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Full text of "Geschichte der Musik"

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Geschichte  der  Musik 


August  Wilhelm  Ambros.  Gustav  Nottebohm,  B.  von  Sokolowsky,  Carl 
Ferdinand  Becker.  Heinrich  Reimann.  Otto  Kade.  Hugo  Leichtentritt 


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HARVARD 
COLLEGE 
LIBRARY 


MUSIC  LIBRARY 


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Geschichte  der  Musik 

von 

Aapst  Wilhelm  Ambros. 


Mit  zahlreichen  Notenbeispielen  und  Musikbeilagen. 
Zweite  verbesserte  Auflage. 


Vierter  Band. 


Leipzig,  Verlag  von  F.  E.  C.  Leuckart 

(Constantin  Sander). 

1881. 


"tt^uo  /V  0  .  1.3 


Der  Verfasser  behält  sieb  das  Hecht  der  Uebersetsnng  in  fremde  Sprachen  vor. 


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Ihrer  kaiserlichen  und  königlichen  Hoheit 


der  Durchlauchtigsten  Frau  Erzherzogin 


MARIA  THERESIA 


Infantin  von  Portugal 


Digiti 


der  Hochherzigen  Beschützerin  kirchlicher  Tonkunst 


in  tiefster  Ehrfurcht  und  Dankbarkeit 


gewidmet  von 


August  Wilhelm  Ambros. 


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Vorwort. 

Das  vorliegende  Werk  ist,  wie  schon  auf  dem  Titel  ange- 
deutet ist,  Fragment  geblieben.  Der  Verfasser  ist  über  der 
Arbeit  gestorben.  Es  kann  uns  nicht  die  Aufgabe  zufallen 
noch  steht  es  uns  zu,  die  Ziele  und  Gesichtspunkte,  welche 
Ambros  bei  der  Abfassung  dieses  Bandes  im  Auge  hatte  und 
von  denen  er  sich  leiten  liess,  darzulegen.  Wer  sich  darüber 
unterrichten  will,  findet  hinreichende  Andeutungen  in  den  Vor- 
reden der  vorhergehenden  Bände.  Wohl  aber  ist  hier  der  Ort, 
einiges  über  den  Stand  des  Manuscriptes  und  über  die  Wieder- 
gabe desselben  zu  sagen. 

Das  Fragmentarische  macht  sich  an  manchen  Stellen 
und  sowohl  im  Verlauf  längerer  Abschnitte  als  innerhalb  ein- 
zelner Sätze  und  Notenbeispiele  bemerkbar.  Nach  Stellen,  die 
im  Manuscript  offenbar  zur  späteren  Ausfüllung  leer  geblieben 
sind,  lassen  sich  beispielsweise  Lücken  in  den  Abschnitten, 
wo  über  Antonio  Bruneiii  und  Zarlino  die  Rede  ist,  bezeich- 
nen 1).  Der  aufmerksame  Leser  wird  diese  und  andere  im 
Text  vorkommende  Lücken  selbst  gewahren.  Unvollständige 
Notenbeispiele  finden  sich  Seite  333,  334,  371  (in  der  An- 


1)  Seite  331  zwischen  Zeile  4  und  5  und  8.  417  zwischen  Z.  25 
und  26. 


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ym  Vorwort. 

merkung),  374  u.  8.  w.  Ohne  Zweifel  würde  der  Verfasser, 
wenn  er  länger  gelebt  hätte,  die  Lücken  ausgefüllt  und  auch 
manches  umgearbeitet  haben.  Bei  der  Herausgabe  des  Werkes 
jedoch  kam  es  darauf  an,  dessen  fragmentarische  Beschaffenheit 
zü  bewahren  und  im  Text  nur  da  einen  Zusatz  zu  machen,  wo 
es  des  Verständnisses  wegen  oder  aus  einem  andern  naheliegen- 
den Grunde  durchaus  nöthig  erschien.  Nennenswerthe  Zusätze, 
die  in  diesem  Sinne  bei  der  Herausgabe  gemacht  wurden,  sind: 
S.  175  Z.  17  die  Worte  „Dann  ist  —  zu  nennen44,  S.  210  Z.  20 
die  Worte  „war  etwas  Gewöhnliches44,  S.  215  die  2.  Anmerkung, 
S.  308  Z.  4.  v.  u.  (in  der  2.  Anmerkung)  die  Worte  „quae 
Palilogiis44,  S.  387  Z.  9  bis  6  v.  il  die  Worte  „Grossen  Erfolg'4 
....  bis  „die  Sonne44,  und  S.  442  Z.  1  der  Anmerkung  die 
Worte  „der  Toccaten44.  Von  diesen  Stellen  stehen  übrigens  die 
zweite  und  fünfte  im  Manuscript;  nur  sind  sie  da  mit  Bleistift 
ausgestrichen.  Die  vierte  Stelle  betrifft  ein  Citat,  und  bei  der 
sechsten  ist  im  Manuscript  ein  Raum  zu  späterer  Ausfüllung 
offen  geblieben.  Man  kann  also  bei  den  meisten  von  den 
angeführten  Stellen  nicht  eigentlich  von  Zusätzen  sprechen.  Sie 
lassen  sich  zum  Theil  eben  so  gut  in  Beziehung  bringen  mit 
Erscheinungen,  die  jetzt  noch  zu  erwähnen  sind. 

Ambros  hat  bei  späterer  Durchsicht  des  Manuscriptes  sehr 
viele  Stellen  geändert.  Hierbei  ist  es  geschehen,  dass  Wörter, 
die  der  ersten  Fassung  eines  Satzes  angehören,  aus  Versehen 
stehen  geblieben,  umgekehrt,  dass  Wörter,  die  zur  spätem 
Fassung  eines  Satzes  gehören,  vergessen  sind.  Ein  Eingreifen 
war  nöthig.  Welcher  Art  solche  Stellen  sind,  lässt  sich  aus 
einer  der  vorhin  angeführten  abnehmen.  Welches  Wort  im 
Zusammenhang  fehlte  oder  überflüssig  war,  ergab  sich  meistens 


^ 


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Vorwort.  IX 

aus  einer  Vergleichung  der  verschiedenen  Fassungen.  Erschwert 
wurde  diese  Arbeit  am  meisten  durch  die  Unleserlichkeit  ein- 
zelner Wörter  und  Stellen,  welche  Eigenschaft  sich  übrigens 
auch  auf  andere  Theile  des  Manuscriptes  ausdehnt  und  welcher 
zu  begegnen  die  Benutzung  der  citirten  Werke  oder  das  Ein- 
gehen auf  den  behandelten  Gegenstand  manchmal  das  einzige 
Mittel  war. 

Ausser  den  mit  der  Nichtdruckfertigkeit  zusammenhängen- 
den Mangeln  und  Ungenauigkeiten  enthält  das  Manuscript  auch 
Fehler  im  engsten  Sinne  des  Wortes.    Hier  wurde  nach  der 

♦ 

Ansicht  vorgegangen,  dass  solche  Fehler,  die  als  Schreibfehler 
zu  betrachten  sind  oder  die  der  Verfasser  bei  wiederholter 
Durchsicht  sehr  wahrscheinlich  oder  ohne  Zweifel  selbst  be- 
seitigt haben  wurde,  bei  der  Herausgabe  möglichst  zu  beseitigen 
seien !}?  hingegen  solche,  die  mit  dem  sie  umgebenden  Text 
verwachsen  sind,  stehen  bleiben  müssen2). 


1)  Ein  Theil  der  beim  Druck  geänderten  Stellen  sei  hier  verzeichnet, 
(links  gebe  ich  die  Lesart  des  Manuscriptes,  in  einer  Klammer  daneben 
die  beim  Druck  geänderte  Fassung  an.) 

S.  337  Z.  2  f.:  Vincenti  in  Rom  (Vincenti  in  Venedig) 

„  420  „  3:  grosse  Terz  (kleine  Terz) 

„  420  beim  2.  Notenbeispiel:  nel  modo  retto  (nel  moto  retto) 

„  421  Z.  5  y.  u.  bis  S.  422  Z.  I :  grosse  Terz  (kleine  Terz) 

„  422  „  1:  kleine  (grosse) 

,,  422  im  Notenbeispiel:  gr.  Terz  (kl.  Terz) 

„  422  Z.  8:  kleinen  Terz  (grossen  Terz) 

„  469  „  3:  Mattheson  (Walther) 

„  481  „16:  Paul  Poglietti  (Alexander  Poglietti). 

2)  So  sind  z.  B.  die  S.  417  und  418  stehenden  Notenbeispiele  nicht 
von  O.  Tigrini,  sondern  von  Scipione  Cerretti.  Vgl.  Zacconi's  „Prattica 
di  muaica",  P.  II.  163  ff.  (Das  Beispiel  S.  419  oben  ist  von  Tigrini.)  Die 
S.  454  Z.  6  ff.  v.  u.  erwähnto  Phantasie  (nicht  Capriccio)  ist  nicht  von 
Prescobaldi,  sondern  von  Froberger.   Vgl.  A.  Kircher's  „Musurgia*4  I.  465. 


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X  Vorwort. 

Zu  bemerken  ist  noch,  dass  das  Manuscript  von  der 
Wittwe  des  Verfassers  dem  Verleger  zur  Veröffentlichung  über- 
lassen wurde  und  dass  die  ersten  8  Druckbogen  von  dem  vor 
einiger  Zeit  gestorbenen  verdienstvollen,  früheren  Organisten 
C.  F.  Becker  in  Leipzig,  die  letzten  22  von  dem  Unterzeich- 
neten revidirt  worden  sind.  Dass  das  Druckfehlerverzeichniss 
so  reich  ausgefallen  ist,  wird  der  ein-  und  nachsichtige  Leser 
mit  einigen  vorhin  angedeuteten  Umständen  in  Verbindung  zu 
bringen  wissen. 

Wien,  April  1878. 

O.  Nottebohm. 


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Berichtigungen. 


21 

7 

11 


» 
• 
» 


Seite  4  Zeile  12  v.  u.  ist  statt  Centiphonars  zu  lesen :  Antiphonars 
5 
8 
14 
15 
15 
15 
15 
16 
19 
22 
23 
25 
31 


v.  u.  „ 

V.  0.  , 

V.  U.  , 

9   v.  u.  „ 

8   v.  u.  „ 

7   v.  u.  „ 

6   v.  u.  „ 

6   v.  u.  . 


Lungana 
Scottas 
adantuisset 
Masonium 
adagis 
desumerens 
Agnatam 
Ex 


■ 
* 


Lungara 
Scotto's 
statuisset 
Mutonium 
adegit 
desumerent 
Agnetem 
Et 


sind  Anm.  1  u.  2  mit  einander  verwechselt  worden. 


Zeile  15    v.  u.  ist  statt  faxis 


41 

42 
44 
47 
49 

49 
50 
50 
53 
55 

57 
65 
66 
66 
67 
68 
70 
71 
74 
75 
76 
76 

78 
78 
78 
79 
79 


» 
» 


i 
t 


4 
19 
14 


v.  u.  , 

V.  0.  „ 

V.  0.  , 

8   v.  o.  , 

2   v.  u.  , 

13   y.  o.  „ 

8   v.  o.  . 


zu  lesen:  faxit 

admettait 


w 


■ 
* 
» 

Ii 


Tribularer 
Cori  spezzati 
Petre  indue 
fontem 
coelnm 
Ecce  tu 


admettais 
Tribulares 
Cosi  spuzzati 
Petremdue 
fortem 
coetum 
Eccetu 

Anm.  1  gehört  zu  Seite  48  Zeile  6. 
Zeile  13  v.  u.  muss  die  letzte  Note  (B)  unter  den  letzten 

Ziffern  $  stehen. 
9   v.  u.  ist  statt  vergantique   zu  lesen:  very  antique 
16   v.  u.  ist  das  Komma  vor  ,1a  serva"  zu  streichen. 
11   v.  u.  ist  statt  compunti  vi  zu  lesen:  compuntivi 
21  ist  das  ,,J.'*  vor  „Füippo*  zu  streichen. 
14   v.  u.  ist  statt  Zusammenklingen  zu  lesen:  Znsam- 
menklingens 
ist  statt  Part.  zu  lesen:  Parte 

„      „    kommt         „     „  kramt 
»     *   de  „     ,  di 

v.  u.  ist  das  Komma  nach  „schön"  zu  streichen. 


Zeile  17 
16 
5 
1 


■ 


» 

* 
» 
» 
* 
* 


15   ist  statt  dem 


zu  lesen:  der 


16 
3 
7 
2 

14 


v.  u.  ist  der  Punkt  nach  „rex*  zu  streichen, 
v.  o.  s  statt  Bernardio      zu  lesen:  Bernardin 


v.  u.  , 

v.  u.  , 

V.  0.  , 

11  u.  20  „ 

13  v.  u.  , 


17  v.  o.  , 

13  v.  IL  » 

2  v.  u.  , 

II«  V.  0.  , 

19  v.  o.  , 


den  Meister    „     „  dem  Meister 

S.  ■     ■  lu 

Suffrezia        ,     ,  Suffragia 

Q.  L.  a     «  G.  B. 

den  alten  Grossmeistem  zu  lesen :  dem 
alten  Grossmeister 

Betini  zu  lesen:  Bettini 

Santin'sche     ,     „  Santini'sche 

aperuis  „     „  aperuit 

die  Passion    „     »  der  Passion 

Bott.  .     .  Batt. 


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XII 


Berichtigungen. 


Seite  81 
81 
83 
87 
87 
88 
89 
90 
90 
91 
94 
95 
96 


99 
101 
101 
101 
103 
103 
106 

105 
105 
106 
108 
114 
114 
115 
115 
115 
115 
116 
116 
118 
118 
118 
121 
125 
125 
125 
125 
125 
125 
126 
126 
126 
126 
126 
128 


Zeile 


v.  o.  ist  statt  sex 


v.  u.  , 
v.  u.  , 


6 
21 
7 

8   v.  o.  , 

v.  o.  , 

v.  u.  , 

22   y.  o.  , 

18   v.  o.  , 

¥.  0.  , 

V.  0.  , 


28 
6 


23 
7 


14  v.  o. 
13   v.  u.  , 

15  Y.  o.  „ 


2 

V. 

7 

v. 

n. 

11 

ist  d< 

19 

V. 

0. 

8 

V. 

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V. 

u. 

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V. 

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15 

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3 

V. 

u. 

3 

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u. 

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22 

V. 

n. 

20 

V. 

u. 

11 

V. 

u. 

10 

V. 

u. 

9 

V. 

0. 

10 

V. 

0. 

15 

V. 

0. 

22 

V. 

u. 

15 

V. 

u. 

6 

V. 

n. 

21 

Y. 

u. 

19 

Y. 

u. 

16 

Y. 

n. 

5 

V. 

0. 

15 

V. 

u. 

14 

V. 

n. 

10 

V. 

u. 

6 

V. 

u. 

5 

Y. 

u. 

3 

V. 

n. 

12 

V. 

n. 

8 

Y. 

u. 

7 

Y. 

u. 

3 

V. 

u. 

1 

Y. 

n. 

aportet 
cum 
angelli 
cansando 
Rinuncini 
udiso 
Steffonio 
Ballerus 
gearbeitet 
in 

in  strumen  talis 
Niederschlägen 
schlagen 

seinen  i 
letztern 


zu  lesen: 


sei 

oportet 

aum 

angelli 

cantando 

Rinuccini 

udito 

Stessonio 

Beuerns 

gearbeitet« 

im 

instrumentale 
Wieder- 

seinem 
Letzterm 


dä 
vespero 


nomachieen 
seinen 
Persageppi 
mosto 
Bellabene's 
in 

strengen 
Persageppi 
avanganao 
guiste 
Ligius 
G.  L.  Doni 
a  vera 
den 

Bassparts 
secondi 
zu  dem 
Tremoti 
abwechselnde 
clarissionus 
Pers, 

graziedi,  tri  Iii 
praticale 
G.  L.  Doni 
illuis 
et 


ton4t  zu  streichen. 

Narni 
Persapeggi 

vesperi 

Dämo- 


zn  lesen:  seinem 

Persapeggi 
morto 
Ballabene's 
im 

strengem 
Persapeggi 
avanzando 
giaste 
Livius 
G.  B.  Doni 
averä 
dem 

Bassparte 
secondo 


Tremoli 
abwechselnden 
clarissimns 
Perö 

grazie  di  trilli 
praticate 
G.  B.  Doni 
illins 

etc. 


porro 
talionem 


128 
153 


porra 
tationem 

ist  im  7.  Takt  des  ersten  Notenbeispiels  (im  Worte  -authorera*) 

statt  des  Doppelpunkts  ein  Bindezeichen 
zu  setzen. 

Zeile  5  v.  u.  ist  der  Punkt  (nach  dem  Worte  „perenne*)  zu 

streichen. 

Zeile    3    v.  a.  ist  statt  Niciag         zu  lesen:  Nicius 


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\ 


■ 

» 


Berichtigungen.  XIII 

Seite  178  ist  der  1.  Buchstabe  der  4.  Zeile  mit  dem  1.  Buchstaben  der 

folgenden  Zeile  verwechselt  worden. 
185  Zeile   12   v.  u.  ist  statt  di  zu  lesen:  da 

185      „      9   v.  u.  „     ,    ingftgliardare  ,     „  ingagliardire 
198      „      7    v.  u.  „      „     tnma  „     ,  prima 

198      „      6   \.  u.  „      B     dellen  „     B  stellen 

„199      ,     18   v.  u.  ist  nach  dem  Worte  .pflegen"  ein  Semikolon 

zu  setzen. 

,   202  ist  im  Notenbeispiel  (Zeile  3)  statt  inch'el  —  zu  lesen:  in  ch'el  — 
,   211   Zeile    4   v.  u.  ist  das  Komma  vor  „Poe.*  zu  streichen. 
„   219   Notenzeile  3  v.  u.  muss  der  erste  (volle)  Takt  so  lauten: 

Seite  233  Zeile  2  ist  vor  dem  Worte  „in*  das  Wort  „Ton*  einzufügen. 
„   234  Anm.  2  Zeile  2  ist  statt  ne  zu  lesen:  ne' 
,   240  müssen  im  1.  Takt  des  3.  Notensysteras  v.  u.  hinter  den  Halb- 
noten es  und  b  Punkte  stehen. 
,    276    Zeile  22   v.  u.  ist  statt  quasto         zu  lesen:  questa 
„    282      „      3   v.  u.  „      „    Epalagi         „     „      E  palagi 
„    282      „      2   v.  u.  „      „     Ela  „     „      E  la 

,   283  ist  zu  Anfang  des  2.  Notenbeispiels  statt  Conche  zu  lesen:  Con  che 
„   295    Zeile  10   v.  u.  ist  statt  351  zu  lesen:  251 
„   295      ,      5   v.  u.  „     „    magnificentissima  zu  lesen:  magni- 

ficentissimi 

„   303  ist  im  Notenbeispiel  Zeile  1  v.  o.  der  Punkt  nach  „co-re*  zu 

streichen. 

„    303  muss  im  obern  System  des  2.  Notenbeispiels  die  3.  Note  des 

2.  Taktes  eine  Ganznote  sein. 
„   335  muss  im  Notenbeispiel  Takt  12  im  obern  System  die  1.  Note 

eine  Viertelnote  sein. 
„   458  Zeile  23  v.  o.  ist  statt  fer  zu  lesen:  der 
B    463  ist  im  obern  System  des  1.  Notenbeispiels  statt  des  Taktzeichens 

ein  G-Schlüssel  auf  der  2.  Linie  anzubringen. 
Die  Berichtigung  anderer  Fehler,  die  Richtigstellung  mancher  falsch 
angebrachter  Kommata  u.  dgl.  möge  der  geneigte  Leser  selbst  über- 
nehmen. Einige  hin  und  wieder  vorkommende  Wörter  jedoch,  die  nicht 
so  heissen  können  wie  sie  gedruckt  sind,  deren  richtige  Fassung  aber 
nach  dem  Manuscript  nicht  herzustellen  war,  müssen  zweifelhaft  bleiben. 


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Inhalt. 


Vorwort  von  G.  Nottobohm  VII 

Berichtigungen  XI 

Inhaltsverzeichnis   .  '  XIV 


I.  Pn] estrina   1 

n.  Die  Zeit  des  PalestrinaatyleB.    Der  italienischen  Musik 

grosse  Periode   63 

Giovanni  Maria  Nanini   67 

Giovanni  Bernardo  Nanini   70 

Tomma80  Lodovico  da  Vittoria   70 

Feiice  Anerio   73 

Giov.  Francesco  Anerio   74 

Annibale  Zoilo   75 

Rocco  Rodio   75 

Pietro  Paolo  Paciotti   76 

Fabricio  Dentice   77 

Fr.  Roussel  (Rossel)   77 

Giov.  Andr.  Dragoni   78 

Annibale  Stabile   78 

Giov.  Franc.  Brissio   78 

Placido  Falconio   79 

Arcangelo  Crivelli  u.  s.  w   79 

Asprilio  Pacelii   79 

Rnggiero  Giovanelli   79 

Francesco  Soriano   80 

Vincenzo  Ugolini   83 

Fabio  Costantini   84 

Alessandro  Costantini   84 

Luca  Marcnzio   85 

Gregorio  Allegri   90 

Antonio  Cifra   9S 

Agostino  Agazzari   99 

Franzesco  Foggia   101 

Girolarao  Frescobaldi   103 

Agostino  Diruta   103 

Matthäus  Simonelli  u.  s.  w   103 

Paolo  Agostini   106 

Antonio  Maria  Abbatini   107 

Domenico  Allegri  n.  s.  w   107 


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Inhalt.  xv 

_      .    „  Seit« 

Orazio  Benevoli     H)g 

Virgilio  Mazzoccht   j !  5 

Abundio  Antonelli   H7 

Gregorio  Ballabene                               .   .   .   .       '  n7 

Pier  Francesco  Valentini  .   .  121 

m.  Der  monodische  Styl  in  Rom. 

Joh.  Hier.  Kapsberger   125 

Vittorio  Loreto   144 

IV.  Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt  145 

Emilio  de'  Cavalieri  u.  s.  w   154 

G.  B.  Doni   156 

Vincenzo  Galilei   157 

Giulio  Caccini   159 

Domenico  Bninetti  u.  s.  w   175 

Der  Dichter  0.  Rinuccini   1^2 

Jacopo  Peri   201 

V.  Die  Zeit  des  Ueberganges. 

Theatralische  Aalführungen  in  Italien,  Deutschland  und 

Frankreich   207 

Ludus  Dianae  (Festspiel  von  C.  Celtes)   211 

Scenica  Progymnasmata  (Oomödie  von  Joh.  Reuchlin).   .  215 

Ballet  comique  de  la  reine   216 

Die  Chromatik                                                 ,#  23i 

Nicola  Vicentino   234 

Gesualdo  Principe  di  Venosa   236 

Der  Basso  continuo   24 S 

Lodovico  Viadana   248 

VI.  Die  Zeit  der  ersten  dramatischen  Musikwerke.- 

Der  Stile  rappresentativo  und  das  Muaikdraraa  der  Floren- 

tiner   253 

J.  Peri's  „Euridice"  und  G.  Caccini's  „Euridice"    ...  253 

Giulio  Caccini's  „II  rapimento  di  Cefalo"   272 

Emilio  de'  Cavalieri's  „La  rapprensentazione  di  aniraa  e 

di  corpo*'   275 

Agostino  Agazzari's  „Eumelio"   280 

Marco  da  Gagliano's  „Dafne."   288 

Verbreitung  des  neuen  Florentiner  Styles   294 

Gir.  Giacobbi's  „Andromeda"    294 

Francesca  Caccini's  „La  liberazione  di  Ruggiero"  ...  295 

Intermedien  in  Mailand   300 

Giov  Boschetto-Boschetti'a  „Strali  d'Amore"   301 

Geistliche  monodische  Gesänge   309 

Radesca  da  Foggia   310 

Serafin  Patta   310 


xvi  Inhalt. 

Seit« 

Ottavio  Darante   311 

Girolamo  Marinoni   311 

Luigi  Simonetto  u.  b.  w   312 

Bartolomeo  Pesarino   312 

Hymnen  der  Philomela  angelica   314 

Domenico  Mazzocchi     S10 

Weltliche  Monodieen   323 

Radesca  da  Foggia   323 

Antonio  Bruneiii   330 

Giov.  Francesco  Gapello   331 

Giacomo  Fornaci   334 

Sigismondo  d'India   335 

Luigi  Rossi   833 

Salvator  Rosa   336 

Sänger  und  Sängerinnen   337 

Vittorio  Loreto  u.  s.  w   337 

VII,  Claudio  di  Monteverde. 

Monteverde   353 

Francesco  Cavalli   37  t 

Giulio  d'Alessandri   400 

vm.  Theoretiker  und  Lehrer   407 

Gioseffo  Zarlino   407 

Orazio  Tigrini   4t7 

Lodovico  Zacconi   418 

Giov.  Maria  Artusi   419 

Girolamo  Diruta   420 

Adriano  Banchieri  u.  8.  w   42» 

FEancesco  Patrizzi  u.  6.  w   428 

IX.  Die  italienischen  Organisten   433 

Ottavio  Bariola  u.  s.  w   433 

Adriano  Banchieri   435 

Girolamo  Frescobaldi   438 

Johann  Jacob  Froberger   463 

Giov.  Battista  Faaolo   480 

Bernardo  Pasqnini   481 


Nachwort  von  Eduard  Schelle  483 


I 

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I 


Geschichte  der  Musik 


im  Zeitalter  der  Renaissance 


I 


von  Palestrina  an 


von 


August  Wilhelm  Ambros. 


Fragment. 


■ 


?  Leipzig 

F.  E.  C.  Leuckart 
(Konstantin  Sander). 

1878. 


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HARVARD  L^VIRSITY, 
Department  ü.  feie, 


Druck  ron  Hundertstuml  4  l'rie*  iu  L« >1|  zi« 


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I. 


Palestrina. 


Ainbroi,  Geschichte  der  Musik.  IV. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


Südöstlich  von  Rom,  in  einer  Entfernung  von  etwa  achtzehn 
Miglien,  dem  Blicke  von  der  Höhe  des  palatinischen  Hügels 
erreichbar,  steigt  an  der  Lehne  eines  Kalksteinberges  eine  graue 
Masse  von  Häusern  hinan;  die  Stadt  Palestrina,  das  uralte  Prä- 
neste, dessen  Gründung  Über  Alba  longa  und  Rom  hinausreicht  — 
im  Alterthume  der  Sitz  eines  berühmten  Orakels,  im  Mittelalter 
Resitzthum  der  Colonna,  deren  Schloss  noch  jetzt  von  seiner 
Höhe  herabblickt  auf  die  weite  römische  Campagna,  mit  der  in 
bläulicher  Ferne  gelagerten  Weltstadt  Rom  und  dem  einsamen 
Soracte  im  Hintergrunde.  Wer",  sagt  Gregorovius,  „dieses  An- 
blicks geniesst.  dieser  erhabenen  Landschaft,  dieses  azurnen  Him- 
mels und  seiner  klaren  Lüfte,  mag  bei  seiner  eigenen  inneren 
Regung  sich  gerne  erinnern,  dass  Palestrina  der  Geburtsort  jenes 
grossen  Meisters  der  Kirchenmusik  ist,  welcher  von  dieser  Stadt 
den  Namen  trägt." 

Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina  wurde  dort  nach  der 
gewöhnlichen  Annahme  1524  geboren,  neuerlich  wird  behauptet: 
um  zehn  Jahre  früher,  schon  1514.1)  Der  kleine  Pierluigi  soll, 
nach  Cecconis  Angabe,  als  Betteljunge  in  den  Strassen  Roms 
herumgesungen  haben,  bis  er  die  Aufmerksamkeit  des  Kapell- 
meisters von  S.  Maria  maggiore  erregte.    Nach  einer  anderen 


x)  Der  Herausgeber  des  1594  erschienenen  siebenten  Buches  der 
Messen  Palestrina's,  sein  Sohn,  sagt  in  der  Vorrede :  Pater  meus,  septua- 
ginta  fere  vitao  suae  annos  Dei  laudibus  componendi  consuraens."  Dar- 
nach rechnet  Baini  obiges  Jahr  heraus.  Baini's  Schüler  Cicerchia,  welcher 
in  Palestrina's  Geburtsort  Nachforschungen  anstellte  und  dort  viele  Docu- 
menta copirte,  deren  Publication  von  seiner  Seite  ganz  unbegreiflicher 
Weise  unterblieb,  gab  in  mündlicher  Mittheilung  an :  Palestrina's  Familien- 
name sei  Sante  gewesen,  sein  Vater  habe,  wie  er,  Pierluigi,  die 
Mutter  Maria  Gismondi  geheiasen  —  geboren  sei  er  1514  -  so  dass  also 
jene  „siebenzig  Jahre"  buchstäblich  zu  verstehen  wäron,  indem  der  grosse 
Meister  nicht  schon  als  Wickelkind,  sondern  mit  etwa  zehn  Jahren  Musik 
zu  treiben  angefangen. 


4 


Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


Version  geschah  letzteres  bei  einer  musikalischen  Aufführung, 
bei  welcher  Pierluigi  als  Singknabe  durch  seine  schöne  Stimme 
und  sein  sich  entschieden  bemerkbar  machendes  Talent  auffiel. 
Der  Kapellmeister  soll  sich  fortan  um  seine  Ausbildung  ange- 
nommen haben. 

Sicherer  als  diese  schwankenden  Angaben  ist  es,  dass  Pier- 
luigi zu  Rom  in  die  Schule  Claude  Goudimels1)  kam,  und  hier 
wurde  der  Grund  zu  jener  Meisterschaft  gelegt,  welche  ihn  be- 
fähigte, seine  himmlischen  Inspirationen  in  fest  umrissene  musi- 
kalische Gestaltungen  zu  fixiren.  Man  sagt:  „Palestrina",  wie 
man  „Raphael"  sagt  —  mit  dem  Namen  ist  Alles  ausgedrückt. 
Er  nimmt  für  die  Musik  eine  sehr  analoge  Stellung,  wie  Raphael 
Sanzio  für  die  Malerei.  Gleich  diesem  ist  er  der  Abschluss  einer 
langen  vorangegangenen  Kunstentwickelung.  Für  den  Maler 
werden  Zeichnung  und  Farbe  Boten  des  Göttlichen  —  in  der 
irdischen  Gestalt  spiegelt  sich  der  Abglanz  des  Himmels  —  der 
Ton  des  Musikers  löset  sich  vom  Irdischen  los  und  steigt  wie 
der  Duft  reinen  Weihrauches  zum  Himmel  empor  —  der  ver- 
wehende Klang  wird  zum  Träger  des  Ewigen. 

An  Pierluigi's  äusseren  Schicksalen  hat  ein  Biograph  nicht 
viel  zu  erzählen.  Er  hat  in  Rom  gelebt,  rastlos  gearbeitet,  er 
sah  eine  Reihe  von  Päpsten  —  von  Leo  X.  bis  Clemens  VIII. 
nicht  weniger  als  fünfzehn  —  darunter  die  verschiedenartigsten 
Charaktere,  den  Thron  besteigen,  er  starb  endlich  am  2.  Februar 
1594  als  hochbetagter  Greis.  Zur  Zeit  Pius  IV.  tritt  er  mit  seiner 
Missa  Papae  Marcelli  einen  Moment  lang  in  eine  auch  äusserlich 
glänzende  Beleuchtung.  Als  er  stirbt,  schreibt  man  ihm  auf  den 
Sarg  die  Worte:  „Joannes  Petrus  Aloysius  Praenestinus,  Musicae 
Princeps".  An  Fruchtbarkeit  wetteifert  er  mit  seinem  Zeitgenossen 
Orlando  Lasso:  Messen  allein  hinterlässt  er  78  —  dazu  Motetten 
für  alle  Feste  des  Jahres,  Hymnen  für's  ganze  Kirchenjahr,  La- 
mentationen, Offertorien  für's  Kirchenjahr,  Magnificat  nach  den 
acht  Kirchentönen  u.  s.  w.  Gregor  XIII.  bürdet  ihm  zu  alle  dem 
noch  die  Revision  des  römischen  Graduals  und  Antiphonars  auf, 
eine  Riesenarbeit,  an  welcher  er,  trotz  der  Mithülfe  seines  Schülers 
Guidetti  erlahmt  —  bei  seinem  Tode  findet  sich  nur  das  Gradual 
„de  tempore"  abgeschlossen.  Der  glänzendste  Genius,  der  fleis- 
sigste  Mensch,  der  einfache  Bürger  —  und  doch  waren  seine 
Glücksumstände,  der  gewöhnlichen  Meinung  nach,  nichts  weniger 
als  glänzend  —  in  der  an  Sixtus  V.  gerichteten  Dedication 
seines  „Lamentationum  über  primus  cum  quatuor  voeibus  et 
privilegio  Sixti  V  Summi  Pontificis"  (Rom  15SS)  klagt  er  bitter 


!)  Antonio  Liberati  nennt  den  Lehrer:  Gaudio  Mel.  den  Namen 
„Claudio  Goudimel"  seltsam  zusammenziehend  und  corrumpirend.  Burney 
gerieth  darüber  in  Zweifel,  welche  Baini  überzeugend  widerlegt  hat. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


5 


über  den  Druck  der  sein  Lebelang  erlittenen  Noth,  welche  ihn 
gleichwohl  nicht  verhindert  habe,  der  Musik  allen  Fleiss  und 
alles  Studium  zuzuwenden,  selbst  am  Notwendigsten  habe  es 
gemangelt,  über  welches  hinaus  ein  Genügsamer  doch  nicht  mehr 
begehre.  Er  weist  auf  die  grossen  Auslagen  hin,  welche  ihm 
der  Druck  seiner  musikalischen  Compositionen  verursacht  habe  — 
eine  beträchtliche  Zahl  von  Tonwerken  sei  veröffentlicht,  die 
Drucklegung  einer  sehr  grossen  Anzahl  anderer  werde  nur  durch 
seine  Armuth  verhindert  u.  s.  w.  Wirklich  wurden  von  den 
zwölf  Büchern  (Messen;  nur  sieben  vom  Componisten  selbst  ver- 
öffentlicht, das  siebente,  auch  von  ihm  selbst  zur  Drucklegung 
vorbereitete  Buch,  erschien  erst  nach  seinem  Tode.  Zwölf  Messen 
sind  bis  heute  ungedruckt  geblieben.  Als  Palestrina  sein  Ende 
herannahen  fühlte,  rief  er  seinen  Sohn  Iginio  an  sein  Kranken- 
lager: „Mein  Sohn",  sagte  er;  „ich  hinterlasse  eine  grosse  Anzahl 
bisher  nicht  veröffentlichter  Werke;  —  Dank  dem  Grossherzog 
von  Toscana,  dem  Cardinal  Aldobrandini  und  dem  Abt  von 
Baume  —  hinterlasse  ich  Dir  auch  so  viel  als  zur  Bestreitung 
der  Drucklegung  nöthig  ist  —  ich  lege  es  Dir  ans  Herz,  letzteres 
so  bald  als  möglich  zu  veranstalten  —  zum  Preise  des  Allmäch- 
tigen und  zur  würdigen  Feier  des  Gottesdienstes." 

Was  wir  von  den  Besoldungen  Palestrina  s  wissen,  lautet 
kläglich  genug.  Hätte  Palestrina,  wie  neuerlich  auf  mündliche 
Angaben  Cicerchia's  hin  behauptet  worden,  in  behaglichen  Ver- 
hältnissen gelebt,  drei  Häuser  in  der  Lungara  besessen,  seinen 
Töchtern  ein  anständiges  Heirathsgut  mitgegeben,  verschiedene 
Grundstücke  gekauft  u.  s.  w.1),  so  wäre  es  rein  unbegreiflich, 
wie  er  gegenüber  dem  Papste  —  und  obendrein  Sixtus  dem 
fünften,  der  sich  keinen  blauen  Dunst  vormachen  Hess,  und  in 
keiner  Beziehung  Spass  verstand  —  hätte  eine  Sprache  fuhren 
können ,  wie  in  jener  Vorrede.  Es  ist  nicht  anzunehmen ,  dass 
er  nachträglich  wohlhabend  geworden.  Denn  als  er  jene  Worte 
schrieb,  war  er  ein  Greis  von  74  Jahren  und  hatte  nur  noch 
sechs  Jahre  zu  leben. 

Palestrina  begann  angeblich  1544  seine  eigentliche  künst- 
lerische Laufbahn  nach  überstandener  Lehrzeit  —  etwa  im 
dreissigsten  Lebensjahre ,  denn  am  26.  Februar  1551  schied  der 
„maestro  de  putti  della  cappella  Giulia"  —  Franz  Koussel  — 


1)  Cicerchia  soll  übor  Alles  dieses  Urkunden  aufgefunden  und  copirt 
haben.  Aber  63  sind  seit  dem  „Fund*'  15  bis  20  Jahren  hingegangen 
und  wir  harren  bis  heute  der  Publikation  so  wichtiger  und  interessanter 
Documente  vergebens.  Und  doch  wäre  der  wirkliche  Inhalt  der  Schrift- 
stücke das  Entscheidende.  So  lange  uns  aber  nicht  der  Worttext  der 
Urkunden  vorliegt,  und  letztere  eine  kritische  Prüfung  bestanden  haben, 
sind  diese  Notizen  für  uns  werthlos. 


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6 


Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


auch  Roöseli  genannt  —  ans  seiner  Stellung  und  von  Rom 
(„discessit  ab  urbe"  heisst  es  in  den  Registern  der  Capelle).  Pa- 
lestrina  widmete  dem  Scheidenden  einen  Abschiedsgesang  und 
wurde  Roussel's  Nachfolger;  nebstdcm  ertheilte  ihm  das  Kapitel 
von  St.  Peter  den  Titel:  „Maestro  della  cappella  della  Basilica 
Vaticana." 

Drei  Jahre  später  —  1554  —  erschien  Palestrina  s  erstes 
gedrucktes  Werk,  ein  Buch  Messen,  unter  dem  Titel:  „Ioannis 
Petri  Aloisii  Praenestini,  in  Basilica  S.  Petri  de  Urbe  Capellae 
magist ri:  Missarum  liber  primus."  Rs  enthält  die  vierstimmigen 
Messen:  Ecce  Sacerdos  magnus;  0  regem  coeli;  Virtute  magna\ 
Gabriel  Archangelust  und  die  fünfstimmige  Messe:  ad  coenam  agni 
providi  (zweite  Auflage  1572,  der  dritten,  1592  erschienenen, 
wurde  die  fttnfsthnmige  Missa  pro  Defunctis  und  eine  Messe  sine 
nomine  zu  sechs  Stimmen  beigegeben).  Palestrina  hatte  an  die 
Composition  eine  besondere  Sorgfalt  gewendet,  er  bezeichnet  sie 
in  der  Dedicationsvorrede  an  Julius  III.  als  rhythmi  exquisitio- 
nes".1  Der  Lohn  blieb  nicht  aus.  Julius  III.,  welcher  vielleicht 
gleich  in  dem  einleitenden  „Ecce  sacerdos  magnus14  eine  schmei- 
chelhafte Anspielung  finden  mochte,  berief  am  1.  Januar  1555 
Palestrina  in  die  päpstliche  Capelle  —  unter  Nachsicht  der  strengen 
Prüfung,  welche  eben  er  in  einem  Motu  proprio  vom  5.  August 
1553  für  die  in  die  Capelle  aufzunehmenden  Sänger  vorgeschrieben 
hatte.2)  Palestrina's  bisherige  Stelle  bei  der  Peterskirche  ging  auf 
Johannes  Animuccia  über. 

Ein  Buch  Madrigale,  welches  in  eben  diesem  Jahre  1555 
erschien,  soll  dem  Tonsetzer  viele  Vorwürfe  und  Anklagen  wegen 
der  „anstössigen  und  leichtfertigen  Texte"  zugezogen  haben,  und 
man  könnte  daran  glauben,  wenn  man  in  der  an  Gregor  XIII. 
gerichteten  Dedicatiosvorrede  der  Motetten  aus  dem  hohen  Liede 
liest,  wie  Palestrina  sein  Pater  peccavi  anstimmt:  „Erubesco  et 
doleo  —  sed  quando  praeterita  mutari  non  possunt,  nec  reddi 
infecta.  quae  facta  jam  sunt"  u.  s.  w.3).   Zum  Glücke  liegen  uns 


1)  Wie  Baini  aus  diesem  Worte  folgern  kann,  Palestrina  habe  an- 
deuten wollen,  dass  diese  seine  Messen  alle  früheren  Leistungen  der  Musik 
übertreffen,  ist  einigermassen  unbegreiflich. 

2)  In  den  Tagebüchern  der  päpstlichen  Capelle  heisst  es:  13.  Januarii 
1555  die  Dominica  fuit  admissus  in  novum  cantorem  Joannes  de  Palestrina 
habebamus  et  absque  consensu  cantorum  ingressus  fuit. 

3)  Auch  schon  Morales,  der  herb-grossartige  Spanier,  spricht  sich 
in  der  an  Paul  III.  gerichteteten  Widmung  des  zweiten  Buches  seiner 
Messen  in  ähnlichem  Sinne  ans  —  er  sagt  von  der  Musik :  „ouod  e  coele- 
stium  orbium  ratione  ad  coelestium  Deique  Opt.  Max.  lauctes  canendas 
deducta  est,  atque  in  mentes  nostras  ünmissa  divinitua.  Quamobrem 
plerumque  damiratus  sum,  cur  eam  ipsam  maxima  musicorum,  praecipue 
aetatis  nostrae,  pars  ad  ineptias  converterit,  atque  utinam  non  etiam  ad 
obscoena:  perpaucique  ea,  ad  quae  instituta  est,  utantur.   Cum  eximiae, 


r 

i 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina.  7 

die  Madrigale  noch  vor  —  mit  Ausnahme  jenes  an  Franz  Roussel 
gerichteten  sind  es  —  ohne  eine  Spur  von  Anstössigkeit  oder 
Leichtfertigkeit  —  die  herkömmlichen  Liebespoesien ,  das  An- 
schwärmen weiblicher  Schönheit  u.  s.  w.  Wie  sehr  aber  hatten 
sich  die  Verhältnisse  in  Rom  allmälig  geändert!  Nach  dem  Rausch 
der  Tage  Leo  X.  kam  der  Rückschlag.  „Dem  Uebermaasse  der 
Genüsse  des  Geistes  folgten  Trübsinn  und  Uebersättigung."  Leo  X. 
war  ein  wahrer  Kunstsybarit  gewesen,  ein  Schwelger  in  Kunst- 
schönheit —  er  lebte  gerne  und  Hess  leben.  Der  ernste  tugend- 
hafte Hadrian  VI.  wurde  von  den  Römern  offen  verhöhnt  —  ein 
„niederländischer  Barbar".  Aber  schon  die  entsetzliche  Kata- 
strophe des  „Sacco  di  Roma"  —  worin  die  Besseren  und  Be- 
sonneneren —  wie  Sadolet  in  seinem  Briefe  an  Clemens  VII. 
unverholen  ausspricht,  ein  wohlverdientes  Strafgericht  Gottes 
erblickten,  hatte  1527  den  Dingen  eine  wesentlich  andere  Wen- 
dung gegeben;  in  Deutschland  gewann  die  Reformation  immer 
mehr  Boden,  das  Geschrei  nach  „Reform  an  Haupt  und  Gliedern" 
wurde  auch  innerhalb  der  Kirche  immer  dringender. 

Die  „gute  Gesellschaft"  in  Rom  war  als  gelehrige  Schülerin 
des  extremsten  Humanismus,  wie  ihn  Pomponius  Latus  repräsen- 
tirt,  durch  und  durch  mit  classisch-heidnischen  Elementen  durch- 
setzt gewesen  —  jetzt  fing  sie  wieder  an,  ihr  „Confiteor"  und 
„Credo4*  anzustimmen.  Wie  es  in  Zeiten  der  Reaction  immer 
geht  —  die  Zügel  wurden  jetzt  straff,  und  um  so  straffer  ange- 
zogen, je  ungebundener  und  lockerer  es  früher  zugegangen  war. 
Und  so  wird  es  erklärlich:  dass  man  dem  armen  Pierluigi  seine 
unschuldigen  Madrigale  zum  Verbrechen  anrechnete,  und  dass 
er  selbst  mit  so  vieler  Zerknirschung  davon  redet. 

Wie  nun  vollends  der  strengste  aller  Cardinal c.  der  fast 
achzigjährige  Erzbischof  Giampietro  Caraffa  von  Neapel,  1555 
als  Paul  IV.  den  päpstlichen  Thron  bestieg,  schien  Rom  das 
directe  Gegentheil  dessen  werden  zu  wollen,  was  er  unter  Leo  X. 
gewesen.  Pius  V.  bewährte  sich  als  „der  vornehmste  Vertreter 
der  Zeit  des  Kampfes  und  der  beginnenden  Wiedergeburt."  Dass 
nun  Alles  dieses  auf  Palestrina,  der  recht  eigentlich  im  Zeitraum 
dieser  Bewegungen  lebte  und  webte,  und  auf  den  Weg,  den 
seine  Kunst  einschlug,  den  allergrössten  Einfluss  geübt,  ist  wohl 
zweifellos.  Ein  päpstlicher  Capellmeister,  welcher  sich,  während 
ein  Paul  IV.,  ein  Pius  V.  auf  dem  Throne  sass,  hätte  einfallen 

m 


praestantisaimaeque  hu  jus  artia  vice  dolorem,  eorumque  ingratum  animum 
in  Deum,  tanti  hujus  muneris  largitorem,  com  meo  ipso  animo  detestarer : 
constitui  pro  viril  i  parte  ei  succurrere,  totumque  Studium  meum,  atque 
operam,  quam  in  hanc  diseiplinam  impendi,  in  divinis  laudibus  canendis 
ponere  atque  collocare."  Die  oben  im  Texte  mitgetbeilten  Worte  Pale- 
atriua's  sind  ein  Echo  des  Spaniers. 


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s 


Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


lassen,  das  Goldhaar  und  die  Sternenaugen  einer  Schönen  ma- 
drigalesk  zu  besingen,  würde  sich  selbst  den  Tod  und  das  Gericht 
componirt  haben  —  oder  aber  er  hätte  nach  Venedig  auswandern 
müssen,  wo  mau  an  dem  bussfertigen  Trauern  in  Sack  und  Asche 
nie  sonderlichen  Geschmack  gefunden:  —  wie  denn  wirklich  ein 
zweites  Buch  Madrigale  von  Palestrina  1586  nicht  in  Rom  son- 
dern in  Venedig  bei  Girolamo  Scotto's  Erben  erschien.  Es  ist  aber 
eben  diesen  Umstanden  vielleicht  auch  zu  danken,  dass  Palestrina 
»eine  ganze  Kraft  und  Thätigkeit  der  geistlichen  Musik  zuwendete, 
und  so  der  erste  aller  Kirchencomponisten  wurde.  Schon  unter 
Paul  IV.  sollte  Palestrina  in  sehr  empfindlicher  Weise  fühlen, 
dass  das  Oberhaupt  der  Kirche  jetzt  ganz  anders  denke,  als 
weiland  Julius  III.,  Palestrina's  Gönner  gedacht.  Der  greise  Paul 
wiederholte  bei  jeder  Gelegenheit  sein  Lioblingswort  „Riforma, 
riforma"  —  er  wollte  eine  eiserne  Disciplin  einführen,  „reforrairen", 
ob  es  biege  oder  breche  —  wobei  er  mit  rücksichtsloser  Strenge 
vorging.  —  War  für  Leo  X.  die  Kunst  das  Erste  und  fast  das 
Einzige  gewesen,  so  war  sie  Paul  IV.  vollständig  gleichgültig. 
In  den  Sängern  der  päpstlichen  Capelle  sah  er  nur  Kleriker  der 
Kirche,  nicht  Künstler.  Er  fand  darin,  dass  drei  davon  ver- 
heirathet  waren,  „ein  Scandal  des  Gottesdienstes  und  der  heiligen 
Kirchengesetze.''  Schon  die  Erwartung  der  päpstlichen  Resolution 
warf  den  armen  Palcstriua  auf  das  Krankenlager;  vierzehn  Tage 
später,  am  30.  Juli  1555,  erfolgte  das  päpstliche  motu  proprio, 
womit  der  Capellensänger  Lionardo  Barre  von  Limoges  ohne 
Rücksicht  auf  seine  langjährigen  treuen   und  ausgezeichneten 

^  Dienste,  Domenico  Ferrabosco  ohne  Rücksicht  auf  die  um  der 
päpstlichen  Capelle  willen  von  ihm  verlassene  Capellmeisterstelle 
von  S.  Petronio  in  Bologna,  Palestrina  ohne  Rücksicht  auf  den 
Wunsch  Julius'  III.,  der  ihn  aus  einer  guten  Versorgung  in  die 

■  Capelle  berufen,  mit  einer  Pension  von  mouatlich  5  Scudi  13  Ba- 
jocchi  ihres  Dienstes  entlassen  wurden.  Und  nicht  genug  daran, 
mit  der  dem  greisen  Paul  in  allen  Dingen  eigenen  excentrischen 
Uebertreibung  erfolgte  diese  Entlassung  in  der  härtesten  Form. 
Palestrina  erhielt  aber  schon  am  1.  October  1555  die  Berufung 
als  Capellmeistcr  bei  der  Lateranensischen  Basilica.  Als  Musik  - 
leiter  des  Laterans  componirte  er  die  berühmten  Improperien,  die 
in  ihrer  wundervollen  Einfachheit  so  unwiderstehlich  ergreifen, 
und  durch  welche  er  sich  die  Gunst  Pius'  IV.  errang  Paul  IV. 
war  am  18.  August  1559  gestorben).  Am  1.  März  1561  erhielt 
Palestrina  die  etwas  einträglichere  Capellmeisterstelle  bei  der 
Liberianischen  Basilica  (St.  Maria  Maggiore).  In  die  Zeit  seiner 
zehnjährigen  Dienstleistung  bei  dieser  Kirche  (bis  31.  März  1571; 
fallt  seine  berühmte  Rettung  der  Kirchenmusik  vor  dem  ihr 
drohenden  Bannfluche.  Die  Beschuldigungen,  welche  sich  gegen 
die  Figuralmusik  erhoben  hatten,  waren  zu  laut  geworden,  als 


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Giovanni  Picrluigi  da  Palestrina. 


9 


dass  das  ebendamals  tagende  trideutiuer  Concil  nicht  auch  die 
Frage  hätte  anregen  sollen,  ob  die  Figuralmusik  als  Kirchenge- 
sang überhaupt  noch  zu  dulden,  oder  ob  letzterer  ganz  streng 
auf  die  alten  völlig  einfachen  Gregorianischen  Intonationen  be- 
schränkt werden  solle.  Der  Katholicismus  sollte  allüberall  restau- 
rirt  weiden,  auch  im  Kirchengesange.  Man  war  geneigt,  in  all' 
der  reichen  Kunst,  die  sich  auf  und  um  den  allein  authentisch 
gutgeheissenen  Gregorianischen  Gesang  aufgebaut  hatte,  eine  grosse 
Verwirrung,  einen  verwerflichen  Auswuchs  zu  erblicken.  Wie  bei 
der  Geistlichkeit  in  Klöstern  und  endlich  bei  allen  Mitgliedern 
der  Kirche  im  weitesten  Sinne  die  alte  Zucht  und  Ordnung  her- 
zustellen, den  Kitus  zu  reinigen,  für  ihn  ein  für  allemal'  eine  un- 
verrückbare Ordnung  festzustellen  sei,  wurde  ernstlich  in  Ucber- 
legung  gezogen.  Die  Musik,  oder  vielmehr  der  Gesang,  und  zwar 
ganz  eigens  der  Gregorianische  Gesang  hatte  nun  von  jeher  für 
einen  wesentlichen  Theil  des  Kitus,  nicht  bloss  als  zufalliger, 
entbehrlicher  Schmuck  des  Gottesdienstes  gegolten.  Die  reichen 
uud  kunstvollen  Figuralcompositionen  waren  nun  freilich  —  neben 
den  weltlichen  Liederweisen,  an  denen  man  jetzt  unter  also  be- 
wandten Umständen  das  höchste  Aergerniss  nehmen  musste  — 
über  Gregorianische  Antiphonenmotive,  Messenmotive,  über  alt- 
geheiligte Hymnen  oder  in  den  Kirchengesang  eingeführte  Sequen- 
zen componirt;  aber  so  wie  die  weltliche  Liedermelodie  im  Stimmen- 
gewebe verschwand  und  somit  aufhörte  anstössig  zu  sein  (nur 
der  anstössige  Name  blieb),  so  verschwand  auch  die  Gregorianische 
und  hörte  auf  durch  sich  selbst  erbaulich  zu  wirken.  Ver- 
schnörkelten vollends  die  Sänger  ihre  Parte  mit  sogenannten 
Diminutionen,  so  verschwand  jede,  auch  die  kleinste  Spur  des 
autorisirten  Gregorianischen  Gesanges.  Selbst  der  Fauxbourdon 
deckte  ihn  schon  fast  bis  zum  Unkenntlichen.  Ihn  wieder  hör- 
und  vernehmbar  zu  machen  und  ihn  in  der  ursprüglichen  Rein- 
heit herzustellen,  war  also  das  letzte  Ende  und  Ziel  der  ange- 
bahnten Keformirung,  nicht  aber  eine  Verbesserung  des  Musikstyles 
im  künstlerischen  Sinne.  Man  muss  durchaus  den  Gesichtspunkt 
festhalten,  dass  die  Kirche  nach  ihrem  innersten  Wesen  keine 
speeifische  Kunstanstalt  sein  konnte.  Die  Kunstliebe  von  Päpsten 
wie  Julius  II.  und  Leo  X.  hatte  allerdings  diese  Seite  der  Ent- 
wicklung kirchlichen  Lebens  mit  grösster  Vorliebe  in  den 
Vordergrund  gerückt.  Der  Rückschlag  konnte  nicht  ausbleiben. 
Schon  Leo's  X.  Nachfolger,  der  fromme,  gelehrte  Professor  von 
Löwen,  der  als  Hadrian  VI.  den  päpstlichen  Thron  bestieg,  rief 
beim  Anblicke  des  Laokoon:  „Sunt  idola  ethnicorum" ;  aber 
Hadrian  war  ein  Papst,  wie  ihn  die  Kirche  brauchte,  worüber 
man  ihm  die  mangelnde  Kunstkennerschaft  sehr  zu  Gute  halten 
kann.  Paul  IV.  liess  in  der  Sixtinischcn  Capelle  vor  der  Giganten- 
welt Michel  Angelo's  den  unwilligen  Ausruf  hören:   „ob  das  ein 


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\Q  GioTanni  Pierluigi  da  Palestrina. 

# 

Gotteshaus  oder  eine  öffentliche  Badestube  sei!"  Mit  Mühe  wurde 
das  jüngste  Gericht  durch  Daniel's  von  Volterra  Uebermalung 
einzelner  Nacktheiten  vor  dem  Urtheilssprucbe  des  Herunter- 
schlagens bewahrt.  Geht  man  auf  den  Grund  der  Ausmalung 
der  Kirchen  u.  s.  w.  von  Altersher  zurück,  so  ist  es  in  letzter 
Instanz  wohl  Kunstdrang  und  Zierlust *),  was  sie  hervorrief ;  aber 
der  ausdrücklich  betonte  Grund  blieb  der  Lehrzweck,  an  die 
Heiligen  und  die  heiligen  Begebenheiten  auch  die  des  Lesens 
unkundigen  Kirchenbesucher  zu  erinnern.  Daher  wurde  die  Compo- 
sition  der  Bilder  ein-  für  allemal  beibehalten2),  die  Begebenheit 
sollte  dem  Beschauer  in  gewohnter  Anordnung  vorgeführt,  er 
sollte  nicht  durch  mannigfache  Composition  derselben  Scene  irre 
gemacht,  ihm  nicht  zugemuthet  werden  etwas  zu  errathen  —  es 
sollte  ja  für  die  Unwissenden  und  Geistesarmen  dienen  —  nicht 
dem  Künstler  etwa  Anlass  bieten  durch  originelle  Auffassung  zu 
glänzen.  Aehnlich  ist  auch  der  Gregorianische  Gesang  zu  ver- 
stehen: er  sollte  der  Gemeinde  die  Worte  des  Ritus  in  ganz  be- 
stimmten, immer  gleichem  Klange  entgegentragen,  er  sollte  sie 
ferner  nur  um  desto  hörbarer,  verständlicher  machen;  denn  die 
Worte  waren  die  Hauptsache,  die  Musik  nur  die  vermittelnde 
Trägerin.  Wo  sie  eigene  Bedeutung  ansprach,  in  grossen,  kutist- 
voll  verschränkten  Tonsätzen  den  einfachen  Gang  der  authenti- 
schen Urmelodie  untergehen  liess  und  die  blanke  Verständlichkeit 
des  Textwortes  perturbirte,  konnte  sie  freilich  nicht  mehr  jenem 
Zwecke  entsprechend  genannt  werden.  Es  ist  ganz  begreiflich, 
dass  es  nur  in  dem  mumisirten  byzantinischen  Staate  glücken 
konnte  einen  solchen  eigentlich  kunstwidrigen  Standpunkt  festzu- 
halten ;  in  der  abendländischen  Kunst  lag  zu  viel  Lebenskraft  und 
Zukunft;  diese  kräftige  Pflanze  sprengte  das  einengende  Gefäss 
und  schlug  im  hellen  Sonnenlichte  nach  allen  Seiten  in  Zweig 
und  Blüten  aus.  Die  abendländische  Kirche  fand  dieser  freieren 
Auffassung ,  dem  Wesen  des  lebendigmachenden  Geistes  nicht 
entgegenzutreten,  sie  begnügte  sich  die  Bewegung  zu  leiten  und 
hatte  an  der  immer  herrlicher  leuchtenden  christlichen  Kunst, 
welche  jetzt  schon  der  antiken  als  Rivalin  entgegentreten  konnte, 
ihre  Freude. 

Wo  nun  einmal  das  Schöne  sich  so  weit  emaneipirt  hatte, 
dass  es  um  seiner  selbst  willen  erscheinen  durfte,  wobei  freilich 
noch  immer  die  Heiligengestalt,  die  biblische  Begebenheit  die  An- 
schauung des  Schönen  zu  vermitteln  hatte,  war  es  ganz  natür- 
lich, dass  man  nach  dem  abstracten  Schönheitsideal  der  Antike 
griff,  und  dass  endlich  die  Zeit,  wo  sich  das  anfängliche  Verhält- 


1)  „Doniine  dilexi  decorem  domus  tuae." 

2)  Vergl.  Kuglers  Gesch.  der  Malerei.    2.  Aufl.  1.  Bd.  S.  64. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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niss  umkehrte,  dass  statt  die  an  sich  gleichgiltige  Kunst  zur 
blossen  Trägerin  des  an  sich  werthvollen  Erbaulichen  zu  machen, 
vielmehr  gerade  umgekehrt  das  an  sich  gleichgiltig  angesehene 
Erbauliche  zum  blossen  Träger  der  an  sich  werthvollen  Kunst 
wurde.  Die  Musik  konnte  sich  freilich  nicht  antikisiren  —  jede 
Spur  echter  antiker  Tonkunst  war  längst  verloren ;  aber  sie  eman- 
cipirte  sich  durch  sich  selbst,  und  zwar  zu  einem  Grade,  der  An- 
stoss  erregte.  Dies  ist  im  innersten  Kerne  die  sogenannte 
„Entartung  der  Kirchenmusik'1  im  16.  Jahrhunderte, 
und  man  muss  bei  deren  leidenschaftlichen  Anklagen 
nie  vergessen,  dass  sie  meist  von  unmusikalischen 
—  des  Kunstsinnes  ermangelnden,  obwohl  wohlmei- 
nenden Bischöfen,  Gelehrten  u.  s.  w.  erhoben  wurden, 
denen  der  Ritus,  aber  nicht  entfernt  die  Kunst,  am 
Herzen  lag. 

Leo  X.  hatte  auch  in  der  Musik  geschwelgt;  er  pflegte  die 
Motive  und  Gänge  leise  mitzusummen,  während  seine  Capelle 
sang.  Carpentras  und  Mouton  waren  neben  dem  allbewunderten 
Josquin  seine  Lieblinge.  Auch  hier  blieb  die  Reaction  nicht  aus. 
Wie  jene  folgenden  Päpste  im  Laokoon  ein  Götzenbild,  in  den 
Fresken  der  Sixtina  nur  Nuditäten  sahen:  so  fand  man  in  den 
kunstvoll  figurirten,  fugirten  Messen,  Psalmen,  Vespern  eine  schmäh- 
liche, ja  frevelhafte  Ausartung  echten  Kirchengesanges. 

Die  Entscheidung  der  Reformationsfrage  war  leicht:  man 
brauchte  nur  Alles  eben  auf  den  strengen  Gregorianischen  Kirchen- 
gesang zu  reduziren.  Wie  wäre  das  aber  in  dem  Jahrhunderte 
der  schönsten  Kunstblüte  möglich  gewesen? 

Die  strenge  Restaurirung  des  eigentlich  zum  Ritus  gehörigen 
Gesanges  konnte  sich  zum  Glücke  und  hauptsächlich  nur  in  einer 
Revision  der  rituellen  Gesangbücher  bethätigen,  was  wieder  das 
Gewitter  von  der  Figuralmusik  einigermaassen  ablenken  half. 
Darum  übertrug  Gregor  XIII.  dem  Palestrina  eine  strenge  Revision 
des  Directorium  Chori  nach  den  ältesten  und  besten  Handschriften 
der  Vaticana,  eine  Arbeit,  welche  der  Bolognese  Johannes  Gui- 
detti  1582   vollendete.1)    Darum  Hess  Paul  V.  das  Graduale 


1)  Das  Werk  erschien  unter  dem  Titel  „Directorium  Chori  ad  usum 
sacrosanctae  Basilicao  Vaticanae',  et  aliarum  cathedralium  et  collegiata- 
rnm  Ecclesiarnm  collectom  opera  Johannis  Gaidetti  Bononiensis,  ejusdem 
Vaticanae  Basilicae  clerici  beneficiati  et  SS.  D.  N.  Gregorii  XIII.  capellani. 
Permissu  Superiornm.  Romae  apud  Robertum  Granjon,  Parisiensera,  1582." 
Spätere  Auflagen :  15S9,  1600,  1604,  1642  (letztere  von  D.  Florido  Silvestri 
de  Barbarano,  Canonicus,  revidirt),  1665  (revidirt  und  vennehrt  von  Nie. 
Stamagna,  Capellmeister  bei  St.  Maria  Maggiore).  Die  neueste  Ausgabe 
erschien  1737  zu  Rom  in  der  Vatic.  Buchdruckerei.  Diesem  Werke  liess 
Guidetti  folgen:  1566,  Cantus  ecclesiasticus  passionis  Domini  nostri  Jesu 
Christi  secundum  Matthaeum,  Marcum,  Lucam  et  Joannem  juxta  ritum 


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Giovanni  Pierluiggi  da  Palestrina. 


durch  Buggieri  Giovanelli  neu  redigiren.  ')  So  wie  man 
bestimmte,  der  lateinische  Text  der  Bibelübersetzung  des  hl.  Hiero- 
nymus, die  sogenannte  Vulgata,  habe  fiir  die  katholische  Kirche 
als  der  echte,  wahre  Bibeltext  zu  gelten:  so  sollten  diese  revi- 
Uirten,  neu  redigirten  Gesangbücher  den  Kirchengesang  regeln 
und  vor  jeder  willkürlichen  Abweichung  bewahren.  Paul  V.  Hess 
diese  von  Giovanelli  besorgte  Bedaction  in  der  Medicei'schen 
Druckerei  zu  Bom  mit  von  deren  Leiter  Giov.  Batt.  Baimondi 
besorgten  neuen  Typen  prächtig  drucken  —  sehr  zum  Verdrusse 
der  speculativen  Venezianer,  wo  man  als  Privatarbeit  eine  ähn- 
liche Neuredaction  durch  die  berühmten  Meister  Giov.  Gabrieli, 
P.  Lodovico  Balbi  und  Orazio  Vecchi  hatte  vornehmen  und  das 
Graduale  in  Peter  Lichtenstein's  und  Angelo  Gardauo's  Buch- 
druckerei in  schöner  Ausstattung  hatte  an's  Licht  treten  lassen.2) 
Diese  Bedactionen  bilden  fast  den  wichtigsten  Theil  der  durch 
das  Tridentinum  vermittelten  vielbesprochenen  Musikreform  —  sie 
gehen,  wie  man  sieht,  den  blanken  Ridualgesang  an. 

Indessen  konnte  auch  die  Figuralmusik,  welche  eine  so  grosse 
Bolle  spielt,  so  beliebt  sie  war  und  von  Meistern  allerersten  Banges 
betrieben  wurde,  der  Aufmerksamkeit  des  Concils  nicht  entgehen. 
Ganz  besonders  musste  von  dem  Standpunkte,  den  man  einnahm, 
die  Unverständlichkeit  der  Texte  Anstoss  erregen:  man  setzte 


capellae  SS.  D.  N.  Papae  etc.  —  15S7,  Cantus  ecclesiasticus  officii  majori» 
hcDdomadao  juxta  ritum  u.  s.  w.  1588,  Praefationes  in  Cantu  tirmo,  juxta 
ritum  Sanctae  Romanae  Ecclesiae  emendatae. 

1)  Diese  Bedaction  Giovanelli's  erschien  unter  dem  Titel:  Graduale 
de  tempore  juxta  ritum  Sacrosanctae  Romanae  Ecclesiae  oum  Cantu,  Pauli 
Y.  P.  M.  jussu  reformato.  Cum  Privilegio.  Romae  ex  typographia  Medi- 
caea,  anno  1614.   Graduale  de  Sanctis,  juxta  u.  s.  w.  1615. 

2)  Gradualo  Gloria  Christo  Domino  Amen.  Graduale  Saero3anta« 
Romanae  Ecclesiae  integrum  et  completura  tarn  de  tempore  quam  de 
Sanctis  juxta  ritum  Missalis  novi  ex  decreto  Sacrosancti  Concilii  Triden- 
tini  ristituti  et  Pii  Quinti,  Pontiticis  maxiroi  jussu  editi:  nunc  primum 
accuratissime  impressum  summaquo  diligentia  tarn  in  textu,  quam  in  Cantu 
emendatnm.  Cum  Kyriali  moaulationes  omnos  continente,  quibus  in 
ipsia ,  Hymno  Angelico  ac  svmbolo  decantando  Romana  utitur  Ecclesia. 
Venetiis  ex  officina  Petri  Liechtenstein,  latine:  lucidus  lapis  Patricii  Agrip- 
pinensis.  Anno  Christi  redemptoris  1580.  -  Graduale  Romanum,  juxta 
ritum  raissalis  no?i  ex  decreto  Sacrosancti  Concilii  Tridantini  restituti. 
Cum  additione  Missarum  de  Sanctis  ut  in  praeeepto  SS.  D.  N.  Sixti  Papae 
V  patet.  Nuperrimo  impressum  et  at  multis  erroribus,  temporis  vetustate 
lapsis,  magno  studio  et  labore  multorum  exeellentissimorum  musicorum 
emendatum.  Una  cum  Kyriali,  Hymno  Angelico,  Symbolo  Apostolorum, 
ac  modulationibu8  Omnibus,  quibus  utitur  Sacrosancta  Ecclesia  Romana. 
Venotiis,  apud  Angolum  Gardan  um  1591.  —  Das  officielle  römische  Gradual 
Paul  des  Fünften  schlug  natürlich  diese  venezianischen  Ausgaben,  obwohl 
Giovanelli's  Arbeit  nicht  gerade  vorzüglich  ist.  Fetis  (Biogr.  univ.  4. 
Dand  S.  12)  bemerkt;  ,,J'ai  vu  avec  rogret  que  Giovanelli  s'e9t  dcarte,  en 
b^aueoup  de  passages,  des  bonnes  lecons  des  anciens  raanuscrits." 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


13 


ganz  auf  Rechnung  der  Kunstweise,  was  zum  grossen  Theile  Folge 
ungeschickter  TexÜegung  und  ungenügender  Vocalisation  von 
Seiten  der  Sänger  war.1) 

Wenn  jeder  einzelne  Sänger  den  Text  zerrte,  zerstückte, 
Worte  wiederholte  oder  ausliess,  wenn  vollends  fremde  Texte, 
nach  dem  Beispiele  der  Tropen,  eingemischt  wurden:  so  ist  es 
begreiflich,  dass  dem  Zuhörer  in  dem  Durcheinander  von  Stimmen 
und  Textsylben  nur  ein  unverständliches  Chaos  geboten  wurde. 
Die  missbilligenden  Aeusserungen  besonders  aus  den  Reihen  der 
Kirchenvorsteher  mehrten  sich  denn  auch  und  wurden  nicht  selten 
zu  leidenschaftlichen,  geradezu  übertriebenen  Anklagen.  Der  be- 
kannte Cornelius  Agrippa  von  Nettesheim  hat  ein  sonderbar  miss- 
launiges Büchlein  geschrieben.  „Von  der  Unsicherheit  und  Eitelkeit 
aller  Wissenschaften  und  Künste"  —  wo  denn  im  17.  Capitel 
auch  die  Kirchenmusik  in  folgender  Weise  geschildert  wird: 
„Heutzutage  ist  die  Zügellosigkeit  der  Musik  in  den  Kirchen  so 
gross,  dass  man  zugleich  mit  dem  Messtexte  auf  den  Instrumenten  ^ 
üppige  Liedeleien  zu  hören  bekömmt,  und  beim  Gottesdienste  die 
für  schweres  Geld  gemietheten  liederlichen  Musiker  ihre  Gesänge 
nicht  zur  Erbauung  der  Anwesenden  und  zur  Geisteserhebung 
aufTühren,  sondern  zur  Erregung  der  schlimmsten  Sinnlichkeit, 
nicht  Menschen-  sondern  Thierstimmen  hören  lassen;  denn  hier 
wiehern  Knaben  den  Discant,  andere  brüllen  den  Tenor,  andere 
bellen  den  Contrapunkt,  wieder  andere  blöken  den  Alt  oder 
brummen  den  Bass.  So  hört  man  Töne  im  Ueberfluss,  aber  vom 
Texte  kein  Wort."  Ruhiger,  dabei  aber  weit  eindringlicher  sind 
die  Worte  des  Bischofs  von  Ruremonde,  Wilhelm  Lindanus,  der 
sich  beklagt  dass  er  oft  bei  der  angestrengtesten  Aufmerksamkeit  v 
zu  verstehen  was  man  denn  eben  singe,  auch  nicht  ein  einziges 
Wort  habe  unterscheiden  können,  „so  war  alles  mit  Wiederholun- 
gen der  Sylben  durchmengt  —  es  war  ein  Durcheinander  von 
Stimmen,  das  eher  ein  verworrenes  Geschrei  als  Gesang  zu  heissen 
verdiente."  Wie  der  Breslauer  Bischof  Rotus  gegen  den  „krummen 
Gesang"  eiferte,  ist  schon  früher  erzählt  worden. 

Die  sogenannte  Rettung  der  Kirchenmusik  durch  Palestrina 
ist  nun  eine  der  Mythen,  die  sich  zuweilen  berühmten  Namen 
anhängen.  Man  hört  denn  seit  Adami  von  Bolsena  immer  und 
immer  wieder  das  Märchen,  wie  Papst  Marcellus  II.,  hocherzürnt 
über  deu  Missbrauch  der  Kirchenmusik,  beschlossen  habe  alle 
Musik  aus  der  Kirche  zu  verbannen;  wie  Palestrina  ihn  bat,  das 
Verbot  so  lange  zurückzuhalten,  bis  er,  der  Papst,  noch  eine 
musikalische  Messe,  die-  Palestrina  eben  componirte,  gehört;  wie 
der  Papst  durch   diese  Messe  völlig  anderen  Sinnes  geworden, 


1)  Auch  die  rein  rituelle  Intonation  lässt  bei  ungenügendem  Vortrage 
den  Text  unverständlich.    Die  Erfahrung  kann  man  allsonntäglich  machen. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


und  wie  diese  Messe  daher  „Missa  Papae  Marcelli"  genannt 
werde  bis  auf  diesen  Tag1).  Der  wahre  Sachverhalt  ist  folgender: 
Neben  anderen  Fragen  über  die  innere  Einrichtung  und  die 
Disciplin  des  Gottesdienstes  stand  auf  dem  Programme  des  Con- 
cils,  wie  natürlich,  auch  jene  über  die  gottesdienstliche  Musik. 
In  der  22.  Sitzung  sollten  verschiedene  Missbräuche  bei  der  Mess- 
feier zur  Sprache  kommen,  wobei  auch  nebenher  ein  Blick  auf 
die  Musik  geworfen  wurde.  Aehnlich  den  Versammlungen  unserer 
Deputirten  vor  den  eigentlichen  Kammersitzungen  hatten  auch 
die  Väter  des  Concils  ihre  Zusammenkünfte  zu  Vorberathungen 
und  Besprechungen.  Eine  solche  fand  auch  vor  der  22.  Sitzung 
am  11.  September  1562  statt.  In  der  21.  Sitzung  wurde  das 
Programm  der  22.  Sitzung  vertheilt  und  es  wurde  eine  eigene 
Commission  ernannt,  welche  die  zu  besprechenden  Missbräuche 
formuliren  sollte.  Begreiflicherweise  gab  es  unter  den  Bischöfen 
einige,  welche  der  Ansicht  waren,  man  solle  in  der  Kirche  ganz 
einfach  zum  reinen  Gregorianischen  Bitualgesange  zurückkehren2). 
Sie  regten  die  Frage  in  jener  Versammlung  am  11.  September 
an.  Zum  Glücke  gab  es  unter  den  Uebrigen  viele  eifrige  Musik- 
freunde und  fein  gebildete  Kenner;  man  darf  sich  nur  erinnern, 
dass  insbesondere  die  Cardinäle  von  Rom  her  gewohnt  waren 
treffliche  Musik  zu  hören  und  ihren  Werth  sehr  wohl  erkannten. 
Pabst  Pius  IV.  selbst  war  ein  ausserordentlicher  Musikfreund, 
hatte  für  gelungene  musikalische  Compositionen  das  grösste  In- 
teresse und  lebendiges  Verständniss.  Es  erhoben  sich  denn  auch 
sogleich  viele  Stimmen  für  die  Musik  und  beriefen  sich,  sehr 
/  bezeichnend,  auf  die  Stelle  im  Sirach  „non  impedias  musicani". 
Freilich  redet  der  hebräische  Weise  von  nichts  weniger  als  von 
Kirchenmusik,  vielmehr  von  „Musik  beim  Weingastmahl'' ;  gleich- 
viel, es  war  eine  Bibelstelle,  hinter  welche  sich  die  Kunstliebe 
verstecken  und  sie  zum  ostensiblen  Grunde  machen  konnte.  So 
fiel  denn  auch  der  Beschluss  in  der  22  Sitzung  sehr  gemässigt 
aus:  nur  wo  man  dem  Rituellen  in  der  Musik  etwas  „Lascives" 


1)  Auch  G.  B.  Doni  (de  praest.  mus.  vet.  8.  49  der  ersten  Edition) 
spielt  auf  diese  Geschichte  an,  „Quam  musicorum  licentiam  cum  repri- 
mere  ac  resecaro  juxta  Sac.  Trid.  Concilii  sententiatn  Marcellus  secundus, 
sapientissimus  Pontifex  statuisset,  nescio  quomodo  unius  musici  astutia(!) 
imponi  sibi  passus  est,  tantique  facinoris  gloriam  de  manibus  eripi."  Die 
Stelle  ist  für  Doni  charakteristisch.  Dieser  tükische,  böse  Palestrina 
mit  seiner  „Astutia"  hätte  er  die  unverwerfliche  Musik  „barbarischen 
Stylea"  nicht  „gerettet''  so  wäre  die  allein  berechtigte  griechische  eher 
an  die  Reihe  gekommen. 

2)  Papst  Benedict  XIV.  erwähnt  es  in  seinem  berühmten  Buche  de 
synodo  dioecesana  (II.  7.):  „Cum  in  Concilio  Tridentino  a  quibusdam 
episcopis  ecclesiasticae  diseiplinae  cultoribus  propositum  fuisset,  ut  cantus 
musicus  ab  ecclesiis  omnino  tolleretur."  —  Solche  Stimmen  hören  wir 
auch  heut  noch. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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oder  „Unreines"  beimische,  solle  es  verbannt  werden:  „ab  ecclesiis  / 
vero  mnsicas  eas,  ubi  sive  organo,  sive  cantu,  lascivum  aut  im- 
purum  aliquid  miscetur  arceant,  ut  domus  Dei  vere  domus  ora- 
tionis  esse  videatur  ac  dici  possit"  !).  Da  entstand  allerdings  die 
weitere  Frage,  was  denn  eigentlich  „lasciv"  zu  heissen  verdiene. 
Und  wirklich  sollte  die  Angelegenheit  der  Kirchenmusik  in  der 
24.  Sitzung  nochmals  zur  Sprache  kommen:  die  dritte  Propositiou 
sollte  das  direct  auszusprechende  Verbot  einer  allzuweichlichen 
•  Musik  (mollior  harmonia)  enthalten.  Die  42  Propositionen  der 
bevorstehenden  24.  Sitzung,  welche,  wie  gewöhnlich,  und  zwar 
Anfang  August  1563  dem  kaiserlichen  Ablegaten  mitgetheilt  und 
von  diesem  am  10.  August  an  den  Kaiser  Ferdinand  I.  gesendet  , 
worden  waren,  kamen  rücksichtlich  der  die  Musik  betreffenden  ^ 
Proposition  mit  der  Antwort  zurück:  „Dass  doch  die  Figural- 
musik  nicht  ausgeschlossen  werden  möge,  weil  sio  so  oft  den 
Geist  der  Frömmigkeit  weckt'2)."  Das  war  ein  sehr  gewichtiges 
Fürwort  —  und  in  gewissem  Sinne  könnte  auch  Kaiser  Ferdinand 
Anspruch  auf  den  Tittel  eines  „ Ketters  der  Kirchenmusik"  machen. 
Der  ganze  Beschluss,  welcher  in  der  24.  Sitzung  gefasst  wurde, 
beschränkte  sich  darauf,  dass  die  öfter  zusammenkommenden  „ 
Provinzialsynoden  auf  Missbräuche  in  der  Musik  achten  und  sie 
abstellen  sollen. 

Erst  als  das  Concil  beendet  war  —  was  noch  in  demselben 
Jahre  1563  geschah  —  wurde  Palestrina  in  die  Sache  hinein- 
gezogen. Pius  IV.  Hess  es  sich  angelegen  sein,  den  gefassten 
Tridentiner  Beschlüssen  Geltung  zu  verschaffen,  wozu  er  mit  dem 
Motupioprio  vom  2.  August  1 564  „Alias  nonnullas  constitutione»" 
die  Initiative  ergriff,  und  die  Obsorge  der  Ausführung  einem 
Colleginm  von  acht  Cardinälen  übertrug.  Hier  kam  auch  der 
Beschluss  wegen  der  Musik  zur  Sprache,  und  die  Cardinäle 
wählten  zur  Instruirung  der  Sache  aus  ihrer  Mitte  den  damals 
dreiunddreissigjährigen  Cardinal  Vitellozzo  Vitelli,  einen  be- 
kannten Musikfreund  und  Musikkenner,  und  3en  Cardinal  Karl  „ 
Borromeo.  Der  erstere  berief  überdies  zu  den  Berathungen  acht 
Sänger  der  päpstlichen   Capelle:  Antonio   Calasans,  Federigo 


1)  Begreiflicherweise  waren  damit  die  Volkslieder -Messen  verbannt. 
Wie  man  sie  jetzt  ansah,  zeigt  eine  Aeusserung  G.  B.  Donis  (a.  a.  0. 
S.  137):  „Quae  (malum)  antiquiores  illos  ac  coleDriores  Missarum  modifi- 
catores,  Jodocum  Matouium,  Hadrianum  ata.  ejus  fariae  reliquos  vesania 
adegit,  ut  sacrosancti  atque  intemerati  sacrincii  mele,  non  e  profanis  tan- 
tum  argumentia,  sed  saepe  lascivis  abjoctisque  desumerent?  Essetue 
ferendus  is  pictor,  qui  sanctam  aliqaam  virginem,  puta  Agnetem  aut 
Catharinam  ad  vivum  delineatums,  notae  alicujus  ac  famosae  meretricis 
vultum  assanieret?" 

2)  Item  ubi  in  templis  interdicebatur  mollior  barmonia,  optavit  ne 
cantio,  quam  tiguralem  appellaut,  excluderetur,  cum  saepe  sensum  pieta- 
tis  excitet.    (Pallavicini  Hist.  Conc.  Trident.  3.  Theil.  S.  249:) 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


Lazisi,  Giovanni  Lodovico  Vescovi,  Vincenzo  Vimercato,  Giovanni 
Antonio  Merlo  (Italiener),  Francesco  des  Torres,  Francesco  Soto 
Spanier)  und  Christian  Hameyden  (Niederländer).  Nach  den  zu 
fassenden  Beschlüssen  sollte  die  Musik  in  der  päpstlichen  Capelle 
eingerichtet  und  diese  das  Muster  für  alle  übrige  Kirchenmusik 
werden.  Ueber  den  Punkt,  dass  Messen  über  Volkslieder  nicht 
weiter  gesungen  werden  sollen,  dass  das  Einmischen  fremder 
Texte  verboten  werde,  dass  nur  Motetten  init  autorisirten  Texten 
zulässig  seien,  war  man  bald  einig.  Mehr  Schwierigkeiten  machte  ■ 
die  vom  Cardinal  Borromeo  abermals  zur  Sprache  gebrachte  Un- 
verständlichkeit  der  Texte.  Es  wurde  bemerkt:  das  Problem 
müsse  also  gar  wohl  zu  lösen  sein,  da  man  in  Costanzo  Festas 
Tedeum,  in  Palestrinas  Improperien  jedes  Wort  deutlich  ver- 
nehme. Die  Sänger  meinten  dagegen,  so  gar  einfach  sei  die  Sache 
denn  doch  nicht.  In  textreicheren  Sätzen,  wie  das  Gloria,  das 
Credo,  könne  man  das  künstlichere  Tongewebe  unmöglich  völlig 
entbehren,  wenn  man  nicht  in  unleidliche  Monotonie  hinein- 
gerathen,  und  wenn  man  die  Figuralmusik  überhaupt  beibehalten 
wolle.  Endlich  kam  man  überein,  einen  praktischen  Versuch  zu 
machen.  Es  mag  wohl  Karl  Borromeo  gewesen  sein,  welcher 
jetzt  den  Namen  Palestrina's  nannte  —  der  Cardinal  war  be- 
kanntlich Neffe  des  Papstes,  und  bei  letzterem  hatte  sich  Pa- 
lestrina durch  die  Improperien  in  grosse  Gunst  gesetzt;  seine 
sechsstimmige  Messe  über  das  ut  re  mi  fa  sol  la  hatte  er  nicht 
lange  vorher  —  1562  —  dem  Papst  Pius  IV.  überreicht  —  sie 
hatte  diesen  und  die  Cardinale  entzückt,  besonders  das  „Cruci- 
fixus"  —  gleich  dem  „Pleni"  derselben  Messe  einer  der  sera- 
phischen Sätze  Palestrinas  für  zwei  Soprane  und  .zwei  Altos,  und 
in  der  That  von  so  feiner  Belebung  und  so  herrlichem  Wohl- 
klang, dass  sich  hier  der  Meister  der  Marcellusmesse  schon  ganz 
bestimmt  ankündigt.  Bemerkenswerth  ist  es  jedenfalls,  dass  gerade 
diese  Messe  in  Erinnerung  kam,  denn  sie  konnte,  wie  sie  war, 
füglich  schon  für  die  glückliche  Lösung  des  auf  die  Tages- 
ordnung gesetzten  Problems  gelten.  Was  in  diesem  sehr  be- 
deutenden Tonwerke  der  eigentlichen  Satzkunst  angehört,  ist 
weniger  ein  verwickeltes  Tongewebc,  als  hauptsächlich  das  un- 
aufhörliche Auf-  und  Niedersteigen  des  Hexachords,  von  welchem 
die  Messe  den  Namen  hat  —  die  vorkommenden  imitatorisch  in 
einander  greifenden  Motive  und  Gänge,  auch  wo  sie  sich  wie  im 
Sanctus  zu  reicheren  Bildungen  verschlingen,  sind  durchweg  von 
klarer  Durchsichtigkeit.  Die  textreichen  Sätze  des  Et  in  terra 
und  Patrem  aber  sind,  ähnlich  den  älteren  Messen  Matrr  patris 
von  Josquin  und  de  Dringhs  von  Brumel  vorwiegend  fast  nach 
Art  einfacher  Falsibordoni  als  schlichte  Harmoniefolgen,  Note 
gegen  Note,  Accord  nach  Accord  gehalten.  Das  „Obligo"  des 
ut  rc  u.  s.  w.  hat  auf  die  Gestalt,  welche  die  Composition  an- 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palest ri na. 


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nahm,  fühlbar  eingewirkt;  die  Messe  hat  dadurch  stellenweise 
etwas  an  Kristallbildungen  und  deren  architektonisch-gebundene 
Regelmässigkeit  Erinnerndes  bekommen.  Vorzüglich  gilt  solches 
von  dem  äusserst  fein  und  meisterhaft  gearbeiteten  vierstimmigen 
Benedict us.  Für  den  zweiten  Sopran  ist  sie  völlig  eine  Solfeggir- 
Ubung,  und  wenn  er  im  Osanna  sein  ut  re  mi  fa  u.  s.  w.  dreimal 
nach  einander  in  schweren  Doppeltaktnoten  (Breven)  auf-  und 
absteigen  lässt,  wenn  er  im  Sanctus  sich  eben  so  einfuhrt,  sofort 
aber  sein  Hexachord  in  Taktnoten  (Semibreven)  uud  zwar  zu  je 
drei  auf  einen  Ton  gruppirt,  wiederholt  u.  s.  w.,  so  könnte  man 
glauben,  auf  altniederländisches  Territorium  gerathen  zu  sein. 
Auch  der  Zug  mahnt  an  Altniederländisches,  dass  öfter  mit  kleinen 
aus  einem  Fragment  der  Skala  gebildeten  Imitationen  gespielt 
wird,  und  dass  zuweilen  eine  im  vollen  Fluss  befindliche  Stimme 
plötzlich  auf  zwei,  drei  schweren  Breven  stockt  —  dann  sich 
wieder  in  Bewegung  setzt.  Die  Zierlust,  die  an  elegant  ge- 
schnitzten und  gemeisselten  Ornament  ihre  Freude  hat,  macht 
•  sich  auch  noch  ftihlbar;  am  auffallendsten  im  Benedictas,  wo  sich 
den  drei  gegen  den  unermüdlich  solfeggirenden  Sopran  contra- 
punetirenden  Stimmen  ein  zierliches  Gruppetto  von  vier  Achtel- 
noten —  ein  wahrer  Kococoschnörkel  —  wie  eine  Berlocke  an- 
hängt. Das  Hexachord  ist  durchweg  sehr  sinnreich  benützt  — 
im  Benedictus  beginnt  der  Alt  mit  dem  Hexachordum  naturae, 
gleich  auf  die  dritte  Note  des  mi  setzt  im  zweiten  Tempus  der 
Sopran  mit  dem  ut  des  harten  Hexachords  an,  also  eine  förmliche 
Antwort  im  Fugenstyl,  was  der  Tenor  und  der  Bass  sofort  regel- 
richtig aufnehmen  und  fortsetzen.  Im  letzten  Agnus  wird  das 
Hexachord  zum  „Canon  in  Subdiapente"  und  der  Satz  dadurch 
siebenstimmig.  Das  Crucifixus  combinirt  die  Stimmenführung 
.  vollends  zu  einem  Spiel  in  Engführung  und  Verkehrung  einander 
folgender  und  begegnender  Hexachorde.  Die  Textlegung  verräth 
durchaus  eine  besondere  Sorgfalt,  und  das  Streben,  die  Worte 
ganz  deutlich  hörbar  zu  machen,  wie  denn  in  dieser  Beziehung 
diese  Messe  kaum  noch  etwas  zu  wünschen  übrig  lässt. 

Die  Herren  der  geistlichen  Commission  hatten  kaum  Einsicht 
genug  in  die  Technik  der  Gesangskunst,  um  zu  wissen,  dass  das 
deutliche  Verstehen  der  Textesworte,  auf  welches  sie  so  sehr  drangen, 
für  die  Hörer  nicht  allein  von  der  Art  des  Tonsatzes,  sondern 
auch,  und  zwar  hauptsächlich,  von  dem  Punkte  abhängt,  ob  die 
Sänger  gut  vocalisiren  oder  nicht  Die  Anklage  gegen  die  Figural- 
musik  war  aber  einmal  erhoben,  und  schwerlich  werden  die  Com- 
missäre  auf  die  Thatsache  geachtet  haben,  dass  selbst  der  Vortrag 
des  Evangeliums  im  Lectionston  durch  den  Priester  am  Altar 
in  sehr  vielen  Fällen  oft  genug  noch  unverständlicher  bleibt,  als 
die  complicirte8te  Fuge  eines  Sängerchors,  und  man  nicht  weiss, 
.ob  man  Matthäus,  Marcus,  Lucas  oder  Johannes  zu  hören  be- 

Ambro«,  Geschichte  der  Mimik.   IV.  2 


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Giovanni  Pierluigie  da  Palestrina. 


kommt.  Die  Componisten  ihrerseits  begannen  schon  zur  Zeit 
Josquins  die  Noten  wenigstens  in  Motetten,  im  Gloria  uud  Credo 
der  Messen  oft  mit  grösserer  Sorgfalt  fair  den  Text  und  zuweilen 
so  zu  ordnen,  dass  sie  die  Textlegung  den  Ausführenden  fast  mit 
zwingender  Notwendigkeit  fertig  entgegenbrachten,  richtiger 
Accent,  feste  Declamation  kamen,  wenn  nicht  unbedingt,  so  d»ch 
mehr  und  mehr  zur  Geltung  —  und  wenn  zu  Anfang  des  sieben- 
zehnten Jahrhunderts  die  gelehrten  Nachfolger  der  Humanisten 
gerade  über  diesen  Punkt  von  den  älteren  Meistern  nicht  genug 
Schlimmes  zu  sagen  wussten,  so  lag,  abgesehen  davon,  dass  ihre 
Ausstellungen  keineswegs  ganz  unbegründet  waren,  der  Grund 
ihres  Tadels  mehr  in  der  vernachlässigten  schulgerechten  Pro- 
sodie,  als  im  verfehlten  Accent.  Wie  wohlgefällig  wurde  es  nicht 
an  Tommaso  Baj's  ..Miserere"  bemerkt  und  laut  gepriesen:  „dass 
man  darin  so  genau  die  lange  und  die  kurze  Sylbe,  nebst  der 
„Anceps"  nach  striktester  Schulregel  unterscheide!" 

Palestrina  stand  durch  seine  Improperien,  die  Hexachord- 
messe  und  wohl  auch  durch  andere  Compositionen  in  bedeutendem  • 
Ansehen.  Man  hatte  zwei  seiner  Motetten  in  die  grossen  Chor- 
bticher  der  Sixtina  aufgenommen  —  eine  Ehre,  wie  sie  nur  ent- 
schiedenen Meisterstücken  widerfuhr,  eine  Art  musikalischer  Beati- 
ßcation.  Es  war  die  Motette  zu  fünf  Stimmen  Beatus  Laurentius, 
mit  dem  rituellen  Cantus  iirmus  als  Tenor,  und  die  sechsstimmige 
Eslote  fortes  in  hello  mit  einem  streng  durchgeführten  Canon 
zwischen  Tenor  und  Alt,  kunstvolle  Tonsätzte  also,  wie  man  von 
einem  Meister  verlangte.  Zudem  wurde  in  Palestrina' s  Tonstücken 
ein  Schönheitssinn,  ein  Klangzauber  fühlbar,  der  auch  dem  ein- 
fachen Hörer  auffallen  musste.  Was  die  Kirchenfürsten  in  der 
Solmisations-Messe  hingerissen"  hatte,  war  sicher  nicht  der  sehr 
kunstreiche  Aufbau  von  Tönen  auf  die  Guidonischen  Sylben,  son- 
dern der  edle  Wohllaut,  welcher  über  dem  Ganzen  schwebte. 

Den  Meister  also,  welchem  man  nach  seinen  bisherigen 
Leistungen  das  Beste  zutrauen  konnte,  liess  Carl  Borromeo  rufen, 
eröffnete  ihm  den  ehrenvollen  Auftrag  und  legte  es  ihm  warm 
ans  Herz,  »er  möge  doch  ja  seine  ganze  Fähigkeit  aufbieten, 
damit  der  Papst  und  die  Cardiuäle  der  Musik  ihren  Schutz  nicht 
entziehen."  So  mussten  ein  Papst,  ein  Kaiser,  ein  Heiliger  und 
ein  genialer  Musiker  zusammenwirken,  um  der  Musik  in  der 
Kirche  eine  bleibende  Stätte  zu  erhalten  —  man  verliert  sich  in 
nicht  abzusehende  Consequenzen,  wenn  man  sich  vorstellt,  wohin 
ein  Verbot  gefuhrt  haben  würde!  Palestrina  ging  an's  Werk  — 
es  lässt  sich  denken,  wie  ihn  die  Aufgabe  ganz  erfüllte.  „Do- 
mine illumina  oculos  meos"  betete  er  —  er  hat  diese  Worte 
nachher  zum  Motto  der  ersten  der  drei  Probemessen  gewählt,  die 
er  componirt;  denn  statt  der  bestellten  einen  schrieb  er  gleich 
drei  Messen,  jede  zu  sechs  Stimmen,  und  legte  sie  den  Com- 


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Giovanni  Pierluigi  da  Paleetrina.  19 

misaarien  vor.  Die  Taktik,  welche  Palestrina  dabei  beobachtet, 
läast  den  sichern  Blick  des  Genies  erkennen.  Während  die  erste 
Messe  l)  durchaus  ganz  einfache  alterthümliche  strenge  Formen 
zeigt,  und  die  Absicht  einen  vereinfachten  Styl  nach  einem  vor- 
gefassten  Plane  zu  schaffen  darin  deutlich  ausgesprochen  ist, 
werden  in  der  zweiten  Messe  in  den  Gegenthemen  schon  wieder 
reichere  Notengruppen  in  Bewegung  gesetzt;  das  Ganze  gewinnt 
ein  leichteres,  freieres  Ansehen,  und  wirksam  contrastirt  gegen 
die  erhabene  strenge  Würde  der  ersten  Messe  die  zweite  durch 
zarte  Innigkeit  und  eine  beinahe  schüchterne  Anmuth.  In  der 
dritten  Messe  aber,  der  von  Palestrina  in  Errinnerung  an  den  der 
Kirche  leider  schon  nach  21  Tagen  entrissenen  edeln  Marcellus  II., 
der  zuerst  unter  den  Päpsten  jener  Zeit  „den  Gottesdienst  zu 
seiner  echten  Feierlichkeit  zurückzuführen  bedacht  war"2,,  Mis&a 
Papae  Marcelli  genannten,  schwingt  sich  der  Meister  zur  vollen 
Höhe  empor. 

Am  28.  April  1565  wurde  in  Gegenwart  der  acht  Cardinäle 
im  Palaste  des  Cardinais  Vitellozzo  die  Probe  der  drei  Messen  y 
vorgenommen.  Das  Interesse  der  kunstverständigen  Versammlung 
steigerte  sich,  wie  in  den  Messen  das  Interesse  der  Composition 
stieg,  und  wurde  zum  höchsten  Antheil  bei  der  Marcellusmesse. 
Dies  sei  der  wahre,  lange  gesuchte,  jetzt  erst  gefundene  Kirchen- 
styl.  —  Und  dennoch  darf  man  sagen,  dass  sich  die  ehrwürdige 
Commission  täuschte.  Was  sie  hinriss,  war  nicht  ein  neuer,  un- 
erhörter Styl 3)  —  es  war  der  Zauber  des  Wohlklangs ,  das 
Mysterium  reiner  Schönheit,  was  hier  so  unwiderstehlich  wirkte. 
Die  Cardinäle  waren  einig,  dass  Palestrina's  Messen  allen  Wünschen 
volle  Rechnung  tragen,  und  erklärten  den  Sängern,  „dass  sie  keinen 
Grund  finden  in  der  Kirchenmusik  eine  Veränderung  anzurathen; 
doch  sollen  die  Sänger  stets  bedacht  sein  ähnliche  Werke,  wie 
die  eben  gehörten,  für  den  Gottesdienst  zu  wählen."  Cardinal 
Borromeo  aber  erstattete  seinem  Oheim,  dem  Papste,  Bericht  über 


1)  Rancke,  Päpste  L  Thoil  8.  278.  Cardinal  Marcello  Cerrini  — 
hernach  Papst  Marcell  II.  —  war  der  tugendhafte  Kirchenfürst,  „der  die 
Reformation  der  Kirche,  von  der  die  anderen  schwatzten,  in  seiner  Person 
darstellte".  Man  siebt,  wie  tief  bedeutungsvoll  und  wohltrewählt  der 
Name  „Missa  Papae  Marcelli"  ist  und  eine  ganz  andere  Bedeutung  hat, 
als  die  gewöhnliche  Meinung  annimmt,  die  darin  nur  einen  Act  der  Dank- 
barkeit Palestrina's  gegen  seinen  ehemaligen  Gönner  erblickt. 

2)  Sie  wurde  1600  bei  Hieronymus  Scoto's  Erben  in  Venedig  gedruckt. 

3)  Palestrina  selbst  glaubte  ganz  ehrlich  hier  einen  neuen  Styl  ge- 
schaffen zu  haben.  In  der  Dcdicationsvorrede  des  zweiten  Bandes  seiner 
Messen  (1567  bei  den  Brüdern  Dorici  zu  Bom)  sagt  er:  „Gravissiniorum 
et  religisiosissimorum  hominum  secutus  consihum  ad  sanctissimuin  iuissae 
sacrificium  novo  modorum  g euere  decorandwn  omne  meum  Studium, 
operam    industriamque  contuli." 


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20  Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 

den  günstigen  Erfolg  der  vorgenommenen  Probe  und  äusserte 
sich  besonders  über  die  dritte  Messe  in  Ausdrücken  der  Bewun- 
derung. Pius  IV.  war  äusserst  begierig  das  neue  Werk  zu  hören. 
Ein  Te  Deum,  das  am  19.  Juni  1565  wegen  des  Bündnisses  des 
päpstlichen  Stuhles  mit  den  Schweizer  Eidgenossen  gefeiert  wurde, 
bot  dazu  Gelegenheit  Cardinal  Carl  Borromäus  celebrirte  am 
Altare,  der  Pabst  und  die  Würdenträger  der  Kirche  waren  an- 
wesend. Die  Feier  fand  in  der  Sixtinischen  Kapelle  statt  Piu* 
war  äusserst  ergriffen  —  er  hatte  gemeint  die  Chöre  der  Engel 
zu  hören.  Das  Wort,  welches  er  nach  der  Aufführung  zu 
den  Cardinälen  sprach,  ist  berühmt  geworden:  „Das  sind  die 
Harmonieen  des  neuen  Gesanges,  welchen  der  Apostel  Johannes 
aus  dem  himmlischen  Jerusalem  tönen  hörte,  und  welche  uns  ein 
irdischer  Johannes  im  irdischen  Jerusalem  hören  lässt1)." 

Durch  ein  Motuproprio  ernannte  der  Papst  den  Meister  dieses 
Werkes  zum  „Compositor"  der  päpstlichen  Capelle,  wodurch  sein 
bisheriger  Gehalt  von  5  Scudi  87  Bajocchi  des  Monats  durch  eine 
Zulage  von  3  Scudi  13  Bajocchi  auf  die  Summe  monatlicher 
vi  9  Scudi  erhöhet  wurde!  —  Nach  solchen  ziffermässigen  Daten 
ist  es  schwer  begreiflich,  woher  Palestrina's  in  neuerer  Zeit  be- 
hauptete „Wohlhabenheit"  hergekommen  sein  soll !  War  die  Mar- 
cellusraesse etwa  ein  Tonwerk,  durch  welches  die  ersten  Messen, 
und  insbesondere  die  gepriesene  Messe  über  das  Hexachord,  so 
sehr  in  den  Schatten  gestellt  wurden,  dass  sie  nur  noch  die  Be- 
deutung eines  „überwundenen  Standpunktes"  behielten,  und  dass 
Palestrina's  wahre  Bedeutung  erst  mit  jener  Muster-  und  Meister- 
messe beginnt?2)  Die  Zeitgenossen  können  es  gedacht  haben  — 
der  Umstand,  dass  die  Improperien  dauernd  eines  der  berühm- 
testen und  ergreifendsten  Stücke  des  Charfreitags  in  der  Sixtini- 
schen Capelle  gebildet  haben,  lässt  indessen  erkennen,  dass  mau 
den  Palestrinastyl  nicht  erst  von  der  Marcellusraesse  an  datirte. 
Wohl  aber  hat  sich  an  letztere  das  stets  wiederholte  Wort  ge- 
knüpft: „Palestrina,  der  grosse  Reformator  der  Kirchenmusik". 
Die  noch  immer  zäh  festgehaltene  Vorstellung,  als  sei  die  Musik 
bis  auf  Palestrina  ein  Haufwerk  trockener,  dem  combinirenden 
Verstände  abgequälter  Künste  gewesen,  ohne  Schönheit,  ohne 
Wohlklang,  bedarf  keiner  Widerlegung.    Ganz  kann  überdies 


1)  —  „queste  dovettero  essor  armonie  del  cantico  nuovo,  che 
Giovanni  V  apostolo  udi  cantare  nella  Gierupalemme  trionfante,  delle 
quali  un  altro  Giovanni  ci  da  un  saggio  neUa  Gierusalemme  viatrice". 
Man  möge  sich  erinnern,  dass  Palostnna's  Taufname  Giovanni  Pier- 
luigi war. 

2)  Man  wird  unwillkührlich  an  die  Beethovener  der  „Linken"  er- 
innert, welche  ihren  Meister  auch  erst  von  der  „Eroica"  an  gelten  lassen, 
wenn  sie  nicht  gar  erst  bei  der  „neunten  Symphonie"  und  den  letzten 
Quartetten  anfangen! 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


21 


der  Tonsatz  zu  keiner  Zeit  die  geschmähten  ,, Satzkünste"  ent- 
behren, wenn  er  nicht  zur  flachsten  Liedelei  entarten  soll.  Von 
Josquin,  bei  dessen  Ableben  Palestrina  sieben  Jahre  zählte,  bis 
auf  Palestrina  drängt  sich  eine  Fölle  von  Meisterwerken  —  die 
beim  Concü  behandelte  Frage  hatte  mit  dem  Kunstwerth  und 
der  Schönheit  der  damaligen  Musik  eigentlich  nicht  das  mindeste 
zu  thun,  sie  betraf  die  Restaurirung  des  gregorianischen,  offiziellen 
Kirchengesanges,  aus  dem  sich  der  Figuralgesang  als  etwas  Neues, 
aus  ihm  Entsprossenes,  aber  von  ihm  selbst  Grundverschiedenes 
entwickelt  hatte  —  dass  die  Canons,  Nachahmungen  u.  s.  w. 
nicht  aus  Bücksichten  des  guten  Geschmacks,  sondern  deswegen 
angefochten  wurden,  weil  man  fand,  es  werde  durch  sie  das  Wort 
des  Bitualtextes  für  die  Zuhörer  undeutlich.  Die  musikfeindliche 
Fraction  des  Concils  hätte,  wenn  sie  anders  noch  hätte  mitreden 
dürfen,  ebenso  gut  Palestrina' s  Musik,  und  zum  guten  Anfang 
gleich  die  Missa  Papae  Marcelli  ablehnen  müssen. 

Andererseits  werden  wir  sehen,  dass  die  Satzkünste  nach 
wie  vor  geübt  und  zu  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  sogar  zur 
gedenkbarsten  Höhe  getrieben  wurden.  Aber  eine  Reform  trat 
doch  wirklich  ein.  In  dem  conservativen  Rom  mögen  die  älteren 
Arbeiten  häufig  auf  dem  Repertoir  gestanden  haben.  Mit  dem 
Verbote  Messen  zu  singen,  denen  irgend  ein  Volkslied  zu  Grunde 
lag,  was  schon  ein  stattlicher  Theil  von  Tonwerken  ausser  Kurs 
gesetzt  —  Messen  mit  eingemischten  „Tropen"  hätten,  selbst 
wenn  man  sie  nach  Ausscheidung  der  eingemischten  fremden 
Textesworte  hätte  beibehalten  wollen,  eine  neue  mühsame  Text- 
legung  an  allen  jenen  Stellen  erfordert,  wo  sie  zur  „Kirchen- 
musik ohne  Worte"  geworden.  Festa,  Morales  und  andere  treff- 
liche Meister,  deren  Werke  in  der  That  ein  dauerndes  Besitzthum 
der  päpstlichen  Capelle  geworden  sind,  boten  für  den  Ausfall 
reichen  Ersatz,  Palestrina  war  in  seinem  90  Jahre  dauernden 
Leben  überaus  fleissig,  neben  ihm  Vittoria,  Anerio,  Soriano  und 
wie  die  Meister  der  römischen  Schule  alle  heissen.  So  trat  eine 
ganze  Generation  der  glänzendsten  Talente  hervor,  die  älteren 
Meister  aber  traten  in  den  Hintergrund,  und  die  Reform  war  vor 
Allem  eine  Reform  des  Repertoirs  der  päpstlichen  Ka- 
pelle. Insofern  sich  der  Musikstyl,  der  Geschmack  änderte, 
geschah  diese  Aenderung  allmälig,  nach  dem  natürlichen  Verlauf 
der  Entwickelung  der  Kunst,  aber  nicht  nach  einem  von  Car- 
dinälen  und  päpstlichen  Sängern  zusammengestellten  Programme. 
In  der  Marcellusmesse  zog  Palestrina  gleichsam  die  Summe 
der  neuen  Erwerbungen  der  Kunst  zusammen.  Palestrina  hätte 
nur  sechs  Jahre  länger  auf  Erden  zu  wandeln  gebraucht,  um 
einen  Umschwung  zu  erleben,  gegen  welchen  seine  Reform  gar  % 
nicht  in  Betracht  kommt,  denn  wo  er  und  seine  Kunstgenossen 
auf  dem  historisch  Ueberlieferten  weiter  bauten,  und  es  als  feste 


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Giovanni  Pierluigi  da  Paleetrina. 


Grundlage  beibehalten,  wurde  in  Florenz  radical  aufgeräumt,  ein 
ganz  anderes  Fundament  der  Kunst  gelegt,  und  mit  den  bis- 
herigen so  gründlich  gebrochen,  dass  man  ihm  alle  Berechtigung 
absprach,  dass  6.  B.  Doni  in  einem  Moment  von  Aufrichtigkeit 
unverblümt  Palestrina's  Compositionen  als  barbarische  Produkte 
bezeichnete;  dass  schon  1643  der  Römer  Pietro  della  Valle  sie 
ausser  Gebrauch  gesetzt  und  als  „Antiquitäten  in's  Museum1'  ge- 
stellt wissen  will,  dass  eben  damals  wirklich  durch  einen  musi- 
kalischen Charlatan,  den  Lautenschläger  Hieronymus  Kapsberger, 
ein  ungeschickter  Versuch  gemacht  wurde,  Palestrina's  Musik  aus 
der  päpstlichen  Capelle  herauszudrängen  —  ein  Unternehmen, 
das  zum  Glück  an  dem  Widerstande  der  Sänger  scheiterte. 

Venedig,  neben  Rom  die  zweite  musikaliche  Hauptstadt 
Italiens,  Hess  sich  („siamo  Veneziani  e  poi  Cristiani")  auch  in 
Sachen  der  Musik  von  Rom  nichts  vorschreiben  —  nach  Deutsch- 
land wirkte  Venedig  mehr  hinüber  als  Rom  —  in  Frankreich  lag 
die  Musik  fiir  den  Moment  nahezu  brach,  das  protestantische 
Deutschland  und  England  waren  am  wenigsten  geneigt,  sich  Tri- 
dentiner  Beschlüssen  zu  fügen  —  so  blieb  ftir  die  „Reform*1  kaum 
ein  anderer  Boden  übrig,  als  Rom  selbst.  Hier  reiht  sich  aller- 
dings eine  lange  Reihe  glänzender  Namen  und  Werke  an  Pa- 
lestrina;  der  „Palestrinastyl"  ist  der  Styl  der  römischen  Schule. 
Zwar  nicht  in  Rom  aber  anderwärts  wurden  trotz  des  Verbotes 
Messen  über  weltliche  Gesänge  noch  lange  Zeit  componirt.  Or- 
lando Lasso  hat  ihrer  eine  ganze  Menge,  Lodovico  Balbi  schrieb 
1595  eine  Messe  über  „fuggite  il  sonno"  —  noch  1658  erschien 
bei  Robert  Ballard  in  Paris  eine  von  Charles  d'Helfer  über  das 
Lied  „lorsque  d'un  desir  curieux"  gemodelte  Messe.  Karl  Luython 
brachte,  dem  Verbot  des  Einmischens  fremder  Textesworte  stracks 
zuwider,  Rudolf  II.  seine  Huldigung  in  einer  Messe  dar.  wo  (das 
Crucifixus  allein  ausgenommen)  beständig  in  den  Ritualtext  hinein- 
gesungen wird:  „Caesar  vive  faxit  Deus  noster,  clamant  omnes 
gentes".  Eine  andere  Messe  von  ihm  heisst:  „Tirsi  moris  volea". 
Ja  in  Rom  selbst  schloss  noch  tief  im  17.  Jahrhundert,  wo  die 
tridentiner  Beschlüsse  über  Musik  halb  vergessen  waren,  Carissimi 
die  lange  Reihe  der  Omme-arme-Messen  mit  einem  zwölfstimmigen 
Prachtstück.  Palestrina,  welcher  das  Verbot  besser  kennen  musste, 
als  ein  anderer,  brauchte  bei  seiner  Messe  über  Ferrabosco's  „Jo 
mi  ton  giovinelta"  (Text  von  Bocaccio)  die  unschuldige  List,  sie 
einfach  „Missa  primi  toni"  zu  nennen  —  aber  sogar  auch  er  liess 
seine  Missa  omme-arme  unter  dem  wahren  Namen  drucken  — 
das  Verleugnen  hätte  bei  dem  allbekannten  Liede  eben  nichts 
geholfen.  Im  fünften  Buche  der  Messen  Palestrina'«,  welches  erst 
#  1590,  also  lange  nach  eingetretener  voller  Gesetzesgiltigkeit  der 
Tridentiner  Beschlüsse,  in  Rom,  vom  Meister  selbst  herausgegeben, 
erschien,  findet  sich  eine  Messe  nasce  la  gioia  mia  —  im  neunten 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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Buche  (1599)  eine  Messe  vesliva  i  colli,  im  zehnten  Buche  (16U0) 
eine  Messe  gid  fü  chi  «T  ebbe  cara,  im  eilften  (1600)  eine  Messe 
Argande  Uela  sperai,  im  zwölften  (1601)  eine  Messe  quai  e  il  piu 
grand'  amor 

Palestrina's  Mission  war  eine  ganz  andere,  als  zu  zerstören 
und  zu  beseitigen  —  er  kam  um  zu  vollenden.  Man  kann  es 
nicht  nachdrücklich  genug  betonen,  dass  er  die  letzte,  höchste 
Blüte  einer  Jahrhunderte  langen  Entwicklung  ist,  deren  ganze 
Triebkraft  dahin  ging,  endlich  ihn  hervorzubringen.  Das  Wort 
Goethe's  über  Raphael  Sanzio,  welcher  der  langsam  und  allmälig 
gebauten  Pyramide  endlich  „den  Gipfel  aufsetzte,  über  und  neben 
dem  kein  anderer  stehen  mag"  —  gilt  bedingt  auch  von  Pa- 
lestrina —  bedingt:  weil  neben  ihm  allerdings  eine  ganze  glor- 
reiche Schaar  von  Meistern  seiner  —  der  römischen  —  Schule 
und  Richtung  steht,  welche  in  Beziehung  auf  ihn  eine  ganz  andere 
Bedeutung  haben,  als  die  Schüler  Raphaels  —  Giulio  Bomano 
nicht  ausgenommen  —  neben  ihrem  Meister.  Als  Schüler  Gou- 
dimels  ist  Palestrina  ein  direkter  Abkcmmb'ng  der  französisch- 
niederländischen  Schule.  Dass  er  die  Werke  der  älteren  Nie- 
derländer zum  Gegenstande  eifriger  und  tiefer  Studien  geroachtr 
lehren  «eine  eigenen  zür  Genüge.  Kr  studirte  sie,  wie  der  Malef 
alte  Kunstwerke  studirt  —  es  sind  nicht  die  Meister  der  un- 
mittelbar vorhergegangenen  Periode,  welchen  er  seine  Aufmerks- 
amkeit zuwendet,  er  greift  nach  Okeghem  und  Hobrecht  und 
nach  denjenigen  Werken  Josquins,  in  welchen  dieser  letztere  als 
der  bewunderte  Virtuose  der  Satzktinste  erscheint,  bei  welchem 
„die  Noten  machen  müssen,  was  er  will."  Die  künstlichen  No- 
tirungen  mit  Modus  und  Tempus  und  Prolation  und  was  die  Men- 
suralnote  sonst  an  spitzfindigem  Apparate  bot,  die  thematischen 
Spielereien  mit  regelmässigen  Notengruppen  oder  mit  irgend  einem 
durchs  ganze  Stück  eigensinnig  festgehaltenen  Motiv,  die  verkehrt 
gegen  einander  schreitenden  Stimmen  —  das  Alles  war  schon 
so  gut  wie  ganz  aus  der  Mode  gekommen,  und  Goudimels  Com- 
positionen  lassen  erkennen,  dass  er  selbst  sich  damit  so  wenig 


1)  Leicht  nachzuerzählende  Geschichten  haften  den  schlagendsten 
Widerlegungen,  klar  vorliegenden  Thatsachen  zum  Trotz  unausrottbar. 
In  S.  Klein s  1873  erschienener  Biographie  Sixtus  des  Fünften  ist  Seite  24 
zu  lesen:  „während  seines  zweiundzwanzigtägigen  Pontificates  fand 
Marceil  II.  Zeit,  den  Nepotismus  zu  verdammen  und  die  Einmischung  der 
Päpste  in  politische  Angelegenheiten  zu  tadeln;  die  ganz  entartete  (!) 
Kirchenmusik  gedachte  er  ans  dem  Gottesdienste  zu  ver- 
bannen; sie  wurde  gerettet  durch  Pierluigi's  unsterbliches 
Heisterwerk,  die  Missa  Papae  Marcelli".  Sehr  richtig  sagt  Fe*tis: 
«Si  Ton  admettait  l'anecdote  du  pape  Marcel,  il  fandrait  supposer,  que 
Palestrina  a  sauve"  deux  foix  la  musique  religieuse  de  l'anathfeine,  dont 
Ion  voulait  la  frapper" ,  nemlich  unter  Papst  Marcellus  II.  und  unter 
Pins  IV. 


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24 


Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


mehr  befasste,  als  irgend  ein  Zeitgenosse,  und  also  wohl  auch 
seine  Schüler  damit  verschonte.  Wir  dürfen  daher  annehmen, 
dass  Palestrina  aus  eigenem  Lernetrieb  in  den  reichen  Musik- 
archiven Roms  suchte  und  fand,  was  ihm  von  alter  Musik  des 
Studiums  werth  schien.  Mouton  war  bekanntlich  der  Lieblings- 
componist  Leo's  X.,  Messen  von  diesem,  sowie  Stücke  des  in 
dauerndem  und  hohem  Ansehen  gebliebenen  Josquin  kann  Pa- 
lestrina, wenigstens  als  Knabe,  gehört  haben. 

Man  darf  ferner  ganz  unbedenklich  behaupten,  dass  Palestrina 
nicht  geworden  wäre,  was  er  ist,  hätte  er  nicht  die  niederländische 
Kunst,  und  zwar  die  niederländische  Kunst  strengster  Richtung, 
zu  einer  Art  Palästra  gemacht,  welche  seinem  Geiste  eine  ganz 
andere  Schnellkraft  und  Gelenkigkeit  gab,  als  er  aus  Goudimels 
Schule  allein  hätte  mitbekommen  können.  Er  lernte  dort  Dinge, 
welchen  sein  Meister  Goudimel,  unter  dem  Anschein,  sie  zu  ver- 
schmähen, vielleicht  nicht  ganz  gewachsen  war.  Die  vollstän- 
dige Beherrschung  des  Tonsatzes,  selbst  in  seinen  verwickeltesten 
( 'ombinationen ,  welche  Palestrina  auf  diesem  Wege  gewann, 
machte  es  ihm  möglich,  sich  auf  die  Grundlage  des  kunstvollsten 
Tonsatzes,  dessen  Technik  allein  schon  der  höchsten  Bewunderung 
werth  ist',  zur  freien  Schönheit  zu  erheben,  und  uns  nirgends 
Last  und  Mühe  des  „Machens"  empfinden  zu  lassen,  sondern  mit 
Götterleichtigkeit  schaffend,  nicht  allein  die  volle  Kraft,  sondern 
auch  die  ganze  Anmuth  seines  Genius  zu  entwickeln.  Baini  hätte 
nicht  Ursache  gehabt  über  den  „squalor  fiammingho"  zu  klagen, 
welchen  Palestrina  erst  loswerden  musste  —  etwa  wie  sich  Dante, 
nachdem  er  die  neun  Höllenkreise  durchwandert,  den  Höllen- 
brodem  vom  Gesichte  waschen  muss,  ehe  er  zum  reinen  Lichte 
der  Sehgen  emporsteigen  darf.  Palestrina  scheint  sein  Lebelang 
auch  als  Lehrer  den  Weg  durch  die  niederländische  Tonkunst 
für  den  richtigen  zur  vollen  Meisterschaft  gehalten  und  seine 
eigenen  Söhne  und  seinen  Bruder  auf  diesem  Pfade  geleitet  zu 
haben.  Er  hatte  drei  Söhne,  Angelo,  Igino  und  einen  dritten, 
von  dem  es,  wie  von  Palestrina's  jüngerem  Bruder,  zweifelhaft 
ist,  ob  er  Silla  oder  ob  er  Ridolfo  geheissen.  In  der  Dedications- 
vorrede  des  zweiten  Buches  der  Motetten  (1572),  in  welches  Pa- 
lestrina auch  Motetten  Angeli  Petraloysii,  Sillae  Petra- 
loysii  und  Rodulphi  Petraloysii  aufnahm,  sagt  er:  „inter- 
positas,  fratris,  liberorumque  meorum  primitias"  (Igino  besass  kein 
Musiktalent).  Hätte  nun  Palestrina's  Vater  nicht  gleichfalls  Petra- 
loysius  geheissen,  so  Hess  sich  die  Sache  nach  dem  beigesetzten 
Vatersnamen  leicht  entscheiden.  Kein  Zweifel  aber,  dass  Angelo, 
Silla  und  Rudolf  Schüler  Palestrina's  waren.  Baini  hat  in  diesen 
Familiencompositionen  zu  seinem  Verdrusse  „steifen  Flamänder- 
ttyV*  entdeckt,  woraus  zu  schliessen,  dass  man  diesen  Styl  im 
Hause  Palestrina's  nicht  in  gleichem  Masse  verabscheute,  wie  ein 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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ehrwürdiger  Biograph  thut.  Das  meiste  Talent  hatte  unverkennbar 
Angelo,  seine  Motette  nimmt  sich  ganz  gut  aus,  Silla  und  Ridolfo 
lieferten  kaum  mehr,  als  tadellose  Schularbeiten,  welche  beträcht- 
lichen Mangel  an  Erfindung  verrathen  —  stellenweise  mag  die 
bessernde  Hand  des  grossen  Lehrers  helfend  eingegriffen  haben. 
Mit  diesen  „Primizien"  war  die  Künstlerlaufbahn  der  drei  Scho- 
laren auch  zu  Ende  —  man  hat  von  ihnen  nichts  weiter  gehört. 

Vieles  in  den  ersten  Messen  sieht  so  völlig  altniederländisch 
aus,  dass  man  mit  Rücksicht  auf  den  Styl  der  Zeitgenossen  sagen 
kann:  Palestrina  archaisire.  Dass  er  diese  seine  Arbeiten  aber 
etwa  als  blosse  Studien  angesehen  habe,  ist  durchaus  in  Abrede 
zu  stellen  —  denn  noch  1570,  drei  Jahre  nach  der  Drucklegung 
der  M.  papae  Marcelli,  1567,  nahm  er  in  das  dritte  Buch  der 
Messen  als  erste  Nummer  seine  „M.  omme  arme"  auf  —  eine 
durch  und  durch  niederländische  Composition,  aber  sicher  auch 
eine  seiner  grossartigsten ,  ein  wahres  Monumentalwerk  Zu 
keiner  Zeit  vergisst  Palestrina,  was  er  seineu  Vorgängern  dankt  — 
mehrere  seiner  Hauptwerke  sind  in  augenscheinlichem  Wetteifer 
mit  älteren  Compositionen  entstanden.  So  die  Motette  „Tribularer 
si  nescirem"  —  eine  seiner  schönsten,  welche  in  der  Disposition 
des  „pes  ascendens  in  voce  media"  völlig  dem  Miserere  Josquins 
nachgebildet  ist,  eine  neue  Lösung  des  alten  Problems  im  Pa- 
lestrinageist,  die  „Missa  ad  fugam"  mahnt  bis  selbst  auf  den  Namen 
an  die  ältere  Josquins  —  eine  dritte  Namensschwester  ist  iu  der 
ganzen  Literatur  nicht  zu  finden.  Zur  Missa  super  ut  re  mi  fa 
sol  la  scheint  Brumel  mit  der  seinigen  Anregung  gegeben  zu 
haben.  Eine  spätere  von  Soriano,  die  „Missa  sine  nomine",  ist 
gleich  jener  Josquins  eine  durchgeführte  Canonstudie.  Canons 
mit  Mottos  waren  eine  nahezu  vergessene  Sache  —  Palestrina 
schreibt  dem  Agnus  der  Missa  brevis  bei:  „Symphonizabis"  — 
der  sechsstimmigen  Motette  „Accepit  Jesus  calicem"  giebt  er  die 
Beischrift:  „Canon:  Ire»  in  unvm".  In  den  Hymnen  {Ave  maris 
Stella,  Sancta  et  Immaculata  u.  s.  w.)  liebt  es  Palestrina,  zwei 
Tenore  als  streng  durchgeführten  Canon  zu  behandeln,  während 
die  übrigen  Stimmen  contrapunktiren,  und  dabei  sinnreiche  An- 
klänge an  die  Motive  des  Cantus  firmus  zu  den  geistvollsten 
Nachahmungen  verweben.  Es  hat  ein  sehr  eigentümliches  Aus- 
sehen, wenn  in  der  Antiphone  Beatus  Laurentius  der  Tenor  streng 
auf  den  kirchlichen  Cantus  firmus  in  langen  Haltenoten  beschränkt 


1)  Der  C&cilienverein  in  Begenaburg  brachte  sie  vor  wenigen  Jahren 
zor  Aufführung  —  die  Wirkung  war  eine  überraschend  mächtige  —  kaum 
wagte  man  sich  zu  gestehen:  sie  sei  grösser  als  die  der  M.  r.  Marcelli. 
Die  Ausführung  ist  übrigens  eine  sehr  schwierige  Aufgabe.  Trotzdem 
wäre  es  wohLgethan,  die  omme  arme  in  die  eben  wieder  beginnende  Fort- 
setzung der  Proske'schen  Musica  divina  aufzunehmen. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina 


bleibt,  wozu  die  übrigen  das  reichste  contrapunktische  Leben  ent- 
wickeln. In  dem  fünfstimmigen  Magnificat  des  fünften  Kirchen- 
tons enthält  das  (sechsstimmig  gesetzte)  „Sicut  erat"  ein  echt 
niederländisches  Kunststück:  die  beiden  Tenore  sind  so  gesetzt, 
dass  der  eine  seinen  Part  geradeaus,  der  andere  aber  diesen  Part 
rückläufig  singt,  wir  treffen  Canons  in  Verkehrtschritten  —  im 
Schlusssatze  des  Magnificat  sexti  toni,  im  Benedictas  des  Missa 
ad  fugam,  das  Agnus  der  Messe  „repleatur  os  meum"  ist  ein  ca- 
nonisches Duett,  ganz  analog  dem  Benedictas  in  Josquins  M. 
omme-arme  sup.  voc.  mus.,  in  der  Messe  „quem  dicunt  homines'' 
wird  eine  kurze,  dem  rituellen  Motiv  entnommene  Notengruppe 
immerfort  als  cantus  firmus  wiederholt.  Diese  alterthümelnden 
Züge,  welche  sogar  schon  bei  Palestrina's  Zeitgenossen  nicht  mehr 
vorkommen,  geben  seiner  Musik  einen  eigenen  Reiz,  wir  erkennen 
wieder  die  Analogie  mit  Raphael,  welcher  gerade  dort  am  hin- 
reissendsten  ist,  wo  sich  bei  ihm  die  Nachklänge  der  alten, 
strengen  Schule,  gemildert  durch  seinen  himmlischen  Schönheits- 
sinn und  seine  holde  Anmuth,  zeigen.  Die  beiden  Messen  Ecce 
S<icerdos  magnus  und  Omme-arme  sind  völlige  Studien  Über  die 
allerfeinsten  Feinheiten  der  Mensuralnotirung.  Im  fünfstimmigen 
Kyrie  der  zweitgenannten  Messe  (über  welche  Lodovico  Zacconi 
im  ersten  Theile  seiner  1592  erschienenen  „Prattice  di  musica" 
eine  ausführliche  Erläuterung  geben  zu  sollen  für  nöthig  hielt) 
lässt  Palestrina  (ganz  wie  Josquin)  den  Tenor  im  Tempus  per- 
fectum  cum  prolatione,  die  anderen  Stimmen  im  Tempus  perfectum 
integri  valoris  singen,  sie  setzen  alle  nach  einander  mit  dem  Lied- 
motiv  auf  dem  Intervallen  g-d-h  ein  —  im  Tenor  dehnen  sich 
kraft  des  Taktzeichens  die  Noten  zu  langathmigen  Hahr  tonen. 
Im  „Christe"  singt  der  Tenor  die  zweite  Hälfte  des  Liedes  unter 
dem  Zeichen  des  Halbkreises  mit  Punkt  —  ebenso  hernach  im 
Sanctus  und  auch  im  ersten  Theile  des  „Et  in  terra"  —  die 
anderen  Stimmen  des  letzteren  sind  im  Tempus  imperfectum  di- 
minutum  gesetzt,  welches  sie  im  „Qui  tollis"  beibehalten,  während 
der  Tenor  sich  im  Tempus  imperfectum  integri  valoris  bewegte ; 
erst  beim  „in  gloria  Dei  patris  Amen"  treffen  alle  Stimmen  — 
zum  erstenmale  in  der  Messe  —  unter  dem  gleichen  Taktzeichen 
zusammen.  Im  „Pleni"  wechseln  fortwährend  eine  schwarze 
Brevis  und  eine  weisse  Semibrevis.  Der  Sopran  des  Benedictas 
hat  gar,  wie  es  weiland  11  obrecht  liebte,  drei  vorgesetzte  Zeichen: 


(Motiv:  Omme  arme.) 


Aehnliche,  zum  Theil  höchst  schwierige  Zeichencombinationen 
enthält  die  Messe  „Ecce  sacerdos  magnus".    Im  Agnus  stehen 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina.  27 

Discant  und  Alt  unter  dem  Zeichen  O»  der  Tenor  unter  dem 
Zeichen  ©,  der  Bass  unter  dem  Zeichen  <p  —  es  ist  also  in- 
teger valor,  Augmentirung  und  Verkleinerung  combinirt.  Dazu 
kommen  noch  Imperficirung,  Alterirung,  Notenschwärzung,  Punk- 
tirung,  Mischung  zwei-  und  dreitheiliger  Rhythmen,  intricate  Ein- 
mengung von  Triolen.  Im  Osanna  singen  —  was  seit  Okeghem 's 
omme- arme- Messe  nicht  da  war  —  alle  Stimmen  unter  dem  Pro- 
lationszeichen.  G.  B.  Rossi  dürfte  auch  hier  sagen:  „bisogno 
che  F  uomo  s'arroi  di  buona  teorica  per  cantare  *)".  Styl  und 
Phraseologie,  Art  der  Motive,  gelegentliche  harmonische  Se- 
quenzen —  Alles  ist  erzniederländisch.  Zu  den  canonischen 
Messen  Palestrinas  zählt  nebst  der  Missa  ad  fugam,  und  der 
Missa  sine  nomine  auch  die  im  achten  Bande  gedruckte  Messe 
„Sacerdotes  Domini",  deren  Doppelcanons  sich  in  der  Obersecunda 
und  in  der  Oberterz  bewegen  —  unter  diesem  Zwange  gestaltet 
sich  alles  grossartig  und  frei  —  es  ist  der  Triumph  der  voll- 
endeten Beherrschung  der  Form.  Die  vorhin  erwähnten  vier- 
stimmigen Madrigale,  welche  Palestrina  so  vielen  Verdruss  ver- 
ursacht haben  sollen,  gehören  noch  seiner  Frühzeit  an  —  und 
wenn  Einzelnes  wirklich  sehr  Schöne,  wie  das  Madrigal  Donna 
rostra  mercede;  la  vera  Aurora  u.  s.  w.  eine  Ankündigung  der 
hohen  Blüte  scheint,  zu  welcher  später  Luca  Marenzio  das  Ma- 
drigal brachte,  so  gleichen  andere  Sätze  bedenklich  einem  Nach- 
klang der  alten  sentimentalen  Frottola  —  auch  sie  haben,  wie 
es  für  Palestrina's  Erstlingsarbeiten  charakteristisch  ist,  etwas 
Arcbaisirendes.  Es  fehlt  der  rechte  Madrigalenton,  wie  ihn 
Hadrian  Willaert  mustergiltig  geschaffen  und  ihn  auf  seine  Schüler 
Cyprian  de  Rore,  Constanzo  Porta  u.  a.  vererbt  hat,  die  vor- 
nehme Tonpoesie ,  der  geistvoll  belebte  musikalische  Conver- 
sationston  der  feinen  italienischen  Gesellschaft  des  Cinquecento, 
der  intensive,  und  doch  von  der  hohen  Bildung  so  massvoll  ge- 
zügelte  Ausdruck  der  Empfindung,  wie  wir  bei  jenen  Meistern 
antreffen  und  wie  auch  Luca  Marenzio  in  so  schöner  Weise  ge- 
troffen hat,  —  diese  Sätze  Palestrinas  haben  etwas  Trockenes  und 
Schwerfälliges,  und  der  Ton  des  Sentimentalen  schlagt  in's  La- 
mentose  um.  Eine  der  wenigst  erfreulichen  Nummern  ist  das  an 
Roussel  gerichtete  Gelegenheitsstück  (in  lode  di  Rossel)  —  ein 
steifes  Compliment,  welches  beim  Abschied  ein  Capellmeister  dem 
andern  macht. 

In  voller  Bedeutung  tritt  uns  Palestrina  erst  in  den  „Im- 
properien"  entgegen.  Sie  gehören  zu  den  Allereinfachsten,  aber 
auch  allerschönsten,  was  er  geschaffen.  Heiliger  Schmerz  und 
heilige  Liebe   sprechen  aus   diesen   wenigen  falsobordonartigen 


1)  Or£.  do  Cant.  Cap.  XVIII  (S.  47).  Er  rechnet  das  Agnus  unter 
die  „eBempj  stra?aganti",  fügt  aber  hinzu:  „non  meno  difficili,  che  vaghi". 


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2S 


Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


Accorden  mit  dem  so  wunderbar  rührend  austönenden  Schlussfall. 
Sie  haben  Jahrhunderte  lang  in  der  sixtinischen  Kapelle  ihre  tief 
ergreifende  Wirkung  bewährt.  Die  Missa  Papae  Mai  colli  eröffnet 
die  neue  Epoche  in  des  Meisters  Schaffen.  Erinnert  man  sich, 
welcher  Standpunkt  ihm  dabei  angewiesen  war,  so  kann  man  der 
Art  die  Bewunderung  nicht  versagen,  wie  Palestrina  die  an  ihn 
gestellte  Forderung,  den  Text  deutlich  hervortreten  zu  lassen, 
mit  den  unabweisbaren  Forderungen  der  Kunst,  sogar  mit  deren 
reicheren  Formen  in  Einklang  zu  setzen.  Nicht  einmal  die  ver- 
pönten „Fugen"  (d.  h.  Canons)  hat  er  vermieden;  gleich  im 
ersten  Kyrie  führt  er  die  beiden  Bässe  ganz  strenge  als  Canon 
all*  unisono,  während  im  „et  in  terra"  diese  beiden  Stimmen  eine 
Art  geistreichen  Scheincanon  ausführen;  nemlich,  ohne  einander 
notengetreu  nachzuahmen,  einander  immerfort  in  ähnlichen  Phrasen 
antworten.  Wo  über  ein  Textwort,  wie  „Amen"  u.  dgl.,  gar  kein 
Zweifel  mehr  sein  kann,  ergreift  Palestrina  sofort  die  willkommene 
Gelegenheit  zu  einer  sehr  kunstvollen  Verwebung  der  Stimmen. 
Der  Eintritt  eines  solchen  Momentes  wird  sorgsam  vorbereitet  — 
das  textreiche  „Credo"  beginnt  höchst  einfach,  und  wird  allmälig 
reicher,  bis  beim  Schluss-Amen  ein  nachahmungsreiches,  lebendig 
bewegtes  Tonspiel  eintritt,  dessen  Thema  aus  der  absteigenden 
Scala  gebildet  ist  —  es  ist,  als  ergössen  sich  Feuerströme  der 
Harmonie  vom  hohen  Himmel.  Um  den  Text  möglichst  deutlich 
vernehmbar  zu  machen,  wendet  Palestrina  Öfter  den  Contrapunkt 
Note  gegen  Note  an,  oder  er  belebt  solche  einfache  (Kombina- 
tionen durch  die  einfachsten  Mittel:  zwei  Noten  gegen  eine  kurze 
energische  Gänge  von  vier  Noten  in  dieser,  jener  Stimme  — 
während  eine  Stimme  auf  einer  Textsylbe  figurirend  verweilt, 
lässt  er  eine  zweite  mit  deutlichst  declamirtem  Texte  in  einem, 
charakteristischen  Motiv  hinzutreten  —  Worte,  wie  „suseipe-mi- 
serere  -  quoniam -etiam-spiritum-resurrectionem- venturi  seculi"  u. 
dgl.  m.  declamirt  er  scharf  ausgeprägt  in  sorgsamster  Betonung  — 
sie  treten  wie  in  deutlichen  Buchstaben  einer  eleganten  Lapidar- 
schritt  hingeschrieben  hervor.  Palestrina  gruppirt  die  Stimmen 
oft  nur  zu  dreien,  zu  vieren  —  treten  dann  alle  sechs  ein,  so 
wirkt  der  Contrast  der  Tonstärke  äusserst  belebend,  ohne  der 
Deutlichkeit  Eintrag  zu  thun.  Die  Pausen  dienen  oft  dazu,  eine 
neu  eintretende  Stimme  mit  ihren  Textworten  entschieden  hervor- 
treten zu  lassen.  Alle  diese  Mittel  finden  sich  schon  bei  Pa- 
lestrina's  Vorgängern  —  sein  Verdienst  wird  dadurch  eher  grösser 
als  kleiner  —  wenn  man  erwägt,  mit  wie  genialem  Blicke  er 
von  allen  Seiten  gerade  dasjenige  auswählt,  was  dem  ihm  vor- 
geschriebenen Zwecke  dienlich  ist. 

Man  hat  sich  gewöhnt,  dieses  Tonwerk  als  Palestrina's  ab- 
solut höchste  Leistung  anzusehen  —  aber  unter  den  folgenden 
Messen  Palestrina's  giebt  es  viele,  welche  ihr  an  Werth  und 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


29 


Schönheit  gleichkommen.  Charakteristisch  ist  an  ihr  ein  eigen- 
tümlicher Zug  schlichter  Hoheit  Der  Tonsatz  ist  in  der  Ver- 
webung der  sechs  Stimmen  durchweg  höchst  meisterhaft,  lebendig 
und  von  idealer  Reinheit 1).  Sehr  begreiflich  ist  es,  dass  die 
Missa  Papae  Marcelli  bei  den  Zeitgenossen  Sensation  machte  — 
sie  erfuhr  (in  damaliger  Zeit  eine  Seltenheit)  einige  Bearbeitungen 
für  mehr  und  für  weniger  Stimmen  als  die  ursprünglichen  sechs: 
Feiice  Anerio  richtete  sie,  gleichsam  fiir  den  Hausgebrauch,  zu 
vier  Stimmen  ein  —  Francesco  Soriano  dachte  ihre  Wirkung 
durch  acht  Stimmen  zu  steigern  —  ein  Ungenannter,  dessen  Arbeit 
sich  in  der  Chiesa  nuova  zu  Rom  befindet,  setzte  gar  zwölf 
Stimmen  in  Bewegung2).  Besser  wäre  das  Meisterwerk  unan- 
getastet geblieben,  denn  Palestrina  hätte  ebenso  gut  selbst  zu 
acht  oder  zwölf  Stimmen  greifen  können,  und  wusste  genau  was 
er  wollte.  Aber  es  kam  in  Rom  eine  Zeit,  wo  die  Tonsetzer 
unter  acht,  zwölf,  sechszehn  u.  s.  w.  Stimmen  kaum  mehr  schreiben 
mochten. 

Schon  1567  erschien  die  Missa  Papae  Marcelli  in  Palestrina's 
„Liber  Missarum  secundus"  —  welcher  Philipp  II.  von  Spanien 
gewidmet  ist  und  nebst  der  genannten  Messe,  die  vierstimmigen 
de  beata  Virgine,  Inviolata^  ad  fugam,  sine  nomine,  und  die  fünf- 
stimmige  Aspice  Domine  und  Sutrum  me  fac  enthält  Das  dritte 
Buch  Messen  folgte  1570  mit  der  Missa  omme  arme,  der  funf- 
stimmigen  Repleatur  os  meum,  der  sechsstimmigen  de  beata  Virgine 
und  super  ut  re  mi  fa  sol  la  und  den  vierstimmigen  Spem  in  a/ium, 
Primi  <om\  Missa  brevis  und  de  feria.     Das   Verbot   des  Ein- 

1)  Palestrina  ist  —  und  nicht  nur  in  der  Marcellusmesse,  sondern 
auch  anderwärts  —  sorgfältiger,  als  irgend  einer  seiner  Vorgänger.  Quint- 
parallelen, vor  welchen  letztere  nicht  allzuviel  Angst  und  Scheu  hatten, 
meidet  er  —  eine  Stelle  im  Kyrie  der  Messe  „Tu  es  Petrus",  welche  eine 
Ausnahme  zu  bilden  scheint,  ist  ein  blosser  Schreibfehler  der  Copisten 
im  Altaemps'schen  Codex.  Baini  hat  die  richtige  Lesart  hergestellt.  Die 
Paralleloctaven  in  der  Motette  „Domino  preces  servi  tuiM 


sind  ebenso  unverkennbar  ein  Copistenfehler;    der  Alt  muss  heissen 


2)  Ein  Seitenstück  zu  den  „Neubearbeitungen  der  Instruraentirung" 
bei  Händerschen  u.  a.  Werken! 


(NB.) 


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■ 

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Giovanni  Pieriuigi  da  Palestrina. 


mischcns  fremder  Texte  macht  sich  in  der  M.  de  B.  Virgine, 
einer  älteren  Arbeit  Palestrina's ,  merkwürdig  durch  die  Text- 
lücken  fühlbar,  wo  früher  die  gewohnten  Einschübe  gestanden 
„Mariam  gubernans  —  Mariam  coronans".  Die  Misaa  brevis  ist 
ein  kleines  Juwel  —  eine  köstliche  Studie  über  Goudimels  Messe 
„audi  filia".  Bei  der  Missa  ad  fugam  darf  man  nicht  an  die 
Bach'sche  Fugenform  denken  *)  —  es  ist  eine  canonische  Messe 
nach  Art  der  gleichnamigen  Josquins  —  auch  wieder  eine  Studie, 
aber  eine  Studie  im  höchsten  Sinn;  gleich  im  ersten  Kyrie  ist 
der  Canon  ein  ganz  strenger  doppelter  (zwischen  Bass  und  Alt, 
und  zwischen  Tenor  und  Sopran  beide  in  der  Octave),  das 
Sanctus  combinirt  sich  aus  zwei  Canons  in  Verkehrtschritten  u.  8.  w. 
Die  meisterhafteste  Gestaltungskraft  und  die  vollkommene  Be- 
herrschung der  Tongestaltuugen  eint  sich  mit  der  ungezwungensten 
Führung  der  Stimmen  und  dem  vollsten  Wohllaut  ihres  Zu- 
sammenklingens. Das  blos  zweistimmige  Crucifixus  überrascht 
durch  seine  Kraft  und  Fülle  doppelt,  wenn  man  sich  erinnert,  wie 
ungebührlich  mager  derlei  canonische  Duetten  bei  den  älteren 
Meistern  einherzustelzen  pflegen. 

Am  t.  April  1 571  erhielt  Palestrina  die  nach  Animuccia's 
Tode  vacant  gewordene  Kapelimeisteretelle  bei  St.  Peter  —  zum 
zweitenmale  —  und,  als  zweite  Erbschaft  nach  Animuccia  waren 
die  nahen  Beziehungen,  in  welcher  Palestrina  zu  dem  h.  Philippus 
Neri  trat,  für  dessen  Schüler  er,  wie  früher  Animuccia  gethan, 
kleine  ansprechende  Singstücke  componirte.  In  diese  Zeit  fallen 
auch  zwei  bedeutende,  im  päpstlichen  Cappellenarchiv  befindliche 
Messen,  eine  fünfstimmige  über  seine  eigene  Motette  O  magnum 
mysterium,  die  andere  zu  sechs  Stimmen  über  das  Veni  creator 
Spirilus,  welches  der  Sopran  als  Cantus  firmus  immer  wieder  an- 
stimmt —  ein  Motiv,  welches  wieder  an  Altniederländisches  er- 
innert. Pitoni  erzählt,  Palestrina  sei  durch  den  am  23.  Juli  1580 
erfolgten  Tod  seiner  Gattin  Lucrezia  so  heftig  erschüttert  worden, 
dass  er  aller  Musik  zu  entsagen  und  sein  Tagewerk  mit  der 
Motette  „super  flumina  Babylonis"  zu  beschliessen  im  Sinne  gehabt. 
Die  Worte  des  mit  diesen  Worten  beginnenden  Psalms  schildern 
bekanntlich,  wie  die  trauernden  Kinder  Israel  ihre  Harfen  weinend 
an  die  Weiden  hängen.  Die  Erzählung  wird  indessen  bezweifelt, 
weil  Palestrina  seinen  resignirten  Entschluss  mindestens  sehr 
schnell  wieder  aufgegeben  haben  müsste,  denn  noch  1 582  erschien 
das  vierte  Buch  Messen  —  1583  folgten  die  neunuudzwanzig 
Motetten  über  das  hohe  Lied  —  eines  von  des  Meisters  Haupt- 
werken. Der  Inhalt  des  „super  flumina"  widerspricht  aber  der 
Erzählung  Pitoni's  in  keiner  Weise.    Es  spricht  sich  in  der  ge- 


1)  Wie  Thibaut  („über  Reinheit  der  Tonkunst*1)  zur  Ungebühr  thut. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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nannten  Motette  der  bitterste  Schmerz,  das  herbste  Leid  in  er- 
greifender Weise  aus  —  man  empfindet,  dass  es  des  Meisters 
eigene  Seele  ist,  in  welche  wir  einen  Blick  werfen.  Wie  ein 
stiller  Trauerzug  schleichen  die  Stimmen  hintereinander  her,  bis 
sie  bei  den  Worten  „illic  sedimus  et  flevimus"  in  vollen  Accorden 
mit  kühnen,  prachtvollen,  modulatorischen  Wendungen  zusammen- 
treten, und  so  weiter  bis  zu  dem  in  düstere  Stille  verklingenden 
Schluss. 

Bald  indessen  finden  wir  Palestrina  thätiger  als  je.  Zunächst 
widmete  er  Gregor  XIII.  (1572 — 1585)  drei  sechsstimmige 
Messen  —  über  Viri  Galitaei,  einer  der  schönsten  Motetten  Pa- 
lestrina's  selbst,  über  eine  andere  seiner  Motetten  Dum  comple- 
renlur  und  über  das  Ritualmotiv  des  Te  Deum.  Eine  Messe  Con- 
filebor  zu  acht  Stimmen  a  Cori  spezzati,  brachte  1585  Giovanni 
Becci,  Domherr  aus  Fiesole,  nach  Venedig,  wo  sie  wegen  ihrer 
Verwandtschaft  mit  der  venezianischen  Kunstweise  sehr  an- 
gesprochen zu  haben  scheint  —  Girolamo  Scotto's  Erben  beeilten 
sich  sie  in  Druck  zu  legen,  unter  dem  Titel:  „Di  M.  Gio.  Pier- 
luigi  da  Palestrina  una  messa  a  otto  voci  sopra  il  suo  confitebor 
a  due  Cori". 

Am  24.  April  1585  bestieg  der  ehemalige  Hirtenknabe  aus 
Grottamare,  Feiice  Peretti,  als  Sixtus  V.  den  päpstlichen  Thron. 
Als  nach  vierzehntägigen  heissen  Wahlkämpfen  der  Neugewählte 
in  die  Peterskirche  im  feierlichen  Zuge  eingetreten,  intonirte  die 
Capelle  die  von  Palestrina  mittlerweile  für  die  Gelegenheit  vor- 
bereitete Messe  Tu  es  pastor  avium,  zu  welcher  ihm  seine  bereits 
1563  gedruckte  gleichnamige  Motette  die  Motive  bot.  „Pierluigi 
hat  diesmal  vergessen,  dass  er  eine  Marcellusmesse  geschrieben1', 
soll  die  kurze,  scharfe  Kritik  des  neuen  Papstes  gewesen  sein. 
Wäre  aber,  wie  ein  neuer  Biograph  des  grossen  Sixtus  meint, 
„Palestrina  dadurch  ins  Herz  getroffen'4  worden,  so  würde  er  die 
Messe  wohl  in  aller  Stille  bei  Seite  gelegt  haben  —  aber  sie  ist 
unter  den  Messen  des  fünften  Buches  zu  finden,  dessen  Heraus- 
gabe Palestrina  selbst  noch,  hart  vor  seinem  Tode,  besorgte,  und 
er  hätte  um  so  minder  nöthig  gehabt,  seine  Sixtus-Messe  mit  auf- 
zunehmen, als  ihm  damals  noch  43  zur  Zeit  ungedruckte  Messen 
zur  Verfügung  standen.  Baini,  der  in  den  angeblichen  Tadel 
pflichtschuldigst  mit  einstimmt,  und  diesmal  auf  seinen  göttlichen 
Pierluigi  mit  etwas  komischer  Ereiferung  einzankt,  findet  die 
Verbin  dung  gregorianisch -ritueller  und  frei  erfundener  Figural- 
motive  verwerflich.  Als  ob  das  ein  Fehler  wäre  —  woher  hat 
denn  aller  Contrapunkt  den  Anfang  genommen  —  und  wie  oft 
kommt  diese  Verbindung  gerade  bei  den  grössten  Meistern,  auch 
bei  Palestrina  selbst,  vor?  Ebenso  wenig  selten  ist  es,  schwere 
Noten  des  Cantus  firmus  in  lebhafter  figurirte  Motive  austönen 
zu  lassen,  wie  Palestrina  schon  in  jener  Motette  gethan,  welche, 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


wenn  vielleicht  anch  nicht  seine  beste,  so  doch  sicher  eine  sehr 
gute  ist. 

Ist  etwas  Wahres  an  der  Anekdote,  so  antwortete  jedenfalls 
Palestrina  der  Kritik  in  der  seiner  würdigsten  Weise:  noch  in 
demselben  Jahre  1588  —  am  15.  August,  dem  Feste  der  Himmel- 
fahrt Marias  —  wurde  in  S.  Maria  Maggiore  eine  neue  Messe  zu 
sechs  Stimmen  von  Palestrina  aufgeführt:  „Assumpta  est  Maria"  — 
ein  Wunder  an  Kunst  und  Schönheit.  Sie  bezeichnet  vielleicht 
nebst  den  „Motetten  aus  dem  hohen  Liede"  und  dem  Stabal 
maier  den  Höhenpunkt  in  Palestrina's  Schaffen,  und  steht  neben 
der  Marcellusmesse  ebenbürtig  da,  Mit  Recht  sagt  Proske,  „der 
Genius  des  unerreichten  Meisters  schwebe  hier  im  reinsten 
Aether  —  es  liege  eine  Hoheit,  Anmut h  und  Begeisterung  in 
dieser  Messe,  dass  man  sich  unwillkürlich  zu  einer  Vergleichung 
mit  Raphaels  sixtinischer  Madonna,  ihrem  würdigsten  idealen 
Gegenbilde,  hingerissen  fühlt".  Baini  giebt  eine  kurze  und  gute 
Schilderung:  „Palestrina  theilt  die  sechs  Stimmen  öfter  in  zwei 
Chöre,  wechselt  aber  beständig  mit  der  Zusammensetzung,  so 
dass  er  Chöre  von  drei ,  vier  und  selbst  von  fünf  Stimmen  er- 
scheinen lässt.  Dazu  verbindet  er  die  einfachen  und  erhabenen 
Motive  der  Gregorianischen  Antiphone  mit  analogen  frei  erfun- 
denen Melodien ,  welche  sich  mit  jenen  anderen  zu  einem  sinn- 
reichen Ganzen  verknüpfen,  ihnen  das  Gleichgewicht  halten,  und 
in  herrlichen  Accorden  und  ganz  neuen  Harmoniefolgen  zusammen- 
tönen." Durch  die  von  Baini  gelobte  Gruppirung  der  Stimmen 
gewinnt  Palestrina  einen  zauberischen  Wechsel  von  Klang- 
fkrbungen.  So  intoniren  im  Gloria  vier  hohe  Stimmen  das  „qui 
tollis  peccata  mundiu  —  darauf  alle  sechs  „miserere  nobis"  — 
und  nun  wie  ein  Echo  in  vier  tiefen  Stimmen  abermals  „qui  tollis 
peccata  mundi"  und  nun  alle  zusammen,  einfach  und  mächtig: 
„suseipe  deprecationem  nostram".  Die  beiden  Contraltos  werden 
nach  Bedürfhiss  bald  zu  den  hohen  bald  zu  den  tiefen  Stimmen 
gestellt.  In  den  Motiven  in  den  einzelnen  Gängen,  in  den  sparsam 
aber  am  richtigen  Orte  angebrachten  verzierten  Stellen  spricht 
sich  Palestrina's  Schönheitssinn,  sein  idealer  Zug  in  hinreissen- 
der  Weise  aus.  Die  Höhe,  zu  welcher  sich  der  Kirchencom- 
ponist  Palestrina  hier  emporschwingt,  hat  kein  zweiter  wieder 
erreicht. 

Gerade  in  diese  Tage  fiel  eine  unangenehme  Agitation, 
welche  den  Zweck  hatte,  Palestrina  zum  „Maestro  della  cappella 
Apostolica"  zu  machen.  Die  Anregung  soll  von  Sixtus  V.  selbst 
ausgegangen  sein,  was  bei  dem  bekannten  Sinne  dieses  eisernen 
Papstes  für  gesetzliche  Correctheit  und  wie  aus  der  folgenden 
Darstellung  sich  zeigen  wird,  schwer  glaublich  ist.  Vorzüglich 
bemühte  sich  den  bisher  der  Capelle  vorgesetzt  gewesene  Prälat, 
Monsignor  Antorio  Boccapadule  zu  Palestrina's  Gunsten,  und  ein 


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GioTanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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gewisser  Tommaso  Benigni  verstand  es,  die  Stimmen  einer  Anzahl 
der  jüngeren  Sänger  für  ihn  zu  gewinnen.  Aber  die  Mehrzahl 
der  Sänger,  welche  nach  dem  Motuproprio  Paul  IV.  keinen  Laien 
zum  Capellraeister  haben  wollte,  leistete  energischen  Widerstand  — 
der  Plan  scheiterte  und  die  Sache  endete  mit  der  Ausstossung 
der  vier  Sänger  Alessandro  Merlo,  Agostino  Martini,  Gianbattista 
Giacomelli  und  Luca  Conforti,  welche  während  der  Verhandlung 
missliebige  Aeusserungen  hatten  hören  lassen,  mit  einer  vom 
1.  September  1586  datirten  Verordnung  Sixtus1  V.  „In  supreina", 
welche  ein  für  allemal  bestimmte,  dass  hinfort  immer  nur  ein 
Mitglied  des  Sängercollegiums  Capellmeister  sein  sollte  —  und 
mit  9  Scudi  Strafe,  welche  Tommaso  Benigni  zahlen  musste. 

In  der  Capelle  blieb  selbst  eine  bedeutende  Verstimmung 
gegen  Palestrina  zurück.  Vergebens  brachte  er  zur  Versöhnung 
drei  Messen  dar:  zwei  fünfstimmige  Salve  Regina  und  O  sacrum 
coniivium  und  die  seehsstitnmige  Ecce  ego  Joannes.  Es  war  offene, 
demonstrative  Feindseligkeit,  wenn  man  es  unterliess,  diese  vor- 
züglichen Werke  in  die  grossen  Chorbücher  der  Capelle  ein- 
schreiben zu  lassen,  uud  hätte  der  Capellmeister  ürfei  sie  nach 
Palestrina's  Tode  nicht  zurückgestellt,  so  wären  sie  verloren. 
Ungedruckt  sind  sie  heut  geblieben.  Sixtus  V.,  welcher  sehr  wohl 
wusste,  was  er  an  Palestrina  besitze,  suchte  zum  Ersätze  dem 
Meister  ein  besonderes  Zeichen  seiner  Gunst  zu  geben,  und  er- 
nannte ihn  zum  „Compositore  della  cappella  Apostolica". 

In  dieser  Eigenschaft  schrieb  Palestrina  1587 — 1588  sein 
grosses  Lamentationenwerk  und  zwar,  wie  es  merkwürdiger  Weise 
auf  dem  Titel  heisst:  „cum  Privilegio  Sixti  V."  Die  Capellen- 
sänger, wohl  noch  unter  dem  Einflüsse  der  noch  fortdauernden 
Verstimmung,  wollten  abermals  Widerstand  leisten,  wollten  an 
den  gewohnten  Compositionen  von  Carpentras  festhalten,  diesmal 
aber,  wo  sie  den  Buchstaben  des  Gesetzes  nicht  für  sich  hatten, 
zogen  sie  den  Kürzeren,  denn  der  alte  Sixtus  fuhr  mit  einem 
Donnerwort  dazwischen,  etwas  worauf  er  sich,  wie  bekannt,  vor- 
trefflich verstand,  und  wo  von  Seite  des  Angedounerten  aller 
weiterer  Widerspruch  aufhörte.  Baini  charakterisirt  auch  diese 
Compositum  in  treffender  Weise:  „Die  Noten  scheinen  bei  ihrer 
Schwere  und  gleichen  Geltung  für  den  ersten  Anblick  bedeu- 
tungslos —  aber  beim  Anhören  entwickeln  sich  daraus  die  edelsten 
Melodieen  —  der  Ausdruck  ist  ehrfurchtgebietend,  selbst  die 
Pausen  sind  bedeutungsvoll."  Allerdings  ist  aber  der  Grund,  aus 
welchem  Baini  diese  Pausen  belobt,  etwas  seltsam.  „Sie  geben,4' 
meint  er,  „Gelegenheit  zu  einer  ernsten  Betrachtung  des  mystischen 
und  allegorischen  Sinnes  der  heiligen  Worte  des  Propheten". 
Für  theologische  Meditirpausen  sind  diese  flüchtigen  Augenblicke 
des  Schweigens  doch  wohl  etwas  zu   kurz,  dafür  aber  haben 

Afflbroi,  Gcsohichto  der  Mu.ik.   IV.  3 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


sie  die  künstlerische  Bedeutung  verstummenden  Schmerz  anzu- 
deuten ,). 

Palestrina  hat  schon  früher,  als  er  Capellmeister  im  Lateran 
war,  ungefähr  gleichzeitig  mit  den  Improperien,  ein  Buch  Lamen- 
tationen völlig  ähnlichen  Styls  componirt.  Eine  andere  Serie  zog 
um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  der  Capellmeister  am  La- 
teran Girolamo  Chiti  „ex  antiquo  Codice  manuscripto  Lateranensis 
Basilicae"  —  eine  Abschrift  wird  in  der  Corsiniana  aufbewahrt  — 
es  sind  Gesänge  zu  vier  und  fünf  Stimmen,  offenbar  in  derselben 
Zeit  entstanden,  wie  die  vorhin  genannten.  Ein  grandioses  La- 
mentationswerk zu  5  und  6  Stimmen  endlich  enthält  dei  Codex 
N.  VI  der  Altaemps-Ottobonianischen  Sammlung. 

Die  Lamentationen  von  1 5SS  dürfen  so  ziemlich  als  das  Ideal 
ihrer  Gattung  gelten2).  Sie  halten  den  von  Altersher  gewohnten 
Ton  fest,  gleich  das  „Quomodo  sedet"  fuhrt  das  allbekannte 
Ritualraotiv  in  wunderbar  schöner  Weise  ein.  Die  erste  Ein- 
leitung des  „incipit  lamentataV  mit  der  einfachen  imitatorisch  in 
den  vier  Stimmen  nacheinander  leise  vorüberziehenden  Figur  hat 
etwas  eigen  Ergreifendes.  Wie  Zauberschläge  treffen  die  Har- 
moniefolgen der  Stelle  „plorans  ploravit". 

Eine  zweite  kaum  minder  grossartige  Arbeit  sind  die  Hymnen 
für  das  Kirchenjahr,  welche  1589  bei  Francesco  Coattino  in  Rom 
unter  dem  Titel  gedruckt  wurden:  „Joannis  Petri  Aloysii  Praencs- 
tini,  Sacrae  Bas.  Vat.  Capellae  Magistri  Hymni  totius  anni 
secundum  Sanctae  Kornau  ae  Ecclesiae  consuetudinem  quatuor  vo- 
eibus  concinendi,  nec  non  hymni  religionum".  Diesen  Compo- 
sitionen  liegen  die  uralten  Melodieen  der  kirchlichen  Hymnologie 
zu  Grunde.  Wie  Lichtstrahlen  leuchten  vier  bis  fünf  Stimmen 
ineinander,  in  den  fünf-  und  sechsstimmigen  Schlusssätzen  erhebt 
sich  Alles  zur  höchsten  Pracht.  Der  erhabene  aber  auch  streng- 
flüssige und  zur  contrapunktischen  Verarbeitung  nicht  immer  ge- 
fügige Grundstoff  ist  zum  herrlichsten  Aufbau  verwerthet.  Das 
Pange  lingua,  dem  zuerst  Josquin  eine  contrapunktisch  verwend- 
bare Seite  abgesehen  (in  der  Messe),  findet  hier  an  Palestrina 
einen  andern  vortrefflichen  Exegeten.  Die  Hymne  Conditor  alme 
siderum  steht  im  Glänze  reiner  Verklärung  da;  herrlich  ist  die 

1)  Auch  sonst  weiss  Palestrina  von  Pausen  charakteristischen  Ge- 
brauch zu  machen.  In  der  Motette  Quid  habe»  Hcster  schliesst  er  den 
ersten  Theil  mit  einer  Doppeltaktpause,  um  der  Frage  „cur  mihi  non 
loqueris?"  Ausdruck  zu  geben. 

2)  Man  möge  ProskVs  Musica  divina  Tom.  IV.  Liber  vespertinus 
S.  49  u.  f.  aufschlagen.  Statt  der  Chiavette,  welcher  sich  Palestrina  hier 
bediente,  ist  die  Ausfuhrung  mit  folgenden  Schlüsseln  zweckmassig: 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


Composition  des  Vexilla  regis:  der  Satz  „o  crux  ave  spcs  unica" 
besondere  ist  von  einer  fast  leidenschaftlichen  Frömmigkeit.  Die 
Hymne  Tristes  erant  apostoli,  Jesus  Corona  virginum,  Ad  coenam 
agni  providi,  anziehend  durch  die  Vergleichung  mit  der  gleich- 
namigen Messe  des  Meisters  und  dadurch  geeignet,  einen  bedeu- 
tenden Blick  in  seinen  Bildungsgang  zu  gewähren,  A  solis  ortu 
cardine,  Ave  maris  Stella,  wo  dem  vielbenutzten  Thema  ganz  neue 
Seiten  abgewonnen  sind,  wie  es  sich  denn  im  fünfstimmigen 
Schlusssatze  zum  strengen  Canon  zwischen  Alt  und  Tenor,  in  den 
anderen  Stimmen  zur  freieren  thematischen  Führung  in  der  geist- 
vollsten Weise  gestaltet,  Urbs  beala  Jerusalem,  Ad  preces  nostras, 
gehören  zu  Palestrina  >  trefflichsten  Arbeiten  J). 

Zwei  Jahre  später  (1591)  erschien  bei  Alessandro  Gardano 
eine  dritte  grosse  Arbeit  Magnificat  octo  Tonorum  über  pri- 
mus".  Der  neue  päpstliche  Compositor  entfaltete  eine  erstaun- 
liche Thätigkeit.  Seit  Carpentras  war  solch1  ein  systematisches 
Durchcomponiren  der  Melodieen  aus  der  alten  Schatzkammer  der 
Kirche  nicht  wieder  dagewesen.  Dieses  erste  Buch  enthält 
sechzehn  Magnificat  zu  vier  Stimmen;  abermals  zwei  Jahre  später 
(1593)  erschienen  bei  Coattino  schon  wieder  „Offertoria  totius 
anni  secundum  S.  R.  F.  consuetudinem  quinque  vocibus  con- 
cinenda",  in  zwei  Theilen,  mit  68  Offertorien 2),  und  „Litaniae 
deiparae  virginis,  quae  in  Sacellis  rosarii  ubique  dicatis  conci- 
nuntur"  (in  zwei  Büchern).  Die  Art,  das  Magnificat  zu  com- 
poniren,  wird  von  Baini  richtig  charakterisirt:  sie  bestehe  in  der 
Kunst,  die  Melodie,  wie  sie  nach  den  acht  Kirchentönen  dem 
Magnificat  primi  toni,  secundi  toni  u.  s.  w.  gehört,  gleich  vom 
ersten  Anfange  so  wie  die  Melodie  des  Mittel-  und  jene  des 
Schlusssatzes  entsprechend  zu  fugiren,  die  Fugen  bei  unver- 
ändertem Hauptthema  in  jedem  Vereett  abwechseln  zu  lassen, 
und  die  Nebenmotive  aus  dem  Hauptmotive  zu  bilden.  Die 
Magnificat  Palestrina's  zeigen,  welche  Fülle  des  Herrlichsten 
sich  unter  so  einschränkenden  Bedingungen  entwickeln  lasse. 
Girolamo  Chiti  fand  im  Archive  des  Lateran  einen  Band  anderer 
Magnificat  zu  fünf  und  sechs  Stimmen  3).  Die  Compositionen  sind 
überaus  reich  und  glänzend;  die  vortrefflichen  Magnificat  von 
Murales  erscheinen  dagegen  fast  wie  anspruchslose,  aber  freilich 
meisterhafte  Skizzen  neben  ausgeführten  Gemälden.  Auch  hier 
hat  Palestrina  eben  „der  Pyramide  den  letzten  Stein  aufgesetzt". 
Studien  nach  Costanzo  Festa  oder  gar  Nachahmungen  seines 
Styles,  wie  Baini  will,  dürften  hier  schwerlich  zu  erkennen  sein, 


1)  Kiese  wettere  Sammlung  enthält  die  hier  genannten  in  Partitur. 

2)  Darunter  das  Exaüabo  te,  welches  Burney,  hist.  of  mus.  3.  Bd. 
S.  191  u.  f.  mittheilt. 

3)  Eine  Abschrift  auch  im  Liceo  filarmonico  zu  Bologna. 

3* 


36 


Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


sie  gehen  über  Costanzo  Festa's  Weise  hinaus.  Allerdings  aber 
mögen  diese  Compositionen  aus  der  Zeit  herrühren,  wo  Palestrina 
Capellmeister  der  Lateranischen  Basilica  war  und  dort  Costanzo's 
Werke  mit  Antheil  studirte.  Es  kommen  auch  hier  schon  jene 
Entgegenstellungen  der  Klangfarbe  vor,  mit  denen  Palestrina  so 
grosse  Wirkungen  hervorzurufen  versteht:  so  wird  im  Magnificat 
des  ersten  Tones  der  Satz  „quia  fecit  mihi  magna"  hohen,  hell- 
tönendcn,  der  Satz  „esurientes"  tiefen  Stimmen  zugewiesen ;  oder 
man  sehe  die  kurze  dreistimmige  Episode  gegen  den  Schluss  des 
höchst  brillanten  „Sicut  locutus  est"  im  Magnifical  des  zweiten 
Tones,  die  an  Aehnlichcs  in  der  Messe  Assumpta  anklingt.  Ueber- 
haupt  aber  tritt  der  Charakter  des  Brillanten  hier  öfter,  als  sonst 
bei  Palestrina  der  Fall  ist,  hervor.  Pater  Martini  hat  an  dem 
„reizenden  und  lieblichen"  (vago  e  dilletevole)  Thema  des  „Sicut 
erat"  im  Magnificat  tertii  toni  seine  Freude:  „siehe  da,  eine  Fuge," 
ruft  er  aus,  „die  zugleich  gefällig  und  streng  nach  den  Kegeln 
der  Meister  gearbeitet  ist".  Auch  in  besonderen  Satzktinsten  legt 
hier  Palestrina  Meisterproben  ab.  So  entwickelt  sich  in  dem 
siebenstimmigen  „Sicut  erat"  des  Magnificat  quarti  toni  aus  dem 
Tenor  ein  doppelter  Canon  in  der  Quinte  und  in  der  Octave, 
welch'  beide  letztere  nur  durch  den  Kaum  einer  Semibrevis  aus- 
einandergehalten werden. 

In  jene  reiche  Zeit  Palestrina's  fällt  auch  das  1 590  gedruckte 
fünfte  Buch  seiner  Messen,  welches  er  dem  Herzoge  Wilhelm  II. 
von  Baiern  widmete.  Es  enthält  vier  Messen  zu  vier  Stimmen : 
Aeterna  Christi  munera,  Jam  Christus  astra  ascenterat,  Panisquem 
ego  dabo,  Iste  confessor;  zwei  Messen  zu  fünf  Stimmen:  Nigra  tum 
und  Sicut  lilium  inter  spinas,  und  zwei  Messen  zu  sechs  Stimmen: 
Nasce  la  gioia  mia  und  Sine  nomine,  Arbeiten  ihres  Meisters  werth, 
insbesondere  ist  die  Messe  Iste  confessor  in  ihrer  kry stall  klaren 
Durchsichtigkeit  äusserst  schön  und  durch  die  Vergleichungen 
mit  Palestrina's  Bearbeitung  desselben  Cantus  firmus  in  dem  vor- 
genannten grossen  Werke  der  Hymnen,  welche  einen  ganz  anderen 
Charakter  hat,  doppelt  interessant.  Das  einfache  Motiv  giebt  in 
der  Messe  zu  einer  Menge  von  Gestaltungen  Anlass:  ein  merk- 
würdiges Stück  ist  das  lienedictus  für  Alt  und  zwei  Bässe.  Diese 
Sammlung  ist  bedeutender  als  das  15S2  bei  Alessandro  Gardano 
in  Kom  erschienene,  Gregor  XIII.  gewidmete  vierte  Buch,  das 
sieben  Messen  im  Ganzen  leichteren  Styles  enthält,  darunter  drei 
fünfstimmige.  Palestrina  scheint,  nach  einer  Stelle  seiner  Vorrede 
zu  schliessen,  diese  Messen  früher  bei  verschiedenen  Gelegenheiten 
gesetzt  zu  haben.  Die  bedeutendste  vielleicht  ist  die  letzte  Messe 
0  magnum  mysterium,  —  wenn  sie  auch  nicht  gerade  an  die 
alleibedeutendsten  Werke  Palestrina's  völlig  hinanreicht-,  einzelne 
Sätze,  wie  das  dreistimmige  Pleni,  leuchten  aber  auch  hier  wie 
Diamanten.    Es  scheint,  dass  der  Meister  diese  Messen  zusammen- 


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Giovanni  Pierluigi  da  Paleätrina. 


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suchte,  um  den  Papste  Gentige  zu  thun,  der  nach  einer  neuen 
Publication  Palestrina's  einige  Ungeduld  merken  Hess. 

Gleichzeitig  vielleicht  mit  dem  Buche  Messen,  welche  Pa- 
lestrina dem  Herzoge  von  Baiern  widmete,  mag  eine  achtstimmige 
Messe  „sine  nomine"  sein,  von  Baini  als  verschollen  beklagt, 
nicht  in  Rom  zu  finden  —  glücklicher  Weise  aber  in  der 
Münchener  Hof-  und  Staatsbibliothek,  wohin  sie  mit  dem  Dedi- 
kationsexemplar  der  gedruckten  Messen  gekommen  sein  dürfte  — 
es  ist  aber  auch  möglich,  dass  sie  schon  aus  den  siebenziger 
Jahren  des  Säculums  herrührt,  wo  Palestrina,  wie  das  dritte  Buch 
seiner  Motetten,  das  1575  erschien,  wahrnehmen  lässt,  gelegentlich 
zu  acht  Stimmen  schrieb  —  bei  ihm  am  Ende  doch  eine  Aus- 
nahme. Die  Münchener  Messe  darf  für  den  achtstimm  igeu  Satz 
mustergültig  heissen  —  gedruckt  wurde  sie  nie  l).  Zuweilen,  wie 
im  zweiten  Kyrie,  im  „Qui  tollis"  scheiden  sich  die  acht  Stimmen 
fühlbar  in  zwei  correspondirende  Gruppen,  insgemein  aber  greifen 
«ie  alle  acht  in  einander  ein,  so  dass  wir  hier  ein  wirklich  acht- 
stimmiges (nicht:  zweimal  vierstimmiges)  Tongefüge  vor  uns 
haben.  Die  Leichtigkeit  und  die  Eleganz  der  Formen,  mit  welcher 
Palestrina  die  schwierige  Aufgabe  zu  überwältigen  weiss,  ist  be- 
wundernswerth  (anderwärts,  wie  in  der  auch  achtstimmigcn  herr- 
lichen Motette  Surge  illuminare  Jerusalem,  nähert  sich  Palestrina 
mehr  der  Weise  der  getheilten  venezianischen  Chöre).  Dass  die 
«cht  Stimmen  der  Messe  die  kunstvollste  Textur  von  Imitationen 
bilden,  dass  wir  nirgends  roher  Masse  begegnen,  sondern  alles 
bis  in  die  letzten  Einzelnheiten  hinein  durchgebildet  und  belebt 
ist,  versteht  sich  bei  einem  Meister  wie  Palestrina  von  selbst. 
Einzelne  Stücke,  wie  das  Crucifixus  und  das  Benedictus,  sind 
nur  vierstimmig  gesetzt  —  lichter,  durchsichtiger,  in  wohlberech- 
neter Wirkung. 

Eine  zwölfstimmige  Messe  soll  sich  (unverbürgten  Angaben 
nach)  im  Archiv  der  Peterskirche  befinden.  Sie  wäre  eine  Spe- 
zialität —  Palestrina  liebt  die  Stimmenhäufung  nicht,  wollte  er 
mehr  als  vier  Stimmen  anwenden,  so  griff  er  am  liebsten  zum 
sechsstimmigen  Satz.  (Ein  dreichöriges  Stabat  mater  in  der 
Altaemps'scben  Collection  ist  schwerlich  von  Palestrina.  Darüber 
weiterhin.)  Freilich  sind  acht  und  selbst  zwölf  Stimmen  noch 
immer  wenig  gegen  die  vierundzwanzig  und  achtundvierzig,  welche 
die  Generation  nach  Palestrina  als  musikalische  Weltwunder  schrieb 
und  als  musikalische  Weltwunder  anstaunte.  Was  sind  Palestrina's 
bescheidene  acht  Notenzeilen  gegen  die  vierundftinfzig  Noten- 
systeme, welche  die  Riesenpartitur  der  Salzburger  Riesenmesse 


1)  Ein  gelehrter  Musikfreund  aus  Schweden.  Herr  Ansh.  M.  Aogman, 
hat  sie  in  Partitur  gesetzt.  Seiner  freundschaftlichen  Güte  verdanke  ich 
eine  Abschrift. 


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38  Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 

Orazio  BenevolTs l)  als  ein  Monstrum  von  Musik  erscheinen 
lassen! 

Das  Verhältniss  der  Motetten  Palestrina  s  zu  seinen  Messen 
ist  jenem  sehr  analog,  in  welchem  wir  in  einer  früheren  Kunst- 
epoche die  Motetten  und  Messen  Josquins  unter  einander  gefunden 
haben.  Wie  bei  dem  älteren  niederländischen  Meister  finden  wir 
bei  Palestrina  eine  Anzahl  von  Motetten,  welche,  ohne  auf  den 
Sinn  der  einzelnen  Textesworte  Gewicht  zu  legen,  vorwiegend 
ein  tüchtiges  contrapunktisches  G  eftige  sind,  welches  aber  durch 
die  mächtige  Kraft  der  Themen,  durch  die  Schönheit  des  Zu- 
sammenklanges imponirt,  seine  Berechtigung  aber,  diesen  oder 
jenen  Worttext  zu  enthalten,  nur  durch  den  entweder  notengetreu 
als  Tenor  zwischen  die  anderen  contrapunktirenden  Stimmen  ein- 
gefügten rituellen  Cantus  tirmus  oder  durch  die  auf  das  offizielle 
kirchliche  Thema  deutlich  anspielende  Thcmenbildung  legitimirt. 
Zur  Erläuterung  des  Gesagten  mögen  hier  die  beiden  meister- 
haften Motetten  Beatus  Laurentius  dienen,  die  fünfstimmige,  wo 
dem  einen  der  beiden  Tenore  nichts  mehr  und  nichts  weniger 
zugetheilt  ist,  als  die  kirchliche,  notengetreu  reproduzirte  Anti- 
phone, und  die  vierstimmige,  für  deren  Motive  die  Tonschritte 
1.  4.  3.  1.  massgebend  sind,  weil  sie  jene  Antiphone  kennzeichnen 
(„il  Canto  fermo  della  quäle  si  distingue  per  la  grandiosita  e 
soavita  della  mclodia"  sagt  Pater  Martini).  Das  ist  der  ältere 
Standpunkt,  den  auch  die  Altmeister  Hobrecht  und  Okeghem 
(deren  Namen  für  G.  B.  Doni  ein  Gräuel  sind!)  einnehmen,  das 
„musikalische  Waldesbrausen  und  Meeresrauschen".  Die  vier- 
stimmige Motette,  die  wir  eben  genannt,  bildet  indessen  schon  den 
Uebergang  zu  der  zweiten,  freieren,  leichteren  und  weitaus  zahl- 
reicheren Gattung  der  Palestrina-Motetten. 

Wir  bemerkten  schon  früher,  dass  Josquin  —  fast  könnte 
man  sagen:  zu  seiner  eigenen  Ueberraschung  —  die  Wahrnehmung 
macht,  die  Musik  könne  nicht  blos  klingen,  sondern  auch  etwas 
sagen;  sie  könne  die  Fluctuationen  des  Gemtithslebens  malen, 
und  zwar  bis  in  Regionen  hinein,  wo  das  begriffscharfe  Wort 
nicht  mehr  nach  kann-,  ja,  der  auf-  und  absteigende  Tongang, 
der  helle  und  tiefe  Klang  u.  s.  w.  habe  seinen  malerischen  Werth, 


1)  Die  Originalpartitur,  Benevoli's  Autograph,  wurde  vom  Bibliothekar 
des  Mozarteums,  Herrn  Jehnek,  aus  dem  Nachlasse  eines  erzbischöflichen 
Kammermusikers  und  gewesenen  Chordirektors,  Namens  Fuetscb,  und  vor 
den  Klauen  eines  Geworzkrämers  gerettet,  welcher  das  Biesenfolio  zur 
Verfertigung  von  Papiersäckchen  rar  sehr  brauchbar  erkannt  und  den 
Vorsatz  getaast  hatte,  das  Ding  der  Wittwe  Fuetsch  für  einige  Groschen 
abzukaufen.  Die  Partitur  befindet  sich  letzt  im  Mozarteum.  Benevoli 
componirte  die  Messe  eigens  zur  Einweihung  des  neu  erbauten  Domes, 
welche  am  24.  September  1628  stattfand.  Nach  dem  Agnus  folgt  eine 
Festcantate,  voll  Anspielungen  auf  Salzburg  und  dessen  Schutzheilige. 


Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


39 


es  gebe  sogar  bis  für  das  Einzelne  Wort  Etwas,  was  man  „Ton- 
malerei" nennen  könne. 

Von  dieser  wahrhaft  ungeheueren  Entdeckung  macht  Josquin 
in  seinen  Memsen  so  wenig  Gebrauch,  wie  Palestrina  in  den 
seinigen  —  von  den  stark  contrastirenden  Einzelheiten  neuerer 
musikalischer  Messen  (wie  das  „Crucifixus"  und  „Resurrexit")  ist 
keine  Rede,  wenn  auch  Einzelnes,  wie  insbesondere  das  „Incar- 
natus"  oft  eine  noch  ruhigere  und  feierlichere  Färbung  annimmt, 
und  sich  charakteristisch  aus  dem  Uebrigen  hervorhobt 

Die  Motettentexte  mit  ihrem  mannigfaltigen  Inhalt  aber  regten 
au.  auch  die  Musik,  ihnen  entsprechend,  mannigfaltig,  und  nach 
dem  Sinn  der  gesungenen  Worte  charakteristisch  zu  gestalten. 
Hier  begnügt  sich  nun  Palestrina  so  wenig,  wie  sich  Josquin 
begnügte,  etwa  nur  schöne  und  wohlklingende  Musik  zu  machen, 
deren  Text  eben  nur  den  Haken  bildet,  an  den  diese  Musik 
gehängt  wird,  und  Sinn  und  Inhalt  der  Worte  nicht  weiter  zu 
beachten,  sondern  eben  nur  dem  Ganzen  eine  einfach  grosse 
Färbung  zu  geben,  oder  aber  die  Worte  nur  durch  Herbeiholen 
des  ihnen  im  Ritualgesang  zugewiesenen  gregorianischen  Motives 
zu  charakterisiren.  Wie  Josquin  malt  vielmehr  Palestrina  aufs 
Feinste  und  Geistreichste  ins  Detail,  oft  bis  zur  sinnreichen 
Illustrirung  eines  einzelnen  Wortes,  ja  gelegentlich  bis  zur  ent- 
schiedenen Tonmalerei  Es  ist  kein  Zufall,  wenn  er  in  der  Mo- 
tette „Surge,  propera  amica  mea"  und  nochmals  „Surge  amica 
mea"  und  „Surgam  in  circuita"  (alle  drei  unter  den  Motetten  aus 
dem  hohen  Liede)  und  in  einer  andern  „Surge,  illuminare  Jeru- 
salem" das  gleichlautende  erste  Wort  mit  einem  fast  indentischen 
ngurirten  Motiv  eintreten  lässt,  wobei  er  übrigens  nicht  verlegen 
ist,  fftr  eine  zweite  Composition  des  „Surge  propera"  (unter  den 
vierstimmigen  Motetten  ftir  das  Fest  der  Heimsuchung)  eine  völlig 
verschiedene,  aber  wiederum  charakteristische  Musik  zu  finden. 
In  Sätzen,  wie  „quae  est  ista,  quae  processit"  oder  „quam 
pulchri  sunt  gressus  tui"  giebt  er  den  Motiven  deutlich  den 
Ausdruck  des  Fortschreitens  —  „ad  te  levavi  oculos  meos",  „ad 
Dominum  cum  tribularer  clamavi",  „Sagittae  potentis,  Sur- 
rexit  pastor  bonus,  trahe  me  post  te,  Descendi  in  hortum 
meum,  veni,  veni  dilecte  mi  —  Surge  Petre  —  exultate 
Deo  adjutori  nostro"  —  das  Textwort  bringt  das  bezeichnendste 
Motiv  mit  sich  —  feinsinnig  ist  es,  wenn  zu  Anfang  der  Motette 
,,vox  dilecti"  (aus  dem  hohen  Liede)  das  Wort  „vox"  in  einem 
vollen  Accord,  wie  horchend,  auf  einer  langen  Note  ausgehalten 
wird  —  und  nun  rascher  wiederholt:  „vox  dilecti"  u.  s.  w.,  wenn 
zu  dem  Worte  „o  quantus  luctus  hominum"  das  „quantus"  durch 
einen  Octavenschritt  aufwärts  mächtig  hervorgehoben  wird.  In 
derselben  Motette  betont  er  sehr  bezeichnend  die  contrastirenden 
Worte  „gaudere"  und  „flere". 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


Zuweilen  fasst  Palestrina  den  Namen  des  Heiligen,  welchen 
er  zu  preisen  hat,  in  eine  zierliche  Notengnippe  ein,  wie  in  einen 
goldenen  Nimbus:  „Magnus  Sanctus  Paulus;  Beatus  Laurentius" 
u.  s.  w.  Zuweilen  streift  er  geradehin  ans  Dramatische  —  wie 
in  der  Motette  „Pueri  Hebreorum  portantes  ramos"  mit  dem 
jubelnden  „Osanna"  —  nur  für  hohe  Stimmen  gesetzt,  ein  wahres 
Kinderjauchzen  —  ganz  den  Moment  bezeichnend,  und  der  Motette  ; 
„Surge  Petrc  indue  te  vestimentis  tuis".  Aufs  mannigfachste  ge- 
stalten sich  die  Tonsätze  —  bald  treten  die  Stimmen  figurenartig 
eine  nach  der  anderen  ein  —  bald  alle  zusammen,  mehr  choral- 
artig, wie  in  dem  herrlichen  mystisch-feierlichen  „Adoramus  te 
Christe"  und  in  förmlich  gegen  einander  gestellten  Accordgruppen 
in  dem  Gesang  zum  Allerheiligenfest:  „Salvator  mundi,  salva  nos 
omnes"  —  einem  wundersamen  Mittelding  zwischen  Motette  und 
Litanei.  Oft  giebt  eine  Wendung  im  Texte  der  Musik  augen- 
blicklich eine  andere  Färbung.  In  der  Motette  „valde  honorandns 
est  sanctus  Joannes"  wird  bei  den  Worten  „cui  Christus  in  enice" 
plötzlich  alles  hochfeierlich  —  das  bisherige  reiche  Stimmen- 
gewebe macht  einfach  und  mächtig  tönenden  langsam  bewegten 
Accorden  Platz ,  es  ist  ein  Moment  als  verstummen  die  tausend 
Stimmen  der  Erde,  um  fremden  Klängen  aus  fernen,  tiefen 
Himmeln  voll  Ehrfurcht  zu  horchen.  Nach  Beschaffenheit  der 
Texte  giebt  Palestrina  seiner  Musik  jedesmal  die  entsprechende 
GrundfUrbung.  Er  hat  in  der  Vorrede  seiner  Motetten  aus  dem 
hohen  Liede  darüber  gelegentlich  ein  kurzes  aber  bedeutungs- 
volles Wort  fallen  lassen:  „usus  sum  genere  aliquanto  alacriore, 
quam  in  Ecclesiasticis  cantibus  uti  toleo :  sie  enim  rem  ipsam 
postulare  intelligebam".  Eine  eigene  Gruppe  bilden  Pa- 
lestrina's Marienmotetten.  Wie  feierlich-erhaben,  ernst,  mystisch, 
ist  die  Motette  „Nativitas  tua  Dei  genitrix"  —  mit  dem  lang 
austönenden  Durdreiklang  —  und  hinwiederum,  wie  ganz  engel- 
haft verklärt  sind  die  Mariengesänge  für  hohe  Stimmen:  Ave 
Regina  coelorum;  Alma  Redemptoris,  Salve  Regina,  Ave  Maria  — 
die  uralten  Kirchenmelodieen  klingen  durch  —  zur  entzückendsten 
Schönheit  gestaltet.  Wie  eine  Rose  aus  dem  Paradiese,  wie  ein 
strahlender  Stern  am  klaren  Himmel  Über  rollenden  Meereswogen 
leuchtet  durch  die  christliche  Musik,  wie  durch  die  christliche 
Malerei,  Maria.  Was  für  Tondichtungen  sind  nicht  schon  die 
Marienmotetten  Josquins!  Und  den  gleichen  Ton  schlägt  auch 
Palestrina  an  —  seine  wunderbaren  Gesänge  sind  tönend  ge- 
wordene KaphacVsche  Marienbilder! 

Es  möge  hier  zur  Ehre  Josquins,  dieses  genialsten  unter  den 
Tonsetzern  der  Vor-Palestrinazeit,  bemerkt  werden,  dass  seine  Mo- 
tette oft  genug  einer  Ankündigung  der  Motetten  Palestrina's 
gleichen.  Palestrina's  Compositum  zum  Feste  der  Verkündigung 
(Nr.  7  im  ersten  Buche  der  vierstimmigen  Motetten)  zeigt  die 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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grösste  Verwandtschaft  mit  ähnlichen  Tonsätzen  des  altnieder- 
ländischen Meisters  —  und  der  zweite  Theil  der  Motette  „ad  te 
levavi",  welcher  mit  den  Worten  beginnt  „miserere  nostri  Domine" 
ist  ein  förmliches  Seitenstück  zu  Josquins  „tu  pauperum  refugium'4. 
Schlagen  wir  das  erste  Buch  der  „Motecta  FeBtorum  totius  anni 
cum  communi  Sanctorum,  quaternis  vocibus"  auf,  und  wir  werden 
uns  gleich  bei  der  ersten  Dies  xunclificatus  entschieden  an  Jos- 


gemahnt finden:  erst  die  zwei  hohen  Stimmen  hinter  einander 
bescheidenen  Schrittes  hergehend,  aber  in  wohlgeführtem  Canon, 
dann  die  genaue  Wiederholung  des  eben  Gehörten  durch  die  zwei 
tiefen  Stimmen,  aber  auf  die  zweite  Takthälfte  gerückt,  während 
die  zwei  anderen  ihren  Weg  darüber  fortsetzen  (man  sieht,  welche 
guten  Früchte  die  alte  Schulübung  trug,  zu  zwei  fertigen  Stimmen 
eine  dritte  und  vierte  zu  setzen),  dann  der  anregende  Ruf  „venite 
populi"  bis  alle  Stimmen,  zusammen  einsetzend,  in  prachtvollen 
Harmonien  den  Kernpunkt  des  Ganzen  hervorheben  „quia  hodie 
descendit  lux  magna"  mit  der  so  einfachen  und  so  wirksamen 
Tonmalerei  des  „descendit"  —  und  endlich  daktylisch,  in  un- 
geradem Takt  der  Satz  „exultemus  et  laetemur"  —  wie  das 
Ganze  ein  gottesdienstlicher  Tanz  beschliesst.  Dies  ist  ganz 
richtiger  wiedergeborener  Josquin  —  wiedergeboren  aber  im 
Lichte  einer  neuen  Zeit  und  in  höherem  Sinne.  Palestrina  scheint 
diese  seine  Motette  mit  Recht  geschätzt  zu  haben  —  er  hat  dar- 
über eine  seiner  schönsten  Messen  componirt 

Die  zwei  Bücher  vierstimmiger  Motetten  „Motecta  Festorum 
totius  anni  cum  communi  Sanctorum"  (1563)  und  „Motecta  quatuor 
vocibus,  partim  pleno  voce,  partim  paribus  vocibus"  (1581)  ent- 
halten 57  derartige  Compositionen  und  in  ihnen  einen  unergründ- 
lichen Schatz  an  Musik.  Nach  der  Motette  „Veni  sponsa  Christi" 
(Nr.  XXXV  des  ersten  Buches)  hat  Palestrina  hernach  eine 
seiner  kleineren,  aber  liebenswürdigsten  und  anmuthigsten  Messen 
geformt.  Einzelne  Motetten  sind  wahre  Pracht-  und  Glanz- 
nummern voll  Festesfreudigkeit,  wie  die  Pfingstraotette  ,,loque- 
bantur  variis  linguis",  mit  dem  kleinen  zierlichen  Motiv  auf  die 
Worte  „magnalia  Dei"  und  dem  wiederholten  Alleluja.  In  der 
Compositum  des  42.  Psalms,  der  wie  bekannt  mit  dem,  ver- 
zehrende Sehnsucht  malenden  Bilde  beginnt  „sicut  cervus  desi- 
derat  ad  fontem  aquarum"  ist  der  vorherrschende  Ausdruck  zur 
süssen  Wehmuth  gemildert,  wie  sie  sich  etwa  in  manchen  jugend- 
lichen Köpfen  Perugino's  so  lieblich-schwärmerisch  ausspricht  — 
nur  stellenweise  macht  sich  ein  momentanes,  tief  schmerzliches 
Aufblicken  bemerkbar '). 

1)  Aeusserst  schön  ist  das  lange  Austönen  des  Altes  auf  die  Worte 
„fontem  aquarum",  während  schon  die  anderen  Stimmen  eine  neue  Periode 


intoniren  „ita  desiderat"  u.  s.  w. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


Neben  den  Motetten  zu  vier  Stimmen  stehen,  ebenbürtig  an 
Werth,  und  noch  glänzender  in  der  Ausstattung  die  fünf-,  sechs-, 
sieben-  und  achtstimmigen.  In  den  fünfstimmigen  genügt  die 
eine,  fünfte  Stimme,  um  durch  sie,  indem  sie  sich  bald  den  beiden 
höheren,  bald  den  zwei  tieferen  Stimmen  gesellt,  alternirende 
kleine  dreistimmige  Chöre  im  Wechseigesange  einander  gegen- 
überzustellen und  eine  Fülle  neuer  Combinationen  zu  gewinnen. 
Gleich  die  erste  Motette  im  ersten  Buche  o  admirabüe  commerlium 
zeigt  diese  Anordnung,  welche  sich  in  der  folgenden  Senex  puerwn 
portabal  zu  grosser  Pracht  entfaltet.  Das  reichste  Stück  dieser 
ersten  Sammlung  möchte  wohl  die  Himmelfahrts- Motette  sein : 
Viri  Galilaei,  mit  der  merkwürdig  betonten  Frage  „quid  statis 
aspicientes  ad  coelum44  und  dem  jauchzenden  Triumphgesang  des 
zweiten  Theils  „ascendit  Deus  in  jubilatione".  Würdig  reiht  sich 
die  Pfingstmotette  an:  Dum  complerentur ,  voll  regen  Lebens  in 
allen  Stimmen  —  in  diesen  beiden  Werken  tritt  der  erzählende 
Zug  besonders  deutlich  hervor.  Voll  tiefer  Andacht  sind  die  » 
Gebete  O  Domine  Jesu  Chrisle  adoro  ie  in  cruce  vulneratum  und 
Crucem  sanetum  subiü  —  eines  der  Hauptstücke  der  päpstlichen 
Capelle  ist  die  Motette:  0  beata  et  benedicta  et  gloriosa  Trinitas. 
einfach  und  grossartig  ist  O  magnum  mystenum  1).  Ein  Kunst- 
stück an  Tonsatz  stellt  die  Motette  O  virgo  prudentissima  vor  — 
Ihre  fünfte  Stimme  entsendet  zwei  Canons  —  aufwärts  in  die 
Quinte,  abwärts  in  die  Quarte,  wodurch  die  Composition  sieben- 
stimmig wird.  Dieses  erste  Buch  enthält  21  Motetten  zu  fünf 
Stimmen,  7  sechsstimmige,  2  siebenstimmige,  das  zweite  Buch 
bringt  17  fünfstimmige,  8  sechsstimmige,  4  achtstimraige  Ton- 
sätze. Unter  den  sechsstimmigen  das  gepriesene  Tribularer  si 
nescirem,  mit  dem  „Miserere  mei  Deus"  als  auf-  und  absteigenden 
„Pes  in  voce  media"  —  die  neue  Verwerthung  des  gleichen 
Josquin'schen  Gedankens.  Peccantem  me  quotidie  ergeht  sich 
(absichtlich)  in  herben,  scharfen  Zügen,  —  erschütternd  klingen 
die  beiden  mächtigen  Einsätze  „timor  mortis"  und  „miserere  mei 
Deus"  —  in  diesem  zweiten  Anruf  drückt  sich  aber  auch  zugleich 
der  Uebergang  von  angstvoller  Bedrängniss  zu  hoffnungsvollem 
Vertrauen  aus  —  es  ist  in  diesen  wenigen  Takten,  als  senke  sich 
erquickender  Thau  auf  verbranntes  Land.  Ein  kunstvolles  Stück 
feinen  Imitationengewebes  ist  die  Motette  Gaude  Barbara  beatay 
in  der  sechsstimmigen  Motette  Sancta  et  immaculata  wird  ein 
Canon  „in  Diatessaron"  im  Sinne  älterer  Kunst  eingefügt.  In 


1)  ßaini  sagt  davon:  „una  nuova  collozione  —  la  dovette  dedicare 
indubitamento  al  Cardinale  Ippolito  di  Ferrarau.  Trotz  dieser  „zwingen- 
den Notwendigkeit"  ist  diese  Sammlang  aber,  wie  das  neuerlich  von 
Theodor  de  Witt  aufgefundene  Exemplar  zeigt,  dem  Herzoge  Wilhelm 
von  Mantua  gewidmet. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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der  Motette  Aseendo  ad  pairem  erscheint  wiederum  (wie  in  der 
vorhin  erwähnten  „0  quantus  luctus")  der  ungewöhnliche  Effekt 
eines  Octavenschrittes  nach  oben. 

Dass  die  achtstimmigen  Motetten  im  dritten  Buche  (Lauda 
Sion  Veni  Sanctae;  Ave  Regina  u.  a.)  völlig  „Chori  spezzati"  dar- 
stellen, nimmt  Baini  —  der  dem  Haupte  seines  göttlichen  Pier- 
luigi gerne  alle  möglichen  Lorbeerkronen  aufstülpen  möchte  — 
für  Palestrina  als  „Erpfindung"  in  Anspruch  und  schilt  die  Vene- 
zianer „unvollkommene  Nachahmer".  Ein  Blick  auf  die  Chro- 
nologie der  Werke  Adrian  Willaerts  und  der  Werke  Palestrina's 
hätte  ihn  eines  Anderen  und  Besseren  belehren  können  (Andrea 
Gabrielis  zu  geschweigen) ,  und  was  den  Zeitgenossen  Johannes 
Gabrieli  betrifft,  so  tragen  seine  Werke  eine  von  dem  römischen 
Styl  Palestrina's  so  grundverschiedene,  specifisch-venezianische 
Färbung,  dass  an  eine  „Nachahmung"  von  Seiten  des  veneziani- 
schen Meisters  in  keiner  Beziehung  zu  denken  ist.  In  S.  Marco 
drängten  die  beiden  einander  gegenüberstehenden  Musik gallerien 
des  Presbyteriums  so  zu  sagen  von  selbst  zu  correspondirenden 
Doppelchören  —  in  Rom  zeigt  keine  einzige  Kirche  eine  gleiche 
Anlage,  am  wenigsten  schon  die  sixtinische  Capelle  mit  ihrer  in 
die  rechte  Seitenwand  eingezwängten  Sängertribüne.  Eher  wäre 
zu  glauben,  dass  Palestrina  den  venezianischen  Gedanken  aufgriff, 
welcher  ja  auch  nordwärts  Anklang  und  Nachahmung  fand,  wie 
das  „Te  Deum"  von  Jacobus  Vaet  beweist. 

Das  dritte  Buch  Palestrina's  enthält  unter  den  fünf-  und 
secbsstimmigen  Motetten  einiges,  wenn  nicht  Geringe,  so  doch 
Geringere  —  aber  auch  Compositionen  ersten  Werthes,  wie  das 
achtstimmige  Surge,  illuminare  Jerusalem,  das  völlig  in  lauter  Licht 
und  Glanz  aufgeht,  und  das  hoch  jauchzende  Jubilale  Deo.  Sehr 
hübsch  ist  der  Einfall,  in  einer  Cäcilienmotette  die  Worte  „can- 
tantibus  organis"  zu  illustriren  und  die  Menschenstimmen  eine 
Art  kleinen  Orgelpräludiums  ausführen  zu  lassen  —  noch  origi- 
neller ist  es,  dass  in  der  fiinfstimmigen  Motette  Angelus  Domini 
descendii  recht  deutlich  gemalt  wird,  wie  sich  der  Engel  —  setzt. 
Zu  dem  Einfachsten  und  Edelsten  in  diesem  Bande  gehört  das 
sechsstimmige  0  bone  Jesu,  welches  den  specifischen  Palestrinastyl 
in  seiner  idealsten  Reinheit  darstellt 

Das  vierte  Buch  enthält  die  gepriesenen  29  Motetten  nach 
Worten  des  hohen  Liedes  —  sämmtlich  zu  fünf  Stimmen  — 
Schöpfungen  einer  neuen  Begeisterung,  zu  welchen  sich  der  Ton- 
dichter (denn  hier  ist  er  es  ganz  besonders  und  in  vollem  Sinne 
durch  die  farbenglänzenden  Bilder  des  orientalischen  Dichters 
anregen  liess,  und  welche  ohne  Frage  zu  dem  Höchsten  zählen, 
was  die  Musik  in  irgend  einer  Epoche  hervorgebracht  haben 
mag.  Die  Färbung  ist  durchaus  mystisch  —  von  „dramatischer 
Intention'4  ist  keine  Rede,  so  entschieden  Palestrina  auch  seiner 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


Musik  ihren  Charakter  nach  den  jeweiligen  Worten  der  Dichtung- 
giebt,  und  so  lebendig  und  wahr  der  Ausdruck  der  Empfindung 
überall  wie  ein  Glutstrom  hervorbricht  —  zitirt  ja  doch  selbst 
Athanasius  Kircher  die  Stelle  „quia  amore  langueo"  als  „muster- 
giltige  Schilderung"  (paradigma)  des  „Affektes  der  Liebe  — freilich 
einer  anderen,  als  der  herkömmlichen  „madrigalesken"  —  es  ist 
der  himmlische  Eros,  welcher  hier  seine  Schwingen  regt  —  die 
Stelle  (zu  Ende  der  Motette  Ecce  tu  pulcher  es)  athmet  aber 
wirklich  eine  Glut  und  Sehnsucht  —  eine  „Wonne  der  Wehmuth", 
welche  im  Palestrinastyl  doppelt  überrascht J). 

