erraittelungen  von  Grundstücken  vorgeschrieben  werden,  wesentlich 
auf  das  Gausssche  Ausgleichungs-Verfahren. 

Um  dies  zu  veranschaulichen,  sei  folgendes  bemerkt.  Angenommen, 


ein  und  dasselbe  Grundstück  werde  von  einer  gröfseren  Anzahl  von 
Feldmessern  gemessen,  jedesmal  mit  der  gleichen  Sorgfalt  und  unab- 
hängig von  allen  übrigen.  Stellt  man  dann  die  Resultate  zusammen, 
so  werden  dieselben  infolge  der  unvermeidlichen  Fehler  alle  etwas 
von  einander  abweichen.  Das  arithmetische  Mittel  ist  hier  der  wahr- 
scheinlichste Wert,  da  alle  Messungen  unter  denselben  Umstünden 
und  mit  gleicher  Sorgfalt  ausgeführt  wurden  und  somit  als  gleich- 
wertig zu  betrachten  sind.  Die  einzelnen  Werte  selbst  werden  mehr 
oder  weniger  von  dem  Mittel  abweichen,  teils  nach  der  einen,  teils 
nach  der  anderen  Seite;  aus  allen  Abweichungen  zusammengenommen 
wird  man  aber  eine  mittlere  Abweichung  oder  einen  mittleren 


Karl  Friedrich  Oanu. 


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8 

Fehler  ableiten  können,  der  dann  für  diese  Art  Messung  charakteristisch 
ist  in  der  Art,  dafs,  wenn  dieselben  Feldmesser  unter  analogen  Ver- 
hältnissen ein  anderes  Grundstück  in  gleicherweise  aufnehmen,  auch 
der  mittlere  Fehler  sehr  nahe  derselbe  werden  mutete,  wenn  auch 
die  Einzel-Abweichuugen  wieder  sehr  verschieden  ausfallen.  Sehr 
grotee  Fehler  werden  nur  verhältnismäteig  selten  vorkommen  und  um 
so  seltener,  je  gröfser  sie  sind.  Die  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
lehrt  nun,  in  welchem  Verhältnis  die  Häufigkeit  des  Fehler-Vor- 
kommens durch  die  Gröfso  der  Fehler  im  Vergleich  zum  mittleren 
Fehler  bedingt  wird.  So  ist  z.  B.  die  Wahrscheinlichkeit,  dafs  ein 
Fehler  vorkommt,  welcher  den  4 fachen  Betrag  des  mittleren  Fehlers 
erreicht,  noch  nicht  Vtooo  '■>  m'*  anderen  Worten,  wenn  in  obigem  Bei- 
spiele 1000  Feldmesser  das  Grundstück  messen,  oder,  was  auf  das 
Gleiche  hinausläuft,  wenn  ein  Feldmesser  1000  Grundstücke  mit 
gleicher  Sorgfalt  mifst,  so  wird  unter  allon  diesen  Messungsresultaten 
noch  nicht  ein  einziges  sein,  welches  um  den  4  fachen  Betrag  des 
mittleren  Fehlers  unsicher  oder  unrichtig  sein  kann.  Der  Staat 
wird  daher  seinen  Feldmessern  mit  Recht  vorschreiben  dürfen,  dafs 
ein  solcher  Fehler  unstatthaft  ist,  und  dafs  die  betreffende  Aufnahme 
als  ungültig  angesehen  und  neu  gemacht  werden  mute,  wenn  dieses 
Mate  dooh  einmal  erreicht  oder  gar  überschritten  werden  sollte.  So 
wie  man  hiernach  aus  vielfach  wiederholten  Vermessungen  für  ein 
Grundstück  einen  mittleren  Messungsfehler  für  diese  Art  Aufnahme 
herzuleiten  vermag,  so  kann  man  dies  naturgemäte  auf  analogem 
Wege  auch  für  andere  Arten  von  Messungen  und  Aufnahmen  aus- 
führen und  in  solcher  Weise  „rationelle*  Genauigkeits- Vorschriften 
für  das  gesamte  staatliche  Vermessungswesen  festsetzen.  Was  aber 
für  die  einfachen  Messungen  der  niederen  Geodäsie  angeführt  wurde, 
gilt  in  weit  höherem  Grade  von  den  feineren  Messungen  und  ver- 
wickeiteren Bestimmungen  der  höheren  Geodäsie,  indem  die  Aus- 
gleichung und  Fehlerberechnung  nach  der  Methode  der  kleinsten 
Quadrate  dort  zugleich  lehrt,  wie  die  Beobachtungen  anzuordnen  und 
zu  modifizieren  sind,  um  Fehlerquellen  thunlichst  zu  vermeiden  und 
so  die  genauesten  Resultate  zu  erzielen. 

In  beiden  Fällen  wurde  ein  rationolles  Vorgehen  beiden  vor- 
zunehmenden Vermessungsarbeiten  erst  durch  die  Gausssche  Methode 
der  Ausgleichung  und  Fehlerberechnung  ermöglicht. 

Das  gesamte  Anwendungsgebiet  der  Geodäsie  oder  praktischen 
Geometrie  ist  ein  sehr  umfangreiches  und  vielseitiges,  wie  solches 
schon  bei  der  bloteen  Aufzählung  derjenigen  Institute  erhellt,  an 


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denen  sie  gelehrt  wird.  Die  höhere  Geodäsie  hat  ihre  Vertreter  vor- 
nehmlich an  den  Universitäten,  die  Geodäsie  für  technische  Arbeiten 
an  den  technischen  Hochschulen,  das  Vermessungswesen  für  wirt- 
schaftliche Zweoke,  Kataster,  Zusammenlegungen  etc.  an  den  land- 
wirtschaftlichen Akademien  und  Hochschulen,  dasjenige  für  Forst- 
wesen an  den  Forstakademien,  die  Markscheidekunst  wird  an  den 
Bergakademien  gelehrt,  das  nautische  Vermessungswesen  und  die  mili- 
tärische Topographie  an  den  Marine-  und  Kriegsakademien;  die  Geo- 
graphie endlich  verwertet  die  geodätisch-topographischen  Aufnahmen, 
und  Karten  der  Forschungsreisenden  und  der  Generalstäbe  etc.  zur 
Herstellung  geographischer  Karten  durch  Projicierung  von  Teilen  der 
Erdoberfläche  auf  ebene  oder  in  eine  Ebene  abwickelbare  Flächen. 
Entsprechend  diesen  verschiedenen  Lehr-  und  Anwendungsgebieten 
der  praktischen  Geometrie  ist  ihre  Verwertung  für  wissenschaftliche 
und  praktische  Zwecke  eine  sehr  mannigfaltige  und  vielseitige. 

Das  Ziel  der  höheren  Geodäsie  bildet  in  erster  Linie  die  wissen- 
schaftliche Erforschung  der  wahren  mathematischen  Erdoberfläche,  der 
sogen.  „Geoid "-Fläche  mit  allen  ihren  Einzelheiten  und  Unregelmäßig- 
keiten. Absolut  genommen,  sind  diese  Abweichungen  gegenüber  der 
Fläche  eines  der  Erde  gleich  grofsen  Rotations-Ellipsoides  nur  ge- 
ring; sie  betragen  in  maximo  einige  hundert  Meter,  um  welche  die 
wahre  mathematische  Erdoberfläche  infolge  der  Massenanziehung 
innerhalb  der  Kontinente  über,  in  den  Ozeanen  aber  unter  jener  ge- 
dacht werden  mufs.  Für  alle  praktischen  Zwecke  genügt  daher  die 
Betrachtung  des  Geoides  in  erster  Näherung  als  Rotationsellipsoid, 
selbst  bei  Vermessung  und  Darstellung  der  gröfsten  Länder  und  Ge- 
biete. Die  Halbaxen  dieses  „Referenz"-Ellipsoides  haben  eine  Länge 
von  6378  km  und  6357  km,  unterscheiden  sich  somit  um  21  km.  Für 
mancherlei  geodätische  Arbeiten  und  kartographische  Darstellungen 
kann  man  einen  Schritt  weiter  gehen  und  die  mathematische  Gestalt 
einfaoh  als  kugelförmig  betrachten.  Man  nimmt  dann  als  Kugel- 
Radius,  wenn  nur  ein  bestimmtes  Stück  der  Erdoberfläche  in  Betracht 
kommt,  den  mittleren  Krümmungsradius  dieses  Teiles  und  für  die  Erde 
als  Ganzes  das  Mittel  der  Halbaxen,  welches  sich  um  nicht  mehr  als 
10  km  von  ihrem  wahren  Werte  entfernen  kann.  Bei  Annahme 
eines  mittleren  Krümmungsradius  für  ein  mäfsig  großes  Teilstück 
der  Erdoberfläche  kann  man  diesen  Radius  der  wahren  Krümmung 
derselben  anpassen. 

Kommen  nur  Gebiete  von  verhältnismäfsig  geringer  Ausdehnung 
für  die  Vermessung  bezw.  Darstellung  in  Betracht,  so  kann  die  Erd- 


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Oberfläche  direkt  als  Ebene  behandelt  werden,  denn  die  Abweichung 
derselben  von  einer  sie  im  Mittelpunkte  des  Vermessungsgebietes  be- 
rührenden Kugelfläche  kann  dann  für  viele  Zwecke  unboschadet  der 
zu  erreichenden  Genauigkeit  gänzlich  vernachlässigt  werden.  Dies  ist 
namentlich  bei  allen  Vermessungen  und  Plandarstellungen  für  wirt- 
schaftliche und  technische  Zwecke  der  Fall  und  gewährt  hier  eine 
grofse  Vereinfachung  und  Erleichterung.  Angenommen  z.  B.,  die  Ent- 
fernung eines  Punktes  vom  Berührungspunkte  der  Ebene  mit  der 
Kugelfläche  betrage  50  km,  so  beträgt  dort  der  Abstand  der  Ebene 
von  einer  Kugel  mit  dem  mittleren  Krümmungsradius  der  Erde  rund 
200  m.  Die  Gröfse  der  Kugelfläche  wird  daher  soweit  nahe  überein- 
stimmen mit  der  sie  berührenden  Ebene  und  die  Projektion  der  einen 
auf  die  andere  sioh  nur  unwesentlich  von  dem  projicierten  Flächen- 
stücke selbst  unterscheiden.  Der  Abstand  der  Ebene  von  der  sie  be- 
rührenden Kugel  wächst  mit  dem  Quadrate  der  Entfernung  vom  Be- 
rührungspunkte, beträgt  daher  bei  500  km  Entfernung  bereits  20  km. 
Das  deutsche  Reich  hat  rund  1000  km  Ausdehnung  zwischen  seinen 
äufsersten  Grenzen.  Hier  wird  die  Abweichung  der  Kugelfläche  von 
einer  sie  im  mittleren  Deutschland  berührenden  Ebene  zu  grofs,  um 
bei  kartographischen  Arbeiten  ohne  weitores  vernachlässigt  werden 
zu  können.  Die  einzelnen  Mefstischblätter  des  Preufsischen  General- 
stabes umfassen  rund  2  Quadratmeilen.  Jedes  für  sich  kann  nooh 
als  eine  Ebene  behandelt  werden,  welche  in  der  Blattmitte  die  Erd- 
kugel berührt  Diese  Kartenblätter  lassen  sich  in  ihrer  Gesamtheit 
nicht  in  einer  Ebene  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  zusammenfügen  und 
ausbreiten,  was  in  der  ganzen  Ausdehnung  des  Preufsischen  Staates 
ja  auch  nicht  erforderlich  ist;  doch  beim  Zusammenfügen  einer  ge- 
ringen Anzahl  wird  noch  kein  durch  diese  sogen.  „Polyeder- Projek- 
tion" bedingter  Unterschied  bemerkbar.  Wie  weit  man  die  Erde  als 
ebene  Fläche  betrachten  und  behandeln  darf,  hängt  von  der  Natur 
der  Aufgabe  ab.  In  der  gesamten  „niederen"  Geodäsie  genügt  diese 
Näherung  fast  ohne  Ausnahme  in  Bezug  auf  die  Horizontal-Projektion. 
Für  die  Bestimmung  der  Höhenunterschiede  wird  die  mathematische 
Erdoberfläche  meist  als  kugelförmig  betrachtet  werden  müssen. 

Was  zunächst  die  Bestimmung  der  wahren  mathematischen  Erd- 
oberfläche, d.  h.  der  Gröfse  und  Form  des  Geoides  betrifft,  so  hat 
sich,  wie  bereits  bemerkt  wurde,  die  genauere  Erforschung  derselben 
die  „internationale  Erdmessung",  eine  wissenschaftliche  Vereinigung 
fast  aller  Kulturstaaten,  zur  Aufgabe  gestellt.  Wenn  man  die  geo- 
graphische Lage  zweier  Punkte  der  Erdoberfläche  nach  Länge  und 


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Breite  auf  astronomischem  Wege  bestimmt,  und  dann  auch  durch  geo- 
dätische Messungen  die  Länge  ihrer  Verbindungslinie,  sowie  die  Rich- 
tung derselben  gegen  den  Meridian  ermittelt,  so  kann  man,  unter  der 
Voraussetzung,  dafs  die  Erde  ein  Rotationsellipsoid  von  gegebenen 
Dimensionen  ist,  aus  geographischer  Länge  und  Breite  des  einen 
Punktes  mit  Hilfe  der  gemessenen  Länge  und  des  Azimuthes  ihrer 
Verbindungslinie  auch  die  geographische  Breite  und  Länge  des  anderen 
Punktes  berechnen.  Die  so  berechneten  Werte  zeigen  gegen  die  auf 
astronomischem  Wege  direkt  bestimmten  Gröfsen  bald  kleinere,  bald 
gröTsere  Abweichungen,  je  nachdem  die  wahre,  mathematische  Erd- 
oberfläche weniger  oder  mehr  von  der  für  dieselbe  angenommenen 
Fläche  des  Rotationsellipsoides  abweicht  Diese  Unterschiede  bezeich- 
net man  als  „Lotabweichungen"  oder  „Lotablenkungen".  Ihre  Be- 
stimmung an  thunlichst  vielen  Punkten  gewährt  offenbar  die  Möglich- 
keit, zu  beurteilen,  ob  die  wahre  mathematische  Erdoberfläche  mit  der 
angenommenen  Ellipsoidfläche  zusammenfällt  oder  nicht.  Ist  letzteres 
der  Fall,  so  giebt  die  Gröfse  der  Lotabweichungen  zugleich  die  Neigung 
des  wahren  Horizontes,  d.  h.  der  wahren  Eroberfläche  gegen  die 
Ellipsoidfläche  an.  Aus  diesen  Neigungsunterschieden  läfst  sioh 
dann  weiter  berechnen,  wie  viel  der  wahre  Horizont  oder  die  Niveau- 
fläche des  Geoides  über  oder  unter  die  Ellipsoidfläche  sich  erhebt  oder 
senkt,  wenn  man  von  einem  Punkte  zum  anderen  weiter  geht  und 
so  fort. 

Mit  der  Erforschung  der  mathematischen  Erdgestalt,  welche  vor- 
nehmlich in  einer  immer  mehr  ins  einzelne  getriebenen  Vergleichung 
astronomischer  und  geodätischer  Ortsbestimmungen  auf  der  Erde  be- 
steht, wird  naturgemäfs  auch  die  GröTse  und  Gestalt  desjenigen  Erd- 
ellipsoides  bestimmt,  welches  der  wahren  Erdform  am  nächsten  kommt. 
Diese  liefert  in  erster  Linie  die  Grundlage  für  alle  Landesaufnahmen 
und  Landkarten,  die  im  allgemeinen  Staats-Interesse  unternommen  und 
ausgeführt  werden. 

Hervorgegangen  sind  dieselben  ursprünglich  aus  dorn  Bedürfnisse 
des  Staates,  einerseits  für  die  Grundsteuer-Veranlagung  einen  ge- 
naueren Anhalt  zu  gewinnen  durch  Bestimmung  des  Flächeninhalts 
der  zu  besteuernden  Grundstücke,  andererseits,  um  im  militärischen 
Interesse  sioh  bei  der  Kriegführung  möglichst  rasch  und  sicher  im 
Lande  zurechtfinden  zu  können.  Die  zunehmenden  Fortschritte  auf 
wirtschaftlichem  und  technischem  Gebiete,  die  gewaltige  Ausdehnung, 
welche  der  Verkehr  der  verschiedenen  Länder  unter  einander  ange- 
nommen hat,  führten  naturgemäfs  dazu,  jene  einseitige  Unterscheidung 


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und  Zweckbestimmung  mehr  und  mehr  fallen  zu  lassen  und  zu  ver- 
wisohen.  Die  Kataster-Aufnahmen  dienen  infolge  dessen  nicht  nur 
Grundsteuer-Zwecken,  sondern  vornehmlich  auch  der  Sicherung  des 
Qrundeigentums  und  seiner  Verwertbarkeit,  d.  h.  dem  Realkredit.  An 
sie  schlössen  sich  die  Aufnahmen  und  Vermessungen  für  Ab- 
lösungen, Verkoppelungen,  Separationen,  denen  die  Landwirtschaft 
zum  grofsen  Teil  ihre  rasohe  Entwicklung  verdankt,  und  die  mit  dem 
Kataster  meist  in  enger  Beziehung  stehen;  ferner  die  Vermessungen 
für  forstliche  Zwecke  zur  rationellen  Waldkultur,  die  Stadtvermessungen, 
die  Aufnahmen  für  Eisenbahn-,  Kanal-  und  Wegebauten  u.  dergl. 
Andererseits  dienen  die  militär-topographischen  Karten  nunmehr  viel- 
fach auch  zu  Vorstudien  und  generellen  Projekten  für  technische  und 
industrielle  Unternehmungen  und  werden  aufserdem  verwertet  für 
angewandte  Karten  aller  Art,  agronomische  und  geologische,  kommer- 
zielle und  statistische,  geographische  und  touristische  Spezialkarten  etc. 
Es  wuchs  nach  und  nach  die  Bedeutung  und  Ausdehnung  der  Landes- 
aufnahmen und  der  Landeskartographie  in  solohem  Mafse,  dafs  man 
um  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts  die  Frage  aufwarf  und  eingehender 
erwog,  ob  es  nicht  rationell  sei,  um  möglichst  vielen  Bedürfnissen 
einheitlich  und  gleichzeitig  mit  geringstem  Kostenaufwand  gerecht  zu 
werden,  ein  Land  ein  für  allemal  genau  zu  vermessen  und  auch  karto- 
graphisch darzustellen,  dafs  thun liehst  allen  Anforderungen  Genüge 
geschehe  und  weitere  Vermessungsarbeiten  unnötig  würden.  Die  Ant- 
wort auf  diese  Frago  lautete:  Bis  zu  einem  gewissen  Grade,  ja!  Warum 
nicht  vollständig?  Aus  dem  gleichen  Grunde  nicht,  aus  welchem  man 
mit  Landstrafse,  Post  und  Segelschiff  etc.  sich  nicht  begnügte,  sondern 
Eisenbahnen,  Dampfschiffe  und  Telegraphenlinien  etc.  hinzubaute. 
Immer  werden  kommende  Zeiten  und  Generationen  wieder  höhere  An- 
forderungen stellen,  und  unsere  jetzigen  Arbeiten  werden  dann,  aber 
auch  nur  dann  Aussicht  auf  länger  dauernde  Brauchbarkeit  haben, 
wenn  sie  so  genau,  wie  den  Umständen  nach  möglich,  ausgeführt 
werden. 

Dies  richtig  erkannt  zu  haben,  ist  eine  Errungenschaft  der  Neu- 
zeit. Sie  führte  zu  der  Forderung,  das  staatliche  Vermessungsweseu 
so  einheitlich  und  zweckentsprechend  zu  organisieren,  dafs  einmal  alle 
unnützen  Doppelarbeiten  vermieden,  andererseits  aber  dio  zu  machen- 
den Aufnahmen  mit  solcher  Sorgfalt  und  Genauigkeit  ausgeführt 
werden,  dafs  sie  thunlichst  bleibenden  Wert  besitzen. 

Kein  Geringerer  als  der  Begründer  der  internationalen  Erd- 
messung, der  preufsische  General  Bayer,  war  es,  welcher  um  die 


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Mitte  des  Jahrhunderts  die  Forderung  aussprach  und  verfocht:  „Eine 
gute  Landesaufnahme  soll  alle  Anforderungen  so  viel  als  möglich  und 
auf  eine  lange  Reihe  von  Jahren  befriedigen."  Um  dies  zu  erreiohen, 
sollte  das  gesamte  staatliche  Vermessungswesen  unter  eine  Centrai- 
Behörde  gestellt  und  unter  deren  Leitung  die  nötigen  Neuaufnahmen 
so  genau  wie  möglioh  ausgeführt  werden.  Der  Gesamtbetrieb  der 
letzteren  umfaßte  nach  seinem  Plane  unter  einheitlicher  Direktion 
mehrere  verschiedene  Abteilungen,  welche  der  Reihe  nach  die  grund- 
legenden Arbeiten,  die  Detailvermessungen,  die  topographischen  Auf- 
nahmen und  die  Landeskartographie  zu  besorgen  hatten,  und  zwar  in 
der  Art,  dafs  jedes  folgende  Arbeitsstadium  sich  an  das  vorhergehende 
unmittelbar  anschlofs,  die  Klein-Triangulation  an  die  Haupt-Triangulation, 
die  Klein-Nivellements  an  die  Haupt-Nivellements,  die  Parzellen- Ver- 
messung an  die  Dreiecksseiten  letzter  Ordnung  u.  s.  w.,  während  die 
Topographie  und  Kartographie  des  ganzen  Staates  für  militärische 
wie  für  civile  Zwecke  sich  auf  die  in  grofsem  Marsstabe  aufge- 
nommenen und  aufgetragenen  Detailvermessungen  und  Nivellierungen 
aufbaute.  Die  Bayerschen  Vorschläge  bezogen  sich  zunächst  und 
direkt  nur  auf  die  Neugestaltung  des  Vermessungswesens  in  Preußen, 
und  wenn  er  auch  nioht  vollständig  mit  denselben  durchdringen 
konnte,  so  wurde  doch  allgemein  als  richtig  und  notwendig  anerkannt, 
dafs  die  grundlegenden  Arbeiten,  d.  h.  Dreiecksmessungen  und 
Nivellements  seinen  Forderungen  entsprechend  als  einheitliche  Grund- 
lage aller  staatlichen  Vermessungen  so  genau  wie  möglich  auszu- 
führen sind.  Die  Militär-Topographie  hingegen  glaubte  man  nioht  auf 
die  in  grofsem  Marsstabe  aufgetragenen  Detailaufnahmen  aufbauen, 
sondern  gesondert  für  sich  behandeln  zu  sollen,  um  den  ihr  zu- 
geschriebenen besonderen  Charakter  zu  wahren.  Die  hervorragendsten 
Militär-Topographen  der  damaligen  Zeit  vertraten  sehr  entschieden  die 
Ansicht,  die  topographischen  Karten  müßten  durch  direkte  Aufnahme 
für  sich  wie  aus  einem  Gusse  hergestellt  werden,  und  auch  heute  gilt 
dies  auf  militärischer  Seite  vielfach  noch  als  Axiom.  Die  neueren 
Erfahrungen  sprechen  aber  mehr  und  mehr  zu  Gunsten  der  Bayer- 
schen Auffassung  einer  durchaus  einheitlichen  Gestaltung  des  ge- 
samten staatlichen  Verraessungswesens,  einschliefslich  der  Topographie, 
worauf  wir  später  eingehender  zurückkommen  werden. 

Auf  Grund  der  Bayerschen  Vorschläge  wurde  in  Preufsen  im 
Jahre  1862  eine  Kommission,  bestehend  aus  Vertretern  sämtlicher 
Ministerien,  zusammeuberufen,  um  über  ein«  Neuorganisation  des  Ver- 
messungswesens im  Preußischen  Staate  zu  beraten.    Dieselbe  sprach 


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sich  dahin  aus,  dafs  zur  Gewinnung  einer  einheitlichen  Grundlage  für 
die  staatlichen  Vermessungsarbeiten  in  erster  Linie  die  Ausführung 
einer  umfassenden  Triangulation  geboten  erscheine.  Die  trigono- 
metrische Abteilung  des  Generalstabes,  welche  bis  dahin  der  Haupt- 
sache nach,  nur  für  militärische  Zwecke  gearbeitet  hatte,  wurde  infolge 
dessen  zu  einem  Bureau  der  Landestriangulation  erweitert,  mit  der 
Aufgabe,  das  ganze  Land  mit  einem  Netze  von  Dreiecken  zu  über- 
spannen, als  Grundlage  nicht  nur  für  die  topographischen  Aufnahmen, 
sondern  auch  für  das  gesamte  Civil- Vermessungswesen,  dessen  einzelne 
Zweige  seither  getrennt  von  einander,  jeder  nur  für  seine  speziellen 
Zwecke,  Vermessungen  und  Aufnahmen  hatten  ausführen  lassen,  natur- 
gemäß nicht  ohne  vielfache  Doppelarbeiten  und  dadurch  verursachte 
unnütze  Ausgaben.  Im  Jahre  1869  wurde  dann  von  der  vorge- 
nannten Kommission  ein  Statut  ausgearbeitet  für  ein  „Centrai- 
Direktorium  der  Vermessungen  im  Preußischen  Staate",  welches  mit 
der  einheitlichen  Leitung  des  gesamten  staatlichen  Vermessungswesens 
in  Preufson  beauftragt  werden  sollte.  Dieses  „Centrai-Direktorium" 
begann  seine  Thätigkeit  im  Jahre  1872. 

Dasselbe  besteht  aus  dem  Chef  des  Generalstabes  der  Armee 
als  Vorsitzendem  und  den  Kommissaren  der  einzelnen  Ministerien  als 
Beisitzern.    Seine  Aufgabe  ist: 

1.  Die  allen  staatlichen  Vermessungen  als  Grundlage  dienende 
Landestriangulation  etc.  zu  leiten  und  zu  überwachen. 

2.  Dafür  Sorge  zu  tragen,  dafs  bei  den  Vermessungen  der  ver- 
schiedenen Behörden  Doppelarboiten  vermieden  und  gleichartige 
Arbeiten  verschmolzen  werden. 

3.  Die  bei  den  Vermessungs-  und  Kartenarbeiten  des  Staates  zu 
Grunde  gelegten  Verfahren  zu  prüfen,  inwiefern  sie  der  fort- 
schreitenden Wissenschaft,  der  gesteigerton  Technik  und  den 
wachsenden  Ansprüchen  des  wirtschaftlichen  Bedürfnisses  ent- 
sprechen; es  soll  das  Direktorium  den  Ausgloich  vermitteln 
zwischen  diesen  Anforderungen,  den  verfügbaren  Mitteln  und  der 
gegebenen  Zeit. 

Drei  Jahre  nach  seiner  Gründung  schuf  das  Centrai-Direktorium 
die  gegenwärtige  Organisation  dor  Königlich  Preufsischen 
Landesaufnahme,  welche  als  Abteilung  des  Generalstabes  die 
trigonometrischen,  topographischen  und  kartographischen  Arbeiten  aus- 
zuführen hat  Während  aber  die  beiden  letztgenannten  Aufnahmen 
und  Darstellungen  vorwiogend  im  militärischen  Interesse  erfolgen, 
vollführt  die  trigonometrische  Abteilung  zur  Herstellung  einer  ge- 


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tntMnsamen  Grundlage  für  alle  Militär-  und  Civil-Vermessungen  in 
Preufsen,  sowie  in  den  mit  ihm  in  Militärkonvention  verbundenen 
anderen  Staaten  Deutschlands  die  Landestriangulation  mit  den 
nötigen  Basismessungen  und  die  Präzisionsnivellements, 
wofür  ihm  im  Reiohs-Militär-Budget  die  erforderlichen  Mittel  ausge- 
worfen sind. 

Diese  allgemein  als  grundlegend  betrachteten  geodätischen  Ar- 
beiten der  Landesaufnahme  stehen  meist  in  innigem  Zusammenhange 
mit  den  Erdmessungsarbeiten  und  bilden  integrierende  Teile  derselben. 
An  diese  grundlegenden  Arbeiten  werden  dann  weiter  die  Detail- 
Vermessungen  und  Aufnahmen  angeschlossen,  welche  für  die  ver- 
schiedenen behördlichen  und  privaten  Zwecke,  Kataster,  Separationen, 
Forsten  etc.,  industrielle  Anlagen,  Eisenbahn-  und  Kanalbauten  u.  dergl. 
erforderlich  sind.  Analoge  Einrichtungen  zur  einheitlichen  Ge- 
staltung des  Vermessungswesens  sind  auch  in  anderen  Staaten  ge- 
troffen worden. 

Die  topographische  Aufnahrae  und  Kartographie,  welche  ur- 
sprünglich ausschliefsiich  von  militärischer  Seite  besorgt  wurde,  liegt 
auch  jetzt  noch  vorwiegend  in  den  Händen  des  Generalstabes  der 
betreffenden  Länder,  dooh  werden  in  neuerer  Zeit  in  einigen  Staaten, 
namentlich  Süd-Deutschlands,  auch  von  Civil-Behörden  topographische 
Karten  hergestellt,  und  zwar  unter  vorteilhafter  Verwertung  der  für 
allgemeine  Staatszwecke  ausgeführten  Detail-Vermessung  im  Sinne  der 
Bay ersehen  Entwürfe. 

Betrachten  wir  nun  die  einzelnen  Vermessungsarbeiton  etwas 
genauer. 

Die  Triangulierungsarbeiten. 

Die  Grundlagen  jeder  rationellen  Landesvermessung  bilden  ein- 
zelne gleichmäßig  über  das  ganze  Gebiet  verteilte  feste  Punkte, 
welche  als  Marksteine  für  alle  weiteren  Aufnahmen  dienen.  Sie  werden 
gegeneinander  festgelegt  als  Eckpunkte  ausgedehnter  Dreiecksnetze, 
die  in  weitmaschiger  Form  das  Land  überspannen.  Die  größte  Aus- 
dehnung hat  das  Dreiecksnetz  der  internationalen  Erd- 
messung, welches  sich  über  ganz  Europa  erstreckt,  im  Osten  weit 
nach  Asien  sich  hineinzieht  und  im  Süden  von  Italien  und 
Spanien  aus  nach  Afrika  hinübergreift.  (Siehe  Titelblatt).  An 
diesen  Stellen  ist  die  Länge  der  Dreiecksseiten,  welche  im  Mittel 
etwa  60  km  beträgt,  bedeutend  größer;  sie  steigt  dort  bis  zu  200 
und  300  km.    Im  Kaukasus  und  im  Himalaja  kommen  Dreieckseiten 


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sogar  bis  zu  400  km  Länge  vor,  d.  h.  Abstände  der  einzelnen 
Dreieckspunkte,  welche  beinahe  ebenso  grofs  sind  wie  die  Entfernung 
der  Ost-  und  Westgrenze  des  deutschen  Reiches  von  seiner  Mitte. 
Dreieckspunkte  auf  solche  Entfernungen  sichtbar  zu  machen,  war  vor 
der  Erfindung  des  Heliotropen  durch  Gauss  kaum  möglich.  Man 
baute  gewaltige  Türme  oder  Signalgerüste,  wie  sie  jetzt  noch  bis- 
weilen im  Hochwaldo  notwendig  werden,  um  über  die  Baumwipfel 
weg  eine  freie  Aussicht  zu  gewinnen,  aber  man  konnte  sie  auf  solch 
grofse  Entfernungen  nicht  mehr  deutlich  genug  erkennen,  um  sie  ge- 
nau anzuvisieren,  selbst  beim  klarsten  Sonnenschein.  Der  Turm  z.  B. 
auf  dem  Brocken  ist  hei  klarem  Wetter  auf  Entfernungen  von  50  bis 


Heliotrop  von  Gaui* 


100  km  im  Fernrohre  noch  zu  erkennen.  Er  hat  einen  Durchmesser 
von  5 — 6  Metern.  Bescheint  ihn  morgens  die  Sonne  von  Osten,  so 
sieht  man  seine  östliche  Seite  heller  beleuchtet  als  die  westliche. 
Nachmittags  wird  dagegen  die  westliche  Seite  beleuchtet  sein  und  die 
östliche  im  Schatten  liegen.  Ein  hellbeleuchteter  Gegenstand  erscheint 
infolge  der  Irradiation  des  Lichtes  immer  gröfser  als  ein  dunkler, 
auch  wenn  beide  in  Wirklichkeit  gleich  grofs  sind.  Man  soll  beim 
Messen  genau  die  Mitte  des  Turmes  anvisieren,  legt  dieselbe  aber  des 
Morgens  infolge  der  einseitigen  Beleuchtung  —  „Phase"  ist  hierfür 
der  technische  Ausdruck  —  zu  weit  nach  Osten,  nachmittags  zu  weit 
nach  Westen.  Das  führt  zu  fehlerhaften  Resultaten,  namentlich  wenn 
die  Entfernung  so  grofs  ist,  dafs  man  den  dunklen  Teil  gar  nicht 
mehr  deutlich  erkennen  kann.  Unter  diesem  Übelstande,  welcher  die 
Genauigkeit  der  Messungen  sehr  beeinträchtigt,  litt  seiner  Zeit  auch 
der  schweizerische  Ingenieur  Denzler,  der  vom  Rigi  aus  den  Turm 
auf  dem  Feldberge  im  Schwarzwalde  beobachtete.  Dieser  Turm  wurde 
im  Jahre  1857  von  den  umliegenden  Amtsbezirken  Schönau,  St.  Blasien 


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und  Freiburg  zur  Erinnerung-  an  die  Vermahlung  des  Grofsherzogs 
Friedrich  von  Baden  mit  der  Prinzessin  Luise  von  Preufsen 
auf  dem  sogenannten  „Höchsten",  dem  höchsten  Punkto  im  Schwarz- 
walde, erbaut.  1859  fand  die  feierliche  Einweihung  statt.  Als  nun 
wenige  Jahre  später  die  Verbindung  der  schweizerischen  und  deutschen 
Dreiecksnetze  bewerkstelligt  werden  sollte,  und  der  Turm  auf  dem 
Feldberge  (Siehe  Fig.)  als  sehr  geeignet  hierzu  ausgewählt  worden 
war,  empfand,  wie  bereits  erwähnt,  der  schweizer  Beobachter  es  sehr 
unangenehm,  dafs  er  je  nach  der  Beleuchtung  des  Turmes  abweichende 
Resultate  erhielt. 


Turm  auf  dem  Feldberge. 


Kurz  entschlossen  reiste  er  zum  Feldberge  und  liefs  den  ganzen 
Turm,  um  eine  gleichmäßigere  Beleuchtung  zu  erzielen,  von  oben  bis 
unten  mit  Teorfarbe  schwarz  anstreichen.  Die  über  diese  Behand- 
lung ihres  Nationaldenkmals  empörten  Badenser  berichteten  sofort 
nach  Karlsruhe  und  verlangten  Abhülfe  sowie  Genugthuung.  Die 
badische  Regierung  beklagte  sich  beim  schweizerischen  Bundesrate, 
der  sich  beeilte  zu  erwidern,  es  sei  das  Anstreichen  des  Turmes  nicht 
in  böser  Absicht  geschehen,  sondern  im  Übereifor  für  die  Wissen- 
schaft; man  wolle  gern  bezahlen,  was  die  Reinigung  des  Turmes 
koste.  Infolge  dessen  zogen  eines  Tages  die  vereinigten  umliegen- 
den Gemeinden  auf  den  Feldberg  und  reinigten  ihren  Turm  mit  Soda, 
Seife  etc.,  worüber  sie  der  Schweiz  eine  Rechnung  von  106  Gulden 

Himmel  und  Erde.  1696.  XI.  I.  2 


18 


süddeutscher  Währung  ausstellten,  incl.  Getränke,  welche  auch  richtig1 
bezahlt  wurden.  Hierdurch  besänftigt,  erlaubten  sie  dorn  Ingenieur 
Don  zier,  wenn  er  nun  wieder  beobachten  müsse,  dem  Turm  einen 
schwarzen  Mantel  anzuziehen,  aber  anstreichen  dürfe  or  ihn  nicht 
mehr.  Durch  Erfindung  und  Benutzung  des  Gaussscben  Heliotropen 
wurde  dies  unnötig  gemacht,  und  als  wir  Ende  der  siebenziger  Jahre  zu 
ähnlichen  Zweoken  ebenfalls  auf  dem  Feldberge  zu  messen  hatten,  haben 
wir  von  dieser  schönen  Erfindung  den  ausgiebigsten  Gebrauch  gemacht 

Wie  man  mit  einem  Spiegel  ein  Sonnenbildchen  an  die  Wand 
wirft,  ist  allgemein  bekannt.  Ebenso,  wie  hell  oft  Fenster  auf  grofse 
Entfernungen  von  der  Sonne  beleuchtet  erscheinen.  Beim  Heliotropen 
wird  das  Sonnenlicht  von  einem  kleinen  Spiegel  in  eine  vorher  ein- 
gestellte Richtung  reflektiert,  und  ein  in  dieser  Richtung  auf  einem 
entfernten  Dreieckspunkte  befindlicher  Beobachter  sieht  dann  das 
Sonnenbildchen  wie  einen  hellen  Stern,  der  sich  natürlich  viel  ge- 
nauer anvisieren  läfst  als  ein  dicker,  dunkler  oder  einseitig  beleuch- 
teter Signalturm.  Das  Einstellen  und  Handhaben  des  Heliotropen, 
—  die  Spiegel  müssen  mit  der  Sonne  gedreht  werden  —  ist  so  ein- 
fach, dafo  es  Gehülfen  wie  Jäger,  Führer,  Soldaten,  Arbeiter  eto.  bald 
erlernen.  Von  dem  Gewinn  an  Genauigkeit  kann  man  sich  einen  un- 
gefähren Begriff  machen,  wenn  man  den  noch  nicht  handbreiten  Spiegel 
mit  einem  mehrere  Meter  dicken  Turme  vorgleicht,  der  zudem  auf 
grofse  Entfernungen  selbst  bei  den  günstigsten  Witterungsverhältnissen 
kaum  noch  wahrnehmbar  ist.  Erst  dio  Erfindung  des  Heliotropen  hat 
Messungen  auf  Entfernungen  von  mehreren  hundert  Kilometern  und 
damit  die  geodätische  Verbindung  von  Afrika  mit  Europa  möglich 
gemacht.  Dies  Instrumentchen  findet  ferner  sehr  nützliche  Verwendung 
zum  Zeichengeben  als  optischer  Telegraph.  Ähnlich  wie  beim  Mörse- 
System  das  ganze  Alphabet  in  kurzen  und  langen  Zeichen  oder  Strichen 
besteht,  kann  man  mit  ihm  Lichtsignale  von  kürzerer  oder  längerer 
Dauer  durch  einfache  Unterbrechung  des  Leuchtens  mit  der  Hand 
oder  einem  beweglichen  Schirme  geben,  und  so  eine  telegraphische 
Verständigung  herbeiführen. 

Das  Aufsuchen  der  am  günstigsten  gelegenen  Dreieckspunkte 
macht  oft  nicht  geringe  Schwierigkeiten,  und  die  Rekognoscierung  des 
Terrains  zur  Auffindung  der  besten  Form  eines  grundlegenden  Drei- 
ecksnetzes ist  namentlich  unter  ungünstiirou  örtlichen  Verhältnissen 
eine  sehr  mühsame  und  aufreibende  Arbeit,  welche  an  die  Kenntnisse, 
den  Überblick  und  die  körperliche  wie  geistige  Leistungsfähigkeit  des 
ausführenden  Technikers  hohe  Anforderungen  stellt.  Von  ihrer  zweck- 


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19 

entsprechenden  Ausführung  hängt  das  Gelingen  der  ganzen  weiteren 
Arbeit  ab,  denn  Vernachlässigungen  und  Fehler  bei  Anlage  des  grund- 
legenden Netzes  lassen  sich  später  nicht  wieder  gut  machen,  und  es 
haben  alle  weiteren  auf  dieselbe  begründeten  Vermessungen  dann  darunter 
zu  leiden.  Am  schwierigsten  gestaltet  sich  eine  solche  Rekognoscierungs- 
arbeit  im  Flachlande  mit  ausgedehnten  Waldungen  und  im  eigentlichen 
Hochgebirge,  in  ersterem  wegen  des  Mangels  an  Übersichtlichkeit, 
in  letzterem  wegen  der  schweren  Zugänglichkeit  seiner  vereisten 
Gipfel  und  Felsspitzen.  Interessant  und  berühmt  geworden  in  dieser 
Hinsioht  ist  namentlich  die  Lüneburger  Haide,  welche  sowohl  der 
ersten  von  französischen  Offizieren  zu  Anfang  des  Jahrhunderts  aus- 
geführten Triangulation,  so  wie  auch  der  für  die  Geodäsie  so  wichtig 
gewordenen  Gauss  sehen  Gradmessung  in  Hannover  derartige 
Schwierigkeiten  in  den  Weg  stellte,  dafs  die  Franzosen  die  Lüne- 
burger Haide  ganz  umgingen,  Gauss  hingegen  sich  mit  ungünstig 
geformten  Dreiecksnetzen  begnügen  mufste.  Erst  der  preufsischen 
Landesaufnahmo  gelang  es,  Mitte  der  achtziger  Jahre  infolge  ihrer 
ausgezeichneten  Organisation  diese  Schwierigkeiten  zu  überwinden 
und  auch  jene  Gegenden  mit  einem  gleichmäfsig  geformten  Dreiecks- 
netze zu  überspannen.  Hauptmann  Gaede,  vom  preufsischen  General- 
stabe, welcher  diese  Rekognoszierung  und  Netzprojektierung  leitete, 
äußert  sich  darüber  in  seinem  Berichte,  wie  folgt:  „Wenn  man  bei 
der  Rekognoszierung  eines  Dreieck ssystems  im  flachen  und  waldigen 
Gelände,  welches  keine  Türme  oder  sonstige  direkt  gegebene  Aus- 
sichtspunkte darbietet,  selbstständig  sehen  will,  so  darf  man  nicht, 
unsicher  im  Finstern  tastend,  am  Boden  bleiben.  Die  Errichtung 
hoher  Rekognoszierungsgerüste  über  die  Bäume  hinaus,  sowohl  zur 
Umschau  als  auch  als  Einstellungsobjekte  zu  vorläufigen  Messungen, 
ist  notwendig  geboten.  Das  kostet  Zeit  und  Geld,  aber  in  solchem 
Gelände  kann  man  überhaupt  nicht  schnell  und  billig  triangulieren, 
und  am  wenigsten  ist  Sparsamkeit  da  angebracht,  wo  es  sich  darum 
handelt,  zunächst  eine  gründliche  und  sichere  Unterlage  für  alle 
weiteren  Entschließungen  zu  gewinnen.  Den  Charakter  eines 
größeren  Landstriches  unter  solchen  Umständen  riohtig  aufzufassen, 
die  hervorragenden  Punkte  herauszufinden,  aus  einem  in  der  geistigen 
Auffassung  immer  mehr  zur  Klarheit  sich  durcharbeitenden  Terrain- 
bilde die  möglichen  Zusammenhänge  der  brauchbaren  Punkte  zu  kombi- 
nieren —  dazu  sind  weniger  tiefe  theoretische  Einsichten  notwendig 
als  vielmehr  praktische  Anstelligkeit  und  Erfahrung,  Urteil  und 
Entschlufsfähigkeit,  körperliche  und  geistige  Versalität,  denn  sonst 


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20 


läuft  man  Gefahr  unter  der  körperlichen  Anstrengung  im  steten 
Kampfe  mit  äufsern  Friktionen  wie  Überwindung  weiter  Räume,  dem 
Abpassen  günstiger  Witterungs-Momente  eto.,  aus  Zweifeln,  Grübeln 
und  Kombinieren  gar  nicht  herauszukommen."  —  Andorer  Art,  aber 
nicht  weniger  angreifend,  sind  die  Rekognoszierungsarbeiten  im  Hoch- 
gebirge. Hier  sind  hervorragende  Gipfel,  welohe  eine  weite  Umschau 
gestatten,  in  reicher  Zahl  vorhanden,  aber  gerade  dieser  Reichtum 
an  brauchbaren  Punkten  macht  die  richtige  Wahl  unter  Berücksichtigung 
aller  Verhältnisse,  —  Besteigbarkeit,  Wind,  Nebelbildung,  Signalbau  etc. 
oft  sehr  schwierig.  Ingenieur  Gelpke,  welcher  viele  Messungen 
für  das  schweizerische  Gradmessungsnetz  ausgeführt  hat  und  der  vor 
wenigen  Jahren  durch  einen  Fehltritt  beim  Abstieg  vom  grofsen 
Mythen  verunglückte,  beschreibt  die  Schwierigkeiten,  auf  höheren  Berg- 
gipfeln gröfsere  und  dabei  hinreichend  regelmäfsigo  und  symmetrische 
Signale  zubauen,  recht  ansohaulich :  „Arbeiten,  wo  dies  nötig  wurde, 
waren  meist  sehr  wichtiger  und  grofsartiger  Natur,  wie  die  eid- 
genössische Triangulation  für  den  Dufour- Atlas  und  die  internationale 
Erdmessung,  und  deshalb  in  die  Hände  der  erfahrensten  Fachleute 
niedergelegt  Diese  meist  schon  älter,  konnten  unmöglich  die  Auf- 
stellung soloher  Signale  selbst  überwachen,  auch  richtige  Maurer  und 
Steinhauer  brachte  man  nicht  auf  die  höheren  Gipfel,  deren  Besteigung 
schwierig  und  gefährlich  ist.  Die  Arbeit  mufste  Führern  und  Jägern 
überlassen  werden.  Wer  nun  schon  selbst  viel  auf  den  Spitzen  der 
hehren  Alpen wolt  gewesen  ist,  der  kennt  ja  aus  Erfahrung,  wie  leicht 
uns  da  oben  nach  einem  mühseligen  Ansteigen  unter  dem  Einflüsse 
der  feineren  Luft  Apathie  und  Schwäoho  besohleicht,  wie  die  gröfste 
Geisteselastizität,  Willenskraft  und  Energie  uns  da  oben  verläfst. 
Nun  soll  noch  naoh  dem  Aufsteigen,  das  an  und  für  sich  eine  Arbeit 
ist,  die  Arbeit  erst  beginnen,  ein  Signal  von  mehreren  Metern  Umfang 
und  Höhe  errichtet,  die  Steine  dazu  erst  gebroohen  werden.  Die  Zeit 
ist  beschränkt,  Nebol  erregen  Befürchtungen  wegen  der  glücklichen 
Heimkehr.  Alle  diese  Faktoren  werden  zu  gröfster  Eile,  zu  einer 
Vollendung  des  Signales  ä  tout  prix  treiben.  Dafe  dabei  die  Genauig- 
keit leiden,  und  man  zufrieden  sein  mufs,  überhaupt  etwas  nur  Brauch- 
bares erzielt  zu  haben,  liegt  auf  der  Handu.  —  Die  schlimmsten  Feinde 
im  Hochgebirge  sind  Nebel  und  Wind,  wie  ich  selbst  bei  Ausführung 
der  Triangulation  am  Gotthard  genugsam  erfahren  habe,  denn  zu  einem 
einzigen  Signale  bin  ich  14  mal  vergeblich  hinaufgestiegen,  weil  bei 
vollständig  klarer  Luft  und  bei  Windstille  im  Thale  der  auf  dem 
Gipfel  wehende  Sturm  jede  Beobachtung  unmöglich  machte. 


* 


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21  

Nachdem  das  grundlegende  Netz  in  6einer  ganzen  Ausdehnung 
bestimmt  und  seine  Eckpunkte  möglichst  dauerhaft  festgelegt  worden 
sind,  geschieht  die  Winkelmessung  auf  den  durch  solide  Granitpfeiler 
versicherten  Dreieckspunkten  erster  Ordnung  mit  der  gröfstmöglichsten 
Genauigkeit,  unter  Benutzung  der  feinsten  Theodolite  und  des  Helio- 
tropenlichtes zu  den  günstigsten  Tageszeiten.  Das  durch  den  Spiegel  des 
letzteren  reflektierte  Sonnenbildchen  erscheint  meist  wegen  ungleicher 
Erwärmung  der  Luftschichten,  welche  die  Liohtstrahlen  passieren 
müssen,  unscharf  begrenzt  und  wie  in  unruhiger  Bewegung  begriffen. 
Bald  nach  Sonnenaufgang  und  namentlich  kurz  vor  Sonnenuntergang 
nimmt  es  aber  die  Form  eines  hellen,  ruhig  leuohtenden  Sternes  an, 
welcher  sich  sehr  genau  einstellen  läfsL  Die  Absehlinie  des  Fern- 
rohrs, welche  durch  den  Mittelpunkt  der  bilderzeugenden  Objektiv- 
linse und  den  Durchschnittspunkt  zweier  im  Okulare  ausgespannter, 
sich  rechtwinkelig  kreuzender  feiner  Fäden  gebildet  wird,  läfst  sich 
infolge  der  Bauart  des  Theodoliten  um  eine  horizontale  und  um  eine 
vertikale  Axe  drehen.  Bei  der  Bewegung  um  die  horizontale  Fern- 
rohraxe  beschreibt  diese  Absehlinie  eine  Vortikalebene;  führt  man 
dieselbe  im  Kreise  herum  durch  Drehen  um  die  vertikale  Instrumenten- 
Axe  und  stellt  sie  nach  einander  auf  die  verschiedenen  Signale  ein, 
so  kann  man  am  Horizontal  kreise  mit  Hülfe  der  Ablesungsmikroskope 
bei  jedem  einzelnen  eingestellten  Dreieckspunkte  genau  den  Wert  der 
Kroisteilung  ablesen,  weloher  der  betreffenden  auf  den  Horizont  der 
Station  projizierten  Dreieoksseite  entspricht.  Die  Differenz  zweier 
solcher  Ablesungen  giebt  somit  unmittelbar  den  Horizontalwinkel, 
d.  h.  den  auf  den  Stationshorizont  projizierten  Winkel,  welchen  die 
beiden  Dreiecksseiten  einschliefsen.  Nimmt  man  die  Erde  als  Ebene 
an,  so  sind  die  Horizonte  der  3  Eckpunkte  eines  Dreiecks  parallele 
Ebenen.  Denkt  man  sich  dieselben,  wenn  sie  ungleiche  Höhe  haben, 
auf  einen  gemeinsamen  Horizont  projiziert,  so  erhält  man  in  diesem 
ein  ebenes  Dreieck;  betrachtet  man  hingegen  die  Erde  als  Kugel  oder 
Ellipsoid,  so  liefert  die  Projektion  auf  eine  gemeinsame  Kugel-  oder 
Ellipsoidfläche  ein  sphärisches  bezw.  ein  sphäroidisches  Dreieck.  Sind 
die  Abweichungen  des  Geoides  von  der  als  Näherung  angenommenen 
gemeinsamen  Projektionsfläche  aber  zu  bedeutend,  um  vernachlässigt 
werden  zu  können,  so  wird  dieses  auch  in  der  Summe  der  3  gemessenen 
Dreieckswinkel  gegenüber  ihrem  theoretisch  zu  berechnenden  Werte, 
d.  h.  in  dem  sogenannten  „Dreiecksabsohlusse*,  sich  als  Wirkung  der 
Lotablenkung  zu  erkennen  geben.  Derartige  Lotabweichungen  kommen 
auf  der  Erde  vielfaoh  vor;  sre  wirkon  im  Gebirge  bei  den  oft  sehr  steilen 


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22 


Visuren  in  viel  stärkerem  Grade  auf  die  Winkelbestimmung  ein,  als  in 
ebenen  Gegenden.  Namentlich  bedeutend  waren  die  Lotablenkungen 
bei  den  schweizerischen  Gradmessungsarbeiten  im  Tessinthale,  wo  die- 
selben bis  zu  rund  20  Bogensekunden  betrugen.  Die  Winkelmessung 
selbst  kann  aber  im  Mittel  aus  mehreren  guten  Einzelbeobachtungen 
mit  einer  Genauigkeit  bis  auf  einzelne  Sekunden  und  Bruchteile  der- 
selben ausgeführt  werden.  Was  das  besagen  will,  kann  man  sich 
veranschaulichen,  wenn  man  den  Faden  eines  Spinngewebes,  weloher 
ein  Zehntel  Millimeter  Dicke  haben  mag,  aus  einer  Entfernung  von 
zwanzig  Metern  betrachtet.  Die  Ricbtungsfestlegung  in  den  Dreiecks- 
netzen erster  Ordnung  ist  dann  so  genau,  dafs  sie  nicht  um  eine  halbe 
Spinnenfadendicke  auf  diese  Entfernung  abweicht.  Eine  solche  Ge- 
nauigkeit der  Winkelbestimmung  ist  aber  nur  bei  Benutzung  der 
besten  Instrumente  und  der  günstigsten  Zeiten  —  Nachtbeobachtungen 
bei  künstlicher  Beleuchtung  führen  zu  annähernd  gleicher  Genauig- 
keit —  von  geübten  Beobachtern  zu  erreichen.  Sie  wird  in  allon 
Haupt-Dreiecksnetzen  erster  Ordnung  angestrebt,  gleichviel,  ob  die- 
selben den  Zwecken  der  internationalen  Erdmessung  oder  einer 
speziellen  Landesaufnahme,  oder  —  was  vielfach  der  Fall  ist  — 
beiden  als  Grundlage  dienen  sollen.  Das  Dreiecksnetz  erster  Ordnung 
der  Königlich  Preufsischen  Landesaufnahme  (Siehe  Titelblatt)  besteht 
aus  mehreren  in  sich  geschlossenen  und  unter  sich  zusammen- 
hängenden Dreiecksketten,  welche  den  festen  Rahmen  für  die  zwischen 
sie  weiter  einzuschaltenden  Dreieckspunkte  und  Füllnetze  bilden. 
Der  Zeit  nach  wurde  es  im  Osten  des  Königreiches  begonnen  und 
immer  weiter  nach  Westen  vorgeschoben.  Dementsprechend  wird  die 
Form  der  Dreiecke  beim  Fortschreiten  in  der  gleichen  Richtung  eine 
immer  regelmäfsigere  und  günstigere. 

Nimmt  man  dio  Genauigkeit  der  Richtungsbesümmung  in  eiuem 
Dreiecksnetze  erster  Ordnung,  wie  oben  angegeben,  zu  0,5  Bogen- 
sekundon  an,  so  entspricht  bei  50  km  Seitenlänge  bezw.  Entfernung 
der  Dreieckspunkte  dieser  Winkelabweichung  eine  Querverschiebung 
in  Länge  von  etwas  mehr  als  einem  Decimetor.  Bei  geringerer  Seiten- 
länge wird  die  derselben  Winkelabweicbung  entsprechende  Querver- 
sohiebung  entsprechend  kleiner,  um  so  mehr,  je  kleiner  der  Abstand  der 
benachbarten  Dreieckspunkte  ist  Dieselbe  Genauigkeit  der  Winkel- 
messung braucht  somit  nicht  durch  die  Füllnetze  und  für  die  Punkte 
niederer  Ordnung  beibehalten  zu  werden,  um  vor  gröfeeren  Quer- 
verschiebungen sicher  zu  sein,  sondern  man  wird  dieselbe  zugleich 
mit  der  Entfernung  der  Dreieckspunkte  entsprechend  abnehmen  lassen 


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23 


dürfen  und  dooh  eino  hinreichend  grofse  und  gleichmäfsige  Genauig- 
keit der  ganzen  Arbeit  erzielen  können,  wenn  man  nur  einer  ein- 
seitigen Anhäufung  der  Beobachtungsfehler  vorbeugt  Dies  wird  bei 
den  Triangulationsarbeiten  auf  systematischem  Wege  durch  das 
„Arbeiten  vom  Orofsen  ins  Kleine"  erzielt,  indem  jedes  Netz  höherer 
Ordnung  den  festen  und  unveränderlichen  Rahmen  bildet  für  alle  in 
dasselbe  einzuschaltenden  Netze  niederer  Ordnung.  Die  grundlegenden 
Dreiecksketten  haben  im  Mittel  Seiten  von  40  km  Länge.  Die  in 
diese  eingeschalteten  Zwischenpunkte  und  Füllnetze  ebenfalls  erster 
Ordnung  allmählich  geringer  werdende  Abstände  bis  zu  20  km  Länge 
und  so  fort  Diese  Gliederung,  bei  welcher  das  Netz  erster  Ordnung 
in  grofsen  Maschen  das  Land  überzieht  und  als  feste  Grundlage 
für  ein  Netz  zwoiter  Ordnung  dient,  dem  sich  eine  dritte  und  vierte 
Ordnung  in  analoger  Weise  anreihen,  ermöglicht  eine  wissenschaftlich 
und  zugleich  praktisch  genügende  Behandlung  des  Beobaohtungs- 
raaterials. 

Die  grundlegenden  Dreiecksnetze  I.— III.  Ordnung  werden  in 
Preufsen  und  in  den  mit  ihm  in  Militärkonvention  verbundenen 
Staaten  von  der  trigonometrischen  Abteilung  der  Landes- Aufnahme 
ausgeführt  An  diese  schliefsen  die  anderen  Behörden  im  Interesse 
der  Spezialvermessungen  für  Kataster,  Zusammenlegung,  Forsten, 
Stromregulierungen  etc.  ihre  Detail-  oder  Klein-Triangulierungen  an 
und  führen  diese  soweit  durch,  bis  schliefslich  pro  Quadratkilometer 
Fläohe  je  ein  gut  bestimmter  und  in  der  Natur  durch  einen  festen 
Granitstein  versicherter  Dreieokspunkt  vorhanden  ist  Eine  solche 
Zahl  fest  bestimmter  Dreieckspunkte  gilt  allgemein  der  Erfahrung 
entsprechend  als  notwendig  und  ausreichend  für  eine  in  grösserem 
Mafsstabe  ausgeführte  gute  Spezial Vermessung  des  Landes  im  Interesse 
der  Civilverwaltungen,  der  Technik  und  Industrie.  Die  militär- 
topographischen Aufnahmen,  welohe  meist  im  Mafsstabe  1 :  26  000 
vom  Generalstabe  ausgeführt  werden,  erhalten  als  feste  Grundlage 
meist  einen  gut  bestimmten  Dreieckspunkt  auf  je  5  Quadratkilometer 
Fläche.  Sie  begnügen  sich  also  entsprechend  dem  kleinen  Mafsstabe 
und  dem  Zwecke  der  Aufnahme  mit  etwa  einem  Fünftel  fest  be- 
stimmter Dreieckspunkte  gegenüber  den  Vermessungen  für  wirtschaft- 
liche und  technische  Zwecke.  Andererseits  geht  man  bei  Stadtver- 
messungen mit  der  Detailtriangulierung  noch  viel  weiter,  d.  h.  soweit 
ins  Detail,  bis  auf  den  Quadratkilometer  eine  gröfsere  Anzahl  genau 
festgelegter  Dreieckspunkte  vorhanden  sind.  Die  nötige  Zahl  der- 
selben richtet  sich  nach  der  Natur  der  jeweils  zu  bearbeitenden  Auf- 


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24 


gäbe.  Im  Prinzips  geschieht  durch  die  Winkelmessung  die  Bestim- 
mung einer  hinreichenden  Anzahl  gut  festgelegter  und  dauernd  ver- 
sicherter Dreieckspunkte  stets  auf  dieselbe  Art  und  Weise.  Man  will 
durch  sie  einen  festen  und  unveränderlichen  Rahmen  schaffen,  in 
welchen  alle  weitern  Aufnahmen  einzufügen  und  einzupassen  sind, 
und  erreicht  dies  zweckentsprechend  durch  das  Arbeiten  vom  „Grofsen 
ins  Kleine"  der  Art,  dafs  das  Dreiecknetz  I.  Ordnung  nach  seiner 
endgültigen  Bearbeitung  als  fest  und  unveränderlich  gilt  für  das 
Dreiecksnetz  II.  Ordnung,  welches  nach  seiner  Einfügung  in  jenes  den 
festen  Rahmen  für  die  Dreiecke  III.  Ordnung  bildet,  und  so  fort  bis  zur 
Detail-Triangulation  und  den  Punkten  letzter  Ordnung. 

Die  Dreiecksnetze  I.  Ordnung  werden  so  genau  bearbeitet,  wie 
es  dio  feinsten  Mittel  der  Mechanik,  Optik  und  der  wissenschaftlichen 
Geodäsie  zulassen.  Sie  dienen  auf  der  einen  Seite  zur  Ermittlung  der 
Gestalt  der  mathematischen  Erdoberfläche  durch  Vergleichung  der 
geodätisch  bestimmten  gegenseitigen  Lage  der  Dreieckspunkte  mit  den 
auf  diesen  einzelnen  Dreieckspunkten  vorgenommenen  astronomisch-ge- 
ographischen Ortsbestimmungen,  andererseits  bilden  sie  den  festen 
Rahmen  für  die  Zwecke  der  Landesaufnahmen,  für  welche  die  Erde  in 
erster  Näherung  hinreichend  genau  als  Rotations-Ellipsoid  betraohtet 
werden  kann.  Bei  dem  Fortschreiten  zu  den  Dreiecksnetzen  niederer 
Ordnung  wird  man,  wie  bereits  erwähnt,  sowohl  an  Schärfe  der  Beobach- 
tungen wie  der  Berechnungen  immer  mehr  abnehmende  Anforderungen 
stellen  können,  um  eine  „zweckentsprechende"  Genauigkeit  zu  erzielen. 
Während  daher  beim  Beobachten  kleinere  Instrumente,  eine  geringere 
Zahl  der  Einzel-Messungen  etc.  ausreichend  sind,  wird  man  bei  der 
Berechnung  vom  Ellipsoid  zur  Kugel  und  zur  Ebene  als  Form  der 
mathematischen  Erdoberfläche  übergehen  dürfen.  Je  einfacher  das 
Gesetz  ist,  nach  welohem  die  den  Rechnungen  und  Darstellungen  zu 
Grunde  zu  legende  gemeinsame  Projektionsfläche  gebildet  ist,  um  so 
leichter  und  bequemer  worden  sich  diese  ausführen  lassen.  Aus 
diesem  Grunde  hat  man  z.  B.  für  wirtschaftliche  Vermessungen  wie 
Kataster-Aufnahmen,  Zusammenlegungen  etc.,  zur  gröfseren  Verein- 
fachung der  genannten  Arbeiten  den  ganzen  preufsischen  Staat  in  40 
einzelne  Bezirke  geteilt,  welche  so  bemessen  und  abgegrenzt  wurden, 
dafs  unbeschadet  der  bei  diesen  Aufnahmen  zu  erreichenden  Genauig- 
keit in  jedem  einzelnen  derselben  von  der  Krümmung  der  mathe- 
mathischen  Erdoberfläche  ganz  abgesehen  und  diese  jeweils  als  eine 
Ebene  behandelt  werden  darf.  Auch  bei  allen  Arbeiten  für  tech- 
nische, kulturtechnische  und  allgemein  wirtschaftliche  Zweoke  genügt 


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diese  Annahme  stets,  soweit  die  Horizontal-Projektion  und  ihre  Dar- 
stellung in  Betracht  kommen. 

Die  folgende  Tabelle  zeigt  die  Ergebnisse  einer  Genauigkeits- 
untersuchung für  einen  Teil  des  grundlegenden  Dreiecksnetzes 
I.-III.  Ordnung  der  Königlich  Preufsischen  Landesaufnahme  und  für  eine 
an  dieses  sich  anschliefsende  Braunsohweigische  Spezialtriangulation. 
Die  in  derselben  enthaltenen  Zahlen  lassen  unmittelbar  erkennen,  wie 
die  GröTse  der  benutzten  Instrumente,  die  Zahl  der  Messungen  und 
ihre  Genauigkeit  zugleich  mit  der  Länge  der  Dreiecksseiten  abnehmen, 
wie  aber  die  mittleren  Fehler  der  festgelegten  Punkte  von  der  ersten 
bis  zur  letzten  Ordnung  so  nahe  dieselben  sind,  dafs  eine  sehr  schöne 
Gleichmäfsigkeit  dieser  ganzen  grundlegenden  Arbeit  erzielt  wurde, 
welche  auf  Generationen  hinaus  den  festen  Rahmen  für  alle  Detail- 
Aufnahmen  zu  bilden  berufen  ist: 

Mittlere  Fehler  der  Richtungen  und  Coordinaten. 


Gültig'  für  die  neueren  Arbeiten  der  Preufsischen  Landesaufnahme  nach 
dem  Jahre  1*75  und  für  die  Arbeiten  der  Braunsclmcigischen  Anachlufs- 

Triangulation. 


I. 

Braun- 

eohwe 

fische 

Ordnung 

öS 

SS 

.  * 

öS 

fs 

II. 

„,. 

aufn 

aefl* 
Ihme 

Z  3 
o. 

l& 

47 

Limbusdurchniosser  der  zur  Beobachtung 

dienenden  Theodolite  in  cm   ...  . 

27 

27 

27 

21 

13 

13 

13 

Einstellungszahl  für  jede  Richtung  (Ge- 

24 

24 

12 

12 

6 

4 

4 

Mittlerer  Fehler  der  beobachteten  und 

und 
mehr 

und 
mehr 

und 
mehr 

auf  der  Station  ausgeglichenen  Rich- 

tungen nach  den  unmittelbaren  Be- 

0,24" 

0,34" 

0,58" 

1,3" 

2,5" 

2,5" 

Durchschnittliche  Seitenlänge  in  km  .  . 

40 

40 

24 

4,5 

25 

1,5 

Mittl.  Coordinatenfohler  iu  m  

0,07 

0,11 

0.10 

0,06 

0.0G 

0,05 

0,06 

(Fortsetzung  folgt.) 


* 


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Die  Spektralanalyse.1) 

Von  Dr.  F.  Koerber  in  Steglitz. 
I.  Die  physikalischen  Grundlagen 

icht  das  geringste  Verdienst  des  unsterblichen  Newton  stellt 
die  prismatische  Zerlegung  des  weifsen  Sonnenlichtes  in  die 
„sieben"  Regenbogenfarben,  das  sogenannte  Spektrum,  dar.  Die 
Thatsache  der  Zusammensetzung  des  weifsen.  Lichtes  aus  allen  mög- 
lichen Farbengattungen  ist  uns  an  der  Neige  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts stehenden  und  durch  die  Fülle  grofsartiger  naturwissen- 
schaftlicher Entdeckungen  in  gewissem  Grade  blasierten  Modernen 
etwas  so  „Altbekanntes"  und  scheinbar  Selbstverständliches,  date  wir 
ganz  verlernt  haben,  über  das  Wunderbare  darin  zu  staunen  und  zu 
verstehen,  wolch  eine  grundlegende  Bedeutung  für  unser  Verständnis 
der  Farben  dieser  Erkenntnis  zukommt.  Unser  Interesse  ist  heute  in 
so  vorwiegendem  Grade  denjenigen  Gebieten  der  Physik  zugewendet, 
von  denen  die  grofaen  technischen  Errungenschaften  des  Jahrhunderts 
ihren  Ausgang  nehmen,  dafs  wir  gern  die  Ergebnisse  sicherer 
Forschung  auf  dem  weniger  „praktischen"  Felde  der  Optik  als  etwas 
Ausgemachtes  uns  mitteilen  lassen,  ohne  uns  lange  mit  Zweifeln  und 
strengen  Beweisen  aufzuhalten,  geschweige  denn,  die  Entwickelung 
unserer  jetzigen  Kenntnisse  näher  zu  studieren.  Und  doch  bietet  gerade 
die  Farbenlehre  und  alles,  was  damit  zusammenhängt,  dem  philo- 
sophischen und  historischen  Sinn  eine  so  außerordentliche  Fülle  von 
Anregungen,  dafs  es  kein  Zufall  ist,  wenn  die  genialsten  Naturen 
gerade  von  diesem  Teile  der  Naturforschung  besonders  gefesselt  wurden. 

')  Hinein  Wunsche  der  Hedaktion  entsprechend  bringen  wir  mit  obigem 
AufsBtz  die  Grundlehren  der  Spektralanalyse,  von  denen  im  einzelnen  in 
dieser  Zeitschrift  bereits  vielfach  unter  Voraussetzung  mehr  oder  minder  weit- 
gehender Vorkenntnisse  gehandelt  worden  ist,  einmal  im  Zusammenhange  und 
von  Grund  auf  zur  Darstellung,  um  vor  allem  unseren  neu  hinzugetretenen 
Abonnenten  die  Möglichkeit  zu  bieten,  ihre  vielleicht  vielfach  verwischten 
Schulkenntniaso  wieder  aufzufrischen,  sodass  sie  dann  den  in  unseren  Mit- 
teilungen gegebenen  Berichten  über  die  neuesten  Fortschritte  der  Wissenschaft 
leichter  werden  folgen  können.  Der  Verf. 


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27 


Das  weifee  Licht  erscheint  unserem  Auge  gewissermaßen  als  das 
Licht  schlechtweg,  als  das  von  jeder  farbigen  „Trübung-,  um  mit 
Göthe  zu  reden,  freie,  reine,  himmlische  Etwas,  welches  von  der 
Sonne  ausstrahlt  und  erst  beim  Auftreffen  auf  die  irdischen  Körper 
die  Farben  entstehen  läfst,  die  sonach  dem  nur  reflektierenden  Beob- 
achter als  durch  materielle  Beeinflussung  entstandene,  dem  Licht  zu- 
nächst nicht  inhärente  Abarten  der  Helligkeit  erscheinen  mögen. 

Gewifs  ist  diese  physiologische  Einheit  der  Empfindung  des 
Weifsen  unbez weifelbar;  sie  macht  es  uns  verständlich,  daß  ein  so 
subjektiver  Naturforscher,  wie  Göthe  es  war,  nun  und  nimmermehr  an 
die  Richtigkeit  der  New  ton  sehen  Entdeckung  glauben  wollte,  ihr 
vielmehr  eine  auf  ganz  anderen  Fundamenten  ruhende  Farbenlehre 
entgegenzustellen  sich  bemühte. 

Noch  heute  stellt  die  physiologische  Einheit  der  Weifsempfindung 
ein  Problem  dar,  das  von  den  auf  dem  Boden  der  Younir-Hel m- 
holtzsohcn  Theorie  stehenden  Physiologen  durch  den  Hinweis  auf 
die  Gewöhnung  abgethan  wird,  während  Herings  Farbentheorie  eine 
einfache  Ur-Weifsempfindung  als  existierend  annimmt,  neben  welcher 
die  Farbenempfindungen,  als  durch  besondere  Erregungen  hervor- 
gerufen, einhergehen. 

Sei  dem  nun,  wie  ihm  wolle,  vom  physikalischen  Standpunkte  aus 
kann  heute  an  der  Richtigkeit  der  Newtonschen  Farbenlehre  ein 
Zweifel  nicht  mehr  bestehen;  hatte  doch  sohon  Newton  selbst  sich 
nicht  mit  der  prismatischen  Zerlegung  des  weifsen  Sonnenlichts 
begnügt,  sondern  auch  die  Rekonstruktion  desselben  aus  seinen 
farbigen  Elementen  mit  Hilfo  von  Linsen  dargethan.  Am  leichtesten 
gelingt  diese  Synthese  vermittelst  des  Farbenkreisels,  auf  welohom 
die  Farben  des  Spektrums  Sektoren  förmig  aufgetragen  sind.  Bei 
sohneller  Umdrehung  ersoheint  der  Kreisel  grau,  da  wegen  der  Dauer 
der  Lichteindrücko  die  Empfindungen  aller  Farben  sich  vennischen 
und  ein  lichtschwaches  Weifs1),  das  wir  Grau  nennen,  erzeugen.  In 
ähnlicher  Weise  kann  man  auch  die  Farben  eines  natürlichen,  mit 
Hilfe  des  Prisma  erzeugten  Spektrums  wieder  zu  Weifs  zusammen- 
setzen, wenn  man  dem  Prisma  eine  oszillierende  Drehung  um  seine 
breohende  Kante  erteilt. 

Kann  sonach  die  objektive  Zusammengesetztheit  des  Sonnenlichts 
als  sicher  erwiesen  betrachtet  werden,  so  drängt  sich  uns  die  Frage 

J)  Die  Farben  wirken  ja  nämlich  nicht  gleichzeitig,  sondern  nach  ein- 
ander auf  das  Augo;  in  jedem  Augenblick  ist  also  nur  ein  kleiner  Bruchteil 
des  weifsen  Lichtes  wirksam,  und  es  kann  sonach  nur  mattes  Weifs  entstehen. 


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•28 


auf,  warum  denn  gerade  ein  Prisma  die  wunderbare  Fähigkeit  besitzt, 
dieses  Mischlicht  in  seine  elementaren,  farbigen  Bestandteile  zu  zer- 
legen. Der  Grund  hierfür  liegt  in  der  verschiedenen  Brechbarkeit 
der  einzelnen  Farben,  und  diese  wiederum  ist  eine  Folge  der  ver- 
schiedenen Schnelligkeit  der  entsprechenden  Lichtschwingungen  oder, 
was  dasselbe  bedeutet,  der  verschiedenen  Wellenlängen. 

Denken  wir  uns  bei  A  (Fig.  1)  einen  Sonnenstrahl  (oder  richtiger 
ein  möglichst  schmales  Strahlenbündel)  durch  einen  horizontalen  Spalt 
in  der  Wand  eines  verdunkelten  Zimmers  eintretend,  und  verfolgen 


Figur  1     Die  Entstehung  des  Spektrum«. 


wir  nach  nochmaliger  Abbiendung  durch  den  Spalt  B  C  dessen  Lauf, 
wenn  wir  ihm  das  horizontal  gehaltene,  im  Querschnitt  also  dreieckig 
erscheinende  Prisma  P  in  den  Weg  stellen.  Der  auf  die  ebene 
Glasfläche  auftreffende  Strahl  kann  alsdann  nicht  geradlinig  weiter- 
laufen, da  die  Geschwindigkeit  der  Fortpflanzung  des  Lichts  durch 
einen  dichten,  materiellen  Körper,  wie  es  das  Glas  ist,  wesentlich  ge- 
hemmt wird.  Wie  nun  ein  Regiment  Soldaten,  das  beim  Marsch  in 
schiefer  Riohtung  auf  ein  Hindernis,  etwa  ein  dichtes  Gehölz,  stöfst, 
infolge  desselben  eine  Schwenkung  seiner  Front  erfahren  wird,  da  der 
eine  Flügel  durch  das  Hindernis  bereits  eine  Verlangsamung  erfährt, 
während  der  andere  noch  eine  Zeit  lang  ungestört  weiter  marschieren 
kann,  gerade  so  erleidet  ein  Lichtstrahl  beim  Übergang  in  ein  dichteres 
Medium  eine  Richtungsänderung,  die  unter  dem  Namen  der  r  Brechung*" 
bekannt  ist  und  beim  Eintritt  in  das  Glas  stets  in  dem  Sinne  erfolgt, 


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•J9 


dafs  der  gebrochene  Strahl  steiler  gegen  die  Glasfläche  gerichtet  ist, 
als  es  der  eintretende  war.  Der  Orad  der  Brechung  ist  dabei  noch 
von  dem  Einfallswinkel  nach  einem  höchst  einfachen,  mathematischen 
Gesetz  —  dem  Snelliusschen  Brechungsgesetz  -—  abhängig,  aufserdem 
aber,  was  für  uns  das  Wichtigste  ist,  verschieden  grors  für  die  ver- 
schiedenen farbigen  Liohter,  aus  denen  der  weifse  Strahl  zusammen- 
gesetzt ist  Der  Unterschied  der  Färbung,  der,  wie  aus  anderen  Ex- 
perimenten sich  folgern  läfst,  auf  einer  Verschiedenheit  in  der  Sohwin- 
gungszahl1)  beruht,  bedingt  also  zugleich  eine  verschiedenartige  Brech- 
barkeit, und  zwar  in  dem  Sinne,  dafs  die  am  schnellsten  schwingen- 
den violetten  Strahlen  auch  die  stärkste  Brechung  beim  Übergang  in 
das  Glas  erfahren.  Treten  die  einzelnen  Farben  demnach  schon  inner- 
halb des  Glases  auseinander,  so  wird  diese  Zerstreuung  bei  der  zweiten 
Brechung,  die  das  Licht  beim  Austritt  aus  dem  Glase  erfährt,  noch 
verstärkt,  wie  eine  genaue  Betrachtung  der  Figur  erkennen  läfst. 
Beim  Austritt  aus  dem  Glase  bewirkt  die  Brechung  nämlich  das  Um- 
gekehrte wie  beim  Eintritt:  die  Strahlen  verlassen  die  Glasfläche  unter 
einem  weniger  steilen  Winkel,  als  sie  auf  dieselbe  auftrafen.  Wäre 
die  Austrittsfläche  der  Eintrittsfläche  parallel,  wie  es  bei  einer  ge- 
wöhnlichen Glasplatte  der  Fall  ist,  so  würde  die  zweite  Brechung  dio 
bei  der  ersten  entstandene  Divergenz  der  verschiedenfarbigen  Strahlen 
wieder  aufheben  und  alle  Strahlen  parallel  maohon;  nur  die  pris- 
matische Gestalt  unseres  Glaskörpers  kann  daher  auf  der  weifsen 
Wand  statt  der  Liohtlinie  B'C  ein  wirkliches  Spektrum  RV  erzeugen, 
bei  welchem  die  roten  Strahlen  (R)  die  geringste  Ablenkung  von 
der  ursprünglichen  Richtung  aufweisen. 

Zur  Erzielung  gröfserer  Reinheit  des  Farbenbandes  mufs  nun 
einerseits  der  Spalt  A  möglichst  eng  sein,  andererseits  aber  das  Licht 
als  paralleles  Strahlenbündel  das  Prisma  durchlaufen,  was  man  durch 

')  Die  Zahl  der  in  einer  Sekunde  stattfindenden  Ätherechwingungen  be- 
läuft sich  beim  roton  Licht  auf  100  Billionen,  beim  violetten  dagegen  auf 
750  Billionen,  sodafs  im  Vergleich  mit  der  Akustik  die  verschiedenen  Farben 
den  verschieden  hohen  Tönen  entsprechen,  wobei  aber  die  gesamte  Farben- 
skala noch  nicht  einmal  eine  volle  Oktave  unifafst.  Da  nun  allo  Lichtarten 
sich  mit  der  gleichen  Geschwindigkeit  von  rund  300  000  km  in  der  Sekundo 
fortpflanzen,  so  kommt  der  Lichtstrahl  in  der  Zwischenzeit  zwischen  zwei 
Schwingungen  für  verschiedene  Farben  verschieden  weit  vorwärts,  d.  h.  don 
Unterschieden  der  Schwingungszahlen  entsprechen  auch  solche  der  „ Wellen- 
länge". Die  Weilenlänge  des  roten  Lichts,  der  Weg,  um  welchen  der  Licht- 
strahl in  der  Zwischenzeit  zwischen  zwei  Schwingungen  weiterkommt,  betrügt 
etwa  750  ;iu  (Milliontel  Millimeter),  dagegen  diejenige  dos  violetten  nur  unge- 
fähr 400  u.a. 


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30 


Einschaltung1  einer  Linse,  der  sog.  Colliraatorlinse,  erreicht,  die  so 
zwischen  Spalt  und  Prisma  gestellt  wird,  dafs  sich  der  Spalt  in  ihrer 
Brennebene  befindet.  Fügt  man  schliefslich  noch  ein  Beobachtungs- 
fernrohr hinter  dein  Prisma  hinzu,  mit  dessen  Hilfe  das  Spektrum  in 
seinen  Einzelheiten  deutlich  erkannt  und  ausgemessen  werden  kann, 
so  ist  aus  dem  einfachen  Prisma  der  Spektralapparat  hervorgegangen, 
wie  ihn  unsere  Figur  2  den  Lesern  in  einer  der  gebräuchlichsten 
Formen  vor  Augen  führt. 


Fijrur  2    Boomiu  Spektroskop. 

P  Prisma;  A  CoUimatorrohr;  B  Beobachtuogsrohr ;  C  Skalenrohr.  Mao  siebt  Im  Beobach- 
tuogsrohr B  die  Susi»  S  das  Spektrum  durchziehen,  da  dieselbe  an  der  vordersten  Prismen- 
flache  nach  B  gespiegelt  wird;  K,  f  Bunsenllammen  zur  Verflüchtigung  der  Leichtmetalle; 

/».  t,  r  Stellschrauben. 

Betrachten  wir  das  durch  Sonnenlicht  erzeugte  Spektrum  genauer, 
so  können  wir  zwar  nur  etwa  6  bis  7  mit  verschiedenen  Namen  zu 
bezeichnende  Farben  darin  erkennen  (Rot,  Orange,  Gelb,  Grün,  Blau, 
Indigo  und  Violett),  aber  diese  Farben  gehen  durch  unmerkliche 
Zwischentöne  in  einander  über,  sodafs  eigentlich  von  unzählig  ver- 
schiedenen Farbentönen  gesprochen  werden  mufs;  das  Farbenband 
besteht  gewissermafsen  aus  sehr  vielen,  dicht  neben  einander  liegen- 
den und  successive  immer  wieder  etwas  anders  gefärbten  Bildern  des  als 
Lichtquelle  dienenden  Spektroskop-Spaltes.  Die  Grenzen  des  Spektrums 
sind  sowohl  am  roten  als  auch  am  violetten  Ende  äufsorst  unscharf; 
sie  bedeuten  auch  gar  nicht  ein  wirkliches  Aufhören  desselben,  son. 
dern  nur  eine  allmählich  so  weit  gehende  Farbenänderung,  dafs 
schliefslich  unser  Auge  die  äußersten  roten  und  violetten  Strahlen 


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31 


nicht  mehr  zu  empfinden  vermag.  Dafs  eich  in  Wirklichkeit  das 
Strahlungsspektrum  nach  beiden  Seiten  hin  viel  weiter  ausdehnt,  als 
wir  zu  sehen  vermögen,  beweisen  uns  jenseits  des  Rot  das  Thermo- 
meter, beziehungsweise  die  viel  empfindlicheren  Wärmemefsapparate, 
die  man  als  Thermosäulen  und  Bolometer  bezeichnet.  Die  auf  der 
anderen  Seite  an'  das  sichtbare  Spektrum  sich  anschliefsenden  ultra- 
violetten Strahlen  sind  dagegen  vorwiegend  durch  ihre  chemische 
Wirksamkeit  erkennbar,  sodafs  z.  B.  photographische  Platten  von 
solchem  für  uns  unsichtbaren  Lichte  noch  geschwärzt  werden.  Mit 
Hilfe  fluoreszierender  Körper  jedoch,  die  die  Fähigkeit  haben,  auf- 
fallendes Licht  gröfBerer  Brechbarkeit  in  solches  von  geringerer 
Brechbarkeit  zu  verwandeln,  können  wir  die  „chemischen"  Strahlen 
auch  unserem  Auge  wahrnehmbar  machen;  so  leuohtet  ein  Barium- 
platincyanürsohirm,  wie  er  bei  den  Versuchen  mit  Röntgenstrahlen 
gebraucht  wird,  auch  im  ultravioletten  Teile  des  Sonnenspektrums  mit 
schönem,  grünem  Lichte  auf. 

Haben  wir  so  einen  Überbliok  über  die  verschiedenen,  im  Sonnen- 
lichte enthaltenen  Strahlensorten  durch  ihre  Nebeneinanderlegung  im 
Spektrum  gewonnen,  so  ist  uns  doch  noch  das  eigentliche  Charakte- 
ristikum des  Sonnenspektrums  entgangen,  nämlioh  die  zahlreichen 
feinen  dunklen  Linien,  welche  das  Farbenband  an  allen  Stellen  durch- 
queren, und  die  zwar  schon  im  Jahre  1802  von  Wollaston  bemerkt, 
aber  erst  1814  von  Fraunhofer  als  unverrückbare  Merkzeiohen  des 
Sonnenlichtes  erkannt  worden  sind  und  darum  mit  Recht  des  letzteren 
Kamen  tragen. 

Um  diese  Fraunhofersohen  Linien  in  möglichst  grofser  Zahl 
und  Schärfe  erkennen  zu  können,  müssen  wir  den  Spalt  des 
Spektroskops  so  eng  stellen,  als  es  die  dadurch  natürlich  bedingte 
Verringerung  der  Helligkeit  des  Spektrums  gestattet  Wir  er- 
kennen alsdann,  wie  es  unsere  Figur  3  zeigt,  eine  grofse  Reihe 
solcher  dunkler  Unterbrechungen  der  kontinuierlichen  Farbenfolge; 
einzelne  derselben  sind  durch  ihre  Intensität  und  Breite  ver- 
hältnismäfsig  leicht  erkennbar  (Fraunhofer  hat  diese  stärksten 
Linien  mit  den  grofsen  Buohstaben  des  lateinischen  Alphabets  be- 
zeichnet), während  die  überwiegende  Mehrheit  von  äufserster  Feinheit 
und  darum  nur  mit  vorzüglichen  Instrumenten  erkennbar  ist.  Die 
Zahl  der  heute  bekannten  Fraunhofersohen  Linien  geht  in  die 
Tausende;  was  sie  jedoch  zu  bedeuten  haben,  können  wir  erst  ver- 
stehen, nachdem  wir  auch  andere  Lichtquellen  der  Analyse  durch  das 
Prisma  unterworfen  haben. 


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32 


■!F' 


i 


! 


-. 

- 

- 

r 
= 


Richten  wir  das 
Spektroskop  auf 
eine  unserer  künst- 
lichen Lichtquellen, 
etwa  auf  die  Flamme 
einer  Petroleum- 
lampe oder  auf  den 
Faden  einer  elektri- 
schen Glühlampe, 
so    gewahren  wir 
~'*  zwar  dasselbe  Far- 
benband wie  beim 
Sonnenlicht,  jedoch 
sind  die  brechbare- 
ren Teile  desselben 
verhältnismäßig' 
lichtschwach, 
und  die  im  Sonnen- 
spektrum so  zahl- 
reichen Fraun- 
hoferschen  Linien 

fehlen  gänzlich. 
Die  Verschiedenheit 
in  der  Helligkeits- 
verteilung können 
wir  uns  leicht  durch 
den  gewaltigen 
Temperaturunter- 
schied der  ver- 
glichenen Licht- 
quellen erklären; 
denn  wenn  wir  die 
Tomperatur  der  Pe- 
troleumflamme, z.B. 
durch  Einleiten  von 
reinem  Sauerstoff- 
gas, künstlich  stei- 
gern, so  sehen  wir 
schon    mit  freiem 


:  \  Auge  das  vorher 


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33 


gelbliche  Licht  in  oin  glänzendes  Weite  übergehen  und  das  Spek- 
troskop zeigt  uns  nun  auch  das  blaue  Ende  des  Spektrums  hell  leuchtend. 
Man  hat  durch  derartige  Vergleiche  feststellen  können,  dafs  die  Stelle 
maximaler  Strahlungsenergie  nach  einem  ganz  bestimmten,  von  Wien 
theoretisch  gefolgerten  Gesetze  sioh  mit  steigender  Temperatur  vom 
Hot  naoh  dem  Blau  hin  verschiebt,  und  Pasohen  konnte  sogar  aus 
der  Lage  des  Helligkeitsmaximums  im  Sonnenspektrum  ermitteln,  dafs 
die  Temperatur  der  Sonnenoberfläohe  sich  auf  etwa  5400°  belaufen 
müsse.  —  Das  Fehlen  der  Fraunhoferschen  Linien  im  Flammen- 
spektrum läfst  uns  ferner  vermuten,  dafs  diese  Linien  nur  unter  be- 
sonderen Umständen  in  einem  kontinuierlichen  Spektrum  auftreten, 
vielleicht  erst  auf  dem  Wege  von  der  glühenden  Sonnenoberfläohe 
bis  zu  unserem  Auge  durch  irgendwelche  Absorptionswirkungen  zu 
stände  kommen,  wie  dies  in  der  That  von  Kirchhoff  im  Jahre  1859 
erwiesen  worden  ist. 

Bevor  wir  indessen  auf  diese  Kirchhoffsche  Deutung  der 
Fraunhoferschen  Linien  näher  oingehen  können,  müssen  wir  erst 
noch  eine  weitere  Gruppe  von  Lichtquellen  spektroskopisch  unter- 
suchen. Ein  kontinuierliches,  völlig  lückenloses  Spektrum  zeigt  uns, 
wie  wir  oben  gesehen  haben,  nur  das  von  glühenden,  festen  Körpern 
ausgesandte  Licht,  denn  wie  in  der  Glühlampe  der  feste,  durch  den 
elektrischen  Strom  zum  Glühen  gebrachte  Kohlenfaden  das  Leuchtende 
ist,  so  stammt  auch  das  Licht  einer  Petroleum-  oder  Gasflamme  von 
glühenden,  festen  Kohlenstäubchen  her,  deren  Vorhandensein  im 
Inneren  der  Flamme  durch  ihre  russende  Wirkung  leioht  nachge- 
wiesen werden  kann.  Mischen  wir  dem  Leuchtgase  jedoch  vor  der 
Verbrennung  eine  ausreichende  Menge  von  Luft  bei,  wie  dies  bei 
dem  sogenannten  Bunsenbrenner  mittelst  der  im  Stativ  befindlichen 
Öffnungen  geschieht,  so  wird  die  Verbrennung  im  ganzen  Querschnitt 
der  Flamme  gleichzeitig  von  statten  gehen ;  die  Rufsteilchen  gelangen 
gar  nicht  erst  zur  Abscheidung,  und  die  Flamme  verliert  daher  ihre 
Leuchtkraft,  während  sie  gleichzeitig  eine  bedeutend  höhere  Temperatur 
erlangt.  Das  matte  Licht,  welches  jetzt  nooh  von  der  Flamme  aus- 
geht, stammt  von  dem  verbrennenden  Leuchtgase  selbst  her  und 
zeigt  sich  schon  dem  blofsen  Auge  bläulich  gefärbt,  woraus  man 
bereits  schliefsen  kann,  dafs  es  nicht  alle  Strahlengattungen  des 
Spektrums  enthält  Richten  wir  jetzt  das  Spektroskop  auf  die  „Bunsen- 
flammeu,  so  erblicken  wir  kein  kontinuierliches  Spektrum  mehr,  son- 
dern drei  durch  dunkle  Zwischenräume  getrennte,  naoh  der  blauen 
Seite  hin  allmählich  verblassende  Lichtbänder  im  Grüngelb,  Grün  und 

Himmel  und  Eni».  189a  XI.  1.  V> 


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34 


Blau.  Wir  haben  jetzt  das  typische  Spektrum  eines  leuohtenden, 
ohemisch  zusammengesetzten  Gases  vor  uns. 

Noch  mehr  vom  kontinuierlichen  Spektrum  verschieden  sind  nun 
aber  die  Spektra  leuohtender  Oase  von  chemisch  elementarer  Be- 
schaffenheit. Betrachten  wir  das  Spektrum  der  Bunsenflamme  eine 
längere  Weile,  so  blitzt  von  Zeit  zu  Zeit  eine  ganz  schmale,  isolierte, 
intensiv  gelbe  Linie  auf,  die  in  einem  stark  zerstreuenden  Instrument 
sich  als  doppelt  erweist.  Woher  diese  Linie  stammt,  können  wir  leicht 
feststellen,  wenn  wir  vermittelst  eines  Drahtes  etwas  Kochsalz  in  die 
Flamme  einführen;  alsdann  ist  nämlich  die  gelbe  Linie  sofort  mit 
grofser  Intensität  dauernd  in  dem  Spektrum  vorhanden.  Allem  An- 
sohein  nach  beruhte  daher  auch  das  vorherige  Aufblitzen  dieser  Linie 
darauf,  dafs  salzhaltige  Staubteilchen  zufällig  in  die  Flamme  gerieten. 

In  der  That  befindet  sich  Kochsalz  in  minimalen  Spuren  zu 
jeder  Zeit  in  unserer  Luft,  wie  ja  auch  ganz  erklärlich  ist,  da  der 
Wind  auf  dem  Meere  kleine  Wasserteilchen  der  Luft  beimengt  und 
aus  jedem  noch  so  kleinen  Tröpfchen  Meerwasser  bei  dessen  Ver- 
dunstung ein  Salzkrystallohen  zurückbleiben  mufs,  das  dann  von  der 
Luftströmung  bis  weit  in  das  Binnenland  mitgeführt  wird.  Die 
Spektralanalyse  ist  aber  ein  so  empfindliches  Foreohungsmittel,  dafs 
schon  der  dreibillionste  Teil  eines  Gramm  Kochsalz  durch  die  gelbe 
Linie  nachgewiesen  werden  kann.  Ist  nun  die  gelbe  Doppellinie  das 
Spektrum  des  glühenden  Salzes?  —  Keineswegs!  Das  Kochsalz  ist 
vielmehr  seiner  chemischen  Zusammensetzung*  nach  eine  Verbindung 
von  Chlor  und  Natrium  und  wird  durch  die  Flammenhitze  sofort  in 
diese  beiden  Bestandteile  dissoziiert.  Das  metallische  Natrium  ist  nun 
aber  ein  sehr  leicht  flüchtiges  Element;  es  entwickeln  sich  daher  in 
der  Bunsenflamme  glühende  Natriumdämpfe,  und  dieses  elementare, 
glühende  Gas  sendet  nur  Licht  von  zwei  ganz  nahe  zusammenfallen- 
den, und  zwar  gelben  Farben  aus.  Die  doppelte  „Natriumlinie "  ist 
ein  typischer  Repräsentant  eines  metallischen  Gasspektrums. 

Andere  metallische  Gasspektra  erhalten  wir  durch  andere  Salze, 
die  wir  der  Flamme  beimischen;  alle  diese  Spektra  bestehen  jedoch 
nur  aus  einer  oder  mehreren,  charakteristisch  gefärbten  und  daher 
an  bestimmten  Stellen  im  Spektrum  erscheinenden,  schmalen  Licht- 
linien. So  liefert  das  Thallium  eino  grüne,  Kalium  aber  zwei  tiefrote 
Linien;  Calcium,  Rubidium  und  Baryura  liefern  sehr  linienreiche, 
prächtige  Spektra  von  einer  für  jeden  dieser  Stoffe  eindeutig  be- 
stimmten Zusammensetzung  (vergl.  die  Zusammenstellung  einiger 
dieser  Spektra  in  Fig  4).     Dabei  genügen,  wie  wir  schon  beim 


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Natrium  sahen,  die  minimalsten  Spuren  dieser  Stoffe  zur  Ilervorrufung 
der  entsprechenden  Linien.  Gerade  dadurch  ist  die  Spektralanalyse 
für  den  Chemiker  von  so  hervorragender  Bedeutung  geworden,  ja 
eine  ganze  Reihe  von  zwar  verbreiteten,  aber  stets  nur  in  sehr  ge- 
ringen Mengen  vorkommenden  Elementen  wie  Rubidium,  Cäsium, 
Thallium,  Indium  und  Gallium,  sind  erst  durch  die  Spektralanalyse 
entdeckt  worden. 

H  o  W  U         O  OMA 


Sonne 


Nitrium 


Thallium 


Kalium 


Citcium 


Figur  4.    Zusammenstellung  einiger  Spektra. 


Zur  Untersuchung  der  Spektra  der  schwerer  flüchtigen  Metalle 
bedürfen  wir  einer  anderen  Methode,  da  dieselben  in  der  Bunsen- 
flamme  nicht  vergast  werden  würden.  Man  bedient  sich  in  diesem 
Falle  des  elektrischen  Funkens,  dessen  Temperatur  eine  aufserordent- 
lich  hohe  ist,  und  dessen  Spektrum  daher  neben  den  Linien  des  durch- 
schlagenen Gases  auch  stets  die  Linien  derjenigen  Metalle  zeigt, 
zwischen  denen  der  Funken  überspringt.  Auch  in  dem  Davyschen 
Lichtbogen  (Bogenlampe)  herrscht  eine  so  hohe  Hitze,  dafs  darin  so- 
gar die  schwerst  schmelzbaren  Metalle  verflüchtigt  und  in  Bezug  auf 
ihr  Spektrum  untersucht  werden  können;  nur  projizieren  sich  in 
diesem  Falle  die  hellen  Metalllinien  auf  das  kontinuierliche  Bogen- 
lichtspektrum,  das  von  den  glühenden  Kohlenteilchen  herrührt.  Da 
jedoch  dieses  Spektrum  bei  stärkerer  Dispersion  durch  die  Ausbreitung 


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auf  eine  gröfeere  Fläohe  erheblich  abgeschwächt  wird,  während  die 
metallischen  Linien  von  dieser  Sohwächung  nioht  betroffen  werden 
weil  sie  eben  Linien  bleiben  — ,  so  ist  der  Kontrast,  mit  welohem 
die  Metalllinien  hervortreten,  meist  völlig  ausreichend. 

Die  Spektra  der  Schwermetalle  sind  zumeist  aufserordentlich 
reich  an  Linien;  so  hat  man  z.  ß.  beim  Eisenspektrum  mehr  als  ein 
halbes  Tausend  Linien  beobachtet  und  gemessen.  Wenn  nun  übri- 
gens auch  die  Lage  dieser  Linien  für  jedes  Metall  charakteristisch  und 
unveränderlich  ist,  so  ist  doch  die  Sichtbarkeit  derselben  in  hohem 
Mafse  von  den  Druck-  und  Temperaturverhältnissen  der  betreffenden 
Dämpfe  abhängig,  sodafs  unter  besonderen  Verhältnissen  Linien,  die 
sonst  zu  den  hellsten  gehören,  vollständig  fehlen  und  dafür  andere, 
sonst  äufserst  schwache  Linien  stark  hervortreten  können,  wodurch 
das  Spektrum  fast  bis  zur  Unkenntlichkeit  verändert  wird. 

In  noch  viel  höherem  Mafse  vom  Druok  abhängig  erweisen  sich 
die  Spektra  niohtmetallischer  Elemente,  besonders  die  der  permanenten 
Gase:  Wasserstoff,  Sauerstoff  und  Stickstoff.  Diese  Gase  bringt  man 
gleichfalls  durch  elektrische  Entladungen  zum  Leuchten,  nachdem 
-man  sie  zuvor  in  Glasröhren  eingeschlossen  hat.  Am  einfachsten  er- 
scheinen die  Spektra  dieser  permanenten  Gase  bei  sehr  niedrigem 
Druck,  also  in  sogenannten  Geifs ler sehen  Röhren.  Der  Wasserstoff 
zeigt  bei  1  bis  3  mm  Druck  ein  aus  drei  Linien  (in  Hot,  Blau  und 
Violett)  bestehendes,  sehr  einfaches  Spektrum ;  der  Sauerstoff  zeigt 
ein  aus  zahlreichen,  namentlich  in  Blau  und  Violett  gelegenen  Linien 
bestehendes  Licht,  während  der  Stickstoff  ein  Uberaus  schönes  und 
charakteristisches,  aus  zahlreichen  kannelierten  Banden  (d.  h.  Gruppen 
von  Linien)  zusammengesetztes  „Säulenspektrutn"  erkennen  läfst. 
Unter  anderen  Druckverhältnissen  können  die  Linienspektra  von 
Baridenspektren  vertreten  werden,  oder  es  kann  auch  ein  continuier- 
liohes  Spektrum  daraus  hervorgehen  —  immer  aber  bleibt  der  Ort  der 
Linien,  so  lange  sie  siohtbar  sind,  unveränderlich,  so  dafs  eine  Aus- 
messung ihrer  Stellung  trotz  aller  Mannigfaltigkeit  in  dem  Aussehen 
des  Spektrums  sicheren  Aufschlufs  über  die  Natur  des  leuchtenden 
Gases  zu  geben  vormag. 

(Fortsetzung  folgt.) 


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Ein  neuer  Planet  zwischen  Erde  und  Mars! 

Wer  hätto  sich's  noch  vor  kurzem  träumen  lassen  dürfen,  dafs 
das  Bild,  welches  seit  mehr  als  50  Jahren  —  seit  der  denkwürdigen  Ent- 
deckung des  Neptun  durch  Galle  auf  Grund  der  Rechnungen  des 
Franzosen  Levp  rrier  —  unsere  Planeten  weit  darbot,  eine  so  wesentliche 
Vervollständigung  erfahren  würde,  wie  sie  in  diesen  Tagen  zur  That- 
sache  geworden  ist?  Immer  höher  schwoll  die  Zahl  der  Asteroiden 
an,  doch  keine  der  zahlreichen  Entdeckungen,  die  wir  zum  weit  über- 
wiegenden  Teile  in  den  letzten  Jahren  der  Photographie  und  ihrer 
Verwendung  bei  der  systematischen  Verfolgung  der  kleinen  Planeten 
in  den  bewährten  Händen  eines  Wolf  in  Heidelberg  und  eines  Char- 
lois  in  Nizza  zu  verdanken  hatten,  liefs  den  von  Leverrier  bereits 
gehegten  Gedanken  gerechtfertigt  erscheinen,  dafs  auch  in  dem  Räume 
zwischen  der  Erdbahn  und  der  Bahn  des  Planeten  Mars  sich  noch 
ein  Wandelstern  herumtummele.  Wer  vermag  zu  sagen,  ob  der  Planet, 
über  dessen  Entdeckung  wir  nachstehend  unseren  Lesern  einige 
Mitteilungen  zu  machen  beabsichtigen,  der  einzige  dieser  Art  ist,  ob 
nicht  vielleicht  noch  mehrere,  etwa  gar  eine  ganze  Gruppe,  das  Schick- 
sal des  nun  entdeckten  Gestirns  teilen,  dafs  sie  sich  bisher  vor  unseren 
Blicken  verbergen  konnten?  Es  wäre  unwissenschaftlich  und  im  gegen- 
wärtigen Augenblick  überdies  mehr  als  verfrüht,  wenn  wir  schon  jetzt 
der  Erörterung  der  Frage  näher  treten  wollten,  ob  und  inwieweit  die 
zu  meldende  Entdeckung  dazu  führen  wird,  manche  bisher  unerklärte 
Erscheinung  im  Getriebe  des  Planetenmechanismus  aufklären  zu  helfen; 
das  aber  steht  fest,  dafs  sie  künftig  von  der  allergröfsten  Bedeutung 
für  die  Lösung  der  fundamentalsten  Aufgaben  im  Gebiete  der  theo- 
retischen wie  der  praktischen  Astronomie  werden  wird. 

In  der  Absioht,  den  seit  dem  Jahre  1889  nicht  mehr  beobachteten 
Planetoiden  (185)  Eunike  aufzusuohen,  photographierte  der  Verfasser 
dieser  Notiz  mit  Unterstützung  eines  freiwilligen  Mitarbeiters,  Herrn 
Studiosus  Linke,  die  Umgebung  des  Sternes  ß  Aquarii,  wo  sich  der 


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gesuchte  Körper  der  Berechnung  gemäfs  befinden  sollte,  in  der  Nacht 
vom  13.  auf  den  14.  August  dieses  Jahres.  Gleich  nach  Beendigung 
der  zweistündigen  Belichtung,  noch  in  der  nämlichen  Nacht,  wurde 
die  Platte  entwickelt  und  fertig  gemacht.  Am  nächsten  Morgen  be- 
gann dio  sorgfältige  Durchsuchung  der  Platte,  auf  welcher  nach  kurzer 
Zeit  die  beiden  Planeten  (119)  Althaea  und  (185)  Eunike  identifiziert 
wurden.  Etwas  später  wurde  ein  verdächtiges,  strichartiges  Objekt 
mit  Hülfe  der  Lupe  bemerkt,  das  unzweifelhaft  einem  Gestirn  ange- 
hören mufste,  welches  sich  während  der  Exposition  unter  den  Fixsternen 
weiter  bewegt  hatte.  Verfasser  hielt  diesen  Strich,  den  er  auf  einer 
älteren  Platte  derselben  Gegend  nicht  finden  konnte,  wegen  seiner  be- 
träohtliohen  Länge  von  ca.  0.4  mm  —  im  Durchschnitt  zeichnen  bei 
zweistündiger  Beliohtung  die  Planeten  Striche  von  0.2  bis  0.25  mm 
Länge  auf  —  für  die  Spur  eines  neuen  Kometen;  da  an  der  be- 
treffenden Stelle  nämlich  weder  ein  bekannter  Planet,  noch  einer  von 
den  gegenwärtig  am  Himmel  sichtbaren  Kometen  stehen  konnte,  so 
handelte  es  sich  jedenfalls  allem  Anschein  nach  um  ein  neues  Objekt. 

Nun  hiefs  es  den  Himmel  befragen.  Der  Abend  des  14.  August 
war  klar,  der  Himmel  wolkenlos.  Gleich  naoh  10  Uhr,  nachdem  die 
letzten  Besucher  die  Sternwarte  verlassen  hatten,  wurde  der  12  zöllige 
Refraktor  der  Urania  auf  den  Stern  ß  Aquarii  gerichtet.  Nicht  weit  von 
diesem  hellen  Gestirn  fand  sich  bald  ein  fixsternartiges  Objekt  10.  bis 
11.  GröGse.  Der  neue  Körper  war  gefunden.  Sofort,  nachdem  seine 
rückläufige  Bewegung  unzweifelhaft  durch  ein  paar  rohe  Messungen 
festgestellt  war,  wurden  mehrere  genaue  Beobachtungen  gemacht. 
Damit  war  die  Hauptarbeit  dieser  Nacht  erledigt 

Am  nächsten  Morgen  zeigte  die  Reduktion,  dafs  das  neue  Objekt 
eine  ungewöhnlich  grofse  Bewegung  besafs,  wie  sie  bisher  nie  an 
einem  kleinen  Planeten  —  von  einem  Kometen  konnte  nun  schon 
nioht  mehr  die  Rede  sein  —  beobachtet  worden  war.  Das  merkwür- 
dige Resultat  mitsamt  dem  scheinbaren  Ort  des  Planeten  DQ,  welche 
provisorische  Bezeichnung  er  bis  auf  weiteres  trägt,  wurde  unverweilt 
telegraphisch  naoh  Kiel  an  die  Zentralstelle  für  astronomische  Tele- 
gramme gemeldet  und  von  dort,  ebenfalls  auf  telegraphischem  Wege, 
wie  üblich,  an  eine  grofse  Zahl  Sternwarten  weiter  gegeben. 

Fleifsige  Beobachter  machten  sich  sofort  daran,  den  Planeten 
zu  beobachten,  und  binnen  kurzem  war  eine  grofse  Zahl  brauchbarer 
Ortsbestimmungen  zusammen,  die  sämtlich  auch  an  Herrn  A.  Berbe- 
rich vom  Berliner  Königlichen  Recheninstitut,  den  verdienstvollen 
Planetenberechner,  gelangten.  Nachdem  am  31.  August  dem  Verfasser 


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noch  eine  Beobachtung-  geglüokt  war,  umohte  sich  Herr  Berberioh 
am  2.  September  an  die  Arbeit,  aus  den  17  Tage  Zwischenzeit  um- 
fassenden Beobachtungen  eine  Bahn  zu  errechnen.  Am  Nachmittag 
bereits  war  das  überraschende  und  kaum  glaublich  erscheinende 
Resultat  ermittelt,  dafs  es  sich  nicht  um  einen  kleinen  Planeten  der 
Gruppe  zwischen  Mars  und  Jupiter  handele,  vielmehr  der  neue  Welt- 
körper, nun  ein  gesichertes  Glied  unseres  Sonnensystems,  seine  Bahn 
um  die  Sonne  zum  weitaus  gröfsten  Teile  in  dem  Räume  zwisohen 
der  Erdbahn  und  der  Marsbahn  beschreibt  Die  Elemente,  die  aller- 
dings, wenn  der  Planet  längere  Zeit  beobachtet  und  verfolgt  sein  wird, 
noch  kleine  Änderungen  erfahren  dürften,  sind  die  folgenden: 

Epoohe:  1898  August  31.5  mittlere  Zeit  Berlin. 
Mittlere  Anomalie    .    .    .  ==  220°  14'    3 ".7 
Abstand  des  Perihels  vom 

aufsteigenden  Knoten    .  =  178    28  26.2 
Länge    des  aufsteigenden 

Knotens  

i 

Neigung  der  Bahn  gegen 
die  Erdbahn  .... 
Exzentrizitätswinkel     .  . 
Mittlere  tägliche  Bewegung 


=  303   48  63.0 


11 

13 
2010' 


6  57.1 
13  3.8 
.131 


bezogen  auf  die  mitt- 
lere Lage  von  Äquator 
und  Ekliptik  für  den 
Jahresanfang  1898. 


Dauer  des  Umlaufs  um  dio  Sonne  —  645  Tage. 

Halbe  grofse  Axe  der  Bahn  =  1.4606  astronomische  Einheiten, 
welohe  letztere  zu  rund  20  000  000  Meilen  gereohnet  werden  kann. 

Hiernach  ergab  sich,  dafs  der  Planet  nahezu  in  der  Sonnenferne 
aufgefunden  ist,  dafs  aber,  wenn  die  Zeit  seiner  Opposition  zugleioh 
mit  der  Sonnennähe  zusammenfällt,  er  die  Helligkeit  eines  Sternes 
sechster  Gröfse  erreichen  und  bei  einer  solchen  Gelegenheit  der  Erde 
bis  auf  2  7a  Millionen  Meilen  nahe  kommen  wird. 

Diese  kurzen  Andeutungen  werden  schon  zur  genüge  erkennen 
lassen,  dafs  hier  ein  Planet  gefunden  wurde,  dessen  planmäfsige  Be- 
obachtung namentlich  für  die  Ermittelung  der  Sonnenparallaxe,  mit 
anderen  Worten  der  Entfernung  der  Erde  von  der  Sonne,  eine  bisher 
ungekannte  Genauigkeit  erhoffen  läfst,  ein  Punkt,  über  den  später  in 
Verbindung  mit  anderen  bedeutsamen  Aufgaben  nähere  Mitteilungen 
erfolgen  werden. 

Wie  häufig  der  Zufall  sein  Spiel  treibt,  so  auch  in  diesem  Falle. 
Haid  nach  Bekanntwerden  der  Entdeckung  meldete  nämlich  der 
Direktor  Perrot  in  der  Sternwarte  Nizza,  dafs  Herr  Charlois  dort 
in  der  Nacht  vom  13.  zum  14.  August  die  fragliche  Gegend  ebenfalls 


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photographisch  aufgenommen  habe,  und  dafs  der  Planet  sich  auf  der 
Platte  vorfinde.  Nach  astronomischen  Gepflogenheiten  gilt  indessen 
derjenige,  der  zuerst  eine  bezügliche  Meldung  an  die  Zentralstelle 
nach  Kiel  gelangen  läfst,  als  der  eigentliche  Entdecker,  und  so  haben 
Zufall  und  Olück  zusammengewirkt,  um  dem  Verfasser  vorstehender 
Zeilen  diese  wichtig«  Entdeckung  zu  teil  werden  zu  lassen. 

G.  Witt. 

Die  grössten  astronomischen  Refraktoren  besitzen  derzeit  das 
Yerkes  -  Observatorium  (unweit  Chicago)  und  das  Lick  -  Observa- 
torium auf  dem  Mt  Hamilton  (California),  beides  von  Clark  gebaute 
Instrumente,  ersteres  mit  einer  Objektivöffnung  von  135  cm  (40  inches), 
das  andere  von  121  cm  (36  inches)  Apertur.  Über  100  cm  Öffnung 
haben  aufserdem  folgende  Fernrohre:  109  cm  das  Instrument  des 
Nationalobservatoriums  zu  Meudon  (Paris),  106  cm  daß  in  Ausführung 
begriffene  grofse  Instrument  des  astrophysikalischen  Observatoriums 
in  Potsdam,  und  nahezu  die  gleiche  Gröfse,  102  cm  resp.  101  cm,  be- 
sitzen die  Refraktoren  der  Sternwarten  von  Nizza  und  von  Pulkowa 
bei  Petersburg.  Folgende  Instrumente  rangieren  mit  86—100  cm 
(25-30  inches): 

98  cm  Öffnung  der  Refraktor  des  Pariser  Observ.  (Martin), 
94   „        „        „         „        des  Greenwicher  Observ.  (Grubb), 
90   „        „        „    Wiener  Refraktor  (Grubb)  und  das  Archenhold- 

sche  Fernrohr  zu  Treptow  bei  Berlin  (Schott, 
Steinheil,  Hoppe), 
88  „        „    zweite  Refraktor  zu  Greenwich  (Grubb)  sowie  die 

Refraktoren  des  Naval-Observatory  zu  Washing- 
ton und  des  Cormick  -  Observatory  (Virginia) 
(beide  von  Clark), 
85   .,        „        „    Refraktor  des  Cambridge-Observ.  (Cooke). 
Mit  Objektivöffnunge>n  von  67—85  cm  (20—25  inches)  sind  derzeit 
folgende  Instrumente  gebaut:  der  Refraktor  von  Gebrüder  Henry  in 
PariB  (83  cm),  die  Instrumente  von  Clark  für  das  Harvard  -  Coli ege- 
Observ.  (Cambr.)  und  das  Lowell-Observatory,  sowie  der  Grubb -Re- 
fraktor der  Kapstadt- Sternwarte  (81  cm);  ferner  sieben  Instrumente 
(67—80  cm)  von  Clark,  Merz  und  Henry  an  den  Observatorien  Paris, 
Princeton,  am  Ätna  u.  a.  a.  Orten.  * 


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Bewegung  des  roten  Jupiterfleckes.  Das  vor  zwanzig  Jahren 
auf  der  südlichen  Hälfte  der  Jupiterkugel  entdeckte  merk- 
würdige Gebilde  eines  grofsen  roten  Fleckes  hatte  schon  bald  nach 
seiner  Entdeckung  eine  selbständige,  d.  h.  von  der  Rotation  des  Jupiter 
unabhängige  Bewegung  gezeigt,  so  dafs  die  Weiterbewegung  dieses 
Fleckes  unter  der  Annahme  gewisser  Hypothesen  im  voraus  angegeben 
werden  konnte. 

Am  astrophysikalischen  Observatorium  in  Potsdam  ist  der  rote 
Jupiterfleck  oft  beobachtet  worden,  und  ein  ansehnliches  Material 
mikrometrischer  Messungen,  bis  in  die  neueste  Zeit  reichend,  liegt 
vor.  Prof.  Lohse  hat  vor  kurzem  den  Versuch  gemacht,  unter  An- 
nahme eines  festen  Meridians  und  unter  Voraussetzung  einer  gleich- 
förmigen Rotation  des  Jupiter  von  9  11  55,7  m  die  Bewegung  des  Fleckes 
in  der  20jährigen  Periode  aus  den  Messungen  festzustellen  und  ist 
dabei  zu  einem  sehr  merkwürdigen  Resultate  gelangt.  Er  leitete  aus 
den  Beobachtungen  über  den  Mittelpunkt  des  Fleckes  für  jede  Oppo- 
sition einen  „ Normalort"  ab,  und  der  Vergleich  dieser  Normalörter 
liefs  deutlich  die  eigentümlich  fortschreitende  Eigenbewegung  des 
Fleckes  erkennen.  Folgende  jovigraphische  Längen  resultierten  aus 
den  Jahresbeobachtungen: 


1878,6 

249,5 

79,7 

182,7 

1880,7 

128,5 

82,1 

78,0 

84,1 

32,6 

86,3 

8,3 

88,3 

358,9 

1891,7 

352.0 

94,0 

358,8 

96,1 

10,1 

97,3 

20,4 

Aus  den  ersten  Normalörtern  zeigt  sich  also  schon  eine  andauernde 
schnelle,  aber  gesetzroäfsige  Abnahme  der  Längen.  Der  Fleck  kam 
jeden  Tag  früher  in  die  Mitte  der  Scheibe,  als  er  nach  der  mittleren 
täglichen  Rotation  des  Jupiter  kommen  sollte;  demnach  übertraf  seine 
Bewegung  die  Rotationsgeschwindigkeit  des  Planeten.  Die  Geschwindig- 
keit des  Fleckes  verringert  sich  aber,  wie  man  aus  den  Zahlen  sieht, 
schnell,  und  verlangsamt  sich  allmählich,  so  dafs  um  1891  eine  gleich- 
förmige, aber  in  umgekohrler  Richtung  sich  vollziehende  Bewegung 
eintritt    Wenn  man  also  von  der  mittleren  Rotation  von  9  u  55,7  m  an- 


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42 


nehmen  darf,  dafs  sie  dem  festen  Jupiterkörper  angehört,  so  würde 
aus  den  Zahlen  die  Folgerung  zu  ziehen  sein,  dafs  der  Fleck  in  den 
ersten  13  Jahren  seit  seinem  Auftauchen  fast  3/4  des  ganzen  Urafanges 
der  Jupiterkugel  durchlaufen  hat,  dann  umgekehrt  ist  und  jetzt  nach 
und  nach  in  die  bereits  inne  gehabten  Stellungen  zurückzukehren 
scheint.  Die  Kraft,  welche  den  Fleok  bei  seiner  Entstehung  in  Ro- 
tation versetzte,  bewirkte  demnach  anfänglich  ein  Vorauseilen  des 
Fleckes  gegen  die  tägliche  Rotation,  dann  sank  die  Kraft  rasch,  später 
allmählich  und  erreichte  1891  Gleichförmigkeit; 'seit  dieser  Zeit  trat  eine 
weitere  und  stärker  werdende  Verminderung  der  Bewegung  ein.  Nach 
dem  Bekanntwerden  des  Lohseschen  Resultates  wird  man  wohl  die 
zur  Erklärung  des  Fleckes  herangezogene  Hypothese,  dafs  es  sich 
hier  um  einen  kolossalen  vulkanischen  Ausbruch  auf  der  Jupiter- 
oberfläche handle,  und  der  rote  Fleck  durch  die  Fortbewegung  der 
Auswurfsprodukte  in  der  Jupiter- Atmosphäre  entstanden  sei,  streichen 
müssen.  Denn  diese  Hypothese  dürfte  für  die  Erklärung  der  Bewegung 
des  Fleckes  seit  1891  nicht  mehr  ausreichen.  * 

Geographische  Verbreitung  der  Erdbeben  in  den  Vereinigten  Staaten 

und  auf  Hawaii. 

Die  statistischen  Untersuchungen  von  Montessus  de  Bailore 
über  die  Erdbebenverbreitung  erstrecken  sich  jetzt  auoh  auf  das  Gebiet 
der  Vereinigten  Staaten  Nordamerikas  und  auf  Hawaii.  Das  über  Erd- 
bebenaufzeichnungen zu  Gebote  stehende  Material  ist  allerdings  noch 
sehr  lückenhaft,  besonders  mangelt  es  an  gröfseren,  mit  Seismo- 
graphen angestellten  Beobachtungsreihen,  indessen  läfst  sich  folgende 
Verteilung  der  Erdbebenhäuflgkeit  deutlich  erkennen.  Obenan  steht 
die  Hauptinsel  der  Hawaii-Gruppe;  es  kommt  dort,  wie  wegen  der 
vulkanischen  Natur  der  Insel  (welche  zwei  der  bedeutendsten  Vulkane 
beherbergt)  naheliegend  ist,  schon  auf  je  37  qkm  je  ein  Erdbeben. 
In  den  ausgedehnten  Gebieten  der  Vereinigten  Staaten  stellt  selbst- 
verständlich Zentral-Kalifornien  das  seismisch  bewegtoste  Land  dar, 
nämlich  das  Terrain  von  San  Franzisko  bis  östlich  zum  Yosemite-Thal, 
südlich  bis  zum  Fort  Tejon,  nördlich  bis  zum  Shastaberge.  Auf  je 
76  qkm  kommt  ein  Erdbeben;  die  unruhigsten  Gegenden  liegen  um 
die  Bai  von  San  Franzisko,  am  mittleren  Sakramento,  und  in  den 
Cordilleren  von  Quincy  bis  Jackson.   Südkalifornien,  von  der  Bai  von 


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43 


Monterey  bis  San  Diego  (Häufigkeit  87  qkm)  zeigt  namentlich  längs 
der  Küste  eine  stärkere  Bewegung.  Dann  folgt  in  der  absteigenden 
Reihe  der  Erdbebenhäufigkeit  Neuengland  (90  qkm)  mit  dem  Zentral- 
punkte Ost-Haddam;  unruhig  zeigt  sich  besonders  die  Bai  von  Boston 
und  der  Long  Island-Kanal.  Das  Territorium  Washington  mit  der 
Vulkankette  zwischen  Mount  Baker  und  Mt  Hood  und  der  Insel 
Vancouver  und  Nordkalifornien  von  San  Franzisko  bis  Crescent  City 
ergänzen  das  südlichere  grofse  kalifornische,  erdbebenreiche  Gebiet» 
Als  besonders  seismisch  bewegt  erweist  sich  die  Küste  vom  Kap  Men- 
docino  bis  zur  Humboldtbai  und  die  sich  am  Eelflusse  hinziehende 
Gegend.  Die  Erdbebenhäufigkeit  im  Territorium  Washington  und 
Nordkalifornien  steht  fast  gleich,  etwa  118  qkm.  Nun  folgen  die 
weniger  von  Erdbeben  heimgesuchten  Gebiete  der  Vereinigten  Staaten, 
betreffs  welcher  sich  freilich  das  Bild  der  Häufigkeit  wesentlich  anders 
gestalten  dürfte,  wenn  der  grofse  wissenschaftliche  Fortschritt  in  den 
Vereinigten  Staaten  auch  eine  systematische  Beobachtung  der  Erdbeben 
zu  stände  gebracht  haben  wird.  Die  Gegenden  am  Erie-  und  Ontario- 
See,  mit  Rochester  als  Mittelpunkt,  haben  eine  Häufigkeit  von  nur  345 
qkm;  ganz  gleich  stehen  Ohio,  Tennessee  und  Mississippi,  noch. niedriger 
rangiert  Michigan  (487  qkm).  Zahlenmäfsig  gegenwärtig  noch  schwer 
bestimmbar,  aber  nicht  unerheblich  ist  die  Erdbebenhäufigkeit  in  dem 
grofsen  Gebiete,  welches  sich  östlich  von  Zentralkalifornien  ins  Innere, 
über  die  Staaten  Nevada  und  Utah  bis  zum  Rio  Colorado  erstreckt.  Hier 
erweisen  sich  einzelne  Partien  von  den  Cord  illeren  gegen  den  Pyra- 
midensee, beim  Salzsee,  und  die  Gegend  östlioh  von  Mt.  Whitheney 
(in  den  Jahren  1868 — 72  vielen  Erdbeben  ausgesetzt)  als  recht  be- 
wegt. Von  den  Küsten  am  mexikanischen  Golf  finden  sioh  nur  einzelne 
'Erdbeben  aufgezeichnet,  und  sehr  dürftig  ist  besonders  das  statistische 
Material  über  Nebraska,  Kansas,  Colorado.  Kapitän  Montessus 
macht  auch  darauf  aufmerksam,  dafs  die  im  Norden  Amerikas  befind- 
liche, gewissermafsen  die  Brücke  zwischen  Asien  und  Amerika  her- 
stellende vulkanische  Kette  der  Aleuten  eine  lebhafte  seismische  Be- 
wegung, besonders  auf  der  Insel  Unalaschka,  besitzt. 

Astronomische  Pendeluhren  ohne  Kompensation. 

In  der  Auffindung  einer  Stahl -Nickel -Legierung  von  aufser- 
ordentlich  geringfügigem  Ausdehnungskoeffizienten  ist  dem  Physiker 
Guillaume  eine  nicht  nur  theoretisch  hochinteressante,  sondern  auch 


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44 

praktisch  wichtige  Entdeckung')  geglückt.  Während  man  nämlich  bis- 
her bei  der  Herstellung  astronomischer  Pendeluhren  gezwungen  war, 
kostspielige  Kompensationsvorrichtungen  (Rostpendel  oder  Queck- 
silberkompensation) anzubringen,  um  die  durch  Temperaturschwan- 
kungen bedingten  Störungen  des  Uhrganges  zu  beseitigen,  lassen  sich 
jetzt  aus  Nickelstahl  Pendel  herstellen,  welche  durch  Temperatur- 
änderungen nur  eine  kaum  bemerkbare  Veränderung  der  Schwin- 
gungsdauer  erfahren  und  daher  Tür  astronomische  Uhren  ohne  wei- 
teres Verwendung  finden  können.2) 

Die  Thatsache,  dafs  bei  Legierung  des  Stahls  mit  wechselnden 
Mengen  von  Nickel  eine  so  aufserordentliche  Veränderung  der  ther- 
mischen Ausdehnung  stattfindet,  ist  eine  ganz  neuartige,  vom  physi- 
kalischen Gesichtspunkte  aus  höchst  merkwürdig«  und  vorläufig  un- 
erklärbare Erscheinung,  dio  übrigens  mit  ähnlichen  Änderungen  der 
Elastizität  parallel  geht  und  auf  eine  eigentümliche  Molekularstruktur 
der  betreffenden  Legierungen  schliefsen  läfst.  Während  sich  Stahl  bei 
Erwärmung  um  100°  C.  auf  das  0.00 1035  fache  seiner  Länge  ausdehnt, 
nimmt  diese  Zahl  — das  Hundertfache  des  sogenannten  Ausdehnungskoef- 
fizienten —  bei  geringem  Nickelgehalt  noch  zu,  bis  bei  24  pCt  Nickel- 
gehalt ein  Maximum  erreicht  wird.  Bei  weiterer  Steigerung  der  Nickel- 
beimengung nimmt  der  Ausdehnungskoeffizient  nun  aber  rapide  ab 
und  erreicht  bei  35,7  pCt.  Nickel  den  erstaunlich  niedrigen  Wert 
0,0000877,  der  nur  den  zwölften  Teil  des  beim  Stahl  beobachteten 
Wertes  beträgt  und  selbst  dem  Iridium  gegenüber  eine  achtmal  ge- 
ringere Ausdehnung  anzeigt.  Bei  noch  weiterer  Zunahme  des  Nickel- 
gehaltes zeigte  sich  aber  wieder  eine  rasche  Vergröfserung  der  Aus- 
dehnung, die  bald  einen  normalen  Wert  erreicht  und  bei  reinem 
Nickel  sogar  gröfser  ist  als  beim  Stahl.  Ein  Analogon  für  diese 
höchst  überraschenden  Thatsachen  kennen  wir  allein  bei  den  Schmelz- 
temperaturen,  die  bekanntlich  für  Legiorungen  oft  wesentlich  niedriger 
liegen  als  die  Schmelzpunkte  der  einzelnen  Metalle,  aus  denen  sie 
bestehen;  so  hat  Lipowitz  aus  Wismuth,  Zinn,  Blei  und  Kadmium 
eine  Mischung  herstellen  können,  die  schon  bei  60  0  flüssig  wird,  wäh- 
rend die  Schmelzpunkte  aller  Konstituenten  höher  als  220 0  liegen. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  der  Nickel-Stahl  aufser  zu  Pendeln 
auch  zu  vielen  anderen  Dingen  mit  Vorteil  verwendet  werden  wird. 

')  Die  Auffindung  dor  Legierung  erfolgte  bei  Gelegenheit  von  Arbeiten, 
die  von  dem  internationalen  Institut  für  Mafs  und  Gewicht  angeregt  waren. 

?>  Derartige  Uhren  mit  .immunem-  Nickelstahlpendcl  konstruiert 
H.  Heele  in  Berlin. 


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45 


So  werden  in  Zukunft  vor  allem  Mefslineale,  die  im  Freien  gebraucht 
werden  und  eine  genaue  Temperaturermittlung  kaum  zulassen,  aus  dem 
„immunen"  Material  herzustellen  sein.  Allerdings  mufs  bei  dieser 
Verwendung  der  Umstand  berücksichtigt  werden,  dals  der  Nickelstahl 
in  der  ersten  Zeit  nach  seiner  Erstarrung  noch  sehr  merkliche  Volumen- 
veränderungen erfährt,  die  auf  einer  Art  elastischer  Nachwirkung 
beruhen.  F.  Kbr. 


Violle.  J.:  Lehrblich  der  Physik.  Deutsche  Ausgabe  von  E.  O  um  lieh, 
W.  Jaegor,  St.  Lindeck.  II.  Band,  Zweiter  Teil:  Geometrische  Optik. 
Mit  270  in  den  Text  gedruckten  Figuren.  —  Berlin,  Vorlag  von  Julius 
Springer.  1897.  —  Preis  8  M. 

Der  vorliegende  Band  des  Vio  11  eschen  Lehrbuchs  der  Physik  behandelt 
das  Gebiet  der  reinen  geometrischen  Optik,  während  die  physikalische  Optik 
in  einem  besonderen  Bande  zur  Darstellung  gelangen  wird;  einige  speziellere 
Resultate  der  letzteren,  soweit  Bie  die  spektrale  Zerlegung  des  Lichtes  ver- 
schiedener Lichtquellen  und  die  Deutung  der  hierbei  sich  ergebenden  Erschei- 
nungen betroffen,  haben  allerdings  bereits  in  diesem  Bande  Berücksichtigung 
gefunden. 

Ausgehend  von  dem  Erfahrungssatz  der  geradlinigen  Fortpflanzung  der 
Lichtstrahlen  in  einem  homogenen  Medium,  werden  die  Gesetzo  der  Reflexion 
an  ebenen  und  gekrümmten  Spiegeln,  die  hierauf  gegründeten  Vorfahren  der 
Winkelmessung,  die  Methode  der  Ermittlung  kleiner  Drehungswinkel  durch 
die  sogenannte  Spiegelablesung  und  einige  speziellere  Formen  häufig  gebrauchter 
Instrumente,  bei  denen  Spiegel  zur  Vorwendung  kommen,  abgehandelt.  Re- 
ferent vermifst  in  diesem  Zusammenhang  die  Erwähnung  des  Gaussschen 
Heliotropen.  Besonderes  Interesse  verdient  u.  a.  in  diesem  Teil  des  Werkes 
die  Schilderung  des  von  Foucault  angewendeten  Verfahrens  zur  Her- 
stellung parabolischer  Spiegel  und  der  von  ihm  vorgeschlageneu  Prüfungs- 
methoden. 

Die  nächsten  beiden  umfangreichen  Kapitel  handeln  von  der  Brechung 
und  Zerstreuung  des  Lichtes  an  der  Grenzfläche  zweier  verschiedenen  optischen 
Medien,  den  besonderen  Eigenschaften  der  Linse,  sowohl  der  unendlich  dünnen 
wie  derjenigen,  deren  Dicke  nicht  vernachlässigt  werden  darf,  und  den  Hilfs- 
mitteln zur  Erzeugung  achromatischer  optischer  Systeme.  Den  Schlufs  bildet 
eine  gedrängte  Darstellung  der  Theorio  der  optischen  Instrumente,  die  allos 
Wissenswerte  berührt,  ohne  indessen  sich  allzusehr  in  die  Einzelheiton  dieser 
schwierigen  Materie  zu  vertiefen.    In  diesem  letzteren  Teile  sind  uns  einige 


46 


klein©  Ungenauigkeiten,  dio  zum  Teil  auf  Druckfehlern  zu  beruhen  scheinen, 
aufgefallen.  Zum  Beispiel  dürfte  die  Angabe  nicht  zutreffend  sein,  dafs  Frauen- 
hofer  den  von  ihm  hergestellten  achromatischen  Fernrohrobjektiven  das 
Öffnungsverhältnis  1  :  30  gegeben  habe,  welche  Zahl  auch  heute  noch  üblich 
sei  Unseres  Wissens  wird  im  allgemeinen  nicht  unter  das  Verhältnis  '/ij  — V» 
heruntergegangen. 

Die  Darstellung  zeichnet  sich  wie  in  den  früher  bereits  erschienenen 
Teilen  durch  Klarheit  und  Anschaulichkeit  aus,  berücksichtigt  auch  in  kurzen 
Umrissen  überall  den  geschichtlichen  Entwicklungsgang,  beruht  im  übrigen 
aber  gänzlich  auf  der  älteren  Methode,  ohne  sich  der  neuen  Ab  besehen  An- 
schauungsweise zu  bedienen.  Dankenswerterweise  haben  die  Herausgeber 
mehrfach  in  Fufsnoten  eine  Vervollständigung  des  Inhalts,  namentlich  auch 
bezüglich  neuer  Instrumente  und  im  Texte  des  Buches  nicht  erwähnter  optischer 
Systeme,  z.B.  der  von  Zeiss  in  Jena  der  Vergessenheit  entrissenen  bildum- 
kehrenden Prismenkombinationen  u.  a.  m.,  gegeben  G.  W. 

Adolf  Richter:  Kalenderscheibe  zur  Umrechnung  aller  möglichen 
Daten  in  julianisches  oder  gregorianisches  Datum.  —  Riga,  Hinckfufs. 

Dieses  Hilfsmittel  zur  Verwandlung  der  Daten  anderer  Arten  in  die  ent- 
sprechende unserer  Zeitrechnung  besteht  aus  einer  Orundscheibo  mit  der  Ein- 
teilung in  36!)  resp.  366  Tage  und  einigen  kleineren  Scheiben,  die  je  nach  der 
gegebenen  Frage  auf  dem  Mittelpunkte  der  Grundscheibe  befestigt  werden. 
So  erlaubt  z.  B.  ein  und  dieselbe  Scheibe  dio  gregorianischen  Daten  der  jüdischen 
Mondjahre  von  354,  353  und  355  Tagen  und  des  mohamodanischen  Mondjahres 
von  354  und  355  Tagen  unmittelbar  abzulesen.  Eine  andere  genügt  für  das 
längere  jüdische  Jahr  von  über  383  Tagen  und  das  chinesische  Mondjahr,  etc. 
Da  man  nur  mit  wenig  Scheiben  zu  thun  hat,  auch  die  Gebrauchsanweisungen 
auf  den  einzelnen  Scheiben  beigedruckt  sind,  so  kommt  man  mit  der  Verwand- 
lung gegebener  Daten  recht  schnell  zum  Ziele,  und  die  „Kalenderscheibe"  kann 
darum  gut  empfohlen  werden.  G. 


Obersicht  der  Himmelserscheinungen  für  Oktober  und  November. 

Der  Sternhimmel.  Um  die  Mitto  der  Monate  Oktober  und  November  ist 
der  Anblick  des  gestirnten  Himmels  um  Mitternacht  der  folgende:  Im  Oktober 
kulminieren  dio  Sternbilder  der  Fische,  Andromeda  und  Kassiopeja,  im  No- 
vember der  Walfisch,  die  Plejadcn  und  Perseus.  Im  Untergänge  sind  um 
Mitternacht  Adler  (gegen  1  h  morgens,  im  November  um  1 1  i>  nachts  unter- 
gehend), Delpbiu  und  Wassermann  (zwischen  12*»  und  2*>).  Die  Sternbilder 
Bootes,  Herkules  und  Ophiuchus  gehen  zwischen  8—10  h  unter,  Jungfrau  geht 
6chon  nachmittags  unter,  Wage  und  Skorpion  in  den  ersten  Abendstunden 
(Antares  nach  6  h,  im  November  um  4*»).  Im  Aufgehen  sind  um  Mitternacht 
der  grofse  Löwe  (Regulus  geht  um  V,  1  >>  resp.  '/41*2»»  auf),  der  grofse  und 
kleine  Hund  (Sirius  geht  um  V,lh  resp.  7*Hhftuf,  Procyon  eine  Stunde 
früher)  Der  Orion  ist  seit  8*»,  die  Zwillinge  seit  7  h  abends  vollstäudig  sicht- 
bar, der  Stier  schon  in  don  ersten  Abendstundon  (Aldebaran  geht  um  '/.,8  h 
resp.  Vj6»»  auf),  dio  Storno  des  Walfisches  noch  etwas  früher.   Am  Morgen- 


Himmelserscheinungen. 


47 


himmol  (gegen  5  b  morgens)  bemerkt  man  den  Aufgang  des  Jungfraustern- 
bildes. Folgende  zur  Orientierung  verhelfenden  Sterne  kulminieren  für  Berlin 
um  die  Mitternaehtszeit: 


1 .  Oktober     C  Androm.  (4.  Gr.) 

(AR.  Oh  42m  D. 

+  23° 

43') 

8.      „         t  Piscium  (4.  Gr.) 

1  G 

H-29 

33 

15.      „         »      h       (4.  Gr.) 

1  36 

+  * 

58 

22.      „         ß  Trianguli  (3.  Gr ) 

2  3 

+  34 

30 

29.      „          «Ceti         (4.  Gr.) 

2  34 

-  0 

6 

1.  Novemb.  41  Arietia     (4.  Gr.) 

2  44 

+  26 

50 

3.      „        12  Eridani    (3.  Gr.) 

3  8 

—  29 

23 

15.      „         5     „        (3.  Gr.) 

3  38 

—  10 

7 

22.      „         o      „        (4.  Gr.) 

4  7 

-  7 

6 

29.      „       53     „        (4  Gr.) 

4  33 

-14 

30 

Helle  veränderliche  Sterne,  welche  vermöge  ihrer  günstigen  Stellung  vor 
und  nach  Mitternacht  beobachtet  werden  können,  sind: 

UCephei  (Variabilität  zw.  7.8.  und  9.  Gr.,  Periode  2  Tage  11  St.  50  Min.) 

BPegasi  (        i|  „    2.2.   „  2.7.  Gr.       „  irregulär) 

K  „  (Maximum  7.8.  Gr.  am  9.  Oktober) 
U  Arietia  (  „  7.  Gr.  „11.  „  ) 
RLeporis(     ,t         7.   Gr.  „   20.      „  ) 

aufserdem  namentlich  die  beiden  merkwürdigen  Veränderlichen  ß  Persei  (Algol) 
mit  der  kurzen  Periode  von  2  Tagen  20  &  48  m,  und  Mira  Ceti  (o  im  Walfisch), 
dessen  Periode  331  Tage  beträgt  und  dessen  Maximalhelligkeit  (3.4  Gröfse)  auf 
den  6.  Oktober  fallen  wird.  Von  den  hellen  Nebeln  ist  der  Andromedanebel 
noch  gut  verfolgbar. 

Die  Planeten.  Merkur  ist  im  Oktober  anfänglich  am  Morgenhimmel  noch 
sichtbar  und  tritt  in  der  zweiten  Hälfte  des  November  wieder  am  Westhimmel 
nach  Sonnenuntergang  hervor.  Am  16  Oktober  ist  er  sehr  nahe  beim  Jupiter 
zu  finden,  mit  welchem  er,  und  fast  gleichzeitig  mit  der  Sonne,  untergeht.  — 
Venus  geht  im  Oktober  eine  Stunde  nach  der  Sonne,  später  immer  kürzere 
Zeit  nach  derselben  unter.  Sie  läuft  aus  dem  Skorpion,  in  welchem  sie  am 
19.  Oktober  dorn  Antares  am  nächsten  kommt,  bis  in  den  Ophiuchus  und  kehrt 
Mitte  November  in  letzterem  um.  Vor  Ende  Oktober  erreicht  sie  ihren  gröfsten 
Glanz.  Mitte  November  erfolgt  der  Untergang  schon  Vi  Stunde  nach  dem 
Sonnenuntergänge.  —  Mars  geht  Anfang  Oktober  um  V4  Hh  abends  auf,  An- 
fang November  um  Vi  10  h.  Ende  November  um  8t>.  Sein  Lauf  zieht  sich  von 
den  Zwillingen  (südlich  von  Castor)  gegen  den  Krebs  hin,  Ende  November  ist 
er  unweit  der  Sterngruppe  „Krippe"  im  Krebs  angelangt.  Während  der  beiden 
Monate  vermindert  sich  die  Entfernung  des  Mars  von  der  Erde  um  weitere 
0.45  Einheiten  der  Entfernung  Erde-Sonne.  —  Jupiter  ist  nur  noch  kurze 
Zeit  am  Abendhimmol  beobachtbar,  da  er  immer  zeitiger  untorgoht;  nach  Mitte 
Oktober  erfolgt  sein  Untergang  früher  als  das  Verschwinden  der  Sonne,  und 
der  Planet  wird  im  November  allmählich  vor  Sonnenaufgang  am  Morgenhimmel 
auffindbar.  Er  beschreibt  einen  nördlich  von  Spica  in  der  Jungfrau  nach  Süd- 
osten ziehenden  Weg.  —  Saturn  steht  im  Skorpion  nördlich  von  Antares  und 
läuft  gegen  den  Ophiuchus  hin.  Er  befindet  sich  während  des  Oktober  und 
November  in  der  Näho  von  Venus,  steht  aber  5— G  Grad  nördlicher  als  letztere. 
Er  ist  mit  Venus  am  Abendhimmel  zwar  noch  sichtbar,  geht  aber  immer  zei- 
tiger unter,  Anfang  November  um  6  •»  abends,  Ende  November  um  V«5h.  — 
Uranus  ebenfalls  im  Skorpion,  in  der  Nähe  von  ß  Scorpii,  steht  in  demselben 
Parallel  wie  Saturn,  aber  westlicher  aLs  der  letztere.  Er  geht  eine  halbe  Stunde 


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48 


früher  als  Saturn  unter.  Das  Zusammenfinden  dreier  Planeten,  Venus,  Saturn 
und  Uranus,  in  demselben  Sternbilde,  in  der  Nahe  der  hellen  Sterne  a  und  ß 
Scorpii,  ist  keine  ganz  unbemerkenswerte  Konstellation.  —  Neptun  endlich 
ist  die  ganze  Nacht  sichtbar,  da  er  Anfang  Oktober  um  9  b,  Ende  November 
gegen  5  b  abends  aufgeht.   Er  befindet  sich  in  der  Nähe  von  C  Tauri  (3.3  Gr.). 

Für  Berlin  sichtbare  Sternbedeekungen  durch  den  Mond. 

Eintritt  Austritt 


6.  Oktober  132  Tauri         (5.4.  Gröfse)   5  b  23  m  morg.     6  h  37  m  morg. 


18.  „ 

o  Scorpii 

(3.3. 

) 

5 

0  abends 

5 

51  abends 

22. 

-Capricorni  (5. 

«  ) 

4 

57 

6 

9 

22. 

? 

(5.1. 

) 

6 

11 

7 

10 

Mond. 

Letztes  Viert , 

air 

t   7.  Oktober  Aufgang  9 b 

56 

m  abends,  Unterg.  2  b  0  °>  nachm. 

Neumond 

*  i 

15.  „ 

Erstes  Viert. 

•• 

22. 

1 

52 

nachm., 

10  54  abends 

Vollmond 

29.  ., 

4 

3 

8   12  morg. 

Letztes  Viert 

fi.  Novemb. 

<» 

11 

9 

abends, 

•i 

1    1 1  nachm. 

Neumond 

14. 

Erstes  Viert 

v 

20.  „ 

0 

40 

nachm., 

■> 

11   80  abends 

Vollmond 

•• 

28.  „ 

3 

43 

>« 

i> 

9     8  morg. 

Erdnähen :  20.  Oktober,  16.  November;  Erdfernen :  7.  Oktober,  4.  November. 


Sonne. 

Sternzeit  f.  den         .        ,  Souucnaufg.  Sonnenunterg. 

mittBerl.  Mittag    Gleichung  L  Berlin 


1.  Oktober 

12  b 

40  «n 

48.8* 

_  10  m  22.4» 

4m 

5»» 

36  « 

8.  „ 

13 

8 

24.7 

-  12 

28.0 

(J 

16 

5 

19 

15.  „ 

13 

36 

0.6 

—  11 

11.7 

29 

5 

3 

22.  „ 

14 

3 

36.5 

—  15 

27.7 

6 

42 

4 

48 

29.  „ 

14 

31 

12.3 

-  16 

11.4 

G 

55 

4 

34 

1.  Novemb. 

14 

43 

2.0 

-  16 

18.9 

7 

0 

4 

28 

8.  „ 

15 

10 

37.9 

-  16 

7.6 

7 

13 

4 

16 

15.  „ 

15 

38 

13.8 

-  15 

14.4 

7 

26 

4 

5 

22.  ,, 

16 

5 

49.7 

-  13 

40.4 

7 

38 

:; 

56 

29.  „ 

16 

33 

25.6 

-  11 

28.8 

7 

49 

3 

49 
• 

Vorlug:  lleru&QB  Paetel  Im  Berlin.  —  Druck i  Wilhelm  Orcnto  i  Kaebdrock«rrl  in  Bfrlin  -  8ch6n»b»Tf. 
Ttt  die  KedmcUon  veaotwectlieh:  Dr.  P.  Bchweha  1»  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  tu  den  lohelt  dieeer  Zeitschrift  uUnifl 
ÜberseUnnfsrecht  vorbehalten. 


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Das  Märchenland  des  Yellowstone. 

Von  Dr.  P.  Seil tvah ii  in  Berlin. 

c  J(Tm  Nordwesten  der  Unionsstaaten  an  der  Grenze  der  drei  Terri- 
torien  Montana,  Wyoming  und  Idaho  liegt  inmitten  der  Berg- 
riesen des  Feisengebirges  im  Quellgebiete  des  oberen  Yellow- 
stone- und  Madison-Rtver  das  berühmte  Wunderthal  Amerikas,  das 
unter  dem  Namen  „Yellowstone-  oder  National-Park"  bekannte  grofs- 
artigste  Geysergebiet  der  Welt.  —  Es  ist  ein  Märohenland,  dem  auf 
dem  ganzen  Erdenrunde  nichts  Ebenbürtiges  zur  Seite  zu  stellen  ist, 
das  die  Bürger  der  Vereinigten  Staaten  wie  ein  Geschenk  der  Natur 
verehren,  zu  dem  sie  hinpilgern  wie  zu  einem  Mekka,  und  von  dessen 
natürlichen  Fontänen,  mächtigen  Felspartien,  majestätischen  Wasser- 
fällen, anmutigen  Seen  und  herrliohen  Waldungen  sie  mit  einer  ge- 
wissen Ehrfurcht  und  Andacht  erzählen. 

Merkwürdigerweise  ist  dieses  Wunderland  erst  seit  einem  viertel 
Jahrhundert  bekannt  Eine  unbestimmte  Kunde  von  den  eigenartigen 
Erscheinungen  desselben  stammt  zwar  schon  aus  dem  Anfange  dieses 
Jahrhunderts,  wo  gelegentlich  ein  kühner  Pionier,  nach  Erzen  suohend, 
einen  staunenden  Blick  in  das  Zauberland  that;  auch  wurden  Nach- 
richten über  koohende  Quellen,  vulkanisch  ausgeworfene  Wasser-  und 
Sohlammergüsse  von  Zeit  zu  Zeit  aus  Jäger-  und  Indianermunde  der 
oivilisierten  Welt  des  Ostens  überbracht,  doch  blieben  diese  märchen- 
haften Schilderungen  und  abenteuerlichen  Gerüchte  mehr  denn  sech- 
zig Jahre  unbeachtet  und  fanden  keinen  Glauben.  Als  jedooh  im 
Jahre  1869  die  Goldsuoher  Cook  und  Falsom  den  oberen  Yellowstone 
besuchten  und  nach  ihrer  Rückkehr  von  herrliohen  Wasserfällen,  von 
einem  grofsen  See,  von  heifsen  Quellen  und  Geysern  erzählten,  wurde 

Himmel  uod  Erde.  1888.  XL  £  4 


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50 


die  öffentliche  Aufmerksamkeit  so  sehr  erregt,  dafs  General  Wafs- 
burn  mit  einer  Anzahl  Bürger  aus  Montana  eine  Expedition  dahin 
ausrüstete.  Die  Nachricht  von  dem  neu  entdeckten  Wunderland  durch- 
flog die  Union  wie  ein  Lauffeuer,  sie  erweckte  in  den  einflußreichen 
Kreisen  den  lebhaften  Wunsch  einer  gründlichen  Erechliefsung  jener 
Regionen.  Diese  erfolgte  denn  auch  bald  darauf  im  Sommer  1871 
unter  der  Leitung  des  damaligen  Direktors  der  geologischen  und  geo- 
graphischen Landesaufnahme,  Prof.  H  aydens,  durch  eine  vom  Staate 
ausgerüstete  Expedition. 

Es  ist  bezeichnend,  dafs  die  Mitglieder  der  Haydenschen  Ex- 
pedition, als  sie  den  ersten  Qualm  der  kochenden  Springquellen  ge- 
wahrten, ein  Geschrei  erhoben:  die  Geyser!  die  Geyser!  geradeso  wie 
der  verwunderte  Ruf:  Land!  Land!  erscholl,  als  sich  Columbus'  Zu- 
versicht auf  die  Entdeckung  einer  neuen  Welt  als  Wahrheit  und 
Wirklichkeit  erwies. 

Die  begeisterten  Schilderungen  des  amerikanischen  Geologen 
von  der  Anmut,  von  der  Romantik  und  düsteren  Melancholie  des 
alle  Erwartungen  übertreffenden  Schauplatzes  vulkanischer  Thätigkeit 
erregten  die  Aufmerksamkeit  der  Bundesregierung  und  bewogen  die- 
selbe auf  Hayden8  Anregung  zu  einer  That,  die  ein  ehrendes  Zeug- 
nis von  der  Achtung  der  Repräsentanten  der  amerikanischen  Nation 
für  die  Bestrebungen  der  Wissenschaft  und  für  die  Juwelen  ihres 
Landes  ablegt,  und  die  zugleich  dem  Volke  ein  kostbares  Geschenk 
erhalten  sollte,  das  sonst  leicht  in  den  Händen  gewinnsüchtiger  Spe- 
kulation geschmälert  werden  konnte. 

Am  1.  März  1872  beschloß  der  Kongreß  der  Vereinigten  Staaten, 
einen  Teil  dieses  Märchenlandes,  168  deutsche  Quadratmeilen  um- 
fassend, —  also  etwa  ein  Gebiet  von  der  Größe  des  Grofsherzogtums 
Oldenburg  —  zu  einer  Staatsdomäne,  zu  einem  Nationalpark  zu  er- 
klären, der  für  ewige  Zeiten  dem  Wohle  und  Vergnügen  des  Volkes 
und  den  Forschungen  der  Wissenschaft  reserviert  bleiben  sollte. 

Der  Name  „Park"  könnte  leicht  zu  irrtümlichen  Auffassungen 
von  der  Natur  jener  Gegenden  Anlaß  geben;  man  könnte  glauben, 
die  Landschaft,  welche  die  wunderbaren  vulkanischen  Erscheinungen 
umrahmt,  sei  durch  Menschenhand  bereits  künstlich  zu  einem  Parke 
umgestaltet  worden.  Allein  nichts  ist  irrtümlicher.  Das  ganze  Gebiet 
stellt  noch  immer  eine  der  ursprünglichsten  Gebirgswildnisse  dar, 
welche  sich  überhaupt  im  westlichen  Teile  der  L'nionsstaaten  vor- 
finden. Außer  der  Anlage  einiger  Wege  von  primitiver  Beschaffen- 
heit, der  Herstellung  einiger  die  Verkehrstraßen  vermittelnden  Brücken 


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51 


hat  man  sich  wohl  gehütet,  der  Natur  irgend  welchen  Zwang  anzu- 
thun;  die  Bäume  liegen  so,  wie  sie  Wind  und  Wetter  durch  einander 
geworfen  haben.  Das  Thal  war  noch  bis  in  die  neueste  Zeit  so  un- 
berührt von  der  Hand  der  Civilisation,  dafs  jeder  Reisende  sich  Wa- 
gen, Pferde,  Zelt  und  Proviant  selbst  mitbringen  mufste,  und  zur  Be- 
nutzung der  warmen  Quellen  gab  es  im  ganzen  Parke  in  den  70er 
Jahren  nur  zwei  elende  Bretterbuden.  Erst  seit  dem  Sommer  1883 
haben  die  Amerikaner  inmitten  der  Wildnis  fünf  Hotels  von  kolossa- 
len Dimensionen  erbaut,  um  den  Tausenden  von  Touristen  und  Hei- 


lungsbedürftigen, welche  aus  allen  Teilen  der  Welt  dies  herrliche 
Fleckchen  Erde  aufsuchen,  ein  Unterkommen  zu  schaffen. 

Auch  wir  wollen  heute  eine  Wanderung  nach  dem  berühmten 
Wallfahrtsorte  der  Amerikaner  unternehmen;  eine  Anzahl  von  Natur- 
aufnahmen soll  uns  die  Gaben  zeigen,  welche  hier  mit  vollen  Händen 
ausgestreut  sind. 

Um  dorthin  zu  gelangen,  benutzen  wir  die  nördliche  der  beiden 
grofsen  Weltverkehrslinien  des  neuen  Kontinents,  die  im  Jahre  1883 
eröffnete  Northern  Pacific  Bahn.  Von  der  kleinen  an  dieser  Bahn, 
fern  von  den  volksreichen  Städten  des  Ostens,  etwa  in  der  Mitte 
zwischen  St.  Paul  und  dem  stillen  Ozean  liegenden  Stadt  Livington 
führt  eine  von  der  Hauptlinie  nach  Süden  sich  abzweigende  Schienen- 


Eintritt  in  den  Yellowstone-Park. 


uigitizeo  Dy  Vj 


52 


strecke,  der  Thalfurche  des  Yellowstone-Flusses  folgend,  nach  dem 
Fufs  der  Zinnoberberge,  und  hier  bei  dem  Örtchen  Clnnabar  betreten 
wir  die  Schwelle  des  Parkes. 

Aber  wir  sind  vom  Herzen  des  Märchenlandes  noch  eine  gute 
Strecke  entfernt  Die  mäohtigen  Bergketten  der  Rocky-Mountains, 
welche  vom  Westen  und  Osten  den  Park  umgürten,  machen  wegen 
der  bedeutenden  Höhenansteigung  eine  Weiterführung  der  Bahn- 
strecke in  die  Berge  hinein  unmöglich.  Wir  müssen  die  in 
Cinnabar  bereitstehenden  Jagdkutschen  besteigen,  und  auf  diesen 
geht  es  nun  auf  und  nieder  im  Thale  des  Gardiner  -  Flusses  nach 
dem  ungefähr  8  Meilen  südlicher  liegenden  National  -  Hotel.  Mit 
Moränenschutt  bedeckte  Berghalden,  Zeugen  der  Eiszeit,  begleiten 
uns  längs  des  ganzen  Weges;  dann  windet  sioh  der  Pfad  an  einer 
imposanten  Oebirgswand  vorbei,  die  Felswände  schieben  sioh  ku- 
lissenartig  aneinander,  durch  welche  sioh  etwa  1000  Fufs  tiefer  der 
Gardiner -Flufs  hindurchwindet. 

Endlich  naoh  einer  etwas  holprigen  Fahrt  gelangen  wir  nach 
dem  Nationalhotel,  das  einsam  in  der  durch  den  fein  zerriebenen 
Kalkstaub  sohneeweifs  glänzenden  Thalsenkung  nur  wenige  tausend 
Sohritt  von  den  heifeen  Quellen  entfernt  liegt. 

Das  Gasthaus  ist  ein  hübscher  vierstöckiger  Holzbau  im  schweizer 
Verandastil  ohne  Anspruch  auf  architektonischen  Luxus;  es  besitzt 
800  Zimmer  und  ist  selbstverständlich  mit  Telegraph,  elektrischem 
Licht  und  allem  in  den  besseren  amerikanischen  Hotels  übliohen 
Comfort  ausgestattet  Gleich  nach  Vollendung  der  Northern-Paoific- 
Linie  1883  ist  es  von  einer  unternehmenden  Gesellschaft  hier  aufge- 
führt worden.  Seitdem  so  auf  die  Bequemlichkeit  der  Parkbesuoher 
Bedacht  genommen  ist,  hat  sioh  denn  auch  die  Zahl  derselben  be- 
deutend vermehrt  Die  Amerikaner  haben  eben  Geduld  und  Ausdauer 
auch  im  Vergnügen,  und  tausend  Meilen  Eisenbahnfahrt  ist  für  sie  kein 
unüberwindliohos  Hindernis. 

Um  vom  Hotel  aus  die  südlich  gelegenen  grofsen  Geyserbassins 
zu  besuchen,  sind  die  Touristen  noch  gezwungen,  sioh  mit  Wagen 
und  Pferden  zu  behelfen.  Wir  sehen  auf  unserem  Bilde  gerade  eine 
Anzahl  Fuhrwerke  —  sie  sind  nicht  alle  so  elegant  wie  das  vorn- 
stehende,  sondern  oft  sehr  primitiver  Natur  — ,  welche  vollbeladen 
naoh  den  Geysern  abrücken.  Aber  diese  zeitraubende  und  beschwer- 
liche Wagenfahrt  wird  nicht  lango  mehr  dauern.  Die  rührigo  Gesell- 
schaft für  „Improvements-  hat  die  Absicht,  die  einzelnen  interessanten 
Punkte  des  Parkes  durch  Pferdebahnlinien  mit  einander  zu  verbinden, 


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ein  Projekt,  das  nicht  nur  Verwirklichung  finden,  sondern  sich  auoh 
gut  bezahlt  machen  wird. 

Wenige  hundert  Schritte  vom  Hotel  beginnen  die  grofsartigen 
Naturphänomene.  Da  erhebt  sioh  in  der  Niederung  ein  etwa  17  m 
hoher  und  7  m  breiter,  stumpfkonischer  Krater  von  der  Form  eines 
riesigen  Zuckerhutes,  der  den  poetischen  Namen  „Liberty  Capu, 
d.  h.  die  „Freiheitsmütze"  erhalten  hat  Es  ist  offenbar  ein  aller  er- 
loschener Geyserkessel,  wie  dies  die  überhängenden  Schalen  von 
festem  Kalktuff  zeigen,  der  sich  sein  Grab  selbst  gebaut  hat.  Sein 
Trichterrand  ist  durch  die  Kalkniederschläge,  welche  das  siedende 

p*"^  1 


Nationalhotel  bei  den  Mammoth  Hot-ßpringi 

Www  beim  Verdampfen  zurückliefs,  zu  dieser  mächtigen  Kuppe 
angewachsen,  deren  Gipfelöffnung  sich  schliefslich  völlig  verschlofs. 

In  der  Nähe  dieses  ermatteten  Riesen  zieht  sich  ein  Quellhügel 
etwa  70  m  an  der  bewaldeten  Berglehne  empor.  Von  der  Spitze  des- 
selben schaut  man  eines  der  großartigsten  Naturphänomene,  eines 
der  schönsten  und  seltsamsten  Gebilde  natürlicher  Architektur.  Wir 
stehen  hier  vor  den  heifsen  Mammuth-Quellen,  vor  den  „Mammoth 
Hot -Springs",  welche  wie  eine  Sphinx  am  Eingange  des  geheimnis- 
vollen Hoohthales  ruhen. 

Weifs,  wie  aus  Marmor  gehauen,  gewährt  dieser  phantastische 
Wunderbau  einen  Anblick,  als  ob  ein  über  Stufen  stürzender  Wasser- 
fall plötzlich  in  Stein  verwandelt  worden  wäre.    So  schön,  so  massen- 


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haft  tritt  kaum  anderswo  im  Parke  die  schöpferische  Kraft  der  kalk- 
haltigen Gewässer  auf.  Zwar  ist  die  Jugendkraft  dieser  Quellen  dem 
Erlöschen  nahe.  Die  durch  die  Feuergewalten  der  Tiefe  erhitzten 
Ströme  brausen  nicht  mehr  mit  zorniger  Gewalt  auf;  es  ist  kaum 
mehr  als  ein  mäfsiges  Aufkochen,  und  aus  der  azurblauen  Krystall- 
flut  der  tieferen  Becken  steigen  nur  noch  spärlich  zitternde,  silber- 
weifse  Dampfnebel  in  die  Lüfte  empor,  doch  oben  auf  dem  Plateau 
dieser  Bastionen  geht  die  Arbeit  noch  immer  ungestört  fort;  dort 
sprudeln  vorzugsweise  die  heifsen  Quellen  hervor.  Spalten  verbinden 
sie  mit  jenen  unterirdischen  Regionen,  wo  die  Quellwasser  ihre  hohe 
Temperatur  erlangen  und  beim  Aufsteigen  durch  kalkige  Sohichten 
sich  mit  aufgelöstem  kohlensauren  Kalk  beladen.  Durch  die  Ab- 
sonderungen dieses  Kalkes  beim  Verdunsten  haben  sich  auf  der  Ju- 
piter- und  Minerva-Terrasse  eine  Anzahl  schön  geformter  Becken  ge- 
bildet, die  bald  halbkreisförmig  vorspringen,  bald  zurückweichen, 
bald  sich  berühren  oder  durch  Einschnitte  von  einander  getrennt  sind. 
Diese  Pfühle  oder  Becken  sind  von  der  mannigfaltigsten  Gröfse,  ihre 
Durchmesser  halten  von  einigen  Centimetern  bis  zu  3  m  Weite,  und 
ihre  Tiefe  schwankt  zwischen  2  und  3  m;  sie  gleichen  eben  so  vielen 
Badebassins,  die  der  raffinierteste  Luxus  nicht  schöner  und  bequemer 
hätte  herstellen  können.  Bisweilen  wallt  das  Wasser  in  ihnen  über, 
und  die  zahlreichen  kleinen  Abflufskanäle,  welche  es  aufsucht,  gleichen 
steinernen  Kaskaden  mit  zierlichen  korallenartigen  Gebilden,  mit  Säulen 
und  Stalaktiten  geschmückt  und  so  herrlich  ausgezackt,  dafs  der  Be- 
schauer in  stummem  Entzücken  vor  diesem  Naturwerke  verweilen 
murs.  —  Das  Wasser  in  diesen  Naturwannen  erscheint  bei  klarem 
Himmel  bisweilen  im  zartesten  Ultramarinblau,  bisweilen  krystallklar, 
wenn  nicht  brodelnde  Schlammströme  es  von  unten  aufwirbeln  und 
trüben.  Man  kann  —  sagt  Hayden  —  in  die  kry stallhellen  Tiefen 
hinabschauen  und  mit  vollkommener  Schärfe  die  kleinsten  Einzelheiten 
am  Grunde  der  Becken  erkennen,  man  kann  die  Wölkchen  des 
Himmels,  die  wirbelnden  Dampfballen  sich  spiegeln  sehen  in  den 
duftigen  Tiefen,  und  die  meerblaue  Farbe  der  Fluten  wird  verstärkt 
durch  die  unausgesetzten  sanften  Wallungen  der  Oberfläche.  Sobald 
ein  leichter  Wind  dieselbe  kräuselt,  entfalten  sich  alle  Farben  des 
Prismas;  Regenbogen  von  der  feurigsten  Farbeupiacht  treten  in 
einer  märchenhaften  Schönheit  zu  Tage.  Schneeweifser  Kalktuff  ver- 
ziert die  inneren  Ränder,  gleich  der  zierlichsten  Stickerei  oder  den 
Eisblumen  gleich,  die  der  Frost  hervorzaubert. 

Und  diese  wundervollo  Farbenpracht  wird  noch  verstärkt  durch 


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die  kleine  Pflanzen-  und  Lebewelt,  welche  am  Rande  der  minder 
heifsen  Quellen  sich  überall  ansiedelt.  Algen  und  Diatomeeen  rufen  im 
Verein  mit  den  zugleich  mit  dem  kohlensauren  Kalk  ausgeschiedenen 
geringen  Mengen  metallischer  Substanzen,  namentlich  Verbindungen 
von  Eisen,  Magnesium,  Alaun,  Natrium  und  Kieselerde,  die  intensivsten 
schwefelgelben,  scharlachroten  und  braunen  Farbenerscheinungen 
hervor,  die  an  Glanz  unsere  feurigsten  Anilintinten  übertreffen.  Überall 
sieht  man  auf  der  klaren  Flut  eine  grofse  Menge  von  fasriger,  seiden- 
artiger Substanz,  welche  bei  der  leisesten  Wallung  des  Wassers  er- 
zittert und  das  Aussehen  der  feinsten  Kaschmirwolle  hat.   Ist  dagegen 


Mammoth  Hot -Springs. 


die  Ruhe  eine  vollständige,  so  überzieht  sich  die  Masse  mit  Kalk, 
die  zarten  vegetabilischen  Fäden  verschwinden,  und  es  bleiben  fasrige, 
schwammige  Gebilde  übrig,  eine  entzückende  Decke  von  weifsen 
Schneekrystalleu  um!  Stalaktiten  bildend. 

Wir  kennen  auf  dem  weiten  Erdrund  nur  eine  einzige  vulkanische 
Schöpfung,  die  sich  den  Mammoth  Hot- Springs  als  ebenbürtig  zur 
Seite  stellen  läfst.  Es  sind  dies  die  beiden  herrlichen  Sprudelterrassen 
des  Rotomahana-Sees  auf  Neuseeland,  dessen  Zauberbau  uns  Fer- 
dinand von  Hochstetter  in  so  lebhaften  Farben  beschrieben  hat. 
Allein  diese  Terrassensprudel  gehören  heute  der  Vergangenheit  an. 
Eine  furchtbare  Katastrophe,  welche  den  Boden  Neuseelands  im  Mai 
des  Jahres  1886  heimsuchte,  hat  ihrem  Uasein  ein  jähes  Ende  bereitet. 


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Von  den  heifsen  Maramuth-Quellen  treten  wir  jetzt  die  Exkur- 
sion ins  Gey  sergebiet  an,  zunächst  nach  dem  weiter  südlich  gelegenen 
Norrisbeoken,  wo  der  vulkanische  Einflufs  sich  direkter  und  bestimm- 
ter geltend  macht  als  bei  den  versiegten  Kalkthermen  am  Nordrande 
des  Parkes. 

Ein  steiler  Weg  windet  sich  an  den  Berggehängen  empor;  man 
erreicht  nun  das  350  m  höher  gelegene  Hochplateau  des  Yollow- 
stone-Parkes,  ein  breites,  flaches,  mit  Moränensebutt  der  Eiszeit  be- 
decktes Gebiet,  in  welchem  der  Gardiner  River  in  mäandrischen 
Windungen  träge  dahinschleicht.  Nur  ab  und  zu  fesseln  in  der  wenig 
bemerkenswerten  Ilügellandschaft  vulkanische  Tuffkegel  oder  verein- 
samte Weiher,  mit  warmem  Wasser  gefüllt,  das  Auge,  oder  schwarze 


Du  goldono  Thor  im  Yollo wi tone  •  Purk. 


Rauchwolken,  aus  einem  brennenden  Tannenwald  emporsteigend,  ver- 
künden uns,  dafs  dort  eine  Reisegesellschaft  unvorsichtig  mit  Feuer 
gespielt  hat.  Dann  plötzlich  verengen  sich  die  Felsen,  wir  passieren 
das  „Goldene  Thor",  wo  der  Pfad  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes 
in  den  Felsen  gehauen  ist.  Hier  durch  die  Borgwand  einen  Fahrweg 
hindurchzubrechen  von  fast  1  '/j  Kilometer  Länge  hat  den  ameri- 
kanischen Ingenieuren  viel  Mühe  gekostet.  Am  Ende  der  Wald- 
sohlucht  in  der  Nähe  eines  kleinen  Sees,  worin  Biber  schnurgerade 
Dämme  kunstgerecht  angelegt  haben,  erhebt  sich  eine  Felsenklippe 
aus  Obsidian,  deren  regelmäfsig  fünfseitige  Kry Stallsäulen  bei  Sonnen- 
schein ein  prächtiges  Funkeln  und  Glitzern  verbreiten.  Es  ist  dies 
ein  geologisches  Wunder  des  Parkes,  denn  dieses  in  vulkanischen 


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Gegenden  vielfach  verbreitete  Gestein  zeigt  nur  äufeerst  selten  solch 
kunstgerecht  prismatische  Absonderung.  Eigentümlich  ist  das  Ver- 
fahren, welches  die  amerikanischen  Ingenieure  bei  der  Herstellung 
des  Fahrdamms  durch  die  glasige,  schwarze  Lavamasse  in  Anwendung 
brachten.  Man  zündete  mächtige  Feuer  um  die  grofsen  Obsidian- 
blöcke  an  und  übergofs  dieselben,  nachdem  sie  sich  in  der  Hitze  aus- 
gedehnt hatten,  mit  kaltem  Wasser,  wodurch  die  Felsatome  ausein- 
anderreifsen  muteten.  Auf  dem  so  in  Trümmer  zersprengten  Material 
baute  man  den  Weg,  wahrscheinlich  der  einzige  Weg  in  der  Welt, 
der  über  Glas  führt 

Diese  Felswand  war  in  früherer  Zeit  eine  berühmte  Fundstelle 
für  alle  Indianerstämme;  sie  war  ein  neutraler  Grund  und  Boden,  der 
allen  Rothäuten  der  Rocky-Mountains  als  eine  geheiligte  Stätte  galt, 
weil  man  einzig  hier  im  ganzen  Felsengebirge  das  vulkanische  Ma- 
terial fand,  welohes  sich  zur  Herstellung  von  Pfeilspitzen  besser  eig- 
nete als  Feuerstein.  Bruchstücke  von  Obsidian  und  teilweise  voll- 
endete Stein wafifen  finden  sich  denn  auoh  überall  im  Parke  zerstreut, 
uns  an  die  vergangenen  Zeiten  erinnernd,  in  denen  die  Crows 
und  die  Shoshones  im  Kampfe  gegen  den  weifsen  Eindringling,  gegen 
den  unerbittlich  vordringenden  Pionier  des  Westens  ihr  Teuerstes 
und  Heiligstes,  den  angestammten  Grund  und  Boden  mit  ihrem  Blute 
verteidigten. 

Nach  einer  vierstündigen  Fahrt  über  Berg  und  Thal  durch  alle 
die  Pafsengen  des  Felsengebirges  hindurch  ist  nun  endlich  das  erste 
Geysergebiet  erreicht,  eine  rings  vom  Wald  umgebene,  unregelmäßig 
geformte  Einsenkung,  die  ihrem  Entdecker  und  früheren  Inspektor 
des  Parkes  zu  Ehren  seit  1881  „Norris  Geyser-Bassin"  getauft  wor- 
den ist 

Es  ist  ein  grofsartiger,  ein  seltsam  beängstigender  Anblick,  der 
sioh  dem  in  diese  Schmiedewerkstätte  Vulkans  Eintretenden  darbietet 
Eine  blendend  weifse,  wie  mit  Gips  überstreute  Fläche,  rings  von 
Wald  umgeben,  liegt  vor  uns,  und  auf  dieser  Fläche  da  zischt  da 
siedet  und  brodelt  es,  da  dampft  und  qualmt  es  überall.  Dort  hört 
man  das  ärgerliche  Gurgeln  eines  unterirdischen  Quells,  der  sich 
keinen  Ausweg  zu  bahnen  weifs,  dort  wiederum  bricht  sich  ein  mun- 
terer kleiner  Geselle  aus  der  Unterwelt  Bahn  und  sendet  seinen 
kleinen  Strahl  oder  seine  liohtweifsen  Wölkchen  flatternd  gen  Himmel. 
Früh,  beim  Sonnenglanz,  wenn  der  Dampf  aus  Hunderten  von  Sohloten 
und  Essen  emporwirbelt  glaubt  man,  einen  Fabrikort  vor  sich  zu 
sehen,  so  zahlreich  steigen  die  Dampfwolken  hoch  in  die  Lüfte,  so 


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wütendes  Brausen,  Stampfen  und  Brüllen  vernimmt  das  Ohr,  als  ob 
eine  Dampfmaschine  oder  ein  Pochwerk,  in  der  Tiefe  versteckt  seien. 

Man  zögert  vorwärts  zu  gehen,  denn  der  Boden  unter  den  Füfsen 
giebt  nach,  und  aus  den  Fufstapfen  treten  gelbe,  dicke,  übelriechende 
Massen,  mit  Schwefelwasserstoff  gesättigte  Dämpfe  hervor;  sie  ver- 
raten hier  die  letzten  Anstrengungen  der  Feuergewalten,  gerade  so 
wie  aus  den  Trümmern  einer  Brandstätte,  wenn  längst  die  Flammen 
erloschen,  noch  schwelender  Dampf  emporsteigt. 

Wohin  man  sich  wendet,  überall  quillt  das  heifse  Wasser  aus 
der  Erde,  in  Blasen,  Sprudeln,  kleinen  Springbrunnen;  aus  Spalten 


dringt  der  Qualm;  die  Atmosphäre  ist  stets  mit  heifsen  Dämpfen  und 
schwefligen  Gasen  geschwängert,  welche  den  Klüften  im  Erdboden 
entströmen.  Unter  der  chemischen  Einwirkung  dieser  Gase  und  der 
schwefligen  Säure  wird  das  leicht  zerstörbare  Gestein  zersetzt,  zu  einer 
breiigen  Masse  aufgeschlemmt,  die  kraterähnliche  Becken  ausfüllt  oder 
in  platzenden  Blasen  in  die  Luft  gespritzt  wird.  Obwohl  mit  herr- 
lichen Fichtenwaldungen  umgeben,  ist  das  Becken  selbst  vegetations- 
los, denn  Sträucher  und  Baumäste  werden  in  kürzester  Frist  mit 
einer  dicken  Kruste  eines  bleiartigen  Schleimes  überzogen,  die  jeg- 
liches Pflanzeuleben  erstickt. 

Bevor  wir  uns  nun  zu  den  Riesengeysern  am  Feuerlochflufs  be- 
geben, wollen  wir  noch  einen  Blick  auf  dio  auf  der  folgenden  Seite 


Vorri«  Qeyser- Bassin 


59 


dargestellte  Landschaft  werfen.  Sie  zeigt  uns  das  Xorrisbecken  mitten 
im  Winter,  eigentlich  so  wie  der  Yellowstone-Park  sich  das  ganze  Jahr 
hindurch  mit  Ausnahme  der  beiden  Sommermonate  Juli  und  August 
darstellt,  die  einzige  Zeit,  wo  er  von  Touristen  besucht  wird.  Denn  in 
der  Regel  beginnt  daselbst  der  Winter  schon  Mitte  September  und 
endet  erst  im  Juni.  Ks  ist  ein  Hochgebirgsklima,  verschärft  durch 
die  kontinentale  Lage. 

Das  im  Juli  und  August  so  freundliche  Hochthal  gleicht  einer 
eisigen  Schneewüßte.  Aber  diese  Öde,  diese  Todesstille  enthüllen 
Lichtzauber,  wie  sie  nur  die  Polarwelt  mit  ihren  Wundern  und  Schön- 


heiten entfalten  kann,  während  die  unter  Schneemassen  erdrückten 
Tannen  und  Fichten  der  Phantasie  Tausende  von  abenteuerlichen 
Gruppierungen  und  Gestaltungen  vorzaubern.  Ab  und  zu  regt  sich 
auch  das  Leben,  wenn  die  Furien  der  Hüllenwelt  den  Eispanzer  durch- 
brechen, und  nun  der  Krieg  der  Kiemente,  der  des  Wassers  und  des 
Feuers  beginnt.  —  Das  ist  dann  ein  wunderschönes  Schauspiel,  ein 
Schauspiel,  das  trotz  der  schneidenden  Kälte  und  der  Mühseligkeiten 
eine  Winterexpedition  in  das  Hochthal  des  Yellowstone  zu  einer  der 
dankbarsten  Unternehmungen  macht. 

Der  Pfad,  welcher  uns  jetzt  vom  Norrisbecken  einige  Meilen 
südlich  nach  dem  „unteren  Gey  serbeck  en  "  am  Feuerloch  flusso 
führt,  zeichnet  sich  durch  eine  seltene  landschaftliche  Schönheit  aus. 


Horm  Geyscr-  Bassin  im  Winter. 


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60 


Zahlreiche  kleine  Seen  schimmern  zwischen  grünen  Hügeln  und 
Bergen  hervor,  wilde  Gebirgsbäche  bilden  reifsende  Kaskaden,  während 
ringsum  den  Blick  plateauartige  Rücken  von  300  bis  400  m  Höhe  mit 
dichtem  Fiohtenbestand  begrenzen. 

Wir  haben  soeben  die  schroffen  Felsmauern  einer  düsteren  Schlucht 
passiert,  durch  welche  der  Gibbon  River,  einer  der  Quellströme  des 
Madison  hinrauscht  In  ungeduldigem  Kampfe  um  Erlösung  aus  den 
steinernen  Fesseln  bricht  sich  der  Strom  hier  Bahn ;  tief  unten  in  der 
romantischen  Felsschlucht  bildet  er  einen  prächtigen  Wasserfall,  der 
seine  Fluten  wie  Silberfäden  25  m  in  die  Tiefe  führt,  um  sie  mit 


Farbentopfe  im  Yellowitone  •  Park 


dem  Madison,  einem  der  Vater  des  Missouri,  zu  vereinigen.  Es  sind 
dies  die  Gibbon-Fälle,  eine  von  den  vielen  schönen  Kaskaden,  an  denen 
der  Park,  entsprechend  seinem  plateauartigen  Charakter,  so  reich  ist 

Von  hier  aus  geht  es  wieder  bergauf,  bergab  zwei  Stunden  lang 
durch  duftigen  Tannenwald,  bis  an  der  Vereinigung  der  beiden  Arme 
des  Firehole-FIusses  das  untere  Geyserbecken  erreicht  ist 

Es  ist  ein  ziemlich  weites  Thal,  100  qkm  grofs;  nur  der  zentrale 
Teil  bildet  eine  baumlose,  mit  weifsem  Kieselsinter  und  Dämpfen  be- 
deckte Fläche.  693  heifse  Quellen  und  17  Geyser  treiben  darin  ihr 
Spiel;  mindestens  eben  so  viele  sind  erloschen  oder  hauchen  nur  noch 
heifse  Dünste  aus,  welche  die  kraterförmigen  Spalten  mit  glitzernden 
Schwefelkrystallen  schmücken. 


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Ee  ist  besonders  der  „Fountain-14  oder  „Brunnengey  serM,  der 
duroh  seine  weithin  sichtbaren  Eruptionen,  duroh  die  malerische  Form 
seines  Sinterbeckens  und  die  tiefblaue  Färbung  seines  Wassers  die 
allgemeine  Aufmerksamkeit  erregt.  Etwa  alle  zwei  bis  fünf  Stunden 
gerät  die  blaue  Flut  in  heftige  Wallung;  dann  plötzlich  steigt  eine 
haushohe  Wassersäule  aus  dem  Krater  empor,  löfst  sich  in  Millionen 
Tropfen  auf,  die  sieb,  einem  Regen  silberner  Kügelchen  glcioh,  beim 
Niederfallen  zerstreuen. 

Einige  hundert  Schritt  davon  liegt  einer  der  merkwürdigsten 
Sohlammgeyser  des  Yellowstone  -  Parkes,  der  sogenannte  „grofse 
Farben  topf-.  Der  Inhalt  dieser  Farbentöpfe  besteht  aus  einem  dünnen 
Schlamm,  in  fortwährend  heftiger  Wallung  begriffen,  sodafs  der  Krater 
einem  Kochkessel  gleioht,  dessen  breiige  Masse  dem  stärksten  Feuer 
ausgesetzt  ist  Die  Oberfläche  ist  mit  aufsteigenden  Dampf  blasen  über- 
deckt,  die  mit  eigentümlichem  Geräusche  platzen  und  regelmässige, 
sich  vom  Zentrum  nach  den  Seiten  hin  bewegende,  konzentrische 
Ringe  hervorbringen.  Ein  bis  zwei  Meter  hoch  steigen  diese  Ring- 
wälle  auf  und  tragen  nioht  selten  im  Innern  einen  kleinen  verhärteten 
Schlammkegel.  —  Es  sind  Miniatur- Modelle  von  Vulkanen,  wie 
man  sie  sioh  nicht  schöner  denken  kann.  Ja,  wenn  die  Phantasie 
uns  solche  Gebilde  in  vieltausendfach  größerem  Mafsstabe  vormalt, 
dann  soheint  vor  unseren  Augen  ein  Rätsel  erledigt,  dessen  Lösung 
die  Kosmologen  bislang  vergeblich  gesuoht  haben.  Wir  meinen  die 
Bildung  der  Mondkrater  mit  ihren  Kegelbergen. 


(Fortsetzung  folgt.) 


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SS 


Die  Erd-  und  Länder- Vermessung  und  ihre  Verwertung. 

Von  Professor  Dr.  C.  Koppe  in  Braunschweig. 
(Fortsetzung.) 

^-w  Die  Basis-Messungen. 

ie  Genauigkeitsangaben  der  Tabelle  auf  Seite  25  setzen  still- 
schweigend voraus,  dafs  die  Seiten  der  Dreiecksnetze  zugleich 
mit  den  Winkeln  bestimmt  worden  seien.  Um  aber  ein  Netz  zu- 
sammenhängender Dreiecke,  von  welchen  jedes  einzelne  mit  seinen 
Nachbar-Dreiecken  eine  Seite  gemeinsam  hat,  naoh  Messung  der  sämt- 
lichen Dreieckswinkel  der  Oröfse  nach  bestimmen  zu  können,  genügt 
es  offenbar,  die  genaue  Länge  einer  Dreiecksseite  in  ihrer  Projektion 
auf  den  Horizont  des  Vermessungsgebiets  durch  direkte  Längen-Messung 
zu  ermitteln.  Aus  ihr  kann  man  dann  die  Längen  aller  anderen  Drei- 
ecksseiten berechnen.  Da  aber  die  Seiten  des  Netzes  L  Ordnung 
gegen  40  km  lang  sind,  so  mifst  man  nicht  unmittelbar  eine  solche 
Hauptdreiecksseite,  sondern  bestimmt  durch  Längenmessung  eine  mög- 
lichst bequem  und  günstig  gelegene,  thunlichst  ebene  Strecke  von  nur 
einigen  Kilometern,  eino  sogenannte  „Grundlinie"  oder  „Basis",  schliefst 
dann  diese  durch  ein  besonderes  Dreiecksnetz  an  eine  der  Seiton  des 
Hauptnetzes  an  und  leitet  letztere  endlich  aus  ihr  duroh  Rechnung  ab. 
Jedes  Dreieck  hat  mit  seinem  Nachbardreiecke  eine  Seite  gemeinsam; 
daher  kann  man  weiter  aus  der  ersten,  ihrer  Länge  nach  ermittelten 
Hauptdreiecksseite  alle  folgenden  berechnen  und  schliefslich  die  Lage 
sämtlicher  Dreieckspunkte  gegen  einander  durch  Rechnung  festlegen. 

Eine  genaue  Längenmessung  galt  in  früheren  Zeiten  als  eine  der 
mühsamsten  und  schwierigsten  Operationen  der  höheren  Geodäsie. 
Durch  die  Vervollkommnung  der  Mefsapparate,  vornehmlich  aber 
durch  die  einheitliche  militärische  Organisation  der  Messungsarbeit 
selbst,  geschehen  heute  die  Basismossungen  in  ebensoviel  Tagen,  wie 
man  vormals  Wochen  und  Monate  zu  ihrer  Erledigung  gebrauchte. 
Eine  Längenmessuug  ist  im  Prinzip  sehr  einfach.    Nachdem  die 


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03 


zu  messende  Strecke  ausgerichtet  und  durch  vertikale  Signalstangen 
bezeichnet  ist,  mifst  man  ihre  horizontale  Länge  durch  Aneinander- 
legen  von  Mefsstangen,  welche  meist  4  Meter  lang  sind  und  beim 
Messen  genau  in  der  Linienrichtung  zur  Berührung  gebracht  werden. 
In  analoger  Weise  verfährt  man  bei  jeder  gröfseren  Längenmessung 
für  wirtschaftliche  und  technische  Zwecke;  der  Unterschied  gegenüber 
einer  Basismessung  für  die  grundlegenden  Dreiecke  der  Landesauf- 
nahme oder  der  Erdmessung  ist  nur  der,  dafö  bei  diesen  die  größt- 
mögliche Genauigkeit  erreicht  werden  soll,  und  daher  die  Apparate 
und  die  Ausführung  der  Messung  selbst  diesem  Zwecke  entsprechend 
eingerichtet  sein  müssen.  Die  MersBtangen  werden  nicht  von  Holz, 
welches  sich  bei  Temperatur-  und  Feuchtigkeitswechsel  unregelmäfsig 
verändert,  sondern  von  Metall  angefertigt,  dessen  Ausdehnung  beim 
Erwärmen  bezw.  Abkühlen  vorher  genau  bestimmt  ist  und  nach  der 
bei  der  Messung  selbst  beobachteten  jeweiligen  Temperatur  hernach 
in  Rechnung  gebracht  werden  kann.  Um  die  mittlere  Temperatur  der 
Mefsstangen,  von  welcher  ihre  jeweilige  Länge  abhängig  ist,  thunlichst 
sicher  bestimmen  zu  können,  verfertigt  man  die  Stangen  nicht  aus 
ein  und  demselben  Metalle,  sondern  setzt  sie  zusammen  aus  zwei  über 
einander  gelegten,  an  dem  einen  Ende  fest  verbundenen  Streifen  ver- 
schiedener Metalle,  welche  ungleiche  Ausdehnungs-Coeffizienten  haben. 
Die  Länge  dieser  beiden  Metallstreifen  wird  sich  beim  Erwärmen  oder 
Abkühlen  entsprechend  ihren  verschiedenen  Ausdehnungs-Coeffizienten 
in  ungleichem  Mafse  verändern  und  der  Abstand  ihrer  freien  Enden 
daher  von  der  jeweiligen  Temperatur  der  Stangen  abhängen.  Mifst 
man  diesen  Abstand  vorher  bei  bekannten  Temperaturen  in  einem 
geeigneten  Lokale,  wo  sich  die  Temperatur  in  hinreichend  weiten 
Grenzen  verändern  und  durch  Thermometer  jedesmal  sehr  genau  be- 
stimmen läfst,  so  kann  man  später  bei  der  Basis-Messung  selbst 
umgekehrt  aus  dem  gemessenen  Abstände  der  Streifenenden  einen 
Rückschiurs  auf  die  mittlere  Temperatur  während  der  Messung  selbst 
machen.  Die  Stangen  aus  zwei  verschiedenen  Metallen  bilden  gleich- 
sam ein  Metall  -  Thermometer,  welches  ihre  mittlere  Temperatur 
genauer  zu  bestimmen  gestattet  als  Quecksilberthermometer,  insofern 
diese  letzteren  während  der  Basismessung  nur  sehr  schwer  von  ein- 
seitig wirkenden  Strahlungseinflüssen  so  weit  frei  zu  halten  sind,  dafs 
sie  die  mittlere  Temperatur  der  Mefsstangen  richtig  angeben.  Bei 
der  Messung  selbst  werden  entweder  mehrere  gleichartige  Mefs- 
stangen aneinandergereiht  —  Apparate  mit  mechanischem  Kontakt  — , 
oder  es  wird  ein  und  dieselbe  Mefsstange  jeweils  um  ihre  eigene 


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Länge  vorgeschoben  -  Apparate  mit  optischem  Eontakte  —  von  einem 
Ende  der  zu  messenden  Grundlinie  bis  zu  ihrem  anderen,  wobei  im 
zweiten  Falle  das  Vorschieben  um  genau  eine  Stangenlange  vermittelst 
Einstellen  von  Mikroskopen  auf  ihre  Endstriche  —  also  durch  optischen 
Eontakt  —  erzielt  wird.  Bei  Benutzung  des  meohanisohen  Kontaktes 
werden  die  Mefestangen  beim  Aneinanderreihen  nicht  unmittelbar  zur 
Berührung  gebracht,  da  hierbei  trotz  aller  Vorsioht  durch  Stöfs  oder 
Druck  Fehler  der  Messung  verursacht  werden  könnten,  sondern  um 
diese  thunlichst  zu  vermeiden,  lftfst  man  zwischen  den  einzelnen  Mefs- 
stangen —  man  benutzt  deren  in  der  Kegel  4  —  je  einen  kleinen 
Zwischenraum  und  bestimmt  die  Gröfse  derselben  durch  vorsichtiges 
Zwisohenschieben  eines  kleinen  Mefskeiles  von  bekannter  Dicke.  Beim 
optisohen  Eontakte  hingegen  stellt  man  zwei  Mikroskope  mit  ihren 
im  Okulare  ausgespannten  Fäden  auf  die  Endstriche  der  einen  Mefs- 
stange  genau  ein  und  rückt  diese  Stange  dann  in  der  zu  messenden 
Linie  um  ihre  eigene  Länge  vor,  indom  man  sie  soweit  in  dieser  vor- 
schiebt, bis  der  Anfangsstrioh  unter  das  unverändert  stehen  ge- 
bliebene zweite  Mikroskop  fällt.  Ein  weiteres  Mikroskop  wird  dann 
wieder  auf  den  End  strich  eingestellt,  die  Stange  von  neuem  um  ihre 
Länge  vorgeschoben,  ein  Mikroskop  auf  den  Endstrich  eingestellt  und 


dem  ersten  Prinzip  entsprechender  Mefsapparat,  mit  welchem  der  grofse 
Königsberger  Astronom  Bossel  in  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahr- 
hunderts die  Basismessung  für  seine  berühmte  Gradmessung  in  Ost- 
preufsen  ausführte,  hat  zur  Messung  aller  seither  vom  preufsisohen 
Generalstabe  vorgenommenen  Längenbestimmungen  von  Grundlinien  in 
seinem  Haupt-Dreiecksnetze  gedient  Der  Basismefsapparat  mit  Mikro- 
skopeinsteilung  etc.  wird  in  neuerer  Zeit  immer  mehr  benutzt.  Das 
Prinzip  ist  nicht  neu.  Der  Mefsapparat  wurde  aber  in  genauer  Ausfüh- 
rung zuerst  angefertigt  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  von  dem  Pariser 
Mechaniker  Brunner  im  Auftrage  der  spanisohen  Regierung  nach 
den  Angaben  des  General  Ibanez,  des  langjährigen  Leiters  der  spa- 
nisohen Landesvermessung.  Mit  ihm  wurde  unter  anderen  auoh  eine 
der  interessantesten  neueren  Basismessungen  ausgeführt,  an  welcher 
Vorfasser  teilzunehmen  Gelegenheit  hatte,  und  die  zur  Veransohau- 
liohung  des  gaazen  Vorganges  bei  Basismessungen  überhaupt  dienen 
kann,  nämlich  die  von  Spaniern  und  Schweizern  naoh  einander 
ausgeführte  Messung  einer  Grundlinie  bei  Aarberg  im  Kanton 
Bern. 

Das  schweizerische  Gradmessungsnetz  bildet  infolge  der  zentralen 


nzen  Basislinie  entlang,  bis  ihr  Ende  erreicht  ist.  Ein 


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Lage  der  Sohweiz  die  Vereinigung  der  analogen  Messungen  in  den 
umliegenden  Staaten:  Deutschland,  Frankreich,  Italien  und  Österreich. 
.Jedes  der  Netze  dieser  4  Länder  enthält  seine  eigene  Längenbestimmung. 
Beim  Zusammenstorsen  der  Dreiecke  mit  der  Schweiz  ergeben  sich  natur- 
gemäß Abweichungen  für  die  Längen  der  Ansohlufsseiten.  Welcher  Wert 
ist  dann  der  richtige?  Welchen  soll  die  Schweiz  für  ihr  Netz  benutzen? 
Die  Schweiz  würde  ohne  eigene  Basismessung  eine  vollständig  passive 
Rolle  spielen,  hingegen  fallt  ihr  gleichsam  das  Schiedsrichteramt  zu, 
sobald  auch  sie  mit  entsprechenden  Hülfsmitteln  die  Längen  ihres 
Netzes  bestimmt  Aus  diesem  Gründe  wurde  von  der  geodätisohen 
Kommission  der  Sohweiz,  um  ein  völlig  unzweideutiges  Resultat  zu 
erzielen,  beschlossen,  nicht  nur  eine  Grundlinie,  sondern  deren  drei 
an  den  Eoken  ihres  Netzes  zu  messen.   Wesentlich  erleichtert  wurde 


dieses  Vorhaben  durch  die  Bereitwilligkeil  der  spanischen  Regierung, 
der  Eidgenossenschaft  den  eigenen  vom  General  I  banez  vervollkomm- 
neten und  vereinfachten  Basismel*s- Apparat  leihweise  zu  überlassen. 
Ja,  General  I banez  erbot  sioh  sogar,  den  schweizerischen  Geodäten 
selbst  Anleitung  zum  Gebrauche  und  zur  Handhabung  seines  Appa- 
rates zu  geben,  zu  diesem  Zwecke  mit  seinem  eigenen  Personal  nach 
der  Schweiz  zu  kommen  und  eine  der  drei  ausgewählten  Grundlinien 
vor  den  Augen  der  schweizerischen  Ingenieure  zu  messen.  Als  solche 
wurde  die  Basis  bei  Aarberg  gewählt,  und  so  hatten  wir  denn  das 
interessante  Schauspiel,  die  Längenmessung  dieser  Basis  zunächst  von 
den  Spaniern  und  unmittelbar  darauf  von  den  Schweizern  ausgeführt 
zu  sehen. 

Am  17.  August  1*80  traf  Kommandant  Casada  mit  12  Offizieren 
und  10  Gehülfen  vom  geographischen  und  statistischen  Institute 
Spaniens  in  Aarberg  ein.  Die  Instrumente,  welche  in  einem  eigenen 
Waggon  von  Madrid  nach  Aarberg  hatten  transportiert  werden  sollen, 
inufsten  an  der  französischen  Grenze  umgeladen  werden,  weil  die 

Himmel  und  Erde.   1898.  XI.  2.  5 


/ 


BasismoMung  bei  Aarberg  im  Kanton  Bern. 


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spanischen  Eisenbahnen,  wie  die  russischen,  eine  von  den  übrigen 
abweichende  Spurweite  besitzen;  doch  trafen  sie  naoh  kurzer,  hierdurch 
verursachter  Verzögerung  wohlbehalten  in  Aarberg  ein.  In  den  fol- 
genden Tagen  wurden  sie  ausgepackt  und  gereinigt,  die  Zelte  zu- 
sammengesetzt und  an  Ort  und  Stelle  aufgeschlagen,  die  Beobaohtungs- 
pfeiler  centrisch  über  den  Endpunkten  der  Basis  errichtet,  die  Basis- 
linie abgesteokt  und  duroh  metallne  Signalstangon  ihre  Richtung  genau 
bezeichnet.  Am  20.  August  traf  General  Jbafiez  ein.  Auf  seinen 
Wunsch  war  der  Basis  eine  Länge  von  annähernd  2400  m  gegeben 
worden,  welche  in  Abschnitte  von  400  m  mit  fest  bezeichneten  End- 
punkten eingeteilt  wurde.  Am  22.  August,  morgens  4  Uhr,  wurde 
zur  ersten  Basismessung  ausgerückt.  Das  Wetter  war  trübe  und 
nebelig  und  den  Beobachtungen  wenig  günstig.  Erst  um  6  Uhr  war 
es  hinreichend  Tag  geworden,  um  die  Mikroskope  des  Apparates  ein- 
stellen zu  können.  Trotz  des  feinen,  niederrieselnden  Regens,  der  sich 
nach  und  nach  zu  einem  tüohtigen  Landregen  entwickelte,  begann  die 
Messung  kurz  vor  6  Uhr  und  wurde  in  5  — 6  Stunden  bis  800  m  vom 
Anfangspunkte  programmmäfsig  durchgeführt  Hier  wurde  aufgehört, 
um  die  Beobachter  nicht  zu  ermüden.  Ebenso  die  folgenden  Tage, 
sodafs  nach  3  Tagen  die  erste  Messung  der  Aarberger  Basis  beendigt 
war.  Noch  am  Nachmittage  des  24.  wurden  die  Instrumente,  die  Zelte 
und  sämtliche  Gerätschafton  zum  Basisanfango  zurücktransportiert,  alle 
Apparate  einer  sorgfältigen  Prüfung  unterworfen  und  am  gleichen 
Abende  die  nötigen  Vorbereitungen  getroffen,  um  am  folgenden  Morgen 
die  Kontrollmessung  sofort  beginnen  zu  können.  Am  25.,  26.  und 
27.  August  wurde,  wie  an  den  3  vorhergehenden  Tagen,  wieder  um 
je  800  Meter  vorgerückt  und  so  trotz  der  Ungunst  der  Witterung,  die 
namentlich  durch  Nebelbildung  störend  wirkte,  auch  die  Kontrotl- 
messung  programmmäfsig  beendigt.  Die  Endresultate  stimmten  bis  auf 
wenige  Millimeter  unter  sich  überein. 

Sodann  kamen  die  schweizer  Beobachter  an  die  Reihe.  Am 
Nachmittage  des  27.,  einige  Stunden  nachdem  die  Spanier  ihre  zweite 
Messung  beendigt  hatten,  wurdon  schweizerischerseits  die  ersten 
Probemessungen  gemacht  Am  folgenden  Morgen  stellte  General 
Ibanez  zu  jedem  schweizer  Beobachter  einen  seiner  Offiziere,  und 
zwar  denselben,  welcher  bei  den  vorhergehenden  Messungen  die  be- 
treffende Operation  ausgeführt  hatte,  die  der  schweizerische  Beobachter 
nun  seinerseits  ausfuhren  sollte  Nach  etwa  30  Stangenlagen  rief  er 
seine  Leute  zurück.  Das  schweizerische  Personal  funktionierte  unter 
Leitung  des  Oberst  Dumur  selbstständig  und  regelmäßig  weiter,  und 


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grofs  war  die  Freude,  als  der  erste  Zwischenpunkt  mit  nur  einem 
halben  Millimeter  Differenz  gegenüber  der  spanischen  Messung  er- 
reicht wurde.  So  ging  es  regelmäßig  weiter,  und  wenn  anfangs  auch 
etwas  mehr  Zeit  gebraucht  wurde  gegenüber  den  Spaniern,  was  ja  in 
der  Natur  der  Sache  lag,  so  wurde  dooh  auoh  sohweizerischeraeits 
die  Basi8raessung  programmmäfsig  in  3  Tagen  vollendet.  Das  End» 
resultat  stimmte  bis  auf  wenige  Millimeter  mit  dem  vorher  erhaltenen 
überein. 

Zur  Vergleichung  der  Genauigkeit  der  neueren  ßasisraessungen 
gegenüber  älteren  Bestimmungen  analoger  Art  mag  angeführt  werden, 
dafs  der  mittlere  zufällige  Fehler  der  erateren  rund  1  mm  pro  Kilo- 
meter, also  nur  ein  Milliontel  dieser  Länge  beträgt,  während  derselbe 
z.  B.  bei  der  berühmten  Grad-  und  Basismessung  in  Lappland,  welche 
dort  in  der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  zur  Bestimmung  der 
Erdgest&lt  von  den  Franzosen  vorgenommen  wurde,  nooh  den  zwanzig- 
fachen Betrag  erreiohte.  Am  schwierigsten  ist  es,  die  Temperatur  der 
Mefsstange  mit  hinreichender  Genauigkeit  zu  ermitteln,  denn  da  sioh 
das  Eisen  für  1°  C.  um  rund  ein  Hunderttausendstel  seiner  Länge 
ausdehnt,  so  mufs  seine  Temperatur  bis  auf  ein  Zehntel  Grad  genau 
ermittelt  sein,  wenn  man  die  Länge  auf  ein  Milliontel  des  Betrages 
genau  haben  will.  Bei  Zink,  Messing  etc.  ist  der  Ausdehnungs- 
Coefflzient  aber  noch  erheblich  gröTser.  Beim  Besse  Ischen  Mefs- 
apparate  sind  die  Mefsstangen  in  hölzerne  Kästen  eingeschlossen, 
aus  welchen  nur  ihre  Enden  hervorragen;  sie  werden  in  diesen 
Kästen  bei  der  Messung  belassen.  Ibanez  gebrauchte  seine  Mefs- 
stange ohne  Umhüllung,  führte  aber  die  ganze  Messung  unter  trans- 
portabel Zelten  aus  zum  Schutz  gegen  Sonnenstrahlen,  Regen  etc, 
wahrend  der  preußische  Generalstab  ganz  im  Freien  mifst. 

Um  den  Einflufs  der  Temperatursohwankungen  auf  die  Resultate 
der  Basismessungen  möglichst  gering  zu  machen,  hat  der  Vorstand 
der  geodätischen  Küstenaufnahme  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 
amerika, M.  Menden  hall,  bei  den  neuesten  dort  ausgeführten 
Messungen  dieser  Art  seine  5  in  lange  motallne  Mefestange  in  einen 
mit  Eis  gefüllten  Kasten  gelegt  und  in  diesem  während  der  ganzen 
Messung  belassen.  Vor  Ausführung  der  letzteren  wurde  auf  die  ganze 
Basislänge  ein  Scbienengeleis  gelegt  zum  leichten  Vorsohieben  des 
Kastens  mit  der  Messingstange,  vorbei  an  den  in  Entfernungen  von  je 
6  Metern  auf  fester  Unterlage  aufgestellten  Mikroskopen.  So  wurde 
es  möglich,  mit  8  Personen  jeden  Tag  500  Meter  Länge  zu  messen, 
und  zwar  mit  der  geradezu  fabelhaften  Genauigkeit  von  nur  ein 

h* 


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Zehntel-Millimeter  Abweichung  auf  das  Kilometer,  d.  h.  mit  einer  Ge- 
nauigkeit von  1  zu  zehn  Millionen.  Diese  sehr  grofse  Messungs- 
Sohärfe  erscheint  in  Anbetracht  des  Umstandes,  dafs  die  Winkel- 
messung, welohe  zur  Übertragung  der  gemessenen  Basislänge  auf  die 
Seiten  des  Hauptdreiecksnetzes  nötig  ist,  nioht  mit  gleiober  Genauig- 
keit ausgeführt  werden  kann,  etwas  zu  weit  gegangen.  Derart  ge- 
naue Basismessungen  verursachen  naturgemäfs  viel  Arbeit  und  Kosten 
und  können  daher  nur  in  beschränkter  Zahl  ausgeführt  werden, 
während  es  rationeller  ist,  im  Hauptdreiecksnetze  eine  gröfsere  Anzahl 
von  Grundlinien  in  geringen  Abständen  mit  einer  der  Winkelüber- 
tragung mehr  gleichwertigen  Genauigkeit  zu  bestimmen.  Als  passende 
Entfernung  der  Grundlinien  hat  man  seither  200 — 300  km  genommen. 
Der  Abweichung  von  1  Bogensekunde  in  der  Richtung  entspricht  auf 
die  Entfernung  von  200  000  Meter  eine  Längen- Verschiebung  von  einem 
Meter,  d.  h.  von  V200000  der  Länge.  Die  Winkelmessung  müfste  somit 
auf  wenige  Hundertel  der  Bogensekunde  genau  ausgeführt  werden,  um 
eine  Genauigkeit  von  ein  Zehnmilliontel  zu  erreichen,  während  in  Wirk- 
lichkeit der  mittlere  Fehler  der  genauesten  Winkelbestimmung  in  den 
Dreiecken  L  Ordnung  mehrero  Zehntel-Sekunden  beträgt. 

Aus  den  mit  Hülfe  der  Basismessung  und  eines  Ansohlufsnetzes 
abgeleiteten  Längen  der  Dreiecksseiten  des  Hauptnetzes  werden  dann 
weiter  die  Dreieoke  zweiter  Ordnung,  aus  diesen  diejenigen  dritter 
Ordnung  und  so  fort  berechnet  bis  zu  den  Dreieoken  der  niedrigsten 
Ordnung  mit  den  kürzesten  Dreieoksseiten,  an  welohe  die  Detailauf- 
nahme, die  für  ihre  Zwecke  auch  eine  direkte  Längenbestimmung 
durch  hölzerne  Mefslatten,  Stahlband,  optische  Distanzmessung  eto.  be- 
nutzt, dann  angeschlossen  werden  kann. 


(Fortsetzung  folgt) 


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Die  Spektralanalyse. 

Von  Dr.  F.  Koerber  in  Steglitz. 
(Fortsetzung.) 

m  bisherigen  haben  wir  nun  zwar  die  wesentlichsten  vor- 
kommenden Lichtarten  spektralanulytisch  zerlegt,  aber  dabei 
noch  nicht  darauf  Rücksicht  genommen,  dafs  das  von  einer  Licht- 
quelle ausgesendete  Licht  auf  seinem  Wege  bis  zu  unserem  Auge  nooh 
wieder  gewisse  Veränderungen  erleiden  kann,  indem  es  nicht  durch  den 
leeren  Raum,  sondern  durch  allerhand  mehr  oder  weniger  durchsichtige, 
körperliche  Medien  hindurchstrahlt.  Es  ist  von  vornherein  zu  er- 
warten, data  dem  Lichte  bei  diesem  Hindurohgang  durch  nichtleuoh- 
tende  Materie  nur  Verlustejrgend  welcher  Art  bevorstehen,  die  man 
in  der  Wissenschaft  als  Absorptionswirkungen  bezeichnet  Wie  nun 
die  bisher  betrachteten  „Emissions-Spektrau  Aufschlüsse  über  die 
Natur  der  strahlenden  Lichtquelle  liefern  konnten,  so  werden  uns 
vielleicht  auch  die  durch  Absorption  in  einem  ursprünglich  konti- 
nuierlichen Spektrum  erzeugten  Veränderungen,  die  kurzweg  als  Ab- 
sorptionsspektra bezeichnet  werden,  die  Natur  der  durchstrahlten,  ab- 
sorbierenden Materie  verraten. 

In  der  That  ist  dies  in  vielen  Fallen  zutreffend.  Lassen  wir 
freilich  weifses  Licht  duroh  ein  geschwärztes  Glas  oder  duroh  Kohlen- 
rauch hindurchgehen,  so  wird  nur  eine  ziemlich  gleichmäfsige 
Schwächung  aller  Farben  des  kontinuierlichen  Spektrums  erfolgen, 
eine  deutliche,  qualitative  Veränderung  also  nicht  bemerkbar  sein. 
Die  meisten  durchsichtigen  Körper  zeigen  aber  neben  dieser  all- 
gemeinen Absorption  oder  auch  anstatt  einer  solohen  eine  selektive 
Absorption,  indem  sie  gewisse  Farbengattungen  in  weit  stärkerem 
Grade  verschlucken  als  andere,  sodafs  das  geschwächte  Licht  zu- 
gleich irgend  eine  schon  dem  blofsen  Auge  erkennbare,  charak- 
teristische Färbung  besitzt.  In  diesen  Fällon  wird  nun  aber  wieder 
das  Spektroskop  wesentlich  genauer  die  Absorptionswirkung  be- 
stimmen lassen  als  das  blofse  Auge,  denn  das   letztere  kann  nur 


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feststellen,  welche  Mischfarbe  aus  den  nioht  absorbierten  Strahlen6orten 
resultiert,  während  spektralanalytisch  die  absorbierten  Farben  selbst 
mit  voller  Sicherheit  erkannt  werden.  Dieselbe  Mischfarbe  kann  aber 
auf  unzählig  verschiedene  Arten  aus  Spektralfarben  zusammengesetzt 
werden,  wie  ja  z.  B.  das  weifse  Lioht  durchaus  nicht  aus  allen  Spek- 
tralfarben zu  bestehen  braucht,  sondern  aus  beliebig  vielen  Paaren 
von  „Komplementärfarben"  zusammengesetzt  sein  kann.  Ein  aus  Grün 
und  Rot  gemischtes  Lioht  würde  z.  B.  dem  Auge  ebenso  weifs  er- 
scheinen wie  ein  aus  Blau  und  Gelb  oder  wie  ein  aus  allen  mög- 
lichen Spektralfarben  zusammengesetztes.  Der  unschätzbare  Gewinn, 
den  uns  die  Anwendung  des  Spektroskops  gewährt,  besteht  also 
gerade  in  der  sicheren  Analyse  einer  Mischfarbe  in  die  dieselbe  kon- 


Violett     Blau.      Grün  Gelb 


Fig.  5. 


de«  fit 


Roth 

Kali  (A),  dei  Bubinglfuea  (B), 


Die  blaue  Seite  des  Spektrums  erfährt  bei  ß  und  C  eine  allgemeine  Absorption, 
was  in  der  Figur  durch  Schraffur  angedeutet  ist 


stituierenden  Elementarfarben.  Lassen  wir  z.  B.  das  Licht  einer  Lampe 
erst  durch  ein  rotes  Glas,  dann  durch  eine  Auflösung  von  überman- 
gansaurem Kali  und  ein  drittes  Mal  duroh  Blut  hindurchgehen,  so 
wird  in  allen  drei  Fällen  das  hindurchgelassene  Licht  dem  Auge 
ziemlich  gleich  rot  erscheinen.  Mit  Hilfe  des  Spektroskops  würden 
wir  aber  sofort  erkennen  können,  durch  welches  von  den  drei  ge- 
nannten Medien  das  Licht  hindurchgegangen  ist  Während  nämlich  das 
Rubinglas  nur  die  roten  Strahlen  hindurchläfst  und  das  Spektrum  nach 
dem  Durchgang  duroh  dasselbe  an  der  Grenze  von  Rot  und  Orange 
wie  abgeschnitten  ersoheint  (vgl.  Figur  5),  läfst  das  übermangan- 
saure Kali  ebenso  wie  das  Blut  bei  nicht  zu  starker  Konzentration 
auch  die  brechbareren  Strahlen  passieren,  während  sich  die  Absorption 
hauptsächlich  auf  das  Grün  erstreckt,  sodafs  das  durchgegangene 


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71 


Licht  weife  minus  grün,  d.  h.  gleichfalle  rot  erscheinen  mufs,  da  ja 
grün  und  rot  komplementär  sind,  sich  also  zu  weite  ergänzen.  Wäh- 
rend wir  nun  aber  im  Spektrum  des  übermangansauren  Kali  deutlich 
fünf  Absorptionsbänder  im  Grün  unterscheiden  können,  zeigt  das 
Blutspektrum  deren  nur  eins  oder  zwei,  je  nachdem  die  Blutkörperchen 
mit  Oasen  gesättigt  sind  oder  nicht4) 

Ganz  besonders  interessant  und  wichtig  sind  nun  aber  die  Ab- 
sorptionsspektra der  Gase,  insofern  dieselben  nämlioh  aus  feinen, 
dunklen  Linien  bestehen,  die  genau  denselben  Ort  im  Spektrum  ein- 
nehmen wie  die  hellen  Linien,  welche  bei  höherer  Temperatur  das 
Emissionsspektrum  des  betreffenden  Gases  ausmachen.  Diese  That- 
sache  ist  die  unmittelbare  Folge  des  berühmten  Kirch  ho  ff  sehen 
Satzes,  dafs  für  alle  Körper  das  Verhältnis  von  Absorptionsvermögen 
und  Emissionsvermögen  einen  ganz  bestimmten,  nur  von  der  Tempe- 
ratur und  der  Wellenlänge  abhängigen  Wert  besitzt 

Dieser  von  Kirch  ho  ff  theoretisch  begründete  Satz  ist  darum  von 
der  allerhöchsten  Bedeutung,  weil  er  sofort  eine  Erklärung  der  Fraun- 
hof ersehen  Linien  im  Sonnenspektrum  lieferte  und  damit  die  bedeut- 
samste Anwendung  der  Spektralanalyse  auf  astronomische  Probleme 
begründete.  Da  nämlioh  jenes  Verhältnis  von  Absorption  und  Emis- 
sion für  alle  Körper  dasselbe  ist  so  folgt,  dafs  an  solchen  Stellen  des 
Spektrums,  wo  die  Emission  eines  glühenden  Gases  besonders  grofs 
ist,  wo  wir  also  im  Emissionsspektrum  eine  helle  Linie  sehen,  auch 
die  Absorption  entsprechend  grofe  sein  mufs5),  sodals  also  an  der- 
selben Stelle  eine  Verdunkelung  in  dem  kontinuierlichen  Spektrum 
von  weifsem  Lichte  entstehen  mufs,  welches  duroh  das  betreffende 
Gas  hindurchgeht  Da  nun  z.  B.  die  von  Fraunhofer  mit  D  bezeich- 
nete Linie  des  Sonnenspektrums  genau  dieselbe  Brechbarkeit  besitzt 
wie  die  gelbe  Linie,  welohe  das  Emissionsspektrum  von  Natrium- 
dämpfen ausmacht,  so  mufs  diese  D-Linie  des  Sonnenspektrums  dadurch 
zu  stände  gekommen  sein,  dafs  das  weifse,  von  der  etwa  glühend  flüssig 
zu  denkenden  Sonnenoberfläche  stammende  Licht  eine  von  Natrium- 
dämpfen (und  wegen  der  vielen  anderen  Linien  auch  von  den  Dämpfen 
zahlreicher  anderer  Elemente)  erfüllte,  atmosphärische  Umhüllung 
des  Sonnenballes  passieren  mufste,  ehe  es  zur  Erde  gelangen  konnte. 

Experimentell  läfst  sich  die  Richtigkeit  dieser  Schlufsfolgerungen 

*)  Auf  diesen  letzteren  Unterschied  gründet  sich  sogar  eine  Methode  der 
Untersuchung  des  Blutes  in  Bezug  auf  Vergiftung  durch  Kohlenoxydgaa. 

5)  Ein  Verhältnis  (oder  ein  Bruch,  was  dasselbe  ist)  ändert  nämlich  seinen 
Wort  nicht,  wenn  beide  Glieder  sich  gleichzeitig  in  entsprechendem  Mafse  ver- 
größern oder  verkleinern. 


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72 


aus  Kirch  hoff  s  Gesetz,  also  die  Thatsächlichkeit  der  Umkehrung 
heller  Linien  der  Emissionsspektra  in  dunkle  Absorptionslinien  leioht 
demonstrieren.  Bringen  wir  auf  die  Kohlen  eines  elektrischen  Bogen- 
lichtes  eine  gröTsere  Quantität  Kochsalz  und  schliefen  den  Strom,  so 
wird  zuerst  die  Natriumlinie  sich  hell  von  dem  kontinuierlichen  Spektrum 
der  glühenden  Kohlen  abheben;  wir  sehen  das  Emissionsspektrum 
der  zwischen  den  Kohlen  im  Lichtbogen  glühenden  Natriumdämpfe. 
Warten  wir  jedoch,  ohne  sonst  etwas  zu  verändern,  einige  Zeit  hin- 
durch, so  wird  alsbald  die  Entwicklung  von  Natriumdämpfen  eine 
sehr  reichliche  werden,  dieselben  werden  aus  dem  Lichtbogen  heraus- 
gedrängt  werden,  und  nun  mufs  die  kühlere  Natriumdampfhülle,  welche 
die  Lichtquelle  umgiebt,  auch  absorbierend  auf  das  gelbe  Lioht  der 
D-Linie  wirken.  Sobald  nun  diese  Absorptionswirkung  gegen  die 
Emission  des  heifsen,  im  Lichtbogen  glühenden  Dampfes  überwiegt, 
wird  an  Stelle  der  bis  zum  Verschwinden  abgeblafsten  helleD  Natrium- 
linie im  Spektrum  die  dunkle  D-Linie,  bei  hinreichender  Vergröfserung 
als  Doppellinie  deutlich  erkennbar,  hervortreten. 

Ehe  wir  nach  dieser  Auseinandersetzung  der  physikalischen 
Grundlagen  der  spektralanalytischen  Forschungsmethode  zu  den  An- 
wendungen derselben  auf  astronomischem  Gebiete  übergehen,  geziemen 
sich  noch  einige  Andeutungen  darüber,  wie  denn  die  eindeutige, 
genaue  Bezeichnung  der  Lage  von  Spektrallinien  ermöglicht  wird. 
Für  eine  genäherte  Angabe  reicht  es  ja  im  allgemeinen  aus,  wenn 
gesagt  wird,  in  der  Nähe  welcher  von  den  bekannteren  Fraun- 
ho ferschen  die  zu  bezeichnende  Linie  liegt.  Wenn  es  sich  aber  um 
genaue  Identifizierungen  handelt,  so  reicht  diese  rohe  Vergleichung 
mit  dem  Sonnenspektrum  oder  vielleicht  mit  irgend  einem  anderen, 
mit  Hilfe  geeigneter  Hilfsvorrichtungen  neben  dem  zu  untersuchenden 
Spektrum  künstlich  hervorgerufenen,  bekannteren  Spektrum  nicht  aus, 
und  man  ist  genötigt,  die  Stellungen  der  Linien  unabhängig  von  dem 
individuellen  Zorstreuungsvennögen  des  gerade  benutzten  Prismas  in 
einem  allgemeingültigen  Mafse  anzugeben.  Als  solches  Mafs  für  die 
Ausmessung  der  Spektra  wird  seit  Angström  die  Wellenlänge  der 
betreffenden  Lichtart  benutzt. 

Wir  haben  bereits  weiter  oben*)  angegeben,  dafs  die  Wellenlängen 
des  siohtbaren  Spektrums  von  etwa  330  jjiu.  bis  810  u-ja  variieren.  Wie 
ist  man  aber  im  stände,  Oröfsen  von  so  fabelhafter  Kleinheit  zu  be- 
stimmen, zumal  doch  noch  keines  Menschen  Auge  die  Schwingungen 
der  Ätherteilchen,  die  nach  der  Undulationstheorie  das  Licht  hervor- 

•)  Vgl.  dio  Anmerkung  auf  Soito  29,  sowio  Figur  3. 


73 


rufen,  gesehen  hat?  Wie  ist  es  andererseits  möglich,  die  Hunderte 
von  Billionen  Schwingungen  zu  zählen,  die  nach  derselben  Theorie 
sich  in  einer  einzigon  Sekunde  vollziehen  sollen? 

Die  Antwort  auf  diese  Fragen  ist  nicht  mit  wenigen  Worten  zu 
erschöpfen  und  würde  uns  auch  zu  weit  von  unserem  Hauptgegen- 
stande entfernen.  Nur  soviel  können  wir  hier  verraten,  dafs  diese 
wunderbaren  Messungen  natürlich  nur  auf  einem  indirekten  Wege 
orfolgen  können;  und  zwar  sind  es  die  sogenannten  Intorferenzerschei- 
nungen,  d.  h.  Fälle,  bei  denen  Lichter  von  entgegengesetztem  Schwin- 
gungszustande sich  gegenseitig  auslöschen,  die  eine  Bestimmung  der 
Wellenlängen  und  damit  auch  der  Schwingungszahlen  ermöglichen. 
Handelt  es  sich  also  um  die  genaue  Bestimmung  der  Wellenlängen 
der  Linien  des  Sonnenspektrums,  so  mufs  man  das  Spektrum  statt 
durch  ein  Prisma  auf  einem  ganz  anderen  Wege,  nämlich  mittelst 
eines  äufserst  feinen,  aus  mikroskopisch  dicht  neben  einander  in  einen 
Spiegel  oder  eine  Glasplatte  eingeritzten  Striohen  bestehenden  Gitters 
erzeugen.  Ein  Lichtstrahl  wird  von  einem  solchen  Gitter  derart  be- 
einflufst,  dafs  sich  das  Licht  nioht  mehr  nur  geradlinig,  sondern  nach 
allen  Richtungen  hin  ausbreitet,  eine  Erscheinung,  die  man  als  Beugung 
oder  Diffraktion  zu  bezeichnen  pflegt.  Dabei  treten  aber  in  bestimmten 
Richtungen  durch  Interferenz  zusammentreffender  Schwingungen  dunkle 
Streifen  auf,  deren  gegenseitiger  Abstand  von  der  Wellenlänge  der 
benutzten  Lichtart  abhängt  und  daher  auch  umgekehrt  jene  zu  er- 
mitteln gestattet.  Ist  nun  das  benutzte  Licht  etwa  weifses  Sonnen- 
licht, so  werden  die  Interferenzstreifen  für  die  verschiedenen  Farben 
einen  verschiedenen  Ort  haben,  und  die  Farben  müssen  zu  einem 
Spektrum  auseinandertreton,  in  welchem  die  Abstände  der  Linien 
untereinander  im  direkten  Verhältnis  zu  ihrer  Wellenlänge  stehen. 
Professor  Rowland  hat  mit  meisterhafter  Geschicklichkeit  derartige 
Beugungsgitter  hergestellt,  die  nicht  weniger  als  1700  Linien  auf  einer 
Breite  von  nur  einem  Millimeter  aufweisen  und  herrliche  Spektra  er- 
zeugen, deren  Wellenlängen  nun  ohne  Schwierigkeiten  ausgemessen 
werden  konnten.  Für  die  Hauptlinien  des  Sonnenspektrums  haben 
sich  zum  Beispiel  die  folgenden  Werte  ergeben: 


Linie 
A 
B 
C 


Wellenlänge  in 
Milliontel-Millimeter  (»au) 


760,5 
68(?,8 
656,3 
589,6 


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74 


Linie 


Wellenlänge  in 
Milliontel-Millimeter  (w) 


D2 

E 

F 

G 

H 


589,0 
527,0 
486,2 
430,8 
390,9 


Sind  aber  erst  einmal  für  eine  gröfsere  Zahl  von  F  raun  ho  fer- 
schen Linien  und  für  die  Linien  der  Metalle  die  Wellenlängen  genau 
bekannt,  dann  läfst  sich  empirisch  auch  eine  Aiohung  jedes  Prismen- 
Spektrometere  ausfuhren,  so  dafs  man  alsdann  aus  der  am  eingeteilten 
Kreis  des  Apparates  abgelesenen  Ablenkung  irgend  eines  Strahles 
oder  aus  den  Zahlen  der  auf  der  vorderen  Prismenfläohe  sioh  spie- 
gelnden und  im  Beobachtungsfernrohr  zugleioh  mit  dem  Spektrum 
sichtbaren  Vergleichsskala  (siehe  Figur  2)  mit  Hilfe  einer  Tabelle  so- 
fort die  zugehörige  Wellenlänge  finden  kann. 


Fassen  wir  kurz  noch  einmal  die  Hauptergebnisse  unserer  bis- 
herigen Darlegungen  zusammen,  so  gipfeln  dieselben  in  der  Erkennt- 
nis, dafs  das  Spektrum  desjenigen  Liohtes,  das  von  einer  sehr  heifsen, 
festen  oder  feurig-flüssigen  Masse  ausgestrahlt  wird  und  dem  blofsen 
Auge  weifs  erscheint,  alle  möglichen  Farben  in  unmerkbaren  Ab- 
stufungen neben  einander  enthält  oder  ein  „kontinuierliches  Spektrum" 
ist6)  Die  Verteilung  der  Helligkeit  auf  die  verschiedenen  Farben  ge- 
stattet bei  solchen  Spektren  zwar  einen  Rüokschlufs  auf  die  Temperatur 
der  Lichtquelle  (Rotglut  und  Weifsglut),  aber  über  die  chemische 
Natur  des  strahlenden  Körpers  vermögen  wir  in  diesem  Falle  aus 
dem  Lichte  nichts  zu  ermitteln.  Ganz  anders  liegen  aber  die  Ver- 
hältnisse, wenn  wir  ein  glühendes  Gas  beobachten;  sein  Spektrum  be- 
steht, solange  sich  die  Dichtigkeit  in  mäfeig-en  Grenzen  hält,  stets  aus 
einzelnen,  getrennt  von  einander  liegenden,  weil  verschieden  gefärbten 
Linien,  deren  Zahl,  Farbe  und  Wellenlänge  für  jedes  Element  so 
charakteristisch  ist,  dafs  die  chemische  Natur  des  leuchtenden  Gases 
durch  genaue  Ausmessung  seines  Spektrums  mit  Sicherheit  festgestellt 
werden  kann,  auch  wenn  die  Lichtquelle  selbst  durch  ungemessene 
Entfernungen  von  uns  getrennt  und  darum  jede  andere  Art  der  Unter- 

*)  Nach  Zöllners  Untersuchungen  kann  bei  hinreichender  Dichtigkeit 
und  Dicke  der  strahlenden  Schicht  sogar  auch  das  Spektrum  oinor  gasförmigen 
Lichtquelle  infolge  allmählicher  Verbreiterung  der  Linien  in  ein  kontinuier- 
liches übergehen. 


IL  Die  Spektralanalyse  der  Gestirne. 


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75 


suchung  ihrer  chemischen  Eigenschaften  völlig  ausgeschlossen  ist  Bei 
Kometen  und  Nebelflecken  werden  wir  von  dieser  Kenntnis  Gebrauch 
machen;  von  ganz  besonderer  Wichtigkeit  für  die  Erforschung  der 
Gestirne  ist  aber  die  Umkehrung  der  hellen  Linien  in  dunkle,  die, 
wie  wir  aus  dem  ersten  Teil  wissen,  durch  Absorption  des  weifsen, 
vom  leuchtenden  Kern  der  Sterne  ausgestrahlten  Lichtes  in  den 
kühleren  Gashüllen  derselben  zu  stände  kommen  kann. 

Die  Sonne. 

Im  Sonnenspektrum  ist,  wie  wir  ebenfalls  schon  wissen,  die  Zahl 
der  Fraunhofer  sehen  Linien  aufserordentlich  grofs,  und  die  stärk- 


1 

i  i  . 

.IL 

- 

1 

Fig.  S.   Dia  Nktriamlinien  bei  starker  Dispersion  (nach  T  hol  Ion). 

sten  dorselben  wurden  bereits  von  Kirchhoff  auf  bestimmte,  in  der 
Sonnenatmosphäre  reichlich  vorhandene  Gase  zurückgeführt.  Dafs 
die  D-Linien  dem  auch  auf  der  Erde  aufserordentlich  verbreiteten 
Natrium  angehören,  haben  wir  bereits  experimentell  festgestellt.  Die 
gleichfalls  sehr  auffallenden  Linien  C,  F  und  H  sind  ebenso  mit 
den  Linien,  die  uns  der  Wasserstoff  bei  niedrigem  Druck  in  Geifsler- 
schen  Röhren  zeigt,  identifiziert  worden,  während  die  im  äufsersten 
Rot  liegenden  Absorptionsbanden  A  und  B,  auf  die  wir  sehr  bald 
noch  näher  zu  sprechen  kommen  werden,  dem  Sauerstoff  angehören. 
Namentlich  mit  Hilfe  der  Photographie  hat  die  gegenseitige  Lage  und 
Intensität  der  feineren  Linien  mit  grofser  Genauigkeit  festgelegt  werden 
können.  Die  auf  direkto  Messungen  gegründeten  Darstellungen  des 
Sonnenspektrums  von  K  i  rch  ho  ff,  Angström  und  Thollon  wurden 
durch  das  neuerdings  von  Rowland  hergestellte,  photographische 


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76 


Spektrum  von  mehr  als  13  Meter  Länge  weitaus  übertroffen,  zumal 
durch  die  photographische  Methode  auch  das  ultraviolette  Spektrum 
mit  grofser  Genauigkeit  bekannt  geworden  ist.  So  ist  die  Gegenwart 
des  Eisens  zur  Zeit  bereits  duroh  mehr  als  1000  Linien  erwiesen, 
deren  intensivste  die  Frau  n  hof ersehen  Linien  E  und  G  sind.  Mit 
welcher  Zerstreuung  das  Sonnenspektrum  duroh  Anwendung  mehrerer 
Prismen  betraohtet  werden  kann,  ersieht  der  Leser  am  besten  aus 
Figur  6,  welche  uns  einen  kleinen  Ausschnitt  aus  T hol  Ions  Atlas 
vor  Augen  führt.  Die  beiden  Komponenten  der  Natrium-Doppellinie  D, 
die  bei  schwacher  Zerstreuung  wie  eine  einzige  Linie  erscheinen, 
sind  hier  weit  auseinandergerückt,  und  der  Zwischenraum  zeigt  nicht 


I  II 

III  IL 

j 

!•  (ti  ii |t| • »-  * 

Fig.  7.   Die  Liniengruppea  A  and  B  bei  starker  DUpersion. 


weniger  als  15  neue,  schwächere  Linien.  Die  breiten,  intensiven  mit 
A  und  B  bezeichneten  FraunhoferBchen  Linien  lösen  sich  bei  so 
starker  Zerstreuung  in  eigenartige  Gruppen  von  dicht  gedrängten, 
gosetzmäfsig  verteilten  Linien  auf,  wie  es  Fig.  7  zeigt.  So  ist  es  denn 
erklärlich,  dafs  die  schwierige  Aufgabe,  all  die  zahllosen  Linien  des 
Sonnenspektrums  mit  den  Linien  der  uns  bekannten  chemischen  Grund- 
stoffe zu  identifizieren,  bis  jetzt  erst  in  sehr  unvollständigem  Mafse  ge- 
löst ist.  Das  bisherige  Gesamtresultat  dieser  Arbeit  hat  erkennen  lassen, 
dafs  die  Sonnenatmosphäre  vorwiegend  aus  metallischen  Dämpfen  zu- 
sammengesetzt ist  Auch  der  Wasserstoff,  der  sicherlich  einen  sehr 
wesentlichen  Bestandteil  der  Sonnenhülle  bildet,  kann  ja  in  chemischer 
Hinsicht  als  ein  Metall  bezeichnet  werden.  Die  in  Fig.  7  abge- 
bildeten Liniengruppeu  A  und  B  gehören,  wie  bereits  gesagt,  dem 
Sauerstoff  an,  sind  jedoch  tellurischen,  und  nioht  solaren  Ursprungs. 


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77 


Wir  haben  bis  jetzt  nämlich  noch  nicht  berücksichtigt,  dafs  das  Sonnen- 
licht ja  auch  die  irdische  Lufthülle  erst  durchdringen  mute,  ehe  es  in 
unser  Spektroskop  gelangt,  und  dafs  daher  zu  den  schon  in  der 
Sonnenatmosphäre  entstandenen  Absorptionslinien  nooh  eine  Anzahl 
tellurischer  Linien  hinzukommen  mufs,  die  hauptsächlich  durch  den 
Stickstoff,  den  Sauerstoff  und  den  Wasserdampf  unserer  Luft  bedingt 
sind.  Diese  tellurischen  Linien  aus  dem  Sonnenspektrum  auszusondern 
ist  natürlioh  nioht  ganz  leicht;  die  Möglichkeit  es  zu  thun  gründet 
sich  aber  auf  die  Veränderlichkeit  ihrer  Intensität  sowohl  bei 
wechselnder  Sonnenhöhe,  als  auch  bei  wechselnder  Meereshöhe 
des  Beobachters.  Offenbar  wird  die  vom  Sonnenstrahl  zu  durch- 
dringende Luftschicht  einerseits  um  so  dicker,  je  mehr  sich  die  Sonne 
dem  Horizonte  nähert,  andererseits  um  so  dünner,  je  höher  wir  uns 
über  das  Meeresniveau  erheben.  Tellurische  Linien  werden  daher 
daran  als  solche  erkannt,  dafs  sie  mit  sinkender  Sonne  intensiver 
werden,  dagegen  verblassen,  wenn  sich  der  Beobachter  auf  einen  hohen 
Berg  oder  mittelst  des  Luftballons  in  höhere  Luftschichten  begiebt. 
Auf  solche  Weise  wurden  die  Liniengruppen  A  und  B  als  tellurisch  er- 
wiesen, und  es  war  darum  lange  Zeit  hindurch  eine  Streitfrage,  ob  die 
Sonnenatmosphäre  überhaupt  Sauerstoff  enthalte.  Erst  ganz  kürzlich 
ist  das  Vorhandensein  dieses  auf  Erden  so  verbreiteten  Elements  in 
der  Sonnenatmosphäre  auf  Grund  gewisser  anderer  Linien  durch  Runge 
und  Paschen  erwiesen  worden.7) 

Wenn  man  ein  Verzeichnis  der  mit  Sicherheit  auf  der  Sonne 
nachgewiesenen  Elemente  durohsieht,  so  fällt  aufser  dem  Fehlen  der 
Nicht-Metalle  auch  das  der  Schwer-Metalle,  wie  z.  B.  Gold,  Platin  und 
Blei,  auf.  Gleichwohl  ist  es  sehr  wohl  möglich,  dafe  aufser  dem 
Sauerstoff  auch  noch  einzelne  andere  nichtmetallische  Stoffe  in  der 
Sonnenatmosphäre  vorbanden  sind,  sioh  aber  infolge  der  gleichzeitigen 
Gegenwart  von  Metallen  nioht  bemerkbar  machen.  Endlich  ist  keine 
einzige  chemisohe  Verbindung  spektroskopisch  auf  der  Sonno  fest- 
zustellen, während  doch  auf  Erden  die  Elemente  nur  selten  isoliert, 
sondern  meist  auf  mannigfache  Art  fest  zusammengekettet  vorkommen. 
Als  Ursache  dieses  Zustandes  der  „Dissoziation"  sieht  man  die  hohe 
Temperatur  der  Sonne  an,  welche  die  Atome  in  so  lebhafte  Schwin- 
gungen versetzt,  dafs  die  chemische  Verwandtschaft  nicht  zur  Geltung 
kommen  kann,  sehen  wir  dooh  auoh  im  Laboratorium  schon  die 
meisten  zusammengesetzten  Stoffe  bei  gewissen  Hitzegraden  in  ihre 
Elementarbestandteile  zerfallen. 

T)  Vgl.  Himmel  und  Erde,  X.  S.  425. 


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78 


Dl.  f>2 


Besondere  Beachtung  verdient  nun  noch  die  spektralanalytische 
Untersuchung  der  auffälligen  Gebilde,  die  unsere  Fernrohre  am  Sonnen- 
ball erkennen  lassen,  nämlich  der  Flecken  und  Protuberanzen.  Was 
zunächst  die  fast  stets  auf  der  Sonnenscheibe  vorhandenen  Flecken 
betrifft,  so  erkennt  man  im  allgemeinen  an  den  betreffenden  Stellen 
mit  Hilfe  des  Spektroskops  sowohl  eine  über  das  ganze  Spektrum 
sich  ausdehnende  Verdunkelung,  als  auch  eine  hochgradige  Verstär- 
kung der  schon  im  gewöhnlichen  Sonnenlioht  erkennbaren  Fraun- 
ho ferschen  Linien,  die  vielfach  bandartig  verbreitert  erscheinen. 
Zöllner  schlofs  hieraus,  dafs  die  Bestandteile  der  Sonnenatmosphäre 
sich  über  den  Fleckenregionen  im  Zustande  starker  Verdichtung  be- 
finden. Ganz  eigentümliche  Wahrnehmungen  kann  man  aber  mit- 
unter an  den  Natriumlinien  machen.     Dieselben  zeigen  nämlich  oft 

an  der  Stelle  der  gröfsten  Verbreiterung 
einen  hellen  Kern,  wie  es  Figur  8  veran- 
schaulicht. Dieses  Phänomen  ist  nur  da- 
durch erklärlioh,  dafs  im  Fleck  eine  sehr 
verdiohtete  Schicht  Natriumdampf  von  weni- 
ger dichten ,  aber  heifseren  Dämpfen  der- 
selben Substanz  überlagert  wird.  Diese 
heifseren  Schichten  erzeugen  dann,  da  ja 
die  Leuchtkraft  mit  der  Temperatur  wächst, 
den  helleren  Kern,  der  wegen  der  geringeren 
Diohtigkeit  dieser  oberen  Dämpfe  nicht  so  breit  werden  kann  wie  die 
durch  die  tieferen,  unter  hohem  Druck  stehenden  Schichten  hervor- 
gerufenen Absorptionslinien. 

Von  ganz  hervorragendem  Nutzen  für  die  wissenschaftliche  Er- 
kenntnis hat  sich  die  spektralanalytische  Untersuchung  der  flammen- 
äh nlioben  Hervorragungen  oder  Protuberanzen  erwiesen,  die  man 
früher  nur  zur  Zeit  einer  totalen  Sonnenfinsternis  am  Rande  des 
Sonnenballs  erblicken  konnte.  Diese  Gebilde  sind  uns  jetzt  nicht 
nur  ihrem  Wesen  nach  erschlossen  worden,  sondern  zugleich  macht 
das  Spektroskop  es  auch  möglich,  sie  an  jedem  Tage  am  Rande  der 
Sonne  zu  sehen;  ja  auch  mitten  auf  der  Sonnonscheibe  können  wir 
heutzutage  mit  Hilfe  der  spektralen  Zerlegung  dos  Lichtes  diejenigen 
Gebiete  herausfinden,  wo  sich  solche  Lichtbäume  auf  der  Sonnen- 
oberfläche erheben.  —  Die  erste  spektroskopische  Beobachtung  von 
Protuberanzen  erfolgte  durch  Jansson  bei  Gelegenheit  der  totalen 
Sonnenfinsternis  von  1868  in  Indien.  Es  zeigte  sich  dabei,  dafe  die 
beim  direkten  Anblick  im  Fernrohr  rötlich  erscheinenden  Flammen- 


Ki.r  8.  Die  Hatriumlinien 
im  Spektrum  einet  Sonnenfleck». 


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79 


zungen  ein  aus  wenigen  hellen  Linien  bostehendes  Spektrum  besitzen. 
Namentlich  waren  vier  Linien  sehr  deutlich  sichtbar,  von  denen  drei 
die  bekannten  Wasserstoff linien  sind,  die  im  Sonnenspektrum  „um- 
gekehrt" als  dunkle  Linien  gesehen  werden;  die  vierte  Linie,  die 
merkwürdiger  Weise  weder  einer  dunklen  Linie  des  gewöhnlichen 
Sonnenspektrums  entspricht,  nooh  auch  irgend  einem  von  den  damals  be- 
kannten Elementen  zugehört,  liegt  im  gelben  Teile  des  Spektrums  nahe 
bei  der  Natriumlinie  und  wird  deshalb  mit  dem  Buchstaben  D3  (vgl. 
Fig.  8)  bezeichnet,  während  man  dem  durch  sie  angezeigten,  neuen 
chemischen  Element  den  treffenden  Namen  „Helium11  gab.  Aus  diesem 
Spektrum  der  Protuberanzen  ergab  sich  also,  dafs  wir  es  hier  mit 
gewaltigen  Gasmassen  zu  thun  haben,  die  aus  dem  Sonneninnern  ex- 
plosionsartig hervorbrechen  und  im  wesentlichen  aus  Wasserstoff  und 
dem  auf  Erden  damals  noch  nicht  gefundenen  Helium  bestehen.8) 

Neben  diesem  Aufschiurs  über  die  Natur  der  Protuberanzen 
führte  die  spektroskopisohe  Beobachtung  aber  auch  sofort  zu  einer 
Methode,  dieselben  Gebilde  alltäglich  zu  sehen;  und  zwar  kam 
Janssen  unmittelbar  nach  Beendigung  jener  denkwürdigen  Sonnen- 
finsternis auf  den  zum  Ziele  führenden  Gedanken,  so  dafs  er  bereits 
am  nächsten  Tage  die  erste  Protuberanz  mittelst  des  Spektroskops 
entdecken  konnte.  Noch  ehe  die  Nachricht  hiervon  nach  Europa  ge- 
kommen war,  hatte  auch  Lockyer  bereits  völlig  selbständig  dieselbe 
Entdeckung  gemacht,  nachdem  er  schon  seit  zwei  Jahren  den  richtigen 
Gedanken  verfolgt  und  nur  mangels  geeigneter  Instrumente  nicht 
früher  hatte  zum  Ziele  kommen  können.  —  Bei  vollem  Sonnenschein 
sind  offenbar  die  Protuberanzen  im  Fernrohr  nur  dadurch  unsichtbar, 
dafs  sie,  wie  bei  Tage  die  Sterne  durch  das  Licht  der  erhellten  Luft 
verblassen,  von  dem  Lichte  des  Sonnenballs  und  der  ihm  zunächst 
sichtbaren,  erleuchteten  Luft  bei  weitem  überstrahlt  werden.  Um  über- 
haupt die  Sonne  ungeblendet  betrachten  zu  können,  müssen  wir  durch 
dunkle  Gläser  oder  irgendwelche  andere  Mittel  das  Licht  so  stark  ab- 
schwächen, dafs  von  den  weniger  stark  glänzenden  Protuberanzen 


*>  Dem  eifrigen  Leser  der  letzten  Jahrgänge  unserer  Zeitschrift  ist  be- 
kannt, dafs  neuerdings  das  Helium  in  minimalen  Mengen  auch  in  irdischen 
Körpern  und  in  Meteoren  entdeckt  und  dadurch  der  direkten  chemischen 
Untersuchung  zugänglich  gemacht  worden  ist  (vgl.  Bd.  VIII,  S.  181,  IX, 
S.  517).  —  Auch  wollen  wir  hier  nicht  verschweigen,  dafs  in  neuester  Zeit  von 
mehreren  Seiten  eine  wesentlich  andere  Auffassung  der  Protuberanzen,  als 
oben  zu  gründe  gelegt  ist,  zur  Geltung  gebracht  worden  ist,  worüber  gleich- 
fall» in  dieser  Zeitschrift  (Bd.  IV,  S.  329,  Bd.  V,  8.  345  und  578)  gebührend  be- 
richtet wurde. 