Palestrina  lässt  die  Wechselgespräche  der  Liebenden  und 
ihre  Monologe  wie  von  Engelschören  vortragen,  und  gerade  dieses 
giebt  den  wunderbaren  Tondichtungen  das  Mystische,  dessen  wir 
vorhin  gedacht,  diese  Musik  ist  ganz  durchgeistigt,  während  die 
Liebesworte  der  Dichtung,  wären  sie  mit  dem  Zuge  heisser  Leiden- 
schaftlichkeit im  Sinne  der  kurz  nach  Palestrina  entstandenen 
dramatischen  Tonkunst  —  etwa  wie  Claudio  Montevcrdc's  Ari- 
adnenklage,  oder  der  Monolog  seiner  Penelope  —  componirt,  also 
getragen  vom  mächtig-sinnlich  anregenden  Medium  der  Musik, 
eine  Färbung  annehmen  würden,  dass  man  zu  dem  altjüdischen 
Verbot  „das  hohe  Lied  nicht  vor  dem  dreissigsten  Lebensjahre 
zu  lesen1',  einen  Zusatzartikel  machen  mtisste:  es  nicht  vor  dem 
sechzigsten  zu  singen.  Palestrina  leiht  seine  Tonsprache,  ganz 
im  Sinne  der  Kirche,  keinem  realistischen,  sondern  einem  mystisch- 
allegorischen  Brautpaar,  und  taucht  er  seine  Tonweisen  in  Feuer 
(was  er  in  der  Vorrede  aber,  höchst  bescheiden,  als  „genus  alacre" 
bezeichnet),  so  ist's  in  der  Sphäre  jenes  Feuerhimmels,  von 
welchem  Dante  in  seinem  „Paradiso"  singt  Welchen  über- 
mächtigen Duft  von  Poesie  strömt  die  Stelle  aus:  „ego  flos  campi 
et  lilium  convallium,"  wie  süss  klagend  und  voll  zarter  Sehnsucht 
ist  der  Gesang  „vulnerasti  cor  meum",  wie  sind  die  reizenden 
Bilder  des  erwachenden  Lenzes  in  der  Motette:  „Surge,  propera" 
gemalt  —  wie  dringend  ist  der  Ton  der  Bitte  „ad  juro  vos  filiae 
Jerusalem",  wie  zierlich  und  anmuthig  ist  die  den  Moment  fein 
malende  Bewegung  des  „Dilectus  meus  descendit  in  hortum 
suum"  —  man  meint  es  mit  Augen  zu  sehen.  Um  die  ganze 
Eigenthümlichkeit  dieses  musikalischen  Canticum  Canticorum  und 
den  Unterschied  von  den  sonstigen  Motetten  Palestrina's  klar 
einzusehen,  genügt  es,  diejenigen  Texte,  welche  von  Palestrina 
ein  zweitesmal,  ausserhalb  dieses  Cyclus  componirt  sind,  auf- 
zusuchen, und  die  Compositionen  neben  einander  zu  halten.  Es 
sind  die  Texte  Surge,  propera  (I.  N.  XVI;  Cantic.  N.  XV),  Quae 


1)  Die  Worte  kommen  zweimal  vor  —  in  N.  8  und  N.  19,  in  letzterem 
Stöcke  episodisch,  wohingegen  in  ersterem,  wo  sie  den  Schluss  bilden. 
Dagegen  gipfelt  der  Ausdruck  des  Ganzen  in  ihnen. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina.  45 

est  ista  (L  N.  XIX;  Cant  N.  XXIII)  und  Quam  pulchri  sunt 
gressus  (I.  N.  XXVIII;  Cantic.  N.  XXV). 

Und  noch  einen  Blick  in  die  Dedicationsvorrede  zu  machen, 
in  welcher  sich  Palestrina  so  reumüthig  über  seine  weltlichen 
Madrigale  äussert,  möchte  der  Mühe  werth  sein.  Nachdem  Pa- 
lestrina die  Poeten  und  ihre  Dichtungen  gescholten  „carmina 
amorum  a  christiana  professione  et  nomine  alienorum  argumento  — 
carmina  hominum  vere  furore  correptorum  ac  juventutis  corrup- 
torum"  schilt  er  die  Musiker,  welche  dergleichen  in  Musik  setzen, 
und  fährt  fort:  „ex  eo  numero  aliquando  fuisse  me,  et  erubesco 
et  doleo.  Sed  quando  praeterita  mutari  non  possunt,  nec  reddi 
infecta,  quae  facta  jara  sunt,  consilium  mutavi.  Itaque  et  antea 
elaboravi  in  iis,  quae  de  laudibus  Domini  nostri  Jesu  Christi, 
Sanctissimaeque  ejus  matris  et  Virginia  Mariae  carminibus  scripta 
erant,  et  hoc  tempore  ea  delegi,  quae  divinum  Christi  sponsaeque 
ejus  animae  amorem  continerent,  Salomonis  nimirum  cartica." 
Gedruckt  wurden  diese  Motetten  1584,  gewidmet  sind  sie  dem 
Papste  Gregor  XIII.,  welcher  von  1572  bis  1585  regierte,  die 
Compositionen  sind  also  kurz  vor  ihrer  Publikation  („hoc  tempore'  ) 
componirt.  Wie  kommt  Palestrina  dazu,  erst  jetzt,  29  Jahre 
nach  dem  Erscheinen  der  weltlichen  Madrigale,  ein  solches  „pater 
peccavi"  anzustimmen?!  Die  Sache  ist  klar  —  der  weltlichen 
Liebe  der  Madrigale  setzt  er  die  geistig  -  mystische  dieser  Mo- 
tetten entgegen  —  es  ist  eine  Phrase,  im  Geschmack  der  Vor- 
reden jener  Epoche  —  und  schwerlich  mehr  —  es  gab  eine 
passende  Wendung,  und  so  sucht  Palestrina  eigentlich  weniger 
seine  ersten  Madrigale  zu  desavouiren,  als  die  neuen  Hohelied- 
Motetten  möglichst  in  glänzendes  Licht  zu  stellen,  was  man  einem 
Autor  und  Dedicanten  nicht  übel  nehmen  kann.  Und  so  ist  am 
Ende  die  ganze  Geschichte  von  den  „bittein  Bemerkungen", 
welche  er  über  seine  Madrigale  hören  musste,  einfach  in  das 
Reich  der  Fabeln  zu  verweisen.  Die  verbissensten  Zeloten  hätten 
es  kaum  fertig  gebracht,  ein  volles  Viertelsäculum  über  eine  Col- 
lection  „anstüssiger"  Madrigale  zu  zetern  und  zu  eifern  —  zumal 
wenn  diese  anstössigen  Madrigale  gar  nichts  Anstössiges  ent- 
hielten. In  diesen  fünfundzwanzig  Jahren  hatte  Rom  gelegentlich 
ganz  andere  Dinge  zu  sehen  und  zu  hören  bekommen,  es  genüge 
an  Giulio  Romano's  sechzehn  von  Marcanton  gestochene  Gruppen 
und  an  Pietro  Aretino's  dazu  gehörige  „Sonetti  lussuriosi"  zu 
erinnern,  welche  allerdings  die  Folge  hatten,  dass  Clemens  VII., 
den  hernach  von  Julius  III.  wiederum  auf s  Gnädigste  auf- 
genommenen Poeten,  „das  Phänomen  der  Unsittlichkeit" ,  wie 
ihn  Gregorovius  nennt,  aus  Rom  verbannte.  Im  Vergleiche 
zu  dem  Pfuhl  aretinischer  Verse  konnten  die  von  Palestrina 
componirten  allenfalls  von  den  Engeln  im  Himmel  gesungen 
werden! 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


In  demselben  Jahre  1584,  wie  das  die  Motetten  aus  dem 
hohen  Lied  enthaltende  vierte  Buch,  erschien  das  fünfte  Buch. 

Als  erstes  Stück  dieses  fünften  Buches  überrascht  —  nicht 
gerade  angenehm  —  eine  feierlichst  in  Musik  gesetzte  Dedication 
an  den  Cardinal  Andreas  Bathori,  Neffen  des  braven  Siebenbürger- 
fursten  und  Polenkönigs  Stephan  Bathori,  dessen  im  Text  der 
bezüglichen  Motette  (Laetus  hyperboream  volel  hic  concentus  ad 
aulam  sind  die  Anfangsworte)  mit  dem  Ausrufe  „Polonia  felix! 
Secula  longa  servet  Deus  utrumque"  (nämlich  dem  königlichen 
Oheim  und  Seiner  Eminenz  dem  Neffen)  als  eines  noch  Lebenden 
gedacht  wird  —  wornach  also  diese  Composition  zwischen  den 
Jahren  1575 — 1531  entstanden  sein  muss,  während  das  sie  ent- 
haltende Buch  erst  1584  gedruckt  wurde,  wo  jener  Wunsch 
langen  Lebens  für  König  Stephan  schon  zu  spät  kam  und  sich 
nun  fast  wie  eine  Ironie  ausnimmt.  Die  Dedicationen  Palestrina's 
scheinen  in  der  That  überhaupt  nur  da  zu  sein,  damit  wir  ihn 
nicht  ganz  und  gar  für  einen  Engel  halten.  Es  ist  schmerzlich, 
in  einem  Meister,  der  wie  ein  Himmelsbote  dasteht,  einen  ge- 
bückten Dedicanten  bei  allen  möglichen  Heiligkeiten,  Majestäten, 
Hoheiten  und  Eminenzen  zu  finden,  von  denen  manche  zuweilen 
weit  genug  von  Rom  hausten.  Die  Dedication  des  ersten  Buches 
Messen  an  Julius  HI.  trug,  wie  wir  sahen,  ihre  Früchte,  ob  aber 
aus  Madrid,  München  oder  der  „Aula  Hyperborea"  etwas  „Reelles" 
als  Dank  zurück  nach  Rom  spedirt  wurde,  bleibt  höchst  zweifel- 
haft. Hatte  indessen  doch  schon  der  ernste  Morales  seinen  zwei 
Büchern  Messen  stattliche  Dedicationen  —  aber  mit  des  Spaniers 
würdigen,  edel-stolzen  Vorreden  —  vorangestellt,  und  das  „De- 
diziren"  ist  seitdem  in  der  Musik  löblicher  Gebrauch  geblieben  — 
bis  auf  diesen  Tag.  Die  Poeten  machten  es  ja  im  Grunde  noch 
schlimmer!  Wenn  Ariosto  sich  nicht  schämt,  dem  Texte  seiner 
unsterblichen  Gedichte  („eines  der  prächtigsten  Phänomene  ita- 
lienischen Geistes"  nennt  es  Gregorovius)  den  Kleks  anzuhängen, 
dass  er  ein  Ungeheuer,  wie  Hippolyt  von  Este,  als  .,Erculea  prole, 
ornamento  e  plendor  del  seeol  nostro"  begrüsst  und  sich  selbst 
als  „rumil  servo  vostro" *)  hinstellt,  wennTasso  den  Herzog  Alfonso, 
der  ihn  später  in  die  Narrenzelle  sperren  Hess,  als  „magnanimo 
Alfonso"  anredet2),  so  steht  Palestrina  mit  seiner  fUnfstimmigen, 
in  der  That  musikalisch  schönen  und  nobeln  Motette  völlig  ge- 
rechtfertigt da3). 


1)  Orl.  Für.  Canto  I.  3. 

2)  Gerus.  libr.  2.  4. 

3)  Die  italienischen  Poeten  konnten  sich  ihrerseits  auf  die  antiken 
berufen.  Virgil  redet  gleich  im  zweiten  Vers  seiner  „Georgica"  mit  einem 
eingeflickten  „Mäcenas"  den  „Musarum  fautor  optimus  maximus"  (wie 
ihn  Scaliger  nannte)  ganz  nnmotivirter  Weise  an  —  und  nachdem  er  sofort 
verschiedene  Götter  des  Landbanes  angerofen,  wird  auch  Cäsar  Augustus 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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Sehen  wir,  nach  dieser  musikalischen  Aufwartung  beim  Car- 
dinal Bathori,  das  Buch  weiter  durch,  so  finden  wir  mehr  als 
eine  Nummer,  welche  ein  Juwel  erster  Grösse  heissen  darf,  und 
allein  hinreichen  würde,  Palestrina  über  alle  Meister  der  Zeit  und 
Vorzeit  zu  stellen.  Ein  Gesang  voll  Glanz  und  Festespracht  ist 
die  Himmelfahrtsmotette  Tempus  est  ut  revertar,  der  Freuden- 
gesang Ex%dtale  Deo  —  wie  in  düsterem  Nachtdunkel  steht  eine 
Anzahl  ergreifender  Bussgesänge  daneben.  Man  achte  hier  auf 
die  einzelnen  Züge,  wie  Palestrina  die  Worte  betont  „quis  est 
homo  quia  magnifices  eumu  —  besonders  mit  den  zagenden  Svn- 
copen  der  beiden  Altos,  wie  zu  Anfang  des  zweiten  Theils  der- 
selben (sechsten)  Motette  die  Stimmen  mit  dem  Worte  „peceavi" 
in  engsten  Engftihrungen  sich  zum  Bekenntniss  der  Sündhaftigkeit 
gleichsam  drängen.  Voll  malender  Züge  ist  die  Motette  Surge 
Petre  —  der  Eintritt  des  Engels  in  den  finstern  Kerker  wird 
durch  Harmonieen  angekündigt,  welche  etwas  fremdartig  Geister- 
haftes und  zugleich  Grossartiges  haben  —  seine  Rede  tragen 
erst  die  drei  höheren  Stimmen,  Redesatz  nach  Redesatz,  und  dann 
die  beiden  tieferen  Stimmen,  wie  ein  Echo,  vor,  wobei  sogar  das 
„Surge  velociter"  durch  sinnige  Tonmalerei  hervorgehoben  wird. 
Oft  ist  es  ein  einziges  Wort,  in  welches  Palestrina  einen  wunderbar 
wahren  und  ergreifenden  Ausdruck  zu  legen  versteht:  „Aegyple 
noli  /lere/1)  —  man  sehe  wie  durch  die  einfache  Deklamation  des 
ersten  Wortes  o  o^o  o  sich  innigste  Theilnahme,  tiefes,  herz- 
liches Mitleid  ausspricht.  Solcher  Züge  sind  Palestrina's  Motetten 
voll  —  er  lässt  sie  uns  freilich  nicht  von  Ophikleiden  in  die 
Ohren  blasen  und  von  der  gran  Cassa  in  die  Ohren  donnern  — 
leider  haben  uns  neuere  „Meister"  mit  diesen  und  ähnlichen 
„Kunstmitteln'4  etwas  harthörig  gemacht.  Wir  müssen  Palestrina 
auf  den  Wegen  seines  Geistes  mit  Liebe,  Antheil,  fast  möchte 
man  sagen  mit  Ehrfurcht  folgen  —  dann  aber  werden  wir  Dinge 
finden,  die  uns  wie  ewige  Sterne  in  die  Seele  funkeln  und  deren 
Glanz  uns  dann  nicht  mehr  erlöschen  will.  Es  giebt  nicht  wenige 
Gebildete,  welche  meinen,  dass  sie  Raphael  Sanzio  durch  und 
durch  kennen,  wenn  sie  eben  nur  das  Dresdener  Bild  gesehen, 
und  dass  sie  mit  Palestrina  nach  dem  Anhören  einer  guten  oder 
schlechten  Aufführung  der  „Missa  Papae  Marcelli"  ganz  im 
Reinen  sind.   Selten  giebt  es  einen  Meister,  der  so  wenig  gekannt 


als  Gott  angeredet  und  eingeladen,  dem  Poeten  durch  Feld  und  Flur  zu 
folgen.  Auch  Horaz,  sonst  keine  Höflingsnatur,  kann  sich  den  Schmeichel- 
phrasen nicht  entziehen! 

1)  8.  die  Motette  N.  3  „Tempus  est  revertar"  zu  den  Worten  „nolite 
contristari"  im  Tenor,  Sopran  und  Alt,  und  No.  4  „Domine  secundum  actum 
meuni"  zu  den  Worten  „nihil  dignura"  im  Tenor. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


ist »  wie  Palestrina,  und  der  so  falsch  aufgefasst  wird  —  und 
letzteres  obendrein  zuweilen  von  Leuten,  welche  sich  für  ihn 
möglichst  enthusiasmiren ! 

Bemerkt  mag  werden,  dass  Palestrina  in  diesen  Motetten 
mehr  als  einmal  von  der  (angeblichen)  Regel  der  alten  Meister, 
Sextenschritte  zu  vermeiden,  abweicht.    Ein  ftinfstimmiges  Salve 
Regina  beschliesst  dieses  fünfte  Buch  und  zugleich  den  Motetten- 
cyclus  des  Meisters;  er  konnte  ihn  nicht  besser  und  schöner 
schliessen,  als  mit  diesem  Schwanengesang.   Es  ist  eine  missliche 
Sache,  den  Eindruck  eines  in  den  reinsten  Höhen  der  Verklärung 
und  des  Idealen  schwebenden  Kunstwerkes  in  Worte  fassen  zu 
wollen,  wenn  man  nicht,  wie  Palestrina's  Biograph,  in  Schwulst 
und  Bombast  verlallen  will,  ohne  mit  all'  dem  Aufwand  und 
Wortspectakel  mehr  gesagt  zu  haben,  als  eben,  dass  man  von 
der  Herrlichkeit   durchdrungen    und  hingerissen  sei.  Ebenso 
misslich  ist  es,  mit  plumpem  Finger  auf  die  einzelnen  Schön- 
heit cn"   zu  zeigen,  oder  gar  den  lebendigen  Organismus  des 
Werkes   auf  den   contrapunktischen   Anatomirtisch  hinzulegen. 
Aber,  wenn  nicht  zu  einem  solchen  musikalischen  Prosectorsstück, 
so  doch  zu  kritischen  Hymnen  und  Dithyramben  kann  diese 
Motette  hinreissen  und  auch  bei  dem  Einzelnen  mag  man  mit 
entzücktem  Schauen  gerne   verweilen.     Glänzende  Züge  von 
Genialität  und  Züge  tiefster  Empfindung  folgen  einander  Schritt 
nach  Schritt.    Monteverde   hat  nachmals  (der  erste)  mit  allen 
Mitteln  der  dramatisch -ausdrucksvollen  Musik,  deren  erster  mit 
Genie  begabter  Pfleger  er  ist,  die  Stelle:  „ad  te  suspiramus  ge- 
mentes  et  flentes  in  hac  lacrimarum  valle*'  illustrirt  —  aber  nicht 
wahrer,  nicht  tiefer,  und  nicht  mit  der  überirdischen  Reinheit, 
als  Palestrina  thut.    Wunderbar,  wie  ein  autleuchtender  Blick, 
wirkt  die  herrliche  Harmoniewendung  zu  den  Worten  ,,illos  tuos 
misericordes  oculos"  —  was  soll  mau  zu  dem  hochfeierlichen, 
anbetenden  „et  Jesum  benedictum"  sagen  —  und  zu  dem  wun- 
derbar zart-innigen,  wie  in  Liebe  schmelzenden  Schluss:  „o  clemens, 
o  pia,  o  duicis  virgo  Maria".    Raphael  Sanzio,  sagt  man,  konnte 
den  Namen  Maria  nicht  ohne  Thränen  aussprechen  —  hier  ist 
etwas  Aehnliches.    Dieses  Wunderwerk  Palestrina's  hat  auf  dem 
Gebiete  religiöser  Musik  in  allen  folgenden  Jahrhunderten  nur 
ein  einziges  gefunden,  welches  ihm  vielleicht  ebenbürtig  genannt 
werden  darf  —  Mozart's  „Ave  verum". 

Ganz  eigen  und  einzig  unter  Palestrina's  Werken  steht  sein 
zweichöriges  „Stabat  mater"  da  —  zu  dessen  verhältnissmässig 
grosser  Popularität  sein  Anfang  mit  den  drei  unmittelbar  auf 
einander  folgenden  Durdreiklängen  von  A,  G,  F  sicher  nicht 
wenig  beigetragen  hat  —  und  jedermann,  der  es  von  der  päpst- 
lichen Sängercapelle  intoniren  hörte,  war  voll  Verwunderung,  aber 
auch  voll  Bewunderung.    Ruft  doch   selbst  Oulibischeff:  „wie 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


49 


klingt  dies?  schön,  erhaben,  göttlich!  diese  Musik  stammt  nicht 
von  der  Erde"  u.  s.  w.  Diese  drei  Accorde  galten  und  gelten 
nicht  nur  für  eines  der  Wahrzeichen  des  ,,Palestrinastyls",  sondern 
auch  für  ein  Unicum  Aber  eine  ähnliche  Harmoniefolge  kommt 
bei  Morales  vor  —  zu  Anfang  des  zweiten  Theils  der  Motette 
O  Jesu  bone-)  auf  D,  C,  B  (nur  dass  über  D  die  kleine  Terz 
steht;,  und  bei  Palestrina  selbst  zum  Schluss  der  vierzehnten 
Motette  aus  dem  hohen  Liede  wie  im  „Stabat4'  genau  die  drei 
Durdreiklänge  A,  G,  F  zu  den  Worten  „En  dilectus  meus".  — 
Unvergleichlich  mächtiger  aber  wirkt  dieser,  wirklich  wie  aus 
einer  fremden  Welt  herübertönende  Harraoniegang  zu  Anfang  des 
Stabat  mater,  weil  er  nicht  nur  der  allererste  Anfang  des  Stückes 
ist,  sondern  auch  weil  der  zweite  Chor  ihn  sofort,  wie  im  Echo, 
wiederholt.  Es  ist  übrigens  wirklich  eine  der  wenigen  Stellen  in 
Palestrina,  wo  er  mit  ganzen  Dreiklangbildungen  als  solchen 
arbeitet  —  nicht,  wie  sonst,  die  Harmonie  blos  als  Resultat  zu- 
sammentreffender Mclodieen  behandelt. 

Spätere  Componisten  haben,  wie  bekannt,  den  Text  dieser 
wunderbaren  Blüte  mittelalterlicher  Dichtung  zu  einer  Reihe  ora- 
torienartiger Nummern  benutzt,  Chöre,  Duos,   Arien  u.  s.  w. 


1)  Schon  den  alten  Niederländern  ist  die  Trugcadenz  —  die  auch 
bei  Palestrina  oft  genug  auftritt  —  ganz  geläufig,  wo  der  Bass.  statt 
den  3chlie3senden  Dominante-Tonica-Schritt  zu  machen,  einen  Ganzton 

|  L_  *  =! 

abwärts  steigt,  z.  B.  statt  gp^J.        —3   vielmehr  gß=g==j= 

 ^—j  ~ — j 

—  natürlich  mit  durch  Gegenbewegung  vermiedenen  Quintparallelen. 
Sieht  man  zu,  so  bemerkt  man,  dass  hier  gleichsam  eine  Accordstation 
übersprungen  ist,  die  sich  nach  dem  natürlichen  Zirkel  ergäbe  —  neinlich 

gpr^jZ  ^— -^j— ^   Ganz  das  Gleiche  ist  jener  „vergantique  effect" 

(wie  ihn  Burney  bei  Arcadelts  „bianco  e  dolce  cigno"  nennt)  des  fa 
üctum.  Zu  Anfang  des  Stabat  mater  wiederholt  nun  Palestrina  diesen  Schritt 

(NB.) 

k  (NB.) 


«  «t 


fortsetzend  noch  einmal  —  nemlich  statt:  9*~~J      <L-  j      P  'J~^ 


t 

gleich  mit  Verschweigung  der  zwei  vermittelnden  Zwischenstufen  d  und  c 

2)  gedr.  in  den  von  Saiblinger  herausgegebenen  „Concentus  octo 
etc.  vocum  (Augsburg  1545),  wo  die  Motette  von  Morales  als  Nr.  16  zu 
finden  ist. 

Ambros,  Oetchichto  der  Musik.   IV.  4 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


wechseln  lassen,  und  ebenso  auch  wechselnden  Stimmungen,  je 
nach  dem  Sinne  der  Worte,  musikalischen  Ausdruck  gegeben, 
das  Orchester  mit  seinen  reichen  Ausdrucksmitteln  herangezogen 
u.  s.  w.,  bis  endlich  und  schliesslich  aus  dem  alten  Kirchenstücke 
ein  dramatisches  geworden  Vom  Standpunkte  seiner  Kunst, 
wie  von  dem  Standpunkte  seiner  Zeit  aus  bleibt  Palestrina  einer 
solchen  Behandlungsweise  durchaus  fremd,  er  fasst  das  Stabat 
wieder  ganz  rein  als  Kirchengesang  auf  und  seine  Composition 
verklärt  sich  ihm  wieder  zu  Engelschören,  wie  in  seinen  Gesängen 
aus  dem  Hohenlied.  So  verschieden  die  Stimmung  hier  und  dort: 
es  ist  zwischen  diesen  Werken  eine  innere  Verwandtschaft.  Nie 
ist  der  Schmerz  und  die  Klage  schöner  verklärt  und  geheiligt 
worden  als  in  diesem  Stabat  —  es  sind  rollende  Thränen,  aber 
in  jeder  Thräne  spiegelt  sich  der  Abglanz  eines  ewigen,  seligen 
llimmels.  Man  weiss,  wie  das  Jahrhundert  nach  Palestrina  in 
den  Künsten  auf  den  leidenschaftlichen  Affekt  losarbeitete  —  wie 
für  den  bildenden  Künstler  das  dornengekrönte  Eccehomohaupt 
mit  dem  leidenschaftlich  zum  Himmel  emporflammenden  Blick, 
die  schmerzensbleiche  Mater  dolorosa  mit  den  rothgeweinten  Augen 
Lieblingsdai Stellungen  wurden,  wie  auf  Kreuzigungen  und  Kreuz- 
abnahmen Maria  jetzt  regelmässig  ohnmächtig  wurde,  und  „der 
sittliche  Inhalt  dem  pathologischen  wich"  2)  —  wie  sich  an  Stelle 
der  schönen,  stillen  Heiligenbilder  in  die  Kirchen  riesenhafte 
Altarblätter  drängten:  blutige  Henkersceneu  und  dazwischen 
sehnendes  Schmachten  der  Hauptfigur,  und  dazu  allenfalls  in  den 
Wolken  ein  Engelsorchcster,  welches  aus  Leibeskräften  geigt  und 
harft  und  flötet,  und  „zum  Morde  Musik  macht"3;.  In  solcher 
Zeit  ist  es  begreiflich,  dass  ganz  Rom  in  Thränen  zerfloss,  wenn 
der  Castrat  Loreto  vom  Kirchenchor  herab  die  „büssende  Magda- 
lena'' Domenico  Mazzocchi's  solo  jammerte,  Palestrina's  Musik 


1)  P.  Martini  bemerkt  über  Pergolese's  Stabat:  „questa  coinposizione 
del  Pergolese,  so  si  confronti  con  V  altra  sua  dell'  intermezzo  suo,  inti- 
tolato,  la  serva  Padrona  si  scorge  affatto  simile  a  lei  e  dello  stesso  ca- 
rattere,  eccettuandone  alcuni  pochi  passi.  In  ambedue  si  vede  lo  stesso 
stile,  gli  stessi  passi,  le  Stesse  stessissime  delicate  e  graziöse  esprossioni. 
E  como  mai  puo,  quella  masica,  che  e  atta  ad  espriraere  sensi  burlevoli 
e  ridicoli.  come  quella  della  Serva  Padrona,  potrii  essere  aeconcia  ad 
esprimero  sentimenti  pii,  dovoti  e  compunti  vi"  u.  s.  w.  (Vorrede  des 
Saggio  di  contrapp.)  Diesem  strengen  und  wohl  allzustrengen  Urtheil 
gegenüber  sehe  man,  wie  Tieck  (im  Phantasus)  Palestrina  und  Pergolese 
(welche  wirklich  von  vielen  Leuten  mit  einander  vorwechselt  werden)  ohne 
Zeremonien  neben  einander  Platz  nehmen  lässt,  und  wie  er  in  roinantisch- 
blaublumonhafton  Versen  ihre  Musik  cbarakterisirt.  Was  aber  wohl  der 
alte  P.  Martini  zu  Rossini's  „Stabaf  gesagt  haben  würde,  welches  dem 
modernen  Italien  als  ..mustergiltiges"  Meisterwerk  von  Kirchenmusik  gilt?! 

2)  Ein  Ausdruck  Jacob  Burkharde*  (Cicerone  S.  1052). 

3)  Ich  habe  hier  Domenechino's  „Marter  der  h.  Agnes'4  (Pinakothek 
zu  Bologna)  in  Erinnerung. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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aber  „di  grau  lunga"  übertroffen,  ja  unmöglich  geworden  schien. 
Man  muss  sich  solche  Thatsachen  in  Erinnerung  halten,  um  sich 
klar  zu  machen ,  welch'  ein  ungeheurer  Umschwung  sich  binnen 
etwa  1590 — 1630  in  Sachen  der  Musik  vollzog.  Palestrina's 
Stabat  steht  zum  Glücke  tür  alle  Zeiten  über  den  Fluctuatiouen 
des  Zeitgeschmacks  auf  einer  Höhe,  wohin  die  beweglichen  Wellen 
des  wechselnden  musikalischen  Alltagsbedürfhisses  nicht  mehr 
reichen. 

Baini  nimmt  neben  dem  zweichörigen  Stabat  der  päpstlichen 
Capelle  noch  ein  dreichöriges  in  der  Altaenips'schen  Sammlung 
des  Collegio  romano  für  Palestrina  in  Anspruch  —  und  com- 
mentirt  es  in  seiner  Weise  —  erzählend:  wie  sein  Lehrer  beim 
blossen  Anblick  der  Partitur,  bei  der  Stelle,  wo  die  drei  Chöre 
zum  erstenmale  zusammenkommen  „o  quam  tristis"  in  Thränen 
der  Rührung  ausgebrochen  sei  u.  s.  w.  Die  Composition  lässt 
sich  indessen  an  Werth  und  Wirkung  dem  zweichörigen  Stabat 
nicht  vergleichen,  und  ist  schwerlich  von  Palestrina,  soudern  eine 
Arbeit  Feiice  Anerio's,  welchem  auch  der  Katalog  der  Bibliothek 
das  Werk  zuschreibt,  wie  denn  in  demselben  Codex  ein  anderes, 
achtstimmiges  von  dem  genannten  Componisten  dem  dreichörigen 
unmittelbar  vorangeht.  Aber  für  Baini  genügte  es,  dass  eine 
augenscheinlich  spätere  Hand  dem  Basse  den  Namen  „Palestrina" 
in  unsicheren  Zügen  beigeschrieben,  um  das  Werk  sofort  auch 
als  Palestrina  anzusprechen  und  aus  Leibeskräften  zu  bewundern. 
Zugegeben  muss  indessen  werden,  dass  es  immer  eine  Compo- 
sition von  grossartigem  Zug  und  meisterhafter  Textur  ist,  wie 
denn  Feiice  Anerio  zu  den  besten  Meistern  zählt,  welche  sich  in 
so  würdiger  Weise  um  den  „Fürsten  der  Musik"  Palestrina 
gruppiren.  Aber  der  wunderbare  Duft,  jene  „Wonne  der  Weh- 
muth",  jener  Zauber  poetischer  Verklärung,  welche  Palestrina's 
Stabat  so  einzig  in  seiner  Art  erscheinen  lassen,  fehlt  dem  Stabat 
Anerio's,  welches  kurz  und  gut  eben  nur  als  „vortreffliches 
Kirchenstück*'  zu  charakterisiren  wäre  und  im  Ganzen  den  Hörer 
ziemlich  kalt  lässt1). 

Eine  Art  Mittelstellung  zwischen  Motette  und  weltlichem 
Madrigal  nehmen  Palestrina's  geistliche  Madrigale  ein,  von 
denen  1581  bei  Angelo  Gardano  in  Venedig  ein  Buch  gedruckt 
wurde.    Es  enthält  die  sogenannten  Vergini  del  Palestrina,  das 


1)  Auch  der  verewigte  Pro9ke  —  sicher  einer  der  feinstfuhlonden. 
eminentesten  Palestrinakenner.  hielt  das  dreichörige  Stabat  für  einen 
Anerio.  Der  um  die  Musica  sacra  in  Prag  so  hochverdiente  P.  Barnabas 
Weiss,  Superior  des  Capuzincrconvents  von  St.  Joseph,  bereitete  uns  in 
einer  der  herrlichen  Oharwochemusiken  seiner  Klosterkirche  den  Genuss, 
dieses  Anerio-Stabat  in  ganz  vorzüglicher  Ausführung  zu  hören.  Vorher 
hatten  wir  eben  dort  das  Stabat  von  Palestrina  gehört.  Wir  konnten 
also  die  Wirkung  beider  Werke  unmittelbar  vergleichen. 

4» 


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Giovanni  Pierloigi  da  Palestrina. 


ist  acht  Madrigale  über  die  Canzone  Petrarca' s  an  die  h.  J ungfrau, 
80  dass  jede  Stanze  ein  Madrigal  bildet.  Vergine  bella.  che  di 
sol  vestila  (auch  schon  von  Dufay  componirt  Vergine  saggia; 
Vergine  pura;  Vergine  santa  e  d'  ogni  grazia  piena\  Vergine  sola 
al  mondo  senza  esempio;  Vergine  chiara;  Vergine  quante  lagrime; 
Vergine  tale  e  terra  (die  beiden  letzten  Stanzen  Vergine  in  cui  ho 
iutla  mia  speranza  und  Vergine  umana  sind  nicht  in  Musik  gesetzt). 
Es  sind  leichte  aber  reine  und  liebenswürdige  Corapositionen. 
Die  folgenden  IS  Madrigale  sind  zum  Theile  flüchtige  Arbeiten 
von  geringem  Werthe. 

Das  zweite  Buch  (30  Madrigale,  erschien  1594  bei  F.  Coat- 
tino)  steht  hoch  über  dem  ersten 2).  Die  Art,  wie  Palestrina  hier 
den  Ton  des  Madrigals  in  seiner  leichteren  Beweglichkeit  an- 
zuschlagen und  ihn  doch  dem  erbaulich  -  geistlichen  Inhalte  der 
Texte  entsprechend  zu  färbeu  weiss,  wie  er  ferner  die  feinste 
contrapunktische  Arbeit  hinter  scheinbare  Leichtigkeit  zu  ver- 
bergen versteht;  die  Fülle  geistreicher  Züge  und  anmuthiger 
Motive  sichern  diesen  Werken  ihren  Kang,  von  denen  Kiesewetter 
meint,  „man  könne  bei  ihrer  Anpreisung  des  Lobes  unmöglich 
zu  viel  ausdrücken",  Baini  aber  sich  dabei,  wie  von  ihm  zu  er- 
warten, bis  zum  Zerbersten  anstrengt. 

Ein  Buch  weltlicher  Madrigale  war  1586,  also  einund- 
dreissig  Jahre  nach  jenem  ersten,  welches  einst  dem  Meister  so 
viel  Verdruss  gemacht,  bei  den  Erben  Girolamo  Scotto's  in  Venedig 
erschienen.  Baini  vermuthet,  sie  seien  auch  als  Tanzstücke  ge- 
meint; die  „vielen  schnellen  Noten"  allein  aber  sind  dafür  kein 
Beweis.  Was  getanzt  werden  soll,  muss  vor  Allem  tanzhafte ti 
Rhythmus  haben.  Diese  späten  Madrigale  des  Meisters  unter- 
scheiden sich  sehr  auffallend  von  jenen  ersten  durch  ihre  Form. 
Während  jene  älteren  an  das  gemessene  halb  kirchlich  gefärbte 
Madrigal  Willaert's  anklingen,  sind  die  zweiten  schon  ganz  welt- 
liche Musik  und  lassen  den  ganzen  Einfluss  der  Entwickelung 
erkennen,  welche  das  Madrigal  seitdem  durchgemacht.  Wo  blieben 
aber  die  guten  Vorsätze  aus  der  Vorrede  zu  den  Hohelied-Mo- 
tetten? —  Im  Todesjahr  des  Meisters  (1594)  erschien  das  sechste 
Buch  seiner  Messen.  Es  enthält  die  vierstimmigen  Messen:  Dies 
sanetificatus.  In  te  domine  speravi,  Missa  sine  nomine,  Quam  pulchra 
es;  eine  fünfstimmige  Dilexi  quoniam.  Der  Ausgabe,  welche 
A.  Gardano  1596  in  Venedig  druckte,  ist  eine  sechsstimmige 
Messe  Ave  Maria  beigegeben.  Die  Messe  Dies  sanetificatus  ist 
durch  ihre  Beziehung  auf  die  gleichnamige  Motette  des  Meistere 
sehr  interessant,  deren  einzelne  Motive  hier  eine  weitere  und 
reiche  Ausführung  finden  (der  Anfang  sogar  ganz  identisch!),  so 


1)  Cod.  N.  37  in  Boloerna. 

2)  Ein  schönes  vollständiges  Exemplar  in  der  Sammlung  Kiese wetter's. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


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dass  diese  sehr  bedeutende  Messe  (die  zwischen  der  Einfachheit 
der  Missa  brevis  u.  s.  w.  und  dem  reichen  Glänze  der  Missa 
assumpta  est  eine  Art  mittlere  Stelle  einnimmt)  als  Missa  parodia 
(wie  Paix  diese  Gattung  nennt)  zu  bezeichnen  ist.  Ganz  wuuder- 
sam  ist  das  für  vier  Soprane  l)  geschriebene  Crucifixus.  Solche 
Missae  parodiae  sind  auch  sonst  bei  Palestrina  nicht  eben  selten: 
die  Messen  im  achten  Buche  0  admirabile  commercium,  Memor 
eslo ,  Ascendo  at  palrem  und  Dum  complerentur  und  Veni  Spunsa 
Christi  sind  Motetten,  die  Messe  im  neunten  Buche  Vestiva  i  colli 
ist  einem  Madrigal  des  Meisters  nachgebildet;  Palestrina  erlebte 
gerade  noch  den  Druck  dieses  Buches  Messen  —  er  starb,  nach- 
dem er  Mittwoch  am  26.  Januar  erkrankt  war,  am  nächsten  Mitt- 
woch, das  ist  am  Morgen  des  2.  Februars,  eines  der  grossen  Feste 
der  Kirche,  das  in  Rom  besonders  glänzend  mit  leierlichem  Um- 
züge in  der  Peterskirche,  wobei  Alles,  vom  Papste  anzufangen, 
die  neugeweihten  Kerzen  in  Händen  trägt,  begangen  wird.  Der 
sterbende  Palestrina  soll  beim  Morgenroth  des  Tages  den  Wunsch 
geäussert  haben,  „das  Fest  diesmal  im  Himmel  mitfeiern  zu 
können,"  worauf  er  alsbald,  seinen  klaren  Sinn  bis  zum  letzten 
Moment  behaltend,  sanft  und  ruhig  gestorben  sei.  Sein  edler 
Freund,  der  h.  J.  Filippo  Neri,  hatte  das  Lager  des  sterbenden 
Meisters  mit  tröstender  und  begeisternder  Zuspräche  keinen  Augen- 
blick verlassen.  Bei  der  Beerdigung  sang  der  Sängerchor  in  den 
Strassen  sein  Libero;  den  Sarg  bezeichnete  eine  Bleiplatte  mit 
der  schon  erwähnten  Inschrift,  welche  Palestrina  kurz  den  „Fürsten 
der  Musik"  nennt;  bei  dem  Altare  St.  Simon  und  Juda  in  der 
Peterskirche  wurde  er  eingesenkt. 

Nach  des  Meisters  Tode  erschienen  nicht  weniger  als  noch 
sechs  Bücher  seiner  gesammelten  Messen.  Das  siebente  Buch 
(1594,  wie  schon  erwähnt,  noch  von  Palestrina  selbst  zur  Druck- 
legung redigirt)  mit  den  vierstimmigen  Messen  Ave  Maria,  Sanc- 
lorum  meritis,  Emendemus,  Sacerdos  et  ponlifex;  den  fUnfstimmigen  : 
Sacerdos  et  ponlifex  und  Tu  es  paslor  ovium.  —  Das  achte  Buch 
(1599.  Venedig,  G.  Scotto's  Erben)  mit  den  vierstimmigen  Messen 
Quem  dicunt  homines  und  dum  esset  summus  ponlifex,  den  fUnf- 
stimmigen 0  admirabile  commertium  und  Memor  eslo,  und  den 
sechsstimmigen  dum  complerentur  und  Sacerdoles  domini*  —  Das 
neunte  Buch  (1599  a.  a.  0.)  mit  den  vierstimmigen  Messen  Ave 
regina  und  feilt  sponsa  Christi,  den  fUnfstimmigen  Vestiva  i  Colli 
und  Missa  sine  Xomine,  den  sechsstimmigen  In  te  Domine  speravi 
und  Te  Deum  laudamus.  —  Das  zehnte  Buch  (1600  a.  a.  O.) 
mit  den  vierstimmigen  Messen  In  ilto  tempore  und  Giä  fu  chi  m' 
ebbe  cara.  den  fUnfstimmigen  Petra  saneta  und  0  virgo  simul  et 


1)  Die  beiden  tieferen  Soprane  steigen  jedoch  zwischen  durch  in  die 
Altlage  hinab. 


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54 


Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


mater,  den  sechsstimmigen  Quinli  toni  und  Illumina  oculos  meos 
letztere  die  erste  der  drei  Probemessen).  —  Das  eilfte  Buch 
(1600.  Venedig  bei  Girol.  Scotto)  mit  der  vierstimmigen  Descendii 
Angelus,  den  fünfstimmigen  Regina  coeli  und  Quando  lieta  spera, 
den  sechsstimmigen  Octavi  loni  und  Alma  redemtoris  maier.  — 
Das  zwölfte  Buch  (1601  a.  a.  0.)  mit  den  vierstimmigen  Messen 
Regina  coeli  und  O  rex  gloria,  den  fiinfstimmigen  Ascendo  ad 
patrem  meum  und  Qual'  e  il  piu  grand'amor  und  den  sechs- 
stimmigen Tu  es  Petrus  und  Viri  Galilaei. 

In  demselben  Jahre  1601  erschien  in  Venedig  ein  Buch 
achtstimmiger  Messen.  Es  enthält  ausser  der  schon  früher  ge- 
druckten Conßtebor  tibi  Domine  die  Messen  Laudate  Dominum  omnes 
gentes  und  Uodie  Christus  nalus  est,  beide  über  die  Motive  der 
entsprechenden  Motetten  (in  den  Motetten  zu  5,  6  und  8  Stimmen) 
und  die  Messe  Fraires  ego  enim,  welcher  eine  acbtstimmige  Motette 
zu  Grunde  liegt,  die  der  Orvietaner  Domcapellmeister  Fabio 
Constantini  1614  in  Rom  zusammen  mit  den  Motetten  Sub  luum 
praesidium  und  Cara  mea  herausgab.  Das  Fralres  ist  bekanntlich 
eines  der  berühmtesten  Stücke  der  Charwochenmusik  aus  der  Six- 
tina  und  hat  einen  ganz  eigenthümlichen  Hauch  zarter,  rührender 
Wehmuth.  Nicht  minder  schön  und  den  achtstimmigen  Motetten 
des  dritten  Buches  ebenbürtig  ist  das  so  innig  und  dabei  so  ruhig 
vertrauensvoll  flehende  Gebet  Sub  tuum  praesidium:  einzelne 
Stellen,  wie  das  energisch  declamirte  „sed  a  periculis",  wie  die 
prächtige  Harmoniewendung  bei  den  Worten  „libera  nos  Semper", 
treten  überraschend  hervor,  das  Ganze  wieder  ein  Muster  echtesten 
Palestrinenstylcs. 

Ungedruckt  gebliebene  Arbeiten  besitzt  das  päpstliche  Capellen- 
archiv, das  Archiv  der  Capeila  Giulia  im  Vatican,  die  Archive 
der  Lateranischen  und  Liberianischen  Basilica,  das  Archiv  der 
Chiesa  nuova  und  die  Sammlung  Altaemps,  darunter  zwölfstimmige 
Compositionen ,  ein  grosses,  absichtlich  höchst  einfach  gesetztes 
Miserere,  gleichsam  eine  im  farblosen  Bussgewande  trauernde  Musik 
mit  dem  eigentümlichen  Zuge,  dass  die  drei  nach  den  Ver- 
setten  alternirenden  Chöre  die  Stelle  „Tibi  soli  peccavi"  einer 
nach  dem  andern  singen  —  ein  in  seiner  Einfachheit  eigen  er- 
greifender Effect  —  erst  bei  dem  letzten  .,Tunc  imponent  super 
altare  tuum  vitulos"  vereinigen  sich  alle  drei  Chöre.  Wer  möchte 
zweifeln,  ob  es  dem  Meister  mit  solchen  Compositionen  Herzens- 
sache, oder  ob  es  ihm  nur  darum  zu  thun  war,  heilige  Worte,  gleich- 
viel wie,  in  wohlklingende  Musik  „ohne  tiefere  Bedeutung"  ein- 
zufassen! Drei  überaus  grossartige  zwölfstimmige  Motetten  besitzt 
das  Archiv  von  S.  Maria  in  Valicella  (Chiesa  nova)  Laudate  do- 
minum, Ecce  nunc  benedicite  und  Nunc  dimiitis  servum  tuum,  sie 
gehören  zu  den  bedeutendsten  Werken  des  Meisters.  Aus  der 
Sammlung  Altaemps  hat  Proske  die  zu  vier  hohen  Stimmen 


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Giovanni  Pierluigi  da  Paleatrina. 


55 


geschriebene  Princeps  gloriosissime  Michael  in  seiner  „Musica  di- 
vina44  drucken  lassen.  Baini  nennt  sie  „ernst  und  andächtig": 
vielleicht  nicht  die  rechte  Bezeichnung,  es  ist  vielmehr  wie  lauter 
Licht  und  Feuerglanz. 

Baini  hat  bekanntlich  in  Palestrina  zehn  Style  nachweisen 
wollen :  einen  sehr  künstlichen ,  einen  fliessenden ,  einen  gewöhn- 
lichen, einen  miniaturartigen  u.  s.  w.  Die  Missa  Papae  MarceUi 
repräsentirt,  wie  Baini  will,  ftir  sich  allein  einen  Styl,  den  sieben- 
ten ,  und  nach  Baini's  Meinung  vollkommensten ,  vom  Meister 
selbst  nicht  wieder  erreichten.  Dieses  Einschachteln  der  Genius- 
werke in  selbstgezimmertes  Fachwerk  hat  etwas  sehr  Kleinliches, 
aber  es  ist  die  Art  der  Italiener  sich  die  Werke  grosser  Künstler 
in  solcher  Weise  zum  besseren  Verständnisse  zu  zerlegen ;  Raphael, 
Guido  Reni  und  sogar  der  Landschaftsmaler  Paul  Bril  haben  sich 
von  den  dortigen  Kennern  und  Aesthetikern  Aehnliches  gefallen 
lassen  müssen.  Wenn  nun  im  Leben  des  Genius  kein  Stillstand, 
sondern  steter  Fluss  und  stete  Fortentwickelung  ist,  so  erscheint 
dieses  Abmessen  und  Einrammen  von  Grenzpfählen  zuletzt  immer 
mehr  oder  minder  willkürlich.  Wie  bei  allem  Idealschönen  ist 
es  auch  bei  Palestrina's  Compositionen  sehr  leicht,  die  ideale 
Schönheit  zu  empfinden,  sehr  schwer  aber  ist  es  den  Grund  ihres 
Zaubers  in  Worten  auszusprechen.  l)  Wenn  ein  neuerer  Aest- 
hetiker  das  Schöne  als  ein  „sich  selbst  offenbarendes  Mysterium" 
bezeichnet,  so  wären  Palestrina's  Tonsätze  mit  diesem  Worte  zwar 
nicht  erklärt,  aber  doch  richtig  charakterisirt.  Sie  vereinigen  das 
edelste  Mass  mit  dem  reichsten  inneren  Leben.  Die  Contouren 
der  einzelnen  Stimmen  sind  von  wunderbarer  Feinheit  und  Schön- 
heit- es  ist  eine  Welt  idealer  Gestalten,  die  sich  vor  uns  aufthut, 
wenn  wir  vor  Allem  dem  Gange  jeder  einzelnen  Stimme  in  ihren 
Notenzeichen  mit  Blick  und  Geist  folgen,  um  dann  erst  dem 
himmlischen  Wohllaut  ihres  Zusammenklingen  zu  horchen,  ihre 
feinen  Wechselbeziehungen,  die  Einheit  in  ihrer  Mannigfaltigkeit, 
die  einander  antwortenden  Motive,  die  einander  sinnig  nach- 
ahmenden Gänge  an  uns  vorüberziehen  zu  lassen.  Hier  ist  wahr- 
lich kein  kaltes  „krystallinisch  Gewächs"  —  keine  blosse  „Mon- 
stranz aus  Tönen,  um  dem  Volke  die  heiligen  Worte  entgegen- 
zubringen", ein  himmlisch  beseelender  Geist  lebt  und  belebt,  die 
reinste  Opferflamme  lodert,  und  die  innigste  Empfindung,  welcher 
kein  trüber  Rest  von  irdischer  Leidenschaft  anklebt,  hebt  diese 
Musik  in  verklärte  Regionen,  von  wo  aus  uns  ihre  Klänge  wie 
Boten  einer  höheren  und  ewigen  Welt  entgegentönen.  Palestrina's 
Musik,  um  es  in  ein  Wort  zu  fassen,  athmet  die  Seligkeit 
der  Anbetung. 


1)  Gerade  wie  bei  Mozart!  — 


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56 


Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


I)cr  musikalische  Techniker  aber  möge  die  meisterhafte 
Fügung  des  Tonsatzes  beachten.  Wo  „Künste"  augewendet  sind, 
drängen  sie  sich  nirgends  anmasslich  in  den  Vordergrund,  sie 
scheinen  an  ihrer  Stelle  eben  nur  das  natürlich  Einfache,  um  nicht 
zu  sagen,  das  hier  Selbstverständlich-Angemessene.  Die  Textur 
der  Stimmen  zeigt  nirgends  Ueberhäufung,  nirgends  Verwirrung  — 
sie  reichen  sich  wie  Grazien  die  Häude,  nähern  sich,  entfernen 
sich  und  gehen  leichten  Götterschrittes  zum  gemeinsamen  Ziele. 
Oft  genug  bekömmt  man,  als  Charakterisirung  des  Palestrina-Styls, 
zu  hören:  „er  bestehe  aus  diatonischen  Folgen  oft  unvermittelter, 
aber  eben  deswegen  oft  sehr  frappant  wirkender,  stets  consonirender 
Dreiklänge,"  und  mit  dem  Schlagwort  „Palestrina-Dreiklänge" 
meint  man  das  eigentliche  Wesen  dieser  Musik  kurz  und  treffend 
bezeichnet  zu  haben.  Treten  wir  aber  zu  dem  Meister  in  seine 
geistige  Werkstätte  —  wir  werden  ihn  ganz  anders  beschäftigt 
finden,  als  etwa  wie  ein  Kind  sich  damit  befasst  und  ergötzt,  auf 
dem  Ciavier  wohltönende  Accorde  zusammenzusuchen ,  oder  als 
einen  fleissigen  Musikstudenten,  welcher  auf  dem  Fundament  eines 
ihm  vom  Lehrer  gegebenen  Basses  sein  musikalisches  Pensum  in 
Dreiklängen  und  Sextaccorden  ausarbeitet  und  zu  Papier  bringt, 
wohlbedacht,  „keine  Quinten  und  Octaven  zu  machen". 

Alle  polyphone  Musik  ist  von  der  Melodie  ausgegangen, 
schafft  Melodie,  lebt  und  webt  in  Melodie,  —  ihre  Harmonie  ist 
aber  nur  das  Resultat  zusammenklingender  Melodieen.  „Die 
Harmonie",  sagt  G.  Jakob  mit  Recht,  „ist  in  dieser  polyphonen 
Musik  nicht  Zweck,  sondern  nur  Folge  —  erster  Zweck  ist 
die  einheitliche  Führung  der  Einzelstimmen."  So  ist 
es  bei  Palestrina.  Wo  Alles  Melodie,  ist  vor  lauter  Melodie 
keine  zu  finden,  ist  die  beste  Illustration  zu  dem  alten  Spruche 
vom  Wald,  den  man  vor  Bäumen  nicht  sieht.  Palestrina's  Melodie, 
wie  sie  in  den  einzelnen  Stimmen  klingt  und  singt,  ist  sogar,  als 
Melodie  genommen,  von  ganz  besonderer  Schönheit  —  voll  Seele, 
Adel  und  Empfindung.  Ihr  wesentliches  Merkzeichen  ist  die 
breite,  austöneude  Entfaltung  der  Gesangstimme  (das  „spianar  la 
voce"  der  Italiener),  während  die  „Oltramontanen"  —  auch  Or- 
lando Lasso  —  lieber  mit  kurzen,  knappen,  scharf  ausgeprägten 
Motiven  arbeiten.  Durchaus  ist  die  Bewegung  der  Melodie  wie 
der  Harmonie  eine  ruhige  —  nirgends  eine  schleppende.  Von 
dem  leidenschaftlich  ungeduldigen  Wesen  des  spätem  dramatischen 
Musikstyls,  von  seinen  Sprüngen  und  Contrastcn  ist  keine  Rede. 
Man  fUhlt  sich  an  die  „edle  Einfalt  und  stille  Hoheit"  gemahnt, 
welche  nach  Winckelmanns  schönem  Wort,  das  Kennzeichen  der 
Antike  ist  —  oder,  wenn  man  will,  an  das  Gebet,  welches  die 
heilige  Theresia  in  ihrer  wundersamen  Dichtersprache  „das  Ruhe- 
gebet" nennt,  ein  stiller,  stetiger  Strom  ruhiger,  ihrer  selbst  sicherer 
Seligkeit. 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina. 


57 


Die  herrschende  Diatonik  insbesondere  giebt  dem  Ganzen 
den  Charakter  erhabener  Ruhe  —  keine  Ausweichungen  in  fremde 
Tonarten  neuen  Styls  (für  jene  Musik  ohnehin  eine  „Terra  incog- 
nita")  unterbrechen  beunruhigend  den  feierlichen  Zug;  aber 
frappante,  selbst  kühne  Ausweichungen  fehlen  nicht  —  wohl- 
motivirt  wo  sie  erscheinen.  Durch  die  Compositionen  geht  end- 
lich auch  ein  grosser,  rhythmischer  Zug,  sie  haben  ihren  Periodeu- 
bau,  ihre  Symmetrie,  ihre  Einschnitte,  Zwischenschlüsse,  Kuhe- 
stellen, ihre  geregelte  Gruppirung.  Besonders  deutlich  wird  dieses 
in  den  Motetten,  wo  selbst  der  Worttext  das  Vor-  und  Zurück- 
treten der  Massen,  und  deren  architektonische  Disposition  in  eine 
hellere  Beleuchtung  rückt  —  als  in  Sätzen  der  Messe  der  stets 
gleichartige  Anruf  des  „Kyrie"  oder  „Osanna",  das  stets  wieder- 
holte „Sanctus"  oder  „Benedictus"  zu  thun  vermag.  An  den  lied- 
mässigen  Periodenbau  der  späteren  monodischen  Musik  mit  der 
gleichartigen  Folge  viertaktiger  oder  zweitaktiger  Glieder,  mit 
den  correspondirenden  Halb-  und  Ganzschlüssen,  mit  „Part,  prima" 
und  „seconda"  mit  der  Ausweichung  nach  der  Dominante  und 
der  Rückkehr  zur  Tonica,  wird  man  allerdings  hier  so  wenig  ge- 
mahnt, als  etwa  in  den  Chören  der  griechischen  Tragiker  an  den 
gereimten  Alexandriner  der  französischen  Poesie.  Der  Takt, 
welcher  in  der  Musik  der  Folgezeiten  mit  dem  Gleichmass  seiner 
„starken"  und  „schwachen"  Schläge  so  entschieden  durch  die 
tausendfachen  Tongestaltungen  hervortritt,  ist  hier  gleichsam  latent, 
wir  empfinden  die  Gegenwart  dieses  Regulators  der  Bewegung 
nicht,  obwol  er  in  der  That  vorhanden  ist,  und  nur  er  eben  das 
Zeitmass  der  Töne  in  Ordnung  und  in  geregeltem  Gange  erhält. 
Während  sich  der  Takt  in  der  Tanzmusik  bis  zur  Aufdringlich- 
keit fühlbar  machen  muss,  verschwindet  er  hier  völlig  in  den 
Tonwellen,  welche  ihn  überströmen,  und  welche  doch  nur  eben 
er  in  Bewegung  setzt.  Nur  gewisse  daktylische  Sätze,  wie  sie 
die  Musik  von  Altersher  kannte,  lassen  den  Rhythmus  sehr  ent- 
schieden fühlbar  werden.  Die  hochfeierliche  altniederländische 
Cadenzform  behält  Palestrina  mit  vollem  Recht  bei.  Dass  er  viele 
Sätze  so  schlicsst,  dass  das  „moderne  Ohr"  einen  Halbschluss  zu 
hören  meint,  ist  natürlich.  Aber  eben  diese  Schlüsse  haben  dann 
etwas  wunderbar  Ahnungsvolles  —  es  ist  ein  Blick  in  ungemessene 
Weite,  welche  der  Geist  schauernd  ahnt,  aber  nicht  zu  über- 
fliegen vermag.  Der  römische  Musikstyl,  als  dessen  höchste  Er- 
scheinung Palestrina  gelten  darf,  ist,  dem  Gebrauch  der  päpst- 
lichen Kapelle  gemäss,  reine  Vokalmusik,  in  seiner  vollen 
Reinheit  als  „Palestrinastyl"  schliesst  er  alle  Instrumente,  sogar 
die  Orgel,  aus.  Eine  Messe  von  Palestrina  etwa  mit  Instrumenten 
zu  verdoppeln  (wie  weiland  Gottlob  Ilarrer  that;  wäre  geradehin 
ein  Barbarenstück  musikalischen  Vandalismus.  Dass  gegen  Ende 
des  Jahrhunderts,  nachdem  der  Styl  sich  zu  modifiziren,  man  muss 


58 


Giofanni  Pierluigi  da  Palostrina. 


sagen  zu  degenerircn  angefangen,  die  Componisten  ihren  Arbeiten 
einen  Grundbass  für  Orgel  (Basso  per  l'organo)  beifügten,  hatte 
seine  Veranlassung  in  äusseren  praktischen  Gründen.  Der  be- 
zifferte Orgelbass  hängt  sich  dieser  seraphischen  Musik  aber  auch 
sofort  an,  wie  ein  schwerer  Fussblock,  welcher  sie  aus  dem  reinen 
Aether  ihrer  himmlischen  Höhen  in  den  Dunstkreis  der  Erde 
herabzieht.  Im  Palestrinastyl  kann  selbst  die  kirchliche  Orgel 
nur  Vorrednerin  oder  Verbindung  zwischen  Satz  und  Satz  sein. 
Dem  eingebildeten  Sinn,  welchem  nach  des  Dichters  Wort,  die 
Antike  Stein  ist,  wird  Palestrina's  Musik  Klang  bleiben,  und  nichts 
weiter.  Wer  in  ihr  durchaus  dasselbe  finden  will,  was  ihn  in 
später,  unter  ganz  anderen  Bedingungen  und  mit  ganz  anderen 
künstlerischen  Zielen  entstandener  Musik  lieb  geworden  ist,  wird 
sich  allerdings  getäuscht  fühlen.  Die  Musik  vor  1600,  also  auch 
die  Palestrina-Musik,  ist  im  Vergleiche  zur  Musik  nach  1600, 
d.  i.  zur  modernen,  ein  fremdes  Idiom,  welches  erlernt  sein  will, 
um  verstanden  zu  werden.  Es  genügt  dabei  nicht,  Dinge,  welche 
eine  relative  Aehnlichkeit  mit  unserer  musikalischen  Ausdrucks- 
weise haben,  als  „Ahnungen"  oder  „Geistesblitze"  wohlgefällig 
zu  bemerken,  um  alles  Fremdklingende  sofort  als  „unberechtigt'* 
zurückzuweisen.  Ein  solches  Halbverstehen  ist  schlimmer  als 
Garaichtvcrstehen.  Man  weise,  wenn  man  will,  den  „römischen 
MusikstyP*  ganz  zurück,  aber  man  messe  ihn  nicht  mit  der  nea- 
politanischen Elle,  und  man  bedenke,  dass  die  „Missa  Papae  Mar- 
celli",  das  „wohltemperirte  Klavier"  und  die  „Sinfonia  eroica" 
drei  sehr  verschiedene  Dinge  sind. 

Endlich  ist  aber  bei  Palestrina's  Musik  ihre  ursprüngliche 
Bestimmung  nicht  ausser  Acht  zu  lassen.  Sie  ist  von  Hause  aus 
keine  Musik  für  den  Concertsaal,  für  die  Singakademie,  für  den 
Theezirkel  exquiser  Kunstfreunde,  sie  ist  kein  Tummelplatz  für 
die  geistvollen  Kunsturtheile  und  feinen  Bemerkungen  der  in 
ihrem  Gartensaale  über  Kunst  und  Literatur  conversirenden,  Rhein- 
wein, Dante  und  Raphael  geniessenden  Tieck'schen  Phantasus- 
Gesellschaft ,  kein  Vehikel  für's  musikalische  „Sternbaldisiren": 
sie  ist  Musik  für' die  Kirche,  für  den  Gottesdienst,  für  das 
Kirchenjahr  mit  dem  reichen  Kranz  seiner  Feste,  mit  seinen  Fest- 
zeiten —  mit  seinen  Tagen  der  Trauer,  der  Tröstung,  des  Jubels, 
der  Weihe,  des  Dankes,  der  Anbetung.  Sie  ist  kein  äusserlich 
herangebrachter  Schmuck  für  alle  diese  reichen,  mannigfachen 
gottesdienstlichen  Zeremonien,  sie  fügt  sich  ihnen  als  integriren- 
der  Bestandtheil  ein.  Ja  sogar  ihre  Localbedeutung  hat  sie  — 
wie  Homer  Hellas,  wie  Sophokles  Athen  voraussetzt  — :  sie  ist 
in  Rom  und  für  Rom  entstanden.  In  der  Sixtinischen  Capelle, 
wo  Michel  Angelo's  Sibyllen  und  Propheten  herabblicken,  wo  An- 
fang und  Ende  der  Dingo  —  Weltschöpfung  und  Weltuntergang  — 
in  Ungeheuern  Bildern  vor  Augen   stehen,   ist   ihre  richtigste 


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Giovanni  Pierluigi  da  Palestrina.  59 

Stelle.  Ueber  die  Donner  des  Gerichtes  spannen  sich  die  Töne 
als  lichter  Regenbogen:  der  titanenhaft  zürnende  Maler  spricht 
von  der  Gerechtigkeit  des  lebendigen  Gottes,  „in  dessen  Hände 
zu  fallen  schrecklich  ist"  —  aber  der  Musiker  spricht  von  Gottes 
Liebe  und  Gottes  Erbarmung,  und  von  der  reinen  Harmonie 
ewiger  Seligkeit. 


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Q. 

Die  Zeit  des  Palestrinastyles 

„der  italienischen  Musik  grosse  Periode.4' 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 

Palestrina  und  seine  Zeit-  und  Kunstgenossen,  so  wie  seine 
Nachfolger  —  wir  fassen  sie  unter  dem  gewohnten  Namen  der 
römischen  Schule  zusammen  — repräsentiren  die  glänzendste, 
man  darf  sagen  die  klassische  Zeit  der  römisch-katholischen  Kir- 
chenmusik. Aus  den  Bedürfnissen  des  kirchlichen  Ritus  hervor- 
gegangen, durch  den  Ritus  ausgebildet  und  nur  innerhalb  des 
Ritus  lebendig  und  wahr  und  nur  dort  an  rechter  Stelle,  wurzelt 
dieser  Styl  im  uralt  geheiligten  gregorianischen  Gesang,  aus  wel- 
chem er  wie  eine  Lichtblume  emporblüht,  in  den  Kirchenton- 
arten, deren  höchste  und  feinste  Ausbildung  er  darstellt  und 
welche  ihm  seinen  musikalischen  Charakter  gegeben  haben.  An 
Durchbildung,  wie  an  Beseelung  steht  er  gegen  keinen  andern, 
selbst  auch  den  höchsten  zurück.  Er  pocht  nicht,  wie  der  spätere 
Musikstyl,  die  Leidenschaften  der  Menschen  aus  ihrem  Schlummer(sei 
es  immerhin  um  einer  Katharsis  derselben  willen  •,  er  hebt  den  Geist 
in  reine,  himmlische  Höhen,  wo  sich  der  wilde  Schmerz  der  Tiefen 
zur  milden,  seligen  Wehnrath  verklärt,  wo  der  bacchantische 
Jubel  vor  der  Heiterkeit  eines  seligen  Gottesfriedens  verstummt. 
Das  musikalisch  Schöne  spricht  sich  in  ihm  in  reiner  Idealität, 
nicht  in  der  Farbenbrechung  des  Tragischen  oder  Komischen 
aus.  Es  ist  derselbe  Geist,  das  einfach  Edele,  das  rein  Schöne, 
welcher  einst  die  Hand  des  Phidias  leitete,  als  er  die  Gestalten 
der  im  Panathenäcnzug  wandelnden  attischen  Jungfrauen  schuf, 
der  den  christlichen  Malern  bis  einschliesslich  auf  Raphael  jene 
Gestalten  eingab,  die  uns  wie  Gäste  aus  einer  anderen,  höheren, 
besseren  Welt  anschauen,  deren  blosse  Gegenwart  beseligt,  ohne 
dass  sie  uns  erst  durch  irgend  ein  Thun  Interesse,  durch  Leiden 
Mitleid  abgewinnen  müssen.  In  diesen  Tonwerken  singt  und 
klingt  Alles,  jede  Stimme  ist  ftir  sich  ein  schön  belebtes,  seinen 
Weg  in  edler  Anmuth  hinwandelndes  Gebild,  der  Zusammenklang 
aller  aber  formt  das  Tonstück.  Ruhig  und  breit  wogt  ein  Strom 
von  Wohllaut  vorüber,  durch  keine  rauschende  Stromschnelle, 
durch  keinen  jähen  Sturz  unterbrochen,  aber  auch  nirgends  träge 
schleichend,  nirgends  stagnirend. 

Man  bezeichnet  bekanntlich  diese  Kunst  und  Knnstzeit  als 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


„der  italienischen  Musik  grosse  Periode"  —  zum  Unter- 
schied von  der  später  insbesondere  durch  die  Meister  der  neapo- 
litanischen Schule  repräsentirten  „schönen  Periode  der  italienischen 
Musik.14    Der  Gegensatz  ist  indessen  nicht  ganz  glücklich  ausge- 
drückt, denn  die  Grösse  des  römischen  Musikstyls  schliesst  Schön- 
heit nichts  weniger  als  aus.    Eichtiger  wäre  es  vielleicht  an  den 
Unterschied  zwischen  Himmel  und  Erde,  zwischen  dem  himm- 
lischen Eros  und  dem  irdischen  Amor ,  zwischen  heiliger  Würde 
und  sinnlich  reizender  Anmuth   zu  denken  —  zwischen  einer 
Maria  liaphael's  und  einer  von  Coreggio.    Es  ist  in  diesen  Musik- 
stylen wirklich  so  etwas  ihrer  Pflegestätte:  Korn  und  Neapel,  Ana- 
loges: dort  die  einfach  grossen  Formen  und  Contouren  der  römi- 
schen Campagna  mit  den  sie  abschliessenden,  wunderbar  edel  ge- 
schwungenen Bergzügen  und  dem  blauen  Meeresstreifen  in  der 
Ferne  und  hier  die  berauschenden  Hesperidengärten  am  Strande 
von  Soirent,  mit  dem  Ausblick  auf  den  dampfenden  Vulkan,  in 
welchem  Lavagluthen  kochen  und  Erderschütterungen  schlummern. 
Nach  dem  Epochenjahre  1600  lernte  die  Musik  am  Baume  der 
Erkenntniss  Gutes  und  Böses  unterscheiden,  aber  sie  wurde  dafür 
auch  aus  dem  Paradiese  des  Palestrinastyls  gewiesen  und  musste 
es  leinen  „der  Erde  Lust,  der  Erde  Weh  zu  tragen,  mit  Stürmen 
sich  herumzuschlagen  und  in  des  Schiffsbruchs  Knirschen  nicht 
zu  zagen."    Ja  selbst  der  alte  Richterspruch  erfüllte  sich:  „von 
dem  Baume  der  Erkenntniss  des  Guten  und  Bösen  sollst  Du  nicht 
essen,  denn  an  welchem  Tage  Du  davon  issest,  wirst  Du  des 
Todes  sterben."    Ueber  den  Palestrinastyl  haben  die  Jahrhunderte 
keine  Macht  —  er  verwelkt  nicht,  er  stirbt  nicht.    Zur  Zeit  der 
Neapolitaner    brachte    jeder   Frühling    einen   neuen  herrlichen 
Blumenflor,  den  der  nächste  Herbst  welken  und  verblühen  machte. 
Wir  hören  Messen  und  Motetten  von  Palestrina  und  hören  sie 
mit  denselben  Empfindungen,  wie  sie  einst  des  Meisters  Zeitge- 
nossen gehört  —  wer  aber  könnte  und  möchte  noch  jetzt  die 
Aufführung  einer  Oper  von   Alessandro  Scarlatti,   Feo,  Vinci, 
Hasse  durchmachen  wollen?    Und  doch  ist  auch  hier  Musik  — 
die  herrlichste.    Jedenfalls  wollen  wir  uns  hüten,  das  Jahr  1600 
als  ein  Jahr  musikalischen  Sündenfalls  anzuklagen  —  es  wurde 
der  Musik  gegeben,  sich  das  Paradies  wieder  zu  erkämpfen  — 
wir  hätten  keinen  Mozart,  keinen  Beethoven,  hätten  die  Herren  im 
Hause  Bardi  zu  Florenz  conservativ  gedacht  —  und  bei  Mozart's 
„Ave  verum"  würde  sich  vielleicht  Palestrina  selbst  einer  wun- 
derbaren Bewegung,  einer  tiefen  Ergriffenheit   nicht  erwehren 
können 

Den  Musikstyl  der  römischen  Schule  könnte  man  vielleicht 
wesentlich  als  den  Styl  des  Musikalisch-Erhabenen  fassen, 
ohne  doch  mit  dem  Begriffe  des  Erhabenen  den  Gedanken  colos- 
saler  Dimensionen  oder  dynamischer  Gewaltsamkeit  (Alpen,  Ocean, 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


65 


rollender  Donner  u.  s.  w.)  verbinden  zu  müssen.  Der  Begriff 
des  Erhabenen  wird  passen,  mag  man  es  nun  mit  Vischer,  als  „das 
Hinauswagen  der  Idee  über  die  Sinnlichkeit"  verstehen,  oder  mit 
Zeising  als  „dasjenige  Schöne,  welches  durch  seine  objectivc 
Vollkommenheit  (namentlich  durch  seine  Grösse)  die  Idee  der 
absoluten  Vollkommenheit  erweckt"  oder  mit  Jean  Paul  als  das 
„angewandte  Unendliche."  Was  Solger  als  das  Merkzeichen  des 
Erhabenen  hinstellt:  „PiePonirung  des  Unendlichen  im  Endlichen" 
oder  was  Hegel  ähnlfch  diesfalls  sagt:  „das  Product  künstlerischen 
Bestrebens,  das  Unendliche  im  Endlichen  auszudrücken",  leidet 
vollkommen  Anwendung  auf  diese  Tonwerke.  Das  Erhabene 
inanifestirt  sich  in  grossen,  ruhigen  Umrissen,  es  beunruhigt  nicht 
den  Blick  durch  bunt  und  hastig  wechselndes  Farbenspiel  (erhaben 
sind  die  weithin  weiss  leuchtenden  Alpengipfel,  ist  die  unendliche 
blaue  Fläche  des  Meeres,  der  einfarbig  dämmernde  Nachthimmel 
voll  Sternengefunkeis)  es  kommt  nicht  in  kleinen  Einzelheiten 
herum  —  „es  zerreibt"  wie  M.  A.  Griepenkerl  d.  J.  sagt:  „alles 
Htautgeborne  wie  Mörtel."  Die  einfachste  Form  des  musikali- 
schen Erhabenen  ist  der  Choral  mit  seiner  feierlich  langsamen 
Bewegung,  seinen  prächtigen,  gleichförmig  langen  Noten,  seinen 
schweren  Accordsäulen.  Unvergleichlich  reicher,  vielgestaltiger 
spricht  sich  das  Erhabene  im  Palestrinastyl  aus,  dessen  Compo- 
sitionen  selbst  schon  in  der  Aufzeichnung' mit  ihren  grossen  Noten- 
Geltungen,  ihren  ruhigen  und  doch  durch  und  durch  belebten 
aMassen,  den  Eindruck  des  einfach  Grossen  hervorrufen,  welcher 
alles  rasche  Passagenwerk,  allen  Kleinkram  an  Figurationen  voll- 
ständig vermeidet  und  als  sich  letztere  bei  Palestrina's  Epigonen 
einzustellen  anfangen,  sofort  auch  an  Erhabenheit  verliert  — 
welcher  sogar  die  Phasen  des  Seelenlebens  nur  in  grossen  ernsten 
Zügen  malte,  ohne  sich  auf  Detaillirung  einzulassen.  In  grosse, 
ruhige  Massen  zerschmilzt  der  Tonstoff,  und  ruht  gar  aus,  wie 
das  weite  Meer,  wie  der  weite  Himmel. 

Das  Komische  —  wenn  wir  solches  mit  Vischer  als  den 
Gegenpol  des  Erhabenen  gelten  lassen  wollen  —  hat  umgekehrt 
gerade  an  jenem  Kleinkram  seine  Freude ,  der  „Dichter  kann 
nicht  Farben  genug  finden,  um  die  liebe  Endlichkeit  in  ihr  Hecht 
einzusetzen"  (Griepenkerl).  Die  Tonsetzer  haben,  ohne  in  der 
Schule  der  lehrenden  Aesthetik  gesessen  zu  haben,  diese  Wahr- 
heit durch  den  Instinkt  des  Künstlertalentcs  praktisch  aufs  Glück- 
lichste herausgefunden  —  und  zwar  sogleich,  als  an  die  Musik 
die  Aufgabe  gestellt  wurde,  auch  komisch  sein  zu  sollen.  Schon 
Orazio  VecchYs  „Amfiparnasso"  hat  in  den  burlesken  Szenen 
Plauderpassagen,  kleines  rasches  Notenwerk.  Ganz  verschieden 
tritt  schon  in  Cavalli's  Opern  diese  Seite  des  musikalisch  Komi- 
schen hervor.  Der  grotesk  komische  Diener  Demo  (im  „Giasone" 
1649)  überschüttet  gleich  in  seiner  ersten  Arie,  „son  gobbo,  son 

Ambrof,  Geschichte  der  Musik.    IV.  5 


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66 


Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


Demo,  il  mondo  m'&  schiavo ,  il  diavol'  uon  temo"  u.  s.  w.  die 
Zuhörer  mit  einem  ganzen  Hagelwetter  von  Parlandonoten.  Die 
Bufibncrien  der  späteren  italienischen  Oper  finden  bekanntlich  hierin 
ihr  wirksamstes  Mittel  (Rossini's  Don  Magnifico  in  „Cenerentola"  — 
unübertrefflich  der  Moment  im  ersten  Finale  des  „Barbiere  de 
Seviglia",  wo  gleichzeitig  alle  auf  dem  Theater  Anwesenden  pre- 
stissimo  ihr  Anliegen  in  den  Führer  der  Wache  hineinsingen,  wel- 
cher, als  jenen  der  Athem  ausgeht  und  sie  verstummen,  höchst  phleg- 
matisch antwortet:  „ho  capito").  Selbst  was  an  weltlicher  Musik  dem 
Palestrinastyl  verwandt  ist,  wie  das  gleichzeitige  Madrigal,  bewegt 
sich  im  Sentimentalen,  am  liebsten  sogar  im  schwächlich  Melan- 
cholischen. Wenn  die  Villote,  das  Tanzlied,  das  Scherzo  (aus- 
drücklich so  genannt,  natürlich  etwas  ganz  Anderes  als  die  später 
also  genannten  Instrumentalsätze)  leichtere  Töne  anschlagen,  so 
bringen  sie  es  doch  nur  zum  munter  Belebten,  und  in  Adriano 
Bauchicri's  „Giovedi  grasso"  und  ähnlichen  Werken  liegt  die  Komik 
meist  mehr  nur  in  den  Worten  des  Textes  oder  in  allerlei  bur- 
lesken Manieren  der  Ausführung  (Nachahmung  von  Thierstimmen, 
von  Musikinstrumenten  durch  die  Sänger),  als  in  der  Musik. 

Innerhalb  der  römischen  Schule  bildete  sich  durch  ein  feines 
Verständniss  der  Tonsetzer  ftir  die  Bedürfnisse  und  den  Geist  des 
kirchlichen  Ritus  eine  ungleich  reichere  Fülle  von  Formen  und 
Gestaltungen  aus,  als  bei  den  Niederländern  der  Fall  gewesen. 
Die  Niederländer  hatten  sich  auf  wenige  Formen  beschränkt:  die 
Messe,  über  ein  Ritualmotiv  oder  ein  weltliches  Volkslied,  daneben 
das  weltliche  Lied,  welches  nicht  selten  zur  gleichnamigen  Messe 
umgewandelt  und  erweitert  wurde,  die  Motette,  von  welcher  der 
„Psalm"  eine  nicht  wesentlich  verschiedene  Modifikation  war  — 
endlich  die  „Lamentation",  welche  hinwiederum  in  der  „Missa  pro 
defunetis"  fühlbar  auf  die  Messencomposition  zurückwirkte.  Die 
Vilanclle,  die  Frottola  sind  fremde,  italienische  Formen,  in  wel- 
chen sich  die  niederländischen  Meister  und  auch  erst  in  der  auf 
Okeghcm  zunächst  folgenden  Generation  nur  sehr  ausnahmsweise 
versuchen.  Das  Madrigal  entwickelt  sich  in  Venedig  unter  Wil- 
lacrt's  und  unter  Verdelot's  Händen  aus  der  Frottola,  um  das  alt- 
niederländische  contrapunetirte  Volkslied  binnen  Kurzem  aus  dem 
Felde  zu  schlagen. 

Reicher  und  mannigfaltiger  entwickelten  sich  aber,  wie  ge- 
sagt, die  Gattungen  in  der  Palestrinazeit  —  und  schieden  sich 
schärfer  voneinander.  Neben  die  „Messe",  welche  bei  ihren  alten 
Bezugsquellen,  dem  Ritualgesang  und  —  trotz  des  Tridentinuras 
—  dem  Volksliede  bleibt,  und  im  Madrigal  sogar  noch  eine  neue 
findet,  stellen  sich  die  Motette  mit  ihrem  mannigfaltigen  Inhalt 
wechselnder,  freudiger  und  düsterer  "Stimmungen,  der  Psalm 
darunter,  als  „Miserere",  speziell  der  fünfzigste  Psalm  eine  be- 
sondere Stelle  behauptet,  die  Hymne,  die  Litanei  (sehr  schön, 


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Der  italienischen  Musik  gross©  Periode. 


67 


übrigens  auch  schon  bei  Orlando  Lasso),  die  Passionsmusik  nach 
den  Evangelien  (nicht  im  halbdramatischen  Sinn  der  protestan- 
tischen des  18.  Säculums),  die  Antiphone  (wie  Christus  redemtor 
omnium,  Vexilla  Regis,  Hostis  Herodes  impie,  veni  creator  u.  a.), 
das  Te  Deum,  das  Stabat  mater,  das  „Asperges"  und  „vidi 
Aquamu,  .das  ..Tange  lingua",  das  Magnifieat  nach  den  acht  Kirch- 
entönen, die  Lamentationen,  die  Improperien  —  die  „falsi  bordoni", 
welche  nicht  mehr  dem  Improvisirtalent  der  Sänger  überlassen, 
sondern  zu  förmlichen,  oft  sehr  edlen  Kunstgebilden  gestaltet 
werden.  —  Alles  sehr  bestimmte  Kunstformen  —  vom  einfachsten 
Stile  familiäre,  vom  schlichten  Contrapunct  Note  gegen  Note,  von 
der  psalmodireuden  Kecitation  ganzer  langer  Wortsätze,  fiir  welche 
eine  einzige  lange  Note  hingeschrieben  wird  —  bis  zu  dem  reichsten, 
verwickelteeten ,  kunstvollsten  Combinationen  hinauf.  Die  Missa 
pro  defunctis,  —  bei  dem  die  alten  niederländischen  Meister  gar 
nicht  wussten,  was  sie  anfangen  sollten,  um  Grausen  zu  erregen 
— -  in  Dissonanzen  ein  Uebriges  thaten  und  am  liebsten  auch 
noch  die  Sänger  schwarz  und  gespensterhaft  vermummt  hätten1), 
und  denen  die  Codexschreiber  den  Gefallen  thaten,  die  Initialen 
mit  Todtenschädeln  und  Todtenknochen  auf  nachtdunklem  Grund 
auszustatten  —  die  Todtenmessen  nehmen  jetzt  auch  eine  eigene 
Form  an,  welche  sie  als  Trauermessen  charakterisirt. 

Die  geistliche  Musik  erhält  durch  das  „Madrigale  spirituale" 
eiu  ganz  neues  Genre  zur  Verfügung  -  daneben  blüht  das  welt- 
liche Madrigal  und  treibt  tausend  und  tausende  von  Blüten,  er- 
lebt erst  jetzt  (in  Luca  Marenzio)  seinen  höchsten  und  schönsten 
Entwickelungsmoment,  muss  sich  aber  auch  zu  chromatischen  und 
andern  Experimenten  hergeben  (der  Fürst  von  Venosa!),  bei  wel- 
chen dem  armen  Madrigal  oft  Knochen  ausgerenkt  werden  — 
eine  Tortur,  gegen  welche  die  geistliche  Musik  sich  der  „Immu- 
nität'1 zu  erfreuen  hat.  Villoten,  Vilanellen  und  Balli  treiben 
neben  jenen  höhem  und  edlern  Gattungen,  wie  schon  erwähnt 
ihr  lustiges  Spiel. 

Eine  unübersehbare  Masse  von  Musik  wird  produzirt,  die 
Meister  und  die  Meisterwerke  drängen  sich. 

Unter  den  Meistern  der  Palestrinazeit  begegnen  wir  vor 
allen,  als  noch  unmittelbar  Goudimels  Schule  angehörig,  Gio- 
vanni Maria  Nanini  aus  Vallerano.  Er  kam  später  als 
Palestrina  zu  Goudimel  in  die  Lehre,  und  kann  daher  nicht 
eigentlich,  wie  wohl  geschieht,  als  „Palestrina's  Mitschüler"  be- 
zeichnet werden.  Nachdem  er  eine  Zeitlang  den  Capellmeister- 
posten  in  seiner  Vaterstadt  versehen,  erhielt  er  zu  Rom  die  gleiche 


1)  Eine  solche  Todtenfoier  ist  wirklich  unter  den  unvergleichlichen 
niederländischen  Miniaturen  des  Breviario  Grimani  der  Marcusbibliothek 
in  Venedig  abgebildet  zu  sehen. 

5* 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


Stelle  bei  S.  Maria  maggiore  unmittelbar  nach  Palestrina.  Er 
gründete  1571  in  Rom  eine  förmliche  Lehranstalt  der  Composi- 
tiou,  daher  er  insgemein  als  „Gründer  der  römischen  Schule11  gilt. 
Diese  Auffassung  bringt  den  Missstand  mit  sich ,  dass ,  wenn  man 
sie  gelten  lässt,  gerade  der  grösste  aller  Kömer,  Palestrina,  nicht 
zur  römischen  Schule  gehört.  Aber  nicht  der  Umstand,  ob  ein 
Musiker  in  Nanini's  Lehranstalt  gelernt,  ist  für  diesen  Punkt  ent- 
scheidend, sondern  ob  er  sich  der  geistigen  Strömung  anschloss, 
die  sich  schon  im  Kömer  Costanzo  Fcsta  und  später  in  dem  Spanier 
Christofano  Morales  und  in  dem  Franzosen  Claude  Goudimel  an- 
kündigte, in  Palestrina  aber,  mit  Ausscheidung  oder  Ueberwin- 
dung  aller  fremden  Elemente  eigenst  römisch  wird.  Eine  „Schule4 1 
im  richtigen  Sinne  ist  Geist  und  Leben,  nicht  aber  eine  geräu- 
mige Stube  mit  so  und  so  viel  hölzernen  Bänken  und  einem 
Katheder,  von  welchem  herab  der  Magister  einer  Anzahl  zuhörender 
Jungen  etwas  dozirt  —  gesetzt  auch,  dass  aus  den  J ungen  selbst 
wieder  Meister  werden. 

Eine  sehr  treffende  Charakterisirung  Nanini  des  älteren 
(denn  es  giebt  auch  einen  jüngeren  Giov.  Bernard.  Nanini)  zeich- 
net Proske.  „Nanini",  sagt  er,  „muss  als  einer  der  grössten  Musik  - 
gelehrten  der  römischen  Schule,  aus  welcher  so  viele  Künstler 
höchsten  Ranges  hervorgegangen,  angesehen  werden.  Als  schaf- 
fender Künstler  war  er  gleichfalls  ein  Stern  erster  Grösse.  Besass 
auch  sein  Genius  die  reichen  Schöpfungskräfte  eines  Palestrina 
nicht,  so  verdienen  doch  seine  Werke  ihrer  classischen  Ausprägung 
und  vollendet  reinen  Form  willen  unmittelbar  den  Schöpfungen 
Palestrina's  angereiht  zu  werden."  Seine  Compositionen  gehören 
unter  das  Schönste,  was  noch  heut  in  der  päpstlichen  Capelle 
vorgetragen  wird;  darunter  das  herrliche,  wahrhaft  erhabene  Weih- 
nachtsresponsorium  Hodie  nobis  coelorum  rex.  ftir  sechs  Stimmen  !). 
Dieses  Prachtstück  reiht  sich  dem  Palestrinastyl  in  der  edelsten 
Weise  an ;  ein  anderer  Weihnachtsgesang  der  päpstlichen  Capelle 
Hodie  Christus  nalus  est  für  vier  hohe  Stimmen  aber  ist  ein  zur 
lebendigsten  Theilnahme  hinreissendes  Jubelstiick,  voll  der  freu- 
digsten Aufregung  in  dem  lebhaften  Gange  seiner  Stimmen  und 
eigenthümlich  poetisch  durch  den  volksliedartigen  Ton,  den  der 
Meister  in  den  (herkömmlichen)  Weihnachtsruf  Noe,  noe,  hinein- 
klingen  lässt2).  Andere  Motetten,  wie  das  vierstimmige  Exaudi 
no«,  das  fünfstimmige  Haec  dies  quam  fecit  Dominus  3),  das  fünf- 
stimmige  Yeni  Sponsa  Christi  *)  u.  a.  m.  dürfen  ebenfalls  als  reine 


1J  Eine  Abschrift  in  Kiesewotter's  Sammlung. 

2)  Man  sehe  das  Stück  bei  Proske. 

3)  Durch  Tucher  neu  veröffentlicht. 

4)  In  den  „Motetti,  quali  si  cantano  nelle  Cappelle  Cardinalizie  in 
Roma"  etc. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


69 


Blüten  des  Palestrinastyls  gelten,  wogegen  das  oft  genannte, 
strophenweise  nach  einem  choralartigen  Sätzchen,  seltsamer  Weise 
im  wiegenden  3/2  Takt  zu  singende  Stabat  maier  zwar  vom  schönsten 
Wohlklang,  aber  gerade  in  seiner  allerHussersten  Einfachheit,  den 
Eindruck  des  Gesuchten,  des  Reflectirten  macht  Wie  unbefangen, 
wahr  und  natürlich  sind  dagegen  Palestrina's  Improperien! 

Von  Nanini's  Meisterschaft  in  der  Contrapunctik  existiren 
in  ihrer  Art  merkwürdige  Proben.  Man  sehe,  wie  er  z.  B.  in 
seinem  dreistimmigen  Lapidabanl  Stephanum  oder  Hic  est  beaiissi- 
mus  Äpostolus  Johannes  (in  den  bei  Angelo  Gardano  in  Venedig 
1586  gedruckten  Motetten)  den  gregorianischen  Cantus  firmus, 
wie  er  geht  und  steht,  in  langen  Noten  herübernimmt,  um  unter 
seinem  Zwange  mit  Leichtigkeit,  ja  mit  Anmuth  zwei  andere 
Stimmen  im  strengsten  Canon  in  der  Quinte  oder  Octave  daneben 
hergehen  zu  lassen.  Ein  Manuscript  „cento-cinquantasette  Con- 
trappunti  e  Canoni  a  2,  3,  4,  5,  6,  7,  8e  11  voci  sopra  del 
Canto  fermo  intitolato  la  Base  di  Costanzo  Festa"  darf  ein  in 
diesem  Sinne  erstaunliches  Werk  heissen.  Adriano  Banchieri,  fast 
noch  Zeitgenosse,  hat  Recht,  wenn  er  darüber  sagt,  „opera  degna 
di  essere  in  mano  di  qualsisia  musico  e  compositore 1).  Aber 
Nanini  war  eben  auch  ein  Mann,  der  frisch  vorwärts  und  der 
neuen  Zeit  rüstig  entgegenschritt.  In  dieser  Hinsicht  sind  seine 
achtstimmigen  Motetten  in  der  öfter  erwähnten  Publication  Fabio 
Costantims  (Cantate  Domino  canticum  novum,  0  altiludo  divüia- 
rum)  höchst  anziehend.  In  dem  Canlale  Domino  singen  zwei 
Chöre  nach  venezianischer  Weise;  aber  wie  sie  einander  vor 
freudiger  Aufregung  in's  Wort  fallen,  einander  zurufen,  antworten, 
ja  endlich  rasche  syllabische  Phrasen  in  Viertelnoten  hören  lassen; 
das  Alles  hat  schon  etwas  dramatisches,  die  Harmoniewendungen 
deuten  schon  nach  der  Neuzeit;  das  Ganze  ist  eines  der  brillan- 
testen Stücke.  Das  reiche  Musikarchiv  von  St.  Maria  in  Valicella 
in  Rom,  das  vatikanische  und  päpstliche  Capellarchiv  besitzen 
viele,  zur  Stunde  noch  ungehobene  Schätze  des  Meisters.  Ein 
lehrreicher  Tractat  Xanini's  „Regole  di  Giov.  Maria  e  di  Bernar- 
dino  Nanini  per  fare  contrappunto  amente  sopra  il  Canto  fermo" 
von  der  Hand  des  päpstlichen  Sängers  Orazio  Grifft  befindet  sich 
in  der  Corsini'schen  Bibliothek  zu  Rom,  leider  fehlen  die  ersten 
und  die  letzten  Blätter.  G.  M.  Nanini  ist  sicher  eine  seltene 
Erscheinung:  man  wird  nicht  eben  leicht  einen  zweiten  finden, 
in  welchem  spezifische  Musikgelehrsamkeit,  die  sich  als  solche 
gibt,  und  der  freie  Schwung  poetischer  Begeisterung  und  frischer 
Schöpferkraft  —  Gaben,  die  sonst  ziemlich  weit  auseinanderzu- 


1)  S.  dessen  „Cartella  musicale  del  Canto  figurato"  etc.  Ven.  1614 
S.  234.  Adriano  redet  freilich  von  einem  gedruckten  Werke,  kann  aber 
doch  kein  anderes  meinen,  als  das  oben. 


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70  Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 

liegen  pflegen  —  so  vollkommen  einträchtig  neben  einander  Platz 
hatten. 

Der  jüngere  Nanini  —  nämlich  Giovanni  Bernardio  Na- 
nini,  Schüler  und  später  Gehilfe  in  der  Musikschule  seines 
Bruders,  Capellmeister  bei  S.  Luigi  de  Francesi  und  später  bei 
S.  Lorenzo  in  Damaso,  erscheint  als  das  stillere  Talent,  reicht 
auch  schon  mehr  in  die  Neuzeit  hinüber,  wie  er  denn  z.  B.  seinen 
(Kompositionen  eine  Orgelstimme  beizugeben  anfängt  (una  cum 
gravi  voce  ad  organi  sonum  accomodata).  Viele  seiner  bedeu- 
tendsten Arbeiten  (wie  das  zwölfstimmige  Salve  Hegina  in  der 
Sautini  sehen  Sammlung)  blieben  ungedruckt  Eine  Sammlung 
fünfstimmiger  Madrigale  (1612)  enthält  hübsche  Sachen,  —  der 
Beisatz  auf  dem  Titel  „Con  licenza  de  Superiori"  wirft  ein  Licht 
auf  die  gleichzeitigen  Zustände  in  Rom.  Mit  wie  grandios- 
solenner Miene  man  Übrigens  damals  selbst  anakreontische  Tän- 
deleien oder  Kindereien  in  die  Welt  der  römischen  Cose  grosse 
einführen  musste,  zeigt  in  ergötzlicher  Weise  eben  diese  Samm- 
lung. Da  ist  z.  B.  ein  Madrigal  „Animosa  guerriera  piecola 
zanzaretta",  Achtelnoten  tanzen  darin  durcheinander  wie  Mücken, 
die  Pointe  ist:  die  angesungene  Schnacke  hat  die  schönste  der 
Schönen  verwundet,  was  Amor  selbst  mit  seinem  Bogen  nicht 
im  Stande  gewesen.  Man  erstaunt,  wenn  nun  Einfällen  dieser 
Art  eine  Dedicationsvorrede  an  den  Cardinal  Montalto  voran- 
gestellt ist,  die  gleich  mit  dem  hochtönend-gewaltigen  Satze  an- 
fangt: „sc  questo  raondo  inferiore,  secondo  il  gran  Trismegisto, 
depende  dal  superior  mondo  u.  s.  w. 

Wie  ein  jüngerer  Bruder  steht  neben  Palestrina  Tommas o 
Lodovico  da  Vittoria  aus  Avila  in  Spanien,  den  man  gerne 
und  mit  vollem  Hechte  mit  Palestrina  zusammen  nennt1). 

Vittoria  ist  keineswegs  etwa  eines  jener  allerdings  oft  sehr 
liebenswürdigen  Talente  zweiten  Banges,  die  von  einem  grösseren 
Geiste  so  unwiderstehlich  angezogen  werden,  dass  sie  in  ihm  auf- 
gehen, denken  wie  er,  fühlen  wie  er,  deren  Werke  zwar  nur 
Nachklänge  jenes  Grösseren,  aber  reine  Nachklänge  und  noch 
immer  etwas  unendlich  Besseres  sind,  als  blosse  Nachahmungen. 
Vittoria  hat  sehr  viele  Motetten  über  Texte  componirt,  welche 


1)  Baini  ist  von  diesem  Spanier  in  der  Nähe  seines  göttlichen  Pier« 
luigi  offenbar  genirt.  —  Er  lässt  sich  also  über  Vittoria's  „Officium  heb- 
domadae  sanetae"  (1585  Gardano)  dahin  vernehmen:  es  seien  Lamen- 
tationen, nicht  im  Flammänder,  aber  im  spanischen  Style,  lang,  breit,  ein- 
förmig, weshalb  die  Flammänder  sie  eine  Ausgeburt  von  Mohrenblut,  die 
Italiener  aber  einen  Bastard  von  spanischer  und  italienischer  Race  nannten.'4 
Urtheile  wie  dieses,  wie  das  Urtheil  über  Orlando  Lasso  u.  s.  w.  gereichen 
Baini  zu  wahrer  Schmach.  Selbst  Kandier  findet  die  Geschichte  denn 
doch  zu  stark  und  meiat  jene  Lamentationen  seien  doch  ..sehr  beachten  s- 
werth". 


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Der  italienischen  Musik  gi-osse  Periode. 


71 


auch  von  Palestrina  in  Musik  gesetzt  worden:  Senex  puerum  por- 
tabat; O  magnum  mysterium;  Veni  sponsa  Christi;  Estote  forte*  in 
hello  u.  a.  m.  Da  findet  sich  nun  eine  fast  doppelgängerische 
Aehnlichkeit  der  beiden  Meister,  und  doch  empfindet  man  einen 
wesentlichen  Unterschied,  dessen  Erklärung  vielleicht  Proske's 
Ausspruch  giebt:  „Vittoria  werde  durch  einen  gewissen  mysti- 
schen Zug  charakterisirt."  Einzelne  Züge  bei  Vittoria  verrathen, 
dass  in  dem  Herzen  dieses  Spaniers  eine  tiefe  Glut  lebte,  welche, 
auf  andere  Bahnen  gelenkt,  Gesänge  der  Leidenschaft,  wenn 
auch  einer  edeln  Leidenschaft,  angestimmt  und  ihn  zu  einer  Luca 
Marenzio  ähnlichen  Erscheinung  gemacht  haben  würde.  Man 
erkennt  an  diesem  Avilaner  den  Landsmann  der  h.  Theresia  von 
Avila,  deren  liebeflammendes  Herz  in  mystischer  Glut  brannte. 
Ohne  Zweifel  hat  Palestrina's  Beispiel  und  die  innige  Freund- 
schaft, welche  ihn  mit  Vittoria  verband,  auf  letzteren  wesentlich 
eingewirkt.  Die  als  Probe  dieser  Freundschaft  öfter  erzählte 
Anekdote:  „dass  Vittoria  seinem  Freunde  Palestrina  zu  Liebe  die 
spanische  Tracht  abgelegt  und  sich  den  Bart  habe  nach  römischer 
Art  stutzen  lassen 41  kann  auch  sinnbildlich  genommen  werden. 
Halte  man  Vittoria's  Motette  „Veni  sponsa  Christi"  mit  der  gleich- 
namigen von  Palestrina  vergleichend  neben  einander:  Palestrina 
gönnt  dem  Thema  seinen  ruhigen  Eintritt  in  allen  vier  Stimmen, 
Vittoria  setzt  gleich  mit  der  zweiten  Stimme  ein  Gegeuthoma  ein, 
welches  mit  fast  leidenschaftlicher  Sehnsucht  zwischen  das  Kirchen- 
thema hineinruft.  Aber  wie  eigen  hält  und  bändigt  er  diesen 
Zug  seiner  Seele  durch  Andacht  und  Demuth!  Dagegen  fehlen 
ihm  so  gut  wie  ganz  jene  kleinen,  halbdramatischen  Züge,  wie 
sie  aus  Palestrina  zuweilen  herausblitzen  (sehr  ftihlbar  bei  Ver- 
gleichnng  des  Pueri  Hebraeorum  beider  Meister).  Die  Im  pro - 
perien  Vittoria's  sind  den  berühmten  Palestrina's  vollkommen 
ebenbürtig,  aber  auch  zum  Verwechseln  ähnlich,  bis  auf  den 
Schluss,  der  bei  Vittoria  ins  Motettenhafte  hinüberspielt.  In 
ähnlich  einfachstem  Style  sind  die  Turbae  der  Passion,  wie  sie 
Vittoria  vierstimmig  gesetzt;  von  irgend  welcher  dramatischer  In- 
tention ist  nicht  die  Rede;  es  sind  reine  Zeremoniengesänge  für 
die  kirchliche  Feier.  Manche  Motetten,  wie  die  prachtvoll-edle 
0  quam  gloriosum  est,  manche  Sätze  der  Magnificat,  das  Ave 
Hegina  coelorum  (dessen  achtstimmiger  Schlusssatz  ein  Meisterstück 
musikalischer  Tectonik  ist),  sind  ganz  reiner  Palestrinastyl,  sie 
werden  den  geübtesten  Blick  täuschen.  Wenn  wir  den  Meister 
von  Präneste  endlich  doch  die  höhere  Stelle  anweisen,  so  ist  es, 
weil  er  unverkennbar  doch  der  reichere,  vielseitigere  Geist  ist, 
weil  ihn  sein  Flug  durch  Regionen  trug,  au  die  Vittoria  kaum 
gestreift  hat,  und  selbst  jenen  inneren  Kampf,  wie  sich  Palestrina 
von  der  älteren  Kunst  losringt,  muss  man  für  ihn  in  Anrechnung 
bringen. 


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72  Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 

Vittoria's  Hauptwerk  ist  das  Officium  defunctorum  in  obitu  et 
obsequiis  Sacrae  imperalricis ,  bestehend  aus  einer  sechsstimmigen 
Missa  pro  defunctis,  einem  sechsstimmigen  Versa  est  in  luctum, 
einem  sechsstimmigen  Libera  und  einem  vierstimmigen  Taedet 
anima.  Diese  erhabene  Trauermusik  weist  dem  Meister  seine 
Stelle  in  allernächster  Nähe  Palestrina's  an1).  Von  Messen 
Vittoria's  erschienen  zwei  Bücher:  das  erste,  Philipp  II.  gewidmete 
mit  vier-,  fünf-  und  sechsstimmigen  Compositionen,  15S3  in  Rom; 
das  zweite  mit  vier-,  fünf-,  sechs-  und  achtstimmigen  Messen 
nebst  Asperges  und  Vidi  aquam,  1592  ebendaselbst  Das  erste 
Buch  enthält  die  vierstimmigen  Messen:  Quam  pulchri  sunt;  0  quam 
gloriosum;  Simile  est  regnum  coelorum\  Ave  maris  Stella;  Pro  de- 
functis, die  ftinfstimmigen  Messen  Surge  propera  und  De  U.  Virgine, 
die  sechsstimmigen  Dum  complerentur  und  Gaudeamus.  Das  zweite 
Buch  hat  nebst  den  erwähnten  Asperges  und  Vidi  aquam  (beide  zu 
vier  Stimmen)  die  vierstimmigen  Messen:  0  magnum  mysterium,  und 
Quarti  loni;  die  fünfstimmigen  Trahe  me  posl  le  und  Ascendens 
Christus,  die  sechsstimmige  Vidi  speciosam,  die  achtstimmige  Salve 
und  eine  vierstimmige  Missa  pro  defunctis  mit  dem  Kesponsorium 
Peccantem  me 2).  Proske  hat  Recht,  wenn  er  meint,  „dass  sich  hier 
Arbeit,  Gebet  und  Genie  zur  vollendeten  Harmonie  durchdringen. 
Umfangreiche  und  sein*  bedeutende  Werke  sind  Vittoria's  „Magni- 
ficat"  (Rom  1581)  und  seine  „Hymni  totius  anni  seeuudum  8. 
Rom.  Kccl.  consuetudinein  qui  quatuor  concinuntur  voeibus,  una 
cum  quatuor  psalmis  pro  praeeipuis  festivitatibus,  qui  octo  voeibus 
modulantur"  ''Rom  15S1».  Dieses  grossartige  Hymnenwerk  ist 
Gregor  XIII.  gewidmet3).  Ein|  sehr  merkwürdiges  und  eigen- 
tümliches Stück  darin  ist  das  Pange  lingua  more  hispano,  d.  i. 
nach  der  in  Spanien  gebräuchlichen,  von  der  gewöhnlichen  ver- 
schiedenen Melodie.  Vittoria  lässt  die  erste  Strophe  im  ein- 
stimmigen Cantus  planus,  die  folgende  Nobis  datus  in  einer  aus- 
nehmend schönen  vierstimmigen  Bearbeitung  singen,  und  so 
strophenweise  abwechselnd  bis  zum  Schlüsse.  In  derselben  Samm- 
lung findet  sich  ein  zweites,  nicht  minder  schönes  Pange  lingua 
nach  der  gewöhnlichen  Melodie.    Merkwürdig  ist  es,  dass  dieser 


1)  Ein  Exemplar  im  Musikarchiv  der  spanischen  Kirche  St.  Jacob 
zu  Rom.  Eine  Abschrift  in  Proske's  handschriftlicher,  jetzt  in  Regens- 
burg befindlicher  Sammlung.  Fetis  versichert,  „dass  Vittoria  später  nach 
Madrid  zurückgekehrt  sei,44  weil  das  Werk  dort  1Ö00  gedruckt  worden. 
Der  Grund  ist  denn  doch  nicht  haltbar. 

2)  Exemplar  in  der  Vaticana.  Die  Missa  quarti  toni,  Simile  est 
regnum  coelorum,  Vidi  speciosam,  Trahe  me  post  te  und  0  quam  glorio- 
sum  est  regnum  sind  neuestens  durch  Proske's  Musica  divina  wieder  all- 
gemeiner bekannt  geworden. 

3)  Exemplar  der  Magnificat  und  der  Hymnen  in  der  Casanatensis 
zu  Rom. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


73 


herrliche  Meister  nie  in  eines  der  päpstlichen  Sängercollegien  ein- 
trat, wohin  doch  sonst  die  bedeutenden  Musiker  in  Rom  früher 
oder  später  gelangten.  Er  war  1573  Capellmeister  des  Collegium 
germanicum ,  1575  Capellmeister  von  St.  Apollinare.  Mit  Pa- 
lestrina  war  er  innig  befreundet,  aber  die  übrigen  Musiker  mögen 
ihn  durch  allerlei  Intriguen  ihrem  Collegium  ferngehalten  haben. 
Ihr  unwürdiges  Urtheil  über  Vittoria's  Lamentationen  lässt  eine 
bis  zum  Hasse  gesteigerte  Abneigung  erkennen,  welche  vielleicht 
dem  Spanier  galt.  Seit  der  entsetzlichen  Plünderung  Prato's 
1512  und  der  gleich  schrecklichen  Plünderung  Rom's  1527  standen 
die  Spanier  nicht  in  Gunst;  der  alte  heftige  Paul  IV.  hatte,  so 
oft  er  sie  nur  nannte,  gegen  sie  ein  ganzes  Schimpflexicon  bereit, 
worin  auch  das  „Marannenblutu  figurirte,  welches  die  Sänger  in 
jenen  Lamentationen  wiedererkennen  wollten. 

Aus  der  Schule  Nanini's  ging  Feiice  Anerio  hervor;  1551 
Nachfolger  Palestrina's  in  der  Capellmeisterstelle  von  St.  Peter. 
Er   zählt  zu  den  besten   der  goldenen  Zeit.    Das  Archiv  der 
Chiesa  nuova  in  Rom,  die  Sammlung  des  Collegio  germanico, 
die  Altaemps'sche  Sammlung  bewahren  von  ihm  zahlreiche  Arbeiten, 
das  erstgenannte  Archiv  unter  andern  ein  achtstimmiges  Miserere 
fiir  zwei  Chöre,  die  Altacinps'sche  Sammlung  viele  Motetten  von 
vier  bis   zu  zwölf  Stimmen,   so  auch  Santini's  Sammlung  ein 
zwölfstimmiges  Dies  irae,  vierstimmige  Improperien,  eine  acht- 
stimmige Messe  „Vestiva  i  colli u,  eine  andere  Messe  zu  zwölf 
Stimmen  u.  s.  w. ;   es  finden  sich  aber  auch  Motetten  für  blos 
eine  Stimme,  also  schon  wahre  Monodieen.    Interessant  ist  eine 
Sammlung  geistlicher  Madrigale  zu  fünf  Stimmen,  sie  erschien 
1585  bei  Alessandro  Gardano.  Das  ganze  Genre  ist  fiir  die  Zeit 
bezeichnend.    Liest  man  die  Textantange  „ardendo  mi  consumo; 
Fortunati  pastori,  Occhi  voi  mi  beate;  Chicdei  piangendo  u.  s.  w., 
so  meint  man  Liebesmadrigale  vor  Augen  zu  haben,  es  ist  aber 
alles  geistlich  gewendet  und  pointirt  —  ungefähr  wie  man  in 
gewissen  Klöstern  der  erlaubten  Fastenspeise,  den  Fischen,  An- 
sehen und  Geschmack  der  verbotenen  Fleischspeisen  zu  geben 
wusste.  Eine  vierstimmige  Messe  „veni  sponsa  Christi'1  reiht  sich 
der  gleichnamigen  Palestrina's  würdig  an,  eine  andere  über  das 
Lied  „hör  le  tue  forze  adopra"  (handschriftlich  in  der  Vaticana 
und   im  Coli,  rom.)   ist  ein  reines  Meisterwerk,   die  Färbung 
dunkler,  tiefer  als  bei  Palestrina,  der  Ausdruck  von  eigentümlich 
mildem  Ernst  und  feierlicher  Würde,  der  schönste  Wohlklang, 
die  gediegenste  Arbeit.    Eine  Auswahl  herrlicher  Motetten  aus 
der  Altaemps'schen  Sammlung  im  Coli.  rom.  hat  Proske  in  seine 
Musica   divina  aufgenommen,   die   merkwürdigste   darunter  ist 
vielleicht  die  Antiphone,  welche  „in  festo  virginum"  gesungen 
wird:  „Regnum  mundi  et  omnem  ornatum  seculi  contempsi"  — 
Wonne  und  Schmerz  sind  hier  wunderbar  gemischt,  das  Stück 


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Der  italienischen  Musik  grosso  Periode. 


hat  etwas  Visionäres,  es  ist  eine  Stimmung  wie  etwa  Katharina^ 
von  Siena,  welche  die  Rosenkrone  abreisst  und  sich  die  Dornen- 
krone entzückt  in  die  Stirne  drückt 1).  Einer  der  reinsten  Klänge 
der  goldenen  Zeit,  ein  Adoramus  te  Chrisle  gilt  aller  Orten 
für  eines  der  hinrcissendsten  Werke  Palestrina's ,  es  wäre  end- 
lich Zeit,  es  dem  wahren  Meister  zurückzustellen.  Gehört 
doch  auch  das  dreichörige  Stabat  der  Altaemps'schen  Sammlung 
vielleicht  ihm,  und  nicht  Palestrina,  zu  dessen  herrlichsten 
Schöpfungen  Baini  es  zählt2)!  Felicc's  jüngerer  Binder  Giov. 
Francesco  Anerio  steht  schon  sehr  bedeutend  an  der  Grenze 
der  Neuzeit,  oder  vielmehr,  er  gehört  schon  einer  neuen  Gene- 
ration an  —  (er  hat  Stücke  mit  schon  obligat  eingreifenden  In- 
strumenten, wie  seine  1619  gedruckte  sechsstimmige  Conversione 
di  S.  Paolo),  aber  er  hat  auch  Compositionen  im  Capellenstyle, 
wie  sein  tüchtiges  vierstimmiges  Requiem  (an  Stelle  des  „Si  am- 
bulavero"  bringt  es,  gleich  dem  Requiem  des  Niederländers  An- 
tonius Brumel  die  Sequenz  des  dies  irae),  wie  seine  fünfstimmige 
sogenannte  Missa  Paulina  Borghesia  super:  quem  dicunt  homines 
(sie  ist  nämlich  Paul  V.  Borghese  gewidmet),  wie  seine  sechs- 
stimmige Messe  „In  to  Domine  speravi"  im  Archiv  der  Chiesa 
nuova  zu  Rom.  Tonstticke  voll  Geist  und  voll  Ausdruck,  an 
Luca  Marenzio's  bewunderte  Arbeiten  mahnend,  sind  seine,  von 
seinem  Schüler  Ippolito  Strada3)  in  Venedig  bei  Giacomo 
Vincenti  1608  herausgegebenen  Madrigale  zu  fünf  und  sechs 
Stimmen,  sehr  mannigfach  in  der  Stimmung,  die  Situation,  ja  das 
Wort  malend.  Harmonie  und  Modulation  gehört  nicht  mehr  den 
Kirchentönen,  sondern  vollständig  schon  der  modernen  Tonalität  — 
es  rinden  sich  sogar  kühnc;  aber  glückliche  Züge,  der  Fürst  von 
Venosa  hatte  nicht  umsonst  in  seinem  Madrigale  sich  in  das 
Dickicht  wundersamer  Harmonieen  gewagt;  Meister  wie  Anerio 
unterschieden  sehr  wohl,  was  von  dem,  was  ihm  dort  in's  Garn 
gelaufen,  brauchbar  sei,  und  was  nicht,  und  wussten  den  Fang 
zu  nützen.  Ein  zweichöriges  Ave  verum,  eine  achtstimmige  Mo- 
tette Pulchra  es  bewahrt  das  Musikarchiv  der  Chiesa  nuova. 
Fanden  wir  es  schon  bei  Clement  Jannequin  mit  Verwunderung 
zu  notiren,  dass  er  sein  musikalisches  Bataillenstück  zu  einer 


1)  Die  Dissonanz  zu  den  Worten  „quem  araavi"  möge  man  nicht  un- 
beachtet lassen. 

2)  Proske  hielt  es  für  ein  Werk  Anerio's.  Mein  werther  Freund, 
der  Capuzinersuperior  P.  Barnabas  Weiss  in  Prag,  veranstaltete  eine  Auf- 
führung, wo  wir  die  mächtige  Wirkung  dieses  Tonwerkes  kennen  lernten. 

3)  „Signor  Gio.  Fr.  Anerio  mio  maestro"  sagt  Strada  in  der  Vorrede. 
Der  Titel  ist:  „Madrigali  a  cinque  e  sei  voci,  con  uno  ad  otto  di  Gio. 
Fr.  Anerio,  Romano.  Libro  secondo.  Nuovamente  composto  et  dato  in 
Luce.  S.  Veneria  appresso  Girolamo  Vincenti  MDCVIII.4'  Das  erste 
Buch  kenne  ich  leider  nicht. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


75 


Messe  umgearbeitet,  so  begegnen  wir  auch  dem  römischen  Meister 
auf  dem  ahnlichen  Pfade;  seine  Messe  „la  Battaglia"  wurde  sogar 
eines  seiner  geschätztesten  Werke,  und  wurde  zusammen  mit 
seiner  vierstimmigen  Umarbeitung  der  Marcellusmesse  und  den 
beiden  Messen  Palestrina's  hie  eonfessor  und  Sine  nomine  wieder- 
holt gedruckt  (1626,  1639  u.  s.  w.).  G.  Fr.  Anerio,  den  wir 
hier  in  Gesellschaft  seines  Bruders  Feiice  eingeführt,  gehört  schon 
sehr  zu  der  musikalischen  „Fortschrittspartei".  Bei  den  Zeit- 
genossen Palestrina's  sah  es  noch  anders  aus.  Ein  solcher  war 
Anuibale  Zoilo,  ein  geborener  Kömer,  aber,  wie  seine  Musik 
zeigt,  treuer  Eleve  der  Niederlander  —  seit  1561  Kapellmeister 
in  S.  Giovanni  di  Laterano  —  seit  1570  im  Collegium  der  päpst- 
lichen Sänger.  Seine  Kosponsorien  für  die  heilige  Woche  l) 
wurden  hoch  geschätzt,  so  auch  seine  „Suffrezia  Sanctorum",  und 
haben  einen  strengen,  ernsten,  echt  rituellen  Charakter.  —  Bei 
Fabio  Costantini  (Select.  cant.)  findet  sich  eine  Motette  Beala 
maier.  Zoilo's  Musik  ist  noch  fühlbar  archaisch  —  die  Respon- 
sorien  mahnen  etwa  an  Carpentras,  auch  die  eingefügten  kleinen 
Duos  sehen  ganz  niederländisch  aus.  Die  Harmoniewendungen 
sind  sehr  kräftig,  aber  oft  herb.  Hier  sind  wirklich  die  „wenig 
vermittelten  Dreiklangfolgen mit  denen  man  oft  (sehr  falsch) 
diesen  ganzen  Styl  charakterisiren  zu  können  meint.  Unverhält- 
nissmässig  oft  erscheint  die  Tonfolge  des  Bassschrittes  tonab- 
oder  tonaufwärts  mit  darauf  gesetztem  Dreikltfng.  Ein  in  seiner 
Art  ausgezeichnetes  Salve  Regina  zu  zwölf  Stimmen  lässt  die 
Tüchtigkeit  Annibale  Zoilo's  ganz  besonders  erkennen.  Mit  ihm 
ist  Cesare  Zoilo  nicht  zu  verwechseln,  von  dem  sich  in  der 
Raccolta  de  Salmi  a  otto  di  diversi  eccellenti  autori  (Napoli, 
appr.  Giov.  Gins.  Carlino  1615)  ein  achtstimmiges  Lauda  Jeru- 
salem ,  bei  Constantini  im  ersten  Buche  ein  Duo  für  Alt  und 
Tenor  Elecatis  manibus,  im  zweiten  Buch  ein  Duo  für  zwei  Bässe 
veni  elecla  findet.  Von  den  beiden  Zoilo  ist  Cesare  offenbar  der 
jüngere  —  von  ihm  erschienen  1620  fünfstimmige  Motetten  „col 
suo  basso  continuo"  bei  Magni  in  Venedig.  —  Deswegen  braucht 
er  selbst  kein  „compositeur  venitien"  zu  sein,  wie  Fetis  ohne 
nähere  Nachweisung  behauptet. 

Noch  entschiedener  fremd  und  alterthümlich,  wie  ein  Ueber- 
bleibsel  aus  alter  Zeit,  steht  auch  noch  Kocco  Hodio  aus  Ca 
labrien  da,  Meister  im  improvisirten  Contrapunct,  den  er  in  Hegeln 
brachte  (seine  Schrift  darüber  erlebte  einige  Auflagen),  mit  vir- 
tuosenhaften  Satzproblemen  vertraut,  wie  sich  denn  in  seinen  zu 
Neapel  gedruckten  Messen  (1580)  eine  fünfstimmige  Messe  de 


1)  In  der  Vaticana,  im  Codex  M.  S.  Altaemps.  Ottobon.  N.  2928. 
(Proske  hat  sie  s&mmtlich  in  Partitur  gebracht  —  und  sieben  davon  in 
seine  Mus.  divina  aufgenommen). 


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76 


Der  italienischen  Muaik  grosse  Periode. 


Beata  Virgine  befindet,  welche  eine  Messe  plurium  facierum  (aber 
in  anderem  Sinne  als  jene  Pierre  Moulu  s)  ist:  man  kann  sie 
nämlich  auch  vierstimmig  singen,  wenn  man  die  Pars  quinta  weg- 
lässt;  oder  dreistimmig,  wenn  man  auch  den  Sopranpart  unter- 
drückt; oder  abermals,  und  zwar  anders  dreistimmig,  wenn  man 
nur  die  drei  obern  Parte  singt.  So  hatte  Rodio  ein  Duett  mit 
verschiedener  Taktbezeichnung  in  den  beiden  Stimmen  (Prolatio 
cum  tempore  perfecto  in  der  höhern,  Tempus  perfectum  mit  der 
Proportion  3/2  in  der  tiefern),  welches  Stück  Rodio  besuchenden 
Musikern  als  eine  Art  Ulyssesbogen  vorlegte:  „niemand  aber 
konnte  es  singen/1  nur  6.  L.  Rossi,  der  Verfasser  des  „Organo 
de  Cantori",  fand  sich  zu  Rodio's  Erstaunen  gleich  zurecht  1). 
Unter  jenen  Messen  findet  sich  auch  eine  sechsstimmige  über 
Adieu  mes  amours,  eine  vierstimmige  Über  Maler  patris,  gleich 
jener  Josquins  „ad  voces  aequales"  componirt;  Rocco  Rodio,  der 
noch  die  Neuzeit  des  17.  Säculums  erlebte,  nimmt  sich  aus  wie 
ein  Grossvater,  der  den  Enkeln  von  der  alten  „Niederländerzeit" 
berichtet.  Er  muss  wirklich  sehr  alt  geworden  sein,  denn  Ca- 
millo  Maffei  begrüsst  ihn  schon  1563  in  einem  an  ihn  gerichteteu 
Briefe  als  berühmten  Meister,  und  G.  L.  Rossi  redet  in  seinem 
1618  gedruckten  „Organo  de  Cantori"  von  ihm  als  einem  noch 
Lebenden:  „Rocco  Rodio,  musico  eccelentissimo  a  nostro  tempo." 
Nimmt  man  hiernach  Rodio's  Geburtsjahr  mit  1530  an,  so  wäre 
er,  als  Rossi  jene  Worte  schrieb,  schon  88  Jahre  alt  gewesen. 
Wer  weiland  sein  Lehrer  gewesen  —  darüber  fehlen  die  Nach- 
richten. 

Den  Palestrina8tyl  ohne  archaische  Nachklänge  des  Nieder- 
länderstyles,  vielmehr  in  seiner  vollen  Reinheit  und  seiner  klassi- 
schen Schönheit  repräsentirt  Pietro  Paolo  Paciotti,  ein  ge- 
borener Römer,  Kapellmeister  am  Seminario  Romano,  dessen 
Messen  drei  Jahre  vor  Palestrina's  Tode  —  nämlich  1591  — 
bei  Alessandro  Gardano  in  Rom  gedruckt  wurden2)  und  den 
alten  Grossmeistern,  wenn  er  sie  noch  kennen  lernte,  die  reinste 
Freude  gemacht  haben  müssen.  Paciotti  ist  ein  Beweis,  dass 
sich  nicht  immer  „Verdienst  und  Glück  verketten"  —  seine  Werke 
sind  überaus  selten,  er  selbst  wird  kaum  genannt.  Und  doch 
verdiente  er  unter  den  Meistern  der  Palestrinazeit  mit  in  erster 
Reihe  zu  stehen,  mehr  als  mancher  andere,  dessen  Name  in  Aller 
Mund  ist. 


\)  In  Rossi's  Buch  steht  3.  43  das  Duo  nebst  Commentar. 

2)  Petri  Pauli  Paciotti,  Seminarü  Komani  moderatoris  Missaruin 
über  prirnus  —  quatnor  ac  quinque  vocibus  concinendarura ,  nunc  denuo 
in  lucem  editus.  Romae  apud  Aiexandrum  Qardanum  1591."  Proske 
hat  daraus  eine  herrliche  fünfstimmige  Messe:  „Si  bona  suscepimus"  in 
seinen  Select.  nov.  Miss.  II  Tomus  —  Pars  I.  —  Missa  X.  aufgenommen. 


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I 

Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


77 


Nicht  blos  Körner,  wie  Paciotti,  repräsentiren  den  römischen 
Musikstyl,  der  Neapolitaner  Fabricio  Dentice,  ein  Edelmann, 
welcher  aber  allerdings  in  Rom  lebte,  schloss  sich  so  vollständig 
der  römischen  Schule  an,  dass  es  unzulässig  ist,  ihm  zu  Ehren 
schon  eine  „neapolitanische  Schule"  zu  statuiren.  Neapel  kam 
erst  später  an  die  Reihe.  Ein  neunstiramiges  Miserere,  mit  ein- 
zelnen vier-  und  fiinfstimmigen  Strophen  (in  den  Musikvorräthen 
der  Chiesa  nuova  zu  Rom),  falsobordonartig,  klingt  wie  ein  Vor- 
bote des  späteren,  berühmten  Miserere  von  Allegri  —  1580  wurden 
von  ihm  in  Venedig  Motetten  gedruckt,  auch  einige  in  die  1601 
bei  Peter  Phalesius  in  Antwerpen  gedruckte  „Melodia  Olimpica" 
aufgenommen.  Als  Meister  der  Laute  wird  Dentice  von  Vincenzo 
Galilei  genannt !)  —  man  findet  Stücke  von  ihm  im  „Thesaurus 
harmonicus"  des  Besardus  (Köln  1603),  auch  Johannes  Woltz, 
der  Organist  von  Heilbronn ,  hat  in  seiner  „Nova  musices  Orga- 
nicae  Tabulatura"  etwas  von  ihm  in  „deutsche  Tabulatur"  um- 
geschrieben —  im  ersteren  Werke  wird  der  Name  des  Com- 
ponisten  zu  „Dendici",  im  andern  zu  „Dentici"  (Genitivform)  ge- 
modelt Dentice  scheint  kraft  seiner  Geburt,  nach  seiner  Vorliebe 
für  die  Laute  zu  schliessen,  und  da  er  nie  eine  offizielle  musi- 
kalische Stellung  einnahm,  ein  (sehr  tüchtiger)  Dilettant  gewesen 
zu  sein,  wie  es  deren  in  jener  Zeit  mehr  gab2).  Der  Franzose 
Franz  Roussel,  von  den  Italienern  Rossel,  Rosselli  oder 
K<»s sello  genannt,  dessen  Abschied  von  Rom  1550,  nachdem  er 
eine  Zeit  lang  als  Domenico  Ferrabosco's  Nachfolger  maestro  de 
putti  in  der  päpstlichen  Capelle  gewesen,  Palestrina  in  einem 
Madrigal  feierte3),  und  der,  dahin  zurückgekehrt,  seit  1572  Lehrer 
des  Gesangs  bei  S.  Giovanni  di  Laterano  war,  und  dessen  auch 
Vincenzo  Galilei  gedenkt4),  wird  insgemein  auch  fttr  die  römische 


1)  Dialogo  della  mus.  ant.  o  mod.  S.  138. 

2)  Ein  solcher  war  in  Rom  z.  B.  Flaminio  Flamini,  Ritter  vom 
Orden  des  h.  Stephan  —  er  gab  1610  „Vilanellen  mit  Guitarre"  (Guidarra 
Spagnola)  heraus. 

3)  In:  ü  primo  libro  de  Madrigali  a  4  voci  1555  (Madrigal  N.  18] 
mit  der  Ueberschrift:  „La  lode  di  Rossel":  das  Poem  nimmt  den  Mund 
etwas  voll: 

Quai  rime  für*  si  chiare 

o  quäle  stil  tia  mai  lodato 

che  degno  sia,  Rossel  del  vostro  canto 

voi  certo  foste  in  ciel 

ond'  ai  mortali  la  divin  armonia  portaste 

perch'  eterno  avete  il  grido 

e  pur  voleste  far  ch'  in  piü  d'un  lido 

—  o  somroa  cortesia  —  i  bassi  versi  nüei 

spiegasaer  V  ali  con  vostre  voci  e  tali 

cn'  addolcir  ponno  il  duol,  far  lieto  il  pianto 

che  a  nessun  altro  sene  puo  dar  vanto. 

4)  Im  „Fronimo"  S.  61. 


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78 


Der  italienischen  Musik  grosse  Poriode. 


Schule  in  Anspruch  genommen  —  er  kann  aber  wenigstens  um 
der  zwei  stimmungsvollen  „Adoram  us"  willen,  welche  Proske  im 
Musikarchiv  der  Münchener  Hofkapelle  fand1),  nicht  wohl  zu 
den  Meistern  der  genannten  Schule  gerechnet  werden  —  solche 
einfach-edle  Sätze,  Note  gegen  Note,  findet  man  lange  vor  Pales- 
trina's  Improperien  u.  dgl.  in  ganz  ähnlichem  Character  schon 
bei  Josquin,  bei  Brumel,  bei  Pierre  de  la  Rue  (das  schöne  0 
salutaris)  und  anderen  Niederländern.  Jn wiefern  eine  handschrift- 
liche „Missa  pro  defunctis",  welche  Pitoni  im  Archiv  von  „S. 
Lorenzo  in  Damaso"  (Rom)  fand,  sich  dem  römischen  Musikstyl 
etwa  mehr  nähert,  wüssten  wir  nicht  zu  sagen  —  jedenfalls  ver- 
liess  der  Tonsetzer  Rom,  ehe  sich  der  „römische  Musikstyl"  in- 
dividuell ausgebildet  und  von  der  Abhängigkeit  an  niederländische 
Tonkunst  emanciput  hatte  und  gerade  während  der  Jahre,  wo 
dieser  Styl  feste  Gestalt  bekam,  war  Roussel  von  Rom  abwesend. 
Allerdings  aber  ist  es  möglich,  dass  auch  er  Goudimel's  Schüler 
gewesen.  Gewiss  ist  letzteres  von  Steffano  Betini,  genannt 
„il  Fornarino",  seit  1562  Sänger  der  päpstlichen  Capelle.  Die 
Kiesewetter'sche  Sammlung  besitzt  von  ihm  die  fünfstimmigen 
Motetten  Surge  propera,  Verbum  iniquum  und  Sana  me  Domine, 
die  Santini'sche  die  ebenfalls  flinfstimmigen  Salvum  me  fac  und 
Transeunle  Domino,  gute  Arbeiten  im  Sinne  der  römischen 
Schule. 

Unmittelbare  Zöglinge  Palestrina's  waren  Giovan  Andrea 
Dragoni  (geb.  zu  Meldola,  Capellraeister  im  Lateran  von  1576 
bis  zu  seinem  Tode  im  Jahre  1594)  und  Annibale  Stabile 
(Capellmeister  im  Lateran  1575  bis  1576,  dann  bei  S.  Apollinare, 
von  1 592  an  in  S.  Maria  Maggiore).  Von  Ersterem  besitzt  die 
Münchener  Bibliothek  ein  Exemplar  der  1575  zu  Venedig  ge- 
druckten fünfstimmigen  Madrigale,  die  Sammlung  Kiesewetter's 
eine  achtstimmige  Motette  Benediclus  Dominus  Deus  Israel,  die 
Santin'sche  Sammlung  eine  canonische  Messe  „dextera  tua  Domiue", 
das  Archiv  des  Lateran  eine  vierstimmige  Todtenmesse  „quae 
dicitur  in  anniversariis  canonicalibus"  u.  a.  m.  Annibale  ßtabile 
tibersetzt  in  seinen  achtstimmigen,  im  Florilegium  Portense  ge- 
druckten Motetten  Hi  mit  qui  venerunt  de  Iribulatione  magna  und 
Nunc  dimitlis  den  Styl  seines  grossen  Lehrer's  in's  prosaisch 
Tüchtige,  es  sind  kräftige,  auf  stattlichen  Effect  angelegte,  im 
Tonsatze  höchst  achtbare  Werke,  aber  der  wunderbaro  Duft  hoher 
Poesie,  wie  er  die  echte  Palestrinamotette  durchweht,  fehlt. 

Derselben  Schule  gehört  unverkennbar  auch  Giov.  Franc.  . 
Brissio  an,  von  dem  in  Fabio  Costantini's  Sammlung  nur  eine 
Motette  zu  drei  Stimmen  In  medio  ecclesiae  aperuis  erhalten  ist, 


l)  S.  Mus.  divina  Tom  IV  über  Vespertinus  S.  307-309. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode  79 

welche,   abgerechnet  einiges  unnütze   Kokettiren   mit  pikanten 
Dissonanzen,  feinen  Schönheitssinn  verräth.   Den  reinen  Styl  der 
goldenen  Zeit  zeigt  in  sehr  anerkennenswerther  Weise  Placido 
Falconio  aus  Asola  (Benedictiner  in  Brescia  um  1550).  Ein 
aus  seinem  grossen  Werke  „Missae  introitus  per  totum  annumu 
(Venedig  1573)  von  P.  Martini  in  seinem  Saggio  di  Contrapp. 
mitgetheiltes   fiinfstimmiges  Stück  (Commune  de  martyribus  in 
tempore  paschali  Sancti  tui  Domine)  hält  mit  seiner  meisterlichen 
Behandlung  des  Cantus  firmus  die  Nachbarschaft  der  dort  seine 
Umgebung  bildenden  Palestrinas  ganz  wohl  aus.  (Ausserdem  von 
Falconio  vierstimmige  Responsorien ,   die   „Turbä"   die  Passion, 
und  das  Magnificat  nach  den  acht  Kirchentönen  —  alle  diese 
Werke  15S0— 1588  in  Brescia  gedruckt.)    Noch  wäre  der  päpst- 
liche Capellsänger  Arcangelo  Crivelli  aus  Bergamo  (trat  1583 
in  die  Capelle,  st.  1610)  zu  nennen,  von  dem  die  Santini'sche 
Sammlung  unter  anderem  eine  Messe  zu  sechs  Stimmen  besitzt, 
Transemi  h   Domino,  und  mehrere  Stücke  in  den  Publicationeu 
Fabio  Constantini's  gedruckt  sind,  ferner  Prospero  Santini, 
Cesare  Roilo,  Vincenzo  de   Grandis  und  Giov.  Bott. 
Lucatello  oder  Locatello,  von  denen  Stücke  in  Fabio  Co- 
stantinfs  Sammlungen  enthalten  sind,  von  Locatello  übrigens  auch 
in  Waelrants  „Symphonia  angelicau  und  in  der  unter  dem  Titel 
„Dolci  affetti"  bekannten  Madrigalensammlung. 

Den  braven  Meister  Asprilio  Pacelli,  aus  Varciano  bei 
Narni,  verschlug  sein  Geschick,  nachdem  er  die  Capellmeister- 
stelle  von  S.  Peter  in  Rom  von  1601  bis  1603  versehen,  nach 
Polen  an  den  Hof  Sigismunds  III.;  er  starb  1623  zu  Warschau, 
wo  er,  wie  seine  Grabschrift  in  der  dortigen  Kathedrale  sagt,  die 
königliche  Capelle  mehr  als  20  Jahre  mit  wunderbarer  Sorgfalt 
(mira  solertia)  geleitet.  Fabio  Costantini's  Sammlung  enthält  von 
ihm  eine  sehr  schöne  achtstimmige  Motette  Factum  est  silentium 
und  ein  acht6timmiges  Veni  sanete,  der  2.  Theil  des  Florileg. 
Portense  die  achtstimmigen  Stücke  Canlale  Domino  und  Tres 
sunt  qui,  welche,  wenn  sie  auch  nicht  das  Lob  der  Grabschrift 
„eruditione,  ingenio,  inventionum  delectabili  varietate  omnes 
ejus  artis  coaetaneos  superavit"  übertrieben  erscheinen  lassen, 
doch  den  tüchtigen  Meister  der  Kunst  verrathen.  Asprilio 
Pacelli  gehört  übrigens  schon  den  folgenden  Zeiten  des  Stylüber- 
ganges an. 

Als  Palestrina  starb,  glaubte  man  ihm  keinen  würdigeren 
Nachfolger  geben  zu  können  als  Ruggiero  Giov  an  el  Ii  aus 
Velletri  —  der  als  einer  der  bedeutendsten  Meister  der  römischen 
Schule  gilt.  Seine  frühesten  gedruckten  Werke  sind  ein  1586 
in  Venedig  bei  Antonio  Gardano  erschienenes  fünfstimmiges 
Buch  Madrigale  1587,  1589  folgte  ein  zweites  und  drittes  Buch  — 
im  Jahre  1587  druckte  Giacomo  Vincenti  in  Venedig  ein  Buch 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


sogenannter  „Sdruccioli4'. ')  In  Rom  folgten  1 593  ftinfstimmige 
und  a<  htstimmige  Motetten  bei  Francesco  Coatti,  1593  achtstim- 
mige Messen,  daneben  Vi  hineilen  alla  Napoletana  und  andere 
Werke.  Damals  war  Giovanelli  Capellmeister  bei  S.  Luigi  de 
Francesi,  hernach  bei  S.  Maria  dell'  anima,  —  am  12.  März  1594 
erhielt  er  die  Capellmeisterstelle  bei  der  Peterskirche  und  trat 
sein  Amt  drei  Tage  später  an.  Hier  schrieb  er  das  vierstimmige 
„Miserere"  (letzte  Strophe  achtstimmig),  welches  in  der  päpst- 
lichen Capelle  so  lange  gesungen  wurde,  bis  es  der  Composition 
Allegri's  weichen  musste. 

Unter  Giovanelli's  Messen  im  Capellenarchiv  der  Sixtina 
findet  sich  unter  anderem  eine  achtstimmige  über  Palcstrina's 
Vestiva  i  colli  von  trefflicher  Arbeit, 2)  eine  zwölfstimmige  bewahrt 
die  Altaemps'sche  Sammlung  im  Coli,  romano  —  dazu  bedeutende 
Motetten  zu  4,  5  und  S  Stimmen,  und  eine  zwölfstimmige  Egre- 
dimini  filiae  Sion.  Die  Motetten  zu  fünf  Stimmen  hie  Sanctus 
pro  lege  Dei  (ans  den  Mot.  delle  Capp.  Cardinalizie ,  in  Kiese- 
wetter's  Sammlung)  und  Laudent  nomen  ejus  (in  einem  gemischten 
Bande  Motetten  derselben  Sammlung)  sind  schöne  Werke  des 
ausgebildeten  römischen  Musikstyles;  die  achtstimmige  Motette 
Jubilale  Deo  (im  Florileg.  Portense)  aber  ist  ganz  besonders  be- 
merkenswerth ,  weil  sich  darin  neben  den  Kunsttraditionen  der 
Palestrinazeit  ein  fühlbares  Streben  nach  grossartiger  Pracht  kennt- 
lich macht.  Giovanelli  malt  bei  den  Worten  „in  tubis  duetilibus 
et  voce  tubae  corneae"  mit  den  Menschenstimmen  die  Fanfaren 
der  Trompeten,  die  anschlagenden  Pauken,  bei  den  Worten  „mo- 
veatur  mare"  gerathen  die  Stimmen  in  eine  Wellenbewegung 
(die  sogar  in  den  geschriebenen  Notengruppen  auch  dem  Auge 
anschaulich  gemacht  wird!);  doch  sind  diese  Malereien  nicht  klein- 
lich, die  Stelle  vom  „wogenden  Meere'4  ist  sogar  ganz  imposant, 
wie  denn  überhaupt  diese  ganze  Motette  als  Beweis  gelten  darf, 
was  sich  an  glänzender  Wirkung  auch  ohne  den  brillanten  Farben- 
wechsel eingreifender  Instrumente  erzielen  lässt.  (Merkwürdiger 
Weise  hat  Luca  Marenzio  denselben  Psalm  in  ganz  ähnlicher  Art 
und  sogar  mit  ganz  denselben  Tonmalereien  componirt. s)  Ein 
sehr  bedeutender  Meister  ist  Francesco  Soriano  (geb.  1549  zu 
Rom),  Schüler  Annibale  Zoilo's  und  des  Bartolomeo  Roy,  auch 
eine  Zeit  lang  in  Nanini's  Schule,  wo  sich  Palestrina  selbst  um 


1)  „Gli  Sdruccioli.  Jl  primo  libro  de  Madrigal i  a  quattro  voci.  Roma 
appr.  Aless.  Gardano  1585."  Ein  Exemplar  —  leider  aber  nur  das  Sopran- 
heft —  besitzt  die  Casanatensis  aus  Baini's  Nachlasse.  „Sdruccioli"  ist  be- 
kanntlich der  Name  einer  Gattung  italienischer  Verse. 

2)  Eine  Abschrift  davon  in  der  Kiesewctter'schen  Sammlung. 

3)  Ebenfalls  im  Florilegium  Portense  abgedruckt.  Einer  der  beiden 
ist,  wie  kaum  zu  zweifeln  sein  möchte,  Nachahmer.   Aber  welcher? 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


81 


seine  Ausbildung  bemüht  haben  soll,  Capellmeister  bei  S.  Luigi 
de  Francesi  und  bei  8.  Maria  Maggiore,  von  1603  an  bei  St.  Peter. 
Als  sein  Hauptwerk  gilt  eine  Arbeit,  die  freilich  gewissermassen 
nur  eine  Studie,  aber  in  diesem  Sinne  erstaunlich  ist,  nämlich  die 
1610  in  Rom  bei  Robletti  gedruckten  Canoni  et  oblighi  di  cento 
e  dieci  sorte  sopra  CAve  maris  Stella  a  Ire,  quallro,  cinque,  sex, 
seile  et  olto  voci.  Zacconi  hat  diese  sämmtlichen  Probleme  auf- 
gelöst und  in  Partitur  gebracht,  seine  Handschrift  wird  im  Liceo 
filarmonico  zu  Bologna  aufbewahrt.  Abgesehen  von  der  hier  ent- 
wickelten contrapunctischeu  Meisterschaft  hat  Soriano  diese  Sätze 
mit  so  vieler  rein  musikalischer  Schönheit  ausgestattet,  dass  dieses 
eine  Werk  genügen  würde,  ihm  eine  hohe  Stelle  zu  sichern. 
Solche  Meisterproben  des  Satzes  zeigen  aber  auch,  wie  tüchtig, 
fest  und  gediegen  der  Grund  war,  auf  dem  die  römische  Schule 
ihre  Werke  baute  (unvergleichlich  mehr,  als  die  venezianische), 
und  dass  ein  solches  Wissen  und  Können,  weit  entfernt  etwa  als 
„scholastische  Spitzfindigkeit"  angesehen  zu  werden,  seinen  Mann 
ehrte  und  zierte.  Eine  solche  Schulung  bewahrte  vor  flachem 
Idealismus  und  leerer  Eftektsucherei ,  zwei  Gefahren,  welche  zu 
Zeiten  der  römischen  Schule  ziemlich  nahe  rückten.  Soriano's 
Motetten  (Lauda  Jerusalem,  Vidi  lurbam  magnam  u.  a.  m.),  bei 
denen  er  nach  der  Zeit  Weise  gerne  den  achtstimmigen  Satz  an- 
wendet und  von  denen  1597  ein  ganzes  Buch  erschien,  sind  so 
tüchtig,  als  seine  Messen  (Missarum  liber  primus,  Rom  G.  B. 
Robletto  1609,  darunter  auch  die  von  ihm  zu  acht  Stimmen 
arrangirte  Alissa  Papae  Marcelli)  Nos  autem  gloriari  aportet  und 
ad  Canones,  den  funfstimmigen :  sine  titulo ;  Quando  laeta  sperabam 
(man  bemerke  wie  schlau  hier  das  Madrigal  „quando  lieta  sperai" 
durch  die  lateinische  Version  maskirt  ist  —  es  war,  wie  aus  einer 
Stelle  des  Fronimo  von  Vincenzo  Galilei  zu  entnehmen,  eine  fünf- 
stimmige Compositum  von  Morales,  oder  war  es  etwa  ein  geist- 
liches Madrigal?)  und  Octavi  toni,  den  sechsstimmigen:  Secundi 
toui  und  super  voces  musicales. i)  Eine  vierstimmige  Passions- 
musik erschien  zusammen  mit  16  Magnificat  (zwei  für  jeden 
Kirchenton),  den  Sequenzen  Dies  irae  und  Libera  und  einigen 
anderen  Kirchenstücken  1619  bei  Lucas  Anton  Soldi  in  Rom.  2) 
Der  Idealstyl  der  römischen  Schule  ist  in  Soriano's  Werken  in 
vorzüglicher  Weise  vertreten ,  wie  man  denn  dem  massenhaften 
Vortrefflichen  jener  (allerdings  kaum  ein  halbes  Menschenalter 
umfassenden)  Epoche  gegenüber  fast  versucht  ist,  wie  Tinctoris 
schon  in  einer  früheren  gethan,  an  einen  „besonders  günstigen 
Einfluss  der  Sterne"  zu  glauben. 

1)  Ein  Exemplar  dieses  seltenen  Druckes  besitzt  die  Bibliothek  des 
S.  Convento  in  Assisi.  Die  Messen  Nos  autem  gloriari  und  super  voces 
musicales  finden  sich  auch  in  Proske's  Seilet,  nov.  missarum. 

2)  Ebenfalls  in  der  Bibliothek  zu  Assisi. 

Ambro«,  Geschichte  der  Musik.  IV.  fj 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


Unter  den  Meistern  der  römischen  Schule  ist  Soriano  viel- 
leicht derjenige,  dessen  Arbeiten  am  meisten  den  Charakter  ener- 
gischer Kraft  zeigen,  er  mahnt  in  diesem  Sinne  zuweilen  an  die 
Altniederländer.  In  seiner  Messe  „Nos  autem  gloriari44  sind  die 
Motive  wie  in  Marmor  gemeisselt,  so  rein  und  scharf  und  fest 
umschrieben  stehen  sie  da.  Das  erste  Kyrie  mit  dem  unauf- 
hörlich in  allen  Stimmen  wie  im  Wetteifer  empordringenden 
Skalenmotiv  sieht  aus,  als  wolle  der  Meister  das  Himmelreich  mit 
Sturm  nehmeu.  Die  bedeutendste  unter  Soriano's  Messen  ist  aber 
wohl  die  sechsstimmige  über  das  Hexachord  —  eines  der  geist- 
vollsten Werke  der  Schule,  höchst  meisterhaft,  kühn  und  originell 
im  Tonsatz  —  das  erste  Kyrie  über  das  im  ersten  Sopran  stets 
aufsteigend  wiederholte  Hexacborduni  durum,  das  Christe  über 
das  absteigende,  das  zweite  Kyrie  über  das  Hexachordum  naturae 
im  Alt  —  und  so  weiter  —  nur  das  Benedictus  ist  „freier  Satz" 
d  h.  ohne  das  Obligo  der  anderen.  Eine  unübersehbare  Fülle 
von  Gestaltungen  knüpft  sich  an  jene  sechs  Noten  —  die  Phan- 
tasie des  Tonsetzers  beweist  hier  einen  nicht  zu  erschöpfenden 
Reichthum.  DieMissa  papae  Marcelli  zu  acht  Stimmen  ist  ein 
dem  Meister  Palestrina  dargebrachter  Zoll  der  Bewunderung,  den 
aber  Palestrina  selbst  wohl  gerne  erlassen  haben  würde  —  ge- 
wonnen hat  die  Messe  durch  die  Zuthat  denn  doch  wohl  nicht  — 
sie  ist  aber  recht  lehrreich  als  Beweis,  wie  Palestrina  mit  seinen 
sechs  Stimmen  gerade  das  Rechte  getroffen.  Eine  gauzc  Welt 
von  Musik  ist  in  ein  1619  bei  Lucantonio  Soldo  in  Rom  ge- 
drucktes Werk  niedergelegt:  „Passio  D.  N.  Jesu  Christi  secuudum 
quatuor  Evangelistas ;  Magnificat  sexdecim,  Sequentia  fidelium 
defunctorum,  una  cum  Rcsponsorio  aliaque  nounulla  Ecclesiastica 
quaternis  vocibus  in  ecclesiis  concinenda.44  Die  Passionsmusiken 
sind  natürlich  wieder  nicht  in  dem  dramatisirenden  Ton  gehalten, 
wie  die  spateren  protestantischen,  sondern  die  „Turba"  für  den 
Ritus  der  Charwoche.  Aber  sehr  merkwürdiger  Weise  führt  der 
Text,  der  geschilderte  Moment  den  Meister  Soriano,  wie  ohne  dass 
er  es  selbst  recht  zu  merken  scheint,  in's  Dramatische  hinein  — 
wie  in  den  Sätzchen  „Barrabam"  der  Matthäuspassion,  wo  der 
Componist  offenbar  an  das  wüste  Durcheinanderschreien  des  Volkes 
gedacht  hat,  im  Chor  „prophetica  quis  est,  qui  te  percussit?" 
und  „alios  salvos  fecit'4  (besonders  von  der  Stelle  an  ,,descendat 
nunc  de  cruce")»  in  der  Johann  es-  Passion  das  ,,Cruciüge",  und 
das  kurze,  aber  äusserst  energische  „tolle,  tolle4'  und  so  noch 
vieles  Einzelne.  Durchweg  zeigt  sich  in  diesen  Sätzchen  ein 
meisterhaft  durchgebildeter  Tonsatz,  sie  sind  reich,  ohne  überladen 
oder  bunt  zu  werden.  Man  begegnet  im  Einzelnen  manchen 
überraschend  geistreichen  Zügen.  So  singen  die  Zeugen  ihr  „hic 
dixit  possum  destruere44  u.  s  w.  (wie  auch  sonst  öfter  vorkommt) 
als  Canon  —  aber  der  Bass  beantwortet  das  Thema  des  Tenors 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode.  §3 

• 

wie  der  Comes  einer  Fuga  di  tuono,  und  nach  wenigen  Takten 
wird  der  Canon  zum  Canon  in  Verkehrtschritten  —  ein  Zug,  mit 
welchem  Soriano  offenbar  mehr  wollte,  als  nur  ein  musikalisches 
Kunststück  machen.  Auch  die  Reden  Christi  hat  Soriano  com- 
ponirt  —  fiir  vier  hohe  Stimmen.  Jede  dramatische  Intention 
bleibt  also  auch  hier  vollständig  ausgeschlossen  —  es  ist  aber, 
als  wiederhole  den  Menschen  ein  Engelchor  die  Worte  des  Hei- 
lands. Eine  so  zarte  Innigkeit,  eine  so  heilige  Wekmuth,  ein  so 
rührender  Ausdruck  schwebt  über  diesen  Sätzchen,  dass  man  den 
Himmelsstürmer  der  Messe  „nos  autem"  gar  nicht  wieder  erkennt, 
und  sieht,  wie  dieser  mächtige  Geist  auch  frei  und  tief  em- 
pfinden konnte. 

Meisterstücke  sind  endlich  die  nach  den  acht  Kirchentönen 
in  ganz  kurzen  Sätzen  componirten  Magnificat  —  ein  ganz  eigenes 
Mittleres  zwischen  Falsobordon-  und  Motettenstyl,  bald  dem  einen, 
bald  dem  andern  sich  mehr  nähernd  —  von  herrlicher  Klang- 
wirkung, und  wiederum  voll  Leben  in  dem  äusserst  sorgfältig 
durchgebildeten  Tonsatze  —  äusserst  feierlich. im  Charakter;  be- 
sonders überraschen  die  abschliessenden  Doxologien  durch  ihre 
einfache  Erhabenheit. 

Kiesewetter's  Sammlung  besitzt  von  Soriano  zwei  Motetten  zu 
acht  Stimmen  —  imposant  prächtige  Stücke:  Lauda  Jerusalem  und 
Vidi  lurbam  magnam.  Ein  ähnlicher  achtstimmiger  Psalm  Credidi 
propter  quod  findet  sich  in  der  1615  zu  Neapel  erschienenen 
„Iiaccolta  de  Salmi".  *)  Mit  Anerio  und  Vittoria  zusammen  darf 
als  Dritter  wohl  Soriano  genannt  werden  —  es  sind  die  Meister, 
welche  Palestrina  zunächst  angereihet  zu  werden  verdienen. 

Soriano's  Nachfolger  bei  S.  Maria  Maggiore  von  1603  an  war 
Vincenzo  Ugolini  aus  Perugia.  Seine  Bildung  erhielt  er  in 
Nanini's  Schule.  Von  1606  bis  1615  war  er  Capellmeister  im 
Dome  zu  Benevent,  dann  kehrte  er  nach  Rom  zurück.    Er  starb 


1)  „Raccolta  de  Salrai  a  otto  di  diversi  eccelent.  autori."  Napoli.  Giov. 
Giac.  Carlino,  ad  istanza  di  Giov.  Ruardo.  1615  (Exemplar  in  der  Bibl. 
Altaemps  im  Coli.  rom).  Die  Sammlung  enthält  folgende,  zum  Theil  sehr 
bedeutende  Nummern: 


Dixit  Dominus 
Confitebor  .  . 
Beatus  vir  .  . 
Laudate  pueri 
Credidi 


von  Fab.  Costantini, 

„  Arcangelo  Crivelli, 

„  G.  M.  Nanini, 

„  Aless.  Costantini, 

„  Fr.  Soriano, 

Laetatus  cum  in  his    „  Bern.  Nanini, 

Nisi  Dominus     .   .     „  Paolo  Tarditi, 

Lauda  Jerusalem         „  Ces.  Zoilo, 

Magnificat  ,  G.  Fr.  Anerio, 

Regina  Coeli  ...     „  Rugg.  Giovanelli, 
Salve  Regina  .  . 
Ave  Regina  coelorum   „       „  „ 

6* 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


schon  1626  nach  langer  Kränklichkeit.  Unter  seinen  gedruckten 
Werken  finden  sich  achtstimmige  Motetten  und  zwölfstiraniige 
Psalmen,  aber  auch  schon  Motetten  für  eine  Stimme  solo  mit 
Orgclbass.  Auch  in  Fabio  Costantini's  „Scelta  di  motetti"  (16 IS) 
ist  er  vertreten  (ein  Duo  Domine  in  multitudine  miscricordiae).  !) 
Ein  sehr  eigentümliches  Werk  druckte  1G22  L  A.  Soldi  —  es 
sind  die  Motecta  et  Missae  octonis  vocibus  et  duodenis*).  Nebst 
einer  achtstimmigen  Missa  super  il  vago  Esquilino  findet  sich  hier 
das  Perfice  gressus  meos  als  achtstimmige  Motette  und  als  acht- 
stimmige Messe,  das  Bcata  es  virgo  Maria  und  das  Quae  est  ista 
als  zwölfstimmige  Motette  und  als  zwölfstiminigo  Messe,  so  dass 
die  vorangehenden  Motetten  gewissermassen  das  (musikalische; 
Programm  der  ihnen  nachfolgenden  Messen  bilden. 

Fabio  Costa n tini,  der  das  Verdienst  hat,  in  seinen  hier 
schon  mehrfach  erwähnten  Sammlungen  Werke  einer  bedeutenden 
Anzahl  trefflicher  Tonsetzer  der  römischen  Schule,  darunter  Ar- 
beiten ersten  Ranges,  vereinigt  zu  haben,  wagte  es  und  durfte  es 
wagen,  auch  eigene  Compositioncn  einzuschalten:  in  die  „Select. 
cant.  octo  voc."  die  Motetten  Sancli  Dei  und  0  turnen  ecclesiae, 
in  die  „Raccolta  de  Salmi"  den  Psalm  Dixit  Dominus,  in  die 
„Select.  cantion.  binis"  etc.  ein  Duo  Hoc  est  praecepium,  und  die 
vierstimmige  Motette  Ilodie  beala  virgo  Maria  puerum  Jesum  prae- 
sentavit,  in  die  „Scelta  de  Motetti",  die  Duos  Calistus  est  rere 
Martyr,  Üs  justi  meditabitur  und  Cum  jueunditate  und  die  Motette 
O  admirabile  commertium  zu  vier  Stimmen.  Fabio  Costautini  re- 
präsentirt  in  einer  Zeit,  wo  der  reine  Palestrinastyl  schon  über 
seine  Sonnenhöhe  hinaus  war,  diesen  edlen  Styl  noch  in  seiner 
Reinheit.  Es  lässt  sich  kaum  etwas  Aumuthigeres  denken,  als  der 
Schluss  der  zuletzt  genannten  Motette.  Uebeihaupt  ist  es  eine 
ganz  eigentümliche  Anmuth,  welche  Fabio  Costantini's  Werke 
auszeichnet. 

Die  Motetten  eines  Namens-  und  Geistesverwandten,  Ales- 
sandro  Costantini,  die  er  mit  aufgenommen,  sind  gleichfalls 
recht  anziehende  Werke.  Die  eine  vierstimmige  Ego  surn  panis 
virus  ist  auch  wieder  so  reiner  römischer  Styl,  als  man  ihn  denken 
mag;  die  andere  sehr  anmuthvolle  Confilemini  Domino  für  drei 
Tenore  aber  kann  mehr  als  ein  gutes  geistliches  Madrigal  und 
in  der  Führung  der  Harmonie,  wie  in  der  bewegten  melodischen 
Gestaltung  und  im  musikalischen  Periodenbau  eigentlich  schon 
als  völliger  Schritt  in  die  Neuzeit  hinein  gelten.  In  der  That  hat 
Alessandro  auch  schon  Motetten  neuen,  das  heisst  monodischen 
Styles  für  eine,  zwei  und  drei  Stimmen  „cum  Basso  ad  Organum" 
componirt  und  dem  Cardinal  von  Medicis  gewidmet.    Sie  wurden 


1)  Eiemplar  in  der  Bibl.  Angelica  zu  Rom. 

2)  Exemplar  in  der  Valicelliana. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


S5 


1616  bei  Bartolomeo  Zannetti  in  Rom  gedruckt,  auf  dem  Titel- 
blatte  wird  der  Componist  genannt:  6  Joannis  Florentinorum 
Capellae  Moderator  et  Organista.  Er  war  also  Capcllmeister  bei 
S.  Giovanni  de  Fiorentini  in  Rom.  Es  ist  merkwürdig  genug, 
wie  sehr  tüchtige  Meister  der  alten  Schule  in  jenen  Uebergang- 
zeiten  den  ihrer  Kunst  eigentlich  sehr  heterogenen  neuen,  mono- 
dischen Kunststyl  nicht  nur  ohne  Hass  gegen  die  „Neuerung", 
sondern  vielmehr  mit  Liebe  und  Interesse  aufnahmen.  Der 
„süsseste  Schwan  Italiens'*  (il  piii  dolce  cigno  d'Italia),  wie  ihn 
die  Zeitgenossen  nannten,  Luca  Marenzio  wird  insgemein  nur 
als  Madrigalencomponist,  nicht  als  Meister  des  kirchlichen  Ton- 
satzes genannt,  und  doch  reiht  er  sich  auch  in  letzterer  Beziehung 
den  Zeitgenossen  völlig  würdig  an.  Vor  allem  waren  es  allerdings 
seine  Madrigale,  welche  das  Entzücken  seiner  Zeit  bildeten.  Der 
Spanier  Sebastian  Raval  begrüsste  ihn  in  einer  Dedication  als 
„divino  inaestro",  der  Engländer  John  Dowland  suchte  durch 
Vermittelung  Cristoforo  Malvezzi's  seine  persönliche  Bekanntschaft, 
sein  Tod  wurde  in  lateinischen  Gedichten  besungen 1).  Luca 
Marenzio  war  in  dem  auf  halbem  Wege  zwischen  Brescia  und 
Bergamo  gelegenen  Oertchen  Coccaglio  geboren.  Er  scheint  sehr 
bald  als  Singknabe  nach  Brescia  gekommen  zu  sein;  hier  wurde 
der  Erzpriester  Andrea  Mazetto  auf  sein  Talent  aufmerksam  und 
sein  Wohlthäter ;  er  übergab  ihn  dem  Capellmeister  am  Duomo 
vechio  Giovanni  Contini,  einem  tüchtigen  Musiker,  zur  Aus- 
bildung. Lässt  man  es  bei  Dichtern  und  Malern  gelten,  dass  der 
Ort,  wo  sie  ihre  Ausbildung  erhielten  und  wo  sie  lebten,  auf  ihr 
künstlerisches  Schaffen  bestimmend  eingewirkt,  so  ist  nicht  ein- 
zusehen, warum  das  Gleiche  nicht  fiir  den  Tondichter  gelten  soll. 
Es  ist,  als  trage  Marenzio's  Musik  den  Ton  des  anmuthigen  Bres- 
cia mit  seiner  heiter-prächtigen  Renaissancekunst,  und  als  ruhe 
insbesondere  auf  des  Meisters  Kirchenstücken  ein  Abglanz  der 
lieblich-ernsten  Altartafeln,  womit  Alessandro  Bonvicino  il  Moretto 
seine  Vaterstadt  geschmückt,  von  denen  Mündler  sagt:  „sie  wiegen 
eine  ganze  Gallerie  auf.  Was  Moretto,  der  Bildner  edelster 
weiblicher  Schönheit,  und  sanfter,  ruhiger  Würde  in  den  Mänuer- 
gestalten  als  Maler,  das  ist  Marenzio  als  Tonsetzer.  Marenzio's 
Madrigale,  welche  alle  Welt  entzückten,  erschienen  in  Venedig  — 
neun  fünfstimmige  Bücher  1580  bis  1589  —  jedes  Jahr  ein  Buch, 
1558  allein  ausgenommen —  sechsstimmige  von  1582 — 1609.  Neu- 
auflagen folgten  bei  der  starken  Nachfrage  sehr  rasch  —  Petro 
Phalesius  veranstaltete  eine  Gesammtauflage  „Madrigali  —  ridotti 
in  un  corpo"  wie  es  auf  dem  Titel  heist,  1593  2)  —  also  noch  bei 
Marenzio's  Lebzeiten.   Die  Nürnberger  Notenpressen  waren  auch 

1)  Zwei  davon  theilt  Walther  in  seinem  Lexikon  S.  384  mit. 

2)  Diese  Ausgabe  der  Madrigale  zu  6  Stimmen  besitzt  die  k.  Bibliothek 
zu  Dresden. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 

eifrig  hinterher,  und  zu  den  Sammelwerken,  welche  Phalesius 
unter  Glanztiteln,  wie  „Musica  divina  di  XIX  autori  —  Harmonie 
Celeste  —  Simfonia  angelica  —  Melodia  olimpica  —  il  Trionfo 
di  Dori  —  Paradiso  musicale"  u.  s.  w.  veranstaltete,  musste 
Marenzio's  Musik  —  geistlich  und  weltlich  —  ein  starkes  Con- 
tingent  stellen.  Vierstimmige  Madrigale  kamen  1592  und  1 603  in 
Venedig  heraus. ')  Dazu  eine  stattliche  Menge  Kirchenmusik  — 
meist  Motetten  —  manches  ist  auch  Manuscript  geblieben,  wie 
ein  zwölfstimmiges  ave  maris  Stella  in  der  Bibl.  Altaemps  des  Coli, 
romano.  Luca  Marenzio  arbeitete  auf  dem  Gebiete  der  Kirchen- 
musik kaum  weniger  fleissig  als  auf  madrigalcskem.  Druckten 
doch  die  Erben  des  Hieronymus  Scotus  1588  von  ihm  ein  Werk: 
„Lucae  Marentii  Motectorum  pro  festis  totius  anni  cum  Com- 
muni  Sanctorum  quaternis  vocibus  lib.  I."  —  es  gehört  aber  etwas 
dazu,  also  das  ganze  Kirchenjahr  durchzucomponiren !  Auch  in 
den  Fest-  und  Hochzeitsmusiken  am  Hofe  zu  Florenz  begegnen 
wir  Werken  Marenzio's.  Der  ausserordentliche  Ruf  des  Tonsetzers 
drang  nach  England,  drang  nach  Polen,  an  dessen  Königshof  er 
mit  dem  für  die  damalige  Zeit  enormen  Gehalt  von  1000  Scudi 
jährlich  berufen  wurde.  Aber  das  nordische  Klima  machte  ihn 
krank,  er  gab  die  glänzende  Stellung  auf  und  kehrte  nach  Italien 
zurück  —  als  „Ritter'',  denn  dazu  erhob  ihn  vor  seinem  Scheiden 
der  Polenkönig.  Er  hat  sich  indessen  nie  „Cavaliere  Marenzio" 
genannt,  so  wenig  wie  es  nachmals  der  „Cavaliere  filarmonico" 
Mozart  für  nöthig  hielt,  seinem  Namen  dieses  Glanzlicht  aufzu- 
setzen. Rom,  damals  die  Musikhauptstadt  der  Welt,  war  Marenzio 
anziehend  —  er  begab  sich  1581  dahin  —  zuerst  als  Capell- 
meister  des  Cardiuals  von  Este,  dann  bei  dem  Neffen  des  Papstes 
Clemens  VIII,  Cardinal  Aldobiandini,  welcher  sein  besonderer 
Gönner  war.  —  1595  trat  er  in  die  päpstliche  Capelle  ein.  Am 
22.  August  1599  starb  er;  —  er  ist  in  8.  Lorenzo  in  Lucina  be- 
graben. Eine  reine  Klatschgeschichte  scheint  es,  dass  ein  zelotischer 
Beichtvater  den  Sterbenden  wegen  seiner  Madrigale  bis  zur  Ver- 
zweiflung geängstigt  haben  soll. 

Marenzio's  Madrigale  gehören  zu  dem  feinsten,  reizendsten 
und  liebenswürdigsten,  was  wir  dem  reichen  16.  Jahrhundert  ver- 
danken.   Die  edelste  Sentimentalität,  ohne  weichliche  Zerflossen  - 


1)  In  Cozzando's  „Libraria  Bresciana"  (S.  249)  und  Donato  Calvi's 
„Seena  letteraria"  worden  auch  dreistimmige  Madrigale  genannt,  welche 
bei  AUessandro  Vincenti  in  Venedig  (alla  pigna)  erschienen  sein  sollen. 
Vielleicht  sind  die  dreistimmigen  „Vilanelle  alla  Napoletana"  gemeint, 
von  denen  wirklich  fünf  Bücher  (zwischen  1584  und  1605)  in  Venedig  ge- 
druckt, und  welche  1606  mit  deutschen  Texten  in  Nürnberg  unter  dem 
Titel  nachgedruckt  wurden:  „Auszug  aus  Luc&  Marentii  vier  Theilen 
seiner  italienischen  dreistimmigen  Vilanellen  und  Napolitanen  (von  Valen- 
tin Hausmann). 


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Der  italienischen  Mnsik  grosse  Periode. 


87 


heit,  kommt  darin  zum  Ausdrucke.    Neben  Reichem,  Glänzendem, 
Ingeniösem,  hören  wir  Töne  innigster  Empfindung,  zartester  See- 
lenschönheit.    Es  ist  ein  eigener  Zauber  von  Wohllaut  darin  — 
die  Arbeit  verräth  durchweg  die  Meisterhand.    Jedes  Madrigal 
bekommt  seinen  Localton,  zu  welchem  der  poetische  Text  mehr 
nur  die  Andeutung,  die  Musik  erst  die  volle  warme  Lebensfarbe 
giebt.     Luca  Marenzio  beachtet  oft  selbst  das  einzelne  Wort: 
fortuna  volubile  —  le  onde  —  i  vezzosi  angelli  —  moriro  u.  s.  w. 
und  lässt  es.    ohne  jede  kleinliche  Detailmalerei,  bezeichnend 
hervortreten.  Marenzio's  Nachfolger  streifen  gerade  hierin  zuweilen 
an  die  Grenze  des  Zulässigen  oder  überschreiten  sie  und  illust- 
riren  gar  zu  deutlich.    Wenn  z.  B.  in  den  ausgezeichnet  schönen 
Madrigalen  von  G.  F.  Anerio  ein  sterbender  Hirt  —  natürlich 
stirbt  er  vor  Liebe  —  „in  giro"  umherschaut,  so  wird  dieser  Kreis 
in  der  Musik  höchst  deutlich  versinnlicht;  und  leitet  er  sein  last 
dying  speech  mit  einem  Seufzer,  „con  un  sospiro"  ein,  so  unter- 
bricht der  Tonsetzer  den  Gang  der  Stimme  durch  ein  Suspirium 
d.  i.  eine  Viertelpause  (die  italienischen  Componisten  haben  dem 
Einfall  selten  wiederstehen  können,  wenn  im  Text  „sospiro"  oder 
„sospiri"  vorkam,  ein  „Suspirium"  in  den  Noten  anzubringen  — 
auch  noch  die  späteren  Monodisten,  wie  Radesca  da  Foggia  im 
„Pianto  della  S.  Vergine  al  Crocefisso",  so  G.  Capello  in  einem 
sehr  seltsamen  Stück,  von  dem  wir  später  sprechen  werden  — 
ebenso  verlockend  ist  es  für  sie,  wenn  es  im  Text  heisst  „ut  sol" 
—  „wie  die  Sonne"  —  oder  „mi  fa"  —  „es  macht  mich"  —  die 
solmisationsgerechten  Noten  anzuwenden,  das  Wort  „canto"  durch 
eine  kleine  cantable  Passage  zu  markiren  u.  8.  w.).  Wenn  Arcadelt 
im  Madrigal  „il  bianco  e  dolce  cigno  cansando  muore"  ein  rei- 
zendes Stimmungsbild   süssester  Melancholie  in  ganz  einfachen 
Tönen  giebt,  so  kann  es  sich  Anerio  nicht  versagen,  in  einem 
Ähnlichen  Madrigal  den  Schwan  wirklich  singen  zu  lassen: 


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Der  italienischem  Musik  grosse  Periode. 


Marenzio  malt  auch,  aber  viel  weniger  in's  Detail  —  und 
weiss  dafür  den  Gesammtton  desto  besser  zu  treffen.  So  wird 
seine  Composition  des  Sonettes  CCLX1X  von  Petrarca  „Zeffiro 
torna"  wirklich  wie  von  einem  milden,  süssen  Friihb'ngshauch 
durchweht,  so  ist  sein  Madrigal  „vezzosi  angelli"  von  so  leichter 
Anmuth,  wie  das  liebliche  Bild,  der  „im  Laub  singenden  zierlichen 
Vögelchen"  nur  erheischen  mag. 

Unter  den  zahllosen  Madrigalen  Marenzio's  nehmen  vorzüglich 
die  1592  zu  Venedig  gedruckten  vierstimmigen  durch  meister- 
hafte Arbeit,  geistvolle  Behandlung  der  Texte  und  zauberhaften 
Wohlklang  einen  hohen  Rang  ein.  Ausser  den  weltlichen  Madri- 
galen, welche  vorzugsweise  seinen  Ruhm  begründeten,  componirtc 
Luca  Marenzio  nicht  nur  geistliche  Madrigale  (il  primo  libro  de 
madrigali  spirituali  a  5  voci.  Rom,  Aless.  Gardano,  1584),  sondern 
auch  zahlreiche  für  die  Kirche  bestimmte  Stücke,  Motetten  im 
Style  der  römischen  Schule,  welchen  er  trefflich,  doch  schon  ge- 
legentlich mit  einer  Neigung  zum  zierlich  spielenden  behandelt 
(statt  alles  anderen  sehe  man  seine  Motette:  O  quam  gloriosum 
est  regnum  und  halte  die  Composition  desselben  Textes  von  Vit- 
toria  daneben  l) 

In  den  grossen  Motetten  zu  acht  Stimmen  macht  sich  schon 
sehr  entschieden  jene  Neigung  zu  dem  Unrubigen  und  Brillanten 
fühlbar,  welche  die  kommende  Neuzeit  ankündigt.  Mit  der  Motette 
Jubilate  Deo  omnis  terra  ist  z.  B.  offenbar  eine  Wirkung  beab- 
sichtigt, wie  etwa  die  eines  glänzend-feurigen  rauschenden  Allegro 
eiuer  Instrumentalsymphonie.  Sehr  oft  zeigt  sich  eine  Art  in's 
Detail  zu  malen,  die  sich  ganz  unverkennbar  von  den  Madrigalen 
herschreibt  (wie  in  der  achtstimmigen  Motette  Iniquos  odio  habui.) 
Er  hat  sogar  auch  zwölfstimmige  Compositionen  geliefert;  ein 
Ave  maris  Stella  dieser  Art  besitzt  die  Altaemps'sche  Sammlung  im 
Collegio  romano. 

Marenzio'6  Harmonie  hat  auch  schon  eine  Menge  Mittcltintcn 
und  freiere  Ausweichungen  und  Uebergange,  welche  ihr  ein  von 
der  älteren,  strengeren  Diatonik  wesentlich  verschiedenes  Colorit 
geben.  Marenzio  hätte  nur  einige  Jahrzehnte  später  geboren,  ja 
es  hätte  ihm  vielleicht  nur  eine  längere  Lebensdauer  gegönnt  sein 
dürfen,  so  würden  wir  seinen  Namen  vermuthlich  unter  den 
frühesten  Operncomponisten  begegnen.  Seine  Musik  zu  dem  zu 
Florenz  15S5  bei  der  Vermälung  Ferdinand's  von  Medici  mit 
Christiana  von  Lothringen  aufgeführten  von  Ottavio  Rinuncini  ge- 
dichteten Festspiele  oder  vielmehr  Intermedio  „il  Combattimento 
d' Apolline  col  serpente"  kann  als  der  Morgenstern  der  nahenden 
dramatischen  Musik  gelten,  obwohl  der  Tonsatz  einstweilen 


1)  Wozu  man  durch  Proske's  Musica  Divina  (Motetten  No.  CXXVII, 
[VIII)  die  leichteste  Gelegenheit  hat. 


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Der  italienischen  Mnsik  grosse  Periode. 


noch  ganz  dem  herkömmlichen  Madrigalstyle  angehört.  Durch 
Bastiane*  de  Rossi's  Schilderung  *)  können  wir  uns  eine  ziemlich 
lebhafte  Vorstellung  dieser  dramatischen  Aufführung  machen, 
zumal  wenn  wir  dabei  Luca  Marenzio's  Musik  (sie  ist  in  den  1591 
zu  Venedig  bei  G.  Vincenti  erschienenen  Intermedji  e  Concerti 
fatti  per  la  Commedia  rappresentata  in  Firenze  nelle  nozze  del 
Seren.  Don  Fernando  Medici  e  Madama  Christiana  di  Loreno,  ge- 
druckt) mit  in  Anschlag  bringen.  Die  Scene  zeigt  einen  Wald 
mit  der  Drachenhöle,  die  Bäume  sind  zum  Theile  gebrochen  oder 
von  dem  giftigen  Schaume  des  Ungeheuers  verunreinigt.  Ein 
Doppelchor  von  Hirten  und  Hirtinnen,  in  griechischer  Tracht 
nahet  vorsichtig  2),  er  stimmt  einen  Gesang  an 

Ebbra  di  san^ue 

Giacea  pur  dianzi  la  terribil  fera 

E  l'aria  fosca  o  nera 

Rendea  col  fiato  e  maligno  tosco; 

Qui  di  carne  si  fsama 

Lo  spaventoso  serpe 

Vomita  flamme  e  fuoco,  e  fischia  e  rugge, 

Qui  l'erbo  et  i  fior  distruggo  — 

Ma  dov'  e  il  tiero  mostro? 

Forse  avra  Giove  udiso  il  pianto  nostro? 

Die  Antwort  lässt  zum  Schrecken  der  Hirten  nicht  lange  auf 
sich  warten,  der  Drache  zeigt  sich  am  Eingange  der  Hole,  der 
Chor  fällt  auf  die  Kniee 3)  „O  sfortunati  noi."  Er  richtet  ein 
Gebet  an  Zeus  um  Rettung.  Und  siehe,  als  der  Drache  mit 
schrecklichem  Gezische  auf  seine  Opfer  losfährt,  nahet  vom  Him- 
mel ApoU.  Der  Kampf  selbst  wird  in  einer  Art  heroischen  Tanzes 
vorgestellt  (welcher  dem  Darsteller  des  pfeilschiessenden  jungen 
Gottes  Gelegenheit  gegeben  haben  mag,  eine  Menge  bedeutender, 
der  Antike  abgesehener  Stellungen  zu  entwickeln).  Der  Drache 
reisst  wüthend  mit  seinen  Zähnen  die  Pfeile  aus  den  Wunden, 
denen  schwarzes  Blut  entströmt,  er  zerknirscht  die  Geschosse  mit 
seinem  Gebiss,  er  scheint  bald  fliehen  zu  wollen,  bald  bäumt  er 
sich  zur  Gegenwehr,  aber  immer  neue  Pfeile  fliegen,  sein  Wider- 
stand wird  matter,  er  windet  sich  sterbend  zu  den  Füssen  Apoll's 
und  liegt  endlich  getödtet  da.  Ein  Dankchor  der  Hirten  „oh 
valoroso  Dio,  o  Dio  chiaro  e  sovrano" 4)  endet  das  Spiel.  Auf 
die  Aehnlichkeit  dieser  Vorstellung  mit  einer  ähnlichen  bei  den 

1)  Descrizione  dell*  apparato  e  degli  intermedj,  fatti  per  la  commedia 
rappresentata  in  Firenze  nelle  nozze  del  Seren.  D.  Fordinando  Medici  1 589. 

2)  Dieser  „Chor"  ist  ein  Vorbild  zahlloser  späterer  Opernchöre,  die 
nur  deswegen  auftreten,  weil  sie  der  Componist  nöthig  hat.  Was  haben 
die  Hirten  bei  der  Drachenhöle  zu  suchen?!  — 

3)  Abermals  ein  echter  Opernzug!  Warum  entflieht  er  nicht?! 

4)  Kiesewetter  bringt  ihn  unter  den  Musikbeilagen  seines  Buches 
,.Schicksale  und  Beschaffenheit  des  weltlichen  Gesanges. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


antiken  pythischen  Spielen  hat  schon  Bastiano  de  Rossi  hinge- 
wiesen. Die  Musik  ist  durchweg  von  jener  massvollen  Haltung, 
und  jener  durch  die  einzelnen  Wendungen  der  Textworte  moti- 
virten  feinen  Ausmalung  des  Einzelnen,  wie  sie  auch  die  anderen 
Madrigale  Marenzio's  kennzeichnet,  an  eigentlichen  dramatischen 
Styl  darf  man  nicht  denken;  allerdings  aber  erhöhte  diese  Musik 
ohne  Zweifel  die  Wirkung  der  Darstellung  und  gab  ihr  die  rich- 
tige Färbung.  Die  begleitenden  Instrumente  (natürlich  verdoppel- 
ten sie  nur  die  Stimmen,  ausser  wo  Tanzmusik  eingelegt  war) 
sind  höchst  bescheiden  gewählt,  Harfen,  Lyren  (d.  h.  Geigenin- 
strumente). Das  Ganze  war  einstweilen  wieder  nur  eine  Keihe 
lebender,  von  Musik  begleiteter  Bilder.  Aber  diese  Bilder  alle 
zusammen  geben  als  Summe  doch  schon  eine  (allerdings  überaus 
einfache)  dramatische  llaudlung.  Marcnzio  starb  zu  früh,  um  die 
grosse  florentiner  Musikreform,  welche  1 600  mit  dem  ersten  grossen 
Werke,  der  „Euridice"  Peri's  und  Caccini's  auftrat,  zu  erleben. 
Maren zio  wurde  in  der  Kirche  St.  Lorenzo  in  Lucina  begraben, 
der  Jesuit  Bernardino  Steffonio  weihetc  seinem  Andenken  ein 
überaus  begeistertes  Gedicht. ')  Seine  gepriesenen  Arbeiten  be- 
schäftigten die  italienischen  und  die  deutschen  Pressen  vollauf. 
Venedig  und  Nürnberg  wetteiferten  seine  Madrigale  in  endlosen 
Auflagen  zu  verbreiten,  eine  vollständige  Sammlung  der  fünfstim- 
migen  gab  1593  Peter  Phalesius  und  Joh.  Ballerus  in  Antwerpen 
heraus,  2j  eine  ähnliche  Sammlung  der  sechsstimmigen  1610. 
Einzelnes  arrangirte  man  zur  Ergötzung  der  Dilettanten  für  die 
Orgel  (Joh.  Woltz  von  Heilbronn  1617,  Beruh.  Schmid  d.  j.  1614) 
oder  für  die  Laute  (Florilegium  des  Adrian.  Denss  1594).  Die 
dreistimmigen  Vilanclle  alla  Napoletana  Marenzio's  erschienen  1600 
in  fünf  Büchern  bei  Ant.  Gardano  in  Venedig,  sechs  Jahre  später 
gab  Valentin  Hausmann  in  Nürnberg  eine  Auswahl  heraus,  unter 
dem  Titel  „Auszug  aus  Lucä  Maren tii  vier  Theilen  seiner  italie- 
nischen dreystimmigen  Vilanellen  und  Napolitanen."  Die  grossen 
Sammelwerke,  wie  die  Gemma  musicalis,  das  Floril.  Portense, 
das  Promptuar  des  Schadäus  u.  s.  \v.  griffen  ebenfalls  begierig 
nach  seinen  Werken  —  von  den  Motetten  zu  vier  Stimmen 
druckte  Alessandro  Vincenti  in  Venedig  1583,  1592  zwei  Bücher 
(1592  das  erste  in  wiederholter  Auflage).  Ausserdem  wird  ein 
1614  in  Venedig  publizirter  Druck  zwölfstimmiger  Motetten  er- 
wähnt, und  sechsstimmige  Completorien  und  Antiphonen  (1595). 
Wie  Luca  Mareuzio  durch  seine  Madrigale  ist  Gregorio  Allegri 
(1560 — 1652)  durch  sein  „Miserere41  weitberühmt,  ja  bis  auf 
unsere  Tage  eine  der  grossen  Wcltberühmtheiten  der  Musik  ge- 
worden.   In  G.  M.  Nanini's  Schule  gebildet,  erreichte  Allegri  seine 


1)  Man  möge  es  in  Walther'a  Lexicon  ad  v.  Marenzio  (Luca)  nachlesen. 

2)  Exemplar  in  der  k.  Bibliothek  in  Dresden.  , 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


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Mannesjahre  als  Palestrina's  Kuhm  auf  seinem  Gipfel  stand,  allein 
er  war  damals  nicht  mehr  in  Korn,  sondern  Benefiziat  der  Kathe- 
drale zu  Fermo  (Romanus,  Firmanae  Ecclesiae  Beneficiatus)  nennt 
er  sich  auf  dem  Titel  seiner  1620  gedruckten  Motetten.  Im  Jahre 
1629  berief  ihn  Urban  VIII.  in's  Collegium  der  päpstlichen  Sänger. 
Noch  in  Fermo  componirte  er  sogenannte  „Concertini"  für  zwei 
bis  zu  vier  Stimmen,  das  heisst  contrapunctisch  gearbeitet,  reichlich 
mit  Imitationen,  sparsam  mit  Passagenwerk  ausgestattete  Gesänge, 
in  denen  die  Stimmen  gleichsam  wetteifern,  daher  der  Name. 

Zwei  Bücher  dieser  Compositionen,  dem  Duca  d'Altaemps  ge- 
widmet, erschienen  1618,  1619  bei  Soldi  in  Rom,  ebendort  er- 
schienen zwei  Bücher  Motetten  von  zwei  bis  zu  sechs  Stimmen, 
gewidmet  dem  Erzbischofe  von  Fermo,  Pietro  Dino  (1620,  1621). 
Eine  Composition  desselben  Styles  für  zwei  Soprane  und  einen 
Tenor  Egredimini  el  videte  nahm  Fabio  Costantini  in  seine  Scelta 
di  motetti  (1618)  auf.  Diese  Art  Compositionen  nimmt  zwischen 
dem  hohen  Palestrinastyl  der  Motette  und  dem  Zier-  und  Solo- 
gesänge ,  wie  er  damals  durch  einzelne  vorzügliche  Sänger  auf- 
kam, welche  ihr  Licht  auch  auf  dem  Kirchenchore  leuchten  Hessen, 
eine  Art  Mittelstellung  ein.  Sie  sind  nicht  wohl  für  Chöre,  sondern 
für  zwei,  drei,  vier  geschickte  Solisten  berechnet,  welche  diesen 
feinen  harmonischen  Combinationen  einer  schon  sehr  entwickelten 
Modulationsart,  dem  sparsam,  aber  geschmackvoll  angebrachten 
Zierwerk  an  Passagen  durch  sorgfaltigen  und  geistreichen  Vor- 
trag gerecht  zu  werden  im  Stande  sind.  Die  wirklich  sehr  glück- 
liche Mischung  des  echt  und  streng  Kircbenmässigen  mit  einem 
leichten,  anmuthigen  Anklänge  heiterer  Weltlichkeit,  und  mit 
jener  gemässigten  Färbung  von  Sentimentalität,  von  effectvoller 
Erregung,  wie  sie  selbst  Allegri's  ganz  strengen  Kirchensachen 
eine  eigentümliche  Färbung  gibt,  mag  vorzüglich  dazu  beige- 
tragen haben,  diesen  Compositionen  den  Beifall  Urban  VIII.  zu 
gewinnen.  In  die  päpstliche  Capelle  eingetreten,  nahm  Allegri 
einen  höheren  Flug.  Er  componirte  eine  Messe  zu  acht  Stimmen 
„Christus  resurgen6u  welche  sich  noch  im  päpstlichen  Capellen- 
archiv und  in  der  casanatensischen  Bibliothek  befindet,  eine  Messe 
im  Cappellastylc  nach  alter  Art  über  ein  weltliches  Stück  „Che 
fa  oggi  il  mio  sole"  (in  der  Corsiniana  zu  Rom),  ferner  eine  aus- 
gezeichnet schöne,  dem  reinsten  Palestrinastyle  verwandte 
sechsstimmige  Motette  Salvatorem  exspeclamus,  welche  noch  jährlich 
am  ersten  Adventsountage  in  der  sixtinischen  Capelle  gesungen 
wird,  achtstimmige  Psalmen  (voce  mea  und  derelinquas  impius, 
beide  in  der  Casanatensis),  Improperien,  und  zwei  Abtheilungen 
Lamentationen  für  den  Mittwoch  der  Charwoche  (Feria  V  in  coena 
Domini)  und  für  den  Charsamstag  (ad  Matutinam),  beide  zu  vier 
Stimmen.  Mit  den,  gleichfalls  in  der  Charwoche  gesungenen 
Lamentationen  von  Palestrina  zusammengehalten ,  lassen  sie  mehr 


92 


Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


als  irgend  ein  anderes  Werk,  Aehnlichkeit  und  Unterschied  beider 
Meister  erkennen.  Die  reine,  keusche  Hoheit  des  wie  in 
Licht  getauchten  Styles,  die  Factur,  die  überall  aufs  Einfach- 
Grosse  geht,  oder  vielmehr  deren  technisch  vollendete  Durchbil- 
dung sich  hinter  anscheinend  einfache  Formen  birgt,  der  edle 
Ausdruck,  die  massvolle  Schönheit,  Haltung,  Form  und  Färbung 
des  Ganzen  geben  die  Aehnlichkeit.  Aber  durch  alle  Zucht  und 
Strenge  klingen  jene  schärferen  Accente  der  Empfindung  durch, 
welche  andeuten,  die  Musik  befinde  sich  auf  dem  Wege  vom  Üb- 
jectiv-gottesdienstlichen  gegen  den  Ausdruck  subjectiver  Empfin- 
dung. Allegri  lässt  dissonirende  Vorhalte  herber  und  öfter  ver- 
klingen als  Palestrina,  jenen  musikalischen  Schmerzensschrei,  dessen 
früheste  Anwendung  allerdings  .schon  auf  Josquin  zurückdatirt 
werden  muss,  von  dem  aber  erst  jene  spätere  Zeit  des  stark 
betonten,  in  den  bildenden  Künsten  sogar  bis  zum  Masslosen 
souverän  gewordenen  Affectes  auch  in  der  Musik  öfter  und  ab- 
sichtlicher Gebrauch  zu  machen  anfing,  wie  er  denn  insbesondere 
für  die  damals  emporblühende  dramatische  Musik  ein  kostbarer 
Fund  war,  (man  sehe  Steffano  Landi's  geistliche  Oper,  il  S.  Ales- 
sio).  Auch  die  strenge  Diatonik  erhält  (wenn  auch  noch  bescheiden 
und  einfach,  dabei  aber  höchst  effectvoll)  durch  modulatorische 
Wendungen,  welche  durch  chromatische  Schritte  motivirt  sind, 
eine  besondere  Färbung:  das  b — h  des  Tenors  zu  den  Worten 
„quia  non  sumus  consumpti,  quia  non   defecerunt  miserationes 

ejus"  das  f  j|  f  des  Soprans  bei  den  Worten  „exspectabo  eum"  — 
die  frappanten  Harmoniewendungen  wohl  nicht  ohne  Beziehung 
auf  den  Inhalt  der  Textesworte,  wie  denn  Allegri  z.  B.  auch  nach 
den  Worten  „sedebit  et  tacebit"  den  glücklichen  Einfall  Costanzo 
Festa's  mit  der  General  pause  wiederholt.  Noch  mag  bemerkt 
werden,  dass  Palestrina  und  Allegri  gerade  in  die  an  sich  nichts 
bedeutenden  Controllbuchstaben  Aleph,  Beth  u.  s.  w.  (Allegri 
fangt  bei  Heth  an)  Ausdruck  tiefer  Empfindung  legen  —  man 
muss  sie  als  vocalisirende  Präludien,  gleichsam  als  Ritornello  der 
(bekanntlich  aus  der  päpstlichen  Capelle  ganz  ausgeschlossenen) 
Instrumente  betrachten,  welche  das  folgende  vorbereiten  Diese 
Aleph,  Beth  u.  s.  w.  werden  übrigens  auch  schon  bei  den  ältern 
Meistern  als  figurirte  contrapunctischc  Sätzchen  behandelt,  oft 
reich  und  zierlich,  wie  prächtige  Initialen.  So  herrlich  alles 
dieses  auch  ist,  den  Gipfel  seines  Ruhms  erreichte  Allegri  erst 
mit  dem  Miserere  für  zwei  Chöre  (einen  vier-  und  einen  fünf- 
stimmigen), welches  bei  seiner  anscheinend  ausserordentlichen 
Einfachheit  (in  Wahrheit  ist  der  Tonsatz  nichts  weniger  als  ein- 
fach) als  eine  ganz  originelle,  einen  ganz  neuen  Styl,  gleichsam 
den  offiziellen  Styl  des  Capella-Miserere  begründende  Schöpfung 
gelten  muss.  Lauge  Zeit  galt  es  für  eine  Art  Weltwunder,  wer 
es  am  Charfreitag  in  der  sixtinischen  Kapelle  singen  gehört,  ver- 


Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


93 


gass  den  Eindruck  nie  wieder.  Das  Verbot  bei  sofortiger  Excom- 
munication  eine  Abschrift  zu  nehmen  (übrigens  ein  Verbot,  das 
sich  auf  alle  Musik  des  päpstlichen  Kapellarchivs  von  Dufay  und 
Okeghem  bis  auf  die  neusten  Arbeiten  von  Baini  u.  s.  w.  erstreckt), 
wob  um  das  Stück  noch  einen  ganz  eigenen  mysteriösen  Reiz. 
Als  man  es  nun  auf  Verlangen  Kaiser  Leopold  I.  mit  päpstlicher 
Erlaubniss  nach  Wien  sendete,  erfolgte  freilich  eine  grosse  Ent- 
täuschung, statt  des  erwarteten  Weltwunders  fand  man  einen 
„Semplicissimo  falso  bordone",  so  dass  der  Kaiser  ernstliche  Be- 
schwerde nach  Rom  führte:  „man  habe  ihm  nicht  das  wahre  Mi- 
serere gesendet'4 ;  der  päpstliche  Kapellmeister  suchte  die  Sache 
dadurch  zu  erklären,  man  kenne  in  Wien  nicht  die  wahre  tra- 
ditionelle Vortragsweise  u.  s.  w.  Es  war  dabei  aber  auch  sogar 
noch  in  Anschlag  zu  bringen,  dass  man  am  Kaiserhofe,  an  brillante 
italienische  Opernmusik  gewöhnt,  wohl  kaum  noch  ein  Verständniss 
für  den  alten  hohen  Styl  hatte.  Richtig  aber  ist  es,  dass  der 
eigene  Vortrag  dieses  Stückes,  wie  man  ihn  in  Rom  hört,  und 
.müssen  wir  auch  hinzusetzen)  die  ganze  Umgebung,  in  welcher 
man  es  hört  zu  jener  ausserordentlichen  Wirkung  mit  beitragen, 
die  sich  übrigens  noch  heut  bewährt.  Zwischen  den  fest  und 
zugleich  so  ausdrucksvoll  declamirten  falsobordonartigen  Versetten, 
kehrt  immer  und  immer  wieder  ritornellartig  jener  musikalisch- 
modulirte  Seufzer,  der  so  seelenergreifend  den  Ausdruck  der 
tiefsten  Zerknirschung  malt,  jenes  wunderbare  kleine  Motiv  der 
Contralte,  welches  der  Sopran  nachahmt,  dessen  Zauber  sich  wohl 
empfinden,  nicht  erklären  lässt.  Endlich  die  machtvoll  austönende 
Stelle:  tunc  imponent  super  altare  tuum  vitulos.  Sage  niemand, 
dass  die  Sänger  in  die  Composition  „erst  etwas  hineinlegen",  sie 
legen  nicht  hinein,  sie  nehmen  vielmehr  heraus,  was  darin,  aber 
was  nicht  von  jeder  Uand  zu  heben  ist.  Und  wenn  die  ganze 
gottesdienstliche  Feier  wesentlich  mit  dazu  gehört,  so  frage  man 
sich  nur,  ob  z.  B.  die  letzte  Sceue  des  Don  Giovanni,  wenn  der 
„steinerne  Gast"  in  schwarzem  Frack  und  weisser  WTeste  im 
Concertsaale  seinen  Part  aus  dem  Notcnblatte  absänge,  gleich 
stark  wie  auf  der  Bühne  sein  könnte?  Allegri's  Miserere  ist  ein 
Stück  für  eine  ganz  bestimmte  kirchliche  Feier,  nur  dort  ist  es 
an  seiner  rechten  Stelle.  An  seiner  rechten  Stelle  macht  es  den 
Eindruck,  dass  man  sich  sagen  darf,  nirgends  sei  der  tiefste,  aber 
zugleich  die  Seele  verklärende  und  heiligende  Schmerz  mit  gleich 
ergreifender  Kraft  ausgesprochen,  als  vielleicht  in  einem,  aller- 
dings ganz  heterogenen  Stücke,  dem  Adagio  des  Beethoven'schen 
F-dur  Quartettes  Op.  59.  1.  —  ganz  verschieden  im  Style,  ja 
in  der  Tendenz,  ist  doch  im  letztesten  Punkte,  die  WTirkung  beider 
Tonsätze  eine  erstaunlich  analoge;  freilich  finden  wir  bei  dem 
älteren  Meister  ein  Gebet,  ein  feierliches,  rituelles,  kirchliches 
Gebet,  bei  dem  neueren  die  Fluctuationen  einer  einsamen  grossen 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


Seele,  welche  trübe  den  vorüberziehenden  Wolkenschatten  des 
eigenen  Innern  zusieht.  Der  ältere  Meister  kann,  wenn  auch  im 
tiefsten  Ernst,  so  doch  hoffnungsreich,  gehoben,  getröstet  in  vollen 
Klängen  schliesscn,  die  Katharsis  hat  sich  vollzogen  —  der  neue 
Meister  findet  keinen  Schluss,  sein  erhabener  Trauergesang  ver- 
rieselt in  Notenpassagen,  die  zum  wilden  Humor  des  Fiuale 
hintiberleiten.  Prüft  man  Allegri's  Stück  daheim  bei  der  Studir- 
lampc  (denn  trotz  der  Excommunication  ist  es  oft  genug  gedruckt), 
so  erstaunt  man  über  diese  anscheinend  einfache  und  doch  so 
kunstreiche,  fein  berechnende  Technik,  diese  frappanten  harmo- 
nischen Züge,  die  so  ungewöhnlich  und  doch  so  ganz  natürlich 
klingen.  Man  findet  wieder  die  speeifischen  Züge  Allegri's,  die 
vorsichtig  und  wohl  vorbereiteten,  herben,  mächtig  wirkenden 

Dissonanzen  (gleich  in  3.  Tempus  der  Zusammenklang  )?c  d  f  g  Jj). 
den  sentimentalen  Zug  tiefer  und  schon  subjectiver  Empfindung 
des  Componisten.  Zwar  tritt  der  Meister  auch  hier  noch  immer, 
wie  jener  griechische  Maler,  hinter  sein  Gemälde  zurück,  aber 
zuweilen  zeigt  er  sich  momentan  vortretend  und  sagt  dem  Be- 
schauer mit  einem  flüchtigen  Blicke,  was  alles  er  bei  seinem 
Kunstwerke  empfunden. 

Der  eigentbümliche  Styl  des  Miserere  ist  wesentlich  aus  seiner 
Entstehung  in  der  päpstlichen  Kapelle  zu  erklären.    Schon  die 


gesetzt,  aber  im  durchgearbeiteten,  fugirten  Motettenstyl  —  Jos- 
quins  mächtiges  Stück  wäre  hier  vor  allem  zu  nennen.  In  der 
sixtinischen  Kapelle  wurde,  wie  wohl  zweifellos  heissen  darf,  das 
ritualmässig  vorgeschriebene  Miserere  in  den  drei  Tagen  der  Char- 
woche  bis  auf  die  Zeit  Leo  X.  als  einfache  falsobordon  Psalmodie 
gesungen.  Der  dreigekrönte  Musikfreund  scheint  statt  dessen 
etwas  Kunstwürdiges  gewünscht  zu  haben  —  Costanzo  Festa 
lieferte  denn  1517  ein  Miserere  (ein  Versett  zu  vier,  eines  zu 
fünf  Stimmen,  so  abwechselnd  bis  zum  Schlüsse  zu  singen)  als  aus- 

J;earbeitetes  Stück  (Res  facta,  oder  wie  jener  Venezianer  Giovanni 
el  Lago  sich  in  seiner  Breve  introduzione  alla  musica  misurata  — 
1510  —  ausdrückt:  „Contrapunctus  ad  videndum.")  Man  machte 
mit  dieser  Composition  den  Anfang  eines  neuen  Codex,  in  welchen 
in  der  Zeit  von  1517  bis  etwa  1617  noch  zehn  andere,  für  den 
Capellendicnst  bestimmte  Miserere,  zum  Theil  von  sehr  berühmten 
Meistern,  eingeschrieben  wurden :  von  Lodovico  Dentice,  Francesco 
Guerrero,  Palestrina  (zwei  Versette,  vier-  und  fünfstimmig),  Inofilo 
Gargano  da  Gallese,  Giov.  Fr.  Anerio,  Feiice  Anerio  (das  letzte 
Versett  neunstimmig,  es  treten  nemlich  der  vier-  und  der  fünf- 
stimmige Chor  zusammen),   Joh.  Maria   Nanini  (neunstimmiger 


1)  Santo  Naldini,  von  dem  da9  zehnte  Miserere  ist,  trat  am  23.  No- 
vember 1617  in  die  Capelle. 


niederländischen  Meister  hatten 


50.  Psalm  in  Musik 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


95 


Schluss  zu  Palestrina's  zwei  Versetten),  Santo  Naldini,  Ruggiero 
Giovanelli.  Das  zwölfte  Stück  im  Codex,  Allegri's  Miserere,  stellte 
alle  früheren  in  den  Schatten.  Die  Traditionen  der  früheren 
Zeit  der  einfachen  Falsibordoni,  wie  der  Kunstcompositioneu 
seiner  Vorgänger  mit  abwechselnden  vier-  und  fünfstimmigen 
Strophen  und  der  neunstimmigen  Schlussstrophe,  sind  darin  durch- 
aus wiederzuerkennen,  an  manchen  Stellen  wird  den  Sängern  nur 
der  Accord  für  eine  Menge  von  Textessylben  vorgeschrieben, 
deren  richtige  Accentuirung  ihnen  selbst  tiberlassen  bleibt  —  es 
sind  Falsibordoni.  Andere  ähnliche  Partien ,  bei  denen  die  Har- 
monie wechselt,  sind  selbstverständlich  vollständig  ausgeschrieben. 
Aber  dazwischen  treten  immer  wieder  flüssigere,  polyphone  Stellen 
ein,  mit  ausgeprägten  melodischen  Motiven,  mit  sinnreicher  Ver- 
kettung einfach-schöner  Imitationen.  Der  Epilog  vereint  beide 
Chöre  in  einem  nennstimmigen  Ganzen.  Allegri's  Miserere  ist  das 
directe  Vorbild  des  Miserere  von  Tommaso  Bai  u.  s.  w.  geworden. 
Aber  Gregorio  Allegri  ist  auch  darum  eine  sehr  interessante  Er- 
scheinung, weil  er  zu  den  frühesten  Meistern  gehört,  welche  selbst- 
standige  Instrumentalsätze,  Symphonicen  wenn  man  will,  com- 
ponirt  haben.  Der  Altaemps'sche  Nachlass, l)  welcher  sich  jetzt  im 
Collegio  romano  befindet,  bewahrt  ihrer  eine  Anzahl  —  eine 
dieser  Compositionen  hat  Athanasius  Kircher  in  seine  Musurgie 
aufgenommen,  zwei  andere  hat  neuestens  Dominicus  Mettenleiter 
hi  seinen  periodischen  Musikheften  ..Musica"  veröffentlicht.  Die 
Form  dieser  nicht  langen,  aber  gut  gearbeiteten  Sätze  ist  im 
wesentlichen  jene  der  fugirten  Orgelcanzone ,  nur  dass  die  Parte, 
statt  sie  in  der  Hand  eines  Orgelspielers  zusammenzufassen,  unter 
vier  einzelne  Instrumentalparte  vertheilt  sind:  was  bei  der  streng 
durchgeführten  Polyphonie  der  gleichzeitigen  Orgelcanzonen, 
Ricercar  u.  s.  w.  auch  z.  B.  durch  einfache  Umschreibung  der 
Orgelsätze  Frescobaldi's  wirklich  in  ganz  ähnlicher  Art  bewirkt 
werden  könnte.  Unter  diesen  Instrumentalsätzen  Allegri's  findet 
sich  eine  „Sinfonia  instrumentalis  a  quattro  voci  per  la  Viola  con 
Basso  per  Organo"  —  Canzonen,  gleichfalls  für  Saiteninstrumente 
(Primo  Violino,  Secundo  Violino,  Alto  della  Viola,  Basso  per  la 
Viola  und  als  generalbassmässig  bezifferte  Grundstimmc  Basso  per 
TOrgano),  ferner  auch  Canzonen  für  die  vier  ausdrücklich  vorge- 
schriebenen Instrumente  Violino,  Cornetto,  Liuto,  Teorba.  Eine 
dieser  Canzonen  trägt  die  Bezeichnung:  la  Scomfortina.  Der  Ton- 
satz ist  der  streng  polyphone,  contrapunetische ;  die  damalige 
höhere  Musik  kannte  eben  keinen  anderen.  Diese  Incunabeln 
der  Instrumentalmusik  haben  daher  auch  nicht  den  Charakter 
jener  „Poesie  ohne  Worte",  wie  man  die  Instrumentalwerke  Mo- 

t)  Cod.  mus.  sacra,  jussu  Domini  Joannis  Ang.  ducis  ab  Altaemps 
collecta. 


96 


Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


zarts,  Haydn's,  Beethovens  nennen  könnte,  sie  zeigen  vielmehr 
jenen  strengen,  formalen,  architectonischen  Zug  der  alten  Musik, 
der  hier,  wo  das  erklärende  und  belebende  Wort  eines  gesungenen 
Textes  fehlt,  fast  noch  entschiedener  fühlbar  wird,  als  in  den 
Motetten.  Führt  uns  doch  auch  noch  Händel  in  die  grossen 
Münster  seiner  Oratorien  durch  die  gothischen  Portale  ähnlich 
angelegter  Ouvertüren.  Und  diese  Canzonen  Allegri's,  welche 
insgemein  ein  allerdings  nur  kurzes  (5  Tempora  u.  dgl.),  Note 
gegen  Note  in  breiten,  volltönigen  Accorden  geschriebenes  Sätz- 
chen wie  ein  feierliches  Andante  einleitet,  welchem,  ohne  Tact- 
und  Tempowechsel  ein  vorwiegend  aus  kleinen  Notenwerthen 
(Viertel-  oder  Achtelnoten)  mit  reichen  figurirten  Themen  gebil- 
detes, also  den  Eindruck  eines  nicht  zu  hastigen  Allegro  ge- 
währendes, fugirtes  Stück  von  energischem  Charakter  folgt  (auch 
schon  mit  Beantwortungen  in  der  Quinte,  Niederschlägen,  doch 
alles  noch  erst  mehr  nur  wie  in  skizzenhafter  Andeutung)  — 
diese  Canzonen  machen  einen  den  Ouvertüren  Händers  analogen 
Eindruck  —  allerdings  verhalten  sie  sich  zu  letzteren  wie  etwa 
modellirte  Thonfigürchen  zu  in's  Grosse  ausgeführten  Statuen. 
Sehr  bemerkenswerth  ist  aber  hier  schon,  wie  die  Technik  der 
Instrumente  auf  Erfindung  der  Themen  und  deren  Durchführung 
eingewirkt  hat  Alles  ist  rascher,  flüssiger,  bewegter,  bunter,  als 
in  den,  dem  Grundprinzipe  nach  allerdings  ähnlich  gearbeiteten 
Singesätzen.  Die  Instrumentalmusik  beginnt  sich  schon  hier  von 
der  Vocalmusik  zu  trennen,  die  Tochter  beginnt  sich  von  der 
Leitung  ihrer  Mutter  zu  emancipiren  und  deutet  die  Wege  an, 
die  sie  gehen  will.  Dem  fugirten  Tonspiele  folgt  regelmässig 
eine  jener  Episoden  im  ungeraden  (■})  Takt,  wie  wir  sie  auch 
schon  bei  Johannes  Gabrieli  fanden.  Hier  hat  nun  ganz  unver- 
kennbar die  gleichzeitige,  ernst-feierliche  Tanzmusik  eingewirkt, 
deren  Formen,  Khythmen  und  selbst  eigenthüm liehe  Motive,  wie 
sie  uns  aus  den  erhaltenen  Tanzstücken  jener  Zeit  bekannt  sind, 
wir  hier  wiedererkennen.  Hat  nun  aber  unsere  höhere  Instru- 
mentalmusik die  gediegene  Factur  ihres  Tonsatzes  wirklich  von 
der  Contrapunctik,  ihre  Beweglichkeit,  ihren  Perioden-  und  syme- 
trischen  Bau  aber  von  der  Tanzmusik  gelernt  —  (in  den  grössten 
Werken  treten  jezuweileu  diese  beiden  Factoren  an  einzelnen 
Stellen  abwechselnd  stärker  hervor  —  Finale  der  Eroica  Beethoven's 
und  zahlloses  andere),  so  ist  es  gewiss  interessant  den  beiden 
Factoren  auch  schon  hier  in  so  ausgesprochener  Weise  zu  be- 
gegnen. Der  kurzen  Episode  folgt  wieder  ein  contrapunetisches 
Sätzchen  im  geraden  Takt,  ein  Epilog  mit  neuen  Themen  und 
leise  gesteigerter  lebhafter  Bewegung.  Man  findet  die  gleiche 
Anlage,  nur  in  weit  reicherer  und  breiterer  Ausführung  oft  auch 
in  Frescobaldi's  grossen  Orgelstücken.  Ja  noch  mehr!  Jene  An- 
lage von  Eiuleitungsaccorden,  fugirten  Allegrosätzchcn,  Audante- 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


97 


Episoden,  bewegten  Epilogen  deuten  wie  im  ersten  Keime,  wie  aus 
weitester  Ferne  die  herkömmlichen  Sätze  unserer  grossen  In- 
strumentalmusik an:  Einleitungs-Andante,  erstes  Allegro,  Andante, 
Finale.  (Unser  „Menuett"  oder  „Scherzo"  zeigt  sich  dann  recht 
deutlich  als  das,  was  dieser  Satz  ist,  und  wie  ihn  neueste  Meister 
auch  oft  nennen,  als  Intermezzo,  als  Einschub  —  ein  Einschub, 
der  sich  freilich  z.  B.  bei  Beethoven  zu  einem  hochbedeutenden 
•  Element  der  ganzen  Anlage  mächtig  herausgebildet  hat.)  Die 
Instrumentalstücke  Allegri's  sind  mit  ein  Beweis,  wie  die  Meister 
von  ganzer  Seele  und  aus  allen  Kräften  Neues  suchten,  und  sich 
nicht  begnügten,  etwa  nur  die  überkommene  Kuustwcise  zu  be- 
wahren und  zu  erhalten.  Aber  sie  gingen  auch  Schritt  für  Schritt, 
es  fiel  ihnen  nicht  ein,  wie  es  in  jenem  Epigramme  heisst,  durch's 
Fenster  zu  springen  um  die  Treppe  zu  ersparen.  Sie  legten  treu 
und  fleissig  Stein  auf  Stein,  darum  steht  das  Gebäude  auch  so 
fest  da. 

Einer  ganz  besonderen  Erwähnung  ist  auch  die  als  Basso 
per  1'  Organo  bezeichnete  Stimme  werth.  Sie  ist  kein  selbst- 
ständiger Bestandtheil  des  Ganzen,  wie  die  übrigen  Stimmen, 
sondern  die  Darlegung  des  harmonischen  Fundamentes.  Daher 
geht  sie,  wo  der  Basso  per  la  Viola  eintritt,  mit  diesem  im  Ein- 
klänge (allenfalls  in  den  Figuren  vereinfacht),  darum  aber  ver- 
stummt sie  auch  nicht,  wo  nur  die  höheren  Stimmen  (ohne  den 
Violabass)  beschäftigt  sind,  bei  den  Fugeneintritten  u.  s.  w.  Der 
Orgelbass  verdoppelt  dann  entweder  den  Alto  della  Viola,  die 
Mittelstimme  (die  hier  für  den  Moment  relativ  zur  tiefsten  wird), 
oder  deutet  den  verschwiegenen  Bass,  die  eigentliche  Grund- 
harmonie an.  Daher  ist  diese  Stimme  der  allgemeine  Bass 
(Bassus  generalis),  für  sich  angesehen  das  harmonische  Programm 
des  Ganzen,  und,  mit  einer  Art  Widerspruch,  doch  wieder  auch 
Beetandstück  des  ganzen  Ensemble.  Gewiss  ist  es,  dass  viele 
Partieen,  z.  B.  eben  die  fugirten  Eintritte  der  höheren  Stimmen, 
weit  glücklicher  wirken,  wenn  man  den  unaufhörlichen  Mentor  in 
der  Tiefe  verstummen  lässt.  Mit  dem  beständig  mitspielenden 
Bassus  generalis  ist  einer  der  einfachsten  und  mächtigsten  Effecte, 
der  kraftvollen  Eintritte  und  Wiedereintritte  des  Basses  paralysirt, 
oder  doch  abgeschwächt.  Man  findet  die  Anlage,  welche  Allegri 
seinen  Instrumentalsätzen  gab,  auch  in  anderen  gleichzeitigen 
Instrumentalwerken.  Sie  kehrt  ganz  genau  in  der  „Sinfonia" 
wieder,  womit  Steffano  Landi  sein  Musikdrama  „il  S.  Alessio" 
(1634)  eröffnet.  Bemerkenswerth  ist  dabei  der  kleine  Zug,  dass 
Landi  dem  Ganzen  die  Ueberschrift  giebt  „Sinfonia"  und  erst 
wo  der  Fugensatz  (wieder  ohne  Takt-  und  Tempowechsel)  be- 
ginnt, im  eilften  Tempus,  beischreibt  „Canzone".  Der  General- 
bass  begleitet  auch  hier  ohne  Unterbrechung.  Wir  kommen  bei 
Besprechung  der  dramatischen  Musik  noch  darauf  zurück. 

Ambro  8,  Geschichte  der  Mtuik.   IV.  7 


98 


Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


Gregorio  Allegrfs  Mitschüler  war  Antonio  Cifra  (zuerst 
im  Collegio  gennanico  zu  Horn,  seit  1610  Capellmeister  in  Lo- 
retto,  wohin  er,  nachdem  er  bis  1620  Capellmeister  im  Lateran, 
und  eine  Zeit  auch  in  den  Diensten  des  Erzherzogs  Karl  von 
Oesterreich  gewesen,  1629  zurückkehrte  und  bis  an  seinen  Tod 
blieb).  Einen  bcmerkenswerthen  Ausspruch  von  ihm,  welchen 
er  in  einem  Briefe  an  einen  gewissen  Pierfrancesco  machte,  hat 
uns  Angelo  Berardi ')  aufbewahrt:  „besser  zwei  Quinten  als  Meister  • 
durchlaufen  lassen,  als  sie  auf  Kosten  des  Satzgewebes  verbessern1' 
(che  amava  piü  tosto  di  lasciar  correrc  le  due  Quinte  in  un  passo 
da  maestro,  che  salvarle  con  pregiudizio  della  tessitura).  Cifra's 
grosse  und  freie  Meisterschaft  zeigt  sich  in  der  That  durchaus  in 
seinen  Compositionen,  welche  mit  zu  den  allerbedeutendsten  seiner 
Zeit  zählen,  —  seine  Messe  „Conditor  alme  siderum"  enthält  in 
dem  letzten  siebenstimmigen  Agnus  eine  ganz  grosse  Meister- 
probe, einen  Canon  in  der  Sexte  und  in  Verkehrtschritten  zwischen 
dem  zweiten  Tenor  und  dem  zweiten  Contralt,  gebildet  nach 
dem  gregorianischen  Motiv  der  Hymne,  über  welche  die  Messe 
componirt  ist,  die  andern  Stimmen  ftihren  dazu  höchst  kunstvoll 
verwebte  Imitationen  aus,  der  Gesammtcffect  ist  ein  hochfeier- 
licher (eine  andere,  vierstimmige  Messe  über  das  Hexachord  besass 
Kapellmeister  Landsberg  in  Kom  handschriftlich).  Die  Bibliothek 
des  Collegio  romano  bewahrt  von  Cifra  einige  gedruckte  Arbeiten, 
welche  theils  noch  seiner  ersten  Periode  angehören,  wo  er  beim 
Collegium  gemiauicum  angestellt  war,  theils  den  ersten  Jahren 
seines  Aufenthaltes  in  Loretto.  Zu  ersteren  gehören  die  „Mo- 
tectae,  quae  binis,  ternis  et  quaternis  voeibus  concinuntur,  auetore 
Antonio  Cifra,  Romae  in  Coli.  genn.  musicae  moderatore,  uua 
cum  basso  ad  Organum  (Romae  1610,  apud  J.  B.  Roblettum). 
Gehören  die  vorhin  genannten  Kirchensachen  vollständig  dem 
grossen  Capelleustyl,  so  finden  wir  hier  den  Meister  auf  den 
Pfaden  einer  neuen  Zeit.  Diese  Doppelrichtung  bleibt  von  nun 
an  auf  langehin,  bis  auf  Alessandro  Scarlatti  und  noch  später,  für 
die  Meister  kennzeichnend.  In  jenen  Motetten  Cifra1  s  finden  wir 
schon  vom  Orgelbasse  begleitete  Duetten:  Isli  sunt  triumphalores; 
Maria  virgo  assumta  est;  Mi&il  Dominus  angelum  suum  (sämmtlich 
für  Sopran  und  Bass).  wir  finden  Trios  mit  oft  eigener  Zusammen- 
Stellung  der  Stimmen,  so  ein  Terzett,  vielleicht  nicht  ohne  einen 
Seitenblick  auf  s  Dramatische,  für  drei  Bässe :  Magi  videnles  siellam, 
dann  Stücke  für  drei  Soprane:  Gaudenl  in  coelis  animae;  venil 
lumen  iuum  Jesus  u.  s.  w.  für  drei  Altos:  Aperlis  thesauris ,  für 
drei  Tenore:  BenedicUe  Dominum,  ein  Sopran quartett  ex  ore  in- 
fanlium,  wiederum  mit  einer,  hier  unverkennbaren,  Beziehung  auf 


1)  In  seinen:  II  perche  musicale  ovvero  staffetta  armonica  (Bologna 
1693)  S.  29. 


Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


99 


den  Text,  der  von  dem  Lobe  handelt,  das  sich  Gott  „aus  dem 
Munde  der  Kinder  bereitet".  So  beginnt  der  dramatische  Geist 
der  Musik,  wie  halb  verstohlen,  auch  schon  in  echte  und  richtige 
Kirchenmusik  hineinzublicken.  Ein  anderes  Werk  im  Besitze 
des  Coli.  rom.  sind  achtstimmige  Vespern  und  Motetten  „Vesperae 
et  Motectae  octonis  vocibus  decantandae,  auct.  Ant.  Cifra,  Ro- 
mano, cum  B.  ad.  org.  (Rom  1610,  bei  Barth.  Zanetto),  darin 
unter  andern  ein  De  profundis,  ein  Magnificat,  und  die  Marien- 
gesänge: Alma  redemtoris,  Regina  coeli  und  Salve  Regina,  — 
ferner:  Salmi  septem  qui  in  vesperis  ad  concentus  varietatem  inter- 
ponuntur  quaternis  vocibus  cum  B.  ad  org.  Auct.  Antonio  Cifra, 
Romano,  in  alma  aede  Lauretana  mus.  praefecto.  Op  X.  (Rom. 
1611,  1612  bei  Robletto),  darin  wieder  ein  de  profundis  und  zwei 
Magnificat.  Dreichörige  Motetten  erschienen  1616 — 1629  in 
Venedig  —  ferner  auch  Madrigale,  und  ein  Fugenwerk  unter 
dem  Titel  Ricercari  e  Canzoni  francesi  a  quattro  voci  (Rom, 
Soldi  1619).  Unter  Cifra's  gedruckten  Arbeiten  wird  auch  ge- 
nannt: „Scherzi  e  Arie  a  una,  due,  tre  e  quattro  voci  per  cantar 
nel  clavicembalo,  chitarrone  o  altro  simile  instromento",  (Venedig 
1614),  also,  wie  schon  der  Titel  zeigt,  völlig  der  n^uen  Richtung 
angehörig,  wie  sie  gleichzeitig  Radesca  da  Foggia  und  Ant.  Bru- 
neiii in  ähnlichen  Arbeiten  einschlugen,  Brunelli's  ähnliches  Werk 
hat  sogar  den  gleichen  Titel,  Verlagort  und  Jahr  der  Herausgabe. 

Ein  sehr  tüchtiger  Meister  dieser  nach-palestrincr  Generation 
ist  Agostino  Agazzari,  geboien  zu  Siena  am  2.  December 
157S,  aus  adeligem  Geschlecht  stammend,  als  Mitglied  der  Ac- 
cademie  der  „Intronati"  (d.  i.  der  Verdutzten  oder  Betäubten), 
auch  unter  dem  Namen  „Accademico  armonico  intronato"  oder 
„Annonico  intronato"  bekannt,  auf  welchen  Titel  er  bedeutenden 
Werth  legte,  indem  er  ihn  auf  den  Titelblättern  seiner  Compo- 
sitionen  anzubringen  nie  ermangelte,  oft  sogar  allein  —  ohne 
seinen  Namen  zu  nennen  Schon  1603  wird  er  auf  dem  Titel 
der  bei  Zanotti  in  Rom  gedruckten  „Sacrae  cantiones"  als  „Musicae 
praefectus  in  Collegio  germanico"  bezeichnet.  Er  soll  auch  eine 
Zeit  lang  am  Hofe  des  Kaisers  Matthias  verweilt  haben.  Zuletzt 
war  er  Kapellmeister  im  Dome  zu  Siena  und  starb  am  10.  April 
1640.  Als  Componist  schloss  er  sich  der  römischen  Schule  an, 
zu  deren  vorzüglichen  Vertretern  er  gezählt  wird.  Aber  auch 
die  neue  Bewegung  interessirte  ihn  lebhaft  —  Umgang  mit  Lodo- 
vico  Viadana,  vielleicht  sogar  Uuterricht,  den  er  von  letztern  ge- 
noss,  lehrten  ihn  die  neuen  Mysterien  des  „fortgehenden  Basses" 
kennen,  er  hat  darüber  sogar  eine  Abhandlung  geschrieben  „del 
6Uonare  sopra  '1  Basso  con  tutti  stromenti  et  uso  loro  nel  conserto", 
welche  dem  1608  bei  Ricciardo  Amadino  in  Venedig  gedruckten 
zweiten  Buch  Sacr.  cant.  beigegeben  ist,  welche  Michael  Prä- 
torius  (Syntagma  III.  6.  Cap )  auszugsweise  „den  Unwissenden 

7* 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


zum  Besten  ex  Italico  sermone  in  unser  Teutsch  allhier"  über- 
setzt hat  —  auch  seine  „eigne  Observationes  darbey  bringen 
und  anzeigen  wollen",  welch'  letztere  er  mit  M.  P.  C.  (d.  i.  meae 
propriae  considerationes)  bezeichnet.  Der  wichtigste  Fortschritt 
über  Viadana  hinaus  ist  darin,  dass  Agazzari  auf  die  Nothwendig- 
keit  der  Bezifferung  dringt,  welche  Viadana  in  der  berühmten 
Einleitung  seiner  „Concerti  ecclesiastici"  in  Abrede  stellt  —  und 
nicht  blos,  wie  Viadana  "r  und  9  als  Zeichen  für  die  grosse  oder 
kleine  Terz,  wo  sie  nicht  an  sich  schon  im  Accord  liegt,  beige- 
setzt wissen  will,  sondern  auch  Ziffern,  „weil  ja  der  Generalbass- 
spieler sich  nach  den  Intentionen  der  Componisten  richten  und 
daher  wissen  muss,  ob  in  den  „auf  den  Bass  gesetzten  Stimmen 
gegen  jenen  eine  Quart,  Quint,  Sext,  ja  wohl  gar  durch  Syn- 
copation  eine  Secunde  oder  Septime  angeschlagen  werde". 

In  Agazzaris  Musik  spricht  sich  entschieden  der  Charakter 
aus,  welcher  den  Epigonen  Palestrina's  eigen  ist.  Das  subjektive 
Empfindungsleben  fängt  an,  sich  in  die  unnahbare  Hoheit  des 
früheren  Kirchenstyls  einzudrängen  —  indessen  ist  diese  Musik 
von  dem  späteren  theatralischen  Kirchenstyl  doch  noch  sehr  weit 
entfernt.  Agazzaris  „Stabat  mater"  l)  steht  zwischen  beiden  Rich- 
tungen mitten  inne  —  hochfeierlich,  ein  noch  immer  rein  und 
klassisch  zu  nennender  Kirchenstyl  einerseits,  während  nach  der 
anderen  Seite  Antheil,  Liebe,  mitleidender  Schmerz  schon  wesent- 
lich im  Geiste  persönlicher  Devotion  Ausdruck  gewinnt.  Die 
Modulation  in  entschiedener  Wendung  nach  den  Tonarten  im 
Sinne  neuerer  Harmonie  verwandter  Tonarten,  durch  vermittelnde 
Z\  i  henaecorde  sorgfältig  motivirt,  der  bescheidene,  aber  sehr 
wirksame  Gebrauch  der  Chromatik ,  die  ganze  Anordnung  des 
Periodenbaues,  die  Accordbildung  und  Verbindung  zusammen 
giebt  dem  Tonsatze  einen  ganz  entschieden  modernen  Klang, 
welcher  sich  von  der  Klangfärbung  z.  B.  des  Pale.strina'schen 
Stabat,  das,  wie  alle  anderen  Compositionen  des  Meisters,  auf 
die  Kirchentöne  gebaut  ist,  sehr  auffallend  unterscheidet.  Und 
trotz  dieses  Unterschiedes  schwebt  auf  beiden  Werken  ein  ähn- 
licher Verklärungsglanz,  und  giebt  die  feierlich  gemessene  Be- 
wegung, die  Schlichtheit  der  Contouren,  das  choralmässige  der 
melodischen  Motive  beiden  Werken  hinwiederum  eine  entschiedene 
Verwandtschaft.  Während  der  ältere,  echte  Palestrinastyl  den 
Menschen  über  die  Erde  und  zum  Himmel  emporhebt,  so  dass 
sie  dem  Blicke  entschwindet,  lässt  sich  dieser  spätere,  den  Uebcr- 

1)  Zuerst  gedruckt  in  „Sertum  roseum  ex  plantis  Hiericho  ab  Augus- 
tino  Agazzario,  armonico  intronato  nuper  collectum  et  armonia  traditum. 
Singulis,  Im  ms,  ternis  et  auaternis  voeibua  decantandum,  cum  Basso  ad 
Organum.  Opus  XIV.  In  Venetia  appresso  Ricciardo  Amadino  MÜCXI". 
Proske  hat  das  Stück  in  seine  Mus.  divina  (Tom  IV  vespertinus  Seite 
386)  aufgenommen. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


101 


gang  zur  Neuzeit  leise  vermittelnde,  vom  Himmel  zum  Menschen 
herab,  aber  ohne  seine  himmlische  Abkunft  zu  verläugnen.  Er 
bringt  aus  seinem  Himmel  jedem  einzelnen  Hörer  die  Empfin- 
dungen fertig  mit,  von  welchen  dieser  während  seiner  Andacht 
bewegt  werden  soll. 

Neben  Agazzari  ist  der  bedeutendste  Meister  der  vorhin  er- 
wähnten Richtung,  welche  durch  Verschmelzung  des  alten  mit 
dem  neuen  Musikstyl  eine  Art  Vermittlungs-  oder  Uebergangs- 
styl  schaffen,  Francesco  Foggia.  Er  war  1604  in  Rom  ge- 
boren —  er  genoss  dort  den  Unterricht  vorzüglicher  Lehrer: 
Anton.  Cifra,  Bernardo  Nanini  und  Paolo  Agostini,  dessen  Schwieger- 
sohn er  hernach  wurde.  Er  führte,  wie  es  damals  unter  den 
italienischen  Meistern  anfing  Sitte  zu  werden,  ein  bewegtes  Wander- 
leben —  zuerst  war  er  Kapellmeister  des  ChurfÜrsten  Ferdinand 
Maximilian  in  Köln,  dann  verweilte  er  mehrere  Jahre  am  Hofe 
zu  München,  von  wo  aus  er  in  die  Dienste  des  Erzherzogs  Leo- 
pold von  Oesterreich  in  Brüssel  trat,  dessen  Kapelle  er  leitete. 
Aber  es  trieb  ihn  zurück  in  sein  Italien,  er  wurde  Kapellmeister 
der  Kathedrale  in  dem  wildromantischen  Städtchen  Naemi,  dann 
in  dem  abseitig  von  seiner  Höhe  auf  den  Bolsener  See  herab- 
blickenden Bergnest  Montefiascone,  kehrte  von  dort  nach  Rom 
zurück,  wo  ihm  die  Leitung  des  Chores  in  dem  sehr  bescheidenen 
Kirchlein  S.  Maria  in  Aquiro  (auf  Piazza  capranica  unweit  vom 
Pantheon)  zufiel,  bis  er  die  bessere  Stelle  bei  der  uralten,  schönen 
Basilica  S.  Maria  in  Trastevere  erhielt  —  allerdings  noch  keine 
der  musikalischen  Grosswürden  in  Rom.  Es  war  ein  bedeutender 
Schritt,  als  der  erst  zwei  und  dreissigj ährige  Meister  im  Decem- 
ber  11)36  die  Kapellmeisterstelle  im  Lateran  erhielt  —  von  wo 
er  nach  S.  Lorenzo  in  Damaso  Übertrat.  Unbegreiflicher  Weise 
zögerte  er,  als  man  ihm  die  Stelle  bei  S.  Maria  maggiore  antrug, 
so  lange  mit  der  Annahme,  bis  man  es  vorzog,  Benevoli  zu  be- 
rufen. Aber  als  der  Platz  erledigt  wurde,  wurde  er  dem  schon 
drei  und  siebenzigjährigen  Manne  abermals  angeboten,  und  dies- 
mal nahm  er  an,  und  trat  am  13.  Juni  1677  den  Dienst  an,  in 
dem  er  fortan  verblieb.  Es  erregte  Staunen,  den  Greis,  selbst  da 
er  schon  das  achtzigste  Jahr  überschritten  hatte,  mit  frischer 
Kraft  thätig  zu  erblicken  —  man  nannte  ihn  ,,den  Vater  der 
Musik,  die  Stütze  der  wahren  kirchlichen  Harmonie"  1).    Und  als 

1)  Antimo  Liberati  sagt  in  dorn  bekannten  Sendschreiben  an  Uvidio 
Persageppi:  „di  Paolo  Agostini,  ingenio  imparregiabile  tra  gli  altri  n' 
e  stato  degno  tfcolaro  e  genero  il  Sign.  Francesco  Foggia,  ancor  vivente, 
benche  ottuagenario ,  et  ai  buona  salutc  por  la  grazia  spcziale  di  Dio.  e 
per  benefizio  publico,  ossendo  il  sostegno  e  il  padre  deua  musica  e  della 
vera  armonia  ecclesiastica  conie  nelle  stampe  ha  saputo  far  vedere,  e  sen- 
tire  tra  varieta  di  stile.  ed  in  tutti  far  conoscere  il  grande,  1'  eradito,  il 
nobile  il  pulito,  il  facile  ed  il  dillettevole  tanto  al  sapiente,  quanto  all' 
ignorante."    Das  Sendschreiben  datirt  von  1684. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


er  am  8.  Januar  1688  starb,  und  in  dem  alten  Heiligthum  von 
Santo  Prassede  seine  Ruhestätte  gefunden,  schien  es  wirklich,  als 
sei  die  Stütze  gebrochen.  Von  da  an  datirt  man  den  Verfall  der 
Kirchenmusik  in  Rom  —  wenigstens  im  Ganzen  und  Grossen, 
denn  einzelne  sehr  ausgezeichnete  Meister  hat  es  noch  später  ge- 
geben. Aber  Foggia's  Tod  ist  gleichsam  der  Schlusspunkt  der 
eigentlichen  hochgepriesenen  römischen  Schule,  und  als  der  Musik- 
patriarch zu  Grabe  ging,  lebte  schon  in  voller  Jugendkraft  Ales- 
sandro  Scarlatti,  durch  welchen  der  musikalische  Primat  auf 
Neapel  übergehen  sollte. 

Foggia  war  ein  sehr  fruchtbarer  Meister,  vieles  von  ihm 
wurde  gedruckt,  aber  sehr  vieles  blieb  auch  Manuskript.  Gedruckt 
wurden  sechs  Bücher  Messen  zu  4  bis  9  Stimmen  (1650,  1663, 
1672,  1673),  unter  denen  von  1663  befindet  sich  eine,  welche 
„la  Battaglia*'  heisst  (zu  fünf  Stimmen),  femer  eine  prachtvolle 
neunstimmige  „Tu  es  Petrus".  Bemerkt  mag  werden,  dass  die  1650 
bei  den  Erben  Mascardi's  erschienenen  Messen  als  Opus  3,  die 
1673  ebenda  erschienenen  Motetten  und  Offertorien  als  Opus  16 
bezeichnet  sind.  Ferner  erschienen:  Motetten  zu  zwei  bis  fünf 
Stimmen,  sechs  Bücher  —  eine  Anzahl  Motetten  ist  auch  den 
Messen  beigegeben  —  Litaneien,  Offertorien  (darunter  zu  8  Stim- 
men), ein  Buch  —  vier  Bücher  Psalmen.  Weltliche  Musik  hat 
Foggia  gar  nicht  geschrieben.  Wenn  Antimo  Liberati  die  „Mannig- 
faltigkeit des  Styles"  rühmt,  ferner  die  „Grossheit  des  Styles,  die 
Gelehrsamkeit,  das  Edle,  den  Schliff,  die  Leichtigkeit  und  das 
Gewinnende  für  den  Kenner  wie  für  den  Laien,  so  hat  er  in  der 
That  eine  treffende  Charakteristik  des  Meisters  gegeben.  Höchst 
liebenswürdig  erscheint  der  Componist  in  seinen  dreistimmigen 
Kirchenstücken :  Adoramus  Christum  regem ;  Dominus  et  salvalor 
mens;  Eece  paratum  nobis,  Coro  mea,  ein  Salve  Regina  für  Alt, 
Tenor  und  Bass,  ein  zweites  für  zwei  Soprane  und  Bass  ausser- 
dem noch  eines  zu  fiinf  Stimmen  mit  Orgel)  u.  s.  w.  Das  erst- 
genannte „Salve  Regina"  im  Altns  mit  dem  kirchlichen  Motiv 
exponirend,  wogegen  die  zwei  anderen  Stimmen  bewegt  contra- 
punetiren,  in  eine  Menge  kleiner  Sätze  getheilt,  hat  einen  eigenen 
Ton,  der,  wenn  man  versucht  ist,  ihn  alterthümlich  zu  nennen, 
erstaunlich  modern  erscheint,  und  wenn  man  ihn  modern  zu  finden 
geneigt  ist,  sich  alterthümlich  ausnimmt  Es  sind  Stellen  von 
hinreissender  Schönheit  darin.  Die  Modulation  zeigt  schon  grosse 
Freiheit  der  Bewegung,  in  der  Contrapunctik  kommen  mehrfach 
Motive  in  ganz  kleinen  Notengeltungen  vor.  Gelegentlich  taucht 
eine  kühne  harmonische  Combination  auf  (so  bei  den  Worten: 
„O  clemens,  0  pia").  Imposant  ist  der  „Sacerdos  magnus",  wo 
die  Orgel  stellenweise  nicht  mehr  als  blosses,  den  Singbass  ver- 
doppelndes Fundament,  sondern  als  selbstständige  vierte  Stimme 
erscheint,  die  sich  in  bewegter  Contrapunctirung  ergeht  (so  gleich 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


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anfangs  gegen  das  im  Tenor  eingeführte  kirchliche  Motiv  — 
weiterhin  wirkt  die  Stelle  mächtig,  wo  der  Bass  das  „Ecce  Sacer- 
dos"  anstimmt).  Diese  Stücke  sind  entschieden  für  Solostimmen 
berechnet. 

Eine  neue  Richtung  kündigt  sich  endlich  bei  Foggia  auch 
darin  an  ,  dass  er  seine  Fugensätze  nicht  mehr  nach  der  altern 
Art  als  Fuga  reale  sondern  als  Fuga  di  tuono  behandelt,  worin 
Übrigens  der  grosse  römische  Orgelmeister  Girolamo  Fresco- 
baldi  sein  Vorgänger  und  Vorbild  war.  Auch  dieser  reihet  sich 
diesen  Meistern  mit  einigen  kirchlichen  Gesangscompositionen  an  — 
ein  dreistimmiges  „Peccavi"  (2  S.  und  T.)  findet  sich  in  Fabio 
Costantini's  Select.  cant.  —  ein  „Angelus  ad  Pastores"  (Sopran 
und  Tenor)  in  eben  desselben  „Scelta  di  Motetti"  —  auch  der 
Aug-ustincrmönch  Agostino  Diruta1)  aus  Perugia,  welcher  bis 
1646  im  Kloster  seines  Ordens  in  Kom  verweilte  und  dann  im 
Ordensklostcr  zu  Perugia  die  Musik  leitete,  wäre  mit  einer  An- 
zahl in  Rom  gedruckter  Xirchenstücken  zu  nennen.2) 

Das  bekannte  Gleichniss,  womit  Karl  der  Grosse  einst  die 
Sänger  zurechtwies,  vom  „Bach,  welcher,  je  weiter  er  fliesst,  um 
so  mehr  fremde  Elemente  in  sich  aufnimmt",  kann  füglich  auch 
auf  die  römische  Schule  angewendet  werden.    Der  sogenannte 
„Palestrinastyl"  wird  in  Rom  von  tüchtigen  Meistern  noch  zu 
einer  Zeit  mit  Liebe  und  Begeisterung  gepflegt,  wo  alle  Welt 
nur  neapolitanische  Musik  hören  wollte,  die  päpstliche  Kapejl- 
musik  mehr  für  ein  alterthümliches  Curiosum  als  für  ein  wir  k- 
liches  musikalisches  Kunstwerk  galt,  wo  der  ehrliche  Thomaner- 
cantor  Gottlob  Harrer,  der  Nachmann  J.  S.  Bach's,  den  Palestrina- 
messen,  welche  er  aus  Italien  mitgebracht,  dadurch  aufhelfen  zu 
müssen  glaubte,  dass  er  —  —  Saitenquartett  und  zwei  Oboen 
hinzufügte.    Nicht   blos   bei   Matthäus    Simonelli  (Schüler 
Allegri's  und  Benevoli's,  seinerseits  Lehrer  Corelli's),  welcher  als 
Sänger  der  päpstlichen  Kapelle,  der  er  seit  dem  15.  December 
1662  angehörte,  mitten  in  der  Palestrinamusik  sass,  und  den  man, 
wie  Adami  von  Bolsena  erwähnt,  den  „Palestrina  des  17.  Säcu- 
lums"   nannte,  bei  dessen  Schüler  Giovanni  Maria  Casini 
(aus  Florenz,  auch  Schüler  Bernardo  Pasquini's),  bei  Claudio 
Casciolini  (um  1700?),  den  Proske  eine  der  grössten  Zierden  der 
römischen  Schule  nennt,  bei  dem  grossen  Orgelmeister  Bernardo 


1)  Nicht  zu  verwechseln  mit  Girolamo  Diruta,  dem  geschätzten  Or- 
ganisten. 

2)  Ein  Exemplar  des  Werkes:  „il  socondo  libro  de"  Salmi,  che  si  cun- 
tano  ne'  vospero  di  tutto  l'anno  concertati  a  4  voci  dal  P.  Agostino  Diruta, 
Perugino,  Agostiniano,  Baccilieri  in  S.  Teologia  o  Maestro  di  Cappella 
nella  Chiesa  di  S.  Agostino  di  Borna,  dedicato  all'  Angelo  suo  Custode. 
Opera  XXI  in  Roma  per  Lodovico  Grignani  1647  hat,  so  viel  bekannt, 
Proske  seiner  Bibliothek  einverleibt. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


Pasquini  (1637 — 1710),  welcher  Schüler  des  Luxus-Sängers 
Vittorio  Loreto  war,  aber  in  Palestrina's  Werken  seinen  eigent- 
lichen Lehrmeister  fand,  bei  Tommaso  Baj  (gest.  1714),  bei 
Giovanni  Biordi  (seit  1717  in  der  päpstlichen  Kapelle),  bei 
Ottavio  Pitoni,  der  1750  als  neunzigjähriger  Greis  starb,  be- 
gegnen wir  einem  Festhalten  an  den  Traditionen  der  goldenen 
Palestrinazeit,  und  auch  der  brave  Johann  Joseph  Fux,  der  Kapell- 
meister des  Kaisers  Karl  VI.,  wendete  als  Compositeur,  wie  als 
Theoretiker  (im  Gradus  ad  Parnassum)  dem  Meister  Petrus  Aloisius 
Präncstinus  eine  glühende  Liebe  und  Bewunderung  zu,  die  ihm 
am  musikalisch-neapolisirten  Kaiserhof  schwerlich  jemand  dankte, 
und  über  welche  seine  Collegen  oft  bedenklich  ihre  Allonge- 
perrücken geschüttelt  haben  mögen. 

Aber  auf  alle  diese  Meister  hat  ihre  Zeit,  ihr  Jahrhundert, 
die  musikalische  Luft,  die  sie  athmeten,  die  vom  Palestrinastyl 
himmelweit  verschiedene  Musik,  welche  sie  täglich  hörten,  eine 
Einwirkung  geübt,  welche  sie  auch  da  nicht  ganz  überwandon, 
wo  sie  sich  der  Weise  ihres  verehrten  Vorbildes  so  eng  wie  mög- 
lich anzuschliessen  gedachten.  Wie  „palestrinisch"  klingen  z.  B. 
die  Sachen  von  Pitoni,  man  halte  sie  aber  neben  echten  Palestrina, 
und  man  wird  in  der  Färbung  und  Haltung  einen  sehr  bedeuten- 
den Unterschied  wahrnehmen.  Es  ist  gleichsam  dasselbe  Idiom, 
aber  die  Ausdrucksweise  ist  eine  andere  geworden.  Palestrina 
hat  mit  Raphael  dem  Maler  auch  das  gemein,  dass  beiden  noch 
ein  Best  alterthüml icher  Weise  anhängt,  und  dieser  Zug  mit  seinem 
keuschen  Adel,  mit  seiner  geistigen  Tiefe  bei  scheinbarer  Be- 
schrankung, mit  seiner  jungfräulichen  Strenge  und  Holdseligkeit 
zugleich,  mit  seiner  Quellenfrische  und  Unmittelbarkeit  ist  es, 
welcher  ihren  Werken  den  wunderbaren  Zauber  giebt.  Jene  Spät- 
Palestriner  hatten  sich  genug  gethan,  wenn  sie  gegenüber  der 
neuen,  bunten  Musik  nach  der  schlichten  Hoheit  ihres  Vorbildes 
streben,  ohne  indessen  die  Erinnerungen  an  jene  neue  Kunst 
völlig  abweisen  zu  können. 

Bei  einzelnen  römischen  Componisten  um  die  Mitte  des  Sei- 
cento  mischen  sich  vollends  die  Elemente  des  Palestrinastyls  mit 
der  neuen  Musikweise  in  sehr  eigentümlicher  aber  oft  höchst 
reizvoller  Art.  Andere  suchen  dem  Palestrinastyl  dadurch  eine 
neue  Bedeutung  zu  geben,  dass  sie  Chöre  gegen  Chöre  stellen  — 
und  so  zu  sagen  musikalische  Armeen  in  den  Kampf  schicken.  — 

Die  höchste  Zahl  von  Stimmen,  welche  Palestrina  ange- 
wendet hatte,  stieg  (wenn  wir  von  dem  ganz  vereinzelten  Aus- 
nahmsfall der  achtzehnstimmigen  Composition  absehen)  nicht  Über 
drei  Chöre  zu  vier  Stimmen  —  und  selbst  auch  dieser  grössere 
Aufwand  von  Kunstmitteln  ist  bei  ihm  eine  Ausnahme,  wogegen 
er  acht  Stimmen  öfter  anwendete.  War  von  den  gewohnten  vier 
Stimmen  der  älteren  Compositionen  der  Fortschritt  zu  acht  Stim- 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


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men  geschehen,  dass  diese  reichere  Kunstweise  endlich  als  das 
Gewöhnliche,  als  das  einfach  Anständige  galt,  und  hatten  sogar 
schon  die  älteren  Meister  (.Bramel)  vereinzelte  Versuche  bis  zu 
zwölfstimmigen  Sätzen  gewagt,  so  wird  es  ganz  begreiflich,  dass 
die  durch  anhaltende  Uebnng  erlangte  Gewandtheit  in  der  Be- 
handlung einer  grösseren  Stimmenzahl,  die  Gewöhnung  an  reicheren 
Vollklang,  der  Wunsch  mit  einer  gesteigerten  Wirkung  der  Ton- 
sätzc  die  Vorgänger  und  ihre  Werke  zu  überbieten,  die  Meister 
bewog,  weiter  und  endlich  an  die  äusserete  Grenze  des  Möglichen 
zu  gehen  —  eine  Grenze,  welche  sie  endlich  in  Messen  zu  sechs 
realen  vierstimmigen  Chören,  also  in  Compositionen  bis  zu  48 
Stimmen  erreichten:  ein  Steigern  in  der  Verwendung  der  Kunst- 
mittel weit  über  das  Maass  des  für  die  eben  vorliegende  Aufgabe 
einfach  Notwendigen ,  Masseneffecte,  verschwenderischer  Luxus. 
Auf  dem  Felde  der  Musik  finden  wir  gerade  hier  zwei  Namen 
der  Unsterblichkeit  werth :  Paolo  Agostini  und  Orazio  Bene- 
voli.  Was  geringere  und  geringe  Talente  leisten,  wenn  sie 
Kräfte  und  Massen  herbeirufen,  deren  sie  dann  nicht  Meister 
werden  können,  fallt  dann  freilich  unleidlich  aus. 

Der  Musikstyl  a  cappella  hatte  seine  Vollendung,  seine 
schönste  Verklärung  im  Palestrinastyl.  Jetzt  begann  die  Zeit 
der  (falschen)  Rechnung,  die  doppelte  und  dreifache  Zahl  der 
Kunstmittel,  welche  sich  in  einfacher  Anwendung  so  herrlich  be- 
währt hatten,  werde  doppelte  und  dreifache  Wirkung  hervor- 
bringen. Das  Steigerungsprincip  war  gerade  damals  ohnehin  in 
allen  Künsten  in  vollem  Gange.  Besonders  in  Rom  hatte  Michel 
Angelo  mit  seinen  titanenhaften  Gedanken  den  Künstlern  das 
Concept  verrückt  —  man  hatte  sich  auf  allen  Kunstgebieten  an 
das  Gigantische  gewöhnt.  Seit  der  grosse  Florentiner  im  jüngsten 
Gerichte  der  sixtinischen  Kapelle  ganze  Klumpen  von  Riesenge- 
stalten zusammengeballt  und  durch  die  Lüfte  geschleudert,  nahmen 
in  möglichst  Ungeheuern  Dimensionen  gemalte  Dämonomachiren, 
Gigantenstürze  u.  s.  w.  gar  kein  Ende.  An  der  Peterskirche 
wurde  rüstig  fortgebaut;  sie  war  gleich  im  Bauentwurfe  (oder 
vielmehr  in  den  Bauentwürfen)  als  Weltwunder  angelegt.  Sehr 
begreiflich,  dass  auch  die  Musik  in  diese  Riescnwirthschaft  mit 
hineingezogen  wurde.  In  jenen  gewaltigen  Fresken  wimmelte  es 
von  Gestalten,  t härmten  sich  Gruppen  über  Gruppen,  der  Peters- 
dom löste  das  Problem  „das  Pantheon  in  die  Lüfte  emporzuheben." 
So  machten  auch  die  Musiker,  was  sonst  als  einfacher  vierstimmiger 
Satz  ein  in  sich  vollendetes  Ganze  vorgestellt  haben  würde,  eben 
nur  zur  Theilgrappe,  zum  einzelnen  Element  eines  gigantischen 
musikalischen  Aufbaues.  So  entstanden  jene  Kirchencompositionen, 
von  denen  Antimo  Liberati  in  seinen  bekannten  an  Ovidio  Per- 
sageppi  gerichteten  Briefe  redet  „modulazioni  a  quattro  a  sei  e 
otto  chori  reali,  con  istupore  di  tutta  Roma.4'    Urban  VIII.  blieb 


106  Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 

mitten  in  der  Peterskirche  horchend  stehen,  als  Paolo  Agostini 
die  Ungeheuern  Räume  mit  den  Tonmassen  einer  achtundvierzig- 
stimmigen  Messe  füllte,  und  verneigte  sich  endlich  bewundernd 
gegen  den  Meister.  Die  Peterskirche  war  eben  der  rechte  Ort. 
"Will  man  die  oft  hervorgehobene  Analogie  zwischen  Tonkunst 
und  Architectur  gelten  lassen,  so  wird  man  sagen  dürfen,  diese 
Musik  sei  als  Musik,  was  die  Peterskirche  als  Bau  ist 

Welchen  Musiker  fortan  sein  Beruf  in  Rom  an  eine  bedeu- 
tende Stelle  brachte,  hielt  es  für  eine  Art  Ehrenpunkt,  sich 
durch  einige  möglichst  stimmenreiche,  vielchörige  Compositionen 
als  Meister  zu  legitimiren. 

Schon  Tiburzius  Massaini  hatte  dem  Papste  Paul  V  (1605 — 
1621)  Motetten  zu  vier  Chören  gewidmet.  Die  eigentlichen  Ver- 
treter dieser  Richtung  aber  sind  Agostini,  Abbatini,  Benevoli  und 
der  jüngere  Mazzocchi.  Paolo  Afgostini,  der  Meister  jener  von 
Urban  VIII.  bewunderten  Messe,  war  1593  in  Vallerano  geboren, 
Schüler  und  Tochtermann  Bernardino  Nanini's.  Er  begann  seine 
Laufbahn  als  Organist  zu  S.  Maria  in  Trastevere,  wurde  dann 
Kapellmeister  in  S.  Trinita  a  Ponte  Sisto,  dann  in  Lorenzo  in 
Damaso,  und  endlich  1629  Nachfolger  Vincenzo  Ugolini's  als 
Maestro  di  Cappella  in  der  Peterskirche,  starb  aber  schon  im 
September  desselben  Jahres,  nachdem  er  seine  neue  Würde  kaum 
sieben  Monate  bekleidet  hatte.  Antimo  Liberati  sagt  von  ihm: 
„Fu  Paolo  Agostini  uno  de  piü  spiritosi  e  vivaci  ingegni,  che 
abbia  avuto  la  musica  de  nostri  tempi  —  se  non  fosse  mosto  nel 
fiore  della  sua  virilita,  avrebbe  maggiormente  fatto  stupire  tutto 
il  mondo,  e  se  fosse  licito,  si  potria  con  ragion  dire  di  lui:  Con- 
summatus  in  brevi  explevit  tempora  multa."  Sein  Hauptwerk  sind 
Messen  zu  vier,  fünf,  acht-  bis  zu  zwölf  Stimmen,  deren  erstes 
Buch  1624  (und  dann  noch  in  wiederholten  Auflagen)  bei  Roblctti 
in  Rom  gedruckt  wurden.  Das  zweite  und  dritte  Buch  enthält 
Messen  zu  vier  Stimmen,  höchst  meisterhaft  und  kunstvoll  im 
Tonsatze.  Eine  davon  „Benedicam  Domine"  ist  ganz  in  Canons 
gesetzt.  In  der  fünfstimmigen  Messe  über  das  Uexachord  findet 
sich  ein  Agnus  zu  acht  Stimmen  —  den  Grundstamm  bilden  drei 
verbundene  Canons,  die  wieder  sich  mehrfach  gliedern,  der  Sopran 
und  der  Bass  beginnen,  der  erste  entsendet  einen  Canon  in  der 
Unterquint,  der  Bass  einen  Canon  in  der  Oberquint,  und  einen 
zweiten  im  Unison.  Der  dritte  Canon  entwickelt  sich  aus  dem 
Tenor,  und  zwar  wieder  in  zwei  Gestalten,  in  der  Oberseptime 
und  in  der  kleinen  Oberterz.  Trotz  der  angeblichen  „Reform44 
waren  also  die  alten  Künste  nicht  nur  nicht  vergessen,  sondern 
kamen  zu  wo  möglich  gesteigerter  Anwendung.  Nicht  allein  die 
Compositionen  Agostini's  sind  voll  davon,  sondern  fast  alle  wirk- 
lich tüchtigen  Meister  der  Zeit  theilen  wenigstens  im  Kirchenstyl 
diese  Neigung.    Je  flacher  und  leerer  die  weltliche  Musik  wird, 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


107 


um  so  eifriger  sucht  man  die  Traditionen  des  alten  meisterhaften 
Tonsatzes  in  die  Kirchenwerke  hineinzuretten.  Die  Compositionen 
Agostini's  „zu  vier,  sechs  und  acht  realen  Chören",  deren  Antimo 
Liberati  erwähnt,  sind  ungedruckt  geblieben.  Agostini  bedurfte 
zu  ergreifender  und  tiefer  Wirkung  nicht  des  Aufgebotes  vieler 
Stimmen.  Sein  kurzes  vierstimmiges  „Adoramus"  ist  „der  zarteste 
und  heiligste  Engelsgesang44  *),  ein  wahres  Juwel  kirchlicher 
Musik  —  man  meint  Palestrina  wiederzufinden,  aber  schon  deut- 
lich im  Lichte  einer  neuen  Zeit:  fein  vermittelte  Modulationen, 
häufigerer,  wirksamer,  fast  könnte  man  sagen,  pikanter  Gebrauch 
von  Dissonanzen  geben  dem  Satze  doch  eine  sehr  wesentlich 
andere  Physiognomie,  als  jene  des  Palestrinastyls  ist. 

Als  poly chorischer  Componist  ist  zunächst  Antonio  Maria 
Abbatini  (1595 — 1677)  zu  nennen.    Als  tiefgelehrter  Musiker 
war   er   hilfreicher  Mitarbeiter  an  Kircher's  „Musurgia".  Die 
Musikarchive  der  Kirchen  zu  Born,  deren  Chor  er  im  Laufe  seines 
langen  Lebens  leitete:   S.  Giovanni  in  Laterano,  S.  Lorenzo  in 
Damaso,  Gesu  und  St.  Maria  maggiore  —  bewahren  von  ihm 
Messen,  Psalmen  und  Motetten  von  vier  bis  zu  16,  32  und  48 
Stimmen  (drei  sehr  sonderbare  Messen  zu  12  Stimmen  in  der 
Corsiniana),  Antiphonen  für  zwölf  Soprane  und  zwölf  Altos,  des- 
gleichen für  zwölf  Tenore  und  zwölf  Bässe,  welch'  letztere  sein 
Schüler  Domenico  del  Pane  unmittelbar  nach  des  Meisters 
Tode  bei  den  Erben  Mascardi  zu  Korn  im  Drucke  herausgab. 
Messen  Abbatinfs  bis  zu  16  Stimmen  und  derlei  Psalmen  hatte 
Mascardi  schon  früher  (1638,  1650)  gedruckt,  Motetten  von  zwei 
bis   zu  fünf  Stimmen  Grignani\in  Rom  (1638).  —  Der  Einfall 
Abbatini  's,  der  alten  Compositionsweise  „ad  voces  aequales'4  da- 
durch eine  neue  Bedeutung  zu  geben,  dass  er  Antiphonen  für 
ganz  aus  Sopranen  u.  s.  w.  bestehende  Chöre  setzte,  blieb  nicht 
vereinzelt,  Domenico  Allegri  (Römer,  nicht  zu  verwechseln 
mit  dem  berühmteren  Gregorio  Allegri  —  er  war  von  1610  bis 
1 629  Capellmeister  der  liberianischen  Basilica  in  Rom)  componirte 
ähnliches  —  so  ein  Euge  serve  hone  für  12  Tenore,  ein  Beatus 
Ule  servus  für  12  Bässe,  beide  Stücke,  nebst  einer  sechzehnstim- 
migen Messe  in  Santini's  Nachlass.    Kiesewetter's  Sammlung  be- 
sitzt vierchörige  Motetten  von  Fra  Erasmo  di  Bartolo,  ge- 
nannt il  Padre  Raimo  (geb.  1606  zu  Gacta,  wurde  am  14.  Juli 
1656  ein  Opfer  derselben  furchtbaren  Pest,  in  deren  „Beängsti- 
gungen" Orazio  Benevoli  jene  grosse  Messe  schrieb).    Das  war 
noch   ziemlich  bescheiden   gegen  jene  römischen  Messen,  wo 
Stimmenmassen  gegen  Stimmenmassen,  Chöre  gegen  Chöre  stehen; 
wo,  was  sonst  einzelne  Stimme  war,  zur  Chorgruppe  wird,  und 


1)  So  bezeichnet  es  mit  Recht  die  Vorrede  in  Proske's  Mus.  div. 
Tomus  IV,  wo  man  das  Stück,  Seite  312  aufsuchen  möge. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


Sätze  eich  über  Sätze  aufbauen.  Hier  sind  selbst  die  Venezianer, 
wie  Johannes  Gabrieli,  überboten. 

Als  Vollender  des  polychorischen  Kirchenstyls  kann  der 
Römer  Orazio  Benevoli  (1602 — 167,2)  gelten.  Er  war  Schüler 
Vincenzo  Ugolini's  und  somit  Abkömmling  der  grossen  römischen 
Schule.  Seine  Bewunderer  fanden  durch  ihn  Palestrina  über- 
troffen —  was  ihnen  wie  natürlich  Baini  sehr  Übel  nimmt,  welcher 
über  einen  Passus  in  dem  Dialog  „l'Ateista  convinto"  von  Filippo 
Maria  Bonini  in  ganz  unbeschreiblichen  Zorn  geräth.  Es  ist  dort 
auch  die  Rede  eben  von  Orazio  Benevoli,  welchen  der  eine  Inter- 
lacutor  nicht  allein  als  den  biedersten  Mann  („cordialissimo  uomo") 
lobt,  sondern  auch  meint  „non  solo  e  giunto  allo  stile  del  Pales- 
trina ma  di  gran  lungha  l'ha  superato".  Ueber  diesen  Ausspruch 
erstarrt  Baini,  als  habe  man  ihm  das  Haupt  der  Medusa  entgegen 
gehalten.  „Pover*  uomo"  schreit  er  endlich  auf.  Und  nun  geht 
es  über  den  armen  Benevoli  her:  Das  seien  „musiche  confuse, 
ciamorose,  di  membra  sproporzionate ,  prive  totalmente  della  imi- 
tazione  della  natura".  Man  braucht  aber  nur  z.  B.  Benevoli's 
vierchörige  (16  stimmige)  Messe  „Si  Deus  pro  nobis  quis  contra 
nos"  durchzusehen,  um  das  Gegentheil  von  „Confusion,  Geschrei 
und  Missverhältniss  der  Glieder"  zu  finden  (die  „Nachahmung  der 
Natur"  lassen  wir  wie  billig  auf  sich  beruhen).  Weit"  entfernt, 
den  Effekt  in  roher  Häufung  der  Massen  zu  suchen,  lässt  Bene- 
voli's Tonsatz  vielmehr  eine  höchst  sorgsame  und  sinnreiche  Durch- 
bildung erkennen.  Hier  ist  denn  doch  unendlich  mehr  als  das 
blosse  „kleinliche  Streben"  Quinten  und  Octaveu  zu  meiden,  worin 
Kiesewetter  das  ganze  Verdienst  von  eines  Spätlings,  Bellabene's 
acht  und  vierzigstimmiger  Messe  fand.  Mit  sechzehn  Stimmen  zu 
schreiben,  war  für  Benevoli  beinahe  schon  der  „familiäre  Styl"  — 
er  hat  eine  ganze  Zahl  solcher  Messen,  wie  nebst  der  oben  ge- 
nannten: „Si  Deus  pro  nobis",  „in  angustiis  pestilentiae",  „Tira 
corda"  u.  s.  w.,  auch  sechzehnstimmige  (und  selbst  vier  und 
zwanzigstimmige)  Magnificat  u.  s.  w.  An  die  Stelle  der  einzelnen 
Stimme,  Discant,  Alt  u.  s.  w.  tritt  hier  ein  ganzer  selbst  wieder 
aus  Discant,  Alt,  Tenor,  Bass  gebildeter  Chor  —  eine  sechschörige 
Messe  ist  gleichsam  eine  sechsstimmige  Messe,  aber  mit  in  ganze 
Chöre  zerlegten  einzelnen  Stimmen,  oder,  wenn  man  will,  umge- 
kehrt mit  zu  einzelnen  Stimmen  zusammcngefassten  Chören.  Die 
lugirten  Eintritte,  sonst  den  Einzelstimmen  zugetheilt,  erfolgen 
hier,  ganz  folgerichtiger  Weise,  in  ganzen  Chören,  d.  h.  es  tritt 
immer  ein  ganzer  Chor  zugleich  mit  allen  vier  Stimmen  ein,  das 
Motiv  und  die  harmonische  Combination  des  früher  in  ähnlicher 
Weise  eingetretenen  Chores  nachahmend.  Dieses  hindert  selbst- 
verständlich nicht  an  anderen  Stellen  dem  einzelnen  Chore  mit 
seinen  vier  Stimmen  Fugeneintritte  der  älteren  einfachem  Art  zu- 
zutheilen,  oder  statt  vier  Stimmen  acht  und  noch  mehr  einzelne 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


109 


Stimmen  mit  imitatorischen  Eintritten  nach  einander  einzuführen. 
Da  nun  aber  ein  stetes  Durcheinanderarbeiten  und  Durchkreuzen 
aller  oder  doch  sehr  vieler  Stimmen  bald  den  Zuhörer  verwirren 
und  ermüden  müsste,  so  wird  für  lichtere,  durchsichtigere  Stellen 
gesorgt,  sei  es,  dass  einen  Satz  nur  ein  Chor  solo  singt,  im  näch- 
sten Satze  dann  erst  ein  zweiter,  ein  dritter  u.  s.  w.  hinzutritt, 
und  so  Steigerung  und  Milderung  der  Tonstärke  in  mannigfachsten 
Combinationen  wechselt,  sei  es,  dass  der  eine  Chor  in  langen 
Noten,  in  piano  ausgehaltenen  Accorden,  in  einer  Art  choral- 
mässiger  Harmonie  gleichsam  den  einfarbigen  Hintergrund  bildet, 
auf  welchen  ein  zweiter  Chor  ein  feines ,  melodisch  figurirendes 
Stimmengewebe  aufsetzt,  sei  es,  dass  die  Chöre  in  Zurufen,  in 
Rede  und  Gegenrede  wechseln,  dann  wieder  vollkräftig  zusammen- 
treten und  mit  ihren  Tonmassen  nach  jenen  lichteren  milderen 
Stellen  durch  imposante  Kraftentwickelung  erschüttern.  Der  Ton- 
setzer kann  ferner,  da  die  einzelnen  Chöre  nicht  untrennbar  in 
sich  geschlossene  Einheiten  bilden,  stellenweise  aus  den  Gesammt- 
chören  einen  Chor  von  lauter  Sopranen  oder  aus  Sopranen  und 
Altos  herausholen  (so  im  Crucifixus  der  Messe  si  Deus  pro  nobis), 
diesem  hellstimmigen  Chor  kann  er  einen  andern  aus  Tenoren 
oder  aus  Tenoren  und  Bässen  entgegenstellen  —  kurz  er  kann 
Klangfarben  in  den  mannigfaltigsten  Combinationen  mischen,  und 
durch  sie  mächtig  gegen  einander  stellende  Contraste  wirken. 
Benevoli  hat  alles  dieses  in  meisterhafter  Weise  gethan. 

Man  erstaunt,  wenn  man  auf  Stücke  stösst,  wie  Benevoli's 
fugirtes  Kyrie  zu  16  Stimmen  bei  Paolucci,  oder  etwa  auf  eine 
für  zwölf  Soprane  gesetzte  CompoBition,  wie  der  Psalm  Regna 
terrae.  Dieser  ganzen  Richtung,  welche  das  Ungeheuere  in  Per- 
manenz erklärte,  ist  nur  der  Vorwurf  zu  machen,  dass  sie  das 
künstlerische  Maass  aus  den  Augen  verlor  —  und  so  bewunderns- 
werth  ihre  Technik,  so  vielfach  anerkennenswerth  das  von  ihr 
Geleistete  auch  ist  —  sie  muss  am  Ende  doch  als  ein  Symptom 
des  eintretenden  Verfalles,  nicht  aber,  wie  die  enthusiastisch  an- 
erkennenden Zeitgenossen  wähnten,  als  ein  Fortschritt  angesehen 
werden,  oder  gar  als  der  Gipfel  des  Erreichbaren,  wie  Bonini  will. 
Denn  nicht  dasjenige  Kunstwerk  ist  am  Höchsten  zu  stellen,  wel- 
ches den  grössten  Luxus  verschwenderisch  entwickelt,  oder  die 
virtuosenhafte  Geschicklichkeit  des  Künstlers  zur  Hauptsache 
macht,  sondern  dasjenige,  welches  seine  Idee  am  reinsten  und 
klarsten  mit  den  allein  angemessenen  Mitteln  —  nicht  mehr,  nicht 
weniger  als  deren  nöthig  sind,  seien  es  nun  wenige  oder  viele  — 
ausspricht.  Wo  die  Massenwirkung  um  der  Massenwirkung 
willen  in  Bewegung  gesetzt  wird,  giebt  der  Künstler  sich  kein 
besseres  Zeugniss,  als  dass  er  nicht  im  Stande  ist,  mit  Wenigem 
künstlerisch  hauszuhalten  —  das  eigentliche  Leben  des  Kunst- 
werks wird  in  den  meisten  Fällen  von  der  Wucht  der  aufgewen- 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


deten  Mittel  erdrückt, »)  und  der  Künstler  verblüfft  und  betäubt 
uns,  statt  uns  zu  erheben. 5)  Zum  Glücke  hat  Benevoii  gezeigt, 
dass  er  nicht  stets  und  jederzeit  einen  ganzen  musikalischen  Heer- 
bann aufzubieten  brauche,  um  sich  als  Meister  zu  bewähren.  Den 
Uebergang  zu  Maassvollerem  bilden  seine  zwölfstimmigen  Messen 
Solam  exspecto,  Angelus  Domini  u.  s.  w.  —  in  den  achtstimmigen 
in  leclulo,  Paradisi  porta,  decantabal  populus,  sine  nomine  u.  s.  w. 
lässt  er  sich  zu  den  anderen  Meistern  herab.  Nach  der  anderen 
Seite  hin  hat  er  es  freilich  bis  zu  der  berufenen  Messe  für  acht 
und  vierzig  Stimmen  gebracht  und  damit  die  Sache  auf  die  Spitze 
getrieben,  über  welche  sich  wegen  Halsbrechensgefahr  kein  an- 
derer hinauswagen  mochte. 

Eiu  Blick  in  die  Partitur  einer  solchen  Composition  Bene- 
voli's  gewährt  einen  ganz  eigenen  Genuss  und  regt  das  Interesse 
an.  Wie  in  einem  figurenreichen,  aber  meisterlich  gruppirten 
Gemälde  sich  die  Fülle  der  Gestalten  dem  Beschauer  sofort  zu 
Theilgruppen  scheidet,  die  sich  wieder  zu  dem  grossen  Ganzen 
zusammenordnen,  und,  weit  entfernt  den  Blick  zu  verwirren  oder 
den  Eindruck  des  Ueberflillten  zu  macheu,  dem  in  Wahrheit 
überreichen  Ganzen  den  Schein  sogar  der  edeln  Einfachheit  geben 
—  wie  an  einem  in  den  grandiosesten  Massen,  aber  mit  grossem 
Sinne  und  Verständnisse  angelegten  Prachtgebäude  der  fassliche 
Wechsel  stützender  und  getragener,  ornamentreicher  und  einfacher, 
stark  beleuchtet  vortretender  und  schattig  zurückweichender  archi- 
tektonischer Glieder  uns  das  Ungeheuerste  sogleich  commensurabel, 
ja  in  seiner,  endlich  im  letzten  Grunde  auf  einfachen  Prinzipien 
beruhenden  organischen  Construction  begreiflich  macht,  und  jedes 
Einzelne  uns  sofort  in  seiner  Verbindung  mit  dem  Ganzen  und 
im  Zusammenhange  mit  dem  Ganzen,  einleuchtend  wird :  so  ordnen 


1)  In  ähnlichem  Sinn  sagt  Schumann  über  Hector  Berlioz'  „Sinfonie  fan- 
tastiquo.  Die  Riesenideo  wollte  oinen  Ricsenkörper,  dor  Gott  eine  Welt  zum 
Wirken.  Aber  die  Kunst  hat  ihre  Grenzen;  der  Apoll  von  Belvedere,  et- 
liche Schuh  höher,  würde  beleidigen44.  Diese  Stelle  ist  in  dem  Aufsatze 
der  ,.neuen  Zeitschrift  für  Musik*'  3.  Band  N.  I,  9,  10,  11,  12,  13  zu 
finden  —  einem  der  genialsten,  geistvollsten,  hinreissendsten,  welche  Schu- 
mann je  geschrieben.  Eine  wahrhaft  jammervolle  Verstümmelung,  die 
engherzigsten,  aber  eben  darum  höchst  charakteristischen  Zensurstriche 
von  Seiten  der  Herausgeber  musste  er  sich  in  den  gesammelten  Schriften 
gefallen  lassen. 

2)  Ein  lehrreiches  Analogon  gewährt  Giulio  Romano's  berühmtes  Fresko 
der  Sala  de'  giganti  im  Palazzo  del  Te  nächst  Mantua,  wo  die  zwölf  bis 
fünfzehn  Fuss  hohen  Riesengestalten  der  himmelstürmenden  Giganten  ..den 
Beschauer  mit  aufdringlicher  Colossalität  beängstigen",  wie  A.  v.  Zahn 
in  don  Zusätzen  zu  Burckhardt's  ..Cicerone"  (2.  Band  S.  947)  sehr  gut 
sagt.  Dieser  Trieb  und  Drang  nach  dem  Unerhörten,  Ungeheuren  lag  in 
der  Zeit.  Michel  Angelo's  berühmte  Statue  dos  David,  wo  dor  etwa  zwölf- 


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sich  in  Benevoli's  Partituren  die  bewegteren  und  ruhigeren  Ton- 
massen,  die  wohlgruppirten  Motive,  die  Haltetöne  und  Figura- 
tionen,  die  contrapunctisch  verschlungenen  Stellen  und  die  ein- 
fachen AccorcUäulen  zu  einem  reichen,  aber  wahrhaft  schönen, 
künstlerischen  Aufbau,  welcher  selbst  schon  in  der  schriftlichen 
Aufzeichnung  erfreut  und  die  Vorstellung  eines  „Kosmos"  von 
Tönen  gibt,  das  Wort  Kosmos  im  Sinne  der  Griechen  als  wohl- 
geordnetes,  reichgeschmücktcs ,  gesetzmässig  aufgebautes  Ganze 
verstanden.  Wie  sehen  dagegen  z.  B.  jene  Zwölftenor-  und  Zwölf- 
bassantiphonen Domenico  Allegri's  aus,  in  denen  die  Noten  infu- 
sorienartig durcbeinanderwimmeln,  und  in  den  Antworten  und 
Wechscleinsätzen  der  Stimmen  eine  unglaubliche  Zerfahrenheit 
herrscht  —  der  Schein  des  ganz  Willkürlichen  und  Regellosen. 
Es  sind  keine  Gruppen,  es  ist  ein  Haufen  durcheinandersingender 
Menschen ;  dazu  ist  das  Ganze  eine  Prahlerei,  denn  abgesehen  von 
den  wenigen  Stellen,  wo  alle  zwölf  Stimmen  zusammen  kommen 
(wo  freilich  einer  dem  andern  auf  die  Füsse  tritt),  pausirt  immer 
eine  beträchtliche  Anzahl  von  Stimmen,  und  dieselbe  Wirkung 
wäre  mit  viel  geringerem  Aufwand  zu  erzielen. 

Aber  auch  Benevoli  selbst  geräth  zuweilen  durch  sein  herbei- 
gerufenes Stimmenheer  in's  Gedränge.  Von  feinen  Contouren, 
von  durchsichtig  durchgeführten  Imitationen  u.  s.  w.  ist  dann 
keine  Rede  —  Massen  stossen  auf  Massen,  ungeheure  Accorde 
wechseln  mit  bunter  Figuration,  mit  langen  Coloraturpassagen, 
die  harmonischen  Feinheiten  der  älteren  Meister  würden  von  den 
durcheinandersingenden  Stimmen  erdrückt  —  an  ihrer  statt  müssen 
also  einige  wenige,  energisch  hervortretende  Harmonieformeln  ge- 
nügen —  der  Glanz  der  Instrumente,  welche  mit  den  Menschen- 
stimmen wetteifernd  (in  concerto)  die  Motive,  Passagen,  Coloraturen 
nachahmen,  gestaltet  vollends  das  Ganze  zu  einem  Ungeheuern 
musikalischen  Pracht-  und  Decorationsstück,  welches  aber  dann 
auch  nicht  viel  mehr  bedeutet,  als  dass  es  eben  ein  Pracht-  und 
Decorationsstück  ist.  Die  Motive  sind  dann  unbedeutend,  oft  der 
Bearbeitung  nicht  werth,  sie  werden  aber  auch  nicht  bearbeitet, 
Tonfülle  und  Glanz  müssen  die  feiuerc  Detailarbcit  ersetzen.  Unter 
solchen  Umständen  gerathen  die  einzelnen  Tonsätze  verhältniss- 
mässig  kurz,  der  Componist  wird  mit  dem,  was  er  zu  sagen  hat, 
bald  fertig,  und  das  bestürmte  Ohr  des  Hörers  braucht  eben  auch 
Schonung.  Es  ist  etwas  falsch  Prächtiges,  eine  mit  Keulen  da- 
reinschlagende Grossartigkeit  —  man  denkt  unwillkürlich  an  die 
gleichzeitigen  Riesenbilder  in  Riesenkirchen,  die  von  Figuren 
wimmeln,  und  eben  so  grossprahlerisch  und  eben  so  leer  sind,  wie 
diese  Musik. 

Die  ganze  Färbung  des  Tonwerkes  nimmt  etwas  sehr  Modernes 
an  —  erinnert  man  sich,  dass  fünfzig  Jahre  früher  noch  der 
Palestrinastyl  in  voller  Blüte  stand,  so  muss  man  über  die  Wand- 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


luüg,  welche  sich  auch  auf  dem  Gebiete  der  Kirchenmusik  voll- 
zogen, erstaunen.  Die  Melodie  hat  eben  auch  nicht  mehr  den 
edel-einfachen,  grossen  Zug  der  Melodie  Palestrina's,  sie  ist  mul- 
tiplicirte  Kleinheit,  ein  buntes  Figuren-  und  iiäckelwerk,  die  klei- 
nen Notengeltungen  wimmeln  amcisenhaft  auf  dem  Riesenfolio  der 
Partitur  herum.  Benevoirs  Styl  lässt  sich  nicht  in  e  i  n  Gesammt- 
bild  zusammenfassen,  so  wenig  wie  der  Styl  jener  Meister  der 
bildenden  Kunst,  bei  welchen  man  von  einer  „Maniera  prima, 
seconda"  u.  s.  w.  spricht.  Seine  Kunst  blickt  mit  einem  Janus- 
kopf  zurück  nach  der  eben  abgelaufenen,  grossen  Kunstzeit  und 
vorwärts  nach  der  herankommenden  neuen  Epoche. 

Das  Glanzstück  Benevoli'scher  „Zukunftsmusik"  ist  die  Messe, 
welche  er  für  die  am  24.  September  1628  gefeierte  Einweihung 
des  neu  erbauten  Domes  in  Salzburg  componirte.  Dass  die  Messe 
eigens  für  diese  Gelegenheit  geschrieben  wurde,  zeigt  eine  dem 
Agnus  Dei  folgende  Hymne  mit  dem  Text:  ,,Plaudite  Tympana 

—  Fides  accinite  —  Choro  et  jubilo  —  Applaude  patria  —  Ru- 
pertum  *)  celebra  —  Clangite  claasica  —  Voces  applaudite  — 
Pastori  maximo  (Mittelsatz)  —  Felix  dies  ter  amoena  —  Dies 
voluptatura  plena  —  Qua  Rupertum  celebramus  —  Qua  patro- 
num  honoramus  —  Dies  fclicissima  —  In  Angelorum  millibus  — 
In  Beatorum  plausibus  —  Triumphat  alta  mens  —  Gaude  vive 
Salisburgum  —  Magno  patri  ter  applaude  —  Rupertum  celebra 

—  Pastori  jubila"  -  (Wiederholung:  Plaudite  Tympana  u.  s.  w.) 

Diese  offenbar  aus  einer  „geistlichen"  Feder  geflossenen,  ei- 
gentlich inhaltlosen  Verse,  boten  dem  Tonsetzer  ein  genügend 
weites  Feld,  um  den  vollsten  Festjubel  anzustimmen  „ertönt  ihr 
Pauken,  klingt  darein  Saiten,  im  Chor  und  in  Jauchzen"  —  das 
Alles  hat  Benevoli  endlich  in  Bewegung  gesetzt.  Ganz  energische 
Motive  tauchen  auf,  wie: 


-  I— . 


in  An  -  ge  -  lo  -  rum      mil  -  li-bus,  in 


— 


I 


(Be  -  a  -  to-rum   plau-  si  -  bus 


i)  S.  Rupert  ist  Salzburgs  Patron. 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


113 


In  den  Sturm  der  Menschenstimmen  geigt  und  paukt  und 
flötet  und  trompetet  das  Orchester  nach  Herzenslust  hinein  und 
brausen  zwei  Orgeln.  In  den  imposanten,  riesenhaften  Hallen 
des  Domes  mag  die  Wirkung  auf  die  Hörer  wohl  eine  überwäl- 
tigende  gewesen  sein.  Eine  Musik  dieses  Styls  hatte  bis  dahin 
noch  niemand  gehört,  niemand  geahnt.  Selbst  wir  werden  uns 
mitunter  an  den  Donnerschritt  Händel'scher  Chöre  gemahnt 
finden,  an  welche  dieser  Musikstyl  wirklich  stellenweise  in  merk- 
würdiger Weise  anklingt.  Ohne  Zweifel  hatte  der  Erzbischof  von 
Salzburg  die  Festmesse  und  Festmusik  bei  dem  berühmten  Meister 
bestellt,  wahrend  er  in  Wien  verweilte.  Man  merkt  auch,  dass 
ihn  das  „fertigwerden  zu  rechter  Zeit"  gedrängt  hat  —  gegen 
den  Schluss  der  Messe  hin  werden  die  Sätze  flüchtiger,  kürzer 
—  ein  kurzes  „Agnus"  (statt  der  herkömmlichen  drei)  bildet  den 
Schluss.  Benevoli  scheint  aber  auf  das  Werk  Werth  gelegt  zu 
haben,  er  nahm  die  Stimmhefte  nach  Koni  mit,  wo  sie  sich  in 
der  Corsiniana  befinden.  Die  Partitur  im  Autograph  des  Com- 
ponisten  blieb  in  Salzburg  und  ist  jetzt  Eigenthum  des  Mozar- 
teums. In  54  Notensystemen  bauet  sich  die  Composition  auf  — 
fast  könnte  man  von  diesem  Notenbuch  sagen,  was  Ammianus 
Marcellinus  vom  flavischen  Amphitheater  sagt:  „Des  Menschen 
Blick  vermag  kaum  seine  Höhe  zu  erreichen".  Die  Disposition 
ist  folgende: 

Otto  voci  in  Concerto. 


Choro 


Choro  2. 


Organo 


(mit  Bezifferung) 


VI  Viol. 


2  Hautbois. 


Choro  3. 


Ambro 


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114 


Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


Mit  wio  gerade  wenig  Mitteln  übrigens  Benevoli  das  Schönste 
zu  leisten  vermochte,  beweisen  seine  auf  wenige  Stimmen  redu- 
zirten  Sätze,  wie  das  vierstimmige  Christe  der  ( 1  Gstimmigen)  Messe 
„iu  diluvio  multarum  aquarum"  —  ein  überaus  merkwürdiges  Stück, 
streng  polyphon,  fugirt,  aber  in  Melodiefiihrung,  Harmonie  und 
Modulationen,  in  Takt  und  Rhythmus  schon  den  Sieg  einer  neuen 
Zeit  verkündend,  völlig  „modern",  dabei  von  sehr  zartem,  innigem 
Ausdruck,  man  kann  sagen:  entschieden  sentimental.  Palestrina- 
styl  ist  das  nicht  mehr,  obwohl  Benevoli  als  Zögling  Bernardio 
Nanini's  der  Schule  angehörte.  In  einen  der  „Kirchentöne14  lässt 
sich  das  Stück  auch  nicht  mehr  registrircn;  es  müsste  denn  der 
„jonische"  sein. 

Eine  bedeutende  Anzahl  von  Benevoli's  Werken  bewahrt  die 
Bibliothek  im  Palazzo  Corsini  zu  Rom  —  leider  zum  Theile  in 
kläglich  fragmentarischem  Zustande.  Drei  Messen  „in  diluvio 
uquarum  multarum,  Missa  Tiracorda  und  Si  Deus  pro  nobis"  alle 
drei  zu  16  Stimmen  tragen  keine  Namensbezeichnung,  da  aber 
die  erste  und  die  dritte  notorisch  dem  Benevoli  gehört,  so  ist 
wohl  kein  Grund  da  für  die  Messe  Tiracorda  einen  andern  Autor 
zu  suchen  (es  sind  nur  drei  Hefte  übrig:  Altus  secundi  Chori, 
Cantus  und  Altus  Tertii  Chori).  Eine  zweite  Sammlung  sechs- 
zehnstimmiger  Messen,  der  eben  erwähnten  ganz  ähnlich  ausge- 
stattet (nur  noch  der  Tenor  Tertii  Chori  und  der  Altus  quarti 
Chori  vorhanden)  enthält  drei  Messen:  sine  Nomine,  Benevola  und 
Tu  es  Petrus.  Die  Anspielung  auf  deu  Namen  des  Componisten 
in  der  zweiten  Messe  lässt  wohl  über  dessen  Person  keinen  Zwei- 
fel. Auch  genügen  selbst  diese  Trümmer,  um  Benevoli's  Styl 
deutlich  erkennen  zu  lassen.  Ausserdem  besitzt  die  Corsiniana 
die  Missa  in  angustiis  pcstilentiae,  die  Missa  in  lectulo  für  zwei 
Chöre,  die  mannigfach  nach  der  in  den  mehrchörigen  Messen 
Benevoli's  vorkommenden,  bei  den  früheren  Componisten  nicht 
gebräuchlichen  Weise  in  einander  übergreifen,  wie  denn  z.  B.  im 
Benedictas  Sopran  und  Alt  des  ersten  Chores  mit  Tenor  und  Bass 
des  zweiten  verbuuden  werden  (nach  Chiti's  Angabe  ist  diese  Messe 
im  Jahre  16ÜG  componirt),  —  endlich  eine  dreichörige  Messe 
„Angelus  Domini"  in  mixolydischen  Modus  mit  sehr  bewegten 
Stellen,  und  in  weniger  strengen  Style  als  Benevoli's  übrige  Mes- 
sen. Ein  Benedictus  kömmt  nicht  vor,  wie  auch  sonst  in  den 
vielchörigen  Messen  des  Meisters;  es  scheint  Raum  für  eine  freie 
Einlage  gelassen.  Jene  zwölfstimmige  Messe  Angelus  Domini  fin- 
det sich  auch  unter  den  Musikschätzen  des  Sacro  Convento  zu 
Assisi.  Kiesewetter's  Sammlung  bewahrt  die  Messen  in  angustiis 
pcstilentiae  und  in  lectulo,  Fetis  besitzt  die  Messe  ,.si  Deus  pro 
nobis"  von  der  sich  auch  eine  alte  handschriftliche,  in  Rom  er- 
worbene Partitur  im  Besitz  des  P.  Haberl  befindet. 

Kiesewetter,  der  nicht  leicht  aus  der  maassvollen  Ruhe  seiner 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


115 


Darstellung  zu  bringen  ist,  spricht  von  Benevoli  mit  (verdienter) 
Bewunderung  —  ihm  gebühre  in  jener  Epoche  die  Palme,  seine 
vielchörigen  Compositionen  werden  noch  die  Bewunderung  spater 
Jahrhunderte  sein,  nur  ein  Carissimi  habe  ihm  den  Rang  eines 
Mannes  der  Epoche  streitig  machen  können. 

Wir  können  die  Besprechung  der  Werke  und  Verdienste 
Benevoli's  nicht  besser  schliessen,  als  mit  der  geistreichen  und 
treffenden  Characterisirung,  welche  Antimo  Liberati  in  dem  Briefe 
an  Ovidio  Persageppi  von  ihm  macht:  „Horatio  Benevoli,  il  qüale 
avangando,  il  proprio  maestro,  e  tutti  gli  altri  viventi  nel  modo 
di  harmonizare  quattro,  sei  Chori  reali,  e  con  lo  sbattimento  di 
quelli,  e  con  l'ordine,  e  con  le  fughe  rivoltate,  e  con  i  contra- 
ppunti  dilettevoli,  e  con  la  novita  de  roversi,  e  con  le  legature  e 
scoglimento  di  esse  maraviglioso ,  e  con  l'accordo  del  circolo  im 
pensato,  e  con  le  guiste  e  perfette  relazioni,  e  con  la  leggiadria 
delle  consonanze  e  dissonanze  ben  collocate,  e  con  l'ugualianza 
della  tessitura,  e  col  portamento  sempre  piü  fluido,  ampolloso  a 
guisa  del  fiume  che  crescil  eundo,  ed  in  Somma  con  la  sua  mira- 
bilissima  quanto  decorosa  harmonia".     Wer  solches  und  derglei- 
chen  geleistet,  zählt  ohne  Frage  zu  den  Grössten  aller  Zeiten. 
Man  nennt  Benevoli  aber  fast  nur  als  den  Tonsetzer  von  Kirchen- 
stücken, zu  deren  Ausführung  es  eines  Sängerheeres  bedarf,  und 
damit  gerade  war  eben  Benevoli  selbst  seinem  verdienten  Ruhme, 
der  sonst  ganz  anders  klingen  müsste,  im  Wege  („ut  cam  magni- 
tudine  laboret  sua",  wie  Ligius  von  Rom  sagt).    Benevoli  hatte 
aber  doch  schon  bei  Leibesleben  Ruf,  er  führte  ihn  1643 — 1645 
nach  Wien,  früher  war  er  Capellmeister  bei  S.  Luigi  de  Francesi 
in  Rom,  seit  1646  Capellmeister  in  S.  Maria  maggiore,  dann  bis 
zu  seinem  Tode  (am  17.  Juni  1672)  Capellmeister  der  vaticani- 
schen  Capelle.    Es  sind  immer  dieselben  römischen  Kirchen,  durch 
welche  die  grossen  Meister  ihren  Lauf  nehmen,  wie  die  Sonne 
durch  die  Himmelszeichen.     Sein  Ruhm  und  sein  vortrefflicher 
persönlicher  Charakter  bewahrten  ihn  nicht  davor,  sein  Leben  in 
sehr  beschränkten  Verhältnissen  (A.  Liberati  sagt  geradezu  „poverta") 
hinbringen  zu  müssen,  in  dieser  Hinsicht  weniger  glücklich  als 
Palestrina.    Er  ist  in  S.  Spirito  di  Sassia  (nicht  weit  vom  Vati- 
can)  begraben. 

Zur  Aufführung  der  vielchörigen  Compositionen  bedurfte  es 
begreiflicher  Weise,  nebst  einem  gewaltigen  Aufgebot  an  Sängern, 
auch  grossräuraiger  Kirchen  —  in  Rom,  auf  welches  sich  dieser 
musikalische  Landsturm  (wie  Kiesewetter  scherzend  sagt)  eigent- 
lich beschränkt,  waren  dafür  S.  Maria  sopra  Minerva  und  die 
Peterskircbe  die  auserlesenen  Orte.  Die  ungeheuren  Dimensionen 
der  vaticanischen  Basilica  und  der  gewaltige  Innenraum  ihrer 
Kuppel  gaben  Virgilio  Mazzocchi  (aus  Civita  Castellana, 
seit  1628  Maestro  di  Cappella  im  Lateran,  seit  1629  bei  S.  Peter 

8» 


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116 


Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


—  gest.  1646)  Gelegenheit  zu  einer  originellen  und  ohne  Zwei- 
fel sehr  wirksamen  Musikaufftihrung.  Er  vertheilte  nämlich  die 
Chöre  einer  von  ihm  componirten  Musik  so,  dass  einige  auf  ebe- 
nem Boden,  andere  auf  der  den  unteren  Rand  des  Kuppel-Tam- 
bours einfassenden  Gallerie,  andere  wieder  in  schwindelnder  Höhe 
auf  der  Gallerie  in  der  Lanterna  aufgestellt  waren.  Wie  nun  die 
Chöre  durch  gewaltige  Entfernungen  auseinandergehalten,  einan- 
der im  Echo  antworteten,  mag  die  Wirkung  allerdings  zauberhaft 
gewesen  sein  —  und  die  in  letzter,  weitester  Ferne  wie  ein  ver- 
wehender Nachhall  herabtönenden  Antworten  des  zu  höchst  auf- 
gestellten Chores  mögen  geradezu  etwas  Geisterhaftes  gehabt 
haben  !).  Die  Peterskirche,  welche  von  aussen  bei  der  Oster- 
beleuchtung  zum  gigantischen  Illuminationsgerüste  wird  2),  musste 
ihr  Inneres  hier  wiederum  zur  gigantischen  Sängertribune  her- 
leihen. Dergleichen  war  nur  in  Rom  und  nur  in  der  Peterskirche 
möglich,  und  nur  dort  verlor  es  das  bedenklich  Spielende,  was 
eigentlich  darin  lag  —  „steht  nun  einmal  das  Erhabene  wirklich 
da,  so  verschlingt  und  vertilgt  es  eben  seiner  Natur  nach  alle 
kleinen  Zierden  um  sich  her"  lässt  Jean  Paul  seinen  Don  Gas- 
pard,  eben  von  der  Peterskirche,  sagen  3).  Im  Grunde  lag  in 
Mazzocchi's  Einfall  doch  etwas  Unkünstlerisches,  oder  mindestens 
war  der  Schwerpunkt  in  etwas  Aussermusikalisches  gelegt. 

Pietro  della  Valle  erzählt  von  einer  im  Collegio  romano  auf- 
geführten sechschörigen  Musik  des  jüngeren  Mazzocchi  (Virgilio's), 
die  er  wegen  reicher  Abwechslung  der  glänzendsten  Effekte  höch- 
lich preist  4).  Eine  der  letzten  Arbeiten  Virgilio's,  die  dann  (1648) 
bei  Grignani  in  Rom  gedruckt  wurde,  waren  Vcsperpsalmen  für 
zwei  Chöre,  Domenico  brachte  1629  Motetten  zu  neun  Stimmen 
und  1638  die  lateinischen  Poesiecn  Urban  des  achten  von  zwei 


1)  Pietro  della  Valle  sagt  in  seinem  Sendschreiben  an  Lelio  Gui- 
diccioni:  „non  ebbi  fortuna  ai  sentire  un  anno  qael  gran  musicone,  che 
il  medesimo  Mazzocchi  fece  in  S.  Pietro,  non  so  se  a  dodici  o  a  sedici 
<'ori  con  un  coro  di  eeo  fino  in  eima  aila  cupola,  che  int  endo,  che  nell 
ampiezza  di  quel  vasto  tempio  fece  ofFetti  maravigliosi".  (Siehe  G.  L.  Doni 
Opp.  II.  8.  260.) 

2)  Oder  war.  Ich  habo  es  am  Osterfeste  1868  noch  gesehen.  Dasa 
Goethe  von  dem  Anblick,  der  ihm  wie  ein  „ungeheures  Märchon1*  erschien, 
entzückt  war,  wird  man  aus  seiner  italienischen  Reise  wohl  in  Erinnerung 
haben. 

3)  Titan  IV.  27. 

4)  Se  a  caso  V.  S.  si  ritrovö  Taltro  giorno  nel  Collegio  Romano  a 
quella  nobilissima  musica  a  sei  cori  composta  dal  piü  giovaue  Mazzocchi. 
a  vora  inteso  in  essa  e  stile  madrigalesco  con  vaghezze  e  leggiadrie,  e 
stile  da  Motetti  con  gravita  e  imitazioni  ben  fatte  di  arie  diverse  antiche 
e  moderne,  e  recitativi  spiritosi  di  buon  garbo,  e  bizzarie  di  Trombe,  di 
Tamburi,  di  Botnbarde,  di  Battaglie,  di  serra,  serra,  che  io  per  me  non 
sö,  che  si  poaaa  dosiderare  di  piü  varietä,  e  di  piü  galante.  (Sendschrei- 
ben an  Lelio  Guidiccioni.) 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


117 


bis  zu  acht  Stimmen  gesetzt,  wo  dann  freilich  noch  viel  bis  zu 
den  48  Stimmen  der  Agostini  und  Benevoli  fehlt.  Kiesewetter's 
Sammlung  besitzt  von  Virgilio  ein  „Amen"  zu  zehn  Stimmen 
(aus  den  Vesperpsalmen),  von  Domenico  ftinfstimmige  Madrigale. 
Virgilio  Mazzocchi  und  sein  älterer  Bruder  Doraenico  sind  tüch- 
tige Contrapunctisten  im  älteren  Sinn,  und  dabei  den  neuen  Mu- 
sikreformen ihrer  Zeit  mit  Antheil  zugewendet,  ja  sie  suchten 
auch  in  ihre  geistliche  Musik  mancherlei  Neues  zu  bringen.  Vir- 
gilio wurde  als  „lieblicher  und  glänzender"  Componist  und  zudem 
wegen  rhythmischen  Reformen  gepriesen,  und  von  Domenico  möge 
erwähnt  werden,  dass  er  —  der  erste  —  das  Schwellen  und 
Abnehmen  der  Stimme  mit  dem  Zeichen  1  "ZZ.  aus- 
drücklich vorschrieb.  Ein  Werk  Domenico's  im  neuen  Styl, 
welches  durch  den  Vortrag  des  Sängers  Vittorio  Loreto  in  Rom 
ganz  ausserordentlichen  Eindruck  machte,  und  dessen  Gegenstand 
die  reuige  Magdalena  war,  kennen  wir  nur  aus  einem  in  Kircher's 
Musurgia  erhaltenen  Bruchstück,  und  aus  der  höchst  enthusiasti- 
schen Schilderung  des  Erythräus,  welche  indessen  vor  Allem 
nur  dem  Sänger  und  seinem  Vortrage  gilt.  Aus  einem  Briefe 
des  Erythräus  vom  Jahre  1634  kommt  hervor,  dass  er  selbst 
der  Verfasser  dieser  „geistlichen  Tragödie"  —  wie  er  sie  nennt 
—  gewesen  i).  Es  war  ein  in  declamatorischem  Gesang  vorzu- 
tragendes Monodram,  von  der  Art  wie  Monteverde's  Pianto  della 
Madonna. 

Messen  zu  vier  Chören  componirte  Abundio  Antonelli, 
Capellmeister  der  Kathedrale  in  Benevent,  von  wo  er  1608  die 
Berufung  an  die  lateranische  Basilica  in  Rom  erhielt  —  ein  tüch- 
tiger Tonsetzer  —  der  gelegentlich  auch  schon  in  der  Weise 
Giov.  Gabrieli's  begleitende  Instrumente  heranzieht,  so  zu  einem 
achtstimmigen  „Abraham  tolle  Ii  Ii  um  tuum"  und  zu  einem  zwölf- 
stimmigen „Dixerunt  impii".  Er  hat  aber  auch  Vieles  für  nur  drei 
oder  zwei  Stimmen  componirt  —  die  Bibl.  Altaemps  in  Coli.  rom. 
besitzt  viele  Werke  von  ihm.  2) 

Der  letzte,  späte  Nachzügler  dieser  ganzen  Richtung,  der 
Römer  Gregorio  Bai  laben«,  gehört  erst  der  zweiten  Hälfte 


1)  Jani  Nicü  Erythraei  Pinacotheca  (Victorius  Loretus)  und  Epist. 
ad  divers.  IV.  16.  Wir  kommen  auf  das  Werk  späterhin  zurück.  Ervth- 
r&us  redet  sogar  in  der  vielfachen  Zahl  von  „heiligen  Tragödien",  welche 
er  gedichtet.  Mazzocchi  componirt  habe. 

2)  Abraham  tolle  filium  (a  8).  Benedictus  es  Domine  (a  3).  Füiae 
Jerusalem  (duo  S.  u.  a.).  Dixerunt  impii  (a  12).  Gande  virgo  (4  voci 
concert)  in  coelestibus  regnis  (2  A.)  in  velamento  claroabant  (S.  u.  2  T.) 
justus  si  morte  (5  v.).  Lux  perpetua  (2  Stimmen  —  Echostück)  o  crucis 
victoria  (3  S.  u.  T.)  o  gloriosa  Domina  (5  v.)  o  Jesu  cordis  mei  thesaurus 
(4  v.)  quem  vidistis  pastores  (6  v.).  Sancti  tui  Domine  (2  8.).  Spiritus 
et  aniinae  (2  T.). 


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118  Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


des  18.  Säculums  an  —  ein  16  stimmiges  Dixit,  eine  Messe  zu 
zwölf  Chören  mit  48  Stimmen  —  letztere  wurde  1774  in  Rom  mit 
zweifelhaftem  Erfolg  aufgeführt  (diese  Arbeiten  kamen  später  in 
Santini's  Sammlung). 

An  diese  colossale  Art  zu  componiren  hingen  sich  aber  Con- 
sequenzen  von  grösster  Wichtigkeit  für  die  weitere  Entwickelung 
der  Tonkunst.  Diese  zweiunddreissigstimmigen  u.  s.  w.  Messen 
kamen  und  verschwanden,  da  sie  dann  am  Ende  doch  nur  unter 
ganz  besondern  Bedingungen  und  mit  enormen  Aufwand  an 
Kräften  (auch  wohl  an  Geld!)  aufzuführen  waren.  Für  uns  stehen 
sie  wie  Riesengebilde  einer  paläontologischen  Epoche  da.  Aber 
aus  ihnen  zumeist  oder  wenigstens  aus  Compositionen  ähnlichen 
Aufwandes  gingen  zwei  Dinge  hervor:  der  Generalbass  und 
das  Princip  der  Verdoppelung  einer  Stimme  durch  die 
0  ctave. 

Wenn  eine  Anzahl  von  Chören  zusammensang,  deren  jeder 
seinen  eigenen  stützenden  Bass  hatte,  deren  jeder  so  ziemlich 
nur  sich,  nicht  aber  die  Nachbarchöre,  zumal  die  nach  Lokalbe- 
dürfnissen entfernter  aufgestellten  hörte,  so  war  es,  sollte  nicht 
die  Intonation  binnen  kurzem  in  ein  förmliches  Chaos  hereinge- 
rathen,  ganz  unentbehrlich,  dass  ihnen  allen  ein  unverrückbares 
Fundament  als  Stütze  gegeben  werde  —  ein  „Bass  für  Alle" 
(Bassus  generalis),  ein  Bass,  der  unausgesetzt  fortging  (Bassus 
continuus)  und  Rechenschaft  von  den  letzten  harmonischen  Grün- 
den des  ungeheuren  Ganzen  gab.  Dieser  Bass  durfte  nicht  ein- 
fach identisch  mit  den  Singebaas  des  ersten  oder  zweiten  oder 
dritten  Chores  sein,  wer  ihn  zu  Papier  brachte,  musste  alle  ein- 
zelnen Bassparts  der  einzelnen  Chöre  vor  Augen  haben  und  sei- 
nen Generalbass  nach  deren  jeweilig  tiefsten  Noten  zusammen- 
schreiben, ob  nun  diese  im  „Basso  del  coro  primo"  oder  „del 
secondi"  u.  s.  w.  standen.  Natürlich  konnte  dieser  Haupt-  und 
Grundbass  nicht  wieder  Menschenstimmen  anvertraut  werden, 
welche  die  Gefahr  der  Intonationsschwankung  mit  den  Uebrigen 
getheilt  haben  würden.  Es  musste  ihn  vielmehr  ein  Organ  von 
unfehlbarer  Tonsicherheit  ausführen,  ferner  aber  ein  Organ,  ge- 
eignet durch  mächtige  Klangstärke  durch  den  ganzen  Sturm  von 
Menschenstimmen  hindurchzutönen  und  von  jedem  einzelnen 
Chor  deutlich  gehört  zu  werden.  —  Das  konnten  Bassgeigen  sein, 
Posaunen,  —  besser  als  alles  andere  die  Orgel  mit  den  Bass- 
tönen ihrer  Manuale,  mit  ihren  gewaltigen  Pedaltönen. 

Die  ganze  Masse  der  auf  jedem  Grundton  aufgebauten  Noteu 
Hess  sich  aber  endlich  bei  dem  ruhigen  harmonischen  Gange  des 
in  der  Hauptsache  noch  immer  wesentlich  diatonischen  Satzes  auf 
eine  durch  wenige  Intervalle  zu  bezeichnende  Formel  zurück- 
führen, abkürzend  statt  der  Terz  die  Ziffer  3,  statt  der  Sexte  die 
Ziffer  6  u.  s.  w.  zu  schreiben,  konnte  nur  sehr  bequem  scheinen  — 


Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


119 


so  drängte  also  jene  Ueb erfülle  von  Stimmen  von  der  andern 
Seite  her  zu  demselben  Ziele,  zu  dem  die  Oeconomie,  welche  sich 
wie  in  Lodovico  Viadana's  Kirchenconcerten  mit  wenigen  Stimmen, 
wohl  gar  mit  einer  einzigen  Singstimme  begnügen  wollte,  hinführte, 
und  die  Musik  langte  von  zwei  einander  entgegengesetzten  Seiten 
beim  bezifferten  Generalbasse  an.  Wirklich  wird  fortan  auch  den 
Compositionen  im  Capellenstylc  ein  „Basso  per  l'organo",  eine  be- 
zifferte Orgelstimme  beigegeben,  selbst  wenn  sie  nur  drei-  oder 
vierstimmig  sind.  *)  Eine  andere  wichtige  Erfahrung,  welche  man 
an  den  vielchörigen  Compositionen  machte,  oder  auch  an  anderen, 
wenn  man  die  Singstimmen  von  Instrumenten  begleiten  Hess,  war, 
dass  man  eine  Stimme  in  der  Octave  „verdoppeln"  könne  — 
z.  B.  die  Flöte  mit  dem  ersten  Sopran  um  eine  Octave  höher  mit- 
gehen lassen  —  ohne  sich  damit  fehlerhafter  Octavparallelen 
schuldig  gemacht  zu  haben.  Der  Gedanke,  dass  jede  einzelne 
Stimme  ihren  eigenen  Weg  unabhängig  von  den  Übrigen  gehen 
müsse,  hatte  sich  unaustilgbar  festgesetzt,  die  Furcht  vor  dem 
Octavenverbot  war  so  gross,  dass  man  anfangs  dasjenige,  was  blosse 
Verdoppelung  war,  als  parallele  Octaven  ansah,  denen  zu  Liebe 
man  aber  einen  Ausnahmsfall  statuirte,  und  sie  erlaubte.  Im 
Syntagma  des  Prätorius  findet  sich  aber  schon  ein  bedeutender 
und  treffender  Ausspruch:  „Octavae  in  omnibus  vocibus  tolerari 
possunt,  quando  una  vox  cantat,  altera  sonat."2)  Hier  ist 
der  Unterschied  zwischen  der  realen  Octave,  die  singt,  und  der 
blos  verdoppelnden,  welche  mitklingt,  so  deutlich  als  möglich 
ausgesprochen.  Zuerst,  scheint  es,  machte  man  an  den  Bässen 
die  Erfahrung,  dass  es  für  die  Gesammtwirkung  äusserst  vortheil- 
haft  sei,  bei  jenen  Stellen,  wo  die  Chöre  im  Tutti  zusammen- 
kommen, die  Bässe  sämmtlich  in  ein  Unisono  zusammenzufassen, 
weil,  hätte  jeder  Chor  seinen  selbständigen  Bass,  das  eigentliche 
harmonische  Fundament  des  ganzen  Zusammenklanges  an  Deut- 
lichkeit verlöre.  Drei  vierstimmige  Chöre  repräsentirten  z.  B. 
zwölf  reale  Stimmen,  traten  im  Tutti  die  Bässe  zusammen,  so  hörte 


1)  Prätorius  (Syntagma  III.  S.  124)  sagt:  „Der  Bassus  generalis  seu 
continuus  wird  daher  also  genennet,  weil  er  sich  vom  Anfang  bis  zum 
Ende  continuiret.  und  als  eine  General-Stimme,  die  ganze  Motet  oder 
Concert  in  sich  begreinet.  Wie  dann  solches  in  Italia  gar  gemein  und 
sonderlich  jetzo  von  dem  trefflichen  Musico  Ludovico  Yiadana,  novae  in- 
ventionis  primario,  als  er  die  Art  mit  einer,  zween,  dreyen  oder  vier 
Stimmen  allein  in  eine  Orgel.  Regal  oder  ander  dergleichen  Fundament- 
Instrument  zu  singen  erfunden,  an  den  Tag  bracht  und  in  Druck  auss- 
gangen ist;  do  dann  noth wendig  ein  solcher  Bassus  generalis  und  con- 
tinuus pro  Organödo  vel  Cytharödo  etc.  tanquam  fundamentum  vorhanden 
sein  muss.  Von  etlichen  wird  der  Bassus  continuus  gar  accomode  GVIDA. 
hoc  est  Dux,  ein  Führer,  Gleitsmann  oder  Wegweiser  genennet.44 

2)  Synt.  III  92. 


120  Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


man  thatsächlich  um  zwei  weniger,  nämlich  zehn  —  dafür  aber 
die  vereinigten  drei  Bässe  um  so  kräftiger.  Schon  Artusi  in 
seiner  „Arte  del  contrappunto"  (1586  und  zweiter  Theil  1589) 
spricht  über  diesen  Punkt  —  „bassus  alit  voces,  ingrassat,  fundat 
et  äuget"  sagt  er  zum  Schlüsse.  Auch  Michael  Prätorius  bemerkt, 
er  habe  in  seinen  Compositionen  „aus  hochbedenklichen  Ursachen 
und  wichtigen  Rationibus  die  Discaut,  sonderlichen  aber  die  Bässe, 
wenn  die  Chor  zusammenkommen,  in  Unisono  gesetzet."  Die 
„hochbedenklichen  Ursachen"  waren  rücksichtlich  der  Bässe  die 
eben  erwähnten,  rücksichtlich  der  Soprane  aber  lagen  sie  in  ana- 
loger Weise  in  der  Wahrnehmung,  dass  die  Discant,  als  Ober- 
stimme zumeist  sich  dem  Ohr  bemerkbar  machen,  und  bei  Kreu- 
zungen derselben  der  eigentliche  melodische  Ductus  sich  leicht 
verwischt.  Der  Organist  an  der  Kirche  S.  Maria  delle  Grazie  in 
Brescia,  Giov.  Francesco  Capello,  ein  Venezianer,  welchen  wir 
später  als  sehr  talentvollen  Componisten  im  neuen  monodischen 
Styl  kennen  lernen  werden,  räth  sogar  als  vortreffliches  Effekt- 
mittcl  an  —  alle  vier  Stimmen  eines  Chores  durch  einen  zweiten, 
in  der  Octave  mitsingenden  zu  verdoppeln  —  also  z.  B.  eine 
Motette  für  zwei  Tenore  und  zwei  Bässe  von  zwei  Sopranen  und 
zwei  Altos  in  der  höheren  Octave  mitsingen  zu  lassen,  oder  um- 
gekehrt! —  es  gewinne  dann  Alles  an  Glanz  und  an  Fülle  — 
man  solle  es  nur  versuchen  „audite,  probate,  acquiescite".  An 
Stelle  dieses  höheren  (oder  tieferen)  zweiten  Chores  konnten  dann 
auch  Instrumente  treten  —  denn  nur  allmälig  emaneipirte  sich 
das  Orchester  vom  Singchore  und  von  der  Pflicht,  blos  zu  „ver- 
doppeln" oder  zu  ersetzen,  wenn  es  an  gehörigen  Menschen- 
stimmen für  einen  Part  zufällig  mangelte,  wofür  Prätorius  Rath- 
schläge und  Schemata  (Manieren)  in  grosser  Ausführlichkeit  giebt. 

Als  Verdoppelung  ist  es  ferner  zu  verstehen,  wenn  in  den 
gleichzeitigen  Anweisungen  zum  Generalbassspielen  dem  Spieler 
erlaubt  wird,  „Octaven"  anzubringen.  Lodovico  Viadana  (der  an- 
gebliche Erfinder  des  Generalbasses)  warnt  indessen  vor  der  Ver- 
doppelung einer  Cadenz  mit  der  Octave,  der  Organist  solle  sie 
dort  machen,  wo  sie  in  der  Singstimme  steht,  im  Tenore,  Bass 
u.  s.  w.   Im  übrigen  hat  er  gegen  „Octaven"  nichts  einzuwenden. 

So  hatte  man  wie  im  Traum  abermals  ein  Gesetz  gefunden, 
dessen  Werth  und  Wichtigkeit  sich  erst  zeigen  sollte,  als  die 
Polyphonie  aufhört,  die  Alleinherrscherin  (gelegentlich  auch  wohl 
Tyrannin)  der  Musik  zu  sein. 

Lag  nun  damals  in  der  römischen  Schule  eine  entschiedene 
Neigung  zur  Stimmenhäufung,  und  konnte  das  Combiniren  einer 
grossen  Stimraenzahl  die  geschickte  Handhabung  der  contrapunc- 
tischen  Gesetze  nur  potenziren,  so  wurde  jetzt  auch  wohl  das 
eigentliche  blosse  musikalische  Kunststück  in's  Ungeheure,  und 
selbst  bis  in's  Ungeheuerliche  hinein  getrieben  —  es  tauchen  Dinge 


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Der  italienischen  Musik  grosse  Periode. 


121 


auf,  gegen  welche  die  Okeghem's  und  Josquin's  mit  allen  ihren 
Canon  wundern  so  zu  sagen  schüchterne  Anfänger  sind.  Vor  allen 
ist  hier  G.  M.  Nanini's  Schüler,  der  Körner  Pierfrancesco 
Valentini  (st.  1654)  zu  nennen.  Seine  monströsen  Canonstudien 
tragen  zu  dem  neben  ihrer  ganzen  ?  ungeheuerlichen  Anlage  in 
sehr  charakteristischer  Weise  den  Zug  des  damaligen  Rom,  welches 
durch  forcirte  Kirchlichkeit  gegen  das  Zeitalter  des  Mediceers  Leo 
reagirte,  die  Gelehrsamkeit,  wie  sie  z.  B.  auch  in  Kircher  s  Musurgie 
sich  breit  macht  und  den  Barockzug  der  Kunst,  sie  sind  in  ihrer 
ganzen  Haltung  wahre  musikalische  Berninismen  und  Borrominis- 
men,  würdig  des  Zeitalters,  welches  dem  Pantheon  Eselsohren 
aufsetzte,  das  eherne  Tabernakel  von  St.  Peter,  oder  Kirchen  ent- 
stehen sah,  wie  S.  Carlo  alle  quattro  fontane  —  in  einer  Mono- 
graphie über  das  Zeitalter  Urban  VIII.  dürften  diese  Canons  ja 
nicht  vergessen  werden.  Ein  Hauptwerk  P.  F.  Valentini's  (welches 
er  der  h.  Maria  dedizirte)  wird  schon  durch  den  Titel  charakte- 
risirt,  er  lautet:  „Sanctissimae  virgini  Dei  matri  Mariae,  archi- 
confraternitatis  suffragii  Patronae :  Petri  Francisci  Valentini, 
Romani,  in  animas  purgatorii  propriae  et  novae  inventionis  Canon, 
quatuor  compositus  subjectis  et  viginti  vocibus,  quinque  Choris 
concinendus,  qui  ultra  dictas  viginti  voces  a  pluribus  etiam  voci- 
bus, choris  et  subjectis  extendi  et  amplificari  potest;  Romae  ex 
typographia  Andreae  Phaei  1645."  *)  Diesen  Titel  rahmen  vier 
Notenzeilen  ein,  die  vier  Stimmen,  jede  kann  als  fünfstimmiger 
Chor,  und  diese  vier  Chöre  können  als  zwanzigstimmiges  Ganze 
gesungen  werden,  und  damit  ist  es  noch  nicht  zu  Ende,  durch 
Verkehrungen  u.  s.  w.  wachsen  dieser  musikalischen  Hydra 
immer  wieder  ganz  neue  Köpfe.  Wie  das  anzustellen,  erklärt 
Valentini  in  dem  weitläufigen  Texte  des  Foliobandes.  Ihn  zu 
studieren,  kann  man  wirklich  nur  den  armen  Seelen  im  Fege- 
feuer zumuthen,  für  welche  der  Canon,  laut  Titels,  bestimmt  ist, 
und  hätte  Dante  das  Buch  gekannt,  er  würde  sicher  auf  eine  der 
Terrassen  seines  Purgatorioberges  eine  Gruppe  büssender  unnützer 
Zeitverschwender  und  Musiker,  die  keine  sind,  angebracht  haben, 
welche  Valentini's  fünfehörigen  Canon  in  allen  möglichen  Ge- 
stalten auflösen  und  absingen,  wogegen  aber  sofort  von  den 
übrigen  Terassen  aus  Einsprache  erhoben  wird,  indem  man  dort 
gegen  geschärfte  Busse  protestirt.  Ein  anderes  Mirakel  Valen- 
tini's ist  ein  Canon  „sopra  le  parole  del  Salve  regina:  illos  tuos 
misericordes  oculos  ad  nos  convertc  (Rom  1629) —  er  lässt  mehr 
als  2000,  sage  zweitausend  Auflösungen  zu,  Kircher  theilt  ihn 


1)  Fetis  (Biogr.  univ.  Band  8  S.  293)  gibt  den  Titel  kurz  und  un- 
genau: Canone  a  6,  10  e  20  voci,  Roma  1645.  Ich  gebe  ihn  daher  (er  ist 
eine  Merkwürdigkeit!)  vollständig.  Ein  wohlerhaltenes  Exemplar  besitzt 
P.  Franz  Haberl. 


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122  De*  italienischen  Musik  grosse  Periode. 

nebst  vier  Hauptauilösungen  in  seiner  Musurgie  mit. !)  Ferner 
ein  „Canone  nel  nodo  di  Salomone  a  96  voci"  (Rom  1631).  Man 
sollte  meinen,  an  96  Stimmen  sei  eben  genug,  aber  Athanasius 
Kircher  bringt  heraus,  man  könne  diesen  Canon  sogar  zu  144000 
Stimmen  singen  (!  !  !)  —  dadurch  werde  er  ein  Gegenbild  zu  den 
144000  Sängern,  von  denen  in  der  Apokalypse  die  Rede  ist. 
Diesen  mag  man  denn  auch  getrost  die  Ausführung  überlassen! 
Jene  fromme  Dedication  Valentini's  ist  übrigens  nicht  das  einzige 
Beispiel  in  jener  Zeit  Der  schon  genannte  Agostino  Diruta  de- 
dizirte  das  zweite  Buch  seiner  Vesperpsalmen  seinem  Schutzengel. 
Auch  dass  der  Componist  alle  seine  Aemter  und  Würden  aufzählt, 
ist  für  die  Zeit  charakteristisch. 


1)1.  Theü  S.  404. 


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III. 

Der  monodische  Styl  in  Ro: 


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Der  monodische  Styl  in  Rom. 


Knien  wunderlichen,  keineswegs  sonderlich  angonehmen  Ein- 
druck macht  mitten  in  dieser  römischen  Musikwelt  der  „edle  Deutsche" 
„nobilis  Germanus"),  wie  er  sich  nannte:  Johannes  Hierony- 
mus Kapsberger,  Componist  im  „modernsten  Styl",  ein  Mann 
nicht  ohne  mehrseitige,  wissenschaftliche  Bildung,  berühmter  Vir- 
tuose auf  der  Theorbe  und  der  Laute,  der  Guitarre  und  der  Trom- 
pete, aber  auch  der  richtige  grossprahlerische  Charlatau,  welcher 
sich  unter  der  Aegide  seines  Adelswappens,  und  durch  dreistes, 
selbstbewusstes  Auftreten  an  die  Grossen  drängte,  und  alles  daran- 
setzte, um  als  Factotum  der  Musik  obenan  zu  sitzen.  Anfangs 
hatte  er  in  Venedig  verweilt,  wo  auch  seine  ersten  Compositionen 
(Libro  primo  d'intavolatura  di  Chitarrone  —  1604)  an's  Licht 
traten.  In  der  Stadt,  wo  Johannes  Gabrieli,  Giovanni  Croce,  viel- 
leicht auch  schon  Monteverde  glänzte,  wollte  es,  wie  es  scheint, 
nicht  recht  gelingen,  dieses  Licht  nach  Wunsch  leuchten  zu 
lassen  —  Kapsberger  begab  sich  nach  Rom.  Hier  gewann  er  die 
Neigung,  ja  die  Bewunderung  des  grundgelehrten  P.  Athanasius 
Kircher.  *)  Mit  Ostentation  machte  er  hier  den  ,,nobilis"  gel- 
tend ;  in  jenen  Tagen  Rom's,  wo  das  hochvornehme  Wesen  eben 
in  vollster  Blüte  stand,  war  diese  Taktik  nicht  oben  ungeschickt. 
Seine  brillanten  „Galanterien"  auf  der  Theorbe  und  Laute,  seine 
Triller,  8]  jmcopen,  Tremoti,  seine  effektvoll  mit  Piano  und  Forte 
abwechselnde  Stellen  u.  dgl.  mehr,  fanden  den  vollsten  Beifall  der 
Monsignoren,  der  Principi,  der  vornehmen  Damen,  und  alles  dessen, 
was  sonst  in  Rom  obenauf  war.  2)  Kapsberger  trat  mit  kluger  Be- 


1)  Hieronymus  Kapsbergerus ,  Gerraanus,  innumerabilium  fere  qua 
scriptorum,  qua  impressorum  voluminum  musicorum  editiono  clarissio- 
nus,  qui  ingenio  pollens  maximo,  ope  aliarum  scientiarum,  quarum 
peritus  est,  musicae  arcana  feliciter  penetravit   (Kircher,  Musurg.  VII. 


2)  Pers,  alcuni  de  piü  eccellonti  moderni,  che  alle  sottigliezze  de  con- 
trappunti  hanno  saputo  aggiangere,  ne*  loro  snoni  mille  graziedi,  tri  Iii, 
di  strascichi,  di  sincope,  di  tremoli,  di  Ante,  di  piano  e  di  forte  e  di 
simili  altre  galanterie,  da  quelli  dell  eta  passata  poco  praticale,  come 
hanno  fatto  nella  presente  il  Kapsberger  nolla  Tiorba  u.  s.  w.  (Pietro 


586.) 


della  Valle,  bei  Doni  II  8.  254.) 


126 


Der  monodische  Styl  in  Rom. 


rechnung  als  erzmoderner  Componist  auf.  In  der  unendlichen 
Keihe  seiner  Tonsätze  treffen  wir  Schritt  für  Schritt  Arien,  Balli, 
Gagliarde,  Correnti,  Passamezzi  —  musikalische  leichte  Mode- 
waaren der  Zeit  —  Unterhaltungsmusik.  Er  hing  sich  aber  auch 
an  die  Jesuiten  und  componirte  für  sie  eine  dramatische  „Apotheose 
des  h.  Ignaz  von  Loyola"  und  „des  h.  Franz  Xaver".  Er  wusste 
sich  bei  Urban  VIII.  Zutritt  zu  verschaffen.  In  der  Sonnennähe 
des  Vaticans  gerieth  er  denn  endlich  auch  in  die  kirchliche  Musik 
hinein  —  1631  wurde  ein  ganzes  Buch  vier-,  fiinf-  und  acht- 
stimmiger Messen  in  Folio  gedruckt  —  „Missarum  Urbanarum 
lib.  I"  nannte  er  sie,  wie  er  denn  überhaupt  Urban  VIII.  gegen- 
über ein  ganz  eminentes  Höflings-  und  Schmeichlertalent  ent- 
wickelte. Den  Urban's-Messen  reihten  sich  vier-,  ftinf-  und  acht- 
stimmige „Litaniae  deiparae  Virginis  musicis  modis  aptatae"  an, 
denen  freilich  sechs  Bücher  Vilanellen  für  die  spanische  Guitarrc 
auf  den  Fersen  folgten. 

Trotz  aller  Erfolge  war  indessen  Kapsberger,  wie  es  die  Art 
solcher  zugleich  ehrgeiziger  und  gemeiner  Naturen  ist,  wenn  sie 
nicht  alles  Gewünschte  erreichen,  voll  melancholischer  Misslaune 
und  that  sich  in  heftigen  Ausfüllen  gegen  Leute  und  Dinge,  die 
er  nicht  leiden  konnte,  keinen  Zwang  an.  l)  Sehr  begreiflicher 
Weise  wurde  ihm  von  der  Gegenseite  mit  gleicher  Münze  gezahlt.  2) 
„Capisbergius",  wie  ihn  Doni  nennt,  lief  auf  die  Gunst  des  Papstes 
rörmlich  Sturm.  Für's  erste  setzte  er  Urban's  lateinische  Poesieen, 
welche  dieser  zu  einer  Zeit  geschrieben,  da  er  noch  Cardinal 
Maffio  Barberini  gewesen,  in  Musik.  Es  sind  fast  durchweg 
religiöse,  oder  wenigstens  ernste,  religiös  gefärbte  Stoffe.  Urban  VIII. 
ist  der  in's  Barocco  übersetzte  Leo  X.,  und  es  ist  ein  weiter  Weg 
von  den  lateinischen,  wirklich  virgilisch  angehauchten  Dichtungen 
eines  Sannazar  oder  Hieronymus  Vida  zu  dieser  barberinischen 
—  um  nicht  zu  sagen:  barbarischen  Poesie  voll  Dunkelheit, 
Schwulst,  und  Schwerfälligkeit.  Kapsberger  componirte  diese 
Dichtungen  im  modernsten  florentinischen  Stile  recitativo  —  eine 
Singstimme  mit  massigst  beziffertem  Bass.    Das  Opus  wurde  1 624 


1)  G.  L.  Doni,  bei  welchem,  allerdings  eine  ausgesprochene  Antipathie 
gegen  Kapsbergor  wiederholt  hervortritt,  erzählt  von  einem  Schüler,  der 
eine  Zeitlang  Hausgenosse  Kapsberger's  war:  Bomam  se  contulit,  ubi  cum 
Capispergium  musicam  cum  citharistica  profitentem,  aliquamdiu  fuerit  in 
contubernio,  morositatem  illnis  ac  maledicentiam  aversatus,  cum 
primum  potuit,  eo  relicto,  assoctari  coepit  Philoponum  nostrum  et  (de 
praest.  mus.  vet.  Hb.  I)  Die  starke  Stelle  weiterhin:  „Choerili  Uhus,  quem 
nostis,  hominis  audacissimi  ac  perfrictae  frontis"  u.  s.  w.  scheint  auch  auf 
Kapsberger  zu  zielen. 

2)  —  novorat  porra  magna  se  flagrare  apud  syntechnitas  suos  invidia, 
quos  etiam  non  cessabat  tamquam  rüdes  atque  imperitos  ubique  acerbissime 
insectari,  quapropter  tationem  metuebat  sciliect.   (Doni  a.  a.  0.) 


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Der  monodische  Styl  in  Rom. 


127 


gedruckt  l)  und  die  Dedicationsvorrede  an  Urban,  welche  Kaps- 
berger  voranschickte,  wird  für  alle  Zeiten  als  ein  klassisches 
Muster  colossaler  Schmeichelei  gelten  dürfen,  in  welchem  dünkel- 
hafte Selbstüberhebung  und  niedrige  Kriecherei  zu  einem  ganz 
wunderbaren  Gemische  durcheinandergeknetet  sind.2) 

1)  Der  Titel  lautet:  Poem  ata  et  Carmina,  composita  a  Maffaeo  Bar- 
berino  olim  S.  R.  E.  Card.  —  Nunc  autem  Vrbano  Octavo  P.  0.  M., 
Mtisicis  modis  aptata  a  Po.  Hieronymo  Kapsberger,  Nobili  Germano. 
Romae,  cum  Privil.  et  Superior.  permissu  MDCXX1V.  Zum  Schlüsse: 
Roiuao  apud  Lucam  Antonium  Soldum.  anno  1624.  Dazu  der  Permess: 
Imprimatur  si  placet  Reverendiss.  P.  Mag.  S.  P.  Apost.  A.  Episc.  Hie- 
racen.  Vicegerens.  Imprimatur  Fr.  Androas  Biscionus  Ord.  Praedic.  Socius 
Reverendiss.  iP.  Fr.  Nicolai  Rodulfj  Sacr.  Patatij  Apostolici  Magistri." 
Dass  sogar  die  Poesieen  des  Papstes  die  Censur  passiren  mussten,  ist  für 
die  Zeit  charakteristisch. 

2)  Sanctissimo  Patri  ac  Domino  Urbano  Octavo  Pont.  opt.  raax.  — 
Artes,  quibus  publica  felicitas  curatur  ita  B.  V.  suspexit.  Apostolicus 
Senatus,  ut,  tantarum  virtutum  admiratione  imbutus,  ci  totius  generis 
bumani  tutelam  credendara  esse  censuerit.  Nunc  autem  ex  hoc  libello 
discere  potest  Europa,  quibus  studiis  otium  oblectare  Sacri  antistites  de- 
beant.  Mirabuntur  sapientes  ex  ingenio,  quod  assidue  gravissima  negotia 
exercuerunt,  carmina  effluxisse,  rix  ab  otioso  oxspectanda  et  quae  a  nomine 
corte  hactenus  Italia  habuit.  Pindaricum  enim  spiritum,  latino  ore  to- 
nantem,  neque  ab  ipso  Lyricorum  principe  urbs  olim  potuit  audire.  Mihi, 
qui  Davidis  gloriam  in  Max.  Pont,  eruditiono  reflorescere  vidoo,  curae  fuit, 
musicis  numeris  ea  carmina  modulari,  quae  dignas  Pontificia  pietate  sen- 
tentias  complectuntur ,  semperque  aut  Sanctorum  triumphos  persequuntur 
aut  humanae  pandunt  oracula  sapientiae.  Musicen  iampridem  imprudicis 
aut  ludicris  modis  fractam  tantae  poeseos  gravitate  extollere  conatus  sum  (!), 
ut  jucunda  quadam  severitate  in  oertos  desipientis  vulgi  plausus  aspernata 
graviorum  principum  aures  teneret,  neque  tarn  saepe  ex  Antistitum  cubi- 
cnlis  exturbaretur,  tanquam  ancilla  hbidinis  et  obstetrix  vitiorum  (!). 
Quicquid  profeci,  haberi  malo  observantiae  monumentum,  quam  ingenii. 
Id  autem  ©go  ipse  in  scenain  producere  decrevi.  neque  Theatri  iudicium 
formidabo,  cum  volumen  hoc  ad  studiorura  decus  et  vitae  felicitatem 
exornare  mihi  liceat  augustissimo  nomine  B.  V.,  quam  relifioso  beatissi- 
morum  pedum  osculo  veneror.  Deumque  precor,  ut  quam  diutissima  sub 
tanti  Pont,  imperio  Cbristianas  virtutes  et  bonas  artes  triumphare  velit. 
Romae  die  5  Aprilis  1624.  Sanctitatis  Vestrae  Beatissimos  pedes  osculatur 
Humillimus  Servus  Jo.  Hieronymus  Kapsberger.  Ein  Exemplar  des  sehr 
seltenen  Dnickos  tindet  sich  in  der  Musiksammlung  der  Chiesa  nuova 
(S.  Maria  in  Valicella)  zu  Rom.  Allacci  erwähnt  eines  Manuscript  ge- 
bliebenen Bandes:  ., Carmina  Cardinalis  Barberini  nunc  Urbani  VIII.,  musi- 
cis modis  aptata."  Also  im  Wesentlichen  der  gleiche  Titel,  wie  bei  dem 
gedruckten  Band.  Vielleicht  trägt  das  Fiasco,  welches  Kapsberger  mit 
seiner  Invasion  auf  das  Musikchor  der  sixtinischen  Capelle  macht,  Schuld, 
dass  wir  diese  Fortsetzung  entbehren,  an  welcher  wir  indessen  schwerlich 
viel  verloren  haben  dürften.  Der  gedruckte  Band  enthält  folgende  Stücke : 
de  S.  Ludovico,  Franciae  Rege  —  Poenitens  —  Paraphrasis  in  canticum 
triam  puerorum  —  de  S.  Laurentio ;  Ode  —  Jesu  mox  morituri  cum  boa- 
tissima  Maria  matre  colloquium ;  Ode  —  Paraphrasis  in  canticum  B.  Vir- 
einis  —  in  diem  natalem  Josu  Christi  —  in  maledictum ,  qui  in  nomen 
Komae  impie  lusit  —  de  nece  Reginae  Scotiao  —  Paraphrasis  in  canti- 
cum Simeonis. 


128 


Der  monodische  Styl  in  Rom. 


Es  fällt  freilich  nach  der  Magniloquenz  der  Vorrede  schlimm 
ab,  wenn  wir  Compositionen  begegnen,  wie  folgende: 

Paraphrasis  in  Canticum  Simeonis. 


Nunc  tu  -  o  jux-ta  die  -  ta  tu  -  a  ser   -  vo   sol-ve  vi- 

,  1 


ta-les,  pa-ter   al  -  me  ne  -  xus,  cer- nit  au-tho:rem  me  -  a 

=fc 


1 


lux  sa  -  lu  -  tis     ex  •  ci  -  pit  ul  -  na. 


I 


± 


Quem  tuo  regem  populo  parasti 
Gentium  lumen,  tenebris  fugandis 
Gloriam  David,  decus  et  perenne. 

Isacidarum. 


Paraphrasis  in  canticum  B.  Virginis  (d.  i.  das  Magnificat). 


Ad   as-tra  ße  -  gern  coe  -  Ii  -  tum  toi 


:zt— 
m 


JL 

-0- 


1)  Man  beachte  die  Tonmalerei  auf  das  Wort  tollit  — ! 


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Der  monodische  Styl  in  Rom. 


129 


n 


—    lit  nie -um   cor       lau-di-bus       et    in     De  -  o  qui 

1 


de  -  tu  -  lit  mi 


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— r— 

-V- 

sa  -  lu  -  tem  u.  s.  w. 


2ii 


Damit  sollte  die  alte  kirchliche  Poesie,  die  alte  kirchliche 
Singeweise  in  Schatten  gestellt  werden!! 

Die  Musik  Kapsbergers,  deren  Charakter  er  selbst  in  eine 
,  jucunda  severitas"  setzt,  ist  hier  nicht  schlechter  und  nicht  besser, 
als  im  Durchschnitte  die  Arbeiten  der  geringeren  Monodisten  der 
Zeit  —  schwerfallig  psalmodirende,  hohl  pathetisch  declamirende 
ßecitation,  mit  lastend  herabziehenden,  die  Absätze  plump  mar- 
kirenden  Cadenzen.  Der  „Pontifex  optimus  maximus"  —  wie 
ihn  Kapsberger  nennt,  scheint  gegen  die  Gabe  nicht  unempfind- 
lich geblieben  zu  sein  —  und  nun  konnte  der  „edle  Deutsche" 
zu  seinem  Hauptschlage  ausholen.  Er  hatte  schon  in  seiner  De- 
dicationsvorrede  die  Stirne  gehabt,  sich  der  „ausgearteten"  Musik 
gegenüber  als  Reformator  zu  geriren,  als  zweiter  Palestrina  — 
natürlich  ist  es  die  erhabene  Poesie  Urban's,  welche  dieser  Musik 
Kraft  und  lloheit  geliehen !  Wie  „klassisch"  Urban  gesinnt  war, 
zeigen  seine  Poesieen  sattsam  l).  Kapsberger  lag  nun  seinem 
hohen  Göuner  in  den  Ohren  —  (mit  kühner  Stirne  und  beweg- 
licher Zunge,  wie  Doni  sagt):  „Die  Arbeiten  Palcstrinas  soien 


1)  Doch  sind  sie  gelegentlich  mit  Concetti  im  Goschmacke  der  Zeit 
aufgeputzt,  z.  B.  das  Gedicht  „do  nece  ßeginae  Scotiae": 

Tu  quamquam  immeritam  forit,  ö  Regina,  socuris 

Regaliquo  tuum  funus  honoro  caret 

Sorte  tua  gaude,  moorons  nequo  Scotia  ploret 

En  tibi  pompa  tuas,  quae  docet  exequias 

Nam  tibi  non  paries  atro  velatur  amictu 

Sed  terras  circum  nox  tenebrosa  tegit 

Non  tibi  contextis  lucent  funeratia  lignis 

Sed  coelo  stellao  —  Nenia  tristis  abest 

Sed  canit  ad  pheretrum  snpernm  Chorus  aliger 

Et  me  coolosti  incipiens  voce  silere  jubet. 
Der  letzte  Pentameter  ist  ein  Meerwunder,  das  Ganze  überhaupt  ein 
Seitenstück  zu  dorn  berühmten  Distichon  von  „Rom  und  Florenz"  in 
den  Münchner  Arkaden. 

Ambro»,  Geschichte  der  Musik.   IV.  Q 


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130 


Der  monodische  Styl  in  Rom. 


in  der  That  wohlklingend,  aber  in  der  Anwendung  der  (lateini- 
schen) Textesworte  roh,  dergleichen  dürfe  man  in  dem  so  über- 
aus feinen  und  gebildeten  Jahrhundert  („in  politissimo  hoc  atque 
urbanissimo  seculo"  —  das  letztere  Adjektiv  war  gut  gewählt, 
im  Säculum  Urban's  gleichsam!)  am  erhabensten  Orte  der  Welt 
nicht  hören"  u.  s.  w.  Also  auch  Palestrina  %in  unklassischer 
Barbar,  wie  vor  ihm  die  Niederländer!  Genug  —  Kapsberger 
bot  seine  Kompositionen  in  ihrer  klassischen  Tadellosigkeit,  zum 
Ersatz.  Allein  die  Sänger  der  päpstlichen  Capelle  erklärten  laut 
und  öffentlich,  diese  Musik  nicht  singen  zu  wollen,  und  als  sie 
solche  dennoch  singen  mussten,  sangen  sie  (absichtlich)  so  elend, 
dass  Kapsberger  kläglich  durchfiel  und  ihm,  wie  Doni  mit  sicht- 
licher Schadenfreude  bemerkt,  nichts  übrig  blieb,  als  seine  Päcke 
Musik  zum  Vergnügen  der  Mäuse  und  Motten  in  sein  Haus  zu- 
rückschaffen zu  lassen.  »)  Diese  von  Baini  und  Frftis  kritisch 
angefochtene  Erzählung  2)  erhält  einiges  Gewicht  durch  die  Missas 
Urbanianas,  welche  augenscheinlich,  wenn  die  ganze  Sache  wahr 
ist,  bestimmt  waren,  die  Messen  Palestrina's  aus  dem  Felde  zu 
schlagen.  3)  Wie  sich  Kapsberger  nach  dieser  vollständigen  Nie- 
derlage weiter  benahm,  ob  er  in  Rom  blieb,  wo  er  sein  Leben 
endete  —  wir  wissen  es  nicht. 

Seine  bombenfeste  Eitelkeit  dürfte  ihm  indessen  bintiberge- 
holfen  haben.  Es  macht  einen  geradezu  komischen  Eindruck 
auf  den  Titelblättern  seiner  gestochenen  Compositionen,  meist 
Lautensachen,  sein  grossmächtiges  Wappen  prangen  und  ausser- 
dem jedes  Folium  mit  den  Initialen  seines  Namens  H.  K.  be- 
zeichnet zu  sehen.  Ueberdies  lässt  er  sich  seine  eigenen  Sachen 
von  seinen  Schülern  und  Freunden  mit  den  lächerlichsten  Lobes- 
erhebungen dediziren  (!).  Gleich  in  der  Vorrede  der  ersten,  1604 
in  Venedig  gedruckten  Sammlung  sagt  der  Herausgeber,  sein 


1)  Doni's  Erzählung  sehe  man  in  Opp.  I,  S.  98,  99. 

2)  Baini  (Memorie  della  vita  etc.  di  Palestrina  II,  S.  645)  meint: 
man  hätte  die  Compositionen  Kapsbergcr's,  wenn  sie  von  den  päpstlichen 
Sängern  hätten  gesungen  werden  sollen,  in  die  grossen  Chorbücher  der 
Sirtina  schreiben  müssen,  wo  sie  aber  nicht  zu  finden  seien.  Es  scheint 
dieses  kein  zwingender  Schluss  zu  sein  —  es  waren  ja  noch  keine  offi- 
ziell reeipirten  Tonsätzc.  und  die  vorgenommene  Ausführung  wohl  nur 
eine  vorläufige  Probe.  Allerdings  sagt  Doni:  „quare  brevi  res  exolevit", 
was  anzudeuten  scheint,  als  seien  diese  Gesänge  eine  Zeit  lang  im  Ge- 
brauch gewesen,  ferner  fällt  auf,  dass  Urban  VIII.  —  (prineeps)  bei  dem 
Gesang  anwesend  gewesen  sein  soll. 

3)  Wie  Fetis  an  die  Gedichte  Urban's  denken  mag,  begreife  wer 
kann!  Monodieen  mit  Generalbass  für  den  päpstlichen  Sängerchor!! 
Und  hätte  Urban  VIII.  auch  wirklich  im  Plane  gehabt,  Palestrina's  Mu- 
sik abzuschaffen,  so  konnte  ihm,  dem  Oberhaupt  der  Kirche,  doch  nicht 
im  Traume  einfallen,  an  Stelle  des  Ritualtextes  seine  Dichtungen,  an 
Stelle  des  „Magnificat  anima  raea  Dominum14  sein  „ad  astra  Regem  coe- 
litum  tollit  meum  cor"  zu  setzen. 


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Der  monodische  Styl  in  Bom. 


131 


Stiefbruder  Jakob  Anton  Pfender:  „la  vaghezza  et  la  novita  di 
questa  maniera  d'intavolare,  che  tanto  al  mundo  piace  et  in  cui 
Vossignoria  e  ruiscita  ecccllente"  u.  s.  w.  Kapsberger  brachte 
nämlich  in  der  Intabulirung  der  Lauten  Instrumente  viele  Modifika- 
tionen und  manche  dankenswerthe  Verbesserungen  an,  welche 
dem  P.  Kircher  wichtig  genug  erschienen,  um  in  seiner  Musur- 
gie  darauf  einzugehen  und  dort  verschiedene  Proben  Kapsber- 
ger* scher  Kunst  und  Art  aufzunehmen. 

Man  mag  von  letzterer  denken,  was  man  will ,  und  in  der 
That  sehr  wenig  Gutes,  man  wird  Kapsberger  aber  mindestens 
das  Zeugniss  nicht  versagen  dürfen,  dnss,  wo  er  einmal  seine 
Thcorbe  in  den  Winkel  stellt  und  sich  in  höheren  Gattungen 
der  Musik,  als  in  Passamezzen  und  Gagliarden  versucht,  er  sich 
mindestens  kein  schlechtes  Muster  ausgesucht  hat:  Claudio  di 
Monteverde,  den  und  dessen  Musik  er  vielleicht  noch  in  Venodig 
kennen  lernte.  —  Eines  konnte  er  sich  aber  nicht  geben,  es  nicht 
erstudieren  und  es  nicht  nachahmen  :  Monteverde's  Genialität. 
Kapsberger  ist  ein  aufmerksamer,  sorgfältiger  Nachtreter,  er  hat 
Formen ,  Styl ,  Wendungen  seines  Vorbildes  mit  offenen  Augen 
angeschaut  und  ganz  wohl  verstanden,  aber  es  fehlt  bei  ihm  der 
belebende  Funke,  es  fehlt  Erfindung,  es  fehlt  Sinn  für  Klang- 
schönheit. Sein  madrigalcsker  Styl  ist  allenfalls  nicht  ganz  zu 
verachten  und  es  gelingt  ihm  mitunter  etwas  Pikantes,  wie  die 
von  Athanasius  Kircher  besprochenen  (sehr  unschuldigen)  Quinten 
in  dem  Madrigal:  „fra  dolcezze  di  morte  e  di  dolore"  —  durch 
welche  das  Concetto  „der  Süssigkeit  des  Todes  und  Schmerzes" 
musikalisch  illustrirt  werden  soll.  Wo  sich  aber  Kapsberger  vol- 
lends auf  den  neuen  monodischen  Styl  verlegt,  wird  er  meist 
unglaublich  armselig.  In  seiner  holprigen  Deklamation  geht  sein 
Streben  fast  nur  dahin,  mit  pedantisch  ängstlicher  Genauigkeit 
den  Sylbenquantitätcn  seines  lateinischen  Textes  gerecht  zu  wer- 
den, er  trommelt  seine  Rhythmen  völlig  herunter,  seine  Gesiinge 
sind  dürre  metrische  Präparate.  Die  Melodie  trägt  den  Charak- 
ter der  damaligen,  überhaupt  wenig  reizenden  Melodik,  ist  aber 
vollends  der  Schönheit  bar.  Die  Harmonie  ist  sehr  dürftig,  sie 
bewegt  sich  in  wenigen  Formeln  und  Accorden,  und  selbst  inner- 
halb dieser  bewegt  sie  sich  oft  unbeholfen,  ungeschickt  und  so- 
gar fehlerhaft.  Von  dem  dramatischen  Ausdruck  Monteverde's 
findet  sich  bei  Kapsberger  keine  Spur.  Kapsberger  war,  wenn 
kein  glücklicher,  so  doch  ein  fruchtbarer  Coraponist.  Leo  Allacci 
bringt  ein  langes  Verzeichniss  seiner  Arbeiten  vieles  ist  ge- 
druckt. 

Wenn  nicht  das  Hauptwerk,  so  doch  sicher  eines  seiner 
/lauptwerkc  ist  eben  jene  „Apotheose  der  Heiligen  Ignatius  von 

1)  Man  findet  es  reproduzirt  in  Walthor's  Loxicon,  Seite  335. 

9» 


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Der  monodische  Styl  in  Rom. 


Loyola  und  Franz  Xaver".  Gregor  XV.  hatte  1622  den  Stifter 
des  Jesuitcnordens  unter  die  Zahl  der  Heiligen  versetzt.  Natür- 
lich liessen  sich  die  Jesuiten  vor  allem  in  Rom  angelegen  sein, 
diese  Heiligsprechung  mit  gedenkbarster  Pracht  zu  feiern.  So 
fand  denn  auch  im  Collcgio  Romano  eine  theatralische  Aufführung 
durch  „die  vornehmsten  Jünglinge"  und  „besten  Musiker"  und 
zwar  fünfmal  nach  einander  statt,  und  „gefiel  jedesmal";  eben 
jene  von  Kapsberger  in  Musik  gesetzte  „Apothcosis  seu  Conse- 
cratio  SS.  Ignatii  et  Francisci  Xaverii".  Es  ist  kein  Drama,  denn 
es  fehlt  darin  an  jeder  Handlung  —  es  ist  vielmehr  ein  Pracht- 
ballet mit  Gesang,  dessen  Inhalt,  wie  der  Titel  besagt,  die  „Apo- 
theose" der  beiden  Ordensheiligen  bildete,  in  Costümen,  Aufzü- 
gen, Tanzen,  Dekorationen  und  Maschinenwundern  durchaus  dem 
überschwenglichen  Prachtstyl  entsprechend,  womit  der  Orden  seine 
Kirchen  und  deren  Ausstattung  an  Malereien  und  Sculpturen  zu 
überladen  liebte;  in  seiner  Art  völlig  das,  was  das  von  Pater 
Pozzo  gemalte  spektakulös-brillante  Deckenfresko  der  auch  zum 
Andenken  an  die  Canonisirung  gegründeten  Ignatiuskirche  in  Rom 
ist:  „Der  Triumpheinzug  des  heiligen  Ignaz  in's  Paradies". 

Es  war  der  Stolz  des  Jesuitenordens,  dass  er  über  alle  Welt- 
theile  seine  Hand  ausstreckte,  dass  er  bei  den  Völkern  der  Erde 
den  mächtigsten  Einfluss  übte  Die  Verherrlichung  der  beiden 
Heiligen  durch  die  Nationen  ist  denn  auch  der  Gegenstand  der 
Festvorstellung. 

Den  Anfang  bildet  ein  Prolog  —  „Seena  Campum  Martium 
Spectantibus  offert,  nube  primum  modica  ac  paulatim  in  imrnen- 
sum  se  pandente  e  coelo  in  Scenam  demissa,  Chorus  Aligerum  2) 
sapientiae  comos  ad  modos  (canis!)."  Ein  Maschineneffekt  grossen 
Styls!    Dazu  Engelschor  in  den  Wolken.    Sofort  erscheint  die 


1)  Ein  merkwürdiges  Denkmal  sind  die  zwei  immensen  Statuen- 

f nippen,  welche  die  Jesuiten  für  die  Prager  von  Ferdinand  Brokoff  machen 
essen :  St.  Ignaz  und  ihm  gegenüber  S.  Xaver.  Der  erstere  steht  auf  einer 
Weltkugel,  welcho  von  den  durch  Gesichtsbildung,  Tracht  und  beglei- 
tende Tnierc  charakterisirten  Wolttheilon  in  die  Höhe  gehoben  wird  u.  s.  w. 
—  S.  Xaver  ist  vorgestellt,  wie  er  eben  einen  indischon  Fürsten  tauft, 
und  dieser  Taufakt  wird  hinwiederum  von  einer  Gruppe  von  Chinesen, 
Japanesen,  Hindostanern  und  Malayen  wio  von  einem  riedestal  gestützt 
und  in  die  Lüfte  emporgehaltcn.  Dio  beiden  grossprahlerischen  Stücke 
sind  übrigens  von  trefflicher  Arbeit.  Es  gehörte  zum  Ordonsgebrauch, 
dem  h.  Ignaz.  wo  es  anging,  als  „zweiten"  den  S.  Xaver  entgegen- 
zustellen, so  in  jenen  Prager  Brückenstatuen,  so  im  Gesu  in  Born,  wo 
der  Altar  des  h.  Ignaz  im  Schiff  der  Kirche  an  der  Evangelienseite,  ihm 
gegenüber  au  der  Epistelseito  der  des  h.  Xaver  prangt.  Für  dio  Jesui- 
tenkirche in  Antwerpen  malte  Rubens  die  zwei  kolossalen  Altarbilder, 
deren  eines  Wunder  des  h.  Ignaz,  das  andere  Wunder  des  h.  Xaver  vor- 
stellt und  welche  sich  jetzt  in  der  Gemäldegallerio  des  Wiener  Belvedere 
befinden. 

2)  Geflügelte  Engel. 


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Der  monodisch©  Styl  in  Rom. 


133 


Weisheit  („Sapientia  cum  hasta  et  Clypeo  Gregoriano"  —  also 
offenbar  wie  eine  Minerva  angethan)  und  spricht  den  Prolog  — 
74  Verse,  lateinisch,  wie  der  ganze  übrige  Text  — 

—  —   quidqnid  boni 

Miratur  orbis,  oxtorae  gentea  colunt 

Urbig  saluti  natus,  atque  orbia  simul 

Lojola  peperit,  impigrae  gentis  parens 

Franciscus  auxit  incliti  prolea  patris. 

Hi8  dum  Quiritum  rector  et  mundi  arbiter 

Gregorin s  aras  destinat,  non  haec  mihi 

Lux  segnis  abent,  siquid  in  regno  meo 

Linguae  boata  copia  atque  artes  valont 

Amoeniores,  exerceant  vires  auas 

Magnoaque  dictis  asserant  coelo  Deos  u.  s.  w. 

Die  „Sapientia"  endet  ihren  Prolog  und  wird  von  einer 
„aus  der  Erde  hervorbrechenden  Wolke"  in  den  Himmel  zurück- 
gehoben l)j  die  eigentliche,  von  hier  an  durchweg  mit  Gesang 
verbundene  Darstellung  besteht  aus  5  Akten. 

Ein  kurzes,  dreistimmiges  Ritornell  von  Instrumenten,  nichts- 
sagend wie  die  Mehrzahl  solcher  Ritornelle,  leitet  ein.  Auf  einem 
von  weissen  Pferden  gezogenen  Wagen  erscheint  Koma  (Sopran), 
ein  Chor  von  16  edlen  Jünglingen  folgt  ihr,  der  Ajchitekt  Me- 
tagenes  (Tenor)  begleitet  sie.  Roma  begrüsst  den  grauenden 
Morgen  des  festlichen  Tages  mit  einem  Recitativ  —  der  Chor 
antwortet  zwei-  und  vierstimmig.  Dann  gebietet  Koma  dem  Me- 
tagenes,  den  ßogus  fiir  die  Apotheose  aufzurichten ;  der  erste  Aus- 
ruf „sat  est!"  möge  als  rarer  Fall,  dass  eine  Art  Nachahmung 
des  natürlichen  Redetones  versucht  wird,  nicht  unbemerkt  bleiben: 


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1)  Hic  nubta  alia  ü  terra  oruinpöuü  sapiontiaui  iu  cooluiu  reducit. 


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134 


Der  monodische  Styl  in  Rom. 


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quondam  su  -  os  do  -  na  -  re  coo  -  lo    Ro  -  ma  con-su  -  e  -  vit 

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De  -  os,    ex  -  tem  -  po  -  ra  -  lom    tic  -  ti  -  Ii    e      Ii  -  gno 


Pp^g^^LtuJ-1  p  J  J  J'| 


mi-hi  hic  po-ne  mo-lem   la  -  xi  -  or  in     i  -  uio- se-dens  an 

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Der  monodische  Styl  in  Rom. 


135 


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gu  -sti  -  o  -  ro  sur-gat  in 

coe-lum  gra  • 

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Dies  geschieht  „mit  grosser  Schnelligkeit",  während  der  Chor 
das  Lob  der  Heiligen  preist.  Sofort  erscheint  pcrsonificirt  Spa- 
nien (Sopran ,  wie  alle  übrigen  Repräsentantinnen  der  einzelnen 
Länder),  Portugal  auf  Wagen,  eine  jede  begleitet  von  17  Jüng- 
lingen. Die  Spanier  errichten  dem  h.  Ignaz  eine  Trophäe  von 
Kriegswaffen  „wie  er  sie  weiland  als  Kitter  geführt".  —  Die  Por- 
tugiesen bieten  dem  h.  Xaver  das  Schiff  an,  welches  ihn  einst 
nach  Indien  getragen.  Wechselnde  Chöre  der  Spanier  und  Por- 
tugiesen und  Waffentänze  schliessen  den  Akt,  für  Jetzterc  haben 
die  Chöre  den  Gagliarden  -  Rhythmus  "  |  p"  J^*  *  j 
—  Es  ist  aber  zudem  auch  eine  eigene,  ziemlich  ausführliche  Ballct- 
musik  mit  zahlreichen  Wiederholungssätzchen  zwischen  die  Chor- 
gesänge eingefügt  —  armselig  genug  in  Melodie  und  Harmonie: 


Ballo. 


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136 


Der  monodische  Styl  in  Rom 


Weder  hier,  »och  weiterhin  wird  in  den  Chören  auch  nur 
die  Andeutung:  eines  Versuches  gemacht  (wie  in  jener  Zeit  auch 
ein  Mirakel  wäre),  die  einzelnen  Nationen  durch  die  Musik  zu 
charakterisiren. 

Der  zweite  Akt  fuhrt  auf  einem  Prachtwagen  Indien  herein, 
begleitet  von  17  Indianern,  welche  Bogen  und  Pfeile  in  Händen 
halten;  auf  dem  Kopf  tragen  sie  als  Zierde  „a  1  Indiana"  einen 
purpurfarbigen  Vogel  („non  finto  ma  vero  e  reale,  venuto  da  quelle 
parti  —  cosa  rara  a  vedere  in  tauto  moltitudine"  bemerkt  das 
Programm).  Sic  bringen  dem  h.  Xaver  Perlen  dar.  Indien 
selbst  erscheint,  wie  Papageno's  Grossmutter,  ganz  in  buute  Federn 
indischer  Wundervögel  gekleidet.  Die  Musik  zu  dieser  Pracht 
und  Herrlichkeit  ist  um  so  unscheinbarer  —  ein  mageres  Ritor- 
nell  zur  Einleitung,  ein  steifes  Recitativ  Indien'«.  Palästina  mit 
17  ,,allc  Turchesca"  gekleideten  Begleitern  opfert  dem  heiligen 
Iguaz  Weihrauch  (!).  Indien  und  Palästina  singen  ziemlich 
lange  in  breiten  Recitativen  gegen  einander,  dann  „Ritornclle" 
(Balletmusik)  und  Tanzchöre  mit  einem  Scheinkampf  der  Bogen- 
schützen —  plötzlich  bilden  die  lndier  aus  ihren  Bogen  „in  un 
battcr  d'oechio'*  zu  Ehren  S.  Xavcr's  eine  Erdkugel,  auf  der  alle 
Wclttheilc  landkartenhaft  abgemalt  sich  zeigen  —  , Jeder  Bogen 
war  doppelt  und  lasstc  den  sechsten  Theil  des  Globus  in  sich4*. 


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Der  monodische  Styl  in  Rom. 


137 


In  ähnlicher  Weise  bilden  die  Begleiter  Palästina'«  aus  ihren  Bo- 
gen für  Ignatius  ein  Schiff.  Die  Chöre  wechseln  hier  mit  ziem- 
lich ausführlichen  Ballctstücken. 

Die  dritte  Abtheilung  führt  Frankreich  ein,  welches  dem 
h.  Ignaz  die  „Seine44  (!)  darbringt,  zur  Erinnerung,  dass  sich 
der  Heilige  einmal,  um  einen  Jüngling  von  einer  tollen  Liebe 
zu  heilen,  in  den  eiskalten  Strom  zur  Winterzeit  getaucht.  Um 
seine  Liebe  zu  symbolisiren,  strömt  aus  der  Urne  der  Flussnymphe 
„feuriges  Wasser44  (acque  infocate).  Japan,  welches  jetzt  einzieht, 
opfert,  auf  die  Menge  seiner  Märtyrer  anspielend,  dem  h.  Xaver 
Lorbeerkronen  und  Palmen.  ,,Japonia"  wird  durch  folgendes 
lahme  Ritornell  angekündigt: 


i 


5 


^^=^^=j^E^^===^ 


i 


I  ^ 


Japonia. 


:  W  W-  m  H.  


Ar  -  mo  -  rum   stu  -  di  -  o 


/TS 


lh=i7=Jt== 


Pf 


po-tens  do  -ctis    in  -  cli  -  ta  lau-  di  -  bus  sal  -ve  Gal-h-a  u.s.w. 

I 


Schwerttanz  und  Moreschen  schliessen  sich  an. 

Im  vierten  Akt  erscheinen  Italien  und  China.    Italien  bringt 


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138 


Der  monodische  Styl  in  Rom. 


Blumen,  China  Seidenstoffe.  Abermals  ein  Waffentauz  mit  Speer 
und  Schild.  Die  Schilde  der  Chinesen  breiten  sich  aus  und  bil- 
den Mauerwerk,  aus  dem  ihre  Trager  sofort  die  berühmte  chine- 
sische Mauer  erbauen.  Die  Chöre  sind  hier  zum  Theil  einstim- 
mig, dann  zweistimmig,  weiterhin  aber  sogar  Doppelchöre  zu 
acht  Stimmen: 


Chorus  Sinae. 


So  -  le  sum  -  mo-  tos   a  -  gi  -  tan-  te  cur-rus,  im-bri-  bus 


-0- 


2 


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cro  -bris,  hi  -  er  -nis   so  -  da  -  Iis    ter  -  ra    pul  -  sa  -  tur 


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ge  -  Ii  -  da  -  quo     tor  -  pet      vi  -  cta    ri   -  go  -  re. 

  4  3  ^ 

5^ 


Chorus  Italiae. 


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I-  gnis  at  coe  -  lo  pro  -  pi  -  or  qui  -  e  -  ta   so  -  de  nec 


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Der  monodische  Styl  in  Rom.  139 


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Chorus  Sinae  a  2. 


Sol  u  -  bi    ae-  qua-tis     ra  -  di-  ans  ha  -  be  -  nis  u.  s.  w. 


Hier  ist  wenigstens  ein  Versuch  gemacht,  Contrastc  fühlbar 
zu  machen,  und  das  Unisonsätzchen  der  Chinesen  ist  anhörbar. 
Zuletzt  hebt  eine  Feuerwolke  Italiener  und  Chinesen  plötzlich  in 
die  Lüfte  „rappresentando  in  quella  fiamrna  la  pro^zione  d'Igna- 
zio,  che  al  cielo  Ii  guidau. 

Am  brillantesten  gestaltet  sich,  wie  billig,  der  5.  und  zugleich 
letzte  Akt.  Rom  erscheint  wieder,  mit  ihm  Spanien,  Portugal, 
Indien,  Palestina,  Frankreich,  Japan,  Italien,  China.  Es  tritt  der 
Bildhauer  Pythis  auf,  ferner  Gladiatoren  (Secutor,  Rctiarius).  Mehr 
als  hundert  Personen  standen  auf  der  Bühne  —  eine  Fackel 
wurde  vorangetrageu ,  deren  Flamme  sich  auf  den  Wink  Roms 
loslöste  und  gegen  den  Himmel  flog.  Pythis,  der  Bildhauer,  er- 
hält von  Roma  den  Auftrag,  die  Bilder  der  beiden  Heiligen  zu 
meisseln,  was  wiederum  im  Handumdrehen  gethan  ist  —  sie  wer- 
den auf  den  Rogus  gestellt.  Rom  —  das,  wie  es  scheint,  selbst 
jetzt  seine  alten  Passionen  nicht  vergessen  kann,  ordnet  Gladia- 
torenspiele an: 

Nunc  ubi  contractas  pulsat  labor  arduus  auras 
Felicior  moles  sacris 

Altius  impositis  surgat  geroinata  colossis  — 

At  vos,  Quirites,  interim 

Antiquura  in  morem  festo  celebrate  theatro 

Pagnas  duello  ludicras 

Ille  hostem  laqueo  captet  vel  retia  fundat, 

Et  lubricum  piscem  petat 

Aut  ft'rus  impacta  simulet  Thrax  vulnera  sica 

Dum  Be  secutor  subripit. 


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140 


Der  monodische  Styl  in  Rom. 


Unter  Instrumentalmusik  (Galliardenrhythmus)  beginnt  der 
Kampf.  Der  Retiar  wird  verwundet  und  geräth  in  Noth;  der 
Secutor  (Bassj  fragt  sein  Publikum: 


 U  >  |>  1  1  


Ver-tis   ne  Ro-nia  pol-li-cem,  an  po-ti-ushuncmitti  ju-besV 

(Tromba.) 


et 


Das  Publikum  denkt  menschlich: 


 _i  !_- >_j:T^._4_  #,^t-j_a_-_j*-J— 


Sat  for-  tis   im  prcs-suni  tu  -  lit  tuI  -  nus  nec    o  -  re 


Sat  fortis  etc. 


-E — h  


Sat  etc.  (Gen.  Bass  mit  dem  Chorbass). 


Der  Kampf  wird  fortgesetzt;  quid  mea",  ruft  der  lletiar, 
„celero  retia  lapsu  fallax  becutor  eflugis  ?" 


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Der  monodische  Styl  in  Rom. 


141 


Chor. 


jt — * 


f>  ^  ♦  Li 


Non  te   po  -  to    pi-scem  pe  -  to,   qnid  me  fn-gis  Gal-lo?') 

/TS 


Non  te  etc. 


s-p  p  i  p  1 1  p.  r  f 


Non  te  etc. 
(Generalbass  unison  mit  dem  Chorbaes.) 

Der  Rogus  wird  endlich  angezündet  —  und  jetzt  entwickelt 
eich  der  höchste  Glanzmoment  der  Darstellung:  der  Himmel  öff- 
net sich,  man  sieht,  während  Koma  und  alle  sie  Umgebenden 
knieend  verehren,  die  beiden  Heiligen  oben  in  Herrlichkeit  und 
Verklärung,  umgeben  von  den  Heerscharen  des  Himmels.  Die 
Heiligen  (Tenor)  verheissen  ihren  Schutz: 

S.  Ignatius. 


±=rp= 


1 


Qui  mor  -  ta  -  Iis     ad  -  huc  non    ul  -  Ii    de  -  fu  -  it 


3= 


5» 


h  P  !   U  I   k  r 


ar-  dor  e  -  xi-gn  -o  mun  -di  com-ple  -ms  tem-po  -  rc   me  -  tas 


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V.-0* — 0 


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i  -  gni-  bus   il  -  le   De  -  o   pro-  pi  -  or   me-  Ii  -  o  -  ri  -  bus 


m 


rr 


1)  Ueber  diesen  Zuruf  vorgl.  Ludwig  Pricdländer's  „Darstellungen 
aus  der  Sittengeschichte  Rom's",  2.  Theil,  S.  386  — :  „vermuthlich  ist 
dies  unter  entsprechender  rhythmischer  Bewegung  und  Musikbegleitung 
gesungen  worden'*.  Es  ist  in  die  Gladiatoren szene  des  S.  Ignazio  viel 
archäologische  Gelehrsamkeit  eingepackt. 


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142 


Der  monodische  Styl  in  Eom. 


■ms- 


or-bcm  moe-ni  -a  cor-ri  -  pi  -  et  nie  -  Ii  -  o-  ri  Ro-rau-la 


1 


flam-ma  quae-que  me-o  ae-ternura  ci  -  ne    ri   sub-je-cta  ca- 


•  s 

3 


le  -  bit  Gre-  go  -  ri-umetmagnosser-va-bit  flam-ma  Qai-ri  -  tes. 

«8»  ™ 


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i 


Hl 


□z: 


Darnach  Chor:  „sie  fides  nostris,  pietasque  regnis"  u.  s.  w. 
und:  „Gregori  servet  geminata  regnum,  servet  et  magno  similem 
parenti,  vivat  ut  quondam  simile  senecta  flamma  nepotem". 


S.  Franciscus. 


• — 


Ex  -  pu  -  lit   ho  -  sti  -Im    o  -  lim  quae  dex-te  -  ra  tur-mas 


2 


t->— — m — r~-p-\-^-p—p—p—p—p—=- 

-Z-M-*-*-*- 

 ^    i,    '     *  r*1    p    r    *    1  *^yr 

ex  -  ci  -  vit-que   i  -  te-rum  pro-du  -  cta  ad 

mu-ne-ra  vi-tae 

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■V- 


non    ex  -  o  -  ra  -  tis   jam-da-dum  clau-sa  se-pul-cris 


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Der  monodische  Styl  in  Rom. 


143 


cor-po -  ra  et  in  -  na  -  me-ras  vi  -  ta  -  Ii    flu  -  mi-  no  gcn-tes 


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1 


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ab  -  In  -  it,  haec  gemmis  au  -  ro-que  in-clu  -  sa   ni  -  ten  -  ti  dum 


1^ 


ti  -  bi  ßo-  ma   ri  -  got  pa  -  ri  -  ter   ti  -  bi   mi  -  Ii  -  tat  u- 


-fr— fr=ft 


ni   Gre  -  go  -  ri  -  um   et    ma   -  gnos 

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-  per  te- 


3 


ctu    -    ra    Qui  -  ri  -  tes. 


Der  Chor: 


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Sic    fl-dea     no-stris    pie  -   tas-quo    ro  -  gnisu.  b.  w. 


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i    i  i  ^ 


F 


wird  wiederholt  und  schliesst  die  Darstellung  ab. 

Die  Zuseher,  an  die  mageren  Incunabeln  der  Monodie  ge- 
wöhnt, scheinen  es  zum  Glück  nicht  empfunden  zu  haben,  wie 
unscheinbar  sich  Kapsberger's  Musik  neben  der  Pracht  der  Aus- 
stattung ausgenommen  haben  rnuss. 


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144 


Der  monodische  Styl  in  Rom. 


In  demselben  Jahre  1622,  wo  die  „Apotheose"  aufgeführt 
wurde,  trat  Vittorio  Loreto  in  das  Collegium  der  päpstlichen 
Sänger  ein.  Auch  er  componirte  für  die  Jesuiten  einen  „heil. 
Ignaz  von  Loyola",  den  wir  indessen  nur  aus  einem  Briefe  des 
Erythräus  kennen  l).  Er  erzählt  über  die  Auffiühruug  pikante 
Details.  Es  war  diesmal  kein  allegorisches  Spiel,  sondern  das 
dramatisirte  Leben  des  Heiligen,  was  Manche  tadelten,  „weil  der- 
gleichen nicht  aufs  Theater  gehöre,  sondern  besser  den  Predi- 
gern vorbehalten  bleibe".  Viele  nahmen  besonders  an  der  öfte- 
ren Erscheinung  Christi  Anstoss.  Erythräus  selbst  fand  die  Poe- 
sie mittelmässig,  desto  vortrefflicher  die  Musik  seines  vergötterten 
Loreto.  Ein  Beweis,  wie  sehr  sich  die  Menge  bei  Schauspielen 
dieser  Art  bereits  an  Pracht  und  Glanz  gewöhnt,  ist,  dass  man, 
obwol  die  Jesuiten  es  schwerlich  an  dem  ihnen  gewohnten  Prunk 
hatten  fehlen  lassen2),  „die  Ausstattung  nicht  reich  genug  finden 
wollte".  „Christus",  meinte  man,  „hätte  in  den  getheilten  Wolken, 
umglänzt  von  Licht,  umgeben  von  Engelchören  erscheinen,  — 
die  geöffnete  Hölle  hätte  Flammen,  Dämonen,  Schlangen  sehen 
lassen,  die  Personifikation  der  Gegend  der  Antipoden  hätte  als 
königliche  Figur  im  Aufzuge  eines  Attalus  mit  einem  Gefolge 
von  Elephanten  und  Reitern  auftreten  sollen".  Trotz  solcher 
Ausstellungen  nahm  ganz  Rom  das  lebhafteste  Interesse.  Der 
Generalprobe  sollte  nur  eine  Elite  von  Kennern  und  Kunstfreun- 
den beiwohnen,  „es  drängten  sich  aber  gewaltsam  gegen  zwei- 
tausend Personen  hinein,  welche  von  der  Herrlichkeit  des  Ge- 
schauten und  Gehörten  nicht  genug  zu  sagen  wussten.  Zur  Auf- 
führung strömte  denn  auch  „fast  die  ganze  Stadt  herbei"  —  die 
Zuschauerplätze  wurden  mit  Sturm  genommen,  in  den  für  die 
Kardinäle  vorbereiteten  Sammetfauteuils  räkelten  sich  grobfäustige 
Trasteveriner ,  die  keine  Gewalt  hinauszuschaffen  vermocht  hätte 
—  es  war  ein  Lärm,  „dass  man  von  dem  Werk  nicht  mehr  hörte, 
als  hätte  die  Vorstellung  bei  Stadisis  stattgefunden,  wo  die  Ka- 
tarakte des  Nil  die  Anwohner  betäuben".  Die  nächste  Auffüh- 
rung fand  denn  mit  bedeutenden  Vorsichtsmassregeln  statt,  eine 
starke  Abtheilung  Schweizer  bewachte  den  einzigen  Eingang, 
der  diesmal  geöffnet  war,  man  Hess  nicht  mehr  Zuseher  ein ,  als 
Plätze  zur  Verfügung  standen,  man  schloss  endlich  das  Thor, 
vor  dem  die  ausgesperrte  Menge  vergeblich  tobte.  Diesmal  wurde 
Alles  mit  grösster  Aufmerksamkeit  angehört.  Bemerkt  mag  wer- 
den, dass  der  Berichterstatter  Erythräus  das  grösste  Gewicht  auf 
den  moralisirenden  Zweck  der  Vorstellung  legt:  „Bussgeist,  Liebe 
zur  Tugend,  Abscheu  vor  der  Sünde  zu  wecken". 


1)  Erytbraei,  Epp.  ad  diversos  IV.  Buch,  Brief  37.  3.  auch  Lindner's 
trefflichen  Aufsatz  „Ritter  Vittorio  Lorito"  („zur  Tonkunst'1,  S.  51). 

2)  Erythräus  bezeichnet  dit<  Szene  als  „magnificentissima". 


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IV. 


Die  Musikreform  und  der  Kampf 
gegen  den  Contrapunkt. 


Ambro«,  Geschichte  der  Masik.   IV.  JQ 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen 
den  Contrapunkt 

Eine  neue  Zeit  war  beiangekommen,  und  in  der  Entwick- 
lungsgeschichte der  Musik  trat  ein  Umschwung  ein,  eine  Oppo- 
sition gegen  das  Bestehende  und  eine  Reformbewegung,  deren 
Ziel  eine  Tonkunst  ganz  neuer,  auf  ganz  anderen  Fundamenten, 
als  den  bisherigen  beruhenden  Art  war.  Sie  beginnt,  in  runder 
Zahl  ausgedrückt,  mit  dem  Jahre  1600.  Es  ist  eine  Epoche,  bei 
der  man  von  vorne  zu  zählen  anfangen  muss.  Dieser  nicht  ohne 
Leidenschaftlichkeit  gegen  den  Contrapunkt  im  Namen  einer  nach 
antiken  Autoritäten  und  antiken  Kunstprincipicn  zurückgreifenden 
Tonkunst  geführte  Kampf  ist  das  genaue  Gegenbild  der  um  zwei- 
hundert Jahre  Hlteren  Bewegung,  welche  man  als  die  „Renais- 
sance" bezeichnet.  Wie  immer  kömmt  auch  diesmal  die  Musik 
als  Nachzüglerin  der  anderen  Künste.  Die  Renaissance  beginnt 
in  Italien  (wieder  in  runder  Zahl  ausgedrückt)  mit  dem  Jahre 
1400,  sie  dringt  ein  Jahrhundert  später  siegreich  in  Frankreich 
nnd  Deutschland  ein;  hier  und  dort,  als  die  Ideen,  welche  dio 
ausschliesslich  bewegenden  des  Mittelalters  gewesen  waren,  ihre 
beherrschende  Kraft  eingebüsst  hatten.  Die  florentiner  Refor- 
matoren der  bildenden  und  bauenden  Künste  von  1400  wären 
bei  der  allgemeinen  Strömung,  welche  die  Geister  fortriss,  sicher 
gleichzeitig  als  Musikreformatoren  aufgetreten,  hätte  die  Musik 
der  Italiener  nicht  bis  nach  1500  in  den  Windeln  gelegen  und 
wäre  sie  dann  nicht  von  der  hochausgebildeten  niederländischen 
Tonkunst  durchaus  abhängig  und  bedingt  gewesen.  Als  die  Musik 
sich  endlich  aufmachte,  um  sich  der  Bewegung  anzuschliessen, 
war  die  Jugendfrische,  der  erste  Enthusiasmus  der  Renaissance 
lange  vorbei,  sie  hatte  ihren  Höhepunkt  lange  hinter  sich  und 
hatte  sich  in  der  Bildnerei  und  Architektur  bereits  in's  wildeste 
Barrocco  verlaufen,  das  Leben  hatte  den  freien,  poetischen  Hauch 
längst  gegen  schwülstige,  selbst  zum  Theile  ungeheuerliche  For- 
men vertauscht.  Es  war  für  die  Dichtkunst  die  Zeit  der  Mari- 
nismen, Gongorismen  und  Euphuismen,  es  war  die  Zeit  der  Borro- 
minismen  nnd  Berninismen  in  der  Architektur  und  Sculptur,  der 
steif  vornehmen  ceremoniösen  Etikette  in  der  sogenannten  guten 

10* 


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148      D*0  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


Gesellschaft,  der  tellergrossen  spanischen  Halskrägen,  der  „Gänse- 
bäuche", der  Guard'-Infantes  und  Flatterspitzen.  Die  neue  Musik 
begann  bald  nach  ihrem  allerersten  Anlauf,  welcher  mitten  in 
jener  seltsam  unnatürlichen  Welt  durch  seine  reinen,  edlen  Ziele 
und  sein  Streben  nach  Einfachheit  und  Wahrheit  überrascht,  aller- 
dings wenigstens  einen  Reflex  vom  „Geiste  der  Zeit"  zu  zeigen. 
Aber  sie  steht  im  Ganzen  trotzdem  den  gemeisselten  Virtuosen- 
stücken,  dem  Spiel  geschwungener  Linien  und  den  zuweilen 
geradezu  tollen  Phantasiespielen  der  Bau-  und  Dccorirkunst  mass- 
voll gegenüber.  Sie  durfte  auf  dem  ihr  neuen  Boden  eben  keine 
so  kecken  Sprünge  machen,  wie  ihre  Schwesterkünste  auf  dem 
ihnen  längst  gewohnten.  Ihrer  Mittel  war  sie  nicht  entfernt  so 
sicher,  wie  jene,  welche  mit  dem,  was  zwei  Jahrhunderte  einer 
hohen  Kunstblüte  für  sie  errungen,  iibermüthig  verschwenderisch 
umgehen  durften,  während  die  Musik  erst  noch  Alles  mit  Mühe 
und  Arbeit  für  sich  zu  erwerben  hatte. 

Die  bildenden  Künste  brauchten,  sobald  jene  geistige  Strö- 
mung eingetreten  war,  das  ihnen  vom  Alterthume  hinterlassene 
Erbe  nur  kurz  und  gut  anzutreten  —  noch  standen  die  Trümmer 
der  einstigen  Herrlichkeit  Rom's  mit  ihren  Formen  und  Verhält- 
nissen der  zeichnenden  und  messenden  Hand  des  Architekten  zur 
Verfügung;  die  Marmorgestalten  der  Antike  feierten  eine  nach  der 
andern  ihre  Auferstehung  aus  dem  Trümmerschutt,  in  welchen 
die  Verwüstungen,  die  über  Rom  hingegangen,  sie  begraben  hatten. 
Die  Dichter,  die  Geschichtschreiber,  die  Redner  des  Humanisten- 
zeitalters fanden  ihre  Muster  iu  den  Dichtern,  Geschichtschreibern 
und  Rednern  des  Alterthums,  deren  Werke  durch  den  Eifer  eines 
Poggio  und  Anderer  aus  vergessenen  Winkeln,  aus  düsteren  Kloster- 
bibliothoken  und  woher  sonst  gezogen  worden  und  seit  der  Er- 
findung des  Buchdrucks  und  besonders  seit  Aldo  Manucci's  rühm- 
licher Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete  für  Jedermann  zugänglich 
geworden  waren.  Ganz  anders  die  Musik.  Die  schwierigen  Theo- 
rieen,  welche  sie  bei  völligem  Mangel  an  wirklichen  Musterwerken 
aus  dem  Alterthume  überkam,  waren  weit  eher  geeignet,  sie  zu 
verwirren  und  in  ihrer  Entwickelung  zu  hemmen,  als  sie  zu  for- 
dern. l)    Der  an  die  alten  theoretischen  Schriften  sich  anhängende 


1)  Die  Vorkämpfer  der  musikalischen  Bewegung  dachten,  wie  natür- 
lich, ganz  anders.  Die  Parallele,  welche  G.  B.  Doni  (do  uraest.  mus.  vot. 
S.  11  u.  f.  der  Ausgabe  von  1647,  Seite  84  u.  f.  im  1.  Bande  der  Gesammt- 
ausgabe  von  1763)  zwischen  den  noch  vorhandenen  Schriften  antiker  Au- 
toren über  Musik  und  den  Schriftstellern  des  Mittelalters  und  weiter  bis 
auf  Glaroan  zieht,  ist  d»  r  stärkste  Ausdruck  dafür.  Jone  sind  der  Inbe- 
griff aller  Weisheit,  die  andern  sind  Barbaren  „qui  no  somniarunt  quidem, 
quid  esset  eloquentia  aut  doctrina  politior*'  und  die  vielleicht  nur  durch 
oio  „seculi  illius,  quo  vixerunt,  infelicitas"  zu  entschuldigen  sind.  Glarean, 
der  doch  täglich  reine  und  elegante  Schriftsteller  zur' Hand  zu  nehmen 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  149 


Kram  gelehrter  archäologischer  Notizen  über  Dinge,  welche  nur 
äusserlich  auf  Musik  Beziehung  haben,  die  immer  wieder  nach- 
erzählten antiken  Musikanekdoten  und  Musiklegenden,  die  gläubig 
hingenommenen  Wundergeschichten  machten  die  Sache  um  nichts 
besser,  und  was  man  bei  Piaton  an  legislatorischen  Aussprüchen 
über  die  Tonkunst,  deren  Werth  und  Anwendung  fand,  wurde 
zwar  mit  unbedingtester  ehrfurchtsvoller  Zustimmung  angehört, 
als  Gesetz  voll  Gehorsam  entgegengenommen,  wollte  aber  in  eine 
gänzlich  veränderte  Welt  und  Weltanschauung  hinein  doch  nicht 
recht  passen. 

Zudem  konnten  aber  die  musikalisch-antikisirenden  Reform- 
ideen erst  dann  Wurzel  fassen,  als  die  ältere  Richtung  der  Musik, 
welche  vor  Jahrhunderten  ihren  ersten  Anfang  im  Kirchengesange 
genommen,  ihre  höchste  Entwickelung  kurz  vorher  in  PaJestrina 
und  der  um  ihn  geschaarten  römischen  Schule  gefunden  hatte, 
über  diesen  letzteren  Punkt  hinaus  war' und  anfing,  nach  neuen 


gewohnt  war,  ist  gar  nicht  gonug  zu  schelten,  weil  er  —  Worte  braucht 
wie:  „Semiditas  pro  semissis  ablationc,  imperficore  atque  imper- 
fici.  ubi  de  notis  perfectis  atquo  imperfectis  loquitur  —  prava  haec 
Scabies  et  inquinatum  loquendi  genus,  quo  recentiores  musurgi  fatali 
quadam  vecordia  utuntur;  cujus  contagione  videlicet  sua  ipsius  scripta, 
satis  alioqui  proba  et  casta,  bonus  illo  Helvetius  infici  non  animadvertit." 
Ueber  Anstoxenus  ist  Doni  ganz  ausser  sich:  „ex  postorioribus  autem 
philosophis  unus  etiam  Plutarchi  de  musica  Uber  etiamnum  fertur:  sed 
adeo  rerum  cognitu  dignissimarum  refertus,  ut  eo  majus  tot  in  simili  genere 
amissorum  excitet  desiderium.  Aristoxeni  vero,  Dens  bone,  quanti,  qualisque 
viri!  non  dico  nunc  Philosoph],  aut  Mathematici,  aut  vitarum  scriptoris, 
sed  Musici,  immo  Musico rum  omnium  quotquot  unquain  fuerunt 
sine  controversia  prineipis;  quid  nisi  tres  elementorum  harmoni- 
corum  libelli,  nec  ii  quidem  satis  integri  et  pauca  quaedam  fragmenta 
jam  supersunt?  in  quibus  tarnen  is  ordo,  eaque  methodns  ac  proprietas, 
orevitas  et  perspicuitas  sermonis  elucet,  ut  Aristo  telis  diseipulum  facile 

agnoscas.  —  Suidas  quinquaginta  tres  supra  quadringentos  libros 

ab  eo  conscriptos  prodidit,  quomm  plerique  ad  rem  musicam  (cujus  omnes 
partes  solertissirae  pertractavit  ac  digessit)  pertinuisse  ridentur.  0  jac- 
turam  deplorandam!  0  infelicem  sortem  tuam,  Aristoxene!"  —  Dio  Kunst- 
ausdrücke der  neuen  Musik  sucht  Doni  durch  wahro  Prachtausdrücke  an- 
tiken Klanges  zu  ersetzen,  denen  er  indessen  nothgedrungen  die  herkömm- 
lichen in  Klammern  beisetzt,  weil  sonst  kein  Mensch  verstanden  haben 
würde,  was  er  meint.  So  wird  das  Ciavier  zum  „Polyplectrum14  —  ein 
Ausdruck,  welchen  hernach  auch  Athanasius  Kircher  verwerthet  —  wir 
lesen:  „Symphoniurgium  seu  Contrapunctum"  —  „Syraphoni- 
urgorum,  sertinacia,  quos  Componistas  Papius  vocat"  —  ,.in  vulgaris 
Pcctidis  chalcocoröae  (quam  Citaram  vocant)  et  in  Cholonidis 
Hispanicae  (quam  Chitarram  graeca  paene  pronuntiationo  appellant) 
syncrusibus"  —  „homophoneseon  (quas  Pugas  vocant)  propin- 
quita.s"  —  eine  Motette  heisst  „Prosodia"  —  ein  Madrigal  heisst  ,,Scoli- 
asma4';  ein  Ritornell  „Mesocitharisroa";  der  Generalbass  ,,Hypatodia  orga- 
nica";  die  Cadenzen  worden  bezeichnet  in  clausulis,  quas  Syncata- 
gogas  graect»  rectius  dixeris.  (Dio  bezüglichen  Stollen:  Opp.  1  S.  90, 
91,  98,  219,  233,  243  u.  s.  w.) 


150     Die  Musikreform  uud  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


Ausdrucksmitteln  zu  suchen.  Eine  neue  Entwickelung  der  Musik 
that  noth  —  das  fühlte  jedermann,  aber  auf  den  alten  Wegen 
war  sie  nicht  zu  finden,  denn  hier  hatte  die  Musik  ihr  Höchstes 
schon  erreicht;  was  noch  nachfolgte,  war  folgerichtig  im  besten 
Falle  Wiederholung,  noch  öfter  aber  Ausartung  oder  bedenkliehe 
äusserliche  Potenzirung.  Letztere  bei  allen  Künsten  war  jeder- 
zeit ein  sicheres  Zeichen  des  nahe  bevorstehenden  Sturzes. 

Die  reformatorische  Bewegung,  welche  1600  zunächst  in 
Florenz  unaufhaltsam  losbrach,  hatte  sich  in  ihren  ersten,  einst- 
weilen kaum  merklichen  Symptomen  hundert  Jahre  früher  in 
Oberitalien  angekündigt.  Die  ganze  Richtung  der  „Frottole" 
kann,  trotz  einzelner,  an  Niederländisches  mahnender  Züge,  doch 
kaum  anders  verstanden  werden,  denn  ab  Opposition  gegen  die 
nach  Italien  importirte,  alle  Kirchen,  alle  Fürstenhöfe  beherr- 
schende niederländische  Musik.  Gerade  jene  Stücke,  die,  ohne 
Text,  als  Aer  de  Capitoli,  Aer  de  Sonetti  u.  s.  w.  bezeichnet  und 
gleichsam  musikalische  Futterale  sind,  in  welche  man  beliebige 
Terzinen,  Sonette  u.  s.  w.  einpacken  kann,  mögen  wohl  als  erster, 
leiser  Versuch  gelten ,  die  Poesie  aus  den  Banden  des  Contra- 
punktes zu  befreien  und  ihr  zu  ihrem  Rechte  zu  verhelfen.  Wenn 
Cyprian  de  Rore,  Luca  Marenzio  u.  A.  Sonette  im  herkömmlichen 
contrapunktischen  Styl  componirt  hatten,  gingen  die  Sonette  mit 
ihrem  Versmaassc,  dem  melodischen  Wechselspiel  ihrer  Reime 
u.  s.  w.  aus  Rand  und  Band.  Im  „Aer  de  Sonetti"  sollte  Alles 
dieses  wieder  merklich  oder  doch  merklicher  weiden.  Ucber- 
haupt  zeigen  die  von  den  Bewunderern  des  Contrapunktes  tief 
verachteten  Frottole  in  echt  italienischer  Weise,  gegenüber  dem 
organischen  Constructionsstyl  der  Niederländer,  ein  Streben  nach 
proportionirtem  Raumstyl  —  erster  Theil  mit  Wiederholung,  zweiter 
Theil  u.  s.  w.  Der  Contrapunkt  folgt  seinem  Cantus  firmus 
Schritt  auf  Schritt,  gleichviel  wohin  der  Weg  führt;  hier  aber, 
bei  den  Frottolen,  kündigt  sich  musikalischer  Periodenbau  an,  der 
den  Tonstoff  nicht  Schritt  nach  Schritt  in  Einzelheiten,  sondern 
nach  ganzen  Constructionsgruppen  behandelt. 

Aber  um  1500  war  der  Kampf  noch  ein  gar  zu  ungleicher! 
Die  niederländische  Musik  verscheuchte  mit  leichter  Handbewe- 
gung den  ganzen  Insektenschwarm  dieser  Frottole,  welcher  ihr 
um  die  Ohren  summte.  Die  wirklichen  Talente  in  Italien,  wie 
Costanzo  Fcsta  u.  s.  w.,  wurden  gelehrige  Schüler  der  Niederlän- 
der. Unter  ihren  Händen  bekam  die  Musik  allerdings  allmählig 
eine  etwas  andere  Physiognomie.  In  einer  neuen  Redaction, 
als  „Palestrinastyi",  beherrschte  der  niederländische  Styl  abermals 
die  gesammte  Tonkunst.  Im  Madrigal  begann  sich  aber  jene, 
wohl  zurückzudrängende,  aber  nicht  zu  beseitigende  Neigung  des 
Italieners  für  den  „proportionirten  Raumstyl"  (die  sich  z.  B.  auch 
in  seiner  Behandlung  der  Gothik   so   eigen  und  in  so  höchst 


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Die  Musikreform  und  der  KAmpf  gegen  den  Contrapunkt.  151 

merkwürdiger  Weise  zeigt)  wieder  zn  regen  Bei  den  späteren 
Madrigalisten  überrascht  oft  schon  ein  gewisser  moderner  Musik  - 
klang.  Vollends  liedhaft  gestalteten  sich  die  Vilanellen,  die  ihren 
Ursprung  aus  dem  Volksliede  nicht  hinter  künstliche  ('(Instruc- 
tionen verstecken  durften.  Aber  alles  dieses  stand  noch  unter 
dem  Regimente  des  Contrapunkts,  der  Polyphonie  —  mit  letzte- 
ren aufzuräumen  fiel  noch  Niemandem  ein.  Noch  Franchinus 
Gafor  und  seine  ganze  Zeit  war  ehrlich  der  Meinung  gewesen, 
dass  die  antike  Musik  der  Griechen  genau  so  ausgesehen  und 
geklungen  habe,  wie  der  allübliche  neue  Contrapunkt.  Jo- 
hannes Otto  in  Nürnberg  beruft  sich,  in  einer  Vorrede  zu  einem 
von  ihm  publizirten  Buch  niederländisch-contrapunktischer  Messen 
von  den  besten  Meistern  der  Zeit,  zu  deren  Lob,  Preis  und  künst- 
lerischer Rechtfertigung  auf  eben  die  Grundsätze  Platon's,  welche 
die  Florentiner  zitirten ,  um  dieselbe  Musik  als  barbarische  Ver- 
irrung  anzuklagen  und  zu  stürzen.  Denn  auf  nichts  Geringeres 
war  es  abgesehen ! 

Aber  statt  der  von  den  Florentiner  Kunstfreunden  gewünsch- 
ten und  gehofften  Wiedergeburt  der  antiken  Musik  wurde  die 
ganze  Reform  eben  nur  der  Ausgangspunkt  einer  neuen  Ent- 
wickelung,  durch  welche  die  Tonkunst  völlig  neue,  bisher  nicht 
einmal  geahnte  Gebiete  erobern,  neuer  Mittel  mächtig,  neuen 
Ausdruckes  fähig,  aber  der  antiken  Musik  womöglich  noch  un- 
ähnlicher werden  sollte,  als  sie  bisher  ohnebin  schon  gewesen. 
Es  ist  eine  merkwürdige  Analogie  zwischen  der  Art,  wie  sich 
die  neue  Reform-  oder  Renaissancebewegung  der  Musik  äussert, 
und  jener,  wie  sich  die  ähnliche  Bewegung  auf  dem  Gebiete  der 
Architektur  und  der  bildenden  Kunst  ihrer  Zeit  geäussert  hatte. 
Die  historischen  Darlegungen,  die  ästhetischen  Auseinandersetz- 
ungen, die  Klagen  und  Anklagen,  die  Ausfalle  gegen  den  „Con- 
trapunkt" und  dessen  Pfleger  und  Vertreter  sind  ein  völliges 
Echo  der  leidenschaftlichen  Angriffe  Filarete's,  Vasari's  und  An- 
derer gegen  die  Gothik,  welche  ja,  gleich  dem  Contrapunkt,  mit 
welchem  sie  die  gleiche  Heimat  hatte,  eine  „oltremontane" ,  das 
heisst,  nach  damaligen  italienischen  Kunstansichten,  auch  eine  von 
den  Barbaren,  welche  in  Italien  von  Norden  her  eindrangen,  ein- 
geschleppte, an  Stelle  der  allein  wahren  und  echten  (das  ist  der 
antiken)  gesetzte  Kunst  war.  Sei  doch  die  Kunst  des  Contra- 
punktes in  „rohesten  Zeiten"  entstanden  und  „unter  Menschen, 
welche  aller  gelehrten,  aller  feinen  Bildung  bar  gewesen  und 
schon  durch  ihre  entsetzlichen  Namen  Hobrecht,  Okeghera  u.  s.  w. 
ihre  Barbarei  verriethen".  l)    Mit  deutlichen  Rerainiscenzen  an 


1)  ..Essendo  nata"  (die  Contrapunktik)  „in  tempi  roziasinri,  e  fra 
uomini  a'ogni  sorte  <ü  letteratura  e  gentilezza  nudi,  e  cho  con  Ii  nomi 
stessi  dimoatrano  ia  loro  barbarie  Hebrocht  (so!),  Ogheghen."  (Ü.  B.  Doni 


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152  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


Vasaris  Proemio  schildert  Doni,  wie  einst  alle  Künste  durch  die 
Wuth  der  Italien  tiberschwemmenden  und  verwüstenden  Barbaren 
(bararorum  furor  ac  rabies)  untergegangen  seien.  An  Stelle  der 
schönen,  edeln,  wohlgeordneten  Baukunst  der  Römer  setzten  sie 
(sagt  Doni)  ihre  barbarische,  bis  Filippo  Brunelesco  statt  dieser 
„dummen  deutschen  Manier"  (goffa  mauiera  tedesca)  die  „wahre 
und  echte  Art  der  Griechen  und  Kömer  zu  bauen"  einführte  und 
Giotti  die  gleichfalls  ganz  verloren  gewesene  Malerei  wieder 
erweckte  —  jetzt  erlebe  (fährt  Doni  fort)  die  Musik  eine  ähn- 
liche Wiedergeburt,  aber  allerdings  erst  spät !  l)    Oder  vielmehr 


Tratt.  de  la  mus.  scen.  Band  II.  Appendice  S.  8.)  Niederländische  Na- 
men erregten  durch  ihren  Klang  aucn  sonst  die  Spottlust  der  Italiener. 
„Nomi  da  fare  sbigottire  un  cane"  sagt  Francesco  Benni  in  einem  gegen 
Hadrian  VI.  gerichteten  Spottgedicht  (Op.  burlesche  I,  66). 

1)  Die  Analogie  zwischen  Musik  und  Baukunst  war  den  Italienern 
geläufig.  Auch  Zarlino  bemerkt:  „diro  solamente.  che  se  l'Architettore 
non  bavesse  cognitiono  della  Musica,  come  ben  lo  aimostro  Vitruvio,  non 
saprebbe  con  ragione  fare  il  temperamento  delle  machine,  e  ne  i  Theatri 
collocaro  i  vasi  et  dispor  bene  ot  musicalmente  gli  edificij."  In- 
stit.  harm.  I.  cap.  2).  Mehr  als  hundert  Jahre  früher  hatte  Loo  Battista 
Alberti .  der  „Vater  der  Renaissance-Architektur",  gesagt,  man  könne  an 
seinen  Entwürfen  nichts  ändern:  „senza  sconcertar  tutta  questa  musica." 
Und  so  kömmt  auch  Doni  darauf  mehr  als  einmal  zu  sprechen.  So  sagt 
er  (de  praest.  m.  v.  S.  43) :  „Quod  si  alio  propositum  meum  urgeam 
argumenta,  ex  comparatione  scriptomm  recentium,  cum  antiquis  petito; 
an  hic  quoque  nagaXoyfil^t&at  videbor,  atque  nogari?  Aio :  quibus  tem- 
poribus  facultatis  alicujus  praecepta  ac  theoremata  apte,  diserte,  copiose- 
que  tradita  sunt,  eam  facultatem  seu  disciplinam  in  ipsomet  opere  ac 
praxi  praestantem,  consummatamque  fuisse.  Ecce  en  im  Architccturam, 
quo  tempore  non  defnerunt  scriptores,  qui  commentariis  suis  eleganter 
copioseque  explicarent,  ut  Augusti  seculo  fecit  Vitruvius,  proxime  supe- 
riori  Serlius,  Palladius,  Scamotius,  aliique,  opera  quoque  illius  atque  eno- 
ctionem  non  disparem  fuisse,  ex  ipsismet  aedificiis  satis  apparet.  Inter- 
mediis  autem  temporibus,  hoc  est  post  magnam  illam  mundi  catastro- 

1>hem ,  usque  ad  XV.  Saeculum  (quibus,  si  qui  exstant  architectonici 
ibri.  inconditi  plane  sunt  atque  impoliti)  opera,  auae  videmus  —  Deus 
bone!  —  quam  sunt  absurde  et  ruditer  aedificata!  Hoc  igitur  posito, 
quod  verissimum  est,  si  veterum  commentarii  de  rebus  musicis,  qui  super- 
sunt,  posterioribus  antecellunt,  ordine,  perspicuitate  (!),  brevitate  (l),  ele- 
gantia,  doctrina;  inflciari  certe  non  possumus  opera  quoque  ipsa,  hoc 
est  cantus,  ac  modulationes ,  recentionbus.  quas  quotidie  audimus,  prac- 
stitisse".  Dies  ist  echt  Doni'sche  „Logik"  1 !  —  Und  wieder  an  einer  an- 
deren Stelle  (S.  75}:  ,,An  tu  quaeso  defuisse  credis  post  annum  Christi 
millesimum,  Tel  tribus  aut  quatuor  ante  hoc  nostrum  seculis,  cum  nondum 
vetus  ac  vera  architectandi  ratio  restituta  esset,  qui  cum  Maurorum  spa- 
tiosissima  quaedam  templa,  aut  nostrorum  ingentes  basilicas,  plerasque 
Germanicis  aut  etiam  Arabicis  moduUs  exaedincari  conspicerent,  turres- 
que  etiam  altissimas  de  industria  sie  inclinatas,  ut  jamjam  casurae  Tide- 
antur  (quales  Pisis  ac  Bononiae  supersunt)  majorine  audacia  an  solertia 
attolli ;  modica  Graccorum  ac  Romanorum  delubra  non  despicerent?"  Mit 
diesem  Argument  will  nämlich  Doni  die  Bewunderer  der  neuen,  reichen, 
TieBiünstlichen  Tonsätze  gegenüber  der  (geträumten)  einfach-edeln,  antiken 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt  153 

es  sei  diese  Wiedergeburt  vorläufig  leider  mehr  zu  wünschen,  als 
zu  hoffen.  Forschende  Gelehrte  und  fürstliche  Männer  —  seufzt 
Doni  —  müssten  zu  solchem  Zwecke  zusammenwirken.  *) 

Es  scheint  eine  Eigenheit  der  Musikreformatoren  aller  Zei- 
ten, dass  sie  ihren  im  Sinne  der  beabsichtigten  Reform  compo- 
nirten  Musikwerken  förmliche  Manifeste  in  Form  von  Vorreden 
voranstellen,  wenn  sie  nicht  gar  ganze  Bücher  schreiben,  worin 
sie  über  die  leitenden  Grundsätze  ihrer  künstlerischen  Intention 
Rechenschaft  ablegen.  Anhänger  finden  sich,  und  bald  häuft 
sich  neben  den  Kunstwerken  eine  ganze  commentirende,  apologe- 
tische, panegyrische  und  polemische  Literatur  auf.  2) 


Musik  schlagen.  Sich  selbst  übertrifft  er  aber  (S.  33),  wo  er  die  Verwerflich- 
keit der  neuen  Musik  von  der  Ursache  herleitet,  dass  sie  zugleich  mit 

den  Kanonen  erfunden  sei ! !  „Non  dico  inter  horribiles  bombardarum 
strepitus  obsurdescere  quodammodo  atque  bebetari  Musicorum  aures;  quod 
ne  frivolum  et  commentitium  vobis  videatur,  scitote  vehementiores  ejus- 
modi  sonos,  experitorum  sententia  mnltum  revera  auribus  officero,  quorum 
sensus  est  delicatissimns ,  ac  levioribus  etiam  ex  causis  debilitari  solet. 
Adjicite  nunc,  si  symbolismis  uti  libet,  recentiorem  hanc  musicam  eo 
8ubortam  saeculo,  quo  ferale  istud  ac  tartareum  invontum  prodiit"  — 
u.  8.  w. 

1)  Einmal  fahrt  Doni  (a.  a.  0.  S.  33)  heftig  genug  gegen  die  Fürsten  los: 
„cum  tarn  apovooi  sint  qui  sceptrum  tenent  ätozQ«p4eg  ßaotkelq."  Und 
warum?  Früher  schon  (S.  26)  hat  er  gesagt:  „Immo  vel  in  hoc  etiam  demi- 
rari  ac  deplorare  licet  miseram  hodicrnae  musicae  conditionom,  cujus  nobilior 
ac  certe  dignior  portio  adco  pauco3  invenit  amatores  sui :  cum  longe  ignobilior 
ac  vulgatior  ejus  pars,  quae  vel  nudara  continet  copulandarum  consonantia- 
rum  rationcm,  vel  meram  praxin  usumque  canendi,  a  maxi  in  is  quibus- 
que  ferme  Christianae  Reipublicae  Principibus  tanto  in  pre- 
tio  nunc  habeatur".  Wenn  Josquin,  Mouton,  Willaert  u.  A.  nach 
Doni'schem  Censns  eben  nur  für  „Barbaren"  galten,  so  konnten  natürlich 
ihre  forstlichen  Gönner  und  Beschützer  auch  nichts  Besseres  sein!  — 
Auf  diese  Gönnerschaft  der  Grossen  spielt  Doni  wiederholt  an. 
Die  Aristokraten  der  Geburt  und  des  Reichthums  sollten  mit  den  Aristo- 
kraten des  Geistes  ein  Bündniss  schliessen.  Es  sollte  eine  Kunst  der  Op- 
timaten  entstehen;  was  wueste  der  grosso  Haufe  von  Piaton? 

2)  Die  bedeutendsten  gleichzeitigen  Schriften  über  die  Florentiner 
Musikreform  sind: 

a)  Vorrede  des  Giulio  Caccini  zu  seiner  Oper  Euridice.  1600. 

b)  Vorrede  des  Jacopo  Peri  zu  seiner,  nach  demselben  Texte  coro- 
ponirten  Euridice,  1600. 

c)  Vorrede  zu  Emilio  del  Cavaüere's  musikalischem  Drama  „del  ani- 
ma  e  del  corpo."  1600  (von  Guidotti). 

d)  Vorrede  des  Giulio  Caccini  zu  seiner  Sammlung  monodischer  Ge- 
sänge „le  nuove  musiche"  (1601.  richtig  1602). 

e)  Dialogo  di  Vincentio  Galilei  nobile  Fiorentino  della  musica  antica 
e  moderna,  erste  Ausgabe  1581,  zweite  vermehrte  1602. 

f)  Vorrede  des  Marco  Gagliano  zu  seiner  Oper  „Dafne"  (1609). 

g)  Die  „Pinacotheca"  und  die  Dialoge  (dialogi  septendoeim,  Köln 
1645)  des  Janus  Nicias  Erythräus  (Giov.  Vitt  Rossi).  Dazu  noch  manche 
Stellen  seiner  Briefe  (Epist.  ad  diversos). 

h)  Jo.  Bapt.  Doni,  patricii  Florentini :  de  praestantia  musicae  veteris 


154     Dio  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt 

Der  Wunsch,  welchen  Baldassare  Castiglione  im  ersten 
Drittel  des  16.  Jahrhuuderts  ausgesprochen,  ein  Edelmann  (cor- 
tigiano)  solle  auch  ein  guter  Musiker  sein,  hatte  sich  bald  ge- 
nug, schon  im  letzten  Drittel  des  Jahrhunderts  in  Florenz  in 
hohem  Grade  erfüllt.  Es  gab  in  der  feinen  Florentiner  Gesell- 
schaft und  insbesondere  auch  am  medieeischen  Hofe  eine  Anzahl 
vornehmer  Musikdilettanten,  welche  mit  allgemeiner  wissenschaft- 
licher und  ästhetischer  Bildung  eine  sehr  bedeutende  musikalische 
verbanden.  Am  llofe  Ferdinand's  von  Medici  treffen  wir  als  „In- 
spektor der  Künste"  den  römischen,  von  G.  B.  Doni  als  „peritis- 
simo  in  musica"  gepriesenen  Edelmann  Emilio  de'  Cavalieri, 
welcher  es  ebenso  gut  verstand,  ein  glänzendes  Ballet  zu  arran- 
giren,  als  Madrigale  für  irgend  ein  Fest  am  Hofe  zu  componiren, 
und  Johannes  Bardi  Graf  von  Vernio,  Mitglied  der  Crusca 
und  der  Akademie  „degli  Alterati"  in  Florenz  !),  dessen  einzig 
erhaltene  Compositum ,  das  fünfstimmige  Madrigal  „miseri  abita- 
tor"  ihn  wirklich  als  geübten  Tonsetzer  erscheinen  lässt.  Piero 

libri  tros,  totidem  dialogis  comprehonsi,  in  quibus  vetus  ac  recens  Musica 
cum  singulis  earum  partibus  accurate  inter  se  conferuntur.  Adjecto  ad 
finom  onomastico  selectorum  vocabulorum  ad  hanc  facultatom  cum  ele- 
gantia  et  proprietate  tractandam  pertinontiuni ,  ad  Eniinentissimum  Car- 
dinalem  Mazarinum.  (Florentiae  typis  Amatoris  Massae  Forolivien. 
MDCXLVII.  —  Quart.  206  Seiten.) 

i)  G.  B.  Doni's  säimntliehe  Schriften  in  zwei  Foliobänden,  herausge- 
geben von  Ant.  Francesco  Gori.  Florenz  1763.  Dabei  einzelnes  von  G. 
Bardi  und  Pietro  della  Valle. 

1)  Das  Geschlecht  der  Vernio  wird  in  der  Florentinischen  Geschichte 
seit  dem  11.  Jahrhunderte  genannt.  Die  Via  de  Bardi  zwischen  dem 
Ponte  vecchio  und  S.  Maria  delle  Grazie  in  Florenz  am  linken  Arnoufer 
erhält  noch  jetzt  ihr  Andenken.  Sie  waron  ursprünglich  eine  Popolanen- 
familie,  wurden  aber  später  zum  Adel  gerechnet.  Ihr  Schloas  Vernio 
(in  den  Aponninen)  hatten  sie  im  14.  Jahrhundert  von  den  Alberti  er- 
kauft; Karl  IV.  erkannte  es  als  Beichslehen  an.  Sie  betheiligten  sich  mit 
dem  Volke  an  der  Vertreibung  dos  Herzogs  von  Athen;  als  aber  ein  Jahr 
später  der  Aufstand  des  Volkes  gegen  die  Vornohmen  ausbrach,  zog  sich 
Pietro  Bardi  auf  Schloss  Vernio  zurück.  Sein  Sohn  Sozzo  wurde  aus 
Feindseligkeit  des  Florentiner  Volkes  angeklagt,  auf  Castell  Vernio  Falsch- 
münzerei getrieben  zu  haben.  Als  er  auf  erhobene  Anklage  nicht  erschion, 
verurtheilten  sie  ihn  in  contumaciam  zum  Feuertode.  Seine  Enkelin  Con- 
tessina  de'  Bardi  (Contessina  nicht  Titel,  sondern  ein  in  Toskana  zur  Er- 
innerung an  die  Markgrätin  Mathilde  üblicher  Frauennamo),  Tochter  Graf 
Alessanaro  Bardi's,  wurde  1413  Gemahn  des  Cosmus  von  Medicis.  Sie 
war  Mutter  des  1416  geborenen  Piero  de  Medici  und  Grossmuttor  Lorenzo 
Magnifico's  und  dessen  beim  Aufstande  der  Pazzi  ermordeten  Bruders 
Giuliano,  und  in  weiterer  Folge  stammten  Leo  X,  Katharina,  die  Gemahn 
Heinrich  II.  von  Frankreich,  und  Alessandro  (1510 — 1536)  der  erste  Her- 
zog von  Florenz  von  ihr  ab.  Somit  standen  die  Bardi  zum  regierenden 
Hause  in  naher  Beziehung,  obschon  zur  Zeit  Johann  Bardi's  schon  die 
andere,  von  Lorenzo,  dem  Bruder  des  Cosmus  (1394—1440)  abstammende 
Linie  den  Thron  einnahm.  (Vergl.  A.  v.  Reumont  „Lorenzo  de'  Medici" 
I.  Band,  S.  104  u.  ff.) 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  155 


Strozzi  —  Bardi'a  Freund  —  war  wenigstens  ein  eifriger  Mu- 
sikliebhaber,  dem  es  um  Erforschung  der  Tiefen  dor  Kunst  Ernst 
war.  Ferner  der  Edelmann  Vincenzo  Galilei,  der  Vater 
Galileo  Galilei's,  in  Sachen  der  Musik  ein  rüstiger  Kämpfer  für 
wissenschaftliche  Wahrheit  (wie  später  sein  Sohn  auf  anderem 
Gebiete)  und  durch  Umgang  mit  dem  grundgelehrten  Girolamo 
Mei  voll  der  Grundsätze,  welche  dieser  vertrat,  d.  i.  der  Bevor- 
zugung antiker  Musik  —  leidenschaftlich,  hitzköpfig,  als  Schrift- 
steller eine  scharfe  Feder  führend.  Ferner  Jacopo  Corsi, 
Mäcen  der  Musik  und  selbst  sich  in  Composition  versuchend. 
Neben  diesen  Häuptern  fanden  sich  zahlreiche  jüngere  Edle, 
welche  ein  gemeinsames  Interesse  an  der  Tonkunst  mit  Jenen 
zusammenführte  —  nur  Emilio  de'  Cavalieri,  welcher  bei  Hofe 
alle  Hände  voll  zu  thun  hatte,  scheint  nicht  mit  in  diese  Kreise 
gezogen  worden  zu  sein. 