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so 


nichts  mehr  erkennbar  ist.  Die  Verschiedenartigkeit  des  Spektrums  der 
Protuberanzen  von  dem  der  Sonne  selbst  giebt  nun  aber  die  Möglichkeit 
an  die  Hand,  das  direkte  Sonnenspektrum  sehr  stark  abzuschwächen, 
ohne  dafs  zugleich  die  Intensität  des  Protuberanzenspektrums  im 
gleichen  Marse  verringert  würde;  der  Helligkeitskontrast  kann  daher 
soweit  gemäfsigt  werden,  dafs  beide  Spektra  nebeneinander  erkennbar 
werden.  Das  Mittel,  wodurch  man  das  erreicht,  besteht  in  der  An- 
wendung einer  sehr  starken  Dispersion,  also  eines  Spektralapparates 


Fig.  9.   Beobachtung  dar  Protuberans  and  der  ChromoiphAre  bei  Sounenechein 

mit  mehreren  Prismen,  welche  die  Farben  des  Spektrums  weit  aus- 
einanderzerren. 

Richten  wir  den  Spalt  des  mit  einem  Fernrohr  versehenen 
Spektroskops  so,  dafs  er  den  Rand  des  im  Fernrohrbrennpunkt  be- 
findlichen Sonnenbildchens  senkrecht  schneidet,  wie  es  die  linke  Hälfte 
unserer  Figur  9  darstellt,  so  gelangt  durch  die  untere  Hälfte  des 
Spaltes  direktes  Sonnenlicht,  durch  die  obere  dagegen  einerseits  das 
von  unserer  Atmosphäre  intensiv  zurückgestrahlte  Tageslicht  und 
andererseits,  falls  sich  an  der  betreffenden  Stelle  des  Sonnenrandes 
eint«  Protuberanz  befindet,  Protuberanzenlicht  in  die  Prismen.  Nun 
wird  durch  die  Verteilung  des  durch  den  schmalen  Spalt  eindringen- 
den Lichtbündels  auf  ein  ausgedehntes,  kontinuierliches  Spektrum  so- 
wohl das  direkte,  als  auch  das  reflektierte,  weifse  Sonnenlicht  sehr 
beträchtlich  abgeschwächt;  das  von  der  rötlichen  Protuberanz  stam- 


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81 


mende  und  nur  aus  wenigen  diskreten  Farbengattungen  bestehende 
Licht  erfährt  dagegen  keine  derartige  Ausbreitung,  die  vier  hellen 
Linien  rücken  bei  starker  Dispersion  zwar  weiter  auseinander,  bleiben 
aber  so  schmal  wie  der  Spalt  des  Spektroskops.  So  erreichen  wir 
denn,  dafs  sich  diese  Protuberanzlinien  nicht  nur  von  dem  allenfalls 
aus  dem  Gesichtsfeld  zu  bringenden  direkten  Sonnenspektrum,  sondern 
vor  allem  auch  von  dem  darübergelagerten  und  auf  keine  Weise  völlig 
zu  entfernenden  Spektrum  des  diffusen  Tagesliohtes  hinreichend  ab- 
heben, um  deuüioh  wahrgenommen  zu  werden.  —  Befindet  sich  an 
der  gerade  eingestellten  Stelle  des  Sonnenrandes  keine  Protuberanz, 
so  fehlen  natürlich  die  entsprechenden  Linien,  man  erblickt  aber  eine 
grösfere  Zahl  ganz  kurzer  heller  Linien,  welche  von  jenem  roten  Saum 
herrühren,  der  bei  totalen  Finsternissen  rings  um  die  verdunkelte 
Sonne  gesehen  wird  (vgl.  den  unteren  Teil  der  Figur  9).  Diese 
äufserst  schmale  Schiebt  glühender  Gase  (und  zwar  wiederum  vor- 
nehmlich Wasserstoff)  wird  als  Chromosphäre  bezeichnet  und  stellt 
gewissermaßen  den  Boden  dar,  in  dem  die  Protuberanzen  wurzeln. 
Die  Chromosphärenlinien  sitzen  meist  mit  breiter  Basis  dem  Sonneu- 
rande  auf,  laufen  aber  nach  aufsen  hin  in  feine  Spitzen  aus.  Dieses 
Aussehen  erklärt  sich  durch  die  Abnahme  des  Drucks  und  der 
Dichtigkeit  der  betreffenden  Gase  bei  zunehmendem  Absland  vom 
Niveau  der  Photosphäre.9) 

Durch  die  Janssen- Lock  versehe  Beobachtungsmethode  kann 
man  also  bei  Absuchung  des  Sonnenrandes  leicht  feststellen,  an 
welchen  Stellen  jeweilig  Protuberanzen  vorhanden  sind,  und  bis  zu 
welcher  Höhe  sich  dieselben  erheben;  aber  die  Gestalt  dieser  Bildungen 
ist  nicht  unmittelbar  erkennbar,  sondern  könnte  erst  aus  mehreren 
radialen  Durchschnitten  erschlossen  werden.  Zöllner  stellte  nun  den 
Spalt  des  Spektroskops,  nachdem  er  eine  Protuberanz  aufgefunden, 
tangential  zum  Sonnenraud  und  öffnete  denselben,  nachdem  der  helle 
Sonnenrand  gänzlich  aus  dem  Gesichtsfeld  entfernt  war,  bis  zu  einer 
beträchtlicheren  Breite.  Sofort  sah  er  nun  statt  einer  hellen,  gegen 
das  kontinuierliche  Luftspektrum  hinreichend  kontrastierenden  Linie 
die  ganze  Protuberanz  in  ihrer  natürlichen  Gestalt  und  in  der 
Farbe  der  betreffenden  Spektralgegend.  Dieselbe  Protuberanz  liels 
sich  nun  ebensogut  in  der  C-,  wie  der  D3-,  oder  F- Linie  in  roter, 
gelber  oder  blauer  Farbe  wahrnehmen  und  naturgetreu  abzeichnen. 
Unsere  Abbildung  Figur  10  zeigt  uns  die  Zöllnersche  Einstellung; 
wir  sehen,   wie   das   vom   Fernrohrobjekliv   entworfene  Fokusbild 

u)  Photosphäre  =  Lichthülle  ist  die  wissenschaftliche  Bezeichnung  der 
leuchtenden,  eigentlichen  Sounenoberfläcbe. 

Hlmmol  und  Krde   1898.  XI.  2.  ß 


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82 


der  Sonne  den  weitgeöffnoten  Spalt  seitlich  berührt,  so  dafs  nur 
die  in  der  Nähe  eines  Flecks  befindliche,  über  den  Rand  hervor- 
ragende Protuberanz  (die  natürlich  für  das  freie  Auge  neben  dem 
hellen  Sonnenbilde  nicht  sichtbar  ist)  ihr  Licht  in  das  Prisma  senden 
kann.  Figur  11  zeigt  uns,  was  der  Beobachter  am  Spektroskop  dabei 
sieht.  Das  Gesichtsfeld  ist  der  Quere  nach  von  einem  Stück  roten 
Spektrums  (von  dem  von  der  Luft  reflektierten  Sonnenlicht  her- 
stammend) durchzogen,  in  dessen  Mitte  die  durah  die  weite  Öffnung 
des  Spaltes  sehr  verbreiterte  C-Linie l0)  eine  dunkle  Unterbrechung 
bildet.  Diese  Lücke  sehen  wir  aber  durch  die  zierlichsten  Formen 
einer  Protuberanz  und  der  bei  dieser  Beobachtung  einem  feurigen 


Grasfelde  gleichenden  Chromosphäre  erfüllt.  -Man  könnte  sich  ein- 
bilden," sagt  Young.  „man  sehe  den  Abendhimmel  durch  eine  halb 
geöffnete  Thür,  nur  fehlt  die  Mannigfaltigkeit  und  der  Kontrast  der 
Farben,  alle  Wölkchen  zeigen  dieselbe,  rein  scharlachrote  Farbe." 

Seit  der  Entdeckung  dieser  spektn>skopischen  Bcobachtungs- 
niethode  ist  natürlich  kein  Tag  mehr  vergangen,  ohne  dafs  von 
unermüdlichen  Snnncnforschern,  wie  z.B.  Secchi  und  Tacchini.  der 
Sonnenrand  nach  Protuberanzen  abgesucht  worden  wäre.  In  den 
„Memorie  degli  Spettmscopisti  Italiani"  finden  wir  seit  langen  Jahren 
eine  regelmässige  Registrierung  und  Abbildung  der  beobachteten  Piro* 
tuberanzen.  Beim  Durchblättern  dieser  Sonnen-Annulen  fällt  uns  ein 
grofser  Formenreichtum  jener  Bildungen  auf.  Namentlich  lassen  sich 
zwei   Haupigruppen  von  Protuboranzen  unterscheiden,  die  wolken- 

lu)  Die  feineren  Fraunhoferschen  Linien  sind  dagegen  wegen  der  Breite 
des  Spaltes  röllig  verblafst. 


Fig.  10.  Tangentiale 
Einteilung  einer  Protuberanx 
bei  weit  geöffnetem  Spalt. 


Fig.  11.    Beobachtung  der  Protuberans«!! 
ihrer  Gestalt  nach. 


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83 


ähnlichen  und  die  eruptiven.  Der  erstere  Typus,  wie  ihn  unsere  Ab- 
bildung Figur  12  links  darstellt,  zeigt  unscharfe,  neblige  Umgrenzung 
und  nur  langsame  Veränderungen  der  Gestalt.  Die  eruptiven  Pro- 
tuberanzen (Figur  12  rechts)  gleichen  mächtigen,  feurigen  Spring- 
brunnen, die  aufser  Wasserstoff  und  Helium,  wie  das  Spektrum  lehrt, 
auch  verschiedene  metallische  Dämpfe  mit  in  die  Höhe  reifsen  und 
demgeraäfs  jedenfalls  sehr  viel  heftigeren  Vorgängen  in  den  tieferen 
Schichten  der  Sonnenhülle  ihre  Entstehung  verdanken.  Dem- 
entsprechend beobachtet  man  an  solchen  Gebilden  oft  auch  schon  in 
kürzester  Zeit  beträchtliche  Veränderungen  der  Gestalt  und  Gröfse. 
Die  Figur  13,  welche  uns  vier  Entwickelungsstadien  eines  besonders 
lebhaften  Ausbruches  vor  Augen  führt,  die  im  ganzen  nur  etwa  eine 
Stunde  auseinander  lagen,  giebt  uns  hierfür  ein  eindringliches  Beispiel. 


P  f 

Fig.  13.  Protuberanian. 


Übrigens  hat  Tacchini  bei  Gelegenheit  von  Sonnenßnsternis- 
beobachtungen  auch  weirse  Protuberanzen  entdeckt,  die  außerhalb  der 
Finsternis  spektroskopisch  nur  schwer  oder  gar  nicht  wahrnehmbar 
waren.  Überhaupt  läfst  uns,  wie  gar  nicht  anders  erwartet  werden 
kann,  das  Spektroskop  immer  nur  die  hellsten  Teile  einer  Protuberanz, 
ihr  Gerippe  so  zu  sagen,  erkennen,  während  die  feineren  Details  nach 
wie  vor  nur  bei  totalen  Sonnenfinsternissen  studiert  worden  können. 

Seit  wenig  mehr  als  etwa  einem  Jahrzehnt  hat  man  sioh  bemüht, 
in  allen  Zweigen  der  Himmelskundo  die  Photographie  in  den  Dienst 
der  Forschung  zu  stellen,  und  auch  die  Erforschung  der  Protuberanzen 
und  der  mit  ihnen  nahe  verwandten  „Sonnenfackeln"  hat  durch  diese 
neue  Methode  einen  bedeutungsvollen  Aufschwung  genommen.  Es 
zeigte  sich,  dafs  die  im  Violett  ziemlich  an  der  Grenze  des  sicht- 
baren Spektrums  gelegenen,  von  Calciumdämpfen  herstammenden 
Linien  H  und  K  nicht  nur  im  Lichte  der  meisten  Protuberanzen 
ebenso  hell  oder  noch  heller  als  die  Wasserstoffliuien  vorhanden  sind 
sondern  mit  Hilfe  photographischer  Aufnahmen  auch  mitten  auf  der 

6' 


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84 


Sonnenscheibe  sich  doppelt  umgekehrt,  das  heifst  mit  einem  hellen 
Kern  versehen,  zeigen.  Haie  und  Deslandres  haben  daraufhin 
unabhängig  von  einander  besondere,  komplizierte  Apparate,  „Spektro- 
heliographen",  ersonnen,  die  es  gestatten,  mittelst  mehrerer  beweg- 
licher, gekreuzter  Spalte  das  Bild  der  ganzen  Sonne  oder  auch  ihrer 
Umgebung  im  Lichte  der  K-Linie  photographisch  zu  fixieren.  Unsere 
Figur  14  zeigt  das  Ergebnis  einer  derartigen  Aufnahme,  die  freilich 
einen  ganz  anderen  Anblick  gewährt  als  eine  gewöhnliche,  direkte 
Sonnenphotographie. ")  Wir  haben  hier  eben  nicht  eine  Abbildung 
der  das  eigentliche  Sonnenlicht  ausstrahlenden  Photosphäre  vor  uns, 
sondern  vielmehr  eine  Darstellung  der  über  dieser  lagernden  und 


i  i-',.  13.    Vcranaoiuugen  einer  Protuberani  (nach  Zu  Huer.] 


durch  die  Hilfsmittel  der  photographischen  Spektralanalyse  sichtbar  ge- 
machten chromosphärischen  Schicht  mit  den  Hervorragtingen  derselben, 
die  sonst  am  Sonnenrande  als  Protuberanzen,  vor  der  Scheibe  aber 
höchstens  in  weit  geringerer  Ausdehnung  als  Fackeln  erkennbar  sind. 12) 

Endlich  ist  natürlich  auch  die  Sonnencorona,  jene  ausgedehnte, 
äufserste  Umhüllung  des  Sonnenballs,  die  nur  bei  totalen  Verfinste- 
rungen des  letzteren  gesehen  werden  kann,  aufs  eifrigste  spektro- 
skopisch untorsuclit  worden,  so  oft  die  wenigen  Minuten  eim-r  totalen 
Sonnenfinsternis  die  Gelegenheit  dazu  darboten.    Das  Coronaphänomen 

"|  Näheres  über  diese  Aufnahmen,  sowie  über  gewisse  diesbezügliche 
noch  nicht  entschiedene  Streitfragen  findet  man  in  Himmel  und  Erde,  Bd.  V, 
S.  94  und  Bd.  VI.  S.  3So. 

u)  Die  eigentümliche  Gestreiflheit  des  Bildes  ist  allerdings  nur  durch  ge- 
wisse Unvollkommcnhoiton  des  Aufnah meapparatea  bedingt  und  entspricht 
keineswegs  reellen  Lichtunterschieden. 


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85 


stellte  bis  zur  Entwicklung  der  spektralanalytischen  Forschung  für  die 
Gelehrten  noch  ein  völlig  ungelöstes  Problem  dar;  man  wufste  nicht 
einmal  mit  Sicherheit,  ob  diese  Strahlenkrono  dem  Monde  oder  der 
Sonne  angehört  oder  gar  nur  eine  rein  optische  Erscheinung  sei. 
Das  Spektrum  zeigte  sofort  die  Zugehörigkeit  zur  Sonne  an,  denn 
neben  einem  schwachen  kontinuierlichen  Spektrum  erkannte  mau  helle 
Linien  (besonders  eine  grüne  und  mitunter  zwei  grüngelbe,  sowie  auch 
die  Wasserstofflinien),  die  beweisen,  dafs  ein  wesentlicher  Teil  des 
Coronalichtos  von   selbstleuchtendon,  glühenden  Oasen  stammt,  wie 


Fig  14.   Eine  Sonnenaufnaame  im  Licht«  der  K.-Liaie  (nacli  Haie.) 

sie  nur  in  unmittelbarster  Sonnennähe  existieren  können.  Aus  den 
grünen  Linien  speziell,  die  einem  sonst  bekannten  Element  wegen 
ihrer  besonderen  Lage  nicht  entsprechen  können1''),  müssen  wir  auf  das 
Vorhandensein  eines  glühenden,  jedenfalls  äufserst  leichten  Gases  von 
unbekannter  Natur  (Coronium)  sohliefsen,  während  das  kontinuierliche 
Spektrum  anzeigt,  dafs  sich  diesem  Eigenlicht  der  Corona  auch  reflek- 
tiertes Sonnenlicht  beimischt,  welches  vielleicht  von  feinen,  meteori- 
schen Staubpartikelchen  stammen  mag,  die  den  gewaltigen  Sonneu- 
ball  den  Mücken  gleich,  die  um  eine  Lampe  schwirren,  umkreisen. 

(Fortsetzung'  folgt.) 

")  Vor  einigen  Wochen  haben  jedoch  italienische  Forscher  ein  Gas  mit 
entsprechendem  Spektrum  in  den  Solfa  taragasen  von  Pozzuoli  entdockt. 


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jiiiiiiiiiitniiiiiii  iiiiiii  111  ii  ii  iiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiniiiii  Ii  Iiiiiiiiiiii  iiiii  iitiiiiniiiim 


^11  III  III  II  Hill  I  IIIII  II  IIIIIIIIIIII  Hill  I  IIIII  HIHIHI  H  II  II  II  lllllllllllllllllllllll  III  II  Hill  II  1111111111111? 


Lichtelektrische  Telegraphie. 

Von  Dr.  P.  Spie«  in  Berlin. 

chall-  und  Lichtwellen  ermöglichen  dem  Menschen  in  der  ein- 
fachsten Weise  eine  Zeichengebung  auf  einige  Entfernung.  Auf 
der  primitivsten  Stufe  freilich,  auf  welcher  eine  solche  „Tele- 
graphie ohne  Draht"  auch  ohne  sonstige  Zurüstungen  ausgeübt  wird, 
also  lediglich  die  menschliche  Stimme  zur  Erzeugung  von  Tönen,  die 
menschlichen  Oliedmafsen  zur  Hervorbringung  sichtbarer  Zeichen  be- 
nutzt werden,  wird  die  zu  überwindende  Entfernung  eine  verhältnis- 
mäfsig  kleine  sein.  Die  nächstliegenden  Vervollkommnungen  akusti- 
scher Art  sind  durch  lauttönendo  Geräte  gegeben,  etwa  durch  Glocken, 
Nebelhörner,  Signalhörner  oder  Trommeln,  und  es  ist  bekannt,  dafs 
beispielsweise  das  letztgenannte  Instrument,  die  Trommel,  bei  mancheu 
wilden  Völkern  mit  grofser  Meisterschaft  in  der  Weise  gehandhabt 
wird,  dass  wichtige  Nachrichten  durch  die  „Trommelsprache"  im 
ganzen  Lande  schnell  verbreitet  werden. 

Auch  der  kultivierte  Mensch  verzichtet  auf  eine  solche  akustische 
Signalgebung  nicht  vollständig,  wenngleich  er  von  ihr  kaum  zur 
Übermittelung  mannigfaltiger  Nachrichten  Gebrauch  machen  dürfte. 
Eine  weitergehende  Anwendung  hat  sich  bei  der  optischen  Zoichen- 
gebung  erhalten;  nicht  nur  wird  eine  Verständigung  spezieller  Art 
zwischen  dem  Bahnwärter  und  dem  Personal  des  fahrenden  Zuges 
durch  optische  Signale  ermöglicht,  sondern  wir  erzielen  auch  zwischen 
einem  Schiff  und  der  Küste  mit  Hülfe  der'bekannten  farbigen  Flaggen 
eine  sehr  weitgehende  und  dauernd  mit  Nutzen  angewandte  Ver- 
ständigung. 

In  diesen  beiden  letzteren  Fällen  haben  wir  bereits  recht  typische 
Aufgaben  für  die  drahtlose  Telegraphie  herangezogen.  In  den  meisten 
anderen  Fällen,  vornehmlich  im  Verkehr  auf  dem  Festlande  von  Stadt 
zu  Stadt  oder  zwischen  weit  entfernten  Punkten  an  verschiedenen 
Küsten  desselben  Meeres,  überhaupt  auf  gröfsere  Entfernungen  mutete 
der  einstmals  so  bedeutungsvolle  optische  Telegraph  dem  elektrischen 
Leitungsdrahte  weichen,  weil  dieser  letztere  unabhängig  von  Witterungs- 


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einflüssen,  von  der  Gestaltung  des  Geländes,  einigermafsen  auch  von 
der  Entfernung  arbeitet,  und  weil  er,  was  besonders  ins  Gewicht  fallt, 
die  Nachrichten  niederzuschreiben  vermag. 

Recht  eigentümlich  berührt  es  uns,  wenn  wir  sehen,  dafs  man 
in  der  neuesten  Zeit  versucht  hat,  für  jene  Fälle,  in  denen  die  An- 
wendung eines  Drahtes  ausgeschlossen  ist,  die  elektrische  Telegraphie 
durch  Hülfsmittel  zu  ergänzen,  welche  mit  der  physikalischen  Grund- 
erscheinung der  optischen  Telegraphie,  also  dem  Lichte,  nahe  ver- 
wandt oder  vielmehr  identisch  sind.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs 
derartige  Methoden  die  Vorzüge  der  optisohen  und  der  elektrischen 
Telegraphie,  leider  aber  auch  die  Fehler  beider  in  sich  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  voreinigen  werden.  Die  eine  dieser  Metboden  draht- 
loser Telegraphie,  nämlich  die  Marconische,  ist  in  dieser  Zeitschrift 
bereits  ausführlich  besprochen  worden.  Wir  weisen  an  dieser  Stolle 
nur  daraufhin,  dafs  die  von  Hertz  entdeckten  Ätherwellen,  mit  denen 
Marooni  arbeitet,  vorhültnismäfsig  lang  sind;  ihre  Länge  bemirst  sich 
nach  Dezimetern  oder  gar  nach  Metern,  und  deshalb  ist  es  bis  jetzt 
nicht  gelungen,  die  für  die  Lichtwellen  —  und  bei  Laboratoriums- 
versuohen  auch  für  die  Hertzschen  Wellon  —  bewährten  Hülfsmittel 
einer  Konzentration  der  Wirkung  nach  bestimmten  Richtungen  hin, 
also  Spiegel  und  Linsen  bei  Versuchen  im  grofsen  anzubringen.  Es 
wird  also  die  Wirkung  des  Wellengebers  nach  allen  Richtungen  hin 
verstreut,  ähnlich  wie  dies  im  allgemeinen  bei  den  von  einer  Schall- 
quelle ausgehenden  Schwingungen  der  Fall  ist,  und  demzufolge  mufs 
man  den  Empfänger  gewissermaßen  mit  einem  recht  grofsen  Ohre, 
einer  Auff&ngevorrichtung  versehen,  nämlioh  mit  einem  lang  aus- 
gespannten Drahte.  Der  allgemeine  Charakter  der  Anordnung  schliefst 
sich  also  immer  noch  mehr  an  dasjenige  an,  was  man  bei  elektrischen 
Apparaten  zu  sehen  gewohnt  ist;  nur  das  Fehlen  eines  fortlaufenden 
Drahtes  weist  uns  darauf  hin,  dafs  es  sich  hier  um  eine  Naturerschei- 
nung handelt,  welche  der  Ausbreitung  von  Schall-  oder  Liohtwellen 
analog  ist. 

Die  neue  Methode,  welohe  ihr  Erfinder  „Lichtelektrische  Tele- 
graphier genannt  hat,  benutzt  ebenfalls  Ätherwellen,  welche  auf  unser 
Auge  eine  Wirkung  nicht  ausüben;  aber  diesmal  handelt  es  sich  um 
die  Strahlen,  welche  nicht  jenseits  der  unteren,  sondern  jenseits  der 
oberen  Grenze  des  sichtbaren  Gebietes  liegen,  um  die  sogenannten 
ultravioletten  Strahlen.  Merkwürdigerweise  ist  die  besondere  Eigen- 
schaft dieser  Strahlen,  welche  zur  Verwertung  gelangt,  ebenfalls  von 
Heinrich  Hertz  entdeokt,  und  zwar  bei  Gelegenheit  seiner  Ver- 
suche über  elektrische  Wellen.    Hertz  fand  nämlioh,  dafs  das  von 


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88 


elektrischen  Funken  ausgehende  Licht,  und  zwar  die  in  ihm  ent- 
haltenen Strahlen  geringer  Wellenlänge,  insbesondere  die  ultravioletten 
Strahlen  die  Eigenschaft  besitzen,  elektrische  Entladungen  auszulösen. 
Wenn  man  beispielsweise  die  kugelförmigen  Elektroden  eines  im 
Gange  befindlichen  Induktionsapparates  so  weit  auseinanderzieht,  dafs 
die  elektrische  Spannung  nicht  mehr  hinreicht  um  noch  eine  Funken- 
entladung herbeizuführen,  und  wenn  man  dann  auf  die  Elektroden 
ultraviolette  Strahlen  fallen  läfst,  so  setzt  die  Funkenentladung  sofort 
wieder  ein.  Diese  Erscheinung  und  die  ihr  verwandten  Phänomene 
pflegt  man  als  „lichtelektrische"  zu  bezeichnen.  Professor  Zickler 
in  Brünn  benutzt  den  Vorgang  in  folgender  Weise  für  die  Zwecke 
der  drahtlosen  Telegraphie.  Von  einem  an  der  Sendestation  befind- 
lichen Bogenlichte  werden  in  den  deu  telegraphischen  Zeichen  ent- 
sprechenden Intervallen  Strahlen  in  der  Richtung  der  Empfangsstation 
ausgesendet  und  diese  lösen  an  letzterer  in  denselben  Intervallen 
elektrische  Funken  aus.  Die  von  den  Funken  wiodergogebonon 
Zeichen  können  nun  in  verschiedener  Weise  fixiert  werden,  z.  B.  da- 
durch, dafs  man  nunmehr  zur  Marcon  i sehen  Methode  übergeht,  also 
die  Funken  auf  einen  Cohäror  wirken  läfst  und  dadurch  diesen  und 
die  von  ihm  abhängigen  Apparate  bethätigt;  oder  man  schaltet  in  die 
sekundäre  Rolle  des  Induktoriums  selbst  eine  Vorrichtung,  welche  auf 
den  beim  Übergang  des  Funkens  entstehenden  Strom  anspricht,  also 
einen  geeigneten  Morseapparat  oder  besser  ein  Relais. 

Da  der  in  Rede  stehende  Hertzsohe  Effekt  stärker  wird,  wenn 
man  die  Luft  zwischen  den  Elektroden  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
verdünnt,  so  schliefst  man  die  letzteren  in  eiu  Glasgefäfs  ein.  welches 
mit  Hülfe  einer  Luftpumpe  entleert  werden  kann.  Über  die  benutzten 
Apparate  sei  ferner  noch  bemerkt,  dars  der  Zeichengober  ein  gewöhn- 
licher elektrischer  Scheinwerfer  ist;  um  die  Aussendung  ultravioletter 
Strahlen  zu  begünstigen,  wird  durch  Auseinanderziehen  der  Kohlen 
ein  etwas  gröfserer  Flammenbogen  gebildet.  Eine  gewisse  Erschwerung 
liegt  in  dem  Umstände,  dafs  die  Linsen  und  Spiegel,  welche  zur 
Konzentration  der  Strahlen  benutzt  werden,  nicht  aus  Glas  bestehen 
dürfen,  bezw.  bei  gläsernen  Spiegeln  die  Vorderfläche  versilbert  sein 
mufs.  Glas  hat  nämlich  die  Eigenschaft,  die  wirksamen  Strahlen  stark 
zu  absorbieren;  man  wird  also  seine  Zuflucht  entweder  zu  Linsen  aus 
Bergkrystall  oder  zu  einfachen  metallenen  Hohlspiegeln  nehmen.  Das 
Glasgefäfs,  welches,  wie  oben  erwähnt,  die  Elektroden  des  Empfangs- 
apparates einschliefst,  mufs  ebenfalls  mit  einein  Quarzfenster  ver- 
sehen sein. 

Die  erwähnte  unangenehme  Eigenschaft  des  Glases,  die  wirk- 


89 


samen  Strahlen  zu  verschlucken,  kommt  dem  neuen  System  nach 
einer  anderen  Richtung'  hin  zu  gute.  Sie  ermöglicht  es,  durch  einen 
Verschlufs  aus  Glas,  der  etwa  durch  ähnliche  Mechanismen  bethätigt 
werden  könnte  wie  die  Momentverschlüsse  photographischer  Apparate, 
die  wirksamen  Strahlen  abzuschneiden.  Die  hierdurch  herbeigeführte 
sichtbare  Intensitätsänderung  ist  so  gering,  dafs  sie  einem  Beobachter 
des  Strahlenkegels  entgeht,  dafs  also  ein  unerwünschtes  Mitlesen  der 
übermittelten  Nachrichten  hier  viel  weniger  leicht  möglich  ist  als  bei 
dem  M a reo ni sehen  System.  Die  ganze  Anordnung  wird  durch  die 
Figur  schematisch  wiedergegeben:  L  bezeichnet  eine  elektrische 
Lampe,  deren  Strahlen  durch  den  Spiegel  S  reflektiert  werden  und 
durch  die  Quarzlinse  Q  in  annähernd  paralleler  Richtung  austreten. 
Die  Linse  Q  kann  fortfallen,  wenn  der  Lichtpunkt  mit  dem  Brenn- 
punkt des  Spiegels  zusammenfällt,  was  bei  gröfseren  Scheinwerfern 


G 

L 

(> 

S 

1 

(1  ä2r_-y 


Li 


zu  militärischen  und  anderen  Zweoken  der  Fall  zu  sein  pflegt.  Für 
Abbiendung  des  Xebenlichtes  sorgt  das  Metallgehäuse  G.  V  ist  der 
erwähnte  Verschlufs  aus  Glas. 

Dor  Empfänger  besteht  aus  einem  gläsernen  Gefäfs,  welches 
die  Platinelektroden  P,  P2,  eine  Kugel  und  eine  Platte  enthält,  und 
durch  das  Quarzfenster  Q2  verschlossen  ist.  Durch  die  Quarzlinse 
Q,,  deren  Abstand  regulierbar  ist,  kann  auf  der  negativen  Elektrode 
P2  das  Strahlenbündel  konzentriert  werden;  es  hat  sich  nämlich  ge- 
zeigt, dafs  vornehmlich  die  Belichtung  der  negativen  Elektrode  von 
entscheidendem  Einflute  ist.  Das  Induktorium  J  raufs  so  reguliert 
werden,  dafs  seine  Spannung  nur  während  der  Bestrahlung  P2  zu  der 
Erzeugung  eines  Funkens  ausreicht. 

Die  Versuche  Zicklers,  welche  ohne  Anwendung  eines  geeigneten 
Reflektors  stattfanden,  haben  bis  auf  eine  Entfernung  von  200  Metern 
eine  sichere  Wirkung  ergeben.  Dieses  Resultat  ist  insofern  günstig, 
als  ja  ohne  Reflektor  bei  einer  derartigen  Entfernung  nur  ein  ver- 
schwindend kleiner  Teil  der  Strahlung  ausgenutzt  wird.  Selbst  bei 
viel  gröfseren  Entfernungen  wird,  wie  eine  einfache  Betrachtung  des 


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geometrischen  Strahlenverlaufs  zeigt,  die  Wirkung  bedeutend  intensiver 
sein  als  bei  den  Zicklerschen  Experimenten,  sobald  man  einen 
Scheinwerfer  benutzt.  Allerdings  ist  hierbei  nicht  berücksichtigt,  einen 
wie  grofsen  Anteil  der  Strahlen  die  Luft  absorbiert,  eine  Frage,  welohe 
auf  Grund  neuer  Experimente  wird  in  Angriff  genommen  werden 
müssen.  Man  sieht  ohne  weiteres  ein,  dafs  hier  eine  Schwäche  der 
neuen  Methodo  liegt,  welche  sie  mit  der  alten  optischen  Telegraphie 
teilt,  während  sie  derselben  durch  die  Niederschrift,  sowie  duroh  die 
Verhinderung  des  Mitlesens  überlegen  ist. 

Von  allgemeineren  physikalischen  Gesichtspunkten  aus  erscheinen 
uus  die  Zicklerschen  Versuche  recht  bemerkenswert  Zweifellos 
sendet  uns  die  Sonne  auch  in  der  Form  ultravioletter  Strahlen  grofse 
Energiemengen  zu.  Ein  grofser  Teil  dieser  Strahlung  wird  in  den 
oberen  Schichten  der  Atmosphäre  aufgehalten,  ohne  dafs  wir  eine 
hinlänglioh  begründete  Antwort  auf  die  Frage  geben  könnton,  was 
für  eine  Rolle  jene  Energie  etwa  bei  meteorologischen  Vorgängen  zu 
spielen  vermag.  Die  ultravioletten  Strahlen,  welche  zu  uns  mit  dem 
Lichte  herabgelangen,  sind  vielleicht  Tür  das  organische  Leben  auf 
der  Erde  und  sicherlich  für  manohen  wissenschaftlich  -  technischen 
Prozefs,  z.  B.  die  Photographie,  von  Bedeutung;  in  allen  diesen  Fällen 
aber  geht  ihre  Wirkung  neben  denjenigen  der  Lichtstrahlen  einher, 
und  es  diirfto  deshalb  hier  zum  ersten  Male  der  Versuch  gemacht 
sein,  eine  technische  Wirkung  zu  erzielen,  dadurch,  dafs  man  einen 
Gegensatz  zwischen  den  Lichtstrahlen  allein  einerseits  und  der  Gesamt- 
strahlung einer  elektrischen  Lampe  andererseits  ausnutzt. 

Noch  weiter  geht  freilich  ein  anderer  etwas  phantasiereicher 
Vorschlag,  den  wir  nur  seiner  Eigentümlichkeit  wegen  erwähnen. 
Nach  demselben  soll  das  von  einer  Strahlenquelle  ausgehende  Licht 
ganz  unterdrückt  und  nur  der  ultraviolette  Anteil  zur  Bestrahlung 
eines  fernen  Objektes  benutzt  werden.  Die  hier  diffus  reflektierten 
Strahlen  sollen  dann  ein  Bild  des  Gegenstandes  abgeben,  genau  so. 

- 

wie  uns  die  von  einem  Scheinwerfer  ausgehenden  Lichtstrahlen  ein 
fernes  Objekt  sichtbar  machen.  Der  einzige  Unterschied  würde  darin 
bestehen,  dafs  beim  Auftreffen  der  ultravioletten  Strahlen  der  Gegen- 
stand nicht  für  das  Auge,  sondern  nur  für  ein  besonderes,  auf  dem 
bekannten  Prinzip  der  Fluorescenz  basierendes  Instrument  sichtbar 
sein  würde.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dafs  der  Autor  dieser  letzteren 
Idee  vornehmlich  an  eine  Verwendung  zu  Kriegszwecken  denkt,  und 
es  berührt  uns  eigentümlich,  wenn  wir  uns  etwa  ausmalen,  dafs  man 
einen  Feind  mit  dunklen  Strahlen  und  mit  Hilfe  eines  für  diese 
empfänglichen  „künstlichen  Auges-  beobachten  könnte,  ohne  dafs  der 


91 


Ahnungslose  hiervon  etwas  zu  merken  im  stände  wäre.  Man  sieht 
wieder  einmal,  wie  die  moderne  Wissenschaft  die  kühnsten  Zauber- 
märchen zu  übertreffen  im  stände  ist,  oder  sagen  wir  lieber  wie  sie 
dieselben  denkbar  erscheinen  zu  lassen  vermag. 


Seit  langer  Zeit  kennt  man  in  Nord-Amerika  und  in  Kufsland 
eigentümliche  Qesteinsgänge,  deren  Ausfüllungsmasse  weder  aus 
eruptiven,  in  glutflüssigem  Zustande  era porgedrungenen  Gesteinen, 
noch  aus  wässeriger  Lösung  auskristaliisierten  Mineralien,  sondern 
vielmehr  aus  sedimentärem  Gesteinsmaterial  besteht,  und  man  hat  sich 
allmählich  daran  gewöhnt,  auch  diese  auffälligen  Gebilde  mit  dem 
Namen  „Gang11  zu  bezeichnen.  In  Kalifornien  finden  sich  beispiels- 
weise in  eozänen  Mergeln  weithin  sich  erstreckende  schmale  Gänge, 
dio  mit  Sandstein  erfüllt  sind,  und  im  Gebiete  des  Pikes  Peak  treten 
ganz  analoge  Sandsteingänge  im  Granit  auf.  Auch  in  Kufsland  ist 
das  Verhältnis  ein  ganz  ähnliches.  Dort  finden  sich  bei  Alatvr  in 
neokomen  Thonen  gleichfalls  Gänge  von  Sandstein.  In  allen  diesen 
Fällen  hat  man  zur  Erklärung  des  merkwürdigen  Phänomens  ange- 
nommen, dafs  es  sich  hier  um  Spalten  handelt,  die  bei  Gelegenheit 
von  Erdbeben  aufrissen  und  unmittelbar  nach  dem  Aufreihen  sich 
mit  Sand  füllten,  der  ein  späteres  bei  Erdbcbenspalten  oftmals  ein- 
tretendes WiederverschlieCsen  verhinderte.  Indessen  besteht  in  ein- 
zelnen Gebieten  ein  Unterschied  in  der  Art  und  Weise  der  Aus- 
füllung. In  manchen  Fällen  ist  nämlich  das  Ausfüllungsmaterial 
einfach  von  oben  her  in  die  Spalte  hineingefallen,  während  es  in  an- 
deren aus  der  Tiefe  derselben  emporgeprefst  ist  Die  Ausfüllungs- 
raasse  und  ihre  petrographische  Zusammensetzung  läfst  in  den  meisten 
Fällen    mit   vollkommener  Sicherheit  erkennen,   auf  welche  dieser 


Fossile  Erdbebenspuren. 


St2 


beiden  Arten  die  Spaltenfüllung  erfolgte.  In  Kalifornien  werden  die 
eozänen  Mergel  von  Sauden  unterlagert,  die  der  Kreideformation  an- 
gehören, und  die  Aiisfüllungsmasse  der  Gänge  stimmt  vollkommen  mit 
jenen  Sanden  des  Untergrundes  überein  Hier  ist  also  mit  Sicher- 
heit der  Vorgang  so  zu  erklären,  dafs  unmittelbar  nach  dem  Auf- 
reihen der  Spalte  der  wasserdurchträukto  Kalksand  von  unten  her 
wie  ein  Eruptivgestein  empordraug  und  die  Spalte  füllte,  bevor  sie 
sich  schliefsen  konnte.  Anders  liegt  die  Sache  am  Pikes  Peak  und 
in  Rufsland.  In  beiden  Gebieten  fehlen  unter  dem  von  der  Spalte 
durchsetzten  Gestein  solche  sandigen  Ablagerungen,  deren  Material 
mit  der  Spaltenausfüllung  übereinstimmt,  dagegen  sind  dieselben  in 
jüngeren  Schichten  der  betreffenden  Gebiete,  wenn  auch  nicht  immer 
in  unmittelbarer  Nähe  des  Sandsteinganges,  noch  vorhanden.  Bei 
Alatyr  stimmte  das  Material  der  in  der  Kreidetbrmalion  aufsetzenden 
Sandsteingänge  vollkommen  mit  den  im  gleichen  Gebiete  auftretenden 
der  älteren  Tertiärzeit  angehörenden  Sanden  des  Oligozän  überein. 
Hier  ist  also  offenbar  das  Material  der  Spaltenausfüllung  von  oben 
hereingestürzt  und  hat  dieselbe  im  Momente  der  Entstehung  ausge- 
füllt. Ks  ist  nun  von  hohem  Interesse,  dafs  ein  solcher  Sandstein- 
gang nunmehr  auch  in  unserem  Vaterlande  beobachtet  werden  konnte, 
und  zwar  ist  es  in  diesem  Falle  durch  die  eingehende  und  sorgfältige 
Untersuchung  eines  unserer  ausgezeichnetsten  Petrographen,  des  Pro- 
fessors Kalkowsky  in  Dresden,  gelungen,  den  Charakter  dieses 
Sundsteinganges  als  Ausfüllungsmasse  einer  Krd bebenspalte  durch 
Anwendung  feiner  chemischer  und  mikroskopischer  Methoden  auf  das 
sicherste  festzustellen.  Kalkowsky  berichtet  über  seine  Untersuchungen 
in  einem  Aufsatze  in  den  Abhandlungen  der  Dresdener  Isis,  dem  wir 
folgende  interessante  Einzelheiten  entnehmen.  Östlich  von  Meifsen 
wurde  bei  Weinböhla  im  Elbthale  eine  kleine  Soholle  von  der  der 
Kreideformation  angehörendem  Plänerkalke  abgebaut  Während  des 
Steinbruchbetriebes  sliefs  man  auf  eine  dünne,  vertikale  Sandsteinmauer, 
die  sich  etwa  50  m  weit  durch  den  Bruch  hindurch  verfolgen  liefs. 
Die  Stelle  ist  noch  dadurch  besonders  interessant,  dafs  sie  in  der 
nächsten  Nähe  der  grofsen,  sogenannten  Lausitzer  Überschiebung 
liegt.  Durch  eine  gewaltige  Bewegung  in  der  Erdkruste  sind  hier 
ältere  granitische  Gesteine  flach  über  jüngere,  dem  Jura  und  der 
Kreidel'ormation  angehörende  Kalksteine  und  Mergel  hinwegbewegt 
worden,  sodars  hier  eine  vollkommen  verkehrte  Schichtenlagerung  ent- 
standen ist.  Der  Sandsteingang,  der  gegenwärtig  durch  Eingehen  des 
Steinbruchbetriebes  nicht  mehr  sichtbar  ist,  besäte  eine  Mächtigkeit 
von  30  — 45  cm  und  verlief  ungefähr  senkrecht  -egen  die  allgemeine 


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Richtung  der  Lausitzer  Überschiebung,  während  er  fast  vertikal  in 
die  Tiefe  hinabselzt.  Zu  beiden  Seiten  des  Sandsteinganges  liegen 
Mergel  und  Sandsteine  des  Pläner.  Leider  hat  das  Aufhören  des  Be- 
triebes die  Beziehungen  des  Ganges  zu  der  nahe  gelegenen  Über- 
schiebung nicht  erkennen  lassen.  Das  Gestein  des  Ganges  ist  ein 
fester  Sandstein,  der  fast  ausschliefslich  aus  Quarzkörnern  besteht,  die 
durch  ein  Bindemittel  von  kohlensaurem  Kalke  innig  verkittet  sind. 
Der  Kalk  ist  durch  Auflösung  aus  dem  Nebengestein  in  wässeriger 
Lösung  in  den  Sand  hineingebracht  worden  und  in  demselben  so 
vollkommen  auskristallisiert,  dafs  er  alle  Hohlräume  der  Quarzkörner 
erfüllt  hat  Wenn  man  nun  in  einem  gewissen  Volumen  des  Sand- 
steina durch  Behandeln  mit  Salzsäure  den  Kalk  auflöst,  so  erhält 
man,  da  Quarz  und  Kalkspath  ungefähr  dasselbe  spezifische  Gewicht 
haben,  in  der  Menge  des  Kalkes  das  sogenannte  Porenvolumen  des 
Sandes,  d.  h.  das  Verhältnis  der  zwischen  den  einzelnen  Sandkörnern 
sich  befindenden  Hohlräume  zu  der  Masse  des  Sandes.  Dieses  Poren- 
volumen nun  ergab  sich  zu  30  p.  c;  es  ist  das  eine  außerordentlich 
niedrige  Zahl,  denn  das  mathematisch  zu  berechnende  Porenvolumen 
kugelförmiger,  gleich  großer  Körper  beträgt  26  p.  c,  also  nur  ein 
geringes  weniger,  während  dagegen  scharfkantige  Quarzsande  von 
derselben  Korngröfse  wie  die  unseres  Sandsteinganges  ein  solches 
von  mehr  als  37  bis  gegen  40  p.  c.  besitzen.  Daraus  geht  schon 
hervor,  dafs  der  Sand  vor  seiner  Verfestigung  durch  Kalkspath  eine 
Zusammenpressung  erfahren  haben  mufs,  durch  die  das  natürliche 
Porenvolumen  erheblich  vermindert  wurde,  eine  Zusammen pressung, 
die  man  wohl  zwanglos  auf  den  gewaltigen  Seitendruck  zurückführen 
kann,  den  die  Wände  der  eben  aufgerissenen  Spalte  bei  ihrem  Be- 
streben, sich  wieder  zu  schließen,  ausübten.  Eine  ausgezeichnete  Be- 
stätigung findet  diese  Anschauung  in  dem  mikroskopischen  Studium 
der  Quarzkörner:  schon  bei  der  Auflösung  des  Bindemittels  mit  ver- 
dünnter Säure  zeigt  es  sich,  dafs  der  Rückstand  nicht  zu  einem  losen 
Sande  zerfällt,  sondern  dafs  die  einzelnen  Quarzkörner  mit  ihren 
Spitzen  und  Ecken  so  fest  aneinander  geschweifst  sind,  dafs  es  kräf- 
tiger mechanischer  Nachwirkung  bedarf,  um  ihren  Zusammenhang  zu 
lösen.  Die  mikroskopische  Untersuchung  dieser  Partien  lieferte  eine 
vollständige  Bestätigung,  indem  es  sich  zeigte,  dafs  die  so  ver- 
schweißten Quarzkörner  an  ihren  Grenzen  so  gut  wie  gar  keine  Dis- 
kontinuität besitzen.  Auch  diese  Erscheinung  ist  unzweifelhaft  auf 
mächtige  Druckkräfte  zurückzuführen,  wobei  wahrscheinlich  der  in 
Lösung  hinzugeführte  kohlensaure  Kalk  als  Auf lösungsmittel  der 
Grenzmoleküle  der  Quarze  eine  gewisse  Rolle  spielte. 


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94 


Auch  das  Alter  dieses  Sandsteinganges  läfst  sich  mit  greiser 
Sicherheit  bestimmen,  wenn  man  die  Beschaffenheit  seines  sandigen 
Materials  mit  anderen  Sanden  und  Sandsteinen  der  Umgebung  ver- 
gleicht. Über  dem  heutigen  Ausgehenden  des  Ganges  lagert  in 
grofser  Mächtigkeit  der  diluviale  Haidesand  der  Dresdener  Haide. 
Das  Material  desselben  ist  von  völlig  anderer  Zusammensetzung  und 
von  sehr  mannigfacher  Beschaffenheit;  vor  allem  aber  sind  die 
Quarzkörner  alle  stark  abgerollt  und  abgerundet.  Auch  der  jüngere 
Sandstein  der  sächsischen  Kreideformation,  der  sogenannte  Über- 
quader, kann  unraöglioh  der  Lieferant  des  Sandes  gewesen  sein,  denn 
seine  Körner  sind  stets  gröber,  und  vor  allen  Dingen  sind  rosa  ge- 
färbte Quarze  geradezu  charakteristisch  für  ihn.  Da  auoh  im  Liegenden 
dos  Pläners  die  dunkelgrauen  bis  schwarzgrünen  glaukonitischen  Sand- 
steine nicht  in  Frage  kommen  können,  so  bleibt  nur  eine  einzige 
Formation  übrig,  und  das  ist  das  Oligozän.  Noch  jetzt  sind  oligozäne 
Sande  und  Kiese  in  der  Nachbarschaft  von  Weinböhla  in  einzelnen 
kleinen  Partien  vorhanden,  die  vor  der  Zeit  des  Diluviums  entschie- 
den eine  zusammenhängende,  ausgedehnte  Decke  bildeten.  Diese  oligo- 
zänen  Sande  sind  bald  feinkörnig,  bald  grobkörnig,  und  die  ersteren 
zeigen  nun  bei  mikroskopischer  Untersuchung  in  Gröfse,  Form  und 
optischem  Verhalten  der  Quarzkörner,  sowie  in  dem  Fehlen  fast  aller 
anderen  Mineralien  die  allergrößte  Ähnlichkeit  mit  dem  Material 
unseres  Sandsteinganges.  Aus  dem  Gesagten  läfst  sich  die  Geschichte 
dieses  hochinteressanten  Gebildes  mit  gröfster  Sicherheit  in  der  folgen- 
den Weise  feststellen:  nach  der  Ablagerung  der  Plänerschichten 
und  des  Überquaders  der  jüngeren  Kreideformation  wurde  ein  grofser 
Teil  dieser  Sedimente  in  der  jüngsten  Kreide  und  im  ältesten  Tertiär 
durch  Erosion  wieder  entfernt,  worauf  zur  Zeit  des  Unteroligozän 
in  einzelnen  Seobocken  und  Flufsläufen  Quarzkiese,  Sande  und  Thone 
sich  niederschlugen,  die  später  auch  wieder  zum  grofsen  Teil  durch 
Erosion  entfernt  wurden.  Gegen  das  Ende  des  Unteroligozän  be- 
gannen hier,  wie  in  vielen  Gebieten  der  Erde,  Bewegungen  im  Boden; 
es  leiteten  sich  kraftvolle  tektouische  Bewegungen  ein,  und  als  Vor- 
läufer derselben  treten  Erdbeben  auf.  Bei  einem  dieser  Erdbeben 
rifs  der  feste  Plänerkalk,  der  von  darüber  lagernden,  lockeren 
Sanden  bedeckt  war,  zu  einer  Spalte  auf,  in  die  alsbald  von  oben  her 
der  Sand  hineinstürzte,  sodafs  das  Wiedorverschliefsen  der  Kluft  un- 
möglich wurde,  während  der  bei  diesem  Versuche  ausgeübte  Druck  eine 
mächtige  Zusammen pressung  der  Ausfüllungsmasse  zur  Folge  hatte. 
Kurze  Zeit  nach  seiner  Entstehung,  die  also  in  das  Ende  der  Unter- 
oligozänzeit  fällt,  hatte  sich  der  Sand  des  Ganges  bereits  durch  Kalk- 


95 


spath  zu  einem  festen  Gestein  verkittet,  und  als  nun  die  gewaltige 
Störung  einsetzte,  als  deren  Ergebnis  wir  die  Lausitzer  Überschiebung 
vor  uns  sehen,  entstand,  was  bei  der  unmittelbaren  Nachbarschaft 
dieses  mächtigen  Phänomens  nicht  zu  verwundern  ist,  eine  Zertrüm- 
merung des  Sandsteinganges  und  eine  Verschiebung  sowohl  im  hori- 
zontalen, wie  im  vertikalen  Sinne,  durch  die  die  einzelnen  Teile  des- 
selben von  neuem  getrennt  wurden.  Gleichzeitig  wurde  das  Gestein 
in  sich  mit  einem  Netzwerke  von  Trümmerspalten  durchzogen,  auf 
denen  später  wieder  feinere  und  stärkere  Adern  von  Kalkspath  aus- 
kristallisierten. Im  jüngeren  Tertiär  wurden  dann  weitere  Teile  des 
Turon  und  Oligozün  entfernt,  aber  ein  günstiger  Zufall  liefs  unter 
einer  Decke  von  diluvialem  Haidesand  den  Sandsteingang  als  Zeugen 
vergangener  Erdbeben  bis  zum  heutigen  Tage  bestehen.  K. 


Die  Abbildung  auf  Seit«  3:>  ist  durch  ein  Versehen  leider  verkehrt  ein- 
•  gesetzt  worden.  Dementsprechend  müssen  die  Bezeichnungen  ebenfalls  in 
umgekehrter  Reihenfolge  stehen,  das  oberste  Spektrum  ist  also  das  des  Calciums, 
das  unterste  dasjenige  der  Sonne;  ebenso  muteten  die  über  der  Abbildung 
befindlichen  Buchstaben  links  mit  A  beginnen.  Indem  wir  den  freundlichen 
Leser  um  entsprechende  Korrektur  ersuchen,  bitten  wir  für  das  störende  Ver- 
sehen um  Entschuldigung.  Die  Rodaktion. 


Berichtigung. 


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Prof.  Dr.  L.  Grunmach:  Die  physikalischen  Erscheinungen  und  Kräfte. 

Leipzig  1898,  Verlag  von  Otto  Spamer. 

Das  vorliegende  Werk  ist  ein  Sonderabdruck  ans  dem  zweiten  Bande 
des  allbekannten  Buches  der  Erfindungen,  der  aufserdem  noch  die  Abschnitte 
.Mechanik"  und  „Kraftmaschinen"  enthält,  die  freilich  unseres  Erachtens  gleich- 
falls unter  den  Titel  des  Sonderabdrucks  fallen,  deren  Abtrennung  daher  wohl 
nur  deshalb  erfolgte,  weil  sie  einen  anderen  Autor  haben.  —  Die  neue  Bear- 
beitung des  auch  bisher  schon  als  ausgezeichnet  bekannten  Werkes  zeigt  zahl- 
reiche, recht  in  die  Augen  fallende  Verbesserungen  oder  vielmehr  richtiger 
eine  gänzliche  Neugestaltung.  Abgesehen  von  einer  gründlichen  und  sach- 
gemäfsen  Revision  beziehungsweise  Neuschaffung  des  Textes  ist  namentlich 
auch  die  Zahl  guter  Illustrationen  erheblich  gestiegen,  sodafs  hierin  wohl 
ziemlich  das  denkbar  Besto  erreicht  ist.  Ein»  grofse  Zahl  von  guten  Portraits 
bedeutender  Forscher  sowie  von  Ansichten  moderner,  wissenschaftlicher  Instru- 
mente wird  das  Buch  selbst  dem  Fachmann,  dem  der  Text  nichts  wesentlich 
Neues  bioten  kann,  wortvoll  machen.  Berühmte  Refraktoren  z.  B.  sind  auf 
einer  besonderen  Tafel  zusammengestellt,  darunter  auch  der  Urania-Refraktor 
und  das  Pariser  Equatorial  coude.  Die  fünf  der  Stückrathschen  Vakuum -Wage 
gewidmeten  Illustrationen  werden  vorwiegend  den  weiter  vorgeschrittenen  Leser 
interessieren,  während  sie  dem  Anfänger  zwar  nicht  in  allen  Teilen  verständ- 
lich sein,  aber  doch  immerhin  einen  Begriff  von  dem  Worte  „Präcisionsmessung" 
beibringen  werden,  wie  er  durch  Auseinandersetzungen  mit  Worten  gar  nicht 
zu  erzielen  wäre.  --  Nach  alledem  zweifeln  wir  nicht,  dafs  das  Buch  auch  in 
seiner  neuenQestalt  seinen  grofsen  Interessentenkreis  voll  befriedigen  wird,  mögen 
auch  manche  früher  broiter  behandelten  Abschnitte,  wie  z.  B  die  überseeische 
Telegraphie  und  die  musikalischen  Instrumente  zu  Gunsten  der  Hertzschen 
Wellen,  Tesla-Ströme,  Röntgenstrahlen  und  ähnlicher  aktueller  Neuheiten  zu 
kurz  gekommen  sein. 


Vetlaj:  Hermann  Partei  in  Berlin.  —  l>rock:  Wilhelm  Oronan-»  Unrbdraekerei  in  Berlin  -  HchAneberv. 
Für  die  Kedaction  reranl  wortlich :  Dr.  P.  Schwann  in  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdrnck  au»  dem  Inhalt  die««  Zeitschrirt  nnt«r»afl 
Cb«r»«Uong»rnrht  Yuil«-h»ltrn. 


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Photographie  eines  Bandblitzes. 

Aufgenommen  auf  der  Sternwarte  zu  Hamburg 
von  (5.  A.  L.  Rümker. 


Keplers  Traum  vom  Mond .*) 

Von  Ludwig  Günther  in  Stettin. 

as  uns   von  unserem   grofeen   Astronom  hinterlassene  Werk 
über  die  Astronomie  des  Mondes  ist  wohl  die  merkwürdigste 
Schrift  aus  der  Reformationszeit  der  Sternkunde:  gleich  merk- 
würdig wegen  ihres  Inhalts,  wie  wegen  ihres  Geschickes. 

Schon  bevor  er  die  Astronomie  zu  seinem  Lebensberufe  erkor, 
zu  der  Zeit,  wo  er  in  Tübingen  noch  dem  Studium  der  Theologie  ob- 
lag, beschäftigte  sich  Kepler  mit  der  Beobachtung  des  Mondes,  und 
hier  Bchon  mag  ihm  der  erste  Gedanke  zu  seinem  _  Traum-  gekommen 
sein.  Einige  Jahre  später  —  1593  —  verfafste  er  einige  Thesen  über 
die  Himmelserscheinungen  auf  dem  Monde,  welche  er  dann  in  einer 
öffentlichen  Disputation  verteidigte.  Diese  Thesen  selbst  sind  ver- 
loren gegangen;  man  darf  aber  annehmen,  dafs  Kepler  sie,  wenigstens 
zum  Teil,  in  seinen  „Traumu  aufgenommen  hat. 

In  einer  Abhandlung  über  Galileis  Sternboten,  die  er  1610  ver- 
öffentlichte, sagt  er  u.  a.  nach  einer  Besprechung  der  Meinung 
Plutarchs  von  den  Mond  flecken:  «Diesen  Fragen  gab  ich  mich  im 
vorigen  Sommer  so  sehr  hin,  dafs  ich  eine  neue  Astronomie,  gleichsam  für 
Mondbewohner  schuf."  Hiernach  wird  Kepler  den  Text  unseres  Buches 
ungefähr  um  das  Jahr  1609  vollendet  haben.  Dieser  enthält  in  kurzen 
Umrissen  diejenigen  astronomischen  Erscheinungen,  welche  ein  Beob- 
achter auf  dem  Monde  haben  wird.  Mit  der  Absicht  ausgeführt,  sich  die 
Kopernikanische  Lehre  in  all  ihren  Konsequenzen  klar  zu  machen 
und  sich  dadurch,  dafs  er  im  Geiste  einen  aufserhalb  der  Erde  be- 

*j  Kommentierte  Ausgabe  von  Joh.  Kopiers  posthumem  Werke  „Ueber 
die  Astronomie  des  Mondes1'.    Verlag  von  B.  O.  Tcubner  in  Leipzig.  IS'.KS. 
Himmel  und  Erde    im.  XL  8.  7 


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lindlichen  Standpunkt  wählte,  von  der  Augentäuschung  der  scheinbaren 
Bewegungen  zu  befreien,  diente  dieser  Text  zunächst  wohl  nur  «Inn 
Zwecke  der  Selbstbelehrung.  Das  macht  es  wenigstens  verständlich, 
«iafs  Kepler  nach  der  Vollendung  in  seinen  Schriften  dea  -Traum" 
lange  Zeit  nicht  erwähnt.  Erst  im  Jahre  1620  beginnt  er  wieder,  sich 
mit  seiner  Jugendarbeit  zu  beschäftigen,  und  wir  erfahren  durch  einen 
Brief  vom  9.  Dezember  1623  an  seinen  Freund  Bernegger,  welche 
Pläne  er  damit  verfolgte.  „Meine  Astronomie  des  Mondes",  schreibt  er, 
„habe  ich  vor  2  Jahren  umzuprägen  oder  vielmehr  durch  Zusätze  zu 
erläutern  begonnen.  Ks  sind  darin  so  viele  Probleme  als  Zeilen, 
welche  mit  Hülfe  teils  der  Astronomie,  teils  der  Physik,  teils  der  Ge- 
schichte gelöst  sein  wollen.  Aber  wer  wird  es  der  Mühe  wert  halten» 
sie  aufzulösen?  Deshalb  habe  ich  beschlossen,  in  Noten,  welche  fort- 
laufend dem  Texte  folgen,  sie  alle  aufzulösen.  Hat  Campanella  von 
dem  Reich  der  Sonne  geschrieben,  warum  ich  nicht  von  dem  des 
Mondes?  Tbue  ich  nicht  recht,  wenn  ich  die  evclopischen  Sitten 
unserer  Zeit  lebhaft  schildere,  aber  zur  Vorsicht  die  Erde  verlasse  und 
mich  in  den  Mond  begebe?" 

Bernegger  ermunterte  ihn,  das  Werk  doch  ja  bald  der  Öffent- 
lichkeit zu  übergeben.  Aber  sei  es,  dafs  wichtige  Arbeiten  ihn  ab- 
hielten, sei  es,  dafs  andere  Gründe  ihn  zur  Zurückhaltung  bestimmten, 
erst  Ende  des  Jahres  1629  war  das  Buch  vollendet.  -Was  wirst  Du 
sagen",  schreibt  er,  wiederum  an  Bernegger,  „wenn  ich  Dir  meine 
„Astronomie  des  Mondes"  zueignote"?  Verjagt  man  uns  von  der 
Erde,  so  wird  mein  Buch  als  Führer  den  Pilgern  zum  Monde  nütz- 
lich sein  " 

Das  ist  alles,  was  wir  in  Keplers  Schriften  über  seinen 
„Traum"  finden.  In  seiner  letzten  Äufserung  spricht  er  ahnend  sein 
baldiges  Hinscheiden  aus:  or  selber  ist  bald  darauf  ein  Pilger  in  den 
Mond  geworden!  Haben  wir  so  die  Entstehung  des  merkwürdigen 
Buches  aus  Keplers  eigenen  Worten  erfahren,  so  hören  wir  aus 
denen  seines  Sohnes  Ludwig  die  weiteren  Schicksale. 

Danach  mufs  Kepler  noch  in  Sagan,  nicht  lange  vor  seiner 
sorgenvollen  Reise  nach  Regen sburg.  wo  er  am  15.  November  1630, 
all  seiner  Hoffnung  beraubt,  die  müden  Alicen  schlofs,  den  Druck  des 
Buches  begonnen  haben.  Nach  seinem  Tode  nahm  Jakob  Bartsch. 
Keplers  Eidam,  die  Fortsetzung  des  Druckes  m  die  Hand,  aber  -- 
ein  eigentümliches  Verhängnis  —  auch  Bartsch  starb  vor  der  Be- 
endigung. Nun  fiel  die  Sorge  der  Drucklegung  auf  Ludwig,  der  es 
1  in   Sohnespflicht  hielt,  den  Ruhm  seines  grofsen  Vaters    der  Nach- 


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weit  unverkürzt  zu  überliefern.  Ludwig-  hat  dem  Buehe  auch  den 
selenographischen  Anhang  beigegeben,  einen  gleichfalls  durch  Noten 
erläuterten  Brief,  den  Kepler  nuch  Betrachtung  des  Moudes  im  Fern- 
rohr an  den  Jesuiten  Guldin  schrieb.  Der  Brief  ist  nicht  datiert,  er 
stammt  aus  Linz  und  ist  wahrscheinlich  gleich  nach  1623  geschrieben. 

So  erschien  das  Buch  endlich  im  Jahre  1634  in  lateinischer 
Sprache  zu  Frankfurt  a.  M.  im  Selbstverlag  der  Erben  Keplers. 
Auch  über  der  Verbreitung  waltete  ein  trübes  Schicksal.  Der 
„Traum u  erschien  zu  einer  Zeit,  wo  die  kriegerischen  und  politischen 
Ereignisse  fast  ganz  Europa  beherrschten,  wo  Unwissenheit  und  der 
krasseste  Aberglaube  jedem  Versuch  der  Aufklärung  uud  des  Fort- 
schritts entgegentraten.  Hätte  so  eine  zweifelhafte  Aufnahme  des  von 
Kepler  hintorlassenen  Werkes  damals  eine  gewisse  Berechtigung 
gehabt,  so  ist  es  befremdend,  dafs  auch  heute  noch,  wo  die  übrigen 
Werke  Keplers  längst  die  verdiente  Anerkennung  gefunden,  der 
-Traum"  vergessen  und  verkannt  geblieben  ist.  Man  hielt  und  hält 
ihn  für  ein  mystisches  Werk,  uud  die  Sprache,  in  der  er  geschrieben, 
ist  auch  für  die  Allgemeinheit  wenig  geeignet,  dies  Mifsverständnis  zu 
klaren.  Selbst  Breitschwert,  ein  sonst  begeisterter  Biograph 
Keplors,  hält  das  Buch  für  eine  Schrift  nicht  astronomischen  Inhalts, 
für  eine  Zeit-Satyre,  eine  beifsende  Schilderung  der  Gebrechen  des 
damaligen  Menschengeschlechts,  in  Kunstausdrücken  verhüllt.  -•  Ge- 
wi fs,  Kopier  wollte,  wie  er  sich  treffend  ausdrückt,  die  cyclopischen 
Sitten  seiner  Zeit,  das  heilst  die  einäugigen  Ansichten  derer,  die  nicht 
mit  offenen  Augen  sehen  wollen,  sondern  fanatisch  und  immerfort  am 
schalen  Zeuge  des  Althergebrachten  kleben,  geifseln,  und  in  der 
poetischen  Einkleidung  bringt  er  diese  löbliche  Absieht  in  geistsprühen- 
der Weise  zur  Ausführung;  aber  in  dem  Hauptteil  ist  das  Buch  eine 
in  schönste  Form  gekleidete,  eminent  astronomische  Offenbarung,  das 
Hohe  Lied  der  Kopernikanischen  Lehre! 

Das  ganze  Werk  zerfällt  in  drei  in  gleich  genialer  Weise  durch- 
geführte Abschnitte:  den  Traum,  den  Kepler  lingiert,  um  auf  den 
von  ihm  gewünschten  Standpunkt  zu  gelangen,  und  der  gleichsam 
den  poetischen  Kähmen  bildet,  die  Allegone  zur  Verherrlichung  der 
Astronomie  des  Köpern  ikus  und  die  eigentliche  Mondastronomie. 
Hierin  giebt  er  uns  eine  methodische  Untersuchung  aller  die  wechsel- 
seitigen Beziehungen  zwischen  Erde  und  Mond  betreffenden  Fragen; 
er  streift  dabei  fast  allo  Gebiete  des  Wissens  und  bietet  uns  eine 
naturgemäfse  Kntwickelung  derjenigen  Betrachtungen,  die  er  in  seinen 

früheren   Werken   zerstreut   und   nur   gelegentlich   ausgeführt    hat.^ .--  , , 

"'in 


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100 


Nimmt  man  hinzu,  dafs  er  an  diesem  seinem  Lieblingswerke  während 
seines  ganzen,  thätigen  Lebens  gearbeitet,  gewissermafsen  alle  seine 
Erfahrungen  darin  niedergelegt  hat,  so  dürfen  wir  das  „Somniuin" 
nicht  allein  als  eine  auf  Kopernikanisohen  Prinzipien  begründete  Mond- 
astronomie, sondern  vielmehr  als  ein  Kompendium  der  Keplersohen 
Werke  überhaupt  ansehen. 

Indem  ich  bezüglich  der  ersten  beiden  Abschnitte  auf  mein  Buch 
selbst  verweise,  möchte  ich  hier  von  der  eigentlichen  Mondastronomie 
eine  allgemeine  Obersicht  geben: 

Nachdem  wir  Mondreisenden  den  Abgrund  zwischen  Erde  und 
Mond  auf  einer  aus  dem  Erdschatten  erbauten,  schwerelosen  Brücke 
unter  mancherlei  Beschwerden  überschritten,  zeigt  Kepler  uns  zunächst 
den  Fixsternhimmel  des  Mondes,  den  wir  verwundert  mit  dem  unsrigen 
als  völlig  gleich  erkennen.  Dennooh  wird  die  Bewegung  der  Pla- 
neten ganz  andere  als  von  der  Erde  aus  gesehen,  so  dafs  auf  dem 
Monde  eine  von  der  unsrigen  sehr  abweichende  Astronomie  herrscht. 

Aufser  denjenigen  Kreisen,  die  speziell  dem  Mondglobus  zu- 
kommen, wie  Divisor  oder  Teilkreis,  Medivolvan  u.  s.  w.,  deren  De- 
finition wir  erfahren,  kann  man  auch  solche  Kreise,  die  denen  auf 
unserer  Erde  ähnlich  sind,  wie  Äquator,  Parallelkreise,  Meridiane,  auf 
dem  Monde  ziehen,  indessen  fallen  die  Ebonen  dieser  Kreise  hier  und 
dort  nicht  zusammen. 

Den  Mondbewohnern  erscheint  die  Erde  als  eine  am  Himmel 
sich  fortwährend  um  eine  feststehende,  gleichbleibende  Achse  wälzende 
—  volvierende  —  Kugel ;  sie  ist  aus  diesem  Grunde  „ Volva"  genannt. 
Hieraus  bildet  nun  Kepler,  echt  astronomisch,  diejenigen  Ausdrücke, 
wofür  die  Erdbeschreibung  kein  Analogon  hat.  Er  teilt  die  ganze 
Mondoberfläohe  in  2  Hemisphären,  die  durch  den  Divisor  oder  Teil- 
kreis getrennt  sind:  in  eine  der  Erde  zugewandte,  die  subvolvane, 
und  eine  der  Erde  abgewandte,  die  privolvane,  und  entsprechend 
nennt  er  die  Bewohner  der  ersteren  Subvolvaner,  die  der  anderen 
Privolvaner.  Ferner  bezeichnet  er  die  Linie,  die  durch  die  Mittel- 
punkte der  beiden  Hemisphären  und  die  Pole  geht,  mit  dem  Namen 
Medivolvan;  dieselbe  vertritt  etwa  die  Stelle  unseres  ersten  Meridians. 

Zunäohst  werden  nur  diejenigen  Erscheinungen  betrachtet,  welche 
beiden  Hemisphären  gemeinsam  sind.  Zwar  kennt  man  dort  auch 
den  Wechsel  zwischen  Tag  und  Nacht,  allein  diese  nehmen  nicht  zu 
und  ab,  wie  bei  uns,  sondern  sind  sich  immer  fast  ganz  gleich;  Tag 
und  Nacht  zusammen  kommen  ungefähr  einem  unserer  Monate  gleich. 


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101 


Die  Jahreszeiten  sind,  obgleich  man  auch  eine  Art  Sommer  und 
Winter  kennt,  an  Verschiedenheit  mit  den  unsrigen  nioht  zu  ver- 
gleichen, auch  fallen  sie  für  einen  und  denselben  Ort  nioht  immer  auf 
dieselbe  Zeit  des  Jahres;  unter  dem  Äquator  verschwindet  der  Wechsel 
der  Jahreszeiten  beinahe  ganz,  weil  die  Sonne  sich  in  diesen  Gegenden 
nicht  über  5°  hin-  und  herbewegt.  Daher  fehlen  auf  dem  Monde  — 
Levania  nennt  Kepler  ihn,  nach  dem  hebräisohen  Wort  Lebana  — 
auch  die  den  unsrigen  entsprechenden  5  Zonen;  es  giebt  dort  nur  eine 
heifse  und  zwei  kalte.  Die  Ekliptik  haben  die  Levanier  gemeinsam  mit 
uns,  da  sie  sich  mit  der  Erde  um  die  Sonne  bewegen. 

Was  nun  die  einzelnen  Halbkugeln  für  sich  betrifft,  so  besteht 
zwischen  ihnen  ein  sehr  grofser  Unterschied.  Denn  da  der  Mond  uns 
stets  dieselbe  Seite  zukehrt,  so  sieht  auch  nur  allein  diese  Seite,  die 
subvolvane  Hemisphäre,  die  Erde  oder  Volva,  die  für  sie  die  Stelle 
unseres  Mondes  vertritt;  die  andere,  die  privolvane  Hemisphäre,  aber  ist 
für  ewig  des  Anblickes  der  Volva  beraubt.  Und  die  Gegenwart  oder 
Abwesenheit  der  Volva  bewirkt  nioht  allein  verschiedene  Erscheinungen, 
sondern  die  gemeinsamen  Phänomene  haben  hier  und  dort  verschiedene 
Wirkungen. 

Das  weitaus  großartigste  Schauspiel,  das  die  Subvolvaner  ge- 
niefsen,  ist  der  Anblick  ihrer  Volva.  Wie  mit  einem  Nagel  ans 
Himmelszelt  geheftet,  steht  sie  für  einen  bestimmten  Ort  unverrüokbar 
fest,  mit  einem  fast  4  mal  so  grofsen  Durchmesser  als  unser  Mond,  dessen 
Scheibe  sie  also  inhaltlich  13  mal  übertrifft,  und  hinter  ihr  ziehen 
langsam  die  Gestirne  und  auch  die  Sonne  vorüber.  Ähnlich  wie  wir 
Polhöhe  und  Länge,  benutzen  die  Levanier  die  Richtung  nach  ihrer  Volva 
zur  sicheren  Ortsbestimmung.  Denjenigen  nämlich,  die  im  Mittelpunkt  der 
eubvolvanen  Hemisphäre  wohnen,  erscheint  siegonau  im  Scheitel,  anderen, 
die  am  Teilkreis  hausen,  am  Horizont,  den  übrigen  zwischen  diesen  Stel- 
lungen; für  jeden  Ort  aber  hat  sie  eine  ganz  bestimmte  feststehende  Höhe. 

Wie  unser  Mond  nimmt  aus  gleioher  Ursache  auch  die  Volva  zu 
und  ab;  auch  die  Zeit  ist  dieselbe,  indessen  zählen  die  Mondbewohner 
anders  als  wir:  sie  bezeichnen  die  Zeit,  während  welcher  sich  Wachs- 
tum und  Abnahme  vollzieht,  als  Tag  und  Nacht,  eine  Periode,  die  wir 
Monat  nennen.  So  unterscheiden  sie  die  Stunden  ihrer  Tage  nach 
den  verschiedenen  Phasen  der  Volva,  und  selbst  in  der  Nacht,  welche 
14  unserer  Tage  und  Nächte  dauert,  sind  sie  viel  besser  als  wir  im 
stände,  die  Zeit  zu  messen,  denn  aufser  jener  Aufeinanderfolge  der 
Volvaphasen  bestimmt  ihnen  die  Volva  an  sioh  schon  die  Stunde. 
Obgleich  sie  sich  nämlioh  nicht  von  der  Stelle  zu  bewegen  scheint, 


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102 


so  dreht  sie  sich,  im  Gegensatz  zu  unserem  Mond,  doch  an  ihrem 
Platze  um  sich  selbst  und  zeigt  dor  Reihe  nach  einen  wunderbaren 
Wechsel  von  Flecken,  so  zwar,  dafs  diese  von  Osten  nach  Westen 
gleichmäfsig  vorüberziehen.  Die  Zeit  nun,  in  welcher  dieselben  Flecken 
zur  alten  Stelle  zurückkehren,  wählen  die  Levanier  zu  einer  Zeit- 
stunde, und  diese,  etwas  länger  als  bei  uns  die  Dauer  von  24  Stunden, 
ist  das  sich  ewig  gleichbleibende  Zeitmafs. 

Nachdem  Kepler  das  Wesen  und  die  Gestaltung  der  Volva- 
flecken  beschrieben  und  weitere  Vorteile  angeführt  hat,  u.  a.  auch 
den,  dafs  die  Levanier  aus  den  Flecken  auch  Schlüsse  auf  den  jedes- 
maligen Stand  der  Sonne  im  Tierkreis  ziehen  können,  geht  er  zu  <ien 
Sonnen-  und  Volvavertinsterungen  über.  Sie  kommen  auf  Levania 
zu  eben  denselben  Zeiten  vor,  wie  auf  der  Erde,  indessen  aus  gerade 
entgegengesetzten  Gründen.  Wenn  nämlich  für  uns  die  Sonne  ver- 
finstert erscheint,  so  ist  es  bei  den  Levaniern  die  Volva,  und  umge- 
kehrt, wenn  wir  eine  Mondfinsternis  haben,  ist  ihnen  die  Sonne  ver- 
finstert. Eine  totale  Volvafinsternis  sehen  die  Subvolvaner  niemals, 
sondern  für  sie  bewegt  sich  durch  die  leuchtende  Volvascheibe  nur 
ein  kleiner  schwarzer  Fleck,  der  seinen  Weg  von  Osten  nach  Westen 
nimmt.  Für  eine  Sonnenfinsternis  ist  bei  ihnen  dio  Volva  der  Grund, 
wie  für  uns  der  Mond.  Da  nun  die  Volva  für  die  Subvolvaner  einen 
4  mal  so  grofsen  scheinbaren  Durchmesser  hat  als  die  Sonne,  so  mufs 
diese  bei  ihrem  Lauf  notwendig  sehr  häufig  hinter  der  Volva  ver- 
schwinden, so  zwar,  dafs  letztere  bald  einen  Teil,  bald  die  ganze 
Sonne  verdeckt.  Wenn  aber  auch  eine  totalo  Sonnenfinsternis  häufig 
vorkommt,  so  ist  sie  doch  bemerkenswert,  weil  sie  oft  einige  unserer 
Stunden  dauert  und  deshalb  an  Grofsartigkeit  und  Schrecknissen  der 
unsrigen  weit  überlegen  ist. 

Zum  Schlufs  wendet  Kepler  sich  zur  Beschreibung  der  Mond- 
oberfläche und  der  Geschöpfe  auf  derselben.  Er  prüft  eingehend  die 
Beweise  Mästlins,  die  das  Vorhandensein  von  Luft  und  Wasser 
auf  dem  Monde  darthun  sollen,  und  wenn  er  sie  auch  schliefslich 
billigt,  so  erkennt  man  doch  aus  seinen  Auseinandersetzungen,  dafs 
er  sich  den  Gründen  Mästlins  nur  bedingungsweise  auschliefst. 

Interessant  sind  die  Schilderungen,  die  Kepler  von  der  Ge- 
staltung der  Mondoberfläche  vor  und  nach  Betrachtung  durch  ein 
Fernrohr  giebt.  Obgleich  ganz  Levania  nur  ungefähr  1400  deutsche 
Meilen  im  Umfang  hat,  so  hat  es  doch  sehr  hohe  Berge,  sehr  tiefe 
und  steile  Thäler  und  steht  so  unserer  Erde  in  Bezug  auf  Rundung 
sehr  viel  nach;  stellenweise  ist  es  stark  porös  und  von  Hohlen  und 


103 


Löchern  gleichsam  durchbohrt.  In  der  Beigabe  des  Buches,  eben 
in  dem  Briefe,  den  er  nach  Beobachtung  des  Mondes  im  Fernrohr  au 
Guldin  schrieb,  geht  er  auf  die  einzelnen  Konfigurationen  der  Mond- 
oberfläche näher  ein;  er  beschreibt  uns  ganz  richtig"  die  Krater,  Hohlen, 
Gebirgszüge,  Meere  u.  s.  w,  so  dafs  wir  hierin  und  besonders  in  den 
dazu  gegebenen  Thesen  das  bedeutendste  der  stenographischen  For- 
schung damaliger  Zeit  erkennen.  Wenn  er  schließlich  zu  dem  Re- 
sultat gelangt,  dafs  einzelne,  vorzugsweise  rund  gestaltete  Formen  das 
Produkt  vernunftbegabter  Wesen  sein  müfsten,  so  ist  das  mit  in  den 
Anschauungen  seiner  Zeit  begründet,  und  diesem  Glauben  sind  auch 
wohl  die  Deduktionen  entsprungen,  die  er  über  die  Lebewesen  auf 
Levania  giebt.  „Alles,  was  der  Boden  hervorbringt,  oder  was  darauf 
einherschreitet.  ist  ungeheuer  grofs.  Das  Wachstum  geht  sehr  schnell 
vor  sich.  Alles  hat  nur  ein  kurzoä  Leben,  weil  es  sich  zu  einer  so 
monströsen  Körpermasse  entwickelt.  Die  meisten  sind  Taucher,  alle 
sind  von  Natur  sehr  langsam  atmende  Geschöpfe,  können  also  ihr 
Leben  tief  am  Grunde  des  Wassers  zubringen.  Dort  und  in  den 
Höhlen  finden  sie  Schutz  vor  den  glühenden  Sonnenstrahlen.  Im  all- 
gemeinen kommt  die  subvolvane  Halbkugel  unseren  Dörfern,  Städten 
und  Gärten,  dagegen  die  privolvane  unseren  Feldern,  Wäldern  und 
Wüsten  gleich." 

Das  sind  in  grofsen  und  allgemeinen  Zügen  die  Gedanken,  die 
Kepler  in  seinem  ..Traum"  niedergelegt  hat.  Je  mehr  man  sich 
darin  vertieft,  um  so  mehr  erkennt  man  die  hohe  Bedeutung,  aber 
auch  die  Probleme  und  Rätsel,  die  darin  verborgen,  und  wenn  Kepler 
sie  zum  Teil  auch  in  seinen  Noten  gelöst  und  näher  ausgeführt  hat, 
er,  der  nur  die  „Geister-  zu  vergnügen  wufste,  hat  dabei  der 
..Leiber-  wonig  gedacht.  Und  doch,  auch  die  grofse  Menge  würde 
ihre  Freude  an  den  grofsen  Gedanken  Keplers  haben!  Ich  habe 
nun  versucht,  in  meiner  Ausgabe  die  von  Kepler  gegebenen  An- 
regungen weiter  zu  begründen,  sie  zum  Teil  aus  seinen  eigenen 
Werken  auf  ihren  Ursprung  zurückzuführen,  zum  Teil  weiter  zu  verfolgen 
und  Reflexionen  daran  vom  Standpunkte  der  neueren  Errungenschaften 
auf  diesem  Gebiete  zu  knüpfen,  wobei  ich  mich  bemühte,  meine  An- 
sichten in  gemeinverständlicher  Ausdrucksweise  vorzutragen.  So 
glaube  ich,  dafs  ich  dem  Buche  das  hinzugefügt  habe,  was  geeignet 
sein  wird,  es  nioht  allein  dem  Fachmann,  der  doch  manches,  besonders 
geschichtlich  Neue  darin  finden  dürfte,  beachtenswert  erscheinen  zu 
lassen,  sondern  den  Inhalt  auch  dem  Naturfreunde  und  gebildeten 
Leser  verständlich  zu  machen. 


104 


Es  sei  mir  gestattet,  hier  einige  Auszüge  aus  meinen  Kommen- 
taren  anzuführen,  um  zu  zeigen,  in  welcher  Weise  ich  meine  Aufgabe 
zu  lösen  bestrebt  war.  Mit  der  Bemerkung,  dafs  der  Mond  denselben 
Fixsternhimmel  habe  wie  die  Erde,  nahm  Kepler  Gelegenheit,  den 
Grundgedanken  seines  Buches,  den  Sieg  der  kopernikanischen  Lehre, 
hervorzuheben.  Man  hat  thatsächlich  gegon  die  Möglichkeit  einer 
Bewegung  der  Erde  die  Unveränderlichkeit  der  Lage  der  Fixsterne 
angeführt,  und  sogar  Tycho  Brahe  hat  diesen  Einwand  oder, 
wie  man  sich  wissenschaftlich  ausdrückt,  das  Fehlen  einer  Fixstern- 
Parallaxe  gegen  das  kopernikanische  Planetensystem  geltend  gemacht. 
Kepler  aber  hat  diese  Erscheinung  richtig  gedeutet:  er  behauptete 
kühn,  dafs  der  gauze  Durchmesser  der  Erdbahn  gegenüber  der  un- 
geheuren Entfernung  der  Fixsterne  zu  einem  blofsen  Punkt  zusammen- 
schrumpfe und  aus  diesem  Grunde  eine  Fixstern-Parallaxe  auch  nicht 
gefunden  werden  könne.  Diese  Thatsache,  die  Kepler,  wie  viele  andere 
noch,  allein  durch  die  alles  durchdringende  Schärfe  seines  Verstandes 
ergründete,  ist  später  vollauf  bestätigt.  Man  hat  nach  Vervollkomm- 
nung der  Beobachtungsinstruinente  Fixstern-Parallaxen  gefunden  und 
daraus  berechnet,  dafs  der  uns  nächste  Fixstern  —  i  Centauri  — 
doch  noch  4-/3  Billionen  Meilen  von  uns  entfernt  ist.  Damit  war 
zugleich  der  Beweis  der  Bewegung  der  Erde  auch  nach  dieser  Rich- 
tung erbracht.  Ist  also  die  ganze  Erdbahn  nur  ein  Punkt  im  Weltall, 
wieviel  mehr  raurs  dasselbe  von  der  Mondbahn  gelten,  und  wenn 
Kepler  mit  seinem  Ausspruch  die  unendliche  Ausdehnung  des 
Himmelsgewölbes  vor  Augen  führt,  wie  unwahrscheinlich  mufste  da 
dessen  tägliche  Umwälzung  um  die  winzige  Erdkugel  erscheinen? 

Die  Ungleichheit  der  Tage  und  Näohte,  die  Verschiedenheit  der 
Jahreszeiten,  die  Ausdehnung  der  Zonen  auf  dem  Monde  führt  Kepler 
ganz  richtig  auf  die  Schiefe  der  Ekliptik,  d.  h.  den  Winkel  zurück, 
den  die  Ebene  des  Äquators  mit  dor  der  Ekliptik  bildet,  und  findet, 
dafs  diese  äufserst  gering  sein  müssen.  Er  bestimmt  den  Winkel, 
den  die  Ebene  der  Mondbahn  mit  der  Ekliptik  bildet,  zu  5°,  wie  es 
in  der  That  auch  der  Fall  ist;  aber  damit,  dafs  er  die  Ebene  der 
Mondbahn  als  zusammenfallend  mit  der  des  Mondäquators,  also  den 
Winkel  zwischen  Mondäquator  und  Ekliptik  gleichfalls  mit  5°  an- 
nimmt, befand  er  sich  noch  in  einem  wohl  verzeihlichen  Irrtum. 
Nach  den  neuesten  Messungen  bildet  nämlich  der  Mondäquator  mit 
der  Mondbahn  einen  Winkel  von  6'/2°,  und  daraus  folgt,  dafs  der 
Mondäquator  mit  der  Ekliptik  in  einem  Winkel  von  nur  l1/?0  steht. 
Dadurch  wird  alles,  was  Kepler  hieraus  bezüglich  der  Tage,  Nächte, 


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105 


Jahreszeiten,  Zonen  u.  s.  w.  folgert,  in  noch  erhöhtem  Mafse  statthaben: 
es  wird  auf  dem  Monde  stets  nahezu  ein  Zustand  herrschen,  wie  bei 
uns  zur  Zeit  der  Äquinoktien,  wenn  wir  uns  in  den  Schnittpunkten 
des  Himmelsäquators  und  der  Ekliptik  befinden. 

überraschend  sind  Keplers  Ansichten  bezüglich  der  Schwere, 
die  wir  in  seiner  Beschreibung  der  Reise  in  den  Mond  finden:  „Ohne 
Zweifel",  sagt  er,  ..kommt  der  Körper  bei  einem  so  weiten  Weg  aus 
dem  Kreis  dor  magnetischen  Wirkung  der  Erde  heraus  in  die 
des  Mondes  hinein,  letztere  erhält  also  das  Übergewicht".  Ferner: 
r Indem  die  magnetische  Wirkung  von  Erde  und  Mond  durch  gegen- 
seitige Anziehung  die  Körper  in  der  Schwebe  halten,  ist  es  gleich- 
sam, als  ob  keine  von  beiden  anziehe",  und  weiter:  „Der  Stöfs  ist 
nicht  stark,  wenn  der  Körper,  der  gestofsen  wird,  leicht  nachgiebt; 
eine  bleierne  Kugel  wird  mehr  erschüttert  als  eine  steinerne,  weil 
bei  gröfserem  Gewicht  auch  der  Widerstand  größer  ist,  welohen  sie 
dem  anstoßenden  Körper  entgegensetzt".  Die  .Schwere,  worüber  er 
in  der  Einleitung  zu  seinem  Werke  ..Von  der  Bewegung  des  Mars" 
sehr  interessante  Thesen  aufstellt,  deliniert  er  ganz  richtig  „als  eine 
Kralt,  die  dem  Magnetismus  ähnlich  ist,  der  mit  der  Attraktion  in  Wechsel- 
wirkung steht.  Die  Gewalt  dieser  Anziehung  ist  gröfser  unter  nahe- 
stehenden als  unter  entfernteren  Körpern".  Man  erstaunt,  wie  nahe 
er  hier  dem  Gedanken  der  allgemeinen  Schwere  kommt;  zwar  nahm 
er  nicht  eine  Gravitation  im  Sinne  Newtons  an,  wohl  aber  einen 
Weltmagnetisraus,  welcher  die  Himmelskörper  durch  gegenseitige  An- 
ziehung verbindet.  Er  hatte  —  beinahe  100  Jahre  vor  Newton  —  be- 
merkt ,  dafs  die  Kraft ,  mit  welcher  die  Sonne  alle  Planeten  um 
sich  hält,  in  gröfseren  Entfernungen  von  ihr  immer  kleiner  werden 
müsse,  weil  die  weiter  von  ihr  abstehenden  Planeten  sich  immer 
langsamer  bewegen;  ja,  er  stellte  die  Mutmafsung  auf.  dafs  diese  Kraft 
der  Sonne  auf  die  Planeten  sich  umgekehrt  wie  das  Quadrat  der  Ent- 
fernung dieser  Planeten  von  der  Sonne  verhalten  könnte.  Es  fehlte 
nur  noch,  von  der  Vermutung  zur  Rechnung  überzugehen,  um  seinem 
Werke  die  Krone  aufzusetzen.  Im  weiteren  Verlauf  seiner  Deduktionen 
führt  er  bestimmt  die  Ebbe  und  Flut  als  einen  Beweis  an,  dafs  die  an- 
ziehende Kraft  des  Mondes  sich  bis  zur  Erde  erstrecke,  und  betont, 
dafs  auch  die  Sonne  ihren  Anteil  an  der  Erzeugung  der  grofsen  ir- 
dischen Gezeitenwelle  haben  mufs. 

Ich  kann  diese  interessante  Materie  des  beschränkten  Raumes 
wegen  hier  nur  im  engsten  Auszuge  geben,  und  verweise  für  das 
Weitere,  ebenso  wie  bezüglich  anderer,  eigentümlicher  Betrachtungen 


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106 

Keplers,  wie  der  stenographischen  Einteilung  der  subvolvanen 
Hemisphäre  des  Mondes,  der  Erklärung  der  Planetenbewegung  in 
Ellipsen,  der  Störungen  im  Mondlauf,  der  stenographischen  Ortsbe- 
stimmung u.  s.  w.  auf  mein  Buch  selbst. 

Nur  auf  die  Mondflecken  möchte  ich  noch  kurz  eingehen,  weil 
sie  so  in  die  Augen  springend  sind,  dafs  sie  gewifs  schon  die  Phan- 
tasie auch  eines  nur  flüchtigen  Beobachters  erregt  haben  weiden. 
Kepler  sagt  in  seiner  prägnanten  Weise:  .  Von  den  Flecken  im  Monde 
schliefsen  wir  auf  die  Beschaffenheit  der  Mondoberfläche  als  zusammen- 
gesetzt aus  Nassem  und  Trockenem". 

Plutarch  war  der  erste,  der  die  Färbungen  auf  der  Mondscheibe 
als  Unebenheiten  der  Oberfläche  erkannte  und  bestimmt  aussprach, 
dafs  die  Flecken  Meere  und  Ebenen  seien.  Dieser  Meinung  wider- 
sprach Kepler  noch  zu  der  Zeit,  als  er  den  Text  seines  „Traums" 
schrieb,  und  zwar  hielt  er  die  dunklen  Stellen  für  Land  und  die  hellen 
für  Wasser.  Erst  spater  änderte  er  seine  Ansicht  und  sah  —  wie  aus 
seinen  Noten  hervorgeht  —  nun  in  den  dunklen  Partien  ebene,  in 
den  hellen  dagegen  koupierte  Flächen,  was  noch  heutigen  Tags  als 
zutreffend  anerkannt  werden  mufs.  Aber  Kepler  begnügt  sich  nicht 
hiermit,  sondern  er  macht  daraufhin  auch  Rückschlüsse:  ..Andererseits 
gestehe  ich  meinen  Mondbewohnern  aus  der  Umkehrung  meines 
Schlusses  zu,  dafs,  da  ja  die  Oberfläche  der  Erde  auch  Berge  und 
Meere  hat,  sie  den  Bewohnern  des  Mondes  ebenfalls  den  Anblick  von 
Flecken  im  Hellen  darbietet-.  Und  nun  giebt  er  uns  eine  fesselnde 
Schilderung  von  dem  Anblick,  den  die  Mondbewohner  von  ihrer  Volva- 
scheibe  haben  werden,  indem  er  aus  den  einzelnen  Erdteilen  Bilder, 
die  unserer  Vorstellung  geläufig  sind,  zusammenstellt.  Sein  morpho- 
logischer Blick  macht  Afrika  zu  einem  männlichen  Kopf,  dem  sich 
Europa  in  Gestalt  eines  Mädchen  mit  langwallendotn  Gewände  zum 
Kusse  hinneigt  ;  Süd  -  Amerika  ist  ihm  eine  Glocke  mit  Klöppel 
(Patagonien),  die  an  einem  Stricke  (Centrai-Amerika)  hin-  uud  her- 
schwingt u.  s.  w.  Und  wie  glücklich  seine  Phantasie  ist,  erkennt  man, 
wenn  man  den  betreffenden  Ländercomplex  auf  einer  Landkarte  aus 
einiger  Entfernung  ansieht.  Ich  habe  in  meinem  Buche,  angeregt 
durch  die  Ideen  Keplers,  ein  Bild  der  Volvascheibe  in  einer  Stellung, 
in  der  sie  sich  dem  Beschauer  am  grofsartigsten  präsentieren  dürfte, 
entworfen :  zur  Zeit,  wo  die  Sonne  im  Krebs  stoht  und  die  Volva  dem 
Monde  die  Spitze  ihres  Nordpols  zuwendet.  Ich  glaube  damit  meinen 
Lesern  wenigstens  einen  Begriff  von  dem  überwältigenden  Eindruck 
vorschafft  zu  haben,  den   die   inhaltlich  13  mal  unsere  Mondscheibe 


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107 


übertreffende,  in  majestätischer  Kuhe  vor  einem  tiefschwarzen  Hinter- 
grund thronende,  hell  erleuchtoto  Volva  auf  die  Levanier  ausüben  mufs. 

Die  Schilderung  der  Lobewoson  auf  dem  Monde,  wie  Kepler 
sie  in  seinem  „Trauni"  giebt,  mufs  man  nicht  etwa,  wie  das  wohl  ge- 
schehen, als  Fabeleien  und  Spekulationen  auffassen.  Einen  bedeut- 
samen Faktor,  der  auch  heule  noch  bei  der  Entscheidung  über  die 
Bewohnbarkeit  eines  fremden  Weltkörpers  maßgebend  sein  würde, 
glaubte  er  für  sich  zu  haben:  die  Gewifsheit  des  Vorbandenseins  von 
Luft  und  Wasser,  und  es  konnte  sich  für  ihn  nur  noch  darum  handeln, 
seine  Mond-Lebewesen  den  übrigen  Verhältnissen  anzupasseu.  Wie 
er  in  dieser  Beziehung  alles  „nach  üblichem  Brauch-  mit  oiner  seiner 
Zeit  oft  weit  vorahnenden  Einsicht  bestimmt  hat,  ist  immerhin  anzuer- 
kennen, so  phantastisch  auch  auf  den  ersten  Blick  seine  Äußerungen 
zuweilen  erscheinen  mögen. 

Sollten  wir  heute  die  Frage  der  Bewohnbarkeit  des  Mondes  vom 
rein  astronomischen  Standpunkte  aus  beantworten,  so  würden  wir,  wenn 
wir  auch  kaum  nach  anderen  Prinzipien,  als  Kepler  es  gethan,  ver- 
fahren könnten,  freilich  zu  einem  ganz  anderen  Schlufs  gelangen.  Luft 
und  Wasser  sind  auf  unserem  Satelliten  so  gut  wie  nicht  vorhanden;  ver- 
besserte Beobachtungsinstrumente  haben  uns  gezeigt,  dafs  die  Erschei- 
nungen auf  dem  Monde  doch  wesentlich  verschieden  von  denen  sind, 
wie  sie  unsere  Vorfahren  sahen  und  beobachteten.  Die  .Jahres-  und 
Tageszeiten,  sowie  die  klimatischen  Verhältnisse  sind  von  den  unsrigen 
ganz  abweichend,  und  endlich  ist  die  Gravitation  nur  '  6  so  grofs  wie 
auf  der  Erde.  Berücksichtigt  man  alle  diese  Umstände,  so  wird  man 
logischer  Weise  zu  der  Überzeugung  kommen,  dafs  auf  dem  Monde 
von  menschlichen  Wesen,  was  wir  darunter  verstehen,  überhaupt  von 
lebenden  Organismen,  die  denen  unserer  Erde  auch  nur  im  ent- 
ferntesten ähnlich  sehen,  füglich  nicht  die  Rede  sein  kann.  Der  Sinn 
dieses  Schlusses  liegt  auch  in  der  Keplerschen  Beschreibung  der 
Endymioniden.  Er  giebt  ihnen  wohl,  und  das  mit  Recht,  die  geistigen 
Eigenschaften  der  Erdbewohner,  aber  die  körperlichen  Organe  liifst  er 
kluger  Weise  ziemlich  unerörtert  oder  hüllt  sie  sorgsam  in  das 
blendende  Gewand  phantastischer  Ungeheuerlichkeiten.  Es  ist  ja  noch 
nicht  erwiesen,  dafs  lebende  Wesen  auf  dem  Monde  überhaupt  nicht 
vorhanden  seien;  ja  es  ist  sogar  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich, 
dafs  nicht  der  Mond  allein,  sondern  jeder  Weltkörper  lebende  Wesen 
beherbergt,  da  gar  kein  Grund  abzusehen  ist,  aus  welchem  die  Erde 
einen  so  ungemeinen  Vorzug  uusschliefslich  in  Anspruch  nehmen 
könnte.    Aber  wenn  Lebensformen  auf  einem  fernen  Weltkörper  be- 


108 


stehen,  so  sind  es  nicht  Nachbildungen  oder  durch  planetare  Verhält- 
nisse modifizierte  Metamorphosen  einer  oder  mehrerer  Urtypen,  sondern 
freie  Schöpfungen,  nur  denjenigen  Welten  angemessen,  die  sie  bewohnen. 

üie  hohe  Bedeutung  der  von  Kepler  kritisierten  Beweise 
M  äst  lins  für  die  Existenz  einer  Mondatmosphäre,  sowie  der  Thesen 
Keplers  über  die  Topographie  dos  Mondes  habe  ioh  eingangs  schon 
hervorgehoben:  sie  gehören  wissenschaftlich  und  historisch  zu  dem 
Bedeutendsten  des  ..Somnium-. 

Wenn  Kopier  Sohlüsse  bezüglich  der  Entstehung  der  Mondge- 
bilde zieht,  die  mit  unseren  neueren,  auf  eingehenderen  und  unter  ganz 
anderen  Voraussetzungen  und  Verhältnissen  gemachten  Beobachtungen 
gegründeten  Ansichten  nicht  zu  vereinbaren  sind,  so  darf  uns  das 
nicht  Wunder  nehmen.  Kepler  selbst  würde,  wenn  er  heute  unter 
uns  träte,  der  erste  sein,  der  rückhaltlos  seinen  Irrtum  einge- 
stände. Aber  das  eine  müssen  wir  doch  anerkennen,  dafs  er  in  der 
Unterscheidung  zwischen  dem,  was  durch  die  Thätigkeit  vernunftbe- 
gabter Wesen,  und  dem,  was  unter  dem  unab weislichen  Zwang  der 
Elemente  entstanden  sein  mufste,  Kriterien  für  die  Beurteilung  der 
Bewohnbarkeit  fremder  Himmelskörper  giebt,  die  auch  heute  noch  als 
völlig  richtig  gelten  dürften.  Es  ist  unzweifelhaft,  daf6  die  Seleniten 
nach  diesen  Grundsätzen  bezüglich  unserer  Erde  verfahren  und  damit 
auch  zu  einem  zutreffenden  Resultat  gelangen  würden.  Denn  die  aus 
der  Arbeit  vernunftbegabter  Wesen  und  dem  Zwang  der  Elemente  resul- 
tierenden Veränderungen  unserer  Erdoberfläche,  wie  Kepler  sie  an 
einigen  Beispielen  erklärt,  vollziehen  sich  stetig  seit  Urzeiten. 

Die  Voraussetzung,  die  diese  Kräfte  notwendig  haben  müssen,  dafs 
sie  nämlich  nur  auf  einem  lebenden  und  belebten  Himmelskörper  thätig 
sein  können,  war  für  Kepler  gegeben,  und  so  war  es  nur  eine  be- 
rechtigte Konsequenz,  sie  auch  als  wirksam  auf  dem  Monde  anzunehmen. 

Wir  Epigonen  wissen  zwar,  dafs  unser  Nachbar  ein  Weltkörper 
ohne  Luft  und  Wasser,  ein  trookenes,  nacktes  Felsengerippe  ist,  auf 
welchem  nach  unseren  Begriffen  weder  Vegetation,  noch  Leben,  noch 
irgend  eine  Bewegung,  sondern  nur  ewige  Ruhe  und  Grabesstille 
herrscht.  Aber  wir  wissen  auch,  dafs  er  nicht  immer  in  diesem  Zu- 
stand war.  Vielleicht  hat  er  sich  selbst  überlebt  und  ist  nach  einer 
glänzenden  Vergangenheit  nun  als  unbrauchbare  Schlacke  aus  der 
Reihe  bewohnter  Welten  herausgetreten,  ein  Schicksal,  das  unserem 
Wohnsitz  höchstwahrscheinlich  noch  bevorsteht!  Vielleicht  befindet 
er  sich  zur  Zeit  in  einer  Art  von  Verpuppung,  einem  neuen,  besseren 
Lebon,  seiner  Auferstehung  entgegenschlummernd!  —  Wer  weifs  es!?  — 


Das  Märchenland  des  Yellowstone. 

Von  Dr.  P.  Schwann  in  Berlin. 
(Schlüte.) 

nser  Weg  folgt  dem  südlichen  Arme  des  Feuerlochflusses  bis 
zu  einer  Stelle,  wo  auf  dem  jenseitigen  Ufer  des  Stromes  ein 
niedriger,  mit  dampfenden  Nebeln  erfüllter  Kessel  auf  einem 
nach  allen  Seiten  sanft  abfallenden  Sinterplateau  unsere  Aufmerksam- 
keit fesselt.  Dafs  es  sich  hier  um  keine  unbedeutende  Quelle  handelt, 
davon  legen  auch  die  dem  nahen  Strome  zueilenden  Abflufsgewässer 
Zeugnis  ab,  welche  dampfenden  Kaskaden  gleichen  und  zeitweise  so 
massenhaft  in  die  kühle  Flut  sich  stürzen,  dafs  man  deutlich  das  An- 
schwellen des  Feuerlochflusses  erkennen  kann. 

In  der  That,  wir  stehen  hier  vor  einem  der  gröfsten  Wunder  des 
Yellowstone-Parkes  —  vor  dem  Excel sior-Geyser  —  und  werden 
noch  Gelegenheit  haben,  diese  vielleicht  gewaltigste  Springquelle  der 
Welt  in  vollster  Pracht  und  Herrlichkeit  zu  sehen. 

Wir  begeben  uns  inzwischen  nach  dem  Kraterrand  des  Excelsior, 
um  uns  das  Innere  des  Höllenrachens  ein  wenig  näher  anzuschauen. 
Es  sieht  darin  aus  wie  in  einem  kleinen  Vulkanschlote.  Zerrissen 
stürzen  sich  die  Umfassungswände  hinab  zur  Wasserfläche,  teilweise 
überhängend  und  den  wildesten  Schlund  bildend.  Darin  wogt  das 
tiefblaue  Wasser,  ein  kleiner  See,  100  m  lang  und  60  m  breit  an  der 
weitesten  Stelle.  — 

Trotz  der  Gefahr,  hinabzustürzen,  lassen  wir  uns  nicht  abhalten, 
so  nahe  wie  möglich  heranzutreten,  um  dieses  unvergleichliche  Natur- 
wunder ganz  in  der  Nähe  zu  besohauen.  Nahe  dem  Mittelpunkt  er- 
hebt sich  plötzlich  eine  gewaltige,  helle  Dampfkugel  mit  dumpfem 
Poltern  aus  der  Tiefe  und  verwandelt  sich  in  eine  Dunstwolke,  während 
das  Wasser  fufshoch  umherspritzt.  Dann  scheint  der  Geyser  für  einige 
Sekunden  Erholung  zu  schöpfen;  das  Wasser  liegt  ruhig  und  glatt, 
bis  wiederum  eine  etwas  grössere  Dampfkugel  seine  Tiefe  aufwühlt. 


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110 


Dieses  Schauspiel  wiederholt  sich  in  immer  kleineren  Zwischenräumen, 
bis  endlich  der  See  in  ein  wildes  Wogen  gerät;  er  erreicht  fast  den 
Rand  des  Schlundes.  Gewaltige  schaumgekrönte  Wellen  erheben  ihre 
glitzernden  Häupter  und  schiefsen  zischend  und  brüllend  hin  und  her, 
bis  sie  ohnmächtig  in  den  Schlund  zurückfallen.  Aber  neue  Wogen- 
ungeheuer treten  an  ihre  Stelle,  immer  wilder  wird  der  Aufruhr,  immer 
höher  züngeln  die  Wogenschlangen,  immer  dichter  wird  die  Dampf- 
wolke, immer  heftiger  das  Brüllen  und  Donnern  in  der  Tiefe. 

Da  mit  einem  Mab'  scheint  sich  ein  furchtbarer  Krampf  der 
Wassermasse  zu  bemächtigen;  mit  rasender  Eile  hebt  sich  eine  ge- 


schlossene Wassersäule  100  m  hoch,  fünfmal  so  hoch  wie  unsere 
höchsten  Häuser,  empor;  die  Dampfwolke  steigt  bis  zu  300  m  und 
mehr.  Allmählich  sinkt  die  ganze  Erscheinung  in  sich  zusammen  wie 
eine  phantastische  Traumgestalt;  der  Lärm  läfst  nach;  der  Donner 
wird  schwächer,  und  ebenso  plötzlich,  wie  sie  sich  erhoben,  verschwindet 
die  Wassermasse  in  dem  Schlünde,  der  nun,  mit  aschgrauen  Sinter- 
perlen überdeckt,  fast  trocken  daliegt.  —  Lange  starrt  der  Beschauer 
dem  Zauberbilde  nach,  wenn  es  schon  längst  in  den  dunklen  Tiefen 
der  Unterwelt  versank;  nur  die  Dampfwolke  in  der  Höhe  und  das 
Donnern  in  der  Tiefe  geben  ihm  noch  Kunde  von  dem  grofsartigen 
Schauspiel,  das  soeben  stattgefunden  hat. ') 

')  Nach  Zittel:  „Das  Wunderland  am  Yellowstonc-'. 


Ausbruch  det  Excelliorgeyter»  im  Jahre  1888. 


111 

Noch  nicht  lange  ist  der  Excelsior  als  ein  wirklicher  Geyser 
bekannt.  Erst  Oberst  Norris,  der  frühere  Parkinspektor,  entdeckte 
ihn  im  Jahre  1881.  Auf  mehr  als  eine  Meile  hörte  er  das  furchtbare 
Getöse,  sah  die  himmelhohe  Dampfsiiule  und  eilte  mit  der  vollen 
Schnelligkeit  seines  Rosses  herbei,  um  noch  gerade  die  letzten 
Zuckungen  des  Ausbruches  anstaunen  zu  können.  Seitdem  verhielt 
sich  der  Geyser  still  bis  zum  Jahre  1888,  in  welchem  Jahre  er  durch 
seine  grofsartigen  Vorstellungen  die  Umwohner  des  Parkes  anzog,  die 
auf  Schneeschuhen  massenhaft  herbeieilten.  Gegenwärtig  speit  er 
unregelmäfsig,  etwa  einmal  am  Tage. 


Grotten  -  Ouyser. 

Wie  hier,  so  treten  uns  in  dem  einige  Meilen  südlich  liegenden 
„Oberen  Gey serbecken",  das  wir  nunmehr  aufgesucht  haben,  über- 
all die  Symptome  der  unterirdischen  Feuergeister  entgegen.  26  Geyser 
und  etwa  400  heifse  Quellen  beherbergt  dieses  obere  Becken,  auf 
dessen  engem  Raum  man  das  Absterbon  der  vulkanischen  Thätig- 
keit  in  grofsartigstera  Mafsstab  beobachten  kann.  Die  kalte  urauweifse 
Farbe  des  Kieselsinters,  welcher  die  Landschaft  wie  mit  einem  Leichen- 
tuche überdeckt,  sticht  grell  gegen  das  dunkle  Grün  der  Tannenwälder 
ab,  während  die  Ufer  des  Feuerlochflusses  die  Vorstellung  einer  unter 
Flammen  in  die  Schlünde  des  Erdinnern  herabgesunkenen  Stadt  er- 
wecken, deren  Ruinen  ihren  Qualm  fortwährend  durch  die  schwälende 
Asche  hinaufsteigen  lassen.    Es  liegt  etwas  Unheimliches,  Schreck- 


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112 


haftes  in  dieser  mit  seltsamen  Gebilden,  mit  Kegeln.  Wannen,  Kratern 
und  Tuffhügeln  übersäten  Landschaft,  die  zugleich  wiederum  das  Ge- 
müt mit.  Staunen  und  Bewunderung  erfüllt. 

Die  erste  Überraschung  beim  Eintritt  ins  obere  Gey  serbecken 
bietet  ein  dicht  am  Fahrwege  liegender,  sonderbar  geformter  Sinter- 
hügel dar.  —  Ks  ist  der  sogenannte  „Grottengey  ser",  der  seinen  Na- 
men von  den  ruinenhaften,  grottenfürmigen  Hohlräumen  erhielt,  welche 
sein  kieseliger  Aufbau  zeigt.  Er  spritzt  in  unregelmäfsigen,  mehr- 
stündigen Zwischenräumen  aus  seinen  mannshohen  Öffnungen  fein 
zerteilte,  glitzernde  Wasserbündel  aus,  allein  die  hervordringende 


Wasserraenge  ist  im  Verhältnis  zur  riesigen  Dampfentwicklung  nur 
wenig  beträchtlich.  Solche  Geyserruinen,  wie  der  Grotto,  findet  man 
vielfach  im  Parke  zerstreut.  Sind  sie  gänzlich  •'Höschen,  so  dient 
ihre  innere  Höhlung  wilden  Tieren  zum  Schlupfwinkel.  Ein  Blick  in 
eine  derselben  zeigt  sie  angefüllt  mit  Schädeln  und  Knochen,  von  wil- 
den Tieren  herbeigeschleppt,  denn  solche  giebt  es  genug  im  Park. 
Der  Grizzlybär  und  eine  Art  von  Panther  halt  sich  in  den  ent- 
legensten Bergschluchten  auf  und  überfällt  die  scheue  Antilope,  das 
Bergschaf  oder  den  Elch,  welcher  in  dem  Waldesdunkel  noch  in 
grofsen  Scharen  zu  finden  ist. 

Unweit  des  Grotto  befindet  sich  der  als  „Kiese"  bezeichnete 
(ieyser,  das   eigentliche  Wunder  des  oberen  Beckens.    Sein  3  m 


Rieten  -  Geyier. 


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113 


hoher  Kegel  erhebt  sioh  auf  einer  Plattform  von  25  m  Durchmesser. 
Auch  hier  sind  es  wieder  die  reizenden  Ornamente,  welche  den  Blick 
auf  sich  lenken,  der  kunstvoll  gezackte  Hand  des  Sinterbaus  und  der 
zierliche  Perlenschmuck  innen  und  aufserhalb.  Gewöhnlich  spielt  der 
Riese  alle  6  Tage  anderthalb  Stunden  lang.  Unter  gewaltigem  Ge- 
räusche steigt  dann  seine  Wassersäule  75  m  hoch  in  schwindelnde 
Höhen  empor. 

Der  „Castle-  oder  Schlofsgeyser,  zu  dem  'twir  jetzt  gelangen, 


zeichnet  sich  hauptsächlich  durch  seinen  imposanten  Sinteraufbau  aus; 
er  gleicht  der  malerischen  Ruine  eines  alten  Schlosses.  Alltj  24  bis 
30  Stunden  wirft  er  25  Minuten  lang  eine  Garbe  50  in  hoch  aus; 
allein  die  Periode  der  gröfsten  Thätigkeit,  die  zweifellos  eine  gewaltige 
war,  ist  längst  vorüber.  In  geringer  Entfernung  vom  Castle  umschließt 
ein  niedriger  Rand  ein  anderes  Geyserbecken,  den  himmelblauen 
„schönen  Brunnen",  welcher  überfliefsend  den  weifsen  Boden 
mit  farbigen  Niederschlägen  schmückt.  Es  ist  unmöglich,  die  Durch- 
sichtigkeit dieses  merkwürdigen  Wassers  mit  Worten  zu  schildern. 
Bei  leise  bewegtem  Spiele  der  Fluten  bildet  sich  ein  wahres  Chaos 
von  prismatischen  Farben;  es  flimmert  und  tanzt  wie  in  einem  Kalei- 

Hiromel  und  Erde.   1898.  XI.  3.  8 


Old  Faithfull  während  de*  Ausbruches 


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 114 

doskop,  und  durch  dieses  Farbenspiel  hindurch  schimmern  die  zu 
Seiten  des  Beckens  aufgebauten  Dekorationen  in  wilder,  märohenhafter 
Schönheit;  man  fühlt  sich  in  ein  Zauberland  versetzt  und  vergifst  hier 
vor  der  Gegenwart  die  Märchen  vom  Elfen reigen  oder  aus  „Tausend 
und  eine  Nacht". 

Getrennt  von  ihrem  Gemahl  auf  der  anderen  Seite  des  Feuer- 
loohflusses  hat  die  „Riesin"  ihren  Platz.  Im  Ruhezustande  sieht  ihr 
Krater  ganz  unschoinbar  aus;  das  Wasser  siedet  nur  in  träger  Weise 
aus  dem  randlosen  Becken  auf.  So  können  wir  uns  denn,  allerdings 
mit  einem  Gefühle  des  Bangens,  der  schlummernden  Riesin  nahen, 
um  unsere  Neugier  zu  befriedigen,  wie  es  dort  unten  im  Schlünde 
des  Unterwelt-Feuers  zugehen  mag.  Desto  ärger  tobt  aber  die  Riesin, 
wenn  sie  in  Thätigkeit  ist  Der  gesamte  Inhalt  des  20  m  tiefen 
Kraters  fliegt  dann  mit  einem  Male  heraus;  12  Stunden  etwa  währt 
das  Höllenspiel  und  endet  mit  einem  wütenden,  dröhnenden  Oampf- 
speion  von  einer  Stunde  Dauer. 

Von  dort  begeben  wir  uns  nach  einem  anderen,  weniger  launen- 
haften Geyser,  der  mit  seinen  Künsten  nicht  so  zurückhaltend  ist.  Dieser 
Geyser  ist  der  Old  Faithfull,  der  ^zuverlässige  Freund  der 
Touristen",  wie  ihn  Hayden  wegen  der  Regel mäfsigkeit  seiner  Aus- 
brüche genannt  hat  Sommer  und  Winter,  Tag  und  Nacht  giebt  er 
alle  63  Minuten,  kaum  einmal  mit  5  Minuten  Verspätung,  seine  wun- 
derbaren Vorstellungen  zum  besten  „without  money  and  without 
price",  wie  der  Amerikaner  hinzufügt  Pfeilschnell  schiefst  dann  eine 
riesige  Wassersäule  50  m  hoch  in  den  glänzendsten  Farben,  von 
weifsem  Schaume  umkleidet  empor;  immer  neue,  rasch  auf  einander 
folgende  Stöfse  halten  das  blinkende  Phantom  4  Minuten  in  gleicher 
Höhe;  weit  breitet  sich  die  Garbe  aus  und  glänzt  beim  Sonnenscheine 
in  allen  Regenbogenfarben.  In  achtungsvoller  Entfernung  schaut  der 
Mensch  staunend  diesem  Wirken  der  vulkanischen  Kräfte  zu;  denn 
nicht  nur  das  brühend  heifse  Wasser,  sondern  auch  der  Dampf  nöti- 
gen ihn,  aus  angemessener  Entfernung  dem  Ausbruch  des  Riesenkessels 
beizuwohnen,  der  gewöhnlich  durch  ein  Brausen  und  Dröhnen  in  den 
unterirdischen  Regionen  und  durch  die  sich  bestündig  steigernden 
Krampfbewegungen  der  Wassermassen  im  Schlünde  des  Brunnenrohres 
angekündigt  wird. 

Wie  gesagt,  hat  Old  Faithfull  die  löbliche  Gewohnheit,  mit  nie 
fehlender  Pünktlichkeit  seine  Pflicht  zu  erfüllen,  während  die  anderen 
grofsen  Geyser  des  oberen  Beckens  die  Geduld  der  Reisenden  oft 
tagelang  auf  die  Probe  stellen;  verspätet  er  sich  einmal,  nun  so  ent- 


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115 


sohuldigt  er  sich  durch  einen  um  so  majestätischeren  Ergufs.  —  Um 
seine  Kunststücke  zu  erproben,  werden  von  den  Besuchern  bisweilen 
Kleidungsstücke  in  seinen  Schlund  geworfen.  Doch  nicht  immer  zeigt 
er  sich  auch  in  dieser  Beziehung  als  ein  „treuer  Geselle".  Manoher 
hat  sohon  bei  einem  solchen  Waschexperiment  diese  üble  Erfahrung 
zu  seiner  Betrübnis  machen  müssen.  Der  Geyser  hat  das  hinein- 
geworfene Stück  nicht  wiedergegeben. 

Eine  Wanderung  über  das  Geyserfeld  am  Feuerlochflufs  bietet 
eine  Sammlung  der  merkwürdigsten  Sinterbildungen  dar,  deren  groteske 
Mannigfaltigkeit  auch  die  kühnsten  Erwartungen  übertrifft.  Einige 


Der  Pnnchbowle  •  Oeyser. 


solche  Geyserkegel,  den  Grotten-  und  den  Schlofsgeyser,  haben  wir 
schon  kennen  gelernt;  in  der  vorstehenden  Abbildung  sehen  wir  ein 
anderes,  gar  seltsames  Gebilde  natürlicher  Architektur.  Es  ist  die  so- 
genannte Punchbowle,  eine  mit  vollendeter  Symmetrie  und  Schönheit 
gebaute  Riesenschale,  deren  kunstvoll  ausgezackter  Rand,  mit  wunder- 
bar reizenden  Ornamenten  geschmückt  und  in  allen  Farben  leuchtend, 
etwa  60  cm  über  dem  Boden  hervorragt. 

Wir  haben  hiermit  die  Hauptgeyser  des  Yellowstone- Parkes 
kennen  gelernt,  und  es  drängt  sich  nun  die  Frage  nach  dem  Ursprünge 
dieser  merkwürdigen  Naturspiele  auf.  Dafs  wir  es  hier  mit  einer  zu 
Tage  tretenden  Äufserungsfortn  einer  im  Kritischen  begriffenen  vulka- 
nischen Thätigkeit  zu  thun  haben,  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel. 

8* 


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116 


Denn  überall,  wo  sioh  heiße  Springquellen  vorfinden,  auf  Ißland,  auf 
den  Azoren,  in  Neuseeland  und  Californien,  da  ist  deren  Auftreten  an 
vulkanische  Gegenden  gebunden.  Auoh  die  Geyser  des  Yellowstone- 
Parkes  bezeiehnen  das  letzte  Stadium  einer  großartigen  vulkanischen 
Aktionsperiode,  welche  in  einer  uns  verhältnismäßig  nahe  hegenden 
Epoche  des  Erdenlebens,  im  tertiären  Zeitalter,  ihren  Ursprung  nahm, 
und  offenbaren  die  letzten  Todeszuckungen  der  jetzt  im  Dahinschwinden 
begriffenen  Kräfte.  Wenn  auch  der  Park  heute  keine  rauchenden 
Krater  mehr  besitzt,  so  beweisen  dooh  die  Hunderte  von  Gehäusen 
vulkanischer  Öffnungen,  dafs  dieser  Teil  des  Felsengebirges  einst  zu 
den  intensivsten  Brandstätten  der  Vorwelt  gehört  hat.  Kegel  von 
Andesit-Trachyten  bedecken  das  ganze  Gebiet;  später  quollen  aus  den 
Schlünden  der  Unterwelt  Trachyte,  Tuffe,  Obsidiane  und  an  ein- 
zelnen Stellen  Rhyolithe  und  Basalte  hervor  und  bildeten  daselbst 
Deckenablagerungen  von  vielen  Tausenden  Metern  Mächtigkeit  Dann 
kam  die  Eiszeit,  welche  ihre  Gletscher  über  die  erloschenen  Feuer- 
berge schob  und  deren  äufsere  Form  bis  zur  Unkenntlichkeit  zer- 
störte. Aber  in  den  Tiefen  des  Bodens  hat  sich  noch  ein  Teil  des 
Glutfeuers  erhalten.  An  ihm  erhitzt  sich  das  in  die  Spalten  des  Erd- 
reichs eindringende  Wasser;  es  kann  in  den  Geyserkesseln  weit  über 
dorn  Siedepunkt  erhitzt  werden,  ohne  zu  verdampfen,  weil  die  darauf 
lastende  kühlere  Wassersäule  es  unter  einem  Druck  von  vielen  Atmo- 
sphären hält. 

Sobald  nun  aber  in  der  mittleren  Region  des  Brunnenrohres 
durch  das  beständige  Steigen  der  Temperatur  der  der  Druckhöhe  ent- 
sprechende Siedegrad  erreicht  wird,  entwickelt  sich  daselbst  Dampf, 
und  indem  dieser  die  darüber  befindliche  Wassersäule  zu  heben  sucht, 
schafft  er  bei  jedem  Stofso  momentan  einen  leeren  Raum.  Dem  tieferen, 
überhitzten  Wasser  wird  so  Gelegenheit  geboten,  mehr  und  mehr  zu 
verdampfen.  Der  innere  Dampfkern  wird  endlich  nach  einer  Reihe 
mifslungener  Versuche  so  grofs  und  erhält  eine  so  hohe  Spannung, 
dafs  schließlich  die  ganze  darüber  befindliche  Wassermasse  in  die 
Höhe  geschleudert  wird. 

Die  großartigen  Geyserbecken  sind  zweifellos  das  Wunderbarste 
im  Parke,  allein  sein  Hauptreiz  besteht  in  der  Mannigfaltigkeit  der 
Naturspiele.  Ks  mag  in  Island  und  Neuseeland  einige  Springquellen 
geben  von  derselben  Großartigkeit,  in  vielen  Ländern  der  Welt  finden 
sich  auch  Sehneeborge  so  wild  und  gewaltig  wie  im  Felsengebirge,  aber 
nirgend  sonst  sind  so  viele  natürliche  Sehenswürdigkeiten  im  gleichen 
Räume  geschart,  wie   innerhalb  des  amerikanischen  Märchenlandes. 


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wo  auch  das  Wasser  sich  mit  den  unterirdischen  Kräften  vereint  hat, 
um  Wunder  auf  Wunder  zu  häufen. 

Den  Glanzpunkt  des  Parkes  bildet  der  im  östlichen  Teile  liegende 
Yellowstone-See,  sowie  das  Thal  des  gleichnamigen  Flusses. 

Unter  allen  Hochgebirgsseen  Nordamerikas  (2264  m  über  dem 
Meere)  der  gröbste,  hat  derselbe  eine  Fläche  von  240  Quadratkilo- 
metern. Er  wird  umschlossen  von  den  höchsten  Spitzen  des  nörd- 
lichen Felsengebirges  —  im  Süden  von  den  drei  majestätischen  Tetons, 
die,  alles  überragend,  ihre  schneebedeckten  Häupter  zum  Himmel 


strecken;  südwestlich  breiten  Bich  dunkle  Fichtenwälder  aus,  so  dicht, 
dafs  kaum  ein  einziger  Gipfel  die  finstere  Waldmasse  durchbricht; 
sonst  erschaut  man  rings  um  den  See  ein  chaotisches  Wirrwar  wild  zer- 
klüfteter, vom  Zahn  der  Zeit  zu  phantastischen  Gestalten  geschaffener 
Bergriesen.  Am  Morgen  liegt  die  Wasserfläche  gewöhnlich  ruhig  da; 
erst  gegen  Mittag  beginnen  die  Wogen  zu  rollen.  Ganze  Scharen  von 
Pelikanen  ziehen  darüber  hinweg  und  bevölkern  die  goldig  gelben 
Ufer  oder  die  zahlreichen  smaragdgrünen  Inselchen.  Auch  der  Fisch- 
reichtum ist  ein  bedeutender;  aber  nur  eine  einzige  Forellenart  tummelt 
sich  in  den  klaren  Fluten.  Und  doch  hat  es  der  Angler  nirgends  be- 
quemer als  hier  am  Yellowstonsee;  er  kann,  ohne  sich  von  der  Stelle 
zu  bewegen,  sofort  die  Forelle  herausziehen  und  in  dein  heifsen  Wasser 


/ 


Yellowstone-8ee. 


118 


der  Quellen  abkochen,  die  zahllos  in  unmittelbarster  Nähe  der  Ufer 
die  Wasserfläche  umgürten. 

Den  Abflute  dieses  Hochsees  bildet  im  Norden  der  durch  seine 
Reize,  seine  majestätischen  Wasserfälle  und  düsteren  Felsschluchten 
berühmte  Yellowstone-River,  einer  der  Quellströme  des  Missouri.  Dort, 
wo  der  Strom  den  grofsen  See  verliifst,  lliefst  er  in  ruhigem,  stetigen  Lauf 
durch  einen  hügeligen,  mit  Wiesen  und  Wald  bedeckton  Thalkessel 
—  es  ist  das  Hayden-Thal,  so  benannt  zu  Ehren  des]  verdienten 
Geologen,  der  zuerst  den  Naturpark  wissenschaftlich  durchforscht  hat. 
Und  wie  er  so  dahineilt,  friedlich  und  majestätisch  als  hellblinkender 


Hayden  •  Thal. 


Silberstreif  durch  das  freundliche  Wiesenthal,  kein  Anzeichen  verrät 
die  nahe  Katastrophe,  der  er  entgegeneilt. 

Aber  weiter  abwärts  verengt  sich  sein  Bett  zu  einer  schmalen, 
felsigen  Schlucht;  es  bilden  sich  Stromschnellen,  die  sogenannten 
rRapidsu  des  Yellowstone.  Von  zahllosen  Riffen  in  seinem  Laufe  ge- 
hemmt, kämpft  hier  der  Strom  in  wilder  Empörung,  bald  um  eine  ver- 
borgene Stein klippe  kreisend  und  wirbelnd,  bald  an  eine  Felswand 
prallend  oder  durch  eine  schmale  Rinne  hindurchschiefsend.  Doch 
all  dies  Toben  ist  nur  das  Vorspiel  zu  der  kommenden  Kata- 
strophe, nur  das  Präludium  zu  der  Täuschendsten  aller  Natursym- 
phonien. Denn  plötzlich,  unmittelbar  hinter  den  Rapids,  stürzt  er  mit 
donnerndem  Brausen   über   einen  Abgrund,  40  m  tief,  und  eine 


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viertel  Meile  dahinter  folgt  ein  zweiter  Salto  mortale,  aber  diesmal 
noch  gröfser,  120  m  in  die  Tiefe.  Es  ist  der  grofse  untere  Fall 
des  Yell  ow  stoneflusses. 

Die  ganze  Wassermasse  zerschellt  auf  dem  Grunde  der  Schlucht; 
dichte  Nebelwolken  steigen  aus  der  Tiefe  und  umhüllen  den  kristall- 
hellen Wogenschwall  mit  fast  undurchsichtigem  Schleier.  DieStrahlen  der 
Sonne  brechen  sich  in  den  Tropfen  und  schmücken  das  Schauspiel 
mit  einem  Farbenkranz,  durch  dessen  Öffnung  die  Silberfluten  zittern. 
Oben  aber  an  den  Basaltwiinden,  die  von  beiden  Seiten  dieses  Wellen- 
—  n 


Der  untere  FaU  des  Yellowiioue-  River 


bachanal  umschliefsen,  erhalten  die  Nebelwolken  durch  ihre  Feuchtig- 
keit einen  üppigen  Baumschmuck. 

So  zeigt  sich  aber  der  Yellowstone-Fall  nur  in  der  kurzen  Zeit 
des  nordischen  Sommers.  Wenn  der  Winter  Höhen  und  Tiefen  mit 
blendendem  Schnee  bedeckt,  wenn  die  Tannenwelt  dort  oben  sich  in  das 
Silbergewand  gekleidet,  dann  erstarrt  auch  der  Kiesenfall  zur  Silber- 
siiule;  das  lustige  Tosen  und  Schäumen  seiner  Fluten  verstummt,  und 
nur  ein  dumpfes  Krachen  ertönt  ab  und  zu  durch  die  öde  Winter- 
landschaft, wenn  eine  fallende  Schneelawine  über  den  Eispanzer 
rasselt.  Aber  dafür  entfalten  sich  die  Zauber  des  Winters.  Riesige 
Eiszapfen,  den  schönsten  Stalaktiten  gleich,  hängen  von  dem  Eisfall 
herab,  tausend  bunte  Lichter  klammern  sich  au  jede  Krystallkante  an. 


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klettern  herauf  und  hinab  gleich  geschäftigen  Elfen,  unaufhörlich  be- 
müht, die  Öde  des  Winters  zu  verschönern. 

Unmittelbar  hinter  seinem  grofsen  Fall  tritt  der  Yellowstone- 
Kivcr  in  eine  Schlucht  ein.  Mehr  denn  600  m  hohe  Wände  be- 
grenzen beiderseits  die  nach  oben  sich  ausbreitende  Thalspalte.  Heifse 
Quellen  finden  sich  überall  an  den  Felswänden,  und  diese  selbst  sind 
der  Verwitterung  anheimgefallen,  so  dafs  die  kühnsten  und  seltsamsten 
Formationen  geschaffen  wurden.  Man  siebt  da  Gebilde  aus  den 
Schutthalden   hervorragen,  welche  Türmen,   zerfallenen  Festungen, 


Yell o ws tone-  Fall  im  Winter. 


gothischen  Domen  gleichen,  und  all  diese  grotesken  Bauwerke  einer 
unbewufst  schaffenden  Naturkraft  leuchten  unter  dem  Einflufs  der 
mineralischen  Gewässer  in  den  verschiedensten  Farbentönen. 

Wir  stehen  hier  wiederum  an  der  Pforte  des  Wunderlandes. 
Nicht  wegen  der  Grofsartigkeit  des  einzelnen,  wohl  aber  wegen  der 
Fülle  der  Sehenswürdigkeiten  auf  so  engem  Räume  ist  der  National- 
Park  das  Juwel  des  ganzen  Felsengebirges.  Es  giebt  in  dieser  mäch- 
tigen Gobirgsgruppe  Naturwunder,  die,  wenigstens  was  die  Schaffens- 
kraft des  Wassers  betrifft,  auf  der  ganzen  Welt  unerreicht  dastehen. 
Dahin  gehören  die  abenteuerlichen  Landschaften  in  den  Bad-lands 
von  Montana  und  Wyoming,  die  grandiosen  Schönheiten  des  Columbia- 
und  Snake-Hiver  mit  seinen  Schluchten  und  Fällen.  Auch  der  Götter- 
liain   oder  Monumentenpark   in  Colorado  ist  in  seiner  Eigenart  ein 


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geologisches  Wunder  des  neuen  Kontinents.  Man  kann  ihn  mit  einet 
Kunstgallerie  vergleichen,  in  welcher  die  Natur  all  ihre  Monumente 
ausgestellt  hat,  wo  Kathedralen,  Pyramiden,  Häuser  und  Paläste  uns  an 
die  Ausgrabungen  einer  verschütteten  Stadt  erinnern. 

Und  endlich  die  Felswüsten  von  Arizona  mit  den  Riesen- 
sohluchten  des  Colorado,  die  der  fallende  Tropfen  gehöhlt,  —  nirgends 
läfst  sioh  denselben  etwas  Ebenbürtiges  zur  Seite  stellen. 


Einfachheit  und  Grofsartigkeit  ist  der  Naturcharakter  der  neuen 

Welt. 


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Die  Spektralanalyse. 

Von  Dr.  F.  Kterker  in  Steglitz. 
(Fortsetzung.) 

Die  Planeten  und  ihre  Trabanten. 

o  interessant  auch  die  zahlreichen  Entdeckungen  sind,  welche  man 
durch  direkte,  teleskopische  Beobachtung  an  den  Geschwistern 
unserer  Erde  und  deren  Begleitern  gemacht  hat,  so  außerordent- 
lich gering  ist  doch  gerade  die  spektralanalytische  Ausbeute  auf  diesem 
Gebiete  gewesen.  Bekanntlich  leuchten  die  den  regulären  Hofstaat 
der  Tageskönigin  bildenden  Himmelskörper  als  der  Erde  ähnliche,  an 
sich  dunkle  Gestirne  nur  mit  reflektiertem  Sonnenlicht,  sodafs  ihr 
Spektrum  im  wesentlichen  offenbar  nichts  anderes  sein  kann  als  eine 
mattere  Kopie  des  Sonnenspektrums.  Die  Gashüllen,  welche  die  übri- 
gen Planeten  ebenso  wie  die  Erde  als  Atmosphären  umgeben,  sind 
bei  den  meisten  Planeten  nicht  ausgedehnt  und  dicht  genug,  oder 
aber  das  Licht  dringt  in  sie  nicht  tief  genug  ein,  um  das  Spektrum 
ein  beträchtlich  verändertes  Aussehen  gewinnen  zu  lassen.  Die  Fest- 
stellung der  chemischen  Zusammensetzung  jener  Lufthüllen  ist  daher 
eine  sehr  subtile,  bis  jetzt  noch  in  den  ersten  Stadien  befindliche 
Arbeit 

Von  unserem  Erdmonde  ist  schon  auf  (Irund  der  scharfen  Ab- 
grenzung aller  Schatten,  insbesondere  der  klaren  Grenze  zwischen 
der  beleuchteten  und  unbeleuchteten  Hälfte  seit  langem  bekannt,  dafs 
er  überhaupt  keine  nennenswerte  Atmosphäre  besitzen  kann.  Neuere 
Beobachtungen  über  das  Verschwinden  von  Sternen,  welche  vom 
Monde  auf  seinem  Laufe  des  öfteren  bedeckt  werden,  haben  auch 
nicht  das  geringste  Anzeichen  einer  auf  eine  Absorptionswirkung  zu- 
rückzuführenden, allmählichen  Verdunkelung  bei  der  Annäherung  des 
Mondrandes  erkennen  lassen,  und  selbst  auf  theoretischem  Wege  hat 
man  ergründen  können,  dafs  dieser  Himmelskörper  infolge  seiner  ge- 
ringen Masse  eine  ihm  etwa  früher  einmal  zu  eigen  gewesene  Gas- 
hülle gar  nicht  auf  die  Dauer  hätte  festhalten  können.    Bei  diesem 


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Thatbestande  ist  es  nioht  anders  zu  erwarten,  als  dafs  das  Spektrum 
des  Mondliohtes  in  jeder  Beziehung  dem  Sonnenspektrum  gleichen 
wird,  wie  es  die  Beobachtung  auoh  bestätigt  hat.  Das  Spektroskop  hat 
also  hier  lediglich  unsere  bereits  auf  anderen  Wegen  gewonnene 
KenntniB  von  der  Abwesenheit  jeder  Spur  von  Atmosphäre  von  neuem 
bekräftigt 

Ähnliches  gilt  nun  auoh  von  den  inneren  Planeten;  ihr  Spektrum 
läfet  keine  sicheren  Schlüsse  auf  das  Vorhandensein  einer  absor- 
bierenden Gasschioht  zu.  Gleichwohl  ist  man  der  Ansicht,  dafs  Venus 
eine  verhältnismäfsig  dichte  Lufthülle  besitzen  dürfte,  die  aber  von 
dichten  Wolkenmassen  derart  erfüllt  ist,  dafs  schon  letztere  in  grofser 
Höhe  über  der  eigentlichen  Planetenoborflächo  das  auffallende  Sonnen- 
licht wieder  zurückwerfen.  Die  Beobachter  dieser  Planeten  sind 
indessen  in  der  Angabe  einig,  dafs  die  von  uns  bereits  oben  er- 
wähnten tellurischen  Linien  deutlich  verstärkt  erscheinen,  sodafs  man 

5«        »        4»        i9        60        «1        6?       6J        6>t        6}        M        62        CS  69 

I    Iii  !  H  \  II 

Fig.  15.   Du  Spektrum  des  Jupiter. 

wohl  zu  der  Annahme  berechtigt  ist,  dafs  die  Atmosphären  unserer 
Nachbarplaneten  im  allgemeinen  aus  denselben  Gasarten  bestehen 
wie  unsere  irdische  Luft.  —  Auoh  bei  Mars  glaubt  Vogel  eine  deut- 
liche Verstärkung  der  tellurischen  Linien  konstatieren  zu  können, 
und  Huggins  will  sogar  auf  der  blauen  Seite  der  D-Linie  ein  diesem 
Planeten  eigentümliches  Absorptionsband  gesehen  haben.  Diesen 
Wahrnehmungen  steht  allerdings  eine  auf  der  Lick-Stern  warte  von 
Campbell  ausgeführte  Vergleichung  der  Spektra  des  Mars  und  des 
Mondes  gegenüber,  bei  welcher  nicht  der  geringste  Uutorschied  er- 
kennbar war.  Indessen  ist  dieses  negative  Resultat  sehr  wohl  durch 
besondere  Umstände  erklärbar  und  kaum  imstande,  die  positiven 
Wahrnehmungen  anerkannter  Meister  der  Beobachtungskunst  umzu- 
stofsen. 

Aufserordentlich  deutliche  Absorptionsbänder  zeigen  uns  die 
zweifellos  von  mächtigen  Atmosphären  umhüllten  äufseren  Planeten; 
allerdings  liegen  auch  hier  die  Unterschiede  gegen  das  gewöhnliche 
Sonnenspektrum  nur  im  golbroten  Teile  des  Spektrums,  sodals  photo- 
graphische Aufnahmen,  welche  nur  ein  Abbild  der  brechbareren 
Partien  liefern,  über  das  Vorhandensein  einer  Atmosphäre  auch  bei 


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diesen  Planeten  keinen  Aufschlufs  geben 
würden.  Die  im  Jupiterapektrum  von 
11.  C.  Vogel  erkannten  dunklen  Streifen 
(Fig.  15)  fallen  wiederum  bis  auf  einen 
mit  tellurischen  Linien  zusammen.  Nur 
das  breite,  bei  618  u|x  gelegene  Band 
ßndet  sich  im  irdischen  Luftspektrum 
nicht  vor.  Ob  die  Ursache  dieses  Bandes 
in  einem  besonderen,  der  Jupiteratmo- 
sphäre eigentümlichen  Gase,  uder  aber 
nur  in  den  veränderten  Druck-  und 
Temperatur- Verhältnissen  einer  der  irdi- 
schen ähnlich  zusammengemischten  Luft- 
hülle zu  suchen  ist,  konnte  bis  jetzt  nicht 
entschieden  werden.  Die  einem  jeden, 
der  durchs  Fernrohr  auch  nur  einen 
llüchtigen  Blick  auf  Jupiter  wirft,  sofurt 
auffallenden,  dunklen  Äquatorialstreifen 
zeigen  neben  allgemeiner  Abschwächung 
des  Lichtes  auch  eine  Verstärkung  der 
oben  dargestellten,  dunklen  Streifen, 
woraus  sich  ergiebt,  dafa  wir  hior  Auf- 
lockerungen der  von  dichten  Wolken 
erfüllt  zu  denkenden  Jupiteratmospbäre 
vor  uns  haben,  die  uns  einen  tieferen 
Hinblick  in  das  Luftmeer  des  Riesen- 
planeten gestatten.  —  Die  bekannten, 
unseren  Mond  an  Gröfse  bedeutend  über- 
treffenden Trabanten  Jupiters  sollen  nach 
Vogel  dieselben  Absorptionsstreifen  wie 
ihr  Centraikörper  erkennen  lassen, 
dürften  also  gleichfalls  von  Atmosphären 
umgeben  sein. 

Saturn  ist,  wie  in  jeder  anderen  Be- 
ziehung, so  auch  in  Bezug  auf  sein 
Spektrum  dem  Jupiter  aufs  nächste  ver- 
wandt, und  auch  das  Uranusspektrum, 
welches  unsere  Abbildung  (Fig.  16)  nach 
Keelers  Zeichnung  wiedergiebt,  zeigt 
intensive     Absorptionswirkungen,  vor 


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allem  auoh  das  oben  erwähnte,  der  Erdatmosphäre  fremde  Band  bei 
618  Bemerkenswert  ist  jedoch,  dafs  dieser  Streifen  im  Spektrum 
der  Saturnringe  völlig  fehlt,  sodafs  diese  überhaupt  nioht  in  eine  Gas- 
hülle eingebettet  zu  sein  scheinen,  was  auch  mit  ihrer  der  Saturn- 
kugel gegenüber  deutlich  kontrastierenden,  grösseren  Helligkeit  zu- 
sammenstimmt 

Vom  Neptunspektrum  läfst  sich  entsprechend  der  grofsen  Mattig- 
keit des  von  diesem  äufsersten  Mitgliede  des  Sonnensystems  zu  uns 
gelangenden  Liohtes  nichts  Bestimmtes  aussagen,  dooh  ist  wahr- 
scheinlich, dars  es  ebenfalls  den  Spektren  der  großen  Geschwister- 
planeten gleicht 

Die  Kometen. 

Während  bei  den  Planeten  schon  der  im  Fernrohr  deutlioh  er- 
kennbare Phasenwechsel  lange  vor  der  Entdeckung  der  Spektral- 
analyse gelehrt  hatte,  dafs  diese  Gestirne  nur  mit  reflektiertem  Sonnen- 
licht leuchten,  konnte  diese  Frage  bei  den  Kometen,  die  nur  sozusagen  / 
gastweise  in  den  Bereich  des  Sonnensystems  eindringen  und  während 
der  kurzen  Dauer  ihrer  Sichtbarkeit  stets  ein  sehr  verwaschenes  Aus- 
sehen besitzen,  nicht  so  leicht  entschieden  werden,  obgleich  die  oft 
ziemlich  plötzlichen  Helligkeitsänderungen  dieser  rätselhaften  Himmels- 
körper bereits  vermuten  liefsen,  dafs  hier  eigene  Lichtentwickelungen 
eine  Rolle  spielen.  In  der  That  erwies  sich  denn  auch  das  Spektrum 
des  Kometenlichts  in  allen  bisher  untersuchten  Fallen  als  ein 
Emissionsspektrum,  das  jedoch  meist  nicht  aus  feinen,  hellen  Linien, 
sondern  aus  drei  breiten,  einseitig  nach  der  violetten  Seite  hin  ver- 
waschenen, hellen  Liohtbändern  besteht,  deren  Lage  beweist,  dass  ein 
beträchtlicher  Teil  des  Kometenlichts  von  glühendem  Kohlenwasser- 
stoff ausgeht  Nach  genaueren  Untersuchungen  einerseits  von 
H.  C.  Vogel,  andererseits  von  Hasselberg  konnten  gewisse  Eigen- 
tümlichkeiten, welche  das  Kometenspektrum  von  dem  gewöhnlichen 
Kohlenwasserstoffspektrum,  wie  es  etwa  eine  BunsenHamme  zeigt, 
unterscheiden,  künstlich  im  Laboratorium  erzielt  werden,  wenn  man 
entweder  Kohlenoxydgas  beimengte  oder  die  Temperatur  möglichst 
erniedrigte  und  das  Aufleuchten  durch  disruptive,  elektrische  Ent- 
ladungen bewirkte.  Es  ist  demnach  als  wahrscheinlich  anzusehen 
und  stimmt  auch  mit  den  Vorstellungen,  diu  man  sich  sonst  in  neuerer 
Zeit  über  die  Kometenphänomene  gebildet  hat,  dafs  das  Aufleuchten 
der  Kometen  eine  Folge  elektrischer  Funkenentladnugen  bei  niedriger 
Temperatur  ist,  und  dals  den  Kohlenwasserstoffen  oft  auch  Kohlenoxyd- 
gas beigemengt  sein  mag,  zumal  auch  die  aus  den  zur  Erde  gefallenen 


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und  vielleicht  von  Kometen  abstammenden  Meteoren  du  roh  Erwärmung 
entweichenden  Gase  nach  Vogels  Versuchen  beiderlei  Arten  von 
Kohlensto  ffverbind  ungen  enthalten. 

Eine  hochinteressante  Überraschung  in  spektroskopisoher  Hin- 
sicht bereitete  den  Astronomen  der  im  Frühjahre  1882  erschienene 
„Komet  Wells".  Zur  Zeit,  als  dieses  Gestirn  der  Sonne  am  nächsten 
kam.  änderte  sich  nämlich  sein  Spektrum,  indem  die  gelbe  Natrium- 
linie  intensiv  aufblitzte,  während  zugleich  das  Kohlenwasserstoff- 
spektrum verblafsto.  Dieselbe  Erscheinung  wiederholte  sich  bei  dem 
grofsen,  der  Sonne  gleichfalls  sehr  nahe  kommenden  September- 
kometen desselben  Jahres  und  würde  vermutlich  seitdem  noch  öfters 
beobachtet  worden  sein,  wenn  nicht  die  letzten  16  Jahre  an  helleren 
Koinetenerscheinungen  überhaupt  auffallend  arm  gewesen  wären. 
Offenbar  ist  das  Auftreten  der  Natriumlinie  bei  grofser  Sonnennähe 
durch  die  damit  eintretende  Temperaturerhöhung  des  Kometenkernes 
verursacht,  welche  schliefelich  eine  Verdampfung  des  bekanntlich  in 
der  ganzen  Welt  aufserordentlich  verbreiteten  und  daher  auch  den 
Kometenkernen  nicht  fehlenden  Natriums  bewirkt.  Für  die  bereits 
oben  ausgesprochene  Ansicht,  dafs  das  Kometenlicht  eine  Folge  elek- 
trischer Entladungen  ist,  wurde  zugleich  durch  das  Verblassen  der 
Kohlenwasserstoffbanden  ein  neuer  Beweis  erbracht  Gerät  nämlich 
ein  Salzteilchen  in  eine  gewöhnliche  Bunsenflamme,  so  sieht  man  im 
Spektroskop  einfach  die  Natriumlinie  neben  den  in  unverminderter 
Stärke  verharrenden  Kohlen  Wasserstoff  banden  aufleuchten;  bringt  man 
dagegen  Geraenge  von  Kohlenwasserstoffen  und  Kohlenoxyd,  die  in 
einer  Röhre  eingeschlossen  sind,  in  welcher  durch  Erwärmung  auch 
metallisches  Natrium  verflüchtigt  werden  kann,  durch  die  Entladungen 
einer  Leydener  Flasche  zum  Leuchten,  so  tritt  das  Spektrum  der 
erstgenannten  Gase  wie  bei  den  Kometen  sofort  gegen  die  Natrium- 
linie zurück,  wenn  der  offenbar  die  Elektrizität  besser  leitende  Natrium- 
dampf zur  Entwickelung  gebracht  wird. 


(Schiute  folgt.) 


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Die  Erd-  und  Länder- Vermessung  und  ihre  Verwertung. 

Von  Professor  Dr.  C.  Koppe  in  Braunschweig. 
(Fortsetzung.) 

Das  Landes-Nivellement 

t£  \/\  in  unterscheidet  wesentlich  drei  verschiedene  Methoden  der  Höhen- 
messung, das  geometrische,  das  trigonometrische  und  das  baro- 
metrische Nivellement  Beim  geometrischen  Nivellieren  wird  die 
durch  ein  feines  Fadenkreuz  bezeichnete  Absehlinie  des  Fernrohrs  mit 
Hülfe  der  Wasserwage  horizontal,  also  normal  zur  Schwererichtung  ge- 
stellt Dreht  man  dieselbe  dann  um  eine  lotrechte  Axe  im  Kreise  herum, 
so  beschreibt  sie  eine  Horizontalebene,  d.  h.  einen  künstliohen  Horizont, 
welcher  senkrecht  steht  auf  der  Sohwererichtung  des  Stationspunktes 
und  somit  die  durch  ihn  gelegte  Niveaufläche  dort  berührt  Für 
kurze  Entfernungen,  wie  solche  beim  geometrischen  Nivellieren 
in  Betracht  kommen,  kann  man  die  Krümmung  der  Niveauflächen, 
bezw.  der  wahren  Erdoberfläche  als  gleiohmäfsig  betrachten.  Läfst 
man  nun  an  zwei  Punkten,  welche  gleich  weit,  z.  B.  50  m,  von  der 
Station  entfernt  sind,  genau  geteilte  Latten  lotrecht  aufstellen,  so  liest 
man  beim  Einstellen  der  horizontalen  Absehlinie  des  Fernrohrs  auf 
den  Teilstriohen  unmittelbar  ab,  wie  tief  die  betreffenden  Punkte  unter 
dem  Horizonte  der  Station  liegen,  und  erhalt  weiter  in  der  Differenz 
dieser  abgesehenen  Zahlen  den  Höhenunterschied  derselben.  Liest  man 
z.  B.  (siehe  umstehende  Figur)  an  der  in  A  aufgehaltenen  Latte  3  in 
ab,  an  der  in  B  aufgehaltenen  Latte  1  m,  so  liegt  A  um  3  m  unter 
dem  Stationshorizonte,  B  hingegen  nur  um  1  m;  also  beträgt  der  Höhen- 
unterschied der  beiden  Punkte  3  —  1  =  2  m,  um  welche  B  höher  liegt 
als  A.  Diese  Art  der  Höhenmessung  ist  einer  grofsen  Genauigkeit  fähig. 

Die  Instrumente  für  Fein-Nivellements  haben  Fernrohre  mit  30 
bis  40  maliger  Vergröfserung  und  Libellen  mit  einer  Empfindlichkeit  von 
wenigen  Sekunden  für  einen  Teilstrich  der  Röhre.    Bei  Ablesungen 


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128 


an  der  Latte  werden  noch  halbe  Millimeter  geschätzt  Der  Höhen- 
unterschied zweier  um  100  m  von  einander  entfernter  Punkte,  zwischen 
denen  in  der  Mitte  das  Instrument  aufgestellt  wird,  kann  durch  solches 
„Nivellieren  aus  der  Mitte"  bis  auf  weniger  als  1  mm  genau  bestimmt 
werden.  Teilt  man  eine  zu  nivellierende  längere  Strecke  in  Stationen 
von  100  zu  100  m  Abstaud,  stellt  zuerst  zwischen  A  und  B  auf  und 
bestimmt  den  Höhenunterschied  B— A,  stellt  dann  zwischen  B  und  C 
auf,  und  bestimmt  in  ganz  analoger  Weise  den  Höhenunterschied  C  — B 
und  so  fort  dem  ganzen  Zuge  entlang  bis  zum  letzten  Punkte  N,  so 


braucht  man  nur  sämtliche  der  Reihe  nach  bestimmten  Höhenunter- 
schiede zu  addieren,  um  den  Höhenunterschied  des  Anfangspunktes 
und  des  Endpunktes  zu  erhalten.  Wenn  die  bei  Bestimmung  der  ein- 
zelnen Höhenunterschiede  begangenen  Beobachtungsfehler  nur  zufälliger 
Natur  sind,  also  ebensowohl  positiv  wie  negativ  sein  können,  so  wächst 
ihr  Betrag  bei  der  Addition  der  Einzelmessungen  mit  der  Quadrat- 
wurzel aus  der  Anzahl  der  letzteren.  Ist  der  mittlere  Fehler  bei  einer 
Bestimmung  der  je  100  m  von  einander  entfernten  Punkte  z.  B. 
zk.  1  mm,  so  wird  er  für  4  Stationen,  d.  h.  auf  400  m  Entfernung, 
=fc  2  mm,  für  9  Stationen,  d.  h.  auf  900  m  Entfernung,  di  3  mm  u.  s.  w. 
ausmachen.  In  Wirklichkeit  erreicht  er  aber  diesen  Betrag  beim 
Feinnivellement  noch  nicht,  indem  bei  diesem  der  mittlere  Fehler  für 


Llagen  -  Nivellement. 


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129 


1  Kilometer  in  Maximo  ±8mm  betragen  darf.  Der  Höhenunterschied 
zweier  um  100  km  von  einander  entfernten  Punkte  kann  durch  geo- 
metrische Präzisions- Nivellements  bis  auf  wenige  Centimeter  genau 
bestimmt  werden. 

Beim  trigonometrischen  Nivellement  berechnet  man  aus  der  ge- 
messenen Zenithdistanz  der  Visierlinie  zwischen  zwei  Punkten  und  ihrer 
horizontalen  Entfernung  den  Höhenunterschied  beider  Stationen.  Da 
bei  einer  Entfernung  von  200  Kilometern  einer  Winkelabweichung 
von  1  Bogensekunde  eine  lineare  Verschiebung  von  1  m  entspricht,  die 
Winkelme88ung  aber  mit  feinen  Instrumenten  bis  auf  Bruchteile  einer 
Sekunde  genau  ausgeführt  werden  kann,  so  würde  man  den  Höhen- 
unterschied zweier  um  100  km  von  einander  entfernten  Punkte  durch 
trigonometrische  Höhenmessung  bis  auf  wenige  Decimeter  genau  direkt 
ermitteln  können,  wenn  sich  der  Einflute  der  atmosphärischen  Re- 
fraktion mit  ausreichender  Genauigkeit  bestimmen  liefse.  Dies  ist  aber 
keineswegs  der  Fall,  da  die  Änderung  der  Lufttemperatur,  welche  hier 
in  erster  Linie  in  Frage  kommt,  der  direkten  Messung  auf  der  ganzen 
zwischengelegenen  Strecke,  welche  der  Lichtstrahl  zu  durchlaufen  hat, 
nur  sehr  unvollständig  zugänglich  ist.  Man  wendet  daher  die  trigono- 
metrischen Höhenraessungen  mit  Vorteil  nur  auf  kürzere  Entfernungen 
von  einigen  Kilometern  an  und  für  Zwecke,  für  welche  die  gröfste 
Genauigkeit  nicht  verlangt  wird,  wie  namentlich  bei  topographischen 
Aufnahmen.  Hier  ist  eine  Genauigkeit  bis  auf  einige  Centimeter,  wie 
sie  die  trigonometrische  Höhenmessung  auf  kürzere  Entfernungen  zu 
liefern  im  stände  ist,  ganz  ausreichend,  und  da  die  hierzu  aufzu- 
wendende Zeit  weit  geringer  ist  als  bei  einer  Höhenbestimmung  durch 
geometrisohes  Nivellement,  so  hat  rationellerweise  das  letztere  nur 
die  festen  Ausgangspunkte  zu  liefern,  an  welche  das  trigonometrische 
Nivellement  für  topographische  Zwecke  angeschlossen,  und  zwischen 
die  es  zur  Erhöhung  der  Genauigkeit  eingeschaltet  wird. 

Am  wenigsten  genau,  abor  am  schnellsten  auszuführen  ist  das 
barometrische  Nivellement.  Bei  der  barometrischen  Höhenmessung 
schliesst  man  aus  der  Länge  einer  kurzen  und  schweren  Quecksilber- 
säule auf  das  Mafs  einer  langen  und  leichton  Luftsäule,  welche  jener 
das  Gleichgewicht  hält  Da  die  Luft  im  Meeresniveau  ungefähr 
10500  mal  leichter  ist  als  das  Quecksilber,  so  mute  auch  eine 
Luftsäule  10500  mal  länger  sein  als  die  Quecksilbersäule,  welcher 
sie  im  Barometer  das  Gleichgewicht  hält.  Fällt  daher  letzteres  beim 
Hinaufsteigen  auf  eine  Anhöhe  um  1  cm,  so  muls  die  ganze  auf  ihm 
lastende  Luftsäule  um  10500  cm  oder  um  105  m  kürzer  geworden 

Himmel  und  Erde.  1888.  XI.  8.  9 


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130 


sein,  und  somit  auch  die  erstiegene  Höhe  zwischen  dem  Fufs  und  dem 
Gipfel  der  Anhöhe  105  m  betragen.  Hat  man  bei  der  Ermittelung 
der  Quecksilbersäule  einen  Beobachtungsfehler  von  0,1  mm  gemacht, 
so  wird  auch  dieser  mit  10500  multipliziert  und  die  Höhe  um  1,05  m 
unrichtig  erhalten  werden.  Die  Zahl  10500,  welche  für  den  bestimmten 
Fall  hier  als  Verhältniszahl  zwischen  den  spezifischen  Oewiobten  von 
Quecksilber  und  Luft  angenommen  wurde,  läfst  sich  genauer  bestimmen 
nach  der  Oröfse  des  jeweiligen  Luftdruokes  und  der  Lufttemperatur, 
durch  welohe  sie  nach  dem  Mariotteschen  und  Gay-Lussacschen 
Gesetze  bedingt  wird.  Mit  abnehmendem  Drucke  und  mit  zunehmen- 
der Temperatur  dehnt  sich  die  Luft  mehr  und  mehr  aus  und  wird  in- 
folgedessen immer  leichter.  Im  gleiohen  Mafs  wächst  obige  Ver- 
hältniszahl der  spezifischen  Gewichte  und  ebenso  der  Fehler  in  der 
Höhenbestimmung,  welcher  einer  Unsicherheit  von  0,1  mm  im  Ab- 
lesen der  Quecksilbersäule  entspricht  Zum  mindesten  wird  man  daher 
auf  einen  Fehler  von  1  m  beim  Messen  von  Höhenunterschieden  mit 
dem  Barometer  gefafst  sein  müssen,  und  zwar  gleichviel,  ob  man  das 
Quecksilberbarometer  selbst  benutzt,  oder  statt  seiner  die  weit  be- 
quemer zu  transportierenden  Aneroide,  welche  in  mäßigen  Grenzen 
des  Luftdruckes  ein  Quecksilberbarometer  ersetzen  können,  wenn  sie 
gut  gearbeitet  und  mit  den  nötigen  Vergleichstabellen  versehen  sind. 
In  der  That  lassen  6ioh  mit  solchen  Instrumenten  Höhenunterschiede 
von  einigen  hundert  Metern  bis  auf  wenige  Meter  genau  leioht  be- 
stimmen. Bei  grofsen  Höhenunterschieden  wird  die  barometrische 
Höhenmessung  sehr  unsicher  wegen  der  Schwierigkeit,  die  in  Betraoht 
kommende  Lufttemperatur  mit  ausreichender  Genauigkeit  zu  ermitteln, 
wozu  beim  Gebrauche  von  Aneroiden  noch  die  elastische  Nach- 
wirkung der  Metall fedorn  und  Büohsen  hinzukommt,  weil  dieselben 
gröfseren  Druckdifferenzen  nicht  rasch  und  genau  genug  zu  folgen 
im  stände  sind. 

Für  genaue  Höhenbestimmungen  kommt  hiernach  nur  das  geo- 
metrische Nivellement  in  Betracht;  dasselbe  bildet  dementsprechend 
einen  Teil  der  grundlegenden  Arbeiten  der  internationalen  Erdmessung 
sowohl,  wie  der  einzelnen  Landesaufnahmen  in  den  zu  ihr  gehörigen 
Ländern  und  Staaten. 

Die  Höhenzählung  geschah  früher  von  einer  sehr  grofsen  Zahl 
natürlicher  oder  künstlicher  Nullpunkte  aus. 

Um  die  in  Gebrauoh  befindlichen  zahllosen  Pegel  und  Spezial- 
Nullpunkte zu  beseitigen  und  einen  gemeinsamen  und  festen  Aus- 
gangspunkt für  alle  Höhenmessungen  an  ihre  Stelle  zu  setzen,  wurden 


131 


von  der  internationalen  Erdmessung  die  Europa  begrenzenden  Meere 
durch  genaue  Nivellements  mit  einander  verbunden  und  die  Höhenlage 
ihrer  Mittelwasser  nach  den  Pegelbeobaohtungen  ermittelt.  Es  ergab 
sioh  hieraus,  dafs  diese  mittleren  Meereshöhen  nicht  genau  überein- 
stimmten, sondern  bis  zu  mehreren  Deciinetern  von  einander  abwichen, 
was  teilweise  in  wirklichen  Unterschieden  der  mittleren  Meeres-Höhen, 
zum  Teil  aber  auch  in  den  Beobachtungsfehlern  der  Nivellements  auf  so 
grofse  Strecken  seinen  Grund  hat.  Da  nun  jede  spätere  Neumessung 
wieder  etwas  andere  Resultate  liefern  wird,  so  dafs  an  einem  derart 
festgelegten  gemeinsamen  Nullpunkt  fort  und  fort  Korrekturen  ange- 
bracht werden  müfsten,  um  seine  Lage  den  neuen  und  immer  genauer 
ausgeführten  Nivellements  entsprechend  zu  gestalten,  so  wurde  auf  der 
10.  allgemeinen  Konferenz  der  internationalen  Erdmessung  zu  Brüssel 
im  Jahre  1892  beschlossen:  „Von  der  Wahl  eines  gemeinsamen  Null- 
punktes der  Höhen  in  Europa  wird  abgesehen.  Für  die  wissenschaft- 
lichen Zwecke  der  Geodäsie  werden  die  Meereshöhen  mit  Hülfe  von 
Nivellements  nach  den  benachbarten  Küsten  des  Atlantischen  Ozoans, 
des  Mittelländischen  und  Adriatischen  Meeres  und  der  Ostsee  abge- 
leitet, wobei  solche  Stellen  auszuwählen  sind,  an  denen  das  Mittel- 
wasser voraussichtlich  aus  theoretischen  Gründen  oder  erfahrungs- 
mäfsig  keine  Anomalien  darbietet.  Es  ist  aber  andererseits  eine  fort- 
dauernde Aufgabe  des  Centraibureaus  der  internationalen  Erdmessung, 
die  Ergebnisse  der  einzelnen  Länder  zu  sammeln,  zu  vergleichen  und 
zu  verknüpfen,  sowie  insbesondere  die  gegenseitige  Lage  der  Spezial- 
Nullpunkte festzustellen." 

Ein  solcher  Spezial-Höhenpunkt  wurde  für  das  Königreich 
Preufson  am  22.  März  1879  von  der  trigonometrischen  Abteilung  der 
Preufsischen  Landesaufuahme  an  einem  Pfeiler  der  Berliner  Stern- 
warte festgelegt.  Zunächst  nur  für  Preufsen  bestimmt,  ist  derselbe  in 
der  Folge  für  die  einheitliche  ilöhenzählung  im  ganzen  Deutschen 
Reiche  maßgebend  geworden.  In  dem  offiziellen  Berichte  „der 
Normal-Höhenpunkt  für  das  Königreich  Preufsen"  etc,  Berlin  1879, 
wird  über  seine  Festlegung  eingehender  berichtet.  Die  Höhen- 
messungen  im  Preufsischen  Staate  wurden  vorher  auf  verschiedene, 
für  den  jedesmaligen  Zweck  gewählte  Nullpunkte  bezogen.  Während 
ein  grofser  Teil  von  Behörden  und  Privaten  seine  Hühenangaben  vom 
Nullpunkte  eines  Meerespegels,  insbesondere  des  Amsterdamer  .oder 
des  Swinemüuder  Pegels  zählte,  zog  es  ein  anderer  Teil  vor,  das  an 
einem  Hafenorte  der  Ost-  oder  Nordsee  beobachtete  Mittelwasser  als 
Ausgangspunkt  zu  nehmen,  oder  aber  seinen  SpezialVermessungen 

9« 


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132 


den  Nullpunkt  eines  in  der  Nähe  liegenden  Flufspegels  oder  einen 
andern  geeignet  erseheinenden  Ausgangspunkt  zu  Grunde  zu  legen. 
Diese  verschiedenen  Höhenzählungen  stimmten  heim  Zusammentreffen 
der  von  ihnen  ausgehenden  Nivellements  keineswegs  überein,  sondern 
zeigten  Abweichungen  bis  zu  Beträgen,  welche  beim  Eisenbahnbau, 
Wasserbau  etc.  sich  in  der  störendeten  Weise  fühlbar  machten.  Die 
Ursache  dieser  Mannigfaltigkeit  der  Höhenzählung  lag  darin,  dafs  es 
an  einem  genauen  zusammenhängenden  Nivellementsnetze  fehlte,  um 
dio  in  den  verschiedenen  Landesteilen  ausgeführten  Nivellements  mit- 


Der  Normal-Nullpunkt  das  Deutschen  Beichei  am  Nordpfeiler 
der  Kgl.  Sternwarte  in  Berlin. 


einander  zu  verbinden  und  auf  einen  gemeinsamen  Nullpunkt  zu  be- 
ziehen. Nachdem  aber  die  Präzisions-Nivelloments  der  Preufsischen 
Landesaufnahme  so  weit  vorgeschritten  waren,  dafs  sie  namentlich 
den  nördlichen  Teil  des  Preufsischen  Staates  mit  einem  zusammen- 
hängenden Netze  bedeckten,  glaubte  man  mit  Recht  dem  sich  immer 
dringender  fühlbar  machenden  Bedürfnisse  nach  einheitlicher  Höhen- 
zählung durch  Festlegung  eines  Normal- Ausgangspunktes  für  alle 
staatlichen  Nivellements  entsprechen  zu  sollen.  Bei  der  Wahl  des 
Ortes  kam  vor  allem  in  Betracht  die  möglichst  sichere  und  unver- 
änderliche, sowie  auch  hinreichend  centrale  Lage,  um  die  nötigen  An- 
schlüsse und  Hühenübertragungen  thunlichst  kurz  und  sicher  zu  ge- 


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133 


stalten.  Der  ersteron  Forderung  entspricht  die  Meeresküste  jedenfalls 
weit  weniger  als  ein  alter,  durch  Hebungen  oder  Senkungen,  nach- 
weislich längere  Zeit  hindurch  nicht  beeinflurster  Alluvial-Boden,  wie 
z.  B.  derjenige  von  Berlin  und  Umgebung,  dessen  Lage  zugleich  auoh 
der  zweiten  Forderung  gerecht  wird.  Man  beschloß  daher  nach  ein- 
gehenden Erwägungen,  den  Norraal-Höhenpunkt  an  einem  tief  und  fest 
fundierten  Pfeiler  der  Berliner  Sternwarte  anzubringen,  als  demjenigen 
Orte,  welcher  allen  Anforderungen  am  besten  entspricht. 

An  einem  ein  halbes  Jahrhundert  hindurch  für  astronomische 
Zwecke  systematisch  auf  seine  Unveränderlichkeit  mit  empfindlichen 
Wasserwagen  geprüften  Nordpfeiler  wurde  ein  1,7  m  langer  Syenitbalken 
angebracht,  welcher  an  seiner  frei  vorstehenden  vertikalen  Stirnfläche 
auf  einem  eingeschobenen  Emailleglas  eine  Millimeterskala  von  20  cm 
Länge  trägt,  deren  Mittelstrioh  mit  der  Inschrift  37  Meter  über  Normal- 
Null  den  Normal  -  Höhenpunkt  bezeichnet  Der  eigentliche  Null- 
punkt aller  Höhenzählungen  im  Deutschen  Reiche  liegt  37  Meter 
unter  diesem  Normal-Höhenpunkte,  und  sämtliche  offiziellen  Höhen- 
angaben führen  nunmehr  die  Bezeichnung  „Höhen  über  N.  N.",  d,  h. 
über  Normal-Null.  Durch  weitmaschige  Nivellementsnetze,  welche  in 
einer  Gesamtausdehnung  der  Nivelleraents-Züge  von  mehr  als  16000 
Kilometer  das  Preufsisohe  Staatsgebiet  bedecken,  und  durch  Ansohlurs- 
Nivellements  an  die  Netze  der  Nachbarstaaten  wurde  seither  dieser 
NormaUNullpunkt  allseits  durch  Übertragung  leicht  zugänglich  gemacht 
und  hierdurch  in  sämtliche  im  staatlichen  Interesse  ausgeführten 
Nivellements,  alle  Eisenbahn-Nivellements,  die  Höhenangaben  der 
Karten  des  ganzen  Deutschen  Reiches  u.  s.  w.  die  so  lange  angestrebte 
erlösende  Einheit  gebracht. 


(Schlufe  folgt.) 


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Blitzphotographie. 


„La  structure  des  eclairs  est  encore  bien  peu  connue  et  la 
Photographie  est  appelee  ä  rendre  ioi  encore  de  grands  Services", 
schrieb  1888  mit  Recht  in  der  „Revue  d'Astronomie  populaire" 
M.  Trouvelot.  Obwohl  seitdem  10  Jahre  verflossen,  sind  die  guten 
Blitzphotographien  noch  immer  selten.  Die  meisten  Bilder  leiden  an 
der  Entfernung  des  Blitzes,  sodafs  kaum  mehr  als  eine  dünne  Linie 
auf  die  Platte  kommt.  So  giebt  es  von  den  interessanten  Bandblitzen 
nur  sehr  wenig  Aufnahmen,  und  von  diesen  zeigen  fast  alle  nur  mit 
Hülfe  der  Vergrößerung  die  auffallenden  Merkmale  dieser  elektri- 
schen Entladung.  Wie  selten  diese  Bandblitze  Photographien  sind, 
ergiebt  sich  daraus,  dafs  noch  M.  Trouvelot  schrieb:  „Cette  forme 
rubanee  de  la  foudre  ne  saurait,  croyons-nous,  ßtre  attribue  ä  une 
Illusion  quelconque,  ou  bien  ä  un  defaut  de  mise  au  point." 

Bandblitzphotographien  wurden,  soviel  mir  bekannt,  nur  auf- 
genommen und  veröffentlicht  von  iL  Trouvelot  am  24.  Juni  10h 
80 m  1888  in  Paris  (Revue  d'Astronomie  populaire),  von  Mr.  Bishop 
in  Bath  am  22.  August  lh  35m  1895  (Knowledge),  von  Herrn  Pilt- 
schiko  ff- Odessa  am  26.  Mai  8h  30 m  abends  1895,  und  von  Herrn 
Dr.  Precht-Heidelberg  am  25.  Juli  9h  10m  1894,  die  erste  in  „Comptes 
rendus",  die  letzte  in  „Himmel  und  Erde"  veröffentlicht  Endlich, 
last  not  least,  haben  wir  die  am  16.  Juli  1884  10h  abends  von  Herrn 
Professor  Kayser  aufgenommene  und  in  den  Annalen  der  Physik  und 
Chemie  veröffentlichte  Photographie  zu  erwähnen,  die  damals  als  erste 
Abbildung  allgemeines  Aufsehen  erregte.  Alle  diese  Beschreibungen 
des  Bandblitzes,  die  wegen  der  Seltenheit  der  Erscheinung  ausführ- 
liche sind,  stimmen  auffallend  überein.  Mir  gelang  es,  am  23.  August 
6h  35m  abends  1898  von  der  Hamburger  Sternwarte  aus  einen  Band- 
blitz aufzunehmen,  der  in  die  Deutsche  Seewarte  einschlug.  Hier 
haben  wir  den  seltenen  Fall,  dafs  die  Entfernung  des  Einschlagepunktes 


135 


vom  Aufnahmepunkt  genau  bekannt  ist;  sie  beträgt  500  m.  Aus  der 
Brennweite  des  Objektivs  von  22  cm  ergiebt  sich  daher  die  Blitzbreite 
zu  etwa  10  m.  Das  gleiche  Resultat  erhalten  wir  aus  der  Breite  des 
Ost- Turmes  der  Seewarte,  die  8  m  in  nat.  Grösse,  0,4  cm  im  Apparat 
beträgt,  und  der  Blitzbreite  auf  der  Platte  von  0,5  cm.  Diese  Breite 
stimmt  mit  der  Berechnung  des  Herrn  Piltschikoff,  dessen  Band- 
blitz auf  12  m  50  cm  angegeben  wird,  gut  überein. 

Auch  auf  physikalischem  Wege  ist  es  gelungen,  dem  Bandblitz 
ähnliche  Funken  zu  erzeugen,  die  auf  der  Photographie  die  Haupt- 
merkmale deutlich  zeigten  und  manches  Rätselhafte  dieser  älteren 
Erscheinung  klarlegten.  Auf  Grund  dieser  Beobachtungen  ist  es 
zweifellos,  dafs  der  Wind  Einflufs  auf  die  Bandform  des  Blitzes  ausübt. 

Die  Hauptmerkmale  sind  kurz  folgende:  An  einem  Rande  des 
Blitzes  befindet  sioh  immer  eine  besonders  helle  Linie,  die  nach 
der  Handseite  hin  horizontale  kleine  Stäbchen  auszustrahlen  scheint; 
diese  Linie  ist  erwiesenermafsen  der  Anfangsfunke.  Von  diesem 
Hauptblitz  allein  gehen  auch  die  Seitenverästelungen  aus,  die  man 
stets  mehr  oder  minder  deutlich  bis  zur  Hauptlinie  verfolgen  kann. 
Auf  unserer  Photographie  sind  die  Verästelungen,  zwei  rechts,  zwei 
links,  nur  schwer  zu  erkennen.  Die  Form  der  Erscheinung  ist  die 
eines  leiohten,  dunklen  Seidenbandes,  das  von  hellen,  senkrechten 
Fäden  durchzogen,  im  Winde  flattert  Herrn  Trouvelot  gelang  es 
sogar,  eine  Drehung  eines  derartigen  Blitzbandes  zu  photographieren. 
Wie  das  Band  von  hellen  Fäden  so  ist  der  Blitz  von  einer  Reihe  mehr 
oder  minder  hell  leuchtender  Linien  durohzogen,  deren  Zahl  keine  be- 
stimmte ist.  Die  wellenförmigen  Krümmungen  der  Lioien  sind  ein- 
ander parallel,  der  Abstand  bleibt  immer  derselbe.  In  der  Mitte  des 
Blitzes  befindet  sich  ein  bisher  unerklärter,  dunkler,  breiter  Zwischen- 
raum. Auch  die  merkwürdigen  horizontal  und  parallel  gehenden 
Seitenstrahlen  des  Anfangsblitzes,  die  denselben  aber  kaum  berühren, 
entbehren  bisher  einer  bestimmten  Erklärung,  wie  überhaupt  dio  ganze 
Erscheinung  nooh  viel  Rätselhaftes  darbietet.  Sicher  ist  wohl  nur, 
dafs  dor  Wind  eine  Hauptrolle  bei  dieser  Blitzform  spielt.  Jede 
Blitzentladung  dauert  bedeutend  längere  Zeit  als  die,  welche  wir  auf 
physikalischem  Wege  herstellen  können.  Man  kann  also  eine  mehr- 
fache Entladung  in  sehr  kurzen  Zwischenräumen  annehmen,  mag  diese 
nun  von  oben  nach  unten  allein  oder  auch,  wie  Prof.  Kayser  annimmt, 
abweohselnd  nach  unten  von  oben  und  von  unten  nach  oben  vor  sich 
gehen.  Treibt  nun  der  Wind,  der  damals  aus  West- Süd  -  West  kam, 
—  die  Photographie  ist  in  Südrichtung  aufgenommen  —  den  erhitzten 


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136 


Luftkanal  des  Anfangblitzes  zur  Seite,  so  kann  eine  solche  Erschei- 
nungsform wie  der  Bandblitz  entstehen.  Die  Windstärke,  zur  Zeit  des 
Gewitters  auf  der  deutschen  Seewarte  gemessen,  betrug  14  tn  in  der 
Sekunde,  dooh  wird  dieselbe  in  den  höheren  Regionen,  von  denen  der 
Blitz  ausging,  eine  bedeutend  gröfsere  gewesen  sein,  und  dürften  die 
aufeinander  folgenden  Entladungen  des  10  m  breiten  Blitzes  innerhalb 
einer  halben  Sekunde  erfolgt  sein.  Mir  ist  eine  besonders  lange 
Dauer  des  Blitzes  nicht  aufgefallen,  dagegen  war  der  Donner,  der 
gleich  darauf  erfolgte,  von  einem  gewaltigen  Krachen  begleitet.  Die 
Seewarte  selbst  war,  wie  Augenzeugen  berichten,  von  einem  Flammen- 
meer umgeben,  ohne  dafs  der  Schlag  aufser  in  den  Telephon-  und 
Telegraphenleitungen  ernstlichen  Schaden  anrichtete. 

Sehr  wünschenswert  wäre  es,  wenn  die  grofse  Zahl  der  Ama- 
teurphotographen dieser  interessanten  Erscheinung  der  elektrischen 
Entladung  noch  mehr  Aufmerksamkeit  zuwenden  würde,  da  auf  diesem 
Wege  sehr  viel  zur  Lösung  der  noch  offenen  Fragen  beigetragen 
werden  kann.  George  A.  L.  Rümker. 

t 

Das  Nordlicht  vom  9.  September. 

Das  gewifs  von  vielen  unserer  Leser  bewunderte  Nordlicht  war  eine 
so  glänzende  Erscheinung,  wie  sie  seit  1870  in  unseren  Gegenden  nur 
sehr  selten  gesehen  worden  ist  In  Berlin  erreiohte  das  Phaenomen, 
welches  im  ganzen  etwa  eine  halbe  Stunde  währte,  um  9  Uhr  45  Minuten 
seinen  Höhepunkt.  Zahlreiche ,  mehrere  Grad  breite  Lichtbündel  von 
vorwiegend  grüner  und  auch  roter  Farbe0)  durchzogen  wie  die  Strahlen 
einer  Reihe  von  Scheinwerfern  parallel  dem  magnetischen  Meridian 
das  Himmelsgewölbe  bis  fast  zum  Zenith,  fortwährend  ihre  Helligkeit 
und  ihren  Ort  verändernd,  was  am  deutlichsten  mit  Hilfe  der  Sterne 
des  grorsen  Bären  bemerkt  werden  konnte,  die  mitten  durch  das  Nord- 
licht hindurch  schimmerten.  Da  am  Osthiromel  von  den  westlichen 
Berliner  Vororten  aus  zur  gleiohen  Zeit  ein  intensiver  Feuersohein 
siohtbar  war,  der  von  einer  brennenden  Scheune  herrührte,  so  befand 
sioh  das  Publikum  vielfach  im  Zweifel,  ob  es  sich  hier  wirklich  um 
ein  Nordlicht  oder  nur  um  einen  Widerschein  jenes  Feuers  handle. 
Inzwischen  sind  nun  aus  allen  Teilen  des  nördlichen  Kuropa  Nach- 

*)  Die  grüne  Strahlung  des  Nordlichts  (von  der  Wellenlänge  557  ftn) 
soll  nach  Berthelot  von  dem  jüngst  durch  Ramaay  und  Travers  als  Be- 
standteil der  Atmoaphäre  entdeckten  Krypton  herrühren. 


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137 


richten  über  das  Nordlioht  eingelaufen.  Man  hat  es  z.  B.  auch  bei 
Paris,  sowie  in  England  und  Dänemark  gesehen,  in  letzterem  Lande 
sogar  noch  glänzender  als  in  Deutschland.  Auch  die  regelraäfsigen 
erdmagnetischen  Nebenwirkungen  sind  nicht  ausgeblieben.  In  Green- 
wich  begann  die  Störung  der  Magnetnadel  schon  bald  nach  2  Uhr 
nachmittags.  Namentlich  die  Vertikal -Intensität  des  Erdmagnetismus 
erfuhr  eine  viele  Stunden  anhaltende  Schwankung,  aber  auch  die  Ab- 
lenkung der  Deklinationsnadel  von  der  normalen  Lage  betrug  zwischen 
7  und  9  Uhr  nioht  weniger  als  einen  vollen  Grad.  Erst  gegen 
Morgen  beruhigten  sich  die  feinfühligen  Instrumente.  Die  Ursache 
dieser  magnetischen  Störungen  sucht  man  in  Erdströmen,  welche  mit 
den  uns  als  Nordlicht  sichtbar  werdenden  elektrischen  Entladungs- 
erscheinungen in  den  höheren  Luftschichten  Hand  in  Hand  gehen.  Auf 
der  Telegraphenstation  in  Fredericia  klingelten,  wie  jedenfalls  auch 
an  vielen  anderen  Orten,  infolge  dieser  Erdströme  die  elektrischen 
Alarmapparate  von  selbst,  und  das  Telegraphieren  war  in  hohem  Grade 
erschwert 

Die  kosmische  Veranlassung  zu  diesen  aufsergewöhnlioben  Ereig- 
nissen bot  sich  uns  in  Gestalt  einer  gewaltigen  Sonnenfleckengruppe 
dar,  die  gerade  zur  gleichen  Zeit  den  Zentralmeridian  der  Sonne 
passierte.  Da  wir  gegenwärtig  einer  Periode  des  Minimum  der  Sonnen- 
fleckenhäufigkeit  entgegengehen,  so  war  das  Erscheinen  dieser  grofsen 
Fleckengruppe  von  vornherein  etwas  Auffallendes  und  Hers  ungewöhn- 
liche Wirkungen  erwarten.  Warum  aber  die  sichtbare  Wirkung  in 
solchem  Falle  nicht  früher  als  gerade  an  dem  Tuge  erkennbar  wird, 
an  welchem  der  Fleck  infolge  der  Rotation  in  den  Mittelmeridian  der 
Sonne  gerückt  ist,  ist  eine  Frage,  die  noch  der  Lösung  harrt. 

In  England  und  Frankreich  hat  man  übrigens  den  grofsen 
Sonnenileck  vielfach  auch  noch  für  die  abnorme  Hitze  und  Dürre 
verantwortlich  gemacht,  welche  in  diesen  Ländern  während  der  zweiten 
Hälfte  des  August  und  des  gröfsten  Teils  des  September  geherrscht 
haben,  jedoch  ist  in  diesem  Falle  der  ursächliche  Zusammenhang 
durchaus  noch  nicht  nachgewiesen,  ja  sogar  bei  genauerer  Überlegung 
recht  unwahrsoheinlioh.  F.  Kbr. 


Die  Röntgenstrahlen,  welche  der  Elektrizität  ihre  Entstehung 
verdanken,  vermögen  gelegentlich  ihrer  Erzeugerin  ebenfalls  einen 
Dienst  zu  erweisen,  indem  sie  eine  eigenartige  Untersuchung  der  bei 
elektrischen  Installationen  gebrauchten  Materialien  gestatten. 


138 


Materialuntersuchungen  in  weiterem  Umfange,  z.  B.  die  Er- 
kennung von  Blasen  und  sonstigen  Strukturfehlern  in  Metallteilen, 
waren  neben  den  in  erster  Linie  stehenden  medizinischen  Ergebnissen 
dasjenige,  was  man  an  praktisch  verwertbaren  Resultaten  von  den 
Röntgenstrahlen  erhoffte.  Der  Verwirklichung  dieses  Gedankens  steht 
indes  die  immerhin  grofse  Undurcblässigkeit  der  Metalle  —  selbst 
gegenüber  den  kräftigen  modernen  Arten  von  Röntgenröhren  —  im 
Wege,  die  eine  bequeme  Anwendung  des  in  Rede  stehenden  Hülfs- 
mittels  erschwert,  wenngleich  selbst  die  Durchleuchtung  dickerer 
Metallteile  keineswegs  unmöglich  ist.  Als  Beispiel  für  das  letztere 
sei  erwähnt,  dafs  man  mehrfach  das  Werk  einer  Taschenuhr  durch 
die  metallenen  Kapseln  hindurch  Photographien  hat,  ja  Röntgen  selbst 
hat  u.  a.  eine  interessante  Aufnahme  eines  Lefaucheuxgewehres  mit 
Doppellauf  angefertigt,  in  welchem  zwei  Patronen  steckten.  Nicht  nur 
diese  waren  erkennbar,  sondern  auch  die  Deckpfropfon ;  dabei  mufsten 
die  Strahlen  vor  und  hinter  den  Patronen  je  eine  etwa  3  mm  starke 
Stahlschicht  durchdringen. 

Bei  den  elektrotechnischen  Materialien  handelt  es  sich  indes  nioht 
ausschließlich  um  Metalle,  sondern  auch  um  die  isolierenden  Stoffe, 
wie  Hartgummi,  Glimmer,  Porzellan  oder  etwa  neuerdings  erfundene 
Isolatoren,  wie  Stabilit,  Ambroin  u.  a.  m.  Alle  diese  Körper  sind  er- 
heblich durchlässiger  als  die  Metalle,  und  deshalb  ist  es,  wie  Dr. 
Levy  in  der  Elektrotechnischen  Zeitschrift  (1898,  Heft  38)  schreibt, 
hier  durchaus  möglich,  Fehler  aufzufinden,  z.  B.  gröfsere  Blasen, 
Sprünge  oder  eingeschlossene  Metallteile  zu  erkennen.  Es  ist  ferner 
ein  leichtes,  bei  den  verarbeiteten  Gegenständen  zu  konstatieren,  wie 
weit  das  leitende  Metall,  wie  weit  das  Isoliermaterial  reicht.  Eine  An- 
wendung hiervon  ist  auch  bereits  für  die  Untersuchung  von  Isolations- 
materialien für  Straßenbahnen  gemacht  worden,  um  festzustellen,  ob 
die  zur  Aufnahme  der  Kontaklleitung  einerseits,  der  Spanndrähte 
andrerseits  dienenden  Metallteile  durch  eine  genügende  Sohicht  von 
Isoliermaterial  von  einander  getrennt  sind. 

Die  Einfachheit  der  Methode,  welohe  die  Materialien  in  keiner 
Weise  beschädigt,  gestattet  nicht  blofs,  wie  früher,  eine  Stichprobe, 
sondern  einen  großen  Prozentzatz  derselben  einer  Kontrolle  zu  unter- 
werfen. Sp. 


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Biailer-Pouillet'i  Lehrbuch  der  Phyulk  und  Meteorologie.  9.  Auf- 
lage von  Prof.  Dr.  Pfaundler,  unter  Mitwirkung  deB  Prof.  Dr. 
Lummer.  II.  Band,  2.  Abteilung  Braunschweig  1898.  Verlag  von 
Vieweg  und  Sohn.  Preis  geb.  12  M. 
Durch  deu  vorliegenden,  die  Wärmelehre  umfassenden  Band  ist  das  in 
weiten  Kroisen  rühmlichst  bekannte  Werk  in  neunter  Auflage  komplett  ge- 
worden. Was  den  rein  physikalischen  Teil  dieses  Bandes  betrifft,  so  ist  der- 
selbe in  sachgemäßer  Weise  sorgfältig  dem  gegenwärtigen  Stande  der  Forschung 
angepafst  worden.  Dabei  ist  von  der  graphischen  Darstellung  des  thermischen 
Vorhaltens  der  Körper  bei  den  verschiedensten  Zustandsänderungen  noch  aus- 
giebiger als  bisher  Gebrauch  gemacht  worden,  was  die  Anschaulichkeit  gewifs 
nur  erhöhen  kann.  Ob  manche  nou  eingeschaltete  Paragraphen,  wie  z.  B.  die- 
jenigen über  die  Gibbssche  Phasenregel  für  den  Anfänger  ausreichend  ver- 
ständlich sein  werden,  erscheint  uns  zweifelhaft.  Auffallend  ist  es,  dafs  in 
einem  so  gründlichen  Lehrbucho  der  Wärme,  das  die  Jahreszahl  189S  trägt, 
noch  nichts  von  dem  Uberaus  merkwürdigen,  thermischen  Verhalten  der  Stahl- 
Nickel-Legierungen  zu  finden  ist,  das  doch  wenigstens  in  einem  Nachtrag  hätte 
erwähnt  werden  sollen.  Auch  neuere,  höchst  schätzbare  Demonstrationsapparate, 
wie  Loosers  Thermoskop  und  Rebenstorf  fs  Farbonthermoskop,  hätten  doch 
wohl  einige  Worte  verdient.  Weit  störender  aber  als  diese  Lücken  empfinden 
wir  das  mit  der  wissenschaftlichen  Höhe,  welche  das  Werk  sonst  einnimmt,  stark 
kontrastierende  Schlufskapitel  über  die  meteorologischen  Erscheinungen.  Die 
Meteorologie  ist  im  Laufe  der  Jahre  zu  einer  so  umfassenden  Disziplin  geworden, 
dafs  sie  unmöglich  als  ein  Appendix  der  Wärmelehre  behandelt  werden  kann. 
Konnte  der  Herausgebor  nicht  auch  für  dieses  Spezialgebiet  eine  geoignete 
Kraft  gewinnen,  wie  es  bei  der  Optik  möglich  war,  so  hätte  er  auf  das  Hinein- 
ziehen der  Meteorologie  lieber  verzichten  und  den  Leser  auf  Müller» 
Pouillets  kosmische  Physik  verweisen  sollen.  Im  vorliegenden  Bande  wird 
die  Ablenkung  der  Winde  immer  noch  aus  der  Veränderung  der  geographischen 
Breite  statt  aus  der  Erhaltung  der  Bewogungsrichtung  erklärt;  in  höheren 
Breiten  kämpft  noch  immer  nach  Altmeister  Dove  der  Äquatorialstrom  mit 
dem  Polarstrora,  ohne  von  den  barometrischen  Minima  und  Maxim.i  etwas  zu 
wissen.  Der  Regen  entsteht  (§  18(1)  hauptsächlich  dadurch,  dafs  südwestliche 
Winde  feuchte  Luft  in  nördlichere  und  daher  kältere  Gegenden  bringen;  von 
der  Bedeutung  des  vertikal  aufsteigenden  Luflstroms  wird  aber  kein  Wort  ge- 
sprochen. Das  sind  Anachronismen,  wie  sie  in  einem  sonst  so  trefflichen  Werke 
unseres  Erachtens  nicht  hatten  unterlaufen  dürfen.  Hoffen  wir,  dafs  nach  dieser 
Richtung  hin  wenigstens  bei  der  Bearbeitung  der  nächsten  Auflage  Wandel 
geschaffen  wird,  damit  der  altbewährte  Müller-Pouillet  wirklich  ein 
„Sundard  work"  bleibe,  auf  das  man  sich  in  jeder  Beziehung  verlassen  kann. 

F.  Kbr. 


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140 


Dr.  C.  Kaiserling:  Praktikum  der  wissenschaftliehen  Photographie. 

Mit  4  Tafeln  und  193  Abbildungen  im  Text.  Berlin  1898,  Gustav  Schmidt. 
Preis  geh.  8  M. 

Ea  giebt  keine  .wissenschaftliche-,  „künstlerische"  u.  8.  w.  Photographie, 
sondorn  überhaupt  nur  eine  Photographie  schlechtweg  —  diese  These  vertei- 
digt Verf.  am  Anfang  des  Kapitels  über  die  Aufnahme.  Wenn  er  für  sein 
mit  vieler  Liebe  schwungvoll  verfafstes  und  durch  vortrefflich  ausgewählte 
Dlustrationen  gediegen  ausgestattetes  Werkchen  trotzdem  den  obigen  Titel  ge- 
wählt hat,  so  wollte  er  dadurch  nur  so  kurz  als  möglich  angeben,  dafs  man 
hier  ein  Lehrbuch  der  Photographie  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Anwen- 
dungen dieser  stolzen  Tochter  des  19.  Jahrhunderts  zu  Nutz  und  Frommen 
wissenschaftlicher  Forschung  und  wissenschaftlichen  Unterrichts  vor  sich  hat. 

Nach  einem  einleitenden  Kapitel  über  das  Licht,  wobei  von  der  spek- 
tralen Zerlegung  desselben  ausgegangen  wird,  folgt  dementsprechend  zunächst 
eine  knappe,  aber  dabei  recht  gründliche  Darstellung  der  photographisohen 
Technik,  die  auch  für  den  Anfänger  jedes  Zurückgreifen  auf  andere  Anlei- 
tungen zum  Photographieren  unnötig  macht.  Dabei  hat  Verf.  in  der  photo- 
grap  Machen  Optik  auf  mathematische  Formeln  durchaus  verzichtet  und  trotz- 
dem versucht,  ein  wirkliches  Verständnis  aller  in  Betracht  kommenden  Er- 
scheinungen bis  zum  Astigmatismus  an  der  Hand  anschaulicher  Figuren  zu 
vermitteln.  Diese  schwierige  Aufgabe  scheint  uns  auch  in  reichem  Mafse  ge- 
lungen zu  sein,  wenn  auch  manches  sich  eben  in  so  elementarer  Weise  nie- 
mals wird  völlig  erklären  lassen.  So  ist  z.  B.  die  Beseitigung  der  Verzeich- 
nung durch  Figur  31  doch  nur  recht  unvollkommen  erläutert,  denn  danach 
scheint  nicht  der  Abbildungsfehler,  sondern  überhaupt  die  Linsenwirkung  be- 
seitigt. Tritt  der  Strahl  A  parallel  zu  sich  selbst  aus,  so  müfete  ja  die  Kombina- 
tion nur  wie  ein  planparalleles  Olas  wirken.  —  Die  letzten  vier  Kapitel  be- 
fassen sich  mit  den  Methoden  zur  wissenschaftlichen  Verwertung  der  Photo- 
graphie, indem  Bie  nach  einander  dio  Vergröfserung  und  Mikrophotographie, 
die  Stereoskopie,  die  Radiographie  mit  Röntgenstrahlen  und  die  Photographie 
in  natürlichen  Farben  nebst  den  wichtigsten  photographischen  Reproduktions- 
verfahren  behandeln.  — 

Man  könnte  dem  Buche  mit  einem  gewissen  Recht  den  Vorwurf  der 
Unvollständigkeit  machen,  da  die  astronomische  Photographie  und  das  Mefs- 
bildverfahren  ganz  und  gar  unbeachtet  geblieben  sind,  obzwar  sie  doch  zu 
den  wichtigsten  und  an  schönen  Erfolgen  überreichen,  wissenschaftlichen  An- 
wendungen der  Photographie  gehören.  Offenbar  hat  sich  der  Verf.  indessen 
nur  deswegen  von  der  Aufnahme  dieser  Gebiete  abhalten  lassen,  weil  er  als 
Mediziner  in  denselben  nicht  selbst  gearbeitet  hat.  In  der  That  wird  der  er- 
wähnte Mangel  durch  den  Umstand  wohl  völlig  ausgeglichen,  dafs  in  allem, 
was  das  Buch  bietet,  die  eigene  reiche  Erfahrung  des  Verfassers  sich  aus- 
spricht, und  dafs  die  Kompilation  des  Stoffes  aus  anderen  Werken  völlig  ver- 
schmäht wurde.  Die  Photographie  ist  eben  heute  schon  ein  so  vielverzweigtes 
Gebiet,  dafs  ein  Mensch  unmöglich  alle  ihre  Teilgebiete  beherrschen  kann; 
die  Vielseitigkeit  der  photographischen  Thätigkeit  des  Verfassers  ist  ohnedies 
eine  erstaunliche.  Wie  in  der  Auswahl  des  Stoffes,  so  prägt  sich  auch  in  der 
ganzen  Darstellung  und  in  dem  Urteil  Uber  Apparate  und  Methoden  ein 
starker  Subjektivismus  aus,  der  jedoch  eine  flotte  jugendliche  Schreibweise  er- 
möglichte, die  jedenfalls  auf  den  Leser  viel  anregender  wirkt  als  die  an  sich 
ja  höchst  schätzenswerte,  aber  etwas  greisenhafte  Objektivität  zaghafterer 
Naturen.  Mag  auch  manches  Urteil  des  Verfassers  berechtigten  Widerspruch 
finden  —  so  scheinen  z.  B.  die  abfälligen  Bemerkungen  über  Seiles  Verfahren 


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141 


der  Photographie  in  natürlichen  Farben  etwas  ungerecht  — ,  das  Buch  ist 
sicherlich  eine  höchst  dankenswerte  und  für  den  Anfänger  im  wissenschaft- 
lichen Pbotographieren  sehr  nutzbringende  Anleitung,  die  ihm  die  gesamte 
Erfahrung  eines  lebhaft  und  vielseitig  thätigen  Praktikers  zugänglich  macht. 


Verzeichnis  der  der  Redaktion  xur  Besprechung  eingesandten  Bücher. 

Blaas,  J.,  Katechismus  der  Potrographie  (Gesteinskunde).  Mit  86  in  don 
Text  gedruckten  Abbildungen.  Zweite  vermehrte  Auflage.  Leipzig, 
J.  J.  Weber,  1898. 

Bley,  Fr  ,  Botanisches  Bilderbuch  für  Jung  und  Alt.  Zweiter  Teil,  umfassend 
die  Flora  der  zweiten  Jahreshälfte,  '216  Pflanzen bilder  in  Aquarelldruck 
auf  24  Tafeln.  Mit  erläuterndem  Text  von  H.  Bredow.  Berlin,  Oust. 
Schmidt,  1898. 

Blücher,  H.,  Der  praktische  Mikroskopiker.  Allgemein  verständliche  An- 
leitung zum  Gebrauch  dos  Mikroskops  und  zur  Anfertigung  mikrosko- 
pischer Präparate  nach  bewährten  Methoden,  zugleich  ein  praktisches 
Hilfsbuch  für  Pharmazeuten,  Droguistcn,  Gärtner,  Landwirte,  Floischbe- 
schaucr  und  Naturfreunde.  Mit  120  Bpobachtungon  und  IM  Abbildungen 
im  Text.    Leip/.ig,  Lehrmittel-Anstalt,  1898. 

Bölsche,  W.,  Charles  Darwin.  Mit  einem  Bildnis  (Bibliographische  Volks- 
bücher No.  32-35).    Leipzig.  R.  Voigtländer's  Vorlag,  1898. 

Brandis,  W..  Rechtsschutz  der  Zeitungs-  und  Bücher-Titel.  Ein  Beitrag  zur 
ungenügenden  Bokämpfung  des  unlauteren  Wettbewerbs  durch  die 
Gerichte.    Berlin,  Franz  Lipperheide,  1898. 

Dreher,  E.,  und  K.F.Jordan,  Untersuchungen  über  die  Theorie  des  Magne- 
tismus, den  Erdmagnetismus  und  das  Nordlicht.    Berlin,  Jul.  Springer, 


Ergebnisse  der  Meteorologischen  Beobachtungen  in  Württemberg  im  Jahre 

1897.  Mitteilungen  der  mit  dem  Königl.  Statistischen  Landesamt  ver- 
bundenen Meteorologischen  Centraistation.  Bearbeitet  von  Dr.  L.  Meyer, 
unter  Mitwirkung  von  Prof.  Dr.  Mack.  Mit  2  Uebersichtskarten.  Stuttgart, 
Metzler'sche  Buchdruckerei,  1898 

Fortschritte  der  Physik  im  Jahre  1897.  Dargestellt  von  der  Physikalischen 
Gesellschaft  zu  Berlin.  53.  Jahrgang.  Erste  Abteilung:  R.  Börnstein, 
Physik  der  Materie.    Braunschweig,  Friedr.  Vieweg  und  Sohn,  1898. 

Günther,  Ludw.,  Kepplers  Traum  vom  Mond.  Mit  dem  Bildnis  Kepplers, 
dem  Faksimiletitel  der  Originalausgabe,  24  Abbildungen  im  Text  und 
2  Tafeln.    Leipzig,  B.  G.  Teubner,  1898. 

Jahrbuch  dor  Meteorologischen  Beobachtungen  der  Wetterwarte  der  Magde- 
burgischen Zeitung  im  Jahre  1896.  Herausgegeben  von  Rud.  Weiden  - 
hagen.  Mit  einem  Vorwort  von  Professor  Assmann  in  Berlin.  Band  XV, 
Jahrgang  XVI,  1898. 

Jahrbücher  der  K.  K.  Central-Anstalt  für  Meteorologie  und  Erdmagnetismus. 
Offizielle  Publikation:  Jahrgang  1894,  Neue  Folge  XXXI.  Band,  Wien 

1898.  Jahrgang  1897,  Neue  Folge  XXXIV.  Band,  Wien  1898.  Wilhelm 
Braumüller. 

Klinkert,  W.,  Das  Licht,  sein  Ursprung  und  seine  Funktion  als  Wärme, 
Elektrizität,  Magnetismus,  Schwere  und  Gravitation.  Leipzig,  Wilh. 
Friedrich. 


F.  Kbr. 


1898. 


142 


Lang,  O.,  Wie  wächst  du  Erz?  Mit  20  Abbildungen  und  einer  Buntdruck- 
tafel.  Hamburg,  1898. 

Pizzighelli,  G.,  Anleitung  zur  Photographie.  Neunte  Auflage.  Mit  156  in 
den  Text  gedruckten  Abbildungen  und  26  Tafeln.  Halle  a.  S.,  Wilh. 
Knapp,  1898. 

Plassmann,  J.,  Himmelekunde.  Versuch  einer  methodischen  Einführung  in 
die  Hauptlehren  der  Astronomie.  Mit  einem  Titelbild  in  Farbendruck, 
•216  Illustrationen  und  3  Karten.  Freiburg  L  ß.,  Herdersche  Verlags- 
haodlung,  1898. 

Rosenberger,  F.,  Die  moderne  Entwickelung  der  elektrischen  Prinzipien. 

Fünf  Vorträge.   Leipzig,  Joh.  Ambros.  Barth,  1898. 
8chobloch,  A.,  Babnbestimmung  des  Kometen   1847  V  (Broreen).  Wien, 

C.  Qerold's  Sohn,  1898. 
Schulze,  F.,  Nautik,  kurzer  Abrifs  des  täglich  an  Bord  von  Handelsschiffen 

angewandten  Teils  der  Schiffahrtskunde.   Mit  56  Abbildungen.  Leipzig, 

G.  S.  Göschen,  1898. 
Sc  well,  R.,  Eclipses  of  the  moon  in  India.  London,  Swan,  Sonnenschein  A  Co, 

1898. 

Valenta,  Ed.,  Photographische  Chemie  und  Chemikalienkunde  mit  Berück- 
sichtigung der  Bedürfnisse  der  graphischen  Druckgewerbe.  I.  Teil:  An- 
organische Chemie   Halle  a.  S,  Wilh.  Knapp,  1898. 

Wellisch,  8.,  Das  Alter  der  Welt.  Auf  mechanisch-astronomischer  Grundlage. 
Leipzig,   A.  Hartleben's  Verlag. 


Übersicht  der  Himmelserscheinungen  für  Dezember  und  Januar. 

Der  Sterohiinmel.  Der  Anblick  des  Himmels  um  Mitternacht  während 
der  Monate  Dezember  und  Januar  ist  der  folgende:  Um  Mitte  Dezember  kul- 
minieren die  Sternbilder  des  Hasen,  Orion,  Ziege,  Fuhrmann  und  der  östliche 
Teil  des  Stiers  (Aldebaran  gegen  11  »  abends),  im  Januar  das  Einhorn,  der 
kleine  Hund,  Zwillinge  und  Luchs.  Dem  Untergange  nähert  sich  um  Mitter- 
nacht das  Sternbild  des  Pegasus  Pegasi  geht  nach  2  h  morgens  resp.  nach 
Mitternacht  unter),  der  Wassermann  verschwindet  zwischen  i* — 10  Uhr,  etwas 
früher  der  Adler  (zwischen  9  und  7  Uhr  abends);  in  den  ersten  Morgenstunden 
gehen  Walfisch  und  Stier  unter  (zwischen  2  und  4  *>  resp.  4  und  6  *»  morgens). 
Im  Aufgange  ist  um  Mitternacht  Bootes,  ihm  folgt  bald  die  Wage  (3—4  *>  morgens) 
und  Jungfrau  (Spica  geht  um  */4 3  resp.  V,  lh  morg.  auf),  später  noch  der 
Skorpion  (7  •»  resp.  5  h  morgens).  Die  Zwillinge  sind  schon  in  den  ersten  Abend- 
stunden am  Osthimmel  sichtbar,  alsbald  auch  der  grofse  Löwe  (Regulus  um 
8—9  h  abends)  und  der  Orion.  Sirius  wird  um  '/» 9 h  resp.  >/j  7 h  abends, 
Procyon  eine  Stunde  früher  sichtbar.  Folgende  Sterne  kulminieren  für  Berlin 
um  die  Mitternachtsstunde: 


Himmelserscheinungen.  ! 


Jii.  S  cH 


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143 


1.  Dezember  pEridani    (3.  Gr.)  (AR  4*  40«  D.  —  3«  26') 


8- 

a  Aurigae  (1.  Gr.) 

5 

9 

+  45 

54 

15.  . 

a  Orionis    (4.  Gr.) 

5 

33 

-  2 

39 

22.  „ 

>      -         (5.  Gr.) 

6 

2 

+  14 

47 

29.  „ 

7  Geminor.  (2.  Gr.) 

6 

32 

+  16 

29 

1.  Januar 

»       ,       (3.  Gr.) 

6 

46 

+  34 

5 

8.  „ 

/.       „       (4.  Gr.) 

7 

12 

+  16 

43 

15.  . 

P       .       (1.  Or.) 

7 

39 

+  28 

16 

22.  . 

c  Navis       (3.  Gr.) 

s 

3 

-24 

1 

29.  , 

8  Cancri      (4.  Gr.) 

8 

39 

+  18 

32 

Helle  veränderliche  Sterne,  welche  vermöge  ihrer  günstigen  Stellung  vor 
und  nach  Mitternacht  beobachtet  werden  können,  sind: 

R  Aurigae        (irregulär,  Maximum  6.7.  Gr.) 

t)  Geminorum  (Periode  229  Tage,  Maxim.    3.  Gr.) 

R  (     .      371     „  „       6.7.  Gr.) 

TMonocerotis   (Maxim.  6.  Gr.  am  6.  Dezemb.  u.  2.  Jan.) 

R  Cancri  (     „      7.  Gr.  „15.  ) 

Von  Nebelflecken  ist  besonders  der  grofse  Nebel  im  Orion  bei  9  Orionia  aus- 
gezeichnet sichtbar,  aufoerdem  mehrere  Nebel  im  Einhorn  und  in  den  Zwillingen, 
ferner  der  Sternhaufen  Krippe  im  Krebs. 

Die  Planeten.  Merkur  ist  anfänglich  noch  eine  Zeit  vor  und  nach  Sonnen- 
untergang sichtbar,  erreicht  am  19.  Dezember  sein  Perihel  und  Bteht  im  Januar 
vor  Aufgang  der  Sonne  wieder  am  Osthimmel.  —  Venus  geht  Anfang  Dezember 
noch  kurze  Zeit  nach  der  Sonne,  bald  aber  mit  derselben  unter  und  wird  darauf 
wieder  am  Morgen himrael  sichtbar,  Mitte  Dezember  schon  2  Stunden  vor  Sonnen- 
aufgang, Anfang  Januar  um  5  h  morgens.  Am  5.  Januar,  um  welche  Zeit  Venus 
den  gröfsten  Glanz  zeigt,  steht  sie  nördlich  von  a  Scorpii;  der  Weg,  den  sie 
während  Dezember— Januar  beschreibt,  zieht  sich  von  ß  Scorpii  bis  in  den 
Ophiuchus.  —  Mars  geht  nach  8  k  abends  auf,  Anfang  Januar  vor  6  h  abends. 
Am  15.  Januar  ist  er  in  Opposition  mit  der  Sonno  und  erreicht  um  diese  Zeit 
seine  kürzeste  Entfernung  von  der  Erde  =  0,65.  Er  bewegt  sich  im  nördlichen 
Teile  des  Krebses  und  steht  Ende  Dozember  fast  im  Parallel  mit  Pollux  (Zwillinge), 
etwa  14  Grad  östlich  von  diesem  Stern.  —  Jupiter  wird  immer  zeitiger  am 
Morgenhimtnel  sichtbar,  Anfang  Dezember  bald  nach  4&  morg.,  Ende  Januar 
nach  1  h  morgens.  Er  befindet  sich  östlich  vom  Sterne  Spica  (Jungfrau)  und 
kommt  bis  an  die  Grenze  der  Wage.  —  Saturn,  nordöstlich  von  a  Scorpii,  ist 
immer  besser  in  den  Frühstunden  am  Osthimmel  zu  sehen,  Ende  Januar  schon 
um  5  h  morgens.  In  der  zweiten  Hälfte  Januar  kommen  Venus  und  Saturn  im 
Ophiuchus  einander  ziemlich  nahe,  Venus  geht  dann  etwa  4  Grad  nördlich  von 
Saturn  vorüber.  —  Uranus,  ebonfalls  am  Frühhimmel,  ist  Anfang  Januar  vor 
6  b,  Ende  Januar  um  4  h  morg.  übor  dem  Horizonto.  Er  bewegt  sich  langsam 
von  ß  Scorpii  gegen  Antares  hin  und  befindet  sich  Ende  Januar  etwa  4  Vt  Grad 
nördlich  von  letzterem  Venus  und  Saturn  findet  man  um  diese  Zeit  östlich, 
fast  im  selben  Parallele  von  Uranus.  —  Neptun  ist  die  ganze  Nacht  sichtbar, 
Ende  Januar  bis  5    morgens.   Er  steht  in  der  Nähe  von  C  Tauri  (3.3.  Gr.) 

Für  Berlin  sichtbare  Sternbedeeknngen  direta  den  Mond. 

Eintritt  Austritt 
7.  Dezember  c  Leonis    (5.    Gröfse)   1  &  46 »  morg.     2  &  33 «»  morg. 

18.  .        xAquarii  (5.2.     .    )   5    32     abends    6     1  abends 

19.  „        xPisoium  (5.3.     „    )   4      2         .        5      5  „ 
29.       .        C  Cancri    (4.6.     ,    )  11    11         „       0    27  morg. 


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144 


Mond. 

Letztes  Viert  am   6.  Dezemb.  Aufgang  0  h  25  n»  morg.,   Unterg.  mittags 


Neumond 
Erstes  Viert 
Vollmond 
Letztes  Viert 
Neumond 
Erstes  Viert. 
Vollmond 


13.  . 
20.  . 
28. 
5.  Januar 
II. 

18.  , 
26. 


11 
4 
I 


53 
26 
52 


vorm., 

abends, 

morg., 


morg., 
abends, 


1  h  15  n>  morg. 
8  58 
11  13 


85  morg. 
46 


■      10  40 

4  32 

Erdnähen:  14.  Dezb.,  12.  Januar;  Erdfernen:  2.  Dezb.,  29.  Dezb.,  25.  Januar. 

Mondfinsternis  am  27.  Dezember,  in  Deutschland  sichtbar. 
Anfang  10  h  41  m  abends.  | 

Mitte      0    36     morg.    L  Berliner  Zeit  Gröfse  16,6  Zoll. 

Ende      2    30  J 
Die  beiden  partiellen  Sonnenfinsternisse  vom  13.  Dezember  und  11.  Jannar  sind 
in  Europa  unsichtbar. 


Sternzeit  f.  den 

Zoitgleichung 

Sonnenaufg. 

Sonnenunte 

mitt.  Berl.  Mittag 

f.  Berlin 

1.  Dezemb. 

16h  41  m 

18.7» 

—  10m 

44.8» 

7h 

52  m 

3h  48"» 

8.  „ 

17 

8 

54.6 

-  7 

51.7 

8 

1 

3 

44 

15. 

17 

36 

30.5 

-  4 

35.3 

i? 

8 

3 

44 

22.  n 

18 

4 

6.4 

-  1 

7.4 

8 

12 

3 

46 

29. 

18 

31 

42.3 

+  2 

20.1 

8 

14 

3 

51 

I.  Januar 

18 

43 

32.0 

+  3 

46.3 

8 

13 

3 

54 

8.  . 

19 

11 

7.9 

+  6 

55.0 

8 

11 

4 

3 

15.  . 

19 

38 

43.8 

+  9 

38.9 

8 

5 

4 

13 

22.  . 

20 

6 

19.7 

+  11 

49.2 

7 

57 

4 

25 

29.  . 

20 

33 

55.6 

+  13 

21.0 

7 

48 

4 

38 
• 

Varl»*: 


Paatel  in  Berlin.-  Druckt  Wilhelm  dmil  ttaehdrnekerei  In 
Für  dia  Heda-etion  T«rmnt  wortlieh:  Dr.  P.  Sehwfthn  in  Berlin 
Unberechtigter  Nachdruck  »tu  dam  Inhalt  dieser  ZeiUehrift 
Cbersetiungarecht  Torbe  betten. 


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Die  Bedeutung  der  Wurzel  für  das  Leben  der  Pflanze. 

Von  Prof.  L.  Kiy  in  Berlin. 

z^WJ^nn  <lie  pnanzen  mehr  als  die  Tiere  in  ihrer  äufseren  Er- 
ji^if  scheinung  die  Wirkung  der  sie  umgebenden  Einflüsse  wieder- 
spiegeln, so  verdanken  sie  dies  in  erster  Linie  ihren  Wurzeln, 
welche  sie  dauernd  an  den  Boden  ketten.  Die  Tiere  vermögen  in- 
folge ihrer  Beweglichkeit  sich  schädlichen  klimatischen  Einflüssen 
für  Stunden  oder  Tage,  ja  in  gewissen  Fällen  selbst  für  ganze  Jahres- 
zeiten zu  entziehen;  sie  können  sich  vor  den  Angriffen  von  Feinden 
in  Schlupfwinkeln  verbergen,  können  sich  durch  Sammeln  von  Vor- 
räten gegen  Nahrungsmangel  in  ungünstigen  Zeiten  schützen.  Die 
Pflanzen  dagegen  müssen  Regen  und  Sonnenschein,  Nahrungsfülle 
und  Nahrungsmangel  über  sich  ergehen  lassen.  Sie  müssen  befähigt 
sein,  ihren  Feinden  an  Ort  und  Stelle  erfolgreich  zu  widerstehen, 
wenn  sie  ihren  Platz  im  Haushalte  der  Natur  dauernd  behaupten 
wollen. 

So  sehen  wir  die  Bedeutung  der  Wurzel  weit  über  ihre  nächste 
Aufgabe  hinausgehen. 

Diese  Aufgabe  ist  eine  doppelte.  Sie  besteht  auf  der  einen  Seite 
darin,  die  Pflanzen  derart  im  Boden  zu  befestigen,  dafe  allen  übrigen 
Teilen  die  für  ihre  Lebensaufgabe  notwendige  Stellung  dauernd  ge- 
sichert ist,  dafs  insbesondere  die  am  Stamme  und  seinen  Auszweigungen 
befestigten  Laubblätter  die  für  den  Lichtgenufs  günstigste  Stellung 
festzuhalten  vermögen.  Andererseits  ist  die  Wurzel  bei  fast  allen 
Pflanzen  das  ausschließliche  Aufnahmeorgan  für  die  im  Wasser  ge- 
lösten mineralischen  Nährstoffe,  und  diese  bilden,  wie  bekannt,  mit 
der  Kohlensäure  der  Luft  fast  das  alleinige  Rohmaterial,  aus  dessen 
Umwandelungsprodukten  der  Pllanzenkörper  sich  aulbaut. 

Himmel  und  Erde    1«W    XI.  i.  10 


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146 

Wenn  wir  hier  von  Wurzeln  sprechen,  so  denken  wir  in  erster 
Linie  an  diejenigen  der  höheren  Sporenpflanzen  und  besonders  an  die 
der  Blutenpflanzen,  wo  diesen  beiden  Aufgaben  in  vollstem  Mafse  genügt 
ist.  Unter  den  Blütenpflanzen  erreichen  die  Wurzeln  auch  bei  zarten, 
krautartigen  Gewächsen  nicht  selten  Längendimensionen,  wie  sie  der 
Laie  nicht  vermuten  würde.  ■)  Sie  stellen  meist  schlanke,  cylindrische 
Gewebekörper  von  kompliziertem  Baue  dar,  welche  sich  bald  mehr, 
bald  weniger  reioh  verzweigen.  Diese  Verzweigung  wird  durch  die 
Vergröfserung,  welche  die  Oberfläche  und  hierdurch  der  Reibungs- 
widerstand erfährt,  von  grofser  Bedeutung  für  die  Verankerung  der 
Pflanze  im  Boden;  als  wichtigstes  Moment  für  dieselbe  tritt  hierzu 
aber  noch  die  ausgesprochen  zugfeste  Konstruktion  der  erwachsenen 
Wurzelteile.  Wenn  Stürme  den  oberirdischen  Teil  der  Pflanze  aus 
dem  Boden  zu  reifseu  drohen,  wird  durch  sie  die  normale  Stellung 
des  Stammes  gesichert. 

Die  jüngeren  Teile  der  Wurzel  dienen  in  erster  Linie  der 
Nahrungsaufnahme.  Da  die  Nährstoffe  im  Boden  meist  sparsam 
vorhanden  sind,  ist  es  von  grüfstem  Werte  für  die  Pflanze,  dafs  die 
Wurzeln  im  allgemeinen  rasch  in  die  Länge  wachsen  und  sich 
meist  reichlich  verzweigen.  Die  aufnehmende  Überfläche  wird 
hierdurch  allein  schon  erheblich  vergrößert.  In  den  meisten  Fällen 
treten  aber  noch  besondere,  zarte  Ausstülpungen,  die  bekannten 
..Wurzelhaare1*,  in  geringer  Entfernung  hinter  dem  fortwachsenden 
Scheitel  zahlreich  hervor  und  verbreiten  sich  zwischen  den  kleinsten 
Teilen  des  Bodens  (Fig.  1,  D).  Es  ist  hierdurch  selbst  dann  eine 
genügende  Aufnahme  von  Nährstoffen  gewährleistet,  wenn  dieselben, 
wie  dies  meist  der  Fall  ist,  der  Pflanze  in  sehr  verdünnter  Lösung 
dargeboten  werden. 

Das  erste,  was  bei  der  Keimung  der  Samen  aus  der  schützenden 
Hülle  hervortritt,  ist  das  Würzelchen  (Fig.  2,  bei  7,  9  u.  14).  Schon 
im  reifen  Samen  war  es  im  Keimlinge  in  Form  eines  kleinen,  gegen 
das  Ende  sich  verjüngenden  Zäpfchens  ausgebildet.  An  der  Basis 
schliefst  sich  an  dasselbe  der  Keimstengel  an,  welcher  meist  ein  ode. 
zwei,  in  Ausnahmefällen  mehr  als  zwei  Samenblätter  (Cotyledonen 
trägt  Die  junge  Stammknospe  (Plumula)  ist  zwischen  den  Samen- 
blättern meist  erst  schwach  entwickelt.    Auf  früheren  Entwicklungs- 

>)  Bei  der  gelben  Lupine  (Lupiuus  luteus)  Bind  solche  von  2,32  m,  bei  der 
Sandluzerne  (Medicago  sativa  var.  media)  solche  von  '2X>  m  Länge  gemessen 
worden  (vergl.  A.  Orth  im  Jahrb.  d.  deutsch.  Landwirtschaftagesellsch.  7.  (1S92), 
S.  330.) 


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147 


stufen  des  Samens  war  die  Anlage  der  Keimpflanze  von  einem  be- 
sonderen Nährgewebe  umschlossen  gewesen.  In  den  meisten  Fällen 
bildet  sich  dasselbe  bis  zur  Samenreife  fort  und  ist  dann  im  keim- 
fähigen Samen  als  „Endosperm"  deutlich  kenntlich.    Ihm  fällt  die 


Fig.  L 

A.  Keimpflanze  des  Raps  (Brassica  Napus).  B.  Dieselbe;  nur  sind  die  den 
Wurzelhaaron  anhaftenden  Bodenpartikelchen  mit  dargestellt.  C.  Wurzeln 
einer  Getreidepflanze  mit  der  Bodenhülle  der  jungen  Teile.  D.  Querschnitt 
einer  Wurzel.  Die  aus  der  Oberhaut  entspringenden  Wurzelhaare  sind  z.  T. 
mit  den  Bodenpartikelchen  verwachsen.    (Nach  Frank  u.  Tschirch.) 

10' 


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148 


Aufgabi»  zu,  dem  jungen  Pflänzchen  bei  der  Keimung  wertvolle 
Bildungsstoffe  auf  den  Weg  zu  geben  (Fig.  2,  9  u.  10).  Nioht  selten 
wird  dieses  Nährgewebe  aber  schon  vor  der  Samenreife  ganz  oder 
bis  auf  unkenntliohe  Reste  aufgezehrt,  und  dann  sehen  wir,  wie  z.  B. 
bei  der  Eichel  (Fig.  2,  bei  6),  dem  Samen  der  Rofskastanie,  der  Erbse, 


Fig.  2. 

Keimende  Samen.  1  u.  '2.  Kapuzinei  kresse  iTropalolum  majus).    3  u.  4.  Wasser- 

nufs  (Trapa  natans).    5  u.  G.  österreichische  Eiche  (Quercus  austriaca). 
7-10.  Dattelpalme  (Phoenix  dactylifera).    11—13.  Rohrkolben  (Typha  Shuttle- 

WOrtbÜ).   14  u.  IS.  Segge  (Carex  vulgaris).   (Nach  Kerner  v.  Marilaun.) 
1  —  8  in  natürlicher  Gröfse,  9— 10  s fach,  II— 13  40 fach,  14—15  Gffcch  vergrof.se  it. 


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149 

den  Keimling  unmittelbar  von  der  Samenschale  umschlossen.  In 
solchen  Fällen  liefern  die  diokfleischigen  Samenblätter  dem  Keim- 
pflänzchen  die  Baustoffe  für  seine  erste  Entfaltung,  bis  die  Wurzel 
befähigt  ist,  selbständig  Nährstoffe  aus  dem  Boden  aufzunehmen,  und 
bis  die  grünen  Laubblätter  soweit  gediehen  sind,  dafs  sie  dieselben 
verarbeiten  können. 

Wenn  der  Landmann  oder  der  ( tärtner  seinen  Samen  dem  Boden 
anvertraut,  achtet  er  nicht  darauf,  welche  Lage  das  Würzelchen 
zum  Erdradius  einnimmt.  Er  hält  es  für  selbstverständlich,  dafs  die 
Wurzel  ihren  Weg  in  den  Boden  finden  und  dafs  der  Stengel  dem 
Licht  zustreben  werde.  Der  wissenschaftliche  Botaniker  ist  weniger 
leicht  befriedigt.  Er  beobachtet  die  scharfen  Krümmungen,  welche 
alle  Teile  der  Keimpflanzen  beim  Hervortreten  aus  der  Samenschale 
ausführen,  falls  der  Zufall  ihnen  nicht  von  vornherein  die  richtige 
Stellung  gegeben  hat,  und  schlierst  daraus,  dafs  sie  ein  ausgesprochenes 
Empfindungsvermögen  für  die  Richtung  der  Schwerkraft  besitzen 
müssen.  Dieses  Empfindungsvermögen,  welches  auch  bei  erwachsenen 
Pflanzen  in  mannigfachen  Formen  zum  Ausdruck  gelangt,  wird  als 
„Geotropismus"  bezeichnet.  Wendet  ein  wachsendes  Organ,  falls 
es  nicht  durch  andere  Kräfte  abgelenkt  wird,  sich  dem  Erdmittel- 
punkte zu,  so  wird  es  als  positi v-geotropisch,  wendet  es  sich 
vom  Erdmittelpunkte  hinweg,  so  wird  es  als  negati v-geotropisch, 
wächst  es  in  horizontaler  Richtung  fort,  so  wird  es  als  transversal- 
geotropisch  oder  diageotropisch  bezeichnet. 

Der  Nachweis,  dafs  die  Wurzel  der  Keimpflanze  positiv-,  ihr  Stengel 
negativ-geotropisch  ist,  wurde  von  dem  englischen  Pflanzenphysiologen 
Knight2)  in  einfacher  und  schlagender  Form  geliefert  Er  befestigte 
keimende  Bohnen-Samen  an  der  Peripherie  eines  um  eine  horizontale 
Achse  rotierenden  Rades,  welches  von  dem  Wasser  eines  Baches  ge- 
trieben und  gleichzeitig  am  Rande  genetzt  wurde.  Die  Wirkung  der 
Sohwerkraft  war  bei  dieser  Form  der  Versuchsanstellung  aufgehoben, 
da  die  Keimpflanzchen  innerhalb  kurzer  Zeiträume  abwechselnd  die 
verschiedensten  Stellungen  gegen  die  Lotlinie  einnahmen.  An  die 
Stelle  der  Schwerkraft  trat  aber  bei  der  grofsen  Zahl  der  Umdrehungen 
(160  in  der  Minute)  die  in  ihren  Wirkungen  ähnliche  Centrifugal- 
kraft.  Unter  ihrem  Einflüsse  strebten  bei  weiterem  Wachstum  alle 
Keimwurzeln  von  der  Drehungsachse  hinweg,  während  die  Keimstengel 
sich  ihr  zuwandten.   Wurden  die  keimenden  Samen  an  der  Peripherie 

»)  Philo«.  Tratiwictiotis  ot  the  Royal  Society  of  London,  1806,  Part  I,  S.  1>9  ff. 


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150 


eines  um  eine  vertikale  Achse  rotierenden  Rades  befestigt,  so  wurde 
die  Schwerkraft  nunmehr  nicht  aufgehoben,  sondern  wirkte  mit  der 
Centrifugal kraft  zusammen.  Alle  Keimstengel  waren  jetzt  schief  nach 
innen  und  oben,  alle  Keimwurzeln  schief  nach  aufsen  und  unten  ge- 
richtet Von  der  gröTseren  oder  geringeren  Geschwindigkeit  der 
Umdrehung  hing  es  ab,  welche  der  beiden  richtenden  Kräfte  die 
andere  überwog. 

Bei  den  aus  älteren  Stammgliedern  hervortretenden  Nebenwurzeln 
und  den  durch  Auszweigung  aus  den  Keimwurzeln  hervorbrechenden 
Seitenwurzeln  treten  mannigfache  Abweichungen  von  dem  Verhalten 
der  Keimwurzeln  sowohl  in  der  Stärke  der  Beeinflussung  durch  die 
Schwerkraft,  als  auch  in  der  Wachstu  msrichtung  auf.  Die  Verhält- 
nisse liegen  hier  sehr  verwickelt  und  bedürfen  noch  weiterer  Klar- 
stellung.*) 

Man  versteht,  dafs  das  verschiedene  Verhalten  der  Wurzeln  im 
Interesse  der  Pflanze  liegt.  Strebten  alle  Wurzelauszweigungen  dem 
Erdmittelpunkte  zu,  so  würden  sie  ein  parallel  laufendes  Büschel  im 
Boden  bilden  und  sich  gegenseitig  die  Nährstoffe  streitig  machen. 
Wenn  aber,  wie  es  thatsächlich  der  Fall  ist,  die  letzten  Wurzelaus- 
zweigungen nur  eine  sehr  geringe  oder  gar  keine  Empfindlichkeit 
tregen  die  Schwerkraft  besitzen,  und  annähernd  in  den  Richtungen, 
in  welchen  sie  angelegt  werden,  fortwachsen,  dann  wird  eine  möglichst 
vollständige  Ausnutzung  des  Bodens  für  die  Zwecke  der  Ernährung 
erreicht. 

Die  Richtungsbewegungen,  welche  die  Keimwurzeln  unter  dem 
Einflüsse  der  Schwerkraft  ausführen,  sind  echte  Wachstums- 
bewegungen. Sie  finden  nur  solange  statt,  als  die  sich  krümmende 
Region  noch  in  Längsstreckung  begriffen  ist.  Ist  das  Längenwachstum 
einer  Wurzel  abgeschlossen,  so  lassen  sich  vorhandene  Krümmungen 
durch  eine  Veränderung  der  I^age  zur  Lotlinie  nicht  mehr  rückgängig 
machen  oder  in  das  Gegenteil  überführen.  Die  Wachstuinsbewegung 
erfolgt  mit  einer  gewissen  Kraft;  sie  vermag  gröfsere  Widerstände  zu 
überwinden,  als  dem  Gewichte  des  wachsenden  Wurzelteiles  entspricht. 
Deshalb  kann  man  eine  Wurzelspitze,  falls  die  älteren  Teile  straff  genug 
sind,  um  als  Widerlager  zu  dienen,  veranlassen,  in  Quecksilber  einzu- 
dringen.4)  Diese  Thatsache  ist  von  grofser  Bedeutung  für  das  Leben 

3)  Näheres  bei  Czapek  in  dem  Sitzungsber.  der  Wiener  Akademie, 
Bd.  CIV.  (\m),  S.  ll'.)7  und  Jahrb.  f.  w.  Botanik,  Bd.  :\2  (18!»8),  S  I7*>. 

4)  Siehe  die  Wiederholung  der  älteren  Pinotschen  Versuche  bei  Frank, 
Beiträge  zur  Pflanzenphysiologie  (I8ß8),  S.  '*>  ff. 


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151 


der  Pflanze.  Nur  den  Kulturpflanzen  wird  ihr  Keimbett  durch  den 
Menschen  künstlich  aufgelockert;  die  wildwachsenden  Pflanzen  müssen 
sich  ihren  Weg  in  den  Boden  zum  grösseren  Teile  mühsam  erzwingen. 

Die  Region,  in  welcher  die  Keimwurzel  ihre  geotropischen 
Krümmungen  ausführt,  fällt  mit  der  Region  ihres  gröfsten  Längen- 
wachstümer zusammen.  Diese  liegt  nicht  dicht  am  Scheitel,  sondern 
mehrere  Millimeter  weiter  rückwärts.  Es  lag  nun  dio  Vermutung 
mibe,  dafs  diese  Region  dieselbe  sei,  in  welcher  auch  der  Reiz  der 
Schwerkraft  empfunden  werde;  der  Versuch  hat  diese  Voraussetzung 
aber  nicht  bestätigt.  Charles  Darwin5)  zeigte,  dafs,  wenn  man  vom 
Ende  einer  vertikal  abwärts  gewachsenen  jungen  Keimwurzel  mit 
einem  scharfen  Messer  ein  Stück  von  1 — mm  Lange  abträgt,  der 
übrig  bleibende  Teil  die  Fähigkeit  verloren  hat,  bei  horizontaler  Lage 
unter  dem  Einflüsse  der  Schwerkraft  Reizbewegungen  auszuführen. 
Diese  Art  der  Versuchsanstellung  läfst  aber  den  Einwurf  zu,  dafs  die 
Unempfindlichkeit  eine  Folge  des  durch  Verletzung  begangenen  Ein- 
griffes in  die  jungen  Gewebe  der  Wurzel  s«>in  könnt«*.  Schlagender 
ist  die  von  Czapek«)  gewählte  Form  der  Versuchsalistellung:  Er 
liefs  Keimwurzeln,  welche  durch  langsames  Rotieren  um  eine  hori- 
zontale Achse  ihre  Empfindlichkeit  gegen  die  Schwerkraft  einbüfsten, 
in  je  ein  rechtwinklig  gebogenes,  am  Endo  geschlossenes  Glasröhrchen 
von  1,5 — 2  mm  Schenkellänge  hineinwachsen,  dessen  Form  es  sich 
anschmiegte.  Wird  die  Wurzel  in  einem  wasserdampfgesättigten  Räume 
derart  horizontal  gelegt,  dafs  die  Wurzelspitze  nach  abwärts  schaut, 
dafs  also  ein  krümmender  Einllufs  der  Schwerkraft  ausgeschlossen 
war,  so  blieb  weiter  rückwärts  im  horizontalen  Teile  jede  geotropiscbe 
Krümmung  aus.  Wurde  dagegen  die  Wurzel  vertikal  aufgestellt,  wo- 
bei das  kurze  Endstück  horizontal  zu  liegen  kam,  so  entstand  nach 
einigen  Stunden  eine  Reizkrümmung  mit  der  Konkavität  nach  der 
Flanke,  welche  der  Wurzelspitze  abgekehrt  war,  und  erreichte  schliefs- 
lich  90°.  Hierdurch  wurde  die  Wurzelspitze  in  ihre  geotropische, 
vertikal  abwärts  gerichtete  Gleichgewichtslage  gebracht. 

Diese  interessanten  Versuche  zeigen,  dafs  bei  der  Pflanze,  ebenso 
wie  beim  Tiere,  die  den  Reiz  aufnehmende  und  die  auf  den  Reiz 
durch  Bewegung  reagierende  Region  räumlich  getrennt  sein  können. 

Auch  von  anderen  Kräften  als  der  Schwerkraft,  werden  die 
Wurzeln  in  ihrer  Wachstumsrichtung  beeinflufst.  Das  Licht,  welches 

r,|  The  power  of  movements  in  plante,  ISSO,  S.  .*»i»:S  IT. 

«)  Untersuchungen  über  Geotropismus  (Jahrb.  f.  w.  Bot.,  XX  VII.  (IS'.'j), 
S.  243  ff.,  besonder»  S.  25«— 259.) 


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15-2 


so  wirksam  in  die  Stellung  oberirdischer  Pflanzenteile  eingreift,  wirkt 
auf  die  Wurzeln  im  allgemeinen  nur  in  geringem  Matse  ein,  am  er- 
heblichsten noch  anf  die  Luftwurzeln  vieler  klimmenden  Gewächse, 
wie  des  Epheu,  welohe  das  Licht  fliehen  und  hierdurch  die  geeignete 
Stellung  erhalten,  um  ihre  Muttersprosse  an  die  Unterlage  zu  be- 
festigen. Richtend  wirken  ferner  die  einseitige  Erwärmung,  die 
gröfsere  oder  geringere  Feuchtigkeit  des  Bodens,  elektrische  Ströme 
und  wahrscheinlich  auch  die  gröfsere  oder  geringere  Darbietung  freien 
Sauerstoffes.  Von  ganz  besonderer  Bedeutung  für  die  Ernährung  der 
Pllanzen  ist  es,  dafs  die  Wurzeln  offenbar  auch  die  Fähigkeit  besitzen, 
von  gewissen  für  sie  brauchbaren  Stoffen,  wenn  diese  ihnen  im  Boden 
in  geringer  Menge  einseitig  dargeboten  werden,  angezogen  zu  werden 
und  schädliche  Stoffe  zu  fliehen.  In  diesem  Sinne  sucht  also  auch 
die  Pflanze  ihre  Nahrung  auf,  wenn  auch  mit  ganz  anderen  Mitteln 
als  das  Tier.  In  nährstoffreichen  Böden  erfahren  die  Wurzein  auch 
eine  sehr  viel  reichere  Auszweigung  als  in  nährstoffarmen.  Sie  können 
ihr  Substrat  infolge  dessen  vollständiger  ausnützen. 

Während  die  Hegion  des  lebhaftesten  Längenwachstumes,  wie 
wir  sahen,  sich  mehrere  Millimeter  hinter  der  fortwaohsenden  Wurzel- 
spitze befindet,  liegt  die  Kegion  der  lebhaftesten  Zellteilungen  an 
der  Wurzelspitze  selbst.  Diese  ist  zusammengesetzt  aus  einer  grofsen 
Zahl  kleiner,  sehr  zartwandiger  und  protoplasmareicher  Zellen  mit  je 
einem  grofsen  Zellkern  (Fig.  3).  Den  in  rascher  Folge  sich  wieder- 
holenden Teilungen  geht  die  Spaltung  der  Kerne  unmittelbar  vorher. 
Bei  der  sehr  raschen  Zellvermehrung  findet  eine  Änderung  der  Form 
und  Anordnung  der  Teilzellen  nur  ganz  allmählich  statt.  Dieser  Um- 
stand ermöglicht  es,  aus  der  Anordnung  der  Zellen  am  Vegetations- 
punkte des  Wurzelscheitels  einen  sicheren  Rückschluls  auf  die  Art 
der  Teilungsfolge  zu  machen. 

Ein  so  zartes  Zellgewebe,  wie  es  den  Wurzelscheitel  aufbaut, 
bedarf  ganz  besonderen  Schutzes.  Es  mufs  dafür  gesorgt  sein,  die 
Wirkungen  des  im  Boden  sich  mitunter  sehr  erheblich  steigernden 
Druckes  unschädlich  zu  machen.  Die  Vegetationspunkte  der  I^aub- 
sprosse.  welche  ja  auch  mancherlei  Fährlichkeiten  ausgesetzt  sind, 
schützen  sich  in  wirksamer  Weise  durch  die  jungen,  unter  ihnen  her- 
vortretenden Blattanlagen,  welche  sich  über  der  Sprolsspitze  zusammen- 
wölben und  mit  ihr  die  Endknospe  bilden.  Da  den  Wurzeln  die 
Fähigkeit  abgeht,  Blätter  zu  erzeugen,  müssen  sie  auf  andere  Weise 
Hat  schaffen.  Dies  geschieht  in  wirksamster  Weise  durch  die  Bildung 
einer  „W  u  rzelh  au  beu.  Wir  verstehen  darunter  eine  den  Vegetations- 


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153 


punkt  der  Wurzel  bedeckende,  kegelförmig  zugespitzte  Hülle,  welche 
in  der  Verlängerung  der  Wurzelachse  den  gröfeten  Durchmesser  be- 
sitzt und  sich  naoh  seitwärts  und  rückwärts  allmählich  auskeilt.  Ihre 
jüngsten  Schichten  sind  mit  denen  des  Wurzelkörpers  eng  verbunden, 
und  die  Zellteilungen,  welche  zu  ihrer  Fortbildung  dienen,  gehen  mit 
denen  des  Wurzelkörpers  Hand  in  Haml  (Fig.  3  u.  4).  In  dem  Mafse. 
wie  die  Gewebe  der  Haube  an  der  Grenze  des  Wutzelkörpers  sich 


Fig.  3. 

Medianer  Längsschnitt  durch  die  Wurzclspitzc  von  Seeale  coreale. 
C.-C.  Junger  Oentralcylinder,  am  untern  Ende  in  ein  abgerundet-kegelförmiges 
Bildungsgewebe  ausgehend.  S.-S.  Junge  Endodermis.  Ii.  Das  übrige  Rinden- 
gewebe. Ep.  Oberhaut,  üie  drei  letztgenannten  Gewebepartion  gehen  am 
Scheitel  aus  einem  einschichtigen  Bildungsgewebo  hervor.  Den  unteren  Teil 
der  Figur  nimmt  die  Wurzelhaube  ein,   welche  ihr  eigenes  Bildungsgewebe 

besitzt.  —  ilS  mal  vrrgr. 

erneuern,  werden  die  ältesten  Teile  an  der  überdache  abgestofsen, 
indem  die  Zellen  sich  abrunden  und,  nachdem  ihre  Membranen  sich 
gewöhnlich  verschleimt  haben,  im  Boden  sich  ablösen.  Die  Schieim- 
hülle,  welche  die  junge  Wurzelspitze  umgiebt,  hat  gewifa  ihre  hohe 
Bedeutung.    Sie  schützt  einerseits  die  jungen  zarten  Gewebe  vor  dem 


154 


Austrocknen,  andererseits  erleichtert  sie  das  Vorwärtsgleiten  der 
Wurzelspitze  im  Hoden. 

Bei  den  meisten  Farrnkräutern,  den  Sohafthalmen  und  einigen 
nächst  verwandten  Gruppen  der  höheren  Sporenpflanzen  befindet  sich 
am  Ende  des  Wurzelkörpers  eine  grofse  Zelle  von  der  Form  einer 
dreiseitigen  Pyramide  (Fig.  4,  t).  Ihre  Basis  ist  der  Haube  zugekehrt; 
ihre  Spitze  ragt  in  den  Wurzelkörper  hinein.  Die  in  regelmäßiger 
Folge  auftretenden  Teilungswände  sind  abwechselnd  den  vier  Aufsen- 


Fig.  4. 

Medianer  Längsschnitt  durch  dir  Wurzel  von  l'teris  cretica  (nach  Straabur- 
jrer).    t  Scheitelzelle,    k  Wurzelhaube.     Die  übrigen  Buchstaben  beziehen 
sich  auf  die  Abgrenzung  der  Uewebepartien  des  Wurzelkörpers. 

240  mal  vergr. 

wänden  der  Pyramide  parallel.  Es  werden  dadurch  von  der  Scheiiel- 
zelle  flache  Segtnentzellen  von  dreiseitiger  Grundnfsform  abgeschnitten. 
Die  basalwärts  liegenden  hauen  durch  weitere  Teilungen  die  Haube 
auf  und  ersetzen  derselben  von  innen  her,  was  sie  durch  Abschuppung 
älterer  Zellen  an  ihrer  Oberfläche  verliert.  Die  in  drei  Reihen  schief 
gegen  das  Innere  der  Wurzel  abgeschiedenen  Segmentzellen  bilden 


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155 

i 

den  eigentlichen  Wurzelkörper  fort.  Die  Teilungen  erfolgen  in  gesetz- 
mäfsiger  Reihenfolge;  jeder  ihrer  Nachkommen  ist  im  Bauplane  der 
Wurzel  eine  bestimmte  Stelle  angewiesen. 

Nur  bei  einer  beschränkten  Anzahl  der  höheren  Sporenpflanzen 
folgt  der  Aufbau  der  Wurzel  einer  so  einfachen  Regel.  Schon  bei 
einer  ihnen  nahe  verwandten  Familie,  nämlich  bei  der  Farrngruppe 
der  Marattiaceen,  lassen  die  Gewebe  sich  nicht  mehr  von  einer  einzigen 
Scheitelzelle,  sondern  von  4  gleichartigen,  benachbarten  Zellen  ab- 
leiten, welche  gleichmäfsig  um  den  Scheitel  verteilt  sind.  Bei  den 
Blutenpflanzen  komplizieren  sich  die  Verhältnisse  mehr  und  mehr. 
Man  hat  hier  eine  Anzahl  verschiedener  Typen  unterschieden,  welche 
im  grofsen  und  ganzen  darin  übereinstimmen,  dafs  nicht  alle  Gewebe 
von  einer  an  der  Grenze  von  Wurzelkörper  und  Haube  liegenden 
Zelle  oder  Zellengruppe  abstammen,  sondern,  dafs  die  Gewebesysteme 
der  fertigen  Wurzel  entweder  einzeln  oder  zu  zweien  aus  getrennten 
Bildungsgeweben  am  Scheitel  ihren  Ursprung  nehmen.  Es  wird  für 
unseren  Zweck-  genügen,  dies  an  einem  Falle  zu  erläutern.  Doch 
ist  es  für  das  Verständnis  notwendig,  vorher  den  inneren  Bau  der 
erwachsenen  Wurzel  kennen  zu  lernen. 

Jede  Wurzel  lüfst  in  derjenigen  Region,  wo  das  Stadium  der 
eisten  Teilungen  abgeschlossen  ist,  eine  Sonderung  in  3  konzentrische 
Gewebepartien  erkennen. 

Die  äufsere  Umhüllung  bildet  die  Oberhaut  oder  Epidermis. 
Sie  ist  fast  bei  allen  Wurzeln  nur  aus  einer  Zellschicht  aufgebaut. 
Aus  ihr  entspringen  als  cylindrische ,  am  Scheitel  abgerundete  Aus- 
stülpungen die  oben  erwähnton  Wurzelhaare7),  welche  die  Aufgabe 
haben,  die  Oberfläche  der  Wurzel  zu  vergröfsern  und  die  Aufnahme 
von  Wasser  und  den  im  Wasser  gelösten  Nährstoffen  zu  erleichtern. 
Sie  entspringen  meist  erst  in  Entfernung  von  wenigen  Millimetern  vom 
Wurzelscheitel,  wachsen  rasch  zu  ihrer  definitiven  Gröfse  heran  und 
sterben  nach  kurzer  Lebensdauer  weiter  rückwärts  ab.  Im  Laufe  ihr  es 
Längenwachstums  schmiegen  sie  sich  eng  an  kleinere  und  gröfsere 
. «.  _  _  _  _ . 

7)  Die  Wurzelhaare  können  bei  gewissen  Pflanzen,  besondere  sok-heu, 
welche  humöaen  Boden  bewohnen,  durch  Pilzfäden  ersetzt  werden.  Die  im 
Boden  wuchernden  Pilze,  deren  Stellung  im  System  noch  nicht  sicher  ermittelt 
ist,  dringen  in  die  Oberhautzellen  ein  und  erfüllen  sie  mit  dichtem  Geflecht. 
Da  Wurzclhaare  sich  unter  solchen  Umständen  nicht  entwickeln,  sind  die  vom 
Wurzelkörper  ausstrahlenden  Pilzfäden  die  Vermittler  der  Nahrungsaufnahme. 
So  z.  B.  bei  der  Kiefer,  der  Rotbuche,  dem  Heidekraut.  Näheres  bei  Frank, 
Lehrbuch  der  Botanik.  I.  S.  2.W  ff. 


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166 

Bodenpartikelchen  an  und  verwachsen  zum  Teil  mit  ihnen  (Fig.  1,  D). 
An  einer  noch  im  Längenwachstum  befindlichen  Wurzelspitze,  welche 
man  aus  dem  Boden  hebt  und  vorsichtig  in  Wasser  abspült,  kann 
man  die  Region  der  noch  lebensfähigen  Wurzelhaare  annähernd  an 
der  Länge  der  Umhüllung  mit  anhaftenden  Sandkörnohen  erkennen, 
welche  sich  vom  Wurzelkörper  ohne  Zerreifsung  der  Härchen  nicht 
entfernen  lassen  (Fig.  1,  B  und  C). 

Da  die  Aufgabe  der  Wurzelhaare  darin  besteht,  die  aufnehmende 
Oberfläche  der  Wurzel  zu  vergröfsern,  wird  es  nicht  Wunder  nehmen, 
dafs  sie  in  gewissen  Fällen,  wo  kein  Bedürfnis  für  die  Vergrößerung 
vorhanden  ist,  fehlen.  Besonders  sind  es  zwei  Kategorien  von  Pflanzen, 
wo  sie  meist  nur  sparsam  auftreten  oder  ganz  vermifst  werden.  Erstens 
solche  Pflanzen,  welche  sehr  trockenen  Kliinaten  angepaßt  sind 
und  deren  oberirdische  Organe  mit  besonderen  Schutzvorrichtungen 
gegen  zu  starke  Verdunstung  ausgerüstet  sind,  wie  z.  B.  die  soge- 
nannte hundertjährige  Aloe  (Agave  amerioana)  und  die  Dattelpalme 
(Phoenix  dactylifera).  Zweitens  die  meisten  Wasser-  und  Sumpf- 
pflanzen, denen  unbegrenzte  Mengen  von  Wasser  zur  Verfügung 
stehen.  Auch  an  den  Wurzeln  solcher  Landpflanzen,  welche,  wie 
Mais  und  Erbse,  im  Boden  zahlreiche  Wurzelhaare  hervortreten  lassen, 
sehen  wir  bei  Cultur  in  wässerigen  Nährstofflösungen  die  Wurzelhaare 
erheblich  kleiner  und  sparsamer  worden,  ja  z.  T.  ganz  schwinden. 

Der  Oberhaut  schliefst  sich  als  zweites  konzentrisches  Gewebe- 
system das  Grundgewebe  oder  die  Rinde  an,  welche  aus 
mehreren,  nicht  selten  aus  vielen  Zellschichten  aufgebaut  ist  (Fig.  1, 
D).  Wenn  sie  auch  meist  nur  aus  zartwandigen,  wasserreichen 
Zellen  besteht,  kann  sie  in  gewissen  Fällen  einzelne  Zellstränge  oder 
ganze  Zelllagen  fester  ausbilden,  wenn  für  die  betreffende  Pflanze  ein 
besonderes  Bedürfnis  hierfür  besteht  Es  ist  dies  z.  B.  dort  der  Fall, 
wo  die  Wurzeln  sich  zum  Teil  oberhalb  des  Bodens  befinden  und 
als  Stützorgane  für  den  Stamm  oder  seine  Auszweigungen  funktionieren, 
wie  bei  den  tropischen  Mangrovebüschen  und  den  in  unsern  Warm- 
häusern nicht  selten  kultivierten  Pandanus- Arten.  Die  innerste 
Schicht  der  Rinde,  welche  den  Namen  Endodermis  führt,  besitzt 
immer  eino  eigenartige  Struktur.  Sie  dient  der  Regelung  des  Wasser- 
austausches zwischen  der  Rinde  und  dem  von  ihr  umschlossenen 
Centralcylinder. 

Dieser  Centralcylinder  enthält  die  leitenden  Gewebe,  welche 
die  von  den  jüngeren  Teilen  der  Wurzel  aufgenommenen  wässerigen 
Nährstofflösungen  in  den  Pflanzen  aufwärts  zu  fördern  und  dafür  die- 


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157 


jenigen  Substanzen  abwärts  zu  leiten  haben,  die,  wie  der  Zucker,  die 
Stärke,  die  Eiweifssubstanzen,  zum  Fortbau  der  Wurzel  und  zur 
Bildung  ihrer  Auszweigungen  notwendig  sind.  Fig.  5,  welche  einen 
Querschnitt  durch  den  innersten  Teil  einer  verhältnismäfsig  schwachen 


Fig.  5. 

Centraler  Teil  einer  Wurzel  von  Asparagus  officinalis,  im  Querschnitt. 
End.  Endodermis.    Peric.  Perieambium.    Sp.-G.  Spiral-Gefafse,  mit  deren  Aus- 
bildung der  Aufbau  des  Holzkörpers  (Xyl.i  beginnt.     P.-G.  Poröse  Gefaise, 
dem  zuletzt  ausgebildeten  Teile  des  Holzkörpers  angehörend.  Phl.  Baugruppen. 
M  markartige»  Gewebe  im  inneren  Teile  des  Centralcylinders.  -->47mal  vergr. 


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158 

Wurzel  des  Spargels  (Asparagus  officinaüs)  darstellt,  zeigt  den  nor- 
malen Bau  des  Centralcylinders  in  übersichtlicher  Weise.  Auf  die 
Endoderinis  (End.)  folgt  als  einfache,  zart  wand  ige  Zellschicht  das 
Pericambium  (Peric).  In  diesem  entstehen  die  Anlagen  aller 
Seitenwurzeln,  welohe  beim  Spargel  nur  in  geringer  Zahl  gebildet 
werden-  Im  Anschlüsse  an  das  Pericambium  sehen  wir  13  dunklere 
und  hellere  Oewebepartien  mit  einander  abwechseln.  Die  dunklen, 
welche  aufsen  mit  sehr  engen  Kiementen  (Sp.-G.)  beginnen,  denen 
sich  nach  innen  allmählich  weitere  (P.-G).  anschliefsen,  reichen  bis 
nahe  zum  mittleren  Teile  des  Centralcylinders  hinein  und  vereinigen 
sich  hier  zu  einem  geschlossenen  Ringe.  Das  Querschnittsbild,  wie 
unsere  Figur  es  darbietet,  erinnert  an  ein  gezahntes  Rad.  Das  be- 
schriebene Gewebe  stellt  in  seiner  Gesamtheit  den  Holzteil  (Xyl.) 
des  strahlig  gebauten  Leilbündels  dar;  es  dient  dem  Transport  der 
von  der  Wurzel  aufgenommenen  Nährstofflösungen.  Ganz  besonders 
sind  es  die  im  Bilde  deutlich  hervortretenden  grofsen  Gefärse  (P.G> 
welche  ihn  fördern.  Die  zwischen  den  Zähnen  des  Hades  liegenden 
hellen,  zurtwandigeren  Gruppen,  welche  dauernd  getrennt  von  einander 
verlaufen,  stellen  die  Bast  teile  des  Leitbündels  (Phl.)  dar.  Ihnen  ist 
die  Aufgabe  zugeteilt,  die  für  den  Aufbau  neuer  Zellen  geeigneten 
organischen  Stoffe,  das  sogenannte  „plastische  Material  ',  den  Orten 
des  Verbrauchs  zuzuführen. 

Die  Wurzel  des  Spargels  —  und  es  gilt  dies  auch  für  alle  anderen 
Pflanzen  aus  der  grofsen  Abteilung  der  Monocotyledonen  —  bewahren 
Zeit  ihres  Lebens  den  inneren  Bau,  wie  er  ursprünglich  angelegt  wurde. 
Sie  sind  eines  nachträglichen  Dickenwachstumes  nicht  fähig,  und  es 
werden  darum  die  Monocotyledoncnwurzeln  da,  wo  ein  Bedürfnis  hierfür 
vorhanden  ist,  gleich  ursprünglich  sehr  kräftig  angelegt.  Bei  einiger- 
mafsen  starken  Palmenwurzoln  hat  man  mehr  als  100  Bastgruppen 
und  ebensoviele  damit  abwechselnde  Fortsätze  des  Holzkörpers,  bei 
sehr  dicken  Stützwurzeln  von  Pandanus  soyar  bis  400  gezählt.  In 
anderen  Fällen,  wie  bei  Hyazinthen  und  Tulpen,  kann  freilich  die  Zahl 
bis  auf  2  herabgehen. 

Die  Wurzeln  der  anderen  grofsen  Hauptgruppe  der  bedeckt- 
sämigen  Blutenpflanzen,  der  Dicotyledonen,  zeigen  dagegen  sehr  ge- 
wohnlich die  Fähigkeit,  sich  durch  Dickenwachstum  fortzubilden  und 
zwischen  die  zuerst  ausgebildeten  Gewebe  neue,  sekundäre  Gewebe- 
messen  einzuschalten.  Das  Beispiel  der  Buffbohm>,  Vicia  Faha,  auf 
welche  sich  unsere  Figuren  6  und  7  beziehen,  möge  dies  erläutern. 

Fig.  6  zeigt  den  Querschnitt  des  <  "entralcvlmders  einer  jungen 


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159 

Wurzel  kurz  nach  der  Zeit,  wo  seine  erste  Ausbildung  abgeschlossen 
war.  Wir  sehen  innerhalb  der  einschichtigen  Endodennis  (Endod.), 
deren  radial  gerichtete  Wände  in  ihrer  Mitte  an  einer  anscheinend 
knötchenartigen  Verdickung  kenntlich  sind,  ein  2-  bis  3-schiohtiges 
Perioambium  (Peric).  Innerhalb  desselben  zeigt  der  Centralcylinder 
einen  vierstrahligen  Stern  von  Holzgewebe  mit  Gefafsen  (Pr.  Xyl.), 


Fi»-.  (5. 


Centraler  Teil  eines  jugendlichen  Wurzelstückes  von  Vicia  Faha,  im  Querschnitt. 
Endod.  Endodermis.    Peric.  Pericambium.    Pr.  Xyl.  Primäres  Holz.    See.  Xyl. 
Secundäres  Holz.    Phl.  Zartwandiger  Bust.    Scler.  Dickwandige  Zellgruppen 
im  äufseren  Teile  des  Bastes.    Camb.  Catnbium.  —  KIT  mal  vergr. 


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160 


in  dessen  Buchten  4  grofse  Bastgruppen  liegen;  die  äufseren  Zellen 
derselben  (Seier.)  zeigen  starke  Verdickung  ihrer  Membranen;  die 
inneren  sind  sehr  zart  wand  ig. 

Am  innersten  Rande  der  Bastgruppen  fällt  es  auf,  dafs  die  zuletzt 
entstandenen  Membranen  fast  sämtlich  im  Sinne  der  Buohten  parallel 
geriohtet  sind.  Es  hat  sich  hier  an  der  Innenseite  jeder  der  4  Bast- 
gruppen eine  Fortbildungszone,  ein  Cambium  (Camb.  im  mittleren  Teile 
der  Figur)  konstituiert,  und  diese  vier  ursprünglich  getrennten  Cambium- 
streifen  haben  sich  bereits  über  die  vier  Strahlen  des  Holzgewebes 
hinweg  zu  einem  geschlossenen  gebuchteten  Cambiumringe  vereinigt 
(siehe  Camb.  im  unteren  Teile  der  Figur).  In  demselben  finden  fort- 
dauernd Zellteilungen  durch  Wände  statt,  welche  den  erstgebildeten 
annähernd  parallel  sind.  Infolge  dessen  vermehren  sich  fortdauernd 
die  Zellsohicbten  in  Richtung  der  Dicke.  Im  Grunde  der  vier  Buchten 
fügen  sich  die  innersten  dieser  sekundär  entstandenen  Zellschichten 
als  neue  Elemente  dem  Holzkörper  (See.  Xyl.),  die  äufsersten  als  neue 
Elemente  dem  Bastkörper  an.  Über  den  4  Strahlen  des  Holzkörpers 
bleiben  die  nach  innen  und  aufeen  vom  Cambium  abgeschiedenen 
Zellschichten  meist  zartwandig  und  erhalten  den  Charakter  von  Mark- 
strahlen. Indem  diese  Neubildungsprozesse  zuvörderst  besonders  aus- 
giebig in  den  vier  Buchten  des  Holzkörpers  erfolgen,  werden  diese 
sehr  bald  durch  aufgelagortes  sekundäres  Holz  ausgefüllt.  Nachdem 
dies  geschehen  ist,  schroitet  das  Dickenwachstum  nach  allen  Seiten 
annähernd  gleiohmälsig  fort.  In  Fig.  7,  welche  einen  Querschnitt 
derselben  Wurzel,  wie  Fig.  6,  nur  aus  einem  älteren  Teile  und  bei 
etwas  schwächerer  Vergrößerung  darstellt,  ist  der  ursprüngliche 
4-strahlige  Holzstern  (Pr.  Xyl.)  noch  sehr  deutlich  zu  erkennen. 

Auch  weiterhin  nimmt  das  Dickenwachstum  der  Dicotyledonen- 
wurzel  in  gleicher  Weise  seinen  Fortgang.  Stamm  und  Wurzel  zeigen 
fortan  in  ihrem  Bau  keine  erheblichen  Unterschiede  mehr. 

Diese  wenigen  Andeutungen  mögen  genügen,  von  dem  Bau  der 
normalen  Wurzeln  der  Blütenpflanzen  eine  Vorstellung  zu  geben. 
Abweichungen  von  dem  beschriebenen  Schema  kommen  zwar  vor, 
sind  aber  nicht  sehr  häufig  und  im  ganzen  nicht  sehr  erheblich.  Die 
Beständigkeit  im  Bau  der  Wurzeln  sticht  von  der  grofsen  Mannig- 
faltigkeit der  Bau-Typen  bei  den  Stämmen  und  Blättern  in  sehr  be- 
merkenswerter Weise  ab.  Es  hängt  dies  ohne  Zweifel  damit  zusammen, 
dafs  die  Lebensverhältnisse  der  Wurzeln  im  grofsen  und  ganzen  ein- 
förmiger sind,  dafs  also  für  erhebliche  Abänderungen  ihres  inneren 
Baues  der  äufsere  Anstofs  fehlt. 


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161 


Nachdem  wir  im  vorstehenden  einen  Überblick  über  den  inneren 
Bau  der  Wurzeln  bei  den  Blütenpflanzen  gewonnen  haben,  wird  es 
nicht  schwer  sein,  die  Art  ihres  Längenwachstums  dem  Verständnisse 


Fig.  7. 

Centraler  Teil  derselben  Wurzel  von  Vicia  Faba,  welche  in  Fig.  f>  dargestellt 
ist,  aber  von  einem  etwas  älteren  Teile,  im  Querschnitt.    Bezeichnungen  der 
einzelnen  Gewebe  wie  in  Fig.  6.  —  125 mal  vergr. 


näher  zu  bringen.  Es  wurde  oben  gesagt,  dafs  der  Ursprung  aller 
Gewebe  sich  hier  nicht  auf  eine  grofse  am  Scheitel  liegende  Zelle, 
wie  bei  den  meisten  Furrnkräutern  (Fig.  4),  oder  auf  eine  aus  wenigen 
Zellen  bestehende  Gruppe  zurückführen  lasse,  sondern  dafs  die  scharf 

Himmel  und  Krdn.  18«9.  XI.  4.  || 


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162 


unterschiedenen  Gewebesysteme  der  fertigen  Wurzel  ihre  gesonderten 
Bildungsgewebe  am  Scheitel  besitzen.  Unter  den  Wachstumstypen, 
welche  unterschieden  worden  sind,  wähle  ich  denjenigen  der  Gräser 
und  mehrerer  verwandter  Gruppen  aus.  Fig.  3  stellt  einen  genau 
durch  die  Längsachse  geführten  Schnitt  der  Roggenwurzel  dar.  In 
mittlerer  Höhe  sieht  man  eine  etwas  dunklere  Linie  in  flachem  Bogen 
quer  durch  die  Figur  hindurchgehen.  Alles,  was  unterhalb  und  außer- 
halb dieser  Linie  liegt,  gehört  der  Wurzelhaube,  was  über  ihr  liegt, 
dem  Wurzelkörper  an.  Das  Fortbildungsgewebe  der  Haube  stellen 
die  kleinen  Zellen  dar,  welche  unmittelbar  an  den  mittleren  Teil  des 
Wurzelkörpers  nach  unten  hin  grenzen.  Durch  Querteilungen  scheiden 
sie  fortdauernd  neue  Zellen  nach  unten  hin  ab  und  bewirken  dadurch 
eine  Verlängerung  der  Haube;  durch  gelegentliche  Längsteilungen 
vermehren  sie  ihre  Zahl  in  Richtung  der  Breite  und  folgen  damit  dem 
Breitenwaohstum  des  jungen  Wurzelkörpers.  Infolge  dieser  Teilungen 
zeigt  sich  die  Haube  aus  Zellreihen  zusammengesetzt,  welche  von 
unten  nach  oben  sich  an  mehreren  Stellen  in  je  zwei  Zellreihen  spalten. 
Was  an  der  Aufsenfläche  der  Haube  durch  Verschleimung  und  Ab- 
lösung  der  ältesten  Zellen  verloren  geht,  wird  auf  solche  Weise  von 
innen  her  durch  die  Fortbildungsschicht  ersetzt.  Die  Fortbildung  der 
Wurzelhaube  erfolgt  also,  wie  man  sieht,  bei  der  Roggenpflanze  ganz 
selbständig. 

Für  den  eigentlichen  Wurzelkorpor  giebt  es  zwei  gesonderte 
Fortbildungszonen.  Die  unterste,  welche  sich  der  Fortbildungszone 
der  Haube  unmittelbar  anfügt,  besteht  am  Scheitel  aus  einer  einfachen 
Zellschicht.  In  unserer  Figur  ist  sie  durch  zwei  genau  in  der  Achse 
liegende  Zellen  bezeichnet.  Diese  Zellen  geben  durch  wiederholte 
Längsteilungen  neue  Zellen  nach  aufsen  hin  ab,  welche  in  ziemlich 
gesetzmäfsiger  Folge  durch  zur  Oberfläche  parallele  Teilungen,  die 
mit  zu  ihnen  senkrechten  abwechseln,  der  Oberhaut  (Ep.)  und  der 
Rinde  (R.)  einschliefst  ich  der  Endodermis  (S.-S.)  den  Ursprung  geben. 
Der  junge  Centraloylinder  (C.-C.)  welcher  sich  in  unserer  Figur  nach 
unten  kegelförmig  abrundet,  wird  durch  die  hier  befindlichen  kleinen 
Zellen  selbständig  fortgebildet. 

Eingangs  ist  gelegentlich  der  mechanischen  Aufgaben  gedacht 
worden,  welche  den  normalen  Wurzeln  im  Leben  der  Pflanze  zufallen. 
Dieselben  bestehen  darin,  dafs  sie  die  Pflanze  im  Boden  zu  befestigen 
und  ihren  oberirdischen  Teilen  dauernd  die  für  ihre  Entwickelung 
und    ihre  Lebensthätigkeit  günstigste   Stellung  zu  sichern  haben. 


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163 

Während  diese  oberirdischen  Teile,  um  die  meist  nioht  geringe  Last 
der  Belaubung  tragen  und  der  Gewalt  der  Stürme  trotzen  zu  können, 
biegungsfest  gebaut  sein  müssen,  ist  für  die  Wurzeln  Zugfestigkeit 
erstes  Erfordernis.  Diese  wird  am  vollkommensten  daduroh  erreicht, 
dafs  die  widerstandsfähigsten  Gewebe,  in  unserem  Falle  der  Holz- 
körper, in  den  axialen  Teil  verlegt  werden.  Dementsprechend  sahen 
wir  den  Holzstern  entweder  ganz  oder  bis  nahe  zur  Mitte  des  Quer- 
schnittes reichen  und  die  zarteren  Bastgewebe,  welche  des  Schutzes 
bedürfen,  sioh  zwischen  dessen  Strahlen  einfügen. 

In  vielen  Fällen  sind  die  Wurzeln  aber  nicht  nur  passiv,  sondern 
auoh  aktiv  mechanisch  thätig.  Seit  langer  Zeit  ist  bekannt,  dafs  die 
Endknospen  krautartiger  Pflanzen,  welche  die  ersten  Stufen  der 
Keimung  an  der  Oberfläche  des  Bodens  durchmachten,  später  mehr 
oder  weniger  tief  in  denselben  versenkt  sind.  Besonders  auffallend 
ist  diese  Erscheinung  bei  den  monokotylen  Zwiebel-  und  Knollen- 
gewächsen, wie  bei  den  Lilien,  Schwertlilien  und  Aroideen.  Bei 
manchen,  wie  bei  unseror  gefleckten  Zehrwurz  (Arum  maculatum), 
liegt  die  erwachsene,  in  jedem  Frühjahr  neu  austreibende  Knolle  in 
etwa  10  cm  Tiefe.  Für  jede  der  betreffenden  Arten  bleibt  die  in  er- 
wachsenem Zustande  erreichte  Tiefenlage  innerhalb  enger  Grenzen 
eine  konstante.  Dieser  Erfolg  kann  entweder,  wie  bei  der  Herbstzeit- 
lose {Colchicum  autumnale),  daduroh  erreicht  werden,  dafs  die  End- 
knospe der  Keimpflanze  nach  abwärts  wächst,  bis  sie  naoh  einer  Reihe 
von  Jahren  ihre  Gleichgewichtslage  in  entsprechender  Tiefe  gefunden 
hat;  oder  es  behält  die  Knospe  ihre  aufstrebende  Wachstumsriohtung 
bei,  wird  aber  durch  die  Verkürzung  von  Wurzeln,  welche  die  Verlänge- 
rung des  Sprosses  überwiegt,  in  die  Tiefe  gezogen.  Diese  letztere 
Erscheinung  ist  im  Gebiete  der  Blütenpflanzen  viel  verbreiteter,  als 
man  früher  glaubte.  Entweder  ist  es  die  Ilauptwurzel ,  welohe  sioh 
mehrere  Jahre  hindurch  dauernd  verkürzt,  wie  bei  dem  als  Unkraut 
verbreiteten  Löwenzahn  (Taraxacum  offlcinale),  oder  es  sind  Neben- 
wurzeln von  beschränkterer  Lebensdauer,  welohe  in  jeder  Vegetations- 
periode neu  erzeugt  werden  (Gladiolus,  Narcissus).  Entweder  sind  es 
alle  oder  nur  eine  oder  wenige  bestimmte,  durch  ihren  gröfseren 
Querdurchmesser  gekennzeichnete  Wurzeln,  welche  diese  nicht  uner- 
hebliche mechanische  Leistung  vollführen.  Meist  ist  die  Verkürzung 
auf  einen  basalen  Teil  von  gröfserer  oder  geringerer  Ausdehnung  be- 
schränkt, dessen  Rinde,  wenn  die  Verkürzung  erheblich  ist  —  sie  be- 
trägt im  Maximum  bis  70  pCt.  — ,  deutlioh  Falten  wirft  Nur  die 
inneren,  sehr  saftreichen  Gewebe  der  Rinde  sind  bei  der  Zusauimen- 


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164 


Ziehung  aktiv  thätig;  die  Aufsenrinde  und  der  Centralcylinder  mit 
seinem  Leitbündelgewebe  werden  passiv  in  der  Längsrichtung  zu- 
sammengedrückt. 

Auch  die  Knospen  oberirdischer  Ausläufer,  wie  derjenigen  der 
Erdbeeren  und  mehrerer  Brombeer-Arten.  werden  durch  Verkürzung 
ihrer  Wurzeln,  wenn  diese  im  Boden  erst  Fufs  gefafst  haben,  nach 
abwärts  gezogen.  Der  Vorteil,  welcher  ihnen  daraus  erwächst,  besteht 
wohl  zweifellos  darin,  dafö  der  Boden  ihnen  Schutz  gegen  raschen 
Wechsel  von  Temperatur  und  Feuchtigkeit  und  vielleicht  auch  gegen 
Nachstellungen  von  Feinden  bietet.8) 


Die  Darstellung,  welche  wir  von  Bau  und  Leben  der  Wurzeln 
zu  geben  versuchen,  würde  gar  zu  unvollständig  sein,  wenn  wir  nicht 
noch  der  weitgehenden  Umwandlungen  gedächten,  welche  die  Wurzeln 
in  Zusammenhang  mit  eigenartigen  Lebensverhältnissen  der  betreffenden 
Pflanzen  erfahren  können.  Der  normalen  Funktion  der  Wurzel  können 
hierbei  eine  oder  mehrere  neue,  ihr  fremdartige  hinzugefügt,  oder  sie 
kann  von  einer  anderen  vollständig  ersetzt  werden.  Es  zeigt  sich 
hierbei  in  höchst  anschaulicher  Weise,  wie  sehr  der  pflanzliche  Or- 
ganismus die  Fähigkeit  besitzt,  sich  veränderten  Lebensbedingungen 
anzupassen. 

Dafs  bei  Pflanzen,  welche  auf  fester  Unterlage  emporklimmen, 
wie  beim  Kpheu,  die  Fähigkeit  der  Wurzeln,  Nährstoffe  aufzunehmen, 
hinter  die  Aufgabe,  die  Sprosse  an  der  Unterlage  zu  befestigen,  zurück- 
tritt, wurde  schon  oben  gelegentlich  erwähnt.  Es  kann  aber  die  Fähig- 
keit der  Nahrungsaufnahme  vollständig  verloren  gehen,  so  dafs  die 
Wurzeln  nur  noch  Haftorgane  sind.  Sie  verhalten  sich  dann  physio- 
logisch den  Hankon  gleich,  zu  denen  sich  beim  Weinstock  gewisse 
Staramsprosse,  bei  der  Erbse  die  oberen  Teile  der  Blätter  umwandeln. 
Solche  zu  Ranken  motamorphosierte  Wurzeln  treffen  wir  in  besonders 
charakteristischer  Ausbildung  bei  zahlreichen  Epiphyten,  d.  h.  bei 
Pflanzen,  welche  auf  anderen  Pflanzen  leben,  ohne  als  Schmarotzer 
von  diesen  ernährt  zu  werden.  Zahlreiche  Beispiele  liefert  die  Familie 
der  Bromeliaceen,  in  der  es  aber  auch  Bodenbewohner  giebt,  wie  die 
Ananas.  Die  meisten  ihrer  Verwandten  nisten  in  den  Kronen  tropischer 
Bäume,  wo  sie  auf  dem  Geäst  keimen,  blühen  und  Früchte  tragen. 

»I  Näheres  bei  A.  Himbach,  die  contractilen  Wurzeln  und  ihre  Thätig» 
keit  (Heitr.  z.  wissenseh.  Botanik,  herausgegeben  von  Fünfstiick.  II.,  I  ,  ( 1897), 
S.  I  ff.  Für  die  Knospen  der  Ausläufer  vergl.  auch  Kerner  von  Marilaun, 
Pflanzenloben,  2.  Aufl.,  I.  (189fi),  8.  TM)  ff. 


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Ihre  Wurzeln,  welche  nach  Art  von  Ranken  für  Berührung  reizbar 
sind,  schmiegen  sioh  dem  tragenden  Ast  so  eng  an,  dafs  eine  Ab- 
trennung ohne  Verletzung  meist  nicht  möglich  ist.  Das  für  die  Ent- 
wickelung  notwendige  Wasser  und  die  in  ihm  gelösten  Nährstoffe 
nehmen  diese  Pflanzen  am  Grunde  ihrer  Blätter  auf,  welohe  eng-  zu 
einem  Trichter  zusammensohliefsen.  In  ihm  werden  Regenwasser  nebst 
vielen  organisohen  Resten,  insbesondere  Leichen  kleiner  Tiere  auf- 
gesammelt» 

Abweiohend  hiervon  ist  die  Lebensweise  der  Clusia  rosea, 
welohe  sich  ebenfalls  in  den  Kronen  tropischer  Bäume  ansiedelt  Sie 
besitzt  zweierlei  Wurzeln,  solche,  welche,  denen  der  epiphy tischen 
Bromeliaceen  ähnlich,  die  überpflanze  auf  ihrem  Tragaste  befestigen 
und  diesen  fest  umklammern,  und  andere  von  gröfserem  Durchmesser, 
welche,  meist  ohne  Verzweigung,  rasch  nach  abwärts  wachsen  und  in 
verhältnismäfsig  kurzer  Zeit  den  Boden  erreichen.  Diese  wie  Taue 
aus  den  Baumwipfeln  herabhängenden  Nährwurzeln,  welohe  sioh  in 
der  Erde  reioh  verzweigen,  versorgen  die  Pflanze  mit  Wasser  und 
Nährstoffen.  Die  beiderlei  leitenden  Gewebestränge,  Holz  und  Bast, 
sind  deshalb  ausgiebig  in  ihnen  entwickelt,  während  in  den  der  Be- 
festigung dienenden  Wurzeln,  ganz  ebenso  wie  bei  denen  der 
epiphy  tischen  Bromeliaceen,  die  mechanischen  Gewebe  das  Über- 
gewicht haben.10) 

Dafs  die  Wurzeln  gewisser  Pflanzen,  nachdem  sie  vorher  Nähr- 
stoffe aus  dem  Boden  aufgenommen  haben,  Baustoffe  für  Neubildungen 
nebst  Wasser  in  gröfserer  Menge  in  ihren  Geweben  speiohern,  um 
dieselben  im  nächsten  Frühjahr  für  das  Austreiben  junger  Sprosse  zur 
Verfügung  zu  haben,  ist  allbekannt.  Solche  Wurzeln  nennt  man,  je 
nachdem  ihr  oberer  oder  ein  mittlerer  Teil  am  stärksten  verdickt 
ist,  Hüben  oder  Knollen.  Die  Zuckerrübe  z.  B.  verwendet  den 
Rohrzucker,  welchen  ihre  Gewebe  in  reichem  Mafse  enthalten,  im 
nächsten  Jahre  zur  Ausbildung  des  Blüten-  und  Fruchtstandes.  Nur 
ausnahmsweise  kommt  letzterer  schon  im  ersten  Jahre  zur  Ent- 
wickelung. 

Während  bei  der  Zuckerrübe,  der  Möhre,  der  Georgine  (Dahlia 
variabilis)  die  Funktionen  der  Nährstoffaufnahme  und  der  Speicherung 
plastischen  Materials  in  derselben  Wurzel  vereinigt  sind,  verteilen  sich  bei 
anderen  Pflanzen,  wie  bei  vielen  Erd-Orchideen  und  bei  dem  Sohar- 

9)  Näheres  bei  C.  K.  W.  Schimper,  die  epiphytiscbc  Vegetation  Amerika* 
(Botanische  Mitteilungen  aus  den  Tropen),  2.  (1888),  S.  66  ff. 
,0)  Näheree  bei  C.  K.  W.  So  Ii  im  per.  I.  c,  S.  56  ff. 


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bock  (Ficaria  ranunouloidos)  beide  Funktionen  mehr  oder  weniger 
vollständig  auf  zweierlei  Wurzeln.  Bei  der  letztgenannten,  als  weit- 
verbreitetes Unkraut  bekannten  Pflanze  entwickeln  sich  mit  einer 
Wurzelknolle  versehene  Knospen  auch  oberirdisch  in  den  Achseln  der 
unteren  Laubblätter.  Nach  dem  Abwelken  der  Pflanze  gelangen  sie 
in  den  Boden  und  tragen  zur  reiohlichen  Vermehrung  des  Un- 
krautes bei. 

Viel  seltener  ist  die  Umwandlung  von  Wurzeln  in  Sohutz- 
organe  für  ihren  Pflanzenstock.  Sie  spitzen  sich  dann  nach  kurzem 
Längenwachstum  am  Ende  zu  und  erhalten  durch  Verdickung  und  Ver- 
holzung ihrer  Zellmembranen  eine  sehr  feste  Konsistenz.  Wir  können 
sie  mit  demselben  Rechte  als  Dornen  bezeichnen  wie  die  zu  stechen- 
den Gebilden  umgewandelten  Sprorsspitzen  des  Weifsdornes  (Crataegus 
Oxyacantha)  und  der  Christusakazie  (Gleditschia  triacanthos),  die  drei- 
zackigen Blätter  der  Berberitze  (Berberis  vulgaris)  und  die  zu  zweien 
am  Blattgrunde  angefügten  Nebenblätter  der  falschen  Akazie  (Kobinia 
Pseudacacia).  Besonders  schön  sind  solche  verdornte  Wurzeln  bei  einigen 
Palmen,  wie  bei  der  im  tropischen  Amerika  heimischen,  in  unseren 
Gewächshäusern  kultivierten  Acanthorrhiza  aculeata  entwickelt  Ober- 
halb der  normalen,  in  den  Boden  eindringenden  Wurzeln  befindet  sich 
ein  mehrfacher  Kranz  anderer,  welche  sich  im  Bogen  aufwärts  wenden 
und  samt  ihren  Auszweigungen  mit  stilettförmiger  Spitze  dem  Be- 
schauer entgegenstarren. 

Eine  Umwandlung  von  Wurzeln  in  Schwimmblasen  findet  man 
bei  einer  Anzahl  sumpfbewohnender  Jussiaea-Arten.  Jussiaea  repens, 
eine  in  allen  wärmeren  Ländern  der  Erde  verbreitete  Pflanze,  ent- 
sendet aus  dem  am  Hoden  hinkriechenden  krautigen  Stengel  zweierlei 
Wurzeln,  erstens  Nährwurzeln,  welche  in  den  Schlamm  eindringen  und 
sich  reichlich  verzweigen,  und  zweitens  Schwimmwurzeln  von  meist 
2  cm  Länge,  welche  an  den  Blattknoten  zu  mehreren  entspringen  und 
sich  gegen  die  Oberfläche  des  Wassers  wenden.  Ihr  Gewebe  ist  sehr 
lufthaltig  und  vermag  deshalb  die  Pflanze  flottierend  zu  erhalten. 

Wurzelauszweigungen,  welche  als  Durchlüftungsorgane 
funktionieren,  findet  man  in  charakteristischer  Ausbildung  bei  einer 
Anzahl  der  die  sumpfigen  Meeresküsten  der  Tropen  bewohnen- 
den Mangrovepflanzen.  Avicennia  officinalis,  A.  tomentosa,  Sonne- 
ratia  acida  u.  a.  m.  erzeugen  sehr  lange,  kabelartige  Wurzeln, 
welche  in  geringer  Tieft-  im  Schlamme  fortwachsen  und  zahlreiche 
spargelartige,  in  die  Luft  ragende  Auszweigungen  nach  aufwärts  ent- 
senden.  Ihr  äufseres  Gewebe  ist  reichlich  von  Lufträumen  durchsetzt, 


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welche  mit  der  Atmosphäre  kommunizieren.  Hierdurch  wird  eine  ge- 
nügende Versorgung  der  vom  Schlamm  bedeckten  Pflanzenteile  mit 
freiem  Sauerstoff  ermöglicht.  Demselben  Zwecke  dienen  die  durch 
scharfe  knieartige  Biegung  veranlagten  Hervorragungen  der  Wurzeln 
der  Bruguiera-Arten  sowie  der  Lumnitzera  cocoinea  und  die  über  den 
Schlamm  sich  mit  fast  messerartig  scharfer  Kanto  erhobenden  flachen 
Wurzeln  von  Carapa  obovata. »')  Auch  die  bekannten  Hervorragungen 
an  den  Wurzeln  der  in  unseren  Parks  nicht  selten  angepflanzten  nord- 
amerikanischen Sumpfoypresso  (Taxodium  distichum)  haben  dieselbe 
Funktion. 

Höchst  auffällig  ist  das  Verhalten  mehrerer  in  den  Tropen  epi- 
phytisch  auf  Bäumen  wachsenden  Orchideen,  wie  das  von  Angraecura 
globulosum 12)  und  Taeniophyllum  Zollingori. ,3)  Der  Stamm  ist  hier 
zum  Blütenstiele,  die  Blätter  sind  zu  kleinen,  trockenen  Schüppchen 
reduziert.  Für  beide  treten  die  Wurzeln  als  Träger  des  Chlorophylls 
ein.  Sie  sind  verhältnismäßig  massig  entwickelt,  deutlich  grün  ge- 
färbt, bei  Taeniophyllum  Zollingeri  an  der  dem  Lichte  zugekehrten 
Seite  abgeflacht  An  Stelle  der  fehlenden  Laubblätter  versorgen  sie 
die  Pflanze  mit  plastischem  Baumaterial. 

Im  wesentlichen  dieselbe  Erscheinung  finden  wir  bei  einer  in 
Tracht  und  Lebensweise  von  den  Orchideen  weit  abweichenden  Familie, 
den  Podostemaceen  wieder.  Diese  leben  in  den  Tropen  am  Grunde 
rasch  strömender  Gewässer  auf  Felsen  oder  Holz  und  schmiegen  sich 
ihrer  Unterlage  eng  an.  Auf  den  ersten  Blick  scheinen  sie  mehr 
Wassermoosen  als  Blutenpflanzen  zu  gleichen.  Von  dem  extremsten 
Falle,  wo  die  flachen  Wurzeln  fast  die  alleinigen  Träger  des  Chloro- 
phyllfarbstoffes sind,  giebt  es  alle  Übergänge  zu  den  Formen  mit 
grünen  beblätterten  Sprossen.14) 

Die  mannigfachsten  und  durchgreifendsten  Umgestaltungen  erfährt 
die  Wurzel  bei  den  Schmarotzergewächsen,  welche  ihre  Nahrung 
ganz  oder  zum  Teil  anderen  Organismen  entnehmen  müssen.  Auch 
hier  giebt  es  alle  nur  denkbaren  Abstufungen.  Bei  zwei  natürlichen 
Gruppen,  den  Santalaceen,  zu  denen  der  ostindische  Sandelbaum  ge- 

n)  Näheros  bei  A.  F.  W.  Schimpor,  Die  indomalayisehe  Strandflora  (bo- 
tanische Mittheilungen  aus  de»  Tropen,  3.  (18:H),  S.  M  ff.).  Hier  sind  auch 
frühere  Untersuchungen  erwähnt. 

J1)  Pfitzor,  Qrundzügo  einer  vergleichenden  Morphologie  der  Orchideen 
(1882),  S.  '20. 

•3)  üöbel,  PUanzenbiologische  Schilderungen,  I.  (1S89|,  S.  103. 
u)  Vergl.  Warnung  in  Englor-Prantl's  Natürlichen  Pflanzenfainilion 
III..  2a.  <l«M>.  S.  1  ff. 


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hört,  und  den  Scrophulariaceen,  welohe  durch  zahlreiche  Wald-  und 
Wiesenbewohner  in  unserer  deutschen  Flora  vertreten  sind,  zeigt  die 
parasitische  Lebensweise  ihre  schwächste  Ausbildung.  Die  zu  ihnen 
gehörigen  Pflanzen  besitzen  normale  Wurzeln,  mit  denen  sie  den 
gröfsten  Teil  ihrer  Bedürfnisse  aus  dem  Boden  decken.  Aus  ihnen 
entspringen  seitlich  unscheinbare  Saugfortsätze,  welche  in  benachbarte 
Wurzeln  anderer  Pflanzen  hineinwachsen.  Ohne  diesen  Zuwachs  an 
Nährstoffen  scheinen  sie  es  über  die  ersten  Keimungsstadien  nioht 
hinausbringen  zu  können. 

Die  allbekannte  Mistel  (Viscura  album),  welche  auf  zahlreichen 
Laub-  und  Nadelhölzern  jene  fremdartigen,  rundlichen  Büsche  mit  den 
weifsen  Beeren  bildet,  ist  dem  Boden  entrückt  und  deshalb  ganz  auf 
den  von  ihr  befallenen  Baum  angewiesen;  doch  bildet  sie  in  dessen 
Gewebe  wenigstens  noch  deutlich  erkennbare  Wurzeln,  welche  im 
Innern  der  befallenen  Zweige  zwischen  Holz  und  Rinde  hinwaohsen 
und  eine  Wurzelhaube  tragen.  Von  ihnen  entspringen  besondere  Auf- 
nahraeorgane (Senker),  welche  in  den  Holzkörper  eindringen.  Die 
grüne  Farbe  der  Mistel  zeigt,  dafs  sie  in  der  Hauptsache  Lösungen 
roher  Nährstoffe  aus  der  Wirtspflanze  schöpft  und  dieselben  selbst- 
thäüg  zu  organischen  Verbindungen  verarbeitet. 

Der  bei  unseren  Landwirten  übel  boleumundeten  Flaohsseide 
(Cuscuta  Epilinum)  geht  diese  Fähigkeit  ab.  Sie  windet  ihre  zarten, 
drahtartigen  Stengel,  welohe  sehr  bald  durch  Absterben  des  unteren 
Teiles  die  Verbindung  mit  dem  Boden  verlieren,  an  der  Flacbspflanze 
empor.  Die  Stelle  der  Wurzeln  nehmen  hier  Saugfortsätze  ein,  welohe 
durch  den  Reiz  der  Berührung  an  der  der  Nährpflanze  zugekehrten 
Seite  erzeugt  werden.  Sie  dringen  in  diese  ein  und  lösen  ihre  Zell- 
reihen am  Ende  in  ein  pinselartig  ausstrahlendes  Aufnahmegewebe 
auf.  Dieser  Schmarotzer  ist  von  seiner  Nährpflanze  viel  abhängiger 
als  die  Mistel;  er  entnimmt  ihr  vorwiegend  plastische  Baustoffe.  Deshalb 
zeigt  er  in  allen  Teilen  eine  bleiche  Färbung,  und  die  Blätter,  welche 
bei  normalen  Pflanzen  ja  die  wichtigsten  Träger  des  grünen  Farb- 
stoffes sind,  haben  bei  der  Flaohsseide  die  Form  sehr  kleiner,  un- 
scheinbarer Schüppchen  angenommen. 

Eine  überaus  grofse  Mannigfaltigkeit  und  zum  Teil  nooh  weiter- 
gehendeRüokbildung  zeigen  dieAufnahmeorgane  der  meist  in  den  Tropen 
vertretenen  Familien  der  Balanophoreen,  Cytineen,  Rafflesiaoeen.  Dooh 
müssen  wir  uns  mit  Rücksicht  auf  den  uns  zur  Verfügung  stehenden 
Raum  versagen,  auf  diese  höchst  interessanten  Verhältnisse  näher 
einzugehen.    Nur  die  bei  uub  einheimische  Gruppe  der  Orobanchen» 


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zu  welcher  unter  anderen  der  Hanftod  (Orobanohe  ramosa)  gehört, 
mag  als  extremstes  Beispiel  noch  Erwähnung  finden.  Hier  ist  die 
Verschmelzung  des  Schmarotzers  mit  der  Nährpflanze  eine  so  innige, 
dafs  alle  korrespondierenden  Gewebesysteme  beider  unmittelbar  in 
einander  übergehen.  Es  ist  hier  nichts  vorhanden,  was  im  geringsten 
an  ein  differenziertes  Aufnahmeorgan  erinnerte.  Das  anatomische  und 
physiologisohe  Verhältnis  des  bleichen  Schmarotzers  zu  seiner  Nähr- 
pflanze ist  dasselbe,  wie  das  des  Blütenstandes  einer  beliebigen  Pflanze 
zu  dem  ihn  tragenden  Laubsprosse. 

Auch  bei  nicht  parasitisch  lebenden,  grünen  Pflanzen  kommt  es 
vor,  dafs  die  Wurzel  ganz  verloren  geht;  hier  mufs  sie  dann  aber 
von  anderen  Teilen  des  Pflanzenkörpers  vertreten  werden.  Es  ist  dies 
das  Gegenstück  zu  jenen  oben  erwähnten  Fällen  (einige  Orohideen 
und  Podostemaceen),  wo  die  Wurzel  für  die  fehlenden  Ijaubblätter 
Ersatz  leistet. 

Die  meisten  Pflanzen,  welche  ganz  unterhalb  des  Wasserspiegels 
leben,  scheinen  die  Fähigkeit  zu  besitzen,  durch  alle  jüngeren  Teile 
Wasser  und  Nährstoffe  aufzunehmen.  Die  Wurzel  wird  hierdurch  zum 
Teil  oder  ganz  entbehrlich.  So  sehen  wir  denn  bei  einzelnen  Arten 
submerser  Wasserpflanzen,  wie  bei  der  bekannten  Wasserpest  (Elodea 
canadensis),  Wurzeln  aus  dem  Stamm  in  so  geringer  Zahl  und  Aus- 
dehnung hervortreten,  dafs  sie  zu  den  übrigen  Teilen  in  keinem  rechten 
Verhältnisse  stehen.  Bei  anderen  schwinden  sie  vollständig.  Bei 
den  in  unserer  Flora  heimischen  Arten  des  Igellocks  (Ceratophyllum) 
kann  man  Exemplare  mit  mehr  als  fufslangem  Stengel  aus  dem  Schlamme 
ziehen,  ohne  eine  Andeutung  von  Wurzelbildung  zu  entdecken.  Und 
doch  war  im  Keimling  des  Samens  eine  Hauptwurzel  angelegt.  Wurzel- 
los ist  ferner  unter  anderen  Wasserpflanzen  die  kleinste  aller  deutschen 
Blutenpflanzen,  eine  Wasserlinse  (Wolffia  arrhiza),  welche  in  Form 
grüner  Körnchen  von  der  Gröfse  eines  kleinen  Samens  mitunter  weite 
Strecken  stehender  Gewässer  bpdeckt  Überraschenderweise  giebt 
es  aber  auch  unter  den  nicht  schmarotzenden  Land  pflanzen  wurzellose 
Arten.  So  werden  bei  zwei  deutschen,  den  Humus  von  Wäldern 
bewohnenden  Orchideen  (Corallorrhiza  innata  und  Epipogium  Gmelini) 
die  fehlenden  Wurzeln  durch  unterirdische,  mit  Wurzelhaaren  bedeckte 
Sprosse  ersetzt.  Ganz  eigenartig  verhält  sich  die  Tillandsia  usneoides, 
eine  im  tropischen  und  subtropischen  Amerika  weit  verbreitete,  kleine 
Bromeliacee.  Die  langen,  dünnen,  mit  unscheinbaren  Blattrosetten 
besetzten  Stengel  hängen  wie  Bartflechten  von  den  Baumkronen  herab, 
ohne  festgewachsen  zu  sein.    Der  Wind  reifst  sie  ab  und  trägt  sie 


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oft  auf  weite  Strecken  fort,  bis  sie  sich  wieder  um  einen  auf  ihrem 
Wege  befindlichen  Ast  wickeln  oder  an  einer  anderen  beliebigen 
Unterlage  hängen  bleiben.  Die  Versorgung  mit  Wasser  und  Nähr- 
stoffen erfolgt  an  den  Blättern  durch  sehr  eigenartig  und  zweckmäßig 
gebaute  Drüsenhaare. 

Aus  dem  vorstehenden  ergiebt  sich,  wie  geschmeidig  der  Bau- 
plan der  Pflanzen  ist,  wenn  es  gilt,  den  Organismus  unter  veränderten 
Lebensbedingungen  entwickelungs-  und  fortpfianzuntrsfähig  zu  erhalten. 
Der  Aufbau  der  Blüten  pflanzen  aus  Wurzel,  Stamm  und  Blatt  und  die 
Verteilung  der  Functionen,  wie  wir  dieselben  bei  der  Mehrzahl  der 
Landpfianzen  finden,  sind  Kein  starres  Schema,  welches  unabänderliche 
Geltung  hat  Für  den  Fortbestand  einer  Art  ist  es  vor  allem  von 
Wichtigkeit,  dafs  die  ihr  obliegenden  I^ebensaufgaben  in  vollständiger 
und  zweckmäßiger  Weise  ausgeführt  werden.  Ob  die  Organe  diejenigen 
Functionen,  welche  uns  nach  Vergleichung  verwandter  Formen  als  die 
naturgemäßen  gölten,  festhält,  oder  ob  ein  anderes  Organ  für  sie  ein- 
tritt, ist  dabei  von  mehr  nebensächlicher  Bedeutung. 


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Die  Spektralanalyse. 

Von  Dr.  P.  Koerber  iu  Steglitz. 
(Sehl  ufs.) 

Die  Fixsterne  und  Nebelflecke. 

ür  die  direkte  Beobachtung  mittelst  des  Spektroskops  sind  unter 
den  Fixsternen  nur  die  helleren  Größenklassen  zugänglich,  da 
ja  das  Licht  eines  Sternpünktchens14»  durch  die  Auseinander- 
zerrung zu  einem  Spektrum  notwendig  bedeutend  abgeschwächt  werden 
mufs,  sodafs  bei  schwächeren,  teleskopischen  Sternen  die  Intensität 
des  Spektrums  unter  die  Schwelle  der  Wahrnehmbarkeit  herabsinkt 
Dazu  kommt  noch  der  weitere  Umstand,  dafs  wir  das  an  sich  punkt- 
förmige Sternbildchen  mit  Hilfe  einer  Cylinderlinse  zu  einer  Linie 
verzerren  müssen,  um  dem  Spektrum  eine  gewisse  Breite  zu  verleihen. 
Unser  Auge  würde  nämlich  in  einem  linearen  Spektrum,  wie  es  ohne 
Cylinderlinse  durch  die  blofse  Prismenwirkung  aus  dem  punktförmigen 
Sterne  entstehen  müfste,  die  feinen  Unterbrechungen  der  kontinuier- 
lichen Farben  folge  nicht  wahrzunehmen  vermögen  ;  sobald  das  Spek- 
tralband aber  eine  gewisso  Breite  besitzt,  treten  die  Unterbrechungen 
als  dunkle  Linien  deutlich  hervor.  Selbstverständlich  bedingt  aber 
diese  Verbreiterung  eine  nochmalige  Verringerung  der  Helligkeit,  so- 
dafs auch  bei  Anwendung  mächtiger  Fernrohre  die  visuelle  Beob- 
achtung der  Fixsternspektra  auf  die  helleren  Objekte  beschränkt  bleibt. 
Allerdings  kann  man  unter  Verzichtleistung  auf  feinere  Details  bei 
Anwendung  sehr  schwach  zerstreuender  Spektroskope  einen  Schritt 
weiter  gehen.  Für  die  Betrachtung  schwächerer  Sterne,  wie  etwa 
des  Veränderlichen  Mira  Ceti,  eignen  sich  daher  am  besten  kleine, 


'*)  Bekanntlich  erscheinen  die  Fixsterne  ihrer  unerraefslichen  Entfernung 
wegen  auch  im  gröfeten  Fernrohr  nur  wie  hellleuchtende  Punkte,  während  die 
Planeten  zu  deutlichen  Scheiben  versfrüteert  werden. 


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172 


173 

geradsichtige15)  Okularspektroskope.  die  nach  Einstellung  des  be- 
treffenden Sterns  einfach  vor  das  Fernrohrokular  aufgeschraubt  werden. 

Handelt  es  sich  aber  um  die  genauere  Erforschung  der  Spektra 
schwächerer  Sterne,  so  ist  die  photographische  Fixierung  derselben 
der  direkten  Betrachtung  weit  überlegen  Denn  auch  ein  dem  Auge 
nicht  mehr  deutlich  wahrnehmbares  Spektrum  kann  bei  hinlänglich 
langer  Expositionszeit  photographisch  noch  wirken,  zumal  die  Cylinder- 
lin8e  jetzt  entbehrt  werden  kann,  indem  die  Verbreiterung  des  photo- 
graphierten  Spektrums  durch  eine  allmähliche  Verstellung  des  Fern- 
rohrs ebensogut  erreicht  wird.  Aufserdem  kann,  und  das  trifft  auch 
bei  helleren  Sternen  zu,  in  vielen  Fällen  die  Unruhe  unserer  Luft  ein 
solches  Flimmern  im  Spektrum  erzeugen,  dafs  das  menschliche  Auge 
zu  einer  sicheren  Auffassung  feinerer  Linien  nicht  leicht  gelangt. 
Die  photographische  Platte  fixiert  dagegen  nur  die  Summe  des  während 
einer  längeren  Zeit  gewirkt  habenden  Lichtes.  Vorübergehende 
Schwankungen  des  Spoktrums  können  daher  wohl  eine  gewisse  Ver- 
waschenheit in  dotn  Aussehen  der  Fraunhofer  sehen  Linien  ver- 
schulden, werden  aber  die  Linien  selbst  nicht  verschwinden  lassen, 
denn  an  dem  Orte  einer  dunklen  Linie  mufs  trotz  aller  Unruhe  des 
Bildes  während  eines  längeren  Zeitraums  doch  immer  die  geringste 
Lichtsumme  zur  Wirkung  gelangt  sein. 

Die  bedeutungsvollsten  Ergebnisse  in  Bezug  auf  die  Fixstern- 
spektra verdanken  wir  daher  den  sogenannten  Spektrographen,  d.  h. 
Spektralapparaten,  die  speziell  für  photographische  Aufnahmen  ein- 
gerichtet sind.  Um  auf  einer  Platte  zugleich  die  Spektra  mehrerer 
Sterne  aufnehmen  und  auf  diese  Weise  interessante  Objekte  aus  dem 
grofsen  Heere  der  Fixsterne  herausfinden  zu  können,  hat  Pickering 

,s)  Der  Umstand,  dafs  man  bei  den  gewöhnlichen  Spektroskopen  wegen 
der  Ablenkung  der  Lichtstrahlen  im  Prisma  in  einer  ganz  anderen  Richtung 
in  das  Instrument  blicken  innfs,  als  dem  wirklichen  Ort  des  Objekts  entspricht 
(vgl.  die  Abbildung  des  Lirkspektroskops  Fig.  17),  erweist  gich  natürlich  bei  der 
Beobachtung  vielfach  als  störend,  namentlich,  wenn  es  gilt  ohne  Abschrauben  des 
Spektroskops  von  einem  Objekt  auf  ein  anderes  überzugehen.  Amici  hat  dalier 
eine  Konstruktion  erdacht,  bei  welcher  vermittelst  mehrerer  entgegengesetzt 
brechender  Prismen  ans  verschiedenen  Oiassorten  erreicht  wird,  dafs  für  die 
mittleren  Strahlen  des  Spektrums  die  Ablenkung  gerade  aufgehoben  wird, 
ohne  dafs  dies  gleichzeitig  für  die  Zerstreuung  des  Lichtes  der  Fall  ist.  Die 
Möglichkeit  dieser  Anordnung  eines  „geradsichligen-  Prismcnsystoms  ist  da- 
durch gegeben,  dafs  verschiedene  Oiassorten  in  sehr  verschiedenem  Orado  das 
Licht  zerstreuen,  sodafs  z.  B.  ein  Crownjrlasprisma.  das  die  durch  ein  Flint- 
glasprisma  hervorgebrachte  Ablenkung  bei  entgegengesetzter  Stellung  gerade 
aufhebt,  die  Dispersion  des  ersteren  aber  noch  nicht  gänzlich  zu  kompen- 
sieren vermag. 


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statt  an  der  Stelle  des  Okulare  bereits  vor  dem  Objektiv  seines  Fern- 
rohrs ein  grofses  Prisma  montiert.  Die  sämtlichen,  im  Gesichtsfeld 
des  Fernrohrs  befindlichen  Sterne  werden  alsdann  in  ihrer  natürlichen 
Konstellation  als  kurze  Spektra  abgebildet16);  der  Haupt- Übelstand 
dieser  schönen  Methode  besteht  in  dem  hohen  Preise  eines  guten 
Prismas  von  so  erhebliohen  Dimensionen  und  in  der  Kleinheit  der  bei 
ihr  anwendbaren  Dispersion. 

Das  Aussehen  der  Fixsternspektra  selbst  zeigt  nun  zwar  eine 
recht  erhebliche  Mannigfaltigkeit,  aber  gleichwohl  wurde  schon  den 
ersten  Astronomen,  die  sich  mit  einem  Vergleich  derselben  beschäftigten, 
klar,  dafs  sich  die  individuellen  Verschiedenheiten  der  Sternspektra 
derart  innerhalb  gewisser  Grenzen  halten,  dafs  eine  Klassifizierung  mit 
Hilfe  weniger  Typen  möglich  orschien.  Der  erste,  der  durch  eine  solche 
Einteilung  die  Übersicht  erleichterte,  war  Secchi  (Fig.  18);  später 
gaben  Vogel,  Lockyer,  Pickering  und  Miss  Maury  andere  Ein- 
teilungen an. 

Wir  wollen  uns  hier  damit  begnügen,  die  von  H.  C.  Vogel 
eingeführte  Klassifikation  kurz  zu  besprechen,  da  dieselbe  nicht  nur 
einem  praktischen  Zwecke  dient,  sondern  uns  zugleich  ein  Bild  von 
dem  natürlichen  Entwickelungsprozefs  der  Gestirne  darbietet,  also  ge- 
wissermafsen  als  natürliches  System  allen  künstlichen  Anordnungen 
ebenso  gegenübersteht,  wie  das  natürliche  Pflanzen  System  mit  seinen 
wenigen  Hauptgruppen  von  Gewächsen  dem  24  klassigen  Li n  nöschen 
System,  dessen  mechanischer  Schematismus  gewifs  noch  bei  vielen 
unserer  Leser  von  der  Schulbank  her  in  traurigem  Andenken  steht 

Vogel  begnügt  sich  mit  einer  Gliederung  in  drei  Klassen,  welche 
drei  charakteristische  Entwicklungsphasen  der  selbstleucbtenden  Ge- 
stirne kennzeichnen,  und  die  daher  in  mannigfacher  Weise  durch 
Übergangsformen  unter  einander  verbunden  werden.  —  Die  erste 
Klasse  wird  von  den  weifsen  Sternen  gebildet,  in  deren  Spektrum 
auoh  die  brechbareren  Farben  intensiv  auftreten,  während  die  metalli- 
schen Absorptionslinien  entweder  ganz  fehlen  oder  doch  nur  sehr 
zart  vorhanden  sind.  Die  Hauptrepräsentanten  dieser  Klasse  (z.  B. 
Vega  und  Sirius)  zeigen  sich  von  ausgedehnten,  durch  breite  dunkle 
Linien  (C,  F  und  H?)  charakterisierten  Wasserstoffatmosphären  um- 
geben, die  bei  einigen  wenigen  ebenfalls  hierher  gehörigen  Sternen 
(ß  Lyrae  und  i  Cassiopejae)  so  ausgedehnt  sind,  dafs  das  Licht  des 
eigentlichen  Sterns  gegen  das  seiner  Atmosphäre  zurücktritt,  sodafs 

")  Wir  haben  die  Reproduktion  einer  derartigen  Sternspektralaufhahme 
im  «siebenten  Bande  dieaer  Zeitschrift  S.  184  gebracht 


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die  Wassers  toll-  und  Helium- Linien  als  helle  Emissionalinien  und 
nicht  als   dunkle  Absorptionslinien   hervortreten.     Eine  besondere 


Unterart  dieser  ersten  Spektralklasse  wird  von  den  sogenannten  Orion- 
eternen  gebildet,  in  denen  von  den  Wasserstofflinien  überhaupt  nichts 


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zu  bemerken  ist,  während  die  Heliumlinien  in  stattlicher  Anzahl  vor- 
handen sind.  Derartige  Sterne  sind  übrigens  von  Vogel  und 
Schein  er  bei  ihrer  spektrographischen  Durchmusterung  des  Himmels 
auch  aufserhalb  des  Orion  in  den  verschiedensten  Gegenden  des 
Himmels  aufgefunden  worden. 

Die  zweite  Klasse  der  Sternspektra  kann  kurz  als  die  der  zahl- 
reichen Sonnensterne  charakterisiert  werden.  Die  hierher  gehörigen 
Spektra  (z.  B.  das  von  Cape  IIa,  Pol  lux.  Arktur)  sind  dem  Sonnen- 
.  Spektrum  sämtlich  mehr  oder  minder  ähnlich,  da  die  Metalllinien  in 
grofser  Zahl  und  Intensität  auftreten,  während  die  Wasserstoff linien 
weniger  verbreitert  erscheinen  und  sich  daher  im  Aussehen  kaum  noch 
von  den  Metalllinien  unterscheiden.  Die  brechbareren  Teile  des  Spek- 
trums leuchten  bei  diesen  Sternen  mit  etwas  geringerer  Intensität  als 
bei  den  Sternen  der  ersten  Klasse,  was  eine  mehr  ins  gelbliche 
gehende  Färbung  des  Gesamtlichtes  bewirkt  und  auf  eine  etwas 
niedrigere  Temperatur  zu  schliefsen  berechtigt.  Übrigens  kommen 
auch  in  dieser  Klasse  noch  einzelne  Sterne  vor,  bei  denen  aufser  den 
dunklen  Linien  und  Bändern  auch  mehrere  helle  Linien  auftreten, 
die  auch  hier  auf  sehr  ausgedehnte  Gashüllen  deuten.  Besondere 
interessant  werden  diese  Spektra  mit  dunklen  und  hellen  Linien  durch 
den  Umstand,  dafs  die  Spektra  der  neuen  Sterne  stets  denselben 
Typus  zeigten,  wie  wir  aus  der  Abbildung  des  Spektrums  der  Nova 
Aurigae  (Fig.  19)  erkennen,  die  im  Jahre  1892  durch  ihr  plötzliches 
Aufleuchten  grofses,  vielen  Lesern  gewife  noch  erinnerliches  Aufsehen 
erregt  hat.  Die  überraschenden  Lichtentwicklungen  der  sogenannten 
..neuen",  in  Wirklichkeit  aber  jedenfalls  sehr  alten  und  darum  nicht 
mehr  leuchtenden  Sterne  müssen  demnach  sicherlich  mit  gewaltigen 
Gasausbrüchen  in  Zusammenhang  stehen,  die  wohl  als  Begleiterschei- 
nung einer  Durchbrechung  der  noch  dünnen  Erstarrungsrinde  durch 
die  glühend  flüssigen  Massen  des  Inneren  aufgefafst  werden  können. 

Die  in  der  regulären  Entwicklung  am  weitesten  fortgeschrittenen 
Fixsterne  bilden  den  dritten  Vogelschen  Spektraltypus.  Dem  blofsen 
Auge  schon  fallen  die  hierher  gehörigen  Sterne  (z.  B.  a  Orionis, 
a  Herculis)  durch  eine  entschieden  rötliche  Färbung  auf,  und  dem- 
entsprechend zeigt  auch  ihr  Spektrum  eine  starke,  allgemeine  Absorp- 
tion in  der  brechbareren  Hälfte.  Das  bedeutsamste  Kennzeichen  dieser 
Spektra  besteht  aber  in  dem  Auftreten  breiter,  einseitig  verwaschener, 
dunkler  Absorptionsbänder,  wie  solche  für  chemisch  zusammengesetzte 
Gase  charakteristisch  sind.  Die  Temperatur  mufs  also  in  den  Atmo- 
sphären dieser  Gestirne  bereits  so  weit  gesunken  sein,  dafs  die  Ab- 


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sorptiou  wesentlich  gesteigert  erscheint  und  dafs  sich  chemische  Ver- 
bindungen bilden  konnten,  was  ja  bei  unserer  Sonne,  wie  früher 
erwähnt,  der  großen  Hitze  wegen  nioht 
möglioh  ist.  In  der  Unterklasse  I II  b 
vereinigt  Vogel  endlich  einige  wenige, 
entschieden  rot  gefärbte  Sterne  von 
geringerer  Helligkeit,  bei  denen  die 
Absorptionsbänder  eine  so  grofse  Aus- 
dehnung gewonnen  haben,  dafs  die 
Reste  des  kontinuierlichen  Spektrums 
fast  wie  helle  Linien  erscheinen.  Auch 
ist  die  Verwaschenheit  der  Händer  bei 
diesen  Sternen  auf  der  entgegenge- 
setzten Seite  wahrzunehmen  wie  bei 
den  Sternen  der  Klasse  III a.  Bemer- 
kenswert ist  noch,  dafs  eine  grofse 
Zahl  der  veränderlichen  Sterne  mit 
unregelmäfsiger  Periode  zum  dritten 
Spektraltypus  gehört,  ein  weiterer 
Grund,  diese  Sterne  als  solche  zu  be- 
trachten, deren  Licht  dem  Verlöschen 
nahe  ist  und  nur  noch  gelegentlich 
mit  gröfserer  Helligkeit  aufflackert.17) 

Als  letzte  Kategorie  von  Gestirnen 
bleiben  noch  jene  zahlreichen,  ver- 
waschen begrenzten,  mattleuohtenden 
Objekte  zu  besprechen,  die  man  treffend 
als  Nebelflecke  bezeichnet,  da  sie  in 
der  That  mit  mehr  oder  weniger  aus- 

")  Man  vorgleiche  übrigens  hierzu  das 
die  obigen  Darlegungen  in  mancher  Hin- 
sicht ergänzende  Referat  über  Scheiners 
Untersuchungen  der  Spektra  der  helleren 
Sterne  (Bd.  VIII,  S..  143).  —  Unsere  Tafel 
(Figur  18)  stellt  die  im  Text  besprochenen 
Haupttypen  der  Fixsternspektra  zusammen. 
Jedoch  hätten  beim  Siriusspektrum  die 
Wasserstofflinien  breiter  und  verwaschener, 
das  kontinuierliche  Spektrum  dagegen 
holler  ausfallen  sollen.  Das  mit  IV  bezeich- 
nete Spektrum  eines  roten  Sterns  gehört 
zur  Vogelschen  Unterklasse  IHb. 

Himmel  und  Erdi».    !WK>.  XI.  4.  1- 


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gedehnten  Xebelwölkchen  auf  serlich  die  gröfste  Ähnlichkeit  haben. 
Der  absolut  unveränderliche  Ort  dieser  Himmelskörper  lehrt  uns, 
dafs  dieselben  mindestens  ebenso  unermefslich  weit  vom  Sonnensystem 
entfernt  sind  wie  die  meisten  Fixsterne.  Wenn  wir  nun  in  Betracht 
ziehen,  dafs  einzelne  dieser  Gebilde,  z.  B.  der  berühmte  Orionnebel, 
die  Mondscheibe  an  scheinbarer  Gröfse  übertreffen,  während  doch 
die  Fixsterne  auch  bei  stärkster  Vergrößerung  punktförmig  bleiben, 
so  ahnen  wir  wohl  die  enorme  Ausdehnung  jener  nebligen  Materie, 
und  es  drängt  sich  von  vornherein  die  Vermutung  auf,  dafs  hier  ein 
lockerer  Ursloff  sich  gewissennafsen  noch  in  einem  chaotischen,  un- 
geformten  Zustünde  befinde.  Darum  war  die  spektralanalytische 
Untersuchung  des  matten  Lichtes  der  Nebelflecke  von  besonderem 
Interesse,  und  man  kann  wohl  sagen,  dafs  im  allgemeinen  die  älteren 
Ansichten  über  die  Natur  der  Nebelfiecke  durch  dieselbe  bestätigt 
worden  sind.  Das  Spektrum  dieser  Himmelskörper  besteht  nämlich 
aus  wenigen  feinen,  hellen  Linien  und  zeigt  dadurch,  dafs  die  Materie 
sich  hier  in  der  That  noch  im  Zustande  sehr  verdünnten  Gases  befindet. 
Vorwiegend  sind  es  vier  Linien,  die  in  den  meisten  Nebelflecken- 
spektren gesehen  werden.  Die  hellste  derselben  (bei  500,6  sowie 
eine  zweite  (bei  495,7  können  bis  jetzt  noch  nicht  mit  dem  Spektrum 
eines  bekannten  Stoffes  identifiziert  werden,  während  die  beiden  übrigen 
Linien  mit  den  bekannten  Wasserstoff  linien  F  und  H?  zusammenfallen. 
Bei  liohtschwächeren  Nebeln  ist  nur  die  Linie  bei  500,6  ujx  erkennbar, 
die  darum  als  Haupt-Nebelliuie  gilt. 

Auffallend  ist  bei  dem  Vorhandensein  der  blauen  und  violetten 
Wasserstoff  linien  das  Fehlen  der  roten  Linie  C;  dasselbe  dürfte  ver- 
mutlich durch  die  geringe  Dichtigkeit  der  die  Nebel  bildenden  Gas- 
massen  und  vielleicht  auch  durch  deren  Temperaturverhältnisse  zu 
erklären  sein.  Übrigens  finden  sich  in  einzelnen  Nebeln  aufser  den 
oben  genannten,  typischen  Nebellinien  auch  noch  vereinzelte  andere 
Linion,  ja  mitunter  sind  die  hellen  Linien  sogar  noch  durch  ein 
schwaches  kontinuierliches  Spektrum  verbunden,  das  im  Grün  be- 
sonders hell  erscheint.  —  Eine  bedeutsame  Verschiebung  haben  durch 
die  spektralanalytischen  Forschungen  die  Ansichten  über  die  Entfernung 
der  Nebelflecke  erfahren.  Während  man  früher  glaubte,  dafs  diese 
Gebilde  als  völlig  selbstiindigo,  weit  aufserhalb  unseres  Fixsternsystems 
gelegene  Weltkomplexe  anzusehen  seien,  hat  die  Spektralanalyse 
mehrfach  einen  unmittelbaren  physischen  Zusammenhang  zwischen 
Nebeln  und  Fixsternen  dargethan.  Vor  allem  waren  es  Photographien 
des  Orionnebelspektrums,  die  einen  derartigen  Schlufs  zuliefsen,  nach- 
dem Huggins  vortreffliche  Aufnahmen  des  Spektrums  dieses  hellsten 


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aller  Nebel  bei  engem  Spalte  erzielt  hatte.  Diese  Bilder  zeigten 
nämlich  feine  Liniengruppen,  die  in  der  Nähe  der  Sterne  des  Trapozes, 
einer  inmitten  der  Nebelmasse  gelegenen  Gruppe  von  vier  Sternen, 
besonders  intensiv  wurden ;  auch  waren  gewisse  Linien  überhaupt  nur 
in  denjenigen  Teilen  des  Nebels  vorhanden,  die  jenen  Sternen  be- 
nachbart sind.  Aus  diesen  Thatsachen  geht  unzweifelhaft  hervor,  dafs 
die  Trapezsterne  nioht  etwa  blofs  optisch  sich  gerade  auf  den  Nebel- 
fleck projizieren,  sondern  inmitten  der  Nebelmaterie  als  fertige  Sterne 
schweben  und  sozusagen  die  Centraikörper  jenes  chaotischen  Welt- 
gebildes darstellen.  Man  sieht  daraufhin  nunmehr  die  Nebelflecke 
vielfach  als  eine  besondere  Klasse  von  Gestirnen  an,  die  innerhalb 
unseres  sogenannten  Milchstrarsensystems  nicht  selten  vorkommen, 
wenn  auch  ihre  Anzahl  gegen  die  der  sternartigen  Körper  bedeutend 
zurüoksteht.  Übrigens  sind  vereinzelt  auch  Übergangsformen  entdeokt 
worden,  nämlich  Objekte,  die  bei  blofser  Betrachtung  im  Fernrohr 
durchaus  einen  sternartigen  Eindruck  machen,  auf  Grund  ihres  Spek- 
trums jedoch  zu  den  Nebeln  gezählt  werden  müssen. 

Die  Linien  Verschiebungen. 

Am  Schlufs  unserer  Darstellung  der  Ergebnisse,  zu  denen  die 
Spektralanalyse  der  Gestirne  geführt  hat,  erübrigt  uns  uoch  die  Be- 
sprechung eines  hochwichtigen  Prinzips,  mit  Hilfe  dessen  wir  aus 
genauen  Ausmessungen  der  Sternspektra  nioht  nur  astrophysikalische, 
sondern  auch  astrometrischo  Schlüsse  ziehen,  und  zwar  gerade  die- 
jenige Bewegungsart  der  Gestirne  ermitteln  können,  die  uns  direkt 
nicht  wahrnehmbar  ist,  weil  sie  in  die  Verbindungslinie  Erde  —  Stern 
fällt.  Man  kann  wohl  sagen,  dafs  die  hierher  gehörigen,  sich  auf  das 
sogenannte  D opp lersche  Prinzip  stützenden  Entdeckungen  den  aller- 
gröfsten  Ruhmestitel  der  spektralanalytischen  Methode  bilden.  Ent- 
sprechend der  gerade  in  neuester  Zeit  hervorgetretenen  Bedeutung 
dieser  speziellen  Anwendung  der  Spektralanalyse  sind  in  dieser  Zeit- 
schrift schon  wiederholentlich  sehr  gründliche  Erläuterungen  des 
Dopplerschen  Prinzips  gegeben  worden,  und  wir  können  uns  darum 
hier  unter  Hinweis  auf  jene  ausführlicheren  Darlegungen1*)  füglich 
kürzer  fassen. 

Die  Wellentheorie  des  Lichts  lehrt,  dafs  die  Farbe  eines  Licht- 
strahls von  der  Zahl  der  unser  Auge  während  einer  Sekunde  treffen- 
den Äther -Wellen  abhängt;  jede  Ursache,  welche  diese  Zahl  zu  ver- 
ändern im  stände  ist,  mufs  auch  eine  Farbenänderung  unserer  Licht- 

«»)  Himmel  und  Erde  Bd.  I  S.  197;  B.  III  S.  149;  Bd.  V  S.  20,  69,  131; 
Bd.  VI  S.  101,  241;  Bd.  VIII  S.  88;  Bd.  IX  S.  89;  Bd.  X  S.  283. 

12* 


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empfind  ung  bedingen.  Nun  kann  offenbar  die  Zahl  der  das  Auge  des 
Beobachters  treffenden  Wellenzüge  bei  objektiv  völlig  unveränderter 
Schwingungszahl  eine  Modifikation  erfahren,  wenn  Auge  und  Licht* 
quelle  sich  nicht  in  relativer  Ruhe  befinden,  sondern  ihren  Abstand 
vergröfsern  oder  verkleinern.  Bewegt  sich  z.  B.  das  Auge  der  Fort- 
pflanzungsrichtung  der  Lichtwellen  entgegen,  so  wird  es  in  kürzeren 
Zeit-Intervallen  den  Wellenbergen  begegnen,  als  wenn  es  in  Ruhe 
verharrt  wäre.  Gegenseitige  Annäherung  von  Auge  und  Lichtquelle 
mufs  also  die  Farbe  und  damit  auch  den  Ort  einer  isolierten  Spektral- 
linie etwas  nach  der  violetten  Seite  hin  verschieben,  während  Ent- 
fernung das  Umgekehrte  bewirkt.  Wie  eine  isolierte,  belle  Linie  wird 
sich  aber  auch  jede  dunkle  Linie  in  einem  kontinuierlichen  Spektrum 
verhalten,  ist  dieselbe  doch  nur  durch  „Umkehrung"  aus  einer  hellen 
Linie  entstanden. 

Der  erste  sichere  Nachweis  der  Realität  einer  solchen  Linien- 
verschiebung infolge  sehr  schneller  Bewegung  in  der  Oesiohtslinie 
gelang  1871  H.  C.  Vogel  mittelst  des  eigens  zu  diesem  Zweoke  von 
Zöllner  ersonnenen  „Reversionsspektroskops".  Vogel  konnte  an 
gegenüberliegenden  Rändern  der  Sonne  entgegengesetzte,  durch  die 
Sonnenrotation  hervorgerufene  Verschiebungen  feststellen.  Später 
wurden  dann  mit  inzwischen  vervollkommneten  Apparaten  auch  die 
Geschwindigkeiten  der  Planeten  spektralanalytisch  gemessen  und 
die  Ergebnisse  dieser  Messungen  in  genauer  Übereinstimmung  mit 
der  berechneten  Bewegung  befunden.  Durch  derartige  Kontrollen 
war  die  Zuverlässigkeit  des  Dopplerschen  Prinzips  hinreichend  ge- 
prüft, um  es  auch  in  jenen  Fernen  anwenden  zu  können,  wo  wir 
sonst  wogen  des  allzugrofsen  Abstandes  der  Gestirne  von  Bewegungen 
kaum  mehr  etwas  wahrzunehmen  vermögen.  Da  zeigte  sich  denn, 
dafs  Fixsterne  und  Nebelflecke  ebenso  wie  die  uns  näheren  Himmels- 
körper in  rastloser,  zum  Teil  sogar  enorm  schneller  Bewegung  begriffen 
sind,  ja  aus  gewissen  Schwankungen  in  den  Geschwindigkeiten  konnten 
sogar  die  kühnsten  Schlufsfolgerungon  in  Bezug  auf  das  Vorhanden- 
sein unsichtbarer  Doppelsterne  aufgebaut  werden,  wie  dies  besonders 
in  dem  Aufsatz  „Dio  Astronomie  des  Unsichtbaren-  im  fünften  Bande 
dieser  Zeitschrift  näher  besprochen  ist. 

Aber  auch  die  Erforschung  der  Rätsel  unseres  Sonnenballs  ist 
durch  die  Anwendung  des  Dopplerschen  Prinzips  wesentlich  ge- 
fördert worden.  Zunächst  konnte  die  Rotation  der  Sonne  durch  Beob- 
achtung der  Linienverschiebungen  in  allen  möglichen  Breiten  unter- 
sucht werden,  während  man  vordem  nur  auf  Grund  der  Flecken- 
beobachtungen  die  eigentümliche  Verlangsamung  der  Umdrehung  in 


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181 


höheren  Breiten  erkannt  hatte.  Duner  konnte  mit  Hilfe  der  Ver- 
schiebung zweier  Eisenlinien  feststellen,  dafs  auch  die  absorbierende 
Schicht,  in  welcher  diese  Linien  zustande  kommen,  in  ähnlicher  Weise 
rotiert.  Andererseits  hat  allerdings  Crew  aus  der  Beobachtung  an- 
derer Linien  den  Schlufs  gezogen,  daß  die  Sonnenatmosphäre  wie  ein 
starrer  Körper  in  allen  Breiten  mit  gleicher  Winkelgeschwindigkeit 
rotiere.  Der  scheinbare  Widerspruch  dieser  Resultate  dürfte  sich  ver- 
mutlich, wie  Brestor  aussprach,  daraus  erklären,  dafs  die  von  Crew 
benutzten  Linien  erst  in  der  eigentlichen  Sonnenatmosphäre  zustande 
kommen,  während  die  von  Duner  beobachteten  Eisenlinien  schon 
zwischen  den  photosphärischen  Wölkchen  durch  Absorption  entstehen 
mögen,  wo  die  Gasmassen  natürlich  annähernd  dieselbe  Geschwindig- 
keit haben  müssen  wie  jene  Wölkchen,  die  diejenige  Schicht  der  Sonne 
bilden,  in  der  auch  die  Flecken  anzutreffen  sind. 


Fi*.  ->0. 


Vig.  21. 


Auch  individuelle  Bewegungen  von  außerordentlicher  Geschwin- 
digkeit konnten  spektroskopisch  bei  Flecken  und  Protuberanzen 
beobachtet  werden.  So  zeigt  uns  Fig.  20  das  Spektrum  eines  durch 
eine  Lichtbrüoke  in  zwei  Teile  geteilten  Fleckens  nach  Vogel.  Die 
Linien  sind  in  der  Lichtbrücke  schräg  verzerrt,  d.  h.  sie  sind  am  Rande 
des  größeren  Flecks  nach  Violett,  am  Rande  des  kleineren  nach  Rot 
verschoben.  Daraus  würde  zu  schließen  sein,  daß  die  absorbierenden 
Gase  am  Rande  des  größeren  Flecks  mit  einer  Geschwindigkeit  von 
30  bis  40  Kilometern  in  der  Sekunde  aufstiegen  und  auf  der  anderen 
Seite  der  Lichtbrücke  in  entsprechendem  Maße  herabsanken. 

Auoh  bei  den  am  Rande  der  Sonne  durch  das  Spektroskop 
sichtbar  gemachten  Protuberanzlinien  treten  mitunter  auffallende  Ver- 
zerrungen ein,  wie  es  z.  B.  durch  Fig.  21  dargestellt  wird,  die  eine 
von  Vogel  am  3.  Juni  1871  in  der  F- Linie  beobachtete  Protuberanz 
zeigt.  Die  Figur  wird  nach  unseren  früheren  Besprechungen  über 
die  Beobachtung  von  Protuberanzen  sofort  verständlich  sein;  uns 
interessiert  hier  nur  die  s-förmige  Krümmung  der  hellen  Linie. 
Dieselbe  deutet  auf  eine  höchst  heftige  Wirbelbewegung,  da  die  Linie 


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182 


in  ihrer  mittleren  Höhe  nach  Violett,  weiter  oben  aber  nach  Rot  ver- 
schoben erscheint,  während  die  Spitze  wieder  die  normale  Lage  auf- 
weist, die  durch  die  dunkle,  vom  in  der  Luft  reflektierten  Sonnenlicht 
herrührende  Linie  markiert  ist.  Diejenigen  Teile  der  Linie,  welche 
nicht  verschoben  sind,  werden  gleichwohl  nicht  in  Ruhe  sein;  hier 
ist  vielmehr  nur  die  Bewegung  senkrecht  zur  Gesichtslinie  gerichtet, 
sodafs  in  Bezug  auf  unser  Auge  weder  Annäherung  noch  Entfernung 
stattfindet.  —  Dio  durch  Vogels  Beobachtung  im  vorliegenden  Fall 
angezeigte  Geschwindigkeit  der  wirbelnden  Gasmassen  beläuft  sich 
auf  über  100  km  in  der  Sekunde,  eine  überwältigende  Zahl,  wenn 
man  bedenkt,  dafs  auf  Erden  selbst  bei  den  heftigsten  Orkanen  Ge- 
schwindigkeiten von  50  m  nicht  überschritten  werden. 

Wir  sind  zum  Ende  unserer  Erläuterungen  über  die  Bedeutung 
der  spektralanalytischen  Forschung  für  die  Astronomie  gelangt  Von 
nicht  minder  hervorragendem  Nutzen  als  für  diese  Wissenschaft  ist 
die  Spektralanalyse  natürlich  auch  für  die  Chemie,  wie  wir  schon 
im  ersten  Teil  dieses  Aufsatzes  kurz  erwähnt  haben.  Aber  auch  im 
praktischen  Leben  erfährt  die  spektrale  Zerlegung  des  Lichts  die  be- 
deutsamste Anwendung.  Der  Gerichtschemiker  kann  mit  ihrer  Hilfe 
gar  oft  Verfälschungen  von  Nahrungsmitteln  und  Droguen  entdecken, 
Blut  aber  wird  selbst  in  den  geringsten  Spuren  erkannt,  sodafs  schon 
mancher  Verbrecher  mit  Hilfe  des  Spektroskops  überführt  werden 
konnte.  Der  Photograph  benutzt  dasselbe  Instrument,  um  sich  die 
für  seine  jeweiligen  Zwecke  passendsten  Lichtfilter  auszusuchen,  und 
der  Gufsstahlfabrikant  bedient  sich  desselben,  um  den  Moment  der 
Beendigung  des  Besseraer- Prozesses  mit  Sicherheit  zu  erfassen,  da 
eine  rechtzeitige  Unterbrechung  des  Gebläses  zur  Erzeugung  eines 
guten  Produktes  von  der  höchsten  Wichtigkeit  ist 

So  sehen  wir,  dafs  die  von  Kirchhoff  (siehe  Titelblatt)  und 
Bunsen  in  treuem  Zusammenwirken  geschaffene  Methode  der  quali- 
tativen Untersuchung  des  Lichtes  zu  den  fruchtbarsten  Errungen- 
schaften des  zur  Neige  gehenden  Jahrhunderte  gehört.  Bei  den 
kommenden  Geschlechtern  werden  die  Namen  aller  der  Forscher  in 
dankbar  ehrendem  Andenken  bleiben,  dio  in  emsiger  Arbeit  sich  um 
die  Ausgestaltung  der  Spektralanalyse  und  ihrer  Anwendungen  Ver- 
dienste erworben  und  sie  so  zu  dem  wichtigen  Forschungsmittel  ge- 
macht haben,  als  das  sie  sich  uns  heute  darstellt. 

— - 

Der  Schlüte  des  Aufsatzes  von  Prof.  Koppe  „Die  Erd-  und  Lämlcr- 
Verniessung  und  ihre  Verwertung"  folgt  im  nächsten  Heft. 


Ein  bedeutender  Fortschritt  in  der  Photographie  lichtschwacher 
Himmelsobjekte  ist  in  neuerer  Zeit  durch  die  Herstellung-  von  Fern- 
rohren mit  abnorm  kurzer  Brennweite  erzielt  worden.  Je  kürzer  die 
Brennweite  des  Objektivs,  um  so  kleiner  mute  ja  nämlich  das 
reelle  Bild  des  Objekts  ausfallen,  und  da  somit  die  gesamte,  vom 
Objektiv  aufgefangene  Lichtmenge  auf  einer  kleinen  Fläche  konzen- 
triert bleibt,  wird  die  Helligkeit  des  Bildes  notwendig  in  entsprechendem 
Grade  erhöht  sein.  Es  gelingt  daher  mit  Instrumenten  von  kurzer 
Brennweite,  bei  verhältnismäßig  kurzer  Expositionszeit  deutliche 
photographische  Aufnahmen  der  lichtschwächsien  Himmelsobjekte  zu 
gewinnen.  —  Das  non  plus  ultra  dieser  Gattung  von  photographischen 
Fernrohren  dürfte  bis  jetzt  in  dem  neuen  Teleskop  der  Sternwarte  zu 
Meudon  erreicht  sein,  das  einen  Spiegel  von  einem  Meter  Durchmesser 
bei  nur  drei  Meter  Brennweite  besitzt.  Begreiflicherweise  mufste  die 
technische  Herstellung  eines  so  grofsen  und  dabei  so  stark  gekrümmten 
Hohlspiegels  die  allergrößten  Schwierigkeiten  bereiten,  deren  jedoch 
die  meisterhafte  Geschicklichkeit  der  Gebrüder  Henry,  jener  berühmten 
Begründer  der  modernen  Himmelsphotographie,  in  vorzüglicher  Weise 
Herr  geworden  ist.  In  der  Sitzung  vom  31.  Januar  1898  konnte 
Mr.  Rabourdin  der  Pariser  Akademie  eine  Reiho  von  Photo- 
graphien bekannter  Nebelflecke  vorlegen,  die  bei  verblüffend  kurzer 
Expositionszeit  mit  dem  Meudoner  Teleskop  gewonnen  wurden  und  den- 
noch die  feinsten  Einzelheiten  mindestens  ebenso  gut  erkennen  lassen 
wie  die  besten  älteren  Aufnahmen  mit  anderen  Instrumenten,  zu  deren 
Gewinnung  jedoch  die  vier-  bis  zehnfache  Belichtungsdauer  erforder- 
lich war.  So  wurde  vom  Ringnebel  in  der  Leyer  in  zwanzig  Minuten 
ein  Bild  gewonnen,  welches  dem  1890  von  Rabourdin  in  Algier 
während  sechsstündiger  Exposition  aufgenommenen  völlig  gleichkommt, 
jind  bei  einer  Belichtung  von  53  Minuten  hatte  auch  die  ganze  Innen- 
fläche des  Ringes,   die  bekanntlich  mit  einem  äufserst  feinen  Nebel- 


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schleier  erfüllt  ist,  derartig  gewirkt,  dafe  der  Eindruck  der  Ringform  auf 
dieser  Platte  gänzlich  verschwunden  ist.  Die  letztere  Aufnahme  zeigte 
sich  der  mit  einem  zur  offiziellen  Himmelskarte  dienenden  Instrument 
zu  Taschkent  während  24stündiger  Belichtung  gewonnenen  Platte 
überlegen.  —  Der  berühmte  Dumb-bell-Nebel  zeigt  sich  bei  zweistün- 
diger Belichtung  im  Reflektor  zu  Meudon  als  ein  elliptischer  Nebel,  der 
in  vieler  Beziehung  dem  Ringnebel  in  der  Leyer  ähnlioh  ist,  so  ver- 
schieden auch  der  direkte  Anblick  beider  Nebel  selbst  in  kräftigen 
Fernrohren  erscheinen  mag.  —  Eine  Plejadenaufnahme  (Belichtungs- 
dauer eine  Stunde)  brachte  sogar  aufser  den  schon  von  den  Gebrüder 
Henry  entdeckten  Nebeln  noch  zwei  neue  Nebel  (um  Atlas  und 
Plejono)  ans  Licht  und  zeigte  aufserdera  merkwürdige  geradlinige  Nebel- 
streifon,  welche  gewisse  Sterne  der  Plejadengruppe  unter  einander 
verbinden  und  in  geringerer  Anzahl  ebenfalls  schon  auf  den  Henry- 
schen  Platten  bemerkbar  waren. 

Wenn  man  mehrere  Aufnahmen  desselben  Nebels,  die  bei  ver- 
schiedenen Expositionszeiten  mit  demselben  Instrument  erhalten  wurden, 
mit  einander  vergleicht,  so  ist  man  vielfach  kaum  im  stände,  die 
Identität  des  Objekts  zu  erkennen.  Ähnliche  Unterschiede  sind 
natürlich  bei  gleicher  Belichtungszeit  auch  durch  die  wechselnde  Luft- 
beschaffenheit,  verschiedene  zur  Anwendung  kommende  Instrumente, 
d'e  ungleiche  Empfindlichkeit  der  benutzten  Platten  u.  s.  w.  bedingt. 
Um  es  daher  zu  ermöglichen,  in  Zukunft  unter  veränderten  Verhält- 
nissen eine  Nebelfleck-Aufnahme  zu  erhalten,  welche  mit  einer  älteren 
vergleichbar  ist  und  daher  etwaige  reelle  Veränderungen  anzuzeigen 
gestatten  würde,  ist  es  durchaus  nötig,  jeder  Aufnahme  gewisser- 
mafsen  den  Stempel  des  Komplexes  aller  Umstände,  unter  denen  sie 
zu  stände  kam,  aufzudrücken.  Janssen  hat  zu  diesem  Zweck  seinen 
schon  1881  ausgesprochenen  Vorschlag  wiederholt,  auf  jeder  Platte 
noch  einige  Sternscheibchen  sich  abbilden  zu  lassen,  wie  man  sie 
erhält,  wenn  man  den  von  einem  helleren  Fixsterne  kommenden 
Strahlenkegel  aufserhalb  des  Focus  auffängt.  Alle  auf  die  Güte 
der  Nebelaufoahme  einwirkenden  Faktoren  werden  in  gleicher  Weise 
auch  auf  die  Schwärzung  dieser  Sternscheibchen  einen  Einflufs  haben, 
und  das  bei  derselben  Belichtungsdauer  erhaltene  Sternscheibchen 
wird  daher  als  Testzeichen  für  das  Ergebnis  des  Zusammenwirkens 
aller  die  Güte  des  Bildes  beeinflussenden  Faktoren  gelten  können. 
Will  man  dann  später  einmal  eine  Aufnahme  unter  entsprechenden 
Verhältnissen  zum  Zwecke  der  Vergleichung  machen,  so  hat  man 
zunächst  duroh  Versuche  diejenige  Belichtungsdauer  zu  bestimmen, 
welohe  ein  dem  früheren  völlig  gleichendes  Scheibchen  der  betreffenden, 


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185 


selbstverständlich  als  nicht  veränderlich  vorausgesetzten  Sterne  ergiebt; 
diese  Belichtungszeit  ist  dann  auch  für  den  Nebel  in  Anwendung  zu 
bringen. 

$ 

Das  Zeemannsche  Phänomen. 

Seit  etwa  einem  Jahre  wird  das  Interesse  der  Spektroskopiker 
in  hohem  Marse  durch  eine  Beobachtung  erregt,  welche  zuerst  von 
Zeemann  gemacht  und  dann  alsbald  durch  eindringende  Studien  von 
Cornu,  Michelson,  König1  und  anderen  näher  untersucht  worden 
ist,  da  sie  uns  einen  ganz  neuen  Zusammenhang  zwischen  Magne- 
tismus und  Lioht  kennen  gelehrt  hat. 

Schon  seit  Faraday  kennt  man  die  Thatsache  der  Drehung 
der  Polarisationsebene  des  Lichts  durch  magnetische  Kräfte;  war 
dies  doch  der  erste,  überraschende  Beweis  eines  Zusammenhanges 
zwischen  dem  Licht  und  der  Elektrizität,  der  Maxwell  einen  wesent- 
lichen Anstofc  zur  Entwickelung  der  elektromagnetischen  Theorie 
des  Lichts  gab.  —  Zeemann  hat  nun  gefunden,  dafs  nicht  nur  die 
Richtung,  in  welcher  die  Ätherteilnhen  ihre  uns  als  Licht  wahrnehm- 
bar werdenden  Schwingungen  vollführen,  durch  magnetische  Kräfte 
geändert  werden  kann,  sondern  dafs  dasselbe  auch  von  der  Schwin- 
gungsdauer gilt,  was  wir  an  einer  Verbreiterung  der  feinen  Spektral  • 
linien,  wie  sie  von  leuchtenden  Oasen  erzeugt  werden,  erkennen. 
Bei  hinreichender  Intensität  des  magnetischen  Feldes  gelang  sogar 
die  künstliche  Verwandlung  einfacher  Linien  in  doppelte  und  mehr- 
fache, wobei  sich  noch  die  merkwürdige  Thatsache  herausstellte,  dafs 
dir  den  einzelnen  Teillinien  entsprechenden  Strahlen  sich  durch  ihre 
Polarisation,  d.  h.  durch  die  Richtung,  in  welcher  die  entsprechenden 
Ätherschwingungen  stattfinden,  unterscheiden.  Verlaufen  die  Strahlen 
in  der  Richtung  der  magnetischen  Kraftlinien  (d.  h.  in  derjenigen  Rich- 
tung, welche  eine  kleine,  frei  drehbare  Magnetnadel  angeben  würde),  so 
tritt  eine  Zerspaltung  in  zwei  Strahlen  von  etwas  verschiedener  Schwin- 
gungsdauer (und  darum  auch  verschiedener  Brechbarkeit)  ein,  und  die 
nähere  Untersuchung*  liifst  dann  erkennen,  dafs  die  Ätherteilchen  jetzt 
nicht  mehr  geradlinig  schwingen,  sondern  in  kreisförmigen  Bahnen 
mit  entgegengesetztem  Drehungssinn  die  Gleichgewichtslage  umlaufen. 
In  der  Kunstsprache  heifst  das:  die  beiden  durch  magnetische  Spaltung 
entstandenen  Strahlen  sind  entgegengesetzt  cirkular  polarisiert.  Steht 
dagegen  der  beobachtete  Liohtstrahl  auf  der  Richtung  der  magnetischen 
Kraftlinien  senkrecht,  so  wird  derselbe  sogar  in  drei  Einzelstrahlen  zer- 
spalten, die  im  Spektroskop  drei  dioht  nebeneinander  liegende  Linien 


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186 


erzeugen;  diesmal  finden  jedoch  die  Schwingungen  der  Ätherteilchen 
in  geradlinigen  Bahnen  statt,  und  zwar  so.  dafs  diejenigen  der  mitt- 
leren Linie  senkrecht  stehen  zu  der  Ebene,  in  welcher  die  die 
äufseren  Linien  erzeugenden  Strahlen  schwingen  —  die  Strahlen  sind 
alle  drei  geradlinig  polarisiert,  und  zwar  der  mittelste  senkrecht  gegen 
seine  beiden  Nachbarn.  Eine  Erklärung  dieser  merkwürdigen  Wahr- 
nehmungen ist  schwierig,  aber  doch  möglich  nach  einer  besonderen, 
von  Loreutz  aufgestellten  Theorie,  auf  die  hier  freilich  nicht  einge- 
gangen werden  kann. 

Ganz  kürzlich  haben  noch  Cornu  und  Michelson  gezeigt,  dafs  sich 
das  Phänomen  unter  Umständen  noch  komplizierter  gestaltet,  als  wir  eben 
angegeben  haben,  indem  die  bei  Zeemann  noch  einfach  erscheinenden 
Teillinien  auch  ihrerseits  sich  wieder  als  mehrfach  erweisen. 

Becquerel  und  Deslandres  endlich  haben  noch  festgestellt,  dafs 
die  durch  magnetische  Kraft  hervorgerufenen  Veränderungen  durch- 
aus nicht  bei  allen  Linien  eines  und  desselben  Spektrums  die  näm- 
lichen sind.  So  werden  bei  dem  sehr  linienreichen  Eisenspektrum 
zum  Beispiel  ctliohe  Linien  gar  nicht  verdoppelt,  manche  aber  sogar 
in  Quadrupel  aufgelöst,  und  dies  hängt  vielfach  auch  von  der  Lage 
der  Ebene  ab,  in  welcher  das  Licht  vor  dem  Eintritt  in  das  magne- 
tische Feld  polarisiert  worden  war.  So  enthüllt  uns  das  Zeemannsche 
Phänomen,  ganz  abgesehen  von  dem  Interesse,  das  die  Beeinflussung 
der  Lichtschwingungen  durch  magnetische  Kräfte  an  sich  schon  er- 
wecken mufs,  auch  natürliche  Gruppen  von  Linien  eines  Elements, 
die  sich  der  magnetischen  Kraft  gegenüber  gleichartig  verhalten. 
Durch  solche  neuen  Gruppierungen  werden  wir  in  dem  Chaos  der 
Hunderte  von  Linien  einzelner  Elemente  hoffentlich  eine  vollkommenere 
Übersicht  zu  gewinnen  lernen,  was  auf  dem  Wege  zum  vollen  Ver- 
ständnis der  spektralanalytischen  Erscheinungen  einen  wichtigen  Fort- 
schritt bedeuten  rauf». 

Astronomische  Fragen  in  der  altorientalischen  Chronologie. 

Unsere  Kenntnis  der  Zeitrechnung  der  Babylonier,  über  die  man  bis 
vor  wenigen  Jahren  nicht  viel  mehr  wufste,  als  dafs  sie  ein  gebun- 
denes Mondjahr  (nach  Mundmonaten  mit  Schaltung)  gewesen  ist,  hat 
durch  einen  Versuch  von  Mahl  er  Anstoß»  zu  lebhaften  Diskussionen 
gegeben.  Mahl  er  hat  die  Hypothese  aufgestellt,  dafs  die  Babylonier 
eine  feste  Schaltungsmethode  angewendet  haben,  welche  nach  be- 
stimmten Hegeln  vorging.  Diese  Meinung  wird  indessen  von  einigen 
Assyriologen  nicht  geteilt,  besonders  aber  von  Oppert  heftig  bekämpft. 


V 


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187 


Letzterer  wendet  namentlich  dagegen  ein,  da  Ts  nach  M  ahl  ers  System 
die  Monatsanfänge  zum  Teil  mit  dem  Eintritt  des  Neumondes  zu- 
sammenfallen würden,  was  unmöglich  sei,  da  dann  die  Babylonier 
ihre  Monate  nicht  (wie  die  übrigen  orientalischen  Völker)  mit  dem 
Sichtbarwerden  der  Mondsichel  nach  Neumond  begonnen  haben 
könnten.  C.  F.  Lohraann  kommt  nun  in  einem  neuen  Buche  übor 
historische  Schwierigkeiten  in  der  morgenliindischen  alten  Geschichte*) 
auch  auf  den  Mahlerschen  Schaltungsmodus  zu  sprechen.  Kr  macht  da- 
rauf aufmerksam,  dafs  bei  einem  Schaltcyclus  der  Monatsanfang  ebenso- 
wohl auf  den  Tag  des  wahren  Neumondes  wie  auf  den  Tag  fallen  konnte, 
an  welchem  die  Sichel  zum  ersten  Mal  sichtbar  wurde.  Denn  ein  Schalt- 
cyclus versucht  überhaupt  nur  die  Ausgleichung  der  zwischen  Sonne 
und  Mond  bestehenden  Bewegungsversohiedenheiten,  bei  seiner  An- 
wendung sei  also  eine  Kongruenz  der  Zeitrechnung"  mit  den  thatsäch- 
lichen  Vorgängen  am  Himmel  nicht  immer  zu  erwarten,  desto  weniger, 
je  unvollkommener  eben  die  Schaltung  gewesen  sei.  Wenn  also  die 
von  Mahl  er  auf  Grund  seiner  Schaltungshypothese  ausgearbeiteten 
Tabellen  den  Monatsanfang  nieht  immer  auf  den  Tag  der  Sichtbarkeit 
des  Neulichtes  fallen  lassen,  so  sei  das  noch  kein  Beweis  dagegen, 
dafs  der  von  Mahler  proponierte  19jährige  Schaltcyclus  von  den  Baby- 
loniern  angewendet  worden  ist.  Bei  diesem  Volke  —  dessen  astro- 
nomische Kenntnisse  jetzt  naoh  den  Forschungen  von  Strassmaier 
und  Epping  erheblich  höher  zu  stellen  sind,  als  man  früher  ange- 
nommen hat  —  ist  vielmehr  die  Wahrscheinlichkeit  vorhanden,  dafs 
es  einen  regelrechten  Schaltcyclus  in  der  Zeitrechnung  angewendet 
hat.  Die  allmähliche  astronomische  Entwickelung  der  Babylonier  (aus 
der  Zeit  der  Seleuciden  giebt  es  bereits  keilschriftlich  überlieferte 
astronomische  Ephemeriden!)  weist  darauf  hin,  dafs  mit  der  sich  er- 
weiternden Kenntnis  der  Mondbewegung  ein  regelmässiges  System 
der  Schaltung  Platz  greifen  mufste  und  nicht  willkürlich  geblieben 
ist,  wie  Oppert  zu  behaupten  sucht.  Ob  Mahlers  Hypothese  schon 
ganz  das  Richtige  trifft,  oder  ob  sie  noch  Verbesserungen  bedarf,  wird 
die  Vergleichung  keilinschriftlich  überlieferter  babylonischer  Datums- 
angaben mit  seinen  Tabellen  lehren.  C.  F.  Lehmann  bemerkt  ferner, 
dafs  auffälligerweise  der  Beginn  des  19jährigen  »Schaltcyclus  auf  das 
erste  Jahr  des  Königs  Nabonassar  fällt.  Nun  bezeugt  bekanntlich 
Berossus  (ein  Zeitgenosse  Antiochus  I.  281  —  261  v.  Oir.),  dieser 
König  habe,  um  mit  seiner  Regierung  zugleich  eine  neue  Zeitrechnung 

*)Zwei  Hauptprobleme  der  altorientaliseheu  Chronologie,  Leipzig:,  E.  Pfeiller, 
1898. 


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188 


beginnen  zu  können,  die  bis  auf  seine  Zeit  vorhandenen  inschriftlichen 
Urkunden  zerstören  lassen.  Diese  „Ära  des  Nabonassar*  beginnt 
mit  dem  26.  Februar  747  v.  Chr.;  eine  grofse  Reihe  astronomischer  Be- 
obachtungen ist  uns  von  Ptolemüus  mit  Zugrundelegung  dieser  Zeit- 
rechnung überliefert  worden.  Die  offenbar  in  dem  Zeugnisse  des 
Berossus  vorliegende  Reformierung  der  Zeitrechnung  durch  Nabo- 
nassar und  das  Zusammenfallen  dieses  Zeitpunktes  mit  dem  Anfang 
des  Mahl  ersehen  19jährigen  Schaltcyclus  legt  den  Gedanken  nahe, 
ob  nicht  vielleicht  Nabonassar  es  gewesen,  der  mit  der  neuen  Ära 
auch  einen  neuen  Schaltungsversuch  eingerührt  hat  —  Eine  andere 
astronomische  Frage,  welche  <_'.  F.  Lehmann  in  seinem  Buche  be- 
rührt, ist  die  vermutliche  Bedeutung  eines  ägyptischen  „Kalenders" 
auf  der  Rückseite  des  Papyrus  Ebers.  Auf  diesem  uralten  historischen 
Dokumente  heifst  es  nämlich:  „Jahr  9  unter  Amenophis  1." 

„Neujahr  Epiphi,  Tag  9  Aufgang  der  Sothisu 

„Tni  Mesore  9  - 

„Mnht  Thout  „  9 

„Hathor  Paophi  9       „  „ 

Der  Kalender  giebt  nämlich  (für  alle  zwölf  Monate)  in  der  ersten 
Columne  die  Namen  der  Sehutzgötter  der  Monate  oder  der  Feste, 
die  in  diesen  Monaten  stattfanden,  in  der  zweiten  die  ägyptischen 
Monatsnamen  mit  Hinzufügung  von  .,Tag  9",  in  der  dritten  immer 
„Aufgang  der  Sotbis"  mit  bezüglichen  Wiederholungszeichen  auf  jeder 
Zeile.  Der  Boginn  des  Jahres  wurde  von  den  Ägyptern  beim  Früh- 
aufgange des  Sirius  gefeiert  („Aufgang  der  Sothis"),  und  durch  die 
Angabe  des  Kalenders  stoht  fest,  dass  im  9.  Jahre  des  Amenophis  I. 
das  Neujahrsfest  des  festen  Jahres  auf  den  9.  Epiphi  des  Wandeljahres 
fiel.  Der  Sinn,  der  in  der  Anordnung  der  weiteren  Zeilen  ausgedrückt 
sein  soll,  ist  noch  nicht  genügend  aufgeklärt.  Lehmann  deutet  (in 
Übereinstimmung  mit  Eisenlohr)  die  Absicht  des  Kalenderschreibers 
so,  dafs  für  jeden  9.  Tag  aller  zwölf  Monate  der  Sirius-Aufgang  ver- 
zeichnet werden  sollte.  Dafs  aber  ein  Sirius-Aufgang  wieder  auf  den 
9.  eines  Monats  fiel,  ereignet  sich  jedoch  erst  in  Zwischenräumen  von 
120  Jahren.  Also  liegt  zeitlich  zwischen  den  einzelnen  Zeilen  des 
Kalenders  eben  diese  Periode  von  120  Jahren.  Ob  in  dem  Kalender  eine 
vom  9.  Jahre  des  Amenophis  1.  ausgehende  cyclische  Rechnung  aus- 
gedrückt werden  soll,  oder  ob  darin  eine  direkte  astronomisch«'  Beob- 
achtung verborgen  liegt,  hat  sich  nicht  weiter  entscheiden  lassen.  —  • 

f 


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189 


Über  das  grofsc  Teleskop  der  Pariser  Ausstellung  von  1900 

wird  jetzt  bekannt,  dafs  das  Objectiv  eine  Öffnung  von  49  Zoll  und 
eine  Brennweite  von  197  Fufs  erhalten  soll.  Demnach  würde  das 
Riesen-Instrument,  dessen  Herstellung  die  Firma  Qautier  übernommen 
hat,  das  bisher  gröfste  Fernrohr  der  Welt  auf  der  Yerkes-Sternwarle 
allerdings  noch  erheblich  überflügeln  und  sicherlich  eine  Haupt- 
sehenswürdigkeit  der  Weltausstellung  bilden.  Die  Kosten  des  Unter- 
nehmens sollen  auf  1  400  000  Francs  veranschlagt  sein. 


F.  J.  Studnicka:  Bis  ans  Ende  der  Welt.  Astronomische  Causerien. 
Prag.  Selbstverlag.  Neue  Auflage. 
Dieses  hübsche  Btichlein  beweist,  data  auch  Mathematiker  (der  Ver- 
fasser ist  Professor  an  der  Prager  Universität)  sich  mit  Glück  bisweilen  auf 
das  ihnen  sonst  sehr  ferne  stehende  Gebiet  der  feuilletonistischen  Darstellung 
begeben  dürfen.  Einigen  Freunden,  unter  denen  ein  kenntnisreicher  Engländer 
besonders  hervorragt,  bietet  der  Aufenthalt  in  Karlsbad  sowie  die  Reise  von 
dort  nach  Prag  die  Gelegenheit  zu  Unterhaltungen  über  die  verschiedensten 
sachlichen  Kapitel  und  historischen  Seiten  der  Astronomie  und  Physik.  Geist 
und  Humor,  manchmal  auch  feine  Satyre,  wird  der  Leser  an  diesen  Gesprächen 
—  die  am  Karlsbader  Brunuen,  im  Eisenbahn  Waggon,  in  Prag  bei  Besuch 
wissenschaftlich -historischer  Sehenswürdigkeiten  u.  s.  w.  geführt  werden  — 
nicht  vermissen.  G. 

Sil  \  jiii  ms  P.  Thompson:    Über  siebtbares  und  unsichtbares  Licht. 

Deutsche  Ausgabe  von  Prof.  Dr.  O.  Lummer.  Halle  a.  S.,  Verlag  von 
W.  Knapp.  1898.  Preis  9  M. 
Das  vorliegende  Buch  läfst  den  Leser  an  einem  an  der  Royal  Institution 
in  London  gehaltenen  Vortragscyclus  teilnehmen,  soweit  sich  das  selbst  beob- 
achtete Experiment  an  der  Hand  von  Abbildungen  durch  den  Wortlaut  des 
erläuternden  Vortrags  ersetzen  läfst.  Herr  Thompson  giebt  sich  durch  diese 
Publikation  als  ein  zweiter  Tyndall  zu  erkennen,  indem  er  mit  lebhaft  be- 
geisterter Rede  eine  Reihe  der  interessantesten  Kapitel  der  Optik  mit  ebenso 


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IM 

meisterhafter  Gewandtheit  vorträgt,  wie  man  es  einst  von  John  Tyndall  ge- 
wohnt war.  Herr  Professor  Ummer  hat  sich  daher  um  das  deutsche  Publikum 
ein  grofses  Vordienst  damit  erworben,  dafs  er  ihm  diese  Vorlesungen,  mit  er- 
gänzenden Anmerkungen  versehen,  .zugänglich  machte  und  dabei  auch  manche 
einseitig  englische  Auffassungen  des  Autors  berichtigte.  —  Höchst  originell 
mutet  gleich  die  erste  Vorlesung  über  .Licht  und  Schatten"  an;  hat  es  der 
Verfasser  doch  hier  verstanden,  die  geometrische  Optik  in  überraschend  ein- 
facher Weise  unmittelbar  aus  der  Wellenlehre  abzuleiten,  statt  zuerst  in  alther- 
gebrachter Weise  nur  mit  abstrakten,  in  der  Wirklichkeit  gar  nicht  existierenden 
Lichtstrahlen  zu  operieren.  In  trefflichster  Weise  werden  die  Schattenphänomene, 
sowie  die  Gesetze  der  Reflexion  und  Brechung  zuerst  mit  einem  Wasserwellen- 
apparat demonstriert  und  dann  unmittelbar  auf  Lichtwcllen  übertragen.  Auch 
in  den  späteren  Abschnitten,  welche  die  verschiedenen  Arten  der  Strahlung 
und  die  Polarisationserscheinungon  behandeln,  werden  vielfach  höchst  sinn- 
reiche, einfache  Apparate  zur  Voranschaulichung  benutzt,  die  es  in  hohem 
Mafse  verdienen,  allgemeiner  bekannt  zu  worden.  Bei  der  Besprechung  der 
farbigen  Photographie  wird  auch  das  Ivossche  Pholochromoskop,  das  letzthin 
die  Besucher  der  Urania  entzückte,  ausführlich  behandelt,  wie  auch  sonst,  z.B. 
im  Kapitel  über  Röntgenstrahlen,  die  nouesten  Fortschritte  unseres  Wissens 
vollauf  berücksichtigt  sind.  Eine  Anzahl  von  Anhängen  ist  für  diejenigen 
Leser  bestimmt,  die  in  einzelne  Materien  noch  etwas  weiter  eindringen  wollen, 
als  die  populäre  Vorlesung  es  gestattete  —  Jedenfalls  sind  Bücher  von  diesem 
Schlage  vortrefflich  geeignet,  die  Freude  an  wissenschaftlicher  Belehrung  zu 
steigern,  zugleich  aber  auch  den  Lehrern  der  Physik  als  Vorbild  einer  an- 
regenden Darstellungs weise  zu  dienen,  die  durch  methodisch  durchdachte  An- 
ordnung des  Stoffes  fast  mühelos  auch  üher  solche  Gebiete  hinwegführt,  die 
gemeinhin  als  schwierig  und  undankbar  gelten.  F.  Kbr. 

Hübner's  Geographisch -statistische  Tabellen.  Ausgabe  1898.  Heraus- 
gegeben von  Hof-Rat  Prof.  Fr.  von  Juraschek.  Verlag  von  Heinrich 
Keller  in  Frankfurt  a.  M.  Preis  der  Buch-Ausgabe  M.  1,20,  der  Wand- 
tafel-Ausgabe G0  Pfg. 

Das  Werkchen  löst  die  Aufgabe,  dem  grofsen  Publikum  die  wichtigsten 
statistischen  Zahlen  in  klarer,  Ubersichtlicher  und  dabei  möglichst  knapper 
Form  zugängig  zu  machen,  in  überaus  glücklicher  Weiso.  Es  ist  bewunderns- 
wert, ein  wie  reiches  Material  auf  dem  goringen  Räume  dieser  Tabelle  geboten  ist. 
Wir  linden  die  notwendigsten  Daten  über  Bevölkerung,  Verfassung,  Finanzen, 
Heerwosen,  Flotte,  Handel,  Verkehrswesen  etc.,  welche  fast  täglich  vorkommen, 
dort  angegeben  und  können  das  Werk  als  ein  Vademecum  bezeichnen,  dessen 
Vorzüge  sich  zusammenfassen  lassen  in  den  Eigenschaften:  Übersichtlichkeit, 
Reichhaltigkeit,  Gediegenheit  und  Billigkeit. 

Es  sei  noch  besonders  auf  die  eingehende  Berücksichtigung  verwiesen, 
welche  in  der  diesjährigen  Ausgabe  die  neuesten  kolonialen  Erwerbungen 
finden.  Ferner  sind  die  neuesten  Angaben  über  die  Vorteilung  der  Nationali- 
täten, Konrossionen  und  Borufsstände  und  die  offiziell  richtig  gestellten  Er- 
gebnisse der  Volkszählung  im  Russischen  Reiche  vom  Jahre  1S<>7  aufgenommen. 

W.  Kobelt:  Studien  zur  Zoogeographie.  Bd.  I.  Die  Mollusken  der 
palaearktischen  Region.  Wiesbaden.  C.  W.  Kreideis  Verlag.  Preis  8  M. 
Dieses  wichtige  Werk  wendet  sich  zwar  keineswegs  ausschliefslich  an 
das  malakozoologische  Publikum,  im  Gegenteil,  es  beabsichtigt  in  erster  Linie 
die  Resultate  der  Studien  über  Systematik  und  Verbreitung  der  Mollusken 
den  NichtSpezialisten  zugänglich  zu  machen:  dennoch  wird  das  Erscheinen 
des  Buches  ganz  besonders  unter  den  engoron  Fachgenossen  Froude  erregt 


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haben,  da  es  uns  wie  eine  oratio  pro  domo  anmutet.  Wer  sich  mit  den  müh- 
seligen und  oft  recht  trockenen  systematischen  Detailstudien  abgegeben  hat 
und  bei  der  herrschenden  Strömung  in  der  Zoologie,  die  fast  ausschliefslich 
auf  zootomische  und  physiologische  Untersuchungen  gerichtet  ist,  oft  den  Mut 
verlieren  möchte,  das  mifsachtete  Gebiet  der  Systematik  weiter  zu  kultivieren, 
den  mute  es  mit  hoher  Befriedigung  erfüllen,  wenn  er  die  Wichtigkeit  der  von 
ihm  bevorzugten  Tierklasse  für  die  Zoogeographie  und  die  Erdgeschichte  von 
einem  dazu  besonders  berufenen  Fachmann  in  das  rechte  Licht  gesetzt  sieht 
Kobelt  hat  zweifellos  Recht,  wenn  er  sagt,  dafs  die  Mollusken,  speziell  die 
Landschnecken ,  obschon  sie  an  Wichtigkeit  allen  Tierklassen  voranstehen, 
bisher  von  den  Zoogeographen  sehr  stiefmütterlich  behandelt  worden  sind. 
Zum  Teil  lag  dies  freilich  an  den  Fachgelehrten  selbst,  <L  h.  an  der  mangel- 
haften Systematik,  welche  erst  neuerdings  in  die  rechte  Bahn  geleitet  worden 
ist  und  zu  deren  Vollendung  immer  noch  viel  fehlt.  Wer  wollte  z.  B.  mit 
einer  Gattung  wie  die  selige  Helix  von  mehr  als  3000  Arten  etwas  anfangen 
und  geographische  oder  geologischo  Schlüsse  auf  eine  solche  ingens  ineptaque 
tnoles  basieren?  Erst  durch  richtige  Art-,  Gruppen-  und  Gattungsabgrenzung 
ist  es  möglich,  die  Verbreitung  der  Schnecken  von  höheren  wissenschaftlichen 
Gesichtspunkten  aufzufassen  und  für  die  allgemeine  Zoogeographie  zu  ver- 
werten. Man  gewinnt  wieder  Freude  an  den  oft  bis  zur  Entmutigung  ein- 
förmigen und  doch  so  notwendigen  Handlangerdiensten,  wenn  man  sieht,  wie 
jede  minutiöse  Einzelbeobachtung  und  Feststellung  ihren  Baustein  zu  dem 
Gesamtgebäude  liefert 


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Herrn  Prof.  H.  in  Ulm.  Sie  nehmen  Anstob  an  der  vielfach  üblichen 
und  auch  von  uns  (Seite  28)  benutzten  Veranschaulichung  der  Brechung  des 
Lichts  durch  den  Vergleich  mit  einer  Soldatenabteilung,  die  mit  schräger  Front 
auf  ein  Hindernis  stöbt.  Wir  geben  Ihnen  zu,  dab  das  Oleicbnis  wie  jedes 
Gleichnis  hinkt,  denn  nur  unter  der  stillschweigenden  Voraussetzung,  dab  der 
Weitennarsch  stets  senkrecht  zur  Frontrichtung  erfolgt,  dafs  sich  also  jeder 
Mann  beim  Marsch  beständig  nach  seinem  Nachbar  richtet,  würde  die  Brechung 
thateächlich  stattfinden,  während  sonst  ein  geradliniges  Fortachreiten  mit 
schiefer  Front  sich  ergeben  müfste,  wie  Sie  es  durch  Ihre  Zeichnung  illustrieren. 
—  Immerhin  scheint  uns  das  Gleichnis  doch  recht  auschaulich,  kann  man  doch 
sogar  experimentell  auf  ähnlichem  Wege  die  Ablenkung  erzielen,  wenn  man  eine 
gröbere  Garnrolle  über  ein  schwach  geneigtes  Brett  laufen  und  schräg  gegen 
einen  mit  Sammet  bedeckten  Teil  des  Bretts,  der  das  Hindernis  repräsentiert, 
treffen  labt.  Wir  wollen  indessen  nicht  verhehlen,  dafs  sich  ein  weit  tieferes 
Verständnis  der  Lichtbrechung  gewinnen  läbt,  wenn  man  das  „Strahlenbüschel- 
ganz  fallen  läfst  und  das  Licht  als  eine  Wellenbewegung  deiiniert.  Man  kann 
dann  z.B.  auf  Grund  des  H uy ghensschen  Prinzips,  dafs  jeder  Punkt  einer 
Welle  wieder  als  Ausgangspunkt  neuer  Wellen  betrachtet  werden  darf,  sofort 
die  Notwendigkeit  der  Brechung  einer  ebenen  Welle  beim  Eintritt  in  ein 
Medium  mit  langsamerer  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  erkennen.  Mit  Wasser- 
wellen läbt  sich  die  Brechung  demonstrieren,  wenn  man  dieselben  aus  einem 
tieferen  Gefäb  schräg  in  eine  angrenzende,  seichtere  Bucht  übertreten  läbt, 
wie  es  Silvanus  P.  Thompson  in  seinen  Vorlesungen  ȟber  sichtbares  und 
unsichtbares  Licht"  thut.  F.  Kbr. 


Verlag:  Hermann  l'»«tel  In  Berlin. —  Druckt  Wilbela  Qroaao't  Bicbdrnekerel  In  Berlin  -  Schoneber;. 
Pur  die  BednctioB  rerrnntwortlicb :  Dr.  P.  Schwab«  in  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  ui  den  Inhalt  dienet  Zeitschrift  »atereagt. 
CberseUnngsrecht  rorbebalten. 


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Nicolaus  Coppernicus. 

fVon  Professor  M.  (urtie  in  Thorn. 
ie  iiitesten  Kulturvölker,  auf  deren  Entwicklung  mittelbar  oder 
Unmittelbar  die  unsere  fufst,  lebten  unter  den  gesegneten  Breiten 
des  mittelländischen  Meeres.  Der  ewig  heitere,  klare  Himmel 
jener  Gegenden  mit  seiner  leuchtenden  Sternenpracht  zog  naturgemäß 
das  beobachtende  Auge  auf  sich.  In  unbestimmbar  früher  Zeit  mag 
schon  der  damalige  Polarstern,  der  einzige  ruhende  Funkt  an  der  um- 
schwingenden Krystallglocke  des  Himmelsgewölbes,  dem  Einsamen 
auf  der  gewaltigen  Wüste  des  Meeres,  im  Sande  Afrikas  als  Richt- 
schnur gedient  haben.  Das  segenspendende  Tagesgestirn,  der  Gott 
so  vieler  Millionen,  zog  den  Blick  seiner  berufensten  Verehrer,  der 
Priester,  empor  zum  Firmament.  Gewisse  astronomische  Kenntnisse 
finden  wir  in  der  Orientierung  der  Tempel  nach  den  Himmelsgegenden 
schon  verbreitet,  soweit  zurück  wir  Tempelspuren  verfolgen  können. 
Die  Babylonier  kannten  die  Länge  des  Jahres.  Auf  diesen  ersten 
Hntwickelungsstut'en  mögen  Weltsysteme  entstanden  sein,  wie  das  der 
ionischen  Schule:  Die  Erde  ist  eine  Scheibe  von  gröfserer  oder  ge- 
ringerer Dicke;  auf  ihr  ruhet,  wie  eine  Glocke,  des  Thale  s  Himmels- 
gewölbe. Ein  Anaximander  lafet  sie  frei  in  der  Mitte  der  Welt- 
kugel schweben,  und  um  sie  dreht  sich  die  Krystallsphäre  des  Firmaments 
mit  den  daran  befestigten  Fixsternen.  .,wie  der  Hut  sich  um  unsern 
Kopf  dreht."  Bald  aber  fielen  eifrigen  Beobachtern  Gestirne  mit  Eigen- 
bewegung auf  im  Gegensatz  zu  den  von  einander  in  gleicher  Entfernung 
verbleibenden  Fixsternen.  Pythagoras  war  es,  der  zuerst  mit  der 
alten  Anschauung  brach.  Ihm  wird  die  Erde  zum  freischwebenden 
Gestirn,  wie  der  Mond,  wie  die  Planeten.  Er  stellt  ein  neues  Welt- 
system auf:    Die   Erde  trägt  die   Himmelsaxe,  um    welche  sich  die 

Himmel  und  Enlo.  I8W.  XI.  &  (3 


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Fixsternsphäre  dreht;  Sonne,  Mond  und  Planeten  laufen  ira  Kreise  um 
die  ruhende  Erde.  Die  weitere  Entwickelung  seines  Systems  durch 
seine  Schüler  wird  uns  später  beschäftigen. 

Bald  jedoch  genügte  des  Meisters  Anschauungsweise  nicht  mehr. 
Kein  Geringerer  als  Piaton  warf  die  Frage  nach  einer  anderen  Theorie 
auf,  die  mit  den  neu  entdeckten  Verzögerungen  und  Beschleunigungen, 
ja  Rückwärtsbewegungen  des  Planetenlaufes  sich  im  Einklauge  befände. 
Sein  Schüler,  Eudoxos  von  Knidos  (409  356  v.  Chr.),  löste  für  damalige 
Zeit  befriedigend  die  Aufgabe  durch  Aufstellung  dor  sogenannten 
homocentrischen  Sphäreutheorie.  Auch  für  ihn  befindet  sich,  im  Ein- 
klang mit  dem  allgemeinen  Glauben  und  der  täglichen  Erfahrung,  die 
ruhende  Erde  im  Weltmittolpunkte;  ein  erklärlicher  Irrtum,  der 
durch  die  Jahrtausende  so  eingewurzelt  war,  dafs  dereinst  dem  geister- 
beherrschenden  Rom  ein  Zweifel  daran  als  Ketzerei  erscheinen  konnte. 
Ferner  ging  er  von  dem  Grundsatze  aus,  eine  jede  Elementarbewegung 
müsse  in  der  vollkommensten,  in  der  Kreisform  verlaufen.  Unter  Zu- 
grundelegung dieser  Annahmen  gab  er  jedem  Gestirne  so  viele  kon- 
zentrische Sphären,  als  er  Elementarbewegungen  an  ihm  wahrnahm, 
wobei  die  Axo  jeder  inneren  von  der  äufseren  in  ihrem  Äquator  ge- 
tragen wurde,  wahrend  der  Stern  selber  im  Äquator  der  innersten  be- 
festigt war.  Durch  entsprechende  Annahmen  von  Drehungsrichtungen 
und  Geschwindigkeiten  für  die  einzelnen  Sphären  gelang  es  ihm  so, 
für  die  ira  Centrum  ruhende  Erde  die  Erscheinungen  des  planetarischen 
Laufes  für  seine  Zeit  genügend  zu  erklären.  Ihm  waren  diese  Sphären, 
27  an  Zahl,  nur  mathematische  Hilfsmittel.  Aristoteles  versetzte 
der  Theorie  durch  Vermehrung  derselben  um  29  und  Annahme  wirk- 
licher, mechanischer  Krystallsphüren  mit  dem  Fortfallen  dor  Einfachheit 
den  Todesstors1). 

Angeregt  durch  die  Erkenntis  von  dor  Verschiedenheit  in  der 
Länge  der  Jahreszeiten  gab  Hipparch  um  200  v.  Chr.  eine  neue, 
sehr  glückliche  Lösung  der  Sonnentheorie.  Durch  Verschiebung  des 
Centrums  ihrer  Bahn  um  V24  ihres  Radius  nach  dem  sechsten  Grade 
der  Zwillinge  gelang  ihm  aufs  Einfachste  die  Erklärung  ihres  Laufes, 
freilich  auf  Kosten  der  genauen  Centraistellung  der  Erde.  Schon  bei 
einem  Versuche  zur  Erklärung  der  Mondbewegung  reichte  jedoch  sein 
exzentrischer  Kreis  nicht  mehr  aus,  um  den  thatsächlichen  Verhältnissen 
Rechnung  tragen  zu  können,  so  dafs  Klaudios  Ptolemaios  um 

')  Ober  die  hoiucH'cnirisclie  S|thäi-cnihcorie  sehn  man  die  Abhandlung 
I  V.  SL-hiuparcllis:  Li?  sfore  omooontrielie  di  Eudosso.  di  Callippo  e  di 
AristotiW«.  doutsch  von  \V.  Horn  (Abhandl.  z.  Osch,  der  Mathem.  1,101  —  198). 


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195 


140  n.  Chr.  eine  neue  Theorie  aufzustellen  gezwungen  war.  Er  ver- 
setzte den  Mond  an  die  Peripherie  eines  sich  um  seinen  Mittelpunkt 
drehenden  Kreises,  des  Epi cy kels,  während  eben  dieser  Mittelpunkt 
sich  gleichmäßig  auf  der  Peripherie  eines  zweiten  Kreises,  dos  Deferens, 
abrollte.  Hierdurch,  und  indem  er  sich  den  deferierenden  Kreis  wieder 
in  Bezug  auf  die  Erde  als  exzentrisch  dachte,  gelang  es  ihm,  bei 
Annahme  entsprechender  Geschwindigkeiten  und  Richtungsverhältnisse 
der  Kreisbewegungen  die  so  erhaltene  Mondbahn  genügend  mit  den 
Beobachtungen  in  Übereinstimmung  zu  bringen.  Noch  einen  Schritt 
weiter  mufste  er  bei  dem  Erklärungsversuche  der  Planetenbahnen 
gehen.  Er  behielt  den  exzentrischen  delirierenden  Kreis  der  Mond- 
bewegung bei  und  liefs  sich  den  Epicykel  vom  Centrum  dieses, 
hior  Äquans  genannten  Kreises  aus  gesehen  gleichmäßig  abrollen, 
schaltete  aber  einen  zweiten,  dem  Äquans  gleichen  Kreis  so  ein,  dafs 
der  Mittelpunkt  dieses  jetzt  Deferens  genannten  Kreises  im  Halbierungs- 
punkte  zwischen  der  Erde  und  dem  Centruin  des  Äquans  lag.  Die 
Schnittpunkte  der  Sehlinie  zwischen  dem  Mittelpunkte  des  Äquans 
und  dem  scheinbaren  Ort«'  des.  auf  der  Peripherie  als  gleichmüßig 
sich  abrollend  angenommenen  Centrum  des  Epicykels  mit  dem  neu 
eingeführten  Deferens  waren  nun  die  wahren  Orte  des  Epicykelmithd- 
punktes.  Dadurch  war  das  Prinzip  der  gleichmäßigen  Bewegung,  wie 
h-icht  zu  sehen,  aufgegeben,  nur  vom  Mittelpunkte  des  Äquans  aus 
blieb  eine  Fiktion  derselben  bestehen.  Auf  diesem  Wege  gelang  ihm 
die  Herstellung  einer  genügenden  Übereinstimmung  zwischen  Theorie 
und  direkter  Beobachtung. 

Diese  seine  Grundlehren  faßte  er  nun,  im  Verein  mit  anderen 
Beobachtungen,  in  seiner  großartigen  \yj.^i\ii-:rri  z'j'/-?*-:;  zusammen, 
gewöhnlich  nach  ihrer  arabischen  Verballhornung  Almagest  genannt. 
Für  ein  Jahrtausend  und  mehr  war  damit  die  Richtung  des  astro- 
nomischen Denkens  festgelegt.  Erst  ein  Coppernicus  wagte  es,  sich 
von  seinem  Baune  zu  befreien,  ein  Kepler  baute  das  neue  System 
aus;  erst  ein  Galilei  erstritt  ihm  den  Sieg  gegen  die  verbündeten 
Peripatetiker  und  Ptolemaios,  und  ein  Newton  fand  seine  Gesetze. 
Bis  auf  die  Zeiten  dieser  Männer  standen  alte  Leistungen  der  Zwischen- 
zeit auf  dem  Boden  des  Riesenwerkes,  dem  wir,  trotz  besserer  Einsicht, 
unsere  Bewunderung  nicht  versagen  können. 

Wenn  neben  diesen  Weltsystemen  —  deren  Gemeinsames,  die 
Annahme  der  ruhenden  Erde  im  Mittelpunkte  kreisförmig  sie  um- 
laufender Gestirnsbahnen,  fast  als  ein  Glaubensartikel  der  damaligen 
.Menschheit  erscheint  —  sich  trotzdem  die  Wahrheit  einigen  Erleuchteten 

I.V 


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196 

kund  gab,  so  ward  der  Funke  gar  bald  in  allgemeiner  Nichtachtung 
erstickt.  Schon  Philolaos,  des  Pythagoras  Schüler,  hatte  durch 
diu  von  ihm  angenommene  Axendrehung  der  Erde  einen  ersten  Schritt 
zur  Erkenntnis  der  thatsächlichen  Verhältnisse  gethan,  wie  roh  einer- 
seits und  wie  gekünstelt  andererseits  auch  sein  System  erscheinen  mag. 
Mit  den  Lehren  des  Pythagoras  und  seiner  Schüler  wurde  zu  Sizilien 
auch  Piaton  bekannt,  derselbe  Piaton,  welcher  Eudoxos  zur  Auf- 
stellung des  Systems  der  homoeentrischen  Sphären  bewogen  hatte. 
In  dem  durchdringenden  Geiste  dieses  Gewaltigen  vollzog  sich  im 
Anschlüsse  daran  ein  Anschauungswechsel,  der  ihm  in  seinen  letzten 
Jahren  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  gebracht  zu  haben  scheint.  Doch 
er  fürchtete  (mit  welchem  Recht  sollte  ein  Jahrhundert  später  sich  an 
einem  anderen  erweisen)  den  Entrüstungssturm,  ja  eine  Anklage  wegen 
Unglaubens,  und  nur  in  dunkelen  Andeutungen  wagte  er  seine  kühne 
Neuerung  zu  verkünden.  Was  er  sich  nicht  traute,  das  vollführte  der 
um  270  v.  Chr.  lebende  Aristarch  von  Samos.  Über  die  Entstehungs- 
geschichte seiner  Theorie  sind  wir  nicht  unterrichtet.  Nur  eine  Stelle 
beiPlutarch  und  vor  allem  ein  Passus  in  der  berühmten  Sandrechnung 
des  Archimedes  bezeugen  uns,  dafs  er  das  heliocentrische  System 
lehrte.  Aus  Plutarch  wissen  wir  auch  von  den  Verfolgungen,  die 
ihm  seine  Lehre  zuzog.  Er  blieb  vereinzelt  mit  seinen  Anschauungen 
Nur  Wenige,  wie  ein  gewisser  Seleukos,  bekehrten  sich  dazu: 
herrschend  blieb  allein  die  ji:';ai.r(  vjvrastc-). 

Durch  über  tausend  Jahre,  während  einer  Periode  tiefsten  Nieder- 
ganges der  Wissensehaften  bis  zum  abermaligen  Aufblühen  derselben, 
blieben  die  Theorien  über  den  Weltenbau  stationär.  Aristarchs 
Lehren  wurden  nicht  mehr  verfolgt,  nicht  mehr  verspottet;  Schlimmeres 
geschah  ihnen:  sie  waren  vergessen'1)! 

Im  starren  Itiichstabenglauben  war  das  Denken  des  Mittelalters 
stecken  geblieben.  Haarspaltereien  über  die  Auffassung  von  Einzel- 
heiten der  doch  nur  aus  der  arabischen  l Ü  bersetzung  bekannten  Griechen, 
das  nannte  man  Wissenschaft.    Worte,  wie  die  Alfons  des  Weisen 

•)  Was  wir  über  die  Vorläufer  dos  ('oppernicus  im  Altertum  wissen, 
ist  am  besten  dargestellt  von  Sc h i a p a r e  1 1  i ,  I  precursoii  di  i'opexnicn  nell' 
aiitic-lut.i  Hicerche  storiche  Deutsch  mit  nicht  unerheblichen  Zusätzen  des 
Verlas-.-!*  von  l'urtze,  I..  ipzijr  1S74. 

]  Pie  von  Iiipier  behauptete  fortdauernde  Hekanntschaft  mit  der  helio- 
centrisrhen  Lehre  im  Altertum  nicht  nur,  sondern  auch  das  ganze  Mittelalter 
hindurch  lüfst  sich  durch  Dokumente  nicht  beweisen.  Jedenfalls  hat  aber 
Cnppcrtiie  ijs  .ms  -oK  her  Itckanntschaft  nicht  die  Ann  u'iiii-  /u  seiner  Geistes- 
th;.t  erhalten 


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197 

nach  dem  Studium  des  Almagest:  rWäre  ich  Gotl  gewesen,  ich 
hätte  die  Welt  besser  erschaffen,"  blieben  Seltenheiten  in  einer 
von  Autoritätsglauben  völlig  beherrschten  Zeit.  Die  freie  Forschung 
schien  für  immer  verloren,  erstickt.  Doch  schon  iu  der  zweiten  Hälfte 
des  XV.  «Jahrhunderts  begann  es  sich  zu  regen  in  den  Herzen  und 
Köpfen  der  Menschheit;  der  wunderbare  goistigo  Aufschwung  der 
Renaissance  begann  sich  fühlbar  zu  macheu4).  Eine  erste,  köstlichste 
Frucht  brachte  sie  auf  unserm  Gebiete  durch  Xicoluus  Coppernious 
aus  Thorn.  Nach  eigenen  Angaben  durch  des  Pythagoräers  Nicetus, 
richtiger  Iliketas,  Erklärung  der  scheinbaren  Drehung  des  Himmels- 
gewölbes vermöge  Axendrehung  der  Erde  angeregt  —  er  fand  sie 
bei  Cicero,  Academicae  quaestiones  — ,  und,  wenn  auch  nur  aus 
den  dürftigen  Angaben  Plutarchs  mit  den  Ansichten  Aristarchs 
von  Samos  bekannt,  hat  er  mit  seinem  unsterblichen  Werke  ..De  re- 
volutionibus  orbium  caelestium"  eine  neue,  richtige  Weltan- 
schauung gelehrt. 

1.  Jugend-  und  Studienjahre. 
Dafsdie  Lebensgeschichte  eines  Coppernicus  derartig  in  Dunkel 
gehüllt  sein  kann,  wie  wir  es  leider  boi  jedem  Versuche  einer  Dar- 
stellung auf  Schritt  und  Tritt  empfinden  müssen,  wirkt  auf  den  ersten 
Blick  überraschend.  Wer,  wie  er,  den  eingewurzelten  Vorstellungen 
eines  Jahrtausends  den  Krieg  erklärte  und  durch  seine  Gedanken- 
arbeit die  neue  beobachtende  Methode  der  Erkenntnis  zum  Siege 
gegen  die  metaphysischen  Spielereien  der  Vergangenheit  führte,  dessen 
Lebensbild,  müfste  man  glauben,  hätten  doch  seine  Jünger  der  Nach- 
welt zu  überliefern  pietätsvoll  sich  beeifern  müssen.  Lud  der  Ver- 
such ist  auch  gemacht.  Sein  Schüler  und  Freund,  Georg  Joachim 
von  Lauchen,  nach  seinem  Geburislande  Rheticus  genannt,  hatte 
ein  solches  Werk  vollendet,  wie  wir  aus  einem  Briefe  des  Bischofs 
Tiedemann  Giese  an  Rheticus  wissen.  Wohin  dasselbe  nach 
dem  157ö  zu  Kaschau  erfolgten  Tode  des  letztem  gekommen,  ob  es,  wie 
eine  grofee  Zahl  von  Originalbriefen  des  Coppernicus,  im  Besitze  des 
berühmten  Krakauer  Professors  Johannes  Broscius  mit  diesen 
unwiederbringlich  verloren  ging,  oder  ob  es  sonst  seinen  Untergang 

*)  Vou  dun  Vorläufern  des  Coppernicus  im  Mittelalter  und  der  be- 
ginnenden Renaissance  dürftcu  vor  allen  Heinrich  von  Hessen  und 
Nicolaus  Cuaanus  genannt  werden,  von  denen  der  erstere  sich  Regen  die 
Kpicvklen  und  excentrisclien  Kreise,  dor  letztere  für  die  Axendrehung  der 
Eule  erklärte.  Über  den  lelzteren  sehe  mau  ein«  demnächst  erscheinende 
Abhandlung  S.  Günthers:  , Nikolaus  von  Cusa  in  seinen  Beziehungen 
zur  mathematischen  uud  physikalischen  Geographie. - 


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198 


(and,  wir  wissen  es  nicht.  Wir  können  nur  den  Verlust  dieser,  unter 
den  Augen  des  Coppernicus  selbst  entstandenen  Biographie  be- 
klagen und  sind  so  nur  auf  die  dürftigen  Angaben  in  seinen  Schriften 
und  auf  wenige,  überall  hin  zerstreute  anderweitige  Auskünfte  ange- 
wiesen, um  eine  Rekonstruktion  des  Lebenslaufes  und  Bildungsganges 
des  Schöpfers  unserer  Anschauung  über  das  Universum  zu  versuchen. 
Der  Grund  der  Seltenheit  urkundlicher  Angaben  liegt  nicht  zum 
kleinsten  Teile  an  der  Plünderung  und  Wegschleppung  des  Frauen- 
burger  Archivs  durch  die  Schweden  im  dreißigjährigen  Kriege.  Jen- 
seits der  Ostsee  ist  an  den  verschiedensten  Orten  vieles  wieder  auf- 
gefunden. Ja  bis  vor  wenigen  .fahren  waren  wir  noch  die  Opfer 
gewissenloser  Fälschungen  des  dem  XVIII.  Jahrhundert  angehörenden 
Papadopoli;  und  erst  die  Auffindung  der  ..Acta  Nationis  Germanorum" 
zu  Bologna  durch  Malagola  und  des  Ferraresischen  Doktordiploms 
im  kanonischen  Hechte  durch  Fürst  Boncompagni  haben  diese 
Fälschung  aufgedeckt  und  einiges  Licht  auf  seine  Universitätsjahre  in 
Italien  geworfen.  Reichlicher,  wenn  auch  noch  spärlich  genug,  fliefsen 
erst  die  Quellen  seit  seiner  Rückkehr  aus  Italien  zum  Domstift  Frauen- 
burg um  150(1.  So  mufs  Vieles  nur  Konjekturen  überlassen  und  aus 
dem  Studium  der  zu  seiner  Zeit  bestehenden  Verhältnisse  erschlossen 
werden. 

Was  N  i co laus  M  u lerius,  der  Neuherausgeber  der  „Revohttiones", 
1617  als  Vita  autoris  vorausschickt  5),  sind  nur  wenige  aus  der  Narratio 
prima  des  Rheticus0)  entnommene  Notizen;  eine  wirkliche  Lebens- 
beschreibung, welche  auf  allen  damals  zugänglichen  Quellen  fufste, 
gab  erst  1G">4,  also  über  ein  Jahrhundert  nach  dem  Tode  seines 
Helden,  Petrus  Gassendi7).  Über  das,  was  dieser  bedeutende  Mann 
gesammelt,  sind  die  Forscher  erst  im  Laufe  dieses  Jahrhunderts  hinaus 
gekommen.  Nachdem  am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  der  Streit 
begonnen  hatte,  oli  Coppernicus  ein  Deutscher  oder  ein  Pole  sei,  hat 

*■)  Nicolai  Copernici  Toiinensis  Astronomia  instauiata,  libiis  sex  cum- 
prehensa,  <]ui  ■  lo  Kevoliitionibus  oibium  coeU\fititim  inscribuntiir  etc.  opera  et 
studio  D.  Nicolai  Mulerii.   Amstcli odami,  Jansonius,  MDCXVll.  LSlalt 8v--i)r. 

c)  Dio  Narratio  priinu  des  Khoticus  erschien  zueist  1.V10  zu  Danzi«-  unter 
dem  Titel:  Ad  clarissimum  viruni  13.  Joanneni  Schonerum,  de  libris  rcvolutio- 
num  eruditUsimi  viri  et  Mathematici  excellentissimi  Heverendi  I).  Doctoris 
Nicolai  Copernici  Torunnaoi,  Canonici  Varmiensis.  per  'juoiidam  Juvcnera, 
mathematicae  studiosum  Narratio  {irima.  Am  Kndc:  lixcusum  Cedani  per 
Franciscum  Rodum  MDXL. 

7|  Die  Lebensbeschreibung  des  Gassendi  ist  enthalten  in  dem  (Juche: 
Tychonis  Brahei,  Kcpiitis  Dani.  Astronomorum  Coryphaei  Vita.  Authore 
Petro  Gasseudo  Kegio  matheseos  professore.   Auressit  Nicolai  Copcrnicii 


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199 


gerade  diese  für  die  Wissenschaft  so  gleichgiltige  Sache  den  Eifer  der 
Biographen  von  neuem  angefacht,  und  die  Untersuchungen  über  diesen 
Streitpunkt  nehmen  in  allen  Lehensbeschreibungen  des  Ooppernicus 
einen  breiten  Raum  ein.  Die  Durchforschung  der  schwedischen  und 
ermländischen  Archive  durch  Leopold  Prowe*)  und  Franz  Ilipler 
haben  dann  so  manches  zu  unserer  Kenntnis  gebracht,  was,  bis  dabin 
unbekannt,  nicht  wenige  der  früheren  Behauptungen  über  den  Haufen 
warf.  Ich  habe  da  zwei  Namen  genannt,  Prowe  und  Hipler,  welche 
jeder  in  seiner  Art  als  die  wahren  Biographen  des  Coppern  icus  be- 
zeichnet werden  müssen.  Während  der  letztere  in  seinem  „Spicile- 
giuni  Copernicanum"  liegesten  giebt't,  hat  Prowe  in  seiner  grofs  an- 
gelegten Biographie10)  ein  Lebensbild  gezeichnet,  das,  mag  auch  viel- 
leicht manches  anfechtbar  sein,  dem  grol'sen  Manne  voll  gerecht  wird. 
Auf  ihn  und  auf  Hipler  mich  stützend,  will  ich  versuchen,  den  Lesern 
dieser  Zeitschrift  ein  Bild  von  dem  Leiten  und  Wirken  des  Wieder- 
herstellers der  Sternkunde  vorzuführen. 

Nicolaus  Coppe  rnicus  stammte  aus  einer  ursprünglich  schle- 
sischen  Familie.  Sein  Vater,  Niklas  Kopoernigk,  war  als  (Jrofs- 
kaufmann  lauge  in  Krakau  ansässig.  Gegen  Knde  der  "»Oer  Jahre 
des  XV.  Jahrhunderls  zog  er  nacli  Thorn  und  verheiratete  sich  buhl 
darauf  mit  Barbara  Watzelrode  ans  altern  Thorner  P,ilrizierg>  schlecht, 
einer  Tochter  des  Schüppenmeisters  der  Altstadt  Thorn,  Lucas 
Watzehode.  Km  Beweis  für  das  grofse  Ansehen,  das  er  geuofs, 
ist  seine  für  Zugezogene  ungewöhnlich  Crühe  Berufung  zum  Khren- 
amte  eines  Schüppen  (14<;ö..  Der  Khe  entsprossen  vier  Kinder.  Die 
älteste  Schwester,  Barbara,  starb  als  Äbtissin  des  Cisterzienserklosters 
zu  Cuhn;  Katharina,  die  jüngere,  heiratete  einen  Krakauer  Kaufmann 
Gertner.      Der   ältere    Bruder    Andreas    gelaugte    nach  gleichem 

Oeorgii  I'e  ii  r  Im  eh  i  i  et  .1 <>  h  .1  11  u  1  s  H  0  gi  o  m  o  11 1  a  11  i  .Vsttnnomni  um  eele- 
hriuin  Vita.  I'arisiis,  MDCLIV.  Darin  haben  die  drei  let/len  Biographien 
eine  neue  von  1  beginnende  Zähhing.  Dem  Leben  des  ('oppernunis  ist 
ein  gutes  Bildnis  desselben  vorangestellt,  welches  oben  in  verkleinertem  Mals- 
stabe eingelügi  ist. 

"I  Mitteilungen  aus  sr.li wedischon  Archiven  und  Bibliotheken.  Bericht 
an  Sc.  Excellenz  Denn  Minister  v.  Hau m er  von  Dr.  L.  l'rowe.    Berlin  IJ>"»:{. 

\|  Spicilegimn  1  openücauum.  Festschrift  des  historischen  Vereins  für 
Krtnland  zum  4'Jo.  Geburtstag«  des  eriniandiscli.  n  Domherrn  Nikolaus  Ko- 
pernikus.  Herausgegeben  von  Dr.  Kran/.  Hipier,  liraunsberg  IST.".  Leider 
ist  wahrend  des  Druckes  dieser  Zeilen  Franz  Hipler  ;iih  diesem  Leben 
abgerufen. 

,0;  N'icolaus  Coppernicus.  Von  Leopold  Prowe.  I.  Band:  das 
Leben,  2  Teile;  2.  Band:  Urkunden.    Berlin  ISX'./M. 


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Bildungsgänge  zu  gleicher  Lebenstellung  wie  das  jüngste  Kind,  unser 
Nicolaus.  Dieser  winde  um  19.  Februar  1473  zu  Thum  geboren. 
Die  Tradition  bezeichnet  fälschlich  das  heute  noch  stehende,  mit  einer 
Gedenktafel  geschmückte  Kckhans  der  Bäcker-  und  Coppernicus- 
Strafsc  als  seine  Geburtssiätte.  neuere  Forschungen  verlegen  sie  in 
die  frühere  St.  Annenstrafse 1 1 ).  Nicolaus  scheint  eine  glückliche 
Jugend  verlebt  zu  haben,  soweit  uns  die  wenigen  über  ihn  vorhandenen 
Dokumente  bis  100b  einen  Ifückschluls  erlauben.  Als  1483  sein  Vater 
starb,  nahm  sich  sein  Oheim,  Lucas  Watzel  rode,  seiner  Erziehung 
an  und  blieb  auch  in  der  Folge  als  Bischof  von  Krmland  (seit  1489) 
sein  nun  mächtigerer  Förderer.  Den  ersten  l'nlerrieht  erhielt  der 
Knabe  unzweifelhaft  in  der  .Johannisschule  zu  Thorn,  an  welcher  zeit- 
weilig auch  der  Oheim  gewirkt  hatte.  Die  Angabe  dagegen,  Cop- 
pernicus  habe  auch  das  Partikular  zu  Ciilrn  besucht,  ist  ohne  jede 
Beglaubigung.  Bald  lttjährig  vcrlicfs  er  Anfang  des  Wintersemesters 
1491  Thorn  und  bezog  dir-  Hochschule  zu  Krakau.  Abgesehen 
von  dem  Weltruf  der  Universität  als  solcher,  mochten  Fauiilienbe- 
ziehungen,  o  ils  durch  die  Heirat  seiner  jüngeren  Schwester  begründet, 
teils  von  frü herlier,  und  die  Verbindungen  des  Bischofs  Lucas  als 
polnischen  Grofswürdenträgers,  sowie  dessen  Kenntnis  der  dortigen 
Verhältnisse  infolge  einstmaligen  eigenen  Studiums  zu  Krakau  die 
Wahl  dieses  Ortes  begünstigt  haben. 

Durch  den  Florentiner  Callimachus  hatte  der  Geist  des  Huma- 
nismus dort  Wurzel  gefalst  und  kurz  vorder  Ankunft  des  Coppernieus 
erst  nach  zweijähriger  Anwesenheit  ein  anderer  bekannter  Humanist. 
Conrad  Celles,  die  Universität  verlassen.  In  dessen  Geisie  wirkten 
seine  Schüler  weitet,  so  Laurentius  Corviuus,  zu  dem  Nicolaus 
in  dauernde  Freundschaftsbeziehungen  treten  sollte1'!.  Kin  frischer 
Geist  zog  durch  die  Vorträge  der  Professoren.  Den  glänzendsten 
Namen  alter  unter  allen  Dozenten  trug  der  Mathematiker  und  Astronom 
Albertus  Klar  de  Brudzewo,  gewöhnlich  Brudzewski  genannt, 
'lausende  eilten  aus  weiter  Ferne  heran,  um  ihn  zu  hören.    I.Jas  waren 

")  Der  W-u-hwois  ist  -<'führt  von  (i.  Ken  der  im  ::.  Helte  <l»lr  -Mitteilungen 
des  Coppernicus-Veivins  für  Wissenschaft  und  Kunst  /.u  Thorn,  Thorn  1  -SS  1 
S.  I  Iii —  \  Man  vcr^ teiebe  dum  dir  in  Hell  4  belindlirhe  Abhandlung  von 
H.  Adolph,  .Das  Ui'bnrtshaus  des  Nicolaus  Co  p  p  e  rn  ic  u  s  -  und  die  Knt- 
getfnun:;  Heilders  in  demselben  Heft«  S.  W  HC:  „Noch  einmal  das  Geburts- 
haus lies  Nikolaus  (.'  o  p  p  e  i  11 >  e  11  s  " 

Man  -eh<'  das  Kin'mtuicj'-^edieht  dieses  Mannes  /n  d--r  Ausgabe  der 
Kriefo  des  T h eo p h v 1 a kt os  .Si  in  o  ka  t  t  a  .  welche  ( '  >> p  ]> e  r  n  i  ■■  ;i  -  i.".n;»  l«oi 
Halle  r  in  Krakau  besorgte. 


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201 


die  hauptsächlichsten  Bildungsfaktoren,  als  unter  dem  Rektorate  des 
Mathias  de  Kobvlin  am  Immatrikulationstermin  des  Wintersemesters 
1491/92  Nicolaus  Coppernicus  zu  Krakau  immatrikuliert  und  in 
der  Artistenfakultät  inskribiert  wurde.  Nicolaus  widmete  sich,  da 
Brudzewski  keine  öffentlichen  Vorlesungen  der  Art  während  des 
Coppernicus  Aufenthalt  gehalten  hat,  jedenfalls  unterdessen  privater 
Leitung  mit  größtem  Eifer  mathematischen  und  astronomischen  Studien 
und  übte  sich  im  (Gebrauche  der  darauf  bezüglichen  Instruinente.  Ob 
und  welchen  öffentlichen  Vorlesungen  über  diesen  Lieblingsgegen- 
stand er  beiwohnte,  ist  uns  unbekannt,  ebenso  sein  anderer  Studien- 
gang.  Selbst  die  Dauer  seines  Aufenthaltes  zu  Krakau  wird  verschieden 
angegeben.  Am  wahrscheinlichsten  scheint  die  Absolvierung  eines 
Trienniums.  Sein  Onkel  gedachte  ihn  nämlich  zwecks  pekuniärer 
Sicherslellung  auf  Lebenszeit  in  das  Domstift  zu  Fraueuburg  aufnehmen 
zu  lassen.  Die  Statuten  des  Kapitels  forderten  nun  mindestens  ein 
dreijähriges  Studium  von  den  Angehörigen  des  Stiftes,  so  dafs  ein 
früherer  Versuch,  ihn  als  Kandidaten  zu  präsentieren,  kaum  angängig 
eischien.  Auch  lassen  die  Kenntnisse  des  Coppernicus  in  Italien, 
obwohl  er  nicht  graduiert  war.  doch  auf  ein  wenigstens  so  langes 
Studium  schliefsen.  Andererseits  scheint,  durch  den  vorübergehenden 
Sieg  der  Scholastiker  an  der  Hochschule  im  Herbst  1494  und  Brud- 
zewskis  gleichzeitigen  Weggang,  wie  für  alle  humanistisch  Gesinnten, 
so  auch  für  unsern  Nicolaus  dort  keines  Bleibens  mehr  gewesen  zu 
sein.  Wohin  er  sich  gewendet  hat,  ist  nicht  sicher  festzustellen. 
Vielleicht  nach  seiner  Vaterstadt  Thorn  zur  Huldigungsleier  für 
König  Johann  Albert  von  Polen,  zu  der  auch  sein  Oheim  damals 
sich  hatte  begeben  müssen,  und  mit  diesem  dann  zur  Vorstellung  b**i 
(l'  in  Kapitel  zu  Fraueuburg?  Dort  war  im  September  1495  durch 
den  Tod  des  Domherrn  Mathias  von  Launau  eine  Vakanz  einge- 
treten. Des  Bischofs  Lucas  Hoffnung,  seinen  Schützling  Nicolaus 
an  dessen  Stelle  zu  bringen,  scheiterte  für  diesmal  noch  an  den  Intriguen 
seiner  Feinde  zu  Rom,  das  das  Besetzungsiecht  der  ermländischen 
Domherrnstellen,  falls  sie  in  ungeraden  Monaten  zur  Erledigung 
kamen,  hesafs.  Die  Entscheidung  scheinen  die  Gegner  lange  in  der 
Schweb"  gehalten  zu  haben.  Nach  ihrem  ungünstigen  Ausfalle  zog 
Coppernicus  im  Spätsommer  1406,  ungehindert  durch  anderweitige 
Rücksichten,  gen  Italien,  der  Wiege  und  Schule  des  Humanismus. 
Anlang  des  Wintersemesters  1496  97  ist  er  in  Bologna  eingetroffen 
und  dort,  wie  vor  ihm  einst  sein  Oheim,  am  6.  Januar  1497  in  das 
Album  der  Natio  Germanorum  inskribiert  worden.    Damit  ist,  da  der 


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202 


Nation  nur  Juristen  angehören  durften,  auch  für  Cop  pernicus  dieses 
Studium  erwiesen  1 !). 

Die  Dozenten  der  Rechte,  obwohl  aus  den  erhaltenen  Vorlesungs- 
verzeichnissen bekannt,  interessieren  uns  aber  weniger  als  die  für 
den  Entwickelungsgang  des  grofsen  Astronomen  als  solchen  wichtigen. 
Die  Frühprofessur  dieser  Wissenschaft  hatte  zur  Zeit  Dominions 
Maria  da  Novara  aus  Forrara  inne.  Ihm  schlofs  sich  Coppernicu  s 
innig  an,  wie  uns  Rheticus  in  der  Xarratio  prima  berichtet,  mehr  als 
gleichberechtigter  Heller  bei  Beobachtungen,  denn  als  Schüler.  Am 
1».  März  1 41*7  beobachteten  z.  B.  beide  eine  Bedeckung  des  Aldebaran 
durch  den  Motid,  die  erste  eigene  von  Coppernicus  benutzte  Be- 
obachtung (Do  revol.  IV" ,27).  Wichtig  zur  Charakterisierung  des  Lehrers 
ist  sein  Zweifel  an  <len  Grundlagen  des  Almagest.  Ob  er  die  von 
ihm  gefundene  Abnahme  der  Schiefe  der  Ekliptik  von  23°  51' 20"  bei 
Ptolemaios  auf  23"  20'  als  Folge  der  Präzession  der  Nachtgleichen 
ansah,  wissen  wir  nicht;  eine  Differenz  der  Breitenatigabe  für  Cadix 
im  Betrage  eines  ganzen  Grades  zwischen  ihm  umd  Ptolemaios  lit'Ts 
ihn  jedoch  eine  Änderung  in  der  Lage  «1er  Krdaxe  vermuten;  der 
Pol  habe  sieh  dem  Zenith  genähert.  Ein  Beobachtungsfehler  erschien 
ihm,  wie  er  ausdrücklich  bemerkt,  wegen  der  GröTse  der  Abweichung 
ausgeschlossen.  Trotzdem  lag  ein  solcher  vor.  Die  Folgerung  war 
also  falsch,  wenn  auch  eine  Richtungsänderung  der  Krdaxe.  als  Bogen- 
bewegung,  existiert.  Diese  Versuche  einer  Kritik  am  stolzen  Bau  des 
herrschenden  Glauheus  bekundeten  den  freien  Geist;  seine  scheinbar 
damit  in  Widerspruch  stehende  Beschäftigung  mit  Astrologie  ist  einer- 
seits aus  den  Bedingungen  seines  Amtes,  andererseits  wohl  auch 
aus  pekuniären  Gründen  erklärlich14).  Obwohl  wir  über  des  Cop  per- 
nicus anderweitigen  Umgang  mit  Mathematikern  zu  Bologna  nichts 
wissen,  wollen  wir  schliefslich  doch  die  Anwesenheit  des  Scipione 
dal  Ferro,  des  ersten  Entdeckers  der  Lösung  kubischer  Gleichungen, 
nicht  unerwähnt,  lassen. 

Fan  weiteres  Bildungselement  brachte  in  seinen  Bologneser  Auf- 
enthalt die  Erlernung  der  griechischen  Sprache.  Zwingende  Gründe 
lassen  uns  dieselbe  trotz  Fehlens  jeder  urkundlichen  Nachricht  darüber 

")  Die  Wiederaufllitdung  der  Akten  der  Deutschen  Nation  7.11  Bologna 
geltiihrt  <li  in  Direktor  der  Stautsareliive  zu  Bologna,  Dr.  Carlo  Malagola. 
Dieselben  sind  dann  von  ilini  im  Verein  mit  Dr.  F  r  i  n  rl  i  ä  n  d  e  r  auf  Kosten  der 
Savitfiiysliftuitg  hei ausgegeben  worden. 

H)  I  ber  Domenico  Maria  Novara  s  he  man  speziell  einen  Aufsatz 
von  M.  Curtze  111  der  Altpreufsiseheti  Monatssehritt  und  daraus  übersetzt  im 
Bullettino  BoncoinpaL'ni  Tom»  X'. 


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203 

hierher  verlegen.  In  Krakau  hat  Nico  laus  mangels  eines  Lehrers 
bestimmt  kein  Griechisch  lernen  können;  in  Padua  und  Ferrara  war 
seine  Zeit  durch  Vorbereitung  zum  Examen  in  der  .Jurisprudenz  und 
die  neu  hinzutretende  medizinische  Wissenschaft  zu  beschränkt  fin- 
den Anfang  eines  so  zeitraubenden  Studiums.  Zu  Bologna  aber  lebte 
ein  trefflicher  Kenner  dieses  Idioms,  Antonius  Lrceus  Codrus. 
Dazu  kommt  als  indirekter  Beweis  eine  spätere  Übersetzung  des 
Theoph  v  laktos  Simokatta  mit  ihren  Abweichungen  von  der  durch 
den  Paduaner  Dozenten  für  Griechisch  zur  Zeit  von  Nicolaus'  Anwesen- 
heit an  diesem  Orte,  Marcus  Muslims,  besorgten  Aldina.  Urceus 
hatte  von  Manutius  Aldus,  seinem  verehrter,  Freunde,  gleich  nach 
dem  Drucke-  fliesen  Schriftsteller  mit  der  Aufforderung  erhüben,  ihn  im 
Kolleg  zu  benutzen;  so  lassen  sich  die  in  Coppern  icus  Übersetzung 
vorhandenen  Abweichungen  leicht  als  andere  Lesarten  des  Frcens 
Codrus  erklären 

Über  sein  Bologneser  Privatleben  wissen  wir  Weniges.  Im 
August  1497.  also  in  einem  geraden  Monate,  war  der  Frauenburger 
Domherr  Johannes  l'zannow  gestorben.  Sein  Nachfolger  wurde 
Nicolaus  Coppernicus,  dessen  Einkommen  damit  etwa  einem 
jetzigen  von  9000  Mark  entsprach.  Zugleich  wurde  ihm  ein  drei- 
jähriger Urlaub  zur  Fortführung  seiner  Studien  bewilligt.  Die  Pfründe 
hat  er  jedenfalls  durch  einen  Stellvertreter  angetreten.  Diese  vom 
kanonischen  Rechte  den  Geistlichen  gewährte  Begünstigung  macht  die 
Annahme  einer  Reise  nach  der  Heimat  überflüssig.  Bei  Antritt  der 
Domhermstelle  empfing  Coppernicus  auch  die  niederen  Weihen, 
die  übrigen  hat  er  nie  besessen.  Im  Jahre  1498  kam  dann  sein 
Bruder  Andreas,  der  1499  ebenfalls  zum  Frauenburger  Domherrn 
gewählt  wurde,  nach  Bologna,  um  dort  die  I {echte  zu  studieren.  Trotz 
ihres  beträchtlichen  Einkommens  und  wohl  auch  nicht  unbedeutender 
Zuschüsse  ihres  Oheims  brachte  das  teuere  Leben  auf  der  Universität 
die  Brüder  doch  in  Geldverlegenheiten.  So  wissen  wir.  dafs  sie  im 
Herbst  1499  durch  Vermittelung  ermländischer  Kirchenbevollmächtigler, 
speziell  unter  Bürgschaft,  des  Domdeclninten  Beruhard  Sculteti, 
100  Ducaten  von  einer  romischen  Bank  borgten,  welche  Bischof 
Lucas  zu  zahlen  gezwungen  war.  Vier  Jahn»  lang  blieb  Nicolaus 
zu  Bologna.  Auch  bei  einer  Allodverteilung  im  Kapitel  am  7.  Februar 
1499  hat  er  sich  ohne  Zweifel  durch  seinen  Prokurator  vertreten  lassen. 

,4)  Über  Urceo  Codro  hat  Maiagola  eine  »•ingeln-nde  Studio  veröffent- 
licht: Deila  vit:i  e  delle  opero  dl  Antonio  Urceo  delto  Codro.  Studio 
ricerche  di  Carlo  Malagola.    Bologna  1STS. 


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204 


Im  Jahre  1500  finden  wir  ihn  mit  seinem  Bruder  zu  Rom 
wieder.  Ob  er  die  Charwoche  des  Jubeljahres  dort  verlebte,  ob  er 
das  Sommersemesterendo  in  Bologna  abwartete,  wir  wissen  os  nicht. 
Am  4.  März  beobachtete  er  noch  zu  Bologna  eine  Konjunktion  des 
Saturn  mit  dem  Monde,  wie  eine  eigenhändige  Fiuzeichnung  in  ein 
ihm  gehöriges  Exemplar  der  Alfousinischeu  Tafeln  von  diesem  Tage 
beweist;  am  ü.  November  aber  hat  er  zu  Rom  eine  Mondfinsternis  be- 
obachtet (De  revol.  IV,  14).  Hheticus  berichtot  uns  ferner  von  jenem 
Aufenthalte,  Xicolaus  habe  zu  Rom  als  Professor  Mathomatum  starken 
Zulauf  auch  mathematisch  schon  Vorgebildeter  gehabt  Nicht  graduiert 
kann  er  an  der  Universität  derartige  Vorlesungen  nicht  gehalten  haben, 
in  den  Rotulis,  den  Vorlesungsverzeichnissen,  fehlt  auch  jede  Angabe 
darüber;  es  sind  also  jedenfalls  nur  private  V  orträge  für  Interessenten 
darunter  zu  verstehen. 

Im  Sommer  1500  war  sein  dreijähriger  Urlaub  von  der  Kathedrale 
abgelaufen.  Die  Feier  des  Jubeljahres  mag  er  als  Mitglied  des  Dom- 
kapitels wohl  halboffiziell  zu  Rom  verlebt  haben.  Dann  aber  trat  die 
Notwendigkeit  an  ihn  heran,  persönlich  in  Frauenburg-  um  neuen 
Urlaub  zu  bitten.  So  überschritt  er  denn  wieder  die  Alpen;  mit  ihm 
zog  sein  Bruder  Andreas.  Am  27.  Juli  1501  finden  wir  zum  ersten 
Male  die  Anwesenheit  beider  Brüder  in  einer  Kapitelsitzung  erwähnt. 
Andreas1  Urlaubsgesuch  gewährten  die  Confratres  nach  ernstlicher 
Beratung,  Nico  laus  gewann  ihr  Einverständnis  schneller  durch  das 
Versprechen,  auTser  dem  Abschlufs  des  juristischen  Studiums  noch 
Medizin  zu  betreiben,  und  durch  die  dadurch  eröffnete  Aussicht  auf 
künftige  sachverständige  Behandlung  erkrankter  Kapitelluitglieder- 
Bei  dem  geringen  Umfange  und  der  engen  Wechselbeziehung  der 
einzelnen  Wissensgebiete  zu  damaliger  Zeit  darf  die  Vereinigung 
astronomischen,  juristischen  und  medizinischen  Könnens  in  einer 
Person  nicht  Wunder  nehmen;  auch  der  Widerwille  der  Kirche  gegen 
Ausübung  ärztlicher  Praxis  seitens  der  Geistlichen  war  bis  auf  das 
Verbot  chirurgischer  Operationen,  wegen  der  damit  verbundenen 
Herzensverrohung,  bereits  geschwunden.  Die  Brüder  hatten  ihren 
Zweck  erreicht.  Noch  im  selben  Herbste  überstiegen  sie  von  neuem 
die  Alpen:  Andreas  ging  nach  Rom,  Nico  laus  nach  Padua.  Ihn 
mag  zunächst  wohl  der  hohe  Ruf  der  medizinischen  Fakultät  dorthin 
gezogen  haben,  dann  aber  auch  das  Bedürfnis  nach  Ruhe  zum  Ab- 
schlüsse seines  juristischen  Studiums.  War  Bologna  doch  der  Durch- 
gangspunkt uuziihliger  Fremden  und  bot  Vergnügungen  in  Menge,  so 
dafs  zwanzig  Jahre  später  der  Hochmeister  gewarnt  wurde,  der  daraus 


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205 


entspringenden  Störungen  wegen,  seinen  Schützling,  den  Grafen  von 
Eulonburg,  dort  studieren  zu  lassen.  In  den  Paduaner  Archiven 
hat  sich  keine  Andeutung  von  CoppernicusAufenthalte  daselbst  er- 
halten, nur  eine  dunkle  Frauenburger  Tradition  versetzte  die  ärztliche 
Bildung  des  grofsen  Astronomen  nach  dieser  Universität.  Durch 
Papadopolis  Fälschung,  der  ihn  nach  Krakau  nur  in  Padua  studieren 
und  dort  1499  den  medizinischen  und  philosophischen  Doktorgrad, 
welche  er  nie  besessen  hat,  erwerben  läfst,  war  überhaupt  die  An- 
nahme eines  Paduaner  Studiums  in  Mifskredit  gekommen:  da  fand 
sich  zufällig  im  Archiv  zu  Ferrara  sein  juristisches  Doktordiplom, 
und  durch  dessen  ausdrückliche  Worte:  „Nicolaus  Copernich  de 
Prusia  qui  studuit  Bononie  et  Paduek  der  strikte  Beweis  seiner 
Anwesenheit  auf  der  Paduaner  Alma  Mater. 

Da  aufser  diesem  Diplome  keine  weiteren  Dokumente  über  seinen 
Studiengang  zu  Padua  sich  erhalten  habeu,  so  sind  wir  einzig  auf 
Rekonstruktion  desselben  aus  Angaben  über  die  zu  damaliger  Zeit 
dort  wirkenden  Lehrer  und  daraus  sich  ergebende  Wahrscheinlich- 
keiten angewiesen.  Die  geringeren  Kosten  und  leichteren  Bedingungen 
des  Doktorexamens  zu  Ferrara  haben  ihm  wohl  von  Anfang  an  schon 
den  Entschlufs  nahe  gelegt,  dort  durch  Erlangung  dieser  Würde  seino 
Rechtstudien  zu  krönen.  Er  wird  daher  zu  Padua  meist  nur  Repe- 
titorien  des  canonischen  Rechtes  gehört  haben,  ohne  den  zur  Promo- 
tion erforderlichen  näheren  Anschlufs  an  einen  ex  officio  als  Promotor 
fungierenden  Dozenten  zu  suchen.  So  berühmte  Vorlesungen  wie  die 
des  Filippo  Decio,  des  „Fürsten  der  Juristen",  dürfte  er  aber  doch 
wohl  nicht  versäumt  haben.  In  den  grofsen  Himmelfahrtsferien  des 
Jahres  1503  wurden  ihm  dann  zu  Ferrara  am  31.  Mai  in  Gegenwart 
des  Rektors  der  Juristenfakultät  Johannes  Andreas  de  Lazaris 
vom  Vikar  des  Erzbischofs  Georgius  Priscianus  feierlich  die  In- 
signien  des  Doctor  decretorum  überreicht.  Der  darüber  aufgenommene 
notarielle  Akt  eben  hat  sich  erhalten;  in  der  Anmerkung  lassen  wir 
ihn  abdrucken1').  Als  Promotoren  fungierten  Dr.  Philippus  Bar- 
della und  Dr.  Antonius  Leutus,  letzterer  einer  der  bedeutendsten 

"')  l")0."i.  Die  ultima  mensis  Maij.  Ferrarie  in  episeopali  palatio,  sub  lodia 
horti  presentibus  testibus  vocatis  et  rogatis  Spectabiii  viro  domino  Joanne 
Andrea  de  Lazaris  siculo  panormitano  almi  Juristarum  ffymnasii  Ferrariensis 
Mag-uifico  Rectore,  Ser  Bartholom eo  de  Silvestris,  cive  et  notario 
Ferrariensi.  Ludovico  quondam  Baldassaris  de  Regio  cive  Ferrariensi  et 
bidello  Universitatis    .Juristarum  civitatis  Ferrarie,  et  alijs. 

m:  Venerabiiis,  ac  doctissimus  vir  dominus  Nicola  us  Copernich  de 
Prusia  Canonicus  Varmensis  et  Schoiastieus  ecclesie  S.  crucis  Vratis- 


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2M 


Rechtsgelehrten  seiner  Z^it  I  ber  seine  persönlichen  Beziehungen  zu 
den=eir>en  ist  ..n«  nichts  »eiler  bekannt.  Damit  war  dieser  Abschnitt 
meiner  Stadien  beendet,  und  er  konnte  sich  freier  den  sicher  bereits 
in  Angr.ff  genommenen  anderen  Wissenszweigen  hingeben. 

Auf-er  seiner  medizinischen  Ausbildung  dürften  vornehmlich 
philosophische  Vorlesungen  ihn  in  Padua  angezogen  haben.  Neben 
den  allgemeinen  scholastischen  Vorlesungen  über  Aristoteles  lehrten 
dort  kühne  Neuerer.  Zuerst  möchten  wir  den  später  weltberühmten 
Pietro  Pom  ponazzi  nennen.  Seine  Philosophie  emanzipierte  sich 
vorn  starren  Dogmenglauben;  als  erster  wagte  er  religiöse  Kritik  zu 
üben,  ohne  steh  auf  die  Bibel  zu  stützen.  Ihm  ebenbürtig  war 
Niccolo  Leonico  Tomes.  Seine  Erklärungen  des  Aristoteles  und 
Pia  ton  nach  dem  griechischen  Urtexte  räumten  gründlich  unter  den 
f  ber-etzungen  aus  dein  Arabischen  und  den  Spitzfindigkeiten  der 
geltenden  Kommentatoren  auf.  um  freie  Bahn  hir  unbeschränkte 
Forschung  auf  Grund  von  Naturbeobachtung  zu  schallen.  Wir  nennen 
endlich  den  kaum  zwanzigjährigen  Logiker  Girolamo  Fracastoro. 
Zu  ihm  vor  allem,  zu  dem  späteren  energischen  Gegner  der  Epicykel- 
theorie,  dem  freien  Denker,  musste  Coppernicus  sich  hingezogen 
fühlen,  abgesehen  von  notwendigen  Beziehungen,  in  die  er  als  Medi- 
ziner zu  dem  damaligen  Consiliarius  Anatomicus  treten  mufste. 
Mathematik  unrl  Astronomie  linden  wir  dagegen  wenig  gepflegt.  Nur 
ein,  noch  dazu  gering  besoldeter  Dozent  las  über  beide  Fächer.  In 
der  griechischen  Sprache  und  Litteratur  fand  er  an  Marcus  Musli- 
ms, den  wir  schon  oben  erwähnten,  einen  erprobten  Führer  und 
I^.'hrer.  Über  die  Verhältnisse  der  medizinischen  Fakultät  sind  wir 
durch  eine  Arbeit  Favaros  unterrichtet17».  Sie  hatte  vier  Prolessuren: 
1.  De  medicina  theorica  ad  primum  Fen  Avicennae,  Aphorisma  Hippo- 
eratis et  artem  parvam  Galeni;  2.  Ad  tertium  Avicennae;  3.  De  medi- 
cina practica,  de  febribus,  de  morbis  particularibus  a  capite  ad  cor, 
de  morbis  a  corde  et  infra;  4.  De  chirurgia.  Endlich  ist  noch,  ob- 
wohl nicht  ausdrücklich  erwähnt,  Anatomie  als  Lehrgegenstand  sicher- 

laviensis:  qui  studuit  Bononie  et  Padue.  fuit  approbatus  in  Jure  canonico 
nomine  penitus  diserepante,  et  doctoratus  per  prefatum  dominum  Goor- 
ginm  Vicarium  antcdictum  etc. 
promotores  fucrunt 

IX  Antonius  Loutus  qui  ei  dedit  inaignia  } 
,;>  Lo  Studio  di  Padova  al  terupo  »Ii  XiccoK»  Coppemico  per  An- 
tonio Kavaro.    Venozia,  Aiitnnelli  18i>U.    Deutsch  vi.m  t.'urt/.e  in  Heft:?  der 
,. Mitteilungen  des  Coppernieus- Verein»".  S.  1  -tut. 


D.  Philippus  Bardel  la  et 

'  civüb  Ferranensis  etc. 


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207 

gestellt;  sie  wurde  von  den  ältesten  Zeiten  an  am  Leichnam  selbst 
erklärt.  Der  Rektor  der  medizinischen  Fakultät  war  bei  Strafe  ver- 
pflichtet, jedes  Jahr  einmal  eine  männliche  und  eine  weibliche  Leiche 
bis  spätestens  Februar  herbeizuschaffen.  Der  Chirurg'  zergliederte 
dieselben,  während  Professoren  der  Medicina  theorica  et  practica  be- 
zügliche Vorträge  hielten  und  deren  Richtigkeit  an  den  Präparaten 
demonstrierten.  Der  Zutritt  war  nur  Studierenden,  welche  bereits 
einen  Jahreskursus  durchgemacht  hatten,  gestattet.  Am  reichlichsten 
war  der  Lehrstuhl  der  Medicina  theorica  besetzt,  darunter  mit  Männern 
wie  Bartolomeo  Montagnana,  dessen  hygienische  und  über  con- 
tagiöse  Krankheiten  handelnde  Arbeiten  sich  eines  wohlverdienten 
Rufes  erfreuten.  Ich  nenne  ferner  Marcantonio  dalla  Torre,  den 
Gefährten  Lionardo  da  V  i  n  ci s  bei  anatomischen  Studien,  einen  der 
ersten  wirklichen  Anatomen,  um  von  anderen  zu  schweigen.  Ad 
tertium  Avicermae  linden  wir  nur  einen  Doctorandeu  angegoben,  ob- 
wohl zwei  Dozenten  dafür  angestellt  waren.  In  der  Medicina  practica 
fungierte  unter  anderen  der  auch  als  Mathematiker  berühmte  Pietro 
Trapolin  als  ordentlicher  Professor,  als  Chirurg  wird  hauptsächlich 
Giovanni  Battista  Fortezza  erwähnt,  dessen  Vorlesungen  jedoch 
Coppernicus  als  Priester  kaum  regelmäßig  besucht  haben  dürfte. 
Die  Würde  eines  Dr.  med.  hat  der  Doktor  Decretorum.  so  weit  wir 
wissen,  nicht  erworben.  Wurd»*  doch  die  Medizin  kaum  als  gleich- 
berechtigt neben  den  Schwesterwissonschaften  angesoheu,  und  wollte 
er  seine  ärztliche  Thätigkeit  ja  auch  nur  in  den  ihm  nahestehenden 
Kreisen  ausüben.  Aus  diesen  Gründen  ist  es  auch  nicht  möglich, 
die  Dauer  seines  medizinischen  Studiums  selbst  nur  annähernd  zu  be- 
stimmen, da  ihm  darin  doch  nur  individuelle  Schranken  gesetzt  waren. 
Jedenfalls  hatte  er  sich  tüchtige  Kenntnisse  darin  erworben,  denn  nach 
der  auf  Tiedemann  Giese  zurückzuführenden  Bemerkung  Stara- 
wolskis18)  wurde  er  später  im  Ermlande  ..wie  ein  zweiter  Aeskulap1- 
gel'eiert. 

Sein  zweijähriger  Urlaub  war  Mitte  1503  abgelaufen.  Von  einer 
offiziellen  Verlängerung  ist  in  den  Akten  nichts  auf  uns  gekommen, 
er  scheint  aber  stillschweigend  auf  etwa  das  Doppelte  ausgedehnt  zu 
sein.  Eine  beglaubigte  Erwähnung  seiner  Anwesenheit  in  Preufsen 
finden  wir  nämlich  nicht  früher  als  im  Jahre  1506  in  den  Protokollen 
über  die  Tagfahrt  des  preußischen  Landtages  im  August  dieses  Jahres 
zu  Marienburg.   Eine  kurze  Notiz  in  einem  handschriftlichen  Samrael- 

,9j  Simon  Starawolski.  Scriptorum  Polonorum  itw-i;, 


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208 


bände  der  Gymnasialbibliothek  zu  Thoru  läfst  ihn  bereits  im  Jahre 
1505  in  Preufsen  weilen,  ein  Citat,  über  dessen  Richtigkeit  jedoch 
erst  nach  einer  etwaigen  Auffindung  der  Landtagsrezesse  dieses  Jahres 
geurteilt  werden  könnte,  so  dafs  wir  seine  Abreise  aus  Italien  zwischen 
Mitte  1505  und  Anfang  1506  setzen  dürfen. 

Damit  haben  wir  den  Abschlufs  der  Lehrjahre  des  grofsen 
Astronomen  erreicht.  Von  nun  an  führt  er,  unter  rühriger  Geistes- 
arbeit die  Früchte  seiner  Studien  einheimsend,  ein  äußerlich  ruhiges 
Leben  im  Genüsse  seiner  Pfründe,  ohno  noch  weit  über  die  Grenzen 
seiner  Heimatprovinz  hinauszukommen. 


(Fortsetzung  fol^t.) 


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Die  Erd-  und  Länder- Vermessung  und  ihre  Verwertung. 

Von  Professor  Dr.  C-  Koppe  in  Braunschwcig. 

(Scblub.) 

Die  Einzel  Vermessung  für  wirtschaftliche  und 
technische  Zwecke. 

aohdem  durch  die  grundlegenden  Triangulierungsarbeiten  das 
ganze  Landesgebiet  mit  Dreiecksnetzen  überspannt  und  so 
ein  fester  Rahmen  geschaffen  ist  für  die  in  ihn  einzuschal- 
tende Detailaufnahme,  werden  zwischen  die  Dreieckspunkte,  welche  nun- 
mehr 1 — 2  km  von  einander  entfernt  sind,  Linienziige  und  Liniennetze 
zwisohengelegt,  um  durch  direkte  Längenmessung  gegen  die  Seiten 
derselben  alle  in  Betracht  kommenden  Einzelheiten  festlegen  zu  können. 
Dem  allgemeinen  Prinzip  des  Arbeitens  vom  Grofsen  ins  Kleinere 
entsprechend,  werden  zunächst  gebrochene  Linienzüge,  sogenannte 
Polygonzüge,  von  Dreieckspunkt  zu  Dreiockspunkt  gelegt,  welche 
thun liehst  gestreckte  Formen  und  wenige  nahe  gleich  lange  Seiten 
von  einigen  hundert  Metern  haben.  Zwischen  diese  werden  weitere 
Polygonzüge  mit  kürzeren  Seiten  eingeschaltet,  bei  welchen  weniger 
auf  eine  gestreckte  Form  und  gleiche  Seiten  länge  Rücksicht  zu  nehmen 
ist,  als  darauf,  dafs  ihre  Seiten  für  die  Einzelaufnahme  bequem  gelegen 
sind,  d.  h.  nahe  an  den  aufzunehmenden  Eigentumsgrenzen,  Häusern, 
Gärten  etc.  vorbeiführen.  In  allen  Zügen  werden  die  Winkel  und 
Seiten  mit  ausreichender  Sorgfalt  gemessen,  und  da  die  Züge  erster 
Ordnung  zwischen  die  Dreieckspunkte,  die  Züge  zweiter  Ordnung 
zwischen  die  Züge  erster  Ordnung  und  so  fort  eingeschaltet  werden, 
wird  jeder  eventuell  begangene  Messungsfehler  beim  Zusammenfügen 
der  Züge  erkannt,  und  es  kann  einem  Anhäufen  von  Uugenauigkeiten 
durch  systematisches  Berechnen  und  Verknoten  der  Züge  leicht  und 
sicher  vorgebeugt  werden. 

Die  Festlegung  der  Einzelaufnahme  geschieht  dann  durch  Messen 
der  rechtwinkligen  Abstände  aller  Grenz-  und  Eckpunkte  von  diesen 

Himmel  und  Erdo.  1SB9.  XI.  5.  14 


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210 

Polygonseiten,  bezw.  von  weiter  zwischen  sie  eingeschalteten  Messungs- 
linien,  wo  letztere  bei  sehr  reichlich  vorhandenem  Detail  in  grösserer 
oder  geringerer  Zahl  wünschenswert  oder  erforderlich  werden.  Von 
der  gesamten  Einzelaufnahme,  welche  vornehmlich  duroh  Messen  der 
rechtwinkligen  Ordinaten  und  Abscissen  für  alle  festzulegenden  Punkte 
in  Bezug  auf  die  Linien  und  Seiten  des  Polygon-  und  Liniennetzes 
als  Abscissenaxen  geschieht,  werden  bei  der  Aufnahme  selbst  Skizzen 


Wörttembergiiche  Flur&art«. 


mit  Mafszahlen,  sogenannte  ..Handrissel\  angefertigt,  welche  in  auten- 
tischer  und  übersichtlicher  Form  alle  Zahlenresultate  der  direkten 
Messung  enthalten  und  somit  Dokumente  bilden,  nach  denen  nicht 
nur  Pläne  in  jedem  wünschenswerten  Mafsstabe  nach  Bedarf  ange- 
fertigt, sondern  auch  Grenzverschiebungen  etc.  jederzeit  sicher  be- 
richtigt werden  können,  wenn  nur  Tür  eine  gute  und  am  besten  unter- 
irdische Versicherung  der  Polygonpunkte  durch  Thonröhren  im  Felde, 
eiserne  Bolzen,  eingemeirselte  Kreuze  etc.  in  Städten  und  Ortschaften 


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211 


oder  dergleichen  in  ausreichender  Weise  zu  Beginn  des  Vermessungs- 
werkes Sorge  getragen  wurde. 

Unter  den  Aufnahmen  für  wirtschaftliche  Zwecke  sind  die  um- 
fangreichsten die  Katasteraufnahmen,  ausgeführt  vom  Staate  zur 
Feststellung  der  Grundsteuer  je  nach  der  Grbfse  und  der  Güte  der 
einzelnen  Grundstücke.  Sie  dienen  zugleich  zur  Sicherung  der 
Eigentumsgrenzen  und  in  Verbindung  mit  den  Grundbüchern  zur 
Förderung  und  Sicherstellung  des  Realkredites.  Alle  aufgemessenen 
Grundstücke,  Parzellen  genannt,  werden  in  den  Flurkarten  in  grofsem 
Mafsstabe,  die  Ortschaften  jetzt  meist  im  Marsstabe  1 : 500  genau  kartiert 
und  die  nach  und  nach  vorkommenden  Veränderungen,  Teilungen  etc. 
durch  besondere  Staatsbeamte,  Kataster- Kontrolleure  oder  Bezirks- 
geometer  genannt,  jeweils  nachgetragen,  um  das  ganze  Karten- 
werk stets  der  Gegenwart  entsprechend  auf  dem  „Laufenden"  zu 
halten.  Die  süddeutschen  Staaten  Württemberg-  und  Bayern  haben 
ihre  Flurkarten  in  Stein  stechen  und  durch  Drucklegung  vervielfältigen 
lassen,  Bayern  im  Mafsstabe  1  :  5000  und  1  :  2500  für  die  Ortschaften, 
Württemberg  im  Marsstabe  1  :  2500  und  1  :  1250  für  die  Ortschaften. 
Von  dem  Umfange  dieser  bereits  in  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahr- 
hunderts hergestellten  Kartenwerke  kann  man  sich  eine  Vorstellung 
machen,  wenn  man  bedenkt,  dafs  Württemberg  etwas  mehr  als  15  500 
Flurkarten  uud  demgemärs  ebenso  viel  Lithographie-Steine  besitzt,  auf 
welche  dieselben  eingraviert  wurden.  Vielfach  werden  auch  die  Hand- 
risse mit  den  unmittelbaren  Messungszahlen  durch  ein  einfaches  Druck- 
verfahren vervielfältigt  und  allgemein  zugänglioh  gemacht,  namentlich 
in  grofsen  Städten,  wo  der  Grund  und  Boden  einen  hohen  Wert  hat, 
um  es  den  Interessenten  zu  ermöglichen,  bei  Besitzstandsveränderungen, 
Teilungen,  Bebauungen  etc.  die  genauesten  Daten  zu  benutzen. 

Die  Katasteraufnahmen  stehon  meist  in  engem  Zusammenhange 
und  geschehen  ihrerseits  auf  ganz  analoge  Weise  wie  die  Vormessungs- 
arbeiten für  Separationen,  Zusammenlegungen,  Verkoppe- 
lungen  etc.,  welche  von  besonderen  Staatsbehörden,  in  PreuTsen  von 
den  General-Kommissionen,  in  Braunschweig  von  der  Landesökonomie- 
Kommission  etc.  ausgeführt  werden  im  Interesse  der  Erleichterung 
und  Förderung  der  Landwirtschaft  durch  Teilung  der  seither  gemein- 
sam bewirtschafteten  Gemeinde-Grundstücke,  Zusammenlegung 
des  infolge  von  Erbschaftsteilungen  etc.  getrennt  liegenden  Privat- 
Grundbesilzes,  gleichzeitiger  Verbesserung  der  Wege  und  Regulierung 
der  Wasserläufe,  sowie  Ablösungen  und  Befreiungen  von  alt  herge- 
brachten, hemmenden  Lasten,  Diensten  und  Verpflichtungen. 

Ii* 


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212 


Bei  der  neuen  Verteilung  des  gesamten  Grundbesitzes  in  einer 
Gemeinde  soll  jedem  Grundbesitzer  ein  Teil  der  Bodenfläche  als  neues 
Besitztum  überwiesen  werden,  welcher  an  Wert  seinem  früheren  Be- 
sitzstände gleichkommt,  zugleich  aber  zur  Bewirtschaftung  für  ihn 
möglichst  bequem  gelegen  und  leicht  zugänglich  ist.  Hierzu  mufs  zu- 
nächst eine  genaue  Vermessung  der  gesamten  in  Betracht  kommenden 
Grundstücke  vorgenommen  werden,  zur  Feststellung  des  seitherigen 
Besitzstandes.  Dann  mufa  auf  einem  hiernach  angefertigten  Plane  eine 
den  obigen  Bedingungen  entsprechende  Neueinteilung  projektiert 
werden,  die  jedem  Einzelnen  thunlichst  gerecht  wird  und  zugleich  im 
Interesse  der  Allgemeinheit  liegende  kulturtechnische  Arbeiten  und 
Anlagon  entsprechend  berücksichtigt  Diese  Neueinteilung  ist  dann 
ihrerseits,  nachdem  alle  Umstände  und  Einwendungen  der  Beteiligten 
erledigt  sind,  aus  dem  Plane  in  die  Natur  zu  übertragen,  wonach  die- 
selbe von  den  Besitzern  in  rechtskräftiger  Form  zur  Bewirtschaftung 
übernommen  werden  kann.  Derartige  Separationen  und  Zusammen- 
legungen haben  in  allen  denjenigen  Staaten,  in  welchen  dieselben  früh- 
zeitig begonnen  und  hinreichend  weit  vorgeschritten  sind,  der  Land- 
wirtschaft ausgezeichnete  Dienste  geleistet. 

Die  Vermessungen  der  Staats-Forsten,  welch  letztere  in  einigen 
Ländern  ausgedehnte  Komplexe  bedecken,  dienen  zur  Feststellung  der 
Besitzstandsgrenzen,  der  Art  der  Bewaldung,  der  Abfuhrwege,  der 
Wassorliiufe  etc.  Dieselben  geben  zugleich  die  Mittel  ab,  zunächst 
auf  Plänen  und  hiernach  in  der  Natur  zur  rationellen  Waldwirtschaft 
eine  zweckentsprechende  Einteilung  zu  treffen.  Analoge  staatliche 
Aufnahmen  und  Vermessungsarbeiten  werden  ausgeführt  für  den  Do- 
mänenbesitz,  für  FluCskorrektionen,  Wildbachvcrbauungen,  Trocken- 
legung 8umpflger  Gegenden  und  Landesverbesserungen  aller  Art, 
welche  genaue  Plandarstellungen  zur  Projektierung  und  demnächst 
Übertragung  der  Projekte  in  die  Natur,  bezw.  zu  ihrer  Bauausführung 
verlangen. 

Unter  den  Vermessungs-Arbeiten  für  technische  Zwecke  sind 
weiter  in  Betracht  zu  ziehen  diejenigen  zur  Anlage  von  Eisenbahnen, 
Kanälen  und  Strafsen,  von  denen  namentlich  die  ersteren  im  gebirgigen 
Terrain  nicht  sehen  sehr  umfangreiche  Aufnahmen  erforderlich  machen 
zur  richtigen  Wahl  der  günstigsten  Linie  und  ihrer  rationellsten  Bau- 
ausführung. Der  Vorgang  hierbei  ist  im  allgemeinen  folgender: 
Nachdem  die  leitenden  Grundsätze,  wie  Zweck  der  Bahnlinie,  Haupt- 
orte, welche  dieselbe  berühren  soll,  u.  s.  w.  festgestellt  worden  sind, 
wird  die  Linie  in  eine  Übersichtskarte  eingetragen  und  zunächst  das 


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213 


Längenprofil  derselben  ermittelt,  um  in  Erfahrung  zu  bringen,  welche 
Höhe  die  Bahn  ersteigen  mute,  ob  dies  mit  den  zulässigen  Steigungen 
erreichbar  erscheint,  ob  besondere  Entwickelungen  der  Bahnlinie 
hierzu  erforderlich  sind,  ob  gröfsere  Einschnitte,  Tunnels,  Dämme, 
Brücken  etc.  notwendig  werden  und  dergl.  So  lange  die  Linie  der 
Ebene  oder  einem  bestimmten  Thallaufe  folgt,  liegt  die  Beantwortung 
dieser  Fragen  naturgemäß  einfacher,  als  wenn  Wasserscheiden  und 
Pässe  zu  überschreiten  sind.  Um  in  solchen  Fällen  das  Richtige  zu 
treffen,  werden  oft  umfangreiche,  vergleichende  Studien  erforderlich. 
Es  werden  dann  verschiedene  Linien  in  die  zur  Projektierung  auf- 
genommenen und  gezeichneten  Pläne  eingetragen,  Kostenvoranschläge 
für  alle  aufgestellt  und  unter  einander  verglichen,  um  die  bauwürdigste 
Linie  zu  ermitteln.  Hat  man  sich  unter  den  verschiedenen  Möglich- 
keiten für  eines  der  Projekte  entschieden,  so  wird  dieses  nun  ein- 
gehender studiert  und  dazu  in  der  Natur  diese  Linie  abgesteckt,  wie 
sie  in  die  Pläne  eingetragen  war,  wobei  vorhandene  Anhaltspunkte, 
wie  Strafsen,  Wegekreuzungen,  Wasserläufe,  Eigentums-  und  Kultur- 
Grenzen  und  dergl.  benutzt  werden.  Die  abgesteckte  Linie  wird  dann 
genau  gemessen,  nivelliert  und  zu  beiden  Seiten  derselben  das  an- 
liegende Gelände  so  weit  aufgenommen,  wie  es  für  eingehende  Studien 
im  Einzelnen  erforderlich  erscheint. 

Während  zu  den  allgemeinen  Vorarbeiten  meist  topographische 
Karten  kleineren  Mafsstabes  benutzt  werden  können,  erfordern  die 
speziellen  Studien  die  genaue  Aufnahme  und  Anfertigung  von  Plänen 
in  größerem  Mafsstabe,  1:2500  bis  1:500,  um  genau  beurteilen  zu 
können,  welchen  Umfang  die  nötigen  Erd-  und  Feldarbeiten  erhalten, 
welche  Brücken  und  sonstige  Bauten  auszuführen  sind,  wie  grofs  die 
von  den  betreffenden  Besitzern  zu  erwerbende  Grundfläche  ist  u.  s.  w. 
sowie  um  einen  zuverlässigen  Anhalt  zu  gewinnen,  das  nach  den 
Plänen  ausgearbeitete  gesamte  Bauprojekt  dann  auch  in  der  Natur  so 
ausführen  zu  können,  wie  dasselbe  auf  Grund  der  Pläne  projektiert 
und  in  diese  eingezeichnet  worden  ist  Im  Flachlande  wird  die  Über- 
briickung  der  Ströme  und  Sümpfe  die  meisten  Schwierigkeiten  ver- 
ursachen, im  Gebirge  und  zumal  im  Hochgebirge  die  Durchtunnelung 
der  für  den  offenen  Bahnbetrieb  zu  gefährlichen  Felspartien  oder  zu 
hoch  gelegenen  Alpenübergänge.  In  seiner  Gesamtheit  wird  der  Bahn- 
bau sich  auf  die  Vermessungkunde  in  all  ihren  Zweigen  stützen  müssen; 
Horizontal-  und  Vertikal  -  Aufnahmen,  oberirdisch  und  unterirdisch, 
werden  für  ihn  mit  besonderer  Sorgfalt  auszuführen  sein,  da  das  Gelingen 
des  Werkes  hierdurch  wesentlich  bedingt  wird  und  auch  in  den 


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214 


schwierigsten  Fällen  durch  den  der  Vermessung  folgenden  Bau  direkt 
die  Probe  auf  die  Richtigkeit  der  Vermessungsarbeiten  gemacht  wird. 

Analoge  Aufnahmen  und  Vorstudien  verlangen  die  Anlage  und 
der  Bau  von  Strafsen,  Kanälen,  Wasserleitungen  etc.,  wenn  auch 
meist  in  geringerem  Umfange.  Beim  Wasserbau  spielt  naturgemäfs 
die  Höhenmessung  eine  besonders  wichtige  Rolle,  und  hier  ist  die 
Höhenbestimmung  stets  mit  grofser  Sorgfalt  und  Genauigkeit  durch 
geo  metrisch  es  Nivellement  auszuführen,  während  die  trigonometrische 
und  die  barometrische  Höhenaufnahme  dort  weniger  oder  gar  nicht 
in  Betracht  kommen  können.  Anders  beim  Eisenbahnbau.  Auch  bei 
ihm  wird  die  Höhenlage  der  Linie,  welche  schliefslich  gebaut  werden 
soll,  sowohl  vor  wie  während  des  Baues  aufs  sorgfältigste  und  genaueste 
oinzunivellieren  sein,  dagegen  ist  bei  den  allgemeinen  Vorarbeiten  die 
Genauigkeit  des  geometrischen  Nivellements  nicht  erforderlich  und 
seine  Ausführung  viel  zu  zeitraubend.  Mit  einer  Instrumenten-Auf- 
stellung  kann  ja  niemals  ein  größerer  Höhenunterschied  bestimmt 
werden,  als  die  benutzte  Nivellierlatte  lang  ist.  Beträgt  deren  Länge 
z.  B.  4  Meter,  so  wird  man  zum  Mindesten  25  Stationierungen  not- 
wendiger Weise  machen  müssen,  um  einen  Höhenunterschied  von 
100  Metern  zu  ermitteln.  Zu  seiner  barometrischen  Bestimmung  braucht 
man  nur  am  tiefsten  und  am  höchsten  Punkte  zu  stationieren,  bezw. 
zu  beobachten,  und  zur  trigonometrischen  Messung  nur  den  Höhen- 
oder Tiefenwinkel  in  einem  dieser  Punkte  abzulesen,  wobei  im  letzteren 
Falle  jedoch  vorausgesetzt  werden  mufs,  dafs  der  horizontale  Abstand 
der  beiden  Punkte  bekannt  ist 

Zu  einer  erstmaligen  Rekognoszierung  eines  gobirgigen  Terrains 
sind  gute  und  mit  den  nötigen  Vergleichs-  und  Korrektions-Tabellen 
versehone  Aneroid-Barometer  sehr  vorteilhaft  zu  verwerten.  Wenn 
man  im  Terrain  mehrmals  auf  und  abwärts  wandern  murs,  dazu  ohne 
freie  Aussicht  im  Walde  etc.,  so  hält  es  ungeheuer  schwer,  nach 
blofser  Schätzung  auch  nur  ganz  annähernd  zu  ermitteln,  wie  hoch 
man  über  dem  Ausgangspunkte  sich  beßndet.  Hier  können  barometrische 
Höhenbestimmungen,  selbst  wenn  sie  um  mehrere  Meter  unsicher  sind, 
zur  besseren  Orientierung  wesentliche  Dienste  leisten.  Auch  ganze 
Terrain-Abschnitte  lassen  sich  bei  Benutzung  der  Kataster- Pläne  durch 
barometrische  Höhenmessung  an  den  in  der  Zeichnung  angegebenen 
Grenzsteinen,  Wegekreuzungen,  Kulturgrenzen  etc.  in  verhältnismäfsig 
kurzer  Zeit  aufnehmen  und  mit  einer  Höhendarstellung  versehen, 
welohe  für  mancherlei  generell  technische  und  topographische  Zwecke 
ausreicht. 


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•215 


Eine  wesentlich  gröfsere  Genauigkeit  als  das  Barometer  gewährt 
die  trigonometrische  Höhenmessung.  Sie  nimmt  viel  weniger  Zeit  in 
Anspruch  als  das  geometrische  Nivellement,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  für  technische  und  topographische  Zwecke  eine  aus- 
reichend genaue  Höhenaufnahme  gröfserer  Gebiete  zu  bewirken, 
und  daher  wird  sie  auch  ganz  allgemein  da  benutzt,  wo  nicht  die 
gröfste,  aber  doch  eine  Genauigkeit  bis  auf  Bruohteile  des  Meters 
erforderlich  ist.    Für  solche  Zwecke  hat  sich  nach  und  nach  ein  tech- 


nisches Verfahren  der  Terrainaulnahme  ausgebildet,  das  mit  dem 
Namen  „Tachymotrie"  d.  h.  Sehnell- Messung  bezeichnet  wird,  und 
welches  im  allgemeinen  darin  besteht,  dafs  man  das  aufzunehmende 
Terrain  stationsweise  mit  einem  ..Tachymeter"  bearbeitet,  vermittelst 
dessen  durch  trigonometrische  Höhenmessung  im  Umkreise  jeder 
Station  eine  genügende  Anzahl  von  Terrain-Punkten  ihrer  vertikalen 
Lage  nach  bestimmt  werden,  während  gleichzeitig  die  jeweilige  hori- 
zontale Entfernung  durch  optischo  Distanzmessung  ermittelt  wird. 

Richtet  man  ein  Fernrohr  auf  eine  geteilte  Latte,  so  wird  das 
Bild  derselben  um  so  kleiner  erscheinen,  je  weiter  die  Latte  vom 
Beobachter  entfernt  ist,  und  um  so  gröfser,  je  näher  dieselbe  zu  ihm 


Tachymeter  .  Theodolit. 


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21»; 


gobracht  wird.  Es  ist  daher  einleuchtend,  dafs  man  aus  der  „6Chein- 
baren  *  Grüfse  einer  ihrer  Länge  nach  bekannten  Latte  einen  Rück- 
schluß machen  kann  auf  die  jeweilige  Entfernung  derselben.  Eine 
solche  „optische1*  Distanzmessung-  wird  um  so  genauer  ausfallen,  je 
schärfer  man  die  scheinbare  Grüfse  der  Latte  mifst,  und  je  länger  diese 
letztere  ist.  Aus  praktischen  Gründen  wird  man  die  Latte,  um  sie 
leicht  genug  hin-  und  hertragen  zu  können,  nicht  länger  als  3—4  Meter 
machen,  und  ebenso  wird  man  bestrebt  sein,  die  Messung  der  schein- 
baren Grüfse  di  r  Latte  oder  eines  Teiles  derselben  thunlichst  einfach 
zu  gestalten.  Dies  wird  erreicht  durch  Okular-Faden-Distanz- 
messung:  Man  spannt  hierzu  im  Okulare  des  Fernrohres  zwei  pa- 
rallele Fäden  aus,  beide  genau  horizontal  und  gleich  weit  abstehend 
von  dem  Horizontalfaden  des  Fadenkreuzes,  den  einen  über  ihm,  den 
andern  unter  ihm.  Zwischen  diesen  beiden  Distanzfäden  wird  man 
nun  ein  Stück  der  geteilten  Latte  erblicken,  und  dieses  Stück  wird 
seine  Länge  ändern,  je  nach  der  Entfernung  der  Latte.  Da  man  den 
Abstand  der  beiden  Distanzläden  passend  wählen  kann,  so  bemifst  man 
ihn  in  der  Regel  der  Art,  dafe  bei  100  Meter  Entfernung  der  Latte 
gerade  1  Meter  =  100  Centimeter  zwischen  die  Fäden  zu  liegen 
kommen,  also  1  Centimeter  des  Lattenstückes  einem  Meter  Entfernung 
derselben  entspricht  Dieses  Verhältnis  von  1  :  100  zwischen  dem  ab- 
gelesenen Lattenstück  und  der  Entfernung  der  Latte  bleibt  für  andere 
Entfernungen  als  100  Meter  das  gleiche,  wenn  man  ein  „Porro'sches" 
Fernrohr  benutzt,  so  genannt  nach  dem  italienischen  Ingenieur  und 
Professor  Porro,  welcher  dasselbe  für  die  Zwecke  der  optischen 
Distanzmessung  eigens  konstruierte.  Es  unterscheidet  sich  vom  ge- 
wöhnlichen astronomischen  Fernrohre  dadurch,  dafs  zwischen  Okular 
und  Objektiv  noch  eine  Sammellinse  eingeschaltet  ist,  welche  bewirkt, 
dafs  die  Proportionalität  zwischen  den  jeweiligen  Lattenabschnitton 
innerhalb  der  Distanzfäden  und  der  Entfernung  der  Latte  vom  Mittel- 
punkte des  Instrumentes  für  alle  Entfernungen  bestehen  bleibt  Auf 
diese  Weise  wird  die  optische  Distanzmessung  sehr  einfach,  denn  man 
hat  das  jeweils  zwischen  den  Distanzfäden  abgesehene  Lattenstück  nur 
mit  100  zu  raultiplizieron,um  dieEntfernung  der  Latte  zu  erhalten.  Bei  Be- 
nutzung eines  gewöhnlichen  Fernrohrs  kommt  zu  der  in  gleioher  Weise 
bestimmten  Entfernung  noch  eine  kleine  Grüfse,  nämlich  die  anderthalb- 
fache Brennweite  des  Fernrohrs  hinzu,  weil  hier  die  Proportionalität 
zwischen  Lattenabsohn itt  und  Entfernung  nicht  vom  Mittelpunkte  des  In- 
strumentes aus,  sondern  vom  vorderen  Brennpunkte  des  Objektivs  zählt; 
doch  ist  die  Berücksichtigung  dieser  Korrektion  ebenfalls  sehr  einfach. 


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217 


*  Stillschweigend  aber  wurde  bisher  vorausgesetzt,  dafs  die  Abseh- 

linie des  Fernrohrs  normal  zur  Latte  stand,  wie  es  immer  der  Fall 
ist,  wenn  die  Absehlinie  horizontal  liegt  und  die  Latte  vertikal  ge- 
halten wird.  In  diesem  Falle  erhält  man  durch  die  eben  beschriebene 
Art  der  Distanzmessung  unmittelbar  die  horizontale  Entfernung 
der  Latte  vom  Standpunkte  des  Beobachters.  Ist  hingegen  die  Ab- 
sehlinie des  Fernrohres  nicht  horizontal,  und  wird  die  Latte  durch 
entsprechendes  Neigen  derselben  normal  zu  ihr  gehalten,  so  ist  die 
hundertfache  Lattenablesung  gleich  der  schiefen  Entfernung  der 
Latte*)  die  man  dann  nach  Messen  des  Neigungswinkels  auf  die  hori- 
zontale projizieren  kann.  Denselben  Neigungswinkel  gebraucht  man 
aber  auch  zur  Berechnung  des  Höhenunterschiedes  zwischen  dem 
Aufstellungspunkte  des  Instrumentes  und  der  Latte.  Man  giebt  daher 
dem  Tachymeterin8trumente  stets  eine  solohe  Einrichtung,  dals  man 
zugleich  mit  der  optischen  Distanzmessung  eino  trigonometrische  Höhen- 
messung verbinden  kann.  —  Als  drittes  Element  zur  Festlegung  eines 
Punktes  gegen  die  Station  fehlt  nach  Ermittelung  der  Entfernung  und 
des  Höhenunterschiedes  nur  noch  die  Bestimmung  der  Richtung, 
in  welcher  er  liegt,  in  Bezug  auf  eine  feste  Ausgangsrichtung,  als 
welche  man  die  Nordrichtung  gegen  astronomisch  oder  magnetisch 
Norden,  eine  Dreiecks-  oder  l'olygonseite  etc.  wählen  kann.  Je  nach- 
dem man  diese  liichtungsbestimmungen  numerisch  oder  graphisch 
vornimmt,  unterscheidet  man  die  Tachymetrie  mit  dem  Theodoliten 
und  diejenige  mit  dem  Mefs tische.  Erstere  wird  meist  zu  genaueren 
Aufnahmen  in  gröfserem  Mafsstabe  für  wirtschaftliche  und  technische 
Zwecke  benutzt,  letztere  vornehmlich  für  topographische  Aufnahmen, 
weil  hier  der  Mefslisch  den  Vorteil  gewährt,  entsprechend  der  ver- 
langten geringeren  Genauigkeit  mancherlei  Einzelheiten  durch 
„Skizzieren"  nach  der  Natur  direkt  in  die  Pläne  und  Karten  eintragen 
zu  können. 

Allgemein  versteht  man  unter  Tachymetrie  eine  mit  möglichst 
rationeller  Ausnutzung  der  Zeit  ausgeführte  vollständige  Terrain-Auf- 
nahme, bei  welcher  durch  Horizontal-  und  Vertikal-Winkelmessung  in 
Verbindung  mit  Okularladendistanzmessung  eine  solche  Anzahl  von 
Puukten  statiousweiße  in  horizontaler  und  vertikaler  Projektiun  fest- 
gelegt werden,  dafs  ein  in  dieser  Weise  aufgenommenes  Gebiet  seiner 
Situation  und  Höhenlage  nach  für  den  beabsichtigten  Zweck  hin- 
reichend genau  dargestellt  werden  kann.    Diese  Genauigkeit  wird 

*)  Anni.  Bei  vertikal  gehaltener  Latte  inufs  der  zwischen  de u  Distanz- 
fäden abgelesene  Lattenabschuitt  entsprechend  der  Neigung  reduziert  werden. 


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218 


absolut  genommen  sehr  verschieden  sein  können,  je  nachdem  es  sich 
um  wasserbauliche  und  kulturtechnische  Anlagen,  Eisenbahnbauten, 
topographische  Kartendarstellungen  etc.  handelt.  Sache  des  ausführen- 
den Geodäten  ist  es,  seine  Aufnahmen  dem  jeweiligen  Zwecke  richtig 
anzupassen.  Hei  Bewässerungs-Anlagen  z.  B.  wird  es  sich  meist  darum 
handeln,  Gebiete  von  beschränkter  Ausdehnung  ihrer  Höhenlage  nach 
sehr  genau  aufzunehmen  und  darzustellen;  bei  Eisen  bahn- Vorarbeiten 
kommt  in  der  Hegel  nur  ein  verhältnismüfsig  schmaler  Terrainstreifen 
in  Betracht,  der  in  gröfeerer  oder  geringerer  Breitenausdehnung,  sowie 
mit  geringerer  oder  gröfserer  Genauigkeit  vermessen  werden  mufs, 
je  nachdem  es  sich  um  allgemeine  oder  spezielle  Vorarbeiten  und 
Untersuchungen  handelt;  bei  den  topographischen  Karten  für  mili- 
tärische Zwecke  wird  im  allgemeinen  eine  Terraindarstellung  als  aus- 
reichend angesehen,  welche  die  Höhen-Vorhältnisse  soweit  richtig  zur 
Anschauung  bringt,  wie  dies  zur  Beurteilung  der  Manövrierfähigkeit 
der  Truppen  und  alles  dessen,  was  damit  zusammenhängt,  erforder- 
lich isL 

Zu  allen  vorgenannten  Vermessungsarboiton  und  Terrain -Dar- 
stellungen werden  Tachymeter-Instrumente  und  Aufnahmen  benutzt 
in  direktem  Anschlufs  an  die  grundlegenden  Dreiecksmessungen  und 
Nivellements,  sowie  unter  vorteilhafter  Verwertung  der  Spezial -Ver- 
messungen für  Kataster,  Zusammenlegungen,  Forsteinrichtunir  u.  s.  w. 
Keine  andere  Vermessungs-Methode  findet  zur  Gebäude-Aufnahme  und 
Darstellung  eine  solch  ausgedehnte  Anwendung  wie  die  Tachymetrie, 
namentlich  auch  für  topographische  Zwecke,  denn  die  militär- topo- 
graphischen Aufnahmen  und  Karten  erstrecken  sich  über  das  ganze 
Staatsgebiet  und  bilden  zugleich  die  Grundlage  der  gesamten  Landes- 
Kartographie  für  geoyraphiBche,  statistische,  kommerzielle  und  sonstige 
Zwecke. 

Die  Topographie. 
Die  topographischen  Karten  sollen  im  allgemeinen  entsprechend 
dem  Worte  Topographie,  d.  h.  Ortsbeschreibung,  in  verjüngtem 
Marsstabe  ein  geometrisch  richtiges  Bild  der  gegenwärtigen  Lage 
der  Ortschaften,  ihrer  Verbindungen  durch  Wege,  Strafsen,  Kanäle, 
Eisenbahnen  etc..  der  Wasserläufe,  Bäche,  Flüsse,  Ströme  mit  ihren 
Brücken,  Fähren.  Furten,  der  Bebauung  und  Kultur  des  Hodens,  ob 
Garten,  Acker,  Wiese,  Hütung,  Wald  u.  s.  w.,  liefern,  zugleich  aber 
auch  die  Erhebungen  und  Senkungen  der  natürlichen  Erdoberfläche 
deutlich  erkennen  lassen.  Ja  nach  dem  spezielleren  Zwecke,  welchem 
die  topographischen  Karten  dienen  sollen,  geschieht  die  Darstellung 


211) 

der  Höhenverhältnisse  des  Geländes  durch  Horizontalkurven,  durch 
Bergschraffur  oder  durch  eine  Kombination  beider  Methoden,  wobei 
ira  letzteren  Falle  vielfach  auch  an  Stelle  der  Schraffur  die  leichter 
herzustellende  Abtönung  tritt  Man  kann  im  wesentlichen  drei  grofse 
Gruppen  unterscheiden,  nämlich  Karten  für  civil-topographische 
Zwecke,  solche  für  railitär-topographische  Zwecke  und  drittens  Karten, 
welche  beiderlei  Interessen  dienen  und  thunlichst  gorecht  werden 
sollen. 

Die  ersten  topographischen  Karten  sind  aus  dem  rein  militärischen 
Bedürfnisse  der  Orientierung  im  Terrain  zum  Transport  von  Mann- 
schaften, Material,  Proviant  etc.  hervorgegangen.  Sie  haben  sich  im 
Laufe  des  Jahrhunderts  in  der  Form  wenig  geändert,  denn  die  letzten 
Blätter  der  noch  nicht  ganz  vollendeten  Karte  des  Deutschen  Reiches 
und  die  ersten  Blätter  der  zu  Anfang  des  Jahrhunderts  begonnenen 
Generalstabskarte  von  Frankreich  enthalten  im  wesentlichen  dieselbe 
Art  der  Terrain-Darstellung  durch  Schraffur  mit  senkrechter  Beleuch- 
tung nach  Lohmanns  Manier. 

Für  militärische  Zwecke  ist  es  erforderlich,  mit  einem  Blick  aus 
der  Gelände-Darstollung  die  Steigungs-  und  Gefäll-Verhültnisse  hin- 
reichend genau  erkennen  zu  können.  Eine  Unterscheidung  der 
Steigungen  auf  5° — 10°  ist  im  allgemeinen  ausreichend.  Wo 
militärische  Operationen  wegen  zu  grofser  Steilheit  des  Terrains  nicht 
mehr  möglich  sind,  ist  auch  eine  Unterscheidung  der  Steigungs- Ver- 
hältnisse im  einzelnen  nicht  mehr  erforderlich.  So  bezeichnete  der 
sächsische  General  Lehmann  in  dem  nach  ihm  benannten  Berg- 
strichsysteme alle  Böschungen  von  mehr  als  45°  Neigungswinkel  als 
unpraktikabel  mit  schwarz,  während  von  0° — 45°  die  einzelnen 
Steigungswinkel  von  5°  zu  5°  durch  das  Verhältnis  der  Dicke  der 
schwarzen  Bergstriche  zu  den  weifsen  Zwischenräumen  zwischen  ihnen 
bestimmt  werden.  Dieses  Lehmann  sehe  Bergstrich-System  fand 
grofee  Verbreitung,  ist  aber  direkt  nur  geeignet  zur  Höhendarstellung 
im  Flachlande  und  im  Mittelgebirge,  weil  bei  steileren  Gebirgspartieen 
die  Karten  zu  dunkel  und  unleserlich  werden.  Schon  die  Sächsisohe 
Schweiz,  nach  diesem  Systeme  dargestellt,  weist  zahlreiche  ganz 
schwarze  Stellen  auf,  und  für  die  Alpen  ist  dasselbe  nicht  unmittelbar 
zu  verwenden.  Bayern  hat  daher  für  seinen  topographischen  Atlas 
die  Skala  des  Bergstrichsystems  von  45°  bis  auf  60°  Steigungs- 
winkel erweitert  und  Oesterreich  bei  seiner  Generalstabskarte 
Steigungen  bis  zu  80°  unterschieden.  Trotzdem  werden  in  beiden 
genannten  Kartenwerken  die  Alpen-Gegenden  so  dunkel,  dafs  d'w 


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2-JO 


Nainen  schwer  zu  lesen  sind.  Bei  der  Bearbeitung  der  Schweizerischen 
Generalstabskarte  verliefs  daher  General  Dufour  das  Bergstrich- 
System  mit  senkrechter  Beleuchtung  und  wählte  ein  solches  mit 
schräg  von  links  oben  einfallendem  Lichte,  die  sogenannte  schiefe 
Beleuchtung,  welche  bereits  von  den  französischen  Ingenieur- Topo- 
graphen bei  Terrraindarstelluugen  gebirgiger  Gegenden,  wie  nament- 
lich der  Insel  Corsika,  mit  Erfolg  benutzt   worden   war,   um  eine 


Terrain-  Darilallung  durch  Horisontalkurvaa.  Berjf -Schr&Äur  und  Abtönung 

mit  Hohonkurvon 

plastisch  wirkende  Terraindarstellung  zu  erzielen.  Während  aber 
bei  der  senkrechten  Beleuchtung  die  Helligkeit  einer  Fläche  nur  von 
ihrer  Steigung  abhängt  und  letztere  daher  durch  das  Verhältnis  der 
dunklen  Bergstriche  zu  den  weifsen  Zwischenräumen  direkt  zur  An- 
>chauung  gebracht  werden  kann,  tritt  bei  der  schiefen  Beleuchtung 
als  zweiter  L'ms'and,  welcher  die  Helligkeit  einer  Fläche  bedingt,  die 
Kichtung  gegen  das  einfallende  Licht  hinzu.  Flachen  gleicher 
Steigung  können  daher  sehr  verschieden  hell  erscheinen,  je  nachdem 
sie  mehr  oder  weniger  der  Lichtquelle  zu  oder  von  ihr  abgewendet 


221 

sind.  Die  Folge  davon  ist,  dafs  die  Methode  der  schiefen  Beleuchtung 
wohl  im  stände  ist,  sehr  plastisch  wirkende  Gebirgs-Zeichnungon  zu 
liefern,  aber  nicht  topographische  Karten,  aus  denen  sich  die  Böschungs- 
winkel nach  einfachen  geometrischen  Prinzipien  und  hinreichend  genau 
auch  nur  für  militärische  Zwecke  und  Operationen  direkt  entnehmen 
lassen;  hierzu  mufs  eine  Terraindarstellung  durch  Horizontal-Kurven 
hinzugenomraen  werden. 

Der  Mafsstab  der  eben  besprochenen  Generalstabskarten  im 
engeren  Sinne  bewegt  sich  zwischen  1:  100  000  und  1:  50  000.  So 
hat  die  Karte  des  Deutschen  Reiches  das  Verjüngungs-Verhältuis 
1:  100  000,  wie  die  Dufour-Karte  der  Schweiz,  die  Karten  von  Italien, 
von  Norwegen  und  Schweden  etc.  Die  Karte  von  Frankreich  hat  den 
Mafsstab  1:  80  000,  diejenige  von  Oesterreich  1:  75  0U0;  der  topo- 
graphische Atlas  der  süddeutschen  Staaten  1 :  50  000  u.  s.  w. 

Grofser  als  1 :  50  000  wird  der  Mafsstab  dieser  Art  Karten  nicht 
gern  genommen,  weil  sonst  die  Übersichtlichkeit  über  hinreichend 
grofse  Gebiete,  wie  solche  für  militärische  Operationen  erforderlich 
ist,  zu  sehr  beschränkt  sein  würde.  Auch  können  in  diesen  Mars- 
stäben alle  militärisch  noch  in  Betracht  kommenden  topographischen 
Einzelheiten  zur  Darstellung  gebracht  werden,  indem  man  für  zu  kleine 
Objekte,  z.  B.  schmale  Wege,  Wasserläufe  u.  s.  w.  nicht  das  rich- 
tige Verjüngungs- Verhältnis  des  Kartenmafsstabes  anwendet,  sondern 
dieselben  hinreichend  breit  einzeichnet,  damit  sie  deutlich  erkennbar 
bleiben,  und  für  andere  Objekte,  z.  B.  Windmühlen,  Wegweiser 
u.  s.  w.  konventionelle  Zeichen,  sogenannte  „Signaturen"  verwendet. 
Die  Darstellung  der  Steigungs-Verhältnisse  der  Terrain-Oberfläche 
würde  bei  einer  Vergrößerung  des  Karten-Marsstabes  nicht  in  gleichem 
Verhältnisse  an  Genauigkeit  zunehmen  können,  denn  die  Bergstrich- 
Skala  macht  nur  Unterscheidungen  von  5°  zu  5°,  gleichviel,  ob  die 
betreffende  Fläche  grofs  oder  klein  gezeichnet  wird;  zur  Unter- 
scheidung der  Steigungen  dient  immer  nur  das  Verhältnis  der 
schwarzen  Striche  zu  den  weifsen  Zwischenräumen,  und  diese  ist  nicht 
ganz  leicht  auch  nur  bis  auf  10°  genau  zu  bestimmen.  Ganz  anders 
liegen  die  Genauigkeits-Verhältnisse  bei  einer  Höhen-Darstellung  durch 
Horizontal-Kurven.  Hier  ist  die  Genauigkeit  der  Höhen-Angaben 
wie  der  Höhen-Ermittlung  in  den  Karten  zugleioh  mit  dem  Mafsstabe 
jeder  Steigerung  fähig  und  an  keine  Grenze  gebunden;  denn  jede 
einzelne  Höhenkurve  läfst  sich  mit  aller  nur  immer  wünschbaren 
Genauigkeit  und  Schärfe  sowohl  durch  die  Aufnahmen  in  der  Natur 
ermitteln,  wie  auch  in  die  Pläne  einzeichnen,  wenn  der  Mafsstab  der 


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222 


letzteren  grofs  genug  genommen  wird.  Daher  werden  die  Karten  und 
Pläne  für  technische,  kulturtechnische,  wasserwirtschaftliche  und  andere 
civiltopographische  Zwecke  mit  einer  Höhendarstellung  durch  äqui- 
distante  Niveau-Kurven  versehen,  aus  denen  sich  sowohl  die  Steigungs- 
Verhältnisse  an  jeder  Stelle,  wie  auch  die  Höhen  über  dem  Meere 
für  alle  Terrain-Punkte  genau  ermitteln  lassen.  Übersichtskarten  dieser 
Art  worden  meist  im  Mafsstabe  1:25  000—1:10  000  angefertigt,  Spezial- 
karten im  Verjüngungsverhältnisse  1:50  000—1:500,  je  nach  den 
speziellen  Bedürfnissen  und  der  zu  erreichenden  Genauigkeit. 

Aber  diese  Höhenkurven-Karten,  so  wichtig  und  unentbehrlich 
dieselben  für  die  technischen  Bedürfnisse  auch  sind,  für  diejenigen 
Zwecke,  welche  wie  die  militärischen  Interessen  eine  Orientierung 
über  die  Bodengestaltung  auf  einen  Blick  wünschenswert  machen, 
sind  dieselben  weit  weniger  geeignet,  als  die  topographischen  Karten 
mit  Bergschraffur.  Ein  geübter  Kartenleser  wird  sieb  nach  der  Gestalt 
und  dem  Verlaufe  der  llorizontalkurven  an  jeder  einzelnen  Stelle 
der  Karte  ein  Bild  der  körperlichen  Terraingestalt  im  Geiste  bilden 
können,  aber  immer  nur  für  das  beschränkte  tiebiet,  welches  er  gerade 
ins  Augo  fafst;  auch  der  geübteste  Topograph  wird  nicht  im  stände 
sein,  ein  größeres  Gebiet  nach  einer  Kurvenzeichnung  auf  einen  Blick 
sich  körperlich  richtig  vorzustellen.  Dies  ist  bei  einer  Karte  mit 
Borgschraffur  unschwer  zu  erreichen  und  bei  der  schiefen  Beleuchtung 
auch  dem  Ungeübten  sofort  anschaulich.  Man  hat  daher,  um  beiden 
Bedürfnissen,  den  militär-topographischen  wie  den  civil-topographischen 
zu  gleicher  Zeit  Rechnung  zu  tragen,  topographische  Karten  mit  einer 
Terrain-Darstellung  durch  Horizontal-Kurven  und  Schraffur  ange- 
fertigt, wie  z.  B.  die  preufsischen  Meßtischblätter  im  Mafsstabe  1:25  000, 
welche  als  Garnison-Umgebungskarten  von  Göttingen,  Goslar  u.  s.  w. 
dienen  sollen,  die  Spezialkarten  von  Oesterreich,  Italien,  Norwegen 
und  Schweden  u.  s.  w.  Bei  den  letzteren  ersetzte  man  die  Berg- 
schraffur durch  die  technisch  viel  leichter  und  billiger  herzustellende 
Schummerung  oder  Abtönung,  welche  mit  den  Horizontal-Kurven  so- 
wohl ein  plastisches  Bild,  wie  auch  eine  geometrisch  genaue  Höhen- 
darstellung zu  liefern  im  stände  ist.  Für  den  Ungeübten  unmittelbar 
verständlich  und  direkt  anschaulich  wirkt  die  schiefe  Beleuchtung, 
wie  dieselbe  namentlich  von  den  Schweizer  Topographen  bei  ihren 
prächtigen  „Relief-Karten"  benutzt  wird,  welche  in  unübertroffener 
Anschaulichkeit  die  reliefartige  Plastik  der  Gebirgsformationen  vor 
Augen  führt.  Diese  Reliefkarten  mit  Horizontalkurven  und  Abtönung 
sind  die  topographischen  Karten  der  Zukunft  genannt  worden,  weil 


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223 


sie  die  plastische  Anschaulichkeit  mit  der  geometrisch  genauen  Dar- 
stellung der  Terrainverhältnisse  durch  die  Höhenkurven  verbinden. 
Aus  letzterem  Grunde  hat  die  Abtönung  nur  auf  die  plastische 
Wirkung  Rücksicht  zu  nehmen  und  kann  ganz  frei  von  irgend  welcher 
Gesetzmäfsigkeit  rein  künstlerisch  ausgeführt  werden,  denn  die 
Aufgabe  der  Abtönung  kann  in  diesem  Falle  dahin  bestimmt  werden, 
dafs  dieselbe  das  Bild,  welches  sich  der  geübte  Kartenleser  nach  dem 
Verlaufe  der  Horizontal-Kurven   im   einzeln   geistig  vorstellen 


Der  Gotthard  mit  schräger  Beleuchtung 

kann,  in  der  ganzen  Karte  objektiv  vor  Augen  führt.    Diese  Dar- 
stellung eignet  sich  daher  vorzüglich  für  Touristen-Karten  in  den 
Marsstäben  1:50  000—1:25  000.    Namentlich  der  letztere  Mafsstab  ist 
für  Touristen-Zwecke,  auch  wenn  sie  wissenschaftlicher  Natur  sind, 
im  Flachlande  und  im  Mittelgebirge  der  zweckmäßigste,  weil  er  hin- 
reichende Übersichtlichkeit  mit  genügend   detaillierter  Terrain-Dar- 
stellung zu  verbinden  gestattet.    Für  das  Hochgebirge  wird  des  ge- 
ringeren Detailreichtums  halber  meist  der  Mafsstab  1:50000  gewählt, 
wie  ihn  die  vorerwähnten  Schweizer  Reliefkarten  haben,  welche  auf 
Grundlage  der  entsprechenden  Blätter  des  Siegfried  -  Atlanten  für  das 


224 


Hochgebirge  bearbeitet  wurden.  Auch  die  ähnlich  behandelten  Blätter 
der  Ötzthaler  Alpen,  welche  der  Deutsch-Oesterreichischo  Alpen- 
Verein  bearbeiten  und  herausgeben  liefs,  sind  im  gleichen  Mars- 
stabe ausgeführt  worden.  Für  das  Mittelgebirge  jedoch  ist  eine 
Darstellung  im  Marsstahe  1:25000  vorzuziehen.  Tn  Deutschland  hat 
der  Badeort  Harzburg  den  Anfang  gemacht  mit  einer  Relief-Karte 
„Harzburg-Brocken"  in  diesem  Mafsstabe.  Durch  einheitliches  Vor- 
gehen des  Harzklubs  und  der  deutschen  Touristen-Vereine  im  Inter- 
esse einer  besseren  kartographischen  Darstellung  der  heiraisohen  Ge- 
birge in  ähnlicher  Weise,  könnte  auch  für  diese  etwas  den  schweize- 
rischen Reliefkarten  Ebenbürtiges  geschaffen  werden.  Diese  Relief- 
Karten  haben  den  grofsen  Vorteil,  dafs  sie  jedermann  verständlich 
sind  und  zugleich  strengen  Anforderungen  genügen  können,  wenn 
die  Situations-  und  Kurven-Darstellung  genau  sind.  Der  Wert  einer 
Karte  wächst  aber  um  so  mehr,  je  leichter  sie  verständlich  und  je 
genauer  sie  ist. 

Aus  den  topographischen  üriginalaufnahmen  und  ihren  Dar- 
stellungen werdon  durch  Reduktion  auf  kleineren  Marsstab  angewandte 
Karten  aller  Art  für  die  verschiedenen  Staatszwecke  und  privaten  Be- 
dürfnisse hergestellt.  In  erster  Linie  sind  hier  zu  nennen  die  General- 
stabs- und  Übersichtskarten,  welche  den  Marsstab  1 : 200  000  bis  1 : 500  000 
haben,  und  von  denen  jedes  Land  eine  solche  in  seiner  eigenen  Dar- 
stellungsart, einfarbig  oder  mehrfarbig  mit  Horizontalkurven  oder  mit 
Bergschraffur  otc,  jo  nach  Bedürfnis  und  Geschmacksrichtung  besitzt. 
In  Deutschland  wird  eine  ncuo  Übersichtskarte  des  Deutschen  Reiches 
im  Mafsstabe  1  :  200  000  mit  Horizontalkurven  und  in  mehrfarbigem 
Kupferdrucke  vom  Preufsischen  Generalstabe  bearbeitet  und  herausge- 
geben als  Ersatz  der  seither  benutzten  Rey  mannschen  Karte  von  Mittel- 
Europa.  Sodann  hat  das  kartographische  Institut  von  Perthes  in 
Gotha  eine  Karte  des  Deutschen  Reiches  im  Marsstabe  1  :  500000  mit 
brauner  Bergschraffur  in  vorzüglicher  Ausführung  herausgegeben, 
welche  auch  geologisch  bearbeitet  und  koloriert  worden  ist.  Hieran 
schliersen  sich,  ebenfalls  in  mehrfarbigem  Kupferdruck  mit  Benutzung 
von  Ilandkolorit  bearbeitet,  die  geographischen  Karten  des  gleichen 
Institutes,  welche  wohl  unübertroffen  dastehen.  Diese  schönen  Karten 
im  Verein  mit  dem  von  Vellhagen  &  Klasing  in  Steingravure  her- 
gestellten, seiner  Preiswürdigkeit  halber  weit  verbreiteten  And  ree'schen 
Handatlas  und  anderen  ähnlichen  Werken  haben  bewirkt,  dafs  Deutsch- 
land in  Bezug  auf  Herstellung  geographischer  Karten  unstreitig  unter 
allen  Ländern  mit  den  ersten  Platz  einnimmt.     Dies  gilt  aber  nicht 


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225 


nur  in  Hinsicht  auf  Kartographie.  Der  Schwerpunkt  der  ganzen  Ent- 
wicklung der  wissenschaftlichen  und  praktischen  Geodäsie  lag  im  ver- 
gangenen Jahrhundert  in  Frankreich,  welches  durch  die  berühmten 
Gradmessungsarbeiten  seiner  Geodäten  die  ellipsoidische  Gestalt  der 
Erde  und  das  Metermafs  bestimmte,  sowie  die  erste  topographische 
Karte  auf  wissenschaftlicher  Grundlage  bearbeiten  liefs.  In  der  ersten 
Hälfte  unseres  Jahrhunderts  hingegen  waren  es  die  Arbeiten  des 
grofsen  Königsberger  Astronomen  Bessel  und  namentlich  des  Fürsten 
der  Mathematiker  und  Geodäten,  Carl  Friedrich  Gauss,  welche  die 
Grundlage  bildeten  und  noch  bilden,  auf  der  die  neuere  Geodäsie  auf- 
gebaut ist.  Sie  führten  ihren  Schüler  und  Mitarbeiter,  den  preufsischen 
General  Baeyer,  zur  Begründung  der  europäischen  Gradmessung, 
welche  inzwischen  zur  internationalen  Erdmessung  sich  erweiterte, 
einer  Vereinigung  aller  gesitteten  Völker  und  Nationen  zu  friedlichem 
Wettstreite  und  gemeinsamer  wissenschaftlicher  Arbeit  auf  dem  Ge- 
saratgebiete der  höheren  Geodäsie.  Ihren  Mittelpunkt  hat  dieselbe 
im  Königlich  Preufsischen  geodätischen  Institute  auf  dem  Telegraphen- 
berge bei  Potsdam,  dessen  Leiter  Helmert  als  Nachfolger  Baeyer's 
mit  der  zusammenfassenden  Bearbeitung  der  Einzelergebnisse  in  erster 
Linie  betraut  ist.  Wie  hiernach  die  Entwicklung  der  höheren  Geodäsie 
im  letzten  Jahrhundert  ihren  Schwerpunkt  vornehmlich  in  Deutsch- 
land hat,  so  steht,  und  zwar  infolge  einer  sehr  natürlichen  Rück- 
wirkung, auch  das  niedere  Vermessungswesen  daselbst  zur  Zeit  auf 
einer  Stufe,  wie  sie  seither  von  keinem  anderen  Lande  erreicht  worden 
ist.    Möge  im  kommenden  Jahrhundert  das  Gleiche  gelten. 