Schlimm  ist  es,  dass  unter  diesen  Herren  eigentlich  kein 
Einziger  so  dasteht,  dass  man  au  seiner  Person  näheren  Antheil 
nehmen  könnte.  Vincenzo  Galilei  insbesondere  wird  durch  die 
unedle  Denkungsart,  durch  den  Undank,  welchen  er  gegen  sei 
nen  Lehrer  Zarlino  bewies,  in  ein  um  so  schlimmeres  Licht  ge- 
rückt, je  edler  und  maassvoller  sich  Zarlino  benahm,  der  die 
►Schonung  so  weit  trieb,  Galilei  nicht  einmal  zu  nennen,  sondern 
nur  in  einer  des  Gelehrten  würdigen  Weise  seine  Lehrsätze 
zu  bekämpfen.  So  viel  ist  wohl  sicher,  dass  Galilei  und  Genos- 
sen viel  fanatische  Unduldsamkeit  gegen  Alles,  was  nicht  unbe- 
dingt auf  ihre  Lehrmeinungen  schwor,  entwickelten,  dass  sie  am 
liebsten  die  Tonwerke  der  vorhergehenden  Zeiten  der  Vernich- 
tung geweiht  hätten  und,  da  dieses  nicht  anging,  wenigstens 
nach  Kräften  schimpften.  Deutlich  erkennt  man  die  Züge  der 
weiland  Humanisten  wieder,  obschon  die  Blütenzeit  des  Huma- 
nismus, damals  längst  vorüber  war.  Wenn  Burkhardt  im  Sünden- 
register der  Humanisten  des  15.  Säculums  Leidenschaftlichkeit, 
Eitelkeit,  Starrsinn,  Selbstvergötterung,  Undank  gegen  Lehrer, 
kriechende  Schmeichelei  gegen  Fürsten  aufzählt  !j,  wenn  Reumont 
yon  ihnen  sagt:  „am  grössten  ist  das  Missvcrhältuiss  des  Gelei- 
steten zu  der  Meinung,  welche  die  Humanisten  von  sich  selber 
hegten  und  ohne  Scheu  aussprachen".  2),  so  ist  es  völlig,  als  werde 
über  die  Schriften  und  Tonwerke  der  Florentiner  Musikreforma- 
toren Gericht  gehalten,  und  insbesondere  die  Bücher  Vincenz 
Galilei's  und  G.  B.  Doni's  sind  damit  kurz  und  treffend  geschil- 
dert. Es  gehörte  viel  Verblendung  dazu,  Angesichts  einer  grossen 
und  herrlichen  Musikliteratur  die  Incunabeln  der  Monodie  als 
Wunderwerke  auszuschreien ,  und  wenn  man  sieht,  dass  Männer, 


1)  Cultur  der  Renaissance  in  Italien,  2.  Aufl.,  S.  216. 

2)  Bora.  III.  I,  329. 


156     Die  Musikrefonn  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


welche  Gelehrte  vorstellten,  in  ihrem  blinden  Respekt  vor  den 
Alten  so  weit  gingen,  sogar  an  die  „Wunder  der  alten  Musik" 
alles  Ernstes  zu  glauben,  so  bangt  man  wirklich  für  ihren  Verstand. 
Sie  wähnten  die  Zeit  zu  machen  —  aber  die  Zeit  machte  sie.  Dies 
ist  ihre  relative  Entschuldigung.  Dies  erklärt  auch,  dass  Dilettanten 
und  Musiker  untergeordneten  Ranges  gegen  die  bisherige  Kunst 
das  Feld  behaupteten.  Der  Genius  der  Musik  wusste  sehr  gut, 
was  er  wollte.  Welcher  Werkzeuge  er  sich  dann  bediente,  war 
ftir  den  Erfolg  gleichgiltig  —  letzterer  konnte  nicht  ausbleiben. 

Der  Unausstehlichste  vielleicht  ist  G.  B.  Do n  i.  Kleinlich, 
klatschsüchtig  schadenfroh,  von  maasslosem  Gelebrtendünkel  auf- 
gebläht, voll  unnützer  vielwisserischer  Gelehrsamkeit,  breitspu- 
rig» geziert  und  manierirt  -  klassisch  in  der  Schreibart,  erzheid- 
nisch gesinnt,  aber  voll  frömmelnder,  christthümelnder  Salbung, 
wenn  er  es  einmal  mit  einem  Cardinal  oder  einem  anderen  hohen 
Geistlichen  zu  thun  hat,  sich  selber  durch  den  Mund  der  fingirten 
Interlocutorcn  seiner  Dialoge  als  „Donius  n oster",  als  Autorität 
zitiren,  fanatisch  intolerant,  das  Alterthum  bis  zur  Lächerlichkeit 
anbetend,  schweifwedelnd  vor  den  Grossen,  vor  Leuten,  denen  er 
Eines  anhängen  möchte,  erst  maskirend,  ehe  er  sie  prügelt,  näm- 
lich mit  heuchlerischer  Schonung  die  Namen,  statt  sie  zu  nennen, 
travestirend ,  sie  aber  in  ein  sehr  durchsichtiges  Incognito 
hüllend  (z.  B.  Psychogaurus  für  Frescobaldi)  ')  und  dann  mit 
raftinirt  boshaftem  Behagen  seine  Klatschgeschichten  auskramend 
—  so  stellt  sich  uns  der  vielgepriesene  „gelehrte"  Florentiner  in 
seinen  Schriften  dar.  Die  guten  und  treffenden  Bemerkungen, 
welche  seine  Bücher  hin  und  her  —  insbesondere  über  musika- 
lische Declamation  —  enthalten,  sind  durch  den  werthlosen  Bal- 
last, den  man  mit  hinnehmen  muss,  theucr  erkauft.  Als  Quellen 
für  die  gleichzeitige  Musikgeschichte  sind  sie  allerdings  von 
grösstem  Werth  —  das  ist  aber  ein  von  Doni  gar  nicht  beabsich- 
tigter Vorzug.  Die  Bücher  sind  durch  das  Alter  besser  gewor- 
den! — 

Entschieden  am  sympathischesten  sind  die  wirklichen  Fach- 
musiker Giulio  Caccini,  Jacopo  Peri,  welche  von  den  Reforma- 
toren in  ihre  Kreise  hineingezogen  wurden.  Es  geschah  nämlich, 
dass  sich  um  15S0  im  Hause  des  Grafen  Bardi  eine  Anzahl  sei- 
ner Freunde  und  Bekannten  zu  geistreichem  geselligem  Verkehr 
zu  versammeln  pflegte.  Giulio  taccini  erzählt  in  der  Vorrede 
seiner  Nuove  musiche,  dass  nicht  allein  ein  grosser  Theil  des 
Adels,  sondern  auch  die  ersten  Musiker  und  die  besten  Köpfe, 
die  Poeten  und  die  Philosophen  der  Stadt  sich  einzufinden  pfleg- 
ten. 2)    Als  stets  wiederkehrende  Gäste  finden  wir  nebst  Giulio 


1)  tpvxavoQ  —  frosco — frisch,  kühl;  yavgoc  =  baldo,  übermäthig. 

2)  Jo  veramente  ne  i  terapi,  che  fioriva  in  Fireoze  la  virtuosissima 


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Die  Muaikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  157 


Caccini  insbesondere  von  den  eben  genannten  Kunstfreunden 
Piero  Strozzi,  welcben  Vinceuzo  Galilei  in  seinem  Dialogo 
della  musica  antica  e  moderna  (1581)  mit  dem  Hausherrn  Gio- 
vanni Bardi  zum  Interlocutor  macht,  uud  —  Vincenzo  Galilei 
selbst.  Daneben  noch  andere,  wie  Gabriel  Chiabrera,  den 
Dichter  vieler  von  Caccini  in  Musik  gesetzter  Poesieen.  Die 
Seele  der  Zusammenkünfte  war  Bardi,  sein  vorzüglichster  Berather 
allem  Anschein  nach  Galilei.  Man  disputirtc  eifrig  über  Musik, 
übte  sie  auch  praktisch.  Auf  Galilei's  Anregung  liess  Bardi  Bücher 
und  Instrumente  aus  ganz  Europa  herbeiholen.  Bardi  erwähnt 
in  seinem  Discorso  mandato  a  Giulio  Caccini  der  „unendlichen 
Verhandlungen"  (infinili  ragionamenti  avuti  insieme  in  varj  luoghi 
ed  in  varj  tempi  della  musica)  und  wie  „der  Umgang  mit  so  viel 
edeln  und  trefflichen  florentiner  Akademikern,  dessen  Caccini  von 
Jugend  auf  genoss,  diesen  zum  ersten  Musiker  Italiens  im  neuen, 
echten  Musikstyl  gemacht  habe"  Musik  scheint  im  Hause 
Bardi  der  Haupt-,  ja  der  ausschliessliche  Gegenstand  der  Ver- 
handlungen gewesen  zu  sein. 

Ueber  den  Hauptpunkt  war  man  ganz  einig:  dass,  gegenüber 
der  antiken  Musik  der  Griechen,  die  neue  Musik  nichts  besseres 
als  eine  barbarische  Vcrirrung  und  dass  der  Contrapunkt  der 
modernen  Musiker  mit  den  einzig  wahren ,  von  Piaton  gelehrten 
Grundsätzen  über  Musik  vollkommen  unvereinbar  sei. 


camerata  delT  illu  trissinio  Signor  Giovanni  Bardi  de'  conti  de  Vernio, 
ove  concorreva  non  solo  gran  parte  della  nobiltfr,  ma  ancora  i  primi  mu- 
sici  et  ingegnosi  huomini  e  poeti  e  filosofi  della  citta.  Havendola  fre- 
quentato  ancV  io.  posso  dire  d  havere  appresso  (apreso)  piü  da  i  loro  dotti 
raggionari,  che  in  piü  di  trent'  anni  non  ho  fatto  nel  contrappunto.  Im- 
pero  che  questi  intendentissimi  gentiluomini  nü  hanuo  sompro  confortato 
e  con  chiaris8ime  ragioni  convinto  a  non  pregiaro  quclla  sorte  di  musica, 
che  non  lasciando  bene  intendersi  le  parolo,  guasta  ll  concetto  et  il  verso, 
ora  allungando  et  ora  scorciando  le  sillabe  per  aecomodarsi  al  contrap- 
punto, laceramonto  dolla  poesia;  ma  ad  attenermi  a  quolla  maniera  cot- 
tanto  lodata  da  Platono  et  altri  Filosofi,  cho  aüermarono  la  musica  altro 
non  essere,  che  la  favella  e  l'rhitmo  et  il  suono  per  ultimo,  e  non  per  lo 
contrario,  a  volore,  cho  ella  possa  penetrare  nell'  altrui  inteletto  e  fare 
quei  mirabili  effetti,  che  ammirano  gli  scrittori,  e  cho  non  potevano  farsi 
per  il  contrappunto  nelle  moderne  inusiche,  e  particolarinento  cantando 
un  solo  sopra  qualunque  stromento  di  corde,  che  non  sene  intendeva  pa- 
rola  per  la  moltitudine  de  i  passaggi  tanto  nelle  sillabe  brevi,  quanto 
lunghe,  et  in  ogni  qualita  di  musiehe,  piü  che  por  mezzo  di  essi  fussero 
dal  plebe  esaltati  e  gridati  per  solenni  cantori.  (Uiulio  Caccini,  Vorrede 
der  „Nuove  rnusiche.") 

1)  —  —  quogli,  che  avondo  praticato  fino  da  giovanetto,  con  tanti 
Dobili  e  virtuosi  Accadcmici  Fiorentini,  vi  siete  conaotto  a  termiuo.  non 
solo  per  mio  parere,  ma  per  quollo  degl'  intendonti  della  vera  0  perfetta 
musica,  cho  non  solamente  non  avote  in  Italia  uomo,  che  vi  trapaasi,  ma 
pochi  o  nessuno  forse,  che  vi  pareggi:  parlo  di  quella  sorte  di  musica, 
che  cantando  o  aecomnagnato  0  solo  o^gi  in  su  gli  strumenti  si  motte  in 
atto  (bei  Doni  Opp.  II,  S.  233). 


158      Wfl  Mnsikreform  and  dor  Kampf  gegen  den  Oontrapnnkt. 


Doch  scheint  man  einstweilen  die  bestehenden  Verhältnisse 
noch  mit  einer  Art  von  Schonung  respectirt  zu  haben,  wogegen 
G.  B.  Doni,  der  allerdings  kein  Theilnehmer  an  den  Zusammen- 
künften war  und  einer  etwas  späteren  Zeit  angehört,  dessen 
Schriften  aber  des  Geistes  aus  dem  Hause  Bardi  voll  sind,  an 
mehr  als  einer  Stelle  ohne  weiteres  zu  verstehen  giebt,  dass  Der- 
jenige Mangel  an  Beurtheilungskraft ,  wenn  nicht  Aergeres  ver- 
rathe,  welcher  sich  etwa  einfallen  lässt,  die  neue,  d.  h.  die  con- 
trapunktische  Musik  der  antiken  vorzuziehen.  Ausdrücke  wie 
„ncscio  quis  hodiernae  musicae  impudens  admirator"  ')  sind 
für  Doni  keineswegs  zu  stark.  Es  sei  übrigens  kein  Wunder, 
meint  Doni,  wenn  die  vielchörigen ,  von  Menschenstimmen  und 
Instrumenten  prächtig  genug  tönenden  Kirchenmusiken  nicht  blos 
den  Pöbel  (communem  vulgi  consensum)  bezaubern,  sondern  selbst 
auch  Leute  von  Bildung  gefangen  nehmen,  denn  nur  sehr  we- 
nige (perpauci)  seien  es,  und  Leute,  die  von  Jupiter  mit  gesun- 
dem Sinne  begnadigt  sind  (quos  aequus  amavit  Jupiter),  welche 
hier  Einsicht  und  richtiges  Urtheil  genug  haben,  um  den  Unter- 
schied des  Werthes  der  antiken  Musik  zu  würdigen.  So  habe 
es  ja  auch  und  in  ähnlicher  Weise  vor  drei  oder  vier  Jahrhun- 
derten, „als  noch  nicht  die  alte,  echte  Art  zu  bauen  wieder  her- 
gestellt war  (restituta)" ,  nicht  an  Leuten  gefehlt,  welche,  wenn 
sie  die  grossraumigen  maurischen  Tempel  oder  die  einheimischen 
ungeheuren  Basiliken  nach  deutschem  oder  auch  nach  arabischem 
Style  erbauen  sahen,  oder  auch  absichtlich  schief  hingestellte 
hoho  Thürme,  wie  man  in  Pisa  uud  Bologna  findet,  und  bei 
denen  man  nicht  weiss,  ob  Kühnheit  oder  Sorgfalt  grösser  ge- 
wesen, die  massig  grossen  Tempel  der  Griechen  und  Kömer 
(nachdem  die  grösseren  bei  Abschaffung  des  antiken  Cultus  unter 
Theodosius  zerstört  worden)  verachteten  und  die  antike  Bau- 
kunst, wenn  sie  solche  mit  der  eben  üblichen  verglichen,  nur 
auslachten.  2) 

Mehrere  Jahre  vorher  hatte  der  genialste  Theoretiker,  Zar- 
lino,  zwar  den  Einwurf  hören  lassen:  „ma  se  la  musica  antica 
haveva  in  se  tale  imperfettione ,  non  par  credibile,  che  i  musici 
potessero  produrre  ne  gii  animi  humani  tanti  varij  effetti,  como 
nelle  Historie  si  raecontano"  3) ;  aber  auch  er  vertheidigt  die  an- 
tike Musik,  indem  er  auf  die  Verschiedenheit  der  von  der  mo- 
dernen ganz  verschiedenen  Aufgaben  hinweist,  welche  der  antiken 
Tonkunst  gestellt  waren,  auf  die  nicht  minder  gründliche  Ver- 


1)  de  praest.  mus.  vet.  S.  33. 

2)  a.  a.  0.  S.  75.  Mit  den  „arabischen"  Basiliken  meint  Doni  wohl 
Bauwerke  wie  den  Dom,  die  Cappella  palatina,  die  Martonara  in  Palermo 
und  ähnliches,  wo  maurischer  Eiufluss  sichtbar  wird. 

3)  Istit.  harm.  L  4  (p.  75). 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  159 


schiedenheit ,  wie  die  Musik  bei  den  Griechen  und  Römern  be- 
trieben worden  und  wie  die  Neuzeit  sie  betreibt.  Er  schilt  die 
Componisten  seiner  Zeit,  welche,  wenn  sie  drei  bis  vier  Stimmen 
regelrecht  zu  combiniren  wissen,  sich  hoch  über  die  Alten  er- 
haben wähnen.  Eine  Umstaltung  der  Musik  nach  antiken  Musik- 
principien  lag  sozusagen  schon  in  der  Luft,  wenn  ein  Mann  des 
Contrapunkts,  wie  Zarlino,  als  ihr  Anwalt  auftrat! 

Den  eigentlichen  Anstoss  zur  Musikreform  gab  in  Florenz 
zunächst  und  zuerst  die  Vorliebe  für  platonische  Philosophie  und 
das  Studium  derselben.  Seit  der  Grieche  Gemistos  Plethon  in 
dem  älteren  Cosmus  von  Medicis  die  Idee  einer  „platonischen 
Akademie'4  angeregt  und  seit  diese  Akademie  zur  Zeit  Lorenzo's 
des  Erlauchten  und  des  Marsilio  Ficino  glänzend  in's  Leben  ge- 
treten, waren  die  Gebildeten  in  Florenz  eifrige  Anhänger  Pla- 
ton's und  Leser  seiner  Schriften.  Die  „Camerata"  Bardi's  machte 
davon,  wie  natürlich,  keine  Ausnahme.  Wenn  sie  nun  in  Pla- 
ton's Schriften  eingehende  Auseinandersetzungen  über  die  Ton- 
kunst fanden,  so  ist  es  sehr  begreiflich,  dass  sie  die  Musik,  wie 
solche  täglich  geübt  und  gehört  wurde,  nach  Platon's  Grundsätzen 
prüften  und  verwarfen.  In  den  von  diesem  Kreise  aus  veröffent- 
lichten Schriften  wird  sich  überall,  wo  nöthig,  auf  Platon's  unbe- 
dingte und  unantastbare  Autorität  berufen.  ,,11  divino  Piatone 
commanda  nelle  leggi  espressamente,  che14  u.  s.  w.  —  das  war 
der  Ton,  in  welchem  man  im  Hause  Bardi  redete.  Der  offizielle 
Musiker  des  Hauses  war  Giulio  Caccini,  dessen  musikalisch- 
ästhetische Bekehrung  vom  Contrapunkt  zur  antiken  Musik  nach 
platonischen  Prinzipien  sich  alle  die  gelehrten  und  geistreichen 
Herren  sehr  angelegen  sein  Hessen.  Er  war  kein  eingeborener 
Florentiner,  sondern  ein  Römer,  daher  er  auch,  wie  jener  berühmte 
Maler  und  Schüler  Raphael's,  Giulio  Romano  genannt  wurde. 
Besonders  als  angenehmer  und  feingebildeter  Sänger  wurde  er 
hochgeschätzt,  sein  Lehrer  im  Gesänge  war  Scipione  del  Palla 
gewesen.  Er  selbst  erwähnt  aber  auch  seiner  langjährigen  con- 
trapunktischen  Studien,  doch  nicht  ohne  begeisterten  Dank  gegen 
jene  „Camerata"  Giovanni  Bardi's,  wo  er  „durch  die  gelehrten 
Gespräche  der  Herren  mehr  gelernt  habe,  als  dreissig  Jahre  Ar- 
beit im  Contrapunkt  ihm  hatten  einbringen  wollen".  Compositio- 
nen  von  ihm  im  herkömmlichen,  d.  h.  polyphon-madrigalesken 
Styl  erwähnt  der  römische  Musikfreund  Pietro  della  Valle,  spre- 
chend :  sie  seien  nicht  so  gut,  als  seine  späteren,  im  neuen  flo- 


1)  Lc  priine  composizione  buone,  che  si  siano  sentite  in  queata  for- 
ma sono  state  la  Dafne,  l'Arianna,  l'Euridice,  e  le  altre  cose  di  Firenze 
e  di  Mant  iva  I  primi  che  in  Italia  abbian  seguitato  lodevolmente  questa 
strada.  come  dissi  a  V.  S.,  sono  stati  il  Principe  di  Venoaa,  che  diede 
forse  luce  a  tutti  gli  altri  del  cantaro  affettuoao,  Claudio  Monteverde  e 


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160      Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


als  Sänger  in  den  Diensten  des  mediceischen  Hofes  1).  Seine 
Gesänge  neuen  Styles  fanden  ausserordentlichen  Beifall  und 
machten  ihn  durch  ganz  Italien  berühmt;  überall  von  den  ersten 
Sängern  und  Sängerinnen  und  den  vornehmsten  Liebhabern  der 
Musik  gesungen2),  haben  sie,  ehe  noch  Caccini  die  Sammlung 
seiner  sogenannten  Nuove  musiche  1602  im  Druck  herausgab, 
sicher  sehr  viel  dazu  beigetragen,  überall  in  Italien  dem  neuen 
Musikstyl  den  Boden  zu  bereiten.  Auch  in  Deutschland  blieben 
sie  nicht  unbekannt.  3)  Unter  den  florentinischcn  Kunstfreunden 
scheint  sich  Bardi  persönlich  die  grösste  Mühe  um  Caccini's  musi- 
kalische Bildung  oder  vielmehr  Umbildung  gegeben  zu  haben.  Er 
hat  in  einem  später  an  Giulio  Caccini  gerichteten  Sendschreiben 
die  Summe  des  aus  all'  diesen  Verhandlungen  und  Gesprächen  Ge- 
wonnenen kurz  zusammengestellt,  „damit  es  mit  einem  Blicke 
überschaut  werden  könne"  („che  quasi  unito  e  ben  proporzionato 
corpo  in  un'  occhiata  possano  essere  da  voi  compresi").  Das 
Schreiben  Bardi's  ist  gleichsam  der  Lehrbrief,  den  Caccini  aus 
dem  Hause  Bardi  mitbekam. 

„Musik",  lehrt  Graf  Bardi,  „ist  nach  dem  dritten  Buche  von 
Platon's  Republik  (Comune)  eine  Verbindung  von  Wort,  Harmonie 
und  Rhythmus.  Die  Harmonie  bestimmt  das  Verhältniss  hoher 
und  tiefer  Töne  und  der  Worte  zum  Rhythmus,  das  ist  der  wohl- 
geordneten Reihe  von  Längen  und  Kürzen.  Die  Musik  ist  nichts 
anderes,  als  die  Art  und  Kunst,  den  Worten  ihr  richtiges  Zeit- 
inaass  zu  geben,  indem  solche  nach  Länge  und  Kürze,  schnell 


Jaoopo  Peri  nelle  opere  soprannominate;  ma  pero  indirizzati  dal  Rinuc- 
cini,  autore  delle  poesio,  aal  Bardi  intendentissimo  dolle  antichita  inusi- 
cali,  dal  Corsi  peritissiino  nolla  pratica  o  grau  Mecenate  e  benefattore 
de'  profe8sori  di  essa,  e  da  quegli  altri  gentiluomini  eruditi  di  Toscana, 
che  assistevano  con  sopraintendenza  alle  loro  composizioni,  e  che  bene 
spesso  gli  facevano  fare  a  modo  loro:  onde  si  vede,  quanto  l'istesso  Mon- 
teverde  ne  migliorasse  nelle  ultime  suo  coso,  che  sono  assai  differenti 
dalle  primo;  Giulio  Caccini,  egli  ancora,  detto  Giulio  Romano;  ma  dopo 
che  si  fü  esercitato  nelle  musiche  di  Firenze;  perche  nello  altre  innanzi, 
con  buona  pace  di  lui,  non  ci  trovo  tanto  di  buono.  (Pietro  deila  Valle, 
della  Mus.  doli'  etä  nostra.  gedr.  in  G.  B.  Doni,  Opp.  II,  S.  251.) 

1)  In  den  „Feste  nelle  nozze  del  Serenissimo  D.  Franc.  Medicia" 
(Florenz  1579,  Seite  40)  wird  orzählt,  dass  Caccini  in  einem  zu  dieser 
Vermälung  des  Groäsherzogs  mit  Bianca  Capello  gedichteten  Festspiele 
von  Pietro  Strozzi  die  „Nacht"  sang  —  und  zwar  mit  Begleitung  von 
Violen.  Es  war  natürlich  ein  Gosang  derselben  Art,  wie  wir  ihn  bei 
ähnlichen  Gelegenheiten  fanden  —  Solopart  aus  einem  mehrstimmigen 
Madrigal  gezogen. 

2)  Caccini  selbst  orzählt  im  Vorberichte  zu  den  nuove  musiche: 
„madrigali  et  arie  —  —  veggendole  continuamente  esercitatc  da  i  piü 
fiunosi  cantori  e  cautatrici  d'Ttalia  et  altri  nobili  amatori  di  questa  pro- 
fesäione."    Sie  müssen  also  in  Abschriften  cursirt  liabon. 

3)  Prätoriiiä  im  „Syntagma"  nennt  Caccini  mit  unter  den  vorzüg- 
lichsten Mnsikern  der  Zeit. 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  161 


und  langsam  gesungen  werden;  und  praktische  Musik,  ist  eine 
Anordnung  der  vom  Dichter  in  Versen  verschiedener  Maasse  nach 
Länge  und  Kürze  zusammengestellten  Worte,  dass  sie,  gesungen 
von  der  Menschenstimme,  sich  jetzt  rasch  und  jetzt  langsam,  jetzt 
in  tiefen,  jetzt  in  hohen  und  jetzt  in  mittleren  Tönen  bewegen, 
wobei  der  Gesang  entweder  der  menschlichen  Stimme  allein  an- 
vertraut ist,  oder  aber  von  einem  Instrumente  accompagnirt  wird, 
welches  selbst  wieder  die  Worte  mit  langen  und  kurzen,  in  rascher 
oder  längsamer  Bewegung,  mit  tiefen,  mittleren  oder  hohen  Tönen 
begleitet  —  dies  ist  Platon's  Definition,  mit  welcher  auch  Aristo- 
teles und  andere  Weise  zusammenstimmen." ')  Bardi  setzt  nun 
die  Natur  des  diatonischen,  chromatischen  und  enharmonischen 
Geschlechts  nach  antiker  Weise  auseinander,  lehrt  die  sieben 
Octavengattungen,  „welche  jene  grossen  Weisen  mit  dem  Namen 
von  Harmonieen  bezeichneten",  und  giebt  sofort  Notirungen  der 
Tonarten  Ipodorio,  Ipofrigio,  Ipolidio,  Dorio,  Frigio,  Lidio,  Misso- 
lidio.  Der  Ipodorio  beginnt  auf  Alamire  u.  s.  w.  Don  Dorio  führt 
Bardi  seinem  Scholar  mit  den  Worten  vor:  ,,dics  ist  der  so  ge- 
priesene dorische  Ton",  der,  wie  ihr  seht,  in  der  Mitte  der  übrigen 
seinen  Sitz  hat.  Von  diesem  dorischen  Ton,  fährt  Bardi  fort,  wissen 
die  grossen  Weisen  nicht  genug  Gutes  zu  sagen ;  er  ist  männlich, 
prächtig,  göttlich,  ernst,  voll  Ehre,  bescheiden,  gemässigt,  schicklich 
(virile,  magnifico,  divino,  grave,  onorato,  modesto,temperato,  conveno- 
vole).  —  „Ist  es  denn  also  ein  Wunder,  wenn  diese  göttlichen  anti- 
ken Musiker,  mit  tiefem  Verständniss  der  Natur,  und  Alles  und 
Jedes  wohl  zusammengestimmt,  die  Geister  ihrer  Hörer  leiteten, 
wohin  sie  wollten?  Erlaubt  mir  hier  das  Kunstfeuer  als  Gleich- 
niss  herbeizuholen,  welches,   aus  schweren  Geschützen  hervor- 


1)  Also  Platon's  und  Aristoteles'  Autorität  war  hier  der  Punkt,  von 
dem  dio  Sache  ihren  Ausgang  nahm!  Winterfold  motivirt  abor  so,  dass 
gewisse  Sonette  bei  der  Hochzeit  der  Bianca  Capello  dadurch  allen 
Wohllaut,  ia  allen  auf  feine  Wortklängo  und  Wortspiele  basirten  Sinn 
vorloron,  dass  sie,  im  gewöhnlichen  Madrigalstylo  componirt,  gesungen 
wurden.  Dadurch  sei  man  aufmorksam  geworden,  wie  durch  die  her- 
kömmliche Art  zu  comnoniren  die  Poesie  vernichtot  werde.  Die  Haupt- 
ouellen  für  die  Geschiente  der  Zeit  enthalten  aber  auch  nicht  die  leiseste 
Andoutung  davon.  Dass  Galilei.  Bardi  u.  s.  W.  ein  so  wichtiges  Factum 
mit  Stillschweigen  übergangen  haben  sollten,  ist  völlig  unglaublich.  Die 
Vormälung  Bianca' s  fand  im  October  1579  statt  —  Galilei's  Dialog  war 
war  Ende  Mai  1581  druckfertig  und  ist,  wie  Galilei  selbst  sagt,  die  Frucht 
langen  Umganges  mit  Giovanni  Bardi  und  Girolamo  Mei  —  er  müsste 
statt  dessen  geradezu  eine  Improvisation  gewesen  sein,  wenn  Winterfeld's 
Angabe  richtig  wäre.  Dio  Wahrnehmung,  dio  angeblich  an  jenen  Sonotton 
gemacht  wurde,  konnte  man  an  jedom  anderen  beliebigen  Madrigal  auch 
machen.  Und  wie  konnten  denn  die  artigen  Anspielungen  so  ganz  un- 
hörbar werden,  wenn  die  Madrigale  gar  nicht  cliormässig,  sondern  solo 
in  der  schon  oben  boschriobonon  Zwitterart  vorgetragen  wurden? 

Ambro  »,  QeiOhlchto  der  Musik.    IV.  U 


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162     Die  Musikrcforra  und  der  Kampf  gegon  den  Contrapunkt 


brechend,  Alles  niederwirft,  was  ihm  im  Wege  ist,  und  in  einer 
Mine  entzündet,  nicht  blos  einen  Berg,  sondern,  wenn  man  bis 
zum  Mittelpunkt  der  Erde  dringen  könnte,  den  Erdball  auseinan- 
dersprengen würde,  und  doch  würden  seine  Bestandteile,  Schwe- 
fel, Salpeter,  Kohle,  ein  jedes  für  sich  allein  eine  solche  Wirkung 
in  keiner  Weise  hervorzubringen  vermögen."  Und  mit  grossester 
Gläubigkeit  wiederholt  nun  Bardi  die  lange  Reihe  von  Erzählungen 
über  die  von  der  alten  Musik  bewirkten  Wunder  —  Thaletas 
von  Milet  hatte  eine  so  süsse  Art  zu  singen  (ebbe  si  dolce  maniera 
di  cantare),  dass  er  Kranke  genesen  machte  und  die  Pest  ver- 
trieb, Pythagoras  brachte  Trunkene,  Eropedokles  Tollwüthige 
durch  Musik  zurecht,  Gicht  und  Vipernbiss  heilte  die  Musik  — 
und  so  weiter.  „Unsere  Musik  aber  scheidet  sich  heutzutage 
in  zwei  grosse  Theile;  die  eine  gehört  dem  sogenannten  Contra- 
punkt, die  andere  soll  bei  uns  heissen:  die  Kunst  gut  zu  singen."  l) 
Diese  wenigen  Worte  Bardi's  sind  so  viel  wie  eine  förmliche 
Kriegserklärung  gegen  den  Contrapunkt  und  die  bisherige  Musik 
im  Namen  der  neuen  oder  vielmehr  der  restaurirten  antiken.  Die 
contrapunktische  Musik  Verklärt  Bardi)  ist  nichts  als  eine  gleich- 
zeitige Zusammenfügung  mehrerer  Melodieen  und  mehrerer  Ton- 
arten, Tiefes,  Hohes,  Mittleres  gleichzeitig  gesungen  und  überdies 
in  verschiedenem  Rhythmus.  „Nehmen  wir  an",  sagt  der  Graf, 
„es  gelte  ein  Madrigal  in  vier  Stimmen  zu  componiren,  so  singt 
davon  der  Bass  eine,  der  Tenor  die  andere,  und  Sopran  und  Alt 
werden  wieder  andere,  auch  wiederum  von  einander  verschiedene 
Arien  anstimmen,  und  zwar  in  von  einander  verschiedenen  Ton- 
arten ,  wie  wir  sie  vorhin  erläutert  haben ,  '  denn  in  jeder  Musik 
unserer  Zeit  werden  sich  zweierlei  Octavengattungen  nachweisen 
lassen,  und  ganz  verschiedene  Rhythmen  in  der  tiefen,  mittleren 
und  hohen  Stimme,  und  während  Seiner  Ehrwürden  Herr  Bass 
mit  Wurd'  und  Hoheit  angethan  (messer  lo  basso,  di  gravita 
vestito)  im  Erdgeschosse  seines  Palastes  zum  Beispiel  in  Semi- 
breven  und  Minimen  herumspaziert,  tummelt  sich  raschen  Schrittes 
der  Sopran  in  Minimen  und  Semiminimen  auf  der  obersten  Terasse, 
und  die  Herren  Alt  und  Tenor  traben  in  verschiedenem  Putz  und 
Anzug  in  den  Zimmern  der  mittleren  Geschosse  herum.  Denn 
unsere  Contrapunktisten  würden  es  ftir  eine  Todsünde  halten,  wenn 
sie  die  Stimmen  gleichzeitig  auf  denselben  Textessylben  und  in 
denselben  Noten  geltun  gen  zu  hören  bekämen,  sie  halten  sich  viel- 
mehr um  desto  geschickter  (tanto  piü  scaltri),  je  mehr  sie  die 
Stimmen  in  Bewegung  bringen."   Das  passe  allenfalls  für  die  In- 


1)  Dico  adunque,  che  in  due  parti  la  musica  usata  a  questi  tempi  si 
divide:  una,  cho  e  quella,  che  contrappunto  s'  appeila;  I'altra  arte  di  ben 
cantare  aara  da  noi  noniinata  (a.  a.  0.  S.  241).  Woraus  also  folgt,  dass 
der  Contrapunkt  keine  „arte  di  ben  cantare1' ist!  — 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  .gegen  den  Contrapunkt.  163 


strumentalmusik ,  meint  Bardi,  sei  aber  allerdings  auch  jene  Gat- 
tung von  Musik,  welche  die  Philosophen  so  sehr  tadeln,  vor  allen 
Aristoteles,  indem  er  sie  als  verkünstelt  (artificiosa,  bezeichnet. 
„Und  da«  wir  nun",  fährt  Bardi  fort,  „in  so  tiefer  Finsterniss 
sitzen,  so  wollen  wir  mindestens  trachten,  der  armen  Musik  ein 
wenig  Licht  zu  verschaffen,  da  sie  seit  ihrem  Verfall  (dalla  de- 
clinazionc  sua)  bis  jetzt,  in  so  vielen  Jahrhunderten,  keinen  Künst- 
ler gefunden,  der  über  ihre  Bedürfnisse  nachdachte,  der  sie  viel- 
mehr auf  die  Bahnen  des  Contrapunktes,  ihres  Todfeindes  (contrap- 
punto  a  essa  musica  nemico)  drängte44.  Das  nöthige  Licht,  ver- 
sichert Bardi,  werde  man  der  Musik  nur  nach  und  nach  geben 
dürfen:  ,,  gleichsam  wie  man  einen  durch  irgend  eine  überaus 
schwere  Krankheit  heruntergekommenen  Menschen  nur  vorsichtig, 
anfänglich  mit  weniger  und  leicht  verdaulicher  Speise  nach  und 
nach  wieder  zu  Kräften  bringen  kann.44  Und  den  Anfang  der 
Kur  solle  man  mit  dem  Grundsatze  machen,  den  Vers  nicht 
zu  verderben  (di  non  guastare  il  verso)  und  nicht  „die  Musiker 
von  heute  nachzuahmen,  welche  ihren  Erfindungen  zu  lieb  den 
Vers  zu  Grunde  richten  und  in  Stücken  reiasen",  Bass  und  Sopran 
gleichzeitig  andere  Worte  singen  lassen,  und  so  das  Concept  durch 
einander  wirren  zum  Untergange  und  Tod  der  armen,  preisge- 
gebenen (abbandonata)  Musik.  *)  Die  „grossen  Weisen'1  und  be- 
sonders Piaton  sagen,  der  Gesang  müsse  dem  Verse  des  Dichters 
folgen  und  ihn  durch  die  Singstimme  versüssen  (addolcendolo 
con  la  voce),  gerade  so  wie  ein  geschickter  Koch  zu  irgend  einem 
wohlgewählten  Nahrungsmittel  nur  ein  wenig  Brühe  qualche 
poco  d'  intingoletto)  hinzuthut,  damit  es  seinem  Gebieter  desto 
besser  munde.  „Wenn  ihr  also  componirt,  so  sorget,  dass  der 
Vers  wohlgeregelt  bleibe,  das  Wort  so  deutlich  wie  möglich  ver- 
standen werde,  und  lasst  euch  nicht  vom  Contrapunkt,  dem 
schlechten  Schwimmer,  fortreissen,  den  der  Strom  widerstandlos 
mit  sich  führt  und  der  ganz  wo  anders  ankömmt,  als  wo  er  hin 
gewollt.  Denn  so  viel  der  Gei*6t  edler  ist,  als  der  Körper,  um 
so  viel  sind  die  Worte  edler,  als  der  Contrapunkt,  und  so  wie  die 
Seele  den  Körper  leiten  muss,  so  mnss  der  Contrapunkt  von  den 
Worten  Regel  und  Gesetz  annehmen.  Wäre  es  nicht  lächerlich, 
auf  offener  Strasse  den  Herrn  hinter  dem  Diener  einherschreiten 
zu  sehen  und  sich  vom  Diener  befehlen  zu  lassen,  oder  ein  Kind 
zu  sehen,  das  sich  um  die  Erziehung  seines  Vaters  oder  Lehrers 
bemüht?44    Den  schweren  Irrthum,  der  die  Musik  beherrsche, 


1)  Sogar  Zarlino  steht  schon  einigermassen  unter  der  Herrschaft 
solcher  Anschauungen:  „Et  se  pur  raolti  cantando  insieme  muovono  l'animo, 
non  e  dubio,  che  universalmente  con  maggior  piacere  s'  ascoltano  quelle 
canzoni,  lo  cui  parole  sono  da  i  cantori  insieme  pronunciate,  che  le  dotte 
compositioni,  nelle  quali  si  odono  le  parole  interrotte  da  molte  parte." 
(Istit.  härm.  I.  9.) 

1 1  * 


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164      Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


Labe,  erzählt  Bardi,  der  göttliche  Cipriano  (de  Kore)  gegen  das 
Ende  seines  Lebens  wohl  eingesehen,  und  in  Venedig  habe  der 
grosse  Mann  bei  Gelegenheit  einiger  in  diesem  Sinne  von  ihm 
componirten  Madrigale  ihm  (Bardi)  selbst  gesagt,  das  sei  die 
wahre  Art  des  Tonsatzes,  und  hätte  ihn  der  Tod  nicht  wegge- 
rafft, würde  er  sicherlich  die  Musik  in  mehreren  gleichzeitigen 
Arien  (d.  h.  die  contrapunktische)  auf  einen  hohen  Punkt  gebracht 
haben,  von  wo  aus  Andere  sie  nach  und  nach  zu  der  wahren, 
vollkommenen  und  von  den  Alten  so  sehr  gelobten  Weise  hätten 
zurückleiten  können.  „Wollt  ihr  ein  Madrigal,  eine  Canzone  in 
Musik  setzen,  so  sehet  euch  die  Sache  vorher  gut  an,  ob  der  In- 
halt z.  B.  grossartig  oder  lamentabel  sei;  ist  er  grossartig,  so 
nehmt  den  dorischen  Ton,  der  auf  e  la  mi  anlangt,  seine  Mitte 
in  A  la  mire  hat,  gebt  die  ganze  Arie  dem  Tenor  und  kehrt  so 
oft  ihr  könnt  zum  Mitteltone  zurück,  denn  von  grossen  und  wich- 
tigen Dingen  redet  man  gerne  in  mittlerer  Stimmlage;  ist  der 
Sinn  lamentabel,  so  nehmt  den  mixolydischen  Ton  und  gebt  die 
Hauptarie  (1'  aria  piü  principale)  dem  Sopran  —  und  vergesst 
nicht  ein  passendes  Maass  der  Bewegung,  ahmt  die  Redeweise 

eines  vornehmen  (magnifico)  ernsten  Mannes  nach  folgt  den 

wenigen  Edlen,  nicht  dem  grossen,  gemeinen  Haufen,  singt  Musik, 
die  prächtig,  gross  und  aller  Ehre  voll  ist,  und  drückt  ja,  so  gut 
es  nur  geht,  Länge,  Kürze  und  den  Rhythmus  des  ganzen  Verses 
aus,  und  wenn  ihr  Ehre  beim  Singen  einlegen  wollt,  so  lasst  das 
Wort  ja  gut  verständlich  werden,  das  ist  bei  unserem  Gesänge 
die  Hauptsache  —  seid  ihr  doch  bei  vornehmen  und  trefflichen 
Personen  (persone  nobili  e  virtuose)  in  Florenz  erzogen,  wo  mau 
gut  zu  reden  weiss  und  die  Aussprache  vortrefflich  ist.  Und  ver- 
derbt nicht  mit  eurem  aus  Rand  und  Band  gehenden  Passagen- 
werk (sgangherati  passaggi)  das  Madrigal,  dass  sein  Componist  am 
Ende  seine  Schöpfung  gar  nicht  wieder  erkennt."  Bardi  schliesst 
damit,  dass  er  zuletzt  lieblichen  Vortrag  (suavitA)  und  Süssigkeit 
des  Gesanges  verlangt.  Er  zitirt  Petrarca  und  den  „göttlichen 
Dante",  welche  wiederholt  von  süssem  Gesänge  sprechen.  „Und 
daraus  folgt,  dass  die  Musik  nichts  anderes  ist,  als  Süssigkeit, 
und  dass  wer  singen  will,  allersüsseste  Musik  und  allersüsseste 

wohlgeordnete  Weisen  auf  das  allersüsseste  singen  soll  und 

lasst  eure  Erscheinung  beim  Gesänge  zierlich  sein  (in  modo 
aeconcio),  behaltet  euer  gewöhnliches  Gesicht,  so  dass  der  Hörer 
kaum  weiss,  ob  der  Gesang  aus  euerem  oder  aus  eines  Anderen 
Mund  kömmt,  und  seid  nicht  wie  Andere,  welche  sich,  ehe  es  an's 
Singen  geht,  beklagen  und  entschuldigen,  sie  seien  erkältet,  sie 
hätten  die  letzte  Nacht  nicht  gut  geschlafen  —  und  was  der 
widerwärtigen  Ausreden  mehr  sind."  Caccini  nahm  das  alles  mit 
rührender  Gläubigkeit  wie  höhere  Offenbarungen  hin.  „Diese 
höchst  einsichtsvollen  Edelleute",  sagt  Caccini  in  der  Vorrede 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  165 

seiner  nuove  musiche,  „haben  mich  immer  versichert  und  es  mir 
mit  den  klarsten  Gründen  dargethan,  dass  ich  jene  Musik  in  keiner 
Weise  schätzen  solle,  welche,  indem  sie  die  Worte  nicht  gut  ver- 
stehen lässt,  Concept  und  Verse  verdirbt,  die  Sylben  jetzt  ver- 
längert und  jetzt  verkürzt,  damit  sie  sich  dem  Contrapunkt  an- 
passen, die  eine  Zerfleischung  der  Poesie  (laceramento  della  poesia) 
ist,  mich  vielmehr  jener  von  Plato  und  anderen  Philosophen  so 
sehr  gelobten  Manier  zuzuwenden,  die  da  bekräftigen,  Musik 
sei  nichts  als  Sprache  und  Rhythmus  und  erst  zuletzt 
der  Ton,  und  nicht  umgekehrt,  solle  sie  anders  bei  Andern 
Verständniss  finden  und  jene  Wunderwirknngen  hervorrufen, 
welche  die  Schriftsteller  bewundern,  Dinge,  welche  der  Contra- 
punkt der  modernen  Musik  nicht  vermag;  und  wenn  Einer  allein 
zu  einem  Instrumente  singt,  so  sollen  die  Worte  nicht  etwa  durch 
die  Menge  von  auf  kurzen  wie  auf  langen  Sylben  angebrachter 
Passagen  unverständlich  werden."  Caccini  wiederholt,  wie  man 
sieht,  die  erhaltenen  Lehren  in  gedrängter  Kürze,  aber  Punkt 
für  Punkt. 

Wurde  nun  aber  in  der  Gesangrausik,  d.  h.  nach  damaligen 
Begriffen  in  der  eigentlichen  und  wahren  Musik,  das  Wort  und 
dessen  richtige  Betonung  (und  zwar  vor  allem  in  prosodischer, 
dann  aber  auch  in  dramatischer  Beziehung)  für  das  allererste, 
allerwich tigste  erklärt,  für  den  Schwerpunkt  der  Sache,  neben 
welchem  das  Uebrige  kaum  noch  in  Betrachtung  kommt  und  es 
keinerlei  Werth  hat,  wenn  „der  Zusammenklang  der  Töne  dem 
Ohre  wunderbar  schmeichelt",  galten  Textwiederholungen  („Pali- 
logiae  ac  Polylogiae",  wie  sie  Doni  nennt)  für  das  letzte  Ziel 
alles  Unsinnes  und  der  äussersten  Verkehrtheit:  so  war  damit 
aller  bisherigen  Musik  ihr  Urtheil  gesprochen  —  Palestrina  war 
dann  so  gut  wie  die  Andern  ein  „Barbar"  —  was  Doni  auch  so 
ziemlich  ohne  Winkelztige  zu  verstehen  giebt  —  und  die  ganze 
.,modulandi  ratio  Symphonistica"  verdiente  ganz  und  gar  barbarisch 
und  völlig  übel  gefügt  genannt  zu  werden  und  war  daher  eben 
nur  einfach  über  Bord  zu  werfen. l) 

Das  offizielle,  an  die  Öffentlichkeit  geschickte  Kriegsmani- 
fest  gegen  den  Contrapunkt  und  die  moderne  Musik  überhaupt 


1)  tota  haec  modulandi  ratio,  quam  Symphoniasticam  ipse  (Dornas) 

vocat,  quae  palylogiis  ac  polylogiis  passim  exuberat  barbara  prorsus  pla- 
neque  incondita  censenda  est.  quao  nullo  modo  repurgari  possit,  nisi  ad 
virum  resecetur.  (Doni  Opp.  I.  S.  98.)  Da  unmittelbar  vorher  von  Pales- 
trina, aber  auch  von  seinen  „barbaris  prolationibus44  die  Bede  war,  so 


Mouton  u.  a.  sind  es  natürlich  vollends:  „in  iia  deprehonditur  consum- 
mata  quaedam  ars  in  concinnandis,  digerendisqne  consonantiis,  quae  auri- 
bus  quidem  mire  placet,  ceterom  elocutio  valao  barbara  est  atque  incon- 
cinna.  De  affectibus  autem  movendis  ne  per  somnium  quidem  tum  cogi- 
tabant   (1.  c.  S.  101.) 


sieht  man,  dass  auch  er  unter 


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166     Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 

und  das  offizielle  Programm  für  die  Wiedereinführung  der  antiken 
Musik  war  der  Dialog  Vincenzo  Galilei's  —  dessen  Vorrede  aus 
Florenz  1.  Juni  1581  datirt  ist. ')  Nach  G.  B.  Doni's  (bestimmter 
Versicherung  haben  Bardi  und  Mei  auf  die  Zustandebriugung 
dieser  Schrift  grossen  Einfluss  gehabt. 2)  Des  grundgelehrten 
Girolamo  Mei,  des  Verfassers  eines  ganz  im  Sinne  antiker  Musik 
geschriebenen,  an  seinen  Lehrer  Pier  Vittorio  gerichteten  Trak- 
tates „de  modis",  gedenkt  Galilei  in  Worten  voll  Verehrung. 
Die  Form  des  platonischen  Dialogs  war  für  den  platonisirenden 
Kreis  im  Hause  Bardi  wie  natürlich  die  niustergiltige,  so  unzweck- 
mässig und  unbeholfen  sie  sich  auch  erwies,  wo  es  sich  um  gelehrte 
Darstellung  der  antiken  Musiklehre  handelte.  Aber  auch  noch 
andere  Dinge  werden  abgehandelt,  über  welche  sich  eben  so 
schlecht  dialogisiren  lässt,  richtige  Stimmung,  Werth  und  Be- 
schaffenheit der  Instrumente  u.  s.  w.  Das  Ganze  macht  einen  nicht 
eben  angenehmen  Eindruck.  In  dem  augenscheinlich  sorgsam 
nachgeahmten,  feingedrechselten  florentiner  Conversationston  der 
Dialogisirenden  nehmen  sich  die  weitläufigen  Auseinandersetzungen 
über  Limma  und  Apotome,  über  Netehyperbolaeon  und  Netediazeug- 
menon  ganz  ungeheuerlich  aus;  endlose  Ziffemreihcn,  Rechnungen 
und  Notentabellen  sind  für  einen  Dialog  wunderliche  Einschieb- 
sel. Signor  Bardi  redet  und  dozirt  seitenlang  und  Signor 
Strozzi  äussert  nur  gelegentlich  seine  Zustimmung  oder  thut  mit 
Schülerwissbegierde  eine  schüchterne  Frage.  Indessen  dürfen  wir 
nicht  verkennen,  dass  die  hier  zum  erstenmale  in  solcher  Voll- 
ständigkeit gegebene  Darstellung  über  das  Wesen  und  die  Theorie 
griechischer  Musik  für  die  Zeit  ihren  Werth  hatte.  AJles  das  soll 
nun  aber  wieder  in's  Leben  eingeführt  und  ihm  zu  Liebe  das 
durch  Jahrhunderte  lange  Arbeit  Gewonnene  kurz  und  gut  als 
werthlos  bei  Seite  geworfen  werden !  Man  ahnt ,  was  Bardi  mit 
seinem  „vorsichtigen  Anfang  der  Kur"  meinte  und   wohin  die 


1)  Dialogo  di  Vincentio  Galilei  nobile  Fioreutino,  della  musica  antica 
et  della  moderna.  In  Fiorenza  MDLXXXI.  Appresso  Giorgio  Marescotti. 
Das  Buch  ist  dem  Grafen  Giovanni  Bardi  gewidmet.  Das  Initial-T  der 
Dedicationsvorrode  zeigt  einen  artigen  Holzschnitt :  ein  gebundener  Misse- 
thäter  wird  vor  den  Richter  geführt  —  violleicht  ein  „ContrappviUista", 
der  seine  „Impertinenzie"  büsseu  soll.  Eine  zweite  Auflage  erschien  1602 
bei  Filippo  Giunti  in  Florenz  mit  dem  Titelzusatze  „in  sua  difesa  contra 
Joseffo  Zarlino".    Der  berühmte  Venezianer  hatte  nämlich  auf  einige 

Segen   ihn  und  seine  Dimostrazioni  armoniche  gerichtete   Stellen  des 
►lalogo  in  seinen  ^Sopplimenti  musicaii"  (158S)  geantwortet.  Galilei  gab 
in  Folge  dessen  seinem  Dialog  einen  gegen  Zarlino  gerichteten  Anhang. 

2)  II  Galileo  nel  suo  erudrto  Dialogo  della  musica  antica  e  moderna 

u.  a.  w.  fxa  i  modemi  prattici  nessuno  ha  compreso  meglio  questa 

verita  di  lui,  merce  della  lunga  pratica  e  familiarita,  che  egu  ebbe  col 
Sig.  Giovanni  Bardi  e  col  Sig.  Girolamo  Mei  —  —  onde  di  grande  aiuto 
gu  furono  amendue  a  comporre  quel  opera.  (G.  B.  Doni  Tratt.  della  Mus. 
Seen.  Cap.  XVI.  Band  II.  S.  41.) 


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Die  Muaikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  J67 


Sache  weiter  gehen  sollte.  Wie  die  Dichter  Sannazar,  Vida  u.  a. 
zu  Anfang  des  Jahrhunderts  vollständig  im  Geiste,  in  der  Sprache 
und  Ausdrucksweiso  Virgirs  gedichtet  hatten,  so  hätte  man  am 
liebsten  endlich  die  Musik  ganz  rein  und  vollständig  auf  antiken 
Fuss  gesetzt  und  z.  B,  die  modernen,  reich  ausgebildeten  Instru- 
mente von  der  Orgel  bis  zur  Laute  gegen  die  antiken  Magadis, 
Scindapsis  u.  s.  w.  vertauscht  —  Galilei  kramt  nicht  umsonst  ge- 
legentlich ein  wenig  in  der  Rumpelkammer  des  griechischen 
Orchesters  —  Giov.  Butt.  Doni  geht  hernach  mit  der  von  ihm 
erfundenen  und  Urban  VIII.  dedizirten  „Lyra  Barberina4'  J)  noch 
weit  resoluter  auf  die  Sache  los.  Er  beklagt  es  geradezu,  dass 
der  Musik  es  durch  ein  unglückliches  Schicksal  noch  nicht,  gleich 
den  übrigen  Künsten,  gelungen,  „ihre  frühere  Würde  wiederzu- 
erlangen", er  habe  daher  darüber  nachgedacht,  ob  es  nicht  mög- 
lich wäre,  auch  hier  (d.  i.  auf  dem  Gebiete  der  Instrumental- 
musik; ihr  den  alten  GJauz  wiederzugeben.  Deutlicher  ist  der 
innere  Zusammenhang  dieser  ganzen  Reformbewegung  mit  der 
Renaissance  und  dem  Humanismus  (welche  eben  so  auch  von 
Florenz  ihren  Ausgangspunkt  nahmen)  nicht  auszudrücken.  Die 
Musik  trieb,  wie  wir  nochmals  hervorheben  müssen,  auch  diesmal 
in  der  ganzen  geistigen  Strömung  die  letztesten  Wellenkreise.  2) 
Galilei  und  was  sonst  noch  im  Hause  Bardi  Zutritt  hatte,  glaubte, 
wie  schon  erwähnt,  felsenfest  an  die  WTunder  „der  griechischen 
Musik";  beginnt  doch  selbst  Mei's  Traktat  mit  der  Erwägung 
come  potesse  tanto  la  musica  appresso  gli  anlichi.  Bei  der  Ge- 
schichte von  Arion's  Rettung  ist  Galilei's  Interlocutor  Strozzi 
noch  Rationalist  genug,  um  die  Meinung  zu  äussern,  der  Sänger 
habe  etwa  durch  seine  Musik  die  Schiffer  besänftigt,  3)  aber  Bardi 
weist  ihn  mit  einem  mächtigen  „Anzi"  zurecht:  ,,Anzi  per  mag- 


1)  G.  B.  Doni  schrieb  darüber  einen  ganzen  Traktat-  Lyra  Barberina 
AM<PIXOP/40E  a'  Joanne  Baptista  Domo  patricio  Florentino  inventa  et 
sanctiasimo  D.  N.  Urbano  VIII.  Pont  max.  dicata.  Der  Traktat  ist  ge- 
druckt in  Doni  Op.  Tom.  1.  S.  3— TU  (Folioformat)  und  mit  Kupfern  nach 
antiken  Bildwerken,  wo  Kitharn  und  Lyren  vorkommen,  roich  ausgestattet. 
Doni's  Lyra  gleicht  in  ihrem  Aussehen  weit  weniger  den  antiken  Saiten- 
instrumenten als  einer  dickbäuchigen,  langhalsigen  Weinflasche.  Die  Ab- 
handlung Doni's  beschränkt  sich  keineswegs  auf  die  Beschreibung  seiner 
„barberinischen  Lyra  ',  sondern  geht  höchst  gründlich  auf  die  ganze  Heer- 
schaar der  antiken  Saiteninstrumente  ein.  Höchst  charakteristisch  ist  die 
Vorrede:  „Etsi  nemo  vel  mediocriter  eruditus  de  veterum  Graecorum  prae- 
sertim  in  rebus  musicis  praestantia  atque  opulentia  dubitare  potest,  non 
desunt  tarnen  qui  sine  judicii  defectu  (!),  dum  orania  metiuntur  ex  iis.  quae 
Tident,  atque  assidue  tangunt. 

2)  Eben  darnm,  scheint  es,  hat  noch  niemand  den  Zusammenhang  der 
Florentiner  Musikreform  mit  der  Renaissance  und  dem  Humanismus  auch 
nur  bemerkt. 

3)  So  erklärt  auch  Zacconi  das  Wunder  (Pratt.  di  Mus.  II.  Lib.  1. 
cap.  2.) 


168     Di«  Musikreform  und  der  Kampf  gegon  den  Contrapunkt, 


giormente  mostrare  1'  eccellenza  della  sua  gran  virtü  si  precipitb 
(Arione)  in  mare"  —  Delphine  (mehrere!^  trugen  ihn  abwechselnd 
(a  gara)  auf  ihrem  Rücken  an's  Vorgebirge  Tänarus  u.  8.  w. 
Galilei's  Arion  wechselt  Delphine  wie  Postpferde!  Und  endlich: 
„hora  considerate,  qnal  sia  maggior  maraviglia,  b  il  placare  gli 
an  im  a Ii  ragionevoli,  ovcramente  i  bruti,  ö  pur  le  cose  insensate"!'!).1) 
Ja,  Galilei  verhöhnt  die  Musiker,  welche  er  „roh  und  dumm" 
(rozzi  et  idioti)  schilt,  dass  sie  an  diese  Wunder  der  griechischen 
Musik  nicht  unbedingt  glauben:  „sie  wollen  jene  vollkommene 
und  tiefgebildete  Kunst  nach  ihrer  confusen  Ignoranz  bemessen". 2) 
Mit  was  für  überschwenglichen  Träumen  von  der  Herrlichkeit 
griechischer  Musik  man  sich  und  Andere  täuschte,  davon  geben 
gleich  die  ersten  Worte  von  G.  B.  Doni's  Schrift  „de  praestantia 
musicae  veteris"  eine  merkwürdige  Probe.  Er  bewundert  die 
Griechen  in  Allem,  aber  „beinahe  gottlich"  erscheinen  sie  ihm, 
wenn  er  erwägt,  was  sie  in  der  Musik  geleistet.  —  Die  Anklagen 
Galilei's  gegen  die  moderne  Musik  laufen  so  ziemlich  auf  dasselbe 
hinaus,  was  wir  in  Bardi's  Sendschreiben  gefunden,  nur  dass  Bardi 
im  Vergleiche  zu  dem  hitzköpfigen,  unhöflichen,  leidenschaftlichen 
Galilei  beinahe  liebenswürdig  erscheint.  Wie  alle  anderen  Künste 
und  Wissenschaften,  lehrt  Galilei,  ist  in  den  Kriegsstürmen  und 
durch  andere  unglückliche  Ereignisse  auch  die  antike  Musik  zu 
Grunde  gegangen,  und  bo  wenig  Licht  ist  davon  übrig  geblieben, 
dass  Viele  ihre  ehemalige  Vortrefflich keit  für  Traum  und  Fabel 
halten.  3)  Als  nun  die  Kunst  der  Töne  verloren  war,  fing  man 
an,  Regel  und  Gesetz  für  das  Componiren  und  Singen  von  den 
Instrumenten,  insbesondere  von  der  Orgel  herzuholen,  insbesondere 
das  Zusammenfügen  und  Zusammensingen  mehrerer  Arien  zugleich, 
wie  sie's  auf  der  Orgel  spielten,  daher  sie  auch  dafür  von  den 
Citharisten  und  Organisten  die  Gesetze  entlehnten,  ausgenommen, 
dass  wenn  vier  oder  noch  mehr  Stimmen  mit  einander  sangen, 
eine  Folge  gleichartiger  vollkommener  Consonanzeu  verboten 
wurde,  vielleicht  um  die  Sache  schwieriger  zu  machen  (!),  viel- 
leicht um  zu  beweisen,  man  habe  feinere  und  zartere  Ohren  als 
die  Anderen.  Die  Neuheit  der  Sache  gefiel  den  Unwissenden; 
zudem  konnte  man  auf  diesem  Wege  sehr  rasch  und  leicht  ein 
Musiker  werden.  Folgerichtig  aber  erlaubten  sie  dann  die  Folge 
von  unvollkommenen  Consonanzen  oder  den  Uebergang  vonjder 


1)  Dialogo  S.  86. 

2)  Maravigliandosi  anzi  ridendosi  del  sapere  degli  antichi  Munin .  et 
degli  effetti  maravigliosi.  che  egli  operarono  in  diversi  soggetti,  volendo 
miaurare  la  perfetta  et  dotta  scienza  di  quelli  con  la  confusa  ignoranza 
loro.  (8.  82.)  Natürlich  ist  d  as  „scacciava  la  peste1'  (S.  86)  nicht  ver- 
gessen! Wie  soll  man  zweifeln,  es  sind  ja  .. libri  d'autorita",  die  es 
melden!  — 

3)  8.  84. 


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Die  Musikrcform  and  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  169 


unvollkommenen  Consonanz  zur  vollkommenen  —  sie  vermieden 
Tritonns   und  Semidiapente ,   sie  verlangten  bei  vier  oder  mehr 
Stimmen,  dass  dem  Basse  die  Terz  und  Quinte  oder  an  Stelle 
der  letzteren  die  Sexte  nicht  fehle.    Das  ist  sehr  gut,  wenn  es 
auf  weiter  nichts  ankömmt,  als  dem  Gehör  durch  Accorde  zu 
schmeicheln  (per  il  semplice  diletto,  che  prende  Y  udito  degli 
accordi),  aber  für  den  Sinn  und  Ausdruck  (l'espressione  de  con- 
cetti)  ist  es  tödtlich  (pestifero),  denn  es  dient  nur  dazu,  den  Ge- 
sang mannigfaltig  und  volltönig  (vario  e  pieno)  zu  machen,  was 
nicht  nur  nicht  immer,  sondern  gar  nie  dem  Ausdrucke  nach  Ab- 
sicht des  Dichters  oder  Redners  angemessen  ist.    So  wurde  all- 
mählig  die  Vernunft  dem  sinnlichen  Wohlklang,  die  Form  der 
Materie,  das  Wahre  dem  Falschen  untergeordnet.    Ganz  anders 
ist  Sinn  und  Ausdruck  der  hohen  und  jener  der  tiefen  Töne  — 
die  moderne  Composition  mischt  sie  zu  Consonanzen,  welche  eine 
Ungehörigkeit    impertinenza)  sind  —  denn  es  entsteht  ein  Misch- 
ton, der  das  Gehör  auf  das  alleran genehmste  berührt  (soavissima- 
mente  ferisce  ludito),  —  aber,  will  Galilei  sagen,  eben  dadurch 
die  Eigenheit  des   hohen  und  des  tiefen  Klanges  neutralisirt. 
Dazu  fügen   die  Contrapunktisten    gar   noch    die  mannigfache 
Schnelligkeit  der  Bewegung  in  den  einzelnen  Stimmen  l);  ist  also 
auch  die  Bewegung  in  der  einen  Stimme  den  Worten  angemessen, 
so  ist  sie's  in  der  andern  nicht,  eine  hebt  die  Wirkung  der  andern 
auf,  als  wie  wenn  zwei  am  Capitäl  einer  Säule,  welche  gestürzt 
werden  soll,  ein  Seil  rechts  und  eines  links  befestigen  und  aus 
Leibeskräften  jeder  nach  seiner  Seite  ziehen  wollten,  wo  die  Säule 
freilich  stehen  bliebe.  2)  Das  Verbot  der  Folge  gleichartiger  voll- 
kommener Consonanzen  ist  verhängnissvoll  (fatale)  geworden;  um 
dieses  Gesetz  beobachten  zu  können .  haben  sie  ohne  Sinn  und 
Verstand  und  der  natürlichen  Bewegung  der  Stimme  straks  zu- 
wider mehrere  Notengattungen  erfunden.   Da  singt  nun  einer  die 
erste  Sylbe  eines  Wortes  und  ein  anderer  die  letzte,  sie  wieder- 
holen Worte  und  Sylben  vier-  bis  sechsmal,  einer  im  Himmel,  der 
andere  auf  der  Erde,  und,  wenn  es  ihrer  mehrere  sind,  im  Ab- 
grund.   Sie  schleppen  eine  einzige  Sylbe  durch  zwanzig  und 
noch  mehr  verschiedene  Noten,  wobei  sie  bald  das  Zwitschern  der 
Vögel,  bald  das  Heulen  der  Hunde  nachahmen.    Und  so  ist  die 
Musik  unserer  Zeit  eine  leichtsinnige,  um  nicht  zu  sagen  freche 
Buhlerin  geworden  (una  laseiva  per  non  dire  sfacciata  meretrice). 


1)  S.  82  „Moto  contrario"  —  hier  nicht  im  Sinne  dessen,  was  wir 
„Gegenbewegung"  nennen. 

2)  (a.  a.  0.)  G.B.  Doni  vergleicht  seinerseits:  perinde  ac  si  in  unum 
ferculum,  quäle  erat  olim  Laustarocaccabus,  aut  hoaie  olla  Hispanica,  om- 
nia  pene  edulia  inferciantur;  quae  seperatim  propriis  in  lancibus  patinis- 
que  apposita;  et  poculiaribus  condimentis  instrueta,  graziora  essent;  et 
lautiores  epulas  efficerent.  (de  praest.  m.  v.  S.  71.) 


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\  70     Die  Masikreforni  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


Daher  wird  die  heutige  Musik  von  den  Verständigen  verschmähet 
und  verachtet,  vom  unverständigen  Haufen  aber  höchlich  bewun- 
dert. Hat  nicht  der  göttliche  Piaton  ausdrücklich  befohlen,  man 
solle  „Proschorda4'  und  nicht  „Simfoneu  spielen,  das  heisst  im 
Einklänge  und  nicht  in  Consonanzen?  Es  ist  nöthig,  dass  der 
Mensch  die  (Jaben  der  Musen  mit  dem  Verstände  und  nicht  nach 
dem  siunlichen  Wohlgefallen  geniesse  (wie  es  nämlich  Consonanzen 
erregen).  Aber  unsere  Praktiker  sind  nicht  einmal  mit  der  Menge 
von  Intervallen  zufrieden,  welche  sie  innerhalb  des  grossen  Pytha- 
goräischeu  Systems  finden,  sie  gehen  darüber  hinaus  bis  zur 
„Vigesimasecunda44  (dritten  Octave)  und  bis  zu  den  Antipoden  — 
wahrlich  gegen  allen  Sinn  des  Affektes!  Denn  der  Klagende 
wird  sich  nicht  aus  den  höchsten,  der  Betrübte  nicht  aus  den 
Mitteltönen  entfernen.  Unsere  Contrapunktisten  aber  sündigen 
dagegen  nicht  blos  in  ihren  durch  einander  gemengten  Arien, 
sondern  lassen  sogar  den  Tenor  oder  den  Sopran  allein  schon 
jetzt  innerhalb  eilf  bis  zwölf  Tönen  hinauf-  und  herabsteigen  oder 
springen  —  ohne  Rücksicht  auf  das,  was  Plato  und  auch  Aristo- 
teles lehrt:  dass  eine  Musik,  welche  nicht  den  Bewegungen  der 
Seele  dienstbar  ist,  wahrlich  nur  Verachtung  verdient.  Diese 
ganze  leidige  Art,  mehrere  Arien  zusammen  zu  singen,  ist  übrigens 
keine  hundertundfünfzig  Jahre  alt,  sie  hat  also  nicht  einmal  die 
Autorität  des  Althergebrachten  für  sich,  wie  weiland  die  antike. 
Bei  den  Griechen  waren  die  Musiker  die  gelehrtesten,  feinsten 
und  angesehensten  Leute,  die  unseren  sind  unwissend  und  ver- 
achtet. Vollends  unsinnig  und  lächerlich  ist  die  Art,  mit  welchen 
sie  den  Worten  der  Dichtung  nach  ihrer  Behauptung  gerecht 
werden;  sie  malen  es  in  kindischer  Weise  z.  B.  durch  punktirte 
und  syncopirte  Noten  (als  ob  sie  das  Schluchzen  hätten),  wenn 
es  im  Texte  heisst  „et  col  bue  zoppo  andra  cacciando  Laura'4  — 
das  Getöse  der  Trommeln,  den  Trompetenton  ahmen  sie  nach; 
heisst  es:  „er  stieg  zu  Pluto  hinab44,  so  brummen  die  Sänger,  als 
wollten  sie  kleine  Kinder  in  Furcht  setzen;  heisst  es:  „er  erhob 
sich  zu  den  Sternen'4,  so  kreischen  sie,  als  litten  sie  an  Leib- 
schmerzen —  für  Worte,  wie  „Weinen,  Lachen,  Singen,  Schreien, 
Lärmen,  falscher  Trug,  harte  Ketten,  strenge  Bande,  rauher  Berg, 
schroffe  Klippe,  grausame  Schöne44  und  so  weiter,  haben  sie  ihre 
malenden  Phrasen.  Hätte  Isokrates  oder  ein  anderer  grosser 
Redner  irgend  ein  einzelnes  Wort  in  ähnlicher  Weise  betonen 
wollen,  so  würde  ihn  das  Gelächter  und  der  Unwille  seiner  Zu- 
hörer unterbrochen  haben.  ')  Wie  man  Seelenbewegungen  richtig 
und  wahr  ausspricht,  brauchen  sie  nicht  einmal  von  so  grossen 
Rednern  zu  lernen,  sie  können  es  in  der  ersten  besten  Tragödie 
oder  Komödie,  welche  von  Schauspielern  dargestellt  wird.  Sie 


1)  S.  89. 


Die  Muaikrefonn  und  der  Kampf  gegen  den  Coutrapunkt  171 


sollen  da  auf  die  Betonung  des  Einzelnen  achten,  wie  die  Stimme 
hoch  oder  tief,  die  Rede  langsam  oder  schnell  ist,  wie  die  Worte 
accentuirt  werden  —  sie  sollen  acht  geben,  wie  der  Fürst  mit  den 
Vasallen  oder  mit  den  ihn  Anflehenden,  wie  der  Zornige,  wie  der 
Eilfertige,  wie  die  Matrone,  wie  das  Mädchen  redet,  wie  der  ein- 
faltige Knabe  spricht,  wie  die  schlaue  Buhlerin,  wie  der  Liebende 
zur  Geliebten,  um  ihr  Herz  zu  rühren,  wie  der  Klagende,  der 
Schreier,  der  Furchtsame,  der  Lustige,  und  so  weiter.  Hat  doch 
selbst  das  Thier  seine  Stimme,  um  auszudrücken,  ob  ihm  wohl 
oder  wehe  ist!"  l) 

Diese  letzterwähnten  Bemerkungen  sind  das  Interessanteste, 
Wichtigste,  Wahrste  und  Fruchtbarste  im  ganzen  Dialog;  sie  sind 
der  direct  nach  der  dramatischen  Musik  deutende  Wegweiser.  Es 
ist  nicht  schwer  einzusehen,  dass  die  weitaus  grössere  Mehrzahl 
der  Anklagen,  welche  Galilei  erhebt,  auf  einer  gründlich  falschen 
Auffassung,  ja  auf  einem  totalen  Missversteheu  der  Sache  beruht. 
Eben  so  ist  gewiss,  dass  die  Chimäre,  die  er  an  Stelle  der  hochaus- 
gebildeten, unter  ganz  anderen  Bedingungen  und  zu  völlig  anderen 
Zwecken  als  die  antike  entstandenen  Musik  (zu  deren  Vertretern  z.  B. 
auch  Meister  wie  Palestrina,  Vittoria,  Luca  Marenzio  u.  a.  gehören) 
setzen  will,  weit  entfernt,  die  von  ihm  geträumte  Herrlichkeit  der 
Kunst  herbeizuführen,  der  Tod  der  Musik  gewesen  wäre.  Aber  mit 
jenen,  fast  nur  beiher  gesagten  Worten  sprach  Galilei,  ohne  es  selbst 
zu  ahnen,  die  Zauberformel  zur  Erlösung  der  Musik  aus  den  bis- 
herigen Banden  aus,  das  Signal  zu  einer  mächtigen  Entwickelung, 
deren  Grösse  Galilei  nicht  entfernt  ahnen,  deren  Tragweite  er 
nicht  absehen  konnte. 

Was  man  im  Palaste  Bardi  zunächst  und  vorläufig  wollte, 
war  vorerst  noch  nicht  die  musikalische  Wiederbelebung  der  an- 
tiken Tragödie,  sondern  nur,  an  Stelle  des  blossen  Loslösens  einer 
einzelnen  Stimme  aus  dem  coutrapunktischen  Zusammenhange, 
welche  als  Nothbehelf  dem  Solisten  zugewiesen  worden  war, 
während  Lauten  oder  Violen  oder  andere  geeignete  Instrumente 
die  übrigen  Stimmen  ausführten,  wirklich  als  Soloparte  gemeinte 
Gesänge,  an  Stelle  der  musikalischen  Polyphonie  wirklichen  und 
echten  Sologesang  zu  setzen,  und  zwar  einen  Sologesang,  in  dessen 
musikalischer  Führung  das  Wort  und  der  Vers  seine  richtige  Be- 
tonung, sowohl  in  der  metrischen,  als  in  der  den  natürlichen  Gang 
und  Ausdruck  der  Rede  bezeichnenden  Accentuirung  erhalten,  die 
Musik  nicht  die  Zwecke  ihres  eigenthümlichen  Wohlklanges  ein- 
seitig verfolgen,  sondern  Nachahmung  der  Gemütsbewegungen 
sein  sollte.  Das  Ungenügende  jenes  Nothbehelfes  einzusehen, 
hatte  man  bei  Gelegenheit  solcher  Vorträge  der  Signora  Vittoria 
Archilei  vollauf  Gelegenheit,  deren  gepriesene  Gesangskunst  und 


1)  S.  89. 


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172      Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  d*n  Contrapunkt 


brillante  Coloratur,  mit  welcher  sie  die  Parte  so  fiberreich  aus- 
stattete, jene  Grundübel  nicht  verdecken  konnte,  welche  Lodovico 
Viadana  in  der  Vorrede  seiner  1609  gedruckten  Concerli  ecdesia- 
stici  treffend  hervorhebt:  „solche  herausgerissene  Einzelstimmen 
machen  eine  schlechte  Wirkung,  da  sie  auf  den  Zusammenhang 
im  Ganzen  berechnet  sind,  insofern  sie  nämlich  als  Bestandteile 
von  Fugen,  Cadenzen  und  Contrapunkten  erscheinen;  sie  sind 
daher  auch  voll  langer  und  wiederholter  Pausen,  haben  keine 
rechten  Schlusscadenzen,  keinen  iiiessenden  Gesang  (senz'  aria), 
statt  dessen  vielmehr  eine  sehr  unschöne  Führung  (con  pochissima 
et  insipida  sequenza),  dazu  sind  auch  die  Textworte  übel  einge- 
theilt,  zerrissen,  zusammengeflickt,  was  alles  den  Gesang  sehr 
unangenehm  erscheinen  lässt."  Zu  diesen  sehr  richtigen  Bemer- 
kungen wäre  auch  noch  die  weitere  zu  machen:  dass  die  auf 
Instrumenten  gespielten,  selbständig  und  contrapunetisch  geführten, 
vom  Componistcn  ursprünglich  der  Menschenstimme  zugewiesenen, 
mit  dem  nunmehrigen  Hauptparte  ursprünglich  gleichberechtigten 
Parte,  statt  eine  wirkliche,  den  Sologesang  hebende  Begleitung 
zu  bilden,  für  ihn  vielmehr  zu  einer  hemmenden  und  störenden 
Belastung  wurden.  Man  muss  diese  Punkte  wohl  im  Auge  be- 
halten, um  zu  begreifen,  wie  und  inwieweit  die  Reformbestrebungen 
im  Hause  Bardi  ihre  Berechtigung  hatten.  Sie  haben  sich  darum 
nicht  nur  als  lebensfähig,  sondern  auch  als  höchst  folgenreich  er- 
wiesen, während  das  Nichtlebensfähige  dabei,  nämlich  die  ein- 
seitige und  rückhaltlose  Wiedereinführung  der  antiken  Musik  von 
selbst,  wie  Schlacke,  ausgeschieden  wurde.  — 

Der  erste  im  Hause  Bardi,  welcher  mit  einem  praktischen 
Versuche  hervortrat,  war  wiederum  Vincenzo  Galilei.  G.  B.  Doni 
—  allerdings  kein  unmittelbarer  Zeuge,  aber  durch  Piero  Bardi. 
den  Sohn  Giovanni's,  wohl  unterrichtet  —  erzählt:  „Galilei  fand 
in  diesem  Kreise  Aufmunterung,  neue  Dinge  zu  versuchen,  und 
setzte,  vorzüglich  mit  Beihilfe  des  Herrn  Giovanni  (Bardi),  der 
erste  Melodieen  für  eine  Stimme  (melodie  ä  voce  sola),  indem  er 
jene  ergreifende  Klage  des  Grafen  Ugolino,  wie  Dante  sie  ge- 
schrieben, componirte,  welche  er  auch  selbst  sehr  ansprechend  zu 
einem  Concert  von  Violen  (sopra  un  concerto  di  Viole)  sang". 
Es  war  also  keine  Improvisation ,  sondern  eine  ausgearbeitete 
Com position,  und  die  begleitenden  Violen  (nicht  „die  Laute", 
wie  man  wohl  zu  lesen  bekömmt)  hatten  ihr  „Concerto"  mit  der 
Singsthnme,  das  heisst  ihren  selbstständigen  Part.  In  demselben 
Style  componirte,  nach  Doni's  weiterem  Bericht,  Galilei  einen 
Theil  der  Lamentationen  des  Propheten  Jeremias,  welche  (von 
ihm  selbst  ?)  in  einer  frommen  Versammlung  gesungen  wurden. 
Es  war  ein  Angriff  auf  die  ältere  (oder  nach  der  Terminologie 
im  Hause  Bardi  „moderne")  Musik  in  ihrem  eigenen  Lager.  Auch 
mag  nicht  unbemerkt  bleiben,  dass  Galilei  beidemale  nach  hoch- 


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Dio  Musikrefonn  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  173 


pathetischen,  den  stärksten  Ausdruck  erheischenden  Texten  griff. 
Schon  Ugolino  hatte  im  Allgemeinen  gefallen,  obwol  es  nicht 
an  Neidern  fehlte,  die  über  den  neuen  Ötyl  lachten  —  was  Ga- 
lilei zunächst  bewog,  dem  Ugolino  jene  Lamentationen  folgen  zu 
lassen.  Wir  können  nicht  mehr  bestimmen,  wie  viel  bei  diesen 
Compositionen  Galilei  selbst  angehörte,  und  wie  viel  dem  Grafen 
Bardi,  der  ein  im  madrigalesken  Musikstyl  nicht  ungeübter  Ton- 
setzer war.  Bardi  hatte  1589  zu  den  „Intermedii  e  Concerti  fatti 
per  la  Comedia  rappresentata  in  Firenze  nelle  nozze  del  Sereniss. 
Don  Ferdinando  Medici  e  Madama  Cristiana  di  Loreno,  Gran 
Duchi  di  Toscana"  (gedruckt  1591  in  Venedig  bei  Giacomo  Vin- 
centi)  l)  Madrigale  nebst  Luca  Marenzio,  Emilio  del  Cavaliere, 
Jacopo  Peri  und  Cristofano  Malvezzio  geliefert.  Wir  dürfen  in- 
dessen von  dem  Ugolino  und  den  Lamentationen  keine  zu  hohe 
Idee  fassen,  wenn  wir  bei  Doni  lesen :  Caccini  habe  in  Nach- 
ahmung des  Galilei,  aber  in  einem  weit  schönern  und  an- 
genehmen Styl  (ad  imitazione  del  Galilei,  roa  con  stile  piü 
vago  e  leggiadro)  einige  Sonette  und  Canzonetten  in  Musik  ge- 
setzt. 2)  Nicht  der  Dilettant  Galilei  hat  die  neue  Monodie  ge- 
schaffen 3),  sondern  der  gebildete,  talentvolle  Künstler  Giulio 
Caccini. 

„Da  ich  nun  wohl  einsah",  erzählt  Caccini  in  der  Vorrede 
seiner  nuove  musiche,  „dass  Musik  und  Musiker  dieser  Artu  (näm- 
lich der  bisherigen  contrapunktischen  Richtung)  „kein  anderes 
Vergnügen  gewähren  können,  als  welches  das  Ohr  durch  das 
Zusammenklingen  der  Harmonie  empfängt,  indem  sie  den  ver- 
ständigen Sinn  (Tinteletto)  nicht  bewegen  konnten,  wenn  die  Worte 
unverständlich  blieben"  (man  sieht  hier  abermals  wie  gut  sich 
Caccini  die  erhaltenen  Lehren  gemerkt),  „so  fiel  mir  ein,  eine 
Art  von  Musik  einzuführen,  dio  eine  Art  von  harmonischer  Sprache 
vorstellte,  wobei  ich  eine  gewisse  edle  Nichtachtung  des  Gesanges 
(nobile  sprezzatura  del  canto)  anwendete,  indem  ich,  während  es 
durch  einige  falsche  Noten  ging"  (er  meint  durchgehende  und 
Wechseluoten),  „den  Bass  festhielt,  ausser  wo  ich  mich  nach  ge- 
wöhnlicher Art  der  vom  Instrumente  anzuschlagenden  Mittelstim- 
men bediente,  um  irgend  einen  Affekt  auszudrücken".  Die  neuen 
Madrigale  wurden  in  Florenz  (natürlich  wohl  im  Uause  Bardi) 
gesungen,  mit  liebevollem  Beifalle  (con  amorcvole  applauso)  be- 
grüs8t  und  Caccini  aufgemuntert,  weiter  zu  streben.  Er  begab 
sich  nach  Rom,  um  auch  dort  eine  Probe  abzulegen  (a  Roma, 


1)  Exemplar  in  der  k.  k.  Hofbibliothek  zu  Wien. 

2)  a.  a.  0.    S.  24. 

3)  J.  L.  Klein  in  seiner  bände-  und  noch  mehr  wortreichen  Geschichte 
des  Drama  (Das  ital.  Drama,  2.  Band,  S.  522)  hält,  missvorstehend, 
Galilei  für  den  Erfinder  der  Melodie  und  daher  für  einen  staunenswerten 
Epochenmann  —  ! 


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174  Masikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


per  darne  saggio  anche  quivi).  Im  Hause  des  edlen  Nero  Neri 
pflegten  sich,  wie  bei  Bardi  in  Florenz,  viele  Edelleute  zn  ver- 
sammeln, unter  ihnen,  als  eine  der  Hauptpersonen,  Lione  Strozzi. *) 
Als  sie  Caccini'8  Madrigale  und  Arien  gehört,  „gaben  sie  alle 
gutes  Zeugniss  und  ermunterten  zum  Fortschreiten  auf  dem  be- 
tretenen Wege;  sie  hätten,  sagten  sie,  noch  nie  den  Gesang  einer 
Stimme  allein  zu  einem  Saiteninstrument  gehört,  welcher  in  glei- 
chem Maasse  wie  diese  Madrigale  geeignet  gewesen  wäre,  das 
Gemtith  zu  bewegen"  (che  havesse  tanta  forza  di  movere  Taffetto 
del  animo).  Der  berühmte  Verfasser  der  mehrmal  componirten 
„Affetti  pietosi",  P.  Angelo  Grillo,  begrüsste  ihn  als  den  „Vater 
der  neuen  Musik".  2)  Dieser  seiner  ersten  Madrigale  erwähnt 
Caccini  auch  in  der  Vorrede  seiner  „Euridice".  So  habe  er  San- 
nazar's  Ekloge  componirt:  lleny  aW  ombra  de  gli  ameni  fnggi, 
die  Madrigale:  perfidissimo  volto;  Vedro  l  mio  sol;  Dovro  dunque 
morire  und  ähnliche.  Die  Ekloge  nach  Sannazar  ist  verloren;  die 
drei  andern  sind  in  der  Sammlung  monodischer  Compositionen 
enthalten,  welche  Caccini  1601  (florentiner  Styl  —  richtig  1602)  bei 
den  Erben  Giorgio  Marescotti's  in  Florenz  erscheinen  Hess,  Lo- 
renzo  Salviati  widmete,  und  denen  er  den  fast  stolz  klingenden 
kurzen  Titel  gab:  le  nuove  musiche  di  Giulio  Caccini  detto  Ro- 
mano 3).    Dieser  Titel  soll  nicht  etwa  nur  einfach  die  eben  auf 


1)  Er  gehörte  zur  römischon  Linie  des  Hauses. 

2)  Er  schreibt  an  ihn :  „Ihr  seid  der  Vater  der  neuen  Musik,  oder 
eines  Gesanges  violmehr,  der  kein  Gesang,  sondern  eine  singende  Recita- 
tion  ist,  edel  und  weitaus  höher  als  die  Volksgesänge,  der  die  Worte 
nicht  verstümmelt,  noch  entstellt,  noch  ihnen  Leben  und  Sinn  benimmt, 
der  sie  vielmehr  erst  recht  belebt  und  ihnen  mehr  eindringliche  Kraft 
verleiht"  (Lettere  dell'  abbate  Angelo  Grillo,  Venedig  1609,  1.  Theil, 
S.  435). 

3)  Der  vollständige  Titel  ist: 

LE  NVOVE 
MVSICHE 
DI  GIVLIO  CACCINI 
DETTO  ROMANO 
IN  FIRENZE 
APPRESSO  I  MARESCOTTI 

MDC1.   (Vignette:  ein  Seeschiff  auf  un- 
ruhigem Meere  mit  der  Umschrift:  et  vult  et  potest.) 

Das  Format  ist  ein  massiges  Folio  —  26  Blätter,  der  Druck  ist 
weder  schon,  noch  correct.  Der  musikalische  Inhalt  ist  folgender.  Als 
illustrirende  Exempel  zu  der  von  Caccini  vorangestellten  Gesauglehre: 
drei  kleine  Madrigale:  „Cor  mio  deh  non  languire";  Aria  di  Romanesca: 
„ahi  dispietato  atnore"  (Violinschlüssel);  „Den,  dove  son  fugitti'*  (Sopr.). 
Sodann  folgende  Madrigalo  für  eine  Singstimme:  „Movete  pieta;  Queste 
lagrim'  -amare;  Dolcissimo  sospiro  (sämmtlich  im  Sopranschlüssel) ;  Amor, 
io  parto  (Alto);  Non  piu  guerra;  Perfidissimo  volto  (beide  im  Tenor- 
schltissel);  Vedro  '1  mio  Sole  (Sopran);  Aman  Iii  bella;  Sfogava  con  steile 
(beide  im  Violinschlüssel);  Fortunate  angellino  (8opran);  Dovro  dunque 
morire  (Violinschlüssel);  Filii  mirando  U  cielo  (Sopran)  —  (ü  fine  dei 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  175 


dem  Musikmarkte  neben  anderen  Novitäten  erschienene  Neuigkeit 
bezeichnen,  sondern  eine  neue  Zeit,  einen  neuen  Musikstyl  an- 
kündigen. —  »»Die  neue  Musik'*,  die  Madrigale,  deren  Textanfange 
Caccini  zitirt,  waren  damals,  wie  er  ausdrücklich  erwähnt,  schon 
vor  vielen  Jahren  componirt  l) 

In  der  That  wirkte  diese  Sammlung  epochemachend,  die 


Sammlung  von  Gesängen  folgte  der  andern,  in  welcher  der  Styl 
von  Caccini's  „Nuove  musichc"  bis  in  die  Einzelheiten  hinein  ge- 
wirkt hat  —  so  folgt  schon  1606  Domenico  Bmnetti  von  Bologna 
mit  seiner  von  ihm  „Euterpe"  betitelten  Sammlung,  1610  Jacob 
Pen  (Caccini's  Kunstgenosse  und  Rival)  1610  mit  den  „Varie 
musiche",  Antonio  Bruneiii  in  Pisa  1616  mit  seinen  zwei  Büchern 
„Scherzi,  Arie,  Canzonette  e  Madrigali",  in  demselben  Jahre  Ka- 
desca  da  Foggia  in  Turin  mit  fünf  Büchern  ,,Canzonette,  Madri- 
gali, Arie".  Girolamo  Fornaci  brachte  in  Venedig  ,.amorosi  re- 
spiri".  Dann  ist  Francesco  Capello  in  Venedig  zu  nennen.  Ottaviano 
Durante  in  Rom  wendete  1 608  den  neuen  Styl  in  seinen  „Arie  divote" 

Madrigali).  Hierauf  zwei  Chöre  und  drei  Arien  aus  il  rapimento  di  Co- 
falo.  Aria  prima:  io  parto  amati  lumi;  Aria  seconda:  ardi,  ardi  cor 
mio  (beide  im  Sopranschlüssel);  Aria  terza:  ard'  il  petto  mio  (Violin- 
schlüssel); Aria  quarta:  fere  selvaggie;  Aria  quinta:  Fillide  mia;  Aria 
seata:  dite  udite  amanti;  Aria  settima:  Occhi  inamorati;  Aria  ottava: 
Odi  Euterpe;  Aria  nona:  Nelle  rose  purpurine  (sämmtlich  Sopran);  Aria 
ultima:  Cni  mi  conforta  oime  (Bass).  Somit  15  Madrigale,  13  Arien  und 
zwei  Chore.  Zum  Schlüsse :  apresso  Ii  heredi  di  Giorgio  Marescotti  lfDCH, 
cum  licentia  superiorum.  Der  Unterschied  in  der  Jahreszahl  erklärt  sich 
dadurch,  dass  die  Florentiner  ihr  Neujahr  mit  dem  Frühlings- Aequinoc- 
tiuni  im  März  feierten.  Caccini's  Vorrede  ist  datirt:  di  casa  in  Firenzo 
ü  di  primo  di  Febbraio  1601.  Das  Werk  erschien  aber  erst  im  Juli  — 
Dank  der  geist-  und  weltlichen  Censur,  die  es  passiren  musste.  Mares- 
cotti Sohn  entschuldigt  ausdrücklich  damit  und  mit  dem  mittlerweile  er- 
folgten Tode  seines  Vaters  Giorgio  die  Verspätung.  Die  beigesetzten 
Pennesse  der  Censur  sind  lesonswerth: 

„Jo  Fra  Francesco  Tibaidi  Fiorentino  de  Minori  Conventuali  hö  • 
letto  questi  Madrigali  in  Musica  del  Sig.  Giulio  Caccini  Romano,  e  dalT 
essor  composti  in  materia  d'amor  mondano  in  poi,  non  vi  ho  tro- 
Tato  cosa  repugnante  alla  cattolica  fede,  ne  tan  poco  contro 
prelati  di  Santa  Chiesa  (!)  Republiche  6  preneipi  et  in  fede  di 
cio  ho  scritto  questi  quattro  verei  ai  propria  mano  in  S.  Croce  di  Firen- 
ze,  l'ultimo  di  Giugno  1602,  con  la  lettera  dedicatoria  al  Signor  Lorenzo 
Salviati  et  un  altra  a  lettori.  —  Concedesi  la  stampa  cot  consenso  del 
Padre  Inquisitor  il  di  di  1  Lnglio  1602.  Cos.  Vicario  di  Fiorenza.  — 
Si  concede  licenza  di  steropareh  in  Fiorenza,  die  1  Junii  (so!)  1602, 
Tloquisitor  di  Fiorenza." 

1)  Vorrede  der  Euridice:  „In  essa  (nämlich  in  der  Euridice)  ella 
(Bardi)  riconoscera  quollo  stile  usato  da  mo  altre  volte,  molti  anni  so- 
no,  come  sa  V.  S  III.  nell'  egloga  del  Sannazaro  „Iten  all'  ombra  de  gli 
ameni  t'aggi"  ed  in  altri  miei  madrigali  di  quei  tempi:  „Perfidissimo 
▼olto-4.  „Vedro  'l  mio  solo",  „Dovro  dunque  raorire"  e  simili. 


„neue 


176      Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


auf  kirchliche  Gesänge  an ;  auch  Serafino  Patta  Aquilano  componirte 
geistliche  Singestückc  in  dieser  Art,  wozu  P.  Angelo  Grillo's  „pietosi 
affetti"  die  Worttexte  lieferten;  Girolarao  Marinoni  componirte 
offenbar  zu  eigenem  Gebrauch  (er  war  Sänger  in  S.  Marco  in  Ve- 
nedig) geistliche  Arien  nach  Antiphon-  und  Hymnentexten,  Hie- 
ronymus Kapsberger  in  Rom  setzte  1624  lateinische  Gedichte 
Urban's  VIIL  in  Musik.  ») 

Diese  monodischen  Arbeiten  riefen,  wie  man  sieht,  sofort  eine 
neue  Tonsetzerschule  in's  Leben.  Ein  neuer  Styl,  welcher  dem 
Geschmacke,  den  Wünschen  der  Zeit,  der  Nation  so  völlig  ent- 
sprach, war  gefunden  —  begreiflich,  dass  er  in  ganz  Italien  den 
lebhaftesten  Anklang  fand.  In  diesem  Sinne  wurden  Caccini's 
„Nuove  musiche"  ein  epochemachendes  Werk.  Das  Wort  Castig- 
lione's  von  dem  Werthe  des  Einzelgesanges  erhielt  erst  jetzt  seine 
rechte  Bedeutung;  was  der  geistvolle  Mann  hundert  Jahre  vorher 
nur  erst  geahnt  hatte,  erfüllte  sich  jetzt.  Auch  der  deutsche 
Michael  Prätorius  nennt  in  der  1619  geschriebenen  Vorrede  des 
dritten,  ganz  eigens  die  (damals)  moderne  Musik  behandelnden 
Theiles  seines  Syntagma  den  „Giulio  Romano14,  sonsten  Giulio 
Caccini  di  Roma  genannt  2),  und  wundert  sich,  wie  ,,souderlich 
jetziger  Zeit,  da  die  Musik  so  hoch  gestiegen,  das  fast  nicht  zu  glau- 
ben, dieselbe  nunmehr  höher  werde  kommen  können".  Was  uns 
dürftige  Anfänge,  die  ersten,  unsicheren ,  oft  unbeholfenen  Schritte 
auf  einer  neuen  Bahn  scheinen,  erschien  der  erstaunten  Welt  als 
Vollendung,  eine  Steigerung  gar  nicht  mehr  möglich!  Prätorius 
weiset  auf  Italien,  die  dortige  musikalische  Bewegung  und  den 
neuen  Musikstyl  ganz  ausdrücklich  hin.  „Weil  aber jetzo" 
fährt  er  fort,  „sonderlich  in  Italia,  auss  dcrmassen  viel 
musicalische  Compositiones  und  Gesänge,  so  gar  uff 
ein  andere  Art,  Manier  und  Weise,  als  vor  der  zeit, 
auffgesetzet  und  mit  ihren  Applic ationibus  an  Tag 
kommen  und  zum  Truck  verfertigt  sein  und  noch  wer- 
den, darinnen  so  mancherley  unbekannte  Italianische  Vocabula, 
Termini  und  Modi  begriffen  und  vorhanden,  da  sich  ein  jeder 
Musicus  darin  nicht  wohl  richten  und  schicken  kann  —  —  — 
so  hab  Ich  in  diesen  Tertium  Tomum  erstlich  die  Namen  aller 
Italianischen,  Französischen,  Englischen  und  jetzo  in  Teutschland 
üblichen  Gesängen,  demselben  Signification,  Distribution  und  De- 


1)  Von  Peri's  „varie  iuusiche"  besitzt  die  Marcusbibliothek  in  Vene- 
dig ein  Exemplar,  Ottavian  Durante's  „Arie  divote"  die  Musiksammlung 
der  Chiesa  nuova  in  Rom  und  Kiosowetter's  Sammlung  in  Wien,  die 
.,Euterpo"  die  Chiesa  nuova,  ebenso  die  Gesänge  von  Kapsberger  —  die 
Prager  Universitätsbibliothek  aber  bewahrt  als  eine  für  die  Geschichte 
der  Monodie  geradezu  unschätzbare  Sammlung  die  eben  genannten 
Arbeiten  von  Kadesea.  Bruneiii,  Fornaei,  Marinoni,  CapeUo  und  Patta. 

2)  S.  230. 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  177 


scription :  zum  andern  von  etlichen  andern  unterschiedenen  Sachen, 
so  nicht  allein  gemeinen,  sondern  auch  den  vornehmen  Musicis 
theoricis  und  practicis  zu  wissen  nicht  undienlich,  richtige  und 
verständliche  Erklehrung  gethan,  und  dann  wie  zum  dritten  die 
Italianische  und  andere  Termini  musici  und  Vocabula  zu  ver- 
stehen, die  Instrumenta  musicalia  in  Italianischer  Sprach  zu  nen- 
nen und  abzutheilen:  Der  Generalbass  (welches  gar  eine 
neue  Italianische  In vention,  aus  der  massen  herrlich, 
nützlich  Werck  vor  Capellmeister,  Directores,  Canto- 
res,  Organisten  und  Lautenisten,  und  bei  uns  in  Teutsch- 
land sich  a  1 1  c'r  erst  beginnet  herfür  zu  thun  und  in 
gebrauch  zu  kommen)  zu  tractiren  und  recht  zu  gebrauchen; 
desgleichen  wie  man  ein  Concert,  Teutsch-  oder  lateinische  Mo- 
tetam,  so  vff  viel  unterschiedene  Chor  gesetzet,  mit  guter  bequem- 
ligkeit  disponiren  und  anordnen  könne,  und  was  sonsten  andre 
mehr  Sachen  darinnen  begriffen,  welches  alles  meistentheils  vff 
jetzige  neue-  Art  der  Music  accomodiret  und  gerichtet,  so 
ich  zum  Theil  aus  etlicher  Italianischer  Musicorum  Praefationibus, 
zum  Theil  ans  etlicher  Italorum  und  derer,  so  in  Italia  vcrsiret, 
mündlichem  Bericht,  zum  Theil  auch  aus  meinen  selbst  eigenen 
Gedancken  und  geringen  Invention  verfasset,  conscribiret  und  zu- 
sammen bracht." 

Prätorius  wünscht  „damit  nach  Exempel  der  Italorum 
auch  in  Germania  nostra  patria  die  Musica  gleich  als  andere 
Scientiae  und  Disciplinae  nicht  allein  excoliret,  besonders  auch 
propagiret  und  zu  Gottes  einigem  Lob  und  Preiss,  auch  Gott- 
fürchtigen  Herzen  seliger  Recreation  und  Ergötzlichkeit  weit  aus- 
gebreitet werden  möge44  *)  —  er  wünscht,  dass  „die  Knabeu,  so 
vor  andern  sonderbare  Lust  und  Liebe  zum  Singen  tragen,  uff 
jetzige  Italianische  Manier  zu  informireu  und  zu  unter- 
richten seyn"  2)  —  er  spricht  von  den  „praestantissimorum  mu- 
sicorum Scholis,  welche  andern  löblichen  Nationen  hiermit  nichts 
benommen  jederzeit  in  Italia  gefunden  und  anjctzo 
noc  h  zu  finden."  3) 

Es  gab  aber,  dem  allgemeinen  Enthusiasmus  zum  Trotz,  auch 
Kenner  und  Freunde  des  früheren  Musikstyls,  welche  in  der  ge- 
änderten Kunstweise  eine  nichts  weniger  als  erfreuliche  Wendung 
der  Dingo  erblickten.  Sie  blieben  indessen  in  verschwindend 
kleiner  Minorität.  Der  distinguirte  Kunstfreund  in  Rom  Lelio 
Guidiccioni  dankt  es  aber  gerade  seiner  conservativen  Gcsinnuug, 
zu  deren  Bekämpfung  Pietro  dclla  Valle  sein  bekanntes  Send- 
schreiben an  ihn  richtete,  dass  sein  Name  unvergessen  geblieben 


1)  Einleitung  zum  3.  Theil  des  Syntagrua. 

2)  S.  229. 

3)  Einleitung. 

Ambrot,  Geschichte  der  Maslk.  IV. 


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178      Dio  Musikreforro  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 

ist.  Sehr  scharf  spricht  sich  1622  gegen  das  neue  Musikwesen 
Lodovico  Zacconi  aus:  „was  würden  die  alten  Meister  zu  dieser 
Wirthschaft  sagen  —  was  Josquin,  Mouton,  wenn  sie  in's  Leben 
Surückkehrten  ?  Sähen  wir  die  ernste  Arbeit,  welche  sie  an  die 
zache  wendeten,  so  hätten  wir  alle  Ursache  zu  staunen.  Ich 
könnte  blutige  Thränen  weinen,  wenn  ich  wahrnehmen  muss,  wie 
unsere  neuen  Sänger  (deren  Gebiet  überdies  die  modernen  Alltags- 
gesänge sind)  die  alten  edeln  Meisterwerke  nicht  mehr  anerkennen 
wollen  —  aber  auch  gar  nicht  mehr  im  Stande  sind,  sie  zu 
singen.  Wahrlich,  ich  kann  im  Namen  unserer  modernen  Com- 
ponisten  nur  schamvoll  erröthen!"  ') 

Der  neue  Musikstyl  bewirkte  auf  musikalischem  Gebiet,  was 
die  Renaissance  auf  allen  anderen  Gebieten  schon  früher  längst 
siegreich  durchgeführt  hatte:  die  Emancipation  des  Indivi- 
duums. Im  Mittelalter  hatte  sich  jeder  Einzelne  darein  einge- 
lebt, sich  als  integrirender  Bestandtin  il  irgend  einer  Corporation, 
als  Mitglied  eines  grösseren  Ganzen  anzusehen  und  zu  empfinden. 
Und  zwar  nicht  blos  innerhalb  der  zwei  grossen  Grundmächte 
und  Wahrer  der  Ordnung  auf  Erden,  Kirche  und  Staat,  sondern 
innerhalb  dieser  beiden  wiederum  in  irgend  einer  kleineren  Cor- 
poration, aus  der  und  ihresgleichen  sich  jene  grösseren  zusammen- 
setzten ;  der  Staatsangehörige  war  zunächst  etwa  erbeingesessener 
Bürger  einer  Stadt  und  innerhalb  der  Bürgerschaft  erst  wieder 
Mitglied  einer  Zunft  als  Handwerker,  einer  Facultät  als  Mann  der 
Wissenschaft,  und  so  weiter;  der  Geistliche  mochte  als  Canonicus 
einem  Domstift,  oder  als  Ordensmann  einem  Kloster  angehören; 
und,  als  genüge  das  Alles  nicht,  bildete  sich  noch  eine  Menge 
von  Confraternitäten ,  Bündnissen  u.  s.  w.  Ueberall  fühlte  sich 
der  Einzelne  von  seiner  Zunft,  seinem  Orden,  seiner  „Bruder- 
schaft" getragen  und  beschützt,  aber  allerdings  auch  von  ihren 
Gesetzen  tiberall  und  so  ziemlich  in  Allem  bedingt  und  abhängig. 
Der  Einzelne  stand  so  zu  sagen  nie  für  sich  ein,  er  war  gleich- 
sam nur  die  einzelne  Figur  einer  Gruppe,  eines  Chores,  einer 
Gesammtperson.  Im  Mittelalter  erkannte  sich  der  Mensch  (wie 
Burklmrdt 2)  sehr  schön  sagt)  „nur  als  Race,  Volk,  Partei,  Corpo- 


1)  Prattica  di  Mus.  Lib.  I.  Cap.  LXIII.  Der  Originaltext  lautet:  ,.Se 
ne  fosse  lecito  e  concesso  di  vedoro  lo  studio,  cho  faceano  gV  antichi  in- 
torno  a  questa  particolare  scienza  della  musica,  non  ho  dubbio  alcuno, 
cho  non  navessimo  ad  inarcar  le  ciglia  o  non  ci  havessimo  grandemente 

ad  istupire  e  maravigliare ;  questo  io  dico,  perene  piango  e 

sospiro  in  vedere,  che  i  Cantori  moderni  (da  i  canti  ordinarij  in  poi)  non 
rkonoscano  piu  le  pretiosie  belle  cantilene  antiche,  e  non  le  sanno  piü 

cantaro,  so  tornassero  in  vita  Jnsquino,  Gio.  Motone  e  gl'  altri, 

che  di  questo  sapeano  pur  assai,  trasecolarebbono  in  vedere  si  poca  cog- 
nitiono,  e  quanto  malamente  hnggidi  i  compositori  se  ne  sappin o  servire 
 cose,  cho  mi  fanno  per  loro  arrossire  e  vergognare." 

2)  Die  Cultur  der  Renaissance  in  Italien  S.  104. 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  179 


ration,  Familie,  oder  sonst  in  irgend  einer  Form  des  Allgemeinen. 
In  Italien  erwacht  zuerst  eine  objektive  Betrachtung  und  Behand- 
lung des  Staates  und  der  sämmtlichen  Dinge  dieser  Welt  über- 
haupt,   daneben  erhebt  sich  aber  mit  voller  Macht  das 
Subjektive,   der  Mensch  wird  geistiges  Individuum 
und  erkennt  sich  als  solches.    Mit  dem  Ausgang  des  13. 
Jahrhunderts  beginnt  Italien  von  Persönlichkeiten  zu  wimmeln; 
der  Bann,  in  welchem  der  Individualismus  gelegen,  ist  hier  völlig 
gebrochen ,  schrankenlos  spezialisiren  sich  tausend  einzelne  Ge- 
sichter".   In  Italien  vollendet  das  15.  Säculum  diese  Emancipation 
endgültig  —  Individuen ,  die  in  sich  allein  eine  ganze  Körper- 
schaft vereinter  und  höchst  mannigfaltiger  Kräfte  und  Fähigkeiten 
repräsentiren,  treten  auf.    Man  denke  z  B.  unter  den  Künstlern 
an  Leo  Battista  Alberti,  an  Leonardo  da  Vinci.    Oder  man  er- 
innere sich  auch  nur,  was  z.  B.  Baldassare  Castiglione  von  einem 
vollkommenen  Edelmann  alles  verlangt.    Aber  während  dieser 
Periode  und  noch  drei  Viertel  des  sechzehnten  Jahrhuuderts  hin- 
durch hatte,  durch  die  Uebermacht  und  den  bildenden  Einfluss 
der  niederländischen  Musiker,  die  Musik  die  wesentlich  mittel- 
alterliche Form  des  Polyphonen,  Confrapunktischen,  Chormässigen 
festgehalten  —  die  Musiker  bildeten  eine  zusammensingende  Kör- 
perschaft, selbst  wo  sie  höchst  Subjektives  musikalisch  auszu- 
sprechen,  z.  B.  ein  Liebeslied  vorzutragen  hatten,   wie   es  in 
Petrucci's  Sammlungen  zu  Hunderten  vorkommt.    Orazio  Vecchi's 
„Anfiparnassou  ist  wohl   das   allerauflallendste  Denkmal  dieser 
ganzen  Richtung.    Die  Renaissance  und   ihr  Geist  durchdrang 
diese  Formen  verklärend  und  erwärmend  wie  Sonnenlicht  (Palc- 
s  tri  na,  Marenzio,  die  beiden  Gabrieli  u.  s.  w.)  —  die  Form  selbst 
vermochte  sie  einstweilen  nicht  zu  brechen.    Aber  wie  stark  der 
Drang  nach  der  Emanzipation  des  Individuums  allgemach  auch 
hier  wnrde,  zeigt  die  Flucht  des  einzelnen  Sängers  mitten  aus 
dem  Chore  der  singenden  Collegen  —  er  nimmt  sich  seinen  con- 
trapunktisch  gesetzten  Part  mit,  und  singt  ihn,  so  gut  oder  so 
9  schlecht  es  gehen  will,  für  sich  allein,  und  lässt  die  Parte  der 
von  ihm  im  Stiche  gelassenen  Collegen,  die  er  des  Gesammtein- 
druckes  wegen  doch  am  Ende  nicht  entbehren  kann,  von  musi- 
kalischen Instrumenten  als  Begleitung  seines  Gesanges  spielen. 
Von  Ausdruck,  Leben,  Empfindung   kann  in  seinem  Vortrage 
natürlich  keine  Rede  sein,  er  kann  da  nichts  herausholen  und 
nichts  hineinlegen,  er  mag  höchstens  seinen  Part  mit  allerlei 
Brillantschnörkeleien  bestens  aufputzen.   Und  nun  aber  tritt  durch 
Caccini  und  in  dessen  „Nuovc  musiche"  der  Sänger  zum  erstenmale 
wirklich  als  Solist  auf;  er  trägt  vor,  er  detaillirt  und  nüancirt, 
sein  Gesang  ist  nicht  mehr  herausgerissenes  Bruchstück  eines 
eigentlich  untrennbaren  Ganzen,  er  ist  selber  ein  Ganzes,  belebt 
von  Ausdruck,  von  Empfindung  —  er  wird  individuelle  Gefühls- 

12* 


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1 


180      Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt 


spräche.  Die  Poesie,  welche  im  Gewebe  der  Contrapunktik  ver- 
schwunden war,  tritt  wieder  hervor;  sie  wird  wahrnehmbar;  die 
Musik  wird  zwar  zur  Dienerin  der  Poesie  nnd  muss  sie  schmücken, 
aber  dafür  erklärt  das  wieder  hör-  und  vernehmbar  gewordene 
'  Wort  der  Poesie,  was  die  Musik  in  ihrer  Weise  ausdrücken  will. 
Takt,  Tempus  und  Prolation  hören  auf,  den  Sänger  in  Banden 
zu  halten;  sie  ordnen  und  gruppiren  wohl  die  Noten  und  regeln 
deren  Bewegung,  aber  statt  der  Hand  des  Taktschlägers  folgen 
zu  müssen,  darf  jetzt  der  Sänger  den  Bewegungen  seines  erregten 
Gemüthes  folgen ;  streng  im  Takte  melodisch  fortschreitender  Ge- 
sang darf  mit  freiem  Vortrag,  mit  beschleunigter,  mit  zurück- 
gehaltener Recitation  (der  „nobile  sprezzatura  del  Canto"  Caccini's) 
wechseln.  Caccini  leitet  seine  nuove  musiche  mit  einer  höchst 
merkwürdigen  Anweisung  zu  deren  richtigem  und  insbesondere 
ausdrucksvollem  Vortrage  ein.  Zur  Illustrirung  seiner  Lehren 
schaltet  er  drei  seiner  Monodieen  ein,  und  bei  einer  derselben, 
„deh  dove  son  fuggiti",  finden  sich  nicht  weniger  als  folgende 
Bezeichnungen  l)  für  den  ausdrucksvollen  Vortrag:  scemar  di  voce, 
escla  ( —  mazione)  spiritosa,  escla.  —  piü  viva,  escla.-escla.-escla 
(trillo),  e8cla.-8enza  misura  quasi  favellando  in  armonia  con  sud- 
detta  sprezzatura  (trillo)-escla.  escla.  con  misura  piü  larga,  (trillo) 
escla.  escla.  escla.  rinforzata.  trillo  peruna  mezza  battut  i  Eine 
kurze,  treffende  Beurtheilung  der  Gesänge  Caccini's  hat  Kiese- 
wetter seiner  ,,Gallerie  alter  Contrapunktistcn"  als  Randbemerkung 
beigesetzt:  „Diesen  Gesängen,  wie  sie  auch  seien,  kann  das  Prä- 
dicat  wirklicher  Monodie  nicht  abgesprochen  werden;  das  Streben 
nach  Ausdruck  ist  sichtbar;  der  Sänger  mochte  nachhelfen/1  Und 
in  der  That  ist  die  Tiefe  des  Ausdrucks  in  Caccini's  „nuove 
musiche"  zuweilen  überraschend.  Durch  alle  Befangenheit,  welche 
diesen  Erstlingsversuchen  anklebt,  durch  die  knappe,  magere  Form 
bricht  sie  an  mehr  als  einer  Stelle  siegreich  durch,  selbst  die 
Coloraturschnörkel  vermögen  sie  nicht  überall  zu  überwuchern. 
Ihr  declamatorisches  Pathos  vollends  und  die  Flebile  dolcezza 
(wie  Graf  Castiglione  bei  anderer  Gelegenheit  sagte)  trafen  so  9 
ganz,  was  die  Zeit  haben  wollte,  und  diese  erkaunte  in  ihnen  mit 
freudigem  Antheil  das  längst  Ersehnte.  Die  blosse  Autorität  Pla- 
ton's  hätte  es  nicht  vermocht,  dieser  Musik  einen  gleichen  Erfolg 
zu  sichern.  Die  Reformatoren  durften  sich  Glück  wünschen,  einen 
talentvollen,  gebildeten  Musiker  wie  Caccini  überzeugt  und  ge- 
wonnen zu  haben;  die  dilettantenhaften  Versuche  Galilei's  u.  A. 
hätten  schwerlich  ausgereicht.  Vergleicht  man  diese  Compositionen 
mit  den  von  Galilei,  Bardi  u.  s.  w.  ertheilten  Lehren,  so  darf 
man  sich  nun  allerdings  fragen,  ob  die  Herren  eben  grosse  Ur- 
sache hatten,  hier  eine  vollständige  und  rückhaltlose  Verwirk  - 


1)  „Buchbindernaclirichtcn  an  den  Sänger",  würde  Jean  Paul  sagen. 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  181 


lichung  ihres  Programms  zu  erkennen.  Es  fehlt  nicht  an  Textes- 
wiederholungen, welche  nicht  durch  den  poetischen  Inhalt,  sondern 
durch  den  musikalischen  Aufbau  geboten  sind,  und  die  zahl- 
reichen Coloraturen  hätte  Plato  auch  schwerlich  gut  geheissen; 
ferner  sind  die  Tonarten  nichts  weniger  als  die  antiken,  vielmehr 
tritt  die  moderne  Tonalität  hervor,  mit  Ausweichungen  in  Neben- 
tonarten, mit  entschiedenem  Gefiihl  für  die  Bedeutung  der  Domi- 
nante und  so  weiter.  So  viel  aber  war  erreicht,  dass  der  Solo- 
gesang und  im  Gesänge  der  Ausdruck  des  Affektes  das  Wesent- 
liche und  das  Singen  eine  Nachahmung  des  Redens  wurde;  damit 
aber  war  die  Tonkunst  auf  dem  geraden  Wege  zum  musikalischen 
Drama,  Die  Epoche  hätte  ohnehin  am  liebsten  alle  Künste  dra- 
matisch oder,  besser  gesagt,  theatralisch  beschäftigt.  Wurde  da- 
mals doch  selbst  die  Plastik  aus  der  edeln  Ruhe  der  Antike,  aus 
der  stillen  Innigkeit  der  mittelalterlichen  Sculptur  herausgejagt 
und  musste  sich  gefallen  lassen,  Komödie  zu  spielen.  Erinnere 
man  sich  an  des  gleichzeitigen  Bernini  und  seiner  Kunstgenossen 
Heiligengruppen,  an  seine  Papstgräber  u.  s.  w.,  wo  sich  Engel, 
Dämonen,  Tugenden  und  allegorische  Figuren  jeder  Art  „an  dem 
allgemeinen  Komödienspiel  betheiligen  und  irdend  eine  Szene 
möglichst  gewaltsam  aufführen  müssen."  l)  Wir  werden  eben  diese 
Engel,  Dämonen,  Tugenden  und  sonstigen  allegorischen  Figuren 
auch  auf  der  Opernbühne  antreffen  agirend,  singend  und 
tanzend ! 

Den  Weg  zum  Dramatischen  schlug  jedoch  die  Musik  bewusst 
und  absichtlich  erst  ein,  als  der  vorzüglichste  Förderer  der  ganzen 
Reformbewegung,  Bardi,  schon  aus  Florenz  geschieden  war.  Papst 
Clemens  VIII.  (1592—1605)  hatte  ihn  als  „Maestro  di  camera" 
nach  Rom  berufen,  vermuthlich  gleich  oder  bald  nach  der  Thron- 
besteigung des  Papstes,  denn  schon  1594  finden  wir  in  Florenz 
statt  des  Hauses  Bardi  das  Haus  Corsi  als  Asyl  der  Tonkunst. 
Die  musikalisch  -  philosophischen  Reunionen  in  Florenz  gingen 
jetzt  in  das  Haus  des  edeln  Jacopo  Corsi,  eines  grossen  Gönners 
der  Musik  und  der  Musiker,  über.  Sein  Haus,  sagt  Doni,  war 
eine  beständige  Herberge  der  Musen  (un  continuo  albergo  delle 
muse),  und  wer  ihnen  diente,  fremd  oder  einheimisch,  fand  dort 
die  zuvorkommendste  Aufnahme.2)  Die  Tonkünstler  nannten 
Corsi  den  „Vater  der  Musik".  3)  Wie  bei  Bardi  es  Giulio  Caccini 
gewesen,  welcher  die  reformatorischen  Ideen  künstlerisch  zur 
Geltung  brachte,  so  war  es  im  Hause  Corsi  der  tüchtige  Componist 


1)  Lftbcke,  Gesch.  der  Plastik  II.  S.  76. 

2)  G.  B.  Doni  Op.  II.  S.  24. 

3)  —  il  Sign.  Jacopo  Corsi  d'onorata  memoria  amatore  d'ofpi  dottrina 
e  deUa  musica  particolarmente  in  maniera,  che  da  tutti  i  musici  con  gran 
ragiono  ne  vien  afctto  il  padre.  (Marco  Gagliano's  Vorrede  zu  seiner  „Dame".) 


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182      Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt 


und  hochgeschätzte  Sänger  Jacopo  Peri,  „il  Zazzerino"  (der 
Lockenkopf  —  so  genannt  von  der  reichen  Fülle  seines  röth- 
lichen  Haares).  Und  zwar  nahm  die  Sache  hier  sogleich  die 
Wendung  zum  Dramatischen. 

Zu  dem  Kreise  im  Hause  Corsi  gehörte  auch  der  Dichter 
Ottaviano  (Ottavio)  Rinuccini.  Sein  Biograph  Janus  Nicius  Ery- 
thräus  (Rossi)  l)  schildert  ihn  als  eine  glänzende,  ritterliche  Per- 
sönlichkeit, erregbar,  leidenschaftlich  und  besonders  von  schönen 
Frauen  leicht  in  Flammen  gesetzt.  Für  die  Prinzessin  Maria  von 
Medicis,  nachmals  Gemalin  Heinrich  des  Vierten,  fasste  er  eine 
heisse  Neigung,  er  folgte  ihr  nach  Frankreich  2),  von  dort  kehrte 
er  nach  Florenz  zurück,  um  sich  mit  nicht  geringerer  leidenschaft- 
licher Glut  der  Frömmigkeit  zuzuwenden.  Er  starb  1621.  Er 
ist  eine  Art  von  zweitem,  geringerem  Tasso,  mit  dessen  Dichter- 
talonte  er  ebenfalls  eine  innere  Verwandtschaft  erkennen  lässt. 
Seine  für  musikalische  Compositionen  bestimmten  Dramen  Dafhe, 
Euridice,  Aretusa  und  Arianna  haben  auch  als  Dichtungen  be- 
deutenden und  selbständigen  Werth,  die  Sprache  ist  edler  Wohl- 
laut, Gang  und  Anordnung  der  Handlung  sind  klar  und  verständig, 
der  Ausdruck  ist  gewählt  und  natürlich,  was  man  in  einer  Zeit,  wo 
der  Schwulst  und  Bombast  Marini's  die  italienische  Poesie  zu  be- 
herrschen anfing,  doppelt  hoch  schätzen  muss.  „Obwol",  sagt 
Doni,  „Rinuccini  selbst  die  Musik  nicht  verstand,  so  half  ihm  doch 
sein  feines  Urtheil  und  sein  gebildetes  Ohr."  Doni  sagt  geradezu, 
dass  Rinuccini  und  Corsi  es  gewesen,  welche  durch  die  Rath- 
schläge und  Belehrungen,  welche  sie  den  Musikern  gaben,  das 
musikalische  Drama  in's  Leben  gerufen.3) 

Rinuccini's  Dafne  kam  nach  einer  Composition  Peri's  (Doni 
ftigt  bei:  „und  Caccini's",  augenscheinlich  irrig),  welche  nicht 
mehr  vorhanden  ist,  im  Hause  Corsi  zur  Aufführung,  „zum  un- 
aussprechlichen Genüsse  der  ganzen  Stadt". 4)  Peri  erzählt  in  der 
Vorrede  seiner  Euridice  selbst:  „Obwol  Signor  Emilio  del  Cava- 
liere,  so  viel  ich  weiss,  eher  als  jeder  Andere  unsere  Musik  in 
bewundernswerther  Weise  auf  der  Scene  hören  liess,  so  gefiel  es 
doch  1594  den  Herren  Jacopo  Corsi  und  Ottavio  Rinuccini,  dass 
ich,  die  Musik  in  anderer  Weise  behandelnd  (adoperan- 
dola  in  altra  guisa),  die  Noten  zur  von  Herrn  Ottavio  Rinuccini 
gedichteten  Dafne  setzen  möge,  um  einfach  eine  Probe  zu  machen, 
wie  viel  der  Gesang  unseres  Zeitalters  vermöge."    Diese  „andere 


1)  S.  dessen  Pinacotheca. 

2)  Mariam  Medicaeam,  Galliae  Re^inam.  non  majori  aoinulationo  quam 
vanitato  adamavit,  quam  etiam  honoris  gratia  prosecutus  est  euntem  in 
Galliam.    (Ervthräus  a.  a.  0.) 

3)  Doni  Op.  II.  S.  25 

4)  „con  gusto  indieibilo  della  citta  tutta.44   (Doni  Op.  H.  S.  24.) 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  183 


Weise"  ist  augenscheinlich  der  neue  florentinische,  monodisch- 
declamatorische  Musikstyl  —  und  mit  den  Werken,  welche  Emilio 
del  Cavaliere  schon  vorher  auf  die  Bühne  gebracht,  können  nur 
dessen  noch  madrigaleske  Compositionen  il  Satiro  und  la  dispe- 
razione  di  Fileuo  ')  gemeint  sein,  welche  beide  schon  1590  mit 
grossem  Erfolg  in  Florenz  aufgeführt  worden  waren,  während 
Dafne  erst  1594  entstand.  Jacopo  Corsi  selbst  hatte  sich  vorläufig 
in  der  Composition  einiger  Arien  aus  dieser  Dichtung  versucht  — 
welche  Pen,  vielleicht  aus  Höflichkeit,  als  „sehr  schön"  bezeichnet 
Begierig  den  Erfolg  auf  der  Bühne  selbst  zu  sehen,  habe  er  —  er- 
zählt hinwiederum  Marco  da  Gagliauo  —  gemeinschaftlich  mit 
Kinuccini  den  Jacopo  Peri  „den  höchst  bewunderten  Contrapunk- 
tisten  und  aufs  allerfeinste  gebildeten  Sänger"  um  die  Compo- 
sition der  Dafne  angegangen,  welche  dieser  auch  sofort  über- 
nahm, und  einige  der  von  Corsi  bereits  in  Musik  gesetzten  Arien 
sogar  beibehielt.  "2)  Dass  jene^Wihcren  Werke  Emilio's  noch  völlig 
madrigalesk  componirt  waren,  zeigt  die  Schilderung,  welche  Doni  4) 
davon  giebt,  deutlich  genug;  die  Gäste  im  Hause  Corsi  hätten 
sonst  auch  keinen  Anlass  gehabt,  über  die  „Neuheit  des  Schau- 
spiels" bei  der  Aufführung  der  Dafne  zu  erstaunen. 5)  Erst 
1 600  kam  Emilio's  geistliches  oder  allegorisches  Musikdrama  „delT 
anima  e  del  corpo"  in  Koni  zur  Aufführung,  welches  Doni,  der  nur 
die  Compositionen  aus  Emilio's  florentiner  Zeit  gekannt  haben 
mag,  augenscheinlich  unbekannt  geblieben,  denn  dieses  ist  aller- 
dings auch  schon  im  neuen  Musikstyl  componirt.  Peri,  der  den 
Satiro,  den  Fileuo  in  frischer  Erinnerung  hatte,  nennt,  da  es  sich 
doch  um  Musik  auf  dem  Theater  handelt,  wahrheitsliebender  und 
bescheidener  Weise  den  Emilio  del  Cavaliere.  So  lösen  sich  die 
scheinbaren  Widersprüche  leicht  und  völlig.  6)  Emilio  wird  unter 
den  Besuchern  der  Häuser  Bardi  und  Corsi  nirgends  genannt, 
hat  auch  sicher  nicht  dazu  gehört.  Doni  würde  ihm  sonst  nicht 
vorwerfen:  Signor  Emilio  habe  in  Sachen  der  guten  und  wahren 
dramatischen  Musik  kein  Licht  haben  können,  weil  ihm  jene 
Kenntnisse  fehlten,  welche  aus  den  alten  Schriftstellern  geschöpft 


1)  Nicht  „Sileno'4,  wie  man  immer  wieder  liest. 

2)  Signore  Jacopo,  il  quäle  avea  di  giä  composte  arie  bellissime  per 
qoesta  favola  (Vorrede  zur  Kuridice). 

3)  Siehe  die  Vorrede  (a  Lettori)  der  Dafne  Marco  Gagliano's,  gedr.  1608. 

4)  Op.  II.  S.  22. 

5)  Marco  da  Gagliauo  giebt  als  Zoit  der  Auffuhrung  der  Dafne  den 
Carneval  1597  an.  Der  anscheinende  Widerspruch  löst  sich  durch  eine 
Mittheilung  Peri's  in  der  Vorrede  der  Euridice:  „per  tre  anni  con- 
ti nui,  che  nel  Caruovale  si  rappresentö,  fu  udito  con  sommo  diletto4'. 
Gagliano  bekam,  wie  man  sieht,  das  Werk  erst  im  dritten  Jahre  zu  hören. 

6)  Kiesewetter's  Misstrauen  gegen  Doni's  Zeugniss  (Schicksal  und  Be- 
schaffenheit des  weltlichen  Gesanges  S.  39)  vermag  ich  aus  den  oben  im 
Texte  entwickelten  Gründon  nicht  zu  thoilen. 


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184      I>ie  Mu8ikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


werden  müssen.  An  der  Mittheilung  dieser  Notizen  liessen 
aber  die  Mitglieder  der  Gesellschaften  Bardi  und  Corsi  wahrlich 
nicht  fehlen.  Es  wäre  bei  dieser  Lage  der  Dinge  kaum  zu  er- 
klären, wie  schon  1600  (also  gleichzeitig  mit  der  Euridice  in 
Florenz)  Emilio's  dramatisch-allegorisches  Oratorium  im  neuen 
Musikstyl  aufgeführt  werden  konnte,  wenn  nicht  die  Erklärung 
nahe  läge,  dass  die  Dafhe  in  Florenz,  welche  er  als  Musiker  und 
Intendant  der  grossherzoglichen  Hofmusik  sicher  gehört,  auf  ihn, 
wie  auf  alle  Welt,  einen  gewaltigen  Eindruck  gemacht  und  ihn 
bewog,  als  er,  vermuthlich  sehr  bald  darnach,  seinen  Wohnsitz  in 
Rom  aufschlug,  den  neuen  Styl,  dessen  Nachahmung,  was  seine 
Aeusserlichkeiten  betrifft,  nichts  weniger  als  schwierig  war,  für 
•ein  Oratorium  anzuwenden.  Uebrigens  erlebte  Emilio  nicht  "ein- 
mal jene  erste  Aufführung.  Seine  Musik  sieht  aus,  als  habe  er 
sie  seinem  Vorbilde  eben  nur  abgehorcht  und  sie,  so  gut  er 
konnte,  nachgeahmt.  Sie  hat,  ghlichwie  Emilio's  Madrigal-Styl 
in  sehr  bedenklicher  Weise  an  die  weiland  Frottole  erinnert  und 
nicht  eben  einen  Meister  verräth,  einen  erstaunlich  dilettanten- 
haften  Zug,  während  man  es  den  Arbeiten  Peri's  und  Caccini's 
sehr  wohl  ansieht,  dass  sie  von  Musikern  herrühren,  welche  ihre 
ordentliche  Schule  durchgemacht,  mochten  ihre  platonisirenden 
Berather  diese  Schule  auch  noch  so  sehr  verlästern,  ja  die  Ton- 
setzer selbst  sich  dagegen  erklären. 

Insgemein  wird  behauptet:  es  sei  die  Absicht  geradezu  darauf 
gerichtet  gewesen,  die  antike  Tragödie  mit  ihrer  eigentümlichen 
Musik  wieder  aufleben  zu  machen.  So  ganz  und  völlig  richtig 
ist  das  nicht,  wie  schon  aus  dem  Umstände  erhellet,  dass  zu  den 
ersten  Versuchen  auf  dem  dramatisch-musikalischen  Gebiete  nicht 
nach  irgend  einem  der  antiken  Tragödienstoffe  gegriffen  wurde, 
sondern  dass  das  musikalische  Drama  aus  der  eigenthümlichen 
favola  boschareccia  der  italienischen  Poesie  hervorging.  Rinuccini's 
„Dafne"  und  „Euridice"  sind  Schäferspiele  auf  mythologischer 
Basis.  Aber  ganz  und  völlig  unrichtig  ist  die  Sache  doch  nicht. 
Vielmehr  ist  es  so  ziemlich  klar,  dass  die  Absicht,  wenn  nicht  der 
Componisten,  so  doch  ihrer  Berather  insgeheim  doch  kein  anderes 
letztes  Ziel  hatte,  und  dass  sie  jene  musikalischen  Schäferspiele 
mit  der  obligat  eingewebten  Mythe  der  Dafnc  und  des  Orpheus 
nur  als  Etappen  auf  dem  Wege  zu  jenem  letzten  und  höchsten 
Ziele  betrachteten.  Wenn  Peri  in  der  Vorrede  der  Euridice 
zweifelnd  sagt:  ,.ich  will  zwar  nicht  zu  behaupten  wagen,  es  sei 
dieses  die  Art  des  Gesanges  der  griechischen  und  römischen 
Schauspiele",  so  spricht  Caccini  in  der  Vorrede  seiner  Composition 
desselben  dramatischen  Gedichtes  sehr  viel  bestimmter:  „Ihr  (näm- 
lich Bardi,  an  den  die  Vorrede  gerichtet  ist)  sagtet  mir  überein- 
stimmend mit  vielen  anderen  edeln  Kennern  (nobili  virtuosi),  dieses 
sei  die  Art  des  Gesanges,  welche  die  antiken  Griechen  bei  der 


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Die  Mu8ikrefonn  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  185 


Aufführung  ihrer  Tragödieen  und  anderer  Schauspiele  anwendeten". 
Und  wenige  Jahre  später  (1608)  schreibt  Marco  da  Gagliano  in 
der  Vorrede  seiner  „Dafhe",  nachdem  er  über  den  ersten  Anfang 
der  Musikdramen  in  Florenz  gesprochen  und  wie  solche  schon 
beim  ersten  Versuche  mit  grossestem  Beifalle  aufgenommen  wor- 
den: „man  dürfe  hoffen,  sie  noch  zu  weit  grösserer  Vollkommen- 
heit gebracht  zu  sehen,  so  dass  sie  sich  eines  Tages  der  so  sehr 
gepriesenen  Tragödieen  der  antiken  Griechen  und  Lateiner  nähern 
könnten".  ')  Ja  weiterhin  sagt  Marco  da  Gagliano  sogar  aus- 
drücklich von  Claudio  Monteverde's  „Ariannaa,  es  habe  sich  darin 
die  Herrlichkeit  antiker  Musik  erneuert  Doni  wurde  gar  nicht 
müde,  „Lezioni"  und  „Discorsi"  zu  schreiben  und  nach  Umständen 
in  gelehrten  Versammlungen  vorzutragen,  deren  Zweck  auf  eine 
vollständige  Restaurirung  der  antiken  Tonkunst,  besonders  für  das 
Drama,  ausging.  Das  ganze  Wesen  des  antiken  Theaters  wird  da 
abgehandelt  —  sogar  die  zur  Verstärkung  des  Schalles  einge- 
mauerten Töpfe2)  —  und  dabei,  wo  es  geht  und  passt,  auf  die 
neue  und  neu  entstandene  dramatische  Musik  Beziehung  genommen, 
und  oft  genug  werden  praktische  Winke  und  Lehren  gegeben. 
Die  ersten  florentinischen  Musik dramen  bezeichnet  Doni  geradezu 
als  „nach  antiker  Art  componirt". 3)  Aber  das  Ziel  wurde  auch 
hier  nicht  erreicht.  Statt  des  wiederzubelebenden  antiken  Drama 
mit  Gesang  entstand  die  Oper. 

Corsi,  Rinuccini,  Doni  und  wer  sonst  zur  hellenistischen  Partei 
gehörte,  hatten  bei  ihren  Planen  zur  Restaurirung  des  antiken 
Drama  einige  sehr  wesentliche  Factoren  nicht  in  Anschlag  ge- 
bracht. Erstlich,  dass  das  Zeitalter  Paul  des  Fünften  und  Urban 
des  Achten,  das  heisst  das  Zeitalter  des  geziertesten  und  ver- 


1)  Diese  Hoffnung  wurde  1779  erfüllt  durch  Gluck'a  „Iphigouia  in 
Tauris"! 

2)  Band  II.  Tratt.  della  mus.  scen.  Cap.  XL VII,  XL VIII,  XLIX. 
S.  135 — 144.  Offenbar  denkt  Doni  an  eben  diese  Schalltöpfe,  wenn  er 
(II.  S.  22),  gegen  Einzelnes  in  der  Vorrede  von  Emilio  del  Cavaliere's 
„l'anima  e  '1  corpo"  polemisirend,  unter  Anderm  sagt:  ,,Non  vorebbe  anco, 
ehe  la  sala  fosse  capace,  che  di  mille  persono  al  piu;  perche  i  cantori  non 
avessero  a  sforzare  troppo  la  voce:  cose  tutte,  che  si  pottrebbono  dare  per 
leg^ge  ad  una  commedia  di  monache  o  da  giovani  studentij  e  non  per 
azioni  rappreaentate  con  realo  apparato,  che  tra  le  altre  condizioni  richie- 
dono  un  sito  di  competente  granaezza  e  Cantori  eletti:  potendosi  anco 
trovare  rimedi  per  ingagliardare  la  voce  degli  attori,  come 
piü  abasso  si  dira  " 

3)  Quo  magis  non  tolerabile  tantum,  sed  et  laudabile  mihi  videtur 
iuvenum  iÜorum  institutura,  qui  theatralem  ac  scenicam  artem  musicao 
ülecebris  atque  ornamentis  gratiorom  officere  nunc  Venetiis  studento  ani- 
mati  credo  eorum  dramatum  exeroplo,  quae  a  principibus  viris  cum  m o- 
dulatione  et  cantu  ad  modum  veterum  magnifice  ezhibita, 
Florentiae  primum,  moi  Mantuae,  Parmae,  atque  in  hac  ipsa  urbe  (Roma) 
incredibili  plausu  excepta  sunt.   ((i.  B.  Doni,  do  praest.  m.  v.  S.  126.) 


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186      £>ie  Musikrefonu  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 

schraubtesten  Barocco,  noch  weniger  für  das  den  nöthigen  Sinn  und 
Geschmack  haben  konnte,  was  nicht  einmal  dem  Zeitalter  Nicolaus 
des  Fünften  und  Leo  des  Zehnten  so  ganz  und  völlig  genehm 
gewesen  wäre  —  nämlich  für  die  einfache  Grossheit  der  Antike. 
Was  Winkelmann  für  die  antike  Plastik  als  Kennzeichen  vin- 
dizirt:  „edle  Einfalt,  stille  Grösse ist  auch  das  Kennzeichen  der 
antiken  dramatischen  Dichtung  des  Sophokles  —  aber  mit  edler 
Einfalt,  stiller  Grösse  durfte  man  der  Zeit  des  Bernini,  Borromini, 
Marini  ja  nicht  kommen.  Zweitens  hatten  sie  nicht  auf  die  Prunk- 
sucht und  Schaulust  der  Grossen  und  eigentlich  der  Italiener  über- 
haupt gerechnet  Von  jeher  hatte  man  in  Italien  es  meisterlich 
verstanden,  Festspiele,  Festztige,  Prozessionen,  Maskeraden  mit 
eben  so  viel  Geschmack  als  Pracht,  mit  augenblendendem  Costüm- 
luxus  und  mit  Maschinenwundern  jeder  Art  auszustatten.  l)  Natür- 
lich also,  dass  die  Grossen  (und  gerade  diesen  bindet  ja  Doni  das 
neugeborene  Musikdrama  auf  die  Seele)  in  einem  Schauspiel,  wo 
die  Götter  Griechenlands  leibhaft  auftraten  und  sangen  und  agir- 
ten,  die  gewohnte  Augenlust  am  allerwenigsten  entbehren  mochten. 
Eine  fabelhaft  glänzende  Ausstattung  wurde  bald  genug  auch 
hier  ein  unentbehrliches  Erforderniss.  Die  Arbeit  des  Theater- 
malers, Theatermaschinisten,  ja  des  Theaterschneiders  hatte  bald 
eben  so  viel  Werth,  als  die  Partitur  des  Musikers  —  sie  werden 
mit  ganz  gleicher  Wichtigkeit  behandelt  Das  Gedicht  bildete  den 
Kernpunkt,  an  den  alles  übrige  gleichsam  krystallisirend  anschoss  — 
alles  zusammen  war  ein  Prachtstück  zur  Verherrlichung  irgend 
eines  HofTestes  bei  einem  feierlichen  Anlass,  so  gut  wie  die  andern 
daneben  auf  dem  Festprogramme  stehenden  Belustigungen  —  einer 
stattet  es  mit  Anzügen  für  die  Darsteller,  der  andere  mit  Musik 
aus  —  der  Unterschied  war  nicht  von  Belang.  Uebrigens  liessen 
sich  selbst  namhafte  Künstler  für  die  Ausstattung  thätig  finden. 
Schon  zur  Zeit  Leo's  X.  hatte  es  Baldassare  Peruzzi  nicht  ver- 
schmäht, für  die  Komödienaufführungen  im  Vatican  Decorations- 
prospekte zu  malen,2)  und  1519  malte  für  eine  von  Leo  X  ver- 


1)  Ich  vorweise  statt  alles  Anderen  auf  die  treffliche  Darstellnn<*  in 
Burckhardt's  ,.Cultur  der  Renaissance  in  Italien".  Was  man  zur  Zeit 
Urban  VIII.  in  diesem  Capitel  leistete,  zeigt  ein  Gemälde  im  grossen 
Saale  des  barberinischen  Palastes  in  Born,  welches  den  festlichen  Aufzug 
bei  Gelegenheit  der  Vermälung  einer  Nichte  des  Papstes  vorstellt  — 
phantastisch-prächtig  gekleidete  Reiter  mit  fabelhaften  ungeheuren  bunten 
Federbtischon  auf  den  Helmen,  colossale  Wagen  mit  Gottheiten,  ein  riesen- 
hafter Drache,  auf  den  ein  Hercules  steht  u.  s.  w. 

2)  Fast  sah  man  dergleichen  als  Gelegenheits-Prunkstück  an,  für  ein- 
mal und  nicht  wieder,  gerade  wie  die  architektonisch-prächtigen  Verklei- 
dungen von  Holz  und  Pappe  an  einstweilen  noch  nackten  Domfacaden, 
die  Triumphthore  u.  s.  w.  für  den  Einzugs-  oder  Hochzeitstag  des  Fttrston 
u.  dgl.  Ltibcke  in  seiner  Geschichte  der  Plastik  (II.  S.  702)  sagt  von 
dem  Bildhauer  Tribolo :  „in  seiner  späteren  Lebenszeit  war  er  für  Cosinus 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  187 


anstaltete  Aufführung  der  „Suppositi"  des  Ariost  kein  Geringerer 
die  Szene  als  Raphael  Sanzio!  1  Auf  optische  und  mechanische 
Kunststücke  verstand  man  sich  längst,  und  auch  hier  waren  es 
keine  geringen  Leute,  welche  sich  mit  dergleichen  abgaben.  Lio- 
nardo  da  Vinci's  Maschinerien  beim  Einzug  Karl  VIII.  von  Frank- 
reich in  Mailand  sind  ein  Beispiel  und  schon  früher  Leo  Battista 
Alberti's  berühmter  Guckkasten,  „in  welchem  er  bald  die  Gestirne 
und  den  nächtlichen  Mondaufgang  über  Felsengebirgen  erscheinen 
Hess,  bald  weite  Landschaften  mit  Meeresbuchten  bis  in  duftige 
Fernen  hinein,  mit  heranfahrenden  Flotten,  im  Sonnenglanz  wie 
im  Wolkenschatten".  2)  Die  Schilderungen,  welche  Erythräus  von 
der  Ausstattung  der  ersten  musikalischen  Dramen  giebt,  klingen 
fast  ebenso.  Er  ist  ganz  entzückt  über  ein  solches  Schauspiel  im 
Palast  Barberini  in  Rom,  wo  eine  untergehende  Sonne  alles  in 
Erstaunen  setzte  — -  was  gab  es  aber  ausserdem  alles  zu  sehen! 
Die  Schauspieler  fast  alle  in  Gold-  und  Silberstoff  gekleidet,  bei- 
nahe königlich  —  und  dann  die  Verwandlungen,  die  Prospecte, 
man  sah  Marktplätze,  Paläste,  Gärten,  Haine  von  Wässern  durch- 
rieselt, wo  reizende  Nymphen  Blumen  pflückten  u.  s.  w.  3)  Auch 
die  Darsteller  bekommen  ihr  Lob,  „jeder  schien  ein  Roscius". 
Nur  den  Titel,  den  Dichter  und  den  Componisten  vergisst  Ery- 
thräus zu  nennen.  Doch  rühmt  er  von  der  Musik :  „wie  lieblich  und 
gesangvoll  sie  gewesen,  wie  sie  den  Ohren  schmeichelte,  die  Worte, 
die  Sätze  lebendig  ausdrückte".  An  einer  anderu  Stelle  (im  Le- 
ben Rinuccini's)  erzählt  Erythräus:  „Die  Verwandlungen  der  Szene 
Hessen  bald  grüne  Auen  sehen,  bald  das  weite  Meer,  bald  reizende 
Gärten,  bald  furchtbare  Wolken,  welche  den  Himmel  bedeckten  und 
sich  in  plötzlichem  Gewittersturm  entluden,  bald  die  glückseligen 
Wohnsitze  der  Seligen,  bald  die  Schrecken  der  Unterwelt  ;  man  sah 
Bäume,  deren  Rinde  sich  spaltete  und  schöne  Mädchen  hervortreten 
liess,  Wälder,  die  plötzlich  entstanden  und  sich  mit  Faunen  und 
Satyrn  bevölkerten,  Dryaden,  Nymphen,  welche  Quellen  und  Flüsse 
hervorströmen  Hessen  —  und  vieles  andere  noch  Bewundernswürdi- 


in  Florenz  als  Architekt  und  Bildner  hauptsächlich  bei  der  Errichtung 
von  Fostdecorationon  beschäftigt.  Ks  war  die  Zeit  gekommen,  wo  die 
neue  Fürstenmacht  in  prunkvollon  Schaustellungen  von  meist  sehr  ver- 
gangenem Charakter  sich  zu  verherrlichen  begann."  Die  Analogie  ist 
nicht  zu  verkennen.  Dass  eine  Oper  „unsterblich"  werden  könne,  Hess 
sich  niemand  träumen.    Wir  selbst  spüren  noch  etwas  davon! 

1)  Lettere  di  Lod.  Ariosto,  Bologna  1866.  Doc.  XVI.  Paoluzzo  be- 
richtet es  dem  Herzoge  von  Ferrara  in  einem  aus  Rom  vom  8.  März  1519 
Keschriebonen  Briefe. 

2)  Burckhardt  „Cultur  d«»r  Renaissance  in  Italion".    S.  11t. 

3)  Man  sehe,  was  z.  B.  Puul  Jovius  im  Leben  Leo  X.  von  dem  1513 
auf  dem  Capitol  errichteten  Theater  erzählt,  wo  Giuliano  Medicis  den 
„Pönulus4'  des  Plautus  aufführen  liess.  Auch  hier  war  Peruzzi  der  Maler 
gewesen. 


188     Die  Muaikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt 


gere,  wie  es  früher  kein  Auge  zu  sehen  bekommen."  Selbst  die 
Theater  setzten  durch  verschwenderische  Pracht  in  Erstaunen.  *) 
Hätte  sich  schun  jene  edle  Einfalt  und  stille  Grösse  der  an- 
tiken Tragödie  mit  solchem  balletmässigen  Ausstattungspomp  in 
keiner  Weise  vertragen  können,  so  ist  auch  der  ganze  Ton,  die 
ganze  Farbe  des  Dialogs,  ja  der  Handlung  so  ungriechisch  wie 
möglich.  Selbst  bei  Kinuccini  verräth  die  Poesie  ihre  Abstam- 
mung von  der  romantisch-italischen  Dichtung  Tasso's,  Guarini's 
u.  8.  w.  deutlich  genug.  Vollends  die  venezianischen  Textdichter 
Orazio  Persiani,  Giacomo  Andrea  Cicognini,  Giov.  Bart.  Faustini 
u.  8.  w.  färben  die  ganze  Mythologie  und  antike  Heldensage  in's 
Moderne  und  lokal  Venezianische  um  —  oft  werden  die  Elemente 
der  behandelten  Mythe  ganz  wunderlich  umgedeutet  und  durch 
einander  geworfen,  um  irgend  eine,  eigentlich  vom  Poeten  erfun- 
dene Handlung  unter  antikem  Namen  in  die  Welt  zu  schicken. 
So  ist  für  Cicognini,  den  Dichter  des  von  Francesco  Cavalli  in 
Musik  gesetzten  „Giasoneu  (1649),  der  Argonautenzug  eben  nur 
das  Motiv,  um  Jason,  einen  echt  venezianischen  Roue,  nachdem 
er  die  „Prinzessin"  Hypsipyle  von  Lemnos  verlassen,  nach  Kol- 
chis  zu  bringen,  wo  er  mit  Prinzessin  Medea  eine  Liebschaft  an- 
fängt. Die  Erwerbung  des  goldenen  Vliesses  bleibt  durchaus 
Nebensache.  Hinwiederum  fahrt  König  Egeo  von  Athen  (Ae- 
geus,  der  Vater  des  Theseus),  Medea's  „Liebhaber",  auf  einem 
leichten  Nachen  (!)  dem  Schiff  Argo  heimlich  nach,  um  zu  rech- 


1)  Doni  (Opp.  II.  S.  29)  hält  sich  über  die  in  Goldstoff  gekleideten 
Hirten  auf.  Die  Vorliebe  für  Maschinenwunder  blieb  der  italienischen 
Oper.  Noch  1702  erzahlt  Abbe  Raguenet  in  seinem  Schriftchen:  Paraleüe 
des  Italiens  et  des  Franc ois  en  ce  qui  regarde  la  mnsique  et  Vopera  von 
Dingen  dieser  Art,  welche  er  in  Italien  gesehen:  „Quant  aux  machines, 
je  ne  crois  pas,  que  i'osprit  humain  en  puisse  porter  l'invention  plus  loin 
qu'elle  est  poussce  en  Italie.  J'ay  vü  a  Turin  en  1697  Orphee,  qui  dans 
na  Opera  enchantait  par  sa  belle  voix  les  aniniaux;  ily  en  avait  de  toutes 
les  sortes,  des  sangliers,  des  lions.  des  ours;  rien  ne  saurait  etre  plus 
naturel  et  mieux  contrefait;  un  singe  qui  y  etoit,  y  fit  cent  badinerios  les 
plus  jolies  du  monde,  montant  sur  le  dos  des  autres  animaux,  leur  grattant 
la  tete  avec  sa  main  et  faisant  toutes  les  autres  singeries  propres  a  cette 
espece.  Un  jour  ä  Venise  on  vit  paröitre  un  Elephant  sur  le  theatre;  en 
un  instant  cette  grosse  machine  se  depcca  et  une  armee  so  trouva  sur  la 
scene  en  sa  place;  tous  les  Soldats  par  le  seul  arraugement  de  leurs  boue- 
liers,  formaient  cet  Elenhant  d'une  maniere  aussi  parfaite  que  si  c'arait 
ete  un  Elephant  naturel  et  veritable.  J'ai  vü  a  Borne  en  1698  un  phan- 
töme  de  feinme  entoure  de  Gardes  entrer  sur  lo  theatre  de  Capranica;  ce 
phantöme  dtendant  les  bras  et  developpant  ses  habits,  il  s'en  forma  un 
palais  entier  avec  sa  facade,  ses  ailes,  ses  corps  et  ses  avant-corps  de 
bätiinent,  le  tont  d'une  architecture  enchantee;  les  gardes  ne  firent,  que 
piquer  leurs  hallebardes  sur  le  theatre  et  elles  furent  aussitöt  changeei 
en  jets  d'eau,  en  cascades  et  on  arbres,  qui  firent  paroitre  un  jardin  char- 
mant au  derant  de  ce  palais.  On  ne  saurait  rien  voir  de  plus  subit  que 
ces  changements,  rien  de  plus  ingenieux  et  de  plus  merveilleux.'4 


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Die  Muaikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapnnkt.  189 

ter  Zeit  in  Kolchis  den  Desperaten  spielen  zu  können;  zuletzt 
heiratet  er  Medea,  während  Jason  reuig  der  Hypsipyle,  welche 
sich  gleichfalls  eingefunden  hat,  die  Hand  reicht.  Völlig  im  Sinn 
einer  Parodie  würfelt  der  Dichter  die  Einzelheiten  der  Argonau- 
tensage, der  Beziehungen  Medea's  zu  Aegeus  u.  s.  w.  durchein- 
ander! Noch  Benedetto  Marcello  in  seinem  „Teatro  alla  moda" 
spottet  über  diese  Art,  antike  Stoffe  zu  behandeln.  *) 

Die  Naivetät  der  Poeten  geht  zuweilen  in's  Unglaubliche. 
So  schreibt  das  Scenarium  der  von  Monteverde  componirten  Oper 
Badoar's  „il  ritorno  d' Ulisse"  bei  der  Landung  des  Helden  in 
Ithaka  vor:  „Coro  de  Naiadi;  Najadi  a  due,  mentre  l'altrc  Ninfe 
portano  nell'  antro  il  bagaglio."  G.  B.  Faustini  eröffnet 
seinen  von  Cavalli  componirten  „Alcibiade"  (1667)  mit  einer  „fiera 
solenne"  in  Athen  —  natürlich  stellt  er  es  sich  ganz  wie  Vene- 
dig vor,  mit  den  Hallen  von  S.  Giacometto  al  Hialto,  der  Rialto- 
brticke,  der  langen  Merceria,  und  alles  voll  Kaufladen  und 
Kauf buden  mit  Juwelierarbeiten  ,  kostbaren  Stoffen,  Gewür- 
zen und  Wohlgertichen  u.  s.  w.  —  Praxiteles,  der  Bildhauer, 
macht  die  schöne  Phryne  auf  die  Herrlichkeiten  aufmerksam: 
,,miri  quivi  raccolto  quanto  san  dar,  con  istupor  profondo,  Asia, 
America,  Europa,  Africa  e  '1  mondo  —  del  India  Amfitrite 
vuoi  perle  piü  fine ,  vuoi  de  l'Arabe  vallii  purpurei  coralli" 2) 
u.  s.  w.  Phryne,  —  ganz  venezianische  „benemerita"  —  wünscht 
ein  Geschenk  —  Praxiteles  eilt  hin  und  kauft  für  sie  eine  — 
Taschenuhr;  „prendi,  bella  vezzosa,  con  quest'  aureo  orologio 
numerar  tu  potrai  l'hore  de  mie  sospiri"  sagt  er  galant. 

Aber  auch  abgesehen  von  derlei  groben  anachronistischen 
Verstössen,  ist  die  Poesie,  welche  die  Dichter  den  Componisten 
entgegenbringen,  von  Klang  und  Geist  antiker  Dichtung  weit 
entfernt.  Vor  allem  ist  es  in  den  Madrigalen,  welche  zuerst  als 
poetisches  Substrat  der  neuen  deklamatorisch-monodischen  Musik 
dienen  müssen,  der  herkömmliche  Liebesjammer  in  Phrasen  voll 
falschen  tragischen  Pathos  oder  in  witzigen  Concetti  mit  getreuer 

1)  Appartien  l'inventare  una  favola,  fingendosi  nella  medesima  ris- 
poste  a'Oracoli,  naufragi  reali,  mali  augurj  di  bovi  arrostiti  etc.  e  ba- 
stando  solamente  che  sia  alla  notizia  del  popolo  qualche  nome  istorico 
delle  persone.   (Teatro  alla  moda,  S.  8.) 

2)  Was  wohl  „il  mondo"  noch  sagen  will,  nachdem  alle  vier  Welt- 
theile  genannt  worden.  Auch  ist  es  recht  hübsch,  dass  Faustini  sich 
einbildet,  die  Corallen  wacbson  wie  Salatstauden  in  den  „Thälern  Ara- 
bien's".  Eine  anachronistische  Erwähnung  Amerika's  in  ganz  ähnlicher 
Art  wie  in  obigor  Stelle  —  ja  noch  ärger  —  kommt  übrigens  auch  bei 
Calderon  vor.  In  dessen  Schauspiel  „la  Virgen  del  sagrario",  dessen  Hand- 
lung im  siebenten  Jahrhundert  spielt,  heisst  es: 

„Africa,  America  y  Asia  • 

Son  las  tres,  de  que  no  tengo 

Necesidad;  Herodoto 

Las  describe  con  su  ingenio." 


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t90      Die  Masikrefora  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


Wiederholung  der  in  der  italienischen  Poesie  seit  Jahrhunderten 
stereotyp  gewordenen  Redensaiten,  ganz  zierlich  gereimt,  ganz 
artig  ausgedrückt,  aber  auch  von  unaussprechlicher  Langweilig- 
keit. Ob  der  Liebende  jammert,  weil  er  von  der  Geliebten  schei- 
den muss  oder  weil  sie  ihm  unerbittlich  bleibt  —  es  kommen 
immer  dieselben  wohltönenden  Apostrophen  au  den  unerhört 
schönen  und  unerhört  grausamen  Gegenstand  der  Herzensflammen, 
immer  dieselben  Ausrufungen  und  edel  stylisirten  Schmerzens- 
schreie,  immer  das  „io  moro"  oder  „moriro"  als  letztes  Mittel  ge- 
gen die  endlose  Pein  —  der  stets  gleiche  Ausdruck  der  Leiden- 
schaft, an  deren  Wahrheit  niemand  glaubt  und  der  im  Namen 
des  Liebenden  sprechende  Dichter  am  allerwenigsten.  Wenn  man 
bei  Bardi  und  Corsi  nun  aber  Musik  in  platonischem  Sinne  haben 
wollte,  so  hätte  man  billig  vorher  für  Poesie  sorgen  müssen,  welche 
nicht  in  Platon's  Republik  Gefahr  gelaufen  wäre,  über  die  Grenze 
geschafft  zu  werden.  Aber  wie  bei  den  Nationalökonomen  ge- 
münztes Gold  das  Aequivalent  aller  Dinge  vorstellt,  so  ist  auf 
dem  Gebiete  der  musikalischen  Poesie  dem  Italiener  die  Liebe, 
die  er  recht  bezeichnend  im  Allgemeinen  affetto  nennt  —  das 
Aequivalent  für  alle  edleren  und  höheren  Seelen-  und  Gemüths- 
regungen.  Von  weiland  Francesco  Landino's  „Non  avra  pietA 
questa  mia  donna"  im  14.  Jahrhundert  angefangen,  durch  die 
ganz  unübersehbare  Literatur  des  musikalischen  Madrigals  und 
weiter  bis  zu  den  Kammercantaten  Alessandro  Scarlatti's  im  18. 
Jahrhundert,  wo  die  „Lumi  dolenti"  auch  nicht  aufhören  wollen 
zu  weinen  und  „crudel'  idolo  mio"  die  etikettemassige  Anrede 
an  die  Geliebte  ist,  hört  dieser  Ton  gar  nicht  auf;  höchstens 
dass  gelegentlich  dazwischen  ein  Pastorale  das  Glück  des  Schä- 
ferlebens malt  und  einen  Moment  der  Ruhe  bringt,  wo  sich  das 
liebende  Herz  von  seinen  Strapazen  erholen  mag.  *) 

Scherzhaft-Anakreontisches  wird  der  „Aria",  d.  h.  dem  Stro- 
phenliede  zugewiesen,  welches  wohl  auch  unter  dem  früheren 
Namen  der  Villota  und  ViHanella,  Canzone  alle  Napoletana  u.  s.  w. 
wiedererscheint,  jetzt  aber  monodisch.  Und  hier  tritt  in  der 
Poesie  auch  wohl  einmal  der  vom  Madrigalisten,  welcher  „aus- 
gezogen ganz  den  Erdensohn"  sich  in  lauter  sublimen  Empfin- 
dungen ergeht,  hinter  sublime  Redensarten  maskirte  innerste  Kern 
der  ganzen  „hohen  Intuition"  zu  Tage:  die  blanke,  triviale,  aller- 
dings aber  versifizirte  Sinnlichkeit  (sehr  gemein  einmal  in  Versen, 


1)  Schon  G.  B.  Doni  empfindet  es,  wie  gross  der  Einfluss  dieser  un- 
aufhörlichen Liebesgedichte  auf  die  Musik  sei  und  wie  verweichlichend 
er  wirke:  — „facile  tibi  concesserim  in  mollioribus  affectibus,  maximeque 
amatoriis  argumentia  exprimendis,  Neotericos  insigniter  excellere;  ubi  au- 
tem  sublime  quid  piara  atque  hcroicum  modulandum  fquod  non  sane  fre- 
quenter  hodie  accidit)  longo  illos  intra  famam  euam  subsistere"  (de  praest. 
mus.  vet.  S.  68). 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  191 


welche  Radesca  da  Foggia  componirte:  „ahi,  traditore"  u.  s.  w.). 
Die  ganze  Poesie  und  Musik  arbeitete  „in  materia  d'amor  mon- 
dano",  wie  schon  der  Pater  Censor  und  Inquisitor  in  Florenz  von 
Caccini's  „Nuove  musiche"  gesagt  hat.  Das  unaufhörliche  Liebes- 
seufzen  und  die  unausgesetzte  Anbetung  der  Geliebten  wirkt 
denn  also  auch  bis  in  die  Texte  der  musikalischen  Dramen  hinein, 
wo  man  die  hergebrachten  Betheuerungen,  Ausrufungen  und  hy- 
perbolischen Phrasen  der  Madrigale  wiederfindet,  aber  dialogisirt 
und  durch  die  Handlung  motivirt,  oder  aber  auch  wohl  ihr  eigens 
ein-  und  beigemischt,  ja  ihr  die  Färbung  gebend,  selbst  wenn 
diese  Handlung  mythologisch  oder  heroisch-historisch  ist.  Ein 
auffallendes  Beispiel  bietet  der  Text  von  Cavalli's  „Giasone",  wo 
es  mit  Kreuz-  und  Querneigungen  und  Abneigungen  fast  wie  im 
Sommeruachtstraum  zugeht,  und  von  Medea  bis  herab  zur  könig- 
lich kolchischen  Hofgärtnerin  Rosmina  alles  am  Liebesfieber  lei- 
det. Oder  was  soll  man  dazu  sagen,  wenn  in  einer  anderen 
Oper  Cavalli's,  Königin  Artemisia,  die  Musterwittwe ,  welche  das 
Andenken  ihres  Gemals  durch  jenes  Weltwunder  von  Mausoleum 
ehrte  und,  wie  es  heisst,  die  Asche  desselben  mit  Wein  gemischt 
zu  sich  nahm,  neben  eben  jenem  Marmorgrabe  des  Königs  Mau- 
solus  mit  den  Worten  beginnt:  „dure  salci,  freddi  marmi,  memorie 
del  mio  ben,  —  oh  Dio  —  forza  non  ho  per  sostrarmi  a  fiamma 
iguobile,  per  fuggir  novello  ardor,  come  voi  la  fede  immobile, 
come  voi  lieto  il  cor;  deh,  potessi  in  voi  cangiarmi,  dure  salci, 
freddi  marmi  — !" 

Im  harten  Gegensatz  zu  dem  phrasenreichen  tragischen  Pathos 
mischen  sich  aber  oft  genug  noch  allerlei  komische  Nebenfiguren 
in  die  mythologische  und  heroische  Handlung  ein  und  bieten  Ge- 
legenheit zu  mitunter  etwas  bedenklichen  Spässen.  So  kommt 
im  Giasone  ein  Diener  des  Königs  Aegeus  von  Athen  vor,  na- 
mens Demo  (d/]jUOC,  das  „Volk"!),  höckerig,  stotternd  —  letzteren 
Umstand  benutzt  der  Componist  Cavalli  zu  einigen  in  der  That 
komischen  Effekten.  Auch  in  Badoar's  Ritorno  d' Ulisse  ist  der 
Bettler  Irus  vom  Dichter  als  groteske  Karikatur  als  die  „lustige 
Person"  des  Stückes  angelegt;  der  Componist  Monteverde  hat  es 
indessen  verstanden,  gerade  diesen  Zug  zu  einer  gewissermassen 
grandiosen  Komik  zu  verwerthen.  In  Orazio  Persiani's,  von  Fran- 
cesco Cavalli  componirter  Oper  ,,le  nozze  di  Tetide  e  di  Peleo" 
stellt  Momus  eine  Art  von  lustigem  Rath  am  Hofe  Jupiter' s  vor 
und  würzt  seine  Bemerkungen  mit  satirischen  Ausfallen.  *)  Als 

1)  So  sagt  er  (Akt  1,  Szene  4)  zu  Jupiter:  Taci,  che  per  gl'amanti 
hör  soverchio  e  mutarsi  in  Ci^no  o  in  Toro;  senza  che  mugli  ö  anti, 
basta  cangiarsi  un  altra  volta  m  oro;  Trovo  hoggidi  nell'  arte  doli'  amare 
rettorica  miglior  del  dire  il  dare."  Und  gleich  darauf:  „Giove  ho  gia 
detto.  se  tu  vuoi  donzelle  senza  tante  novelle  di  sospiri  e  di  pianti  motti 
mano  a  contanti".  Ein  hübsches  Compliraent  für  dio  damaligen  venezia- 
nischen Damen  1 


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192     Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


die  Oper  nach  Deutschland  wanderte,  wurde  vollends  sehr  grob- 
körnig gesalzenen  Spässen  ein  weites  Feld  eingeräumt.  In  einer 
1672  am  churfürstlich  sächsischen  Hofe  aufgeführten,  von  Joseph 
Peranda  und  Giov.  Andr.  Bontempi  componirten  „Dafhe",  für 
welche  der  Text  Rinuccini's  in  der  Opitz'schen  Uebersetzung 
theilweise  beibehalten  war,  wurden  zwei  ganz  roh  und  pöbelhaft- 
komische Gestalten  —  der  „Sackpfeifer  Jäckel"  und  seine  „Ge- 
liebte Kätha"  —  ohne  weiteres  in  die  Gesellschaft  der  olympi- 
schen Götter  gebracht.  Bei  der  seit  1678  bestehenden  deutschen 
Oper  in  Mamburg,  für  welche  hernach  Meister  wie  Reinhard 
Kaiser  und  Händel  thätig  waren,  ist  vollends  der  Einfluss  der 
„Haupt-  und  Staatsactionen"  nebst  dem  obligaten,  beständig  mit 
Possen,  Zoten  und  Albernheiten  jeder  Art  zwischen  die  hochge- 
stelzte  Tragik  hineinfahrenden  Hanswurst  sehr  stark  fühlbar  l) 
Man  muss  Rinuccini  das  Zeugnis*  geben,  dass  er  in  seinen  Dich- 
tungen ganz  unvergleichlich  reiner,  höher  und  würdiger  dasteht, 
als  die  Generation  von  Poeten ,  welche  unmittelbar  nach  ihm  in 
massenhafter  Production  für  das  Bedürfniss  der  Operncomponisten 
sorgten.  Rinuccini  zeigt  zudem  einen  sehr  feinen  Sinn  für  das, 
was  der  Tonsetzer  für  seine  Zwecke  brauchen  kann.  Alles  be- 
wegt sich  bei  ihm  mit  einer  gewissen  vornehmen  Ruhe,  mit  edlem 
Maass  —  Handlung  sowohl  als  Sprache.  Wo  es  sich  in  der 
italienischen  Poesie  um  wirkliche  Tragödiendichtung  handelte, 
lagen  die  manierirten  Trauerspiele  des  Seneca  dem  Sinne  der 
Zeit  bei  Weitem  näher  als  die  Werke  der  attischen  Tragiker. 
Die  Nachahmung  dieser  Vorbilder  „überwucherte  die  Bühne  mit 
thyestischen  Gräueln"  2),  wovon  Cinzio  Giraldi's  „Orbecche"  und 
Luigi  Groto's  „Dalida"  die  vielleicht  grellsten  Beispiele  sind. 
G.  B.  Doni  beruft  sich  in  seinen  musikalisch-dramaturgischen  Ab- 
handlungen wiederholt  auf  Beispiele  aus  den  Seneca-Trauerspielen. 
Die  Tragiker  suchten  ihr  Vorbild  zu  überbieten,  „die  Grässlich- 
keit  des  Stoffes  ertränkte  das  Gefühl  in  Schauder:  so  barbarisch 
wie  die  Tragödie  ward  auch  die  Märtyrer-Malerei  Italiens  seit 
dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts."  3)  Für  die  dramatische  Musik 
war  es  unter  diesen  Umständen  eine  glückliche  Fügung  zu  nennen, 
dass  ihre  Wiege  in  den  arkadischen  Hirtengefilden  der  favola 
boschareccia  4)  stand.  Mit  deutlichem  Seitenblick  auf  die  gewöhn- 

1)  Vergl.  „die  erste  stehende  deutsche  Oper"  von  E.  0.  Lindner 
(Berlin  1855)  —  und  „die  Wiener  Haupt-  und  Staatsactionen"  von  Karl 
Weiss  (Wien  1854). 

2)  Gregorovius,  Geschichte  der  Stadt  Rom,  8.  Band,  S.  352. 

3)  Grogoroviu9  a.  a.  0.  Man  sehe  auch  was  J.  L.  Klein  (Gesch.  des 
Drama  V.  8.  321)  über  dio  italienische  „Melpomene,  welche  als  Metzger- 
weib handtirt"  sagt. 

4)  Charakteristisch  ist  eine  Aeusserung  G.  B.  Doni's:  „Ne  alcuno 
mi  opponga,  che  l'introdurre  pastori  cosi  leg^iadri,  come  se  fussero  alle- 
vati  in  Corte,  ed  esercitati  di  continuo  nel  ballo,  e  nolla  palestra,  sia  con- 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  I93 


ten  blutigen  Schrecken  der  Trauerspiele  lässt  Rinuccini  die  als 
Prolog  seiner  „Euridicc"  auftretende  personifizirte  Tragödie  (la 
tragedia)  sagen:  „sie  werde  hier  nicht  von  vergossenem  schuld- 
losem  Blut  und  drohender  Stirne  unsinniger  Tyrannen  auf  trauer- 
voller, thränenreicher  Szene  singen,  sondern  in  den  Herzen  sanf- 
tere Gefühle  wecken".  *) 

Der  neue  Musikstyl  durfte  sich  in  seinen  frühesten  Versuchen 
mindestens  nicht  bis  zum  Zerbersten  anstrengen,  um  ungeheuer- 
liche Charaktere  und  Situationen  zu  illustriren  —  er  war  vor- 
läufig auf  Edles  und  Massvolles  angewiesen,  und  dieses  Verdienst 
gebührt  vor  allem  dem  Dichter  Ottavian  Rinuccini. 

Die  gelehrten  vornehmen  Kenner  und  Gönner  gingen  aber 
gelegentlich  mit  den  Wiederbelebungsversuchen  der  antiken  Tra- 
gödie noch  viel  resoluter  in's  Zeug  und  griffen  kurz  und  gut 
nach  irgend  einem  der  beliebten  Trauerspiele  von  Seueca,  dessen 
Chöre  dann  irgend  ein  Componist  mit  der  entsprechenden  Musik 
ausstatten  musste.  So  Hess  Cardinal  Francesco  Barberini,  der 
gelehrte  Neffe  des  gelehrten  Urban  des  achten,  in  Rom  während 
eines  Carnevals  die  „Trojanerinnen  des  Seneca"  aufführen,  „gröss- 
tentheils  nach  antiker  Art"  wie  der  über  diese  Unternehmung 
natürlicher  Weise  entzückte  Doni  bemerkt.  Die  Musik  für  die 
Chöre  besorgte,  wie  es  scheint,  der  Capellmeister  der  Peterskirche 
Virgilio  Mazzocchi,  also,  wie  wir  bereits  wissen,  einer  der  tüch- 
tigsten Musiker  der  Zeit.  Auch  diesen  trefflichen  Mann  nahmen 
die  gelehrten  Herren  musikalisch  in  Zucht  und  Unterricht,  und 
er  war,  wie  Doni  wohlgefällig  rühmt,  ein  aufmerksamer  Schüler.  2) 

tro  il  verisimile;  perche,  oltreche  la  verisimiglianza  non  si  cerca,  se  non 
nnando  e  congiunta  col  ragionevole,  e  porfetto  di  quest'  arte,  che  ricerca 
il  diletto,  e  la  maraviglia  del  Teatro  (e  altrimenti  non  si  adoprerobbe  il 
verso,  ne  la  magnificenza  degli  abiti)  non  debbiamo  immaginarci.  che  i 
Pastori,  che  s'introducono,  siano  di  questi  sordidi,  0  volgari,  che  oggi 
guardano  il  bestiame;  ma  quolli  del  secolo  antico.  nel  quäle  i 
piu  nobili  esercitavano  quest'  arto;  e  tanto  piu,  che  vi  si  aecora- 
pagnano  anco  Ninfe.  credute  dalla  semplice  Gentilitä  piu  rilovate  delT 
nmana  condizione.  (Deila  mus.  scen.  Cap.  VI.  Opp.  II.  S.  IG.)  Ueber 
diese  felsenfeste  Gläubigkeit  an  die  Ueberlieferungen  dos  Alterthums  mag 
man  wohl  erstaunon.  Doni  zweifelt  keinen  Augenblick,  dass  es  Nymphen 
gegeben,  nur  freilich  sei  es  verkehrt  gewesen,  dieso  vorzüglichen  Frauen- 
zimmer für  etwa9  mehr  als  Menschliches  zu  halten. 

1)   Non  sanguo  sparso  d'innocenti  vene, 
Non  ciglia  spente  di  Tiranno  insano, 
8pettacolo  infelice  al  guardo  umano 
Canto  su  meste,  e  lagrimose  scene. 
Lungi  via  lungi  pur  da  regii  tetti 
Simulacri  funesti  ombre  d'affanni 
E  co  i  mesti  coturni,  e  i  foschi  panni 
Cangio  e  desto  nei  cor  piu  dolei  affetti. 
2)  Doni  Opp.  II.  S.  203.   Im  Verlaufe  desselben  Diacorso  giobt  Doni 
fBr  den  ersten  Chor  der  Troaden  (S.  218)  folgendes  Schema: 

Ambroi,  Geschichte  der  Mmik.   IV.  {•} 


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194      Die  Mu8ikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


Der  neue  Musikstyl  wollte,  zum  Unterschied  vom  früheren 
contrapunktischen,  seinen  Namen  haben.  Man  nannte  ihn  Stile 
recitativo  oder  Stile  rappresentativo.  Doni  erklärt  beides  und 
auch  den  Unterschied  zwischen  beiden  Bezeichnungen.  „Man 
versteht  unter  Stile  recitativo  jene  Gattung  von  Melodie,  welche 
anmuthend  und  zierlich  von  einem  Einzigen  in  solcher  Weise 
gesungen  werden  kann,  dass  die  Worte  wohl  verstanden  werden, 
es  geschehe  solches  auf  der  Szene  des  Theaters,  oder  in  der  Kirche, 
oder  beim  Wechseigesange  im  Beteaale,  oder  aber  im  Privathause, 
oder  wo  sonst;  und  endlich  bezeichnet  dieser  Name  jede  Art  von 
Musik,  welche  ein  Solosänger  zu  dem  Klange  irgend  eines  Musik- 
instrumentes singt,  mit  geringer  Dehnung  der  einzelnen  Noten, 
so  dass  sich  der  Gesang  der  gewöhnlichen  Sprache  nähert,  doch 
aber  affektvoll  ist ;  in  welche  Art  von  Gesang  dann  jegliche  Zier- 
und  Accentuirungsweise  herü beigenommen  wird,  und  so  auch 
langes  Passagenwerk,  nicht  als  ob  dieses  geeignet  wäre  Affekte 
auszudrücken  ''da  vielmehr,  wie  sich  Giulio  Caccini  ausdrückt, 
nichts  in  der  Musik  dem  in  gleicher  Weise  entgegensteht),  sondern 
um  Leute  von  geringerem  Verständniss  zu  ergötzen,  oder  weil 
die  Sänger  ihr  Wissen  und  Können  zeigen  oder,  wie  man  zu 
sagen  pflegt,  ein  Uebriges  thun  wollen  'straffare).  Daher  werden 
auch  nach  der  Eigenthümlichkeit  unserer  Sprache  viele  Wieder- 
holungen zugelassen,  wenngleich  um  Vieles  sparsamer  und  passen- 
der als  im  Style  der  Madrigale  und  Motetten.  Unter  Stile  rappre- 
sentativo verstehen  wir  aber  jede  Art  von  Melodie,  welche  der 
'theatralischen)  Szene  angepasst  ist,  das  heisst  jeder  Gattung  von 
dramatischer  Action,  welche  mit  Musik  dargestellt  werden  will.  *) 


non    rti  -  do  vul  -  gxia    la  -  ehry-  mis  -  que  no  -  vum 
o  pure  cosi  con  qualche  legatura,  o*  mutazione  di  tempi: 

d-   4     4     ~    —     *     4     ~     4     4-4  4 

j  j      jj  i  j  j  ;;j 

Lugere  jubes  u.  s.  w. 
Doni  fasst  die  Geltung  der  Note  in  Länge  und  Kürzo  ganz  abstrakt;  das« 
ihr  ausserdem  die  Stellung  im  Takt  Gewicht  gebe  und  nehme,  ahnt  er 
nicht.  Armer  Mazzocchi,  wenn  er  etwa  die  Seneca-Chöre  nach  Vorlagen 
solcher  ihm  octroyirten  rhythmischen  Monstra  componiren  musste!  Doni 
konnte  bei  solchen  Gelegenheiten  vorkommenden  Falles  auch  wohl  grob 
werden.  Als  ein  „Contrappuntista  a  dozzina"  (wie  er  ihn  nennt)  einmal 
declamirt  hatto:  meas  —  riss  ihm  Doni  das  Notenblatt  aus  don  Händen 
und  schrio  ihn  an:  mö-äsino!" 

1)  G.  B.  Doni  Opp.  II.  S.  28—30  de  mus.  scen.  Cap.  XI.  In  che 
differisca  lo  stilo  Recitativo  dal  Rappresentativo.  Auch  Agazzari  vergleicht 
den  neuen  Gesang  mit  einer  Rede  und  nach  ihm  redet  auch  Prätorius 
von  „der  jetzigen  gewohnheit  und  Styli  im  singen,  da  man  componiret 
und  singet,  gleichsam  als  wenn  einer  eine  Ovation  daher  recitirte".  (Syn- 
tagma  III.  S.  149.) 


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Die  Mu9ikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  195 


Die  langen  Passagen  (Coloratur)  und  die  Texteswiederholun- 
gen, welche  die  floreutiner  musikalische  Kritik  und  Aesthetik,  wie 
man  aus  vorstehender  Erklärung  Doni's  sieht,  im  recitati vischen 
Style  mit  einer  Art  von  Indulgenz  für  Sänger  und  Zuhörer  ge- 
stattete, bleiben  sonach  vom  repräsentativen  Style  ausgeschlossen, 
da  sie  sich  mit  der  dramatischen  Wahrheit  nicht  wohl  vertragen. 
Vergleicht  man  die  dramatisch  componirte  Euridice  Caccini's  mit 
seinen  „Nuove  musiche",  so  findet  man  die  volle  Bestätigung  des 
eben  Bemerkten  Doch  nahm  Caccini  keinen  Anstand,  die  von 
ihm  componirten  Arien  des  im  gleichen  Jahre  mit  Euridice, 
nemlich  im  Jahie  1000  aufgeführten  Kapimento  di  Cefalo  reich- 
lichst mit  Coloraturen  zu  verschnörkeln ,  augenscheinlich,  damit 
die  grossherzoglichen  Hof-  und  Kammersänger,  welchen  die  Aus- 
führung oblag,  der  Bassist  Melchior  Palontrotti  und  die  Tenore 
Jacob  Peri  und  Franz  Rasi  „ein  übriges  thuu  konnten." 

Eine  besondere  Abzweigung  des  repräsentativen  Styles  be- 
zeichnet Doni  gelegentlich  als  den  „Erzählungsstyl"  (stile  narra- 
tivo)  —  er  führt  die  Erzählung  der  Daphne  vom  Tode  Euridice's 
in  Peri's  Musikdrama  als  gelungenes  Muster  an. l)  Diese  Gesang- 
weise  verwendet  gern  kleine,  rasche  Noten  syllabisch  und  öfters 
eine  grössere  Anzahl  davon  auf  demselben  Tone  verweilend  — 
eine  Nachahmung  des  Erzählcrtones.  Die  langen  erzählenden 
Berichte  sind  —  nicht  ohne  sichtliche  Beziehung  auf  den  Angelos 
und  Exangelos  der  griechischen  Bühne  —  häufig.  In  diesem 
Stvle  wird  Euridice's  Tod  nicht  nur  bei  Peri,  sondern  auch  bei 
Caccini  und  später  bei  Montcverde,  so  bei  Marco  da  Gagliano 
die  Flucht  und  Verwandlung  Daphne's  erzählt.  Auch  Moute- 
verde  lässt  den  heimkehrenden  Odysseus  seine  Lügen  der  Athene 
in  ähnlicher  Weise  aufbinden  —  Cavalli's  „Egistho"  erzählt  seine 
Schicksale,  wie  ihn  Corsaren  geraubt  u.  s.  w.  Natürlich  aber 
bildet  Doni's  sogenannter  Stile  narrativo  keine  eigentlich  vom 
dramatisch-recitativischen  Style  verschiedene  Gattung.  2) 

Das  erste  Werk  dieses  neuen  Styles  und  zugleich  Muster- 
werk  für  die  neue  Künstlergeneration  waren,  wie  erwähnt,  Cac- 
cini's „Nuove  musiche".  Er  theilt  sie  in  zwei  Hauptabteilungen: 
in  Madrigale  und  in  Arien.  Erstere  sind  dnrehcomponirte  Gedichte, 
letztere  dagegen  Strophenlieder,  wo  also  das  Wort  A  r  i  a  im  Sinne 
des  deutschen  Wortes  „Weise"  (Lied weise,  Liedmelodie,  Art  ein 
Lied  zu  singen)  gebraucht  ist.  Noch  lange  Zeit  —  selbst  noch 
bis  einschliesslich  auf  Alessandro  Stradella  u.  s.  w.  —  wird  auch 
die  Arie  in  der  Oper  fast  durchweg  als  liedhafter  Stropheugesang 

1)  Opp.  IL  S.  33  u.  34. 

2)  Das  Höchste  im  Stile  narrativo  hat  wohl  Gluck  in  der  Traum- 
erzählung der  taurischen  Iphigenia  und  Mozart  in  Donna  Anna's  Erzäh- 
lung geleistet.  Wio  denn  diese  Horoen  überhaupt  erst  erfüllten,  was  die 
Florentiner  einstweilen  ahnten. 

13* 


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196      Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 

behandelt.  Unter  Caccini's  „Arien"  nehmen  einige  jedoch  eine 
Art  Mittelstellung  zwischen  Madrigal  und  Strophenlied  ein  —  wo 
nämlich,  sei  es  um  der  Declamation  willen  oder  sonst,  die  zweite, 
dritte  u.  s.  w.  Textstrophe,  statt  sie  einfach  beizuschreiben,  ihre 
eigene  Musik  hat.  Gleich  die  erste  Arie  „io  parto  amati  lumi" 
bringt  jede  ihrer  fünf  Strophen  nach  unter  sich  wesentlich  ver- 
schiedener Composition.  Bei  andern  ist  der  Unterschied  gering 
und  liegt  eigentlich  nur  in  der  vom  Text  bedingten  Anordnung 
der  Noten.  Die  Sätze  sind  in  den  Arien  ziemlich  knapp,  aber 
auch  in  den  Madrigalen  von  nur  massiger  Ausdehnung.  (Die  Ge- 
lehrten tolerirten  die  „Arie",  obwol  sie,  wie  Doni  bemerkt,  weder 
im  Lateinischen,  noch  im  Griechischen  ein  dieser  Bezeichnung  genau 
entsprechendes  Wort  fanden  —  denn  es  liege  darin,  nebst  dem. 
was  die  Lateiner  „Modus",  die  Griechen  „Melos"  nannten,  auch 
noch  Numerus  d.  i.  Khythmus.  Doni  tibersetzt  den  Vers  Virgil's 
„Numeros  memini  si  verba  tenerem"  mit  den  Worten  „mi  ricor- 
do  ben  dell'  aria,  ma  non  delle  parole"  )  !)  Declamatorischer  Vor- 
trag ist  in  beiden,  nämlich  in  den  Madrigalen  und  Arien,  das  charak- 
teristische Merkmal.  Dasselbe  Merkmal  ist  auch  den  liedhatten 
Arien  eigen,  wo  die  dem  Liedgesange  seinem  innersten  Wesen 
nach  gehörige  cantable,  periodisch  gegliederte  Melodiebildung, 
wie  sie  das  Volkslied,  die  Trouveres  u.  s.  w.  längst  gefunden 
hatten,  unter  dem  Zwange  des  stile  recitativo,  in  dem  ein  für 
allemal  für  die  ganze  Musik  das  Ileil  zu  finden  sein  sollte,  nicht 
aufkommen  kann,  gleichwohl  aber,  da  sie  zu  sehr  in  der  Natur 
der  Sache  begründet  ist,  immer  doch  wieder  durchbrechen  möchte. 
Das  declarairte  Wort  greift  störend  in  den  Entwicklungs- 
process  der  Melodie  und  übertönt  den  Liedgesang  freiströmender 
Melodie  mit  seiuer  recitati  vischen  Halbspracho  —  ein  leidiges  Zwitter- 
wesen ist  das  Resultat.  Die  Abtheilung  „Arie"  enthält  fast  durch- 
weg recht  unerquickliche  und  unerfreuliche  Musik;  am  schlimmsten, 
wenn  Caccini  einmal  eine  Anwandlung  fühlt,  leicht  und  graziös 
sein  zu  wollen,  wie  in  der  Aria  sesta  „Udite,  udite  amanti". 
Weit  besser  gelingt  ihm  das  Pathos,  die  affektvolle  Declamation 
der  Madrigale,  wo  durch  alle  stellenweise  fühlbare  Unboholfenheit 
wie  sie  dergleichen  Anfangen  eigen  ist,  nicht  blos  ein  bedeuten- 
des Talent  des  Componisten  kenntlich  ist,  sondern  auch  Töne 
wahrer  Empfindung  hörbar  werden  und  einzelne  wirkliche  schöne 
Züge  hervortreten.  Die  Madrigale  „Dolcissimo  sospiro",  „Amor 
io  parto",  „Perfidissimo  volto",  „Deh,  dove  son  fuggiti"  und  beson- 
ders das  mit  der  iunig-empfindungsvollen  Frage  „Dovro  dunque  mo- 
rire"'  beginnende  wird  man  bei  gutem  ausdrucksvoll  detaillirendera 
Vortrag,  zu  welchem  dem  Sänger  vollauf  Gelegenheit  geboten  ist, 
schwerlich    ohne    Interesse   und    Wohlgefallen    hören  können. 


1)  Doni  Opp.  II,  S.  204. 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  197 


Schon  Caccini,  der  Sänger,  selbst  mag  „nachgeholfen"  haben, 
und  wir  begreifen,  dass  diese  Musik  den  Zeitgenossen  wie  eine 
neue  Offenbarung  vorkommen  musste. 

Der  Grundfehler  des  Ganzen  Hegt  weniger  in  der  Unbeholfen- 
heit mancher  Wendungen,  denen  andere  glückliche  gegenüber- 
stehen, weniger  im  Mangel  fliesscnder  Melodie,  welche  beständig 
durch  den  declamatorischen  Accent  perturbirt  und  höchstens  in 
einzelnen  cantabeln  Melodiegliedern,  die  sich  aber  zu  keinem 
Ganzen  runden  und  schliessen  wollen,  fühlbar  wird,  weniger  in 
den  schwerlastenden  Tonschlüssen ,  wo  sich  ganze  Anhalt- Takte 
auf  einer  einzigen  Note  dem  Gange  des  Tonsttickes  bleischwer 
au  die  Füsse  hängen,  und  zu  denen  sich  der  Componist  ver- 
pflichtet glaubt,  so  oft  er  in  seinem  Texte  einen  Schlusspunkt 
oder  einen  Strichpunkt  erblickt  (sogar  dem  „Beistrich"  wird  seine 
Beachtung  zu  Theil !)  —  der  Grundfehler  liegt  in  dem  monotonen 
Pathos,  kraft  dessen  die  einzelnen  Madrigale  alle  dieselbe  Färbung 
haben  und  daher  immerfort  die  gleichartigen  Exclamationen,  Sus- 
pensionen, Phrasen,  Cadenzen  hören  lassen ,  nur  ganz  äusserlich 
sich  von  einander  unterscheiden,im  Charakter  aber  eines  so  ziem- 
lich das  Spiegelbild  des  andern  ist.  Drei  bis  vier  dieser  Gesänge 
nach  einander  gehört  würden  den  Eindruck  nojoser  Eintönigkeit 
machen. 

Diesen  neuen  florentiner  Styl  möchte  man  vielleicht  am  rich- 
tigsten bezeichnen,  wenn  man  sagt,  er  sei  GefHss,  aber  nicht 
Speise.  So  wie  die  Worte  eines  Gedichtes  dieselben  bleiben,  ob  sie 
ein  guter  oder  ein  schlechter  Declamator  spricht,  im  ersten  Falle  aber 
die  Wirkung  eine  ganz  andere  sein  wird  als  im  zweiten,  und 
wie  ohne  die  Worte  auch  der  gute  Declamator  keinen  Anhalts- 
punkt fände,  seine  Kunst  zu  bethätigen,  so  sind  diese  Composi- 
tionen  gleichsam  Gefasse,  weit  genug,  durch  die  Kunst  des  Sängers 
bedeutenderen  Inhalt  aufzunehmen.  Durch  geschickte  Abstufung 
des  Ausdruckes  wird  sogar  jene  Monotonie  einigermassen  ver- 
schwinden, Licht  und  Schatten  wird  in  die  Sache  kommen.  Es  ist 
bei  einer  völlig  neuen  Art  von  Musik  schon  Verdienst  genug, 
wenn  sie  es  dem  Sänger  auch  nur  möglich  macht,  dergleichen 
durch  sie  leisten  zu  können.  Caccini  lässt  dem  Sänger  in  der 
That  Spielraum  genug.  Nach  Caccini's  Versicherung  ist  es  eine 
edle  (nobile)  Singweise,  wenn  der  Sänger  sich  nicht  zu  strenge 
an  den  Takt  (misura)  bindet  Ein  frei  declamatorischer  Vortrag 
ist  es,  was  ihm  als  Ideal  vorschwebt  („la  nobile  sprezzatura  del 
canto")-  ')  Die  Declamation  ist  höchst  sorgsam,  man  darf  sagen 
meisterhaft.    Kommt  einmal  im  Texte  ein  zweifelndes  „ma"  vor, 

1 )  Fink  und  G.  Schilling  (par  nobile  fratrum !)  reden  mit  gewohn- 
ter Oberflächlichkeit  und  anmasslicher  Ignoranz  von  einer  „Psalmodie" 
and  finden  Aehnlichkeit  mit  dem  Style  Lully's  — !  —  worüber  sie  Fe*tis 
nach  Verdienst  zurecht  weist. 


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198      Dio  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


so  ermangelt  Caccini  in  seiner  Beobachtung  des  Angemessenen 
nicht,  vorher  in  Gesaug  und  Begleitung  eine  kurze  Pause  eintreten 
zu  hissen. 

Eigenthümlich  ist  die  Anwendung  der  Coloratureu,  mit  denen 
Caccini  nichts  weniger  als  sparsam  ist.  Die  declamatorischen  und 
einfacheren  melodischen  Stellen  laufen,  besonders  gegen  die  einzel- 
nen Abschnitte  der  musikalischen  Periode  hin  und  vollends  gegen 
den  letzten  Schluss  des  Gesanges,  in  Ornamente  aus,  oft  so,  dass 
die  in  ihrer  ersten  Hälfte  einfache  Melodie-Periode  in  der  zweiten 
sich  in  Passagenwerk  auflöst,  durch  welche  indessen  die  ein- 
fachere melodische  Führung  des  Motivs  meist  deutlich  genug  zu 
erkennen  ist,  etwa  wie  aus  einer  Variation  das  Thema  zu  er- 
rathen  wäre.  Die  Coloraturen  Caccini's  sind  eigenthümlich,  aber 
wirksam  und  sogar  geschmackvoll.    Eine  Art  kurzen  Vorschlages 


nach  seiner  Schreibweise),   punktirte  Noten 


u.  s.  w.  wendet  er  mit  Vorliebe  an. 

Seine  Coloraturen  sind  übrigens  keineswegs  langatbmig.  Verspottet 
er  doch  selbst  die  lunghi  giri  di  voce  und  sagt  geradezu,  sie  seien 
zur  richtigen  Weise  zu  singen  ganz  und  gar  nicht  nöthig,  son- 
dern nur  ein  Nothbehclf  für  diejenigen,  welche  den  ausdrucks- 
vollen Vortrag  nicht  recht  verstehen  —  „verständen  sie  es,  so 
würden  sie  das  Passagenwerk  verabscheuen,  denn  nichts  in  der 
Welt  streitet  im  gleichem  Maasse  gegen  ausdrucksvollen  Gesang".1) 
Solche  Zuthaten  sind  nur  bei  minder  affektvollen  Stücken  passend 
und  vorzüglich  auf  langen  Noten  anzubringen.  Der  Triller  (trillo)  ist 
nach  seiner  Anweisung  auf  einem  einzigen,  rasch  vibrirenden  Tone 
auszuführen;  kömmt  eine  Hilfsnote  dazu,  so  heisst  die  Manier 
„Gruppo".  Obwol  Caccini  dem  deklamatorischen  Princip  zu 
Liebe  beim  Componiren  dem  Texte  Satz  nach  Satz,  Wort  nach 
Wort  nachgeht,  so  ist  er  doch  Musiker  genug,  um  die  Not- 
wendigkeit einer  musikalischen  Architektonik,  eines  gegliederten 
Baues  des  Tonstückes  denn  doch  zuweilen  zu  empfinden.  Er 
wiederholt  daher  im  Verlaufe  mancher  Gesänge  einzelne  Stellen 
nach  Note  und  Texteswort,  was  nach  den  ästhetischen  Vorschriften 
im  Hause  Bardi  eigentlich  unzulässig  wäre.  (Sogleich  in  der  Aria 
trima.)  Aber  diese  willkürlich  eingeschobenen  Wiederholungs- 
dellen bringen  dennoch  keine  rechte  Symmetrie  zu  wege.  Die 


1)  —  „che  i  passaggi  non  sono  stati  ritrovati  porche  siano  neces- 
sarii  alla  buona  inaniera  di  cantare,  ma  credo  io  i»iu  tosto  per  una  certa 
titillatione  ä  gli  orecchi  di  quelli,  che  meno  intenaono,  che  cosa  sia  can- 
tar«>  con  affetto ;  che,  se  cio  sapessero  indubitaniente  i  passaggi  sarebbero 
abboriti,  non  ossendo  cosa  piü  contraria  di  loro  all*  affetto"  (Vorrede). 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  199 

Siugstimme  notirt  Caccini  meist  mit  dem  Sopran-,  weniger  mit  dem 
Alt-  oder  Tenorschlüssel ;  ist  die  Singstimme  im  Violinschlüssel 
geschrieben,  so  wendet  Caccini  für  den  Generalbass  den  Baryton- 
schlüssclan.  Gesänge  für  eine  Bassstimme  kommen  im  Buche  nur  zwei 
vor  —  eine  Arie  aus  il  Kapimento  di  Cefalo  und  die  letzte  Arie 
„Chi  mi  conforta,  ohne".  Fast  alle  Gesänge  sind  im  Allabrevc- 
takt  geschrieben;  doch  kömmt  auch  {£3  vor,  als  Nachzügler  aus 

der  Zeit  der  mensurirten  Musik.    Als  Vorzeichnung  kommt  nur 
vor.    Die  Diesis  £  ist  als  Vorzeichnung  nirgends  ange- 


weudet l).  Dass  nicht  gemeint  ist,  als  sollten  die  Gesänge  genau 
in  der  Tonlage  gesungen  werden ,  wie  sie  geschrieben  sind, 
dass  Caccini  vielmehr  Transpositionen  gestattet,  beweist  die  letzte 
wo  er  sogar  darauf  rechnet  —  deun  welches  Organ 


könnte  wohl  den  Schluss  singen?    jj  "  -h—  -ft  ^ — -j-  - 1 — ^ 

In  der  Höhe    geht   dagegen   dieser   Gesang   nur  bis 

Zufällige  Erhöhungen  und  Erniedrigungen  werden  ausdrücklich 
beigesetzt,  ausgenommen,  wo  sie  sich  „von  selbst  verstehen44;2) 
abermals  eine  Keminisceuz  an  die  frühere  Praxis  der  Musiker. 
Zur  Begleitung  erklärt  Caccini  in  der  Vorrede  ausdrücklich  eine 
Theorbe  (Chitarrone)  als  das  angemessenste  Instrument;  aber  auch 
sonst  ein  Saiteninstrument  ist  geeignet. 3)  Er  schreibt  einen  einfachen 
Bass.  (Die  Gelehrten  veredeln  und  habilitiren  ihn  für  die  antike  Musik 
neuen  Styles  durch  das  klangvolle  Wort  „Hypatodia  organica").  4) 
Diesen  Basso  continuo  versieht  Caccini  mit  weit  reicherer  und 
sorgsamerer  Bezifferung,  als  seine  Nachfolger  zu  thuu  pflegen 
durch  die   Ziffern   entsteht  oft  eine   ganz   interessant  geführte 


1)  Kiesewetter  hat  daher  Unrecht,  dem  ,.Deh  dove  son  fuggiti4'  die 
Vorzeichnung  eines  £  zu  geben.  In  Caceini's  Original  erscheinen  die  nö- 
thigenji  im  Contexte.  Überhaupt  ist  Kiesewetter's  Mittheilung  voll 
grober  Fohler.  Reissmann,  Schlecht  u.  s.  w.  haben  es  ihm  natürlich 
treu  nachgeschrieben.  Was  soll  man  vollends  sagen,  wenn  in  Schlechte 
„ Geschichte  der  Kirchenmusik44,  Seite  417,  der  Gesang  „dallc  celesti 
sfere"  (siehe  Kiesewetter  „Schicks,  und  Beschaffenheit  des  weltl.  Ges." 
S.  70)  als  Stück  aus  den  Nuovo  musiche  (!)  von  Caccini  (H  mitge- 
theilt  wird!!  Nicht  einmal  richtig  abzuschreiben  sind  die  Herren  im 
Stande  !  ! 

2)  Kiesewetter,  der  sonst  mit  $  und  k  sein*  freigebig  ist,  hat  es 
unterlassen,  im  Madrigal  „cor  mio44  im  siebenten  Takt  ein  höchst  nöthiges 

beizuschreiben. 

3)  —  „cantare  solo  sopra  l'armonia  di  Chitarrone  6  di  altro  Stru- 
men to  di  corde4'  (Vorrede). 

4)  G.  B.  Doni  Progymnasmata  mus.  partis  vet.  rest.  (üpp.  I,  S.  233). 


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200     Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt. 


Mittelstimme  (,,parte  di  mezzo"  nennt  sie  Caccini).  Er  schreibt 
ganz  ausdrücklich  10,  11  und  bis  14  vor.  l)  Häufig  erscheinen 
liegende  Bassnoten ,  die  durch  Bindebogen  vereinigt  sind, 
von  denen  aber  jede  ihre  eigene  Bezifferung  hat.  Nach  Caccini's 
Erklärung  soll  in  solchen  Fällen  der  Basston  nicht  nochmals  an- 
geschlagen werden,  sondern  nur  in  den  höheren  Stimmen  die 
geänderte  Harmonie.  Meist  wendet  er  die  Grundtöne  der  Stamm- 
aecorde  an,  dazwischen  den  Sextaccord  (den  er  nicht  einmal 
immer  ausdrücklich  vorschreibt,  wo  er  aus  der  Singstimme  zu 
erkennen  ist);  Quarten,  Septimen,  Nonen,  Undezimen  erscheinen 
im  Durchgang  und  werden  insgemein  den  kurzen  Sylben  zuge- 
wiesen, während  die  langen  Sylben  Consonanzen  erhalten.  '2)  Die 
Harmonie  hat  wohl  einzelne  nicht  recht  geschickte  Wendungen 

(auch  der  Zug  aus  früheren  Zeiten  s y- l  erscheint  zu- 

weilen —  gleich  im  ersten  Madrigal  — ),  aber  im  Ganzen  ist  sie 
glücklich  und  hat  insbesondere  eine  in  der  That  erstaunlich  mo- 
derne Färbung.  Die  Bedeutung  der  fünften  Klangstufc,  der  Do- 
minant- und  Parallel-Tonarten  empfindet  Caccini  durch  eine  Art 
von  Divination  ,  denn  Theorie  und  Lehre  wussten  einstweilen 
davon  kein  Wort.  Längere  Ausweichungen  in  entferntere  Ton- 
arten sind  dem  Tonsetzer  noch  etwas  Unbekanntes.  Die  Grund- 
tonart des  Stückes  bleibt  durchaus  fühlbar.  Die  Molltonart  hat 
noch  nirgends  eigens  den  Zweck,  Trauer  und  Schmerz  ausdrücken 
zu  helfen;  sie  ist  für  den  Componisten,  wo  sie  vorkommt,  nichts 
weiter  als  die   Tonalität,    in   welcher   er   sich    eben  bewegt. 

Die  Cadenz  mit  t|3jj  wendet  Caccini  an  —  auch  eine 
complicirtere 


{  =  :!} 


und  zwar  letztere  so  ungemein  oft,  dass  sie  fast  zur  stehenden 
Manier  wird  —  oder,  noch  complicirter : 


1)  Es  ist  eine  grobe  Unterlassungssünde ,  wenn  Burney  (Hist.  of 
mu8.,  Band  IV,  S.  200)  bei  dem  schönen  Madrigal  „Dolcissimi  sospiri" 
Caccini's  treffliebe  Bezifferung  kurz  und  gut  weggelassen  hat. 

2)  „Havendo  posato  le  consonanze  alle  sillabe  lunghe"  (Vorrede). 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  20! 


(Ana  de  Romanesca)  pag.  25. 


auch  wohl  einen  feierlichen  Kirchenschluss: 

(pag-  3) 


Doch  hat  Caccini,  der  Harmoniker,  gelegentlich  auch  recht 
schwache  Momente ;  seine  Arie  „Udite  amanti"  ist  in  dieser  Beziehung 
ein  wahrhaft  erschreckliches  Stück,  in  dem  die  Harmoniefolgen 
entweder  leer  und  langweilig  sind  oder  ganz  unglaublich  unge- 
schickt auf  einander  platzen  —  man  fühlt  sich  an  Emilio  del 
Cavaliere  erinnert.  Im  Ganzen  erhält  man  bei  Caccini  aber  doch 
den  Eindruck,  dass  man  es  mit  einem  wirklichen,  gebildeten, 
geistvollen  Künstler  zu  thun  hat.  Billig  erwogen  gehören  die 
Unvollkommenheiten  endlich  doch  nur  seiner  Zeit,  der  Incunabel- 
zeit  der  Monodie.  Da  nun  aber  Caccini  mit  seinen  „Nuove  musiche" 
so  viel  Sensation  gemacht,  so  konnte  Peri  nichts  Geringeres  thun, 
als  1 609  eine  ähnliche  Sammlung  herauszugeben  unter  dem  Titel : 
„Le  varie  musiche  del  Signor  Jacopo  Peri  a  una,  due  e  tre  voci 
con  alcune  spirituali  in  ultimo,  per  cantare  nel  Clavicembalo  e 
Chitarrone  e  ancora  maggior  parte  di  esse  per  sonare  sempli- 
cemente  nel  Organo.  In  Firenze,  appresso  Cristofano  Marescotti 
MDCIX." ')  Die  Gesäuge  haben  entschiedene  Stylverwandtschalt 
mit  denen  von  Caccini;  doch  treten  sie  etwas  minder  solenn  auf,  was 
die  Deklamation,  und  etwas  minder  geschmückt,  was  die  Passagen 
betrifft.  Auch  ist  der  Bass  noch  einfacher,  als  bei  Caccini,  und 
die  Bezifferung  des  Generalbasses  ist  auf  das  Nöthigste  beschränkt. 
Zuweilen  liegt  selbst  in  einer  kleinen  Tonfigur  Ausdruck,  wie: 

pag.  7. 


£5 


mi  duo 


le 


Der  deklamatorische  Ton  ist  leichter,  natürlicher,  anspruchsloser, 
als  bei  Caccini,  wie  in  folgendem  Sätzchen,  dessen  Text  aus  den 
florentiner  Kreisen  herrühren  mag  und  wo  platonische  Ideen  zu  einer 
galanten  Wendung  gegen  die  angesungene  Schöne  benutzt  sind. 


1)  Ein  Exemplar  in  der  Marcusbibliothek  zu  Venedig. 


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202     I>io  Musikreform  und  der  Kampf  gogen  den  Contrapunkt 


pag.  3 


P  4rS  r:  »_^..r 


In   qual  par-  te  del    ciel  in    qual    i  -   do  -  a  e- 


-p — r 


ra       To  -  sora-pio      on  -  de  na  -  tu  -  ra   toi  -  s<>  quel  bei 

0 


3er: 


giu  quan-to  las-  sü 


po  -  te  -  a. 


Das  Liedmässige  gelingt  Peri  wenigstens  so  weit,  dass  er  den 
singbaren  Gang  der  Melodie  nicbt  völlig  der  Deklamation  opfert 
Sein  kleines  Duett  „al  prato,  al  fönte"  hat  mit  Caccini's  „Udite 
amanti"  entschieden  Aehnlichkeit;  wenn  beide  ärmlich  und  im 
Ausdrucke  nichtsbedeutend  erscheinen,  so  ist  Peri's  Stück  wenig- 
stens doch  anhörbar,  was  man  jenem  Caccini's  leider  nicht  nach- 
rühmen kann.  Muntere  Sätzchen,  wie  das  Duett,  welche  dann 
bei  den  Nachfolgern  gar  nicht  selten  vorkommen  (Radesca  da 
Foggia  hat  sogar  dasselbe  „al  pratou  u.  s.  w.  componirt),  sind  ent- 
schieden ein  Nachklang  jener  fa-la,  jener  Tanzgcsäuge,  wie 
Gastoldi's  a  liela  vita,  dessen  Melodie  in  der  Oberstimme  übrigens 
auch  nicht  von  Gastoldi  frei  erfunden,  sondern  einem  Volksliede 
und  Volkstänze  entnommen  scheint,  denn  sie  kommt  auch  unter 
den  Tanzstücken  in  Cesare  Negri's  „Nuove  invenzioni  de  balli"  vor. 
Bemerkenswerth  ist  in  Peri's  Duo,  dass  der  Begleitungsbass  zu- 


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Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt.  203 


gleich  der  Singbass  ist;  auch  bei  Badesca  da  Foggia  ist  dergleichen 
sehr  häufig.  Dass  aber  der  Singbass  vom  Begleit ungsbass  ver- 
schieden sein  könne,  wusste  mau  schon,  wie  ja  jene  oben  er- 
wähnten Bassarien  von  Caccini  beweisen. 

Die  Emancipation  von  den  Kirchentönen  ist  schon  in  diesen 
Gesängen  vollendet.  Durtonart  und  Molltonart  sind  die  beiden 
Grundsäulen  der  Harmonie  Erstere  heisst  jedoch  in  der  Theorie 
noch  lange  (sogar  noch  bei  Mattheson  in  der  ersten  Hälfte  des  18. 
Säculums)  Modus  jonicus,  die  andere  Modus  aeolius.  Die  Tonart 
F-dur  mit  ihrem  b  heisst  jonius  transpositus  u.  s.  w.  Den  Gegen- 
satz des  Hellen,  Kräftigen  im  Dur,  des  Trüben,  Verdüsterten  im 
Moll  begreift  man  erst  in  der  nächsten  Generation  von  Künstlern 
und  Kunstwerken.  Erst  Carissimi  ist  es,  der  in  einein  kleinen 
Duo  den  lachenden  Demokrit  und  den  weinenden  Heraklit  — 
einer  kleinen  musikalischen  Studie  —  beide  dieselben  Motive 
singen  lässt,  aber  den  ersten  in  Dur,  den  andern  in  Moll.  v) 
Monteverde  in  seiner  Oper  „il  ritorno  d'Ulisse"  (1641)  lässt  nach 
einer  „Sinfonia  in  lempo  allegro",  welche  in  D-dur  schliesst,  den 
Eintritt  der  trauernden  Penelope  durch  eine  Sinfonia  mesta  an- 
kündigen; letztere  geht  in  C-moll.  Mochten  die  Compositionen 
selbst  wie  immer  aussehen  und  noch  viel  geringer  sein,  als  sie 
wirklich  sind,  so  ist  es  schon  Verdienstes  geuug,  solche  neue 
Pfade  überhaupt  betreten  zu  haben.  Man  darf  übrigens  ohne 
weiteres  sagen,  dass  die  Nuovo  musiche  Caccini's  und  die  Varie 
musiche  Peri's  ganz  entschieden  erfreulicher  sind,  als  jene  ihnen 
unmittelbar  vorhergegangenen  völlig  leeren  und  öden  florentinischen 
Hof-  und  Festmadrigale,  welche  nur  noch  die  Ausgelebthcit  eines 
weiland  edel  und  bedeutend  gewesenen  Styls  zeigen.  Wie  be- 
rühmt und  beliebt  übrigens  Caccini  und  Peri,  die  beiden  Vor- 
kämpfer des  neuen  Florentinerstyles  waren,  deutet  auch  der  kleine 
Umstand  an,  dass  Antonio  Bruneiii  Stücke  von  ihnen,  deren  er 
irgendwo  habhaft  geworden,  seinen  eigenen  „Scherzi,  Arie,  Can- 
zonette  e  Madrigali"  (Venedig,  1618)  beigiebt;  übrigens  sind  es 
nicht  eben  ihre  besten  Arbeiten,  weiche  ihm  in  die  Hände  ge- 
kommen. 

Die  Tonsetzer  hatten  in  der  That  Ursache,  dankbar  zu  sein. 
Denn  sobald  es  bei  einer  Musik ,  um  sie  als  wcrthvoll  und  be- 
deutend gelten  zu  lassen,  auf  weiter  nichts  ankam,  als  darin  das 
ästhetische  Programm  derselben  aus  dem  Hause  Bardi-Corsi  ein- 
zuhalten, so  war  es  eine  erstaunlich  leichte  Sache  geworden, 
Componist  zu  sein.  Sieben  Achtel  der  Regeln,  mit  denen  sich 
die  Contrapunktisten  schleppten,  konnten  getrost  über  Bord  ge- 


1)  Diese  interessante  Kleinigkeit  ist  in  Athanasius  Kircher's  Musur- 
gie  mitgetheilt,  und  von  daher  entlehnt,  auch  bei  Burnoy  Hist.  of  mus. 
Band  IV,  S.  210. 


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204      Die  Musikreform  und  der  Kampf  gegen  den  Contrapunkt 

worfen  werden,  sie  waren  unnöthig  geworden,  obwol  noch  Caccini 
nicht  ohne  einige  Ostentation  sich  auf  die  Regole  del  contrap- 
punto  beruft.  ')  Ks  genügte ,  einige  harmonische  Formeln  und 
deren  Ziffern  in  den  Fingern  zu  haben;  für  den  Gesangpart  gab 
der  natürliche  Accent  der  Rede  sichere  Anhaltspunkte ;  auf  wirk- 
liche musikalische  Erfindung  kam  es  dabei  kaum  noch  an.  Dass 
bei  Caccini  und  Peri  noch  immer  wirklicher  Musikklang  heraus- 
tönt und  selbst  manche  an  sich  ganz  öde  scheinende  Stellen 
dennoch  uns,  die  wir  bereits  auch  die  ganze  spätere  Entwicklung 
der  Tonkunst  kennen  und  bewusst  oder  unbewusst  mit  in  An- 
schlag bringen,  gleichsam  latente  Musik,  welche  sich  aus  den 
unscheinbaren  Keimen  entwickeln  soll,  erkennen  lassen,  hebt  jene 
beiden  Tonsetzer  hoch  über  ihre  ersten  Nachahmer  und  Nach- 
folger, welche  sich  fast  nur  begnügen,  die  Gesangphrasen  und 
Begleitungs-Schablonen  ihrer  Vorbilder  so  gut  sie's  können  auf 
neue  Worttexte  anzuwenden.  Allenfalls  wird  bei  den  besseren, 
eine  massige  Fortentwicklung  oder  doch  ein  Streben  darnach 
kenntlich.  Fast  so  arm  und  kahl,  wie  einst  die  ersten  Anfange 
der  Contrapunktik  gewesen,  sind  auch  die  Anfänge  der  „Musica 
nuova",  der  monodischen,  deklamatorischen,  den  Gesang  nicht 
mehr  contrapunktirenden,  sondern  harmonisirenden  Musik.  Wie 
dort  bedurfte  es  auch  hier  langer  und  eifriger  Arbeit  der  Besten 
und  Begabtesten,  um  auf  dem  neuen  Wege  zu  finden  und  zu  ge- 
winnen, was  darauf  zu  finden  und  zu  gewinnen  war. 

„80  unbedeutend  war  das  Senfkörnlein,  das  später  zu  jenem 
Baume  heranwuchs,  der  das  Feld  überschattete",  ruft  Kiese- 
wetter aus.2) 


1)  In  den  dem  Fragmente  aus  „il  Rapimento  di  Cefalo"  vorange- 
sendeten Bemerkungen. 

2)  Gesch.  der  europ.-abendl.  Musik,  S.  75. 


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Zeiten  des  Ueberganges. 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 

Die  grosse  Vorliebe  der  antiken  Welt  für  Theater  und  dra- 
matische Vorstellungen  vererbte  sich  auf  Italien,  oder  lebte  dort 
wenigstens  früher  wieder  auf,  als  anderwärts.  Zur  Zeit,  da  sich 
Frankreich,  Deutschland  und  England  noch  an  Mysterien  und 
Moralitäten  erbaute,  begann  in  Italien  die  Kunstdichtuug  nach 
der  höheren  dramatischen  Form  der  Tragödie,  des  Hirtenspieles 
zu  greifen.  In  Rom  zur  Zeit  Leo  des  zehnten,  bei  der  glänzenden 
Hofhaltung  der  Ercole  und  Alfonso  von  Ferrara  u.  s.  w.  kannte 
man  kaum  ein  grösseres  Vergnügen,  als  theatralische  Aufführungen. 
Und  zwar  mit  fabelhaftem  Prunk  an  Ausstattung.  „Man  erfährt 
mit  Staunen",  sagt  Burckhardt  in  seinem  trefflichen  Buche  über 
die  Cnltur  der  Renaissance  in  Italien,  „wie  reich  und  bunt  die 
Decoration  der  Szene  in  Italien  war,  zu  einer  Zeit,  da  man  sich 
im  Norden  noch  mit  der  einfachsten  Andeutung  der  Oertlichkeit 
begnügte  —  allein  selbst  dies  wäre  vielleicht  noch  von  keinem 
entscheidenden  Gewicht  gewesen ,  wenn  nicht  die  Aufführung 
selbst  theils  durch  Pracht  der  Costüme,  theils  und  hauptsäch- 
lich durch  bunte  Intermezzi  den  Sinn  von  dem  poetischen 
Gehalt  des  Stückes  abgelenkt  hätte".  {)  Derselbe  Autor  erzählt, 
wie  während  der  dramatischen  Aufführungen,  welche  Herzog  Er- 
cole von  Ferrara  zur  Feier  der  Vcrmälung  seines  Sohnes  Alfonso 
mit  Lucrezia  Borgia  veranstaltete,  .Jedermann  sich  während  des 
Dramas  nach  den  Zwischeuakteu  sehnte",  deren  bunte,  wechselnde 
Schaustellungen  die  eigentliche  Auffuhrung  des  geregelten  Thea- 
terstückes überglänzten.  „Da  gab  es  Kämpfe  römischer  Krieger, 
welche  ihre  antiken  Waffen  kunstgerecht  zum  Takte  der  Musik 
bewegten,  einen  Tanz  von  wilden  Männern  mit  Füllhörnern,  aus 
welchen  flüssiges  Feuer  sprühte;  sie  bildeten  das  Ballet  zu  einer 
Pantomime,  welches  die  Rettung  eines  Mädchens  von  einem 
Drachen  darstellte;  dann  tanzten  Narren  in  Pulcinelltracht  und 
schlugen  einander  mit  Schweinsblasen  u.  dgl.  m."  2)  Lauter 


1)  S.  250. 

2)  a.  a.  0.   S.  251. 


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208 


Die  Zeit  des  Ueberganges. 


Dinge  also,  bei  welchen  Musik  nicht  zu  entbehren  war.  Diese 
bunten  Intermezzi,  diese  singenden  Maskenzüge,  diese  costümir- 
ten  Tänze  bei  Hoffestcn  nehmen  hier  unsere  Aufmerksamkeit 
besonders  in  Anspruch.  In  ihnen  lag  der  Keim  zu  dem  wirk- 
lichen musikalischen  Drama,  wie  es  sich  gegen  Ende  des  16. 
Jahrhunderts  entwickelte.  Das  Intermezzo  mit  seiner  Musik  und 
seiner  Prachtausstattung  dehnte  sich  aus,  wurde  zur  geregelten 
dramatischen  Handlung  und  drängte  das  recitirende  Drama  aus 
dein  Rahmen  seiner  Akte  heraus,  um  sich  an  dessen  Stelle  zu 
setzen  und  schuf  sich  einen  neuen,  eigenen,  seinen  künstlerischen 
Zwecken  angemessenen  Musikstyl.  Einen  interessanten  Beleg 
dafür  bietet  das  dritte  Intermezzo  bei  der  Hochzeit  Ferdinaud's 
von  Medici  und  Christiana's  von  Lothringen  1589.  Es  behandelt 
den  Kampf  Apollos  mit  dem  Pythondrachen  —  kurz  und  skiz- 
zenhaft —  die  Verse  sind  von  Ottavio  Rinuccini,  die  Musik  ist  von 
Luca  Marenzio:  erst  ein  Hirtenchor  „qui  si  sfama",  der  die  Angst 
vor  dem  Ungeheuer  ausdrückt,  dann  eine  „Symphonie",  welche 
ohne  Zweifel  die  Pantomime  des  kämpfend  -  bogeuschiessenden 
Gottes  begleitete,  dann  ein  Chor  der  Hirten,  der  den  Tod  des 
Drachen  verkündigt  „o  valoroso  dio"  —  und  zum  Schlüsse  ein 
Freudenchor  mit  Tanz  „o  mille  volte".  Ein  Dialog  war  augen- 
scheinlich nicht  dabei.  Diese  bahVtartige  Szene  eines  Zwischen- 
spieles erweitert  sich  unter  des  Dichters  Rinuccini  Händen  zur 
musikalisch -dramatischen  Dichtung  ,,Dafne",  welche  von  Jacob 
Pcri ,  später  noch  einmal  von  Marco  da  Gagliano  und  in  der 
deutschen  Uebersetzung  des  Martin  Opitz  von  Heinrich  Schütz 
ein  drittes  Mal  in  Musik  gesetzt  wird. 

Um  jedoch  diesen  erweiterten  und  erhöheten  Anforderungen 
zu  genügen,  musste  die  Musik  eine  völlig  andere  Gestalt  anneh- 
men, als  ihre  bisherige,  und  dazu  wusste  sie  sich  vorläufig  keinen 
Rath.  Der  allbeherrschende  Madrigalstyl  musste  einstweilen  dem 
Bedürfnisse  genügen.  Wir  haben  daher  diese  Intermedien,  die 
HofTeste  mit  singenden  und  tanzenden  Maskenzügen  u.  s.  w. 
nicht  als  die  Anfänge,  sondern  nur  als  die  Vorstufen  der  drama- 
tischen Musik  anzusehen.  Sie  lassen  eben  nur  erkennen,  was 
man  gerne  gehabt  hätte,  aber  einstweilen  noch  nicht  hatte. 

Die  Monodie  löste  sich  vor  ihrem  selbstständigen  Auftreten 
vom  Contrapunkt  los  —  sie  wuchs  so  zu  sagen  aus  dem  Contra- 
punkt heraus,  wie  man  in  alten  Bilderbibeln  aus  der  Seite  des 
schlafenden  Adam  die  G  estalt  Eva's  herauswachsen  sieht. 

Wir  haben  es  schon  früher  ')  erzählt,  auf  welche  Art  man 
vierstimmig  componirte  Sätze  für  den  Vortrag  eines  Solosängers 
zurechtmachte  und  wie  wir  uns  etwa  den  längst  verschollenen 
Gesang  der  „Cantori  a  liuto"  zu  denken  haben.    Bis  zur  Ent- 


1)  Band  2.  S.  499  u.  a. 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


209 


stehung  der  eigentlichen  Monodie  gegen  das  Jahr  1600  hin  re- 
präsentirte  das  mehrstimmige  Madrigal  die  höhere  weltliche  Kunst- 
musik. Dass  ein  fiir  vier,  fünf,  sechs  u.  s.  w.  Stimmen  compo- 
nirtes  Stück  dieser  Art  insgemein  auch  wirklich  von  vier,  fünf, 
sechs  Sängern  vorgetragen  wurde,  denen  sich  allenfalls  eine  Laute 
oder  ein  ähnliches  Instrument  zugesellte,  um  sie  im  Ton  zu  er- 
halten, ist  ausser  Zweifel;  „cantare  in  compagnia"  nennt  es  Pie- 
tro  della  Valle  ').  und  Antonio  Francesco  Doni  in  seinem  „Dia- 
logo della  musica"  schildert  höchst  anschaulich  das  Vertheilen 
der  vier  Parte  unter  vier  sangeskundige  Musikdilettanten.  2) 

Wir  lassen  jenes  oft  und  zuerst  von  Tristano  Chalco  be- 
schriebene Fest  bei  Seite,  womit  1488  3)  in  Mailand  die  Vermä- 
lung  Galeazzo  Sforza' s  mit  Isabella  von  Aragon  gefeiert  wurde. 
Statt  die  Speisen  einfach  auf  die  Hochzeitstafel  zu  setzen,  wurden 
sie  unter  irgend  einem  mythologischen  Prätext  von  Göttern,  Nym- 
phen, Satyrn  u.  s.  w.  aufgetragen,  wobei  denn  auch  nach  Her- 
zenslust recitirt,  gesungen,  getanzt  wurde.  Es  waren  Aufzüge, 
Divertimenti  bei  Tafel  (dergleichen  man  in  Frankreich  „Entre- 
mets"  nannte).  Wollte  man,  wie  Arteaga  thut,  darin  den  ersten 
Grundstein  der  Oper  erblicken,  so  hätte  z.  B.  das  berühmte  Ten- 
denzbankett (zur  Wiedergewinnung  Constantinopels)  beim  Her- 
zoge von  Burgund  1454  gleiche  Ansprüche;  nur  dass  im  Italien 
der  Renaissance  die  ganze  Erfindung  (sie  gehörte  einem  Edel- 
manne  Bergonzo  Botta  an)  noch  sehr  viel  mehr  antikisirte. 
Man  war  in  Italien  gewöhnt,  kirchliche  und  weltliche  Feste,  Pro- 
zessionen ,  fürstliche  Hochzeiten ,  Carnevalsaufzüge  u.  s.  w.  mit 
derlei  Erfindungen  reichlichst  auszustatten;  '  und  Bergonzo  Botta  » 
Invention  darf  in  dieser  Beziehung  nicht  einmal  etwas  Ungewöhn- 
liches oder  Besonderes  heissen.  *) 

Mehr  schon  einer  musikalisch-dramatischen  Aufführung  nähert 


1)  Sendschreiben  „della  musica  delT  etä  nostra"  (bei  Doni  II.  S.  250). 

2)  Bargo,  einer  von  ihnen,  holt  aas  dem  Musikalienvorrath  ein  Ma- 
drigal „Donna  per  acquetar  vostro  desire"  von  Claudio  Veggio  —  er 
selbst  behält  den  Tenor  und  sagt:  „Grullone  pigliate  il  vostro  basso, 
Micchele  l'alto  et  l'Hoste  il  canto".  Dieser  Dom  ist  mit  G.  B.  Doni 
nicht  zu  verwechseln;  sein  Dialog  erschien  1544  in  Venedig  bei  Girolamo 
Scott  >.  Dem  Exemplar  der  Bibliothek  der  Ges.  <L  Musikfreunde  in  Wien 
ist  von  Kiesewetter's  Hand  beigeschrieben:  „nichtswürdiges  Geschwätz 
aber  allerhand,  nur  nicht  über  Musik". 

3)  Nicht:  1388,  wie  es  durch  einen  Druckfehler  in  der  deutschen 
Uebersetzung  von  Arteaga's  Buch,  S.  211,  und  so  auch  bei  Kiesewetter 
(Schicksale  und  Beschall,  des  weltl.  Gesanges,  S.  26)  heisst. 

4)  Ich  verweise  auf  Burckhardt's  „Cultur  der  Renaissance  in  Italien" 
2.  Aufl.,  S.  320—340. 

5)  Wen  es  etwa  interessirt,  eine  Beschreibung  davon  zu  lesen,  möge 
sie  bei  Kiesewetter  a.  a.  O.  aufsuchen. 

Ambroi,  Geschichte  der  Musik.   IV.  U 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


sich  die  von  Filippo  Beroaldo  geschilderte  Vorstellung  bei  der 
Hochzeit  des  Annibale  Bentivoglio  mit  Lucrezia  von  Este  in  Bo- 
logna. Hier  gab  es  schon  eine  förmliche,  einen  Hain  mit  Natur- 
wahrheit darstellende  Szene ;  Venus ,  einen  von  ihr  gezähmten 
Löwen  (das  heisst  wohl:  einen  Menschen  in  Löwenmaske)  füh- 
rend, erschien  in  einem  Ballette  von  wilden  Männern,  Diana  trat 
mit  ihren  Nymphen  auf,  deren  schönste  von  ihr  weg  und  zur 
Juno  Pronuba  floh  u.  s.  w.  —  alles  augenscheinlich  allegorische 
Anspielungen  auf  das  fürstliche  Brautpaar.  Zu  diesem  Ballet 
wurden  Chöre  (d.  i.  „Madrigale"  und  ,,Balli4')  gesungen. 

Chöre  in  Madrigalfonn  in  den  Zwischenakten  von  Tragödie  - 
Aufführungen  singen  zu  lassen,  wie  in  Lodovico  Dolce's  „Tro- 
janerinnen", welcher  die  Texte  dafür  eigens  gedichtet  hatte,  oder 
in  die  Handlung  selbst  Chöre  einzuflechten  —  und  zwar  aus 
keinem  andern  Grunde,  als  weil  die  antike  Tragödie  Chöre  ge- 
habt, wie  denn  in  Cinzio  Giraldi's  „Orbecche"  ein  Chor  der 
Frauen  von  Susa  vorkömmt,  wozu  für  die  Aufführung  in  Femara 
Alfonso  della  Viola  die  Musik  setzte !)  (Guarini's  Pastor  Fido, 
mit  seinen  Chören  der  Hirten,  Priester  u.  s  w.  erhielt  Musik  von 
Luzzascho  Luzzaschi  u.  s.  w.)  —  war  etwas  Gewöhnliches.  Diese 
Tonwerke  sind  verloren  —  aus  Luca  Marenzio's  Combattimcnto 
d' Apolline  col  serpente  können  wir  indessen  eine  deutliche  Vor- 
stellung davon  gewinnen  —  es  waren  Madrigale,  im  gewohnten  Styl. 
In  Ferrara  schloss  jede  Komödie  mit  einem  Mohrentanz  Ei  la  sua 
moresen)2). 


1)  Wir  wissen  es  nur  aus  der  Didaskalie.  welche,  dein  Druck  dieser 
grasslich-blutigen  Tragödie  beigegeben,  also  lautet:  „Questa  tragedia  fu 
rappresentata  in  Ferrara  in  casa  del  autore  MDXLI  prima  all'  filustria- 
sinio  Signore  il  Signor  Erole  II  da  Este  duca  IV  di  Ferrara;  dopo  uT 
Illustrissimi  Signori,  il  Signor  Cardinale  Salviati.  la  rappresentö  M.  Se- 
bastiano  Clarignano  da  Montefalco,  foce  la  Musica  IT  Alfonso  della 
Viuola,  fu  Architctto  et  il  Dipintore  della  Seena  M.  üirolamo  Carpi  da 
Ferrara1'.  C.  F.  Becker  hat  sich  dadurch  irre  leiten  lassen  und  in  seinein 
Buche  „Tonwerke  des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts'1.  S.  301,  die  Orbecche 
mit  der  Musik  Allbnso's  falschlich  unter  den  Musikdrucken  aufgeführt. 
Tausendmal  eher  zu  verzeihon.  als  wenu  Berlioz  daraus  eino  Kunstnovelle 
„le  premier  opera"  zusammenlasen,  Alfonso  zum  Erfinder  der  Oper  macht 
ihn  mit  Benvenuto  Cellini  in  Corrospondenz  treten  lässt  u.  s.  w.  —  alles 
eigentlich  nur  um  einer  Kritik,  oder  vielmehr  einem  Ausbruch  leiden- 
schaftlichen Hasses  gegen  den  Palestrinaatyl  Luft  zu  machen  —  einem 
Styl,  dem  jener  des  Berlioz  allerdings  diametral  entgegengesetzt  ist. 
Natürlich  hat  man  nicht  ermangelt,  die  Novelle  zur  Belehr u ng  Deutsch- 
lands zu  übersetzen  ! ! !  Es  ist  kaum  ein  Ausdruck  des  Unwillens  stark 
genug  dafür.    (Jeher  das  Drama  selbst  s.  Klein,  Gesch.  d.  Drama. 

2)  Diario  Ferrarese  —  bei  Muratori  XXIV.  Col.  4i>4.  Man  möge 
sich  erinnern,  dass  in  Shakespeares  Sommernaehtstraum  Zettel  nach  Auf- 
führung der  „Tragödie  von  Pyramus  und  Thisbe''  den  Herzog  fragt:  ob 
er  einen  Epilog  als  Schluss  oder  einen  Bergamaskertanz  vorziehe?  — 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


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Diese  Zugab-Cliöre,  Tänze  u.  s.  w.,  obwohl  zu  dramatischen 
Zwecken  dienend,  haben  mit  der  eigentlichen,  dramatisch  ange- 
legten, recitirenden  Musik  der  Florentiner  um  1G00  nichts  zu 
schaffen  —  eben  so  wenig  wie  Orazio  Vecchi's  seltsamer,  aber 
origineller,  geistreicher  und  sogar  dramatisch  -  ausdrucksvoller 
,,Anfiparuas8o".  l) 

Die  vielfachen  Verbindungen  und  der  Verkehr  mit  Italien, 
welches  damals  die  Spitze  der  (Jultur  und  Civilisation  bildete,  die 
Züge  der  fremden  Fürsten  durch  das  schöne  Land,  bei  welchen 
die  durch  feine  Sitte  und  den  Glanz  der  Künste  veredelten  Höfe 
den  Wunsch  anregen  mussten,  sich  daheim  eine  ähnliche  Um- 
gebung zu  schaffen,  trugen  sicherlich  wesentlich  dazu  bei,  dass  jene 
schimmernden  Hoffeste  ihre  Widerscheine  auch  in  die  Länder 
jenseits  der  Alpen  warfen,  und  wir  erkennen  in  dem  Ludus  Dianae, 
welcher  zu  Linz  zur  Feier  der  Vermälung  Kaiser  Maximilian  1. 
mit  Maria  Bianca  Sforza  ^1594)  in  Gegenwart  des  erlauchten 
Paares,  des  Herzogs  von  Mailand  (des  Vaters  der  Braut)  und 
anderer  Herrschaften,  von  Conrad  Celtes  und  verschiedenen  kaiser- 
lichen Secretären  und  anderen  Kespectspersonen  aufgeführt  wurde, 
ein  völliges,  aber  gerade  in  seinen  Abweichungen  charakteristisches 
Gegenbild  jener  halbdramatischen  Hofraaskcraden  in  Italien  — 
es  ist  eine  in  fünf  Akte  geth eilte ,  verschiedenen  Göttern  und 
Halbgöttern  in  den  Mund  gelegte  Gratulation,  womit  die  Hof- 
ceremonie  einer  Dichterkrönung  von  kaiserlicher  Hand  und  sogar 
ein  Hofbankett  in  Verbindung  gesetzt  wurde. 2  Der  musika- 
lische Thcil  ist  allerdings  äusserst  dürftig,  aber  eben  in  seiner 
Dürftigkeit  bemerkenswert!!.  Nachdem  Mcrcur  als  Abgesandter 
Diana's  einen  Prolog  ad  Spectatores  gesprochen,  trat  Diana  mit 
ihren  Nymphen  auf  und  begrüsste  lobpreisend  den  kühnen  Jäger 
Max,  mit  dem  sich  weder  Meleager  noch  Hercules  messen  dürfe 
(Calidonius  heros  jam  nihil  est).  Die  Nymphen  umtanzten  sie» 
und  sangen  das  Lob  des  Brautpaares  in  einer  Art  Fauxbourdon, 
welcher  die  Distichen  des  Textes  mit  genauer  Markirung  des 
Metrums  und  sogar  auch  der  Cäsur  abtrommelte: 


1)  S.  3.  Band,  S.  545. 

2)  Das  Festspiel  ist  1501  zu  Nürnberg  bei  Hieronymus  Holzel  unter 
dem  Titel  gedruckt  worden:  Ludus  Dianao  in  modum  Comediao,  coram 
Maximilian«»  Khonianorum  rege  Calcndis  Martiis  ludis  Saturnalibus  in 
arce  Linsiana  Danubii  actus,  Clementissimo  Rege  et  Regina,  Ducibus 
illustribus  Mcdiolani,  totaone  regia  curia  spectatoribus  —  per  Petrum 
Bonomum.  Reg.  Canccl.  Joseph.  Grunpekium,  Reg.  Secret.  Conraduni 
Celton  (so!),  Poe.  Ulsenium  Phrisium,  Vincentium  Longinum,  in  hoc  ludo 
lanrea  donatuin,  folicitor  et  jueundissime  ropraesentatus.    (MCCCCC  et 

trimo  novi  Scculi,  ldibus  Maji.)  Es  Bind  fünf  Blätter  in  kloin  Quart. 
>ie  prager  Universitätsbibliothek  bositzt  ein  Exemplar  (Sign.  VI.  H.  60). 

14* 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


Ma   -    xi   -  mi  -  lia  -  neas  Nym  -  phae     nunc  di- 


y  ^ — zr  g.    — ^_t^__x__0 — j — —  — i 

ci  -         lau  -  des  et     reso  -  net      no  -  stro 


Blan  -  ca   Ma   -   ri   -   a   Cho  -  ro.         u.  s.  w. 


Ende  des  ersten  Aktes.  Im  zweiten  trat  Silvanus  mit  Gefolge 
auf,  pries  den  Kaiser  als  Beschützer  der  Christen  (der  „Schäflein 
Christi44,  wie  sich  der  wackere  Heidengott  ausdrückte)  und  feuerte 
ihn  zum  Türkenkriege  an  l)  —  wonach  im  dritten  Akt  Bacchus  den 
Rheinwein  belobte  (sie  Rhenana  mihi  culta  fuit  plaga)  und  sonst 
Angemessenes  sprach,  plötzlich  aber  aus  der  Rolle  und  dem  Kaiser 
zu  Füssen  fiel,  und  indem  er  sich  als  Herr  Vincenz  Longinus  zu 
erkennen  gab,  sich  die  Krönung  mit  dem  poetischen  Lorbeer 
erbat : 

Siqua  mihi  est  virtus  doctrinaque,  maxime  Caesar, 
Imponas  capiti  laurea  serta  meo 
Per  Su porös  ego  juro  tibi  et  per  sceptra  tonantis 
Cantabo  laudes  hic  et  ubique  tuas. 


1)  Eine  sinnreiche  Spielerei,  welche  dabei  angebracht  ist,  mag  hier 
■  erwähnt  werden.   Silvanus  spricht: 

Rex  cui  Maximium  praestant  pia  sidera  nome  N 

Verus   ab   aethero   missus    raortalibus    orb  E 

Cultor       olympiaci ,  justique   acquitonanti  S 

Juris  amator  oves  Christi  tua  sceptra  gubeman  T 

Mens  vigil  ut  coelo  populus  turbatus  apert  O 

Vivida    ad  aeterni  tanaem   pins   ora  trahatu  R 

Serva   commissum  tibi  ne  Iupus  intret  ovil  E 

Justitiam     superos   obeuntom,    hoc   orbe   relict  0 

Nobis   qui  Austriaco  fruimur  pastore  remitta  S 

Und  so  weiter.    Die  ersten  Worte  bilden  selbst  wieder  lobpreisende 
Hexameter: 

Rex  verus  cultor  juris,  mens  vivida  serva 
Justitiam  nobis  u.  s.  w. 
Die  Endbuchstaben  aber  bilden  den  glückwünschenden  Vers:  Nesto- 
reos utinara  vigeat  feliciter  annos.  Eine  wahre  Plethora  von  Gratulatio- 
nen! Zugleich  sieht  man,  dass  es  nicht  die  Tonsetzer  allein 
waren,  welche  in  ihre  Kunstwerke  nebenbei  sonderbare  Kunst- 
stücke hineinbrachten.   Es  lag  eben  im  Geiste  der  Zeit 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


Für  die  vollzogene  Krönung  dankte  der  Chor,  abermals  das  Me- 
trum (hier  das  sapphische)  genau  markirend,  doch  X£L  ^31U^31Xl1 
schon  etwas  mehr  motettenartigen  Tonsatze: 


Re  -  gis  ae   -  ter   -   nas      re  -  so 


/TS 


ne  -  mus 

om 

nes 

in  - 

,_  ..  : 
cli  -  ti 

t^HH  —  ■ 

lau  - 

des: 

,1  r 

/TN 

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ni- 

 , 

 H=^ 

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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


W 


do   -   cto      de  -  de  -  rat   po   -  e 


Im  vierten  Akt  introduzirtc  sieb  Silenus  zu  Esel  und 
äusserte  sicli  als  Trunkener,  aber  durebaus  böchst  schmeichelhaft. 
Jene  wackere  Kitterzeit  liebte  das  Pokuliren  zu  sehr,  als  dass 
ihr  durch  den  Anblick  des  Zechers  hätten  Tantalusqualen  be- 
reitet werden  dürfen;  es  wurde  also  zum  Schlüsse  des  Aktes 
durch  die  Mundschenken  des  Kaisers  Wein  herumgereicht,  und 
bei  Trompeten-  und  Paukenschall  wurde  gezecht.  l)  Im  ftinften  Akt 
verabschiedeten  sich  alle  Personen.  Diana  sprach  glückwünschend«' 
Verse,  deren  jeden  der  Chor  in  vierstimmigem  Gesänge  wieder- 
holte — -  Wünsche,  deren  Erfüllung  das  Geschick  versagte: 

Multiplicem  variet  sobolem  tibi  Bianca  Maria 
Et  dueibus  terras  impleat  austriacas 

 Maximiliane  vale,  valeas  jam  Bianca  Maria 

Jam  ropeto  Silvas  ipsa  Diana  meas. 

Der  Kaiser  belohnte  Tages  darauf  die  24  Darsteller  auf  das 
Freigebigste. 

Ein  ähnliches,  mit  drei  Chören  zu  vier  Stimmen  ausgestattetes 
Festspiel  von  Benedictus  Chelidonins  wurde   1515  zu  Wien  in 


1)  —  hinc  rursus  silentium,  et  pocula  aurea  et  paterae  per  regios 
pincornas  circurolatae  et  inter  pocola  pulsata  tympana  et  cornna.  Finis 
actus  quarti  —  das  Pokaliren  gebörto  also  mit  zum  vierten  Akt ! 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


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Gegenwart  der  Königin  von  Ungarn  aufgeführt.  l)  Die  Gesänge 
sind  insofern  bemerkenswert!!,  als  sie  der  von  Conrad  Geltes  und 
seiner  „docta  Sodalitas"  eifrig  vertretenen  Richtung  angehört,  antike 
Metra  ganz  genau  durch  Takt  und  Bewegung  des  Gesanges  ein- 
zuhalten. 

Dagegen  sind  die  der  erwähnten,  1 497  aufgeführten  Comödie 
Reuchlin's *)  eingeschalteten  Melodien  eines  gewissen  Daniel  Megel 
wahre  Bänkelsängerstücklein,  für  die  musikalische  Fassungskraft 
der  agirenden Schuljungen  berechnet,  z.B.  nach  dem  zweiten  Akte: 

Choraules. 


Mor  -  ta  -  Ii 
Mo  -  ve  -  tur 


um  iu  -  cun  -  di 
in  -  star    tur   -  bi 


tas  vo  -  lu- 
nis  quam  nix 


cri8      et      pon  -  du  -  la. 
a  -  git      sc  -  du  -  la. 


Dis  -  cit  -  que  vir- 


I 


tu  -  te   Deum    co  -   le  -  re. 

(Es  sind  dieselben  Verse,  die  Hans  Uolbein  d.  j.  seinem  für  den 
Stahlhof  in  London  gemalten  „Triumph  der  Armuth"  als  Denk- 
spruch beigeschrieben  hat.)  3) 

Nach  dem  dritten  Akt  wird  folgendes  Lied  gesungen: 
Choraales.    k 


gl 


-0- 


r 


Dig  -  na  sunt  A  -  pol  -  Ii  -  ne  quae  con  -  ci  -  mint  po- 
Quo    co  -  rus  -  cant   nu  -  mi  -  ne     di  -  vi  -  ni  -  tus  pro- 

5s  ss 


|jl§||g^^illlij|^llli 


e  -  tae. 
phe - tae 


Di  -  Ii  -  ga-mus  er  -  go  nos 
Va  -  tes    coe  -  Ii  -  tus  sa  -  cros 


quo-rum  lu-  dos 


1)  Das  Werk  wurde  in  demselben  Jahre  zu  Wien  bei  Johann  Sing- 
ryner  gedruckt.   Die  Wiener  Hofbibliothek  besitzt  ein  Exemplar. 

2)  Das  erwähnte  Werk  ist  betitelt:  „Joannis  Reuchlin  Phorcensis 
scaenica  progymnasinata,  hoc  est  ludicra  praeexercitaraenta.  —  (Viennae 
—  Joannis  Smgrenij  Anno  M.D.XXII1"). 

3)  \ergl  „Holbein  und  seine  Zeit"  von  D.  Alfred  Woltmann,  2.  Th. 
S.  224. 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


I 


sco  -  ni  -  cos    os-    ten  -  di 


ce  -  te. 


In  einem  ganz  antik  zugeschnittenen  Spiele  müssen  die  Reime 
in  diesen  Gesängen  überraschen. 

Am  französischen  Königshofe,  wo  es  längst  nicht  mehr  so 
hausväterlich  tugendhaft  zuging  wie  einst  unter  Ludwig  XII.  und 
Anna  von  Bretagne,  hätte  man  sich  mit  so  einfachen  Schauspielen 
nicht  begnügt;  man  liebte  Glanz  und  Pracht. 

Am  15.  Oktober  1581  wurde  im  Schlosse  zu  Moutiers  die 
Vermälung  Margarethe^  von  Lothringen,  der  Stiefschwester  des 
Königs  Heinrich  III.  mit  dem  Herzoge  von  Joyeuse  gefeiert. 
Den  glänzendsten  Theil  der  Feste  bildete  nun  jenes  „ballet  co- 
mique  de  la  Royne,  faict  aux  nopees  de  Monsieur  le  Duc  de  Jo- 
yeuse ctMadamoyselle  deVaudemont  sa  soeur  par  Baltasar  deBcau- 
joyeulx  valet  de  chambre  du  Roy  et  de  la  Royne  sa  merc",  durch 
dessen  plumpe  Pracht  man  den  Glanz  der  medieeischen  Hoffcste.  wie 
Katharina  von  Medicis  in  ihrer  Jugend  sie  zu  Florenz  gesehen, 
zu  überbieten  suchte.  Baltazar,  genannt  Baltazarini  aus  Piemont, 
der  auf  dem  Titel  als  Autor  genannt  ist,  war  als  vorzüglicher 
Geigenspieler  durch  den  Marschall  von  Brissac  an  Katharina  von 
Medicis  empfohlen  und  nach  Paris  geschickt  worden,  wo  er  als 
valet  de  chambre  und  Intendant  der  königlichen  Musik  in  Dienste 
trat.  Wegen  seiner  „artigen"  Entwürfe  bekam  er  den  Beinamen 
„Beaujoyeulx" ;  und  wie  artig  diese  viclbelobten  Entwürfe  waren, 
davon  gibt  uns  dieses  Ballet  eine  Vorstellung,  das  in  seiner  Aus- 
stattung so  unsinnig  verschwenderisch,  als  in  seiner  dramatischen 
Zusammenstellung  eigentlich  ein  mythologisch  aufgeputzter  Hofball, 
eine  Hochzeitsgratulation ,  und  in  letzter  Instanz  eine  colossale 
Schmeichelei  fiir  Heinrich  III.  war  —  socolossal,  dasssie  nicht  einmal 
durch  das  überboten  wird,  was  Ludwig  XIV.  Aehnliches  geboten 
wurde.  Der  Plan  des  Ganzen  war  von  Baltazarini;  die  Dichtung  der 
Verse  aber  gehörte  dem  M.  d  e  1  a  C  h  e  s  n  a  y  c,  Almosenier  des  Königs, 
an;  die  Musik  war  ein  Werk  der  königlichen  Musiker  Beaulieu 
und  Salmon.  Die  Aufführung  dauerte  von  10  Uhr  Abends  bis 
4  Uhr  Morgens. 

Die  Handlung  dieses  „ballet  comiqueu  (welches  aber  nicht 
das  mindeste  Komische  enthält)  dreht  sich  um  die  Zaubereien 
Circe's,  welche  ihre  Gefangenen  in  Thiere  verwandelt  (eigentlich 
die  bitterste  Satyre  auf  diesen  König  und  seinen  Hof,  ohne  dass 
es  der  gute  Kammerdiener  merkte).  Ein  Edelmann  (un  gcntil- 
homme),  welcher  die  Zahl  dieser  Unglücklichen  nicht  vermehren 
mag,  flüchtet  sich  unter  den  Schutz  des  Königs: 


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Die  Zeit  des  Ueberganges.  217 

Ne  rem  tu  pas  grand  roit  tant  de  dieux  secourir? 
Tu  le  feras,  Henri,  plus  valeureux  qu'Alcide 
Ou  celui  qui  tna  la  chimere  homiciae: 
Et  pour  tant  de  mortels  et  dieux  que  tireras 
Des  liens  de  la  feo,  immortel  te  feras. 

Circe  klagt  heftig  über  den  Undankbaren,  dem  sie  seine 
frühere  Gestalt  wiedergegeben  habe  und  der  solches  nur  benützt 
habe,  um  ihr  auf  Nimmerwiedersehen  zu  entfliehen.  Circe  zieht 
sich  zürnend  in  ihren  Hain  zurück.  Tritonen  und  Nereiden  nähern 
sich,  um  das  Lob  der  Königin  Louise  zu  singen.  Die  Najaden 
und  zwölf  Pagen,  welche  sich  zu  ihnen  gesellen,  tanzen  ein  Ballet 
Da  erscheint  nach  einem  muntern  Stück,  „le  son  de  la  clochetteu 
betitelt,  Circe,  berührt  die  Nymphen,  die  Pagen,  ja  sogar  zehn  be- 
gleitende Geigenspieler  mit  ihrem  Stab  und  verwandelt  sie  in 
unbewegliche  Statuen.  Nach  vollbrachtem  Zauberwerke  zieht  sie 
sich  in  ihren  Hain  zurück,  als  unter  dem  erschütternden  Getöse 
eines  furchtbaren  Donnerschlags  Mercur  von  der  Decke  des  Saales 
herabgeflogen  kommt.  Entzauberung  durch  das  Kraut  Moly  — 
Tanz  —  neuer  Zauber  —  Illumination  —  Dryaden  ^-  Pan  u.  s.  w. 
Man  kann  sich  von  dem  Geiste  dieser  Poesie  eine  Vorstellung 
machen,  wenn  Circe  erklärt,  zwar  nicht  der  Macht  Jupiters, 
wohl  aber  der  Macht  des  Königs  von  Frankreich  weichen  zu 
wollen : 

„Je  vous  resisterai:  que  si  la  destinec 

a  de  ma  verge  d'or  la  force  terminäe, 

ce  n'est  en  ta  faveur,  Jupiter,  ne  le  croy, 

et  si  quelqu'un  bien  tost  doit  triompher  de  moy 

c'est  le  Roy  des  Francois  —  et  faut,  que  tu  luy  cedes 

ainsi  que  ie  luy  fais,  le  ciel  que  tu  possedes". 

Jupiter,  in  dessen  Maske  ein  Sieur  Savornin  steckte  f„tres 
excellent  en  chant  et  en  la  compositum  des  airs  de  musique"), 
stellte  seine  Kinder  Mercur  und  Minerva  (eine  Mademoiselle  de 
Chaumont)  förmlich  nach  Hofsitte  dem  Könige  vor  („et  apres  Ju- 
piter presenta  au  Roy  ses  deux  enfants  Mercure  et  Minerve,  qui 
s'allerent  se  jetter  aux  pieds  de  Sa.  Majeste,  faisans  paroistre 
qu'ils  cedoyent  a  ce  grand  Roy").  Die  ganze  Vorstellung 
fand  nämlich  keineswegs  auf  einer  von  dem  Zuschauerraum  strenge 
geschiedenen  Bühne  statt.  Die  im  Kupferstiche  dargestellte  „Fi- 
gure  de  la  Salle"  zeigt  einen  prächtigen  Ballsaal,  in  dessen 
Hintergründe  eine  Vorstellung  von  Circe's  Garten  decorationsmässig 
angebracht  ist;  seitwärts  im  Saale  steht  eine  Baumgruppe  mit 
einem  flötenden  Satyr.  Die  edelsten  Damen  des  Hofes  wirkten 
mit.  Die  Königin  (la  quelle  ressembloit  plustot  a  quelque  chose 
divine)  kam  mit  den  als  „Najaden"  prächtig  in  Silberstoff  ge- 
kleideten Edeldamen  (la  princesse  de  Lorraine,  la  duchesse  de 
Mercueil,  de  Guise,  de  Nevers,  d'Aumale,  de  Joyeuse,  la  mare- 


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21S 


Die  Zeit  des  Ueberganges. 


challe  de  Rctz  u.  s.  w.)  auf  einem  riesigen,  von  drei  Seepferden 
gezogenen  Wagen,  dessen  Obertheil  von  einer  Fontaine  wohl- 
riechenden Wassers  (eau  de  senteur)  gebildet  wurde.  Zwei  Musi- 
kanten mit  Laute  und  Gambe  sassen  gleich  hinter  den  Seepferden. 
Vier  Edelfräulein  traten  als  die  vier  Cardinaltugenden  auf,  und 
zwar  mit  den  herkömmlichen  Emblemen  der  Schlange,  Wage 
u.  s.  w.y  sonst  aber  in  der  schwerfalligen,  bis  an  den  Hals  zuge- 
knöpften damaligen  Hof-  und  Damenpracht;  sie  trugen  Kleider 
„bleu  Celeste4*  mit  Sternen  ,,d'or  bruny";  als  Haarputz  trugen  sie 
„arcades  d'or  et  de  soye".  Zwei  sangen,  zwei  schlugen  Laute, 
und  es  sieht  seltsam  genug  aus,  wie  z.  B.  die  Stärke  ihre  Noth 
damit  hat,  neben  der  emblomatischen  Säule  auch  noch  eine  Laute 
schleppen  zu  müssen.  Wir  lassen  hier  die  Wunder  bei  Seite, 
welche  der  königliche  Maler  Jacques  Patin  als  Decorateur  und 
als  Maschinist  wirkte,  wie  Götteraufzüge  zu  Wasser  und  zu  Lande 
in  fabelhafter  Pracht  das  Auge  blendeten,  wie  Ungeheuer  und 
Blitze  und  Donner  schreckten,  wie  Najaden,  Nymphen  und  Satyrc 
Ballet  tanzten,  wobei  sie  vierzig  geometrische  Figuren  auf  das 
künstlichste  abführten.  —  „de  maniere,  que  chacun  creut,  qu1 
Archimede  de  n  eust  peu  mieux  entendre  los  proportions  geo- 
metriques,  que  ces  princesses  et  dames  les  pratiquoyent  en  ce 
ballet"  —  wir  wollen  hier  nur  noch  von  dem  reden,  was  für 
uns  die  Hauptsache  ist,  von  der  Musik.  Auch  hier  hatte  man 
den  gedenkbarsten  Luxus  in  den  verwendeten  Mitteln  entwickelt, 
und  in  der  Kuppel  des  Ballsaales  nicht  weniger  als  zehn  Musik  - 
banden  fdix  concerts  de  musique)  mit  Instrumenten  verschiede- 
ner Art,  „die  den  Sängern  als  Echo  dienten"  aufgestellt:  Haut- 
bois,  Cornetti,  Posaunen,  Gamben,  Lauten,  Harfen,  Flöten.  Ein 
Sieur  J uvigny ,  Stallmeister  des  Königs ,  der  zugleich  die  Rolle 
des  Pan  innehatte,  spielte  auf  das  zierlichste  ein  Flageolet  von 
eigener  Erfindung.  Zum  ersten  Eintritte  des  Ballettes  zogen  zehn 
costümirte  Violinisten  auf,  fünf  von  jeder  Seite;  sie  wurden  von 
(Jirce  in  Stein  verwandelt,  wieder  entzaubert  u.  s.  w.  Eine 
Schaar  Tritonc  schwamm  herein  mit  Neptunsdroizacken  und  In- 
strumenten in  Händen  —  lyres,  luths,  harpes,  flustes,  et  autres 
instruments  —  es  sieht  in  der  Illustration  abermals  höchst  son- 
derbar aus,  besonders  wie  der  eine  Triton  seine  Gambe  violon- 
cellmässig  streicht.  Als  Jupiter  aus  der  goldenen  Kuppel,  wo 
vierzig  Musiker  ihre  Stelle  hatten,  mittelst  eineR  Flugwerkes  her- 
abstieg, ertönte  eine  Musik  „avec  nouveaux  instrumenta  et  difie- 
rents  de  precedens'4;  es  war,  fahrt  der  Bericht  des  Textbuches 
fort,  „la  plus  docte  et  excellente  musique  qui  jusqu'  alors  eust 
«•te  chante'e  et  ouye  come  se  cognoistra  par  la  note  suyvante". 
Folgt  diese  als  Wunderwerk  belobte  Musik  in  Noten.  Die  Musik 
der  Ballette  gehört  dem  schwerfälligen  Style  der  Tanzmusik  des 
16.  Säculum's  an. 


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Die  Zeit  des  Ueberganges.  219 


Le  son  du  preniier  ballet. 


Und  weiterhin: 

La  petite  entree  du  grand  ballet  a  5  parties. 


Die  Zeit  de«  Uebergangea. 

ti  so! 


-4:: 


1 


60! 


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-4-  + 

0  d. 


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3 


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53 


U.  8.  W. 


m-- 


5 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


221 


Nicht  ohne  Munterkeit  ist  die  (allerdings  trivial  genug  klin- 
gende) Melodie,  bei  welcher  Circe  hervortrat.  Baltazarini  belobt 
sie  „un  son  fort  gay,  nomine*  la  clochette"  —  übrigens  verdirbt 
die  ungeschickte  Belastung  mit  Begleitungsstimmen  selbst  den 
leidlichen  Zug  der  Melodie: 


Le  son  de  la  clochotte,  auquel  Circe  sortit  de  son  jardio, 


222 


Die  Zeit  d«  s  Uebergaoges. 

/TN 


.1  ^ 


l ,  w 


-  ::  : 


I 


Die  Chöre  sind  verkümmerte  Madrigale,  und  für  eine  Zeit, 
wo  gerade  in  dieser  Gattung  die  italienischen  und  niederländi- 
schen Meister  das  Herrlichste,  leisteten,  unbegreiflich  gering.  Der 
Gesang,  womit  die  Sirenen  (Ciiant  des  Sereines)  sich  vom  Vater 
Oceanus  die  Erlaubniss  erbitten,  ausgehen  oder  eigentlich  aus- 
schwimmen zu  dürfen,  ist  so  nichtsbedeutend,  wie  die  Antwort 
aus  der  goldenen  Kuppel  herab,  in  welcher  in  fünfstimmigem 
Gesänge  die  erbetene  Erlaubniss  ertheilt  wird;  doch  sollen  sie  bei 
dieser  Gelegenheit  „das  Lob  eines  grossen  Monarchen  singen".  — 


Lc  Chant  des  Vereines  a  4  parties. 


m 


O  -  ce 


an 


pe  -  re 


che  -  nu,    pe  -  re  de 


u  


'     J  1* 


1 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


22^ 


■p 


m 


± 


at-tel  -  le  son 


char   qai    va  sans  ro  -  pos,    i  -  rons  nous 


4-4- 


i 


n 


j  — r 


1 


sor-tans  des  fiots  ou 


ce    tri- ton  nons  ap  -  pcl  •  le? 


P 


I — t— r 


Hl 


— t— , — i 


5: 


f, 


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224 


Die  Zeit  des  Uebergangea. 


Reponae  de  la  voute  doree  aui  Sereinea  a  5  partiea. 


AI  -  lez    fil  -  les  d'A  -  che  -  loia, 

aui  -  vez   Tri-  ton  qui 

- 1 — 

M     r  1  1 

f  P-ff- 

bf=t=td 

MHB  f  TT  P  f 

W^t  f    fr- f—p: 

*  r — 

H — H 

f  r  r- 

-j&  f  f  jfrg  * — |o  

vous   ap  -  pel  -  le, 

b    -  ....   - 

a      sa   trom  -  pe     ac  -cor-dez  vos 

—-—t.  r--^  =-4  q 

— p-qjs  

Mir-f  i-f-  ^ 

r     f    J  —    9    1     !  " 

- — ^— =  

__ 

 z  f— — •  b* — t  i-d  ^— 1 

  >  j3— P —     *       * -         '  1 

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Die  Zeit  des  Ui-berganges. 


225 


<9 


voix  pour  ehan-terd'angrand     Roy  la   lou  -  angeim-mor- tel  -  le. 


# — #- 


/Ts 


Es  tönt  aus  diesen  Gesängen  etwas  wie  ein  Nachhall  des 
altfranzösischen  Dechantirens  und  Fauxbourdonnircns  (wie  ähnlich 
aus  den  Noels  von  Eustache  de  Caurroy  oder  dem  Requiem 
Mauduit's),  gleichsam  als  hätten  Dechanteurs  das  neue  Madrigal- 
wesen studirt  und  sich  manches  daraus  gemerkt 

Neben  diesen  Ensembles  linden  sich  liedartige  Sätze  mit 
Lautenbegleitung,  wie  nachstehender  Gesang,  womit  sich  die  vier 
Tugenden  einführten.  Nach  jeder  Strophe  antwortete  ein  Ri- 
tornell  von  zwölf  Instrumenten  aus  der  Goldkuppel;  es  ist  jenes 
..  Echo  der  Sänger",  wie  das  Textprogramm  es  nennt.  Der  stam- 
melnde Versuch  einer  Monodie,  das  tappende  Suchen  nach  lied- 
mässigem  Periodenbau  in  dem  Gesänge  der  Tugenden,  der  be- 
gleitende Bass,  der  einen  Ansatz  dazu  nimmt,  ein  Generalbass  zu 
werden,  sind,  so  gering  uud  unbehilflich  das  Ganze  herauskommt, 
bemerkenswert!!. 


Chant  des  quatro  vertus  —  deux  juoient  de  luths  et  les  deux  autres 
<  hantojent. 

de  qui   les       fil  -  les       nous     som  -  nies, 


Dieux, 


Vi 


i — ej. 


Ambrot,  Geachichto  <l«r  Musik.  IV. 


15 


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226 


Die  Zeit  des  Uebergangcs. 


o  dieux,les  pro-tec 


teurs    des  hora 


9i= 


« — 


m 


du   ciel  a 


t~ "Er 


5= 


voc  nous  de-scen 


der!  Dieux  puis- 


i 


2 


ce  que       vous    gar    -  dez. 

/TN 

 I  L*-^" 


— i- 


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Die  Zeit  des  Uebergangea. 


227 


Reponae  de  la  voute  doree  aux  vertus  ä  chaque  couplet.  C'estoit 
nne  muaique  de  doaze  instrumenta  aana  voix. 


 ös 


3£ 


3 


'  Li. 

— 9- 


i 


5= 


^ — ö — ^ 


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5»' 


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228  Zeit  dos  Uebergangos. 


;    r   "    |r  *  rl'ill 

 H  =*-vi 

 P  1»  5  ig  ^  -ht- 

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 1  P  H-H  1  :  L 

 „--^  _  -  —  h-j 

—  '.»'   c  F  F  pr  ^  : 

9*— t         PfJL^J                    #  a.| - — — 

t-B-3 

Augenscheinlich  grössere  Verlegenheit  als  die  mehrstimmigen 
Sätze  bereiteten  den  Componistcn  die  Dialoge,  welche  in  Musik 
gesetzt  werden  sollten,  wie  z.  B.  die  Szene  zwischen  Glaucus  und 
Thetis  (Sieur  und  Madame  Beaulieu).  Thetis  trat  mit  einer  Laute 
in  der  Hand  auf  —  ohne  Zweifel  diente  dieses  unmythologische 
Attribut  dazu,  die  Singenden  durch  zeitweises  Anschlagen  der 
entscheidenden  Töne  auf  der  richtigen  Bahn  zu  erhalten.  Glau- 
cus hat  eine  Nymphe  von  wunderbar  bezaubernder  Schönheit  ge- 
sehen, die  sein  Herz  zur  Liebe  entflammt.  Er  holt  Thetis  über 
sie  aus,  wo  denn  zuletzt  alles  auf  eine  überschwengliche  Ver- 
herrlichung der  Königin  Louise  hinausläuft.  Dieses  taschenspie- 
lerhafte, plötzliche  Unterschieben  der  Darstellerin  für  die  darge- 
stellte Person  ist  sonderbar  genug.  Die  Göttin  demaskirt  sich 
und  steht  als  Königin  von  Frankreich  da: 

Chant  de  Glanqne. 

Mais,    quo     me   sert  The  -  tis     ce  -  ste  escail  -  le  nou- 


vel    -    le,  que  ie  suis 

d'un 

pe-cheur    en  dieu 

ma-  rin  for- 

md?  je  vou       -       droia   n'e  -  stre  dieu  et  do 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


229 


m 


-4 


Scyl  -  le  estre   ay  -  kme*   pour  ne    bru  -  1er  en   vain   d'a  -  ne 

/r\       .  Thetis. 


flam-me  cru  -   el  -  le.  L'arc        d'a-mour  est 


▼ic  -  to  -  ri  -  eux    cou  -  tre      les  hom 


mos  et 


=2: 


les  dieux,  et     de  sestraits  la    bles  -  su  -  re  ä 
_» 


cha- 


^  -HS» 


cun  qui 
Glauque. 


*-  r 

la     re  -  coit  ap  -  por-to  un  mal  com  -  mun. 


qui    est    ce  -  ste    nym-phe?  est 


CO 


■  3 


/TN  - 


Ne 


re 


de? 


Thetis. 


Non, 


tel  -  le  nym  -  phe 
Glauque. 


cou  -  cu 


Je 


scay 


bien,  c'eat 


Ve 


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230 


Die  Zeit  des  Ueberganges. 

m  Thetis. 


1 


nus. 


Tu    es   en  -  cor  de 


0- 

±1 


-» — i  r — - — 5 — 


■ — ©- 


ceu: 


el 


lo    a  ehasse'  Ve 

/rs  Glauquc. 


nas  daos  les 


jar  -  (lins   de   Gni  -  de. 


/rs      _  Thetis 


9V.  3.A^£-r:j^^ 

/tn  Glauque. 


C'est 


-9 


5- 


donc  Ju  -  non. 


Tu 


te     do  -  eois. 
Thetis. 


Est 


ce     la     Ju  -  non    des  Fran-cois? 


Co  n'est  Jn    -  non, 


J 


en  pou  -  voir  tous    les  noms 


iÄ*  Iii!  —  i  '-^  ~  ä 

 ;  


de  Ju 


non. 


In  den  ersten,  längeren  Sologesängen  ist  etwas  zu  spüren 
wie  eine  dunkle  Ahnung  der  Opernarie,  und  zwar  der  Opernarie 
im  Sinne  und  Geschmacke  der  französisch-heroischen  Oper.  Gibt 
man  sich  die  Mühe,  den  Gesang  des  Glancus  als  Grundstimme 
generalbassmässig  mit  Dreiklängen   nach  der  Weise  Lulli's  zu 


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Die  Zeit  des  Ueberganges 


231 


überbauen  und  den  Gesang  der  Thetis  mit  dem  natürlichen 
Grundbasse  zu  begleiten,  so  tritt  dieser  Zug  überraschend  her- 
vor;  man  wird  finden,  dass  diese  Gesänge  nicht  allein  instinct- 
mässig  nach  einer  geordneten,  latenten,  esoterischen  Harmonie, 
die  der  Componist  exoterisch  hinzustellen  vermuthlich  gar  nicht 
im  Stande  gewesen  wäre,  durchgeführt  sind,  sondern  man  wird 
eich  auch  unwillkürlich  an  Lulli's  Opernmusik  erinnert  fühlen. 
Es  muss  in  dieser  letzteren  etwas  sehr  dem  französischen  Sinne 
und  Geschmacke  Entsprechendes  gelegen  haben;  dasselbe  Volk, 
das  Cavalli's  treffliche  Opernmnsik  kalt  und  gleichgiltig  ablehnte, 
schwärmte  für  Lulli's  schwerfälligen  heroischen  Kothurngang. 
Das  Recitativ,  oder  wie  man  es  nennen  soll,  wumit  Glaucus  und 
Thetis  die  Szene  schliessen,  mit  seinen  langathmigen,  verwunder- 
lichen Coloraturen,  scheint  eine  Art  Nachklang  der  Singweise  in 
den  Mysterienspielen  zu  sein,  wo  ähnliches  Passagenwerk  hinwie- 
derum auf  den  Kirchengesang  zurückwies.  Jedenfalls  scheint 
darin  der  Ausdruck  des  Feierlichen  und  Würdigen  gesucht  wor- 
den zu  sein.  Als  speeifisch  französisches  Musikwerk,  in  dem  sich 
die  spätere  französische  grosse  Oper  mit  ihren  Chören,  Tänzen  und 
Arien  wie  in  einer  ersten  Andeutung  ankündigt,  ist  das  Werk 
äusserst  interessant,  so  wenig  auch  seine  Musik  an  sich  genom- 
men bedeutet.  In  der  Vorrede  an  den  König  spricht  übrigens 
Beaujoyeulx  schon  vom  „vray  gout",1)  und  dem  Werke  selbst 
prophezeit  ein  Poet  die  Unsterblichkeit: 

Le  temps,  qui  gaste  et  brise  toot 
sur  un  si  nche  et  docte  ouvrage 
ne  pourra  gagner  avantage.  — 

Zu  den  mannigfachen  Bewegungen,  welche  sich  in  der  Ton- 
kunst als  Vorboten  einer  neuen  Zeit  fühlbar  zu  machen  begannen, 
kam  jetzt  noch  ein  Neues,  das  wahrhaft  zersetzend  wirkte.  Den- 
ken wir  uns  einen  Chemicus,  der  einer  Flüssigkeit  ein  neues 
Agens  beischüttet,  welches  die  Elemente  entmischt  und  neu  mischt, 
sie  brausend  gähren  macht,  Wolken  und  Präzipitationen  hervor- 
ruft, bis  endlich  ein  ganz  neues  Resultat  gewonnen  ist.  So  un- 
gefähr wirkte  die  Einmischung  der  Chromatik,  mit  welcher  die 

1)  Im  echten  Kainrnerdionerstyl  langt  er  an:  „Sans  toutefois  quo 
jamays  le  vray  gout  puisse  parvonir  ä  d'autres,  qui  ont  considere'  par 
effet  la  splendeur  de  Vostre  Majoste,  presidente  an  milieu  de  tant  de  ra- 
rifoz,  de  tant  de  somptuositez ,  et  sans  quo  Ton  so  puisse  imaginer  le 
bei  ordre  d'un  si  grand  nombre  de  diversitez,  de  tant  de  differentes  ex- 
cellentes,  neantmoms  et  Vivantes  beautez  et  tant  d'admirables  voix"  u.  s.  w. 
Sein  College  Laborde  schrieb  1780  ebenfalls  im  richtigen  Kammerdiener- 
styl: voila  un  echantillon  du  gout,  qui  regnait  alors,  et  de  plaisirs,  que 
le  roi  procurait  a  la  cour  la  plus  ölegante.  qui,  dit  on,  eut  janiais  exi- 
stee.  On  pretende,  que  cette  fete  couta  pres  de  cinq  millions,  qui  on  va- 
laient  vingt  de  nötre  temps  (!). 


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•232 


Die  Zeit  des  Uebergangos. 


Tonsetzer  jetzt  gelegentlich  zu  experimcntiren  anfingen,  auf  das 
alte  diatonische  Wesen.  Der  Kirchengesang  war  auf  der  rein 
diatonischen  Basis  der  Kirchentöne  entstanden.  Eine  chroma- 
tische Tonfolge  war  hier  eine  völlige  Unmöglichkeit;  ^denn  wenn 

auch  die  im  Systeme  vorkommenden  Stufen  an  sich 

eine  Progression  von  zwei  halben  Tönen  darstellen,  so  sorgte  die 
Solmisation  doch  unerbittlich  dafür,  dass  diese  Fortschreitung 
eine  völlige  Unmöglichkeit  blieb  —  b  konnte  nur  b-mi  oder 
b-fa,  nie  aber  zugleich  b-mi-fa  sein.  Bei  einer  Tonfolge  wie  z.  B. 
a  b  h  c  wäre  aber  b  mit  Rücksicht  auf  das  vorhergehende  a  so 
viel  gewesen  als  fa,  mit  Rücksicht  auf  das  nachfolgende  h  so 
viel  als  mi,  und  h  wäre  eben  so  nach  b  gleich  fa,  vor  c  gleich  mi 
gewesen  —  „quod  esset  absurdum'4.  So  lange  man  im  einfachen 
Einklänge  ohne  harmonische  Combinationen  sang,  konnte  die 
Diatonik  der  Kirchentöne  in  ihrer  ganzen  Strenge  festgehalten 
werden.  Sobald  aber  der  eigentliche  Contrapunkt  anfing,  Form 
und  Gestalt  zu  gewinnen,  machte  das  Ohr  die  unabweisbare  For- 
derung des  zufallig  zu  erhöhenden  Leitetons  vor  dem  Schlüsse 
geltend,  wo  er  nicht,  wie  bei  h  |  c  oder  e  |  f  schon  im  System 
fertig  zu  finden  war.  Die  „Musica  ficta"  musste  aushelfen  — 
durch  sie  wurde  man  aber  mit  den  zwischen  den  diatonischen 
(tanztonschritten  befindlichen,  für  das  Ohr  leicht  fasslichen,  der 
Stimme  leicht  darstellbaren  Halbtonstufen  vertraut.  Eine  andere 
und  schwierigere  Frage  war,  ob  und  wie  man  diese  sich  zur  Ver- 
fügung stellenden  Klänge  verwenden  solle  und  könne. 

Wie  in  die  Fugen  einer  scheinbar  für  die  Ewigkeit  gefügten 
Quaderwand  der  Epheu  leise  und  unbemerkt  seine  Wurzeifasem 
eindringen  lässt  und  endlich  wohl  gar  das  Steingefüge  lockert, 
so  lockerte  die  Musica  ficta  die  alte  starre  Diatonik  —  und  die 
Theoretiker  meinten  endlich  den  Satz  aufstellen  zu  dürfen:  die 
Musik,  wie  sie  geworden,  sei  keine  diatonische  mehr,  sondern 
eine  Mischung  diatonischer  und  chromatischer  und  sogar  enhar- 
monischer  Elemente.  „11  componere  d'hoggi  6  una  mescolanza". 
Diesen  Satz  stellt  Artusi  auf  und  führt  ihn  durch.  *)  Die  vieleu 
j*  und  j>  in  den  „modernen"  Compositum en,  meint  Artusi,  sehen, 
so  bunt  wie  sie  da  stehen,  auf  dem  Papier  sehr  hübsch  aus,  aber 
wehe  den  Sängern!2)  ,,Die  Praktiker  setzen,  wo  es  ihnen  be 
liebt,  solche  Zeichen",  ■)   das  heisst:  ohne  Rücksicht  auf  die  an- 


1)  Delle  imperf.  della  moderna  mus.  (Venedig,  1600).   S.  37. 

2)  cosa.  cosi  variata,  meglio  et  piü  vaga  appare  alla  riata: 

si  come  fanno  molti  coupositori  moderni,  che  empiono  le  carte  di  s  die- 
sis,  b  molli,  segni,  contrasegni,  che  niente  altro  apportano  alla  v i st» ,  che 
vaghezza,  ma  difficolta  al  cantore  (a.  a.  0.  S.  17). 

3)  —  Ii  pratici  si  senrono  di  tutte  indifferentemonte  et  in  tutte  pon- 
gono  $  diesis,  p  quadri,  et  b  molli  (a.  a.  0.  8.  16). 


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Die  Zeit  des  Ueberganges.  233 

tike  Chromatik  mit  ihren  Tetrachorden  und  ob  ein  solcher  er- 
höheter   oder    erniedrigter  in-  deren   System   vorkomme  oder 

nicht.    Den  Gang  |  frTH5  ~  °"  Ifa---*'!:^11^*- 

in  einem  Madrigal  von  Andrea  Gabrieli  findet  Artusi  unbegreif- 
lich —  denn  dieses  fre  ist  es  chromatisch?  nein!  —  ist  es  en- 
harmouiscb?  —  nein!  Es  hat  also  gar  kein  Recht  zu  existiren; 
warum  wenden  also  die  modernen  Tonsetzer  dergleichen  an?!  ') 
Um  Artusi's  Bedenken  zu  verstehen,  rauss  man  sich  erinnern, 
dass  im   chromatischen  System  der  Griechen  das  Tetrachordon 

mcsou    e  —  a>   sich  also   gestehet  jj^pzfjirrj2-  ... 

wo  kein  fr  e  zu  finden  ist.  Ks  kann  daher  dieser  Ton  nur  als  fa 
Actum  vorkommen  (und  kommt  zahllos  oft  vor).  Dann  aber  ge- 
hört er  nicht  in  die  Chromatik,  sondern  in  eine  transponirte  Dia- 
tonik.  2  —  Die  Theorie  und  die  Praxis  gingen  hier,  wie  man 
sieht,  weit  auseinander.  Die  Theoretiker  kannten  und  beurtheil- 
ten  die  Chromatik  nur,  wie  sie  solche  in  ihren  griechischen  Lehr- 
meistern geregelt  und  geordnet  fanden;  die  Tonsetzer,  für  welche 
die  griechischen  Tetrachorde  ein  längst  überwundener  Standpunkt 
waren,  kümmerten  sich  wenig,  ob  der  Ton,  dem  sie  ö  oder  fr 
beischrieben  im  chromatischen  System  der  Griechen  Bürgerrecht 
genossen  oder  nicht.  Genug,  dass  er  gesungen  und  auf  In- 
strumenten, wie  Geige,  Posaune  u.  s.  w. ,  wo  der  Spieler  sehr 
gut  jl  d  und  fr  e  unterscheiden  kann ,  angegeben  werden  konnte. 
Orgel  und  Ciavier  mochten  dem  für  sie  Unmöglichen  ausweichen. 4; 

Die  ganze  chromatische  Bewegung  war  aber  trotzdem  zum 
ersten  Anfang  nur  durch  das  beginnende  Studium  griechischer 
Musiktheorie  angeregt  worden.  Schon  Spataro  in  Bologna  wen- 
dete der  Sache  seine  Aufmerksamkeit  zu.  Das  „Genus  chroma- 
ticum4'  fängt  au  bei  den  Theoretikern  als  Kevenant  griechischer 
Musik  zu  spuken  —  sie  wissen  leider  keine  Zauberformel,  den 


1)  —  se  non  sono  (queste  corde)  ne  comuni,  ne  particolari,  perche 
le  usano?  (a.  a.  0.  S.  16.) 

2)  Artusi  bekämpft  S.  16,  17,  die  Ansicht  Benelli's,  als  seien  die 
Obertasten  der  Orgel  oder  des  Klaviers  „chromatisch"  (und  daher  rühre, 
weil  sie  schwarz  gefärbt  sind,  der  Name  — !),  die  Untertasten  „diato- 
nisch*", —  „io  dicou,  schlieast  er,  „che  quei  tasti  neri  non  servono  sem- 
plicemente  al  genere  cromatico,  ma  al  diatonico  ancora'*. 


nono, 
meglk 

non  essendo  bone  il  destrnggere  la  memoria  loro,  anzi  con- 
servarla  et  imitarla,  poi  che  da  loro  e  venuto  il  buono  el  hello 
della  Musica  e  di  tutte  l'altre  scienze  (S.  17  f.  v.). 

4)  Z.  B.  dem  Cd  —  „la  qual  corda  non  si  puo  sonare  nol  claTacem- 
balo   ordinario,  ne   sopra  l'organo  (a.  a.  0.  S.  15  f.  v.). 


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234 


Die  Zeit  des  Ueberganges. 


Geist  dienstbar  zu  machen.  Entschlossener  ging  die  nächste  Ge- 
neration in's  Zeug  —  die  Chromatik  sollte  eine  Wahrheit  wer- 
den. Aber  auch  die  eigentlichen  musikalischen  Gräcomanen,  wie 
G.  B.  Doni,  Artusi  u.  a. ,  machte  das  chromatische  und  das  en- 
harmonische  Geschlecht  weidlich  schwitzen.  Don  Nicola  Vi- 
ccntino,  ein  Priester  aus  Vicenza,  Schüler  Adrian  Willaert's, 
in  Rom  als  Hausgenosse  und  Schützling  des  Cardinais  Hippolyt 
von  Este  lebend  und  dort  die  Musikgelehrsamkeit  ex  professo 
nicht  ohne  Geräusch  betreibend  l),  hatte  schon  1 546  es  mit  einer 
Anzahl  funfstimmiger  Madrigale  versucht,  die  in  Venedig  gedruckt 
wurden,  dem  neuen  System  Bahn  zu  brechen.  Er  gab  ihnen 
den  seltsam  verschraubten  Titel:  „dell'  unico  Adriano  Villaert  di- 
scepolo  D.  Nicola  Vicentino:  Madrigali  a  cinque  voci  per  teorica 
e  per  pratica  da'  lui  composti  al  nuovo  modo  del  celeberrimo 
suo  maestro  ritrovati."  Man  sieht,  dass  er  es  einstweilen  noch  für 
nöthig  hielt,  den  Namen  seines  berühmten  Lehrers  zum  Aushang- 
schilde  zu  machen. 

Die  grosse,  kaum  lösbare  Schwierigkeit  bei  einem  Unterneh- 
men dieser  Art  war,  dass  die  Praxis  des  mehrstimmigen  Tonsatzes, 
wie  sie  sich  auf  ganz  anderen  Fundamenten  Jahrhunderte  lang 
ausgebildet,  jetzt  mit  den  chromatischen  und  enharmonischen 
Tetrachorden  der  weiland  griechischen  Musik  in  Einklang  gesetzt 
werden  sollte.  Artusi  bemerkt  bei  einem  kleinen  Sätzchen  eines 
tüchtigen  Componisten  (valent'  huomo), 


1=5  « 


J7T 


1 


dass  der  Alt  das  vollkommene  chromatische  Tetrachord  der  Grie- 
chen (H  c  Je  e)  hören  lasse.  Was  sich  daraus  etwa  machen 
lasse,  hat  späterhin  Frescobaldi  in  einem  wunderwürdigen  Ricer- 
car  cromatico  gezeigt.  2) 

1)  Pietro  Aron:  de  hanuon.  instit.  IV.  3. 

2)  Artusi  erstaunt  (a.  a.  0.  S.  15  f.  v  ).  in  den  Com  Positionen  Cyprian 
do  Rore's,  Andrea  (iabrieli's  ±  e  und  b  a  zu  finden :  „ne  Madrigali  di  Cip- 
riano  di  Roro,  di  Andrea  Gabrieli  vidi  giä  il  {,  molle  nella  corda  di 
Alainire  et  Klami,  cose  che  mi  vanno  confermando,  cho  queste  cantilene 
non  siano  pure  dintoniche,  ma  una  terza  cosa  mista,  et  eeco  lo  essempio: 


>  ^  I 


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Die  Zeit  de«  Ueborganges. 


23& 


Don  Nicolas  nach  neuem  System  componirte  Madrigale 
scheinen  ziemlich  kühle  Aufnahme  gefunden  zu  haben  —  in  Rom 
war  das  Glanzgestirn  Palestrina's  im  Aufsteigen,  in  Venedig  Cy- 
prian^ de  Rore  —  die  wirklich  musikalische  Welt  hatte  wenig 
Lust,  sich  neben  herrlichen  Tonsätzen,  die  in  Fülle  zur  Ver- 
fügung standen,  im  Namen  der  Griechen  Ungeniessbares  und 
kaum  Ausführbares  bieten  zu  lassen.  Don  Nicola  schlug  jetzt 
einen  andern  Weg  ein  —  mysteriös  feierlich,  wie  in  heilige  Ge- 
heimnisse wurden  sechs  Schüler  unter  Angelobung  strengen  Still- 
schweigens unter  seiner,  des  musikalischen  Mystagoges,  Leitung 
in  die  Labyrinthe  griechischer  Chromatik  und  Enharmonik  ein- 
geführt. Veröffentlichen,  erklärte  Don  Nicola,  werde  er  seine 
Mysterien  nur,  wenn  man  ihm  in  Rom  eine  bedeutende  Stellung 
sichere,  als  Sänger,  noch  besser  als  Kapellmeister  der  päpstlichen 
Kapelle.  Dies  geschah  nicht,  wohl  aber  geschah,  was  zu  er- 
warten war:  dass  der  Gelehrtenehrgeiz  und  die  Sucht  Aufsehen 
zu  machen,  Don  Nicola  über  kurz  oder  lang  dahin  bringen  werde, 
seine  musikalischen  Geheimnisse  an's  Licht  treten  zu  lassen. 

Zunächst  liess  er  ein  klavierartiges  Instrument  bauen,  das 
er  „Arcicembalo14  nannte;  es  hatte  mehrere  Manuale,  mit  deren 
Hilfe  man  das  diatonische,  chromatische  und  enharmonische  Ge- 
schlecht vollkommen  mit  Unterscheidung  von  £c  frd  Sd  ßd  fre  Ce 
u.  s.  w.  hören  lassen  konnte.  Er  hat  das  Instrument  sehr  aus- 
führlich im  Anhange  seines  Buches  beschrieben:  „l'antica  inusica, 
ridotta  ;illa  moderna  prattica". 

Schon  Zarlino  in  Venedig  hatte  etwas  Aehnliches  wie  Vi- 
centino's  „Archicyrabal"  von  einem  venezianischen  Instrumenten- 
macher Namens  Domenico  Pesaro  verfertigen  lassen  —  hier  war 
der  Ton  m  vier  Theile  getheilt.  Karl  Luython,  der  Organist 
Rudolf  des  zweiten,  besass  auch  ein  ähnlich  gemeintes  Klavier, 
dessen  Obertasten  gespalten  waren,  um  die  Intervalle  ganz  streng 
nicht  temperirt)  auzugeben.  Prätorius  hat  es  gesehen  und  ver- 
sucht —  es  war  die  Folterbank  der  Klavierstimmer.  Vicentino's 
„Erzklavier"  ging  dann  in  den  Besitz  eines  jungen,  eifrigen  Mu- 
sikliebhabers in  Rom,  Antonio  Goretti,  über.1) 

Die  Componisten  begannen  mit  der  Chromatik,  ja  mit  der 
Euharmonik  praktische  Versuche  zu  machen.  Schon  bei  Or- 
lando Lasso  kündigt  sich  diese  Bewegung  —  vorläufig  nur  in 
vereinzelten  Versuchen  —  an.  Cyprian  de  Rore  macht  gele- 
gentlich, wie  er  denn  ein  unruhig  und  unbefriedigt  nach  Neuem 
strebender  Geist  ist,  kühne  Experimente.  Adriano  Banchieri 
sucht  auf  den  Orgeltasten  umher,  ohne  zu  finden.  Sein  „organo 
suonarino"  enthält  eine  sogenannte  „Fuga  croraatica",  welcher  wir, 
mit  Hinblick  was  wir  heutzutage  so  nennen  würden ,  beide  Be- 


I)  Artnsi,  tlolle  imperf.  S.  15  f.  v. 


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Die  Zeit  des  Uebergange3. 


Zeichnungen  bestreiten  müssen  —  dazu  ein  „Concerto  cnarmonico", 
voll  horribler  Combinationen. 

Sicherlich  boten  die  zu  musikalisch-wissenschaftlichen  Zwecken 
construirten  Tasteninstrumente  manche  Belehrung,  und  überhaupt 
wurde  die  Claviatur  jetzt,  wie  es  scheint,  der  Tummelplatz  „experi- 
mentirender"  Componisten.  Man  konnte  dort  Versuche  über  Dinge 
machen  und  Dinge  wagen,  an  denen  selbst  geübte  Sängerchöre 
gescheitert  wären.  Auf  jede  dieser  schwarzen  und  weissen  da- 
von liess  sich  terzeuweise  eine  Accordsäulc  aufbauen.  Hier 
lng  nun  die  Frage  nahe,  ob  es  denn  nicht  möglich  wäre,  statt  sich, 
wie  bisher  geschehen,  in  leitereigenen  Harmonieen  zu  bewegen, 
durch  vermittelnde  Zwischenharmonieen  in  sehr  entfernte  Ton- 
regionen überzugehen.  Der  erste ,  welcher  sich  diese  Frage  ge- 
stellt zu  haben  scheint  und  der  sie  auch  sofort  in  praktischer  Aus- 
führung beantwortete,  war  der  kühne,  geniale  Don  Carlo  Ge- 
sualdo, Principe  di  Venosa,  dessen  Musik  beinahe  so  klingt, 
wie  die  Pracht  und  Herrlichkeit  dieses  seines  fürstlich-vornehmen 
Namens.  Als  Fürst  und  als  Neffe  des  Erzbischofs  von  Neapel, 
Alfonso  Gesualdo,  gehörte  er  den  „hohen"  Kreisen  der  Gesell- 
schaft an  —  auch  sein  Lehrer  in  der  Musik  Pomponio  Nenna 
aus  Bari  nannte  sich  auf  dem  Titel  seiner  Madrigale  „il  Cavaiiere 
Cesareo",  weil  er  „Ritter  des  goldenen  Sporns"  war.  Pomponio 
Nenna's  fürstlicher  Eleve,  als  dessen  Todesjahr  Joseph  Blanca- 
nus  1614  angiebt,  erlebte  es  noch,  dass  sein  alter  Lehrer  1613 
zu  Neapel  die  feierliche  Lorbeerkrönung  erhielt.  Nenna  zeigt 
sich  in  jenen  Madrigalen  als  der  Mann  kühner  Fortschritte;  die 
harmonischen  Wagestücke  Monteverde's,  welche  den  conservativen 
Artusi  so  sehr  in  Harnisch  brachten,  überbot  Nenna  noch  wo 
möglich  und  gefiel  sich  in  Intervallschritten  schwieriger  und  un- 
gewöhnlicher Art.  Sein  Schüler  Gesualdo  ging  auf  der  betretenen 
Bahn  vorwärts  und  noch  sehr  viel  weiter;  man  könnte  diesen 
fürstlichen  Musiker  ftiglich  „den  im  Irrgarten  der  Modulation  her- 
umtaumelnden  Cavalier"  nennen.  Gesualdo's  Madrigale  sind  auf 
keinen  Fall  das  Ergebniss  blosser  Speculation  Über  mögliche 
musikalische  Combinationen ,  sondern  das  Resultat  praktischer 
Versuche  auf  dem  Ciavier  oder  der  Orgel.  Sagt  doch  Cenreto, 
ein  Zeitgenosse  Gesualdo's,  er  habe  mehrere  Instrumente  mei- 
sterlich zu  spielen  verstanden  und  auf  der  Laute  nicht  seines 
Gleichen  gehabt.  Und  gleichsam  als  solle  die  äusserste  Sparsam- 
keit der  früheren  Epoche  mit  accidentellen  jf  und  |?  jetzt  ausge- 
glichen werden,  wimmeln  Gesualdo's  Tonsätze  von  diesen  ver- 
schwenderisch angebrachten  Zeichen.  Unerwartet  und  blitzschnell 
vermitteln  sie  die  Ausweichung  in  irgend  eine  Tonart  fernster 
Lage,  und  meist,  ehe  noch  der  Hörer  Zeit  gehabt  hat,  sich  dort 
zurecht  zu  finden,  findet  er  sich  wieder  in  die  frühere  Tonart, 
öfter  noch  in  eine  andere,  ganz  entlegene  versetzt.   Ein  modula- 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


237 


torisches  Gesetz,  das  diese  Irrfahrten  irgendwie  regelte,  ist  nicht 
zu  entdecken.  Dem  Tonsetzer  genügt  es  schon,  wenn  ein  Aecord 
mit  einer  ganz  unerwarteten  Wendung  in  einen  anderen  austönt, 
und  zwar  nicht  selten,  wie  man  zugeben  muss,  mit  frappant  schö- 
ner Wirkung.  Eine  neu  eintretende  Stimme  gegen  die  andern 
in  herber,  wenn  gleich  schnell  gelöster  Dissonanz  eintreten  zu 
lassen,  durch  Vorhalte,  durch  sprungweise  auf  einen  starken  Takt- 
theil  fallende  dissonirende  Hilfsnoten ,  denen  die  harmonische 
Hauptnote  im  schwachen  Takttheile  folgt  und  ähnliche  Dinge, 
die  Harmonie  ganz  eigen  und  besonders  zu  färben ,  sind  oft  an- 
gewendete Mittel.  Die  Stimmen  treten  bald  in  vollen  Accorden, 
bald  einzeln  einander  nachahmend  ein;  falsobordonartige  Stellen 
in  grösseren  Notengeltungen,  wo  meist  die  frappanten  Auswei- 
chungen und  Uebergitnge  ihre  Stelle  finden,  wechseln  mit  spitz- 
findigem contrapunktischcm  Häckelwerk  in  kleinen  Noten  ab. 
In  den  scharf  ausgeprägten,  oft  figurirten  Themen,  erkennen  wir 
abermals  den  virtuosen  Instrumentalmusiker  —  es  sind  entschie- 
dene Instrumentalpa?sagen  —  für  die  Singstimme  indessen  immer 
noch  möglich.  In  den  Harmoniewendungen  Gesualdo's  kommen 
mitunter  Dinge  vor,  welche  man  wahre  musikalische  Inspiratio- 
nen nennen  muss,  Combinationen,  Ausweichungen,  welche  durch 
Kühnheit  und  Neuheit  tiberraschen ;  gleich  daneben  aber  steht 
wieder  Unleidliches,  ja  völlig  Unmögliches,  unrichtige  Modulatio- 
nen, unschöne  Tonschritte,  Querstände,  verdeckte  aber  gräulich 
klingende  Quinten  und  Octaven  —  Dinge,  gegen  welche  die 
Tonsatzregeln  der  Zeit  vorläufig  nichts  einzuwenden  hatten,  die 
indessen  ein  gesund  organisirtes  Ohr  zu  keiner  Zeit  hätte  über- 
hören sollen.  Wohlklänge  von  bezaubernder  Schönheit  und  un- 
ausstehliche Härten  stehen  oft  dicht  neben  einander. 

So  ist  Gesualdo  der  Harmoniker,  der  Accorden-Combinator. 
—  Der  Contrapunktist  Gesualdo,  welcher  es  liebt,  seine  meist 
scharf  ausgeprägten,  bunten,  aber  gut  und  mit  Geschmack  erfun- 
denen, aus  kleineren  und  kleinsten  Notengeltungen  bestellenden 
Themen  in  kunstvollen  Beantwortungen  und  Nachahmungen  mit 
einer  Art  brillanter  contrapunktischer  Virtuosität  zu  verflechten, 
vermeidet  es,  in  solchen  polyphonen  Stellen  seines  „contrapunctus 
tioridissimus"  (wie  man  ihn  wohl  nennen  könnte)  seine  kühnen 
Versuche  anzustellen.  Kr  hält  in  seinen  Madrigalen  diese  beiden 
Elemente  —  die  Accordstellen  und  die  Contrapunktsteilen  — 
meist  streng  gesondert  —  er  bringt  dadurch  oft  eine  Modifikation 
in  der  Bewegung  hervor,  wie  wenn  etwa  Andante  und  Allegro 
mit  einander  abwechseln  —  eine  Anordnung,  welche  in  solcher 
Art  den  Zeitgenossen  eben  auch  wieder  als  etwas  völlig  Neues« 
imponirt  haben  muss.  Seine  breit  austönenden  Accorde  und  das 
bunte,  zierliche  Notengewimmcl  seiner  Contrapunktik  könnte  (wenn 
es  erlaubt  wäre,  Vcrgleichungen  zu  machen  ,  an  die  gleichzeitigen 


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23S 


Die  Zeit  des  Uebergangeä. 


Prachtbauten  mit  ihren  mächtigen  Säulen  und  mit  dem  überfüllten, 
aber  brillanten  Stucco-Ornament  der  Gesimse  und  Gewölbe  er- 
innern —  fürstliche  Räume,  in  denen  der  Fürst  von  Yenosa  sich 
zu  bewegen  ja  gewohnt  war. 

Dass  aber  Gesualdo  nicht  etwa  Mos  ein  grosser  Herr  war, 
den  es  dilettirte,  als  Tonsetzer  aufzutreten,  sondern  dass  er  ganz 
gründliche  Studien  gemacht,  wie  nur  irgend  ein  musikalischer 
„Fachmann"  seiner  Zeit,  verrathen  seine  Compositionen  auf  jeder 
Seite.  l)  Wo  er  sich  auf  gewohntem  Boden  hält,  erscheint  er  als 
trefflich  geschulter  Musiker  —  wo  er  neues,  vor  ihm  von  Keinem 
betretenes  Gebiet  sucht,  ist  er  durchaus  Empiriker,  Experimen- 
tator —  hier  hat  augenscheinlich  Theorie  und  Speculation  Nichts, 
der  praktische  Versuch  Alles  gethan.  Gesualdo  mag  hinterdrein 
über  die  Ausbeute,  welche  er  auf  diesem  Wege  gewann,  selbst 
gestaunt  haben.  Er  findet  auf  seinen  Entdeckungsreisen  in  den 
unbekannten  Gegenden,  in  welche  er  geräth,  gelegentlich  einen 
Zusammenklang,  welchen  weder  er  noch  irgend  einer  von  seinen 
Zeitgenossen  theoretisch  zu  deuten  und  zu  rechtfertigen  im  Stande 
gewesen  wäre  und  dessen  Art  und  Wesen  die  Musiklehre  erst 
lange  nachher  erkannte.  Ein  solcher  Accord  freut  ihn  dann, 
wie  sich  ein  Kind  freut,  welches  auf  den  Tasten  eines  Claviers 
Töne  zusammensucht  und  nach  manchem  Fehlgriff  den  Zufalls- 
treffer eines  Wohlklanges  macht.  —  Gesualdo  ahmt  dann  auch 
wohl  den  Fund  einige  Takte  später  auf  einer  andern  Klangstufe 
nach. 

Aus  dem  Madrigal:    Ancor  per  amar  te. 


e  non  a  mo  rimisi  tu,  tu  bramata  cagion  etc. 


t)  Auch  Padre  Martini,  der  strenge  und  gründliche  Kenner,  sagt 
von  Gesualdo's  Styl:  „sopprabonda  in  easo  la  flnezza  dell'  arte".  (Saggio 
di  Contrapp.  II.  S.  203.) 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


230 


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NB.  b) 


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NB. 


Zweimal  wird  in  dem  vorstehenden  Fragment  mit  grosser 
Wirkung  ein  damals  völlig  unerhörtes  Tongebilde,  ein  Terzquart- 
sextaecord  seltsamster  Provenienz  angewendet,  welcher  nämlich  — 
mit  dem  modernen  Harmoniker  zu  sprechen  —  die  zweite  Um- 
kehrung eines  hartverminderten  Dreiklanges  mit  Septime  darstellt 

a)  b) 


m 


■4  p 


Was  hilft  es  aber  dem  Tonsetzer,  dieses 


Wunderthier  gefangen  zu  haben  ?     Es  fehlt  ihm  das  richtige 


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240  Die  Zeit  des  Ueberganges. 


Verständniss  der  Deutung.  Zuweileu  glückt  ihm  eine  wahrhaft 
schöne  Modulation:  (Aus  dem  Madrigal:  Tu  mucridi  o  crudele 
Lib.  V,  173): 


d'amor  empia  etc. 

Was  hilft  es  ?  Gesualdo  erinnert  hier  und  noch  oft  an 
einen  naiven  Wilden,  der  eine  köstliche  Frucht,  welche  ihm  zu- 
fällig vom  Baume  herab  in  den  Weg  rollt,  mit  Entzücken  schmaust, 
aber  um  den  Baum  selbst  sich  nicht  weiter  kümmert,  geschweige 
denn  um  eine  rationelle  Pflege  desselben,  damit  er  seinem  Herrn 
mehr  solcher  Früchte  bringe.  Wusste  er  doch  in  keiner  Weise, 
wie  das  anzufangen  ist! 

Sehr  liebt  es  Gesualdo,  durch  eine  Steigerung  um  einen 
Halbtou  den  Ausdruck  zu  steigern  —  er  wendet  dieses  Kunst- 
mittel öfter  an,  als  ein  anderes. 


(Lib.  V.) 


Dol -eis -si  -  ma  mia  vi       -      ta         mia    vi     -  ta 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


241 


T 


-      I    I     I    I  —  I  f 

r  che       tar-da    -  te 


■U4 


-ri 

la  bra- 


I 

a  che  tar-da  -  te 
a  che 


a  che 


a  che 


ma-ta  a  -  i  -  ta  etc\ 


ro  mo 


ro  etc. 

I 


mo 


ro 


Dergleichen  geräth  zuweilen  —  wie  hier  —  in  schöner  Weise; 
-  ein  Andermal  missrttth  es  gründlich: 


i 


r- 


I  •  te  -  ne  o  mici 


so   -  spi  -  n         pre  -  ci  -  pi- 

pre- 


3=p 


^—  9 — #  #  ö-  1     7^f-  -hg 


Ambroi,  Gesehichto  dtr  Muiik.  IV. 


16 


242 


Die  Zeit  des  Uebergange«. 


m 


0—+- 


i 


täte  il  vo 


T 


lo  pre-  ci-pi-tate  il 


T 

ei  -pi-  täte  il  vo 


m 


pr«'  -  ci 


pre 


lo 


ta   -    teil  vo- 


f 


ci  -   pi  -  ta- 


vo 


lo  etc. 


pre  -  ci-  etc 


2 


teil 


vo 


m 


pre  -  ci-  etc. 


Gesualdo  malt  in  Stellen,  wie  die  voranstehende,  mit  einem 
Miniaturpinsel  —  die  ,,Sospiri",  das  „preeipitar",  der  „volo44  wer- 
den so  anschaulich  wie  möglich  v  ersinn  licht!  —  Auch  chroma- 
tische Fortschreitungen  müssen  ihm  dazu  dienen,  theils  den  Ton- 
satz pikant  zu  würzen,  theils  den  richtigen  Ausdruck  bis  zur 
Handgreiflichkeit  zu  vermitteln: 


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Die  Zeit  des  Ueberganges.  243 
(Schluss  des  Madrigals:  Dolcisaima  mia  vita). 


•  0 

=*=F= 

d'a  - 

-I 

i  r  r 

mar  -  ti 

F= 

o       d'a  -  mar  -    ti  o  mo-ri- 

w  

— I  

===== 

Oda     -     mar  -  ti  omo-n- 

 j.—  -4  . 

o   d'a   -   mar  -  ti    o  mo- 

l — 

— bJ— ' 

o       d'a  -  niar-ti  o   d'a  -  mar-ti  o  rao- 


T" 
re 


t==E 


E 


=fe=1 


o  mo-ri  -  re 


o  mo-ri  -  re     o  mo- 


re 


mo  -  n  -  re 


m 


re 


o  mo  -  ri  -  re 

i==t 


1 


o    mo-ri -re 


o   mo-ri   -  re 


n-re 


o  mo-ri  -  re 


16» 


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244 


Die  Zeit  des  Ueberganges. 


-Ol. 


§1 


n  -  re 


mo  -  n 


re 


CT 


1»- 


mo-n-re 


o  rao-n  -  re 


o  mo  -  ri 


re 


02 


m 


I 


o  mo  -  n  -  re 


mo  -  n-re 


mo-n-re 


§1 


 *r=£ 


re 


o    mo    -  n 

Lamentabler  lasst  sich  der  Jammer  des  bittern  Liebcstodes 
doch  wohl  schwerlich  ausdrücken!  Was  aber  einer  der  alten 
Meister  aus  früherer  Epoche,  wo  man  die  Schlüsse  gar  nicht  be- 
stimmt genug  und  breit  und  gewichtig  austönend  machen  konnte, 
zu  dieser  Art  zu  schliessen  gesagt  haben  würde?!  Bei  Worten, 
wie  „piangere"  —  „dolor1'  —  ,.morire"  u.  s.  w.,  widersteht  Ge- 
sualdo  selten  der  Versuchung,  sie  durch  irgend  eine  harmonische 
Oewaltthat  möglichst  zu  markiren ,  wie  man  in  der  Schrift  ein 
besonders  wichtiges  Wort  unterstreicht: 

gia  pian    -  si       nel   do    -    lo    -  re 

X 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


245 


So  wunderlich  dergleichen  sich  nun  auch  ausnimmt  —  Ge- 
sualdo ist  wirklich  eine  vornehme  Natur  —  ein  fürstlicher  Musi- 
ker —  aber  wie  in  der  Technik  des  Tonsatzes  ist  seine  Musik 
auch  im  Ausdruck  eine  seltsame  Mischung :  tiefe  Empfindung 
wechselt  mit  carrikirt  gesteigertem  Ausdruck,  edle  Sprache  mit 
Galimathias.  Mitunter  taucht  aber  etwas  unübertrefflich  Schönes 
auf.  Es  dürfte  kaum  möglich  sein,  in  eine  musikalisch  ausge- 
drückte Frage  mehr  rührende  Innigkeit  und  zarte  Theilnahme  zu 
legen,  als  folgender  wunderschöne  Anfang  eines  Madrigals  zeigt: 


Lib.  VI. 


r  i—            4  1-, 

-    f.  ^-ri — rt- 

To  piangi  6        Fil-li       im  -  a 
114»,  iw  td — ^  .gl* — i — !N  u. — =H 

 # — ß^i--fi — e- 

II  II 

Fil-li       mi  -  a? 

-  „   !  Ml 

^  Ifta    *    fi-lW-         "              t-ar-te-5  — H 

 1  h:  'f  r  P-fM 

r  . 

 r— F  &zgd 

Fil   -   Ii       mi  -  a  Fil-li       mi  -  a? 


(weiterhin  wiederholt  sich  die  Frage  mit  gesteigerter  Dringlich- 
keit —  gesteigert  durch  das  einfache  Mittel,  dass  sie  um  eine 
Quinte  höher  gelegt  ist.)  Gesualdo  strebt  Uberall,  und  fast  zu 
viel,  nach  Ausdruck  —  aber  man  wird  ihn  auch  von  dem  Vor- 
wurf nicht  freisprechen  können,  dass  das  Moduliren  ihm  so  sehr 
zur  zweiten  Natur  wird,  dass  er  es  nicht  einmal  abwartet,  bis 
ihm  der  Text  einen  plausibeln  Anhaltspunkt  dafür  bietet  —  er 
wendet  seine  harmonischeu  Kühnheiten  nur  zu  oft  um  ihrer  selbst 
willen  als  Effektmittel  an.  So  halten  sich  bei  ihm  grosse  Vor- 
züge und  grosse  Mängel  die  Wage  —  einen  ganz  reinen,  unge- 
trübten Eindruck  macht  er  selten.  „Zum  Massstab  eines  Genies", 
sagt  Schopenhauer,  „soll  man  nicht  die  Fehler  in  seinen  Produc- 
tionen,  oder  die  6chwächern  seiner  Werke  nehmen,  sondern  bloss 
sein  Vortrefflichstes".  !)  Die  Richtigkeit  dessen  zugegeben,  wollen 
wir  Gesualdo  und  seine  Werke  in  keiner  Weise  so  verächtlich 
behandeln,  wie  Burncy  und  nach  ihm  Kiesewetter  gethan  hat. 
Gesualdo  war  ein  Genie.  Ein  solches  sucht  und  findet  neue 
Bahnen,  wo  das  mittlere  Talent  behaglich  in  ausgefahrenen  Ge- 
leisen ohne  Gefahr  des  Halsbrechens  seinen  Weg  zum  Ziele  zu- 
rücklegt, welch'  letzteres  freilich  kaum  je  Unsterblichkeit  sein 

1)  Parerga  2.  Band,  8.  377. 


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240 


Die  Zeit  des  Ueberganges. 


wird.  Regelrichtigc  Madrigale  mittelmassigen  Werthes  wurden 
damals  zu  Hunderten  und  zu  Tausenden  componirt  —  sie  sind, 
so  weit  die  Zeit  sie  nicht  verschlungen  hat,  des  Ansehens  nicht 
werth,  während  Gesualdo  unser  lebhaftes  Interesse  erregt  und 
wir  ihm  unsere  Theilnahme  nicht  versagen  können.  Madrigale 
wie  Frenb,  Tirsi,  il  desto  (1.  Buch),  Donna  se  mancideie  (3.  Buch), 
Jo  tacerb  (4.  Buch),  Moro  menlre  sospiro  (6.  Buch)  und  andere 
sind  Kunstwerke  von  bleibendem  Gehalt  und  Werth.  Den  Grund- 
zug der  Madrigale  Gesualdo's  könnte  man  vielleicht  am  besten 
und  am  kürzesten  als  „Wonne  der  Wehnrath"  bezeichnen;  eine 
weiche  träumerische  Stimmung  schwebt  darüber,  oder  aber  sie 
nehmen  den  Ausdruck  einer  heiss  leidenschaftlichen,  grenzenlosen, 
unbefriedigten  Sehnsucht  an.  Es  wäre  übrigens  der  Mühe  werth, 
zu  zählen,  wie  oft  in  den  von  Gesualdo  in  Musik  gesetzten  Poe- 
sieen  die  Worte  „io  moro,  morire,  la  morte"  u.  s.  w.  vorkommen. 
Man  kann  darüber  lächeln  —  die  Musik  Gesualdo's  hat  doch 
etwas  eigen  Ergreifendes.  Die  Madrigale  wurden  wiederholt  ge- 
druckt, fünf  Bücher  erschienen  15S5  in  Genua  —  also  zu  einer 
Zeit,  wo  es  in  Sachen  der  Musik  bereits  zu  gähren  anfing  — 
1613  gab  sie  Simon  Molinaro  in  sechs  Büchern  —  und  zwar  in 
Partitur  heraus.  Der  letztere  Umstand  ist  charakteristisch  —  er 
kennzeichnet  sie  als  Gegenstand  des  Studiums  für  die  Musiker. 

Die  Zeitgenossen  staunten  Gesualdo's  Compositionen  wie 
Wunderwerke  an.  —  Blancanus,  auch  ein  Zeitgenosse,  nennt  Ge- 
sualdo geradezu  „den  Fürsten  der  Musiker  seiner  Zeit,  welchem 
sie  gerne  die  Oberstelle  einräumen  und  dessen  Compositionen 
sie,  anderweitige  dagegen  zurücksetzend,  überall  mit  Begierde 
suchen".  !)  Einiges  mag  dabei  denn  doch  auch  auf  Rechnung 
des  Fürstensohnes  gekommen  sein.  Doni  macht  die  —  auch  ihn 
selber  charakterisirende  —  Aeusserung,  Gesualdo's  Musik  sei 
nach  Vieler  Meinung  deswegen  so  vorzüglich,  weil  sie  die  Arbeit 
eines  Fürsten  ist.  *) 


1)  „Nobilissiinus  Carolus  Geaualdus,  Princeps  Venusinus,  noatrae  tem- 
pestatis  musieorum  ac  melopoeorum  princeps.  Hic  enim  rhvthmis  in  Mu- 
sicam  revocatis,  eoa,  tum  ad  cantum,  tum  ad  sonum,  roodulos  adhibuit. 
ut  ceteri  omnes  musici  ei  primas  libenter  detulerint,  ejusque  modos  can- 
tores  ac  fidicines  omnes,  reliquis  posthabitis,  ubique  avide  complectuntur. 
(Chronolog.  Mathematicorum  ad  Saec.  Chr.  XVII.)  Die  hier  von  Blanca- 
nus erwähnten  Instrumentalcompositionen  Gesualdo's  sind  nicht  näher  be- 
kannt. 

2)  Ceterum  non  est  quod  quisquam  causetur  parum  referre,  qualinatn 
ortus  sit  genere,  qui  musicam  artem  exercet,  aut  quibus  moribus  praedi- 
tus:  nam  primuro,  etsi  multos  videmus  obscuro  loco  natos  in  musica  ac 

ia  minfice  excellere,  quod  animum  sortiti  fuerint  nobilem  ac  libera- 
ideoque  sublimes  ac  splendidas  quoaue  cogitationes  partnriant,  haud 
parvum  tarnen  afferre  cumulum  posse  viaetur  ad  animi  praestantiam  atqoe 
mdolem  claritudo  generis  atque  natalium  ac  nobilis  liberalisque  educati». 


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Die  Zeit  des  Ueberganges. 


247 


Doni  überhört  willig  Dinge,  welche  er  anderswo  auf  Leib 
und  Leben  bekämpft:  die  Textwiederholungen,  das  gleichzeitige 
Aussprechen  verschiedener  Worte  des  Textes  in  den  einzelnen 
Stimmen,  die  Contrapunktik  von  der  stacheligen  Sorte ,  die  nicht 
überall  musterhafte  Declamation.  Gesualdo's  Musik  hat  mit  dem 
floreutiner  Keformstyl,  welcher  an  Doni  einen  so  begeisterten 
Vorkämpfer  fand,  gar  nichts  gemein,  als  höchstens,  dass  sie  dem 
bis  dahin  herrschenden  Musikstyl,  wenn  auch  nicht  direkt,  wie 
die  Florentiner  thaten,  so  doch  indirekt  den  Krieg  erklärt.  Das 
allein  ist  für  Doni  schon  genug,  um  in  Gesualdo  einen  Bundes- 
genossen zu  begrüssen.  Der  einzige  Kummer  Doni's  ist  die 
Schwierigkeit,  die  einzelnen  (Kompositionen  des  Fürsten  von  Ve- 
nosa  dieser  oder  jener  antiken  griechischen  Tonart  zuweisen  zu 
können  und  dabei  gehörig  zu  solmisiren.  *)  Pietro  della  Valle 
stellt  Gesualdo  mit  Peri  und  Monteverde  zusammen  —  sie  seien 
es,  welche  zuerst  in  der  Musik  einen  neuen  und  besseren  Weg 

m 


» 

Quam  ob  causam  audivi,  qui  dicerent,  cur  in  Venusini  Principis  atque 
Thomae  Peccii,  Patricii  Sencnsis,  canticis  nescio  quid  non  vulgaris  ac 
plebeji  saporis,  sed  elegans  ac  magnificum  audiatur.  (De  praest.  mus. 
vet.  Opp.  I  S.  109.) 

1)  —  difficultas  tunc  incidit,  cum  tot  um  melos  in  alium  modum  seu 
harmoniam  longe  diversam  immutatur.  Exemplum  esse  poterit  navxnxt- 
xwtaxoi  illud  Scoliasma  Principis  Venusini  „Merce  grido  piangendo". 
In  iis  verbis  „morrö  dunque  tacendo"  ubi  in  diversam  plane  speciem  me- 
los mutat ii r.  videlicet  in  harmoniam  Lydiam  (siquidem  tonus  bypothe- 
maticus  seu  fundamentalis  Dorius  sit)  quae  omnibus  Chordis  Signum  £ 
iisurpat,  quam  partem  si  quis  vulgaribus  svllabis  nt  re  mi  fa  etc.  recte 
enuntiare  potuent  —  nisi  novain  clavem  seu  systema  adhibeat  —  nae 
ille  magnam  rem  praostabit.  Ultimo  loco,  cum  miscellae  usurpantur  rao- 
dulationis,  hoc  est  di  versa  nun  harmoniarum  voces  in  ixt  im  confnseque 
assumuntur,  quibns  passim  signa  elationis  et  depressionis  ^  ineurrunt, 
tantum  magis  arduam  est  vulgares  syllabas  iis  aecomodare,  quanto  magis 
ea  intervalla  sunt  peregrina,  insolita  ac  6vQex<p(ovrjxay  ipsaeque  harrao- 
niae  perturbate  sunt ,  invicemque  commixtae.    (Progymnastica  musicae 

Sara  veterum  restituta  et  ad  hodiernam  vraxim  rodacta,  Lib.  II.  Opp.  I. 
.  243,  244.)   Das  von  Doni  erwähnte  Madrigal  steht  im  fünften  Buch, 
und  die  hervorgehobene  Stelle  sieht  also  aus: 


mor  -  ro     mor  -  rn    dun  -que  ta   -    cen      -  do 


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248  Die  Zeit  de8  Ueberganges. 

betraten,  und  vielleicht  sei  es  der  Fürst  von  Veuosa,  welcher 
allen  Uebrigen  ein  Licht  über  die  Art  effektvollen  Gesanges  ge- 
geben. l)  Merkwürdig  bleiben  solche  Urtheile  immer,  weil  auch 
sie  selbst,  so  gut  wie  die  beurtheilten  Kunstwerke,  Zeichen  der 
Zeit  sind. 

Trotz  alles  Lobes  und  aller  Bewunderung  hat  Gesualdo  keine 
Nachahmer  gefunden  und  ist  eine  vereinzelte  Erscheinung  geblie- 
ben. Aber  er  hat  seine  musikalischen  Zeitgenossen  durch  die 
That  gelehrt,  dass  es  in  Sachen  der  Musik  zwischen  Himmel  und 
Erde  viele  Dinge  giebt,  von  denen  sich  die  Schulweisheit  der 
damaligen  Theoretiker  nichts  träumen  Hess.  Wenn  Gesualdo 
zwar  unter  den  Musikern  Aufsehen  erregte,  aber  »hne  epoche- 
machend und  ohne  in  seinem  Wirken  für  die  Kunst  folgenreich, 
zu  werden,  so  wurde  sein  Zeitgenosse  Lodovico  Yiadana  bei- 
des in  hohem  Grade.  Sein  Name  ist  einer  der  wenigen  in  der 
Musikgeschichte,  welche  sich  auch  die  grosse  Menge  gemerkt  hat, 
welche  es  liebt,  die  Bedeutung  ganzer  grosser  Geschichtsabschnitte 
in  einem  einzigen  Rej  räsentanten  zusammenzudrängen,  so  das* 
ein  Einzelner  Träger  alles  dessen  wird,  was  seine  Zeit  charakte- 
risirt.  So  ist  Guido  von  Arczzo  noch  jetzt  für  Viele  der  alleinige 
Repräsentant  jener  mühsamen  Arbeit  des  frühen  Mittelalters,  für 
die  Musik  in  Notenschrift,  Scala,  Erkenntniss  der  Gesetze  des 
Consonirenden  und  Dissonirenden  u.  s.  w.  einen  festen  Boden  zu 
schaffen;  —  so  concentrirt  sich  der  hohe  Styl  der  Kirchenmusik 
in  dem  einen  Namen  Palestrina,  so  die  Katastasc  der  Musik  um 
das  Jahr  1600  in  dem  Namen  Viadana.  Wer  seine  musikhistori- 
schen Kenntnisse  in  drei  Namen  zusammenpackt,  braucht  sein 
Gedflchtniss  allerdings  nicht  sehr  zu  beschweren.  So  wie 
der  ehrwürdige  Guido  ewig  den  Irrthum  auf  dem  Rücken  mit 
sich  herumschleppen  muss:  er  sei  ,,der  Erfinder  der  musikalischen 
Noten",  so  hiess  Viadana  und  heisst  gelegentlich:  „Erfinder  des 
Generalbasses".  Er  hat  aber  den  Generalbass  so  wenig  erfunden, 
als  Guido  die  Notenschrift  —  und  seine  Bedeutung  ist  ganz  wo 
anders  zu  suchen.  Der  Irrthum  reicht  in  Deutschland  in  eine 
Zeit  zurück,  wo  Viadana  noch  lebte.  Prätorius  sagt :  „Der  Bassus 
generalis  seu  continuus  wird  daher  also  genennet,  weil  er  sich 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  continuiret,  und  als  eine  Gencral- 
stimme  die  gantze  Musik  oder  Concert  in  sich  begreiffet,  wie  sol- 
ches dann  in  Italia  gemein,  und  sonderlich  jetzo  von  dem  treft- 
lichen  Musico  Lodovico  Viadana,  novae  inventionis  primario,  als 


I)  I  primi,  che  in  Italia  abbian  seguitato  lodevohnente  qnesta  stra- 
da,  come  dissi  a  V.  8.  sono  stati  il  Principe  di  Venosa,  che  diede  forse 
luce  a  tutti  gli  altri  del  cantare  affettuoso,  Claudio  Montoverde  e  Jacopo 
Peri.  (Deila  musica  dell'  eta  nostra  al  Sign.  Lelio  Guidiccioni.  Discorso 
di  Pietro  della  Valle.  -  Bei  Doni  Opp.  IL  S.  251.) 


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Die  Zeit  de»  Ueberganges. 


249 


er  die  Art  mit  einer,  zween,  dreien  oder  vier  Stimmen  allein  in 
ein  Orgel,  Regal,  oder  ander  dergleichen  Fundamental- Instrument 
zn  sinken ,  erfunden,  an  Tag  bracht  und  in  Druck  aussgangen 
ist,  da  denn  nothwendig  ein  solcher  Bassus  generalis  und  Conti- 
mms  pro  Organoedo  vel  Cytharoedo  tanquam  fundamentum  vor- 
handen sein  muss".  >) 

Recht  besehen  sagt  die  citirte  Stelle  aber  nicht  einmal,  dass 
Viadana  den  Generalbass  erfunden,  sondern  dass  er  „in  der  Er- 
findung der  Vorzüglichste"  sei,  und  die  folgenden  Worte  beweisen, 
dass  Prätorius  die  „Concerti"  des  Viadana  gut  gekannt  —  was 
sich  übrigens  auch  daraus  ergiebt,  dass  er  an  anderen  Stellen 
des  Syntagma  einzelne  Partieen  aus  Viadana's  Vorrede  in  deut- 
scher Uebersetzung  mittheilt  Ein  anderer  Zeitgenosse  —  Jo- 
hann Cruger  —  spricht  bestimmter;  in  seiner  1624  erschienenen 
„Synopsis  musica"  heisst  es:  „Bassus  generalis  seu  continuus,  so 
vom  fürtrefflichen  italienischen  Musico  Lodovico  Viadana  erstlich 
erfunden"  u.  s.  w.  —  und  in  der  Vorrede  des  „Promptuarium 
musicum"  (1611)  sagt  Abraham  Schadäus  von  Viadana:  „peri- 
tissimns  hujus  scientiae  artifex  primusque  hujus  tabulaturae  au- 
tor*'.  Walther  sagt:  „Viadana  (Lodovico)  hat  um's  Jahr  1605  die 
Monodien,  Concerten  und  den  Generalbass  durch  diese  Gelegenheit 
erfunden"  (folgt  eine  kurze  Darstellung  der  Sache).  So  ist  es 
fortgegangen  bis  auf  Abbe*  Vogler,  welcher  noch  deutlicher  die 
Behauptung  hinstellt:  „Ludwig  Viadana  schlug  endlich  (!)  vor, 
den  Bass  zu  beziffern  und  dadurch  die  Accorde,  die  zum  Grund- 
ton und  zur  ganzen  Harmonie  gegriffen  werden  sollten,  anzu- 
merken." 2)  Man  bemerke  wohl :  Die  alten  Autoren  schreiben 
Lodovico  Viadana  wohl  die  Erfindung  des  „fortgehenden  Basses" 
(Basso  continuo)  zu  —  von  der  Bezifferung  aber  sagen  sie  kein 
Wort.  — 

Kiesewetter  bestreitet  die  Erfindung  —  giebt  aber  Viadana 
das  belobende  Zeugniss  —  „dass  in  seinen  Kirch enconcerten  zum 
erstenmal  wirkliche  Melodie  erscheine",  d.  h.  eine  in  sich  ge- 
schlossene, periodisch  gegliederte  —  denn  Melodie  hatten  sogar 
schon  die  alten  Niederländer,  aber  als  contrapunktisch-construc- 
tives  Element.  Aber  auch  hierüber  wäre  zu  streiten  —  die 
Concerti  erschienen  1604,  Peri's  Favola  in  musica  „Euridice" 
schon  1600  —  und  mau  wird  dem  Gesänge,  mit  welchem  Orfeo 
an  der  Seite  seiner  wieder  errungenen  Euridice  nntcr  den  Hirten 
erscheint,  den  Namen  einer  Melodie  und  zwar  einer  schönen,  fein 
empfundenen  Melodie  nicht  abstreiten  können.    Auch  ist  Viada- 


1)  Svntagma,  III.  Cap.  6  de  Basso  generali  seu  Continuo. 

2)  Handbuch  zur  Harmonielehre,  S.  129. 


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250 


Die  Zeit  des  Ueberganges. 


na's  „Melodie"  einstweilen  noch  weit  davon  entfernt ,  sich  frei 
und  leicht  zu  bewegen  —  sie  verläugnet  ihre  Abstammung  aus 
der  Polyphonie  durchaus  nicht  und  trägt  gleichsam  die  Spuren 
der  kaum  abgestreiften  contrapunktischen  Fesseln  noch  an  Hän- 
den und  Füssen.  Den  Singbass  versteht  Viadana,  selbst  wo  er 
solo  auftritt,  noch  so  sehr  als  Grundstimme,  dass  wir  in  den 
Concerten  Stücke  finden,  wo  ihn  der  Orgelbass  einfach  im  Uni- 
sono verdoppelt 


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VI. 


Die  Zeit  der  ersten  dramatischen 

Musikwerke. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 

Die  Reform  der  Musik  war  erzaristokratischen  Ursprungs  — 
die  Aristokratie  der  Geburt  und  die  Aristokratie  der  Bildung  war 
es,  von  welcher  sie  im  gräflichen  Hause  Bardi  ausgegangen  war. 
Ihre  glänzendste  That  —  die  Schöpfung  des  musikalischen  Dra- 
ma, konnte  diesen  Ursprung  nicht  verläugnen.  Die  „Favola  in 
Musica"  —  die  Oper,  wie  man  später  sagte  —  war  ein  Schau- 
spiel von  und  für  Aristokraten.  Fürstenhöfe  waren  es,  wo  sie 
zuerst  erschien,  und  fast  schien  es,  als  sei  sie  ein  Rcservatrecht 
für  Fürsten.  Fürstliche  Hochzeiten  wusste  man  durch  kein  glän- 
zenderes Schauspiel  zu  verherrlichen,  als  durch  ein  musikalisch- 
dramatisches. Von  einem  „Opernhaus",  wo  Jeder,  der  seinen 
Thalcr  fürs  Billet  hinlegte,  Eintritt  hatte,  war  jetzt  und  noch 
lange  keine  Rede.  An  den  fürstlichen  Höfen  (auch  in  Deutsch- 
land) war  eine  glänzende  Hofoper  ein  wesentliches  Erforderniss 
des  Glanzes.  Zutritt  hatte,  wen  Serenissimus  lud,  oder  wer  kraft 
seiner  geselligen  Stellung  —  als  Ordensritter  u.  dgl.  —  Anspruch 
darauf  machen  konnte. 

Die  Aufführung  der  „Dafne"  des  Jacopo  Peri,  im  Hause 
Cond,  hatte  als  erster  Versuch,  den  neuen  Musikstyl  vor  einer 
Versammlung  gebildeter  Kunstfreunde  hören  zu  lassen,  einen 
mehr  nur  privaten  Charakter  gehabt.  i)  Erst  mit  dem  Jahre  1600 
feierte  der  neue  Stile  rappresentativo  im  musikalischen  Drama 
seinen  offiziellen,  feierlichen  Eintritt  in  die  Welt  Die  Vermälung 
Heinrich  IV.  von  Frankreich  mit  Maria  von  Medicis,  welche  in 
diesem  Jahre  in  Florenz  glänzend  gefeiert  wurde,  gab  Anlass, 
den  Neuvermählten  und  den  Gästen  des  Hochzeitsfestes  in  dem 
so  eben  erat  geschaffenen  musikalischen  Schauspiele  etwas  völlig 
Neues  zu  bieten,  und  Ottaviano  Rinuccini  hatte  seine  „Euridico" 


i)  Rinuccini  sagt  in  der  Vorrede  der  Euridice  von  der  Dafne:  „che 
increditrilmente  piacque  a  que  pochi  che  rudirono'*  und  bemerkt,  es  sei 
eine  „semplice  prova  di  quello,  che  potesse  il  canto  dell*  eta  nostra"  ge- 
wesen. Indessen  erfahren  wir  von  Peri.  daes  Dafne  drei  Carnevale  nach 
einander  mit  Beifall  gehört  wurde;  es  können  also  doch  nicht  so  gar 
wenige  gewesen  9ein,  welche  sie  kennen  lernten. 


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254 


Die  Zeit  der  orsten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


sogar  eigene  als  Festspiel  für  die  Gelegenheit  gedichtet.  Denn 
die  Beziehung  auf  das  fürstliche  Brautpaar  ist  deutlich  genug, 
wenn  gleich  zu  Anfang  die  Hirten  zum  Preise  des  Brautpaares 
Orpheus  und  Euridice  singen :  „non  vedc  un  simil  par  d'amanti  il 
sole".  Klüglich  Hessen  die  Componisten  —  sowohl  Pen  als  Caccini 
—  diese  Worte  von  mehreren  Solisten  nach  einander  singen  und 
dann  erst  noch  vom  ganzen  Chor  wiederholen,  damit  sie  ja  nur 
an  die  richtige  Adresse  gelangen  und  nicht  etwa  überhört  werden 
mögen.  Eben  wegen  dieser  Beziehung  auf  das  erfreuliche  Er- 
eigniss  musste  sich  aber  auch  die  Mythe  einen  geänderten  Aus- 
gang gefallen  lassen.  —  Von  dem  Verbote,  sich  nach  der  wie- 
dererlangten Euridice  umzusehen ,  ist  keine  Rede  —  Orpheus 
bittet  sie  vpn  den  sonst  unerbittlichen  Mächten  des  Orcus  los, 
führt  sie  zur  Oberwelt  zurück  und  damit  ist  es  gut  und  aus. 

Sowohl  Peri  als  Caccini  haben  jeder  für  sich  die  ganze 
Dichtung  in  Musik  gesetzt.  —  Bei  der  festlichen  Aufführung 
wurde  theils  Peri's,  theils  Caccini's  Composition  gesungen  —  was 
sehr  wohl  anging;  denn  abgesehen  von  dem  Umstände,  dass 
Caccini,  wie  es  seine  Art  ist,  etwas  mehr  Coloratur  und  Passagen- 
werk einmischt,  als  der  dem  schlichteren  Tonsatze  mehr  geneigte 
Peri,  haben  beide  Partituren  eine  fast  doppelgängerische  Aehn- 
lichkeit.  Da  beide  Tonsetzer  sicherlich  ganz  unabhängig  von 
einander  arbeiteten,  so  ist  dieser  Umstand  zugleich  eine  ganz 
interessante  Probe,  wie  die  gewissenhafte  Befolgung  des  floren- 
tiner  Musikprogramms  bei  gleicher  Vorlage  jedesmal  unter  ein- 
ander fast  identische  Resultate  geben  musste.  Die  Componisten 
waren  aus  dem  Zwange  und  Bann  des  Contrapunktes  unter  den 
Zwang  und  Bann  des  Wortes  gekommen  —  wie  viel  sie  bei  dem 
Tausche  an  künstlerischer  Freiheit  gewannen,  wäre  zu  erörtern. 

Peri  erzählt  in  der  Vorrede  seiner  Euridice:  „c  benche  fin 
allora  l'avessi  fatta  nel  modo  appunte,  che  ora  viene  in  luce: 
nondimeno  Giulio  Caccini,  detto  Romano,  il  cui  somnio  valore  e 
noto  al  mondo,  fece  Tarie  d'Euridice,  e  alcune  del  Pastore  e 
Ninfa  del  Coro  e  dei  Cori  „al  canto  al  ballo",  .,sospirate'/  e 
„poiche  gl'  eterni  imperi"  —  e  questo  perche  dovevano  csser  cau- 
tate  da  persone  dependenti  da  lui,  le  quali  arie  si  leggouo  nella 
sua  composta  e  stampata  pur  dopo,  che  questa  mia  fu  rappresen- 
tata  a  Sua  Maesta  Cristianissima."  Aus  diesen  schlichten  Wor- 
ten geht  deutlich  genug  hervor,  dass  Peri,  welcher  schon  von 
der  Dafne  her  als  dramatischer  Tonsetzer  die  gute  Meinung  für 
sich  gehabt,  als  eigentlicher  Componist  der  Euridice  gemeint  und 
dass  sein  Werk  schon  in  allen  Theilen,  wie  es  gedruckt  vorliegt, 
vollendet  war,  als  Caccini  den  Einfall  hatte,  seinerseits  jene 
Nummern  auch  zu  componiren,  welche  Sängern  zufallen  sollten, 
„die  von  ihm  abhingen"  —  und  zwar,  wie  man  aus  Peri's  Auf- 
zählung sieht,  nicht  eben  ganz  wenige  Nummern.    Die  voll- 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


255 


ständige  Partitur  Caccini's  scheint  also  erst  nach  der  Hand  ent- 
standen zn  sein.  Ob  Caccini  bei  jenem  Stratagem  von  der  Rück- 
sicht auf  die  ihm  vielleicht  genauer  bekannten  Fähigkeiten  seiner 
Sänger  geleitet  wurde  oder  ob  es  eine  durch  künstlerische 
Eifersucht  veranlasste  Intrigue  gegen  Peri  war 2),  bleibt  jeden- 
falls zweifelhaft.  Gegen  letztere  Annahme  spricht  indessen  der 
beachtenswerthe  Umstand,  dass  Peri  die  Sache  ohne  irgend  eine 
Spur  von  Bitterkeit  und  Verdruss,  ja  mit  einem  warmen  Lob- 
spruch für  Caccini  erzählt,  während  Caccini  seinerseits  bei  Ge- 
legenheit einer  Arie  aus  seinem  „Rapimento  di  Cefalo",  welche  Peri 
„nach  seiner  eigentümlichen  Vortragweise' *  (secondo  il  suo  stile) 
sang,  seinen  Rival  als  ..musico  eccellente"  belobt  Caccini  hatte 
endlich  auch  gar  nicht  nöthig,  sich  zur  Composition  eines  Theiles 
der  Euridice  zu  drangen,  denn  er  war  auf  ausdrücklichen  Befehl 
des  Grossherzogs  für  eben  dieselbe  Hochzeitsfeier  mit  der  Com- 
position einer  anderen  Favola  in  musica,  eben  jenes  ,,Rapimento 
di  Cefalo"  betraut  worden.  Es  scheint  hiernach,  als  habe  man 
dem  Könige  von  Frankreich  beide  Vertreter  des  neuen  Styls 
eigens  vorfuhren  Wollen.  Caccini  selbst  erzählt:  ,,il  mio  Rapi- 
mento  di  Cefalo,  composto  in  musica  da  per  me  per  commanda- 
mento  del  Serenissimo  Gran  Duca  mio  Signore  e  rappresentato 
nelle  Sposalizie  della  Cristianissima  Maria  Medici  ,  Regina  di 
Francia  et  di  Navarra."  s)  Aber  —  seltsames  Geschick  —  ob- 
wohl vorstehende  Worte  so  klingen,  als  habe  Caccini  das  ganze 
Werk  in  Musik  gesetzt,  musste  auch  er  sich  fremde  Eindringlinge 

Sefallen  lassen;  ein  Theil  der  Chöre  rührte  von  Stefano  Venturi 
el  Nibbio,  von  Piero  Strozzi  und  von  dem  Canonicus  Luca 
Bati,  Kapellmeister  am  florentiner  Dom  St.  Maria  del  Fiore,  her. 

Rinuccini's  Dichtung  der  Euridice  ist  eine  in  ihren  Grund- 
zügen überaus  einfache.  Nach  einem  Prolog  von  sieben  Strophen, 
welcher  der  personifizirten  „Tragedia"  in  den  Mund  gelegt  ist, 
beginnt  die  eigentliche  Handlung  mit  einer  Jlirtenscene  in  einem 
Hain  —  Nymphen  und  Hirten,  unter  letzteren  Aminta  (Tenor) 
und  Arcetro  (Alt)  preisen  das  Glück  des  eben  verbundenen  Braut- 
paares Orfeo  und  Euridice.  Die  ganze  Szene  ist  eine  feine 
Schmeichelei  für  das  fürstliche  Brautpaar  und  eine  Art  von  Gra- 
tulation. Euridice  fordert  die  Nymphen  auf,  ihr  in  den  Schatten 
des  nahen  Hain's  zu  folgen,  wo  sie  in  „frohem  Reigen"  tanzen 
wollen.  „Itene  liete  pur",  ruft  der  Chor,  „noi  qui  fratanto  che 
sopragiunga  Orfeo  Tore  trapasseremo  con  lieto  canto".  Euridice 

1)  Die  Art,  wie  Caccini  au  Stelle  des  trefflichen  kleinen  Trio  „Ben 
nochier"  von  Peri  ein  herzlich  flaches,  aber  mit  Brillantpassagen  aufge- 
putztes Sopranduett  zu  setzen  für  gut  findet,  lässt  so  etwas  vermuthen. 

2)  Wie  £.  0.  Lindner  will  —  siehe  dessen  „Zur  Tonkunst*'. 

3)  Einleitende  Worte  zu  den  mitgetheilten  Stücken  aus  dem  „Rapi- 
mento  di  Cefalo",  welche  den  „nuove  musiche"  eingeschaltet  sind 


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256        Di«  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


entfernt  sich,  begleitet  von  der  Nymphe  Dafne  und  einigen  an- 
deren Nymphen.  Die  Zurückgebliebenen  ergötzen  sich  mit  Wech- 
selgesängen, in  welche  immer  wieder  refrainartig  der  Tanzchor 
einfüllt:  „  al  canto,  al  ballo 44  u.  s.  w.  Orpheus  erscheint,  er 
spricht  sein  Glück  aus,  Wechselgespräch  zwischen  ihm  und  sei- 
nem Freund  Arcetro.  Ein  Hirte  Tirsis  zieht  mit  Flötenspiel 
und  Gesang  vorüber,  er  bringt  den  Vermälten  seinen  Glück- 
wunsch dar.  Diese  Szenen  schuldlosen  Glückes  werden  von  der 
voll  Schreck  und  Schmerz  herbeieilenden  ..Botin"  Dafne  (Dafne, 
nunzia)  unterbrochen:  Euridice  ist,  während  sie  im  Hain  Blumen 
pflückte,  von  einer  giftigen  Schlange  gestochen  worden  —  sie  ist 
todt.#  Orpheus  scheidet  mit  Worten,  welche  auf  seinen  Entechluss 
deuten,  der  Geliebten  zu  folgen;  besorgt  eilt  ihm  Arcetro  nach. 
Jetzt  kehren  die  übrigen  Begleiterinnen  Euridice's  zurück  — 
ohne  sie.  Klagegesänge  mit  dem  Chorrefrain  „Sospirate  anre 
celesti,  lagrimate  selve  e  boschi 1  ertönen.  Nun  kömmt  auch 
Arcetro  zurück:  eine  göttlich  schöne  Frau,  deren  Wagen  zwei 
schneeweisse  Tauben  zogen,  erzählt  er,  senkte  sich  vom  Himmel 
zu  dem  verzweifelnden  Orpheus  herab,  sie  richtete  ihn  auf,  sie 
sprach  ihm  Trost  zu.  „Welche  der  Göttlichen  es  auch  gewesen 
sei",  ruft  der  eine  Hirt,  „lasst  uns  ihr  Weihrauch  zünden,  lasset 
uns  ihr  Lob  singen".  Dankchöre  beschliessen  die  Szene.  Ver- 
wandlung :  die  Unterwelt.  (Rinuccini  hält  es  für  nöthig,  sich  in 
der  Vorrede  darüber  zu  entschuldigen:  ..ho  seguito  l'autorita  del 
Sofocle  nel  Aiace  in  far  rivolger  la  Seena,  non  potendosi  rappre-. 
sentar  altrimente  le  preghiere  e  i  lamenti  d'Orfeo44.)  Von  der 
Schützerin  Venus  geleitet,  tritt  Orpheus  in  dem  öden,  nächtlichen 
Reiche  auf.    Sie  ermahnt  ihn: 

Del  Re,  che  sovra  l'onibre  ha  scettro  e  regno 

Sciogli  il  tuo  nobil  canto 

AI  snon  del  anreo  leeno. 

Quanto  mgrte  t'ha  tolto  ivi  dimora 

Prega,  sospira  e  plora 

Forse  avverra,  che  quel  soa?e  pianto 

Che  mosse  il  ciel,  preghi  rinferno  ancora. 

Orpheus  bleibt  allein  zurück :  er  lasst  laute  Klagen  ertö- 
nen, er  bittet  die  Schatten  der  Unterwelt,  mit  ihm  zu  weinen. 

Welche  Kühnheit*',  ruft  Pluto,  „ein  Sterblicher  betritt  mein 
nächtliches  Reich !"  Orpheus  richtet  jetzt  seine  Bitten  an  den 
Gott.  —  „Du  rührst  mich44,  antwortet  Pluto,  „aber  das  Gesetz 
meines  Reiches  ist  eisern44.  Orpheus  erinnert  ihn,  wie  auch  er 
einst  von  Liebe  ergriffen  worden  —  Proserpina  vereint  ihre  Bit- 
ten mit  Orpheus,  und  Charon  meint:  wenn  Zeus  im  Himmel, 
Neptun  im  Meere  frei  und  ohne  Beschränkung  herrsche,  so  sei 
es  nicht  wohlgethan,  wenn  Pluto  durch  Gesetze  seinem  Willen 
Schranken  setzen  lasse.    Da  giebt  Pluto  nach  —  zwei  Wechsel  - 


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Dio  Zoit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Worke. 


257 


chöre  von  Geistern  der  Unterwelt  und  der  Richter  Rhadamanthus 
drücken  ihr  Staunen  über  das  Unerhörte  aus.  Wiederum  die 
frühere  Szene:  Arcetro  ist  wegen  des  Ausbleibens  des  Freundes 
besorgt  —  „siehe",  ruft  der  Chor,  ,,da  kommt  Aminta  mit  heitrer 
Miene,  er  bringt  wohl  gute  Nachricht  von  Orpheus!'*  Und  so 
ist  es  wirklich:  Euridice  lebt,  „piii  che  mai  bell'  e  viva".  Wäh- 
rend die  Andern  im  Tempel  der  unbekannten  Göttin  Weihrauch 
streuten,  habe  er,  Aminta,  sich  voll  Bekümmerniss  aufgemacht, 
Orfeo  zu  suchen  —  da  plötzlich  „wie  ein  Blitz"  standen  die 
Liebenden  vor  ihm.  Orpheus  kommt  jetzt  selbst  mit  seiner  wie- 
dergewonnenen Euridice;  Staunen,  Freude  der  Hirten:  wer  voll- 
brachte das  Wunder?    Euridice  antwortet: 

(Peri) 


Toi  -  so     mi  Orfco  dal 

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te  -  ne  -  bro  -  so     re   -  gno. 
n    iu  ii  ii  10 


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(Caccini) 


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gno. 

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Freudcngesängc  und  Tänze  beschliessen  das  Ganze. 

Auch  über  die  eigenmächtig  geänderte  Mythe  entschuldigt 
sich  Riuuccini.  Das  Beispiel  der  griechischen  Dichter  in  anderen 
ähnlichen  Fällen  möge  ihn  rechtfertigen,  und  Dante  lasse  den 
Ulysses  ertrinken,  obwol  Homer  das  Gegontheil  sagt. 

Sowohl  Peri's  als  Caccini's  Partitur  wurde  1600  in  Florenz 
gedruckt,  die  Composition  Peri's  sogar  1608  ein  zweites  Mal  in 
Venedig.  !) 


1)  Caccini's  Composition  ist  betitelt: 

L'EVRIDICE 
COMPOSTA  IN 
MVSICA 
in  Stile  rappresentativo  da 
GIVLIO  CACCINI 
detto  Romano 
IN  FIRENZE 
APPRESSO  GIORGIO  MARESCOTTI 
MDC. 

Hochfolio.   Die  Widmung  ist  an  Giovanni  Bardi  gerichtot.    Dio  Compo- 

Ambroi,  Geschichte  der  Musik.   IV.  17 


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25S 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Wie  sehr  verwandt  beide  Compositionen  unter  einander  auch 
sind,  man  wird  kaum  zögern  dürfen,  Peri  den  Preis  zuzuerkennen. 
Es  liegt  ein  weit  feinerer  Duft  von  Empfindung  über  seiner  Mu- 
sik. Zuweilen  ist  es,  als  wolle  sich  bei  ihm  durch  die  unaufhör- 
liche Recitation  der  Wohllaut  echter ,  richtiger  Musik  hörbar 
machen;  leider  übertönt  ihn,  kaum  dass  er  sich  gezeigt,  das  Ge- 
klapper des  Stile  rappresentativo.  Einen  Moment  bei  Peri  hat 
aber  nicht  einmal  der  Stile  rappresentativo  zu  erquetschen  ver- 
mocht. Es  ist  der  still  in  sich  selige ,  wonneathmende  Gesang, 
mit  welchem  der  aus  dem  Orcus  mit  Euridice  zurückkehrende 
Orfeo  Luft  und  Licht  und  Sonne  begrüsst:  „Gioito  al  mio  canto" 
—  wie  ein  Marzveilchen,  das  mitten  in  weiter  und  breiter  Oede 
aufgeblüht,  duftet  uns  die  schlichte,  anmuthige,  wenn  auch  ihren 
declamatorischen  Ursprung  nicht  ganz  verläugnende  Melodie  an. 
Caccini  bringt  die  Stelle  zum  Erstaunen  ähnlich  —  aber  es  fehlt 
ihr  die  zarte  Anmuth,  welche  sie  bei  Peri  besitzt.  Letzterer  lässt 
gelegentlich  in  kleinen  mehrstimmigen,  geistreich  behandelten 
Satzchen  auch  den  wohlgeschulten  Tonsetzer  erkennen.  Im  Gan- 
zen macht  sowohl  Poris  als  Caccini's  Composition  den  Eindruck 
ermüdender  Monotonie,  wozu  insbesondere  die  stockenden  Vers- 
absätze und  die  bleischwer  nachschleppenden  Cadenzen  mit  der 
letzten  Haltenote  bei  Redeschlüssen  das  Meiste  beitragen.  Diese 
ausgehaltenc  Schlussnote  galt  aber  so  sehr  ftir  das  Richtige  und 
Angemessene,  dass  Doni  sie  nur  bei  Fragen  durch  eine  kurze 
schwarze)  Note  ersetzt  wissen  will.  Weit  entfernt  ,  durch  diese 
ängstliche  Beobachtung  der  Interpunktion  den  Charakter  einer 
lebendig  fliessenden  Rede  zu  erhalten,  bekommt  :1er  Vortrag  et- 
was eintönig  Psalmodirendes,  so  verschieden  er  sonst  auch  von 
der  kirchlichen  Psalmodie  ist: 


Pastore  del  coro.  Peri  (1.  Szene). 


3  «  *  r  r-  rl-f- 

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voi    ch'all"  al  -  ba  in  cid 

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van  -  ti 

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Bition  Pcri's  führt  den  Titel:  ,,Le  musicho  di  Jacopo  Peri  nobil  Fiorentino 
sojtra  l'Kuridice  dol  Sign.  Ottavio  Rinuccini,  Rappresentato  nello  Sposa- 
lizio  dclla  Cristianissima  Maria  Medici  Regina  di  Francia  o  di  Navarra. 
In  Florenz*,  appresso  Giorgio  Marescotti  MDC"  Die  Widmung,  datirt 
Tom  6.  Februar  1600,  ist  fiberschrieben:  Alla  Cristianissima  Maria  di  Me- 
dici u.  8.  w.  Man  bemorko:  Peri  widmet  sein  Werk  der  Königin  und  er- 
wähnt sowol  in  der  Dedication  als  auf  dem  Titelblatte  der  Hochzeitsfeier. 
Caccini  schweigt  von  letzterer  und  dedizirt  seine  Composition  dem  Gra- 
fen Bardi.  FJn  schlagender  Beweis,  dass  die  Composition  der  Festoper 
nicht  Caccini.  sondern  Peri  zugedacht  gewesen.  Die  venezianische  Aus- 
gabe der  Oper  Peri's  erschien  bei  Alessandro  Ravorii. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  259 


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Diese  Schwerfälligkeit  der  Rccitation  steckt  der  italienisch- 
dramatischen  Musik  noch  lange  in  den  Gliedern.  Die  Empfin- 
dung des  Lastenden  wird  durch  die  unbelebten  liegenden  Bässe 
gesteigert.  Meist  sind  es  die  Grundtöne  der  üreiklünge,  —  es 
ist  völlig  eine  Erquickung,  wenn  man  zwischendurch  einmiil  einen 
Sextaccord  zu  hören  bekommt.  In  ganz  engem  Kreise  leiter- 
eigener Harmonie  (zumeist  Tonica,  vierte  und  fünfte  Klangstufe) 
wird  Ohr  und  Sinn  des  Hörers  in  einem  fast  ängstigend  beengten 
Bezirk  festgehalten,  aus  welchem  ihn  keine  Ausweichung  in  irgend 
eine  audere  Tonregion  befreit.  Der  Gesang  bewegt  sich  innerhalb 
der  liegenden  Harmonie  wie  in  einem  Käfig  herum,  und  insge- 
mein ist  es  dann  erst  der  Rcdcschluss ,  welcher  ihn  aus  dem 
Banne  für  einen  Moment  erlöst.  Hat  eine  Person  ihre  Rede  ge- 
endet, so  beginnt  die  folgende  des  andern  Interlocutors  allenfalls 
ganz  ohne  Rücksicht  auf  die  Tonalität,  in  welcher  jene  schloss: 

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Ninfa  del  Coro.  Aniinta.  (Peri). 


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200 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Die  Bezifferung,  welcher  Caccini  in  seinen  „Nuove  musiche" 
so  viele  Sorgfalt  zuwendet,  ist  in  der  Euridice  —  sowohl  in  sei- 
ner als  in  jener  Peri's  —  auf  die  nöthigsten  Andeutungen  be- 
schränkt. *)  Aus  der  eigentlichen  dialogisirenden  Recitation, 
welche,  wie  Kiesewetter  richtig  bemerkt,  „von  einem  Scarlatti'schen 
Hecitativ  noch  himmelweit  verschieden  ist"  2),  heben  sich  indessen 
einzelne  ariose  Stellen  —  zuweilen  nur  kurze  Phrasen,  welche 
allenfalls  refrainartig  wiederkehren,  wie  der  einigcmale  wieder- 
kehrende Ausruf  des  Orfeo  im  Orcus: 

Peri. 


¥ 


La-gri-ma  -  teal  iniopian-to.  om    -     bre  d'in  -  fer   -  no. 

 i  J  ff  11  "  L 


r 


Caccini. 


La  -  gri  -  ma- teal  mio    piiin  -    to,    om-bre  d'in-fer-  no. 


Die  „Arie"  erscheint  ausdrücklich  unter  diesem  Namen  („si 
ripete  sopra  la  medesima  aria"  heisst  es  bei  der  zweiten  Strophe 
des  Hirtengesanges  des  Tirsis  bei  Peri,  und  der  Schlussgesang 
bei  Caccini  tragt  die  Ueberschrift :  Aria  a  cinque),  aber  in  der 
Weise,  wie  die  Arien  in  den  „Nuove  musiche"  Caccini's,  das 
heisst  als  Singen  mehrerer  Strophen  nach  denselben  Noten.  Letz- 
teres ist  sowohl  bei  Sologesängen,  als  bei  Chören  der  Fall.  Wie 
in  jenem  Werke  Caccini's  wird  der  eigentliche  Charakter  der 


1)  Die  ziemlich  reiche  Bezifferung  der  in  Kiesewetter's  ..Schicks  u. 
Beschaffenheit  des  weltl.  Ges."  mitgetheilten  Proben  ist  Zuthat,  So  be- 

ziffert  z.  B.  Kiesewetter  einmal  i,S.  88)  iäzz   -rr  wo  es  in  P«- 


ri's  Original  bloss  hoisst 
2^  G.  d.  M.  S.  75. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  201 

Arie  auch  liier  von  der  Deklamation  erdrückt.  Wo  man  einfache 
cantable  Melodie ,  Liedmässiges  erwarten  sollte ,  wie  bei  •  dem 
Hirtenliede  des  Tirsis,  bekommt  man  wieder  Deklamation  zu 
hören,  hinter  welcher  die  liedmassige  Melodie  wie  hinter  einem 
Eisengitter  gleichsam  hervorlugt.  Statt  die  Mächte  der  Unterwelt 
durch  die  Macht  süssen  Gesanges,  durch  Wohllaut  der  Melodie 
zu  rühren  (wie  Gluck's  Orfeo  thut  —  Monteverde's  Orfeo  trägt 
dagegen  wieder  eine  höchst  abenteuerliche  Coloraturarie  vor),  la- 
mentirt  Peri's  und  Caccinfs  Orfeo  im  herkömmlichen  Stile  reci- 
tativo  e  rapprcsentativo,  wie  er  die  allgemeine  Sprache  der  Oper 
ist,  wie  ihn  auch  Pluto,  Proserpina,  Charon  u.  s.  w.  singen. 
Wenn  nun  auch  Caccini  und  Pcri  wirklich  bemüht  gewesen  sind, 
ihrem  flehenden  Orfeo  Töne  leidenschaftlicher  Klage,  leiden- 
schaftlichen  Schmerzes,  leidenschaftlicher  Bitte,  dringenden  Flehens 
in  den  Mund  zu  legen  —  so  ist  es  doch  nur  Eede  im  Sinne 
des  musikalischen  Drama,  nicht  Gesang,  der  den  Mächten  des 
Urcus  als  etwas  ihnen  Ungewohntes  entgegenträte.  Orpheus  be- 
wegt sie  als  Redner,  nicht  als  Sänger.  Man  begreift,  nicht,  warum 
sie  an  dem,  was  Orpheus  sie  hören  lässt,  etwas  Besonderes  finden, 
gerührt  werden  und  warum  Pluto  meint :  „Si  dolei  preghi  e  si  soavi 
accenti  non  spargeresti  in  vanu  u.  s.  w.  Nur  jenes  „gioite"  u.  s.  w. 
des  Orpheus  nach  seiner  Wiederkehr  aus  dem  Orcus  hebt  sich 
wirklich  als  geschlossener  arioscr  Satz  aus  seiner  Umgebung. 
Wie  im  Traume  ahnen  zuweilen  die  Tonsetzer,  wo  etwa  eine 
Arie  (im  späteren  Sinne  des  Wortes)  an  rechter  Stelle  wäre,  und 
da  erscheint  insgemein  ein  verkümmerter,  oder  vielmehr  unent- 
wickelter Ansatz,  wie  eine  ferne  Andeutung;  so  gleich  in  der 
ersten  Szene  bei  Peri: 


Ninfa.  Peri  (Sc.  1.) 


-  *  * — * — ß- 

M    '  '-  1 

Ra  -   dop  -  pia 

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262 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


M 

ff  r 

gi    intor  -  no. 


1 


Caccini  bringt  die  Stelle  ungleich  trockener  und  vollends 
zur  Recitation  verholzt  : 

Caccini. 


I 


igt-1'  _l_IEi.  V  -  E — L 
Ra  -dop-  piae  Hamm'  e 

lu  -  mi  al 

mn-mo  -  ra-  bil 

   — 

l~  

 ©  J-  «  

W T  "  ■'  '  &  ü  ui-  f 

gior-no,  Fe  -  bo,     ch'il  car  -  ro  d'or  ri  -  vol-giin-  tor-  no. 

(£)  (|>  (»  (» 


9^ 


1 


2E 


I 


MI 


Manches  bei  Caccini  sieht  wiederum  aus,  wie  der  allererste 
Keim  zu  den  künftigen  Bravour-  und  Coloraturaricn : 


Ninfa  del  Coro. 


Caccini. 


n 


Va-  ghe  Nin-fe  a  -  mo  -  ro  -  se,     in-ghir-lan  -  da  -  te  il 

dt)  (ft)  - 


J: 


3= 





Pf 


crin  d'al 


me    vi  -  o  -     le,      di  -  te   lief  e  fe- 


ü 


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Dio  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


263 


simil  par 


d'a   -  man 


ß-m-ß  

-  o — 

INF— 

ti 

u 

so 

■  le. 

— o- 

Da  haben  wir  wieder  den  wohlbekannten  Coloraturstyl  der 
„nuove  musiehe"!  Ganz  irrig  aber  wäre  es,  wegen  solch'  ver- 
einzelter Stellen,  welche  in  Caccini's  dramatischer  Musik  doch 
eben  auch  nur  ausnahmsweise  vorkommen,  behaupten  zu  wollen, 
in  ihm  kündige  sich  der  reichverzierte,  wie  in  Peri  der  drama- 
tisch-deklamatorische Styl  der  späteren  italienischen  Musik  an.  *) 
Peri  und  Caccini  verfolgen  beide  dasselbe  Ziel:  den  ihnen  von 
Bardi-Corsi's  wegen  anbefohlenen  „Stile  rappresentativo" ;  und 
ganze  grosse  Partieen  beider  Partituren  sehen  geradezu  aus,  als 
habe  einer  den  andern  abgeschrieben  und  nur  hin  und  her  kleine 
Abänderungen  gemacht,  —  so  ist  z.  13.  in  der  Klage  der  Nymphen 
und  Hirten  um  Euridice  diese  Aehnlichkeit  im  höchsten  Grade 
auffallend.    Sieht  man  aber  in  diesen  letzteren  Gesängen  näher 

1)  Wie  E.  0.  Lindner  that,  den  ich  hier  von  dem  Vorwurf  der  Ge- 
sichtepunktsucherei  und  Unterschiedmach*  >rei  keineswegs  freizusprechen 


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264 


Die  Zoit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


zu,  wird  man  bekennen  müssen,  dass  Peri  hier  in  scheinbar  klei- 
nen Zügen  ganz  andere  und  tiefere  Gefühlssaiten  anschlägt,  als 
es  Caccini  hat  gelingen  wollen. 

Man  muss  Caccini  und  Peri  das  Zeugniss  geben,  dass  sie 
die  natürliche  Betonung  der  gewöhnlichen  Rede  zum  Besten  ihres 
Stile  rappresentativo  mit  fein  hörendem  Ohr  behorcht  haben.  In 
diesem  Sinne  sind  sie  echte  „Nachahmer  der  Natur"  und  so  rea- 
listisch wie  möglich.  Es  ist  dieses  kein  Widerspruch  gegen  die 
obige  Bemerkung,  der  Ton  habe  etwas  Psalmodirendes.  Denn 
sobald  die  einfache  Redeweise  aus  ihrer  nicht  bestimmbaren  Ton- 
höhe, in  eine  bestimmbare  hineingerückt,  das  heisst,  sobald  sie 
zum  Gesänge  wird,  muss  sie  sich  irgendwie  künstlerisch  stylisiren, 
als  Psalmodie,  als  „Stile  rappresentativo"  oder  als  Recitativ  im 
neueren  Sinn.  Innerhalb  jeder  dieser  Kunstformen  ist  es  mög- 
lich,  der  natürlichen  Betonung,  dem  natürlichen  Redeaccent  ge- 
recht zu  werden.  Der  sonst  so  besonnene  und  durchaus  wohl- 
meinende Kiesewetter  charakterisirt  den  Styl  der  Florentiner  dra- 
matischen Musik  mit  den  Worten:  „Die  Recitation,  mit  einem 
Basso  continuo  begleitet,  ist  eben  so  kläglich  als  steif  und 
jedes  Ausdruckes  bar".  Vielmehr  ist  aber  durchweg  ein  sehr 
ernstliches,  sehr  ehrliches  Streben  nach  Ausdruck  wahrnehmbar, 
und  oft  genug  ist  auch  der  richtige  Ton  getroffen ,  besonders  in 
Momenten  des  Schmerzes  und  der  Klage.  Sogar  wir  empfinden 
es  noch  durch  alle  Monotonie  und  schleppende  Schwerfälligkeit 
der  psalmodirenden,  für  uns  (an  Gluck'sche,  Mozart'sche  ReciUtive 
Gewöhnte)  fremdartig  klingenden  Recitation  hindurch.  Auch  hier 
„mochte  (und  musste)  der  Sänger  nachhelfen".  Manches,  das,  in 
den  Notenzeichen  angeschaut,  eben  nach  gar  nichts  aussieht  und, 
gleichgiltig  abgesungen,  nach  gar  nichts  klingt,  gewinnt,  wenn  es 
gut  und  mit  Ausdruck  vorgetragen  wird,  Leben  und  Ausdruck. 
Das  ehrliche  Streben  der  Tonsetzer  nach  Wahrheit  ist  kein  frucht- 
loses geblieben.  *)    Im  gesteigerten  Ausruf  des  Orfeo 


1-  8T 


-gsz 


oi  -  nie 

i 


oi  -  me! 
1 


Mi 


1 1 


se  -  ro 

l 


1)  Ich  habe  die  orwähnte  Szene  der  Klage  um  £uridice  nach  Pori's 
Coraposition  von  der  Stello:  „Dunqu'e  pur  ver"  an  wiederholt  öffentlich  auf- 
fahren lassen.  Die  Sänger  (Solisten  und  Chor)  gewannen  die  Sache  mit 
jeder  Probe  lieber,  und  die  Wirkung  auf  die  Zuhörer  war  jedesmal  eine 
grosse.  Der  einigemal  wiederholte  Zug,  den  man  in  der  Aufzeichnung 
kaum  beachtet,  wie  auf  das  „Sospirate"  der  Nymphe  der  volle  Chor,  wie 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


265 


■  - — -«  .  - 


Mi 


I 


3a: 

t — r 

se  -  ro 


gebraucht  Peri,  um  der  Wahrheit  des  Ausdrucks  willen,  in  wirk- 
samer Weise  die  Fortschreitungen  in  verminderter  Quinte  (c-fis 
und  d-gis),  welche  nach  contrapunktischen  Prinzipien  unter  die 
verbotenen,  ja  unter  die  „unmöglichen"  gehören.  Schon  Doni 
hebt  diese  Stelle  beifhilig  hervor  und  bemerkt  dazu:  „Si  espri- 
mono  ancora  bene  questi  lamenti  interrotti,  come:  obiine,  ahi 
lasso,  oh,  ah,  con  intervajli  duri  e  straordinarj,  e  diversi 
dove  si  reiterano".  *)  In  stufenweisen  Fortschreitungen  findet 
Doni  hinwiederum  den  Ausdruck  des  Grossartigen:  „il  procedere 
di  salti  non  solo  verso  l'acuto,  ma  anco  verso  il  gravc  esprimc  il 
costume  grande  e  magnifico;  il  che  e  stato  ottimamente  osservato 
dal  Peri,  dove  introduce  Plutone  che  risponde  ad  Orfeo,  che  lo 
supplicava  a  rendergli  Euridice  con  magnanimo  costume  quelle 
belle  parole: 


Si   dol  -  ci  preghi 


e     si   so  -  a  -viac-  cen-ti 


Caccini  bringt  diese  Stellen  minder  kühn  und  viel  gleich- 
giltiger  : 


Oi  -  mh   mi  -  se  -  ro  su  quell' 


si  dol-ci  preghi  e   si  so- 


m 


auf  ein  Stichwort  antwortend,  einfallt  —  der  Gegensatz  des  Unisono- 
Chores  „cruda  niorte"  zu  dem  in  seiner  Einfachheit  so  volltönigen  funf- 
Btimmigen  „Sospirate4'  u.  s.  w.  wirkt  zauberhaft.  Von  reizendstem  Wohl- 
klang ist  das  kleine,  auch  contrapunktisch  treffliche  Trio  „ben  nocchier44. 
Caccini  hat  das  Alles  ähnlich,  sehr  ähnlich,  aber  viel  geringer.  Und  doch 
wurde  gerade  diese  Stelle  1600  in  Florenz  nach  seiner,  nicht  nach  Peri's 
Composition  gesungen. 

1)  Deila  mus.  scen.  Parte  I:  alcune  altre  osservazioni  per  lo  musiche 
sceniche  (Opp.  II.  Band,  Anhang  S.  35). 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


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a  -  vi  accen 

-  ti  non 

UU—  - 

Es  ist  bemerkens werth ,  dass  Doni  von  Caccini's  Earidice, 
welche  er  doch  gekannt  haben  muss,  völlig  schweigt,  dagegen 
aus  Peri's  Composition  (und  aus  Monteverde's  „Ariamia")  mehr 
als  ein  lehrreiches  Beispiel  dramatisch  wahren  Ausdrucks  herbei- 
holt. So  bemerkt  er:  „che  questi  omei,  o  interiezioni  dolenti 
fanno  buonissimo  effetto  proferite  in  sincopa,  come  qui  si  vcde 
neir  Euridice: 

> 

(Arcotro.) 


1 


Che      nar  -  ri? 


Ol 


me! 


che      sen  -  to? 


^1 


So  findet  Doni  in  der  Betonung  der  Worte,  welche  dicjwie- 
derkehrende  Euridice  an  den  Chor  richtet: 


m- 


— -¥■ 


a   che  piü      dub-bie,      a   che  pen 

J  _J  


so  -  se   sta  -  te? 

m  I. 


i 


II 


den  Frageton  meisterlich  getroffen.  „Neil'  interrogazioni",  sagt 
er,  ,,non  bisogna,  che  1* ultima  nota  sia  bianca;  ma  piuttosto  ncra 
e  veloce,  come  ha  osservato  bene  il  Peri,  dove  Euridice  parla 
cosi  alle  Ninfe  del  coro"  u.  s.  w. 

Es  ist  merkwürdig  hier  zu  sehen,  wie  die  Geistreichen  und 
die  Kenner  die  Leistungen  der  Tonsetzer  neuen  Stylcs  entgegen- 
nahmen und  beurthcilten.  Zur  vollen  Würdigung  der  Arbeiteu 
Peri's  (und  Caccini's)  sind  jene  überhaupt  viel  Treffendes  und 
Lehrreiches  enthaltenden  Tractate  Doni's  von  grosser  Wichtigkeit 
—  man  muss  auch  die  Zeitgenossen  hören  und  thut  den  Meistern 
Unrecht,  wenn  man  an  sie  ganz  unbedingt  allein  nur  den  Mass- 
stab anlegt,  den  wir  Späteren  uns  nach  den  Leistungen  einer 
hoch  ausgebildeten  Tonkunst  zurecht  gemacht  haben,  —  einer 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


267 


Kunst,  für  welche  Peri  und  Caccini  vorläufig  doch  nur  erst  die 
Grundzüge  suchten  und  fanden. 

Von  grosser  Wichtigkeit  für  die  dramatische  Gestaltung  sind 
endlich  die  Chöre.  Sie,  welche  in  der  späteren  italienischen  Oper 
mehr  und  mehr  in  den  Hintergrund  gedrängt  werden  und  endlich 
so  gut  wie  verschwinden,  spielen  einstweilen  eine  sehr  wichtige 
Kolle,  wenn  auch  (nach  Art  der  griechischen  Chöre)  mehr  nur 
Antheil  an  den  Hauptpersonen  nehmend,  reflektirend,  jubelnd, 
klagend,  als  thätig  in  die  Handlung  eingreifend. 

Dass  man  im  Hause  Corsi  überhaupt  Chöre  für  zulässig  er- 
klärte —  denn  in  der  That  ist  es  nichts  weniger  als  natürlich, 
dass  eine  ganze  Volksmenge  gleichzeitig  bis  aufs  Wort  dasselbe 
sagt  —  wird  dadurch  begreiflich,  dass  es  bei  der  Keform  der 
Musik  nicht  sowohl  auf  die  einfache  Naturnachahmung  (den  Popanz 
der  späteren  italienischen  Aesthetiker)  ankam,  als  auf  eine  Wie- 
dergeburt der  Musik  in  antikem  Geiste.  Die  Griechen  aber 
hatten,  wie  bekannt,  den  Chören  grosse  Wichtigkeit  beigelegt. 
Die  Naturnachahmung  des  Redetones  im  Stile  rappresentativo 
u.  s.  w.  sollte  eben  nur  ein  Mittel  zum  Zwecke  jener  Wieder- 
geburt, nicht  selbst  der  Zweck  sein. 

Wäre  es  streng  nach  den  Grundsätzen  der  ästhetisch-musi- 
kalischen Coterie  im  Hause  Bardi  gegangen ,  so  mussten  die 
Chöre  das  Aussehen  haben,  wie  etwa  die  älteren  Versuche  Paul 
Hoffhairaer's,  Ludwig  Senfl's  u.  A.,  Verse  der  römisch-klassischen 
Dichter  metrumgerecht  in  Musik  zu  setzen,  volle  Accorde  in  ein- 
fachsten Harmoniewendungen,  welche  das  Vcrsmass  abtrommeln 
und  wobei  natürlich  Sopran,  Alt,  Tenor  und  Bass  in  der  Text- 
legung  immer  alle  mit  einander  genau  dieselbe  Sylbe  auszu- 
sprechen haben  —  daher  denn  auch  Nachahmungen  u.  dgl.  un- 
möglich bleiben.  Diese  Art  von  Chorgesang  kommt  in  der  Eu- 
ridice  beider  Tousetzer  in  der  That  auch  vor,  doch  nicht  aus- 
schliesslich. Sie  erinnern  sich  in  den  mehrstimmigen  Sätzchen 
und  Sätzen  denn  zwischendurch  doch  auch,  dass  sie  ihren  con- 
trapunk tischen  Cursus  gehörig  absolvirt,  dass  sie  früher  als  Ma- 
drigalisten im  polyphonen  Tonsatze  geschrieben  haben.  Gleich 
der  erste  Chor  bei  Peri  „al  canto,  al  ballo"  lässt  sich  sogar  an, 
als  wolle  er  auf  gut  altniedcrländisch  eine  „fuga  ad  minimam" 
werden, 

I      I     j        I     J  [Iii 


±  ;  ± 


r  1  r  r 

was  freilich  nicht  lange  dauert.  Caccini  führt  in  demselben 
Chore  seiner  Oper  die  beiden  Soprane  gleichfalls  imitatorisch  ein. 
So  schliesst  Peri  die  erste  Hirtenscene  (vor  der  Orcusscene)  mit 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


einem  kurzen  fünfstimmigen,  ganz  entschieden  polyphon  gehalte- 
nen Chor;  wobei  nur  der  ruhigere,  aber  kräftige  und  lebendige 
Gang  der  tiefsten  Stimme  an  den  Grundbass  der  harmonischen 
Homophonie  in  etwas  anklingt: 


Al-ziam  lo  voci  e'l 


can-tan-do  can- 


Al-ziam  le   voci  e'l 


cor 


I 


AI 


ziam  le  vo 


ci  e'l  cor 


^2 


Al-ziam  le  vo 


ci  e'l   cor  can- tan -do  can- 


AI 


ziam  le  vo 


ci  e'l  cor 


1)  Dieser  Passus  und  ein  ähnlicher  im  Chor  ,,al  canto  al  ballo"  ist 
sehr  merkwürdig  und  wichtig,  weil  er  klar  zeigt,  dass  Stellen  diosor  Art 
nicht  streng  diatonisch  gesungen  wurden,  sondern  dass  der  Sänger  z.  B.  hier 
tis  statt  f  sane,  als  Hilfsnote,  —  der  Componist  aber  aus  guter  alter  Ge- 
wohnheit das  «  nicht  hinschrieb,  weil  „es  sich  ja  von  selbst  verstand". 
(Im  Chor  „al  canto"  steht  übrigens  vollends 


NB. 


Sang  der  Sänger  f,  so  entstanden  Quintparallelen,  welche  nicht  nur  nach 
damaliger  Lehre  streng  verpönt  waren ,  sondern  auch  das  Ohr  beleidi- 

c 

gen  und  abscheulich  klingen,  während  die  verminderte  Quinte  £f  jeden 
Anstoss  behebt.  Peri  und  Caccini  aber  hatten  ein  feingebildetes 
Ohr! 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  269 


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tan-do  can 

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1— 

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can     -     tan      -      doal     cie    -  lo 


Aehulich  im  Schlusschor:  „Biondo  arcicr"  —  wiederum  mit 
leichten  Nachahmungen  u.  s.  w. 

Den  homophonen  Chören  darf  man  nachrühmen,  dass  sie 
wohltönige  Harmonie,  mitunter  sogar  eine  durch  kräftigen  Cha- 
rakter recht  wohlgefällige  haben,  wenn  man  gleich  eben  so  wenig 
in  Abrede  stellen  darf,  was  Kiesewetter  sagt,  dass  sich  in  ihnen 
„die  Urheber  des  dramatischen  Stylcs  weder  als  grosse  Contra- 
puuktisten  noch  als  erfinderische  Köpfe  zeigen".  Wie  die  Reci- 
tation  der  einzelnen  Interlocutorcn  etwas  Psalmodieartiges  hat,  so 
haben  diese  Chöre  einen  gewissen  Anklang  au  die  falsi  bordoui 
des  Kirchengesanges.  Dramatischen  Charakter,  charakteristische 
Färbung  als  Hirtenchöre  und  Chöre  der  Gottheiten  des  Orcus 
zeigen  sie  auch  nicht  entfernt.  Erst  Montevcrde  hat  in  seinem 
„Orfeo"  den  glücklichen  Griff  gethan,  durch  die  Form  des  Siciliauo, 
die  ihm  wie  zufällig  in  die  Finger  läuft,  den  richtigen  Pastoral- 
styl  angedeutet  zu  haben,  und  erst  Cavalli's  Geister  des  Orcus 
(in  „le  nozze  di  Peleo  e  di  Tetide"  und  noch  besser  im  „Giasone") 
singen  so,  dass  wir  sie  als  Bewohner  des  Keiches  der  Unterwelt 
erkennen.  Wenn  aber  nicht  in  den  Hirtenchören,  so  hat  doch 
einmal  auch  Peri  den  Eklogencharakter  richtig  getroffen,  und 
zwar  auch  nur  durch  Anlehnung  an  Volksmusik.  Das  von  drei 
Flöten  auszuführende  Ritornell  des  Liedes  seines  Tirsis  ist  die 


270 


Dio  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


treue  Nachahmung  der  Musik  der  römischen  Pifferari.  l)  (Fran- 
cesca  Caccini,  Giulio's  Tochter,  hat  hernach  in  ihrer  liberazione 
di  Ruggiero  Peri's  Dreiflötenstück  so  gut  wie  copirt.)  Bemerkens- 
werth ist  ferner,  dass  Peri  und  Caccini  manche  Chorsätzchen  im 
Unison  singen  lassen,  —  etwas  ganz  Neues,  wovon  sich  die  con- 
trapunktische  Zeit  nichts  hatte  träumen  lassen.    Sonst  sind  die 
Chöre  fünfstimmig  —  nur  jene  im  Orcus  machen  eine  Ausnahme 
und  sind  zu  vier  Stimmen  geschrieben.    In  den  polyphon  gehal- 
tenen Chören  macht  sich  melodische  Erfindung  geltend,  wie  es 
auch  bei  Sätzen,  in  denen  Nachahmungen  u.  s.  w.  vorkommen 
sollen,  unentbehrlich  ist.    In  den  homophonen  klingt  der  Gang 
der  Oberstimme  beinahe  wie  das  zufallige  Resultat  der  vom  Com- 
ponisten  beliebten  Harmoniefolgen  —  zum  erstenmale  wird  hier 
mit  Accordsäulen  gearbeitet,  mit  wirklichen  „Folgen  von  Drei- 
klängen", während  noch  bei  Palestriua  die  Harmonie  das  Resul- 
tat der  polyphon  neben  einander  hingehenden  Stimmen  ist.  In 
dieser  Beziehung  sind  die  homophon  gehaltenen  Chöre  der  Euri- 
dice  eine  merkwürdige  Ankündigung  der  neuen,  gründlich  ver- 
änderten und  verändernden  Zeit.     Als  ausdrucks-  und  empfin- 
dungsvoll  kann  man  unter  den  Chören  nur  den  Chorrefrain  nen- 
nen: „Sospirate  aurc  celesti,  lagrimate  selve  e  campi",  der  wie- 
derum bei  Caccini  und  bei  Peri  genau  dieselbe  Färbung  hat;  es 
ist  ein  kurzer  Klageruf,  der  gerade  durch  seine  Einfachheit  und 
schlichte  Wahrheit  ergreift.    Die  Tanzchöre  haben  den  Charakter 
der  gesungenen  „Balli",  wie  wir  sie  bei  Monteverde  u.  A.  finden, 
den  eigentümlichen  Charakter  der  Tanzmusik  jener  Zeiten  über- 
haupt, welche,  wo  sie  sich  nicht  ans  Volkslied  und  den  Volks- 
tanz lehnt,  sondern  vornehm  und  distinguirt  sein  will,  eine  selt- 
same halbkomische  Grandezza  annimmt  und  sich  etwas  steifbeinig 
anlässt.      Bei  Peri  gestaltet  sich   der  Schlusschor  zu  einem  in 
seiner  Art  brillanten  Schlussballet:  erst  Tanzchor  zu  fünf  Stimmen, 
darnach,  als  Episode ,  ein  ganz  anmuthiges  kleines  Terzett  ohne 
Tanz  („questo  a  tre  senza  ballare"  steht  dabei)  und  dann  ein  „Ritor- 
nello*'  von  Instiumenten;  als  Balletmusik  für  zwei  Solotänzer: 


Questo  Ritornello  va  roplicato  piü  volte,  o  ballato  da  due  soli  del  Coro. 


1)  Oulibicheff  verhöhnt  das  „Dudolsackstnck4*.    Doch  was  verhöhnt 
er  nicht,  wo  es  sich  um  Verherrlichung  seines  Mozart  handelt?  Natür- 


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Die  Zeit  der  ersten  ramikalisch-dramatiichen  Werke. 


271 


P 


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X: 


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1 


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Diese  Sätze  werden  strophenweise  und  abwechselnd  wieder- 
holt Caccini  begnügt  sich  mit  einem  strophenweise  zu  singenden 
Schlusschor.  Dass  von  Duetten,  Trio's  u.  s.  w.  im  Sinn  der  spä- 
teren Oper  keine  Rede  sein  könne,  ist  eine  consequente  Folge 
des  für  die  Musik  festgestellten  Prinzips.  Doch  treten  an  Stelle 
des  vollen  Chores  zuweilen  Sätzchen  zu  zwei  oder  drei  Solostim- 
men —  so  ist  bei  Caccini  das  „bon  nocchier"  als  Duett  zweier 
Nymphen  behandelt.  Die  Hauptpersonen  aber  singen  immer  nur 
dialogisirend.  Für  die  künstlerische  Disposition  und  Wirkung  des 
Ganzen  sind  die  Chöre  von  grösster  Bedeutung.  Das  unaufhör- 
liche recitativische  Pathos  des  Dialogs  müsste  endlich  geradehin 
unausstehlich  weiden,  man  würde  sich  wie  in  einer  Wüste  fühlen, 
deren  Ende  nicht  abzusehen  ist,  träten  nicht  immer,  wie  einthei- 
lende  Marksteine,  wie  erfrischende  Oasen,  die  Chöre  ein.  Sie 
werden  in  den  grösseren  Szenen  refiainartig  wiederholt  und  bringen 
dadurch  eine  Art  glücklicher  arcliitektonischer  Disposition,  eine 
Art  von  Symmetrie  hinein.  Die  Klageszene  der  Hirten  verdankt 
ihre  bedeutende  Wirkung  zum  guten  Theil  dem  immer  wieder 
einfallenden  Chore :  Sospirate  u.  s.  w. 

Die  Begleitung  ist  ein  einfacher  bezifferter  Bass.  Jeder 
Strophe  des  Prologs  folgt  ein  kurzes  zweistimmig  geschriebenes 
Ritornell;  ausserdem  bringt  Peri  jenes  Ritornello  des  Tirsis  für 
drei  Flöten  und  das  oben  erwähnte  Tanzritornell.  Sonst  ist  von 
Vor-  oder  Nachspielen  oder  von  selbstständiger  Instrumentalmusik 

lieh  kennt  er,  was  er  weiss,  nur  aus  den  Probefetzen,  die  Burney  für  seine 
bist,  of  mus.  aus  den  Werken  herausgerissen  hat.  Dass  man  erst  dann 
ein  Recht  habe,  mit  dareinzureden,  wenn  man  die  Sachen  gut  und  gründ- 
lich kennt,  fallt  einem  vornehmen  Dilettanten  ,  wie  dieser  Russe  war, 
nie  ein. 


272 


Die  Zoit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


keine  Hede.  Selbst  wo  sich  das  Hirtengefilde  in  den  Orcus  ver- 
wandelt, beginnt  unmittelbar  nach  dem  letzten  Takt  des  Hirten- 
chores das  Recitativ  der  Venus.  Aus  Peri's  Vorrede  erfahren 
wir,  wie  das  Orchester  besetzt  war  —  vornehme  Herren  l)  wirkten 
mit:  Jacopo  Corsi  sass  am  Ciavier  (Gravicembano),  Don  Grazia 
Montalvo  spielte  eine  grosse  Basslaute  (Chitarrone),  Messer  Giovan 
Lapi  eine  grosse  Tenorlaute  (Liuto  grosso)  und  der  gepriesene 
Geiger  Michel  Angelo,  genannt  Dal  Violino,  eine  Lira  grande, 
d.  h.  einen  Contrabass.  Die  generalbassmässige  Austührung  der 
Bezifferung  lag  also  vor  Allen  dem  Herrn  Jacob  Corsi  und  allen- 
falls dem  Messer  Lapi  ob,  welche  dabei  in  der  That  Geschick- 
lichkeit zu  beweisen  hatten.  Sie  blieben  den  Zuhörern  unsicht- 
bar —  nemlich  hinter  der  Szene.  Für  Tirsis'  Ritornell  müsseu 
sich  ihnen  drei  Flöteubläser  gesellt  haben,  denn  das  von  Peri  zur 
Entschuldigung  und  Motivirung  dem  Tirsis  in  die  Hand  gegebene 
„Triflauto"  ist  ein  blosses  Phantasieinstrument.  Francesca  Caccini 
hält  im  Ruggiero  eine  solche  Entschuldigung  nicht  mehr  für  nö- 
thig,  sie  sagt  offenherzig:  „Ritornello,  quäle  va  sonato  con  tre 
Flauti".  Die  Sänger  der  dramatischen  Hollen  lernen  wir  aus 
Peri's  Vorrede  so  weit  kennen,  dass  wir  erfahren:  Aminta,  Signor 
Francesco  Rasi  von  Arezzo;  2)  Arcetro,  Signor  Antouio  Brandi  ; 
Pluto,  Signore  Melchior  Palontrotti  —  „i  piü  eccellenti  musici  de 
nostri  tempi"  bemerkt  Peri.  Die  Daphne  sang  ein  Knabe  aus 
Lucia,  Jacopo  Giusti,  ,,cou  molta  grazia".  Die  Rolle  der  Euridicc 
war,  wie  Caccini  seinerseits  berichtet,  Vittoria  Archilei  anvertraut, 
der  „cantatrice  di  quella  eccellenza,  che  mostro  il  grido  della  sua 
fama"  (die  Rollo  des  Orfeo  war  wohl  Peri  selbst  zugetheilt?). 

Der  Chor  bestand  aus  57  Personen.  Caccini  erwähnt  es 
zwar  nicht  bei  Gelegenheit  der  Euridice,  sondern  des  Rapimento 
di  Cefalo;  da  aber  diese  letztere  Vorstellung  auch  bei  der  Hoch- 
zeitsfeier der  Maria  -von  Medicis  stattfand,  so  waren  sicher  die- 
selben Sänger  auch  in  der  Euridice  beschäftigt.  Unter  den  Zu- 
hörern befand  sich,  wie  Peri  erzählt,  auch  Orazio  Vecchi.  Was 
wohl  der  Componist  des  Amfiparnasso  zu  dem  neuen  Musikstyl 
gesagt  haben  mag? 

Von  dem  dramatischen  Zuge  der  Euridice  ist  in  den  Stücken 
aus  ,,11  rapimento  di  Cefalo",  welche  Caccini  den  „Nuove  musiche" 
beigegeben  hat,  so  gut  wie  nichts  zu  finden.  —  Trotz  der  wirk- 
lichen Darstellung  auf  dem  Theater  (wobei  jener  Chor  von  57 
Personen,  wie  Caccini  ausdrücklich  zu  bemerken  der  Mühe  wertli 
findet,  „in  mezza  luna"  aufgestellt  war)  ist  es  vielmehr  Hof-, 

1)  dentro  la  Seena  fii  Sonata  da  Signori,  per  nobilta  di  sangue 

e  per  ••ccellonza  di  musica  illustri. 

2)  Caccini  gedenkt  seiner  in  don  ..nuove  musiche"  mit  don  Worten: 
„il  famoso  Francesco  Rasi,  nobile  Aretino,  molto  grato  servitore  all'  Al- 
tezza  Seroni8shna  di  Mantova". 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


273 


Fest-  und  Concertmusik  —  zwar  im  neuen  Stile  recitativo,  trotz- 
dem aber  jenen  älteren  Festmusikeu  der  Uebergangszeit  verwandt, 
—  wenigstens  begegnen  wir  in  den  Soli  eben  den  langen  und 
langathmigen  Coloraturen,  wie  Signora  Archilei  mit  ähnlichen  so 
überaus  freigebig  war,  und  das  Ganze  hat  den  gleichen  vorneh- 
men und  prunkhaften,  gleichsam  „hoffähigen"  Charakter,  wie  jene 
alteren  medieeischen  Festmusiken.  Erst  ein  kurzer  sechsstimmiger 
Chor  „ineffabil'  ardore"  —  der  Exposition  eines  Madrigals  im 
Monteverde-Styl  gleichend;  dann  eine  „Aria"  für  Bass,  gesungen 
von  Palontrotti,  der  Chor  da  Capo,  Arie  für  Tenor,  gesungen 
von  Pen",  nochmals  der  Chor,  Arie  für  Tenor,  gesungen  von  Rasi, 
and  zuletzt  ein  Schlusschor  „quand  il  bell'  anno".  Die  sogenann- 
ten Arien  sind  massig  lange  Soli,  in  den  Grundzügen  den  Madri- 
j,TÜen  der  „nuove  musiche"  gleichend  —  alle  diese  Sätzchen  aber 
bilden  erst  zusammen  ein  Ganzes,  dessen  Disposition  übrigens 
keineswegs  unwirksam  ist.  Die  beiden  Chöre  sind  harmonisch 
sogar  von  bedeutendem  Interesse,  denn  der  erste  schlägt  in  der 
verschiedenen  Harmonisirung  desselben  Motives  wiederum  eine 
ganz  neue,  wichtige  Bahn  ein,  wenn  auch  vorläufig  nur  in  leich- 
ter Andeutung  und  wie  halb  unbewusst;  der  andere  (in  G-moll 
zeigt  eine  so  bestimmte  Empfindung  für  Paralleltonart  'B-dur)  und 
Dominanttonart  (D-dur),  nach  welchen  beiden  in  wohlmotivirter 
Weise  ausgewichen  wird ,  dass  sich  auch  hier  die  noue  Zeit  be- 
deutend ankündigt. 

Auch  die  sichere  und  ungezwungene  Behandlung  des  sechs- 
stimmigen Tonsatzes  lässt  die  wohlgeübte  Hand  eines  sehr  tüch- 
tig geschulten  Musikers  erkennen,  der  in  der  That  zu  nichts  in 
der  Welt  weniger  Ursache  hatte,  als  dem  Contrapnnkt  so  viel 
Schlimmes  nachzusagen,  ate  er  seinen  vornehmen  tiorentiner  Freun- 
den zu  Liebe  gethan  hat.  Wenigstens  ist  so  viel  sicher,  dass 
Galilei,  Mei,  Corsi  u.  s.  w.  mit  ihrer  ganzen  griechischen  Gelehr- 
samkeit dergleichen  nicht  entfernt  zu  Stande  gebracht  haben 
würden,  und  dass  es  nicht  ihre  Schuld,  wohl  aber  Caccini's  und 
Peri's  Verdienst  ist,  wenn  sich  die  Musik  nicht  sofort  im  Namen 
Platon's  in  die  flachste,  naturalistischeste,  dilettantenhafteste 
Deklamir-Singerei  und  Klimperei  verlief.  In  diesem  Sinne  ver- 
dienen die  beiden  Tonsetzer  gewissermassen  den  gewöhnlich  Pa- 
lestrina  gegebenen  Titel  von  „Kettern  der  Musik." 

Noch  aber  verdient  eigens  hervorgehoben  zu  werden,  was 
bisher  kaum  Jemand  zu  bemerken  der  Mühe  werth  geachtet  hat: 
dass  wir  nämlich  in  Peri's  und  Caccini's  Compositionen  Werke 
echt  florentinisehen  Geistes  anzuerkennen  haben.  Suchen  wir, 
zur  Vergleichung,  diesen  Geist  vor  Allem  auf  dem  Gebiete  der 
bildenden  Künste.  Jeder  mit  deren  Geschichte  Vertraute  kennt 
den  Charakter  der  Florentiner  Malerschule  von  Giotto  bis  auf 
Domenico  Ghirlandajo  und  selbst  weiter  bis  auf  Lionardo  da  Vinci 

Ambro«,  Geschichte  der  Musik.  IV.  18 


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274        Dio  Zeit  d«r  orsteti  musikalisch-dramatischen  Werke. 

i 

und  Andrea  del  Sarto.  Sie  ist  die  schärfste  Beobachterin  der 
Natur,  der  Wirklichkeit;  aus  diesen  ihren  Beobachtungen  holt  sie 
ihre  Motive  im  Grossen  wie  im  Einzelnen.  Sie  müsste  realistisch 
heissen,  läge  in  diesem  Worte  nicht  ein  gewisser  Nebenbegriff  des 
Gemeinen,  der  blossen  Naturnachahmung  nach  der  äusserlichen 
Erscheinung  der  Dinge.  Aber  die  Werke  jener  Florentiner  haben 
höheren  Charakter,  eine  eigene  Noblesse,  sie  haben  Styl,  und 
kraft  dessen  tiberglänzt  und  adelt  ihren  Realismus  ein  idealer 
Zug.  —  Die  Personen  in  den  Gemälden  Masaccio's,  Ghirlandajo's 
u.  8.  w.  sehen  zugleich  aus,  wie  scharf  nach  dem  Leben  erfasste 
und  gemalte  Bildnisse  (was  sie  auch  wirklich  sind!)  und  wie  all- 
gemeingiltige  Repräsentanten  menschlicher  Typen  für  alle  Zeiten. 
Dazu  sind  die  Florentiner,  als  die  Ersten  der  Renaissance,  wie 
natürlich  auch  die  eifrigsten  Bewunderer  der  Antike,  ohne  sich 
doch  von  ihr  unbedingt  beherrschen  zu  lassen.  Diese  Züge 
wiederholt  genau  der  Florentiner  Opernstyl :  die  ganz  eigene  Ver- 
bindung, ja  Verschmelzung  von  Naturbeobachtung  bis  zur  reali- 
stischen Naturnachahmung  mit  jenem  höheren  Styl,  welcher  die 
Dinge  aus  der  niederen  Sphäre  des  Alltäglichen  in  die  Regionen 
des  Idealen  emporhebt  und  sie  eben  dadurch  adelt;  der  feine 
Duft  von  Bildung,  der  sich  tiberall  fühlbar  macht;  die  eigentüm- 
liche Florentiner  Noblesse;  die  Einwirkung  der  Antike  (hier:  der 
Tradition  über  antike  Musik),  ohne  dass  diese  zur  Despotin 
werden  darf,  da  die  Künstler  vielmehr  in  Vielem  freie  Hand  be- 
halten. An  technischer  Vollendung,  an  Schönheit  stehen  die 
Werke  der  bildenden  Kunst  freilich  auf  einer  ganz  anderen 
Stufe  —  der  Geist  aber,  der  jene  wie  diese  belebt,  ist  derselbe, 
der  specifisch  Florentinische  Kunstgeist.  Es  wird  erst  recht  klar, 
wenn  mau  den  um  nur  wenige  Jahre  jüngeren  „Orfeo"  des  Mon- 
teverde  mit  der  „Euridioe"  der  beiden  Florentiner  vergleicht  — 
der  oberitalienische,  später  in  Rom  sesshafte  Meister  zeigt  ganz 
den  verschwenderischen  Luxus,  die  Prachtliebe,  die  Freude  am 
reich  Geschmückten,  Farbigen,  Glänzenden,  die  den  Venezianern 
in  den  Künsten  von  jeher  eigen  gewesen. 

Nicht  blos  Florenz  sah  im  Jahre  1600  den  neuen  Musikstyl 
ins  Leben  treten,  auch  Rom  wurde  durch  die  Aufführung  eines 
der  neuen  Richtung  angehörigen  Werkes  mit  den  Florentiner 
musikalischen  Refonnideen  bekannt  gemacht.  Dort  nahm,  wie 
es  bei  der  damaligen  Stimmung  Roms  zu  erwarten  stand,  die 
Sache  sofort  die  Richtung  ins  Didaktische  und  Religiös-Erbauliche. 
Im  Betsaale  (Oratorio)  des  Klosters  zu  S.  Maria  in  Vallicella,  der 
Stiftung  des  h.  Philipp  Neri  *)  wurde  das  musikalische  Drama 


1)  l>er  Betsaal  ciistirt  noch.  Am  17.  Dezember  1865  hörte  ich  dort 
das  Oratorium  S.  Giovanni  Battista  v»n  einem  modernen  römischen  Com- 
poniston  Gaetano  Capocci  —  ein  Donizettisirendes  Machwerk. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


275 


„la  rappresentazione  di  anima  e  di  corpo"  aufgeführt,  Musik 
von  Emilio  de'  Ca v alier i.  Die  Poesie  war  von  Laura  Gui- 
diccioni,  die  wir  mit  ihren  Dichtungen  jederzeit  als  treue  Ge- 
hilfin Emilio's  antreffen.  Der  Componist  erlebte  diese  Aufführung 
nicht  mehr.  —  Das  Werk  selbst  wurde  von  Alessandro  Guidotti 
herausgegeben ,  dem  Cardinal  Aldobrandini  gewidmet  und  mit 
einer  sehr  umständlichen  Vorrede  ausgestattet.  Der  Text  ist 
eine  Allegorie,  in  welcher  lauter  personifizirte  Begriffe,  lauter 
Abstractionen  die  Bühne  beschreiten,  tanzen,  dazu  im  Stile 
recitativo  singen  und  sich  selbst  auf  Instrumenten  begleiten, 
welche  sie  auf's  Theater  mitbringen.  Da  ist  die  „Zeit"  (il  tempo), 
das  Leben  (la  vita),  die  Welt  (il  mondo),  das  Vergnügen  (il 
piacere),  das  richtige  Verständniss  (1'  intelletto),  der  Körper  (il 
corpo)  u.  s.  w.  Das  Ganze  ist  ein  merkwürdiges  Zurück- 
greifen auf  die  Moralitäten,  wie  sie  im  14.  und  15.  Jahr-  ■ 
hundert  in  Italien  gebräuchlich  waren.  Schon  der  Titel: 
, .Rappresentazione  dell'  anima  e  del  corpo"  ist  bemerkenswerth, 
denn  die  gewöhnliche  Bezeichnung  für  das  italienische  geist- 
liche Drama  war  eben  Rappresentazione ,  sonst  auch  wohl, 
und  zwar  ganz  synonym :  Sloria,  Esempio,  Mislerio1).  Schon 
in  diesen  alten  Repräsontazionen  wurden  Gesänge  eingemischt, 
Schlusschöre  nach  den  Akten,  auch  wohl  ein  sprechender  — 
nicht  singender  —  Chor  (coro  parlante).  So  finden  wir  denn 
im  15.  Jahrhundert  eine  „Rappresentazione  e  festa  d'  Abraam"  von 
dem  Florentiner  Maffeo  Belcari,  eine  „Rappresentazione  di  S.  Gio- 
vanni e  Paolo"  von  Lorenzo  Magnifico  von  Medicis,  deren  musi- 
kalischen Theil  Heinrich  Isaak  besorgte,  eine  „Rappresentazione 
di  S.  Panuzio"  u.  s.  w.,  ja  1575  eine  „Commedia  spirituale  dell' 
anima"  von  dem  Augustiner  Valerio  da  Bologna.  Wir  begegnen 
in  dem  „Spiel  von  der  Seele"  ebenfalls  personifizirten  Begriffen, 
wie:  la  memoria,  l'intelletto,  la  volonta,  l'odio,  la  fede,  la  sen- 
sualita,  la  carita,  la  pazienza,  Tumilta,  u.  s.  w.;  dazu  einen  Chor 
von  Engeln  und  Dämonen,  welche  um  die  Seele  streiten.  Das 
Werk  Laura  Guidiccioni's  und  Emilio's  erscheint  in  einem  anderen 
Licht,  wenn  man  sich  dieser  Antecedentien  erinnert  —  und  wird, 
als  Versuch  den  neuen  Stile  rappresentativo  auf  diese  Form  des 
mittelalterlichen  geistlichen  Schauspiels  anzuwenden,  doppelt  merk- 
würdig. Die  Gattung  behauptete  sich  zu  Rom  dann  sogar  noch 
bis  tief  ins  17.  Jahrhundert  hinein.  —  Kapsberger's  „Apotcosi  di 
S.  Ignazio",  Stefano  Landi's  „S.  Alessio",  Marco  Marazzoli's  „vita 
umana"  u.  s.  w.  gehören  derselben  Dichtung  an,  bis  endlich  in 
Carissimi's  Oratorien  die  Darstellungsweise  eine  neue  Form  an- 


1)  J.  L.  Klein,  Gesch.  des  Drama's.  IV.  Das  ital  Drama,  1.  Band, 
S.  1S7,  188. 

2)  a.  a.  0.  S.  ISO. 

IS* 


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276 


Die  Zeit  der  eraton  musikalisch-dramatischen  Werke. 


nimmt,  insofern  an  Stellt  der  wirklichen  Aktion  ein  erzählungs- 
weise vermittelnder  „Historicus"  tritt,  und  auf  der  Schaubühne 
auch  in  Rom  die  Götter  und  Helden  der  alten  Welt  die  Hei- 
ligen der  Kirche  und  die  personifizirten  Tugenden  u.  8.  w.  ver- 
drängen. 

Laura  Guidiecioni's  Dichtung  ist  also  ein  richtiges  Mysterium 
alten  Styls,  und  die  Grundidee,  wie  natürlich,  im  Sinne  der 
strengsten  Ascese  durchgeführt.  Welt,  Leben,  Körper,  Vergnü- 
gen werden  so  anschaulich  und  eindringlich  wie  möglich  in  ihrer 
Nichtigkeit  und  Wertlosigkeit  dargestellt  „ —  che  questa  vita 
e  un  vento,  che  vola  in  un  momento"  wie  es  im  Texte  heisst  — ; 
nach  den  Erläuterungen  Guidotti's  sollen  z.  B.  „il  mondo"  und  „la 
vita  humana"  anfangs  prächtig  geputzt  in  reichen  Kleidern  auf- 
treten, als  ihnen  aber  letztere  abgestreift  werden,  erscheinen  sie 
elend  und  armselig,  zuletzt  gar  wie  Todtengerippe.  Die  Vor- 
schriften, welche  Guidotti  giebt,  sind  mitunter  erstaunlich  naiv 
und  lassen  das  ganze  Schauspiel  im  Vergleiche  zu  dem  tüchtigen 
Anlauf,  welchen  man  gleichzeitig  in  Florenz  nahm,  kindisch  ge- 
nug erscheinen.  So  soll  „il  corpoli  bei  den  Worten  „Se  hormai 
alraa  mia"  etwas  von  seinem  Schmuck  wegwerfen  —  die  goldene 
Halskette  etwa,  oder  die  bunten  Federn  von  seinem  Hut  u.  s.  w., 
die  handelnden  Personen  sollen  musikalische  Instrumente  in 
Händen  halten  und  sie  spielen  oder  doch  dergleichen  thun,  als 
ob  sie  spielten  —  „ma  quasto  c  una  mera  chimera"  ruft  Doni 
aus.  x)  Emiüo  dachte  anders:  dies  werde  der  Täuschung  besser 
dienen,  als  ein  den  Zuschauern  sichtbares  Orchester  („Concerto")  — 
insbesondere  vom  „Vergnügen"  sagt  Guidotti  (es  ist  der  Mühe 
werth,  wörtlich  zu  zitirenj  folgendes:  „il  piacere  c6n  Ii  due 
compagni  sara  bene,  che  abbiano  stromenti  in  raano  etsi  suonino 
i  loro  ritornelli;  uno  potra  avere  un  chitarrone,  l'altro  una  chi- 
tarrina  alla  Spagnuola  et  l'altro  un  cimbaletto  con  sonagline  alla 
Spagnuola,  che  lacci  poco  rumore,  partendosi  uoi  sonnerano  ruitimo 
ritornello".  Man  sieht,  wie  lebhalt  in  Emillo  die  Reminiscenzen 
an  seine  Festmusik  von  1591  waren,  wo  die  Damen  Vittoria, 
Lucia  und  Margherita  nicht  blos  sangen  und  tanzten,  sondern 
ihren  Gesang  und  Tanz  auch  mit  Guitarre  und  Glockenspiel 
accompagnirten.     Dem  Chor  wurden  die  Plätze  auf  der  Bühne 

palco)  selbst  angewiesen,  theils  zum  Sitzen,  thcils  Stehplätze, 
angesichts  der  handelnden  Hauptpersonen  —  die  Sitzenden  haben 
„beim  Singen  aufzustehen  und  dabei  entsprechend  zu  gesticuliren". 