Himmel  und  Brde.  18»».  XI.  ä.  |.", 


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Die  neueste  Erzeugung  reinen  Sauerstoffs  und  dessen 
wirtschaftliche  Bedeutung. 

Von  Dr.  L.  Häpke  iu  Hrcmen. 

-^-T^er  Sauerstoff  ist  das  auf  Erden  am  meisten  verbreitete  ohemische 
»TS  Element.  Als  färb-  und  geruchloses  Gas  läfst  es  sich  leicht 
daran  erkennen,  dafa  ein  glimmender  Span  in  Sauerstoff  mit 
glänzender  Flamme  verbrennt.  Sein  spezifisches  Gewicht  ist  1,1,  also 
ist  er  etwas  schwerer  als  die  atmosphärische  Luft,  von  dem  der 
Sauerstoff  rund  20  Volumprozent  ausmacht.  Die  übrigen  80  Prozent 
bestehen  aus  Stickstoff  neben  sehr  geringen  Mengen  der  neueutdeckten 
Gase:  Argon,  Krypton,  Neon,  Metargon  und  Xenon  Ferner  sind  in 
der  Luit  noch  fast  'y,  pro  mille  Kohlensaure,  Wasserdampf  und  mikro- 
skopisch kleine  Organismen,  die  sogenannten  Sonnenstäubchen,  ent- 
halten. Im  Wasser  kommt  der  Sauerstoff  mil  dem  \V;issei*stoff  chemisch 
verbunden  zu  %  vom  Gewichte  des  Wassers  vor.  Aufserdem  findet 
er  sich  in  allen  Tiereu  und  Pflanzen  und  macht  rund  die  Hälfte  des 
Gewichts  der  gesamten  Erdrinde  aus. 

Priestley  erkannte  1774  den  Sauerstoff  als  ein  eigentümliches 
Gas  und  fast  <jbiehzeitig  auch  der  deutsche  Chemiker  Scheele. 
Lavoisier  gab  dem  Stoffe  1781  den  Namen  Oxygenium  (ovjs  sauer 
und  72wai»  ich  erzeuge)  oder  Sauerstoff,  weil  er  mit  anderen  Ele- 
menten Säuren  erzeu-t.  Wenn  ein  Körper  sieh  mit  dem  Sauerstoff 
verbindet,  so  entwickelt  sich  dabei  stets  eine  bestimmte  Wärme; 
diesen  Vorgang  nennt  man  oxydieren  oder  verbrennen.  Körper,  die 
mit  einer  -''Wtrs.-u  Menge  Sauerstotl  verbunden  sind.  heiTsen  Oxyde; 
ist  die  Menge  ^röfsor,  so  werden  sie  Tberoxyde  oder  Snperoxyde  ge- 
nannt. Säuren  sind  daire^en  Verbindungen  gewisser  Elemente  mit 
dem  gröfsten  Quantum  Sauerstoff.  Die  in  unserem  Körper  vor  sich 
gehende  Atmung  ist  ebenfalls  ein  Verl>r<*nnunirsprozefs,  wobei  das 
hellrote  Blut  durch  die  entstandene  Kohlensäure  sich  in  dunkelrotes 
verwandelt. 


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227 


Sauerstoff  ist  daher  die  eigentliche  Lebensluft,  von  der  alle 
unsere  Lebenstbätigkeit  abhängt,  deren  Mangel  in  wenigen  Minuten 
den  Tod  herbeiführt.  Eine  eigene,  unter  besonderen  Unistiinden  auf- 
tretende Modifikation  des  Sauerstoffs  hat  man  Ozon  (Geruch)  genannt, 
das  sich  durch  seine  besondere  Energie  und  Aktivität  auszeichnet. 
Dies  Gas  entsteht  beim  Verbrennen  des  Phosphors,  oder  wenn  der 
Blitz  oder  ein  elektrischer  Funke  durch  Luft  oder  Sauerstoff  schlägt 
Ozon  oxydiert  die  Körper  aufs  kräftigste,  bleicht  die  Farben  und  ist 
ein  vorzügliches  Desinfektionsmittel.  Lange  Zeit  hindurch  waren  die 
Bemühungen  von  Physikern  wie  Faraday  und  Natterer  vergeblich, 
Sauerstoff  in  flüssigem  Zustande  zu  erhalten.  Merkwürdiger  Weise 
gelang  es  fast  gleichzeitig  um  Weihnachten  1877  zwoi  Forschern 
Pictet  und  Cailletet  nach  verschiedenen  Methoden,  sowohl  den 
Sauerstoff  als  auch  andere  Gase  zu  verllüssigen.  Dazu  gehört  aller- 
dings der  ungeheure  Druck  von  500  Atmosphären  und  eine  Kälte  von 
130°,  die  mittelst  flüssiger  Kohlensäure  und  schwefliger  Säure  erzeugt 
wurde. 

Neben  dem  Brennmaterial  ist  der  Sauerstoff  das  notwendigste 
Hilfsmittel  für  jede  industrielle  und  gewerbliche  Thätigkeit  der 
Mensehen.  Schmiede,  Schlosser  und  ander»-  Metallarbeiter  treiben 
durch  einen  Blasebalg  Luft  in  das  Feuer,  um  durch  den  Sauerstoff 
die  Glut  anzufachen.  Derselbe  Vorgang  spielt  sich  im  kleinen  mit 
dem  Lötrohr  ab,  das  Gold-  und  Silberarbeiter,  suwie  die  Chemiker 
zum  Löten  und  Probieren  der  Metalle  benutzen.  Die  mittelst  Sauer- 
stoffs der  Luft  verbrannte  Kohle  erzeugt  die  Wärme  unserer  Herde, 
Öfen  und  Dampfkessel.  Leider  wird  die  von  der  Kohle  theoretisch 
berechnete  Wärrae  im  günstigsten  Falle  nur  zu  10  Prozent  ausgenutzt, 
weil  der  in  der  Luft  enthaltene  Stickstoff,  der  das  vierfache  des 
Sauerstoffvoluras  betragt,  mit  erhitzt  werden  mufs,  wobei  der  gröfste 
Teil  der  Wärme  ungenutzt  in  den  Schornstein  entweicht.  Wendet 
man  dagegen  reinen  Sauerstoff  an,  so  kann  man  fast  sämtliche  Wärme 
gewinnen  und  die  Temperatur  namentlich  mit  Hilfe  des  Acetylens  bis 
über  3000°  C.  hinaus  steigern.  Damit  würde  eine  außerordentliche 
Ersparnis  an  Brennmaterial  nebst  Vereinfachung  der  Feuorungs- 
anlagen  verbunden  sein.  Für  Gewinnung  und  Verarbeitung  der  Me- 
talle, für  Heizung  und  Beleuchtung,  für  chemische  und  medizinische 
Zwecke,  sowie  für  zahlreiche '  sonstige  Verwendungen  würde  daher 
bdiiger  Sauerstoff  ein  unermeßlich  weites  Feld  finden.  So  ist  es  er- 
klärlich, dafs  mehr  als  hundert  Vorschläge  und  Patente  versuchten, 
dieses  edle  Gas  sowohl  auf  chemischem  als  auch  auf  physikalischem 

1.-.' 


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228 


Wege  fabrikmäfsig  herzustellen.  Aber  nur  ein  Verfahren,  das  die  at- 
mosphärische Luft  als  Rohmaterial  benutzte,  hatte  bislang  Erfolg.  Es 
ist  das  der  Gebrüder  Brin,  die  vor  etwa  zehn  Jahren  in  London 
die  erste  Sauerstofffabrik  anlegten.  Dasselbe  beruht  auf  der  von 
Bou'ssingault  bereits  1850  gefundenen  Thatsache,  dafs  Bariumoxyd 
(BaO)  beim  Erhitzen  auf  700°  Sauerstoff  aus  der  Luft  aufnimmt  und 
damit  sich  in  Bariumsuperoxyd  (Ba  0  ,)  verwandelt,  das  bei  stärkerer 
Hitze  (circa  900°)  in  freien  Sauerstoff  und  wieder  verwertbares 
Bariumoxyd  zerfällt.  Der  nicht  gebundene  Stickstoff  tritt  dabei  fast 
vollständig  wieder  aus.  Diesem  scheinbar  einfachen  Vorgang  stellten 
sich  in  der  Praxis  indessen  mehrfache  Schwierigkeiten  entgegen.  Die 
Luft  mufs  aufs  sorgfältigste  von  Kohlensäure,  Wasserdampf  und  Staub- 
teilchen gereinigt  sein,  da  sonst  das  Bariumoxyd  sich  nicht  regeneriert 
und  inaktiv  oder  tot  bleibt. 

Nach  dem  Berichte  einer  Parlamentskommission,  welche  die  bei 
dem  ausgedehnten  Handel  mit  komprimierten  Oasen  mehrfach  vorge- 
kommenen Unfälle  zu  untersuchen  hatte,  belief  sich  der  Umsatz  von 
BrinsOxygen  Company  im  Jahre  1894  bereits  auf  100  000  Stahley linder. 

Die  einzige  Fabrik,  die  in  Deutschland  nach"  diesem  Verfahren 
arbeitet,  ist  die  von  Dr.  Elkan  in  Berlin,  die  ich  im  Juli  1896  im  Be- 
triebe sah.  Hier  konnte  ich  zuerst  das  mit  Sauerstoff  gespeiste  Zirkon- 
licht  bewundern,  das  alle  anderen  Lichteffekte  weit  überstrahlt.  Den 
vorhin  angedeuteten  Wechsel  der  Operationen  bewirkten  automatische 
Pumpen  alle  10 — 15  Minuten,  wobei  ein  Kilo  Bariumoxyd  etwa  10  Liter 
Sauerstoff  lieferte.  Der  noch  einen  Rest  Stickstoff  enthaltende  Sauer- 
stoff hat  eine  Reinheit  von  89 — 95  Prozent,  womit  der  Industrie  aber 
schon  vollauf  gedient  ist.  Das  in  einem  Gasometer  aufbewahrte  Gas 
wird  durch  den  Druck  von  100  Atmosphären  in  Stahlcylinder  geprefet 
und  in  den  Handel  gebracht.  Ein  Kubikmeter  oder  1000  Liter  dieses 
Sauerstoffs  kosten  10  M. 

Weitere  Fabriken  befinden  sich  noch  in  Paris,  Manchester  und 
Glasgow.  Diesem  Verfahren  hängen  noch  manche  Mängel  an,  die 
namentlich  »-ine  wünschenswerte  Herabsetzung  des  Preises  unmöglich 
machen.  Die  sorgfältige  Reinigung  der  Luft  erfordert  ausgedehnte 
Vorrichtungen,  und  das  ziemlich  teure  Bariumoxyd,  welches  auch  nur 
8  Prozent  des  Sauerstoffs  gewinnen  läfst,  wird  allmählich  unwirksam. 
Wegen  der  maschinellen  Zusatzapparate  ist  die  Anlage  kostspielig, 
und  die  Temperatur  ist  eine  so  hohe,  dafs  sie  nur  in  Retortenöfen 
erreicht  werden  kann. 

Ein  einfacheres,  von  Peitz  modifiziertes  Verfahren  stammt  von 


229 


Professor  Kafsner.  der  es  bereits  1889  in  Dinglers  polytechnischem 
•Journal,  Band  274  und  278,  boschrieb  und  in  Erkenntnis  der  hohen 
wirtschaftlichen  Bedeutung  sich  durch  das  D.  H.  F.  52459  sichern  liefe. 
Zur  Gewinnung  des  Sauerstoffes  der  Luft  dient  hier  der  bleisaure 
Kalk  oder  das  Calciumplumbat  rsu>  Pb  04,  das  unter  Glühen  durch 
Kohlensäure  zerlegt  wird  und  Sauerstoff  abgiebt  Aus  dem  Rück- 
stände wird  duroh  überhitzten  Wasserdampf  die  Kohlensäure  ausge- 
trieben und  wiedergewonnen.  Alsdann  wird  Luft  über  das  Material 
geleitet,  aus  welcher  sich  der  bleisaure  Kalk  regeneriert,  während  der 
Stickstoff  entweicht.  Der  Prozefs  beginnt  darauf  von  neuem  und  kann 
beliebig  lange  fortgesetzt  werden.  Zu  einem  glatten,  rontabeln  Verlauf 
dieser  Darstellung  ist  das  Vorhandensein  reiner,  billiger  Kohlensäure 
ein  Haupterfordernis.  Durch  die  Erbohrung  des  Riesensprudels  von 
Herste  bei  Driburg,  den  ich  in  der  September-Nummer  des  vorigen 
Jahrganges  dieser  Zeitschrift  beschrieb,  ist  die  nötige  Kohlensäure  in 
jeder  gewünschten  Menge  vorhanden.  Eine  Versuchsanlage  in  Herste, 
die  in  kurzer  Zeit  50  cbm  Sauerstoff  von  94—97  pCt  Roinheit*)  pro- 
duzierte, habe  ich  Mitte  Oktober  v.  J.  besichtigt.  Sie  ergab  so  vorzüg- 
liche Resultate,  dafs  nunmehr  mit  dem  Bau  einer  grofsartigen  Fabrik 
von  der  Firma  C.  G.  Rommenhöller,  Besitzerin  der  dortigen  Kohlen- 
säure-Worke,  zur  Erzeugung  reinen  Sauerstoffes  begonnen  wurde. 

Das  genannte  Calciumplumbat  ist  ein  gelblioh-rotes  Pulver,  das 
durch  Glühen  von  Kalkspatmehl  mit  Bleioxyd  erhalten  wird.  Die  mit 
Kugeln  des  bleisauren  Kalkes  von  Nufsgrörso  gefüllten  Stahlretorten 
werden  mittelst  Generatorfeuorung  auf  750—800°  erhitzt,  wobei  die 
einströmende  Kohlensäure  das  Bleisalz  zerlegt  und  der  Sauerstoff  ent- 
weicht. Wasserdampf  von  drei  Atmosphären  Spannkraft  treibt  die 
Kohlensäure  und  den  Stickstoff  wieder  aus,  während  die  zur  Regene- 
ration nötige  Luft,  auf  400°  vorgewärmt,  durch  eine  Druckpumpe  ein- 
gerührt wird.  Der  chemische  Vorgang  entwickelt  sich  naoh  folgenden 
Gleichungen: 

I.    Ca-,  Pb  04  •  2  CO.,  =  2  Ca  CO.,  -r  Pb  O  -j-  O. 

Kohlensäure  durch  eine  Röhre  bis  über  den  Boden  der  Retorte 
geführt,  wird  vom  Kalk  gebunden  und  treibt  den  Sauerstoff  aus. 

II.  2  Ca  C03  r  Pb  O  -f-  H2  O  =  2  Ca  O  •  PbO-J-2  C02  ^  HsO. 
Der  einströmende  Wasserdampf  nimmt  die  Kohlensäure  fort  und 

entweicht  damit. 

III.  2  Ca  O  +  Pb  O  (  4  N/O  ,  H2  O  =  Ca2  Pb  O,  \  4  N  ■  H2  O. 
•)  Nach  den  Analysen  des  Prof.  Rooseboom  in  Amsterdam. 


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230 


Die  vorgewärmte  Luft  regeneriert  das  Bleisalz,  während  der 
Wasserdampf  den  Stickstoff  austreibt. 

Der  bleisaure  Kalk  bleibt  nach  Kafsners  Darstellung  in  einem 
dauernd  molekular  porösen  Zustand,  indem  immer  zwei  Gase,  nämlich 
Kohlensäure  und  Sauerstoff,  die  sich  gegenseitig  Platz  machen,  in  das 
Material  eintreten,  wodurch  dasselbe  bis  in  die  Tiefe  schwammförmig 
bleibt.  Die  Kohlensäure  kann,  wie  schon  angedeutet,  mit  geringem 
Verlust  immer  wieder  gewonnen  werden. 

Welche  hohe  Bedeutung  die  komprimierten  Gase,  unter  denen 
Sauerstoff  und  Kohlensäure  obenan  stehen,  für  die  Wissenschaft  und 
Industrie  bereits  gewonnen  haben,  ergiebt  sich  aus  dem  Erscheinen 
einer  besonderen  Zeitschrift  für  dieselben.  Raoul  Pictet  schreibt 
darin,  dafs  während  des  Jahres  1897  in  den  verschiedenen  Fabriken 
mehrere  Millionen  Kubikmeter  Sauerstoff  hergestellt  wurden.  Dies 
Gas  ist  trotz  seines  jetzigen  hohen  Preises  unentbehrlich  zum  Schmelzen 
und  Bearbeiten  der  strengflüssigen  Metalle  Platin,  Iridium,  Nickel  u.  s.  w. 
Mit  Wasserstoff  erzielt  dasselbe  im  Knallgasgebläse  die  höohste  Tem- 
peratur und  das  intensivste  Licht,  besonders  beim  Glühen  von  Kalk- 
oder Zirkonerde.  Das  violgenannte  Calciumcarbid  erzeugt  man  mittelst 
Sauerstoffes  weit  billiger  als  mit  Hilfe  des  elektrischen  Stromes.  Bei 
Bereitung  der  englischen  Schwefelsäure  läfst  sich  durch  Verbrennen 
der  schwefligen  Säure  (Schweleldioxyd)  nach  Winklers  Verfahren 
sofort  Schwefelsäure  -  Anhydrid  (Schwefeldioxyd)  erhalten,  das  mit 
22  Prozent  Wasser  nahezu  100  prozentige  Schwefelsäure  liefert.  Eisen 
wird  in  der  Bessemerbirne  beim  Durchblasen  von  reinem  Sauerstoff 
seines  Kohlenstoffgehaltes  beraubt,  und  der  erzeugte  Stahl  läfst  sich 
mit  Nickel,  Mangan,  Wolfram  u.  s.  w.  leicht  vereinigen.  Die  Glas- 
und  Thonwarenfabriken,  die  chemische  Industrie,  überhaupt  alle  Ge- 
werbe, die  viel  Feuerung  gebrauchen,  werden  vom  billigen  Sauerstoff 
großen  Vorteil  ziehen.  Die  Frage  der  Rauchverbrennung  liifst  sich 
allein  durch  Anwendung  von  Sauerstoff  lösen.  Seit  20  Jahren  hat  die 
englische  ..Smoke  Abatement  Society"  grofse  Mittel  aufgewandt,  ohne 
einen  Schritt  weiter  zu  kommen,  und  ebenso  hat  in  Preufsen  eine 
Ministerial-Koramission  seit  Jahren  darüber  verhandelt,  wio  die  dicken, 
schwarzen  Rauchwolken  der  Fabrikschornsteino  zu  beseitigen  sind. 
Wie  viel  würden  unsere  Grofsstiidte  an  Gesundhoit,  Schönheit  und 
Reinlichkeit  gewinnen,  wenn  die  Entwickelung  übermäßigen  Rauches 
der  Feuerungsanlagen  aufhörte!  Was  würde  die  Reichsmaiine  zahlen, 
wenn  die  Torpedos  und  Kriegsschiffe  ihre  Fahrten  ohne  sichtbaren 
Rauch  machten?     Dann  könnten  sie  sich  dem  Feinde  unbemerkt 


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2U 


nähern,  und  die  erzeugte  gröfsere  Hitze  bei  bedeutend  verringerter 
Heizfläche  der  Dampfkessel  würde  Ersparnisse  herbeiführen,  welche 
die  Ausgabe  fiir  Sauerstoff  reichlich  aufwiegen.  Die  technischen 
Schwierigkeiten  der  ersten  Einrichtung  werden  sich  leicht  losen  lassen, 
wenn  nur  erst  billiger  Sauerstoff  in  unbegrenzter  Menge  zur  Ver- 
fügung steht. 

Luftschiffer  atmen  in  hohen  Regionen  das  mitgefühlte  belebende 
Gas  in  gierigen  Zügen  ein,  um  in  der  dünnen,  sauerstoffarmen  Luft 
nicht  zu  ersticken.  Andererseits  wird  in  der  Tiefe  der  Bergwerke 
komprimierter  Sauerstoff  vorrätig  gehalten,  um  bei  tiegenwart  schlagen- 
der Wetter  oder  tätlicher  Explosionsgase  Schächte  und  Stollen  betreten 
zu  können.  In  zahlreichen  Fallen  der  medizinischen  Praxis  hat  sich 
reiner  Sauerstoff  als  Lebensluft  bewährt,  z.  B.  bei  Behandlung  von 
Lungenkranken  und  Asthmatikern.  Nicht  zu  vergessen  ist,  dafs  die 
Bedienungsmannschaft  submariner  Boote,  sowie  Taucher  mittelst  hin- 
reichenden Sauerstoffvorrates  sich  längere  Zeit  unter  Wasser  halten 
können.  Ich  stimme  Professor  Kafsner  bei,  der  am  Schlüsse  eines 
Artikels  in  Dinglers  Journal  sagt:  „Der  Preis  dieses  Gases  wird 
nach  dem  nouen  Verfahren  ein  so  niedriger  werden,  dafs  dasselbe  zu 
allgemeiner  Anwendung  gelangt.  Welche  Fortschritte  dann  überall 
in  Verkehr,  Industrie  und  Gewerbe  eingeleitet  würden,  läfst  sich  kaum 
überblicken;  ein  grofsartiger  Umschwung  auf  allen  Gebieten  des  prak- 
tischen Lebens  wird  die  Folge  sein  Welche  Wärme  erzeugt  der 
reine  Sauerstoff  in  unseren  Heizanlagen,  welches  intensive  Licht  geben 
die  mit  reinem  Sauerstoff  gespeisten  Gasflammen?  Unleidlichen  Rufs 
und  Rauch  giebt  es  nicht  mehr,  da  alle  Kohlen  total  verbrannt  und 
ausgenutzt  werden.  Dies  Gas  ist  in  sanitärer  und  therapeutischer 
Hinsicht  die  eigentliche  Lebensluft,  nicht  nur  für  Menschen  und  Tiere, 
sondern  auch  für  Industrie  und  Technik." 


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Der  Weltäther  entdeckt?  Bekanntlich  kann  der  Himmelsraum, 
soweit  wir  ihn  kennen,  nicht  absolut  leer  gedacht  werden,  da  die  Über- 
tragung der  Wellenbewegung  des  Lichts  unbedingt  ein  die  interstellaren 
Räume  ausfüllendes  Medium  zur  Voraussetzung  hat,  dem  vermutlich 
auch  alle  elektromagnetischen  und  gravitierenden  Fernewirkungen, 
die  zwischen  den  Gestirnen  eine  gewisse  Verbindung  herstellen,  zu 
verdanken  sind.  Dieser  „Weltäther"  oder  ., Lichtäther-  mufs  sicherlich 
ein  im  Vergleich  mit  den  sonst  bekannten  Stoffen  unendlich  viel  feineres 
Fluidum  sein,  da  er  einerseits  die  Bewegungen  der  Weltkörper  nicht 
merkbar  hemmt,  andererseits  aber  nach  den  Anschauungen  der  Physiker 
alle  Materie  völlig  durchdringt.  Einen  historischen  überblick  übordieEnt- 
wickelung  der  Ätherhypothese  haben  unsere  Leser  durch  einen  längeren 
Aufsat/,  im  vorigen  Jahrgang  gewonnen;  es  wird  ihnen  daher  noch 
gegenwärtig  sein,  date  die  Ansichten  über  die  Eigenschaften  des  Äthers 
bis  in  die  neueste  Zeit  starken  Schwankungen  unterworfen  gewesen 
sind.  Vor  allem  ist  es  zweifelhaft,  ob  man  dem  Äther  die  Eigen- 
schaften eines  echten  Gases  zusprechen  kann,  uder  ob  er  nicht  viel- 
mehr trotz  seiner  geringen  Dichte  die  Eigenschaften  eines  starren, 
vollkommen  elastischen  Körpers  besitzt.  Nach  diesen  Vorbemerkungen 
werden  wir  die  aus  Amerika  kommende  Nachricht  von  der  Entdeckung 
eines  neuen  (lases  ..Etherioiv,  das  mit  dem  Lichtäther  identisch  sein 
soll,  mit  der  nötigen  Reserve  aufnehmen;  immerhin  sind  aber  die  be- 
treffenden Erfahrungen  des  Herrn  Brush  interessant  genug,  um  unser 
Interesse  in  hohem  Mafse  zu  erregen.  Aus  pulverisiertem  Glas  ent- 
wickelte .sich  nämlich  im  vollkommensten  Vacnurn,  das  uns  erreichbar 
ist,  ein  Gas,  das  seine  Existenz  durch  eine  außerordentlich  grofse 
Wärmeleituugsfähigkcit  verriet.  Bei  einein  Druck  von  0,96  Milliontel 
Atmosphären  leitet  das  neue  Gas  die  Wärme  _'ü  mal  schneller  als 
Wasserstoff,  der  seinerseits  ein  bessererer  Wärmeleiter  als  Luft  ist 
Audi  aus  anderen  Körpern  gelang  es.  dasselbe  Gas  im  Vadium  zu 
entwickeln.  Auf  Grund  gewisser  Analogien  schliffst  Brush  aus  dem 
hohen  Wärmeleitungsvermögen  des  neuen  Gases  (das  übrigens  durch 


233 


Vordiohtung  mit  Hilfe  von  Diffusion  zu  einem  42  mal  besseren  Wärme- 
leiter als  Wasserstoff  verwandelt  werden  konnte),  dals  demselben  nur 
etwa  der  zehntausendste  Teil  der  Dichte  des  Wasserstoffs  zukomme. 
Aus  der  kinetischen  Qastheorie  würde  nun  folgen,  dals  ein  so  feines 
Gas  in  der  irdischen  Atmosphäre  nicht  würde  existieren  können,  wenn 
es  nicht  auch  den  Himmelsraum  erfüllte;  es  würde  nämlich  vermöge 
der  grofsen  Geschwindigkeit,  mit  der  sich  seine  Moleküle  bewegen, 
in  den  Weltraum  hinaus  diffundieren.  Da  nun  aber  das  neue  Gas 
sicher  in  der  Atmosphäre  enthalten  ist  und  von  den  uns  bekannten 
Körpern  daraus  begierig  absorbiert  wird,  so  meint  Brush,  dafs  es  eben 
ein  die  ganze  Welt  erfüllender  Stoff  sein  müsse,  der  vielleicht  der  von 
der  Undulationstheorie  geforderte  Träger  der  Lichtbewegung  sein  könnte. 

Bald  nach  dem  Bekanntwerden  dieser  Aufsehen  erregenden  Ver- 
öffentlichung erhoben  sich  indessen  schon  gewichtige  Stimmen  des 
Widerspruchs.  Der  durch  die  Entdeckung  der  Kathodenstrahlen  hoch- 
verdiente englische  Physiker  Crookes  glaubt  z.  B.,  mit  grofser  Wahr- 
scheinlichkeit erklären  zu  können,  dafs  das  vermeintlich  neue  Gas 
nichts  anderes  als  Wasserdampf  sei,  der  ihm  selbst  bei  Vacuumver- 
suchen  schon  längst  als  kaum  entfernbar  und  durch  ein  hohes  Wärme- 
leitungsvermögen charakterisiert  entgegengetreten  ist. 

Jedenfalls  darf  man  demnach  auf  weitere  Versuche  zur  Entschei- 
dung über  die  Richtigkeit  der  einen  oder  anderen  Ansicht  in  hohem 
Mafse  gespannt  sein.  F.  K  b  r. 

Häufigkeit  der  Erdbeben  in  Niederländisch-Indien. 

Kapitän  Montessus  de  Ballore,  über  dessen  statistische 
Arbeiten  über  Erdbeben  in  dieser  Zeitschrift  wiederholt  Bericht  er- 
stattet worden  ist,  hat  sich  neuerdings  mit  der  Frequenz  der  Erdbeben 
in  Japan  und  der  ostindischen  Inselwelt  beschäftigt  Die  grofsen 
Inselgruppen,  welche  sich  von  der  Südspitze  Hintorindiens  bis  zum 
australischen  Kontinente  hinziehen,  sind  durch  mannigfache  geologische 
Eigentümlichkeiten,  durch  starkes  Hervortreten  des  Vulkanismus,  na- 
mentlich auf  Java  und  den  Molukken  und  in  manchen  ihrer  Teile, 
gleich  Japan,  durch  besondere  Häufigkeit  von  Erdbeben  ausgezeichnet. 
Die  Erdbebenstatistik  Montessus,  die  sich  über  den  ganzen  Archi- 
pel von  Sumatra  bis  Neuguinea  erstreckt,  mufs  gegenwärtig  noch 
sehr  lückenhaft  sein,  da  sie  sich  nur  auf  das  Aufzeichnungsmaterial  aus 
den  niederländischen  Besitzungen  stützen  kann  und  dieses  kaum  mehr 
als  fünfzig  Jahre  umfafst;  ganz  ungeheure  Gebiete,  die  der  Civilisation 


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2.U 


noch  nicht  zugänglich  sind,  wie  das  Reich  Atschin  auf  Sumatra,  fast 
ganz  Borneo  und  viele  Gebiete  der  gröfseren  Inseln,  sind  in  Beziehung 
auf  ihre  Erdbehcnhäufigkeit  noch  so  gut  wie  unbekannt.  Das  sta- 
tistische Bild  wird  sich  also  im  Laufe  der  Zeit,  namentlich  wenn,  was 
so  sehr  zu  wünschen  wäre,  eine  permanente  Beobachtung  der  Erd- 
beben durch  ständige  Seismographen  in  einzelnen  Gegenden  erreicht 
werden  sollte,  ganz  wesentlich  verändern.  Aber  gewisse  charakteristische 
Züge  und  Gesetzmäßigkeiten  lassen  sich  in  der  Erdbebenfrequenz 
jener  Inselwelt  schon  jetzt  nachweisen.  Im  allgemeinen  bestätigt  sich 
zunächst,  dafs  die  Gebiete  der  Erdbeben  hauptsächlich  dort  anzutreffen 
sind,  wo  sich  die  stärksten  Gefälle  im  Relief  der  Erdkruste  darstellen. 
Im  speziellen  treten  besonders  folgende  Gesetze  zu  Tage.  Die  Berg- 
länder sind  mehr  heimgesucht  von  Erdbeben  als  die  Flachländer.  Tiefe 
Meeresküsten,  namentlich  wenn  sie  längs  steiler  Kettengebirge  dahin 
ziehen,  sind  viel  erdbebenreicher  als  seichte  Küsten,  welche  den 
Rand  von  Flachländern  bilden.  Die  jäh  abfallenden  Seiten  der  tie- 
birgsketten  sind  an  Erdbeben  häuliger  als  die  allmählich  verlaufenden. 
In  den  Thälern  zeichnen  sich  besonders  die  Mittelpartien  gegenüber 
den  höher  belogenen  durch  Unruhe  aus.  Sehmale  bergige  Halb- 
inseln sind  erdbebenreich,  ferner  Heut  das  Stofszentrum  einer  Reihe 
von  Erdbeben  öfters  in  tiefen  und  an  Breite  beschränkten  Meerengen. 
Diese  der  ErdbebenhäufL' keit  des  hinterindischen  Archipels  anhaften- 
den <  lesetzniäfsigkeiten,  welche  übrigens  durch  andere  Züge  verstärkt 
werden  könnten,  die  wir  in  anderen  bebenreichen  Gebieten  der  Erde 
zu  beobachten  Gelegenheit  haben,  beweisen,  dafs  der  Zusammenhang 
zwischen  der  Entstehung  der  Kidbeben  und  der  Formation  der  Erd- 
rinde ein  unmittelbarer  ist.  und  dals  geologische  Kräfte  die  Haupt- 
ursuche  der  Beben  sind.  Montessus  erwartet  deshalb  nicht  viel  Re- 
sultat von  jener  wissenschaftlichen  Richtung,  welche  den  eigentlichen 
Impuls  zu  den  Erdbeben  in  aufserirdischen,  kosmischen  Ursachen  zu 
suchen  sich  bemüht;  er  meint,  selbst  wenn  kosmische  Bewegungen 
bei  tler  Entuickelung  der  Erdbeben  mitspielten,  dafs  diese  Kräfte 
gegen  die  Macht  der  geologischen  Ursachen  verschwinden  müTsten. 
Weit  wichtiger  als  jene  Spekulationen  sei  vielmehr  die  Erforschung 
der  ^.'(»graphischen  Verbreitung  der  Erdbeben,  also  die  statistische 
Untersuchung  der  Erdbebenhäufigkeit  in  einzelnen  abgegrenzten  Ge- 
bieten: nur  eine  solche  bereite  das  sichere  Fundament  für  die  wei- 
teren Untersuchungen  des  Gegenstandes  vor.  Was  nun  die  Häufigkeit 
der  Erdbeben  im  hinterindischen  Archipel  anlangt,  so  findet  Mon- 
tessus  aus  seiner  Statistik,   dafs  Westsumatra   in  dieser  Beziehung 


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235 

den  andern  Inseln  vorangeht,  namentlich  ist  die  Insel  Nias  und  die 
ihr  gegenüberliegende  Küste  von  Erdheben  heimgesucht,  indem  auf 
je  28  qkm  ein  Erdheben  kommt  (welche  wahrscheinlich  in  der  Meer- 
enge von  Xias  ihren  Ursprung  haben).  Längs  der  steilen  Böschung  des 
Küstengebirges  von  Westsumatra  finden  auch  zahlreiche  Seebeben 
statt.  Uie  Nordspitze  von  Sumatra  ist  ebenfalls  reich  an  Erdbeben; 
mit  Abnahme  an  Häufigkeit,  bis  zu  etwa  60  qkm,  folgen  die  Gebiete 
Padansr  und  Benkulen.  noch  schwächer  zeigen  sich  die  Erdbeben  in 
der  Residentsehalt  Lanipongs  (Palempang  im  Südosten  Sumatras)  und  die 
ganze  Ostküste  der  Insel.  Menado,  der  nordöstliche  Teil  von  Celebes. 
steht  an  Häufigkeit  der  Erdbeben  noch  über  Westjava.  Auf  Java  ist 
der  westliche  Teil,  gleich  Sumatra,  erdbebenreicher  als  der  östliche.  Die 
Molukken:  Ceram,  Büro,  Amboina,  Banda,  Diilolo,  Makian,  Batsehan, 
die  Insel  Timor  und  die  Südspitze  von  Celebes  haben  annähernd 
gleiche  Frequenz,  (50—70  qkm;  noch  schwächer  zeigen  sich  Bali, 
Sumbawa,  Flores,  Adinara,  und  Madura  nächst  der  Nordküste  von  Java. 
Dann  kommen  die  Inseln  Wetter,  Kotti,  Dame,  Larat,  Key  und  Arn, 
ferner  Rio.  Banka  und  Billiton  bei  Sumatra,  die  Insel  Borneo.  die 
Eilande  Sangir,  Tulour  nördlich  von  Diilolo  und  Celebes,  die  Süd- 
spitze  von  Malakka  und  zuletzt  Neu-Guinea;  doch  ist  von  der  Erd- 
bebenfrequenz aller  dieser  letztgenannten  Erdteile  noch  äufserst  wenig 
bekannt,  und  spätere  Untersuchungen  werden  hierüber  wahrscheinlich 
ein  ganz  anderes  Bild  zu  liefern  vermögen.  • 

-I* 

Das  Spektrum  von  Atair  ist  m  jüngster  Zeit  von  Professor 
H.  C  Vogel  zum  Gegenstand  einer  genauen  Untersuchung1)  gemacht 
worden,  zu  der  sowohl  diu  bereits  im  Jahre  18*9  von  Scheinet'  entdeckte 
Eigentümlichkeit  dieses  Spektrums,  als  auch  eine  von  Doslandres 
auf  Grund  seiner  photographischen  Aufnahmen  behauptete  Veränder- 
lichkeit der  Bewegung  in  der  Gesichtslinie  die  Anregung  gegeben 
haben.  —  Der  Stern  Atair  (oder  i  Aquilae)  gehört  zum  ersten  Spektral- 
typus, nimmt  jedoch  insofern  eine  interessante  Ausnahmestellung  ein, 
als  neben  den  breiten  Wasserstoffiinien  sehr  matte,  etwas  verwaschene 
Absorptionsbiinder  zu  erkennen  sind,  deren  Lage  mit  gewissen  Linien- 
gruppen der  Spektra  vom  zweiten  Typus  übereinstimmt.  Schein  er 
hatte  dementsprechend  zwei  Möglichkeiten  für  das  Zustandekommen 
dieses  Spektrums  statuiert:  entweder  befindet  sich  der  Stern  im  Über- 

')  Sitzungsberichte  der  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Üeiltn.  Sitzung 
vom  17.  November  18i)8. 


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23G 


gang  aus  dem  dem  ersten  Typus  entsprechenden  Entwicklungsstadium 
zu  demjenigen  der  Sonnensterne,  oder  das  Spektrum  ist  ein  zu- 
sammengesetztes, durch  die  vereinigte  Lichtwirkung  zweier  dicht  bei 
einander  stehender  Sterne  mit  verschiedenen  Spektren  erzeugtes.  Im 
letzteren  Falle  müfste  nun  eine  Bahnbewegung  erwartet  werden,  die 
sich  durch  Schwankungen  der  spektroskopisch  zu  bestimmenden  Ge- 
schwindigkeit in  der  Gesichtslinie  verraten  könnte.  Deslandros 
meint  nun  in  der  That  derartige  Schwankungen  gefunden  zu  haben, 
da  der  nach  seinen  Aufnahmen  ermittelte  Betrag  der  Linienverschiebung- 
Geschwindigkeitswerten  entspricht,  die  von  37  km  im  Sinne  einer 
Annäherung  bis  11  km  im  Sinne  zunehmender  Entfernung  variieren.  Da 
jedoch  eine  regelmäßige  Periode  in  diesen  Veränderungen  nicht  zu  er- 
kennen ist,  glaubt  der  Pariser  Astronom  sich  zu  der  Annahme  berech- 
tigt, der  Stern  müsse  mindestens  ein  dreifacher  sein,  sodafs  seine  Bewe- 
gung in  komplizierteren  Kurven  sich  vollziehe.  An  die  Möglichkeit, 
dafs  die  gefundenen,  regellosen  Schwankungen  auch  durch  gröfsere 
Ungenauigkeit  der  Bestimmungen  bedingt  sein  könnten,  scheint  Des- 
landres  selbst  nicht  gedacht  zu  haben.  Umsomehr  hielt  H.  C.  Vogel 
die  letztere  Annahme  für  die  einfachste  Lösung  des  Kätsols.  Er  liefe 
daher  während  der  Jahre  1896  und  1897  im  ganzen  29  Aufnahmen 
des  Spektrums  von  i  Aquilae  am  Potsdamer  Spektographen  herstellen, 
um  volles  Licht  in  die  schwebende  Frage  zu  bringen.  Es  zeigte  sich 
nun,  dafs  sichere  Anzeichen  einer  Geschwindigkeitsschwankung  in 
der  That  nicht  vorhanden  sind,  da  sich  Werte  ergaben,  die  nur  zwischen 
26  und  40  km  Annäherung  in  ganz  unregelmäßiger  Weise  hin  und  her 
schwanken  und  einen  mittleren  Wert  von  —  32,9  Jb  0,3  km  ergeben. 
Eine  erneute  Ausmessung  der  bereits  im  Jahre  1888  von  Scheiner 
aufgenommenen  Platten  gab  in  Verbindung  mit  den  damals  gumessenen 
Werten  für  1888  die  Geschwindigkeit:  —  36,1  dz  0,7  km,  sodafs  eine 
radle  Änderung  auch  daraus  kaum  vermutet  werden  kann. 

Was  nun  die  Erklärung  der  eigenartigen,  matten  Absorptions- 
bänder im  Atair-Spektrum  betrifft,  so  macht  Vogel  zunächst  mehrere 
Umstände  geltend,  die  es  unwahrscheinlich  erscheinen  lassen,  dal's 
hier  eine  Superposition  zweier  Spektra  vorliege.  Üagegon  ist  es  ge- 
lungen, durch  unscharfe  Einstellung  der  Platte  Aufnahmen  des  Sonnen- 
spektrums zu  erlangen,  deren  Aussehen  infolge  des  Zuzammenfliofsens 
eng  stehender  Linien  dem  des  Atairspektrums  ähnelt.  Da  jedoch  die 
im  Sönnenspektrutn  sehr  intensive  und  überhaupt  für  Sterne  vom 
zweiten  Typus  charakteristische  Liniengruppe  G  im  Spektrum  von 
i  Aquilae  kaum  angedeutet  ist,  so  mufs  das  letztere  entschieden  noch 


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237 

zum  ersten  Typus  (Unterklasse  Ia,  3)  gerechnet  werden.  Was  also 
aus  der  eben  erwähnten  Ähnlichkeit  mit  dem  unscharfen  Sonnen- 
spektrum gefolgert  werden  kann,  ist  nur  die  Möglichkeit,  die  ver- 
waschenen Bänder  des  Atairspektrums  durch  das  Zusammenfliefsen 
verbreiterter,  benachbarter  Linien  zu  erklären.  Vogel  neigt  stark 
zu  der  Ansicht,  dafs  diese  Verbreiterung  der  Linien  im  vorliegenden 
Falle  die  Wirkung  einer  schnellen  Rotation  des  Sterns  sei.  Be- 
kanntlich mufs  eine  schnelle  Rotation  das  Licht  der  sich  nach  uns 
zu  drehenden  Sternhälfte  derart  beeinflussen,  dafs  die  Linien  nach 
Violett  verschoben  erscheinen,  während  für  die  andere  Hälfte  der 
sichtbaren  Sternoberfläche  in  nach  dem  Rande  zu  steigendem  Mafse 
eine  entgegengesetzte  Verschiebung  eintreten  wird.  Da  uns  nun  ein 
Fixstern  wie  ein  Punkt  erscheint,  wir  also  nur  das  Mischlicht  wahr- 
nehmen, das  von  allen  möglichen  Teilen  seiner  Scheibe  zugleich  her- 
stammt, so  können  .  bei  schneller  Rotation  thatsächlich  verwachsene 
Verbreiterungen  von  Linien  nach  dem  Doppl ersehen  Prinzip  zu- 
stande kommen,  wie  Abney  schon  1877  hervorgehoben  hat.  Bei 
Atair  müfste  bei  dieser  Annahme  ein  Äquatorpunkt  eine  Rotations- 
geschwindigkeit von  27  km  besitzen,  was  im  Vergleich  mit  der  Sonne 
allerdings  aufserordentlich  viel  (etwa  das  dreizehnfache)  wäre,  aber 
andererseits  doch  nur  eine  doppelt  so  grofse  Geschwindigkeit  ist,  als 
wir  sie  bei  Jupiter  als  thatsächlich  vorhanden  kennen.  Die  Erklärung 
der  Absorptionsbänder  von  et  Aquilae  durch  die  Rotation  des  Sternes 
kann  demnach  nicht  als  unwahrscheinlich  bezeichnet  werden,  wenn 
Atair  auch  der  erste  Fixstern  sein  würde,  bei  dem  eine  solche  spektro- 
skopische Rotationswirkung  hervortritt.  F.  Kbr. 


Dr.  F.  Schulze:  Nautik.  (Sammlung  Göschen).  Mit  "»6  Abbildungen. 
Leipzig  1898,  O.  J.  Göschen.  Preis  geh  0,80  M. 
Eine  zweckdienliche,  kurze  Einführung  in  die  wichtigsten  Aufgaben  des 
.Seefahrers  giebt  im  vorliegenden  Büchlein  der  Direktor  der  Lübecker  Navi- 
gationsschule. Im  allgemeinen  sind  die  Erläuterungen  leicht  verständlich  und 
daher  jedem,  der  sich  für  Schiffahrt  interessiert  oder  vielleicht  selbst  einmal 
eine  Seereise  mitmacht,  bestens  zu  empfohlen.   Etwas  unklar  ist  der  Gebrauch 


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238 

des  Parallellineals  durch  Figur  .11  und  den  dazu  gehörigen  Text  dargestellt.  Für 
den  schulmäfsig  vorgebildeten  Leser  wird  das  Verfolgen  der  kleinen  Beispiels- 
rechnungen  durch  den  der  Praxis  entlehnton  Gebrauch  der  Kompaßstriche  er- 
lieblich erschwert,  ja  es  mutet  die  Bezeichnung  NNO'^O  statt  "207"  Azimuth 
geradezu  mittelalterlich  an  Es  wäre  unseres  Erachtens  eine  schöne  Aufgabe 
der  Navigationsschulen,  die  viel  leichtere  und  einfachere  Gradeinteilung  in  die 
praktische  Nautik  endlic  h  mit  aller  Energie  einzuführen,  da  das  Festhalten  an 
den  Kompafsstricheu  doch  nur  dem  Gesetz  der  Trägheit  zuzuschreiben  ist. 
Konnte  man  zu  Lande  neue  Mafse  und  Gewichte  einführen,  dann  muls  aucb 
der  Nautiker  schließlich  einer  zweckmäßigen  Neuerung  sich  unterzuordnen 
im  stände  sein. 

Dr.  med.  lt.  \euuatifs:  IMe  Farbenphotographie  nach  LippmamiN 
Verfahren.   Halle  a.  S  ,  Verlag  von  Wilhelm  Knapp,  1808.   Preis  3  M. 

Über  die  vom  theoretischen  Gesichtspunkte  aus  höchst  bedeutungsvollen 
Erfolge,  welche  Lipp  mau  n  in  der  farbigen  Photographie  durch  die  Benutzung 
eines  Qtiecksilberspiogels  hinter  der  lichtempfindlichen  Schicht  erreicht  hat, 
ist  in  dieser  Zeitschrift  wiederholt  berichtet  worden.  Uie  betreffenden  farbigen 
Platten  bilden  seit  einigen  Jahren  in  , jeder  photographischeu  Ausstellung  Objekte 
von  besonderem  Interesse  und  reizen  den  Liebhaberphotographen  mächtig 
zu  eigenen  Versuchen  nach  dieser  Richtung  hin.  In  Deutschland  ist  der  Ver- 
fasser vorliegender  Schrift  anerkanntermaßen  bei  diesen  Versuchen  zu  den 
besten  Resultaten  gelangt;  aber  nach  wie  vielen,  die  Geduld  im  höchsten  Grado 
auf  die  Probe  stellenden  Fehlversuchen,  erfahren  wir  aus  seiner  wertvollen 
Publikation.  Jedem,  der  auf  deni  gleichen  Gebiet  arbeiten  will,  werden  die  auf 
mehrjähriger  Erfahrung  beruhenden  Ratschläge  und  genauen  Anweisungen, 
die  das  Büchlein  bietet,  vom  höchsten  Nutzen  sein.  Dasselbe  hat  aber  neben 
seinem  praktischen  einen  hohen  wissenschaftlichen  Wert,  da  es  über  den  Herrn 
Neuhau  fs  gelungenen  Nachweis  der  die  Farben  durch  Interferenz  hervor- 
rufenden Silbcrkoru-Lamelleu  berichtet:  Zwar  hatte  Wiener  schon  vor  mehreren 
Jahren  die  Existenz  stehender  Lichtwellen  im  Sinne  der  von  Zenker  bereits 
186S  entwickelten  Theorie  außer  Zweifel  gestellt,  aber  der  Nachweis,  daß  es 
sich  bei  dem  Li  p  pni  a n  nscheo.  Verfahren  thatsächlich  um  die  du.-ch  stehendo 
Lichtwellen  in  der  empfindlichen  Schicht  hervorgerufene  Lamellenbildung 
handelt,  fehlte  bisher.  Herrn  Dr.  Neuhaufs  ist  es  jedoch  nach  langen,  mühe- 
vollen Versuchen  unter  besonders  günstigen  Umständen  geglückt,  in  feinsten 
Querschnitten  durch  den  roten  Teil  einer  Spektralaufnahmc  die  Lamellen  auf 
mikro-photogiaphisehem  Wege  festzustellen,  und  zwar  in  Abständen,  welche 
mit  der  theoretischen  Voraussage  aufs  schönste  zusammenstimmen.  Die  der 
vorliegenden  Schrift  beigegebene  Lichtdrucktafel  reproduziert  eine  der  zahl- 
reichen Neuhaufsschcn  Aufnahmen  und  läfst  erkennen,  dafs  die  Lamclleu- 
bildung  durchaus  nicht  die  ganze  Dicke  der  Schicht  durchsetzt,  sondern  nur 
in  der  dein  Quecksilberspiegel  zugewendeten  Hallte  deutlich  vorhanden  ist. 

Meyers  Konversations-Lexikou.  't.  Auflage.  IS.  Band:  Ergänzungen  und 
Nachträge,  Register.  Leipzig  und  Wien,  Bibliographisches  Institut. 
1M»S.    Preis  10  M. 

Die  während  des  Erscheinens  der  fünften  Aullage  notwendig  gewordenen 
Ergänzungen  und  Nachträge  lullen  eineu  stattlicheu  Band  von  fast  10iH)  Seiten. 
Dabei  sind  die  Fortschritte  der  Technik  in  vollständigster  Weise  berücksichtigt, 
so  dafs  wir  über  neuere  Dampfmaschinen,  ferner  die  schnell  berühmt  gewordenen 
Diesel-Motoren,  über  neuere  Fernsprecher,  den  elektrischen  Betrieb  beim  Berg- 
bau u.  s.  w.  an  der  Hand  trefflicher  Abbildungen  unterrichtet  werden.  Von 


239 


naturwissenschaftlichen  Artikeln  ist  z.  Ii.  derjenige  über  den  immer  gröfsert* 
Bedeutung  gewinnenden  Kalisalz-Borgbau  hervorzuheben,  ferner  der  Artikel 
über  Höhlen.  Meisterhaft  gelungen  sind  die  Buntdrticktaleln  .Wolkenforiuen>', 
..Tropenwald",  „Mitternachtssonne-  und  .Luftspiegelung  in  der  Wüste".  — 
Auch  das  ausführliche  Register  solcher  Worte,  denen  zwar  keine  selbständigen 
Artikel  des  Werkes  gewidmet  sind,  die  aber  bei  Artikeln  unter  anderer  übor- 
srhrift  ihre  Erklärung  linden,  wird  den  Besitzern  des  .neuesten  Meyer"  den 
vorliegenden  Ergänzungsband  unentbehrlich  machen.  F.  Kbr. 


Übersicht  der  Himmelserscheinungen  filr  Februar  und  März. 

Der  Sternhimmel  Während  Februar  und  März  ist  der  Anblick  des  Him- 
mels um  Mitternacht  folgender:  Zur  Kulmination  gelangen  vornehmlich  die 
Stornbildor  des  grofsen  und  kleinen  Löwen,  der  Sextant  und  grofse  Bär;  in 
westlicher  Richtung  stehen  der  Luchs,  die  Zwillinge  und  Fuhrmann.  Sirius, 
Procyon  und  die  Zwillinge  haben  ihre  Kulmination  um  l*'1  resp  7  t>  abends 
erreicht.  Nahe  dem  Untergange  steht  Orion,  bald  folgt  (um  2  h  niorg.  resp. 
nach  Mitternacht)  auch  der  Stier,  Sirius  um  '/,'.' h  morg.  resp.  V^l:?1»  abends, 
Procyon  zwischen  3  und  5»>  morgen.«,  die  Zwillinge  gehen  erst  um  fi  •>  morgens 
unter.  Um  Mitternacht  verschwindet  auch  der  Widder,  nachdem  Walfisch 
schon  früher  untergegangen.  Im  Aufgange  befinden  sich  um  Mitternacht  die 
Wage,  (a  Librae  geht  um  \b  morg.  resp.  II  h  abends  auf)  Herkules  und 
Opbiuchus.  Bootes  hat  schon  eine  höhere  Stellung  erreicht  ('.'.,  U*1  resp.  7  h 
abends  Aufgang,  zwischen  .'!  — Tili  morg.  Kulmination).  Jungfrau  geht  um 
VJlh  abends  resp.  vor  iM>  auf  und  kulminiert  21*  — 4h  morg.  In  den  Morgen- 
stunden bemerkt  man  den  Aufgang  von  Adler,  Schwan,  Pegasus  und  Skorpion 
(Antares  zwischen  4  und  2*j  morg.)  Folgende  Sterne  kulminieren  für  Berlin 
um  die  Mitternachtsstutide: 

1.  Februar    i  H.vdrae  CX  Gr.)   (AR.  ^  11  »>  D.   r    C>°  47') 

8.  ,       :i.S  Lyn.  is  |4.  Gr.)  '.)  13  -f  37  14 

15.  .         £  Leonis  <3.  Gr.)  !>  40  +  24  14 

22.  h         «       -  (I.Gr.)  10      :'.  +12  28 

!.  März       33  Sextant.  (C  Gr.i  10  'M  -    1  13 

8.  ö  Leonis  (2.  Gr.)  II       8  +  21  4 

15.  „  u       .  (4.  Gr.)  1 1  32  —  0  16 

22.  .  -v  Virginia  (4.  Gr.)  12      0  -f  II  18 

29.  ,  \  Corvi  (2.  Ur)  12  2:<  -22  50 

Helle  veränderliche  Sterpe,  welche  vermöge  ihrer  günstigen  Stellung  vor 
und  nach  Mitternacht  beobachtet  werden  können,  sind: 

R  Canis  minor.  (Variabilität  7.  bis  10.  Gröfse) 

R  Leonis  i         „  *>    ,,    10.      .,  i 

■/  Virgnis  I  „  7.   ,.    10.      .,  ) 

r  t      „      s.  „  12.    „  ) 

S       ..  |  0.  ..    12.     „  ) 

S  Corouae  <         „  G.  ,.    12.     „  ) 

T       ,,  <         ,.  2.   ,,     !*.     „  ) 


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240 


Von  Nebeln  sind  besonders  bemerkenswert  der  grofse  im  Bootes  bei 
AR14l>,  D  4-350,  einige  Nebel  von  2  bis  8  Minuten  Länge  im  nördlichen 
Teile  der  Jungfrau,  sowie  mehrere  im  Löwen  östlich  vom  Regulus. 

Die  Planeten.  Merkur  ist  im  Februar  nur  kurze  Zeit  vor  Sonnenunter- 
gang, in  der  zweiten  Hälfte  März  nach  Sonnenuntergang  sichtbar.  —  Venus 
geht  gegen  5 b  morgens  auf  und  steht  am  Osthimmel.  Sie  bewegt  sich  mit 
zunehmender  Schnelligkeit  vom  Ophiuchus  durch  die  nördlichen  Teile  des 
Schützen  und  Stoinbock  und  gelangt  bis  in  den  Wassermann.  —  Mars  geht 
am  Tage  auf  und  ist  bis  zum  Morgen  (Ende  März  bis  ljtA  h)  sichtbar.  Er  ge- 
langt mit  seiner  Bewegung  vom  Krebs  in  die  Zwillinge  und  kehrt  dort,  Ende 
Februar  etwa  unterhalb  von  Pollux,  um.  —  Jupiter  wird  bald  nach  Mitter- 
nacht sichtbar,  Anfang  März  schon  nach  11 11  abends  (Ende  März  nach  9  h 
abends).  Er  steht  unweit  Spica  (am  rechten  Fufse  der  Jungfrau)  an  der  Grenze 
der  Wage  und  kehrt  gegen  Ende  Februar  in  diesem  Sternbilde  um.  Saturn 
am  Morgonbimmel,  geht  Anfang  Februar  vor  5  b  morg.  auf,  Ende  März  schon 
um  1  h,  und  steht  im  südlichen  Teile  des  Ophiuchus. —  Uranus,  nach  3  b  am 
Frühhimmel  (Ende  März  schon  vor  Mitternacht)  steht  im  Skorpion  und  zwar 
im  Februar-März  fast  senkrecht  über  Antares  (I.  Gr.),  etwa  4"1  Grad  nördlich 
von  diesem  Sterne.  —  Neptun  bis  5h  morgens,  Ende  März  bis  l*>  morgens 
sichtbar,  befindet  sich  kaum  mehr  als  ein  Grad  nordwestlich  von  C  Tauri 
(3.3.  Gr.) 

Sternbedeeknngen  sind  für  Berlin  während  Februar-März  nicht  zu  melden. 
(Die  am  S.  März  stattfindende  Venusbedeckung  durch  den  Mond  ist  in  Berlin 
nicht  sichtbar). 

Mond.  Berliner  Zeit. 

Letztes  Viert,  am    3.  Februar  Aufgang   0  b  53  n>  morg.,  Unterg.  9  b  42  b  morg. 

Neumond  .    10.  — 

Erstes  Viert.  ^17.  „             „  9  41 

Vollmond  „    25.  ,             „  5  .'»0 

Letztes  Viert.  ,     5.  März           „  I  13 

Neumond  11.  - 

Erstes  Viert.  .    19.  ,  10  0 

Vollmond  ,    2".  r  7  12 


vorm  , 

abends, 

morg., 

vorm., 
abends, 


1  45  morg. 
6  40  . 

8  53  vorm, 

2  85  morg. 
5  34  . 


Erdnähen:  9.  Febr.,  9.  März;  Erdfernen:  22.  Febr.,  21.  März. 


Sternzeit  f.  den 

mitt.  Berl.  Mittag    Zeitg  leichung 


Sonnenaufg  Sonnenunterg. 
f.  Berlin 


l.  Februar 

•_>0  h  4"»m  45.3« 

+  l«  m 

48^ 

7b 

44  m 

4  h  44«» 

8.  , 

21 

13 

21.2 

-f  14 

24 

7 

32 

4  57 

15. 

21 

40 

57.0 

-  14 

21 

7 

19 

3  11 

22.  , 

22 

S 

32.9 

+  13 

12 

7 

5 

5  24 

1.  März 

-)'> 

—  — 

36 

8.8 

+  12 

32 

49 

5  37 

8.  , 

23 

3 

44.7 

t  10 

58 

r, 

33 

5  50 

15.  „ 

23 

31 

20.5 

6 

17 

6  2 

22. 

2fi 

58 

56.4 

+  1 

2 

*; 

1 

i;  14 

29.  „ 

0 

26 

32.3 

-4-  4 

43 

5 

44 

6  27 

Verlag:  Hermann  Paetel  in  Berlin.  —  Druck:  Wilhelm  Gronau**  Itocbdrnekerei  in  Berlin- Saneberg. 
FAr  die  Hedaction  Terant  wort  lieh:  Dr.  P.  Schwabs  in  Bertin. 
Unberechtigter  Nachdrnek  ans  dem  Inhalt  dieser  ZelUohrifl  unterlagt. 
Cbei»eiinng»rerht  Torbehalten. 


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Der  Botanische  Garten  zu  Buitenborg  auf  Java. 

Von  Prot  Dr.  A.  Zimmermann  in  Bnitenzorg. 

on  den  Botanischen  Gärten  der  Tropen  nimmt  derjenige  zu 
Buitenzorg,  dem  javanischen  Sanssouci,  eine  ganz  hervor- 
ragende Stellung  ein.  Mögen  auch  vielleicht  einige  andere 
Tropengürten  an  Ausdehnung,  Zahl  der  kultivierten  Pflanzen  und 
landschaftlicher  Schönheit  mit  demselben  rivalisieren  können,  so  hat 
doch  sicher  keiner  von  ihnen  fiir  die  wissenschaftliche  Botanik  eine 
solche  Bedeutung  erlangt,  als  der  Buitenzorger  Garten  mit  seinen 
wertvollen  Sammlungen  und  trefflich  eingerichteten  Laboratorien,  an 
denen  eine  grofse  Reihe  von  wissenschaftlich  gebildeten  Beamten 
thätig  ist  Mit  grofser  Liberalität  haben  hier  ferner  zahlreiche  Ge- 
lehrte fast  aller  civilisierten  Nationen  —  darunter  auch  eine  grofse 
Anzahl  deutscher  Naturforscher  —  eine  freundliche  Aufnahme  ge- 
funden und  in  den  verschiedensten  Gebieten  der  botanischen  Wissen- 
schaft wertvolle  Untersuchungen  angestellt  oder  Material  zur  gründ- 
lichen Durcharbeitung  von  hier  in  die  Heimat  mitgenommen.  Zweifellos 
würde  auch  die  Zahl  dieser  Gelehrten  noch  viel  gröfser  sein,  wenn  nicht 
die  lange  und  natürlich  auch  ziemlich  kostspielige  Reise  manchen  von 
einem  solchen  Besuche  abhielte.  Der  Mehrzahl  der  bisherigen  Be- 
sucher wurde  denn  auch  nur  durch  Unterstützungen  von  ihrer  Regie- 
rung oder  von  Akademien  oder  anderen  gelehrten  Gesellschaften  die 
Reise  in  die  Tropen  möglich  gemacht,  und  es  ist  gewifs  im  Interesse 
der  botanischen  Forschung  mit  Freuden  zu  begrüfsen,  dafs  sich  in 
den  letzten  Jahren  verschiedene  Regierungen  dazu  entschlossen 
haben,  regelmäßig  derartige  Unterstützungen  zu  gewähren. 

Aufser  für  den  Botaniker  von  Fach  bietet  der  hiesige  Garten 
aber  auch  für  den  Laien  so  viel  Interessantes  und  Schönes,  dafs  der- 
selbe für  jeden  Javareisenden   einen  Hauptanziehungspunkt  bildet, 

Himmel  und  Erde.   1899.  XI.  6.  '6 


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242 


und  auch  die  Zahl  der  Besucher  desselben  von  Jahr  zu  Jahr  immer 
mehr  zunimmt.  So  dürfte  denn  auch  für  die  Leser  dieser  Zeitschrift 
eine  kurze  Beschreibung  dieses  „botanischen  Paradieses",  wie  man 
den  Buitenzorger  Garten  mit  Recht  genannt  hat,  nicht  ohne  Inter- 
esse sein. 

Bevor  wir  nun  aber  den  Garten  in  seiner  jetzigen  Gestalt  be- 
trachten, wollen  wir  einige  Worte  über  die  historische  Entwicklung 
desselben  vorausschicken.  Eine  eingehendere  Schilderung  dieses 
Gegenstandes  wurde  in  der  bei  Gelegenheit  seines  75jährigen  Be- 
stehens herausgegebenen  Festschrift  von  dem  derzeitigen  Direktor 
des  Gartens,  Dr.  M.  Treub,  veröffentlicht.  Nach  dieser  wurde  der 
Buitenzorger  Garten  im  Jahre  1817  auf  Antrag  des  als  Direktor 
der  landwirtschaftlichen  Angelegenheiten  angestellten  Naturforschers 
C.  G.  L.  Rein wardt  gegründet  und  stand  auch  während  der  ersten 
5  Jahre  unter  Administration  desselben.  Von  1822—1826  war  dann 
C.  L.  Blume  als  selbständiger  Direktor  mit  der  Leitung  des  Gartens 
betraut  Unter  diesen  beiden  Gelehrten,  die  übrigens  beide  deutscher 
Abkunft  waren,  hat  sich  der  Garten  schnell  entfaltet  und  berechtigte 
in  jeder  Beziehung  zu  den  besten  Hoffnungen.  Als  aber  Blume 
1826  gesundheitshalber  die  Tropen  verlassen  mufste,  wurde  die 
Direktorstelle  am  Garten  zunächst  aus  Sparsamkeitsrücksichten  nicht 
wieder  besetzt,  überhaupt  wurde  derselbe  nun  lange  Zeit  von  der 
Regierung  sehr  stiefmütterlich  behandelt.  Fast  30  Jahre  hat  der 
Garten  sogar  beinahe  ganz  unter  militärischer  Leitung  gestanden. 
Dies  ist  dadurch  zu  erklären,  dafs  das  Terrain  des  Gartens  unmittel- 
bar an  das  Palais  des  Gouverneur-Generals,  des  höchsten  Beamten 
von  Niederländisch-Indien,  grenzt,  und  dafs  der  mit  der  Verwaltung 
des  Palais-Parkes  betraute  Intendant  auch  auf  die  Leitung  des  Bota- 
nischen Gartens  immer  mehr  Einflurs  gewann.  Dafs  dieser  trotzdem 
seine  wissenschaftliche  Bedeutung  nicht  verlor,  ist  in  erster  Linie 
den  rastlosen  Bemühungen  des  im  Jahre  1831  ernannten  energischen 
Hortulan us  J.  E.  Teysraann  zu  danken. 

Dieser  hat  auch,  angeregt  durch  den  Botaniker  J.  K.  Hasskarl, 
trotz  mancher  Einsprachen  seitens  der  Palais-Intendantur  eine  streng 
wissenschaftliche,  dem  natürlichen  Systeme  sich  ansch liefsende  An- 
ordnung der  verschiedenen  Bäume  und  Sträucher  in  dem  gesamten 
Garten  durchgeführt,  was  selbstverständlich  in  dem  bereits  bepflanzten 
Areal  das  Fällen  vieler  an  sich  schöner  Bäume  notwendig  machte 
und  zunächst  manche  die  landschaftliche  Schönheit  störende  Lücke  ent- 
stehen liefe.   Dem  energischen  Vorgehen  von  Teysmann  ist  es  aber 


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zu  danken,  dafs  die  systematische  Anordnung  nun  im  ganzen  Garten 
streng  durchgeführt  ist,  wodurch  natürlich  die  Orientierung  in  dem- 
selben, das  Auffinden  der  einzelnen  Arten  und  die  Vergleichung  der 
nahe  verwandten  ungeheuer  erleichtert  wird. 

Auch  in  vielen  anderen  Beziehungen  hat  sioh  Teysmann  grofse 
Verdienste  um  den  Garten  erworben.  Seinen  Bemühungen  ist  es 
in  erster  Linie  zu  danken,  dafs  derselbe  im  Jahre  1868  seine  admini- 
strative und  finanzielle  Selbständigkeit  zurückerhielt,  indem  wieder 
ein  selbständiger  Direktor  an  die  Spitze  desselben  gestellt  wurde. 
Als  solcher  fungierte  in  den  Jahren  1868—1880  R.  H.  C.  C.  Soheffer, 
der  mit  rastlosem  Eifer  an  der  weiteren  Entwiokelung  des  Gartens 
gearbeitet  hat  und  denselben  speziell  auch  für  tropischen  Landbau 
nutzbringend  zu  machen  suchte.  Auf  seine  Anregung  wurde  der 
besonders  für  die  Kultur  tropischer  Nutzpflanzen  bestimmte  Kulturgarten 
zu  Tjikeumen  gegründet  und  in  Verbindung  damit  eine  Landbau- 
schule für  holländische  Beamte  und  junge  Inländer.  Daneben  suchte 
Scheffer  aber  auch  die  rein  wissenschaftliche  Bedeutung  des  Gartens 
zu  heben.  Als  eigentliches  Organ  für  die  wissenschaftlichen  Arbeiten 
desselben  wurdon  von  ihm  die  „Annales  du  Jardiri  tiotanique  de 
Buitenzorg"  gegründet. 

Nach  dem  frühen  Tode  Scheffers  im  Jahre  1880  wurde  M.  Treub 
zum  Direktor  des  Gartens  ernannt,  der  noch  jetzt  dieses  Amt  be- 
kleidet. Eine  wie  bedeutende  Ausdehnung  der  Garten  unter  seiner 
Direktion  erhalten  hat,  dürfte  am  besten  aus  einer  kurzen  Auf- 
zählung der  verschiedenen  Abteilungen,  in  die  der  noch  immer  als 
„'s  Lands- Plan tentuin"  bezeichnete  Komplex  gegliedert  ist,  hervor- 
gehen: 

1.  Herbarium  und  botanisches  Museum. 

2.  Botanische  Laboratorien.  Zu  denselben  gehört  auch  das 
Fremden-Laboratorium,  das  für  zeitweilig  hier  arbeitende  Ge- 
lehrte bestimmt  ist.  In  den  Jahren  1883 — 98  haben  in  demselben 
nicht  weniger  als  63  Forscher  —  darunter  27  Deutsche  —  gearbeitet 
Aufserdem  befindet  sich  in  dieser  Abteilung  ein  speziell  für  die  Unter- 
suchung der  Tabak-Fermentation  eingerichtetes  Laboratorium. 

3.  Kulturgarten  mit  Laboratorium.  Der  erstere  besitzt 
«ine  Ausdehnung  von  ca.  72  ha.  In  dem  Laboratorium  sind  aufser 
dem  Chef  zwei  Assistenten  spezioll  mit  Untersuchungen  im  Interesse 
•der  Thee-  und  Kaffeekultur  beschäftigt. 

4.  Pharmakologisches  Laboratorium. 

5.  Botanisoher  Garten  und  Gobirgsgarten.    Der  erstere 

16* 


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244 

besitzt  eine  Ausdehnung  von  etwas  mehr  als  58  ha.  Der  am  vulka- 
nischen Gede  gelegene  Gebirgsgarten  besteht  aus  dem  eigentlichen 
Gartenterrain,  das  ca.  1400  m  oberhalb  des  Meeresspiegels  gelegen 
und  ca.  31  ha  grofs  ist,  und  aus  ca.  280  ha  Urwald,  der  sich  am  Gede 
bis  zu  einer  Höhe  von  beinahe  1900  m  hinauf  erstreckt 

6.  Bureau,  Bibliothek  und  photographisches  Atelier. 
Das  letztere  ist  auch  mit  den  für  Zinkographie  und  Autotypie  nötigen 
Apparaten  ausgestattet. 

7.  Abteilung  für  Untersuchung  der  Forstgewächse  Javas. 

8.  Laboratorium  für  Untersuchungen  über  Deli-Tabak. 

9.  Versuchsstation  für  Kaffee kul tu r. 

10.  Abteilung  für  land  wirthschaftlich-zoologische  Unter- 
suchungen. 

Das  an  diesen  verschiedenen  Abteilungen  beschäftigte  Personal 
besteht  aus  ca.  27  größtenteils  promovierten  Europäern  und  über 
200  Inländern.  Unter  den  letzteren  nimmt  der  Mandri  Udam  nicht 
nur  durch  sein  hohes  Alter  von  annähernd  70  Jahren,  sondern  auch 
durch  seine  sehr  ausgedehnte  Pflanzenkenntnis  eine  hervorragende 
Stellung  ein.  Auf  seiner  Brust  trägt  er  mit  Stolz  die  beiden  ihm  von 
der  holländischen  Regierung  verliehenen  Orden. 

Neben  ihm  ragt  der  Obermandur  des  Gartens,  Suin,  hervor,  der 
zugleich  über  die  in  einem  eigenen  Kampong  (=  Dorf)  zusammen- 
wohnenden inländischen  Gartenarbeiter  die  oberste  Polizeigewalt  aus- 
übt und  als  Zeiohen  dieser  Würde  ein  grofses,  silbernes  Gürtelschild 
und  eine  mit  breitem  Silberrand  versehene  Mütze  trägt. 

Neben  dem  Obermandur  spielt  der  Zeichner  Chrom oardjo, 
der  nicht  nur  vortreffliche  Zeichnungen  anzufertigen  versteht, 
sondern  auch  die  Kunst  des  Lithographierens  in  Europa  erlernt 
hat,  eine  hervorragende  Rolle  unter  den  Beamten.  Schliefslich  ver- 
dient der  Mandur  Pa.  Idam  noch  eine  besondere  Erwähnung,  der 
schon  manchem  der  hier  weilenden  Gelehrten  auf  seinen  botanischen 
Streifzügen  in  der  Umgegend  als  Führer  gedient  hat  und  sich  hierbei 
durch  die  Gewandtheit,  mit  der  er  als  Reiseraarschall  für  Beschaffung 
von  Speise,  Trank  und  Unterkunft  sorgte,  die  gröfste  Anerkennung 
erworben  hat. 

Bezüglich  der  großen  Zahl  der  aus  dem  Garten  hervorgegange- 
nen Publikationen  sei  noch  erwähnt,  dafs  von  den,  wie  bereits  hervor- 
gehoben wurde,  von  Scheffer  gegründeten  „Annales  du  jardin  bot.  de 
Buitenzorgu  bereits  15  Bände  vorliegen,  dieneben  den  Untersuchungen 
der  Beamten  des  Gartens  auch  zahlreiche  Beiträge  von  auswärtigen 


245 

Gelehrten,  die  hier  im  Fremdenlaboratorium  thätig  waren,  enthalten. 
Die  mehr  praktische  Fragen  behandelnden  gröfseren  Arbeiten  sind  in 
den  „Mededeelingen  uil's  Lands  Plantentuin",  von  denen  bereite 
27  Nummern  erschienen  sind,  veröffentlicht,  während  zahlreiche 
kleinere  Mitteilungen  praktischen  Inhalts  in  der  von  zwei  Beamten 
des  Gartens  redigierten  Zeitschrift  „Teysmannia"  enthalten  sind.  Eine 
Übersicht  über  die  gesamte  Thätigkeit  des  Gartens  giebt  der  jährlich 
erscheinende  „Verlag",  in  dem  auch  die  Resultate  verschiedener 
kfeinerer  Untersuchungen  veröffentlicht  werden.   In  diesem  Jahre  er- 


Fig.  1.    Eingang  aum  Garten  mit  Bambusgruppen. 

schien  ferner  die  erste  Lieferung  der  Icones  Hogorienses*),  in  der  Ab- 
bildungen und  kurze  Beschreibungen  von  neuen  oder  wenig  bekannten 
Gewächsen  von  Niederländisch  Indien  publiziert  werden  sollen.  Die 
dieser  Lieferung  beigegebenen  lithographischen  Tafeln  sind  von  dem 
bereits  erwähnten  Inländer  Chromoardjo  hergestellt  Schliefslich 
sei  noch  erwähnt,  dafs  auch  bereits  die  Bearbeitung  einer  grofsen 
Flora  von  Buitenzorg  begonnen  wurde.  Im  Druck  sind  davon  aller- 
dings bisher  nur  die  Farne  und  Myxomyceten  erschienen. 

Bei  der  Beschreibung  des  eigentlichen  botanischen  Gartens,  zu 

•)  Bogoricnsia  ist  gebildet  von  Bogor,  der  malaiischen  Bezeichnung  für 
Buitenzorg. 


246 


der  wir  nunmehr  übergehen,  wollen  wir  uns  auf  eine  Anzahl  lose 
aneinander  gereihter  Skizzen  beschränken.  Ich  hoffe  aber,  data  diese 
im  Verband  mit  den  beigegebenen  Abbildungen  auch  dem  mit  der 
tropischen  Flora  weniger  Vertrauten  einen  gewissen  Einbliok  in  die 
Reichhaltigkeit  und  Schönheit  des  Buitenzorger  Hortus  botanicus  ge- 
währen werden. 

Als  erstes  Bild  (Fig.  1)  wähle  ioh  die  beiden  unmittelbar  hinter 
dem  westlichen  Eingange  gelegenen  prächtigen  Bambussträucher 
(Gigantochloa  aspera  und  G.  robusta),  die  mit  ihren  schöngebogenen, 
feinbeblätterten  Stämmen  von  beiden  Seiten  aus  zu  einer  natürlichen 
Eingangspforte  zusammenneigen.  Diese  schlanken  Stämme  wachsen 
mit  grofser  Geschwindigkeit  aus  dem  Boden  hervor;  wird  dooh  bei 
denselben  eine  Längenzunahme  von  30  cm  innerhalb  eines  Tages 
nachgewiesen.  Trotzdem  besitzen  sie  in  ausgewachsenem  Zustande 
eine  ganz  erstaunliche  Festigkeit,  durch  die  sie  zu  der  verschieden- 
artigsten Verwendung  befähigt  werden.  So  spielen  dieselben  vor 
allem  bei  dem  Bau  der  tropischen  Wohnungen  und  Brücken  eine 
hervorragende  Rolle. 

Eine  solche ,  ausschliefslich  aus  Bambusstämrnen  aufgebaute 
Brücke,  die  trotz  ihrer  leichten  Bauart  dooh  eine  grofse  Tragfähigkeit 
besitzt,  stellt  eine  der  beiden  Verbindungen  her,  welche  zwischen  den 
beiden  durch  den  Tjiliwong  getrennten  Teilen  des  Gartens  bestehen. 
Die  Brücke  erhebt  sich  hoch  über  den  Wasserspiegel;  es  hat  dies 
darin  seinen  Grund,  dafs  der  Tjiliwong  keineswegs  immer  wasserarm 
ist,  dafs  er  vielmehr  nach  den  in  Buitenzorg  gerade  besonders  häufigen 
Regengüssen  zeitweise  zu  einem  mächtigen  Strome  anschwillt 

Da  die  Bambuseen  ferner,  ebenso  wie  die  meisten  unserer  ein- 
heimischen Gräser,  mit  denen  sie  übrigens  in  die  gleiche  Familie  ge- 
hören, hohle  Stengel  besitzen,  die  nur  durch  an  den  Knoten  befind- 
liche Querwände  in  zahlreiche,  auch  von  aursen  erkennbare  Glieder 
zerlegt  werden,  so  lassen  sich  aus  denselben  sehr  leicht  die  ver- 
schiedenartigsten Küchengeräte,  Wassereimer,  Trinkbecher  u.  dergl. 
verfertigen.  Auch  Matten,  Musikinstrumente  und  vieles  andere  weife 
der  handfertige  Malaie  aus  denselben  herzustellen.  In  der  That  findet 
man  denn  auch  über  ganz  Java  zahlreiche,  zum  Teil  sehr  ausgedehnte 
Bambusgebüsche  verbreitet,  die  mit  ihrem  schlanken  Wuchs  und  dem 
frisohen  Grün  ihrer  zarten  Blätter  vielen  sonst  etwas  eintönigen  und 
kahlen  Landschaften  einen  eigenartigen  Reiz  verleihen. 

Im  Innern  eines  solchen  Bambusgebüsches  befindet  sich  auch 
der  für  die  auf  Java  beerdigten  Gouverneur-Generale  und  deren 


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247 


Familienangehörigen  bestimmte  Friedhof.  Hier  neigen  die  feinbelaubten 
Bambusstämme  von  allen  Seiten  her  wie  Trauerbäume  über  den 
Gräbern  zusammen,  und  es  dürfte  wohl  wenig  Friedhöfe  geben,  bei 
denen  die  friedliche  Grabesstille  in  ähnlicher  Weise  mit  so  einfachen 
Mitteln  hervorgerufen  wird,  wie  durch  dieses  den  Friedhof  von  der 
Aufsenwelt  abschliefsende  Bambusdickicht. 


Fig.        Königspalmen -Allee. 


Ein  solches  Bambusdickicht  bildet  auch  den  Hintergrund  auf 
unserem  Bilde  (Fig.  2),  das  zugleich  die  prächtige  Königspalmenallee 
zeigt,  die  von  der  auf  unserem  ersten  Bilde  dargestellten  Eingangs- 
pforte zum  Palais  des  Gouverneur-Generals  hinführt.  Die  Palmenart 
tOreodoxa  regia),  aus  der  diese  Allee  besteht,  wird  in  ihrer  Heimat, 
dem  tropischen  Amerika,  als  ..palma  real"   bezeichnet  und  macht 


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248 


in  der  That  mit  ihrer  majestätischen  Blätterkrone  einen  sehr  im- 
ponierenden Eindruck.  Speziell  befindet  sich  auch  unsere  Allee  ge- 
rade jetzt  in  einem  sehr  günstigen  Alter,  während  sie  unzweifelhaft 
mit  der  Zeit  mehr  und  mehr  an  Schönheit  verlieren  wird.    Es  hat 


Fig.  3.    LivUtona -Allee. 


dies  darin  seinen  Grund,  dafs  bei  den  Palmen  im  Gegensatz  zu  den 
reich  verzweigten  Dicotylen-Bäuinen,  wie  Linde,  Eiche  und  Kastanie, 
die  Entwickelung  der  einfachen  Laubkrone  mit  dem  Höhenwachstum 
des  Baumes  nicht  gleichen  Schritt  hält.  Nach  Überschreitung  einer 
gewissen  Altersgrenze  findet  bei  den  Palmen  sogar  eher  eine  all- 
mähliche Verkleinerung  der  Laubkrone  statt.  So  kommt  es,  dafs  bei 
den  als  Alleebäumen  angepflanzten  Palmen  das  Mißverhältnis  zwischen 


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24«) 


der  Höhe  des  Stammes  und  der  Gröfse  der  Laubkrone  die  ästhetische 
Wirkung  allmählich  immer  mehr  beeinträchtigt.  Ein  Beispiel  hierfür 
bietet  die  in  Fig.  3  dargestellte  Livistona-Allee,  deren  riesenhafte 
Stämme  wie  Mastbäume  in  die  Lüfte  ragen,  so  dafs  man  zu  den  ver- 
hältnismäfsig  sehr  winzigen  Laub  krönen   hoch  einporschauen  mufs. 


Fig.  4.  Pklmongruppe. 


Diese  Palmen  besafsen  bereits  im  Jahre  1890  eine  Höhe  von  über 
80  Fufs.  In  welchem  Jahre  sie  gepflanzt  wurden,  konnto  ich  leider 
nicht  mehr  ermitteln;  von  der  Königspalmenallee  weifs  man  dagegen, 
dafs  sie  erst  im  Jahre  1887  angelegt  wurde.  In  ca.  11  Jahren 
haben  sich  also  diese  Palmen  zu  so  kräftigen  Bäumen  entwickelt. 
In  der  That  ist  auch  das  feuchtwarme  Klima  von  Buitenzorg  für  das 
Wachstum  der  meisten  Palmen  ganz  besonders  günstig. 


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250 


Werfen  wir  nochmals  einen  Blick  auf  unser  Bild  (Fig.  2),  so 
können  wir  besonders  an  der  vordersten  Palme  unterhalb  der  BLatt- 
krone  die  kräftig  entwickelten  Blütenstände  erblicken,  die  von  einer 
Unzahl  kleiner,  dichtgedrängter  Blüten,  aus  denen  sich  die  etwa  hasel- 
nufsgrofsen  Früchte  entwickeln,  bedeckt  sind.    Eigenartig  ist  ferner 
noch  bei  den  Königspalmen  die  Gestalt  des  Stammes,  der  an  der 
Basis  knollig  entwickelt  ist,  dann  allmählich  dünner  wird,  nach  oben 
hin  aber  wieder  an  Dicke  zunimmt,  um  sich  allmählich  nach  der 
Blattkrone  zu  nochmals  zu  verjüngen. 


Fig.  5.    Palmengruppe  mit  Brücke  über  den  Tjiliweg. 

Zwei  bedeutend  ältere  Palmen  sehen  wir  sodann  in  der  in  unserem 
Bilde  (Fig.  4)  dargestellten  Palmengruppe,  bei  der  sie  auf  der  rechten 
und  linken  Seite  alle  Palmen  überragen.  Auf  der  linken  Seite  der 
Gruppe  befinden  sich  aufserdem  zwei  Vertreter  der  Gattung  Phönix,  zu 
der  auch  die  Dattelpalmen  gehören.  Von  denselben  besitzt  namentlich 
die  gröfsere,  die  von  der  dahinter  stehenden  Königspalme  nur  wenig 
an  Grün  übertroffen  wird,  eine  prächtig  entwickelte  Blattkrone.  Auf 
der  rechten  Seite  fallen  namentlich  die  dicht  zusammenstehenden  und 
feingefächerten  Blätter  einer  Thrinax-Art  auf. 

Ähnlich  wie  die  Dattelpalme  zeichnet  sich  die  Ülpalme  (Elaeis 
guineensis)  durch  ihre  langen,  feingefiederten  Blätter  aus,  die  sie  nach 
allen  Seiten  hin  weit  ausstreckt.   Das  aus  dem  Samen  dieser  hauptsäch- 


251 


lieh  in  Afrika  viel  angebauten  Palme  gewonnene  „Palmöl44  wird  in 
grofsen  Mengen  nach  Europa  imponiert  und  findet  namentlich  als 
8chmieröl  für  Wagen  und  Maschinen  eine  sehr  ausgedehnte  Ver- 
wendung. 

Unser  Bild  4  dürfte  aber  ferner  auch  zur  Genüge  zeigen,  dafs 
die  Palmen  keineswegs  immer  einen  so  eintönigen  Eindruck  machen, 
wie  man  dies  besonders  häufig  von  Europäern,  die  sich  noch  nicht 
lange  in  den  Tropen  aufhalten,  hören  kann.  Dafs  sich  in  dieser 
Hinsicht  viele  in  ihren  Erwartungen  getäuscht  sehen,  kann  man 
einigermafsen  begreifen,  wenn  man  z.  B.  auf  einer  langen  Eisenbahn- 
fahrt immer  und  immer  wieder  die  völlig  gleichgestalteten  Kokos- 
palmen erblickt,  die  auf  Java  fast  jedes  inländische  Dorf,  ja  fast  jede 
Wohnung  umgeben.  Im  Buitenzorger  Garten  kann  man  sich  aber 
sehr  bald  davon  überzeugen,  dafa  die  Palmen  in  der  Gestalt  ihrer  oft 
riesenhaften  Blätter  und  in  ihrem  ganzen  Habitus  eine  sehr  weit- 
gehende Variation  zeigen,  und  dafs  namentlich  die  aus  verschieden- 
artig gestalteten  Arten  zusammengesetzten  Gruppen  sehr  wohl  einen 
ästhetisch  schönen  und  imponierenden  Eindruck  zu  machen  vermögen. 

Einige  sohöne  Palmengruppen  findet  man  auch  noch  auf  unserem 
fünften  Bilde,  das  die  zweite  Brücke  über  den  Tjiliweg  darstellt  (Fig.  5), 
die  im  Gegensatz  zu  der  auf  dem  dritten  Bilde  dargestellten  einen 
völlig  europäischen  Charakter  besitzt.  Namentlich  fallen  wohl  die 
auf  der  rechten  Seite  unserer  Figur  befindlichen  schlanken  Stämme 
einer  Oncosperma-Gruppe  sofort  in  die  Augen.  Auf  der  linken  Seite 
der  Brücke  sehen  wir  ferner  zwei  Exemplare  von  Cocos  oleracea, 
deren  Blätter  erheblich  länger  sind  und  auch  mehr  steil  aufwärts 
stehen  als  die  der  gewöhnlichen  Kokospalme  (Cocos  nueifera). 

Bevor  wir  die  Palmen  verlasson,  wollen  wir  schliefslich  noch 
eine  besonders  gestaltete  Gattung  derselben  besprechen:  die  Kletter- 
oder Rottangpalmen,  die  zu  der  artenreichen  Gattung  Calamus  ge- 
hören. Diese  besitzen  im  Gegensatz  zu  den  bisher  betrachteten 
Palmen,  die  mit  ihren  zwar  meist  sehr  schlanken,  aber  doch  festen 
Stämmen  stolz  in  die  Lüfte  ragen  und  Wind  und  Wetter  Trotz  bieten, 
einen  sehr  schwachen  und  biegsamen  Stengel,  so  dafs  sie  nicht  auf 
eigenen  Füfsen  zu  stehen,  sondern  nur  an  geeigneten  Stützen  empor- 
zuwachsen vermögen.  Das  Festhalten  an  diesen  Stützen  geschieht 
nun  aber  bei  den  Kottangpalmen  nicht  etwa  wie  bei  den  Erbsen  oder 
Weinreben  durch  reizbare  Ranken,  auch  nicht  wie  bei  den  Winden 
und  Bohnen  durch  Umschlingen  der  Stütze,  sondern  dadurch,  dafs 
die  grofsen  Blätter  sich  mit  zahllosen  Widerhaken  an  den  Zweigen 


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252 


und  Blättern  anderer  Pflanzen  festklammern  (vergl.  unser  Bild  Fig.  6 
auf  dem  Titelblatt).  Eine  wie  grofse  Festigkeit  diese  nach  allen  Seiten 
hin  ausgestreckten  Fangarme  besitzen,  kann  man  am  besten  erfahren, 
wenn  man  es  einmal  versucht,  in  ein  solches  Rottanggebüsch  einzu- 
dringen.   Man  wird  dann  sofort  von  allen  Seiten  her  festgehalten  und 


Fig.  &  Fand&nuigruppen. 


katin  sich  nur  mit  Mühe  wieder  befreien.  So  kann  man  sich  denn 
auch  in  der  That  sowohl  im  Buitenzorger  Garten  als  auch  im  Urwalde 
davon  überzeugen,  dafs  Rottangpalmen  trotz  ihrer  relativ  dünnen  und 
biegsamen  Stengel  bis  in  die  Spitzen  der  höchsten  Bäume  empor- 
klimmen, um  so  die  für  ihre  Entwickelung  nötigen  Bedingungen  zu 
finden.  Erwähnen  will  ich  schliefslich  noch,  dafs  die  Rottangstengel 
nicht  nur  von  den  Inländern  sehr  geschätzt,  sondern  auch  als  „spanisches 
Hohr"  in  grofsen  Mengen  nach  Europa  importiert  werden. 


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253 


Nächst  den  Palmen  bilden  die  Baumfarne  eine  eigenartige,  für 
die  tropische  Flora  charakteristische  Pflanzengruppe.  Das  Buiten- 
zorger  Klima  ist  aber  für  diese  nicht  sehr  günstig,  wenigstens  ge- 
deihen dieselben  in  etwas  höheren  Regionen  erheblich  besser,  und 


Fig.  !>.    Kanarien -Allee. 

man  findet  auf  Java  namentlich  in  den  ca.  3000  Fufs  hoch  gelegenen 
Urwäldern  häufig  sehr  prächtige  Exemplare.  Immerhin  besitzt  doch 
die  auch  sonst  sehr  sehenswerte  Farnabtoilung  des  Buitenzorger 
Gartens,  wie  unser  Bild  (Fig.  7,  Titelblatt)  zeigt,  eine  Reihe  sehr  kräf- 
tiger Baumfarne,  die  der  Gattung  Alsophila  angehören. 

Einen  sehr  eigenartigen  Eindruck  machen  sodann  die  auf  unse- 
rem Bilde  (Fig.  8)  dargestellten  Pandanacecn.    Aus  dem  Stamme 


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254 


dieser  Pflanzen  brechen  sehr  zahlreiche  Luftwurzeln  hervor,  die  fast 
lotrecht  nach  unten  wuchern,  bis  sie  den  Boden  erreiohen,  in  den  sie 
alsbald  eindringen.  Nun  wächst  die  Spitze  aber  nicht  einfach  in  der 
gleichen  Weise  fort,  sondern  es  bilden  sich  alsbald  zahlreiche  Neben- 
wurzeln, so  dafs  binnen  kurzem  ein  normales  Wurzelsystem  entstanden 
ist  Die  früheren  Luftwurzeln  haben  dann  einerseits  die  Aufgabe,  der 
Pflanze  die  nötigen  Nährstoffe  zuzuführen,  andererseits  dienen  sie  aber 
auch  für  den  in  seinem  unteren  Teile  stets  sehr  dünnen  und  später  nicht 
mehr  in  die  Dicke  wachsenden  Stengel  als  Stützen,  auf  denen  die 
Pflanzen  wie  auf  Stelzen  ruhen,  so  dafs  sie  für  ihren  natürlichen 
Standort,  den  Meeresstrand,  besonders  günstig  gestaltet  erscheinen.  Bei 
älteren  Pandanaceen  kommt  es  sogar  nicht  selten  vor,  dafs  bei  ihnen 
der  untere  Teil  des  Stengels  allmählich  vollständig  verfault  und  ab- 
stirbt, so  dafs  dann  die  Pflanze  nur  von  den  zahlreichen  Stütz  wurzeln 
getragen  wird. 

Einen  besonderen  Glanzpunkt  des  Buitenzorger  Gartens  bildet 
sodann  die  vor  ca.  66  Jahren  von  dem  verdienstvollen  Teysmann 
gepflanzte  Kanarienallee,  die  von  dem  südlichen  Eingange  des  Gartens 
nach  dem  Palais  des  Gouverneur-Generals  hinführt.  Wie  unser  Bild 
(Fig.  9)  zeigt,  besitzen  die  Bäume  dieser  Allee,  die  zu  der  Gattung 
Canarium,  der  „ Eiche  der  Tropen",  gehören,  bereits  eine  recht  an- 
sehnliche Höhe.  Ich  will  in  dieser  Hinsicht  nur  bemerken,  dafs  bei 
einer  im  Jahre  1890  ausgeführten  Messung  der  höchste,  damals 
68  Jahre  alte  Baum  bereits  eine  Höhe  von  124  Fufs  besafs.  Trotz- 
dem sind  diese  Bäume  noch  mit  prächtigen  Laubkronen  versehen,  die 
von  beiden  Seiten  her  zu  einem  natürlichen  Gewölbe  zusammen- 
schliersen.  Einen  besonderen  Reiz  und  zugleich  einen  typisch  tropisohen 
Charakter  verleihen  aber  der  Kanarienallee  die  zahlreichen  ver- 
schiedenen Epiphyten,  welche  an  den  Stämmen  derselben  empor- 
wachsen, dieselben  ganz  mit  ihrem  Blätterschmuck  umhüllend  und 
auch  zwischen  den  einzelnen  Bäumon  grüne  Guirlanden  bildend.  So 
sehen  wir  auf  der  linken  Seite  unseres  Bildes  an  dem  vordersten 
Baume  eine  Aroidee  emporklimmen,  die  mit  ihren  grofsen,  fein  zer- 
schlitzten Blättern  den  Stamm  der  Stützpflanze  fast  vollständig  ver- 
deckt. Aufser  zahlreichen  anderen  Aroideen,  die  sehr  verschieden- 
artig gestaltet  sind  und  zum  Teil  auch  buntgefärbte  Blätter  besitzen, 
findet  man  hier  namentlich  noch  verschiedene  Orchideen,  Farne, 
Gnetaceen  und  Loganiaoeen.  Erwähnen  will  ich  schliefslich  noch  eine 
Pandanacee  (Freycinetia),  deren  grofse,  leuchtend  rote  Blüten  von  den 
Fledermäusen  bestäubt  werden. 


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2,r)5 

An  dem  nördlichen  Ende  der  Kanarienallee  befindet  sich  nun, 
wie  bereits  erwähnt  wurde,  das  Palais  des  Gouverneur-Generals  von 
Niederländisch-Indien.  Zwischen  dem  Palaispark  und  dem  botanischen 
Garten  besteht  eine  kaum  merkbare  Grenze:  nur  die  auf  jeder  Seite 
des  Weges  sichtbaren  kleinen  weifsen  Tafeln  zehren  durch  ihre  Auf- 


Fig.  10.    Teil  de«  groaaen  Talchat  mit  der  Victoria  Regia. 


schrift  „verboden  toegang"  an,  dafs  hier  das  allgemein  zugängliche 
Terrain  aufhört 

Will  man  einen  guten  Überblick  über  das  stattliche  Palais  ge- 
winnen, so  mufs  man  dasselbe  von  der  entgegengesetzten  Seite  aus 
betrachten.  Hier  befindet  sich  vor  demselben  eine  ausgedehnte  Rasen- 
fläche, die  allmählich  in  einen  grofsen  Hirsohpark    übergeht.  In 


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4J5t; 

diesem  halten  sich  mehrere  hundert  Hirsche  auf,  die  sehr  zahm  sind 
und  auch  nicht  selten  bis  dicht  an  das  Palais  herankommen. 

Wer  das  Palais  betrachtet,  dem  wird  es  auffallen,  dafs  dasselbe 
nur  aus  einem  einzigen  Stockwerke  besteht  und  sioh  infolge  dessen 
stark  in  die  Breite  ausdehnt  Die  gleiche  Bauart  findet  man  aber  auf 
Java  fast  allgemein.  Sie  wird  in  erster  Linie  durch  den  vulkanischen 
Boden,  auf  dem  wir  uns  hier  befinden,  und  durch  die  immer  von  Zeit 
zu  Zeit  wiederkehrenden  Erdbeben  veranlafst.  Nur  ganz  ausnahms- 
weise findet  man  hier  vierstöckige  Häuser.    An  ganz  besonders  ge- 


Fig.  11.    Insel  im  groucn  Teich 


fährdeten  Pliitzen,  zu  denen  aber  Buitenzorg  nicht  gehört,  werden  so- 
gar massive  Steinbauteu  ganz  vermieden,  und  die  Wände  ausschliefs- 
lich  aus  den  biegsamen  Baiubusstämmeu  und  ähnlichem  Material  auf- 
gebaut 

Ein  hinter  dem  Palais  sichtbar  werdender  stattlicher  Berg  ist  der 
Salak,  der  bis  zu  seinem  ca.  7000  Fufs  hohen  Gipfel  von  dichtem 
Urwald  bedeckt  ist  und  mit  seinen  Ausläufern  fast  bis  an  Buitenzorg 
heranreicht 

Kehren  wir  nun  nach  dem  kleinen  Abstecher  aus  dem  botani- 
schen Garten  wieder  auf  die  andere  Seite  des  Palais  zurück,  so  er- 
blicken wir  vor  demselben  einen  grofsen  Teich,  der  sich  nach  dem 


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257 


Palais  zu  in  zwei  Arme  gliedert,  von  denen  der  eine  auf  unserem 
Bilde  (Fig.  10)  dargestellt  ist.  Auf  diesem  fallen  sofort  die  kolos- 
salen Blätter  der  auf  dem  Amazonenstrom  einheimischen  Victoria  regia 
auf,  die  mit  ihren  fast  kreisrunden  Flächen  auf  dem  Wasser  schwim- 
men, während  der  senkrecht  nach  ohen  stehende  Rand  und  die  tief 


Fig.  \'2.    Kleiner  Teich  mit  Gummibaum  im  Hintergrande 


in  das  Wasser  hineinragenden  Kippen  dieselben  vor  mechanischen 
Verletzungen  schützen.  Bei  genauein  Hinsehen  kann  man  auch  eine 
Blüte  erkennen,  die  mit  denen  unserer  weifsen  Teichrosen  eine  grofse 
Ähnlichkeit  hat,  aber  bedeutend  gröTser  ist. 

Am  linken  Ufer  des  TViches  sehen  wir  feiner  die  schlanken 

Himmel  uu<l  Erdo    189«.  XI.  tt.  17 


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258 

Stämme  einer  Ravenala.  die  mit  den  Bananen  oder  Pisang  in  die 
Familie  der  Musaceen  gehört,  sich  von  diesen  aber  durch  die  eigen- 
artige Anordnung  der  Blätter  unterscheidet.  Diese  stehen  nämlich  bei 
der  Ravenala  sämtlich  in  einer  Ebene  und  bilden  einen  riesenhaften 
Fächer,  weshalb  man  sie  auch  wohl  Fächerpalmen  genannt  hat,  ob- 
wohl sie  nicht  zu  den  Palmen  im  botanischen  Sinne  gehören. 

Auf  der  anderen  Seite  des  Teiches  sehen  wir  einen  hohen  Baum, 
der  ganz  von  einer  üppig  wuchernden  Schlingpflanze,  der  Thunbergia 
grandiflora  bedeckt  ist,  die  mit  ihren  zahllosen  dünnen  Zweigen  eine 
dicht  zusammenscbliefsende,  nur  von  den  grofsen  hellblauen  Blüten 
unterbrochene  grüne  Wand  bildet. 

Einen  der  malerischsten  Punkte  des  Gartens  bildet  nun  aber 
ferner  die  mitten  in  dem  grofsen  Teiche  gelegene  kleine  Insel,  die  in 
unserem  Bilde  Fig.  11  dargestellt  ist.  Leider  ist  die  Photographie 
aber  nicht  im  stände,  die  Farbenpracht  dieser  Insel,  die  derselben  einen 
ganz  besonderen  Heiz  verleiht,  wiederzugeben.  Selbst  die  auf  der- 
selben befindlichen  schlanken  Palmen,  die  zu  der  Gattung  Cyrtostachys 
gehören,  6ind  nicht  einfach  grün,  sondern  besitzen  leuchtend  rote 
Blattscheiden,  die  den  oberen  Teil  des  Stammes  völlig  verhüllen. 
Aufserdem  haben  wir  hier  noch  buntblätterige  Crotons,  Acalyphen 
und  andere  Blattgewächse,  dazwischen  wieder  Büsche  von  Duranta, 
die  fast  immer  zahlreiche,  kräftig  hellviolette  Blüten  treiben  und  gelbe 
Früchte  tragen.  In  der  Mitte  der  Insel  erhebt  sich  schliefslich  eine 
mit  zahlreichen  Blüten  übersäcle  Wand,  die  von  der  bereits  auf 
dem  vorigen  Bilde  angetroffenen  Thunbergia  gebildet  wird. 

Zum  Schlusse  wollen  wir  noch  einen  Blick  auf  den  im  Garten 
befindlichen  kleinen  Teich  werfen,  der  auf  allen  Seiten  von  grofsen 
Bäumen  eingefafst  ist,  so  dafs  es  iu  der  Umgebung  desselben  auch 
während  der  heifsen  Mittagstunden  relativ  kühl  ist,  und  dieser  Platz 
zu  den  beliebtesten  Teilen  des  Gartens  gehört  (Fig.  12.).  Auf  dem 
Wasserspiegel  des  Teiches  sehen  wir  zahlreiche  Nymphaeaceen  mit 
weifs,  rosa  oder  violett  gefärbten  Blüten. 

Im  Hintergrunde  desselben  erhebt  sich  ein  grofser  Waringin- 
baum,  in  dem  wohl  der  Nichtbotaniker  schwerlich  den  auch  in 
Deutschland  so  vielfach  kultivierten  Gummibaum  vermuten  wird,  und 
doch  haben  wir  es  hier  mit  einem  riesenhaften  Exemplare  von  Ficus 
elastica  zu  thun,  dessen  kolossales  Laubdach  allerdings  auf  unserem 
Bilde  nur  zum  Teil  sichtbar  ist.  Sehr  gut  zu  erkennen  sind  aber  auf 
demselben  die  zahllosen  Luftwurzeln,  welche  von  allen  dickeren 
Zweigen  herabhängen  und  sich,  wenn  sie  den  Boden  erreicht  haben, 


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i 


259 


sehr  kräftig  entwickeln  können.  Sie  können  dann,  wie  bei  den  be- 
reits erwähnten  Pandanaceen,  zugleich  zur  Nährstofiauf nähme  und  als 
Stützorgane  dienen.  So  ist  denn  auch  bei  unserem  Baume  der  eigent- 
liche Stamm  gar  nicht  zu  sehen,  sondern  ganz  von  einem  Mantel 
zahlloser  Wurzeln  verdeckt. 

Nachdem  wir  nunmehr  das  letzte  unserer  Bilder  besprochen,  ist 
es  wohl  nicht  nötig,  noch  besonders  hervorzuheben,  dafs  im  Vor- 
stehenden eine  auch  nur  einigermafsen  erschöpfende  Beschreibung 
des  Buitenzorger  Gartens  nicht  enthalten  ist  Vielmehr  mufsten  wir 
uns,  dem  zu  Gebote  stehenden  Räume  entsprechend,  auf  eine  kurze 
Schilderung  einiger  der  interessantesten  und  sohönsten  Punkte  be- 
schränken. Vielleicht  dürften  aber  auch  diese  kursorischen  Skizzen 
dazu  beitragen,  das  Interesse  für  die  tropische  Pflanzenwelt  zu  ver- 
mehren. Möohten  doch  auch  die  Bemühungen,  die  in  den  letzten 
Jahren  gemacht  wurden,  um  in  dem  deutsohen  Kolonialgebiet  bo 
tanisohe  Gärten  anzulegen,  in  nioht  allzu  ferner  Zeit  zu  Resultaten 
führen,  die  hinter  dem  Hortus  botanicus  Bogoriensis,  dem  bisher 
einzig  dastehenden  Tropengarten,  nicht  allzu  weit  zurückstehen! 


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Nicolaus  Coppernicus. 

Von  Professor  M.  i'urtze  in  Thorn. 
(Fortsei  zun 

IL  Mannesjahre. 

on  1506 — 1512  finden  wir  Coppernicus  in  der  Umgebung 
seines  Oheims  auf  dem  Schlosse  zu  Heilsberg.  Am  7.  Januar 
1507  gewährte  ihm  das  Domkapitel  Urlaub  von  der  Kathedrale, 
um  dem  Bischof  persönlich  als  Arzt  zu  dienen,  sowie  eine  Extrabesoldung 
von  jährlich  15  Mark  guter  Münze  für  die  Dauer  desselben.  Die  Form 
des  Beschlusses,  speziell  der  Gebrauch  des  Präteritums  bei  Erwähnung 
der  Inanspruchnahme  seitens  Watzelrodes,  deuten  auf  eine  bereits 
vorher  vollzogene  Übersiedelung  nach  Heilsberg  hin.  Während  dieser 
Jahre  linden  wir  die  persönliche  Anwesenheit  des  Domherrn  in  Ka- 
pitelsitzungen  nur  zweimal  erwähnt:  Am  3.  April  1507  bei  der  Über- 
weisung des  Frauenburger  Hospitals  an  die  Anloniterbrüder  und  im 
Jahre  1511.  Damals  hallen  Coppernicus  und  Fabian  von  Losainen 
als  Visilatoren  in  Alienstein  '238  Mark  erhoben  und  nach  ihrer  Rückkehr 
ihrem  Kollegen  Balthasar  Slocklisch  übergeben.  Bei  dessen  Ab- 
rechnung vor  dem  Kapitel  sind  beide  zugegen.  Trotzdem  kann  Cop- 
pernicus au  andern  ihn  interessierenden  Abstimmungen  durch  einen 
Vertreter  leicht  teilgenommen  haben. 

Sein  nahes  und  bald  sehr  inniges  Verhältnis  zu  dem  bischöf- 
lichen Oheim,  von  Laurentius  Corvinus  mit  dem  des  treuen 
Achates  zu  Aeueas  verglichen,  zwingt  uns  zu  näherem  Eingehen 
auf  dessen  Persönlichkeit  und  Politik.  Ursprünglich  war  Lucas 
gegen  den  Willen  des  regierenden  Königs  Kasimir  nur  durch  den 
Beistand  <ier  preufsischen  Stände  auf  seinem  Bischofstuhl  erhalten 
worden.  Unter  den  Nachfolgern.  Johann  Albert.  Alexander  und 
Sigismund  I.,  hatte  sich  das  Verhältnis  gerade  umgekehrt:  der  erm- 
ländische  Bischof  war  ihr  bester  Freund  und  einer  der  ersten  Grofsen 
der  polnischen  Krone  geworden.    Und  das  kam  so.    Kin  integrieren- 


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2B1 


der  Teil  der  gegen  Polen  gerichteten  Ordenspolitik  war  der  Versuch, 
die  nur  sohwaoh  begründete  kirchliche  Oberhoheit  des  Metropolitana 
seiner  Länder,  des  Rigaer  Erzbiscbofs,  auch  über  Ermland  zu  festigen, 
um  dann  mit  dessen  Hilfe  entscheidenden  Einflufs  auf  die  inneren 
Angelegenheiten  des  Bistums  zu  gewinnen.  Den  auf  seine  Rechte 
eifersüchtigen  und  ehrgeizigen  Bischof  Lucas  mutete  ein  solcher  Ein- 
griff zu  Gegenschachzügen  veranlassen.  Daher  sein  Vorschlag,  den 
Orden  nach  Podolien  zu  verpflanzen  und  ihn  so  der  sohwer  errunge- 
nen Territorialhoheit  zu  berauben,  daher  sein  späteres  Streben  nach 
der  erzbischöflichen  Mitra  und  damit  naoh  völliger  Unabhängigkeit, 
ja  kirchlicher  Herrschaft  über  Teile  des  Ordensgebietes.  Trotz  ihres 
Scheiterns  zogen  ihm  diese  Pläne  den  grimmigen  Hafs  der  Ritter  zu, 
der  sich  in  mannigfachen  Schmähungen  äufserte.  Mit  der  gleichzeiti- 
gen Verweigerung  des  dem  Polenkönig  geschuldeten  Huldigungseides 
seitons  des  Hochmeisters  Friedrich  von  Sachsen  rückte  die  Ge- 
fahr eines  Krieges  in  greifbare  Nähe.  Die  exponierte  Lage  Ermlands 
zwang  den  Bischof  so  wie  so,  zwischen  den  mächtigeren  Gegnern 
Partei  zu  nehmen;  nun  wurde  er  zu  immer  engerem  Anschlufs  an  Polen 
gedrängt.  Folgerichtig  entstand  auch  bittere  Feindschaft  zwisohen  ihm 
und  den  auf  ihre  Grundrechte  eifersüchtigen  Ständen  des  westlichen 
Preufsens,  deren  Aufsässigkeit  den  Polenkönigen  schwere  Mühe  ge- 
macht hatte;  um  so  bitterere  Feindschaft,  als  diese  doch  Anspruch  auf 
die  Dankbarkeit  des  Bischofs  zu  haben  glaubten.  Das  war  die  Lage, 
deren  Schwierigkeiten  und  Widerwärtigkeiten  Lucas  zum  herben 
finsteren  Charakter,  zum  ä-ji/.aaToc  gemacht,  ja  ihn  in  Gegensatz  zu 
seinem  eigenen  Kapitel  gebracht  hatten,  so  dafs  selbst  die  Neffen  vor 
gelegentlichen  Ausbrüchen  seiner  bösen  Laune  nioht  sicher  waren. 

Diese  weitsohauende  Politik  und  der  gleichzeitige  Vorsitz  im 
Rate  der  preufsiscben  Stände  nötigten  den  Bischof  zu  mannigfachen 
Reisen.  Obwohl  nur  selten  seines  Neffen  Anwesenheit  während  der- 
selben ausdrücklich  bezeugt  wird,  müssen  wir  diesen  doch  in  seiner 
ärztlichen  und  Freundschaftsstellung  zu  Lucas  als  dessen  steten  Be- 
gleiter denken  und  in  ihm  überhaupt  den  nächsten  Vertrauten  von 
des  Onkels  Plänen  erblicken.  So  sandte  er  ihn  schon  1506  zur 
Marienburger  Tagfahrt,  in  der  es  sich  unter  anderem  um  den  Fort- 
besitz eines  Gebietes  seitens  des  Bistums  oder  seitens  der  Danziger 
handelte.  Überhaupt  mögen  die  kleinen  Streitigkeiten  auf  diesen  Tag- 
fahrten bei  dem  Spröfsling  des  Thorner  Patriziergeschlechtes  heimat- 
liches Interesse  erregt  haben.  Qrörsere  Gesichtspunkte  fand  man  auf 
den   polnischen  Reichstagen.     Die  Reise  zu   ihnen  bot   mit  ihren 


♦262 

Etappen  Thorn  und  Krakau  Gelegenheit  zur  Auffrischung  früherer 
Beziehungen.  Bezeugt  ist  des  Bischofs  Anwesenheit  nur  auf  den  Ver- 
sammlungen zu  Krakau  1508  und  zu  Petrikau  1509.  Seine  Teilnahme 
an  diesem  letzteren  Reichstage  benutzte  Coppernicus  zur  Heraus- 
gabe seiner  Übersetzung  der  Episteln  des  Theophy laklos  Simo- 
katta.  Er  übergab  diese  einzige  während  seines  Lebens  von  ihm 
selbst  veröffentlichte  und  seinem  Oheim  gewidmete  Schrift  dem  be- 
rühmten Drucker  Haller  zu  Krakau.  Ob  er  die  Mondfinsternis  am 
2.  Juni  dieses  Jahres  noch  zu  Krakau  oder  in  Frauenburg  beobachtete, 
ist  nicht  sicher  festzustellen. 

Inzwischen  hatte  mit  dem  Regierungsantritt  Sigismunds  I.,  zu 
dessen  Krönungsfeier  Onkel  und  Neffe  bei  Hofe  erschienen  waren 
(24.  Januar  1507),  wieder  eine  schärfere  Tonart  in  den  Verhandlungen 
zwischen  Polen  und  dem  Orden  Platz  gegriffen.  Sigismund  forderte 
energisch  Erfüllung  der  Lehnspflicht,  wogegen  der  Hochmeister  Hilfe 
beim  deutschen  Kaiser  suchte.  Beiderseitige  Kriegsvorbereitungen 
waren  die  Folge.  Aber  Tatarenkriege  und  innere  Wirren  im  Polen- 
reiche, sowie  das  Ausbleiben  der  deutschen  Hilfe  für  den  Orden 
machten  die  Gegner  zu  den  unter  des  Kuisers  Vermittelung  stattfinden- 
den Verhandlungen  zu  Posen  geneigt  (1510).  Hauptsächlich  den 
Treibereien  des  ermländischen  Bischofs  war  die  Ergebnislosigkeit  der- 
selben zuzuschreiben,  für  den  Orden  ein  Grund  mehr  zum  Hafs  gegen 
ihn.  Der  Tod  Friedrichs  von  Sachsen  und  die  Wahl  von  Sigis- 
munds Neffen,  Albrecht  von  Brandenburg,  zum  Hochmeister 
änderten  nichts  an  der  Stellung  beider  Mächte.  Allein  erneute  Ta- 
tarenkriege führten  zu  einem  neuen  Einigungsversuch.  Als  polnischer 
Unterhändler  wurde  unter  andern  auch  Lucas  Watzelrode  nach 
dem  Konferenzorte  Thorn  gesendet.  Der  merkwürdige,  wohl  nur 
dilatorisch  gemeinte  Vorschlag  Sigismunds,  an  Albrechts  Stelle 
ihn  zum  Hochmeistor  zu  wühlen,  führte  zu  keinem  Resultate.  Kaum 
in  seiner  Diucese  angelangt,  erhielt  der  Bischof  eine  Einladung  zur 
Hochzeit  des  Königs,  woran  sich  ein  allgemeiner  Reichstag  schliefsen 
sollte.  Am  15.  Januar  1512  verliefs  er  Heilsberg  in  Begleitung  seines 
Neffen  und  des  Domherrn  Georg  von  De  lau.  Noch  zu  Stuhm  be- 
fanden sich  beide  um  ihn,  wie  aus  dem  Bericht  zweier  Danziger  Ab- 
geordneten hervorgeht.  Welche  Gründe  Coppernicus  in  Preufsen 
zurückgehalten  haben,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis;  jedenfalls  folgt 
seine  spätere  Abwesenheit  aus  der  Angabe  dt-s  Kanzlers  Watzel  - 
rodo,  bei  dem  Tode  seines  llorren  sei  kein  kundiger  Arzt  zugegen 
gewesen.    Lucas  war  nach  Krakau  weitor  gezogen  und  hatte  bei 


263 


guter  Gesundheit  Hochzeil  und  Reichstag  mitgemacht.  Auf  der  Rück- 
reise begann  er  zu  kränkeln,  in  Leczyc,  zwei  Tagereisen  vor  der 
preufsischen  Grenze,  nahm  sein  Retinden  unerwartet  eine  bedrohliche 
Wendung;  trotzdem  fuhr  er  weiter.  Todkrank  langte  er  am  26.  März 
zu  Thorn  an,  um  am  29.  daselbst  für  immer  die  Augen  zu  schliefen. 
Schon  am  2.  April  wurde  er  zu  Frauenburg  beigesetzt.  Mit  dem  Tode 
seines  Wohlthäters  hatte  auch  Coppernicus'  Urlaub  sein  Ende  er- 
reicht. Anfang  Juni  wohnte  er  schon  einer  Allodienoption  zu  Frauen- 
burg bei  und  beobachtete  dann  am  5.  Juni  eine  Opposition  des  Mars 
mit  der  Sonne  (De  rev.  V,  16). 

Die  Heilsberger  Jahre  hatten  für  ihn  neben  seiner  Verwendung 
im  vortrauten  Dienste  des  Rischofs  auch  ruhige  Tage  ernster,  früchte- 
reicher Geistesarbeit  gebracht.  Hierher  mag  zunächst  der  Plan  des 
Verstorbenen  zahlen,  mit  grofsen  materiellen  Opfern  eine  Universität 
zu  Elbing  zu  gründen,  ein  Versuch,  zu  dem  viele  Anregungen  von 
dem  gelehrten  Neffen  gegeben  sein  mögen.  Als  eine  Fortsetzung 
seiner  hellenistischen  Studien  unter  Urceus  und  Muslims  erscheint 
die  bei  Gelegenheit  des  Petrikauer  Reichstags  schon  erwähnte  la- 
teinische Übersetzung  der  Episteln  des  Theo p hy In ktos  Simokatta 
(630  n.  Chr.).  Mit  einer  Widmung  au  den  Onkel  und  einem  lateini- 
schen Einiührungsgedicht  des  Laurentius  Corvinus  erschien  sie 
im  Verlage  des  Krakauer  Druckers  IIa  11  er  als  erste  selbständige 
Übersetzung  aus  dem  Griechischen  in  diesem  Teile  Europas.11»)  Jahr- 
hunderte verschollen,  wurde  sie  erst  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
von  (»otze  auf  der  Dresdener  Königlichen  öffentlichen  Ribliothek 
wieder  entdeckt.  Seither  ist  ein  zweites  Exomplar  in  der  Universitäts- 
bibliothek zu  Breslau  aufgefunden  worden.  Sie  blieb  bis  zu  dem 
Todesjahre  des  Coppernicus'  einzige  durch  den  Druck  veröffent- 
lichte Schrift.  Zu  jener  Zeit,  in  welcher  die  Hethätigung  griechischer 
Kenntnisse  von  den  herrschenden  Scholastikern  als  beinahe  ketzerisch 
perhorresziert  wurde,  erscheint  ein  solches  Unternehmen  als  eine 
direkte  Absage  an  diese.  Kaum  weniger  als  den  damit  bewiesenen 
Mut  müssen  wir  die  Überwindung  der  einer  solchen  Arbeit  entgegen- 
stehenden Schwierigkeiten  hochschätzen.  Ein  Rück  in  das  noch  vor- 
handene, von  Coppernicus  mit  Zusätzen  versehene  einzige  Hilfs- 
mittel dazu:  Joh.  Chrestonii  Lexicon  graeco-latinum,  Mutiuae 
1499,  jetzt  zu  Upsala,  genügt,  um  uns  die  ganze  Gröfse  derselben 

")  Man  sehe  darüber  das  erste  Heft  der  „Mitteilungen  dos  Coppornicus- 
Vereina"  S  3o,  die  Prolcgoraena  der  Säcularausgabe  dor  Rovolutiones,  Tho- 
runii  1873  und  die  Reliquiae  Copernicanae,  Leipzig  1875. 


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264 

klarzumachen.  Bei  so  geringen  Hilfsmitteln  wären  selbst  mehr  und 
gröbere  Fehler  zu  entschuldigen,  als  die  aultretenden.  Auch  die  Wahl 
eines  so  unbedeutenden  Schriftstellers  läfst  sich  aus  dem  geringen 
Umfange  der  damals  bekannten  griechischen  Litteratur  und  der 
Schwierigkeit  ihrer  Beschaffung  erklären:  der  Übersetzer  nahm  eben 
mit  dem  vorlieb,  was  ihm  ein  Zufall  entgegenbrachte.  Den  Theo- 
phylaktos  hatte  Coppernicus  jedenfalls  unter  Uroeos  Leitung  ge- 
lesen und  erworben. 

Aufser  dieser,  im  Grunde  nur  unbedeutenden  Übersetzung  ver- 
danken wir  jedoch  der  Heilsberger  Zurüokgezogenheit  Wichtigeres. 
In  der  Widmung  seines  Hauptwerkes  „De  revolutionibus  orbium 
caelestium"  an  Papst  Paul  III.  vom  Jahre  1542  berichtet  Cop- 
pernious,  er  sei  durch  den  Bischof  Tiodemann  Giese  dazu  ge- 
drängt, endlich  das  Buch  herauszugeben:  ..qui  apud  me  pressus  non  in 
nonum  annum  solum,  sed  iam  in  quartum  novenniura  latitasset".  Demnach 
müssen  wir  die  erste  feste  Gestaltung  seiner  umwälzenden  Ideen,  die 
Entstehung  der  Grundzüge  des  Coppernicanischen  Weltsystems,  wie 
schon  Gassen di,  um  das  Jahr  1506  ansetzen.  Freunden  und  Studien- 
genossen gewährte  der  Autor  schon  früh  Einblick  in  seine  Theorie; 
so  scheint  z.  B.  Laurentius  Corvinus  in  seinem  Einführungsgedicht 
zum  Theophy  laktos  darauf  anzuspielen.30)  Die  genaue  rechnerische 
Ausführung  seiner  Ideen  hat  ihn  jedenfalls  längere  Zeit  in  Anspruch 
genommen,  womit  das  auffällig  geringe  Vorkommen  astronomischer 
Beobachtungen  während  der  Jahre  seines  Urlaubs  gut  stimmen  würde. 

In  den  folgenden  .Jahren  bis  1516  hielt  Coppernicus  zum 
ersten  Male  für  längere  Zeit  an  der  Frauenburger  Kathedrale  Resi- 
denz. Frauenburg  ist  ein  kleines  Städtchen  an  der  Mündung  des 
Flüfschens  Baude;  ins  frische  Hall,  etwa  eine  Meile  von  Braunsberg 
gelegen,  dessen  Nähe  es  nie  zu  politischer  Bedeutung  emporsteigen 
liefs.  Die  Kathedrale,  herrlich  auf  etwa  80  Fufs  hohem  Hügel  ge- 
legen, ist  eines  der  schönsten  kirchlichen  Hacksteindenkmäler  des 
Ostens.  Im  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  begonnen,  wurde  sie  erst 
1888  fertig  gestellt.  Als  für  die  Beherrschung  des  Haffs  strategisch 
wichtiger  Punkt  war  sie  häutigen  Belagerungen  ausgesetzt  und  wurde 
trotz  starker  Befestigungen  mehrfach  genommen,  zuletzt  20  Jahre  vor 
Coppernicus'  Eintritt  in  das  Domstift  von  den  Polen. 

Jedem  Domherrn  stand  der  Niersbrauch  eines  innerhalb  der  Be- 

->0)  De  republica,  Vita,  Moribus,  jrestis,  faraa,  relipiono,  sauetitate  Ira- 
peratoris,  Caesaris,  Au^usti,  Quinti,  Caroli.  Maximi  Monarchae  Libri  soptem  .  .  . 
autore  Ouilielmo  Zvnocaro  k  Scauvenburgo,  Gandavi  15^9,  S.  193/94. 


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265 


festigungen  gelegenen  Wohngrundstüokes,  der  sogenannten  Curie,  und 
eines  grösseren,  aufserhalb  gelegenen  Vorwerks,  des  Allodiums,  zu. 
Bei  jeweiligem  Freiwerden  eines  solchen  Besitzes  infolge  Todesfalles 
fand  in  allgemeiner  -Option"  der  Domherren  nach  ihrer  Anciennität 
eine  Neuverteilung  aller  Stiftsgüter  unter  denselben  statt.  Beim  ersten 
Antritt  eines  Allodiums  war  für  dessen  lebendes  Inventar  an  das  Ka- 
pitel ein  fester  Satz  von  20  Mark  zu  zahlen.  Für  die  Immobilien 
war  an  den  Vorbesitzer  resp.  dessen  Erben  ein  vom  Stifte  zu  be- 
stimmender Taxwert  zu  entrichten,  während  die  Mobilien  zur  freien 
Verfügung  der  Erben  verblieben. 

Wie  früher  erwähnt,  hatte  Coppernious  14i>9  von  Bologna 
aus  durch  einen  Stellvertreter  ein  Aliud  optiert.  Dieses  vertauschte 
er  Anfang-  Juni  1612  gegen  das  früher  dem  Balthasar  Stockfisch 
gehörige,  um  letzteres,  wie  es  scheint,  bis  an  sein  Lebensende  zu  be- 
halten. Wenigstens  verzichtete  er  ausdrücklich  bei  zwei  weiteren 
Optionen,  deren  Protokolle  sich  erhalten  haben,  Ende  1612  und  am 
26.  August  1521  von  Allenstein  aus,  auf  Ausübung  seines  Wahlrechtes. 
Eine  Curie  hat  er  vor  1512  wohl  überhaupt  nicht  optiert,  da  er  bei 
gelegentlichen  Besuchen  an  der  Kathedrale  anderweite  Unterkunft  er- 
halten konnte  und  Kosten  und  Mühe  der  Instandhaltung  eigenen  Be- 
sitzes dabei  ersparte.  Dagegen  finden  wir  unter  dem  17.  März  1514 
einen  Quittungsvermerk  über  eine  Katenzahlung  vun  75  Mark,  welche 
Coppernious  für  die  Immobilien  des  früher  dem  Domherrn  Erich 
von  Knobcia u  (7  Anfang  1512)  gehörigen  Curie  geleistet  hat  Auch 
diese  scheint  er  wegen  ihrer  für  ihn  günstigen  Lage  bis  an  sein 
Lebensende  behalten  zu  haben.  In  dem  dazu  gehörigen  Turme, 
jedenfalls  dem  Nordwestturm  der  Hingmauer,  den  heute  noch  eine  die 
Jahrhunderte  überdauernde  Tradition  als  Curia  Coppernicana  bezeich- 
net, richtete  er  sich  seino  Wohnung  ein.  Und  in  der  That  hätte  sich 
für  einen  Astronomen  kaum  ein  besserer  Standpunkt  unter  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  finden  lassen,  solange  der  erst  später  so  hoch 
geführte  Glockenturm  nicht  die  Aussicht  beschränkte.  Frei  lag  vor 
dem  Beobachter  das  ganze  Himmelsgewölbe  bis  auf  die  von  der 
Kathedrale  eingenommene  Ostseite;  ungehindert  schweifte  der  Blick 
über  die  ferne  Nehrung  zur  Ostsee  und  weit  ins  flache  Land  hinein. 
Aus  dem  zweiten  Stockwerke  des  dreistöckigen  Turmes  führte  bis  in 
unser  Jahrhundert  eine  Thür  auf  die  hier  altanfürmig  erweiterte 
Mauerkrone,  von  wo  Coppernious  ebenfalls  beobachtet  haben  soll. 
Als  1815  das  Braunsberger  Gymnasium  laut  Kabinettsordre  von  1811 
neben  drei  andern  auch  den  Besitz  dieser  Praebende  antreten  wollte, 


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260 


wurde  der  Coppernicusturm  auf  besondere  Bitte  dem  Domkapitel  zu- 
rückbegeben und  dient  nach  zweckroäfsigem  Umbau  jetzt  zur  Auf- 
bewahrung der  Dombibliothek. 

In  diesen  Räumen  arbeitete  der  grofse  Astronom  rastlos  an  der 
wissenschaftlichen  Sicherstellung  seiner  neuen  Theorie,  von  hier  aus 
sind  fast  alle  in  seinem  Werke  benutzten  eigenen  Beobachtungen  aus- 
geführt. Die  dazu  nötigen  Instrumente  hatte  sich  Coppernicus  selber 
angefertigt.  Ein  nach  ptolemaeischen  Vorschriften  gearbeitetes  Tri- 
quetrum,  ein  Quadrum  und  allenfalls,  wie  Gassendi  angiebt,  ein 
Jakobstab,  alle  von  Holz  mit  Tintenstrichen  geteilt,  das  scheint  die 
ganze  Ausstattung  seiner  Warte  gewesen  zu  sein.  Ohne  Astrolabium, 
ohne  die  neuen  besseren  Nürnberger  Instrumente,  nur  mit  ein  paar 
armseligen  Holzstäben  gelang  dem  Genie  seine  astronomische  Grofs- 
tbat.  Tycho  Brahe  kam  später  bei  seinem  Besuche  in  Frauen- 
burg in  den  Besitz  derselben,  und  so  sind  sie  mit  dessen  eigenem 
Instrumentarium  in  den  Wirreu  des  30jährigen  Krieges  untergegangen. 

Aufser  der  geringen  Genauigkeit,  die  sich  beim  Gebrauche  so 
primitiver  Instrumente  erzielen  läfst,  erschwerten  die  grofse  Polhöhe 
und  die  Wolkenatmosphäre  Frauenburgs  vielfach  die  Beobachtungen. 
Coppernicus  selber  hat  sich  später  gegen  Rheticus  darüber  aus- 
gesprochen und  Angaben  mit  einein  Maximalfehler  von  10'  als  ein 
unerreichbares  Ideal  hingestellt.  Auch  über  die  Mangelhaftigkeit  der 
alten  Sternkataloge  soll  er  geklagt  haben,  und  thatsäehlich  ist  die 
mit  Hilfe  des  Almagest  berechnete  Länge  seines  Fundamentalsternes, 
der  Spica  Virginia,  fast  um  40 '  irrig.  Einen  weiteren  Beweis  für  die 
Mangelhaftigkeit  der  damaligen  astronomischen  Längenbestimmung  — 
erst  in  unserem  .Jahrhundert  ist  darin  Wandel  geschalTen  —  liefert  die 
nach  Annahme  des  Coppernicus  vollständige  ühnreinstimmung  des 
Meridianes  von  Frauen  bürg  mit  dein  von  Krakau,  welche  doch  um  171// 
differieren.  Deshalb,  und  um  seine  Beobachtungen  auf  einen  allseitig  be- 
kannten Standort  zu  beziehen,  ist  für  die  fast  nur  in  Frauenburg  ange- 
stellten Beobachtungen  ihm  stets  der  Krakauer  Meridian  die  eine  Axe 
seines  Koordinatensystems.  Um  so  bewundernswürdiger  erscheinen 
die  Ergebnisse  auf  so  unsicherem  Boden  basiertor  Forschungen. 

Inzwischen  hatte  sich  der  Ruf  des  Frauenburger  Astronomen 
weithin  verbreitet.  Auf  dem  lateranischen  Konzil  (1512  — 1517)  wurde 
auf  Antrag  des  gelehrten  Bischofs  von  Fossombrone,  Pauls  von 
Middelburg,  über  die  Kalenderreform  verhandelt.  Im  -Jahre  1514 
erhielt  nun  auch  Coppernicus  eine  Aufforderung  von  der  unter 
Middelburgs  Vorsitz  dazu  gewählten  Kommission,  sein  Gutachten 


267 


in  dieser  Angelegenheit  abzugeben.  Die  offizielle  Einladung  des 
Bischofs  war  von  einem  Privatbriefe  des  Dekans  der  ermländischen 
Kirche  zu  Rom,  Bernhard  Sculteti,  begleitet  und  unterstützt. 
Unter  Hinweis  auf  die  zu  geringe  Genauigkeit  in  den  Bestimmungen 
des  Sonnen-  und  Mondlaufes  lehnte  Coppernicus  die  Beantwortung 
der  Frage  ab.  Bekanntlicli  kam  der  Versuch  des  Konzils  nicht  bis 
zum  Abschlufs;  die  Vorarbeiten  wurden  in  den  Akten  der  Versamm- 
lung begraben.  Ein  Vierteljahrhundert  später  erwähnt  Coppernicus 
ihrer  in  seiner  Widmung  an  Papst  Paul  III.:  Auf  die  Mahnung 
Bischofs  Paul  von  Fossombrone  habe  er  seine  Forschungen  über 
die  Länge  des  tropischen  Jahres  fortgesetzt.  Sein  Resultat  entspricht 
genau  den  der  spätem  Gregorianischen  Reform  zu  Grunde  liegenden 
Annahmen,  die  zum  Teil  auf  ihm  beruhen. 

Bei  reicher,  zwischen  Himmelsbeobachtungen  und  wissenschaft- 
licher Vertiefung  seiner  neuen  Theorie  geteilter  Geistesarbeit  —  Cop- 
pernicus liefs  bis  zum  Tode  die  bessernde  und  feilende  Hand  nicht 
von  dem  Werke  seines  Leben  —  flössen  die  Tage  für  ihn  in  diesen 
Jahren  1512—151;')  im  allgemeinen  gleichmäßig  dahin.  Die  wenigen 
Pflichten  seiner  Stellung  beschränkten  nur  in  geringem  Mafae  die 
der  Wissenschaft  gewidmeten  Freistunden.  Seine  Confratres,  denen 
er  auch  zu  Heilsberg  nicht  entfremdet  ward,  meist  aus  bekannten 
oder  gar  verwandten  Patriziergeschlechtern,  bildeten  fast  einen  Familien- 
kreis. Nur  ein  herber  Schmerz  betraf  ihn,  die  Todeskrankheit  soines 
Bruders  And reas.  Kurz  nach  seiner  Rückkehr  aus  Italien,  um  1507, 
also  noch  zu  Lebzeiton  Watzelrodes  und  während  Nicolaus1  Aufent- 
halt in  Heilsberg,  war  Andreas  von  der  furchtbaren  Lepra  befallen 
worden.  Des  Bruders  ärztliche  Kunst  erwies  sich  als  machtlos.  Bei 
den  Ärzten  Italiens  wollte  der  Unglückliche  dann  Heilung  suchen. 
Er  erbat  und  erhielt  dazu  1508  einen  einjährigen  Urlaub.  Aber  alles 
blieb  vergebens.  Dio  schreckliche  Krankheit  machte  weitero  Fort- 
schritte, so  dafs  er  durch  Kapitelbeschlufs  vom  4.  September  1512 
von  der  Gemeinschaft  der  Domherren  ausgeschlossen  und  eine  be- 
stimmte Summe  zu  seinem  Unterhalte  ausgesetzt  wurde.  Hauptsäch- 
lich wegen  der  dadurch  verfügten  Verminderung  seiner  Einkünfte 
erhob  Andreas  dagegen  Einspruch.  Darauf  verlangte  das  Kapitel 
Rechenschaft  über  die  Verwendung  von  li'OO  Goldgulden,  die  er  von 
seinem  Oheim  ..pro  erectione  ecclesie"  erhalten  hatte,  und  belegte  bis 
zur  Erstattung  dieser  Rechenschaft  seine  Einkünfte  mit  Beschlag. 
Wohl  auf  Grund  vermittelnden  Eintretens  des  Bruders  Nicolaus 
wurde  dieser  Beschlufs    wieder  aufgehoben   und  ihm   unter  Erhö- 


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268 

hung  der  Abstandsumme  bis  zur  Entscheidung  durohden  Papst  nur 
aufgegeben,  Frauenburg  zu  verlassen  (5.  Oktober  1512).  Das  letzte 
Mal  wird  er  in  den  Protokollen  bei  Gelegenheit  der  Option  eines 
Allodiums  am  29.  Dezember  desselben  Jahres  angeführt  Aus  ander- 
weiten Mitteilungen  wissen  wir  von  seinem  Aufenthalte  zu  Rom,  so- 
wie dafs  er  zwischen  1516  und  1519  gestorben  sein  raufs. 

Eine  zweite  Quelle  der  Beunruhigung  für  ihn  als  Domherrn 
bildeten  die  Streitigkeilen  des  Kapitels  mit  dem  Polenkönig  über  die 
Neubesetzung  des  Bischofstuhle?.  Im  Jahre  1479  hatte  die  Krone  dem 
Kapitel  die  Beschränkung  der  Kandidatenliste  bei  Sedisvakanz  auf  nur 
ihr  genehme  Persönlichkeiten  abgezwungen.  Infolge  des  bisherigen 
Ausbleibens  der  päpstlichen  Bestätigung  suchten  1510  die  Domherren 
in  Rom  um  Wiederherstellung  ihres  früheren  Rechtes  freier  Wahl 
nach.  Der  anfänglich  ihnen  günstige  Bescheid  mufete  jedoch  nach 
mannigfachem  Hin  und  Her  infolge  der  schwankenden  Haltung  des 
neu  erwählten  Bischofs,  Fabian  von  Losa  inen,  zurückgezogen 
werden,  und  am  26.  November  1513  die  Bestätigung  des  uuter  pol- 
nischem Drucke  vom  Bischöfe  abgeschlossenen  „Petrikauer  Vertrages14 
erfolgen,  wonach  der  Krone  das  Präsentationsreoht  von  vier  Kandi- 
daten, jedoch  nur  gebornen  Preufsen,  verblieb,  unter  denen  das  Ka- 
pitel zu  wählen  halte. 

Das  relativ  ruhige  Leben  bei  der  Kathedrale  sollte  nicht  lange 
währen.  Am  13.  November  1516  wurde  Coppernicus  zum  ..Admi- 
nistrator bonorum  communium"  in  Allenstein  gewählt  und  trat  Martini 
desselben  Jahres  in  seinen  neuen  Wirkungskreis  ein. 

Bei  Gründung  des  Domstiftes  waren  diesem  Besitz-  und  Hoheits- 
rechte über  ein  Dritteil  des  Gesamtbistums  verliehen  worden,  letztere 
nur  beschränkt  durch  die  auch  nur  mit  seiner  Bewilligung  zu  er- 
lassenden allgemeinen  Gesetze  der  Diöcese.  Die  Stellung  des  Dom- 
stiftes zum  Bischof  entsprach  so  völlig  der  des  Bischofs  zum  Hoch- 
meister. Das  Grundeigentum  des  Kapitels  zerfiel  in  drei  räumlich 
beträchtlich  getrennte  Bezirke,  die  Kamnierämter  Frauenburg,  Mehl- 
sack und  Allenstein.  Um  eine  rationelle  Bewirtschaftung  zu  ermög- 
lichen, wurden  die  Hoheitsrechte  über  die  beiden  letzteren,  entfernteren 
Ämter  alljährlich  einem  Domherrn  übertragen,  zu  dessen  Residenz 
Schlofs  Allenstein  bestimmt  war.  Die  grofse  Wichtigkeit  für  die 
materiellen  Interessen  des  Stiftes  und  die  Schwierigkeit  der  Stellung 
bedingten  hohe  Anforderungen  an  die  organisatorischen  Fähigkeiten 
des  Administrators.  War  einmal  eine  passende  Persönlichkeit  ge- 
funden, so  wirkten  meist  einerseits  der  Reiz  selbständiger  Stellung, 


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269 

andererseits  die  ins  Auge  fallenden  Vorteile  der  Besetzung  des  Postens 
durch  einen  bereits  eingearbeiteten  Verwalter  zusammen  zur  mehr- 
maligen  Übertragung  und  Annahme  der  Stellung.  So  finden  wir 
auch  Coppernicus  drei  Jahre  hinter  einander,  von  1516 — 1519,  und 
nochmals  vom  November  1520  bis  Juni  1521  in  diesem  verantwortungs- 
vollen Posten. 

Die  Verpflichtungen  des  AmteB  waren  mannigfaltiger  Art.  Sein 
Inhaber  bildete  die  Appellationsinstanz  für  alle  in  seinem  Bezirke 
vorkommenden  Hechtstreitigkeiten  und  mutete  die  etwaigen  Verfü- 
gungen des  Kapitels  bekannt  machen,  beziehungsweise  zur  Aus- 
führung bringen.  Als  Aufsichtsführender  über  die  geistlichen  und 
weltlichen  Beamten  seines  Amtsbereiches  war  er  zu  Inspizierungs- 
reisen verpflichtet;  hauptsächlich  jedoch  hatte  er  für  die  bestmög- 
liche, zweckmäfsigste  Verpachtung  der  liegenden  Qründe  zu  sorgen. 
Die  Stiftsgüter  wurden  nämlich,  in  einzelne  Parzellen  zerlegt,  an  Bauern 
vergeben,  welche  dafür  Abgaben  und  Fron  zu  leisten  hatten.  In 
dem  uns  erhaltenen  Coppernicanischen  Geschäftstagebuche  finden  sicli 
viele  derartige  Verträge  aufgeführt,  die  durch  Einzeichnung  in  das- 
selbe in  zweier  Zeugen  Gegenwart  Rechtsverbindlichkeit  erlangten. 
Auch  Reisen  zur  Einsetzung  der  neuen  Scharwerksbauern  und  solche 
zu  Visitationszwecken  linden  wir  erwähnt.  Gelegentlich  hegab  er 
sich  dann  wohl  auch  vom  nahen  Mehlsack  aus  zur  Kathedrale  her- 
über oder  empfing  eine  Anzahl  Confratres  zu  Gaste  in  Allenstein. 
In  einem  Briefe  vom  21.  Oktober  1518  spricht  er  z.  B.  von  gröTseren 
Zurüstungen  für  einen  derartigen  Besuch.  Für  seine  zeitweilige  An- 
wesenheit in  Frauenburg  zeugt  eine  in  der  Curie  des  Domherrn 
Stockfisch  ausgestellte  Urkunde,  in  welcher  Coppernicus  in 
seiner  amtlichen  Eigenschaft  als  Administrator  eine  Zinsverschreibung 
beglaubigt,  wie  wir  solcher  Aktenstücke  noch  drei  weitere  von  ihm 
besitzen.  Auch  einer  Kapitelsitzung  im  November  1519  scheint  er 
persönlich  beigewohnt  zu  haben,  doch  blieb  seine  Zeit  wohl  sehr 
beschränkt  wegen  der  vielfachen  Inanspruchnahme  durch  seine  Amts- 
pflichten. Was  er  an  Freistunden  besafs,  scheint  er  weniger  der 
astronomischen  Wissenschaft,  als  andern,  praktischere  Ziele  verfolgen- 
den Arbeiten  gewidmet  zu  haben,  die  wir  später  kennen  lernen  werden. 
Nur  eine  Beobachtung  vom  12.  Dezember  1518  erwähnt  er  aus  dieser 
Zeit  (De  revol.V.  16)  ohne  Ortsangabe,  so  dafs  sie  wohl  sicher  zu  Frauen- 
burg gemacht  ist.  Ein  eigenes  Observatorium  zu  Alienstein,  wie  es 
verschiedene  Sagen  behaupten,  hat  er  kaum  besessen.  Lagen  doch 
damals  die  Verhältnisse  in  politischer  Hinsicht  äufserst  schwierig. 


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270 


Nach  kurzer  Besserung  hatte  die  Spannung  zwischen  Polen. 
Ermland  und  dem  Orden  wieder  sehr  zugenommen.  Sie  führte  vor- 
erst zu  einem  völligen  Verkehrsverbot  zwischen  den  Gegnern.  Dieser 
einschneidenden  Mafsregel  folgten  bald  schlimmere  Zustände.  Räu- 
berische Einfälle  vom  Ordensgebiete  aus  ins  Ermland  trugen  Schrecken 
in  die  Ansiedehingen  der  Hintorsassen.  Der  Hochmeister  konnte 
und  wollte  dem  Unwesen  nicht  steuern  und  wies  alle  Beschwerden 
unter  nichtigen  Vorwänden  ab.  Da  setzten  die  Gesandten  des 
Bischofs  auf  den  preufsischen  Landtagen  den  Beschlufs  allgemeiner 
Rüstungen  des  polnischen  Teiles  von  Preufsen  gegen  die  Übergriffe 
durch.  Allein  die  erhoffte  Wirkung  verkehrte  sich  in  das  Gegenteil. 
Der  Hochmeister  war  durch  die  drohende  Haltung  der  Nachbarn 
ebenfalls  zur  Kriegsbereitschaft  gezwungen,  Polen  aber  andererseits 
zu  sehr  beschäftigt,  um  sich  um  diese  Angelegenheit,  bevor  sie  nooh 
dringender  wurde,  für  den  Augenblick  ernstlich  zu  kümmern.  Im 
Gefühle  seiner  Schwäche  wagte  der  Orden  keinen  aggressiven  Schritt, 
allein  seine  nun  unbeschäftigten  und  meist  unbezahlten  Söldnerhaufen 
hausten  deshalb  erst  recht  schlimm.  Mehlsack  wurde  geplündert,  selbst 
Biaunsberg  bedroht  Ein  kurzes  Einlenken  nach  Kaiser  Max1  Tode 
auf  dringendes  Raten  des  Mainzer  Erzbischofs  blieb  belanglos.  Die 
Zustände  waren  unhaltbar  geworden.  Die  Reise  Albrechts  nach 
Deutschland,  um  Hilfe  zu  heischen,  sowie  das  Bekanntwerden  seines 
zwar  abgeleugneten  Bündnisses  mit  Polens  Erbfeind,  dem  (Jrofsfürsten 
von  Moskau,  liefsen  bei  Coppernicus'  Rücktritt,  November  1519, 
den  Ausbruch  des  drohenden  Krieges  unvermeidlich  erscheinen. 

Selbstverständlich  mufste  die  politische  Seite  dieser  Verwicke- 
lungen den  Statthalter  des  dabei  aufs  höchste  interessierten  Dom- 
kapitels ernstlich  beschäftigen,  wie  uns  jener,  oben  in  anderer  Be- 
ziehung erwähnte  Brief  vom  21.  Oktober  z.  B.  beweist,  in  dem 
Coppernicus  die  Hoffuung  auf  Zerfall  des  russischen  Bündnisses 
Alb  rechts  ausspricht.  Andererseils  mufste  er  bemüht  sein,  die 
schweren  Schäden  zu  heben,  welche  durch  die  Raubfahrten  der 
Ordenssöldner  dem  seiner  Obhut  anvertrauten  Linde  geschlagen 
wurden.  Da  waren  den  Geschädigten  Abgaben  zu  erlassen,  und  viel- 
leicht auch  werkthätig««  Hilfe  bei  gänzlicher  Verarmung  zu  leisten. 
Wir  können  uns  denken,  welchen  Eindruck  der  allenthalben  zu  Tage 
tretende  Jammer  auf  das  Gemüt  des  Mannes  machen  mufste,  und  wie 
er  sich  bemüht  haben  wird,  überall  bessernd  einzugreifen.  Dabei 
dürfte  ihm  auch  wohl  der  Gedanke  zu  den  späti  rn  R<'formvorschlägen 
für  Besserung  der   Landesmünze  gekommen   sein,   von  denen  wir 


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271 

wissen,  dafs  sie  in  diesen  Jahren  entstanden  sind,  und  er  der  Ausarbeitung 
derselben  seine  kurzen  Mufsestunden  geopfert  haben.  Für  den  Augen- 
blick war  er  jedoch  machtlos,  und  als  er  im  November  1519  zur  Kathe- 
drale zurückkehrte,  stand  dem  armen  Lande  noch  Schlimmeres  bevor. 

Der  Krieg  brach  aus.  Die  Geschichte  kennt  ihn  unter  dem 
Namen  „Fränkischer  Reiterkrieg".  Er  hatte  furchtbare  Verwüstungen 
zur  Folge,  war  aber  arm  an  Thaten  großen  Stiles.  Trotzdem  sich 
seine  Greuel  in  nächster  Nähe  Frauenburgs  abspielten,  ja  dieses 
selbst,  allerdings  vergebens,  im  Frühjahre  1520  angegriffen  wurde, 
blieb  Coppernicus  doch  daselbst,  wie  wir  aus  drei  Beobachtungen 
vom  Februar,  April  und  Juli  1520  (De  revolut  V,  14,  11  und  6) 
schliefsen  müssen.  Die  meisten  andern  Domherren  hatten  sich  nach 
Danzig  oder  Elbing  in  Sicherheit  gebracht  Um  Neujahr  152<»  über- 
schritt der  Hochmeister  die  Grenze  und  eroberte  Braunsberg.  Von 
dort  forderte  er  den  Bischof  Fabian  zu  einer  Zusammenkunft  auf. 
Allein  dieser,  leidend  und  fürchtend,  als  Geisel  behalten  zu  werden, 
sandte  zwei  Domherren  an  seiner  Stelle.  Einer  derselben  ist  höchst- 
wahrscheinlich unser  Xicolaus  gewesen,  obwohl  die  Namen  uns 
nicht  überliefert  sind.  Es  existiert  jedoch  ein  Geleitsbrief  AI  brechts 
aus  dieser  Zeit  für  Coppernicus  vom  6.  Januar  1520,  der,  wenn  er 
nicht  dessen  Teilnahme  an  diesen  Verhandlungen  beweist,  doch 
mindestens  auf  eine  Vertrauensstellung  beim  Hochmeister  deutet. 
Unterdessen  hatten  die  Polen  das  ganze  Ordensland  bis  unter  die 
Mauern  von  Königsberg  überschwemmt,  und  Albrecht  sah  sich  ge- 
nötigt, zu  Thorn  Verhandlungen  zu  eröffnen.  Da  erhielt  er  die  Nach- 
richt vom  Nahen  deutscher  Hilfsvölker.  Sofort  brach  er  daraufhin 
wieder  zu  seinem  Heere  nach  Ermland  auf  und  begann  die  Belage- 
rung der  Feste  Heilsberg.  Inzwischen  zogen  die  Deutschen,  moist 
von  Franz  v.  Sickingen  geworbene  Franken,  unter  ihnen  sein 
eigener  Sohn,  gegen  Danzig.  Unbegreiflicher  Weise  vereinigte  sich 
der  Hochmeister  nicht  mit  ihnen,  sandle  ihnen  nicht  einmal  das 
dringend  nötige  und  begehrte  Geschütz  zu  Hilfe,  wodurch  die  Be- 
lagerung dieser  wichtigen  Stadt  ins  Stocken  kam.  Auch  Heilsberg 
hielt  sich  glücklich.  Zu  Wintersanfang  verliefen  sich  zum  gröfstun 
Teilo  die  ohne  genügende  Unterstützung  gebliebenen  Hilfsiruppen, 
die  übrigen  wurden  zur  schleunigen  Flucht  nach  der  Heimat  ge- 
zwungen. Den  Rest  seiner  Kraft  vergeudete  der  Orden  in  der  Be- 
stürmung der  kleinen  ermländischen  Städte.  Das  war  die  Lage,  als 
Coppernicus  zum  zweiten  Male,  im  November  1520,  die  Statthalter- 
schaft übernahm  und  in  das  feste  Alienstein,  fast  das  letzte  nicht  von 


272 


Albrecht  besetzte  Kapiteleigentum,  einzog.  Es  stand  schlimm  um 
die  Stiftsgütor,  die  Lage  war  bedrohlich  genug.  Die  Bauern  lagen 
erschlagen  oder  waren  geflohen,  die  Städte  und  Dörfer  verwüstet  und 
in  Foindeshand,  dazu  die  Aussicht  auf  einen  baldigen  Angriff  auch 
auf  das  Allensteiner  Schloss.  Mufste  doch  nach  Lage  der  Dinge  eben 
dem  Ordensheere  sicher  viel  an  seinem  Besitze  liegen.  Andererseits 
legten  alle  Domherren,  trotz  sonstiger  Treibereien  in  diesem  Punkte 
einig,  für  die  spätere  Feststellung  des  Besitzstandes  mit  Recht  den 
höchsten  Wert  darauf,  diese  Feste  und  zwar  mit  eigenen  Truppen  zu 
halten.  Coppernicus  war  während  dieser  Zeit  das  anerkannte 
Haupt  des  Kapitels.  In  der  That  erschien  bald  feindliches  Volk  vor 
Allensteins  Mauern,  allein  es  scheute  die  Schwierigkeit  einer  Bf- 
rennung  und  zog  nach  furchtbaren  Verwüstungen  der  Umgegend 
wieder  ab.  Die  beiderseitige  Erschöpfung  führte  zu  Friedensverhand- 
lungen. Auf  den  Iiiesenburger  Waffenstillstand  folgte  am  7.  April  1521 
der  auf  vier  Jahre  abgeschlossene  Beifriede  zu  Thorn.  Der  schnelle 
Friedensschlufs  war  eine  Erlösung  für  Ermland.  Selbst  während  der 
Verhandlungen  hatten  noch  Plünderungszüge  und  ein  mirslungener 
Überfall  von  Heilsberg  stattgefunden.  Nach  dem  Eintreten  geord- 
neter Zustände  suchte  Coppernicus  die  verödeten  Höfe  wieder  zu 
besetzen.  Die  flüchtigen  Pächter  kehrten  zurück,  an  Stelle  der  ge- 
töteten sehen  wir  ihn  neue  einsetzen  (Mai  1521 1.  Jedoch  schon  im 
Sommer  legte  er  seine  Stelle  nieder;  sein  Freund  Tiedemann 
(fiese  folgte  ihm  im  Amte  nach.  Im  August  finden  wir  Nioolaus 
aut  einer  zu  Alienstein  abgehaltenen  Kapitelsitzung  als  „Varmiae 
Commissarius".  An  wissenschaftliche  Thätigkeit  war  in  den  ver- 
flossenen stürmischen  Monaten  natürlich  nicht  zu  denken  gewesen, 
allein  auch  in  der  nächsten  Zeit  wurde  seine  Arbeitskraft  vom  Dom- 
stifte anderweitig  in  Anspruch  genommen. 

Über  die  Stellung  eines  Commissarius  Varmiae  ist  uus  leider 
nichts  Urkundliches  überliefert  worden;  jedenfalls  gedachten  die 
Domherrn,  den  in  Allenstein  bewährten  Genossen  in  grüfserem  Wir- 
kungskreise als  Vortreter  ihrer  Gesamtinteressen  bei  den  Verhand- 
lungen zur  möglichsten  Herstellung  des  status  quo  ante  zu  be- 
nutzen. In  dem  Thorner  Beifrieden  waren  ja  nur  die  Grundzüge  des 
Vergleiches  zwischen  den  mächtigen  Gegnern  festgelegt.  Detail- 
fragen, so  auch  die  über  die  Zustände  des  kleinen  Ermland,  waren 
späteren,  eingehenderen  Verhandlungen  vorbehalten.  Auf  der  näohsten 
diesem  Zwecke  dienenden  Versammlung,  der  Tagfahrt  zu  Graudenz, 
Ende  Juli  1521,  brachten  die  Abgeordneten  des  Kapitels,  unter  ihnen 


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Coppernicus,  die  von  letzterem  verfaßte  Klageschrift  des  Domstiftes 
gegen  den  Orden  vor.  In  zehn  Punkten  bittet  sie  um  Remedur  der 
stattgefundenen  Übergriffe.  Hatte  doch  der  Orden  nach  wie  vor  die 
eroberten  Städte  und  Flecken  Ermlands  im  Besitz  und  waltete  daselbst 
wie  in  ihm  gehörigen  Gebiete.  Auf  dem  Landtage  liefsen  sich  die 
Vertreter  Albrechts  zur  Anerkennung  der  von  Coppernicus  im 
Namen  des  Kapitels  erhobenen  Ansprüche  herbei;  da  jedooh  den  Zu- 
geständnissen nicht  Folge  gegeben  wurde,  berief  Sigismund  zur 
Regelung  dieser  und  noch  anderer  schwebender  Fragen  eine  zweite 
Tagfahrt  nach  Graudenz,  die  infolge  der  Pest  erst  im  Frühjahr  1522 
eröffnet  werden  konnte. 

Hier  überreiohte  Coppernicus  auf  Wunsch  der  preußischen 
Stände  sein  deutsch  geschriebenes  Gutachten  über  die  Verbesserung 
der  Landesmünze.  Bereits  1519  vollendet*  verdankt  es  seine  Ent- 
stehung jedenfalls  den  praktischen  Erfahrungen  der  Allensteiner  Ver- 
waltungszeit, welche  die  Notwendigkeit  einer  radikalen  Hebung  des 
darnieder  liegenden  Landes  deutlich  genug  gepredigt  hatten.  Hier 
konnte  man  hoffen,  den  Hebel  anzusetzen,  um  einerseits  die  unnatür- 
liche Abschliefsungspolitik  zwischen  Polen,  Westpreufsen  und  den 
Ordensländern  untereinander  zu  heben,  andererseits  mit  der  Wieder- 
herstellung dos  Vertrauens  in  die  Gleichmäfsigkeit  und  Güte  des 
Geldes  die  allgemeine  Kaufkraft  des  Landes  zu  erhöhen.  Den 
äufseren  Anlafs  mag  die  nochmalige  Verschlechterung  des  Ordens- 
geldes während  und  durch  den  letzten  Krieg  gegeben  haben. 
Coppernicus  geht  in  der  uns  im  Konzepte  erhaltenen  Schrift  von 
der  Begriffsbestimmung  einer  Landesmünze  aus.  Er  unterscheidet 
dann  zwischen  dem  dem  Gehalt  an  Edelmetall  entsprechenden  wahren 
und  dem  Kurswerte  der  Münze  und  kommt  auf  die  Arten  ihrer  Ver- 
schlechterung durch  Gewichtsverminderung,  durch  Herabsetzung  des 
Feingehaltes  oder  auch  durch  beides  zugleich  zu  sprechen.  Er  zeigt 
den  grofsen  dauernden  Schaden  solcher  Manipulationen  im  Gegensatz  zu 
dem  geringen  augenblicklichen  Nutzen  und  wendet  sich  sodann  zu 
dem  speziellen  Fall  der  preußischen  Münzverderbnis.  Hier  könne 
man  bereits  für  ein  Pfund  fein  Silbers  24  Mark  der  schlechten  Münze 
kaufen,  ein  Verhältnis,  das  sich  bald  noch  verschlimmern  werde,  und 
das  nur  den  Goldschmieden  nütze,  welche  die  alten  guten  Münzen 
einschmölzen,  während  die  Kaufkraft  des  Landes  reifsend  sänke. 
Seine  Reform  vorschlage  sehen  die  Einrichtung  einer  einzigen  Münz- 
stätte für  das  gesamte  Preufsen  vor,  wo  nur  Geld,  von  dem  höchstens 
20  Mark  auf  ein  Pfund  fein  gehen,  geprägt  werden  dürfe.  Alles 

Hlmmol  und  Erde.  1899.  XI.  >j.  io 


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274 


andere  Geld  solle  eingezogen,  und  je  13  Mark  der  alten  gegen  10  Mark 
der  neuen  Münze  eingetauscht  werden.  Den  entstehenden  Schaden 
müsse  man  schon  im  Interesse  des  zu  erwartenden  Vorteils  auf  sich 
nehmen.  Allein  dieser  erste  Vorschlag  scheiterte,  wie  alle  seine 
späteren  bis  1530  fortgesetzten  Bemühungen  um  einheitliche  Regelung 
des  Münzwesens  an  dem  Widerstande  der  Interessenten.  Der  König 
von  Polen  wünschte  das  preußische  Geld  mit  dem  seinigen  in  Über- 
einstimmung gebracht  zu  sehen,  was  Coppernicus  aus  Zweck  mäfsig- 
keitsgründen  gerne  zugestanden  hätte,  allein  Thorn,  Danzig  und 
Elbing  wollten  auf  ihr  eigenes  Münzrecht  und  den  damit  verbundenen 
Gewinn  nicht  verzichten,  während  der  königliche  Unterhändler  nur 
die  Prägungskosten  vom  Münzwerte  abgezogen  wissen  wollte.  Der 
Hochmeister  war  gegen  jede  Änderung  seines  Geldes  als  einen  Ein- 
griff in  seine  Rechte  und  hatte  sogar  die  Beschickung  dieses  Land- 
tages unter  dem  Vorwande  zu  später  Ladung  abgelehnt,  während  er 
gleichzeitig  sich  zur  Reise  nach  Deutschland  anschiokte.  So  war  mit 
dem  Fortfall  seiner  Mitwirkung  dem  Landtage  die  Möglichkeit  einer 
allgemeinen  Reform  genommen.  Es  erfolgte  jedoch  ein  Verbot  der 
minderwertigen  Ordensmüuze  für  das  sogenannte  polnische  Preufsen, 
dem  Sigismund  ein  allgemeines  Handelsverbot  folgen  liefe. 

Die  feindselige  Spannung  zwischen  den  kaum  geeinten  Gegnern 
nahm  natürlich  dadurch  wieder  zu;  ein  Teil  Ermlands  war  von  pol- 
nischen Söldnern  besetzt,  während  der  Orden  Braunsberg  und  Um- 
hegend nur  um  so  fester  hielt.  Unter  solchen  Verhältnissen  wäre 
Einigkeit  im  Schofse  des  Kapitels  dringend  erforderlich  gewesen;  statt 
dessen  finden  wir  Hader  und  Zwistigkeiten  der  Domherren  unterein- 
ander und  mit  dem  Bischof  über  pekuniäre  Interessen,  deren  Beginn 
schon  während  des  fränkischen  Reiterkrieges  und  durch  denselben 
Coppernicus"  Lage  in  Allenstein  erschwert  hatte.  Den  höchsten 
Grad  erreichte  diese  Bedrängnis  des  Bisturas  nach  dem  Tode  des 
Bischofs  Fabian  am  23.  Januar  1523.  Der  polnisch  gesinnte  Vogt 
Preuck  bemächtigte  sich  des  Schlosses  Heilsberg  für  Sigismund 
und  bezahlte  den  Sold  aus  den  Einkünften  des  Bistums.  Auch  der 
Orden  versuchte  in  Rom  die  Vereinigung  des  von  ihm  eroberten 
Landesteiles  mit  seinem  Gebiete  zu  erlangen.  Unter  so  schwierigen 
Verhältnissen  schritt  das  Kapitel  zur  Bestellung  eines  General-Admi- 
nistrators für  die  Zeit  der  Sedisvakanz.  Die  Wahl  lenkte  sich,  als  auf 
den  fähigsten  und  mit  den  Verhältnissen  vertrautesten  Domherrn,  auf 
unseren  Coppernicus.  In  seiner  schwierigen  Stellung  war  er  vor 
allem  auf  möglichste  Wiedererwerbung  des  weltlichen  Besitzes  der 


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Diözese  bedacht.  Seine  Bemühungen  lohnte  das  Edikt  Sigismunds 
vom  10.  Juli  1523,  in  dem  die  Rückgabe  aller  besetzten  Ortschaften 
befohlen  wurde.  Die  Polen  räumten  darauf  ihre  Quartiere  zu  gunsten 
der  Kirchenverwaltung,  allein  die  Ordenstruppen  hielten  bis  zum 
Frieden  von  Krakau  1526  vor  allem  Braunsberg  und  Umgegend  be- 
setzt, ja  bemächtigten  sich  in  der  Zwischenzeit  sogar  mehrerer  neuer 
Teile  des  Bistums  und  wiesen  die  Bewohner  an,  im  Orden  ihren  recht- 
mäßigen Herrn  zu  erblicken.  Bis  zum  September  währte  die  Amts- 
dauer des  General- Administrators,  da  der  neu  erwählte  Bischof 
Mauritius  Ferber  vor  Übernahme  der  Verwaltung  erst  die  päpst- 
liche Bestätigung  nachsuchen  wollte.  Während  dieser  Zeit  sah 
Coppernicus  sioh  auch  genötigt,  Stellung  gegenüber  der  Ausbreitung 
der  lutherischen  Lehre  zu  nehmen.  Das  erforderte  seine  Amtspflicht 
Allein  die  volle  Autorität  des  Bischofs  fehlte  seinem  Auftreten,  und 
das  eigene  milde  Urteil  über  die  reformatorischen  Bestrebungen  hielt 
ihn  von  energischen  Schritten  ab.  Überhaupt  finden  wir  hier,  wie 
meist  auch  an  anderen  Orten,  unter  der  hohen  Geistlichkeit  anfangs 
grofse  Duldsamkeit  gegenüber  den  Neuerern.  Charakteristisch  ist  in 
dieser  Hinsicht  ein  Ausspruch  des  sogar  mit  dem  Kardinalspurpur 
geschmückten  Bischofs  Fabian  von  Losainen,  in  welchem  er  einen 
Eiferer  unter  Anerkennung  von  Luthers  Gelehrsamkeit  auffordert, 
diesen  erst  zu  widerlegen,  ehe  er  ein  Verbot  seiner  Lehre  von  ihm 
verlange.  Und  ähnlich  dachten  die  übrigen  preußischen  Bischöfe. 
Die  ersten  Pflanzstätten  der  reformatorischen  Ideen  in  Preufsen  bildeten 
die  gröfseren  Handelsstädte  und  der  Orden  infolge  ihrer  vielfachen 
Beziehungen  zum  übrigen  Deutschland.  Bereits  1518  begann  zu  Danzig 
ein  Pfarrer  in  lutherischem  Geiste  zu  predigen,  und  bald  gewann  die 
neue  Lehre  derartig  an  Boden,  dafs  Sigismund  von  Polen  im  Jahre 
1520  zu  einem  strengen  Verbot  derselben  sich  veranlaßt  sah.  Mit  wie 
geringem  Erfolge,  zeigt  der  von  Gustav  Frey  tag  im  „Marcus  König" 
erzählte  historische  Vorgang  bei  der  versuchten  Verbrennung  eines 
Lutherbildes  zu  Thorn.  Selbst  in  den  dem  Hochmeister  nahe  stehenden 
Ordenskreisen  gewann  sie  Boden,  wie  die  späteren  Resultate  es  er- 
weisen. Auch  in  der  Haltung  des  ermländischen  Bischofs  änderte  sich 
trotz  des  immer  schärferen  Auftreten  Luthers  nichts.  Erst  mit  seinem 
Tode  gewannen  im  Ermlande  katholischo  Eiferer  die  Oberhand.  Gleich 
nach  der  Vorwaltungsübernahme  erliefs  der  neue  Bischof  Mauritius 
Ferber  eine  strenge  Verordnung  gegen  die  reformatorischen  Be- 
strebungen an  seinen  Klerus  und  drohte  mit  ewigem  Fluche  und 
Anathema.    Für  uns  ist  hauptsächlich  die  Haltung  des  grofsen  Revo- 

18' 


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lutionärs  am  Himmel  gegenüber  dem  Glaubenskämpfen  von  Interesse. 
Schon  des  Humanisten  Reuchlin  Kampf  gegen  die  Dominikaner  und 
die  «Epistolae  obsourorutn  virorum"  mufsten  seine  volle  Aufmersam- 
keit  in  Anspruch  nehmen,  und  die  in  seine  Aliensteiner  Verwaltungs- 
zeit fallenden  ersten  Angriffe  Luthers  mögen  ihn  auf  das  lebhafteste 
beschäftigt  haben.  Warum  trotzdem  der  vorurteilsfreie  Mann  mit  dem 
klaren  Blicke  auf  dem  Boden  der  alten  Kirche  verblieb,  erklärt  uns 
eine  Schrift  seines  vertrauten  Freundes  Tiedemann  Giese. 

Die  später  darzulegende  grofse  Wichtigkeit  seines  Eintretens 
für  die  Veröffentlichung  des  Werkes  „De  revolutionibus",  sowie  die 
Herzensfreundschaft  mit  dem  geistesverwandten  Coppernicus  läfst 
die  Aufführung  der  wichtigsten  Daten  aus  seinem  Leben  entschuldbar 
erscheinen. 

Tiedemann  Giese,  am  31.  Mai  oder  1.  Juni  1480  zu  Danzig 
als  Sohn  angesehener  Eltern  geboren,  war  der  Neffe  des  regierenden 
Bischofs  Mauritius  Ferber.  Schon  als  Knabe  bezog  er  die  Univer- 
sität Leipzig  und  errang  bereits  1492  die  Würde  eines  Baccalaureus, 
verweilte  dort  aber  bis  1498.  Dann  trat  er  als  Königlicher  Sekretär 
in  den  Dienst  der  polnischen  Krone,  in  welcher  Stellung  er  auch  nach 
seinem  1602  oder  1504  erfolgten  Eintritt  in  das  Frauenburger  Dom- 
kapitel verblieb.  Nach  fünfjähriger  Verwaltung  in  AUenstein  lebte 
er,  aufser  einer  zweiten  Aliensteiner  Zeit  (1621  bis  1524),  bis  1536 
an  der  Kathedrale  zu  Frauen  bürg  in  innigsten  Freundschaftsbe- 
ziehungen zu  unserem  Nicolaus.  1519  in  den  polnischen  Adels- 
stand erhoben  und  1523  zum  Domkustos  erwählt,  wurde  er  zum 
Coadjutor  seines  Onkels  ausersehen,  als  dieser  infolge  von  Kränklich- 
keiten einer  Hilfe  bedurfte.  Allein  die  mit  der  Coadjutorie  verbundene 
Anwartschaft  auf  die  Kathedra  liefsen  Sigismund  einen  beab- 
sichtigtun Eingriff  in  den  Petrikauer  Vertrag  befürchten,  und  so 
kam  es  1536  zu  einem  Kompromiß  zwischen  dem  polnisohen  Kan- 
didaten, dem  Culmer  Bischof  Dantisous  (seit  1530)  und  Giese,  laut 
welchem  bei  der  Sedisvakanz  des  ermländischen  Bistums  Dantiscus 
dieses,  Giese  aber  Culm  erhalten  sollte.  Nach  Ferbors  Tode  1537 
bestieg  Oiese  demgemäfs  Anfang  1538  den  Culmer  Bisohofsstuhl,  den 
er  1548,  nach  Dantiscus  Tode,  mit  dem  ermländischen  vertauschte, 
um  jedoch  bereits  1550  ins  Grab  zu  sinken. 

Von  sanftem,  gütigem  Charakter  suchte  er,  wenn  auch  stets  auf 
dem  Boden  der  alten  Kirche,  mit  seinem  Freunde  eine  vermittelnde 
Stellung  in  den  kirchlichen  Streitigkeiten  einzunehmen.  Diese  fried- 
fertige Haltung  zeigt  auch  seine  erwähnte  Schrift;  sie  und  sein  fol- 


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277 


gendes  gleichgeartetes  Hauptwerk  ..De  regno  Christi"  haben  ihm  bei 
den  späteren  Zeloten  manche  Anfeindungen  und  Verdächtigungen  zu- 
gezogen. Veranlassung  zu  dem  für  uns  wichtigen  ersten  Büchlein 
gaben  die  „Centum  et  decem  assertiones  seu  flosculi  de  nomine 
exteriore  et  interiore  fide  et  operibusu,  des  Samländer  Bisohofs  Georg 
von  Polentz,  welche  ganz  in  Anlehnung  an  die  im  Ordenslande 
herrschende,  lutherische  Lehre  verfafst  waren.  Seine  „flosou- 
lorum  Lutheranorum  de  fide  et  operibus  dvÖT,Xofiy.6vu,  mit  Doppel- 
sinn des  griechischen  Wortes,  —  in  Reuchlinsohem  Itazismus 
gesprochen  —  betitelte  „Gegenblumenlese"  wurde  von  Giese  erst  auf 
Coppernicus'  eifriges  Anraten  und  mit  dessen  ausdrücklicher  Er- 
mächtigung, die  völlige  Übereinstimmung  seiner  Ansichten  mit  denen 
des  Freundes  zu  betonen,  im  Jahre  1526  durch  den  Druck  veröffent- 
licht 2») 

Trotz  strengen  Festhaltens  des  kirchlichen  Standpunktes  nähert 
er  sich  in  seinem  lebendigen  Glauben  manchmal  lutherisohen  An- 
schauungen und  erkennt  voll  die  sittlichen  Beweggründe  des  einstigen 
Augustinerniönches  an.  Frei  gesteht  er  die  mancherlei  Gebreohen  der 
Kirche  ein,  sucht  sie  zu  erklären  und  Mittel  zur  Abhilfe  zu  finden; 
aber  er  verteidigt  auoh  ihren  äufseren  Pomp  mit  dem  Hinblick  auf 
die  Schwachen  im  Geiste,  weist  auf  den  Nutzen  der  guten  Werke  und 
auf  den  Mifs brauch  hin,  welchen  viele  Anhänger  Luthers  mit  dessen 
Angriffen  auf  die  Werkthätigkeit  trieben,  indem  sie  die  neue  christ- 
liche Freiheit  in  Ungebundenheit  verkehrten.  Auch  die  kirchliche 
Glaubenslehre  findet  in  ihm  ihren  Anwalt  gegen  die  —  mifsver- 
standene  lutherische.  Durch  die  ganze  Schrift  zieht  sich  die  Mahnung 
zu  Frieden  und  Versöhnung.  Nioht  den  altehrwürdigen  Kirchenbau 
zerstören,  nein,  ihn  von  innen  heraus  ausbauen  und  in  idealer  Rein- 
heit wieder  herstellen,  das  wollten  die  Giese  und  Coppernicus 
wie  es  Papst  Hadrian  VI.  angestrebt  hatte;  damit  gedenken  sie  dem 
revolutionären  Beginnen  des  Wittenbergers  entgegen  zu  treten.  An- 
teil an  der  Wahl  ihrer  Stellung  mag  auch  die  selbst  von  Melanohthon, 
der  mit  Giese  in  Beziehung  getreten  war,  geteilte  Furcht  vor  einer 

n)  Die  Notiz  ist  der  Münchener  Handschrift  Codex  Graecus  CLI  ent- 
nommen. In  derselben  steht  die  eigenhändige  Eintragung  von  Widman- 
atad:  .Clemens  VII.  Pontifex  Maximus  nunc  codicem  mihi  dono  dedit  Anno 
MDXXXIII  Romac,  postquam  ei,  praesentibus  Fr.  Ursino,  Joh.  Salviato  Cardi- 
nalibus, .Job.  Petro  episcopo  Vitebiensi,  et  Matthaeo  Curtio  physico,  in  hortis 
Vaticanis  Copernicanam  de  motu  terrae  sententiam  explicavi.  Joh.  Albertus 
Widmanatadius  c-ognomine  Lucretius,  Serenissimi  Domini  nostri  Secretarius  et 
familiaris.- 


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278 


teilweisen  Zurückdrängung  der  neu  erblühten  wissenschaftlichen  Be- 
strebungen durch  dio  religiösen  Streitigkeiten  gehabt  haben. 

Neben  diesen  Angelegenheiten  erforderte  die  politische  Lage  die 
volle  Aufmerksamkeit  von  Bischof  und  Kapitel.  Der  vierjährige  Bei- 
friede näherte  sich  seinem  Ende.  Der  polnische  Reichstag  fafste 
drohende  Beschlüsse  gegen  den  Fortbestand  des  Ordens  für  den  Fall 
nochmaliger  Huldigungsverweigerung,  und  des  Hochmeisters  Reise 
nach  Deutschland  blieb  ohne  den  gewünschten  Bündniserfolg.  Da 
führten  Luthers  Ratschläge  den  durch  Osiander  in  Nürnberg  für 
die  Reformation  gewonnenen  Albrecht  zur  Säkularisation  seines 
Landes.  Sigismund,  in  Besorgnis  vor  einem  etwaigen  Bündnisse 
der  lutherisch  gesinnten  gröfeeren  preufsischen  Städte  mit  Alb  recht 
nach  dessen  bevorstehendem  Übertritt  zur  neuen  Lehre,  gab  ihm  das 
Ordensgebiet  als  weltliches  Herzogtum  zu  Lehen.  Albreoht  vollzog 
seinen  Glaubenswechsel  und  führte  im  ganzen  Lande  die  neue  Kirchen- 
ordnung ein.  Damit  war  der  durch  diese  Maßnahmen  gebannte  und 
geächtete  neue  Herzog  zum  engsten  Anschluß  an  Polen  gezwungen; 
sofort  zeigte  sich  auch  der  günstige  Einflufs  auf  die  Beziehungen  zu 
Ermland.  Nur  das  Religionsbekenntnis  trennte  die  früheren  Gegner, 
denn  im  polnischen  Preufsen  betrieb  Sigismund  energisch  die  Gegen- 
reformation. 

(Fortsetzung  folgt.) 


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Die  Sonnenfinsternis  des  Thaies.  Eine  der  bekanntesten  histori- 
schen Finsternisse,  über  die  von  Astronomen  und  Chronologen  viel 
geschrieben  worden,  ist  jene,  von  der  Herodot  berichtet,  dafs  sie 
während  einer  Schlacht  im  sechsten  Jahre  des  Krieges  zwischen  den 
Lydern  und  Niedern  eingetreten  sei.  „  Diese  Veränderung  des  Tages 
(dafs  aus  Tag  Nacht  wurde),1*  heifst  es  bei  Horodot  noch,  „hatte 
aber  der  Milesier  Thaies  den  Joniern  vorhergesagt,  indem  er  dieses 
Jahr,  in  welchem  sie  auch  wirklich  eintrat,  als  Termin  angab."  Seit 
Airy  und  Hansen  haben  sich  die  Astronomen  dafür  entschieden,  in 
der  totalen  Sonnenfinsternis  vom  28.  Mai  585  v.  Chr.  das  von  Hero- 
dot beschriebene  Himmelsereignis  zu  sehen,  denn  diese  Finsternis 
läuft  mit  ihrer  Totalitätszone  mitten  durch  Kleinasien  und  berührt  den 
vermutlichen  Ort  des  Sohlachtfeldes  am  Halysflusse.  Sie  trifft  in  dieser 
Gegend  am  Spätnachmittag  ein.  Astronomische  Gegner  dieser  Finster- 
nis sind  derzeit  noch  Newcomb  und  Stock  well.  Unter  den  Hi- 
storikern ist  die  Meinung,  ob  die  Finsternis  vom  28.  Mai  685  die 
während  der  Schlacht  vorgefallene  sein  könne,  nooh  eine  sehr  ge- 
teilte. Während  einer  der  bedeutendsten  Geschichtsforscher,  Curtius, 
jenem  Datum  beitritt,  erklären  sioh  andere,  wie  Dunoker,  Gum- 
pach,  für  die  Finsternis  vom  30.  September  610  v.  Chr.,  welche 
früher  von  den  Astronomen  Baily  und  Olt  man  ns  als  die  des 
Thaies  bestimmt  worden  war.  Dafs  die  Vorhersagung  der  Finster- 
nis aus  einer  früher  beobachteten  möglich  war,  haben  Airy  und 
Peters  nachgewiesen,  indem  sie  bemerkten,  dafs  die  Sonnenfinsternis 
vom  18.  Mai  603  in  Ägypten  sehr  auffällig  gewesen  sein  mufs.  Da 
Thaies  um  diese  Zeit,  nach  den  über  ihn  bekannten  Lebensumstän- 
den, im  Alter  von  etwa  21  Jahren  sich  bei  den  ägyptischen  Priestern 
behufs  mathematischer  Studien  aufhielt,  so  wird  ihm  jedenfalls  die 
babylonische  Periode  des  Saros  (eines  Cyklus  von  18  Jahren 
11  Tagen,  naoh  welchem  die  Finsternisse  wiederkehren)  bekannt  ge- 
wesen sein,  und  er  könnte  aus  der  von  ihm  selbst  gesehenen  Finster- 


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280 


niß  vom  18.  Mai  603  die  18  Jahre  11  Tage  später  stattfindende  vom 
28.  Mai  585  prophezeit  haben.  In  neuerer  Zeit  hat  Newcomb, 
von  der  Erwägung  geleitet,  dafs  der  Ort  des  Schlachtfeldes  geo- 
graphisch nur  mutmafslich  angegeben  werden  kann  (namentlich  früher 
ist  das  Schlachtfeld  erheblich  östlicher,  in  die  Gegend  von  Erzerum 
und  Diarbekir  gesetzt  worden),  die  Meinung  geäufsert,  ob  die  Schlacht 
und  die  Finsternis  nicht  vielleicht  von  einander  ganz  zu  trennen 
seien,  so  dafs  also  Thaies  zwar  die  Finsternis  vom  Jahr  585  vorher- 
gesagt haben  könnte,  die  Schlacht  aber  in  einem  ganz  anderen  Jahre 
sich  ereignet  hätte  und  nur  später  mit  ersterer  zusammengebracht 
worden  wäre.  L.  Schlacht  er  ist  deshalb  wieder  auf  die  Halys- 
schlacht  zurückgekommen  und  besonders  auf  die  Frage,  welohe  klein- 
asiatischen Sonnenfinsternisse  Thaies  aus  früher  wahrgenommenen 
überhaupt  habe  vorhersagen  können.  Ein  näheres  Eingehen  auf 
die  zeitlichen  Zwischenräume,  innerhalb  welcher  die  Sonnenfinster- 
nisse cyk lisch  wiederkehren,  zeigt,  dafs  die  Alten  nicht  nur  die 
18jährige  chaldäische  Periode  (den  Saros),  sondern  auch  einen  vier- 
mal 19jährigen,  also  76jährigen  Cyklus,  welcher  fast  ganz  mit  der 
bekannten  griechischen  Periode  des  Reformators  Callippus  zu- 
sammenfällt, gekannt  haben  müssen.  Innerhalb  dieses  Cyklus  von 
76  Jahren  weniger  einem  Mondraonat  kehren  die  Finsternisse  nämlich 
ebenfalls  zurück.  Schlachter  findet,  dafs  Thaies  die  Finsternis 
vom  28.  Mai  585  aus  einer  in  Kleinasien  sehr  bedeutend  gewesenen 
vom  27.  Juni  661  mittelst  des  76jährigen  Cyklus  hätto  vorhersagon 
können.  Die  andere  Sonnenfinsternis,  welche  von  mehreren  Histo- 
rikern für  die  bei  der  Schlacht  am  Halysflusse  vorgefallene  ange- 
nommen werde,  nämlich  die  am  30.  September  610  v.  Chr.,  lasse  sioh 
weder  mit  Hilfe  der  I8jährifjvn  noch  mit  der  76jährigen  Periode  aus 
einer  dort  früher  gesehenen  Finsternis  vorausberechnen.  Die  Finster- 
nis von  <»10  konnte  demnach  nicht  erwartet  werden  und  mufste  un- 
vermutet eintreten.  Nachdem  aber  das  Jahr  610  v.  Chr.  als  Jahr  der 
Halysschlacht  von  den  Historikern  sehr  gestützt  wird,  erhalte  es  durch 
die  am  30.  September  vorgefallene  Sonnenfinsternis  die  erwünschte 
Bekräftigung,  und  das  Datum  dor  Schlacht  sei  also  mit  vieler  Wahr- 
scheinlichkeit auf  den  30.  September  610  zu  setzen,  umsomehr,  als 
diese  Finsternis  in  die  Morgenstunden  und  nicht  wie  die  vom  28.  Mai 
f>85  jregen  rien  Abend  hin  fällt,  bei  welch  letzterer  der  Eindruck  auf 
die  Kämpfenden  kein  grofeer  gewesen  sein  könne.  —  * 

* 


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281 

Archäologisch-Astronomisches.  Die  berühmte  Marmorstatue  de» 
farnesischen  Atlas,  der  auf  seinem  Nacken  den  Himmelsglobus  trägt, 
ist  wohl  den  meisten  unserer  Leser  bekannt.  Das  Bildwerk,  eine  alte 
griechische  Arbeit,  wurde  um  die  Mitte  des  16.  Jahrh.  n.  Chr.  bei 
Ausgrabungen  in  einem  Weinberge  in  der  Nahe  des  Klosters  S.  Lucia 
aufgefunden.  Die  Statue  befand  sich  in  sehr  defektem  Zustande  (es 
fehlten  beide  Arme,  das  rechte  Hein  und  das  Gesicht),  hat  indessen 
eine  geschickte  Ergänzung  der  hauptsächlichsten  Teile  erfahren;  frei- 
lich ist  daran  auch  Flickarbeit  ausgeübt  worden.  Seit  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts  befindet  sich  das  Skulpturwerk  im  Museum  von  Nea- 
pel Der  Himmelsglobus  ist  von  der  Restaurierung  unberührt  ge- 
blieben und  zeigt  noch  die  ursprünglichen  Defekte,  namentlich  das 
eingemeisselte  Loch  am  Nordpol.  Der  Globus  erregte  vermöge  seiner 
sorgfältigen  Arbeit  der  Sternbilder  schon  das  Interesse  früherer  Astro- 
nomen, namentlich  Bianchinis.  Man  hoffte  das  Alter  des  Globus 
und  damit  auch  die  Entstehungszeit  der  Statue  aus  einer  Vergleichung 
der  darauf  eingetragenen  Sternbilder  mit  der  Lage,  in  denen  sie  sich 
uns  gegenwärtig  zeigen,  also  durch  Berücksichtigung  der  Präzession,  be- 
stimmen zu  können.  Heis  nahm  an,  dafs  nach  diesem  Vergleiche  das 
Alter  des  Globus  300  v.  Chr.  zu  setzen  sein  könnte.  In  einem  vor  kurzem 
erschienenen  Werke*)  beschäftigt  sich  G.  Thiele  eingehend  mit  dem 
interessanten  Gegenstande.  Von  der  Statue  wurde  ein  sehr  sorgfältiger 
Gypsabguss  genommen,  und  der  obere  Teil,  der  Himmelsglobus,  von 
den  verschiedensten  Seiten  aus  photographiert.  Das  Studium  dieser 
Photographien  zeigte,  dafs  dem  Verfertiger  des  Globus  in  der  Aus- 
meifslung  eines  der  Hauptkreise  der  Himmelskugel  ein  Versehen 
passiert  sein  murs,  da  dieser  Kreis  unrichtig  liegt;  dieser  Umstand 
macht  die  Bestimmung  des  vermutlichen  Betrages  der  Präzession  zu- 
nichte. Thiele  hat  deshalb  einen  anderen  Weg  verfolgt,  um  das 
Alter  des  Himmelsglobus  zu  ermitteln:  ein  sehr  sorgfältiges  Studium 
der  Anweisungen,  welche  der  griechische  Astronom  Hipparch  zur 
Herstellung  von  Himmelskugeln  gegeben  hat,  läfst  erkennen,  dafs  der 
farnesische  Globus  genau  nach  dem  Muster  der  Hi  pparch  sehen 
Globen,  und  zwar  vor  150  n.  Chr.  hergestellt  worden  ist.  Er  enthält 
39  Sternbilder  und  giebt  den  damaligen  Aspekt  des  gestirnten 
Himmels  in  sorgfältiger  Ausführung  wieder;  der  Künstler  hat  sich 
nur  wenige  Freiheiten  erlaubt,  und  die  Sternbilder  konnten  deshalb 
ohne  Schwierigkeit  identifiziert    werden.    Einige    wenige  auf  dem 

•)  Antike  Himraelsbilder.  Mit  7  Tafeln  und  ~c2  Figuren.  Berlin,  Weid- 
mann. 1898. 


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282 


Globus  dargestellte  Gegenstände  sind  ihrer  Bedeutung  nach  unerklärt 
geblieben. 

Nicht  minder  interessant  als  der  farnesische  Globus  ist  ein  sehr 
alter  Tierkreis,  weloher  sich  auf  zwei  in  die  Facade  der  kleinen  Me- 
tropolitankirohe  in  Athon  eingemauerten  Marmorblöcken  vorfindet. 
Man  bemerkt  in  dieser  Bilderreihe  die  bekannten  Zeichen  des  Tier- 
kreises, jedoch  untereinander  verbunden  und  belebt  durch  eine  Menge 
Figuren,  vierzig  im  ganzen,  die  die  verschiedensten  Arten  von  Thätig- 
keit  vorstellen;  z.  B.  hüllt  sich  ein  Mann  frierend  in  seinen  Mantel, 
ein  anderer  pflügt,  ein  dritter  stampft  mit  dem  Fufse  auf  Trauben 
u.  s.  f.  Thiele  untersucht  diesen  Tierkreis  und  weist  nach,  dafa,  ob- 
gleich verschiedene  Gruppen  unerklärt  bleiben,  doch  deutlich  ein 
Prinzip  in  der  Anordnung  des  Ganzen  zu  erkennen  sei,  nämlich  dafs 
das  Bilderwerk  eine  Art  Volkskalender  vorstellen  soll:  es  markiert 
die  oinzelnen  griechischen  Monate  durch  die  Eintrittszeiohen  der 
Sonne  während  jeden  Monats  und  weist  gleichzeitig  durch  die  Figuren 
auf  die  landwirtschaftliche  oder  bürgerliche  Thätigkeit  hin,  welche  sich 
der  betreffenden  Jahreszeit  anpafst,  z.  B.  das  Pflügen  und  Säen,  die 
Zeit  der  Spiele,  der  Weinernte  u.  s.  w. 

Es  wäre  auch  interessant,  die  malerisohen  und  zeichnerischen 
Versuche  bis  zu  ihren  Uranfängen  zurüok  verfolgen  zu  können,  die 
seit  ältester  Zeit  in  der  Abbildung  des  gestirnten  Himmels  gemacht 
worden  sind.  Doch  ist  die  antiquarische  Forschung,  ehe  sie  zu  einer 
zusammenhängenden  Darstellung  des  ganzen  Gebietes  gelangen  kann, 
zunächst  noch  überwiegend  auf  die  Untersuchung  innerhalb  engerer 
Grenzen  und  auf  einzelne  hervorragende  Objekte  hingewiesen.  Das 
hauptsächlichste  Werk,  an  dem  schon  seit  alter  Zeit  eine  künstlerische 
Darstellung  der  Sternbilder  (der  griechischen  Philosophen)  versucht 
worden  ist,  bildet  die  bekannte  Dichtung  des  Aratos,  worin  der 
ganze  Himmel  mit  seinen  Sternbildern  besungen  wird.  Ein  besonders 
schönes  Objekt  in  Gestalt  eines  solohen  illustrierten  Aratos  aus  dem 
frühen  Mittelalter  existiert  als  Handschrift  aus  dem  neunten  Jahrhundert. 
Die  Handschrift  ist  noch  wohl  erhalten  und  zeigt  auf  95  Pergament- 
blättern eine  prachtvoll  in  Farben  ausgeführte  Darstellung  der  Stein- 
bilder, begleitet  von  den  Versen  des  Aratos.  Thiele  hat  diese  Hand- 
schrift gleichfalls  zum  Gegenstand  eingehenden  Studiums  gemacht. 
Nach  der  Art  der  Zeichnung,  der  Verwendung  der  Farben  und  der 
deutlichen  Wiederkehr  gewisser  antiker  Formen  zu  schliefen,  stammt 
die  Handschrift  wahrscheinlich  aus  einer  der  Malerschulen,  welche  im 
fränkischen  Keiohe  durch  die  Karolinger  errichtet  worden  sind.  Da- 


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283 


durch  wird  sie  zu  einem  der  wichtigsten  Denkmäler  der  Malerei  aus 
dieser  alten  Zeit  und  zugleich  ein  interessantes  altes  Zeugnis  für  die 
Entstehung  der  Bücherillustrationen.  Vermutlich  diente  als  Vorlage 
der  Handschrift  eine  jener  Prachtausgaben  des  Aratos,  welche  im 
vierten  Jahrhundert  in  Gallien  kursierten.  • 

* 

Aus  der  interessantesten  Lebensperiode  Michael  Faradays 

erzählt  Rosenberger  in  einem  kürzlich  erschienenen  Buche:  „Die 
moderne  Entwicklung  der  elektrischen  Prinzipien"  folgende  Episode: 
Farad ay,  bekanntlich  ein  gelernter  Buchbinder,  war  am  1.  März  1813 
Gehilfe  des  berühmten  Chemikers  Sir  Humphry  Davy  geworden; 
er  hatte  als  solcher  die  Verpflichtung,  den  Transport  der  Instrumente 
und  Apparate  für  die  Vorlesungen  in  der  Royal  Institution  zu  über- 
wachen, und  sie  jedesmal  nach  dem  Gebrauch,  wie  auch  aufserdem 
alle  Woche  oder  Monate  wenigstens  einmal  zu  reinigen.  Im  Laufe 
der  Zeit  gelang  es  ihm,  seine  Position  vornehmlich  auch  dahin  zu 
verbessern,  dafs  er  zu  eigenen  Studien  und  Experimenten  Gelegen- 
heit fand. 

Auf  eine  gelegentliche  Äufserung  Davys  hin  erwärmte  Faraday 
eines  Tages  in  einer  zugesohraolzenen  Glasröhre  Chlorhydrat,  sodafs 
in  der  Röhre  eine  grofse  Menge  Chlor  frei  werden  mufste.  Das 
Hydrat  schmolz,  und  über  dem  gebildeten  Wasser  zeigte  sich  das 
grünlichgelbe  Chlorgas,  aus  dem  sich  nach  und  nach  auf  dem  Wasser 
und  an  den  Wänden  der  Glasröhre  eine  gelbe,  ölige  Flüssigkeit  in 
Tropfen  absetzte. 

Ein  bekannter  Arzt  und  Mitglied  der  Royal  Society,  der  zufällig 
durch  das  Laboratorium  ging  und  dem  die  scheinbaren  Schmu  tz- 
tropfen  in  der  Röhre  auffielen,  nahm  duraus  Veranlassung,  den 
jungen  Chemiker  gutmütig  herablassend  auf  die  Notwendigkeit  ab- 
soluter Reinlichkeit  bei  chemischen  Versuchen  aufmerksam  zu  machen. 
Faraday  aber  konnte  dem  weisen  Herrn  am  nächsten  Morgen  die 
kurze,  jedenfalls  verblüffende  Mitteilung  zukommen  lassen:  „Verehrter 
Herr!  Das  schmutzige  Öl,  welches  Sie  gestern  bemerkten,  war  nichts 
anderes  als  flüssiges  Chlor.    Ihr  treu  ergebener  M.  Fr." 

Diese  erste  gelungene  Verflüssigung  eines  Gases  war  es,  die 
Faraday  mit  einem  Schlage  die  allgemeine  Anerkennung  als  eines 
nicht  blofs  ebenbürtigen,  sondern  auch  überlegenen  wissenschaftlichen 
Forschers  sicherte.  Sp. 


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284 


Exakte  Härtebestimmungen  verschiedener  Materialien  verdanken 
wir  erst  der  allerneuesten  Zeit.  Die  Mineralogie  begnügt  sich  zur 
Erkennung  der  Härte  eines  Minerals  bis  auf  den  heutigen  Tag  mit 
der  Metbode  der  Ritzung,  indem  sie  denjenigen  von  zwei  Körpern 
als  härter  bezeichnet,  der  den  anderen  mit  einer  Spitze  zu  ritzen  im 
stände  ist  Mohs  hatte  am  Anfang  dieses  Jahrhunderts  10  Mineralien 
von  successive  steigender  Härte  ziemlich  willkürlich  ausgewählt  und 
aus  ihnen  seine  berühmte,  wohl  jedem  I^eser  von  der  Schule  her 
noch  geläufige  Härteskala  hergestellt,  nach  welcher  z*  H.  einem  Mineral, 
welches  nur  Talk  zu  ritzen  imstande  war,  dagegen  von  Gyps  geritzt 
wurde,  die  Härte  1  —  2  zuerkannt  wurde,  während  der  unerreichte 
Diamant  als  einziges  Mineral  von  der  Härte  10  galt.  Um  die  Be- 
stimmung der  Härte  durch  Ritzen  exakter  zu  gestalten,  als  dies  bei 
freier  Handführung  möglich  war,  hatte  Seebeck  als  ritzenden  Körper 
ein  für  allemal  eine  Diamantspitze  gewählt,  welche  mit  Hilfe  eines 
Hebels  so  weit  belastet  wurde,  bis  eine  deutliche  Ritzung  des  zu  unter- 
suchenden Materials  erfolgte.  Die  erforderliche  Belastung  des  Hebels 
konnte  dann  als  Mafs  für  die  Härte  dienen,  aber  die  Beurteilung  der 
Stärke  der  Kitzung  blieb  doch  eine  subjektive. 

Wesentlich  einwandfreier  wurden  die  durch  Sel  becks  „Skiero- 
meter- gefundenen  Ergebnisse,  als  . Jannetatz  den  Ritz  mittelst  des 
Mikroskops  betrachtete  und  seine  Breite  mikrometrisch  mafs;  aber 
auch  die  dadurch  festgestellten  Harten  gestatteten  nur  eine  relative 
Vergleichung  der  Mineralien.  Wenn  auoh  auf  diesem  Wege  sich  schon 
erkennen  liefs,  dafs  die  Stufen  der  Mohs  sehen  Skala  von  sehr  un- 
gleicher Grörse  siud,  so  konnte  doch  erst  eine  schärfere  Definition 
dos  Härtebegriffes  absolute  Zahlenangaben  über  diese  wichtige  Festig- 
keitsart ermöglichen.  Es  ist  das  Verdienst  von  Prof.  F.  Auerbach, 
eine  gelegentlich  von  Hertz  gegebene  Definition  der  Härte  in  diesem 
Sinne  verwertet  zu  haben.  Auerbach  ist  auf  (»rund  seiner  Versuche 
zu  folgender  Fassung  der  Definition  der  Härte  gelangt:  „Härte  ist  die- 
jenige Eindringungsbeanspruchung '),  bei  welcher  bei  spröden  Körpern 
Trennung  der  Teile  und  bei  welcher  bei  plastischen  Körpern  stetige 
Anpassung  stattfindet.-  Der  Apparat,  mit  welchem  Auerbach  die  so 
definierte  Härte  bei  einer  Reihe  von  Körpern  untersuchte,  besteht  aus 
dem  kugelförmigen  Endo  eines  Stäbchons,  welches  mit  Hilfe  von  Hebeln 
mit  einer  mefsbaren  Kraft  gegen  eine  ebene  Fläche  des  zu  unter- 
suchenden Körpers  gedrückt  werden  kann.    Steigert  man  hierbei  all-* 

l)  d  h  diejenige  HelasUmtj  einer  kleinen  Flächeneinheit. 


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285 


mählich  den  Druck,  so  läfst  sich  mit  einem  Mikroskop  bei  spröden 
Körpern  leioht  der  Moment  des  Auftretens  eines  Sprunges  und  zugleich 
die  OrÖfse  der  gedrückten  Fläche  bestimmen,  woraus  sich  dann  die  Härte 
im  Sinne  obiger  Definition  in  absolutem  Mafse  berechnen  läfst  Bei 
plastischen  Körpern  (als  solche  erwiesen  sich  z.  B.  Steinsalz  und  Flufs- 
spat)  erfolgt  jedoch  kein  Sprung,  sondern  die  Platte  wird  zu  einer 
Mulde  eingedrückt,  während  die  drückende  Kugelfläche  eine  gewisse 
Abflachung  erfährt.  Es  tritt  hier  alsbald  der  Fall  ein,  dafs  die  Druck- 
fläche der  Belastung  proportional  wächst,  dafs  also  der  auf  1  qmm  ent- 
fallende Druck  nicht  mehr  zunimmt  Es  ist  dann  der  bei  solohen 
Körpern  für  die  Härte  mafsgebende  kritische  Punkt  erreicht  und  die 
Belastung  der  Flächeneinheit  bei  weloher  das  Material  dem  Druck 
nachzugeben  beginnt  mute  dann  füglich  als  Härtemarszahl  dienen. 

Die  Ergebnisse  der  mit  dem  beschriebenen  Apparat  geraaohten 
Messungen  sind  nun  interessant  genug.  Zunächst  wurden  verschiedene 
Glassorten  untersucht  deren  Härte  in  weitem  Spielraum  zwischen  173 
und  316  (kg,  qmm)  variierte,  was  etwa  den  Mohssohen  Härtegraden 
5  bis  7  entspricht  Wie  wenig  jedoch  die  althergebrachte  Ritzungs- 
methode wissenschaftlich  brauchbar  ist  ging  daraus  hervor,  dafs 
trotzdem  auch  das  weichste  Glas  selbst  das  härteste  zu  ritzen  imstande 
war.  Auerbaoh  untersuchte  nun  die  Intervalle  der  Mohsschen 
Skala  und  fand  darin  einige  von  ganz  überraschender  Gröfse.  So  ist 
die  neunte  Stufe  Topas— Korund  grofser  als  die  ersten  acht  zusammen- 
genommen, und  noch  mehrere  ähnliche  Ungleichheiten  werden  aus  der 
folgenden  Tabelle  leioht  bemerkt  werden,  in  weloher  die  den 
einzelnen  Mineralien  entsprechenden  Festigkeitsgrenzen  (in  Kilo- 
grammen des  Druckes  auf  das  Quadratmillimeter)  angegeben  sind: 


Name 

]Mo  hasche 

Wahre  Härte  (kg,  qmm) 

Härtem  afszahl 

des  Minerale» 

Härte 

nach  Auerbach 

nach  Rosiyal 

Talk    .    .  . 

1 

5 

V» 

Steinsalz .  . 

2 

20 

Kalkspat 

3 

92 

Flursspat 

4 

110 

6 

Apatit     .  . 

5 

237 

67, 

Feldspat 

6 

253 

37 

Quarz  .    .  . 

7 

308 

120 

Topas     .  . 

8 

525 

175 

Korund   .  • 

9 

1150 

1000 

Diamant  .  . 

10 

140000 

Eine  andere,  für  die  Praxis  einlächere,  aber  dafür  auch  weniger 


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286 


exakte  Methode  der  zahlenmäßigen  Härtebestimmung  ist  zuerst  von 
Toula  angegeben  und  neuerdings  von  Rosival  in  ausgedehnterem 
Mafse  angewendet  worden.  Sie  besteht  darin,  dafs  eine  gewogene 
Menge  eines  Standard-Schleifmaterials  (z.  B.  Normal- Korund  von 
0,2  mm  Korngröße)  mit  einer  ebenen  Fläohe  des  zu  untersuchenden 
Körpers  auf  einer  Glas-  oder  Metallscheibe  bis  zu  einem  unwirksamen 
Schlamm  zerrieben  wird,  was  in  wenigen  Minuten  erzielt  werden 
kann.  Der  Gewichtsverlust,  den  der  reibende  Körper  dabei  erleidet, 
gestattet  dann  leicht,  den  Volumenverlust  zu  berechnen,  dessen 
reciproker  Wert  als  Mate  für  die  Härte  dienen  kann.  Die  auf  diesem 
Wege  gefundenen  Zahlen,  welche  in  der  letzten  Spalte  der  obigen 
Tabelle  bereits  mit  aufgeführt  sind,  zeigen  in  ähnlioher  Weise  wie  die 
A u er baoh sehen  Werte  die  grofse  Ungleichheit  der  Intervalle  der 
Mohsschen  Skala  und  geben  auch  die  gewaltige  Kluft  an,  welche 
den  Korund  noch  vom  Diamanten  trennt,  eine  Kluft,  deren  praktische 
Folgen  erst  durch  das  künstlich  dargestellte  Carborundum2)  gemildert 
worden  sind.  Die  ziemlich  erhebliche  Disoordanz  im  Zahlen- 
gange bei  Auerbach  und  bei  Rosival,  welche  in  dem  Härte- 
intervall Apatit— Feldspat  zu  Tage  tritt,  dürfte  vermutlich  auf  die  be- 
trächtlichen Schwankungen  zurückzuführen  sein,  denen  nach  Rosival 
die  Härte  bei  verschiedenen  Stücken  einer  und  derselben  Mineral- 
species  oft  unterliegt.  —  Auch  das  sogenannte  üsometer,  ein  von 
Jannetatz  und  Goldberg  zur  zahlenmäßigen  Härtebe  timmung  con- 
struirtes  Instrument,  beruht  auf  dem  Prinzip  der  Abnutzung  durch 
Schleifen.  Eine  Probe  der  zu  untersuchenden  Substanz  wird  hier  durch 
ein  Gewicht  gegen  eine  schnell  rotierende  Schleifscheibe  gedrückt,  und 
der  Gewichtsverlust  mit  dem  des  gleichzeitig  unter  denselben  Verhält- 
nissen geschliffenon  Normalkörpers  verglichen.  F.  Kbr. 

*)  vgl.  Himmel  und  Erde,  Bd.  IX,  S.  378. 


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Himmeltikunde.  Versuch  einer  methodischen  Einführung  in  die  Hauptlehreu 
der  Astronomie.  Von  Joseph  Plassmann.  Mit  einem  Titelbild  in 
Farbendruck,  2IG  Illustrationen  und  3  Karten.  Freiburg  im  Breisgau, 
Herdersche  Verlagshandlung,  1898.  XVI  und  627  S.  8°. 

Der  Verfasser  bietet  dem  Laien,  der  mit  der  heutigen  Bildung  eine  mehr 
oder  weniger  grofso  Summe  von  astronomischen  Kenntnissen  aufgenommen, 
aber  sich  nicht  recht  veranschaulicht,  oder  dem,  der  die  Olocken  Uberhaupt 
noch  nicht  läuten  gehört  hat,  —  nicht  etwa,  wie  der  Titel  sagt,  nur  eineu  Ver- 
such methodischer  Einführung  —  sondern  ein  Meisterwerk  populärer  Unter- 
weisung, das  ihm  deutlich  sagt,  wo  und  wie  diese  Olocken  hängen. 

Mit  aufserordentlichem  Lehrgeschick  führt  Herr  Plassmann  durch  sein 
Buch  in  die  Hauptlehren  der  Astronomie  ein.  Er  erläfst  dem  Leser  dabei 
Rechnungen  nicht,  führt  sie  aber  auch  st»  verständlich  vor,  dafs  der  ernste 
Leser  sie  nicht  leicht  überschlagen  wird.  Die  ersten  Kapitel  dienen  der 
Orientierung  am  Himmel  und  der  Einführung  in  die  verschiedenen  astro- 
nomischen Koordinatensysteme  Dabei  verfährt  der  Verfasser  so  eingehend, 
dofs  jeder,  der  das  Buch  am  Schreibtisch  und  nicht  nur  auf  dem  Sofa  vornimmt, 
mit  voller  Anschaulichkeit  die  drei  Systeme  sehen  kann.  In  diese  Kapitel  ein- 
geschlossen findet  der  Leser  u.  a.  zwei  Nachbildungen  von  Sternpholographien 
am  Pol  und  Äquator  und  sieht  darin  das  Mittel  vor  sich,  mit  dem  in  neuester 
Zeit  bo  erfolgreich  am  Himmel  geforscht  wird;  ferner  eine  Darstellung  der 
Universalinstrumente,  Angaben  Uber  Kartenprojektion,  die  Gestalt  der  Erde  etc. 
(Hierbei  sei  zu  Fig.  2ö  bemerkt,  dafs  die  Ellipsen,  die  in  ihr,  wie  in  manchen 
anderen,  augenscheinlich  aus  freier  Hand  gezeichnet  sind,  an  den  Enden  zu 
schmal  sind.  Der  Neigungswinkel  zwischen  der  Kreis-  und  Ellipsenebone, 
der  in  der  Mitte  ca.  33»  beträgt,  geht  nach  den  Enden  hin  unter  23°  herunter), 
endlich  ein  äufserst  klarbelehrendes  Kapitel  Uber  die  wahre  und  mittlere 
Sonnenzeit. 

Nach  einem  der  Optik  gewidmeten  Abschnitt  (Licht,  Refraktion,  Absorption 
und  Dämmerung.  Das  Funkeln  der  Sterne  und  die  Sterntiguren)  wird  der 
Mondlauf  ausführlich  und  mit  Hilfe  eines  zwar  ungewöhnlichen  Anschauungs- 
mittels beschrieben,  das  aber  seinen  Zweck  völlig  erfüllt,  dem  Laien  ein  Bild 
der  Mondbahn  zu  geben.  Darauf  folgen  zwei  Kapitel  über  die  Zeitrechnung 
und  die  Achsendrehung  der  Erde,  und  dann  der  Grundstein  unserer  astro- 
nomischen Anschauung,  das  copernikanische  System.  Der  Weg  ist  weit,  den 
der  Leser  zurücklegen  mufs,  bis  er  an  diese  Grundlage  aller  astronomischen 
Ansrhauung  kommt,  aber  er  ist  gut  geebnet,  und  wer  ihn  aufmerksam  durch- 
wandert, hat  dafür  auch  eine  lebhafte  Anschauung  und  Verständnis  für  die  Richtig- 
keit der  copernikanischen  gegenüber  der  ptolomäischen  Anschauung.  Auch  diese 


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288 


führt  der  Verfasser  seinen  Lesern  so  eingehend  vor  Augen,  wie  es  diesem  grofsen 
Versuch  der  Alten,  sich  die  Hiramelserscheinungen  zu  erklären,  angemessen  ist 

Die  folgenden  Kapitel  schildern  als  optische  Beweise  für  die  Richtigkeit 
des  copernikanischen  Systems  die  Aberration  des  Lichtes  und  die  Parallaxe 
der  Sterne;  dann  das  Kepplersche  und  Newtonsche  Oesetz,  die  durch  elemen- 
tare Rechnung  miteinander  in  Zusammenhang  gebracht  werden  ;  ferner  die 
Präcession  und  Nutation,  Konstellationen,  Bedeckungen  und  Finsternisse.  - 

Die  zweite  Hälfte  des  Werkes  ist  der  Beschreibung  der  Sonne,  der 
Planeten,  Kometen,  Meteoriten  und  Fixsterne  gewidmet.  Dem  von  der  Sonne 
handelnden  Abschnitt  ist  ein  Excurs  über  die  Spektralanalyse  eingefügt,  deren 
vielfache  Verwendung  in  der  Astronomie  der  Leser  an  mehreren  Stellen 
kennen  lernt  Treffliche  Abbildungen  im  Text  (nur  dem  Zodiakallicht  Fig.  111 
und  112  ist  eine  minder  gute  Darstellung  zu  teil  geworden)  und  eine  grofse 
Zahl  von  prächtigen  Voll-  und  Doppelbildern,  die  z.  T.  anderen  Werken  ent- 
nommen, zumeist  aber  Originale  sind,  veranschaulichen  den  Text. 

Das  37.  Kapitel:  , Werden  und  Vergehen  im  All.  Die  Nebularhypothese' 
beschneiet  gewissermafsen  diesen  2.  Teil  des  Werkes.  Den  Schlüte  des  Ganzen 
bilden  zwei  Kapitel  über  astronomische  Instrumente  und  Einrichtung  von 
Sternwarten  und  über  geschichtliche  Bemerkungen.  Beigefügt  ist  endlich  noch 
eine  Zusammenstellung  der  wichtigsten  Himmelserschoinungen  vom  1.  April  1898 
bis  31.  Dezomber  1900. 

Überflüssig  möchte  es  erscheinen,  dem  Werk  unter  denen,  die  sich  für 
Astronomie  interessieren,  weite  Verbreitung  zu  wünschen.  Es  ist  so  sorgfältig 
gearbeitet,  didaktisch  so  vorzüglich  aufgebaut  und  endlich  so  gut  ausgestattet, 
dafs  es  des  Erfolges  sicher  sein  kann.  Schm. 


Verlag:  Hermann  PiMel  Im  Berlin.  —  Druck:  Wilhelm  Omu'i  Buchdrucker«!  in  Berlin - 8ch6nebert. 
Für  die  Bedactioa  Termntwortlieta :  Dr.  P.  Schwahn  in  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  aue  dem  Inhalt  diener  Zeitechrift  unteriigU 
Übernetiangureeht  eorbehalten. 


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4 

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Die  Lehre  von  der  Bewegung  der  Erde 
im  griechischen  Altertum. 

Von  Professor  Wilhelm  Foerster  in  Berlin 

ir  verdanken  dem  warmen  Freunde  der  Urania,  Herrn  Prof. 

Schiaparelli  in  Mailand,  neuerdings  einen  höchst  bedeut- 
samen Beitrag  zu  der  Entwickelungsgeschichte  der  Lehre  von 
der  Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne.  Schiaparelli  hatte  bereits 
früher  in  seinen  höchst  wertvollen  Darlegungen  über  die  Vorläufer 
des  Kopernikus  und  über  die  Sphärentheorie  des  Eudoxus  unsere 
Kenntnis  der  Ergebnisse  griechischen  Denkens  auf  dem  Gebiete  der 
Kosmologie  wesentlich  gefördert,  und  er  hat  uns  jetzt  an  der  Hand 
von  neueren  philologisch-historischen  Forschungen  über  die  griechi- 
schen Kosmologen  wiederum  ganz  neue  Einblicke  in  das  Werden  der 
Welterkenntnis  eröffnet. 

Wir  wollen  versuchen,  ohne  näheres  Eingehen  in  die  mathe- 
matischen Einzelheiten  dieser  merkwürdigen  Entwicklung  hier  in 
aller  Kürze  diejenige  Auffassung  über  die  Leistungen  des  griechischen 
Altertums  auf  diesem  Gebiete  darzulegen,  zu  welcher  uns  der  gegen- 
wärtige Stand  der  bezüglichen  Forschung  berechtigt,  und  zwar  wollen 
wir  es  uns  zur  besonderen  Aufgabe  stellen,  zugleich  die  völlig  un- 
historische Auffassung,  welche  hinsichtlich  des  Gegensatzes  zwischen 
Ptolemaeus  und  Kopernikus  noch  immer  verbreitet  ist,  zu  be- 
kämpfen. 

Für  die  Annahme  einer  Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne  gab 
der  unmittelbare  Augenschein  den  Menschen  keinerlei  Anhaltspunkte. 
Überhaupt  waren  rein  irdische  Mafsbestimmungen,  wie  sie  bei  ganz 
folgerichtigem  Denken  sehr  wohl  zur  Entstehung  der  Lehre  von  der 
Kugelgestalt  und  von  der  Drehung  der  Erde  führen   konnten,  zum 

Himmel  und  Erde.   1889.  XI.  7.  19 


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 290 

Nachweise  jener  Bewegung  der  Erde  nicht  vorhanden.  Auch 
hier  war  es  aber  die  griechische  Philosophie,  welche  mit  ihrer  unver- 
gleichlichen Hellsichtigkeit  schon  sehr  früh  die  Wirklichkeit  hinter 
dem  Schein  der  unmittelbaren  Wahrnehmung  und  im  Gegensatze  zu 
den  Einbildungen  des  gewöhnlichen  unentwickelten  Denkens  ahnte. 
Auch  hier  kamen  aber  dieser  kühnen  Weltweisheit  die  soliden  Zäh- 
lungs-  und  Messungsergebnisse  von  vielen  Jahrtausenden  vorangegan- 
gener astronomischer  Arbeit  in  Ostasien  und  Babylon  zu  gute. 

Um  die  Zeit,  in  welcher  die  Griechen  von  Babylon  ausgehende 
Überlieferungen  wissenschaftlicher  Art  empfingen,  konnte  man  dort 
aus  Jahrtausende  umfassenden  Beobachtungen  der  Mondfinsternisse 
schon  wissen,  dafs  die  mittlere  Entfernung  des  Mondes  von  der  Erde 
ungefähr  das  30fache  des  Durchmessers  der  Erdkugel  beträgt  (ein 
Bruchstück  eines  Verzeichnisses  solcher  babylonischen  Beobachtungen 
von  Mondfinsternissen  ist  uns  völlig  urkundlich  durch  Ptolemaeus 
überliefert  worden).  Ein  sehr  einfaches,  häufig  in  alten  Zeiten  ange- 
wandtes Verfahren  konnte  sodann  aus  dem  Abstände  vom  Auge,  in 
welchem  man  eine  kreisförmige  Scheibe  von  bestimmtem  Durchmesser 
halten  mufs,  um  damit  den  Vollmond  genau  zuzudecken,  sehr  leicht 
das  Ergebnis  ableiten,  dafs  die  mittlere  Entfernung  des  Mondes  von 
uns  nahezu  das  HOfache  seines  Durchmesseis  betrage.  Hiernach 

ergab  sich  der  Durchmesser  der  Erde  1       also  etwa  das  3,7  fache 

von  demjenigen  des  Mondes.  Aber  aus  den  Mondfinsternissen  konnte 
man  auch  ableiten,  dafs  die  Sonne  viel,  viol  weiter  von  uns  entfernt 
sei  als  der  Mond.  Da  nun  die  Sonne  uns  nahezu  ebenso  grofs  er- 
scheint als  der  Mond,  mutete  die  Sonne  in  Wirklichkeit  viel,  viel 
gröfser  sein  als  der  Mond,  also  jedenfalls  erheblich  gröfser  als  die  Erde. 

Eine  mehr  oder  minder  deutliche  Kunde  von  diesem  Gröfsen- 
verhältnis  war  offenbar  in  jener  Zeit  schon  uuter  den  Wissenden  ver- 
breitet. Aristarch  von  Samos  glaubte  späterhin  (um  260  v.Chr.) 
zu  erweisen,  dafs  die  Sonne  19 mal  weiter  entfernt  sei  als  der  Mond. 
Hiernach  hätte  man  schon  damals  annehmen  können,  dafs  die  Sonne 

19 

einen  Durchmesser  habe,  welcher  mehr  als      ,  also  mehr  als  5  mal 

o,7 

so  grofs  sei  als  der  Durchmesser  der  Erde.  Aristarch  selber  hat 
hierfür  nicht  diese  Zahl,  alier  einen  Verhältniswert  von  nahezu  der- 
selben Gröfsenordnung  abgeleitet. 

Noch  mehr  als  durch  den  Gedanken,  dafs  die  Bewegung  eines 
grÖfseren  Körpers  um  einen  kleineren  unwahrscheinlich  sei,  wurden  in- 


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291 


dessen  die  grofsen  Denker  der  py  thagoraeisch  en  Schule  von  einer 
anderen  Ideenfolge  bewegt,  als  sie  die  Meinung  zuerst  farsten  und  ver- 
kündeten, dafs  die  Erde  nicht  im  Mittelpunkte  der  Welt  und  daher  auch 
nicht  unbewegt  sein  könne.  In  den  himmlisohen  Gestaltungs-  und  Be- 
wegungs-Ersoheinungen  glaubten  sie  die  erhabene  Harmonie  und  Stetig- 
keit, die  gröfsere  Einfachheit  und  Gesetzraäfsigkeit,  die  vollere  Verwirk- 
lichung idealer  Formen  und  Forderungen  in  Raum  und  Zeit  zu  erkennen, 
von  welcher  das  irdische  Lehen  und  zumal  das  Menschenleben  noch 
so  weit  entfernt  blieb.  Es  war  insbesondere  auch  die  hohe  Vollendung 
des  natürlichen  Zeitmafses  in  dem  scheinbaren  täglichen  Umschwünge 
des  Sternenhimmels,  welche  als  etwas  Göttliches  schon  von  den  Astro- 
nomen der  Urvölker  erfafst  worden  war,  und  welche  jetzt  den  Be- 
wegungen der  Hiramelswelt  eine  ergreifende  Verwandtschaft  mit  den- 
jenigen vom  Menschen  hervorgerufenen  Bewegungen  verlieh,  aus 
deren  musischen  Tonwirkungen  die  Seele  auf  Erden  ideale  Stimmungen 
schöpfte. 

Aus  jenen  Ideenfolgen,  aus  denen  auch  die  Vision  von  der  Har- 
monie der  Sphären  hervorging,  entwickelte  sich  immer  deutlicher  die 
Lehre,  dafs  die  Erde  einer  centralen  Stellung  in  der  Welt  nicht 
würdig  sei,  und  dafs  sie  daher  ebenso,  wie  die  anderen  Weltkörper, 
die  sich  scheinbar  um  die  Erde  bewegten,  in  Wirklichkeit  um  einen 
idealen  Mittelpunkt  kreisen  müsse. 

Dafs  die  Sonne,  die  Leuchte  der  Welt,  selber  dieser  ideale  Mittel- 
punkt sein  könne,  und  dafs  alsdann  die  Bewegung  der  Erde  um  die 
Sonne  die  scheinbare  jährliche  Ortsveränderung  der  Sonne  am  Him- 
melsgewölbe und  unter  den  Sternbildern  erklären  könne,  ist  in  dieser 
Phase  der  griechischen  Naturphilosophie  allerdings  noch  nicht  klar 
ausgesprochen  worden  und  hat  auch  in  der  Gipfelung,  welohe  diese 
Pythagoreische  Kosmologie  in  Piatons  Gedanken  und  Lehren  er- 
reichte, höchstens  als  eine  Art  von  Geheimlebre  oder  mystischer 
Ahnung  gegolten. 

Dagegen  haben  die  kühnen  Seherblicke,  welche  die  harmo- 
uistische  Spekulation  in  die  Welträume  warf,  zweifellos  auch  das 
astronomisch-mathematische  Denken  jener  merkwürdigen  Zeit  beflügelt 
und  befruchtet,  so  sehr  die  Vertreter  der  strengen  Methode  und 
die  Astronomen  von  Fach  sich  mit  Recht  dagegen  sträubten,  jene 
Lehren  schlechtweg  als  astronomische  Theorioen  gelten  zu  lassen. 

Aus  der  ägyptischen  Überlieferung  war  inzwischen  der  Gedanke 
nach  Griechenland  gekommen,  dafs  die  beiden  beweglichen  Gestirne, 
welche  bald  als  Abendsterne  östlich,  bald  als  Morgensterne  westlich 

Ii»« 


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292 


von  der  Sonne  standen,  und  deren  jeder  dabei  eine  bestimmte  Grenze 
des  Abstandes  von  der  Sonne  nicht  überschritt,  nämlich  Merkur  und 
Venus,  sich  in  Wirklichkeit  um  die  Sonne  bewegten  und  zugleich  von 
der  Sonne  bei  deren  jährlicher  Ortsveränderung  in  dem  gegen  den 
Äquator  des  Himmels  um  die  sogenannte  Schiefe  geneigten  gröfeten 
Kreise,  der  Ekliptik,  um  den  Mittelpunkt  der  Welt  mit  herumgetragen 
würden.  Hieraus  waren  die  Anfiinge  der  Lehre  von  der  Darstellung 
zusammengesetzter  periodischer  Bewegungen  am  Himmel  durch  so- 
genannte epicyklische  Bewegungsformen  entstanden,  nämlich  die  An- 
nahme, dafe  der  Mittelpunkt  einer  kreisförmigen  Bahn,  in  welcher 
sich  ein  Gestirn  in  gleichförmiger  Drehung  bewege,  auch  seinerseits 
wieder  in  einer  Kreisbahn  mit  ähnlicher  gleichförmiger  Drehung  um 
einen  anderen  Mittelpunkt  bewegt  sein  könne  u.  s.  w. 

Bei  näherem  Zusehen  hatten  auch  diejenigen  Wandelsterne, 
welche  sich  am  Himmel  beliebig  weit  von  der  Sonne  entfernen,  der- 
selben sogar  am  Himmel  gegenüberstehen  können,  sodafs  sie  um 
Mitternacht  durch  den  Meridian  gingen,  nämlich  die  Planeten  Mars, 
Jupiter  und  Saturn,  besonders  deutlich  der  erstere,  ganz  ähnliche  Be- 
wegungen erkennen  lassen,  wie  Merkur  und  Venus  am  Himmel  aus- 
führten. Diese  Ähnlichkeit  trat  ganz  unverkennbar  hervor,  wenn 
man  sich  die  Beziehungen  zur  Sonne  in  den  Stellungen  dieser 
letzteren  beiden  Planeten  wegdachte  und  von  der  Besonderheit  absah, 
dals  diese  beiden  der  Sonne  näheren  Planeten  in  ihrer  gröfsten  Nähe  zur 
Erde,  d.  h.,  wenn  sie  bei  ihrer  Bewegung  um  die  Sonne  zwischen 
Erde  und  Sonne  zu  stehen  kommen,  in  der  stärkeren  diffusen  Erleuch- 
tung der  der  Sonne  näheren  Himmelsflächen  verschwinden.  Bei  Mars 
konnte  man  auch  mit  ganz  kunstlosen  Beobachtungen  sehr  deutlich 
erkennen,  dafs,  wenn  er  der  Sonne  gorade  gegenüberstand,  seine 
Helligkeit  am  gräteten  war,  während  er  einige  Monate  vor  und  nach 
dieser  Zeit,  auch  ohne  dafs  er  sich  noch  in  der  Morgendämmerung 
oder  schon  in  der  Abenddämmerung  befand,  sehr  viel  licht- 
schwächer  war. 

Alle  diese  Wahrnehmungen  deuteten  darauf  hin,  dafs  der  Planet 
Mars  und  auch  in  ähnlicher  Weise,  nur  weniger  deutlich,  Jupiter  und 
Saturn  bei  ihrer  im  allgemeinen  in  derselben  Richtung  wie  die  jähr- 
liche Sonnenbewegung  von  Westen  nach  Osten  fortrückenden  Wande- 
rung am  Himmel  noch  Bewegungen  um  den  in  derselben  Weise  am 
Himmel  wandernden  Mittelpunkt  eines  Kreises  ausführten,  ganz  ähnlich 
wie  Merkur  und  Venus  um  die  Sonne. 

Für  die  Astronomen  von  Fach  waren  diese  Verallgemeinerungen 


293 


allerdings  noch  wenig  annehmbar,  um  so  weniger,  als  bei  genaue- 
rem Zusehen  die  scheinbare  Bewegung  des  Merkur  um  die  Sonne 
von  einer  gleichförmigen  Kreisbewegung  um  die  Sonne  als  Mittel* 
punkt  sehr  merklioh  abwich.  Zu  verschiedenen  Zeiten  waren  nämlich 
die  Grenzwerte  der  Abstände,  um  welche  Merkur  sioh  von  dem 
Mittelpunkte  der  Sonne  entfernte  (und  zwar  infolge  der  starken  Ex- 
centricität  der  von  ihm  um  die  Sonne  beschriebenen  Ellipse),  so  be- 
trächtlich verschieden,  dafs  die  Astronomen  zur  Erklärung  der 
Merkurbewegungen  mit  der  altägyptischen  Hypothese  unmittelbar 
nicht  viel  anzufangen  wüteten,  ja  sogar  späterhin  gezwungen  waren, 
zur  vollständigeren  Erklärung  und  Vorausberechnung  der  Merkur- 
bewegung in  aller  Form  dem  Mittelpunkte  seiner  Bahn  eine  veränder- 
liche Lage  gegen  den  Sonnen-Mittelpunkt  zu  geben. 

Ungefähr  in  dieser  Phase  der  Entwickelung  entstand  die  Sphären- 
theorie eines  Zeitgenossen  Piatons,  des  Eudoxus  (um  350  v.Chr.), 
in  welcher  mit  groteer  mathematischer  Findigkeit  und  Feinheit  der 
letzte  und  am  vollkommensten  durchgeführte  Versuch  gomacht  wurde, 
das  ganze  Weltbild  und  die  Erklärung  aller  Himmelsbewegungen, 
unter  Ablehnung  aller  naturphilosophischen  Verwegenheiten,  dem  un- 
mittelbaren Augenschein  so  nahe  wie  möglioh  anzuschliefsen,  nämlich 
auf  die  centrale  und  ruhende  Stellung  der  Erde  und  auf  streng  kon- 
zentrische Beziehungen  aller  Bahnen  zu  diesem  Mittelpunkte  zu  be- 
gründen. Dies  geschah  daduroh,  dafs  dem  Monde,  der  Sonne  und 
jedem  der  fünf  Wandelsterne  je  ein  System  von  mehreren  durch- 
sichtigen Kugelhüllen  zugeteilt  wurde,  deren  jede  sich  mit  einer  be- 
stimmten Geschwindigkeit  um  den  geraeinsamen  Mittelpunkt  Erde  und 
um  zwei  Pole  drehte,  während  innerhalb  jedes  dieser  einzelnen  Systeme 
die  Kugelhülleri  so  in  einander  gefügt  waren,  dafs  die  am  einfachsten 
bewegte  derselben  bei  ihrer  eigenen  Drehung  die  Pole  mit  sich  be- 
wegte, um  welche  die  nächstbenachbarte  Kugelhülle  sioh  zugleich  selber 
drehte  u.  s.  f.,  und  dafs  erst  die  letzte,  deren  Bewegung  am  meisten 
zusammengesetzt  war,  das  Gestirn  selber  trug. 

Es  mute  hier  darauf  verzichtet  werden,  die  Einrichtung  dieser 
sehr  zusammengesetzten  Drehungen,  welche  für  die  einzelnen  Himmels- 
körper von  Eudoxus  ersonnen  war,  mathematisch  näher  zu  beschrei- 
ben. Eine  höchst  lichtvolle  und  umfassende  Darlegung  der  Einzel- 
heiten dieser  Theorie  und  ihrer  Leistungen  in  der  Nachbildung  der 
beobachteten  Bewegungen  ist  ein  Hauptverdienst  von  Schiaparelli. 
Es  möge  hier  die  Bemerkung  genügen,  dafs  es  Eudoxus  gelungen 
ist,  fast  alle  zu  seiner  Zeit  bekannten  Besonderheiten  aller  jener  Be- 


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294 


wegungen  mit  ziemlicher  Annäherung  zahlenmäfsig  und  sogar  mit 
einer  gewissen  Anschaulichkeit  darzustellen.  Was  diesem  Erklärungs- 
versuche aber  gänzlich  mifslang,  war  die  Deutung  der  verschiedenen 
Helligkeiten,  in  welchen  die  Gestirne  in  bestimmten  wiederkehrenden 
Phasen  ihrer  Bewegungen  am  Himmelsgewölbe  und  ihrer  Stellungen 
zur  Sonne  erglänzten.  Es  lag  so  nahe,  diese  Schwankungen  der 
Helligkeit  nicht  sowohl  mit  den  Beleuchtungsphasen,  wie  beim  Monde, 
(die  aber  nur  bei  Merkur  und  Venus  erheblich  waren),  sondern  viel- 
mehr mit  Schwankungen  der  Entfernungen  der  betreffenden  Gestirne 
von  der  Erde  in  Verbindung  zu  setzen,  und  hierfür  versagte  die 
Sphärentheorie  des  Eudoxus  ihre  Hilfe  gänzlich. 

Innerhalb  des  Jahrhunderts  nach  der  Aufstellung  dieser  Theorie 
machte  nun  aber  die  aus  der  Pythagoräischen  Auffassung  hervorgegan- 
gene kühnero  Kritik  des  unmittelbaren  Augenscheins  und  die  Anwen- 
dung des  epicyklischen  Prinzips  grofse  Fortschritte,  wie  uns  jetzt 
zweifellos  durch  Sohiaparelli  dargelegt  ist.  Heraklides  von 
Pont us  schuf  eine  Theorie,  welche  die  Sonne  zum  Mittelpunkte  der 
Bewegungen  nicht  blofs  von  Merkur  und  Venus,  sondern  auch  von 
Mars,  Jupiter  und  Saturn  machte,  ganz  ähnlich,  wie  es  später  un- 
mittelbar nach  Kopernikus  noch  durch  Tj'dio  Brahe  geschah. 
Nur  für  die  Sonne  und  den  Mond  wurde  die  Bewegung  um  die  Erde 
noch  beibehalten,  aber  die  Bewegungen  der  übrigen  Wandelsterne 
wurden  in  ihren  grofsen  Zügen  fast  vollständig  dadurch  erklärt,  dafs 
ihr  Mittelpunkt,  die  Sonne,  alljährlich  ihre  Bahnen  um  die  Erde 
herumtrage. 

Von  dieser  Annahme  war  nur  noch  ein  Schritt,  allerdings  ein 
kühner  und  grofeer  Schritt,  bis  zu  der  Annahme,  dafs  die  Sonne  der 
ruhende  Mittelpunkt  der  Planetenbewegungen  sei,  und  dafs  die 
ebenfalls  um  diesen  Mittelpunkt  erfolgende  Bewegung  der  Erde  alle 
dieselben  Erscheinungen  vollständig  bedinge,  welche  duroh  die  jähr- 
liche Mitbewegung  der  Bahnen  jenor  Planeten  mit  der  Bewegung  der 
Sonne  um  die  Erde  hervorgebracht  werden  sollten.  Und  dieser  letzte 
Schritt  wurde  sehr  bald  nach  Heraklides  von  Pontus  durch  Ari- 
starch  von  Samos  in  Athen  wirklich  gethan. 

Wie  vollständig  sich  dieser  freie  Denker  trotz  aller  physikalischen 
Schwierigkeiten,  welche  die  mathematischen  Forscher  damals  noch  in 
dieser  Bewegung  fanden,  die  Wirklichkeit  dieses  Vorganges  vor 
Augen  gestellt  hat,  lafst  uns  eine  ganz  authentische  Stelle  in  einem 
mehrere  Jahrzehnte  danach  geschriebenen  Buche  des  Archimedes 
erkennen.    Dieser  grofso  Mathematiker,  welcher  aber  seinerseits  dem 


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295 


kühnen  Fluge  des  Aristarch  offenbar  nicht  folgte,  giebt  uns  hier- 
über eine  Bemerkung  von  äufserster  mathematischer  Trockenheit  und 
Kürze,  deren  Sinn  aber  zweifellos  der  folgende  ist:  Gegen  die  An- 
nahme des  Aristarch,  dafs  die  Erde  sich  alljährlich  um  die  Sonne  be- 
wege, habe  man  eingewendet,  dafs  alsdann  diejenigen  Sternbilder, 
denen  die  Erde  auf  dieser  Wanderung  sich  nähere,  und  ebenso  die- 
jenigen, von  denen  sie  sich  entferne,  ganz  ähnliche  Erscheinungen 
zeigen  müfsten,  wie  man  sie  bei  den  Bewegungen  auf  der  Erde  er- 
kenne. Diejenigen  Sterne,  denen  man  bei  der  Wanderung  der  Erde 
auf  jenem  grofsen  Umkreise  sich  nähere,  raüfsten  auseinander  rücken, 
diejenigen,  von  denen  man  sich  dabei  entferne,  müfsten  näher  zu- 
sammen zu  rücken  scheinen.  Aristarch  aber  habe  diesen  Einwand 
einfach  damit  abgewiesen,  es  sei  sehr  wohl  denkbar,  dafs  die  Sterne 
von  der  Erde  und  Sonne  soweit  entfernt  seien,  dafs  die  ganze  jähr- 
liche Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne  von  ihnen  aus  nur  in  sehr 
kleiner  Winkelgröfse  erblickt  werde,  somit  auch  keinerlei  merkliche 
perspektivische  Veränderungen  ihrer  Stellungen,  von  der  bewegten 
Erde  aus  gesehen,  hervorbringen  könne. 

Hiermit  sind  wir  also  schon  ganz  und  gar  bei  der  Kopernika- 
nischen  Weltauffassung  und  bei  denjenigen  jetzt  geltenden  Annahmen 
über  die  Sternentfernungen  angelangt,  welche  im  Laufe  unseres  Jahr- 
hunderts durch  eine  grofse  Zahl  verfeinerter  Messungen  deutlich  er- 
wiesen worden  sind. 

Die  unmittelbaren  Nachfolger  des  Aristarch,  nämlich  die  astro- 
nomischen und  mathematischen  Fachmänner,  welche  hauptsächlich  an 
der  Sternwarte  des  Museums  zu  Alexandria  in  den  nächsten  400  Jahren 
die  Entwickelung  der  astronomischen  Bewegungstheorien  weiter  führ- 
ten, unter  ihnen  die  genialen  Männer  Hipparch  (140  v.  Chr.)  und 
Ptoleraäus  (140  n.Chr.),  verhielten  sich  gänzlich  ablehnend  gegen 
die  oben  dargelegte  pvthagoräisch- platonische  Naturphilosophie  und 
gegen  die  Lehre  des  Heraklides  und  des  Aristarch.  Sie  folgten 
den  strengeren  methodischen  Gesichtspunkten  des  Aristoteles,  wel- 
cher die  pythagoräischen  naturphilosophischen  Hypothesen 
für  mindestens  verfrüht  erachtet  hatte.  Sie  hatten  insofern  recht,  als 
die  solide  Erforschung  der  Himmelserscheinungen  sich  nicht  mit  sol- 
chen Theorien  begnügen  durfte,  welche  damals  nur  einig'e  grofse 
Züge  der  Erscheinungen  erklärten,  aber  zahlreiche  kleinere  und  doch 
eben  so  verbürgte  und  ernst  zu  nehmende  Besonderheiten  der  beob- 
achteten Bewegungen  durch  ihre  Annahmen  nicht  vollständig  und  er- 
schöpfend darzustellen  vermochten. 


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296 

Diese  treue  Arbeit  der  mathematischen  Darstellung  aller  vorhan- 
denen sorgfältigen  Messungsergebnisse  führte  in  der  That  zunächst  zu 
sehr  berechtigten  Zweifeln  an  der  Realität  derjenigen  Welterklärungen, 
welche  durch  die  Bewegung  der  Erde  alle  Schwierigkeiten  des  Ver- 
ständnisses, sowie  der  Nachbildung  und  Vorausbestimmung  der  Be- 
wegungs- Erscheinungen  am  Himmel  beseitigt  zu  haben  glaubten. 
Insbesondere  führte  Ptolemäus  durch  die  gründliche  mathematische 
und  rechnerische  Behandlung  aller  ihm  bekannt  gewordenen,  nicht 
blofs  der  in  den  letzten  Jahrhunderten  in  Alexandria  gesammelten, 
sondern  auch  in  den  vorhergegangenen  Jahrhunderten,  hauptsächlich 
in  Babylon,  angestellten  Beobachtungen  der  Bewegungen  am  Himmel 
mit  grofser  Sorgfalt  den  Nachweis,  dals  die  Annahme  einer  so  zu 
sagen  perspektivischen  Wirkung,  welche  durch  die  Bewegung  der 
Erde  um  die  Sonne  in  dem  Anschein  aller  anderen  Planeten-Bewe- 
gungen hervorgebracht  werden  könnte  und  die  einfachste  Erklärung 
gewisser  gemeinsamer  Besonderheiten  derselben  darbiete,  in  Wirklich- 
keit mit  zahlreichen  anderen  Besonderheiten  der  Planeten-Bewegungen 
in  sehr  erhebliche  Differenzen  gerate,  welche  seine  Gewissenhaftigkeit 
nicht  zu  unterdrücken  wagte. 

Ptolemäus  lehnte  daher  die  Annahme  der  Ruhe  der  Sonne 
und  der  Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne,  sowie  auch  der  Drehung 
der  Erde  vollständig  ab. 

Wenn  man  näher  in  die  von  Hipparch  und  Ptolemäus  auf 
der  Grundannahnie  einer  ruhenden  und  centralen  Stellung  der  Erdo 
geschaffene  Bewegungstheorie  der  übrigen  Weltkörper  eingeht,  so 
sieht  man  allerdings  deutlich,  dals  auch  diese  beiden  grofsen  Forscher 
durch  den  konsequenten  Ausbau  ihrer  Nachbildungen  der  beobach- 
teten Bewegungen  selber  immer  mehr  von  der  Annahme  einer  cen- 
tralen Stellung  der  Erde  abgedrängt  wurden.  Sie  hatten  nur  beim 
Monde  diese  centrale  Stellung  der  Erde  festgehalten;  in  den  Bahnen 
der  übrigen  beweglichen  Weltkörper,  nämlich  der  Sonue  und  der 
fünf  sogenannten  Wandelsterne,  mufsten  Mittelpunkte  der  Bewegun- 
gen angenommen  werden,  welche  mit  dem  Mittelpunkte  der  Erde  nicht 
zusammenfielen,  sondern  von  diesem  um  weite  Streoken,  nämlich  um 
Hunderte  von  Erddurchmessern,  und  zwar  für  die  verschiedenen  Pla- 
neten um  verschiedene  Strecken  und  in  verschiedenen  Richtungen,  alt- 
standen. 

Von  einem  sogenannten  geocentrischen,  die  Erde  als  Mittelpunkt 
festhaltenden  System  war  also  auch  in  der  Astronomie  der  strengsten 
Fachmänner  schon  längst  nicht  mehr  die  Rede,  als  Ptolemäus  noch 


297 

immer  «He  ruhende  Stellung  der  Erde  behauptete.  Überhaupt  sieht 
man  ganz  klar,  dafs  der  Übergangsprozefs  zu  der  Lehre  von  der  Be- 
wegung der  Erde  auoh  die  astronomischen  Fachmänner  in  ihrem 
tiefsten  Denken  bereits  lebhaft  beschäftigte,  und  dafs  es  bei  diesen 
ernsten  Denkern  hauptsächlich  nur  noch  die  vorerwähnten  Schwierig- 
keiten waren,  die  in  den  feineren  Mafsbestimmungen  der  Bewegungen 
am  Himmel  sich  dem  letzten  grofsen  Schritte  entgegensetzten,  die 
nur  scheinbar  ruhende  Stellung  der  Erde  in  der  Nähe  der  festen 
Mittelpunkte  der  einzelnen  Planetenbahnen  wirklich  entschlossen  auf- 
zugeben. 