Welch  seltsames  Zwitterding  von  concertmässiger  und  drama- 
tischer Aufführung.)    Das   eigentliche  Orchester  ist  hinter  der 


1)  Tratt.  della  mus.  scen.  Cap.  XL  „Che  e  cosa  ridicola.  che  gli 
attori  cantiao  e  insieme  ballino  e  snonino".  Doni  erwähnt  ausdrücklich 
Emilio's  (Opp.  II,  S.  115). 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  277 


Bühne  aufgestellt  und  bleibt  den  Zuhörern  unsichtbar.  Es  be- 
schränkt sich  auf  eine  Lira  doppia  (Gambe  ,  ein  Clavicembalo 
eine  grosse  Basslaute  (Chittarrone)  und  zwei  Flöten  „overo  Tibie 
all'  antica".  Dazu  will  die  Vorschrift  Guidotti's  nicht  passen: 
die  Symphonien  und  Ritornelle  seien  von  Instrumenten  in  grosser 
Zahl  auszuführen.  „Un  violino  suonando  il  soprano  per  Tappunto 
fara  buonissimo  effetto".  Zur  Einleitung  ist  ein  Madrigal  mit 
doppelt  besetzten  Stimmen  und  vielen  Instrumenten  vorzutragen. 
Dann  hebt  sich  der  Vorhang,  zwei  Jünglinge  treten  als  Prologus 
auf,  ihnen  folgt  der  Zeitgott  (il  tempo),  die  Instrumente  deuten 
ihm  den  Ton  an  u.  s.  w.  Das  Schlussballet  bei  dem  Chor 
„Chiostri  altissimi  e  stellati"  soll  ernst,  würdig  und  feierlich  sein : 
der  Chor  dazu  soll  mit  doppelter  Stimmen-  und  Instrumentenzahl 
ausgeführt  werden.  Während  der  Ritornelle  tanzen  vier  Solotänzer 
„cou  capriole"  (!)  und  wenden  nach  Ermessen  bald  die  Pas  der 
„Gagliarde",  bald  jene  des  „Canario44,  bald  jene  der  „Corrente44  an 
Wir  erkennen  den  Arrangeur  des  Ballettes,  welches  1 589  so  grossen 
Enthusiasmus  erregte!  —  Das  Werk  mag  wohl  unter  dem  un- 
mittelbaren Eindrucke  der  „Dafhe44  Peri's  und  in  Florenz  ent- 
standen sein,  war  aber  ganz  sicher  für  Rom,  Emilio's  Vaterstadt, 
bestimmt  —  die  Florentiner  Kunstfreunde  würden  an  der  darin 
dargelegten  Lebensauffassung  schwerlich  viel  Geschmack  gefunden 
haben.  Die  Schreibart,  die  Anordnung,  die  Declamation  ist 
wesentlich  Florentinischer  Reformstyl,  aber  weit  geringer  und  be- 
fangener, als  wir  ihn  bei  Peri  und  Caccini  finden.  Erinnert  man 
sich  jener  Florentinischen  Festmusik  EmihVs  mit  ihren  Nach- 
ahmungen, ihren  Mensural häkeleien  u.  s.  w.,  so  macht  die  Musik 
der  Rappresentazione  geradezu  den  Eindruck  einer  sehr  absicht- 
lichen Simplizität,  welche  hier  freilich  zur  armseligsten  Kahlheit 
wird.  Emilio  geht  Allem,  was  an  den  geächteten  Contrapunkt 
erinnern  könnte,  ängstlich  aus  dem  Wege.  In  den  Chören,  wie 
in  den  Soloparten  ist  recitirende  Deklamation  das  einzig  Bestim- 
mende für  die  Composition  —  von  cantabeln  Stellen ,  wie  sie 
doch  bei  Peri,  bei  Caccini  vorkommen,  ist  so  gut  wie  keine 
Rede.  Die  Melodiebildnng,  wenn  man  dieses  Wort  überhaupt 
hier  anwenden  darf,  ist  kaum  mehr  als  das  halb  zufällige  Resultat 
der  Declamation,  steif,  herb  und  reizlos,  ja  als  wirkliche  Melodie 
kaum  kenntlich.  Die  Harmonie  bewegt  sich  im  engen  Umkreis 
weniger  Formeln  und  zeigt  stellenweise  grosse  Unbeholfenheit, 
ja  in  den  Accordfolgen  zuweilen  wahre  Atrocitäten,  die  man 
nicht  einmal  mit  der  „Kindheit  der  Kunst44  entschuldigen  kann, 
weil  einfach  ein  unverbildetes  Gehör  genügt  haben  würde,  sie 
zu  vermeiden.  Der  Pathos  der  Rede  hat  etwas  von  der  Emphase 
eines  schlechten  Predigers,  ja  gelegentlich  etwas  an  Nacht- 
wächtergesang Mahnendes.  Weder  Erfindung,  noch  Schönheit. 
Es  ist  ein  unaufhörliches  hölzernes  Sylbengeklapper.    Die  Chöre 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


sehen  aus  wie  Falsibordoni ;  Dreiklang  nach  Dreiklang,  meist 
Stammaccorde ,  allenfalls  dazwischen  ein  Sext-  oder  Quartsext- 
accord,  bei  Cadenzen  auch  wohl  die  Septime  als  Vorhalt  auf  dem 
Dreiklang  der  zweiten  Stufe  yor  dem  Subsemitonium ,  wo  dann 
der  Quintsextaccord  des  Doininantseptimenaccordes  den  Schluss 

vorbereitet  (z.  B.    fra£).  Die  Accorde  sind  oft  übel  verbunden — 


.   Für  unleidliche  Stellen  dieser  Art 


• 

und  für  die  gräulichsten  Querstände  hat  Emilio  kein  Ohr.  Offen- 
bare Octav-  und  Quintparallelen  vermeidet  er  indessen.  Die 
Deklamation  folgt  auch  in  den  Chören  auf  das  Genaueste  den 
Textworten.  Dem  Chore  „fate  festa  al  Signore"  hat  sich  indessen 
Emilio  bemüht,  festlichen  Glanz  und  freudigen  Schwung  zu 
geben;  freilich  ist  es  aber  auch  hier  beim  guten  Willen  ge- 
blieben. Im  ganzen  Werke  taucht  ein  einziges  Mal  etwas  auf, 
was  einer  Arie,  einer  cantabel  gemeinten  Melodie  wie  von  W  eitern 
ähnlich  sieht  —  aber  auch  hier  ohne  Gestalt  noch  Schöne,  unge- 
schickt in  der  Harmonie  wie  in  der  Melodie  steif  und  leblos. 
Dass  Emilio  die  schlechte  Wirkung  der  wiederholt  vorkommenden 
verdeckten  Quinten  nicht  hört,  kann  nicht  Wunder  nehmen; 
überhört  er  doch  sonst  oft  genug  noch  Schlimmeres.  Dem  Worte 
wird  aber  wiederum  so  kleinlich  genau  Rechnung  getragen,  dass 
z.  B.  das  im  Texte  vorkommende  Wort  „Sospiri"  eigens  illustrirt 
wird ;  von  wirklichem  Ausdruck  aber  hat  Emilio  so  wenig  eine  Idee, 
dass  er  gerade  dort,  wo  vom  „Riso  lieto"  die  Rede  ist,  eine  ver- 
düsternde Wendung  nach  Moll  macht. 


l'Intelletto. 


O-gni 

9t_  c — f  

cor      a  -  ma  il 

8  _. 

g*   4  ■ 

be  -  ne, 



1 — L    i    1  1 

nessun  vuol 

~ß-  -q 

z£=£  

 J- —  J 

. — .  j  j— 

star    in     pe   -  ne;  quin  -  di       mil-le      de   -   si  -  ri, 


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J 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  279 


quin  -  di    mil  -  le         so  -  spi 

8 


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Ist  nun  aber  das  Werk  auch  trostlos  wie  eine  dürre  Haide, 
wo  keine  Blume  blüht,  kein  Baum  Schatten  giebt,  kein  er- 
frischender Quell  sprudelt,  so  darf  man  dennoch  einen  wichtigen 
Umstand  ja  nicht  übersehen:  während  Peri  und  Caccini  den 
Text  eines  wirklichen  und  echten  Dichters  zu  componiren  hatten, 
welcher  zugleich  mit  seinem  edlen  Wohllaut  auch  die  Sprache 
der  Empfindung  bis  zur  leidenschaftlichsten  Erregung  redet  — 
lag  Emilio  ob,  die  versifizirte  Prosa  (denn  „Poesie"  darf  man  hier 
nicht  sagen),  die  moralisirenden  Sentenzen,  die  erbaulichen  Re- 
flexionen der  Signora  Laura  in  Musik  zu  setzen.  Daran  wäre 
wohl  auch  ein  ungleich  grösseres  Talent,  als  Emilio,  und  eine 
ausgebildetere  Kunst,  als  die  seine,  gescheitert!  An  die  Euridice 
der  beiden  Florentiner  darf  man  denn  also  doch  noch  immer  die 
Forderung  als  an  ein  wirkliches  Kunstwerk  stellen,  an  Emilio's 
Tanima  e'l  corpo  aber  nicht.  Den  Werth,  den  letzteres  Werk 
beanspruchen  darf,  giebt  ihm  blos  die  Stelle,  welche  es  in  der 
Geschichte  der  dramatischen  Musik  einnimmt.  Wäre  Emilio 
wirklich  das,  was  er  nicht  war,  gewesen,  hätte  er  zuerst  die 
Idee  eines  recitirenden  Musikstyls  gefasst:  dann  dürften  wir  ihn, 
sein  Werk  möchte  aussehen,  wie  es  wollte,  als  den  „homme  de 
genie"  begrüssen,  als  welchen  ihn  der  für  ihn  ganz  ungewöhnlich 
begeisterte  Fetis  bezeichnet.    Wie  aber  die  Sachen  stehen,  müssen 


280        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


wir  Bedenken  tragen,  ihm  selbst  auch  nur  ein  glückliches  Talent 
zuzugestehen.  Er  war  ein  geistreicher  Kopf,  fein  gebildet,  er 
hatte  sogar  seine  eingehenden  musikalischen  Studien  gemacht, 
aber  er  war  und  blieb  der  vornehme  Herr  am  Hofe,  den  es  so 
gut  wie  den  Grafen  Bardi  dilettirte,  auch  Musik  zu  componiren. 
Er  nahm  die  Sache  übrigens  nichts  weniger  als  flüchtig  oder 
obenhin,  vielmehr  nahm  er  sich,  wenn  er  einmal  ans  Componiren 
ging,  zusammen,  sein  Bestes  zu  geben,  es  so  gut  und  besser  zu 
machen,  als  die  Andern.  Aber  das  Genre,  an  das  sich  Emilio 
gewiesen  sah,  war  zuerst  ein  ausgearteter,  verflachter  Madrigal- 
styl, Decorationsmusik  für  Hoffeste,  und  später  der  neu  auftau- 
chende, in  seinen  Mitteln  noch  unsichere  und  unbeholfene  recitireude 
Musikstyl.  Hätte  Emilio  hundert  Jahre  früher  oder  hundert  Jahre 
später  gelebt,  so  hätte  für  ihn  eine  oben  in  Blüte  stehende  Kunst, 
die  Meisterwerk  nach  Meisterwerk  brachte,  gethan,  was  sie  sonst 
für  so  viele  begabte  Dilettanten  seiner  Art  that:  sie  hätte  „für 
ihn  gedichtet  und  gedacht"  und  ihm  wäre  vielleicht  Manches  ge- 
lungen, was  an  sich  erfreulich  zu  wirken  vermocht  hätte.  Jeden- 
falls aber  hatte  er  die  Freude,  glänzende  Erfolge  zu  erleben,  und 
auch  die  „Rapprescntazione  dcll'  anima  et  di  corpo"  muss  in 
Korn  'schon  um  der  Neuheit  der  Sache  willen)  einen  bedeuten- 
den Eindruck  zurückgelassen  haben.  Denn  schon  sechs  Jahre 
später  sehen  wir  dort  Agostino  Agazzari  mit  einem  Werke 
hervortreten,  welches  ein  Nachhall  jenes  früheren,  nur  in  seinem 
Umfang  und  seinen  Mitteln  sehr  viel  bescheidener  ist.  Genau 
genommen  stellt  es  eine  Art  Transaction  zwischen  dem  floren- 
tiner  antikisirenden  Götter-  und  Schäferspiel  und  der  römischen 
theologisirend-moralisircnden  allegorischen  Rappresentazione  vor. 
Es  ist  ein  Schuldrama  mit  pädagogischer  Endabsicht.  Man  kann 
Agazzari  nichts  weniger  als  den  Vorwurf  machen,  er  sei  etwa 
kein  durch  und  durch  gebildeter  Musiker  gewesen.  Aber  die 
Wahrheit  zwingt  uns  zu  gestehen,  dass  er  auf  dem  Boden  des 
neuen  Stile  rappresentativo  seine  Sache  ganz  und  gar  nicht  besser 
gemacht  hat,  als  Emilio  —  oder  vielmehr,  dass  Emilio's  „lanima 
e  *1  corpo"  neben  Agazzari's  „Eumelio"  beinahe  noch  das  Aus- 
sehen eines  Werkes  von  Bedeutung  annimmt. 

Der  vollständige  Titel  lautet:  Eumelio,  dramma  paslorale 
rt'citalo  in  Roma  nel  seminario  romano  ne  i  yiorni  del  camovale, 
von  le  musiche  delC  Armonico  inlronato;  Lanno  1606.  Sovamente 
posto  in  luce.    In  Vetiezia,  appresso  Ricciardo  Amadino  MDCYI.  ') 


1)  Folio.  36  Seiten.  Ein  Exemplar  in  der  Musiksanimlung  der 
Chiesa  nuova  (S.  Blaria  in  Valiicella)  zu  Rom.  Fetis  (ad  v.  Agazzari) 
könnt  das  Werk  nicht.  Eben  so  wonig  Beeker.  In  der  Dedicationsvorrede 
widmete  er  (Agazzari)  es  dvm  ,,illustnssimo  Siguore  e  padron,  mio  colen- 
dissimo  il  Signor  Don  Podro  d'Arragona. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  281 

Agazzari  bezeichnet  es  ausdrücklich  als  ein  dramma  pa- 
storale,  das  er  über  Aufforderung  des  Don  Pedro  d'Arragona 
und  anderer  vornehmer  Kunstfreunde  binnen  der  kurzen  Frist 
von  nur  fünfzehn  Tagen  componirt  habe.  *)  Die  Handlung  ist, 
trotz  des  ziemlich  zahlreichen  Personals,  2)  eine  sehr  einfache, 
die  Musik  ist  es  nicht  minder ,  ihr  Styl  erinnert  an  Emil  in  del 
Cavaliere's  Drama.  Nur  dass,  noch  viel  ärmlicher,  die  Chöre 
bloss  im  Unisono  gesetzt  sind.  Vermuthlich  war  den  Zöglingen 
im  Seminario  Romano  ein  Mehreres  nicht  zuzumuthen. 

Aus  den  einzelnen  „Arien"  ist  etwas  wie  die  richtige  Ah- 
nimg einer  ordentlichen,  liedmässigen ,  wohlgegliederten,  harmo- 
nisch wohl  geleiteten  Melodie  herauszufühlen,  aber  allerdings  einst- 
weilen nur  ungefähr  so,  wie  aus  einem  vom  Bildhauer  erst  aus 
dem  Gröbsten  bearbeiteten  Steinblock ,  der  sich  weiterhin  zur 
Gestalt  runden  und  formen  soll,  die  Figur  nur  erst  roh  und  kaum 
errathbar  herausblickt.  Die  Begleitung  das  Gesanges  ist  ein  ein- 
facher Bass.  Die  Deklamation  ist  bis  in's  Kleinste  hinein  sorgsam, 
aber  höchst  steif  und  monoton.  Die  Handlung  wird  von  Apoll 
eröffnet,  der  seinen  Sohn  Eumelio  (den  „Schönsingenden44)  in  die 
idyllische  Einsamkeit  eines  arkadischen  Haines  einführt ;  da  solle 
er  bleiben  und  aus  der  Natur  Ruhe  und  Freude  schöpfen.  .  Eu- 


1)  Was  er  in  der  Vorrede  darüber  sagt,  ist  zu  bezeichnend  für  die 
Zeit,  um  es  hier  nicht  mit  Agazzari's  eigenen  Worten  wiederzugeben;  er 
wolle,  sagt  er,  „rispondere  brovemente  a  qualche  oppositione,  che  tal  volta 
vien  fatta  da  qualche  critico  otioso,  e  da  quelli,  cne  per  saper  mono  degl' 
altrui,  pin  parlano,  e  sempre  senza  addurre  ragioni,  la  quäl  cosa  da  Ari- 
stotele  e  detta  stolta.  Dico  adunque,  ch'  io  ritrovandomi  in  Roma  nel 
seminario  fui  persuaso  un  mese  avanti  il  carnovale  per  trattenimento 
private  di  quella  nobilissima  gioventii  metter  in  musica  questo  dramma, 
quäle,  se  non  per  altro,  mi  piacijue  per  la  bella  et  utile  Allegoria,  ch'  io 

vi  scor^eva.  in  spatio  di  quindici  giorni  per  la  brevita  del  tempo 

composi.  corne  qui  apparisce,  e  nel  medesimo  tempo  fü  imparato  e  reci- 
tato  piü  voite  nello  stesso  seminario  alla  presenza  di  molti  Illustrissimi 

 Et  se  ad  alcun  paresse  stranio  il  non  haver  io  variate  tutte 

l'arie  di  tutte  le  parole,  questo  ho  fatto,  e  per  brevita  e  per  maggior 
commodita  di  chi  altrove  lo  volesse  recitare,  et  anco  per  non  haver  io 
trovato  ragione  alcuna,  perche  si  debbi  variar  sempre  rare  d'uno  stesso 
personaggio,  non  mutando  egli  le  rime,  eccettuata  perö  l'occasione  della 
diversita  de  motivi  et  affetti  contrati,  dovendosi  allora  aecomodar  il  com- 
positor  all'  affetto.  Sovienmi  anchora,  che  non  credo  che  gl'  antichi  Mu- 
sici  nelle  Commedie  et  Tragedie  loro  facesser  questo,  non  che  Omero, 
cantando  il  suo  poema  nella  lira  cambiasse  sempre  diverse  arie"  u.  s.  w. 
Die  Berufung  auf  Aristoteles  und  Homer  ist  so  charakteristisch,  wie  die 
Hinweisung  auf  das  Vorbild  der  antiken  Comödie  und  Tragödie  und  wie 
die  kloinen  Auseinandersetzungen  über  die  wahre  Art  musikalische  Dra- 
men zu  componiren. 

2)  Die  Interlocutori  sind:  Apolline,  Mercurio,  Eumelio,  Plutone,  Ca- 
ronte,  Eaco,  Minos,  Radamanto,  Corbante  nunzio,  Mansilo  pastore,  Coro 
d \*itij,  Coro  de  pasturi. 


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282 


Dio  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


melio  besingt  die  Wälder,  die  er  nicht  um  goldene  Paläste  tau- 
schen möchte: 

Eumelio. 


-*  — 


3 


— ,  r 

sei  -  ve      be  -   a  -  te  a  miei  hor- 


Ca  -  re 


-#  #- 


t 


-&  & 


ro  -  ri,  vo-stra  stan-za  gen-til  non   cange  - 

 i_ 


■JtxL 


re  -  i 


CO' 


e  -  Ii  -   si  al  -  ber  -  go   a  se  -  mi  -  de   -   i,  per 


HE 


cui     real     pallagi  spreg-gio  e  gl'o-ri. 


5 


Ritornello. 


3<r- 


1 


r 


(2)  Oui  non  pinte  colonne  o  aureo  solo 

Ma  in  Iör  vece  un  abete  et  un  cipresso, 
Un  antro  frcsco,  e  la  chiar'onda  appresso, 
Donde  in  Parnasso  poetando  volo. 

(3)  Se  giova  il  crin'  haver  di  gemme  adorno 

Epalagi  habitar  freriati  d  oro 
Ela  matoria  vinea  il  bei  lavoro 
E  servi  e  fanti  rimirar  d'intorno. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  283 


(4)  S'egli  poi  senro  di  piü  vil  catena 
De  8uoi  vani  pensier  fatto  soggetto 
E  di  furie  infernal  sozzo  ricetto 
L'impura  vita  miserabil  mena. 

Bei  der  fünften  Strophe  mischt  sich  das  Echo  ein,  —  die 
beliebte  Spielerei  der  Echoantworten,  wobei  Ruf  und  antwortende 
Schlusssilben  je  eine  andere  Bedeutung  haben. 

(5)  Piamma  del  ciel  pria  m'arda  ch'io  consonti 
La  cetra  serra  ad  dio,  privo  di  lume 

Ch'  il  cieco  volgo  inganna  col  sno 

*  Ecco 


*  0 


rrt 

nume  il  ciel  ammorba  e  gl'  e    -     -  le 


menti. 


Menti. 


■->- 


5 


Eumelio  redet  die  Nymphe  Echo  an,  welche  ihn  fortwährend 
mit  Antworten  neckt,  deren  bedenklicher  Sinn  zu  der  idealen 
Weltanschauung  des  jungen  Poeten  gar  nicht  passen  will;  ja, 
das  Gespräch  wird  beinahe  zum  Wortstreit: 


„  » -z 


iE 


Conche     farai     questo     for-te    pet  -  to     e   miei  pen-sier 

-J  I J 


tanto  di-ver 


si?  Ver 


81. 


I 


4- 


Eumelio. 


-r 


3= 


Co' 


versi  a     Febo      sacri    per  cui     spo-ro  ri-por- 


m 


\ 


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284         Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


tar     im-mor-tal     al   -  lo 


■JL 


1] 


Ecco. 


Eumelio. 


— i  +- 


I/o 


to.      Quando  canterö  forseil  tuo  Tan 


nume?    mai  sara  ch'in  me  allog 


l\cco. 

Ifliltefitil 


Eumelio. 


- 


gi!  0 

333 


poni        a  tanto 


ca  -  so    et     tanta  mu- 


3 


3: 


Ecco. 


tation 


di   -  mora? 


0  -  ra! 


2§E 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


2S5 


Das  Echo -Orakel  erweist  sich  mit  seinem  Schlussworte  so 
zweideutig  und  trüglich,  wie  alle  Orakel  —  „Ora"  kann  eine  Er- 
mahnung au  Eumelio  sein,  im  Gebete  Hilfe  zu  suchen  —  C.ora", 
von  „orare",  beten);  oder  es  kann  auch  heissen,  die  von  der  Nymphe 
prophezeite  Aenderung  werde  sofort  eintreten  —  („ora"  „jetzt" \ 
Die  nächste  Szene  zeigt,  dass  Echo  das  letztere  meint  und  nur 
zu  wahr  gesprochen  hat.  Ein  Doppelchor  von  Lastern,  Sopran- 
stimmen der  eine,  Tenore  der  andere,  tritt  auf  und  liest  dem 
jungen,  unpraktischen  Schwärmer  den  Text: 


Coro 
primo 


Gio-va  -  net  -  to  a  checon  -  cor  -  de  l'auree 

1 


II 


E 


_l  

corde 


la     tua     man     dolce      per  -  coto 


sogni 


 e- 


-9 — 0- 


5=f 


1 


e     fan  -  ta  -  sio      et     ombre        rie,     quel  che 

— i  I  \- 


^3 


± — ± 


Coro  secondo 


canti 


in   dolci  note 

-~4—:-0 


le      virtu     9on    ite  in 


•9 — r 


£3 


1 


Mi 


-0h 


m 


ban  -  do    van  -  no   erran-do    nu  -  de  e   sen  -  za   com  -  pa- 


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286        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


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 1 — — i — 

— i  

-  — 

- 

V 

— 

2. 

I.  Hör  cho  sei  ne  piü  verd'anni 
Ahi,  t'inganni 
Se  1'  eta  non  godi  intera 
Mentre  son  nel'  prato  odori 
Cogli  fiori 

Godi  lieta  priraavera. 
II.  Lasci  pur  rolle  garzone 
Secca  tenzone 

Quel  ch'  Apollo  insegna  in  vano 
Canta  pur  diletti  e  gioie 
Via  le  noie 

Stondi  a  nie  amica  mano 

3. 

L  Se  sapesti,  che  piacero 
E  godero 

Giorno  e  notte  in  festa  e  giuoco 
Certo,  certo,  che  direste: 
Gioe  e  feste 
Fan  beato  in  ogni  loco. 
II.  Canti  solo  in  queste  selvo 
Canti  a  belve 
Ne  si  stima  il  tuo  valore; 
Megli'j  vieni.  ove  fra  linte 
Dive  Ninfe 

Ti  faranno  eterno  honore. 

4. 

I.  O,  se  vuoi  ricchi  palagi 
Con  milT  agi 

Non  ti  niancherann'  altrove 
Lascia  gl'  antri.  lascia  i  boschi 
Neri  o  I'oschi 

Credi  a  Febo  nien  ch'  a  Giove. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  2g7 

II.  Giove  gode  e  vuol  godere 
Suo  piacere 

Onde  e  prencipe  del  ciolo, 
Febo  spesso  in  rozzi  panni 
Prova  1  danni 
Che  Ii  fa  la  neve  e'l  gelo. 

Der  satirische  Ausfall  des  zweiten  Chores  auf  die  Bettelpoe- 
ten fällt  zwar  aus  dem  mythologischen  Tone  des  Ganzen,  ist  aber 
sonst  lustig  genug;  die  Laster  schliessen  ihren  Gesang  mit  fol- 
gender Nutzanwendung: 

Lascia  dunmie,  s'hai  cervello, 

Lascia  quello 

Che  ti  toplie  un  bei  diletto; 
Vieni  in  no.stra  compagnia 
Hur  f  in  via. 

Vieni.  e  godi  a  suo  dispetto. 


Der  verblendete  Eumelio  lässt  sich  das  nicht  vergebens  ge- 
sagt sein,  er  ruft: 


0  0t... f  01. 

=^ 

M= — 

5 

len-1 

£=*  f- 

;o  al  cor  un  dol 

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fo-co  a  po  -  co  a 

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Coro. 


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•>SS        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 

Aber  die  Sache  bekommt  ihm  sehr  übel.  Er  wird  auf  Straf- 
station zu  Pluto  in  den  Orcus  gesteckt.  Aus  diesem  Carcer  wird 
der  junge  Student  endlich  auf  Fürbitte  und  durch  Verwendung 
seines  Vaters  Apoll  erlöst,  gelobt  Besserung,  und  alles  nimmt  ein 
fröhliches  Ende. 

Unvergleichlich  bedeutender  als  Agazzari's  Schuldrama,  ja 
selbst  gegen  Peri  und  Caccini  ein  nicht  zu  verkennender  Fort- 
schritt, ist  die  Composition  Marco's  da  Gagliano  zur  „Dame"  des 
Rinuccini.  Abermals  war  es  eine  fürstliche  Hochzeit,  welche  den 
Anlass  bot  —  der  Sohn  Vincenzo  Gonzaga's,  des  Herzogs  von 
Mantua,  vermalte  sich  1607  mit  der  Infantin  von  Savoyen.  Ri- 
nuccini hatte  sein  Gedicht  für  die  festliche  Gelegenheit  sogar 
theilweise  umgearbeitet,  und  Marco  da  Gagliano  war  aufgefordert 
worden,  es  in  Musik  zu  setzen.  ') 

Der  Tonsetzer,  mit  seinem  vollen  Namen  Marco  di  Zanobi 
da  Gagliano,  gehörte  einer  vornehmen  florentinischen  Familie 
an  —  als  Mitglied  der  Accademia  degl'  elevati  in  Florenz  führte 
er  den  Namen :  „FafTannato",  auf  den  er  Werth  gelegt  zu  haben 
scheint,  da  er  ihn  auf  dem  Titel  blatte  seiner  Dame  eigens  nennt. 
Er  war  Canonicus  von  S.  Lorenzo;  sein  Musiklehrer  war  ein  an- 
derer Canonicus  dieser  Kirche  und  grossherzoglicher  Kapellmeister, 
Luca  Bati,  seinerseits  Schüler  des  Francesco  Corteccia.  Luca  Bati 
hat  unter  Anderm  die  (nicht  mehr  vorhandene)  Musik  zu  einem 
echt  Florentinischen  Spectakel  componirt  —  am  26.  Februar  1 595 
erschien  ein  prächtiger  Maskenzug  von  IS  berittenen  Paaren, 
ein  jedes  von  vier  Stallmeistern  begleitet,  in  den  Strassen  von 
Florenz  unter  dem  Programm-Titel  ,.le  flamme  di  amore"  — 
dabei  ein  Wagen  mit  Sängern  und  Jnstrumentalisten.  2)  Im  Jahre 
1602  ernannte  das  Domcapitel  von  S.  Lorenzo  den  Marco  da 
Gagliano  zu  seinem  Kapellmeister.  Marco's  Compositionen  fingen 
an,  entschiedenen  Beifall  zu  finden  —  besonders  erfreuten  sich 
zwei  Gesangstücke  grosser  Gunst:  „bei  pastor  del  cui  bei  guardo" 
und  „eeco  solinga  delle  selve  amicau.  3)  Auch  als  Kirchencom- 
ponist  war  Marco  thätig;  1579  erschien  bei  Angelo  Gardano  in 
Venedig  ein  Buch  fünfstimmiger  Messen ,  im  folgenden  Jahre 


1)  liitrovandomi  il  carnoval  passato  in  Mantova,  chiamato  da  ouella 
Altezza  per  onoranni,  servendosi  di  me  nelle  rousiche  da  farsi  per  le  re- 
ali  nozze  del  Serenissimo  Principe  suo  figliulo  e  della  Serenissinia  In- 

fanta  di  Savoia  u.  s.  w.,  la  Dafne  del  Sign.  Ottavio  Rinuccini  da 

lui  con  tale  occasione  aecresciuta  ed  abbeliita.  fui  impieghato  a  metterla 
in  niusica,  il  che  io  feci  u.  s.  w.  (Vorrede  der  Dafne). 

2)  Vergl  die  Mittheilung  darüber,  welche  Adrian  de  la  Fage  nach 
einem  Manuscript  des  17.  Jahrhunderts  in  der  Magliabecchiana  gemacht 
hat:  Gazetta  inusicale  di  Milano.  Jahrgang  6,  Nr.  22. 

3)  So  erzählt  der  Florentiner  Arzt  Lorenzo  Parisi.  ein  Zeitgenosse 
Marco's,  in  einem  seiner  Dialoge.  Wir  verdanken  diese  Notizen  den  Mit- 
theilungen Luigi  Picchiantis  t,(3az.  mus.  di  Mit.,  Jahrgang  1&44.  Nr.  I) 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  289 


ebenda:  „Responsorij  della  settimana  santa  a  quattro  voci"  —  und 
eben  so  auch  1630  bei  Bartolomeo  Magni  in  Venedig  Responso- 
rien,  welche  sich  lange  in  Ansehen  erhielten,  —  sie  wurden,  wie 
Luigi  Picchianti  mittheilt,  noch  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderls 
in  St.  Lorenzo  zu  Florenz  gesungen. 

Dafne  trug  dem  Tonsetzer  wohl  den  reichsten  Beifall  ein  — 
denn  er  selbst  erzählt  vom  „inestimabil  diletto,  che  ne  prese  non 
pure  il  popolo  ma  i  Principi  e  Cavalieri  e  i  piü  elevati  ingegni", 
was  er  indessen  bescheidener  Weise  vorzugsweise  der  vortreff- 
lichen Inscenirung  und  Aufführung  zuschreibt.  Er  erlebte  jedoch 
auch  den  Verdruss,  von  Muzio  d'Effrem  (seit  1622  Kapellmeister 
des  Herzogs  von  Mantua)  allerlei  versteckte  Angriffe  zu  erfahren, 
über  die  er  sich  in  einem  offenen  Briefe  „ai  lettori"  beklagte, 
welchen  er  seinem  sechsten  Buche  fünfstimmiger  Madrigale  (1617) 
voranstellte.  Muzio  d'Effrem  antwortete  erst  volle  fünf  Jahre 
später,  da  aber  sehr  gründlich.  Er  gab  1622  ein  Werk  unter 
dem  Titel  heraus:  Censure  di  Mutio  Effrem  sopra  il  sesto  libro 
de  Madrigali  di  Messere  Marco  da  Gagliano,  maestro  di  Cappella 
della  cattedrale  di  Fiorenza.  Das  erste  Blatt  bringt  einen  Wie- 
derabdruck jenes  Briefes,  welchem  Effirem  ein  höchst  nachdrück- 
liches Antwortschreiben  folgen  lässt:  er  werde  die  Unwissenheit 
seine*  Gegners  aller  Welt  vor  Augen  legen.  Und  nun  folgen 
die  Madrigale  Gagliano's,  aber  von  Effrem  mit  Commentaren  und 
Randanmerkungen  ausgestattet,  worin  er  die  Verstösse  gegen 
Rhythmus,  Harmonie  u.  s.  w.  rügt.  Gagliano  überlebte  diesen 
Verdruss  lange  genug  —  er  starb  am  24.  Februar  1642;  die 
Todtenfeier  des  Capitels  für  ihn  fand  zwei  Tage  später  statt.  1  v 

Das  Interessanteste  ist  für  uns  unter  den  Werken  Gagliano's 
unbedingt  seine  „Dafne". '-)  Die  ungemein  lange  Vorrede  ins- 
besondere enthält  eine  Menge  höchst  anziehender  Notizen  und 
Bemerkungen.  3) 

Gagliano  hatte  eine  gefährliche  Concurrenz  zu  bestehen  — 
die  andere  Fest-  und  Vermäluugsoper  war  „Arianna" ,  welche 
der  vom  Herzoge  eigens  nach  Mantua  eingeladene  Rinuccini  für 
die  Feier  gedichtet,  welche  der  herzogliche  Kapellmeister  Claudio 
Monteverde  in  Musik  gesetzt  und  welche  in  ihren  rührenden 
Szenen  die  Zuhörer   zu  Thränen  bewegt  hatte.  *)    Unter  den 


1)  Picchianti  a.  a.  0. 

2)  Ein  Exemplar  (welehes  ich  benutzt  habe)  besitzt  das  Musikarchiv 
der  „Chiesa  nuova"  in  Rom  —  ein  zweites  die  k.  Bibliothek  in  Berlin. 

3)  E.  0.  Lindner  hat  in  seinem  Buche  „Zur  Tonkunst"  übersetzungs- 
weise sehr  bedeutende  Auszüge  gebracht.  Eben  so  J.  L.  Klein,  Gesch. 
des  Drama' s  V,  S.  533.  Die  Vorrede  enthält  sehr  eingehende  Vorschrif- 
ten für  die  Scenirung,  für  die  Art.  wie  der  Chor  sich  aufzustellen,  wie 
er  zu  agiren  hat  u.  s.  w. 

4)  Tra  molte  ammirabili  feste,  che  da  Sna  Altezza  furon  Ordinate 
nelle  süperbe  nozze  del  Serenissimo  Principe  suo  figliulo  e  della  Serenis- 

Aabrot,  Geschichte  der  Musik    IV,  19 


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290 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Mitwirkenden  in  Gagliano's  Oper  treffen  wir  unsere  alten  Bekann- 
ten, den  Arctiner  Francesco  Kasi  (mantuanischen  Hofsänger;  als 
Apollo  und  Signora  Caterina  Martineiii,  von  welcher  Gagliano 
nicht  genug  Gutes  zu  sagen  weiss,  als  Daf'ue. 

Gagliano  ist  nicht  blos  der  Geburt  nach  Florentiner,  er  ist 
es  auch  als  Musiker.  Als  entschiedener  Fortschritt  ist  aber  vor 
allem  die  geregeltere,  freier  entwickelte  Melodiebildung  anzuer- 
kennen —  Gagliano  empfindet  schon  ganz  richtig  die  Notwen- 
digkeit, eine  Melodie  regelmässig  und  symmetrisch  als  Periode 
mit  Vordersatz  und  einem  diesem  Vordersatze  entsprechenden 
Nachsatz  zu  bilden.  60  darf  von  diesem  Standpunkt  aus  folgen- 
des Sätzchen  aus  der  Szene,  wo  die  Hirten  um  Schutz  gegen 
den  Drachen  flehen,  ganz  tadellos  heissen;  man  erkennt  ein  be- 
«timmtes,  dem  Ganzen  zu  Grunde  liegendes  Motiv  u.  s.  w. 
Pastore  del  Coro. 


8Ü,  tra  l'au-  rei  chio-stri,  po  -  te  im  cor  tro-var 


ce,    odi     U     piau     -    to  e    pre  -  ghi    no  -  stri,  ö    del  ciel 

  >  $  


mm  r  ' 


1 — 


? 


Mo  -  nar-  ca  e  Ee. 


sima  lnfauta  di  Savoia,  volle  che  si  rappresentasso  una  favola  in  musica, 
e  queata  fü  l'Arianua,  composta  per  tale  occasione  dal  Signor  Ottavio 
Kiuuccini,  che  il  Signor  Duea  a  quello  fine  fece  venire  in  Mantova,  il 
Sign.  Claudio  Mouteverde .  Musico  eeh-bratissimo,  capo  della  musica  di 
Sua  Altezza,  compose  l'Arit*  in  modo  si  esquisito,  che  si  puö  con  verita 
an'ermare,  che  a\  riuovasse  il  prngio  doli'  antica  musica,  percioche  visi- 
bilmente  messe  tutto  il  teatro  a  la^rime  (Vorrede  der  Dame).  Man  sieht 
beilauiig,  wie  weit  sich  der  Ruhm  der  Florentiner  bereits  verbreitet  hatte. 


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I 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  291 

* 

Coro. 


Odi  il  pian  -  to  e  pre-ghi  no-stri,   6   del  ciel  Mo-nar-cae  R<\ 


J  I  , 


Odi  etc.  (NB.  Im  Original  ist  die  tiefere  Sl  im  nie  im  Tonorschlüssel 
geschrieben.) 

Odi  etc. 


Der  würdige  Ausdruck  dieses  Gebetes,  die  einfach  schöne 
Wirkung  des  antwortenden  vollen  Chores  (die  nur  leider  im  zwei- 
ten Takt  durch  den  äusserst  herben  Querstand  arg  leidet)  ist  für 
jene  Frühzeiten  bemerkenswerth.  Von  dem  Gesänge  der  Daphne: 
,,Chi  da  lacci  d'amore  vivc  disciolto"  bemerkt  Fdtis :  „j'ai  eV; 
trappe*  de  la  melodie  naive  et  pleine  d'expression".  Diese  Me- 
lodÜe  rührt  jedoch  nicht  von  Gagliano  her,  sie  ist  Composition 
eines  nicht  genannten  Akademikers,  von  dem  auch  die  Gesänge 
Apollous  „Pur  giace  estinta  fera  al  fine",  „un  guardo,  un  guardo 
appena"  und  „non  chiami  mille  volte  il  tuo  nome"  componirt 
sind.  Gagliano  bemerkt  es  („per  non  usurpare  le  lodi  dovute 
ad  altri  e  arricchirmi  quasi  cornacchia  d'altrui  penne")  in  der  Vor- 
rede ausdrücklich  und  fügt  bescheiden  hinzu:  „le  quali  arie  lam- 
peggiano  tra  l'altre  mie  come  stelle;  souo  composizione  d'uno  de 
nostri  principali  accademici,  gran  protettore  della  musica  e  grande 
d'intenditore  d'essa".  (Also  wiederum  ein  distinguirter  Dilettant, 
der  seine  Compositioncn  unter  fremder  Firma  in  die  Welt  schickt, 
wie  früher  Jacopo  Corsi  seine  Arien  in  eben  dieser  Daphne-Dich- 
tung  unter  Peri's  Namen!  Erwägt  man  aber,  wie  ganz  arglos 
es  die  Componisten  gelten  lassen,  so  erscheint  auch  Caccini's 
Eingreifen  in  die  Euridice  seines  Kunstgenossen  Peri  in  einem 
milden  Licht.)  Im  Ganzen  kann  man  von  Gagliano's  Dafne  sa- 
gen, dass  ihr  zwar  die  Schwere  der  ersten  Versuche  noch  recht 
fühlbar  in  den  Gliedern  liegt,  trotzdem  aber  die  Bewegung  zu- 
weilen merkwürdig  frei  wird.  Jedenfalls  ist  sie  für  die  Beur- 
theilung  der  raschen  Entwickelung  der  dramatischen  Musik  ein 
wichtiges  und  interessantes  Denkmal. 

Gegen  den  Aufputz  durch  Coloraturen  u.  s.  w.  von  Seiten 
der  Sänger  verwahrt  sich  Gagliano  lebhaft.  Er  wolle  solche 
Zierden  zwar  keineswegs  entbehren,  aber  nur  an  rechter  Stelle 

19* 


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292        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  W«rke. 


sie  angebracht  wissen,  wie  in  Apollo's  Terzinen,  wo  der  gute 
Sänger  vollauf  Gelegenheit  habe,  sich  zu  zeigen: 


Apollo. 


GEB 


Non  cu  -  ri    la    mia     pian   -  ta 


r=fc— x 


9te 


sian'  dal    vi  -  vo 


ral  -  do  e-ter-  ni   pro  -  gi   ne  l'of- 

I 


f—  fes 


fen- da  giani-raai  IM    -     ra  del  cio 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  293 


Da  wäre  nun  wieder  der  wohlbekannte  Florcntinische  Colo- 
raturzopf!  Die  drei  Accorde,  welche  eine  Art  kurzen  Ritornells 
vorstellen,  geben  zu  einer  artigen  Täuschung  der  Zuhörer  An- 
las«. Gagliano  möge  es  selbst  erzählen:  „Non  voglio  anche  ta- 
cere,  che  dovendo  Apollo  nel  canto  de  terzetti :  non  curi  la  mia 
pianta  o  fiamma  o  gelo,  recasi  la  lira  al  petto  (il  che  debbe  fare 
un  bell'  attitudine)  e  necessario  far  apparire  al  teatro  che  dalla 
lira  d' Apollo  esca  melodia  piü  che  ordinaria;  perb  pongansi  quattro 
suonatori  de  Viola  (a  braccio  o  gamba  —  poco  rilieva)  in  una 
dellc  strade  piü  vicina  in  luogo  dove  non  veduti  dal  popolo 
veggano  Apollo  e  secondo  che  egli  pone  l'arco  su  la  lira  suo- 
nino  le  tre  note  scritte,  avvertendo  di  tirare  l'arcati  pari,  acciö 
appariscano  un  arco  solo:  questo  inganno  non  pub  esserc  cono- 
sciuto,  sc  non  per  imaginazione  da  qualche  intendente  e  reca 
non  poco  diletto." 

Gagliano's  Recitativ  ist  auch  schon  viel  beweglicher  als  das 
seiner  Vorgänger,  es  ist  gut  deklamirt  und  dem  Ausdruck  der 
Hede  angemessen,  in  einzelnen  Wendungen  sogar  entschieden 
glücklich.  Die  Erzählung  des  Hirten  (oder  Boten:  „nunzio"  — 
dieses  natürlich  im  Sinne  des  griechischen  ayyeXog)  Tirsis  von 
der  Verwandlung  Daphne's  in  einen  Lorbeerbaum,  ist  von  über- 
raschender Wahrheit  des  Ausdruckes  —  und  jedenfalls  ist  in 
diesem  echt  dramatischen  Stücke  das  Vorbild  (der  Botin  Daphne 
in  der  Euridice  Erzählung  vom  Tode  der  letzteren)  weit  über- 
treffen. Der  Schrecken,  der  Schmerz,  die  Verwirrung,  das  Stau- 
nen über  das  Unerhörte  ist  in  den  ersten  Ausrufungen  des  Tir- 
sis: „qual  nuova  maraviglia  han  veduto  quegl'  occhi  —  o  sem- 
piterni  Dei!"  u.  s.  w.  trefflich  ausgedrückt;  die  Stelle:  „non  senza 
trar  del  core  lagrime"  u.  s.  w.  ist  voll  zarter  Empfindung  — - 
höchst  wirksam  weiterhin  der  wohlmotivirte  Gebrauch  einer  chro- 
matischen Fortschrcitung.    Gagliano  redet  mit  Begeisterung  von 


294 


Dio  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


der  Art,  wie  der  Contralto  Anton  Brandi  diese  Erzählung  vor- 
trug. Wie  viel  bei  dieser  Art  Musik  auf  den  Vortrag  ankommt, 
erkennt  Gagliano  an  dieser*Stelle  ausdrücklich  an.  ')  Neben  so 
ausgezeichneten  Zügen  läuft  freilich  Gleichgiltiges  und  Unbedeu- 
tendes nebenher  mit. 

In  Bologna  treffen  wir  den  neuen  Styl  schon  1610.  Hie- 
ronymus Giacobbi,  in  Bologna  geboren,  seit  1604  Vicekapell- 
meister,  später  erster  Kapellmeister  bei  St.  Petronius,  wo  er  bis 
zu  seinem  am  30.  November  1630  erfolgten  Tode  thätig  war. 
brachte  1610  eine  „favola  in  musica"  auf  die  Bühne,  unter  dem 
Titel  „Andromeda"  —  deren  (wie  es  scheint  gänzlicher)  Verlust 
um  so  mehr  zu  beklagen  ist,  als  eine  Arie  des  Perseus  in  Italien 
grosse  Berühmtheit  erlangte  und  lange  Zeit  berühmt  blieb.  Ks 
war  dio  Stelle,  wo  Perseus  das  Seeungethüm ,  von  welchem  An- 
dromeda verschlungen  werden  soll,  mit  den  Worten  anruft;  „io 
ti  sfido,  o  mostro  infame".  —  Die  energische  Kraft  in  Khythmus 
und  Melodie,  welche  hier  den  Helden  charakterisirte ,  riss  die 
Zeitgenossen  zur  Bewunderung  hin. 

Giacobbi  ist  nicht  nur  derjenige,  welcher  die  neue  Monodie 
sofort  mit  Glück  und  Erfolg  in  Bologna  einführte,  sondern  auch 
der  Ahnherr  der  nachmals  so  geachteten  Bologner  Musikgclehr- 
ten  und  der  eben  so  geprieseneu  Bologner  Gesangslehrer.  Er 
gründete  1622  die  „Accademia  de  filomusi",  welcher  er  zum 
Wahlspruch  den  Hexameterschluss  gab:  „vocU  dulcedine  captanlki. 
Leider  war  ihr  eine  Dauer  von  nur  acht  Jahren  beschieden  — 
die  fürchterliche  Pest  von  1630,  an  welche  in  Venedig  die  Kirche 
della  Salute,  in  der  Pinakothek  zu  Bologna  das  schöne  Votivbild 
der  füibittenden  Patrone  der  Stadt  von  Guido  Reni  mahnt,  nahm 
den  verdienstvollen  Stifter  weg  und  lichtete  die  Keinen  der  Aka- 
demiker. Als  Kapellmeister  von  S.  Petronio  war  Giacobbi  vor- 
wiegend doch  Kirchencomponist;  viele  seiner  Compositionen  die- 
ser Richtung  gingen  aus  P.  Martinfs  Nachlass  in  den  Besitz  der 
Bibliothek  von  S.  Francesco  in  Bologna  über. 

Venedig  erhielt  den  „neuen  Styl"  erst  durch  Claudio  di 
Monte  verde. 

Florenz  aber  konnte  auf  seine  Musikschöpfung  stolz  sein. 
Wirklich  wurde  der  neue  monodische  Styl,  die  dramatische  Musik 
von  den  Florentinern  nicht  ohne  ein  Selbstbewusstsein  als  „Flo- 
rentinischer  Musikstyl"  in  Anspruch  genommen;  seine  Vertreter 


l)  Qui  vorrei  poter  ritrarre  al  vivo  come  fu  cantata  dal  Sign.  An- 
tonio Brandi,  altrimente  il  Brandino,  chiamato  piü  da  quella  Serenissinia 
Altezza  nelT  occasione  dello  nozze,  senza  dirne  altri  avvertimenti,  per 
ciö  ch'egli  la  cantü  talmente,  ch'io  non  crodo,  che  si  possa  desiderar  piü, 
la  voce  e  di  contralto  esquisitissimo,  la  pronunzia  e  la  grazia  del  can- 
tare  maravigliosa :  ne  solo  vi  fa  intendere  le  parole,  ma  co'  gesti  e  co* 
movimenti  par  che  v'imprima  nell'  animo  un  non  so  che  d'avantaggio. 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


295 


bildeten  die  „Florentiner  Musikschule",  für  welche  G.  Ii.  Doni 
sogar  auch  Montcverde,  der  mit  Florenz  nichts  zu  schaffen  hatte, 
in  Anspruch  nimmt.  *)  Dass  in  Florenz  die  Aufführung  der  Dafne 
und  der  Euridice  nicht  vereinzelte  Experimente  blieben,  sondern 
nachhaltig  wirkten,  zeigt  eine  gelegentliche  Aeusserung  des  Ery- 
thräus,  —  er  spricht  in  seiner  Pinakothek  bei  Gelegenheit  der 
Biographie  des  Sängers  Vittorio  Loreto  von  den  „Theatervor- 
stellungen", welche  in  Florenz  oft  mit  grosser  Pracht  veranstaltet 
wurden,  wobei  Loreto  als  jedesmaliger  Darsteller  der  Hauptrollen 
bei  allen  Leuten,  welche  Musik  schätzen,  den  grössten  Beifall 
errang.2)  Unter  den  dramatischen  Musikwerken,  welche  man  in 
Florenz  mit  so  grosser  Pracht  aufführte,  befanden  sich  ganz  zuver- 
lässig Monteverde's  ,,Orfeo"  und  „Arianna",  denn  Doni  kennt  beide 
ganz  genau  und  bringt  auch  wohl  Notenexempel  aus  der  unge- 
druckt gebliebenen  „Arianna".  Dass  er  sie  blos  etwa  in  Mantua 
bei  jener  fürstlichen  Hochzeit  gehört  haben  sollte,  ist  nicht  wahr- 
scheinlich. Eben  so  aber  ist  das  bemerkenswerth,  dass  jene  bei- 
den Werke  Monteverde's  auf  die  einheimisch-florentinische  Thea- 
termusik in  sehr  bedeutender  Weise  bildend  und  fortbildend  ein- 
wirkten, wie  ein  1625  aufgeführtes  Werk  ,,la  liberazione  dl  Rug- 
giero  da  l'isola  d'Alcina"  zeigt.  Die  CompositiOD  dieser  Ballet- 
üper  ist  von  Giulio  Caccini's  Tochter  Francesca  Caccini  —  oder 
wie  sie  mit  ihrem  vollen  Namen  hicss  Francesca  Caccini  nc 
Signorini  Malaspina  —  von  den  Florentinern  aber  auch  wohl 
kurz  „la  Cecchina4'  genannt. 

Francesca  war  ein  Genie,  sie  hatte  unverkennbar  mehr  „Musik 
in  sich  selbst"  als  selbst  ihr  berühmter  Vater.  Sie  gehörte  übri- 
gens auch  zu  den  ersten  Sängerinnen  ihrer  Zeit.  Schülerin  ihres 
Vaters,  der  sie  in  einer  seiner  Vorreden  mit  Stolz  nennt,  erregte 
sie  die  Bewunderung  ihrer  Zeitgenossen,  wie  G.  B.  Doni,  Pietro 
della  Vallc.  a)  Neben  ihrem  Gesangs-  und  Compositionstalent  war 
sie  auch  Dichterin  in  toscanischer  und  lateinischer  Sprache. 


t)  Quod  si  stylum,  quem  vocant  Kecitativum,  ac  Monodicum  pothi3 
vocandum  cense3,  ad  examen  rovocemus,  quid,  quaeso,  in  Julio  Caccinio, 
in  Jacobo  Porio,  in  Claudio  de  Monteviridi  (quos  a  politissima  illa  Flo- 
rentiao schola  prodiisse  constat)  tibi  displicet?  (G.  Ii.  Doni,  de  praest. 
miiB.  Yet.  II.  8.  57.)  Auch  Pietro  della  Valle  nennt  den  neuen  Musik- 
styl: „inusicho  di  Firenze*'  (s.  G.  B.  Doni,  Opp.  II.  S.  351  ). 

2)  —  a  Cosmo,  magno  Ktruriae  dueo  simul  auditus  et  probatus  est. 
et  ab  Octavio  Donio,  Florentino,  qui  illuc  enm  perduxerat,  aeeeptus, 
magno  in  pretio  habitua,  ac  domi  suae  innutritus,  ubi  deinde,  tum  sua. 
tum  magistrorum  diligentia,  tantos  profectus  fecit,  ut  scenicis  in  ludis, 
qui  saepe  Florentiae  magniticentis9ima  dabantur,  in  scenam  producta* 
primarum  Semper  partium  actor,  tantum  commendationis  habuit,  ut  apud 
omnes  gentes,  ubi  aliquis  musicae  arti  honor  habetur,  celebre  ejus  noinen 
et  clarura  exstiteret.  (J.  W.  Erythraeus,  Pinacoth.  in  Tita  Victorii  Loreti.) 

3)  Sin  antem  ad  canendi  peritiam  atque  snavitatem  gradum  facia- 


4 


296        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 

Wenn  „Ruggiero's  Befreiung"  einerseits  als  die  glückliche 
Fortsetzung  der  Erstlingsversuche  Peri's  und  Caccini's  gelten 
kann,  so  lässt  sie  andererseits  aber  auch  schon  erkennen,  welcher 
Umschwung  bereits  in  der  ganzen  Bewegung  eingetreten.  Statt 
eines  antik-mythischen  Stoffes  ein  romantischer,  dem  Ariost  ent- 
nommener, Verzauberungen  ,  Entzauberungen.  Die  eingefügten 
Ballette  zu  Fuss  und  zu  Pferde  behaupten  gleiche,  wenn  nicht 
grössere  Wichtigkeit,  wie  Poesie  und  Composition.  Die  Dichtung 
war  von  Ferdinand  Saracinolli.  *)  Die  Aufführung  fand  in  dem 
Lustschlosse  Poggio  imperiale  (vor  der  Porta  romana)  zur  Feier 
der  Anwesenheit  des  polnischen  Fürsten  Ladislaw  Sigismund 
statt;  der  Prolog  ist  sogar  auf  letztere  eigens  als  Gelegenheits- 
stück berechnet.  Während  in  der  Euridice,  dem  Orfeo,  der  Dafne 
u.  s.  w.  der  Prolog  nicht  mehr  ist  als  eine  versifizirtc,  von  irgend 
einer  würdigen  Maske  (Musik,  Tragödie,  Ovid)  musikalisch  ge- 
sungene Vorrede,  erweitert  er  sich  hier  schon  zu  einer  Art  alle- 
gorischen Festspieles  mit  verschiedenen  (singenden)  Interlocuto- 
ren.  Nach  einer  „Sinfonia"  erscheint  Neptun  (Tenor)  in  Beglei- 
tung von  Flussgötteru  und  Göttinnen,  unter  ihnen  Vistola  (die 


unis,  quem  tu  veterum  illorum,  istis  qui  nunc  Eomae  vel  maxime  florent 
(ne  de  prioribus  loquar)  aequaveris?  Loreto,  Malagigio,  Niccoiinio,  Ma- 
rio? Et  si  forte  mulieres  etiam  in  hanc  contentionem  vocas,  quaenam 
invidia  erit,  vel  Hadrianam,  vel  ipsius  filiam  Leonora  m  cum  prisca  illa 
Sappho  conferreV  vel  si  praeter  bene  canendi  laudem,  insignem  quoque 
musicae  peritiam  ad  rem  quoque  pertinere  putas,  Franciscam,  paulo  ante 
a  me  laudati  Caccinii  filiam V  (G.  B.  Doni,  De  praest.  mus.  vet.  II.  S.  57.) 
Auch  Pietro  della  Valle  spricht  in  seinem  Sendschreiben  von  Francesca 
mit  grösster  Bewunderung:  Taccio  similmente  della  sorella  della  Signor 
Adriana  da  me  non  conosciuta,  la  quäle  intendo  che  in  Germania,  dove 
fu  chiamata  a'  Servizi  dell  Imperatore,  fa  grande  onore  a  questa  nostra 
eta,  e  cosi  anche  della  Signora  Francesca  Caccini,  figliuola  dair  nostro 
Romano,  detta  in  Toscana  la  Cecchina,  che  in  Firenze  dove  pure  io  in 
mia  gioventü  la  sentii,  e  per  la  musica  tanto  in  cantare,  quanto  in  coni- 
porre,  e  per  la  poesia  non  meno  latina,  che  toscana  e  stata  molti  anni  in 
grande  ammirazione  u.  s.  w. 

1)  Der  Titel  der  Partitur  lautet:  „la  liberazione  di  Ruggiero  dall' 
isola  d'Alcina,  Balletto,  composto  in  musica  dalla  Francesca  Caccini  ne* 
Signorini  Malaspina,  rappresentata  nel  Poggio  imperiale,  vüla  della  Se- 
renissima  Arciduehessa  a  Austria,  gra(n)  Dnchessa  di  Toseana  al  Sorenis- 
simo  Ladislao  Sigismondo,  Principe  di  Polonia  e  di  Suezia.  In  Firenze 
p.  Pietro  Cecconelli,  1628.*"  —  Die  vom  4.  Februar  1625  datirte  Vorrede 
ist  als  Dedikation  an  dio  Grossherzogin  Maria  Magdalena  gerichtet.  Hier 
wird  auch  der  Dichter  Ferdinand  Saracinelli  genannt.  Er  war  Bailli  von 
Volterra  ^balli  di  Volterra)  und  Chef  der  jrrossherzoglichen  Musik.  Fer- 
ner wird  bemorkt:  „la  Seena  e  le  macchine  furono  del  Signor  Giulio 
Parigi,  il  ballo  a  piedi  e  a  cavalli  del  Signor  Agnolo  Ricci.  —  Das 
äusserst  seltene  Werk  ist  in  Rom  in  zwei  Exemplaren  zu  finden  —  eines 
besitzt  die  Bibliothek  in  S.  Maria  sopra  Minerva  (Casanatensis) ,  das  an- 
dere ist  in  der  Musiksammlung  der  Chiesa  nuova. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  297 


Weichsel),  welche,  wie  natürlich,  den  Mund  mit  Schmeicheleien 
für  den  vornehmen  polnischen  Gast  vollnimmt.  Ein  sechsstimmi- 
ger Chor  der  Wassergötter  „biondo  Dio"  wird  von  einem  Duo 
für  zwei  Soprane  abgelöst,  die  dann  bei  Hinzutritt  eines  Tenors 
ein  Trio  singen;  dann  Duo  zweier  Tenore;  zum  Schlüsse  aber- 
mals Chor  der  Wassergötter.  Das  sind  also  schon  reiche  For- 
men und  eine  Abwechslung,  gegen  welche  die  ursprünglichen, 
strophenweise  und  solo  gesungenen  Prologe  gänzlich  zurücktreten. 
Nach  einer  zweiten  „Sinfonia",  welche  in  der  gedruckten  Parti- 
tur nicht  weniger  als  14  Seiten  klein  Folio  füllt,  beginnt  die 
eigentliche  Handlung,  deren  Stoff  Ariost's  „Orlando  furioso"  (VII. 
39  —  und  VIII.  14  — )  entnommen  ist.  Wie  Rinald  in  Armiden's 
Gärten,  weilt  Held  Ruggiero  (Tenor)  auf  Alcinen's  Zauberinsel, 
als  in  schmachtende  Liebe  versunkener  Weichling,  und  wird 
durch  Melissa  (Alt)  befreit  —  eben  so  werden  die  zu  Pflanzen 
u.  s.  w.  verzauberten  Damen  und  Ritter  erlöst;  das  ist  die  ganze 
Handlung,  die  an  dramatischem  Interesse  nur  äusserst  wenig, 
desto  mehr  aber  der  Schaulust  bot.  Melissa  kündigt  sich  gleich 
in  der  ersten  Szene  als  Gegnerin  der  „perfida  Alcina"  an  — 
Alcina  (Sopran)  selbst  introduzirt  sich  an  der  Spitze  eines  Cho- 
res von  sechs  Fräuleins  (sei  damigelle).  Drei  davon  begrüssen 
im  Trio  Ruggiero  als  „servo  d'amore".  Szenen  verlockenden 
Zaubers  folgen.  Ein  vorüberziehender  Hirte,  den  ein  Ritornell  von 
drei  Flöten  ankündigt  fder  Doppelgänger  jenes  früheren  in  der 
Euridice),  rührt  durch  seinen  Gesang,  in  welchem  er  das  Glück 
der  Liebe  preist,  Ruggiero's  Herz:  „o  felice  pastore,  chi  non 
sente  al  tuo  canto  rinovellar  al  sen  fiamma  d'amore,  ben  ha  di 
ghiaccio  e  di  macigno  il  core!"  Eine  Sirene  singt  strophenweise 
ein  Lied:  ,,chi  nell  fior  di  giovinezza  vuol  gioir  d'alma  dolcezza" 
u.  s.  w.  Ruggiero  fühlt  sich  jetzt  vollends  berückt  und  bestrickt: 
„ö  monti,  ö  piaggie,  6  selve,  augei  volanti  e  belve  udite  dolci 
accenti,  tacete  fonti,  e  voi  tacete  6  venti!"  Aber  schon  naht 
in  der  Maske  des  Zauberers  Atlas,  der  einst  Ruggiero  zum  Hel- 
den gebildet,  Melissa.  „Ecco"  ruft  sie,  „lora,  ecco  '1  punto,  da 
trar  di  servitii  l'alto  guerricro".  Ruggiero  ist  über  die  Begegnung 
nicht  sonderlich  erfreut:  „qual  importuna  voce"  u.  s.  w.  Melissa 
hält  ihm,  wie  bei  Ariost.  eine  lange  Strafpredigt;  er  ist  beschämt. 
Ein  kurzes,  ernstes  Ritornell,  ausgeführt  von  4  Violen,  4  Po- 
saunen (Monteverde'sche  Orchestrirung!),  einem  Organo  di  legno 
und  einem  Instrumento  di  tasti,  kündigt  seine  Sinnesänderung 
an:  „o  miserabil  vita!"  ruft  er.  Jetzt  fleht  auch  der  Chor  der 
bezauberten  Pflanzen  um  Rettung:  „0  quanto  merto,  quanta  lode 
havrai,  se  acqueti  il  nostro  pianto".  Da  ruft  eine  der  bezauberten 
Pflanzen:  „lasso,  qual  visto  atroce  si  mostra"  —  Alcina  eilt  näm- 
lich herbei,  begleitet  von  ihren  sechs  Damen.  Ruggiero  weist  sie 
zurück,  sie  wüthet,  sie  ruft  Ungeheuer  (mostri)  zur  Rache  auf. 


298         Wo  ^eit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 

Wirklich  erscheinen  diese;  ein  Ungeheuer  commandirt:  „fieri  mostri 
deir  empia  Üite,  assalitc,  dimostrate,  come  punir  san'  le  vostre 
ire,  chi  non  ha".  Fünfstimmiger  Chor  der  Ungeheuer,  begleitet 
von  einem  Basso  continuo.  Aber  schon  tritt  Melissa  in  ihrer 
eigenen  Gestalt  auf,  begleitet  von  Astolf  von  England,  der  auf 
Alcinen's  Insel  (wie  wir  aus  Ariost  wissen)  in  eine  Myrtbe  ver- 
zaubert gewesen.  „Infernal  mostri  itene  a  neri  chiostri!"  Alcina 
ist  überwunden  und  flieht  Die  ,.Damen",  die  sich  bisher  als 
Ziergewachse  im  Zaubergarten  nicht  zum  besten  befanden,  werden 
entzaubert  und  tanzen  („qui  viene  il  hallo  di  otto  dame  della  Se- 
ren. Arciduchessa  con  otto  Cavalieri  principali ,  e  fanno  un  ballo 
nobilissimo").  Eine  ,,dama  disincantata"  bittet  um  Erlösung  auch 
der  gefangenen  Ritter.  Melissa  ruft:  „su  dunque,  alti  guerrieri, 
uscite  a  consolar  le  belle  amate,  lieti  seco  danzate,  poi,  quand» 
tempo  6a,  al  suou  d'alta  armouia  sopra  i  destri  cavalli  rinovate 
i  balli"  (qui  si  liberanno  i  Cavalieri,  riconoscono  le  dame  loro,  e 
seguitano  il  ballo).  Nach  einem  sechsstimmigen  Chor  folgte  ein 
glänzendes  Ballet,  dann  ritten  24  vornehme  Herren  vom  Hof  ein 
Ballet  zu  Pferde  (ein  im  17.  Jahrhundert  bei  den  Höfen  sehr 
beliebtes  Spektakel),  ein  achtstimmiges  Madrigal  „Toschc,  del 
sol  piu  belle"  u.  s.  w.  schloss  das  Ganze.  !) 


1)  Lo  dame  dol  balletto  furono:  la  Signora  Eleonora  Stmzzi 
ne'  Corboli,  Lisabetta  Giraldi  ne'  Pazzi,  Lesa  Den  ne'  Casteili,  Sofia  ne* 
Castiglioni,  Costanza  Nerli  ne'  Kidolli,  la  Marchesa  Margherita  Malaspina 
Dama  di  S.  A.  S.,  Ilaria  di  Videna  Dama  di  S.  A.  S.,  Isabella  Minucci 
Daum  di  S.  A.  S.  I  Cavalieri  che  ballorno  colle  Dame:  II  Sig. 
Marchese  Francesco  Coppoli.  il  S.  M.  Gio.  Lorenzo  Malaspina,  il  Sig. 
Cosimo  Bargelliui,  il  Barone  Monsu  Enrigo  Montichi«T,  il  Sg.  Cav.  As- 
canio  dolla  Penna,  il  Sig.  Luigi  Antinori,  Tommaso  Guidoni,  Enrigo  Cou- 
cini.  Cavalieri  che  recoro  il  ballo  a  Cavallo:  il  Sg.  Marchese 
Bartolomeo  dal  Monte,  il  Sg.  Barone  Giulio  Vitelli,  il  Sg.  Sali  Niceolo 
Giugni,  il  Sg.  Tommaso  de  Medici.  Francesco  Nasi,  Tommaso  Capponi, 
il  Sg.  Marchese  Ruberto  Capponi,  il  Sg.  Marcbeso  Francesco  Coppoli,  il 
Sg.  Cav.  Camillo  de  Marchesi  dal  Monte,  il  Sg.  Carlo  Hinuccini,  il  Signor 
Barone  Monsu  Enricho  Montichier  (auch  zu  Pferde?  —  Dieser  „Signor 
Monsu*'  war  augenscheinlich  ein  französischer  Gast  am  Hofe  und  hiess 
wohl  Montiquier),  il  Sg  Enrico  Concini  (war  auch  unter  den  Tänzern 
„zu  Fuss"),  Alessandro  Pucci,  il  Sg.  Bar.  Filippo  del  Nero,  il  Sg.  Orazio 
de  Marchesi  dal  Monte,  il  Signor  Gio.  Corsi,  il  Signor  Capitano  Pietro 
Brancadoro,  il  Sg.  Barone  Niceolo  Orlich  (auch  ein  Fremder;  Ungar  etwa?), 
il  Sg.  Girolamo  Gori  Panel  Ii  ni.  il  Sg.  Cav.  Bartolomeo  Consacchi,  il  Sg. 
Ugo  Binaldi,  il  Sg.  Barone  Alessandro  del  Nero,  il  Sg.  Cosimo  Riccardi, 
il  Sg.  Cavalier  Franc.  Maria  Guicciardini".  Wie  ein  solches  „Rossball et' 4 
aussah,  davon  giobt  ein  Kupferstich  eine  Vorstellung,  auf  dem  man  ein 
solches  am  24.  Januar  1667  auf  dem  Burgplatze  in  Wien  zur  Feier  der 
Vermälung  Leopold  I.  mit  der  Infantin  Margaretha  gegebenes  Schauspiel 
in  seiner  ganzen  Pracht,  mit  allen  Schaugerüsten,  riesigen  Triumphwagen 
u.  s.  w.  abgebildet  sieht.  Dieses  Festspiel  hatte  Francesco  Sbarra  an- 
gegeben, die  Musik  dazu  Anton  Bertali  componirt.  Ein  ähnliches  Ballet 
mit  Reitern,  Götter  tragenden  Triumphwagen,  wie  es  zu  Rom  bei  Ver- 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  299 

Francesca  aber  hat  mit  der  Composition ,  so  sehr  diese  auch 
die  Physiognomie  der  Zeit  trägt,  ihrem  ganz  ungewöhnlichen  Ta- 
lent ein  wahrhaft  glänzendes  Denkmal  gesetzt.  Man  erkennt 
musikalisch  ganz  deutlich  noch  die  Familienzügo  ihres  Vaters 
Oiulio,  aber  Francesca  hat  auch  Monteverde  sehr  wohl  und  mit 
grossem  Nutzen  studiert,  ja  sie  repräsentirt  sogar  auch,  wenig- 
stens gegen  den  „Orfeo"  ihres  Vorbildes,  schon  wieder  einen 
fühlbar  entwickelteren  Standpunkt.  Das  Hirtcnlicd  hat,  trotz 
einiger  harmonischer  Härten  und  jener  eigentümlichen  Phra- 
sirang,  wie  sie  den  Melodieen  des  17.  Säculums  eigen  ist,  doch 
ganz  guten  Fluss,  ist  wirklich  ein  melodiöser  Gesang.  Die  Arie 
der  Sirene  zeigt  ein  glückliches  Streben  nach  melodischem  Reiz 
und  dazu  den  guten  £infall,  Strophe  nach  Strophe  immer  reicher 
und  recht  elegant  die  Grundmelodie  zu  variiren.  Die  Kecitative 
haben  Bewegung,  stellenweise  sogar  viel  Ausdruck  und  sind  bei 
weitem  nicht  mehr  so  steif,  wie  die  ersten  Versuche  vor  einem 
Vierteljahrhundert  gewesen.  Die  Stelle,  wo  Kuggiero  sein  Ent- 
zücken über  den  Gesang  der  Sirene  ausdrückt,  zeigt  in  den  An- 
rufungen der  Wälder,  Auen  u.  s.  w.  Wahrheit  des  Tones  und 
eine  sehr  wirksame  Steigerung  des  Affektes.  Francesca,  die  firme 
Contrapunktistin,  wagt  es  mit  Glück,  ein  anmuthiges  kleines  Duo 
zweier  Soprane  „aure  volauti"  zum  Canon  in  der  Quinte  zu  ge- 
stalten, eine  Form,  welche  ihr  Vater  für  seine  dramatische  Musik 
um  keinen  Preis  angewendet  haben  würde  —  aus  Grundsatz! 
Die  Kitornelle  sind  so  gut  wie  irgendwelche  von  Monteverde, 
gleichen  ihnen  auch  im  Styl.  Das  Dreiflötenstück  hat  den  rich- 
tigen idyllischen  Klang  und  übertrifft  das  ähnliche  von  Pen. 
Auch  dass  Francesca  sich  auf  ein  achtstimmiges  Madrigal  einlas- 
sen durfte,  dessen  Tonsatz  alles  Lob  verdient,  ist  ein  Beweis  un- 
gewöhnlicher musikalischer  Bildung.  An  Stelle  der  end-  und 
ziellosen  Declamation,  wie  wir  sie  bei  Peri  und  bei  Caccini,  Va- 
ter, finden,  treten  bei  Caccini's  Tochter  schon  musikalisch  be- 
stimmte, geschlossene  Formen  in  entschieden  plastischer  Ausprä- 
gung hervor;  ihre  Arien  haben  eine  schon  ganz  ansprechend  ent- 
wickelte Liedform,  wir  finden  Duos,  Trios  n.  s.  w.  Auch  der 
instrumentale  Theil  ist  nicht  mehr  blos  den  Begleitern  überlassen, 
vielmehr  nach  Bedürfniss  sorgsam,  im  Sinne  und  Geschmack 
Monteverde's  ausgeführt.  Die  Balletmusik  war  indessen  nicht 
von  ihr,  sondern  eingelegt.    Francesca  hat  ausserdem  1618  ein 


mälung  einer  Nichte  Urban  VIII.  zur  Aufführung  kam.  zeigt  ein  Oelge- 
m&lde  im  Palast  Barberini.  Dio  Bitter  sind  höchst  abenteuerlich  her- 
ausgeputzt und  tragen  insbesondere  auf  den  Helmen  wahrhaft  enorme 
FederDÜsche,  die  wie  Gedern  oder  andere  Riesenbäume,  von  Straussfedern 
nachgeahmt,  aussehen.  Noch  in  Alessandro  Scarlatti'sOper  „Pompeo  magno" 
verherrlicht  ein  Pferdeballet  den  Triumph  des  Pompejus. 

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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Buch  Gesänge  für  eine  und  zwei  Stimmen  herausgegeben  *),  — 
auch  hier  ist  sie  die  treue,  liebevolle,  talentbegabte  Nachfolgerin 
ihres  Vaters  und  seiner  „Nuove  musiche". 

Die  Zumuthung,  einer  ernsten  Handlung  und  ernsten  Musik 
mit  Antheil  und  Aufmerksamkeit  zu  folgen,  mochte  den  hohen 
Herrschaften,  welche  vor  allen  Dingen  amüsirt  sein  wollten,  mit- 
unter nicht  behagen  —  man  fing  also  da  und  dort  an,  die  in 
Musik  gesetzte  Mythologie  in  Intermedien,  wie  in  kleinen  Con- 
fectschüsselchen,  zu  serviren  oder,  völlig  guckkastenartig,  in  dem 
bunten  Szenenwechsel  von  Quodlibets,  in  welche  man  am  liebsten 
die  ganzen  Metamorphosen  des  Ovid  eingepackt  hätte.    So  fand 
in  Mailand  zü  Ehren  der  Anwesenheit  des  Erzherzogs  Albert 
von  Oesterreich  und  seiner  Gemalin,  der  Infantin  Donna  Isabella, 
eine  solche  Auffuhrung  statt,  bei  welcher  auch  der  Cardinallegat 
Diatristano  und  der  ganze  Mailänder  Adel  als  Publikum  zugegen 
war  und  welche  der  Tanzmeister  Cesare  Ncgri,  genannt il  Trom- 
bone,  in  seinem  Buche  „Nuove  invenzioni  de  balli"  umständlich 
beschreibt.    Den  Kern  des  Ganzen  bildete  ein  Pastorale  „Arme- 
nia"  —  eine  Dichtung  des  Giov.  Batt.  Visconti.    Uns  gehen  hier 
nur  die  Intermedien  an,  welche  Camillo  Schiafenati,  ein  Doctor 
des  Mailänder  Collegiums,  angegeben.    Nachdem  „la  discordia 
araorosa"  aus  einer  Wolke  getreten  war  und  den  Prolog  recitirt 
hatte  und  nachdem  der  erste  Akt  des  Pastorais  zu  Ende  war, 
begann  das  erste  Intermezzo,  die  vielbeliebte  Geschichte  des  Or- 
pheus.   Er  trat  singend  auf,  wilde  Thiere,  Bäume,  Felsen  folgten 
ihm,  angelockt  von  der  Süssigkeit  seines  Gesanges.    Indem  er 
Euridicens  Tod  beklagte,  liess  ihn  das  Echo  Antworten  hören, 
die  ihn  ermuntern  sollten,  die  Verlorene  aus  dem  Hades  zu  ho- 
len.   Jetzt  erblickte  man  Pluto  und  Proserpina  auf  dem  Thron, 
die  drei  Höllcnrichter,  die  Furien,  Sisyphus,  Tantalus,  Ixion  ihre 
Strafen  leiden,  an  der  Pforte  Cerberus.    Man  sah  die  eliseischen 
Felder,  wohin  Charon  den  Schatten  der  Euridice  schiffte.  „In 
somma",  sagt  unser  Tanzmeister,  „tutte  quelle  cose  rappresentate, 
che  si  leggono  nella  descriptione  dell'  inferno  fatta  da  Yirgilio, 
da  Ovidio  e  da  altri  poeti".    Als  Orpheus  sich  dem  Verbot  zu- 
wider nach  der  wiedergewonnenen  Euridice  umsah,  „venne"  (wie 
es  im  Berichte  sehr  naiv  heisst)  „di  traverso  '1  fato  in  habito  di 
diavolo  e  la  riportb  donde  era  partita".    Orpheus  stimmte  einen 
Klaggesang  (miserabil  canto)  an ;  Instrumentalmusik  folgte,)  welche 
den  Uebergaug  zum  zweiten  Akt  des  Pastorale  bildete.  Das 
zweite  und  dritte  Intermedio  behandelte  die  Abenteuer  der  Ar- 
gonauten.   Die  Sirenen  auf  ihrem  Felsen  sangen  einige  Madri- 

1)  II  primo  libro  deile  musicho  a  una  e  due  voci.  Di  Francesca 
Caccini  ne'  Signorini.  Dedicate  all'  Hlm0  e  Reverend«11«  Cardinale  de 
Medici.  In  Fiorenza  nella  Stamperia  di  Zanobi  Pignonit  1618.  —  Das 
einzige  noch  vorhandene  Exemplar  besitzt  die  Bibliothek  in  Moden». 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  301 


gale,  als  sich  die  Schiffer  näherten,  suchten  sie  sie  durch  „Can- 
zonetten  voll  süsser  Melodie"  (suavissima  melodia)  zu  locken  — 
aber  Orpheus  stimmte  im  Schiffe  ein  Madrigal  an,  und  die  Sire- 
nen entflohen  beschämt.  Es  folgte  die  Gewinnung  des  goldenen 
Vliesses,  die  Saat  der  Drachenzähne,  das  Aufspriessen  bewaffneter 
Männer,  ihr  Wechselmord  u.  s.  w.  Trompetenfanfaren  und  eine 
Instrumentalsymphonie  feierten  das  Gelingen  des  Abenteuers. 
Das  nächste  Intermezzo  schilderte  den  Streit  Mincrva's  mit  Nep- 
tun —  Musik  begleitete  das  Erscheinen  beider  Gottheiten  — 
Neptun  im  Muschelwagen  von  Seerossen  gezogen,  Minerva  von 
den  allegorischen  Figuren  des  Webens,  Nähens  und  Stickens,  von 
Bellona,  Victoria  und  der  Gelehrsamkeit  (dottrina)  begleitet  — 
sämmtlich  Sängerinnen.  Beim  Beginne  des  Wettstreites  (in  reci- 
tirten  Versen)  öffnete  sich  der  Himmel,  man  sah  Jupiter  als 
Schiedsrichter  thronen,  neben  ihm  die  andern  Götter.  Minerva 
schlug  den  Erdboden  und  ein  schöner  Oelbaum  sprosste  auf. 
Neptun  liess  ein  Ross  hervorspringen.  Mercur  (qual  era  eccellente 
musico)  brachte  das  Urtheil  Jupiter  s ,  welches  für  Minerva  ent- 
schied. Neptun  recitirte  Verse,  welche  seinen  Unmuth  ausdrück- 
ten, Minerva  und  ihre  Begleiterinnen  Hessen  einen  Siegesgesang 
hören.  Zuletzt  senkte  sich  eine  Wolke  nach  der  Breite  der 
Bühne  herab,  voll  Musiker,  welche  auf  Instrumenten  spielten 
und  das  Lob  des  Erzherzogs  und  der  Infantin  sangen  —  zugleich 
öffnete  sich  der  Himmel;  man  sah  nochmals  die  olympischen 
Götter,  aber  diesmal  mit  Instrumenten  in  der  Haud,  und  es  ent- 
wickelte sich  im  Orchester  des  Olymps  uud  im  Orchester  unten 
in  der  Wolke  eine  Doppelsymphonie,  welche  allgemeine  Bewun- 
derung erregte.  Den  Bcschluss  machte  ein  Tanz  (un  bellissimo 
brando,  der  dann  in  eine  Gagliarda  überging),  ausgeführt  von  vier 
Hirten  und  vier  Nymphen.  Negri  hält  es  nicht  der  Mühe  werth, 
zu  sagen,  von  wem  die  Musik  zu  all*  dem  componirt  worden  — 
so  sehr  war  sie  Nebensache  bei  all'  dem  Schaugepränge  geworden. 

Aehnliche  Aufführungen  fanden  auch  an  andern  Orten  statt. 
So  am  14.  Februar  1616  zu  Viterbo  bei  dem  Markgrafen  An- 
drea Maidaichini  (Bruder  jener  Olympia  Maidaichini,  welche  spä- 
ter Schwägerin  Innocenz  X.  wurde  und  als  Donna  Olimpia  Pam- 

fili  in  Kom  )  eine  Aufführung  von  Intermedien  unter  dem  Titel: 

„Strali  d'Amorc"  —  eine  Keihe  von  Szenen  im  Style  des  neuen 
Musikdrama  —  die  Liebesgeschichte  der  Venus  und  des  Mar9 
und  wie  Vulcan  beide  im  goldenen  Netze  fängt.  Die  Musik  ist 
das  Werk  eines  sonst  nicht  weiter  bekannten  Giovanni  Bos- 
chetto-Boschetti  (im  Druck  erschien  das  Werk  1618  bei  Gia- 
como  Vincenti  in  Venedig)  l).    Die  Musik,  ganz  im  neuen  Floren- 


ponist  Die  Prager  Universitätsbibliothek  besitzt  ein  Exomplar.  Signatur 
XL  B.  41. 


1)  Dieses  Werk  war  bisher 


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302        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


tiner  Styl,  aber  ganz  unbedeutend,  bestellt  aus  lauter  kleinen 
Fragraentchen.  Recht  interessant  ist  das  beigegebene  ausführ- 
liche Szenarium  und  die  genaue,  bis  in's  Einzelne  gehende 
Beschreibung  der  Decorationen  und  Costüme .  welche  eine  klare 
Anschauung  über  die  Ausstattung  solcher  Aufführungen  gibt.  Die 
Götter  Griechenlands  traten  mit  allen  gehörigen  Emblemen  und 
möglichst  nackt,  oder  umgekehrt  im  brillantesten  Costüme  auf. 
aber  was  sie  redeten  waren  wohlgereimte  Concetti,  was  sie  Bangen 
war  die  steife  Kecitation  des  »Stile  rappresentativo  oder  falsobor- 
donartiger  Chor,  was  sie  tanzten  waren  Pas  im  Geschmacke  Ce- 
sare  Negrfs,  genannt  il  Trombone.  Zwischen  den  Göttern  trieben 
sich  abstrakte  Begriffe,  zu  allegorischen  Gestalten  verkörpert, 
herum  und  sangen  und  agirten  nach  Kräften  mit  —  Alles  im 
Geschmacke  der  Zeit. 

Das  erste  Intermedio  dieser  „Liebespfeile"  versetzt  uns  in 
Vulcan's  Schmiede  (la  fucina  di  Vulcano)  im  Aetna.  Weitläufige, 
labyrinthische  Felsenhölen,  von  vielfachen  Feuern  seltsam  be- 
leuchtet, durchzogen  von  Rauchwolken,  durchtönt  vom  Klirren 
und  Schwirren  der  Hämmer,  vom  Sausen  und  Brausen  der  Blas- 
bälge. Die  Cyclopen,  nackt,  mit  einem  Fell  gegürtet,  drücken 
(ohne  Zweifel  unter  Begleitung  rhythmischer  Hammerschläge)  in 
einem  Chore  ihre  Freude  aus,  dass  Vulcan  zum  Götterschmiede 
ernannt  worden  („essendo  destinato  Vulcano  fabro  delli  dei"). 


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Faccia  -  si 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


303 


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tüsrt— --•*  0  J~  -i  1 — <      t    r — -*  -3    t  !  S — i-n 

l'aninio     e'l        co  -  re.  da      doglia  e  me   -    sti  -  zi  -  a, 


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Li  !-     Uf:  =*d 

l'animo     e'l         coro     da       doglia  e  me   -   sti  -  zi  -  a. 


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H — P — ^ — 1 

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=hrz±z 

±—4-     0  -1 

Plötzlich  nimmt  die  Sache  eine  unerwartet  schlimme  Wen- 
dung. Die  der  Musik  vorangedruckte  Favola  erzählt:  „essendo 
destinato  fabro  delli  dei  et  insuperbiato  d'  esser  tenuto  il  primo 
di  quei  tempi,  anzi  d'  esser  ammesso  uel  numero  de  Ii  dei, 
il  che  sentendo  Giove  con  gran  sdegno  lo  scaccia  del  cie- 
lu4i.  Der  neuernannte  olympische  Hof-  und  Hufschmied,  der 
Plebejer,  der  Roturier,  der  hier  gar  nicht  Jupiter's  und  Juno's 
legitimer  Sohn  ist,  nicht  einmal  ein  natürlicher  Sohn  des  „Vaters 
der  Götter  und  Menschen"  und  der  sich,  ohne  hoffähig  zu  sein, 
unter  die  olympischen  Götter  mischt,  wird  auf  allerhöchsten  Befehl 
Jovis  zum  Palaste  hinausgeworfen.  Wctterstrahlen  zucken, 
Donner  rollt,  der  vom  Olymp  gejagte  Vulcan  erscheint.  Er  ist 
gleich  den  Cyclopen  nackt,  doch  ist  sein  Ueberwurf  von  Silber- 
stoff (cinto  de  pelli  argentati).  Er  spricht  seinen  Unrauth  in 
einem  Sologesänge  aus: 

Vulcano. 


1  '     0  ' 

0 

& 

=1  ' 

cio-lo,  o 

- 

stel  - 

1  

le,  o  so  - 

le, 

-¥}  -V  — 

quest'  e  il  gio- 

iii1- 

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ir, 

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quest'  e 

 9- 

 1  

=tc=±d 

la    spo  - 

[  ^  _  

ranza  etc. 

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304        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Amor  soll  ihn  rächen,  er  wird  ihm  Pfeile  geben,  welche 
selbst  den  Göttern  furchtbar  werden  sollen.  Jetzt  senkt  sich 
nämlich  eine  Wolke  herab,  sie  öflnet  sich  und  zeigt  die  zau- 
berhafte Erscheinung  Amors.  Ein  herrliches  Gewand  schürzt 
ihn,  an  einem  reich  mit  Perlen  gestickten  himmelblauen  Bande 
hängt  an  seiner  Seite  ein  von  Juwelen  funkelnder  Köcher,  sei- 
nen Hals  umgibt  ein  Halsband  von  Edelsteiuen,  seine  Augen 
eine  kostbare  Binde,  an  seine  in  hellen  Farben'  bunt  schimmern- 
den Flügel  sind  kostbare  Steine  wie  Pfauenaugen  befestigt, 
sein  Lockenkopf  (zazzerata  artifiziosamente  inanellata)  scheint 
aus  lauterem  Golde  zu  bestehen.  Seine  Linke  fuhrt  einen 
goldenen  Bogen;  sogar  seine  Fussbekleidung  ist  herrlich:  er 
trägt  silberne  Sandalen,  in  der  Hälfte  des  Beines  zeigen  sich 
kleine  goldene  Masken,  von  denen  purpurne  Draperien  ausgehen 
und  das  Bein  umgeben.  Er  tritt  aus  der  Wolke  und  wendet 
sich  zu  seinem  Vater  Vulcan: 


Amore. 


Padro 


di   -   letto  e   ca  -  ro, 


4- 


eeco  il  ttiofiglioA- 


^3 


-f— f-9- 

V-k- k 


mor,   eeco  il  tao  Di-o 


e   pronto  a  tue  vendettee  at  de- 


1 


sir  mio   mo-vero  il       ciel'  e   l'u  -  ni-rer-  so  a  pa  -  ro 


m 


Vulcan  händigt  dem  geflügelten  Sohne  die  Pfeile  ein,  dass 
er  ihn  räche,  wonach  Amor  unter  „Instrumentalmusik"  'sie  ist 
nicht  beigesetzt)  entschwebt.  Der  arme  Vulcan  ahnt  nicht,  welche 
schlimmen  Folgen  die  Sache  für  ihn  haben  werde.  Zunächst 
schweben  zwei  Wolken  von  entgegengesetzten  Seiten  herein,  die 
eine  davon  bringt  Venus  mit  den  Grazien,  auf  der  anderen  zeigt 
sich  Mars,  der  Kriegsgott.    (Auch  das  ist  charakteristisch,  dass 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


305 


möglichst  vermieden  wird,  die  Personen  einfach  auftreten  zu 
lassen,  sie  kommen  auf  Flugwerken,  steigen  aus  Versenkungen 
u.  s.  w.).  Venus,  von  blendender  Schönheit,  trägt  ein  lichtrothes 
Oberkleid  von  Brokat,  das  nur  bis  zu  den  Knieen  reicht,  darunter 
einen  bis  zu  den  Füssen  reichenden  Rock  von  geblümtem  Silber- 
stoff mit  Goldbesatz.  Von  ihrem  herrlich  gelockten  Haupte,  das 
einen  aus  Rosen  und  Seidenschleifen  geflochtenen  Kranz  tragt, 
wallt  ein  rosenfarbener  Schleier  auf  ihren  azurnen  Mantel  herab; 
die  blossen,  von  einigen  Armbändern  umwundenen  Arme  um- 
hüllt ein  dünner  Flor  wie  eine  leichte  Nebelwolke;  Edelstein- 
schmuck bedeckt  die  Brust,  von  Edelsteinen  schimmert  der  Gür- 
tel. Sehr  mythologisch  ist  das  Costüme  nicht ;  aber  desto  male- 
rischer und  mit  entschiedenem  Farbensinne  zusammengestellt. 
Ganz  polizeiwidrig  „mythologisch"  zeigen  sich  dagegen  die  Gra- 
zien — •  es  sind  drei  reizende  junge  Mädchen,  nur  von  dünnen 
Schleiern  bedeckt.  Mars  ist  furchtbar-prächtig  anzusehen,  ein 
glänzender  Helm  mit  hellrothem  Federbusch  deckt  sein  Haupt, 
sein  Panzer  scheint  von  Rubin  gemacht  (rothe  Folie!),  perlenbe- 
setzte Scharlachstreifen  ziehen  sich  über  seinen  Schurz  von  Sil- 
berstoff herab,  in  Händen  fuhrt  er  Speer  und  Schild.  Die  Gra- 
zien begrüssen  ihre  Göttin  mit  einem  Terzett: 


Vaga     De  -  a  degPamori 


Dafür  bedankt  sich  Venus  mit  einem  Wortspiele:  „Grazie 
del  ciel  divine,  che  grazie  altrui  voi  date  —  grazie  vi  rendo,  o 
grazie  tanto  amateu.  Jetzt  tritt  Amor  herein,  oder  vielmehr  er 
kommt  auf  seiner  Leibwolkc  hereingeschwebt,  und  eingedenk 
der  väterlichen  Weisung,  seine  Pfeile  nur  auf  die  „celesti 
eori"  zu  richten,  ersieht  er  sich  den  trotzigen  Kriegsgott  zum 

Ambro«,  Gcschichto  der  Musik.   IV.  20 


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306 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Opfer,  nachdem  er  folgendes  Sätzchen  gesungen,  aus  dem  fast 
etwas  wie  die  Disposition  einer  regelmässigen  Melodie  heraus- 
klingt: 

Amore. 
=£.^a_4i — ä — * 


m  m  0  - 


»  r- 


Ec  -  co  quel  dio  guer-rie  -  ro  ch'a  ognunsi   mo-stra  fie  -  ro,  hör 


=t=t 


— # 


fr 


1 

f — 4 — * — — *- 

0' 

*  . 

4= 

-4- 

4= 

t  t  1 

=fc= 

pro-  va 

que    -  sto  stra-le 

e 

ce  - 

diaque-8to  mio 

brac- 

p   

=f= 

±=*=^-- 

— ?  k  

Ü1 


cio    fa  -  ta  -  le. 


-L 


„Wehe  mir",  ruft  Mars,  „wer  hat  mir  das  Herz  durchbohrt?" 
Marte. 


I 


Hoi-me  me-schin!  chi  m'ha  tra-  lit  -  to  il    co  -  reV 


Die  Wirkung  zeigt  sich,  das  Verstäuduiss  zwischen  Mars 
und  Venus  ist  schnell  getroffen,  sie  beschliessen  das  dritte  Inter- 
mezzo mit  dem  kürzesten  aller  Duette. 

Das  vierte  Intermezzo  beginnt.  Durch  eine  „wunderbare 
Einrichtung"  (maravigliosamente)  steigt  aus  der  Erde  die  Nacht, 
mohnbekränzt,  im  Sternenmantel,  mit  bräunlichen  Flügeln,  ein 
schwarzes  und  ein  weisses  Kind  in  den  Armen.  Neben  ihr  die 
Ruhe  (il  riposo)  als  graugckleideter ,  langhaariger,  langbärtiger. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  307 


auf  einen  Stab  gestützter  Greis,  einen  im  Neste  stehenden  Storch 
auf  dem  Kopfe  —  das  Vergessen  (l'obblio)  als  nackter,  geflügel- 
ter, augenloser  Jüngling  mit  einem  Kukuk  auf  dem  Kopfe  — 
das  Schweigen  (il  silenzio)  als  in  ein  Wolfsfell  gehüllter  Alter, 
dessen  nackter  Körper,  wo  er  sichtbar  wird,  mit  Augen  bemalt 
ist,  endlich  der  Schlaf,  in  ein  Dachsfell  gekleidet,  Trauben  in 
den  Locken,  Mohnköpfe  in  der  Hand.  Die  Nacht  kündigt  sich 
singend  an  und  schlicsst  mit  den  Worten: 

perche  o^ni  mortal  posi  beato 
tuffando  in  Lete  ogn'  angoscia  o  cura 
onde  la  vita  e  dura. 

Diese  düster  anzusehende  Gruppe  weicht  endlich  einer  höchst 
glänzenden  Erscheinung:  aus  der  Höhe  senkt  sich  Aurora  im 
echarlachnen  Oberkleid,  in  goldstoffenem  Untergowand,  mit  Rosen 
bekränzt,  eine  leuchtende  Fackel  in  der  Hand,  je  näher  sie  sich 
herabsenkt,  desto  tiefer  sinkt  die  Nacht  mit  ihrem  unfreundlichen 
Gefolge  in  die  Erde  und  verschwindet  endlich.  Aurora  singt, 
ihr  folgt  Apoll,  der  dem  betrogenen  Ehemann  Vulkan  ein  un- 
willkommenes Licht  aufsteckt: 

Fabro  delli  dei  non  arossire  • 

Che  il  mal  non  vien  da  te,  ma  da  tua  diva 

E  cio  per  esser  tanto  laseiva 

Che  richie8ta  aeconsente  al  primo  dire. 

Vulkan  versichert,  er  wolle  ein  goldenes  Netz  verfertigen, 
welches  die  Schuldigen  unlösbar  umstricken  werde.  Im  fünften 
und  letzten  Zwischenspiele  tritt  das  Gerücht  (la  fama)  auf,  oder 
zeigt  sich  vielmehr  in  einer  über  die  Bühne  hinschwebenden, 
halbgeöffneten  Wolke.  Es  ist  mit  Augen  und  Ohren  bemalt 
(statt,  wie  bei  Shakespeare,  mit  Zungen)  und  hat  eine  Trompete 
in  der  Hand.  In  einer  Art  (ungeschickten)  Strophenliedes  ver- 
kündet es,  wie  Vulkan  seinen  listigen  Anschlag  ausgeführt  habe. 
Den  Besehluss  macht,  nach  all'  den  brillanten  Schaustellungen 
etwas  ärmlich,  Mercur;  er  singt  ein  Madrigal  a  voce  sola,  worin 
er  den  Vulkan  scharf  tadelt :  solche  Scandalgcschichten  müsse  ein 
kluger  Ehemann  hübsch  geheim  halten: 

Per  vendicarlo  insano  chiama  a  veder  i  rei 
dalla  leggo  del  ciel  tutti  i  dei 
Cosi  talhur  lo  stolto  per  fuggire  lieve  colpa 
d'un  altra  grave  se  stesso  incolpa. 

Sehr  rasch  hatte  die  Oper,  wie  man  sieht,  welche  sich  An- 
fangs so  hohe  Ziele  gesteckt,  die  Signatur  erhalten,  welche  ihr  auf 
lange  hin,  mehr  oder  minder  scharf  ausgeprägt,  verblieb,  die  noch 
in  unseren  Tagen  durchaus  nicht  verwischt  ist,  und  die  man  am 
kürzesten  und  besten  in  die  Worte  des  Apostels  zusammenfassen 

20» 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


kann:  Hoffahrt  der  Welt,  Augenlust  (und  Ohrenlust  obendrein) 
und  Begehrlichkeit  des  Fleisches. 

Es  war  ein  Glück,  dass  in  den  zwei  musikalischen  Haupt- 
städten Italiens,  in  Rom  und  in  Venedig,  eine  hoheitsvolle  Kirchen- 
musik ,  in  welcher  Generationen  edler  Meister  ihr  Edelstes  ge- 
leistet, diesem  neuen  musikalischen  Genusstaumel,  diesem  Rausch 
des  Enthusiasmus,  einen  festen  Damm  entgegensetzte.  Aber  ge- 
rade Rom  und  Venedig  feierten  das  neue  Bacchanal  orgiastiseber 
mit,  als  sonst  irgendwo  geschehen  mochte.  Wer  Svmpathieen  für 
Palestrina  und  seine  Zeit  behalten  hatte,  war  ein  Reactionär,  ein 
Sonderling,  wo  nicht  gar  ein  Barbar.  Das  lange  Sendschreiben, 
womit  Pietro  dclla  Valle  in  diesem  Sinne  seinen  conservativen 
Freund  Lelio  Guidiccioni  zu  bekehren  sucht  —  dieses  Send- 
schreiben voll  Wärme,  voll  Ausdrucks  innigster  Ueberzeugung 
ist  ein  merkwürdiges  Denkmal  dieser  Bewegung.  Die  ersten 
„Fortschrittmänner",  wie  Vicenzo  Galilei,  hatten  Palestrina  noch  mit 
Achtung,  wenn  auch  mit  sehr  gemessener  Achtung  behandelt.  Pietro 
della  Valle  ist  schon  naiv  und  aufrichtig  genug,  um  Palestrina's 
Musik  für  eine  „sehr  schöne  Anticaglie1'  zu  erklären,  ftir  die  nur  noch 
in  einem  Museum  der  richtige  Platz  ist. !)  Doni  fahrt  einmal,  wie 
unwillkürlich,  mit  seiner  innersten  Herzensmeinung  heraus:  der  Pa- 
lestrinastyl  sei  eine  Barbarei.'2)  Beide  schrieben  diese  Machtsprüche 


1)  ammiro  auch'  io  quella  famosa  musica  del  Palestrina,  che  tanto 
piace  a  V.  S.  e  che  fu  cagione,  che  il  Concilio  di  Trento  non  bandisse 
la  musica  dalle  chiese,  pero  queate  cose  si  hanno  ora  in  pregio,  non  per 
servirsenc,  ma  per  conservarle  e  tenorle  riposte  in  un  museo, 
come  bellissirae  anticaglie. 

2)  Doni  erzählt  in  „De  praest.  mus.  vet.u  Buch  1  —  welches  Werk 
bekanntlich  in  Dialogform  verfasst  ist,  —  von  Kapsberger's  (angeblichem) 
Reformversuch.  Und  da  heisst  es  nun:  „Qui  factum  est,  subait  Eumol- 
pus,  ut  consultissimus  Princeps  tarn  facile  Citharoedi  unius  suggestioni 
annueret,  ac  nihilominus  res  in  irritum  caderet?  Cui  Polyanus:  adjuva- 
bat  illum,  ne  sis  nescius,  in  primis  nonnulla  eruditionis  opinio,  quam 
simul  duritia  frontis  et  volubihtate  linguae  subnixus,  apud  eum  sibi  pa- 
raverat,  deinde  Compali  in  paucis  tunc  gratiosi  favor;  hominis,  nt  vere 
dicam.  aliauanto  magia  eloquentis  quam  docti.  Hujus  igitur  fretus  auxi- 
lio,  cum  Pontifici  ostendisset  perindignum  esse  politissimo  hoc  atque  ur- 
banissimo  seculo,  sacros  concentus,  suaves  illos  quidem.  sed  ob  verboruni 
inconditam  texturam,  inconcinnasque  eephoneses,  confusioneraque  sensunm, 
subrusticos  (!)  atque  inurbanos,  in  augustissiino  orbis  terrarum  loco  ex- 
audiri;  facile  ab  fllo  extorsit,  ut  pro  üs  cantica  a  so  modificate  concine- 
rentur  :  in  quibus,  etsi  vorba  cianus  paullo  intelliguntur  quam  in  Praene- 


baraequo  (!)  quaedam  prolationes  non  tarn  froquenter  audiuntur,  aliquant*) 
plus  tarnen  suavitatis  ammittunt,  quam  venustatis  atque  decoris  acqui- 
rant.  Nam  si  Donium  nostrum  audimus,  tota  haec  modulandi 
ratio,  quam  Symphoniasticam  ipso  vocat,  quae  Palilogiis  ac 
Polylogiis  passim  exuberat  barbara  prorsns  (!)  planeque  in- 
condita  censenda  est.  quaeque  nullo  modo  repurgan  possit,  nisi  ad  vi- 
vum  resecetur.  Quod  si  Capispergius  tuus  inteilexisset,  nec  talem  suseepisset 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  309 


in  Rom  —  als  Palestrina  kaum  erst  ein  Jahrfünfzig  vom  Leben 
geschieden  war.  Doni  hat  nun  freilich  im  Grunde  für  nichts  Sinn, 
als  für  seine  geträumte  antike  Musik  —  ohne  Zweifel  ein  Mann 
von  grossem  Wissen,  von  scharfem  Denken,  geistreich,  stylge- 
wandt, eine  echt  Florentinische  „böse  Zunge",  wenn  er  auf  Leute 
oder  Dinge  geräth,  die  ihm  missbehagen,  wird  er  vollkommen 
unzurechnungsfähig,  wenn  er  auf  die  antike  Musik  zu  sprechen 
kommt  —  und  er  kommt  beständig  darauf.  Vertieft  man  sich 
in  seine  Schriften,  so  erhält  man  zuletzt  den  Eindruck  einer 
krankhaften  Monomanie,  und  hart  neben  treffenden  Bemerkungen, 
neben  geistvollen  Ausblicken  begegnet  man  unglaublichen  Lächer- 
lichkeiten, förmlichen  Albernheiten.  Doni's  ganze  literarische 
Thätigkeit  hatte  den  —  esoterischen  —  Zweck,  alle  Musik,  wie 
sie  eben  war,  allgemach  zu  beseitigen,  um  endlich  der  einen, 
reinen  antiken  Musik  als  der  allein  schönen,  allein  giltigen,  die 
Herrschaft  zu  verschaffen  —  nach  dieser  Götterkönigin  breitet 
er,  ein  sehnsuchtsvoller  Ixion,  die  Arme  aus,  und  es  ist  tragi- 
komisch zu  sehen,  wie  er  unaufhörlich  Nebelwolken  umarmt.  Die 
erste  Hekatombe,  die  er  seiner  Göttin  schlachtet,  sind  die  Nieder- 
länder —  dann  führt  er  jenen  raschen,  tödtlich  sein  sollenden 
Hieb  nach  Palestrina  oder  vielmehr  nach  dem  Palestrinastyl,  und 
deutlich  fühlt  man,  dass  er  die  Meister  des  neuen  Styls  einst- 
weilen nur  schont,  weil  er  ihren  Styl  als  Etappe  zum  antiken 
ansieht,  und  dass  er  es  vorhat,  sie,  dankbar  wie  Polyphem,  die 
letzten  zu  fressen,  wenn  der  richtige  Moment  da  sein  wird. 
Dieser  Moment  wollte  aber  nicht  kommen. 

Aber  Palestrina  und  seine  Genossen  waren  von  dem  Enthu- 
siasten della  Valle  und  dem  Fanatiker  Doni  nicht  mit  einem 
Hauche  des  Mundes  wegzublasen,  zumal  ihre  Musik  für  die 
päpstliche  Capellmusik  der  offiziell  anerkannte  Styl  war  und  in 
Rom  die  einfache  Klugheit  gebot,  daran  nicht  allzustark  zu  rüt- 
teln. Hieronymus  Kapsberger  soll  später  unter  Urban's  VHI.  still- 
schweigender Gutheissung  einen  ungeschickten  Versuch  dazu  ge- 
macht haben,  bei  welchem  er  sich  kläglichst  blamirte.  Der  Damm 
stand  noch  immer  fest.  Aber  eben  so  natürlich  ist  es,  dass  die 
hochgehenden  Wellen  der  neuen  Bewegung  gelegentlich  über 
diesen  Damm  flutheten,  dass  der  neue,  von  den  Musikenthusiasten 
vergötterte  Styl  Versuche  machte,  sich  in  die  Kirche  einzudrän- 
gen, dass  er,  wo  es  einmal  gelang,  dort  sein  verweichlichendes 
Spiel,  seinen  Ohrenschmaus,  seine  Virtuosenkünste  und  Effekt- 
stücke in  Szene  setzte,  und  dass  der  Effekt  nicht  ausblieb.  Die 


provinciam,  nec  se  Cantoribus  deridendum  praebuissot"  u.  s.  w.  Der  „Con- 
sultissimus  Princeps"  ist  Urban  VIII.  Ganz  allerliebst  nimmt  es  sich  aus. 
wie  hier  „Donius  noster"  sich  selber  als  Autorität  zitirtü  Sein  Haas  gegen 
Kapsborger  tritt  in  dem  Passus  „Cytharoedi  uniua"  grell  zu  Tag<\ 


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310 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Kirche  begann  der  Concertsaal  für  Gesangsgrössen  zu  werden, 
welche  sich  hören  lassen  wollten  —  sogar  die  Nonnen  in  Rom 
fingen  an  mit  Primadonnen  gelegentlich  eine  sehr  bedenkliche 
Aehnlichkeit  anzunehmen. 

Selbst  wo  der  Zuhörer  ehrlich  genug  bei  der  Sache  war,  um 
religiöse  Erhebung  zu  suchen,  lief  am  Ende  Alles  auf  überreizte, 
allenfalls  religiös  gefärbte  Geftihlsschwelgerei  hinaus  —  himmel- 
weit entfernt  von  wahrer  Andacht  —  es  genügt,  sich  des  bei 
Lorcto's  Magdalene  in  Thränen  zcrfliessenden  Auditoriums  zu 
erinnern.  An  Stelle  der  hohen  Gesänge  Palestrina's  traten  bald 
vor  Empfindung  schmelzende,  bald  mit  Brillantcoloratur  über- 
ladene Arien  —  bald  Herzenskitzel,  bald  Ohrenkitzel  —  ein  sehr 
zweifelhaftes  Appelliren  an  die  höhere  Natur  des  Menschen  dureh 
die  Zwischenstation  der  niederen,  sinnlichen  hindurch. 

Nicht  allein  die  kirchlichen  Ritualtexte  wurden  jetzt  im 
„neuen  Styl"  componirt,  sondern  auch  Monodieen  mit  frei  ge- 
dichteten, d.  h.  nicht  rituellen  Texten  fanden  jetzt  grosse  Be- 
liebtheit und  Verbreitung.  Radesca  da  Foggia  räumt  ihnen 
das  ganze  fünfte  Buch  seiner  gesammelten  Gesänge  neuen  Styls 
ein,  ermangelt  aber  nicht,  sich  zur  Einleitung  von  einem  poeti- 
schen Freunde  Giov.  Batt.  Feis  „Dottor  di  leggi  e  lettore  nell' 
universita  di  Torino"  mit  gereimten,  sehr  exaltirten  Lobsprüchen 
andichten  zu  lassen. !)  Ein  interessantes  Stück  darin  ist  eine  Ma- 
rienklage „Anima  cara  e  pia",  welche  in  Ton  und  Haltung  der 
berühmten,  nachmals  auch  zum  Klaggesang  der  Mater  dolorosa 
zurechtgemachten  Ariadnenklage  Monteverde's  so  ähnlich  klingt, 
dass  die  Aehnlichkeit  eine  wohl  nicht  blos  zufällige  ist  Die 
schon  früher  gelegentlich  in  Form  mehrstimmiger  geistlicher  Ma- 
drigale componirten  „Pietosi  affetti"  von  Pater  Angelo  Grillo 
wurden  von  dem  Mönch  von  Montecassino  und  Organisten  von 
S.  Pietro  in  Mailand  P.  Serafin  Patta  im  neuen  monodischen 
Styl  componirt,  darunter  auch  das  „anima  cara  e  pia".2)  Dass  es 
zwischen  geistlicher  und  weltlicher  Musik  einen  Unterschied  des 
Styls  gebe  und  geben  müsse,  fiel  den  von  ihrem  neuen  decla- 


1)  „Fan  colesti  concenti,  Eadesca  le  tue  note,  onde  l'alme  divote, 
rapite  dagl'  accenti,  s'inalzan  co'l  pensier  sin'a  le  sfere,  de  V  angeliche 
schiere"  u.  s.  w.  Ein  Zweites  schliesst  mit  dem  Wortspiele:  „an,  che 
questi  non  son  atti  di  canto,  ma  di  Celeste  incanto". 

2)  Der  Titel  lautet:  „Motetti  e  Madrigali  cavati  dallo  poesie  sacre 
del  Reverendo  Padre  D.  Angelo  Grillo  Abbate,  composti  in  musica  dal 
Padre  D.  Serafino  Patta,  Monaco  Casinense  per  cantare  solo  nel  organo, 
clavicordo,  chitarrone  et  altri  istromenti,  Stampato  del  Gardano  in  Ve- 
netia  MDCXIV.  Anpresso  Bartolomeo  Magni."  (Hochfolio.)  Enthält  28 
Nummern.  Die  Dedicationsvorrede  ist  an  den  Dichter  gerichtet,  und  da- 
tirt:  „di  S.  Salvatore  in  Pavia,  il  di  primo  Novembre  MDCIX".  Weder 
Fetis  noch  Becker  kennen  dieses  Werk,  von  dem  die  Prager  Universitäts- 
bibliothek ein  Exemplar  —  Sign.  XL  B.  41  —  besitzt 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch- dramatischen  Werke. 


311 


matorisch-melodisch-monodischen  Styl  begeisterten  Leuten  nicht  im 
Traume  ein  —  Monteverde's  zur  Mater  dolorosa  gewordene  Ariadne 
ist  wohl  das  stärkste  Beispiel  —  um  so  stärker,  als  der  Ge- 
sang wirklich  tief  empfunden  und  ausdrucksvoll  ist.  Die  Mu- 
sik der  meisten  kleineren  Componisten  der  Zeit  passt  in  ihrer 
Ausdruckslosigkeit  allerdings  gleichgut  oder  vielmehr  gleich- 
schlecht auf  Geistliches  und  Weltliches. 

Von  im  Styl  der  neuen  Musik  componirten  Ritualtexten  da- 
gegen gab  Ottavio  Durante  schon  160S  in  Rom  eine  ganze 
Sammlung  „Arie  divote"  heraus1).  Die  Schreibart  erinnert  in 
sehr  merkwürdiger  Weise  auf  Stärkste  an  Caccini's  „Nuove  mu- 
siche"  —  in  den  Melodiefragmenten  sowohl,  als  in  den  Phrasen, 
in  den  declamatorischen  und  in  den  colorirten  Stellen  —  und 
auch  die  Art,  wie  sich  hier  wirkliche  Empfindung  ausspricht, 
zeigt  die  grösste  Verwandtschaft  mit  jenen  Compositionen  des 
Florentiners.  Es  ist  wie  ein  letzter  Scheideblick  auf  den  alten 
Ritualgesang,  wenn  Ottavio  Durante  gelegentlich  ein  gregoriani- 
sches Motiv  in  seine  Monodie  herübernimmt  —  z.  B.  beim 
Magnificat.  Coloraturen  sind  in  reichstem  Masse  angewandt. 
Nach  der  Zeit  Weise  ist  die  Vorrede,  wiederum  ähnlich  den  Vor- 
reden Caccini's,  eine  kleine  lehrhafte  Abhandlung  über  Compo- 
sition  und  Gesangskunst.  Auf  den  „Affekt"  wird  schon  aus- 
drückliches und  besonderes  Gewicht  gelegt. 

In  Venedig,  wo  seit  1613  ohnehin  Monteverde's  persönliche 
Anwesenheit  und  sein  Vorbild  mächtig  einwirken  musste,  dachten 
einzelne  Sänger  von  S.  Marco  eben  auch  daran,  sich  durch  glän- 
zende Solovorträge  den  ohnehin  für  Musik  leidenschaftlich  be- 
geisterten Venezianern  bemerkbar  zu  machen  und  zu  empfehlen. 
So  Girolamo  Marinoni,  dessen  1614  erschienene  Motetten 
für  eine  Stimme2)  kirchliche  Ritualtexte  in  arioser  Weise  und 


1)  „Arie  divote,  le  quali  contengono  in  se  la  maniera  di  Cantar 
con  gratia,  l'imitation  delle  parole,  et  il  modo  di  seriver  passaggi  et  altri 
affetti.  Nuovamente  composti  da  Ottavio  Durante,  Romano,  appressu 
Simone  Verovio  1608.  Con  Licenza  de  Superiori".  —  Wie  auch  sonst  Ve- 
rovio's  musikalische  Publikationen,  ist  das  Heft  nicht  gedruckt,  sondern 
gestochen.  Klein-Folio,  31  Seiten.  Den  Inhalt  bilden  nach  einer  Vorrede 
,,a  Letfori"  folgende  Gesänge:  „Angelus  ad  pastores;  Aspice  Domine; 
Beata  es;  Estoto  fortes;  Fihae  Jerusalem;  Gaudent  in  coelis;  Hei  mihi; 
Jam  quod  quaesivi;  Magnificat  tertii  toni;  Magnificat  octavi  toni;  Mise- 
rere mei  Dens;  0  Domine  Jesu;  0  Rex  gloriae;  0  Sacrum  convivium; 
Regina  coeli;  Si  bona  suscepimus;  Verbum  caro;  Verba  mea'\  Lauter 
Kirchentexte  wie  man  sieht.  Dazu  aber  auch  zwei  italienische:  ,,Scorga 
Signor"  und  „Signor,  cho  dell  peccato". 

2)  ,.11  primo  libro  de  Motetti  a  una  voce;  et  in  fine  un  Salve  Re- 
gina a  doi.  Posti  in  musica  per  Alfabeto  da  D.  Girolamo  Marinoni  da 
Fossambrone,  musico  dolla  Serenissima  Signoria  da  Fossambrone  in  S. 
Marco.  Stampa  del  Gardano  in  Venetia,  aere  Bartholomei  Magni.  1614." 
—  Die  Prager  Universitätsbibliothek  besitzt  ein  schönes  Exemplar. 


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312        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 

auch  wieder  mit  nicht  sparsam  angewandtem  Zier-  und  Coloratur- 
gesang  behandeln.  80  wie  Ottavio  Durante  der  Schreibart  Cac- 
cini's  folgt,  so  fand  Marinoni  sein  Muster  in  Monteverde's  Comp 
sitionen,  deren  genialen  Zug  er  zwar  nicht  erreicht,  dem  man 
aber  endlich  doch  das  Zeugniss  geben  darf,  dass  seine  Gesänge 
ein«;  gewisse  feierlich-festliche  Stimmung  und  einen  lebendigen 
Zug,  auch  zum  Theile  recht  interessante  Themen  haben.  Gleich 
Ottavio  Durante  beginnt  er  auch  wohl  (z.  B.  im  Assumpta  est) 
mit  einer  Reminiscenz  an  den  bezüglichen  gregorianischen  Ge- 
sang, welcher  sich  freilich  kaum  nur  zeigt,  um  sogleich  wieder 
hinter  moderner  Declamation,  Phrasirung  und  Colorimng  zu  ver- 
schwinden. Die  venezianischen  Druckereien  Hessen  jetzt  mehr 
ähnlicher  Sammlungen  erscheinen,  so  1613  Luigi  SimonettoV 
„Ghirlanda  sacra  de  motetti  a  voce  sola",  1615  Bonini's  „Serena 
Celeste"  (worin  auch  Duos  und  Trios)  und  Anderes  mehr.  Die 
„geistliche"  Dichtung  und  Musik  treibt  jetzt  mitunter  verwunder 
liehe  Blüten. 

Jener  Abbate  P.  Angelo  Grillo  hat  eine  ganze  Reihe  von 
Gedichten  .,übcr  das  Angesicht  des  todten  Heilands"  geschrie- 
ben, welche  „da  diversi  autori"  in  Musik  gesetzt  und  von  D. 
Angclico  Patto  1613  herausgegeben  wurden.  *) 

Hier  linden  wir  nun  Gesänge  „sopra  la  fronte,  sopra  gl' 
occhi,  sopra  il  naso  sopra  la  barba"  u.  s.  w.  Ein  vom  Her- 
ausgeber beigefügter  Dialog  zwischen  Christo  und  dem  Sünder 
„ferma  ferma  o  Signore"  —  Musik  von  Bartolomeo  Pesarin«» 
(eigentlich  Bartolomeo  Barbarino  aus  Fabriauo;  ist  ein  ursprüng- 
lich weltliches  Stück,  „forma  ferma  o  Caronte",  welchem  Angelico 
Patto  den  geistlichen  Text  unterlegte  2) : 


I 


Peccatore  pentito  e  Christo. 
Peccatore.  Cliristo. 


Fer-ma,  fer-raa,  Sig-no-re!       Chi     e      co  -  lui  che 


1)  Canoro  pianto  di  Maria  vergine  sopra  la  faccia  di  Cristo  estinto. 
Poesia  del  Rever.  P.  Abbate  Grillo.  raecolta  per  l).  Angelico  Patto,  Aca- 
demico  Giustiniano,  e  posta  in  musica  da  diversi  autori.  Con  un  dialogo 
et  madrigali,  tramutati  da  V  istesso  a  una  voce  da  Cantar  nol  Chitarone 
o  altri  instroraenti  simüi.  In  Venetia  Aere  Bartholome!  Magni  MDCXIU. 
Die  Prager  Universitätsbibliothek  besitzt  ein  Kxemplar  (Sign.  XI.  B.  4). 

2)  Der  Text  bildet  eine  Art  Seitenstück  zu  der  zweistimmigen  geist- 
lichen Cantate  „Christus  und  die  Saraaritanerin".  welche  Goethe  in  den 
Anhängen  seiner  italienischen  Reise  mittheilt,  und  welcher  noch  immer 


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fr  f  t* 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 

Pecc. 

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313 


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da? 


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5 


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la   piü   a-ni-ma   infi-da  e'l 


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Chr. 


piii   ri-tror-  so   co  -  re  trai  ru-bel  -  Ii  d'a  -  mo  -  re  che 


ccr 

Chi?  i! 

—  — 

  ~      *  * 

(5L   

a  -  mor   tuo    su  -  per  -  no  quant- 


—e  


1 


un- 

1^ 


>  E  ^  E  ,  > 


un  -  que  deg  -  no   di  sup  -  pli-cio  e  -  ter 


no 
u.  8.  w. 


v 


i 


in  Italien  populär  ist  —  ich  kaufte  ein  „in  Lucca  con  permesso'*  ge- 
drucktes Exemplar  neuer  Provenienz  „Dialogo  tra  Gesii  e  Ia  Samaritana", 
dessen  Inhalt  wörtlich  der  von  Goethe  mitgetheilte  ist.  186C  bei  der 
Engelsbrticke  zu  Horn  von  einem  Verkäufer  ähnlicher  Produkte  der  Presse. 
Als  Seitenstück  zu  Patto's,  beziehungsweise  Pesarino's  Duo,  mag  das  in 
J.  S.  Bach's  Cantate  „Ich  hatte  viel  Bekümmerniss"  geltea 


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314 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Wie  die  bewunderten  Nonnengesänge  in  Rom  aussahen,  da- 
von ist  uns  in  den  Hymnen  *)  einer  römischen  Nonne  vom  Orden 
der  h.  Clara  eine  Probe  erhalten.  Jeder  gesunde  religiöse  Sinn 
wird  sich  aber  angewidert  fühlen,  wenn  er  z.  B.  gleich  die  erste 
Hymne  der  „aus  Demuth  ungenannt  gebliebenen"  Nonne  und 
Componistin  „0  Jesu  meus  amor"  und  darin  folgende  Stelle 
hört : 


a    -    mo   te,    me  -  a      fe  -  Ii  -  ci  -  tas,      me  -  a  lux, 


ve  -  m,  ve  -  ni, 


me  -  um  cor, 


ve  -  ni,  ve  -  ni,      ve  -  ni,  ve  -  ni,        me  -  a   lux,  me  -  a 


"P — IS- 

W  ■  :  ^ 

sors,  o 


ve  -  m, 


1)  Diese  Hymnen  kamen  1683  in  Venedig  heraus  unter  dem  Titel: 
„Philomela  angelica  Cantionum  sacrarum,  quas  Romae  virgo  ouaedam 
DEO  dicata  ordinis  S.  Clarae  voce  sola  cum  Basso  continuo  haua  multis 
ab  hinc  annis  concinasse,  auetorque  ipsamet  suavitate  ac  dulcedine  sopra 
quam  humana  ad  cultum  sacrum  decantasse  traditur  —  nunc  vero  ad 
majorem  gratiam  eisdem  conciliandam  divinumque  honorem  ulterius  pro- 
movendum  Violae  qiiatuor  addisce,  utque  opusculum  ad  iustam  exereseat 
magnitudinem  Duodecim  Ecce  a  tribus  voeibus  A.  T.  B.  cum  duobus 
Vi" Ii nis  et  continuo  Basso  duplicatae  adjecta  publicique  juris  facta  sunt. 
Authore  'Avayoafifxauxdis  denominato :  Res  plena  Dei.  Venetiis 
MDCLXXXVIIJ." 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


315 


ve  -  ni,    ö      ve  -  ni,  ve  -  ni,  ve  -  ni,  ve  -ni, 


ve  -  ni,  ve- 


r-r=f 


ni,  me-um  cor, 


ve  -  ni,  ve  -  ni,  me-um  cor, 


s*3 


-1  — 

— ö» — 

1 


ve  -  ni,  ö 


im 


ve  -  ni,  ve 


ni,  ve  -  ni,    ve  -  ni,     ve  -  ni,    ve  -  ni, 


bo  -  ne    Je  -  su,        me  -  a    lux.       me  -  a  sors  u.  s.  w. 


Bis  zum  höchst  Dramatischen,  aber  auch  bis  zum  höchst  Be- 
denklichen steigert  sich  hier  die  Leidenschaft.  Welche  trüben 
Flammen  lodern  aus  diesem  unaufhörlichen  hoiss-sehnsüchtigen 
,,veni,  veni",  aus  diesen  aufstöhnenden  Oh-Rufen! !  Wenn  Ber- 
ninfs  berühmteste  und  berüchtigteste  Theresia  singen  könnte,  sie 
würde  ähnliche  Töne  hören  lassen.  Es  war  die  Zeit  der  gemal- 
ten und  gemeisselten  Exaltationen,  Visionen,  Verzückungen,  hei- 
ligen Lipothymien  u.  s.  w. 2)  Die  Musik  durfte  da  nicht  zurück- 
bleiben! Den  Ton  hatte  im  Grunde  Monteverde  mit  seinem 
zweistimmigen  Salve  Regina  angegeben  —  aber  denn  doch  ge- 
mässigter; ganz  abgesehen  davon,  dass  der  Athem  des  Genies 
hier  belebend  wirkt  und  dem  Stücke  seine  bedeutende  und  echte 
Wirkung  sichert.  Nichts  natürlicher,  als  dass  aer  Palestrinastvl 
den  Gönnern  der  neuen  Musik  kalt  und  seelenlos  erscheinen 
musste. 


1)  Die  obige  kleine  Probe  wird  genügen  zu  zeigen,  dass  die  musi- 
kalische Nonne  in  der  That  ein  ausserordentliches  Talent  war.  Die  Stei- 
gerung des  Affektes  von  Takt  zu  Takt  ist  höchst  merkwürdig,  es  ist  wie 
eine  zunehmende  Feuersbrunst.  Desto  schlimmer!  Die  „göttliche  Liebe" 
ist  hier  Maske  einer  sehr  ungöttlichen,  der  „himmlische*1  Affekt  der  PrS- 
tezt  einem  sehr  irdischen  Luft  zu  machen.  Die  Analogieen  dazu  fanden 
sich  auch  in  den  übrigen  Künsten  der  Zeit, 

2)  Die  meisterhafte  Schilderung  sehe  man  in  Burkhardt's  „Cicerone" 
2.  Aufl.  Bd.  1,  S.  697—699. 


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310         l>ie  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Das  gedenkbar  Seltsamste  dieser  Gattung  vielleicht  ist  ein 
von  Rade  sc  a  da  Foggia  componirtes  Duett  l),  dessen  Text,  von 
Lodovico  Caligaris,  Canonicus  der  Metropolitane  zu  Turin,  eine 
Art  spielender  Umschreibung  des  Grundgedankens  der  alten  Se- 
quenz „Mater  patris,  nata  nati",  und  durch  den  gezierten  Hof- 
und  (Konversationston  jener  Zeiten  ein  verwunderliches  Stück 
Poesie  ist.  Der  den  Dialog  beginnende  Interlocutor  sieht  eine 
wunderschöne  Dame  mit  einem  wunderschönen  Knäblein,  die  er 
höflichst  anredet,  Sie  neckt  ihn  eine  Weile  mit  Räthseln  herum, 
bis  sie  sich  zu  erkennen  giebt:  „egli  c  Gesü  —  Maria  son  iou 
—  wornach  mit  Hinzutritt  einer  dritten  Stimme  das  Stück  mit 
einem  kurzen  Lobgesange  schliesst : 

Dialoge  a  2  (so!) 


n1,   ^ 

Mi 

o  pa-dre 

1^1.  -- g — L-j 

Da  -  mo,  chi  e 

^--'■■7  1  —  =- 

pa  -  dre  al   bei  fi-gliuol? 

  «  ü 

P      -a  t-i  --^rf- 

-* — 1— | 
Fi- 

O-  . 

1   o — ■  1  -J 

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1  f  

H  -   -  ig 

 .  

n 


3=f 


d'esto  mio  fig  -  lio 


wmm 


m 


-  gliadichi  sei  Tu? 


ma-dre  e  fi-glia,  vuoi 


i  i  g  * 


.'  9 


— i — i 


\)  Libro  V,  N.  9. 

2)  Wie  bei  Radeaca  auch  sonst,  ist  der  Bass  unbeziflort.  Ich  habe 
zur  Erleichterung  die  Ziffern  beigesetzt. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


317 


fig-liae  roa-dre  di  -  co  io  dimioaol 


dir,d'im  fig-lio  e  pa-dre? 


2e£ 


£3p 


1- 


PF 


fi-glio. 


Spo-sa  son  an- 


53 


8 


Sposaseidun-quee  fi-glia e raa - dre ad un pa-dre? 


I 


*    tf  i 


# — 


a  '         ■  ■ 


che      e    nia-dreofiglia  aun  ti  -  gliu.       E   -   gliöGe-3Ü.  Ma- 


4=£ 


Sgl 


1 


chi  80 -to?  (so!  siote  oder  so'  tu?) 


dp' 


Vir-  go    a  -  veo  fi-glia,  o  spo-sa.  vir- 


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318 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


»3 


m 


Vir- 


go      a  -  ve  o    fi-glia,o  spo-sa,o   ma-dreaun   Di  -  o.  Vir- 

A  l 


r 


Vir- 


go     a-ve  o   fi-glia,  o  spo  -  sa,       vir  -  go     a  -  ve  o    fi  -  glia  o 


vir  -  go     a  -  ve  o     fi  -  glia  o 


-#  #  0- 

v     5  p" 


go    a-  ve  o  fi-glia,o  apo-  sa,        vir-go      a  -  ve,  o    fi-glia  o 

3=t 


spo  -  sa,        o   ma-dre  aunDi 


o. 


T 


spo  -   sa,  o  ma-dre  a  un  Di 


o. 


spo-sa,  o  ma-dre  a  un 


Di 


o. 


= 


Durch  alle  Befangenheit  in  der  Form  und  Führung  dieses 
seltsamen  Tonstückes  brechen  ganz  merkwürdige  Züge  hindurch 
—  Züge  einer  tief  dramatisch  zu  nennenden  Auffassung.  Der 
Frager  beginnt  mit  kühler  Höflichkeit,  mit  dem  Ausdruck  einer 
halb  gleichgiltigeu  Neugierde,  der  an  der  Antwort  eigentlich  we- 
nig gelegen  ist.  Schon  die  ersten  Worte  Maria's  haben  etwas 
Feierliches.  Der  Fragende  wird  aufmerksamer,  dringender  — 
höchst  gespannt  ruft  er  zuletzt  „wer  seid  ihr!?"  —  und  nun 
antwortet  Maria  mit  wirklich  majestätischer  Erhabenheit,  worauf 
der  überraschte  Frager  sie  mit  sich  steigernder  Innigkeit  begrüsst. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


319 


Das  kleine  Trio  zum  Schlüsse  wiederholt  die  Begrtissung  —  aus 
welcher  wirklich  eine  andachtsvolle  Wärme  fühlbar  wird.  So 
hat  die  Musik  dem  kleinen  Stücke  Farbe,  Ausdruck  und  Leben 
verliehen  —  und  der  platte  Einfall  des  Poeten  wird  durch  6ie 
rührend. 

Aufgeregter  Affekt  war  das  Kennzeichen  der  Kunst  jener 
Zeiten  —  nicht  blos  der  Tonkunst  Wo  die  Malermeister  vor 
Raphael  himmlisch  schöne  Gestalten  in  seliger  Ruhe  hingestellt, 
stellten  jetzt  die  Bologner  Eklektiker,  die  Neapolitaner  Natura- 
listen am  liebsten  die  gedenkbarste  Aufregung  dar  —  ein  Gegen- 
stand, der  in  der  älteren  Kunst  so  gut  wie  gar  nicht  vorkommt; 
das  dornengekrönte  Eccehomo-Haupt,  mit  leidenschaftlich  zum 
Himmel  emporflammendem  Blick,  die  reuige  Magdalena,  welcher 
erbsengrosse  Thränen  über  die  Wangen  rollen,  sind  Lieblings- 
gegenstände; Maria  wird  am  liebsten  als  Mater  dolorosa  gemalt. 
Sehr  begreiflich,  dass  die  Musik  den  analogen  Weg  zu  wandeln 
begann!  Um  solchen  Aufgaben  zu  genügen,  musste  die  Musik, 
die  bisher  wie  eine  keusche  Priesterin  am  Altar  gestanden,  jetzt 
die  leidenschaftlichsten  Töne  anschlagen  —  selbst  wenn  sie  be- 
tete. Von  Domenico  Mazzocchi's  „büssender  Magdalena"  hat 
Athanasius  Kircher  mindestens  ein  Fragment  überliefert,  welches 
gentigt,  um  einen  Schluss  auf  das  Uebrige  machen  zu  können, 
und  welches  für  das  eben  Gesagte  sehr  kennzeichnend  ist: 

S.  Maddilena.  t>      Domenico  Mazzocchi. 

ben    ?uol   sa  -  nar  -  la  il     Re  -  den  -  to-re  (il) 

^  TS  ^   '  \J=  

(NB.  Das  Original  ist  unbeziffert.) 


san  -  gue 


ma 


m 


> 


3 


,    (i>)   .  , 


in-darno  spar-si    il   pre  -  ti  -  o  -  so  ri 


-  0 


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320        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 
 (b  (fr) 


^^^^^^ 


S   f   g  t   „   i  -r 

sa  -  ra     per  lei    di  quel  be  -  a  -  to   san-gue  sen 

'?  1  i 


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95 


o   sen-zail  do-glio -so    hu-mor  del  pian 


3 


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11» 


to     mi   -  o. 

  fr?  i?3 


Wir  erkennen  hier  denselben  hochpathetischen  Dcclaniatk 
styl,  dieselbe  Glut,  wie  wir  sie  bei  Monteverde  im  Klaggesange 
seiner  verlassenen  Ariadne,  im  ersten  Monolog  seiner  Penelopo 
(in  der  Oper:  il  ritorno  d' Ulisse)  wieder  finden  werden.  Auch 
bei  Ariadnens  Gesang  hatten  die  Zuhörer  Thränen  vergossen. 
Dom.  Mazzocchi  schildert  in  obigem  Fragment  das  schluchzende 
Weinen  vollends  mit  sehr  intensiver  Kraft  und  mit  beinahe  all- 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


321 


zuviel  Naturnachahmung.  Denkt  man  nun  aber  diese  der  dama- 
ligen Welt  bis  dahin  ganz  unbekannt  gewesenen  Töne  mit  allem 
Wohllaut  einer  edel  gebildeten  Stimme,  mit  leidenschaftlicher 
Aufregung  vorgetragen,  so  begreift  man,  dass  Loreto  und,  wie  P. 
Kircher  bemerkt,  eben  so  die  Sänger  Bonaventura  und  Marcan- 
tonio damit  alle  Welt  hinrissen.  *)    Und  dass  an  Stelle  des  ritu- 


1)  Will  mau  hier  an  passender  Stelle  mit  Deutlichkeit  sehen,  welche 
rasche  Fortschritte  die  Tonkunst  machte,  so  vergleiche  man  mit  Mazzocchi's 
Magdalena  jene  von  Francesco  Antonio  Pistocchi  (geb.  1659  zu  Palermo), 
wie  er  sie  in  seiner  Cantate  „S.  Marie  vergine  addolorata"  (1698)  malt. 
Während  der  ältere  Meister  die  Deklamation  vorwalten  lässt,  ist  hier 
schon  der  ,,bel  canto44  in  voller  Bntwickelung  da: 


t 

HF* 

E  che 

fa  -  rc  -  i   mi  • 

•  so 

-  ra  nie.      mi  -  se  -  ra 

4- 

— T-g»     S   T  St  , 

—  

me,    e   che  fa  -  ro 


l    mi  -  se  -  ra  nie 


ri-pre  -  so     iltie  -   ro  vol  -  to  pri  -mie-ro,    il  mio  de- 


ja: 


Ambro»,  Geschichte  der  Mnsik.  IV. 


21 


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322 


Die  Zeit  der 


musikalisch-dramatischen  Werke. 


eilen  Latein  die  vertraute  Muttersprache  getreten,  trug  zur  Wir- 
kung wesentlich  bei. 


n 


lit-  to     tor  -  nar  ve  -  drai     den-troa  quest'  a  -  ni-ma 


I    -K  I 


1*2 


che  piu  nun  v'e,   o  cho  fa  -  rei  mi  -  se  -  ra  me,     il  mio  de- 


-1 


m 


3=F 


lit  -  to    tor -nar  ve  -  drai        den-troa  qucst'  a-  ni-ma 


PF» 


che   piii    non  v'e 


fe  F 


-0'- 


e      che    fa  -  re  -  i    mi  -  se  -  ra   mc     mi  -  se  -  ra 


'*|?  |  'fiT*  ?!.*'?  .';?■■) 

Tl  4- 


me     e    che  fa  -  re 


i     mi  -  se  -  ra  me. 


I 


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I 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  323 

Neben  den  geistlichen  monodischen  Gesängen  wurden  zahl- 
reiche weltliche  componirt,  deren  erster  Keim  in  Caccini's  „nuove 
musichc"  liegt,  die  aber  allgemach  Form,  Gestalt,  in  glücklichen 
Fällen  sogar  melodischen  Reiz  und  charakteristischen  Ausdruck 
annehmen,  die  es  versuchen,  wehmtithig  zu  sein  oder  zu  scherzen 
und  die  den  Uebergang  zur  Kammercantate  vermitteln,  welche,  ein 
Menschenalter  später,  in  Giacomo  Carissimi,  dann  in  Stradella 
und  weiterhin  in  Alessandro  Scarlatti  glänzende  Vertreter  findet. 
Es  war  hauptsächlich  Oberitalien,  und  hier  vor  allem  wieder  Ve- 
nedig, wo  in  dieser  neuen  Gattung  von  Musik  überaus  fleissig 
gearbeitet  wurde  und  die  Presse  thätig  war.  Componisten,  welche 
im  herkömmlichen  mehrstimmigen  contrapunktischen  Satz  erzogen 
waren  und  der  Welt  ein  oder  einige  JBücher  Madrigale  zu  drei, 
vier  und  mehr  Stimmen  geschenkt  hatten,  griffen  mit  lebhaftem 
Interesse  nach  dem  neuen  Musikstyl.  Von  dem  bedeutendsten 
dieser  Ueberläufer,  Claudio  di  Monteverde,  wird  späterhin  zu 
sprechen  sein.  Einer  der  Eifrigsten  war  jedenfalls  jener  schon 
genannte  Radcsca  da  Foggia,  welcher  in  einer  Sammlung 
achtstimmiger  Messen  und  Motetten,  die  1620  in  Venedig  ge- 
druckt wurde,1)  dem  älteren  Styl  sein  Opfer  brachte,  dessen 
Hauptwerk  aber  fünf  Bücher  Monodieen  sind,  welche  1616  bei 
Giacomo  Vincenti  in  Venedig  gedruckt -wurden.  Auf  dem  Titel 
nennt  sich  Kadesca  „Organista  della  Metropolitana  di  Torino  et 
musico  di  Camera  dell'  Illustrissimo  et  Eccellentissimo  Signore 
Don  Amadeo  di  Savoia'4  —  die  Dedicationsvorrede  des  fünften 
Buches  unterschreibt  er  als  „Cittadino  di  Torino."  Das  erste 
Buch  wird  durch  eine  nichtssagende,  schwülstige  Dedicationsvor- 
rede an  Margarita  Lignana  Tizzona,  Marchesa  di  Moncrivcllo  ein- 
geleitet.2)   Die  Gesänge  selbst  sind  so  gesetzt,  dass  der  Grund- 


1)  Sie  scheinen  nirgends  mehr  vorhanden,  werden  aber  in  Walther's 
Lexikon,  S.  252,  erwähnt.  Von  dort  hat  es  Gerber  (unter  ausdrücklicher 
Berufung  auf  Walther)  in  sein  Lexikon  herübergenommen.  —  Fetis  und 
Becker  („Tonwerke  des  XVI.  und  XVII.  Jahrh.*4)  wiederholen  einfach  die 
Angabe. 

2)  Der  Titel  lautet:  „il  primo  (socondo  u.  s.  w.)  ibro  delle  Canzo- 
nette,  Madrigali  et  Arie  alla  Romana  a  due  voci,  per  cantare  et  sonare 
con  la  spineta,  chitarrone  et  altri  simili  stromenti,  del  Radcsca  da  Fog- 
gia, Organista  della  metropolitana  di  Torino  et  musico  di  Camera  deu' 
Illustrissimo  et  Eccellentissimo  Sig.  Don  Amadeo  di  Savoia.  Nuovamento 
con  ogni  diligenza  corrette  e  ristampato.  Con  Privilegio.  In  Venetia 
appresso  Giacomo  Vincenti  MDCXVI".  (Folio  —  enthält  17  Gesänge.) 
Das  „corrette  e  ristampate"  lässt  schliessen,  dass  schon  eine  frühere  Auf- 
lage vorhergegangen  sein  inuss.  Als  vielleicht  „Exemplar  unicum"  be- 
sitzt die  Präger  Universitätsbibliothek  diese  für  die  Geschichte  der  Mo- 
nodie so  ühoraus  wichtige  Sammlung  von  Gesängen.  (Sig.  XI,  B.  41.) 
In  demselben  Bande  linden  sich  die  Gesänge  von  Bruneiii,  Capello,  Ma- 
rinoni,  Fornaci.  die  „Strali  d'amore"  und  andere  wichtige  Denkmale  aus 
der  Incunabelzeit  der  Monodie.    Ein  kunstsinniger,  hochgebildeter  Rath 

21* 


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324 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


bass  in  den  Duetten  zugleich  als  zweite  Stimme  dient,  wodurch 
er,  als  Gesangspart  betrachtet,  keine  glückliche  Gestalt  erhält  — 
eine  Bezifferung  fehlt  gänzlich,  der  Begleitende  mochte  zusehen. 
Die  Tonarten  sind  C-dur,  F-dur,  G-dur,  G-moll ,  beim  ersten 
Liede  im  dritten  Buche  „dopo  che  tu  mi  vuoi  tradire"  B-dur  mit 
zwei  >  Vorzeichnung,  dagegen  kommt  jj  als  Vorzeichnung  nicht 
vor.  Bei  den  Cadenzen  sind  die  Accidentalen  beigesetzt.  Die 
Ausweichungen  nach  der  Dominanten-  oder  Paralleltonart  sind 
wie  instinctmässig  gefunden  —  wo  ein  Lied  einen  zu  wieder- 
holenden ersten  Theil  hat,  endet  er,  gleich  dem  zweiten,  auf  der 
Tonica,  wodurch  Monotonie  entsteht.  Die  weiblichen  Versaus- 
gänge schleppen  in  der  Musik  schwerfallig  nach  (wie  bei  Caccini). 
In  dem  Duo  „non  haU  ciel  cotanti  lumi"  kommt  gleich  anfangs 
eine  hübsche  Steigerung  nach  der  zweiten  Klangstufe  vor: 

Non  sa,  che  sia  dolore,  chi  prorato  non  ha  colpi  d'amore. 

M. 


( 


G 


.    ...  " 


Non  ha'l    ciel    co  -  tan  -  ti      In  -  mi,   tan  -  te  stil  -  le 


BS 


Non  ha'l  ciel 


SP---"-" 


ma  -  re  e   fiu  -  mi 


In  dem  Liede  „Ohime,  se  tanto  amatc"  im  zweiten  Buch  (,.il 
favorito  del  Eccellentissimo  Don  Amadeo"  steht  dabei)  kommt 
die  Sequenz  vor 

S   t?   «  B)f   «    ä   2  *  3   X   •    5   «   2  l 

g  e  JJc   d   h   c    g  —  d        E  D  a  d 

Ob  das  Stück  deswegen  dem  Herzoge  so  gefiel? 

Eine  bedeutende  Anzahl  der  Gesänge  sind  als  Strophen- 
liedcr  behandelt.  Ueberall  zeigt  sieh  liedmässig-periodische  Form, 
obwohl  vielfach  noch  unbeholfen  und  im  Bau  zuweilen  fehlerhaft. 
Im  Ganzen  sehen  die  Lieder  einander  bedenklich   ähnlich  — 


Rudolph  II.,  Namens  Troilus  a  Lcssoth,  der  das  Buch  autographisch  mit 
seinem  Namen  bezeichnet  hat,  Hess  nm  1616  „Das  Neueste  aus  Italia4* 
für  sich  nach  Prag  bringen  und  die  Sendung  in  einen  dicken  Folioband 
zusammenbinden.  Ich  mache  musikalische  Geschichtsforscher  auf  den 
Schatz  dringend  aufmerksam! 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  325 

Streben  nach  charakteristischem  Ausdruck  wird  indessen  trotzdem 
fühlbar.  Die  Spuren  des  rein  declamatorischen  Florentinerstyls 
schlagen  noch  oft  entschieden  durch,  zum  Nachtheil  des  cantabeln 
Melodieflusses,  der  sich  aber  in  einstweilen  schüchternen  Zügen  doch 
auch  einzustellen  beginnt,  ja  auch  wohl  siegreich  durchbricht. 
Das  Lied  „Ahi,  ch'io  mi  sveglio"  (das  auch  in  harmonischer  Be- 
ziehung durchweg  gelungen  ist)  erinnert  noch  mit  seinen  leichten 
Imitationen  an  den  älteren  Madrigalstyl  —  auch  die  classische 
alte  Cadenzform  erscheint  hier: 


9M"  M*a 

 1-«  

Die  im  Bass  erscheinende  Ligatur  „cum  opposita  proprietate" 
ist  im  ganzen  ersten  Buche  die  einzige  Reminiscenz  an  die  alte 
Notirungsweise ,  sonst  kommen  nur  die  Notengeltungen: 

°    p    |     £    vor  —  für  die  Schlüsse  nach  alter  Art  ä.  Ein 

ganz  artiger  Scherz  sind  die  „Esequie  amorose"  im  dritten  Buch 

—  „gia  si  veder  il  cielo",  wo  nach  Art  eines  Falso  bordone  auf 

eine  Note  — ^-  viele  Sylben  declamirt  werden  mit  3/2  a  Tempo 

wechselnd.  Auch  drei  spanische  Gesänge  (die  Nähe  von  Mai- 
land!) finden  sich;  im  zweiten  Buch  eine  „Canzonetta*  Spagnuola, 
scritta  a  gusto  d'un  Cavaliere:  Sy  vos  pretendeys  quererme"  — 
eine  allerliebste  graziöse  Kleinigkeit  — ;  im  dritten  Buch  „que 
sean  les  mugeres"  — ;  im  vierten  eine  „Canzonetta  Spagnuola"  „si 
de  los  ojos"  ;  in  demselben  Buche  eine  artige  „Napolitana  a  3" 

—  „qui  scritta  a  gusto  d'una  Dama"  bemerkt  der  Componist,  der 
mit  dergleichen  kleinen  musikalischen  Cadeaus  gerne  diesen  jenen 
Cavalier,  diese  jene  Dame  erfreute. 

Neben  diesen  Zierlichkeiten  kommen  auch  Tänze  vor  — 
ohne  Text,  als  Tanzmusik :  so  eine  „Corrente  di  Radesca"  und 
eine  zweite  „di  G.  Batt  Muti  Violino  di  S.  A.  S.  et  musico  di 
Camera  dell  Ecc.  Don  Amadeo  di  Savoia"  ferner  eine  „Nizzarda 
francese  per  ballare",  die  Radesca  seinem  Freunde  Don  Alaramo 
Picco  zu  Liebe  schrieb  —  die  Correnten  sind  von  spanisch -feier- 
licher Grandezza,  die  Nizzarda  hüpft  wie  ein  Scherzino,  treibt 
allerlei  rhythmische  Pikanterien  und  verrath  nur  durch  einige 
kleine  Unbeholfenheiten  in  der  Harmoniefuhrung  ihre  Entstehungs- 
zeit. l)  Daneben  Singetänze,  wie  das  Ballette  „per  voler  d'amore" 

1)  Man  sehe  diese  Tonsätze  in  den  Anhangen  des  ersten  Theiles 
meiner  „Bunten  Blätter1'. 


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326 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


und  eine  „Volta  per  ballare":  „Filii  gentile  perche  fuggi",  einzelne, 
nicht  als  Tänze  bezeichnete,  aber  ganz  an  Gastoldi's  „Fa  la" 
mahnende  Kleinigkeiten,  welche  munter  genug  vorbeihüpfen: 

(NB.  Die  Mittelstimme  ist  hier  zu  besserem  Verstindniss  beigeragt, 
das  Original  ist  zweistimmig.) 

Lib.  I.  N.  13.   Amare  in  fin  ch'  e  tempo. 


A  -  per  -  ta  -  men-te 


di 


ce 


gen  -te  Tal  -  to  preg- 


t 


gio    di  qaest'al    fin    sen'  va.    Sua  grau   bei  -  ta  -  de 


T 


i 


pertropp'e-ta-de  qua-si  Fe-bo  nel  mar  to  -  sto  ca 


P 


Die  Texte  haben  Ueberschriften ,  welche  den  Inhalt  kurz 
andeuten.  Fast  durchweg  ist  es  die  bekannte  italienische  Liebes- 
poesie —  ein  Lied  im  ersten  Buch  „ahi  traditor"  streift  hart  an 
die  Grenze  des  Anständigen.  Einzelnes  ist  für  Hofbälle  und 
HorTeste  gedichtet  und  componirt,  so  eines  für  einen  Maskenzug 
„Apollo  introduttore  delle  muse  in  un  ballou  —  im  Texte  „bor 
che  Tltalia  altiere"  heisst  es  weiterhin :  „godete  o  regj  sposi"  — 
also  ein  Hochzeitsgesang.  Ein  anderes  Stück,  wo  sich  die  Flüsse 
Po,  Sturna  und  Dora  mit  den  Worten  einführen:  „Regia  infante 
gloriosa"  ist  laut  Ueberschrift  gerichtet  „alla  Serenissima  Infante 
Margarita  di  Savoia,  navigando  il  Po."  Zwischen  vielen  Phrasen 
und  Gemeinplätzen  tauchen  gelegentlich  auch  gute  Verse  auf. 
So  lautet  in  dem  bereits  erwähnten  „non  ha  '1  ciel"  eine  Strophe: 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  327 


Penar  longo  e  gioir  corto 

Morir  vivo  e  viver  morto 

Spem'  incerta  e  van  desire 

Alerce  poca  e  gran  languire 

Falsi  nsi  e  veri  pianti 

£  la  vita  de  gl*  amante 
was  nach  Inhalt  und  Wohlklang  allenfalls  Ariost  geschrieben 
haben  könnte.  Ein  Stück  „Partenza"  im  zweiten  Buch  „Mi 
parto  obinie"  ist  wie  die  Ahnfrau  der  zahllosen  späteren  Abschieds- 
gesänge, die  Musik  dazu  ist  innig  empfunden.  Das  fünfte  Buch 
enthält,  wie  schon  vorhin  erwähnt,  geistliche  Gesänge  —  allerlei 
weibliche  Heilige  —  S.  Orsola  u.  a.  —  haben  hier  Artigkeiten 
entgegenzunehmen,  wie  in  den  vier  früheren  Büchern  irdische 
Damen,  die  noch  keine  Heiligen  sind. 

Zu  einem  hübschen  Doppeldialog  gestaltet  sich  „Mirtillo  ed 
Amarilli,  Dialogo  a  4  voci"  (Buch  IV,  No.  16)  —  es  ist  wie  eine 
erste  Ahnung  der  einstweilen  noch  vollständig  imbekannten  Con- 
versationsoper,  auch  das  schnippisch  abweisende  Wesen  der  bei- 
den Mädchen  ist  bezeichnend  wiedergegeben;  der  canonische  An- 
fang ist  wiederum  ein  Rückblick: 


-iL 


ß— v+ 


i 


i 


1=4 


1 


Bei  -  la    £on     -     na   sde  -  gno  -sa 


mal    si  con- 


Bei  -  la 


don   -     na    sde  -  gno  -  sa 


r 

e      di    pie  -  tä     e      di  pio-tä    ru  -  bei- 

-s  I 


vien 


i 


-# — # — 

r  r  r 


4= 


-i  i — i — •■ 


mal    si    con  -  vien 


e     di   pie  -  ta   ru  -  bei- 


J^J  J  j  |  i  e  ,  ,  , 


cru  -  da    son    ne    cru  -  da   son    ne  bei- 

JLX1.  9   1  1 


3 


la.  Ne 


cru  -  da    son    ne    cra  -  da    son    ne  bel- 


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328        I^6  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


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pie  -  to  -  sa. 


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5 

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no,    ma    ben    pie  -  to 


sa. 


ras  -  se 
(tasto) 


re  -  na  -  sti 


rassere- 


V   - 

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 4 

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na    -    sti  ras  -  se  -  rc  -  na  -  sti  al  mio  langnir  ta 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


329 


vuol  ch'il 


1 


(volle  Accorde  —  stark) 


roai 


vuol  ch'il 


ma  -  i      di    quo'  bei     lu-  mi   ra  -  i?      per- che? 


1=T 


-  i 


di    que'  bei     lu-mi     ra  -  i?  per-che? 


\ 


di  -  ca 


vuoi  ch'il  di  -  ca 


di 

8^ 


vuoi  ch'il  di  -  ca 


e'l  vuoi   tu   di  -  re 


e'l   vuoi  tu 

£    !  I 


e'l  vuoi  tu   di  -  re 


e'l   vuoi  tu 


per   non     ti  far 
t 


pt-r  non 


ti 
* 


per    non     ti  far 


per  non  ti 


P-X?  0 


di 

A 





-  re 


an  -  zi     per  far 


di  -  re 


per  far 


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330 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


far 


per  oon   ti   f»r  mo  -  ri    -  ro. 


far 


per  non  ti    far  mo  -  ri    -  re. 


s 


an  -  zi   per  far 


mo 


re.  (raaserenasti 
etc.) 


an  -  zi  per  far 


mo  -  ri 


re.  (raaserenasti 
etc.)  1) 


Ausserordentlich  wichtig  ist  bei  all'  diesen  Corapositionen 
die  Generalbassbegleitung.  Wie  die  Sachen  auf  dem  Papier 
dastehen,  gleichen  sie  magern  Umrisszeichnungen  —  den  Ge- 
neralbass  mitgespielt ,  und  sie  beleben  sich ,  wie  sich  jene 
(Jontouren  durch  eine  gelungene  Modellirung  in  Licht  uud  Schat- 
ten beleben  würden.  Der  Componist  giebt  gleichsam  die  Skizze 
und  überlässt  die  rundende  detaillirende  Ausführung  den  Sängern 
und  Generalbassspielern.  In  Italien  galt  dies  schlagfertige  Impro- 
visiren  von  je  als  die  Meisterprobe  des  Künstlers! 

Hadesen  s  Zeitgenosse  ist  Antonio  Bruneiii,  Kapellmeister 
des  Grossherzogs  von  Toskana.  Von  ihm  erschienen  1614 — 161*» 
bei  G.  Vincenti  in  Venedig  drei  Bücher  monodischer  Gesänge/2; 

1)  Nach  löblicher  Gewohnheit  hat  Radesca  keine  Bezifferung  ange- 
bracht t  welche  ich  hier  beigegeben  habe.  Die  Sorglosigkeit  der  alten 
Meister  in  diesem  Capitel  (und  in  v  und  o!)  ist  unbegreiflich.  Ein  schlech- 
ter (ieneralbassspieler  konnte  Alles  gründlich  verderben! 

2)  „Scherzi,  Arie,  Canzonette  e  Madrigali  a  una,  due  e  tre  voci  per 
suonare  e  cantare  con  ogni  sorte  di  stroinenti.  Da  Antonio  Bruneiii, 
maestro  di  Cappella  di  Sua  Altezza  Serenissima  nell'  lllustrissima  e 
Sacra  Religione  de'  Cavallieri  di  Santo  StetTano  in  Pisa.  Libro  secondo. 
Opera  decima.   In  Venetia,  appresso  Giacomo  Vincenti  1614."  — 

„Scherzi,  Arie,  Canzonotte  e  Madrigali  a  una,  due  e  tre  voci.  Per 
cantare  sul  Chitarrone  e  Stromenti  simili,  di  Antonio  Bruneiii,  maestro 
di  Cappella  del  Serenissimo  Gran  Duca  di  Toscana  nell*  lllustrissima  e 
Sacra  Religione  de  Cavalieri  di  S.  Stefano  in  Pisa.  Libro  terzo.  Opera 
duodecima.  In  Venetia  appresso  Giacomo  Vincenti  1616."  Ueber  das 
erste  Buch  vermag  ich  keine  Nachweisung  zu  geben.  Bemerkenswerth 
ist  die  Angabe  der  Opuszahl  —  es  ist  vielleicht  das  früheste  Beispiel. 


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Die  Zeit  der 


musikalisch-dramatischen  Werke. 


331 


welche  im  Grundzug  durchaus  jeneu  Radescas  verwandt  sind, 
d.  h.  den  gemeinsamen  Charakter  der  Zeit  haben,  aber  durch 
allerlei  sonderbare  und  mitunter  kühne,  wenn  auch  nicht  immer 
glückliche  Einfälle  überraschen. 

Ein  durch  einzelne  ganz  gelungene  Stücke  und  durch  aller- 
lei interessante  harmonische  und  anderweitige  Experimente  merk- 
würdiges Werk  sind  die  Madrigale  a  voce  sola  von  Giov. 
Francesco  Capello,  einem  gebornen  Venezianer  und  Orga- 
nisten der  Kirche  Madonna  delle  grazie  in  Brescia.1)  In  folgen- 
dem kurzen  Stück  könnte  man  glauben,  einen  der  edel-,  senti- 
mental-melancholischen Sätze  zu  hören,  wie  sie  Allessandro 
Stradella  in  seinen  Cantaten  zuweilen  anbringt. 


PF 


Aus- 


fuh- 


ruog. 


Madrigale.   Tutto  di  note  bianche. 


Pa  -  Ii  -  det  -  to   mio     so  -  le      a  tuoi 


-rt— 


-rr- 


Pal  -  Ii  -  det  -  to  mio    so  -  le      a  tuoi 


1)  Madrigali  et  Arie  a  voce  sola  di  Giovanni  Francesco  Capello  da 
Venetia  Organista  neile  gratie  di  Brescia.  Opera  duodecima.  Nuovamente 
composta  et  data  in  luce.  Con  Privilegio.  All'  lllustrissimo  Signor  Fran- 
cesco Morosini,  Podestä  di  Brescia.  In  Venetia  appresso  Giacomo  Vin- 
centi  MDCXVII.  Die  Dedicationsvorrede  ist  datirt:  „Brescia  Ii  28  di 
Ottobre  161 7**.  M.  Prätorius  zitirt  „des  Gio.  Franc.  Capell.  Venetiani 
vorba"  so  ihm  „neulich  in  einer  Präfation  zu  Händen  kommen"  als  Au- 
torität (Syntagma  III,  S.  241).  Die  Stelle  betrifft  die  Verdoppelung  der 
Singchöre  in  Octaven. 


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332 


Dio  Zeit  der  eraten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


P 


4= 


t 


1 


dol  -  ci    pal  -  lo  -  ri    per  -  de     Tal  -  ba  Ter  -  mi-glia  i 


I 


dol  -  ci    pal  -  lo  -  ri     per  -  de     Tal  -  ba   ver  -  mi-glia  i 


1)  Diese  Art  Textlegung  für  den  Ausgang  der  Wortsätze  kommt  mit 
der  Monodie  auf,  und  bleibt  noch  lange  in  Uebung  —  so  dass  die  Schluss- 
sylbo  vor  der  eigentlichen  Schlussnote,  die  auf  den  guten  Takttheil  fallt, 
wie  ein  langer  Vorschlag  schon  auf  die  letzte  Note  des  vorletzten  Tak- 
tes fallt. 

2)  Diese  Art  Beantwortung  des  Motivs  in  der  Dominantentonart  ist 
ganz  im  Sinne  Stradella's;  man  sehe  dessen  Cantate:  „Piangete,  occhi, 
piangete". 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  333 


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Man  mag  bei  Compositionen,  wie  die  vorstehenden,  wohl  er- 
staunen, dass  eine  Musik,  die  sich  von  den  alten  Banden  der 
Contrapunktik  emanzipirt  hatte  und  als  deren  oberste  Kunstregel 
so  ziemlich  der  Spruch  gelten  darf:  „erlaubt  ist,  was  gefällt",  sich 
so  edel  und  massvoll  nahm,  in  einer  Zeit,  wo  man  z.  B.  in 
Deutschland  Gedichte  in  Form  von  Palmeubäumen,  Pokalen 
u.  s.  w.  druckte,  „durch  Letterwechsel'4  seltsame  Anagramme 
herausbrachte,  zu  monumentalen  Inschriften  „höckerige"  Chrono- 
gramme  (wie  sie  Jean  Paul  nennt)  dem  einfachen  Lapidarstyl 
vorzog  und  wo  Schwulst  und  Unnatur  in  Sprache,  Dichtung, 
Tracht  und  allem  Möglichen  herrschte.  Aber  gelegentlich  zahlte 
die  Musik  dem  Zeitgeiste  doch  auch  ihren  Zoll,  und  gerieth  auf 
die  krausesten  Einfälle.  Ein  Madrigal  von  Capello,  wo  augen- 
scheinlich Poet  und  Musikus  im  Einverständniss  gearbeitet  haben 
(wie  weiland  bei  Josquin's  Marien-Motette  mit  ut  re  mi  fa  sol  la), 
enthält  im  Text  eine  Menge  Worte,  die  zugleich  auch  als  musi- 
kalisch-technische Ausdrücke  verstanden  werden  können.  Capello 
hat  sie  in  der  dazu  componirten  Musik  getreulichst  illustrirt  — 
das  Resultat  war,  dass  ein  tolles  Stück  höchst  barocker  Musik  da- 
steht —  eine  wahre  musikalische  Missgeburt  —  und  das  ist  nun 
derselbe  Capello,  der  für  den  „palidetto  sole"  so  edel  empfundene 
einfache  Töne  zu  finden  gewusst!  Die  Vorwürfe,  welche  V.  Gali- 
lei der  kleinlichen  Wortmalerei  der  Contrapunktisten  macht, 
wären  hier  gesteigert  anwendbar. 


334        Die  Zeit  der  eraten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Pf 


1        ?  ✓ 


Stra-na  ar-mo  -  ni    -     a    d'a  -mo 


re 


3 


anch' 


„Strana  armonia  —  cantar  —  chiavi  (\?)  —  note  (schwarze 
Noten,  um  sie  vor  den  anderen  auszuzeichnen,  vielleicht  auch 
mit  einem  Seitenblick  auf  das  ähnlich  klingende  „notte"!!)  ac- 

centi   —   sospiri    (ee)  acut^  —  S***1  —  8°1"  (e  nacn  dem 

hex.  molle)  —  pose"  (Pausen)  —  das  alles  wird  lebhaft  hinge- 
stellt —  es  erinnert  an  den  gezeichneten  Scherz  eines  Mädchen- 
bildes mit  Sternenaugen,  Rosenwangen,  Schwanenhals  u.  s.  w.  — 
wo  das  figürlich  Gemeinte  nach  dem  Wortlaut  hingezeichnet  ist 
—  jedenfalls  kommen  Vincenzo  Galilei's  (geträumte)  grüne, 
blaue  u.  s.  w.  Noten,  welche,  wie  Galilei  wähnte,  Wald,  Him- 
mel u.  s.  w.  versinnlichen  sollten,  gegen  das,  was  hier  wirklich 
und  wahrhaftig  dasteht,  kaum  in  Betracht.  Auch  wie  die  „la- 
menti"  durch  eine  lange  Meckerpassage,  und  wie  die  „tormenti" 
durch  wirklich  peinlich  klingende  Fortschreitungen  und  Zusammen- 
klänge versinnlicht  werden,  übersehe  man  nicht! 

Den  bisher  genannten  Meistern  der  musikalischen  Kleinkunst 
schliesst  sich  Giacomo  Fornaci  aus  Chieti  mit  seinen  1617 
erschienenen  „Amorosi  respiri  musicali"  *)  an  —  es  findet  sich 
darin  ein  Gedicht  „tornate  o  cari  baci",  welches  auch  Capello 
componirt  hat  —  die  Vergleichung  beider  ist  nicht  ohne  Interesse. 


1)  Amorosi  Respiri  musicali  di  Don  Giacomo  Fornaci  di  civita  di 
Chieti.  In  quali  si  contengono  Scherzi,  Arie,  Canzoni,  Sonetti  e  Madri- 
gali  per  cantare  nel  Cbitarrone,  Clavicembalo  o  altri  instromenti  sirnili, 
a  una,  duo  e  tre  voci  Novament»  composti  e  dati  in  luce.  Libro  primo. 
Opera  seconda.   In  Vonetia  appresso  Giacomo  Vincenti  MDCX.VII. 


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I 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  335 
Fornaci 


Tor-na-te  0  ca  -  ri  ba 

 l 


ci 


ri  -  tor-nar  -mi 


ü 


m 


a    ri  -  tor- nar  -  mi    a        ri  -  tor  -nar-mi  in  vi-  ta  etc. 


4^ 


Capello. 


1$ 


IS 


Tor  -  na  -  ta    tor  -  na 

*  Ig  f; 


te 


0     ca  -  ri     ba  -  ci 

 13= 


I 


a  n- tor-nar 

9:  J  J- 

-m 

i  -r 

t=t=t=» 
in  vi  - 

ta  ba 

Hfl 

-  ci  etc. 

1  J 

"fit«— 

Capello  trifft  den  Ausdruck  der  Sehnsucht,  während  der  An- 
dere nur  ein  kleinliches,  seelenloses  Häkelwerk  von  Noten  zu- 
sammenklittert. 

Der  ähnlichen  Kichtung  gehören  an:  der  Sizilianer  Sigis- 
mondo  d'India,  welcher,  ein  geschätzter  Motetten-  und  Madrigal  - 
componist,  sich  auch  in  zwei  Büchern  Monodieen  versuchte;  Luigi 
Rossi,  von  dessen  Canzonette  „or  che  la  notte  del  silenzio  ami- 
ca"  Pietro  della  Valle  lobende  Erwähnung  macht  *),  von  welchem 
das  britische  Museum  eine  Sammlung  von  Monodieen  besitzt2) 
und  in  dessen  Compositionen  stellenweise  das  Lauf-  und  Schnör- 


1)  „chi  puo  sentire  cose  —  piü  delicate?"  ruft  der  Enthusiast  aus 
(bei  Doni  Opp.  H,  S.  258). 

2)  Bibl.  Harley.  1265,  1273. 


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336        Dio  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


kelwerk  zu  überwuchern  beginnt  ')  —  endlich,  und  zwar  als 
einer  der  Begabtesten  allerdings  aber  schon  in  die  nächste  Künst- 
lergeneration hinübergreifenden,  Salvator  Rosa,  der  berühmte 
Maler  (1615 — 1673),  dessen  Gemälde  in  Historie  und  Landschaft 
eine  demokratisch -trotzige,  vulkanisch -heisse,  nächtlich  -  düstere 
Natur  verrathen,  dessen  Haus  in  Rom  (in  der  via  Gregoriana) 
die  steinernen  Thür-  und  Fenstergesimse  zu  monströsen  Riesen- 
larven ausgearbeitet  zeigt,  dessen  Gedichte  der  bittersalzigste 
Humor  gewürzt  hat,  der  aber  als  Musiker,  völlig  anders,  Ge- 
sänge voll  eines  gleichsam  taghellen  Wohllautes,  voll  harmoni- 
schen Masses  schafft,  welche  man  nicht  etwa  als  blosse  Dilettan- 
tenarbeiten eines  nebenher  musizirenden  Malers  ansehen  darf, 
sondern  die  den  fertigen  Meister  der  Tonkunst  im  Sinne  seiner 
Zeit  verrathen.  Natürliche  Führung,  liebliche,  ganz  ausgebildete 
Melodie,  Reichthum  der  Phantasie,  Feuer,  Geist,  edler  Ausdruck 
zeichnen  diese  kleinen  Stücke  in  hohem  Grade  aus.  —  In  wie- 
fern Salvator  genügt  haben  würde,  hätte  er  sich  an  Grösseres 
gewagt,  bleibt  eine  Frage.  Er  fühlte,  scheint  es,  wie  weit  seine 
Kräfte  reichen,  und  richtete  sich  darnach.  Unter  dieser  Genera- 
tion kleiner  Meister  behauptet  er  eine  sehr  ehrenvolle  Stelle,  ja 
seine  überaus  reizenden  Kleinigkeiten  machen  nicht  mehr  den 
Eindruck  eines  nur  bedingt  Gelungenen,  wie  die  Arbeiten  Ra- 
desca's  u.  A.  —  sie  sind  in  sich  geschlossene,  ganz  schön  durch- 
geführte kleine  Kunstwerke  von  unvergänglicher  Frische  und 
Anmuth.  2)  Man  wird  jedoch  nicht  vergessen  dürfen,  dass  Salvator 
bereits  unter  der  Einwirkung  der  Zeit  und  Kunst  Carissimi's  und 
Cavallfs  stand,  wie  ihm  denn  die  Form  der  gearbeiteten  Kam- 
mercantate  schon  ganz  geläufig  ist. 


1)  Burney  (III,  S.  157)  giebt  allerlei  Bruchstückchon  als  „Proben" 
—  auch  merkwürdige  harmonische  Schritte  —  aufwärts  aufgelöste  Sep- 
timen (wohl  mehr  Ungeschicklichkeit  als  Kunst),  den  mehrfach  vorkom- 
menden Gebrauch  des  übermässigen  Quintseitaccordes  u.  s.  w. 

2)  Ein  Band,  der  ihm  selbst  gohört  hatte,  stammt  aus  Burney 's 
Nachlass,  der  das  merkwürdige  Buch  in  Rom  erwarb.  Proben  sehe  man 
bei  Burney  III,  S.  165 — 168.  Leider  zum  Theil  wieder  herausgerissene 
Brocken,  mit  angehängtem  „et  cetera".  Merkwürdig  ist  es,  dass  man 
zweimal  an  Beethoven  gemahnt  wird.  Nummer  III  erinnert  im  Charak- 
ter sehr  an  das  wunderbare  „Andante  con  moto,  quasi  Allegretto"  im 
Quartett  Op.  59  N.  3.  Um  das  leidige  „et  cetera"  Burney's  auszu- 
gleichen, fuge  ich  bei  der  Ausführung  an  Burney's  letzten  Takt  den 


Akkord 


und  dann  da  Capo  bis  zur  seconda  volta. 


Nummer  VI  und  VIT  lasse  ich  zusammen  wie  parte  prima,  parte  seconda, 

Sarte  prima  da  Capo  singen  —  es  passt  zusammen.  In  N.  VII  erinnern 
ie  Takte  10—13  aufs  stärkste  an  das  Menuett-Trio  in  Beethoven's  oben 
genanntem  Quartett  —  dasselbe  Motiv,  dieselbe  Steigerung!  Nummer 
VIII  beginnt  ä  la  Mozart,  endet  a  la  Händel. 


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Die  'Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  337 


Sieht  man  die  Hunderte  von  Kleinigkeiten  und  Niedlich- 
keiten durch  (mit  denen  besonders  der  Verlag  Giacomo  Vincenti  • 
in  Venedig  die  Liebhaber  reichlich  versorgte),  bei  welchen  (wie 
Rossini  einmal  schelmisch  gegen  einen  befreundeten  Romanzen- 
componisten  äusserte)  der  Tonsetzer  glücklich  zu  preisen  war, 
weil  er  das  Blatt ,  auf  das  ■  er  seine  Compositiou  niederschrieb, 
nicht  umzuwenden  brauchte  (indem  er  es  schon  auf  Pagina  Eins 
zum  Schlusstakt  brachte),  so  bekommt  mau  eben  so  ein  lebendi- 
ges Bild  vom  Geschmack  und  den  Wünschen  der  damaligen 
musikalischen  guten  Gesellschaft  in  Italien,  wie  es  ein  Jahrhun- 
dert vorher  Petrucci's  neun  Bücher  Frottole  gewähren.  Man  könnte 
diesen  Liederfrühling  mit  den  Schneeglöckchen,  Crocus  und  Le- 
•  berblümchen  vergleichen ,  die  sich ,  unter  unserem  Himmel  die 
ersten,  arm  an  Farbe,  klein  an  Gestalt  aus  der  Erde  hervorwagen 
und,  so  unbedeutend  sie  sein  mögen,  als  erste  Zeichen  einer  neu 
erwachten  Schöpfungskraft,  als  erste  Verheissung  einer  künftigen 
reichen  Blüte  erfreuen.  Die  Zeitgenossen  vollends  geberdeten 
sich,  als  sei  die  goldene  Zeit  der  Musik  gekommen,  und  warfen 
<lte  älteren  Sachen  verächtlich  bei  Seite.  *) 

Wie  schon  Peri  und  Caccini  Hess  auch  diese  neue  Gene- 
ration der  kleinen  Meister  dem  Sänger  sehr  viel  zu  thun  übrig. 
Er  musste  Farbe,  Leben,  Ausdruck  geben,  wo  jene  nur  andeute- 
ten. Wie  6ich  nun  aber  bei  der  neuen  Musik  der  Sänger,  ganz 
zum  Gegcntheil  der  früheren  Epochen  —  als  Individuum  gel- 
tend machte,  wie  er  mit  seiner  Virtuosität  glänzend  hervortrat, 
begann  folgerichtig  auch  die  Aera  des  „Sänger-  und  Sängerinn en- 
cultus".  Auf  diesem  Gebiete  ist  die  vielleicht  eigenthümlichste 
und  merkwürdigste  Erscheinung  in  dieser  gährenden  Zeit  der 
Castrat'2)  Vittorio  Loreto.  Er  stammte  aus  Spoleto,  errang 
durch  sein  Talent  die  Gunst  des  Herzogs  Cosmus  von  Medici, 
wurde  von  Ottavio  Doui  nach  Florenz  gebracht  und  dessen  Haus- 
genoss;  später  wurde  er  Hausgenoss  des  Niccolo  Doni.  Dieser 


1)  Deila  Valle,  der  freilich  immer  lichterloh  brennt,  säet:  „Chi 
canterebbe  oggi  quell'  altre  Vilanelle,  note  a  V.  S.  (Goidicciom)  e  fanri- 
liari  a  Lodovico  Falsetto,  —  —  oltreche  avevano  parole  goffissimo,  ne 
pareya  a  i  musici,  che  per  cantar  potessero  esser  altrimenti  —  sono 
d'altro  garbo,  non  solo  quanto  alla  poosia,  ma  anche  qnanto  alla  musica 
le  Canzonette,  che  si  cantano  oggi"  u.  s.  w.  (S.  258.) 

2)  Dies  hinderte  nicht,  dass  Loreto  eine  Frau  entführte,  freilich 
aber  nur.  „um  sio  ihren  harten  Verwandten  und  den  Nachstellungen  eines 
jungen  Mannes  zu  entziehen".   (Erythr.  Dial.  I.  S.  7.) 

In  den  Briefen  (Epist.  ad  div.  V.  15)  sagt  Erythräus:  „De  equite 
Loreto  nihil  est  quod  vereamur,  nam  quidquid  de  iuo  narravimus,  inere- 
dibili  ejus  voluntate  feeimus,  qui  summa  ambitiono  a  me  postulavit,  ut 
adversum  ejus  casum  (ita  enim  aiebat)  meis  literis  poateritati  mandarein. 
Ipse  aliud  sibi  nomen  finxit,  et  Olertum  pro  Loreto  indidit,  ipso  episto- 
lam  totidem  paene  verbis,  quibus  eam  scripsit,  a  me  latino  sennone  re- 

Ambro»,  Ge«chichte  der  Mn«ik.  IV.  22 


338 


Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Hess  ihn  mehrere  Jahre  lang  zum  vollendeten  Sänger  ausbilden. 
Jetzt  glänzte  er  auf  dem  Theater,  ja  G.  B.  Doni  schreibt  ihm 
den  Verdienst  zu,  der  Erste  gewesen  zu  sein,  der  eine  höhere 
Singmanier  in  Florenz  einführte.  *)  Sein  Ruf  drang  nach  Rom, 
Cardinal  Lodovico  Ludovisi,  der  Neffe  Gregor  XV.,  ruhte  nicht 
eher,  bis  er  ihn  vom  Grossherzog  Josgebeten.  So  nahm  Loreto 
seinen  Wohnsitz  in  Rom,  als  Sänger  des  genannten  Cardinais. 
Hier  befreundete  er  sich  mit  Erythräus,  welcher  ihm  und  insbe- 
sondere seinem  Vortrag  der  „büssenden  Magdalena"  von  Dome- 
nico Mazzocchi  in  der  Pinakothek  ein  Denkmal  gesetzt  hat  -), 
dem  einzigen  noch  lebenden  Zeitgenossen,  worüber  sich  Erythräus 
in  den  Einleitungsworten  der  Biographie  ausdrücklich  entschuldigt. 
An  Ueberschwenglichkeit  leistet  die  Schilderung  das  Gedenk-, 
barste. 

Cardinal  Ludovisi  legte  förmlich  Beschlag  auf  dieses  Wuu- 
der  von  Sänger.  Aus  der  gelegentlichen  Aeusserung  Pietro's 
della  Valle  „la  Signora  Lucrezia  Moretti  del  Cardinal  Borghese 


citatam,  composuit,  ejusdemque  exeraplum  ejus  chirographo  scriptum, 
saivum  habeo  domi."  Loreto  suchte  sich,  wie  man  sieht,  weiss  zu 
waschen ! 

1)  academicorum  Florentinorum  opera  monodici  cantus  quo- 

dammodo  revixerunt,  atque  explanata  vocum  expressio  et  elegantior  inter- 
vallorum  eephonesis  sivo  prolatio  haberi  coopit  in  pretio:  quam  in  haue 
urbem  intulit  Loretus;  quem  domi  suae  aliquot  annos  familiaris  illius. 
noster  consanguineus ,  ac  musicis  studiis  diligontissime  institui  curavit. 
(G.  B.  Doni.  de  praest.  mus.  vet.  Opp.  I.  S.  137.) 

2)  —  sed  mterdum  Romao,  per  hiemem.  in  Sacello  patrum  Congre- 
gationis  Oratorii  exaudiebatur.  Ubi  cum  ego,  nocte  quadam,  Magdale- 
na«, sua  deflentis  crimina,  seque  ad  Christi  pedea  abjicientis,  querimoniam 
canentem  audivi:  qui,  eo  ardore  animi,  ea  vi  vocis,  iis  tarn  mollibus 
tamquo  delicatis  in  cantu  flexionibus.  Magdalenam  nostris  pene  oculis 
snbjiciebat,  ut  si  revixisset,  in  i  IIa  ejus  poenitentiae  ipsius  imitatione  suos 
voros  luctus  doloresque  agnovisset  atque  admirata  esset.  At  neminem 
eorum,  qui  aderant,  arbitror  fuisso  tarn  leni  animo  tamquo  remisso,  qui 
non  ad  eos  motus  se  perduci  sentiret,  ad  quos  ab  illo  impellebatur;  ni- 
mirum  ad  flotum,  ad  iram,  ad  odium  peccatorum  —  nescio  alios;  mo 
quidem  scio  acriter  vohementerque  in  delicta  mea  exarsisse,  cum  ille 
Magdalenao  personao  actor  praoteritae  illius  vitae'  crimina  exsoeraretur, 
propter  quao  in  tantam  Dci  atque  hominum  offensionem  ineurrisset;  sensi 
mihi  ubertim  lacrimas  ab  oculis  ire,  cum  ille  dentis  peccatricis  gemitus, 
voce  ad  mLserabilem  sonum  inüexa  repraesentaret ;  sensi  me  ad  incredi- 
bilem  admirationem  efferri,  cum  vocem  a  gravissimo  ad  acutissimum  so- 
num gradatim  impellens.  eandemquo  ab  acutissimo  ad  gravissimum,  per 
varios  anfractus,  yolubilitate  incredibile  colligen3,  se  posse  eam  ostenderet 
sicut  molissimam  ceram  quocunque  vellet  contorquere  ac  floctere.  Quid 
opus  est  verbis?  Nullus  erat  ammi  motus,  ad  quem  ab  illo,  ut  ita  di- 
cam,  abreptus  non  continuo  formarer  et  tingeror.  At  quo  artificio,  qua 
venustate,  quo  lepore  id  totum  ab  illo  fiebat?  Profecto  ars  certare  cum 
natura  videbatur.  utra  majorem  in  eo  vim  ac  dominationem  haberet.  (Jan. 
Nie.  Erythraei,  Pinacotheca  altera.   LXVIII.  Loretus  Victorius.) 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  339 

—  l'Ippolita  del  Cardinale  Montalto"  sieht  man,  dass  es  bei  den 
Kirchenfiirsten  in  Rom  Sitte  und  Ton  war,  solche  glänzende  Ta- 
lente in  Dienste  und  ihre  Leistungen  gleichsam  als  Monopol  in 
Anspruch  zu  nehmen.  Das  Aeusserste  in  letzterer  Beziehung 
leistete  nun  wohl  Cardinal  Ludovisi.  Nur  sehr  vornehme  Perso- 
neu  bekamen  mit  seiner  Bewilligung  den  Loreto  zu  hören  — 
das  sei  kein  Schmaus  für  plebejische  Ohren,  meinte  Seine  Emi- 
nenz. *)  Dieser  eine  kleine  Zug  malt  die  Zeit  und  ihr  hochmü- 
thig-vornchmes  Wesen,  wie  es  sich  auch  in  den  gleichzeitigen 
Werken  bildender  Kunst  ausspricht. 

Rom  brachte  es  denn  mit  seinem  fast  wahnwitzigen  Sänger- 
und Sängerinnenenthusiasmus,*  an  welchem  lebhaften  Antheil  zu 
nehmen  selbst  Cardinäle  sich  nicht  schämten,  so  weit,  dass  es 
uns  im  Jahre  1626  das  erste  Schauspiel  leidenschaftlichen  Par- 
teihaders für  und  gegen  zwei  grosso  Sängerinnen  bietet.  Jene 
schon  genannte  Margherita  Costa  aus  Ferrara  wurde  von  ihren 
Anhängern,  die  man  „Costisten"  nannte  und  an  deren  Spitze 
Mario  Chigi,  Bruder  des  (nachmaligen)  Papstes  Alexander  VII., 
stand,  so  sehr  in  den  Himmel  erhoben,  als  die  Venezianerin 
Cecca  (Francisca)  della  Laguna  von  den  „Cecchisten",  als  deren 
erklärtes  Haupt  Fürst  Aldobrandini  galt.  Endlich  kam  man  auf 
das  Auskunftsmittel,  in  der  Oper  „la  catena  d'Adone"  von  Ottavio 
Tronsarelli  2)  beiden  Rivalinnen  Partieen  von  gleicher  Bedeutung 
zuzutheilen.  Jede  Partei  versprach  sich  einen  vollständigen 
Triumph.  Aber  eben  so  war  ein  colossaler  Thcaterscandal  in 
ziemlich  sicherer  Aussicht.  Um  diesen  zu  verhüten,  setzte  es  die 
in  Rom  damals  fast  allmächtige  Fürstin  Aldobrandini  durch,  dass 
beiden  Sängerinnen  das  Auftreten  verboten  wurde  —  zwei  Ca- 
straten  sangen  die  ihnen  zugetheilt  gewesenen  Rollen.  Was 
wohl  Paul  IV.  zu  diesen  Geschichten  gesagt  haben  würde?!  — 

Die  Römer  hatten  einen  völligen  Heisshunger  nach  Ohren- 
schmaus. Auch  die  Kirche  selbst  musste  sich's  gefallen  lassen, 
zum  Concertsaale  degradirt  zu  werden.  Wo  eine  Nonne  als 
Solosängerin  glänzte,  drängte  sich,  wie  schon  vorher  erwähnt 
worden,  alle  Welt  hin.  Eine  gewisse  Verovia  im  Kloster  „dello 
Spirito  Santo"  setzte  die  Welt  mehrere  Jahre  lang  in  Staunen, 
eine  andere  Nonne  bei  S.  Lucia  in  Selce  war  ihres  Gesanges 


1)  —  sed  Ludovisius  tarn  alte  hominis  pretium  eztulerat,  nt  non 
cuivis  ejus  audiendi  faceret  potestatem,  sed  iis  tantura,  qui  aequabilita- 
tem  communis  conditioni3  praestantia  dignitatis  aut  fortunae  suae  tran- 
sirent,  quod  cam  vocis  cantusque  suavitatem  vulgarium  non  esse  auriuw 
pabulum  existimaret.  (Erythraous  a.  a.  0.) 

2)  Leono  Allacci's  Dramaturgie  enthält  darüber  folgende  Angabe: 
„Catena  d'Adone,  favola  boschareccia  —  in  Viterbo  per  il  Discepolo  1626 
in  12  —  ed  in  Roma  per  Francesco  Corbelletti  1626  in  12  —  di  Ottavio 
Tronsarelli,  e  recitata  l'anno  1648  in  Bologna  nella  Sala  Malvezzi. 

22» 


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I 


340       Wo  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 

wegen  berühmt.  l)  Die  feinen  Kenner  und  Kunstfreunde  be- 
grüssten  die  Sache  als  erstaunlichen  Fortschritt ! 

Neben  Vittorio  Lorcto  blühten  die  Sänger  Nicolini,  Bianchir 
Mario,  Lorenzino,  Malagigio.  Die  grosse  Schönheit  der  Sängerin 
Adriana  gab  ihrer  Kunst  noch  einen  neuen  Glanz  und  um  so 
mehr,  als  die  berühmte  Vittoria  Archilei  nach  Pietro  della  Valle's 
Versicherung  nichts  weniger  als  schon  war.  Adrianas  Tochter 
Leonora  versetzte  vollends  alles  in  einen  Taumel  von  Entzücken, 
gleichviel  ob  sie  ihren  Gesang  in  kunstvoller  und  origineller  Weise 
mit  der  Laute  begleitete  (welche  sie,  gleich  der  Viole,  meisterlich 
spielte),  oder  ob  sie  auf  dem  Theater  sang.  Leonora  Baroni 
(wie  ihr  voller  Name  lautete)  brachte  den  Cardinal  Vincenzo 
Costaguti  dahin,  zu  ihren  Ehren  1639  einen  ganzen  Band  Ge- 
dichte —  griechische  (!),  lateinische,  italienische,  französische  und 
spanische  —  unter  dem  Titel  „applausi  poetici  alle  glorie  della 
Signora  Leonora  Baroni"  herauszugeben,  —  die  Sammlung  er- 
lebte 1641  eine  neue  Ausgabe.  Erythräus  uenut  ihren  Gesang 
, »beinahe  göttlich".  G.  B.  Doni  preist  sowohl  sie  als  ihre  Mutter 
Adriana  als  „neue  Sappho".  Auch  ihre  Schwester  Caterina  wird 
von  Pietro  della  Valle  als  Sängerin  rühmlich  genannt.  Pietro 
denkt  mit  Entzücken  an  die  Zeiten,  wo  er  die  schöne  Adriana 
mit  der  Goldharfe  in  der  Hand  den  Posilipp  umschiffen  sah. 
„Noch  giebt  es  also",  ruft  er,  „dort  Sirenen,  aber  wohlthätige, 
von  Tugend  und  Schönheit  gleich  geschmückte  Sirenen,  und 
nicht  arge  und  todbringende,  wie  die  antiken  gewesen".  Pietro 
nennt  ferner  eine  Signora  Maddalena  mit  ihrer  Schwester,  welche 
beide  man  die  „Lolle"  nannte,  eine  Cammiluccia  nebst  Schwestern 
und  Töchtern,  „welche  ihr  Haus  zu  einem  Parnass  mit  Musen  . 
machten",  eine  Sofonisba,  Lucrezia  Moretti,  Laudomia  del  Muti, 
eine  vortreffliche  Contraaltistin  Santa  und  Andere  mehr.  Man 
begann  ausgezeichnete  italienische  Sängerinnen  an  fremde  Höfe 
zu  berufen,  so  kam  Adriana's  Schwester  an  den  Hof  des  deut- 
schen Kaisers,  Leonora  Baroni  und  die  Ferraresin  Margherita 
Costa  an  den  französischen  Hof,  als  Cardinal  Mazarin  den  (einst- 
weilen verunglückten)  Versuch  machte,  die  italienische  Oper  nach 
Frankreich  zu  verpflanzen. 

Neben  den  Sängern  und  Sängerinnen  begannen,  ganz  cou- 


1)  Ma  dove  ho  lasciato  le  nionachc,  che  per  onorevolezza  dovuva 
prima  nominare?  La  Verovia  nello  Spirito  Santo  ha  fatto  piü  anni  stu- 
pire  il  mondo,  ne  gli  e  andata  di  molti  passi  addietro  quell'  altra  Mo- 
naca,  e  quella  Donzella,  ailieve,  come  io  penso  di  lei,  che  nel  medesimo 
Monastero  cantano  amendue  di  buonissima  grazia.  La  Monaca  di  S. 
Lucia  in  Silke  ognun  sä  di  quanta  fama  sia;  Quelle  di  S.  Silvestro  giä, 
quelle  di  Monte  Magnanapoli  ora,  quelle  di  S.  Chiara  si  vanno  sentir  per 
maraviglia.  L'etä  passata  non  fu  mai  ricca,  ne  di  tanti  soggetti,  ne  di 
cosi  buoni  in  un  tempo"  (Pietro  della  Valle's  Sendschreiben). 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


341 


sequenter  Weise,  auch  Virtuosen  auf  diesem,  jenem  Instrumente 
zu  glänzen.  Michel  Angelo  Rossi  war  als  Geiger  berühmt,  Ora- 
zio  Napoletano  als  Harfenspieler.  Das  Coraet  hatte  seine  Mei- 
ster, wie  Missilius  (Missilium  nostrum),  den  Doni  preist,  am  Kai- 
serhofe einen  gewissen  Samson. 

Dass  man  in  Italien  den  Sänger,  die  Sängerin  (ähnlich  dem 
Verhältnisse  in  unseren  Tagen)  als  durch  ihr  Talent  nobilitirt 
behandelte,  dass  sich  ihnen  die  Thüren  der  Grossen  öffneten 
und  sie  sich  unter  Cardinälen  und  Principi  u.  s.  w.  wie  Eben- 
bürtige frei  bewegen  durften,  war  der  Musik  zum  Heil,  mochte 
auch  der  Enthusiasmus  der  Mäcene  mit  seinem  „Cult"  gelegent- 
lich in's  Uebersch wengliche ,  in  Lächerlichkeiten  hineingerathen. 
Die  Musik  war  in  der  häuslichen  „Accademie",  im  Salon  der 
Vornehmen  wie  in  der  Kirche  ein  Gegenstand  feinsten,  geistigen 
Genusses.  Das  Andenken  der  musikalischen  Akademien  im 
Hause  des  genialen  Malers  Tintoretto  zu  Venedig,  deren  Seele 
die  geistvolle,  früh  ihren  Freunden  und  Bewunderern  durch  den 
Tod  entrissene  Tochter  Tintoretto's,  Marietta,  war,  hat  sich  bis 
heute  erhalten.  Die  Musik  wurde  allerdings  dadurch  in  Italien 
durch  und  durch  aristokratisch  —  die  Volksmusik,  der  Volks- 
gesang wurde  allgemach  zu  völliger  Unbedeutenheit  herabge- 
drückt, wie  er  denn  heutzutage  in  Italien  fast  erloschen  ist. 

Das  von  politischen  und  confessionellen  Wirren  zerrissene, 
bald  vom  dreissigjährigen  Kriege  in  ein  Blutmeer  getauchte 
Deutschland  erscheint  in  Sachen  der  Musikpflege  gegen  das 
gleichzeitige  Italien  fast  barbarisch.  Eine  Stelle  bei  Prätorius 
'Synt.  III,  S.  132,  richtig  112)  spricht  von  Musik  „in  Kirchen" 
und  „vor  der  Taffei",  als  gäbe  es  keine  andere.  Die  Tonkunst 
muss,  wenn  sie  nicht  der  Andacht  dient  (oder  dienen  soll),  Paste- 
ten und  Braten  aecompagniren  —  auch  sie  eine  Dienerin  gemein- 
sinnlichen Genusses!  Erinnert  man  sich,  wie  G.  Forster  über 
das  „viehische  Vollsaufen"  klagt,  erinnert  mau  sich  der  „fürst- 
lichen Gasterei"  im  „Simplicissimus"  (Buch  I,  Cap.  29  u.  f.), 
für  welche  jener  grobe  Ausdruck  keine  zu  harte  Bezeichnung  ist, 
des  ambraser  Willkommbechers,  den  der  Gast  auf  einen  Zug 
leeren  musste  und  dessen  Dimensionen  Entsetzen  einflössen,  selbst 
wenn  man  kein  Mitglied  eines  Mässigkeitsvereines  ist,  und  ähn- 
licher Dinge,  so  kann  es  kaum  eine  ärgere  Herabwürdigung  der 
Tonkunst  geben,  als  einen  Froberger  etwa  auf  einem  Regal  zu 
den  Tafelfreuden  aufspielen  zu  sehen,  wobei  der  Musikus  freilich 
neben  Phantasieeu  und  Recercars  hauptsächlich  Passamezzen, 
Gagliarden  und  Sarabanden  zum  Ergötzen  der  hohen,  höheren 
und  allerhöchsten  Ohren  zum  Besten  geben  musste,  wie  bei  Prä- 
torius als  guter  Rath  ausdrücklich  gesagt  wird.  ')     Die  Tafel- 


1)  Syntagma  III  ad  voc  Ritornello. 


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342        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


musiken,  welche  an  deutschen  Höfen,  in  deutschen  Palästen  noch 
im  vorigen  Jahrhundert  etwas  ganz  Gewöhnliches  waren,  die 
„blasenden  Harmonieen",  welche  namentlich  in  Oesterreich  und 
vor  allem  in  Böhmen  grosse  Kavaliere  unter  ihren  „Domestiken" 
unterhielten,  „so  bei  Tafel  mit  beliebten  Opernstücken  aufwarte- 
ten" und  deren  Andenken  Mozart  im  zweiten  Finale  seines  „Don 
Giovanni"  erhalten  hat,  dürfen  bei  gänzlich  veränderter  Zeit  und 
anderem  Zeitgeist  als  Nachklang  jener  früheren  grobsinnlichen 
Auffassung  gelten.  *)  Der  grosse  Tonsetzer,  der  edelste  Musiker 
wurde  kaum  noch  vom  herumstrolchenden  Musikanten  unterschie- 
den —  im  glücklichsten  Falle  war  er  „Hausoffizier"  eines  Grossen 
oder  Kirchendiener.  Noch  Joseph  Hnydn  und  Mozart  litten  un- 
ter diesen  Verhältnissen. 

In  Frankreich  dachte  man  etwas  geistreicher,  und  Gluck 
konnte  sich  auf  den  Parketten  Maria  Antoinetten's  frei  und  un- 
befangen bewegen,  ja  gelegentlich  selbst  Künstlerstolz  fühlen 
lassen.  Ludwig  XIV.  hatte  aber  so  gut  wie  ein  deutscher  Fürst 
seine  Tafelmusik,  seine  „vingt  quatre  Violons  du  Roy",  von  de- 
nen sich  dann  unter  Lully's  Leitung  die  sogenannten  „petits 
Violons"  abzweigten,  und  seinen  gepriesenen  Lautenschläger  und 
Theorbenspieler  de  St.  Luc,  der  bei  Tafel  seine  virtuosen  Künste 
zum  besten  gab.  2) 

In  den  Niederlanden,  welche  wenigstens  ihren  grossen  musi- 
kalischen Weltruf  jetzt  verloren,  wurde  die  Musik,  statt  wie  in 
Italien  zur  vornehmen  „Accademia",  zum  gemüthlichen  Familien- 
concert.  Die  Bilder  der  vortrefflichen  Genremaler  David  Teniers 
d.  j.,  Netscher  u.  A.  erzählen  davon  in  sehr  anziehender  Weise. 

Dass  die  italienischen  Solosänger  allmählich  eine  Menge  der 
feinsten  Vortragmanieren  zur  Geltung  brachten,  versteht  sich  von 
selbst,  welche  dann  mannigfach  in  der  Instrumentalmusik  Nach- 
ahmung fanden.  In  Deutschland  interessirten  sich  Männer  des 
musikalischen  Fortschrittes,  wie  Michael  Prätorius,  lebhaft  dafür 

1)  Eine  charakteristische  Schilderung  aus  Herrn  von  Besser  s  Schrif- 
ten S.  378  möge  hier  eine  Stelle  finden.  Der  Autor  beschreibt  die  Ver- 
m&lung  „des  Casselisehen  Erbprintzens  mit  der  Churbrandenburgischen 
Princessin"  zu  Berlin  im  Jahre  1700:  „Den  6.  Junii  zu  Mittage  ward 
die  Tafel  in  dem  Oraniensaale  gedecket,  und  bei  derselben  nur  mit  einer 
stillen  Music  aufgewartet:  nemüch  mit  der  Theorbe,  Laute  und  Guitarre, 
die  der  frantzösische  grosse  Künstler  de  St.  Luc  mit  einer  fast  entzücken- 
den Lieblichkeit  rührte,  und  sich  dadurch  den  Glauben  gar  leicht  zu 
wege  brachte,  dass  S.  Königliche  Majestät  von  Frankreich,  wie  das  Ge- 
rüchte von  ihm  gehet,  ihn  vor  andern  würdie  befunden,  Sie  biss weilen 
mit  dem  Klange  seiner  Saiten  bey  Ihren  Mahlzeiten  zu  ergötzen*'. 

2)  Siehe  die  vorstehende  Anmerkung.  De  St.  Luc  trat  dann  in  die 
Dienste  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  und  lebte  in  Wien.  Ich  besitze 
von  ihm  handschriftlich  ein  Buch  voll  Lautenstücke  —  in  ihrer  Art  an 
die  niedlichen  Kleinigkeiten  Couperin's  mahnend,  aber  als  Compositum 
den  letzteren  nicht  entfernt  an  Werth  gleich. 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  343 

—  Andere,  die  mehr  conservativ  dachten,  schüttelten  bedenklich 
den  Kopf.  l)  Italien  begann  seine  musikalisch  weltbeherrschende 
Stellung  einzunehmen.  Heinrich  Albert  in  seinem  fernen  Königs- 
berg verwundert  sich,  „was  für  herrliche,  lebhafte  und  geistreiche 
Compositioncn  aus  Italia  (welches  billig  die  Mutter  der  edlen 
Music  zu  nennen)  zu  uns  gelangen".  2) 

Den  charakteristischen  Klang  der  verschiedenen  Stimmen- 
gattungen begann  man  in  Italien  vom  dramatischen  Standpunkte 
aus  zu  würdigen  —  auch  die  Bassstimme  war  einstweilen  noch 
nicht  in  dem  Misscredit,  in  welchen  sie  in  Italien  später  gerieth.  3) 


1)  „Forte,  Pian:  Praesto;  Adagio  Lento.  Diese  Wörter  wer- 
den bissweilen  von  den  Italis  gebraucht,  und  in  den  Concerten  an  vielen 
unterschiedenen  Oertern ,  wegen  Abwechslung  beydes  der  Stimmen  und 
Choren,  darbey  oder  drunter  gezeichnet,  welches  ich  mir  dann  nicht 
missfallen  lasse.  Ob  zwar  etliche,  dz  sich,  dessen,  sonderlich  in  Kirchen 
zu  gebrauchen  nicht  gut  sei,  vermeinen:  so  deuchtet  mir  doch  solche 
Variation  und  Umbwechselung,  wenn  sie  fein  moderate  und  mit  einer 
guten  gratia  die  Affectus  zu  exprimiren  und  in  den  Menschen  zu  movi- 
ren,  vorgenommen  und  zu  werck  gerichtet  wird,  nicht  allein  nicht  unliob- 
lich  oder  Unrecht  seyn,  sondern  vielmehr  die  aures  et  animos  auditorum 
afficere  und  dem  Concert  ein  sonderliche  Art  und  gratiam  concilüre.  Es 
erfordert  aber  solches  offteruials  die  Composition,  sowol  der  Text  und 
Verstand  der  Wörter  an  jhm  selbsten:  dass  man  bissweilen,  nicht  aber 
zu  offt  und  gar  zu  viel,  den  Tact  bald  geschwind,  bald  wiederumb  lang- 
sam führe,  auch  den  Chor  bald  stille  und  sanfft,  bald  stark  und  frisch  re- 
soniren  lasse.  Wiewol  in  solchen  und  dergleichen  umbwechslungen  in 
Kirchen  viol  mehr,  alss  vor  der  Taffei  eine  Moderation  zu  gebrauchen 
vonnöthen  sein  wil.  So  weis  nun  aber  ein  jeder  selbsten,  was  solche 
Wörter  bedeuten,  alss:  Forte,  elate,  clare,  id  est  summa,  seu  intenta 
voce,  wenn  die  Instrument  und  Vocalisten  zugleich  starck:  Pian,  sub- 
missö,  wenn  sie  die  Stimme  moderiren  und  zugleich  gar  stille  intoniren 
und  musiciren  sollen.  Sonsten  ist  Pian  so  viel  alss  placide,  pedetentim, 
lento  gradu:  dass  man  die  Stimmen  nicht  allein  moaeigen,  sondern  auch 
langsamer  singen  solle".   (Syntagma  III,  3.  Abth.,  Cap.  I,  S.  112.) 

2)  Vorrede  des  poet.-mus.  Lustwäldleins. 

3)  G.  B.  Doni's  Traft,  della  mus.  Seen.  cap.  XXIX  ,,deir  assegnare 
a  ctascun  personaggio  convenevole  voce  0  tuono"  (Opp.  II,  S.  86)  ent- 
hält über  diesen  Gegenstand  interessante  Bemerkungen :  „ —  —  dove 
parlassero  tre  paston  giovani,  si  potrebbe  ad  uno  assegnare  la  voce  di 
nn  Baritono,  al  secondo  di  un  Tenore  e  al  terzo  di  un  Contralto,  allon- 
tanando  i  sistemi  alnieno  per  terze:  e  parimente,  se  fossero  due  Ninfe, 
all'  una  assegnare  il  soprano  piü  acuto,  all'  altra  il  piü  grave.  Si  puö 
dubitare  quello,  che  convenga  fare,  dovo  entrano  Deitä,  Spiriti  celesti  0 
infernali,  Virtü,  Vizj  etc.  Ne  accenneremo  dunque  qualcne  cosa,  prima 
parlando  delle  coso  vere,  poi  delle  finte  e  favolose.  Introducendosi  Gesü 
nostro  Signore  (prima  che  patisse,  0  poi  che  resuscito  glorioso;  perche 
in  ciö  non  farei  differenza)  pare,  che  convenga  darli  l'istessa  voce,  cioe 
nn  bei  Tenore  (il  quäle  vorebbe  essere  soave  e  chiaro,  come  e  quello  del 
Sig.  Francesco  Bianchi)  di  Tuono  ordinario,  poiche  questa  voce  piü  dell' 
altre  conviene  ad  un  corpo  ben  temperato  e  perfettamente  organizato. 
A  Iddio  Padre,  che  si  rappresenta  sempre  in  forma  di  vecchio,  meglio  al 
parer  mio  conviene  un  Baritono  che  ogni  altra  voce.    Agli  ängeb,  che 


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344       Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Besonders  wichtig  erwies  sich  das  Heranziehen  von  Sänge- 
rinnen, das  „ewig  Weibliche"  milderte,  veredelte,  verklärte  auch 
liier.  Die  vorübergegangenen  niederländischen  Zeiten  und  selbst 
die  Epoche  Palestrina's  hatten  fast  nur  von  Sängern  zu  spre- 
chen gewusst  —  war  doch  der  Kirchenchor  damals  die  eigent- 
liche Stätte  des  Kunstgesanges,  und  das  Wort:  „tacoat  mulier 
in  ecclesia4'  hatte  volle  Geltung  auch  in  der  Kirchenmusik.  Die 


sempro  si  figurano  in  forma  di  giovanetti,  secondo  l'eta,  che  mostreranno, 
se  h  darä  im  Soprano,  piü  o  meno  acuto,  o  pure  un  Contralto,  poiche 
gli  Spiriti  celesti  o  anco  infernali  (che  per  so  stessi  um  hanno  voce  al- 
cuna)  quando  si  vestono  di  corpo  aereo,  o  altrimenti,  prendendo  l'effi^ie 
umana,  ricevono  parimente  le  medesimo  qualita  ed  operazioni.  II  principe 
de*  Demonj,  perche  si  suol  figurare  in  forma  grande,  grossa  c  Darbuta, 
ottimamento  se  gli  suole  assegnare  un  Basso  profondo,  che  tanto  meglio 
eli  stara,  quando  sara  piü  ^rave  del  corista;  cantando  anco  sopra  qualcho 
instrumento  di  Tuono  inferiore,  e  di  saono  stravagante.  Agli  altri  De- 
monj, secondo  la  forma,  sesso,  o  eta  che  rappresentano,  se  gli  possono 
assegnare  düTerenti  tuoni;  ma  non  niai  soprani,  o  pure  qualche  falsett«> 
solo.  Si  devo  avvertire  anco,  che  dove  sara  copia  di  voci,  le  piü  chiare, 
belle  e  nette  si  assegnino  alli  Spiriti  buoni  e  Deitä  celesti,  e  le  fosche, 
aspre,  fesse,  e  insoavi  alli  Spiriti  maligni  e  Doita  infernali.  A  Saturno, 
Giove,  Nettuno,  Vulcano,  Giano,  Ercolo,  o  siraili  Dei  favolosi.  si  devono 
attribuire  le  voci  gravi,  cioe  Bassi  6  Baritoni,  ne'  tuoni  eziandio  inferiori 
al  Corista,  quando  si  potra;  come  facevano  gli  Antichi,  che  agli  Eroi  so- 
levano  assegnare  il  Tuono  Ipodorio  o  Ipofngio:  il  primo  de'  quali  era 
inferiore  del  Corista  una  quarta,  e  il  secondo  un  Semiditono.  A  Marte 
parimente  si  potra  daro  un  Basso,  6  pure  un  Tenor«  gagliardo  e  pieno. 
A  Mercurio,  Apolline,  Bacco,  e  simili,  che  in  etä  giovenile  si  figurano. 
qualche  Tenore  o  Contralto;  se  non  volessimo  piü  preäto  a  Mercurio  as- 
segnare un  Falsetto,  per  meglio  esprimere  un  costume  varie  e  fraud«>- 
lente ;  e  c<  «>  i  rappresentaudosi  un  Proteo,  da1  Latini  detto  Vertunno,  sara 
grande  artifizio,  farli  usare  diverse  voci.  quando  si  potra.  Nolle  Dee  gen- 
tili  parimente  si  puo  faro  qualche  ditferenza,  come  sarebbe  a  quelle,  che 
si  figurano  piü  attempate,  o  piü  virili,  il  Tuono  piü  grave,  come  a  Ci- 
bele,  Maestra  degl'  Iddei;  ed  a  Bollona,  Dea  della  guerra  il  Contralto,  a 
Giunone,  Cerere,  Minerva  e  Venere  il  Soprano  piü  grave,  a  Diana  e  Pro- 
serpina piü  acuto". 

Bis  hierher  ist  alles  gut  und  schön,  und  recht  fein  beobachtet  — 
man  höre  aber  weiter: 

„E  perche  questi  vani  Iddei  gentileschi  si  crodevano  nati  chi  in  un 
paese,  chi  in  un  altro,  dove  erano  anco  piü  ostinatamente  riveriti,  secondo 
che  quelle  nazioni  avevauo  questo  o  quel  Tuono,  sarebbe  convenevole,  as- 
segnarli  a  quegl'  istessi  Dei:  come  per  esempio  il  Tuono  Dorio  o  Ipo- 
dorio a  Giove  di  nascita  Cretense,  provincia  della  nazione  Dorica;  ma  a 
Bacco  il  Frigio,  benche  nato  in  TeDe,  citta  della  Beozia  de'  medesimi 
Doriesi,  almeno  ne'  tempi  piü  bassi;  perche  da  Frigj  massimamente  era 
venerato,  e  da  Greci  in  quel  tuono  si  cantavano  le  musiche  de'  sagrifizj 
di  Bacco.  A  Minerva  il  tuono  Jastio  o  Jonico,  per  essere  stati  di  quella 
schiatta  gl'  Ateniesi,  cho  appresso  dl  loro  la  tenevano  nata.  Ma  molto 
piü  si  dovrebbe  avere  riguardo  alla  qualita  e  proprj  uti/.i  di  ciascun» 
—  a  Venere  il  Lidio,  a  Saturno  ripodorio,  a  Nettuno  anco  Ipofngio,  e 
respettivamento  agli  altri,  che  si  lasciano  ad  arbitrio  deli'  erudito  poeta 
e  giudizioso  musico,  massiine  di  quelli,  a'  quali  non  si  assegnano  proprj 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  345 


musikalische  „Emancipation  des  Weibes"  erfolgte  erst  durch  die 
neue  Zeit  der  Monodie,  der  dramatischen  Musik.  Bis  dahin  hatte 
man  für  den  Sopran  entweder  die  Singknaben  (putti)  oder  auch 
Falsettisten  angewendet,  wie  denn  in  der  päpstlichen  Kapelle  die 
Spanier  in  dieser  Beziehung  berühmt  waren.  Sogar  Coloratursänger 
gab  es  unter  den  Falsett-Sopranen,  die  enorm  hoch  singen  konn- 
ten. ')  Giovanni  de  Sanctos,  der  1625  starb,  war  der  letzte  Fal- 
sett-Sopran dieser  Art  in  der  päpstlichen  Kapelle.  2)   Die  älteren 


natali,  come  la  Fortuna,  Nemesi  etc.  Si  piü  dubitare  quello,  che  con- 
venga  fare  nolT  Ombre  0  anime  de  passati,  che  secondo  le  favole  sogli- 
ono  essere  da'  Poeti  introdotte  in  Seena.  Di  qualunque  luogo,  che  si 
fingano  venire,  0  sia  da'  Campi  Elisei,  0  dalF  Inferno,  se  si  rappresen- 
toranno  nella  loro  solita  forma  umana,  quell'  istessa  voce  se  gli  darä, 
come  se  fossero  vivi;  ma  se  s'introdurranno  solo  i  loro  siraulacri  coperti 
con  un  yelo,  0  altrimenti,  non  averei  per  inconveniente,  che  si  facessero 
parlare  con  una  voce  piii  sottile  della  loro  naturale,  e  che  con  qualchc 
artifizio  si  alterasse  in  guisa,  che  non  paresse  voce  di  uomo  vivonte;  con 
questa  differenza,  che  T'aniine  beate  usassoro  (per  esempio)  il  Contralto, 
e  le  dannate  un  Tenore  forzato  0  simile  altra  voce;  ancorche  l'ombra 
fosse  di  qualche  personaggio  antico,  di  statura  eroica  e  grande,  come  di 
Polydoro  nell'  Ecuba  di  Euripido,  0  di  Tantalo  nel  Tieste  di  Seneca.  Alle 
Furie  infernali  alcuni  assegnano  il  Soprano  naturale;  ma  non  molto  a 
proposito  a  giudizio  mio;  perche  piü  presto  gli  converrebbe  un  Falsetto, 
0  anco  un  Contralto.  Sarebbe  anco  convonevole.  che  i  Tritoni,  Nereide 
e  simile  Deita  0  Mostri  marini  cantassero  con  certe  voci  strane  e  insolite: 
e  cosi  le  Arpie  e  simili  con  voce  aridula:  0  proporzionatamente  le  altre  figure 
chimeriche  e  fantastiche  degli  Antichi.  Dovrobbesi  anco  per  certi  perso- 
naggi  usare  qualche  particolar  foggia  di  melodia ;  verbi  grazia :  far  cantar 
le  Sirene  con  spessi  piegamenti  di  voce,  0  strascini,  trilh.  tremoli,  passag - 
getti,  e  altri  ornamenti  piü  affettati,  massimamentc  nel  genere  diatonico, 
inspessato  dalle  corde  cromatiche.u  Doni  hat,  wie  man  sieht,  an  alles 
Mögliche  gedacht,  an  Götter  und  Holden,  an  allegorische  Figuren  und 
Schatten  der  Untorwelt,  an  den  leibhaften  Satan  und  sogar  an  Meerunge- 
heuer —  nur  die  Menschen  hat  er  vergossen;  für  die  damalige  Oper  waren  sie 
aber  auch  ein  entbehrliches  Contingent!  Sein  Einfall,  die  Götter  nach  ihren 
mythologischen  Geburtsorten  durch  die  entsprechenden  antiken  Tonarten  zu 
charakterisiron  ist  orz-donisch,  jedenfalls  über  die  Massen  ergötzlich!  — 

1)  Della  Valle  spricht  von  einem  Giovanni  Luca  „gran  cantore  di 
gorge  e  di  passaggi,  che  andava  alto  alle  stelle"  —  una  das  war,  wie 
della  Valle  ausdrücklich  bemerkt,  ein  „Falsetto!"  Von  Lodovico  Fal- 
setto sagt  er:  „Vossignoria  mi  lodö  de'  ternpi  addietro  Lodovico  Falsetto, 
da  me  ben  conosciuto,  benche  nella  mia  etä  puerile  —  dicendo  che  una 
nota  lunga,  ben  cantata  da  lui,  come  quasi  sompre  egli  soleva  fare,  jzli 
piaceva  assai  piü,  che  tutti  i  passaggi  dei  moderni;  io  lo  risposi,  che 
Lodovico  cantava  con  giudizio,  perche  avendo  ogli  dulcissima  voce  di  fal- 
setto, ma  non  sapendo  molto  doli'  arte,  non  usava  quasi  mai  ne  passaggi, 
ne  altre  grazie  del  cantare,  che  solo  un  bei  mettere  del  voce,  e  un  nnir 
con  grazia  con  quelle  sue  note  lunghe,  che  per  la  dolcezza  dolla  sua  voce 
piacevano  assai. 

2)  (Giovanni  de  Sanctos,  Spagnuolo)  quäle  mori  in  Roma  neu"  anno 
1625,  e  111  sepolto  nella  Chiosa  ai  S.  Giovanni  in  Campo  Marzo.  E  stato 
l'ultuno  soprano  di  voce  di  falsetto,  che  abbia  servito  la  cappella  ponte- 
ticia.  (Matteo  Fornari,  Notizie  storiche  della  C.  P.) 


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346        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


Meister  hüten  sich  daher,  in  ihren  (Kompositionen  den  Sopran  in 
die  Höhen  emporzuführen,  wo  er  seinen  grössten  Glanz  ent- 
wickelt —  die  Werke  haben  eher  einen  tiefen  Gesammtton.  Die 
Falsett-Soprane  klangen  am  Ende  doch  gequetscht  und  gewalt- 
sam —  obschon  della  Valle  die  süsse  Stimme  eines  Lodovico 
Falsetto  rühmt;  die  kry  stall  harten  Knabenstimmen  ermangelten 
der  Feinheit  und  Seele  —  zudem  kam  die  Zeit  des  Mutirens 
schnell  heran,  ehe  der  Knabe  ganz  perfekt  musikalisch  werden 
konnte.  Welche  feinen  Nuancen,  welchen  weichen  Wohllaut  bot 
dagegen  die  Frauenstimme !  Pietro  della  Valle  redet  mit  Ent- 
zücken davon.  ,)  Bald  sollten  aber  die  Vittoria  Archilei,  die 
Leonora  Baroni,  die  Lolle  und  die  Cecchinas  Concurrenten  be- 
kommen, mit  denen  sie  die  Gunst  des  Publikums  tlieilen  niuss- 
teu  —  ja  deren  Stimmen  die  eigenüichen  musikalischen  Fein- 
schmecker, die  „Orecchianti",  dem  natürlichen  Frauensopran  noch 
vorzogen.  Im  Jahre  1601  wurde  ein  gewisser  Pater  Girolamo 
Kossini  aus  Perugia  in  die  päpstliche  Singkapelle  aufgenommen 
—  er  war,  wie  Adami  von  Bolsena  sagt,  der  erste  „Evirato", 
der  dort  Zutritt  fand.2)  Das  wurde  für  die  ganze  folgende  Mu- 
sikzeit in  Italien  höchst  verhängnissvoll ! 

In  den  ersten  dramatischen  Musikwerken  Italiens  waren 
naturgemass  die  Männerrollen  den  Tenor-  und  Bassstimmen  zu- 
getheilt,  den  Sopran  sangen  Frauen,  es  wurde  auch  wohl  eine 
Frauenrolle  einem  Singknaben  anvertraut,  wie  die  Partie  der 
Dame  (in  „Euridiee")  dem  „fanciuletto  Lucchese"  Jacopo  Giusti. 
Der  Alt  war  eine  Art  Gemeingut.  Wie  Pen,  Caccini,  Gagliano 
u.  s.  w.  hält  sich  auch  Montevcrde  in  seinen  Opern  an  Natur 
und  Wahrheit  —  sein  Schüler  Cavalli  folgt  wenigstens  in  seinen 
älteren  Opern  („le  nozze  di  Pcleo  c  di  Tetide",  „la  Didonc" 
u.  s.  w.)  dem  Beispiele  —  dagegen  ist  sein  Prinz  Paris,  sein 
Alcibiadc  schon  Sopran,  Xerxes  der  Perserkönig  eine  Altpartie. 
Bei  Alessandro  Scarlatti  (s.  dessen  „trionfo  d'onore"  1 7 1 S)  kommt 
es  endlich  so  weit,  dass  die  Geliebte,  Dank  dem  sonoren  Alt 
der  Italienerinnen,  Altistin,  ihr  Anbeter  Sopran  ist  und  daher 
in  Duos  die  Oberstimme  erhält!  —  In  Rom  singen,  wie  wir 
schon  erwähnten,  zur  Zeit  des  Streites  der  Costisten  und  Cecclii- 
sten  zwei  Castraten  die  Frauenrollen  in  der  „Catcna  d'Adone". 

1)  Kr  redet  von  ,,rallegrar  la  voce,  o  immalinconarla,  farla  pietosa, 
o  ardita.  quando  bisogni"  (bei  Doni  üpp.  II,  S.  255).  Die  Stelle  ist  sehr 
merkwürdig. 

2)  „Padre  Girolamo  Bossioi  da  Perugia,  prete  della  congregazione 
dell'  oratorio,  fiori  nel  Secolo  XVII.  In  eccellcnte  cantore  della  parte  di 
Soprano,  o  fu  il  prüno  evirato,  che  avesse  luogo  nella  Cappella  Pontiti- 
cia,  avendo  fin  d  allora  servito  la  cappella  in  qualita  di  Soprani  i  nazio- 
nali  Spagnuoli  con  voce  di  falsetto.  II  prelodato  padre  fu  ammesso  tra 
cantori  Pontificj  nett*  1601,  o  mori  nell'  1644  addi  23  di  Decembrc44  (Ada- 
mi, osserY.  per  ben  regolare  il  Coro  della  Capp.  Pont.). 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  347 

Als  vollends  Clemens  XII.  (1730—1740)  das  Auftreten  von 
Frauenspersonen  auf  dem  Theater  in  Rom  verbietet ,  fallen  dort 
die  Frauenrollen  sämmtlich  den  Sängern  „gcneris  neutrius"  zu, 
nachdem  das  „genus  femininum"  von  den  weltbedeutenden  Bret- 
tern verbannt  ist.  Noch  zur  Zeit  Caccini's  wird  die  Bezeichnung 
„Musico"  im  natürlichen,  unverfänglichen  Sinn  zur  Bezeichnung 
eines  Musikers  gebraucht,  spater  wurde  das  Wort  ein  Euphemis- 
mus für  „Kastrat".  !) 

Wenn  wir  über  das  Auftauchen  dieser  Menschenklasse  in 
Italien  erst  seit  1 600  bestimmte,  und  selbst  da  anfangs  nur  spär- 
liche Nachrichten  haben,  so  finden  sich  anderwärts  allerdings 
schon  Andeutungen,  dass  man  auch  sogar  schon  vor  1600  derlei 
Sänger  in  den  fürstlichen  Kapellen  unterhielt.  In  Emilio  de' 
Cavalieri's  Madrigal  „godi  turba  mortal",  welches  1589  bei  dem 
grossherzoglichen  Hochzeitsfeste  gesungen  wurde,  ist  die  ver- 
schnörkelte Oberstimme,  wie  Onofrio  Galfreducci  sie  vortrug,  im 
Sopranschlüssel  notirt  und  nacb  der  ganzen  Anlage  des  Tou- 
stückes  nur  in  dieser  Lage  möglich.  In  dem  Madrigal  „dunquc 
fra  torbide  onde",  welches  Jacopo  Pcri  vortrug,  ist  dagegen  der 
Tenorpart  colorirt,  weil  Peri  Tenorsänger  war.  M.  Prätorius 
zählt  den  Stand  der  Kapelle  „am  Fürstlichen  Durchleuchtigkeit 
zu  Bayern  Hoff"  auf,  wie  solcher  „zu  des  fürtrefflichen  weitbe- 
rümbten  Musici  Orlandi  de  Lasso  zeiten  gewesen"  —  Orlando 
starb  1594  und  zwar  geistig  gebrochen  —  die  „Zeiten"  müssen 
also  wesentlich  früher  gewesen  sein.  Da  heisst  es  nun:  „Do  die 
Music  daselbst  von  12  Bassisten,  15  Tenoristen,  13  Altisten,  16 
Capellknaben,  5  oder  6  Capuncrn  oder  Eunuchis,  30  In- 
strumentalisten  und  also  in  die  90  Personen  starck  bestellt  ge- 
wesen seyn  sol."  2) 

Lichtscheu  und  heimlich  liegen  die  Anfange  des  Verbrechens 
in  geheimnissvolle  Nacht  begraben.  Hat  vielleicht  eine  Anre- 
gung vom  Orient  her  stattgefunden,  wo  besonders  die  Venezianer 
so  gut  zu  Hause  waren  ?  Im  Orient  sangen  die  Eunuchen  aller- 
dings nicht,  aber  ihr  heller  Sprachton  kann  auf  sie  aufmerksam 
gemacht  haben.  Sobald  man  in  Italien  einmal  so  weit  war,  dass 
mau  dem  Ohrenschmaus  zu  Liebe  die  Gesetze  der  Humanität  mit 
Füssen  trat,  sobald  man  sich  an  die  unglücklichen  Geschöpfe  so 
gewöhnt  hatte,  dass  man  sie  als  etwas  Selbstverständliches  an- 
sah, dass  an  ihnen  schon  1G40,  wie  Pietro  della  Valle  sagt,  „ein 
grosser  Ueberfluss  (tanta  abbondanza)  war",  kam  man  bald  so 
weit,  dass  man  das  Uebergewicht  italienischer  Musik,  wenigstens 

1)  „Non  sono  musico",  sagte  einmal  ein  deutscher  Reisender  zu  einer 
Römerin  —  das  sollte  heissen  „ich  bin  nicht  musikalisch".  Die  Dame 
fiel  vor  Lachen  fast  Tom  Stuhle  und  rief  immerfort:  „beato  lei!  beato 
lei".   Der  Fremde  konnte  nicht  begreifen  warum. 

2)  Synt.  U,  8.  17. 


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348        Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke.  ) 

das  Ueberge wicht  italienischer  Gesangskunst,  wesentlich  auf  ihre 
Rechnung  schrieb,  wie  sogar  ein  Franzose,  Abbe  Raquenet, 
thut.  l)    Schon  Pietro  della  Valle  kann  über  den  Vorzug  dieser 


1)  „J'ai  dit  au  commencement  de  ce  paralele  que  nous  avion3  un 
grand  avantage  sur  les  Italiens  par  les  basses-contres,  qui  sont  si  com- 
munes  parmi  nous  et  qui  sont  si  rares  en  Italie.  Mais  quels  avanrages 
n'ont  iLs  pas  sur  nous,  pour  les  opera,  par  leurs  Castrati,  qui  sont 
sans  norabre  et  dont  nous  n'en  avons  pas  un  seul  en  Franco.  Les  voix 
de  femme  sont  a  la  verite*  aussi  douces  et  aussi  agreables  chez  nous  que 
Celles  de  ces  sortes  d'hommes;  mais  il  en  faut  bien  qu'elles  soient  aussi 
fortes  et  aussi  percantes,  il  n'y  a  noint  de  voix,  nf  d'homme,  ni  de  femme 
au  monde  si  flexibles  que  Celles  de  ces  castrati,  elles  sont  nettes,  olles 
sont  touchantes,  elles  pönetrent  jusqu'a  Tarne.  —  Ce  sont  des  gosiers  et 
des  sons  de  voix  de  rossignol;  ce  sont  des  haleines  ä  faire  perdre  terre 
et  a  vous  öter  presque  la  respiration,  des  haleines  infinios  par  lo  moyen 
desquolles  ils  executent  des  passages  do  je  ne  sais  combien  de  mesures, 
ils  font  des  echos  de  ces  meines  passages,  ils  soutionnent  des  tenues 
d'une  longueur  prodigieuse,  au  bout  desquolles,  par  un  coup  de  gorge, 
semblable  a  ceux  des  rossignols,  ils  font  encore  des  cadences  de  lameme 
duree.  Au  reste:  ces  voix  douces  et  rossignolantes ,  sont  onchantees 
dans  la  bouche  des  acteurs,  qui  font  le  personnage  d'amant;  rien  n'est 
plus  touchant  que  Texpression  de  leurs  »eines  formee  avec  ces  sons  de 
voix  si  tendres  et  si  passionez,  ot  les  Italiens  ont,  en  cela,  un  grand 
avantage  sur  les  amans  de  nos  theatres,  dont  la  voix  grosse  et  mäle  est 
constamment  moins  propro  aux  douceurs  qu'ils  disont  a  leurs  maitresses. 
—  Mais  lc  plus  grand  avantage,  que  les  Italiens  ont  sur  les  Francois  par 
le  moyen  de  leurs  Castrati,  du  cöte  des  voix,  c'est  que  cos  voix  leur  durent 
des  tronte  et  quarante  anndos;  au  heu,  que  Celles  de  nos  femmes  ne  con- 

servent  gueros  plus  de  dix  ou  douz  ans  leur  force  et  leur  beaute".  

D'ailleurs  les  Italiens  ont  encore  un  grand  avantage  sur  nous  par  le 
moyen  de  leurs  Castrati  en  ce  qu'ils  en  font  le  personnage,  qu'ils  veulent, 
uno  femme  aussi  bien,  qu'un  homme,  selon  qu'ils  en  ont  besoin;  car  ces 
Castrati  sont  tellement  accoütumez  a  faire  des  röles  de  femme,  que  les 
meilleurs  actrices  du  monde  ne  les  font  point  mieux  qu'eux;  ils  ont  la 
voix  aussi  douce  qu'elles,  et  l'ont  avec  cela  beaueoup  plus  forte;  ils  sont 
plus  grands  que  le  commun  des  fommes  et  ont  par  la  plus  do  majeste* 
qu'elles,  ils  sont  memes  ordinairomont  plus  beaux  en  femme,  que  les  fom- 
mes memes.  Ferini  par  exemple,  qui  en  1698  faisait  ä  Rome  lo  person- 
nage de  Sibaris  a  l'opera  de  Ihemistocle  est  plus  grand  et  plus  beau  que 
ne  le  sont  commune'ment  les  femmes,  il  a  je  ne  sais  quoi  de  noble  et 
de  modeste  dans  la  physionomie;  habille"  en  Princesse  Persanne,  comme 
il  ötait,  avec  le  Turban  et  l'aigrette,  il  avoit  un  air  de  reine  et  d'impe- 
ratrice;  et  Ton  n'a  peut-etre  jamais  vu  un  plus  belle  femme  au  monde. 
qu'il  le  paroissoit  sous  cot  habit."  (Paralele  des  Italiens  et  des  Francois 
en  co  qui  regardo  la  musique  ot  les  opera  —  Paris,  1702.  S.  75  bis  83  und 
S.  9s).  Man  sieht  hioraus  zugleich,  dass  schon  vor  dem  Verbote  Clemens XII. 
Castratenfrauenrollen  etwas  sehr  Gewöhnliches  waren.  Man  sieht  ferner, 
dass  die  Sache  als  etwas,  das  sich  von  selbst  verstand,  angesehen  wurde. 
Heutzutage  ist  es  fast  ein  Verstoss  gegen  die  Schicklichkeit,  davon  auch 
nur  zu  sprechen.  Eotzebue  erwähnt  in  seiner  „Reise  nach  Rom  und 
Neapel"  (1804)  unter  andern  charakteristischen  Figuren,  welche  man  zu 
Neapel  in  den  Strassen  findet:  „dann  sieht  man  viele  Jünglinge  in  langen 
Talaren,  bald  weiss,  bald  blau  oder  schwarz,  sie  gehören  zu  den  verschie- 
denen Conservatorien,  in  welchen  Musik  gelehrt  wird,  und  manche  ver- 


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Die  Zeit  der  ersten  musikalisch-dramatischen  Werke. 


349 


Soprane  nicht  genug  Gutes  sagen.  „Wer  sang  in  jenen  früheren 
Zeiten",  ruft  er,  „wie  ein  Guidobaldo,  ein  Cavaüer  Loreto,  ein 
Gregorio,  ein  Angeluccio,  ein  Marc  Antonio,  und  so  viele  andere, 
welche  ich  nennen  könnte?"  l)  Man  machte  ihnen  denn  auch 
förmlich  den  Hof,  sie  hielten  Levers  wie  gekrönte  Häupter.  Ge- 
putzt wie  Weiber  und  mit  Brillanten  beladen  (man  lese  wie  er- 
götzlich Benedetto  Marcello  sie  in  seinem  „Teatro  alla  moda" 
schildert,  man  sehe  des  vergötterten  Carestini  kapaunfette  Ge- 
stalt, wie  sie  Hogarth's  Grabstichel  für  die  Nachwelt  bewahrt 
hat)  2)  gingen  diese  Zwitterdinge  einher  —  welche  Rolle  Fari- 
nelli  am  spanischen  Hofe  spielte,  ist  allbekannt  —  in  London 
rief  eine  Dame  bei  seinem  Gesänge  laut  zur  Loge  heraus:  „one 
God,  one  Farinelli"  (!).  Erst  seit  Gluck's  Opernieform  verschwin- 
den die  Halbmänner  nach  und  nach,  obwol  noch  im  „Orfeo"  die 
Hauptrolle  für  den  „Musico"  Guadagni  geschrieben  war.  Die 
französische  Oper  hatte  dergleichen  von  je  verschmäht,  dafür 
galt  es  selbst  unter  den  französischen,  nicht  vom  Nationalge- 
fühle verblendeten  Kennern  für  eine  ausgemachte  Sache,  dass 
man  in  Paris  schreie,  nicht  singe.  Das  Verbrechen  an  der  Mensch- 
heit aber,  durch  welches  die  italienische  Musik  der  „schönen 
Periode"  ihren  Glanz  und  ihren  Kuhm  zum  grossen  Theil  er- 
kaufte, scheint  auf  ihr  wie  ein  Fluch  zu  lasten,  und  ist  jedenfalls 
ein  unvertilgbarer  Flecken  in  ihrer  Geschichte. 

rathen  leider  sogleich  durch  ihren  ungeschickten  Wuchs,  dass  sie  zu  den 
Unglücklichen  gehören,  welche  das  verwöhnte  Ohr  der  Italiener  am  lieb- 
sten singen  hört". 

1)  ,  per  dire  un  poco  de'  Soprani,  che  sono  il  magffiore  orna- 
mento  de  IIa  musica,  Vossignoria  vuol  paragonare  i  Falsetti  di  quei 
tempi  co  i  Soprani  naturali  (!)  de1  Castrati,  che  ora  abbiamo  in 
tanta  abbondanza.  Chi  canto  mai  in  quei  tempi  come  un  Guidobaldo, 
un  cavalier  Loreto,  un  Gregorio,  un  Angeluccio,  un  Marc  Antonio,  e  taut 
altri  che  potrei  noniinare?"  Marc  Antonio  ist  wohl  ohno  Zweifel  derselbe, 
welchen  Kircher  wegen  seines  Vortrags  von  D.Mazzoccbi's  Magdalena  rühmt. 
Da  er  und  Loreto  Castraten  waren,  so  werden  es  die  „tant  altri"  wohl 
auch  gewesen  sein. 

2)  im  4.  Blatt  von  Hogarth's  „Mariage  a  la  mode.u 


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VII. 

Claudio  di  Monteverde. 


Claudio  Monteverde. 

Die  Florentiner  hatten  Raum  für  Neues  geschaffen.  Wäre 
es  auf  G.  B.  Doni  uud  seinesgleichen  angekommen,  so  würden 
diese  Anfange  sofort  wieder  im  Keime  erstickt  worden  sein. 
Caccini  und  Peri  waren  allerdings  feine  Talente  gewesen  — 
geistvoll,  wissenschaftlich  gebildet,  musikalisch  wohlgeschult.  — 
Marco  da  Gagliano,  ihr  nächster  Nachfolger,  mag  mit  ihnen  den 
Dritten  im  Bunde  vorstellen;  es  bedurfte  aber,  um  dem  neuen 
Style  Dauer  zu  sichern  —  denn  der  blosse  Reiz  der  Neuheit 
würde  sich  ohne  wirklichen  Fortschritt  bald  vernutzt  haben  — 
uud  um  seine  Ausbildung  mächtiger  zu  fordern,  noch  eines  Meh- 
reren —  eines  genialen  Künstlers,  welcher  jenes  von  seinen 
Vorgängern  geschaffene  Vacuum  mit  positivem  Inhalt  fülle,  dem 
zugleich  Kühnheit  genug  innewohnte,  um  Dinge  auf  dem  musi- 
kalischen Gebiete,  welche  durch  langjährige  Lehre  und  Uebung 
fast  unantastbar  geworden  waren,  welche  sich  aber  als  mit  der 
neuen  Ordnung  unvereinbar  erwiesen,  einfach  über  Bord  zu  wer- 
fen und  dafür  neue  Combinationen  zu  neuen  und  eigenen  Kunst- 
zwecken hinzustellen.  Dieser  Künstler  kam  in  Claudio  Mon- 
teverde. 

Wie  Peri  uud  Caccini  stammte  auch  Monteverde  aus  der 
Schule  der  Coutrapunktisten  strenger  Observanz.  Der  Sohn  un- 
bemittelter Eltern  aus  Cremoua,  und  nach  der  gewöhnlichen  An- 
nahme um  1568  geboren  l),  wurde  er  ursprünglich  zum  Viola- 
spieler gebildet,  und  trat  als  solcher  bei  dem  Mantuaner  Gonzaga 
in  Dienste.  Er  blieb  dem  Hause  stets  treu  anhänglich.  Als  er 
schon  die  Grosswürde  eines  Kapellmeisters  von  S.  Marco  in  Vene- 
dig bekleidete,  widmete  er  das  siebente  Buch  seiner  Madrigale 
(1619)  der  Herzogin  Caterina  Medici-Gonzaga  von  Mantua  — 
„questi  raiei  componimenti  quali  si  sieno,  faranno  pubblico  ad 
autentico  testimonio  del  mio  divota  affetto  verso  la  Serenissima 
casa  Gonzaga,  da  me  servita  con  ogni  fedelta  per  decine  d'anni", 

1)  Caffi  L  Band  S.  215.  Da  Arrisi  (Cremona  litterata)  sagt:  Mon- 
teverde sei  im  75.  Lebensjahre  gestorben,  sein  Tod  aber  1643  erfolgt;  so 
ergiebt  sich  obiges  Jahr  als  Geburtsjahr. 

Ambro»,  Geicbichte  der  Muiik.   IV.  23 


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354 


Claudio  Monteverde. 


und  als  Eleonora  Gonzaga  Gcmalin  Kaiser  Leopold  I.  geworden 
und  längst  im  fernen  Wien  weilte,  widmete  er  ihr  seine  „Selva 
morale  et  spiritualo",  in  deren  aus  Venedig  1.  Mai  1641  datirter 
Vorrede  er  sagt:  „havendo  io  cominciato  a  consecrare  alle  glorie 
della  Screnissima  casa  Gonzaga  la  mia  riverente  servitü,  a  l'hora 
quando  compiacquesi  il  Serenissimo  Sig.  Duca  Vincenzo,  genitor 
della  Sacra  Maesta  vostra  (felice  ricord.J  di  ricevere  gli  effetti 
della  mia  osservanza,  quali  nella  mia  verde  eti  cercai  con  ogni 
diligenza  et  col  mio  talento  della  musica  per  lo  spatio  de  anni 
ventidue  continui  di  mostrarli  affettuosi,  non  ha  mai  potuto  l'in- 
terpositione  della  terra  et  del  tempo  ecclisare  pure  un  minimo 
raggio  del  mio  ossequio"  u.  s.  w.  Monteverde  hatte  am  Hofe 
zu  Mantua  alle  Hände  voll  zu  thun.  Sein  Bruder  Giulio  Cesare 
Monteverde  schildert  den  Vielgeschäftigen  und  Vielbeschäftigten: 
„mio  fratello  non  solo  per  il  carico  de  la  musica  tanto  da  Chiesa 
quanto  da  camera,  che  tiene,  ma  per  altri  servizj  non  ordinarj, 
essendo  che  servendo  il  gran  principe  la  maggior  parte  del  tempo 
si  trova  occupato,  hora  in  tornei,  hora  in  balletti,  hora  in  com- 
raedie  et  in  varj  concerti  et  finalmente  nello  concertar  le  due 
viole".  x)  Sein  Talent  zur  Composition  mag  sich  bald  gezeigt 
haben,  und  bei  des  Herzogs  damaligem  Kapellmeister  Marcanton 
Ingegneri,  seinem  Lehrer,  war  er  jedenfalls  in  einer  guten  Schule. 
Er  hat  sich  indessen  im  eigentlichen  strengen  Contrapunkt  alten 
Styls,  obwohl  er  ihn  gründlich  erlernte,  nie  recht  behaglich  ge- 
fühlt —  sein  unruhiger  Genius  konnte  sich  in  solchen  Fesseln 
nicht  so  frei  bewegen,  als  es  für  ihn  Lebensbedingung  war.  Clau- 
dio's  erste  gedruckte  Composition  waren  Canzonetten,  welche  15S4 
bei  Amadino  in  Venedig  erschienen  —  er  war  damals  also  erst 
16  Jahre  alt  —  für  einen  Tonsetzer  jener  Zeiten  eine  ungewöhn- 
liche Frühreife.  Aus  einer  Mittheilung  seines  Bruders  erfahren 
wir,  dass  er  1599  die  Bäder  von  Spaa  besuchte  und  von  dort 
den  „französischen  Musikstyl  nach  Italien  mitbrachte".  2)  Was 
mit  diesem  französischen  Styl  gemeint  sei,  lehrt  ein  „Confitebor 
tibi  Domine"  in  der  „Selva",  welches  Monteverde  ausdrücklieh 
als  im  „Stile  alla  francese"  geschrieben  bezeichnet  —  liedhafte, 


1)  Schlus8briof  der  „Scherzi  musicali  a  tre  voci  di  Claudio  Monte- 
verde, raecolti  da  Giulio  Cesare  Monteverde,  suo  fratello".  Venedig  bei 
Ricciardo  Amadino  1609. 

2)  —  haverebbe  non  poehi  argomenti  in  suo  favore  mio  fratello,'  in 
particolare  per  il  canto  alla  francese  in  auesto  modo  moderno.  che  per  le 
stampe  da  tre  o  quattro  anni  in  qua  si  va  uiirando,  hör  sotto  a  parole 
de  motetti,  hör  de  niadrigali,  hör  di  canzonatte  et  d'arie,  chi  fu  il  primo  di 
lui,  che  lo  riportasse  in  Italia.  di  quando  venne  da  Ii  bagni  di  Spa  l'anno 
1599  et  chi  incomminciö  a  porle  sotto  ad  orationi  latine  et  a  volgari  nella 
nostra  lingiia  prima  di  lui?  Non  fece  questi  scherzi  alhora?  (a.  a.  0.) 
Weder  Caffi,  noch  Fdtis,  noch  Winterfeld  weiss  etwas  von  dieser  Reis« 
nach  Spaa. 


i 

t 

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• 


Claudio  Monteverde.  355 

um  nicht  zu  sagen  vaudeville -artige  Melodie,  aus  kleinen,  in  klei- 
nen Notengeltungen  (Vierteln,  Achteln)  geschriebenen  Motiven 
zusammengesetzt.  Denselben  Styl  zeigen  auch  die  nach  seiner 
Heimkehr  componirten  dreistimmigen  Scherzi,  welche  sein  Bruder 
Giulio  Cesare  1609  herausgab.  Monteverde  hat  von  diesem 
„französischen  Styl"  auch  noch  in  seinen  Opern  gelegentlich  Ge- 
brauch gemacht  —  im  „Orfeo"  in  zweistimmigen  Hirtengesängen, 
im  „Ulisse"  im  Solo  und  Chor  der  phäakischen  Schiffer. 

Im  Jahre  1587  —  seinem  19.  Lebensjahre  —  Hess  Claudio 
sein  erstes  Buch  fünfstimmiger  Madrigale  erscheinen,  dem  1593, 
1594,  1597,  1599  und  endlich  1614  noch  fünf  andere  Bücher 
folgten.  Die  Kühnheiten  der  Harmonie,  welche  Monteverde  an 
einigen  Stellen  der  Madrigale  des  dritten  Buches  in  einer  Weise 
hören  liess,  wie  vor  ihm  kein  Anderer  gethan,  weckten  den  Wi- 
derspruch der  Kritik  —  der  Canonicus  Giov.  Maria  Artusi  von 
Bologna  griff  ihn  in  seinem  1600  bei  Giacomo  Vincenti  erschie- 
nenen Buche:  „1/ Artusi,  overo  delle  imperfettioni  della  moderna 
musica,  Kagionamenti  dui"  im  zweiten  Kagionamento  lebhaft  an 
—  indem  er  Notenbeispiele  aus  dem  Madrigal  „Cruda  Amarilli" 
brachte,  welche  er  kritisch  zergliederte.  l)  Claudio  antwortete 
in  einem  offenen  Briefe  „ai  studiosi  lettori",  den  er  dem  fünften 
Buch  seiner  Madrigale  beigab  und  den  sein  Bruder  Giulio  Cesare 
den  dreistimmigen  Scherzi  nochmals  beidrucken  liess  —  er 
beschuldigt  Artusi,  die  Musik  aber  nicht  den  Worttext,  den  Kör- 
per aber  nicht  die  Seele  gebracht  zu  haben,  was  doch  für  eine 
gerechte  Beurtheilung  das  Wichtigste  sei.  „Die  Harmonie  ist  die 
Gebieterin  der  Worte"  (Signora  del  orazione}.  Claudio  scheint 
auch  noch  von  andern  Anhängern  des  alten  Musikstyls  allerlei 
Angriffe  erfahren  zu  haben.  Als  er  eine  seiner  geistlichen  Com- 
positionen  dem  Papste  Clemens  VIII.  widmete,  erging  er  sich 
in  Wortspielen  und  Anspielungen,  welche  wohl  nient  auf  Artusi 
allein  zielen  mögen  —  er  bittet  um  des  Papstes  Segen  „ut  mons 
exiguus  ingenii  mei  magis  ac  magis  virescat  in  dies  et  clau- 
dantur  ora  in  Claudium  loquentium  inique".  Solche  Concetti 
waren  im  Zeitgeschmack.  Auch  Artusi's,  des  Gegners,  Name 
wurde  mit  Wortspielen  förmlich  todtgehetzt  —  aber  in  lobprei- 
sendem Sinne.    Ein  gewisser  Muzio  Manfredi  ruft: 

l'arte,  ch'anco  nel  ciel  si  stima  et  usa 

De  T  artofice  eterno  a  gloria  eterna. 

E  da  noi  detta  qui  sara  Art  usa  u.  s.  w. 

ein  Doctor  Vincenzo  Maria  Sandri  singt  Artusi  an: 
Qual  altro  Art  uro  nel  Settentrione 
Conduce  Artusi  il  carro  trionfale 
Di  Celeste  armonia,  che  senza  eguale 
Vinco  d'Orfeo  la  lira  e  d'Anfione  u.  s.  w. 


1)  Fol.  40  u.  ff. 

23* 


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356 


Claudio  Monteverdo. 


und  sogar  Ericeus  Puteanus,  der  wackere  Verfasser  der  „Pallas 
modulata"  lässt  sich  vernehmen: 

Quid  Artusius?  ille  et  arto  et  usu 
Pollens,  flos  hominum  eruditiorum?  u.  s.  w. 

Artusi  hat  nach  der  Zeit  Weise  diese  dampfenden  Weihrauch- 
kessel seinem  Buche  vorangestellt  —  es  war  eben  Sitte,  die  Ke- 
clame  in  dieser  Art  in  Bewegung  zu  setzen  und  solche  versifi- 
zirte  Empfehlungsschreiben  dem  Buche  (oder  den  Compositionen, 
wie  z.  B.  Radesca  da  Foggia  that)  auf  den  Weg  mitzugeben. 

Die  beste  Antwort,  welche  Monteverde  geben  konnte,  war, 
dass  er  rüstig  und  freudig  weiter  schuf.  Er  hat  sich  allerdings, 
wenn  er  das  prometheische  Feuer  vom  Himmel  holte,  zuweilen 
die  Finger  verbrannt,  aber  glücklich  heruntergebracht  hat  er  das 
Feuer  doch! 

Dem  rastlos  auf  Neues  sinnenden  Geiste  Monteverde's  musste 
die  Florentinische  Musikreform  wie  ein  heller  Lichtstrahl  vom 
Himmel  vorkommen,  welcher  dem  Suchenden  den  rechten  Wreg, 
den  er  zu  wandeln  hat,  plötzlich  erhellt.  Die  Madrigale,  die 
Kirchenstücke  —  so  Treffliches  sie  enthalten  —  sind  es  doch 
kaum,  welche  Monteverde  unsterblich  gemacht  haben  würden  — 
er  ist  es  als  dramatischer  Componist  geworden.  Von  seinen 
dramatischen  Compositionen  aus  griff  er  dann  auch  reformatorisch 
in  die  Kirchenmusik,  in's  Madrigal  ein  —  wie  insbesondere  seine 
„Selva"  zeigt.  Er  ist  eine  der  grossen  epochemachenden  Er- 
scheinungen in  der  Geschichte  der  Musik.  Vieles,  worin  unsere 
neue  Musik  ihre  tiefsten  und  grössten  Wirkungen  findet,  lasst 
sich  in  den  ersten,  oft  sogar  schon  merkwürdig  entwickelten  Kei- 
men in  Monteverde  nachweisen. 

Als  Monteverde's  Lehrer  Ingegneri  starb,  konnte  er  keinen 
würdigeren  Nachfolger  finden  als  eben  ihn.  Auf  dem  Titel  der 
1604  in  Venedig  erschienenen  neuen  Ausgabe  des  fünften  Buches 
der  ftinfstimmigen  Madrigale,  wird  er  zum  erstenmale  in  seiner 
neuen  Würde  genannt.  Monteverde  war  schon  damals  ein  Mu- 
siker von  grossem  Ruf,  die  Neuauflagen  seiner  Madrigale  be- 
schäftigen unausgesetzt  die  venezianischen  Pressen  —  was  nicht 
ohne  Einfluss  auf  Monteverde's  späteres  Lebensgeschick  blieb  — 
auch  Peter  Phalesius  in  Antwerpen  druckte  1615  alle  fünf  Bü- 
cher Madrigale  nach. 

Monteverde's  glorreichste  Zeit  sollte  aber  erst  beginnen,  als 
er  im  neuen  „Stile  rappresentativo"  zu  componiren  begann.  !) 

Im  Jahre  1607  feierte  (wie  wir  schon  bei  Marco  da  Gag- 
liano's  „Dafne"  erwähnten)  der  Herzog  Vincenzo  Gonzaga  von 
Mantua  die  Vermälung  seines  Sohnes  mit  der  Infantin  von  Sa- 


1)  Dartiber  zu  vergleichen:  Kirchers  Musurgie,  Lib.  VII,  S.  594. 


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Claudio  Monteverde. 


357 


voyen.  Vermuthlich  war  der  Herzog  sieben  Jahre  früher  Gast 
bei  der  Hochzeit  Heinrich's  IV.  und  Maria's  von  Medicis  in  Florenz 
gewesen  und  hatte  die  „Euridice"  und  das  „Rapimento  di  Cefalo", 
wo  sein  eigener  Hofsänger  Rasi  mitgewirkt,  mit  Bewunderung 
gehört.  Kein  Wunder,  dass  er  für  sein  Fest  etwas  Aehnliches 
wünschte.  Er  lud  den  Dichter  der  Dafhe  und  der  Euridice  nach 
Mantua  ein  —  Rinuccini  kam  und  arbeitete  nicht  blos  das  Buch 
der  „Dafhe"  für  Marco  da  Gagliano  theilweise  um,  sondern  dich- 
tete auch  für  Monteverde  ganz  neu  die  „Arianna''  (Ariadne). 
Also  eine  Fürstentochter,  welche  zuletzt  durch  Vermälung  mit 
Bacchus,  dem  Gotte,  zur  Göttin  erhoben  wird.  Man  sieht,  dass 
Rinuccini  die  Kunst  noch  trefflich  verstand. 

Monteverde's  Composition  erregte  Sensation;  Marco  da  Ga- 
gliano, welcher  seine  „Dame"  gleichzeitig  auf  die  Bühne  brachte, 
redet  mit  Bewunderung  davon.  Bei  dem  Gesang  der  verlasse- 
nen Ariadne  „lasciatemi  morire"  brachen  die  Zuhörer  in  Thränen 
aus  —  und  G.  B.  Doni  reiht  in  seinen  Abhandlungen  die  Ari- 
anna unter  die  Meisterwerke  ein.  Ganz  interessant  ist  es,  wie 
sich  Doni  das  Verhältniss  Monteverde's  zu  Peri  und  zu  Caccini 
in  einer  Parallele  klar  zu  machen  sucht  —  „il  Monteverde",  sagt 
er,  „cerca  piü  le  dissonanze  e  il  Peri  poco  si  disparte  dalle  regole 
communi  —  in  Giulio  Romano  vi  si  scorge  maggior  varieta  de 
pensieri,  ma  nel  Peri  piü  nobili  e  uno  stile  direi  piü  tragico, 
siccome  quell'  altro  ha  piü  di  comico,  essendo  quello  piü  ornato 
e  questo  piü  semplice  e  maestoso  —  quanto  al  Monteverde  pare 
che  piü  di  amendue  cerchi  le  durezze  nel  conüappunto  e  le  sue 
modulatione  vadano  c  an  täte  con  quei  tempi  che  sono  segnate:  ma 
quelle  del  Peri  con  la  misura  piü  veloce  perche*  per  lo  piü  si 
serve  di  note  bianche".  l)  Monteverde  hat  nachmals  den  unglück- 
lichen Einfall  gehabt,  aus  dem  Klaggesang  Ariadne's  eine  Ma- 
rienklage zu  machen.  „Pianto  della  madonna  a  voce  sola  sopra 
il  lamento  d' Arianna"  —  in  dieser  Gestalt  bildet  die  Composition 
den  Schluss  der  „Selva".  Der  lateinische  Text  folgt  dem  italie- 
nischen Schritt  fiir  Schritt  und  nimmt  sich,  wenn  man  beide  neben 
einander  hält,  seltsam  genug  aus.  Klagt  Ariadne  „Lasciate  mi 
morire,  e  che  volete  voi  che  mf  conforte  in  cosi  dura  sorte  in 
cosi  gran  martire?  o  Teseo,  Teseo  mio!  si  che  mio  ti  vo  dir,  che 
mio  pur  sei,  beuche  t'involi,  ahi  crudo !  volgiti  Teseo  mio"  u.  s.  w., 
so  heisst  es  dort:  „Jam  nioriar  mi  fili,  quisnam  poterit  mater  con- 
solari  in  hoc  fero  dolore,  in  hoc  tarn  duro  tormento?  mi  Jesu,  o 
Jesu,  mi  sponse,  sponse  mi  dilecte,  mea  spes,  mea  vita,  me  de- 
seris,  heu  vulnus  cordis  mei,  respice  Jesu  mi"  u.  s.  w.  Je  besser 
Monteverde  in  seiner  Musik  den  Ton  für  Ariadne  getroffen,  desto 
weniger  will  er  für  die  „Mater  dolorosa"  passen. 


1)  G.  B.  Doni  Tratt.  della  mus.  scen.  XLIV. 


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358  Claudio  Montererde. 

Dieser  Gesang  Ariadne's  ist  von  Monteverde's  Arianna  das 
einzig  erhaltene  Stück  (denn  die  kleinen  Deklamationsproben  in 
wenigen  Noten,  welche  Doni  zitirt,  lassen  zu  wenig  entnehmen). 
Aber  diese  eine  Nummer  genügt,  um  schon  hier  einen  mächtigen 
Fortschritt  Über  die  Florentiner  wahrnehmen  zu  lassen.  Der  pa- 
thetische Zug,  der  grosse  Wurf,  der  leidenschaftliche  und  dabei 
edle  Schmerz,  der  echt  tragische  Zug  dieses  wirklich  auch  schon 
ariosen  Gesanges,  lässt  die  ersten  Florentiner  Versuche  weit  hinter 
sich  zurück.  Wir  begreifen,  dass  die  Hörer  in  Mantua  hinge- 
rissen waren  —  werden  wir  uns  doch  selbst  einer  ähnlichen  Em- 
pfindung nicht  erwehren  können.  Ja,  wer  nur  dieses  Stück,  be- 
ziehungsweise die  erste  Strophe  kennt,  wird  sogar  geneigt  sein, 
Monteverde  auf  eine  Höhe  zu  stellen,  welche  er  wohl  sicher  er- 
reicht haben  würde,  wäre  er  etwa  Zeitgenosse  Gluck's  gewesen, 
welche  aber  in  seiner  Zeit  zu  erreichen  nicht  einmal  die  Flügel 
seines  Genius  stark  genug  waren.  Der  Gesang  selbst  schon  zeigt 
es  in  seinem  Verlaufe  —  denn  auch  er  verfällt  endlich  dem 
Grundübel  dieser  ersten  dramatischen  Versuche  —  er  wird  mono- 
ton. Ariadne  erschien  noch  1640  auf  dem  Teatro  S.  Mose  in 
Venedig. 

Im  folgenden  Jahre  1608  folgte  die  Oper  „Orfeo"  nach  der 
Dichtung  eines  Ungenannten  (nicht  Rinuccini1s)  und  der  so- 
genannte „Ballo  delle  Ingrate"  —  eine  Composition,  wo  die  Musik 
trotz  der  antiken  Götter,  die  im  Textbuche  erscheinen,  zum  er- 
stenmale  im  vollen  Zauberschimmer  des  Romantischen  steht. 

In  Venedig  war  im  Juli  1613  der  Capellmeister  von  S. 
Marco,  Giulio  Cesare  Martinengo,  gestorben.  Jetzt  trugen  die 
häufigen  Venetianischen  Editionen  der  Werke  Monteverde's  und 
der  Ruhm,  der  von  Mantua  herüberscholl,  ihre  Frucht.  Die  Pro- 
curatoren  Hessen  probeweise  Compositionen  Monteverde's  in  S. 
Marco  aufführen,  holten  über  ihn  durch  ihre  Gesandten  Informa- 
tionen ein  und  ernannten,  mit  Dekret  vom  19.  August  1613» 
Monteverde  zu  Martincngo's  Nachfolger,  wobei  sie  ihm  sofort  50 
Dukaten  Reisegeld  anwiesen. l)  Monteverde  hatte  ein  vielbeneide- 
tes Ziel  des  Ehrgeizes  erreicht. 

Seine  offizielle  Stellung  war  nunmehr  die  eines  Kirchencom- 
ponisten;  Venedig  besass  zur  Zeit  seiner  Berufung  noch  kein 
Operntheater.    Wenn  man  erwägt,  dass  dort  vom  Jahre  1637  an 


1)  Der  Wortlaut  dos  Dekrets  bei  Caffi  I,  3.  222.  Die  Procuratoren 
hatten  über  Monteverde  auf  echt  venezianische  Weise  Informationen  ein- 
geholt: „Bicercati  gli  Ambasciatori  e  Residenti  Voneti"  u.  s.  w.;  ferner 
heisst  es:  „ —  delle  qualitä  e  virtü  del  quäle  si  sono  Sue  Signorie  Illu- 
strissime  maggiormente  confermate  in  questa  opinione,  cosi  dalle  sue  opere, 
che  si  trovano  alle  stampe,  come  da  quelle,  che  oggidi  S.  S.  Dl.  anno  ri- 
cercato  di  sentir  per  total  sua  saddisfazione  in  chiesa  di  S.  Marco  con  Ii 
musici  di  questa«4  u.  s.  w. 


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Claudio  Monteverde. 


359 


binnen  kurzer  Zeit  eine  ganze  Reihe  von  Bühnen  entstand ,  auf 
denen  Hunderte  von  Opern  aufgeführt  wurden,  dass  also,  wie 
man  hieraus  schliessen  mag,  sich  die  Venezianer  als  höchst  lei- 
denschaftliche Opernfreunde  zeigten,  so  mag  es  seltsam  scheinen, 
dass  die  Oper  so  verhältnissmassig  spät  ihren  Einzug  hielt  Die 
Erklärung  liegt  wohl  darin,  dass  das  musikalische  Schauspiel  an- 
fangs eine  Art  Reservatgenusses  für  die  Fürstenhöfe  war,  in  der 
misstrauischen  Republik  Venedig  aber  ein  Grosser  es  nicht  wohl 
wagen  durfte,  durch  ein  prunkendes  Hoffest  dieser  Art  sich  über 
Seinesgleichen  zu  erheben  und  gewissermassen  den  Souverain  zu 
spielen.  Die  erste  Opernbühne  in  Venedig  1637  war  Privatunter- 
nehmung und  Spekulationssache.  Es  war  nur  wie  ein  schüchterner 
erster  Versuch,  wenn  1624  der  Senator  Girolamo  Mocenigo,  Mon- 
teverde's  besonderer  Gönner,  die  Erzählung  vom  Zweikampf  Tan- 
cred's  und  Clorinda's  aus  Tasso's  befreitem  Jerusalem,  von  Mon- 
teverde im  Stile  rappresentativo  componirt,  in  seinem  Palast  nicht 
nur  singen,  sondern  auch,  wie  aus  der  Vorrede  des  Werkes  her- 
vorgeht, mit  dramatischer  Aktion  darstellen  Hess  —  in  dieser  Ge- 
stalt ein  seltsames  Zwitterding,  da  ausser  dem  heldenmüthigen 
Paare  auch  noch  ein  Erzähler  (Testo)  einen  Part  zu  singen  hat, 
und  dessen  mitten  in  den  Dialog  der  Hauptpersonen  hineinge- 
sungenes „rispose"  und  „disse"  sich  wunderlich  ausgenommen 
haben  muss.  Aber  die  Kraft  und  der  Ausdruck  der  Musik  Mon- 
teverde's,  dazu  ganz  neue  Effekte  in  der  Begleitung,  rissen  das 
Auditorium  hin  —  das  sei  ein  Gesang,  urtheilte  der  versammelte 
Adel  Venedigs,  wie  man  früher  noch  nie  gehört,  und  Ciorindens 
Tod,  Tancred's  verzweifelter  Schmerz,  in  Monteverde's  ergreifen- 
den Tönen  gemalt,  entlockte  auch  hier  den  Zuhörern  Thränen.  *) 

Die  Venezianer  wussten,  was  sie  an  Monteverde  besassen. 
Sein  Jahresgehalt  als  Kapellmeister  von  S.  Marco  war  sogleich 
von  den  200  Dukaten,  welche  sein  Vorgänger  Martinengo  bezo- 
gen hatte,  auf  300  Dukaten,  vom  24.  August  1616  an  sogar  auf 
400  Dukaten  erhöht  worden:  „perche  abbi  occasione  di  fermar 
l'animo  suo  di  viver  e  morire  in  questo  servizio".  Diese  Vortheile 
fesselten  ihn  ohne  Zweifel  an  Venedig,  aber  eben  so  auch  wohl 
die  Versorgung,  welche  seine  Söhne  dort  fanden.  Monteverde 
war  verheiratet  gewesen;  als  er  die  Berufung  nach  Venedig  er- 
hielt, war  er  aber  schon  Wittwer.  Von  seinen  beiden  Söhnen 
war  der  ältere,  Francesco,  geistlich,  dazu  ein  tüchtiger  Tenor- 
sänger, als  welcher  er  am  1.  Juli  1623  in  den  Sängerchor  von 
S.  Marco  eintrat;  Maximilian,  der  jüngere  Sohn,  war  Arzt. 

Eine  ganz  besondere  Genugthuung  für  die  aus  Bologna  aus- 


1)  „alla  presenza  di  tutta  la  nobiltä,  la  quäle  resto  mossa 

dalT  affetto  di  compassione,  in  maniera,  che  quasi  fü  per  gettar  lagrime, 
et  ne  diede  applauso,  per  esaere  canto  di  genere,  non  piü  visto  ne  udito". 


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360 


Claudio  Monteverde. 


gegangenen  Angriffe  sollte  Monteverde  in  eben  dieser  gelehrten 
Stadt  erhalten.  Er  reiste  1620  hin  und  wurde  bei  S.  Micchele 
in  Bosco  von  einer  grossen  Anzahl  der  angesehensten  Bürger 
und  der  vorzüglichsten  Musiker  aus  Bologna  festlich  begrüsst, 
mit  Musik  und  Anreden  gefeiert.  Am  13.  Juni  (nel  giorno  di 
S.  Antonio)  nahm  ihn  die  dortige  „Accademia  florida"  feierlich 
unter  ihre  Mitglieder  auf.  l)  Monteverde' s  Ansehen  stieg  von 
Tag  zu  Tag.  Die  in  Venedig  ansässigen  Florentiner  wendeten 
sich  an  ihn,  als  nach  dem  Tode  Cosmus  II.  ein  Requiem  zur 
Todtenfeier  in  der  Kirche  S.  Giovanni  e  Paolo  abgehalten  wer- 
den sollte.  Dieses  Werk,  dessen  Aufführung  am  25.  Mai  1621 
stattfand,  kennen  wir  leider  nur  aus  Giulio  Strozzi's,  des  Opern- 
dichters, begeisterter  Schilderung.  Er  lobt  „die  trauervolle,  zu 
Thränen  rührende  Symphonie  der  Instrumente,  welche  den  an- 
tiken mixolydischen  Ton,  Sappho's  Erfindung,  nachahmt,  das 
Dies  irae,  das  herrlich-wohllautende  De  profundis,  das  einen  Dia- 
log gleichsam  der  Seelen  im  Fegefeuer  mit  den  sie  besuchenden 
und  tröstenden  Engeln  vorstellt  —  Compositionen,  welche  durch 
Neuheit  und  Trefflichkeit  die  grösste  Bewunderung  erregten". 
Also,  wie  man  selbst  aus  dieser  kurzen  Schilderung  deutlich  ent- 
nimmt, wiederum  der  Ton  leidenschaftlichen  Affektes  und  eine 
ganz  dramatische  Anlage.  Im  Jahre  1627  componirte  Monteverde 
für  den  Hof  von  Parma  über  erhaltene  Aufforderung  fünf  Inter- 
mezzi, zu  denen  die  Geschichte  Bradamante's  (nach  Ariost)  und 
Dido's  den  Stoff  gegeben.  Im  Jahre  1629  componirte  er  zum 
Geburtsfeste  des  Sohnes  des  Gouverneurs  von  Rovigo,  Vito  Mo- 
rosini, eine  Cantate  „il  Rosajo  fiorito"  —  (bekanntlich  lieben  die 
Einwohner  von  Rovigo  —  „Rosarum  vicus"  —  noch  heute  die  An- 
spielung auf  „Rosen")  •,  die  Auffuhrung  geschah  durch  die  dortige 
„Accademia  de'  concordi". 

Der  ausserordentliche  Erfolg  des  Tancredi  und  der  Umstand, 
das 8  der  ganze  Adel  dessen  Auffuhrung  im  Palast  Mocenigo  so 
überaus  gut  aufgenommen  hatte,  mag  es  veranlasst  haben,  das* 
Girolamo  Mocenigo,  als  1630  seine  Tochter  den  Lorenz  u  Giusti- 
niani  heiraten  sollte,  es  so  gut  wie  irgend  ein  Fürst  der  Terra 
ferma  wagte,  das  Hochzeitsfest  durch  ein  musikalisches  Drama 
zu  verherrlichen.  Giulio  Strozzi  dichtete  eine  Proserpina  rapila, 
Monteverde  setzte  sie  in  Musik.  Der  Enthusiasmus  war  unbe- 
schreiblich; das  Zusammenwirken  von  Schauspiel  und  Gesang,  von 
Chören  und  Tänzen  und  Orchestersätzen  bezauberte.  Aber  im 
Jahre  1630  sollten  die  Kunstgenüsse  durch  eine  furchtbare  Heim- 
suchung unterbrochen  werden  —  durch  jene  schreckliche  Pest, 
von  deren  Wüthen  in  Mailand  Manzoni  in  seinen  „Promessi  sposi" 
nach  den  Berichten  der  Zeitgenossen  Tadino,  Ripamonti  u.  s.  w. 


1)  Maaini,  Bologna  perlustrata  III,  S.  15. 


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Claudio  Monteverde. 


361 


ein  so  ergreifendes  Gemälde  zu  geben  gewusst  hat  und  welche 
eben  so  auch  in  Venedig  entsetzliche  Verheerungen  anrichtete. 
Die  prachtvolle  Votivkirche,  welche  am  Eingang  des  Canal  grande 
mit  ihren  Kuppeln  in  ihrer  weissen  Marmorpracht  herleuchtet, 
S.  Maria  della  Salute,  deren  plastische  Altargruppe  Maria  vor- 
stellt, wie  sie  die  als  grauenhaftes  altes  Weib  gebildete  Pest  *) 
verscheucht,  ruft  noch  heute  die  Erinnerung  an  die  Schreckens- 
zeit jener  Seuche  zurück,  deren  gänzliches  Erlöschen  der  Doge 
erst  am  28.  November  1631  feierlich  verkündigen  konnte.  An 
demselben  Tage  fand  ein  feierliches  Dankhochamt  in  S.  Marco 
statt  —  die  Composition  war  von  Monteverde;  grossen  Effekt 
machten  die  im  Gloria  und  im  Credo  ertönenden  Posaunen. 

Vielleicht  war  es  die  Nachwirkung  jenes  in  alle  Klassen  der 
Gesellschaft  verderblich  eingreifenden  öffentlichen  Unglücks,  wenn 
der  grosse  Eindruck,  den  „la  Proserpina  rapitaw  hervorgerufen 
hatte,  verwischt  und  vergessen  schien,  und  erst  1637  erfolgte, 
was  unter  anderen  Verhältnissen  wohl  schon  früher  geschehen 
wäre  —  die  Eröffnung  des  ersten  Operntheaters  in  Venedig,  ge- 
nannt: bei  S.  Cassiano  (il  Teatro  di  S.  Cassiano)  —  denn  in  Ve- 
nedig wurde  es  Sitte,  den  Theatern  ihre  Namen  nach  den  ihnen 
zunächst  gelegenen  Kirchen  zu  geben.  Die  Unternehmer  des 
Theaters  S.  Cassiano  waren  Benedetto  Ferrari,  nach  seiner 
Virtuosität  auf  der  Theorbe  auch  Benedetto  della  Tiorba  genannt 
(geb.  1597.  starb  am  22.  Oct.  1681),  auch  als  Poet  von  Opern- 
büchern, die  als  „Poesie  drammatiche  di  Benedetto  Ferrari"  ge- 
sammelt 1644  in  Mailand  gedruckt  erschienen,  und  Francesco 
Man clli  da  Tivoli.  Sic  erscheinen  recht  eigentlich  als  die 
ersten  Impresarios,  welche  sich,  wie  auch  nachmals  Gebrauch 
blieb,  ihre  Gesellschaft  aus  ganz  Italien  zusammensuchten  —  und 
zwar,  wie  das  gedruckte  Textbuch  ihrer  ersten,  von  Ferrari  ge- 
dichteten, von  Manelli  componirten  Oper  „l'Andromeda"  versichert, 
„una  compagnia  de  piii  scelti  cantanti  d'Italia"  —  es  waren,  nebst 
der  Römerin  Maddalena  Manelli,  der  Gattin  des  Componisten, 
Felicita  Uga  aus  Rom,  Francesco  Angelletti  von  Assisi,  Antonio 
Panni  von  Reggio,  Giambattista  Bifarci  von  Bologna,  und  der 
Venezianer  Francesco  Pesarini.  Unter  den  begleitenden  Instru- 
meutalistcn  wirkte  Ferrari  mit,  „colla  sua  miraculosa  Tiorba",  wie 
das  1637  in  Venedig  gedruckte  Textbüchlein  sagt,  dessen  Titel- 
kupfer den  Künstler  vorstellt  mit  der  Unterschrift:  „Bcnedictus 
Ferraris,  aetatis  ann.  XXX."  Da  die  Sache  ein  Compagniege- 
schäft  bekannter  und  geschätzter  Künstler  war,  so  erklärt  sich 
ein  Umstand,  welcher  sonst  auffallen  müsste :  dass  man  nicht  vor 
allen  den  berühmten  Monteverde  um  die  Composition  einer  Oper 
anging.    Für  diesmal  begnügte  man  sich  mit  der  einen  Oper;  im 


1)  Burckhardt  im  „Cicerone"  sagt  irrig  „die  Zwietracht". 


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362 


Claudio  Monteverde. 


Jahre  1638  folgte  „la  maga  fulminata''  derselben  Autoren  — 
prächtig  ausgestattet  —  und  1639  „l'Armida",  Text  und  Musik 
von  Ferrari,  neben  letzterer  aber  auch  „la  Delia  ossia  la  Sposa 
del  Sole",  Text  von  Giulio  Strozzi,  Musik  von  Manelli  (oder 
von  Paolo  Sacrati),  „le  nozze  di  Peleo  e  di  Tetide'4  von  Fran- 
cesco Cavalli,  Monteverde's  trefflichem  Schüler  und  Nachfolger, 
und  endlich  von  Monteverde  selbst:  „l'Adoneu  —  Dichtung  von 
Paolo  Vendramin. 

Schon  1639  entstand  ein  zweites  Theater  bei  S.  Giovanni  e 
S.  Paolo,  welches  mit  „la  Delia,  la  Sposa  del  Sole"  begann  ^be- 
stand  bis  1715)  und  1641  ein  drittes  bei  S.  Mose,  welches  zu- 
nächst nach  Monteverde's  „Arianna"  griff.  Schnell  nach  einander 
wurden  nun  in  Venedig  folgende  Opernbühnen  gegründet: 

II  Teatro  nuovo,  1641  eröffnet  mit  Strozzi's  „finta  pazza", 
Musik  von  Strozzi  —  dieses  Theater,  welches  sich,  wie  man 
sieht,  unter  keines  Heiligen  Schutz  gestellt,  ging  nach  sechs  Jah- 
ren wieder  ein. 

Teatro  SS.  Apostoli  1649,  die  erste  Oper  war  „Orontea", 
Text  von  Giac.  Andrea  Cicognini,  Musik  von  Marcanton  Cesti. 

Teatro  S.Aponal  (Apollinaris),  eröffnet  1651  mit  „l'Oristeo'S 
Text  von  Faustini,  Musik  von  Cavalli. 

Teatro  S.  Luca  oder  S.  Salvatore,  eigentlich  schon  seit  lange 
bestehend,  aber  seit  1661  Operntheater;  den  Anfang  machte  „la 
Pasife"  von  Gius.  Artale,  Musik  von  CastroviUari. 

Teatro  S.  Gregorio,  1670,  mit  der  Oper  „Adelaida,  Regia 
Principessa  di  Susa",  Text  von  G.  B.  Rodoteo,  die  Musik  ein 
Pasticcio. 

Teatro  S.  Angelo,  1677;  Aureli's  „Elena  rapita  da  Paride", 
componirt  von  Domenico  Freschi,  machte  den  Anfang. 

Teatro  S.  Giovanni  Grisostomo,  1678,  erste  Oper:  „Vespasiano" 
von  Corradi,  Musik  von  Pallavicini. 

Teatro  S.  Fantin,  im  Jahre  1699  nach  Schliessung  des  Teatro 
al  Canareggio  mit  der  Oper  „Paolo  Emilio1'  von  Francesco  Rossi, 
Musik  von  Pignatta,  eröffnet. 

Somit  von  1637  bis  1699  eilf  Operntheater,  denen  1710  sich 
das  Teatro  S.  Samuele  mit  der  Oper  „l'ingannator  ingannato", 
Text  von  Marciii   Musik  von  Ruggiero,  anschloss. 

Monteverde's  „Adone"  erschien  auf  dem  hemach  berühmten 
Teatro  S.  Giovanni  e  Paolo  und  wurde  von  der  Herbst-Stagione 
1639  zum  Carneval  1640  immer  wieder  gegeben.  Im  Jahre  1641 
folgte  die  Oper  „Le  nozze  di  Enea  con  Lavinia"  und  „il  ritorno 
d'Ulisse  in  patria",  die  Dichtung  beider  von  Giacomo  Badoar.  Im 
Jahre  1642  beschloss  die  Oper  „l'Incoronazione  di  Poppea'*,  Text 
von  Giovanni  Businello,  Monteverde's  langes  und  glorreiches 
Wirken.  Von  diesen  Spätlings-Opern  ist  nur  der  Ulisses  durch 
einen   glücklichen  Zufall   erhalten.    In   demselben   Jahre  1641 


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Claudio  Monteverde, 


363 


hatte  Monteverde  seine  „Selva  morale  e  spirituale"  der  Kaiserin 
Eleonora  in  Wien  gewidmet;  es  scheint,  dass  er  dem  Dedications- 
exemplar  seine  neueste  Oper  beilegte,  welche  der  Musik  liebende 
Leopold  I.  sofort  als  besondere  Kostbarkeit  seiner  Sammlung 
einreihete;  der  Deckel  ist  mit  dem  in  Gold  eingepressten  Bilde 
des  Kaisers  bezeichnet,  eine  Ehre,  welche  diese  Partitur  z.  B. 
mit  Cavalli's  Autograph  des  „Egisto"  theilt.  Von  anderer  Hand, 
als  der  des  Copisten,  sind  Aenderungen  in  der  ursprünglichen 
Eintheilung  der  Akte  beigeschrieben,  und  bei  der  weggelassenen 
zweiten  Scene  des  dritten  Aktes,  welche  vermuthlich  den  Selbst- 
mord des  Bettlers  Irus  enthielt,  steht  die  seltsame  Bemerkung: 
„Scene  2da  la  si  lascia  fuora  per  essere  mauinconica" ;  diese  Zu- 
sätze können  schwerlich  von  einer  andern  Hand  sein,  als  von 
jener  Monteverde's  selbst.  Wir  müssen  die  glückliche  Rettung 
doppelt  preisen,  da  durch  sie  die  bisherige  Lücke  zwischen  „il 
combattimento  di  Trancredi"  und  zwischen  Cavalli's  „Peleus  und 
Thetis"  in  der  Geschichte  der  Oper  vollständig  ausgefüllt  wird. 
Die  Entwickelung,  welche  Monteverde  in  sich  erlebte,  tritt  hier 
in  den  merkwürdigsten  Weise  hervor  —  die  Anknüpfungspunkte 
an  „Orfeo"  und  den  „Tancred"  sind  hier  ebenso  deutlich,  als  uns 
andrerseits  Cavalli,  dessen  „Peleus"  sonst  eine  geradehin  unbe- 
greifliche Erscheinung  wäre,  plötzlich  erklärlich  wird.  *) 

Die  Absicht  der  Procuratoren,  Monteverde,  den  Cremonesen, 
ganz  und  gar  fiir  Venedig  zu  gewinnen,  war  vollständigst  erreicht 
—  auf  den  gedruckten  Textbüchern  seiner  Opern  nennt  er  sich: 
„Claudio  Monteverde  Veneziano."  In  S.  Älarco  war  er  nicht 
blos  Kapellmeister,  sondern  zuletzt  auch  Mitglied  des  Priester- 
collegiums.  Er  trat  mit  65  Jahren  in  den  geistlichen  Stand  und 
legte  nicht  geringen  Werth  darauf.  „Ich  schreibe  hier  nicht  als 
Priester,  sondern  als  Kapellmeister",  sagt  er  in  einer  Klage  an 
die  Vorgesetzten,  zu  welcher  ihn  eine  Beleidigung  veranlasste, 
die  ihm  ein  Sänger  von  S.  Marco  öffentlich  auf  dem  Marcusplatz 
angethan.  Seine  Geistesfrische  behielt  er  bis  ins  hohe  Alter. 
Als  er  seine  „Poppea"  componirte,  war  er  75  Jahre  alt.  Plötz- 
lich aber,  —  er  war  von  Venedig  gerade  abwesend  —  fühlte  er 
seine  Kräfte  schwinden,  er  kehrte  eilends  nach  Venedig  zurück, 
um  dort  zu  sterben  —  „a  guisa  di  cigno,  che  presentendo  Tora 


1)  Der  Schatz  lag  lange  anbeachtet  in  der  kais.  Bibliothek,  da 
das  Titelblatt  fehlt  und  die  Partitur  ursprünglich  als  „unbekannte 
Oper"  catalogisirt  war.  Kiesewettor  sah  sie ,  erkannte  sie  ganz  richtig 
als  Werk  Monteverde's  —  seine  Erklärung  wurde  im  Katalog  beigesetzt 
—  er  selbst  aber  machte,  was  nur  bei  der  an  Phlegma  streifenden  Ge- 
lassenheit meines  Oheims  Kiesewetter  erklärlich  wird,  von  dem  kostbaren 
Funde  keine  weitere  Erwähnung,  keinen  weiteren  Gebrauch!  Ich  habe 
die  Partitur,  obschon  ich  sie  in  Wien  täglich  sehen  kann,  für  mich  eigen- 
händig copirt,  damit  doch  noch  ein  zweites  Exemplar  in  der  Welt  sei. 


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Claudio  Monteverde. 


fatale  de  suoi  giorni  s'avvicina  alle  acque,  ritorno  volando  a  Ve- 
nezia,  regina  dell1  acque"  sagt  sein  Zeitgenosse  und  bombastischer 
Lobredner,  Matteo  Caburlotto,  Pfarrer  von  S.  Tommaso  in  Ve- 
nedig. x)  Nach  kurzer  Krankheit  starb  Monteverde.  Eine  Todten- 
feier  in  S.  Marco  unter  Giovanni  Rovetta's  Leitung  ehrte  sein 
Andenken;  eine  zweite  veranstaltete  sein  Schüler  Giarabattista 
Marinoni  genannt  Giove,  Kapellmeister  am  Dom  zu  Padua,  am  15. 
Dezember  1643  in  der  Frarikirche,  wo  Monteverde  in  jener  Ka- 
pelle links  vom  Chor  begraben  liegt,  welche  als  Altarbild  das 
berühmte  von  Luigi  Vivarini  angefangene,  von  Marco  Basaiti 
vollendete  Gemälde  bewahrt.  Keine  Inschrift  nennt  den  Namen 
des  Meisters;  die  in  den  Boden  eingefugte  Steinplatte  der  Gruft 
trägt  die  allgemeine  Bezeichnung:  „Cadaveribus  Insubrium  hujusee 
collegii  sarcophagus  dicatus  MDXX  consule  Jo.  Bapt.  Cuchetto 
instauratus  anno  Dom.  MDVIIC."  Es  ist  also  noch  derselbe 
Stein,  der  sich  über  Monteverde's  sterblicher  Hülle  schloss.  Sein 
der  Schrift  Caburlotto's  im  Kupferstiche  beigegebenes  Bildnis* 
zeigt  ein  geistreiches,  energisches,  doch  keineswegs  schönes  Ge- 
sicht —  hohe  Stirne,  etwas  schräg  gestellte  Augen,  kräftig  ge- 
bogene Nase,  Lippen  und  Kinn  von  einem  ziemlich  starken  Bart 
bedeckt,  die  Kopfbildung  länglich,  nach  der  Haltung  von  Hals 
und  Schultern  offenbar  das  Bild  eines  langen  hagern  Mannes  — 
das  Gesicht  könnte  gleicherweise  an  den  Herzog  von  Alba  und 
an  —  Mephistopheles  erinnern,  sähe  nicht  aus  den  Augen  grosse 
Treuherzigkeit  und  eine  gewisse  gutmüthige,  halb  schalkhafte 
Herzlichkeit,  welche  die,  wenn  auch  bedeutende,  doch  eigentlich 
sehr  unschöne  Bildung  des  Ganzen  vergessen  machen  und  den 
Mann  völlig  liebenswürdig  erscheinen  lassen. 

Die  Erscheinung  Claudio  Monteverde's  ist  eine  so  ausser- 
ordentliche, dass  an  folgenreicher  Bedeutsamkeit  aus  früherer 
Zeit  eine  einzige  gleich  wichtige  namhaft  gemacht  werden  kann: 
Josquin  de  Prös  —  in  allen  folgenden  Epochen  aber  keine  ähn- 
liche wieder  auftritt.  Durchaus  nicht  so,  als  ob  Monteverde's 
Compositionen  an  Schönheit  der  Form  und  idealem  Gehalt,  an 
meisterlicher  Textur  und  Grösse  der  Wirkung  alles  Sonstige  über- 
träfen: oft  genug  tritt  das  Unentwickelte,  Halbfertige,  glücklicli 
Gedachte  aber  ungenügend  Ausgeführte  zu  Tage;  sie  haben  noch 
etwas  Hartes,  Herbes.  Die  Eroberungen  Claudio's  auf  musikali- 
schem Gebiete,  Dinge,  welche  er  wie  durch  Intuition  findet  und 
einfach  hinstellt,  ohne  deren  enorme  Tragweite  einstweilen  zu 
ahnen,  haben  Folgen  gehabt,  über  welche  Monteverde  selbst  er- 
staunen müs8te  —  wir  dürfen  ihn  als  den  Vater  unserer  ganzen 
heutigen  Musik   begrüssen.    Der  geistige  Stammbaum  unserer 


1)  ,.Laconismo  delle  alte  qualita  di  Claudio  Monteverde"  lautet  der 
seltsame  Titel  der  keineswegs  ,.lakonischenu  Schrift. 


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Claudio  Monteverde. 


365 


grossen  Meister  wird  zuletzt  immer  auf  Monteverde  zurückgehen 
müssen. 

Wenn  wir  von  Josquin  an  seiner  Stelle  sagen  mussten,  dass 
er  der  Musik  eine  neue  Welt  öffnete,  als  er  die  Wahrnehmung" 
machte,  es  sei,  wenn  es  nur  (wie  bei  seinen  Vorgängern)  gut 
und  würdig  zusammenklingt  und  die  kunstvoll  verschränkten 
Nachahmungen  der  Stimmen  unter  sich  logischen  Zusammenhang, 
architektonisch  bedeutende  Construction  in  den  Tonsatz  bringen, 
mit  der  Sache  noch  lange  nicht  aus,  —  die  Musik  besitze  auch 
Sprache  und  Ausdrucksfahigkeit  für  Lust  und  Leid  der  Menschen- 
brust, könne  ein  Spiegel  des  menschlichen  Seelenlebens  in  seinen 
hellen  und  dunkeln  Phasen  sein,  und  da  er  nun  nicht  blos  aus 
dem  okeghemisch-geschulten  Tonsetzer  sofort  Tondichter  und  Ton- 
maler wird  —  bis  zur  Tonmalerei  im  engeren  Sinne,  welche  er 
der  erste  anwendet  — :  so  fallt  nicht  weniger  in's  Gewicht,  was 
Monteverde  mit  dem  Instinkt  des  Genies  fand:  er  emaneipirt  die 
Dissonanz  von  ihrer  bisherigen  strengen  Gebundenheit;  die  Sep- 
time, die  None  lehrt  er  frei  eintreten,  ja  beide,  als  Doppcldissonanz 
verbinden ;  er  begreift  der  erste  die  grosse  und  eigenthümliche  Wir- 
kung dreier  auf  einen  Grundton  aufgebauter  kleiner  Terzen,  d.  i. 
des  verminderten  Septimcnaccordes.  Die  heilige  Priesterjungfrau 
Musik  musste  noch  bei  Palestrina  züchtig,  ernst,  einfach  einher- 
gehen, die  Dissonanz  durfte  hier  nur  eine  gemässigte,  strenge 
geregelte  Anwendung  finden;  jetzt  aber  sollte  die  Musik  die 
Sprache  des  Affektes,  die  Sprache  der  Leidenschaft  sprechen,  sie 
sollte  es  lernen  „sich  in  die  Welt  zu  wagen,  der  Erde  Weh,  der 
Erde  Glück  zu  tragen,  mit  Stürmen  sich  herumzuschlagen,  und 
in  des  Schiffbruchs  Knirschen  nicht  zu  zagen"  —  dazu  hiess  es 
die  Dissonanz  von  den  bisherigen  Banden  befreien.  Monteverde 
kennt  und  beachtet  den  Unterschied  sehr  wohl.  Seine  Kirchen- 
stücke sehen  in  diesem  Punkt  ganz  anders  aus,  als  seine  drama- 
tische Musik,  als  seine  Madrigale.  Er  ist  es  ferner,  bei  dem  sich 
die  ewige  musikalische  Rezitation  der  Florentiner  an  gehöriger 
Stelle  zu  ariosen  Bildungen  zu  formen  beginnt,  als  ob  sich  aus 
dem  unendlichen  Gewoge  eines  weiten  Meeres  grünende  Inseln 
zu  heben  begännen.  Er  wirft  mit  fester  Band  den  Grundriss, 
den  Bauplan  der  Arie,  des  wirklich  liedmässigen  Liedes  hin.  So 
bringt  er  in  seinem  „Orfeo"  das  erste  „Siciliano"  —  ohne  es 
contrapunktisch  durch  einander  zu  wirren,  wie  seine  Vorgänger 
ihre  Villanellen  alla  Napoletana  u.  s.  w.,  bei  welchen  sie  wohl 
etwas  Aehnliches  —  wie  im  Traume  —  wollten,  es  aber  nicht  er- 
reichten. Sieht  man  diese  Villoten  auf  einer  den  Kirchentönen 
entstammenden  Harmonie  wie  auf  einem  holperigen  Steinweg  herum- 
taumeln, so  staunt  man,  wenn  man  sieht,  wie  das  neue  (unser) 
Harmoniesystem  bei  Monteverde,  wenn  auch  noch  nicht  entfernt  fer- 
tig  und  voll  ausgebildet,  doch  schon  in  seinen  richtigen,  fundamen- 


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366 


Claudio  Monteverde. 


talen  Giundzügen  ganz  bestimmt  zur  Geltung  gebracht  ist. 
Monteverde  ist  ferner  der  Erste,  der  es  begreift,  dass  die  Klang- 
farbe der  Instrumente  ihre  grosse  ästhetische  Bedeutung  habe,  ein 
Ausdrucksmittel  unschätzbaren  Werthes  sei  —  dass  der  Wechsel 
dieser  Klangfarben  noch  eine  ganz  andere  Bedeutung  haben 
könne,  als  nur  dem  Ohr  mit  abwechselnden  Klängen  zu 
schmeicheln,  wie  etwa  abwechselnde  Speisen  den  Gaumen  ergötzen, 
während  noch  Doni  oben  weit  genug  ist,  um  in  der  Orchester- 
begleitung des  dramatischen  Gesangs  nur  ein  nothwendiges  und 
auf  das  möglichst  geringe  Mass  zu  reduzirendes  Uebel  erblickt; 
„tengasi  per  fenno",  sagt  er,  „che  quanto  minore  numero  d'in- 
strumenti  si  mcttera  in  opera,  tanto  meno  diffettosi  saranno  i  con- 
centi".  !)  Die  Instrumentirung  im  „Orfeo",  welche  den  mannig- 
fachsten Wechsel  nach  der  wechselnden  dramatischen  Situation2) 
anwendet,  ist  der  erste  Wurf  dieser  Art  —  Monteverde  ist  also 
auch  der  Ahnherr  der  „Kunst  der  Instrumentation".  Ja,  er  er- 
findet für  die  bekannten  Instrumente  ganz  neue,  bis  dahin  uner- 
hörte Effekte,  das  Pizzicato,  das  Tremolo  der  Geigen  (im  „com- 
battimcnto  di  Tancredi  e  di  Clorinda").  Er  wendet  Tonmalereien 
an,  zuweilen  ganz  in  unserem  modernen  Sinne;  Menschenstim- 
men müssen  dazu  so  gut  dienen,  wie  Orchesterinstrumente.  Mit 
all'  diesem  ist  aber  auch  der  von  Doni  und  Consorten  erseufzten 
Regeneration  der  antiken  Musik  ganz  gründlich  der  Abschied  ge- 
geben. Wir  dürfen  Monteverde  den  ersten  modernen  Musiker 
nennen. 

Allerdings  ist  Monteverde  mit  diesen  Schätzen,  die  er  wie 
über  Nacht  gefunden,  ziemlich  in  der  Lage  eines  Menschen, 
der,  plötzlich  immens  reich  geworden,  nun  gar  nicht  recht 
weiss,  was  er,  der  in  beschränkter  Existenz  Geborene  und  Erzo- 
gene, mit  diesen  seinen  Mitteln  nur  in  aller  Welt  anfangen  solle 
—  der  bald  unpraktisch  verschwendet,  bald  wieder  aus  alter  Ge- 
wohnheit ängstlich  sparsam  wirtschaftet.  In  manchen  Werken, 
wie  im  „Orfeo",  bildet  an  vielen  Stellen  der  luxuriöse,  geradezu 
zweckwidrige  Aufwand  äusserlicher  Mittel  mit  der  musikalischen 
Befangenheit  des  Inhalts  einen  seltsamen,  nicht  eben  günstig 
wirkenden  Contrast,  Monteverde  ist  hier  schon  ganz  ein  echter 
Venezianer.  Er  gleicht  beinahe  den  älteren  venezianischen 
Malern,  welche  ihre  mageren,  nicht  gut  gezeichneten,  oft  byzan- 
tinisch verdricsslichen  Heiligen  in  glänzenden  Prachtfarben  malten, 
mit  Gold  überluden  und  in  überprächtig  geschnitzte  Goldrahmen 
einfassten.  Monteverde  war,  wie  damals  jeder  Tonsetzer,  Kirchen- 
componist,  und  zwar  sehr  floissiger  Kirchcncomponist  —  er  hat 

1)  Opp.  II.  S.  III. 

2)  Nicht  aber:  dass  iede  Person  ihre  eigenen  Instrumente  habe,  wie 
Hawkin's  durch  einen  groben  Missverstand  behauptet  und  noch  heut'  ihm 
nachgesprochen  wird!  — 


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Claudio  Monteverde.  367 

Vieles  auf  diesem  Gebiete  noch  im  strengen  Capella-Styl  ge- 
schrieben. Aber  seiner  eigensten  Natur  nach  war  er  ein  geborener 
Dramatiker.  Die  von  Florenz  überkommene  Form  des  musikalischen 
Drama  genügt  ihm  nicht ;  er  fiihlt  sehr  wohl,  dass  das  Wesen  der 
dramatischen  Musik  nicht  auf  die  blosse  Nachahmung  der  gesproche- 
nen Rede  in  unaufhörlicher  Rezitation  zu  beschränken  sei.  Seine 
Musik  wird  mannigfaltig,  farbenreich,  malerisch.  Der  dramatische 
Ausdruck  ist  in  voller  Stärke  da,  auch  wo  er  nicht  blos  recitirt, 
sondern  cantabel  singt.  Er  begnügt  sich  nicht  damit,  Wort  nach 
Wort  des  Textes  mit  der  angemessenen  Musik  zu  illustriren,  er 
versucht  es,  und  zwar  mit  Glück,  dramatische  Charaktere  zu 
zeichnen  ;  während  Peri's  und  Caccini's  Figuren  noch  ein  allge- 
meines Idealgesicht  haben,  tritt  an  jenen  Monteverde's  eine  be- 
stimmte, sie  individualisirende  Physiognomie  hervor.  Tancred  und 
Clorinde,  die  edle  Penelope  uud  die  zweideutige  Magd  Melanto, 
Ulyss  und  der  Bettler  Irus  sind  Charakterfiguren,  wie  sie  in  der 
Auffassung  kein  anderer  Dramatiker  besser  hätte  hinstellen 
können.  Monteverde  empfindet  tief  und  der  Ausdruck  der 
Leidenschaft,  das  Pathos,  welches  bei  den  Florentinern  noch  etwas 
Rhetorisches  hat,  nimmt  bei  ihm  eine  ergreifende  Gewalt  an. 
Die  Bitte  der  sterbepden  Clorinde  um  die  Taufe,  der  Klag- 
gesang der  verlassenen  Ariadne,  die  erste  Scene  der  Penelope, 
in  welcher  sie  den  abwesenden  Gemal  mit  leidenschaftlicher 
Sehnsucht,  mit  schmerzlicher  Ungeduld  herbeiruft,  während  über 
das  Ganze  etwas  wie  ein  dunkler  Schleier  lange  erduldeten 
Wehes  gebreitet  ist,  bleiben  Momente,  welche  mindestens  an 
Wahrheit  und  ergreifender  Macht  des  Ausdruckes  schwerlich  zu 
überbieten  sein  möchten.  So  bleibt  ihm  ferner  auch  das  Or- 
chester nicht  blos  jener  Nothbehelf,  wie  es  bei  den  Florentinern 
ist,  sondern  er  versteht  und  benutzt  es  als  ein  bedeutendes  Mittel 
des  Ausdrucks.  Im  „Zweikampf  Tancred's  und  ClorindaV 
wird  das  begleitende  Orchester  in  diesem  Sinne  trefflich  ver- 
wendet, und  der  Tanz  im  sogenannten  ballo  delle  ingrale  ver- 
dient ein  bewunderungswerthes  Charakterstück  zu  heissen,  ein 
Tonbild  ganz  eigener  Färbung,  zu  welchem  sich  kaum  ein  Seiten- 
stück wird  finden  lassen.  Wenn  wir  Monteverde  vorhin  den 
Vater  der  modernen  Musik  nannten,  so  dürfen  wir  ihn  insbesondere 
auch  den  Vater  der  dramatischen  Musik  nennen.  Wir  zehren 
noch  an  dem  Erbe,  welches  er  uns  hinterlassen. 

Dinge,  welche  also  tief  in  das  Wesen  der  Kunst,  das  Bis- 
herige ändernd,  eingreifen,  pflegen  eben  so  leidenschaftliche  Be- 
wunderung als  erbitterten  Widerspruch  zu  finden. 

Artusi  hat  seinen  Nachruhm  (wenn  man  es  so  nennen  darf) 
eigentlich  doch  nur  seiner  Opposition  gegen  Monteverde  zu  danken. 
Wer  sich  einem  hellbrennenden  Feuer,  das  bestimmt  ist,  weithin 
Licht  und  Wärme  zu  verbreiten,  in   der  vorsichtig-löblichen 


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368 


Claudio  Monteverde. 


Absicht  nähert,  es  mit  kaltem  Wasser  auszugiessen,  damit  „der 
Stadt  kein  Schaden  g'schicht",  hat  davon  mindestens  den  Vor- 
theil, dass  das  Feuer  auch  ihn  beleuchtet  und  dass  auch  seine 
Gestalt  weithin  sichtbar  wird.  Ob  er  sich  dabei  sonderlich  gut 
ausnimmt,  ist  allerdings  eine  andere  Frage.  Artusi  fingirt,  als 
habe  er  die  harmoniegefahrlichen  Madrigale  Monteverde's  zuerst 
als  „Madrigali  nuovi"  gehört,  ohne  den  Namen  des  Componisten 
zu  wissen.  „Era  la  tessitura  non  ingrata"  sagt  er,  „sebbene  in- 
troduce  nuove  regole,  nuovi  modi  et  nuova  fräse  del  dire,  sono 
perö  aspri  et  all'  udito  poco  piacecevoli,  ne  possono  essere  altri- 
menti ;  perche  mentre  che  si  trasgrediscono  le  buone  regole,  parte 
fondate  nella  esperienza,  madre  di  tutte  le  cose,  parte  speculate 
dalla  natura  et  parte  dalla  dimostrazione  dimostrate,  bisogna 
credere,  che  siano  cose  diformi  dalla  natura  et  proprieta  dell'  har- 
monia  propria  et  lontane  dal  fine  del  musico,  cl  M  la  dilettatione." 
Das  sei  der  Weg  zur  Barbarei. l)  Sie  wollen  diese  Missgriffe 
(impertinentie)  als  neuen,  höchst  wirksamen  Styl  entschuldigen, 
der  da  Effekte  hervorbringe,  deren  der  gewohnte  Musikstyl  un- 
fähig sei ,  sie  wollen  den  Sinn ,  indem  er  ihre  Herbigkeiten 
(asprezze)  vernimmt,  wunderbar  bewegen.  „Ist  das  Spass  oder 
Ernst?"  frägt  verwundert  der  andere  Interiocutor  (Artusi's  Buch 
ist  in  der  damals  herkömmlichen  Dialogfbrm  verfasst).    Die  Com- 


bination  von  Sopran  und  Bass, 


die 


frei  einsetzende  None,  die  in  eine  eben  so  frei  eintretende  Septime 
herabsteigt,  erregt  Artusi's  höchsten  Unwillen.  Wolle  man 
lernen,  auf  welche  Art  den  Dissonanzen  ihre  das  Ohr  beleidigende 
Wirkung  zu  benehmen  sei,  so  solle  man  sich  bei  den  Meistern 
Adriano  (Willaert),  Cipriano  (deRore),  Palestrina,  2)  Porta,  Clau- 
dio (Goudimel),  Gabrieli ,  Gastoldi,  Nanino,  Giovanelli  und  so 
vielen  Anderen  Belehrung  holen.  Wer  die  Dissonanz  anders  be- 
handle, als  ob  sie  eine  Consonanz  wäre,  da  sie  doch  von  Natur  das 
Gegentheil  einer  Consonanz  ist,  wolle  das  Unmögliche;  vielleicht 
aber  dass  diese  Genies  (ingegni  elevati)  ein  Mittel  finden  werden, 
aus  der  Dissonanz  eine  Consonanz  und  aus  der  Consonanz  eine 
Dissonanz  zu  machen.    Allerdings  sei  das  Feld  weit,  und  es  sei 

1)  —  apportano  confusione  et  imperfettione  di  non  poca  importanza, 
e  in  vece  d'arrichirla,  accrescerla  e  nooilitarla  ^nämlich  die  Mnsik)  con 
varij  e  diverse  cose,  come  fatto  hanno  tanti  nobili  spiriti,  la  voirliono  in- 
dure  ä  tale.  che  non  si  discernera  il  bello  e  purgato  stile  dal  barbaro. 
(Delle  imperf..  Ragg.  II,  Fol.  40). 

2)  Artusi  schreibt:  Palestina. 


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Claudio  Monteverde. 


369 


nicht  blos  gestattet,  sondern  sogar  nöthig,  Neues  zu  suchen,  aber 
so  wenig  ein  Dichter  z.  B.  statt  einer  langen  Sylbe  eine  kurze 
anwenden,  so  wenig  ein  Mathematiker  die  Fundamentalsätze  seiner 
Wissenschaft  umstossen  dürfe,  so  wenig  könne  es  dem  Musiker 
erlaubt  sein,  den  guten  von  den  Theoretikern  festgestellten,  von 
allen  Praktikern  beobachteten  Regeln  eigenmächtig  Hohn  zu 
sprechen.  l)  Die  Art,  die  Dissonanzen  anzuwenden,  haben  sie 
den  Instrumenten  abgehorcht,  was  nach  Aristoxenos  der  gedenkbar 
grösste  Missgriff  sei;  ihr  ganzes  Streben  gehe  nur  dahin,  den 
Sinn  (das*Ohr)  zufrieden  zu  stellen,  sie  täuschen  durch  die 
Schnelligkeit  der  Bewegung  —  dass  aber  auch  der  Verstand  in 
Frage  komme,  welcher  ihre  Cantilenen  beurtheilt,  kümmere  sie 
wenig.  Hätten  sie  Boetius  Buch  eins,  Capitel  neun  und  Buch 
fünf,  Capitel  eins  und  Ptolemäus  Buch  eins,  Capitel  eins  gelesen, 
sie  wären  anderer  Meinung!  Doch  was  kümmert  sie  Boetius!  Es 
genügt  ihnen,  ihre  Combinationen  nach  ihrer  Art  zu  machen  und 
die  Sänger  zu  lehren,  den  Gesang  mit  vielen  Körperbewegungen 
zu  begleiten,  so  dass  es  zuletzt  den  Anschein  hat,  als  verführen 
sie  Todes  —  und  das  ist  die  Vollkommenheit  ihres  Gesanges. 
Sie  sind  Ignoranten,  welche  nicht  wissen,  was  wählen,  was  zurück- 
weisen —  es  genügt  ihnen,  Tongeräusch  gemacht,  einen  Wirrwar 
unpassender  Dinge,  ein  Haufwerk  von  Unvollkommen heiten  — 
Frucht  ihrer  Unwissenheit. 2)  Ist  aber  vollends  Ignoranz  mit 
Eigenliebe  gepaart,  dann  wird  sie  Anlass  alles  möglichen  Uebeln 
—  sie  meint  dann,  was  sie  thut,  sei  wohlgethan,  und  gleicht 
jenem  Trunkenen,  welcher  sich  für  nüchtern,  die  Nüchternen 
aber  für  trunken  hält.  Unnütz  aber,  mit  einem  Ignoranten 
wissenschaftliche  Dinge  verhandeln  zu  wollen!  Ein  Bauer,  der 
einen  Acker  voll  Dornen  und  Unkraut  mit  dem  Pfluge  bearbeiten 


1)  Se  con  ToBservatione  de  precetti  et  delle  buone  regole  lasciate 
da  Theorici  et  oaservato  da  tutti  h  Pratici  si  puote  havere  l'intento  che 
proposito  e  volere  fuori  delli  termini  cercare  delle  stravaganterie?  Non 
sapete,  che  totte  lo  scienzo  et  tutte  le  arti  sono  state  da  sapienti  rego- 
late  et  di  ciascuno  ci  sono  stati  lasciati  i  primi  elemonti,  le  regole  et  Ii 
precetti,  sopra  le  quali  son  fondate,  affin  che  non  deviando  da  i  pnncipij  et 
dalle  buone  regole,  possi  uno  intendere  qnello,  che  dice  o  fa  l'altror  e  si 
come  non  e  lecito  per  vietare  la  confusione  delle  scienze  et  delle  arti, 
ad  ogni  aemplice  Pedante  immutare  le  regole,  lasciate  da  Guarino,  ne  ad 
ogni  poeta  ponere  una  sillaba  loDga  in  vece  di  una  breve  nel  verso,  ne 
ad  ogni  Arithmetico  depravare  quegl'  atti,  e  quelle  demonstrationi,  che 
sono  proprio  di  quell'  arte,  cosi  non  e  lecito  ad  ogni  infilza  solfe  depra- 
vare, corrompere  et  volere  con  nuovi  principij  fondati  neir  arena,  intro- 
durre  nuovo  modo  di  componere,  perö  benissimo  disse  Oratio:  „est  modus 
in  rebus,  sunt  certi  denique  fines,  quos  ultra  citraque  nequit  consistere 
rectum  (a.  a.  0.  f.  42.  p.  v). 

2)  —  basta  di  fare  un  rumore  di  suoni,  una  confusione  d'imperti- 
nenze,  una  congregatione  d'imperfettioni,  et  il  tutto  nasce  da  questa 
ignoranza,  dalla  quäle  sono  offuscati  (a.  a.  0.  Fol.  43  p.  ?.)• 

Ambro •,  Q«achichte  der  Mtuik.  IV.  24 


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370 


Claudio  Montoverdc. 


wollte,  wäre  ungefähr  in  der  nämlichen  Lage.  Man  sehe  nun 
aber  den  rauhen  wüsten  Passus  (passaggio  aspro  et  inculto)  im 
dritten  Takt  (casella),  auf  den  sie  sich  obendrein  was  zu  Gute  thun 


Nach  einer  Pause  setzt  der  Bass  mit  einem  Semidiapente  gegen 
die  Oberstimme  ein!  (Es  wird  keiner  besonderen  Erwähnung  be- 
dürfen, dass  dieses  „Semidiapenteu,  über  welches  Artusi  ausser 
Fassung  gerath,  die  frei  einsetzende  Dominantseptime  und  der 
ganze  Zusammenklang,  wie  wir  sagen  müssten,  ein  unvollständiger 
Quintsextakkord  ist).  Andere  Tonsetzer  haben  dieses  Intervall  auch, 
aber  anders  gebraucht  —  nie  nach  einer  Pause!  Es  muss  eine 
Sexte  vorangehen  oder  eine  andere  Consonanz  —  wie  man  in 
Artusi's  „Arte  del  Contrappunto"  nachgewiesen  finde  (Artusi  lässt 
sich,  wie  man  sieht,  durch  seinen  Interlocutor  Vario  als  Autorität 
zitiren!).  Wenn  diese  und  jene  (questi  tali)  die  vorhergehende 
Pause  für  so  gut  als  eine  Consonanz  nehmen,  so  vergessen  sie, 
dass  das  Ohr  etwas  nicht  Gehörtes  auch  nicht  in  Anschlag  brin- 
gen kann.  Meister,  wie  Cipriano  in  dem  Madrigal  „Non  gemme", 
wie  Morales  im  Magnificat  des  fünften  Tones  beim  Vers  „Sicut 
locutus  est",  haben  mustergiltig  gezeigt,  wie  man  von  diesem 
Intervall  Gebrauch  machen  könne  und  solle.  *)  Erfahrung  hat 
die  Alten  gelehrt,  wie  man  Dissonanzen  behandeln  müsse  —  nicht 
etwa,  dass  sie  Consonanzen  werden,  wohl  aber,  dass  sie  ihre  Herb- 

1)  Dio  Stelle  von  Morale3,  welche  Artusi  meint,  ist  folgende: 


i  I  i 

3    pj  gj-j-t 


1 


 ;  1 — i  » 


1 


1 


J-J- 


NB. 


NB. 


9-^ 


-  !       1  In 


s.  w. 


Das  bezügliche  f  ist  beidemale  vorbereitet,  einmal  im  Sinne  des  Drei- 
klangs der  siebenten  Stufe  aufwärts,  das  zweitemal  gleich  der  Dominant- 
soptime  abwärts  aufgelöst. 


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Claudio  Monteverde. 


371 


heit  verlieren  und  wohlklingend  werden  —  sie  können  unmöglich 
von  guter  Wirkung  sein,  wenn  man  sich  von  dieser  erprobten  Art 
sie  dienstbar  zu  machen  entfernt.  „Unsere  Alten"  —  schliesst  Ar- 
tusi  seinen  Anklageakt  gegen  Monteverde  —  „haben  nie  gelehrt, 
dass  man  Septimen  so  geradehin  und  offen  hinschreibe,  wie  wir 
es  in  dem  zweiten,  dritten,  vierten,  fünften,  sechsten  und  sieben- 
ten Takt  (des  Notenbeispiels)  sehen,  denn  sie  geben  dem  Gesänge 
keine  Anmuth  und  es  hat  die  hohe  Stimme  keinen  Zusammen- 
hang mit  dem  Ganzen,  mit  ihrem  Ausgangspunkte  und  Funda- 
mente (nämlich  dem  Basse  —  Artusi  stellt  vorher  die  höheren 
Stimmen  als  durch  Aliquottheilung  der  tiefen  Monochordsaite  ent- 
standen dar).  Das  Madrigal,  aus  welchem  Artusi  sein  Exempel 
nimmt,  ist  zunächst  das  fünfstimmige  im  fünften  Buche  „Cruda 
Amarilli"  *),  dem  sich  Fragmente  desselben  Madrigals  so  anschlies- 
sen,  als  ob  diese  Trtimmerstticke  in  der  Compositum  unmittelbar 
auf  einander  folgten  —  eine  Ungenauigkeit  oder  Unredlichkeit, 
für  welche  Artusi  die  schärfste  Rüge  verdient. 

Francesco  Cavalli  ist  ftir  die  Entwicklung  der  dramatischen 
Musik  eine  epochemachende  Erscheinung,  nicht  minder  Carissimi. 
Der  Schüler  Monteverde's  fangt  dort  an,  wo  sein  Meister  aufgehört. 

Der  Name  Cavalli  ist  nur  ein  angenommener.  Eigentlich 
hiess  er  Pier -Francesco  Calctti  -  Bruni  und  war  der  Sohn  des 
Giambattista  Calctti  detto  Bruni,  Kapellmeisters  der  Kirche  S. 
Maria  in  Crema,  eines  wie  es  scheint  nicht  ungeschickten  Musi- 
kers, von  dem  im  Jahre  1604  bei  Ricciardo  Amadino  ein  Buch 
ftinfstimmiger  Madrigale  gedruckt  wurde.  Pier  -  Francesco  war 
entweder  1 599  oder  1 600  geboren,  seine  Mutter  hiess  Vittoria  mit 
dem  Zunamen  Barbazza  oder  Bertolotta.  2)  Während  der  Jahre 
1614  und  1615  war  in  Crema,  welches  damals  der  Republik 


1)  Man  sehe  es  in  Martini's  „Saggio  di  Contrapp.",  Band  2,  S.  191. 
Die  von  Artusi  angegriffenen  Stellen  findet  man  Seite  192,  Takt  2  und 
3;  Seite  194,  Takt  2  und  3;  S.  195,  T.  5,  6,  7  und  10,  11;  S.  196  letzter 
Takt  und  der  erste  der  folgenden  Seite  197.  Artusi  rückt  zudem  alles 
um  eine  Quarte  höher  als  es  im  Original  geschrieben!  Daran  flickt  er 
noch  ein  anderes  Exempel: 


»J  v*.       t  "fc,  Ii  || — 

— 

 :  =^  

2)  Die  Pfarrbücher  von  S.  Maria  in  Crema  zeigen  die  Namen  meh- 
rerer Mitglieder  der  Familie  Caletti.  aber  gerade  das  Blatt  (1599,  1600). 
wo  Pier-Francesco's  Name  sich  finden  müsste,  fehlt.  Nähere  Nachwei- 
sungen über  Cavalü's  Familienverhältnisse  und  Lebenasehicksale  bei  Cafti 
„Storia  della  muaica  sacra  nella  cappella  ducale  di  S.  Marco"  1.  Band, 
S.  269  u.  f. 

24* 


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372 


Claudio  Monteverde. 


Venedig  gehörte,  Federigo  aus  der  venezianischen  Familie  der 
Cavalli  (deren  schöner,  venezianisch-gothischer  Palast  unfern  dem 
Eingang  des  Canal  grande  und  der  Kirche  della  Salute  steht) 
Podesta  und  Capitanio  der  Provinz.  Im  März  1616  kehrte  Fe- 
derigo Cavalli  nach  Venedig  zurück,  und  nahm  den  jungen  Ca- 
letti-Bruni  mit,  dessen  grosses  musikalisches  Talent  sich  schon 
damals  gezeigt  haben  muss,  da  dieses  Talent  in  Venedig  unter 
der  Leitung  berühmter  Meister,  vor  allem  Monteverde's,  eine  ganz 
andere  Entwicklung  versprach,  als  in  der  Provinzstadt  möglich 
gewesen  wäre.  In  Venedig  hiess  der  junge  Mensch  >tü  Checco 
de  Cä-Cavalli  (Fränzchen  aus  dem  Hause  Cavalli).  Darüber  ge- 
rieth  sein  wahrer  Name  allmählich  in  Vergessenheit.  Noch  1617 
ist  er  als  Pietro  Francesco  Bruni  Cremasco  mit  einem  Gehalt 
von  jährlich  50  Ducaten  unter  den  Sängern  von  S.  Marco  ein- 
geschrieben, 1628  erscheint  er  als  Francesco  Caletto  unter  den 
Tenoren.  Als  er  1640  die  Stelle  des  zweiten  Organisten  von  S. 
Marco  erhielt,  bezeichneten  ihn  die  mit  der  Besetzung  dieses 
Postens  betrauten  Preisrichter  als  Francesco  Caletti  detto  Cavalli. 
Fortan  heisst  er  Francesco  Cavalli  Viniziano.  Am  11.  Januar 
1665  wurde  ihm  die  Stelle  des  ersten  Organisten  —  am  20.  No- 
vember 166S  endlich  die  Gross  würde  des  Kapellmeisters  von  S. 
Marco  verliehen.  Am  14.  Januar  1676  schied  er  aus  dem  Leben 
—  die  Capelle  von  S.  Marco  ehrte  ihn  durch  die  Aufführung 
seines  Requiem  a  due  cori,  das  er  nicht  lange  vorher  componirt 
hatte  —  „für  sich  selbst". 

Cavalli's  musikalisches  Erstlingsdrama  „le  nozze  di  Peleo  e 
di  Tetide"  (1639,  Text  von  Orazio  Persiani)  erinnert  noch  an 
die  Weise  seines  Lehrers  Münte  verde. 

Der  Poet  suchte  die  Handlung  möglichst  interessant  und  bis 
zur  Buntheit  reich  zu  gestalten,  er  wendet  Intriguen,  allerlei 
Verkleidungen  u.  s.  w.  als  dramatische  Hebel  an,  er  sinnt  auf 
Gelegenheiten  zu  glänzenden  Ausstattungseffekten,  er  rückt  con- 
trastirende  Szenen  hart  neben  einander.  Seine  Versifikation  steht 
an  feinem  Klang  und  an  Noblesse  tief  unter  den  Dichtungen 
Rinuccini's,  obschon  der  Poet  auch  an  die  Diction  sichtlich  nicht 
wenig  Sorgfalt  gewendet,  sogar  seinen  Witz  in  Contribution  ge- 
setzt hat,  wie  er  denn  z.  B.  dem  unter  den  Personen  vorkommen- 
den Momus  allerlei  satirische,  direkt  auf  sein  modernes  Publikum 
zielende  Einfälle  in  den  Mund  legt  oder  sich  gelegentlich  in 
den  (damals  beliebten)  Spielereien  von  allerlei  Concetti  ergeht.  *) 


1)  Momus  stellt  hier  eine  Art  von  Huf  narren  Jupiters  vor.  Zeus, 
von  Liebe  gegen  Thetis  entbrannt,  beklagt  sich  über  Amor:  „io,  che 
pure  atterai  colla  mia  man  fulminante  gf  Enceladi  ed  i  Tifei,  vincer 
non  posso,  ahi,  Amor,  contra  di  me  vero  gigante''.  Er  tröstet  sich: 
.,che  sciagura  puote  intravenir  a  Gioye?  non  aipende  di  mo  la  sorte  ed 
il  fato? 


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Claudio  Monteverde. 


373 


Der  Prolog  (das  Drama  beginnt  ohne  Instrumentalmusik  mit 
einem  solchen)  gestaltet  sich  zu  einem  kleinen  Duodram,  einer 
im  Grunde  bedenklich  frostigen  und  nüchternen  Allegorie,  welche 
aber  zuletzt  in  einen  grandiosen  Schluseeffekt  ausläuft.  Das 
„Gerücht"  (Fama),  geflügelt  und  das  Gewand  ganz  mit  Augen 
bemalt,  tritt  auf,  stösst  in  die  Trompete  und  verkündigt  als  Neu- 
igkeit (der  Einfall  igt  wirklich  gut)  das  gerade  Gegentheil  dessen, 
was  die  nachfolgende  Handlung  zeigt:  „Der  Avernus  habe  gegen 
den  Olymp  gesiegt,  vereitelt  sei  Jovis  Plan,  Peleus  und  Thetis 
zu  vermalen".  Der  solenn  recitirende  Ton  der  Prologstrophen, 
das  kurze,  pomphafte  Ritornell,  das  nach  jeder  Strophe  wieder- 
kehrt, mahnt  noch  sehr  bedeutend  an  den  Monteverdestyl.  l)  Die 
„Zeit"  (il  tempo,  Tenorpart),  deren  Amt  es  ist,  das  falsche  Ge- 


l)  La  fama  suona  la  tromba,  di  poi  da  principio  al  canto: 


ZBT. 


 #- 


-to  T- 


Ha  vin 


ver-no,   6        scor  -  no  gran-de  estin- 


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ma  ^  ■  ¥ — # — J — 

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hog  -  gi     Tin  -  gan  -  no      al  -.  la  vir  -  tu  pro  -  ce  -  de,  6 ! 


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374 


Claudio  Monteverde. 


rticht  als  lügenhaft  zu  entlarven,  tritt  scheltend  entgegen.  Fama 
antwortet  nicht  ohne  Ereiferung,  der  Zeitgott  ruft  ihr  zu: 

Vedrai  due  nobil  alme 

in  un  sol  laccio  avvolte 

cre8cer  al  greco  mar  trionfi  e  palme  — 

Jo  cosi  giuro!  e  di  mia  fede  impegno 

darö  non  basso  segno; 


Ititornello. 


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1 

Cin  -  ge    dis  -  cor  -  dia  alfin 

ff  5      „ft   i 

d:— 5.  

^ — —  — i^  

 &  1  

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Claudio  Monte?erde. 


375 


qaesto,  che  fu  teatro  ampio  e  famoso, 
hoggi,  dal  corso  mio  consunto  ed  arso, 
resti  fra  lo  ruine  a  terra  sparao, 
e  sia  da  denti  imei  lacero  e  roso. 

Fama  erschrickt :  wer  solche  Denkmale  zu  stürzen  im  Stande 
sei,  meint  sie,  könne  wohl  auch  die  Lüge  zerstören  (Veglio ! 
raentii,  non  ti  piü  sfido  a  guerra,  ma  dico  humil  china,  che,  chi 
le  pompe  altissime  ruina) 

strug-ge    le  fro  -  di    e    le  men-zo-gne       at  -  ter  -  ra 
c"  a       a"  b         g  a  d 

Der  Zeitgott  winkt,  und  das  Theater  stürzt  zusammen;  hin- 
ter den  Trümmern  aber  zeigt  sich  den  Zuschauern,  während  das 
Orchester  eine  „Sinfonia  infernale",  einen  ahnungsvoll  -  dtistern 
Andantesatz  anstimmt,  das  nächtliche  Schreckensreich  des  Tar- 
tarus. 

Pluto  (Bass),  mit  seinen  Dienern  Cacus  und  Minos  (Tenore) 
will  Rath  halten,  wie  man  die  Absicht  Jupiters,  des  Feindes, 
welcher  sie  alle  in  ewige  Nacht  gebannt  hat,  Peleus  und  Thetis 
zu  vereinigen,  vereiteln  könne.  Er  schilt,  dass  die  Götter  der 
Unterwelt  zu  kommen  zögern  —  düster  klagende  Fanfaren  der  ♦ 
, .schwarzen  Herolde"  rufen  auf  Pluto's  Wink  die  „verschlafnen 
Götter"  zur  höllischen  Rathsversammlung  (concilio  infernale).  Sie 
kommen  alle:  Megera,  Tisiphone  (Sopran),  Alecto  (Alt),  Rhada- 
mant  (Tenor),  Asmodeus  (Bass).  Dem  Dichter  schwebte  augen- 
scheinlich als  Vorbild  die  Szene  aus  dem  Canto  IV.  der  „Geru- 
salemme  liberata14  vor,  selbst  bis  in  einzelne  Züge  hinein,  wie  es 
denn  z.  B.  ohne  Zweifel  die  Verse  Tasso's  sind: 

„cbiama  gl'  abitator  de  Pombro  eterno 
il  rauco  suon  della  tartarea  trombe, 

welche  den  Einfall  mit  den  trompetenden  Höllenherolden  veran- 
lasst haben.  Die  Vasallen  Pluton's  sagen  nach  einander  ihre  Mei- 
nung; meisterlich  zeichnet  Cavalli  insbesondere  die  »Tisiphone  in 
der  mächtigen  Steigerung  ihrer  Rede  (ira,  scempio,  furor,  fierezza 
e  morte).  Die  Furie  steht  leibhaft  vor  uns.  Da  tritt  die  Zwie- 
tracht (la  Discordia)  mitten  unter  die  Rath  haltenden  Dämonen: 
„schweigt  ihr  andern,  ich,  ich  allein  will  es  vollbringen!"  All- 
gemeine Zustimmung;  „geh'  hin",  ruft  Pluto,  „und  zerreisse  das 
unwürdige  Band,  das  Zeus  uns  zur  Schmach  knüpfen  will".  Ein 
Ensemble  der  Höllengötter  (Megera,  Tisiphone,  Alecto,  Rhada- 
mant,  Minos  und  Pluto)  beechliesst  (während  die  Zwietracht  etwa 
auf  einem  geflügelten  Drachen  zur  Oberwelt  eilt)  die  Szene. 


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376 


Claudio  Monteverde. 


Wir  sind  wirklich  in  dem  Reich  der  ewigen  Nacht,  in  der 
„citta  del  pianto"  (wie  Discordia  sich  ausdrückt),  und  Cavalli 
versteht  es,  die  Geister  der  Unterwelt  schon  eine  ganz  andere 
Sprache  reden  zu  lassen,  als  es  Monteverde,  M.  A.  Rossi  und 
Landi  (im  Orfeo,  in  der  Erminia  und  im  St.  Alessio)  vermocht. 
Das  düstere  E-moll,  durch  welches  diese  ganze  infernalische 
Szene  gleichsam  grundirt  ist,  gieht  ihr  die  entsprechende  Färbung ; 
auf  diesem  dunkeln  Hintergrund  sind  die  einzelnen  Gestalten  in 
charakteristischen  Zügen  gemalt,  die  finstere  Majestät  des  Höllen- 
gottes, die  mühsam  gezügelte  Wuth  der  Furien.  Der  Tondichter 
begnügt  sich  nicht  mehr,  dem  Texte  eben  nur  Wort  nach  Wort 
gerecht  zu  werden;  er  rechnet  schon  mit  grösseren  Factoren,  er 
gruppirt  sein  Gemälde  und  rückt  seine  Gruppen  in  die  richtige 
Beleuchtung.  Ein  einfach  grossartiger  Zug  geht  durch  das  Ganze. 

Verwandlung:  eine  taghelle,  weite  Gegend,  mit  Fels  uud 
Wald  und  weitem  Ausblick  auf's  Meer.  Eine  fröhliche  Jagd- 
fanfare (in  C-dur  —  ganz  augenscheinlich  als  Gegenstück  der 
Chiamata  der  höllischen  Herolde  gemeint)  deutet  die  Nähe  rüsti- 
ger Jäger  an;  sie  erscheinen;  ihr  Chor  „alla  caccia,  alla  preda" 
ist  ein  wirklicher  Jägerchor,  der  Ahnherr  zahlreicher  späterer, 
während  der  Chor  der  Jäger  in  M.  A.  Rossi' s  „Erminia"  noch 
aller  Charakteristik  bar  ist.  Peleus  (Tenor)  und  Meleager  (Alt) 
treten  auf,  dieser  voll  Jagdlust,  sein  Freund,  ob  er  gleich  so 
eben  den  wilden  Eber  mit  Heldenkraft  gefallt,  voll  Schwermuth ; 
er  hat  Thetis  gesehen:  „wie  junges  Morgenroth,  das  aus  dem 
Meere  steigt"  (come  spunta  dal  mar  alba  novella).  Während  er 
mit  den  Jägern  in  den  Wald  zurückkehrt,  bleibt  Meleager  zu- 
rück, und  jetzt  taucht  Thetis  in  einer  Muschel  (in  conca  piscan- 
do)  auf,  sie  singt  ein  Strophenliedchen ,  eine  Art  Barcarole;  der 
Ton  ist  auch  hier  recht  gut  getroffen  und  die  Melodie,  bei  noch 
sehr  geringer  Entwickelung ,  doch  nicht  ganz  ohne  Anmuth.  ') 
Meleager  lauscht  und  stimmt  endlich  mit  der  Meeresgöttin  ein 
kleines  Duett  an,  welches  zeigt,  dass  die  verpönte  „Imitation" 
glücklich  wieder  den  Weg  auch  in  die  dramatische  Musik  zurück- 
gefunden : 


1.  Go-din     gio  -  co  -  si    ne     re  -  gni   on  -  do  -  si 

2.  A  bei     sem-bian-ti    pe  -  scan  gl'a-man-ti 


Die  tiefe  Stimmlage  (der  Verlauf  der  Melodie  führt  bis  a  herab)  ist  auf- 
fallend. Nach  jeder  Strophe  spielen  die  Instrumente  ein  nach  dem  glei- 
chen Motiv  gebildetes  KitornelL 


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Claudio  Monteverdo.  377 


Totide. 


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Meleagro. 

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378 


Claudio  Montoverde. 


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9;—^  

Darüber  erwacht  Triton's  Eifersucht.  Er  reprasentirt  den 
rohen  Plebejer,  die  gemeine  Hässlichkcit,  die  es  wagt,  um  die 
adlige  Schönheit  zu  werben;  Peleus  eilt  mit  seinen  Rittern  her- 
bei und  verjagt  ihn;  das  Orchester  begleitet  den  Ritterchor  mit 
Motiven,  die  Trompetengeschmetter  und  Trommelwirbel  nach- 
ahmen. Abermals  Verwandlung:  Halle  in  Jupiters  Götterburg. 
(Die  Scrupel,  welche  Rinuccini  wegen  Aenderung  der  Szene  ge- 
habt, sind,  wie  man  sieht,  verschwunden.)  Zeus  liebt  Thetis; 
halb  ironisch  von  Momus  berat  hon,  weiss  er  nicht  recht,  was  er 
thun  soll,  als  Mercur  die  drohende  Verkündigung  des  Orakels 
bringt:  „Thetis  werde  Mutter  eines  Sohnes  werden,  der  seinen 
Vater  an  Herrlichkeit  und  Ruhm  zu  übertreffen  bestimmt  ist". 


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Claudio  Montererde. 


379 


Der  Orakelspruch  ist  musikalisch  merkwürdig  gefasst;  es  sind 
wiederum  die  Grundstriche  für  ähnliches  bei  Gluck  (Alceste)  und 
Mozart  (Idomeneo  und  Don  Giovanni). 


Mercurio. 


e    poi  la  vo  -  ce  gra-ve  d'oc-cul-to  di 


o  co- 


(Orakelspruch) 


si      ri  -  spo  -  se: 

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Av  -  ven  -  tu  -  ro  -  sa    ma-dre   sa  - 


r 


rai  d'uo  for-  ta    8  -  glio     che    la   for-za  e'l  con  -  ai  - 


1 


io    pro  -  va  d'ar  -  me     vin  -  ce 


ra     del    pa  -  dre 


3 


(zu  Jupiter) 

 0  0- 


Et 


5 


se    ra  -  pi  -  sei  il  tuo     so  -  le  u.  s.  w. 


380 


Claudio  Monteverde. 


Zeus  erschrickt;  er  beschliesst,  die  schöne  Thetis  mit  Peleus 
zu  vermälen  (dass  von  diesem  jetzt  erst  gefassten  Plan  schon  in 
den  früheren  Szenen  als  von  einer  bereits  beschlossenen  Sache 
die  Rede  war,  scheint  den  Dichter  nicht  anzufechten).  Alle  Göt- 
ter sollen  die  Hochzeit  feiern  helfen;  Mercur  wird  zur  Voll- 
ziehung des  Befehles  abgesendet,  Momus  begleitet  ihn.  Wieder 
am  Meeresstrande:  Peleus  hört  von  Mercur,  welches  Glück  ihm 
beschieden  sei.  „Se  per  troppo  diletto  or  potessi  morire,  faria 
quest'  alma!"  ruft  er.  Freudenchor  und  Tanz  (Ciaconna)  der 
Waldnymphen,  der  Beschützerinnen  des  rüstigen  Jägers.  Aber 
auch  Triton  hat  die  Nachricht  vernommen  t  er  eilt  herbei  um 
Einsprache  zu  erheben.  Thetis,  welche  gleichfalls  herbeikommt, 
ist  von  der  Begegnung  des  „Seetrompeters",  wie  sie  ihn  verächt- 
lich nennt,  unangenehm  überrascht.  Sie  beschliesst  ihn  zu  necken 
und  spielt  die  Verliebte.  Als  Triton,  plump  und  zutäppisch,  der 
Sache  gleich  weitere  Consequenzen  geben  will,  weist  ihn  Thetis 
schroff  ab,  und  als  er  die  Göttin  gewaltsam  wegzuschleppen 
Miene  macht,  tauchen  auf  ihren  Wink  drei  Nereiden  auf  und 
peitschen  den  Frechen  fort  —  ihr  graziöses  Terzett  mildert  das 


Widrig  e  der  Szene.  Die  Art,  wie  die  vornehme  Dame  mit  dem 
Meerplebejer  umspringt,  ist  für  die  Zeit  bezeichnend.  Ein  Tanz 
(Corrente)  beschliesst  den  Akt. 

„Soccorso,  6  cielo,  6  Dei!  dunque  di  tanta  gloria  il  mar  fia 
tomba?  dunque  fra  l'onde,  6  miserabil  caso,  dovra  lassare  il  misero 
la  vita?  pieta  padre  Nereo,  Nettuno  pieta!"  Dieses  Hilfs-  und 
Jammergeschrei,  womit  Meleager  den  zweiten  Akt  einleitet,  gilt 
dem  Peleus.  Thetis  hat  sich  der  erhaltenen  olympischen  Ca- 
binetsordre  nicht  fügen  wollen,  sie  spielt  gegen  ihn  die  Spröde 
—  und  Liebe,  Sehnsucht,  Verzweiflung  treiben  ihn  in's  Meer,  das 
Element  der  Geliebten.  Diese  taucht  empor  und  bringt  ihn  ans 
Land.  Aber  er  scheint  leblos;  dieser  Anblick  bewegt  ihr  Herz: 
„bor,  ch'  io  rimiro  il  misero  giacente,  un  incognito  ardore  di  non 
intesa  face  commincia  a  riscaldarmi  il  cor  dolente  —  Peleo!  — 
sorgi  Peleo!  —  ma,  lassa,  ei  tace!"  Jetzt  klagt  sie  sich  an: 


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ei   m'a  -  ma  -  va, 


io    To  -  di  -  ai, 


ei  pre  -  ga  -  Ya, 

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Claudio  Montovorde. 


381 


Die  richtige  Ingrata!  Sie  entfernt  sich,  hilfesuchend  —  zu 
Chiron,  dem  Weisen,  dem  Arzt. 


Peleus  erwacht: 


2 


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dor-mo?      so  -  gno? 


o     son    de  -  sto?    che  fan- 


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5 


tas-rue,    che  spet-tri,     oi- me,  che  lar  -  ve    veg  -  gio  con 


l'oc-chio  ö  con    la    men  -  te  pen  -  so?         ma,  veg -gio  pur, 


5 


1 


quest'  oc  -  chi 


son   pur     a  -  per  -  ti  u.  s.  w. 


3 


Er  nennt  Thetis  grausam,  dass  sie  ihn  gerettet.  Er  will 
Chiron  aufsuchen,  dass  er  ihm  Trost  gebe. 

Jetzt  tritt  Discordia  auf.  Ihr  Erscheinen  auf  Erden  hat  die 
Länder  bereits  mit  Blut  überschwemmt  Mit  einem  Seitenblick  auf 
den  eben  damals  (d.  h.  1618 — 1648)  wüthenden  dreissigjährigen 
Krieg  sagt  sie:  „e  gia  fatt'  ho  di  sangue  un  nobil  lago,  il  Danubio, 
il  Tessin,  la  Seena  (so!)  e'l  Tago." 

Mittlerweile  bittet  Peleus  den  Chiron,  er  möge  seine  Flammen 
auslöschen  (delle  mie  calde  vene,  spegni  l'ardor  cocente).  Der 
weise  Centaur  versucht  die  Heilung  durch  Musik;  eine  Sinfonia 
de  Viole  (fünfstimmig,  die  einzige  Nummer,  wo  die  Instrumenta- 
tion ausdrücklich  angegeben  ist),  ein  sanft  melancholischer  Satz- 
soll  den  Liebesgram  heilen.  Jetzt  kommt  auch  Thetis;  sie  hält 
Peleus  für  einen  Schatten.    Er  ruft: 


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382 


Claudio  Monteverde. 


io  Spir-to?      io  spet-tro?     io  lar  -va?    io    si  -  mu-  la-  cro 


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Freude,  Jubel,  Tanz  der  Nymphen.  Chiron  kündigt  sich 
schon  als  künftiger  Erzieher  des  Sohnes  Achill  an: 

„io  vado,  col  favor  della  fortuna, 
per  figiio  occelso  a  preparar  la  cuna". 

Die  Liebenden  trennen  sich  jetzt,  sie  gehen  verschiedene 
Wege,  Thetis  durch's  Meer,  er  durch  den  Wald.  (Thetis  sagt: 
„per  diversi  sentieri,  io  del  mar,  tu  del  bosco,  pudieizia  e  mo- 
destia  a  gir  m'invita;  io  da  te,  tu  da  me,  farem'  partita."  Die 
Hinweisung  auf  das  etikettenmässig  Schickliche  ist  abermals  fiir 
die  Zeit  bezeichnend.  Aber  dieses  Gebot  der  Decenz  Mit  den 
Liebenden  schwer  genug!  Thetis  versichert  sogar:  „vedova,  griderb 
del  mar  si  forte,  che  le  grida  di  morte,  tu  stesso  dal  tuo  bosco 
udir  potrai"!)  Ein  Duo  —  das  Prototyp  und  der  Vorläufer  zahl- 
loser Abschiedsduette  —  schliesst  die  Scene.  Der  Ton  der 
Leidenschaft  giebt  ihm,  bei  aller  (noch  sehr  bedeutenden)  Be- 
fangenheit der  Form,  einen  dramatischen  Zug.  Uebrigens  aber  in 
dem  pathetisch  Declamirenden  und  in  der  unbehilflichen  Harmonie 
noch  der  reine  Monteverde. 

Mercur  und  Momus  holen  die  Liebenden  zum  Hochzeitsfeste 
ab.  Den  beiden  lustigen  Agenten  des  Olymp  kommt  die  über- 
schwengliche Zärtlichkeit  des  Paares  lächerlich  genug  vor,  und 
Momus  warnt  mit  schalkhafter  Offenherzigkeit  das  schöne  Ge- 
schlecht, ihm  für  seine  Person  ja  nicht  zu  trauen.  Seine 
Arie  lässt  erkennen,  dass  Cavalli  den  richtigen  Ton  dafür  wenig- 
stens geahnt  und  gesucht  hat;  hier  stecken  wiederum  die  nach- 
maligen Buffoarien  —  einstweilen  allerdings  nur  im  allerersten 
Keim: 


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Claudio  Monteyerde. 


Momo. 


383 


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Da-me,     s'io  vi    di  -  ro,   ch'al    vo-stro  rag-gio  io  tutt' 


3 


ar  -  da 


ed       av  -  vani 


*)  (f) 


i    r  r 


non    mi     cre  -  de  -  te,  no! 


dos  •,'  ™i    cre  -  de  -  te 

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non  mi     cre  -  de  -  te 


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non    mi    cre  -  de  -  te,  no! 

8 


nön    sön    fat  -  ti  di 

,••  r 


fuo-coi  To- stri  lam  -pi     ed  io  non  son  di  fraa-ai-noo  di 
(•)• 


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Claudio  ^lonteverdc* 


fag  -gio 


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il     di  -  re      io    tut-to  ay- 


vam  -  po  tut-to  av-vam  -  po,  •  od     ar  -  do       e  in   tan  -  to 

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ga  -  gliar    -  do. 

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Claudio  Monte  verde.  3£5 

Ein  grosses  Götterfest  vereinigt  die  Olympier.  Silen  und 
Bacchus  singen  einen  Dithyrambus,  wozu  Frauen  und  Bacchanten 
tanzen  (die  zahllosen  Trinklieder  späterer  Opern  sind  hier  vorge- 
deutet, die  rüstige  Fröhlichkeit,  der  derbe  Uebermuth  dieses 
Stückes  ist  bemerkenswerth  —  aber  freilich:  wozu  hätten  denn 
die  Maler  des  Cinquecento  so  viel  Göttermale  und  Götterbaccha- 
nale als  Deckenstücke  in  den  Sälen  der  Grossen  gemalt?).  Silen 
bringt  ein  Hoch  anf  Bacchus  aus,  in  welches  die  Götter  begeistert 
einstimmen.  Peleus  fühlt  sich  glücklich,  nach  so  viel  Unglück, 
der  Zwietracht  zum  Trotz,  Thetis  sein  zu  nennen.  Zeus  freut  sich 
des  herrlichen  Festes: 


To-  no  -ra  te    lo  -  ste. 

/TS 


f         1 —  i|~»=*- 


Da  erscheint  mitten  unter  den  Göttern  Discordia  und  wirft 
ihren  Apfel.  Mercur  ergreift  den  rollenden  und  ruft:  qual  s'offre 
a  gli  occhi  miei  luce  novella?  ascoltato  o  voi,  che  di  belta  sü- 
perbe andate:  „donisci  questo  pomo  a  piü  bclla".  Zeus 
entscheidet  den  sich  erhebenden  Streit  der  drei  Göttinnen:  „al 
mio  giovinetto  d'Ida  hör  tu,  mio  nunzio,  porta  il  pomo,  ond'  oggi 
e  sorta  fra  le  belle  del  ciel  l'alta  disfidia;  a  lui  tu  lo  consegna, 
ed  cgli  lo  presenti  alla  piii  degna".  Der  Akt  endet  abermals  mit 
einem  Tanz  (Corrcnte).  Im  dritten  Akt  tritt  Discordia  in  Mele- 
agers  Gestalt  auf:  „chi  non  dira,  che  Meleagro  io  sia?!u  Sie 
spielt  mit  Peleus  eine  Scene,  ungefähr  wie  Jago  mit  Othello. 
Thetis  habe  hier  einem  früheren  Liebhaber  ein  Stelldichein  ge- 
geben. Peleus  zieht  sich  zurück  um  zu  lauschen,  und  als  nun 
Thetis  kommt,  tritt  ihr  Discordia  in  Gestalt  ihres  Vaters  Nereus 
entgegen.  Sie  begrttsst  ihn  voll  Freude  und  küsst  ihu,  wodurch 
der  lauschende  Peleus  in  seinem  eifersüchtigen  Argwohn  bestärkt 
wird.  Der  falsche  Nereus  tadelt  die  Heirath  seiner  Tochter, 
welche  ohne  seine  Zustimmung  geschlossen  worden  sei.  *)  Peleus 
sei  ein  Ungetreuer,  er  heuchle  gegen  Thetis  Liebe  und  brenne 
für  die  Nymphe  Mergellina.  „Mergellina,  mia  ancella?"  ruft 
Thetis  empört.  Jetzt  bricht  Peleus  hervor  und  überhäuft  Thetis 
mit  Vorwürfen,  er  hasse  sie  so  sehr,  als  er  sie  früher  geliebt. 
Der  herbeikommenden  Mergcllina  erklärt  er  sofort  seine  Liebe. 


1)  ,,No  dei",  sagt  er,  „senza  il  consonso  mio  legar  te  stessa.  Vani 
son  gl'  imenei,  inonerta  6  la  figlia,  che  si  sottragge  alla  paterna  briglia". 

Ambroi,  Ooschichto  der  Musik.   IV.  25 


380 


Claudio  Monteverde. 


Ein  langes,  höchst  leidenschaftliches  Recitativ  der  allein  zurück- 
bleibenden Thetis  schliesst  die  Scene.  Hier  erreicht  der  Tonsetzer 
eine  Macht  der  Leidenschaft,  eine  Grösse  des  tragischen  Aus- 
druckes, an  welche  keiner  seiner  Vorgänger  auch  nur  entfernt 
heranreicht.  Der  refrainartig  wiederkehrende  Aufschrei:  ,,pieta 
chiedo,  mercede,  amor,  amor  terribile!"  wirkt  erschütternd.  Gluck 
hat  in  der  letzten  Scene  seiner  Armida  ähnliche  Töne,  allerdings 
noch  weit  voller  und  mächtiger  angeschlagen. 

Wie  eine  Oper  in  der  Oper  spielt  sich  nun  als  Episode 
in  einer  sehr  langen  Scene  das  Urtheil  des  Paris  ab.  Der  Poet, 
welcher  schon  mit  der  Einheit  des  Ortes  gebrochen,  berück- 
sichtigt nun  ebenso  wenig  die  Einheit  des  Interesse.  Er  hätte 
am  liebsten  auch  noch  den  ganzen  trojanischen  Krieg  in  sein 
Libretto  eingepackt!  Vom  Ida  geht  es  zurück  an  den  Meeres- 
strand, wo  Peleus  einst  seine  nun  von  ihm  getrennte  Thetis  ge- 
funden. Discordia  triumphirt  laut,  ihre  Mission  ist  glänzend  er- 
füllt. Peleus  erscheint  klagend,  er  kann  die  Ungetreue  nicht 
vergessen.  Jetzt  tritt  ihm  ein  gewafineter  Ritter  entgegen,  für 
die  Ehre  der  schwer  beleidigten  Thetis  fordert  er  ihn  zum  Zwei- 
kampf; Peleus  nimmt  ihn  au,  „Teti  e  tradidrice"  das  will  er  ver- 
fechten. (Es  bedarf  keines  Nachweises ,  dass  auch  dieser  Zug 
sich  nicht  aus  der  antiken  Göttersage,  sondern  aus  den  romanti- 
schen Rittergedichten  herschreibt.)  Schon  zücken  sie  die  Schwer- 
ter, Discordia  hält  ihr  Spiel  für  gewonnen,  da  erscheint  hinter 
ihr  Hymen.  Peleus  solle  erst  sehen,  wen  er  bekämpfe-,  der 
Helm  entfallt  dem  Gegner,  es  ist  —  Thetis,  die  für  ihre  Ehre 
selbst  einstehen  wollte.  Hymen  wendet  sich  mit  zürnenden  Wor- 
ten gegen  Discordia,  diese  stürzt  zur  Hölle  (qui  preeipita  la  dis- 
cordia). Die  Liebenden  aber  feiern  von  Neuem  ihre  Vereinigung, 
von  Hymen,  Mercur  und  Momus  in  einem  frohen  Schlussterzett 
gepriesen. 

Das  nächste  Jahr  1640  brachte  zwei  Opern  Cavalli's:  „Gli 
amori  d'Apolline  e  di  Dafheu  und  „La  Didone".  Der  Fortschritt 
gegen  den  Peleus  ist  in  der  Dido,  was  die  Compositum  betrifft, 
ein  entschiedener.  ')  Auch  der  Poet  hat  nicht  so  tief  in  den 
Farbentopf  gegriffen;  die  einfache  Handlung  ist  dem  vierteu 
Buche  der  Aeneide  nachgebildet.  Während  Peleus  noch  ein 
Tenorpart  war,  werden  hier  die  Rivale  Aeneas  und  Jarbas  dem 
Sopran  und  Alt  zugetheilt;  die  leidige  Gewohnheit,  singende 
Halbmänner  in  Liebhaber-  und  Heldenrollen  zu  beschäftigen, 
bürgerte  sich  also  damals  in  Venedig  ein.  Diesmal  prologisirt 
die  Götterbotin  Iris;  nach  einem  unbedeutenden  Instrument  aisatz 
beginnt  sie  im  musikalisch  gut  wiedergegebenen  ruhigen  Erzäh- 
lerton: 


1)  „Apoll  und  Daphne"  kenne  ich  nicht 


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Claudio  Monteverde. 


387 


Ca-  du-ta  ö  Tro-  ia,  e 
G  G 


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gia- ce  se-pol-to  d'A  -  aia 
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o  -  gni  de 


ca  -  ro  u-  s.  w. 
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Dann  wieder  Symphonie  und  eine  „Arietta"  der  Iris. 

Der  erste  Akt  beginnt  mit  einem  in  der  Bewegung  lebhaf- 
ten, aber  im  Ausdrucke  nicht  besonders  lebendigen  Chor  (auf 
G  liegenbleibender  Bass!),  worin  die  Trojaner  Aeneas  zu  den 
Waffen  rufen.  Die  Chöre  werden  schon  Nebensache;  desto  mehr 
Gewicht  wird  auf  die  Arien  gelegt,  unter  denen  manche  melo- 
disch schon  sehr  ansprechend  sind.  Die  leidenschaftliche  Rede 
Dido's  gegen  Aeneas,  der  sein  Scheiden  mit  dem  ihm  kund  ge- 
wordenen Götterwillen  entschuldigt  („Scelerato  Trojan"  u.  s.  w.), 
erinnert  im  Ausdruck  an  jenes  grosse  Kecitativ  der  Thetis; 
schmerzlichstes  Zürnen  spricht  aus  diesen  Ergüssen  einer  aufs 
tiefste  gekränkten  Frauenseele.  Starke  dramatische  Effekte  die- 
ser Art  liegen  einstweilen  im  Kecitativ,  welches  noch  nicht  zum 
blossen  Füllstück  zwischen  einer  Arie  und  der  folgenden  degra- 
dirt  ist.  Die  Arien  selbst,  in  ihrer  fast  epigrammatisch  knappen 
Fassung,  sind  in  dieser  Beziehung  das  gerade  Gegentheil  der 
späteren,  breit  auseinander  fluthenden  Alienform  mit  parle  seconda 
und  da  Capo.  Selbst  in  dieser  auf  verhältnissmässig  wenige  Takte 
beschränkten  Entwickelung  der  Melodie  kann  es  aber  Cavalli 
schon  nicht  mehr  vermeiden,  einzelne  Worte  und  Textesphrasen 
zu  wiederholen,  was  sich  die  Florentiner  nach  ihrem  musikalisch- 
ästhetischen Grundgesetz  um  keinen  Preis  erlaubt  haben  würden. 
In  diesem  einen  Punkte  zeigt  es  sich  klar,  wie  jetzt,  bei  Cavalli, 
die  Musik  bescheiden  genug,  aber  auch  bestimmt  anfängt,  inner- 
halb der  dramatischen  Schranken  ihre  eigenen,  spezifisch  musi- 
kalischen Zwecke  zu  verfolgen. 

Grossen  Erfolg  hatte  „Giasone"  (1649  im  Theater  S.  Cassi- 
ano  zu  Venedig,  1651  in  Florenz  aufgeführt  u.  s.  w.).  Eine 
Symphonie  leitet  zu  einem  Ritornell  und  dieses  zum  Prolog. 
Diesmal  prologisirt  die  Sonne.  —  Der  Sonnengott  (il  Sole, 
eigentlich  Apollo,  Sopran)  und  Amor  (Sopran).  Apoll,  welcher, 
wie  eine  Stelle  des  Prologtextes  andeutet,  auf  seinem  pracht- 
vollen Sonnenwagen  erschien,  kündigt  sofort  in  einem  ziemlich 
monotonen  recitati vischen,  zuletzt  in  Glanzcoloraturen  auslaufen- 
den Satz  den  Kern  der  Handlung  an;  der  vornehme  Ton,  in 

25* 


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3S* 


Claudio  Monteverde. 


welchem  er  sich  gleich  irgend  einer  damaligen  irdischen  „Uurch- 
lauchtigkcit"  ausdrückt,  ist  für  die  Zeit  bezeichnend: 

Sole. 


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SS 


1  i.  w .  


V — ✓ — 


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HF 

Que  -  sto      e  il  gior  -  no  pro  -  fia  -  so        al  -  le  gran-dez  -  ze 


0:  £ 


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v    t:  :c~: 


mi  -  e,  bog-  gi    il   Tes  -  sa  -  lo  Ero  -  q     Gia-  son  il    for  -  te 


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il      ve  -  lo     ra  -  ni  -  ra     d'E  -  le  e    di     Fris  -  so. 


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hog  -  gi  dcl 

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bei  -  Iis  -  si  -  um 

Me 

-  de  -  a  di 

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I 


ist 


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j  ;  ?=g 


1 


niia  di  -  vi  -  ni  -  ta  chia  -  ra    ni  -  |>o  -  te    sa  -  ra  quel  tri  -on- 


fan  -  t<\    sa  -  ra   quel   glo  -  ri  -  0  -  so  non  piii  für  -  ti-vo  a- 


Claudio  Monteverde. 


389 


0  #  ßTß 


man  -  te,   raa    for  -  tu  -  na  -  to    for  -  tu  -  na 

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spO-  80. 
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5 


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U.  8.  W. 


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Amor  widerspricht: 


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— #  #— 

— *_«!  *  1  ^- 

I  -  me-nei  sen  -za 

me 

8i 

sta-  bi  - 

li-ra  in  ter-  ra? 



--<&- 

i=  i 

tc=te=tcg 


quäle,    qual   e  quol  Dio      co- siatol-toosfrec-cia  -  toch'algran 


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:*90 


Claudio  Monteverde. 


te~ a  a  *  w  *      F  0—i 

r— -i 

f  1  

ff±   u   =1 

nu  -  me    d'a  -  mor  vuol  mo  -  ver 

»■ 

guer  -  ra? 

9V*  — — — - 

Der  Sonnengott  beruft  sich  auf  den  Beschluss  des  Fatum.-. 
Das  ist  für  Amor  kein  Grund.  Der  Streit  wird  lebhafter.  Da 
sagt  endlich  Amor  gerade  heraus:  er  habe  mit  seinen  Pfeilen, 
denen  weder  Göttef  noch  Menschen  widerstehen,  Jason  und  Hyp- 
sipile  verwundet  —  „dlssifile  Giason  sara  il  marito".  Ein  klei- 
nes, frisch-lebendiges  Zankduett  der  beiden  Gottheiten  —  etwa 
einem  von  Cavalli  belauschten  Wortstreit  zweier  venezianischer 
Fischerjungen  abgehorcht  —  schliesst  den  Prolog.  (Den  zugleich 
mit  der  Steigerung  des  Gezänkes  lebhafter  werdenden  Bass  möge 
man  beachten !) 


Amore. 
Sole. 


Non  pnö  U  fa  -  to  giam-mai    re-atar  bo-giar  -do 


x: 


Fi 


Ne  scher  -  ni    -  to     sa  -  ra    que  -  sto   mio     dar  -  do 


PF 


Ap  -  pol  -  lo,  in  van'  t'ag- 


i 


Pt 


Fan-ciul  -  lo.     tu    do  •  Ii  -  ri 


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Claudio  Monteverde. 


39t 


m 


gi  -  n 


chi  con    a-  mor  con- 


1 


chi  col  de-stin  com-bat -te 


n 


tra  -sta 


pe  -  ri  -  ra 


4 


^4 


t>  «  M — ^ 
— —]/  


ca  -  de  -  ra 


ce  -  di,  ce  -  di,  non  pu- 


vo  -  glio,  vo  -glio  tri-  on  -  far 


io  vin-ce- 


gnar 


non  vm-  ce  -  rai  no  no 


x-r: 


m 


ro    si  si 


e   che  si ! 


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H — t 


e  cheno! 


io  scor 

? — r~ 


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392 


Claudio  Monte?erde. 


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io 


ro  il      ciel,   tu     le    tue  for  -  ze  ado-pra 


SS 


doa  ter  -    ra  c  rai  pre- 


/TV 


Pf 


pa  -  ro,    mi    pre  -pa  -  ro  all'  o  -  pra. 


i 


5 


m  ^  « 


Die  Symphonie  wird  wiederholt  und  leitet  in  den  ersten  Akt 
hinüber;  Hercules  (Bass)  spricht  seinen  Unmuth  über  den  „Weich- 
ling Jason' *  aus,  der  beim  Morgenroth  noch  in  den  Federn  (tra 
lascive  piume)  liege  —  wie  wolle  ein  solcher  den  Lockungen 
schöner  Frauen  entgehen?  „Was  können",  ruft  Hercules  in  de- 
mtithiger  Selbsterkenntniss ,  „nicht  die  Weiber  Alles  mit  ihren 
Heizen !" 

voi  fabbricate  nei  crini  laberinti  a  tri'  eroi, 

una  lagrimetta,  che  da  magiche  stelle  esca  di  fuore, 

fassi  un  Egeo  crucioso  che  sommerge  l'ardir,  Talma  e'l  valore. 

e'l  vcnto  d  un  sospiro  esalato  da  laobri  ingannatori 

dai  campi  della  gloria  spianto  le  palme  e  disseccö  l'allori! 

Besso,  Jason's  Capitän  („Capitano  della  guardia  di  Giasone'4 
—  ebenfalls  Basspartie)  tritt  hinzu.  Jeder  Mensch,  meint  er, 
folge  seinem  Stern,  der  Thor  und  der  Kluge,  der  Geizige  und 
der  Verschwender  —  Jason,  scheine  es,  sei  unter  einem  verliebten 
•Stern  geboren  und  verdiene  also  Entschuldigung;  er  könne  eben 


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Claudio  Monteverde. 


393 


nicht  anders.  „II  saggio  pub  dominar  le  stelle",  wirft  Hercules 
ein.  Besso  fahrt  in  seiner  Apologie  fort,  sie  scheint  ganz  direct 
auf  die  jungen  Herren  und  Damen  in  Venedig  gemünzt:  „Giason 
b  bello,  ha  senza  pelo  la  guancia,  b  bizarro  e  robusto,  di  donar 
non  si  stanca,  onde  per  possederlo  ogui  dama  le  porte  apre  e 
spalanca  —  bellezza,  gioventii,  oro,  occasione,  come  pub  contro 
tanti  fortissimi  guerrier  contrastar  il  voler  e  la  ragione?"  Her- 
kules wird  hitzig,  Besso  zieht  klüglich  ab  —  an  seiner  Stelle  er- 
scheint Jason  (Alt).  Er  introduzirt  sich  mit  einer  Arie,  d.  h.  mit 
einem  Strophenliede,  begleitet  von  zwei  Violinen  und  einem  Bass : 


P*  0- 


Öl 


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304 


Claudio  Monteverde. 


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fer-  ma 


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que-sto  mio  co  -  re  deh  piü  noa  stil-la 


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i 


i 


gio  -  io  d'a  -  mo  -re 


3t 


Das  wird  dem  Sohne  Alkmenens  ara  Ende  zu  viel:  ,,e  cosi 
ti  prepari  alla  pugna,  Giasone?!"  Jason  verantwortet  sich,  wo- 
bei er  höchst  leichtfertige  Grundsätze  verräth  —  lange  Strafpre- 
digt des  Herkules  (recitativisch,  der  Ton  der  Ereiferung  und  sitt- 
lichen Entrüstung  ist  recht  gut  getroffen).  „Consigliar  amanti  e 
gran  folia"  erwidert  kaltblütig  Jason  —  er  habe,  ftigt  er  hinzu, 
Hypsipile  verlassen,  weil  eine  andere  Liebe  ihn  ganz  beherrscht 
u.  s.  w.    Herkules  macht  ihn  aufmerksam,  dass  nach  Eroberung 


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Claudio  Monteverde. 


395 


des  goldenen  Vliesses  er  sofort  werde  abreisen  müssen  —  Jason 
erschrickt  und  spricht  seine  Betrtibniss  (fast  zu  edel  dafiir,  wie  er 
im  Texte  geschildert  ist)  in  einer  jener  Duodez-Arien  aus,  wie 
sie  in  jener  Periode  des  .Schaffens  bei  Cavalli  häufig  sind: 


non  m'uc  -  ci 


de  -  re 


~i — r 


0  # 

4 — i 


co  -  si  Tal-ma  dal  se-no  oh  dio      do  -  tto  di  -  vi  - 

6 


7^-~ — T~\'ir—f   <*'  "» — 6 


-  re 


3St 


I 


non  10  non  so   per  me   se  me  -  glio    si  -  a 


/TS 


o    la  vit  -  to  -  ria       o    la   ca  -  du  -  ta  raia. 


I 


S=3 


Beide  ab  —  an  ihrer  Stelle  tritt  Rosmina  Giardiniera  (Sopran) 
auf  und  schaut  den  Abgehenden  verwundert  nach.  l)  Arie  von 
drei  Strophen  —  dem  Texte  nach  im  Kammermädchenstyl  —  sie 
will  auch  lieben  u.  s.  w.  —  von  Cavalli  zu  einem  Stück  von 
naiver  Anmuth  veredelt.  Medea  kommt  —  ihre  Arie  klingt  wie 
die  vornehmere  Antistrophe  zu  dem  Gesänge  Bosmina's  —  sie 

1)  Sie  fragt:  Huomini  in  sü  quest'  hora  scampan  fuor  del  giardi- 
no?  quanto  sospetto,  che  le  donne  ai  corte  non  faccian  di  questi  orti  un 
bordelletto  (!). 


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.'{96 


Claudio  Monteverde. 


liebt  nicht  minder,  der  Gegenstand  ihrer  Neigung  ist  Jason.  — 
Dagegen  erweist  sie  sich  gegen  König  Egeo  von  Athen,  welcher 
sie  mit  Liebesbitten  und  Liebesklagen  bestürmt,  höchst  herb  und 
«prödc,  als  er  verzweifelnd  ausruft: 


in 


1 — 8V 


vie  -  ni,  Tie  -  ni   bei  -  la  pie  -  to 


sa,   a  -  pn-  mi, 


a  -  pri-miil  pet    -   to,  ch'iodi  tuamansve-na  -  to  dimortean- 


3z 


cor   a  -  do  -  re  -  ro,      a  -  do  -  re  -  ro,  Tas-pet 


to. 


i 


Sie  nimmt  ihn  beim  Worte  —  er  ist  zu  sterben  bereit;  sie 
zückt  den  Dolch,  er  wankt  nicht,  da  wendet  sie  sich  lachend 
um,  lässt  ihn  stehen  und  geht  mit  dem  Ausruf  „rcsti  pazzo!"  ab. 

Orest  (Bass)  introduzirt  sich  mit  einer  Bassarie  von  zwei 
Strophen:  „Fier'  amor  Talma  tormenta  gran  martire  da  gelosia" 
—  die  Singstimme  (wie  in  den  Bassgesängen  Viadana's)  im  Ein- 
klänge mit  dem  Bass.    Er  ist  Weiberfeind: 

ben  si  scorge  ogni  istante 
cangiar  forma  in  ciel  la  lana, 
e  leggier  piama  e'l  vento 
sempre  varia  la  fortuna, 
ma  piü  lieve  e  piü  incostanto 
6'1  cervelT  di  Donna  amante! 

pria  che    ser  -  vi  -  re  a    don  -  na   vor  -  rei     di  -  ve  -  nir 


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Claudio  Monteverde. 


397 


um 


guor  -  cio,      e     zop  -  po,      e      gob  -  bo! 


Demo  (stottern iL  und  höckerig),  Diener  des  athenischen  Kö- 
nigs Egeo,  meldet  sich: 


son    qui,   son   qoi,  che.       che,    che   eine  -  di? 


Wirklich  tritt  sofort  eine  Person  auf,  Orest  fragt  verwundert 
er  sei?    Demo  antwortet: 


ah     ah     non   m  in  -  te      to     to     te     to     te     to  te 


to 


ah 


non  ln'iu  -  ten  -  di. 


5 


j 


Das  letzte  rasche  Herausstossen  des  lange  mit  Anstrengung 
gesuchten  Wortes  ist  ein  der  Natur  abgelauschter  Zug.  In  einer 
ganz  trefflichen  Buffo-  und  Plapper-Arie  giebt  Demo  kund,  wer 
und  was  er  sei  —  er  habe,  sagt  er,  Glück  bei  den  Damen :  „ogni 
dama  per  me  arde  e 


so  -  so  -  so 


SO  -  SO  -  80 


SO  -  SO  -  SO 


m 


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393 


Claudio  Monteverde. 


Oreste. 


Demo. 


e     so-  spira!     so  -  so    -  so 


•0*- 


 h  1  1  

(Der  Zug,  dass  Orest  dem  Stotternden,  wie  unwillkührlich ,  ein- 
hilft, ist  von  glücklicher  Komik.) 

Medea  beschwört  die  Geister  des  Orcus;  sie  sollen  dem  Ja- 
son gegen  die  furchtbaren  Hüter  des  Vliesses  beistehen.  Die 
Geister  zögern  zu  erscheinen,  Medea  zürnt  und  ruft  lauter  —  da 
stürmen  sie  herauf,  und  einer  von  ihnen  übergiebt  der  Beschwö- 
rerin einen  Zauberring,  durch  den  Jason  die  Ungeheuer  bezwingen 
werde.  Und  hier  verschwindet  uns  die  Principessa  Medea  des 
Librettisten  und  die  kolchische  Zauberjungfrau  richtet  sich  in 
einfacher,  beinahe  antiker  Grossheit  vor  uns  auf  —  mit  geradezu 
ärmlichen  Mitteln  erreicht  Cavalli  hier  eine  Erhabenheit,  welche 
die  Szene  ganz  ebenbürtig  neben  ähnliche  von  Gluck  stellt.  *) 
Declamation  und  Ausdruck  sind  bei  schlichtester  Einfachheit  von 
bewundernswerther  Wahrheit  und  echt  dramatischer  Kraft;  — 
meisterhaft  ist  die  Steigerung  von  den  anfangs  feierlichen  zu  den 
weiterhin  dringender  und  zürnender  werdenden  Beschwörungen 
Medea's.  Wir  begegnen  Zügen  und  Motiven  aus  der  Orcusscene 
der  „Nozze  di  Peleo"  2)  —  aber  mächtig  und  bis  zum  Erschüt- 
ternden gesteigert.  In  wenigen  Takten  und  einfachen  Hanno- 
nieen  ist  durch  den  genial  erfundenen  Rhythmus  der  zerstörungs- 
lustige Grimm  der  Dämonen,  ihre  furchtbare,  kaum  gezügelte 
Wuth  fast  erschreckend  gemalt  —  diese  Färbung  des  kurzen 
Dämonenchores  rückt  ihn  wieder  in 's  Romantische;  es  sind  keine 
antiken  Hadesbewohner,  sondern  Höllengeister,  die  wir  hören. 
Medea  erwähnt  in  ihrer  Beschwörung  einmal  sogar  ausdrücklich 
der  Dantesken  Höllenstadt  Dis.  Sie  selbst  aber  behält  ihre  an- 
tike Haltung.  Ein  „Ballo  de'  Spiriti"  (nach  nicht  beigegebener 
Musik)  schliesst  den  Akt. 


1)  Die  Aehnlichkeit  mit  den  berühmten  Chören  im  „Orfeo"  ist  höchst 
iiberrasebend.  Hat  Gluck  CavahTs  ,,Giasone"-Partitur  etwa  in  Wien  oder 
in  Venedig  zu  sehen  bekommen?  Sein  Verdienst  würde  dadurch  um  nichts 
kleiner. 

2)  Auch  hier  die  Tonart  E-moll,  die  langsam  aufsteigenden  Drei- 
klange, die  daktylischen  Rhythmen  u.  s.  w.  Von  grossester  Wirkung 
ist  einigemale  die  plötzliche  Ausweichung  nach  Odur.  Auch  die  Rede 
des  Geistes  an  Medea,  so  ganz  einfach  abgefertigt  sie  scheint,  hat  etwas 
Nächtliches,  Düsteres,  Drohendes.  Und  das  erreicht  Cavalli  mit  der  blan- 
ken, vom  allersimpelsten  bezifferten  Bass  begleiteten  Singstimme! 


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Claudio  Monteverde. 


399 


Wenn  man  die  Mannigfaltigkeit  und  die  glückliche  Zeich- 
nung der  Charaktere  ins  Auge  fasst,  die  meist  ganz  vortreffliche 
Declamation,  die  Wahrheit  des  Ausdruckes  vom  Tragischen,  vom 
Heroischen  bis  zum  sentimental  Schmachtenden,  zur  koketten 
oder  naiven  Anmuth,  ja  bis  herab  zur  burlesken  Komik;  wenn 
man  dabei  ferner  erwägt,  wie  Cavalli  für  alles  dieses,  ohne  dafür 
ein  rechtes  Vorbild  zu  haben,  den  rechten  Ton  aus  sich  selbst 
finden  musste,  und  ihn  dabei  nur  sein  auf  die  Wirklichkeit  ge- 
richteter, fein  beobachtender  Blick  unterstützen  mochte  ;  wenn  man 
sieht,  wie  die  Herbheit  und  Starrheit  der  primitiven  Melodie  aus 
den  ersten  Zeiten  der  monodischen  Musik,  die  kaum  nur  erst 
vorüber  waren,  sich  bei  ihm  mehr  und  mehr  mildert,  wie  die 
knappen,  magern  Formen  sich  zu  erweitern  und  zu  runden  an- 
fangen, wie  sich  der  Gesang  belebt  und  erwärmt,  wie  die  Reci- 
tative  aus  dem  monotonen  „Gänsegeschnatter"  des  anfänglichen 
„Stile  rappresentativo"  mehr  und  mehr  zum  lebendigen,  schwung- 
vollen Redesang  werden,  wie  er  (und  der  Römer  Carissimi,  einer 
unabhängig  vom  andern)  die  Phraseologie  des  Recitativs,  welche 
fortan  für  alle  Folgezeiten  Geltung  behält,  wenn  nicht  schafft, 
so  doch  bedeutend  ausbildet,  wie  Cavalli  insbesondere  die 
weiblichen  Versausgänge,  welche  bei  seinen  Vorgängern  so  un- 
leidlich schleppende  Tonschlüsse  veranlassen,  unmerklich  zu  ma- 
chen versteht,  und  endlich  wie  er  seine  dramatischen  Werke  auch 
in  den  grossen  Dimensionen  durch  Licht  und  Schatten,  durch 
glücklich  contrastirende  Partieen,  durch  Steigerungen,  durch  auf- 
regende und  durch  calmirende  Momente  nach  einem  Plane  zu 
disponiren  versteht,  der  ein  überschauendes  Auge  verräth  und 
eine  Hand,  welche  nicht  etwa  kleinlich  von  Zeile  zu  Zeile,  von 
Vers  zu  Vers  vorrückt,  sondern  die  Massen  zu#  gruppiren  und 
zu  ordnen  weiss:  so  wird  man  nicht  umhin  können,  über  die 
geniale  Begabung  des  ausserordentlichen  Künstlers  zu  staunen  — 
er  nimmt  für  die  neuere  Musik  eine  sehr  analoge  Stellung  ein, 
wie  einst  für  die  ältere  Musik  Josquin  eingenommen.  *) 


1)  Die  Reihenfolge  der  in  Venedig  aufgeführten  Opern  CavaüTs  ist 
folgende : 

•1639  le  Nozze  di  Tetide  e  di  Peleo. 
1640  gl'  amori  di  Apolline  o  di  Dame. 
•1641  la  Didone. 

1642  l'amore  inamorato. 

*  -    la  virtü  de'  strali  d'amore. 

-  Narcisso  ed  Ecco  immortalati  (inamorati). 

1643  l'Egisto. 

1644  la  Deidaniia. 

*  -    l'Ormindo  (favola  regia). 
•    '1645  la  Doriclea. 

il  Titone. 

-  il  Romolo  ed  il  Remo. 


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400 


Claudio  Moutoverde 


Ein  in  seiner  Art  merkwürdiges  Werk,  da  es  seinem  Stoffe 
nach  in  die  Weise  der  heroisch-historischen  Oper  hinübergreift, 
ist  das  Oratorium  „Santa  Francesco  Romano'1  l)  von  Giulio 
d'Alessandri.  Dieser  Componist  (von  dem  die  k.  k.  Hofbib- 
liothek  in  Wien  ausserdem  ein  grosses  Te  Deum  für  zehn  Stim- 
men mit  Instrumenten  besitzt)  war  Canonicus  in  Ferrara,  wie 
Fe*tis  angiebt,  in  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts.  Für 
diese  Zeit  ist  das  Oratorium,  was  dessen  Musik  betrifft,  verhält- 
nissmässig  noch  sehr  unentwickelt;  nach  dem  Vorbilde  der  Ca- 
valli-Oper,  doch  mit  sehr  viel  geringerem  Talent,  stellenweise 
allerdings  mit  ganz  deutlich  fühlbaren  dramatischen  Intentionen 
geschaffen,  möchte  es  jedenfalls  in  die  Periode  zu  setzen  sein, 
ehe  Alessandro  Scarlatti  der  dramatischen  Musik  reichere  Formen 
gab.    Der  Text  behandelt  einen  der  (wiederholten)  kriegerischen 


1646  la  prosperita  infolice  di  Giulio  Cesare  dittatore. 
1648  la  Toriida. 


l'Euripo. 
M650  rOrinionte. 
M651  l'Oristeo. 

Alessandro  vincitore  di  so  stesso. 

l'Arraidoro. 

•  -    la  ßosinda. 

•  -    la  Calisto. 
•1652  l'Eritrea. 

-    Veremonda  l'amazone  d'Aragona. 
•1653  l'Elena  rapita  da  Teseo. 
•1654  il  Serse  (Xerse). 
•1655  la  Stltira,  principessa  di  Persia. 

*  -  l'Erismena. 
•1656  l'Artemisia. 

1658  Antioco. 

M659  Elena  rapita  di  Parido. 
•1664  Scipione  Afrieano. 

*  -    Muzio  Scevola. 
♦1665  il  Ciro. 

Die  vorsteheude  Aufzählung  ist  einem  Büchlein  (264  Seiten  Duodez) 
entnommen:  „le  Glorie  della  poesia  e  della  musica,  contenute  nelT  esatta 
notizia  de  Teatri  della  citta  di  Yenezia  e  nel  catalogo  purgatissimo  de 
drami  musicali,  quivi  sin'  hora  rappresentati".  Die  Aufzählung  geht  bis 
zum  Jahre  1730.  Marpurg  hat  davon  in  den  „historisch-kritischen  Bei- 
trägen*1, zweiter  Band,  S.  425  u.  f ,  einen  Auszug  gegeben.  —  Die  oben 
mit  •  bezeichneten  Opern*  befinden  sich  aus  dem  Contarinischen  Nachlass 


^raphe.  Vom  Egisto  befindet  sich  das  Autograph  in  der  k.  k.  Hofbiblio- 
thek  zu  Wien. 

1)  Ein  altes  Exemplar  in  der  Bibliothek  zu  Berlin;  eine  zweite, 
.benfalls  ältere  Abschrift,  ging  aus  Kiesewetter's  Nachlass  in  die  k.  k. 
Hofbibliothek  in  Wien  über. 


•1649  il  Giasone. 


in  der  Marcusbibliothek  zu  Vencdi: 


Xerxes  und  Artemisia  sind  Anto- 


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Claudio  Monteverde.  40 1 


Züge  des  Königs  Ladislaus  von  Neapel  gegen  Horn  also  Be- 
gebenheiten der  Jahre  1404  bis  1413.  „Ladislao  re  di  Napoli" 
(Altpartie)  steht  in  Begleitung  des  „Pierino  Conte  di  Troja,  gene- 
rale dell'  armi  del  reu  (Tenor)  siegreich  vor  Rom.  Ein  lebhaftes 
Vorspiel  von  Instrumenten,  fanfarenhaft  und  durch  eine  eingrei- 
fende Trompete  (allerdings  sehr  bescheiden)  kriegerisch  gefärbt, 
leitet  die  Handlung  ein ;  der  König  spricht  in  einem  aus  dem  Motiv 
des  Vorspieles  gebildeten  Gesänge  „a  battaglia"  seinen  kriegeri- 
schen Muth  aus;  ein  neunstimmiger  Soldatenchor  über  dasselbe 
Motiv  antwortet.  Eine  Arie  des  Königs  folgt:  „biondo  dio,  che 
Tetra  indori".  Wir  erfahren,  dass  die  zwei  edeln  römischen  Brü- 
der Ponziani  dem  Könige  bisher  den  tapfersten  Widerstand  ge- 
leistet haben.  Ein  Bote  (Nunzio,  Basspartie)  meldet  deren  Be- 
siegung: „gia  caddero  i  Ponziani,  ed  entrambi  i  germani,  langue 
l'uno,  quasi  estinto,  e  l'altro  gerne  awinto"  —  darnach  Arie  des 
Boten  in  zwei  liedhaften  Strophen  „la  vittoria  per  te  scende". 
Rom  öffnet  die  Thore ;  auch  Francisca,  die  Gemalin  des  gefange- 
nen Helden  geräth  in  Gefangenschaft  und  wird  dem  Grafen  von 
Troja  vorgeführt. 


■    Ml*  J'-y— g- 

Si-  gnor,    se    don  -  na  umi  -  1 

a    cre-scer  glo  -  ria  al  tuo 

 #  0—0  P  T  f — f  —  &  0  m 

 U  -2  5  X+"  h  «  H  -TT" ~ß 

 J 

&           *    +—* — ^+ 

Re   üa  raai  ba-stan  -te,  pri-gio-ne-raFrancesca  eccoatue  pian-tc. 

iü    J  II 

Der  König  verlangt  die  Auslieferung  dos  Sohnes  Battista  als 
Geisel,  widrigens  werde  den  gefangenen  Gatten  der  Tod,  die 
Paläste  der  Ponzier  Verwüstung  treffen.  Jetzt  eilt  Battista  (So- 
pran) selbst  herbei  und  will  sich  für  den  Vater  opfern.  Szenen 
der  Mutterliebe  und  des  Mutterschmerzes  Francisca's  —  der  Graf 


1)  Theodorich  von  Niem  und  Lionardo  Aretino  sind  die  glaubwür- 
digen und  gewissenhaften  Historiker  dieser  Epoche.  Eine  treffliche  Dar- 
stellung auch  bei  Gregorovius:  „Geschichte  der  Stadt  Rom  im  Mittel- 
alter", 6.  Band,  S.  528—640.  Die  von  Paul  V.  (1605—1621)  der  canoni- 
sirten  Francisca  Ponziani  gewidmete,  früher  St  Maria  nnova  geheissene 
Kirche  in  Rom  steht  bekanntlich  auf  der  Stätte  des  alten  Templum  urbis, 
zwischen  dem  Titusbogen  und  dem  Coliseum. 

Ambrot,  Oeichichte  der  Haaik.  IV.  26 


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402 


Claudio  Monteverde. 


von  Troja  setzt  ihrem  Flehen  harte  Unerbittlichkeit  entgegen  — 
ein  Gespräch  in  Form  von  Stichomythien  nnd  nicht  ohne  einen 
dramatischen  Zug: 


Conto. 


m  r  g  *t  r 


gl 


3 


5- 


« 


Quo  -  sti     so  -  spir 


van  -  no    con  Tau-raal    vo  -  lo 


Hg 


T 


5 


Francesca. 

i—  U    I  - 


Conte 


* 


 |— r 

lo    bo  -  ve  il   so  -  lo 


Que-sto  la-  gri-  me  mie 


! 


Francesca. 


Conto. 


5^ 


ü — * 


h      ■»  rt Ü  V6Z -  zi 


rua  -  tor  -no  a  -mor 


I 


Francesca. 
-#* — *  


Conte. 


te  -  ne  -  ra      e  -  ta  -  de 


a    to  -  le  -  rar  s'av-vez  -  zi 


3 


Francesca. 

3" ' 


.  »Ig, ff 


I 


*  g  6  fr 


- 


Ti  muo-vail  cie-lo,  ti  müovail  cie-lo,che  d'af-flit  -  ti  e 


m 


i 





— 


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Claudio  MonteYerde. 


403 


Eine  der  Arien  beginnt  im  Texte  mit  einem  der  nachmals 
bei  den  italienischen  Textdichtern  so  beliebten  Gleichnisse :  „Sco- 
glio  in  mar  sempre  piü  immobile"  u.  s.  w.  Die  Musik  der  Arien 
aber  hat  noch  den  älteren  Zuschnitt  und  einen  steifen,  altvateri- 
schen Gang,  doch  macht  sich  auch  wohl  eine  eigene  modulatori- 
sche Unruhe  fühlbar: 

Francesca. 


PF 


Adagio. 


Ke 


sto  senz' 


5 


5 


1 


m 


a  -  ni  -  ma,  che  —  che  mi  dis  -  a 


ni-ma 


1 — 

u 

=*= 

=u- 

-V- 

■  spro 

• 

t 

-  lor, 
— a— 

l'a- 

8pro 

do- 

lor,        do  -glia  indi- 

— 4-— J— | 

— #— 

-    •    *  • 

— b   *  f»  .  *  £-^K— : 

ci  -  bi  -  le,     pe-  na  in  -  sof 

— — - — - — e—m  — 1 

-  fri  -  bi  -  le     la  -  ce  -  ro  il 

,  m — — m  , 

■  1  1  

 1  =■  

cor  etc. 

■  i  1 — r— i — ^  

1)  Diese  eigenth&nüiche  Teitlegung  soll  ohne  Zweifel  Francesca's 
athemloao  Angst  malen. 


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404 


Claudio  Monteverde. 


Das  Glück  wendet  sich  von  Ladislaus,  die  Nachbarrepu- 
bliken (!  ?)  eilen  Rom  zu  Hilfe,  der  König  entschliesst  sich  zum 
Abzüge  (alles  unhistorisch)  —  er  will  Battista,  trotz  Franciscas 
Widerspruch  und  Flehen,  mitschleppen.  Sie  betet,  da  bringt  der 
Nunzio  die  Nachricht:  Battista  s  Pferd  stehe  wie  eingewurzelt 
und  sei  nicht  von  der  Stelle  zu  bringen.  Dieses  bescheidene  Mi- 
rakel erschüttert  den  König  so,  dass  er  der  Mutter  den  Sohn 
zurückgiebt.  —  Diese  Azione  sacra  war,  wie  der  ganze  Zuschnitt 
zeigt,  wiederum  auf  die  szenische  Aufführung  berechnet.  Wann 
und  wo  diese  stattgefunden,  darüber  fehlen  die  Nachrichten.  Viel- 
leicht als  halbkirchliches  dramatisches  Festspiel,  wie  Landi's  S. 
Alessio,  zu  dem  das  Werk  überhaupt  eine  Art  Pendant  bildet  — 
nur  dass  jenes  ältere  sehr  viel  mehr  Talent  verräth  und  sich 
überhaupt  mit  seinen  Chören,  Instrumentalsätzen  und  Tänzen 
neben  dieser  etwas  dürftigen  „S.  Francesca  Romana"  völlig  wie  ein 
grosses,  glänzendes  Prachtstück  ausnimmt,  so  dass  wir  auf  die- 
sem Umwege  wieder  etwas  von  dem  Eindruck  erhalten,  den  Lan- 
di's musikalische  „sacra  Azione"  auf  den  vornehmen  Zuhörerkreis 
im  Palast  Barberini  hervorgebracht  haben  mag. 


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vni. 

Theoretiker  und  Lehrer. 


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uigiuze 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino, 
Zacconi,  Artusi  n.  s.  w. 

So  sicher  es  auch  heissen  muss,  dass  bisher  noch  keine 
„Theorie  der  schönen  Künste"  auch  wirklich  „schöne  Künste" 
hervorzurufen  vermocht  hat,  eine  so  wichtige  Stelle  nehmen  gleicb- 
wol  die  Theoretiker  in  der  Geschichte  der  Kunst  ein.  Das  wirk- 
liche Kunstgesetz  geht,  wie  das  Kunstwerk  selbst,  letzterem  im- 
manent, immer  nur  aus  dem  Geiste  des  schaffenden  Künstlers 
hervor;  der  Theoretiker  mag  sich  auch  wohl  in  abstrakte  Specu- 
lationen  und,  wenn  es  sich  um  Musik  handelt,  in  physikalische 
und  akustische  Untersuchungen,  in  Zifferwesen  und  Rechnerei 
vertiefen  —  den  Künstlern  und  dem  Verständniss  ihrer  Schö- 
pfungen nützt  er  am  meisten,  wenn  er  den  Kunstwerken  die  Kunst- 
gesetze abfragt,  wenn  er,  nach  des  Dichters  Wort,  „suchet  den 
ruhenden  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht"  —  und  aus  der 
Mannigfaltigkeit  der  ihm  in  Menge  entgegentretenden  Kunstwerke 
das  eine  Gesetz  aufzuspüren  trachtet,  welches  gemeinsam  ihnen 
zu  Grunde  liegt.  Hat  er  es  gefunden,  dann  ist  sein  Fund  jeden- 
falls ein  sehr  werthvoller.  Dann  mag  auch  die  Künstlerschaft, 
insbesondere  die  heranblühende  neue  Generation  an  ihn  heran- 
treten, Belehrung  suchen  und  finden  —  und  zwar  eine  Belehrung, 
welche  jetzt  hinwiederum  dem  eigentlichen  Kunstschaffen  zum 
Nutzen  gedeiht. 

In  Johannes  Tinctoris  sehen  wir  zuerst  den  Musiklehrer, 
welcher  in  solchem  Sinne  die  grossen  Meister  seiner  Zeit  —  vor 
allen  Okeghem  und  Busnois  studirt  —  ihm  reiht  sich  Pietro  Aron 
an  —  und  in  Deutschland  Heinrich  Glarean,  dessen  Fundgrube 
hauptsächlich  die  Werke  Josquin's  werden.  Tinctoris  repräsen- 
tirt  recht  eigentlich  die  incarnirte  Musiktheorie  des  15.  Jahrhun- 
derts —  auch  Aron  und  Glarean  müssen  wir  demselben  Säculum 
nach  Geist  und  Inhalt  ihrer  Schriften  zuweisen  —  mögen  letz- 
tere auch  erst  nach  dem  Jahre  1500  ans  Licht  getreten  sein. 
Wie  Tinctoris  in  dem  genannten  Jahrhundert,  so  steht  im  fol- 
genden, dem  sechzehnten,  als  Epochenmann  Gioseffo  Zarlino 
da.    Sein  Geburtsort  war  die  Fischer-  und  Schifferstadt  Chioggia 


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408       Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 

—  das  „plebejische  Venedig",  wie  man  zum  Unterschied  des 
eigentlichen  aristokratischen  sagen  könnte.  Sein  Vater  Giovanni 
Zarlino  (von  welchem  übrigens  nichts  Näheres  bekannt  ist)  be- 
stimmte ihn  zum  geistlichen  Stande.  Gioseffo  erhielt  die  „niede- 
ren Weihen"  am  3.  April  1537  und  am  22.  März  1539,  woraus 
geschlossen  worden,  dass  er,  da  die  Weihen  nicht  vor  dem  zwei 
und  zwanzigsten  Lebensjahre  ertheilt  wurden ,  nicht  später  als 
am  22.  März  1517  geboren  worden  sei.  l)  Zum  Diacon  1541 
geweiht,  nahm  er,  wie  er  selbst  erzählt,  seinen  Aufenthalt  in  Ve- 
nedig. 2)  Er  zeichnete  sich  nicht  nur  in  seinen  theologischen 
Studien  aus,  sondern  auch  im  Studium  der  Philosophie,  Mathe- 
matik, Chemie,  Astronomie  —  in  der  griechischen  und  hebräi- 
schen Sprache.    Alles  überwog  aber  seine  Neigung  zur  Musik 

—  „fino  da  i  teneri  anni  hb  sempre  havuto  naturale  inchinazione 
alla  musica",  sagt  er  selbst  in  der  Dedication  seiner  „Istituzioni 
armoniche".  Er  wurde  Schüler  Adrian  Willaerfs.  Mit  Begeiste- 
rung hing  er  an  dem  alten  Lehrer.  Er  nennt  ihn  nie  anders 
als  „Ecceilentissimo"  oder  auch  wohl  gar  „divino"  —  ein  Epi- 
theton übrigens,  womit  das  16.  Jahrhundert  ungemein  freigebig 
war.  Als  Cyprian  de  Rore,  seit  18.  October  1563  Willaert's 
Nachfolger  in  der  Stelle  des  Kapellmeisters  von  S.  Marco,  gestor- 
ben, wurde  am  5.  Juli  1565  Zarlino  dessen  Nachfolger.  Während 
er  diese  Würde  bekleidete,  sassen  an  den  Marcusorgeln  keine 
geringeren  Männer  als  Annibale  Padovano,  Claudio  Merulo  und 
die  beiden  GabrielL  Und  nun  heisst  es  im  Anstellungsdekret 
Zarlino's :  „Üesiderando  Ii  Clarissimi  Signori  Procuratori  de  Supra 
prowedere  d'un  maestro  per  la  Cappella  de  S.  Marco  che  sia 
non  solamente  dotto  e  prattico  della  musica,  ma  come  quello  che 
ha  da  essere  superiore  agli  altri  musici,  sia  anche  prudente  e 
modesto  di  far  il  suo  offitio,  havendo  avuta  ottima  informatione 
della  sufficientia  e  della  modestia  del  miss.  Pre  Iseppo  Zarlino 
et  havendone  voluto  Sue  Signorie  haver  sopra  eib  partieipatione 
con  Sua  Serenita,  lo  hanno  elletto  per  maestro  della  suddetta 
cappella".    So  gross  also  war  sein  Ansehen.    Sein  theoretisches 

,  Hauptwerk,  die  „Istitutioni  Harmoniche",  hatte  er  allerdings  schon 
mehrere  Jahre  vor  dieser  Erwählung,  nämlich  1557,  airs  Licht 
treten  lassen  —  er  widmete  sie  dem  Patriarchen  von  Venedig, 

1)  So  von  Abbe  Ravagnan  und  von  Caffi.  Letzterer  sagt  (Stör,  della 
Mus.  Sacra  nolla  giä  Cappella  Dacale  di  S.  Marco  in  Veneria,  1.  Band, 
S.  129)  ganz  bestimmt:  ,J)gli  nacque  nelT  anno  1517**  —  fügt  aber  we- 
nige Zeilen  später  hinzu:  „non  trovossi  Tatto  finora,  che  direttament« 
provi  e  con  precisione  l'epoca  del  di  Iui  naseimento".  Barney  datirt  Zar- 
lino's  Geburtsjahr  mit  1540!  (Hist  of  M.  III,  S.  162.)  Zarlino  selbst 
sag-t:  er  sei  im  Juli  1521  zwei  Jahre  alt  gewesen  (s.  seine  Schrift  , .della 
Ongine  dei  R.  F.  Cappucini".  im  vierten  Band  seiner  Werke,  S.  96).  Er 
irrte  sieh  selbst  in  der  Berechnung  seines  Alters! 

2)  Sopplim.  mus.  VIII,  131. 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarüno  u.  8.  w.  409 


Vincenzo  Diedo  —  und  1562  war  sogar  schon  eine  zweite  Auf- 
lage erschienen.  Die  Gelehrsamkeit.  Gründlichkeit,  der  Ideen- 
reichthum und  die  ruhig-ernste,  man  könnte  sagen  „venezianisch- 
vornehme"  Sprache  dieses  Werkes  mussten  imponiren.  Diesem 
Buche  folgten  1562  die  fünf  Bücher  „Dimostrationi  harmoniche" 
—  dem  Dogen  Luigi  Mocenigo  gewidmet.  Stolz-bescheiden  sagt 
Zarlino  von  diesem  Werke:  „es  habe  in  der  Musiktheorie  arge 
Unordnung  geherrscht  und  Unverständlichkeit  überdies;  durch 
Ausdauer  und  Arbeit,  meine  er,  sei  es  ihm  mit  Gottes  Hilfe  ge- 
lungen, dass  die  ihrer  alten  Würde  lange  beraubt  gewesene 
Musik  jetzt  mit  Majestät  und  Zier  sich  als  eine  der  edelsten  und 
wichtigsten  unter  den  Wissenschaften  zeigen  dürfe"  („con  maesta 
e  decoro  come  nobilissima  et  come  una  delle  principali  tra  le 
altre  scienze").  Im  Jahre  1588  folgten  acht  Bücher  „Sopplimenti 
musicali"  —  gewidmet  dem  Papste  Pius  V.  Neben  diesen  musi- 
kalischen Schriften  verfasste  Zarlino  auch  eine  moralische:  „un 
trattato  della  pazienza,  utilissimo  ad  ognuno,  che  vuole  vivere 
christianamente,  1 579"  (also  eine  neue  Behandlung  des  einst  schon 
von  Tertullian  in  16  Capiteln  behandelten  Gegenstandes  —  „de 
patientia"  —  Zarlino  schrieb  sein  Buch  für  Eleonora  von  Este, 
welche  ihre  Mutter  verloren  hatte).  Ferner:  „un  discorso  sopra 
il  vero  anno  et  giorno  della  morte  di  Gesu  Christo  nostro  Si- 
gnore"  — ,  „un  informatione  della  origine  dei  R.  P.  Capuccini 
(1579)",  „le  Risolutioni  d'alcuni  dubij  mossi  sopra  la  correttione 
fatta  deir  anno  di  Giulio  Cesare"  (1583).  Die  Kapellmeister- 
stelle von  S.  Marco  hatten  bis  dahin  hochgebildete  Männer  inne- 
gehabt, treffliche  Musiker  —  (Cypriano  de  Rore  hatte  auch  „il 
divino"  geheissen)  aber  noch  kein  so  vielseitiger  Gelehrter,  kein 
Schriftsteller  wie  Zarlino.  Dieser  Umstand  war  sicher  für  die 
Wahl  der  entscheidende.  Noch  in  dem  am  13.  Juli  1603  aus- 
gestellten Dekret  für  Giovanni  Croce  (Zarlino's  zweiten  Nach- 
folger —  der  erstö  war  Baldassare  Donati)  heisst  es:  „il  dottissi- 
mo  Zarlino,  cosl  scientifico  in  questa  professione,  che  ha  composto 
opere  profondissime  nella  theorica".  Von  musikalischen  Composi- 
tionen  wird  nichts  gesagt;  sie  verstanden  sich  von  selbst. 

In  die  Zeit,  während  welcher  Zarlino  sein  Amt  bei  S.  Marco 
bekleidete,  fielen  einige  wichtige  Ereignisse:  —  am  7.  October 
1571  der  Seesieg  gegen  die  Türken  bei  Lepanto,  an  welchem  der 
Doge  Sebastian  Venier  so  ruhmvollen  Antheil  hatte  —  und  1574 
der  Besuch  König  Heinrich  IH.  von  Valois  auf  seiner  Reise  von 
Polen  nach  Frankreich,  dessen  Andenken  eine  grosse,  reichge- 
zierte Inschrifttafel  im  Corridor  des  Dogenpalastes  oberhalb  der 
Riesentreppe  und  in  der  Sala  di  quattro  porte  A.  Vicentino's  ge- 
waltig grosses,  figurenreiches  Gemälde  mit  vielen  Portraitköpfen 
von  Zeitgenossen  bewahrt  —  ein  ähnliches  Bild  malte  der  jüngere 
Palma,  welches  dann  nach  Prag  kam  und  sich  jetzt  in  der  Dres- 


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410        Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  8.  w. 

dener  Gallerie  befindet  Die  Republik  Venedig  legte  auf  den 
Seeweg  wie  auf  den  Besuch  des  königlichen  Gastes  überaus 
grosses  Gewicht  —  und  so  wurden  denn  beide  Ereignisse  Anlass 
zu  glänzenden  Festen  —  wobei  Musik  einen  sehr  wesentlichen 
Bestandtheil  bildete  und  zwar  Musik  von  Zarlino's  Composition. 
Insbesondere  wurde  König  'Heinrich  auf  dem  Bucintoro  mit  einem 
Gesänge  begrüsst  —  „musiche  bellissime  in  versi  latini"  —  wie 
die  Zeitgenossen  Rocco  Benedetti  und  Cornelio  Frangipani  berich- 
ten —  die  Musik  zum  feierlichen  Gottesdienst  in  S.  Marco  war 
gleichfalls  Zarlino's  Arbeit,  nicht  minder  die  Musik  zu  einer  dra- 
matischen Darstellung  „Orfeo"  —  Dichtung  von  dem  genannten 
Frangipani,  —  die  Aufführung  fand  im  grossen  Saal  (Sala  del 
maggior  Consiglio)  im  Dogenpalaste  statt  An  eine  Oper,  wie 
Caffi  zur  Ungebühr  thut,  *)  darf  man  in  keiner  Weise  denken  — 
es  können  nur  Gesänge  in  Madrigalform  gewesen  sein,  wie  sie 
anderwärts  bei  ähnlichen  Gelegenheiten  das  Gewöhnliche  waren. 

Aber  auch  die  grosse  Pest  von  1577  (an  welcher  auch  der 
fast  hundertjährige  Tizian  starb)  fällt  in  Zarhno's  Tage.  Als 
nach  dem  Erlöschen  der  Seuche  die  Fundamente  der  Votivkirche 
S.  Maria  della  Salute  am  21.  Juli  1577  unter  grossen  Feierlich- 
keiten gelegt  wurden,  sang  man  dazu  eine  von  Zarlino  für  die 
Gelegenheit  componirte  Messe. 

Im  Jahre  1582  wurde  Zarlino  in  das  Domcapitel  von  Chiog- 
gia  gewählt,  und  als  im  folgenden  Jahre  der  dortige  Bischof 
Marco  Medici  starb,  schickte  im  August  die  Einwohnerschaft  einen 
eigenen  Abgesandten  an  den  Dogen  Niccolo  da  Ponte  und  den 
Senat  und  erbat  sich  in  einer  Bittschrift  Zarlino  als  Bischof  — : 
„che  Bi  habbi  per  Vescovo  il  Reverendissimo  Padre  Gioseffo  Zar- 
lino, suo  compatriota,  perche  si  tien  per  certo,  che  havendo  un 
tal  huomo  virtuoso  et  pieno  di  bonta  et  affettuosissimo  alla  sua 
patria,  sara  di  grandissimo  giovamento  spirituale  a  tutto  il  po- 
polo".  Aber  der  Senat  und  der  Doge  da  Ponte,  ein  erklärter 
Musikfreund,  mochten  den  berühmten  Meister  so  wenig  entbehren, 
als  er  selbst,  der  in  erster  Reihe  Musiker  war,  geneigt  sein 


1)  1.  1.  I.  Band,  S.  140—141.  Caffi  war  ein  sehr  guter  Archiv- 
stöberer,  in  Sachen  der  Musik  dagegen  total  unwissend.  Unter  Triumph- 
Geschrei  bestreitet  er  den  Florentinern  —  insbesondere  Peri  und  Caccini 
den  Kuh  in,  die  Begründer  der  Oper  zu  sein;  ja  das  musikalische  Drama, 
welches  Cardinal  Mazarin  in  Paris  am  5.  März  1647  durch  italienische 
Sänger  auffahren  Hess,  war  nach  Caffi's  felsenfester  Meinung  ,,1'Orfeo  di 
Zarlino,  il  capo  d'opera,  che  volle  (Mazarin)  principalmente".  Ein  „Mei- 
sterstück" -  das  versteht  sich!  Die  „partitura"  sei  in  Philidor's  Hände 
gekommen.  Die  Pariser  waren  von  dem  neuen  Schauspiel  wenig  erbaut 
—  wie  der  gleichzeitige  Vers  bezeugt: 

Ce  beau,  mais  malheureui  Orphee 

Ou,  pour  mieux  parier,  ce  Morphee, 

Puisque  tout  le  monde  y  dormit 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


411 


mochte,  seine  Stelle  in  8.  Marco  gegen  den  Bischofssitz  von 
Chioggia  zu  vertauschen.  Er  blieb  bis  an  seinen  Tod,  am  4. 
Februar  1590,  Kapellmeister  von  S.  Marco;  „e  morto  il  Ro  M.  S. 

5.  Isepo  Zarlin  capelan  di  S.  Severo  de  etta  d'anni  69  amalato 
i  mal  de  gotte  et  cattaro  di  mesi  tre;  Mo  de  Cap.  de  S.  Marco" 
lautet  die  Bescheinigung  seines  Todes.  Nach  venezianischer  Chro- 
nologie, die  ihr  Neujahr  mit  dem  März  anfing,  war  die  Jahreszahl 
1589.  Beerdigt  wurde  er  in  der  Gruft  der  Kaplan  e  von  S.  Se- 
vero in  der  Kirche  S.  Lorenzo  (nicht  weit  von  S.  Giorgio  de' 
Greci,  bekannt  durch  Girolamo  Campagna's  grosses  Prachtstück 
von  Hochaltar).  Aber  kein  Stein,  keine  Inschrift  ehrt  dort  Zar- 
lino's  Andenken.  In  neuester  Zeit  hat  man  seine  Büste  in  den 
Corridor  des  Dogenpalastes  gestellt.  Eine  Medaille  zu  seiner 
Ehre  wurde  schon  bei  seinen  Lebzeiten  geschlagen  —  der  Avers 
zeigt  sein  Brustbild  im  Profil  mit  der  Umschrift  „Joseph  Zarli- 
nus" —  der  Revers  eine  Orgel  mit  einigen  daneben  liegenden 
Büchern  ■ —  darunter  „Op.  F.  de  L."  —  Umschrift:  „Laudate  eum 
in  chordis". 

In  die  Zeit  der  Amtstätigkeit  Zarlino's  fällt  auch  die  vom 
Dogen  Niccolo  da  Ponte  mit  Dekret  vom  4.  April  1579  verfugte 
Regulirung  des  Sängerchors  von  S.  Marco,  wobei  natürlich  Zar- 
lino wesentlich  in  Anspruch  genommen  worden  sein  wird. 

Zarlino's  persönlicher  Charakter  zeigt  sich  als  ein  edler  und 
liebenswürdiger.  Die  Bücher  seiner  Bibliothek  bezeichnete  z.  B. 
Zarlino  mit  der  Beischrift:  ,,Hic  liber  est  presbyteri  Josephi 
Zarlini,  amicorumque",  und  als  ihn  1579  sein  gelehrter  Freund 
Giov.  Vincenzo  Pinelli  in  Padua  um  eine  werthvolle  Handschrift 
der  Werke  des  Guido  von  Arezzo  ersucht,  bethätigt  er  jenen 
Zusatz  —  schreibend:  „se  ne  servira  al  suo  commodo,  —  dispona 
delle  cose  mie  come  se  fussero  sue"  —  und  bedauert,  den  „Ottone" 
(Oddo's  Dialog?)  nicht  mitsenden  zu  können:  „mi  scappb  dalle 
mani  per  haver  havuto  a  fare  con  persone  di  poca  fede".  Auch 


für  Zarlino.  Und  selbst  Vincenzo  Galilei,  welcher  als  Gegner 
Zarlino's  auftritt,  nennt  ihn:  „huomo  essemplare  di  costumi ,  di 
vita  et  di  dottrina".  l) 

Wenn  die  Zeitgenossen,  wie  Francesco  Sansovino,  voll  des 
Lobes  sind:  „Zarlino  —  il  quäle  nella  teoria  e  nella  composizione 
e  senza  pari"  (obschon  gleichzeitig  in  Rom  Palestrina  lebte!), 
wenn  ihn  Bettinelli  im  überschwanglichen  Elogio-Styl  „einen  Ti- 
zian, einen  Ariost"  nennt,  und  noch  der  gelehrte  Doge  Marco 
Foscarini  (1762—1768)  —  um  nichts  richtiger  —  meint:  „il 
nostro  Gioseffo  Zarlino,  famoso  restauratore  della  musica 
intuttaltalia"  —  so  muss  es  auffallen,  dass  wir  von  seinen 


1)  Zarlino  selbst  beruft  sich  auf  diesen  Ausspruch  (Sopplim.  mus.  III.  2). 


jene  Supplik  der  Bürj 


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412 


Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


bewunderten  Compositionen  so  äusserst  wenig  besitzen.  Die  längst 
ausgeplünderten  Musikscbränke  von  S.  Marco  enthalten  von  ihm 
keine  Note.  Was  in  seinen  theoretischen  Werken  als  Beispiel 
eingeschaltet  ist,  dient  Lehrzwecken  und  gewährt  keinen  Mass- 
stab. *)  Das  Liceo  filannonico  in  Bologna  besitzt  handschriftlich 
eine  vierstimmige  Messe.  Im  Druck  gab  sein  Schüler  Philipp 
Usberti  1566  bei  Fr.  Rampazotto  in  Venedig  „Modulationes  sex 
vocum"  heraus.  Eine  Antiphone  daraus  „Virgo  prudentissima" 
nahm  Paolucci  in  seine  Prattica  di  Contrappunto  auf  —  in  Kie- 
sewetter's  Sammlung  findet  sich  deren  Partitur.  Hier  zeigt  sich 
der  würdige  Schüler  Willaert's  in  sehr  bedeutender  Weise  — 
das  Kirchenmotiv  des  Magnificat  liegt  zu  Grunde,  zum  dreistim- 
migen Canon,  in  gerader  und  verkehrter  Bewegung  entwickelt, 
wozu  die  drei  andern  Stimmen  sinnreich  und  elegant  contrapunk- 
tiren.  Der  Styl  ist  überall  im  Wesen  der  niederländische,  wie 
ihn  Zarlino  von  seinem  Lehrer  Willaert  übernommen.  Eines 
Magnificat  ,,a  tre  Chori  spezzati"  —  also  niederländisch-venezia- 
nischen Styls  im  Sinne  Willaert's  —  gedenkt  Zarlino  in  den  Istit 
harmoniche. 

Von  der  Existenz  der  gleichzeitigen  römischen  Schule  scheint 
Zarlino  gar  nichts  zu  wissen;  von  den  Musikern  in  Rom  erwähnt 
er  blos  „Morale  Spagnuolo"  gelegentlich.  Die  Meister,  welche 
er  zitirt,  sind  (nebst  seinem  Lehrer  Willaert)  Ocheghen  (sie), 
Josquin,  Isaak,  Pierre  de  la  Rue,  Cyprian  de  Rore,  Johannes 
Motono  (Mouton),  Jacchet,  Verdelot,  Lupus,  Gombert.  Man  sieht, 
welche  Tonsetzer  für  ihn  von  „classischem  Ansehen  und  Gehalt" 
waren.  Im  Vergleiche  zu  dem,  was  gleichzeitig  in  Rom,  ja  was 
in  Venedig  selbst  durch  Andreas  Gabrieli,  dem  ersten  echt-vene- 
zianischen Meister,  geleistet  wurde,  erscheint  Zarlino  als  ein  Zu- 
rückgebliebener. 2)  Entschieden  wichtiger  als  die  Reste  von  Com- 
positionen Zarlino's,  welche  wir  noch  besitzen,  sind  für  uns  seine 
musikalischen  Schriften.  Als  die  Elemente,  aus  welchen  sie  zu- 
sammengesetzt sind,  kann  man  bezeichnen:  antiquarisch-gelehrte, 
physikalische,  akustische  und  mathematische,  historisirend- theore- 
tische, philosophisch-ästhetische  und  endlich  speeifisch  musikalisch 
auf  den  Tonsatz  abzielende.  Die  antiquarisch -gelehrten  befassen 
sich,  wie  natürlich,  vor  Allem  mit  der  antiken  Musik  und  dem, 
was  im  Alterthum  mit  ihr  in  irgend  einer  Verbindung  stehen 
mochte.  Zarlino's  gründliche  Kenntnis*  der  lateinischen  und  grie- 
chischen Sprache  gestattete  ihm  eingehende  Quellenstudien;  all- 
überall zeigen  sich  die  Spuren  vielseitiger,  gründlicher  Gelehr- 

1)  Ein  kurzes,  sehr  kunstvolles,  übrigens  ziemlich  steifleinenes  Exem- 
pel  aus  den  Istit.  härm.  III,  66  hat  P.  Martini  in  den  Saggio  di  Contr., 
Band  I,  S.  45—46,  aufgenommen  und  erläutert. 