Wir  wissen  jetzt,  dafs  jene  Schwierigkeiten  zu  einem  wesent- 
lichen Teile  durch  unbewufste  systematische  Messungsfehler  bedingt 
wurden,  welche  von  jenen  Astronomen  bei  dem  unentwickelten  Cha- 
rakter ihrer  Seh-  und  Mefswerkzeuge  begangen  wurden;  aber  jeden- 
falls verfuhren  sie  im  besten  Glauben  und  mit  der  formalen  Strenge 
des  Gedankens,  welche  zu  den  tiefsten  Grundbedingungen  des  Er- 
folges wissenschaftlicher  Erkenntnisarbeit  gehört,  und  welche  ihnen 
selber  auch  zu  unvergänglichen  und  für  die  ganze  weitere  Entwicke- 
lung  unentbehrlichen  Entdeckungen  geholfen  hat  Insbesondere  hat 
das  Lebenswerk  des  Ptolomäus  die  eminente  Bedeutung  gehabt, 
dafs  alle  diejenigen  Seiten  des  Problems,  welche  für  die  positive  oder 
negative  Entscheidung  die  mafsgebendsten  waren,  nunmehr  aufs  deut- 
lichste hervortraten.  Die  nächsten  anderthalb  Jahrtausende  lieforten 
dann  hauptsächlich  durch  die  arabischen  Astronomen  und  noch  am 
Ende  des  15.  Jahrhunderts  durch  die  Beobachtungen  der  damals  in 
Nürnberg  blühenden  Sternwarten  gerade  für  diese  Seite  des  Problems 
die  entscheidenden  zahlreicheren,  genaueren  und  umfassenderen 
Messungen,  mit  denen  Kopernikus  dann  den  siegreichen  deflnitiven 
Beweis  für  die  Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne  erbringen  konnte. 

Kopernikus  und  Keppler,  welche  die  Lehre  von  dieser  Be- 
wegung und  von  den  entsprechenden  Bewegungen  der  anderen  Pla- 
neten streng  astronomisch  an  der  Hand  der  sämtlichen  vorhandenen 
Messungen  ausbildeten,  vereinigten  die  Geistesverfassung  eines 
Aristarch  mit  derjenigen  eines  Ptolemäus.  Ebensowohl  die  aus- 
gezeichneten fachmännischen  Arbeiten  des  letzteren  sowie  seines 
grofsen  Vorgängers  Hipparch,  als  die  philosophische  Freiheit  und 
Kühnheit  des  Denkens  der  griechischen  Harmoniker  waren  die  Quellen, 
aus  denen  der  gewaltige  Strom  der  gegenwärtigen  astronomischen  Er- 
kenntnisarbeit entsprang.  Es  ist  danach  eine  völlig  irrtümliche  Auf- 
fassung, auch  innerhalb  der  Wissenschaft  die  kopernikanische  Epoche 


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2»8 

als  eine  Art  von  Umsturz  zu  betrachten.  Vielmehr  besteht  auch  in 
diesem  Übergang  bei  den  leitenden  Geistern  wissenschaftlichen 
Denkens  eine  edle  Stetigkeit  und  eine  treue  Pietät  für  die  Leistungen 
der  Vorgänger.  Nur  in  den  Einbildungen  der  grofsen  Menge  und 
in  den  Sophismen  ihrer  von  den  Interessen  des  Tages  und  der  Macht 
getrübten  Führer  erschien  die  grorse  Klärung  des  Weltbildes  als  eine 
Art  von  revolutionärer  Katastrophe.  Ganz  besonders  feindlich  stellte 
sich  zu  einer  solchen  vermeintlichen  Revolution  der  astrologische 
Aberglauben,  der  sich  schon  in  den  letzten  Jahrhunderten  griechisch- 
römischer Kultur  der  Aufgebung  der  centralen  Stellung  der  Erde 
leidenschaftlich  widersetzt  hatte,  sodann  auch  die  streng  kirchliche 
Weltanschauung,  die  eine  Zeit  lang  sich  mit  dieser  Stellung  der  Erde 
untrennbar  verbunden  wähnte,  während  in  Wirklichkeit  ihre  tieferen 
und  dauernden  Elemente  davon  völlig  unabhängig  sind  und  in  der 
Ruhe  der  Seele,  nicht  der  Erde,  wurzeln. 

Ks  war  um  die  Mitte  des  sechszehnten  Jahrhunderts,  als  es 
Kopernikus  gelungen  war,  die  damals  bekannten  Planetenbewe- 
gungen durch  eine  Art  von  excentrischer  Kreisbewegung  der  Erde 
und  der  Planeton  um  die  Sonne  zu  erklären,  und  es  gelang  alsdann 
Keppler  im  Anfange  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  unter  voller  Aus- 
nutzung dieser  Bewegung  der  Erde  in  unvergleichlich  sinnreicher 
Weise  die  Gestalt  der  besonders  stark  excentrisoh  erscheinenden  Bahn 
des  Planeten  Mars  genau  auszumesson  und  dadurch  zu  erweisen,  dafs 
dio  Planeten  sioh  in  Ellipsen  um  die  Sonne  bewegen,  die  sich  in  dem 
einen  Brennpunkte  dieser  Ellipsen  befindet.  Newton  aber  vollendete 
gegen  Ende  des  siebzehnten  Jahrhunderts  mit  der  Entdeckung  und 
Durchführung  des  Gesetzes  der  allgemeinen  Massenanziehung  die 
Grundzüge  der  mathematischen  Erklärung  der  Bewegungen  in  unserem 
Planetensystem. 

Wie  sehr  aber  selbst  in  die  Lebensarbeit  von  Keppler  noch 
die  Ergebnisse  des  Wirkens  der  griechischen  Astronomen,  insbesondere 
von  Hipparch  und  Ptolemaeus,  fördernd  und  entscheidend  ein- 
griffen, dafür  liefern  seine  eigenen  Darlegungen  in  dem  epoche- 
machenden Werk  ..Über  die  Bewegung  des  Mars*  (1600)  die  ein- 
gehendsten Nachweise. 

Seine  Entdeckung  des  sogenannten  Flächengesetzes,  nämlich  die 
Verallgemeinerung  des  Nachweises,  dafs  in  den  Bahnen  der  Planeten 
von  der  Verbindungslinie  eines  Planeten  mit  der  Sonne  (von  dem  so- 
genannten Radius  vector)  in  gleichen  Zeiten  gleiche  Flächen  be- 
schrieben werden,  hat  ihre  Entstehung  in  einem  merkwürdigen  Ver- 


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299 


haltet!,  welches  Ptolemaeus  mit  aller  Sicherheit  in  der  Bewegung 
des  Mars,  Jupiter  und  Saturn  erkannt  hatte.  Dieser  grolse  Astro- 
nom, eine  der  glänzendsten  Zierden  des  an  bedeutenden  geistigen 
Erscheinungen  so  reichen  Zeitalters  der  Antonine,  hatte  nämlich 
in  den  Ortsveränderungen  jener  Planeten  am  Himmel  zuerst  mit 
Sicherheit  eine  Bewegungsform  erkannt,  welche  bereits  das  wesent- 
liche Kennzeichen  einer  elliptischen  Bewegung  unter  der  Wirkung 
einer  Centraikraft,  nämlich  das  Flächengesetz,  näherungsweise  erfüllte. 
Diese  Form  bestand  in  einer  Kreisbewegung,  zu  deren  Mittelpunkt  zwei 
andere  Punkte  nach  Art  der  beiden  Brennpunkte  einer  Ellipse  sym- 
metrisch lagen.  In  dem  einen  dieser  Brennpunkte  erschien  die  in  der 
Kreislinie  erfolgeude  Bewegung  des  Planeten  gleichmäßig,  so  dafs 
die  Verbindungslinie  des  Planeten  mit  diesem  Brennpunkte  in  gleichen 
Zeiten  gleiche  Winkel  beschrieb,  in  dem  andern  Brennpunkte,  dem 
Orte  des  Centraikörpers,  erschien  die  Bewegung  des  Planeten  un- 
gleichmäßig, aber  derartig,  dafs,  wie  Keppler  erwies,  näherungs- 
weise das  Flächengesetz  schon  erfüllt  wurde.  Jone  Bewegungsform, 
die  übrigens  bei  Ptolemaeus  schon,  ohne  dafs  eres  merkt,  aus  den 
Venus-Beobachtungen  auch  für  die  Bahn  der  Sonne  um  die  Erde  oder 
der  Erde  um  die  Sonne  gefunden  wurde,  enthält  also  bereits  in  ähn- 
licher Weise  die  Entdeckung  der  elliptischen  Bewegung,  wie  in  der 
Knospe  die  Blüte  verborgen  ist. 

überhaupt  ist  das  grofse  astronomische  Lehrbuch  des  Ptole- 
maeus eine  wahre  Fundgrube  von  sinnreichen  Gedankenverbindungen 
fruchtbarster  Art.  Dies  gilt  auch  von  den  Elementen  der  Ma- 
schinerie, mit  denen  er  einige  der  am  Himmel  beobachteten  Ungleich- 
förmigkeiten  der  Bewegungen  der  Planeten  nachzubilden  sucht.  Dar- 
unter finden  sich  Übertragungsformen  hin-  und  hergehender  Bewe- 
gungen in  Drehungen  und  umgekehrt,  wie  sie  erst  in  den  letzten 
Jahrhunderten  in  der  Praxis  zur  Oeltung  gelangt  sind. 

Von  besonderem  Werte  sind  bei  ihm  auch  viele  Äufserungen 
von  erkenntnistheoretischer  Weisheit,  welche  keinerlei  Zweifel  übrig 
lassen,  dafs  auf  den  Höhen  der  altgriechischen  Naturwissenschaft  be- 
reits volle  Klarheit  über  das  Wosen  menschlichen  Erkennens  waltete, 
und  dafs  nicht  erst  Baco  von  Verulam  die  Grundsätze  erfolgreicher 
Naturforschung  gelehrt  hat,  er,  der  noch  ein  Jahrhundert  naoh  Ko- 
pernikus  dessen  Lehre  mit  philiströser  Kurzsichtigkeit  ablehnte. 


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5 

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Eine  Reise  ins  neue  Goldland  Alaska  im  Jahre  1898. 

Von  Walter  Wensky,  Oberleutnant  d.  L.,  in  Borlin. 


)ie  Halbinsel  Alaska,  zwischen  dem  130.  und  167.°  westlicher 
Länge  von  Greenwich  und  dem  55.  und  72.°  nördlicher  Breite 
gelegen,  ist  durch  den  141."  westlicher  Länge  in  zwei  ungleiche 
Teile  geteilt.  Derselbe  bildet  die  Grenze  zwischen  den  Vereinigten 
Staaten  und  Kanada  bis  zu  dem  nahe  der  Südküste  gelegenen  Mount 
Elias,  von  welchem  eine  mit  der  Küste  parallel  nach  Süden  laufende 
Linie  die  Grenze  bildet  Der  durch  diese  Linie  abgeschnittene  Küsten- 
strich gehört  den  Verein.  Staaten  und  schneidet  das  Kanadische  Alaska, 
das  North  West  Territory  vom  Meere  ab.  Der  den  Verein.  Staaten 
gehörige  Teil  ist  denselben  im  Jahre  1867  für  den  Preis  von  7200000  Doli, 
von  Rursland  abgetreten  worden.  Alaska  war  bis  in  die  neueste  Zeit 
wenig  gekannt,  seine  Bevölkerung  bestand  aus  wenigen  tausend  zer- 
streut lebenden  Indianern,  die  sich  von  Jagd  und  Fischfang  nährten. 
AuTser  diesen  waren  es  einige  wenige  Weifse,  dio  für  Rechnung  der 
Hudson  Bay  Company  der  Pelze  wegen  dem  Waidwerk  oblagen. 

Es  war  schon  seit  vielen  Jahren  durch  die  einheimischen  Indianer 
bekannt  gewesen,  dafs  sich  in  den  Flüssen  des  Kanadischen  North 
West  Territory  und  Alaskas  Alluvial-Gold  befände,  aber  es  waren 
immer  nur  geringe  Mengon  gefunden  worden,  deren  Ausbeute  sich 
nicht  lohnte. 

Der  erste  weifse  Mann,  der  vou  der  Südküste  über  das  Gebirge 
bis  zum  oberen  Yukon  und  diesen  hinab  bis  zum  Teslin  Hootalniqua 
River  vordrang,  war  George  Holt.  Er  unternahm  im  Jahre  1878 
eine  Heise  dorthin,  aber  die  von  ihm  erreichten  Erfolge  waren  so  ge- 
ring, dafs  er  bis  zum  Jahre  1881  keine  Nachahmer  fand.  In  diesem 
Jahre  ging  eine  Gesellschaft  von  vier  Goldsuchern  (prospectors),  deren 
Leiter  George  Langtry  war,wieder  über  den  gefürchteten  Chi  Icoot-Pafs. 
Sie  hatten  etwas  besseren  Erfolg,  ohne  dafs  derselbe  jedoch  dazu  angethan 
war,  andere  zur  Wanderung  in  dieses  unwirtliche  Land  zu  veranlassen. 


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301 

Ähnliche  kleine  Expeditionen  sind  von  Zeit  zu  Zeit  immer  wieder  mit 
mehr  oder  weniger  Erfolg  unternommen  worden,  bis  endlich  der  Pro- 
spektor Mc.  Cormack  im  Jahre  1895  im  Flufsbett  des  Bonanza  Creek 
ungeheuer  reiche  und  grofse  Ooldfunde  machte,  die  ihn  veranlafsten, 
für  sich  und  seinen  Schwager  Claims  abzustecken  und  eintragen  zu 


141*    140  186  182  «4  128 


14-»  136  132 

Reite  über  Land  nach  dem  Klondyke -Gebiet. 


lassen.  Mc.  Cormack  war  mit  einer  Indianerin  verheiratet  und  wurde 
infolge  dessen  von  den  Indianern  sehr  gut  unterrichtet.  Als  die  Nach- 
richt von  diesen  Funden  zu  den  am  unteren  Yukon  bei  Circle  City 
und  Forty  Mile  City  lebenden  Jägern  und  Goldsuchern  drang,  machten 
diese  sich  sofort  nach  dem  neuen  Eldorado  im  Klondyke-Gebiet  auf 
den  Weg,  und  in  kurzer  Zeit  war  nicht  nur  der  ganze  Bonanza  in 
Claims  abgesteckt,  sondern  auch  der  gröfste  Teil  des  Eldorado  Creek. 
Es  dauerte  nicht  lange,  so  war  an  dem  Einflufs  des  Klondyke 


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302 


in  den  Yukon  River  eine  Ansiedelung  entstanden,  die  nach  dem  um 
Alaska  verdienten  Geographen  Dawson  Dawson  City  genannt  wurde. 

An  der  Küste  wurde  die  Nachricht  von  den  strikes,  wie  die 
Amerikaner  die  reichen  Funde  nennen,  zuerst  sehr  skeptisch  aufge- 
nommen, ja  man  glaubte  sie  garnicht.  Das  Bild  änderte  sich  jedoch 
mit  einem  Schlage,  als  die  ersten  glücklichen  Prospektors  mit  den  von 
ihnen  gehobenen  Schätzen  herauskamen  und  sie  den  Ungläubigen 
zeigten. 

Der  Einwohner  nicht  nur  Alaskas,  sondern  ganz  Kanadas  und 
der  Vereinigten  Staaten  bemächtigte  sich  nunmehr  eine  auri  sacra 
fames,  ein  wahrer  Goldhunger,  den  die  Yankees  weniger  geschmack- 
voll als  drastisch  mit  Yellow  fever,  Gelbes  Fiober,  bezeichnen. 

Dampfschiffahrts-Gesellschaften  wurden  gegründet,  welche  mit 
einander  wetteiferten,  die  nunmehr  in  Scharen  herbeiströmenden  Argo- 
nauten von  den  südlicher  gelegenen  Häfon  des  Stillen  Ozeans  San 
Francisco,  Seattle,  Victoria  nach  dem  Norden  zu  befördern. 

Dafs  die  Yankees  wenig  skrupellos  und  gewissenhaft  zu  diesem 
Zweck  alte  ausrangierte  Schiffe,  die  sie  in  diesem  Falle  coffins  (Särge) 
nannten,  wieder  in  Dienst  stellten,  hat  zur  Folge  gehabt,  dafs  mehrere 
von  diesen  gleich  bei  der  ersten  Fahrt  versagten  und  mit  ihren  Passa- 
gieren elendiglich  zu  Grunde  gingen. 

Wie  die  DarapfschifT-Gesellschaften  auf  dem  Wasser,  so  haben 
die  Eisenbahnen  auf  dem  Lande  gewetteifert,  den  Verkehr  über  Land 
an  sich  zu  reifeen,  und  die  Konkurrenz  hat  es  dahin  gebracht,  dafs 
man  die  ungeheure  Strecke  von  über  4000  miles  =  7500  km,  die  der 
Schnellzug  in  ununterbrochener  Fahrt  von  6  Tagen  und  6  Nächten 
zwischen  den  Häfen  des  Atlantischen  und  Stillen  Ozeans  durchbraust, 
für  den  unglaublich  geringen  Preis  von  25  Doli,  oder  100  Mk.  zurück- 
legen konnte. 

Es  entstand  nunmehr  eine  wahre  Völkerwanderung  nach  Alaska; 
aber  nicht  nur  die  Bewohner  Amerikas  wurden  von  diesem  Goldfieber 
ergriffen,  sondern  die  Goldsucher  sind  von  allen  Teilen  der  Welt  dem 
neuen  Goldlande  zugeströmt. 

Seattle,  der  nördlichste  Hafen  an  der  Westküste  der  Vereinigten 
Staaten,  der  sich  bis  dahin  nur  mit  dem  Verfrachten  und  der  Ausfuhr 
der  Nutzhölzer  aus  dem  Staate  Washington  befafst  hatte,  erlangte  da- 
durch plötzlich  eine  Wichtigkeit  und  Bedeutung,  die  ihn  bereits  jetzt  mit 
San  Francisco  auf  eine  Stufe  stellt,  ja  es  vielleicht  sogar  schon  über- 
flügeln läfst. 

Es  giebt  zwei  Wege  und  zwei  ganz  verschiedene  Arten  des 


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Reisens,  das  Klondyke-Gebiet  zu  erreichen.  Beide  führen  über  Sau 
Francisco,  Seattle  oder  Victoria. 

Der  eine  kürzere  Weg  führt  nach  dem  Lynn  Cunal  über  Skagway 
oder  Dyea  und  den  White-  bezw.  Chilcoot-Pafs  bis  an  den  Lake 
Bennett,  von  dort  den  Yukon  River  hinunter  bis  nach  Dawson  City. 
Im  Sommer  kann  man  die  Reise  von  Bennett  bis  Dawson  Ciiy  mit 
dem  Dampfer  in  3 — 4  Tagen  zurücklegen;  im  Winter  auf  Hundeschlitten 
dürften  3 — 4  Wochen  darüber  vergehen.  Für  die  Winterreise  sind 
jetzt  auf  der  ganzen  Strecke  den  Yukon  entlang  von  der  X.  W.  M.  P. 


Goldgräber  mit  Hundeschlitten. 


(Polizei)  Blockhäuser  zur  Aufnahme  der  Wanderer  gebaut  worden,  und 
zwar  in  einer  Entfernung  von  je  3U  miles  oder  50  km  von  einander; 
also  immer  eine  Tagereise. 

Der  andere  4000  miles  =  7500  km  längere  Weg,  All  wator  routo 
genannt,  führt  von  San  Francisco,  Seattle  oder  Victoria  um  die  Halb- 
insel Unalaska  herum  nach  St.  Michael,  von  dort  den  Yukon  River 
hinauf  nach  Dawson  City. 

Dieser  letztere  Weg  ist  der  bei  weitem  bequemere.  Er  hat  aber 
den  grofsen  Nachteil,  dafs  er  erstens  viel  mehr  Zeit  in  Anspruch 
nimmt  und  zweitens  wegen  des  Eises  auf  dem  Yukon  River  und  auf 
dem  Bering- Meer  erst  Anfang  Juli  von  St.  Michael  angetreten 
werden  kann. 

Das  Buring-Meer  in  der  Nähe  der  Yukon-Mündungen,  die  ein 


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Delta  bilden,  und  der  ganze  untere  Laui  des  Yukon  sind  duroh  die 
von  demselben  mitgeführten  Sandmassen  versandet  und  für  gewöhn- 
liche Flufsdampfer  unfahrbar  gemacht 

Aus  diesem  Grunde  sind  von  den  Amerikanern  für  jenen  Zweck 
besonders  flachgehende  Flufsdampfer,  und  zwar  Hinterraddampfer 
(Sternwheelers)  gebaut  worden. 

Die  im  unteren  Yukon  befindlichen  Sandbänke  setzen  jedoch  auch 
diesen  Dampfern,  selbst  bei  hohem  Wasserstande,  fast  unüberwindliche 
Schwierigkeiten  entgegen. 

Trotzdem  diese  Boote  stets  von  einheimischen  Indianer-Lotsen 
geführt  werden,  die  mit  den  Flufsläufen  genau  vertraut  sind,  bleiben 
sie  doch  alle  ohne  Ausnahme  von  Zeit  zu  Zeit  stecken,  weil  die  Sand- 
bänke nicht  an  demselben  Platze  liegen  bleiben,  sondern  durch  den 
Strom  von  einer  Stelle  fortgerissen  an  die  andere  hingeschwemmt  wer- 
den und  ihre  Lage  dadurch  verändern. 

Selbst  die  erfahrensten  Lotsen  werden  auf  diese  Weise  oft  irre 
geführt  und  fahren  auf  Sandbänke  auf.  Es  ist  nichts  Ungewöhnliches, 
dafs  solch  ein  Dampfer  2,  ja  3  Tage  lang  auf  einer  Sandbank  sitzen 
bleibt,  und  es  erfordert  meistens  die  allergrößten  Anstrengungen,  den- 
selben wieder  flott  zu  machen. 

Ein  anderer  wunder  Punkt  der  Yukon-Dampferfahrten  ist  der 
Umstand,  dafs  zum  Heizen  keine  Kohlen  zur  Verfügung  stehen  und 
man  auf  das  Holz  der  die  Ufer  bedeckenden  Waldungen  als  Brenn- 
material angewiesen  ist. 

Da  solch  ein  grofser  Flufsdampfer  täglich  15 — 18  Klafter  oder 
36  Raummeter  Holz  zur  Feuerung  verbraucht,  und  bei  voller  Ladung 
wegen  des  geringen  Tiefganges,  den  er  nicht  überschreiten  darf,  nur 
5  Klafter  oder  10  Raummeter  Holz  aufnehmen  kann,  so  ist  es  leicht, 
sich  einen  Begriff  davon  zu  machen,  wie  langweilig  eine  solche  Fahrt 
wird,  während  welcher  mehrere  Mal  täglich  gestoppt  werden  mufs,  um 
Holz  einzunehmen. 

Aus  diesem  Grunde  haben  sich  an  beiden  Ufern  des  Yukon 
nomadisierende  Holzfäller  niedergelassen,  die  an  ihnen  geeignet  er- 
scheinenden Stellen  Bäume  fällen,  sohneiden,  in  Klaftern  aufstellen, 
und  in  ihren  Zelten  am  Ufer  die  Ankunft  eines  Dampfers  abwarten, 
mit  dessen  Kapitän  sie  während  der  Vorbeifahrt  wegen  der  Lieferung 
und  des  Preises  untorhandoln,  und  von  dem  sie  Bestellungen  für  ihn 
oder  andere  entgegennehmen. 

Trifft  der  Dampfer  zur  geeigneten  Zeit  auf  seiner  Fahrt  derartige 
Holzniederlagen  nicht  an,  so  ist  er  für  die  Beschaffung  des  nötigen 


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- 


Brennmaterials  auf  seine  eigene  Mannschaft  angewiesen.  Der  Dampfer 
legt  in  solchen  Fällen  dann  an  bewaldeten  Stellen  an;  die  Mannschaft 
begiebt  sich  an  Land  und  beginnt  nun  mit  dem  Fällen  und  Sohneiden, 
manchmal  des  Naohts  bei  elektrischem  Licht. 

Time  is  money,  und  deshalb  werden  in  solchen  Fällen  die  Passa- 
giere des  Dampfers  von  dem  Kapitän  aufgefordert  mitzuarbeiten.  Sie 
erhalten  Tür  diese  Arbeit  1,50  Doli,  oder  6,00  Mk.  die  Stunde,  und  jeder 
ist  dabei  willkommen. 

Der  erste  auf -diesem  Wasserwege,  das  heifst  über  St.  Michael, 
im  Jahre  1898  angekommene  Dampfer  Monarch  ist  erst  am  20.  Juli  in 
Dawson  City  eingetroffen,  und  früher  dürfte  aus  den  vorher  angegebenen 
Gründen  eine  Ankunft  auf  diesem  Wege  kaum  jemals  zu  erreichen 
sein.  Er  hat  die  Fahrt  von  Seattle  über  St.  Michael  nach  Dawson  City 
in  66  Tagen  zurückgelegt. 

Für  meine  Reise  nach  dem  Klondyke-Gebiet  habe  ich  den  zwar 
beschwerlichen  und  gefährlichen,  aber  auch  kürzeren  und  interessanteren 
Weg  über  das  Gebirge  und  den  Chilcoot-Pafs  und  von  Lake  Bennett 
den  Yukon  hinunter  gewählt. 

Die  Fahrt  von  Bremen  nach  New- York  und  von  dort  mit  der 
Great  Northern-Eisenbahn  nach  Seattle  bietet  im  März,  in  dem  ich  die 
Heise  machte,  wenig  Schönes  und  Interessantes. 

Seattle,  eine  echte,  westamerikanische  Stadt,  hat  es  verstanden, 
fast  den  gesamten  Durchgangsverkehr  und  Ausrüstungshandel  nach 
dem  Norden  an  sich  zu  reifsen  und  hat  dadurch  die  Eifersucht  San 
Franciscos,  Tacomas  und  vor  allen  Dingen  der  kanadischen  Häfen 
und  Handelsstädte  Vancouvers  und  Victorias  in  hohem  Mafse  erregt 

Seattle  ist  eine  neue  Stadt,  die,  ursprünglich  ganz  aus  Holz  er- 
baut und  vor  ungefähr  12  Jahren  vollständig  niedergebrannt,  wie  ein 
Phönix  aus  der  Asche,  neu  erstanden  ist.  Mit  breiten  Strafsen, 
schönen,  in  Sandstein  ausgeführten  Bauten  und  Häusern. 

Echt  westamerikanisches  Leben  und  reger  Geschäftsverkehr,  die 
es  von  Tacoraa,  der  eigentlichen  Regierungshauptstadt  des  Staates 
Washington  vorteilhaft  unterscheiden,  verleihen  der  Stadt  ein  grofs- 
städtisches  Gepräge,  wozu  nicht  wenig  ihre  grofsen  Hafenanlagen,  die 
elektrische  Beleuchtung  und  die  nach  allen  Richtungen  der  Windrose 
verkehrenden  Elektrischen-  und  Drahtseil -Strafsen bahnen  beitragen. 

Die  Kunst  wird  im  fernen  Wild-West  sehr  stiefmütterlich  be- 
handelt, und  ihre  einzigen  Tempel,  die  Theater,  sind  meistens  der  aller- 
niedrigsten  Art,  die  auch  zum  Teil  in  Kellern  sich  befinden. 

Die  Reklame  treibt  hier  die  sonderbarsten  Blüten.    So  hat  ein 

Himmel  uml  Eide    l*J».  XI.  7.  »>0 


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schlauer  Yankee,  der  eine  Fabrik  präparierter  Eier  hat,  die  für  die 
Prospektors  in  Alaska  besonders  bestimmt  waren,  seine  Konkurrenz 
daduroh  aus  dem  Felde  geschlagen,  dars  er  die  Lacher  auf  seine  Seite 
zog.  Er  hat  einen  etwa  10  Fufs  grofsen,  recht  natürlich  aussehenden 
Hahn  mit  Kamm  und  Sporen  an  einer  Kette  in  der  Stadt  umherführen 
lassen.  Der  Führer  des  Hahns  trug  ein  Reklameschild,  auf  dem  die 
Vorzüge  der  präparierton  Eier  hervorgehoben  waren,  während  der 
Hahn,  in  dem  sich  ein  zweiter  Mann  befand,  von  Zeit  zu  Zeit  laut 
krähte,  mit  den  Flügeln  schlug,  und  danach  ein  Straufsenei  legte,  das 
aber  nicht  auf  die  Erde  fiel,  sondern  an  einer  Kette  hängen  blieb  und 
dann  wieder  eingezogen  wurde.  Ganz  Seattle  sprach  während  einiger 
Tage  nur  von  diesem  Hahn,  und  das  war  der  Zweck  der  Vorführung. 

Nirgends  besser  als  in  Seattle  kann  man  das  Goldfieber  beob- 
achten. Alle  sind  davon  ergriffen,  keine  Klasse  der  Bevölkerung  ist 
davon  ausgenommen.  Advokaten  verlassen  ihre  Bureaux,  Richter 
nehmen  ihre  Demission,  Ärzte  lassen  ihre  Kranken  im  Stich,  Polizisten 
verlassen  ihre  Posten,  Matrosen  desertieren  von  ihren  Schiffen,  Berg- 
leute von  Profession,  ja  selbst  Besitzer  guter  Goldgruben  in  anderen 
Gegenden  lassen  die  Beute  für  einen  Schatten,  für  die  Aussicht  im 
Stich,  um  nach  Alaska  zu  gehen. 

Als  der  Dampfer  Portland,  dessen  Rückkehr  aus  dem  Norden 
von  einer  Zeitung,  dem  Seattle  Post  Intelligencer,  vorher  angemeldet 
war,  im  Hafen  anlegte,  war  eine  grofse  Menschenmenge  zusammen- 
gelaufen, um  die  zurückgekommenen  Goldsucher  zu  begrüfsen. 

Grenzenloses  Erstaunen  bemächtigte  sich  der  Zuschauer,  als  sie 
die  Ankömmlinge  über  die  Landungsbrücke  schreiten  sahen,  welche 
sich  buchstäblich  unter  der  Last  der  Goldsäoke  bog,  die  diese  nie- 
mandem anvertrauen  wollten.  Es  waren  Leute,  die  man  gegen  Ende 
des  vorhergehenden  Jahres  ohne  Mittel  oder  doch  wenigstens  ohne 
Vermögen  hatte  abfahren  sehen. 

Einer  hatte  20  000,  der  andere  50  000,  wieder  andere  mehr  als 
100  000  Dollars,  und  alle  waren  noch  Besitzer  goldhaltiger  Claims  im 
Klondyke  Gebiet,  welche  auszubeuten  sie  kaum  angefangen  hatten. 
Der  gesamte  Wert  des  auf  dem  Portland  mitgebrachten  Goldes  war 
mehr  als  eine  Million  Dollars. 

Denselben  Tag  noch  wurden  die  Hiindler  von  Ausrüstungsgegen- 
ständen, Lebensmitteln,  Werkzeugen  u.  s.  w.,  die  Schuster  und  andere 
mit  Aufträgen  überhäuft. 

Die  Dampfschiffahrts- Gesellschaften  rüsteten  alle,  selbst  ihre 
ältesten  Boote  für  den  Zug  nach  dem  Norden  aus.     Mehr  als  50  000 


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Worte  wurden  an  diesem  Tage  durch  die  Telegraphen-Bureaux  in 
Seattle  telegraphiert,  als  Antworten  auf  die  Anfragen,  die  aus  allen 
Teilen  der  Vereinigten  Staaten  eintrafen.  Die  Strafsen  boten  eine  selbst 
hier  ungewohnte  Belebtheit  dar.  Die  Biirgersteige  waren  versperrt 
durch  die  Säcke,  Kisten,  Sohlitten,  Deoken  und  Waffen,  Pelze  und  Felle. 

Überall  sah  man  neugebackene  Miners  oder  Goldgräber  und 
solche,  die  es  werden  wollten,  die  um  die  Preise  feilschten,  die  Ver- 
packung beaufsichtigten,  oder  Pferde,  Esel  und  Hunde  besichtigten, 
alte  erfahrene  Miners  dagegen,  die  inmitten  neugieriger  Gruppen 
erzählten  und  ihre  Abenteuer  zum  besten  gaben,  aus  ihren  Taschen 
die  schönsten  Goldklumpen  zeigten,  und  den  besten  einzuschlagenden 
Weg  erklärten,  welchen  man  vor  den  Schaufenstern  der  Papierge- 
schäfte auf  den  ausgehängten  Karten  studierte,  in  der  Freude  über 
die  Rückkehr  und  im  stolzen  Gefühl  des  Erfolges  ganz  uneingedenk 
der  Leiden  und  des  Elends,  denen  sie  auf  der  Jagd  nach  dem  Glück 
ausgesetzt  gewesen  waren. 

Seattle  ist  das  Emporium  der  Klondyke  Outfitters  oder  Ausrüster, 
und  seine  Kaufleute  und  Handelsherren  haben  bezüglich  des  Handels 
mit  Alaska  reiche  Erfahrungen  gesammelt.  Man  kann  sich  hier  für 
die  Reise  naoh  dem  Norden  in  jeder  Beziehung  besser  und  dazu  nooh 
billiger  ausrüsten,  als  irgend  wo  anders  in  den  Vereinigten  Staaten. 

Die  Abfahrt  der  fast  täglich  nach  dem  Norden  abgehenden 
Schiffe  bietet  einen  sehr  interessanten  Anblick.  Heute  geht  ein  ele- 
ganter Passasrierdampfer  ab,  morgen  ein  alter  Schooner,  der  notdürftig 
für  diesen  Zweck  in  stand  gesetzt  ist,  alle  bis  auf  den  letzten  Platz 
gefüllt  mit  Miners  und  deren  Habseligkeiten. 

Die  letzte  Nacht  vor  der  Abfahrt  wird  gewöhnlich  zwischen 
Kisten,  Kasten  und  Säcken  auf  der  Schiffsrhede  zugebracht,  um  nur 
ja  den  Anschlufs  nicht  zu  versäumen.  Auf  den  Schiffen  riohtet  sioh 
jeder  so  gut  wie  möglich  ein,  aber  trotz  sehr  hoher  Fahrpreise  ist 
von  Bequemlichkeiten  irgend  welcher  Art  nichts  vorhanden.  Klassen- 
unterschiede sind  aufgehoben,  und  es  giebt  nur  einen  Preis.  Die  In- 
haber der  ersten  Fahrscheine  nehmen  sich  die  Kajüten,  während  die 
übrigen  mit  dem  Zwischendeck  vorlieb  nehmen  müssen. 

Stundenlang  vor  der  Abreise  sammelt  sich  eine  Menge  von 
Freunden  und  Neugierigon  an,  und  ebenso  kommen  die  zukünftigen 
Miners,  denen  es  noch  nicht  gelungen  ist,  einen  Platz  auf  diesem 
Schiff  zu  erkämpfen,  und  die  auf  die  nächste  Gelegenheit  für  die  Ab- 
reise warten. 

Die,  welche  abfahren,  haben  strahlende  Gesichter,  als  wenn  die 

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Millionen,  welche  sie  ersehnen,  schon  ihr  eigen  wären.  Eine  nicht 
zu  verkennende  Unruhe  und  Nervosität  bemächtigt  sich  aller,  je  näher 
die  Stunde  der  Abfahrt  heranrückt. 

Die  jungen  Miners  führen  stolz  ihre  Goldgräberanzüge  und  breit- 
krempigen cowboy-Hüte  spazieren,  während  die  alten  Erfahrenen  die 
Sache  kühler  betrachten  und  aufs  Äufsere  nichts  zu  geben  scheinen. 

Immer  befinden  sich  einigt*  Frauen  an  Bord,  die  glücklich  dar- 
über sind,  die  Aufmerksamkeit  und  das  Interesse  der  Zuschauer  auf 
sich  zu  lenken.  Sobald  endlich  das  Pfeifensignal  zur  Abfahrt  vom 
Kapitän  gegeben  wird,  setzt  sich  der  Dampfer  unter  dem  Hurra  aller 
Anwesenden  laugsam  in  Bewegung.  Letzte  Grüfse  worden  ausge- 
tauscht, Tücher  und  Hüte  geschwenkt,  und  fort  gehts  hinaus  ins  Meer 
dem  ersehnten  Goldland  entgegen,  das  vielen  Glück,  manchem  aber 
auch  Elend  bringt 

Die  Fahrt  zwischen  den  Inseln  an  der  Westküste  Kanadas  ent- 
lang ist  wenig  abwechselungsreich.  Das  Klima  ist  milde,  und  die 
Küste,  sowie  die  Inseln  bilden  eine  Kette  schön  bewaldeter  Hügel. 

Auf  unserer  Fahrt  kommen  wir  an  Fort  Wrangel  und  Juneau 
vorüber  und  sehen  hier  die  von  den  Indianern  dem  Ahnenkultus 
geweihten  sogenannten  Totem  poles.  Dieselben  sind  50  Fufs  hoch, 
aus  Baumstämmen  geschnitzt,  und  jedes  der  darauf  übereinander  dar- 
gestellten Tiere  bedeutet  eine  Generation,  deren  Stammvater  den 
Namen  des  Tieres  (Frosch,  Adler,  Bär,  Heiher  u.  s.  w.)  getragen  hat 

Nach  .r)  Tagen,  manchmal  auch  schneller,  je  nach  der  Güte  des 
Schiffes,  kommen  wir  in  den  Lynn  Kanal,  an  dessen  Nordende  die 
beiden  amerikanischen  Hitfen  Skagway  und  Dyea  liegen,  nur  5  oder 
6  km  von  einander  entfernt  und  durch  Dampfschiffe  verbunden. 

Skagway  liegt  am  Ausläufer  des  White-Pafs,  der  nur  2900  Fufs 
hoch  ist,  während  Dyea  zum  gefürchteten  Chilcoot-Pafs  führt.  Da  ich 
bei  meiner  Ankunft  in  Skagway  erfuhr,  dafs  der  Erdboden  infolge  der 
milden  Witterung  südlich  des  Gebirges  und  durch  den  unausge- 
setzten Verkehr  Tausender  mit  Lasttieren  grundlos  und  der  White-Pafs 
unpassierbar  geworden  war,  entschloß  ich  mich,  über  den  3500  Fufs 
hohen  Chilcoot-Pafs  zu  gehen.    Hier  war  der  Schnee  noch  fest. 

Skagway  uud  Dyea  sind  die  letztun  Stationen  der  Civilisation: 
hier  fängt  die  eigentliche  Reiso  erst  an,  bei  der  jeder  auf  sich  selbst 
angewiesen  ist  Von  jetzt  au  wohnt  und  lebt  man  im  Zelt,  das  täglich 
aufgestellt  und  abgebrochen  werden  mufs.  Man  glaubt  kaum,  dafs  es 
in  einem  solchen  dünnen  Leinwandzelt  auf  dem  Schnee  so  warm  und 
wohnlich  sein  kann,  wie  es  in  Wirklichkeit  war.   Nicht  wenig  trägt 


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hierzu  allerdings  der  Ofen  bei,  auf  dem  im  Zelt  gekocht  und  ge- 
backen wird. 

Dyea-river,  der  nicht  tief  war,  roufste  durchwatet  worden.  Wir 
sehen  auf  dem  Titelbild  eine  Gesellschaft  von  Sängerinnen  nach  Uawson 
City  unterwegs,  um  das  metapborisohe  Gold  ihrer  Stimmen  gegen 
wirkliches  Gold  umzutauschen.  Für  die  eine,  die  keine  Gummistiefel 
hat,  findet  sich  ein  galanter  Yankee,  der  sie  Huckepack  hindurch 
trägt  Später  finden  wir  dieselben  wieder,  wie  sie  sich  in  ihren  Zelten 
häuslich  eingerichtet  haben. 

Um  einor  Hungersnot  vorzubeugen,  hatte  die  kanadische  Regie- 
rung vorgeschrieben,  dafs  jeder  Reisende  1000  Pfund,  also  10  Zentner 
Lebensmittel,  wie  Mehl,  Speck,  Bohnen,  Erbsen,  Reis,  getrocknete  Kar- 
toffeln, getrocknete  Früchte,  Konserven  u.  s.  w.  mit  sich  führen  mufs. 

Die  Entfernung  von  der  Küste  bis  Lake  Bennett,  dem  ersten 
See,  von  dem  an  der  Yukan  sohiffbar  ist,  beträgt  ungefähr  35  miles 
oder  63  km. 

Da  ein  Mann  aber  auf  die  Dauer  nicht  mehr  als  1  ('entner  tragen, 
was  nur  die  wenigsten  leisten,  und  er  außerdem  mit  einer  solchen 
Last  kaum  mehr  als  *20  km  täglich  fortkommen  kann,  braucht  er 
für  1  Ctr.  3,  für  10  Ctr.  30  Tage  im  günstigsten  Falle. 

Da  die  Träger  die  mit  Gepäck  zurückgelegte  Streeke  immer  wieder 
zurückgehen  mufsten,  ist  es  nicht  zu  verwundern,  wenn  einige  2—3 
Monate  dazu  gebraucht  haben,  ihr  Gepäck  über  den  Pars  zu  sohaffen. 

Die  meisten  haben  es  so  gemacht,  dafs  sie  nicht  den  ganzen 
Weg  auf  einmal  zurückgelegt,  sondern  ihr  Gepäck  nach  und  nach 
erst  einige  Meilen  und  so  fort  von  Station  zu  Station  weiter  getragen 
haben. 

Es  haben  sich  auf  diese  Weise  den  Weg  entlang  gewisserraafsen 
Etappen  gebildet,  auf  denen  dann  unternehmende  Yankees  fliegende 
Wirtshäuser  in  Zelten  eingerichtet  haben,  in  denen  man  Kaffee  oder 
Thee  und  Brot  kaufen  konnte.  Eine  Portion  kostete  gewöhnlich 
Mk.  2,  am  Hootalinqua  sogar  Mk.  3. 

Die  erste  dieser  Etappen  lag  12,5  km  von  der  Küste  entfernt 
und  hiefs  nach  der  Schlucht  (Canyon),  an  der  sie  gelegen  war,  Canyon- 
City.  Die  zweite  hiefs  Sheep  Camp  und  lag  schon  230  m  hoch,  9  km 
von  Canyon-Cily  entfernt  Die  dritte  und  höchste  Etappe  war  auf  dem 
Summit  oder  Gipfel  des  Passes,  wo  auch  die  kanadische  Regierung 
ihr  Zoll-  und  Steuerhaus  eingerichtet  hatte.  Hier  wurde  einerseits 
festgestellt,  ob  jeder  die  vorgeschriebene  Menge  Lebensmittel  besafs, 
andererseits  wurde  der  dafür  zu  entrichtende  Zoll  erhoben. 


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:*10 


Aus  Kanada  kommende  Reisende,  die  Ausweise  darüber  hatten, 
dafs  ihre  Vorräte  aus  Kanada  stammten,  brauchten  nichts  zu  entrichten, 
während  alle  anderen  Zoll  zu  bezahlen  hatten,  der  15 — 30  Prozent  des 
Wertes  betrug-,  also  ziemlich  erheblich  war.  Er  betrug-  für  einen  Mann 
im  Durchschnitt  90—100  Dollar,  etwa  400  Mk. 

Die  Einfuhr  von  Wein,  Bier  und  Spirituosen  war  im  allgemeinen 
überhaupt  verboten  und  durfte  nur  mit  besonderer  Erlaubnis  der 
Regierung  und  in  beschränktem  Mafse  stattfinden.  Der  Verkauf  von 
Spirituosen  irgend  welcher  Art  an  Eingeborene,  d.  h.  Indianer,  ist  unter 
allen  Umständon  bei  hoher  Strafe  verboten. 

Bis  Canyon-Citv,  das  ungefähr  200  Meter  hoch  gelegen  ist,  war 
warmes  Wetter  gewesen,  der  Erdboden  war  infolgedessen  weich,  und 
das  Vorwärtskommen  sehr  erschwert  Wege  irgend  welcher  Art  sind 
nioht  vorhanden,  es  geht  vielmehr  durch  Urwald  und  Gestrüpp,  über 
Stock  und  Stein,  Berg  auf,  Berg  ab,  über  Abgründe,  durch  Flufsbetten 
und  Bäche  mit  eiskaltem  Wasser. 

Es  hat  einen  eigentümlichen  Reiz,  so  den  Elementen  und  Natur- 
kräften gegenüber  auf  sich  selbst  angewiesen  zu  sein,  auf  seine  eigene 
Kraft  vertrauen  zu  müssen.  Man  mufs  gesund,  kräftig  und  aus- 
dauernd sein. 

Viele  haben  sich  zu  viel  zugemutet.  Die  Reise  stellt  Gesund- 
heit, Kraft,  Mut  und  Ausdauer  auf  eine  sehr  harte  Probe.  Auf  allen 
Etappen  von  Seattle  bis  sogar  zu  den  White-Horse-Rapids  sind  Leute 
gewesen,  die  den  Anstrengungen  und  Strapazen  schliefslich  doch  nicht 
gewachsen  waren,  oder  die  den  Mut  verloren  hatten  und  die  Flinte, 
verhältnismäßig  kurz  vor  dem  Ziel,  noch  ins  Korn  warfen. 

Sie  verkauften,  am  Wege  irgend  wo  Halt  machend,  ihre  Aus- 
rüstungen, für  die  sich  immer  Käufer  zu  guten  Preisen  fanden,  und 
traten  dann  den  Rückweg  an. 

Es  wurde  mit  einem  Eifer,  mit  einer  Ausdauer  und  mit  einer 
wahren  Leidenschaft,  die  jeder  Beschreibung  spotten,  an  dem  Hinüber- 
schaffen der  Lasten  über  den  Pafs  gearbeitet 

Schlecht  ist  es  den  armen  Tieron  ergangen,  die  als  Lastträger 
benutzt  und  rücksichtslos  ausgenutzt  wurden,  ja  ihnen  gegenüber 
haben  sich  die  Menschen  Grausamkeiten  und  himmelschreiende  Tier- 
quälereien zu  schulden  kommen  lassen,  welche  ein  schwarzes  Blatt 
in  der  Geschichte  über  die  Goldfunde  der  Amerikaner  in  Alaska 
bilden. 

Der  Weg  von  Sheep  Camp  über  den  Pafs  bis  Lake  Bennett  war 
mit  Tausenden  von  Pferde-,  Esel-  und  Hundeleiohen  bedeckt  von 


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311 


Tieren,  die  man  zu  Tode  gearbeitet  hatte,  die  unter  ihrer  Last  zu- 
sammengebrochen waren.  Als  der  Schnee  zu  schmelzen  begann,  hat 
die  Polizei  in  Bennett  an  einem  Tage  in  den  Strafsen  und  in  unmittel- 
barer Nähe  des  Ortes  250  Kadaver  zusammenschleifen  und  verbrennen 
lassen,  um  eine  Epidemie  zu  vermeiden;  den  groTsten  Teil  hatten  die 
überlebenden  Hunde  schon  aufgefressen,  die  aus  diesem  Grunde  von 
ihren  Besitzern  überhaupt  nioht  mehr  gefüttert  wurden. 

Sheep  Camp  war  eine  gröfsere  Niederlassung  mit  vielen  Zelt-  und 
Holzhäusern,  Hotels,  Kramläden  und  einigen  tausend  Zelten,  in  denen 
die  Goldgräber  ihre  letzten  Vorbereitungen  für  das  Überschreiten  des 
Passes  trafen. 


3  miles  oder  5,5  km  weiter,  am  Südabhange  des  Chilcoot-Passes, 
lagen  die  Scales,  sogenannt  nach  den  Stufen  oder  Scales,  die  in  das  Eis 
gehauen  waren. 

Hier  von  den  Scales  bis  auf  den  Suramit  oder  Gipfel  war  eine 
Drahtseilbahn  für  den  Transport  von  Gütern  gebaut,  die  aber  oft  nicht 
funktionierte.  Die  Eigentümerin  dieser  Bahn,  eine  Gesellschaft,  hat  auch 
den  Transport  von  Gütern  von  der  Küste  an,  also  von  Dyea  bis  zum 
Summit  übernommen,  jedoch  ohne  jede  Verantwortlichkeit;  für  Fehlen- 
des kam  sie  nicht  auf.  Es  mufsten  dafür  je  nach  dem  Angebot  10 
bis  40  Dollar  pro  Ctr.  bezahlt  werden,  und  zwar  vorher.  Es  kostete 
also  auf  diese  Weise  z.  B.  1  Ctr.  Mehl  unter  Umständen  die  Kleinig- 
keit von  160  Mk.  mehr. 

Zu  denselben  Preisen  wie  die  Gesellschaft  haben  auoh  weifse 


Im  Qänjemarich  über  dem  Cbilcoot-Fab. 


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312 


und  indianische  Lastträger  Gepäck  übernommen  und  befördert.  Es 
wurde  von  diesen  oder  den  Goldsuchern  selber  über  den  Pafs  ge- 
tragen, den  sie  im  (iänsemarsch,  einer  in  die  Fufstapfen  des  anderen 
tretend,  überschreiten  mußten.  Wurde  einer  müde,  und  wollte  er  sich 
ausruhen,  so  mufste  er  links  heraustreten,  blieb  dort  ein  Weilchen 
sitzen  und  trat  dann  wieder  in  die  Reihe  ein,  um  weiter  zu  steigen. 
Der  Weg  bis  zu  den  Scales  war  nur  allmählich  ansteigend  und 


1 


Letiter  and  hochiter  Abichnitt  du  Chilcoot-Pafi  mit  SO  Grad  Steigung 

ging  in  einem  kleinen  Bugen  bis  an  dieselben  heran.  Der  eigentliche 
Aufstieg  war  gewissermaßen  in  zwei  ziemlich  gleiche  Abschnitte  geteilt, 
von  denen  der  untere  der  weniger  steile  war,  und  bei  einer  Steigung 
von  vielleicht  40°  ungefähr  bis  zur  halben  Höhe  führte. 

Rechts  davon  befand  sich  der  sogenannte  Petersen-Trail,  auf  dem. 
wenn  auch  mit  Schwierigkeiten,  Tiere  emporklimmen  konnten. 

Der  zweite  und  letzte  Abschnitt  war  sehr  steil,  er  hatte  eine 
Steigung  von  60",  wie  aus  unserem  Bilde  ersichtlich  ist 

Als  ich  am  23.  April  zum  letzten  Mal  über  den  Pafs  ging,  lag 
noch  alles  im  tiefsten  Winter,  es  herrschte  ein  fürchterlicher  Schnee- 


V 


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813 


stürm,  und  tausende  von  sogenannten  Caohes,  Plätze,  an  denen  die 
Goldsucher  ihre  Habseligkeiten  aufgestapelt  hatten,  waren  verschönet 
und  wie  mit  einem  riesigen  weifsen  Tuch  überdeckt,  Sie  mufsten  mit 
vieler  Mühe  und  Gefahren  erst  aufgesucht  und  dann  ausgegraben 
werden,  viele  wurden  überhaupt  nicht  wieder  gefunden. 

Kurze  Zeit  vorher  war  zwischen  Sheep  Camp  und  den  Scales 
eine  Schneelawine  niedergegangen  und  hatte  150  Argonauten  ver- 
schüttet und  begraben,  nur  einige  wenige  sind  lebend  wieder  ans 
Tageslicht  gebracht  worden.  Lawinen,  die  die  Amerikaner  Snow- 
Slides  oder  Avalanches  nennen,  sind  hier  sehr  häufig,  an  manchen 
Tagen  nimmt  das  schaurige  donnerähnliche  Krachen  und  Getöse,  das 
sie  verursachen,  kaum  ein  Ende. 

Mit  dem  überwinden  des  Chilcoot-Passes  war  die  schwerste 
Arbeit  gethan;  ging  es  doch  nun,  in  der  Hauptsache  wenigstens,  berg- 
ab. Am  Xordabhange  des  Chilcoot-Passes,  nur  100  m  tiefer  als  der 
Summit,  liegt  Crater-Lake,  wie  schon  sein  Name  sagt,  ein  alter 
Krater.  Von  hohen  steilen  Bergwänden  ringsum  eingeschlossen,  liegt 
der  See,  mit  tiefem  Schnee  bedeckt  und  von  schweren  weifsen  un- 
durchdringlichen Schneewolken  überzogen,  in  einer  beängstigenden 
Ruhe  und  Stille  da,  die  durch  keinen  Laut  unterbrochen  wird.  Eine 
wahre  Grabesstille. 

Eine  tiefe  Schwermut  und  Melancholie  beschleicht  uns,  derer  wir 
kaum  Herr  werden  können. 

Bis  zu  dem  16  miles  oder  29  km  entfernten  Lake  Bennett  ist 
dann  der  Weg.  der  auf  Schlitten  zurückgelegt  wird,  verhältnis- 
mäfsig  leicht.  Er  geht  allmählich  bergab,  über  Long  Lake  und  Deep 
Lake.  Über  den  11  km  langen  Lake  Lindermann  lassen  wir  die 
Hunde  frei  laufen  und  fahren  mit  Segeln  über  das  Eis. 

Lake  Linderraann  ist  ein  schöner  See,  auf  beiden  Seiten  von 
hohen  dichten  Waldungen  umgeben;  er  würde  sich  vorzüglich  dazu 
eignen,  an  ihm  die  zum  Befahren  des  Vukon  nötigen  Boote  zu  bauen. 
Aber  die  Wasserscheide  zwischen  Lake  Lindermann  und  Lake  Bennett 
ist  ein  flacher  Hügel,  den  ein  schmaler  Flufslaul  mit  reifsenden  Strom- 
schnellen durchschneidet,  die  dadurch  sehr  gefährlich  sind,  dafs  sich 
in  ihnen  viele  Felsen  und  Riffe  belinden. 

Waghalsige,  die  trotz  aller  Warnungen  ihre  Boote  auf  Lake 
Lindermann  gebaut  und  versucht  haben  die  Stromschnellen  zu  durch- 
fahren, haben  dies  zum  Teil  mit  ihrem  Leben,  viele  aber  mit  dem  Ver- 
luste ihrer  Habseligkeiten  bezahlen  müssen. 

Bei  meiner  Ankunft  in  Lake  Bennett  am  1.  Mai  war  noch  alles 


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314 


in  tiefen  Schnee  gehüllt,  bald  aber  wehten  laue  Frühlingslüfte,  die 
nicht  nur  Schnee  und  Eis  in  kurzer  Zeit  schmolzen,  sondern  auch  mit 
Hilfe  der  Sonne,  wie  durch  Zauber,  eine  üppige  sohöne  Pflanzenwelt 
zum  Loben  erweckten  und  erblühen  liefsen. 

Von  Lake  Bennett  aus  ist  der  Yukon  schiffbar.  Ich  hatte  des- 
halb hier  mein  Zelt  für  einige  Wochen  aufgeschlagen,  um  meine  Boote 
zu  bauen.  Bennet  war  eine  grofse  Niederlassung  mit  Wirts-  und 
Gasthäusern,  Verkaufsläden  und  sogar  einer  Kirche,  alles  in  Zelten. 
Auch  eine  Dampfsägemühle  war  hier  errichtet,  in  der  man  Bretter  und 
Balken  zum  Bau  seiner  Boote  kaufen  konnte.  Der  Preis  der  Bretter 
war  25  cts  =  1  Mk.  Für  den  Quadratfufs,  während  solche  Bretter 
(1  Zoll  stark)  sonst  vielleicht  10  Pf.  kosten,  hier  also  das  Zehnfache. 
Es  haben  deshalb  auch  die  meisten  Goldsucher  vorgezogen,  die 
Bäume  selber  zu  fällen  und  die  Bretter  selbst  zu  schneiden.  Nach- 
dem die  Bretter  über  das  Gerippe  oder  Gestell  des  Bootes  genagelt 
waren,  gings  ans  Kalfatern;  die  Fugen  wurden  mit  geteertem  Werg 
verstopft  und  mit  Pech  vergossen,  um  sie  dicht  zu  machen. 

Die  von  der  North  West  Mounted  police  (Polizei)  ausgestellten 
Free  Miners  Certificates,  die  je  10  Doli,  kosteten,  berechtigen  zum 
Goldsuchen,  zum  Fällen  von  Bäumen  für  Bau  und  Brennzwecke,  zur 
Ausübung  der  Jagd  und  zum  Fischen. 

Bennet  sah  aus  wie  eine  ungeheure  Boot- Bauanstalt,  in  der 
Tausende  arbeiten,  und  zwar  alle  sehr  einsig.  Dio  Boote  wurden,  der 
Zahl  der  Mitreisenden  entsprechend,  grofs  oder  klein  gebaut  oder  auch 
in  Form  von  Fähren;  alle  waren  mit  Rudern  und  Segeln  versehen; 
der  Bau  wurde  immer  gewissenhaft  ausgeführt,  handelte  es  sich  doch 
ums  eigene  Leben  und  die  eigene  Sicherheit. 

Mahlzeiten  und  Lebensmittel  u.  s.  w.  waren  hier  schon  so  teuer 
wie  in  Dawson  City.  Frühstück,  Mittagbrot  und  Abendbrot  mit  Thee, 
Kaffee  oder  Kakao  kosteten  je  1,50  Doli.  =  6  Mk.,  weshalb  es  natür- 
lich dio  meisten  vorzogen,  ihre  Mahlzeiten,  wie  auf  dem  Anfang  der 
Reise,  selbst  zu  bereiten. 

Auch  2  Dampfschiffe,  die  auseinandergenommen  über  den  Pafs 
geschafft  worden  waren,  wurden  hier  zusammengestellt  und  haben 
Passagiere  für  100  Doli,  oder  425  Mk.  nach  Dawson  City  gebracht; 
bei  diesem  Preis  war  Verpflegung  nicht  eingeschlossen,  die  Passa- 
giere konnten  sich  dieselbe  auf  dem  Dampfer  selbst  bereiten  oder  zu 
den  bekannten  Preisen  kaufen. 

(Schlüte  folgt.) 


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Nicolaus  Coppernicus. 

Von  Professor  M   Curtze  in  Thoni. 
(Fortsetzung.) 


II.  Mannesjahre. 


ach  der  Beilegung  der  drohenden  Kriegsgefahr  wandte  sich  die 


Thätigkeit  Sigismunds  den  innerpolitischen  Aufgaben  zu.  Als 


™  wichtigste  erschien  die  Wiederinangriffnahme  der  Münzregulie- 
rung. Anfang  1526  erliefs  der  König  eine  Verordnung,  nach  der  die  alte 
Münzo  einer  neuen,  nur  in  einer  Münzstätte  für  ganz  Preufsen  geprägten 
zu  weichen  habe  und  mit  der  ebenfalls  zu  erneuernden  polnischen 
Münze  zweoks  allgemeiner  Geltung  in  Übereinstimmung  zu  bringen 
sei.  Der  Herzog  erbat  sich  Frist;  auf  dem  nach  Ablauf  derselben  zu- 
sammenberufenen Landtage  fehlte  jedoch  sein  Bevollmächtigter  zur 
großen  Befriedigung  der  Städte,  welche  sich  durch  den  Fortfall  ihres 
Münzrechtes  in  ihren  Privilegien  gesohädigt  fühlten.  Auch  auf  den 
späteren  Tagfahrten  befolgten  seine  mit  unzureichenden  Vollmachten  er- 
schieneneu Abgesandten  die  gleiche  Verschleppungspolitik.  Die  grofse 
Wichtigkeit  der  Materie  veranlasste  Ferber,  als  Präses  der  Stände,  von 
dem  sachkundigen  Coppernicus  eine  Neubearbeitung  seines  früheren 
Gutachtens  zu  begehren.  Um  15*26  lieferte  sie  Coppernicus,  und 
zwar  nunmehr,  da  sie  auch  zur  Benutzung  seitens  der  polnischen  Ver- 
treter bestimmt  war,  in  lateinischer  Sprache.  Wir  finden  darin  ein- 
zelne Erweiterungen.  So  begründet  der  Verfasser  den  Gebrauch  von 
Legierungen  mit  der  geringeren  Abnutzung  und  der  Erhaltung  einer 
untern  Grenze  für  die  Gröfse  auch  geringwertiger  Geldstücke.  Die 
schleichende  Wirkung  der  Geldverschleohterung  stellt  er  in  erster 
Linie  mit  unter  die  Ursachen  des  Niederganges  blühender  Reiche,  und 
exemplifiziert  dies  auf  Preufsen,  wo  jetzt  bereits  —  eine  neue  Ver- 
schlechterung gegen  die  Zeit  seiner  ersten  Denkschrift  —  ein  Pfund 
Feinsilber  30  Mk.  gelte,  statt  früher  2  ungarische  Gulden.  Inzwischen 
sei  ja  auch  das  teuere  Vaterland  von  seinem  früheren  Wohlstande 
herabgesunken  ins  tiefste  Elend.    Würde  man  dem  Verderben  nicht 


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316 

bald  Einhalt  gebieten,  so  würde  mit  dem  völligen  Verschwinden  des 
Silbers  aus  der  Münze  auch  der  gesamte  Außenhandel  aufhören.  Die 
befürchtete  Vermehrung  des  Druckes  auf  die  zinspfliohtigen  Bauern 
widerlegt  er  damit,  daß  diese  nicht  nur  ihre  Abgaben  in  besserer 
Münze  zu  leisten  hätten,  sondern  auch  ihre  Produkte  in  dieser  ver- 
werten würden.  Es  folgen  seine  Vorschläge  betreffs  Einrichtung  nur 
einer  einzigen  Münzstätte  für  jeden  der  beiden  Teile  Preufsens,  welche 
dann  an  dem  einmal  festgesetzten  Feingehalt  unverbrüchlich  festzu- 
halten habe,  und  Einziehung  des  alten  Oeldes  ohne  Scheu  vor  dem 
Verluste  des  Einzelnen.  Für  die  Regelung  laufender  Verpflichtungen 
aus  Kontrakten  über  Geldgeschäfte  müfste  allerdings,  um  Härten  zu 
vermeiden,  ein  besonderer  Modus  gefunden  werden.  Sohliefslich 
schlägt  Coppernicus  vor,  das  Wertverhältnis  Gold  zu  Silber  auf 
1  zu  12  festzusetzen. 

Auf  fast  allen  dazu  einberufenen  Landtagen  vertrat  Copper- 
nicus diese  seine  Ansicht  als  Deputierter  des  Bistums.  Nach  mancher 
Verschiebung  infolge  der  schon  erwähnten  Verschleppungspolitik 
Herzog  Albrechts  kam  endlich  am  7.  Mai  16-28  zu  Marienburg 
wenigstens  eine  teilweise  Übereinkunft  im  Sinne  des  Coppernicani- 
schcn  Gutachtens  zu  stände.  Unter  ausdrücklicher  Anerkennung  der 
slädtischen  Privilegien  wurde  die  neue  Münzstätte  unter  königlichen 
Münzmeistern  eröffnet.  Allein  das  neue  Geld  gelangte  nur  sparsam 
in  den  Verkehr,  die  alten  Stücke  kursierten  weiter,  und  die  Folge 
war  eine  heillose  Verwirrung.  Weder  mehrere  außerordentliche  Tag- 
lährten  noch  eine  ordentliche  Versammlung  vermochten  Hilfe  zu 
bringen.  Der  einzige  Beschluß  von  einiger  Bedeutung  betraf  die  Be- 
tonung der  Sonderstellung  Preußons  in  der  Umschrift  der  neuen 
Stücke.  Die  Autorität  der  Landtage  erwies  sich  also  zu  schwach, 
um  dem  Uralaufsverbot  des  minderwertigen  Geldes  Nachdruck  zu 
geben.  Ebensowenig  gelang  das  auf  dem  polnischen  Reichstage. 
Das  Mandat  König  Sigismunds  betreffs  der  Außerkurssetzung,  ob- 
gleich es  alle  mit  einander  widerstreitenden  Interessen  zu  vereinigen 
suchte,  ging  ebenfalls  wirkungslos  vorüber.  Da  entschloß  man  sich 
1630  zu  einer  Ausschufssitzun^  der  preußischen  Stände.  Auch  zu  dieser 
wurde  Coppernicus,  wie  wohl  zu  allen  vorhergehenden  Verhand- 
lungen, deputiert,  während  der  Bischof  durch  Kränklichkeit  am  Er- 
scheinen verhindert  war.  Zum  Begleiter  erhielt  er  diesmal  den  Dom- 
herrn Alexander  Sculteti  an  Stelle  des  anderweit  in  Anspruch  ge- 
nommenen, ebenfalls  in  die  Materie  eingeweihten  Domherrn  Felix 
Reich.    Die  pessimistische  Anschauung  unseres  Nicolaus,  die  er 


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317 


diesem  letzteren  schon  früher  vor  zwei  Jahren  brieflich  mitgeteilt  hatte, 
behielt  recht.  Wieder  sprengte  des  Herzogs  Festhalten  an  seinem  eige- 
nen Münzfufs  die  glücklioh  begonnene  Verständigung.  Nicht  geringere 
Schuld  daran  mifst  Coppernicus  auch  den  starken  Geldforderungen 
Sigismunds  bei,  deren  Last  neben  den  Kosten  der  Münzregulierung 
nicht  zu  erschwingen  war. 

Soviel  uns  bekannt,  bildet  dieso  Verhandlung  den  Abschlufs  der 
langjährigen  Thätigkeit  Coppernicus'  in  diesen  unfruchtbaren  Ange- 
legenheiten. Daneben  diente  er  dem  Kapitel  anderweit.  Als  Nun- 
cius  capituli  bereiste  er  die  früher  von  ihm  verwalteten  Ämter  zu 
Revisionszwecken  und  führte  die  eingezogenen  Gelder  zur  Kathedrale 
ab.  Er  vertrat,  wie  auf  den  ermländischen  Landtagen,  das  Kapitel 
auch  bei  Festsetzung  einer  neuen  Landesordnung  für  das  Bistum. 
Ja  mit  einem  so  heterogenen  Gegenstande,  wie  der  Aufstellung  einer 
Brottaxe  für  das  Kapitelgebiet,  deren  Geltung  nachher  auf  die  ganze 
Diöcese  ausgedehnt  wurde,  sehen  wir  ihn  beschäftigt.  Er  zeigt  sich 
auch  in  ihr  als  der  genaue  und  gewiegte  Mathematiker,  den  wir  in 
seinem  Hauptwerke  bewundern.'--')  Viel  wichtiger  aber  als  alles  andere 
ist  für  uns  der  offene  Brief  des  Astronomen  Coppernicus  an  seinen 
einstigen  Studiengenossen  Bernhard  Wapowski,  das  Gutachten  über 
Johannes  Werners  Präcessionstheorie. 

Im  Jahre  1522  hatte  der  Nürnberger  Geistliche  und  zugleich 
tüchtige  Mathematiker  Johannes  Werner  ein  Werk  „de  motu 
octavae  sphaerae"  erscheinen  lassen,25»  in  weichern  er  über  die  im 
Geiste  der  Trepidationstheorie  vermuteten  Unregelmäfsigkeiten  der 
Präcession  der  Äquinoctialpunkte  sich  verbreitete.  Nach  seiner  Mei- 
nung war  das  Vorrücken  derselben  von  Ptolemaios  bis  auf  Alfons 
den  Weisen  in  schnellerem  Tempo  erfolgt,  als  von  Alfons  bis  auf 
seine  Gegenwart,  während  er  für  die  400  Jahre  zwischen  Eudoxos 
und  Ptolemaios  eine  Konstanz  der  Bewegung  erweisen  wollte. 
Trotz  der  willkürlichen  Behandlung  der  zu  Grunde  liegenden  Beob- 
achtungen früherer  Forscher  fand  das  Werk  grofsen  Anklang  und 
schnelle  Verbreitung.    Auch  der  frühere  Studiengenosse  des  in  astro- 

-'-')  Veröffentlicht  von  M.  Curtze  im  1.  Hefte  der  Mitteilungen  des  Cop- 
pernicus-Vereins  zu  Thorn,  S.  47-51. 

Sie  umfafst  Blatt  45— %  des  Druckes:  „In  hoc  opere  haec  continentur. 
Libellus  Joaunia  Verneri  Nurembcrgen.  Super  vig-inti  duobus  elemenüs  co- 
nicis  .  .  .  Eiusiiem  Joannis  de  motu  octavae  Sphaerae,  Tractatus  duo.  Eiusdein. 
Suiumaria  enarratio  Theoricae  motus  octavae  Sphaerae".  Am  Ende:  rImpressura 
Nurembergae  per  Fridericum  Peypus,  Impensis  Lucae  Alantse  Civis  et  Biblio- 
polae  Vienuensis.   Anno  M.D.XX1I-. 


318 


nomischen  Kreisen  allmählich  zu  hohem  Ansehen  gelangten  Frauen- 
burger  Domherrn  war  in  den  Besitz  eines  Exemplars  gelangt  und 
wandte  sich  an  diesen,  um  ein  sachverständiges  Urteil  über  den  Wert 
der  Werner  sehen  Anschauungen  zu  erhalten.  Schon  die  lange  Reihe 
von  Coppernicus"  in  seinem  Hauptwerke  verwerteter  eigener  Beob- 
achtungen aus  den  Jahren  1523  — 1527  deutet  auf  die  jetzt  gröTsere 
Mufse  desselben  zur  Wiederaufnahme  seiner  Lieblingsforschungen. 
So  wandte  er  auch  dem  übersendeten  Werke  eingehende  Aufmerk- 
samkeit zu;  das  Resultat  war  eine,  allgemeines  Aufsehen  erregende, 
vernichtende  Kritik  seines  Inhaltes  in  der  damals  üblichen  Form 
solcher  Mitteilungen,  einem  offenen  Briefe,  eben  unserem  Wapowski- 
briefe.  Zunächst  lobt  der  Referent  Werners  Eifer  für  die  Wissen- 
schaft, wenn  er  sich  auch  auf  falschem  Wege  befände;  und  entschul- 
digt sein  Unterfangen,  Fehler  nachweisen  zu  wollen,  ohne  Besseres 
an  seine  Stelle  zu  setzen.  Als  des  ersten  zeiht  er  den  Verfasser  der 
um  11  .Jahre  irrigen  Datierung  einer  Ptolemäischen  Beobachtung,  was 
bei  Beurteilung  von  Bewegungserscheinungen  natürlioh  von  grofsem 
Einflufs  sein  müsse.  Von  diesem  Nebengebiete  wendet  er  sich  aber 
bald  zur  Widerlegung  der  gesamten  Anschauungsweise  Werners. 
Wenn,  wie  die  Trepidationstheorie  will,  die  Äquinoctialpunkte  aufser 
ihrem  Umlauf  um  den  Weltmittelpunkt  noch  Kreise  in  einer  zu  ihrer 
Verbindungslinie  senkrechten  Ebene  beschreiben,  dann  sind  Zeiten 
jahrhundertelanger  Präcessionskonstanz  mit  mittleren  Werten  ausge- 
schlossen. Vielmehr  müssen  mit  Perioden  scheinbarer  Konstanz,  aber 
mit  größtmöglich   verschiedenen    Werten    für   die  jeweiligen  Ge- 

t  3  t 

schwindigkeiten  in  den  Zeiten        und  —  wenn  uns  diese  all- 

gemeine Bezeichnung  erlaubt  ist,  und  wir  die  Uralaufszeit  t  im  Tre- 
pidationskreise  vom  aufsteigenden  Knoten  an  rechnen  —  Perioden 
von  Verlangsamungen  und  Beschleunigungen  in  den  zwischenliegenden 
Zeitteilen  regelmäßig  abwechseln. 

Ferner  wird  ein  Astronom,  dessen  benutzte  Einzelbestimmungen 
in  mit  t  oder  Vielfachen  von  t  übereinstimmenden  Zwischenräumen 
stattfinden,  natürlich  den  vollen  Eindruck  der  Gleichförmigkeit  von 
dor  Bewegung  erhalten,  während  Einzelbestinimungen  zu  den  Zeiten 

*  und  t  ganz  andere  Resultate  als  zu  den  Zeiten  *  und  f  t  be- 
<£  ob 

ziehungsweise  o  und   ^    gemachten  Beobachtungen  ergeben  werden. 

Trotz  seiner  infolge  des    Fehlens    allgemeiner  Zahlenbezeichnung 


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319 


schwer  verstandlichen  Ausdrucksweise  zeigt  Copp ernicus  bei  diesen 
Untersuchungen  schon  ein  richtiges  Verständnis  vom  Wesen  einer 
Function  und  davon,  dafs  für  eine  solche  in  der  Nähe  eines  Maximums 
oder  Minimums  die  Änderungsgeschwindigkeit  unendlich  klein  wird. 
Herbe  wendet  er  sich  gegen  Werners  Verfahren,  der  zu  Gunsten 
seiner  vorgefafsten  Meinung  den  alten  Astronomen  Beobachtungs- 
fehler von  einer  Qröfse  untergeschoben  hätte,  wie  sie  nur  bei  grober 
Unachtsamkeit  möglich  seien,  stall  infolge  dieser  Abweichungen  seine 
Theorie  nochmals  auf  ihre  Richtigkeit  zu  prüfen.  Schliefslich  ver- 
spricht er  an  anderer  Stelle  seine  eigenen  Ansichten  zu  entwickeln; 
und  wenn  im  Anfange  des  dritten  Buches  der  Revolutiones  auch  die 
bei  Gelegenheit  seiner  sogenannten  dritten  Bewegung  der  Erde  auf- 
tretende Libration  im  Principe  noch  der  irrigen  Trepidationslehre 
völlig  entspricht,  obwohl  sie  hier  von  höheren  Gesichtspunkten  ge- 
tragen wird,  so  mufste  doch  nach  seiner  Darlegung  ihrer  geome- 
trischen Folgen  eine  nur  höchstens  einige  Jahrzehnte  hindurch  an- 
dauernde Beobachtung  mit  genügend  feinen  Instrumenten  die  Frage 
nach  ihrem  Dasein  zur  Entscheidung  bringen.24) 

Der  chronologischen  Folge  nach  gehört  an  diese  Stelle  die 
Erwähnung  des  Elbinger  Fastnachtspiels,  wenn  wir  dieses  auch  zur 
Charakteristik  für  die  erste  Aufnahme  der  neuen  Ideen  gern  anders- 
wo gebracht  hätten.  Starawolski,  der  bei  Broscius  Einsicht  in 
den  Briefwechsel  zwischen  Giese  und  Coppernious  genommen 
hatte,  erwähnt  kurz,  zu  Fastnaoht  1531  habe  ein  Ludimagister  in  El- 
bing  Coppernicus  und  seine  Lehre  in  einem  Possenspiele  ver- 
spottet. Im  lutherisch  gesinnten  Elbing  mufste  ein  Scherz  auf  Kosten 
des  auch  durch  die  versuchte  Münzreform  mit  ihren  Eingriffen  in  die 
städtischen  Privilegien  nicht  gerade  beliebter  gewordenen,  katholischen 
Domherrn  doppelte  Aussicht  auf  Erfolg  haben ;  und  schon  genug 
Bruchstücke  von  der  selbst  für  in  anderen  Anschauungen  aufge- 
wachsene Hochgebildete  der  Zeit  schwer  verständlichen  Lehre  waren 
aus  privatim  unterrichteten  Gelehrtenkreisen  vor  der  Drucklegung 
der  Revolutiones  zum  Volke  durchgesickert,  um  der  urteilslosen 
Menge  Stoff  zum  Lachen  zu  geben.  Starawolskis  Ludimagister 
scheint  nach  anderen  Quellen  der  vor  der  Inquisition  entflohene 
Holländer  Wilhelm  Gnapheus,  später  der  erste  Rektor  des  Elbin- 
ger Gymnasiums,  gewesen  zu  sein.  Damals  eben  erst  angelangt, 
sah  und  gestand  er  später  seinen  Missgriff  bei  genauerer  Bekannt- 

Ml  Man  vergleiche  hierzu  die  Abhandlung  S.  Günthers  im  2.  Helte  dor 
Mitteilungen  des  Coppemicus-Vereins  über  diesen  Gegenstand. 


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320 

schaft  mit  Coppernicus'  Ideen  ein.  In  seinen  im  Druck  erschiene- 
nen Schriften  ist  auch  jede  derartige  spöttische  Anspielung  sorgfältig 
getilgt.  Der  ebenfalls  zu  derselben  Fastnachtszeit  in  anderweiten 
Aufzügen  beleidigte  Bischof  Mauritius  suchte  vergebens  von  dem 
Rate  Genugthuung  zu  erhalten.  Auch  eine  Beschwerde  bei  Sigis- 
mund fand  nicht  die  erhoffte  nachdrückliche  Berücksichtigung. 

Die  Krone  Polens  fand  ja  bei  ihren  naturgemäfsen  Polonisierungs- 
bestrebungen  in  dem  neuerworbenen  Lande  und  ebenso  im  Ermlande 
harten  Widerstand;  kein  Wunder  also,  dufs  Ferbers  Beschwerde  ge- 
ringes Entgegenkommen  fand.  Während  die  weltlichen  Stände  des 
polnischen  Preuteen  für  ihre  Absonderungspolitik,  welche  augenblick- 
lich hauptsächlich  auf  Verweigerung  der  Kriegshilfe  an  Polen  hinaus- 
lief, einen  Vorwand  an  den  steten  Kriegsdrohungen  Deutschlands  zur 
Rückgewinnung  des  früheren  Besitzstandes  und  Wiedereinsetzung  des 
Ordens  fanden,  widerstanden  Bischof  und  Kapitel  Ermlands  ihrerseits 
beharrlich  den  Treibereien,  welche  durch  die  Neubesetzung  erledigter 
Pfründen  durch  Polen  eine  allmähliche  Polonisierung  des  Kapitels 
bezweckten,  dem  sonst  nicht  beizukommen  war.  Da  gab  die  beab- 
sichtigte Einsetzung  Gieses  zum  bischöflichen  Coadjutor  dem  Polen- 
könige einen  rechtlichen  Grund  zum  "Eingreifen.  Es  entwickelten 
sich  die  schon  oben  erwähnten  Streitigkeiten  zwischen  Giese  und 
dem  Halbpolen  Dantiscus;  mit  des  letzteren  Siege  gewann  die 
Krone  die  Anwartschaft  auf  eine  zukünftige  Besetzung  der  ermländi- 
schen  Kathedra  durch  eine  verläßliche,  ihr  ergebene  Persönlichkeit 
und  damit  auch  auf  den  erstrebten  Einflute  im  Schotee  des  Kapitels. 
Die  eifrige  Parteinahme  für  seinen  Herzensfreund  Giese  trug  Cop- 
pernicus aber  der  ihm  einst  ebenfalls  ziemlich  nahe  stehende  Dan- 
tiscus wohl  auch  in  Zukunft  nach,  und  die  letzten  Lebensjahre  des 
Greises  sollten  durch  diese  später  nochmals  verschärfte  Gegnerschaft 
seines  Bischofs  verbittert  werden. 

In  den  Anfang  der  dreifsiger  Jahre  fällt  wohl  auch  noch  die 
Abfassung  des  „Coinmentariolus  de  hypothesibus  motuum  cae- 
lestium".  Lange  Zeit  hatte  man  bei  des  Coppernicus  oft  betonter 
Zustimmung  zu  dem  bekannten  Gesetze  des  Pythagoras,  den  Zu- 
gang zu  dem  Heiligtum  der  Wissenschaft  nur  den  berufenen  Jüngern 
zu  gestatten,  Nachrichten  über  schriftliche  Fixierung  seiner  Lehre  und 
abschriftlich«  Versendung  an  Interessenten  vor  der  Drucklegung  der 
Revolutiones  von  der  Hand  gewiesen.  Da  fand  sich  1878  zufällig  in 
der  Wiener  Hof-  und  Staatsbibliothek  eine  Abschrift  des  Commenta- 
riolus  und  später  eine  zweite  zu  Stockholm,  durch  welche  die  ange- 


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zweifelte  Nachricht  als  richtig  bestätigt  wurde.  Auch  alle  Vorarbeiten 
zu  demselben  zeigten  sich  jetzt  als  in  den  einst  von  Coppernicus 
besessenen  Büchern  der  Upsalenser  Bibliothek  erhalten.25)  Copper- 
nicus hat  darin  nach  einem  Rückblick  auf  die  früheren  Erklärungs- 
versuche der  Himmelserscheinungen  für  befreundete  Gelehrte  einen 
kurzen  Abrifs  seiner  heliocentrischen  Lehre  niedergelegt.  Voran 
gehen  sieben  Axiome,  nach  denen  es  1.  nur  einen  Mittelpunkt  der 
Bewegungen  der  Himmelskörper  giebt,  dieses  2.  nicht  das  Erdzentrum, 
um  welches  nur  der  Mond  kreist,  sondern  3.  die  Sonne  ist  4.  Ist 
die  Fixsternsphäre  so  weit  ontfernt,  dafs  man  ein  Verhältnis  zwischen 
ihrem  Abstand  und  planetarischen  Entfernungen  nicht  auszudrücken 
vermag,  und  der  Himmelsumschwung  ist  5.  nicht  die  Folge  einer 
Eigenbewegung  dieser  Sphäre,  sondern  die  einer  Axendrehung  der 
Erde,  wie  sich  6.  auch  die  scheinbare  Sonnenbewegung  und  7.  die  Ver- 
wickelung der  planetarischen  Läufe  aus  einem  Umlauf  der  Erde  um  die 
Sonne,  nicht  aus  Eigenbewegungen  der  betreffenden  Körper  wenigstens 
hauptsächlich  erklären  lassen.  Darauf  folgt  eine  kurze  spezielle 
Darstellung  und  Erklärung  der  einzelnen  Bewegungsvorgänge  ohne 
das  grofse  wissenschaftliche  Material  des  Hauptwerkes,  und  freudig 
bewegt  schliefst  der  Verfasser  mit  der  Bemerkung,  dafs  so  nur  34 
Kreisbewegungen  den  ganzen  verwickelten  Reigentanz  der  Gestirne 
klar  zu  legen  vermögen. 

s»)  Man  sehe  die  Ausgabe  durch  M.  Curtze  im  1.  Heft  der  Mitteilungen 
des  CoppernicuB-Vereins  zu  Thorn  und  diejenige  von  Arvid  Lindhagen  im 
Bihang  tili  K.  Svenska  vet  Akad.  handlingar  Band  6  No.  12  Stockholm  1881. 


(Fortsetzung  folgt.) 


Himmel  und  Eni«.   1889.  XI.  7 


IM 


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Nachtrag  zu:  Die  Temperatur  der  Sonne. 

Von  Prof.  Dr.  J.  Scheiner  in  Potsdam. 

uf  Seite  452  (X.  Jahrgang)  meines  Aufsatzes  über  die  Tempera- 
tur der  Sonne  habe  ich  einen  Rechenfehler  begangen;  es  mufs 
daselbst  heifsen  (letzter  Absatz):  Es  ist  dies  1/2  4  •  •  •  anstatt 
~\/rk.  Dadurch  ändern  sich  die  auf  Seite  453  für  den  Einflufs  einer 
Temperaturänderung  der  Sonne  auf  die  mittlere  Temperatur  der  Erde 
gegebenen  Zahlen  sehr  stark;  dieser  Einflufs  wird  so  grofs,  dafs  die 
weiteren  Schlußfolgerungen  bis  zum  letzten  Absatz  auf  Seite  453,  deren 
Sinn  nicht  geändert  wird,  als  ganz  selbstverständlich  erscheinen. 

Die  Verbesserung  dieses  Fehlers,  auf  den  mich  Herr  E.  Dubois 
freundlichst  aufmerksam  gemacht  hat,  wirkt  aber  stark  modifizierend 
auf  das  auf  Seite  453  kurz  berührte  Nebenresultat,  daß  die  periodi- 
schen Klimaschwankungen,  wie  sie  durch  die  Eiszeiten  angedeutet 
sind,  nicht  durch  die  Änderungen  der  Sonnentemperatur  hervorgerufen 
sein  könnten,  und  ich  möchte  deshalb  nunmehr  etwas  näher  auf  diesen 
Punkt  eingehen.  • 

Die  Ansicht,  dafs  die  Eiszeiten  durch  Variationen  der  Sonnen- 
temperatur erklärt  werden  könnten,  ist  zuerst  von  E.  Dubois  aus- 
gesprochen worden.  Diese  Theorie  erscheint  aber  zuerst  unwahr- 
scheinlich, da  man  wohl  allgemein  glaubt,  dafs  hierzu  sehr  starke 
periodische  Schwankungen  der  Sonnentemperatur  erforderlich  wären. 
Die  exakte  Rechnung  lehrt  aber,  dafs  diese  Schwankungen  keineswegs 
stark  zu  sein  brauchen. 

In  dem  angegebenen  Aufsatze  war  gezeigt  worden,  dafs  eine 
Abnahme  der  Sonnenstrahlung  um  rund  V9  ihres  Betrages  genüge, 
um  für  Mitteleuropa  eine  neue  Eiszeit  herbeizuführen.  Diese  Zahl 
war  durch  folgende  Betrachtung  ermittelt  Nach  Zenker  würde  die 
mittlere  Temperatur  der  Erdoberfläche  ohne  die  solare  Bestrahlung 
—  73°  betragen,  d.  h.  boi  dieser  Temperatur  findet  Gleichgewicht 
zwischen  der  Ausstrahlung  der  Erdoberflächenwärme  in  den  Welten- 


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räum  und  der  Zuführung  der  Wärme  aus  dem  Erdinnem  statt  Die 
mittlere  Temperatur  der  Erde  beträgt  4-16°,  die  Sonnenstrahlung  be- 
wirkt also  einen  Effekt  von  88<>.  Eine  Abnahme  dieses  Effektes  um 
V9  würde  die  mittlere  Temperatur  von  Mitteleuropa,  die  jetzt  etwa 
-f  10°  beträgt,  unter  den  Nullpunkt  bringen  und  damit  eine  Eiszeit 
herbeiführen. 

Nach  dem  Stefan sohen  Gesetze  entspricht  nun  einer  Strahlungs- 
änderung um  V9  eine  Tomperaturänderung  des  strahlenden  Körpers 
um  rund  3%,  demnaoh  für  unseren  wahrscheinlichsten  Wert  der  Sonnen- 
temperatur von  8600°  ungefähr  260°.  Das  ist  überraschend  viel  weniger, 
als  man  sich  früher  vorgestellt  hat,  und  in  Anbetracht  der  starken 
lokalen  Veränderungen,  denen  die  Photosphäre  ständig  unterworfen 
ist,  mufs  man  sich  umgekehrt  eigentlich  über  die  Konstanz  der  mitt- 
leren Erdtemperatur  wundern. 

Ich  nehme  natürlich  nicht  an,  dafs  die  ganze  Sonnenmasse  perio- 
dischen Temperaturschwankungen  von  dem  angedeuteten  Betrage 
unterworfen  sein  könnte,  sondern  dafs  dieselben  sich  nur  in  der 
Atmosphärenschicht,  als  welche  die  Photosphäre  zu  betrachten  ist,  ab- 
spielen. Die  Masse  der  Photosphäre  ist  gegenüber  der  Sonnenmasse 
verschwindend  gering,  sodafs  ibre  Temperatur  durch  Ausstrahlung 
sehr  schnell  heruntergehen  könnte,  wenn  aus  irgend  welchen  Ursachen 
die  Wärmezufuhr  aus  dem  Innern  im  ganzen  oder  lokal  periodischen 
Abschwächungen  unterworfen  wäre.  Ich  möchte  nur  andeuten,  dafs 
auch  andere  variable  Ursachen  mitwirken  können,  wie  z.  B.  Verän- 
derungen der  Absorption  innerhalb  der  obersten  Schichten  der  Photo- 
Bphäre  und  Veränderungen  des  Emissionsvermögens. 

Es  steht  demnach  die  erforderliche  Oröfse  der  periodischen 
Strahlungsschwankungen  nicht  im  Widerspruche  mit  den  Thatsachen 
auf  dem  Gebiete  der  Sonnenphysik,  und  es  bleibt  nur  noch  die  Frage 
offen,  ob  überhaupt  Schwankungen  der  Strahlung  von  Jahrtausende 
langer  Periode  vorhanden  sein  können.  Irgend  etwas  Positives  läfst 
sich  hierüber  naturgemäß  nicht  sagen;  man  mufs  sich  damit  begnügen, 
wenn  einer  solchen  Annahme  nichts  Positives  entgegengehalten  werden 
kann,  wie  dies  thatsäohlich  nicht  der  Fall  zu  sein  scheint.  Eine  pe- 
riodische Strahlungsänderung  der  Sonne  ist  mit  Sicherheit  nachgewiesen: 
die  elfjährige  Periode  der  Sonnenflecken.  Dafs  in  diesem  Falle  die 
Strahlungsänderungen  in  den  klimatischen  Verhältnissen  der  Erde  nicht 
mit  Sicherheit  haben  nachgewiesen  werden  können,  braucht  durchaus 
nicht  an  ihrer  etwa  versohwindend  kleinen  Gröfse  zu  liegen,  sondern 
wird  wesentlich  durch  die  Kürze  der  Periode  bedingt  sein,  innerhalb 

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324 


welcher  merkliche  Summationen  der  Wirkungen  nicht  zu  stände 
kommen  können.  Eine  zweite  Periode  von  50  bis  60jähriger  Dauer 
scheint  angedeutet  zu  sein,  und  es  steht,  wenn  überhaupt  eine  oder 
zwei  Perioden  konstatiert  sind,  nichts  im  Wege,  auch  andere  Perioden 
von  bedeutend  längerer  Dauer  für  möglioh  zu  halten.  Es  erscheint 
mir  sogar  die  Umkehr  des  Problems  durchaus  gestattet,  nämlich  aus 
den  periodischen  Klimaschwankungen  der  Erde  innerhalb  der  letzten 
Jahrtausende  auf  entsprechende  Änderungen  der  Sonnenstrahlung  zu 
schliefsen. 

Sollten  sich  einmal  die  bisherigen  rein  tellurischen  Erklärungen 
der  Eiszeiten,  von  denen  eine  in  dem  Aufsatze  über  die  Temperatur 
der  Sonne  angedeutet  war,  nicht  aufrecht  erhalten  lassen,  und  sollte 
sich  entsprechend  die  Annahme  einer  kosmischen  Ursache  als  notwendig 
herausstellen,  so  würde  die  Duboissche  Theorie  wohl  als  einfachste 
und  einwurfsfreieste  zu  betrachten  sein  und  auch  für  die  Sonnenphysik 
von  hoher  Bedeutung  werden. 


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Das  Spektrum  des  Andromedanebels  und  dessen  Beziehungen 
zu  unserem  Fixsternsystem. 

Als  zu  Beginn  der  80er  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  der 
ältere  Her  sc  hfl  seine  mächtigen  Teleskope  zur  Erforschung  der 
Nebelflecke  verwendete  und  in  wenigen  Jahren  bis  dahin  ungeahnte 
Kenntnisse  über  diese  seltsamen  Gebilde  sammelte,  war  für  ihu  dabei 
auch  zweifellos  der  Gedanke  mafsgebend,  hieraus  Folgerungen 
auf  die  Konstitution  unseres  eigenen  Fixsternsystems  zu  ziehen, 
welcher  Aufgabe  er  ja  auch  von  anderer  Richtung  her  grofse  Auf- 
merksamkeit gewidmet  hat.  Unter  vielen  anderen  Thatsachen  stellte 
er  fest,  dafs  eine  grofse  Zahl  von  Nebelflecken  der  auflösenden  Kraft 
seiner  Fernrohre  nicht  Widerstand  zu  leisten  vermochte;  sie  liefsen 
sich  in  einzelne  Sterne  auflösen  und  verrieten  sich  mithin  als  Stern- 
haufen. 10s  war  nun  selbst  versländlich,  dars  man  hieraus  den  Sohlufs 
zog,  dars  sämtliche  Nebelflecke  Sternhaufen  seien,  und  dafs  auch  die- 
jenigen, die  He rsc hei  nicht  auflösen  konnte,  sich  schließlich  bei 
weiterer  Vervollkommnung  der  optischen  Mittel  als  Sternhaufen  er- 
weisen würden.  Von  den  schon  mit  blofsem  Auge  auflösbaren  Stern- 
gruppen, z.  B.  den  Plejaden,  bis  zu  den  feinsten  Nebelflecken  gab 
es  also  nur  graduelle  Unterschiede,  die  im  wesentlichen  durch  die 
verschiedene  Entfernung  der  einzelnen  Objekte  bedingt  waren. 

Dieser  Standpunkt,  der  wohl  von  allen  Astronomen  eingenommen 
wurde,  erwies  sich  jedoch  auf  einmal  als  völlig  unhaltbar.  Anfangs 
der  60er  Jahre  machte  Huggins  die  klassische  Entdeckung,  dafs 
das  Spektrum  vieler  Nebelflecke  helle  isolierte  Linien  zeigt,  dafs  die 
betreffenden  Himmelskörper  mithin  nur  aus  leuchtenden  Gasen  be- 
stehen, dars  sie  wirkliche  Nebel  sind,  die  niemals  in  Sterne  aufgelöst 
werden  können.  Neben  diesen  Gasnebeln  blieben  aber  auch  noch 
viele  andere,  die  kontinuierliche  Spektra  geben,  und  die  man  daher 
nach  wie  vor  als  wirkliche  Sternhaufen  betrachtete. 


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I 

1 


326  

Man  hat  demnach  heute  zwei  Klassen  von  Nebelflecken:  Gas- 
nebel und  vorläufig  unauflösbare  Sternhaufen,  und  es  liegt  der  Ge- 
danke nahe,  data  dieser  innere  Unterschied  sich  auch  in  der  äufseren 
Form  dokumentieren  müsse.  In  der  That  liefs  sich  ein  derartiger 
Unterschied  sehr  bald  erkennen.  Die  grofsen  und  unregelmäfeig  ge- 
stalteten Nebelflecke,  wie  Orionnebel,  Omeganebel  etc.,  ferner  die 
sehr  kleinen,  meist  elliptisch  geformten  planetarischen  Nebel  und 
schliefslich  die  Ringnebel  zeigen  Linienspektra,  die  symmetrisch  ge- 
gebildeten soheiben-  und  spindelförmigen,  wie  der  Andromedanebel, 
liefern  kontinuierliche  Spektra» 

Durch  die  schönen  Resultate,  welche  die  Anwendung  der  Photo- 
graphie auf  die  Nebelflecke  gezeitigt  hat,  ist  man  jetzt  in  der  Lage, 
die  wahren  Formen  der  Nebelflecke  sehr  viel  sicherer  als  früher  zu 
erkennen,  und  dementsprechend  läfst  sich  der  oben  angegebene  Zu- 
sammenhang genauer  präzisieren.  Zunächst  haben  die  Aufnahmen 
einiger  heller  planetarischer  Nebel,  die  ich  vor  einigen  Jahren  er- 
halten habe,  erkennen  lassen,  dafs  die  planetarischen  Nebel  eigentlich 
Ringnebel  sind,  deren  Ähnlichkeit  mit  dem  typischen  Ringnebel  in  der 
Leyer  sich  sogar  auf  den  optisch  unsichtbaren,  photographisch  aber 
sehr  deutlichen  Kern  erstreckt  Die  Gasnebel  zerfallen  daher  nur 
in  die  beiden  Klassen  der  grofsen,  unregelmäfsigen  Nebel  und  der 
Ringnebel.  Auf  der  anderen  Seite  hat  die  Photographie  ergeben,  dafs 
eine  gröfsere  Zahl  der  regelmässigen  soheiben-  oder  spindelförmigen 
Nebel  Spiralnebel  sind,  dafs  also  diese  Art  der  Nebel,  deren  Existenz 
trotz  der  Rosse  sehen  Beschreibung  längere  Zeit  hindurch  etwas 
zweifelhaft  erschien,  augenscheinlich  eine  grofse  Rolle  im  Weltall  spielt. 

Stellt  man  nun  die  Hypothese  auf,  dafs  die  Nebel  mit  kontinuier- 
lichem Spektrum  thatsächlioh  selbständige  Fixsternsysteme  in  unge- 
heurer Entfernung  von  uns  seien,  so  liegt  es  nahe,  dieselben  auch 
mit  unserem  Fixsternsystem  in  Vergleich  zu  ziehen.  Solange  dies 
aber  nur  eine  Hypothese  ist,  steht  ein  soloher  Vergleich  auf  un- 
sicheren Füfsen;  denn  dieselbe  ist  durchaus  keine  selbstverständ- 
liche. Wir  kennen  die  Bedingungen,  unter  welchen  die  Gasnebel 
glühen  keineswegs;  es  liegt  daher  kein  Bedenken  vor,  anzunehmen, 
dafs  bei  einzelnen  Nebeln  das  Glühen  unter  solchen  Bedingungen 
stattfindet,  unter  denen  auoh  Gase  ein  kontinuierliches  Spektrum 
liefern,  ja  man  mufs  schon  eine  über  alle  Begriffe  geringe  Dichtigkeit 
der  Nebel  annehmen,  um  überhaupt  das  Auftreten  von  hellen  scharfen 
Linien  an  Stelle  ganz  verwaschener  Bänder  oder  eines  kontinuierlichen 
Spektrums  zu  erklären.   Eine  Entscheidung  in  dieser  Frage  kann  nur 


327 


das  Spektroskop  liefern:  zeigen  sioh  in  dem  kontinuierlichen  Spektrum 
der  Nebelflecke  dunkle  Absorptionslinien,  so  haben  wir  ein  System 
von  Fixsternen  vor  uns,  von  denen  jeder  einzelne  ein  solches  Spektrum 
giebt;  fehlen  die  Linien,  so  müssen  die  oben  angegebenen  Erklärungs- 
versuche marsgebend  sein. 

Bisher  war  es  wegen  der  Schwäche  der  kontinuierlichen  Nebel- 
spektra nicht  möglich,  eine  Entscheidung  herbeizuführen.  loh  habe 
nun  einen  äufserst  lichtstarken,  kleinen  Spektrographen  konstruiert, 
der  in  Verbindung  mit  einem  Spiegel  von  sehr  kurzer  Brennweite 
für  den  vorliegenden  Zweck  geeignet  erschien.  Nach  einigen  Ver- 
suchen ist  es  mir  am  4.  und  6.  Januar  d.  J.  gelungen,  mit  diesem 
Apparate  bei  einer  Expositionszeit  von  7Vj  Stunden  ein  deutliches 
Spektrum  des  Andromedanebels  zu  erhalten,  welohes  einige  dunkle 
Linien  zeigt,  die,  wie  die  Messung  ergeben  hat,  mit  solchen  im  Sonnen- 
spektrum übereinstimmen.  Die  Ähnlichkeit  mit  dem  SonnenBpektrum 
beschränkt  sich  nicht  nur  auf  diese  Linien,  sondern  erstreckt  sich 
auch  auf  die  Intensitätsverhältnisse  der  einzelnen  Spektralteile. 

Hiermit  ist  der  definitive  Beweis  geliefert,  dafs  der  Andromeda- 
nebel  ein  Fixsternsystem  ist,  und  ferner,  dafs  die  grofse  Mehrzahl 
seiner  Steine  der  2.  Spektralklasse,  dem  Sonnentypus  angehört.  In 
unserem  Fixsternsystem  überwiegen  bekanntlich  die  Sterne  der  1.  Spek- 
tralklasse; dasselbe  würde,  aus  der  Ferne  betrachtet,  daher  auoh  im 
ganzen  ein  Spektrum  der  1.  Klasse  liefern.  Da  nun  die  2.  Klasse 
ein  vorgeschritteneres  Entwickelungsstadium  darstellt  als  die  1.  Klasse, 
so  ist  weiter  zu  folgern,  dafs  das  System  des  Andromedanebels  ein 
relativ  älteres  ist  als  das  unsrige. 

Wir  können  nun  auoh  zu  unserer  Anfangsbetrachtung  zurück- 
kehren, indem  wir  jetzt  berechtigt  sind,  unser  eigenes  System  mit 
den  Nebeln  mit  kontinuierlichem  Spektrum  zu  vergleichen  und  in 
deren  Formen  einzuordnen.  Als  das  Einfachste  und  Natürlichste  er- 
scheint es,  unser  Sternsystem  inkl.  Milohstrafse  als  einen  Ring  mit 
innerem  Kern  zu  betrachten;  dem  steht  aber  entgegen,  dafs  die  Ring- 
nebel ausnahmslos  Gasspektra  liefern,  während  unser  Sternsystem 
ein  kontinuierliches  Spektrum  giebt.  Sehen  wir  uns  nach  etwa 
möglichen  Formen  der  anderen  Klasse  um,  so  würden  die  soheiben- 
und  spindelförmigen  (letztere  hätte  man  als  Scheiben,  deren 
Ebene  merklich  gegen  die  Gesichtslinie  geneigt  ist,  zu  betrachten) 
allein  mit  dem  Milchstrarsensystem  verträglich  sein.  Seit  Hersohe  1 
hat  man  ja  unser  Fixsternsystem  bis  in  die  neuere  Zeit  hinein  als 
soheiben-  oder  linsenförmig  aufgefafst.  Nun  spreohen  aber  doch  viele, 


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.328 


besondere  durch  die  photographischen  Aufnahmen  der  Milchstrafse 
gewonnenen  Gründe  gegen  eine  solche  Auflassung,  andererseits  haben 
ja  gerade  die  Scheiben-  und  spindelförmigen  Nebel  sich  als  Spiral- 
nebel erwiesen,  und  man  wird  deshalb  auf  den  Gedanken  geführt, 
auch  unser  System  als  einen  Spiralnebel  zu  betrachten. 

Denken  wir  uns  in  den  Kern  eines  Spiralnebels  versetzt,  so 
würden  wir,  als  in  der  Ebene  der  Spiralen  befindlich,  deren  wahre 
Form  nicht  erkennen  können,  vielmehr  müfsten  dieselben,  sich  gegen- 
seitig teilweise  überdeckend,  als  mehr  oder  weniger  unregelmäfsiger 
Ring  erscheinen,  d.  h.  genau  so  wie  unsere  Milchstrafse. 

Ich  glaube  daher  annehmen  zu  dürfen,  dafs  unser  Fixstern- 
system einen  Spiralnebel  darstellt,  in  dessen  Kern  sich  unser  Sonnen- 
system befindet;  die  Spiralen  setzen  die  Milchstrafse  zusammen,  wobei 
besonders  deren  Trennungen  eine  gute  Deutung  erfahren,  wie  dies 
schon  Easton  gezeigt  hat,  der  von  anderen  Gesichtspunkten  aus  zur 
gleichen  Annahme  gelangt  ist.  Die  verwaschenen  Knoten  und  Ver- 
dichtungen, die  man  in  den  Spiralen  der  Spiralnebol  bemerkt,  be- 
sonders im  Andromedanebel  und  im  grofsen  Nebel  in  den  Jagdhunden, 
würden  den  gröberen  Sternhaufen  in  unserer  Milchstrafse  entsprechen. 

Sobald  einmal  die  Eigenbewegungen  der  Milchstrafsensterne 
einigermafsen  bekannt  sein  werden,  wird  man  den  Versuch  wagen 
können,  aus  denselben  eine  definitive  Entscheidung  über  die  wahre 
Form  der  Milchstrafse  herbeizuführen;  leider  dürften  aber  viele  Jahre 
bis  dahin  verfliefsen.  Prof.  Soheiner. 


Künstliche  Sonnenilecken.  Wie  man  auf  verschiedene  Arten  im 
stände  ist,  experimentell  Gebilde  entstehen  zu  lassen,  die  mit  den 
Mondkratern  eine  auflallende  Ähnlichkeit  haben,  so  ist  jüngst  dem 
Schweizer  Physiker  Lull  in  auch  eine  täuschende  Imitation  von  Sonnen- 
flecken geglückt.  Unsere  Abbildungen  reproduzieren  derartige  „künst- 
liche Sonnenflecken u,  deren  Entstehung  folgenderraafsen  erfolgte.  Auf 
eine  dunkel  gefärbte  Glasplatte  wurde  ein  zäher  Brei,  der  durch  Ver- 
reiben pulverisierten  Schwerspates  in  Wasser  gewonnen  war,  mög- 
lichst gleichmäßig  aufgetragen.  Nun  liefs  man  aus  einem  einige  Centi- 
meter  entfernten  Trichterrohr  einzelne  Tropfen  oder  einen  kurzen 
Strahl  von  Wasser  auf  die  Glasplatte  fallen.  Die  duroh  den  Aufprall 
bedingten  Bewegungen  des  seitlich  abfliessenden  Wassers  liefsen  dann 


* 


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321) 


in  dem  Barytbrei  die  durch  unsere  Abbildungen  wiedergegeben  Spuren 
zurück,  die  in  ihrem  strahligen  Aussehen  in  der  Tbat  auffallend  an 
bekannte  Sonnen fleckenzeichnungcn  von  Secchi,  Young  und  anderen 


Kunstliche  Sonnenflecken. 

erinnern.  Ob  wir  <-s  hier  mit  einer  nur  zufälligen  äufeerlichen  Abn- 
lioheit  zu  thun  haben,  oder  ob  diese  Gebilde  vielleicht  einmal  bei  der 
Deutung  der  Sonnenflecken  Fingerzeige  werden  geben  können,  mufs 
vorläufig  dahingestellt  bleiben.  F.  Kbr. 

* 


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330 


Dämmerungs-Streifen  als  Witterungs-Anzeichen. 

Von  dem  sogenannten  „Wasserziehen  der  Sonne"  prinzipiell  ver- 
schieden und  wesentlich  seltener  als  dieses  sind  die  Dämmerungs- 
Streifen.  Sie  zeigen  sich,  naohdem  die  Sonne  schon  untergegangen  ist, 
bezw.  bevor  sie  aufgegangen  ist,  auf  dem  hellen  Grunde  der  Däm- 
merung als  schwarze  Schalten,  welche  vom  Gegen  punkte  der  Sonne 
strahlenförmig  ausgebend,  sich  unter  günstigen  Umständen  über  den 
Zenith  bis  zum  Horizont  verfolgen  lassen;  sie  entstehen  durch  Hinder- 
nisse im  Strahlengange  der  Sonne,  die  als  schattenwerfende  Körper 
wirken.  Verhältnismäfsig  häufig  sind  daher  die  Dämmerungsstreifen 
dort,  wo  diese  Hindernisse  durch  Gebirge  gebildet  werden,  und  in  Sizilien 
hat  man  z.  B.  solche  Phänomene  auf  die  Beschattung  der  Sonne  duroh  das 
Atlasgebirge  zurückführen  können.  In  der  Ebene  sind  als  schatten- 
werfende Körper  nur  mächtige  Wolkenmassen  möglich,  die  sich  auch 
unter  dem  Horizont  des  Beobachters  befinden  können.  Es  können 
daher  Dämmerungsstreifen  auch  bei  ganz  wolkenlosem  Himmel  auf- 
treten, und  ihr  Vorhandensein  deutet  alsdann  auf  schweres  Gewölk  in 
der  Ferne.  Es  ist  interessant,  dafs  in  Berlin  in  zwei  speziellen  Fällen 
—  am  28.  Mai  1892  durch  Berson,  am  18.  September  1898  durch  Prof. 
Assmann  (beschrieben  in  der  Zeitschrift  ..das  Wetter")  —  aus  Däm- 
merungsstreifen sich  die  Lage  eines  Gewitterherdes  ungefähr  voraus- 
berechnen Hess  und  durch  dio  Meldungen  des  meteorologischen  Be- 
obachters bestätigt  werden  konnte. 

Am  18.  September  bei  Sonnenuntergang  ergab  die  Berechnung 
unter  der  Voraussetzung  einer  Wolkenschicht  von  1000  m  Höhe,  dafs 
diese  Schicht  zwischen  Salzwedel  in  der  Altmark  und  Wilhelmshaven 
liegen  müsse,  und  thatsächlich  entwickelten  sich  seit  7  Uhr  ausge- 
breitete Gewitter  über  Oldeuburg  und  Hannover.  Borkum  hatte  von 
7V4  bis  9  Uhr,  Helgoland  von  7%  bis  9>  2,  Münster  von  8  bis  10  Uhr  Ge- 
witter. Gleichzeitig  rückte  aber  mit  dieser  Gewitter-Depression  ein  um- 
fangreiches Minimum  von  West  heran,  so  dafs  am  nächsten  Tage  auoh  in 
Berlin  ein  völliger  Umschwung  von  warmer,  wolkenloser  Witterung 
zu  trüber,  regnerischer  eintrat,  ohno  dafs  vorher  sonstige  deutliche 
Anzeichen  einer  Veränderung  vorhanden  waren.  Am  28.  Mai  1892, 
wo  die  Dämmerungsstreifen  Gewitter  an  der  Westküste  Schleswigs 
anzeigten,  folgte  am  29.  in  Mitteldeutschland  zwar  kein  so  ausge- 
sprochener Witterungswechsel,  aber  immerhin  eine  Abkühlung  der 
vorher  abnorm  hohen  Temperatur  (Maximum  in  Berlin  36°)  um 
7  bis  10°. 

Weitere  Beobachtungen  über  Dämmerungsstreifen  sind  um  so 


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331 


mehr  erwünscht,  als  für  die  Entwicklung  und  Intensität  der  Er- 
scheinung jedenfalls  auch  die  Luftbeschaffenheit  am  Beobachtungsorte 
von  Bedeutung  ist.  Da  die  ganze  Messung  sehr  einfach  ist  -  es 
genügt  eine  genaue  Zeitangabe  — ,  so  darf  man  wohl  hoffen,  gelegentlich 
Mitteilungen  hierüber  auch  aus  dem  Leserkreise  zu  erhalten.  Sg. 


Übersicht  der  Himmelserscheinungen  für  April  und  Mai. 

Der  Sternhinnel.  Wahrend  April  und  Mai  ist  der  Anblick  des  Himmele 
um  Mitternacht  folgender:  Zur  Kulmination  gelangen  rornehmlich  die  Stern- 
bilder der  Jungfrau,  Jagdhunde,  das  Haar  der  Berenice,  später  Bootes,  die 
Krone,  die  Schlango  und  die  Wage.  Westlich  steht  der  grobe  Bär,  kleine 
Lowe,  östlich  Herkules,  Schwan,  Leyer,  Fuchs.  Spica  (?  Virginis)  geht  erst 
gegen  4  h  morgens  unter,  a  Bootes  noch  später.  Skorpion  und  Adler  gehen  um 
10  -12»»  abends  auf,  Herkules  und  Leyor  um  3  Stunden  früher.  Procyon  geht 
jetzt  schon  gegen  Mitternacht,  Sirius  zwischen  8— V,  10  »»  abends  unter;  der 
grofse  Löwe  verschwindet  um  etwa  3>>  morgens.  Der  Untergang  des  Stiers 
erfolgt  schon  zwischen  9— 10  h  abends.  Folgende  Sterne  kulminieren  für  Berlin 
um  die  Mitternachtsstunde: 

1.  April     y  Virginis     (3.  Qr.)  (AR  12»»  37m  D.  —  0*  54') 


8. 

43  Comae       (4.  Gr.) 

13 

7 

+  28 

23 

15. 

17  Can.  ven.  (5.  Gr.) 

13 

30 

+  37 

42 

22. 

d  Booüs       (5.  Gr.) 

14 

6 

+  25 

34 

29. 

7     ,  <3..Gr.) 

14 

28 

+  38 

45 

1. 

Mai 

(jl  Virgin.      (4.  Gr.) 

14 

38 

—  5 

13 

8. 

•■ 

t  Librae   (4.-6.  Gr.) 

15 

6 

-19 

25 

15. 

i 

a  Coron.bor.  (2.  Gr.) 

15 

30 

+  27 

3 

22. 

- 

ß  Scorpii      (2.  Gr.) 

15 

59 

-  19 

32 

29. 

ß  Hercul.   (2.  3.  Gr.) 

16 

26 

+  21 

42 

Heile  veränderliche  Sterne,  welche  vermöge  ihrer  günstigen  Stellung  vor 
und  nach  Mitternacht  beobachtet  werden  können,  sind,  ausser  denen  vom 
Algoltypus  U  Coronae,  *  Librae,  die  Mazima  folgender: 


T  Monocerot 

(Max.  6. 

Gr.) 

(AR6»>  19n» 

D.  +  7° 

10')  April  20,  J 

Kai  17 

u 

(    n  «,7- 

r>  f 

7  26 

—  9 

34 

,  27, 

S  Hydrae 

(  „  8. 

f)  I 

8  48 

+  3 

27 

„  4 

R  Virgin. 

(  -  7. 

n  / 

12  33 

+  7 

33 

„  16 

V  Bootis 

(  -  7. 

w  / 

14  26 

+  39 

19 

-  20 

V  Coronae 

(  „  7,8. 

•»  ) 

15  4fi 

+  39 

52 

*  20, 

T  Hercul. 

1   ,  7,8. 

n  ) 

18  5 

+  31 

0 

•  1 

X  Ophiuch. 

(   ,  7. 

•»  ) 

18  33 

+  8 

45 

6, 

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332 


Die  Planeten  Merkur  wird  um  Sonnenuntergang  bald  wenig  sichtbar, 
in  der  zweiten  Hälfte  Mai  ist  er  am  Morgenhimmel  einige  Zeit  zu  sehen.  - 
Venus  geht  vom  Wassermann  durch  das  Sternbild  der  Fische  bis  in  den 
Widder;  am  23.  Mai  steht  sie  zwölf  Grad  südlich  vom  a  Arietis.  Sie  geht  am 
Tage  unter  und  ist  Morgenstern,  ungefähr  eine  Stunde  vor  der  Sonne  aufgehend. 
—  Mars  geht  Vormittag  auf,  anfänglich  in  den  Morgenstunden  unter.  Ende 
Mai  nach  Mitternacht  Er  geht  vom  Krebs  in  den  grofsen  Löwon  und  steht 
Ende  Mai  etwas  nordwestlich  von  Regulus.  —  Jupiter  geht  abends  9  h  auf 
und  ist  die  ganze  Nacht  sichtbar,  Ende  Mai  bis  2  h  Uhr  morgens,  am  25.  April 
ist  er  in  Opposition  mit  der  Sonne.  Er  steht  zu  den  Füfeen  der  Jungfrau  und 
bewegt  sich  langsam  gegen  Spica  hin.  —  Saturn  geht  im  April  noch  um  Mitter- 
nacht auf,  dann  immer  zeitiger,  Ende  Mai  um  9  h  abends.  Er  bleibt  bis  in  die 
Morgenstunden  sichtbar  und  befindet  sich  nordöstlich  von  «  Scorpii.  —  Uranus 
geht  zeitiger  vor  Mitternacht  auf,  Ende  Mai  gegen  8  h  abends  und  ist  bis  zum 
Morgen  sichtbar.  Er  steht  nördlich  von  «  Scorpii.  —  Neptun  bleibt  anfangs 
bis  nach  Mitternacht,  Ende  Mai  bis  9 '«  abends  sichtbar;  er  steht  in  der  Nahe 
von  C  Tauri  (3.  3.  Gr.). 


Sternbedeckungen  durch  den  Mond  (für  Berlin  sichtbar): 


Eintritt 


Austritt 


15.  April  t)  Geminor. 

3.  Gr. 

8»»  53  m  abends 

9h  1» 

m  abends 

16. 

3.  „ 

0 

17    morgens  0  50 

morgens 

29. 

n 

»  Ophiuchi  3.  4.  „ 

1 

7 

2  19 

Mond. 

Berliner  Zeit. 

Letzten  Viert 

am 

i    3.  April 

Aufgang 

2  h 

3  «n  morg. 

Unterg.  9  »>  55  ">  vorm. 

Neumond 

10.  „ 

Erstes  Viert. 

17.  „ 

9 

56  morg., 

1   31  nachts 

Vollmond 

- 

25.  „ 

7 

27  abends, 

4  23  morg. 

Letztes  Viert. 

- 

2.  Mai 

- 

1 

12  morg., 

10  28  vorm. 

Neumond 

- 

9.  „ 

Erstes  Viert. 

17.  , 

- 

mittags, 

12  56  abends 

Vollmond 

25.  . 

8 

58  abends, 

- 

4  23  morg. 

Letztes  Viert. 

31.  , 

12 

21  nach  Mittern.  , 

mittags 

Erdnähen:  6.  April,  1.  Mai,  2*.  Mai;  Krdfornen:  18.  April,  16.  Mai. 


Sternzeit  f.  den 
mitt.  Berl.  Mittag 


Zeitgleichung 


Sonnenaufg  Sonnenunterg. 
f.  Berlin 


1. 

April 

Oh 

38  m 

21.9« 

+  3« 

57.7  • 

5  h 

35  m 

6  h  32  m 

s. 

1 

5 

57.8 

+  1 

54.9 

5 

21 

6  44 

15. 

■ 

1 

33 

33  7 

4-  0 

4.0 

"i 

5 

«;  56 

22. 

•> 

1 

9.6 

-  l 

30.3 

4 

.50 

7  8 

29. 

2 

28 

45.4 

-  2 

43.1 

4 

35 

7  20 

1. 

Mai 

2 

36 

38.6 

  2 

59.3 

4 

31 

7  24 

8. 

- 

3 

4 

14.4 

—  3 

38.1 

l 

LS 

7  36 

15. 

31 

50.3 

-  3 

48.8 

4 

6 

7  47 

22. 

- 

3 

59 

262 

—  3 

32.4 

3 

56 

7  57 

29. 

l 

27 

2.1 

-  2 

50.9 

3 

48 

8  7 

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Die  moderne  Entwickelting  der  elektrischen  Prinzipien.  Fünf  Vorträge 
von  Prof.  Dr.  Ferd.  Rosenberger.  Leipzig  189S.  8°.  170  S.  Pr.  3  M. 

Der  Verfasser  bietet  Vortrage,  die  er  auf  dem  Ferienkursus  für  Lehrer 
an  höheren  Schulen  zu  Ostern  18117  in  Frankfurt  a.  M.  gehalten  hat,  jetzt  in 
weiter  ausgeführter  Form  einem  gröfseren  Publikum  dar.  In  fünf  Abschnitten 
giebt  er  die  Entwickelung  der  Anschauungen  vom  Wesen  der  Elektrizität 
während  der  letzten  drei  Jahrhunderte,  und  verfolgt  dabei  den  Gesichtspunkt, 
zu  zeigen,  dafs  entgegengesetzte  theoretische  Anschauungen  in  der  Wissenschaft 
nicht  notwendig  als  Wahrheit  und  Irrtum  sich  gegenüber  zu  stehen  brauchen, 
sondern  dafa  oft  beide  für  gewisse  Zeiten  und  gewisse  Gebiete  gleiche  relative 
Wahrheit  haben  können. 

Der  erste  Vortrag  schildert  die  Anschauung  vom  Weson  der  Elektrizität 
von  1600  (Gilbert)  an  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  bis  zu  Franklin  und 
Symmer;  der  zweite  bespricht  die  Wirksamkeit  von  Coulomb,  Galvani 
(der  auf  eine  sehr  viel  höhere  Stufe  gestellt  wird,  als  man  ihm  gewöhnlich 
zuerkennt),  Volta,  Davy,  Oersted.  Ampere,  Weber,  Gauss.  Der  dritte 
Vortrag  ist  ausschliefslich  Farad ay  gewidmet,  zu  dessen  Lebensbild  eine  zwar 
kurze  aber  doch  sehr  vollständige  Übersicht  seiner  Umgestaltung  der  elektrischen 
Fundamente  gegeben  wird;  daran  anschliefsend  zeigt  der  vierte,  wie  Maxwell, 
Hertz,  Lüdge,  auf  den  von  Faraday  eingeschlageneu  Bahnen  weitergehend, 
die  Anschauung  von  der  Elektrizität  ausgebildet  haben,  die  uns  als  die  richtige 
gilt.  Der  letzte  Vortrag  weist  auf  den  Dualismus  hin,  der  in  der  Physik  sich 
heute  vorfindet,  wo  die  Lehren  der  Mechatiik  mit  Materie  und  Fernkräften 
(Gravitation)  denen  z.  B.  der  Optik  und  Elektrizität  mit  Äther  und  dem  völligen 
Ausschiurs  der  Newtonschen  Fernkräfte  gegenüberstehen  — ,  und  die  neben 
einander  stehenden  Bemühungen,  neben  dem  Räume  und  der  Zeit  entweder 
die  Masse  oder  die  Kraft  oder  endlich  die  Energie  als  drittes  Absolutes  ein- 
zuführen. 

Diese  kurze  Übersicht  zeigt  den  Rahraon,  in  dem  der  Verfasser  mit  der 
ihm  zu  Gebote  stehenden  Fülle  von  Einzelheiten  ein  äufserst  klares  und 
inhaltsvolles  Bild  von  der  theoretischen  Anschauung  über  das  Wesen  der 
Elektrizität  samt  den  sie  begründenden  Versuchen  liefert.  Ein  äufserst  ver- 
dienstvolles Unternehmen,  das  des  Beifalles  aller,  die  die  Kenntnis  der  elektri- 
schen Erscheinungen  durch  eine  von  kundiger  Hand  gewährte  Einführung  in 
die  heutige  theoretische  Betrachtung  erweitern  wollen,  sicher  sein  darf. 

Zwischen  die  beiden  letzten  Vorträge  hat  der  Verfasser  ein  Gleichnis  ein- 
gefügt, in  dem  er  sehr  glücklich  die  mannigfachen  Versuche,  die  elektrischen 
Erscheinungen  zu  deuten,  vergleicht  mit  dem  Bemühen  von  Marsbewohnern, 
die  Uhr  im  Wartesaal  einer  Eisenbahn  aus  den  Bewegungen  ihrer  Zeiger  und 
den  Beziehungen  der  Ereignisse  auf  der  Bahn  zu  ihr  zu  verstehen.       A  S. 


334 

Sir  Isaac  Newtons  Optik  oder  Abbandlang  Ober  Spiegelungen, 
Brechungen,  Beugungen  und  Farben  de«  Lichtes.  (1704)  Übersetzt 
und  herausgegeben  von  Willi  am  Abend  roth  (Dresden).  I.Buch.  Mit 
dem  Bildnis  von  Sir  Isaac  Newton  und  46  Figuren  im  Text.  Leipzig, 
Wilh.  Engelmann,  1898  (Ostwalds  Klassiker  der  exakten  Wissen- 
schaften No.  %).  132  S.  8».  Preis  2,40  M. 

Nachdem  der  Herausgeber  dieser  Sammlung  von  Klassikern  der  exakten 
Wissenschaften  schon  im  20.  Heft  der  Sammlung  die  Arbeit  von  Uuyghens 
über  das  Licht  seinen  Losern  gegeben  hatte,  bietot  er  ihnen  jetzt  das  Werk  von 
Huyghens  grofsem  Gegner  in  der  Erklärung  des  Lichts,  die  Optik  von  Newton. 
Der  ganzen  Sammlung  hätte  als  Motto  das  Epigramm  von  Lessing  vorgesetzt 
werden  können: 

Wer  wird  nicht  einen  Klopstock  loben? 
Doch  wird  ihn  jeder  lesen?  Nein. 
Wir  wollen  weniger  erhoben 
Und  fleifsiger  geleson  sein. 

Von  Newto|ns  Optik  kann  dieses  Wort  noch  mehr  gelten  als  von  vielen 
anderen;  gelobt  wird  or  sicherlich,  gelesen  um  so  weniger,  als  wir  ja  alle  in 
der  Schule  schon  gelernt  haben,  dafs  seine  Ansicht  über  das  Licht  falsch  ist  Wer 
aber  das  Buch  wirklich  einmal  zur  Hand  nimmt,  wird  schon  nach  wenigen 
Seiten  erkennen,  wie  viele  und  wichtige  Untersuchungen,  deren  Wert  von 
aller  Theorie  und  Hypothese  unabhängig  ist,  (z.  B.  die  über  die  verschiedene 
Brechbarkeit  von  roten  und  blauen  Strahlen  p.  15  ff.)  hier  mit  den  einfachsten 
Hilfsmitteln  angestellt  worden  sind.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  betrachtet, 
gewinnt  Newtons  Optik  noch  mehr  Wert  in  unserer  Zeit,  in  der  viel  mehr, 
auch  von  solchen,  die  nicht  Fachloute  sind,  experimentiert  wird  als  früher. 
Dos  erste  aber,  was  heut  ein  junger  Experimentator  zur  Haud  nimmt,  ist  eine 
Preisliste  Uder  Exporimentierkästen;  und  erst  mit  dem  Kasten  fängt  für  viele 
die  Möglichkeit  an,  Physik  zu  treiben.  Für  solche  Jünger  der  Wissenschaft  ist 
es  im  höchsten  Grade  belehrend,  zu  sehen,  wie  viele  und  wichtige  Unter- 
suchungen ein  Mann  wie  Newton  mit  den  einfachsten  Hilfsmitteln,  man 
könnte  beinahe  sagen,  ohne  allo  Hilfe  von  Mechanikern  angestellt  hat.  So  hat 
das  Werk  doppelten  Wert,  historischen  und  pädagogischen,  und  um  beider 
willen  ist  es  wert,  fleifsig  gelesen  zu  werden.  A.  S. 


Verzeichnis  der  der  Redaktion  zur  Besprechung  eingesandten  Bücher. 

Abhandlungen  der  Naturhistorischen  Gesellschaft  zu  Nürnberg.  XI.  Band. 
Jahresbericht  für  1897.   Nürnberg.  U.  E.  Sebald.  1808. 

Andre  Ch.,  Traite"  d'astronomie  Stellaire.  Premiere  partie.  Etoiles  simples. 
Paris,  Gauthier-Villara,  1899. 

Annuaire  de  l'observatoire  municipal  de  Paris,  dit  Observatoiro  de  Montsouris 
pour  l'annee  1899  (Analyso  et  traveaux  de  189")  Meteorologie-Cbemio- 
Micrographie.    Applications  a  Phygiene.    Paris,  Gauthier- Villars. 

Annuaire  de  l'observatoire  royal  de  Belgiquo  1898,  Soixante-cinquieme  annee. 
Supplement  Bruxelles,  1*98. 

Annuaire  de  l'observatoire  royal  de  Belgique  1899,  66.  annee.  Bruxelles,  1899. 

Astronomischer  Kalender  für  1899.  Herausgegeben  von  der  k.  k.  Stern- 
warte zu  Wien.    Carl  Gerold's  Sohn. 

Bergens  Museums  Aarbog  for  1898.  Afhandlinger  og  Aarsberetning,  udgivne 
af  Bergens  Museum  ved  Dr.  S.  Brunchorst  Bergen,  1899. 


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335 


Bl oohmann,  R.  H.,  Sternkunde  Mit  69  Abbildungen,  3  Tafeln  und  2  Stern- 
karten.  Stuttgart,  Strecker  &  Moser,  1899. 

M.E.  Byrd,  A.  B.  —  A  laboratory  manual  in  astrottomy.  Boston  U.  S.  A. 
Ginn  &  Comp,  1899. 

Ekatam,  Otto.  Einige  tblütenbio]ogische  Beobachtungen  auf  Spitzbergen. 
Tromsoe,  1898. 

Fortschritte  der  Physik  im  Jahre  1897.  Dargestellt  von  der  Physikalischen 
Gesellschaft  zu  Berlin,  .vi.  Jahrgang.  Zweite  Abteilung:  Rieh.  Börnstein, 
Physik  des  Äthers.  Dritte  Abteilung:  Rieh.  Assmann,  Kosmische  Physik. 
Braunschweig,  Friedr.  Vieweg  &  Sohn. 

GeiBsler,  K.  Mathematische  Geographie.  Zusammenhängend  entwickelt  und 
mit  geordneten  Denkübungen  versehen  (Sammlung  Göschen  9*2). 

Haacke,  W.  Bau  und  Leben  des  Tieres  (Aus  Natur  und  Geisteswelt  Samm- 
lung wissenschaftlich-gemeinverständlicher  Darstellungen  aus  allen  Ge- 
bieten dos  Wissens.) 

Handwörterbuch  der  Astronomie,  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  W.  Valentiner. 
Mit  Abbildungen.   Lieferung  14  und  15.   Breslau,  Ed.  Trewendt,  1898. 

Hübners  (Otto)  geographisch  statistische  Tabellen  aller  Länder  der  Erde. 
Ausgabe  1898.   Herausgegeben  von  Prof.  Fr.  v.  Ju rasch ek. 

Jahrbuch  der  Erfindungen.  Begründet  von  H  Gretschel  und  H.  Hirzel. 
Herausgegeben  von  A.  Berberich,  Georg  Bornemann  und  Otto  Müller. 
34.  Jahrg.  Mit  VA  Holzschnitten  im  Text    Leipzig,  Quandt  &  Händel,  1898. 

Kobelt,  W.,  Studien  zur  Geographie.  II.  Band:  Die  Fauna  der  meridionalen 
Sub-Region.    Kreideis  Vorlag.    Wiesbaden,  1898. 

Lehrbuch  der  Erdkunde  für  höhere  Lehranstalten  von  Dr.  H.  J.  Klein. 
Vierte  gänzlich  umgearbeitete  Auflage  von  Prof.  Dr.  A.  Blind.  Mit 
57  Karten,  sowie  mit  101  landschaftlichen,  ethnographischen  und  astro- 
nomischen Abbildungen.  Brauuschweig,  Friedrich  Vieweg  &  Sohn,  1898. 

Morich,  H.,  Bilder  aus  der  Mineralogie.  Für  Lehrer  und  Lernende.  Mit 
II  Abbildungen.   Hannover,  Carl  Meyer,  1899. 

Nessig,  W.  R,  Geologische  Exkursionen  in  der  Umgebung  von  Dresden. 
C.  Heinrich,  Dresden,  1898. 

Ostwal ds  Klassiker  der  exakten  Wissenschaften.  No.  97.  Sir  Isaac  Newtons 
Optik  oder  Abhandlung  über  Spiegelungen,  Brechungen,  Beugungen  und 
Farben  des  Lichts.    II.  und  III.  Buch.    Wilh.  Engelroann,  Leipzig. 

Revue  des  questions  setentifiques  publiee  par  la  Societö  Scientifique  deBruxelles. 
Deuxieme  serie.   Tome  XV.   20  Janvier  1899,  Lourain,  1899. 

Schmidt,  K  E.  F.,  Experimental -  Vorlesungen  über  Elektrotechnik.  Mit 
3  Tafeln  und  320  Abbildungen  im  Text.   Halle  a.  S.,  Wilh.  Knapp,  1898. 

Schulze,  Franz,  Nautik.   Mit  f>6  Abbildungen  (Sammlung  Göschen)  Leipzig. 

8cbul  te-Tigges,  A.,  Philosophische  Propädeutik  auf  naturwissenschaftlicher 
Grundlage  für  höhere  Lehranstalten  und  zum  Selbstunterricht.  Erster 
Teil:  Methodenlehre.   Berlin,  Georg  Reimer,  1898. 

Tynd  all,  J.,  In  den  Alpen  Autorisierte  deutsche  Ausgabe  mit  einem  Vorwort 
von  Gustav  Wiedemann  Mit  in  den  Text  eingedruckten  Abbildungen. 
II.  Auflage.    Brauiischwcig,  Friedr.  Vieweg  &  Sohn,  1899. 

Wölpe rt,  A.  &  H.  Die  Luft  und  die  Methode  der  Hygrometrie.  Mit  108  Ab- 
bildungen im  Text.   Berlin,  W.  &  S.  Loewenthal,  1899. 


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Mitteilung,  betreifend  die  Heraussähe  eines  astronomischen 

Jahresberichtes. 

Der  Unterzeichnete  beabsichtigt  einen  -Astronomischen  Jahresbericht 
mit  Unterstützung  der  Astronomischen  Oesellschaft-  herauszugeben,  welcher 
über  alle  in  einem  Kalenderjahre  erscheinenden  theoretischen  und  praktischen 
Arbeiten  auf  den  Gebieten  der  Astronomie,  Astrophysik  und  Geodäsie  kurze 
Referate  in  systematischer  Ordnung  bringen  soll;  der  erste  Band  wird  im 
Jahre  1900  ausgegeben  und  über  die  im  Jahre  1899  erschienenen  Arbeiten  be- 
richten. Um  nun  eine  möglichste  Vollständigkeit  zu  erzielen,  bittet  der  unter- 
zeichnete Herausgeber  die  Verfasser  aller  derjenigen  Arbeiten,  die  nicht  in  den 
Fachzeitschriften  der  genannten  Gebiete,  sondern  selbstständig  oder  in  solchen 
Zeitschriften  erscheinen,  die  anderen  Zwecken  dienen  und  nur  gelegentlich 
einschlägige  Arbeiten  aufnehmen,  ihm  die  betreffenden  Arbeiten  gütigst  zu- 
gänglich machen  zu  wollen,  und  spricht  den  geehrten  Herren  Kollegen  für 
alle  derartige  dem  „Astronomischen  Jahresbericht-  erwiesene  Unterstützung 
im  voraus  seinen  verbindlichsten  Dank  aus. 

Strassburg  i/E.,  Nicolausring  IJ7, 
Januar  1899. 

Prof.  Dr.  \V.  F.  Wislicenus. 


Verlag:  Hermann  Paatel  in  Berlin-  Druck:  Wilhel»  Gronau  «  Boebdroekerei  in  Berlin  -  Schoner*. 
F6r  die  lUdaction  T*.rm»tworUich:  Dr.  P.  Schwann  in  B.rlin. 
l'nber.  hiifUt  Nachdruck  an,  dem  Inhalt  dietar  ZeiUeotin  anterMfft 
Cl«r*«lxonir*rerht  vorbehalten. 


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■-  v  ■ 


Die  Gravitation. 

Von  Dr.  F.  Koerber  in  Steglitz. 

edem  unserer  Leser  dürfte  es  bekannt  sein,  dafe  die  krumm- 
linigen  Bewegungen  der  Himmelskörper  durch  das  Zusammen- 
wirken einer  denselben  von  Anfang  an  innewohnenden  und 
nach  dem  Beharrungsvermögen  geradlinig  fortschreitenden  Bewegung 
mit  einer  durch  die  allgemeine  Massenanziehung  bedingten,  nach  dem 
Ceutralkörper  des  Systems  hin  gerichteten  Fallbewegung  zu  stände 
kommen.  Den  mannigfachen  Komplex  der  himmlischen,  bald  mehr 
bald  weniger  excentrischen  Bewegungen  auf  dieses  eine  Grundprinzip 
der  allgemeinen  Gravitation  zurückgeführt  und  so  die  wunderbare 
Einfachheit  im  Plane  des  Makrokosmos  dargethan  zu  haben  ist,  der 
gröfste  Ruhmestitel  des  unsterblichen  Newton. 

So  sehr  aber  auch  alle  populären  Darstellungen  der  Himmels- 
kunde diesem  hohen  Verdienste  des  grofsen  Briten  durch  Worte  der 
ehrfurchtsvollen  Bewunderung  gerecht  werden,  wird  doch  der  Gegen- 
stand selbst  unseres  Erachtens  meist  zu  kurz  behandelt.  Wohl  wird 
erörtert,  wie  Newton  zuerst  im  stände  war,  die  Bewegung  des  Mon- 
des um  die  Erde  dadurch  zu  erklären,  dafs  er  die  irdische  Schwere 
mit  einer  dein  Quadrate  des  Abstandes  entsprechend  verminderten 
Intensität  auch  auf  den  Trabanten  wirkend  dachte,  und  wie  sich  dann 
des  weiteren  die  berühmten,  die  Planetenbewegungen  genau  beschrei- 
benden Kepl ersehen  Gesetze  als  raathematische  Notwendigkeiten 
ergaben,  sobald  auch  die  Sonne  als  das  Centrum  einer  der  irdischen 
Schwere  ähnlichen,  aber  im  Verhältnis  zur  gewaltigen  Sonnenmasse 
verstärkten  Anziehungskraft  angenommen  wurde;  —  indessen  eine 
deutliche  Veranschaulichung  der  Intensität  dieser  geheimnisvollen 
Fernkraft  und  eine  Schilderung  der  bis  heute  noch  nicht  mit  Erfolg 

Himmel  und  Erde     IUU9.    XI.  8.  22 


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338 


gekrönten  Bemühungen,  die  rätselhafte,  durch  den  leeren  Raum  hin- 
duroh  wirksam  sein  sollende  Fernewirkung  auf  eine  verstandliche 
Nahwirkung  zurückzuführen,  wird  man  in  der  Regel  vergeblich  suchen. 
In  dieser  Hinsicht  durch  einige  ergänzende  Betrachtungen  über  die 
Gravitation  zur  völligen  Klärung  beizutragen  und  vielleicht  manche, 
bei  dilettantischen  Verehrern  der  Sternkunde  sich  leicht  ausbildende 
Irrtümer  zu  beseitigen,  soll  die  Aufgabe  der  folgenden  Zeilen  sein. 

Es  liegt  bei  flüchtiger  Betrachtung  nahe,  sich  jene  den  ganzen 
Kosmos  in  Ordnung  haltende  Gravitation  als  eine  ungeheuer  gewaltige 
Kraft  vorzustellen,  da  ihr  doch  die  riesigen  Massen  der  Weltkörper 
ohne  Ausnahme  gehorchen  Doch  ist  gerade  diese  Vorstellung  ein 
das  Verständnis  der  himmlischen  Bewegungen  erheblich  beeinträch- 
tigender Irrtum.  Denn  es  treten  dann  von  selbst  die  Fragen  auf: 
„Warum  merken  wir  im  gewöhnlichen  Leben  nichts  von  der  gegen- 
seitigen Anziehung  aller  Gegenstände,  und  warum  fliegen  nicht  alle 
losen  Körper  sofort  gen  Osten,  wenn  dort  die  Sonne,  jene  gewaltige 
Königin  des  Planetenreiches,  am  Horizonte  erscheint?"  Die  Antwort 
auf  diese  Frage  vermag  nur  eine  kleine  Zahlenrechnung  zu  erteilen, 
durch  die  sofort  zu  Tage  tritt,  wie  außerordentlich  gering  die  Inten- 
sität der  Gravitationskraft  ist 

Die  an  der  Erdoberfläche  befindlichen  Körper  erfahren  bekannt- 
lich durch  die  Anziehung  des  gesamten  Erdballs  einen  Zug  nach 
dem  Erdmittelpunkte  ')  hin,  dessen  Stärke  durch  die  Beschleunigung 
gemessen  wird,  die  ein  frei  fallender  Körper  in  jeder  Sekunde  erfährt. 
Diese  Beschleunigung  ist  g  =  9,8  m,  sodafs  ein  vorher  ruhender  Kör- 
per beim  Fallen  am  Ende  der  ersten  Sekunde  eine  Geschwindigkeit 
von  9,8  m  erlangt  und  innerhalb  der  ersten  Sekunde  mit  der  gleich- 
mäfsig  von  0  auf  9,8  anwachsenden  Geschwindigkeit  einen  Weg  von 
4,9  m  zurücklegt,  da  er  ja  während  dieses  Zeitraums  eine  durchschnitt- 

0  -J-  9  8 

liehe  Geschwindigkeit  von  — =  4,9  m  besitzt    Da  nun  aber 

die  Anziehungskraft  im  quadratischen  Verhältnis  der  Entfernung  ab- 
nimmt 80  folgt  für  den  rund  60  Erdradien  vom  Erdmittelpunkt  ent- 
fernten  Mond  nur   eine   Beschleunigung    nach   der   Erde  zu  von 

')  Streng  genommen  weist  das  Lot  nur  an  den  Polen  und  am  Aequator 
nach  dem  geometrischen  Mittelpunkte  der  Krdc.  Für  beliebige  Breiten 
schneiden  die  verlängerten  Lotlinien  die  Erdachse  wegen  der  abgeplatteten 
Gestalt  der  Erde  erat  jenseit  des  Erdmittelpunktes,  doch  beträgt  der  dadurch 
bedingte  Unterschied  zwischen  „geographischer"  und  ,.geocentri8cher"  Breite 
im  Maximum  (bei  45°  Breite)  um  11%  Bogenminuten. 


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339 


9  8         9  8 

=  _-V_ •  =  0,0027  m.    Demnach  würde  der  Mond  in  einer  Se- 
60-  3600 

künde  nur  1,3  mm  nach  der  Erde  zu  fallen,  wenn  er  nicht  durch  seine 
seitliche  Bewegung  gleichzeitig  um  ebendenselben  Betrag  von  der 
Erde  fortgeführt  würde,  sodafs  er  in  Wahrheit  denselben  Abstand  be- 
hält und  in  nahezu  kreisförmiger  Bahn  die  Erde  umläuft.  —  Nicht 
viel  anders  werden  diese  Zahlen,  wenn  wir  die  Anziehung  der  Erde 
durch  die  Sonne  berechnen.  Allerdings  besitzt  das  Tagesgestirn  eine 
324  000  mal  so  grofse  Masse  als  die  Erde,  dafür  ist  es  aber  rund 
400  mal  weiter  von  ihr  entfernt  als  die  Erde  vom  Mond.   Die  Sonnen- 

324  000      324  000  f  .      .  ... 
anziehung  wird  also  das  ^qq2  -  =  igQOOO        8  Anziehung 

des  Mondes  durch  die  Erde,  oder  rund  zweimal  so  grofs  als  die  oben 
berechnete  Zahl  0,0027  m.    Die  Anziehung  eines  an  der  Erdoberfläche 

befindlichen  Körpers  seitens  der  Sonne  beträgt  also  nur  2^  von 

der  irdischen  Schwere,  sodafs  selbst  ein  frei  hängendes  Pendel  keine 
merkbare  Ablenkung  dadurch  erfahren  kann,  dafs  die  Sonne  sich 
bald  am  östlichen,  bald  am  westlichen  Horizonte  befindet.  Zu  der  Ge- 
ringfügigkeit der  Anziehung  selbst  kommt  aber  aufserdem  noch  der 
Umstand  hinzu,  dafs  die  Erde  als  Ganzes  gleichfalls  die  Anziehung 
erfährt,  und  dafs  daher  eine  Lotablenkung  nur  durch  die  Differenz  der 
Wirkung  auf  den  Erdmittelpunkt  und  auf  die  Oberfläche  zustande 
kommen  kann.  Allerdings  hoffte  Zöllner,  mit  Hilfe  seines  hochem- 
pfindlichen „Horizontalpendels-  derartige,  im  günstigsten  Falle  kaum 
ein  Hundertel  einer  Bogensekunde  betragende  Lotstörungen  nachweisen 
zu  können,  es  zeigte  sich  aber  später,  dafs  dieselben  von  weit  stärkeren 
mikroseismischen  und  durch  Temperaturveränderungen  des  Bodens 
bedingten  Schwankungen  völlig  verdeckt  werden.  Fragen  wir  uns 
nun,  wie  es  denn  möglich  ist,  dafs  eine  so  schwache  Kraft,  als  welche 
wir  die  Gravitation  eben  erkannt  haben,  die  Bewegungen  der  Himmels- 
körper beherrscht,  so  ist  die  Antwort  einfach  die,  dafs  andere  Kräfte 
auf  die  frei  im  Weltraum  schwebenden  Gestirne  überhaupt  nicht  wirken, 
und  dafs  die  Bewegungen  der  Himmelskörper  durch  keinerlei  Rei- 
bungen oder  andere  Hindernisso  gehemmt  werden.  In  demselben 
Mafse  aber,  in  dem  ein  Gestirn  massiger  ist,  vergröfsert  sich  aufser 
der  Trägheit  zugleich  auch  die  Anziehungskraft,  6odafs  der  gewaltige 
Jupiter  ebenso  leicht  wie  ein  winziges  Meteorkörperchen  durch  die 
Anziehungskraft  der  Sonne  in  einer  krummlinigen  Bahn,  die  zur  Klasse 
der  Kegelschnitte  gehört,  geführt  wird. 

•_>■>• 


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340 

Um  endlich  zu  begreifen,  warum  man  von  den  gegenseitigen 
Anziehungskräften  der  uns  umgebenden  Körper  im  gewöhnlichen  Leben 
nichts  bemerken  kann,  erübrigt  es  noch,  die  Ergebnisse  direkter 
Messungen  dieser  Eräite  zu  erörtern.  Wir  haben  über  eine  derartige, 
zum  Zwecke  der  Bestimmung  der  mittleren  Dichtigkeit  und  des  Ge- 
wichts der  Erde  unternommene  Untersuchung  im  neunten  Bande 
dieser  Zeitschrift  (S.  567)  berichtet  und  gaben  dabei  an,  dafs  ein  Gramm 
einer  anderen,  ebenso  grofsen  und  einen  Centimeter  entfernten  Mafse 
eine  Beschleunigung  von  6,685.  10~8  cm  erteilt.  Denken  wir  uns  nun 
zwei  Bleikugeln  von  je  1  m  Radius,  also  48  000  kg  Gewicht  in  einem 
gegenseitigen  Mittelpunkts -Abstände  von  2,01  m,  sodafs  also  der 
Zwischenraum  nur  einen  Centimeter  beträgt,  dann  würden  sich  diese 
Kugeln,  dem  obigen  Messungsergebnis  entsprechend,  gegenseitig  eine 

d     ui  6,685. 10 -«.48 000 000  nnftnA,0,0 

Beschleunigung  von   -—        201*  ~  ~  0™ 007  942  cm  er" 

teilen.  Diese  Beschleunigung  würde  also  nur  ein  sehr  kleiner  Bruch- 
( 12  350 000 )  ^6r  Schwerebeschleunigung  sein;  der  durch  die  An- 
ziehung der  Bleikugeln  bedingte  Zug  ist  daher  in  demselben  Ver- 
hältnis kleiner  als  deren  Gewicht  Es  ergiebt  sich  für  diesen  Zug 
durch  einfache  Regeldetri  ein  Wert  von  3,88  g.  Da  ein  Menschen- 
haar im  stände  ist,  eine  Belastung  von  gegen  100  g  zu  tragen,  ohne 
zu  reifsen,  so  erhalten  wir  einen  anschaulichen  Begriff  von  der  Ge- 
ringfügigkeit der  Gravitationswirkung,  wenn  wir  bedenken,  dafs  die 
Gravitationskraft  auf  etwa  25  fache  Intensität  gesteigert  werden  müfste, 
sollte  durch  die  Anziehung  unserer  mächtigen  Bleikugeln  ein  Haar 
zerrissen  werden!  Weit  kleinere  Zahlen  würden  sich  aber  natürlich 
ergeben,  wenn  man  die  Rechnung  für  minder  beträchtliche  Massen 
durchführen  wollte.  Im  Vergleich  zu  den  elektrischen  und  magne- 
tischen Kräften,  die  wir  im  physikalischen  Laboratorium  zu  beo- 
bachten pflegen,  ist  also  die  Gravitation  von  völlig  verschwindender 
Intensität. 

Man  könnte  nun  die  Frage  aufwerfen,  ob  nicht  bei  dieser  Lage 
der  Dinge  magnetische  und  elektrische  Fernewirkungen  in  den  Be- 
ziehungen der  Himmelskörper  zu  einander  eine  sehr  bedeutsame  Rulle 
spielen  müfsten,  sodafs  die  nur  das  Gravitationsgesetz  berücksichti- 
genden Rechnungen  der  Astronomen  auf  reoht  unsicherer  Grundlage 
ruhten?  Diese  Befürchtung  ist  jedoch,  wie  ja  schon  die  glänzende  Über- 
einstimmung zwischen  der  astronomischen  Theorie  und  Beobachtung 
beweist,  unbegründet.    Ziehen  wir  zunächst  den  Magnetismus  in  Be- 


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341 


tracbt,  so  wirkt  derselbe  in  der  Nähe  eines  Magnetpols  in  der  That 
mit  ansehnlicher  Stärke,  und  wir  wissen  andererseits,  dafs  die  Erde 
sich  wirklich  wie  ein  gewaltiger  Magnet  verhält.2)  Indessen,,  wegen 
des  gleichzeitigen  Vorhandenseins  zweier  stets  entgegengesetzt  wirken- 
der Pole  verringert  sich  die  von  einem  Magneten  ausgebende  Kraft 
nicht,  wie  die  Schwerkraft,  dem  Quadrate  des  Abstandes,  sondern  so- 
gar der  dritten  Potenz  desselben  proportional.  Denken  wir  uns  also 
einen  Magneten,  dessen  magnetische  Anziehungskraft  auf  ein  Stück 
magnetisches  Eisen  in  einem  gewissen  Abstände  tausendmal  so  grofs 
ist  als  die  Gravitationswirkung,  so  würde  bereits  bei  einem  tausend- 
mal so  grofsen  Abstände  die  magnetische  Kraft  nicht  mehr  stärker 
wirken  als  die  Gravitation,  denn  erstere  wäre  auf  den  1  000  000  000  ten, 
letztere  nur  auf  den  1000  000 ten  Teil  ihres  ursprünglichen  Wertes 
gesunken.  Laseen  wir  nun  den  Abstand  sich  nochmals  auf  das  tausend- 
fache vergrößern,  so  ist  nunmehr  die  Gravitationswirkung  tausendmal 
stärker  als  die  magnetische  Kraft.  Wir  sehen  also,  dafs  dio  mag- 
netischen Kräfte,  so  intensiv  sie  auch  an  der  Oberfläche  der  Gestirne 
wirken  mögen,  für  die  gegenseitigen  Beziehungen  verschiedener  Welt- 
körper wegen  der  grofsen,  dieselben  trennenden  Himmelsräume  nicht 
in  Betracht  kommen.  Die  Wirkungen  der  entgegengesetzten,  mag- 
netischen Pole  heben  sich  eben  in  sehr  grofser  Entfernung  voll- 
ständig auf. 

Sonach  bliebe  nur  noch  die  Möglichkeit  elektrischer  Fernewir- 
kung zu  widerlegen.  Hier  haben  wir  nun  zu  beachten,  dafs  elektrisohe 
Ladungen  nur  auf  der  Oberfläche  der  Körper  ihron  Sitz  haben  können. 
Vergleichen  wir  aber  zwei  verschiedene  Kugeln,  so  verhalten  sich 
deren  Oberflächen  bekanntlich  wie  die  Quadrate,  die  Inhalte  dagegen 
wie  die  Kuben  der  Radien.  Eine  Kugel  vom  zehnfachen  Radius  hat 
demnach  zwar  eine  hundertmal  so  grofse  Oberfläche,  aber  eine  tausend- 
fach vergröfserte  Masse;  oder  mit  anderen  Worten:  die  Masse  wächst 
in  viel  schnellerem  Verhältnis  als  die  Oberfläche.  Wenn  es  daher 
auch  leicht  gelingt,  kleine  Körperchen  so  stark  zu  elektrisieren,  dafs 
kräftige  Anziehungs-  oder  Abstofsungswirkungen  beobachtet  werden, 
so  ist  bei  den  massigen  Weltkörpern,  deren  Oberfläche  im  Verhältnis 
zur  Masse  als  sehr  klein  bezeichnet  werden  mufs,  eine  Beeinflussung 
der  Bewegungen  durch  elektrostatische  Kräfte  ausgeschlossen,  zumal 

')  Nach  Gauss  müfsten  im  Innern  der  Erde  8464  Trillionen  je  ein  Pfund 
schwerer  Magnetstäbe  untergebracht  werden,  um  die  Wirkungen  des  Erdmag- 
netismus künstlich  zu  erzielen;  jedes  Kubikmetordes  Erdballs  mutete  so  mag- 
netisch sein  wie  acht  derartige  Stabe. 


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uns  bis  jetzt  noch  keines  dieser  Gestirne  Anzeichen  hoher  elektrischer 
Erregung  gezeigt  hat  Anders  mag  es  wohl  bei  den  sehr  ausgedehnten, 
aber  nur  mit  verschwindend  kleiner  Masse  begabten  Kometen  stehen. 
In  der  That  erklärte  ja  Beseel  die  Bewegungen  der  Schweifteüchen 
dieser  Himmelskörper  duroh  Zuhilfenahme  einer  elektrischen,  von  der 
Sonne  ausgehenden  Abstofsungskraft,  und  ob  nicht  vielleicht  auch  ein- 
mal gewisse,  sonst  unerklärliche  Anomalien  in  den  Bewegungen 
mancher  Kometenkerne  zum  Zurückgreifen  auf  dasselbe  Aushilfs- 
mittel zwingen  werden,  mag  dahin  gestellt  bleiben. 

Sehen  wir  also  von  den  eine  Ausnahmestellung  einnehmenden 
Kometen  ab,  so  können  wir  naoh  dem  obigen  zuversichtlich  behaupten, 
dafs  das  ganze  Weltgetriebe  ausschliefslioh  durch  die  Newton  sehe 
Gravitation  beherrscht  wird,  und  es  wird  uns  natürlich  erscheinen, 
dafs  man  seit  Newton  unablässig  bemüht  gewesen  ist,  diese  für  unser 
Vorstellungsvermögen  unfafsbare,  weil  scheinbar  durch  den  leeren 
Raum  hindurch  wirkende  Kraft  auf  irgend  einem  Wege  auf  Nah- 
wirkungen zurückzuführen  und  damit  dem  mechanischen  Verständnis 
zu  erschließen. 

Was  zunächst  Newton  selbst  über  diese  Frage  gedacht  hat, 
spricht  er  in  seinen  Prinzipien  am  Schlüsse  des  Kapitels  über  die 
Kometen  folgendermafsen  aus:  „Ich  habe  nicht  dahin  gelangen  können, 
aus  den  Erscheinungen  den  Grund  dieser  Eigenschaften  der  Schwere 
abzuleiten,  und  Hypothesen  erdenke  ich  nicht.  ...  Es  genügt,  dafs 
die  Schwere  existiere,  dafs  sie  naoh  den  von  uns  dargelegten  Gesetzen 
wirke,  und  dafs  sie  alle  Bewegungen  der  Himmelskörper  und  des 
Meeres  zu  erklären  im  stände  sei."  Scheint  Newton  mit  diesen 
Worten  jeden  Versuch  einer  weiteren  Erklärung  der  Gravitation  ab- 
zulehnen, so  geht  aus  den  sich  an  die  obigen  Sätze  anschliessenden 
Worten,  die  selbst  die  Kohäsion  auf  ein  geistiges  Agens  beziehen,  so- 
wie namentlich  aus  einem  Briefe  an  Bentley  mit  Sicherheit  hervor, 
dafs  Newtons  persönliche  Ansicht  alle  diese  Kraftwirkungen  auf  eine 
Art  Willen  zurückführt,  ziemlich  in  demselben  Sinne,  wie  es  später 
von  Hörschel,  Schopenhauer  und  Zöllner  geschah.  Zöllner 
gebührt  im  besonderen  das  Verdienst,  durch  genaue  historische  Nach- 
forschungen Newtons  Meinung  gegenüber  den  mifs verständlichen 
Auslegungen  von  Faraday  und  Maxwell  sicher  festgestellt  zu  haben. 
Auch  kann  ebenderselbe  als  der  eifrigste  neuere  Verteidiger  der  un- 
vermittelten Fernewirkung,  die  er  eben  als  nur  auf  transcendentalem 
Wege  begreiflich  erachtet,  bezeichnet  werden.  Da  die  neuere  Physik 
sogar   bei   den   nur  in  unmittelbarer  Nähe  wirkenden  Kohäsions- 


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und  Adhäsionskräften  zwischen  den  sioh  beeinflussenden  Molekeln 
Zwischenräume  annimmt  und  selbst  beim  Stöfs  eine  unmittelbare  Be- 
rührung der  Atomkerne  ausschliefst,  so  behauptet  Zöllner  mit  einem 
gewissen  Rechte,  dafs  auoh  bei  einer  etwaigen  Zurückführung  der 
Gravitation  auf  Stofswirkungen  die  innere  Begreiflichkeit  derselben 
kaum  einen  Sohritt  weiter  kommen  würde,  da  immer  noch  eine  „actio 
in  distansu,  wenn  auch  nur  von  molekularer  Gröfse,  übrigbliebe. 
Zöllner  geht  sogar  in  seinen  Konsequenzen  so  weit,  dafs  er  den 
alten,  scholastischen  Grundsatz:  „Corpus  ibi  agere  non  potest,  ubi  non 
est14  direkt  in  den  Satz  umkehrt:  „Corpus  ibi  agere  non  potest,  ubi 
est"  Hat  demnach  die  meohanisohe  Unbegreiflichkeit  einer  unver- 
mittelten Fernewirkung  für  den  Naturforscher,  der  sich  mit  der  Auf- 
deckung der  Tbatsaohen  begnügen  mufs,  nach  Zöllners  Ansicht 
keine  Bedeutung,  so  riohtete  dieser  Forscher  sein  Bestreben  aus- 
schliefslich  auf  die  möglichst  weitgehende  Zurückführung  der  ver- 
schiedenen Fernewirkungen  auf  einander.  Mit  Begeisterung  gab  er 
sich  darum  der  Verteidigung  des  Weberschen  elektrodynamischen 
Grundgesetzes  hin,  welches  duroh  die  Annahme,  dafs  die  elektrosta- 
tischen Kräfte  von  der  Geschwindigkeit  der  aufeinander  wirkenden 
elektrischen  Teilchen  abhängig  seien,  nicht  nur  die  elektrodynamischen 
Erscheinungen,  sondern  auch  die  Induktionsströme  zu  erklären  ver- 
mochte. Zöllner  hoffte,  auch  die  Gravitation  auf  elektrische  Ferne- 
wirkungen zurückführen  zu  können,  indem  er  die  Hypothese  aufstellte, 
date  die  Anziehung  ungleichartiger  Elektrizitäten  um  ein  weniges  die 
Abstofsung  derselben  Mengen  gleichartiger  Elektrizität  übertreffe. 
Stünden  sich  also  zwei  unelektrische,  d.  h.  mit  gleichen  Mengen  beider 
Elektrizitäten  geladene  Massen  gegenüber,  so  müfste  als  resultierende 
Wirkung  aller  elektrostatischen  Kräfte  ein  kleines  Übergewicht  der 
Anziehung,  also  eine  Gravitation  im  Newtonschen  Sinne  übrig  bleiben. 

Mit  Zöllners  im  Jahre  1882  erfolgten  Tode  brachen  die  in 
diesem  Sinne  sich  bewegenden  Spekulationen  fast  vollständig  ab,  da 
sich  von  England  aus  eine  völlige  Umwälzung  der  Grundansobauungen 
über  die  Elektrizität  mehr  und  mehr  Bahn  brach.  Die  neue,  von 
Faraday  vorbereitete  und  durch  Maxwell  in  ihren  mathematischen 
Grundlagen  ausgearbeitete  Auffassung  verwirft  die  unvermittelten  Fern- 
kräfte gänzlich  und  erklärt  im  besonderen  die  scheinbaren,  elektrischen 
Fernewirkungen  duroh  gewisse  Störungen  im  Spannungszustande  des 
„Äthers",  die  sich  von  jedem  elektrisch  geladenen  oder  magnetisch 
erregten  Körper  aus  im  Räume  von  Punkt  zu  Punkt  ausbreiten.  Das 
Kriterium,  welche  von  den  beiden  Auffassungen  den  Vorzug  verdiene. 


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mutete  in  der  Feststellung  bestehen,  ob  die  scheinbaren  Fernewirkungen 
zu  ihrer  Ausbreitung  Zeit  gebrauohen  oder  nicht  Wurde  diese  Frage 
bejaht,  so  mutete  sich  das  Zünglein  der  Wage  entschieden  zu  Gunsten 
der  Maxwel Ischen  Lehren  neigen,  denn  eine  unvermittelte » Ferne- 
wirkung kann  kaum  als  zeitlich  sich  ausbreitend  gedacht  werden.  — 
So  standen  sich  die  beiden  entgegengesetzten  Ansiohten  gegenüber, 
als  Heinrich  Hertz  die  Welt  durch  seine  epochemachenden  Ver- 
suche in  Erstaunen  setzte.3)  Jetzt  war  experimentell  erwiesen,  dafs 
die  Induktionswirkungen  wie  Lichtwellen  mit  einer  zwar  enorm  grofsen, 
aber  doch  mefsbaren  Geschwindigkeit  den  Raum  durcheilen;  es  liefäen 
sich  elektrische  Ätherschwingungen  erzeugen,  die  alle  Eigenschaften 
der  Lichtschwingungen  besateen,  kurzum  die  Maxwellschen  An- 
schauungen fanden  sich  fast  in  allen  ihren  Konsequenzen  bestätigt. 

Nun  lag  es  nahe,  die  neuen  Anschauungen  auch  auf  die  Gravi- 
tation, die  letzte  bisher  noch  nicht  auf  Nahwirkungen  zurückgeführte 
Fernkraft,  auszudehnen.  Der  Glaube  an  die  Existenz  von  Fernkräften 
war  in  seinen  Grundfesten  erschüttert,  und  die  Aufmerksamkeit  der 
Gelehrten  richtete  sich  darum  mehr  als  bisher  den  schon  seit  geraumer 
Zeit  aufgetauchten  Versuchen  einer  mechanischen  Erklärung  der  Gra- 
vitation zu.  Die  bedeutsamsten  hier  in  Betracht  kommenden  Hypothesen 
sind  wohl  die  von  Lesage,  Spiller,  Preston,  Isenkrahe,  Well- 
mann u.a.  ausgearbeiteten  Ätherstofstheorien.  Nach  ihnen  soll  jeder 
Himmelskörper  beständig  einem  allseitigen  Bombardement  von  Äther- 
teilchen ausgesetzt  sein,  deren  Stofswirkungen  sich  bei  oinem  einzelnen 
Gestirn  kompensieren  müteten,  während  zwei  benachbarte  Weltkörper 
infolge  des  teilweisen  gegenseitigen  Schutzes  vor  dem  Anprall  der 
Ätherteilchen  gegeneinander  bewegt  werden  müteten.  Es  würde  so- 
nach eine  scheinbare  Anziehung  resultieren,  die  sogar  notwendig, 
ebenso  wie  das  Newton  sehe  Gesetz  es  verlangt,  dem  Quadrate  der 
Entfernung  umgekehrt  proportional  sein  mutete .  Aber  schon  die 
Proportionalität  der  Gravitation  mit  der  Masse  der  aufeinander  wir- 
kenden Körper  bereitet  diesen  Theorien  Schwierigkeiten,  da  nach 
ihnen  eher  eine  Abhängigkeit  der  Anziehung  von  der  Gröfse  der 
Oberfläche  zu  erwarten  wäre.  Nur  die  etwas  gekünstelte  Annahme 
hochgradiger  Porosität  aller  Massen  den  Ätherteilchen  gegenüber  hilft 
über  diese  Schwierigkeiten  hinweg,  während  manche  andere  Einwürfe 
von  keiner  der  vielen  Modifikationen  der  Ätherstofstheorie  beseitigt 
werden  können.    Entweder  nehmen  dieselben  für  den  Schwereäther 

;i)  Vgl.  die  Aufsätze  in  Himmel  und  Erde  Bd  II,  S  72  und  Bd.  III,  S.  157. 


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ganz  andere  Eigenschaften  an  als  für  den  Lichtäther,  oder  sie  führen 
zu  der  Konsequenz,  dafs  die  Gravitation  bei  grofsen  Entfernungen 
trotz  noch  so  grofser  Massen  aufhören  müfste.  Nach  Isenkrahes 
Anschauungen,  die  die  Ätherteilchen  als  vollkommen  unelastisch  be- 
trachten, würde  wieder  eine  merkliche  Hemmung  der  Planetenbewe- 
gungen zu  erwarten  sein,  falls  man  nicht  die  Geschwindigkeit  der 
Ätherteilchen  als  ungeheuer  grofs  annähme,  auch  müfste  die  Gravitation 
von  der  relativen  Geschwindigkeit  der  auf  einander  wirkenden  Körper 
abhängen,  und  beim  Dazwischentreten  eines  dritten  Körpers  würden 
die  Ätherstofswirkungen  zu  ganz  anderen  Ergebnissen  führen  als  das 
Newton  sehe  Gesetz.  So  bestechend  daher  auch  anfangs  der  diesen 
Theorien  zu  Grunde  liegende  Gedanke  sein  mag,  ist  doch  bis  jetzt 
keine  sichere  Aussiebt  vorhanden,  auf  dieser  Grundlage  zu  einer  voll- 
kommenen Darstellung  der  beobachteten  Thatsachen  zu  gelangen. 

Einen  Fortschritt  gegenüber  den  Ätherstofstheorien  bilden  wohl 
die  hydrodynamischen  Theorien  von  Djerknes  und  Korn.  Letzterem 
ist  vor  kurzem  durch  die  Annahme  pulsierender  Kugeln  in  einer  in- 
kompressiblen  Flüssigkeit  unter  Anwendung  der  sicheren,  theoretischen 
Entwicklungen  der  Hydrodynamik  eine  vollständige  Ableitung  des 
Gravitationsgesetzes  gelungen.  Allerdings  bereitet  die  Annahme,  dafs 
alle  materiellen  Körper  im  Kornschen  Sinne  pulsieren,  d.  h.  ihren 
Äthergehalt  periodisch  verändern,  dem  Vorstellungsvermögen  erheb- 
liche Schwierigkeiten,  sodafs  die  Korn  sehe  Theorie  wohl  nicht  als 
eine  Hypothese  im  althergebrachten  Sinne,  sondern  nur  als  eine  me- 
chanische Analogie  aufzufassen  ist.  Immerhin  ist  es  doch  beachtens- 
wert, dafs  gegen  diese  Untersuchungen  nicht  nur  kein  Widerspruch 
laut  geworden  ist,  sondern  dafs  sich  auf  diesem  Wege  auch  die  elek- 
trischen Erscheinungen  durstellen  lassen,  und  dafs  man  auch  durch 
experimentelle  Anordnungen  die  Anziehungswirkungen  pulsierender 
in  Wasser  schwebender  Kugeln  wirklich  hat  beobachten  können. 

Können  wir  auch  nach  alledem,  wie  Prof.  Drude  am  Schlufs 
eines  greiseren  lieferates  über  die  Fernewirkungen4)  bemerkt,  das 
Problern  der  Erklärung  der  Gravitation  durch  Nahwirkungen  noch 
nicht  als  gelöst  betrachten,  so  sehen  wir  doch,  dars  sich  in  neuester 
Zeit  ein  sehr  intensives  Bestreben  geltend  macht,  zu  diesem  Ziele  zu 
gelangen.  Die  Entscheidung  der  Frage,  ob  es  erreichbar  ist,  würde  eine 
genauere  und  sichere  Kenntnis  der  Gravitation  selbst  erheischen,  als 
uns  bis  jetzt  zur  Verfügung  steht.    Darum  sehen  wir  gegenwärtig  auch 

*)  Wiedemanns  Annalen,  Bd  £2. 


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allerorten  Untersuchungen  im  Gange,  welche  die  genaue  Gültigkeit 
des  Gravitationsgesetzes  in  der  einfachen  Newtonschen  Fassung 
prüfen  sollen  und  eventuell  die  erforderlichen  Korrektionen  der  New- 
tonsohen  Formel  aufzusuchen  hätten. 

So  ist  in  erster  Reihe  die  Frage  nach  der  Fortpflanzungsge- 
schwindigkeit der  Gravitation  von  höchster  Bedeutung.  Falls  die  Kraft 
eine  reine  Fernewirkung  im  Newtonschen  Sinne  wäre,  dann  müfste 
sie  von  der  Zeit  völlig  unabhängig  sein  oder  mit  anderen  Worten  eine 
unendlich  grofse  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  haben.  Beruht  da- 
gegen die  Schwere  auf  einer  von  Punkt  zu  Punkt  fortschreitenden 
Nah  Wirkung,  wie  die  neuere  Physik  gern  annehmen  möohte,  dann 
muf8  zu  ihrer  Ausbreitung  im  Räume  eine  gewisse,  wenn  auch  noch 
so  kleine  Zeit  erforderlich  sein.  Nun  ist  die  Astronomie  allerdings 
bis  heute  bei  allen  ihren  duroh  die  Beobachtung  so  glänzend  bestätigten 
Rechnungen  stets  mit  der  zeitlosen  Fernewirkung  ausgekommen,  ja 
Laplaoe  glaubte  auf  Grund  seiner  Untersuchungen  der  Mondbewegung 
behaupten  zu  dürfen,  dafs  die  Schwerkraft  sich  mindestens  10  Millionen 
mal  schneller  als  das  Licht  ausbreiten  müsse.  Zu  einem  ähnlichen 
Resultat  gelangte  in  neuerer  Zeit  Oppenheim,  während  v.  Hepp  erger 
sich  damit  begnügt,  einen  mindestens  500  mal  die  Lichtgeschwindig- 
keit übertreffenden  Wert  für  die  Fortpflanzung  der  Gravitation  zu 
fordern,  damit  von  Seiten  der  Astronomie  gegen  etwaige  Nahwirkungs- 
theorien  nicht  Widerspruch  erhoben  zu  werden  brauche.  Jedenfalls 
wird  also  durch  astronomische  Thatsachen  die  neuere  Auflassung  bis 
jetzt  nicht  im  mindesten5)  gestützt,  und  es  erscheint  darum  verständ- 
lich, dafB  sich  unter  den  Astronomen  auch  gegenwärtig  noch  manche 
Anhänger  der  reinen  Fernewirkungslehre  finden,  nur  dafs  die  meisten 
diese  Ansicht  vielleicht  nicht  gern  aussprechen  mögen,  um  nioht  un- 
modern zu  erscheinen. 

Selbst  die  Gültigkeit  der  Formel  für  das  Gravitationsgesetz  ist 
übrigens  angezweifelt  worden,  wenn  auch  nioht  den  Nahwirkungs- 
theorien  zuliebe.  Für  diese  Zweifel  waren  vielmehr  astronomische 
Gründe  mafsgebend.  Der  Planet  Merkur  zeigt  nämlich  eine  Ver- 
schiebung der  Lage  seiner  Sonnennähe,  die  bisher  durch  die  Theorie 
noch  nicht  hat  erklärt  werden  können.  Schon  Newton  selbst  hat 
aber  darauf  hingewiesen,  dafe  eine  Veränderung  seines  Gesetzes  in 
dem  Sinne,  dafs  nicht  die  zweite  Potenz  der  Entfernung  für  die  An- 

*)  Höchstens  könbte  nach  Oppolzer  eine  Anomalie  in  der  Bewegung 
des  Winneckeschen  Kometen  durch  die  Annahme  endlicher  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit der  Schwere  erklärt  werden. 


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ziehung  bestimmend  sei,  eine  Perihelbewegung  der  Planeten  zur  Folge 
haben  mutete.  Im  Aneehlnfe  an  diesen  Oedanken  hat  nun  Hall  statt 
des  Exponenten  2  die  Zahl  2,00  000  016  in  die  Gravitationsformel  ein- 
geführt  und  dadurch  die  Erklärung  der  thatsäohlich  beobachteten 
Merkurbewegung  zu  stände  gebracht,  ohne  dafs  von  dieser  gering- 
fügigen Korrektion  eine  merkbare  Perihelbewegung  bei  den  entfernteren 
Planeten  bewirkt  werden  könnte.  So  unwahrscheinlich  nun  auch 
a  priori  die  eben  besprochene  Abweichung  von  derjenigen  Form  des 
Gesetzes  ist,  welche  für  alle  Centraikräfte  (also  auch  für  Licht, 
Elektrizität  u.  s.  w.)  gilt,  so  haben  doch  auch  rein  spekulative  Über- 
legungen C.  Neu  mann  und  Seeliger  zu  der  Annahme  einer  der- 
artigen Korrektion  geführt,  falls  die  Zahl  der  Sterne  eine  in  Wahrheit 
unendlioh  grofse  sein  sollte,  sodafs  man  in  jeder  beliebigen  Richtung 
schliefslich  auf  einen  materiellen  Körper  stofsen  müfste.  Wenn  diese 
Unendlichkeit  der  Ausdehnung  des  sternerfüllten  Weltalls  richtig  ist, 
müfste  man  allerdings  auch  erwarten,  dafs  die  ganze  Himmelsfläche 
gleichmäßig  hell  leuchten  müfste.  Nur  die  Annahme  einer  Absorp- 
tion des  Sternenlichts  im  Weltall,  welche  die  effektive  Abnahme  der 
Lichtstärke  gegenüber  dem  einfachen,  quadratischen  Gesetze  verstärkt, 
lälst  das  wirklich  beobachtete  Aussehen  des  Himmels  mit  einer  un- 
endlioh grofsen  Zahl  der  Gestirne  vereinbar  erscheinen.  Ebenso 
könnte  daher  auch  die  Schwere  eine  Art  von  Absorption  erfahren, 
sodafs  die  Anziehungswirkungen  sich  ebenso  wenig  wie  die  Lioht- 
wirkungen  gleiohmäfsig  über  den  ganzen  Himmel  verteilen  könnten, 
sondern  vornehmlich  nur  von  den  näheren  Gestirnen  aus  zur  Geltung 
kämen. 

Doch  dies  sind  Überlegungen,  welohe  sich  hart  an  der  Grenze 
des  unserem  endlichen  Verstände  erreichbaren  Gebietes  bewegen. 
Bleiben  wir  räumlich  und  zeitlich  an  demjenigen  Orte,  wo  wir  in 
Wirklichkeit  sind,  so  liegt,  wie  gesagt,  noch  kein  stichhaltiger  Grund 
vor,  an  der  exakten  Richtigkeit  des  New  ton  sehen  Gesetzes  zu  zweifeln, 
und  dieses  Gesetz  selbst,  eine  der  gröfsten  Errungenschaften  des 
menschlichen  Geistes,  ist  uns  seinem  inneren  Wirken  nach  nooh  immer 
das  versch leierte  Bild  zu  Sais. 


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Eine  Reise  ins  neue  Goldland  Alaska  im  Jahre  1898. 

Von  Walter  Wemky,  Oberleutnant  d.  L.,  in  Berlin. 
(Schlüte.) 

J>]Pfrm  1.  Juni  waren  Flufs  und  Seen  eisfrei,  und  wenn  es  über 
den  Pafs  im  Gänsemarsch  gegangen  war,  st»  begann  jetzt 
eine  regelrechte  Regatta,  zu  der  Tausende  von  Booten  in  kurzer 
Aufeinanderfolge,  ja  fast  gleichzeitig  starteten. 

Die  Polizei,  bei  der  alle  Boote  angemeldet  werden  muteten,  um 
festzustellen,  ob  auch  nur  Leute,  die  ein  Free  Miners  Certificate  ge- 
löst hatten,  von  den  damit  verliehenen  Rechten  Gebrauch  gemacht  und 
Bäume  gefallt  hatten,  hat  mehr  als  1 1  000  Boote  eingeschrieben.  Es 
befanden  sich  durchschnittlich  in  jedem  Boot  4—5  Personen,  es  gab 
solche  mit  1,  aber  auch  andere  mit  30,  ja  40  Personen  an  Bord;  es 
haben  deshalb  im  Frühjahr  1898  mindestens  .",0000  Menschen  den 
Pars  überschritten,  um  nach  Üawson  City  zu  gelangen. 

In  den  ersten  Tagen  des  Juni  wehte  ein  erfreulicher  Südwind, 
der  im  Verein  mit  dem  hier  noch  nicht  sehr  starken  Strom  die  Boote 
schnell  vorwärts  brachte.  Von  Lake  Bennet,  der  26  miles  oder  4f>  km 
lanif  und  nicht  breiter  als  die  Havel  bei  Spandau  ist,  kommen  wir 
bald  nach  Tajfish  Lake.  Beide  Seen  sind  von  hohen  steilen  Ufern 
umgeben,  die  nun  mit  schönen,  frischen,  grünen  und  blühenden 
Stniuchern  und  Bäumen  bedeckt  sind.  Die  Sonne  hat  Wunder  ge- 
wirkt. 

Der  bis  auf  den  Grund  krystallklare  Tairish  Lake  ist  16,5  miles 
oder  30  km  lang  und  mit  Marsh  oder  Mud  Lake  durch  einen  kurzen, 
schmalen  Flufslauf  verbunden,  in  welchem  sich  eine  beträchtlich 
schnelle  Strömung  bemerkbar  macht,  die  das  landen  sehr  erschwert; 
und  gerade  am  l'fer  dieses  Flurslaufs  ist  eine  Polizei-Wache  der 
Tagish  Post  mit  ihren  Blockhäusern  aufgestellt  worden,  bei  welcher 
die  Boote,  da  sie  nochmals  auf  SchmiiL'irelvvare  untersucht  und  ein- 
geschrieben wurden,  wieder  halten  muTsten. 


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Wir  gelangen  nunmehr  in  den  Marsh  oder  Mud  Lake,  und  während 
bis  jetzt  die  Fahrt  durch  Strom  und  Wind  begünstigt  war,  tritt  nun- 
mehr auf  dem  flachen  und  sehr  breiten  See,  der  20  miles  oder  36  km 
lang  und  dazu  sehr  breit  ist,  eine  absolute  Windstille  ein,  und  das 
Wasser  scheint  stille  zu  stehen. 

Die  Hitze  am  Tage  ist  inzwischen  sehr  grofs  geworden.  Blei- 
schwer drückt  die  hoifse  Luft  auf  uns  hernieder;  und  nun  kommt 
eine  Plage  zum  Vorschein,  auf  die  wir  zwar  schon  vorbereitet  worden 
sind,  die  man  aber  erlitten  haben  mufs,  um  die  durch  sie  verursachte 
Qual  sich  ganz  vergegenwärtigen  zu  können. 


Miles-Canyoc.     Schlucht  vor  den  Stromschnellen. 


Milliarden  grofser  und  kleiner  Mücken,  hier  Mosquitos  genannt, 
umschwärmen  uns  und  summen  Tag  und  Nacht,  kriechen  in  Augen, 
Ohren,  Mund  und  Nase  und  zerstechen  selbst  durch  die  Kleidung 
hindurch  den  ganzen  Körper;  sie  scheinen  sich  für  die  bisherige 
Abwesenheit  der  Menschen  mit  unserem  Blute  entschädigen  zu  wollen, 
und  dabei  heifst  es,  das  schwere  Boot  über  den  36  km  langen 
See  rudern. 

Wir  gelangen  endlich  in  den  50  mile  river,  durch  den  der 
Marsh  oder  Mud  Lake  mit  dem  Lake  Labarge  verbunden  ist  Die 
Strömung  beträgt  hier  je  nach  der  Breite  3  —  5  miles  oder  5 — 9  km 
die  Stunde.    Ungefähr  in  der  Mitte  zwischen  den  beiden  Seeen  be- 


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finden  sich  die  Miles  Canyon  und  die  White  horse  rapide,  die  ge- 
fährlichste Stelle  der  ganzen  Reise. 

Hier  ist  wieder  eine  Polizeiwache,  und  auch  hier  ist  es  der  Po- 
lizei gelungen,  sich  an  einer  Stelle  einzurichten,  die  es  wie  bei  den 
Stromschnellen  des  Tagish  Post  sehr  schwierig,  ja  fast  unmöglich 
macht,  anzulegen  und  zu  landen. 

Die  Schlucht  des  Miles  Canyon  verengt  sich  hier  auf  30  Meter 
und  ist  auf  beiden  Seiten  von  eben  so  hohen  senkrechten  Basalt- 
wänden begrenzt  Der  Strom  rast  mit  einer  Geschwindigkeit  von 
24  km  die  Stunde,  also  Personenzug-Geschwindigkeit,  hindurch.  Am 
Ende  der  Basaltwände,  die  vielleicht  200  Meter  lang  sind,  erweitert 
sich  das  Flufsbett  und  die  Strömung  wird  geringer,  bis  endlich  viel- 
leicht 400  Meter  weiter  hinunter  es  sich  wieder  verengt,  ohne  jedoch 
von  hohen  Wänden  begrenzt  zu  sein,  und  wir  an  die  berüchtigten 
White  horse  rapids  kommen. 

Die  Strömung  ist  auch  hier  eine  gewaltige,  und  in  den  hohen 
Sturzwellen  der  rapids  haben  viele  Hab  und  Gut,  einige  sogar  ihr 
Leben  verloren.  An  den  Ufern  der  Schlucht  und  dieser  Strom- 
schnellen entlang  ist  eine  sogenannte  Pole  traniway  gebaut,  welche 
Güter  und  Menschen  um  die  gefürchteten  Stromschnellen  herumbeför- 
dert. Des  hohen  Preises  wegen  verzichten  die  meisten  jedoch  auf 
dieses  Mittel  und  trotzen  mutig  der  Gefahr. 

Die  Pole  tramways  sind  Bahnen,  auf  denen  an  Stelle  der  Schienen, 
Baumstämme  von  10 — 15  cbra  Durchmesser  befestigt  sind,  während 
sich  um  die  aus  Eisen  gegossenen  Räder  eine  auf  die  Baumstämme 
(Holzschienen)  passende  Nute  befindet 

Die  Vegetation  im  Inneren  Alaskas  ist  eine  wahrhaft  tropische 
zu  nennen;  beide  Ufer  des  Yukon  sind  von  den  schönsten  Blumen 
in  allen  Farben,  ja  sogar  Rosen  in  grofsen  Mengen  eingefafst,  und  die 
Hügel  sind  mit  starken  Fichten  und  Birken  bestanden. 

Die  Geschwindigkeit  des  Stromes  nimmt  unterhalb  der  rapids 
allmählich  wieder  ab,  hält  sich  auf  ungefähr  9  km  die  Stunde,  und 
wir  kommen  aus  dem  50  mile-river  in  den  letzten  der  Seeen,  den 
Lake  Labarge,  31  miles  oder  56  km  lang. 

An  dem  Nordende  dieses  Lake  Labarge  beginnt  der  30  mile- 
river,  der  seinen  Namen  daher  zu  haben  scheint,  dafe  er  nioht  30, 
sondern  wenigstens  60  miles  lang  ist.  Der  30  mile-river  ist  sehr  ge- 
fährlich und  vielleicht  noch  gefährlicher  als  die  gefürchteten  White 
horse  rapids,  weil  im  Anfange  seines  Laufes  zum  Teil  unter  Wasser 


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grosse  Felsstücke  liegen,  die  für  die  Boote,  besonders  bei  niedrigem 
Wasserstande,  verhängnisvoll  sind. 

So  bin  ich  denn  auch  Zeuge  gewesen,  dafs  an  dieser  Stelle 
allein  an  einem  Tage  29  Boote  Schiffbruch  gelitten  haben,  deren 
Mannschaft  sich  zwar  zum  gröTsten  Teil  gerettet  hat,  deren  Aus- 
rüstungen, Vorräte  und  Boote  aber  vollständig  verloren  gegangen 
sind.  Einen  Teil  der  Lebensmittel  haben  sie  aus  dem  Wasser  wieder 
herausgefischt,  und  dann  hiefs  es  für  die  Schwergeprüften  einfach 
wieder,  Bäume  fällen,  Bretter  schneiden  und  Boote  bauen.  Manche  haben 
sich  hier  damit  begnügt,  statt  der  Boote  nunmehr  nur  Flöfee  zu  bauen. 


Stromschnellen  der  White  Hone  Bapidi. 


Auch  mein  Boot  ist  an  dieser  Stelle  im  30  mile-river  auf  einen 
Felsen  aufgefahren,  der  gleich  einem  riesigen  Magnet  alles  an  sich 
zu  ziehen  schien,  glücklicherweise  jedoch  so  gelinde,  dars  es  nur 
einer  Arbeit  von  2 — 3  Tagen  bedurfte,  es  wieder  vollständig  in  stand 
zu  setzen  und  flott  zu  machen. 

Am  Einflufs  des  Teslin  oder  Hootalinqua-river  in  den  30  mile- 
river  war  wieder  eine  Polizeiwache,  ebenso  an  den  Einflüssen  des 
Big  Salmon  und  Little  Salmon-river  in  den  nunmehr  Yukon-river  ge- 
nannten Flufs.  Der  Yukon-river  geht  hier  in  kurz  gebogenen 
Schlangenwindungen  manchmal  geradezu  wieder  nach  Süden,  also 
rückwärts.  Die  Ufer  fangen  an,  weniger  steil  und  etwas  niedriger  zu 
werden,  und  Sandbänke,  die  durch  Niederschläge  aus  dem  vom  Ufer 
losgerissenen  Erdboden  sich  bilden,  treten  auf. 


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352 

Hier  ist  es  gefahrlich  an  den  Ufern  entlang  zu  fahren,  weil  die 
an  der  Oberfläche  durch  Oras  und  Baumwurzeln  zusammengehaltenen 
Ufer  manchmal  2 — 3  Meter  und  mehr  unterwaschen  sind  und,  mit  den 
darauf  befindlichen  Bäumen  nachstürzend,  alles  unter  sich  begraben. 

Die  ungefähr  30  miles  oder  54  km  unterhalb  von  Little  Salmon- 
river  gelegenen  Five  finger  rapids,  die  ihren  Namen  von  den  aus  dem 
Wasser  herausragenden  Felsen  erhalten  haben,  die  den  5  Fingern 
einer  Hand  ähnlich  sehen,  und  die  Rink  rapids,  die  kaum  den  Namen 
Stromschnellen  verdienen,  sind  nicht  gefährlich  zu  nennen;  es  ist  hier 
auch  noch  niemand  verunglückt 

Woiler  nördlich  gegenüber  dem  Einflufs  des  Pelly-river  in  den 
Yukon  liegt  die  Polizeiwache  Fort  Selkirk.  Eine  alte  Indian  trading 
post  oder  Handelsniederlassung!  Man  sieht  hier  noch  Ruinen  früherer 
Befestigungen.  Jetzt  soll  hier  eine  Stadt  gegründet  werden;  die  Re- 
gierung hat  die  Grundstücke  bereits  abgesteckt  und  mit  dem  Bau 
einiger  Häuser  begonnen. 

Hier  befinden  sich  eine  grofsere  Anzahl  Indianer-Gräber,  die 
statt  der  Hügel  nur  einfache  Bretterzäune  haben,  welche  weifs  und  rot 
angestriohen,  aber  weder  originell  nooh  interessant  sind.  Die  bisher 
in  der  Gegend  des  Pelly  River  gemachten  Goldfunde  dürften  kaum 
viele  zur  Niederlassung  an  dieser  Stolle  bewegen. 

Etwas  günstiger  dürften  sich  die  Verhältnisse  an  der  weiter  nörd- 
lich gelegenen  Mündung  des  Stewart  River  in  den  Yukon  gestalten, 
der  letzten  Polizeiwache  vor  Dawson-City.  Aber  hier  übt  der  Klondyke 
schon  zu  grofse  Anziehungskraft  aus,  es  dürfte  deshalb  auch  an  dieser 
Stelle  zu  einer  gröfseren  Niederlassung  kaum  kommen. 

Nachdem  wir  so  die  ganze,  etwa  500  miles  betragende  Entfernung 
von  Dyea-Skagway  den  Yukon  hinab  zurückgelegt  haben,  liegen  plötz- 
lich ziemlich  unvermittelt  hinter  einer  Biegung  des  Yukon  am  Ein- 
flufs des  Klondyke  River  die  durch  den  letzteren  getrennten  beiden 
Städte  oder  vielmehr  Niederlassungen  Klondyke -City  und  Dawson- 
City  vor  uns,  am  nördlichen,  rechten  Ufer. 

Hier  inmitten  der  Wildnis  und  Hunderte  von  miles  von  aller 
Civilisation  entfernt,  überrascht  uns  das  schöne  Panorama  und  das 
bewegte,  fast  großstädtisch  zu  nennende  Leben  und  Treiben,  das 
Dawson-City  unseren  erstaunten  Augen  darbietet 

Dawson-City  ist  der  Mittelpunkt  aller  Unternehmungen  im  Klon- 
dyke-Gebiet,  und  von  hier  aus  wird  im  Umkreise  von  einigen  hundert 
miles  alles  beherrscht.  Ks  ist  am  Fufse  einer  mehr  als  100  Meter 
hohen  Hügelkette  in  einer  morastigen  sumpfigen  Ebene  erbaut,  und 


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die  Wahl  dieses  Baugrundes  ist  nur  dadurch  zu  entschuldigen  und 
zu  erklären,  dafs  derselbe  den  gröfsten  Teil  des  Jahres  gefroren  und 
mit  Sohnee  bedeckt  ist  und  wohl  auch  war,  als  er  zum  Bauplatz  aus- 
gewählt und  abgesteckt  wurde. 

Im  Winter  erreicht  die  Kälte  hier  60  und  mehr  Grad  Celsius, 
sie  ist  aber  dadurch  erträglich,  dafs  es  dann  fast  absolut  windstill  ist. 
Während  des  kurzen  Sommers  ist  es  zuweilen  sehr  heifs,  und  sonder- 
bar ist,  dafs  trotz  der  enormen  Hitze,  die  an  Gewittertagen  manchmal 
-f  38  Grad  Celsius  erreicht,  der  Erdboden  2  Fufs  unter  der  Ober- 
fläche niemals  auftaut 

Die  sanitären  oder  gesundheitspolizeilichen  Verhältnisse  in  Daw- 
son-City  selbst  lassen  viel  zu  wünschen  übrig,  während  die  Sicher- 
heitsverhältnisse ganz  geordnete  und  sicherlich  nicht  schlechter  als 
in  irgend  einer  grofsen  Stadt  sind.  Die  kanadische  Polizei,  eine  Art 
Gendarmerie,  hier  North  West  Mounted  Police  genannt,  ist  eine  rück- 
sichtsvolle, entgegenkommende,  aber  sehr  energische  Behörde  und 
hält  Ruhe  und  Ordnung  gut  aufrecht.  Der  einzige  bis  jetzt  vor- 
gekommene Raubmord  ist  durch  Gefangennahme,  Verurteilung  und 
Hinrichtung  der  daran  beteiligten  4  Indianer  gesühnt  worden. 

Es  befinden  sich  in  Dawson-City  an  Behörden  aurser  der  Polizei 
ein  Gericht  (court),  ein  Postamt  (General  post  Office)  und  ein  Berg- 
Amt  (Mining  recorders  office),  das  Dokumente  über  verliehene 
Mutungen  (claims),  ausstellt.  Aufserdern  2  grorse  Banken,  mehrere 
Handelshäuser,  viele  Hotels,  Gasthäuser,  Spielhäuser  und  Singspiel- 
hallen oder  Theater. 

Charakteristisch  für  die  Stadt  ist,  dafs  alle  dem  Genufs  geweihten 
Stätten  niemals  geschlossen  werden,  also  Tag  und  Nacht  geöffnet  sind, 
mit  Ausnahme  der  Sonntage,  die  geheiligt  werden  müssen.  Aber 
Montag  nachts  um  1  Uhr  fängt  alles  wieder  an.  Es  erscheinen  zwei 
Zeitungen  in  Dawson-City,  der  Klondyke  Nugget  (Klondyke  Gold- 
klumpen) und  die  Yukon  Midnight  Sun  (Yukon  Mitternacht-Sonne). 
Die  Nummer  kostet  50  Cents  =  2  Mk.;  ebensoviel  kosten  einzelne 
Nummern  von  Zeitungen  aus  den  Vereinigten  Staaten  und  Kanada; 
sind  besonders  wichtige  Nachrichten  darin  enthalten,  so  kostet  die 
Nummer  1  Doli. 

Allgemeines  Zahlungsmittel  ist  der  Goldstaub,  der  in  kleinen 
Ledersäckchen  in  der  Tascho  getragen  wird.  Jeder,  der  etwas  zu 
verkaufen  hat,  besitzt  deshalb  eine  kleine  Gold  wage,  und  es  hat  sich 
die  eigentümliche  Sitte  herausgebildet,  dafs  der  Käufer  dem  Verkäufer 
das  Säckchen  mit  Goldstaub  einhändigt,  und  dieser  dann  die  erforder- 

Himmel  und  Erde    189».  XI-  -.'3 


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354 


liehe  Menge  für  sich  abwägt  und  das  Säckchen  mit  dem  Rest  dem 
Käufer  wieder  einhändigt. 

Jedes  Hotel,  jedes  Gasthaus  ist  mit  einem  Spielsaal  verbunden, 
in  welchem  Poker,  Makao,  Meine  Tante,  deine  Tante  (Faro),  Würfel 
und  alle  erdenklichen  Spiele  immer,  Tag  und  Nacht,  ohne  Unter- 
brechung,  im  Gang  erhalten  werden.  Zu  diesem  Zweck  sind  Leute 
angestellt,  die  für  Rechnung  des  Wirtes  spielen;  man  nennt  sie  Booster. 
Sie  erhalten  8  Doli,  den  Tag,  die  Croupiers  oder  Dealers  erhalten 
20  Doli,  täglich  und  haben  dafür  zu  sorgen,  dafs  das  Spiel  nicht  auf- 
hört; Gewinne  erhalten  sie  natürlich  nicht  ausbezahlt. 

Die  Art  der  Abrechnung  mit  den  Spielern  ist  auch  eigentümlich, 
denn  da  es  zu  langwierig  wäre,  jeden  Einsatz  abzuwägen,  so  händigt 
der  Spieler  dem  Croupier  oder  Dealer  seinen  Goldsack  ein,  und  dieser 
giebt  ihm  dafür  Spielmarken  im  gewünschten  Betrage,  der  aber 
mit  dem  Gewicht  des  Goldsacks  ungefähr  im  richtigen  Verhältnis 
stehen  muTs. 

Hört  der  Spieler  auf  zu  spielen,  so  wird  ihm  an  der  Kasse  soviel 
Gold  zugewogen,  als  er  gewonnen,  oder  aber  abgewogen,  als  er  ver- 
loren hat.  Es  werden  hier  ungeheuere  Summen  umgesetzt;  öfter  ist 
es  vorgekommen,  dafs  Leuto  Goldsäcke  deponiert  haben,  in  denen 
sich  statt  des  Goldes  gehacktes  Blei  befand.  Wenn  sie  gewannen, 
wurde  dies  nicht  gemerkt  und  ihr  Gewinn  anstandslos  ausbezahlt;  ver- 
loren sie  aber,  so  verschwanden  sie  heimlich  während  des  Spiels, 
unter  Zurücklassung  ihres  Beutels,  der  schiiefslich  natürlich  unter- 
sucht wurde.  Den  Spielhalter  schmerzt  solch  ein  Verlust  nicht  sehr, 
er  macht  gewöhnlich  auch  kein  Aufhebens  davon. 

Die  Bevölkerung  setzt  sich  aus  allen  Nationen  der  Welt  zusam- 
men, unter  denen  die  Yankees  überwiegen.  Es  ist  deshalb  auch  alles 
auf  deren  Geschmack  und  Gewohnheiten  zugesohnitten. 

Das  weibliche  Geschlecht  ist,  mit  Ausnahme  der  Damen,  die  keine 
Ladies  sind,  nicht  sehr  stark  vertreten,  doch  haben  sich  immer  auch 
hier  anständige  Frauen  befunden. 

Die  Preise  in  Dawson-City  sind  den  Verhältnissen  angepafst, 
schwanken  aber  je  nach  Angebot  und  Nachfrage  erheblich. 

Wein,  Bier  und  Spirituosen,  deren  Einfuhr  kontrolliert  und  be- 
schränkt ist,  sind  sehr  teuer;  so  kostete  eine  halbe  Flasche  Pommery 
30  Doli,  oder  125  Mk.,  und  doch  Hofs  der  Sekt  manchmal  in  Strömen, 
ein  Beweis  für  die  dort  gemachten  reichen  Goldfunde.  Eine  Flasche 
Milwaukee-Bier  3,50  Doli.  -  ■■  14  Mk.,  eine  Flasche  english  Ale 
5  Doli.  =  21  Mk.,  ein  lebendes  Huhn  10  Doli.  =  42  Mk.,  ein  Beef- 


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355 


steak  5  Doli.  =  21  Mk.,  1  Glas  Bier,  1  Schnaps,  1  Zigarre  je  50  Uts. 
=  2  Mk.  Im  Klondvke  gezogene  Radieschen  kosteten  je  1  Mk.  das 
Stück.  In  gewöhnlichen  Restaurants  konnte  man  aber  eine  reichliche 
und  ganz  gute  Mahlzeit  mit  Kaffee  oder  Thee  für  1,50  Doli.  = 
6  Mk.  haben. 

Haarschneiden  und  Rasieren  kostete  2,50  Doli.  —  10  Mk.  Ein 
Zimmermann  erhielt  täglich  15  Doli.  =  62,50  Mk.  Petroleum  hat  im 
letzten  Winter  50  Doli.  =  200  Mk.  die  Gallone  von  4  Litern  ge- 
kostet; aber  alle  diese  Preise  sind  seitdem  erheblich  heruntergegangen. 


Main  itreet  (Haupt-Straö«)  in  Dawion  City. 

Den  Postdienst  hat  die  Polizei  zu  versehen,  und  da  es  Briefträger 
nicht  giebt,  mufs  jeder,  der  oinen  Brief  erwartet,  in  der  (Jeneral-Post- 
Office  danach  fragen.  Dio  Leute  warten  zu  diesem  Zweck  ganze 
Tage  lang,  bis'die  Reihe  an  sie  kommt;  für  Damen  war  ein  besonderer 
Eingang,  und  sie  wurden  immer  sofort  abgefertigt. 

Die  Yankees  waren  infolge  ihres  leichten  Sieges  über  die  Spanier 
sehr  übermütig  und  chauvinistisch  und  sind  jetzt  überzeugt,  allen 
Nationen  der  Welt  überlegen  zu  sein.  Auf  uns  Deutsche  waren  sie 
sehr  schlecht  zu  sprechen.  Am  8.  August  traf  die  Nachricht  ein,  dafs 
Admiral  Dewcy  das  deutsche  Kriegsschiff  Irene  durch  einen  Schufs 
habe  in  die  Luft  sprengen  und  versenken  lassen.  Die  Yukon-Mid- 
night-Sun  gab  sofort  eine  Sonderausgabe  heraus,  in  der  diese  Neuigkeit 
mit  Riesenbuchstaben  zu  lesen  war.  In  den  Strafsen  wurden  Kriegs- 
gesänge gegen  Deutschland  angestimmt  und  auf  die  Deutschen  weidlich 


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35i; 


geschimpft.  Die  unvermeidliche  Vernichtung  Deutschlands  wurde  vor- 
ausgesagt   Der  Jubel  der  Amerikaner  war  glücklicherweise  verfrüht 

Main  Street,  die  Hauptstrafse  in  Dawson  City,  befindet  sich  noch 
in  einem  elenden  Zustande;  Wagen  und  Pferde  versinken  in  Morast 
auf  der  Strafse.  Man  hat  jetzt  angefangen,  die  Sägespäne  von  den 
Sägemühlen  auf  die  Strafsen  zu  werfen,  um  dieselben  dadurch  ein 
wenig  zu  befestigen. 

An  jagdbaren  Tieren  giebt  es  im  Klondyke-Oebiet  Bären,  Mouse 
oder  Elentiere,  Renntiere,  dann  wilde  Enten  und  Schneehühner.  Da 
der  Transport  grösserer  Tiere  über  Land  aber  ungeheuer  schwierig. 


Fleuch-  and  Fuch-Halle  in  Dawton  City 


ja  fast  ganz  unmöglich  ist,  so  werden  diese  nur  in  der  Nähe  der 
Flüsse  gejagt  und  erlegt  und  dann  die  Flüsse  hinabgeflöfst.  Es  sind 
Elentiere  erlegt  worden,  die  1800  Pfund  schwer  waren. 

Während  der  Laichzeit,  im  Monat  Juli — August,  ist  der  Yukon 
River  voll  von  Lachsen,  die  aus  dem  Meere  heraufkommen  und  in 
grofsen  Menden,  bis  zum  Gewicht  von  100 — 120  Pfund  das  Stück,  in 
Netzen  gefangen  werden  und  damit  einen  wohlthuenden  Wechsel  in 
das  Einerlei  der  Speisezettel  bringen. 

Die  riesigen  Uoldfunde,  von  denen  berichtet  worden  ist,  sind  hier 
wirklich  gemacht  worden  und  keine  Fabel.  Es  ist  immer  noch 
möglich  Claims  abzustecken,  d.  h.  Mutungen  zu  machen  und  eintragen 
zu  lassen.  Bei  der  Canadian  Bank  of  Commerce  sind  im  ersten 
Monat  ihres  Bestehens  mehr  als  *J  Tons  oder  40  Centner  Goldstmub 
deponiert  worden,  und  das  ist  nur  ein  kleiner  Teil  des  gefundenen. 

Mir  selber  ist  es  gelungen,  in  den  goldreichsten  Distrikten  eine 


357 

Anzahl  Claims  an  den  Bonanza,  Moosehide,  Troandike,  Eldorado, 
Dominion  Creeks,  sowie  am  French  Hill  abzustecken  und  von  der 
Mining  Recorders  office  auf  meinen  Namen  ins  Grundbuch  eintragen 
zu  lassen.  Ich  beabsichtige  mit  der  Ausbeute  derselben  im  Frühjahr 
dieses  Jahres  zu  beginnen. 

Wenn  die  Reise  nach  Dawson  City  auch  schon  sehr  beschwer- 
lich war,  so  ginge  man  doch  sehr  fehl  zu  glauben,  dafs  die  härteste 
Arbeit  gethan  ist,  wenn  man  dies  Ziel  erreicht  hat.  Hier  fängt  im 
Gegenteil  die  eigentliche  und  schwerste  Arbeit  erst  an;  wieder  geht 
es  hinaus  in  die  Wildnis. 


Ein  Goldgräber -Sommerhaus  bei  Dawson  City. 


Ob  der  Goldsucher  schliefslich  Erfolg  hat,  hangt  wesentlich  von 
seiner  Energie  ab,  von  seiner  Kraft  und  Geschicklichkeit,  von  seinem 
Mut  und  seiner  Ausdauer  und  davon,  dars  diese  ihm  nicht  versagen. 

Es  ist  sicherlich  mehr  Gold  in  diesem  Lande  als  irgend  wo 
anders  unter  der  Sonne,  aber  nirgends  ist  es  so  verborgen  und  so 
scharf  von  der  Natur  behütet  und  bewacht  wie  hier. 

Der  gefrorene  Erdboden  ist  so  hart  wie  Feuerstoin,  und  es  er- 
fordert viel  Holz  und  Hitze  ihn  aufzutauen,  und  das  ist  schwere  Arbeit. 

Dafs  viele  Goldsucher  enttäuscht  zurückkommen,  liegt  in  der 
Natur  der  Sache.  Die  meisten  von  ihnen  glichen  nicht  denen,  die 
hinaus  gegangen  waren,  lange  bevor  an  Dawson  City  und  Circle  City 
zu  denken  war.    Jene  waren  Pioniere  und  Abenteurer,  angetrieben 


358 

ebenso  sehr  von  der  Sucht  naoh  Neuem  und  Entdeckungen,  als 
von  der  Aussicht  das  gleifsende  Qold  zu  finden.  Hier  ist  kein  Platz 
für  den,  der  hinausgetrieben  wird  von  den  blendenden  Beriohten 
über  leicht  erworbene  Millionen,  es  bedarf  vielmehr  verwegener 
Geister,  die  vor  Entbehrungen  bei  harter  Arbeit  nicht  zurückschrecken, 
selbst  wenn  die  Aussichten  nicht  immer  die  besten  sind.  Der  Kühne, 
Verwegene  mit  durchdringendem  Verstand,  der  aufmerksame  Beob- 
achter der  Natur,  das  Herz,  welches  das  Außergewöhnliche  liebt  und 
nach  neuen  Eroberungen,  nach  neuen  Bildern  und  Stätten,  die  nie 
vorher  ein  menschliches  Wesen  beschritten,  lechzt,  er  wird  zufrieden 
und  beglückt  sein,  wenn  auch  die  Mühen  grofs  waren. 

Er  wird  zurückkommen  mit  klarem  Kopf,  leuchtenden  Augen, 
elastischem  Schritt  und  vielleicht  auch  mit  gröfserer  Liebe  zu  setner 
heimatlichen  Scholle. 

Die  Prospektors,  wie  die  Amerikaner  die  Goldsucher  nennen, 
gehen  mit  Hacke,  Spaten,  Goldpfanne,  Decken  oder  Zelteu  und  den 
nötigen  Lebensmitteln  hinaus  in  die  goldhaltigen  Distrikte  und  graben 
auf  gut  Glück. 

Glauben  sie  auf  goldhaltigen  Boden  gestoßen  zu  sein,  so  waschen 
sie  einen  Spaten  voll  davon  in  der  Pfanne  aus,  und  man  mufs  wirk- 
lich einen  solchen  Versuch  selbst  mitgemacht  haben,  um  die  aufs 
höchste  gespannte  Erwartung  zu  verstehen  und  zu  würdigen,  die  sich 
in  aller  Mienen  dabei  ausspricht. 

Sind  seine  Hoffnungen  getäuscht  worden,  so  zieht  der  Goldsucher 
weiter;  haben  sie  sich  erfüllt  und  sind  seine  Bemühungen  von  Erfolg 
gekrönt,  so  steckt  er  seinen  Claim  ab,  d.  h.  ei  schlägt  an  den  vier 
Ecken  Plähle  ein,  schreibt  seinen  Namen  und  das  Datum  darauf  und 
meldet  dies  sobald  als  möglich  in  der  Mining  Hecorders  office  an. 
Einen  Markpfahl  zu  entfernen  ist  streng  verboten  und  wird  als  Ver- 
nichtung einer  Urkunde  bestraft. 

Das  einzige  maschinenartige  Instrument,  das  hier  Verwendung 
findet,  ist  die  Wiege  oder  rocker.  Es  ist  ein  Kasten,  der  auf  Leisten 
ruht  und  gleich  einer  Wiege  darauf  geschaukelt  werden  kann;  in  ihm 
befinden  sich  horizontal  übereinander  3  —  4  durchlochte  Eisenbleche, 
auf  deren  oberstes,  unter  Zugiefsen  von  Wasser,  der  irold  haltige  Kies 
geschüttet  wird. 

Durch  das  Schütteln  und  Wiegen  fällt  Kies  und  Gold  durch, 
aber  infolge  seiner  grofseren  Schwere  das  Gold  zuerst,  während  der 
Kies  fortgewaschen  wird,  das  Gold  sich  aber  unten  ansammelt. 

Die  Registrierung  eines  solchen  Claim-  kostet   1'»  Doli,  oder 


V 


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359 

62,50  Mk.;  andere  Kosten  entstehen  nicht,  aber  es  wird  von  der  Aus- 
beute, die  aber  von  den  Behörden  natürlich  schwer  festgestellt  werden 
kann,  ein  geringer  Prozentsatz  erhoben. 

Erweist  sich  ein  Claim  als  abbaufähig,  so  wird  in  seiner  Nähe  ein 
Blockhaus  erbaut,  in  dem  sich  der  Goldsuoher  dann  häuslich  einrichtet. 

Trotz  des  bis  jetzt  von  allen  und  ausschließlich  betriebenen 
Raubbaues,  der  ohne  irgend  welches  System  und  ganz  ohne  Hilfe 
selbst  der  einfachsten  Maschinen  nur  mit  Handarbeit  verrichtet  wird, 
und  trotz  der  bis  jetzt  sehr  mangelhaften  oder  vielmehr  ganz  fehlenden, 


Goldwäschen  mit  der  Pfanne. 


aber  für  die  Entwickelung  des  Landes  und  der  Goldminen-Industrie 
so  notwendigen  Verkehrseinrichtungen,  sind  die  bis  jetzt  erreichten 
Erfolge  sehr  gute,  in  einigen  Fällen  sogar  über  alle  Erwartungen 
grofsartige,  die  zu  den  gröTsten  Hoffnungen  berechtigen,  besonders 
wenn  man  berücksichtigt,  dafs  es  sich  hier  um  ein  ungeheuer  grofses 
tiebiet  handelt,  in  dem  sich  nicht  nur  Gold,  sondern  auch  alle  anderen 
edlen  und  unedlen  Metalle,  Kohlen  und  Erze  in  reichen  Lagern  vor- 
finden, und  dafs  bis  jetzt  nur  ein  verschwindend  kleiner  Teil  des 
Landes  und  zwar  nur  in  der  primitivsten  Weise  bearbeitet  und  aus- 
genutzt wird.  Die  Goldminen-Industrie  geht  hier  bei  rationeller  Be- 
arbeitung einer  grofsen  Entwickelung  und  sehr  reichen  Zukunft 
entgegen. 

Bis  jetzt  haben  die  Goldsucher  in  den  im  Winter  bis  auf  den 


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360 


Grund  gefrorenen  Bächen  den  goldhaltigen  Boden  (pay-dirt)  einfach 
ausgegraben,  auf  Halden  geschafft  und  dann  das  Frühjahr  abgewartet, 
um  mit  dem  eintretenden  Tauwetter  das  Eis  und  Schneewasser  zum 
Auswaschen  des  Goldes  zu  benutzen. 

Die  bis  jetzt  geraachten  Goldfunde  sind  alle  in  sogenannten  Placer 
minings  gemacht  worden,  d.  h.  das  gefundene  Gold  ist  Alluvial-Gold, 
welches  als  Staub,  in  Körnern  oder  in  Stücken  (nuggets)  in  reinem 
Zustande  aus  dem  kiesartigen  Boden  gewaschen  wird.  Dafs  das  Allu- 
vial-Gold sich  nicht  immer  nur  in  den  Flufsbetten  und  Thälern  be- 


Goldgrftbers  Blockhaus  am  Claim. 


findet,  sondern  zum  Teil  auch  auf  den  Hügeln,  ist  zuerst  im  Klondyke- 
gebiet festgestellt  worden,  und  es  sind  dementsprechend  sogenannte 
Hill  Claims  erteilt  worden,  die  sich  zum  Teil  wie  z.  B.  auf  French 
Hill  am  Eldorado  als  sehr  reich  erwiesen  haben. 

Das  Vorhandensein  solcher  Placer  Minings  hat  goldhaltige 
Quarzlager  zur  Voraussetzung,  die,  zum  Teil  verwittert,  durch  Wasser 
oder  Gletscher  von  dem  Orte  ihrer  Entstehung  bis  zum  Fundorte  ge- 
waschen oder  geschoben  worden  sind. 

Die  Form  des  Goldes  im  Gestein  ist  ursprünglich  kantig,  scharf 
und  spitz,  wird  aber  durch  die  Fortbewegung  über  den  Erdboden 
und  das  Gestein  abgeschliffen.  An  dem  Grade  des  Abgeschliffenseins 
d.  h.  nach  der  Abrundung  der  Kanten  liifst  sich  darauf  schliefsen,  wie 
weit  das  Gold  ungefähr  gereist  ist 

Das  im  Klondyke- Gebiet  gefundene  Gold  ist  nicht  sehr  abge- 


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361 

schliffen  und  rundkantig,  ja  zum  Teil  noch  ziemlioh  scharf.  Man  kann 
aus  diesem  Grunde  mit  Bestimmtheit  darauf  schliefsen,  dafs  in  nicht  sehr 
weiter  Entfernung  davon  sich  jetzt  noch  goldhaltige  Quarzlager  befinden, 
deren  Reichtum  naoh  den  bisher  gemachten  Funden  an  Alluvial-Gold 
den  aller  anderen  Länder,  Australien  und  Afrika  eingeschlossen,  bei 
weitem  übertrifft  Es  ist  deshalb  auch  der  Wunsch  und  die  Hoffnung 
aller  darauf  gerichtet,  die  sicher  in  ziemlicher  Nähe  befindlichen  Quarz- 
lager zu  entdecken,  um  sich  aufser  einem  Placer  Mining  Claim  einen 
solchen  Quarz  claim  zu  sichern,  dessen  Wert  unschätzbar  wäre. 

Für  den  Transport  von  Gütern  von  Dawson  City  nach  dem  nur 
120  km  entfernten  Dominion  creek  sind  im  letzten  Jahre  100  Doli, 
für  den  Centner  bezahlt  worden,  und  trotz  dieses  unerhörten  Preises 
haben  sich  nicht  einmal  immer  Frachter  bereit  gefunden.  Eine  Klein- 
oder Feldbahn  die  den  Klondyke,  Bonanza  entlang  über  The  Dome, 
in  welchem  die  Quarzlager  vermutet  werden,  ginge  und  nach  dem 
Dominion  creek  führte,  würde  nioht  nur  die  Entwickelung  des  Hinter- 
landes gewaltig  fördern,  sondern  auch  bei  verhältnismäfsig  niedrigen 
Frachtsätzen  ein  geradezu  glänzendes  Geschäftsunternehmen  sein. 
Nach  dem  übereinstimmenden  Urteil  aller  Sachverständigen  und  In- 
teressenten, die  dieses  neue  Goldland  aus  eigener  Anschauung  kennen, 
ist  von  dem  ungeheuren  Gebiete  nur  ein  geringer  Teil  erschlossen. 
Von  den  Hunderten  von  Bächen  und  Flüssen,  die  alle  ohne  Ausnahme 
Gold  führen,  sind  nur  einige  wenige  erforscht. 

Es  wird  in  Zukunft  leicht  sein,  im  Sommer  das  Klondyke-Gebiet 
zu  erreichen,  da  von  Skagway  über  den  Withe  Pafs  eine  Eisenbahn 
gebaut  ist,  die  bis  Lake  Bennett  führt,  das  man  in  einem  Tage  leicht 
erreichen  kann.  Von  Lake  Bennett  kann  man  auf  den  inzwischen 
eingestellten  Flufsdampfern  Dawson  City  in  3 — 4  Tagen  erreichen. 
Der  mit  Recht  so  gefürchtete  Chilcoot-Pafs  mit  seinen  Lawinen  wird 
also  in  Zukunft  wieder  so  vereinsamt  und  so  verlassen  daliegen  wie 
früher,  und  die  durch  ihn  verursachten  Leiden  werden  ein  Ende  haben. 

Es  bietet  sich  demnach  jedem  Unternehmungslustigen,  dem  das 
nötige  Kapital  zur  Verfügung  steht,  ein  überaus  reich  lohnendes  Feld 
für  seine  Thätigkeit,  und  es  ist  nur  zu  wünschen,  dafs  sich  die  Deutschen 
hier  nicht  wie  in  Australien  und  Transvaal  von  den  Angehörigen 
anderer  Nationen  wieder  zuvorkommen  und  die  günstige  Gelegenheit 
entgehen  lassen.  Die  Zeit  wird  nicht  ferne  sein,  in  welcher  der 
Goldreichtum  des  Klondyke-Gebiets  eine  ebenso  grofse  Bedeutung  er- 
langt haben  wird  wie  in  Transvaal  und  Australien. 


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Nicolaus  Coppernicus. 

Von  Professor  N.  Cnrtxe  in  Thom. 
(Fortsetzung.) 

III.  Greisenalter  und  letzt«»  Lebensjahre. 

vrnzwischen  hatte  Coppernicus  das  60.  Lebensjahr  erreicht.  Bald 
ri,  darauf  flachte  er  das  Recht  dieses  seines  Alters  auf  Annahme 
(~  eines  Coadjutors  cum  iure  succedendi  —  und  zwar,  wie  am  besten 
aus  dem  verschleppenden  Verfahren  des  Bischofs  später  ersiohtlich, 
ohne  den  Zwang-  körperlicher  Hinfälligkeit  —  nur  zur  Sicherung' 
seiner  Pfründe  für  einen  ihm  Nahestehenden  im  Falle  seines  Todes  zu 
benutzen.  Das  Antwortschreiben  Ferbers  aus  1634,  die  Quelle 
unserer  Kenntnis  über  diesen  Umstand,  läfst  über  die  momentane  Ver- 
weigerung der  erforderlichen  bischöflichen  Einwilligung  keinen 
Zweifel.  Auch  im  Februar  1535  vertröstete  ihn  der  Freund  auf  der 
Kathedra  mit  dem  Versprechen  guten  Rates  für  die  Zukunft  Der  Tod 
Ferbers  in  1537  hinderte  alle,  wenn  überhaupt  vorhandenen  »lies- 
bezüglichen Abmachungen  zwischen  beiden,  und  erst  am  T.Mai  1543, 
wenige  Tage  vor  dem  Tode  des  grofsen  Astronomen,  trat  Johannes 
Loysse  oder  Lewsze,  aus  einem  Ueschlechte,  von  welchem  zwei 
Mitglieder  mit  Nichten  des  Domherrn  verheiratet  waren,  auf  Grund 
päpstlicher  Bestätigung  als  Coadjutor  desselben  ein.  Ebenfalls  zu 
Gunsten,  hier  eines  Freundes,  erfolgte  1538  die  Niederlegung  einer 
Sinecure,  einer  Scholastrie  an  der  Kirche  zum  heiligen  Kreuz  zu 
Breslau,  seitens  des  Greises,  über  welche  wir  nur  die  Thatsachen  der 
Besitzdauer  seit  den  lünglingsjahren  —  aus  dem  Doktordiplome  — 
und  der  Niederlegung  wissen.  Selbst  die  Person  des  Nachfolgers 
wird  verschieden  angegeben. 

Wennschon,  wie  erwähnt,  die  geistige  und  körperliche  Frische 
unseres  Helden  auch  nach  Überschreitung  der  Jahre  kräftigsten 
Schaffens  ungebrochen  blieb,  so  traten  doch  Ansprüche,  wie  sie  das 
Kapitel  an  den  rüstigen  Mann  hatte  stellen  dürfen,  jetzt  seltener  an 
ihn  heran,  um  schliefslich  von  selbst  ganz  aufzuhören.  So  wurde  ihm 


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363 


am  8.  November  1537  die  Verwaltung  der  mortuaria,  milder  Stif- 
tungen zu  Gedächtnisfeiern,  und  der  assistentia  munitionis  zugeteilt, 
Ämter,  die  schwerlich  grofse  Anforderungen  an  ihren  Inhaber  stellten. 
Andererseits  finden  wir  ihn  im  ganzen  Verlaufe  der  drei  feiger  Jahre 
nach  den  Elbinger  Ausschufssitzungen  nur  noch  dreimal  auf  mehr 
oder  weniger  doch  körperliche  Anstrengungen  bedingenden  Reisen 
im  Dienste  des  Kapitels,  nämlich  1631  und  1538  als  Nuncius  Capi- 
tuli  im  Gebiete  des  Kammergutes  Alienstein  und  1535  mit  seinem 
Freunde  Giese  als  Visitator  ebendaselbst. 

In  unvermindertem  Umfange  bestand  jedoch  seine  wissenschaft- 
liche Thätigkeit  fort.  Der  stoffliche  Inhalt  der  Revolutiones  lag 
wahrscheinlich  schon  lungere  Zeit  vollständig  vor.  Eine  obere  Zeit- 
grenze für  seinen  Abschlufs  bildet  allem  Anscheine  nach  eine  Beob- 
achtung des  Apogäums  der  Venus  aus  dem  Jahre  1532,  deren  Re- 
sultat zu  48°  30'  durch  Coppernicus'  eigenhändige  Einzeichnung  in 
die  einst  ihm  gehörigen  Tabulae  direotionum  profectionumque  des  Re- 
giomontan  uns  zu  Upsala  erhalten  ist.  Während  nun  in  der  Editio 
princeps  der  Revolutiones  sonst  aufser  den  Angaben  der  Alten  stets 
die  Werte  der  eigenen  Planetenbeobachtungen  des  Verfassers  gegeben 
sind,  fehlt  letzterer  bei  dem  Apogäum  der  Venus.  Im  Prager  Original- 
manuskripte findet  sich  dagegen,  aber  durchstrichen,  eine  eigene 
frühere  Bestimmung  desselben  zu  48"  20',  übereinstimmend  mit  den 
Angaben  des  Almagest.  Da  liegt  doch  der  Schlufs  nahe,  Copper- 
nicus habe  die  Revolutiones  ursprünglich,  wie  noch  kenntlich,  unter 
Benutzung  der  alten  Angabe  abgeschlossen  gehabt,  nach  jener  ge- 
naueren Beobachtung  von  1 532  aber  diese  getilgt,  und  die  Einfügung 
des  neuen  Wertes  nur  verabsäumt.  Damit  rückte  die  Vollendung  des 
Werkes  in  den  äufseren  Umrissen  vor  das  Jahr  1632  hinauf.  An 
textlichen  Verbesserungen  arbeitete  der  greise  Forscher  jedoch  noch 
ununterbrochen  bis  fast  zum  letzten  Augenblicke,  und  ebenso  uner- 
müdlich suchte  er  an  immer  wiederholten  Gestirnbeobachtungen  die 
Richtigkeit  seiner  Theorie  zu  erhärten.  Aufser  der  erwähnten  der 
Venus  von  1532  sind  uns  deren  noch  mehrere,  in  den  Revolutiones 
nicht  aufgenommene  aus  dem  Jahre  1537  erhalten.*')  Nach  einer 
Notiz  in  der  Lebensbeschreibung  Karls  V.  von  Zenocarus27)  hat 

-"*)  Man  sehe  darüber  das  erste  Heft  der  „Mitteiluugen  des  Coppernicos- 
Vereins-  S.  35,  die  Prolegomeua  der  S&cularausgabe  der  Revolutiones,  Thorunü 
1873,  und  die  Reliquae  Copernicanae.  Leipzig  1875. 

,:)  De  republica,  Vita,  Moribus,  Ge»tis,  Fama,  Religione,  Sauctitate  Im- 
pcratoris,  Caesaris.  Augusti,  Quinti,  Caroli,  Maximi  Monarchae  Libri  septem  .  . . 
autoro  Guilielrao  Zenocare  ä  Scauvenburgo,  (iandavi  I  ".59.  S.  1 9:1/94. 


364 

Coppernicus  sich  auch  mit  dem  Kometen  des  Jahres  1533  be- 
schäftigt und  ist  dabei  mit  Petrus  Apianus,  Scala,  Cardano  und 
Gemma  Frisius  in  Streit  geraten.  Nur  Apianus'  Beobachtungen, 
nach  denen  0 Ibers  die  Bahnelemente  zu  berechnen  versucht  hat, 
haben  sich  erhalten.  Wir  dürften  aber  wohl  nicht  fehlgehen,  wenn 
wir  in  dem  nicht  dem  Almagest  entsprechenden  Verhalten  des  Ko- 
meten, speziell  seiner  Rückläufigkeit,  eine  neue  Waffe  in  der  Hand 
des  Frauenburger  Astronomen  zur  Erschütterung  der  Autorität  des 
Ptolemaios  erblicken. 

Naoh  dem  Erscheinen  des  Commentariolus,  welcher  ungefähr 
einer  Selbstanzeige  der  Revolutiones  duroh  den  schon  weit  berühmten 
Domherrn  entspricht,  verbreitete  sich  statt  des  früheren  langsamen 
Durchsickerns  einer  dunklen  Kundo  die  genauere  Kenntnis  des  neuen 
Systemes  rasch.  Schon  1533  hielt  der  päpstliche  Sekretär  Wid- 
manstad  dem  für  die  Wissenschaft  begeisterten  Papst  Clemens  VII. 
im  Beisein  mehrerer  Kardinäle  eingehenden  Vortrag  über  die  helio- 
centrische  Lehre  des  Frauenburgers.-8)  Auch  als  nach  Pauls  III. 
Thronbesteigung  der  finstere  Eifergeist  der  starr  buchstabengläubigen 
Gegenreformation  Einflufs  gewann,  fanden  sich  unter  der  höchsten 
Geistlichkeit  noch  Gönner  freier  Geistesrichtung.  Kardinal  Nico  laus 
von  Schönberg,  Bischof  von  Capua,  erbat  sich  in  einem  Briefe 
vom  1.  November  1536  von  Coppernicus  selber  eingehende  Dar- 
legung seines  Systems.  Leider  verhinderte  ihn  ein  baldiger  Tod 
(schon  1537)  an  dem  halb  und  halb  versprochenen  Eintreten  für  die 
päpstliche  Billigung  desselben.  Ungewifs  ist,  ob  unser  Nicolaus 
noch  dem  Wunsche  des  hohen  Kirchenfürsten  entsprechen  konnte; 
die  Wichtigkeit  jedoch,  welche  er  der  Aufforderung  beimafs,  erhellt 
aus  dem  Abdruck  des  Originalschreibens  vor  dem  Texte  der  Revo- 
lutiones. Ganz  im  Gegensatze  zu  dieser  ursprünglich  freundlichen 
Aufnahme  in  Rom  steht  die  von  Anfang  an  schroff  ablehnende 
Haltung  der  Wittenberger  Reformatoren.  Darüber  an  späterer  Stelle 
ein  Mehreri'8. 

Neben  seinen  rein   wissenschaftlichen  Interessen  widmete  sich 

-")  Die  Notiz  ist  der  Münchener  Handschrift  Codex  Graecus  CLI  ent- 
nommen. In  derselben  steht  die  eigenhändige  Eintragung  von  Widman- 
stad:  „Clemens  VII.  I'ontifex  Maximus  hunc  codicem  mihi  dono  dedit  Anuo 
MDXXXIII  Koraae,  postquam  ei  praesentibus  Fr.  Ursino,  Joh.  Salviato  Cardi- 
nalibus, Joh.  Petro  episcopo  Viterbiensi,  et  Mattheo  Curtio  physico.  in  hortis 
Vaticanis  Copernicanam  de  motu  terrae  sententiam  explieavi.  Joh.  Albertus 
Widmanstadius  cognomine  Lucretius,  Serenissimi  Dumini  no.«tri  Secretarius  et 
fHiniliaris." 


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365 


Coppernicus  auch  in  höherem  Alter  noch  den  aus  Verwandtschafts- 
oder Freundschaftsbeziehungen  entsprungenen  Pflichten.  So  übernahm 
er  über  die  Kinder  seiner  an  den  Danziger  Ratmann  Reinhold 
Feldstette  verheirateten,  seit  1529  verwitweten  Cousine  die  Vor- 
mundschaft und  führte  sie  nachweislich  noch  1536. 

Gleichfalls  hierher  gehört,  was  wir  von  seiner  ärztlichen  Thätig- 
keit  wissen.  Genauere  Angaben  aus  früheren  Perioden  fehlen  völlig, 
denn  die  kurze  Nachricht  Starawolskis  und  nach  ihm  Gassendis, 
Coppernicus  sei  wie  ein  zweiter  Aesculap  verehrt  worden,  ist  neben 
ihrer  Unbestimmtheit  doch  auch  nur  mit  einer  durch  die  Rücksicht 
auf  seine  Stellung  bedingten  Einschränkung  zu  verstehen;  regel- 
mäfsiges  Praktizieren  war  ein  Nonsens  für  ihn.  Näheres  wissen  wir 
erst  von  seinen  Bemühungen  um  den  kranken  Bischof  Mauritius 
Ferber  an.  Die  uns  erhaltenen  medizinischen  Werke  aus  seinem 
Besitze  und  seine  Einzeicbnungen  darin  zeigen,  wie  der  als  Astronom 
seinem  Zeitalter  weit  vorauseilende  Mann  als  Arzt,  und  zwar  als 
hochangesehener  Arzt,  doch  ein  Kind  seiner  Zeit  blieb  und  sich  durch 
keine  neue  originelle  Auffassung  vor  ihr  auszeichnete.  Es  sind  die- 
selben Lehrbücher,  dieselben  aus  allen  drei  Naturreichen  zusammen- 
gesetzten, durch  Inhalt  und  Ellenlänge  fast  unser  Lachen  erregenden 
Rezepte,  wie  sie  noch  lange  nachher  gang  und  gäbe  waren.  Trotz- 
dem sehen  wir  ihn  oft  erfolgreich  eingreifen.  Als  1529  Bischof 
Mauritius  Ferber  ihn  das  erste  Mal  zur  Konsultation  nach  Heilsborg 
berief,  gelang  es  ihm  bald,  den  Patienten  herzustellen.  Gegen  Ende 
1531  wiederholte  sich  die  Berufung,  Ferber  litt  an  heftiger  Kolik. 
Im  Verein  mit  des  Herzogs  Alb  recht  Leibarzt  Dr.  Wille  gelang 
Coppernicus  wieder  die  Bewältigung  der  Krankheit  Mauritius 
preist  ihn  in  Briefen  an  den  Krakauer  Kollegen  und  den  Gnesener 
Erzbischof  als  seinen  Lebensretter;  da  kam  im  April  des  nächsten 
Jahres  ein  Rückfall,  1533  gesellte  sich  das  Podagra  dazu,  und  beides 
spottete  der  ärztlichen  Kunst.  Nach  einem  ersten  Schlaganfall  1535 
rettete  ihm  der  Domherr  zwar  mit  Mühe  das  Leben,  aber  unter- 
sagte für  die  Zukunft  jede  Beschäftigung,  um  durch  absolute  Ruhe 
den  schwaohen  Faden  noch  für  einige  Zeit  vor  dem  Zerreifsen  zu 
schützen.  Die  Danziger  Ärzte  und  des  Königs  von  Polen  Leibarzt 
stimmten  nachträglich  ihrem  Kollegen  einfach  zu.  Doch  auch  sorg- 
fältige Pflege  vermochte  nichts  mehr.  Am  1.  Juli  1537  erlag  Ferber 
einem  zweiten  Schlaganfalle,  ohne  dafs  der  herbeieilende  Copper- 
nicus noch  Gelegenheit  zur  Hilfe  hätte  finden  können;  der  Tod  war 
schon  vor  seiner  Ankunft  eingetreten. 


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366 

Vorgreifend  sei  es  uns  hier  gestattet,  das  wenige  in  urkund- 
lichen Nachweisen  uns  über  die  weitere  ärztliche  Thätigkeit  des  Dom- 
herrn Erhaltene  zu  erwähnen.  Naturgemäfs  sind  wir  nur  über  Kon- 
sultationen nach  auswärts  unterrichtet,  während  alle  Umstände  seines 
vermutlich  öfter  in  Frauenburg  selbst  gespendeten  Beistandes  bei  der 
Mündlichkeit  der  vorhergehenden  Verhandlungen  sich  unserer  Kennt- 
nis völlig  entziehen.  Zunächst  finden  wir  ihn  wieder  auf  der  Reise 
nach  Heilsberg.  Dantiscus,  der  Nachfolger  Ferbers  auf  Ermlands 
Bischofstuhle,  war  wenige  Monate  nach  seiner  Wahl  im  April  1539 
nicht  unbedenklich  erkrankt.  Als  im  Mai  des  Coppernicus  Kunst 
ihn  nur  notdürftig  wieder  hergestellt  hatte,  sah  or  sich  zu  einer  Reise 
nach  Breslau  genötigt,  zum  Vollzug  des  ehrenvollen  Auftrags,  die 
Ehepakten  des  polnischen  Königssohnes  Sigismund  August  abzu- 
schliefscn.  Die  spätero  Deputierung  gerade  Coppernicus'  neben 
Felix  Reich  von  Kapitelsseiten  zur  Huldigungsfeier  des  neuen 
Bischofs  (August  1538)  könnte  daher  wohl  auch  dem  Nebenzwecke 
gedient  haben,  dem  Arzt  Coppernicus  Gelegenheit  zur  Beobachtung 
der  Folgen  dieser  Anstrengung  während  der  Rekonvalescenz  zu 
geben.  Im  folgenden  Jahre  trieb  ihn  die  Besorgnis  um  don  schwer 
erkrankten,  von  Thorner  Ärzten  ohne  grofsen  Erfolg  behandelten 
Tiedemann  Giese  nach  Löbau,  dem  Schlosse  seines  jetzt  den 
Culmer  Bischofssitz  einnehmenden  Herzensfreundes.  Bald  nach  seiner 
Ankunft  am  27.  April  mufs  er  jedoch  schon  wieder  zur  Kathedrale 
zurückgekehrt  sein,  denn,  wie  wir  später  sehen  werden,  traf  ihn 
Rheticus  bei  seiner  Ankunft  im  Ermlande  im  Mai  1538  zu  Frauen- 
burg. In  Begleitung  dieses  seines  Schülers  begab  er  sich  auf  Ein- 
ladung Gieses  zu  längerem  Aufenthalte  von  Juli  bis  September  noch- 
mals nach  Löbau,  wohl  auch  mit  um  die  Rekonvalescenz  des  bald 
60jährigen  als  Sachverständiger  zu  überwachen.  Auch  1540  nahm  er 
für  kürzere  Zeit  bei  erneuter  Erkrankung  des  Bischofs  zu  Löbau  Auf- 
enthalt, um  dann  die  Behandlung  brieflich  weiter  zu  führen.  Das 
glänzendste  Zeugnis  aber  für  seinen  hohen  ärztlichen  Ruf  und  seine 
stete  Hilfsbereitschaft  selbst  im  Greisenalter  legt  das  letzte  uns  be- 
kannte Auftreten  als  Arzt  ab,  seine  Berufung  und  Reise  nach  Königs- 
berg im  Jahre  1541.  Unter  dorn  6.  April  1541  wandte  sich  Herzog 
Albrecht  an  das  Frauenburger  Kapitel  und  Coppernicus,  um 
letzteren  zur  Behandlung  seines  schwer  erkrankten,  alten  Vertrauten 
Georg  von  Kunheim,  Amtshauptmanns  von  Tapiau,  nach  Königs- 
berg zu  bitten.  Zwei  nach  dem  Tode  des  erprobten  Leibarztes  Dr. 
Wille   daselbst    praktizierende  jüdische   Ärzte    hatten    schon  ver- 


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367 

geblich  ihre  Kunst  an  dem  Kranken  versucht.  Im  Interesse  der 
freundnachbarlichen  Beziehungen  wurde  Co ppernious  die  Erlaubnis 
zur  Reise  an  den  Hof  des  Herzogs  seitens  des  Kapitels  am  8.  April 
bewilligt;  am  13.  meldet  Albrecht  dankend  sein  Eintreffen  zugleich 
mit  dem  Ersuchen  um  Verlängerung  des  Urlaubs.  Erst  am  5.  Mai 
kehrte  Coppernicus  nach  Frauenburg  zurück  und  setzte  von  da  an 
gemeinsam  mit  dem  polnischen  Leibarzte  Dr.  Solpha  die  Behandlung 
brieflich  fort  Da  Kuhnheim  erst  1543,  also  zwei  Jahre  später,  mit 
Tode  abging,  so  mufs  sie  wohl  Erfolg  gehabt  haben.  Nebenbei  mag 
der  Domherr  seinen  Aufenthalt  wohl  auch  zum  Besuche  seiner  Nichte, 
der  seltsamerweise  unter  ihrem  Stande  an  den  herzoglichen  „Heer- 
peucker"  Kaspar  Stulpawitz  verheirateten  Tochter  des  Krakauer 
Kaufmanns  Berthel  Gertner,  verwendet  haben,  deren  Kinder  er 
später  in  seinem  Testament  bedacht  hat. 

Mit  dem  Tode  Ferbers  trat,  wie  wir  schon  oben  sahen,  wenn 
auch  mangels  päpstlicher  Bestätigung  nicht  de  jure,  doch  factiscb  das 
Kompromiß  Giese  -  Dantiscus  in  Wirksamkeit.  Des  Königs 
Absicht,  der  scheinbar  durch  des  Dompropstes  Plotowski  eigenes 
Streben  nach  der  Kathedra  gefährdeten  Kandidatur  des  Dantiscus 
durch  einen  Machtspruch  zum  Siege  zu  verhelfen,  unterblieb  infolge 
des  aus  Furcht  vor  einem  Praecedens  abgegebenen  Versprechens  der 
Domherrn,  unbedingt  nur  diesen  zu  wählen.  Wirklich  fielen  alle 
neun  abgegebenen  Stimmen,  unter  ihnen  diejenige  von  Coppernicus, 
auf  Dantiscus.  Auf  der  Kandidatenliste  hatte  sich  übrigens  auch 
sein  Name  an  Stelle  des  ursprünglich  aufgeführten  Snellenberg 
befunden,  obwohl  ihm  zeitlebens  jedes  derartige  Streben  ferngelegen 
hatte. 

Bald  nach  der  erwähnten  Huldigungsreise  begannen  ernste  Un- 
annehmlichkeiten zwischen  Coppernicus  und  seinem  neuen  Bischof. 
Ein  kurzes  Eingehen  auf  des  Dantiscus  reich  bewegtes  Leben  mag 
bei  der  bedeutenden  Persönlichkeit  des  Mannes,  seinen  schon  seit 
langer  Zeit  bestehenden  Beziehungen  mit  unserem  Helden  und  zur 
Erklärung  seiner  Stellungnahme  zu  ihm  erwünscht  erscheinen.  1485 
als  Sohn  eines  Danziger  Brauers  geboren,  nahm  er  ursprünglich  von 
seines  Grofsvaters  Beschäftigung  den  auch  gräcisiert  als  Linodes- 
mos  vorkommenden  Namen  Flaxbinder  an;  nach  seiner  Adelung 
durch  Kaiser  Max  vertauschte  er  ihn  gegen  die  Bezeichnung  de 
Curiis,  in  deutscher  Form  von  Höfen,  um  sich  in  höhereu  Jahren 
nur  noch  als  Dantiscus  nach  seiner  Vaterstadt  zu  bezeichnen.  Schon 
als  Knabe  auf  der  Universität  Krakau  gebildet,  nahm  er  als  17jähri- 


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368 

ger  an  einem  Tatarenkriege  Polens  teil  und  begab  sich  dann  auf  aus- 
gedehnte Reisen,  die  ihn  bis  naoh  Palästina  und  Arabien  führten. 
Kaum  zurückgekehrt,  ward  der  erst  23jährige  1508  als  königlicher 
Notarius  zur  Marienburger  Tagfahrt  entsendet  und  vertrat  von  da 
an  bis  1513,  also  zur  Zeit,  da  Coppernicus  in  Watzelrodes 
Begleitung  dieselben  ebenfalls  besuchte,  und  er  jedenfalls  durch 
seine  Stellung  in  nahe  Beziehungen  zu  Oheim  und  Neffen  kommen 
mufste,  als  königlicher  Sekretär  Sigismunds  Interessen  auf  den 
Landtagen  seiner  Heimat,  —  sehr  zum  Ärgernis  der  preußischen  Stände, 
die  ihn  namentlich  wegen  des  Versuchs  einer  Einführung  der  Appel- 
lation an  polnische  Gerichte  gegen  ihre  ausdrücklichen  Privilegien 
mit  ihrem  besonderen  Hasse  bedachten.  Solche  treue  Hingabe  an  das 
neue  Vaterland,  verbunden  mit  hervorragender  Begabung  und  reichem 
Wissen  liefsen  ihn  für  den  hohen  Posten  eines  Gesandten  bei  den 
deutschen  Kaisern  Max  und  Karl  V.  geeignet  erscheinen.  Als  solchen 
finden  wir  ihn  von  1515  an.  In  unstetem  Wanderleben  vergingen 
ihm  so  vier  Jahre  am  kaiserlichen  Hoflager  zu  Valladolid;  er  wohnte 
der  Kaiserkrönung  zu  Bologna  bei  und  zog  zu  den  grofsen  Reichs- 
tagen nach  Deutschland.  Hier  wartete  seiner  noch  eine  der  schwierig- 
sten Aufgaben:  die  Vertretung  des  Krakauer  Friedens  und  der  da- 
durch eingetretenen  Säkularisation  des  Ordenslandes  und  des  Über- 
trittes Albrechts  zur  Reformation  vor  Kaiser  und  Reich  zu  Augs- 
burg und  Nürnberg.  Allmählich  des  ewigen  Umherziehens  müde,  bat 
er  zur  Zeit  seiner  Wahl  zum  Bischof  von  Culm,  1530,  um  Enthebung 
von  dem  Gesandten posten,  welche  ihm  auch  nach  dem  Nürnberger 
Reichstage  gewährt  wurde.  Bis  dahin  war  der  hochgebildete  und  in 
stetem  Umgange  mit  den  höchsten  Kreisen  fein  geschliffene  Dan- 
tiscus  Humanist,  Freidenker  und  Weltkind  gewesen.  Anakreontische 
Liebeslieder  und  einige  Epen  hatten  seinen  Ruf  als  begabter  Dichter 
begründet,  und  auch  die  frühzeitige  Übernahme  mehrerer  Pfründen, 
so  schon  1513  der  Pfarrei  zu  Golombie,  1523  an  der  Danziger  Haupt- 
kirche, denen  sich  1528  noch  ein  Frauenburger  Kanonikat  anreihte, 
änderte  an  seiner  gepriesenen  Sittenfreiheit  nichts,  handelte  es  sich  ja 
größtenteils  nur  um  die  Wahrnehmung  seiner  pekuniären  Interessen 
bei  Übernahme  derselben.  Zahlreiche  Liebesverhältnisse,  aus  deren 
einem  mit  der  Spanierin  Ysope  deGalda  eine  Tochter  Johanna 
Dantisca  de  Curiis  entsprofs,  bewiesen  es  zur  Genüge.  Ebenso 
vorurteilsfrei  zeigt  ihn  sein  Besuch  bei  den  Reformatoren  in  Witten- 
berg in  1523.  Seine  Charakteristik  Luthers  wird,  bei  allem  inner- 
lichen Widerstreben  des  Hofmanns  gegen  die  Derbheiten  des  gewalti- 


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369 


gen  Augustiners,  doch  dessen  groTsen  Eigenschaften  voll  gorecht,  ja 
er  versteigt  sich  zu  der  Erklärung,  wer  zu  Rom  nicht  den  Papst,  zu 
Wittenberg  nicht  Luther  gesehen  habe,  habe  nichts  gesehen.  Mehr 
hingezogen  fühlte  er  sich  aber  zu  Melanchthon,  dessen  weitere 
Schicksale  er  lange,  auch  noch  später  von  Heilsberg  aus,  anteil- 
nehmend verfolgte.  Und  als  sich  auf  dem  Augsburger  Reichstage 
alles  soheu  vor  dem  Verfasser  der  Confessio  Augustana  zurückzog, 
da  war  es  Dantiscus,  der  ihm  Gastfreundschaft  gewährte,  ein  Freund- 
schaftsbeweis, den  ihm  der  Wittenberger  nie  vergafs.  Alles  das 
änderte  sich  fast  wie  mit  einem  Schlage  nach  seiner  Rückkehr  in  die 
Heimat,  hauptsächlich  durch  den  unheilvollen  Einflufs  seines  Schütz- 
lings und  baldigen  Beraters  sowie  späteren  zweiten  Nachfolgers  und 
dereinstigen  Kardinals,  des  „Hammers  der  Ketzer",  des  „Todes 
Luthersu,  Hosius.  Schon  in  seiner  Culmer  Diöcese  ging  er  aufs 
Schärfste  gegen  die  ^Heterodoxenu  vor,  so  dafs  seine  Sinnesänderung 
häufig  mit  der  des  Paulus  verglichen  wurde,  z.  B.  von  dem  eben 
erwähnten  Berater.  Auch  seine  nicht  unbedeutende  dichterische  Be- 
gabung stellte  er  von  nun  an  völlig  in  den  Dienst  der  Kirche;  so 
geifselt  er  in  dem  Carmen  paraeneticum  an  den  jungen  Eustachius 
von  Knobeisdorff  die  Sünden  seiner  früheren  Weltlust  und  stimmt 
in  der  von  Hosius  besorgten  Hymnensammlung  einen  feierlichen,  streng 
kirchlich -religiösen  Ton  an.  Der  gleiche  strenge  Eifergeist  wie  in 
Culm  durohweht  sein  Edikt  vom  März  1539  nach  der  Verwaltungs- 
übernahme Ermlands,  duroh  welohes  alle  nicht  Rechtgläubigen  Landes 
verwiesen  werden.  Ja  selbst  nach  Danzig,  nach  aufeerhalb  seiner 
Diöcese,  reicht  der  starke  Arm  des  bei  Hofe  angesehenen  Bisohofs 
zur  Unterdrückung  reformatorischer  Ideen. 

Jahrzehnte  lang  aufser  aller  Verbindung  mit  seinem  Heimat- 
lande, hatte  Dantiscus  auch  die  zu  Watzelrodes  Zeiten  sicher  be- 
stehende Fühlung  mit  Coppernicus  in  seiner  hohen  politischen 
Stellung  verloren.  Nach  der  Rückkehr  versuchte  er  wieder  anzu- 
knüpfen, einenteils  wegen  des  grofsen  wissenschaftlichen  Rufes  des 
Domherrn,  andernteils  wohl  auch,  um  den  im  Kapitel  einflufsreichen 
Mann  in  sein  Interesse  zu  ziehen,  letzteres,  wie  wir  wissen,  ohne 
Erfolg.  Wir  besitzen  vom  11.  April  1533  und  vom  8.  Juni  1536  Ant- 
wortschreiben von  Coppernicus  an  Dantiscus,  welche  sich  auf 
vorangegangene  Einladungen  nach  Löbau  beziehen.  Bezeichnender 
Weise  lehnen  dieselben  unter  Berufung  auf  dringende  Geschäfte 
ziemlich  kühl  ab.    In  einem  weiteren  Briefe  vom  2.  August  1537  teilt 

Himmel  und  Erdo.  1899.  XI.  8.  24 


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370 


allerdings  der  Domherr  freiwillig  seinem  eben  gewählten  Bischöfe 
diesen  interessierende  politische  Neuigkeiten  mit 

Schon  Coppernious'  entschiedene  Parteinahme  für  Giese  in 
dem  Coadjutoriestreite  mufste  die  Lockerung  der  kaum  wieder  ange- 
sponnenen Beziehungen  zwischen  den  bedeutenden  Männern  zur  Folge 
haben,  wozu  als  neues  Moment  des  Nichtverstehens  für  den  in 
Olaubenssachen  zwar  streng  kirchlich  gesinnten,  aber  doch  milde 
urteilenden  Domherrn  das  schroffe  Auftreten  des  neuen  Paulus  in 
der  Bethätigung  seines  Glaubenseifers  sich  gesellte.  Als  der  jüngere 
Dantiscus  nun  unter  Berufung  auf  seine  bischöfliche  Autorität  be- 
stimmend in  Freundes-  und  Privatverhältnisse  unseres  Nico  laus  ein- 
zugreifen begann,  scheint  die  völlige  innerliche  Trennung  beider  nur 
du  roh  die  erzwungene  Achtung  vor  des  Domherrn  wissenschaftlicher 
Gröfse  und  des  letztern  angemessene  Rücksichtnahme  vor  der  kirch- 
lichen Stellung  seines  Widersachers  notdürftig  nach  aufsen  hin  ver- 
deckt zu  sein,  ohne  dafs  spätere  Vermittelungsversuche  die  Kluft 
hätten  überbrücken  können.  Die  erste  derartige  Störung  basierte  auf 
dem  Streite  Dantiscus-Hosius  gegen  Alexander  Sculteti.  Nach 
dem  Scheitern  der  anfänglichen  Reformbestrebungen  Papst  Paul  III. 
begann  in  der  Kirche  die  streng  katholische  Eifererpartei  die  Oberhand 
zu  gewinnen.  Einer  ihrer  ersten,  eifrigsten  Vertreter  war  der  schon  er- 
wähnte einflufsreiche  spätere  Kardinal  Hosius.  Die  klare  Erkennt- 
nis von  der  Notwendigkeit,  zur  Verwirklichung  seiner  Ideen  zuerst 
energisch  in  dem  mit  am  meisten  von  reformatorischen  Ideen  durch- 
drungenen Preufsen  einzuschreiten,  liefsen  ihn  als  Stützpunkt  da- 
selbst zunächst  ein  Frauenburger  Canonioat  erstreben.  Jedoch  erst 
Dantiscus  wufste  seinem  Schützling  nach  dem  Mifslingen  der 
früheren  Pläne  desselben  seine  oigene  Pfründe  durch  seinen  bischöf- 
lichen Einflufs  zu  sichern  (5.  Juni  1538),  wogegen  Alexander 
Sculteti,  schon  von  dem  Coadjutoriestreit  her  des  Dantisous  eif- 
rigster Widerpart,  zu  Rom  in  später  unentschieden  gebliebenem  Pro- 
zesse Einspruch  erhob.  Bald  nach  der  trotzdem  erfolgten  Einführung 
des  Eiferers,  zu  der  auch  durch  ein  Spiel  des  Zufalls  der  milde  Cop- 
pernicus  mit  deputiert  war,  bewarb  sich  kraft  des  dem  König 
Sigmund  zeitweilig  vom  Papst  verliehenen  Nominationsrechtes  der 
frischgebackene  Canonicus  von  Krakau  aus  um  die  am  1.  März  1539 
erledigte  zweite  Prälatur.  Noch  vor  dem  Eintreffen  dieser  Nomination 
in  Frauenburg  hatte  aber  das  Kapitel,  wohl  aus  Besorgnis  vor  etwas 
Ähnlichem,  am  11.  März  durch  Aufrücken  von  Johannes  Zimmer- 
mann in  die  erledigte  und  Verleihung  der  dadurch  frei  werdenden 


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letzten  Prälatur  an  Alexander  Soulteti  dem  Verbündetenpaar  einen 
Strich  durch  die  Rechnung  gemaoht.  Der  Inanspruchnahme  wenigstens 
der  letzten  Prälatur  für  Hosius  gegenüber  trat  Alezander  Soulteti 
nicht  zurüok,  sondern  wandte  sich,  da  in  der  Folge  Dan  tisous  unter 
vielleicht  berechtigter  Anzweifelung  seiner  Rechtgläubigkeit  und  Sitten- 
reinheit seinen  Ausschlufs  aus  dem  Kapitel  und  Verbannung  aus  Polen 
durchzusetzen  gewufst  hatte,  wieder,  unter  dem  Schutze  mächtiger 
Gönuer,  an  die  päpstliche  Curie,  wo  er  später  auoh  ein  obsiegen- 
des Urteil  erstritt.  Dem  unbilligen  Ansinnen  des  Dantiscus  an 
seinen  Klerus,  inzwischen,  lange  vor  Entscheidung  des  Prozesses,  allen 
persönlichen  Verkehr  mit  dem  Verdächtigen  abzubrechen,  leistete 
Coppernicus  nicht  Folge.  Länger  als  ein  Dezennium  mit  Soulteti 
eng  befreundet  und  früher  mehrfach  in  gemeinsamer  Arbeit  mit  ihm 
verbunden21*),  erklärte  er,  ihn  höher  schätzen  zu  müssen  als  manohen 
andern.  Auf  erneute  diesbezügliche  Vorstellungen,  diesmal  auf  dem 
Umwege  über  Giese,  als  Nicolaus  im  Sommer  zu  Löbau  weilte, 
antwortete  er  zwar  artig,  er  habe  dem  Dantiscus  nicht  zu  nahe 
treten  wollen  und  gedenke  dem  erleuchteten  Willen  hoohdessen  nach- 
zuleben, liefs  ihn  aber  dabei  deutlich  seine  Entrüstung  fühlen.  Mit 
Soultetis  Reise  nach  Rom  zur  Verantwortung  erledigte  sich  schliefs- 
lich  die  Angelegenheit  von  selbst 

Allein  das  charaktervolle  Widerstreben  des  Domherrn  Copper- 
nicus hatte  den  Bischof  schwer  erzürnt.  Er  suchte  an  einer  anderen 
Stelle,  bei  einer  ganz  im  Geiste  seines  sonstigen  streng  kirchlichen 
Regiments  sich  bietenden  Gelegenheit  dem  Widerspenstigen  seine 
Macht  fühlbar  zu  machen.  Coppernicus  hatte  zur  Wirtschafts- 
führung eine  entfernte  Verwandte,  Anna  Schillings,  bei  sich. 
Unter  Voraussetzung  unerlaubter  Beziehungen  zwischen  beiden  ver- 
langte Dantiscus  ihre  Entfernung.  Auf  wiederholte  Einschärfung 
erklärte  sich  der  Verdächtigte  in  einem,  seiner  Stellung  entsprechend 
unterwürfigen,  aber  ersichtlioh  gezwungenen  und  gesuchten  Schreiben 
vom  2.  Dezember  1538  dazu  bereit  und  spricht  unter  dem  11.  Januar 
des  folgenden  Jahres  mit  dor  kurzen  Meldung  des  Vollzuges  die 
Hoffnung  aus,  damit  dem  Verlangen  seines  Vorgesetzten  voll  ent- 

w)  Über  dio  Resultate  geographischer  Bemühungen  des  Coppernicus 
in  den  letzton  zwanziger  Jahren  im  Vereine  mit  Alexander  Soulteti  sind 
wir  nicht  genauer  unterrichtet.  Seine  Arboiten,  von  Ferber  unter  dem 
10.  Juli  1.V29  in  einem  Briefe  au  Sculteti  erwähnt,  benutzte  später  der 
Coppernicus-Schiiler  Rheticus  in  seiner  leider  verloren  gegangenen 
„Tabula  chorographica  auf  Prcufsen",  sie  sind  jedoch  wahrscheinlich 
auch  in  der  1570  erschienenen  Hennebergersehen  Karte  von  Preufsen  ver- 
wertet worden. 

24* 


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sprochen  zu  haben.  Allein  Dantiscus  brachte,  wieder  auf  dem  Um- 
wege über  Giese,  während  des  Domherrn  Anwesenheit  zu  Löbau 
neue  derartige  Anschuldigtingen  vor.  In  dem  erhaltenen  Antwort- 
schreiben  des  Culmer  Bischofs  nimmt  der  Freund  den  grofsen  For- 
scher gegen  den  Vorwurf  heimlicher  Zusammenkünfte  mit  der  aus 
Ermland  verbannten  Schillings  in  Schutz  und  erinnert  Dantiscus 
mit  dem  Bemerken,  böswillige  Angeber  machten  vor  niemand,  selbst 
nicht  einmal  vor  ihm,  dem  Erml ander  Seelenhirten,  mit  ihren  Erfin- 
dungen Halt,  in  feiner  Weise  an  seine  eigenen  Liebesabenteuer. 

Das  Vorgehen  des  Dantiscus,  so  sehr  es  auch  dem  Zwange 
der  Umstände,  der  in  seiner  jetzigen  Stellung,  noch  dazu  während 
Vechandlungen  über  die  Verleihung  der  Kardinalswürde  an  ihn  im 
Gange  waren,  unbedingt  erforderlichen  Desavouierung  seines  ganzen 
früheren  Lebens  entspricht,  ist  doch  vielfach  anfechtbar  und  nur  bei 
Annahme  persönlicher  Animosität  zu  verstehen.    Schon  die  Art  der, 
wie  es  scheint,  nicht  einmal  mit  Sicherheit  bewiesenen  Beschuldigun- 
gen hätte,  selbst  ihre  Berechtigung  zugegeben,  bei  der  damals  allge- 
meinen, offenkundigen  Sittenverderbnis  des  höheren  Klerus  einen 
Grund  für  ein  so  besonders  auf  eine  einzelne  Person  gemünztes  Ein- 
schreiten unter  gewöhnlichen  Umständen  kaum  gegeben,  und  noch 
merkwürdiger  erscheint  es  bei  den   notorischen  Verhältnissen  des 
Rügenden  selbst.  Am  unangenehmsten  aber  wirkt  nach  dem  Vollzuge 
des  bei  wirklicher  Annahme  thatsächlichen  Bestehens  solcher  Be- 
ziehungen ja  berechtigten  Ansinnens  der  Entfernung  der  Haushäl- 
terin das  weitere  Spüren  und  Suchen  nach  vermuteten  fortdauernden 
Beziehungen,  um  dem  schon  schwer  genug  betroffenen  Greise  neuer- 
dings Verlegenheiten  zu  bereiten. 

Die  Versuche  hauptsächlich  Gieses,  naoh  diesen  Vorkomm- 
nissen wieder  eine  innerliche  Aussöhnung  zwisohen  dem  immerhin 
bedeutenden  Bischöfe  und  seinem  grofsen  Domherrn  herbeizuführen, 
muteten  an  der  grundverschiedenen  Denkungsweise  beider  scheitern. 
Ein  offener  Bruch  war,  wie  oben  angedeutet,  allerdings  vermieden 
worden,  und  Coppernicus  nahm  einen  spätem  Annäherungsversuch 
des  Dantiscus  in  Form  eines  schmeichelhaften  Epigramms  für  den 
Eingang  der  Revoluliones  äufserlich  artig  auf,  allein  wie  in  dem 
Originalmanuskripte  fehlt  es  auch  in  der  Druckausgabe,  ob  auf  aus- 
drückliche Anweisung  des  Verfassers,  ob  nur  in  seinem  Sinne  von 
den  Herausgebern  fortgelassen,  an  der  dazu  bestimmten  Stelle,  und 
ebensowenig  deutet  ein  im  September  1543  an  das  Kapitel  gerichteter 
Brief  des  Dantiscus  mit  seinem  harten  Urteil  über  Anna  Schillings 


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373 


und  mit  seiner  Verunglimpfung  des  erst  unlängst  verschiedenen 
grofsen  Forschers  auf  das  Bestehen  wirklicher  Freundschaftsbe- 
ziehungen. 

Diese  äußerlichen  Belästigungen  wurden  dem  grofsen  Astronomen 
aber  sicherlich  durch  das  innerliohe  Hochgefühl  eines  ersten  vollen 
Triumphes  seiner  Lehre  aufgewogen.  Nach  dem  grofsen  Aufsehen  und 
den  mehrfachen  Beweisen  des  durch  die  Veröffentlichung  des  Commen- 
tariolus  für  seine  Hypothesen  erweokten  Interesses  wurde  durch  des 
Rh  oticus  Ankunft  im  Mai  1539  und  seinen  zweijährigen  Aufenthalt 
die  Möglichkeit  eines  Verständnisses  und  die  Uberzeugende  Kraft 
seiner  Annahme  auf  einen  an  freies  Denken  gewöhnten  Kopf  unzwei- 
deutig dargelegt  Um  so  vorheifsungsvoller  mufste  der  Erfolg  er- 
scheinen, da  sein  Besucher,  der  jugendliohe  Wittenberger  Professor, 
aus  der  Stadt  kam,  wo  seine  Besohützer  M  el  an  cht  hon  und  Luther 
von  Anfang  an  eine  streng  abweisende  Haltung  gegenüber  der  neuen 
Lehre  eingenommen  hatten.  Führte  doch  Luther  in  seinen  Tisch- 
reden das  Unterfangen  des  Frauenburger  Domherrn  auf  die  sehr 
egoistische  Triebfeder  der  Ruhmsucht  zurüok  und  widersprach  ihm 
aus  biblischen  Gründen,  und  blieb  doch  Melanchthon  zeitlebens 
ein  durch  seine  anerkannte  Gelehrsamkeit  nur  um  so  gefährlicherer 
Gegner  der  Lehre  von  der  Erdbewegung.  Über  Anfeindungen  gegen  das 
innige  Verhältnis  zwischen  dem  domherrlichen  Lehrer  und  seinem 
ketzerischen  Schüler  durch  die  rührige  Eifererpartei  ist  uns  nichts 
erhalten,  wie  nahe  auch  die  gleichzeitigen  bischöflichen  Erlasse  und 
die  nur  flüchtige  Erwähnung  des  Dantiscus  in  dem  „Encomium 
Borussiae"  durch  den  schreib-  und  denkfertigen  Rheticus  eine 
solche  Annahme  legen  könnten. 

Georg  Joachim  von  Lauchen,  geb.  am  16.  Februar  1514, 
meist  nach  seinem  Geburtsorte,  Feldkiroh  in  Vorarlberg,  dem  alten 
Rhätien,  Rheticus  genannt,  hatte  nach  guter  Vorbildung  im  wohl- 
habenden Elternhause  und  unter  Oswald  Myoonius  in  Zürich  schon 
1532  zu  Wittenberg  durch  seine  hervorragende  mathematische  Be- 
gabung Melanchthons  Aufmerksamkeit  erregt.  Nach  dreijährigem 
Studium  unter  dem  tüchtigen  Johannes  Volmer  zog  er  1535  als 
Magister  von  Wittenberg  nach  Nürnberg  zur  weiteren  Fortbildung 
unter  dem  ehemaligen  Geistlichen  und  damaligen  Mathematikprofessor 
am  Nürnberger  Gymnasium  Johannes  Schoner,  dessen  Leitung  er 
bald  mit  der  des  Tübingers  Johannes  Stoeffler,  Melanchthons 
einstigen  Lehrers,  vertauschte.  Dort  in  Tübingen  traf  ihn  der  Ruf 
zur  Übernahme  der  soeben   neu  geschaffenen  zweiten  Mathematik- 


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professur  in  Wittenberg,  dessen  Vermittler,  Melanchthon,  ihn  per- 
sönlich  im  Januar  1537  in  sein  Amt  einführte.  Auch  als  1539  ihn 
die  Kunde  von  dem  Coppernicanisohen  Weltsystem  zu  der  Reise  nach 
Frauenburg  veranlagte,  hielt  ihm  dieser,  trotz  seiner  vorerwähnten 
Abneigung  gegen  die  neue  Lehre,  seine  Stelle  offen:  wir  finden  ihn 
im  Februar  1542  als  Dekan  seiner  Fakultät  daselbst  vor.  Nach 
Frauenburg  brachte  er  noch  die  Kunde  von  einem  zweiten  be- 
geisterten Verehrer  seines  geliebton  „Herrn  Lehrers",  seinem 
Kollegen  in  der  ersten  Mathematikprofessur,  Erasmus  Reinhold, 
weloher  dann  auch  in  der  Vorrede  zu  seiner  spätem  Ausgabe  der 
Peurbachschen  Planetentafeln  diesen  höchlichst  feierte.  Wenn  beide 
in  ihrer  amtlichen  Thätigkeit  das  alte  System  den  Vorlesungen  zu 
Grunde  legten,  so  lag  das  an  strikten  Bestimmungen,  nach  denen, 
wie  es  bis  ins  17.  Jahrhundert  in  Geltung  blieb,  die  Professoren  eben 
zur  Erklärung  nur  dieser  Theorien  gehalten  waren.  Hat  doch  selbst 
Galilei  in  Padua  noch  Sacrobosco  erklärt. 

Anfang  Frühjahr  1539  trat  also  Rheticus  seine  ursprünglich 
nur  auf  kurzen  Aufenthalt  berechnete  Reise  nach  Frauenburg  an 
und  versprach  von  Posen  aus  seinem  alten  Lehrer  Schoner  einen 
baldigen  Bericht,  inwieweit  die  Thatsachen  seinen  hohen  Erwartungen 
von  dem  zu  besuchenden  Astronomen  entsprechen  würden.  Allein 
als  er  im  Mai,  von  dem  eben  von  Gieses  Krankenlager  zurück- 
gekehrten Coppernicus  aufs  freundlichste  empfangen,  sich  mit  dessen 
Ansichten  vertraut  zu  machen  begann,  dehnte  sich  von  selbst  die  zu 
deren  genauerem  Studium  erforderliche  Zeit  aus,  seine  Besuchsdauer  ver- 
längerte sich  auf  über  zwei  Jahre,  und  erst  Ende  September  (23.  IX.) 
sah  er  sich  im  stände,  den  inzwischen  auf  Abhandlungsstärke  ange- 
schwollenen Bericht  an  Schoner,  die  na r ratio,  in  Rücksicht  auf  eine 
wohl  beabsichtigte  Fortsetzung  prima  genannnt,  zu  erstatten.  Seine 
Anwesenheit  zu  Löbau  mit  Coppernicus  vom  Juli  bis  September  1539 
haben  wir  schon  erwähnt.  Ähnliche  Reiseunternehmungen,  teils  in 
Begleitung  seines  Lehrers,  teils  allein  zu  dessen  Freunden  und  Ver- 
wandten, und  Teilnahme  an  anderweitigen  wissenschaftlichen  Unter- 
suchungen seines  Gastfreundes  füllten  neben  seiner  Beschäftigung 
mit  dem  vorliegenden  Texte  der  Revolutiones  unter  Anleitung  des 
Verfassers  die  beiden  Jahre  aus.  Interessant  ist,  weil  unter  Copper- 
nicus* Augen  entstanden  und  auf  dessen  eigenen  früheren  For- 
schungen fufseud,  die  seinem  Gönner  Herzog  AI  brecht  gewidmete 
Chorographie,  und  wäre  in  noch  höherem  Grade,  wenn  nicht  leider 
verloren,  die  unter  gleichen  Umständen  entstandene  Tabula  chorogra- 


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phioa  auf  Preufsen,  also  eine  Karte30).  Nebenbei  trugen  ihm  diese 
Beziehungen  autser  pekuniärer  Unterstützung  ein  Empfehlungsschrei- 
ben des  Herzogs  an  die  sächsischen  Kurfürsten  für  den  Druck  eines 
ihm  zu  diesem  Zwecke  überlassenen  „Opus  domini  praeceptoris  sui"  ein, 
welches  nur  die  1542  erschienene,  zu  Wittenberg  gedruckte  Trigo- 
nometrie sein  kann,  da  die  Revolutiones  ja  nicht  ihm,  sondern 
Tiedemann  Giese  zur  Herausgabe  überlassen  wurden,  wie  wir* 
später  sehen  werden.  In  der  Chorographie  erklärt  Rheticus  zuerst 
die  Begriffe  Geographie  und  Chorographie  und  erläutert,  wie  man 
auf  dreierlei  Arten,  durch  Gissungen,  Magnetnadelbeobaohtungen  und 
Vereinigung  beider  Hilfsmittel  Karten  (Kompafskarten)  entwerfen  könne, 
lehrt  dann  die  Mittagslinien  finden  und  schliefst  mit  einer  Anweisung 
zur  Herstellung  und  zum  Gebrauche  des  Kompasses. 

*°)  Die  Chorographie  des  Rheticus  ist  Ton  Hipler  herausgegeben  im 
XXI.  Bande  der  Zeitschrift  für  Math,  und  Phys.  Hist.  litter.  Abt.  S.  12.r>  ff. 


(Schlüte  folgt.) 


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Prähistorische  Meteorsteine  stellen  naoh  Professor  Suefs  die 
sogenannten  Moldavite  dar,  eigentümliche  glasähnliche,  grüne  Mine- 
ralien von  geringen,  höchstens  eigrofsen  Dimensionen,  die  man  zu 
Anfang  des  Jahrhunderts  zuerst  im  oberen  Moldauthale  gefunden,  die 
aber  später  auch  als  vereinzelte  Findlinge  auf  einem  grofsen,  von 
Borneo  bis  über  ganz  Australien  sich  erstreckenden  Gebiete  beobachtet 
worden  sind.  Die  Mineralogen  vermochten  die  Herkunft  dieser  eigen- 
artigen Körper  nicht  leicht  zu  bestimmen,  da  sie  bei  ihrer  obsidian- 
ähnlichen  Natur  auf  eine  vulkanische  Entstehung  schliefsen  lassen, 
trotzdem  meist  in  weiter  Entfernung  von  Vulkanen  vorkommen  und  auch 
sonst  durch  manche  Besonderheiten  sich  von  den  Obsidianen  unter- 
scheiden. Die  eine  Zeit  lang  herrschend  gewesene  Meinung,  dafs  man 
es  bei  den  Moldaviten  mit  glasartigen  Kunstprodukten  zu  thun  haben 
dürfte,  liefs  sich  nach  der  Feststellung  ihres  australischen  Vorkommens 
gleichfalls  nicht  aufrecht  erhalten,  und  so  blieb  denn  die  Vermutung 
meteorischen  Ursprungs  als  plausibelste  Erklärung  übrig.  Allerdings 
schien  dieser  Annahme  die  völlige  chemische  Verschiedenheit  von  den 
bisher  bekannton  Meteorsteinen  zu  widersprechen,  indefs  kann  diesem 
Umstände  in  Anbetracht  der  beträchtlichen  Geschwindigkeit  der  Be- 
wegung des  Sonnensystems  kaum  viel  Gewicht  beigelegt  werden,  da 
es  sehr  wohl  denkbar  ist,  dafs  uuser  System  in  früherer  Zeit  einmal 
durch  Gegenden  des  Weltenraums  geeilt  ist,  in  denen  die  mineralo- 
gische Zusammensetzung  der  vagabundierenden,  meteorischen  Massen 
eine  ganz  andere  ist,  als  in  den  zur  Zeit  vom  Sonnensystem  durch- 
querten Himmelsräumen.  Nur  äufserliche  Kennzeichen,  die  den  Meteo- 
riten infolge  der  Einwirkung  des  Luftwiderstandes  in  ganz  charak- 
teristischer Weise  anhaften,  mufsten  auch  bei  den  Moldaviten  wahr- 
nehmbar sein,  wenn  die  meteorische  Hypothese  eine  wissenschaftliche 
Berechtigung  beanspruchen  sollte.  Als  nun  Professer  Suefs  im  vorigen 
Sommer  bei  Gelegenheit  geologischer  Aufnahmen  in  das  Fundgebiet 
der  böhmisch-mährischen  Moldavite  gelangte,  konnte  er  thatsächlich  an 


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über  hundert  untersuchten  Objekten  die  charakteristischen  Oberflächen- 
gebilde der  Meteorite,  als  flache  Eindrücke,  Grübchen  und  scharf- 
kantige, tiefe,  oft  sternförmig  ausstrahlende  Rinnen  u.  s.  w.  feststellen- 
Suefs  glaubt  daher  diese  Mineralien  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  als 
Meteorite  anspreohen  zu  sollen,  die  am  Ende  der  Tertiärzeit  oder  zu 
Anfang  der  Quartärzeit  in  gröfserer  Anzahl  auf  die  Erde  gefallen  sein 
mögen.  F.  Kbr. 

* 

Die  Spandauer  Versuche 
zur  Bestimmung  der  mittleren  Dichte  der  Erde. 

Im  vorigen  Jahrgange  unserer  Zeitschrift  (S.  385)  wurde  über 
die  Resultate  berichtet,  welche  der  frühere  Direktor  der  Sternwarte 
Kalocsa,  Pater  Dr.  C.  Braun,  mittelst  eines  von  ihm  konstruierten 
Apparates  über  die  mittlere  Dichtigkeit  des  Erdkörpors  erhalten  hat. 
Es  wurde  besonders  hervorgehoben,  dafs  das  Braunsohe  Verfahren  auf 
der  Beobachtung  der  Ablenkung  des  Hebelarmes  einer  Coulombschen 
Dreh  wage  durch  Massen,  die  anziehend  auf  jenen  Hebelarm  einwirken, 
beruht.  Die  Torsionskraft  des  Platinfadens,  an  welchem  die  Drehwage 
aufgehängt  ist,  bildet  das  Mafs,  aus  welchem  mittelst  des  Gravitations- 
gesetzes die  Masse  der  Erde  und  daraus  die  Dichte  der  letzteron  be- 
rechnet werden  kann. 

Es  liegt  aber  auch  der  Gedanke  nahe,  die  Masse  der  Erde  nicht 
auf  diesem  Umwege,  sondern  direkt  aus  Messungen  der  Anziehung 
zu  bestimmen,  welche  irgend  eine  sehr  grolse  Masse  auf  eine  kleine 
ausübt.  Eine  sehr  bedeutende  Menge  Blei  z.  B.  wird  auf  ein  kleines 
Gewicht  nach  dem  Gravitationsgesetze  attrahierend  wirken.  Letzteres 
Gewicht,  z.  B.  ein  Kilogramm,  wird  aber  auch  eine  Anziehung  durch 
die  Masse  der  Erde  erfahren.  Das  Gravitationsgesetz,  auf  die  beiden 
gegebenen  Körper,  das  Blei  und  das  Kilogramm  angewendet,  sagt: 
Die  Anziehung  der  Erde  auf  das  Kilogramm  verhält  sich  zu  der  An- 
ziehung des  Bleies  auf  das  Kilogramm,  wie  das  Produkt  aus  Masse 
der  Erde  und  Kilogramm,  dividiert  durch  das  Quadrat  der  Entfernung 
der  Mittelpunkte  Erde -Kilogrammgewicht,  sich  verhält  zu  dem  Produkte 
von  Masse  Blei  und  Kilogrammgewicht,  dividiert  durch  das  Quadrat 
der  Entfernung  von  Blei  und  Kilogramm  von  einander.  Die  in  dieser 
Proportion  vorkommende  Unbekannte,  dio  Masse  der  Erde,  läfst  sich 
also  berechnen,  wenn  die  anderen  Gröfsen  der  Proportion  als  bekannt 
vorausgesetzt  werden.  Da  die  Massen  d^s  Blei  und  des  Kilogramm, 
selbst  wenn  sie  nicht  in  Gestalt  von  Kugeln,  wie  das  Gravitations- 


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378 


gesetz  es  bedingt,  zur  Verwendung  kommen,  doch  dieser  Kugelgestalt 
entsprechend  berechnet  werden  können,  ferner  die  Entfernung  beider 
Massen  von  einander,  sowie  die  Entfernung  der  einen  vom  Erdmittel- 
punkt jederzeit  bekannt  ist,  und  endlioh  die  Anziehung  der  Erde  auf 
das  Kilogrammgewicht,  d.h.  das  Gewicht  eben  dieser  Masse  mittelst 
einer  Wage  ermittelt  werden  kann,  so  bliebe  nur  noch  übrig,  die  An- 
ziehung der  grofeen  Bleimasse  auf  das  Kilogramm  durch  Experimente 
festzustellen,  worauf  man  die  Unbekannte,  die  Masse  der  Erde,  be- 
rechnen könnte. 

Jene  Experimente  zur  Bestimmung  der  Anziehung  zweier  Massen 
auf  einander  können  mit  Hilfe  einer  sehr  empfindlichen  Wage  ausge- 
führt werden.    Jolly  und  Poynting  haben  die  Wage  zuerst  zur  Be- 
stimmung der  mittleren  Dichte  der  Erde  genützt    Die  Methode,  der 
sie  folgten,  beruht  im  wesentlichen  auf  folgendem  Gedanken:  Man 
hängt  an  die  unteren  Flächen  der  beiden  Wagschalen  einer  Wage  zwei 
lange  Tragstangen,  welche  an  ihren  Enden  zwei  andere  Wagschalen 
aufnehmen.    In  eine  der  oberen  Wagschalen,  z.  B.  die  linke,  bringt 
man  die  kleine  Masse  (eine  Kugel),  deren  Anziehung  durch  eine 
gröfsere  ermittelt  werden  soll,  und  wägt  dieselbe  ab.    Hierauf  legt 
man  diese  Kugel  in  die  untere  Wagschale  rechts  und  bringt  sie  ins 
Gleichgewicht.    Da  die  Kugel  sich  jetzt  näher  dem  Erdmittelpunkte 
befindet  als  vorher,  so  wird  sie  einer  gröfseren  Anziehung  seitens  der 
Erde  unterliegen  und  daher  eine  kleine  Gewichtszunahme  zeigen. 
Nähert  man  der  Wage  noch  eine  grofse  kugelförmige  Masse,  so  dafs 
die  unteren  Wagschalen  dicht  über  der  letzteren  schweben,  so  wirkt 
auch  noch  die  Anziehung  dieser  Masse  auf  die  kleine  Kugel  ein  und 
verstärkt  das  Gewicht  derselben.    Mittelst  systematischer  Anordnung 
der  Wägungen  kann  man  auf  diese  Weise  die  Anziehung  einer  grofsen 
Masse  auf  eine  kleine  bestimmen.    Da  es  sich  aber  um  die  Messung 
ungemein  geringer  GewichtsveräDderungen  handelt,  so  ist  das  Gelingen 
der  Versuche,  wie  wohl  ohne  weiteres  einzusehen  ist,  nicht  nur  an 
die  möglichst  mathematisch  richtige  Konstruktion  der  Wage,  sondern 
auch  an  die  Erfüllung  einer  Reihe  anderer  Bedingungen  geknüpft,  zu 
denen  in  erster  Linio  die  Vermeidung  von  Temperaturunterschieden 
zwisohen  den  oberen  und  untoren  Wagschalen  gehört.    Obwohl  nun 
Wagen  gegenwärtig  von  ausgezeichneter  Präzision  gebaut  werden> 
welche  die  feinsten  Wägungen  gestatten,  so  ist  doch  die  theoretisch 
bedingte  Ausschi iefsung  aller  irgendwie  störend  auf  die  Messungen 
wirkenden  Einflüsse  nur  sehr  schwierig  zu  erreichen.  Die  Ausführung' 
der  Versuche  gestaltet  sich  deshalb  zu  einem  komplizierten  Vorgange 


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37ü 


und  erfordert  vorher  die  sorgfältige  Herstellung  einer  besonderen 
Wägungsanlage. 

Diese  Wägungsanlage  wurde  schon  vor  einer  Reihe  von  Jahren 
in  einer  Kasematte  der  Citadelle  von  Spandau  angelegt,  welche  sich 
durch  gleichmärsige  Temperatur  auszeichnet.  Das  Haupterfordernis 
zur  Ausführung  der  Versuche  war  die  Schaffung  der  möglichst  grofsen 
anziehenden  Masse.  Die  Spandauer  Geschützgiefserei  stellte  einen  ge- 
waltigen Bleiklotz  aus  2940  einzelnen  Stücken  her.  Diese  Stücke  hatten 
3  dm  Länge  und  1  dm  Breite  und  Höhe,  waren  sehr  gleichmäfsig 
gearbeitet  und  wurden  in  20  Sohichten  in  wechselnder  Weise  über- 
einander gelegt,  sodafs  durchziehende  Fugen  vermieden  wurden  und 
der  Bleiklotz  nach  seinem  Aufbau  eine  in  jeder  Richtung  hin  gleich 
dichte  parallelepipedisohe  Säule  von  2  m  Höhe  und  2,1  m  Breite  dar- 
stellte, deren  Gewicht  nahe  100000  kg  betrug.  Diese  gewaltige  Last 
wurde  von  oinem  gemauerten  Fundamente  getragen, 
welches  »/2  m  über  die  Erde  und  ll/2  m  unter  die- 
selbe reichte.  Wie  vorauszusehen,  hat  sich  nach 
dem  vollendeten  Aufbau  des  Bleiklotzes  das  Funda- 
ment gesenkt,  und  zwar  um  8  mm,  und  nach  dem 
Abbruche  des  Bleiklotzes  konnte  wieder  eine  ge-  ^L 
ringe  Hebung  um  0,7  mm  konstatiert  werden. 

Die  Messungsmethode,  welche  die  Herren  Prof.  T 
F.  Richarz  und  Dr.  O.  Krigar-Menzel  (bis  1889  hat  auch  Arthur 
König  an  den  Arbeiten  teilgenommen)  anwandten,  sucht  durch  Wä- 
gungen gleich  den  vierfachen  Betrag  der  Gravitation  zu  bestimmen.  Zu 
diesem  Zwecke  ist  Bedingung,  dafs  die  Wägungen  über  und  unter  dem 
Bleiklotze  vorgenommen  werden  können.  Deshalb  ist  die  Wage  WW' 
über  dem  Klotze  ABCD  aufgestellt,  unterhalb  der  Schalen  SS'  ist  aber 
der  Klotz  vertikal  durchbohrt,  und  zwar  reicht  durch  diese  Durchboh- 
rungen das  an  die  Wagschalen  SS'  angehängte  Gestänge,  welches  zwei 
andere  Wagschalen  TT'  trägt,  so  dafs  diese  letzteren  dicht  unterhalb  des 
Bleiklotzes  schweben.  Eine  Masse  in  der  Wagschale  W  wird  ins  Gleich- 
gewicht gebracht  durch  Gewichte  in  T';  die  Anziehung,  welche  die 
•grofse  Masse  des  Klotzes  ausübt,  zieht  die  Masse  in  W  nach  unten, 
die  Gewichtstücke  in  T'  dagegen  nach  oben;  damit  diese  doppelte 
Wirkung  ausgeglichen  wird,  müssen  offenbar  die  Gewichtstücke  in 
T'  um  die  doppelte  Attraktion  des  Bleiklotzes  gröfoer  sein  als  die  Masse 
io  W.  Bringen  wir  nun  die  Masse  in  W  in  die  untere  Wagschale 
nach  T  und  durch  entsprechende  Gewichte  in  W'  ins  Gleichgewicht, 
so  kehrt  sich  das  Verhältnis  um:  die  Masse  in  T  wird  nach  oben,  die 


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380 


Gewichte  in  W  werden  nach  unten  gezogen,  und  zur  Ausgleichung 
dieser  Wirkung  müssen  die  Gewichte  in  W  um  die  doppelte  Anziehung 
des  Klotzes  kleiner  sein  als  die  Masse  in  T.  Der  Unterschied  zweier 
solcher  Wägungen  giebt  daher  die  vierfache  Attraktion  des  Bleiklotzes. 
Das  Prinzip  der  Methode  erfordert  also,  dafs  das  Gestänge  der  Wage 
durch  den  Bleiklotz  hindurch  reicht,  und  die  Wagschalen,  unbeeinflufst 
durch  Luftströmungen,  über  und  unter  dem  Bleiklotze  ruhig  schweben. 
Da  es  sich  um  das  Messen  ganz  minimaler  Gewichtsunterschiede  handelt, 
darf  das  Vertausohen  der  Massen  und  Gewichte  nicht  unmitelbar  vor- 
genommen, sondern  mufs,  ohne  dafs  der  Beobachter  dem  Bleiklotze 
nahe  kommt,  d.  h.  automatisch  von  einem  Punkte  aus,  mittelst  ent- 
sprechender Einrichtungen,  ausgeführt  werden.  Diese  Vorsichtsmars- 
regeln komplizieren  die  Anlage  der  Versuchsstätte  um  ein  Bedeutendes. 

Zunächst  führt  deshalb  ein  Doppelkanal  an  der  Oberfläche  des 
gemauerten  Fundamentes,  um  die  unteren  Wagschalen  T,  T'  aufnehmen 
zu  können;  die  Anordnung  dieses  Kanals  und  angebrachte  Fallthüren 
machen  schädliche  Luftzirkulationen  unmöglich.  Vor  der  Mündung 
dieses  Kanals  gestatten  gabelartige  Vorrichtungen  das  Vertausohen  der 
kugelförmigen  Gewichtstüoke;  ein  an  einer  Führungsstange  gleitender 
Fahrstuhl  bringt  die  Kugeln  von  oben  nach  unten  und  umgekehrt.  Der 
ganze  Mechanismus  kann  von  dem  Sitze  des  Beobachters  aus  mittelst 
eines  Systems  von  Schnüren,  Stangen  und  Kurbeln  bewegt  werden, 
und  sein  richtiger  Gebrauch  war  duroh  besondere  „Fahrpläne"  vor- 
geschrieben. —  Das  Hauptinslrument  bei  den  Messungen  ist  natürlich 
die  Wage.  Wagen  mit  langen  und  leicht  gearbeiteten  Wagebalken 
besitzen  zwar  eine  grofee  Empfindlichkeit,  allein  sie  sind  leichter  einer 
Durchbiegung  der  Balken  ausgesetzt.  Deswegen  verzichtet  man  lieber 
auf  allzu  grofse  Empfindlichkeit  der  Wagen  und  zieht  solche  mit 
kürzeren  Balken  vor,  bei  welchen  man  die  Voraussicht  der  Konstanz 
hat;  die  in  Spandau  benutzte  Wage  hatte  nur  einen  Abstand  von  23,3  cm 
der  Seitenschneiden  von  einander.  Der  wichtigste  Teil  der  Wage,  die 
Schneiden,  war  aus  Stahl.  Die  verschiedenen  Manipulationen  mit  der 
Wage,  das  Arretieren  uud  Auslösen  dor  Wagebalken,  geschahen  auto- 
matisch vom  Sitze  des  Beobachters,  desgleichen  die  Beobachtung  der 
Schwingungen  mittelst  Fernrohr  und  Skala.  Eine  hinreichende  Vor- 
stellung von  der  Anordnung  des  Ganzen  giebt  die  nebenstehende 
schomatische  Zeichnung.  Danach  war  der  Bleiklotz  ABCD  samt  der 
darüber  befindlichen  Wage  in  einen  Kasten  k  von  doppelten  Zinkblech- 
wänden eingeschlossen.  Wage  und  Vertauschungsmechanismus  für  die 
Gewichte  hatten  eine  vom  Fundamente  des  Bleiklotzes  ganz  unabhängige 


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381 


Basis;  ein  starker  Eisenträger  T,  der  auf  der  einen  Seite  auf  einem  be- 
sonderen Pfeiler  p  ruht,  geht  nämlich  durch  den  Kasten  k;  an  ihm  sind 
senkrecht  darauf  zwei  Träger  verschraubt,  die  auf  zwei  Pfosten  t  und  u 
vor  dem  Sitze  des  Beobachters  endigen;  dieses  Gerüst  trägt  die  Wage 
über  dem  Bleiklotz.  Dasselbe  Trägergerüst  nahm  auch  den  Mecha- 
nismus für  die  automatische  Erledigung  der  Wagemanipulationen  auf. 
Sämtliche  Bewegungen  konnten  vom  Beobachtersitze  B  aus  durch  die 
Wand  des  Kasteos  k  hindurch  vorgenommen  werden;  aufserdem  war 
der  Beobachter  noch  durch  die  Zinkblechwand  w  vom  eigentlichen  Be- 
obachtungsraum getrennt.  Das  nötige 
Licht  zur  Handhabung  des  Mechanis- 
mus sowie  zur  Beleuohtung  der  Stel- 
lung der  Wagebalken  wurde  von 
aufeen  her  durch  ein  Glasfenster  L 
in  den  Arbeitsraum  reflektiert;  mittelst 
diverser  Spiegel  und  Prismen  wurde 
auch  die  Skala  c  im  Fernrohre  vor 
dem  Beobachtersitze  B  sichtbar  ge- 
macht Ein  um  den  Raum  aufgeführter 
Bretterverschlag,  der  nur  bei  e  und  b 
den  Zutritt  gestattet,  hielt  jeden  Luft- 
zug ab  und  trug  zur  Konstanz  der 
Temperatur  des  Raumes  viel  bei.  Die 
Feuchtigkeit  der  Luft  wurde  mittelst 
der  Schwefelsäurepfannen  ii  immer 
auf  einem  mäßigen  Prozentsatze  ge- 
halten. 

Trotz  aller  dieser  hier  nur  im  allgemeinen  andeutbaren  Vorsichts- 
mafsregeln  zeigten  sich  die  Resultate  immer  nooh  abhängig  von  der 
Temperatur,  wie  ein  mit  den  Jahreszeiten  wechselnder  Gang  der  Re- 
sultate bewies.  Aber  diese  Schwierigkeit  läfst  sich  durch  entsprechende 
rechnerische  Behandlung  der  Messungen  beseitigen.  Freilich  gehört 
andererseits  eine  bedeutende  Anzahl  von  Wagungon  dazu,  um  dem 
Endresultate  den  gehörigen  Grad  von  Sicherheit  geben  zu  können, 
denn  die  Gewichtsdifferenz,  welche  gemessen  werden  mufs,  beträgt 
auf  ein  kg  Gesamtgewicht  wenig  mehr  als  ein  mg.  Deshalb  wird  man 
sich  nicht  wundern,  wenn  wir  noch  anmerken,  dafs  die  Messungen 
sechs  Jahre  für  sich  in  Anspruch  genommen  haben.  Im  ganzen  sind 
zur  Berechnung  des  Resultates  73  Wägungsreihen  ohne  und  81  mit 
Bleiklotz  zugezogen  worden;  jede  dieser  Wägungen  erfordert  die  Arbeit 


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382 


eines  halben  Tages.  Die  Spandauer  Bestimmungen  der  Gravitations- 
konstante  repräsentieren  daher  eine  ganz  hervorragende  wissenschaft- 
liche Leistung,  die  nur  der  Geschicklichkeit  und  Beharrlichkeit  der 
Beobachter  zu  danken  ist. 

Als  Sehluferesultat  aus  den  Wägungen  ergab  sich  für  die  vier- 
fache Anziehung  des  Bleiklotzes  auf  rund  1  kg  (947  g)  der  Betrag 
von  1,3664  mg,  mit  einem  wahrscheinlichen  Fehler  von  nur  ±  0,0021  mg. 
HierauB  folgt  die  Gravitationskonstante,  d.  h.  die  Kraft,  mit  welcher 
1  kg  ein  anderes  in  der  Entfernung  1  m  anzieht:  die  Kraft  würde  in 
1  Sekunde  eine  Beschleunigung  der  anderen  Masse  von  etwa  67  Bil- 
liontel  mm  hervorbringen.  Aus  den  Dimensionen  der  Erde  und  der 
gefundenen  Gravitation  ergiebt  sich  zuletzt  die  mittlere  Dichtigkeit  der 
Erde  zu  6,505  mit  einem  wahrscheinlichen  Fehler  von  =fc  0,009.  Das 
Resultat  liegt  besonders  dem  Mittelwerte  sehr  nahe,  der  aus  den  Unter- 
suchungen von  C.  V.  Boys  und  denen  von  J.  H.  Poynting  folgen 
würde.  G. 


Die  Photometrie  der  Gestirne.  Von  Professor  Dr.  G.  Müller,  Observator 
am  Königlichen  Astrophysikalischen  Observatorium  zu  Potsdam.  Mit 
81  Figuron  im  Text  —  Leipzig  1897,  Verlag  von  Wilhelm  Engelmann. 

X  und  556  S.  gr.  8U.    Preis  20  M. 

Die  Photographie  der  Gestirne.  Von  Dr.  J.  Scheiner,  Professor  der  Astro- 
physik an  der  Universität  Berlin  und  Astronom  am  Königlichen  Astro- 
physikalischen Observatorium  zu  Potsdam.  Mit  1  Tafel  in  Heliogravüre 
und  53  Figuren  im  Text  nebst  einem  Atlas  von  11  Tafeln  in  Helio- 
gravüre nit  textlichen  Erläuterungen.  —  Leipzig  1897,  Verlag  von 
Wilhelm  Engelmann.  V  und  383  S.  gr.  8°.  Preis  inkl.  Atlas  '2\  M. 
Die  vorliegenden  beiden  Werke  zusammen  mit  der  Ende  1890  im  gleichen 

Verlage  erschienenen  „Spektralanalyse  der  Gestirne-  von  J.  Scheiner  reprä- 


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383 


sentieren  eine  Gesamtdarstellung  des  allgemein  unter  der  Bezeichnung  .Astro- 
physik" bekannten  modernen  Forschungsgebietes  der  Astronomie,  das  sich 
in  die  drei,  zum  Teil  in  enger  Wechselbeziehung  zu  einander  stehenden 
Unterdisziplinen  gliedert,  welche  durch  die  vorstehend  aufgeführten  Bücher« 
titel  kurz  und  treffend  gekennzeichnet  sind.  Die  spektralanalytischen  Unter- 
suchungsmethoden  der  Gestirne  ebenso  wie  die  Himmelsphotographie  und  ihre 
Ergebnisse  sind  wesentlich  Errungenschaften  der  letzten  Jahrzehnte,  während 
die  Photometrie  der  Himmelskörper  in  ihren  Anfängen  fast  zwei  Jahrtausende 
zurückverfolgt  werden  kann.  Um  so  merkwürdiger  erscheint  es,  dafs  es  bis- 
her an  einem  eigentlichen  Lehr-  und  Handbuch  dieses  Wissenschaftszweiges, 
der  allerdings  gerade  in  neuerer  Zeit  erat  durch  das  rapide  Aufstreben  der 
beiden  Schwesterdisziplinen  ein  weites  Feld  der  Bethätigung,  ungeahnte  An- 
regungen und  eine  früher  kaum  vermutete  Wichtigkeit  erlangt  hat,  vollständig 
gefehlt  hat.  Diese  Lücke  ist  nunmehr  in  ganz  vortrefflicher  Weise  durch  einen 
auf  diesem  Spezialgebiete  hervorragend  thätigen  und  erfolgreichen  Beobachter 
mit  aller  Gründlichkeit  ausgefüllt.  Die  Sammlung  der  in  zahlreichen  Einzel- 
schriften und  in  den  vorhandenen  älteren  Werken  über  allgemeine  Photometrie 
zerstreut  sich  vorfindenden  Notizen  über  Anwendungen  der  Lehren  der  Licht- 
mefskunst  auf  astronomische  Probleme  ist  gewifs  keine  leichte  Aufgabe  ge- 
wesen; hierfür  zeugt  das  am  Schlüte  dem  Werke  heigegebene  umfassende 
Litteraturverzeichnis. 

Die  Müllersche  „Photometrie  der  Gestirne1*  gliedert  sich  der  Natur  der 
Sache  nach  in  drei  Hauptabschnitte,  deren  erster  von  den  Grundzügen  der 
theoretischen  Astrophotometrie  handelt  Es  werden  in  ihm  zunächst  die  photo- 
metrischen Hauptgesetze  abgeleitet  und  erläutert,  sodann  die  Beleuchtung  von 
Flächen  durch  leuchtende  Punkte,  bzw.  leuchtende  Flächen,  untersucht  und 
unter  Einführung  des  Begriffes  der  Albedo  die  verschiedenen  Beleuchtungs- 
gesetze mit  Bezug  auf  zerstreut  reflektierende  Substanzen,  das  in  der  Astro- 
nomie wichtigste  Problem,  definiert.  Es  folgen  diesen  theoretischen  Ausein- 
andersetzungen die  prinzipiellen  Anwendungen  der  Grundlehren  auf  die  ver- 
schiedenen Arten  von  Himmelskörpern,  wobei  don  von  Seeliger  in  München 
ausgehenden  oder  veranlafsten  Untersuchungen  mit  Recht  ein  breiter  Raum 
gewidmet  ist.  Besonderen  Wert  erlangt  die  Darstellung  in  diesem  Abschnitt 
dadurch,  dafs  für  dieselben  die  bisher  nicht  veröffentlichten  Sceligerschen 
Vorlesungen  verwertet  werden  konnten.  Das  wichtige  Kapitel  der  Extinktion 
des  Lichtes  in  der  Erdatmosphäre  beschliefst  diesen  ersten  Abschnitt  des 
Werkes. 

Im  zweiten  Hauptabschnitt  finden  wir  eine  Beschreibung  der  zahlreichen 
astrophotometrischen  Instrumente  und  eine  kritische  Beleuchtung  aller  Vorzüge 
und  Nachteile,  bezw.  Inkorrektheiten  der  einzelnen,  ihnen  zu  Grunde  liegen- 
den Mefsmethoden  auf  Grund  langjähriger  eigener  Erfahrungen  des  Verfassers. 
Der  dritte  Teil,  welcher  mit  Rücksicht  auf  den  Umstand,  dafs  die  Astrophoto- 
metrie häufig  von  Amateuren  wichtige  Unterstützung  erfährt,  auch  aufserhalb 
der  Fachkreise  mit  besonderem  Interesse  gelesen  werden  dürfte,  enthält  eine 
umfassende  anschauliche  Übersicht  der  bisher  durch  photometrische  Beob- 
achtungen am  Himmel  erlangten  Resultate.  Aber  der  Verfassor  beschränkt 
sich  nicht  etwa  auf  eine  blofee  Aufzählung  der  UutersuchungserRebnisse  der 
zahlreichen  gröfseren  und  kleineren  Beobachtungspläne,  sondern  überall  trifft 
man  neue  wertvolle  Fingerzeige  und  Anregungen  dafür,  welche  Arbeiten  etwa 
einer  Erneuerung  bedürfen,  wo  man  einem  schon  behandelten  Problem  neue 
Seiten  abgewinnen  kann,  und  an  welcher  Stelle  wichtigo  Aufgaben  bisher 
unerledigt   geblioben  sind,  abor  dringend  eine  Inangriffnahme  erheischen. 


384 


Hieria  liegt  ein  Hauptvorzug  des  Werkes,  das  mit  deutscher  Gründlichkeit  und 
vollendeter  Sachkunde  abgefaßt  ist 

Ähnlich  ist  die  Anordnung  des  Stoffes  in  der  .Photographie  der  Gestirne*, 
das  gleichfalls  den  eben  gekennzeichneten  Charakter  an  sich  trägt.  In  den 
Vorbemerkungen  werden  diejenigen  Abänderungen  der  technischen  Metho- 
den der  Photographie  erläutert,  welche  durch  die  besonderen  Aufgaben  der 
Himmelsphotographie,  deren  Zweck  in  letzter  Linie  stets  die  Verwertung  der 
erzielten  Aufnahme  in  messendem  Sinne  ist,  bedingt  werden;  hieran  reiht 
sich  eine  Schilderung  der  unvermeidlichen  Schwierigkeiten,  welchen  die  Auf* 
nähme  von  Himmelskörpern  begegnet,  und  der  hierdurch  bedingten  Grenzen 
der  Leistungsfähigkeit 

Die  Beschreibung  der  verschiedenen  für  die  Photographie  der  Gestirne 
in  Gebrauch  befindlichen,  bzw.  in  Betracht  kommenden  Instrumente  leitet  natur- 
gemäfs  zur  Darstellung  der  theoretischen  und  praktischen  Erfordernisse,  sowie 
der  Leistungsfähigkeit  der  bisher  auagebildeten  Messungs-  und  Reduktions- 
methoden in  der  astronomischen  Photographie  hinüber.  Dieser  Teil  hat  selbst- 
verständlich überwiegend  für  den  praktischen  Astrophotographen  oder  den» 
jenigen,  der  sich  speziell  diesem  Zweige  der  astronomischen  Beobachtungs- 
kunst widmen  will,  weitergehendes  Interesse. 

In  dem  Abschnitt  über  die  photographische  Photometrie  und  die  Ent- 
stehung der  photographischen  Bilder  greift  die  Darstellung  «um  Teil  in  das 
Gebiet  der  coelestischen  Photometrie  hinüber;  da  in  dieser  Beziehung  beide 
Gebiets  eng  mit  einander  zusammenhängen,  «o  ist  eine  scharfe  Scheidung 
weder  notwendig  noch  erwünscht  und  der  Gegenstand  deshalb  auch  au  dieser 
Stelle  mit  Recht  eingehend  behandelt  Der  dritte  Teil,  die  Ergebnisse  der 
Himmelsphotographie  für  die  Astronomie  auf  120  Seiten  behandelnd,  ist  zu- 
gleich als  eine  gedrängte  Geschichte  dieses  wichtigen  Forschungszweiges  an- 
zusehen und  wird  unzweifelhaft  zahlreiche  interessierte  Leser  finden.  Die 
Heliogravüren  des  A ilasst'H,  in  trefflicher  Ausführung  Proben  der  wichtigsten 
Arten  von  Aufnahmen  am  Himmel  beibringend,  werden  namentlich  solchen, 
die  anders  keine  Gelegenheit  haben  sich  zu  unterrichten,  als  schätzbare  Illu- 
strationen des  Textos  hochwillkommen  sein.  Obwohl  bereits  die  Spektral- 
analyse der  Gestirne  desselben  Verfassers  2  Tafeln  in  Heliogravüre  mit  den 
vortrefflichen  typischen  Spektralaufnahroen  des  Potsdamer  Observatoriums  ent- 
hält, hätte  violleicht  der  Vollständigkeit  halber  auch  hier  eine  solche  Tafel 
gegeben  werden  können,  auf  welcher  zugleich  eine  Probe  der  interessanten 
spektrographischon  Durchmusterung  der  Harvard -Sternwarte  Platz  gefunden 
haben  würde.  —  Auch  vorliegendes  Werk  findet  seinen  Abschlufs  in  einem 
sehr  ausführlichen  Literaturverzeichnis  und  einem  ausgedehnten  Namen-  und 
Sachregister. 

Dafs  die  typographische  Ausstattung  beider  Werke,  den  Gepflogenheiten 
des  Verlages  entsprechend,  eine  vornehme  Ut  bedarf  kaum  besonderer  Er- 
wähnung G.  W. 


Varlaf:  Hanaaaa  PmuI  la  Barlia.  —  Prack:  Wilh.ua  Oraaaa'«  Baead-aekarti  ia  Barlia -  ±eh6e,kftt 
Tlt  ii*  *>Ucti0B  ranatwartlieh:  Dr.  P.  Scawaaa  ia  B-rlin. 
Uafctracatift-r  Naca4raek  aat  itm  laaalt  «i«M-  ZaiUeann  «»J.nuft. 
Ü»«*«uaaf*r««Bt  roraaaaltaa. 


Küche  einer  Laibacher  Familie. 


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f.  . 


V 


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Das  Nernstsche  Licht 

fVoo  Dr.  P.  Spies  in  Berlin, 
uf  dem  Gebiete  der  elektrischen  Beleuchtungstechnik  herrscht 
gegenwärtig  eine  äurserst  rege  Thätigkeit,  welche,  wie  sich  be- 
reits jetzt  mit  Sicherheit  voraussagen  latet,  an  die  Seite  der 
beiden  bisherigen  Beleuchtungsarten,  des  Glühlichtes  und  des  Bogen- 
lichtes,  eine  dritte,  das  Nernstsche  Licht  setzen  und  dadurch  in 
vielen  Fällen  eine  Verbilligung  des  elektrischen  Lichtes  herbeiführen 
wird.  Eine  Beurteilung  der  einschlägigen  Fragen  gelingt  leicht,  wenn 
man  sich  den  Vorgang  der  Energie-Umsetzung  in  einer  elektrischen 
Lampe  klar  macht,  und  zwar  handelt  es  sich  weniger  um  die  Er- 
kenntnis dessen,  was  bei  dem  Übergange  der  elektrischen  Energie 
in  Lichtenergie  im  physikalischen  Sinne  vor  sich  geht,  als  um  die  Re- 
sultate einfacher  Messungen  jener  beiden  sich  umsetzenden  Naturkräfte. 

Betrachten  wir  zunächst  die  elektrische  Energie,  so  darf  als 
bekannt  vorausgesetzt  werden,  dars  als  Einheit  derselben  das  sog. 
Voltampere  oder  Watt  dient,  also  diejenige  Energiemenge,  welche  in 
einem  Drahte  verausgabt  wird,  wenn  der  Unterschied  des  elektrischen 
Zustandes  an  seinen  beiden  Enden  ein  Volt  beträgt,  und  wenn  der 
Draht  so  beschaffen  ist,  dafs  hierbei  ein  Strom  von  der  Stärke 
1  Ampere  durch  ihn  fliefst.  Bei  den  in  Berlin  und  auch  vielfach 
anderswo  üblichen  Verhältnissen  haben  elektrische  Zu-  und  Ableitung 
einen  Zustandsunterschied,  eine  Spannung  von  110  Volt,  und  es  ver- 
braucht eine  16  kerzige1)  Glühlampe  einen  Strom  von  etwas  weniger 
als  einem  halben  Amp.    Daraus  würden  sich  also  60  bis  55  Watt 

')  Es  sei  bei  dieser  Gelegenheit  daran  erinnert,  dafs  man  die  Lichteinheit 
nicht  mehr  durch  eine  Stearin-  oder  Walratkerze  darstellt,  sondern  durch 
ein  von  Hefner-Alteneck  konstruiertes  Lämpchen,  dessen  Brennstoff  Amylacetat 
ist,  und  welches  sich  durch  ein  sehr  konstantes  Licht  auszeichnet. 
Himmel  und  Erd*.  18».  XI.  9.  25 


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386 


ergebon,  und  wir  erkennen  ohne  weiteres,  dafs  man  zur  Beurteilung- 
des  „spezifischen  Verbrauches"  einer  solchen  Lichtquelle  diese  Ver- 
brauchszahl durch  die  Kerzenzahl  zu  dividieren  hat,  woraus  sich 
etwa  3,1  bis  3,4  Watt  pro  Kerze  ergeben  würden,  eine  Zahl,  welche 
sowohl  von  Lampe  zu  Lampe  wechselt,  als  auch  bei  derselben  Lampe 
während  längeren  Gebrauchs  zunimmt. 

Von  welchen  Umständen  ist  nun  der  oben  erwähnte  spezifische 
Verbrauch  abhängig?  Bei  der  Beantwortung  dieser  Frage  ist  zu  be- 
denken, dafs  die  elektrische  Energie  uns  zwar  die  Ausgabe  an  Energie 
darstellt,  keineswegs  aber  werden  unsere  Einnahmen  der  Hauptsache 
nach  durch  das  erzielte  Licht  dargestellt  Vielmehr  liefert  uns  der 
elektrische  Strom  ebenso  wie  die  Verbrennung  von  Leuchtgas  oder 
irgend  ein  anderer,  bei  der  Beleuchtung  in  Betracht  kommender  Prozefs 
aulser  dem  Lichte  ein  sehr  wenig  nutzbares  oder  in  diesem  Falle 
wenigstens  viel  zu  teuer  bezahltes  Nebenprodukt,  nämlich  Wärme. 
Die  ganze  Frage  spitzt  sich  somit  folgendermaßen  zu:  Wie  viel  Pro- 
zent der  aufgewendeten  Energie  setzen  sich  in  Licht,  wie  viel  Prozent 
in  Wärme  um?  Das  ist  nun  wiederum  bei  den  verschiedenen  Licht- 
quellen sehr  verschieden,  und  zwar  richtet  sich  jener  Prozentsatz,  der 
sog.  theoretische  Wirkungsgrad,  in  erster  Linie  nach  der  Tempe- 
ratur der  benutzten  Lichtquelle.  Am  besten  übersieht  man  diese  Ab- 
hängigkeit, weun  man  sich  etwa  vorstellt,  es  solle  ein  eiserner  Ofen, 
den  man  allmählich  mehr  und  mehr  erhitzt,  bis  er  Licht  ausstrahlt, 
hinsichtlich  seines  Wirkungsgrades  untersucht  worden.  So  lange  der 
Ofen  zwar  warm,  aber  noch  nicht  glühend  ist,  sendet  er  nur  Wärme- 
strahlen aus;  das  Verhältnis  der  ausgesendeten  Lichtmenge  zur  auf- 
gewendeten Energie  ist  also  Null.  Wird  der  Ofen  allmählich  bis  zur 
Rotglut  erhitzt,  so  wird  der  Wirkungsgrad  zwar  von  Null  verschieden 
sein,  aber  er  wird  auch  jetzt  nur  einen  sehr  kleinen  Bruchteil  von 
einem  Prozent  ausmachen;  ein  rotglühender  Ofen  wird  keine  ökono- 
mische Lichtquelle  darstellen.2) 

Aber  auch  bei  unseren  praktischen  Lichtquellen,  seien  diese  nun 
Gasflammen,  Auer-Brenner,  elektrische  Glühlampen  oder  Bogenlampen, 

:)  Die  zahlenmäfsige  Feststellung  dieser  Verhältnisse  würde  in  der  Weise 
erfolgen  können,  dafs  man  bestimmt,  in  welchem  Grade  ein  geschwärztes  Platin- 
blech durch  die  von  dem  Ofen  ausgehende  Gesamtstrahlung  erhitzt  wird,  und 
dafs  man  dann  diesen  Versuch  wiederholt,  nachdem  man  die  Strahlen  hat  durch 
ein  Glasgefäfs  mit  Wasser  gehen  lassen.  Nimmt  man  an,  dafs  die  Lichtstrahlen 
durch  ein  solches  Gefäfe  ungehindert  hindurch  gehen  —  was  sehr  annähernd 
richtig  ist  —  dafs  aber  die  für  unser  Aujre  wenig  oder  gar  nicht  wahrnehm- 
baren Strahlen  durch  das  Walser  verschluckt  werden  —  was  keineswegs  voll- 
ständig der  Fall  ist  —  so  hat  man  ohne  weiteres  die  Möglichkeit  eines  Ver- 


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werden  nur  sehr  wenige,  nämlich  etwa  0,5  bis  5  Prozent  der  Gesamt- 
strahlung duroh  die  auf  unser  Auge  einwirkenden  Liohtstrahlen  ge- 
bildet. Es  ergiebt  aber  unsere  Betrachtung  über  den  glühenden  Ofen, 
dafa  dieser  Prozentsatz,  also  der  Wirkungsgrad,  desto  gröfser  ist,  je 
höher  die  Temperatur  der  benutzten  Lichtquelle  ist.  So  gelangen  wir 
zu  dem  wichtigen  Salze,  dafs  die  heifsen  Lichtquellen  günstiger  wirken 
als  die  kalten,  dafs  nämlich  bei  den  ersteren  zwar  auch  nooh  immer 
das  Verhältnis  zwischen  ausgesandtem  Licht  und  ausgesandter  Wärme 
klein  ist,  aber  doch  nioht  so  klein  wie  bei  kälteren  Lichtquellen; 
man  kann  also  sagen:  diu  heifsen  Lichtquellen  senden  verhältnis- 
mäfsig  wenig  Wärme  aus!  Eine  sehr  günstige  Beleuchtungsart  ist 
in  diesem  Sinne  das  elektrische  Bogenlicht,  bei  dem  man  etwa  5% 
auf  die  Lichtausstrahlung  rechnen  kann,  so  dafs  nur  95%  auf  die 
ausgestrahlte  Wärme  entfallen.  Der  spezifische  Verbrauch  beträgt  etwa 
0,35  bis  0,4  Watt  pro  Normalkerze,  so  dafs  hiernach  das  elektrische 
Bogenlicht  etwa  8  bis  10  mal  billiger  als  das  elektrische  Glühlicht 
sein  würde  (bczügl.  solcher  Vergleiche  siehe  Seite  391). 

Die  in  beiden  Arten  elektrischer  Lampen  als  Leuchtkürper  ver- 
wendete Kohle  scheint  nunmehr  an  der  Grenze  ihrer  Leistungsfähigkeit 
angelangt  zu  sein.  Schon  in  der  elektrischen  Glühlampe  nähern  wir 
uns  der  Verflüchtigungstemperatur  der  Kohle,  was  man  an  dem 
schwarzen  Belag  der  Glaswände  einer  längere  Zeit  benutzten  Lampe 
erkennen  kann,  und  in  der  Bogenlampe  setzen  wir  die  Kohle  geradezu 
diesem  Verflüchtigungsprozefs  aus;  er  schadet  uns  nicht,  weil  der 
Kohlestift  ja  ersetzt  wird. 

Wollen  wir  ökonomischer  arbeiten,  so  müssen  wir  einen  Körper 
benutzen,  der  höhere  Temperaturen  verträgt  Ein  solches  Material 
hat  Nernst  in  der  Magnesia,  dem  Magnesiumoxyd,  gefunden,  und  er 
vollführt  durch  den  Übergang  zu  diesem  Material  einen  ganz  ähnlichen 
Sohritt,  wie  ihn  Auer  that,  als  er  die  in  der  gewöhnlichen  Gasflamme 
als  Lichtträger  dienenden  Kohlepartikelchen  durch  den  mit  Thor-  und 
Ceroxyden  imprägnierten  Glühstrumpf  ersetzte. 

Es  ist  recht  merkwürdig  zu  sehen,  dafs  bereits  vor  20  Jahren 
ganz  ähnliche  Versuche  unternommen  worden  sind,  und  zwar  von  dem 
Russen  Jablochkow.  In  einem  Vortrage,  welchen  Prof.  Nernst  am 
9.  Mai  in  der  Allgemeinen  Elektrizität  -  Gesellschaft  in  Berlin  hielt, 

gleiches  der  Lichtstrahlung  mit  der  Gesamtstrahlung.  Wenn  nun  auch  wegen 
der  unvollständigen  Vernichtung  der  dunkeln  Strahlen  in  dem  Wassergefäfa 
die  Rechnung  für  die  Lichtstrahlen  etwas  günstiger  ist,  als  sie  sein  sollte,  so 
ergiebt  sich  doch  bei  derartigen  Messungen  das  oben  mitgeteilte,  äufserst  un- 
günstige Rosultat 

25« 


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wurde  u.  A.  auoh  das  Jabloohkowsche  Experiment  gezeigt:  Die  Enden 
der  Hochspannungsspule  eines  Induktors  sind  mit  Platinstüoken  ver- 
bunden, von  denen  ein  kleiner  Kaolinblook  (Thonerde)  festgehalten 
wird.  Setzt  man  das  Induktorium  in  Betrieb,  so  springen  Funken 
über,  welche  auf  dem  Kaolinstück  hingleitend  dieses  erhitzen  und 
dadurch  leitend  machen;  naoh  kurzer  Zeit  erfolgt  der  Stromübergang 
durch  die  Kaolinmasse  selbst,  und  diese  sendet  ein  schönes,  ruhiges 
Licht  aus.  Die  Einführung  derartiger  Lampen  ist  wahrscheinlich 
wegen  der  gefährlich  hohen  Spannung  des  hierzu  notwendigen  Stromes 
unterblieben.  Nernst  sind  die  Jablochkowsohen  Versuche  erst 
nachträglich,  nämlich  bei  Einreiohung  seines  Patentes  bekannt  ge- 
worden. 

Die  Anwendung  der  von  Nernst  eingeführten  Qlühkörper  hat 
aufser  der  Zulässigkeit  hoher  Temperaturen  noch  einen  zweiten  Vor- 
teil im  Gefolge.  Es  senden  nämlich  nicht  alle  Körper  bei  einer  be- 
stimmten Temperatur  Licht-  und  Wärmestrahlen  in  demselben  Ver- 
hältnis aus  wie  die  Kohle  oder,  allgemeiner  gesagt,  wie  ein  schwarzer 
Körper.  Vielmehr  ergiebt  sich  aus  dem  Kirchhoff  sehen  Gesetze,  dafs, 
wenn  ein  Körper  für  eine  bestimmte  Strahlenart,  z.  B.  eine  bestimmte 
Art  von  Wärmestrahlen,  durchlässig  ist,  dieselbe  also  wenig  absorbiert, 
er  bei  derselben  Temperatur  auch  ein  geringes  Ausstrahlungsvermögen 
für  jene  Strahlen  hat  Kurz  gesagt,  bei  Körpern,  die  nicht  wie  die 
Kohle  schwarz  sind,  —  und  die  Metalle  kann  man  für  die  hier  dis- 
kutierte Frage  der  Kohle  gleich  setzen  —  ist  die  Möglichkeit  ge- 
geben, dafs  in  ihrer  Strahlung  gewisse  Teile  des  Spektrums 
fehlen,  im  besonderen  also  jene  Wärm estrahlen,  die  ja  nur  para- 
sitär sind,  wenn  wir  Lichterzeugung  beabsichtigen.  Es  erscheint  also 
durchaus  nioht  ausgeschlossen,  dafs  wir  einst  einen  Leuohtkörper 
werden  konstruieren  können,  welcher  sehr  wenig  Wärmestrahlen  aus- 
sendet und  demnach  die  zugeführte  elektrische  Kraft  der  Hauptsache 
nach  in  Form  von  Lioht  von  sich  giebt.  Von  diesem  Ziele  sind  wir 
einstweilen  noch  weit  entfernt,  aber  es  haben  wenigstens  sowohl  der 
durch  Gasflamme  erhitzte  Auer-Körper  wie  auoh  der  elektrisch  erhitzte 
Nernst-Körper  ein  günstigeres  Emissionsvermögen  als  Kohle  und  andere 
schwarze  Körper.  Für  die  Magnesia  wird  diese  Eigenschaft  sohon 
durch  den  hellen  Glanz  der  für  photographische  Zwecke  so  vielfach 
benutzten  Magnesiumflarame  dargethan. 

Diose  zwei  Umstände,  nämlich  die  gröfsere  Widerstandsfähigkeit 
gegen  hohe  Temperaturen  und  das  günstige  Emissionsvermögen  des 
neuen  Leuchtkörpers,  stellen  den  prinzipiellen  Fortschritt  dar,  welchen 


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wir  Nernst  verdanken,  und  wir  treten  nunmehr  der  Frage  näher: 
Läfst  sich  dieses  Prinzip  in  die  Praxis  übersetzen? 

Hierbei  kommen  zwei  Schwierigkeiten  in  Betracht,  die  aber 
bereits  als  überwunden  anzusehen  sind.  Unter  Leitern  zweiter  Klasse 
versteht  man  bekanntlich  solche,  die  sich  beim  Durchgange  von 
Gleichstrom  zersetzen;  dazu  kommt  nooh,  dafs  der  speziell  von 
Nernst  benutzte  Körper  in  kaltem  Zustande  überhaupt  nicht  leitet, 
also  angewärmt  werden  mufs,  damit  er  Lioht  ausstrahlt 

Die  erste  dieser  Schwierigkeiten  ist  weniger  bedeutungsvoll,  als 
sie  erscheint.  Läfst  man  nämlich  das  Glühen  eines  Magnesiumstabes 
in  Luft,  also  unter  Anwesenheit  von  Sauerstoff  vor  sioh  gehen,  so 
findet  wieder  eine  sofortige  Oxydation  des  durch  den  Strom  frei 
gewordenen  Magnesiums  statt,  und  der  Körper  bleibt  ungeändert 

Nicht  so  einfach  ist  die  Frage  der  Vorwärmung  zu  lösen.  Man 
kann  dieselbe  bei  kleineren  Glühkörpern  mit  Hülfe  eines  Zündholzes 
vornehmen,  und  es  geht  dies  verhältnismäßig  schnell  von  statten,  so 
dafs  man,  z.  B.  wie  bei  Kerzenbeleuchtung,  zwei  bis  drei  Lichte  mit 
einem  Zündhölzchen  anzuzünden  vermag.  Wäre  nooh  vor  zwanzig 
Jahren  eine  derartig  zu  bedienende  Beleuchtung  in  Anbetracht  ihrer 
sonstigen  Vorzüge  als  etwas  ganz  vortreffliches  erschienen,  so  sind 
wir  doch  heutzutage  anspruchsvoller  geworden,  und  wir  verlangen 
vornehmlich  von  einem  elektrischen  Licht,  dafs  es  sich  durch  ein- 
faches Einschalten  des  Stromes  anzünden  lasse.  Diese  Forderung 
führt  also  auf  die  Konstruktion  eines  elektrischen  Vorwärmers. 

Es  ist  leioht  ersichtlich,  dafs  hier  den  Erfindern  ein  weiter  Spiel- 
raum zur  Betätigung  ihrer  Phantasie  gegeben  ist,  und  die  zahlreichen 
Patentanmeldungen,  welche  sich  auf  das  Nernstsche  Lioht  beziehen, 
—  die  Allgemeine  Elektrizitäts-Gesellschaft  hat  nicht  weniger  als  14 
deutsche  und  etwa  100  aufserdeutsohe  Patente  angemeldet  —  haben 
deshalb  vorzugsweise  die  Konstruktion  soloher  Vorwärmer  zum 
Gegenstande. 

Eine  der  von  Herrn  Dr.  Ochs,  Ingenieur  der  A.  E.  G.,  ausge- 
führten Konstruktionen  giebt  unsere  Abbildung  schematisch  wieder. 

Der  Strom  tritt  an  dem  in  bekannter  Weise  zu  einer  Schrauben- 
Spindel  ausgearbeiteten  Lampenfufse  an  der  Stelle  A  ein;  von  der 
Verzweigungsstelle  B  aus  geht  er  zunächst  durch  den  auf  ein  Por- 
zellanröllcben  C  D  gewickelten  feinen  Platindraht  und  bringt  diesen 
zum  Glühen;  dann  fliefst  er  über  den  Kontakt  E  naoh  der  Schraube 
F  und  somit  naoh  dem  Lampenfufse  und  dem  Rückleitungsdrahte. 
Der  zweite  von  B  aus  über  den  Glühkörper  G  H  führende  Stromweg 


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bleibt  zunächst,  nämlich  so  lange  0  H  noch  kalt  ist,  stromlos.  Sobald 
aber  der  Glühkörper  etwas  warm  und  damit  leitend  wird,  steigert 
sich  seine  Temperatur  und  damit  die  Leitfähigkeit  durch  die  Strom- 
wärme sehr  rasch.  Nunmehr  wird  der  im  Fufs  der  Lampe  angebrachte 
Elektromagnet  M  durch  den  über  den  Glühkörper  geleiteten  Strom 
angeregt,  und  es  wird  somit  durch  Anziehung  eines  beweglichen  Eisen- 
stücks der  Kontakt  E  unter- 
brochen, so  dafs  die  Vorwär- 
mung aufser  Betrieb  kommt. 
Der  ganze  Vorgang  dauert  je 
nach  der  Gröfse  der  Lampe  15« 
bis  40  Sekunden;  es  ist  aber 
anzunehmen,  dafs  sich  durch 
geeignete  Konstruktionen  dieso 
Zeit  nicht  unerheblich  redu- 
zieren lassen  wird. 

Das  Licht  der  Nernst-Lampe 
ist  geradezu  von  einer  idealen 
Weifse.  Zwischen  dem  gelb- 
rötlichen Tone  des  gewöhn- 
lichen Glühlichtes  und  dem 
bläulichen  Licht  der  Bogen- 
lampe steht  es  etwa  in  der 
Mitte.  Der  spezifische  Ver- 
brauch beträgt  etwa  1,5  Watt 
pro  Hefner-Kerze,  ist  also  nur 
etwa  halbmal  so  grofs  wie  bei 
dem  gewöhnlichen  Glühlichte. 
Gemeinsam  ist  der  letzteren 
und  der  Nernst  -  Lampe  die 
Fähigkeit,  sich  dekorativ  in 
mannigfaltigster  Weise  anbringen  zu  lassen. 

Das  elektrische  Bogenlioht  würde  entsprechend  unseren  obigen 
Angaben  ökonomischer  sein  als  das  Nernst-Licht;  indes  läfst  sich 
wegen  der  sehr  verschiedenen  Verteilung  des  Lichtes  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  ein  solcher  Vergleich  nioht  ohne  weiteres 
durchführen. 

Ein  Vorzug  der  Nernst-Lampe  gegenüber  dem  Bogenlichte  liegt 
einmal  in  der  Fähigkeit,  sich  der  Spannung  des  Leitungsnetzes  anzu- 
passen, woraus  sich  z.  B.  ergiebt,  dafs  man  bei  110  Volt  Spannung 


+ 


F  — 


ichttnt  für  die  Henutsche  Ol 
mit  elektrischem  Vorwärmer. 


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391 


eine  Nernst-Lampe  allein  brennen  kann,  was  in  Ökonomisoher  Weise 
bei  Bogenlampen  nioht  möglich  ißt.  Ein  weiterer  Vorzug  ist  der 
Mangel  eines  Regulierwerkes  während  des  Betriebes,  also  vollständige, 
durchaus  dem  Glühlichte  entsprechende  Ruhe  des  Lichtes.  Die 
Lebensdauer  eines  Qlühkörpers  soll  etwa  200  Brennstunden  betragen. 
Fraglos  erscheint  es,  dafs  bei  fabrikmäfsiger  Herstellung  die  Körper 
einen  äufserst  geringen  Preis  haben  werden;  ist  doch  im  Vergleich 
zu  ihnen  die  Vacuumglühlampe  ein  kleines  technisches  Wunder.  Die 
Vorwärmevorrichtungen  überdauern  natürlich  zahlreiche  Glühkörper. 

Im  Gegensatz  zu  vielen  anderen  Erfindungen,  bei  deren  Be- 
sprechung man  von  Hoffnungen  und  Möglichkeiten  zu  reden  hat, 
zeichnot  sich  die  Nernstsche  Erfindung  dadurch  aus,  dafs  sie  in  der 
Hauptsache  fertig  ist.  Dadurch  wird  der  gegenwärtige  Zeitpunkt,  in 
welohem  Nernst  mit  seiner  Erfindung  an  die  Öffentlichkeit  tritt,  dem 
Auftreten  Edisons  im  Jahre  1872  vergleichbar.  Dieser  Erfinder  zeigte 
bekanntlich  damals  auf  der  Pariser  Weltausstellung  die  von  ihm  und 
anderen  gemeinsam  konstruierte  Glühlampe  in  dem  lediglich  durch 
seine  Thätigkeit  geschaffenen  Rahmen  einer  vollständigen  Installation, 
die  in  vieler  Beziehung  noch  bis  heute  vorbildlich  geblieben  ist,  weil 
sie  vor  allen  Dingen  der  Forderung  einer  weitgehenden  Teilbarkeit 
des  elektrischen  Lichtes  Rechnung  trug.  Die  Nernstsche  Lampe  unter- 
scheidet sich  in  dieser  Beziehung  durch  nichts  von  derjenigen  Edisons, 
aber  sie  wird  einer  zweiten  Forderung  gerecht,  sie  giebt  für  dieselbe 
elektrische  Kraft  mehr  Licht.  Es  darf  also  nach  menschlicher  Be- 
rechnimg als  sicher  angesehen  werden,  dafs  die  Nernstsche  Erfindung 
einen  neuen  Siegeszug  der  Elektrizität  anbahnen  wird,  und  wir  wollen 
mit  dem  verdienten  Leiter  der  Allgemeinen  Elektrizitäts-Gesellschaft, 
Herrn  Generaldirektor  Rathenau  hoffen,  dafs  das  elektrische  Licht 
auf  diesem  Zuge  nicht  wie  bisher  nur  in  die  Paläste  der  Reichen, 
sondern  auch  in  die  schlichte  Wohnung  des  mit  Glücksgütern  weniger 
gesegneten  Mannes  einkehren  werde. 


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Erinnerungen  an  die  Erdbebentage  von 

Von  Dr.  P.  Sehwahn  in  Berlin. 


rinnerungen,  nioht  Darlegungen  über  das  Wesen  der  Erdbeben 
werde  ich  auf  den  folgenden  Blättern  aufzeiohnen.  Wer  jemals 
die  Empfindung  gehabt  hat,  dafs  der  Boden  unter  den  Füfsen 
schwankte,  wer  die  Häuser  wanken  sah  und  in  den  Grundfesten 
krachen  hörte,  wer  endlich  den  unterirdischen  Donner  vernommen, 
der  den  Erdstofs  begleitet,  bei  dem  überwiegen  die  sinnlichen  Ein- 
drücke, haften  jene  Bilder  unauslöschlich,  welche  sich  bei  diesem  tief 
in  die  Lebensverhältnisse  der  Menschen  eingreifenden  Naturereignis 
vor  den  Augen  entrollen.  Das  Interesse  an  diesen  Bildern  ist  ein 
allgemein  menschliches,  und  daher  verzeihe,  verehrter  Leser,  wenn 
ich  von  Dingen  berichte,  denen  der  Schrecken  der  Gegenwart  fehlt, 
über  welche  glücklicherweise  schon  eine  Reihe  von  Jahren  hinweg- 


in der  Naoht  des  Ostersonntags  des  Jahres  1895  wurde  der  süd- 
liche, an  die  Adria  grenzende  Teil  Österreichs  von  einer  Erdbeben- 
katastrophe heimgesucht,  wie  wir  sie  seit  dem  Agramer  Beben  (9.  No- 
vember 1880)  nicht  erlebt  haben,  und  wie  sie  in  dieser  Ausdehnung 
noch  nie  in  Österreich  verspürt  worden  war.  Von  Fiume  bis  Wien 
erbebte  die  Erde  unter  mächtigen  Stöfsen,  das  ganze  Küstengebiet, 
sämtliche  Alpenländer,  Kroatien,  Slavonien,  Bosnien  und  die  Herze- 
gowina wurden  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Der  Mittelpunkt  des 
Bebens  war  das  Karstgebiet;  namentlich  Laibach,  die  Hauptstadt  Krains, 
wurde  schwer  getroffen. 

Gleich  nachdem  der  Telegraph  die  Katastrophe  gemeldet  hatte, 
erging  an  mich  die  Aufforderung,  die  heimgesuchten  Gebiete  zu  be- 
sichtigen, und  ioh  folgte  derselben  um  so  lieber,  als  sich  ein  guter 
Freund,  Professor  Lu barsch,  als  Reisebegleiter  anschlofs.  Uns  war 
so  Gelegenheit  geboten,  mitten  in  den  Trubel  einer  schwergeprüften 
Stadt  zu  gelangen,  denn  als  wir  Berlin  verliefsen,  waren  die  unter- 
irdischen Gewalten  noch  lange  nicht  zur  Ruhe  gelangt 


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Der  Eilzug  hatte  uns  nach  Wien  gebracht,  und  dort  angelangt, 
griffen  wir  sofort  nach  den  Tagesblättern,  um  das  Neueste  über 
Laibach  zu  erfahren.  Sie  berichteten,  dafs  die  Situation  daselbst 
überaus  kritisch  sei:  die  Not  sei  auf  das  Höchste  gestiegen,  der 
Mangel  an  Lebensmitteln  überaus  grofs,  die  Kaufleute  weigerten  sich, 
die  Läden  offen  zu  halten,  und  die  Bevölkerung  Laibachs  kampiere 
zu  tätigenden  auf  den  freien  Strafsen. 

Angesichts  dieser  Beriohte  schien  sich  die  Reise  ins  Erdbeben- 
gebiet zu  einer  beschwerlichen,  vielleicht  nioht  ganz  gefahrlosen  Kam- 
pagne gestalten  zu  wollen,  bei  der  es  angebracht  war,  die  Leib-  und 
Magenfrage  vorher  reiflich  zu  überlegen.  Und  so  beschlossen  wir, 
bereits  in  Wien  uns  in  primitiver  Weise  mit  Lebensmitteln  zu  ver- 
sehen, ja  wir  hatten  uns  schon  mit  dem  Gedanken  vertraut  gemacht, 
unter  freiem  Himmel  kampieren  zu  müssen.  Aber  die  Saohe  ge- 
staltete sich  in  Laibach  —  dies  will  ich  vorausschicken  —  ganz 
anders,  als  wir  es  geglaubt  hatten.  Die  mitgeführten  Lebensmittel 
wurden  den  armen  Obdachlosen  gespendet,  während  wir  selbst  unsere 
Mahlzeiten  in  einem  Hotel  einnehmen  konnten  und  in  einem  verhält- 
nismäfsig  gut  erhaltenen,  wenn  auch  durch  Risse  beschädigten  Zimmer 
durch  die  freundliche  Fürsorge  des  Laibacher  Gymnasialprofessors 
Herrn  Dr.  Gratzy  untergebracht  wurden.  Und  so  waren  wir  bald 
um  eine  Einsicht  klüger  geworden:  nämlich  dafs  selbst  bei  einem 
so  elementaren  Ereignis,  wie  ein  Erdbeben,  diejenigen,  welohe  Geld 
in  der  Tasche  tragen,  bezüglich  der  leiblichen  Versorgung  nichts  zu 
fürchten  brauchen,  dafs  aber  die  armen  Leute,  welche  von  der  Hand 
in  den  Mund  leben,  wie  es  leider  bei  vielen  der  slovenischen  Be- 
wohner Laibaohs  der  Fall  war,  hungernd  nach  dem  dargebotenen  Brot 
greifen  müssen.  Dergleichen  wehmütig  stimmende  Bilder  konnte  man 
in  der  schwergeprüften  Stadt  hundertfach  sehen. 

Mit  dem  erwähnten  Proviant  ausgestattet,  wanderten  wir  zum 
Südbahnhof,  und  eine  Stunde  hinter  Wien  führte  uns  der  Zug  mitten 
in  das  Alpenland  an  dem  herrlichen  Mürzthal  entlang,  über  Glognitz 
und  Payerbach  dem  Semmering  entgegen.  Die  von  Karl  von  Ghega 
erbaute  Bahn  mit  ihren  kühnen,  um  die  Bergrücken  herumklimmenden 
Kurven,  ihren  sechzehn  mächtigen,  über  die  schönsten  Thalgründe 
springenden  Viadukten,  ihren  fünfzehn  ins  Herz  der  Berge  gesprengten 
Tunneln  und  von  Pfeilern  getragenen  offenen  Galerien,  wird  mit  Recht 
als  ein  Riesenwerk  der  modernen  Baukunst  angestaunt.  Bei  Payerbach 
überschreitet  sie  einen  300 Meter  langen  Viadukt, umzieht  dann  ansteigend 
den  Gotschakegel,  überschreitet  weiter  das  grüne  Atlitzthal,  den  felsigen 


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304 


Atlitzgraben  in  hoch  romantischer  Umgebung  und  erreicht  bald  die  Pafs- 
höhe,  wo  durch  einen  1500  Meter  langen  Tunnel  eine  weitere  Steigung 
vermieden  wird.  Dann  senkt  sich  die  Bahn  schnell  bei  Mürzzuschlag 
nach  der  steirisohen  Seite  bergab.  Es  ging  jetzt  das  Murthal  ent- 
lang über  Bruck  nach  Graz,  wo  wir  die  Nacht  zubrachten,  um  am 
andern  Morgen  in  aller  Frühe  unsere  Reise  nach  Laibach  fortzusetzen. 

Unsere  Erwartungen  steigerten  sich  natürlich  in  dem  Mafse,  als 
wir  dem  Erdbebengebiete  näher  kamen,  wurden  aber  bald  etwas  herab- 
gestimmt. Ein  Passagier,  der  mit  uns  fuhr,  berichtete,  dafs  er  in 
Cilli,  einer  Station  der  Südbahn  dicht  vor  Laibach,  gewesen  sei 
und  dort  kaum  Spuren  der  Zerstörung  wahrgenommen  habe.  Das  war 
nun  an  sich  recht  erfreulich,  mufste  aber  doch  ein  wenig  ernüchternd 
auf  uns  einwirken,  denn  —  auch  das  möchte  ich  hier  vorweg  bemerken 
—  wer  zum  ersten  Male  ein  vom  Erdbeben  heimgesuchtes  Gebiet  be- 
tritt, wird  ja  immer  etwas  enttäuscht  sein,  wenn  nicht  überall  Mauer- 
reste und  Ruinen  entgegenstarren.  Die  bei  solchen  Gelegenheiten  stets 
rege  Phantasie  und  nicht  zum  mindesten  die  Sensationslust  der 
Zeitungsschreiber  lassen  die  Zustände  meist  furchtbarer  erscheinen, 
als  sie  in  Wirklichkeit  sind. 

In  Cilli  brauchten  wir  uns  nicht  aufzuhalten;  wir  fuhren  sofort 
durch  das  wunderbar  schöne  Savethal  unserem  Bestimmungsorte  Laibach 
entgegen.  Unterwegs  lief  ich  von  einem  Wagenfenster  zum  andern, 
um  die  Wirkungen  des  Bebens  zu  beobachten.  Was  ich  aber  zu 
Gesicht  bekam,  war  nur  hier  und  da  ein  eingestürzter  Schornstein  oder 
ein  beschädigtes  Dach. 

Unser  Zug  fuhr  nun  in  Laibach  ein.  Hier  wurde  die  Situation 
mit  einem  Schlage  eine  andere.  Auf  dem  Bahnhof  herrsohte  eine 
ungeheure  Aufregung.  Slovenische  Weiber  mit  ihren  Kindern 
liefen  wild  durcheinander,  bessere  Laibaoher  Familien  flüchteten  Hals 
über  Kopf.  Ein  neuer,  ziemlioh  heftiger  Erdstofs,  der  vor  einer  Stunde 
erfolgt  war,  und  von  dem  wir  in  der  Eisenbahn  nichts  verspürt 
hatten,  trieb  die  Bevölkerung  wieder  massenweise  aus  der  Stadt  Und 
in  diesem  Trubel  sah  man  österreichische  Pioniere  und  italienische 
Arbeiter,  alles  wild  durcheinander.  Das  Bahnhofsgebäude  (Fig.  1) 
war  anscheinend  nur  wenig  demoliert  Zwar  waren  die  Schornsteine 
eingestürzt  und  man  war  gerade  dabei,  die  stark  zerrissenen  Aufeen- 
wände  des  Gebäudes  durch  Balken  abzusteifen,  zu  pölzen,  wie  man 
es  in  Laibach  nannte,  doch  im  allgemeinen  sah  man  dem  Hause  äufser- 
lich  den  Schaden  nioht  an.  Unsere  Stimmung  wurde  aber  plötzlich 
eine  andere,  als  wir  das  Innere  betraten.    Ober  hohe  Trümmerhaufen 


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395 


von  Ziegelsteinen  und  Mauerschutt  mufsten  wir  förmlich  hinwegturnen. 
Alle  Koffer  waren  mit  Kalkstaub  überdeckt,  rechts  und  links  die 
Innenwände  des  Raumes  durchbrochen,  und  über  unsern  Köpfen  hingen 
haltlos  Balken,  Mauerputz  und  Schilfverkleidung.  Durch  ein  klaffendes 
Loch  in  der  Decke  konnte  man  bis  in  diu  oberste  Etage  sehen.  Das 
war  eben  das  überraschende  in  Laibach,  dafs  die  meisten  Gebäude 
äufserlich  verhältnismäfsig  gut  aussahen,  im  Innern  aber  arg  ver- 
wüstet waren.  Bei  allen  unseren  weiteren  Wanderungen  trat  uns 
diese  Wahrnehmung  entgegen.    Auf  dem  Bahnhof  stand  eine  lange 


Reihe  von  Wagen  der  Süd-  und  Kronprinz-Rudolfbahn,  welche  von 
ca.  2000  Laibachern  bezogen  waren,  Güterwagen  für  das  ärmere  Volk, 
Waggon  wagen  erster  und  zweiter  Klasse  für  die  besser  gestellten 
Leuto,  und  an  den  Fenstern  eines  jeden  Abteils  konnte  man  auf 
einem  weifsen  Zettelchen  lesen,  wer  der  Inhaber  dieser  Erdbeben- 
wohnungen war. 

Gleich  nach  unserer  Ankunft  hatten  wir  Gelegenheit,  die  Nervo- 
sität der  Bevölkerung  kennen  zu  lernen.  Als  beim  Rangieren  zwei 
Güterwagen  etwas  laut  zusammenstiefsen,  bemerkten  wir,  wie  in 
demselben  Augenblick  ein  Arbeiter  einen  vorzweifelten  Schreckens- 
schrei ausstiefs,  wild  mit  den  Armen  herumfuchtelte,  den  Kopf  nach 
allen  Richtungen  drehte  und  dann,  vor  Schrecken  gelähmt,  zusammen- 


Fig.  1.   Bahnhofsgebäude  in  Laibach. 


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396  

brach.  Die  Ang-st  war  erklärlich.  Vor  einer  Stunde  war  ein  ziemlich 
heftiger  Stöfs  mit  unterirdischem  Donnern  erfolgt,  der  noch  allen  in 
den  Gliedern  lag.  Wer  konnte  wissen,  was  der  nächste  Augenblick 
bringen  wird.  Auch  wir  haben  später  bei  dem  kleinsten  Geräusch  die 
Ohren  gespitzt,  erwartend,  nun  werde  der  Boden  von  neuem  erzittern. 

Unsere  erste  Sorge  war,  uns  nach  einem  Unterkommen  umzu- 
schauen. In  Graz  hatte  man  uns  das  Hotel  zum  Elefanten  in  der 
Wiener  Strafse  bestens  empfohlen,  und  sohon  der  Name  „Elefant"  er- 
weckte einiges  Vertrauen.  Wir  wollten  es  zunächst  einmal  damit 
versuchen,  und  nach  einigem  Herumfragen  gelangten  wir  auch  richtig 
dahin. 

Das  Gebäude  sah  sehr  vertrauenerweckend  aus;  es  war  nicht 
gepölzt  wie  die  umliegenden  Häuser.  Also  hinein  ging  es  in  das 
Parterregeschofs,  wo  der  Restaurationsraum  sich  befand.  Und  siehe 
da,  derselbe  war  völlig  besetzt;  hier  sohien  sioh  der  unerschrockene 
Teil  Laibachs,  der  nicht  die  Mauersteine  über  den  Köpfen  fürchtete, 
ein  Rendez -vous  gegeben  zu  haben.  Auch  die  Herren  der  Wiener 
Rettungsgesellschaft,  das  Untersuchungskomitee,  Pionieroffiziere,  alles 
hatte  sich  daselbst  zusammengefunden. 

Seltsam  mufste  es  in  Anbetracht  unserer  Verproviantierung 
auf  uns  einwirken,  als  der  Kellner  herantrat  und  fragte:  Meine 
Herren,  speisen  Sie  ä  la  carte  oder  Menü*  welche  Weinsorte  befehlen 
Sie?  Erst  in  den  vier  Ecken  des  Lokals  ein  wenig  umgeschaut, 
und  als  wir  niohts  Bedrohendes  dort  entdecken  konnten,  waren  wir 
mit  der  neuen  Situation  durchaus  einverstanden.  Einige  Schwierig- 
keiten hatte  es,  ein  Zimmer  zu  erlangen.  Die  gut  erhaltenen  Räum- 
lichkeiten des  Hotels  waren  mit  Laibacher  Flüchtlingen,  deren 
Wohnungen  zerstört  waren,  überfüllt.  Überdies  waren  die  Hinterräume 
des  ersten  Stockes  durch  herabgefallenen  Mauerputz  stark  beschädigt, 
die  Treppen  zu  den  höheren  Stockwerken  durch  Risse  zerteilt,  so  dafs 
sich  niemand  hinaufwagte.  Nur  der  Liebenswürdigkeit  des  Herrn 
Professors  Gratzy  war  es,  wie  schon  erwähnt,  zu  danken,  dafs  wir 
in  der  ersten  Etage  ein  leidlich  erhaltenes  Zimmer  bekamen.  Wüst 
sah  es  in  demselben  freilich  aus:  Risse  zu  beiden  Seiten  und  über 
der  Thür;  Schutthaufen  lagen  im  Gebäude  überall  herum,  und  meine 
Briefe  löschte  ich  mit  Maurerkalk.  Jedenfalls  hatte  man  aber  zum 
Elefanten  ein  sehr  grofses  Zutrauen.  Thatsache  ist,  dafs  seit  der 
Schreckensnacht  sioh  zwei  Drittel  der  Laibacher  Bevölkerung  unter 
kein  Steindach  wagten.  Und  hätten  wir  diese  Nacht  miterlebt,  wir 
wären  vielleicht  nicht  minder  ängstlich  gewesen. 


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397 


Ehe  wir  nun  durch  die  Stadt  wandern,  um  uns  die  Wirkungen 
des  Bebens  anzusehen,  wollen  wir  uns  über  die  Lage  und  Verhältnisse 
von  Laibaoh  ein  wenig  orientieren.  Krains  Landeshauptstadt  liegt  im 
sogenannten  Krainischen  Becken  in  fruchtbarer  Ebene  zu  beiden  Seiten 
des  zu  einer  Spirale  gewundenen  Laibachflusses,  der  sich  unfern  der 
Stadt  in  die  Save  ergiefst.  Das  Bild  (Figur  2)  zeigt  uns  den  im  Mittel- 
punkt der  Stadt  liegenden  Kongrefsplatz,  hinter  dem  sich  auf  dem 
rechten  Ufer  des  Flusses  der  bewaldete  Schlofsberg  erhebt,  welcher 
das  Kastel  1  trägt. 


Fig.  2.   Schlofaberg  mit  Kartell,  vom  Kongref«  platz  aus. 


Von  dort  oben  geniefst  man  eine  ganz  herrliche  Aussicht.  Im 
Norden  liegen  als  pittoresker  Hintergrund  die  Steiner-  und  Julischen 
Alpen  mit  dem  gletschergekrönten  Triglavgipfel,  und  dahinter  erstreckt 
sich  der  hellschimmernde  Zug  der  Karawanken.  Rings  um  die  Stadt 
tauchen  inselartig  bewaldete  Bergkuppen  auf;  im  Südosten  der  Krim- 
berg, von  dem  die  Erdstöfse  in  der  Schreckensnacht  ausgegangen  sein 
sollen,  im  Nordwesten  der  grofse  Kahlenberg.  Im  Süden  liegt  das  Lai- 
bacher Moor,  eine  sumpfige  Fläche,  die,  seit  Jahren  trocken  gelegt, 
gleich  dem  Zirknitzer  See  völlig  von  Höhlen  durchzogen  ist. 

Was  die  Stadt  selbst  anbetrifft,  so  ist  sie  mit  Ausnahme  des 
modernen  Viertels,  welches  schöne  Häuser  und  Villen  besitzt,  eng 
und  unregelmäfsig  gebaut.    Viele  Gebäude  sind  Jahrhunderte  alt  und 


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398 

*  aus  schlechtem  Material  aufgeführt,  worauf  die  verheerenden  Wirkungen 
des  Bebens  zum  Teil  zurückzuführen  sind.  Im  Jahre  1895  zählte  die 
Stadt  circa  30000  Seelen,  von  denen  ein  Drittel  deutscher,  zwei  Drittel 
—  die  sogenannten  Krajuci  —  slovenischer  Abkunft  waren.  Als  Sitz 
der  Landesregierung  und  eines  Bistums  besitzt  Laihach  eine  Menge  von 
öffentlichen  Gebäuden,  die  alle  durch  das  Beben  stark  gelitten  hatten. 

Für  die  Beurteilung  der  Wirkungen  des  Bebens  ist  es  ferner 
wichtig  zu  bemerken,  dafs  der  links  von  dem  Laibach  liegende  Teil 
der  Stadt  auf  Flufsschotter  ruht,  also  lockere  Massen  zum  Untergrund 
hat,  der  rechte  dagegen,  wo  der  Schiorsberg  aufragt,  auf  festem  Fels- 
boden aufgeführt  ist.  Diese  Bodenverschiedenheilen  haben  bei  dem 
Beben  eigenartig  gewirkt:  der  linke  Stadtteil  ist  arg  zt»rrüttelt  worden, 
während  die  Häuser  des  rechten,  auf  Felsboden  ruhenden  Teils  weit 
weniger  gelitten  haben.  Ähnliche  Beobachtungen  hat  man  bei  fast 
allen  Erdbeben,  bei  dem  verheerenden  Beben  auf  Ischia  sowohl  wie 
bei  demjenigen  in  der  Riviera  gemacht. 

Auch  die  Stofsrichtung  hat  einen  unverkennbaren  Einflufs  auf 
die  Demolierung  der  Gebäude  ausgeübt.  Die  Stöfse  der  Schreckens- 
nacht verfolgten  die  Kichtung  SSO  nach  NNW,  vom  Krimberge  nach 
dem  Grofs-Kahlcnberg  zu.  Da  zeigte  es  sich  nun,  dafs  diejenigen 
Mauer-  und  Straßenfronten,  welche  den  Stöfs  rechtwinklig  erhielten, 
also  die  Richtung  West-Ost  hatten,  überaus  stark  beschädigt  waren, 
während  die  von  Norden  nach  Süden  verlaufenden  Strafsenfronten 
meist  sehr  glimpflich  weggekommen  sind. 

Jetzt  will  ich  von  den  Vorgängen  der  Schreckensnacht  vom 
Ostersonntag  zum  Montag  erzählen,  wie  sie  uns  von  Augenzeugen 
geschildert  worden  sind.  Das  meiste  davon  verdanken  wir  den  Mit- 
teilungen des  Herrn  Forstkommissar  Putick,  eines  Mitarbeiter  dieser 
Zeitschrift,  mit  dem  ich  vorher  in  brieflichem  Verkehr  gestanden  hatte, 
und  der  uns  mit  grofser  Liebenswürdigkeit,  ebenso  wie  Herr  Professor 
Gratzy,  auf  allen  unseren  Wanderungen  begleitete  und  hilfreich  zur 
Seite  stand. 

Putick  ist  ein  Mann  von  imponierender  Gröfse,  dessen  Züge 
schon  eine  felsenfeste  Knergic  verraten.  Er  hatte  unbekümmert  um 
die  Gefahr  in  seiner  Parterrewohnung  in  der  Triester  Strafse  mit 
Weib  und  Kind  ausgeharrt,  während  fast  ganz  Laibach  unter  freiem 
Himmel  lag.  Zur  Zeit  des  Bebens  war  er  das  wahre  Orakel  von  Lai- 
bach. Putick  muhte  trösten,  wo  es  Not  that,  mutete  sagen,  ob  neue 
Stötee  folgen  werden.  Alle  Augenblicke  wurden  wir  auf  unseren 
Wanderungen  durch  die  Strafsen  angehalten,  und  da  biete  es  denn 


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309 


von  allen  Seiten,  von  Damen  sowie  Herren:  Ach,  lieber  Putick,  was 
wird  kommen,  was  werden  wir  noch  zu  erdulden  haben?  Tröstet  euch, 
das  Beben  ist  vorüber,  lautete  dann  jedesmal  die  Antwort,  und  wir 
Begleiter  nickten  beistimmend  zu,  denn  auch  wir  wurden  in  der  Angst 
um  unsere  Meinung  befragt  Wenn  man  aus  Berlin  kommt,  äufserte 
sich  einer,  mute  man  doch  wissen,  ob  Laibach  stehen  bleiben  oder  in 
den  Erdboden  versinken  wird.  Und  wozu  auch  die  Leute  ängstigen, 
wenn  man  doch  nicht  weifs,  was  das  Schicksal  in  den  nächsten  Augen- 
blicken bringen  wird.  Ich  komme  auf  das  Unheilvolle  des  Orakel- 
wesens und  auf  den  leidigen  Aberglauben,  der  bei  solchen  Anlässen 
immer  seine  Blüten  treibt,  später  noch  einmal  zurück.  An  die  Per- 
sönlichkeit  Puticks  knüpft  sich  noch  ein  anderes  Interesse.  Er  war 
es,  der  vor  einigen  Jahren,  als  zwei  Touristen  in  der  Lurloch-Höhle 
der  Ausgang  durch  eindringende  Wasser  abgeschnitten  war,  bis  zum 
Halse  in  den  Fluten  watend,  zuerst  zu  den  Eingeschlossenen  gelangte 
und  deren  Lebensrettung  glücklich  vollbrachte. 

Wio  ging  es  nun  aber  in  der  Sohreckensnacht  des  Ostersonntags 
in  Laibach  zu?  Man  wird  die  Flucht  aus  den  wankenden  Häusern 
aus  der  folgenden  Schilderung  ersehen  können,  die  uns  eine  Dame. 
Frau  Forstrat  O.  gab,  deren  völlig  demolierte  Wohnung  sich  auf  dem 
Deutschen  Platz  befand. 

„Mein  Mann  war  von  Hause  abwesend,"  berichtete  die  Dame,  „als 
um  11  Uhr  17  Minuten  ein  furchtbarer  Störs  erfolgte,  welcher  mich 
und  mein  Mädchen  aus  den  Betten  warf.  Augenblicklich  war  das 
ganze  Zimmer  in  eine  Staubwolke  gehüllt,  dafs  wir  nichts  vor  den 
Augen  sehen  konnten.  An  ein  Ankleiden  war  im  ersten  Moment  gar 
nicht  zu  denken.  Wir  wufsten,  dafs  ein  Erdstofs  erfolgt  sei,  und 
triebmüfsig  stürzten  wir  unter  die  Holzverkleidung  der  Stubenthüren, 
wo  wir  zusammengekauert  safsen  und  uns  vor  dem  von  der  Decke 
prasselnden  Schutt  sicher  glaubten. *  Nur  diesem  Umstände,  dafa  last 
alle  Laibacher  sich  in  ähnlicher  Weise  sicherlen,  ist  es  zuzuschreiben, 
dafs  nur  wenige  Menschenleben  zu  beklagen  waren. 

„Als  nach  einigen  Minuten  kein  heftiger  Störs  mehr  erfolgte,  und 
der  Staub  sich  ein  wenig  verzogen  hatte, u  erzählte  Frau  G.  weiter, 
„krochen  wir  aus  unserem  Versteck  hervor,  griffen,  was  wir  greifen 
konnten,  ein  paar  Betten  und  Decken,  und  nun  ging  es  die  Stiege 
hinab,  ein  fürchterlicher  Weg,  unter  prasselndem  Steinrogen  auf  die 
nafskalte  Strafse  hinaus,  wo  gerade  mein  Mann  mir  entgegenstürzte. 
Da  wimmelte  es  bereits  von  Flüchtlingen,  alle  nur  mangelhaft  bekleidet. 
Alles  stürzte  durch  die  Strafsen,  die  von  Staub  wirbelten,  ins  Freie. 


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400 


Und  es  war  eine  stockfinstere,  regnerische  Nacht,  und  ringsum  ertönte 
das  gräfsliche  Pfeifen  und  Sausen  der  von  den  Dächern  kommenden 
Ziegel."  „Es  war  eine  fürchterliche  Flucht,"  versicherte  die  Dame, 
„niemals  hätte  ich  geglaubt,  dafs  ich  in  meinem  Leben  so  etwas  durch- 
machen würde.  Sehen  Sie,  meine  Herren,  die  Haare  sind  mir  in  den 
wenigen  Stunden  grau  geworden;  niemals  will  ich  wieder  in  meine 
Wohnung  zurückkehren !" 

„Die  Dame  ist  noch  etwas  aufgeregt,"  flüsterte  mir  Putiok  zu, 
„aber,  was  sie  erzählt  hat,  ist  nicht  übertrieben.  Ich  bestätige  alles, 
und  wie  der  Vorgang  soeben  geschildert  wurde,  hat  er  sich  während 
der  Schreckensnacht  in  den  meisten  demolierten  Häusern  abgespielt." 

Als  mir  dies  erzählt  wurde,  war  mein  Reisebegleiter  gerade  da- 
bei, seinen  photographischen  Apparat  zureoht  zu  rücken,  um  den  Zu- 
fluchtsort der  Familie  des  Forstrats  G.  aufzunehmen  (Titelbild  obere 
Figur).  Es  ist  dies  noch  eine  glänzende  Wohnung  gegenüber  anderen 
Unterschlüpfen,  von  denen  ich  später  berichten  werde.  Sie  befand  sich  in 
einer  halboffenen  Scheune  im  botanischen  Garten  bei  Laibaoh.  An- 
scheinend hatte  man  nichts  von  Möbeln  aus  der  Wohnung  geholt.  Als 
Schlafstätten  dienten  ein  paar  Kisten,  auf  denen  einige  Kissen  lagen 
(rechts  in  der  Abbildung).  Der  Gebrauch  von  Kisten  an  Stelle  der  Bett- 
stellen war  übrigens  in  den  Erdbebentagen  eine  sehr  allgemeine  Vor- 
sichtsmafsregel.  Nötigenfalls  konnte  man  ja  bei  einer  Wiederholung 
der  Stöfse  in  den  leeren  Kistenraum  kriechen  und  sioh  so  gegen  einen 
von  oben  erfolgenden  Steinregen  sichern.  Auoh  die  Aufstellung  der 
Kisten  unter  der  schützenden  Stiege,  mit  der  offenen  Seite  dem  Garten 
zugewendet,  dürfte  mit  Überlegung  geschehen  sein.  Not  maoht  be- 
kanntlich erfinderisch! 

Zu  einer  Erdbeben  wohnung  gehört  eine  Küohe,  und  die  Beschaffung 
einer  solchen  war  nicht  immer  leicht  Im  vorliegenden  Fall  hatte  sich 
die  Familie  des  Forstrats  eine  roh  aus  Brettern  gezimmerte  Bude 
(Titelbild  untere  Figur)  aufschlagen  lassen,  unter  welcher  ein  aus  Back- 
steinen erbauter  Ofen  soeben  fertig  geworden  war.  Dafs  das  not- 
wendige Hausgerät  auf  das  Äufserste  reduziert  war,  läfst  unsere  Ab- 
bildung erkennen. 

Noch  ein  anderer  Bericht  aus  der  Schreckensnaoht  wird  inter- 
essieren. Forstkommissar  Putick  erzählt,  er  habe  erst  Frau  und 
Kinder  in  Sicherheit  gebracht,  dann  sei  er  abermals  in  das  schwankende 
Haus  gestürzt,  habe  die  Uhrzeit  notiert  und  schnell  seinen  Kompafs 
ergriffen,  um  die  Richtung  noch  kommender  Stöfse  bestimmen  zu 
können,  endlich  sei  er  an  das  Fenster  seiner  Parterrewohnung  ge- 


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401 


laufen  und  habe  aus  demselben  an  Betten  und  Kleidungsstücken  hinaus- 
geworfen, was  er  nur  fassen  konnte,  denn  die  Triester  Strafse  wimmelte 
von  halbbekleideten  Flüohttingen.  Als  er  den  hinter  dem  Hause  ge- 
legenen Garten  betrat,  war  bereits  die  ganze  Hausbewohnersohaft  da- 
selbst in  respektvoller  Entfernung  von  den  Mauern  versammelt 

Alles  war  bleich  und  sprachlos  vor  Entsetzen,  als  alle  Augenblicke 
in  der  betreffenden  Nacht  ein  Stöfs  naoh  dem  anderen  erfolgte;  mehr 
als  24  hintereinander,  von  dem  Hauptstofs  um  11  Uhr  17  Minuten  nachts 


Fig.  3.   Blick  in  die  Judeng&ase. 


bis  zum  andern  Morgen.  Als  die  stärkeren  um  12  Uhr  2  Minuten, 
um  3  Uhr  37  Minuten  und  4  Uhr  19  Minuten  eintraten,  hätten  schwäch- 
liche Personen  Mühe  gehabt,  sich  auf  den  Füfsen  zu  halten,  ja 
manche  hätten  auf  der  Strafse  die  Bäume  ergriffen,  um  sich  daran  fest- 
zuklammern. 

An  tragikomischen  Scenen  hat  es  bei  der  Flucht  aus  der  be- 
drängten Stadt  nicht  gefehlt  So  wurde  mir  erzählt,  dafs  ein  Offizier 
aus  seiner  Wohnung  auf  die  Strafse  gelaufen  sei,  nur  mit  dem  be- 
kleidet, was  man  gewöhnlich  im  Bette  anzuhaben  pflegt.  Aber  eins 
hatte  er  nicht  vergessen,  nämlich  sich  den  Säbel  umzuschnallen  und 
den  Tschako  aufzusetzen.  In  solcher  Gestalt  eilte  er  durch  die 
Strafsen  als  ein  Sinnbild  der  „Macht  der  Gewohnheit". 

Himmel  und  Erdo    189&  XL  9.  £fi 


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-402 


Unsere  Wanderungen  durch  die  Stadt  waren  insofern  etwas  ein- 
geschränkt, als  die  am  ärgsten  betroffenen  Strafsen,  um  nachträgliches 
Unglück  durch  herabstürzende  Mauerreste  zu  verhüten,  gleich  nach 
der  Katastrophe  durch  Militärposten  abgesperrt  waren,  wie  wir  dies 
auf  der  umstehenden  Abbildung  (Fig.  3)  sehen,  welche  uns  einen  Blick 
in  die  Judengasse  vorführt.  Einen  Passierschein  aber  konnten  wir 
uns  bei  der  Kürze  des  Aufenthaltes  nicht  verschaffen,  und  so  war 
photographische  Thätigkeit  nur  auf  die  Aufnahme  minder  bedeutender 
Verwüstungen  angewiesen. 

Wenn  man  sich  die  Schreckensbilder  vor  Augen  hält,  die  das 
am  28.  Juli  1883  die  Insel  Isohia  heimsuchende  Erdbeben  in  der  Ort- 
schaft Casamicciola  zur  Folge  hatte,  wo  kaum  ein  einziges  Haus 
unverletzt  blieb,  sondern  alles  einem  wüsten  Trümmerhaufen  und 
Leichenfelde  glich,1)  wenn  man  ferner  an  das  Heben  von  Kon- 
stantinopel im  Jahre  1894  denkt,  bei  welchem  im  grofsen  Bazar  zu 
Stambul  allein  gegen  2000  Menschen  teils  erschlagen,  teils  lebendig 
begraben  wurden,  so  mufs  man  die  Laibacher  Katastrophe  als  ein<« 
relativ  geringfügige  bezeichnen.  Gebäude,  welche  völlig  demoliert 
waren,  d.  h.  in  Form  von  Ruinen  entgegentraten,  haben  wir  fast  nirgends 
in  der  Stadt  gefunden.  Aber  es  wäre  unrecht,  die  Stärke  des  Bebens 
allein  nach  den  Dcmolierungen  abschätzen  zu  wollen.  Der  Umfang 
der  Zerstörung  und  die  Vernichtung  von  Menschenleben  richtet  sich  ja 
ganz  nach  der  Hauart  der  Häuser,  welche  in  Italien  und  im  Orient 
viel  zu  wünschen  übrig  läfst  Bs  ist  ganz  etwas  anderes,  ob  ein  nach 
allen  Regeln  der  Statik  aufgeführtes  Haus  aus  Quadersteinen  oder 
Ziegeln  erschüttert  wirdj  oder  eine  solche  Erschütterung  ein  Gebäude 
trifft,  das  aus  lockeren  Tuffmassen  und  unbehauenen  Balken  auf- 
gerührt ist,  wie  es  auf  Ischia  der  Fall  war,  oder  gar  die  aus  Lehm 
zusammengeklebten  Kartenhäuser  Stambuls.  Der  Unterschied  in  der 
Solidität  der  Bauausführung  hat  sich  selbst  in  Laibach  fühlbar  gemacht. 
Die  aus  unbehauenen  Schieferblöcken  mit  Mörtel  zusammengefügten 
Hütten  der  ärmeren  Bevölkerung  (z.  B.  in  der  Römerstrafse  und 
Krakauer  Vorstadt)  waren  auch  äußerlich  total  zerrissen  und  mufsten 
niedergelegt  werden,  während  die  Ziegelbauten  (Theater,  Museum)  und 
Wohnhäuser  des  besseren  Stadtviertels  auf  den  ersten  Blick  ganz 
unverletzt  erschienen,  wenigstens  den  Umfang,  den  das  Beben  in  den 
Innenräumen  angerichtet  hatte,  kaum  erkennen  liersen. 

')  Die  Zahl  der  Toten  bei  dem  Beben  von  Ischia  wird  nach  den  offiziellen 
Berichten  auf  2313,  die  der  Verwundeten  auf  762  angegeben,  während  in  Laibach 
nur  einige  wenige  Einwohner  umgekommen  sind. 


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403 


Verhältnifsmäfsig  oft  waren  gröfsere  Verwüstungen  dadurch  ent- 
standen, dafs  die  Brandmauern  hoher  Qebäude  einstürzten  und  die 
Dächer  der  angrenzenden  Nachbarhäuser  zerstörten.  Einen  solohen 
Fall  zeigt  unsere  Abbildung  (Figur  4),  welche  ein  Haus  in  der 
Burgstallgasse,  vom  Hofe  aus  gesehen,  vorführt,  das  dem  Oberpost- 
kontroleur  Anton  Premk  gehörte.  Der  rechte  Hinterflügel  hatte  in 
dieser  Weise  gelitten,  aber  auch  die  übrigen  Teile  des  Hauses  waren 
so  arg  mitgenommen,  dafs  sämtliche  Innenräume  und  der  Thorweg 


Fig.  4.    Zerstört««  Haus  in  der  Burgstallgasse. 


durch  Balken  abgesteift  oder,  wie  man  in  Österreich  sagt,  gepölzt 
werden  muteten. 

Solche  Pölzungen  zeigte  fast  jedes  Haus,  und  tagtäglich  rollten 
die  Bahnzüge  heran,  um  neues  Baumaterial  und  Balken  nach  der  im 
wahren  Sinne  des  Wortes  künstlich  gestützten  Stadt  zu  bringen. 
1 50  Wohnhäuser  erwiesen  sich  als  so  stark  demoliert,  dafs  sie  nieder- 
gelegt werden  mufsten. 

Von  den  öffentlichen  Gebäuden  soll  uns  zunächst  die  Burg  auf  dem 
Schlofeberge  beschäftigen.  (Siehe  Fig.  2.)  Wir  waren  dort  hinauf- 
gestiegen, erhielten  aber  nur  zur  Wachtstubo  Zutritt,  und  was  wir 
daselbst  sahen,  genügte,  um  den  Umfang  der  Zerstörung  beurteilen 
zu  können.  Alles  war  zerrissen,  alle  Mauerbekleidung  im  Innern 
abgefallen. 

26* 


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404 


Im  Kastell  lagen  während  der  Osternacht  dreihundert  schwere  Ver- 
brecher, meist  in  Ketten.  Als  der  Erdstors  erfolgte,  erzählte  uns  der 
Militärposten,  entstand  in  den  Zellen  ein  Geheul  und  Jammer,  das  herz- 
zerreifsend  war.  Sohneil  requirierte  man  Militär  aus  der  Stadt,  welches 
die  Gefangenen  in  den  Burghof  führte  und  so  lange  unter  den 
schwankenden  Mauern  bewachte,  bis  der  Morgen  hereinbrach.  Dann 
führte  man  sie  wieder  zurück  in  ihr  Gefängnis,  überzeugte  sich  aber 
bald,  dafs  daselbst  keines  Bleibens  sei,  und  brachte  sie  auf  sicheren 
Boden  nach  Marburg  und  Graz. 

Dem  Prachtbau  des  Museum  Rudolfinum,  der  erst  im  Jahre  1883 
vollendet  wurde,  war  ebenso  wie  dem  gegenüberliegenden  Theater 
äufserlich  fast  garnichts  anzumerken.  Und  doch  hatte  das  Beben  in 
den  Innenräumen  böse  gewirtschaftet.  Die  Glaskästen  der  Samm- 
lungen waren  durchweg  zertrümmert,  wertvolle  Gegenstände,  kost- 
bare Urnen,  meist  Unica  aus  der  Römerzeit,  lagen  zerbrochen  in  den 
Sälen  umher. 


(Schlüte  folgt) 


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Nicolaus  Coppernicus. 

Von  Professor  M.  Corte«  in  Thorn. 
(Schlufs.) 

H 

)as  Sendschreiben  an  Schoner,  die  Narratio  prima,  wurde  im 
Jahre  1540  zu  Danzig"11)  und  noch  im  folgenden  Jahre  zu  Basel32) 
wiedergedruckt.  Eine  beabsichtigte  Narratio  altera  mag  duroh 
die  Drucklegung  der  Revolutiones  überholt  und  überflüssig  erschienen 
sein.  Während  des  Lobauer  Aufenthaltes  entstanden,  verbreitet  sie 
sich  eingehend  hauptsächlich  über  das  dritte  Buch  der  Revolutiones. 
Bis  dahin  war  damals  Rheticus  mit  einer  genauen  Durcharbeitung 
gelangt,  während  ihm  der  Rest  nur  oberflächlicher  bekannt  war.  Eine 
nähere  Zergliederung  der  beiden  ersten  Bücher  verspart  er  sich  aus- 
drücklich, wohl  für  die  Narratio  altera,  auf  später.  So  zerfällt  die 
Schrift  in  zwei  Hauptteile,  einen  ersten,  der  sich  ausführlich  mit  dem 
dritten  Buche  beschäftigt,  und  einen  zweiten,  die  Gesamtdarstellung 
des  neuen  Systems  im  Gegensatz  zu  den  früheren  enthaltend. 

Nach  einer  kurzen  Inhaltsübersicht  der  einzelnen  Bücher  folgt 
als  Einleitung  zur  Lehre  vom  jährlichen  Kreislauf  ein  Abschnitt  über 
Längenänderungen  der  Fixsterne  infolge  der  Präzession,  deren  gleich- 
mäßige Geschwindigkeit  nach  seinem  „ Herrn  Lehrer"  in  einer  Schwan- 
kungsperiode von  1717  Jahren  Änderungen  unterworfen  sei.  Daran 
schliefst  sich  naturgemäß  eine  Untersuchung  über  die  Länge  des 
Jahres  zwischen  den  Aequinoctien  (generalis  consideratio),  dann 

•»)  Der  Titel  dieser  ersten  Ausgabe  ist:  „Ad  clarissimum  Virum 
D.  Ioannem  Schoneruni,  de  libris  Revolutionum  eruditissimi  viri,  et  Mathe- 
matici  excellentissimi  Reverendi  D.  Doctoris  Nicolai  Copernici  Torunnaei, 
Canonici  Varmiensis,  per  quondani  Iuvenem,  Mathematicae  studiosum  Narratio 
Prima."    Am  Ende:  „Excusum  ücdani  per  Franciscum  Rhodum.  M.D.XL." 

M)  Die  Ausgabe  von  l.VII  ist  betitelt:  „De  libria  revolutionum  erudi- 
tissimi Viri,  et  Matliematici  excellentiss.  reverendi  D.  Doctoris  Nicolai  Copernici 
Torunnaei  Canonici  Vuarmaciensis  Narratio  Prima  ad  clariss.  Virum  D.Joan. 
Schonerum  per  M.  Georgium  Joachimum  Rheticum  una  cum  Encomio  Borussiae 
scriptum.  Basileae."  Am  Ende:  „Apud  Robertum  Vuinter,  Basileae,  Anno  1541." 
DieHC  Ausgabe  ist  von  Achilles  Pirminius  Oassarus  besorgt. 


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406 


Untersuchungen  über  Sohiefenänderung  der  Ekliptik,  denen,  als  mit 
den  vorigen  Schwankungen  zusammengehörig,  eine  Periode  von  3434 
Jahren  zukommen  soll.  Zur  Erklärung  der  Lagenänderungen  des  Aphels 
aber  mutete  zu  den  aus  dem  Vorigen  folgenden  noch  eine  neue  An- 
nahme sich  gesellen,  so  dafa  sich  schliefslioh  der  ganze  Mechanismus 
der  Erdbewegung  folgendermafsen  darstellt  Man  beschreibe  mit 
0,0369  des  Erdbahnradius  um  die  Sonne  einen  Kreis.  Auf  diesen 
lasse  man  zur  Erklärung  der  Lagenänderung  der  Apsidenlinie  den 
Mittelpunkt  eines  zweiten  rückläufig  und  gleichförmig  in  54  000  Jahren 
einen  Umgang  machen.  Dieser  zweite  besitzt  einen  Radius  von  0,0048 
des  Erdhalbmessers,  und  auf  ihm  kreist  wieder  rechtläufig  in  3434  Jahren 
der  Mittelpunkt  des  jährlichen  Kreises  der  Revolution,  wodurch  die 
Unregelmäßigkeit  der  Präzession  erklärt  werden  soll.  An  diesen 
zweiten  Hilfskreis  sohliefsen  sich  bei  Rhetious  eigentümliche  astro- 
logische Erörterungen.  Erreioht  das  Centrum  der  Erdbahn  den  Qua- 
dranten oder  andere  ausgezeichnete  Punkte,  so  werden  dadurch  nach 
ihm  die  politischen  Geschicke  der  Mensohheit  beeinflufst,  dieser  Kreis 
ist  die  wahre  „rota  fortunae".  Roms  Umwandlung  zum  Kaisertum 
und  sein  Dahinwelken,  Mohameds  Auftreten  und  die  wachsende  Macht 
des  Islam  bringt  er  damit  in  Verbindung,  prophezeit  für  ungefähr  100 
Jahre  später  auch  diesem  einen  jähen  Fall  und  erwartet  für  die  Zeit 
der  zweiten  Erreichung  des  Ausgangspunktes  bei  der  Erschaffung 
der  Welt  die  Wiederkunft  Christi  zum  Weltgerichte.  Da  sich  diese 
Stelle  in  einer  unter  Coppernicus  Augen  entstandenen  Schrift 
findet,  läfst  sie  Schlüsse  auf  dessen  eigene  Stellung  zum  herrschenden 
astrologischen  Aberglauben  zu.  Mit  einer  neuerlichen  Untersuchung 
(specialis  oonside ratio)  über  die  Länge  des  tropischen  Jahres 
nach  seinen  Entwickelungen  und  einem  Abschnitt  über  Mondbe- 
wegungen geht  er  zum  zweiten  Hauptteile  über. 

In  diesem  widerlegt  er  zunäohst  kurz  die  Anschauungen  der 
Alten,  um  zu  einer  Gesamtdarstellung  des  neuen  Systems  überzu- 
gehen. Dieso  ist  eingeteilt  in  Capitel  über  allgemeine  Anordnung 
der  Weltkörper  in  demselben;  die  dreifache  Bewegung  der  Erde:  Ro- 
tation, Revolution  und  Declination,  die  sogenannte  dritte  Bewegung, 
einen  Abschnitt  über  Librationen  und  zum  Sohlufse  den  umfangreichen 
Abschnitt  über  Planetenbewegungen  nach  Länge  und  Breite. 

Im  ganzen  läuft  der  Inhalt  von  Rhetious*  Narratio  prima, 
soweit  er  nicht  strengwissenschaftlich  die  Theorie  der  Vorlage  angiebt 
und  erläutert,  auf  eine  Verteidigung  seines  Lehrers  und  eine  Ix)b- 
preisung  von  dessen  hohen  Geistesgaben  und  unermüdlicher  Arbeits- 


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407 

kraft  hinaus.  Hinsichtlich  der  Motive  weist  er  die  Vorwürfe  der 
Ruhmsucht  und  Neuerung-Blust  zurück.  Nur  allein  das  Streben  nach 
einer  allen  vorliegenden  Beobachtungen  entsprechenden  Theorie  hätton 
ihn  zu  seiner  Annahme  genötigt.  Coppernicus  sowohl  wie  er  selber 
achteten  Ptolemaios  hoch,  arbeiteten  nach  denselben  Prinzipien, 
nur  dafs  sie  Bogen  und  Pfeile  aus  anderem  Stoffe  nach  dem  gemein- 
samen Ziele  richteten.  An  anderen  Stellen  rühmt  er  die  hohe  Ein- 
fachheit und  Folgerichtigkeit  des  Systems.  Die  lebenspendende 
Sonne  ist  an  den  gebührenden  Platz  gestellt,  und  mit  der  einen  Erd- 
bewegung der  verwickelte  Planetenlauf  erklärt.  Eines  fügt  sich  har- 
monisch ins  andere,  wie  an  einer  goldenen  Kette  ist  alles  auf  das 
Schönste  verbunden.  Auch  die  dazu  erforderliche  fast  göttliche  Ein- 
sicht und  die  ungemeine  Arbeitskraft  seines  Lehrers  hebt  er  hervor. 
Frei  gesteht  er,  vorher  nicht  den  geringsten  Begriff  von  der  gewal- 
tigen Mühsal  solcher  Arbeiten  besessen  und  ihn  erst  staunend  an 
Coppernicus1  Beispiel  gewonnen  zu  haben.  Mit  das  Wichtigste  scheint 
eine  Angabe  über  die  von  dem  grofsen  Astronomen  befolgte  Arbeits- 
methode. Danach  hatte  Coppernicus  ein  selbst  nach  bestimmtem 
Plane  gefertigtes  Verzeichnis  sämtlicher  bekannter  Beobachtungen  zur 
Hand,  wonach  er,  von  den  ältesten  bis  auf  eigene  einschlägige  An- 
gaben herabgehend,  die  Richtigkeit  überlieferter  Theorien  prüfte  und 
nach  etwa  hervortretender  Gesetzmäfsgkeit  forschte.  Erst  wenn  er 
sioh  „urgente  astronimica  äva'Y/r^  genötigt  sah,  früher  geteilte  Ansichten 
aufzugeben,  stellto  er  eigene  Hypothesen  auf,  um  sie  nur  nach  reif- 
licher Prüfung  und  streng  mathematischem  Beweise  als  Gesetz  anzu- 
erkennen. So  konnte  Rheticus  seinen  Bericht  mit  vollem  Rechte 
schiiefsen,  sein  Lehrer  scheue  keine  gerechte  und  einsichtige  Kritik, 
sondern  wolle  sich  ihr  freiwillig  gern  unterwerfen. 

Auf  die  Narratio  liefs  Rheticus  als  Anhang  das  Encomium 
Borussiae  folgen.  Im  übertriebenen,  gesuchten  Stile  des  Humanisten 
preist  er  das  begnadete  Preufsen.  Aufser  dem  Herzog  Albrecht 
sind  es  vorzugsweise  zwei  Gönner,  deren  er  gedenkt:  Ticdemann 
Giese  und  Johann  von  Werden,  Bürgermeister  von  Danzig,  wenn 
wir  von  seinem  Lehrer  absehen.  Gröfseren  Wert  für  uns  besitzen 
nur  diejenigen  Teile,  aus  denen  der  ursprüngliche  Widerwille  des 
Coppernicus  gegen  die  Veröffentlichung  der  Revolutiones  und  der 
grofse  Anteil  des  Culmer  Bischofs  an  seiner  Überwindung  sich  er- 
sehen lassen.  Anstatt  dessen  war  von  dem  grofsen  Astronomen  nur 
die  Veröffentlichung  von  nach  den  neuen  Erkenntnissen  berechneten 
Planetentafeln  beabsichtigt,  aus  denen  sich  nach  seiner  Ansicht  Inter- 


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408 


essenten  dieselben  ja  rekonstruieren  könnten.  Es  bodurfie  erst  langen 
Zuredens  seitens  des  Freundes,  um  auf  der  Wagschale  die  Besorgnis 
vor  Widerspruch  und  den  pythagoreischen  Grundsatz  der  Verbreitung" 
neuer  Wahrheiten  nur  im  esoterischen  Kreise  bei  unserem  Helden 
in  die  Höhe  schnellen  zu  lassen.  Mit  der  Bitte  um  weitere  lenkende 
Ratschläge,  deren  er  als  jüngerer  bedürfe,  schliefst  die  Zuschrift  an 
Schoner  mit  der  Datierung  „Warmiao"  am  23.  September  1539. 

Während  1539  bei  Rh  oticus'  Ankunft  neben  dem  Inhalte  auch 
die  Fassung  des  Textes  der  Revolutiones  größtenteils  festgestanden 
haben  mufs,  scheint  die  erst  durch  ihn  vermittelte  Bekanntschaft  mit 
der  nun,  fünfzig  Jahre  nach  des  Autors  Tode,  veröffentlichten  Trigono- 
metrie des  Regiomontanus  Coppernious  zu  einer  Neubearbeitung- 
des  entsprechenden  Abschnittes  seines  Werkes  im  Verein  mit  Rhe- 
ticus  veranlagt  zu  haben.  Aus  dem  dem  Schriftcharakter  und  der  Tinte 
naoh  vor  dieser  letzten  Redaktion  entstandenen  Anfange  des  Kap.  XII 
von  Buch  I  scheint  aber  doch  wobl  unzweideutig  die  selbständige 
Aufstellung  der  der  Zeit  nach  allerdings  zuerst  von  Regio  montan 
gegebenen  wichtigen  Sätze  über  die  Bestimmung  der  Winkel  eines 
sphärischen  Dreiecksaus  den  Seiten  und  der  Seiten  aus  den  Winkeln 
seitens  unseres  Helden  sioh  zu  ergeben.35)  Trotzdem  findet  sioh  im 
Manuskripte  die  —  durchstrichene  —  Originalfassung  nur  für  den 
ersten  Satz  vor,  während  die  endgiltige  Form  beider  auf  einem  später 
eingehefteten  Bogen  gegeben  ist,  getrennt  durch  den  ebenfalls  nur 
hier  überlieferten  Beweis  der  Möglichkeit,  aus  der  Summe  zweier 
Bogen  kleiner  als  ein  Halbkreis  und  dem  Verhältnisse  ihrer  Sinusse 
dieselben  einzeln  zu  bestimmen.  Obwohl  aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  diese  letzteren  Änderungen  erst  auf  Grund  der  durch  Rh  oticus 
vermittelten  Kenntnis  Regiomontans  basieren,  wird  doch  dadurch  der 
Coppernicanischen  Eigenart  nirgend  Eintrag  gethan,  vielmehr  gehören 
die  Beweise  in  ihrer  bedeutend  eleganteren  Form  durchaus  dem  Frauen- 
burger  Mathematiker  an.  Das  Prioritätsrecht  des  Königsbergers  aber 
kann  natürlich  dadurch  in  nichts  geschmälert  erscheinen. 

Als  Rheticus  im  Herbste    1541  Preufsen  verliefe  —  ein  am 

")  Die  im  Originalmanuskripte  ausgestrichene, aber  von  Rheticus  in  der 
Editio  prineeps  dennoch  beibehaltene  Stolle  —  sie  ist  mit  den  älterer  Zeit 
angehörigen  Schriftzügen  und  mit  dem  Vorhergehenden  und  Nachfolgenden 
jedenfalls  in  einem  Tenor  und  gleichzeitig  geschrieben  —  heifst:  „Quoniam 
vero  demonstrationes,  quibus  in  hoctot  forme  opero  utemur,  in  rectis  lineis  et 
circumferentiis,  in  planis  convexisque  triangulia  versantur,  de  quibus  et  si  multa 
iam  pateant  in  Euclideis  Elementis,  non  tarnen  habent.  quod  hic  maxime 
quaeritur,  quomodo  ex  angulis  lateia  et  ex  lateribus  anguli  possint  aeeipi  " 


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4uy 

20.  September  von  Herzog  Albrecht  unter  Beifügung  eines  Portu- 
galesers  an  ihn  noch  nach  Frauenburg  gerichteter  Brief  giebt  die 
eine,  seine  Führung  der  Deoanatsgesohäfte  in  Wittenberg  im  Februar 
1642  die  andere  äufserste  Grenze  für  seine  Abreise  -,  nahm  er  mit 
Bewilligung  seines  Lehrers  eine  Abschrift  dieses,  auch  ohne  Kenntnis 
der  anderen  Theorien  allgemein  verwendbaren  Abschnittes  über  ebene 
und  sphärische  Trigonometrie  zur  Drucklegung  mit  nach  Wittenberg. 
Darauf  bezieht  sich  wohl  auch  die  Empfehlung  Herzog  Albrechts 
an  die  Sachsenfürsten.  1542  erschion  dann  diese  Abhandlung,  wört- 
lich mit  dem  Originale  übereinstimmend  bis  auf  die  Erweiterung  der 
Sinußlafel,  welche  in  den  Hevolutiones  nur  von  10  zu  10  Minuten 
und  für  den  Sinus  totus  =  100000  berechnet  ist,  während  Kheticus 
seiner  Ausgabe  eine  solche  von  Minute  zu  Minute  und  den  Sinus  totus 
=  10000000  beigab,  bei  Johann  Lufft  in  Wittenberg.34)  In  der 
Widmungsvorrede  an  den  Nürnberger  Georg  Hartman  n,  einen 
Freund  des  verstorbenen  Andreas  Coppernicus,  betont  Kheticus 
ausdrücklich  die  vollständige  Unabhängigkeit  seines  Lehrers  von 
Kegiomontan,  da  die  vorliegende  Arbeit  vor  dem  Erscheinen  von 
dessen  Trigonometrie  entstanden  sei,  und  nimmt  die  Gelegenheit  zu 
einem  begeisterten  Lobe  auoh  des  Astronomen  Coppernicus  wahr.35) 
Auch  noch  auf  weniger  wohlfeilem  Wege  bewies  Kheticus 
seine  Dankbarkeit  In  Upsala  und  andern  schwedischen  Städten 
finden  sich  einst  Coppernicus  und  nach  dessen  Tode  später  der 
Stiftsbibliothek  gehörige  Büoher,  deren  Widmung  sie  als  Geschenke 
des  Schülers  an  seinen  verehrten  Meister  bezeichnen.  Sie  sind  bei 
der  Plünderung  der  ermländischon  Archive  und  Bibliotheken  im 
30jährigen  Kriege  an  ihren  jetzigen  Aufbewahrungsort  gelangt,  dar- 
unter auch  die  Trigonometrie  des  Kegiomontan,  ein  griechischer 
Almagest  und  anderes  mehr.  Unriohtig  wäre  aber  der  daraus  öfter 
gezogene  Schlufs,  Coppernicus  habe  überhaupt  an  derartigen  Hilfs- 
mitteln Mangel  gelitten.  Schon  die  Existenz  des  erwähnten  astrono- 
mischen Beobachtungskataloges  und  die  Überlegung,  dafs  gerade  der 

**)  „De  LateribuB  Et  Angulis  Triangolorum,  tum  planorum  rectilineorum, 
tum  Sphaericorum ,  libellus  eruditissimus  et  utilissimus,  cum  ad  plerasque 
Ptolemaei  demonstrationea  intelligendas,  tum  vero  ad  alia  multa,  scriptus  a 
clarissimo  et  doctissimo  D.  Nicoiao  Coperoico  Toronensi.  Addilus  est  Canon 
semissium  subtetisarum  rectarum  linearum  in  Circulo.  Excusum  Viltembergae 
per  Johannem  Lufft.    Anno  M.D.XLII." 

3i)  Es  heisst  da:  „Nunc  recens  prodiit  lucubratio  Regiomontani,  sed  multo 
ante  quam  banc  videre  potuit  vir  Clarissimus  et  doctissimus  D.  Nicolaus  Coper- 
nicus,  dum  et  in  Ptolemaeo  illustrando,  et  in  doctrina  motuum  tradenda  elaborat, 
de  Triangulis  eruditi&sime  scripsit.'4 


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410 


Angreifer  einer  Anschauung  zuerst  mit  allen  Seiten  derselben  ver- 
traut sein  rauf s,  hätten  eine  solche  Annahme  widerlegen  sollen.  Und 
in  der  That  standen  ihm  neben  dem  für  seine  Zeit  bedeutenden 
eigenen  litterarischen  Besitze  die  reichen  damaligen  Schätze  «ler 
Bibliotheken  des  eigenen  Domstiftes  und  der  Braunsberger  Franzis- 
kaner zu  Gebote.*1) 

Kurze  Zeit  nach  Kheticus'  Abreise  gelang  es  endlich  Giese, 
von  Coppernicus  das  Manuskript  der  Revolutiones  und  die  Voll- 
macht zur  Verwendung  beziehungsweise  Drucklegung  nach  eigenem 
Ermessen  herauszubekommen.  Hocherfreut  sandle  er  dasselbe  nach 
schon  vorher  getroffener  Abrede  an  Rheticus.  Dieser  hatte  bei  einem 
Besuche  in  Nürnberg  direkt  vor  seiner  Frauenburger  Reise  seine  alten 
Beziehungen  zu  den  dortigen  wissenschaftlichen  Kreisen,  speziell  mit 
Schoner,  wieder  aufgefrischt  und  den  Drucker  Johannes  Petrejus 
(Peterlein)  dabei  näher  kennen  gelernt;  bei  ihm,  in  dem  Centrai- 
punkte damaliger  wissenschaftlicher  Bildung,  dem  Sitze  der  regio- 
montanischen  Schule,  gedachte  er  die  Revolutiones  in  Druck  zu  geben. 
Zu  der  öfter  erwähnten,  nun  endlich  glücklich  besiegten  Abneigung 
unseres  Helden  gegen  eine  andere  Verbreitung  seiner  Forschungs- 
ergebnisse als  im  esoterischen  Kreise  mag  sich  noch  die  Besorgnis 
vor  den  Folgen  einer  Drucklegung  seines  heliooentrisohen  Systems 
bei  dem  ihm  genau  bekannten  Umschwünge  der  Ansichten  zu  Rom 
als  ein  neues  Moment  gegen  die  Überredungskünste  seiner  Freunde 
gesellt  haben,  obwohl  tbntliche  Unbilden,  wie  sie  ein  Jahrhundert 
später  Galilei  erfuhr,  ihm  kaum  gedroht  hätten.  Ein  schwächliches 
Verleugnen  aber  nach  einmal  beschlossener  Veröffentlichung,  wie  es 
ihm  Osiander  später  unterschieben  wollte,  lag  ihm  sicherlich  gänzlich 
fern.  Atmet  doch  auch  die  Widmung  an  den  Papst  die  volle  Über- 
zeugung des  Schreibers  von  der  Wahrheit  seiner  Anschauungen, 
obwohl  sie  die  befürchteten  Anfeindungen  durch  die  Captatio  bene- 
volentiae  der  höchsten  Autorität  wirkungslos  zu  machen  bestimmt  war. 
Inzwischen  hatte  der  jugendliche  Wittenberger  Professor  sein  dortiges 
Amt  niedergelegt  und  Verhandlungen  mit  Leipzig  angeknüpft,  ja  wohl 
schon  daselbst  einige  Vorlesungen  gehalten.  Noch  nicht  zu  sofortigem 
Antritt  verpflichtet,  begab  er  sich  jedoch  im  Mai  1542  mit  Empfehlungen 
von  Melanchlhon  nach  dem  ausersehenen  Druckorte,  um  den  Satz 
zu  überwachen  und  persönlich  Korrektur  zu  lesen.  Eine  Abschrift, 
wohl  von  seiner  fachkundigen  Hand,  lag  neben  der  Originalhandschrift, 

*')  Man  vergleiche  die  „Analecta  Warmiensia"  Hiplers,  wo  die  alten 
Kataloge  der  ermländischeu  Bibliotheken  abgedruckt  sind. 


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411 


wie  es  scheint,  der  Ausgabe  zu  Grunde.  Als  ihn  zu  Beginn  des 
Wintersemesters  seine  Pflicht  gebieterisch  nach  Leipzig  zurückrief, 
übergab  er  den  Vertrauensposten'  seiner  Nachfolge  als  Redaktor  an 
den  Geistlichen  und  Mathematiker  Andreas  Oslander.  Abgesehen 
von  der  sich  durch  Druckfehlerhäufung  bethätigenden  nachlässigen 
Korrektur  desselben,37)  war  auch  in  anderer  Hinsicht  die  Wahl  keine 
glückliohe.  Schon  in  seinem,  wahrscheinlich  durch  Rhetious  ver- 
mittelten Briefwechsel  mit  Coppernious,  1540,  hatte  Osiander  den 
Vorschlag  gemacht,  vormittelst  einer  durch  nur  hypothetische  Dar- 
stellung des  neuen  Weltsystems  als  eines  hauptsächlich  Rechnungs- 
zwecken dienenden  Behelfes  ins  Werk  zu  setzenden  Anpassung  an 
die  herrschende  Glaubenslehre  etwaigen  Schwierigkeiten  aus  dem 
Wege  zu  gehen  und  demselben  eine  ungestörte  Verbreitung  zu  sichern. 
Wohl  in  bester  Absicht,  aber  in  geradem  Gegensatze  zu  dem  allein 
zu  derartigen  Änderungen  Berechtigten  und  seinen  pietätvollen  An- 
hängern ging  er  jetzt  an  dio  Ausführung  des  Gedankens.  Zunächst 
fügte  er  dem  von  Coppernicus  beabsichtigten  Titel  „De  revolutionibus* 
das  irreführende  „orbium  coelestium"  hinzu  und  schob  dann  direkt 
dahinter  vor  der  allerdings  als  „Praefatio  autoris-  gekennzeichneten 
Coppernicanischen  Widmung  an  Papst  Paul  III.  ohne  Angabe  seines 
Namens  eine  eigene  Vorrede  ganz  in  dem  erwähnten  Gedankengange  ein. 
Ungewifs  ist,  ob  auch  eine  aufdringliche  Anpreisung  zum  Kaufe  auf 
dem  Titelblatte  und  die  Unterschlagung  der  schönen  Einleitung  zum 
ersten  Buche  auf  sein  Konto  zu  setzen  sind.  Des  entrüsteten  Giese 
spätere  briefliche  Aufforderung,  Rheticus  solle  beim  Nürnberger 
Rate  um  Abänderung  der  als  Herabsetzung  des  eben  Entschlafenen 
sich  charakterisierenden  Eigenmächtigkeiten  vorstellig  werden,  blieb 
unausgeführt  oder  erfolglos,  und  so  ging  die  im  schärfsten  Gegensatze 
zu  Coppernious'  fester,  innigster  Überzeugung  und  auch  zu  deren  Aus- 
druck in  dem  Widmungsschreiben  an  Paul  III.  stehende  Pseudo- 
coppernicanisohe  Vorrede  nach  der  Ausgabe  des  fertigen  Druokes  im 
Frühjahre  1543  auch  unbeanstandet  wörtlioh  in  die  beiden  folgenden 
Abdrücke  über,3*)  zur  grofsen  Freude  der  streng  katholischen  Partei. 
Daneben  finden  sich  auch  anderweite  Abweichungen.  Im  Original- 
manuskripte Stehendes  wurde  unterdrückt,  anderes  daselbst  Durch- 
strichenes  wieder  aufgenommen  u.  dgl.  Eine  wirkliche  Textkritik  der 
203  Blätter  in  klein  Folio  umfassenden  Ausgabe  war  erst  nach  dem 

»')  Man  kann  fast  auf  die  Seite  genau  nach  weisen,  wo  dieser  Wechsel 
der  Redaktion  eingetreten  ist. 

3»)  „Ad  lectorem  de  hypothesibus  huius  operis 14 


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412 

Wiederaufßnden  von  Coppernicus  handschriftlichem  Exemplare39) 
ermöglicht  und  ergiebt  eine  wörtliche  Übereinstimmung  mit  dem 
Drucke  nur  für  eine  einzige  Seite,  noch  dazu  eine  Tabelle.  Die  un- 
zähligen Verbesserungen,  Zusätze  und  Streichungen  im  Manuskripte 
geben  ein  Bild  von  der  liebevollen  uud  eifrigen  Beschäftigung  des 
Verfassers  mit  seinem  Lebenswerke.  Aufser  kleineren  Änderungen 
kann  man  hauptsächlich  drei  verschiedene  Redaktionen  unterscheiden: 
die  der  ersten  Reinschrift,  nach  benutzten  Beobachtungen  aus  diesem 
Jahre  nicht  vor  1529  zu  setzen,  mit  Einteilung  in  acht  Bücher 
durch  Zerlegung  der  jetzigen  beiden  ersten  Bücher  in  je  zwei;  eine 
zweite  sieben  Bücher  aufweisend,  in  welcher  Buoh  III  und  IV  zu 
dem  jetzigen  Buche  II  zusammengezogen  sind,  und  die  dritte  end- 
giltige,  welche  unter  Fortlassung  des  ursprünglich  lateinisch  übersetzt 
beigegebenen  Pseudo-Lysisbriefes  die  jetzige  sechsteilige  Anordnung 
aufstellt.  Die  vier  letzten  Bücher  sind  im  wesentlichen  von  solchen 
durchgreifenden  Änderungen  nicht  betroffen  worden,  wenn  sioh  auch 
manche  seitenlange  Umänderungen  vorfinden.40) 

Als  das  erste  gedruckte  Exemplar  der  Revolutiones  in  Frauen- 
burg anlangte,  da  vermochte  der  Qreis  von  seinem  Krankenlager  aus 
kaum  noch  das  Werk  seines  Lebens  zu  erblicken  und  zu  berühren. 
Wenige  Stunden  später  war  er  hinübergegangen,  so  berichtet  uns 
Giese.  Über  die  letzten  Lebensjahre  des  alternden  Forschers  nach 
Rheticus'  Fortgang  ist  uns  so  gut  wie  nichts  überliefert  Allmählich 
wurde  es  einsam  um  ihn  her:  die  alten  Genossen  waren  ins  Grab 
gesunken,  und  unter  dem  neuen  Geschlechte  herrschte  ein  Geist,  der  ihm 
nicht  behagte,  bo  zog  er  sich  in  sich  selber  zurück ;  das  läfst  wenigstens 
ein  besorgter  Brief  Gieses  an  den  Domherrn  Georg  Donner,  den 
damaligen  nächsten  Freund  des  Coppernious,  nach  dem  Empfange 
der  Nachrioht  von  dessen  schwerer  Erkrankung  durch  Schlaganfall 
und  Blutsturz  Anfang  1543  durchblicken.  Donner  und  der  Domvikar 
Fabian  Emmerich  mögen,  letzterer  als  ärztlicher  Beirat,  am  Kranken- 
lager des  grofsen  Denkers  gewacht  haben,  als  ihn  die  Todeskrankheit 
ergriffen,  um  ihn  nicht  wieder  loszulassen.  So  schnell  allerdings, 
wie  Gemma  Frisius  nach  Dantiscus'  Brief  an  ihn  die  Auflösung 

19)  Dasselbe  befindet  sich  in  der  Majoratsbibliothek  der  Grafen  Nostiz 
zu  Prag.  Eine  genaue  Beschreibung  enthält  die  Thorner  Säcularausgabe,  für 
welche  es  zuerst  Verwertung  gefunden  hat.  Eine  genaue  Collation  desselben, 
besorgt  behufs  Benutzung  bei  der  Saecularausgabe  durch  M.  Curtze  in  Thorn, 
ist  im  Besitze  des  Coppernicus -Vereins  für  Wissenschaft  und  Kunst  zu  Thorn. 

*n)  Man  sehe  Ausführliches  darüber  in  den  Prolegomena  der  Thorner 
Saecularausgabe. 


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413 


erwarten  mufste,  trat  sie  nicht  ein.  Nach  Gieße 8  wohl  glaubwürdigerer 
Angabe  am  24.  Mai,  den  lässig  geführten  Kapitelsakten  zufolge  am 
21.  Mai,  schlössen  sich  die  hellen  Augen,  die  dem  Himmel  seine  Ge- 
heimnisse abgelauscht  hatten,  für  immer. 

Sein  Haus  hatte  Coppernious  rechtzeitig  bestellt  Johannes 
Lewsze,  ein  entfernter  Verwandter,  hatte,  wie  wir  sohon  wissen,  am 
7.  Mai  die  Coadjutorie  bei  ihm  angetreten  und  wurd  nun  sein  Nach- 
folger. Als  Erben  Beines  Privatvermögens  setzte  er  die  Nachkommen 
seiner  beiden  Nichten,  der  Frau  des  Königsberger  Heerpeukers 
Stulpawitz  und  der  des  Stargarder  Kaufmanns  Mol ler  ein,  wie  es 
mittelbar  aus  erhaltenen  Dokumenten  sich  ergiebt. 

Seit  seinen  Studienjahren  arbeitete  der  Entschlafene  an  der  immer 
vollkommeneren,  immer  zwingenderen,  inneren  und  äufseren  Be- 
gründung seineß  Weitsystemes.  Nur  der  Tod  hätte  ihm  ohne  die 
dringenden  Bitten  seiner  Freundo  um  endliche  Veröffentlichung  des 
Werkes  die  bessernde  Feder  entrissen;  und  als  er  endlich  ihren  Vor- 
stellungen nachgegeben  hatte,  da  ward  ihm  kaum  noch  Frist  gegönnt, 
das  erste  fertige  Exemplar  mit  sohon  erlöschendem  Auge  zu  erblicken. 
So  verglich  Georg  Donner,  an  welchen  Rhoticus  pietätsvoll,  wie 
an  Giese,  mehrere  der  fertigen  Drucke  zur  Verteilung  an  nähere 
Freunde  des  Dahingeschiedenen  überwiesen  hatte,  in  seinem  Be- 
gleitschreiben zu  der  Sendung  eines  solohen  an  Herzog  Albreoht 
treffend  die  Revolutiones  mit  dem  sagenhaften  Gesänge  des  sterbenden 
Schwanes  4l) 

über  die  eigentliche  Entstehungsgeschichte  der  genialen  neuen  Idee, 
als  deren  Endergebnis  wir  das  monumentale  Werk  betrachten  müssen, 
sind  wir  gröfstenteils  auf  Vermutungen  angewiesen.  Stellen  ähnlicher 
Tendenz,  wie  sie  Coppernicus  in  der  Widmung  an  den  Papst  er- 
wähnt, in  Plutaroh  und  Cicero,  zu  denen  auch  die  ebenfalls  durch 
Plutarch  vermittelte  Bekanntschaft  mit  Aristarch  von  Samos  und 
dem  ungefähr  das  Tychonische  System  lehrenden  MartianusCapella 
hinzutreten,  wurden  von  Tausenden  gelesen  —  und  unbeachtet  gelassen. 
Kurz  vorher  vergleicht  a.  a,  O.  Coppernious  die  geltenden  Himmels- 
mechanismen mit  dem  Horazischen  Schreckbild  einer  aus  allen 
möglichen  für  sich  allein  wohl  befriedigenden,  aber  unzusammen- 
passenden  Teilen  gefertigten  Gestalt  in  der  „ars  poetica-4.  Demnach 

*')  „Vnd  mochte  wol  dasselbe  D.  Nicolai  gctichte  der  Swanen  Oesenge 
vorgloichot  werdenn,  wolche  Im  storbenn,  myt  dem  szuessen  thoen  besclissen 
und  auö'gobent  lr  lebonn." 


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414 


scheint  das  philosophisch -künstlerische  Bedürfnis  nach  einfacherer, 
harmonischerer  Erklärung  der  Naturerscheinungen  ihm  einen  ersten 
An stofs  zum  Beschreiten  des  zur  Wahrheit  führenden  Weges  gegeben 
zu  haben.  Über  die  einzelnen  Stationen  dieses  Weges  zur  Erkenntnis 
sind  wir  nioht  unterrichtet.  Einzelne  Faktoren,  wie  Beziehungen  zu 
freidenkenden  Lehrern  und  Genossen,  haben  wir  uns  bemüht,  in  ihren 
möglichen  Einwirkungen  an  gehöriger  Stelle  hervorzuheben. 

Die  sechs  Bücher  seines  Werkes  enthalten  der  Reihe  nach: 

Buch  I  eine  allgemeine  Darstellung  der  gesamten  neuen  Theorie, 
wie  durch  Erdrotation,  Revolution  und  die  sogenannte  dritte  Bewegung 
zur  Erhaltung  des  Axenparallelismus,  welche  an  Stelle  des  ihm 
fehlenden  Beharrungsgeselzes  als  besondere  Deklinationsbewegung 
aufgeführt  werden  raufste,  eine  ungezwungene  Erklärung  der  Himmels- 
erscheinungen ermöglicht  sei:  sowie  die  Trigonometrie. 

Die  folgenden  Bücher  umfassen  nähere  Ausführungen,  und  zwar: 
Buch  II  die  Aufstellung  der  verschiedenen  Coordinatensysteme  und 
Gradnetze;  Ortsbestimmungen  am  Himmel  und  Erdrotation:  Buch  III 
hehandelt  die  Sonne  rosp.  den  orbis  annuus  und  das  tropische  Jahr; 
Buch  IV  den  Mond;  Buch  V  dio  Bewegungen  der  Planeten  in  der 
Länge  und  Buch  VI  solche  in  Breite. 

Wie  wir  bereits  erwähnten,  müssen  wir  nach  der  eigenen  Er- 
klärung unseres  Autors  in  der  Widmung  an  Paul  III.,  er  habe  damals, 
um  1542,  schon  vier  mal  neun  Jahre  die  neue  Überzeugung  in  sich 
getragen,  die  volle  Conception  des  heliocentrischen  Systems  ungefähr 
um  1500  ansetzen.  Damit  war  die  neue  Wahrheit,  die  Erkenntnis 
des  planetarischen  Charakters  der  Erde  und  der  relativen  Ruhe  der 
Sonne  bereits  gefunden.  Was  Coppernicus  nachher  in  der  ange- 
strengten Geistesarbeit  eines  Menschenalters  zur  Begründung  seiner 
Theorie,  soweit  es  die  Übereinstimmung  derselben  mit  den  Beobach- 
tungen betraf,  in  der  strengen  Ausbildung  eines  geistreichen  Gedankens 
zu  einem  festgefügten  Lehrgebäude  gethan  hat,  das  ist,  wie  wichtig 
es  auch  für  die  Aufnahme  der  neuen  Lehre  in  der  damaligen  Welt 
wurde,  doch  jetzt  längst  überholt  und  hat  nur  noch  historisches  Inter- 
esse. Von  dem  zweiten  Fundamentalirrtum  der  Vorzeit,  welche  nur 
gleichförmig  zu  durchlaufende  Kreisbahnen  für  die  Gestirnsbewegung 
zuüefs,  hat  er  sich  nämlich  nicht  befreien  können.  So  mufste  er, 
statt  aus  Beobachtungen  auf  die  wahre  Bahnform  zu  sohliefsen,  um- 
gekehrt bei  den  Versuchen,  die  erscheinenden  Sternörter  mit  der 
a  priori  angenommenen  Voraussetzung  in  Übereinstimmung  zu  bringen, 
die  auf  der  einen  Seite  glücklich  beseitigte  Epicykeltheorie  zur  Er- 


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415 


klärung  der  gröfsten  Abweichungen  vom  reinen  Kreise  wieder  ein- 
führen, ohne  dabei  natürlich  eine  Ahnung  von  unserer  modernen 
Störungstheorie  zu  haben;  und  als  er  statt  auf  den  wahren  Sonnenort  die 
Planetenbahnen  auf  den  mittleren,  das  Centrum  der  Erdbahn,  bezog, 
fügte  er  eine  zweite  Fehlerquelle  hinzu,  die  6eine  Resultate  nochmals 
ungünstig  beeinflussen  raufste.  Aber  auf  dem  Fundamente  der  neuen 
Wahrheit  konnte  ein  Kepler  weiterarbeiten,  und  so  datiert  von  dem 
Erscheinen  der  Revolutiones  dooh  in  Wahrheit  die  neuere  Astronomie. 

Trennen  wir  sonach  das  Dauernde  an  der  Leistung  des  Verfassers 
der  Revolutiones  von  den  Irrtümern  seiner  Zeit,  so  werden  wir  uns  im 
wesentlichen  auf  eine  Würdigung  des  ersten  Buches  beschränken 
können. 

Coppernicus  war  sich  bei  der  Abfassung  seines  Werkes  der 
Unmöglichkeit  eines  strengen  Beweises  für  den  jährlichen  Umlauf 
vor  Aufßndung  einer  merklichen  Fixslernparallaxe  klar  bewufst. 
Erst  unser  nun  sich  neidendes  Jahrhundert  hat  1836  mit  seinen  un- 
endlich feineren  Mefswerkzeugen  diese  leizle  Forderung  des  längst  als 
giltig  anerkannten  Systems  erfüllt.  Des  Verfassers  stetes  Betonen 
der  Unermefslichkeit  von  Fixsternentfernungen  gegenüber  der  Erd- 
btthn  zeugt  aber  für  seine  Erkenntnis,  wie  das  Fehlen  dieses  vom 
Sonnensystem  unabhängigen,  notwendig  folgenden  Beweises  für  die 
Revolutiones  den  wundesten  Punkt  seiner  Annahmen  bildete.  Ebenso 
konsequent  folgerte  er  die,  bei  der  Kleinheit  der  lichtstarken  Objekte 
aber  unbewaffneten  Augen  unmerklichen  und  erst  Galileis  Fernrohr 
sich  zeigenden  Phasengestalten  der  inneren  Planeten,  und  so  wäre  ihm 
Oslanders  Angriff  auf  seine  Anschauungen  in  dessen  Vorrede  zu 
den  Revolutiones  wegen  der  scheinbar  konstant  bleibenden  Lichtstärke 
der  Venus  in  Konjunktion  und  Opposition  sicher  gerade  als  eine  neue 
Bestätigung  derselben  erschienen. 

Da  ihm  so  die  allergewiohtigsten  Waffen  für  die  Wahrheit,  die 
der  direkten  sinnlichen  Wahrnehmung,  entzogen  waren,  mufsto  er 
sich  auf  Wahrscheinlichkeitsgründe  aus  der  ungezwungeneren  Folge 
der  Erscheinungen  nach  seiner  Hypothese  stützen. 

Die  in  der  Editio  prineeps  und  danach  auch  in  den  beiden 
folgenden12)   unterschlagene   schöne  Einleitung  zum   ersten  Buche 

**)  Die  bis  jetzt  erschienenen  fünf  Ausgaben  des  Coppernicaniachen 
Hauptwerkes  haben  folgende  Titel:  I.  Nicolai  Copernici  Tohinensis  de 

Revolvtionibvs  ORBlum  coelestiutn,  Libri  VI  '  .^uutxi^r,-:^  oütt«  ilai-i». 

Norimbergae  apud  Job.  Petreium,  Anno  M.D.XLIII.  -  II.  Nicolai  Copernici 

Tokinbnsis  de  REVOLVTiONibus  orbium  coelesüum,  Libri  VI  Basileae, 

ex  officina  Henrici  Petrina.    Anno  M  D.LXVI,  Mense  Septembri.  — 


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416 


preist  die  Astronomie  als  die  sich  mit  den  erhabensten  Gegenständen 
beschäftigende  exakte  Wissenschaft,  betont  deren  bis  dahin  nicht  be- 
friedigend erklärbare  Rätsel,  und  verspricht  einen  neuen  Lösungs- 
versuch auf  von  dem  bisherigen  abweichenden  Wege. 

Im  Buche  selber  wendet  Cop  p  ernicus  sich  zunächst  zu  Unter- 
suchungen über  die  dem  Weltall  und  den  Gestirnen  zukommende 
Gestalt.  Aus  Analogieschlüssen,  philosophischen  und,  hauptsächlich 
für  die  Erde,  Erfahrungsgründen  findet  er  dafür  die  Kugelform.  Für 
ihre  Bewegung  aber  läfst  er,  ein  Kind  seiner  Zeit,  nur  die  nach  seiner 
philosophischen  Betrachtungsweise  den  vollkommensten  Gebilden  zu- 
kommende, als  vollkommenste  angesehene  gleichförmig  zu  durchlaufende 
Kreisbahn  zu.  Aufser  der  täglichen  Umdrehung  müfste  man  auch  alle 
scheinbar  ungleichförmigen  Bewegungen  der  Himmelskörper  auf  diese 
einzig  angemessen  erscheinende  zurückführen,  was  am  besten  durch  in 
Bezug  auf  dieselben  excentrisohe  Stellung  unseres  Beobachtungsortes 
Erde  geschehe,  vermöge  der  verschiedenen  Gesiohtswinkel,  unter 
denen  dann  gleiche  Bogen  in  verschiedenen  Entfernungen  erscheinen 
müssen.  Nun  kann  man  alle  relativen  Ortsänderungen  entweder  aus 
einer  Bewegung  des  Beobachteten  oder  des  Beobachters,  oder  einer 
ungleichen  Beider  erklären.  Wendet  man,  statt  wie  früher  die  erste, 
jetzt  einmal  die  zweite  Möglichkeit  zunächst  auf  die  tägliche  Bewegung 
des  Himmelsgewölbes  an,  so  verfällt  man  auf  eine  umgekehrt  gerichtete 
tätliche  Rotation  der  Erde.  Ganz  abgesehen  davon,  setzt  er  spitz- 
findig hinzu,  dafs  die  Erde  als  mefsbare  Gröfse  doch  trotz  der  Ruhe 
des  Mittelpunktes  bei  einer  Rotation  des  gesamten  Weltalls  um  ihn 
an  der  Oberfläche  mit  dieser  gleiche,  die  Wirkung  aufhebende  Winkel- 
geschwindigkeit besitzen  müfste,  könne  man  doch  eher  der  im  Vergleich 
winzigen  Erde  eine  relativ  geringere  Drehungsgeschwindigkeit  beilegen 
als  dem  unermefsliohen  Weltall  eine  alle  Begriffe  übersteigende.  Die 

III.  Nicolai  Copernici  Torinensis  Astronomia  instavrata,  Libria  sex 
comprehensa,  qui  do  RevoluÜonibuß  orbium  coeleslium  inscribuntur.  Nunc 
demura  post  75  ab  obitu  authoris  annum  integritati  buho  reaütuta  notisque 

illustrata  opera  et  studio  D.  Nicolai  Mvlerii  Ahstelrodami,  Excudebat 

Wilhelmus  Jansonius  ....  Anno  M.D.CXVII.  (Letztere  ist  1640  in  neuer  Titel- 
auflage nochmals  ausgegeben  worden.)  —  IV.  Nicolai  Copernici  Torinensis  De 
Revolutiouibus  Orbium  Coelestium  Libri  VI.  Accedunt  G.  Joacbimi  Rhetici 
Narratio  Prima,  Cum  Copernici  Nonnullis  Scriptis  Minoribus  Nunc  Primum 
Collectis  Eiusque  Vita.  Vareaviae,  Typis  Stanislai  Straski.  Anno  M.D.CCCLIII.  — 
V.  Nicolai  Copernici  Thoruuensis  De  Revolutionibus  Orbium  Caelestium 
Libri  VI.  Ex  Auctoris  Autographo  Recudi  Curavit  Societas  Copernicana 
Thorunensis.  Accedit  Georgii  Joacbimi  Rbetici  De  Libris  Revolutionum 
Narratio  Prima.  Thoruni,  Sumptibus  Societatis  Copernicanae.  MDCCCLXXIII. 


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i 


417 


Annahme  derselben  als  einer  ursprünglichen,  dem  Wesen  des  Körpers 
immanenten  erklärt  das  Fehlen  jeder  wahrnehmbaren  Zerstörungs- 
wirkung, und  fast  alle  Einwürfe  gegen  die  Erdrotation  gelten  in  viel 
höherem  Mafse  gegen  die  von  deren  Urheber  angenommene  Drehung 
des  Himmels.  Die  geradlinige  Bahn  fallender  Körper  folgt  aber  aus 
dem  Mitrotieren  der  nächsten  Umgebung  der  Erdoberfläche.  So  soheint 
thatsächlioh  die  neue  Annahme  bessere  Gründe  als  die  geltende  für 
sich  zu  haben.  Läfet  man  aber  einmal  eine  Erdbewegung  zu,  was 
hindert  uns  die  wechselnden  Bewegungen  der  Planeten  nicht  ebenso 
einer  Bewegung  der  Erde,  als  einer  solohen  jener  zuzuschreiben? 
Dagegen  opponieren  die  Anhänger  des  Ptolemaios  mit  dem  Falle  der 
Körper,  der  nur  nach  dem  Weltmittelpunkte  gerichtet  sein  könne. 
Coppernicus  aber  fafst  die  Sohwere,  ohne  übrigens  eine  Ahnung 
von  der  Massenanziehung,  dem  Oravitationsgesetze,  zu  haben,  als  eine 
jedem  Gestirn  als  solchem  zukommende,  immanente  Kraft  auf,  ver- 
möge deren  es  sich  zur  Kugel  ballt»  so  dafs  jeder  Weltkörper  seine 
eigene,  auf  ihn  allein  wirksame  Schwere  besitzt.  Setzt  man  nun  statt 
der  scheinbaren  Bewegung  der  Sonne  um  die  Erde  eine  bei  der  un- 
ermefsliohen  Entfernung  der  Fixsterne  genau  dieselben  scheinbaren 
Bewegungen  der  Sonne  hervorrufende  Bahn  der  Erde  um  diese,  dann 
erklären  sich  für  den,  der  seine  beiden  Augen  zum  Sehen  benutzt, 
die  merkwürdigen  Erscheinungen  der  Beschleunigungen,  Stillstände 
und  Rückläufe  in  dem  scheinbaren  Laufe  der  Planeten  aus  dieser  Erd- 
bewegung von  selber.  Die  Aufeinanderfolge  der  Sphären  in  der  Reihe: 
Fixsterne,  Saturn,  Jupiter,  Mars,  sowie  die  Stellung  des  Mondes  zunächst 
der  Erde  lehren  alle  Astronomen.  Über  die  gegenseitige  Anordnung 
von  Sonne,  Venus  und  Merkur  aber  finden  sioh  Verschiedenheiten. 
Ptolemaios  läfst  die  Sonne  die  nach  allen  Seiten  abweichenden 
Planeten  von  den  sich  nur  wenig  von  ihr  entfernenden,  zuletzt  an- 
gerührten trennen,  leugnet  aber  trotzdem  ihre  dann  notwendig  folgende 
Phasengestalt  und  bedenkt  auch  nicht,  dafs  der  Mond  doch  wieder 
überall  hin  abweicht.  Andere  setzen,  um  diesen  Schwierigkeiten  zu  ent- 
gehen, die  Sonne  doch  unter  dieselben,  ohne  dann  die  nur  geringen 
Abweichungen  der  beiden  erklären  zu  können.  Martianus  Capeila 
läfst  beide  um  die  Sonne,  und  erst  mit  dieser  um  die  Erde  kreisen. 
Behält  man  nun  diese  Anordnung  bei,  läfst  aber  auoh  die  anderen 
Planeten  um  die  centrale  Sonne  laufen,  und  setzt  zwischen  Venus- 
und  Marsbahn,  wo  übergenügend  Platz  ist,  Erde  und  Mond,  welcher  deren 
spezieller  Trabant  ist,  gleichfalls  nur  als  Planeten,  so  ist  die  Schwierig- 
keit gehoben.  Hierbei  lehrt  Coppernicus  übrigens  nicht  nochmals 
ausdrücklich  die  Phasengestalt  von  Venus  und  Merkur  auoh  in  seinem 

Himmel  und  Erde.  189».  XI.  9.  27 


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418 


System,  obwohl  ihre  Notwendigkeit  aus  seinen  früheren  Darlegungen 
über  entsprechende  Anordnungen  folgt.  Aus  dieser  Annahme  ergeben 
sieh  auch  ungezwungen  die  wachsende  Gröfse  parallaktischer  Ver- 
schiebungen bei  näheren,  die  wachsende  Zahl  derselben  bei  entfernteren 
Planeten,  was  eine  neue  Stütze  des  Systems  bedeutet  Betrachtet  man 
zum  Schiurs  die  entwickelten  Bewegungen  genauer,  so  findet  sich  aufser 
der  Rotation  zur  Erklärung  der  täglichen  Bewegung  des  Himmels  und 
der  Revolution  zur  Erklärung  der  jährlichen  Sonnenbahn  noch  die 
Annahme  einer  dritten,  rückläufigen  jährlichen  Deklinationsbewegung- 
nötig,  die  unserer  aus  dem  Beharrungsgesetz  folgenden  Erhaltung  des 
Axenparallelismus  entspricht,  aus  welcher  eben  dieser  Parallelismus, 
bei  Coppernicus  der  Äquatorrichtung,  und  die  ungleiche  Länge  von 
Tag  und  Nacht  folgen.  Aus  der  nicht  völligen,  zeitlichen  Überein- 
stimmung von  Revolution  und  dritter  Bewegung  verspricht  Copper- 
nicus die  Präzession  der  Nachtgleichen  und  die  Änderung  in  der 
Schiefe  der  Ekliptik  zu  erklären.  Nach  dem  sohon  oben  erwähnten 
und  besprochenen  trigonometrischen  Abschnitt  folgen  dann  bei  Cop- 
pernioua  Buch  II  biB  VI  mit  den  speziellen  Ausrührungen. 

Auf  diese,  infolge  der  falsohen  Beschränkung  auf  nur  gleich- 
förmige Kreisbahnen  notwendig  zu  Irrtümern  führenden  Unter- 
suchungen wollen  wir  bei  dem  geringen  Interesse,  dafs  sie  heute  nur 
noch  beanspruchen  können,  nioht  näher  eingehen,  sondern  nur  seine 
Resultate  kurz  erwähnen43)  und  nooh  einen  speziellen  Punkt,  die  Libra- 
tionslehre,  herausgreifen,  wegen  ihrer  Beziehung  zum  Wapowski- 
brief  als  Coppernicanische  Modifikation  der  Trepidationslehre,  und 
hauptsächlich  der  auf  eine  dabei  sich  findende  durchstriohene  Stelle 
sich  stützenden  Vermutung  halber,  Coppernicus  habe  die  Elliptizität 
der  Planetenbahnen  geahnt44)  Wenden  wir  uns  zunächst  zu  letzterer. 

Coppernicus  bezeichnet  als  Libration  in  der  Projektion  auf 
eine  zur  mittleren  Lage  senkrechte  Ebene  geradlinige  Schwankungen 
der  Pole  um  Centriwinkel.  Er  unterscheidet  deren  zwei;  eine  in  der 
Richtung  der  Senkreohten  auf  die  duroh  mittlere  Axenlage  und  je- 
weilige Tangente  an  die  Erdbahn  bestimmte  Ebene,  zur  Erklärung- 
der  Änderung  in  der  Schiefe  der  Ekliptik,  beziehungsweise  des 

«)  Wir  benutzon  dabei  die  Darstellung  in  dem  Werke  Apelts:  Die 
Reformation  der  Sternkunde.  Ein  Beitrag  zur  Deutseben  Kulturgeschichte. 
Jena,  Mauke,  135?. 

**)  Die  fragliche  Stelle  lautet  (Lib.  III,  Kap.  IV):  „Vocaat  autem  aliqui 
motum  nunc  in  latitudinem  circuli,  hoc  est  dimetientem,  cuius  tarnen  periodum 
et  dimensionem  a  circumeurrere  eius  dedueunt,  ut  paulo  inferius  ostendemus. 
Estque  hic  obiter  animadvertendum,  quod,  si  circuli  hg  et  of  fuerint  inequales 
manentibus  caeteris  condicionibus,  non  rectam  lineam  sed  conicam  sive  cylin- 
dricam  Bectionem  describent,  quam  ellypsin  vocant  raathematici;  sed  de his alias* 


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419 


Äquators;  eine  zweite  in  der  so  erhaltenen  Ebene  selbst  von  halber 
Dauer  und  Elongation,  zur  Erklärung  der  ungleichmäfsigen  Präzession. 
Beide  zusammen  lassen,  gleichzeitig  von  dem  Mittelwert  beginnend, 
den  Pol  während  der  vollen  Dauer  einer  der  längeren  Schwingungen 
eine  Aohterkurve,  8,  beschreiben.  Diese  geradlinigen  Bewegungen 
zerfallt  Coppernicus  nun  wieder  in  gleichförmige  Kreisbewegungen. 
Er  beweist,  dafs  jeder  Punkt  eines  Kreises  vom  Durchmesser  r,  der 
auf  der  Innenseite  der  Peripherie  eines  Kreises  vom  Radius  r  rollt, 
während  eines  Umlaufes  des  kleinen  Kreises  einen  Durohmesser  des 
grofsen  vor-  und  rückwärts  durchläuft.45)  In  der  so  zusammen- 
geschrumpften Hypooycloide  wird  aber  die  Geschwindigkeit  vom  Mittel- 
punkte naoh  den  beiden  Schnittpunkten  mit  der  Peripherie  abnehmen, 
innerhalb  der  achtförmigen  Figur  werden  also  den  gröfsten  Elonga- 
tionen  die  kleinsten,  den  kleinsten  die  gröfsten  Funktionsänderungen 
für  eine  gleiche  Zeitdauer  zuzuschreiben  sein.  Die  Elongation en  in 
der  Ebene  der  Bahntangente  müssen  nun  notwendig  eine  Änderung 
der  Knotenlinie  zwischen  Ekliptik  und  Äquator  zur  Folge  haben,  die 
entsprechenden  Bewegungen  des  Erdmittelpunktes  aber  obigen  Folge- 
rungen analog  ungleichmäfsig  schnell  verlaufen,  und  das  bewerkstelligt 
jene  „rota  fortunae"  des  Rhetious  mit  einem  Umlaufe  von  3434  Jahren, 
wie  es  die  Beobachtungen  der  Deklinationsbewegung  der  Sonne  und 
der  Präzession  der  Naohtgleichen  scheinbar  seiner  Hypothese  ent- 
sprechend auch  für  die  bezügliche  Polbewegung  zu  verlangen  schienen. 

Ähnliche  Zerfällungen  in  Kreisbahnen  nimmt  Coppernicus  nooh 
mit  anderen  geradlinigen  Bewegungen  vor,  so  bei  Merkur  und  bei 
der  Erklärung  der  Breitenbewegungen  der  Planeten.  Läfst  man  aber 
die  Radiuslänge  des  rollenden  Kreises  unter  die  Hälfte  der  des 
gröfseren  sinken,  behält  jedoch  unter  Preisgabe  der  dann  folgenden 
Änderungen  bei  wirklicher  Rollung  die  Winkelgeschwindigkeiten  der 
vorigen  Annahme  bei,  so  beschreibt  jeder  Punkt  des  kleineren  Kreises, 
wie  leicht  zu  beweisen  ist,  eine  Ellipse.  Darauf  allein  scheint  sich, 
wieTh.  Häbler  es  neuerdings  wahrscheinlich  gemacht  hat,4*)  die  oft 
mifsverstandene  gestrichene  Stelle  im  Originalmanuskripte  über  die 
Möglichkeit  des  Auftretens  von  Ellipsen  zu  beziehen.  Die  Unter- 
suchung der  wahren  Planetenbahnen  nach  seinen  Angaben,  was  ihm 

*»)  Dafs  diese  Betrachtung  schon  vor  Coppernicus  den  Arabern  be- 
kannt war.  aber  im  Abeudlande  völlig  unbokannt  blieb,  sehe  man  in  dem  Auf- 
satze M.  Curtzes  in  der  Bibliotheca  mathematica  G.  Eneströras  IX,  S.  33/34: 
„Noch  einmal  der  De  la  Hire  zugeschriebene  Lehrsatz". 

*«}  Th.  Häbler,  Ober  zwei  Stellen  in  Piatons  Timaeus  und  im  Haupt- 
werke von  Coppernicus.  Abhandlung  zum  Jahresbericht  der  Fürsten-  und 
Landeaschule  zu  Grimma  1898.   Grimma  1898.   S.  18-2G. 

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420 


jedoch  nicht  eingefallen  zu  sein  scheint,  hätte  Coppernicus  eine 
Epicycloide,  aber  niemals  einen  Kegelsohnitt  finden  lassen. 

Über  seine  Darstellung  der  jährlichen  Kreisbewegung  haben  wir 
schon  gelegentlich  der  Narratio  prima  des  Rheticus  das  Wichtigste 
angegeben.  Ein  voller  Umlauf  in  dem  die  Änderung  der  Apsiden- 
linien bewirkenden  Kreise  hätte  54000  Jahre  in  Anspruch  genommen. 
Die  Sonnenentfernung  im  Apogäum  beträgt  nach  ihm  1179  Erd- 
halbmesser. 

Zur  Darstellung  der  möglichst  von  den  Wirkungen  der  jähr- 
lichen Parallaxe  befreiten  Planetenbahnen  befolgt  er  folgende  drei 
Methoden,  die  wir  dem  oben  genannten  Werke  Apelts  entnehmen. 

I.  Man  beschreibe  mit  dem  dritten  Teile  der  Entfernung  zwischen 
Planeten-  und  als  Weltcentrum  dienendem  Erdbahnmittelpunkt,  dessen 
eigene  Schwankungen  man  nur  bei  Venus  und  Merkur  zu  beachten 
habe,  einen  Epicykel.  Den  Mittelpunkt  desselben  lasse  man  mit  der 
mittleren  Geschwindigkeit  des  Gestirns  die  mittlere  Kreisbahn  um 
das  Centrum  der  Planetenbewegung  vollführen.  Während  dessen 
beschreibe  der  Planet  selber  rechtläufig  auf  dem  Epicykel  dieser 
Bewegung  gleiohe  Winkel,  und  zwar  so,  dafs  seine  gröfste  Apside 
gleich  der  Summe  von  mittlerem  Bahnradius  und  Entfernung  des 
Mittelpunktes  derselben  vom  Weltcentrum  minus  Epicykelradius,  die 
kleinste  gleich  der  Summe  beider  Kreisradien  minus  der  Entfernung 
des  Weltcentrums  von  dem  der  mittleren  Planetenbahn  wird,  also  die 
drei  Centra,  wie  auch  bei  den  folgenden  Anordnungen,  in  diesen  ex- 
tremen Fällen  einer  Geraden  angehören  (Excentrepicyclus);  oder: 

II.  Man  belasse  den  Planeten  auf  dem  excentrisohen  Kreise 
selbst  in  gleichförmiger  Fortbewegung  mit  der  mittleren  Gestirnsge- 
schwindigkeit, führe  aber  den  Mittelpunkt  desselben  während  eines 
vollen  Umlaufes  des  Gestirnes  zweimal  in  einem  kleinen  Kreise  vom 
Radius  des  vorigen  Epicykels  um  seine  ursprüngliche  Lage  rechtläufig 
herum,  so  zwar,  dafs  die  Länge  der  Apsiden  wieder  durch  dieselben 
Stücke  ebenso  wie  oben  bestimmt  wird  (Excentri  excentrus);  oder: 

III.  Man  beschreibe  den  Bahnkreis  um  den  Weltmittelpunkt 
(Erdbahncentrum),  lasse  auf  demselben  mit  der  mittleren  Gestirns- 
geschwindigkeit rechtläufig  einen  Epicykel  von  dem  Radius  3/a  mal 
der  gewünschten  Excentricität,  und  auf  dessen  Peripherie  mit  gleicher 
Winkelgeschwindigkeit,  aber  rückläufig,  einen  zweiten  Epicykel  von 
dem  Radius  '/2  mal  der  Excentricität  kreisen.  Auf  diesem  zweiten 
vollende  während  eines  Umlaufes  der  Epicykel  der  Planet  aber  deren 
zwei.  Hier  sei  die  gröfste  Apside  gleich  der  Radiensumme  von  Bahn- 
kreis und  gröTserem  Epicykel  minus  Radius  des  kleineren,  die  kleinste 


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421 


gleich  Radiensumme  von  Bahnkreis  und  kleinerem  Epicykel  minus 
Radius  des  gröfseren  (Epicepicyclus). 

Alle  drei  Methoden  sind  nach  Coppernious  im  wesentlichen 
gleich,  geben  alle  drei  keine  völlig  genaue  Kreisbewegung  für  die 
Planeten,  obwohl  sie  aus  solchen  zusammengesetzt  sind,  und  machen 
für  einen  Beobachter  vom  jeweiligen  Cyoloidenmittelpunkte  aus  den 
Eindruck  der  Gleichförmigkeit,  worauf  es  Coppernious  bei  seiner 
Konstruktion  hauptsächlich  ankam,  und  was  er  durch  diese  merk- 
würdigen Zerlegungen  der  Mittelpunktsgleichung  auch  erreichte.47) 

Nach  diesem  Verfahren  berechnete  heliocentrisohe  Örter  müssen, 
für  Mars  z.  B.  bis  zu  einer  Maximalgrenze  von  zwei  vollen  Graden, 
irrig  ausfallen.  Hätte  Tyoho  Brahe  an  eine  Vorbesserung  desselben 
in  rechnerischer  Hinsicht  sich  gemacht,  es  wäre  nur  natürlioh  ge- 
wesen. Dafs  aber  der  grofse  beobachtende  Astronom  den  Kern  der 
Lehre,  die  planetarische  Natur  der  Erde,  wieder  zu  verlassen  sich 
genötigt  glaubte,  zeigt,  wie  hoch  des  Coppernious  auf  inneren 
Gründen  fufsende  Erkenntnis  nicht  nur  über  der  seiner  Zeit,  nein 
auch  über  der  hervorragenden  Geistern  der  nächsten  Folgezeit  mög- 
lichen stand.  Fest  aber  und  unersohüttert  war  sein  Glaube  an  die 
neugefundene  Wahrheit,  das  ersehen  wir  aus  Gieses  Brief  an  Rhe- 
ticus  über  Oslanders  Vorrede,  ersehen  wir  aus  seiner  eigenen 
Widmung  an  den  Papst: 

Wenn  er  auch  für  seine  Leistung  keine  Stellung  über  allge- 
meiner Kritik  beanspruchen  dürfe,  so  habe  ihn  der  stets  zu  erwartende 
Spott  der  urteilslosen  Menge  über  neue,  nicht  handgreifliche  Wahr- 
heiten zu  ähnlichen  Meinungen  geführt,  wie  sie  den  weisen  Be- 
stimmungen der  Pythagoräer  über  die  Lehre  nur  im  engsten  Schüler- 
kreise zu  Grunde  lägen.  Infolge  der  Vorstellungen  seiner  Freunde  hätte 
er  seine  Bedenken  jedoch  sohliefslich  fallen  lassen.  Die  Uneinigkeit 
der  Astronomen  unter  sich,  und  die  Disharmonie  der  Lehre  jedes  der- 
selben in  ihren  Einzelheiten  habe  ihn  zu  Untersuchungen  auf  ab- 
weichendem, von  einigen  schon  vor  ihm  betretenem  Wege  getrieben. 
Sein  neues  System  erkläre  auf  Grundlage  von  Erdeigenbewegungen 
so  viel  folgerichtiger  und  einfacher  die  Himmelserscheinungen,  dafs 
er  sioh  des  Beifalls  vorurteilsloser,  durch  ihre  Bildung  dazu  berech- 
tigter Beurteiler  für  versichert  halte.  Um  aber  der  urteilslosen  Menge 
an  einem  Beispiele  zu  zeigen,  wie  wenig  er  derartige  Kritik  soheue, 
wage  er  es,  der  überall  aufs  höchste  verehrten  Stelle,  dem  Papste, 
sein  Werk  zu  widmen.    Leute  aber,  Schwätzer,  die  ohne  mathemati- 

*7)  Die  näheren  Ausführungen  Behe  mau  in  dem  in  Anm.  18  erwähnten 
Werke  Apelts. 


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422 


sehe  Kenntnisse  aus  mifsverstandenen  Bibelstellen  abfällig  über  ihn 
urteilen  wollten,  verachte  er  als  Dummdreiste,  nachdem  sogar  des 
Kirchenvaters  Lactantius  aus  gleicher,  ebenso  mifs verstandener  Quelle 
geschöpfte  Ansicht  von  der  Sobeibengestalt  der  Erde  zu  gunsten  der 
Kugelform  jetzt  allgemein  verlassen  sei.  Solcher  Ungebildeter  Urteil 
dürfe  Mathematiker  in  ihrer  Meinung  über  Mathematisches  nicht  be- 
einflussen. Aufserdem  sei  sein  Werk  der  Kirche  zur  Bestimmung 
der  Festzeiten  von  grofsem  Nutzen;  und  so  übergebe  er  die  Arbeit 
seiner  Nächte  der  Beurteilung  seiner  Heiligkeit 

Sollte  auch  kurzsichtiger  Hafs  dereinst  gerade  vom  Stuhle  Petri 
aus  die  neue  Hypothese  von  der  Erdbewegung  aufs  bitterste  ver- 
folgen, —  gerade  der  Stellen  halber,  welohe  die  feste  Überzeugung 
des  Autors  von  der  Wahrheit  des  Systems  atmen,  ward  sein  Buch 
auf  den  Index  gesetzt  —  vor  dem  unparteiischen,  höheren  Richter- 
Stuhle  der  Logik  der  Thatsachen  ist  sie  aufs  glänzendste  gerecht- 
fertigt, und  heute  zweifelt  kein  Gebildeter  mehr  an  dem  vollen  Zu- 
treffen der  Lehre  des  Coppornicus. 


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Die  Farbe  des  Wassers.  Eine  Frage,  die  sich  jedem  denken- 
den Reisenden  immer  und  immer  wieder  aufdrängt,  ist  die  nach  der 
Ursache  der  so  verschiedenartigen  Färbungen  des  Wassers,  die  wir  in 
verschiedenen  Teilen  des  Meeres,  in  Gebirgsseen  und  Flüssen  zu  be- 
obachten Gelegenheit  haben.  Merkwürdigerweise  hat  die  Wissen- 
schaft erst  verhältnismärsig  spät  sich  auoh  mit  dieser  Frage  zu  be- 
schäftigen begonnen.  Zunächst  galt  es  natürlich,  die  wahre  Farbe  des 
reinen  Wassers  festzustellen.  Prof.  Spring  hat  dies  dadurch  erreicht, 
dafs  er  eine  weifse  Scheibe  durch  lange,  mit  destilliertem  Wasser  ge- 
füllte Röhren  betrachtete.  Da  die  Scheibe  bei  diesen  Versuchen  rein 
tiefblau  erschien,  ist  die  blaue  Farbe,  wie  übrigens  schon  Davy  er- 
kannt hatte,  als  Eigenfarbe  des  Wassers  zu  bezeichnen,  und  blaue 
Gewässer,  wie  der  Ozean,  das  Blauseeli  im  Kanderthal  oder  der  Genfer 
See  zeigen  durch  ihre  Färbung  nur  eine  hervorragende  Reinheit  des 
in  ihnen  flutenden  Wassers  an.  Die  viel  häufiger  anzutreffende  grüne 
Farbe  der  meisten  Seen  und  klaren  Flüsse,  sowie  auch  des  Meeres 
in  der  Nähe  seiner  Ufer  erklärt  Spring  für  eine  Mischfarbe,  welche 
duroh  die  Zusammensetzung  der  blauen  Eigenfarbe  des  Wassers  mit 
einer  gelben,  von  Eisenrostteilchen  oder  Humusbeimengungen  reflek- 
tierten Färbung  entsteht.  Duroh  besondere  Hinzufügung  feinsten 
Schlammes  des  roten,  unter  dem  Namen  Hämatit  bekannten,  wasser- 
freien Eisenoxyds  kann  aber  die  normale,  grüne  Farbe  des  Wassers 
gewisser  Seen  unter  Umständen  so  vollständig  kompensiert  werden,  dafs 
dasselbe  gänzlich  farblos  erscheint,  wie  es  in  einzelnen  Teilen  des 
Wettern  -  Sees  öfters  beobachtet  wird.  Bei  der  weiten  Verbreitung  der 
Eisenoxyde  von  verschiedenstem  Wassergehalt  scheinen  Springs 
duroh  einwandfreie  Versuche  gestützte  Ansichten  thatsächlich  den  so 
oft  in  der  Natur  beobachteten  Farbenweohsel  des  Wassers  recht  be- 
friedigend zu  erklären. 

Neben  der  Ansicht  Springs  wird  von  verschiedenen  Gelehrten 
allerdings  auch  noch  eine  andere,  zuerst  von  Soret  ausgesprochene 
Meinung  verteidigt.    Nach  dieser  soll  die  blaue  Farbe  des  Wassers 


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eine  Folge  der  Reflexion  des  Lichts  an  sehr  kleinen  Trübungskörper- 
chen  sein,  geradeso  wie  die  blaue  Farbe  der  Luft  nach  der  Theorie 
von  Lord  Rayleigh  duroh  die  Wirkung  kleinster  Staubteilchen  zu- 
stande kommt.*)  Geht  diese  normale  Blaufärbung  des  Wassers  in 
Grün  über,  so  soll  dies  naoh  Abegg  durch  das  Vorhandensein  grösserer 
Partikel  bedingt  sein,  welche  die  Tiefe,  bis  zu  der  das  Licht  in  das 
Wasser  eindringt,  vermindern  und  andererseits  nicht  in  so  starkem 
Mafse  bei  der  Reflexion  das  blaue  Ende  des  Spektrums  vor  den  übrigen 
Farben  bevorzugen.  Als  Stütze  für  diese  Theorie  führt  Abegg  unter 
anderem  an,  dafs  auch  auf  Meeren  von  entschieden  blauer  Färbung 
das  Wasser  der  obersten  Schichten,  wenn  diese  vor  dem  Hintergrund 
kleiner,  durch  die  Schiffsbewegung  in  die  Tiefe  gerissener  Luflbläschen 
gesehen  werden,  allo  Nuancen  des  Grün  zeigen  kann.  Diesen  Beob- 
.  achtungen  stehen  allerdings  Professor  Springs  mit  sorgfältig  destillier- 
tem Wasser  angestellte  Versuche  entgegen,  bei  denen  die  Eigenfarbe 
des  Wassers  auch  bei  einer  absorbierenden  Schicht  von  geringer  Dicke 
stets  deutlioh  blau  blieb  und  nur  durch  Hellblau  allmählich  in  Farb- 
losigkeit  überging. 

Noch  mehrere  weitere  Momente  sind  übrigens  von  Spring  und 
anderen  Forschern  als  wahrscheinlich  mitbestimmend  für  die  indi- 
viduelle Färbung  der  verschiedenen  Gewässer  bezeichnet  worden, 
doch  gestattet  uns  der  Raum  nicht,  auf  alle  diese  immerhin  etwas  un- 
sicheren Möglichkeiten  näher  einzugehen.  Mancherlei  Fragen  werden 
auch  auf  diesem  Gebiete  erst  nach  einer  vollständigeren  chemischen, 
mikroskopischen  und  spektralphotometrischen  Untersuchung  einer 
gröfseren  Reihe  von  Gewässern  mit  Sicherheit  entschieden  werden 
können.  F.  Kbr. 

«Ii» 

* 

Das  grofse  Potsdamer  Fernrohr  sieht  nunmehr,  nachdem  die 
Teile  der  von  Repsold  in  Hamburg  hergestellten  Montiorung  wohl- 
behalten auf  dem  Telegraphenberge  angelegt  sind,  seiner  demnächstigen 
Aufstellung  entgegen.  Das  Fernrohr  besitzt  eine  Länge  von  32  Fufs 
und  ist  als  Doppel-In6trument  ausgeführt.  Die  größere  Linse  von 
fast  einem  Meter  Durchmesser  ist  für  photographische  Aufnahmen 
bestimmt,  während  für  visuelle  Beobachtung  eine  Linse  von  halb  so 
grofsem  Durchmesser  für  ausreichend  erachtet  worden  ist. 

♦)  Vgl.  „Himmel  und  Erde",  Band  VII,  Seite  128. 


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425 


Gletscherwirkung.  Die  interessante  Abbildung  einer  mulden- 
förmigen Gletschererosion,  die  wir  unseren  Lesern  hier  vorführen,  ist 
einem  Bericht  des  Prof.  Bailey  über  die  geologischen  Arbeiten 
in  der  canadischen  Provinz  Neu -Schottland  entnommen.    Wir  sehen 


Eine  durch  Gletscherwirkung  ausgehöhlte  Mulde  in  cambrischen  Fellen 
an  der  Küste  Neu -Schottland!. 

auf  diesem  Bilde  in  überaus  plastischer  Weise,  wie  das  sich  vorwärts- 
schiebende Gletschereis  sein  felsiges  Bett  bearbeitet  hat.  Bekanntlich 
verdanken  wir  den  zahlreichen  Gletscherzungen  der  nordischen  Küsten 
wenn  nicht,  wie  Tyndall  meinte,  die  Entstehung,  so  doch  die  Er- 
haltung der  unzähligen  Fjorde,  die  das  Entzücken  jedes  Nordland- 
reisenden hervorrufen. 


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426 


Entdeckung  eines  neunten  Saturnmondes.  Durch  die  Tage- 
blätter lief  Mitte  März  die  telegraphische  Nachricht,  dafs  E.  C.  Pickering 
auf  photographischen,  in  Arequipa  aufgenommenen  Platten  einen  neunten, 
sehr  liohtsch wachen  und  vom  Hauptplaneten  beträchtlich  weit  entfernten 
Saturnmond  entdeckt  habe.  Sobald  hierüber  nähere  Nachrichten  vor- 
liegen werden,  gedenken  wir  selbstverständlich  auf  diese  höchst  inter- 
essante Entdeckung  zurückzukommen. 

* 

Durstige  Schmetterlinge. 

Saugende  Mundteile  sind  bekanntlich  eines  der  wichtigsten  Kenn- 
zeichen der  Schmetterlinge,  jenes  so  überaus  rauntereu,  zierlichen  und 
farbenprächtigen,  Flur  und  Feld  belebenden,  in  Wald  und  Heide  sioh 
tummelnden  Insekten völkchens.  Ihnen  ist  von  Natur  aus  der  be- 
neidenswerte Vorzug  zum  Erbe  geworden,  von  Blume  zu  Blume  flattern 
zu  dürfen,  nur  der  beglückenden  Liebe  zu  leben  und  selbst  da  wo 
der  Egoismus  dieser  flirtenden  Gaukler  zurücktritt,  die  Rolle  von 
Liebesboten  zwischen  den  duftenden,  im  Hochzeitsgewunde  prangenden 
Blüten  zu  spielen,  wofür  ihnen  als  süfser  Lohn  Honigseim  und  köst- 
licher Nektar  zufliefst,  welchen  sie  wie  Schlemmer  und  Feinschmecker 
behaglich  schlürfen.  Die  Schmetterlinge  sind  also  thatsächlich  nur 
zur  Wonne  —  und  zum  Trinken  geboren.  Um  so  merkwürdiger  sind 
daher  die  Beobachtungen  einer  ganzen  Reihe  sorgfältiger  Forscher, 
welche  berichten,  dafs  manche  dieser  Feinschmecker  zeitweise  ihrer 
süfsen  Gewohnheit  entsagen  und  einen  unsäglichen  Durst  entwickeln, 
welchen  sie  höchst  prosaisch  durch  den  Genufs  unglaublicher  Mengen 
—  sage  und  schreibe  —  reinen  Wassers  zu  löschen  suchen,  eine 
Thatsache,  welche  neuerdings  von  J.  W.  Tutt  zum  Gegenstand  einer 
wissenschaftlichen  Arbeit  gemacht  worden  ist. 

Es  ist  schon  lange  bekannt,  dafs  man  hin  und  wieder,  besonders 
wenn  nach  heftigen  Regenschauern  der  Sonnenschein  wieder  erglänzt, 
an  Regenpfützen  oder  Wasserrändern  scharenweise  gewisse  Schmetter- 
linge antrifft,  die  dort  stundenlang  Wasser  trinken,  welches  sie  geradezu 
durch  ihren  Leib  laufen  lassen.  Tutt  beobachtete  dieses  Durstlöschen 
bei  Tag-  und  bei  Nachtschmetterlingen.  Unter  anderen  sah  er  einen 
unserer  zierlichsten  blauen  Schmetterlinge,  Lycaena  datnon,  über 
eine  Stunde  unbeweglich  sitzen  und  Trinkbewegungen  ausführen, 
während  weloher  dem  Tiere  beständig  Wasser  aus  dem  Hinterleibe 
wieder  austrat.  Eine  ganz  ähnliche  Beobachtung  machte  Dukinbield 
Jones  an  dem  schönen  Schmetterling  Panthera  apardalaria.  Auch 
dieser  pumpte  durch  seinen  Saugrüssel  unaufhörlich  Wasser  in  seinen 


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427 


Leib  und  liefs  es,  fast  wie  es  von  Münchhausens  hinterleibslosem 
Pferde  erzählt  wird,  hinten  wieder  abfliefsen.  In  einer  halben  Stunde 
schied  der  Schmetterling  50  Tropfen  wieder  aus,  also  nahezu  in  jeder 
Minute  2  derselben.  In  drei  Stunden  war  die  von  dem  durstigen 
Schmetterlinge  aufgesogene  Wassermenge  etwa  200  mal  so  grofe  als 
der  Leib  des  Tieres. 

Ähnliches  beriohtet  R.  Baron  von  dem  auf  Madagaskar  häufig 
anzutreffenden  Tagfalter  Papilio  Orizabus,  der  etwa  10  cm  Flügel- 
spannung besitzt  Baron  sah  eines  Morgens  ein  Exemplar  auf  einer 
Sandbank  ununterbrochen  Wasser  saugen.  Von  Zeit  zu  Zeit  spritzte 
das  Tier  das  Wasser  hinten  wieder  von  sich,  schlierslich  etwa  30  Tropfen 
in  der  Minute.  Als  Baron  seine  Beobachtung  an  dem  ganz  auf  seine 
Thätigkeit  versessenen  Schmetterling  abbrach,  sah  er  in  unmittelbarer 
Nähe,  auf  kaum  einem  Quadratfufe  Fläche  vertheilt,  noch  16  andere 
Tiere  der  gleichen  Art  bei  derselben  absonderlichen  Trinkarbeit. 

Übrigens  ist  es  eine  sonderbare  Erscheinung,  dafe,  wie  Niceville 
und  Bat  es  angegeben  haben  —  und  Tutt  bestätigt  dies  — ,  die  innere 
Spülung  fast  ausschliefslich  von  männlichen  Schmetterlingen  vor- 
genommen wird.  Ob  die  weiblichen  Tiere  solcher  Irrigation  nicht  be- 
dürfen? Die  Frage  ist  offen,  ebenso  wie  die  nach  dem  Zweck  und  der  Ur- 
sache des  ungezähmten  Durstlöschens  seitens  der  Männchen.     C.  M. 

$ 

Ein  Mammutfund  in  Klondyke. 

Das  Mammut  darf  wohl  als  der  interessanteste  tierische  Fossil- 
rest aus  der  Diluvialperiode  bezeichnet  werden,  nicht  nur  wegen  der 
gewaltigen  Gröfse  des  Tieres,  welche  diejenige  des  indischen  Elefanten 
erheblich  übertrifft,  auoh  nicht  wegen  der  mächtigen,  bis  7  m  langen 
und  bis  80  kg  schweren  Stofszähne,  die  jener  Vorläufer  der  jetzt 
lebenden  Kiesendickhäuter  im  Oberkiefer  trug,  sondern  weil  es 
wiederholt  geglückt  ist,  wohl  erhaltene,  fast  unversehrte  Exemplare 
im  ewigen  Eise  der  arktischen  Polargebieto  eingebettet  anzutreffen. 
Der  älteste  Fund  dieser  Art  soll  in  das  Jahr  1700  gefallen  sein,  doch 
sind  uns  Einzelheiten  darüber  nicht  überliefert.  Viel  bekannter  sind 
die  Einzelheiten  des  fast  100  Jahre  später  geglückten  sibirischen 
Fundes.  Im  Jahre  1799  entdeckte  nämlich  oin  Tunguse  ein  solches 
Ungeheuer  im  Eis  der  Lena-Mündung  eingewachsen.  Das  Fleisch  des 
Tieres  war  bekanntlich  noch  so  wohl  erhalten,  dals  es  von  den  Tun- 
gusenhunden  mit  Wohlbehagen  vorzehrt  wurde.  Der  Gelehrte  Adams 
war  dann  später  so  glücklich,  den  stark  zerstörten  Kadaver  des  Tieres 
im  Jahre  1806  an  seiner  Fundstätte  untersuohen  zu  können.   Es  fanden 


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428 


sioh  noch  ein  Auge,  ein  Ohr,  Haut  und  Knochen  mit  ihren  Sehnen  vor. 
Die  Haut  war  mit  steifen,  Bohwarzen  Grannen-  und  weichen  rötliohen 
Wollhaaren  bekleidet.  Am  Halse  bildeten  die  Haare  eine  lange  Mähne. 
Der  Kopf  des  über  3  m  hohen  Tieres  wog  ohne  Stofszähne  etwa  200  kg. 
Das  Skelett  wurde  in  das  Petersburger  Museum  übergeführt. 

Seit  jenem  Funde  sind  wiederholt  Mammutreste  in  Nordsibirien 
und  im  Polargebiet  Amerikas,  besonders  im  Gebiet  der  Escholtz- 
Bai  und  auf  manchen  Inseln  des  nördlichen  Eismeeres  angetroffen 
worden.  Jetzt,  genau  100  Jahre  nach  dem  wichtigen  sibirisohen  Funde, 
kommt  die  interessante  Nachricht  eines  ähnlichen  Ereignisses  aus  dem 
Klondyke-Gebiet  zu  uns,  und  wenn  die  vom  San  Francisco  Chronicle 
am  16.  März  d.  J.  gebrachte  Nachrioht  sich  in  allen  Punkten  bewahr- 
heitet, so  ist  die  neue  Entdeckung  eines  Mammutkadavers  von  höchstem 
wissenschaftlichen  Werte. 

Nach  den  über  Vancouver  am  8.  Februar  eingegangenen  Nach- 
richten aus  Dawson  ist  am  Dominion  Creek  im  Klondyke-Gebiete  ein 
30  Tonnen  schweres  Mammut  mit  noch  efsbarem,  süfslich  schmecken- 
dem Fleische  von  einem  Schweden  Namens  August  Trulson  und 
seinem  Grubenteilhaber  aufgefunden  worden.  Sie  stiefsen  auf  die 
Mumie  in  einer  Tiefe  von  etwa  40  Fufs.  Das  Riesentier  dürfte  bei 
einem  Glotscherrutsch  umgekommen  und  vor  mehr  als  25  000  Jahren 
in  sein  Grab  geraten  sein,  um  nun  den  neugierigen  Blicken  der 
Modernen  von  Klondyke  als  Schaustück  zu  dienen.  Das  Tier  soll  voll- 
kommen erhalten  sein,  ist  aber  leider  noch  von  keiner  wissenschaftlich 
zuverlässigen  Person  untersucht  worden.  Nach  den  Angaben  der 
Dawson-Zeitung  raafs  es  44  Fufs  6  Zoll  Höhe,  sein  rechter  Stoßzahn 
war  abgebrochen,  der  linke  unversehrt  Er  mifst  14  Fufs  3  Zoll  Länge 
und  hat  einen  Umfang  von  38  Zoll.  Die  Haut  ist  mit  15  Zoll  langem, 
wolligem,  grauschwarzem  Haar  bedeckt.  Das  näherungsweise  gewogene 
Hinterviertel  des  Tieres  wiegt  etwa  4320  kg.  Der  Hals  ist  kurz,  die 
Beine  sind  lang  und  kräftig,  die  Füfse  kurz  und  breit  und  fünfzehig. 

Es  wäre  sohr  bedauerlich,  wenn  der  Fund  keinem  Gelehrten 
Gelegenheit  zu  sorgfältigen  Aufnahmen  bieten  sollte.  C.  M. 

ff 

Ingeniöse  Verwendung  verflüssigter  Gase.  Sobald  eine  neue 
Erfindung  auf  irgend  einem  Gebiete  gemacht  ist,  sehen  wir  ihr  in 
unseren  Tagen  in  der  Regel  die  technischen  Nutzanwendungen  un- 
mittelbar auf  dem  Fufse  folgen.  So  dürfte  vielleicht  manoher  gemeint 
haben,  dafs  die  vor  kurzem  dem  bekannten  Physiker  De  war  gelungene 
Darstellung  flüssigen  Wasserstoffs  zwar  ein  Triumph  des  alle  Sohwierig- 


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429 


keiten  Uberwindenden  wissenschaftlichen  Scharfsinns,  aber  doch  wohl 
ein  Erfolg  sei,  der  für  die  Praxis  weiter  keine  Bedeutung  erlangen 
könnte.  Wie  falsch  eine  solohe,  etwas  voreilige  Sohlursweise  in  unserer 
Zeit  ist,  hat  De  war  selbst  durch  eine  wegen  ihrer  Einfaohheit  frap- 
pierende, höchst  nützliche  Verwendung  des  flüssigen  Wasserstoffs  gezeigt 
Da  Wasserstoff  unter  allen  Oasen  —  von  Helium  abgesehen  —  der  Ver- 
flüssigung die  meisten  Schwierigkeiten  bereitet,  so  gestattet  er  anderer- 
seits auch,  noch  bedeutend  höhere  Kältegrade  zu  erzielen,  als  mit  Hilfe 
flüssiger  Luft  möglich  ist.  So  wie  daher  Chlor  in  kochender  Luft- 
flüssigkeit zu  einem  festen  Körper  erstarrt,  läfst  sich  auch  Luft  in 
kochendem,  flüssigem  Wasserstoff  ohne  Druck  zur  Erstarrung  bringen. 
Dewar  kam  darum  auf  don  Gedanken,  die  jetzt  zum  Zwecke  der 
Röntgen- Versuche  so  viel  begehrten,  aber  bisher  nur  auf  mühsamem 
und  zeitraubendem  Wege  herstellbaren  Vakuum-Röhren  ganz  einfaoh 
durch  partielles  Eintauchen  einer  zugeschmolzenen,  noch  mit  Luft 
erfüllten  Röhre  in  flüssigen  Wasserstoff  zu  evakuieren.  Der  Versuch 
gelang  glänzend.  Nach  wenig  mehr  als  einer  einzigen  Minute  hatte 
sich  alle  Luft  in  gefrorenem  Zustande  im  eingetauchten  Ende  der  Röhre 
angesammelt  und,  nachdem  der  obere  Teil  nun  schnell  abgeschmolzen 
worden,  war  das  Vakuum  des  abgeschmolzenen  Teils  ein  so  voll- 
kommenes, dafs  der  elektrische  Funken  nur  bei  Erwärmung  der  Röhre 
hindurchzusohlagen  vermochte,  der  Druok  mufste  demnach  auf  weniger 
als  eine  Milliontel-Atmosphäre  gesunken  sein.  —  Es  steht  zu  er- 
warten, dafs  eine  auf  dieses  Verfahren  gegründete,  fabrikmäßige  Her- 
Stellung  von  Röntgen -Rühren  diese  bislang  bekanntlich  noch  recht 
kostbaren  Spender  der  X-Strahlen  wesentlich  billiger  in  den  Handel 
zu  bringen  gestatten  wird.  F.  Kbr. 


Himmelserscheinungen. 


Übersicht  der  Himmelserscheinungen  für  Juni  und  Juli. 

Der  Sternhimmel.  Während  Juni  und  Juli  ist  der  Anblick  des  Himmels 
um  Mitternacht  der  folgondo:  Zur  Kulmination  gelangen  die  Sternbilder  des 
Herkules,  Ophiuchus,  Schützen,  der  Schlanze  und  Leyer,  später  der  Adler, 
Gans  und  Fuchs;  im  Aufgange  sind  Wassermann,  kleines  Pferd,  Pegasus,  im 
Juli  die  Fische,  in  der  Morgendämmerung  Walfisch  und  Stier  ;  im  Untergehen 
befinden  sich  der  grofse  Löwe  und  Jungfrau.  Regulus  verschwindet  vor 
Mittemacht,  im  Juli  vor  11  h  abends,  Spica  (Jungfrau)  geht  jetzt  schon  nach 
Mitternacht,  im  Juli  vor  1 1  h  unter,  später  folgt  Bootes  (Arctur  gegen  5  h  rosp. 
V,3h  morgens).  Skorpion  und  Adler  sind  bereits  abends  sichtbar,  Antares 
(a  Scorpii)  geht  vor  8h  auf.  Der  Stier  (Aldebaran)  ist  erst  um  4h  morgens, 
später  gegen  2  h  zu  sehen.  Folgende  Slerne  kulminieren  für  Borlin  um  die 
Mitternachtstunde: 


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1 


430 


1.  Juni 

t;  Herculis 

(3.  Gr.) 

(AR  16h  39m, 

w      i     ort  ■ 

D.  -f  39 

7 

8.  . 

a  Herculis 

(3.  Gr.) 

17 

10 

+  14 

30 

15.  „ 

i  Herculis 

(3.  Gr.) 

17 

37 

■      *  ,--1 

+  4fi 

3 

22.  « 

72  Ophiuchi 

(3.  Gr.) 

18 

3 

33 

29.  „ 

a  Lyrae 

(I.  Gr.) 

18 

33 

+  38 

41 

1.  Juli 

c  Lyrae 

(4.  Gr.) 

18 

41 

4-39 

34 

8.  . 

-  Sagittarii 

(3.  Gr.) 

19 

4 

-21 

11 

15.  . 

»  Cygni 

(4.  Gr.) 

19 

34 

+  49 

59 

22.  . 

ö  Aquilae 

(3.  Gr.) 

20 

6 

—  1 

7 

29.  » 

r  Delphini 

(4.  Gr.) 

20 

28 

-f-  10 

58 

Helle  veränderliche  Sterne,  welche  vermöge  ihrer  günstigen  Stellung  vor 
und  nach  Mitternacht  beobachtet  werden  können,  sind  aufeer  den  bekannten 
U  Coronae  und  5  Librae  vom  Algoltypus  folgende: 

S  Virginia  (Max.  7.  Gr.)  (AR  13  ti  28m  D.  —  6°  40')  26.  Juni 
R  Bootis        (  „     7.  .  )  14    33        +  27   11     6.  Juni 

Y  Ophiuchi   (  „  6.-7.  „  )  17    47        —  6    7    kurze  Periode 
X  Delphini    (  ,     S.  „  )          20    50        +  17   14  Juli 

R  Vulpeculae(  „     8.  „  )         21     0        -f  23  25     1.  Juli 

V  Cassiopejae(  „     8.  „  )         23     7        +59    8    21.  Juli 
Aufserdem  die  Storno  vom  Algoltypus  U  Ophiuchi  (AR  17 11  ™,  D  +  1°  19', 
Helligkeit  6.— 6,7. Gr.)  und  Y Cygni  (AR  20*»  48«,  D  -f  34°  17',  Helligkeit  7.-8.Gr.) 
Gut  zu  sehen  sind  von  gröfseren  Nobelflecken  der  Ringnebel  in  der  Loyer,  der 
Omeganebel  im  Schütze.),  der  Dumbbell-Nebel  im  Fuchs. 

Die  Planeten.  Merkur  ist  Anfang  Juni  in  der  Morgendämmerung  sicht- 
bar, kommt  am  13.  Juni  in  die  Sonnennähe  und  wird  im  Juli,  wo  er  am  27.  in 
seine  Sonnenferne  gelangt,  nach  Sonnenuntergang  einige  Zeit  bemerkbar.  — 
Venus  ist  Morgenstern  und  läuft  mit  schneller  Bewegung  vom  Widder  durch 
den  Stier  bis  in  die  Zwillinge;  am  6.  Juli  geht  sie  etwa  '/«  Grad  nördlich  vom 
Neptun  vorOber.  Ende  Juli  ist  sie  auch  am  Abendhimmel  sichtbar.  —  Mars 
geht  am  Tage  auf  und  im  Juni  um  Mitternacht  unter,  Anfang  Juli  vor  1 1  b 
abends,  Ende  Juli  vor  10*>.  Er  läuft  aus  der  Nähe  von  Regulus  durch  das 
Sternbild  des  grofsen  Löwen  südöstlich.  —  Jupiter  wird  kürzere  Zeit  sicht- 
bar, Anfang  Juni  noch  bis  2  h  morgens,  im  Juli  bis  vor  Mitternacht,  Ende  Juli 
bis  nach  10  i>  abends.  Er  bewegt  sich  im  Sternbild  der  Jungfrau  ostwärts  von 
Spica  hin.  —  Saturn  kommt  am  11.  Juni  in  Opposition  mit  der  Sonne,  geht 
am  Tage  auf  und  bleibt  Anfang  Juli  bis  nach  2  t»  morgens  sichtbar,  Ende  Juli 
biß  nach  Mitternacht  Er  befindet  sich  im  südlichen  Teil  des  Ophiuchus  und 
bewegt  sich  westwärts.  —  Uranus  steht  nördlich  von  o  Scorpii  und  ist  An- 
fangs Juni  noch  bis  3 1>  morgens  sichtbar,  Ende  Juli  nur  mehr  bis  */»  12  h 
abends.  —  Neptun  in  der  Nähe  von  J  Tauri  (3.  Gr.)  ist  abends  nur  noch 
kurzo  Zeit  verfolgbar  und  wird  bald  besser  am  Morgenhimmel,  Ende  Juli  um 
1  h  morgens,  sichtbar. 

Sternbedecknngen  dnreh  den  Mond  (für  Berlin  sichtbar): 

Eintritt  Austritt 
25.  Juni    f  Sagittarii     5.  Gr.  2*>  24  m  morgens  3h  25  m  morgens 

28.  n      x  Aquarii        5.  „     2     b         „        3  14 

29.  „      x  Tiscium       5.  ,     0    19         „        1  14 
Mond.  Berliner  Zeit. 

Neumond  am   8.  Juni  —  — 

Erstes  Viert  ,16.    »  Aufgang  0»>  16  m  mittags,  Unterg.  11  •»  47  m  abends 

Vollmond  •   23.  „       8    31     abends,       n        4    24  morg. 

Letztes  Viert  .    30.    „  1 1    23        »  „  mittags 


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431 


Neumond  am    7.  Juli  —  — 

Erstes  Viert.  .    16.    ,  Aufging  1  h  36  m  nachm.,  Unterg.  10  h  49»  abends 

Vollmond  „    22.    „  „       7    41     abends,       „       4    46  morg. 

Letzte«  Viert  „    29.    „  10    17        .  ,1    16  nachm. 

Erdnähen:  25.  Juni,  23.  Juli;  Erdfernen:  13.  Juni,  10.  Juli. 

Sonnenfinsternis  am  8.  Juni  morgens.  Dieselbe  ist  partiell  und  hauptsächlich 
in  Nordeuropa,  Nordasien  und  dem  nördlichen  Polargebieto  sichtbar.  Für 
Berlin  erfolgt  der 

Eintritt  5  h  42  m  morgens 
Austritt  6  40 

Die  Oröfse  der  Verfinsterung  beträgt  nur  1,4  Zoll;  in  nördlicherer  Gegend 
wird  die  Phase  etwas  bedeutender  sein. 

Mondfinsternis  am  23  Juni.  Die  Verfinsterung  ist  total,  aber  in  Deutschland 
nicht  sichtbar.  Das  Sichtbarkeitsgebiet  der  Finsternis  fällthauptsächlich  zwischen 
Australien  und  Afrika,  in  den  indischen  Ocean. 


Steruzeit  f.  den      _  .    ,  ,  ,  Sonnenaufg  Sonnenunterg. 

milt.  Berl.  Mittag    Zeitgleichung  f.  Berlin 


1.  Juni 

4  h 

33  m 

51.8« 

  2  tn 

25.9  ■ 

3h 

47  m 

8h 

10  m 

8.  - 

5 

6 

27.7 

—  1 

13.8 

3 

41 

8 

17 

15.  . 

5 

34 

36 

+  o 

11.5 

3 

39 

8 

22 

22.  . 

6 

1 

39.5 

+  1 

41.7 

3 

39 

8 

24 

29.  „ 

6 

29 

15.4 

+  3 

9.4 

3 

42 

8 

24 

1.  Juli 

6 

37 

8.5 

+  3 

33.1 

3 

43 

8 

24 

8.  „ 

7 

4 

44.4 

+  4 

47.5 

3 

49 

8 

20 

15.  „ 

7 

32 

20.3 

+  5 

42.7 

3 

57 

8 

14 

22.  „ 

7 

59 

56.2 

4-  6 

12.7 

4 

6 

8 

5 

29.  „ 

8 

27 

32.1 

+  6 

14.9 

4 

16 

7 

55 

Brackner,  Ed.:  Die  feste  Erdrinde  und  ihre  Formen.  Ein  Abrifs  der  all- 
gemeinen Geologie  und  Morphologie  der  Erdoberfläche.  Wien  und 
Leipzig,  F.  Tempsky,  1897.  XII  u.  368  S.  mit  182  Abbildungen  im  Text. 

Elf  Jahre  sind  seit  dem  Erscheinen  der  vierten  Auflage  der  Allgemeinen 
Erdkunde  von  Hann,  Hochstetter  und  Pokorny  verstrichen,  deren  zweite 
Abteilung  das  vorliegende  Werk  bildet,  elf  Jahre  wissenschaftlichen  Fort- 
schrittes. Nicht  gering  zu  achten  war  daher  die  Aufgabe,  das  Werk  des  hoch- 
verdienten Geologen  F.  v.  Hochstetter  möglichst  im  Sinne  seines  verstorbenen 
ersten  Verfassers  dem  vervollkommneten  Standpuukte  der  geologischen  Wissen- 
schaft und  gleichzeitig  in  erhöhtem  Marse  den  Bedürfnissen  des  Geographen 
anzupassen,  und  nicht  leicht  hätte  sich  zur  Lösung  dieser  Aufgabe  ein  ge- 


432 


eigneterer  Bearbeiter  finden  lassen  als  der  Geograph  Ed.  Brückner.  In- 
zwischen war  auch,  zur  weiteren  Erschwerung  der  Aufgabe,  die  Neubearbeitung 
von  Neumayrs  „Erdgeschichte"  und  Pencks  umfassende  „Morphologie  der 
Erdoberfläche"  erschionen,  und  es  galt  nun,  dem  im  Werden  begriffenen  Werke 
neben  diesen  beiden  eine  unabhängige  und  zugleich  vermittelnde  Stellung  zu 
sichern.  So  trat  an  die  Stelle  der  anfangs  geplanten  Neubearbeitung  ein  in 
Anlage  und  Ausführung  völlig  neues  Werk,  das  mit  dem  früheren  nicht  einmal 
den  Namen  gemeinsam  hat. 

Dem  Zweck  des  Werkes  entsprechend,  in  erster  Linie  ein  Handbuch  für 
den  Geographen  zu  sein,  wird  zunächst  die  Erdrinde  nach  ihrer  Zusammen- 
setzung, dem  Gesteinsmaterial,  der  Lagerung  und  der  Geschichte  der  Gesteine, 
ganz  kurz  behandelt,  so  kurz,  dafs  sich  die  Frage  aufdrängt,  ob  es  nicht  viel- 
leicht zweckmäßiger  gewesen  wäre,  diesen  geologischen  Abschnitt  aus  dem 
Lebrbuche  der  Morphologie  ganz  auszuscheiden  und  in  einem  besonderen  Teile 
der  Allgemeinen  Erdkunde  seiner  Bedeutung  entsprechend  zu  behandeln.  Die 
üborgrof8e  Kürze,  das  Streben,  den  Umfang  des  Werkes  nicht  zu  vergrößern 
und  daher  möglichst  viel  auf  engstem  Raum  zusammenzudrängen,  macht  sich 
überhaupt  mehrfach  störend  bemerkbar  und  hat  wohl  auch  die  bedauerliche 
Vermeidung  aller  Litteraturnachwoise  veranlaßt.  Recht  schmerzlich  empfindet 
man  auch  oft  des  Verfassers  Sparsamkeit  mit  dem  Räume,  wenn  er  bei  noch 
nicht  ganz  aufgeklärten  Verhältnissen  dem  Leser  die  Freiheit  des  eigenen  Urteils 
wahren  will  und  deshalb  mehrere,  aber  oft  leider  nicht  genügend,  verschiedene 
Anschauungen  nebeneinander  darstellt.  Doch  kann  dieser  Mangel  neben  den 
vielen  Vorzügen  des  Werkes  seinen  Wert  und  seine  hohe  Bedeutung  nicht 
verringern. 

Recht  ausführlich  und  anschaulich  werden  in  dem  zweiten,  größten  Ab- 
schnitte  des  Werkes  die  Vorgänge  geschildert,  welche  an  der  Ausgestaltung 
der  Erdoberfläche  arbeiten,  die  Wirkungen  also,  die  die  Erdoberfläche  zuerst 
als  Modellblock  schufen  und  ihn  dann  zu  dem  heutigen  Bilde  umgestalteten. 
Der  Leser  gewinnt  einen  Einblick  in  die  Anschauungen  Über  die  Temperatur- 
verhältnisso  der  Erdrindo  und  den  Zustand  des  Erdinnern;  er  lernt  die  Magma- 
bewegungen oder  den  Vulkanismus,  die  Erdbeben,  die  Strandverschiebungen 
und  endlich  die  älteren  Krustenbewegungen  der  Erdrinde,  die  Gebirgsbildung 
im  weiteren  Sinne,  kennen.  Ubersichtlich  schildert  der  Verfasser  sodann  die 
auf  äußere  Kräfte  zurückzuführende  Ausgestaltung  des  Erdantlitzes,  die  Grund- 
wasser- und  Quollonvorhältnisso,  die  Veränderung  der  Erdrindo  durch  Ver- 
witterung, Abstürze  und  Anspülung  und  endlich  die  Einwirkungen  des  Windes, 
des  fließenden  Wassers,  des  Eises  und  des  Meeres  in  ihrer  Bedeutung  für  die 
Abtragung  und  Neubildung  des  feston  Erdbodens. 

Den  dritten  Abschnitt  endlich  bildet  die  eingehende  Schilderung  der 
verschiedenen  Formen  der  Erdrinde  nach  ihren  Eigenschaften  und  der  Ent- 
stehung. Die  Meeresküsten,  der  Meeresboden,  dio  Inseln  und  die  verschiedenen 
Landschaftsformon  des  Festlandes,  die  Ebenen,  Berge  und  Thäler,  entstehen 
hier  in  typischen  Beispielen  vor  dem  Leser,  vielßch  durch  gute,  toilweße  ganz 
neue  Abbildungen  veranschaulicht,  die  ihn,  und  das  ist  auch  wohl  die  Absicht 
des  Verfassers,  häufig  durch  Nichtbefriedigung  seines  Wunsches  nach  weiteren 
Beispielen  zu  eigenem  Nachdenken,  zu  morphologischem  Anschauen  der  Natur 
veranlassen.  G.  M. 


Verlag:  Hermann  Paetel  In  Berlin.  —  Druck:  Wilhelm  Gronaus  Bachdrackerei  ia  Barlin -gch6neberg. 
Fftr  die  Kedaction  verantwortlich:  Dr.  P.  Schwann  in  Berlin. 
UnberecbUcter  Nachdruck  ans  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  nnteraaift. 
Übeneixnngerecht  Torbebalten. 


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9 

1  X 

3  i 
D 

V-  A 

1  s 

3  ff 
■ 


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Das  Glühen  der  festen  Körper. 

Von  Prof.  Dr.  Soheiner  in  Potsdam. 

fs  ist  eine  leicht  verständliche  Thatsache,  dafs  gerade  die  alltags 
liehen  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Physik  häufig  noch 
am  venigsten  durchforscht  sind.  Gerade  weil  der  Mensch  von 
Kindheit  an  sie  kennt,  kommt  er  nicht  zum  genaueren  Nachdenken 
über  dieselben,  sondern  begnügt  sich  mit  oberflächlicher  Betrachtung. 
Um  nur  an  ein  klassisches  Beispiel  zu  erinnern,  sei  des  Gravitations- 
gesetzes gedacht.  Wie  lange  ist  die  Menschheit  gedankenlos  über  den 
Fall  der  Körper  hinweggegangen,  ehe  sie  zur  Erkenntnis  gelangte, 
dafs  das  Fallen  eines  seiner  Unterlage  beraubten  Körpers  nicht  etwas 
selbstverständliches,  sondern  die  Folge  eines  allgemeinen  Natur- 
gesetzes ist. 

Etwas  ähnliches  läfst  sich  auch  in  betreff  des  Glühens  der  Kör- 
per sagen:  Die  allgemein  bekannte  Thatsache,  dafs  es  einer  gewissen 
hohen  Temperatur  bedarf,  um  einen  Körper  zum  Leuchten  zu  bringen, 
umschhefst  eine  Reihe  erst  seit  verhältnismäfsig  sehr  kurzer  Zi'it  er- 
kannter Phänomene,  deren  Darlegung  im  Folgenden  versucht  wer- 
den soll. 

In  zwei  in  dieser  Zeitschrift  publizierten  Aufsätzen  über  den 
Kirchhoffschen  Satz  und  über  die  Temperatur  der  Sonne  habe  ich 
mehrfach  Gelegenheit  genommen,  die  beim  Glühen  auftretenden  äufse- 
ren  Erscheinungen  und  ihren  Zusammenhang  mit  dem  Emissions-  und 
Absorptionsvermögen  ausführlich  klarzulegen,  so  dafs  dies  hier  als 
bekannt  vorausgesetzt  werden  kann. 

Der  erste  Physiker,  der  sich  überhaupt  mit  den  Lichterscheinungen, 
welche  mit  dem  Glühen  verbunden  sind,  beschäftigt  hat,  warder  Ameri- 
kaner J.  Draper,  der  in  den  vierziger  .Jahren  das  nach  ihm  benannte 

Himmel  und  Erd.-.    im     XI.  10.  28 


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434 


Oesetz  fand,  dafe  alle  Körper  bei  derselben  Temperatur  von  etwa  525° 
zu  leuchten  beginnen.  Bei  dieser  Temperatur  zeigen  die  Körper  zu- 
erst ein  schwaches  rotes  Licht,  welches  bei  steinender  Temperatur  all- 
mählich in  Orange  und  schliefslich  in  Weife  übergeht.  Es  werden 
mit  anderen  Worten  zuerst  die  roten  Strahlen,  also  diejenigen  von 
grofser  Wellenlänge  sichtbar,  allmählich  gesellen  sich  zu  diesen  die 
kürzeren  Wollen  des  Gelb,  Grün,  Blau  und  endlich  des  Violett,  die 
dann  alle  zusammen  den  Eindruck  des  Weife  erzeugen.  Wir  haben 
a.  a.  Orte  gesehen,  dafs  diese  Erscheinungsfolge  im  Einklang  mit 
dem  Kirch hoffschen  Satze  steht,  und  dafs  sich  aus  letzterem  das 
Drapersche  Gesetz  ableiten  läfet. 

Das  einfache  Drapersche  Gesetz  erfährt  nun  einige  Modi- 
fikationen, die  darin  begründet  sind,  dafs  die  von  einem  Körper  aus- 
gehende Strahlung  zwar  etwas  objektiv  und  reell  Bestehendes  ist, 
nicht  aber  die  damit  verbundenen  Li  chterschoinungen,  da  Licht 
nur  ein  subjektiver  Begriff  ist,  eine  durch  die  Strahlung  im  Auge 
und  Gehirn  veranlafste  Reizerscheinung,  die  als  solche  ganz  besonderen 
physiologischen  Gesetzen  unterliegt,  die  ihrerseits  mit  den  Glühvor- 
gängen nichts  zu  thun  haben. 

Um  einen  Körper  sehen  zu  können,  mufe  die  von  ihm  aus- 
gehende Strahlung  zwei  Bedingungen  erfüllen:  1.  Sio  mufe  Strahlen  von 
einer  zwischen  dem  äufeersten  Rot  und  dem  äufsersten  Violett  ge- 
legenen Farbe  enthalton;  die  Wellenlänge  dieser  Strahlen  mufe  also 
innerhalb  des  Gebietes  von  800  bis  400  Millionsteln  eines  Millimeters 
liegen.  2.  Die  Intensität  dieser  die  erste  Bedingung  erfüllenden 
Strahlen  mufe  so  grofs  sein,  dafs  die  „Reizschwelle"  oder  „Empfln- 
dungsschwelle"  des  Auges  überschritten  wird.  Unser  Auge  ist  nicht 
unendlich  fein  empfindlich.  Strahlen  unterhalb  einer  gewissen  Inten- 
sität existieren  für  das  Auge  nicht,  sie  üben  keinen  Reiz  auf  dasselbe 
aus,  sie  liegen  unterhalb  der  Reizschwelle.  Die  Reizschwelle  selbst 
ist  aber  nun  nicht  etwas  fest  Gegebenes,  sie  liegt  für  verschiedene 
Menschen  verschieden  und  verändert  sich  beim  einzelnen  Individuum 
fortwährend  je  nach  der  Stärke  der  Lichtreize,  welche  das  Auge  be- 
reits erhalten  hat.  In  ersterer  Beziehung  braucht  ja  nur  an  die  Far- 
benblinden erinnert  zu  werden,  bei  deren  Augen  die  Empfinduugs- 
schwelle  für  gewisse  Strahlengattungen  aufeerordcntlich  viel  höher 
liegt  als  bei  normalen  Augen,  in  letzterer  nur  an  die  bekannte  That- 
sache,  dafs  jemand,  der  vom  hellen  Sonnenschein  draufeen  in  ein  ver- 
dunkeltes Zimmer  tritt,  zunächst  gar  nichts  sieht,  während  er  nach 
einer  Viertelstunde  alle  Einzelheiten  erkennen,  ja  sogar  vielleicht 


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435 


Druckschrift  lesen  kann.  Infolge  der  slarken  Überreizung-  des  Auges 
im  hellen  Tageslicht  lag  für  ihn  die  Empfindungsschwelle  so  hoch, 
dafs  die  geringe  Strahlung  im  Zimmer  für  sein  Auge  nicht  existierte; 
während  der  gründlichen  Ruhe  des  Auges  im  Zimmer  sank  sie  immer 
tiefer  hinunter,  so  data  die  Strahlungsintensität  nunmehr  zur  Wahr- 
nehmung ausreichte. 

Aus  dieser  Physiologie  des  Sehens  geht  hervor,  dafs  eine 
experimentelle  Untersuchung  über  das  Drap  ersehe  Gesetz  subjektiv 
beeinflufst  wird.  Soll  z.  B.  der  genaue  Temperaturwert  des  Beginnens 
des  Glühens  festgestellt  werden,  so  werden  verschiedene  Beobachter 
zweifellos  zu,  wenn  auch  nur  wenig,  verschiedenen  Zahlen  gelangen. 
Ein  wirklich  Farbenblinder,  dessen  Augen  für  Rot  sehr  unempfindlich 
sind,  wird  für  die  Glühtemperatur  einen  sehr  viel  höheren  Betrag 
finden  als  ein  Farbentüchtiger.  Es  werden  sich  ferner  Unterschiede 
herausstellen,  je  nachdem  der  Beobachter  in  einem  nur  stark  ver- 
dutikelten  Zimmer  oder  unter  gänzlichem  Lichtabschlufs  arbeitet,  und 
schliefslich  mufs  sich  eine  Abhängigkeit  der  gefundenen  Zahlen  von 
der  Zeit  herausstellen,  welche  der  Beobachter  vor  Beginn  der  Unter- 
suchungen bereits  im  Dunklen  zugebracht  hat,  also  eine  Abhängigkeit 
von  der  Dauer  der  Augenruhe.  Übrigens  sind  es  nicht  blos  Licht- 
reizungen, welche  die  Lage  der  Empfindungsschwelle  beeinflussen;  so 
wirkt  z.  B.  ein  etwas  übermäfsiger  Alkoholgenufs  ähnlich  wie  starkes 
Licht  stark  vermindernd  auf  die  Augenempfindlichkeit. 

Eine  ganz  exakte  Prüfung  des  Hauptteils  des  Draperschen  Ge- 
setzes, dafs  die  Glühtemperatur  für  alle  Körper  dieselbe  ist,  mufs  also 
unter  sonst  gleichen  Umständen  zweifelsohne  zu  einer  Nichtbestätigung 
dieses  Gesetzes  führen,  und  zwar  wegen  des  verschiedenen  Emissions- 
vermögens der  verschiedenen  Körper.  Es  braucht  hier  nur  wieder  an 
das  schon  oft  zitierte  Beispiel  von  den  in  der  gleichen  Flamme  glühen- 
den Teilchen  von  Platin  und  Glas  erinnert  zu  werden.  Die  Emission 
des  durchsichtigen  Glases  ist  so  gering,  dafs  die  Intensität  der  Strah- 
lung bei  der  für  Platin  geltenden  Glühtemperatur  unterhalb  der  Reiz- 
schwelle liegt;  man  würde  den  Beginn  des  Glühens  beim  Glase  erst 
bei  einer  weit  höheren  Temperatur  als  beim  Platin  feststellen  können. 
Das  Emissionsvermögen  der  verschiedenen  Metalle  ist  ebenfalls  nioht 
das  gleiche;  auch  hier  wird  man  also  Unterschiede  finden,  wenn  auoh 
nicht  so  starke,  wio  bei  der  Vorgleichung  zwischen  Metall  und  Glas. 

Es  ergiebt  sich  aus  alledem  die  Notwendigkeit,  das  Drap  er- 
sehe Gesetz  anders  auszudrücken,  so  dafs  es  geläutert  von  subjektiven 
Empfindungen  ersoheint;  es  darf  demnach  das  Wort  „Glühen",  das  eine 

28« 


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43i ; 


Gesichtswahrnehmung  in  sich  schlierst,  gar  nicht  mehr  darin  vor- 
kommen. Es  hätte  dann  in  viel  allgemeinerer  Fassung  zu  lauten:  Alle 
Körper  beginnen  bei  derselben  Temperatur  eine  bestimmte  Strahlungs- 
art auszuseuden. 

Experimentell  wird  sich  dieses  modifizierte  Drapersche  Gesetz 
kaum  auf  seine  Richtigkeit  prüfen  lassen,  denn  man  würde  sich  sehr 
irren,  wenn  man  glaubte,  sich  etwa  durch  die  Benutzung  der  Photo- 
graphie von  den  eben  geschilderten  subjektiven  Einflüssen  frei  machen 
zu  können.  Auch  für  die  photographische  Platte  existiert  im  über- 
tragenen Sinne  eine  Reizschwelle,  so  dafs  die  Abhängigkeit  vom 
Emissionsvermögen  bestehen  bleibt,  und  auch  diese  Reizschwelle  ist 
„subjektiven"  Unterschieden  bei  den  verschiedenen  Plattensorten  unter- 
worfen. 

Dieso  Betrachtungen  sind  den  Physikern  natürlioh  schon  lange 
bekannt  gewesen,  insbesondere  hat  niemals  jemand  daran  gezweifelt, 
dafs  wirklich,  den  Beobachtungen  Drapers  entsprechend,  die  ersten 
Lichterscheinungen  beim  Glühen  im  äuTsersten  Rot  beginnen  und  sich 
dann  allmählich  über  das  ganze  Spektrum  vorbreiten.  Um  so  berech- 
tigter war  das  Erstaunen  des  Physikers  H.  F.  Weber,  der  im  Jahre 
1886  die  Drap  ersehen  Beobachtungen  wiederholte,  als  dieselben  zu 
vollständig  anderen  Resultaten  führten.  Weber  hatte  die  Versuche 
zu  rein  technischen  Zwecken  unternommen;  er  wollte  erforschen,  wel- 
cher Zusammenhang  zwischen  der  Helligkeit  von  elektrischen  Glüh- 
lampen und  dem  Arbeitsvorbrauche  des  benutzten  elektrischen  Stromes 
besteht.  Kr  führte  diese  Versuche  nachts  im  gänzlich  dunklen  Zim- 
mer aus,  also  bei  völlig  ausgeruhtem  Auge,  während  Draper  nicht 
so  sorgfältig  experimentiert  hatte,  weshalb  ihm  auch  die  Webersohen 
Beobachtungen  entgangen  waren.  Weber  fand,  dafs  die  erste  Licht- 
entwickelung gar  nicht  mit  der  Rotglut  beginnt,  sondern  dafs  der 
Kohlenfaden  schon  vorher  ein  eigentümlich  düster-graues  Licht  aus- 
sendet, welches  im  Gegensatze  zum  gewöhnlichen  Leuchten  unstät  und 
flackernd  erscheint  und  deshalb  von  ihm  auch  als  „gespenstergrau" 
bezeichnet  wird.  Weber  läfst  es  unentschieden,  ob  dieses  Unstäte 
durch  etwaige  geringe  Schwankungen  in  der  Temperatur  des  Kohlen- 
fadens entsteht  oder  in  der  Ermüdung  der  Augen  bei  der  mit  der 
Beobachtung  des  grauen  Lichtes  verbundenen  Anstrengung  begrün- 
det ist 

Wurde  durch  Vermehrung  der  Stromzufuhr  die  Temperatur  des 
Fadens  gesteigert,  so  wurde  das  graue  Licht  zunächst  heller,  ohne 
seinen  Charakter  zu  verlieren,  bis  es  allmählich  in  ein  Gelblichgrau 


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437 

überging.  Bei  weiterer  Erhöhung  der  Temperatur  zeigte  sich  dann 
plötzlich  der  erste  Schimmer  eines  ungemein  lichten  Feuerrot,  und  in 
demselben  Moment  verschwand  alles  Unstäte  des  Leuchtens.  Das 
Feuerrot  ging  dann  weiter  in  Hellrot  u.  s.  w.  bis  zum  Weite  über,  ent- 
sprechend den  bisher  bekannten  Thatsachen. 

Die  spektroskopische  Untersuchung  dos  grauen  Lichtes  lehrte, 
dafs  dasselbe  einen  grau  erscheinenden  Streifen  im  gelbgrünon  Teile 
des  Spektrums  lieferte,  der  bei  steigender  Temperatur  unter  Beibo- 
haltung  der  grauen  bis  gelbgrauen  Färbung  sich  nach  beiden  Seiten 
des  Spektrums  ausbreitete.  Im  Momente,  wo  dem  blofsen  Auge  der 
erste  hellrote  Schimmer  erschien,  trat  im  Spektroskope  neben  dem 
grauen  Streifen  ein  heller  Streifen  im  Rot  auf;  auf  der  anderen  Seite 
entwickelten  sich  gleichzeitig  die  blauen  und  später  auch  die  violetten 
Strahlen. 

Weber  schlofs  nun  aus  diesen  interessanten  Beobachtungen,  dafs 
das  Drapersche  Gesetz  in  Bezug  auf  die  Farben  selbst  uurichtig  sei, 
und  dafs  an  Stelle  desselben  der  folgende  Satz  zu  setzen  sei: 

Das  Spektrum  entwickelt  sich  bei  steigender  Temperatur  nicht 
einseitig  in  der  Richtung  von  Rot  nach  Violett,  sondern  von  einem  in 
der  Mitte  gelegenen  schmalen  Streifen  aus  gleichmäfsig  nach  beiden 
Seiten.  Weber  schliefst  weiter  hieraus,  dafs  die  in  der  Mitte  gelegene 
Strahlungsgattung  deswegen  dem  Auge  am  frühesten  sichtbar  werde, 
weil  sie  einem  Maximum  der  Energie  entspreche  und  daher  zuerst 
den  Schwellenwert  übersteige.  Der  Webersche  Satz  entspricht  dem 
Augenscheine  der  Beobachtung,  er  ist  also  unbedingt  richtig,  wenn 
man  ihn  nur  im  physiologischen  Sinne  auffafst  und  ihn  etwa  mit  den 
Worten  einleitet:  .,Das  Auge  sieht  die  Entwickelung  des  Spektrums  in 
folgender  Art",  und  nun  käme  der  Webersche  Satz.  Weber  selbst 
ist  aber  weiter  gegangen,  er  hat  ihn  physikalisch  aufgefafst,  wie  aus 
der  Bemerkung  über  das  Intensiiatsmaximum  der  Strahlung  hervor- 
geht. Unmittelbar  nach  dem  Erscheinen  der  interessanten  Weber- 
schen  Beobachtungen  sind  dieselben  von  Stenger  in  vollem  Mafse 
bestätigt  worden;  gleichzeitig  wies  lotzterer  aber  auch  das  Fehlerhafte 
der  physikalischen  Auffassung  derselben  nach.  Das  Energiemaximura 
der  Strahlung  liegt  nicht  im  Grün,  sondern  im  Ultrarot;  wenn  das 
Auge  aber  zuerst  das  Grün  empfindet,  so  kann  das  nicht  mit  der  In- 
tensität der  Strahlung  zusammenhangen,  sondern  nur  mit  einer  Eigen- 
tümlichkeit des  Auges,  und  die  Ursache  der  seltsamen  Erscheinung 
der  Grauglut  kann  nur  auf  dem  Gebiete  der  physiologischen  Optik 
gesucht  werden. 


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438 

In  der  That  ist  nun  schon  lange  eine  Eigentümlichkeit  des  Auges 
unter  dem  Namen  des  Purk  inj  «-sehen  Phänomens  bekannt,  die  un- 
mittelbar zur  Deutung  der  Weberseben  Beobachtungen  herangezogen 
werden  kann.  In  einem  lichtstarken  Spektrum  erscheint  das  Maximum 
der  Helligkeit  im  Gelb,  etwa  in  der  Nähe  der  Natriumlinien;  bei  ab- 
nehmender Helligkeit  verschiebt  sich  dieses  Maximum  immer  mehr 
nach  dem  brechbareren  Teile  des  Spektrums  hin,  bis  es  schließlich 
beim  Verschwinden  im  grünblauen  Teile,  etwa  in  der  Gegend  der 
Wasserstofflinie  F  liegt,  also  genau  da,  wo  der  Sitz  der  Grauglut  ist 
Die  Folgen  des  Pu rkinj eschen  Phänomens  lassen  sich  mit  Hülfe 
eines  Spektralphotometers  sehr  leicht  zeigen.  Blendet  man  aus  den 
kontinuierlichen  Spektren  eines  solchen  Apparates  einen  roten  und  einen 
grünblauen  Streifen  heraus  und  macht  beide  für  das  Auge  des  Beob- 
achters gleich  hell,  so  erscheint  beim  Herabsetzen  der  Intensität  die 
grüne  Linie  sofort  viel  heller  als  die  rote,  und  wenn  letztere  schon 
ganz  verschwunden  ist,  leuchtet  erstere  noch  kräftig.  Um  beide  Linien 
gleichzeitig  zum  Verschwinden  zu  bringen,  mufs  man  die  Intensität 
des  roten  Streifens  um  das  10-  bis  30 lache,  unter  Umständen  um  das 
100 fache  steigern.  Hiernach  ist  ohne  weiteres  klar,  dals,  auch  wenn 
dem  Drap  ersehen  Satze  entsprechend,  in  Wirklichkeit  hei  zunehmen- 
der Temperatur  der  Beginn  der  Strahlung  von  Rot  aus  ansetzt,  doch 
das  Grün  zuerst  sichtbar  wird,  weil  eben  bei  schwachem  Lichte  die 
Reizschwelle  des  Auges  für  Grün  viel  tiefer  liegt  als  für  Rot.  Damit 
ist  aber  noch  nicht  erklärt,  weshalb  das  erste  siohtbare  Grün  den  Ein- 
druck des  Grau  macht,  und  weshalb  dieses  Grau  so  eigentümlich  unstät 
ist,  so  gespensterähnlich  erschoint. 

Auch  hierfür  ist  seit  kurzem  eine  sehr  plausible  Erklärung  ge- 
funden worden,  und  zwar  von  dem  Berliner  Physiker  Lu miner,  der 
sich  seinerseits  auf  eine  wesentlich  von  v.  Kries  aufgestellte  Theorie  de» 
Sehens  stützt.  Die  Übergangsstelle  zwischen  den  Schwingungen  des 
Äthers  bei  der  Strahlung  und  der  Lichtemphndung  befindet  sich  be- 
kanntlich in  der  Retina  des  Auges,  in  welcher  die  Fasern  des  Seh- 
nervs enden.  Als  letzte  Elemente  der  Nervenfasern  in  dieser  äufserst 
kompliziert  gebauten  Schicht  sind  die  „Stäbchen-  und  „Zapfen-  zu 
bezeichnen,  innerhalb  welcher  die  Reizung  der  Nervensubstanz  durch 
die  Ätherbewegung  stattfinden  mufs.  Das  Auge  kann  aber  nicht  blofs 
zwischen  hell  und  dunkel  unterscheiden,  sondern  es  empfindet  auch 
die  Unterschiede  in  der  Länge  der  Wellen  der  Strahlung  und  em- 
pfindet dieselben  spezifisch  als  Farbenunterschiede.  Bei  der  Farben- 
empfindung scheint  nun  der  sogenannte  Sehpurpur,  eine  im  Zustande 


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4M 


der  Augenruhe  n>t  gefärbte  Flüssigkeit  in  den  Nervenelementen,  eine 
wichtige  Rolle  zu  spielen.  Bei  längerer  Lichtreizung  des  Auges  zer- 
setzt sich  der  Sehpurpur  in  Sehgelb,  welches  eine  gänzlich  andere- 
Absorption  erzeugt  als  ersterer.  Es  ist  in  diesem  Gebiete  noch  manches 
dunkel,  doch  kann  man  wohl  mit  grofser  Sicherheit  behaupten,  date 
der  Sehpurpur  zur  Farbenempfindung  notwendig  ist,  dafs  also  Nelz- 
hautelemente,  welche  diesen  Farbstoff  nicht  enthalten,  auch  nicht  ge- 
eignet sind,  Farben  oder  wenigstens  nicht  alle  Farben  zu  empfinden. 
Nun  ist  der  Sehpurpur  nur  in  den  Zapfen  enthalten,  nicht  aber  in  den 
Stäbchen;  v.  Kries  nimmt  daher  an,  dafs  erstere  den  Farbenapparat 
des  Auges  darstellen,  letztere  aber  nur  die  verschiedenen  Stufen  der 
Helligkeit  von  Weifs  durch  Grau  hindurch  bis  Schwarz  empfinden, 
sobald  nämlich  die  Spektralfarben  in  richtiger  Weise  vereinigt  sind. 
Die  v.  Kries  sehe  Theorie  besagt  nun,  dafs  die  beiden  verschiedenen 
Sehapparate  im  Auge,  der  farbenempfindliche  und  der  farbenblinde, 
mit  einander  in  einen  gewissen  Wettstreit  treten,  und  zwar  in  der  Art, 
dafs  bei  guter  Helligkeit  der  erstere  stets  überwiegt,  dafs  aber  bei 
sehr  schwachem  Lichte  der  letztere  noch  zu  empfinden  vermag,  während 
für  den  Farbenapparat  die  Reizschwelle  schon  höher  liegt,  er  also 
blind  ist.  Daraus  würde  folgen,  dafs  die  schwächsten  Lichteindrücke 
stets  farblos,  also  grau  erscheinen  müssen.  Wie  man  sieht,  ist  hiermit 
schon  der  Übergang  zu  den  Weberschen  Beobachtungen  gegeben: 
nach  dem  Vorgange  Lummers  kann  man  aber  auch  noch  einen  Schritt 
weitergehen. 

Stäbchen  und  Zapfen  sind  gleichzeitig  in  der  ganzen  Netzhaut 
enthalten  mit  Ausnahme  einer  einzigen  kleinen  Stelle,  der  sogenannten 
Sehgrube,  welche  zum  exakten  Sehen  besonders  geeignet  ist  und  daher 
stets  unbewufst  mit  Hülfe  der  Augenbewegungen  auf  den  Punkt  gerichtet 
ist,  welchen  man  gerade  betrachten  will.  Diese  Sehgrube  enthält  nur 
die  Stäbchen,  ist  also  einer  Grau-  oder  Weifsempündung  nur  bei  ge- 
mischtem farbigen  Lichte  fähig.  Beobachtet  man  nun  im  Dunklen 
einen  Körper,  dessen  Temperatur  allmählich  gesteigert  wird,  so  wird 
nach  Lunimer  folgendes  eintreten  müssen.  Ist  eine  gewisse  Tempe- 
ratur (etwa  400°)  erreicht,  so  werden  die  Stäbchen  auf  der  ganzen 
Netzhaut  erregt,  im  Gehirn  entsteht  die  Empfindung  farbloser  Hellig- 
keit: Die  (irauglut;  bei  steigender  Temperatur  steigt  zunächst  nur  die 
Helligkeit  der  Grauempfindung.  Da  die  Zapfen  noch  nicht  erregt  sind, 
so  kommt  von  der  Sehgrube  überhaupt  noch  keine  Lichtmeldung  zum 
Gehirn;  es  liegt  also  der  eigentümliche  Zustand  vor,  dafs  nur  die 
Netzhautstellen,  welche  für  gewöhnlich  nur  zum  indirekten  Sehen 


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440 


benutzt  werden,  Licht  empfinden;  man  sieht  also  etwas,  was  man  nicht 
anblickt,  und  macht  nun  unwillkürlich  die  gewohnte  Augenbewegung, 
um  die  lichterzeugende  Stelle  mit  der  Netzhautgrube  zu  sehen;  dieses 
Bestreben  bleibt  aber  natürlich  fruchtlos,  und  daher  resultiert  das 
Zitternde  und  Unstäte  der  Grauglut.  Die  Erscheinung  hört  erst  auf, 
wenn  bei  weiterer  Temperatursteigerung  endlich  auch  die  Zapfen  in 
der  Empfindung  des  Rot  erregt  werden,  und  nun  vor  allem  die  Seh- 
grube mit  ihrem  direkten  Sehen  in  die  gewohnte  Thätigkeit  tritt. 

Aus  dem  Vorstehenden  dürfte  klar  hervorgehen,  dafs  zwischen 
dem  Auftreten  einer  einfachen  Erscheinung  und  dem  Erkennen  der- 
selben zuweilen  ein  komplizierter  Weg  liegen  kann,  und  dafs  für  den 
Physiker  allmählich  das  Studium  der  Physiologie,  wenigstens  der  Phy- 
siologie der  Sinnesorgane  zur  Notwendigkeit  wird. 


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Die  Erhaltungsweise  der  vorweltlichen  Lebewesen. 

Von  Dr.  K.  Keilhack  in  Merlin. 


/,um  unentbehrlichsten  Hüstzeuge  der  modernen  Geologie  gehört 


Schichten  der  Erdrinde  erhalten  sind.  Ihr  Studium  ist  es  im  wesent- 
lichen, welches  eine  Gliederung  der  Gesteine  und  die  Einführung  einer 
Chronologie  ermöglicht  hat.  In  früheren  Zeiten  verstand  man  unter 
einem  „Fossil",  entsprechend  der  wörtlichen  Bedeutung  des  Namens, 
jeden  anorganischen  Stoff,  der  aus  der  Erde  gewonnen  wurde,  also 
Gesteine  und  Mineralien.  Heute  dagegen  ist  der  Bogriff  auf  die  Keste 
von  tierischen  und  pflanzlichen  Lebewesen  beschränkt,  und  zwar  ist 
es  vollkommen  gleichgültig,  ob  sich  dieselben  in  den  ältesten  oder 
jüngsten  Schichten  unserer  Erde  finden,  ob  sie  von  grofsen  Dimen- 
sionen oder  von  mikroskopischer  Winzigkeit  sind,  ob  sie  dem  Tior- 
oder  Pflanzenreiche  angehören,  ob  sie  einen  vollständigen  Organismus 
oder  nur  den  Bruchteil  eines  solchen  darstellen.  Aber  nicht  nur  Teile 
von  tierischen  oder  pflanzlichen  Körpern  begreift  man  unter  dem 
Namen  ..Fossil",  sondern  auch  alle  indirekten  Zeugnisse  ihrer  ehe- 
maligen Anwesenheit.  In  diesem  Sinne  ist  ein  Fossil  die  Spur,  welche 
schreitende  Säugetiere,  Vögel  oder  Amphibien  mit  ihren  Füfsen  dem 
weichen  Schlammboden  eingedrückt  haben,  und  die  Eindrücke,  welche 
niedere  Tiere,  Schnecken,  Krebse,  Würmer  beim  Hinkriechen  über 
den  Boden  des  Gewässers,  in  welchem  sie  lebten,  hinterlassen  haben: 
Fossilien  sind  ferner  die  Löcher,  die  Bohrmuscheln  in  treibenden  Höl- 
zern oder  in  den  festen  Gesteinen  der  Küste  eingebohrt  haben.  Ebenso 
müssen  wir  die  Bohrgänge,  welche  die  Larven  von  Käfern  in  Hölzern, 
diejenigen  von  anderen  Insektengattungen  in  den  Blättern  einer  unter- 
gegangenen Vegetation  ausgenagt  haben,  als  Fossilien  ansehen,  und 
nicht  minder  gehören  unter  diese  Rubrik  die  kegelförmig  zugespitzten 
Hölzer,  welche  die  Biber  zu  ihren  Bauten  verwendeten,  und  die 
Öffnungen  in  Früchten,  welche  uns  anzeigen,  dafs  Nagetiere  oder 


442 

Rüsselkäfer  sich  dereinst  an  ihrem  Sülsen  Kern  gelabt  haben.  Mit 
untrüglichster  Sicherheit  können  heute  aus  allen  diesen  Spuren  Schlüsse 
auf  die  ehemalige  Existenz  der  Tiere  gezogen  werden,  welche  diese 
verschiedenartigen  Wirkungen  erzeugt  haben.  Auch  die  sogenannten 
Koprolithen  gehören  hierher,  die  in  Stein  verwandelten  und  oftmals 
in  grofsen  Mengen  uns  aufbewahrten  Exkremente,  die  uns  durch  ihre 
Form  sogar  Schlüsse  auf  die  Konstruktion  und  den  Bau  der  Einge- 
weide ihrer  Erzeuger  gestatten. 

Wenn  wir  uns  fragen,  was  von  ehemaligen  Lebewesen  über- 
haupt auf  unsere  Zeit  kommen  konnte,  und  wenn  wir  dabei  zunächst 
die  Tierwelt  betrachten,  so  ist  als  Satz  von  allgemeinster  Gültigkeit 
auszusprechen,  dafs  die  eigentlichen  Weichteile  der  Körper  fast  in 
allen  Fällen  der  vollständigen  Vernichtung  durch  Verwesung  und 
totale  Zersetzung  anheun  gefallen  sind.  Aber  schon  dieser  erste  Satz 
erfährt  eine  Ausnahme  von  recht  beträchtlichem  Umfange:  Wie  wir 
heute  tierische  Körper  dadurch  lange  konservieren  können,  dafs  wir 
sie  dauernd  niedrigen  Temperaturen  aussetzen  und  dadurch  die  Ein- 
wirkung der  Fäulnisbakterien  abhalten,  so  hat  auch  die  Natur  grofse 
Mengen  von  tierischen  Leichnamen  in  gewalligen  natürlichen  Eisver- 
packungen aufbewahrt.  Grofse  Teile  des  asiatischen  Kontinents  in 
den  nördlichen  Gebieten  von  Sibirien  sind  infolge  der  aufserordent- 
lich  niedrigen,  unter  Null  liegenden  Jahrestemperatur  bis  auf  grofse 
Tiefen  herab  dauernd  gefroren,  und  nur  die  oberste  Schicht  vermag 
während  der  kurzen  Sommerzeit  aufzutauen,  während  in  wenigen 
Metern  Tiefe  der  Eisboden  durch  Jahrtausende  unverändert  geblieben 
ist.  In  diesem  Eisboden  aber  stecken  die  Kadaver  einer  Tierwelt, 
die  während  der  Eiszeit  jene  Gebiete  und  auch  unser  Vaterland  be- 
lebte, und  durch  die  konservierende  Wirkung  der  Kälte  sind  diese 
Leichen  in  der  vollendetsten  Weise  mit  Haut  und  Haaren  erhalten 
geblieben.  Als  im  vorigen  Jahrhundert  russische  Forscher  zuerst  an 
den  Ufern  dor  Lena  und  des  Jenissei  die  riesigen  Kadaver  von  Ele- 
fanten und  Nashörnern  entdeckten,  waren  sie  erstaunt,  dieselben  in 
einem  solchen  Zustande  der  Frische  zu  finden,  dafs  das  Fleisch  dieser 
Tiere,  die  Tausende  von  Jahren  vorher  gelebt  hatten,  noch  den  Hunden 
als  Nahrung  gereicht  werden  konnte.  Es  wird  berichtet,  dafs  diese 
ersten  Entdecker  aus  wissenschaftlichem  Interesse  sich  eine  Bouillon 
aus  Mammutfleisch  bereiteten,  deren  Wohlgeschmack  vielleicht  nicht 
über  jeden  Zweifel  erhaben  war.  In  den  letzten  100  Jahren  sind  zu 
wiederholten  Malen  mehr  oder  weniger  vollständige  Leichen  neu  auf- 
gefunden worden,  und  im  zoologischen  Museum  der  Akademie  der 


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443 


Wissenschaften  in  St.  Petersburg  belinden  sich  unter  Glas  hervorragende 
Prachtstücke  dieser  Art  So  sieht  man  dort  einen  mit  Haut  und  Ilaaren 
bedeckten  Schädel  des  wollhaarigen  Rhinozeros,  in  welchem  selbst 
die  Augen  natürlich  erhalten  sind.  Mau  kann  den  ungeheuren  Fufs 
des  Mammut  und  die  starke,  mit  dicker,  langer,  rotbrauner  Mahne 
bedecke  Haut  dieser  Tiere  bewundern.  Selbst  der  Mageninhalt  war 
noch  erhalten  und  liefe  erkennen,  dafs  jenen  mächtigen  Geschöpfen 
die  Zweige  von  Koniferen  und  anderen  Bäumen  als  Nahrung  dienten. 

Nicht  sowohl  in  natürlicher,  vollkommener  Erhaltung,  als  viel- 
mehr in  gewissen  UmriTslinien  angedeutet  findet  man  auch  von  an- 
deren Tieren  noch  die  Weichteile  in  verschiedenen  Formationen.  Su 
sind  in  dem  außerordentlich  feinkörnigen  Kalkechlammo,  der  nach 
seiner  Erhärtung  die  berühmten  lithographischen  Schiefer  von  Solen- 
hofen geliefert  hat,  die  weiohen  Körper  von  Medusen  und  die  zu  den 
Kopffüfslern  gehörenden  Körper  der  Belemniten,  Tiere  des  oberen 
•Jura,  stellenweise  durch  hauchdünne,  wohl  umrandete  Linien  ange- 
deutet. Das  prachtvollste  Beispiel  einer  Erhaltung  organischer  Körper 
in  allen  Umrifsformen  aber  bieten  die  zu  hunderttausenden  bekannten 
Einschlüsse  von  Insekten  und  anderen  Tieren  im  Bernstein.  Wenn 
man  einen  solchen  Einschlufs  eines  Insekts  sieht,  wenn  man  wahr- 
nimmt, wie  unter  dem  Mikroskop  noch  die  feinste  Struktur  der  Flügel 
und  das  winzigste  Härchen  an  den  einzelnen  Körperteilen  der  Be- 
obachtung zugänglich  sind,  so  könnte  man  zu  dem  Schlüsse  kommen, 
dafs  in  dem  prächtigen  Material  die  Tiere  noch  als  solche  erhalten 
wären.  Wenn  man  aber  ein  solches  Bernsteinstück  in  einem  Lösungs- 
mittel auflöst,  in  der  Erwartung,  dadurch  den  Einschlufs  freizulegen, 
so  sieht  man  sich  getäuscht.  Diese  Einsohlüsse  sind  vielmehr  nur 
bis  in  die  feinsten  Details  erhaltene  Hohlräume,  aus  denen  die  Körper- 
substanz selbst  durch  Oxydation  und  diffusives  Entweichen  der  gas- 
förmigen Zersetzungsprodukte  vollständig  verschwunden  ist.  Es  sind 
aber  nicht  nur  Insekten  und  Spinnentiere  der  Oligozänzeit,  die  im 
Bernstein  in  unseren  Museen  eine  Art  Wiederauferstehung  feiern, 
sondern  als  allerdings  seltene  Funde  hat  man  darin  auch  Reste  von 
höheren  Tieren  beobachten  können.  So  existieren  Stücke,  in  welchen 
Federn  von  Vögeln  und  Ilaare  von  Säugetieren  sich  finden,  und  als 
ein  Unikum  ist  in  einem  Bernsteinstücke  ein  kleines  Reptil  vollständig 
auf  unsere  Tage  gekommen. 

Eine  andere  Substanz,  die  ebenfalls  ganz  vortrefflich  zur  Erhal- 
tung aufserordentlich  zarter  organischer  Teile  sich  eignet,  ist  die 
Kieselsäure.    In  der  ursprünglich  gallertartigen  Substanz.  «Iii«  alsdann 


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444 

zu  einem  kalzedonartigen  Mineral  erhärtete,  sind  gelegentlich  hinein- 
gelangte organische  Reste  gleichfalls  bis  in  alle  Einzelheiten  des 
mikroskopischen  Details  erhalten,  und  man  kann  z.  B.  noch  die 
einzelnen  Borstenharchen  an  dem  Körper  von  kleinen  Krebsohen  er- 
kennen, die  selbst  die  Gröfse  eines  Stecknadelkopfes  kaum  über- 
schreiten. Ein  anderer  Fall  der  Erhaltung  von  Körperumrissen,  und 
zwar  diesmal  von  sehr  grofsen  Tieren,  ist  erst  in  den  letzten  Jahren 
aus  Süddeutschland  bekannt  geworden.  In  den  sogenannten  Posi- 
donienschiefern  im  unteren  Lias  Schwabens  finden  sich  bekanntlich 
in  wunderbarer  Erhaltung  die  vollständigen  Skelette  zahlreicher  Saurier 
jener  Zeit.  Auf  einzelnen  solcher  Platten  konnte  Professor  E.  Fraas 
aus  Stuttgart  eine  um  das  Skelett  herum  verlaufende  dünne  schwarze 
Linie  erkennen,  die  den  letzten  Rest  der  zerstörten  Weichteile  jener 
Tiere  darstellt,  und  es  ist  mit  Hülfe  dieser  Kohlenhäutchen  möglich 
gewesen,  die  Körperform  des  läufigsten  jener  Saurier,  des  be- 
kannten Ichthyosaurus,  zu  rekonstruieren,  wobei  es  sich  ergab,  dafs 
die  Rückenlinie  mit  mehreren  grofsen  flossenartigen  Lappen  ge- 
schmückt ist. 

Wenn  man  aber  von  diesen  immerhin  seltenen  Ausnahmen  ab- 
sieht, so  kann  man  sagen,  dafs  es  ganz  ausschliefslich  die  Hartgebilde 
der  Körper  sind,  die  in  den  Schichten  der  Erde  in  mehr  oder  weniger 
verändertem  Zustande  aufbewahrt  wurden,  also  die  äufseren  und  inne- 
ren Skelettteile  der  Wirbeltiere  und  die  kalkigen  oder  kieseligen  Ab- 
sonderungen, die  den  Körpern  der  niederen  Tiere  als  Wohnung  oder 
als  Stützorgane  dienten.  Dazu  kommt  dann  noch  in  gewissen  Fällen 
die  Chitinsubstanz,  die  besonders  im  Reich  der  Insekten  und  Krebse, 
aber  auch  in  manchen  Gruppen  niedriger  stehender  Tiere  eine  be- 
deutende Rollo  spielt.  In  Bezug  auf  diese  Hartgebilde  nun  sind  im 
wesentlichen  zwei  verschiedene  Erhaltungsarten  zu  unterscheiden: 
entweder  ist  die  anorganische  Substanz  dieselbe  geblieben,  wie  sie  zu 
Lebzeiten  des  Tieres  von  demselben  gebildet  wurde,  oder  die  ur- 
sprüngliche Substanz  ist  verschwunden  und  in  mehr  oder  weniger 
vollkommener  Weise  duroh  eine  chemisch  anders  beschaffene  ersetzt 
worden.  Der  erst  genannte  Fall  ist  der  häufigere  im  Reioh  der 
Wirbeltiere.  Ihre  Hartgebilde  sind  in  der  Hauptsache  aus  kohlen- 
saurem Kalk  zusammengesetzt  und  behalten  diese  Zusammensetzung 
auch  im  fossilen  Zustande  in  den  meisten  Fällen  bei.  Wenn,  wie 
dies  meist  der  Fall  ist,  die  Knochen  in  kalkhaltigen  Gesteinen  ein- 
gebettet sind,  so  findet  durch  die  im  Gestein  zirkulierenden  Wasser 
in  den  meisten  Fallen  noch  eine  Zufuhr  der  gleichen  Substanz  in  die 


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feinen,  ursprünglich  von  organischer  Materie  erfüllten  Hohlräume  der 
Knochen  statt;  die  letzteren  werden  dann  mehr  oder  weniger  ausge- 
füllt, der  Knochen  selbst  wird  widerstandsfähiger  und  zugleich  gegen- 
über dem  Knochen  des  lebenden  Tieres  spezifisch  schwerer,  und  man 
kann  dann  mit  Hülfe  dieser  Merkmale  in  zweifelhaften  Fällen,  beson- 
ders wenn  es  sich  um  Funde  in  sehr  jugendlichen  Ablagerungen 
handelt,  oftmals  noch  nachträglich  entscheiden,  ob  man  es  mit  einem 
Vorkommen  von  gleichem  Alter  mit  der  Schicht  zu  thun  hat,  oder 
mit  Knochen,  die  in  späterer  Zeit  durch  irgend  einen  Zufall  (Gräber, 
verscharrte  Kadaver  von  Tiereu)  hineingelangt  sind.  Auch  die 
Kalkgerüste  der  Koncbylien,  Korallen  und  Echinodermen  sind  in 
den  meisten  Fällen  als  Kalksubstanz  erhalten;  nur  beobachtet  man 
hierbei  in  vielen  Fällen,  dafs  die  Kalkmasse  einen  Umkrystallisierungs- 
prozefs  durchgemacht  hat,  so  dafs  die  Substanz  dann  eine  auffällige 
Spaltbarkeit  nach  dem  Hauptrhomboeder  des  Kalkspats  besitzt.  Ganz 
besonders  häufig  tritt  dieser  Fall  bei  den  Kesten  der  Stachelhäuter, 
also  bei  fossilen  Seeigeln,  Seesternen  und  Seelilien  ein;  auch  tritt  hier, 
genau  wie  bei  den  Knochen  der  Wirbeltier«,  eine  Ausfiillung.smasse 
in  die  in  den  Schalen  vorhandenen  kleinen  Hohlräume,  die  ursprüng- 
lich zur  Aufnahme  von  Nerven  oder  anderen  Organen  dienten,  ein.  so 
dafs  das  Fossil  massiver  und  spezifisch  schwerer  wird,  als  der  ent- 
sprechende Körper  des  lebenden  Tieres  war.  Am  meisten  besitzen 
die  Fähigkeil,  die  ursprüngliche  chemische  Zusammensetzung  durch 
unendliche  Zeiträume  hindurch  unverändert  zu  bewahren,  natürlich 
diejenigen  Hartgebilde  von  Tieren,  die  nicht  aus  dem  leicht  löslichen 
und  darum  leicht  chemischen  Umwandelungen  unterworfenen  kohlen- 
sauren Kalke,  sondern  aus  der  chemisch  sehr  viel  widerstandsfähi- 
geren Kieselsäure  aufgebaut  wurden.  Es  sind  besonders  einige 
Gruppen  niedrig  stehender  Tiere,  die  im  lebenden  Zustande  sich  ein 
Körpergerüst  aus  diesem  StoflV*  ausbauen,  nämlich  die  Schwämme,  die 
Radiolarien  und  einige  Arten  von  Foraminiferen.  Die  oftmals  außer- 
ordentlich mannigfach  und  zierlich  gestalteten  Kieselnädelchen  der 
Schwämme  und  die  Schälchen  der  meist  mikroskopisch  kleinen  Radio- 
larien sind  gewöhnlich  so  gut  erhalten,  dafs  man  sie  auf  chemischem 
Wege  aus  dem  einbettenden  Kalkstein  auslösen  und  der  direkten 
mikroskopischen  Untersuchung  zugänglich  machen  kann. 

In  gar  vielen  Fällen  aber  ist  die  ursprüngliche  Substanz  der 
Hartgebilde  in  ihrer  chemischen  Zusammensetzung  grofsen  Wande- 
lungen unterworfen  gewesen.  Der  kohlensaure  Kalk  erfuhr  besonders 
in  kalkarmen  Schichten  eine  Auflösung;  da  dieser  Stoff  bekannt- 


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lieh  in  kohlensäurehaltigem  Wasser  einen  ziemlichen  Grad  von  Lös- 
lichkeit besitzt,  so  wurde  in  dem  Gestein  an  der  Stelle  des  ursprüng- 
lichen Fossils  allmählich  ein  Hohlraum  geschaffen,  und  wenn  Ge- 
wässer, welche  andere  chemische  Stoffe  in  Lösung  enthalten,  sofehe 
Hohlräume  zu  passieren  hatten,  so  konnte  in  denselben  eine  Ablage- 
rung dieser  gelösten  Salze  erfolgen,  die  gewöhnlich  zu  einer  voll- 
ständigen Ausfüllung  des  Hohlraumes  mit  der  neuen  Substanz  führte. 
Diese  Ersatzstoffe,  in  denen  uns  heute  derartig  veränderte  Fossilien 
begegnen,  sind  ziemlich  mannigfacher  Art:  am  häufigsten  tritt  wieder 
die  Kioselsäure  an  die  Stelle  des  Kaikos,  und  wir  sprechen  in  einem 
solchen  Falle  von  verkieselten  Sohalresten.  Sind  solche  verkieselten 
Fossilien  in  kalkigen  Gesteinen  eingebettet,  so  ist  es  möglich,  durch 
Auflösung  des  einschliefsenden  Gesteins  in  Salzsäure  die  dieser  Säure 
gegenüber  sich  unlöslich  verhaltenden  kioseligen  Substanzen  zu  iso- 
lieren und  damit  die  Versteinerung  frei  vom  einschliefsenden  Gestein 
zu  gewinnen.  In  der  heutigen  Paläontologie  spielt  eine  derartige  Ge- 
winnung von  verkieselten  Petrefakten  aus  kalkigen  Gesteinen  eine 
bedeutende  Rolle  und  hat  bereits  hervorragende  wissenschaftliche 
Resultate  in  ihrem  Gefolge  gehabt.  Besonders  in  Schweden  und 
Finland  werden  ganze  Wagenladungen  von  Kalksteinen  in  grofsen 
Bottichen  mit  verdünnter  Salzsäure  bis  zur  vollständigen  Auflösung 
des  Kalkes  behandelt,  und  man  kann  dann  aus  dem  LÖsungsrüokstande 
viele  Kieselfossilien  in  mehr  oder  weniger  vollständigem  Zustande 
herauslesen. 

Ein  anderer  Stoff,  der  in  dieser  Weise  als  Ersatz  des  kohlen- 
sauren Kalkes  eintreten  kann,  ist  das  Doppelschwefeleisen,  der 
Schwefelkies.  Besonders  in  kalkarmem,  thonigem  Gestein  sind  bis- 
weilen die  sämtlichen  organischen  Reste  in  schönen,  gelben  Schwefel- 
kies umgewandelt,  und  solche  Schalen  heben  sich  auf  das  prächtigste 
von  dem  dunklen,  sie  einschlicfsenden  Gestein  ab.  Im  rheinischen 
Unterdevon  findet  sich  bei  dem  Orte  Bundenbach  ein  derartiger  Schiefer- 
horizont, in  welchem  in  groTsera  Mafsstabe  Schiefer  gewonnen  wird, 
und  bei  diesen  Steinbruchsarbeiten  werden  zahlreiche  Platten  ge- 
funden, in  denen  solche  verkieselten  organischen  Reste  auftreten,  die 
immer  im  Innern  einer  Schieferplatte  liegen.  Entfernt  man  duroh 
mühevolles  Horauspräpariereu  mit  Nadeln  und  kleinen  Meifselchen 
die  bergende  Schieferhülle,  so  kann  man  die  prachtvollsten  Seelilien, 
Seesterne,  Orthoceren  und  andere  bis  in  die  feinsten  Details  der 
Schalenskulptur  erhaltene  Geschöpfe  gewinnen.  Auoh  in  den  Thonen 
der  Juraformation  sind  bisweilen  die  sämtlichen  organischen  Reste 


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einer  Schicht  in  Schwofelkies  umgewandelt,  und  besonders  die  Am- 
moniten  dieser  Örtlichkeiten,  die  sich  z.  B.  in  Schwaben  vielfach  finden, 
gewähren  durch  die  Schönheit  ihrer  Farbe  und  die  schöne  Er- 
haltung der  feinsten  Skulpturfonnen  einen  ganz  prächtigen  Anblick. 
Wieder  in  anderen  Füllen  ist  Spateisenstein  und  in  noch  anderen, 
allerdings  ziemlich  seltenen  Fällen  Flufsspat  als  Versteinerungsmittel 
an  die  Stelle  des  kohlensauren  Kalkes  getreten.  Ein  recht  häufiges 
Vorsteinerungsmittel  ist  ferner  der  phosphorsaure  Kalk,  der  als  Phos- 
phorit eine  technisch  so  bedeutsame  Rolle  spielt.  Besonders  die  Ex- 
kremente von  Fischen  und  Sauriern  sind  in  der  Kreide-  und  Jura- 
formation vielfach  in  Phosphorite  umgewandelt,  und  es  werden  in 
Laienkreisen  deswegen  die  Phosphorite  fälschlich  in  ihrer  Gesamtheit 
als  Koprolithen  bezeichnet.  In  sehr  eisonreichen  Gesteinen,  be- 
sonders in  Kalksteinen,  die  den  Umwandlungsprozefs  in  Roteisenstein 
und  Brauneisenstein  durchgemacht  haben,  sind  auch  die  Kalkschalen 
der  organischen  Einschlüsse  in  das  gleiche  Eisenerz  umgewandelt 
worden  und  werden  dann  mit  schöner  tiefrotbrauner  Farbe  auf  den 
Bruchllächen  des  Gesteins  sichtbar.  Bei  den  meisten  Konchylien  be- 
steht die  Schale  ursprünglich  aus  kohlensaurem  Kalk,  welcher  in 
mineralogischer  und  krystallographischer  Beziehung  nicht  Kalkspat, 
sondern  Arragonit,  d.  h.  ein  rhombisch  krystallisierender  kohlensaurer 
Kalk  ist.  Diese  Schalen  haben  in  den  meisten  Fällen  einen  mole- 
kularen Umlagerungsprozefs  durchgemacht,  durch  welchen  der  rhom- 
bische Arragonit  in  den  rhomboedrischen,  gewöhnlichen  Kalkspat  ver- 
wandelt worden  ist.  Mit  diesen  Fällen  dürften  die  verschiedenen  Um- 
wandlungsprozesse der  Kalkschalen  erschöpft  sein. 

Wonn  der  Ersatz  der  ursprünglichen  Substanz  duroh  die  neu 
hinzugeführte  schrittweise  erfolgte,  so  dafs  für  jedes  in  Lösung  ge- 
hende Molekül  der  Ersatz  sofort  sich  einstellte,  bliob  der  ana- 
tomische Bau  des  organischen  Restes  bis  in  die  feinsten  Einzelheiten 
hinein  erhalten.  Wurde  der  tierische  Körper  aber  erst  vollständig 
aufgelöst,  also  ein  Steinkern  erzeugt  und  der  Hohlraum  desselben 
erst  in  irgend  einer  späteren  Zeit  ausgefüllt,  so  kann  natürlich  von 
Erhaltung  von  Zellen  und  Ähnlichem  nicht  die  Rede  sein. 

In  den  bisher  besprochenen  Fällen  treten  uns  die  Fossilien 
körperlich  entgegen,  und  wir  sehen  an  dem  organischen  Reste  die 
Aufsenseite  des  ursprünglichen  Hartgebildes.  Wenn  aber  die  Sub- 
stanz des  Körpers  der  chemischen  Auflösung  anheimgefallen  und  kein 
anderer  Stoff  als  Ersatz  an  seine  Stelle  getreten  ist,  so  bleibt  in  dem 
Gestein  ein  Hohlraum  übrig,  und  wir  haben  es  dann  mit  einer  Form 


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der  Erhaltung-  zu  thun,  die  man  als  Steinkern  bezeichnet.  Es  sind 
zwei  verschiedene  Möglichkeiten  denkbar:  entweder  warder  organische 
Rest  unmittelbar  nach  seiner  Einbettung  in  allen  seinen  Hohlräumen 
mit  einer  Substanz  erfüllt,  die  mit  der  des  einschliefsenden  Gesteins 
übereinstimmt,  oder  er  war,  was  besonders  bei  zweischaligen  Muscheln, 
bei  Brachiopoden  und  bei  rings  geschlossenen  Körpern,  wie  Seeigeln 
und  Seelilien,  vorkommt,  bei  der  Einbettung  widerstandsfähig  gegen  das 
Eindringen  von  Gesteinssubstanz.  Im  ersleren  Falle  bleibt  nach  Auf- 
lösung der  Kalksubstanz  im  Gestein  ein  Hohlraum  übrig,  in  dessen 
Mitte  sich  ein  Ausgufs  des  Innern  der  Schale  findet,  während  im 
zweiten  Falle  der  entstandene  Hohlraum  eines  solchen  inneren  Kernes 
ermangelt.  In  beiden  Fällen  giebt  die  Wandung  des  Hohlraumes  ein 
Spiegelbild  von  dem  ursprünglichen  Aussehen  der  Schale.  Dornen 
und  Fortsätze  an  Schneckenschalen  ziehen  sich  in  Gestalt  von  röhren- 
förmigen Hohlräumen  in  die  Gesteinsmasse  hinein,  und  es  ist  möglich, 
durch  Ausgiefsen  eines  Hohlraumes  und  nachherige  Entfernung  des 
denselben  umschliefsenden  Gesteins  einen  Abgufs  zu  gewinnen,  der 
mit  dem  ursprünglichen  organischen  Reste  in  Bezug  auf  Oberflächen- 
skulptur vollkommen  übereinstimmt.  Vermag  man  auch  die  Aus- 
füllungsmasse der  ursprünglichen  Höhlung  des  Fossils  aus  solchem 
Abgufs  auf  mechanischem  oder  chemischem  Wege  zu  beseitigen,  so 
hat  man  ein  vollkommen  getreues  Bild  des  organischen  Restes,  wie 
es  zu  Lebzeiten  des  betreffenden  Tieres  war.  Der  günstigere  der 
beiden  Fälle  ist  derjenige,  in  welchem  auch  die  Innenskulptur  des 
betreffenden  Körpers  uns  in  Form  eines  Ausgusses  erhalten  ge- 
blieben ist,  da  man  an  demselben  sehr  viele  sonst  der  Beobachtung 
nicht  zugängliche  Details,  wie  z.  B.  die  Muskelansätze,  die  Spiralbänder 
bei  den  Brachiopoden  und  die  Mundwerkzeuge  bei  den  Seeigeln,  stu- 
dieren kann.  Eine  ganz  besondere  Abart  der  Steinkerne  entsteht  dann, 
wenn  ein  vollständig  die  Stelle  des  ehemaligen  Fossils  ersetzender 
Hohlraum  ohne  innere  Schalenausfüllung  nachher  wieder  durch  neu 
hinzutretende  Substanz  ausgefüllt  ist.  In  diesem  Falle  kann  man  aus 
dem  Gestein  ein  genaues  Abbild  des  ursprünglichen  Restes  gewinnen, 
welcher  die  Aursenskulptur  desselben  besitzt,  im  Innern  aber  voll- 
kommen homogen  ist.  Einen  solchen  Steinkern  bezeichnet  man  aus 
diesem  Grunde  als  einen  Skulptursteinkern. 

Außerordentlich  verschieden  von  demjenigen  der  tierischen  Lebe- 
wesen ist  in  den  meisten  Fällen  der  Erhaltungszustand  von  pflanz- 
lichen Resten.  Bei  ihnen  kann  man  zwei  Hauptgruppen  unterscheiden: 
in  dem  einen  Falle  ist  die  organische  Substanz  erhalten  und  hat  nur 


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einen  mehr  oder  weniger  intensiven  Verkohlungsprozefs  durchgemacht, 
durch  welchen  das  Zellengewebe  der  Pflanze  in  Brauukohle  oder 
Steinkohle  umgewandelt  ist.  Es  sind  besonders  die  Hölzer,  die  in 
dieser  Weise  uns  in  grofsen  Mengen  in  fossilem  Zustande  begegnen. 
Je  jünger  das  betreffende  Holz  ist,  um  so  weniger  weit  ist  der  Ver- 
kohlungsprozefs vorgeschritten,  um  so  mehr  ähnelt  es  in  seiner  Be- 
schaffenheit demjenigen  der  lebenden  Pflanze,  und  es  ist  bekannt,  dafs 
man  z.  B.  bei  den  in  der  Braunkohlenformation  vorkommenden  Koni- 
ferenhülzeru  eine  so  vorzüglich  erhaltene  Holzstruktur  findet,  dafs  man 
dieses  Holz  unter  Anwendung  gewisser  Vorsiohtsmafsregelu  wie 
lebendes  Holz  zu  Furnieren  und  anderen  Arbeiten  verwenden  kann. 
Gerade  in  Koniferenhölzern  tritt  dann  die  Maserung  des  Holzes  auf 
polierten  Schnitten  in  vorzüglicher  Schönheit  und  Deutlichkeit  in  die 
Erscheinung,  und  die  schönen  warmen  Farbentöne  dieser  Hölzer  ver- 
leihen den  aus  ihnen  angefertigten  Schmuckgegonständen  ein  außer- 
ordentlich reizvolles  Aussehen.  In  den  ältesten  Hölzern  aus  der 
Steinkohlenformation  ist  dagegen  der  Verkohlungsprozefs  sehr  viel 
weiter  fortgeschritten,  so  dafs  die  Struktur  bei  weitem  nicht  so 
deutlich  wahrnehmbar  ist  wie  in  den  Braunkohlenhölzern.  Aber 
auch  bei  ihnen  vermag  man  in  besonders  präparierten  Dünnschliffen 
die  ursprüngliche  Struktur  noch  mehr  oder  weniger  deutlich  zu  er- 
kennen. Die  feineren  pflanzlichen  Reste,  vor  allen  Dingen  also  die 
Blatter,  begegnen  uns  in  den  ältesten  Anhäufungen  pflanzlicher  Sub- 
stanz, iu  den  Kohlenflözen,  nur  außerordentlich  selten,  finden  sich 
dagegen  in  gröfscrer  Menge  in  den  mit  den  Kohlenflözen  wechsel- 
lagernden Schieferthonen  und  erscheinen  in  denselben  als  schwarze 
Häutchen  von  Kohlenstoff,  die  sich  gewöhnlich  durch  dunklere  Farbentöne 
und  einen  gewissen  Glanz  trefflich  von  der  Schiefersubstanz  abheben. 
Die  feineren  Details,  die  Umrandung  der  Blättchen  und  die  zierliche 
Nervatur  der  Fiedei  chen,  sind  dagegen  auch  bei  ihnen  in  den  meisten 
Fällen  in  ausgezeichneter  Deutlichkeit  erhalten,  und  die  grofsen  Ge- 
steinsplatten, die  in  allen  unseren  Steinkohlengruben  in  grofsen 
Mengen  gewonnen  worden,  zählen  mit  ihren  wunderbar  zierlich  er- 
haltenen Abdrücken  von  Farnen  und  anderen  Kryptogamenblättern  zu 
den  schönsten  Stücken  unserer  Museen.  Selbst  pathologische  Er- 
scheinungen, wie  das  Auftreten  von  Blätterpilzen  und  die  Frefsspuren 
von  Insektenlarven  sind  in  solchen  fossilen  Blättern  oftmals  vortreff- 
lich zu  erkennen  und  unter  Umständen  selbst  der  mikroskopischen 
Detailuntersuchung  zugänglich. 

Wesentlich  verschieden  von  diesen  in  Kohlensubstanz  verwan- 

Himmcl  und  Erde.    1800.  XI.  I*».  -JD 


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(leiten  Pflanzenresten  ist  die  zweite  häufige  Form  ihrer  Erhaltung-, 
diejenige  im  Zustande  der  Verkieselung.  Von  ihr  sind  in  den  meisten 
Fällen  die  Pflanzenhölzer  betroffen  worden,  und  man  hat  sich  den 
Vorgang  so  zu  denken,  dafs  unter  der  Einwirkung  von  kieselsäure- 
haltigem Wasser  eine  Zerstörung  der  organischen  Substanz  des  Holzes 
vor  sich  gegangen  ist,  wobei  für  jedes  fortgeführte  Partikelchen  von 
Kohlenstoff  alsbald  Kieselsäure  eingetreten  ist,  so  dafs  mit  der  Zeit 
die  gesamte  Holzsubstanz  in  Kalcedon  oder  Achat  umgewandelt 
worden  ist.  Auch  in  diesem  Falle  ist  natürlich  der  anatomische 
Bau  auf  das  vollkommenste  im  verkieselten  Zustande  erhalten 
geblieben  und  kann  in  poliertem  Schnitt  und  in  durchsichtigen, 
dünn  geschliffenen  Scheibchen  eingehend  untersucht  werden.  Nur 
so  ist  es  möglich  gewesen,  bei  derartig  verkieselten  Hölzern,  die 
besonders  in  der  Formation  des  Rotliegenden  und  in  manchen  tertiären 
Schichten  sich  sehr  häufig  finden,  die  generische  Zugehörigkeit  zu 
verschiedenen  Gruppen  von  Pflanzen  genau  zu  bestimmen.  Die  be- 
merkenswert! sten  Beispiele  derartig  verkieselter  Hölzer  bieten  der 
versteinerte  Wald  in  der  Gegend  von  Kairo,  der  durch  Schweinfurt s 
Beschreibung  zuerst  bekannt  geworden  ist,  und  ein  grofsartiges  Vor- 
kommen von  Kieselhölzern  in  Arizona.  An  letzterem  Orte  hat  die  aus- 
gezeichnete Politurfähigkeit  dieser  verkieselten  Hölzer  und  das  schöne 
Aussehen  der  aus  ihnen  geschliffenen  Stücke  zu  einer  ausgedehnten 
Industrie  Veranlassung  gegeben;  auf  verschiedenen  grofsen  Aus- 
stellungen haben  die  von  dort  herrührenden  Schmucksachen  ein  be- 
rechtigtes Aufsehen  erregt.  Solche  Verkieselungsprozesse  finden 
übrigens  auch  heute  noch  da  statt,  wo  lebende  Waldvegotation  mit 
kieselsäurehaltigem,  warmem  Quellwasser  in  Berührung  kommt,  wie 
dies  z.  B.  im  Yellowstone-Park  in  den  Vereinigten  Staaten  in  grofsem 
Umfange  der  Fall  ist.  Hier  kann  man  sehen,  wie  von  Bäumen,  die 
noch  vor  kurzer  Zeit  lebten,  bereits  die  äufseren  Teile  des  Stammes 
eine  Umwandlung  aus  kohlenstoffhaltiger  Substanz  in  Kieselsäure 
erlitten  haben,  und  es  ist  der  Gedanke  nicht  abzuweisen,  dafs  ähnliche 
Einwirkungen  von  Thermalwässern  auch  in  jenen  älteren  Ablage- 
rungen den  Verkieselungsprozefs  bewirkt  haben. 

Der  Erhaltungszustand  der  Fossilien  ist  ein  aufserordentlich 
mannigfacher  und  drückt  sich  schon  darin  aus,  dafs  man  von  „gutem" 
und  ..schlechtem"  Erhaltungszustande  derselbon  spricht.  Den  wesent- 
lichsten Einflufs  auf  dieses  Verhalten  übt  der  Charakter  des  Ge- 
steins aus,  in  welchem  die  organischen  Reste  eingebettet  sind.  Das 
r-ünstigste  Medium  für  die  Erhaltung  sind  weiche  thonige  und  mergelige 


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Gesteine.  In  ihnen  haben  (He  Schalen  der  Tiere  bei  der  Einbettung  ge- 
wöhnlich keinerlei  Deformationen  erlitten,  sondern  ihr  natürliches 
Aussehen  und  ihre  ursprüngliche  Wölbung  oftmals  bis  in  das  kleinste 
Detail  hinein  beibehalten,  und  bei  der  Weichheit  dieser  Gesteine,  die 
in  vielen  Fällen  die  Anwendung  eines  mechanischen  Schlämmprozesses 
gestattet,  vermag  man  die  Einschlüsse  mit  Leichtigkeit  zu  isolieren 
und  zu  gewinnen.  So  kommt  es,  dafs  beispielsweise  in  dem  weichen 
Kalkschlamme  der  Schreibkreide  die  Schalen  von  Muscheln  und 
Seeigeln  uns  so  vollkommen  erhalten  sind,  wie  dies  nur  irgend 
möglich  sein  kann.  Auch  in  den  meisten  Kalksteinen  haben  die 
organischen  Reste  ihre  ursprüngliche  Erscheinung  bewahrt,  aber  hier 
stellt  sieh  der  Umstand  ein,  dafs  die  Schale  mit  dem  einbettenden 
Gestein  gewöhnlich  auf  das  innigste  verwachsen  ist,  so  dafs  eine 
Herauslösung  sehr  viel  mühevoller  und  in  vielen  Fällen  ganz  un- 
möglich ist  Viel  ungünstiger  noch  wird  das  Verhalten  des  Kalk- 
steins, wenn  derselbe  nachtraglich  einem  Krystallisationsprozefs  unter- 
worfen gewesen  und  in  krystallinischen  Kalk  oder  gar  in  grobkörnigen 
Marmor  umgewandelt  ist.  Solchen  Umwandlungsprozessen  sind  sehr 
viele  Kalksteine  älterer  Formationen  unterworfen  gewesen,  aber  wir 
begegnen  ihnen  auch  in  jüngeren  Formationen  überall  da,  wo  durch 
gebirgsbildende  Kräfte  die  Gesteine  einen  bedeutenden  Druck  er- 
litten haben  und  dadurch  in  ihrer  molekularen  Beschaffenheit 
verändert  sind.  Ganz  besonders  häufig  aber  sind  solche  Umkrystalli- 
sationen  in  denjenigen  Kalksteinen,  die  in  der  Hauptsache  auf  der 
Thiitigkeit  von  Korallentieren  zurückzuführen  sind,  Gesteine,  dio  sich 
gewöhnlich  durch  einen  hohen  Gehalt  an  kohlensaurer  Magnesia  aus- 
zeichnen und  aus  diesem  Grunde  als  Dolomite  bezeichnet  werden. 
Es  gehören  dahin  die  bekannten  Dolomite  der  Alpen  und  zahlreiche 
Riffkalke  im  Schwäbischen  Jura,  sowie  eine  Menge  von  Gesteinen 
in  den  mesozoischen  Kalkbergen  Italiens.  In  allen  diesen  Gesteinen 
sind  die  Korallen  und  sonstigen  Einschlüsse  bei  dem  Prozefs  der 
Umkrvstallisation  so  stark  alteriert  worden,  dafs  sie  im  Innern  des 
Gesteins  dem  blofsen  Auge  ganz  unsichtbar  geworden  sind  und  nur 
spurenweise  noch  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  von  Dünn- 
schliffen erkennbar  werden.  Trotzdem  aber  haben  in  den  meisten 
Fällen  die  Kalkgerüste  organischer  Körper  gewisse  Eigenschafton 
durch  die  Umbildungsprozesse  hindurch  sich  bewahrt,  die  es  ermög- 
lichen, dafs  bei  der  langsamen  Verwitterung  der  Oberfläche  solcher 
Kalksteine  das  einschliefsende  Gestein  stärker  angegriffen  wird  wie 
der  fast  unsichtbar  darin  steckende  organische  Rest,  und  der  letztere 

_>9* 


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tritt  infolgedessen  auf  solchen  Verwitterungsflächen  mehr  oder  weniger 
deutlich  zu  Tage.  Man  kann  in  Steinbrüchen,  die  in  solchen  Riff- 
kalken  angelegt  sind,  in  den  frisch  gewonnenen  Werkstücken  stunden- 
lang erfolglos  umherklopfen,  während  auf  der  Oberfläche  von  Blöcken, 
die  länger  der  Luft  ausgesetzt  gewesen  waren,  eine  ganze  Menge  von 
organischen  Resten  reliefartig  hervortritt.  Man  sieht  dann  auf  diesen 
Flächen  die  zierlichen  Kelche  der  Korallen  mit  ihren  Septen  oder  die 
Schalen  von  Muscheln  und  Schnecken  heraustreten,  die  im  Quer- 
schnitte des  Gesteins  kaum  in  zarten  Linien  angedeutet  erscheinen. 

Wieder  anders  verhalten  sich  die  besonders  in  den  älteren  For- 
mationen sehr  verbreiteten  Thonschiefer.  Die  ursprünglich  weiche 
Thonsubstanz  ist  bei  der  Gebirgsbildung  durch  einseitig  wirkenden 
Druck  „geschiefert"  worden,  d.  h.  es  haben  sich  neue,  zu  der  ur- 
sprünglichen Schichtung  in  keiner  Beziehung  stehende  Absonderungs- 
flächen gebildet,  und  diosc  Druckvorgiinge  haben  dahin  geführt,  dafs 
die  eingeschlossenen  Schalreste  in  eine  Ebene  zusammengepreßt  er- 
scheinen, wobei  bei  gewölbten  Körpern,  wie  sie  ja  die  meisten 
Muscheln  und  Schnecken  besitzen,  naturgemäfs  eine  Zertrümmerung- 
in  einzelne,  ein  wenig  gegeneinander  verschobene  Bruchstücke  ein- 
treten mufste.  Ein  solcher  Erhaltungszustand  ist  natürlich  nicht  ge- 
rade günstig,  und  unter  den  Fossilien  dieser  Schichten  befinden  mcIi 
sehr  viele,  die  für  die  nähero  Bestimmung  der  Art  unbrauchbar  ge- 
worden sind.  Auch  die  Reste  von  höheren  Lebewesen  sind  uns  in 
sehr  verschiedenem  Zustande  überkommen,  je  nach  dem  Gestein,  iu 
welchem  sie  eingebettet  sind.  So  sind  die  zahllosen  Fische,  die  das 
bituminöse  Kupferschieferflöz  an  der  Basis  der  Zechsteinformation 
führt,  in  eine  Ebene  zusammengedrückt  und  liegen  wie  ein  papier- 
dünuer  Hauch  auf  den  Schichtflächen  des  Gesteins,  während  in  man- 
chen thonigen  Konkretionen  und  in  gewissen  feinkörnigen  Sandsteinen 
die  Fische  körperlich  erhalten  sind  und  nach  der  Präparation  uns  in 
ihrer  ursprünglichen  Körperform  entgegentreten.  Das  Blatt  einer 
Pflanze  kann  in  einem  plastischen  Thone  so  vollkommen  bewahrt  sein, 
dars  die  feinsten  Linien  der  Umränderung  und  die  zartesten  Verzwei- 
gungen der  Nervatur  auf  das  vollkommenste  hervortreten,  während 
dasselbe  Blatt  in  einem  Sandstoin  uns  als  ein  dünner,  vielfach  unter- 
brochener schwarzer  Hauch  mit  undeutlichen  Umrissen  und  schlecht 
bewahrter  Nervatur  entgegentritt.  Am  allerungünstigsten  sind  grobe 
Konglomerate,  weil  bei  der  Bildung  derselben  feinero  organische  Reste 
natürlich  vollkommen  zerrieben  wurden  und  gröbere  ganz  abgerollt 
hineingelangten,  so  dafs  dieselben  für  die  nähere  Artbestimmung 


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453 

gewöhnlich  ganz  untauglich  geworden  sind.  Es  sind  aus  diesem 
Grunde  in  derartigen  Konglomeraten  in  den  meisten  Fällen  nur  ver- 
kieselte  Hölzer  oder  in  jüngeren  Schichten  die  widerstandsfähigsten 
Knochen  und  Zähne  von  Wirbeltieren  erhalten  geblieben. 

Es  ist  vollkommen  klar,  dafs  aus  den  angeführten  Gründen  der 
Reichtum  der  einzelnen  Gesteine  an  organischen  Einschlüssen  sehr 
verschieden  ist,  aber  es  giebt  absolut  keino  Regel  mit  durchgreifen- 
derer Gültigkeit,  die  man  in  dieser  Beziehung  aufstellen  konnte.  Die 
grorse  Gruppe  von  Silikatgestoinen,  die  man  als  krystallinischo  Schiefer 
bezeichnet,  also  die  Gneifse,  Glimmer-Schiefer  und  Phyllite  sind  in 
den  meisten  Fällen  gänzlich  frei  von  Fossilien,  und  da  sie  zumeist 
in  den,  soweit  bekannt,  ältesten  Ablagerungen  unserer  Erde  vor- 
herrschen, so  glaubte  man,  dafs  zur  Zeit  ihrer  Entstehung  überhaupt 
noch  keine  organischen  Lebewesen  auf  Erden  existierten  oder  wenig- 
stens keine  solchen,  deren  Körper  erhaltungsfähige  Hartgebilde  ab- 
sonderten. Es  giebt  aber  auch  von  dieser  Hegel  Ausnahmen.  Unter 
dem  Einflüsse  gewaltiger  Druckkräfte,  die  bei  der  Gebirgsbildung  auf 
grofse  Schichtcnkomplexe  ausgeübt  worden  sind,  sind  viele  Thone, 
Kalke,  Mergel  und  Sandsteine  total  umgewandelt  worden  und  besitzen 
heute  vollkommen  das  äufsere  Aussehen  von  jenen  obengenannten 
iirehäischeu  Gesteinen,  d.h.  sie  sind  in  Glimmerschiefer,  Serizitschiefer, 
Chloritschiefer,  Marmor,  Quarzit  und  andere  hochkrystallinische  Gesteine 
umgewandelt,  und  man  kann  in  den  meisten  Fällen  nur  aus  ihrer 
stratigraphisehen  Stellung  zwisohen  anderen  Schichten  und  aus  ihren 
organischen  Einschlüssen  entnehmen,  dafs  sie  nicht  der  archäischen 
Formation  angehören,  sondern  jüngeren  Alters  sind.  So  kennt  man 
aus  Norwegen  einen  ausgedehnten  Schichten  komplex  kambrischen 
und  silurischen  Alters,  aus  den  Alpen  hochkrystallinische,  mineralreiche 
Schiefer  der  Juraformation  (Biindner  Schiefer),  aus  Griechenland  sogar 
Chloritschiefer  und  Marmor,  die  aus  Gesteinen  der  Kreideforuiation 
hervorgegangen  sind.  In  allen  diesen  Fällen  findet  man  auch  noch 
durch  besonders  günstige  Umstände  erhaltene,  gewöhnlich  allerdings 
sehr  stark  deformierte,  aber  doch  immerhin  nach  Genus  und  bisweilen 
sogar  nach  der  Spezies  bestimmbare  organische  Reste,  welche  die  aus 
den  Lagerungsverbänden  gezogenen  Schlüsse  bestätigen.  Aus  der 
Gestalt  dieser  Körper  kann  man  auf  das  schönste  erkennen,  in  welcher 
Weise  und  in  weloher  Richtung  die  Umbildung  des  Gesteins  und  die 
Streckung  der  einzelnen  Gesteinselemente  vor  sich  gegangen  sind. 
Belemniten  erscheinen  in  einzelne,  ziemlich  gleich  lange  Stücke  zer- 
rissen und  diese  in  einer  ganz  bestimmten  Richtung  mit  gleich  langen 


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454 

Intervallen  verschoben  fs.  untenstehende  Figur).  Siluriscbe  Trilobiten 
ßind  in  einer  Richtung  in  die  Länge  gestreckt  und  unterscheiden  sich 
wesentlich  in  ihrem  äufseren  Aussehen  von  den  normal  erhaltenen  Tieren 
der  gleichen  Art  In  den  Glarner  Alpen  finden  sich  mächtige,  dem 
ältesten  Tertiär  angehörende  Schiefer,  die  ein  vorzügliches  Dachschiefer- 
material abgeben,  welches  in  grofsen  Brüchen  ausgebeutet  wird.  Sie 
sind  reich  an  Fischresten,  aber  bei  allen  diesen  Fischen  sind  die  ein- 
zelnen Wirbel  der  Wirbelsäule  nach  irgend  einer  Richtung  hin,  dorn 
ausgeübten  1  iebirgsdrucke  entsprechend,  gegeneinander  verschoben 
und  in  ihrer  <  iestalt  deformiert  worden.  Der  erste  Beschreiber  dieser 
Fischfauna  hatte  sich  durch  die  Gestaltänderung  täuschen  lassen  und 
eine  Reihe  von  Gattungen  beschrieben,  von  denen  es  sich  nachher  her- 
ausstellte, dafs  sie  alle  ein  und  derselben  Art  angehörten,  ja,  es  wird 


Geitreckter  Bolemnit  im  Jurakalk. 


behauptet,  dafs  es  möglich  gewesen  wäre,  durch  eine  Art  von  Be- 
rechnung mit  Hülfe  der  bekannten  Schieferungsrichtung  in  diesen 
Schiefern  und  der  Lage  der  Fischreste  zu  derselben  die  einzelnen 
Spezies  in  einander  umzurechnen. 

Kaum  weniger  arm  als  diese  alten  Schiefergesteine  sind  die- 
jenigen Schichtenfolgen,  die  vorwiegend  aus  Quarzilen  oder  aus  mittel- 
körnigen, roten  Sandsteinen  bestehen;  in  ihnen  sind  die  organischen 
Einschlüsse  oftmals  auf  schwer  deutbare  fossile  Hölzer  beschränkt, 
oder  auf  die  Fährtenabdrücke  von  großen  Amphibien,  Reptilien  und 
anderen  Tieren,  mit  denen  man  wegen  des  Fehlens  von  Skelettteileu 
auch  nicht  allzuviel  anfangen  kann.  Besonders  im  Buntsandstein  des 
mittleren  Deutschland  finden  sich  gewisse  Horizonte  (wie  der  soge- 
nannte Chirotherien-Sandstein),  in  welchen  die  erhaltenen  Fährten  oft- 
mals in  zusammenhängenden  Schrittreihen  nicht  allzu  selten  vorkommen. 
Es  wechsellagern  mit  diesen  Sandsteinen  Bänke  von  Letten,  und  in 
diesen  Lettenschichten  haben  die  Tiere,  als  die  betreffende,  eben  ent- 
standene Bank,  an  der  Oberfläche  lag  und  noch  aus  weichem  Schlamm 


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455 

bestand,  beim  überschreiten  ihre  Sputen  eingedrückt.  Die  demnächst 
folgende  Sundschicht,  die  entweder  vom  Winde  oder  vom  Wasser 
darüber  geführt  wurde,  füllte  die  Vertiefung  der  Führte  aus,  und  so 
sehen  wir  heute  diese  Spuren  reliefartig  auf  der  Uuterlläche  der  Sand- 
steinplatton  heraustreten,  während  die  eigentliche,  sozusagen  positive 
Führte  infolge  der  weichen  Gesteinsbeschaffenheit  gewöhnlich  nicht 
zur  Aufbewahrung  in  unsere  Sammlungen  gelangte. 

Andere  Sandsteine  sind  dagegen  wieder  recht  reich  an  Verstei- 
nerungen, die  lagenweise  angereichert  erscheinen,  wie  z.  Ii.  die 
zur  Kreideformation  gehörenden  Sandsteine  der  Sächsischen  Schweiz 
und  des  nördlichen  Ilarzvorlandes.  In  Bezug  auf  die  Kalksteine  läfst 
sich  etwas  Bestimmtes  Uber  ihren  Reichtum  an  organischen  Ein- 
schlüssen nicht  sagen.  Aus  den  oben  bereits  angeführten  Gründen 
sind  mächtige  Komplexe  solcher  Kalksteine  infolge  späterer  Umwand- 
lung anscheinend  vollständig  versteinerungsfrei,  während  andererseits 
dasselbe  Gestein  in  anderen  Formationen  und  in  anderen  Gegenden 
geradezu  von  ihnen  strotzt.  Bekannt  sind  in  dieser  Hinsicht  zahl- 
reiche Schichten  des  skandinavischen  Silurs,  deren  Versteineruugs- 
reichtum  auch  bei  uns  in  Form  von  Geschieben  im  Diluvium  eine 
reiche  Ausbeute  gewährleistet.  Viele  Kalksteine  verdanken  ja  ganz 
ausschließlich  dem  organischen  Leben  ihre  Entstehung  und  sind  in- 
folgedessen im  gröfsten  Teil  ihrer  Masse  aus  Fragmenten  oder  voll- 
ständigen Resten  ehemaliger  Lebewesen  zusammengesetzt.  Dahin  ge- 
hören beispielsweise  die  sogenannten  Troohitenkalke,  die  im  Silur  und 
in  der  Trias  auftreten  und  in  ihrer  ganzen  Masse  aus  den  Stiel- 
gliedern von  Seeiilien  zusammengesetzt  sind.  In  ganz  ähnlicher  Weise 
bestehen  andere  Kalksteinbänke  überwiegend  aus  Schalen  von  zwei- 
k lappigen  Muscheln  oder  aus  Anhäufungen  ungeheurer  Mengen  von 
Schneckenschalen.  Als  Beispiel  für  letzteres  Vorkommen  seien  die 
Cerilhienkalke  in  den  jüngeren  Tertiärbildungen  des  Mainzer  Heckens 
erwähnt.  Hier  können  auch  die  gewaltigen  Anhäufungen  von  Knochen 
diluvialer  Wirbeltiere  genannt  werden,  die  in  Höhlen  der  Kalkstein- 
gebirge unter  der  schützenden  Decke  von  Kalksinterablagerungen 
oftmals  die  Reste  vieler  hunderte  großer  und  kleiner  Wirbeltiere  ent- 
halten. Ein  Teil  derselben  stammt  von  den  Tieren  her,  die  diese  Höhlen 
bewohnten,  ein  anderer  zeigt  deutlioh,  dafs  man  es  mit  den  Resten 
der  hier  zusammengeschleppten  Beutetiere  zu  thun  hat.  Die  Knochen 
der  letzteren  sind  in  den  meisten  Fällen  von  den  Raubtieren  zer- 
kleinert, wofür  die  in  Form  unverkennbarer  Zahneindrücke  erhaltenen 
Bifsspuren  zeugen. 


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45Ü 

Ähnlich  wie  mit  den  Kalksteinen  verhält  es  sich  mit  den  Schie- 
fern, die  gleichfalls  durch  mächtige  Schichtenreihen  hindurch  keinerlei 
erkennbare  organische  Reste  liefern,  während  andere  Schiefer  wieder 
bu  voll  von  Versteinerungen  stecken,  dafs  man  keine  Platte  zer- 
schlagen kann,  ohne  die  Schichtflächen  dicht  mit  ihnen  bedeckt  zu 
finden.  Diese  Fälle  begegnen  uns  beispielsweise  in  den  Graptolithen- 
schiefern  der  Silur-  und  in  den  Tentaculitenschichten  der  Devon- 
Formation.  Ganz  besonders  ergiebig  sind  in  vielen  solchen  an  Verstei- 
nerungen armen  oder  ganz  davon  freien  Gesteinen  etwa  darin  auf- 
tretende Konkretionen.  Besonders  in  thonigen,  mergeligen  und  schief- 
rigen  Gesteinen  linden  sich  oftmals  kugelige  oder  elliptisch  gestaltete 
Gesteinsmassen  von  der  Gröfse  einer  Kartoffel  bis  zum  Durchmesser 
eines  Meters  von  anfserordentlich  wechselnder  Zusammensetzung. 
Bald  ist  es  kohlensaurer  Kalk,  bald  dolomitisches  Gestein,  dann  wie- 
der sind  es  Kisenerze  oder  durch  Kisonverbindungen  verkittete  Sande, 
die  entweder  unregelmäßig  durch  das  Gestein  zerstreut  sind  oder,  in 
gewissen  Schichten  angeordnet,  im  Gesteine  fortlaufende  Schnüre  bil- 
den. Diese  Konkretionen  strotzen  oftmals  von  organischen  Resten 
mannigfacher  Art;  so  ist  in  manchen  jurassischen  Schichten  der  ge- 
samte Reichtum  an  Ammoniten  auf  kalkige  Konkretionen  beschränkt, 
so  tritt  uns  der  ganze  Reichtum  von  Fossilien  in  den  mitteloligocänen 
Stettiner  Sanden  in  eisenschüssigen,  außerordentlich  harten  Sandstein- 
konkretiouen  entgegen,  so  ist  uns  die  Fauna  des  Norddeutschen 
Miozäns  in  den  Konkretionen  der  Sternherger  Kuchen  und  des  Hol- 
steincr  Gesteins  erhalten.  Die  kleineren  Konkretionen  besitzen  ge- 
wöhnlich nur  einen  winzigen  Rest,  eine  Schneckenschale  oder  eine 
Muschel  oder  einen  Fischtest.  In  den  greiseren  dagegen  ziehen  sich 
Versteinerungen  schichtenweise  durch  die  ganze  Konkretion  hindurch, 
und  durch  geschicktes  Spalten  kann  man  Platten  gewinnen,  auf  denen 
hunderte  von  wohl  erhaltenen  Tierresten  bei  einander  liegen.  In 
manchen  Füllen  hat  gleich  bei  der  Ablagerung  der  Schicht  der  orga- 
nische Rest  Anlafs  zur  Bildung  einer  Konkretion  gegeben,  indem 
durch  den  Verwesungsprozefs  der  tierischen  Substanz  in  Lösung  vor- 
handene Eisensalze  reduziert  und  um  das  Fossil  herum  nieder- 
geschlagen wurden,  wodurch  eine  Verfestigung  des  Gesteins  in  seiner 
Umgebung  eintrat.  In  anderen  Gesteinen,  vor  allen  Dingen  in 
solchen,  die  wie  alle  Sande  dem  Wasser  einen  leiohten  Durchgang 
gewährten,  mufs  man  annehmen,  dafs  die  Kalkschalen,  die  ursprüng- 
lich in  bestimmten  Lagen  durch  das  ganze  Gestein  hin  gleichmäfsig 
verteilt  waren,  überall  einer  vollständigen  Auflösung  und  Zerstörung 


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457 

verfielen,  bis  auf  diejenigen  Partien,  die  durch  angereicherte  Eisen- 
verbindungen oder  durch  kalkige  Bindemittel  dem  lösend  einwirken- 
den Wasser  Widerstand  zu  leisten  vermochten. 

Gesteine,  die  der  vulkanischen  Thätigkeit  ihren  Ursprung  ver- 
danken, sind  natürlich  frei  von  organischen  Kesten  und  enthalten 
höchstens  solche  älterer  Formationen,  eingeschlossen  in  Bruchstücken, 
die  zusammen  mit  der  Lava  an  die  Oberfläche  geführt  sind.  Xur 
wenn  vulkanische  Aschen  in  Süfswasserseen  oder  in  das  Meer  hin- 
eingelangen und  in  demselben  sogenannte  Tuffe  erzougen,  stellen  sich 
auch  Reste  der  in  jenen  Gewässern  lebenden  Gesohöpfe  ein,  und  man 
findet  sie  in  solchen  Gesteinen  von  den  aus  umgewandelten  Diabas- 
tuffen entstandenen  Schalsteinen  der  Devonformation  bis  zu  den  Tuffen 
des  jüngsten  Vulkanismus. 

In  den  Versteinerungen  ist  uns  die  Entwickelungsgeschichte  des 
organischen  Lebens  auf  Erden  aufbewahrt,  aber  was  auf  diesem  Wege 
zu  unserer  Kenntnis  gelangt  ist,  stellt  nur  einen  aufserordentlieh  ver- 
schwindenden Bruchteil  der  Lebewesen  dar,  welche  zu  den  verschie- 
denen Zeiten  unsere  Erde  bevölkerten.  Schon  der  Umstand,  dafs  mit 
ganz  geringfügigen  Ausnahmen  nur  diejenigen  Teile  der  Tiere  uns 
erhalten  bleiben  konnten,  die  aus  widerstandsfähigen  Hartgebilden 
aufgebaut  waren,  schränkt  die  Möglichkeit,  uns  ein  klares  Bild  von 
jenem  gewaltigen  Entwickelungsgange  zu  verschallen,  aufs  äufserste 
ein.  Ganz  grofse  Gruppen  von  Tieren  entbehren  ja  jener  Hartgebilde 
vollständig  und  bestehen  ausschliefslich  aus  leicht  verweslichen 
organischen  Substanzen,  die  keinerlei  fossile  Spuren  hinterlassen 
können.  Eine  weitere  Einschränkung  aber  wird  dadurch  bedingt, 
dars  wieder  nur  ein  sehr  geringer  Bruchteil  der  Lebewesen  nach  dem 
Tode  an  Orte  gelangte,  wo  sie  der  Nachwelt  aufbewahrt  werden 
können.  Fast  alle  Geschöpfe,  die  an  der  Oberfläche  der  Erde  ihr 
Ende  finden,  werden  entweder  von  anderen  höheren  oder  niederen 
Tieren  bis  auf  die  letzten  Spuren  vertilgt,  oder  sie  verfallen  einem 
vollständigen  Auflösungsprozesse,  bei  dem  nichts  übrig  bleibt.  Viel 
günstiger  ist  das  Verhältnis  für  die  Bewohner  des  Wassers;  aber 
auch  hier  arbeitet  ein  unendlich  zahlreiches  Heer  gefräfsiger,  über- 
lebender Mitbewohner  an  der  Vernichtung  der  toten  Reste.  Vor 
allen  Dingen  sind  es  die  Krebse,  die  mit  Hülfe  ihrer  Scheren  die 
Hartgebilde  abgestorbener  Tiere  zerknacken  und  so  zerkleinern,  dafs 
die  Schalon  in  Kalksand  verwandelt  werden.  Von  dem  übrig  blei- 
benden Bruchteile  aber,  der  zur  fossilen  Erhaltung  gelangt  ist,  kann 
wieder  nur  ein  unendlich  geringer  Teil  in  die  Hand  des  Forschers 


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kommen.  Im  Vergleich  zu  dem  Areal,  welches  die  Versteinerungen 
führenden  Schichten  auf  der  Oberfläche  der  Erde  einnehmen,  nehmen 
diejenigen  Stellen,  an  denen  ein  Sammeln  und  Gewinnen  von  Fossilien 
möglich  ist,  noch  nicht  den  tausendsten  Teil  ein.  Wir  müssen  uns 
nur  klar  raachen,  wie  unendlich  gering  an  Gröfse  und  Fläche  die 
Aufschlüsse  teils  künstlicher,  teils  natürlicher  Art  sind,  an  denen  der 


Bostrichoput  antiquu». 

u.  Das  ganze  Tier.  —  b.  Der  Rumpf.  —  c.  Eine  einzelne  Rinke. 


(ieologe  seine  Studien  anstellen  kann,  und  wir  dürfen  uns  deshalb 
nicht  wundern,  dafs  von  Jahr  zu  Jahr  immer  neue  vorweltliche  Ge- 
schöpfe aufgefunden  und  beschrieben  werden,  und  dafs  trotzdem  erst 
in  ganz  wenig  Fällen  leidlich  lückenlose  Entwickelungsreihen  für 
einzelne  Tierklassen  zu  unserer  Kenntnis  gelangt  sind.  Es  ist  That- 
sache,  dafs  eine  grofse  Anzahl  von  Geschöpfen  uns  erst  in  je  einem 
Exemplare  bekannt  geworden  ist,  und  wir  müssen  daraus  schliefsen, 
dafs  noch  viele  Tausende  von  unbekannten  Tieren  der  verschiedensten 
Gattungen  im  Schofse  der  Erde  ruhen  und  noch  für  viele  Generationen 
hinaus  paläontologisches  Arbeitsmaterial  zu  erwarten  sein  wird.  Ein 
vortreffliches  Beispiel  für  die  Lückenhaftigkeit  unserer  Kenntnis  ehe- 


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4Ö9 


maliger  Lebewesen  bietet  ein  solches  Unikum  aus  den  Kulmschiefern  des 
Geistlichen  Berges  bei  Herborn  in  Nassau,  welches  als  Bostrichopus  an- 
tiquus  benannt  und  in  vorstehender  Abbildung  dargestellt  ist.  Dieses 
Tier  weicht  in  seinem  ganzen  Körperbau  von  allen  lebenden  oder 
fossilen  Formen  so  vollkommen  ab,  dafs  es  Schwierigkeiten  macht, 
dasselbe  im  zoologischen  System  unterzubringen,  und  doch  mufs  man 
annehmen,  dafs  dasselbe  seiner  Zeit  in  unzähligen  Exemplaren  die 
Erde  bevölkerte,  dafs  es  eine  Entwicklungsgeschichte  besessen  hat 
und  durch  allmähliche  Umänderung  aus  anderen  Typen  hervorgegan- 
gen ist.  Aber  weder  von  seiner  Ahnenreihe  noch  von  seinen  als 
solche  erkennbaren  Nachkommen  ist  aufser  diesem  einen  Stücke  etwas 
zu  unserer  Kenntnis  gelangt.  Ein  derartiger  Fall  ist  besser  als  lange, 
weitläufige  Erörterungen  geeignet,  uns  davon  zu  überzeugen,  wie  all* 
unser  Wissen  nur  Stückwerk  ist  und  immer  solches  bleiben  wird. 


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Erinnerungen  an  die  Erdbebentage  von  Laibach. 

Von  Dr.  P.  Schwahn  in  Berlin. 
(Schlufe.) 

aibach  war,  wie  ich  schon  sagte,  glücklicherweise  kein  Casa- 
micciola,  es  war  aber  eine  in  allen  Teilen  schwer  geprüfte  Stadt, 
/  —  eine  Stadt,  die  sich  von  Grund  auf  erneuern  mufste.  Besser 
als  an  den  zerstörten  Gebäuden  konnte  man  den  Umfang  der  Ver- 
wüstung an  dem  Lagerleben  erkennen.  Denn  als  am  14.  April  morgens 
nach  der  schreckenvollen  Nacht  die  Sonne  die  Stadt  beschien,  war 
zwei  Drittel  der  ganzen  Bevölkerung  für  Monate  auf  die  kalten,  nafsen 
Strafsen  angewiesen.  4000  Bewohner  aus  den  besseren  Ständen,  die 
Geld  genug  hatten,  waren  mit  ihren  Familien  nach  auswärts  geflüchtet. 

Unsere  Abbildung  (Fig.  5)  gewährt  uns  einen  Einhlick  in  dieses 
Lagerleben  auf  dem  Kongrefsplatz.  Welch  ergreifende  Scenen  bot 
dasselbe:  da  safs  mitten  zwischen  den  Zelten  und  Baracken  auf  einem 
verblichenen  Polsterstuhl  ein  alter  gebrechlicher  Mann  mit  bekümmerten 
Zügen,  neben  sich  zur  ebenen  Erde  eine  Matratze  und  ein  wenig 
MÖbelgerümpel,  und  mitten  in  dieser  Scene  des  Elends  spielten  lustig 
die  Kinder,  als  ob  nichts  geschehen  wäre. 

Glücklicherweise  waren  die  Sauerkrautfässer,  welche  ein  Fabri- 
kant den  Obdachlosen  als  nächtlichen  Unterschlupf  zur  Verfügung 
gestellt  hatte,  zur  Zeit  unseres  Aufenthalts  bereits  verlassen  und  durch 
Militärzelte  oder  Baracken  ersetzt  worden.  Aber  noch  in  langen  Reihen 
lagen  diese  Bottiche  in  der  Tirnauer  und  Krakauer  Vorstadt. 

Dank  dem  energischen  Einschreiten  der  Militärverwaltung  und 
der  Fürsorge  des  Landespräsidenten,  Baron  Hein,  hatto  man  auf  allen 
öffentlichen  Plätzen  Zelte  aufgestellt,  etwa  40  allein  auf  dem  Kongrers- 
platz  (Fig.  6).  Ein  Dutzend  Mitglieder  ärmerer  Familien  wohnten  in 
einem  jeden,  und  man  hatte  sich  offenbar  schon  mit  der  Situation  zurecht 
gefunden,  denn  wo  ich  auch  hineinschaute,  herrschten  Ordnung  und 
Sauberkeit.  Unter  Zelten  konnten  freilich  nicht  alle  untergebracht 
werden,  man  mufste  zu  anderen  hölzernen  Behausungen  greifen,  um  blofs 


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keine  Steine  über  dem  Kopf  zu  haben.  Ganz  altmodische  Kutschen 
aus  dem  vorigen  Jahrhundert  wurden  wieder  ans  Tageslicht  gezogen; 
sie  waren  in  diesen  Tagen  wertvoller  als  die  schönste  Villa  und  wurden 
natürlich  möglichst  abseits  von  den  Häusern  aufgestellt.  Ein  Spedi- 
teur, mit  dem  wir  zu  thun  hatten,  hatte  seine  Familie  in  einem  Möbel- 
wagen untergebracht  Aber  auch  daraus  mufste  er  entfliehen,  denn  ein 
herabfallender  Schornstein  schlug  die  Wagendecke  ein. 

Elend  zusammengeflickte  Holzgestelle,  die  mit  Laken  und  Klei- 
dungsstücken bedeckt  waren,  konnte  man  überall  sehen.  Manchem 


Fig.  5.   Lagerleben  auf  dem  Koogrefsplati. 


genügte  auch  schon  ein  Stuhl  mitten  auf  der  Strafse  und  eine  Decke 
dazu  als  nächtliche  Lagerstätte;  und  nun  denke  man  sich  den  Schmutz, 
da  der  Regen  tagelang  in  Strömen  vom  Himmel  kam. 

Not  macht  bekanntlich  erfinderisch,  das  konnte  man  in  Laibach 
überall  sehen,  und  manchen  dieser  Erdbebenwohnungen  haftete  etwas 
tragikomisches  an.  Der  Hausverwalter  des  Museums  hatte  sein  Quar- 
tier auf  der  Strafse  in  einer  grofsen  Kiste  aufgeschlagen,  und  noch 
besser  war  es  mit  einem  jungen  Ehepaar.  Auf  einem  Bauplatz  hatte 
dasselbe  sich  ein  Dutzend  neu  gezimmerter  Fensterrahmen*  mit  Latten 
zusammenschlagen  lassen.  In  dieser  Röhre  lagen  eine  Matratze  und 
einige  Decken,  und  dies  genügte,  um  die  Flitterwochen  darin  zuzu- 
bringen.    Ja  Raum  ist  in  der  kleinsten  Hütte  für   ein  glücklich 


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462 


liebend  Paar,  dies  wurde  hier  zur  Thatsache  —  freilich  zur  traurigen 
Thatsache. 

Ergreifend  war  der  Gottesdienst  auf  den  öffentlichen  Plätzen. 
Wir  sahen  am  Sonntag,  acht  Tage  nach  der  Katastrophe,  die  Weiber 
uijd  Männer  auf  den  Knieen  liegen,  während  bei  brennenden  Kerzen 
unter  freiem  Himmel  die  Messe  verlesen  wurde,  der  das  Gebet:  Tem- 
pora terrae  motus  .  .  .  eingeschaltet  war.  Der  Musikpavillon  auf  dem 
Kongrefsplatz  war  über  Nacht  ein  Gotteshaus  geworden. 

Beruhigung  des  Volkes  durch  die  Geistlichkeit,  Erweckung  neuer 
Zuversicht  war  in  diesen  schlimmen  Tagen,  namentlich  im  Hinblick 
auf  den  Aberglauben  der  slovenischen  Bevölkerung,  gewifs  ein  schönes 
Werk.  Denn  nicht  genug  kann  man  das  Verhalten  derjenigen  mifs- 
billigen,  welche  ein  geängstigtes  und  gemartertes  Volk  durch  thörichte 
Prophezeiungen  noch  mehr  aufregen.  Der  Fall  ist  ja  nicht  selten  da- 
gowesen,  dafs  durch  solche  unnütze  Beängstigungen  schwache  Frauen 
und  zarte  Kinder  vom  Nerven fieber  befallen  sind,  date  der  Wahnsinn 
sich  eingestellt  hat  In  den  Laibacher  Zeitungen  sah  man  stets  an 
erster  Stelle  die  Worte:  „Uuhe,  Ruhe,  keine  Verzagtheit,  kein  un- 
nützes Aufregen  und  Aufregenlassen,  denn  alle  Gefahr  ist  beseitigt." 

An  Sibyllen  hat  es  in  Laibach  natürlich  nicht  gefehlt,  aber  die 
Polizei  machte  damit  kurzen  Prozefs;  sie  liefs  dieselben  einfach  ein- 
stecken. 

Von  der  fürchterlichen  Nervosität,  die  während  unserer  Anwesen- 
heit in  der  Stadt  herrschte,  nur  einige  Beispiele. 

Mindestens  ein  paar  Dutzend  Leute  behaupteten,  dafs  in  der 
Schreckensnacht  ein  riesiger  Sternschnuppenfall  stattgefunden  habe, 
und  dafs  seit  dieser  Nacht  die  Sterne  viel  heller  schienen.  Von  der 
Thorheit  der  letzten  Behauptung  konnte  ich  mich  persönlich  über- 
zeugen, aber  bezüglich  der  ersten,  welche  nur  zu  sehr  an  die  Omina 
des  Mittelalters  erinnert,  war  ich  auf  das  Zeugnis  urteilsfähiger  Leute 
angewiesen,  wonach  es  eine  ziemlich  heitere  Nacht  mit  Mondschein 
gewesen  sein  soll. 

Von  anderer  Seite  wurde  mir  mitgeteilt,  dafs  eine  adelige  Dame 
in  der  Umgebung  von  Laibach  einen  außergewöhnlichen  Stern  am 
Horizonte  aufblitzen  sah.  Sonstige  merkwürdige  Lichterscheinungen 
will  eine  ganze  Reihe  von  Leuten  wahrgenommen  haben. 

Dergleichen  steckt  an,  man  wird  dabei  selbst  nervös.  Kommt 
da  eines  Abends  mein  Reisebegleiter  die  Treppe  hinaufgelaufen  und 
in  mein  Zimmer  gestürzt  mit  dem  Ruf:  -Kommen  Sie  herunter, 
kommen  Sie  herunter".    Ich  denke  der  Einsturz  unseres  Hauses  ist 


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4133 


nur  noch  Sache  eines  Augenblicks,  und  im  Nu  ging  es  die  Treppe 
hinunter,  Prof.  G.  hinterdrein.  Ich  lief  mit  beiden  einige  Strafsen 
entlang,  ohne  dafs  ich  erfuhr,  um  was  es  sich  handle.  Da  end- 
lich blieb  er  stehen,  und  was  zeigte  er  mir  da  —  die  Venus  am 
Himmel,  welche  ihm  aufsergewöhnlich  grofs  vorkam  und  ein  wenig 
zu  schwanken  schien.1) 

Unverschuldet  können  selbst  Gelehrte  durch  ihre  Fachausdrücke 
Aufregung  veranlassen.  Professor  Suefs  in  Wien  hatte  in  einem 
Zeitungsbericht  geschrieben,  Laibach  ruhe  auf  einem  „Kinsturzboden". 


Fig.  R.   Zelte  auf  dem  Kongrefaplatz 


Dieser  geologische  terminus  technicus  hat  nun  geradezu  nieder- 
schmetternd auf  einzelne,  die  sich  denselben  nicht  erklären  konnten, 
gewirkt.  Also  unsere  Stadt  wird  wirklich  in  ein  tiefes  Loch  auf 
Nimmerwiedersehen  versinken,  so  hiefs  es  von  vielen  Seiten,  nament- 
lich von  Seiten  der  Damen. 

Besser  sind  wir  mit  einem  Orakel  weggekommen,  ohne  dafe  es 
freilich  unsere  Absicht  war,  uns  auf  das  Weissagen  zu  legen.  Es 
hiefs  in  der  Neuen  Freien  Presse  und  in  der  Grazer  Tagespost:  „Zwei 
hervorragende  Berliner  Gelehrte  Dr.  Schw.  und  Prof.  L.  —  verehrter1 

•)  Dieses  Sternschwanken,  welches  man  bei  Sternen,  die  nahe  am  Hori- 
zont stehen,  beobachtet,  ist  eine  Folgte  der  Bewegung  des  Wasserrlunstes  in 
der  Atmosphäre.    Dadurch  erscheint  auch  das  Gestirn  vergröfsert. 


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4154 


Leser,  hier  bewahrheitet  sich  das  Sprichwort:  der  Prophet  gilt  nichts 
in  seinem  Vaterland  —  erklärten,  die  Gefahr  sei  nach  allen  Erfah- 
rungen der  Wissenschaft  beseitigt,  wenn  auch  das  Ende  des  nun  un- 
gefährlichen Ausschwingens  der  bewegten  Erdschichten  nicht  voraus- 
gesagt werden  könne.*1  Wie  ich  schon  sagte,  sind  wir  völlig  unschul- 
dig an  diesem  Gutachten,  das  etwas  pythisch  abgofafst  ist.  Aber 
es  sollte  sicher  einem  guten  Zweck  dienen,  nämlich  zur  Beruhigung 
«ler  Laibacher  Bevölkerung  beitragen,  und  deshalb  sind  wir  auch 
„hervorragend"  geworden. 


Wenn  man  die  vielen  kleinen  Bedürfnisse  in  Betracht  zieht,  die 
der  Mensch  zu  seinem  Dasein  nötig  hat,  und  für  die  in  der  Häuslich- 
keit durch  mehr  oder  minder  bequeme  Einrichtungen  gesorgt  tat, 
so  wird  man  es  wohl  verstehen  können,  dafs  mit  dem  Lagerleben 
auf  offener  Strafse  allerlei  Mängel  und  Unzuträglichkeiten  verbunden 
waren,  die  sich  nur  schwer  im  ersten  Augenblick  beseitigen  liefsen. 
Zur  Bereitung  der  täglichen  Nahrung  gehörten  vor  allem  Kochöfen, 
und  es  mufsten  in  diesem  Fall  transportable  sein,  denn  die  in  den 
Häusern  vorhandenen  waren  zum  Teil  zerstört  oder,  soweit  sie  noch 
gebrauchsfähig  waren,  wer  wollte  sich  der  Gefahr  aussetzen,  dieselben 
in  den  zerstörten  Wohnungen  zu  benutzen. 

Die  armen  Leute  mufsten  sich  ihre  Speisen  unter  freiem  Himmel 


Fitf.  7.    Bereitung  der  Speisen  auf  offener  Strafse. 


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105 


bereiten,  und  wo  ein  eiserner  Ofen  zur  Verfügung  stand,  da  teilten 
sich  zahlreiche  Familien  in  den  Gebrauch  desselben.  Allerorten,  auf 
dorn  Kongrefs-  und  Marienplatz,  in  der  Krakauer  Vorstadt  und  auf 
der  Tyrnauer  Lände  rauchten  die  Öfen  (Fig.  7),  dazwischen  drängten 
sich  die  blutarmen  slovenischen  Bewohner,  von  deren  zumeist  sehr 
kleinen  Häusern  keines  verschont  geblieben  war. 

Unendlich  viel  Gutes  hatte  die  schnelle  Hilfsaktion  der  freiwilligen 
Wiener  Rettungsgesellschaft,  des  Wiener  Volksküchenvereins  und  die 
der  Gesellschaft  des  roten  Kreuzes  zur  Linderung  der  herrschenden 
Notlage  beigetragen. 


Pijf.  8.    Küchenwagen  auf  dem  Kongrefsplatz. 


Auf  dem  Kongrefsplatz  und  auf  der  Tyrnauer  Lände  wan  n  soeben 
die  Küchenwagen  (Flg.  8)  aufgestellt  worden,  die  je  2500  Personen  tags- 
über speisen  konnten,  und  schon  lagen  scharenweiso  die  Hungernden 
um  den  Wagen  herum.  Wir  sahen,  wie  sich  Männer  und  Weiber 
herandrängten,  die  Hände  den  Spendern  entgegenstreckten,  Körbe  nach 
oben  hielten  und  so  stundenlang  vor  Verteilung  der  Gaben  warteten. 
Es  war  ein  Drängen  und  Hasten,  dafs  schliofslich  die  Polizei  und 
Feuerwehr,  um  Ordnung  zu  schaffen,  eingreifen  mufsteu.  Lud  man 
sah  es  den  Leuten  an,  dafs  nicht  etwa  Habsucht,  sondern  wirklich 
Hunger  sie  zur  Verzweiflung  trieb. 

Um  zwölf  Uhr  mittags  begann  die  Verteilung  der  Speisen.  Viele 

Himmol  und  Eni.    !     ■    XI.  I".  30 


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46(J 


zogen  mit  ihrem  Krug  Suppe  beglückt  ab,  manche  waren  zu  schüch- 
tern, um  sich  vorzudrängen. 

Doch  ich  will  mich  bei  diesen  Notbildern  nicht  aufhalten.  In- 
teressieren dürften  vielleicht  die  Umstände,  unter  denen  wir  beiden 
Berliner  Gäste  den  ziemlich  starken  Erdstofs  am  Montag  den  22.  April 
3  Uhr  52  Minuten  nachmittags  mitmachten. 

Wir  waren  nach  dem  Putickschen  Hause  in  der  Triesterstrafse 
gegangen,  um  daselbst,  wenn  thunlich,  einen  dunklen  Raum  zum  Aus- 
wechseln photographischer  Platten  zu  suchen.  Wie  immer  trafen  wir 
die  ganze  Hausbewohnerschaft  auf  dem  Hofe  neben  ihrer  Baracke  an: 
nur  die  Frau  des  Herrn  Forstkommissär  Putick  und  einige  Dienst- 
mädchen hielten  sich  in  den  Parterreräumen,  wo  sich  die  Küchen  be- 
fanden, auf. 

Als  der  Sohn  des  Hauswirtes  uns  bedeutete,  dafs  sich  zwei  Treppen 
hoch  ein  geeigneter  Üunkelraum  befinde,  war  mein  Heisegefährte 
schnell  oben,  während  ich  mit  der  ganzen  Hausgesellschaft  unten  blieb. 
Ich  unterhielt  mich  gerade  mit  der  Tochter  des  Regierungsrats  R.,  die 
auf  einem  Balken  neben  der  Baraoke  safs  und  ein  Buch  von  Bertha 
von  Suttner  vor  sich  hatte,  das  den  allgemeinen  Erdfrieden  predigte. 

Da  mit  einem  Male  fuhren  wir  alle  erschreckt  auf;  ein  dumpfes 
Geräusch,  das  sich  von  fern  näherte,  verkündete  einen  neuen  Stöfs. 
Und  nun  in  demselben  Moment  begann  auch  das  Zittern  des  Bodens, 
welches  sich  dem  ganzen  Körper  mitteilte,  und  das  man  unwillkürlich 
auszubleichen  suchte,  indem  man  bald  auf  dem  einen,  bald  auf  dem 
andoren  Fufs  tanzte.  Der  ganze  Vorgang  dauerte  nur  etwa  sieben 
Sekunden,  aber  er  genügte,  um  die  Nerven  mächtig  anzuregen.  Ein 
jeder  hatte  wohl  das  Gefühl,  was  wird  sich  im  nächsten  Augenblick 
ereignen.  Noch  ein  paar  solcher  Stöfse,  wie  sie  schon  da  gewesen 
waren,  und  Laibach  konnte  in  Wirklichkeit  eine  Trümmerstadt  werden. 

Kaum  hatte  das  Erdschwanken  begonnen,  als  ein  gellender 
Sohreckensschrei  aus  allen  Parterreräumen  der  Häuserfront  ertönte 
Die  Mädchen,  welche  sich  dort  aufhielten,  stürzten  totenbleich  auf  den 
Hof,  italienische  Arbeiter,  die  Ausbesserungen  am  Hause  vornehmen 
sollten,  völlig  besinnungslos  hinterdrein.  Putick  eilte  an  das  Fenster, 
um  seine  Frau  zu  beruhigen. 

Für  mich  waren  die  darauf  folgenden  Minuten  äufserst  marter- 
volle. Konnte  meinem  Kollegen  oben  zwei  Treppen  hoch  etwas 
passiert,  vielleicht  gar  die  Decke  auf  den  Kopf  gefallen  sein?  —  Als 
mir  im  ersten  Augenblick  keiner  Rede  stehen  konnte,  eilte  ich  in 
wilden  Sätzen  die  Treppe  hinauf,  gefolgt  von  den  übrigen. 


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467 

Wir  hatten  uns  glücklicherweise  mehr  aulgeregt  als  mein  Hegleiter 
in  seiner  Dunkelkammer.  Als  er  das  Dröhnen  vernahm  und  das 
Zittern  des  Hauses  eintrat,  war  er  mit  einem  Satz  unter  die  Holzver- 
kleidung der  Thür  gesprungen,  um  abzuwarten,  was  eintreten  werde. 
Da  sich  über  dem  Kopf  nichts  regte,  hatte  er  den  Austausch  der 
Platten  weiter  fortgesetzt,  allerdings  in  einem  etwas  erregten  Zustande, 
wio  ich  ihm  später  nachweisen  konnte,  —  denn  sämtliohe  Platten 
waren  verkehrt  eingelegt.  Weniger  stark  als  dieser  Stöfs  war  ein 
weiterer,  der  uns  am  andern  Morgen  aus  dem  Schlaf  weckte;  er  machte 
sich  durch  das  Knacken  der  Möbel  und  durch  das  leise  Herabrieseln 
des  Mauerstaubes  in  den  Rissen  der  Zimmerwände  bemerkbar.  Im 
ganzen  hatten  wir  während  unseres  Aufenthaltes  vier  Stöfse  erlebt,  von 
denen  jedoch  zwei  so  schwach  waren,  dafs  sie  nur  der  für  die  leisesten 
Kegungen  des  Bodens  empfindliche  Laibacher  verspürt  haben  wollte. 
An  die  verheerenden  Stöfse  der  Schreckensnacht  reichte  jedoch  keiner 
derselben  heran. 

Von  Laibach  begaben  wir  uns  nach  Triest.  Diese  schöne  Adria- 
stadt  hatte  durch  das  Erdbeben  fast  gar  nicht  gelitten.  Der  Schaden 
beschränkte  sich  auf  einige  unbedeutende  Hisse  in  den  oberen  Stock- 
werken der  Gebäude.  Grenzenlos  war  aber  auch  hier  die  Panik  in 
der  Osternacht.  80  000  Einwohner  stürzten  schlaftrunken  ins  Freie, 
meist  auf  die  Schiffe,  wo  sie  sich  sicher  glaubten.  Ähnlich  war  es  in 
Fiume  und  Pola.  In  Venedig  hatte  man,  wie  ich  später  hörte,  nicht 
viel  verspürt,  aber  die  Hotels  waren  im  Umsehen  leer  geworden. 

Das  Schüttergebiet  des  Bebens  war  ungeheuer  grofs,  etwa 
4000  qkm  umfassend.  Laibach  war  der  Mittelpunkt,' und  von  dort  aus 
erstreckte  sich  die  Zone  der  Verheerungen  nach  Nordwesten,  nach 
Krainburg,  Radmannsdorf  und  Stein  im  Thale  der  Save. 

Wie  bei  allen  gröfseren  Erdbeben  liers  sich  die  Wellenbewegung 
der  Erdrinde  an  feinfühligen  Instrumenten  auf  weite  Entfernungen  hin  ' 
konstatieren.  Die  Beobachtungen  auf  dem  Kgl.  geodätischen  Institut  in 
Potsdam  ergaben  gegen  Laibach  eine  Zeitdifferenz  von  318  Sekunden, 
woraus  sich  bei  der  Ortsdistanz  von  727  km  die  Fortpflanzungs- 
geschwindigkeit der  Welle  per  Sekunde  zu  2,28  km  ergiebt. 

Während  die  bisherigen  Bilder  vom  allgemeinen  Standpunkt  aus 
interessant  sind,  dürften  die  beiden  folgenden  Aufnahmen  auch  für  die 
wissenschaftliche  Erdbebenkunde  einige  Bedeutung  haben.  Unser  Bild 
(Fig.  9)  versetzt  uns  auf  den  Friedhof  von  Laibach,  wo  die  Verwüst- 
ungen geradezu  staunenerregende  waren.  Grabsteine  in  Obeliskenform 
waren  an  ihren  Fugflächen,  an  denen  sie  mit  Zement  zusammengekittet 

IV)* 


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4(fö 

waren,  einlach  abgedreht  und  die  Teile  um  ca.  30"  gegen  einander 
verschoben  worden.  Die  oberen  Pyramiden  wiesen  ausnahmslos  diese 
Drehung  um  ihre  Vertikalaxe  auf,  selbst  wenn  starke  Eisenstücke  sie 
zusammenhielten.  Eisenkreuze  waren  in  sich  selbst  verdreht,  ja  wir 
sahen  eins,  das  samt  seinem  Fundament  herausgerissen  und  mehrere 
Schritte  von  seinem  Standpunkt  fortgeschleudert  worden  war.  Porzellan- 
engel,  die  auf  Sandsteinsockel  standen,  waren  in  Scherben  zerschellt, 
Marmorbüsten  auseinandergerissen. 

Man  achte  ferner  auf  die  eiserne  Spitze  des  Daches  der  im  Hinter- 


Pig.       Durch  das  Erdbeben  verschobene  Grabsteine  auf  dem  Friedhof. 

gründe  unserer  Aufnahme  liegenden  Kapelle;  sie  befindet  sich  in  ganz 
verschobener  Lage,  und  in  ähnlicher  Weise  war  es  bei  allen  Kreuzen 
auf  den  Kirchtürmen  Laibaclis  der  Kai I. 

Dieselben  Verschiebungen  beobachtete  man  an  dem  Pfeiler  des 
Eingangsthors  der  österreichischen  Tabaksfabrik  (Fig.  10).  Derselbe 
war  bis  zum  verschobenen  Aufsatz  2,20  m  hoch;  letzterer  bildete  ein 
Achteck  von  1  m  Durchmesser  und  seine  Drehung  um  die  Vertikalaxe 
betrug  14",  wie  ich  dies  mit  freundlicher  Unterstützung  des  Herrn 
Forstkommissär  Putick  feststellen  konnte. 

Man  erklärte  diese  drehenden  Bewegungen  früher  aus  dem  Zu- 
sammentreffen von  aus  verschiedenen  Richtungen  kommenden  Erdbeben- 
wellen, die  sich  in  Form  von  Wirbelstöfsen  äufsern  sollten.  R.  Mallet 


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469 

und  Lasa  alz  haben  indes  gezeigt,  dafs  dieselben  auch  durch  geradlinige 
Stofsbewegungen  entstehen  können,  und  zwar  dann,  wenn  der  Ilaft- 
punkt  des  betreffenden  Körpers  nicht  in  seiner  Schwerpunktsaxe  liegt. 
Experimentell  läfst  sich  dies  sehr  einfach  erläutern.  Legt  man  näm- 
lich ein  viereckiges  Holzklötzchen,  das  an  seiner  Unterseite,  aber  nicht 
in  deren  Mitte  (im  Schwerpunkt  der  Unterfläche)  eine  kleine  Nadel- 
spitze trägt,  auf  ein  elastisches  Brett  und  drückt  die  Nadelspitze  in 


Fig.  10.   Drehbewegung  eine«  Pfeilers  der  Österreichischen  Tabaksfabrik. 

dasselbe  ein,  so  genügt  ein  horizontaler  Stöfs  an  das  Brett,  um  das 
Klötzchen  in  drehende  Bewegung  zu  versetzen.  Die  horizontale  Stofs- 
welle  wirkt  nämlich  auf  den  Schwerpunkt  des  Holzwürfels,  der  wegen 
seiner  Trägheit  der  Richtung  des  Stofses  entgegen  bewegt  wird.  Da 
aber  der  Würfel  aufserhalb  der  Vertikalaxe  seines  Schwerpunktes 
durch  die  Nadelspitze  festgehalten  ist,  mufs  er  um  diese  als  Angel 
eine  Drehung  ausführen. 

Ein  solch  künstlicher  Drehpunkt,  wie  in  unserm  Beispiel  die 


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470 

Nadelspitze,  ist  nun  zwar  bei  den  Grabsteinen  und  Pfeilern  meist  nicht 
vorhanden,  indefs  meint  Lasaulx,  dafs  Reibungswiderstände,  also  etwa 
kleine  Hervorragungen  in  der  Unterlage,  welche  sich  nicht  symmetrisch 
um  die  Schwerpunktsaxe  des  Steinwürfels  verteilen,  die  Stelle  einer 
künstlichen  Drehangel  ersetzen  könnten. 

Dynamisch  lärst  sich  gegen  diese  Erklärung  wohl  kaum  etwas 
einwenden,  aber  in  Hinblick  auf  die  Dutzende  von  Grabsteinen  auf 
«lern  Laibacher  Friedhof,  welche  alle  die  nämliche  Verschiebung  aul- 
wiesen, scheint  sie  uns  doch  nicht  ausreichend  zu  sein.  Unmöglich 
konnten  die  Stellen  gröfster  Reibung  sämtlich  außerhalb  der  Schwer- 


Fig,  11.   Die  Erdbebenzone  der  Südalpen  (nach  R.  Humes j. 


punktsaxe  liegen,  und  überdies  waren  auch  solche  Steiuaufsätze 
in  genau  derselben  Weise  verschoben,  welche  im  Schwerpunkt  durch 
Eisenpflöcke  an  einander  genietet  waren,  also  eine  künstliche  Drehaxe 
im  Sinne  der  obigen  Nadelspitze  besafsen. 

Am  Schlüsse  noch  ein  paar  Worte  über  die  Ursache  des  Erd- 
bebens. 

Es  lag  zunächst  nahe,  an  die  Höhlen  des  Karstgebietes  zu  denken. 
Die  durch  unterirdische  Gewässer  total  unterwühlten  Kalkgefilde  des 
Karstes  beginnen  ja  gleich  hinter  Laibach  und  ziehen  sich  von  dort 
aus  bis  Nabresina  und  Triest  hin.  Schon  vom  Kisenbahnzuge  aus  er- 
blickt man  die  eigentümlichen  Karsttrichter  oder  Dolinen,  schachtartige 
Vertiefungen,  deren  Durchmesser  zwischen  10  und  1000  m  schwankt, 


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471 


und  bei  den  Stationen  Adelsberg  und  Divacca  beiluden  sich  die  welt- 
berühmten Grotten,  die  Adelsberger  und  St.  Canzian-Höhle,  die  sich  kilo- 
meterweit unter  dem  Erdboden  hinziehen.  Es  lag  nahe,  sagte  ich,  an 
den  Deckeneinsturz  solcher  Höhlen  zu  denken,  und  in  der  That  hatte 
sich  diese  Meinung  zunächst  verbreitet 

Aber  wer  mit  den  einschlägigen  Verhältnissen  einigermaßen 
vertraut  ist,  weife,  dafs  derartige  Höhleueinstürze  nur  sehr  lokale 
Wirkungen  ausüben;  das  Laibacher  Beben  hatte  einen  viel  zu  aus- 
gedehnten Verbreitungskreis.  Die  sofortige  Untersuchung  der  Adels- 
berger  und  St.  Canzian-Höhle  ergab  denn  auch,  dafs  darin  nicht  das 
geringste  passiert  war.  Das  Beben  ist  zweifellos  ein  toktonisches  ge- 
wesen, wie  es  in  jugendlichen  Faltengebirgen  und  gerade  in  diesem 
Teil  der  österreichischen  Kalkalpen  nur  zu  häufig  beobachtet  worden 
ist.  Die  Beben  von  Villach  1348,  und  später  von  Elana  1870.  Udine 
1872,  Agram  1880,  Wien-Neustadt  u.  s.  w.  gehören  alle  in  diese  Klasse 
der  Dislokationsbeben,  welche  Verrückungen  der  Erdschollen  längs 
Spalten  und  Brüchen  in  Felsengerüste  ihren  Ursprung  verdanken. 
Auch  Laibach  hat  in  früheren  Jahrhunderten  eine  ganze  Reihe  ver- 
heerender Erdbebenkatastrophen  erlebt,  wie  dies  die  Aufzeichnungen 
des  Krainischen  Geschichtsschreibers  Johann  Weichard  Freiherr 
von  Valvasa  in  seinem  1689  gedruckten  Werke  bekunden,  so 
namentlich  in  den  Jahren  1511  und  1512,  dann  weiter  1575,  1641  und 
1684. 

Es  ist  das  Verdienst  des  berühmten  Wiener  Geologen  E.  SueTs, 
ferner  dasjenige  von  Hörnes,  Bittners,  Höfers,  Wähners  und 
anderer  Forscher,  die  lokalen  Verhältnisse  der  österreichischen  Beben 
näher  untersucht  zu  haben.  Die  Stofslinien,  welche  meistens  quer  zum 
Streichen  der  Ostalpen  verlaufen,  sind  auf  der  vorstehenden  Karte  (Fig.  1 1, 
nach  Hörnes)  eingezeichnet.  Durch  die  Erkenntnis,  dafs  diese  Stofs- 
oder  Bebenlinien  nicht  regellos  verteilt,  sondern  an  bestimmte,  immer 
wieder  erschütterte  Linien  gebunden  sind,  denen  in  der  Regel  eine 
tektonische  Bedeutung  zukommt,  indem  sie  mit  Bruch-  oder  Störungs- 
linien zusammenfallen,  ja  sich  meist  orographisch  als  solche  erkennen 
lassen,  ist  ein  neuer  Fortschritt  in  der  dynamischen  Geologie  ange- 
bahnt, der  sicher  einmal  für  die  Krdbebenprognosen  von  praktischer 
Bedeutung  werden  wird '-). 

'J  Diesen  Zusammenhang  zwischen  tektonischen  und  Bebonlinicn  konnte 
Suefs  besonders  für  die  von  Wien  nach  Wioner=Neustadt  verlaufende  Bruch- 
linie (Thermallinio),  ferner  für  eine  von  Wiencr=NTeustftrtt  sich  nach  Böhmen 
erstreckende  Linie  (Kamplinie)  und  eine  sich  sudlich  anschlielsende,  welche 
durch  das  Mürzthal  und  über  den  Scmmering  nach  Steiermark  eindringt, 


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472 


Doch  bei  anderer  Gelegenheit  mehr  von  den  Theorien.  Wer  die 
Verhältnisse,  die  sich  in  einer  von  Erdbeben  betroffenen  Stadt  ab- 
spielen, auch  nur  zum  Teil  aus  eigener  Anschauung  kennen  gelernt 
hat,  bei  dem  überwiegen  die  sinnlichen  Kindrücke,  der  weifs,  dafs  rein 
menschliche  Bilder  sich  überall  in  den  Vordergrund  drängen.  Diese, 
nicht  Theorien,  wollte  ich  in  erster  Linie  hier  vorführen,  und  ich 
glaube,  dafs  ich  dies  so  objektiv  wie  möglich  gethan  habe.  Mögen 
auch  meine  Laibacher  Freunde  entschuldigen,  wenn  sie  diese  Blätter 
in  die  Hand  bekommen  und  so  an  Tage  erinnert  werden,  die  für  alle 
Beteiligten  Tage  der  Betrübnis  waren. 

(Mürzlinic)  nachweisen.  Orographisch  ist  vor  alten  die  Thermaüinie  ausge- 
zeichnet, an  der  die  Kalkalpen  plötzlich  abbrechen  und  sich  das  Wiener  Sen- 
kuugsfeld  anlehnt.  Die  dort  zahlreich  auftretenden  Thermen  stehen  mit  diesem 
Bruch  in  Verbindung. 


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Reichtum  einzelner  Sternhaufen  an  veränderlichen  Sternen. 

Der  Ameisen-Fleifs  des  unter  der  Leitung-  von  E.  C.  Pickering 
am  Observatorium  dos  Harvard  College  arbeitenden  Stabes  von 
40  Astronomen  und  Astronominnen  hat  wiederum  eine  interessante  Ent- 
deckung- gezeitigt,  die  ohne  ein  in  so  grofsem  Stil  organisiertes  Zu- 
sammenarbeiten zahlreicher  Kräfte  wohl  noch  lange  hätte  auf  sich 
warten  lassen.  Der  Leiter  der  von  uns  schon  oft  erwähnten,  seit 
»•inigen  Jahren  in  Arequipa  errichteten  Filiale  des  Harvard-Instituts, 
Pn>t.  Bailey,  hat  nämlich  auf  Grund  zahlreicher  photographischer 
Aufnahmen  die  merkwürdige  Thatsache  konstatiert,  dafs  gewisse  ver- 
dichtete, kugelförmige  Sternhaufen  in  auffallendem  Grade  reich  an 
veränderlichen  Sternen  sind.  Untersucht  wurden  bisher  23  Stern- 
haufen, in  denen  19050  Sterne  in  Bezug  auf  Veränderlichkeit  geprüft 
und  500  (also  etwa  8  pCt.)  als  veränderliche  aufgefunden  wurden.  Bei 
näherem  Zusehen  ergiebt  sich  aber,  dafs  durchaus  nicht  alle  Stern- 
haufen an  dieser  hoben  Prozentzahl  partizipieren.  Vielmehr  sind  es 
unter  den  23  untersuchten  Objekten  nur  4,  die  überaus  reich  an  Ver- 
änderlichen sind.  Diese  vier,  zu  denen  auch  der  berühmte  Sternhaufen 
Centauri ')  gehört,  enthalten  7  pCt.  veränderliche  Sterne,  während 
die  übrigen  19  Sternhaufen  nur  weniger  als  1  pCt.  ergeben. 

über  die  Verhältnisse  des  herrlichen  Sternhaufens  im  Centauren 
giebt  das  33.  Zirkular  des  Harvard  College  Obscrvatory  bereits  nähere 
Auskunft.  Von  den  0400  Sternen,  welche  die  150  aufgenommenen 
Negative  erkennen  lassen,  waren  3000  hell  und  deutlich  genug,  um 
eine  Helligkeitsmessung  zu  gestatten.  Die  von  Bailey  und  Mifs  Le- 
1  and  ausgeführten  10000  Messungen  stellten  125  Variaide  (4,2  pCt.  der 
Gesamtzahl)  fest,  so  daTs  in  Bezug  auf  die  Häufigkeit  der  Veränderlichen 

')  Eine  vortrefflich«*  Reproduktion  einer  Baileyschen  Aufnahme  dieses 
Objekts  wurde  unseren  Lesern  im  siebenten  Bande  dieser  Zeitschrift  (Seite  1>7| 
vorgeführt. 


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474 

dieser  Sternhaufen  noch  weit  hinter  Messier  3  (in  den  Jagdhunden» 
mit  15  pCt.  Variablen  zurückbleibt. 

Die  Periodendauer  ist  bis  jetzt  bei  106  Veränderlichen  des  Cen- 
tauren-Sternhaufens ermittelt  worden.  Dieselbe  schwankt  zwischen 
6  Stunden  11  Minuten  einerseits  und  475  Tagen  andererseits;  es  über- 
wiegen jedoch  die  kurzen  Perioden,  denn  bei  98  Sternen  vollzieht  sich 
der  Lichtwechsel,  dessen  Betrag  übrigens  nie  weniger  als  eine  halbe 
üröfsenklasse  beträgt,  in  einem  Falle  sogar  5  Gröfsenklassen  ausmacht, 
in  weniger  als  24  Stunden.  Die  Lichtkurve  der  meisten  Veränder- 
lichen  von  u>  Centauri  verläuft  außerordentlich  regelmäßig,  indem  sif 
eine  beständige  Helligkeitsäuderung  anzeigt,  bei  der  allerdings  die 
Zeit  des  Zunehmens  nur  etwa  ein  Fünftel  oder  einen  noch  kleineren 
Bruchteil  der  ganzen  Periode  ausmacht.  Indessen  sind  auch  einzelne 
Sterne  vorhanden,  deren  Lichtwechsel  einen  komplizierteren  oder  un- 
gewöhnlichen Verlauf  nimmt.  Elöchst  merkwürdig  ist  jedenfalls  die 
grofse  Regelmäßigkeit,  mit  der  sich  die  Schwankungen  immer  wieder- 
holen; bei  einem  Stern  hat  man  bereits  mehr  als  5000  Perioden  in 
völlig  ungestörter  Uegolmäfsigkeit  verfolgen  können. 

Wenn  man  eine  Erklärung  für  diese  merkwürdigen  Thatsaehen 
sucht,  so  wird  man  in  erster  Linie  natürlich  an  Pickerings  Yer- 
finsterungstheorie  und  an  Zöllners  Rotationstheorie-')  zu  denken  haben, 
doch  ist  es  wohl  bis  jetzt  noch  nicht  an  der  Zeit,  näher  auf  Hypothesen 
einzugehen.  Jedenfalls  würde  die  Annahme  irgend  welcher  Be- 
wegungsvorgänge uns  am  ehesten  befriedigon  können,  zumal  dadurch 
auch  verständlich  werden  würde,  dafs  ein  so  nahe  mit  <u  Centauri  und 
Messier  3  verwandtes  Objekt  wie  der  grofse  Herkulessternhaufen 3)  unter 
1000  Sternen  nur  2  Veränderliche  aufweist,  also  ganz  auffallend  arm 
an  Variablen  ist.  Eine  gemeinsame  Ebene  der  Bahnbewegungeu  oder 
Axendrehungen  der  Mitglieder  eines  jeden  kugelförmigen  Stern- 
haufens würde  dann  nämlich  solche  auffallenden  Unterschiede,  wie  wir 
eben  hervorgehoben  haben,  nach  Pickering  begreiflich  machen. 
Bei  den  an  Veränderlichen  reichen  Sternhaufen  würde  unser  Stand- 
punkt jedenfalls  nahe  dieser  gemeinsamen  Drehungsebene  anzunehmen 

'*)  Pickering  hat  zuerst  den  Lichtwechsel  des  Algol  durch  die  später 
glänzend  bestätigte  Annahme  erklärt,  dafs  der  Stern  von  einom  grofse u,  duiik- 
leu  Begloiter  umkreist  werde,  der  uns  in  regelmäßigen  Zwischenräumen  den 
leuchtenden  Zentralkürper  vordeckt.  Zöllner  glaubte  die  regelmäßigen  Licht- 
schwankungen  einer  anderen  Gruppe  von  Veränderlichen  auf  ungleiche  Leucht- 
kraft dor  Oberllächenteile  in  Verbindung  mit  der  Wirkung  der  Rotation  der 
Gestirne  zurückfübren  zu  sollen. 

*)  Vergl.  Himmel  und  Erde,  Bd.  VI,  Seite  105  f. 


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47ö 

sein,  während  die  gemeinsame  Ebene  des  Herkulessternhaufens  auf 
der  Gesichtslinie  annähernd  senkrecht  stehend  zu  denken  wäre,  so  dafs 
weder  durch  Rotation  noch  durch  Umlaufsbewegungen  der  Sterne 
irgend  weiche  Lichtschwankungen  hervorgerufen  werden  könnten. 

F.  Kbr. 

Entdeckung  der  Sonnenfinsternis  des  Agathocles  auf  einer  Inschrift. 

Diodor  erwähnt  in  seinem  20.  Buche,  dafs  Agathocles,  Tyrann 
von  Syrakus,  um  der  Bedrängung  durch  die  karthagischen  Schiffe  zu 
entgehen,  den  Plan  fafste,  dio  Karthager  in  ihrem  eigenen  Lande  anzu- 
greifen. Als  er  von  Syrakus  mit  einer  Flotte  zu  diesem  kühnen  Zuge  aus- 
lief, geschah  es,  dafs  sich  am  hellen  Tage  plötzlich  die  Sonne  ganz  ver- 
finsterte und  überall  Sterne  am  Himmel  sichtbar  wurden.  Diese  totale 
Sonnenfinsternis,  die  zu  der  Zeit  vorfiel,  als  Hieromnemon  Archont 
von  Athen  war,  ereignete  sich,  wie  vorschiedentliche  astronomische 
Untersuchungen  ergeben  haben,  am  15.  August  310  vor  Christi.  Die 
Finsternis  hat  für  die  theoretische  Astronomie  eine  besondere  Wichtig- 
keit erlangt,  da  sich  der  Ort,  wo  Agathocles  zur  Zeit  der  Sonnen- 
finsternis segelte,  ungefähr  bestimmen  läfst,  und  man  daher  auch  die 
aus  unserer  Mondtheorie  folgende  Lage  der  Zentralitätszone  der 
Finsternis  mit  der  faktisch  stattgefundenen  Zone  vergleichen,  und  also 
entsprechende  Schlüsse  auf  Verbesserung  der  Theorie  ziehen  kann. 
Jedoch  bildete  Diodors  Bericht  bisher  das  einzige  vorhandene  Zeug- 
nis über  die  Wahrnehmung  jener  großen  Finsternis  des  Altertums, 
denn  Justin,  der  die  Finsternis  ebenfalls  erwähnt,  hat  seine  Nach- 
richt wahrscheinlich  aus  derselben  historischen  Quelle  geschöpft  wie 
Diodor.  Vor  einiger  Zeit  hat  sich  nun  in  ganz  unerwarteter  Weise 
eine  weitere  Bestätigung  der  Finsternis  vorgefunden.  Die  Erwäh- 
nung derselben  ist  nämlich  auch  auf  einem  neuerdings  entdeckten 
Bruchstücke  der  sogenannten  „parischen  Marmorchronik"  enthalten. 
Die  parische  Marmorchronik  besteht  aus  mehreren  Steinstücken,  die 
mit  Inschriften  von  hohem  Alter  bedeckt  sind.  Der  Hauptrest 
wurde  bei  Gelegenheit  von  Bauten  auf  der  Insel  Paros  aufgefunden; 
Lord  Arundel  liefs  ihn  1626  nach  England  bringen,  wo  er  sich 
derzoit  im  Museum  zu  Oxford  aufgestellt  befindet.  Diese  parische 
Marmorchronik  ist  nun  durch  den  Umstand,  dafs  die  Inschrift  des 
Marmors  eine  kurze  Übersicht  der  wichtigsten  Ereignisse  der 
griechischen  Geschichte  bis  zum  Jahre  264  v.  Chr.  geben  will,  eines 
der  wichtigsten  Dokumente  für  die  Oeschichtsforschung  geworden  und 


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476 


zwar  sind  bei  der  Aufzählung  der  Thatsachen  jedesmal  die  Namen  der 
athenischen  Archonten  (der  höchsten  Magistratsperson,  deren  Amtsjahr 
die  griechische  Zeitrechnung  vielfach  anführt)  genannt,  in  deren  Amts- 
zeit das  betreffende  Ereignis  fällt.  Das  bisher  bekannte  Bruchstück 
der  Chronik  reicht  indessen  nicht  bis  264  v.  Chr.,  sondern  nur  bis 
355  v.  Chr.,  so  dafs  also  die  Existenz  eines  Restes  der  Marmortafel 
vorausgesetzt  werden  durfte.  Im  Jahre  1897  fand  nun  ein  Gutsbesitzer 
auf  der  Insel  Paros  in  der  Nähe  des  Städtchens  Parikia  bei  Nach- 
grabungen an  einer  Stelle,  die  schon  früher  wegen  dort  vorhandener 
unterirdischer  Gewölbe  u.  dgl.  bekannt  gewesen  war,  eine  zerbrochene 
Marmorplatte,  deren  Untersuchung  durch  Archäologen  keinen  Zweifel 
daran  liefs,  dafs  man  es  hier  mit  einem  weiteren  Bruchstücke  der 
parischen  Marmorchronik  zu  thun  habe.  Die  Platte  enthält  in  ihrer 
Inschrift  eine  Fortsetzung  der  Chronik  der  Zeitereignisse  vom  Jahre 
336  bis  299  v.  Chr.,  so  dafs  also,  da  die  Chronik  angeblich  mit  264 
v.  Chr.  abschliefsen  soll,  das  Vorhandensein  eines  noch  weiteren 
Bruchstückes  oder  mehrerer  Theile  vorausgesetzt  werden  darf.  Nach 
den  Dimensionen  des  Fundes  zu  urteilen,  mufs'  die  Gesamthöhe  der 
ehemaligen  Inschrift  fläche  über  2  Meter  betragen  haben.  Wie  die  im 
letzten  Jahrgange  der  Mitteilungen  des  deutschen  archäologischen 
Institutes  zu  Athen  erfolgte  Veröffentlichung  der  Inschrift  des  neuen 
Marmorbruchstückes  erkennen  läfst,  erwähnt  die  Chronik  auf  der 
20.  Zeile  unter  dem  Archonten  Polemon  eine  Sonnenfinsternis  uud 
gleichzeitig  des  Ptolemaios  Sieg  bei  Guza  über  Demetrios  und 
des  Seleukos  Sendung  nach  Babylon.  Da  das  Amtsjahr  Polemons 
312  bis  311  v.  Chr.  ist  und  dio  Schlacht  bei  Gaza  ins  Frühjahr  312 
füllt,  so  müfste  hier  wohl  auoh  eine  312  oder  311  vorgefallene  Sonnen- 
finsternis gemeint  sein.  Überdies  kann  es  sich  nur  um  eine  sehr 
bedeutende  Finsternis,  d.  h.  um  eine  zentrale  uud  wahrscheinlich  für 
Paros  oder  doch  wenigstens  Athen  sehr  beträchtliche  handeln,  da  die 
Marmorchronik,  wie  gesagt,  nur  von  den  bemerkenswertesten  Er- 
eignissen und  zwar  in  kurzer  annalistischer  Form  Meldung  macht. 
Die  astronomische  Berechnung  der  Sonnenfinsternisse  für  jene  Zeit 
ergiebt  aber,  dafs  von  317  v.  Chr.  bis  310  keine  halbwegs  nennens- 
werte Sonnenfinsternis  für  Griechenland  und  dessen  Inselgruppen 
möglich  gewesen  ist,  mit  Ausnahme  der  berühmten  Sonnenfinsternis 
des  Agathocles,  die  am  15.  August  310  v.  Chr.  stattgefunden  hat. 
Die  Zentralitätszone  dieser  Finsternis  lief  nach  einem  vom  Verfasser 
dieses  Berichtes  eben  veröffentlichten  Werke,  welches  über  die  Sicht- 


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477 


barkeitsverhältnisse  der  Finsternisse  eines  bedeutenden  Zeitraumes 
detaillierte  Auskünfte  giebt,*)  nicht  nur  über  Sizilien,  wo  die  Totalität 
den  Tyrannen  Agathooles  erschreckte,  sondern  auch  über  Griechen- 
land, und  zwar  lag  Athen  innerhalb  der  Zone,  so  dafs  dort  die 
Phase  der  Verfinsterung  ebenfalls  total  war.  Die  Insel  Faros  liegt 
etwas  südlich  von  der  Zentralitätszone  der  Finsternis,  jedoch  so  wenig 
davon  entfernt,  dafs  auf  Paros  die  Phase  immer  noch  über  106/ioZoll 
betragen  haben  mufs.  Möglicherweise  kann  also  die  Sonnenfinsternis 
von  Bewohnern  der  Insel  selbst  bemerkt  worden  sein,  und  der  Verfasser 
der  Marmorchronik  verzeichnete  sie  deshalb  als  ein  denkwürdiges 
Ereignis  auf  der  Marmortafel,  oder  die  Nachricht  über  die  grofse 
Finsternis  stammte  aus  Athen  und  wurde  gleichzeitig  mit  anderen 
Nachrichten  der  Chronik  einverleibt.  Die  parische  Marmorohronik 
setzt  also  die  Sonnenfinsternis  irrtümlicherweise  unter  den  Arohonten 
Polemon,  während  sie  unter  die  Ereignisse  zu  Zeiten  des  Archonten 
Hieromnemon  (310  v.  Chr.)  eingereiht  werden  sollte.  Übrigens  giebt 
die  Marmorchronik  für  den  kühnen  7ug  des  Agathocles  gegen 
Karthago  die  Zeit  des  Archonten  Hieromnemon  selbst  an,  so  dafs 
kein  Zweifel  darüber  besteht,  dafs  dem  Verfasser  der  Marmorchrouik  das 
richtige  Datum  der  Finsternis  nicht  mehr  gegenwärtig  war  und  die 
Differenz  von  1  bis  2  Jahren  nur  ein  Gedächtnisfehler  ist.  Nachdem 
die  gebildete  Welt  durch  Jahrhunderte  hindurch  über  die  Finsternis 
des  Agathocles  nur  ein  schriftliches  Zeugnis  besäte,  erhält  sie 
darüber  also  jetzt  noch  eine  andere,  sozusagen  steinerne  Bestätigung. 

G. 

Die  Temperatur  des  Mondes,  über  die  von  verschiedenen 
Forschern  bisher  meist  noch  sehr  verschiedene  Vermutungen  aufge- 
stellt wurden,  ist  neuerdings  von  Frank  W.  Very  zum  Gegenstand 
einer  bolometrischen  Untersuchung  gewählt  worden.  Unter  Anwendung 
von  Methoden,  auf  die  wir  hier  nicht  eingehen  können,  lindet 
eine  durchschnittliche  Vollmondtemperatur  von  +  97°  C.  Entgegen 
der  früher  vielfach  geäufserten  Meinung,  dafs  der  Mangel  einer  Atmo- 
sphäre auf  dem  Monde  jede  erhebliche  Erhöhung  der  Oberflächen- 
temperatur trotz  intensiver  Sonnenstrahlung  ausschliefen  dürfte,  glaubt 

*)  F.  K.  Ginzel,  Spezieller  Kanon  der  Sonnen-  u.  Mondllnstemisse  für 
das  Ländergobiet  der  klassischen  Altertumswissenschaften,  von  i»00  v.  Chr.  bis 
GOO  n.  Chr.  Bearbeitet  auf  Kosten  und  herausgegeben  mit  Unterstützung  der 
Königl.  i>reuss.  Akad.  d.  Wissensch.  —  Berlin,  Mayer  u.  Müller,  18'J'J. 


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478 

also  Very  doch  auf  eine  infolge  der  langen  Tagesdauer  •)  fast  bis 
zum  Siedepunkt  des  Wassers  steigende  Erhitzung  der  Mondoberfläche 
schliersen  zu  müssen,  die  allerdings  bei  Vorhandensein  einer  Atmo- 
sphäre noch  erheblich  steigen  würde.  Sicherlich  folgt  der  hohen 
Mittagstemperatur  während  der  14tägigen  Nacht  bei  der  durch  nichts 
gehinderten  Ausstrahlung  der  Wärme  in  den  Weltraum  eine  enorme 
Abkühlung,  welche  bis  nahe  auf  die  Temperatur  des  Weltraums  zurück- 
führen mufs. 

* 

Blitzableiter  für  elektrische  Leitungen. 

Einer  der  Hauptvorzüge  der  unterirdisch  verlegten  Kabel  ist  die 
Sicherheit  gegen  Blitzgefahr.  Bei  den  Telegraphen-  und  Telephon- 
leitungen benutzt  man  wegen  des  billigeren  Preises,  bei  der  Über- 
tragung hochgespannter  Ströme  wegen  der  leichteren  Isolation  in  den 
meisten  Fällen  Freileitungen,  und  man  wird  somit  vor  die  Notwen- 
digkeit gestellt,  durch  eine  passende  Blitzschutzvorrichtung  die  Leitung 
und  das  in  ihrer  Nähe  arbeitende  Personal  zu  schützen.  Bei  den 
Schwachstromleitungen  ist  dies  verhältnismäfsig  leicht.  Man  hat  nur 
von  mehreren  Stellen  der  Leitung  aus  einen  Draht  nach  der  Erde  zu 
ziehen  und  mit  ihr  in  bekannter  Weise  in  gut  leitende  Verbindung 
zu  bringen.  Um  zu  vermeiden,  dafs  der  Betriebsstrom  durch  diese 
Leitung  ebenfalls  abflierse,  wird  in  dieselbe  eine  Unterbrechungsstelle 
eingeschaltet  von  einer  so  geringen  Länge,  dafs  der  Blitz  sie  ohne 
weiteres  zu  überspringen  vermag,  während  dies  für  den  niedrig  ge- 
spannten Betriebsstrom  nicht  möglich  ist.  Ein  bekanntes  Beispiel  der- 
artiger Blitzschutzvorrichtungen  bildet  der  Plattenblitzableiter:  er  be- 
steht aus  zwei  durch  ein  Stück  paraffingetränkten  Papieres  von  ein- 
ander getrennten  Metallplatten,  deren  eine  mit  der  Leitung  verbunden 
ist,  während  die  zweite  mit  der  Erde  in  Verbindung  steht.  Hier  wird 
das  Papier  von  dem  Blitze  leicht  durchschlagen.  Ganz  ähnlich  ist  der 
von  der  Post  zur  Sicherung  der  Fernsprechapparate  benutzte  Spindel- 
blitzableiter eingerichtet,  bei  welchem  ein  Stück  des  Leitungsdrahtes 
durch  eine  dünne  Seidenumspinnung  isoliert  ist,  während  an  der 
Aufsenseite  dieser  isolierenden  Schicht  ein  nach  der  Erde  führender 
Draht  liegt. 

*)  Bekanntlich  dauert  der  Sonnenschein  an  jedem  Punkte  der  Mond- 
oherfläche  volle  14  unserer  Tage,  da  die  Rotationsdauer  des  Mondes  nüt  der 
Dauer  seine»  Umlaufes  um  die  Erde  zusammenfällt. 


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479 


Nicht  ganz  so  einfach  ist  es,  eine  Starkstromleitung  zu  sichern, 
da  sich  nach  erfolgtem  Übergang  eines  Funkens  ein  Flammenl)ogen 
bildet,  welcher  nunmehr  die  Leitung  dauernd  in  Verbindung  mit  der 
Erde  hält.  Liegt  der  zweite  Pol  der  die  Leitung  speisenden  Dynamo- 
maschine an  Erde,  was  beispielsweise  bei  Strafsen bahnen  mit  oberir- 
discher Stromzuführung  der  Fall  ist,  so  veranlafst  der  durch  den  Blitz 
herbeigeführte  Erdschiurs  die  Entstehung  eines  sehr  starken  Stromes, 
der  die  Leitung  zum  Schmelzen  bringen  oder  sonstiges  Unheil  an- 
richten könnte.  Man  mufs  also  den  sich  bildenden  Flammenbogen 
möglichst  schnell  zu  beseitigen  trachten.  Zu  diesem  Zwecke  hat  man 
mannigfache  Vorrichtungen  ersonnen.  Man  leitet  z.  B.  den  durch  den 
Flammenbogen  von  einer  Platte  des  Blitzableiters  zur  andern  gehenden 
Strom  noch  durch  einen  Elektromagneten;  dieser  zieht  ein  Eisenstück  an, 


welches  mit  einer  der  beiden  Blitzplatten  in  Verbindung  steht,  und 
dadurch  wird  diese  Platte  von  der  ihr  gegenüberstehenden  um  ein 
betriichtliches  Stück  entfernt,  der  Flammenbogen  also  zerrissen.  Die 
Einrichtung  solcher  Vorrichtungen  ist  zumeist  derartig,  dafe  sie  nach 
dem  Funktionieren  in  ihre  richtige  Lage  gebracht  werden  müssen, 
also  nicht  wieder  selbstfhütig  gebrauchsfertig  werden.  Man  kann 
aber  auch  den  Elektromagneten  so  aufstellen,  dafs  sich  der  Flammen- 
bogen quer  zwischen  seinen  Polen  hindurchziehen  mute.  In  diesem 
Fall  spielt  sich  die  umgekehrte  Erscheinung  ab  wie  bei  der  Ab- 
lenkung der  Magnetnadel,  d.  h.  der  Flammenbogen,  der  ja  einen  be- 
weglichen Stromleiter  darstellt,  wird  zur  Seite  gedrängt  und  auf  diese 
Weise  zerreifst  er  ebenfalls.  Alle  Einrichtungen,  welche  Elektro- 
magnete  benutzen,  sind  nicht  ganz  einwandfrei,  da  elektrische  Ent- 
ladungen dem  Wege  durch  die  Windungen  einer  Drahtrolle  leicht 
irgend  einen  Nebenweg  vorziehen. 

Die  denkbar  einfachste  Lösung  der  Aufgabe  scheint  eine  Kon- 
struktion von  Siemens  und  Ilalske  zu  bilden,  welche  Hörner- 


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480 


blitzableiter  genannt  wird  und  umstehend  abgebildet  ist.  Hier 
springt  der  Blitz  zwischen  zwei  Drahtbügeln  über,  welche  unten  nahe 
an  einander  stehen,  sich  aber  nach  oben  hönierförmig  von  einander 
entfernen.  Der  gebildete  Flammen  bogen  wird  durch  die  erwärmte 
und  dann  aufsteigende  Luft  in  die  Höhe  getrieben;  dieses  Aufsteigen 
wird  noch  dadurch  unterstützt,  dafs  die  von  dem  Strome  umschlossene 
Fläche,  also  die  Fläche  zwischen  den  Bügeln  und  dem  Flammenbogen 
sich  möglichst  zu  vergröfsern  sucht,  ein  Bestreben,  das  auf  die  gegen- 
seitige Abstofsung  der  in  entgegengesetztem  Sinne  durchströmten  ein- 
ander gegenüberliegenden  Teile  des  Stromkreises  zurückzuführen  ist. 
Aus  diesen  beiden  Ursachen  steigt  also  der  Plammenbogen  nach  oben, 
dadurch  wird  er  länger  und  zerreifst.  Unser  Titelblatt  zeigt  einen 
solchen  Blitzableiter  in  Funktion,  und  zwar  unter  dem  Einflüsse  eines 
Stromes  von  10  000  Volt  Spannung.  Das  eine  Bild  giebt  eine  Dauer- 
fchfnahme  von  etwa  2  Sekunden,  während  deren  der  Lichtbogen  nach 
oben  wandert  und  erlischt.  Das  zweite  Bild  stellt  eine  Reihe  von 
Aufnahmen  dar,  welche  mit  Hilfe  eines  sich  abwechselnd  öffnenden 
und  schliefsenden  Momentverschlusses  gemacht  wurden.  Man  sieht 
hier  also  den  Flammenbogen  in  einzelnen  Stadien. 

Die  Beamten  der  elektrischen  Centrale  in  Brakpan  (Südafrika) 
berichten,  dafs  am  1 1.  März  dieses  Jahres  ein  solcher  Blitzableiter  fast 
während  des  ganzes  Nachmittages  im  Betriebe  war;  einmal  traten 
während  10  Minuten  72  Entladungen  und  durch  sie  hervorgerufene 
Flammenbogen  auf;  die  aber  keinerlei  Störungen  im  Gefolge  hatten. 
Es  scheint  also,  dafs  die  einfache  aber  recht  interessante  Vorrichtung 
ihren  Zweck  sicher  zu  erfüllen  vermag.  Sp 


Verlag:  Hermann  I'»etel  in  Berlin.  —  Drock:  Wilhelm  Oronan'e  Bochdroekerei  in  Berlin  -  Schön#b«rr 
Für  die  RedacUon  verantwortlich:  Dr.  P.  Schwehn  ia  Berlin. 
Unberechtigter  Nachdruck  an«  den  Inhalt  dieser  Zeitschrift  untersagt. 
Überaetxangereeht  vorbehalten. 


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Förderungs-Anlage. 


Waschmaschinen  für  blaue  Erde. 

Zu  „Südafrikas  Diamanten", 


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Die  Meeresforschung 
der  Gegenwart,  ihre  Ergebnisse  und  Probleme. 

e  Von  P.  Joh.  Müller  in  Zittau. 

c^Schon  in  den  ältesten  Zeiten  hat  das  Meer  mit  seinen  wechsel- 
vollen  grofsartigen  Erscheinungen,  seiner  elementaren  Gewalt, 
seiner  nie  rastenden,  zerstörenden  und  wieder  aufbauenden 
Thätigkeit,  seiner  auf  die  Gestaltung  der  Küsten  und  der  Lebensweise 
ihrer  Bewohner  tief  eingreifenden  Wirkung,  seinem  reichen  Tier-  und 
Pflanzenleben  die  Aufmerksamkeit  der  Menschen  auf  sich  gelenkt 
und  dieselben  zu  tieferem  Nachdenken  und  ernsterem  Studium  an- 
geregt Doch  eine  richtige  und  gründliche  Kenntnis  der  Meeresver- 
hältnisse ist  erst  eine  Errungenschaft  der  Gegenwart  in  ihren  letzten 
Jahrzehnten. 

Die  Triebfeder  dazu  waren  zunächst  praktische  Interessen.  Die- 
Legung  der  Telegraphenkabel  erforderte  eine  vorausgehende  Lotung 
der  Meerestiefen  und  eine  sorgfältige  Untersuchung  des  Meeresgrundes. 
Das  erste  Kabel  wurde  1850  zwischen  Dover  und  Calais  gelegt,  und 
die  unterseeische  Verbindung  zwischen  Europa  und  Amerika  durch 
das  Riesenschiff  Great  Eastern  1866  ausgeführt  Gegenwärtig  sind 
alle  Erdteile  durch  Kabel  verbunden,  so  dafs  man  z.  B.  von  London 
aus  nach  allen  überseeischen  Handelsplätzen  von  Bedeutung  tele- 
graphieren kann.  Aber  auch  der  Grofsfischereibetriob  hat  durch  die 
Meeresforschung  eine  ungeahnte  Förderung  erfahren,  indem  sie  die 
Gesetze  erkundete,  welche  die  Kolonnen  der  Wanderfische  in  be- 
stimmte Bahnen  leiten.  Die  Seeschiffahrt  aber  ist  nicht  nur  in  ganz 
neue  Wege  gelenkt  worden,  sondern  erfolgt  auch  heutzutage  fast  mit 
der  Pünktlichkeit  und  Sicherheit  kontinentaler  Verkehrsmittel,  wofür 

Himmel  und  Erde.  1899.  XI.  II.  31 


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482 

die  vom  Deutschen  Reiche  subventionierten  Postdampfer  des  1854  ge- 
gründeten Norddeutschen  Lloyd  ein  beredtes  Zeugnis  ablegen. 

Diesen  rein  praktischen  Interessen  reihen  sich  aber  wissenschaft- 
liche von  der  höchsten  und  weittragendsten  Bedeutung  an.  Epoche- 
machend für  die  Meereskunde  waren  zunächst  die  drei  grofsen  von 
Deutschland,  England  und  Amerika  in  den  siebenziger  Jahren  unter- 
nommenen wissenschaftlichen  Expeditionen  der  Korvetten  Gazelle. 
Challenger  und  Tuscarora. 

Die  Gazelle  durchkreuzte  1874 — 76  unter  dem  Kommando  des 
Kapitäns  zur  See,  Freiherrn  v.  Schleinitz,  den  Atlantischen  Ozean; 
der  Challenger  stand  während  seiner  langen  Reise  1872 — 76  unter 
Kapitän  Nares  und  später  unter  Kapitän  Thomson.  Die  Bearbei- 
tung des  gesamten  Materials  dieser  Weltumsegelung  beschäftigte  bis 
1895  einen  Stab  von  sieben  ausgezeichneten  Naturforschern.  In  einer 
Reihe  von  nicht  weniger  als  50  grofsen  Bänden,  von  denen  allein  der 
zoologische  Teil  gegen  50  M  kostet,  sind  die  Resultate  ihrer  Arbeit 
niedergelegt.  Die  Amerikaner  wählten  als  Arbeitsfeld  den  Teil  des 
Atlantischen  Ozeans  längs  der  Antillen,  sowie  die  Südsee  von  der 
Westküste  Mexikos  bis  zur  weltverlorenen  Inselgruppe  der  Galapagos 
und  zur  Küste  Japans.  Der  österreichische  Dampfer  Pola  untersucht 
gegenwärtig  Mittelmeer  und  Rotes  Meer,  ein  russisches  Kanonenboot 
den  Kaspisee.  Nord-  und  Ostsee  stehen  unter  alljährlicher  fortlaufen- 
der Beobachtung,  an  welcher  Prof.  Krümmel  in  Kiel  rühmenswerten 
Anteil  nimmt  Eine  deutsche  Südpolexpedition  wird  unter  Leitung 
des  Grönlandforsohors  von  Drygalski  ausgesendet,  während  die  bel- 
gische unter  Leutnant  Gerlachen,  die  im  Sommer  1897  ihre  Reise 
nach  der  Antarktis  antrat,  seit  13.  Januar  1898  leider  verschollen  ist*) 
Glücklich  löste  dagegen  der  unlängst  zurückgekehrte  deutsohe  Dampfer 
Valdivia  unter  Leitung  des  Leipzigor  Professors  Chun  seine  Aufgabe, 
an  den  afrikanischen  Küsten,  zumal  des  Indischen  Ozeans,  namentlich 
aber  auch  im  südlichen  Eismeer  Untersuchungen  über  das  Plankton, 
d.  h.  die  schwimmende  Pflanzen-  und  Tierwelt  der  Meeresoberfläche 
anzustellen  und  dabei  Lotungen  der  ozeanischen  Tiefen  auszuführen. 

Solche  Expeditionen  müssen  natürlich,  um  erfolgreich  zu  sein, 
Instrumente  ganz  besonderer  Art  mitführen,  die  mit  viel  Scharfsinn 
erdacht  und  auf  eine  hohe  Stufe  der  Vollkommenheit  gebracht  wor- 
den sind. 

Zu  Lotungen  der  Meerestiefen  bediente  man  sich  anfangs  nur 

*)  Ist  neuerdings  zurückgekehrt,  aber  wenig  über  71°  a.  Br.  hinaus- 
gekommen. 


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eines  Hanfseiles  von  2 — 3  cm  Dicke,  an  welchem  eine  Bleikugel  oder 
ein  Eisenzylinder  befestigt  waren,  der  sich  beim  Aufstoßen  auf  den 
Meeresgrund  loslöste  und  liegen  blieb,  so  dafs  dadurch  die  er- 
reichte Tiefe  verraten  wurde.  Später  erhielt  zunächst  das  zylindrische 
Lot  eine  Bodenhöhlung,  die  mit  Talg  gefüllt  war.  An  demselben  haf- 
teten dann  die  Bestandteile  des  Grundes,  die  freilich  auf  dem  langen 
Wege  zur  Meeresoberfläche  meist  wieder  abgewaschen  wurden.  Des- 
halb versah  man  das  Lot  mit  einer  Kammer,  die  unten  durch  ein 
Schmetterlingsventil  verschlossen  war;  es  öffnete  sich  beim  Ein- 
dringen in  den  Meeresboden  und  die  Kammer  füllte  sich  mit  Tiefsee- 
schlamm. Beim  Aufholen  des  Lotes  wurde  das  Ventil  durch  den 
Wasserdruck  wieder  geschlossen,  so  dafs  niohts  herausfallen  konnte. 
Ein  schnelleres  Hinabgleiten  des  Lotes  erzielte  man  duroh  Zentnerge- 
wichte, die  beim  Aufstofsen  sich  loslösten,  was  man  am  Schlaffwerden 
der  Leine  erkannte.  Da  nun  aber  ein  Hanfseil  von  8000  m  Länge  aus 
einem  Stücke  sein  mute,  daher  viel  Geld  kostet  und  schon  an  und 
Tür  sich  mehrere  Zentner  wiegt,  so  verwendet  man  jetzt  fast  nur  noch 
Klaviersaitendraht.  Von  diesem  wiegen  8000  m  nur  1  Zentner  bei 
einer  Tragkraft  von  mindestens  2  Zentnern  und  kosten  doch  nur 
15  M.  Mit  einem  derartigen  Apparate  vermochte  Sigsbee  in  einem 
Jahre  allein  2000  Lotungen  auszuführen,  ohne  auch  nur  1  m  Draht 
zu  verlieren,  während  es  der  Challenger  täglich  nur  bis  zu  zwei  Lo- 
tungen brachte.  —  Das  Hinabgleiten  der  Leine  beansprucht  bei  einer 
Tiefe  von  3000  m  schon  60  Minuten  Zeit,  wobei  sich  die  Ablaufsge- 
schwindigkeit stetig  verringert.  Trotz  der  geringen  Zusaramendrück- 
barkeit  des  Seewassers  ist  nämlich  dasselbe  in  den  grofsen  Tiefen 
des  Ozeans  schon  erheblich  komprimiert.  Wird  doch  die  Wassersäule 
am  Grunde  der  Ozeane  durch  ihren  eigenen  Druck  um  200  m  verkürzt 
Der  Spiegel  der  Meere  würde  35  m  höher  stehen  und  eine  Fläche  wie 
Rufsland,  nämlich  5  Mill.  qkm  Festland,  überfluten,  wenn  das  Meer- 
wasser nicht  zusammendrückbar  wäre.  Naturgemäfs  steigert  sich  mit 
zunehmender  Tiefe  sein  spezifisches  Gewicht,  so  dafs  das  Lot  immer 
langsamer  sinken  mute.  Das  Wiederaufwinden  desselben  beansprucht 
eine  Zeit  von  1 — 2  Stunden. 

Einen  genialen,  aber  der  Vervollkommnung  doch  noch  recht  be- 
dürftigen Apparat  hat  W.  von  Siemens  erfundon.  Da  mit  der  Tiefe 
des  Wassers  die  Entfernung  des  Schiffes  von  dem  erheblich  schwereren 
Meeresgrunde  wechselt,  so  mufs  sich  auch  die  Anziehung  des  Grundes 
auf  einen  im  Schiffe  befindlichen  Körper  ändern.  Siemens  nahm  nun  eine 
1  m  lange  Röhre  mit  trichterförmigem,  nach  abwärts  gerichtetem  Ende, 

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verschlofs  dieses  mit  einem  sehr  dünnen  elastischen  Stahlblech  und 
füllte  etwas  Quecksilber  darüber.  Sobald  nun  das  Quecksilber  an 
seichten  Stellen  vom  nahen  Meeresgrunde  stärker  angezogen  wurde, 
wölbte  sich  das  Bleoh  nach  unten,  über  grosseren  Tiefen  dagegen 
flachte  es  sich  ab.  Diese  freilich  nur  winzige  Verschiebung  der  Stahl- 
membran wurde  mittelst  einer  Mikrometerschraube  gemessen.  Bei 
nicht  zu  grofsen  Tiefen  erhielt  mau  so  ein  ganz  befriedigendes  Re- 
sultat, welohes  mit  der  Lotleine  kontrolliert  wurde. 

Um  Bodenproben  und  Tiefseeorganismen  in  gröfserer  Menge, 
letztere  womöglich  lebend,  ans  Tageslicht  zu  befördern,  bedient  man 
sich  des  Schleppnetzes  und  der  Tiefseereuse.  Während  das  Netz 
längere  Strecken  hinter  dem  Schiffe  hergezogen  wird  und  dabei  mit 
den  scharfen  Rändern  seines  Rahmens  den  Meeresgrund  durchpflügt, 
verharrt  die  Reuse  ruhig  in  der  Tiefe.  In  ihrem  Innern  ist  eine 
elektrische  Glühlampe  angebracht,  für  welche  die  Drähte  den  Strom 
liefern,  die  den  Apparat  in  die  Tiefe  sinken  lassen.  Durch  das  elek- 
trische Licht  wird  ein  grofser  Umkreis  erhellt  und  die  hier  befind- 
liche Tierwelt  in  das  Gefängnis  gelockt,  das  sich  beim  Hinaufwinden 
automatisch  schliefst,  so  dafs  kein  Entweichen  des  Inhalts  möglich  ist. 
Es  ist  sogar  gelungen,  vermittelst  eines  in  mäfsige  Tiefen  versenkten 
photographischen  Apparates  gleichfalls  unter  Mitwirkung  des  elek- 
trischen Lichtes  ein  Stück  Meeresgrund  zu  photographieren.  Wunder- 
lich genug  sieht  eine  solche  Photographie  aus,  bei  deren  Anblick 
man  sich  in  eine  Märchenwelt  versetzt  glaubt.  Korallen  verschiedener 
Art  bilden  z.  B.  in  der  Floridastrafse  förmliche  unterseeische  Schlösser 
mit  Zinnen  und  Erkern,  Türmchen  und  Bastionen.  Dazwischen  be- 
finden sich  Gärten,  bewachsen  mit  Seetang  und  Seeanemonen;  darin 
niedliohe  Gitter-  und  Glasschwämme,  garneelenartige  Krebstierchen, 
das  abenteuerliche  Medusen  haupt,  seltsam  geformte  Haar-  und 
Schlangensterne,  Seescheiden,  Seelilien  und  Seerosen,  wie  Pilze  fest- 
gewaohsen  mit  staubfädenähnlichen  Fangarmen;  sonderbare  Leucht- 
fische mit  hervorquellenden  Augen  und  gezähntem  Rachen,  Assel- 
spinnen  mit  strohhalmdünnen  Beinen  gleich  wandelnden  Skeletten,  auf 
Beute  lauernde  Krebse  mit  drohend  gehobener  Schere. 

Wasserproben  bringt  man  aus  allen  Tiefen  durch  automatisch 
wirkende  Schöpfapparate  herauf,  um  sie  an  Bord  des  Schiffes  che- 
misch zu  untersuchen  und  so  die  Lebensbedingungen  der  Tiefsee- 
organismen zu  ergründen,  über  die  Marshall  hochinteressante  Auf- 
schlüsse giebt  und  Häckel  wunderbares  zu  erzählen  weifs. 

Die  Temperatur   in   verschudem  n  Meerestiefen   zeigen   an  der 


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Lotleine  in  gewissen  Abständen  befestigte  Tiefseeth ermometer  an. 
Ein  solches  im  Werte  von  etwa  45  M.  mute  in  8000  m  Tiefe  einen 
Druck  von  16  Zentnern  aushalten  können,  daher  einen  doppelten 
Mantel  haben,  dessen  Zwischenraum  mit  komprimierter  Luft  gefüllt 
ist.  Der  Challenger  wendete  statt  der  immer  noch  leicht  zerbrech- 
lichen Thermometer,  die,  wenn  sie,  wie  z.  B.  im  Schwarzen  Meere, 
aus  kälteren  in  wärmere  Schichten  hinabgleiten,  obendrein  falsche 
Angaben  machen,  versuchsweise  Klaviersaitendraht  und  den  galva- 
nischen Strom  an.  Temperatur- Ab-  und  -Zunahme  ändert  den  Leitungs- 
widerstand des  Drahtes  und  somit  auch  die  Stärke  des  Stromes. 
Dessen  Schwankungen  lassen  dann  einen  Sohlurs  auf  die  Temperaturen 
der  Meerestiefen  zu.  Sogar  an  eine  Verwendung  des  Telephons, 
welches  durch  Einschaltung  von  Widerständen  bekanntlich  zum 
Schweigen  gebracht  werden  kann,  hat  man  gedacht  Proben  auf 
geringere  Tiefen  ergaben  ein  leidlioh  gutes  Resultat. 

Die  Durchsichtigkeit  des  Meerwassers  ermittelt  man  durch  Ver- 
senken von  hellen  Scheiben,  indem  man  die  Tiefe  feststellt,  in  welcher 
dieselben  unsichtbar  werden.  Auoh  läfst  man  besonders  präparierte 
photographische  Platten  bis  zu  Tiefen,  wo  die  chemische  Wirkung  des 
Lichtes  aufhört,  hinab. 

Als  Muster  eines  zu  Tiefseeforschungen  geeigneten  Schiffes 
konnte  mit  Fug  und  Recht  der  Challenger  betrachtet  werden.  Er  war 
eine  gedeckte  Korvette  von  200  Tons  mit  einer  Maschine  von  400 
Pferdekräften.  Daneben  besafs  er  noch  eine  doppelzylindrische  kleine 
Dampfmaschine  von  18  Pferdekräften  mit  Gangspilleinrichtung  zum 
Einwinden  der  Schleppnetztaue  und  Lotleinen.  Für  den  Gebrauch  des 
wissenschaftlichen  Stabes,  dem  Prof.  Wyville  Thomson  vorstand,  war 
ein  geräumiges  Arbeitszimmer  eingerichtet,  dem  auch  eine  Bibliothek 
der  besten  Fachwerke  in  verschiedenen  Sprachen  nicht  fehlte.  Ferner 
waren  zahllose  Instrumente  zu  mikroskopischen  Untersuchungen,  zum 
Sezieren  und  Präparieren  der  Körper,  lange  Glaszylinder  zum  Auf- 
bewahren namentlich  der  selteneren  Tier-  und  Pflanzengattungen, 
Harpunen  und  sonstige  Fangapparate  zur  Überlistung  gröfserer  Tiere, 
die  dem  Schleppnetz  entgehen,  vorhanden.  Auf  der  entgegengesetzten 
Seite  des  Decks  befand  sich  das  chemische  Laboratorium  und  diesem 
gegenüber  das  photographische  Atelier.  Auch  ein  großes  Aquarium 
hatte  man  zur  Beobachtung  interessanter,  in  noch  lebendem  Zustande 
emporgebrachter  Meerestiere,  eingerichtet. 

Die  Kosten  einer  solchen  Expedition  sind  natürlich  ganz  be- 
trächtlich, beliefen  sie  sich  doch   beim  Challenger  auf  mehr  als 


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4  Mill.  M.,  obwohl  die  britische  Regierung  genannte  Korvette  unent- 
geltlich zur  Verfugung  gestellt  hatte.  Die  C hu n sehe  Expedition  hatte 
allein  aus  dem  vom  Reiohstag  bewilligten  kaiserlichen  Dispositionsfond 
300000  Mark  erhalten;  aufserdem  beteiligten  sich  das  Reichsamt  des 
Innern  und  die  kaiserliche  Marine  pekuniär  an  der  Unternehmung. 
Die  Gazelle  endlich  verbrauchte  nahe  an  1  Mill.  Mark.  Doch  was  sind 
diese  Geldopfer  im  Vergleich  zu  den  vielen  und  sohönen  Resultaten, 
welohe  erzielt  wurden !  Immer  besser  gelingt  die  Entzifferung  der  Ge- 
heimschrift, in  weloher  der  Schöpfer  des  Himmels  und  der  Erde  seinen 
Schöpfungsbericht  auch  auf  den  Meeresgrund  geschrieben  hat. 

Die  Farbe  des  Meerwassers,  um  mit  dem  Augenfälligsten  zu  be- 
ginnen, fand  man  überall,  wo  nicht  Meeresgrund,  Organismen  und 
einmündende  Flüsse  eine  Veränderung  herbeiführten,  grün  bis  blau. 
Wenn  wir  aber  bei  Sonnenuntergang  den  Purpurglanz  des  westlichen 
Himmels  im  glatten  Meere  sich  spiegeln  sehen,  dann  scheint  es  wie 
Feuer  zu  glühen,  und  wie  flüssiges  Gold  wogt  es  auf  und  nieder. 
Und  wenn  graue  Gewitterwolken  sich  auftürmen,  und  grelle  Blitze  aus 
unheimlichen  Wolkenmassen  hervorleuchten,  dann  erregt  Poseidon  mit 
sohwarzgrünen  Wogen  das  Meer,  und  weifsen  Möwen  gleich  flattern 
darauf  die  blinkenden  Wellenkämme,  welche  die  sich  überstürzenden 
Wogen  nur  um  so  dunkler  erscheinen  lassen.  Oft  säumt  ein  Kranz 
blendendweifser  Brandungswellen  das  smaragdgrüne  Meer;  doch  azur- 
blau leuchtet  das  krystallhelle  Wasser  des  Golfstroms  und  im  pracht- 
vollsten Indigo  der  reizende  Golf  von  Neapel.  Indes  in  kleinen 
Mengen  und  in  durchgehendem  Lichte  erscheint  das  Meerwasser  wie 
Selterwasser  so  farblos  und  klar.  Die  verschiedenen  Nüancierungen 
zwisohen  Blau  und  Grün  sind  vom  Salzgehalt,  der  Temperatur,  der 
Tiefe,  sowie  von  Beimengungen  abhängig.  Weifse  Scheiben  erschienen 
einige  Meter  unter  der  Oberfläche  grünlich,  später  bläulioh-grün,  in 
gröfseren  Tiefen  endlich  blau,  bis  sie  dem  Auge  entschwanden.  In 
80  m  Tiefe  herrsoht  gleichwohl  noch  das  Licht  der  Vollmondnacht, 
bei  170  m  Tiefe  etwa  die  Stärke  des  Sternenlichtes  in  einer  klaren, 
mondlosen  Nacht  In  die  pelagischen  Abgründe  aber  unterhalb  500  m 
gelangt  kein  Schimmer  des  Sonnenlichtes.  Nur  schwaoh  wird  hier 
und  da  die  ewige  Nacht  erhellt  durch  den  phosphorischen  Glanz  vieler 
Arten  von  Tiefseetieren  mit  oft  merkwürdig  grofsen  Augen,  mit  denen 
sie  wie  beim  Laternenscheiu  ihrer  Beute  nachspüren. 

Solches  Leuchtvermögen  besitzen  auoh  Milliarden  winziger  See- 
tiere, zumal  die  stecknadelkopfgroßen  Larven  der  Quallen,  welche  die 
grofsartige  Erscheinung  des  Meeresleuchtens  hervorrufen.    Sie  ver- 


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wandeln  unabsehbare  Flächen  in  ein  glitzerndes  Feuermeer,  welches 
das  wie  durch  Flammen  gleitende  Schiff  mit  spiegelndem  Silberschein 
erhellt  In  der  Nordsee  zeigt  sich  das  wunderbare  Phänomen  am 
häufigsten  an  schönen  stillen  Herbstabenden ;  doch  kommt  es  zu  jeder 
Jahreszeit,  auch  bei  gröTster  Kälte  vor.  Oft  gehen  aber  Monate, 
selbst  ganze  Jahre  hin,  ohne  dafs  sich  das  Meeresleuchten  in  voller 
Schönheit  zeigt. 

Das  Meerwasser  ist  bekanntlich  von  salzig-bitterem  Geschmack 
und  hat,  wie  z.  B.  an  den  Ostseebuchten,  einen  mehr  oder  minder  un- 
angenehmen Bromgeruoh.  Mehr  als  40  Elemente,  darunter  selbst 
Silber  und  Gold,  sind  im  Meerwasser  enthalten,  hauptsächlich  als 
Kochsalz,  Bittersalz,  schwefelsaurer  und  kohlensaurer  Kalk,  Jod-  und 
Bromnatrium  und  Chlorkalium,  deren  Vorhandensein  in  den  Steinsalz- 
lagern von  Stafsfurt,  den  Mineralquellen  von  Tölz  und  Kreuznach, 
sowie  in  dem  Schlier  von  Oberösterreich  deutlich  genug  für  ehemalige 
Meeresbedeckung  genannter  Gegenden  spricht.  Aus  dem  kohlen- 
sauren Kalk,  der  sich  hier  und  da  in  Dolomit  verwandelt  hat,  bauen  die 
Muscheln,  Schnecken  und  Korallen  ihre  buntfarbigen  Gehäuse  auf. 
Obwohl  1  Tonne  Meerwasser  nach  Keil  hack  nur  6  mg  Gold  im 
Werte  von  noch  nicht  2  Pf.  enthält,  so  macht  dies  doch  bei  Annahme 
eines  allgemeinen  Vorhandenseins  dieses  edlen  Metalls  im  Meere 
schon  so  viel  aus,  dafs  das  Gold  einen  Würfel  von  718  m  Seitenlänge 
bilden  würde,  und  jeder  Bewohner  der  Erde  3  l/o  Mi  11.  Mark  erhalten 
könnte,  an  Silber  nur  den  zehnten  Teil  dieser  Geldsumme.  Diese  gewal- 
tigen Sohätze  können  aber  niemals  gehoben  werden  und  sind  für 
immer  der  menschlichen  Gewinnsucht  entzogen;  denn  der  in  den  nor- 
wegischen Schären  gemachte  Versuch,  das  Gold  auf  Silberblechen  gal- 
vanisch niederzuschlagen,  erwies  sioh  als  erfolglos.  —  Wegen  des 
hohen  Salzgehaltes  von  durchschnittlich  3,5%,  der  von  den  5  m  tiefen 
Nordostpassatflächen  des  Atlantischen  Ozeans  allein  sohon  ausreichen 
würde,  die  britischen  Inseln  mit  einer  4,7  m  hohen  Salzschicht  zu  über- 
ziehen, ist  das  Meerwasser  beträchtlich  schwerer  als  Süßwasser,  be- 
sitzt daher  auch  eine  gröfsere  Tragkraft;  bei  5%  Salzgehalt  ermög- 
licht es  nur  nooh  wenigen  Tieren  die  Existenz,  Es  hat  nicht  an  Ver- 
suchen gefehlt,  das  Seewasser  trinkbar  zu  machen;  sie  haben  bis 
jetzt  zu  keinem  vollkommen  befriedigenden  Resultat  geführt;  Destilla- 
tion und  Gefrierenlassen  lieferten  immer  nur  ein  schales  Getränk,  das 
nur  die  Not  gen  i  eis  bar  erscheinen  liefs,  und  welches  den  Durst  kaum 
zu  löschen  vermoohte. 

Die  Wellenbewegung  auf  dem  Meere  hängt  lediglich  vom  Winde 


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ab.  An  den  Küsten  der  Nordsee  erreichen  die  den  Badenden  so  un- 
gemein erfrischenden  und  stärkenden  Wellen  nur  selten  eine  Höhe 
von  6  m.  Unter  hohen  südlichen  Breiten,  wo  Stürme  die  Herrschaft 
führen,  fand  der  Challenger  eine  Maximalhöhe  von  7  m;  15  m  kommen 
nur  im  offenen  Ozeane  bei  den  heftigsten  Orkanen  vor;  das  ist  aber 
auch  schon  haushooh.  Die  Wellen  können  bis  400  m  lang  sein  und 
eine  Geschwindigkeit  von  18  m  in  der  Sekunde  haben,  so  dafs  kein 
Radfahrer  ihnen  entrinnen  könnte,  und  selbst  ein  Rennpferd  eingeholt 
würde.  Durch  den  Wellenschlag,  der  an  Steilküsten  zur  tosenden 
Brandung  wird,  deren  Donnergebrüll  erst  in  Stundenweite  verhallt, 
an  Flachküsten  aber  nur  ein  monotones  Rauschen  verursaoht,  wird 
eine  erhebliche  Menge  Elektrizität  erzeugt,  die  bei  Seebädern  als 
wichtigster  Heilfaktor  zu  betrachten  ist. 

Durch  den  Wind  und  die  Erdrotation,  durch  die  anziehende  oder 
drückende  Kraft  von  Sonne  und  Mond,  in  erster  Linie  aber  durch 
■den  wechselnden  Luftdruck  und  den  verschiedenen  Salzgehalt  des 
Meerwassers  entstehen  die  Meeresströmungen.  Weitaus  der  wich- 
tigste ist  unstreitig  der  Golfstrom,  dessen  Verlauf  namentlich  durch 
Flaschenposten  ermittelt  worden  ist.  Diese  vom  Golf  von  Mexiko 
ausgehende,  nach  Spitzbergen  und  vielleicht  gar  nach  dem  Nordpol 
gerichtete  Strömung  bewegt  sich  anfangs  schneller  als  der  Rhein  bei 
Hochwasser,  nämlich  1,5 — 2,6  m  in  der  Sekunde,  indem  die  Geschwin- 
digkeit mit  den  Jahreszeiten  wechselt,  in  der  Breite  New- Yorks  immer 
noch  schneller  als  ein  Fufsgänger;  75  Meilen  östlich  von  Neufundland, 
wo  der  Strom  sioh  fächerartig  ausbreitet,  ist  er  dem  Auge  kaum  noch 
bemerkbar.  In  seiner  Axe  liierst  er  schneller  als  an  den  Seiten,  seine 
Tiefe  beträgt  1000-  1 100  m;  unterhalb  derselben  konnte  der  Challenger 
am  24.  April  1874  eine  mefsbare  Bewegung  nicht  mehr  finden.  Die 
Breite  des  Stromes  beläuft  sich  auf  4—40  Meilen,  entsprechend  im 
Maximum  etwa  der  Entfernung  zwischen  Bremen  und  Magdeburg. 
Er  zeichnet  sich  durch  eine  dunkelblaue  Farbe  aus  und  besitzt  eine 
4—5°  höhere  Temperatur  als  das  umgebende  Meer.  Während  sämt- 
liche warme  Meeresströmungen  mehr  als  die  Hälfte  der  Tropen- Wärme 
nach  der  gemäfsigten  Zone  tragen,  giebt  der  Golfstrom  allein  V12  der 
Wärme,  welohe  die  Äquatorialströmung  ihm  zuführt,  an  die  West- 
küsten Europas  ab.  Dieselben  werden  durch  ihn  zumal  im  Winter 
beträchtlich  erwärmt,  und  dieser  erwärmende  Ein  flu  fs  macht  sich  noch 
50  Meilen  binnen wärts  deutlich  bemerkbar;  nur  die  Pyrenäenhaihinsel 
ist  ihm  entzogon.  Die  sächsische  Oberlausitz  würde  ohne  den  Golf- 
strom die  Temperatur  des  sächsischen  Sibiriens,  von  Oberwiesenthal 


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bis  Karlsfeld,  und  der  Kamm  des  Isar-  und  Riesengebirges  nur  we- 
nige schneefreie  Wochen  haben.  So  aber  sind  selbst  West-  und  Nord- 
küste Spitzbergens  während  der  Sommermonate  ganz  eisfrei.  Mit 
Recht  hat  man  den  Golfstrom  einen  Warmwasserkessel  Europas  ge- 
nannt Während  die  Länder,  an  denen  die  kalten  Polarströmungen 
mit  ihren  turmhoben  und  kilometerlangen  Eisbergen  entlang  ziehen, 
menschenleere,  bäum-  und  strauchlose  Einöden  sind,  findet  man  unter 
gleichen  Breiten  in  Europa  Myrte  und  Orange  in  Cornwall  über- 
winternd, die  Paläste  von  Christiania  und  Petersburg,  die  herrlichen 
Parkanlagen  und  Kaskaden  der  russischen  Kaiserschlösser  Gatschina 
und  Peterhof.  In  Tropenländern  erzeugen  freilich  auch  warme 
Meeresströmungen  die  Malaria  und  das  gelbe  Fieber,  den  unheim- 
lichen Weihnachtsgast  von  Rio  de  Janeiro,  kalte  Strömungen  dagegen 
Trockenheit  der  Luft  und  Wüsteneien,  wie  die  Salpeterwüste  des 
nördlichen  Chile  und  das  öde  Sandmeer  von  Lüderitzland,  das  erst 
50  Meilen  binnenwärts  Savannen-  und  Buschcharakter  annimmt. 

Ebbe  und  Flut,  deren  Wirkung  sich  in  Weser  und  Elbe  bis 
über  Bremen  und  Hamburg,  in  der  Themse  bis  über  Oxford  hinaus 
geltend  macht,  verdanken  zweifellos  nach  Newtons  Hypothese  den 
anziehenden  Kräften  von  Sonne  und  Mond  ihre  Entstehung.  Allein  sie 
folgen  weder  in  der  Richtung,  noch  in  Höhe  und  Eintrittszeit  in  be- 
friedigender Weise  der  Theorie,  der  auch  Whewell  und  Thomson 
mit  ihrer  harmonischen  Analyse  nicht  auf  die  Beine  zu  helfen  ver- 
mögen. Die  der  Zenithflut  auf  der  entgegengesetzten  Halbkugel  der 
Erde  jedesmal  entsprechende  Nadirflut  steht  mehr  auf  dem  Papiere: 
der  Stille  Ozean  scheint  der  Sonne,  aber  keineswegs  dem  Monde  zu 
folgen,  obwohl  dessen  anziehende  Kraft  2'/4mal  grÖfser  ist.  Gerade 
die  Flächen  der  tropischen  Meere,  auf  welche  die  Anziehung  von 
Sonne  und  Mond  am  kräftigsten  einwirken  sollte,  zeigen  auffallend 
geringe  Gezeiten,  die  1  m  Höhe  selten  überschreiten  und  oft  nicht 
einmal  erreichen,  während  in  den  Breiten  der  gemärsigten  Zone  die 
Flut  zu  bedeutender  Höhe  anwächst,  die  in  der  Fundybai  16  m,  an 
der  norwegischen  Küste  2,4  m,  am  Nordkap  2,2  m  und  an  der  Küste 
Sibiriens  noch  immer  1  m  beträgt  Die  Richtung  von  Ost  nach  West 
ist  bei  der  Flutwelle  ferner  keineswegs  die  Regel.  So  läuft  die  Flut- 
welle im  Mittelmeer  von  Süd  nach  Nord,  und  schon  Whewell  und 
Lubbok  haben  nachgewiesen,  dafs  die  Flut  die  europäischen  Küsten 
von  W.  her  anläuft  während  sie  an  der  Ostküste  Amerikas  von 
Morgen  her  kommt.  Den  Kanal  durchläuft  sie  von  Landsend  bis 
Dover  in  7  Stunden  mit  einer  Geschwindigkeit  von  19,88  m  p.  Sek.; 


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ein  um  Schottland  herumziehender,  gleichfalls  nach  Dover  gerichteter 
Zweig  besitzt  fast  die  doppelte  Geschwindigkeit.  Die  vereinigten  Flut- 
wellen erreichen  nach  12  Stunden  die  Elbemündung  mit  durchschnitt* 
Hoher  Geschwindigkeit  von  kaum  15  m  p.  Sek.,  und  so  soheint  allent- 
halben die  Flutwelle  in  der  Richtung  der  Meridiane  sich  erheblich 
sohneller  zu  bewegen  als  in  der  Richtung  der  Breitengrade.  Dem 
sei  nun  wie  ihm  wolle,  jedenfalls  leisten  Ebbe  und  Flut  dem  Fischfang 
und  der  Schiffahrt  vortreffliche  Dienste;  auch  würde  ohne  sie  z.  B.  die 
Nordsee  eines  grofsen  Reizes  entbehren,  der  stets  auf  den  Binnen- 
länder einen  unvergefslichen  Eindruck  macht 

Das  Meer  bedeckt  etwa  5/s  der  ganzen  Erdoberfläche,  und  ist 
kein  Punkt  derselben  weiter  als  500  Meilen  vom  Meere  entfernt,  z.  B. 
Moskau  100  Meilen.  Zudem  stellte  Nansen  fest,  dars  auch  nachdem 
Nordpol  zu  nicht  Festland,  sundern  Meer  von  3800  m  Tiefe  sei.  Auch 
im  antarktischen  Meere  fand  der  deutsche  Dampfer  Valdivia  zwischen 
der  Bouvet-Insel  und  Enderby-Land  Tiefen  von  4—6000  m.  Auf- 
fallend ist  hier  noch  der  niedere  Luftdruck,  der  unter  70°  südl.  Breite 
nur  738—730  mm  beträgt,  während  unter  gleichen  nördlichen  Breiten 
das  Barometer  768,2 — 760,7  min  zeigt.  Es  liegt  die  Vermutung  nahe, 
dars  dies  eine  Folge  der  fortschreitenden  Bewegung  des  Sonnen- 
systems im  Weltenraum  ist.  Da  der  Apex  derselben  der  nördlichen 
Erdhalbkugel,  etwa  innerhalb  34—48,5°  nördl.  Breite,  angehört,  so 
kann  die  hier  befindliche  barometrische  Hochdruckzone  nicht  Wunder 
nehmen;  denn  so  dünn  auch  der  den  Weltenraum  erfüllende  Äther 
sein  mag,  eine  hemmende,  sich  als  Druck  äufsernde  Wirkung  wird 
und  mufs  er  auf  die  Bewegung  der  Erde  nach  dem  Sternbilde  des 
Herkules  hin  ausüben,  während  auf  der  entgegengesetzten  Erdhälfte, 
die  dem  Ätherdruck  ausweicht,  eine  barometrische  Depression  die 
Folge  ist 

Die  östliche  Hemisphäre  der  nördlichen  Halbkugel  hat  mehr  als 
doppelt  so  viel  Land  als  die  westliche;  nach  Süden  nimmt  der  Land- 
umfang rasch  ab,  so  dafs  der  50°  südl.  Br.  bereits  98%  Wasser  hat 
Dafs  der  südlichen  Halbkugel  die  vorwiegende  Wasserbedeckung  von 
jeher  eigen  war,  beweist  aufser  der  ganz  auffallenden  Armut  an 
lebenden  und  fossilen  Pflanzen  auf  den  dem  Südpol  selbst  im  weitesten 
Umkreis  vorgelagerten  Inseln  auch  der  schon  von  Kapitän  Rofs  hier 
gefundene  hohe  Betrag  des  Erdmagnetismus,  der  den  der  Nordpolar- 
zone fast  um  das  doppelte,  den  des  Äquators  aber  um  das  dreifache 
übertraf.  Er  scheint  anzudeuten,  dafs  hier  in  der  Antarktik  die  Ab- 
kühlung des  Erdinnern,  begünstigt  durch  den  gewaltigen  Kühlapparat 


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< 


eines  uralten  Meeres»  viel  weiter  fortgeschritten  ist  als  auf  der  nörd- 
lichen Erdhälfte,  die  nebenbei  gesagt  auch  die  wärmere  ist,  so  dafe 
die  Erdkruste  bis  zu  beträchtlich  grösserer  Tiefe  magnetisch  werden 
konnte,  während  auf  der  nördlichen  Hemisphäre  schon  in  halber 
Tiefe  die  hohe  Erdwärme  das  Erlöschen  des  Erdmagnetismus  herbei- 
führt; denn  schon  661°  Selzen  ihm  eine  vorläufig  unüberschreitbare 
Grenze.  Die  Seltenheit  der  vulkanischen  Erscheinungen  und  der  See- 
beben unter  hohen  südlichen  Breiten  kann  hiernach  kaum  wunder 
nehmen. 

Eine  abwechselnde,  durch  die  Exzentrizitätsschwankungen  der 
Erdbahn  bedingte  Überflutung  beider  Halbkugeln,  wie  sie  Adhömar 
und  Croll  behaupteten,  steht  nach  Oerland  mit  der  Beobachtung  in 
Widerspruch,  dafs  auf  der  südlichen  Halbkugel,  die  gegenwärtig  ihre 
Überflutungsperiode  haben  müfste,  die  Küsten,  wie  z.  B.  in  Nord- 
australien, Neuguinea  und  Neuseeland,  ja  selbst  der  Samoa-  und  Tonga- 
Inseln,  vorwiegend  langsam  aus  dem  Meere  auftauchen  und  die  Bass- 
und Torresstrafse  immer  seichter  werden.  Tritt  aber  irgendwo  bei 
Koralleninseln  Senkung  ein,  so  nimmt  nie  der  ganze  Sockel  an  der 
Bewegung  teil.  Bohrungen  haben  ferner  den  Beweis  geliefert,  dafs 
9ich  vielfach  die  Korallen  auf  den  Kratern  Bubmariner  Vulkane  an- 
gesiedelt haben,  die  noch  gegenwärtig  in  Hebung  begriffen  sind. 
Natürlich  fehlt  es,  wie  auf  der  nördlichen  Erdhälfte,  so  auch  hier  nicht 
an  Senkungserscheinungen.  So  bohrte  1897  Prof.  David  aus  Sidney 
176  m  tief  in  weichem  Korallen kalkfels,  ohne  ein  anderes  Gestein  zu 
erreichen.  Einen  anderen  Versuch  machte  1898  Finkh  von  austra- 
lischer Seite.  Bei  182  m  Tiefe  zeigte  sich  ein  plötzlicher  Übergang 
von  der  weicheren  Schicht,  einer  Mischung  von  Sand  und  von  riff- 
bauenden Korallen,  zu  dem  härteren  Korallenrifffelsen,  in  welohen 
man  bis  340  m  bohrte.  Dies  Ergebnis  ist  offenbar  eine  Bestätigung 
der  Darwinschen  Korallentheorie.  Doch  Darwin  geht  entschieden 
viel  zu  weit,  wenn  er  behauptet,  dafs  die  Korallenansiedelungen  die 
letzten  Versuche  der  Natur  seien,  ein  sinkendes  Festland  vor  dem 
gänzlichen  Verschwinden  unter  dem  Meeresspiegel  zu  retten.  Dieses 
Festland  müfste  an  Fläche  Europa  und  Asien  weit  übertreffen  und 
seine  Senkung  ein  Fallen  der  Meeresfläche  um  300  rn  und  darüber  nach 
sich  ziehen,  was  eine  allgemeine  Hebung  der  Nordfesten  bedingen  würde, 
während  doch  hier  weite  Striche  unter  den  Meeresspiegel  tauchen. 

Das  Meer  hat  ein  so  gewaltiges  Volum,  dafs  alle  Erdteile  21  mal 
auf  dem  Meeresboden  untergebracht  werden  könnten.  Bis  zum  Meeres- 
spiegel abgetragen  und  in  das  Weltmeer  geschüttet,  würden  die  Kon- 


492 


tinente  das  Seebecken  nur  um  etwa  160  m  erhöhen.  Denkt  man  sich 
dieselben  aber  bis  zum  Meeresgründe  abgetragen  und  mit  diesem 
eingeebnet,  so  besäfse  das  die  ganze  Erde  gleichmäßig  bedeckende 
Wasserbecken,  was  niemals  in  dieser  Ausdehnung  vorhanden  gewesen 
ist,  immer  noch  eine  Tiefe  von  2600  m.  Da  die  mittlere  Erhebung 
der  Kontinente  700  m,  die  mittlere  Tiefe  des  Weltmeers  aber  3500  m 
beträgt,  so  ergiebt  sich  hieraus,  dafs  das  Meer  trotz  seines  nicht  halb 
so  grofsen  spezifischen  Gewichts  doch  um  ein  Beträchtliches  schwerer 
als  das  Festland  ist,  dessen  Gleichgewichtslage  es  daher  an  den  Küsten 
hier  und  da  beständig  stört,  so  dafs  diese  sioh  teils  heben,  teils  senken. 
Die  wegen  der  vorwiegenden  Wasserbedeckung  an  Rauminhalt  et- 
was kleinere  südliche  Halbkugel  müfste  nun  eigentlich  auch  die 
leichtere  sein.  Sohmidt  hat  indes  gezeigt,  daß  in  Wahrheit  der  Ge- 
wichtsunterschied beider  Erdhalbkugeln  verschwindend  klein  ist  Um 
dies  zu  erklären,  bleibt  niohts  weiter  übrig  als  die  Annahme,  dafs  die 
Dichte  der  Erdrinde  unterhalb  des  Meeresgrundes  auch  auf  der  süd- 
lichen Halbkugel  beträchtlich  gröfser  als  unter  dem  Festlande  ist, 
namentlich  aber  unter  den  Gebirgen,  die  allenthalben  riesige  Massen- 
defekte verraten,  als  dehnten  sich  in  ihrem  Innern  weite  Hohlräume 
aus,  gleich  der  Adelsberger  Grotte  oder  der  Mammuthöhle  in  Kentuoky. 
O.  Fischer  behauptet  geradezu,  dafs  durch  den  Znsammenschub  der 
Erdrinde  nach  oben  und  unten  infolge  der  Kontraktion  des  sich  ab- 
kühlenden Erdballs  solche  Hohlräume  entstehen  mufsten;  freilich  be- 
greift man  dann  nicht,  wie  ihre  Decke  den  steten  kolossalen  Schwere- 
druck der  überlagernden  Gebirge  aushalten  kann,  ohne  einzustürzen 
oder  sich  zu  senken;  oder  aber  man  müfste  annehmen,  dafs  die  Ge- 
birgsketten mit  ihren  Wurzeln  bis  in  so  grofse  Tiefen  hinabtauchen, 
dafs  jene  Hohlräume  im  Vergleich  dazu  kaum  in  Betraoht  kommen. 
Dem  widerspricht  aber  der  unvermutet  grofse  Betrag  solcher  Defekte. 
So  zieht  sich  ein  solcher  nach  v.  Sterneck  von  München  bis  Triest 
und  Trient  in  einer  Mächtigkeit  von  1000 — 1200  m  hin,  und  zwar  dort,  wo 
der  Zusammenschub  gerade  am  stärksten  ist.  Zweidrittel  des  ganzen 
Alpenmassivs,  so  weit  es  sich  über  das  Meeresniveau  erhebt,  wird  durch 
diesen  Defekt  ausgeglichen.  Eine  Hohlraumbildung  von  solcher  Aus- 
dehnung ist  aber  ganz  unwahrscheinlich;  eher  steht  zu  vermuten,  dafs 
die  Kontinental-  und  Gebirgsmassen  aus  leichterem  Material  als  der 
Meeresgrund  zusammengesetzt  sind. 

Das  Meer  ist  tief,  sehr  tief.  Im  Kanal  freilich  würde  der  Kölner 
Dom  überall  dem  Wasser  entragen,  in  der  Ostsee  erst  an  den  tiefsten 
Stellen  der  Eifelturm  verschwinden;  ein  Bogen  gewöhnlichen  Schreib- 


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papiers  ist  dicker  im  Vergleich  zu  seiner  Fläche  als  die  Wasser- 
schicht der  Nordsee  im  Verhältnis  zu  ihrem  Flächeninhalte.  Über- 
schreitet doch  die  vom  Pinguin  nordöstlich  von  dem  vulkanischen  Neu- 
seeland bei  der  Kermandekinsel  aufgefundene  bis  jetzt  gröfste  Meerestiefe 
von  9400  m  selbst  die  Höhe  des  Gaurisankar.  Die  tiefsten  Mulden 
und  Tröge  des  Weltmeers  befinden  sich  übrigens  nioht  in  der  Mitte, 
sondern  durchgängig  in  der  Nähe  des  Landes,  und  gerade  solche 
Stellen  sind  es,  wo  die  Titanenkräfte  des  unbekannten  Erdinnern, 
dessen  Kraftquelle  man  neuerdings  so  gern  in  der  hypothetischen 
Kontraktion,  in  dem  Zusammenbruch  sucht,  dessen  Augenzeugen  wir 
nach  Sürs  noch  in  der  Gegenwart  sind,  —  noch  am  wildesten  ihr 
Spiel  treiben,  wie  auch  nordöstlich  von  N'ippon,  wo  die  Tuscarora 
8500  m  lotete,  oder  zwischen  St.  Thomas  und  Puerto  Rico,  wo  eine 
6300  m  tiefe  Rinne  sioh  erstreckt,  oder  endlich  unweit  der  Sundstrare, 
wo  das  Lot  des  Recorder  zu  6200  m  Tiefe  hinabsank. 

Von  den  Becken  der  Ozeane  steigen  nun  die  Festländer  auf  ge- 
waltigen Sockeln  festungsähnlich,  wie  die  Amben  Abessyniens,  empor, 
umgeben  von  den  rätselhaften  Kontinentalstufen  mit  meist  sanft  ge- 
neigtem dachartigen  Abfall.  An  der  Westküste  von  Cornwall  ist  diese 
Stufe  76  Meilen  breit,  an  der  Südküste  Norwegens  nur  3,  an  den 
Küsten  Afrikas  fehlt  sie  meist,  wie  das  überall  da  zu  sein  scheint,  wo 
ein  Festland  schon  Tafel-  und  Terrassenform  zeigt.  Durch  die  Kon- 
tinentalstufen werden  Festländer  und  Inseln  vereinigt,  die  auf  den  ge- 
wöhnlichen Landkarten  getrennt  erscheinen,  so  das  britische  Reich 
mit  dem  europäischen  Kontinent,  so  Asien  mit  Amerika  über  die 
Bering-Strarse. 

Der  Meeresboden  erstreckt  sich  meist  hunderte  von  Meilen  weit 
in  gröfster  Einförmigkeit  fast  horizontal,  wie  etwa  die  sarmatische 
Tiefebene,  ein  uralter  permrscher  Meeresgrund,  oder  Teile  der  Sahara, 
oder  endlich  die  Wüsten  und  Steppen  Zentralasiens.  Doch  giebt  es 
auch  Abgründe,  Trichter,  Kessel,  tiefe  Löcher,  Tröge  und  Rinnen,  ja 
Hochflächen  und  Gebirgszüge  ganz  wie  auf  dem  Lande;  nur  fehlt  die 
vielgestaltende  Erosion,  die  z.  B.  den  Alpen  ihren  bestrickenden  Reiz 
verleiht.  So  wird  der  Atlantische  Ozean  in  seiner  nördlichen  Hälfte 
vom  Telegraphenplateau  durchzogen,  von  welchem  der  Azoren-Rücken 
nur  die  Fortsetzung  ist.  Nördlich  von  jenem  Plateau  fand  der  Sie- 
menssche  Dampfer  Faraday  die  Faraday-Hügel;  der  Thomson-Rücken 
trennt  den  Atlantischen  Ozean  vom  nördlichen  Eismeer  und  bildet  eine 
Schranke  für  das  Weitervordringen  des  Polarwassers.  In  der  Nord- 
see aber  entdeckte  man  östlich  von  der  Doggerbank  vor  der  Themse- 


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mündung  ein  niedriges  Kettengebirge.  Man  hat  die  Vermutung  aus- 
gesprochen, dafs  die  ganze  Reihe  der  submarinen  Bodenschwellen 
wenigstens  im  südlichen  Atlantischen  Ozean  von  den  Azoren  bis  über 
St.  Helena  hinaus  vulkanischen  Erhebungen  ihr  Dasein  verdanke. 
Übrigens  Jätet  die  grofsartige  Denudation  der  mächtigen  Basaltwälle 
St.  Helenas  vermuten,  dafs  die  vulkanische  Erhebung  dieser  Insel  in 
eine  weit  entfernte  Vergangenheit  zu  verlegen  sei.  Dafür  spricht  auch 
der  hier  beobaohtete  auffallend  hohe  Betrag  der  magnetischen  Inten- 
sität, aus  dem  man  schliefsen  dürfte,  dafs  hier  die  Erdkruste  bis  zu 
gewaltiger  Tiefe  erkaltet  ist.  Dieser  Schlüte  wird  noch  dadurch  ge- 
stützt, dafs  von  hier  aus  nach  Norden  ein  seebebenfreies  Gebiet  sich 
erstreckt. 

In  den  gröfsten  Meerestiefen  herrscht  selbst  unter  dem  Äquator 
eine  auffallend  niedere  Temperatur,  während  bekanntlich  unterhalb 
der  Festländer  die  Wärme  von  30  zu  30  m  Tiefe  im  Durchschnitt  um 
1 0  zunimmt,  so  dafs  man  in  dem  tiefsten  Bohrloche  der  Erde  bei 
Rybnik  in  Obersohlesien  in  2003  m  Tiefe  69°  erreichte,  also  beinahe 
die  Temperatur  des  Karlsbader  Sprudels.  Die  mittlere  Temperatur  des 
Meeresgrundes  beträgt  dagegen  in  4000  m  Tiefe  im  Mittel  nur  1,8°  C. 
und  sinkt  bis  0°  herab.  Sie  würde  höchst  wahrscheinlich  —  4°,  das 
Dichtigkeitsmaximum  des  Seewassers  erreichen,  wenn  nicht  das  Erd- 
innere auch  hier  noch  Wärme  ausstrahlte.  Das  überraschendste  Re- 
sultat der  Temperaturbestimmungen  in  den  groteen  Meerestiefen  ist 
aber  die  gleichförmig  niedere  Temperatur,  die  daselbst  in  allen  offenen 
Ozeanen  herrscht  Dieses  kalte  Wasser  entstammt  namentlich  dem 
antarktischen  Meer,  von  dem  aus  es  durch  eine  dauernde  unterseeische 
Strömung  beständig  erneuert  wird.  Diese  erreioht  nicht  nur  den 
Äquator,  sondern  tritt  auch  noch  auf  die  nördliche  Hemisphäre  hin- 
über. Thomson,  der  Leiter  der  Challenger-Expedition,  suchte  jene 
Strömung  durch  die  Annahme  zu  erklären,  date  auf  der  südliohen 
Wasserhalbkugel  die  Niederschläge  gröteer  seien  als  die  Verdunstung, 
während  auf  den  Meeren  der  Landhalbkugel,  auf  dem  atlantischen, 
nordindischen  und  nordpazifischen  Ozean  die  Verdunstung  den 
Niederschlag  überwiege.  Die  antarktische  Strömung  gleiche  dieses 
Miteverhältnis  aus.  So  besteohend  auch  diese  Erklärung  auf  den 
ersten  Blick  erscheint,  so  erweist  sie  sich  doch  bei  näherer  Betrach- 
tung als  ziemlich  haltlos,  da  sie  auf  ganz  willkürlichen  Annahmen 
beruht.  Dagegen  gilt  als  sioher  erwiesen,  date,  je  freier  die  unter- 
seeische Verbindung  eines  ozeanisohen  Beokens  mit  dem  Polarmeer 
ist,  desto  niedriger  auoh  seine  Bodentemperatur  erscheint.    Diese  Be- 


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wegung  des  kalten  Wassers  der  Tiefen  verrät  sich  auch  dadurch,  dafs 
über  Untiefen  und  in  dor  Höhe  von  Inseln  und  Küsten  die  kalten 
Wasserschichten  emporsteigen.  Die  Passatwinde,  indem  sie  das  warme 
Oberfläohenwasser  vor  sich  hertreiben  und  endlich  in  höhere  Breiten 
hinaufdrängen,  entfernen  beständig  Wasser  von  der  Oberfläche  der 
Tropenmeere,  zu  dessen  Ersatz  auch  das  kalte  Wasser  von  unten 
langsam  an  die  Oberfläche  emporsteigt.  Natürlioh  mufs  es  vom  Pole 
aus  ergänzt  werden. 

Die  Oberflächentemperatur  ist  in  allen  Breiten  durchschnittlich 
grörser  als  die  des  Festlandes  und  sohwankt  nur  um  wenige  Grad. 
Dabei  ist  der  nördliche  Teil  des  Stillen  Ozeans  etwas  kälter  als  der 
südliche,  während  im  Atlantischen  Ozean  das  Umgekehrte  der  Fall 
ist.  Das  nördliche  Eismeer  zeigt  im  März  und  April  an  der  Oberfläche 
—  2°,  und  nirgends  hat  man  auf  dem  Ozean  eine  höhere  Temperatur 
als  -^-35°  gemessen. 

Was  nun  die  Beschaffenheit  des  Meeresgrundes  anlangt,  so  finden 
wir  denselben  in  der  Nähe  der  Küsten  bis  etwa  300  km  seewärts  mit 
Schlick  bedeckt  von  blauer,  grüner  und  roter  Farbe,  an  Steilküsten 
ist  er  mehr  schieferartig.  Diesen  Schlick  tragen  gröfstenteils  die 
Flüsse  ins  Meer  hinaus,  wo  er  15  mal  schneller  als  im  Süfswasser  zu 
Boden  sinkt.  So  führt  der  Rhein  bei  Bonn  jeden  Tag  150  000  qm 
fester  Substanz  als  Flufstrübe  vorbei,  und  der  Indus  täglich  so  viel 
Schlamm  in  den  Indischen  Ozean,  dafs  eine  5  Quadratmeilen  grofse 
Fläche  mit  einer  meterhohen  Schioht  überzogen  werden  könnte.  Die 
untere  Grenze  des  Schlicks  sohwankt  zwischen  200  und  5100  m.  In  der 
Umgebung  vulkanischer  Inseln  ist  er  grau  bis  schwarz  mit  Maugan- 
gehalt,  an  der  brasilianischen  Küste  rot  und  in  der  Nähe  der  Korallen- 
inseln weifs.  Darauf  folgt  weiter  vom  Festland  ein  Sohlamin,  der  Milliarden 
von  Räder-  und  Kuireltierchen  enthält.  Eine  Art  der  Kucrettierohen,  die 
Foraminiferen,  hat  die  Kreide  Rügens  gebildet,  so  dafs  die  Stubben- 
kammer ehemals  ein  Felsen  des  Meeresgrundes  war.  Die  Oberflächen- 
temperatur mufs  überall  da  die  des  Mittelmeeres  gewesen  sein,  wo 
man  jetzt  fossile  Korallen  findet  Die  sanft  gestreckten  Rücken  in  der 
Mitte  der  Ozeane  namentlich  südlicher  Breiten  bedeckt  meist  Diato- 
meensohlamm.  Die  sogenannte  Infusorienerde  rechnete  Ehrenberg  mit 
Unrecht  dazu.  Während  nämlich  die  Kieselalgen  nur  in  seichten 
Meeren  und  auch  da  nur,  soweit  das  eindringende  Sonnenlicht  die 
Assimilation,  d.  h.  die  Stärke-  und  Chlorophyllbildung  ermöglichte, 
leben  konnten,  können  Infusorien  noch  in  den  gröfsten  Tiefen  existieren. 
Der  noch  in  1000  m  Tiefe  gefundene  Diatomeensohlamm  ist  lediglich 


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aus  dem  abgestorbenen  Plankton  entstanden,  also  ein  Produkt  der 
Meeresoberfläche. 

Von  5000  m  Tiefe  an  erstreckt  sich  über  l/3  des  Meeresgrundes 
der  rote  Thon,  der  bis  jetzt  nirgends  auf  dem  Festlande  seines- 
gleichen findet.  In  ihm  lagern  fernab  vom  Lande  verstreut  die  Zähne 
von  Haifischen  der  Jurazeit,  Knochenteile  vorweltlicher  Wale  und 
Seeschildkröten,  zuweilen  mit  einer  2  om  dicken  Braunsteinschicht 
überzogen.  Das  Mangansuperoxyd,  Chondren  und  winzige  Eiaen- 
kügelchen  mit  Niokelgehalt,  welche  in  mehr  oder  minder  dicken 
Schichten  mit  eingebetteten  Zeolithen  und  bis  faustgrofsen  Mangan- 
knollen sich  über  ungeheure  Flächen  ausbreiten,  entstammen  zweifellos 
dem  Weltenraume.  Wären  die  Gründe  des  roten  Thones  jemals  Fest- 
land gewesen,  so  müfsten  die  Eisenpartikelchen  sich  längst  in  das 
braune  Eisenoxydhydrat  verwandelt  haben,  und  dies  von  dem  Meeres« 
wasser  aufgelöst  worden  sein;  denn  an  Sauerstoff  zur  Oxydation 
des  Eisens  fehlt  es  keineswegs  in  jenen  Tiefen.  Aber  der  hier  von 
jeher  herrschende  Druck  verhinderte  jede  ohemische  Veränderung. 
Oailletet  hat  nämlich  gezeigt,  dafs  schon  ein  Druck  von  60 — 120 
Atmosphären,  entsprechend  Tiefen  von  600 — 1200  m,  die  Wirksamkeit 
der  stärksten  ohemischen  Agenden  aufhebt,  sofern  sie  mit  Volumver- 
mehrung verbunden  sein  würde;  Pfaff  hat  dieses  Resultat  bestätigt. 
Nun  beträgt  das  spezifische  Gewicht  des  Eisens  7,84,  seiner  Sauer- 
stoffverbindungen 4,9—5,3,  seiner  Hydrate  aber  höchstens  4,4.  Letztere 
würden  demnach  ein  doppelt  so  grofses  Volumen  einnehmen  wie  das 
reine  Metall.  Sie  können  sich  daher  schon  in  1200  m  Tiefe  kaum 
mehr  bilden,  da  hier  der  Druck  des  Wassers  bereits  die  Affinität 
überwindet.  Wo  aber  auf  dem  roten  Thon  Eisenoxyd  oder  Eisen- 
oxydul sich  fanden,  da  stammten  diese  Eisenverbindungen  gleichfalls 
aus  dem  Weltenraume.  Verschiedene  Fälle  kosmisohen  Staubes  liefern 
dafür  den  Beweis:  so  am  3.  Mai  1892  in  Schweden,  5.  November  1893  bei 
Paso  de  los  Damas  auf  Chiles  Cordilleren,  am  13.  u.  14.  März  1813  in 
Kalabrien  und  anderen  Teilen  von  Italien.  Hier  fiel  der  Staub  aus 
einer  rotbraunen  Wolke  herab,  die  das  Licht  der  Sonne  verdunkelte. 
Gleichzeitig  fielen  bei  Cutro  in  Calabrien  Meteorsteine  herab,  und  die 
Schneelager  auf  den  Berggipfeln  färbten  sich  rot.  In  allen  diesen 
Fällen  wurdo  der  Staub  gleioh  nach  seinem  Falle  analysiert,  und  eisen- 
und  manganhaltig  befunden.  In  Schweden  schätzte  man  die  Menge 
des  kosmischen  Staubes  auf  500  000  Tonnen.  Nicht  lange  nachher  war 
er  indes  verschwunden ,  nämlich  unter  dem  Ein  Hufs  der  Atmosphä- 
rilien hydratisiert  und  aufgelöst  worden.  In  den  abyssischen  Abgründen 


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497 


des  Meeres  verhindert  dies  also  der  Druck.  So  kann  man  von  einer  ge- 
wissen Permanenz  der  Ozeane  recht  wohl  sprechen.  Jedenfalls  haben 
die  Ozeane  ihre  Schwerpunkte,  um  die  sie  sich  bewegen,  die  von 
jeher  seit  Entstehung  der  Hydrosphäre  gewesen  sind  und  immer  sein 
werden,  so  lange  nicht  das  Erdinnere  das  Wasserhäutchen  des  Erdballs 
aufgesaugt  haben  wird,  was  nach  Flammarion  in  etwa  20  Millionen 
Jahren  vollendete  Thatsache  sein  soll.  Die  Bildung  der  Kontinente  aber 
erfolgte  an  den  Stellen  der  Erdkruste,  die  schon  früh  in  einon  Gegen- 
satz zu  diesen  Hauptvertiefungen  traten,  ohne  deswegen  notwendiger- 
weise immer  dem  Wasser  zu  entragen;  denn  schon  zu  cambrischen 
Zeiten,  die  naoh  Wellisch  mindestens  2  Millionen  Jahre  hinter  uns 
zurüok  liegen,  stofsen  wir  auf  Anzeichen  gewaltiger  kontinentaler 
Massen,  und  schon  in  jenen  uralten  Zeiten  treten  hier  und  da  kalk- 
schalige  Tierforraen  des  Meeres  ebenso  zurück,  wie  in  der  Gegenwart 
in  Tiefen  unter  4000  m.  —  An  die  Luft  gebraoht  wird  der  wahr- 
scheinlich aus  der  silikatreichen  Erstarrungskruste  der  Erdoberfläche 
entstandene  rote  Thon  bald  hart  wio  Zement  Es  läfst  sich  daher  ver- 
muten, dafs  schon  in  der  Tiefe  die  Ozeane  mit  diesem  Thono  ihre 
Gründe  förmlich  auszementieren,  in  ähnlicher  Weise,  wie  nach  Peschel 
jeder  Landsee  damit  beginnt,  sein  eigenes  Gefäfs  zu  verkitten,  indem 
er  den  Boden  mit  einer  Glasur  aus  festen  Letten,  in  der  Schweiz 
Seekreide  genannt,  überzieht  In  den  Gebieten  des  roten  Thons  kann 
dann  in  der  Regel  kein  Wasser  mehr  in  das  heifse  Erdinnere  ein- 
dringen, um  dessen  Eisenlegierungen  zu  hydratisieren  und  dadurch 
nicht  nur  leichter  zu  machen,  sondern  auch  zu  einem  Aufschwellen  zu 
veranlassen,  das  sich  als  unwiderstehliche  faltende  Kraft  äufsern  würde. 

Ungemein  reich  ist  das  Tier-  und  Pflanzenleben  des  Meeres. 
Die  Gesamtheit  der  marinen  Flora  und  Fauna  bezeichnet  man  nouer- 
dings  als  Halobios.  Dieser  ist  wahrscheinlich  der  Ursprung  aller 
irdischen  Lebewesen,  aus  ihm  haben  sich  die  Bewohner  der  Flüsse 
und  Seen,  so  wie  dio  Tiere  und  Pflanzen  des  Festlands  im  Verlaufe 
ungeheurer  Zeiträume  nach  und  nach  entwickelt.  Wann  zum  ersten 
male  auf  dem  Festlande  Leben  sich  verbreitete,  das  vermag  freilich 
niemand  zu  sagen.  Schon  während  des  Carabriums  gab  es  Wirbeltiere; 
in  den  ältesten  Zeiten,  aus  denen  wir  Urkunden  in  Gestalt  von  Fossi- 
lien besitzen,  waren  sämtliche  grofse  Kreise  der  Tierwelt  bereits  ver- 
treten und  zum  Teil  in  mehrere  Gruppen  gespalten.  Nur  so  viel  steht 
fest  und  läfst  die  eisige  Kälte  des  Weltenraums  von  —  140 ",  so  wie 
der  frühere  glutflüssige  Zustand  der  Erdoberfläche  als  unabweisbar 
erscheinen,  dafs  das  Leben  autochthon  auf  der  Erde  erwachte  und 

Himmel  und  Er<l«v    iwfl.    XI.  II.  32 


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498 

zwar  an  vielen  Stellen  zugleich  und  auch  wohl  in  verschiedenen  Typen, 
bedingt  durch  lokale  Verhältnisse,  so  dafs  wir  schon  in  untercambrischer 
Zeit  weit  vom  Anfang  des  Lebens  entfernt  stehen;  denn  da  ergierst 
sich  ja  bereits  das  Leben  als  breiter  Strom,  dessen  Quelle  der  Pa- 
laeontologe  so  lange  nicht  finden  wird,  als  die  tiefen  Abgründe  des 
Meeres  uns  nichts  verraten. 

Unter  5000  m  Tiefe  hört  alles  organische  Leben  auf;  denn  es 
fehlt  hier  an  einer  genügenden  Sauerstoffmenge,  während  der  Kohlen- 
säuregehalt des  Wassers  zum  tötlichen  Gifte  wird.  Aus  geringeren 
Tiefen  aber  beförderte  das  Schleppnetz  noch  Krebse  und  Haarsterne 
an  das  Tageslicht,  die  merkwürdigerweise  aus  jurassischen  und  älteren 
Epochen  bekannt  waren  und  daher  für  längst  ausgestorben  galten. 
Der  Grund  der  Tiefsee  mit  seinen  fast  unveränderlichen  Lebensbedin- 
gungen hatte  sie  konserviert,  so  dafs  sie  den  Wechsel  der  Jahr- 
tausende siegreich  überstanden,  während  auf  dem  veränderlichen  Fest- 
lande im  Kampfe  ums  Dasein  zahllose  Geschlechter  zu  Grunde  gingen 
und  durch  andere,  passender  organisierte  ersetzt  wurden. 

Während  an  der  Oberfläche  des  Meeres  violette  Tiere  vorkommen, 
folgen  naoh  der  Tiefe  die  grünen,  braunen  und  weiter  unten  die  roten 
und  bleichen  Tiere,  am  Meeresgrunde  haben  sie  ganz  die  Farbe  des 
Bodens.  Offenbar  hängt  diese  Ersoheinung  mit  dem  verschiedenartigen 
Eindringen  der  Lichtstrahlen  ins  Wasser  zusammen.  Es  findet  sich 
aber  auoh  die  sonderbare  Mimikry- Färbung.  Tiere,  die  das  offene 
Meer  bewohnen,  sind  glashell  durchsichtig,  silberglänzend  und  blau 
gefärbt,  wie  das  durchsichtige  Element,  in  dem  sie  schweben.  Die 
Tierwelt  der  Florideen  auf  den  Kerguelen  ist  sehr  lebhaft  rot  und 
braun  koloriert  wie  die  Algen,  auf  denen  sie  lebt.  Auf  Korallenriffen 
gehört  ein  überaus  geschulter  Blick  dazu,  um  die  in  Form  und  Farbe 
fast  ganz  den  Ästen  mit  abgestorbenen  Korallen  gleichenden  Krebse, 
Schnecken  und  Muscheln  zu  erkennen.  Die  Schollen,  Steinbutte  und 
Höchen  entziehen  sich  durch  sandgraue  Färbung  ihrer  Oberseite  leicht 
allen  Nachstellungen.  Doch  scheint  auch  hier  eher  die  Farbe  der 
Umgebung  einen  bestimmenden  Einflufs  auf  die  Färbung  eines  Tieres 
auszuüben  als  von  einem  aus  Schutzbedürfnis  entspringenden  An- 
passungsvermögen die  Rede  zu  sein.  Infolge  der  Mimikry  erkennt 
man  oft  die  Tiere  erst,  weun  sie  sich  bewegen.  Dementsprechend 
sind  denn  auch  die  Augen  der  Meerestiere  so  eingerichtet,  dafs  sie 
weniger  Form  und  Farben  als  vieiraehr  Bewegungen  zu  unterscheiden 
vermögen,  so  dafs  alle  festsitzenden  Tiere,  sofern  sie  nicht  durch 
Farbe  und  Geruch  auffallen,  vor  Nachstellungen  gesichert  sind. 


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4*J!) 


Da  schon  in  400  m  Tiefe  die  Assimilationsfähigkeit  der  Pflanzen 
gänzlich  aufhört,  d.  h.  sie  nioht  mehr  im  stände  sind,  aus  Kohlensäure 
und  Wasser  Stärke  zu  bilden,  so  sind  die  hier  lebenden  Tiere  ganz 
auf  das  Plankton  angewiesen,  schwimmende  Meeresalgen  mit  darin 
lebenden  Geschöpfen,  welche  nach  ihrem  Absterben  in  die  Tiefe  hinab- 
rieseln. 

Dem  hohen  Wasserdruck  entsprechend,  der  in  der  Tiefe  herrscht 
und  genügt,  Glas-  und  Metallgefäfse  zu  zertrümmern,  Holz-  und  Kork- 
schwimmer, die  harpunierte  Wale  mit  hinabrissen,  stark  zusammen 
zu  pressen,  sind  bei  Tiefseefiscben  Knochen  und  Muskeln  schwach 
entwickelt;  die  Knochen  haben  eine  fibröse,  zackige,  kavernöse  Be- 
schaffenheit, sind  zart  und  ohne  Kalksalze.  Bewohner  gröfserer  Tiefen 
sind  ganz  mit  Wasser  durchtränkt,  sie  kamen  fast  ausnahmslos  tot 
an  die  Oberfläche;  doch  scheint  der  rasche  Temperaturwechsel  hier 
die  Hauptschuld  zu  tragen.  Da  nämlich  im  Mittelmeer  das  Grund- 
wasser fast  gleichmäßig  13°  C.  hat,  so  brachte  man  selbst  aus  1650  m 
Tiefe  die  meisten  Tiere  in  voller  Lebenskraft  ans  Tageslicht,  ja  ein 
Krebs  lebte  noch  längere  Zeit  ganz  wohlbehalten  weiter.  Mitunter 
holte  man  aus  der  Tiefe  gigantische  Tierformen,  wie  Fürst  Albert 
v.  Monaco,  ein  eifriger  und  erfolgreicher  Meeresforsoher,  einen  Krebs 
mit  meterlangen  Fühlern;  auch  riesenhafte  Tintenfische  birgt  der 
Meeressohofs;  selbst  eine  wahrhaftige  130—160'  lange  Meeressohlange 
will  Kapitän  Hassel  im  Mai  1870  im  Golfe  von  Mexiko  gesehen 
haben,  und  Dr.  Oudemans  stellt  187  Fälle  zusammen,  wo  man  ein 
Tier  gesehen  zu  haben  behauptet,  welches  dem  Mesosaurus  der  Se- 
kundärzeit glich.  Eine  sonderbare  Erscheinung  ist  auch  die  Symbiose 
zwischen  Pflanze  und  Tier.  So  enthalten  Seeanemone,  Korallen, 
Quallen,  Seewürmer  und  Polypen  nicht  selten  grünliche,  bräunliche 
oder  gelbliche  nach  der  Oberseite  liegende  Zellen,  welche  die  ent- 
sprechende Färbung  der  Tiere  bedingen  und  als  einzellige  Algen  er- 
kannt wurden.  Sie  liefern  den  betreffenden  Tieren  den  zum  Leben 
nötigen  Sauerstoff.  Um  den  pflanzlichen  Genossen  die  Arbeit  zu  er- 
leichtern, setzt  sich  eine  bei  Sicilien  vorkommende  Samtschnecke 
zeitweise  dem  hellen  Tageslicht  aus,  wobei  eine  lebhafte  Ausscheidung 
von  Sauerstoff  aus  den  Algenzellen  stattfindet.  Andererseits  bedürfen 
die  Algen  zu  ihrem  Gedeihen  Kohlensäure,  die  ihnen  direkt  von  dem 
Tiere  geliefert  wird. 

Ganz  allgemein  gilt  der  Satz,  dafs  Pflanzen  und  Tiere  sich  naoh 
den  Küsten  drängen  und  das  offene  Meer  in  der  Regel  arm  an  Orga- 
nismen ist.    Am  geeignetsten  für  das  Tierleben  ist  eben  die  Flachsee, 

32* 


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500 


der  Bandige  Meeresstrand.  Hier  spielt  als  Nahrung  der  Seetang  die 
Hauptrolle,  von  welchem  es  über  400  Arten  giebt  Auf  der  Oberfläche 
haben  sie  eine  mehr  grüne  Farbe,  die  mit  Abnahme  des  Lichtes  in 
Braun,  Violett  und  Rot  übergeht  In  860  m  Tiefe  ist  ihre  Vegetations- 
grenze zu  suohen.  So  sind  die  Felsen  von  Helgoland  bei  Ebbe  von 
einem  2  m  hohen  graugrünen  Rand  umsäumt,  gebildet  durch  eine  Seetang- 
art, zwischen  deren  sohleimigen  Blättern  zahlreiche  Tiere  leben.  Das 
Ostseebecken  trägt  bis  zu  1/3  seiner  Fläche  Pflanzenwuchs,  der  na- 
mentlich sich  in  die  stilleren  Buchten,  selbst  in  den  Nordostseekanal 
hineindrängt. 

Aber  auch  im  offenen  Meere  giebt  es  hier  und  da  gewaltige  An- 
häufungen von  Algen,  zumal  Beerentang,  so  die  Sargasso- Wiese  des 
Atlantischen  Ozeans  westlioh  der  Azoren.  14  Tage  lang  mufste  Co- 
lumbus  durch  diese  ungeheure  Meerwiese  mühsam  mit  seinen 
3  kleinen  Schiffen  hindurchfahren. 

loh  bin  zu  Ende  mit  meiner  Kevue,  aus  welcher  hervorgehen 
dürfte,  dafs  die  Meeresforsohung  der  Gegenwart  denn  dooh  recht  Be- 
trächtliches geleistet  hat,  dafs  aber  auch  nooh  manches  Problem  der 
Lösung  harrt,  deren  Weg  nur  angedeutet  werden  konnte;  aber  keines- 
wegs unter  der  Oarantie,  dafs  dieser  Weg  auch  sioher  zum  Ziele  führt. 


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Südafrika's  Diamanten. 

_  Von  P.  Prehde  in  Schönebeck  a.  E. 

lie  ersten  südafrikanischen  Diamanten  wurden  1867  am  Vaal- 
flusse  in  Griqualand- West  gefunden,  welches  damals  dem  Griqua- 
Häuptling  Waterboer  unterstellt  war. 
Ein  herumziehender  Händler  Namens  O'Reilly  brachte  den  ersten 
Diamant  von  21  Karat  an  die  Öffentlichkeit;  er  hatte  ihn  von  einem 
Boer  erhalten,  der  von  dem  Werte  keine  Ahnung  hatte.  Dieser  Stein 
wurde  dem  Hofschatzamt  in  London  überwiesen  und  schliefslioh 
von  einem  englisohen  Baron  für  £  500  angekauft.  O'Reilly  teilte 
den  Betrag  mit  dem  früheren  Besitzer  des  Diamanten.  Zwei  Jahre 
später  erhielt  der  erwähnte  Boer  von  einem  in  derselben  Gegend 
wohnenden  Hottentotten  einen  83'/,  karätigen  Stein  Für  £  400,  welchen 
er  unmittelbar  darauf  für  £  11200  verkaufte.  Dieser,  als  ..Stern 
Südafrikas"  bekannte  Diamant  ist  gegenwärtig  im  Besitz  der  Gräfin 
von  Dudley  und  wird  auf  £  25000  gesohätzt 

Bald  begann  ein  Schwärm  von  Sobatzgräbern  und  Abenteurern 
aus  aller  Herren  Länder,  die  Stätten  der  Farmen  Du  Toitspan  und 
Bultfontein  aufzusuchen,  und  die  früher  kaum  von  eines  Menschen 
Fufs  betretene,  öde,  wasserarme  Gegend  begann  sich  zu  beleben. 
Tausende  von  Menschen  aller  Nationalitäten,  in  Zelten  hausend,  waren 
eifrig  damit  beschäftigt,  nach  den  kostbaren  Wunderdingern  zu  suchen, 
welche  dio  Eigenschaft  besafsen,  einen  armen  Mann  im  Augenblick 
in  einen  reichen  zu  verwandeln. 

Im  darauffolgenden  Jahre  entdeckte  man  in  der  Nähe  zwei 
weitere  Diamanten  bergende  Farmplätze,  so  dafs  in  einem  Kreise  von 
einer  Quadratmeile  vier  Bergwerke  entstanden. 

Ein  Chaos  waren  diese  Bergwerke  in  ihrer  ursprünglichen  Be- 
schaffenheit Glaubte  der  Diamantengräber  einen  geeigneten  Platz 
für  seine  Thätigkeit  gefunden  zu  haben,  dann  bogann  das  Graben 
unter  Zuhilfenahme  von  Eingeborenen,  und  der  Schwierigkeiten  gab 
•es  viele  zu  überwinden,  denn  weder  Sprengstoffe  noch  Hilfsmaschinen 
waren  zur  Stelle.    Die  Schürfanrechte  lagen  häufig  so  nahe  bei  ein- 


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502 


ander,  dafs  die  verschiedenen  Besitzer  derselben  sioh  gegenseitig  ins- 
Gehege  kamen.  Die  einzelnen  Gruben  mit  Sohürfanreohten  hatten  ver- 
schiedene Ausdehnung,  Form  und  Tiefe  angenommen;  die  verschie- 
denen Interessenten,  welche  auf  12  000  angewachsen  waren,  arbeiteten 
in  kleineren  Parteien,  jede  naoh  der  ihr  bestdünkenden  Methode. 
Dazwischen  blieben  aufgedeokte  Fels  blocke,  notwendige  Verkehrs- 
wege und  wertlose  Erdmassen  stehen,  welohe  manchmal  einstürzten 
und  die  mühevolle  Arbeit  Einzelner  verschütteten.  Die  Verkehre- 
mittel waren  unzureichende,  das  Wasser  knapp,  und  der  geöffneten 
Erde  entstiegen  Fieberdünste. 

Unter  diesen  Verhältnissen  konnten  allerlei  Unzuträglichkeitea 
nioht  ausbleiben;  Zank  und  Streit,  sowie  zügellose  Gesetzesfreiheit 
machten  die  Zustände  unerträglich,  so  dafs  die  Cap-Regierung  das 
Land  im  Jahre  1871  als  Eigentum  proklamierte.  Aber  auch  die 
Boeren  des  Oranje- Freistaates  glaubten  rechtmäfsige  Ansprüohe  auf 
die  Gegend  zu  haben,  und  es  wäre  wohl  zu  einem  Kriege  gekommen, 
wenn  beide  Parteien  sioh  nicht  verständigt  hätten,  indem  der  Oranje- 
Freistaat  eine  Entschädigungssumme  von  £  90  000  erhielt. 

Inzwischen  waren  die  Farmen  wiederholt  in  andere  Hände  über- 
gegangen, und  die  Bedingungen  auf  Erteilung  von  Sohürfanreohten 
wurden  immer  höhere.  Die  Folge  davon  war  ein  Aufstand  der  Dia- 
mantengräber, aber  auch  hier  wurden  die  Streitigkeiten  ohne  Blut- 
vergiefsen  beigelegt. 

Sobald  einigermaßen  Ordnung  hergestellt  war,  begann  ein  regel- 
rechter Bergbau.  Nach  und  naoh  wurden  die  Zelte  du  roh  Wellblech- 
bäuser  ersetzt  und  gaben  die  Grundlage  der  heutigen  Stadt  Kimberley. 

Mit  grofser  Leichtigkeit  konnten  Diamanten  auf  unredliche  Weise 
erworben  werden,  und  der  enorme  Nutzen,  welcher  du  roh  Beschaffen 
der  Edelsteine  von  den  in  den  Gruben  arbeitenden  Eingeborenen  zu 
erreichen  war,  hatte  eine  grofse  Anzahl  Abenteurer  herbeigelockt, 
welche  ein  organisiertes  System  anwandten,  um  gestohlene  Diamanten 
beiseite  zu  schaffen  und  zu  verwerten.  Kaum  die  Hälfte  der  ge- 
fundenen Steine  gelangte  in  die  Hände  der  rechtmäfsigen  Eigentümer. 

Infolgedessen  sahen  sich  die  Besitzer  genötigt,  den  Schutz  der 
Regierung  anzurufen,  und  diese  belegte  das  ungesetzmäfsige  Diamanten- 
verkaufen mit  harten  Strafen.  Ein  Netz  von  Geheimpolizisten  hatte 
darüber  zu  wachen,  dafs  nur  konzessionierte  Händler  Diamanten  ver- 
kaufen durften.  Der  Besitz  roher  Diamanten  allein  genügte  als  Be- 
weismittel zur  Verurteilung  zu  7  Jahren  Zwangsarbeit  Gewissenlose 
Charaktere  benutzten  das  Gesetz,  um  sioh  unliebsamer  Personen  zu 


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503 


entledigen,  indem  sie  ihren  Opfern  Diamanten  in  die  Tasche  prakti- 
zierten. Das  Gesetz  wurde  zu  Repressalien  ausgenutzt,  jedoch  der 
beabsichtigte  wohlthuende  Zweck,  der  Diamanten-Industrie  eine  sichere 


Flg.  I.    Kimberley  -  Mine  .  Tagebau 


Basis  zu  verleihen,  läTst  dessen  Härte  und  Einseitigkeit  entschuldbar 
erscheinen. 

Zu  jener  Zeit  schon  hatten  sich  kleinere  Gesellschaften  gebildet» 
indessen  begann  die  eigentliche  Entwickelung  der  Diamautenfelder 
erst  von  dem  Augenblick  der  Vereinigung  sämtlicher  Bergwerke 


504 

des  Eisenbahnverkehrs  im  Jahre 


r  ,-iner  Loitu"g^  konnten  Baumaterialien  und  Maschinen  her- 

-oMtf  *erJe"'  „„erke  sind  Tagebaue,  aber  einzelne  haben  auch 

Die  «*ism 

Tiefb*u' 

aosxed('htttett  .  utt>n  vom  Marktplatz  Kimberleys  entfernt  liegt  die  Kim- 
^ur/ön  ^  ^  eine  der  reichston  Südafrikas,  mit  14  ha  Tagebau 
berley-0r"l'eJ Tjefe    Der  jetzt  betriebene  Tiefbau  hat  600  m  erreicht. 
vozj        ^IJSferbergwerk  ist  das  der  De  Heers  Company,  eine  Viertel- 
^'jlich  voa  t?rs,erer  entfernti  und  so  ganz  geeignet,  dem  Be- 
nieile  os    Qßgamtbild  der  modernen  Diamanten-Gewinnung  zu  geben. 
SUCi,pie  Diamanten  sind  in  einer  thonartigen,  blaugrünen  Erde  von 
bröckeliger  Beschaffenheit,  dem  Kimberlit,  enthalten.   Die  Erde 
^^vermittelst  Dynamit  oder  Sprengpulver  losgelöst,  auf  Drahtseil- 
bahnen zur  Oberfläche  befördert  (s.  Titelblatt,  obere  Abbildung)  und 
vorerst  auf  grofsen,  freien  Plätzen  ausgebreitet,  wo  sie  dem  Einflufs 
der  Luft  ausgesetzt  bleibt  und  später  leichter  gewaschen  werden  kann. 
Viele  Millionen  Ladungen  (Fig.  2)  lagern  auf  diesen  Plätzen,  welche 
floors  genannt  werden.     In  oiner  Ladung  von  ca.  1000  kg  Kimberlit 
sind  durchschnittlich  0,85  bis  0,89  Karat  Diamanten  enthalten,  wovon 
120  Karat  einem  Gewicht  von  1  Unze,  oder  16,67  g  gleich  sind.  Sehens- 
würdig sind  die  Einrichtungen  zur  Beförderung  der  Erdmassen,  die 
elektrisch  erleuchteten  unterirdischen  Stollen,  die  ingeniösen  Maschinen 
zum  Zerkleinern  und  Schlemmen  der  Erde  (s.  Titelblatt,  untere  Ab- 
bildung), sowie  zur  Absonderung  wertloser  Erde  und  Transportierung 
derselben  auf  immer  höher  anwachsende  künstliche  Hügel. 

Auf  diese  Weise  werden  ca  50  cbm  blauer  Erde  zu  ca  5  Cubik- 
fufs  wertvollen  Rückständen  reduziert  und  vermittelst  Pulsatoren  in 
die  Sortierräume  befördert,  auf  langen  Tafeln  ausgebreitet  und  sortiert. 
Aufser  Diamanten  von  wasserheller,  gelblicher,  rötlichor,  schwarzer 
und  gestreifter  Färbung  finden  sich  auch  Rubine  und  andore  wert- 
losere Edelsteine  vor.  Von  der  Form,  Beschaffenheit,  Farbe  und  Gröfse 
ist  ihr  Wert  abhängig. 

Wie  in  ganz  Südafrika  die  rohen  Arbeiten  von  den  Einge- 
borenen, den  Kaffern,  verrichtet  werden,  so  müssen  sie  auch  in  den 
Diamantengruben  das  Befördern  der  Erde  zu  den  Schächten,  die  ge- 
wöhnlichen körperlichen  Hilfeleistungen  verrichten,  während  die  Auf- 
seher, Maschinisten  und  Sortierer  Weirse  sind. 

Die  Eingeborenen  müssen  sich  für  eine  gewisse  Arbeitsperiode 
von  mindestens  drei  Monaten  verpflichten  und  sind  angewiesen,  im 


505 


Bereich  des  eingeschlossenen  Bergwerks  zu  bleiben;  aufserhalb  der 
Arbeitszeit  dient  ihnen  der  „Compound",  ein  von  der  Aufsenwelt  ab- 
geschlossener Gebäudekomplex,  in  welohem  sie  die  Nacht  zubringen 
und  ihre  Mahlzeiten  erhalten,  als  Aufenthalt  (Fig.  3).  Auf  diese  Weise 
sind  sie  einer  unausgesetzten  Kontrolle  unterworfen  und  können  zu- 
fällig gefundene  Diamanten  nicht  bei  Seite  schaffen. 

In  den  Diamanten-Bergwerken  Kimberleys  sind  7800  Kaffern 
und  2000  Weifse  beschäftigt. 

Die  Ausbeute  seit  Entdeckung  der  Lager  wird  auf  1'  4  Milliarde 
Mark  geschätzt. 


Fig.  '2.   Transport  da«  „Kimberlit"  auf  Floors. 


Auch  im  Oranj**- Freistaal  wurde  1878  ein  ansehnliches  Lager 
entdeckt.  Die  vollkommensten  Diamanten  werden  hier  bei  Jagers- 
fontein  gefordert.  Am  3U.  .Juni  1893  wurde  der  gröfste  Diamant, 
der  „  Excelsior"  hier  gefunden.  Er  wiegt  971  Karat  und  mifst 
51  2  englische  Zoll  im  Umfang.  Selbst  wenn  ein  in  der  Mitte  be- 
findlicher Fehler  die  Teilung  dieses  Diamanten  erforderlich  machen 
sollte,  so  würde  man  zwei  tadellose  Brillanten  von  über  200  Karat 
erhalten,  also  gröfser  als  der  Kohinoor.  Im  Jahre  1895  fand  man 
einen  weifsen  Stein  von  634  Karat,  der  vollkommenste,  welcher  je- 
mals entdeckt  wurde.  Er  ist  nach  dem  damaligen  Präsidenten  des 
Oranjt>- Freistaates  „Reitz"  genannt. 


506 


Im  Kimberley  -  Distrikt  wurde  1896  ein  503  karätiger  Stein  in 
der  De  Beers  Grube,  und  ein  404  karätiger  in  Du  Toitspan  gefunden. 
Ein  kleinerer,  150  Karat  schwerer  Diamant  von  regelmäfsiger  Form, 
der  „Porter  Rhodos",  stammt  aus  der  Kimberley-Orube  und  hat  einen 
Wert  von  60000  Lstr. 

Ein  weit  gröfserer  als  die  oben  genannten  Diamanten  wurde  jedoch 
1806  in  Brasilien  gefunden.    Er  wiegt  3100  Karat,  ist  aber  schwarz. 

Aufserdem  finden  sich  Alluvial  -  Diamanten  im  Sande  einiger 
Flüsse  Südafrikas  vor,  hauptsächlich  im  Vaalflufs.  Ihr  Ursprung  läfst 
sich  nicht  mit  Uewifsheit  bestimmen,  und  es  ist  nicht  anzunehmen, 


Fig.  3.   Kaffern -Compound  mit  Badcbuiin. 


dafs  sie  den  bekannten,  trockenen,  vulkanischen  Lagern  entstammen. 
Die  Flufsdiamanten  sind  wertvoller  als  diejenigen  Kimberleys,  jedoch 
weniger  zahlreich. 

Auch  in  Transvaal  in  der  Nahe  von  Klerksdorp  sowie  nördlioh  von 
Pretoria  in  Ze  b  ed  •  •  1  i  s  -  Land  und  im  Distrikt  Waterberg  befinden  sich 
Anzeichen  von  dem  Vorhandensein  vulkanischer  blauer  Diamantenerde. 

Es  gehört  daher  nicht  in  den  Bereich  des  Unmöglichen,  wenn 
die  im  Osten  Deutsch -Südwestafrikas  gemachten  Entdeckungen  das 
Vorhandene  m  von  Diamanten  bestätigen  sollten. 

Freilich  dienen  die  Diamanten  in  der  Hauptsache  dem  Luxus, 
und  ihr  Wert  ist  ein  imaginärer. 


Das  Erreichen  der  Erdpole  mit  Hilfe  von  Eisbrechern. 

Von  R.  Hahn,  Navigationslehrer  in  Leer. 

achdem  alle  Schiffsfahrten,  Treibversuche  oder  Schlittenfahrten 
nach  dem  Nordpol  der  Erde  raifsglückt  sind  und  die  Ballon- 
fahrt dorthin  eitel  verunglückt  ist,  tritt  nunmehr  der  Gedanke 
hervor,  die  Erdpole  mit  Hilfe  von  Eisbrechern  zu  erreichen.  Es  ent- 
sprang der  Plan,  sowie  seine  technische  und  nautische  Bearbeitung 
dem  Kopf  eines  der  tüchtigsten  Hydrographen  der  Jetztzeit,  der  zu- 
gleich ein  gründlicher  Polarforscher  und  praktischer  Seemann  der 
Eismeere  ist,  nämlich  dem  des  russischen  Vice-Admirals  Marakoff. 

Die  Geschiohte  der  pelagischen  Eisbrecher  reicht  nicht  weit 
zurück  und  stammt  die  Idee,  Fahrwasser  vermittelst  Eisbrecher  trotz 
Frost  und  Eis  zu  öffnen  und  für  die  Schiffahrt  offen  zu  halten,  natur- 
gemäß aus  Kufsland,  dem  Lande,  dessen  Küsten,  Buchten  und  Häfen 
am  meisten  durch  Eis  blockiert  werden.  Dort  gelang  es  18B4  durch 
einen  verhältnismäfsig  kleinen  Eisbrecher,  d.  h.  durch  einen  kleineren 
eisernen  Dampfer  mit  vorn  in  die  Höhe  laufendem  Kiel,  den  Verkehr 
zu  Wasser  zwischen  Kronstadt  und  dem  Festlande  einige  Wochen 
länger  als  sonst  zu  Anfang  des  Winters  zu  ermöglichen.  Der  Erfolg  regte 
zu  Nachahmungen  in  größerem  Stil  an,  und  schon  zu  Anfang  der  sieben- 
ziger  Jahre  finden  wir  technisch  verbesserte,  starke  Eisbrecher  auf 
den  amerikanischen  Binnenseen,  auf  der  Elbe,  der  Weser  und  in  allen 
gröfseren  Ostseehäfen  in  Thätigkeit.  Ende  der  achtziger  Jahre  er- 
hielten Nikolajew  und  Wladiwostok  so  gewaltige  Eisbrecher,  dafs 
sie  jetzt  das  ganze  Jahr  hindurch  ihre  Häfen  in  Verbindung  mit  dem 
Meere  halten  können,  und  mit  dem  Bau  der  sibirischen  Eisenbahn 
installierte  die  russische  Regierung  auf  dem  Baikal-See  einen  Eis- 
brecher, der  die  Aufgabe  der  Überführung  des  Eisenbahn -Verkehrs 
dort  zu  allen  Jahreszeiten  hat.  Dieser  führt  auch  vorn  eine  tiefliegende 
Schraube  nach  dem  Muster  der  Michigan- Eisbrecher,  welche  den 


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508 


Zweok  hat,  die  sogenannten  Torosse,  d.  h.  zusammengeschobene  und 
zusammengepreßte  Eishaufen,  zu  unterwühlen  und  zum  Zusammen- 
bruch zu  bringen. 

Auf  Grund  der  mit  diesen  Eisbrechern  gemachten  Erfahrungen, 
mit  denen  Admiral  Mar ak off  vertraut  ist  wie  kaum  einer,  kalkuliert 
er,  dafs  der  Nordpol  der  Erde  in  kurzer  Zeit  und  mit  ziemlicher 
Sicherheit  vermittelst  zweier  reoht  starker  Eisbreoher  zu  erreichen  wäre. 


u-j  V 

j — 

\ 

\ 

1 — n 

V  ■ 

ZW 

*— 

Seitenansicht  im  Langsichnitt. 


Deckaiuicht. 
Polar  -  Eisbrecher  nach  Marakoff. 

b.  Wasserballast  -  m.  Maschinen.  —  d.  Doppolboden, 
p.  Pumponräume.  —  k.  Kohlenräume. 

Bevor  ich  auf  seine  Annahmen,  Schlüsse  und  Rechnungen  ein- 
gehe, möchte  es  angebracht  sein,  die  zu  bezwingenden  Eisverhältnisse 
etwas  näher  zu  beleuchten. 

In  den  Eismeeren  hoher  und  höchster  Breiten  hat  man  Eisberge, 
Torosse  und  Eisfelder  zu  erwarten,  und  zwar  die  meisten  Eisberge  in 
den  antarktischen  Regionen,  während  in  den  arktischen  Gegenden  nur 
Eisfelder  und  Torosse  dominieren.  An  Eisbergen  wird  man  einen  Eis- 
brecher nie  probieren,  sondern  man  wird  sie  umgehen  und  ebenso  aucli 
Torosse,  wenn  sie  sich  nicht  als  Ketten  lang  hinziehen,  so  dafs  man  sie 


50V) 


durchqueren  mufs,  um  leichter  zu  durchbrechendes  und  schneller  zu 
durchfahrendes  Feldeis  zu  erreichen.  Man  kann  auf  Grund  von  Autori- 
täten annehmen,  dafs  Torosse  nicht  tief  und  immer  pyramidenförmig 
ins  Wasser  ragen,  da  sie  durch  Pressungen  der  Eisfelder  entstanden 
sind;  aber  auf  8 — 10  Meter  mufs  man  ihre  Tiefe  doch  schätzen.  Auf 
den  nordamerikanischen  Binnenseen  vernichtet  und  durchfährt  man  mit 
Hilfe  der  vorderen  Schraube  der  dortigen  Eisbrecher  die  gröfsten 
Torosse,  d.  h.  solche  bis  zu  7  und  8  Meter  Höhe,  und  gröfsere  kommen 
nach  Nansen,  Nordenskjöld,  Borchgrevink  u.  s.  w.  weder  im  nörd- 
lichen noch  im  südlichen  Polarmeer  kaum  vor.  Nehmen  wir  aber  auch 
mehrjährige  Torosse  von  wesentlich  gröfseren  Dimensionen  in  den  Polar- 
becken an,  so  ist  dem  entgegen  zu  stellen,  dafs  diese  aus  Salzwasser 
gefroren  sind,  und  dafs  das  Eis  der  letzteren  durch  Salzauswaschungen 
locker  wird  und  höchstens  70°/o  der  Festigkeit  des  Süfswassereises 
besitzt;  außerdem  ist  man  mit  den  1500  effektiven,  d.  h.  wirklich  das 
Schiff  bewegenden  Pferdekräften  jener  Eisbrecher  noch  lange  nicht  an 
die  Grenzen  des  Antriebes  angelangt. 

Eisfelder  können  aus  einjährigem  und  auch  au6  mehrjährigem 
Eise  bestehen.  Ihre  wahrscheinliche  Stärke  können  wir  an  der  Hand 
der  Wey  p  recht  sehen  „Metamorphosen  des  Polareises"  kalkulieren. 
Wenn  wir  darin  die  Heaumur -Kälte- Grade  in  Colsius  umsetzen 
und  1°C.  pro  Tag  einen  Gradtag  nennen,  so  erhalten  wir  für: 
500  Gradtage  eine  Eisdicke  von  ca.  0,5  Meter 
1000  „         „     „  0,75  . 

•2  000        „  „         ..     „  1,0  „ 

4  000        „  1,5  „ 

6  000  „         „     .,   1,9  „ 

10  000        „  „         „     .,  2,4  „ 

15  000        „  „         „     „  3,0  „ 

20  000  „  n  „  .,  .  3,3 
Man  sieht  hieraus,  wie  wenig  echliefslich  die  hohen  Gradtagzahlen 
wirken,  und  dafs  man  bei  etwas  über  6000  Gradtagen  pro  Jahr,  naoh 
Weyprecht,  Nordenskjöld,  Nansen  u.  s.  w.,  auf  eine  einjährige 
Eisdecke  von  nicht  ganz  2  Meter  Dicke  zu  rechnen  hat.  Bei  mehr- 
jährigem Eise  werden  wir  15000  und  20000  Gradtage  zählen  müssen, 
aber  dann  auch  den  regelmäßigen  Sommer-Abschmelz  von  reichlich 
1  Meter  abzuziehen  haben.  Somit  erhalten  wir  bei  3  bis  4jährigem 
Eise  3,2—3,6  Meter  Dicke,  und  nach  Abzug  des  Abschmelzens  bliebe 
eine  Dicke  von  2,8  bis  höchstens  3,3  Meter,  was  mit  den  praktischen 
Erfahrungen  der  Polarreisenden  übereinstimmt 


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510 


Nehmen  wir  eine  Maximal-Starke  der  Eisfelder  von  selbst  3,5 
Meter  an,  so  fragt  es  sich,  welohen  Antrieb  ein  Eisbrecher  haben  mufs, 
um  solohe  Eismasse  mit  auch  nur  geringer  Geschwindigkeit  zu  durch- 
fahren. Die  effektiven  Pferdekräfte  hierfür  sind  =  1,25  X  der  Ge- 
schwindigkeit in  Seemeilen  X  dem  Quadrat  der  Eisdicke  in  Zollen, 
und  das  ergiebt  für  1  Seemeile  Geschwindigkeit  zum  Durchfahren  von: 

0,75  Meter  dickem  Eis  etwa    760  effektive  Pferdekräfte 

1,0       «  „       „      „     1  900       h  „ 

1,6       „         „       „      „     5  000       „  n  ti 

2.5  „         n  «11 000       „  „  „ 

3,0  „  „         „     18  000  n  n 

3.6  „         «  „  22  000       „  n  n 

Da  man  eine  solche  Polarfahrt  im  Spätsommer  durchführen  kann, 
so  wird  dann  das  Eis  reichlich  einen  Meter  abgeschmolzen  sein,  also 
nur  eine  Dicke  von  2,5  Metern  haben,  für  dessen  Durchbrechen  nur 
ein  Antrieb  von  11000  effektiven  Pferdekräften  nötig  wäre.  Zieht 
man  nun  in  Betracht,  dafs  unser  gröTster  und  der  Welt  schnellster 
Dampfer  „Kaiser  Wilhelm  der  Grofse"  über  eine  solche  Triebkraft 
verfügt,  so  wird  Niemand  zweifeln,  dafs  man  diese  auch  in  einen  Eis- 
brecher installieren  kann,  und  damit  wäre  nach  Makaroff  die  Er- 
reichung der  Erdpole  lediglich  in  den  Rahmen  der  Geldfrage  gerückt. 

Bei  der  Erörterung  dieser  kommt  nun  die  Erfahrung  zu  statten, 
dafs  zwei  kleinere  Eisbrecher,  so  hintereinander  gelegt,  dafs  der 
hintere  beim  Vordringen  den  vorderen  mitsohiebt,  dagegen  rückwärts 
schleppt,  wenn  jener  sich  festgeklemmt  hat,  noch  besser  brechen  und 
fahren  als  ein  wesentlich  stärkerer  allein.  Daher  werden  zwei  Eis- 
brecher von  mittlerer  Gröfse  und  Stärke  auch  für  die  Pol-Fahrt  am 
geeignetsten  sein,  und  für  sie  hat  man  auch  sonst  seewirtschaftliche 
Verwendung,  was  bei  einem  sehr  grofsen  und  dementsprechend  tief- 
gehenden Eisbrecher  weniger  der  Fall  sein  möchte.  Das  nötige 
Geld  wird  also  durchaus  nioht  lediglich  für  Polfahrt-Eisbrecher  ge- 
spendet werden,  sondern  zum  gröfseren  Teil  für  das  Brechen  von  Eis 
im  Interesse  der  Seesohiffahrt  überhaupt. 

Admiral  Mar ak off  hat  die  Konstruktion  des  gewaltigen  russischen 
Eisbrechers  „Jermak",  gebaut  bei  Armstrong-Whitworth  &  Co. 
in  Newcastle,  begutachtet;  er  hat  den  Bau  in  seinen  wichtigsten  Teilen 
inspiziert,  das  Schiff  Ende  Februar  dieses  Jahres  abgenommen,  nach 
dem  finnischen  Meerbusen  begleitet  und  mit  glänzendem  Erfolg  in 
seine  eis-  und  bahnbrechende  Thätigkeit  gesetzt  Der  Jermak  hat  für 
seine  drei  hinteren  und  seine  vordere  Schraube  vier  ganz  getrennte 


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511 


dreifache  Expansionsmaschinen,  welche  je  1600  treibende  Pferdekräfte 
entwickeln,  die  also  in  Summe  nicht  viel  weniger  leisten,  als  es  ein 
Polar-Eisbrecher  thun  müfste.  Dafs  ein  solcher,  entsprechend  seinem 
Deplacement  von  etwa  6000  Tonnen,  ungemein  stark  und  mit  noch  viel 
mehr  Verband  als  der  „Fram"  gebaut  sein  müfste,  dars  er  zahlreiche 
wasserdichte  Abteile,  ungemein  grofse  Kohlenbunker  und  SüTswasser- 
Tanks,  sowie  eine  völlige  Polar-Überwinterungsausrüstung  an  Bord 
haben  raufs,  versteht  sich  von  selbst;  was  das  alles  bedeutet,  hat 
Nansen  zur  genüge  gezeigt.  Die  vorstehenden  Zeichnungen  geben 
ungefähr  und  vorbehaltlich  der  näheren  Dimensionenangabe  die  Form 
und  Einrichtung  eines  Eisbrechers  wieder,  wie  Marakoff  ihn  zur 
Erreichung  des  Nordpoles  für  nötig  erachtet. 

Nimmt  man  nun  mit  Marakoff  an,  dafs  man  im  Hochsommer 
bis  78  0  Nord  in  eisfreiem  Wasser  dampfen  kann,  so  hat  man  von  da 
auf  Nord-Kurs  noch  720  Seemeilen  =  180  deutsche  Meilen  bis  zum  Pol. 
Wir  wollen  800  Sm.  sagen,  da  man  doch  nicht  schnurgerade  fährt, 
und  dann  mit  Nordenskj öld,  Weyprecht,  Nansen,  Sverdrup 
u.a.,  wie  folgt,  schliefsen:  Von  diesen  800  Sm.  werden  l/4  =  200  Sm. 
eisfrei  sein,  so  dafs  die  Eisbrecher  sie  mit  12  Sm.  p.  h  in  17  h  durch- 
dampfen; dann  wird  '/5  der  ganzen  Strecke  =  160  Sm.  einjähriges 
Eis  von  1,2 — 1,3  Meter  Stärke  bieten,  welche  mit  3,5  Sm.  p.  h  durch- 
fahren werden  können,  also  in  46  h;  ein  weiteres  Sechstel  der  800  Sm., 
also  135  Sm.,  werden  mit  zweijährigem  Eise  von  1,5  —  1,6  Meter  Dicke 
bedeckt  sein  und  mit  2,5  Sm.  Fahrt  p.  h  durchbrochen  werden,  d.  h. 
in  54 h;  ein  weiteres  Sechstel  =  135  Sm.  sei  mit  dreijährigem  Eis, 
2,1  Meter  dick,  belegt,  also  mit  1,7  Sm.  Fahrt  p.  h  oder  in  80  b  durch- 
querbar. Vom  Rest  werden  13J)  Sm.  2,6  Meter  dickes  Eis  tragen,  das 
nur  mit  1  Sm.  Fahrt  p. h,  also  in  135  zu  durchdampfen  ist,  und 
ca.  30  Sm.  werden  Torosse  bieten,  die  nur  mit  0,5  Sm.  Fahrt  zu  über- 
winden sein  möchten,  oder  in  ca.  60  b  Zeit.  Sonach  würden  die  Eis- 
brecher im  ganzen  sich  in  ca  400  Stunden  duroh  das  Eis  zum  Pol 
brechen,  so  dafs  die  ganze  Nordpol-Tour  in  etwas  mehr  wie  einem 
Monat  erledigt  werden  könnte. 

Für  das  Erreichen  des  Südpols  liegen  die  Verhältnisse  sehr  viel 
ungünstiger,  weil  man  dort  schon  in  viel  niederer  Breite  auf  dickeres 
Eis  stofsen  wird  und  auch  auf  mehr  mächtiges  Eis,  das  zu  umfahren 
sein  wird,  rechnen  mufs.  Eine  Schätzung  für  das  Durchbrechen  des 
antarktischen  Eises  bis  zum  Südpol  wird  erst  auf  Grund  der  Erfahrun- 
gen möglich  werden,  die  beim  Vordringen  zum  Nordpol  in  dieser 
Weise  gemacht  worden  sind. 


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512 

Admiral  Marakoff  hat  über  seine  Pläne  Vorträge  in  der 
kaiserlich  russischen  geographischen  Gesellschaft  und  im  Marine- 
Verein  zu  Petersburg  gehalten.  Seinen  Auslassungen  entstammt  zum 
Teil  das  hier  nach  eigenen  Anschauungen  verarbeitete  Material.  Ee 
ist  sehr  wahrscheinlich,  dufs  Rursland,  geleitet  von  dem  genialen  Geist 
des  energischen  und  erfahrenen  Mannes,  in  einem  der  nächsten  Jahre 
versuchen  wird,  sich  die  Palme  der  Polarforschung  durch  Erreichung 
des  Nordpols  mittelst  Eisbrechers  zu  erringen. 


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Zur  Entwickelungsgeschichte  der  Gestirne.  Dafs  wir  in  den 
verschiedenen  Typen  der  Fixsternspektra  Repräsentanten  der  ver- 
schiedensten Entwickelungsstadien  von  Himmelskörpern  vor  uns  haben, 
ist  eine  seit  geraumer  Zeit  von  den  Astrophysikern  allgemein  ange- 
nommene Vermutung.  Die  Sterne  vom  ersten  Vogel  sehen  Typus 
galten  dabei  stets  als  die  heifsesten,  und  darum  glaubte  man,  dafs  sie 
in  ihrer  mit  allmählicher  Abkühlung  verbundenen  Entwickelung  am 
wenigsten  vorgeschritten  seien,  während  die  kühleren  Sterne  vom 
dritten  Typus,  in  deren  Atmosphären  chemische  Verbindungen  durch 
das  Spektroskop  nachgewiesen  wurden,  um  dieser  niedrigen  Temperatur 
willen  für  alternde,  dem  gänzlichen  Verlöschen  nahe  Sonnen  gehalten 
wurden. 

Gegenüber  diesen  bisher  allgemein  als  selbstverständlich  hinge- 
nommenen Ansichten  über  die  Beziehungen  zwischen  Temperatur 
und  Alter  der  Fixsterne  hat  der  amerikanische  Astronom  See  kürz- 
lich eine  diametral  entgegengesetzte  Anschauung  verteidigt,  zu  der 
er  durch  theoretische  Untersuchungen  im  Anschluls  an  die  Helmholtz- 
sche  Theorie  der  Erhaltung  der  Sonnenwärme  gelangt  ist. 

Helmholtz  hat  im  Jahre  1853  bereits  darauf  hingewiesen,  dafs 
die  durch  die  fortwährende  Wärmeausstrahlung  bedingten  Wärme- 
verluste der  Sonne  nicht  notwendig  mit  einer  Abnahme  ihrer  Tempe- 
ratur verknüpft  zu  sein  brauchen.  Durch  eine  neben  der  Ausstrahlung 
sich  vollziehende  Kontraktion  des  als  gasförmig  vorausgesetzten  Sonnen- 
balls könnte  vielmehr  eine  so  grofse  Menge  potentieller  Energie  in 
kinetische  Wärme-Energie  verwandelt  werden,  dafs  die  Temperatur 
der  Sonne  auf  gleicher  Höhe  erhalten  wird.  Lane,  der  im  Jahre  1870 
die  Temperaturveränderungen  eines  sich  infolge  der  Wärmeausstrahlung 
zusammenziehenden  Gasballs  theoretisch  genauer  verfolgte,  gelangte 
sogar  zu  dem  paradoxen  Ergebnis,  dafs  die  durch  Kontraktion  er- 
zeugte Wärmemenge  die  von  dem  Gasball  ausgestrahlte  Energie 
übertrifft,  und  dafs  daher  die  Temperatur  sich  zusammenziehender,, 
gasförmiger  Himmelskörper  beständig  steigen  müsse,  bis  eine  schliefs- 

Himmel  und  Erde.   1869.  XI.  II.  33 


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514 

liehe  Verflüssigung'  der  komprimierten  Gase  unter  nochmaliger  Ent- 
bindung grofser  Wärmemengen  dieser  Wärmezunahme  ein  Ende  macht 
und  das  nunmehrige  allmähliche  Erkalten  einleitet. 

Hieran  knüpfen  nun  Sees  Schlufsfolgerungen  an;  auch  er  findet, 
dafs   unter  der  Voraussetzung  gasförmigen  Aggregatzustandes  die 
Temperatur  der  Gestirne  in  demselben  Mafse  stefgen  mute,  wie  sich 
ihr  Durchmesser  verkleinert.     Im  anfänglichen  Nebelstadium  müsse 
darum  die  Temperatur  als  sehr  niedrig,  dem  absoluten  Nullpunkt  nahe- 
liegend, angenommen  werden.   Dagegen  stellt  das  Stadium  der  Sirius- 
sterne (I.  Typus)  nach  See  nicht  den  Anfang  der  Entwickelung*  dar, 
sondern  vielmehr  deren  Ziel.    Die  Siriussterne  haben  den  höchsten 
Hitzegrad  durch  möglichst  weitgehende  Kontraktion  erreicht,  bei  ihnen 
steht  die  Verflüssigung  und  damit  der  Beginn  der  Abkühlungsperiode 
unmittelbar  bevor.    Die  Thatsache,  dafs  viele  dieser  Siriussterne  von 
dunklen  Begleitern  von  nahezu  gleicher  Masse  umkreist  werden,  wie 
auf  Grund  ihrer  veränderlichen  Eigenbewegung  erkannt  werden  konnte, 
stützt  nach  Sees  Meinung  seine  Auffassung,  dafs  wir  es  hier  mit 
alternden  Gestirnen  zu  thun  haben,  die  zwar  zur  Zeit  noch  auf  dem 
Höhepunkte  ihrer  Wärme-  und  Licht -Ausstrahlung  stehen,  aber  alsbald 
dem  Schicksale  ihrer  bereits  dunkel  gewordenen  Geschwistersterne 
verfallen  werden,  da  der  durch  die  einstige,  grofse  Ausdehnung  ihnen 
verfügbar  gewesene  Vorrat  an  potentieller  Energie  bald  erschöpft  sein 
wird.  —  Die  Sonnensterne  (II.  Typus)  stellen  dagegen  ein  weniger 
kontrahiertes  und  deshalb  auch  weniger  heifses  Stadium  dar.  See 
glaubt,  dafs  die  Mannigfaltigkeit  der  Zusammensetzung  der  Atmosphären 
dieser  Gestirne  auf  die  noch  nicht  allzu  grofs  gewordene  Schwere 
zurückzuführen  sei,  welche  es  nooh  den  meisten  Gasen  gestattet  an 
der  Oberfläche  zu  bleiben,  während  bei  den  stärker  kontrahierten 
Siriussternen  aufser  der  Temperatur  auch  die  Schwere  ihren  Maximal- 
wert erreicht  hat,  so  dafs  auf  der  Oberfläche  des  Gasballs  fast  nur 
noch  die  leichtesten  Gase  zu  finden  sind. 

Obgleich  naoh  dieser  Anschauung  die  Temperatur  unserer  Sonne 
noch  steigen  mufs,  ist  nach  See  wegen  der  Verringerung  des  Durch- 
messers doch  die  Gesamt -Ausstrahlung,  also  auch  der  auf  die  Erde 
entfallende  Bruchteil  derselben,  bereits  im  Abnehmen  begriffen.  Zur 
Zeit,  als  der  Durchmesser  des  Sonnonballs  noch  demjenigen  der  Erd- 
bahn glich,  müfste  nach  der  Kontraktionstheorie  die  Temperatur  der- 
selben diejenige  lauen  Wassers  (40°)  gewesen  sein,  eine  Temperatur, 
die  wir  bei  Annahme  der  Kant- Laplace sehen  Theorie  als  Ausgangs- 
punkt für  die  Entwickelung  des  Erdsterns  zu  benutzen  hätten.  See 


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515 

findet,  dafs  die  Erde  kurz  vor  ihrer  Verflüssigung  nur  eine  maximale 
Temperatur  von  etwa  2000 0  C.  habe  erlangen  können. 

Die  hier  kurz  wiedergegebenen  Deduktionen  dürfen  gewifs  leb- 
haftes Interesse  beanspruchen,  stellen  sie  doch  im  Grunde  nur  die 
Konsequenzen  der  Heimholt/ sehen  Kontraktionstheorie  dar.  Es  darf 
jedoch  nicht  vergessen  werden,  dafs  diese  Theorie  auf  der  noch  un- 
bewiesenen Annahme  des  gasförmigen  Aggregatzustandes  ruht  Die 
Probleme  der  Astrophysik  dürfen  aber  nur  durch  Beobachtung  und 
Erfahrung  und  nicht  von  einer  vorgefafsten  Meinung  aus  entschieden 
werden.  Es  fragt  sich  nun  sehr,  ob  die  eben  skizzierten,  neuen  Auf- 
fassungen die  Einzelheiten  der  spektralanalytischen  Erscheinungen 
ebenso  gut  zu  erklären  im  stände  sein  werden,  wie  die  bisherigen 
Ansichten  über  das  Alter  der  Sterne.  Auch  darf  nicht  übersehen 
werden,  dafs  in  der  von  See  nicht  weiter  verfolgten  Abkühlungsperiode, 
welche  auf  die  Zeit  stetig  steigender  Hitze  folgt,  die  früher  bereits 
einmal  dagewesenen  Temperaturen  in  umgekehrter  Folge  noch  einmal 
auftreten  müssen,  und  der  selbstleuchtende  Zustand  noch  eine  geraume 
Zeit  hindurch  anhalten  mufs.  Die  Altersbestimmung  eines  Gestirns 
auf  Grund  seiner  Temperatur  würde  sonach  eine  Aufgabe  mit  zwei 
verschiedenen,  möglichen  Lösungen  darstellen,  und  es  müfste  erst 
durch  hinzukommende  Kriterien  in  jedem  Einzelfalle  entschieden 
werden,  ob  man  einen  Stern  vor  sich  hat,  der  der  ersten  Entwickelungs- 
periode  angehört  und  noch  durchaus  gasförmig  ist,  oder  aber  einen 
solchen  der  zweiten  Periode  mit  abnehmender  Temperatur  und  flüssigem 
Kern.  Die  erste  Möglichkeit  würde  dann  die  von  See  hervorgehobene 
sein,  während  die  zweite  es  gestatten  würde,  bei  den  bisherigen  Auf- 
lassungen über  das  relative  Alter  der  verschiedenen  Fixsterntypen 
zu  verharren.  Es  erscheint  uns  demnach  sehr  wohl  möglich,  die  neue 
Lehre  mit  den  bisherigen  Ansichten  zu  vereinen  und  als  eine  blofse 
Vervollständigung  derselben  anzusehen.  Gewifs  mag  in  zahlreichen 
Fällen  die  bisher  übliche  Altersschätzung  fehlgegangen  sein,  aber  in 
vielen  anderen  Fällen  mag  sie  ebenso  wohl  das  Richtige  getroffen 
haben.  Das  Stadium  der  Siriussterne,  das  man  bisher  an  den  Anfang 
der  ganzen  Entwickelung  stellte  und  unmittelbar  mit  dem  Nebelstadium 
in  Beziehung  brachte,  würde  also  nur  den  Anfang  der  zweiten  Periode 
des  Leuchtens  eines  Sterns  bedeuten;  zwischen  das  Nebelstadium 
einerseits  und  das  der  Sterne  vom  ersten  Typus  andererseits  hätten  wir 
noch  die  Periode  steigender  Temperatur  einzuschalten,  während  welcher 
der  Typus  des  Spektrums  einem  umgekehrt  verlaufenden  Wechsel,  wie 
in  der  Abkühlungsperiode,  unterworfen  sein  könnte.         F.  Kbr. 

33* 


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516 

Über  die  Ursachen  der  Polschwankungen  (s.  Septb.-Heft  des 
vorigen  Jahrg.  „Himmel  u.  Erde")  hat  sich  S.  Xewcomb  geäufeert, 
indem  er  die  Möglichkeiten  erwägt,  welche  von  rein  theoretischem 
Gesichtspunkt»«  aus  Tür  eine  Erklärung  der  Schwankungen  der  Erd- 
achse in  Betracht  kommen  können.    Die  einzige  Bewegung  des  Erd- 
poles,  welche  durch  die  Theorie  begründet  worden  kann,  ist  die  be- 
kannte Eulersche  Periode  von  306  Tagen,  wenn,  wie  wahrscheinlich, 
die  Erde  als  ein  fester  Körper  von  gewisser  Elastizität  vorausgesetzt 
wird.    Ein  sicherer  Betrag  der  kreisförmigen  oder  elliptischen  Be- 
wegung des  Erdpoles  läfst  sich  derzeit  noch  nicht  angeben,  da  die 
mittlere  Elastizität  des  Erdkörpers  unbekannt  ist.    Keinesfalls  kann 
aber  die  Periode  mit  der  von  Chandler  gefolgerten  übereinkommen, 
wenn  man  nicht  der  Erde  eine  viel  gröfsere  Starrheit,  als  sie  höchst 
wahrscheinlich  besitzt,  zuschreiben  will.     Die  Eul ersehe  Periode 
kann  indessen  durch  Vorgänge  auf  der  Oberfläche  der  Erde  so  er- 
heblich beeinflufst  werden,  dafe  mehrere  kleine  Perioden  entstehen, 
die  umeinander  laufen,  oder  aber  ineinander  eingreifen,  so  dafs  sie 
sich  bisweilen  verstärken,  bisweilen  jedoch  auoh  gegenseitig  fast  auf- 
heben könnten.    In  statischer  Beziehuug  können  Veränderungen  im 
Betrage  des  jährlichen  Schneefalles  auf  der  Erdoberfläche  Bewegungen, 
und  zwar  Verschiebungen  in  der  Lage  des  Drehungspoles  bewirken,  die 
Newcomb  auf  3  bis  4  Hundertstel  der  Bogensekunde  schätzt.  Atmo- 
sphärische und  Meeresströmungen  können  als  dynamische  Ursachen 
für  die  Beeinflussung  der  Bewegung  der  Erdachse  auftreten.  Sie 
können  Veränderungen  jährlicher  Natur  in  der  Polbowegung  hervor- 
rufen, wenn  sie  sich  regelmäfsig  jedes  Jahr  wiederholen,  aber  auch 
Störungen  bewirken,  falls  plötzliche  Unregelmäfsigkeiten  im  Verlaufe 
jener  Strömungen  denkbar  wären.    In  den  Beobachtungen  der  Pol- 
höhenversohiebungen  würden  sich  also  neben  der  Eulerschen  Periode 
noch  Jahrosperioden  und  kleine  irreguläre  Schwankungen  unbestimmten 
Charakters  kundgeben  müssen.    Der  Betrag  des  Niederschlages  auf 
der  Erdoberfläche,  wenn  er  etwa  jahraus  jahrein  nicht  derselbe  bleibt, 
sondern  sich  erheblich  ändert,  würde  ebenfalls  eine  Veränderung  der 
Eulerschen  Periode  und  zwar  in  dem  Sinne  bewirken,  dafs  die  Am- 
plitude dieser  Periode,  das  heifst  die  Gröfse  der  Schwingung  des  Poles, 
etwas  verändert  wird.     Der  Coefficient  dos  jährlichen  Wertes  der 
Änderung,  die  aus  einem  jährlichen  Wechsel  der  atmosphärische» 
Strömungen  folgen  würde,  darf  nach  Newcomb  bis  auf  eine  Zehntel- 
sekunde im  Maximum  veranschlagt  werden.  * 


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517 


Die  drei  Aggregatzustände. 

Wie  die  Einteilung  der  Lebewesen  in  Tiere  und  Pflanzen  vor 
•den  Ergebnissen  der  Forschung  nioht  hat  bestehen  bleiben  können, 
so  dafs  man  heut  nicht  mehr  nachweist,  worin  beide  sich  unterscheiden, 
sondern  nur,  dafs  man  keine  scharfe  Grenze  zwischen  ihnen  ziehen 
kann;  wie  die  Teilung  der  Chemie  in  organische  und  anorganische 
ihre  alte  Bedeutung  verloren  hat,  so  macht  sich  eine  ähnliche  Um- 
wandlung auch  auf  physikalischem  Gebiet  bemerkbar.  Wenn  es  in 
Lehrbüchern  heifst,  feste  und  flüssige  Körper  haben  eigenes  Volumen, 
Flüssigkeiten  und  Gase  keine  eigene  Gestalt,  so  ist  sohon  oft  darauf 
hingewiesen,  dafs  es  hier  am  letzten  Ende  darauf  ankommt,  was  für 
Kräfte  das  Volumen  oder  die  Gestalt  zu  ändern  streben.  Pech  ist 
eine  Flüssigkeit,  bei  Steinselzarbeiten  kann  man  sie  au 8  Fässern  fliefeen 
sehen;  will  man  aber  von  diesor  Flüssigkeit  etwas  abteilen,  so  mufs 
man  ein  Beil  nehmen.  Blei  dagegen  ist  ein  fester  Körper,  aber  eine 
Statue  aus  diesem  Metall  behält  ihre  eigene  Gestalt  nicht  lange;  zwei 
Bleiplatten  in  der  Plombierzange  nehmen  duroh  einen  Händedruck  die 
gewünschte  Gestalt  an;  eine  Silberplatte  ist  zwar  nioht  so  gefügig, 
kann  aber  auoh  geprägt  werden. 

Wenn  so  schon  der  Laie  an  dieser  Dreiteilung  der  Aggregat- 
zustände Kritik  üben  konnte,  so  ist  die  neuere  Forschung  ihr  noch 
energischer  zu  Leibe  gegangen.  Prefst  man  ein  Gas  bei  hinreichend 
hoher  Temperatur  stark  zusammen,  (z.  B.  Kohlensäure  bei  mehr  als 
31°  C.  mit  einem  Druck  von  100  Atm.),  so  kann  man  keine  Ver- 
flüssigung beobachten.  Kühlt  man  nun  ab,  so  beobachtet  man  ebenfalls 
keine  Kondensation,  läfst  man  aber  dann  den  Druck  abnehmen,  so 
beobachtet  man  ein  Sieden  der  Flüssigkeit.  Folglich  mufs  das  Gas 
flüssig  geworden  sein,  ohne  dafs  man  doch  die  Grenze  zwischen  beiden 
bestimmen  könnte.  Ferner  gilt  für  Gase  das  Mariottesche  Gesetz, 
nach  dem  das  Produkt  aus  dem  Druek,  unter  dem  das  Gas  steht,  und 
dem  Volumen,  das  es  einnimmt,  in  einfacher  Weise  von  der  Temperatur 
abhängt.  Sobald  aber  die  Temperatur  dem  Siedepunkt  des  verflüssigten 
Gases  sich  nähert,  hört  das  Gesetz  zu  gelten  auf.  Also  ist  eine  reinliche 
Scheidung  zwischen  Gasen  und  Flüssigkeiten  nicht  ohne  weiteres  möglioh. 

Ebenso  ist  es  mit  der  Trennung  der  Flüssigkeiten  von  den  festen 
Körpern.  Bei  amorphen  Körpern  kommt  es,  wie  bei  dem  oben  ge- 
nannten Pech,  auf  den  Grad  der  Zähigkeit  an.  Z.  B.  haben  sie  keine 
bestimmte  Schmelztemperatur,  sie  erweichen  und  werden  so  allmählich 
flüssig,  ohne  dafs  man  eine  scharfe  Grenze  bestimmen  könnte,  wie  es 
bei  krystallischen  und  krystallinischen  Körpern  möglich  ist. 


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518 


Um  aber  die  Teilung  der  Körper  in  feste  und  flüssige  auch 
dieses  letzten  Haltes  zu  berauben,  haben  einige  Physiker  in  den  letzten 
Jahren  (Zeitschrift  für  phys.  Chemie  XXV  ff.,  Naturw.  Rundschau 
XIII  und  XIV)  flüssige  Krystalle  entdeckt  und  untersucht,  d.  h.  nicht 
geschmolzene  Krystalle,  sondern  Flüssigkeiten,  die  noch  Krystalleigen- 
schaften  zeigen.  Dahin  gehören  Cholesterylbenzoat,  para-Azoxyanisol 
und  para-Azoxyphenetol.  Wenn  man  sie  schmilzt,  so  erhält  man  eine 
trübe  Flüssigkeit,  die  in  Flüssigkeiten  von  derselben  Dichte  Kugeln 
bildet,  wie  der  Plateausohe  öltropfen  im  wässerigen  Alkohol,  die  also 
eine  rechte  Flüssigkeit  im  gewöhnlichen  Sinne  ist,  aber  optisch  doppelt- 
brechend  wirkt  und  wie  alle  Krystalle  (z.  6.  Eis)  unfähig  ist,  andere 
Körper  zu  lösen.  Bei  ganz  bestimmter,  höherer  Temperatur  können 
diese  Körper  mit  Hilfe  einer  ebenso  genau  bestimmbaren  Schmelzungs- 
wärme  umgewandelt  und  ihrer  Krystalleigenschaften  beraubt  werden, 
so  dafs  sie  also  nunmehr  amorph  und  wirklich  flüssig  sind.  Die 
specifisohe  Wärme,  z.  B.  des  para-Azoxyanisols,  ändert  sich  im 
Verhältnis  3 : 2,  ebenso  ändern  sioh  die  Zähigkeit  und  das  Volumen. 
Druck  erhöht  diese  Umwandlungstemperatur,  Zusätze  zur  Flüssigkeit 
erniedrigen  sie,  aber  viel  bedeutender  als  z.  B.  Salzzusatz  zum  Wasser 
die  Gefriertemperatur. 

Alle  diese  Untersuchungen  von  Tammann,  Ost  wald,  Lehmann, 
Reinitzer,  Schenck  lehren  neben  den  genannten,  überraschenden 
Einzelheiten,  dafs  krystallische,  krystallinisohe  und  amorphe  Körper  sich 
im  festen  und  flüssigen  Zustand  nur  durch  das  Mafs  der  Zähigkeit  unter- 
scheiden, so  dafs  schließlich  nur  dieser  Grad  der  Zähigkeit  übrig 
bleibt,  auf  den  man  aber  dooh  keine  Klassenteilung  gründen  kann. 
Theoretisch  ist  die  Zähigkeit,  und  damit  auch  die  innere  Reibung, 
die  sich  einer  Verschiebung  von  Teilen  des  Körpers  widersetzt,  bei 
Flüssigkeiten  unendlich  klein,  bei  festen  Körpern  unendlich  grofs; 
praktisch  aber  giebt  es  alle  nur  möglichen  Abstufungen  der  Zähigkeit 
von  einem  bis  zum  andern  Ende  der  Zahlenreihe.  A.  S. 

* 

Lichtenbergs  Figuren  und  Wechselstromuntersuchung. 

Ein  bekannter,  wenn  auch  verhältnismäfsig  wenig  aufgeklärter 
Versuch  über  elektrische  Entladung  kommt  zu  stände,  wenn  man  eine 
Glas*  oder  Hartgummitafel  auf  der  Unterseite  mit  Stanniol  beklebt  und 
diese  Belegung  nach  der  Erde  ableitet,  während  man  die  Oberseite 
mit  dem  Knopf  einer  geladenen  Leydener  Flasche  berührt.    Die  Art 


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519 

und  Weise,  in  welcher  sich  die  Elektrizität  auf  der  Fläohe  des  Iso- 
lators ausbreitet,  kann  man  durch  Bestäuben  mit  einem  feinen  Pulver, 
z.  B.  Semen  lycopodii,  sichtbar  machen.  Noch  schöner  gestaltet  sich 
der  Versuch,  wenn  man  ein  Gemisch  aus  zwei  verschieden  gefärbten 


Fig.  1.    Photographische  Registrierung  elektrischer  Schwingungen. 

Pulvern,  z.  B.  Schwefel  und  Mennige  (oder  statt  der  letzteren,  zur  Ver- 
meidung von  Bleivergiftung,  englisch  Rot),  benutzt.  Beim  Schütteln 
dieses  Gemisches  wird  nämlich  der  erstere  Bestandteil  negativ,  der 
zweite  positiv  elektrisch.  Da  sich  auf  der  Entladungsplatte  meistens 
durch  Influenz  sowohl  positive  als  negative  Stellen  bilden,  so  setzt 


I 


520 

sioh  der  Schwefel  an  den  ersteren,  das  rote  Pulver  an  den  letzteren 
ab,  und  man  erhält  eine  zweifarbige  Figur. 

Diese  Figuren  sind  wegen  gewisser  charakteristischer  Merkmale 
ihrer  Form  in  der  Hand  des  Herrn  von  Bezold  zu  einem  wichtigen 
Forschungsmittel  geworden,  indem  es  diesem  Gelehrten  gelang,  zu 
zeigen,  dafs  ein  Draht,  welcher  mit  einem  Ende  an  eine  Leitung  für 
elektrische  Entladungen  angeknüpft  ist,  während  er  andrerseits  frei 
endigt,  in  seinen  verschiedenen  Punkten  verschiedene  elektrische 
Zustände  zeigt.  Diese  Thatsache  erklärt  sich  genau  so,  wie  es  sich 
erklärt,  dafs  eine  gedockte  Orgelpfeife  beim  Anblasen  Schwingungs- 
knoten und  -bäuche  aufweist.  Von  Bezold  ist  also  der  Erste  ge- 
wesen, der  das  Zustandekommen  der  analogen  Erscheinungen  auf  dem 
Gebiete  der  Elektrizität  nachwies.  Seine  ursprünglich  verhältnismäfsig 
wenig  beachtete  Veröffentlichung  über  diesen  Gegenstand  ist  deshalb 
von  H.  Hertz  als  einzige  fremde  Arbeit  in  die  gesammelten  Unter- 
suchungen über  die  Ausbreitung  der  elektrischen  Kraft  aufgenommen 
worden. 

Neuerdings  liegt  eine  elegante Benutzungdieser  Lichtenbergschen 
Figuren  von  Prof.  Walter  König  vor1),  und  zwar  handelt  es  sich 
einmal  um  eine  ähnliche  Aufgabe,  nämlich  die  Untersuchung  lang- 
samer elektrischer  Schwingungen,  sodann  aber  um  eine  Methode  zur 
Messung  der  Periodenzahl  von  Wechselströmen. 

Dieser  letzte  Gegenstand  hat  ein  erhebliches  praktisches  In- 
teresse, da  es  zwar  sehr  leicht  ist,  in  einer  Wechselstromoentrale  un- 
mittelbar an  der  Maschine  die  Wechselzahl  zu  bestimmen,  nicht  aber 
im  Hause  des  Stromabnehmers.  Bezüglich  der  elektrischen  Schwin- 
gungen bringen  wir  in  Fig.  1  eine  Photographie,  welche  zwar  zu 
Mefszwecken  weniger  geeignet  ist,  aber  in  sehr  augenfälliger  Weise 
das  Vorhandensein  langsamer  elektrischer  Schwingungen  zeigt.  Der- 
artige Schwingungen  erhält  man  in  einfacher  Weise,  wenn  man  die 
beiden  Enden  der  sekundären  Wicklung  eines  Imluktoriums  mit  den 
Belegungen  einer  Leydener  Flasche  verbindet.  Unterbricht  man  den 
primären  Strom,  so  wird  die  eine  Flaschenbelegung  positiv,  die  andere 
negativ  geladen;  diese  Ladungen  gleichen  sioh  durch  die  Drahtrolle 
aus,  und  es  entsteht  wegen  der  bekannten  Wirkung  der  Selbstinduktion2) 
eine  entgegengesetzte  Ladung  und  so  fort.  Die  so  zu  stände  kommenden 
Schwingungen  sind  verhältnismäfsig  langsam;  sie  zählen  wie  die 
Schallschwingungen  nach  einigen  Hunderten  in  der  Sekunde.  Ver- 
bindet man  nun  noch  mit  der  einen  der  beiden  Flaschenbelegungen 

')  Wied.  Ann.  1S1W,  Heft  3.  -  ')  Siehe  z.  B.  H.  u.  E.  X.  Jahrg.,  Seite  104. 


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521 


einen  Draht,  an  dessen  Ende  man  eine  photographisohe  Platte  vorbei- 
gleiten läfet,  so  kann  man  auf  dieser  sehr  schon  erkennen,  dafs  die 
Belegung  abwechselnd  positiv  und  negativ  geladen  war.  Die  Ein- 
wirkung der  sich  ausbreitenden  negativen  Elektrizität  ist  nämlich  kon- 
zentrierter und  kräftiger,  während  man  bei  der  positiven  Elektrizität 
viele  Verästelungen  erhält.  Zugleich  sieht  man  an  der  Figur  recht 
augenfällig,  wie  die  Schwingungen  abklingen. 

Die  Bestäubungsmethode,  bei  welcher  an  die  Stelle  der  photo- 
graphischen Platte  eine  Harzplatte  oder  nach  König  eine  mit  Asphalt- 
lack überstrichene  Metallplatte  tritt,  ist  viel  empfindlicher  als  die  photo- 
graphische Methode,  und  man  erhält  bei  ihr  eine  grofse  Zahl  eng  an- 
einander sohliefsender,  abweohselnd  gelber  und  roter  Striche.  Um  ein 
genaues  Mafs  für  die  Geschwindigkeit  zu  haben,  mit  welcher  die 
Asphaltschicht  an  dem  Drahte  entlang  bewegt  worden  ist,  führt  König 


Fig.  2.  WechaelBtrom-B«gi»trierung. 


den  letzteren  zu  einer  Stimmgabel  von  bekannter  Schwingungszahl  und 
läfst  von  einem  an  deren  Zinke  angebrachten  Strohhälmchen  aus  die 
Entladungen  auf  die  Platte  übergehen.  Man  erhält  auf  diese  Weise 
eine  geschlängelte  Staubkurve,  so  dafs  in  dieser  Beziehung  der  Ver- 
such durchaus  analog  dem  Schreiben  einer  Stimmgabelkurve  in  einer 
Rufsschicht  ist.  Im  vorliegenden  Falle  kommt  aber  der  Umstand  hinzu, 
dafs  die  Staubkurve  abwechselnd  gelb  und  rot  gefärbt  erscheint,  und 
zwar  offenbar  entsprechend  der  Periode  des  Wechselstroms.  Man  kann 
also  auf  diese  Weise  eine  Anzahl  von  Perioden  sozusagen  abzählen 
und  sie  mit  der  Stimmgabelperiode  vergleichen.  Die  letztere  liefert 
aber  bekanntlich  ein  sehr  genaues  Zeitmafs. 

Die  Fig.  2  giebt  die  im  Original  vorhandenen  Unterschiede  nur 
sehr  unvollkommen  wieder.  Immerhin  aber  macht  sich  der  Unter- 
schied in  der  photographischen  Wirkung  des  roten  und  des  gelben 
Lichtes  so  weit  geltend,  dafs  man  eine  Abgrenzung  und  damit  die  ge- 
wünschte Bestimmung  vornehmen  kann. 

Was  würde  wohl  der  alte  Göttinger  Gelehrte  Lichtenberg  sagen, 
wenn  er  sähe,  dafs  seine  Figuren,  deren  Bedeutung  nach  einer  ganz 
anderen  Richtung  zu  suchen  war,  zu  einer  so  exakten  Mefsmethode 
geführt  haben!  Sp. 


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522 


Muschelkrebse  als  Luftschiffer. 

Vor  einiger  Zeit  machte  eine  kuriose  Mitteilung  die  Runde  durch 
europäische  Blätter  (vergl.  Münchener  Allg.  Ztg.  und  Voss.  Ztg.  vom 
18.  Jan.),  die  man  hätte  für  einen  Aprilscherz  halten  können,  wenn  es 
nicht  Januar  gewesen  und  nicht  die  Namen  französischer  Gelehrten 
genannt  wären,  die  die  Geschichte  ernsthaft  vor  der  Pariser  Akademie 
vorgetragen  hätten.    Es  handelt  sioh  um  Folgendes: 

Herr  L  ort  et  in  Lyon  beobachtete  in  der  Umgebung  dieser  Stadt 
einen  Regen  oder  förmlichen  Hagel  von  mikroskopisch  kleinen 
Muschelkrebs-  oder  Ostrakodenschalen.  Soweit  der  thatsächliche 
Kern  des  Berichts.  Die  Schlüsse,  welche  nun  aus  dieser  Beobachtung 
gezogen  worden  sind,  erinnern  nur  zu  sehr  daran,  dafs  Frankreich 
das  Vaterland  Jules  Vernes  ist. 

Nach  der  Untersuchung  sollen  die  gesammelten  Körper  der 
Gattung  Cypridinia  angehören,  von  denen  einige  Formen  heute  in 
ungeheuren  Mengen  in  den  Sümpfen  und  Kanälen  Unter-Ägyptens 
leben,  andere  fossil  sich  reichlich  in  den  mächtigen  Kreideschichten 
in  den  Wüsten  der  Umgebung  von  Kairo,  in  dem  Fayum  und  der 
Sahara  finden  sollen.  Warme  Luftströme  hätten  nun  die  Vio  mm 
langen,  hohlen  Schalen  der  Cypridinien  in  grorse  Höhen  getragen  und 
über  das  Mittelraeer  just  naoh  Lyon  geführt.  Derartiger  Staub  ägyp- 
tischer Herkunft  soll  auch  schon  früher  mehrfach  in  Lyon  gefunden 
worden  sein. 

Zunächst  hat  sich  ein  Druckfehler  eingeschlichen,  indem  es  keine 
Cypridinia  giebt,  vielmehr  die  Gattung  Cypridina  heifst.  Dieselbe 
ist  eine  echt  marine  Form  des  Planktons,  d.  h.  sie  lebt  in  gröfseren 
Meerestiefen,  kann  also  sicher  nicht  in  den  Kanälen  des  Nildeltas 
existieren.    Das  ist  eine  Verwechslung  mit  einer  Süfswassergattung 
Cypris,  die  in  mehreren  Arten  in  den  Wässern  Ägyptens  vertreten 
ist.    Drittens  giebt  es  überhaupt  keine  Kreideschiohten  im  Fayum,  und 
in  der  Umgebung  von  Kairo  sind  sie  nur  in  geringer  Ausdehnung  im 
NW.  der  grofsen  Pyramiden  bei  Abu  Raosch  nachgewiesen,  enthalten 
aber,  soweit  bis  jetzt  bekannt,  keine  Ostrakodenschalen.    Wenn  im 
übrigen  fossile  Schalen  von  Cypridina,  Cypris  oder  anderen  Ostra- 
koden  in  den  mächtigen  Tertiärbildungen  Ägyptens  auftreten,  so  ist 
das  jedenfalls  nur  in  geringer  Ausdehnung  der  Fall.    So  setzen  nach 
meinen  Beobachtungen  Cyprissohalen  eine  Kalkbank  eines  Hügels  im 
Wadi  Natrum  (nördliche  Libysche  Wüste)   in  den   dortigen  Miocän- 
schichten  zusammen,  wurden  aber  trotz  Suchens  an  weiteren  Plätzen 
noch  nicht  wieder  gefunden.    An  den  Mosesquellen  bei  Suez  sollen 


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523 


nach  dem  verstorbenen  Professor  0.  Fraas  Cyprisschalen  ein  winziges 
Hügelchen,  auf  dem  eine  der  dortigen  Quellen  herausquillt,  aufbauen, 
eine  Notiz,  die  in  viele  Lehr-  und  Reisebücher  übernommen  worden 
ist.  Spätere  Besucher  dieser  Lokalität,  darunter  der  Verfasser  dieses, 
haben  festgestellt,  dafs  das  Hügelohen  sich  in  Wirklichkeit  ganz  wie 
auch  ein  grofser  Teil  des  dortigen  Ufers  des  Suezgolfs  aus  gewöhn- 
lichen kugeligen  sandartigen  Kalkoolithkörnchen  zusammensetzt,  auf 
denen  die  Quelle  noch  Raseneisen  stein  und  Diatomeenpanzer  absetzt 

Also  weder  aus  den  nördlichen  Wüstenteilen  Ägyptens,  nooh  vom 
Sinai  können  wohl  solche  Unmengen  von  Ostrakoden  stammen,  dafs 
sie  die  Luft  als  Staub  erfüllen.  Dazu  kommt  nun  vor  allem  die  Un- 
wahrsoheinlichkeit  eines  Luftstromes  in  SO. — NW.  Richtung  von  Ost- 
Afrika  nach  Westeuropa  schräg  über  das  ganze  Mittelmeer  bis  in  das 
Herz  von  Frankreich.  Die  Meteorologen  werden  über  diese  Annahme 
den  Kopf  schütteln.  Wohl  findet  eine  Zuführung  von  sogenanntem 
„Passatstaub"  durch  den  Äquatorialstrom  oder  Gegenpassat  aus  Amerika, 
Teneriffa  und  Nordwestafrika  nach  Europa  statt;  aber  senkreoht  zu 
dieser  Richtung  ist  das  wenig  glaubhaft. 

Doch  warum  überhaupt  in  die  Ferne  schweifen,  um  eine  nur 
scheinbar  auffallende  Erscheinung  zu  erklären,  wenn  das  Gute,  dies- 
mal ein  ganzes  Lager  foBsiler  Ostrakoden  so  nahe  liegt:  Im  SW.  von 
Lyon  enthalten  die  Oligooänschichten  der  Auvergne  an  mehreren 
Stellen  Schalen  von  Cypris  faba  so  massenhaft,  wie  sie  sonst  in 
Europa  nur  im  Ries  in  der  schwäbisch-fränkischen  Alb  sind.  Könnten 
es  also  nicht  einfach  französische  Muschelkrebschen  gewesen  sein,  die 
per  SW.-Wind  den  noch  dazu  wiederholten  Ausflug  nach  Lyon  unter- 
nommen haben?  Dr.  M.  B. 

Landesgeologe  iu  Kairo. 

* 

Klima  des  Klondyke-Gebietes.  Im  Anschlufs  an  die  in  dieser 
Zeitschrift  (Band  IX,  S.  300  und  348)  beschriebene  .Reise  in  das  neue 
Goldland  Alaska"  mögen  einige  Angaben  über  die  klimatischen  Ver- 
hältnisse gemaoht  werden,  da  man  sich  selbst  in  geographischen 
Kreisen  übertriebene  Vorstellungen  von  der  Kälte  dieses  Gebietes 
gebildet  hat.  Prof.  Hann  hat  sich  die  Mühe  gemacht,  die  spärlichen 
Beobachtungen  zusammen  zu  suchen  und  kritisch  zu  bearbeiten;  er 
findet  aus  ca.  vierjährigen  Beobachtungen  in  Dawson  City  und  Fort 
Reliance  am  mittleren  Yukon  (64°  N.  Br.,  139l  2°W  von  Greenw.)  als 
wahrscheinlichste  Temperaturen  von  Dawson: 


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524 


Januar  April  Juli  Oktober  Jahr 

—  30,9°         —  7,1°         —13,2«  —6,5°  —  7,8°  C. 

und  für  Fort  Yukon,  ca.  2y2°  nördlicher: 

—  32,7°         —10,7°         —18,7°  —5,8°  —  8,4° 

Die  absoluten  Extreme  von  Dawson  waren  —  55,5°  und  27,2°, 
die  absolute  Schwankung  also  83°.  Es  ist  das  aber  durchaus  nicht  un- 
erwartet viel  für  ein  kontinentales  Klima.  Die  bis  jetzt  vorliegenden 
Beobachtungen  können  sich  sowohl  in  Bezug  auf  niedrige  Winter-  wie 
auf  hohe  Sommertemperaturen  durchaus  nicht  messen  mit  Ost-Sibirien 
unter  gleioher  Breite.  Einen  rohen  Vergleich  (da  es  sich  um  ver- 
schiedene Jahrgänge  handelt  und  speziell  für  Jakutzk  eine  lange 
Beobachtungsreihe  vorliegt)  gestatten  folgende  Zahlen: 

N.  Br.    O.  v.  Gr.  Höhe 

Jakutzk  0-2"       129'/,°  160  m 

Werchojansk  07'/,°       134»  50  m 

absolut 

Jan.      April    Juli     Okt.      Jahr  Min.  Max.  Schwankung 

Jakutzk        -42,8°   -  9,6    18,8   -  9,1    -  11,2  -62,1  38,8  100,9° 

Werchojansk  -  49,0    -14,0    15,4    -13,9    -16,7  -63,8  30,1  99,9 

Das  Ungünstige  im  Klima  des  Klondyke-Gebietes  ist  wahrschein- 
lich weniger  die  niedrige  Winter-  als  die  niedrige  Sommertemperatur. 


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Himmelserscheinungen. 


Übersicht  der  Himmelserscheinungen  für  August  und  September. 

Der  Sternhimmel.  Im  August  und  September  ist  der  Anblick  des  Himmels 
um  Mitternacht  der  folgende:  Die  Kulmination  erreichen  die  Sternbilder 
Schwan,  Wassermann,  Delphin  und  Cepheus,  später  auch  Pegasus,  Andromeda 
und  Fische.  Im  Aufgange  ist  um  Mitternacht  jetzt  schon  der  Stier  (Aldebaran 
um  12  h  resp.  111*  abends)  und  Orion  (nach  Mitternacht);  auch  die  Zwillinge 
sind  zwischen  12  bis  10  h,  der  Walfisch  seit  11k  resp.  9  h  sichtbar.  Im  Unter- 
gange befinden  sich  Ophiuchus  und  Bootes  (Arctur  zwischen  12  bis  11  h), 
Herkules  folgt  in  den  Morgenstunden;  Antares  (a  Scorpii)  geht  zwischen  10 
und  8t>  abends  unter,  früher  noch  die  Wage,  Spica  (Jungfrau)  schon  zwischen 
9  und  7  h.  Folgende  Sterne  kulminieren  Tür  Berlin  um  die  Mitternachtsstundo: 


1.  August 

a  Cygni 

(1.  Gr.) 

(AR.  20h  38m, 

D. +  44° 

55') 

8.  . 

Z  Cygni 

(3.  Gr.) 

21  9 

+  29 

49 

i;>. 

Y  Caprie. 

(4.  Gr.) 

21  34 

-  17 

7 

22.  « 

i  Pegasi 

(4.  Gr.) 

22  2 

-|-24 

51 

29. 

Tj  Aquarii 

(4.  Gr.) 

22  30 

—  0 

38 

1.  September 

/.  Pegasi 

(4.  Gr.)  ■ 

22  42 

+  23 

2 

8. 

Y  Piscium 

(4.  Gr.) 

23  12 

+  2 

44 

15. 

tu  Aquarii 

(5.  Gr.) 

23  37 

—  15 

6 

22. 

Y  Pegasi 

(3.  Gr.) 

0  8 

+  14 

37 

29. 

h  Androm. 

(3.  Gr.) 

0  34 

+  30 

18 

Helle  veränderliche  Sterne,  welche  vermöge  ihrer  günstigen  Stellung  vor 
und  nach  Mitternacht  beobachtet  werden  können,  sind  folgende: 

R  Sagittarii    (Max.  7.  Gr.)  (AR  19h  Um  D.  —  19*  29')  12.  September 


U  Aquilae 

( 

,6. 

-8.» 

) 

19 

24 

—  7 

15 

kurze  Periode 

X  Cygni 

( 

„6. 

-8.„ 

) 

20 

39 

+  35 

13 

kurze  Periode 

T  Aquarii 

( 

« 

7-  , 

) 

20 

45 

-  5 

31 

28.  September 

T  Vulpec. 

( 

„  6. 

-7.. 

) 

20 

47 

+  27 

52 

kurze  Periode 

H  Androm. 

( 

n 

7.  « 

) 

0 

19 

+  38 

1 

26.  September 

o  Ceti 

< 

»> 

3.  „ 

) 

2 

14 

-  3 

26 

2.  September 

R  Ceti 

( 

1» 

s.  „ 

) 

2 

21 

-  0 

38 

18.  August 

Algol  (ji  Persei)  ist  im  August  und  September  vor  und  nach  Mitternacht 
beobachtbar;  von  Sternon  des  Aigoltypus  können  aufserdom  noch  beobachtet 
werden:  W  Delphini  (AR  20  h  33  m,  b+  17°  55'),  Y  Cygni  (AR  20h  48«=,  D  + 
34°  17')  und  U  Cephei  (AR  0k  53  »,  D  +  81°  20'). 

Die  Planeten.  Merkur  ist  gegen  Ende  August  und  in  der  ersten  Hälfte 
September  einige  Zeit  vor  Sonnenaufgang  sichtbar.  —  Venus  ist  im  August 
Morgenstern,  etwa  eine  Stunde  vor  der  Sonne  aufgehend,  am  20.  August  kommt 
der  Planet  in  die  Sonnennähe  und  ist,  besonders  im  September,  weniger  gut 
zu  sehen.  —  Mars  läuft  etwas  nördlich  von  Spica  durch  das  Sternbild  der 
Jungfrau  bis  an  die  Grenze  der  Wage,  geht  Anfang  August  noch  Stunden 
nach  der  Sonne  unter,  Ende  September  3/4  Stunden  nach  Sonnenuntergang.  — 
Jupiter  geht  mittags  auf  und  2'/]  Stundon,  Ende  September  1  Stunde  nach 
der  Sonne  unter;  er  bewegt  sich  aus  der  Sterngegend  zu  den  Füfsen  der 
Jungfrau  bis  in  die  Wage.  —  Saturn  ist  anfänglich  bis  Mitternacht,  im  Sep- 


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526 


tember  bis  nach  V4H  h,  Ende  September  bis  V»9h  abends  sichtbar.  Er  gelangt 
bis  in  die  Mitte  des  Ophiuchus  und  wird  dort,  um  den  22.  August,  rückläufig. 
—  Uranus  nähert  sich  dem  Sterne  a  Scorpii  stärker  und  geht  etwa  eine 
Stunde  früher  unter  als  Saturn,  Ende  September  nach  7|8  h  abends.  —  Neptun 
wird  im  August  bald  nach  Mitternacht  sichtbar,  Anfang  September  gegen 
IIb  abends,  Ende  September  um  9h;  er  steht  in  der  Nähe  von  C  Tauri 
(3.  Gröfse). 

Sternbedeckungen  durch  den  Mond  (für  Berlin  sichtbar): 


Eintritt  Austritt 
3.  August        [a  Oemin.        3.  Gr.  2»»  57™  morgens  3  b  14  *  morgens 


18.  „ 

F  Sagittarii 

5.  „ 

11  35 

abends 

0 

41 

■ 

31.  „ 

C  Gemin. 

4.  „ 

4  11 

morgens  6 

2 

24.  September 

A'  Tauri 

5.  „ 

4  43 

- 

5 

40 

Mond. 

Berliner  Zeit. 

Neumond  an 

1   6.  August 

Erstes  Viert  „ 

14.      „      Aufgang  l  h  48 «»  nachm.,  Unterg. 

9  h  52  m  abends 

Vollmond  „ 

21.  „ 

n 

6  53 

abends, 

6  41 

morg. 

Letztes  Viert  „ 

28. 

10  12 

» 

3  22 

nachm. 

Neumond 

5.  Septemb. 

Erstes  Viert. 

12.  . 

« 

1  Ii  50«n 

nachm., 

- 

9h  24m 

abends 

Vollmond 

19. 

5  35 

» 

7  1 

morg. 

Letztes  Viert,  .. 

26.  , 

9  59 

abends 

2  36 

nachm. 

Erdnähen:  20.  August,  18.  September; 
Erdfernen:  6.  August,  3.  und  30.  September. 


Sonne.       Sternzeit  f.  den  Sonnenaufg.  Sonnenunterg 

mittBerl.  Mittag    Zeitglexchung  1  Berlin 


1.  August 

8h 

39  «n 

21.8» 

-f  6<n 

7.1» 

4b  21  tn 

7  h  50  m 

8.  . 

9 

6 

57.7 

+  * 

28.3 

4 

32 

7  38 

15.  „ 

9 

34 

33.5 

+  4 

20.7 

4 

45 

7  24 

22.  . 

10 

2 

9.4 

+  2 

46.5 

4 

55 

7  9 

29.  , 
1.  September 

10 

29 

45.3 

+  0 

50.6 

5 

7 

6  54 

10 

41 

35.0 

—  0 

4.3 

5 

12 

6  47 

8. 

II 

9 

10.8 

-  2 

21.7 

5 

24 

6  31 

15. 

11 

36 

46.7 

-  4 

48.0 

5 

35 

6  14 

22. 

12 

4 

22.6 

-  7 

16.6 

5 

47 

5  57 

29. 

12 

31 

58.5 

-  9 

39.7 

5 

59 

5  41 

I 
1 


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t 


H.  Morich:  Bilder  aus  der  Mineralogie.  Mit  111  Abbilduntron.  Hannover 
und  Berlin  1899,  Verlag  von  Carl  Meyer  (Qustav  Prior).  Preis  geb. 
3  Mark. 

Das  Büchlein  stellt  eine  recht  brauchbare  Ergänzung  systematischer 
Schulbücher  über  Mineralogie  dar,  indem  es  die  wichtigeren  Mineralien  in 
besonderen  Kapiteln  ausführlich  und  mit  weitgehender  Berücksichtigung  tech- 
nischer und  kunstgewerblicher  Anwendungen,  sowie  auch  interessanter  Historien 
beschreibt.  Allordings  ist  der  üble  Brauch  des  nur  durch  Anführungsstriche 
kenntlich  gemachten  Nachdrucks  ganzer  Absätze  und  Seiten  aus  anderen,  im 
Vorwort  allein  namhaft  gemachten  Werken  zu  wenig  vermieden  worden. 
Immerhin  bietet  die  nicht  ungeschickte  Zusammenstellung  eines  recht  reich- 
haltigen Materials  eine  fesselnde  und  belehrende  Lektüre ,  die  namentlich 
auch  Lehrern  bei  der  Vorbereitung  auf  den  Unterricht  nützlich  sein  kann. 

F.  Kbr. 

Dr.  K.  E.  F.  Schmidt,  Experi mental-  Vorlesungen  über  Elektrotechnik. 

Mit  3  Tafeln  und  320  Abbildungen  im  Text.    Hallo  a.  S.   Verlag  von 

Wilhelm  Knapp.  Preis  geh.  9  Mk. 
Das  Werk  wird  zweifellos  einem  dringenden  Bedürfnis  gerecht,  das  in 
weiten  Berufskreisen,  die  mit  der  Elektrotechnik  Fühlung  nehmen  müssen, 
sich  im  Laufe  des  letzten  Jahrzehnts  mächtig  entwickelt  hat.  Entsprechend 
der  Thatsache,  dars  das  die  Vorlesungen  im  Wintersemester  1896  97  zu  Halle 
besuchende  Publikum  ausschliefslich  aus  Männern  bestand,  bei  denen  auf  Grund 
ihrer  amtlichen  Thätigkeit  ein  gewisses  Mafs  physikalischer  Kenntnisse  vor- 
ausgesetzt werden  durfte,  will  auch  das  aus  diesen  Vorlesungen  hervorgegangene 
Buch  nicht  eigentlich  populär  sein,  sondern  nur  vorwandten  Berufsklassen  ein 
tieferes  Verständnis  der  heutigen  Elektrotechnik  ermöglichen.  Die  eigentüm- 
lichen Schwierigkeiten,  die  sich  dabei  in  den  Weg  stellen,  sind  durch  eine 
reiche  Ausstattung  mit  Figuren,  schematischen  Zeichnungen  und  Kurvendar- 
stellungen in  erfolgreicher  Weise  bekämpft,  so  dafs  das  Werk  sicherlich  jeden 
ernst  in  die  Materie  eindringenden  Leser  in  hohem  Marse  zu  fördern  geeignet 
sein  wird.  Der  Text  macht  allerdings  stellenweise  einen  zu  skizzenhaften  Ein- 
druck und  hätte  vielfach  eine  sorgfältigere  Redaktion  und  etwas  mehr  Aus- 
führlichkeit vortragen  können.  Einige  uns  in  dieser  Bozichung  aufgefallene 
Stellen  mögen  hier  bezeichnet  werdon.  Die  erste  Zeile  auf  Seite  28  ist  nur 
verständlich,  nachdem  man  auf  Seite  31  über  die  Messung  der  magnetisieronden 
Kraft  durch  Kraftlinien  belehrt  worden  ist.  In  Figur  23  stimmen  die  Buch- 
staben nicht  zu  denjenigen  des  Textes,  so  dafs  der  ganze  Versuch  unklar  bleibt. 
Seite  3«  fehlt  in  der  viortletzten  Zeile  das  Prädikat.  Auf  Seite  116  lautet  die 
Überschrift:  .Der  Stromwender  oder  Commntator-.    Im  darauffolgenden  Text 


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528 

aber  finden  wir  nur  die  Bezeichnung  „Collektor**  gebraucht,  ohne  dafs  gesagt 
würde,  dafs  dieses  Wort  nur  ein  passenderer  Name  anstatt  Commutator  ist. 
Seite  136  ist  nicht  deutlich  genug  gesagt,  wieso  aus  der  Figur  der  Widerstand 
abgelesen  werden  kann,  dies  wird  vielmehr  erst  Seite  138  an  einem  Beispiel 
klar;  ebenso  erscheint  die  drittletzte  Zcilo  der  Seite  137  sinnlos,  bis  man  die 
hinter  0,6f4  fehlende  Interpunktion  ergänzt  —  Derartige  kleine  Unvollkommen- 
heiten  können  indessen  don  hohen  Wert  des  Buches  kaum  merklich  beein- 
trächtigen und  werden  gewifs  boi  der  hoffentlieh  recht  bald  nötig  werdenden 
zweiten  Auflage  zum  grö Taten  Teil  verschwinden.  Wenn  wir  für  diese  etwaige 
Neuauflage  noch  einen  Wunsch  äufsern  dürfen,  so  wäre  es  der,  dafs  unter  Fort- 
fall der  recht  überflüssigen  Beschreibung  der  Elektrisiermaschine  den  elek- 
trischen Eisenbahnen  noch  eine  etwas  eingehendere  Behandlung  zu  teil  werden 
möchte,  damit  man  die  Leitungsanlagen,  Schaltung«-  und  Brems- Vorrichtungen 
derselben  besser  verstehen  lernen  kann  und  nicht  trotz  aller  elektrotechnischen 
Studien  auf  die  Frage  nach  der  Wirkungsweise  zahlreicher,  bei  elektrischen 
Bahnanlagen  sichtbarer  Vorrichtungen  mit  Achselzucken  antworten  mufs. 

F.  Kbr. 


Verlag:  Hamann  PmUI  in  Berlin.  —  Drnck:  Wilhelm  Gronau 'e  Baehdrnekerei  In  Berlin - 
Für  die  Bedaction  TtraatwortUeh :  Dr.  P.  Beb  wann  in  Berlin, 
ünberechtlfter  Haehdrnek  aaa  den  Inhalt  dieaer  ZerUehiiA 
Oberteiin  ngtrecbt  rorbe halten. 


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Fig.  I.  Umgebung  von  Tassikmalaja  in  West -Java. 


Fig.  2.  Unsere  Karawane  im  verbrannten  Walde 
am  Fufse  der  Telagawarna,  des  Eruptionskegels  des  Wawiran. 

(Zu:  Von  Javas  Kotier  bergen.) 


Die  allgemeine  Zirkulation  der  Atmosphäre. 

Von  Dr.  E.  Less  in  Berlin. 

er  bekannte  Erfahrungssatz,  dafe  beim  Fortschreiten  einer  Wissen- 
schaft nahezu  entgegengesetzte  Grundanschauungen  in  längeren 
oder  kürzeren  Zwischenräumen  einander  abzulösen  pflegen,  hat 
sich  vielleicht  an  keinem  Wissenszweige  mehr  als  an  der  Lehre  von 
den  atmosphärischen  Bewegungen  bewährt.  In  der  Zeit,  in  der  die 
Witterungskunde  sich  fast  ausschliefslich  mit  klimatologisch  en 
Untersuchungen  beschäftigte,  wurde  von  dem  hervorragendsten  Ver- 
treter dieser  Richtung,  Heinrich  Wilhelm  Dove,  der  Ursprung  aller 
Winde  auf  einen  zwischen  dem  Äquator  und  den  Polen  vor  sich 
gehenden  Luftaustausch  zurückgeführt  Durch  die  Ausdehnung  der 
den  Boden  berührenden  Luftschichten,  so  führte  Dove1)  aus,  steigen 
diese  in  der  Nähe  des  Äquators  in  die  Höhe,  und  so  entsteht  jener 
warme  steigende  Luftstrom,  der  „courant  ascendant",  den  Aristoteles 
schon  kannte,  dessen  Bedeutung  aber  erst  Saussure  nachwies.  Ebenso 
mufs  vom  Pole  her  die  kältere  Luft  nach  dem  Äquator  strömen,  wäh- 
rend die  erwärmte  Luft  oben  in  entgegengesetzter  Richtung  abfliefst. 
Da  die  von  den  Polen  nach  dem  Äquator  getriebene  Luft  sich  mit 
einer  geringeren  Geschwindigkeit  nach  Osten  dreht  als  die  Orte,  mit 
welchen  sie  in  Berührung  kommt,  so  scheint  sie  in  entgegengesetzter 
Richtung,  d.  h.  von  Ost  nach  West,  zu  fliefsen.  Umgekehrt  kommt 
die  Luft,  welche  vom  Äquator  nach  den  Polen  abfliefst,  von  Orten  mit 
größerer  Drehungsgeschwindigkeit  nach  Orten  hin,  welche  sich  lang- 
samer nach  Ost  bewegen,  und  erfährt  daher  eine  scheinbare  Ablen- 

l)  H.  W.  Dove.  Meteorologische  Untersuchungen.  Berlin,  1837,  S.  9r 
S.  125  ff.,  S.  271  ff.  —  Eine  ganz  ähnliche  Darstellungsweise  findet  sich  auch  an 
zerstreuten  Stellen  in  Dove'a  Gesetz  der  Stürme.   4.  Aufl.    Berlin.  1873. 

Himmel  und  Erde.  18W    XI.  12.  34 


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530 

kung  naoh  Osten.  Die  Äquatorialluft  der  Höhe  erreicht  jedoch  nicht 
die  Pole,  sondern  kommt  sohon  in  mittleren  Breiten  allmählich  zur 
Erdoberfläche  herab.  Hier  fiiefsen  daher  nach  Doves  Auffassung  die 
entgegengesetzt  geriohteten  Ströme  neben  einander  und  sucher  sich 
gegenseitig  zu  verdrängen,  und  aus  diesem  Kampf  zwischen  dem 
Äquatorial-  und  dem  Polarstrom  sollen  das  abwechselnde  Vorherrschen 
der  südlichen  und  nördlichen  Winde,  ihre  regelmäfsige  Drehung  mit 
der  Sonne  sowie  die  häufigen  Veränderungen  im  gesamten  Witterungs- 
charakter der  gemäfsigten  Zonen  sich  erklären  lassen. 

Diese  Erklärung  schien  jedoch  nur  wenig  den  Thatsaohen  zu 
entsprechen,  welche  das  Studium  der  synoptischen  Wetterkarten  seit 
den  sechziger  Jahren  unseres  Jahrhunderts  den  Meteorologen  täglich 
vor  Augen  führte  Aus  denselben  erkannte  man  bald,  welche  über- 
wiegende Bedeutung  für  alle  Witterungserscheinungen  die  barome- 
trischen Maxima  und  Minima  besitzen,  und  in  wie  engem  Zusammen- 
hang mit  ihnen  insbesondere  Richtung  und  Stärke  der  Winde  stehen. 
Man  fand  das  Gesetz,  dafs  der  mit  dem  Winde  Schreitende  stets  und 
überall  an  der  Erdoberfläche  den  in  seiner  Umgebung  höchsten  Luft- 
druck etwas  hinter  sioh  und  auf  der  ganzen  nördlichen  Halbkugel  zu 
seiner  Reohten,  auf  der  ganzen  südlichen  zu  seiner  Linken,  den  nie- 
drigsten Luftdruck  hingegen  vor  sich  und  auf  der  nördliohen  Halb- 
kugel zu  seiner  Linken,  auf  der  südlichen  zu  seiner  Rechten  hat. 
Die  barometrischen  Minima  oder  ..Depressionen"  werden  deshalb  vom 
Winde  stets  in  einem  Sinne  umkreist,  welcher  demjenigen  des  Uhr- 
zeigers auf  unserer  nördlichen  Erdhälfte  entgegengesetzt  ist,  und  da 
dieselben,  wie  die  Wetterkarten  erweisen,  von  einem  Tage  zum  andern 
weite  Strecken  Landes  zu  durchschreiten  pflegen,  so  mufs  sich  dabei 
an  allen  von  ihnen  berührten  Orten  in  der  Richtung  des  Windes  ein 
vollständiger  Wechsel  vollziehen.  Im  Innern  der  Barometerminima 
aber,  die  man  auch  nach  der  Bewegung  der  sie  umgebenden  Winde 
als  ..Cyclonen"  zu  bezeichnen  pflegt,  ist  die  Luft  im  beständigen  Auf- 
wärtssteigen begriffen,  wobei  sie,  unter  geringeren  Druck  gelangend, 
sich  unter  Wärmeverlust  ausdehnt,  und  deshalb  ein  Teil  ihres  Wasser- 
dampfgehaltes sich  zu  Wolken  kondensiert  und  weiterhin  als  Regen 
oder  Schnee  herniederfällt.  Ein  solches  Aufsteigen  der  Luft  kann 
am  leichtesten  in  einer  Gegend  vor  sich  gehen,  welche  an  Wärme 
und  Feuchtigkeit  ihre  Umgebung  beträchtlich  übertrifft.  Und  da  die 
tieferen  barometrischen  Minima  sich  im  Winter  meistens  über  dem 
dann  verhältnismäßig  warmen  Meere,  namentlich  oft  in  der  Nähe  der 
warmen  Meeresströmungen,  wie  des  Oolfstromes,  im  Sommer  über 


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531 

stark  erhitzten  Ländern  fanden,  so  neigte  man  mehr  und  mehr  der 
Ansicht  zu,  dafs  dem  Überschüsse  an  Wärme  und  Feuchtigkeit  die 
barometrischen  Minima  und  zugleich  das  ganze  System  der  sie  um- 
kreisenden Winde  in  den  gemäfsigten  Breiten  ihre  Entstehung  ver- 
danken. Umgekehrt  sollten  die  barometrischen  Maxima  oder  „Anti- 
cyclonen", in  deren  Innern  die  Luft  herniedersinkt,  während  sie  am 
Erdboden  nach  allen  Seiten  aus  ihrem  Gebiete  herausfliefst,  und  die 
sich  im  Winter  vorzugsweise  über  dem  stark  erkalteten  und  an 
Wasserdämpfen  armen  Lande,  im  Sommer  sehr  häufig  über  den  dann 
kühleren  Meeren  aufhalten,  in  erster  Linie  durch  die  lokalen  Ab- 
kühlungen erzeugt  sein. 

Auch  gegen  diese  neuere  Anschauungsweise,  nach  welcher  also 
die  Luftbewegungen  in  den  höheren  Breiten  zu  den  Passaten  der 
Tropenzone  aufser  jeder  Beziehung  stehen  sollten,  wurden  von  meh- 
reren Seiten  gewichtige  Bedenken  erhoben,  die  jedoch  erst  etwa  seit 
Mitte  der  achtziger  Jahre  genügendes  Gehör  fanden.  In  einer  der 
Berliner  Akademie  im  Jahre  1886  vorgelegten  Abhandlung  legte 
Werner  von  Siemens''2)  dar,  dafs  man  noch  garnicht  den  Sitz  und 
Angriffspunkt  der  Kräfte  kenne,  welche  die  gewaltige  Energie  in  den 
Maximis  und  Minimiß  ansammele,  die  dann  ihrerseits  die  Stürme  und 
Wirbelwinde  erzeugen  sollen,  und  unternahm  einen,  von  ihm  selbst 
jedooh  nur  als  erste  Annäherung  an  die  Wahrheit  bezeichneten 
Versuch,  an  der  Hand  der  Lehre  von  der  Erhaltung  der  Kraft  zur 
Ausfüllung  dieser  Lücke  beizutragen.  Von  dem  hervorragenden 
österreichischen  Meteorologen  J uli us  Hann1)  wurde  andererseits  aus 
den  Beobachtungen  von  hoch  gelegenen  Bergstationeu  der  sichere 
Nachweis  erbracht,  dafs  die  Kälte  in  den  winterlichen  Gebieten  hohen 
Luftdruckes  sich  auf  die  untersten  Luftsohiohten  beschränkt,  dagegen 
in  mehr  als  1  km  Höhe  die  Temperatur  derselben  verhältnismäfsig 
hoch  und  auoh  die  mittlere  Temperatur  der  ganzen  Luftsäule  vom 
Boden  bis  jedenfalls  über  5  km  in  den  Anticyclonen  in  der  Regel 
höher  als  in  den  Cyclonen  ist,  was  der  Entstehung  dieser  Luftgebilde 
aus  den  Temperatur-  und  Feuchtigkeitsverhältnissen  in  ihrem  Innern 
geradezu  widerspricht    Hierdurch  wurde  mehr  und  mehr  die  Auf- 

*)  W.  von  Siemens.  Über  die  Erhaltung  der  Kraft  im  Luftmeere. 
Sitzungsber.  der  Akad.  d.  Wiaa.  zu  Berlin  1886,  S.  261—275. 

3)  J.  Hann.  Über  die  Beziehung  zwischen  Luftdruck-  und  Temperatur- 
Variationen  auf  Berggipfeln.  Meteorol.  Z.S.  "»,  S.  7—17,  1888.  —  Das  Luftdruck- 
maximum vom  November  1889.  Denkschr.  der  Wiener  Akad.  57,  S.  401—442, 
1890.  —  Bemerkungen  über  die  Temperatur  in  den  Cyclonen  und  Anticyclonen. 
Meteorol.  Z.S.  7,  S.  328-344,  1890. 

34* 


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532 

raerksamkeit  auf  eine  zwar  ziemlich  verwickelte,  aber  wohl  durch- 
dachte Vorstellung  von  dem  Wesen  des  grofsen,  die  ganze  Erde  um- 
fassenden Kreislaufs  der  Atmosphäre  hingelenkt,  welche  bereits  im 
Jahre  1857  von  dem  englischen  Physiker  James  Thomson 4)  und 
ganz  unabhängig  von  demselben  ein  Jahr  später  von  dem  Amerikaner 
William  Ferrel*)  ausgesprochen  und  von  dem   letzteren  durch 
mathematische  Entwickelungen  näher  begründet  worden  war.  Diese 
lange  im  Dunkeln  gebliebenen  Untersuchungen  Fe r reis  hatte  wohl 
zuerst  Herr  Sprung6)  durch  erläuternde  Besprechungen  und  eigene 
Ergänzungen  in  etwas  helleres  Licht  gerückt.    In  sehr  naher  Über- 
einstimmung mit  ihren  Ergebnissen  befindet  sich  auch  ein  Schema 
der  allgemeinen  Zirkulation  der  Atmosphäre,  welches  im  Jahre  1888 
von  Herrn  Oberbeck7)  aus  den  Grundgleichungen  der  Hydrody- 
namik abgeleitet  wurde,  und  sie  passen  sioh  allen  unseren  Erfahrun- 
gen in  weit  höherem  Orade  als  die  alte  Dovesche  Anschauungs- 
weise an.     Wie  man  sioh  aber  mit  diesem  grofsen  atmosphärischen 
Kreislaufe  die  kleineren  Luftgebilde,  die  wir  in  den  gewöhnlichen 
Cyclonen  und  Anticyclonen  vor  uns  haben,  im  Zusammenhange  den- 
ken kann,  darüber  liegen  bis  jetzt  aufser  einer  wenig  beachteten  älte- 
ren Abhandlung  Hanns8)  hauptsächlich  eine  Untersuchung  von  Her- 
mann von  Helmholtz9)  aus  dem  Jahre  1888  und  eine  von  Wil- 
helm von  Bezold1*)  aus  dem  Jahre  1890  vor. 

Unter  der  vereinfachenden  Annahme,  die  Erde  sei  ein  gleich- 


*)  J.  Thomson.  On  the  Great  Currents  of  Atmospheric  Circulation. 
Report  of  the  British  Association  1857.  Notices  p.  38;  später  wiedergegeben 
in:  Philos.  Transactions  1892,  183,  p.  653-684,  1893. 

s)  W.  Ferrel.  The  Motions  of  Fluids  and  Solids  relative  to  the  Earth's 
Surfaco,  veröffentlicht  1858 — 1860  in  Runkle's  Mathematical  Monthly,  später  in 
Silliman  Journal  (2)  31,  S.  27—51,  1861  und  wiederabgedruckt  in  Professional 
Papers  of  the  Signal  Service,  No.  VIII,  1882. 

6)  A.Sprung.  William  Fe  rrel's  Untersuchungen  über  atmosphärische 
WirbeL  Z.S.  f.  Meteorol.  17,  S.  161-175  u.  277-282,  1882.  —  Lehrbuch  der 
Meteorologie,  Hamburg  1885,  S.  190  ff.  —  Über  die  Theorie  des  allgemeinen 
Windsystems  der  Erde,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  den  Antipassat  Meteorol. 
Z.S.  7,  S.  161  —  177,  1890. 

')  A.  Ob  erb  eck.  Über  dio  Bewegungserscheinungen  der  Atmosphäre. 
Sitzber.  d.  Akad.  d.  Wiss.  zu  Berlin,  1888,  S.  383—395,  in  etwas  anderer  Form  in: 
Naturw.  Rundschau  3,  S.  289-294,  1888  und  Meteorol.  Z.  S.  5,  S.  305—310,  1888. 

sj  J.  Hann.  Einige  Bemerkungen  zur  Lehre  von  den  allgemeinen  atmo- 
sphärischen Strömungen.   Z.S.  f.  Meteor.  14.  S.  33—41,  1879. 

»)  H.  v.  Helmholtz.  Über  atmosphärische  Bewegungen.  Sitzber.  der 
Akad.  d.  Wiss.  zu  Berlin  1888,  S.  647—663. 

>°)  W.  v.  Bezold.  Zur  Theorie  der  Cyklouen.  Sitzber.  der  Akad.  d. 
Wiss.  zu  Berlin  1890,  S.  1295-1317. 


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533 


förmig  mit  Wasser  und  Land  belegtes  und  gebirgsloses  Rotations- 
ellipsoid hat  man  hauptsächlich  zwei  Kräfte,  welohe  für  den  groteen 
Kreislauf  in  unserer  Atmosphäre  mafsgebend  sind,  nämlich  die  in 
verschiedenen  Breiten  ungleioh  starke  Erwärmung  duroh  die  Sonne 
und  die  Zentrifugalkraft,  welche  sich  als  eine  Folge  der  Axendrehung 
entwickelt.  Um  eine  ungefähre  Vorstellung  von  der  duroh  sie  be- 
dingten Druckverteilung  zu  erhalten,  wird  es  zweckmäfsig  sein,  den 
Einflufs  jeder  dieser  beiden  Kräfte  zunächst  gesondert  zu  betrachten. 
Wir  denken  uns  also  ein  in  Ruhe  befindliches  homogenes  Sphäroid, 
dessen  Oberfläche  überall  gleiche  Temperatur  hat,  und  in  dessen  gas- 
förmiger Hülle  die  Temperatur  entweder  gleichfalls  konstant  ist  oder 
sich  nach  aufsen  hin  überall  gleich  sohneil  ändert.  Dann  wird  in 
atmosphärischen  Schichten,  welche  zur  Kugeloberfläohe  konzentrisch 
sind,  der  Gasdruck  überall  gleich  grofs  und  zu  Bewegungen  keinerlei 
Anlafs  gegeben  sein.  Wird  jetzt  aber  irgend  eine  Stelle  der  Kugel- 
oberfläohe erwärmt,  so  teilt  sich  ihre  Wärme  duroh  Leitung  zunächst 
den  sie  unmittelbar  berührenden  und  bald  durch  ein  Spiel  auf-  und 
absteigender  Strömungen  immer  höheren  und  höheren  Luftschichten 
mit.  Die  ganze  auf  der  erwärmten  Stelle  ruhende  Luftsäule  erfährt 
also  eine  Temperaturerhöhung  und  wird  sich  darum  mehr  und  mehr 
ausdehnen,  so  dafs  ihre  oberen  Schichten  sich  weiter  als  diejenigen, 
in  denen  ringsum  der  gleiche  Druok  herrscht,  vom  Mittelpunkte  der 
Kugel  entfernen.  Beschränkt  sich  die  Erwärmung  aber  nicht  nur  auf 
die  eine  Stelle,  sondern  findet  sie  an  der  ganzen  Kugeloberfläche 
statt,  und  zwar  am  stärksten  in  einer  am  Äquator  gelegenen  Zone, 
von  da  aus  nach  beiden  Polen  hin  abnehmend,  so  werden  sich  die 
Flächen  gleichen  Druckes  rings  um  den  Äquator  am  höohsten  erheben 
und  von  da  naoh  beiden  Polen  hin  allmählich  abfallen.  Die  Luft 
wird  deshalb  in  grofser  Höhe  vom  Äquator  zu  den  Polen  hin  strömen 
müssen,  gerade  wie  Wasser  von  einem  geneigten  Abhänge  hernieder- 
flierst  Hierdurch  vermindert  sich  am  Äquator  die  Masse  und  damit 
der  Druck  der  den  Boden  belastenden  Luftsäule  und  vermehrt  sich 
an  den  Polen,  und  diese  Druckdifferenz  bleibt  bestehen,  so  lange  die 
ungleichartige  Erwärmung  fortdauert,  wenn  sie  auch  durch  einen  von 
ihr  in  der  Nähe  der  Erdoberfläche  verursachten  Rüokstrom  der  Luft 
naoh  dem  Äquator  hin  verringert  wird. 

Die  Erwärmung  der  bisher  als  ruhend  angenommenen  Erde 
durch  die  Sonne  hat  also  auf  jeder  Halbkugel  eine  rein  meridional 
verlaufende  Luftströmung  zur  Folge,  welohe  in  der  Höhe  die  ent- 
gegengesetzte Riohtung  wie  nahe  der  Oberfläche  besitzt.   Denken  wir 


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534 


uns  jetzt  die  Erde  mit  ihrer  Hülle  um  die  Axe  in  Rotation  versetzt, 
so  empfängt  jedes  Luftteilchen  eine  westöstliohe  Geschwindigkeit, 
welche  am  Äquator  den  gröfsten  Wert  hat  —  nach  den  wirklichen 
Marsen  ungefähr  465  m  in  der  Sekunde  —  und  bis  Null  an  den 
Polen  abnimmt    Die  in  der  Höhe  vom  Äquator  abfliefsende  Luft  wird 
dann  nicht  allein  deshalb  auf  beiden  Halbkugeln  eine  Ablenkung  nach 
Ost  erfahren,  weil  sie  nach  Orten  mit  geringerer  als  ihrer  anfäng- 
lichen Westostgeschwindigkeit  gelangt,  sondern  ihre  eigene  Ge- 
schwindigkeit nimmt  sogar  noch  zu  in  dem  Mafse,  wie  die  Radien 
der  von  ihr  passierten  Breitenkreise  sich  verkleinern.    Dies  folgt  aus 
dem  allgemeinen  mechanischen  Prinzip,  welches  als  „Flächensatz"  be- 
kannt ist,  dem  gleichen,  dessen  Wirksamkeit  wir  es  auch  zum  Teil 
zu  verdanken  haben,  dafs  unser  nördlicher  Winter,  in  welchen  die 
gröfste  Sonnennähe  der  Erde  hineinfällt,  um  mehrere  Tage  kürzer  als 
der  Winter  der  südlichen  Hemisphäre  ist    Nach  diesem  Satze  be- 
schreibt nämlich  der  Radius  Vector  eines  unter  dem  Einflüsse  einer 
Zentralkraft  sioh  frei  bewegenden  Körpers  oder  seine  Projektion  auf 
eine  feste  Ebene,  in  welcher  die  Kraftkomponente  immer  durch  einen 
und  denselben  Punkt  geht,  in  gleichen  Zeiten  stets  die  gleichen 
Flächenräume,  so  dafs  also  die  Drehung  des  Körpers  sich  beschleu- 
nigt, wenn  seine  Entfernung  von  der  Drehungsaxe  sich  vermindert. 
Freilich  mufs  die  in  der  Nähe  des  Erdbodens  dem  Äquator  zuströ- 
mende Luft,  welohe  hinter  der  dort  vorhandenen  Luft  in  ihrer  Dre- 
hung nach  Osten  zurückbleibt  und  daher  westwärts  abgelenkt  wird, 
im  gleichen  Verhältnisse  von  ihrer  absoluten  westöstlichen  Geschwin- 
digkeit verlieren.    Diese  war  aber,  weil  die  Luft  von  höheren  Breiten 
ausging,  von  vornherein  geringer  als  von  der  über  ihr  polwärts 
fliefsenden  Luft  ihre  Abnahme  ist  deshalb  auch  geringer  und  wird 
noch  sehr  beträchtlich  dadurch  vermindert,  dafs  die  sohneller  bewegte 
Erdoberfläche  die  sie  berührenden  unteren  Luftschichten  mit  fortzieht, 
während  die  oberen  durch  Reibung  an  den  Nachbarschichten  nur  eine 
geringfügige  Einbufse  an  ihrer  Geschwindigkeit  erleiden.    Im  ganzen 
wird  daher  der  Geschwindigkeitszuwachs  der  oberen  Strömung  den 
Geschwindigkeitsverlust  der  unteren   bei  weitem  überwiegen,  und 
die  gesamte  in  Zirkulation   versetzte  Atmosphäre    sich  erheblich 
schneller  um  die  Erdaxe  drehen,  als  wenn  die  Atmosphäre  im  Ver- 
hältnis zur  Erde  sich  in  Ruhe  befände.    Mit  der  Drehungsgesch win- 
digkeit wächst  aber  gleichzeitig  die  Zentrifugalkraft  und  die  Gröfse 
der  Abplattung,  welche  diese  in  einem  elastischen  Sphäroide  verur- 
sacht.   Dadurch  mufs  die  Luft  von  den  Polen  fort  und  dem  Äquator 


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53Ö 


zugetrieben  werden,  und  der  höohste  Luftdruck  jeder  Hemisphäre 
wird  sich  daher  nioht,  wie  es  bei  der  ruhenden  Erdkugel  der  Fall 
wäre,  an  den  Polen,  sundern  in  einer  mittleren  Breite  befinden  und 
von  da  aus  nach  beidon  Richtungen  hin  abnehmen. 

Dies  ist  ein  grofser  Unterschied  der  neueren  Theorie  gegen  die 
alte  Dovesohe  Anschauungsweise,  welcher  mit  den  beobachteten  That- 
sachen  vollständig  im  Einklänge  steht.  Denn  in  Wirklichkeit  wird 
jede  Hemisphäre  zwischen  30  und  35°  Breite  von  einem  Walle  höch- 
sten, im  Mittel  ungefähr  763  mm  betragenden  Luftdruckes  umschlossen, 
welcher  sie  in  zwei  nahezu  gleich  grofse  Hälften  mit  getrennter  Luft- 
zirkulation teilt.  Betrachten  wir  zuerst  die  Verhältnisse  der  wärmeren, 
tropischen  Zone,  so  finden  wir  hier,  wo  die  Luftdruckverteilung  in 
der  Höhe  derjenigen  um  Erdboden  entgegengesetzt  ist,  in  jeder  Hemi- 
sphäre einen  vollständigen  Kreislauf  einer  oberen,  auf  der  nördlichen 
Halbkugel  südwestlichen,  auf  der  südlichen  nordwestlichen  und  einer 
unteren  nordöstlichen  bezw.  südöstlichen  Strömung.  Zwischen  beiden 
liegt  eine  schmale  Zone,  wo  an  der  Erdoberfläche  meistens  Wind- 
stillen oder  sehr  schwache  variabele  Winde  herrschen,  und  wo  die 
Luft  in  fortwährendem  Emporsteigen  begriffen  ist,  weshalb  dort  sehr 
starke  Bewölkung  und  tägliche  Gewitterregen  die  Regel  bilden.  Dieser 
sogenannte  „Kalmengürtel  des  Äquators"  raufs  seiner  Entstehungs- 
weise nach  mit  derjenigen  Gegend  zusammenfallen,  wo  die  mittlere 
Temperatur  der  über  ihr  ruhenden  Luftsäule  am  höchsten  ist;  er  er- 
leidet daher  mit  der  Deklinationsändorung  der  Sonne  eine  allerdings 
um  2  bis  3  Monate  sich  verspätende  Verschiebung  nach  Norden  oder 
Süden  hin,  hält  sioh  aber  im  Jahresdurchschnitt  nicht  gerade  über  dem 
Äquator,  sondern  fast  5  Breitengrade  nördlicher  auf,  wie  ja  auch  die 
höohsten  Jahrestemperaturen  sich  wegen  der  ungleichen  Verteilung 
von  Wasser  und  Land  auf  der  nördlichen  Halbkugel  befinden. 
Die  in  der  Höhe  vom  äquatorialen  Kalmengürtel  fortströmenden  süd- 
westlichen bezw.  nordwestlichen  Winde  beginnen  schon  mehrere 
Breitengrade  vor  den  Gebieten  höchsten  Luftdruckes  allmählich  hinab- 
zusinken und  verleihen  daher  der  ganzen  subtropischen  Zone  einen 
ruhigen  und  sehr  freundlichen  Witterungsoharakter.  In  den  unteren 
Schichten  fliefsen  von  den  subtropischen  Hochdruckgebieten,  deren 
Lage  sich  mit  den  Jahreszeiten  ebenso  wie  die  des  Kalmengürtels 
ändert,  zum  letzteren  die  durch  ihre  Beständigkeit  ausgezeichneten 
Passatwinde  zurück.  Wenige  Breitengrade  vom  Äquator  entfernt, 
geht  in  mittlerer  Höhe,  wie  es  Wolkenbeobachtuugen  erwiesen  haben, 
der  Nordostpaßsat  der  nördlichen  Halbkugel  in  einen  Südost-  und  der 


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Südostpassat  der  südlichen  in  einen  Nordostwind  über,  und  in  sehr 
grofsen  Höhen  der  Äquatorialregion  weht  der  Wind  beinahe  direkt 
aus  Ost;  dies  wurde  beim  Vulkanausbruch  des  Krakatau'i)  im  Jahre 
1883  durch  die  Verbreitung  des  in  die  höchsten  Schichten  geschleu- 
derten vulkanischen  Rauches  und  der  Dämpfe  wohl  zum  ersten  Male 
erkannt,  aber  später  auch  durch  Cirrusbeobachtungen  von  Herrn 
Abercromby l2)  bestätigt. 

Nach  den  gemäfsigten  Zonen  hin  wird  der  Luftdruck  von  den 
Grenzen  des  Subtropengebietes  aus  niedriger  und  niedriger.  Seine 
Abnahme  erfolgt  auf  der  südlichen  Halbkugel  sehr  schnell  und  dauert 
hier  bis  zu  so  hohen  Breiten  fort,  wie  es  sich  bisher  durch  zahl- 
reichere Beobachtungen  hat  feststellen  lassen;  in  60°  Breite  ist  der 
mittlere  Luftdruck  unter  744  mm  gesunken.    Auf  der  nördlichen  Halb- 
kugel hingegen  vermindert  sich  derselbe  nur  bis  ungefähr  758  mm 
in  65°  Breite,  um  dann  nach  dem  Pole  hin  wieder  zuzunehmen.  Da 
der  Luftdruck  in  den  kälteren  Gegenden  schneller  als  in  der  warmen 
Subtropenzone  nach  oben  hin  sich  verringert,  so  mufs  das  am  Erd- 
boden bestehende  Druckgefälle,  der  „Gradient",  wie  die  Meteorologen 
es  nennen,  in  den  gemäßigten  Zonen,  anders  wie  in  den  Tropen,  in 
der  Höhe  nicht  nur  sein  Vorzeichen  beibehalten,  sondern  an  Gröfse 
noch  wachsen,  und  in  der  nördlichen  kalten  Zone  mute  aus  demselben 
Grunde  der  Gradient  schon  von  äufserstens  2000  m  Höhe  an  eben- 
falls nach  dem  Pole  gerichtet  sein.    Demzufolge  wird  jenseits  der 
Passatgrenzen  die  Luft  in  oberen  und  unteren  Schichten  der  Atmo- 
sphäre den  höheren  Breiten  zustreben,  wo  durch  die  rasch  wachsende 
Zentrifugalkraft  die  Südwestwinde  —  um  die  Vorstellung  bei  der 
nördlichen  Hemisphäre  festzuhalten  —  mehr  und  mehr  in  reine  West- 
winde umgewandelt  werden,  die  in  einem  grofsen  Wirbel  den  Pol 
umkreisen.    Im  Innern  dieses  Wirbelringes  mufs  entgegengesetzt  wie 
bei  den  kleineren  Luftwirbeln,  welche  unsere  Cyclonen  bilden,  die 
Luft  sich  in  absteigender  Bewegung  befinden,  da  die  durch  die 
Wärmeuntersohiede  eingeleitete  atmosphärische  Zirkulation  ein  Hinab- 
fliefsen  der  oberen  Strömung  am  Pol  erfordert,  welohes  die  erst  in- 
folge dieser  Grundzirkulation  in  Wirksamkeit  tretende  Zentrifugal- 
kraft zwar  nach  niedrigeren  Breiten  zu  versetzen  und  sehr  zu  ver- 
ringern, jedoch  nicht  ganz  zu  beseitigen  vermag.    Wie  aber  jener 

")  Kiefsling.  Die  Bewegung  des  Krakatau-Rauches  im  September  1883. 
Sitzungsber.  der  Akad.  d.  Wise.  zu  Berlin,  188«,  S.  .V29-.r>33. 

")  R  Abercromby.  Upper  Wind-Currents  uear  the  Aequator,  and  the 
Diffusion  of  Krakatao  Dust.  Nature  3t>,  S.  S5-87,  1887. 


537 


Lüfte trom  von  dem  polaren  Gebiete  niedrigen  Druckes  nach  dem 
Maximalgebiet  an  der  Grenze  der  Subtropenzone  zurückgelangen 
kann,  erklärt  siob  in  folgender  Weise.  Einem  jeden  Druokgradienten 
entspricht  eine  bestimmte  Windgeschwindigkeit  und  zugleich  unter 
jeder  geographischen  Breite  ein  bestimmter  Wert  des  Winkels,  um 
welchen  die  Luft  durch  die  Zentrifugalkraft  von  der  Richtung  des 
Gradienten  abgelenkt  wird.  Wäohst  aus  irgend  einem  Grunde  die 
Geschwindigkeit  über  die  ihr  nach  dem  Werte  des  Gradienten  zu- 
kommende hinaus,  so  wächst  auch  gleichzeitig  der  Ablenkungswinkel; 
wird  sie  kleiner,  so  wird  der  Ablenkungswinkel  es  mit  ihr.  Der 
letztere  Fall  tritt  in  den  untersten  Schichten  der  Atmosphäre  in- 
folge der  starken  Reibung  an  der  Erdoberfläche  ein,  und  in  der  That 
ist  die  vorherrschende  Richtung  der  Bodenwinde  keine  rein  westliche, 
sondern  Westsüdwest  oder  sogar  Südwest.  Umgekehrt  aber  teilen  die 
am  Rande  des  Polarwirbels  sich  aus  den  höchsten  Schichten  herab- 
senkenden Luftteilchen  den  mittleren  Schichten  ihre  im  Verhältnis 
zum  Gradienten  zu  grofse  Geschwindigkeit  mit;  dort  mufs  daher  der 
Ablenkungswinkel  wachsen  und  in  mittlerer  Höhe  der  Atmosphäre 
die  Luft  sich  wieder  gegen  den  Äquator  hin  bewegen,  wie  es  auch 
die  Beobachtungen  der  durchschnittlich  aus  Westnordwest  ziehenden 
höheren  Wolken  erwiesen  haben. 

Dies  wäre  in  grofsen  Zügen  der  Verlauf  der  atmosphärischen 
Bewegungen,  wie  ihn,  unseren  heutigen  Anschauungen  gemäfs,  eine 
homogene  Erdkugel  zeigen  würde.  In  Wirklichkeit  aber  hat  der- 
selbe sehr  bedeutende  Störungen  zu  erleiden,  welohe  durch  die  un- 
gleiche Verteilung  von  Wasser  und  Land,  durch  die  orographischen 
und  andere  Verschiedenheiten  der  einzelnen  Erdteile  verursacht  wer- 
den. Für  die  tropische  Zone  wurde  als  eine  Folgo  ihrer  gröfseren 
Landbedeckung  auf  Seiten  der  nördlichen  Halbkugel  bereits  er- 
wähnt, dafs  sich  der  äquatoriale  Kalmengürtel  und  mit  ihm  die  beiden 
Passatgebiete  in  ihrer  mittleren  Lage  nach  Norden  verschieben.  Eine 
besondere  Abänderung  erfahren  im  Sommer  beider  Hemisphären  die 
Passatströmungen,  namentlich  über  dem  Indischen  Ozean.  Dort  wird 
durch  die  grofse  Erwärmung  der  Ländermasse  Asiens  bezw.  von 
Australien  die  Luft  über  dieser  noch  viel  stärker  als  innerhalb  des 
Kalmengebietes  verdünnt,  so  dafs  an  der  Erdoberfläche  die  Luft  vom 
letzteren  fort  und  nach  dem  erhitzten  Lande  hin  strömen  mufs.  So 
entstehen  mitten  im  Gebiete  der  Passate  die  mit  den  Jahreszeiten 
wechselnden  „Monsunwinde",  deren  Herrschaft  an  der  Ostküste  Asiens 
bis  weit  in  die  gemäfsigte  Zone  hinaufreicht. 


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538 

Wie  in  der  Tropenzone  ausgedehnte  Ländermassen  im  Sommer 
zur  besonderen  Verdünnung,  so  müssen  dieselben  in  höheren  Breiten, 
in  welchen  die  Wärmeausstrahlung  im  Laufe  des  Jahres  über  die 
Einstrahlung  überwiegt,  im  Winter  zur  stärkeren  Verdichtung  der 
über  ihnen  befindlichen  Luft  Veranlassung  geben.  Deshalb  findet 
schon  innerhalb  der  die  tropische  und  die  gemäfsigten  Zonen  trennenden 
Gürtel  über  dem  Lande  im  Winter  eine  viel  bedeutendere  Luftanhäu- 
fung als  über  den  Meeren  statt.  Dort  werden  sich  also  einzelne  Kerne 
mit  höchstem  Luftdruck  bilden,  die  auf  der  nördlichen  Halbkugel 
aus  den  Breiten  des  eigentlichen  Subtropengürtels,  den  sogenannten 
„Rofsbreiten"  der  Schiffer,  zum  Teil  weit  hinausrücken  und  ihre  be- 
deutendste Entwicklung  in  der  nordamerikanischen  Anticyclone  von 
mehr  als  768  mm,  namentlich  aber  in  der  sibirischen  Anticyclone  von 
mehr  als  776  mm  hohem  Luftdruck  im  Januar  erlangen. 

Auf  der  südlichen  Halbkugel  findet  sich,  ihrer  geringeren  Land- 
bedeckung entsprechend,  jener  Gürtel  hohen  Luftdruckes  an  der 
Grenze  der  Subtropenzone  in  sehr  viel  regelmäfsigerer  Gestaltung  vor. 
In  den  höheren  südlichen  Breiten,  wo  der  Umfaner  der  Länder  hinter 
den  Meeren  immer  mehr  zurücktritt,  geht  die  Abnahme  des  Luftdruckes 
und  die  Luftbewegung  mit  noch  gröfserer  Regelmäfsigkeit  vor  sich. 
Ungefähr  vom  40.  Breitengrade  an  wehen  beinahe  unausgesetzt  sehr 
starke  westliche  Winde,  welchen  man  wegen  des  grofsen  Nutzens,  den 
sie  der  Segel  Schiffahrt  gewähren,  den  Namen  der  „braven  Westwinde" 
beigelegt,  und  deren  polare  Grenze  Herr  Neumayer1'1)  auf  etwa 
61  Grad  angesetzt  hat.  Dies  also  ist  die  Gegend,  in  welcher  sich  die 
Vorgänge  der  gemäfsigten  Zonen  in  gröfster  Reinheit  abspielen,  und 
die  Sammlung  zahlreicherer  Beobachtungen  von  daher,  besonders  aber 
ihre  Ausdehnung  über  den  60.  und  70.  Breitengrad  hinaus  mufs  des- 
halb auch  für  die  meteorologische  Wissenschaft  als  eine  Aufgabe  von 
aufserordentlioh  grofser  Bedeutung  betrachtet  werden,  deren  teilweise, 
wenn  nioht  gänzliche  Lösung  durch  die  von  Deutschland  und  England 
vorbereiteten  Südpolar- Expeditionen  in  nicht  mehr  ferner  Zukunft  zu 
erhoffen  ist. 

Ganz  anders  gestalten  sich  die  Verhältnisse  in  den  höheren 
Breiten  der  nördliohen  Hemisphäre,  wo  die  lokalen  Temperaturdiffe- 
renzen zwischen  den  Ozeanen  und  Landmassen  zu  hohen  Beträgen  an- 
wachsen, welche  im  Winter  den  allgemeinen  Temperaturdifferenzen 
zwischen  der  Tropenzone  und  dem  Pole  sehr  nahe  kommen.  Jene 

»)  O.  Neumayor.  Die  Erforschung  des  Süd-Polargebietes.  60  S.  Ber- 
lin 1872,  S.  49. 


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539 

müssen  deshalb  an  verschiedenen  Stellen  zu  lokalen  Zirkulationen 
Veranlassung  geben,  welche  sich  neben  der  allgemeinen  zwischen  den 
Rofsbreiten  und  der  Polkappe  stattfindenden  Luftzirkulation  in  hohem 
Grade  geltend  machen.  Solche  verschieden  bewegte  Luftströme  kön- 
nen, wie  von  Helmholtz  nachgewiesen  worden  ist,  eine  Weile  neben 
einander  fortbestehen,  aber  das  Gleichgewicht  an  ihrer  Grenzfläche  ist 
labil,  und  sie  lösen  sich  früher  oder  später  in  Wirbel  auf,  in  deren 
Innern  durch  die  sich  immer  vergröfsernde  Berührungsfläche  eine 
schnelle  Mischung  der  ursprünglich  getrennten  Luftschichten  ermög- 
licht wird.  Dabei  darf  man  wohl  annehmen,  dafs  der  Vermischungs- 
prozers  der  allgemeinen  mit  lokalen  Zirkulationen  nicht  gleich  an  der 
Grenze  der  Passatzone  vor  sich  geht,  sondern  Teile  der  stark  rotieren- 
den warmen  hohen  Schichten  rein  oder  halb  gemischt  übrig  bleiben, 
die  erst  weiter  gegen  den  Pol  hin  neue  Mischungen  eingehen.  So 
wird  es  verständlich,  dafs  in  den  höheren  Breiten  der  nördlichen 
Halbkugel  eine  grorse  Zahl  unregelmäßig  fortwandernder  Cyclonen  und 
Anticyclonen  mit  Übergewicht  der  ersteren  entstehen  mute,  wie  sie 
durch  die  Gebiete  niederen  und  hohen  Luftdrucks  auf  unseren  synop- 
tischen Karten  in  Erscheinung  treten. 

Dafs  diese  jedoch  von  dem  Zusammenhange  mit  dem  gröfseren 
Kreislauf  der  Atmosphäre,  der  sich  noch  in  den  höchsten  Schichten 
über  ihnen  und  in  größerer  Mächtigkeit  in  den  niedrigeren  Breiten 
abspielt,  nicht  vollständig  losgelöst  sind,  geht  nicht  allein  aus  ihren 
zuerst  durch  Herrn  Hann  festgestellten  und  hernaoh  duroh  zahlreiche 
Ballonbeobachtungen  bestätigten  Temperaturverhältnissen,  sondern 
noch  aus  anderen  bedeutungsvollen  Thatsaohen  hervor.  Von  Herrn 
von  Bezold  sind  für  eine  bestimmte  Klasse  von  Cyclonen,  nämlich 
solche  mit  kreisförmigen  Linien  gleichen  Luftdruckes  und  mit  Winden, 
die  in  die  Richtung  dieser  Linien  fallen,  die  Grundgleichungen  ihres 
Fortbestehens  abgeleitet  worden,  wobei  sich  zwischen  ihren  Druck- 
gradienten und  Windgeschwindigkeiten  Beziehungen  ergaben,  denen 
man  in  Wirklichkeit  bei  den  Cyclonen  häufig  begegnet.  Bei  solchen 
sogenannten  „zentrierten"  Cyclonen  steht  die  Gradientkraft  senkrecht 
auf  der  Richtung,  nach  welcher  hin  Arbeit,  die  hier  in  der  Überwin- 
dung der  Reibung  besteht,  zu  leisten  ist.  Diese  Arbeit  kann  daher 
keinenfalls  von  der  in  den  Cyclonen  vorhandenen  Gradientkraft  ge- 
leistet werden,  und  nooh  weniger  kann  das  geschehen,  wenn  die 
Windrichtung  um  noch  mehr  als  90°  von  der  Richtung  des  Gradien- 
ten abweicht,  weil  dann  noch  eine  Kraftkomponente  vorhanden  sein 
mufs,  die  der  einzigen  aus  der  Druckverteilung  entspringenden  «nt- 


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gegengosetzt  gerichtet  ist.  Naoh  Herrn  von  Bezolds  mathematischen 
Entwickelungen  aber  können  Cyclonen,  die  an  ihrer  Basis  wenigstens 
annäherungsweise  zentriert  sind,  kaum  zu  den  Seltenheiten  gehören, 
und  hat  man  in  deren  oberen  Teilen  wahrscheinlich  sogar  zentri- 
fugale Bewegungen  zu  erwarten,  selbst  wenn  sie  gegen  den  Gradien- 
ten erfolgen  müssen.  Die  Bewegungen  in  der  Cyclone  können  dann 
also  nicht  ausschliefslioh  Folge  der  in  ihrem  Zentrum  vorhandenen 
Luftbewegung  sein,  sondern  müssen  ihre  Ursache  ganz  oder  teilweise 
außerhalb  finden. 

Aus  ihrem  Zusammenhange  mit  der  allgemeinen  atmosphärischen 
Zirkulation  erklären  sich  ungezwungen  mehrere  der  bekanntesten 
Eigenschaften  der  in  unseren  Breiten  auftretenden  Cyclonen  und  Anti- 
cyclonen,  z.  B.  dafs  beide  im  Winter,  der  Jahreszeit  mit  den  gröfsten 
Temperaturunterschieden  sowohl  zwischen  der  äquatorialen  und  po- 
laren Zone  als  auch  zwischen  nahe  gelegenen  Wasser-  und  Land- 
gebieten, sich  in  höchster  Intensität  entwickeln,  ferner  dafs  die  Cy- 
clonen am  häufigsten  in  der  Richtung  nach  Osten  fortzuschreiten 
pflegen,  in  welcher  die  in  ihrem  Inneren  emporsteigenden  Luftmassen 
in  grofser  Höhe  am  leichtesten  abfliefsen  können.  Für  die  Wande- 
rung der  Barometerdepressionen  gilt  zwar  als  Regel,  dafs  dieselbe 
ungefähr  senkrecht  zur  Richtung  des  stärksten  Druokgradienten  er- 
folgt, und  zwar  namentlich  dann,  wenn  auch  die  höchsten  Tempera- 
turen auf  die  Seite  des  höohsten  Luftdruckes  fallen,  so  dafs  in  den 
oberen  Luftschichten  dor  Druckgradient  noch  zunehmen  mufs.  In 
völliger  Übereinstimmung  hiermit  und  mit  entsprechender  Geschwin- 
digkeit gehen  jedoch  erfahrungsmäfsig  die  Ortsveränderungen  der 
Minima  gewöhnlich  nur  in  den  Fällen  vor  sich,  wenn  der  Druck- 
gradient von  der  südnördlichen  Richtung  nicht  sehr  erheblioh  abweicht. 
Ist  er  dagegen  z.  B.  nach  Ost  gerichtet,  so  schreitet  das  Minimum 
meistens  nicht,  wie  man  erwarten  sollte,  gerade  südwärts,  sondern  un- 
gefähr südostwärts  fort,  und  eine  Bewegung  desselben  nach  West 
findet,  selbst  bei  äufserst  starken  nordsüdlichen  Gradienten,  fast  immer 
mit  sehr  geringer  Geschwindigkeit  statt.  Dem  durch  die  Druck-  und 
Temperaturverteilung  an  der  Erdoberfläche  bedingten  Bewegungs- 
antrieb auf  das  barometrische  Minimum  scheint  sioh  daher  stets  eine 
westöstliche  Kraitkomponente,  bald  verstärkend,  bald  schwächend, 
beizugesellen,  welohe  bei  der  Vorausbostimmung  seines  wahrschein- 
lichen Weges  durchaus  mit  in  Reohnung  zu  ziehen  und  deren  Sitz 
offenbar  in  sehr  hohen  Schiohten  der  Atmosphäre  zu  suohen  ist. 

Die  Wirksamkeit  dieser  hohen  Schichten  läfst  auoh  die  Annahme 


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als  möglich  zu,  dafs  der  wahre  Ursprung  mancher  unserer  bedeuten- 
deren Witterungsanomalieen,  namentlich  solcher  von  langer  Dauer, 
weit  außerhalb  nicht  allein  des  Gebietes  liegt,  in  dem  die  Cyclonen 
oder  Anticyclonen  zuerst  bei  uns  erscheinen,  sondern  auch  desjenigen, 
in  welohem  dieselben  thatsöohlich  entstanden  sind.  Beispielsweise 
mag  eine  besondere  Erhöhung  und  Vergröfserung  des  sibirischen 
Barometermaximums  im  Winter,  duroh  welche  oft  eine  lange  anhal- 
tende Kälteperiode  in  Buropa  eingeleitet  wird,  durch  ungewöhnlich  hohe 
Wärme  im  Tropen-  oder  Subtropengebiete  veranlafst  sein,  die  einen  ver- 
mehrten Abflute  der  Luft  von  dort  nach  höheren  Breiten  zur  Folge  hat 
Zur  Erhaltung  und  weiteren  Verbreitung  solcher  Witterungsanomalieen 
werden  aber,  gleichviel,  ob  sie  ursprünglich  duroh  die  höchsten  Luft- 
schichten den  gemäfsigten  Breiten  übermittelt  oder  in  diesen  selbst 
erzeugt  sind,  auch  mehr  lokale  Verhältnisse  wesentlich  beitragen 
können,  so  die  abkühlende  Wirkung  einer  über  ein  weites  Gebiet 
sich  ausdehnenden  hohen  Schneedecke,  in  dessen  Umgebung  der  Bo- 
den ganz  oder  nahezu  von  Schnee  entblöfat  ist.  Dort  wird  sich  näm- 
lich leicht  ein  beständiges  Kältezentrum  entwickeln,  welches  an- 
ziehend und  verstärkend  auf  die  Anticyclonen  in  weitem  Umkreise 
wirken  mute  und  bisweilen  sogar  cyclonale  Wetterlagen  überdauern 
kann,  wie  es  sich  für  einen  Teil  von  Nordeuropa  bei  Untersuchung 
der  Witterungsverhältnisse  des  trockenen  Frühlings  1893  »«)  gezeigt 
hat  In  ähnlicher  Weise  kann,  wie  es  in  den  letzten  Jahren  von 
Herrn  Pettersson  >*)  wahrscheinlich  gemacht  und  speziell  mit  Rück- 
sicht auf  die  Verhältnisse  Deutschlands  von  Herrn  Meinardus16) 
näher  ausgeführt  worden  ist  ein  aufsergewÖhnlich  gesteigerter  Wärme- 
gehalt der  Meeresströmungen,  insbesondere  des  GolfstromwasBers  eine 
Vertiefung  der  ozeanischen  Barometerminima  bewirken,  welche  dann 
ihrerseits  wiederum  die  Erhaltung  der  hohen  Wassertemperatur  und 
den  längeren  Fortbestand  der  Temperaturabweichungen  bis  auf  grofse 
Entfernung  hin  nach  sich  ziehen  mufs. 

Aus  den  vorstehenden  Betrachtungen  dürfte  ersichtlich  sein,  dafs 
die  Ansichten  über  den  Gesamtverlauf  der  grofsen  atmosphärischen 

H)  E.  Lesß.  Die  Verteilung  des  Luftdruckes  über  Europa  während  der 
Trockenzeiten  des  Frühlings  und  Sommers  1893.  Meteorol.  Z.S.  11,  S.  121  bis 
136,  18'J4. 

IS)  O.  Pettersson.  über  die  Beziehungen  zwischen  hydrographischen 
und  meteorologischen  Phänomenen.    Meteorol.  Z.S.  13,  S.  '285—321,  1896. 

'*)  W.  Meinardus.  über  einige  meteorologische  Beziehungen  zwischen 
dem  Nordatlantischen  Ozean  und  Europa  im  Winterhalbjahr.  MeteoroL  Z.  S.  15, 
S.  81-105,  1898. 


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Strömungen  im  wesentlichen  bereits  geklärt  sind,  dagegen  über  die 
Beziehungen  zwischen  den  einzelnen  Zweigen  derselben  wie  zwischen 
ihnen  und  den  kleineren  Luftwirbeln  unserer  Breiten  noch  gar  manche 
Zweifel  zu  lösen  bleiben.  Namentlich  ist  über  die  Oröfse  des  An* 
teils,  welchen  die  allgemeineren  und  welohen  die  mehr  örtlichen  Ver- 
hältnisse an  den  bei  uns  sioh  abspielenden  Witterungsvorgängen  ha- 
ben, heute  noch  so  gut  wie  nichts  bekannt.  Die  Erklärung  aber  ganz 
bestimmter  Erscheinungen  aus  dem  Zusammenwirken  der  allgemeinen 
Zirkulation  mit  den  lokalen  Bedingungen  dürfte,  wie  von  Herrn  von 
Bezold  in  seiner  Untersuchung  über  die  Theorie  der  Cyclonen  be- 
tont worden  ist,  wohl  auf  Jahre  hinaus  eine  der  wicht  igsten  Auf- 
gaben der  meteorologischen  Forschung  bilden,  an  deren  Lösung  man 
auf  sehr  verschiedenartigen  Wegen  herantreten  kann. 


* 


Von  Javas  Feuerbergen. 

Besuch  eines  neugebildeten  Vulkanbeckens. 

fVon  Dr.  P.  Kronecker  in  Berlin, 
ie  grofse  javanische  Sohienenstralse,  welche  die  westliche  Haupt- 
stadt der  Insel:  Batavia  mit  dem  Hauptplatze  des  Ostens: 
Surabaja  verbindet,  durchzieht  in  ihrem  westlichen  Dritteile 
die  von  Bohönen  und  hohen  Vulkanketten  durchsetzten  Preanger 
Landschaften.  Bevor  sie  die  Westgrenze  dieser  Provinz  bei 
Tassikmalaja  erreicht,  um  in  die  flache,  fieberreiche,  von  diohtem 
Sumpfwald  bedeckte  südliche  Küstenebene,  „die  Savau  einzutreten, 
nimmt  sie  ihren  Weg  hart  am  Osthange  eines  steilen  Vulkanwalles, 
des  „Galoenggoeng",  und  zwar  so,  dafs  der  Schienenweg  mittelst 
einer  Reihe  tiefer  Einschnitte,  langer  Tunnels  und  kühn  konstruierter 
Galerien  in  das  Gebirge  selbst  hat  hineingebroohen  werden  müssen. 

Der  Galoenggoeng  stellt  ein  Vulkanplateau  dar,  dessen  höchster 
Punkt  auf  2229  m  Meereshöhe  gemessen  worden  ist  Nach  Osten, 
nach  der  Ebene  von  Tassikmalaja  zu,  stürzt  er  in  mehrfachen  Stufen 
steil  ab;  naoh  Westen,  gegen  das  Gebirgsthal  von  Garoit  ist  seine 
Neigung  eine  geringere.  Galoenggoeng  gehört  zu  den  zahlreichen 
Feuerbergen  der  schönen  Insel,  welohe  eine  Quelle  steter  Sorge  und 
Angst  für  ihre  Umgebung  bilden.  Schon  manches  reiche  Dorf,  manch' 
blühende  Plantage  liegt  unter  der  Hunderte  von  Metern  mächtigen 
Schutt-  und  Asohendecke  begraben,  welche  als  Lavaströme  aus  den 
Kratern  des  Galoenggoeng  hervorquollen.  Die  letzte  Eruption  vor 
meiner,  in  den  Oktober  des  Jahres  1896  fallenden  Anwesenheit  in  jener 
Gegend  hatte  genau  ein  Jahr  vorher,  im  Oktober  1894,  stattgefunden. 
Am  18.  Oktober  dieses  Jahres  bewegte  sich  ein  breiter  Lavastrora 
gegen  den  am  Südfufee  des  Galoenggoeng- Stockes  etwa  zwei  geo- 
graphische Meilen  südwestlich  von  Tassikmalaja  gelegenen  gewerb- 
fleifsigen  Marktflecken  Sangapa rna,  wo  er  arge  Verheerungen  an- 
richtete. Der  Bevölkerung  gelang  es  fast  ohne  Ausnahme,  sich  recht- 


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544 


zeitig  in  Sicherheit  zu  bringen.  Der  Flute  Tjikunir,  der  wichtigste 
der  Wasserläufe,  welche  am  Südhange  des  Galoenggoeng  entspringen, 
ein  Nebenflute  des  Tjibandöwi,  über  dessen  tief  eingeschnittenes 
Bett  die  Bahnlinie  dioht  hinter  Manundjaja  auf  kühner  Gitterbrüoke 
führt,  wurde  damals  durch  Schuttmassen  in  seinem  Laufe  gehemmt 
und  mutete  sich  ein  anderes  Bett  suchen. 

Nicht  der  höchste  Gipfel  des  Galoenggoeng  war  es,  welcher  in 
Thätigkeit  trat,  sondern  eine  etwas  niedrigere,  dem  Hauptgipfel  westlich 
benachbarte  Kammpartie,  .,Wawiranu  genannt,  an  deren  Südwand 
sich  in  etwa  halber  Höhe  eine  Anzahl  Krater  öffneten.  Die  Formation 
des  Berges  wurde  hierdurch  erheblich  verändert,  und  es  schien  wohl 
der  Mühe  wert,  diese  jungen  Vulkangebilde  zu  besichtigen  und  photo- 
graphisch aufzunehmen,  zumal  dies  nooh  nicht  gehörig  geschehen  war. 

Ich  brach  zu  diesem  Zwecke  am  Nachmittage  des  28.  Oktober  1895 
mit  meinem  Heisebegleiter  Herrn  Kapitän  a.  D.  Fedor  Schulze  aus 
Batavia  und  dessen  jungem  Sohne  von  Tassikmalaja  auf.  Aufser- 
dem  befand  sich  in  unserer  Begleitung  ein  alter  Eingeborener  aus 
fürstlichem  Geblüt,  ein  „Pangeran"  —  Statthalter  — in  der  Provinz 
Sintang,  West-Borneo,  weloher  aus  einer  höchst  fadenscheinigen  Ver- 
anlassung von  der  holländischen  Regierung  seines  Amtes  entsetzt  und 
nach  Java  verbannt  worden  war.  Der  Pangeran  hatte  nämlich  während 
der  letzten  Jahre  seines  Dienstes  viel  unter  den  Einfällen  feindlicher 
Dajak-Stämme  zu  leiden  gehabt,  welche  Raubzüge  in  sein  Gebiet  unter- 
nahmen und  viele  seiner  Leute  umbrachten.  Er  wandte  sich  wieder- 
holt an  den  Assistent-Residenten  von  Sintang  mit  der  Bitte,  die  Räuber 
züchtigen  zu  dürfen,  aber  er  blieb  ohne  Bescheid.  Da  nahm  er  das 
Recht  in  die  eigene  Hand,  denn  täglich  büfeto  er  Leute  ein,  zog  aus 
und  tötete  mehr  als  30  der  feindlichen  Dajaks.  Jetzt  regte  sich 
plötzlich  die  holländische  Verwaltung.  Der  Resident  von  Pontjanak, 
des  Hauptplatzes  an  Borneos  Westküste,  liefe  den  Pangeran  vorladen 
und  verurteilte  ihn  zur  Strafe  für  sein  eigenmächtiges  Handeln  zur 
Verbannung  nach  Java.  Die  Statthalterschaft  übernahm  sein  ältester 
Sohn.  Die  ganze  Fürsorge  der  Regierung  für  den  alten,  treuen 
Diener  bestand  hinfort  in  25  Gulden  (!)  monatlichen  Gnadensoldes. 
Um  nicht  zu  darben,  war  er  auf  die  Wohl  thätigkeit  seines  Freundes, 
des  Raden  Adipatti  von  Manundjaja,  angewiesen,  weloher  sich  in 
liebevoller  Weise  seiner  und  seiner  Frau  annahm.  Auch  wir  hatten 
uns  bei  unserer  Expedition  der  Hülfe  des  Raden  Adipatti  zu  erfreuen, 
nachdem  wir  kurz  vorher  seine  Gäste  in  seinem  luxuriös  ausgestatteten 
Palast  gewesen  waren.  Da  der  ganze  Südabhang  des  Galoenggoeng* 


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646 

zu  uUlu  Bezirk  dieses  Fürsten  gehörte,  so  hatte  er  alle  Häuptlinge 
angewiesen,  uns  jede  gewünschte  Hülfe  zu  leisten.  So  konnten  wir 
ohne  Schwierigkeit  die  erforderliche  Zahl  von  42  Kulis  erhalten, 
welche  unsere  Apparate,  Lebensmittel  und  die  Fackeln  für  den  nächt- 
lichen Marsch  durch  den  Busch  zu  tragen  bestimmt  waren.  Jeder 
Kuli  erhielt  für  die  auf  1 1/2  Tage  berechnete  Unternehmung  25  Cents, 
circa  40  Pfg.,  so  dafs  die  ganze  Karawane  mich  kaum  12  holländische 
Gulden  (etwa  22  Reichsmark)  kostete.  Unter  den  Kulis  befanden  sich 
übrigens  15  „Häuptlinge",  welohe  eine  Art  Aufsicht  führten.  Ihr 
Lohn  war  nicht  höher  bemessen  als  der  der  Unter-Kulis,  doch  hatten 
sie  nur  die  leichteren  Lasten,  namentlich  die  brennenden  Faokeln  bei 
Nacht  zu  tragen.  Für  die  beiden  älteren  Herren:  Kapitän  Schulze 
und  den  Pangeran  von  Borneo  wurden  primitive  Tragsessel  mit- 
genommen, roh  gezimmerte  Stühle,  deren  Handhaben  aus  dicken 
Bambusstäben  bestanden,  welche  unterhalb  der  Sitze  mittelst  Rotang 
(spanischen  Rohrs)  befestigt  waren.  Aufserdem  wurden  Ponies  von 
zweifelhafter  Qualität  für  50  Cents  (75  Pfg.)  das  Stüok  gemietet. 

Unser  Weg  ging  zuvörderst  zu  Wagen  von  Tassikmalaja  in 
westlicher  Richtung  direkt  auf  den  Bergwall  des  Oaloenggoeng  zu. 
Die  leidliohe,  meist  ebene  Strafse  war  von  steilen  Böschungen  unter- 
brochen, bei  deren  Überwindung  sich  die  vortrefflich  organisierte 
Hülfsaktion  unseres  Freundes,  des  Rade  n  Adi  patti  von  Manundjaja, 
überaus  nützlich  erwies.  Denn  überall  hatten  die  Häuptlinge  der 
Dörfer  und  Weiler,  welche  wir  passierten,  Kulis  aufgeboten,  welche 
durch  Anstemmen  gegen  die  Rückwände  der  Wagen  dieselben  schnell 
auch  die  steilsten  Hänge  hinaufbugsierten. 

Die  Strafse  führte  durch  Kokoswäldohen  (Fig.  1,  Titelblatt)  und  diohte 
Bambuspflanzungen,  später  durch  grünende  Reisfelder.  Immer  schöner 
und  instruktiver  gestaltete  sich  der  Vorblick  auf  den  Galoenggoeng- 
Stook.  Er  ist  im  Süden  flankiert  von  einem  zierlichen  Kegel,  dem 
Dingdinghari,  1623  m  über  dem  Meere,  auf  welchen  eine  gewaltige, 
schroffe  Kraterwand  folgt,  deren  nördliche  Urawallung  bei  Gelegenheit 
einer  früheren  Eruption  abgesprungen  war,  so  dafs  man  direkt  in  den 
trichterförmigen  Krater  hineinschaut  Gerade  im  Vorblick  folgt  nun 
der  flache  Eruptionskegel  des  Wawiran,  an  dessen  östliohem  Abhang 
der  letzte  Ausbruch  stattfand,  das  Ziel  unserer  Wanderung.  Nunmehr 
schwingt  sich  der  naoh  Norden  streichende  Kamm  des  Galoenggoeng 
empor  zu  der  höchsten  Partie,  der  Boenikjana,  wo  der  alte,  nur 
noch  sohwaoh  thätige  Krater  liegt  Nördlich  hiervon  erhebt  sich 
ein  zierlicher  Kegel,  der  2229  m  messende  höohste  Gipfel  des  Galoeng- 

Himmel  and  Erde.  IHN.  XI.  12.  36 


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546 


goeng.  Jenseits  einer  tiefen  Einsenkung  im  Kamme  schliefst  im  Norden 
der  ganze  vielgestaltige  Gebirgsstock  mit  einem  graziösen  Vulkan- 
kegel ab,  der  1690  m  hohen  Telaga  Bodas,  wo  jener,  von  Garoet  aus 
vielbesuchte  Kratersee  gleichen  Namens  liegt. 

Nach  l'/astündiger  Fahrt  hatten  wir  ein  kleines  Dorf  erreicht, 
450  m  über  dem  Meere  gelegen,  wo  der  Fahrweg  endete  und  wir 
nunmehr  die  Pferde  zu  besteigen  genötigt  waren,  elende  Klepper,  mit 
Stricken  gezäumt,  dabei  störrisch  und  schwer  zu  regieren.  Unser 
Gepäck,  mehr  als  20  Stücke,  wurde  auf  die  43  Kulis  verteilt,  so  zwar, 
dafs  die  schwersten  Lasten,  namentlich  die  Plattenk isten,  mittelst 
Bambusbast  an  dicken  Bambusstangen  befestigt  wurden,  welche  je 
zwei  Leute  trugen.  Bei  diesem  Werke  machte  sich  der  alte,  dicke 
Pangeran  von  Borneo  sehr  nützlich,  indem  er  nicht  nur  rationelle 
Anordnungen  traf,  sondern  beim  Festbinden  der  Lasten  fleifsig  mit 
Hand  anlegte.  Der  gut  gehaltene  Pfad  führte  jetzt  weiter  in  west- 
licher Richtung  gerade  auf  den  Galoenggoeng  zu,  welcher  meist 
von  schwärzlichem  Gewölk  eingehüllt  wurde.  Wenn  es  der  Abend- 
sonne gelang,  die  Wolkenwand  zu  durchbrechen,  so  leuchtete  der 
Soheitel  des  Berges  auf  Augenblicke  durch  den  Wolkenschleier  ge- 
spenstisch und  majestätisch.  Nach  halbstündigem  Ritt  bog  der  Weg 
nach  Süden  ab  und  querte  das  Bett  des  Tjibanjaran,  des  nördlichsten 
der  am  Eruptionskegel  des  Wawiran  entspringenden  Wasserläufe,  ein 
wohl  V2  km  breites  Flufsbett,  in  welchem  zwischen  Sohuttwällen  und 
grofsen,  glatten  Kieseln  graue  Wasserfäden  hinabrieselten. 

Gegen  5  Uhr  nachmittags  hatten  wir  den  „Pondak"  (Rasthaus) 
Tjipongo  erreicht,  wo  wir  die  ersten  Stunden  der  Nacht  zu  bleiben 
beabsichtigten.  Derselbe  liegt  reizend  in  einem  Busch wald,  an  einen 
Takul  (Weiler)  sich  lehnend,  angesichts  des  majestätischen  Galoeng- 
goeng-Walles,  ca.  600  m  über  dem  Meere.  Noch  war  die  Bergwand 
von  grauem  Gewölk  verhüllt,  welches  indessen  von  unseren  Leuten 
als  vergänglicher  Höhenrauch  bezeichnet  wurde.  Für  diese  Auffassung 
sprach  der  Umstand,  dafs  das  Licht  der  ca.  dreiviertelvollen  Mond- 
scheibe nicht  Belten  die  Dunstmassen  durchbraoh.  Einmal  bemerkten 
wir  nahe  dem  Zenith  einen  kohlschwarzen  Streifen,  welcher  sich  von 
dem  lichtem  Gewölk  scharf  abhob,  eine  Erscheinung,  die  von  den 
Javanern  als  Kraterrauch  gedeutet  wurde. 

Nach  einigen  Stunden  guten  Schlafes  erhoben  wir  uns  gegen 
IV2  Uhr  morgens.  Das  Gewölk  war  verschwunden,  und  imposant 
zeichnete  sich  der  schöngeschwungene  Kamm  des  „Galoenggoeng" 
gegen  den  reichgestirnten  Nachthimmel  ab.    Bald  wurde  abmarschiert 


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auf  gutem,  durch  den  dichten  Urwald  geschlagenem  Pfade.  Wir  ver- 
dankten diesen  Weg  einer  Partie  von  holländischen  Beamten,  welche 
bereits  einige  Monate  vor  uns  den  jungen  Auswurf kegel  des  Wa- 
wiran  besuobt,  aber  über  ihre  Beobachtungen  nur  einen  oberfläch- 
lichen Bericht  in  einer  javanischen  Zeitung  publiziert  hatten.  Der 
zunehmende  Mond  verschwand  schnell  hinter  der  westlichen  Berg- 
wand, und  so  waren  wir  im  dunklen  Walde  auf  das  Licht  brennender 
Bambusfackeln  angewiesen,  Bündeln  von  Bambusstäben,  welche 
am  freien  Ende  angezündet  ein  sehr  helles  Lioht  verbreiten.  Leider 
hatten  wir  uns  ungenügend  mit  ihnen  versehen,  und  dazu  erwiesen 
sich  einige  der  Fackeln  so  feucht,  dafs  sie  nicht  brennen  wollten. 
Es  kann  daher  nicht  dringend  genug  empfohlen  werden,  bei  nächt- 
liohen  Märschen  durch  den  Urwald  Petroleum  mitzufahren,  um  mit 
Hülfe  desselben  die  Fackeln  leichter  und  heller  brennen  zu  maohen. 
Von  irgend  welchen  Gefahren  konnte  bei  dieser  Wanderung  nioht  die 
Rede  sein,  denn  Tiger  und  Panther  fehlen  hier  gänzlioh;  selbst  die 
schlauen  Affen  pflegen  sich  in  respektvoller  Entfernung  thätiger 
Vulkane  zu  halten,  und  an  Schlangengattungen  kommt  dort  nur 
eine  kleine,  unschädliche  Art  vor.  Nach  etwa  2V2  stündigem,  erst 
sanfterem,  dann  steilerem  Anstieg  veränderte  der  Wald  plötzlich  sein 
Aussehen.  Wir  hatten  in  einer  Höhe  von  890  m  über  dem  Meere  jene 
Region  betreten,  die  deutlichste  Spuren  des  heifsen  Liebeskusses  zur 
Sohau  trug,  welchen  der  Lavastrom  vom  Oktober  1 894  hier  dem  dichten 
Vegetationsgürtel  aufgedrückt  hatte.  Zuvörderst  schienen  nur  die 
Kronen  der  Bäume  verbrannt,  bald  aber  war  von  Grün  keine  Spur 
mehr  zu  sehen.  Nackt  und  angekohlt  ragten  die  Stämme  in  die 
Morgenluft,  eine  peinliohe  Erinnerung  an  die  frevelhafte  Wald  Verwüstung, 
welche  der  Ansiedler  im  amerikanischen  Westen  zu  üben  pflegt 
(Fig.  2,  Titelblatt).  Gegen  4l/2  Uhr  morgens  erblickten  wir  eine  kleine 
verfallene  Bambushütte,  900  m  ü.  d.  M.  hart  am  Fufs  des  jungen  Aus- 
wurfkegels gelegen.  Von  hier  aus  ging  es  gegen  6  Uhr  zu  Fufs  auf 
schmalem  Pfade  den  mäfsig  steilen  Schuttkegel  hinan.  Wenige 
Schritte  oberhalb  der  Hütte  passierten  wir  einen  Bach,  den  Tjiban- 
jaran,  und  kurz  darauf  noch  einige  Rinnsale.  Deutlich  konnten 
wir  den  Ursprung  dieser  Wasserläufe  auf  der  Höhe  des  Auswurf- 
kegels Telagawarna,  am  Ostfufe  der  Kraterwand  des  Wawiran 
erkennen,  wo  weifse  Dampfsäulen  das  Vorhandensein  heifser  Quellen 
anzeigten.  Das  Wasser  der  schmaleren  Rinnsale  war  hier  noch  lau- 
warm, etwa  15°  C.  Besonders  auffallend  erschien  mir,  dafs  dasselbe 
durchaus  rein  schmeckte,  ohne  jeden  Beigeschmaok  von  Schwefel. 

35* 


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548  

Auch  sonst  war,  in  scharfem  Gegensatz  zu  anderen  von  mir  besuchten 
Vulkanen  Javas,  auffallend  wenig-  Schwefel  in  der  Umgebung  des 
Galoenggoeng  zu  finden.  Am  Hange  des  Auswurfkegels  ragten, 
Marterpfählen  gleich,  vereinzelte  völlig  kahle,  schwarze  Stümpfe  aus 
dem  Schutt  hervor,  welcher  aus  groben  Lavabrocken,  vulkanischen 
Sauden  und  Aschen  sich  zusammensetzte.  Jene  gröberen  Brocken  er- 
wiesen sich  meist  als  Trachyt,  welcher  nicht  selten  eingesprengte 
Glimmerplättchen  zeigte,  besonders  weiter  oben  an  dem  Kegel,  ferner 
als  Syenit,  dann  als  Sandstein.   Auch  war  sehr  viel  grüngefärbtes 


Fig.  S.  Blick  auf  die  Wand  dei  Wawiran  von  der  Höhe  dei  Eruptionekegels  dei 
Telagawarna,  östlich  von  den  drei  Vnlkaneeen 

Eruptivgestein  und  rotbrauner  Porphyr  vorhanden.  Hier  und  da- 
bemerkte  man  Stücke  vulkanischen  Tuffes.  Viel  spärlicher  waren 
schwarzer  Basalt  und  Granit  vertreten;  Schwefel  fand  sich  nur 
spurweise. 

Bald  begann  der  Anstieg  zur  Höhe  des  Eruptionskegels  steiler 
zu  werden,  indessen  blieb  ein  Pfad  stets  deutlich  erkennbar.  Wir 
stiegen  immer  in  westlicher  Richtung  auf  einer  Rippe  des  Berges, 
zwischen  dem  Bachthale  des  Tjibanjaran  im  Norden  und  dem- 
jenigen des  Tjidjambe  im  Süden,  an.  Letzterer  Wasserlauf  verdankt 
seine  Entstehung  erst  der  letzten  Eruption.  Aus  beiden  Schluchten 
stiegen  dicke  Dampfwolken  auf.    Nach  Osten  fiel  der  Blick  in  das- 


549 


tiefeingesohnittene  Thal  des  schon  erwähnten  Tj  iku  nir,  aus  welohem 
dichtes,  weifees  Gewölk  aufbrodelte.  Im  übrigen  war  das  Wetter 
schön  und  klar.  Hier  und  da  sprofste  zwischen  dem  schwarzen, 
grauen  und  rotbraunen,  nicht  selten  angekohlten  Gestein  junges  Farn- 
kraut auf.    Sonst  war  alles  ausgebrannt  und  tot. 

Als  wir  gegen  6  Uhr  morgens  eine  Höhe  von  1046  m  erreicht 
hatten,  erhob  sich  in  unserem  Rücken  die  Sonne  aus  einem  grauen 
wogenden  Dunstmeer.  Über  der  Ebene  im  Osten  lagerte  watteartiges 
Gewölk,  aus  welchem,  gleich  Augen,  zahllose  Teiche  und  Tümpelchen, 
die  unter  Wasser  gesetzten  Partieen  der  Reisfelder,  aufblitzten.  Das 


Pig  4.   Der  ostliche  Kratertee.  von  Süden  aui  gesehen,  ohne  da«  Oitufer 

mit  den  Fumarolen. 

uns  umgebende  Lavafeld  zeigte  sich  hier  netzartig  durchzogen  von 
tiefen  Rühm,  ausgetrockneten  Bachbetten,  welche  sich  ihren  Weg  durch 
die  Schuttmassen  gewühlt  hatten.  Oft  mufsten  wir  auf  schmalen 
Wällen  vulkanischen  Sandes  aufwärtsschreiten.  Je  höher  wir  kamen, 
desto  thätiger  zeigten  sich  die  vulkanischen  Kräfte.  Das  Wasser  des 
uns  zur  Linken  fliefsenden  Tjidjambe,  welcher  seit  Jahresfrist  hier 
flofs,  sowie  dasjenige  des  älteren  zu  unserer  Rechten  strömenden 
Tjibanjaran  war  hier  siedendheifs,  weifse  Dampfsäulen  aushauchend. 
Viel  üppiger  als  weiter  unten  sprofsten  grüne  Bü6che  und  Farn- 
kraut zwischen  dem  scharfen,  spitzen,  teilweise  angekohlten  Gestein 
hervor.    Gröfsere  Lavablöcke  fühlten  sich  warm  an  und  zeigten  breite, 


550 


durch  die  Hitze  verursachte  Sprünge.  Immer  weiter  klommen  wir 
hinan  bis  an  den  Fufs  der  letzten  Stufe  der  mit  Asche  überkleideten 
Schuttwand  des  Eruptionskegels,  welche  am  Hange  der  Steilwand  des 
Wawiran  1125  m  über  dem  Meere  sich  gebildet  hatte.  Hier  befand  sich 
naoh  Aussage  unserer  mit  den  Verhältnissen  der  Gegend  wohl  vertrauten 
eingeborenen  Begleiter  vor  kurzem  ein  kleiner  See  mit  Fumarolen, 
weloher  jetzt  aber  völlig  trocken,  von  vulkanischem  Gestein  und 


Fig.  5.    Nordwestecko  des  ersten  und  Gesamtansicht  des  zweiten  Kratersees 

Asche  ausgefüllt,  dalag  und  eine  kleine  Ebene  bildete.  Im  schroffen 
Kontrast  gegen  den  von  Schutt  verkleideten,  sanfteren  Hang  des 
Eruptionskegels  erhob  sich  über  dieser  kleinen  Ebene  die  nackte 
Trachytwand  des  Wawiran.  Von  hier  aus  erstiegen  wir,  uns  links 
gegen  Süden  wendend,  den  steilen  letzten  Hang  des  Aschenkegels, 
auf  dessen  Höhe  die  nougebildeten  Krater  der  Cava  Telagawarna 
oder  Cava  Wawiran  liegon.  Erst  jetzt  verspürten  wir  gelinden 
Schwefelwasserstoffduft  und  sahen  zum  erstenmale  Flecken  goldgelben 
Schwefels  in  das  Gestein  eingesprengt.    Auch  an  dieser  Stelle  sprofs 


552 


noch  zartes  Farnkraut  aus  den  Ritzen  des  Traohytgesteins  hervor.  Gegen 
7  Uhr  morgens  standen  wir  auf  der  Höhe  des  Auswurfkegels  an  der 
Quelle  des  Tjibanjaran.  Vor  uns  ragte  die  schroff  abstürzende 
Traohytwand  der  „Wawiran"  genannten  Partie  des  Galoenggoeng- 
kammes  auf,  durchsetzt  von  tiefen,  durch  das  Wasser  erodierten 
Schluchten  (Fig.  3).  Nachdem  wir  auf  der  Höhe  20  Minuten  weiter 
nach  Südwesten  vorgedrungen  waren,  standen  wir  am  Südrande  des 
östlichen  der  drei,  bei  Gelegenheit  der  letzten  Eruption  entstandenen 
Kraterseen  der  Telagawarna.  Ein  kreisrundes  Wasserbecken 
dehnte  sich  etwa  100  m  unterhalb  unseres  Standpunktes  aus.  In  schön 
geschwungenen  Linien  fielen  die  von  tiefen  Rinnen  durchfurchten 
Asohenwände  trichterförmig  zu  dem  graugrünen  Wasserspiegel  des 
Sees  ab.  An  seinem  Ostufer  zischten  zwei  bis  fünf  Fumarolen  aus  ge- 
borstenem Gestein  hervor,  Lage  und  Zahl  während  unserer  Anwesen- 
heit mehreremale  wechselnd. 

Ich  maohte  von  dem  Südufer  aus  eine  Aufnahme  des  Kratersees 
in  liegendem  Bilde  (Fig.  4),  dieselbe  dann  in  aufreohtem  Bilde,  im 
Norden  abgeschlossen  durch  die  Kraterwand  des  Wawiran.  Genau 
westlich  von  demselben  befand  sich  in  geringer  Entfernung  ein  zweiter 
Kratersee,  der  kleinste  von  allen,  dessen  Wasser  eine  schöne,  licht- 
grüne Färbung  zeigt;  westlioh  von  letzterem  erhob  sich  die  imposante 
Steilwand  des  Wawiran  noch  ca,  600  m  über  unseren  1200  m  hoch 
liegenden  Standpunkt.  Die  Nebelmassen,  welche  aus  dem  Thal  des 
Tjikunir  emporbrodelten,  wurden  herübergetrieben  und  gegen  die 
Bergwand  gedrückt,  so  dafe  die  Aufnahme  des  Hintergrundes  jenes 
zweiten  Kratersees  nur  unvollkommen  gelang  (Fig.  5 :  Nordwestecke 
des  Kratersees  I,  im  Hintergrunde  Kratersee  II).  Westlich  von  jenen 
beiden  lag  ein  dritter  Kratersee,  in  Hinsicht  auf  Gröfse  zwischen  beiden 
stehend  und,  wie  Kratersee  I,  mit  graugrünem  Wasser  gefüllt  Leider 
verdarb  die  von  jenem  dritten  See  angefertigte  Aufnahme.  Wir  schritten 
nun  gegen  Südwesten  über  den  mit  Konglomerat  bedeckten  Rücken 
weiter  und  standeu  gegen  ß'/a  Öhr  morgens  auf  der  nördlichen  Um- 
wallung  eines  vierten  Kraters,  der  Cava-saat,  welches  Wort  so 
viel  als  trockoner  Krater  bedeutet  Derselbe  bot  einen  höchst 
imposanten,  eigenartigen  Anblick  dar.  Vor  uns  that  sich  ein  wohl 
100  m  tiefer  Trichter  auf,  dessen  Wände  mit  dicken  Aschenlagen  ver- 
kleidet waren,  aus  deren  Querspalten  sich  weifse  Darapfwolken  her- 
vordrängten, während  der  Boden  aus  brüchigem,  vulkanischem  Gestein 
bestand.  Wahrscheinlich  war  auch  Cava-saat,  wie  die  anderen  drei 
Krater,  vormals  mit  Wasser  gefüllt  gewesen,  jetzt  aber  zeigte  sie  sioh 


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553 


absolut  trooken.  Über  ihr  erhob  sioh  im  Nordwesten  die  Steilwand 
der  Dingdinghari,  die  westliche  Fortsetzung  des  Wawiran  (Fig.  6: 
östliche  Hälfte  der  Cava  -  saat  mit  dem  Dingdinghari.  Fig.  7: 
Totalansicht  der  Cava-saat)  Wir  standen  nun  auf  jenem  Lavastrom 
vom  18.  Oktober  1894,  welcher  nach  Süden  gegen  Sankaparna  hin 
abflofe  und  dort  die  oben  erwähnten  Verheerungen  anrichtete.  Herr- 
lioh  war  von  hier  der  Blick  hinab  nach  Osten  in  die  tief  eingeschnitten« 
Schlucht  des  Flusses  Tjikunir,  dessen  Ufer  beiderseits  mit  dichtem 
Urwald  bestanden  waren,  und  weiter  auf  das  Xaval -Gebirge,  welches 
die  Aussioht  absohlofs. 

Unsern  Rückzug  wählten  wir  nordöstlioh  zwischen  den  Krater« 
seen  und  der  Bergwand  des  Wawiran,  wo  wir  den  höchsten  Punkt 
des  Eruptionskegels  Telagawarna  in  einer  Höhe  von  1250  m  er- 
reichten. Von  hier  kehrten  wir  durch  den  Busch  auf  dem  gleichen 
Pfade,  auf  welohem  wir  angestiegen  waren,  nach  Tassikmalaja  zurück. 

In  vorstehender  kurzer  Schilderung  habe  ich  darzulegen  versuoht, 
wie  sioh  neuerdings  die  Verhältnisse  jener  lebhaft  thätigen  Vulkan- 
gebiete gestaltet  haben. 


Der  Malteserritter  d'Angos. 

Von  Adolf  Jacobowski  in  Bromberg. 

olgende  Zeilen  sind  in  der  Absicht  geschrieben,  das  bisher  un- 
bekannte curriculum  vitae  eines  Mannes  zu  liefern,  der  in  den 
Kreisen  der  Astronomen  wegen  seiner  Kometenbeobachtungen 
ziemlich  berühmt,  aber  auch  ziemlich  berüchtigt  dasteht. 

Jean  Auguste  d'Angos-Boucarrez,  der  Sprofs  einer  alt- 
adligen Familie  Südfrankreichs,  wurde  am  18.  Mai  1747  zu  Tarbes  im 
Departement  der  Oberpyrenäen  geboren.  Sein  Vater  bestimmte  ihn 
für  die  Soldatenlaufbahn  und  schickte  ihn  frühzeitig  in  das  berühmte 
Infanterieregiment  de  Navarre  (Navarra)  zu  Paris.  Die  Ernennung 
zum  Ritter  des  französischen  Militärordens  vom  Heiligen  Ludwig  sowie 
die  Beförderung  zum  Hauptmann  sind  jedoch  die  einzigen  bemerkens- 
werten Punkte  in  seiner  militärischen  Karriere. 

Zu  dieser  Zeit  fafste  der  Grofsmeister  des  souveränen  Malteser- 
Rilter-Ordens,  Fr.  Emanuel  Kohan  d e  Polduc ein  grofser  Freund 
und  Beschützer  der  Wissenschaften,  den  Plan,  im  Turme  des  Ordens- 
palastes zu  La  Valletta  auf  der  Insel  Malta  eine  Sternwarte  zu  errich- 
ten und  mit  deren  Leitung  ein  Mitglied  des  Ordens  zu  betrauen.  Der 
mit  der  Ausführung  dieses  Plans  beauftragte  bekannte  Geologe  und 
Ordenskommandeur  de  Dolomieu2)  warf  alsbald  seine  Augen  auf 
d'Angos,  der  sich  bereits  auf  dem  Gebiete  der  Astronomie  hervor- 
gethan  hatte,  dem  Orden  jedoch  nicht  angehörte.  Auf  Anraten  Do- 
lomieus  suchte  d'Angos  nun  um  Aufnahme  in  den  Malteserorden 
nach  und  wurde  daraufhin  am  17.  Juli  1784  in  der  Langue  de  Pro- 
vence desselben  als  Chevalier  de  justice  (Justizritter)  aufgenommen 
und  sogleich  in  den  versprochenen  Posten  definitiv  eingesetzt,  nach- 
dem er  schon  seit  September  1783  zu  La  Valletta  astronomische  Beob- 
achtungen angestellt  hatte.    Letzteres  berichtet  mit  grofsem  Lobe  das 

')  Fr.  Emanuel  Ronan  de  Polduc,  70.  Grofsmoister  de9  Ordens,  geb. 
19.  April  1725,  zum  GrofsmeiBter  erwählt  12.  November  1775,  gest  13.  Juli  1797. 

')  Dieudonnd  Guy  Sil  v ain  Tancrede  de  Gratet  de  Dolomieu,  geb. 
23.  Juni  175)0  zu  Dolomieu  in  der  Dauphin^,  aufgenommen  [in  der  Langue 
d'Auvergne  de  minorit£  4.  Oktober  1750,  gest.  26.  November  1801  zu  Chäteauneuf. 


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555 


Pariser  „Journal  des  Savantstt  vom  Oktober  1783,  indem  es  hin- 
zufügt, dafs  das  Observatorium  sehr  wertvoll  für  den  wissenschaft- 
lichen Fortschritt  wäre,  weil  es  unter  einem  weit  reineren  und  des- 
halb für  die  Beobachtung  weit  gunstigeren  Himmel  gelegen  wäre  als 
die  Sternwarten  nördlicherer  Gegenden,  und  dafs  seine  Schöpfung  dem 
Orden  zur  gröfstenlEhre  gereiche. 

Hier  stellte  nun  d'Angos  seine  vielseitigen  Beobachtungen  an, 
die  später  von  einigen  Astronomen,  namentlich  von  Zach  und  Encke, 
als  teilweise  fingiert  bezeichnet  wurden,  und  wegen  der  er  deshalb  zu 
einem  so  traurigen  Orade  von  Berühmtheit  gelangte.  Leider  ging  aber 
der  gröfste  Teil  derselben  in  dem  Brande,  der  infolge  eines  Blitzschlags 
in  der  Naoht  vom  13.  zum  14.  April  1789  das  Observatorium  traf,  zu 
Grunde  oder  in  „Rauch"  auf,  wie  spöttisch  Zach  sagt  Das  Wenige, 
was  den  Flammen  entkam,  war  —  dem  Berichte  des  Baillis  de 
Suffren3)  zufolge  —  derart,  dafs  es  den  Verlust  des  für  immer  ver- 
lorenen Beobachtungsmaterials  lebhaft  betrauern  liefs.  Denn  nioht  nur 
d'Angos'  sämtliche  astronomischen  Beobachtungen  seit  1783,  sondern 
auch  viele  seiner  andern  Papiere  aus  früheren  Jahren  verbrannten. 

Da  nach  diesem  Brande  die  Sternwarte  nicht  wieder  aufgebaut 
wurde,  begab  sich  d'Angos  1789  nach  seiner  Vaterstadt  Tarbes 
zurück,  um  dort  seine  astronomischen  Beobachtungen  fortzusetzen,  wo- 
bei er  von  Seiten  der  Akademie  der  Wissenschaften,  der  er  seit  1784 
als  korrespondierendes  Mitglied  angehörte,  durch  Lieferung  von  In- 
strumenten unterstützt  wurde. 

Als  nach  der  französischen  Revolution  die  Schaffung  von  Zentral- 
schulen durchgeführt  wurde,  meldete  sich  d'Angos  bei  der  Jury  des 
Departements  der  Oberpyrenäen  als  Kandidat  für  den  Lehrstuhl  der 
mathematischen  Wissenschaften,  der  ihm  auch  einstimmig  zuerkannt 
wurde.  Später  wurde  er  zum  Bibliothekar  der  Stadt  Tarbes  ernannt, 
und  als  solcher  starb  er  daselbst  am  23.  September  1833  (nicht  1836) 
im  Alter  von  86  Jahren. 

Das  ist  in  kurzen  Zügen  eine  biographische  Skizze  des  Malteser- 
ritters d'Angos.  Wir  wollen  nun,  da  infolge  des  vorhin  bezeichneten 
Brandes  jegliches  bemerkenswerte  Material  fehlt,  nur  einer,  und  zwar 
der  berühmtesten  „Beobachtung14  des  Ritters  gedenken,  die  erhalten 
blieb  und  ihm,  wio  schon  oben  gesagt,  zu  einem  traurigen  Grade 
von  Berühmtheit  verholfen  hat,  indem  wir  in  der  Darstellung  der- 

3)  Pierre  Andre"  de  Suffren-Saint  Troppez,  geb.  "27.  Juli  17*24,  auf- 
genommen in  der  Langue  de  Provence  23.  September  1737,  war  Oberbefehls- 
haber der  Ordensflotte  zur  Zeit  des  Falls  von  Malta  (1798). 


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556 

selben  gröfstenteile  der  treffliohen  Brubnssohen  Biographie  Enok.es 
(Leipzig  1869)  folgen. 

Am  3.  November  1820  sohrieb  Olbers  an  Enoke:  „Am  14.  Mai 
1784  erhielt  Messier  einen  vom  15.  April  desselben  Jahres  datierten 
Brief  aus  Malta,  worin  ihm  der  Chevalier  d'Angos  meldete:  er  habe 
am  11.  April  im  Gestirn  des  Fuchses  einen  sehr  kleinen  Kometen 
ohne  Sohweif  entdeckt.  Anfangs  habe  er  ihn  für  einen  Nebelfleck 
gehalten,  aber  doch  seinen  Ort  genau  beobachtet  Am  13.  April  habe  er 
sich  vergewissert,  dafs  es  ein  Komet  sei,  ihn  aber  der  Wolken  wegen 
nicht  beobachten  können,  ebensowenig  wie  am  14  Am  15.  habe  er 
ihn  gut  beobachtet;  er  sei  ihm  ein  wenig  liohtstärker  vorgekommen, 
vielleicht  nur  wegen  des  mehr  heiteren  Himmels.  Er  teilt  zugleich  die 
Beobachtungen  jedes  Tages  mit: 

April  11.  2^31»  morg.  wahre  Zeit  AH.  315°  18',  Nördl.  Dekl.  22«  21' 
15.  3    18  307    55,  15  28. 

Soweit  d'Angos.  Mehr  Beobachtungen  wurden  dem  Pariser  Astro- 
nomen nicht  bekannt;  dooh  schickte  d'Angos  nachher  die  von  ihm 
bestimmten  Elemente  ein,  woraus  sich  sohliefsen  liefs,  dafs  er  den 
Kometen  lange  genug  beobachtet  haben  müsse,  um  diese  berechnen 
zu  können.    Messier  suchte  den  Kometen  vergeblich. 

^Bekanntlich  brannte  die  Sternwarte  von  Malta  mit  allen  Papieren 
u.  s.  w.  nachher  ab,  und  man  hielt  daher  in  Frankreich  die  Beobachtungen 
dieses  Kometen  für  ganz  verloren.  Da  nun  die  beiden  Beobachtungen 
garnicht  zu  den  Elementen  stimmen,  die  d'Angos  angegeben  hat,  so 
hat  sich  Burckhardt  viele  Mühe  gegeben,  aus  den  zwei  Beobach- 
tungen unter  einigen  wahrscheinlichen  Voraussetzungen  wenigstens 
beiläufig  die  Lage  und  Abmessung  dieser  Kometenbahn  zu  bestimmen, 
die  ich  hier  nebst  den  Elementen  des  Ritters  hersetze: 

I           II  III  d'Angos 

März  11.  März  9.  März  10.  April  9. 

1784  Zeit  der  Sonnennähe      8h        7h  0h  21M6»469 

Länge«          „          5»'»  0°  48  13°  4»  17°  10»  28«  54'  57" 

..     des  Knotens       1     25  1  12  1    5  2  26    54  9 

Neigung  der  Bahn            26         64  84  47    65  10 

Periheldistanz               0,6821  0,5857  0,6377  0,650331 

Bewegung            Rechtläufig.  Rechtl.  Rechtl.  Rückgängig. 

Man  sieht,  dafs  keine  der  Burckhardtsohen  Bahnen  mit  der  von 
d'Angos  die  geringste  Ähnlichkeit  hat.  Bei  I  setzte  B.  voraus,  dafs 
der  Komet  in  den  beiden  Beobachtungen  des  11.  und  15.  April  gleich- 

•)  s  =  Signum  =  1  „  des  Tierkreises  =  30°. 


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557  

weit  von  der  Erde  gewesen  sei,  bei  II,  data  der  Komet  am  15^  an  welohem 
er  etwas  heller  erschien,  der  Erde  um  ^  näher  stand.  Da  diese  zweite 
Bahn  einige  Ähnlichkeit  mit  der  Bahn  des  Kometen  von  1580  hat,  so 
war  Burokhardt  um  so  begieriger,  noch  einige  Umstände  von 
d'Angos'  Kometen  zu  erfahren.  Auf  sein  Ersuohen  fragte  also 
Delambre  bei  dem  Ritter  an,  und  dieser  antwortete:  er  habe  bei  dem 
Brande  der  Sternwarte  niohts  gerettet  als  sein  meteorologisches  Journal. 
In  diesem  finde  er  unterm  22,  April  blors  die  Beobachtung  des  Zodiakal- 
lichtes,  ohne  Erwähnung  des  Kometen.  Er  schliefse  also  daraus,  dafs 
der  Komet  am  22,  April  nicht  mehr  sichtbar  gewesen  sei.  Burok- 
hardt bestimmte  also  die  dritte  Bahn  so,  daTs  der  Komet  am  22.  April 
nicht  mehr  zu  Malta  gesehen  werden  konnte. 

„Aber,  was  diese  Astronomen  und  d'Angos  selbst  für  ganz 
verloren  hielten  (letzterer  vielleicht  nur,  Burckhardts  Untersuchungen 
scheuend,  für  verloren  gehalten  haben  wollte),  war  längst  gerettet, 
längst  gedruckt  Es  steht  nämlich  in  dem  „Leipziger  Magazin  zur 
reinen  und  angewandten  Mathematik"4)  im  ersten  Stück  1786,  Seite 
132 ;  -Des  Herrn  Ritter  von  Angos  Beobachtungen  und  Bestimmung 
der  Bahn  des  zweiten  im  Jahre  1784  erschienenen,  von  ihm  selbst 
entdeckten  Kometen".  Da  ich  nicht  weifs,  ob  das  L.  M.  zur  Hand  ist, 
so  setze  ich  die  Beobachtungen  hierher: 

Mittlore  Zeit  zu  Paris        Länge  des  Kometen   Breite  des  K  ometen 


April  HL  13 h 

24"» 

55 9 

325« 

15" 

37Q  25'  30" 

LL 

Ui 

LS 

4fi 

315 

a 

2 

33 

Li  iü 

liL 

15 

IS 

m 

312 

3J 

1 

ai 

52  LQ 

liL 

15 

12 

0 

310 

3 

24 

äfi 

42  1 

Ii 

15 

20 

211 

307 

39 

42 

22 

22  8 

ia 

15 

0 

4Q 

305 

23 

iü 

28 

4  0 

22, 

Ii 

58 

IQ 

296 

•iE 

41 

22 

21  1 

2& 

lfi 

m 

ai 

2M 

41 

2 

2fi 

48  m 

2fL 

15 

m 

48 

290 

52 

52 

II 

54  58 

26, 

lfi 

0 

lfi 

289 

12 

21 

Lü 

2fi  50 

28, 

■Ji 

55 

285 

41 

48 

L3 

32  52 

22. 

15 

4Q 

m 

284 

11 

M 

12 

8  25 

an 

15 

ai 

8 

283 

31 

LZ 

lfi 

55  41 

Mai  L 

Li 

5Ö 

LS 

281 

8 

L2 

9 

23  0 

Nach  dem  L  Mai  mufste  der  Ritter  der  geringen  Gröfse  des  Kometen 
und  aufsteigender  Nebel  wegen  die  ferneren  Beobachtungen  aufgeben. 

♦}  Herausgegeben  für  die  Jahre  1786—88  von  Karl  Priedr.  Hinden- 
burg  (1741— 1808)  und  Johann  Bernoulli  (1744—1807). 


558 


„Nach  diesen  Beobachtungen",  fügt  d'Angos  hinzu,  „habe  ich 
folgende  Elemente  in  einer  parabolischen  Bahn  bestimmt,  und  diese  Bahn 
stellt  solche  mit  einer  grösseren  Genauigkeit  dar,  als  ich  von  einer  so 
geringen  Anzahl  Beobachtungen  hoffen  durfte,  indem  die  Fehler  sowohl 
in  der  Länge  als  in  der  Breite  nie  über  1'  10"  gehen".  Darauf 
folgen  die  Elemente  wie  oben,  nur  ist  die  Inklination  nooh  genauer: 
47°  65'  8",  55  angegeben.  Die  Beobachtungen  soheinen  einen  rogel- 
mäfsigen  Gang  zu  halten  und  haben  an  sich  nichts  Verdächtiges. 
Blofs  die  Breite  am  30.  April  mag  den  Differenzen  naoh  duroh  einen 
Druck-  oder  Schreibfehler  entstellt  sein,  und  man  wird,  statt  10°  55'  41", 
100  45'  41"  lesen  müssen.  Aber  die  Elemente,  die  d'Angos  doch 
mit  sämtlichen  Beobachtungen  verglichen  haben  will,  machen  die  Sache 
höchst  bedenklich.  Sie  lassen  sich  mit  den  Beobachtungen  garnioht 
vereinigen  und  geben  nicht,  wie  der  Ritter  sagt,  Fehler  von  1 '  10", 
sondern  von  ganzen  Zeichen.  Auoh  habe  ich  vergebens  versuoht,  irgend 
einen  Druck-  oder  Schreibfehler  in  den  Elementen  zu  entdecken,  der 
diese  so  entstellt  haben  könnte. 

„Gewifs  ist  es  also  ein  ganz  falsches  Vorgeben  von  d'Angos, 
dafs  er  diese  Elemente  mit  den  Beobachtungen  verglichen  habe.  Hat 
er  sie  blofs  willkürlich  hingeschrieben?  Oder  hat  er  sich  auf  eine 
freilioh  unbegreifliche  Art  bei  Aufsuchung  der  Elemente  verrechnet 
und  sein  so  durohaus  irriges  Resultat  ohne  weitere  Prüfung  dooh  für 
so  genau  gehalten,  dafs  er  geglaubt  hat,  versichern  zu  können,  es 
weiche  nie  mehr  als  etwas  über  eine  Minute  von  der  Beobachtung  ab? 
d'Angos  scheint  doch  sonst  in  Berechnung  von  Kometenbahnen  nicht 
ungeübt  gewesen  zu  sein,  und  Pingrö  („Cometographie",  Vol.  II,  Paris 
1784,  p.  94  und  95)  zieht  seine  für  den  Kometen  von  1779  gegebenen 
Elemente  allen  übrigen  vor.  Dies  giebt  mir  einige  Hoffnung,  dafs  die 
Beobachtungen  nicht  auch  blofs  erdichtet  sind.  Hätte  der  Ritter  blofs 
aus  Eitelkeit  den  Astronomen  glaubhaft  machen  wollen,  er  habe  einen 
Kometen  entdeckt  und  beobachtet,  so  würde  er,  scheint  es  mir,  sich 
die  Mühe  genommen  haben,  die  Örter  des  angeblichen  Kometen  vor- 
her aus  einer  willkürlich  angenommenen  Bahn  zu  berechnen  und  dann 
diese  Örter  um  kleine  Gröfsen  zu  ändern.  So  wäre  der  Betrug  nicht 
leicht  zu  entdecken  gewesen;  Burckhardt  hat  mir  aber  nachher  durch 
ein  Beispiel  bewiesen,  dafs  sich  d'Angos  in  andern  Fällen  wirklich 
erfrechte,  Beobachtungen  auf  eine  schamlose  Art  zu  erdichten. 

„Sobald  ich  diese  Beobachtungen  zufällig  aufgefunden  hatte,  be- 
stimmte ich  aus  den  Beobachtungen  vom  15.,  22.  und  29.  April  naoh 
meiner  Methode  folgende  parabolische  Elemente: 


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559 


Zeit  der  Sonnennähe  1784  März  11.  I6h  3 1 V2 m  mittlere  Pariser  Zeit 


„Diese  Elemente  haben  nicht  die  geringste  Ähnlichkeit  mit  denen 
von  d'Angos,  stimmen  aber  nahe  mit  Burckhardts  Bahn  No.  I 
überein.  Berechnet  man  aber  nun  wieder  aus  diesen  Elementen  den 
Ort  des  Kometen  für  die  mittlere  Beobachtung,  so  findet  sich  die 
Länge  9 8  27°  8'  40",  die  Breite  22°  23'  3",  Fehler  der  Länge 
19'  69",  der  Breite  1'  2".  Die  Verbesserung  von  M.  verminderte 
diesen  Fehler  nioht  merklich,  der  für  die  ersten  Beobachtungen  noch 
viel  gröfser  wird.  Es  folgt  also,  dafs  sich  die  zu  Grunde  gelegten 
Beobachtungen  durch  eine  Parabel  nicht  näher  als  bis  auf  5  bis  6 
Minuten  darstellen  lassen.5)  Ein  andorer  Kegelschnitt,  ich  vermute 
eine  Hyperbel,  wird  sich  an  diese  drei  vielleicht  ganz  (ob  auch  an 
die  übrigen  erträglich,  weifs  ich  nicht)  anschliefsen  lassen.  Ich  habe 
dies  aus  Zeitmangel  nicht  versuchen  können  und  überlasse  es  nun 
Ihnen,  mein  hochverehrter  Freund,  ob  Sie  gelegentlich  diese  Unter- 
suchung vorzunehmen  der  Mühe  wert  finden,  die  Ihnen  bei  Ihrer 
grofsen  Geschicklichkeit  und  Übung  gewifs  viel  weniger  Zeit  und 
Arbeit  kosten  wird  als  mir.  Das  Resultat  derselben  dürfte  dann  in 
des  Herrn  Baron  von  Zach  Korrespondenz  einen  schicklichen  Platz 
finden.u    So  weit  Olbers. 

Im  vierten  Bande  von  Zaohs  „Corrospondance  astronomique, 
geographique,  hydrographique  et  statistique**  (Genua  1821)  berichtet 
Encke  über  seine  Untersuchungen,  und  überschrieben  ist  der  Auf- 
satz: „Imposture  astronomique  grossiere  du  Chevalier  d'Angos". 
Zuerst  werden  alle  von  Olbers  gemachten  Mitteilungen  aufgeführt, 
dann  untersucht  Encke,  ob  die  beiden  Beobachtungen  vom  11.  und 
15.  April,  die  in  Rektaszension  und  Deklination  gegeben  sind,  in 
Länge  und  Breite  dieselben  Zahlen  geben,  die  im  Leipziger  Magazin 
veröffentlicht  sind.  In  der  That  zeigt  sich  hier  eine  nahe  Überein- 
stimmung. Er  korrigiert  die  von  Olbers  schon  gefundenen  beiden 
Druckfehler  und  sucht  alsdann  die  Elemente.    Jeder  Keg-elschnitt  Iäfst 

*)  Anmerkung  von  Olbers:  „Ich  fand  folgende  Elemente,  die  die  Fehler 
auf  die  drei  Beobachtungen  mehr  verteilen:  Zeit  der  Sonnennähe  März  12. 
4h  50«n,  Länge  der  Sonnennähe  5«  4°  5'  42",  Länge  dos  aufsteigenden  Knotens 
2*  0«  42'  43",  Incl.  orb.  23°  24' .-»»,  log  des  kleinen  Auslandes  9,8450291.« 


Länge  der  Sonnennähe 

Länge  des  aufsteigenden  Knotens 

Neigung  der  Bahn 

log  des  kleinen  Abstandes 

Bewegung 


5S  2°  34'  29" 
2     0    32  41 


25    31  51 
9,835872 
reohtläufig. 


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ntiO 


aber  so  beträchtliche  Fehler  übrig,  dafs  er  sehr  unwahrscheinlich  wird, 
und  naoh  mehrfachen  Versuchen  entdeckt  Encke  aus  den  Elementen, 
data  die  gegebenen  Beobachtungen  nur  dargestellt  werden  können, 
wenn  man  den  Radiusveotor  des  Kometen  zehnmal  gröfser  annimmt, 
als  er  aus  den  Elementen  sich  findet  Enoke  schlierst  daraus,  dafs 
d' Angos  die  Rechnung  zweifellos  aus  Versehen  mit  zehnfachen  Radien- 
vektoren des  Kometen  gemacht  habe,  dadurch  die  Bahn  des  Kometen 
vollständig  falsch  und  erfunden  sei  und  der  Komet  nie  existiert  habe; 
dafs  d' Angos  später,  als  man  ihn  aufmerksam  gemacht  hatte,  seine 
Elemente  stellten  die  Beobachtungen  nioht  dar,  den  Fehler  vielleicht 
selbst  entdeckt  und  nicht  befriedigende  Antwort  an  Delambre  ge- 
geben habe.  Enoke  schliefst  seine  Arbeit  mit  den  Worten:  „Alles 
was  man  in  dieser  mifslichen  Angelegenheit  zu  Gunsten  des  Ritters 
anführen  könnte,  wäre  anzunehmen,  dafs  derselbe  wirklich  am  II. 
und  15.  April  einen  Kometen  beobachtet  habe,  dafs  er  denselben  aber 
dann  nicht  habe  wiederfinden  können,  und  dafs  er  nun,  durch  Ruhm- 
sucht veranlafst,  die  beiden  Beobachtungen,  die  er  gemaoht,  und  die 
nicht  viel  hätten  nützen  können,  zu  vervollständigen,  eine  beliebige 
Bahn  erdichtet  und  darauf  alle  diese  Beobachtungen  bis  zum  1.  Mai 
erfunden  habe." 

Olbers  hielt  durch  Enckes  Rechnung  den  Betrug  für  erwiesen 
und  führt  in  seinem  Kometenverzeichnisse  vom  Jahre  1823  (in  Schu- 
machers „Astronomischen  Abhandlungen")  diesen  Kometen  als  eine 
„schändliche  Erdichtung"  auf,  welcher  Ausdruck  auch  buchstäblich  in 
0  all  es  Kometentafel  von  1847  aufgenommen  ist  Gaufs  (s.  Astr. 
Nachr.,  Bd.  66,  Nr.  1674,  S.  219)  jedooh  meinte,  dafs  durch  die  Unter- 
suchung von  Encke  eine  solche  vernichtende  Brandmarkung  des 
Ritters  nicht  hinlänglich  gerechtfertigt  wenn  auch,  zumal  in  Verbin- 
dung mit  andern,  aus  d'Angos'  Persönlichkeit  geschöpften  Umständen, 
auf  einen  überaus  hohen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  gebracht  sei. 
In  einem  am  13.  November  1846  an  Schumjaoher  gerichteten  Briefe 
sagt  Gaufs:  „Seit  längerer  Zeit  habe  ich  vielfach  erfahren,  dafs  bei 
brieflichen  Diskussionen  über  Streitfragen  selten  etwas  herauskommt. 
Eine  mir  unvergefsliohe  Ausnahme  macht  unser  Olbers,  mit  dem  ich 
sehr  oft  kleine  Scharmützel  gehabt  habe,  die  allemal  (den  Fall  von 
d'Angos'  Betrug  abgerechnet  den  Olbers  als  durch  Enoke  er- 
wiesen ansah,  ich  nur,  wie  zu  einem  gewissen  Grade  von  Wahrschein- 
lichkeit gebracht,  weit  entfernt  von  Gewifsheit)  auf  eine  befriedigende 
Art  zum  Ziele  kamen."  Ferner  sagt  Gaufs,  dafs,  um  ein  solches 
Urteil  über  d'Angos  in  so  sohneidender  Entschiedenheit  aussprechen 


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661 


zu  können,  die  absolute  Unmöglichkeit,  die  bekannt  gemachten  Beob- 
achtungen duroh  eine  wirkliche  Bahn  in  richtiger  Rechnung  zu  er- 
klären, in  ein  viel  helleres  Licht  erst  zu  setzen  sei,  als  es  durch 
Encke  geschehen.  Dafs  d'Angos'  Elemente  dies  nicht  leisteten, 
könne  als  gewifa  betrachtet  werden,  und  an  Enokes  Nach  Weisung 
eines  Rechnungsfehlers  dürfte  gar  niemand  zweifeln.  Aber  dies  sei 
noch  kein  Beweis  für  eine  Erdichtung,  sondern  nur  ein  Indizium. 
Denn  in  der  That,  wie  oft  hat  man  wahre  Fakta  durch  falsche  Hypo- 
thesen erklärt  Weiset  man  in  einer  solchen  Erklärung  einen  wesent- 
lichen Fehlschluß  naoh,  so  folgt  daraus  zunächst  nur  die  Verwerflich- 
keit der  Hypothese  und  noch  nicht  die  der  Thatsachen  selbst.  Um 
diese  für  erdichtet  erklären  zu  können,  mute  erst  ihre  Unverträglich- 
keit mit  feststehenden  Wahrheiten  nachgewiesen  werden.  Gau  Ts  liefs 
auch  durch  B.  A.  Oould  eine  unabhängige  Bahnbestimmung  durch- 
führen aus  Beobachtungen  vom  10.,  16.  und  22.  April  1784.  Oould  hat 
jedoch  weder  einen  Kegelschnitt  noch  eine  geradlinige  Bahn  finden 
können,  die  sich  auch  nur  leidlich  an  die  Beobachtungen  anschliefst 

Auch  d' Arrest  hat  1865  über  diesen  Kometen  scharfsinnige 
und,  wie  Gylden  sagt  von  tiefem,  durch  das  Rätselhafte  dieser  Ko- 
metenentdeckung nooh  gesteigertem  Interesse  zeugende  Untersuchun- 
gen angestellt  und  teilt  in  den  Astrouomischen  Nachrichten  (Bd.  65, 
No.  1555,  S.  290)  mit  dafs  sich  geger  die  aus  Enckes  Berechnung 
der  heliozentrischen  Bewegung  des  Kometen  hergeleiteten  Gründe 
keine  Einwendung  machen  lasse6);  der  Komet  könnte  aber  möglicher- 
weise im  Frühjahr  1784  die  Attraktionssphäre  der  Erde  passiert  und 
den  beobachteten  Lauf  als  Trabant  der  Erde  beschrieben  haben.  Eine 
entscheidende  Untersuchung  dieses  Falles  würde  indessen  von  so  kom- 
plizierter Art  werden,  dafs  dor  Aufwand  von  Zeit  und  Arbeit  in  keinem 
Verhältnisse  zur  Natur  des  Gegenstandes  stehen  würde. 

Schliefslich  hat  neuerdings  (1882)  der  bereits  vorhin  erwähnte 
verstorbene  Gylden  (in  den  Astronomischen  Nachrichten,  Bd.  102, 
No.  2445—2446,  S.  323)  über  diesen  Kometen  geschrieben.  Veran- 
lassung hierzu  lag  in  der  Wahrnehmung  einer  gewissen  Ähnlich- 
keit der  Elemente  dieses  Kometen,  wie  sie  Burckhardt  aus  den  zwei 
an  Messier  mitgeteilten  Beobachtungen  berechnet  hatte,  mit  den- 
jenigen einiger  anderer  Kometen.  Aus  der  nachfolgenden  Darstellung 
ist  man  im  stände,  die  Sachlage  zu  beurteilen: 

•)  d'Arreat  macht  dabei  gleichzeitig  darauf  aufmerksam,  dafs  Enckes 
Darstellung  a.  a.  O.  zwar  gewifs  von  dessen  grofser  Arbeitsamkeit  und  von 
Scharfsinn  zeuge,  kaum  aber  von  ruhiger  Kritik.  Die  starke  Färbung  der  Ab- 
handlung mag  jedoch  wohl  zum  Teil  von  Zach  herrühren. 

Hlmmol  und  Erde    1890    XI.  12.  3fi 


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562 


Komet 

d'Angos      Grischow7)    Blanplain7)  Denning 


(Burckhardt) 

1743 1 

1819  IV 

1881  V 

Länge  des  Knotens  55° 

68  « 

770 

660 

Neigung  26 

2 

9 

— 

t 

Länge  der  Sonnennähe  150 

93 

67 

18 

log  des  Perihelabstandes  9,8338 

9,9238 

9,9506 

9,8600 

Bewegung  direkt 


Die  angeführte  Bahn  des  von  d'Angos  gesehenen  Kometen  be- 
stimmte Burokhardt  bekanntlich,  indem  er  die  Hypothese  zu  Grunde 
legte,  der  Komet  sei  an  beiden  Beobachtungstagen  in  gleichen  Ab- 
ständen von  der  Erde  gewesen.  Statt  derartige  Hypothesen  zu  unter- 
suchen, hat  Oy  1  den  die  Ergebnisse  verschiedener  Annahmen  über 
die  Lage  der  Bahnebene  geprüft.  Es  wurden  demzufolge  Knotenlänge 
und  Bahnneigung  willkürlich  angenommen  und  die  übrigen  Elemente 
somit  aus  den  beiden  Beobachtungen  berechnet.    Gylden  stellt  die 


Resultate  einiger  dieser 

■  Versuche 

wie  folgt 

zusammen: 

I 

II 

III 

IV 

Länge  des  Knotens 

65° 

450 

30" 

650 

Neigung  der  Bahn 

7 

4 

6 

2 

Länge  der  Sonnennähe 

163 

127 

60 

149 

log  kleiner  Abstand 

9,9382 

0,0(»00 

9,9347 

9,9884 

log  Exzentrizität 

9,6967 

9,1079 

9,6279 

9,1131 

direkt 


Wie  man  sieht,  ist  die  Übereinstimmung  der  dritten  Bahn  mit 
der  des  vierten  Kometen  von  1819  bis  auf  die  Knotenlänge  nicht  ganz 
unerheblich,  und  überhaupt  ist  die  Ähnlichkeit  der  berechneten  Bahnen 
mit  denen  der  drei  angeführten  Kometen  eine  solche,  dafs  man,  führt 
Gylden  aus,  wenn  auch  nicht  an  eine  Identität,  so  doch  an  einen 
gemeinsamen  Urspruug  der  vier  Objekte  denken  kann.  Das  Be- 
merkenswerte bei  den  gefundenen  Bahnen  ist  die  geringe  Exzen- 
trizität, die  überall  zu  Tage  tritt;  fernor  die  geringen  Entfernungen 
von  der  Erde.  Indem  Gylden  diese  durch  A  und  A'  bezeichnet,  stellt 
er  sie,  den  vier  Bahnen  entsprechend,  wie  folgt  zusammen: 

I  II  III  IV 

log  A        9,0782  8,6206  8,1226  8,5769 

log  A'        9,0831  8,5825  7,6663  8,5864 

'I  Clausen  und  Olbers  halten  bekanntlich  beide  Kometen  für  identisch 
und  führen  den  Unterschied  in  den  sehr  verschiedenen  Neigungen  der  beiden 
Bahnen  auf  eine  grofse  Störung  zurück,  die  der  Komet  1758  von  Jupiter  erlitten 
habe,  wobei  überdies  seine  frühere  Umlaufszeit  von  6,73  Jahren  auf  4,8  Jahre 
reduziert  worden  sei:  aber  man  hat  den  Kometen  seit  1819  nicht  wiedergesehen. 


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563 


Die  Möglichkeit  einer  solohen  Annäherun?  an  die  Erde  führt 
nun  wieder  zu  der  von  d'Arrest  ausgesprochenen  Ansicht,  die  Bahn 
müsse  während  einiger  Zeit  berechnet  werden,  als  ob  die  Erde  die 
Hauptanziehung  ausübte.  Gyld6n  übergeht  jedoch  vorläufig  die  Ver- 
suche, die  in  dieser  Hinsicht  gemacht  wurden,  und  teilt  zunäohst  die 
Resultate  mit,  die  in  Beziehung  auf  die  Bahn  des  Kometen  um  die 
Sonne  vor  der  Annäherung  an  die  Erde  von  ihm  gefunden  wurden. 
Es  kommt  auch  gerade  darauf  an,  womöglioh  diese  Bahn  zu  ermitteln, 
denn  die  während  der  grofsen  Annäherung  an  die  Erde  angestellten 
Beobachtungen  könnten  möglicherweise  zu  völlig  entstellten  Resul- 
taten in  Bezug  auf  die  Bahn  um  die  Sonne  führen. 

Aus  der  intermediären  Bahn  des  Kometen  um  die  Erde,  teilweise 
auch  unter  Berücksichtigung  der  Störungen  der  Bewegung  in  dieser 
Bahn,  wurden  zwei  geozentrische  Längen  und  Breiten  gewonnen,  gültig 
für  Zeiten  vor  dem  1 1.  April  (dem  Tage  der  Entdeckung).  Aus  diesen 
Örtern  wurden  alsdann,  unter  Annahme  hypothetischer  Werte  für  die 
Knotenlänge  und  die  Neigung,  die  elliptischen  Elemente  der  Bahn  um 
die  Sonne  berechnet  Bei  einigen  Versuchen  wurde  aber  die  Lage 
der  Bahn  unter  Hinzuziehung  der  aus  der  intermediären  Bahn  folgen- 
den Radienvektoren  bestimmt.  Solohe  Versuohe  wurden  mit  verschie- 
denen intermediären  Bahnen  ausgeführt,  da  diese,  wie  man  sehen  wird, 
in  vorliegendem  Falle  sämtlich  einen  hypothetischen  Charakter  haben. 
Einige  der  Resultate,  nämlich  die,  welche  am  annehmbarsten  erscheinen, 
führt  Gylden  in  der  folgenden  Zusammenstellung  an: 


I 

II 

III 

IV 

V 

VI 

Länge  des  Knotens 

74" 

23° 

73° 

68" 

67» 

70" 

Neigung 

1 

11 

l3/4 

v2 

2 

4 

Länge  der  Sonnennähe 

163 

150 

154 

131 

135 

140 

log  kleiner  Abstand 

9,970 

9,963 

9,981 

9,986 

9,979 

9,960 

log  Exzentrizität 

9,637 

9,387 

9,863 

8,686 

8,621 

9,030 

Hält  man  eine  -sehr  geringe  Exzentrizität  für  unwahrscheinlich, 
so  findet  man  vielleicht  das  folgende  Elementensystem,  das  im  übrigen 
gewissermafsen  die  Mitte  der  angeführten  hält,  als  das  annehmbarste: 


Länge  des  Knotens  =  70° 

Neigung  =  2 

Länge  der  Sonnennähe  =  150 

log  kleiner  Abstand  =  9,980 

log  Exzentrizität  =  9,800 

direkt 


Für  die  Umlaufszeit  in  dieser  Bahn  ergeben  sich  5.13  Jahre. 


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564 


Wäre  die  Länge  der  Sonnennähe  etwa  60°  kleiner  gefunden 
worden,  als  in  den  obigen  Elementen  angegeben  ist,  so  hätte  man 
schwerlich  an  der  Realität  des  Resultates  zweifeln  können,  mithin 
auch  nioht  daran,  dafs  die  Entdeckung  d'Angos'  wirklich  stattgefun- 
den hat;  aber  auch  so  ist  die  Übereinstimmung  mit  den  Elementen 
der  drei  anderen  Bahnen  immerhin  der  Art,  dafs  die  Annahme,  ein 
Komet  sei  wirklich  von  d'Angos  gesehen  worden,  sowie  die  eines 
gemeinsamen  Ursprungs  der  vier  Objekte  plausibel  erscheint.  Ob 
einige  derselben  vielleicht  identisch  sind,  läfst  sioh  nach  Gylden 
gegenwärtig  noch  sehr  schwer  beurteilen. 

Jedoch  mufs  andererseits  eingeräumt  werden,  dafs  die  hypo- 
thetische Annahme  der  sehr' geringen  Inklination  notwendig  zu  einer 
Bahn  führen  mutete,  deren  Dimensionen  von  denen  der  Erdbahn  nicht 
gar  zu  sehr  verschieden  ausfallen.  Die  beobachteten  Breiten  sind 
nämlich  nicht  sehr  gering,  und  führen  daher  —  bei  kleiner  Bahnneigung 
—  zu  geringen  Entfernungen  des  Kometen  von  der  Erde.  Da  ferner  die 
beobachtete  geozentrische  Bewegung  nicht  besonders  grofs  war,  so 
konnte  die  heliozentrische  Bewegung  des  Kometen  von  der  der  Erde 
nioht  sehr  verschieden  gefunden  werden.  Das  obige  Resultat  beweist 
also  im  Grunde  nur  die  Möglichkeit  der  gegebenen  Erklärung,  nicht 
ihre  Notwendigkeit;  aber  auch  auf  dieser  Stufe  der  Modalität  ist  der 
Beweis  nicht  ohne  Interesse.  Sieht  man  nämlich  gänzlich  von  den 
nach  Gylden  sicherlich  apokryphen  Beobachtungen  nach  dem  15.  April 
ab,  von  denen  d'Angos  selbst  nichts  wissen  zu  wollen  schien,  so 
steht  man  vor  der  Entscheidung  der  folgenden  Frage:  kann  man  an- 
nehmen, dafs  d'Angos  am  11.  und  15.  April  1784  ein  kometähnliches 
Objekt  gesehen  und  in  solcher  Weise  beobachtet  habe,  dafs  es  in  eine 
Bahn  verlegt  werden  kann,  die  auf  einen  gemeinsamen  Ursprung  der 
vier  oben  genannten  Kometen  hinweist?  Oder  soll  man  die  Mitteilung 
jener  Entdeckung  als  eine  reine  Erdichtung  ansehen?  Gylden  er- 
scheint es,  als  ob  der  ersteren  Alternative  die  gröTsere  Wahrscheinlich- 
keit zuerkannt  werden  müsse.  Denjenigen  aber,  die  dennoch  an  der  Er- 
dichtung festhalten  wollen,  giebt  der  Stockholmer  Astronom  zu  bedenken, 
dafa,  wenn  auch  diese  ersten  Beobachtungen  erdichtet  worden  sind,  es 
doch  schwer  anzunehmen  ist,  sie  seien  aus  vollkommen  willkürlich  er- 
dichteten Elementen  berechnet  worden.  Denn  die  Elemente  mufsten 
doch  wenigstens  der  Bedingung  genügen,  dars  der  Komet  zu  den  an- 
gegebenen Zeiten  wirklich  sichtbar  war;  ferner  wohl  auch  der,  dafs  der 
Komet  in  einer  Himmelsgegend  anzutreffen  war,  wo  Kometen  zu  der 
betreffenden  Jahreszeit  zu  suchen  waren.  Man  kann  daher  die  Er- 
dichtung der  örter  und  nicht  die  der  Elemente  als  eine  ziemlioh  er- 


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wiesene  Saohe  betrachten,  wenn  man  überhaupt  an  einer  derartigen 
Hypothese  festhalten  will.  Mit  diesen  örtern  und  fingierten  Abständen 
wäre  alsdann  die  bekannte  Bahn  berechnet  worden,  wobei  das  Ver- 
sehen mit  der  Verzehnfaohung  der  Radienvektoren  hätte  gesohehen 
können.  Aber  in  diesem  Falle  beweist  die  gegenstandslose  Bahn  auch 
nicht  das  Mindeste  für  oder  gegen  die  Erdichtung  der  örter,  denn  sie 
hätte  genau  dieselbe  werden  müssen,  ob  die  zwei  örter  erdichtet 
wären  oder  nicht.  Wenn  dem  aber  so  ist,  so  mufs,  schliefst  Gyldön, 
die  Hypothese  der  Erdichtung  als  die  weniger  wahrscheinliche  be- 
zeichnet werden. 

Dies  ist>ine  ausführliche  Darstellung  des  berühmten  Falles.  Es 
geht  daraus  hervor,  dafs  ein  vollständiger  Beweis  für  d'Angos'  an- 
geblichen Betrug  nicht  existiert,  und  dafs  ein  solcher  wegen  des 
Fehlens  jeglichen  authentischen  Materials  wohl  niemals  wird  geliefert 
werden  können.  Auffallend  ist  es  allerdings,  dafs  d'Angos,  wiewohl 
schon  seit  1783  zu  La  Valletta,  doch  erst  am  17.  Juli  1784,  also  volle 
zwei  Monate  naoh  seiner  Kometen-  und  somit  ersten  namhaften 
Entdeckung  überhaupt,  in  den  Orden  aufgenommen  wurde,  obgleioh 
dies  nach  den  Ordensstatuten  schon  gleich  hätte  gesohehen  können. 
Höchstwahrscheinlich  wollte  sich  also  der  Grofsmeister  Rohan  de 
Polduo  erst  selbst  von  der  Tüchtigkeit  d'Angos  überzeugen,  bevor 
er  ihn  zum  Ordensmitgliede  ernannte  und  damit  zugleich  definitiv  in 
den  sicherlich  viel  begehrten  Posten  einsetzte.  Hieraus  könnte  man 
also  auch  auf  einen  möglichen  Betrug  schliefsen,  wenn  man  annimmt 
dafs  d'Angos  die  Probezeit  mittlerweile  zu  lang  wurde,  sich  ihm  aber 
sonst  keine  reellen  Wege  zeigten,  derselben  ein  Ende  zu  machen. 
Rätselhaft  bleibt  es  nun  aber,  warum  dann  die  Nomination  erst  im 
Juli,  wo  also  der  Komet  schon  längst  wieder  verschwunden  war,  vor 
sich  ging.  Andererseits  kann  ja  d'Angos  den  fraglichen  Kometen 
auch  wirklich  am  11.  und  15.  April  1784  beobachtet  haben  und  ledig- 
lich aus  uns  unbekannten  Gründen  von  der  Aufnahme  in  den  Orden 
während  der  ersten  zehn  Monate  seines  Verweilens  zu  La  Valletta 
ferngehalten  worden  sein.  Dann  mufs  man  aber  wohl  annehmen,  dafs 
er  die  Elemente  aus  seinen  Beobachtungen  falsch  berechnet  und  nach- 
träglich nicht  eine  Ephemeride  gerechnet  hatte. 

Aus  alledem  geht  hervor,  dafs  dieser  dunkle  Punkt  in  der  Astro- 
nomie nicht  aufgeklärt  ist,  und  dafs  man  naoh  wie  vor  bezüglich  der 
Glaubwürdigkeit  oder  Unglaub Würdigkeit  der  von  d'Angos  publi- 
zierten Kometbeobachtungen  sehr  vorsichtig  wird  urteilen  müssen. 

—  •         -  — 


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Für  die  Mondtheorie  wichtige  historische  Sonnenfinsternisse. 

Im  1.  Bande  der  Zeitschrift  H.  u.  E.  (Seite  133)  habe  ich  eine 
Darstellung  der  Gründe  zu  geben  versucht,  weshalb  die  uns  in  den 
Annalen  der  Völker  überlieferten  Nachrichten  über  das  Vorfallen  sehr . 
grofser  Sonnenfinsternisse  gegenwärtig  für  unsere  Astronomie  noch 
grofsen  Wert  haben.  Es  wurde  dort  gezeigt,  dafs  der  Mondschatten 
beim  Entsteheu  einer  Sonnenfinsternis  mit  seiner  Spitze  die  Oberfläche 
unserer  Erde  trifft,  und  dafs  infolge  der  Umdrehung  der  Erde  um  sich 
selbst  und  des  Weiterbewegens  des  Mondes  vor  der  Sonne  auf  der 
Erdoberfläche  eine  von  zwei  regelmäßigen  Kurven  begrenzte  Schatten- 
zone entstehen  mufs,  die  je  nach  der  augenblicklichen  Position  der 
drei  in  Betracht  kommenden  Körper  gegen  einander  (nämlich  Sonne, 
Mond,  Erde)  bald  in  diesen,  bald  in  jenen  Gegenden  der  Erde  verläuft. 
Die  Lage  dieser  Schattenzone,  der  Zentralitätszone  der  Finsternis,  ver- 
mögen wir  gegenwärtig,  wo  die  Theorie  der  Bewegung  des  Mondes 
und  der  Erde  (resp.  Sonne)  genau  ausgearbeitet  ist,  für  jede  beliebige, 
wenn  auch  der  Zeit  nach  noch  soweit  zurückliegende  Sonnenfinsternis 
zu  berechnen.  Die  Orte  der  Erde,  über  welche  hinweg  dieser  Rechnung 
nach  die  Zentralitätszone  der  Finsternis  ihren  Weg  nimmt,  müssen 
auch  in  Wirklichkeit  in  dieser  Zone  liegen,  d.  h.  an  diesen  Orten  müssen 
die  merkwürdigen  Erscheinungen,  welche  sich  bei  totalen  Sonnen- 
finsternissen bekanntlich  zeigen,  wahrnehmbar  sein,  und  aufserhalb 
jener  Zone  gelegene  Orte  werden  die  Phase  nicht  total,  sondern  nur 
partiell  sehen.  Die  Übereinstimmung  zwischen  der  berechneten  und 
der  faktischen  Zentralitätszone  der  Sonnenfinsternisse  ist  nun  bei  den 
Finsternissen  unseres  laufenden  Jahrhunderts  und  auch  bei  denen  der 
nächst  zurückliegenden  Jahrhunderte  bis  zum  Mittelalter  hin  eine 
recht  gute.  Wir  schließen  dies  daraus,  dafs  Orte,  von  denen  uns  die 
Chronisten  Totalitätsberichte  überliefert  haben,  wirklich  auch  in  der 
berechneten  Zone  liegen.  Aber  schon  im  früheren  Mittelalter  und  am 
Ausgang  des  Altertums  zeigt  es  sich,  dafs  Differenzen  in  dieser  Be- 
ziehung vorkommen,  indem  manche  Berichte  aus  Orten  die  Totalität 


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melden,  wo  der  Rechnung  nach  keine  solche  voll  eintreten,  höchstens 
die  Phase  stark  partiell  sein  konnte,  und  umgekehrt.  Diese  Ab- 
weichungen werden  auffälliger,  je  mehr  wir  in  die  alte  Zeit,  d.  h.  das 
Altertum,  zurückgehen.  Der  Grund  der  Differenzen  liegt  in  einer  ge- 
wissen Unsicherheit  der  Veränderung  einzelner  Mondbahnelemente  mit 
der  Zeit  Die  gegenwärtige  Mondtheorie  hat  diese  zeitlichen  Ver- 
änderungen der  Gröfsen,  die  in  Rechnung  kommen,  da  sie  auf  rein 
theoretischem  Wege  noch  nicht  festgestellt  werden  konnton,  durch  Ver- 
gleichung  mit  vielen  alten  Beobachtungen  erheblich  verbessert  und 
dadurch  eine  wesentlich  bessere  Darstellung  der  älteren  historischen 
Finsternisse  durch  die  Theorie  erreicht.  Ganz  sind  die  Schwierig- 
keiten, den  Finsternissen  theoretisch  gereoht  zu  werden,  auch  jetzt 
noch  nicht  gehoben.  Wie  man  also  sieht,  besteht  der  Wert  der  alten 
Überlieferungen  über  beobachtete  grofse  Sonnenfinsternisse  darin,  dafs 
diese  Beobachtungen  uns  zu  Hülfe  kommen  und  wir  durch  Benützung 
derselben  unsere  Theorie  verbessern  können. 

Allein  der  Verwendung  dieser  alten  Sonnenfinsternisse  stehen 
vielfach  Hindernisse  entgegen,  einesteils  weil  öfters  wegen  Mangel 
des  Zusammenhanges  der  Überlieferung  ihr  Datum  nicht  zweifellos 
festgelegt  werden  kann,  und  andernteils,  wenn  dies  auch  gelingt,  der 
Beobachtungsort  unsicher  bleibt,  von  welchem  die  Beschreibung  der 
Finsternis  herrührt  Man  hat  deshalb  zur  Verbesserung  der  Mond- 
theorie nur  wenige  Finsternisse  im  Verhältnis  zu  dem  reichhaltigen 
Materiale  der  historischen  verwenden  können;  von  den  alten  waren 
es  besonders  vier,  die  geeignet  schienen  und  darum  öfters  zu  Ver- 
besserungsversuchen herangezogen  wurden :  die  Finsternis  des  Thaies 
(28.  Mai  585  v.  Chr.),  die  während  einer  Schlacht  zwischen  den  Medern 
und  Lydern  vorgefallen  sein  soll,  eine  angeblioh  bei  der  Belagerung 
von  Larissa  (19.  Mai  557  v.  Chr.)  bemerkte,  eine  von  Ennius  be- 
sungene (21.  Juni  400  v.  Chr.),  die  sich  um  Sonnenuntergang  eingestellt 
habe,  und  jene,  welche  den  von  Syrakus  nach  Karthago  segelnden 
Tyrannen  Agathokles  erschreckte  (15.  August  310  v.  Chr.).  Allein 
von  diesen  historischen  Finsternissen  sind  die  zweite  und  dritte  äufserst 
zweifelhaft,  gegen  die  erste  haben  die  Historiker  erhebliche  Einwände 
gemacht  und  nur  die  vierte  kann  unter  gewissen  Einschränkungen  mit 
Nutzen  für  die  Mondtheorie  verwendet  werden.  Da  aus  der  ganzen 
Periode  des  Altertums  kaum  mehr  als  eine  historische  Sonnenfinster- 
nis verwendbar  blieb,  so  erklärt  sich,  dafs  ein  Fortschritt  auf  diesem 
Gebiete  nicht  ohne  weiteres  zu  erreichen  war  und  nur  allmählich  an- 
gebahnt werden  kann.  In  den  letzten  50  Jahren  hat  sich  nun  in 
Deutschland,    namentlich   durch   die  Begründung   der  „Monumenta 


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Germaniae  historioa",  die  Kritik  der  mittelalterlichen  Goschichtsquellen 
zu  einer  gewissermafsen  selbständigen  Hilfswissenschaft  der  historischen 
Forschung  entwickelt.  Ich  wandte  mich  deshalb  1882  diesen  Quellen 
zu  und  konstatierte  daraus  22  mittelalterliche  Finsternisse  (von  71  n.  Chr. 
bis  1386),  welche  die  möglichste  Sicherheit  in  Beziehung  auf  die  Zeit 
und  den  Ort  ihrer  Beobachtung  darbieten.  Aus  diesem  Fundamente 
hauptsächlich  leitete  ich  „empirische  Korrektionen"  der  Mondbahn  ab, 
welche  den  Ersatz  für  jene  bilden  sollten,  die  Oppolzer  provisorisoh 
in  seinen  „Syzygien tafeln  für  den  Mond"  eingeführt  hatte.  Da  mir  in 
meiner  Arbeit  nicht  nur  die  Darstellung  der  mittelalterlichen  historischen 
Finsternisse,  sondern  auch  deren  ungezwungener  Anschlufs  an  die 
wichtigsten  des  Altertums  gelungen,  somit  das  Terrain  für  weitere 
Versuche  geebnet  war,  so  hatte  ich  seit  Jahren  den  Wunsch,  meine 
empirischen  Korrektionen  an  der  ganzen  Reihe  der  alten  Finsternisse, 
von  den  Zeiten  der  Babylonier  herab  bis  zum  Auftreten  der  Annalisten 
im  frühen  Mittelalter,  zu  prüfen.  Diese  Vergleiohung  habe  ich  in 
einem  Werke  ausführen  können,  das  soeben  erschienen  ist,  und  welches 
eingehende  Details  über  die  Sichtbarkeitsverhältnisse  aller  Finsternisse 
bietet,  die  zwischen  900  v.  Chr.  bis  600  n.  Chr.  in  den  Ländern  von  Süd- 
und  Mitteleuropa  bis  zum  Euphrat  und  Tigris  hin  sioh  ereignet  haben 
(Spezieller  Kanon  der  Sonnen-  und  Mondfinsternisse,  Berlin,  Mayer 
u.  Müller,  1899).  In  diesem  Buche  erfahren  sämtliche  historischen 
Finsternisse  (etwa  108)  aus  der  genannten  Zeit  eine  neue  Kritik.  Da 
die  Berechnung  der  Finsternisse  hier  schon  auf  meine  früheren 
Resultate  Rücksicht  nimmt,  und  es  sich  zeigt,  dafe  eine  gleichmäßig 
gute  Darstellung  aller  historischen  Finsternisse  erreioht  worden  ist, 
so  wird  durch  diese  Untersuchung  auch  die  Sachlage  über  die  Brauch- 
barkeit dieser  und  jener  Finsternis  für  die  Mondtheorie  geklärt.  Von  den 
verschiedenen  Resultaten,  die  ich  in  dem  erwähnten  Werke  hierüber 
gegeben  habe,  möchte  ich  deshalb  diejenigen  Finsternisse  hier  anführen 
welche  nach  dem  jetzigen  Stande  der  Reohnung  und  der  historischen 
Kritik  ungefähr  die  meiste  Verläfslichkeit  über  Zeit  und  Beobachtungs- 
ort besitzen  und  der  Mondtheorie  besonders  nützen  können.  Diese> 
Finsternisse  würden  also  dazu  bestimmt  sein,  fernerhin  die  oben  er- 
wähnten vier  früher  in  der  Mondtheorie  verwendeten  zu  verdrängen 
oder  zum  Teil  dooh  deren  Gebrauch  sehr  zu  beschränken.  Es  sind 
folgende: 

Die  erste  ist  jene,  welche  von  dem  Assyriologen  Sohrader  als 
die  vom  15.  Juni  763  v.  Chr.  konstatiert  worden  ist.  In  dem  berühm- 
ten babylonischen  Eponymenkanon  heifst  es:  „Im  Eponymat  des  Pur- 
an-sa-gal-e  Aufstand  in  der  Stadt  Asur.    Im  Monat  Siwan  erlitt  die 


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ötiti 


Sonne  eine  Verfinsterung.-  Der  Eponym  (oberste,  jährlioh  wechselnde 
Beamte)  Pur-an-sa-gal-e  ist  der  54.  Vorgänger  des  Mannu-ki-Assur-li; 
letzterer  aber  war,  wie  historisoh  feststeht,  der  Eponym  des  1 3.  Regie- 
ruDgsjahres  König  Sargons;  dieses  wieder  entspricht,  wie  Thontafel- 
funde mit  Inschriften  belehren,  dem  ersten  Regierungsjahre  Sargons 
als  Königs  von  Babylonien.  Da  nun  aus  dein  Regentenkanon,  den  uns 
Ptolemäus  überliefert  hat,  hervorgeht,  dafs  Sargon  in  Babylonien 
im  Jahre  709  v.  Chr.  zur  Regierung  kam,  so  fällt  die  54  Jahre  vorher 
eingetretene  Finsternis  auf  das  Jahr  763  v.  Chr.  und  zwar,  da  der 
Monat  Siwan  etwa  dem  Juni  entspricht,  auf  die  einzig  in  diesem  Jahre 
mögliche  Sonnenfinsternis  vom  15.  Juni.  Der  Beobachtungsort  ist 
sehr  wahrscheinlich  Ninive,  da  es  sich  um  eine  Art  annalistischer  Auf- 
zeichnung von  dort  handelt.  In  den  Thontafeln  wurden  aber  nur  sehr 
merkwürdige,  Aufsehen  erregende  Ereignisse  vermerkt;  deshalb  ist 
anzunehmen,  dafs  auch  die  Verfinsterung  in  Ninive  sehr  beträchtlich 
gewesen  ist.  Übrigens  ist  auch  einige  Wahrscheinlichkeit  vorhanden, 
dafs  es  sich  hier  gleichzeitig  um  jene  Finsternis  handelt,  von  weloher 
der  Prophet  Arnos  (VIII,  9)  sagt:  „Zur  selbigen  Zeit,  spricht  der  Herr, 
will  ioh  die  Sonne  im  Mittage  untergehen  lassen,  und  die  Erde  am  hellen 
Tage  lassen  finster  werden". 

Die  zweite  fällt  auf  den  24.  November  29  n.  Chr.  Phlegon, 
ein  Freigelassener  des  Hadrian,  schrieb  eine  Geschichte  der  ersten 
229  Olympiaden.  Es  sind  nur  Bruohstücke  seines  grofsen  Werkes 
vorhanden.  Der  Bisohof  Eusebios  von  Casarea  in  Palästina  (314 
bis  340  n.  Chr.)  zitiert  nun  in  seiner  Kirchengeschichte  eine  Stelle 
aus  dem  Phlegonsohen  Werke.  Dort  sei  eine  Sonnenfinsternis  im 
4.  Jahre  der  202.  Olympiade  verzeichnet,  welche  derart  bedeutend  ge- 
wesen sei,  dafs  es  in  der  sechsten  Tagesstunde  Nacht  geworden  und 
die  Sterne  sioh  gezeigt  hätten;  und  Nicäa  sei  gleichzeitig  durch  ein 
ungeheures  Erdbeben  zerstört  worden.  Eusebios  bringt  diese  Stelle 
mit  dem  biblischen  Beriohte  zusammen,  wonach  auch  bei  der  Kreuzi- 
gung Christi  die  Sonne  erlosch  und  ein  Erdbeben  sioh  ereignete,  und 
meint,  in  der  Phlegonsohen  Finsternis  eine  Bestätigung  der  Bibel 
zu  sehen;  in  dieser  Annahme  sind  ihm  auch  mehrere  spätere  Kirchen- 
väter und  Chronographen  des  Orients  gefolgt  Die  historisohe  Kritik 
hat  aber  sohon  lange  gezeigt,  dafs  sioh  die  Phlegon  sehe  Finsternis 
nicht  für  die  bei  Christi  Tod  ausgeben  läfst.  Die  Phlegonsche 
Finsternis  kann  nur  am  24.  November  29  n.  Chr.  stattgefunden  haben, 
und  die  Jahrangabe  bei  Phlegon  ist  nach  der  Zeitrechnungsweise 
der  orientalischen  Chronographen  (um  zwei  Jahre  früher  als  naoh  der 
gewöhnlichen  Olympiadenzählung)  zu  verstehen.   Der  Beobaohtungsort 


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570 


ist  höchst  wahrscheinlich  Nicäa  selbst  (damals  der  Hauptort  in  der 
Entwickelung  des  Christentums  in  Kleinasien),  oder  wenigstens  die 
Provinz  Bithynien.  Phlegon  hat  die  Nachricht  von  der  Finsternis 
entweder  aus  einer  nicäischen  kirchengeschichtlichen  Notiz,  oder  er 
ist  durch  eine  Überlieferung  aus  seiner  Heimat  Tralles,  wo  die  Finsternis 
ebenfalls  noch  sehr  auffällig  gewesen  sein  mufs,  auf  den  Gegenstand 
aufmerksam  geworden. 

Eine  fernere  wichtige  Sonnenfinsternis  ist  diejenige,  welche 
Plutarch  in  seiner  Schrift  „Vom  Antlitz  in  der  Mondscheibe"  er- 
wähnt: „Diese  (neuliche)  Sonnenfinsternis  hat  gleich  nach  Mittag  be- 
gonnen, viele  Sterne  an  vielen  Punkten  des  Himmels  siohtbar  ge- 
maoht  und  der  Luft  eine  Färbung  gleich  der  Dämmerung  verliehen." 
Nach  der  eingehenden  Untersuchung  Pomtows  über  die  Biographie 
Plutarchs  ist  der  griechische  Philosoph  45  n.  Chr.  geboren;  er  ent- 
stammte einer  angesehenen  und  verbreiteten  Familie,  deren  Glieder 
in  und  um  Chäronea  lebten.  Die  Schrift,  in  welcher  die  Finsternis 
erwähnt  wird,  ist  jedenfalls  eine  Jugendschrift,  denn  Plutarch  spricht 
in  derselben  zu  seinen  philosophischen  Genossen,  d.  h.  den  Jüng- 
lingen, mit  denen  er  studierte.  Ferner  ist  sicher,  dafs  er  zur  Zeit, 
als  Nero  in  Griechenland  war,  d.  h.  66/67  n.  Chr.,  mit  seinem  Lehrer 
Ammonius  in  Delphi  sich  befand,  damals  etwa  20  Jahre  alt  war, 
und  sich  mit  anderen  in  Delphi  philosophischen  Betrachtungen  hin- 
gab; er  bereitete  sich  dort  auch  für  das  Priesteramt  vor.  In  diese 
Zeit  des  Lehrens  und  Lernens  fällt  die  für  Delphi  und  Chäronea 
totale,  um  11  Uhr  vormittags  eingetretene  Sonnenfinsternis  vom  20.  März 
71  n.  Chr.  Plutarch  war  26  Jahre  alt,  als  er  sie  selbst  beobachtete, 
und  der  Eindruck,  den  sie  auf  ihn  machte,  gab  Veranlassung  zu  seinen 
auch  heute  noch  interessanten  und  lesenswerten  Betrachtungen  über 
das  Gesicht  in  der  Mondscheibe. 

Völlig  bestimmt  der  Zeit  und  dem  Orte  der  Beobachtung  nach 
ist  endlich  die  totale  Sonnenfinsternis,  welche  Marin  us  in  der  Bio- 
graphie seines  Lehrers  Proolus  beschreibt.  Proclus  (geboren 
412  n.  Chr.  zu  Byzantium)  war  Lehrer  der  Philosophie  zu  Athen  und 
als  Philosoph  wie  als  Mensch  gleich  hervorragend.  Er  soll  von 
musterhafter  Sittenreinheit  und  Charaktergröfse  gewesen  sein.  Ma- 
rinus,  sein  Schüler  und  Nachfolger  auf  dem  Lehrstuhl  der  Philo- 
sophie, verherrlicht  darum  in  der  Lebensbeschreibung  den  weisen 
Proolus.  Bei  der  Erzählung  vom  Tode  des  Proclus  erwähnt  Ma- 
ri nus  als  ein  Vorzeichen,  wie  solohe  dem  Hingange  außerordentlicher 
Menschen  immer  vorangingen,  dafs  „vor  dem  Jahre  seines  Todes 
eine  solche  Sonnenfinsternis  eintrat,  dafs  es  bei  Tage  Nacht  wurde, 


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571 


denn  ein  tiefes  Dunkel  entstand  und  Sterne  wurden  sichtbar".  Das 
Todesjahr  des  Proelus,  485  n.  Chr.  zu  Athen,  ist  sicher  und  wird 
auch  von  Marinus  selbst  angegeben.  Da  in  der  Beschreibung  noch 
hinzugefügt  ist,  dafs  sich  die  Sonnenfinsternis  im  Zeichen  des  Stein- 
bockes (Dezember-Januar)  und  zwar  am  „östlichen  Himmel"  (d.  h. 
früh)  ereignet  habe,  so  ist  die  Finsternis  zweifellos  sofort  feststellbar: 
es  ist  die  am  14.  Januar  484  n.  Chr.  bald  nach  Sonnenaufgang  für 
Athen  total  eingetretene  Sonnenfinsternis. 

Diese  vier  angeführten  historischen  Sonnenfinsternisse  dürften 
derzeit  die  brauchbarsten  für  die  Mondtheorie  sein,  da  sich  Zeit  und 
Ort  so  ziemlich  bei  allen  ohne  Zweifel  festsetzen  liefson.  Ich  glaubte 
dieselben  deshalb  und  auch  darum,  weil  sie  vielleicht  weitere  Kreise 
interessieren,  erwähnen  zu  sollen.  Es  hat  sich  noch  eine  Reihe  ander- 
weitiger historischer  Sonnenfinsternisse  gefunden,  bei  denen  die  Brauch- 
barkeit aber  keine  so  unmittelbare  ist  Hierauf  einzugehen,  über- 
schreitet jedoch  die  Form  einor  populären  Mitteilung.  Interessenten 
finden  näheres  hierüber  in  meinem  Buche.  F.  K.  Ginzel. 

$ 

Protuberanzenhöhe  und  Sonnenfleckenperiode.  Fenyi  in  Ka- 
locsa,  einer  der  eifrigsten  Protuberanzenbeobachter  der  Gegenwart,  hat 
auf  der  im  vergangenen  Jahre  zu  Budapest  abgehaltenen  Astronomen- 
Versammlung  einige  Ergebnisse  seiner  bereits  seit  13  Jahren  ununter- 
brochen fortgesetzten  Messungen  über  die  Höhe  der  Protuberanzen 
bekannt  gemacht.  Die  maximalen,  in  den  verschiedenen  Jahren  von 
den  gesehenen  Protuberanzen  erreichten  Höhen  waren  die  folgenden: 


Datum 

Gemessene  Höhe 

Heliographische 
Breite 

1886,  November  27.     .  . 

212" 

-26° 

1887,  Juli  1  

165 

-  6 

1888,  September  6.  .    .  . 

158 

-  15 

1889,  November  3.   .    .  . 

203 

+  35 

1890,  August  15  

323 

4-41 

1891,  September  10.     .  . 

358 

+  29 

531 

-30 

181)3,  September  20.     .  . 

691 

+  2 

1SD4,  Dezember  24.  .   .  . 

661 

—  30 

1895,  September  30.     .  . 

6S8 

+  29 

106 

-16 

1897,  Juni  1h  

196 

—  '22 

1898,  Mai  23  

197 

+  40 

Bei  Betrachtung  dieser  Zusammenstellung  fällt  der  Parallelismus 
in  den  Schwankungen  der  Maximalhöhen  mit  dem  Wechsel  derFlecken- 


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häufigkeit  ins  Auge,  wenn  man  beachtet,  dafs  ein  Sonnenfleokenmini- 
mum  Anfang  1887,  ein  Maximum  aber  im  Januar  1894  stattgefunden 
hat  Da  auch  im  Jahre  1898  bis  zum  September  bereits  eine  Protu- 
beranz  von  197"  Höhe*)  erschienen  ist,  glaubte  Fenyi  die  Vermutung 
aussprechen  zu  dürfen,  dafs  das  Minimum  der  Sonnenthätigkeit  bereits 
wieder  vorüber  sei,  worauf  ja  auch  das  Erscheinen  des  grofeen  von 
Nordlicht  begleiteten  September-Sonnenflecks  schliefsen  läfst. 

Die  heliographischen  Breiten,  in  welohen  die  hohen  Protube- 
ranzen beobachtet  wurden,  sind  ziemlich  regellos  verteilt  und  lassen 
nur  erkennen,  dafs  sich  diese  merkwürdigen  Phänomene  auf  geringere 
Entfernungen  vom  Sonnenäquator  beschränken,  während  kleinere  Pro- 
tuberanzen mitunter  auch  in  den  polaren  Gebieten  beobachtet  werden. 

Natürlich  besitzt  die  Frage,  ob  diese  Flammenausbrüche  in  Wirk- 
lichkeit aus  bis  zu  solch  enormen  Höhen  emporgesohleuderter  Materie 
bestehen  oder  vielleicht  nur  fortschreitende  Explosionen  in  einer  ver- 
hältnismärsig  ruhigen  Sonnenatmosphäre  sein  mögen,  auch  für  den 
stetigen  Beobachter  dieser  Gebilde  das  gröfste  Interesse.  Darum  hat 
F6nyi,  gestützt  auf  die  Untersuchungen  von  A.  Schmidt,  eine  Be- 
rechnung der  höchsten,  noch  möglicherweise  annehmbaren  Diohtigkeit 
der  den  Sonnenball  umgebenden  Wasserstoffatmosphäre  in  der  Höhe 
der  Protuberanzen  angestellt.  Er  gelangte  zu  dem  Resultat,  dafs 
diese  Dichtigkeit  schon  in  der  Höhe  der  untersten  Teile  der  Protu- 
beranzen völlig  gleioh  Null  zu  setzen  ist,  so  dafs  die  als  Protuberanzen 
uns  sichtbar  werdenden  Gasmassen  als  thatsächlioh  in  den  gänzlich  leeren 
Weltraum  geschleudert  angesehen  werden  müssen.  Auf  Grund  dieser 
Rechnung  glaubt  Fenyi  die  neueren  Protuberanzen-Erklärungen  von 
Brest  er  u.  a.  als  unzulässig  bezeichnen  zu  dürfen.  F.  Kbr. 

$ 

Die  Schwankungen  der  Spitze  des  Eiffelturms  sind  jüngst  von 
Oberst  Bassot  auf  trigonometrischem  Wege  eine  längere  Zeit  hindurch 
verfolgt  worden.  In  dem  über  diese  Untersuchung  abgestatteten  Be- 
richte**) wird  mitgeteilt,  dafs  sowohl  bei  Tage  als  auch  bei  Nacht  eine 
Ruhezeit  eintritt,  während  um  die  Zeit  des  Sonnen-Auf-  und  Unter- 
ganges die  Bewegungen  am  stärksten  sind.  Dies  entspricht  vollständig 
dem  Gange  der  Temperatur  und  zeigt,  dafs  die  übrigens  dem  Botrage 
nach  geringfügigen,  zwischen  3  cm  und  11  cm  schwankenden  Ver- 

*)  Einer  scheinbaren  Höhe  von  100"  entspricht  eine  wahre  Erhebung  von 
rund  10000  geographischen  Meilen  über  das  Niveau  der  Photosphäre. 
••)  Comptes  rendua,  1897,  Seite  903. 


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sohiebungen  lediglich  auf  die  ungleiche  Erwärmung  der  Eisen- 
konstruktion durch  die  Sonnenstrahlen  zurückzuführen  sind.  Ent- 
sprechend dem  wechselnden  Stande  der  Sonne  neigt  auch  die  Turm- 
spitze je  nach  der  Tageszeit  nach  verschiedenen  Himmelsrichtungen. 
Soll  daher  der  Eiffelturm  als  geodätisches  Signal  benutzt  werden,  so 
müssen  bei  Messungen  von  hoher  Genauigkeit  gewisse  Vorsichts- 
mafsregeln  zur  Anwendung  kommen,  wie  sie  in  der  praktischen 
Geodäsie  auch  bei  Holzpfeilern  im  Gebrauch  sind.  F.  Kbr. 


Hann,  Hochstetter  nnd  Pokorny:  Allgemeine  Erdkunde.  Fünfte, 
neu  bearbeitete  Auflage  von  Hann,  Brückner  und  Kirchhoff. 
III.  Abt.  Pflanzen-  und  Tierverbreitung  von  A.  Kirchhoff.  Mit  157 
Abbildungen  und  3  Karten.  Wien,  F.  Tempsky,  1899.  Gr.  8°  XII, 
324  S. 

Die  beste  Empfehlung  eines  Werkes  ist  sein  Wiedererscheinen  in  wieder- 
holten Auflagen.  Das  vorliegende  Werk  erfreut  sich  seiner  fünften  Neugeburt, 
und  mit  dieser  Thatsache  könnten  wir  es  dem  Interesse  unserer  Leser  ohne 
jegliches  Beiwort  empfohlen  halten.  Wenn  wir  hier  eine  kurze  Besprechung 
nicht  unterdrücken,  so  zwingt  uns  dazu  die  Neugestaltung,  welche  das  Werk 
aus  berufener  Feder  erhalten  hat.  Wie  der  Autor  selbst  hervorhebt,  soll  die 
Neubearbeitung  vor  allem  mehr  dem  Geographen  gerecht  werden,  weshalb 
Abschweifungen  in  das  rein  naturgeschichtliche  Gebiet  vermieden  sind.  Aus 
demselben  Grunde  ist  auch  der  völkerkundliche  Anhang  der  früheren  Auflagen 
in  Wegfall  gekommen.  Dagegen  ist  die  frühere  katalogartige  Übersicht  Uber 
die  pflanzen-  und  tiergeographischen  Sonderbezirke  zu  einer  textlich  zusammen- 
hängenden Darstellung  ausgearbeitet  worden,  der  nach  unserem  Urteile  freilich 
noch  manchmal  eine  kaleidoskopische  Aneinanderreihung  der  Thatsachen 
anhaftet.  Ausgeglichen  wird  dieser  gewifs  nicht  leicht  zu  überwindende 
Mangel  durch  die  vielen,  trefflichen  Abbildungen,  denen  zu  Liebe  andererseits, 
um  den  Preis  des  Werkes  nicht  zu  erhöhen,  auf  die  in  älteren  Auflagen  ge- 
brachten Farben- Drucktafeln  verzichtet  werden  mufste.  Unter  den  neuen 
Illustrationen  ist  uns  nur  eine  Inkorrektheit  aufgefallen.  Als  „Jerichorose" 
wird  im  Texte,  wie  es  üblich  ist,  die  Crucifere  Anastatica  hierochuntica 
aufgeführt,  die  zugehörige  Abbildung  zeigt  aber  eine  durch  ähnliche  hygro- 
skopische (wie  Asche  reo  Ii  es  nennt:  hygrochastische)  Eigenheiten  gekenn- 
zeichnete „Jerichorose",  die  Komposite  Asteriscus  pygmaeus.  Dem  Geo- 
graphen und  Nichtbotaniker  wird  man  diesen  Lapsus  gern  verzeihen,  um  so 
mehr,  als  dadurch  der  Trefflichkeit  des  ganzen  Werkes  keinerlei  Abbruch 
gethan  werden  kann.  Möchte  das  Buch  auch  im  neuen  Gewände  zahlreiche 
Freunde  finden!  C  M. 


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Eder,  J.  M.:  Jahrbuch  für  Photographie  und  Reproduktionstechnik 

für  das  Jahr  1899.  Halle,  W.  Knapp,  1899.  VIII,  680  S.  mit  ltt 
Abbildungen  im  Text  und  39  Kunstbeilagen.   Preis:  8.—  M. 

Der  dreizehnte  Jahrgang  dieser  wichtigen  Veröffentlichung  reiht  sich 
seinen  Vorgängern  in  würdiger  Weise  an  und  wird  durch  seinen  roichen  In- 
halt jedermann  völlig  befriedigen. 

Die  Anordnung  des  Stoffes  ist  dieselbe  wie  früher.  Kurze  Original- 
Beiträge  aus  den  verschiedensten  Gebieten  der  photographischen  Wissenschaft 
und  Technik  füllen  fast  400  Seiton;  es  folgt  der  über  200  Seiten  starke,  sehr 
übersichtlich  angeordnete  Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der  Photographie 
und  Reproduktionstechnik,  sowie  ein  Anhang  über  Patente  und  Litteratur.  Die 
Illustrationstafeln  gewähren  schon  an  sich  einen  interessanten  und  lehrreichen 
Einblick  in  die  moderne  Photographie  und  bilden  aufserdem  ein  beredtes 
Zeugnis  für  die  Leistungsfähigkeit  der  Verlagsanstalt.  Sg. 

Anleitung  zum  Bau  elektrischer  Hanstelegraphen-,  Telephon*  und 
Blitzableiteranlagen.  Herausgegeben  von  der  Aktiongesellschaft 
Mix  &  Genest,  Berlin,  mit  581  Abbildungen.  Fünfte  erweiterte  Auf- 
lage 1899. 

Dem  neuen  Katalog,  welchen  die  genannte  Firma  zu  Anfang  d.  J.  ver- 
sandte, ist  nun  auch  das  Lehrbuch  gefolgt.  Dasselbe  enthält  die  ausführlichen 
Beschreibungen  der  Konstruktionen  aller  Apparate,  sowie  die  erforderlichen 
Instruktionen  für  die  Montage  und  viele  praktische  Winke  für  den  Betrieb 
derselben. 

In  der  freigebigsten  Weise  sind  die  Ergebnisse  mühevoller  Arbeit  in 
diesem  Work  der  Allgemeinheit  mitgeteilt  und  die  wichtigsten  Abbildungen 
noch  durch  Werkzeichnungen,  Schnitte  und  schematische  Darstellungen  dor 
Stromläufe  erläutert.  Die  grofse  Zahl  der  Fabrikate  ist  inzwischen  noch  durch 
Hinzufügung  verschiedener  Neuheiten  gewachsen,  von  denen  die  Motorwecker, 
die  Beutel-Briquett-Elemente,  die  Registrierwerke  und  Feuermelder  besonderes 
Interesse  verdienen. 

Sowohl  durch  die  Reichhaltigkeit  des  Inhaltes,  als  auch  durch  die  ge- 
diegene Ausstattung  hat  sich  die  „Anleitung*  zu  einem  stattlichen  Werk  ent- 
wickelt, welches  auf  428  Seiten  581  Abbildungen  enthält.  Dor  Toxt  ist  möglichst 
klar  und  allgemein  verständlich  gehalten,  so  dafs  das  Buch  allen,  die  sich  für 
die  Fortschritte  der  Schwachstromtechnik  interessieren,  auch  wenn  solche  nicht 
zu  den  Fachleuten  zählen,  empfohlen  worden  kann;  den  Installateuren  wird  ea 
aber  ein  nützliches  Hilfsmittel  bei  Herstellung  moderner  Anlagen  sein.  S. 


Verzeichnis  der  der  Redaktion  zur  Besprechung  eingesandten  Bücher. 

Annales  de  l'observatoire  de  Nice  publikes  sous  les  auspices  du  bureau  des 
longitudes  par  M.  Porrotin.   Tome  I  mit  Atlas   Paris,  Gauthier-Villars, 
Impriraeur-Libraire,  189!». 
Bachs,  M.,  Flora  dor  Rheinprovinz  und  der  angrenzenden  Länder.  P.  Caapari, 
die  Gefäfspflanzen.  Dritte,  gänzlich  neubearbeitete  Auflage  des  Taschen- 
buches.   Paderborn,  Ferd.  Schöniugh,  1899. 
Bibliotheque  Litteraire  de  Vulgarisation  Sciontifique: 
No.  7:  Paul  Ginosty,  La  vie  d'uu  Tht-atre. 
No.  8:  Fr.  Loliee,  Tableau  de  l'histoire  litteraire  du  monde. 
No.  9:  Dr.  Michaut,  Pour  devenir  medocin. 
No.  10:  Dr.  J.  de  Fontenelle,  Les  microbeB  et  la  mort. 


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r>75 


No.  II:  M.  Griveau,  Les  feux  et  les  eaux.  Paris,  Schleicher  Frerea,  editeure. 

Blochmann,  R.,  Luft,  Wasser,  Licht  und  Wärme  (Aua  Natur  und  Geistes- 
welt, Sammlung  wissenschaftlich-gemeinverständlicher  Darstellungen  aus 
allon  Gobieten  des  Wissens).  Leipzig,  B.  G.  Teubner,  1898. 

Brückner,  Ed.,  Allgemeine  Brdkunde,  Abteilung  II.  Die  feste  Erdrinde  und 
ihre  Formen.   Wien,  F.  Tempsky,  1898. 

Brunner,  K.,  Die  steinzeitliche  Keramik  in  der  Mark  Brandenburg.  Braun- 
schweig.   Vieweg  &  Sohn,  1898. 

Eder,  J.  M.,  Jahrbuch  der  Photographie  und  Reproduktionstechnik  für  das 
Jahr  1899.   Halle  a./S.,  Wilhelm  Knapp,  1899. 

Fitzner,  R,  Der  Kagera-Nil.  Ein  Beitrag  zur  Physiographie  Deutsch-Ost- 
afrikas.    Berlin,  Alfred  Schall,  1898. 

Frese,  A.,  Rügens  Kreideformation.   Sassnitz  a.R.,  Ferd.  Becker,  1896. 

FritzBch.  M.,  Über  Gletscherbeobachtungen.  Wien,  Verlag  des  deutschen 
und  österreichischen  Alpenvereins,  1898. 

Gessmann,  U.  W.,  Die  Pilanze  im  Zauborglauben.  Wien,  Hartlebens  Verlag, 
1899. 

Grunmach,  L,  Die  physikalischen  Erscheinungen  und  Kräfte.  Leipzig,  Otto 
Spamer,  18!)'.). 

Ilaaoke,  W.,  Bau  und  Leben  des  Tieres  (Aus  Natur  und  Geisteswelt,  Samm- 
lung wissenschaftlich-gemeinverständlicher  Darstellungen  aus  allen  Ge- 
bieten des  Wissens.)  Leipzig,  B.  G.  Teubner,  1899. 

Hildebrand,  Hildebrandson,  Bulletin  mensuel  de  l'obsorvatoiro  ra<Heoro- 
logique  de  J'universit£  d'Upsal.  Vol.  XXX.  Upsal,  Edv.  Beding,  1898/99. 

Jahr,  E.,  Die  Urkraft  der  Welt.    Berlin,  Otto  Enslin,  1899. 

Kost  er  sitz,  K.,  Eine  Sternwarte  auf  dem  Schneeberg.  Wien,  Manz'scher 
Verlag,  1899. 

Lang,  O.,  Kalisalzlager.  Mit  4  Abbildungen.    Berlin,  Ferd.  Dümmler,  1899. 
LeisB,  C,   Die  optischen  Instrumente  der  Firma  R.  Fuefs.    Leipzig,  Wilh. 
Engolmann,  1899. 

Lohmann,  H.,   Über  Höhlenois.    Wien,  Verlag  des  deutschen  und  öster- 
reichischen Alj)envereins,  1 898. 
Maas,  G.,  über  Thalbildungen  in  der  Gegend  von  Posen.    Berlin,  1899. 
Mohn,  H.,  Das  Hypsomoter  als  Luftdruckmesser  und  seine  Anwendung  zur 

Bestimmung  der  Schwerekorrektion.    Christiania,  Jacob  Dybwad,  1899. 
Naturwissenschaftliche  Sammlungen.    E.  Bade,  Das  Sammeln,  Pflegen 

und  Präparieren  von  Naturkörpern.    Berlin,  Horm.  Walther,  1899. 
Niesten,  L.,  Bulletin  Mensuel  du  Magn6tisme  torrostre  de  l'observatoire  royal 

de  Belgique.  Januar.  Februar,  März.  Bruxelles,  Hayez,  Imp.  de  l'academie 

royale  de  Belgiquc,  1899. 
Petkosek,  Joh.,  Die  Erdgeschichte  Niedor-Österreichs.   Mit  122  Abbildungen 

und  einer  Karte.    Wien,  Hartlebens  Verlag,  189J. 
Recknagel,  M.  P.,  Kurzgefafste  populäre  Sternkunde.    München,  J.  J.  Lout- 

nersche  Buchhandlung,  18;)8. 
Schenk,  F.,  Physiologische  Charakteristik  der  Zelle.    Würzburg,  A.  Stuber. 

1899. 

Schultz,  Carl,  Die  Ursachen  der  Wettervorgänge.  Neuerungen  und  Er- 
gänzungen zum  Weiterbau  der  meteorologischen  Theorien.  Wien,  Hart- 
lebens Verlag,  1899. 

Sonnblick-Verein,  Siebenter  Jahresbericht  für  das  Jahr  1898.    Wien,  1899. 

Svenska  Vetenskaps-Akademiens  Handlingar,  Band  30  u.  31: 
No.  1:  Hamberg,  H.  E.,    La  pression  atmospheVique   moyenne  en  Suede 
18«) -1895. 


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No.  2:  Ekholm,  N.  u.  Arrhenius,  8.,  Über  den  Einflute  des  Mondes  auf  die 
Polarlichter  und  Gewitter. 

No.  3:  Ekholm,  N.  u.  Arrhenius,  S.,  Über  die  nahezu  26tägige  Periode  der 
Polarlichter  und  Gewitter.   Stockholm,  1898. 

No.  4:  Rubenson,  R.  Etudes  sur  diverses  ra&hodes  servant  a  calculer  la 
moyenne  diurne  de  la  temperature. 
Thompson,  8.,  Die  dynamoelektrischen  Maschinen.  Ein  Handbuch  für  Stu- 
dierende der  Elektrotechnik.  Sechste  Auflage.  Nach  C.  Crawinkels  Über- 
setzung neu  bearbeitet  von  K.  Strecker  und  F.  Vesper.  Heft  1.  Halle  a./S., 
Wilh.  Knapp,  1898. 

Valenta,  Ed.,  Photographische  Chemie  und  Chemikalienkunde  mit  Berück- 
sichtigung der  Bedürfnisse  der  graphischen  Druckgewerbe.    II.  Teil: 
Organische  Chemie.   Halle  a./S.,  Wilh.  Knapp,  1899. 
Veröffentlichungen  des  Hydrographischen  Amtes  der  Kaiserl.  und  Königl. 
Kriegs  -  Marine  in  Pola: 
Gruppe  H:  Jahrbuch  der  meteorologischen  und  erdmagnetischen  Beobach- 
tungen.  Neue  Folge,  III.  Band,  Beobachtungen  des  Jahres  1898. 
Gruppe  HI:   Relative  Schwerebestimmungen  durch  Pendelbeobachtungen. 
II.  Heft. 

Gruppe  IV:  Erdmagnetische  Reise  -  Beobachtungen.  H.  Heft.  Pola,  Comm.- 
Verlag  von  Gerold  &  Comp,  in  Wien,  1898. 

Veröffentlichungen  des  Königlichen  Astronomischen  Rechen -Instituts  zu 
Berlin  No.  10.  J.  Bausch  in  ger,  Genäherte  Oppositions-Ephemeriden  von 
32  kleinen  Planeten  für  1899,  Juli  bis  Dezember.  Unter  Mitwirkung 
mehrerer  Astronomen,  insbesondere  der  Herren  A.  Berberich  und  P.  Neu- 
gebauer.  Berlin,  Ferd.  Dümmlers  Verlag,  1899. 

Vogel,  E.,  Taschenbuch  der  praktischen  Photographie,  6.  Auflage.  Berlin, 
Gustav  Schmidt,  1899. 

Zenger,  K.  W.,  Die  Meteorologie  der  Sonne  und  das  Wetter  im  Jahre  1899. 
Zugleich  Wetterprognose  für  das  Jahr  1899.   Prag,  1899. 


Vorlag:  Hmui  Peetel  In  Berlin.  —  Drnck:  Wilhelm  Oronni't  Bnehdraekerei  in  Berlin  -  Schoneberg 
Pflr  die  Redmetion  Teraat  wortlieh :  Dr.  P.  Schwab n  in  Berlin. 
Unberechtigter  Neehdrnek  na«  den  Inhalt  dieser  Zeitschrift  inUmft. 


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