2)  Der  Enthusiasmus  Caffi's  rar  ihn  hat  andere  Gründe,  als  musi- 
kalische.  Ohnedies  fehlte  es  Caffi  dafür  an  jedem  ürtheil. 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w.  41$ 

samkeit l)  und  einer  wahrhaft  imponirenden  Belesenheit  —  wohl- 
gewählte Stellen  aus  lateinischen  und  griechischen  Dichtern,  Phi- 
losophen und  Historikern  zitirt  Zarlino  am  liebsten  im  Original 

—  sie  sind  der  kostbare  Schmuck  seines  Buches,  denn  er  ver- 
steht den  tiberreichen  gelehrten  Apparat  sehr  geschmackvoll  zu 
ordnen  und  schreibt  selbst  den  eleganten  Styl  eines  fein  gebilde- 
ten Mannes  —  ohne  Phraseuwerk,  ohne  gewaltsame  Effektstellen, 

—  ruhig,  klar,  verständig.  Seine  zahllosen  Zitate  machen  nicht 
den  Eindruck  schulmeisterhafter  Pedanterie  —  sie  fügen  sich  in 
den  Redefluss  des  Uebrigen  einfach  und  ungezwungen  ein  — 
zudem  war  man  es  vom  15.  Jahrhundert  her  in  Italien  gewohnt, 
bei  jeder  passenden  und  nicht  passenden  Gelegenheit  Aussprüche 
alter  Autoren  auszukramen  und  Mythologisches  ohne  Ende  so 
ohneweiteres  als  „beweiswirkend"  einzumischen  wie  das  hart  da- 
neben stehende  Biblische.  Als  guter  Theolog  kennt  Zarlino 
seinen  Hieronymus,  Augustinus,  Origenes  u.  s.  w.  so  gut,  wie 
seine  klassischen  Autoren  und  nimmt  sie  gleichfalls  in  reichem 
Masse  in  Anspruch  —  als  Italiener  hat  er  Dante,  Petrarca  und 
Ariost  eben  so  genau  inne,  und  so  auch  Sannazar  und  andere 
Autoren  —  er  rühmt  an  entsprechender  Stelle  ihre  Verdienste 
als  tüchtiger  Literaturhistoriker  und  entlehnt  ihren  Versen  manche 
Glanzstelle.  2)  So  nimmt  sich  denn  sein  Buch  aus,  wie  einer  der 
Prachtpaläste  seiner  Vaterstadt,  wo  farbenprangende  Gemälde, 
Seltenheiten  und  Kostbarkeiten  aller  Länder  und  alle  gedenk- 
baren Herrlichkeiten  von  dem  Rcichthume  des  Besitzers  Zeug- 
niss  geben.  3)  Glarean's  „Dodekachordon"  mit  seiner  antiquari- 
schen und  sonstigen  Gelehrsamkeit  nimmt  sich  dagegen  völlig 
wie  eine  nordische  Schulstube  aus,  „wo  selbst  das  gold'ne  Him- 
melslicht trüb  durch  gemalte  Scheiben  bricht"  —  und  doch  ist 
auch  Glarean  ein  im  Sinne  des  Humanismus  sehr  gebildeter  Mann 
und  ein  tüchtiger  Lateiner  und  Grieche.  Mit  den  mittelalterlichen 
Musikscribenten  theilt  Zarlino  die  Freude  an  geometrisch-regel- 
mässigen  Aufrissen  zur  Erläuterung  der  musikalischen  Intervalle 
und  Zahlenproportionen,  welche,   meist  sehr  zierlich  erfunden, 


1)  Bemerkenswerth  ist,  was  Zarlino  (Istit.  harm.  I,  4)  selbst  sagt: 
„Essendo  nato  l'huomo  a  cose  molto  piü  eccellenti,  che  non  b  il  cantare 
0  sonare  di  Lira  6  altre  sorte  d'istrumenti  per  satisfar  solamente  al  Senso 
delT  udito,  usa  male  la  sua  natura  et  devia  del  proprio  fine,  poco  cu- 
randosi  di  dare  il  cibo  conveniente  all'  inteletto. 

2)  Z.  B.  Istit.  harm.  IV,  1.  Selbst  neugriechische  Literatur  kennt 
Zarlino.  In  dem  eben  erwähnten  Capitel  zitirt  er  Verse  von  Eonstantin 
Mannasi. 

3)  Noch  passender  vielleicht  wäre  der  Vergleich  mit  dem  berühmten 
Gabinet  jenes  holländischen  Anatomen,  wo ,  Skelette,  Präparate  und  andere 
nicht  eben  angenehme  Dinge  zwischen  funkelnden  Erzstufen,  künstlichen 
Blumen,  ausgestopften  Vögeln  u.  dgl.  in  zierlichster  Gruppirung  aufge- 
stellt waren. 


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414       Di®  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 

bald  an  Blumensterne,  bald  an  das  Masswerk  gothischer  Fenster 
erinnern.  Wo  die  Lehre  vom  eigentlichen  Tonsatze  beginnt,  ver- 
schwinden Citate  und  Zeichnungen  oder  erscheinen  doch  nur 
ausnahmsweise  —  desto  reichlicher  treten  jetzt  die  Notenbeispiele 
auf.  Die  ganze  Literatur  musikalischer  Lehrschriften  hatte  bis 
dahin  nichts  aufzuweisen,  was  sich  mit  Zarlino's  Büchern  hätte 
messen  können.  Neben  der  musikalischen  und  anderweitigen  Ge- 
lehrsamkeit zeigen  sich  auch  wohl  Stellen,  welche  den  wohlden- 
kenden, Welt  und  Menschen  kennenden,  man  möchte  sagen:  den 
weisen  Mann  erkennen  lassen.  Die  „harmonischen  Institutionen" 
schliessen  mit  Worten,  welche  die  „Beurtheiler"  und  die  Künst- 
ler aller  Zeiten  beherzigen  sollten:  „il  giudicare  e  cosa  molto 
difficile  e  pericolosa,  tanto  piü,  che  si  trovano  diversi  appetiti 
—  —  ne  anco  per  udir  simili  giudicij  i  musici  debbono  dispe- 
rare,  se  bene  anco  udissero  costoro  biasimare  et  dire  ogni  male 
delle  loro  compositioni  ma  debbono  pigliar  animo  et  confortarsi; 
poiche  il  numero  de  quelli,  che  non  hanno  giudizio  e 
quasi  infinito  et  pochi  si  ritrovano  esser  quelli,  i  quali  non 
si  giudichino  esser  degni  da  esser  connumerati  tra  gli 
huomini  prudenti  et  giudiziosi". 

Auch  an  ergötzlichen  Zügen  fehlt  es  nicht;  Zarlino  schildert 
nicht  ohne  humoristischen  Aerger  die  Unarten  der  Sänger,  wie 
sie  statt  „aspro  core  e  selvaggio  e  cruda  voglia"  hören  lassen: 
„aspra  cara  e  salvaggia  e  crada  vaglia"  —  und  wie  manche  In- 
strumentalisten  ihren  Vortrag  mit  Gesten  begleiten,  als  tanzten 
sie  zugleich  nach  ihrer  eigenen  Musik.  ') 

Für  die  „Dimostrazioni  harmoniche"  hat  Zarlino  die  Einthei- 
lungen  in  „Ragionamenti"  statt  in  Bücher,  und  in  „Proposte" 
statt  in  Capitel  gewählt.  Es  bedeutet  mehr  als  eine  blosse  Aen- 
derung  der  Bezeichnung  und  steht  mit  der  Dialogform  in  Zu- 
sammenhang, welche  Zarlino  diesem  Buche  zu  geben  für  zweck- 
mässig erachtete,  obschon  für  eine  Schrift,  welche  mit  Rechne- 
reien über  die  Ton  Verhältnisse,  mit  Tabellen  und  Aufrissen  an- 
gefüllt ist,  schwerlich  eine  minder  geeignete  zu  denken  ist,  zudem 
das  stellenweise  in  den  Text  eingeflickte  „disse  M.  Adriano  — 
aggiunse  M.  Claudio"  —  „dimandö  di  poi  M.  Desiderio"  2)  die  Dar- 
stellung keineswegs  belebt  und  über  die  unvermeidliche  Trockeu- 


1)  Istit.  harm.  III,  46. 

2)  Zarlino  fingirt  das  Jahr  1562  als  dasjenige,  wo  das  angebliche 
Gespräch  gehalten  worden.  Alfonso  von  Este  kommt  nach  Venedig,  be- 
gleitet von  seinem  Capellmeister  Francesco  Viola.  In  der  Marcuslarche 
trifft  der  Autor  mit  letzterem  und  mit  dem  Organisten  Claudio  Merulo 
zusammen.  Alle  drei  machen  einen  Besuch  bei  Adrian  Willaert,  wo  sich 
das  Gespräch  entspinnt,  welchem  sich  ein  hinzukommender  Freund  Adrian  s, 
Namens  Desiderio  aus  Pavia,  gesellt. 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  8.  w. 


415 


heit  des  Gegenstandes  nicht  hinüberhilft,  obschon  gerade  letzteres 
Zarlino's  Absicht  gewesen  zu  sein  scheint 

Das  dritte  Hauptwerk  Zarlino's  sind  die  1588  erschienenen 
„Sopplimenti  musicali  —  nei  quali  si  dichiarano  molte  cose  conte- 
nute  ne  i  due  primi  volumi  delle  Istitutioni  et  Dimostrationi,  per 
esserc  State  mal  intese  da  molti,  et  si  risponde  insieme  alle  loro 
calonnie".  Diese  „molti",  deren  der  Titel  gedenkt,  bedeuten 
aber  einen  Einzigen  —  nämlich  Zarlino's  ehemaligen  Schüler 
Vincenzo  Galilei,  welcher  nachmals  bei  der  sich  in  Florenz 
vollziehenden  Musikreform  eine  grosse  Rolle  spielte.  Zarlino  fühlte 
sich  durch  Galilei's  1581  in  Florenz  erschienenen  „Dialogo  della 
Musica  antica  et  della  moderna"  verletzt,  obschon  der  Autor 
gleich  auf  der  ersten  Pagina  ihm  und  Glarean  das  Compliment 
macht:  „principi  veramente  in  questa  moderna  pratticau.  Aber 
Galilei  bekämpft  Zarlino's  musikalisches  Lieblingsdogma  —  „che", 
um  Galilei's  eigene  Worte  zu  brauchen,  „il  Diatonico,  nel  quäle 
si  compone  et  canta  hoggi,  sia  il  Syntono  del  Tolomeo"  —  und 
er  greift  diesfalls  Zarlino  ausdrücklich  unter  Nennung  des  Namens 
und  Zitirung  des  2.  Buches,  16.  Capitels  der  „Istitutioni  harmo- 
niche"  an.  l)  Im  Buche  selbst  erkennen  wir  an  der  gediegenen, 
klaren  Darlegung  den  Verfasser  der  Institutionen  wieder.  Galilei, 
hitzig  und  rechthaberisch,  machte  seiner  Galle  sofort  in  einem  „Di- 
scorso  intorno  alle  opere  di  Messer  Gioseffo  Zarlino  di  Chioggia  (1589)" 
Luft;  er  nimmt  keinen  Anstand,  sich  in  Hoün  und  Schimpfreden 
auszulassen.  Zarlino  hatte  jetzt  Grund,  seinen  zehn  Jahre  früher 
geschriebenen  Tractat  „von  der  Geduld"  zur  Hand  zu  nehmen. 

Zarlino  wandelte  nicht  mehr  unter  den  Lebenden,  als  ihm 
an  Giovanni  Maria  Artusi  ein  zweiter  Gegner  erwuchs.  Die- 
ser Kampfbahn,  der  sich  in  Alles  mengte  und  es  liebte,  zu  lö- 
schen wo  es  ihn  nicht  brannte,  gab  1604  bei  G.  B.  Bellagamba 
in  Bologna  eine  Schrift  gegen  Zarlino  unter  dem  Titel  heraus: 
„Impresa  del  R.  P.  Gioseffo  Zarlino  da  Chioggia,  gia  Maestro  di 
Capeila  delT  lllustrissima  Signoria  di  Venezia,  dichiarata  da" 
u.  s.  w.  Hatte  Artusi  doch  für  nöthig  erachtet,  den  verscholle- 
nen Streit  Nicola  Vicentino's  wieder  an  Licht  zu  ziehen  und  das 
Urtheil  der  damaligen  Richter  Ghiselin  Dankert's  und  Bartolomeo 
Escobedo  „in  höherer  Instanz"  zu  bestätigen. 

Zarlino  kennt  vollständig  und  genau,  was  das  Alterthum, 
was  das  Mittelalter  über  Musik  gedacht  und  gesagt,  und  ist  in 
dem  Sinne  conservativ,  dass  er  diese  Lehren  einer  ernsten  Be- 
trachtung werth  hält,  aber  er  ist  auch  der  Mann  mächtigen  Fort- 
schrittes. Liest  man  seine  „harmonischen  Institutionen",  so  ist 
es  fast,  als  durchwandere  man  eine  der  Städte  Italiens,  wo  Rui- 
nen antiker  Prachtgebäude   neben  dem  mittelalterlichen  Dom, 


1)  S.  6. 


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416         Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 

dem  gothischen  Palast  stehen  und  all"  diesem  die  Renaissance, 
als  Trägerin  neuer  Zeiten  und  Ideen,  ihre  glänzenden  Bauwerke 
eingefügt  hat. 

Die  Musik  gründet  sich  auf  Zahl  und  Verhältniss  wie  der 
ganze  Weltbau.  *)  Wunderbare  Beziehungen  enthält  besonders 
die  Sechszahl  (1  +  2  -f-  3  =  6),  sie  birgt  das  Mysterium  der 
Consonanzen  in  bewunderswerther  Ordnung,  wie  nachfolgender 
Aufriss  sofort  klar  zu  machen  geeignet  ist,  der  die  Zahlenverhält- 
nisse der  grossen  Terz,  der  Quarte,  grossen  Sext,  Octave,  grossen 
Decime,  der  Duodecime,  Doppeioc  tave .,  der  grossen  Septdecime 
und  der  Quinte  über  der  Doppeloctave  versinnlicht  2): 


1)  Istit.  harm.  I,  12.  „Musica  e  Scienza,  che  considera  i  numeri 
et  le  proportioni  —  dalla  prima  origine  del  mondo  tutte  le  cose  create 
da  Dio  furono  da  Lui  col  numero  ordinate". 

2)  Zum  Verständniss  dieses  von  Zarlino  entworfenen  Schema  halte 
man  sich  folgende  Intervalle  und  Zahlen  gegenwärtig  i 

  — —  ZT.  ZU  _ 

   Ct  1  s  1  

T»  n  a  *  *  ■ 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


417 


Ueberall  hin  deuten  die  geheimnissvollen  Beziehungen  der 
Sechszahl;  im  Zodiacus  sind  je  sechs  Himmelszeichen  über  dem 
Horizont  und  sechs  unter  dem  Horizont  —  sechslach  ist  die  Sich- 
tung des  Raumes:  oben,  unten,  vorne,  hinten,  rechts,  links  — 
man  zählt  sechs  Weltalter,  und  sechs  Alter  hat  auch  der  Mensch 
(Infantia,  Pueritia,  Adolescentia,  Giovinezza,  Vecchiezza,  Deere - 
pita)  n.  s.  w.  —  mit  Recht  nennen  Manche  die  Sechs  die  Signa- 
tur der  Welt  (Segnacolo  del  mondo)  —  sechs  Tonarten  kannten 
die  Alten:  Dorisch,  Phrygisch,  Lydisch,  Mixolydisch,  Aeolisch, 
Jonisch  —  sechs  authentische  Töne  giebt  es  und  sechs  Plagal- 
töne.  Die  alten  mystischen  Spielereien  mit  der  Zahlensymbolik 
sind  also  noch  nicht  vergessen ;  während  sie  aber,  wie  wir  sahen, 
im  Mittelalter  bei  Aribo  Scholasticus,  Marchettus  de  Padua,  Jo- 
hannes de  Muris  l)  eine  theologische  Färbung  hatten ,  erscheinen 
sie  bei  Zarlino  in  philosophischer. 


tiefe  und  eine  hochklingende  Saite  mit  gleicher  Stärke  an,  so 
sieht  man  deutlich,  dass  die  tiefe  langsamer,  die  hohe  schneller 
schwingt  —  der  tiefe  Ton  schwingt,  was  die  Dauer  betrifft,  län- 
ger, der  hohe  kürzer  aus,  —  die  Schwingungen  der  Saite  treffen 
die  Luft,  entweder  mit  einer  „tardita  de  movimenti"  oder  „ga- 
gliardamente  e  con  prestezza"  —  ersteres  bringt  den  tieferen,  letz- 
teres den  höheren  Ton  hervor.  Gewicht,  Spannung,  Länge  der 
Saite  sind  für  die  grössere  oder  kleinere  Zahl  der  Schwingungen 
entscheidend. 2) 

Die  Intervalle  werden  einseitig  und  in  allen  Fällen  rück- 
sichtlich  ihres  Consonircns  und  Dissonirens  in  voller  harmonischer 
Geltung  in  Anschlag  gebracht  —  die  Quinte  darf  daher  —  den 
nach  wie  vor  streng  verpönten  Fall  der  Parallelquinten  ausge- 
nommen —  eintreten,  wo  sie  mag  —  die  widrige  Wirkung  ver- 
deckter Quinten  wird  überhört,  weil  thatsächlich  keino  Parallelen 
sichtbar  werden.  Verminderte  Quinte,  übermässige  Quarte  bleiben 
gefahrliche  Ungeheuer, .  bei  denen  es  grosser  Vorsicht  bedarf. 
Tigrini  bringt  folgende  Beispiele  als  „verwerflich": 

Tristo  procedere.  Peggior  procedere. 


< 


1)  Vergl.  2.  Band,  S.  212. 

2)  Istit.  härm.  II.  11. 


Ambroi,  Geschichte  der  Musik.  IV. 


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418        Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


1 1  r  j  ^^gijTV^ 


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Das  Verwerfliche  liegt  darin,  dass  in  den  beiden  ersten  Exempeln 
die  Mittelstimme,  während  sie  gegen  den  Bass  eine  Sexte  bildet, 
gleichzeitig  zür  Oberstimme  in  der  Relation  einer  verminderten 

-  ul 

Quinte  (Quinta  minore,  cioe  falsa)  steht  —  nämlich  *)  e  und  f  c. 

g  « 

Dass  in  beiden  Beispielen  der  getadelte  Zusammenhang  ein  richtig 
vorbereiteter,  richtig  aufgelöster  Terzquartaccord  ist,  weiss  weder 
Tigrini  noch  Zacconi,  welcher  dieselben  Beispiele  in  sein  Buch 
herübergenommen,  weil  weder  sie  noch  jemand  Anderer  wussten, 
dass  es  etwas  gebe,  was  man  einen  Terzquartaccord  nennt  — 
die  verminderte  Quinte  blickt  mitten  aus  der  Notengruppe  heraus, 
basiliskenhaft,  und  da  ist  es  denn  „contro  ogni  regola  e  dovere, 
ma  anco  cantandole  fa  brutissimo  sentire."  Die  „modernen"  Com- 
ponisten  lassen  sich,  leider!  aus  eitler  Sucht  nach  Neuem  iu 
solchen  Extravaganzen  und  groben  Fehlern  verleiten ') ;  nur  wo  die 
Textworte  eine  besondere  Härte  der  Musik  fordern,  wie  in  einem 
vierstimmigen  Madrigal  von  Rocco  Rodio,  wo  es  heisst  „molto 
amaro  appaga4',  möchte  dergleichen  tolerabel  sein.  Tigrini  corrigirt 
das  „peggior  procedere",  dessen  noch  grössere  Verwerflichkeit  er 
in  der  Combination  von  verminderter  Quint  und  kleiner  Sexte 
findet,  in  folgender  Art,  welche  man  unbedenklich  eine  „Ver- 
schlinimbesserung"  nennen  kann: 


SP 


m 


Dass  der  zweite  terzenlose  Accord  sehr  elend,  leer  und  matt 


1)  Zacconi  wird  in  seinem  Zorne  gegen  die  Neuerer  ordentlich  witzk. 
Dem  42.  Capitel  seines  dritten  Buches  ^iebt  er  die  Ueberschrift:  „defi' 
uso  tristo,  ö  tristo  abuso  d'alcuni  Musici,  che  per  mostrar  al  mondo  no- 
vella  musica,  usano  le  Quinte,  e  Seste  minori  in  modo  che  non  si  deb- 
bono  usare". 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


419 


klingt,  bleibt  unbemerkt.  Und  derselbe  Meister  Orazio  Tigrini, 
welcher  hier  Mücken  seiht,  verschluckt  ohne  Arg  nachfolgendes 
Kamel  (und  Zacconi  mit  ihm): 


h 


i ,  J 


I 


5 


l 


Die  gräuliche  Wirkung,  das  wirkliche  „brutissimo  sentire" 
der  Fortschreitung  von  der  Octave  zur  reinen  Quinte  hören  sie 
gar  nicht  —  die  Quinte  ist  ja  „rein"  —  eine  „Quinta  pura  e 
naturale4' *),  eine  „consonanza  perfetta",  warum  soll  sie  nicht  frei 
eintreten  dürfen?  Dass  in  der  vorhergehenden  Octave  eine  ver- 
steckte Schwester-Quinte,  eine  wahre  „anguis  in  herba"  lauert, 
(während  doch  schon  Zarlino  über  diesen  Punkt  richtig  dachte2)) 
ist  ihnen  ganz  gleichgiltig,  weil  sie  ihre  Existenz  gar  nicht  ahnen. 


Für  einen  Passus  wie  folgenden 


aus  der  Motette 


„0  altitudo  divitiarum"  von  Cyprian  de  Rore  hält  Zacconi  (Lib.  II. 
c.  10)  eine  eingehende  musikalische  und  ästhetische  Rechtfertigung 
nöthig!  —  „toccandosi  per  affetto  come  cattiva,  facci  poi  riuscir  tanto 
piü  buona  la  Seconda,  della  quäle  la  melodia  si  attende". 

Das  alte  Misstrauen  gegen  die  grosse  Sext  ist  noch  immer 
nicht  überwunden;  eine  Fortschreitung  in  der  Gegenbewegung 
vom  Einklänge  zur  grossen  Sexte  dünkt  Artusi  unleidlich,  eher 
ist  die  Fortschreitung  zur  kleinen  Sexte  zu  dulden.  Er  sagt: 
„che  non  si  movino  le  parti  nel  moto  contrario  dell'  unisono  alla 
sesta  maggiore,  per  la  molta  asprezza,  che  in  tal  con- 
sonanza si  ritrova;  ma  dall'  unisono  alla  sesta  minore  pare 
che  manco  offesa  si  senta,  massime  rincontrandosi  le  parti  in  terza 
maggiore." 


1)  Zacc.  II.  *•  40- 

2)  Instit.  H*»  Cap.  3^    Mansehe  die  dort  angesetzten  „Mo- 

««.  h  c     ec  acjfciadlcgld 
"d  f  i  g  f  i  c  f  J  d  f  i  c  g  I  e  c 


vimenti  rietat; 


27 


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420 


Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


Eben  so  fehlerhaft  ist  es,  auf  eine  Quinte  die  Sexte  in  ge- 
rader Bewegung  folgen  zu  lassen,  wenn  die  eine  Stimme  stufen- 
weise um  einen  Halbton,  die  andere  um  eine  kleine  Terz  fort- 
schreitet: 

(mi)  (mi)  (mi) 


(fa)  (&) 


(fa) 


Wohl  nur  des  mi  contra  fa  wegen!  Schon  früher  lehrt 
nämlich  Artusi:  „proibiscono  a  due  voci  i  buoni  prattici  moderni, 
che  si  facci  il  mi  avanti  o  dopo  il  fa  per  quinta,  quarta  et  ottava, 
et  cib  perche  fra  le  parti  non  si  ritrova  relatione,  che  sia  har- 
monica: 

nel  moto  contrario.     nel  moto  retto. 
 9  rr—~ — -=  °— «— 


q  1  V. 


non  si  debbe  poncre  assolutamente  la  voce  b  figura  cantabile  del 
mi  contra  quella  del  fa  in  ottava,  in  quinta,  in  quarta,  ne  a  duc 
ne  a  piu  voci." 


1 


Eine  Parallelfortschreitun g  vollkommener  Consonanzen  zu 
verbessern,  genügt  schon  „ponervi  di  mezzo  una  pausa  owero 
una  dissonanza"  —  eine  Auskunft,  welche  die  spätere  Musiklehre 
bekanntlich  verworfen  hat,  von  der  aber  wiederum  auch  schon 
Zarlino  nichts  wissen  will. 


i 


1SL 


I 


-ö  O- 


i 


1 


FT 

Syncopationen  verbessern  verbotene  Parallelen,  wie  denn  Giro- 
lamoDiruta  in  seinem  „Transsilvano"  folgendes Exempel  bringt: 

Assonti  et  imitationi  sopra  ut  re  mi  etc. 


1)  Artusi,  Contrapp.  8.  33. 


* 

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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  n.  s.  w.  421 


Die  Bewegung  der  Stimmen  ist  nach  Artusi  eine  gerade 
(moto  retto),  eine  Gegenbewegung  (m.  contrario),  eine  Seiten- 
bewegung  (moto  obliquo)  —  also  ganz  wie  in  unserer  modernen 
Musiklehre. 

Der  Contrapunkt  ist  einfach  oder  doppelt.  Tigrini  giebt 
Über  letzteren  eine  Erklärung,  welche  noch  heut  Giltigkeit  hat l) 
—  auch  schon  Zarlino  giebt  eine  ähnliche,  aber  minder  präcis 
zusammengefasste,  mehr  ins  Detail  hinein  erläuternde.2) 

Von  einer  eigentlichen  Accordcnlehre  kann  nach  dem  ganzen 
Stande  der  Wissenschaft  einstweilen  keine  Rede  sein,  obschon  man 
Accorde  selbst  gar  wohl  kennt  und  ganz  richtig  zu  behandeln  weiss. 

Dass  aber  zwischen  Tongruppen,  wie  z.  B.  0    g   c    irgend  ein 

c    e  g 

inneres,  sie  als  zusammengehörig  kennzeichnendes  Band  bestehe, 
weiss  und  ahnt  Niemand,  oder  es  wird  doch  der  Schwerpunkt 
irgendwohin  anders  gelegt,  als  wo  er  wirklich  ist.  Es  werden 
nämlich  immer  die  Intervalle  einzeln  und  selbständig  in  Anschlag 
gebracht.    Aus  dem  Terzsextaccord  und  Quartsextaccord  hebt 

z.  B.  Zarlino  speciell  die  Quarte  heraus  gj~~g — ;  sie  also 

ist  hier  das  Gemeinsame,  nicht  aber  die  gemeinschaftliche  Ab- 
kunft beider  Zusammenklänge  vom  Dreiklang  durch  Umkehrung, 
selbst  ZarhWs  Scharfblick  gar  nicht  bemerkt.  Die  Quarte 
der  kleinen  Terz  begleitet  (ein  Sextaccord  von  einem  Dur- 
dreiklang, wie  wir  sagen)  klingt  trefflich  —  weniger  ist  die  Be- 
gleitung   mit    einer   grossen    Terz    zu    empfehlen    (also  der 

Sextaccord   von   einem    Molldreiklang!    —   z.  B. 

Men 
buona 


g  -  =r&7~:  1.  Das  Umgekehrte  gilt,  wenn  die  begleitende  Terz 


Buona  Migliore 


der  Quarte  oben  aufgesetzt  wird  Q    <g  ■         j.    Ist  aber  die 

d7i7(«)  (f) 

oben  aufgesetzte  Terz  eine  kleine,  „sempre  s'udira  qualche  effetto 

tristo"  —  (also  z.  B.  jfe^a"-").    Warum  klingt  aber  die  kleine 

  \y  &—> 

1)  un  rimesso,  ower  ridetto  di  quello  che  fu  detto  prima  nell'  acuto 
over  nel  grave,  col  cambiar  le  parti,  e  far  che  quello,  che  giä  disse  il 
grave  dichi  l'acuto  —  o  quello  che  disse  l'acuto  aichi  il  ^ra?e. 

2)  Instit.  harm.  III.  cap.  56  „dei  Contrapunti  doppij". 


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422 


Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  8.  w. 


Terz  unter  der  Quarte  besser  als  die  grosse?  Antwort:  weil  in  den 
natürlichen  Zahlenproportionen  der  Intervalle  dieselbe  Ordnung 
ersichtlich  wird.    (Nämlich  so: 

^  "     kl.  Terz^  Quart^ 

Das  ^  auf  7  ist  bekanntlich  nicht  ganz  rein  und  kommt 
nicht  in  Anschlag.)  —  „Si  vede",  lehrt  Zarlino,  *)  „che  dopo  il  se- 
midituono,  contenuto  tra  questi  termini  6  et  5  segue  immediata- 
mente  la  Diatessaron,  posta  tra  questi  termini  8  et  6."  Ganz 
anders  bei  der  grossen  Terz!  „Mau,  fährt  Zarlino  fort,  „quando 
e  accomodata  col  ditono,  non  puo  far  quello  effetto,  perche  non 
sono  poste  insieme  secondo  l'ordine  naturale  de  cotali  consonanzc; 
anzi  sono  aggiunte  insieme  in  un  ordine  accidentale ;  perche  non 
si  trova  neiT  ordine  nominato,  ehe'l  Ditono  sia  posto  senz'  alcun 
mezzo  avanti  la  Diatessaron;  la  onde  essendo  queste  due  con- 
sonanze  accomodate  l'una  dopo  l'altra  contra  la  loro  natura, 
essendo  posta  nelT  acuto  quella,  che  doverebbe  esser  collocata 
nel  grave  et  nel  grave  quella,  che  doverebbe  tener  l'acuto;  de 
qui  viene,  che.i  suoni,  che  nascono  dalle  corde  Ordinate  in  tal 
maniera  sono  men  grati  all'  udito  de  quelli,  che  nascono  dalle 
corde  tese  secondo  i  lor  gradi  naturali."  — 

Als  gegen  das  Jahr  1600  hin  in  Florenz  die  grosse  Wen- 
dung der  Dinge  eintrat  und  ein  ganz  neuer  Musikstyl,  auf  antike 
Anschauungen  basirt,  ins  Leben  gerufen  werden  sollte,  war  im 
Hause  Bardi,  von  wo  aus  die  Keformbewegung  ihren  Anfang 
nahm,  Jedermann  Theoretiker  und  fast  Niemand  schaffender 
Musiker.  All'  den  gelehrten  Herren,  welche  in  Sendschreiben, 
Dialogen  und  Raggionamenti  ihren  Ideen  über  Musik  Ausdruck 

giben,  standen  vorläufig  eigentlich  nur  Jacopo  Pen  und  Giulio 
accini  als  Leibcomponisten  zur  Seite,  welche  den  ästhetischen 
Ideen  der  gelehrten  „Camerata"  eine  praktische  Nutzanwendung 
abgewinnen  mussten.  Die  eigentlichen  Kunstregeln  und  Formen 
des  Tonsatzes  wurden  dabei  kaum  berührt,  oder  vielmehr  sie 
wurden  einfach  durch  ein  Machtgebot  ausser  Kurs  und  durch 
Schmähungen  und  Missreden  ausser  Credit  gesetzt  —  so  weit  sie 
aber  unentbehrlich  blieben,  als  etwas  beinahe  Selbstverständliches 
angesehen  und  obendrein  in  den  antik-griechischen  Talar  gesteckt 
Musikalische  Declamation,  Verhältniss  des  Worttextes  zur  Musik  — 
das  war  der  eigentliche  Gegenstand,  mit  dem  sich  die  Theorie 
befasste.  Sich  dabei  auf  mustergiltige  Werke  zu  berufen,  wie 
weiland  Tinctoris,  Glarean,  Aron  u.  s.  w.  gethan,  war  unthun- 

1)  Istit.  hann.  III.  60.  In  qual  maniera  la  quarta  si  possa  porre 
nello  Compositioni. 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


423 


lieh,  weil  die  mustergiltigen  Werke  einstweilen  noch  gar  nicht 
existirten.  Erst  nachdem  Caccini,  Peri  und  Monteverde  eine 
Anzahl  von  Compositionen  neuen  Styls  geliefert,  trat  G.  B.  Doni 
als  theoretischer  Schriftsteller  im  grossen  Style  auf  —  nicht  nur, 
dass  er  das  Programm  aus  dem  Hause  Bardi  weitläufig  in  zahl- 
reichen, zum  Theil  umfangreichen  Tractaten  behandelte,  er  that 
es  auch  unter  Berufung  auf  Caccini,  Peri,  Monteverde  und 
unter  Anführung  passender  Notenbeispiele  aus  ihren  Tonwerken. 
Was  dem  neuen  Styl  theoretisch  im  höchsten  Grade  Noth  gethan 
hätte:  eine  gut  entwickelte  Accordlehre,  eine  Lehre  vom  musika- 
lischen Periodenbau,  eine  Modulationslehre,  eine  Lehre  über  Be- 
gleitungsformen —  das  alles  fiel  weder  Doni  noch  einem  Andern 
auch  nur  im  Traume  ein.  Erst  lange  nachher,  als  die  Praktiker 
alle  diese  Dinge  gefunden,  stellte  sich  (wie  gewöhnlich)  die 
Theorie  ein,  prüfte,  forschte,  begründete  —  und  gewann  aus 
der  ihr  fertig  vorliegenden  Anwendung  die  von  ihr  zu  schaffende 
Regel,  damit  künftig  diese  letztere  die  Anwendung  regle  und 
leite.  Wie  bei  allen  Reformen,  welche  sich  nicht  friedlich  im 
Wege  allmählicher  Umstaltung,  sondern  in  Folge  einer  plötzlichen 
Kriegserklärung  gegen  festbegründete,  scheinbar  unerschütterliche 
Zustände  vollziehen,  war  die  Thätigkeit  der  Florentiner  anfangs 
mehr  negirend,  ihr  Styl  polemisch  —  was  sie  aber  an  Stelle  des 
Zerstörten  setzen  sollten  und  wollten,  das  schwebte  ihnen  einst- 
weilen als  Ideal  in  noch  sehr  vagen,  unbestimmten  Umrissen  vor 
—  der  positive  Punkt  darin  war  blos  die  Sehnsucht  nach  einer 
Wiedergeburt  der  Musik  im  antiken  Sinn  und  womöglich  in  an- 
tiken Formen,  über  welch'  letztere  die  gründlichsten  Forschungen 
angestellt  wurden,  ohne  viel  andere  Ausbeute  zu  gewähren,  als 
gelehrt-antiquarische,  aus  welcher  fiir  die  Hauptsache,  für  die 
Musik,  so  gut  wie  nichts  zu  gewinnen  war. 

Gleichzeitig  aber  traten  Theoretiker  auf,  welche,  unbeirrt  von 
den  Florentiner  Musikmandaten,  dort  weiter  bauten,  wo  Zarlino  auf- 
gehört: der  Bologner  Giovan  Maria  Artusi,  Orazio  Tigrini 
aus  Arezzo,  Scipione  Cerretto  aus  Neapel,  Fra  Lodovico 
Zacconi  aus  Pesaro  u.  A.  Ihre  Arbeiten  sind  meist  sehr  tüchtig. 
Zacconi's  „Prattica  di  musica"  (erster  Theil  1592,  zweiter  1622)  ist 
sogar  ein  ganz  ausgezeichnetes  Buch.  Grundgelehrt  sind  sie 
alle,  dazu  conservativ.  Der  Contrapunkt,  welchen  die  Floren- 
tiner kaum  nennen  können,  ohne  in  erbitterte  Aufregung  zu  ge- 
rathen,  bildet  für  sie  den  Hauptgegenstand.  „Man  wird  nur  dann 
ein  tüchtiger  Componist,  wenn  man  seinen  tüchtigen  Contrapunkt 
versteht",  meint  Zacconi.  !) 

1)  —  quei  volonterosi  gioveni,  che  pratticando  la  Musica,  et  in  can- 
tarla  ne  pighano  gran  gusto  e  piacere,  bramano  di  Scolari  diventar  per- 
fetti  compositori;  e  perche  questo  non  si  fe,  sc  non  per  via  di  con- 
trapunto  sodo  e  buono  u.  s.  w.  (Prattica  di  mus.  Parte  II.  Lib.  1,  cap.  1.) 


424       Di©  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 

Der  Contrapunkt  bildete  aber  eine  Art  von  Geheimlehre, 
welche  von  den  Componisten  bewahrt,  geübt,  aneh  in  mündlichem 
Unterricht  einigen  bevorzugten  Schülern  mehr  oder  minder  voll- 
ständig mitgetheilt,  in  keiner  Weise  aber  in  Lehrbüchern  fiir  alle 
Welt  ohne  des  Meisters  persönliche  Dazwischenkunft  zugänglich 
gemacht  wurde.  *)  Als  Costanzo  Porta  1595  zu  Padua  in  einem 
Buchladen  den  ersten  Theil  von  Zacconi's  „Prattica  di  musica" 
sah,  sagte  er  zu  seinen  anwesenden  Schülern :  „nicht  für  tausend 
Ducaten  hätte  ich  alle  die  Geheimnisse  an  die  Oeffentlichkeit 
gebracht,  welche  dieser  Frate  da  preisgiebt".  2)  Was  verspricht 
aber  Zacconi  nicht  gleich  auf  dem  Titelblatt:  „Contrapunti  sem- 
plici  et  artificiosi  da  farsi  in  cartella  et  alla  mente  sopra  canti 
fermi,  e  poi  mostrandosi  come  si  faccino  contrapunti  doppij  d'o- 
bligo  e  con  conseguenti;  si  mostra  finalmente  come  si  contessino 
piü  fughe  sopra  i  predetti  canti  fermi  et  ordischino  cantilene  a 
due,  tre,  quattro  e  piü  voci".  Die  Lehre  soll  so  deutlich,  klar 
und  leicht  fasslich  gemacht  werden,  als  nur  immer  möglich  ist  — 
ja  Zacconi  wünscht  durchaus,  die  Lehrmeister  überflüssig  zu  ma- 
chen ;  der  Schüler  soll,  wo  nöthig,  durch  das  Studium  der  Bücher 
allein  schon,  ein  tüchtiger  Tonsetzer  werden  können. 3)  Aber 
lesen  soll  er,  Belehrung  in  den  Büchern  suchen  —  viele  gute 
Bücher  soll  er  anschaffen  und  oft  soll  er  sie  lesen,  und  zwar 
nicht  obenhin,  nicht  flüchtig,  sondern  mit  aller  Aufinerksamkeit 
und  mit  dem  festen  Vorsatze,  sich  das  volle  Verstäudniss  der- 
selben zu  erringen ;  die  Notenbeispiele  soll  er  in  Partitur  setzen 
und  dann  genau  studieren.  Er  soll  fremde,  tüchtige  Composi- 
tionen  in  ein  Notenbuch  auf  solche  Art  eintragen  und  oft  zur 
Hand  nehmen,  dabei  aber  nicht  das  erste  beste  aufgreifen,  son- 
dern Compositionen  wählen,  die  etwas  besonderes  enthalten  („che 
sono  fatti  con  qualche  particolar  segreto")  —  freilich  sei  es  an- 


1)  „fin  qiri  molti  Musici,  piü  ch'eccellenti,  morendo  quel  tanto 

che  sapeano,  piü  tosto  si  sono  voluto  portarlo  in  sepoltura,  che  lasciarlo 
in  scrittura  ad  ognuno  che  ne  l'havesse  voluto  havere.  Et  i  vivi,  ch'ancor 
fra  di  noi  dimorano.  altresi  tenendosi  in  ciö  il  meglio  in  saccoccia  per 
ancor  loro  forsi  far  il  simile,  se  ne  servano  solamente  in  alcune  occasioni, 
senza  che  la  communanza  de  Scolari  ne  habbino  punto  da  partieipare". 
(Zacconi  a.  a.  0.)  Also  nicht  einmal  alle  Schüler  wurden  eingeweiht! 
Und  kaum  Einer  vollständig  —  Zacconi  sagt:  „a  niuno  perö  gl'  hanno 
dati  integralmente,  come  poteano  per  servarsi  appo  di  loro,  come  si  dice 
per  proverbio,  qualche  colpo  magistrale,  per  potersene  poi  a  luoco  e 
tempo  in  occasion  servire." 

2)  „Per  mille  ducati  io  non  haverei  dato  fuori  i  secreti,  ch'  ha  dato 
quosto  frate!'4  (a.  a.  0.) 

3)  —  „metto  nellc  mani  altrui,  non  ad  altro  fine  certo,  se  non  per 
dar  aiuto  aa  ogni  scolare  di  questa  musical  professione,  e  far  che  senza 
mastro,  sto  per  dire,  si  possi  annoverare  fra  l  piü  rari  e  celebri  composi- 
tori".  (a.  a.  0.  Vorrede.) 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w.  425 


fänglich  eine  langweilige  Sache,  fremde  Arbeiten  in  Partitur  zu- 
sammenzuschreiben, aber  der  Nutzen  überaus  gross,  der  Schüler 
finde  da  Dinge,  welche  kein  Lehrer  lehrt.  l) 

Artusi  sucht  das  Studium  des  Contrapunktes  dadurch  zu  er- 
leichtern, dass  er  sein  Buch  „L'arte  del  Contrapunto"  (Venedig 
bei  Giacomo  Vincenti  1598)  in  eigentümlicher  Weise  tabellarisch 
anlegt.  Weit  entfernt  von  der  Casuistik  weiland  Tinctoris*  sucht 
er  die  Lehre  möglichst  gedrängt  und  überschaulich  zu  geben. 
Tigrini's  „Compendio  della  musica44  (1588)  ist  ein  Muster  klaren 


Die  Tonlehrer  hatten  vor  Zarlino  ihre  Bücher  zum  grossen, 
ja  zum  grössten  Theil  mit  Dingen  gefüllt,  welche  doch  nur  als  die 
Vorschule  für  den  wirklichen  Tonsatz  gelten  können  —  sie  sind 
recht  eigentlich  musikalische  „Proscholoi".  Die  Lehre  von  den 
Intervallen,  von  den  Tongeschlechtern,  den  Kirchentönen,  die 
Solmisation,  die  guidonische  Hand,  die  musikalische  Schrift  in 
Note  und  Taktzeichen,  dazu  unendliche  Intervallen-Rechnereien, 
unendliche  Takt-Proportions-Rechnereien,  welche  praktisch  so  gut 
wie  werthlos  sind  —  das  fand  der  Scholar,  wenn  er  nach  dem 
Rathe  Zacconi's  dort  etwa  Belehrung  suchte.  Tinctoris  hatte  in 
seinen  Büchern  über  den  Contrapunkt  wenigstens  einen  ehrlichen 
Anlauf  zum  eigentlichen  Tonsatz  genommen,  —  Glarean  gab 
Meisterstücke  —  das  Beste  aber  und  so  ziemlich  Alles  musste 
doch  der  Lehrer  thun.  Die  Tonlehre  nahm  jetzt  eine  ganz  an- 
dere Gestalt  an  —  Zarlino  trat  auch  hier  epochemachend  ein  — 
ganz  neue  Capitel  stellten  sich  ein.  Manches  von  der  alten  Lehre 
erschien  jetzt  als  Gerümpel.  Wirklich  dachten  die  Lehrer  an  Ver- 
einfachung, und  selbst  die  geheiligte  Solmisation,  die  unantastbare 
guidonische  Hand  wurden  jetzt  gelegentlich  in  Frage  gestellt. 

Adriano  Banchieri  räth,  zu  den  Guidonischen  sechs Sy Iben 

eine  siebente  zu  setzen:  „ba"  für  fa  j£  [*e    und„bi" für mi  fe^» 

wodurch  die  Notwendigkeit  einer  Mutirung  beseitigt  ist.  2)  Ein 
Musiker  der  Münchener  Hofcapelle  fugte,  wie  Orlando  Lasso  dem 
Padre  Zacconi  erzählte,  zu  gleichem  Zwecke  die  Sylben  „si",  „ho44 
ein.  So  gross  war  aber  die  Macht  der  Gewohnheit,  dass  Orlando 
meinte,  es  habe  sich  lächerlich  ausgenommen,  wenn  jener  nach 
seiner  neuen  Art  solfeggirte  und  mitten  unter  den  vertrauten  Syl- 
ben des  ut  re  mi  u.  s.  w.  plötzlich  das  „si44  und  „ho44  laut  wurde. 
Zacconi  nennt  den  Erfinder  Don  Anselmo  Fiamengo  —  es 
war  also  wohl  ein  Belgier.  Noch  weiter  ging  der  Capellmeister 
des  Domes  in  Bassano  (um  1590),  Don  Gramatio  Metallo, 


1)  a.  a.  0.  Lib.  IH.  cap.  33,  34. 

2)  Cart.  mua.  Prattica  2. 


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426        Die  Theoretiker  and  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  8.  w. 


welcher  bewies,  „dass  man  die  grössten  Singestücke  ohne  Anwen- 
dung der  Guidonischen  Hand  ausführen  könne,  jene  also  über- 
flüssig sei".1)  Bald  darnach,  1620,  machte  der  Spanier  Pedro 
de  Urena  den  Vorschlag  als  siebente  Silbe  „Ni"  einzureihen.  2) 
Ericeus  Puteanus  hatte  schon  1599  mit  seiner  „Pallas  modu- 
lata"  einen  Angriff  auf  das  Guidonische  System  gemacht.  So 
gross  aber  war  das  Ansehen  des  Herkömmlichen,  dass  noch  im 
18.  Jahrhundert  für  und  gegen  die  Solmisation  gestritten  wurde 
und  der  kais.  Hofcapellmeister  Joh.  Jos.  Fux  sie  gegen  Matthe- 
son's  Angriffe  brieflich  in  Schutz  nahm,  wie  er  denn  von  Wien 
am  12.  Januar  1718  schreibt,  dass  „in  diesen  Landten  wegen 
der  Beschwerlichkeit  der  Aretinischen  Sylben  sich  niemand  be- 
klaget, sondern  im  Gegenthaill  deren  gutte  Würkhung  täglich 
zu  Gehör  kommet:  indeme  allhir  Knaben  von  9  und  10  Jahren 
zu  finden,  welche  die  schwäriste  Stückhe  all  improviso  wekh 
singen,  welches  ja  nit  sein  kunte,  wan  die  Aretinische  Erfindung 
so  voller  Jammer  und  Ellend  wäre;  auch  bleibt  man  in  Italien, 
alwo  ohne  widerredt  die  vornembsten  Singer  hervorkommen,  noch 
immer  bey  dieser  methode"  u.  s.  w.  3)  Was  Wunder,  wenn  hun- 
dert Jahre  vorher  Zacconi  von  solchen  Reformen  nichts  hören 
will;  BanchierTs  „bi — ba"  hat  ganz  und  gar  nicht  seinen  Beifall: 

„chi  lascia  la  vecchia  per  la  nova 

piu  di  quattro  volte  ingannato  si  trova" 

und  MetaUo's  Auseinandersetzung  findet  er  zwar  „molto  dotta, 
ingegnosa  speculativa  e  bella"  —  aber  nach  diesem  den  Wider- 
spruch in  echt  italienisch  höflicher  Weise  einleitenden  Lob  meint 
er  selbst:  „che  la  mano  musicale  antica,  ritrovata  dal  predetto 
P.  Guido,  detto  anco  Guidone,  con  le  sue  scale  naturali,  grave, 
acute  e  sopracute,  sono  e  saranno  sempre  l'ottime  porte  e 
vie  da  condurre  ogni  cantante,  che  brami  di  cantar  per  via  di 
ragione  al  desiato  fine  di  saper  ben  cantar e  e  solfiggiare".  Zac- 
coni war,  wie  man  sieht,  kein  guter  Prophet.  Er  ärgert  sich 
auch  darüber,  dass  Banchieri  die  Ligaturen  der  alten  Mensural- 
notierung für  eine  sehr  überflüssige  und  für  eine  schwierige  Sache 
erklärt;  „gebt  Adriano  kein  Gehör",  ruft  er  warnend.  „Sie  sind 
nicht  überflüssig;  denn  wenn  die  Modernen  sie  nicht  gebrauchen, 
so  haben  sie  doch  die  Alten  für  brauchbar  erachtet,  und  sie  sind 
auch  nicht  schwer;  vier  Kegeln  genügen  um  sie  zu  verstehen". 4) 
Interessant  ist  die  weitere  Bemerkung,  dass  viele  Sänger  sie  gar 


1)  Zacconi  Pratt.  di  mus.  Parte  II.  Libro  1,  cap.  10. 

2)  8.  „Arte  nueva  de  musica"  von  Garamuel  da  Lobkowidz. 

3)  Mattheson  hat  die  ganze,  von  seiner  Seite  mit  höflichem  Hohn, 
von  Seiten  des  alten  Fux  mit  Gereiztheit  geführte  Correspondenz  in  sei- 
ner „Critica  musica",  2.  Band,  S.  185  u.  f.  veröffentlicht. 

4)  Pratt.  di  m.,  Parte  II.  Lib.  I,  cap.  12  und  cap.  14. 


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Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


427 


nicht  mehr  verstehen. A)    Wirklich  bleibt  fast  nur  die  „Ligatura 

i 

cum  opposita  proprietate"  rEpgzr  noch  eine  Zeitlang  im  Gebrauch. 

Ganz  übereinstimmend  spricht  sich  auch  Prätorius  (1619)  gegen 
alle  verwickelten  Ligaturen  aus,  man  soll  sie  durch  Bindungs- 
bogen  ersetzen,  nur  die  eben  erwähnte  wünscht  auch  er  um  ihrer 
Bequemlichkeit  willen  beibehalten,  ohnehin  finde  man  für  den 
Druck  nur  selten  mehr  die  entsprechenden  Typen.  2)  Die  Mu- 
siker aus  der  niederländischen  Schule,  welche  als  Greise  die 
Wandlung  der  Dinge  erlebten,  aber,  wie  begreiflich,  keineswegs 
billigten,  klagten  bitter  über  Neuerungen,  von  denen  man  in 
ihren  Tagen  nichts  gewusst.  „E  cosi  eccone  la  scientia  musicale 
in  ruina  per  le  molte  confusioni",  sagten  Orlando  Lasso  und  Phi- 
lipp de  Monte  zu  Zacconi,  als  6ie  1593  mit  ihm  auf  dem  Reichs- 
tage zu  Regensburg  zusammenkamen. 

Uebrigens  schleppen  sich  die  Lehrer  mit  noch  sehr  viel  archai- 
schem Gepäck.  Ihr  conservatives  Wesen  mag  sich  zum  Theile 
auch  dadurch  erklären,  dass  sie  fast  Alle  geistlichen  Standes 
waren.  Zacconi  war  Eremitaner,  Orazio  Tigrini  Domherr  in 
Arezzo,  Artusi  Canonicus  in  Bologna,  Banchieri  Olivetanermönch, 
der  Neapolitaner  Scipione  Cerretto  hatte  wenigstens  einen  Geist- 
lichen, Don  Francesco  Sorrentino,  zum  Lehrer  gehabt. 

Wir  finden  daher  noch  lange  Auseinandersetzungen  über  die 
Kirchentöne,  deren  jetzt  (unabhängig  von  Glarean)  allgemein 
zwölf  angenommen  werden.  3) 


Nono  Tuono. 

 Ct. 


TT— TT" 


Decimo  Tuono. 


Undecimo  Tuono. 


m 

Duodecimo  Tuono  (Zacconi). 


Artusi  erklärt  das  diatonische,  chromatische  und  enharmoni- 
sche  Geschlecht  ganz  nach  den  antiken  Principien,  welche  beide 


1)  —  perche  questo  e  quel  cantore  non  havendole  piü  che  tanto  in 
prattica  non  l'intende,  e  non  le  sa  cantare  (a.  a.  0.). 

2)  Veterum  regula  (prima  carena  cauda  longa  est  pendente  secunda) 
cur  obserrari  debeat,  non  video,  sed  in  ligatura  tarn  descendentem  quam 
ascendentem  pro  brevi  Semper  sine  discrimine  habend  am  jadico:  praeser- 

tim  cum  ligatura  ista  (5  jam  ferme  exoleverit,  et  in  officinis  typographicis 

rarissime  reperiatur.  Ego  cum  Lippio,  Haslero. 

3)  Die  Sänger  hielten  indessen  oft  an  den  alten  acht  Tönen  fest, 
worüber  sich  Zacconi  beklagt  (I,  cap.  45). 


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428        Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 

letztere  indessen  bisher  noch  niemand  angewendet  habe.  l)  Es 
ist  eine  Reminiscenz  an  die  antike  Ploke,  Petteia  u.  s.  w.,  wenn 
Artusi  unter  Berufung  auf  „gli  antichi"  ähnlich  gemeinte  Kunst- 
ausdrücke einführt:  „Conducimento  (quando  si  trova  un  progresso 
ordinato),  Kettitudine  (quando  una  parte  procode  di  grado  in  grado 
verso  Tacuto),  ßitorno  (vice  versa),  Circoito  (quando  procede  verso 
l'acuto  per  grado  e  verso  il  grave  per  salto) ,  Complicamento 
(quando  nel  modo  di  cantare  si  ritrova  una  scambievole  posizione 


de  intervalli)  :j^St      J       |      c-      I     s>— —  — — J — g>— jj 


Giuoco  (reiterata  percussione  fatta  spesse  volte): 


Fermezza  (una  continuata  stazione  di  voce)."  — 

Die  Frage  nach  dem  Verhältniss  der  Töne  unter  einander 
wirbelte  überhaupt  vielen  Staub  auf.  Ptolemäns  —  Didymus  — 
Aristoxenos  gaben  vollauf  zu  denken.  Francesco  Patrizzi, 
ein  Dalmatiner  aus  Cherso  (1529  — ,  lebte  in  Rom,  wo  er  1597 
starb),  entschiedener  Platoniker,  griff  in  seinem  1586  in  Ferrara 
gedruckten  Buche  „della  Poetica"  etc.  (II.  5,  6,  7)  die  Tonthei- 
lung  des  Aristoxenos  sehr  scharf  an.  Damit  hetzte  er  einen  der 
hitzigsten  Aristoxener  gegen  sich  auf,  den  vornehmen  und  sehr 
gelehrten  Bologner  Ercole  Bottrigari  (1531 — 1612).  Dieser 
gab  1593  in  Bologna  ein  ganzes  Buch  zu  Schutz  und  Trutz  sei- 
nes Aristoxenos  gegen  Patrizzi  heraus:  „il  Patrizio,  ovvero  de' 
tetracordi  armoniei  di  Aristosseno,  parere  e  vera  dimostrazione". 
Eine  zweite  Schrift  Bottrigari's  ist  ein  „Dialog",  den  er  betitelte: 
„il  Desiderio,  ovvero  de'  concerti  di  varij  stromenti  musicaii" 
(in  Venedig  bei  Ricciardo  Amadino  1594).  Bottrigari  gab  die- 
sem Dialog  als  Autorsnamen  das  Pseudonym  „Alemanno  Benelli" 
—  anagrammatisch  gebildet  aus  „Annibale  Melone".  Der  Titel 
soll  das  Andenken  eines  Freundes  ehren,  welcher  „Grazioso  Desi- 
derio" hiess  und  als  einer  der  Interlocutoren  auftritt  —  ähnlich 
wie  in  Vincenzo  Galilefs  Dialog  „Fronimo".  2)  Jener  Annibale 
Melone,  ein  Bologner  von  Geburt,  Schüler  Bottrigari's  und  mit 
ihm  sehr  befreundet,  erhielt  das  Manuscript  des  „Desiderio"  vom 
Verfasser  mit  der  Ermächtigung,  es  unter  obigem  Namen  drucken 
zu  lassen.  3)  Scharfsinnige  fanden  aus  dem  Pseudonym  trotzdem 

1)  8ino  ad  hora  tengo,  che  non  vi  sia  stato  alcuno,  che  l'habbi 

posto  in  prattica.  ne  inteso,  se  bene  molti  si  sono  dnti  ad  intendero  d'ha- 
verne  fatto  miracoli  (Arte  del  Contrapp.). 

2)  Gerber  irrt,  wenn  er  angiebt,  auch  dieser  „Desiderio"  sei  eine 
gegen  Patrizzi  gerichtete  Schrift. 

3)  So  erzahlt  Pantizzi  „Notizie  degli  scrittori  Bolognesi  —  II  ad  v. 
Ercole  Bottrigari. 


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Die  Thooretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


den  richtigen  Namen  heraus,  und  Melone  hatte  die  Schwachheit, 
sich  ziemlich  unverholen  als  Autor  des  Buches  zu  geriren.  Bot- 
trigari  nahm  das  seinerseits  ungemei  nübel  —  er  liess  1599  *)  das 
Buch  bei  Bellagamba  in  Bologna  nochmals  drucken,  mit  dem  Zu- 
satz „Dialogo  dell'  illustre  Cavaliere  Hercole  Bottrigari".  Sollte 
man  es  glauben?  Annibale  Melone  hatte  die  Stirne,  einen  Ab- 
druck in  Mailand  zu  veranstalten,  betitelt:  „il  Desiderio  —  dia- 
logo  di  Annibale  Melone ;  in  Milano ,  appresso  di  Stampatori  Ar- 
ciepiscopali  1601".  Der  Bologner  Musikgelehrte  Giovan  Maria 
Artusi,  welcher  sich  um  dieselbe  Zeit  durch  seine  Polemik  gegen 
Claudio  di  Monteverde  unangenehm  bemerkbar  machte,  erwies 
Bottrigari  noch  insbesondere  den  Freundschaftsdienst,  dem  Pla- 
giat Melone's  eine  Dedication  an  den  Senat  von  Bologna  voran- 
zustellen. Artusi  gab  überdies  seinem  Tractat  „l'Artusi"  etc. 
(1600)  in  einer  zweiten  Auflage  (nach  Mazzuchelli  1603)  „Consi- 
derazioni  musicali"  bei,  welche  er  gegen  Bottrigari  und  dessen 
aristoxenisirende  Lehren  richtete.  Im  Texte  des  Buches  giebt 
er  dem  Aristoxenos  zwar  das  Zeugniss  „Aristosseno  acutissimo 
filosofo"  —  aber  sein  System  selbst  verwirft  er  und  macht  den 
„Errore  del  Benelli",  d.  h.  des  Dialogs  „Desiderio"  bemerkbar.  2) 
Artusi  ist  Anhänger  des  Ptolemäus  und  tadelt  auch  das  Sy- 
stem des  Didymus,  „che  e  pieno  di  molti  et  importanti  errori". 
Mit  Missfallen  bemerkt  er:  „Ii  moderni  Theorici  s'  affaticano  a 
investigare  proportioni  tali,  che  fra  di  loro  siano  eguali"  —  diese 
Stimmung  nennt  er  auch  schon  die  „temperirte".  3)  —  Das  Wun- 
derbarste nach  all'  diesen  Vorgängen  ist  aber  wohl,  dass  Bottri- 
gari und  Melone  doch  wieder  gute  Freunde  wurden.  Melone 
richtete  eine  Anfrage  an  Bottrigari:  „Se  le  canzoni  musicali  mo- 
derne, communemente  dette  Madrigali  b  Motetti  si  possono  ragio- 
nevolmente  nominare  di  uno  de  tre  puri  e  semplici  generi  armo- 
nici,  e  quali  debbono  esserle  veramente  tali".  Nämlich  ob  diese 
Compositionen  diatonisch,  chromatisch  oder  enharmonisch  seien. 
Also  die  alte  Geschichte,  mit  welcher  Nicola  Vicentino  1551  un- 
nützen Lärm  gemacht.  Bottrigari  gab  seine  Antwort  —  aber- 
mals in  Dialogform:  „il  Melone,  discorso  armonico,  et  il  Melone 
secondo  —  considerazioni  musicali  del  medesimo  sopra  un  di- 
scorso di  M.  Gandolfo  Sigonio  intonio  ai  Madrigali  et  ai  libri  dell' 
Antica  Musica  ridotta  alla  moderna  prattica  di  D.  Nicola  Vicen- 
tino, e  nel  fine  un  discorso  del  Sigonio"  (Ferrara  1602).  So  wurde 
Nicola  Vicentino  abermals  auf  den  Schau-  und  Kampfplatz  ge- 
schleppt, von  welchem  er  ein  halbes  Säculum  früher  ohne  son- 


1)  Die  Jahreszahl  sieht  wunderlich  so  aus:  MDIC. 

2)  Pol.  31  p.  v.  und  fol.  32  p.  v. 

3)  —  ne  e  maraviglia,  se  tanti  instromenti  da  (de)  pratici  sono  tem- 
perati  in  questa  maniera  (fol.  32,  p.  v.). 


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430 


Die  Theoretiker  und  Lehrer  Gioseffo  Zarlino  u.  s.  w. 


derliche  Siegestrophäen  abgezogen  war.  Wer  Messer  Gandolfo 
Sigonio  gewesen,  welcher  hier  auch  zu  Worte  kommt  —  darüber 
bleibt  uns  die  Geschichte  die  Antwort  schuldig. 

Vieles  von  dem,  was  den  Theoretikern  jener  Zeiten  hart 
und  widrig  klang,  wendet  unsere  Musik  unbedenklich  an;  Vieles 
dagegen,  was  jenen  gut  und  trefflich  schien,  bleibt  ftir  uns  we- 
gen entschiedenen  Uebelklanges  verboten.  Das  musikalische  Ohr 
hat  also  (ganz  wie  Riehl  in  einem  geistvollen  Aufsatz  für  das 
landschaftliche  Auge  nachgewiesen)  seine  Convenienz;  es  kann 
dahin  erzogen  werden,  dieselbe  Tonfolge,  denselben  Zusammen- 
klang so  oder  anders  zu  hören.  Könnten  sich  Artusi,  Zacconi, 
Tigrini  u.  s.  w.  in  unsere  Concertsäle,  unsere  Opernhäuser  setzen, 
sie  müssten  das,  was  sie  dort  zu  hören  bekämen,  für  musikalische 
Gräuel  erklären. 


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IX. 

Die*  italienischen  Organisten. 


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Die  Organisten.  Frescobaldi  u.  s.  w. 


Claudio  Merulo's  glänzende  Erscheinung  hatte  die  Orgel- 
kunst in  Italien  aus  dem  Zustande  der  Halbentwickelung  erlöst, 
in  welchem  sie  sich  bis  dahin  befunden  hatte  —  die  Organisten 
Italiens  behaupten  jetzt  den  Rang  wirklicher  Künstler,  während 
die  deutschen  „Orgelschläger",  dieser  derben  Bezeichnung  ent- 
sprechend, noch  lange  eben  nur  das,  allerdings  auch  respectable, 
Bild  braver  Handwerker  und  schlichter  Diener  der  Kirche  dar- 
boten. Die  Claviatur,  auf  welcher  sie  noch  wie  mit  Blechhand- 
schuhen x)  herumtappen,  wird  für  ihre  italienischen  Collegen  der 
Tummelplatz  glänzender  Virtuosität.  Merulo  findet  Geistesver- 
wandte, vielleicht  directe,  aber  glückliche  Nachahmer  seines  Styls, 
wie  Ottavio  Bariola,  Organist  der  Barche  Madonna  di  S.  Celso 
in  Mailand,  dessen  1585  erschienene  „Ricercate  per  suonar  d'or- 
gano",  denen  1594  vier  Bücher  „Capricci  owero  Canzoni"  folgen, 
sehr  ausgesprochen  den  Merulo -Styl  zeigen.  Als  Merulo's  Nachfolger 
auf  der  ersten  Orgelbank  von  S.  Marco  in  Venedig  erscheint  seit 
1.  Jänner  15S5  kein  Geringerer  als  Johannes  Gabrieli,  dessen 
Oheim  Andreas  gleichzeitig  —  und  schon  zu  Merulo's  Zeit  —  die 
zweite  Orgel  inne  hat.  An  die  beiden  Marcusorgeln  knüpfen 
sich  im  Laufe  des  17.  Jahrhunderts  glänzende  Namen,  wie  Fran- 
cesco Cavalli,  Giambattista  Volpe  -  Rovettino,  Pier 
Andrea  Ziani,  —  auch  Giuseppe  Guammi,  vorher  in  Mün- 
chen, dann  Organist  am  Dom  zu  Lucca  2),  war  einige  Jahre  lang 
(vom  30.  Oktober  158S  bis  15951  Organist  der  zweiten  Orgel  in 
S.  Marco,  während  Johannes  Gabrieli  noch  immer  die  erste  ver- 
sah. Daneben  eine  grosse  Anzahl  anderer  Organisten  der  Mar- 
cuskirche,   denen  „die  Nachwelt  keine  Kränze  flicht"  —  wie 

1)  Ein  Pas3us  Jean  Paul's,  welcher  hier  so  trefflich  passt,  dass  man 
mir  das  Plagiat  verzeihen  wird. 


seffo  Guammi,  eccellente  comuositbre  et  suonatore  suavissimo  d'Organo". 
Es  fragt  sich  aber,  wie  viel  bei  diesem  Urtheil  als  Höflichkeit  in  italie- 
nischer Weise  in  Abzug  zu  bringen  sein  möchte  —  denn  Zarlino  gedenkt 
an  dieser  Stelle  einer  ihm  aus  Lucca  von  Guammi  übersendeten  musika- 
lischen Antiquität. 

Ambroi,  Oeacbichte  der  Musik.  IV.  28 


434 


Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


Paolo  Giusto  da  Castello  (1595),  Giampaolo  Savii  (1612), 
Giambattista  Grillo  (1619),  Carlo  Fillago  (1623),  Giam- 
battista  Berti  (162£),  Massimiliano  Neri  (1644)  u.  A.  m. 
Dass  wir  von  diesen  wackeren  Männern  kaum  mehr  kennen,  als 
ihre  Namen  und  —  Dank  dem  Archiv  in  Venedig  —  die  Tage 
ihrer  Anstellung  und  ihre  Jahresgehalte,  darf  uns  nicht  bewegen, 
sie  für  geringe  Musiker  zu  halten  —  die  Organistenprüfung  in 
Venedig  war,  wie  wir  wissen,  streng.  Adriano  Banchieri  nennt 
in  der  aus  S.  Elena  in  Venedig  datirten  Vorrede  seines  „Organo 
Buonarino"  neben  Johannes  Gabrieli  wie  einen  ebenbürtigen  Mei- 
ster auch  Paul  Giusto.  *) 

Der  Organist  musste  sich  besonders  durch  die  Fertigkeit 
hervorthun,  dem  Augenblick  gerecht  zu  werden,  ein  Thema  prä- 
ludirend  durchzuführen  auch  wenn  kein  Notenblatt  vor  ihm  lag, 
die  Pausen  des  Gesanges  passend  auszufüllen,  sich  nach  Bedürf- 
niss  bald  länger,  bald  kürzer  in  Passagenwerk  zu  ergehen,  die 
Sänger  solid  und  sicher  zu  begleiten.  Dergleichen  riss  die  Zeit- 
genossen oft  zur  Bewunderung  hin  —  für  uns,  die  Nachkommen, 
ist  es  verklungen  und  verschollen.  Und  selbst  von  dem,  was  wir 
noch  besitzen,  ist  Vieles  entstellt.  Die  deutschen  Orgler  nahmen  zwar 
in  ihre  Tabulaturbücher  Arbeiten  der  besten  Meister  Italiens  auf,  aber 
„colorirten"  sie  selbst  nach  eigenem  Geschmack  oder  Ungeschmack. 

Schüler  Merulo's  war  der  Minorit  Girolamo  Diruta  aus 
Perugia,  Organist  in  Gubbio,  später  in  der  Fischerstadt  Chioggia 
bei  Venedig  —  dem  Merulo  selbst  das  Zeugniss  giebt:  „ha  fatto 
a  lui  et  a  me  insieme  singolare  honore"2)  und  welcher  in  seinem 
1593  in  Venedig  erschienenen,  in  Dialogform  verfassten  und 
dem  siebenbürgischen  Fürsten  Sigismund  Bathori  gewidmeten 
Buche  „il  Transilvano"  über  die  wahre  Art  schrieb,  Orgel  und 
Cembalo  zu  spielen  (sopra  il  vero  modo  di  sonar  organi  e  stro- 
menti  da  penna).  In  Rom  finden  wir  Paolo  Quagliati  (um 
1600 — 1610),  auch  als  Cembalist  berühmt;  in  Ferrara  Luzza- 
scho  Luzzaschi,  von  Merulo  als  „erster  Organist  Italiens" 
gepriesen,  von  Vincenzo  Galilei  zu  den  vier  grössten  Musikern 
der  Zeit  gezählt,  wogegen  Lelio  Guidiccioni  von  ihm  dem  Pietro 
deila  Valle  die  wenig  schmeichelhafte  Schilderung  machte: 
„er  habe  nicht  einmal  einen  Triller  auszuführen  vermocht  und 
die  feinsten  contrapunktischen  Schönheiten  plump  und  roh  herun- 
tergespielt." Gabriel  Fattorini  aus  Faenza  (um  1600)  erringt 
auch  als  kirchlicher  Componist  Ruhm.  Florenzio  Maschera 
aus  Cremona  lässt  als  Organist  in  Brescia  mit  Vorliebe  das  neue 
Genre  der  Canzoni  francesi  (fugirte  Sätze)  hören.  Bernardin 


1)  gl'  eccellentissimi  Musici  et  Organist!  nella  Chiesa  di  S. 

Marco,  il  Signore  Gio.  Gabrielii  et  Signore  Paolo  Giusto. 

2)  Vorrede  der  „Canzoni  alla  francese"  (1598). 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w.  435 

Borghesi,  um  1590  Organist  der  Kirche  all a  Seal a  in  Mailand, 
wird  wegen  Anmuth  seines  Spiels  gepriesen.  Alexander  Mille  - 
ville  (geb.  in  Paris,  gest.  am  7.  Sept.  1589  als  Kapellmeister 
des  Domes  zu  Ferrara,  68  Jahre  alt)  gilt  als  ein  für  seine  Zeit 
grosser  Orgelmeister ;  sein  in  Ferrara  geborener  Sohn  Franz 
Mille  ville  wird  Lehrer  des  Ercole  Pasquini  aus  Ferrara  (bis 
1614  Organist  in  der  Peterskirche  zu  Rom)  und  Girolamo 
Frescobaldi's. 

Mit  dem  Namen  Frescobaldi  beginnt  die  grosse,  klassische 
Zeit  des  Orgelspieles,  —  er  ist  nicht  blos  ftir  seine  Zeit,  sondern 
fiir  alle  Folgezeiten  eine  imponirende  Erscheinung  —  und  wenn 
seine  Nachfolger  Froberger  u.  A.  ihn  an  Glätte  tiberbieten,  an 
Grossheit  kommt  ihm  keiner  gleich  —  bis  man  in  der  Fortent- 
wickelung der  Kunst  auf  den  Namen  Bach's  stösst. 

Die  Merulo-Toccate  bot,  wie  wir  sahen,  sehr  bedeutende  Ele- 
mente: polyphone  Sätze  von  trefflicher  Fügung  und  glänzendes 
Passagen  werk,  —  etwas  ganz  anderes,  als  das  planlose  Irrlichte- 
liren  der  deutschen  Coloristen.  Diese  Elemente  sind  bei  Merulo 
und  seinen  Nachfolgern  noch  in  äusserliche  und  willkührliche 
Verbindung  gesetzt;  die  massvoll  und  edel  bewegte  Polyphonie 
macht,  indem  die  Rechte  oder  die  Linke  des  Spielers  plötzlich  auf 
einem  Accord  breit  liegen  bleibt,  längerm  Passagen  werk  in  der 
andern  Hand  Platz;  die  Passagen  stocken  dann  wieder  plötzlich 
und  die  Polyphonie  ergreift  das  Wort,  um  wieder  von  Laufwerk 
abgelöst  zu  werden,  oder  eine  der  Stimmen  löst  sich,  während 
die  andern  ruhig  und  fest  fortgehen,  in  Coloratur  auf  —  und  so 
fort.  Diese  Elemente  gehörig  zu  sondern,  gut  zu  gruppiren,  im 
Einzelnen  durchzubilden,  jedem  seine  gehörige  Sphäre  anzuwei- 
sen, die  Composition  zu  einem  gerundeten  Ganzen,  zu  einem  or- 
ganischen Gebilde,  statt  bloss  zu  einem  mehr  oder  minder  inco- 
härenten  Haufwerk  musikalischer  Einfalle,  musikalischer  Einzel* 
züge  zu  machen,  war  die  nächste  Aufgabe.  Wo  die  Orgelmeister 
es  wirklich  versuchten,  einen  consequent  durchgeführten  Tonsatz 
in  fugirten  Stücken  (Canzoni)  zu  schaffen,  fiel  Alles  meist  noch 
mager  und  trocken  genug  aus.    Zudem  bringt  der  im  Thema  stets 

wiederkehrende  Rhythmus  der  Canzon  francese  J  J  J  |  J  j  j  J  J  J  | 

eine  unleidliche  Monotonie  hinein,  so  dass  sich  eine  Composition 
von  der  andern  kaum  unterscheidet.  An  die  Stelle  ärmlicher  und 
magerer  Formen  kräftige,  lebendige  Bildungen  zu  setzen  —  diese 
Nothwendigkeit  fühlten  Manche  —  suchten  ehrlich  und  eifrig  Ab- 
hilfe, fanden  sie  aber  nicht,  weil  ihr  Talent  dafür  nicht  ausreichte. 
Zu  diesen  zählt  Adriano  Banchieri,  welcher,  ziemlich  nüch- 
tern und  reizlos  in  seinen  Compositionen,  dennoch  ein  so  bedeu- 
tendes Mittelglied  bildet,  dass  wir  ihn,  ehe  wir  uns  zu  Frescobaldi 
wenden,  kennen  lernen  müssen. 

28» 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


Adriano  Banchieri  war  in  der  Stadt  der  musikalischen  Ge- 
lehrsamkeit, in  Bologna,  geboren.  Ein  1613  gezeichnetes  Bildniss 
(bei  der  dritten  Ausgabe  seiner  „Cartella  di  Musica")  stellt  ihn, 
laut  Beischrift,  als  einen  Mann  von  46  Jahren  vor  —  er  bezeich- 
net sich  selbst  als  Zögling  Giuseppe  Guami's.  Er  war  geistlichen 
Standes  —  „Bolognese,  monaco  Olivetano"  pflegt  er  sich  zu  nen- 
nen. Anfangs  Organist  in  der  Kirch»1  „S.  Maria  in  Regola"  zu 
Imola,  wurde  er  es  später  in  der  Kirche  „S.  Micchele  in  Bosco" 
(eine  Olivetanerkirche  nebst  Kloster  vor  Porta  S.  Mamolo  nächst 
Bologna).  Als  sein  Todesjahr  giebt  Mazzucchelli  1634  an.  Er 
war  ein  tüchtiger  Harmoniker,  ein  denkender  Theoretiker,  als 
Tonsetzer  wie  als  musikalischer  Schriftsteller  gleich  thätig  —  die 
Zahl  seiner  Arbeiten  ist  Legion.  Von  den  ernsthaftesten  Kirchen  - 
stücken  bis  zu  den  tollsten  Possen  (seiner  burlesken  Nachah- 
mungen des  „Amfiparnasso"  gedachten  wir  schon),  von  grossen 
Werken  (wie  eine  achtstimmige  Messe,  1599),  von  subtilen  Kunst- 
stücken (Canoni  musicali,  1613),  von  den  Mysterien  der  Solmi- 
sation,  welcher  er  in  einem  „Duo  in  contrappunto  sopra  ut  re 
mi  fa  sol  la,  utile  a  gli  figliuoli  et  principianti  che  desiderano 
praticare  le  note  cantabili  con  le  reaU  mutazioni"  (1613)  seine 
Huldigung  darbringt  und  welcher  er  in  der  „Cartella  musicale" 
durch  Einschaltung  einer  siebenten  Silbe  „ba"  ftir  h  und  „bitl 
für  \p  gleichwohl  den  Todesstoss  beibringen  will,  bis  zu  leicht- 
gefügten Madrigalen  zeigt  er  sich  als  wahrer  „uomo  universale" 
—  wie  man  zur  Zeit  der  Renaissance  sagte.  Hier  interessirt  uns 
zunächst  der  „  Organo  Suonarino"  (1605).  Banchieri's  Schrift 
fetwas  über  hundert  Seiten  klein  Quart)  kündigt  ihren  Zweck 
schon  auf  dem  Titelblatte  und  dann  nochmals  mit  denselben 
Worten  in  der  Vorrede  an:  „entro  quäle  si  pratica,  quanto 
occorer  sole  a  gli  suonatori  d'organo  —  in  tutte  le  feste  et  solen- 
nita  dell*  anno".  Also  ein  Noth-  und  Hilfsbüchlein  für  Organi- 
sten und  insofern  nicht  ohne  Interesse,  als  daraus  zu  ersehen 
ist,  was  der  Kirchendienst  von  ihnen  verlangte.  Er  wolle,  sagt 
er,  die  Organisten  hier  nicht  etwa  schön  und  gelehrt  spielen  leh- 
ren —  dafür  geben  schon  der  „Transsilvano"  des  höchst  tüchtigen 
Diruta  (del  suflßcientissimo  Diruta)  genugsam  Anleitung,  noch 
wolle  er  etwa  die  Regeln  des  Contrapunktes  erläutern,  wofür 
schon  Zarlino,  Tigrini,  Artusi,  Ponzio  und  andere  treffliche  Männer 
gesorgt.  In  der  That  giebt  er  dem  Organisten  Material,  aber 
keine  Anleitung  —  er  giebt  die  rituellen  Motive;  etwas  daraus 
zu  machen  bleibt  die  Sache  des  Orgelspielers.  Indessen  bringt 
er,  als  Zugabe,  doch  einen  Anhang  „otto  Sonate  a  quattro  parti 


vatione  et  Post-Communione,  quali  Sonate  sono  commode  per 
sonare."  Die  Gabe  ist  dürftig  ausgefallen  —  die  Ueberschriften 
lauten  allerdings  stolz  genug:  „Sonata  prima,  Fuga  plagale  —  So- 


spartite,  che  saranno  a  proposito 


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Die  Organiston.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


437 


nata  seconda,  Fuga  triplicata  —  Sonata  terza,  Fuga  grave  — 
Sonata  quarta,  Fuga  cromatica  —  Sonata  quinta,  Fuga  harmonica 
—  Sonata  sesta,  Fuga  triplicata  —  Sonata  settima,  Concerto  en- 
armonico  —  Sonata  ottava  in  Ana  Francese"  —  und  weiterhin 
eine  zweite  Serie:  „Ingresso  d'un  ripieno  —  Fuga  autentica  in 
Aria  Francese  —  Sonata  in  Dialogo  —  Sonata,  Capriccio  capric- 
cioso  —  Sonata  in  Aria  francese,  Fuga  per  imitazione"  —  es  ist, 
als  werde  ein  ganzer  Schatz  an  Musik  ausgekramt;  aber  der  In- 
halt des  Gebotenen  fallt  neben  den  hochtönenden  Namen  kahl 
und  ärmlich  ab  —  es  sind  kurze,  embryonenhaft  unentwickelte 
Sätzchen,  deren  Kürze  Banchieri  durch  Repetitionszeichen  und 
beigeschriebene  „da  Capo"  abzuhelfen  sucht,  mager  im  Klang, 
steif  in  der  Führung,  nichtssagend  in  der  Erfindung,  im  Harmo- 
niegehalt dürftiger  als  dürftig.  Die  Stimmen  alterniren  oft  zu 
je  einem  Paar,  Sopran  und  Alt,  und  wenn  diese  pausiren,  Tenor 
und  Bass;  oft  dialogisiren  die  Stimmen  in  leertönenden  Echos; 
die  „Sonata  in  Dialogo"  begnügt  sich,  kurze  vierstimmige  Phra- 
sen erst  in  höherer  und  dann  in  tieferer  Lage  hören  zu  lassen; 
das  „Capriccio  capriccioso"  ist  bei  seiner  grenzenlosen  Nüchternheit 
von  Caprice  weit  entfernt;  die  chromatische  Fuge  ist  diatonisch 
und  geht  mit  Hilfe  der  eingezeichneten  £  £  aus  E-dur ;  das 
„enharmonische  Concert"  ist  der  fürchterlichste  Unsinn  —  selbst 
auf  dem  berühmten  „Archicimbalou  müssten  sich  Combinationen 
höchst  wunderbar  ausnehmen,  wie  folgende: 


Das  geht  noch  über  den  Fürsten  von  Venosa! 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


So  sah  nun  ein  „Musterwerk"  aus,  welches  bis  1638  seine 
vier  Auflagen  erlebte,  die  Arbeit  eines  grundgelehrten,  wohlmei- 
nenden Mannes,  welche  in  demselben  Jahre  1605  bei  Ricciardo 
Amadino  in  Venedig  erschien,  wo  ebendort  Angelo  Gardano  eine 
Neuauflage  des  ersten  Buchs  von  Merulo's  Orgelstücken  veran- 
staltete, ein  Jahr  nachdem  Merulo  aus  dem  Leben  geschieden 
—  und  zehn  Jahre  ehe  Frescobaldi  seine  erste  grosse  Arbeit, 
die  „Ricercari  et  canzoni  francesi  sopra  diversi  oblighi"  in  Rom 
ans  Licht  treten  liess.  So  bedeutend  der  Einfluss  der  beiden 
Gabrieli,  Merulo's  u.  s.  w.  für  die  Kunst  war  —  es  blieb  am 
Ende  doch  noch  das  Auftreten  eines  Meisters  der  Orgel  wün- 
schenswert!}, welcher  mit  starker  Hand  die  Kunst  auf  eine  Höhe 
emporhebe,  auf  welcher  die  „Organo-Suonarinos"  ein  für  allemal 
unmöglich  werden,  und  welcher  der  Orglerkunst  die  engen  Kin- 
derschuhe, in  welchen  sie  noch  je  zuweilen  herumlief,  ausziehe. 
Das  war  nun  aber  eben  Girolamo  Frescobaldi.  Er  bezeich- 
net einen  der  Wendepunkte  der  Musik  und  ist  selbst  die  glän- 
zendste Gestalt  jener  suchenden  und  versuchenden,  treffenden  und 
verfehlenden  Uebergangszeiten.  Seine  Werke,  denen  der  Stempel 
des  Genius  aufgeprägt  ist,  stehen  neben  den  dürftigen  Incunabeln 
der  Monodie  jener  Zeiten  als  Werke  klassischen  Gehaltes  da, 
denen  keine  Zeit  mehr  etwas  wird  anhaben  können.  Dass  sie 
gleichsam  mit  einer  Hand  nach  einer  eben  abgeschlossenen  grossen 
Kunstepoche  zurück-  und  mit  der  andern  nach  der  hoffnungs- 
reichen Zukunft  einer  neuen  Tonkunst  vorwärtsdeuten,  giebt  ihnen 
einen  eigenen  und  wunderbaren  Reiz. 

Von  Frescobaldi's  Lebenslauf  wissen  wir  kaum  die  Haupt- 
züge. Dass  er  aus  Ferrara  gebürtig  war,  wird  einstimmig  be- 
zeugt; sein  von  dem  Augustiner  F.  Jo.  Salianus  gezeichnetes, 
von  Christian  Sas  in  Kupfer  gestochenes  Bildniss  trägt  rings  um 
das  einfassende  Oval  die  Umschrift:  „Hieronym.  Frescobaldvs. 
Ferrarien.  organista  Ecclesiae  D.  Petri  in  Vaticano  Aet  suae  36." 
Es  zeigt  einen  schönen,  auffallend  edeln  Kopf,  dessen  Blick  und 
Ausdruck  etwas  Vornehmes  hat  und  zugleich  den  Künstler  ver- 
räth.  Wiederholt  den  Publikationen  von  Frescobaldi's  Tonwerken 
vorangestellt,  erscheint  es  zum  erstenmale  in  den  1624  in  Rom 
publizirten  „Capricci  sopra  diversi  soggetti".  Hiernach  wäre  Fre- 
scobaldi 1588  geboren.  Sein  Lehrer  war  einer  der  beiden  Mille- 
ville  —  Alexander,  den  man  gewöhnlich  nennt,  wohl  nicht,  da 
dieser  schon  1589  starb  —  folghch  kann  es  nur  Franz  Milleville 
gewesen  sein.  Der  Lehrer  war  französischer  Abkunft,  und  in 
Ferrara  mögen  noch  von  den  Zeiten  der  Este  her  die  nieder- 
ländischen musikalischen  Erinnerungen  lebhaft  gewesen  sein. 
Frescobaldi  ging  nach  den  Niederlanden,  obschon  Italien  damals 
schon  Componisten  und  Organisten  in  Menge  besass.  In  Ant- 
werpen wurde  Frescobaldi's  erste  Compositum,  ein  Buch  fiinf- 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


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stimmiger  Madrigale  bei  Peter  Pbalesius  gedruckt.  Die  Wid- 
mung derselben  an  Guido  Bentivoglio,  Erzbischof  von  Rhodus,  ist 
aus  Antwerpen  10.  Juni  1608  datirt.  In  demselben  Jahre  finden 
wir  Frescobaldi  in  Mailand.  1615  nennt  er  sich  in  der  am  22. 
Dezember  geschriebenen  Dedication  an  den  Cardinal  von  Mantua 
schon:  Organist  der  Peterskirche  in  Rom.  Er  zählte  damals  erst 
27  Jahre.  Gleichwohl  war  sein  Ruf  als  Orgelspieler  so  gross, 
dass  sein  erstes  Auftreten  in  St.  Peter  in  die  gigantischen  Räume 
der  Kirche  30000  Zuhörer  herbeigelockt  haben  soll.  Sein  Vor- 
gänger war  Ercole  Pasquini  gewesen.     Die  Kunstfreunde  (wie 


frespielt  —  Frescobaldi's  Spiel  sei  leichter  und  gefälliger.  In  dem  im 
Jahre  1640  verfassten  Sendschreiben  della  Valle's  wird  Fresco- 
baldi ausdrücklich  als  ein  „noch  Lebender"  bezeichnet;  er  zählte 
also  52  Jahre.  Abbe*  Maugars,  der  geistreiche  französische  Musik- 
freund und  Sonderling,  hatte  ihn  ein  Jahr  vorher  —  1639  —  in 
Rom  kennen  gelernt.  Die  Zeit  seines  Todes  und  der  Ort  seiner 
Bestattung  sind  unbekannt;  kaum  zu  begreifen  bei  einem  Mann, 
welcher  das  Wunder  seiner  Zeit  war,  —  nennt  ihn  doch  Lorenzo 
Penna  (delP  Albori  music.  III.  1.)  „il  mostro  de  suoi  tempi." 
Ein  Geistesriese  darf  er  aber  wirklich  heisen. 

Was  einst  Goethe  von  Palladio  sagte,  mag  auch  von  Fre- 
scobaldi gelten:  „er  ist  ein  recht  innerlich  und  von  innen  heraus 
grosser  Mensch  gewesen".  Unter  seinen  Händen  entwickelt 
die  Orgel  zum  erstenmale  ihre  ganze  Pracht  und  Grösse.  In 
seinen  Orgelsätzen  glüht  überall  das  Feuer  des  Genius;  reiche 
Formen  gestalten  sich,  fugen  sich  bildsam  zum  grossen  Gan- 
zen. Mächtige  Kraft,  energisches  Leben,  nichts  Kleines  oder 
Kleinliches,  auch  nicht  im  Zier-  und  Passagenwerk  —  kunstvolle, 
sinnreiche  Combinationen,  genial  gelöste  schwierige  Satzprobleme. 
Die  Dissonanz,  welche  bis  dahin  fast  wie  ein  nothwendiges  Uebel 
behandelt  worden,  wird  für  Frescobaldi  ein  sehr  positives,  wich- 
tiges Kunstmittel.  Er  behandelt  fremdartige  Zusammenklänge 
nicht  mehr  naturalistisch,  nicht  auf  gut  Glück  hin  und  ohne  zu 
wissen,  woher  und  wohin,  wie  der  Fürst  von  Venosa  gethan;  er 
sucht  ihrer  Herr  und  ihr  Meister  zu  werden,  welchem  sie  ge- 
horchen müssen;  er  frägt  ihnen  die  Gesetze  ab,  die  Bedingungen 
ihres  Erscheinens,  er  experimentirt  mit  ihnen,  so  im  „Capriccio  di 
durezze"  und  in  der  „Toccata  di  durezze  et  di  tigature' ,  geniale 
Stücke,  in  welchen  er  die  Härten,  welche  die  Ueberschriften  ver- 


1)  Sollte  man  es  rar  möglich  halten?  Fötis  erzählt,  P.  della  Valle 
sage  von  Frescobaldi:  „que  Frescobaldi  etait  un  Hercnle  place'  dans  St. 
Pierre".  Aber  della  Valle  redet  von  Ercole  Pasqainiü!  sollte  Fdtis  so 
viel  italienisch  verstanden  haben,  wie  er  deutsch  verstand  —  nämlich 
nichts?! 


fanden,  Ercole  l)  habe  „gelehrter' 


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440  Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 

heissen,  eigens,  um  der  Tendenz  willen  vielleicht  zu  sehr  häuft, 
aber  fortwährend  durch  frappante  Einfalle  überrascht. 

Manche  Entdeckungsreise  dieser  Art  mag  auch  wohl  misslingen, 
wie  im  „Capriccio  cromatico  con  ligature  al  contrario"  (1615),  wo 
Frescobaldi  den  Hörer  durch  ein  Dornendickicht  von  Querständen 
und  falschen  Dissonanz  -  Auflösungen  —  aufwärts!  —  unbarm- 
herzig hindurchschleppt  und  überdies  durch  thematische  Verkehrt- 
antworten und  durch  eine  übel  behandelte  Chromatik  das  Stück 
zu  einem  völlig  unanhörbaren  macht.  In  einer  anderen  Compo- 
sition  derselben  Sammlung  (ßicercari  et  canzoni  francesi  sopra 
diversi  oblighi)  „obligirtu  er  sich,  alle  Stimmen,  mit  Vermeidung 
stufenweiser  Schritte,  sprungweise  zu  führen.  Dagegen  gewinnt  ein 
„Ricercar  con  obligo  del  Basso,  come  appareu  gerade  durch  die 
constant  festgehaltenen,  auf  verschiedenen  Tonstufen  erscheinenden 
fünf  Noten  des  Basses  eine  eigentümliche  Grossartigkeit. 

Ein  äusserst  sinnreiches  Stück  ist  das  „Recercar  con  obligo 
di  cantare  la  quinta  parte  senza  toecarla".    Diese  „Quinta  Parte 

si  placet"  ist  die  kurze  Phrase  p^^Q^S 

welche,  mit  ihrem  Tempus  perfectum,  ihrer  Zahlenproportion  und 
ihren  altfränkischen  Noten  vor  dem  Stücke,  wie  ein  Gespenst  aus 
altniederländischer  Zeit  dasteht  —  zumal  das  Stück  selbst  —  „in- 
tendomi  chi  piü,  che  m'intend'  io"  lautet  sein  Motto  —  einfach 
im  C-Takt  (über  dasselbe  Thema)  schon  in  wesentlich  modernem 
Sinn  gesetzt  ist.  Die  alten  Ausgleichskünste  müssen  zur  Anwendung 
kommen.  Die  Aufgabe  ist,  die  Punkte  zu  finden,  wo  jene  Phrase 
sich  den  Übrigen  vier  Stimmen  als  fünfte  einfiigt.  Es  macht  sehr 
gute  Wirkung,  zumal  wenn  zu  dem  fortgehenden  Spiel  des  Or- 
ganisten etwa  eine  Tenorposaune  jene  sechs  Noten  „sänge"  — 
denn  wenn  der  Organist  selbst  sie  etwa  solfeggirte:  „re,  fa,  fa,  mi, 
la,  re",  dürften  sie  sich  schwerlich  besonders  gut  ausnehmen.  *)  Der 

1)  Zur  Erleichterung  des  Auffindens  bemerke  ich  hier,  dass  die 
Phrase  (nach  einfachen  C-Takten  gerechnet)  eintritt:  im  Takte  7,  22,  30, 
40,  51,  76,  94.  In  keiner  Weise  kann  ich  Fctis  Recht  geben,  wenn  er 
(Biogr.  univ.  III,  S.  332)  sagt:  „les  plus  grands  artistes  naient  quelque- 
iois  un  tribut  au  goüt  de  leur  temps,  ce  goüt  tut  il  de  plus  mauvais  — 
on  en  trouve  quelquesuns  (Ricercari)  entaches  des  folies  imaginees  par 

quelques  compositeurs  ces  tours  de  force  et  ces  enigines  ne  sont 

point  l'objet  r&l  de  Tart".  Der  vollendeten,  ihrer  Mittel  sicheren 
Kun3t  gewiss  nicht!  —  aber  der  werdenden,  lernenden?  —  Wie  viel  da- 
raus zu  lernen  ist,  wird  jeder  wissen,  der  sich  mit  derlei  Dingen  befaast 
hat!  Und  was  sind  denn  dann  die  Augmentationen,  Engführungen,  Ver- 
kehrungen und  ähnliche  „Zierden  der  Fuge"?!  Müsste  man  nicht  über 
J.  S.  Bach,  ja  Aber  Mozart  und  Beethoven  den  Stab  brechen?  Liegen 
Formenspiele  dieser  Art  nicht  tief  im  architektonischen  Grundzug  der 
Musik?  Die  Alten  befassten  sich  mit  solchen  „puerilites"  —  wie  Fetis 
gelegentlich  zankt  —  und  wurden  grosse  Meister,  die  uns  Werke  von 
ewigem  Gehalt  geschenkt  haben.    Wir  in  unserer  „Geistesfreiheit"  ver- 


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Die  Organigten.   Frescobaldi  u.  s.  w.  441 

Zweck  zu  Üben,  zu  bilden,  der  Lehrzweck  tritt  bei  Frescobaldi 
zuweilen  direkt  hervor.  Einer  Bergainaske  —  eigentlich  sind  es 
verbundene  Partiten  Uber  den  also  genannten  Tanz  —  schreibt 
er  bei:  „chi  questa  Bergamasca  suonera,  non  poco  imparera",  und 
er  hat  Recht.  —  Bei  der  neunten  Toccate  im  „Secondo  Libro  di 
Toccate,  Canzone"  etc.  setzt  er  zum  Schlüsse:  „non  senza  fatiga 
si  giunge  al  fine"  —  er  neckt  nämlich  den  Spieler  beständig 
durch  die  seltsamsten  rhythmischen  Combinationen :  12/„  in  der 
rechten  und  dazu  */t2  in  der  linken  Hand,  C  und  6/o  QU  und 
V6,  C  und  I2/8  — !  Die  „Partiten"  über  beliebte  Tänze,  wie 
die  Romaneska,  die  Folia,  die  Passacaglia  —  „cento(!)  partite  so- 
pra  passacagli"  —  sind  ihrem  Wesen  nach  contrapunktische  Stu- 
dien (keine  eigentlichen  „Variationen"),  aus  welchen  das  als  be- 
kannt vorausgesetzte,  daher  an  der  Spitze  nicht  erscheinende 
Thema  aller  Ecken  und  Enden  herausguckt  —  in  einer  melo- 
dischen Phrase  hier,  in  einer  rhythmischen  Gestaltung,  in  einer 
Harmoniewendung  dort.  Eine  in  ihrer  Art  höchst  reizende  Klei- 
nigkeit sind  fünf  kurze  Partiten  („Cappriccio"  nennt  Frescobaldi  das 
Stück)  über  ein  für  uns  längst  verschollenes  Lied  (Paria  di  Rog- 
giero),  dessen  Hauptmotiv  diesmal  solo  vorangestellt  wird: 

Fra  Jacopino. 

Fortwährend  ertönt  in  den  einzelnen  Stimmen  der  Ruf:  „Fra 
Jacopino"  —  suchend,  schmeichelnd,  drohend,  zankend,  freu- 
dig u.  s.  w.  *) 

Dass  die  neu  in  Aufnahme  gekommene  Chromatik  Fresco- 
baldi lebhaft  anregt,  ist  natürlich.  Die  „Enarmonik"  lässt  er 
weislich  bei  Seite.  Bei  seinen  chromatischen  Experimenten  ver- 
brennt er  sich  zuweilen  die  Finger,  oft  aber  gelingt  ihm  das  Ge- 
waltigste. Ueber  das  unhandliche  antik  griechische  Tetrachord 
des  chromatischen  Geschlechtes  schreibt  er  ein  schroffes  aber  fast 
gigantisch  zu  nennendes  Ricercar;  ein  anderes  mit  dem  Thema: 

achten  das  demüthige  Sitzen  auf  der  Schulbank,  wir  folgen  nur  „den  Ein- 

febungen  des  Genius"  —  dafür  pfuschen  wir  aber  erklecklich,  und  ein 
osquin  oder  Palestrina  könnte  es  nur  verachten,  wie  wir's  „zuletzt  so 
herrlich  weit  gebracht!1* 

I)  So  ganz  verschieden  der  Styl  —  man  könnte  an  Paganini's  „Car- 
neval  ae  Venise"  denken,  ein  Stuck,  mit  welchem  bekanntlich  später  auch 
Ernst  Furore  machte.  Man  kann  aus  dem  „Fra  Jacopino"  eine  ganze 
lustige  Klostergeschichte  herauslesen  an  welche  Frescobaldi  allerdings 
nicht  im  Traume  gedacht  hat 


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Die  Organisten.  Frescobaldi  u.  s.  w. 


gehört  zu  seinen  herrlichsten.  Wesentlich  chromatisch  ist  die  „Toc- 
cata duodecima"  im  ersten  Buch  der  Toccaten.  Dass  dabei  auch 
Härten  und  Herbheiten  mitunterlaufen,  ist  begreiflich.  Zum  Theile 
kommen  sie  auf  Rechnung  der  Kirchentöne,  welche  dem  Meister 
noch  traditionell  anhängen,  während  ihn  die  ganze  Art  des  Ton- 
satzes, in  welcher  er  sich  bewegt,  schon  gegen  die  moderne 
Tonalität  hin-,  ja  in  sie  hineindrängt.  Die  Mischung  dieser  beiden, 
wesentlich  von  einander  verschiedenen  Grundlagen  giebt  insbe- 
sondere den  Toccaten  Frescobaldi's  eine  sehr  eigene,  fremdartige, 
aber  ganz  seltsam  anregende,  anziehende  Färbung.  Es  hat  sicher 
einen  eigenen  Reiz,  wenn  irgend  ein  geistvoller  Fremder,  dessen 
Conversation  uns  hinreisst,  der  aber  unserer  gewohnten  Sprache 
nicht  völlig  mächtig  ist,  gelegentlich  einen  naiven  Sprachschnitzer 
macht  oder  irgend  einen  für  uns  unzulässigen  Idiotismus  seiner 
Muttersprache,  in  welcher  er  als  Kind  zuerst  sich  auszudrücken 
gelernt,  einmischt.  Aehnliches  empfinden  wir  bei  Frescobaldi, 
wenn  wir  nach  unseren  modernen  Tonarten  an  irgend  einer  Stelle 
ein  accidentales  ^  oder  jf  vermissen,  oder  ein  Querstand  rasch 
und  doch  sehr  fühlbar  vorüberschlüpft.  Aber  seine  Harmonie  ist 
farbenreich,  volltönig  und  von  grossem  Reiz,  zuweilen  von  frap- 
panter Kühnheit.  Kr  empfindet  übrigens  sehr  gut,  dass  er  mit 
zweierlei  Material  baut.  Seine  contrapunktischen  Arbeiten  über 
Themen  des  gregorianischen  Gesanges  gehören  in  der  Regel  ganz 
den  Kirchentönen,  seine  Ricercaren  und  Canzonen  dem  modernen 
Tonsystem  an.  Manche  herbe  Stelle  kommt  übrigens  kurz  und 
gut  auf  Rechnung  von  Stichfehlern,  wie  sich  zweifellos  conjectu- 
riren  lässt,  manche  andere  aber  davon,  dass  der  Tonsetzer  die 
alte  Praxis  der  „selbstverständlichen"  jj  und  [>  nicht  ganz  auf- 
gegeben hat.  Sein  Satz  ist  correct,  wenigstens  nach  den  Gesetzen 
seiner  Zeit. ')    Vor  groben  Missgriffen  warnt  ihn  sein  Genius. 


1)  In  der  „Aggiunta"  zum  ersten  Bnch  der  Toccaten  erscheint  aber 
im  ersten  „Balletto4'  folgender  Passus: 


Es  ist  kein  Versehen,  denn  in  der  folgenden  Corrente  (Variation)  wieder- 
holt er  sich.  In  der  prächtigen  Canzone  Nr.  6  des  „Libro  secondo" 
schlüpft  die  unangenehme  verdeckte  Octave  vorüber: 


ig 


m 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


443 


In  der  contrapunk  tisch  -  polyphonen  Behandlung  kirchlicher 
Motive  —  der  Kyrie  „della  Madonna"  (Missa  de  B.  Virgine), 
„degl*  Apostoli",  „della  Domenica",  der  Hymnen  „Ave  Maris  Stella14, 
„Jste  confessor"  u.  s.  w.  reihet  sich  Frescobaldi,  der  Orgelspieler, 
völlig  den  besten  Meistern  seiner  Zeit  oft  ganz  vollständig  an, 
welche  eben  diese  Sätze  fiir  Singstimmen  ausarbeiteten  —  grössere 
Notengeltungen,  ruhige  Motive  —  ganz  wie  für  Gesang  angelegt  — 
wahre  „Kirchenstücke  ohne  Worte4'.  Schriebo  man  sie  als  Kirchen- 
gesänge mit  Unterlegung  des  zugehörigen  Textes  aus,  so  würden 
sie  auch  in  dieser  Gestalt  völlig  ihrem  Zwecke  entsprechen.  Ander- 
wärts verläugnen  diese  kleinen  Sätze  die  Orgel,  für  welche  sie  be- 
stimmt sind,  keineswegs.  -Sie  sind  mehr  instrumenten-  als  singstim- 
mengerecht.  Ja  selbst  zierliches  Spiel  mit  kleinen  Nebenmotiven, 
contrapunktischer  Flitterstaat  stellt  sich  (wiewohl  nur  sehr  ausnahms 
weise)  ein  (zweiter  Vers  des  „Ave  Maris  Stella''1,  dritter  des  „Ma- 
gnificat  sesti  toni44  u.  a.  m.). 

Es  finden  sich  von  Frescobaldi  auch  wirklich  Kirchenstücke 
mit  Gesang  in  Fabio  ConstantinTs  Select.  cant.  (1614):  eine  drei- 
stimmige Motette:  „Peccavi"  (flir  2  Soprane  und  einen  Tenor)  und 
ein  Duo  für  Cantus  und  Tenor  „Angelus  ad  Pastores"  (dieselbe 
Sammlung  enthält  auch  eine  Motette  von  Frescobaldi's  Amtsvor- 
gänger Ercole  Pasquini:  „Jesu,  decus  angelicum"). 

In  den  Orgelsätzen  behältFrescobaldi  den  Cantus  firmus  entweder 
unverändert  als  solchen  bei  —  und  führt  ihn  allenfalls  durch  meh- 
rere Stimmen  durch,  oder  er  bildet  eigentliche  Orgelmotive  in  kleinen 
Noten,  welche  in  ihren  Intervallschritten  dem  Cantus  firmus  ent- 
nommen sind.  Zuweilen  kann  er  es  sich  bei  allem  Respekt  vor  den 
Kirchentönen  nicht  versagen,  etwas  von  den  neuen  Kunstmitteln, 
wie  Chromatik  u.  dgl.  gleichsam  einzuschmuggeln.  Den  Gebrauchs- 
werth dieser  der  Orgel  allein  zugewiesenen  Kirchenstücke  beim 
Gottesdienste  deutet  Adriano  Banchieri  an:  „per  alternare  Corista 
a  gli  canti  fermi  in  tutte  le  feste  et  solennita  delT  anno44.  Wird 
nämlich  eine  Messe  nach  dem  planen  gregorianischen  Gesang  im 
Unisono  und  ohne  jegliche  Instrumentalbegleitung  gesungen,  so 
nehmen  die  einzelnen  Sätze  des  Kyrie  u.  s.  w.  nur  kürzeste  Zeit 
in  Anspruch,  und  es  erscheint  wunschenswerth,  dass  die  Orgel,  aus- 
füllend und  dem  gottesdienstlichen  Moment  grössere  Dauer  gebend, 
eintrete.  Das  rituelle  erste  Kyrie  der  M.  de  B.  Virgine  ist 
folgendes: 

In  missis  de  Beata  virgine.   

Ky  -  ri-e     o      -       lei-son,  Ky-ri-e     e       -  lei-son 

Ky  -  rie         e       -  lei-son. 


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444 


Die  Organisten.   Frescobaldi  n.  8.  w. 


Hatte  nun  die  Geistlichkeit,  im  Kirchenchore  um  das  grosse 
Buch  und  Pult  aufgestellt,  diese  Intonation  abgesungen,  so  ant- 
wortete der  Organist  dem  Gesänge  mit  einer  Art  von  künstlerisch- 
veredelndem und  bereicherndem  Echo: 

Kyrie  della  Madonna  (Frescobaldi  —  „Fiori  musicali"). 


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(Cantus  firmus  im  Alt.) 


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Oder  aber  auf  andere  Art: 
Kyrie  della  Madonna  (Frescobaldi  a.  a.  0.). 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w.  445 


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Die  Missa  Dominicaiis  (in  Dominicis  et  Festis  semiduplicibus) 
hat  folgendes  erste  Kyrie: 

Ky-ri-e     e  lei  son 

Frescobaldi  beantwortet  es  also: 


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446  Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 

Kyrie  della  Doraenica  (Frescob.  1.  c). 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  8.  w. 


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Christe  della  Domenica. 


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448 


Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


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In  ähnlicher  Weise  lässt  Frescohaldi  die  Orgel  den  einzelnen 
Versen  des  Magnificat  primi,  secundi  et  sexti  toni,  der  Hymnen 
de  Apostolis,  Iste  confessor,  Ave  Maris  Stella,  della  Domenica 
respondiren  (Lib.  II.  di  Toccate,  Canzone  etc.). 


Primo 
Verso 


Magnificat  Primi  Toni. 


Magnificat 


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Die 

Organisten.  Frescobald 

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Ambro»,  Oeschichto  der  Musik.  IV.  29 


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450 


Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


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Der  Zweck  dieser  anziehenden  Tonsatze  —  erosser  Meister- 
arbeiten  in  kleinem  Umfang  —  ist  also,  die  Pausen  zwischen 
dem  gregorianischen  Gesang  mit  etwas  Bedeutungsvollerem  als 
mit  willkührlichen  Interludien  zu  füllen,  sie  mit  dem  Gesang  in 
inneren  Zusammenhang  zu  bringen.    Diese  Verbindung  der  streng 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


451 


rituellen  alterthümlichen  Kirchenmusik  mit  einer  polyphon  und 
reich  ausgebildeten,  dieses  Einfassen  des  alten  Heiligenbildes  in 
einen  reich  und  schön  ornamentirten  Rahmen  darf  eine  in  hohem 
Grade  glückliche  heissen. 

„Dreierlei  gesungene  Messen  sind  approbirt  im  römischen 
Missale  zu  finden",  sagt  Banchieri,  „welche  alternirend  vom  Chor 
und  der  Orgel  ausgeführt  (lequali  s'alternano  tra  il  choro  et  or- 
gano),  welche  an  allen  Festen  gesungen  werden  —  u.  zw.  della 
Madonna,  della  Dominica  und  Aposlolorum".  Frescobaldi  hat,  wie 
man  sieht,  als  treuer  Diener  der  Kirche,  filr  alles  dieses  bestens 
gesorgt.  Auch  ftir  die  feierlichen  Momente  der  „Levazione",  des 
„Post-Commune"  —  flir  welche  Banchieri  seine  magern  „Sonaten" 
schrieb,  componirte  Frescobaldi  würdige  Tonsätze  in  der  Form 
der  Toccata  oder  des  Kicercar.  Dass  aber  unter  dem  „Chor", 
welcher  mit  der  Orgel  „alternirt",  nicht  Figural-,  sondern  gregoria- 
nischer Gesang  zu  verstehen  ist,  lehrt  Zacconi  in  unzweifelhafter 
Weise.  ») 

Eine  eigene  und  sehr  stattliche  Klasse  unter  den  Werken 
Frescobaldi's  bilden  seine  Toccaten.  In  vielen  derselben  ist  der 
Zusammenhang  mit  der  Merulo-Toccate  noch  deutlich  fühlbar.  Die 
Art  und  den  Werth  dieser  Richtung  schildert  am  besten  ein  Dichter 
—  Jean  Paul  —  welcher  sie  schwerlich  je  kennen  gelernt  und 
obschon  er  nicht  von  ihnen,  sondern  überhaupt  von  instrumen- 
taler Einleitungsmusik  „voll  musikalischen  Geschnörkels,  voll  Feuer- 
werkgeprassels wider  einander  tönender  Stellen"  redet  —  „es  ist 
der  Staubregen,  der  das  Herz  für  die  grossen  Tropfen  der  ein- 
facheren Töne  aufweicht."  2)  Frescobaldi  —  kann  man  beifügen  — 
bahnt  den  Weg  zu  Palestrina,  die  Toccate  den  Weg  zur  Missa. 
Das  Gesetz  musikalischer  Formenentwickelung  zeigt  sich  nicht  leicht 
irgendwo  deutlicher,  als  wenn  man  den  Weg  etwa  von  Andrea 
Gabrieli's  kurzen  Präludien  in  den  einzelnen  Kirchentonarten  über 
Merulo's  Toccaten  zu  jenen  Frescobaldi's  (und  von  da  weiter  zu 
J.  S.  Bach)  nimmt.  Sehr  gut,  trotz  der  altfränkischen  Ausdrucks- 
weise, erklärt  Praetorius:  „Toccata,  ist  als  ein  Präambulum  oder 
Präludium,  welches  ein  Organist,  wenn  er  erstlich  uff  die  Orgel 
oder  Clavicymbalum  greifft,  ehe  er  ein  Mutet  oder  Fugen  anfehet, 
aus  seinem  Kopff  vorher  fantasirt  mit  schlechten  entzelen  griffen 
und  Coloraturen  —  sie  werden  aber  von  den  Italis  meines  er- 
achtens  daher  mit  Namen  Toccata  also  genennet,  weil  toccare 
heisst  tangere,  attingere,  von  Toccato,  tactus:  so  sagen  auch  die 
Italiener  „Toccate  un  poco",  das  heisst:  beschlagt  das  Instrument 

1)  —  al  suddetto  canto  fermo  dirö  alle  volte  fermo,  et  alle  volte 
Chorale,  secondo  che  mi  fara  bisogno.  (Zacconi,  Pratt.  di  Mus.  Parte 
scconda,  Lib.  I.  cap.  8.  della  musica  piana,  cioe  Canto  fermo  et  araio- 
niale.) 

2)  Hesperas  2.  Band  XIX,  „Gartenconcert  von  Stamitz*'. 

29* 


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452  Dio  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 

oder  begreifft  das  Ciavier  ein  wenig:  daher  Toccata  ein  durch- 
griff oder  begreiffung  des  Claviers  gar  wol  kann  genennet  werden." 
Die  Toccata  zeigt  den  Charakter  phantasierenden  Improvisirens, 
sie  hält  kein  Thema  fest,  ihre  beiden  Elemente  sind  wirklich  die 
—  mit  Prätorius  zu  sprechen  —  „entzelen  Griffe"  (Accorde)  und 
Coloraturen.    Sie  ist  wirklich  ein  „Durchgriff,"  indem  sie  den 
ganzen  Umfang  des  Instrumentes  in  raschen  Läufen,  in  arabesken- 
haften  Figurationen  durcheilt  —  gleichsam  um  des  Instrumentes 
Vermögen  zu  prüfen.    Es  sind  keineswegs  nichtssagende  Skalen- 
spielereien —  selbst  die  Läufe  nehmen  Gestaltungen  an,  die  wie 
Ansätze  zu  wirklicher  Themenbildung  aussehen;  wo  sie  aber  zu 
wirklichen  Themen  werden,  sind  letztere  mehr,  nur  wie  leicht 
hingeworfen,  eine  kleine  geschlossene  Notengruppe,  welche  durch 
die  vier  Stimmen  in  raschen  Antworten  hindurchläuft  und  dann 
verschwindet,   um  neuen  Gestalten  Platz   zu  machen  —  von 
der  festen  Ausprägung  zu  contrapunktischer  Durchführung  be- 
stimmter Motive  ist  keine  Rede,  und  die  Toccate  behält  auch  hier 
den  Charakter  einer  Improvisation  —  so  wohl  überlegt  und  sorg- 
sam ausgearbeitet  sie  in  Wahrheit  auch  sein  mag.    So  ist  die 
Toccate  ein  Mittleres  zwischen  Präludium  und  Phantasie.  Von 
ersterem,  das  seine  Themen  in  festeren  Bildungen  contrapunktisch 
durchführt,  ohne  den  Charakter  des  Vorbereitenden,  Einleitenden 
zu  verlieren,  unterscheidet  sie  sich  durch  ihr  flatteriges  Wesen; 
von  der  letzteren  durch  den  Mangel  an  selbstständiger  Bedeutung, 
wie  die  Phantasie  sie  allerdings  behauptet.  Für  Prätorius  ist  die 
Toccate,  wie  wir  sahen,  mit  dem  Präludium  eines  und  dasselbe  — 
und   wirklich   finden  sich  von  Frescobaldi  kurze  Vorspiele  — 
„Toccata  avanti  la  messa   della  Madonna;   Toccata  avanti  la 
messa  della  Domenica;  Toccata  avanti  la  messa  degl'  Apostoli; 
Toccata  avanti  il  Kicercar"  (nämlich  vor  dem  Hicercar  über  das 
griechische  Tetrachord)  —  wahre,  wenn  auch  kurze  Präludien  im 
eigentlichen  Sinne.   Neben  den  mit  raschem  Figurenwerk  brilliren- 
den  Toccaten  giebt  es  eine  andere  Art,  die  aber  fast  nur  aus- 
nahmsweise erscheint  —  hier  ist  es  eine  Folge  von  Accorden, 
Note  gegen  Note,  oder  stellenweise  zwei,  drei  Noten  gegen  eine  — 
aber  nicht  säulenartig  starr  neben  einander  hingestellt,  sondern  in 
fortgehender,  flüssiger  Bewegung.   (Toccata  XII  Lib.  1.)  So  bunt 
sich  die  erste  Art  mit  ihrem  Gewimmel  zwei-  und  dreigestrichener 
Noten  im  oberen  und  unteren  Liniensystem  ausnimmt,  so  ruhig 
sieht  die  andere  aus  mit  ihren  weissen  Halbtaktnoten,  an  welche 
sich  erst  im  Verlauf  allerlei  kleine  Schnörkel  in  Viertel-,  Achtel 
und  Sechszehnteluoten  anhängen.    Auch  jene  andere  lebhafte  Art 
eröffnet  Frescobaldi  gerne  mit  dem  Introitus  einiger  fester,  im- 
posanter Accorde  —  bald  aber  tritt  die  rasche  Bewegung  ein 
und  wird,  insgemein  gegen  das  Ende  des  Stückes  hin,  noch  leb- 
hafter.   Zuweilen  lässt  sich  eine  Toccate  auch  wohl  eine  gute 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


453 


Weile  an,  als  wolle  sie  ein  Präludium  im  eigentlichen  Sinne  wer- 
den —  die  vier  Stimmen  gehen  festgeprägt  ihren  polyphonen 
Gang,  aber  wie  aus  den  Ritzen  einer  festgefugten  Quaderwand 
endlich  da  und  dort  Grün  mit  Ranken  und  Blätterwerk  hervor- 
spriessen  mag,  so  beginnt  hier  das  Zierwerk  erst  nur  wie  zufällig 
in  einer  Stimme  —  bald  aber  überwuchert  es  —  die  Wand  ver- 
schwindet hinter  dem  Mantel  von  Epheu.  So  ist  Toccata  XI  im 
ersten  Buch. 

Toccaten,  in  denen  das  Passagenwerk  vorwaltet,  sind  im  ersten 
Buche,  mit  alleiniger  Ausnahme  der  eilften  und  zwölften,  alle 
Übrigen.  In  der  sehr  grossartigen  eilften  hat  das  Zierwerk  wenig- 
stens kein  Uebergewicht.  Die  Toccata  12  vermeidet,  um  ihre 
chromatisch  fortschreitenden  Harmonieen  deutlich  hervortreten  zu 
lassen,  die  Coloratur  so  gut  wie  ganz. 

Im  zweiten  Buche  nehmen  die  Toccaten  eine  fühlbar  andere 
Gestalt  an.  Sie  sind  zwar  auch  nicht  arm  an  colorirten  Stellen, 
aber  sie  nehmen,  ohne  die  Beweglichkeit  aufzugeben,  vorwiegend 
den  Charakter  thematischer  Arbeit  an  —  im  Verlaufe  des  Stückes 
tritt  auch  wohl  ein  Wechsel  geraden  und  ungeraden  Taktes  ein 
(gleich  in  der  ersten  Toccate  C — 3 — 12/8  —  letzterer  zusammen 
mit  C);  wir  finden  hier  sogar  Toccaten  (N.  3  u.  4),  welche  nicht 
mehr  als  Vorspiele  gemeint,  sondern  bestimmt  sind  „da  sonarsi 
alla  levazione"  —  es  sind  wahre  Phantasieen.  Toccate  5  und  6 
ist  gesetzt  „sopra  i  pedali  per  Torgano  e  senza",  d.  h.  sie  bauen 
sich  über  lange  Haltetöne  des  Pedals,  auf  welchem  der  Organist 
im  Wortverstande  „festen  Fuss"  fasst,  in  reicher  Figuration  auf 
und  können  auch  ohne  Pedal  gespielt  werden.  Die  Wirkung  der 
fortbrausenden  Basstöne  ist  eine  eigentümlich  grandiose.  Man 
sieht  übrigens,  wie  wenig  man  den  Organisten  im  Pedalspiel  zu- 
muthen  durfte.  Die  „Toccata  di  durezze  e  ligature"  ist  ganz  ohne 
Colorirung  —  aus  Gründen,  die  im  gestellten  Problem  liegen. 
Aber  selbst  wo  sich  die  Toccate  durchweg  in  buntem  Passagen- 
werk bewegt,  fühlt  Frescobaldi  sehr  wohl,  dass  das  Ohr  Ruhe- 
punkte braucht,  dass  der  Hörer  nicht  in  einer  Art  musikalischer 
Hetzjagd  den  Athem  verlieren  darf.  Er  hält  also  weil  weise, 
mitten  in  die  bewegten  Stellen  hinein,  auf  einem  vollen  Tonika-Drei- 
klang an,  ohne  vorhergehende  Cadenzbildung  —  diese  wird  für 
den  Schlussaccord  aufgespart.  Wie  Komma  und  Strichpunkt  die 
Rede,  wie  Pilaster  eine  reich  geschmückte  Renaissancefa$ade,  theilen 
und  gliedern  diese  die  Bewegung  unterbrechenden  Accorde  das 
Tonstück  —  die  hinströmenden  Skalenläufe,  die  kleinen,  scharf 
ausgemeisselten  Motive  werden  dadurch  in  wohl  geschiedene  Grup- 
pen überschaulich  zusammengerückt  —  und  Frescobaldi  giebt  dem 
Ganzen  einen  eigenthümlichen,  deutlich  fühlbaren  Periodenbau  — 
zuweilen,  wie  im  Anfang  von  Tocc.  3  L.  1,  von  grosser  Regel- 
mässigkeit —  (Haltpunkte:  Takt  2—4  —  6—8).  Andererseits 


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454  Die  Organisten.  Frescobaldi  u.  s,  w. 

aber  kommt  eben  durch  diese  plötzlich  liegen  bleibenden  Accorde 
in  die  Tonstücke,  wenigstens  stellenweise,  etwas  Stockendes.  Die 
Schwierigkeit,  deutlich  zu  gliedern,  ohne  die  Bewegung  zu  unter- 
brechen, ist  noch  nicht  völlig  überwunden. 

Frescobaldi  hat  es  nicht  verschmäht,  fremde  Compositionen 
zu  „coloriren",  wie  man  in  Deutschland  sagte  —  er  braucht  den 
Ausdruck  „passagiare"  —  in  Passagen  aufzulösen  —  so  ein  Madri- 
gal Arcadelt's:  „Ancidetemi  pur  d'Archadelt  passagiato",  welches 
in  dieser  aufgeschmückten  Form  den  Toccaten  des  zweiten  Buches 
eingereihet  und  auch  für  den  praktischen  Gebrauch  als  Toccata 

Semeint  ist.  Die  Eleganz  und  Noblesse,  mit  welcher  Frescobaldi 
as  heikle  Geschäft  des  Colorirens  hier  durchfuhrt,  zeigt  den  enor- 
men Unterschied  zwischen  ihm  und  den  deutschen  Coloristen, 
welche  daneben  den  Eindruck  geschmackloser  Barbaren  machen 
—  Elias  Nicolaus  Ammerbach,  Bernhard  Schmidt  d.  ä.  und  d.  j., 
Jacobus  Paix,  Johannes  Woltz  u.  s.  w.  Erst  mit  Samuel  Scheidt 
verschwindet  die  leidige  deutsche  Orgeltabulatur,  —  seine  Werke 
„Ludorum  musicorum  prima  &  secunda  pars"  (1623),  seine  „Tabu- 
latura  nova"  (1624)  u.  a.  m.  sind  bereits  in  Noten  auf  Linien- 
systemen gedruckt,  und  mit  der  alten  Orgeltabulatur  verschwindet 
auch  das  Colorirwesen,  von  welchem  A.  G.  Ritter  in  einem  lesens- 
werthen  Aufsatz  ')  sagt:  er  getraue  sich  nicht,  aus  dieser  gewürz- 
reichen, gleichwol  geschmacklosen  organistischen  Kochkunst,  wo 
vier-,  fünf-,  acht-  bis  zwanzigstimmige  Gesänge  mit  Hinweglassung 
des  Nicht-Greifbaren  und  unter  naivster  Hintansetzung  der  har- 
monischen Gesetze  mit  einem  reichen  Aufwand  von  Coloraturen 
für  die  Orgel  zurechtgemacht  werden,  auch  nur  einen  einzigen 
geniessbaren  Satz  herauszufinden  —  und  mit  Recht  spottet  er 
über  die  Orgler,  „welche  sich  der  anstrengenden  Mühe  des  Selbst- 
schaffens entschlugen  und  es  vorzogen,  gegenüber  den  Gesangs- 
componisten  in  das  billige  Verhältniss  von  Kostgängern  zu  tre- 
ten, welche  undankbar  das  Empfangene  nicht  in  der  ursprünglich 
einfachen  und  kräftigen  Gestalt,  sondern  mit  einer  von  ihnen  ge- 
fertigten ganz  besonderen  Brühe,  Coloratur  genannt,  zugerichtet 
(leider  auch  zernichtet)  zum  Verbrauche  anboten".  Es  ist  inte- 
ressant, auch  einmal  Frescobaldi  auf  den  Bahnen  dieser  dunkeln 
Ehrenmänner  zu  finden,  gleichsam  als  habe  er  sie  lehren  wollen, 
wie  die  Sache  eigentlich  zu  machen  war. 

Als  eine  der  grandiosesten  Orgelphantasieen  Frescobaldi's 
darf  sein  grosses  Stück  (Capriccio)  über  das  Hexachord  gelten, 
welches  Athanasius  Kircher  in  der  Musurgie  mitgetheilt  hat.  Eine 
wahrhaft  unerschöpfliche  Erfindungs-  und  Gestaltungskraft  erprobt 
sich  an  dem  Unterbau  der  sechs  Guidonischen  Sylben.    Es  ist, 


l)  ,,Die  Coloristen,  Beitrag  zur  Geschichte  des  Orgelspielos  im 
XVI.  Jahrhundert".  AUgem.  Mus.  Zeitung,  Jahrgang  1869  Nr.  38  u.  f. 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


455 


als  habe  der  grosse  Meister  der  Orgel  in  diesem,  auch  was  die 
Ausdehnung  betrifft,  colossalen  Stück  über  die  ganze  Summe 
seines  Wissens  und  Könnens  Rechenschaft  ablegen  wollen. 

Ueberhaupt  versteht  es  Frescobaldi,  aus  einem  oft  ganz  klei- 
nen Motiv  eine  Welt  von  mannigfachen  Gestalten  hervorzuzau- 
bern. Als  Beleg  mag  die  Bergamasca  dienen,  „bei  welcher  man 
viel  lernt"  —  oder  selbst  die  Spielerei  jenes  „Fra  Jacopino"  — 
nicht  minder  bieten  die  Partiten  manches  in  dieser  Beziehung  sehr 
Interessante. 

Im  Ganzen  genommen  gehen  die  Toccaten  des  zweiten  Ban- 
des jenen  des  ersten  an  Schönheit  und  Gehalt  vielleicht  noch  vor. 
Motive  von  grösster  Schönheit  tauchen  auf,  majestätische  Vollklänge, 
Figurationen  voll  Kraft  und  Eleganz.  Wahre  Meisterstücke  sind 
insbesondere  die  Toccaten  6  nnd  7.  Der  Toccate  ist  hiermit  ihr 
Charakter  dauernd  gegeben,  wie  sie  ihn  noch  bei  Sebastian  Bach 
zeigt.  Der  durchgehende  Charakter  der  Toccate  Frescobaldi's  ist 
imposante  Majestät  und  glänzender  Reichthum  —  es  sind  prachtvolle 
Triumphthore,  durch  welche  der  Weg  zu  dem  Weiteren  führt. 

Hawkins  sagt  von  Frescobaldi:  „er  sei  der  erste  in  Italien 
gewesen,  welcher  fugenmässig  gespielt".  Dieser  Irrthum  (denn 
ein  solcher  ist  diese  Angabe)  hat  seitdem  in  den  Musikge- 
schichten das  Bürgerrecht  erlangt.  Aber  schon  die  ganze  Orga- 
nistengeneration vor  Frescobaldi  hatte  sich  mit  Vorliebe  in 
Fugensätzen  ergangen.  Was  sie  auf  diesem  Gebiete  leistete,  hat 
indessen  kaum  mehr  Bedeutung,  als  dass  sich  eben  die  Gattung 
als  eine  besondere  von  den  Toccaten  und  sonstigen  Kunstformen 
des  Orgelspieles  selbstständig  ausschied.  Bei  den  Gabrieli  u.  s.  w. 
haben  die  sogenannten  „Canzonen"  fast  nur  erst  den  Werth  in- 
teressanter Incunabeln.  Adrian  Banchieri's  fugirte  Sätze  im  „Or- 
gano  suonarino"  gleichen  vollends  mageren  Skizzen.  Kaum  haben 
sie  (wie  jemand  einmal  bei  anderer  Gelegenheit  sehr  gut  sagte) 
aufgehört  anzufangen,  so  fangen  sie  an  aufzuhören.  Die  Themen 
finden  nicht  Raum,  nicht  Zeit  sich  zu  entwickeln.  Die  Antwor- 
ten erfolgen  oft  in  der  Octave  oder,  wenn  in  der  Quinte,  als 
„Fuga  reale".  Der  aus  solchen  kümmerlichen  Keimen,  aus  die- 
sem musikalischen  Knieholz  ganze  prächtige  Wälder  zu  zügeln 
verstand,  war  wiederum  Frescobaldi. 

Im  Vergleiche  zu  den  früheren  noch  sehr  knappen  Sätzen, 
den  sehr  dürftigen  Bildungen  und  der  ganzen  trockenen  und  stei- 
fen Durchführung,  nehmen  Sätze  dieser  Art  bei  ihm  wahrhaft 
grossartige  Dimensionen  an.  An  Stelle  des  kleinlich  zusammen- 
genagelten Lattenwerkes  tritt  hier  ein  stolzer,  vielgliedriger  Bau. 
Statt  der  früheren  physiognomielosen  oder  eckigen  und  bunten 
und  dabei  doch  nichtssagenden,  stets  gleichartigen  Motive,  statt 
der  vagen  Züge,  hier  wie  in  Marmor  ausgemeisselte  Themen  von 
individueller  Physiognomie ;  an  Stelle  der  kleinen  Schnitzbildchen 


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456 


Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


Gestalten,  wie  bei  jenem  mythischen  Künstler  Griechenlands, 
welche  blicken  und  schreiten.  Was  die  Fugen  J.  S.  Bach's  so 
wunderbar  erfreulich  macht,  findet  sich  auch  schon  und  zuerst 
bei  Frescobaldi:  das  urgewaltige  Leben,  welches  bis  in  die  klein- 
sten Züge  hinein  pulsirt,  die  anscheinend  unerschöpfliche  Fülle, 
die  freudige  Kraft,  welche  sich  im  Schaffen  mit  einer  Art  von 
Götterbehagen  bethätigt. 

Die  vollständig  zu  ganz  festbestimmter  Form  ausgebildete 
Fuge  mit  ihren  nach  einem  unverrückbaren  Kunstgesetz  gemo- 
delten „Beantwortungen",  ihren  Wiederschlägen,  Divertimenti, 
den  Meisterproben  ihrer  sogenannten  „Zierden"  au  Engftihrungen, 
Augmentationen,  Diminutionen ,  die  Form  also,  wie  wir  sie  in 
höchster  Vollendung  und  mit  dem  bedeutendsten  Inhalt  bei  J.  S. 
Bach  antreffen,  dürfen ^,wir  bei  Frescobaldi  noch  nicht  suchen. 
Es  bedurfte  mehr  als  zweier  Menschenalter  und  der  rastlosen 
Arbeit  deutscher,  tüchtiger  Orgelmeister  —  welche  im  Vergleiche 
zu  ihren  Vorgängern,  den  „Coloristen" ,  wie  Riesen  dastehen  — 
ehe  es  mit  der  Fuge  so  weit  kam.  Auch  die  „Ricercar"  Fresco- 
baldi's  sind  keineswegs  mit  der  späteren  „Fuga  ricerc&ta"  eines 
und  dasselbe  —  und  eben  so  wenig  bedingt  es  der  Ausdruck 
„Canzona",  dass  diese  auch  nothwendig  die  Anlage  einer  Fuge 
haben  müsse.  Im  Lib.  IL  zeigt  die  „Canzona"  Nr.  5  auch  nicht 
die  Spur  einer  fugirten  Arbeit  —  in  der  Durchführung  singbarer 
Melodieen  in  der  Oberstimme  auf  einer  stellenweise  polyphonen, 
stellenweise  aber  auch  schon  nahezu  ganz  homophonen  Beglei- 
tung entspricht  das  Stück  sogar  dem  Namen  einer  „Canzone" 
besser.  Die  Stimmen  verketten  sich,  aber  sie  fliehen  nicht  eine 
vor  der  andern  —  was  doch  schon  selbst  nach  der  Ansicht  der 
gleichzeitigen  Theoretiker  das  Kennzeichen  der  „Fuga"  ist,  ') 
Es  sind  wesentlich  rhythmisch  construirte  Tonbauten,  —  Studien 
über  den  Rhythmus,  weun  man  will  —  und  gerade  dadurch  er- 
hält die  Canzone  5  Etwas,  wobei  man  L.  B.  Alberti's  Wort  von 
seinen  Bauwerken  „tutta  questa  musica"  umkehren  und  sagen 
möchte:  „tutta  questa  architettura".  Sie  macht  analog  den  Ein- 
druck, wie  etwa  ein  Prachtbau  mit  imposanter  Facade.  Die  Fu- 
genform erscheint  aber  umgekehrt  auch  wieder  unter  den  Ton- 
stücken,  welche  als  „Capriccio"  —  als  „Ricercar"  —  als  „Fau- 
tasia"  bezeichnet  vorkommen  —  der  Toccata  aber  bleibt  sie  voll- 
ständig fremd,  —  selbst  als  Episode  bleibt  sie  hier  ausgeschlossen. 
Der  spätere  Componist  —  ein  J.  S.  Bach,  Händel  u.  s.  w.  — 
ist  nur  so  lange  der  Herr  eines  Fugenthema,  als  er  es  erfindet; 
hat  er  es  erfunden,  so  wird  er  dessen  Diener  und  muss  es  „nach 
unverrückbar  ehernen  Gesetzen"  seine  Bahn  fuhren.    Zu  Fresco- 


1)  dictae  sunt  autem  a  fugando,  quia  yox  vocem  fugat,  idem 

uielos  depromendo.  (Praetorium  Synt.  HL,  S.  21.) 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


457 


baldi's  Zeit  hatte  der  Componist  freiere  Hand  —  er  kann  im 
Laufe  des  Stückes  sein  Thema  abdanken,  wie  ein  Fürst  einen 
missliebig  gewordenen  Günstling  —  muss  aber  dann  für  Ersatz 
sorgen  und  ein  zweites  tüchtiges,  womöglich  gesteigert  intensiv 
wirkendes  Thema  fugenmässig  ein-  und  durchführen.  Prätorius 
erklärt  den  Kunstausdruck  „Caprice"  in  folgender  Art:  „Capriccio 
seu  Phantasia  subitanea,  wenn  Einer  nach  seinem  eigenen  Plesier 
und  Gefallen  eine  Fugam  zu  tractiren  vor  sich  nimpt,  darinnen 
aber  nicht  lange  immoriret,  sondern  bald  in  eine  andere  Fugam, 
wie  es  ihme  in  Sinn  kömpt,  einfallet'4. 

So  locker  und  scheinbar  improvisirend  gestaltet  Frescobaldi 
seine  Sätze  nicht  —  eher  könnte  man  sie  als  eine  Art  Vorläufer 
dreisätziger  Symphonieen  nennen  (natürlich  noch  ohne  den  Ein- 
dringling des  Menuet  oder  Scherzo) :  erster  Satz,  Andante,  Schluss- 
satz —  nur  dass  hier  die  Sätze  nicht  getrennt  sind,  sondern 
einer  in  den  andern  übergeht  und  sie,  trotz  verschiedener  The- 
men, ein  organisch-zusammenhängendes,  in  sich  geschlossenes 
Ganze  bilden.  Einem  leicht  und  geistvoll  durchgeführten  Fugato, 
dessen  Thema  sich  insgemein  ziemlich  lebhaft  in  kleineren  Noten- 
geltungen ankündigt,  folgt  ein  majestätisch -kraftvoller  Satz  im 
ungeraden  Takt ;  volle  Accorde,  imposant  einherschreitende  Bässe, 
imitatorische  Arbeit  in  breiter,  ruhiger  Entwickelung  —  dann 
der  Schlusssatz  mit  neuem  Fugenthema  —  dieses  meist  von  min- 
der lebhaftem  Charakter  als  jenes  erste,  aber  ihm  zugleich  ein 
bewegtes  Gegenthema  nach  Art  der  späteren  Doppelfuge  ent- 
gegengestellt. 

Die  Themen  dieser  Abtheilungen  sind  von  einander  unab- 
hängig —  doch  giebt  es  auch  Stücke  dieser  Art,  wo  ein  durch- 
gehendes oder  wiederkehrendes  Thema  das  Ganze  noch  einheit- 
licher gestalten  hilft.  Dahin  zählt  die  kraft-  und  lebensvolle 
„Canzone  sesti  toniu: 


U.8.' 


^r-  r  rc/rf'tur^rfr 

>  1 

Hier  fügen  sich  in  den  phantasiereichen  Mittelsatz  allerdings  wie- 
der Episoden  im  ungeraden  Takt  ein,  und  nach  ihnen  tritt  ein 
neues  Thema  auf, 


- — -CT" 

J  1 

mfr  r 

r  r  f 

1 

U.8.W. 

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458  .  Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  8.  w. 

• 

aber  zuletzt  bricht  das  allererste  Thema  wieder  siegreich  hin- 
durch und  führt  den  Satz  mit  den  sinnreichsten  und  geistvollsten 
Combinationen  zu  Ende.  —  In  der  „Canzon  quarti  toni  dopo  il 
postcomune"  erscheint  das  zu  Anfang  im  C-Takt  auftretende 
Fugenthema  in  der  Episode  ungeraden  Taktes  abermals  und 
sinnreich  in  6/4  umgebildet  —  der  Schlusssatz  bringt  ein  neues, 
bis  zum  Schlüsse  fast  unaufhörlich  durch  die  einzelnen  Stimmen 
wanderndes  Fugenmotiv.  Das  geniale  chromatische  „Ricercar 
dopo  il  Credo"  bleibt  in  seiner  Mitte  auf  einer  Ferma  stehen, 
setzt  aber  dann  seinen  Weg  mit  den  früheren  Motiven  fort  — 
und  zwar  wird  allmählich  ein  energisches  Thema,  das  anfangs  als 
Nebenthema  auftrat,  zum  Hauptmotiv  und  zwar  nach  der  Fer- 
mate höchst  effektvoll  in  verkehrter  Bewegung. 

Bei  der  Beantwortung  der  Themen  existiren  für  Frescobaldi 
die  Kunstgesetze  der  späteren  Fugenkunst  einstweilen  noch  nicht. 
Er  beantwortet  zuweilen  in  der  Octave,  oder  er  antwortet  zwar 
dem  Dux  mit  dem  Comes  in  der  jetzt  giltigen  Weise,  aber  die 
nächsthinzutretende  Stimme  antwortet  nochmals  mit  dem  Comes. 
Er  bringt  aber  daneben  auch  Beantwortungen  in  der  Quinte, 
insgemein  erfindet  er  seine  Fugenthemas  so,  dass  sie  einfach  in 
die  Quinte  transponirt  werden  können,  aber  er  fasst  auch  eine 
für  alle  Folgezeit  massgebend  gewordene  Idee:  an  die  Stelle 
fer  Fuga  reale  stellt  er  die  Fuga  di  tuono. 


Damit  ist  gleichsam  das  Zauberwort  gesprochen,  mit  welchem 
die  Fuge  von  ihrem  bisherigen  Bann  erlöset  wird  —  nicht  leicht 
hat  sich  ein  genialer  Einfall  so  lohnend  bewiesen  wie  dieser! 

Die  Fugenthemen  haben  noch  nicht  die  Mannigfaltigkeit, 
wie  bei  J.  S.  Bach,  wo  sie  selbst  meist  schon  ein  ganz  bestimm- 
tes Charakterbild  von  Freude,  Wehmuth,  Schmerz,  Scherz,  düste- 
rem Brüten,  heiterem  Gaukeln  u.  s.  w.  geben  —  aber  sie  haben 
Physiognomie  und  insgemein  einen  Zug  von  Energie,  ein  ge- 
wisses entschlossenes  Auftreten,  das  ihnen  zuweilen  etwas  Heroi- 
sches giebt. 

Die  reiche,  vielgestaltige  Durchführung  gestaltet  sich  sehr 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w.  459 

kunstvoll,  dabei  ungezwungen  und  mit  einer  gewissen  vornehmen 
Grazie  der  Bewegung.  Engführungen  werden  oft  und  dann  meist 
sehr  glücklich  angewendet  Zuweilen  wird  durch  Wiederholungs- 
zeichen dem  Organisten  Spielraum  gegeben,  länger  oder  kürzer 
seine  Orgel  ertönen  zu  lassen,  je  nachdem  es  der  Moment  des 
Gottesdienstes  bei  bestimmter  Gelegenheit  eben  fordern  mag. 
Die  sogenannten  „Ricercaru  verdienen  ihren  Namen  durch  beson- 
ders kunstreichen  Tonsatz  oder  Lösung  irgend  eines  schwierigen 
Satzproblems. 

Vergleicht  man  die  Annuth  der  früheren  Orgelcomponisten 
mit  diesem  Reichthum,  so  begreift  man  das  Erstaunen  und  Ent- 
zücken der  Zeitgenossen  über  die  wundergleiche  Erscheinung. 
Imponirende  Pracht  ist  der  Charakter  dieser  Tonsätze,  unter 
denen  man  manches  Schroffe,  aber  nichts  Kleinliches  findet  — 
man  wandelt  wie  in  königlichen  Hallen,  wenn  man  sich  in  den 
wundersamen  Tongebilden  der  „Canzona  prima"  oder  ähnlicher 
Sätze  ergeht. 

Als  ein  sehr  reizendes  Stück  und  zugleich  als  Prototyp  für 
alle  späteren  Tonstücke  ähnlicher  Art  verdient  das  „Pastorale" 
Erwähnung,  mit  welchem  das  erste  Buch  der  „Toccate"  schliesst. 
In  Rom  liess  sich  den  Pifferari  der  richtige  Ton  dafür  schon 
abhorchen  —  und  wirklich  sind  es  dieselben  Melodiewendungen, 
dieselben  in  ihrer  Einfalt  so  eigentümlich  rührenden  Klänge 
von  Hirtenmusik,  welche  noch  jetzt  zur  Weihnachtszeit  in  den 
Strassen  Roms  ertönen  —  man  erkennt  die  Motive,  welche  nach- 
mals Händel  für  sein  Pastorale  im  „Messias"  eben  dort  holte, 
wo  sie  vor  ihm  Frescobaldi  geholt  hat.  Die  Orgel  ahmt  in  lang- 
gehaltenen Pedaltönen  den  Klang  der  Sackpfeifen  nach  —  auch 
die  Harmonie  ist  entsprechend  behandelt.  —  Künste  und  Nach- 
ahmungen sind,  mit  richtiger  Einsicht,  vermieden.  Der  zugleich 
idyllische  und  religiöse  Charakter  der  Hirtenmelodien  der  Piffe- 
rari ist  hier  in  die  höhere  Kunstgattung  eingeführt.  ') 

Das  letzte  aber  nicht  das  leichteste  unter  Frescobaldi's  Ar- 
beiten sind  endlich  seine  Tanzstücke,  Kunstwerke  kleinen  Um- 
fanges,  in  keiner  Weise  dazu  bestimmt,  wirklich  zum  Tanzen 
aufgespielt  zu  werden. 2)  Es  ist  Unterhaltungsmusik  —  auch  das 
siebenzehnte  Säculum  wollte  dergleichen  haben  —  allerdings  aber 
Unterhaltungsmusik  edler  Art  —  die  Elemente,  welche  sich  nach- 
mals zur  „Suite"  gruppirten.     Die  italienische  Tanzmusik  des 


1)  Die  Ueberschrift  lautet:  „Capriccio.  Pastorale".  Im  Index  aber 
9teht:  „Capriccio  fatto  sopra  la  Pastorale".  Unzweifelhaft  ist  es  also 
die  Pifferaro-Musik,  welche  die  Motive  hergegeben. 

2)  Diese  Unterscheidung  wurde  gemacht.  Mattheson  sagt  („Neuer- 
öffnetes Orchester44  S.  188)  von  der  Form  solcher  Tänze:  —  sie  müssen 
ein  bestimmtes  Schema  einhalten,  „dafern  sie  zum  Tantzen  destinieret, 
sonst  nimmt  man  sich  Liberte*". 


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460 


Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


17.,  Jahrhunderts  hat,  wo  sie  sich  nicht  unter  Naturalistenhänden 
ganz  primitiv  gestaltet,  entweder  etwas  eigenthümlich  Zartes,  etwas 
Mädchenhaftes  (etwas  „Fräuleinhaftes"  könnte  man  sagen)  —  wie 
sie  denn  insgemein  durch  ein  mildes  Moll  etwas  fast  Schwärme- 
risches und  Inniges  bekommt,  oder  sie  tritt  mit  Pomp  und  Pracht, 
mit  einer  Art  spanischer  Grandezza,  vornehm  und  stolz  auf  — 
hielt  doch  Spanien  damals  an  beiden  Enden  Italiens,  in  Mailand 
und  in  Neapel,  das  Scepter.  Man  kann  sich  nur  dazu  tanzende 
Herren  und  Damen  in  der  schwer-prächtigen  spanischen  Mode- 
tracht der  Zeit  denken,  wo  nur  gemessene  Bewegungen  möglich 
waren  —  Figuren,  wie  wir  sie  auf  den  Kupfern  in  Cesare 
Negri's,  des  gleichzeitigen  Mailänder  Tanzmeisters  ,,Nuove  in- 
venzioni  di  balli"  erblicken. 1  Frescobaldi's  Tänze  haben  völlig 
diesen  Charakter;  Balletto,  Gagliarda,  Corrente,  Passacaglia, 
Ciaconna  lauten  ihre  Ueberschriften.  Die  pathetischen  Tänze 
haben  wirklich  etwas  „Hochadeliges".  Und  hier  entdeckt  Fre- 
scobaldi, wie  zufallig,  eine  Form,  welche  abermals  für  die  folgen- 
den Zeiten  hohe  Wichtigkeit  gewinnen  sollte  —  die  Variation 
(an  Stelle  der  Partite).  Wechselte  der  Rhythmus  in  den  Tanz- 
schritten, so  musste  natürlich  auch  der  Rhythmus  der  Musik 
wechseln.  Der  feierlichen  Bewegung,  in  welcher  die  tanzenden 
Herren  und  Damen  durch  wohlgewählte  Attitüden  ihre  Person 
in's  beste  Licht  setzten,  folgte  die  schnellere,  wo  sie  ihre  Ge- 
lenkigkeit und  Anmuth  bethätigten  —  oder  aber  dem  rascheren 
Tanze  folgte  umgekehrt  der  langsame,  gemessene.  Behielt  nun 
der  Componist  für  beides  dieselbe  Tanzweise  bei,  so  musste  sie 
jedesmal  in  einem  andern  Khythmus  vorgetragen  werden.  So 
lässt  Antonio  Bruneiii,  der  Zeitgenosse  Frescobaldi's,  in  einem 
für  einen  Ball  in  Pisa  geschriebenen  und  von  den  dortigen  Edel- 
damen  (nobilissimc  gentildonne  Pisane)  ausgeführten  Tanzstück 
dieselbe  Tanzmelodie  als  „Ballo  grave"  erscheinen.  2)  So  bringt 
Frescobaldi  in  einer  „Aggiunta"  zum  „Libr.  I.  di  Toccate"  ein 
„Balletto" 


1)  Ueber  ihn  und  sein  Buch  wolle  der  gütige  Leser  das  Nähere  im 
ersten  Bande  meiner  „Bunten  Blätter"  aufsuchen. 

2)  Man  findet  dieses  Stück  unter  den  Musikbeilagen  des  ersten  Ban- 
des meiner  „Bunten  Blätter14. 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  n.  s.  w. 


401 


und  darauf  die  „Corrente  del  Balletto". 


Wie  wichtig  dieses  dem  Componisten  von  den  Tänzerbeinen 
dictirte  Exercitium  für  die  Erkenntniss  der  Bedeutung,  des  We- 
sens und  der  Macht  des  Khythmus  werden  musste,  ist  augen- 
scheinlich. Wie  ganz  anders  gestaltete  sich  das  Motiv  trotz  der 
genau  gewahrten  Noten,  weil  der  Khythmus  es  anders  in  Bewe- 
gung setzte! 

Das  verändert  und  doch  kenntlich  wiederkehrende  Stück 
repräsentirte  aber  eben  darum  auch  eine  Variation.  Und  nun 
bringt  Frescobaldi  im  Libro  secondo  eine  „Aria,  detta  Bailetto" 
mit  acht  nachfolgenden  „Parti"  und  eine  „Aria  detta  la  Fresco- 
balda"  mit  fünf  Parti  (darunter  eine  Corrente  und  eine  Gagliarda), 
welche  nicht  mehr  Partiten,  sondern  wahre  und  echte  Variationen 
sind  —  Variationen  rhythmischer  und  contrapunktischer  Art,  jede 
das  Thema  in  veränderter  Form  darstellend.  Der  Name  „Varia- 
tion" wird  aber  einstweilen  noch  nicht  angewendet;  noch  Fresco- 
baldi's  Schüler  Froberger  behält  die  Ueberschrift  „Partite"  bei, 
wo  er  die  rein  ausgebildete  Variationen  form  anwendet. 

Wenn  Formen-  und  Ideenreichthum,  Kraft  und  Leben  bei 


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462  Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 

einem  Künstler  ein  Zeichen  des  Genies  sind,  so  zeigt,  wenn  irgend 
jemand,  Frescobaldi  diese  Eigenschaft. 

Für  die  Notimng  bedient  sich  Frescobaldi  der  italienischen 
Tabulatur.  Das  System  für  die  rechte  Hand  hat  sechs  Linien 
mit  dem  C-Schlüssel  auf  der  ersten  oder  dem  G-Schlüssel  auf 
der  zweiten  Linie  —  die  linke  hat  ein  System  von  acht  Linien 
mit  dem  C-Schlüssel  auf  der  sechsten,  dem  F-Schlüssel  auf  der 
vierten  Linie,  so  dass  hier  gleichsam  Alt  und  Bass  aneinander- 
gerückt und  die  beiden  Mittellinien  „gemeinsames  Gebiet"  sind : 


Toccata  sosta  (Lib.  II.) 


Als  Vorzeichnung  wird  bloss  ein  i>  angewendet;  wo  sonst 
Accidentalen  nöthig  sind,  werden  sie  vor  oder  —  oft  undeutlich 
—  unter  die  bezügliche  Note  eigens  geschrieben.  Kleine  Noten- 
geltungen bis  ^  spielen  eine  grosse  Rolle.     Die  Schreibart  „in 

note  bianche",  bei  welcher  sechs  T  auf  eine  Battuta       gehen,  *) 

eine  Schreibart  übrigens,  welche  bald  ausser  Gebrauch  kam  und 
selbst  in  jener  Zeit  nicht  häufig  war,  z.  B. 


v— r 

— 9 

 5>  - 

bu  ;.  1 

wendet  Frescobaldi  zuweilen  an  —  auch  die  schwarze  Hemiole 


1)  Zgfc —  „Figura  di  prolatione,  che  ne  vanno  sei  alla  battuta'* 
(Zacconi,  Pratt.  di  Mos.  —  Parte  II.  Lib.  I.  Cap.  11). 


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Die  Organisten.   Prescobaldi  u.  s.  w. 


463 


zeigt  sich,  als  altes  Inventarstück  ans  den  Zeiten  der  Mensural- 
notirung: 


u.  s.  w. 


Die  Taktzeichen  der  Mensuralzeit  werden  angewendet  —  C 
^t»  Oi»  3,  f  i  i»  G^»  —  doch  kommen  ausnahmsweise  auch 
vereinzelte  Tempobezeichnungen  vor:  „Adasio"  (wie  kommt  Fre- 
scobaldi  zum  venetianischenDialect?)  oder  „Adagio"  und  „Allegro". 
Taktstriche  werden  überall  gezogen ,  meist  nach  je  zwei  Takten 
(als  Tempus)  —  sie  sind  in  dem  Gewimmel  kleiner  Noten  auch 
unentbehrlich.    Wo  mehrere  kleine  Noten  gleicher  Geltung  zu- 


sammentreffen,  werden  sie  gebunden:  E=J 


und 


nicht,  wie  man  wohl  auch  sonst  geschrieben  findet: 

sehr  zum  Vortheile  der  Deutlichkeit.     Achtelnoten  erscheinen 


dagegen  getrennt      Jy  f  — 


Frescobaldi's  Ruhm  drang  auch  nach  Deutschland.  Zwar 
weiss  Prätorius  (1619)  noch  kein  Wort  von  ihm  —  aber  später 
sendete  ihm  Kaiser  Ferdinand  III.  aus  Wien  einen  Zögling,  der 
den  Geist  des  Meisters  mit  Liebe  und  Verständniss  in  sich  auf- 
nehmen sollte,  wie  sonst  kein  zweiter,  und  der  auch  sein  be- 
rühmtester Schüler  wurde:  Johann  Jacob  Fr  ob  erger.  Er 
mu8s  mit  seinem  Lehrer  zusammen  in's  Auge  gefasst  werden, 
obwol,  nach  Mattheson's  Angabe,  sein  Vater  ein  ehrlicher  deut- 
scher Cantor  aus  Halle  war  (worüber  jedoch  an  Ort  und  Stelle 
bisher  keine  beglaubigenden  Nachweisungen  aufzufinden  gewesen 
sind). 

Gleich  seinem  Lehrer  Organist  und  Tonsetzer  für  Orgel  und 
Cembalo,  vereinigt  Froberger  in  seinen  Compositionen  Züge  des 
grossen  contrapunktischen  italienischen  Styls,  welchen  er  von 
Frescobaldi  erlernt,  die  heimischen  Züge  seiner  deutschen  Ab- 
kunft, und  Züge  endlich,  welche  der  zu  spielender  Eleganz  ge- 
neigten Zier-  und  feinen  Unterhaltungsmusik  in  Frankreich  eigen 


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464 


Die  Organisten.  Frescobaldi  u.  8.  w. 


waren.  Diese  verschiedenen  Elemente  arbeitet  er  so  in  einander, 
dass  daraus  ein  eigenthümlicher  Styl  entsteht,  welchen  man  nicht 
wohl  anders  nennen  kann,  als  den  „Frobergerschen".  Unter 
den  Musikern  jener  Uebergangszeiten  macht  Froberger  vielleicht 
der  erste  einen  oft  wesentlich  modernen  Eindruck  und  giebt 
zudem  das  auch  moderne  Bild  eines  musikalischen  Genies  auf 
Reisen  —  und  diese  Kunstfahrten  machte  er  noch  zu  einer  Zeit, 
da  er  bereits  in  Wien  auf  kaiserlicher  Orgelbank  festsass  oder 
doch  hätte  festsitzen  sollen,  während  Frescobaldi,  sobald  er  in 
Korn  seine  Anstellung  gefunden,  eine  kurze  Reise  in  das  nicht 
ferne  Florenz  ausgenommen,  nicht  weiter  gekommen  zu  sein 
scheint,  als  man  die  Peterskuppel  in  Sicht  behält.  Froberger 
ist  musikalischer  Kosmopolit  —  aber  am  entschiedensten  und  als 
das  für  Froberger  wesentlich  Kennzeichnende  tritt  Frescobaldi's 
Kunst  und  Art  hervor.  Wenn  Frescobaldi  ein  bis  zur  Herbheit 
strenger,  grosssinniger  Meister  und  ein  Diener  der  Kirche  ist,  so 
giebt  sich  Froberger  als  eine  zarte,  liebenswürdige  Natur  —  wo 
Frescobaldi  die  musikalische  Sprache  der  Kirche  redet,  welche 
er  auch  dort  nicht  verleugnet,  wo  er  Passacaglieu  und  Ciacconen 
schreibt  oder  mit  Fra  Jacopino  seinen  Scherz  hat,  ist  Froberger 
ein  musikalisches  Weltkind,  so  viel  er  sich  auch  in  Kunstformen 
bewegt,  welche,  aus  der  Kirche  hervorgegangen,  wesentlich  der 
Kirche  angehörten.  Man  könnte  Froberger  den  frühesten  Salon- 
componisten  nennen  —  wenigstens  was  Eleganz,  Anmuth  und 
leichten  Ton  betrifft  —  nur  dass  er  trotzdem  nirgends  den  Mei- 
ster der  Kunst,  den  in  strenger  Schule  gebildeten  Musiker  ver- 
leugnet und  dass  seine  Fugensätze  sich  denen  seines  Lehrers  wür- 
dig anreihen. 

Eine  beträchtliche  Menge  von  Compositionen  gestattet  uns 
ein  sicheres  Urtheil.  Zwar  wurde  von  Froberger's  Arbeiten,  so 
lange  er  lebte,  wunderbarer  Weise  gar  nichts  gedruckt  —  erst 
acht  und  zwanzig  Jahre  nach  seinem  Tode  erschien  1695  (nicht 
1696,  wie  Mattheson  und  Walthcr  schreiben)  zu  Mainz  in  ge- 
stochenen Noten  eine  Sammlung  unter  dem  Titel  „Diverse  curiose 
rarissime  partite  di  Toccate,  Kicercate,  Capricci  e  Fantasie  per 
gli  amatori  di  cembali,  organi  ed  istromenti"  l).  Der  vornehme 
italienische  Titel,  der  gegen  die  treuherzigen  Titelblätter  alt- 
deutscher „  Tabulaturen "  sehr  contrastirt ,  wäre  zu  bemerken 
—  der  Zögling  der  italienischen  Organistenschule  Fresco- 
baldi's verräth  sich  selbst  in  diesem  posthumen  Werke  —  in 


1)  Eine  Seltenheit  der  Seltenheiten!  Herr  Prof.  Faisst  in  Stuttgart 
besitzt  ein  Exemplar.  Gerber  kannte  das  Werk  nur  aus  Breitkopfs  Ver- 
zeichniss.  Eine  angeblich  zweite  Edition  von  1699  in  Trägs  Katalog  ist 
mehr  als  problematisch.  Eine  zweite  Sammlung  ähnlicher  Stücke,  welche 
nach  Walther's  Lexikon  1714  ebenfalls  in  Mainz  erschienen  sein  soll,  ist 
nicht  mehr  nachweisbar. 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w.  465 

seinen  Manuscripten  bedient  er  sich  durchweg  der  italienischen 
Sprache.  Blieben  die  Sachen  vorläufig  ungedruckt,  so  copirte 
dafür  Froberger  seine  Compositionen  eigenhändig  mit  kalligraphi- 
schem Aufwand,  um  sie  dann  irgend  einem  hohen  Gönner  zu 
Füssen  zu  legen. 

Diesem  Umstand  haben  wir  es  zu  danken,  dass  wir  von 
Froberger  mehr  und  Besseres  kennen,  als  seine  von  Erzählern 
allgemach  zum  förmlichen  Roman  herausstaffierten  Abenteuer  zu 
Wasser  und  zu  Lande  mit  ihren  Schiffbrüchen,  Räubern,  getre- 
tenen Orgelbälgen  und  groben  Fäusten  grober  englischer  Orga- 
nisten. Eine  sehr  reiche  Sammlung  von  Compositionen  Frober- 
ger's  besitzt  nämlich,  als  Autograph,  die  Wiener  HofbiMiothek. 
Es  sind  vier  in  goldgepresstes  Leder  gebundene,  folglich  als 
Prachtstück  gemeinte  Musikbücher  in  klein  Querquart  —  man- 
chen Stücken  hat  Froberger  zuletzt,  origineller  Weise,  ein  „Manu 
propria"  angehängt.  Die  Noten  sind  wie  in  Kupfer  gestochen  — 
allerlei  kalligraphische  Schnörkel  sind  nicht  gespart,  stellenweise 
sogar  mit  der  Feder  gezeichnete  Illustrationen  sind  angebracht,  Sinn- 
bilder, auch  wohl  geflügelte  Engelsköpfchen,  —  kleine  Scheusale 
zwischen  Ornamenten- Kribskrabs  —  der  Musiker  Froberger  war 
jedenfalls  dem  Zeichner  vorzuziehen.  Diese  kalligraphischen  No- 
tenbücher schrieb  Froberger  augenscheinlich  für  seinen  Gönner, 
Kaiser  Ferdinand  III.  In  Dresden  führte,  nach  Mattheson's  Er- 
zählung, Froberger  ein  ähnliches  Dedicantenstück  aus;  er  spielte 
dort  vor  dem  Churfürsten  Johann  Georg  II.  sechs  Toccaten,  acht 
Capricci,  zwei  Ricercar  und  zwei  Suiten ,  „die  er  alle  in  ein  schön 
gebundenes  Buch  sehr  sauber  selbst  geschrieben  hatte",  und  er 
überreichte  dem  Churfiirsten  „hernach  das  Buch  zum  Geschenk, 
wofür  er  eine  güldene  Kette  bekam".  Froberger  bedient  sich 
der  gewöhnlichen  Notenschrift  auf  fiinf  Linien  —  also  nicht  der 
linienreichen  Tabulirung  der  italienischen  Orgelmeister  —  zur 
Ausgleichung  wechselt  er  aber  im  Laufe  eines  Stückes  nach  Be- 
dürftuss  mit  dem  C-,  G-  und  F-Schlüssel  (letzterer  als  Bass-  und 
als  Baryton-Schlüssel),  oder  aber  er  schreibt  die  vier  Stimmen 
partiturmä8sig.  wie  Singstimmen  auf  vier  Lin'ensysteme.  Wenn 
C.  F.  Becker  ')  in  einem  in  der  unbeholfenen  deutschen  Tabu- 
lator geschriebenen  alten  Buche,  Sammelbuchc  von  1681,  das 
Tongemälde  einer  „Schlacht"  findet,  von  dem  er  meint,  Frober- 
ger dürfe  wohl  als  Componist  dieser  namenlosen  Schlacht  vermu- 
thet  werden,  so  ist  es  eine  willkürliche  Annahme,  —  Froberger 
wendet  nie  die  deutsche  Tabulatur  an  —  eine  Annahme ,  für 
welche  vielleicht  kein  besserer  Grund  vorlag,  als  die  bekannten 
Angaben  Mattheson's  über  eine  Allemande,  in  welcher  Froberger 
die  Gefahren  seiner  Ueberfahrt  über  den  Rhein,  und  ein  anderes 


1)  Haasmusik  S.  42. 
Ambro«,  Geschichte  der  Miulk.  IV.  30 


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•166 


Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


Stück,  in  welchem  er  seine  traurigen  Abenteuer  in  England,  — 
einschliesslich  des  ihm  angeblich  vom  Hoforganisten  versetzten 
Trittes  oder  Schlages  —  schilderte,  Stücke,  die  sich  handschrift- 
lich in  Mattheson's  Besitz  befanden.  Das  Machwerk  der  „namen- 
losen Schlacht'-  wird  wohl  irgend  einem  namenlosen  deutschen 
Orgelschläger  angehören.  (Zwar  —  im  ersten  Bande  der  Tocca- 
ten u.  s.  w.  Frescobaldi's  findet  sich  auch  ein  „Capriccio  sopra 
la  Battaglia",  welches  mit  seinen  Nachahmungen  von  Trompeten- 
fanfaren und  seinen  das  Schlachtgetümmel  (sehr  zahm)  malen- 
den Arpeggien  und  Passagen  eben  auch  kein  Meisterstück  und 
Frescobaldi's  nichts  weniger  als  würdig  ist.) 

Nach  Mattheson's  Erzählung l)  soll  Froberger  als  fünfzehnjäh- 
riger Knabe  von  einem  schwedischen  Gesandten  seiner  schönen 
Discantstimme  wegen  nach  dem  Anno  1650  (sie)  geschlossenen 
Westphälischen  Frieden  mit  nach  Wien  genommen  worden  sein, 
„von  wannen  ihn  der  Kaiser  Ferdinand  III.  nach  Rom  zu  dem 
berühmten  Girolamo  Frescobaldi,  Organisten  zu  St.  Peter,  in  die 
Lehre  thun  Hess,  damit  er  hernach  kaiserlicher  Hoforganist  wer- 
den mögte,  welches  er  auch  1655  geworden  ist".  In  dieser  Er- 
zählung sind  mindestens  die  Jahreszahlen  gründlich  falsch. 

Froberger  gehörte  zwar  der  kaiserlichen  Hofmusikkapelle 
als  Organist  an  —  aber  nicht  erst  seit  1655,  sondern  vom  1.  Ja- 
nuar 1637  bis  zum  30.  September  1637  (kein  volles  Jahr!)  mit 
einem  Gehalt  von  24  fl.  monatlich  —  dann  vom  1.  April  1641 
bis  October  1645  mit  60  fl.  Gehalt,  endlich  vom  1.  April  1653 
bis  zum  30.  Juni  1657,  wo  er  „Dienstes  entlassen"  wurde2) 
—  —  „begab  sich  aber4'  (erzählt  Walther)  „wegen  Kayserl. 
Ungnade  von  Wien  nach  Mayntz,  alwo  er  unverheyrathet  gestor- 
ben; wie  Jessen  ein  Anverwandter  von  ihm  gewiss  versichert." 
Der  Anverwandte  hat  sich,  trotz  der  gewissen  Versicherung,  den- 
noch geirrt  Froberger  fand  eine  ihm  überaus  gewogene  Be- 
schützerin an  der  Herzogin*  Sibylla  von  Württemberg  (geb.  1620) 
und  brachte  seine  letzten  Tage  in  ihrem  Dienste  zu.  Allem  An- 
schein nach  fand  er  nach  seiner  Entlassung  aus  Wien  sogleich 
bei  der  Herzogin  Zuflucht  und  an  ihr  eine  ausserordentlich  gütige 
Beschützerin  —  es  war  ein  geradezu  herzliches  Verhältniss,  da» 
zwischen  der  hohen  Frau  und  ihrem  „Musikmeister  und  Musik- 
lehrer'1 —  wie  sie  ihn  selbst  nennt,  herrschte. 

Seit  Mattheson  wird  Froberger  in  allen  Handbüchern,  Lexi- 
kons u.  s.  w.  im  Jahre  1635  geboren  und  stirbt  1695.  Kochel  setzt 
in  seinem  Buche  „die  kaiserliche  Hof-Musikkapelle  in  Wien"3) 
zu   dem   Geburtsjahre   mit   Recht   ein   entrüstetes  Ausrufuugs- 


1)  S.  dessen  Ehrenpforte. 

2)  Köchel,  die  kais.  Hofmusikkapelle  in  Wien.  S.  59. 

3)  3.  109. 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  8.  w.  467 

zeichen-,  es  giebt  in  der  That  kein  Beispiel,  dass  ein  zwei- 
jähriges Kind  Hoforganist  geworden  wäre.  Als  Todesjahr  nennt 
Kochel  vermuthungsweise  —  1700,  als  Ort  des  Ablebens 
(nach  Walther)  Mainz.  Aber  Froberger  starb  weder  1695 
noch  1700,  sondern  plötzlich  in  Folge  eines  Schlagflusses  am 
7.  Mai  1667,  und  nicht  in  Mainz,  sondern  zu  Höricourt  (Frank- 
reich, Depart.  Haute-Saöne) ,  wo  er  bei  der  Herzogin  Sibylla 
lebte.  Beerdigt  wurde  er  am  10.  Mai  in  der  Kirche  zu 
Bavillier8  (Dep.  Haut-Rhin).  Ueber  Dieses  —  und  viel  Anderes 
—  haben  zwei  eigenhändige  Briefe  der  Herzogin  an  Constantin 
Huyghens  im  Haag  (den  Vater  des  berühmten  Astronomen  und 
Entdeckers  der  Saturnusringe)  Licht  gegeben.  (Diese  Briefe 
befinden  sich  in  der  Collection  des  Doctor  Edmund  Schebek, 
eines  tüchtigen  Musikkenners  und  eifrigen  Autographensammlers, 
in  Prag.) 

Vieles  in  Froberger's  Lebensgeschichte  bleibt  indessen  den- 
noch räthsclhaft.  Was  war  der  Grund  der  „Kayserlichen  Un- 
gnade" und  der  Dienstesentlassung  ?  Was  hatte  es  mit  der  zwei- 
maligen langen  Unterbrechung  des  Dienstes  für  eine  Bewandt- 
niss?  —  Wir  dürfen  der  Herzogin  glauben,  welche  Froberger's 
sittlicher  Strenge  und  Religiosität  ein  für  ihn  sehr  ehrenvolles 
Zeugniss  giebt  —  auch  Mattheson  spricht  von  Froberger's  „tugend- 
liebendem, gottesfürchtigem  Gemüth"  —  schwerlich  zog  ihm  also 
ein  wirkliches  Vergehen  die  „Ungnade"  zu.  Wohl  aber  kann  es 
eine  wiederholte  starke  „Urlaubsüberschreitung"  verschuldet,  und 
zu  letzterer  mögen  Kunstreisen  den  Anlass  gegeben  haben.  Es 
ist  kein  Grund  vorhanden,  Mattheson's  Angabe  zu  bezweifeln, 
dass  Froberger  eine  Zeit  lang  in  Paris  lebte,  wo  er  „die  franzö- 
sische Lautenmanier  von  Galot  und  Gautier  auf  dem  Klavier  an- 
nahm, welche  damals  hoch  gehalten  wurde."  Diese  Manier  sind 
zuverlässig  jene  über  den  Noten  mückenartig  herumtanzenden 
Trillerchen,  Mordentchen  und  dergleichen  „Agrements",  wie  sie 
hernach  auch  bei  Franz  Couperin,  Rameau  u.  A  bis  zum  Ueber- 
mass  ihr  Wesen  trieben,  jener  „französische  Champagnerschaum" 
(wie  der  alte  Zelter  einmal  an  Goethe  schrieb),  welchen  sogar  J. 
S.  Bach  nicht  verschmähete.  Bei  Frescobaldi  ist  von  diesen 
musikalischen  Berlöckchen,  von  diesem  mit  dem  Brenneisen  ge- 
kräuselten Styl  ( calamistratus,  wie  einst  Cäsar  Augustus  von  den 
Versen  seines  Freundes  Mäcenas  sagte)  noch  keine  Spur.  Fro- 
berger aber  würzt  im  Wiener  Autograph  gleich  die  Toccata  prima, 
obschon  sie  sonst  im  hohen  Styl  seines  Lehrers  Frescobaldi  com- 
ponirt  ist,  reichlichst  aus  der  französischen  Pfefferbüchse.  Die 
Sache  ist  auch  darum  von  Interesse,  weil  sie  lehrt,  dass  diese 
kleinen  Klimpereien  nicht  erst,  wie  man  insgemein  annimmt,  von 
Francois  Couperin  datiren. 

Seine  Reise  nach  Dresden,  wo  er,  nach  Mattheson's.  Angabe, 

30« 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


dem  Churfürsten  „ein  kaiserliches  Handschreiben"  (vielleicht  ein 
Empfehlungsschreiben)  überbrachte,  machte  er,  nach  diesem  Um- 
stände zu  schliessen,  jedenfalls  mit  Bewilligung  des  Kaisers.  Er 
bestand  dort,  auf  Wunsch  des  Churfürsten,  einen  Wettkampf  mit 
dessen  Hoforganisten  Matthias  Weckmann  (nach  Mattheson  geb. 
1.621  zu  Oppershausen  in  Thüringen  —  Schüler  des  Heinrich 
Schütz,  der  ihn  nach  Venedig  schickte,  wo  er,  Schütz,  selbst  seine 
Bildung  erhalten,  —  später  da  er  schon  Hoforganist  in  Dresden 
war,  schickte  ihn  der  Churfurst  zu  Jacob  Prätorius  nach  Königs- 
berg in  die  Lehre,  in  welcher  er  drei  Jahre  bb'eb  —  1657  er- 
hielt er  die  Berufung  als  Organist  an  die  Jakobskirche  nach 
Hamburg,  wo  er  1674  starb  —  ein  Schüler  des  schon  1612  ver- 
storbenen Johannes  Gabrieli,  wie  Mattheson  behauptet,  kann  er 
nicht  gewesen  sein;.  „Mein  Mathies",  lässt  Mattheson  den  Chur- 
fürsten leise  zu  Weckmann  sprechen,  „wollet  ihr  mit  Frobergern 
um  eine  güldene  Ketten  auf  dem  Ciavier  spielen?"  Weckmann 
eiklärte  sich  „von  Herzen  gerne"  bereit,  fügte  aber  sogleich  hinzu: 
„aus  Ehrerbietigkeit  für  Ihro  kaiserliche  Majestät  soll  Froberger 
die  Kette  gewinnen."  Froberger  spielte  zuerst  und  erkundigte 
sich  dann  (?!)  gleich  (sie)  nach  „einem  in  der  Capelle,  der  Weck- 
mann heisse,  der  wäre  am  kaiserlichen  Hofe  sehr  berühmt,  und 
denselben  mögte  er  gerne  kennen.  Weckmann  stund  hart  hinter 
ihm;  dem  schlug  der  Churfurst  auf  die  Schulter  und  sagte:  „da 
steht  mein  Mathies."  Hierauf  spielte  „nach  abgelegten  Be- 
griissungen"  WTeckmann  eine  halbe  Stunde  lang  über  ein  ihm 
von  Froberger  gegebenes  Thema,  darüber  sich  sowohl  dieser  als 
der  ganze  Hof  verwunderte  und  Froberger  zum  Churfürsten  mit 
den  Worten  herausbrach:  „Dieser  ist  wahrhaftig  ein  rechter 
Virtuos."  Es  mag  in  dieser  Geschichte  ein  Körnchen  Wahrheit 
stecken  —  Unwahrscheinlichkeiten  aber  liegen  auf  der  Hand  — 
Froberger  erkundigt  sich  nach  dem  ihn  so  sehr  interessirenden 
Weckmann  erst,  nachdem  er  selbst  in  des  Churfürsten  Gegenwart 
gespielt;  schicklicher  oder  unschicklicher  Weise  konnte  er  diese 
Erkundigung  doch  wohl  nur  an  Serenissimum  richten;  Weckmann 
erklärt  im  Voraus,  er  werde  Froberger  aus  dem  Wettstreite  als 
Sieger  hervorgehen  lassen,  spielt  aber  dann  eine  halbe  Stunde 
lang  als  „wahrhafter  Virtuos."  Mattheson  vergisst,  dass  er  an 
anderer  Stelle  Froberger  die  goldene  Gnadenkette  in  Dresden 
aus  einem  andern  Grund,  nämlich  für  jene  Dedication  zukommen 
lassen  u.  s.  w.  Mattheson  schliesst  seine  Mittheilungen  über 
Weckmann  mit  der  Angabe,  dass  er  und  Froberger  Freunde  und 
im  Briefwechsel  blieben  —  und  Froberger  „sandte  dem  Weck- 
mann eine  Suite  von  seiner  eigenen  Hand,  wobei  er  alle  (!) 
Manieren  setzte,  so  dass  auch  Weckmann  dadurch  der  Froberger' - 
schen  Spielart  ziemlich  kundig  ward." 

Köchel  giebt,  ohne  die  Quelle  näher  anzudeuten,  an,  dass 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  0.  s.  w. 


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Froberger  1657  —  also  nach  seiner  definitiven  Entlassung  aus 
der  Wiener  Hofkapelle  —  nach  England  reiste  Aber  nach  den 
Mittheilungen,  welche  jener  „Anverwandte"  Walther  zukommen 
liess,  soll  sich  ja  Froberger  nach  Mainz  begeben  haben. 

Diese  Reise  nach  England  bildet  für  Froberger's  Biographen 
insgemein  den  Glanzpunkt  ihrer  Darstellung.  Man  schlage  bei 
Gustav  Schilling,  bei  Fetis  nach  —  und  sehe  zu,  wie  sie  „die 
Adern"  des  von  Mattheson  gelieferten  „dürren  Blätterskclets  mit 
Saftfarben  und  gleissendem  Grün  durchziehen*'  (wie  Jean  Paul 
sagen  würde),  wie  aus  der  historisch  sein  sollenden  Darstellung 
eine,,  Kunstnovell e"  wird,  bei  welcher  die  in  Activität  gesetzte  Phan- 
tasie ihrer  Verfasser  eine  Menge  Details  zu  dem  historischen  Kern 
—  hinzugeträumt,  und  zu  deren  Ausstattung  für  Damenboudoirs 
nur  noch  Goldschnitt  und  Seideneinband  fehlt.  Fdtis  führt  die 
Geschöpfe  seiner  Einbildungskraft  sogar  redend  ein:  „mon  ami, 
il  est  temps  de  sortir,  dit  derriere  lui  une  voix  dure  et  rauque  de 
vieillard;  Froberger  se  leva  pour  obe'ir  immddiatement  ä  l'ordre 
presque  menacant  qu'il  venait  de  recevoir"  —  und  so  weiter. 
Froberger's  angebliche  Erlebnisse  in  England,  selbst  nur  wie  sie 
Mattheson  erzählt,  klingen  so  äusserst  abenteuerlich,  dass  man 
Zweifel  an  der  Wahrheit  dieser  Erzählung,  deren  wirklich  histori- 
scher Gehalt  vielleicht  ein  ganz  unbedeutender  ist,  nicht  unter- 
drücken kann. 

Sollte  nun  nicht  vielleicht  gerade  die  berühmte  Fahrt  nach 
England  eine  colossale  „Urlaubüberschreitung"  veranlasst  haben? 
Was  machte  denn  Froberger  in  der  Zwischenzeit  vom  October 
1645  bis  zum  April  1653?  An  der  Richtigkeit  dieser  durch  das 
Archiv  der  Hofkapelle  sichergestellten  Daten  ist  nicht  zu  zweifeln, 
eben  60  wenig  an  der  in  die  erwähnten  Prachtbücher  von  Froberger 
eigenhändig  geschriebenen  Jahreszahl,  welche  also  in  diese  Zwi- 
schenzeit fällt,  wo  bei,  Froberger's  Orgelbank  in  Wien  „Sedisvacanz" 
war.  Obendrein  lautet  die  Datirung  des  Libro  secondo  der 
Wiener  Handschrift:  Vienna  Ii  29.  Settembre  A.  1649.  Froberger 
war  also  in  Wien! 

Unter  den  Compositionen  findet  sich  als  Schluss  des  Libro 
quarto  ein  „Lamento  sopra  la  dolorosa  perdita  della  Reale  Maesta 
di  Ferdinando  IV  Re  di  Romani."  Der  König  starb  aber  erst  1654, 
zu  einer  Zeit  also,  wo  Froberger  sein  Amt  in  Wien  wieder  angetre- 
ten. Diese  Compositionen  sind  also  die  Frucht  mehrjähriger  Arbeit. 

Einer  ähnlichen  Composition,  wie  jenes  „Lamento",  erwähnt 
der  Danziger  Capellmeister  Johann  Valentin  Meder  in  einem  am 
14.  Juli  1709  geschriebenen  (in  Mattheson's  „Ehrenpforte"  mit- 
getheilten)  Briefe.  „Ein  gewisser  Liebhaber  der  Musik",  schreibt 
Meder,  „habe  ihn  gezwungen  des  Froberger's  sein  Memento  mori 
auf  Violen  anzubringen,  und  mit  in's  Concert  zu  mischen;  er  hätte 
auch  desselben  Verfassers  Tombeau  aus  dem  F-moll  mit  beifügen 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


sollen,  solchen  Eigensinn  aber  von  sich  abgelehnt,  indem  besagtes 
Tombeau  sehr  ineinander  geflochten,  und  sich  mit  Geigen  nicht 
so  wohl  ausdrücken  lasse  —  ein  anderes  sei  ein  Clavicbordium,  ein 
anderes  die  Violin.  Jedoch  um  des  besagten  Liebhabers  Willen, 
zu  erfüllen,  habe  er  ihm  ein  neues  Tombeau  vor  zwei  Violinen, 
drei  Violdigamben  und  zwei  Flöten  gesetzet"  u.  s.  w.  Der  Um- 
stand, dass  als  Tonart  von  Froberger  s  „Tombeau"  F-moll  an- 
gegeben wird,  während  das  Trauerstück  auf  den  Tod  Ferdinand  IV. 
aus  Cdur  geht,  macht  es  aber  zweifelhaft,  ob  damit  jenes 
„Lamento  sopra  la  dolorosa  perdita"  u.  s.  w.  gemeint  sei,  obwohl 
letzteres  auch  zur  Gattung  der  „Tombeaus"  gehört,  da  Meder 
weiterhin  solche  Sätze  auch  mit  dem  allgemeinen  Namen  „Lamente 
und  klagende  Sätze"  bezeichnet.  Charakteristisch  für  die  Art 
wie  Froberger  diejenigen  von  seinen  Compositionen  aus  Tönen 
zusammenwebt  — ■  denn  so  muss  man  es  nennen  —  welche  mehr 
klavier-  als  orgelmässig  sind,  darf  die  Bemerkung  Meder's  heissen: 
ein  Clavichordium  sei  etwas  anderes  als  eine  Violine  und  das 
Stück  sei  „sehr  zusammengeflochten."  Damit  ist  etwas  anderes 
gemeint,  als  streng  durchgeführte,  künstliche  Polyphonie,  deren 
vier  oder  mehr  Stimmen  sich  gar  wohl  für  Saiteninstrumente  ein- 
richten oder  vielmehr  umschreiben  liessen,  wie  es  denn  bei  den  alt- 
deutschen polyphonen  Liedern  insgemein  auf  dem  Titel  heisst,  sie 
seien  auch  „auf  Instrumenten  zu  gebrauchen"  oder  „für  alle 
Arten  von  Instrumenten  dienlich."  Meder  meint  vielmehr  jene 
Setzart,  welche  Joh.  Seb.  Bach  mit  dem  respektwidrigen  Namen 
„manschen"  bezeichnete  —  eine  Schreibart  nämlich,  wo  Stimmen 
kommen  und  Stimmen  gehen,  man  weiss  nicht  woher  und  wohin 
—  wo  der  Satz  plötzlich  sehr  stimmenreich  und  voll  und  plötz- 
lich wieder  mit  wenigen  Stimmen  ganz  durchsichtig  wird  —  wo 
sich  der  Gang  der  einzelnen  Stimmen  —  Discant,  Alt,  Tenor, 
Bass  —  nicht  verfolgen  lässt,  kurz  die  Art,  wie  wir  unsere  Orchester- 
und  Ciaviersachen,  welche  nicht  in  den  alten  strengen  Formen 
des  Canons,  der  Fuge  u.  s.  w.  gehalten  sind,  schreiben,  während 
Bach  den  Organisten  und  den  seine  einzelnen  Stimmen  consequent 
fuhrenden  Contrapunktisten  auch  dort  nicht  vergisst,  wo  er  ein 
Orchester  vor  sich  hat.  Herzogin  Sibylla  schreibt  darüber  in 
einem  ihrer  Briefe  an  Huyghens:  sie  wollte  gerne  das  Memento 
mori  Froberger  bei  ihm  schlagen,  so  gut  ihr  möglich  wäre.  „Der 
Organist  zu  Cöln  Caspar  Grieffgens  schlägt  selbiges  Stück  auch" 
(heisst  es  im  Briefe  weiter)  „und  hat  es  von  seiner  Hand  gelernt, 
Griff  vor  Griff.  Ist  schwer  aus  den  Noten  zu  finden.  Habe  es 
mit  sondern  Fleiss  darum  betracht,  wiewohl  es  deutlich  geschrie- 
ben, und  bleibe  auch  des  Herrn  Grieffgens  seiner  Meinung,  dass 
wer  die  Sachen  nit  von  ihm,  Herrn  Froberger  sei.  gelernet,  unmög- 
lich mit  rechter  Discretion  zu  schlagen,  wie  er  sie  geschlagen 
hat."    Die  Schilderung  passt  vollkommen  auf  das  mehrerwähnte 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


471 


Trauerstück.  Hochpathetischen  Charakters,  trotz  der  Durtonart 
Trauer,  und  zwar  tief,  wenn  auch  mild  gestimmte  Trauer  aus- 
drückend, will  es  auf  der  Claviatur  mehr  declamirt,  als  in  genauem 
Takt  gespielt,  überhaupt  beinahe  nach  Art  einer  freien  Phantasie 
mit  discret  angewandtem  Tempo  rubato  behandelt  sein.  Den 
Schluss  bildet  allerdings  ein  handgreiflich  malender,  nicht  miss- 
zuverstehender Zug,  welcher  sich  so  kindisch  ausnimmt,  dass  er 
den  guten  Eindruck  des  Vorhergehenden  nahezu  auslöscht. 
Glissando  und  presto  fahrt  in  raschem  Lauf  die  C-dur  Tonleiter 
vom  kleinen  C  im  Bass  bis  zu  den  lichthellen  Legionen  des  drei- 
gestrichenen C  —  offenbar  die  „Himmelfahrt"  des  höchstseligen 
Ferdinandi  des  Vierten  —  diese  Scala  ist  die  „Scala  del  cielo", 
die  Himmelstreppe,  die  Jacobsleiter;  damit  man  es  ja  nicht  miss- 
deute, hat  Froberger  eigenhändig  quer  über  den  letzten  Takt, 
so  dass  das  dreigestrichene  C  gerade  hineinfährt,  den  offenen,  Licht- 
strahlen entgegenwerfenden  Himmel  und  drei  Cherubköpfchen  — 
geflügelte  Scheusälchen  —  hingezeichuet.  Die  folgenden,  den 
Libro  quarto  schliessenden  Sätzchen  sind  alle  auf  ein  analoges 
.  Harmoniefundament  gebaut,  wie  das  „Lamentou  —  also  dazu  und 
zusammengehörig,  und  zwar  eine  Gigue,  eine  Courante  und  eine 
Sarabande  —  Tänze  also!  aber  Tänze  emster,  contrapunktischcr 
Art.  Auch  hier  ist  Froberger's  illustrirendc  Feder  nicht  müssig 
gewesen  —  die  Gigue  prangt  mit  einer  Zackenkrone  —  wohl  die 
„Krone  ewiger  Gerechtigkeit"  —  dieser  Tonsatz  ist  auch  der 
relativ  am  freudigsten  bewegte  im  Cyclus;  zur  Courante,  einem 
feierlich  majestätischen  Stück,  hat  der  Componist  ein  Crucifix  und 
einen  dampfenden  Weihrauchkessel  gezeichnet  ;  zu  der  Sarabande, 
welche  nicht  wie  sonst  einen  sentimentalen  Charakter  hat  (alle 
Sentimentalität  ist  schon  im  „Lamento"  aufgebraucht),  sondern  wie- 
derum imposant  und  mit  einer  gewissen,  der  Vornehmigkeit,  wie 
sie  damals  verstanden  wurde,  sich  selbstgefällig  präsentirenden 
Grazie  einhertritt,  ein  reich  mit  Getreideähren  bewachsenes  Feld 
(Anspielung  auf  Matth.  XIII.  8?)  und  einen  Lorbeerkranz,  welcher 
sich  von  selbst  erklärt.  Dieser  Kreis  von  Tonstücken  ist  für  die 
Geschichte  der  Suite  von  Wichtigkeit.  Bei  diesen  Malereien  der 
Componisten-  und  Illustrationsfeder  wird  man  versucht,  auch  an 
die  Rheinfahrt-  und  Organistenfusstritt-Allemanden  zu  glauben, 
von  denen  Mattheson  berichtet» 

Die  Benennung  „Tombeau"  deutet  auch  wieder  indirect  auf 
Froberger's  Aufenthalt  in  Frankreich.  Im  Jahre  1709  wenigstens 
begegnen  wir  diesem  Terminus  zum  erstenmale  in  der  französisch- 
dramatischen Musik  in  einem  von  Cambert  componirten,  1671 
(abo  vier  Jahre  nach  Froberger's  Tod)  zu  Paris  aufgeführten 
Pastorale  „les  peines  et  les  plaisirs  d'amour",  wo  der  Klaggesang 
Apoll 's  am  Grabe  der  Nymphe  Clime'ne  als  „Tombeau"  bezeichnet 
ist.    Die  Benennung  ging  dann  auf  alle  ähnlichen  Stücke  in  der 


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472 


Die  Organiston.   Frescobaidi  u.  s.  w. 


Oper  über  —  Kameau's  prächtiger  Chor  „que  tout  gemisse"  und 
Telairen's  sich  daranschliessende  Arie  „pales  flambeaux"  gehört 
so  gut  in  diese  Klasse,  wie  Gluck's  erste  Scene  im  „Orfeo."  Es 
scheint  fast,  als  sei  Froberger  der  Begründer  dieser  ganzen  Gattung. 

Froberger's  Ricercar,  Partiten,  Tanzstücke  u.  s.  w.  lassen  ihn 
in  der  Disposition  und  in  der  Durchführung  als  Frescobaidi' s 
Schüler  erkennen. 

Von  der  schwerfalligen  Art  der  deutschen  Orgelspieler  des 
16.  Säculums,  welche  in  harter  Sisyphusarbeit  zentnerschwere 
Notenblöcke  wälzen,  welche  rohe  Accordsäulen  neben  einander 
hinpflanzen,  wie  etwa  weiland  die  alten  Celten  ihre  colossaleu 
Steinsetzungen  ihrer  Min-hir  und  Dolmen,  und  hinwiederum  in 
nichtssagendem,  geschmacklosem,  buntscheckigem  Laufwerk  herum- 
faseln oder  irgend  einen  Cantus  firmus  mit  der  Grobschmied - 
arbeit  irgend  eines  contrapunktischen  Gitterwerks  umgeben,  ist 
bei  Froberger  keine  Spur  mehr.  Allerdings  waren  die  deutscheu 
Organisten,  wie  die  Tabulaturbüchcr  der  beiden  Strassburger 
Bernhard  Schmidt  beweisen,  wo  wir  Arbeiten  der  beiden  Gabrieli, 
Merulo's  u.  A.  in  „deutsche  Tabulatur  umgesetzt"  finden,  bei  deu 
Werken  der  Italiener  in  die  Schule  gegangen,  und  der  bedeutende 
Meister  Samuel  Scheidt  in  Halle,  welcher  1654  starb,  also  Fro- 
berger's etwas  älterer  Zeitgenosse,  schwerlich  aber,  wie  auch  vei- 
muthet  worden,  Froberger's  „erster  Lehrer"  war,  wenn  Froberger 
schon  mit  15  Jahren  Halle  für  immer  verliess,  scheint  dieselbe 
Schule  durchgemacht  zu  haben.  Johann  Caspar  von  Kerl,  der 
vielbewunderte,  kam  erst  um  1645  nach  Rom,  um  bei  Carissimi 
zu  studieren  —  ob  auch  bei  Frescobaidi,  ist  unsicher  —  aut  keinen 
Fall  kann  dort  Froberger  sein  „Mitschüler"  gewesen  sein. ')  Des 
holländischen  „Organistenmachers"  Jan  Pieter  Swelink  Orgelsätze 
(so  weit  wir  sie  kennen)  sind  trocken  und  altvaterisch.  Wo  wir 
die  Orgelkunst  in  Deutschland  sich  von  dem  rohen  Standpunkt 
der  handfesten  deutschen  Orgelschläger  des  16.  Säculums  los- 
ringen sehen,  ist  es  überall  der  belebende  Hauch  aus  Italien, 
welcher  befreiend  wirkt.  Die  Zeit  der  grossen  deutschen  Vor- 
läufer J.  S.  Bach's  —  eines  Pachelbel,  Buxtehude  u.  A.  stand 
damals  schon  vor  der  Thüre  —  aber  eingetreten  war  sie  noch 
nicht.  Froberger  hat  neben  Scheidt  als  ihr  Vorläufer  eine 
epochenmachende  Bedeutung,  und  wenigstens  mittelbar  hat  also 
Frescobaidi  auch  auf  die  Kunst  in  Deutschland  einen  sehr  be- 
deutenden Einfluss  gehabt  Wer  Analogieen  und  Aehnlichkeiten 
zwischen  Lehrer  und  Schüler  suchte,  würde  ihnen  bei  Frescobaidi 
und  Froberger  aller  Orten  begegnen.  Froberger's  deutsche  Abkunft 
verräth  sich  zumeist  in  einzelnen  Themen,  welche  wie  deutsche 
Volksweisen  klingen,  so  in  einer  Canzon  des  Wiener  Libro  secondo: 


1)  wie  Fetis  will,  s.  Biogr.  univ.  d.  m.  ad  voc.  Kerl  (Jean  Gaspard  de). 


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Discant 


Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  8.  w.  473 
(im  Original  partiturmäasig  in  vier  Stimmen.) 


Ten 


3tE 


-6  Z=Z  ß              T  - 

Ssj    j  1 J  

gi  r  f  r  '  =- 

tffc 

Alt. 

U.  3.  W. 


Das  klingt  im  Thema  so  nicht-italienisch  und  so  urdeutsch 
wie  möglich,  aber  die  Durchführung  ist  durch  und  durch  Fresco- 
baldisch.  Man  stelle  nur  neben  diese  Composition  Froberger's  zur 
Vergleichung  die  „Canzon  quarti  toni  dopo  il  postcomuneu  von 
Frescobaldi : 


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474 


Die  Organisten.   Frescobaldi  n.  8.  w. 


|0Ü 


et 


I 


I 


J 


e  c  h  a? 
f  o  d  c? 


Der  ..nationale'1  Unterschied  im  Charakter  (nicht  einmal 
in  der  Bildung  I)  der  Themen  und  die  völlige  Uebereiustimmung 
in  der  Art  der  Durchführung  derselben  liegt  klar  vor  Augen. 
Im  Verlaufe  des  Stückes  gestalten  beide  Tonsetzer  ihr  Thema  zu 
einer  Episode  im  *8-  (-|->Takt,  nachdem  sie  beide  ihren  Satz  mit 
einer  entschieden  eintretenden  Cadenz  zu  Ende  führen  zu  wollen 
geschienen: 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  8.  w. 


475 


Frescobaldi 


0  • 


i 


-Gr 


r1? — tt 


j  j 


— r~ 

i  i  i 


XX.  s.  w. 


Froberger 


U.  8.  W. 


Nach  dieser  Episode  tritt  bei  beiden  Meistern  ein  gleichsam 
reflektirender  Moment  des  Stillstands  ein,  nach  welchem  es  wieder 
frisch  und  lustig  in  der  fugirten  Arbeit  weiter  und  zu  Ende  geht. 


Frescobaldi 


Adagio. 


-UP- 


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« 

476  Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  8.  w. 


Allegro. 


 ^—   <JJ^-  £_  f 

* »  ♦  #J  -  J 

D 

3*  W- 

^  .—  _i  _ 

Froberger 

r.lL  1   J.  fZ-r^i 

:,,J     J        J  1 

M  Z>  d^-i 

Ä..  ...  - 

l 

-%£=^¥=  1 
,   ^rf^n 

i  1 —            rj^  —  « 

I^TOT —  

'*f  fr  s  1 — 

F 

^t^^P^-f---  

Mit  Hilfe  der  „vergleichenden  musikalischen  Anatomie"  würde 
man  vielfach  zu  ahnlichen  Resultaten  kommen.    Auch  das  colo- 

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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


477 


ist  eine  Manier  Fresco- 


baldi's,  welche  sich  der  Schüler  getreulich  angeeignet  hat  — 
während  Frescobaldi  seinerseits  sie  bei  seinen  Vorgängern  Mernlo, 
Gabrieli  u.  s.  w.  antraf.  So  geläufig  dieser  Zierschnörkel  den 
italienischen  Orgelmeistern  ist,  so  wenig  findet  er  sich  bei  den 
deutschen. 

Die  Toccaten  Froberger's  gleichen  jener  Classe  der  Fresco- 
baldi'schen,  welche  wir  als  „thematisch  durcharbeitend"  bezeichnet 
haben,  bis  zum  Doppelgängerischen.  Froberger  bildet  allenfalls 
glatter,  flüssiger,  sein  grosser  Lehrer  schroffer,  aber  auch  mächtiger 
und  imposanter. 

Eben  so  sind  Froberger's  Partiten  echte  und  gerechte  Blin- 
der der  Frescobaldi'schen.  Aber  zu  Frescobaldi's  strenger  Hoheit 
verhält  sich  der  liebenswürdige,  klangselige  Froberger,  wie  etwa 
Mozart  zu  J.  S.  Bach.  Jenes  „Manschen",  wo  es  vorkommt, 
ist  ein  Schritt  zur  Befreiung  der  Musik  aus  den  unaufhörlichen 
Banden  der  Polyphonie.  Frescobaldi  ist  mehr  Organist,  Froberger 
mehr  Clavierspieler.  Frescobaldi's  Partiten  sind  bewundernswerthe, 
geistvolle  contrapunktische  Studien  „für  Kenner  und  Liebhaber"; 
in  jenen  Froberger's  ist  alles  glatter,  flüssiger,  beweglicher,  ele- 
ganter geworden  —  so  recht  für  musikalische  grosse  Damen,  wie 
Herzogin  Sibylla,  und  doch  auch  für  den  strengsten  Musiker  höchst 
interessant.  Kleine  musikalische  Juwele  sind  seine  Partiten  — 
eigentlich  Variationen  —  „auff  die  Mayerinn"  (im  Wiener  Manu- 
8cript).  War  diese  „Mayerinn"  ein  Volkslied,  oder  etwa  eine  Lieb- 
lingsmelodie jener  Ursula  Meyer,  genannt  „die  Meyerin",  welche, 
1575  zu  Münster  geboren,  viele  Jahre  im  Dienste  Anna's  von 
Oesterreich,  Tochter  des  Erzherzogs  Karl  I.  von  Steyerraark, 
stand,  als  sich  diese  Prinzessin  mit  König  Sigismund  III.  von 
Polen  am  31.  Mai  1592  vermählte,  ihr  folgte,  die  Kinder  des 
königlichen  Hauses  erzog,  an  der  königlichen  Tafel  ass,  als  das 
Orakel  des  Hofes  und  des  königlichen  Familienrathes  galt,  noch 
unter  Sigismunde  Nachfolger,  Ladislav  IV.,  ihrem  Eleven,  eine 
grosse  Rolle  spielte,  selbst  in  Staatssachen  eine  einflussreiche 
Stimme  hatte,  vom  Papst  Urban  VIII.  durch  Uebersendung  der 
goldenen  Rose  geehrt  wurde  und  endlich  1635  zu  Warschau 
starb?  Der  Gedanke  liegt  sehr  nahe,  dass  Froberger  wieder 
einmal  eines  seiner  Dedicantenstücke  ausgeführt  hat  und  die 
Partiten  später  auch  (mit  Recht)  in  die  für  Ferdinand  III.  be- 
stimmte Sammlung  aufnahm.  Das  Thema,  in  seiner  Urgestalt  als 
Lied,  kann  man  sich  wohlerhalten  aus  der  Oberstimme  der  Partita 
quinta  heraussuchen  —  welch'  letztere  übrigens  die  mindest  be- 
deutende im  Cyclus  ist,  zweistimmig:  die  Liedmelodie  und  ein 
bunt  figurirter  laufender  Bass.    Desto  reizender  und  pikanter  sind 


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47S 


Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


die  anderen,  darunter  eine  „Courante  sopra  Mayerinn"  nebst 
,, Double"  —  zum  Schlüsse  eine  „Saraband  sopra  Mayerinn"  — 
das  Double-Stück  (eine  Form,  der  wir  dann  unter  J.  S.  Bach's 
Suiten  als  einer  gewohnten  begegnen)  gleichsam  als  eine  Variation 
der  Variation.  Den  Namen  „Double"  hat  Froberger  wohl  aus 
Frankreich  mitgebracht;  bei  Frescobaldi  kommt  er  noch  nicht 
vor.  Die  Perle  unter  den  Partiten  ist  die  sechste,  die  „Partita 
cromatica",  ein  Stück  voll  Leben,  anmuthiger  Bewegung  und 
Wohlklang. 

Froberger's  Tanzstücke  haben  dagegen  mit  denen  Frescobaldi' 
weniger  Verwandtschaft  —  sie  gehen  mehr  in's  französische  Genre. 
Unter  Franz  Couperin's  Sarabanden,  Couranten  u.  dgl.  finden  sich 
Nummern,  die  entschieden  mit  den  analogen  Froberger's  verwandt 
sind.  Und  hier  grenzt  er  hinwiederum  an  J.  S.  Bach  und 
dessen  Suiten.  Bemerkenswerth  ist  die  gelegentliche  Bemerkung 
der  Herzogin  Sibylla,  „man  müsse  die  Sachen  von  Froberger  selbst 
gelernt  haben,  um  sie  richtig  zu  spielen  "  Auch  hierin  kündigt 
sich  das  Morgenroth  einer  neuen  Zeit  an.  Frescobaldi's  streng 
polyphone,  gleichsam  ganz  objektive  Stücke  kann  ein  tüchtiger 
Orgler  kaum  verderben  —  aber  bei  Froberger  tritt  schon  die 
Subjectivität  des  Künstlers  mehr  in's  Werk  und  muss  hinwiederum 
daraus  sprechen. 

Es  ist  schon  erwähnt  worden*  dass  der  in  „kayerliche  Un- 
gnad"  gefallene  Froberger  ein  Asyl  bei  der  Herzogin  Sibylla 
von  Württemberg  fand.  Es  ist  wohlthuend,  wenn  wir  nach  Fro- 
berger's  Tode  in  dem  ersten,  am  25.  Juni  1667  aus  HeVicourt  an 
Huyghens  geschriebenen  Brief  der  Herzogin  lesen:  „allein  ver- 
bleibe ich,  leider  Gott  erbarms,  nur  eine  geringe  hinterlassene 
Schülerin  meines  lieben,  ehrlichen,  getreuen  und  fleissigen  Lehr- 
meisters sei.  Herr  Joh.  Jacob  Froberger,  kais.  Maj.  Kammer- 
Organist,  welcher  heut  sieben  Wochen  Abends  nach  fünf  Uhr 
unter  währendem  seinem  Vespergebet  von  dem  lieben  Gott  mit 
einem  starken  Schlaganfall  angegriffen  worden,  nur  noch  etliche 
Mal  stark  Athem  geholt  und  hernach  ohne  Bewegung  eines  Glieds 
so  sanft  und,  wie  ich  zu  dem  lieben  Gott  hoffe,  selig  verschie- 
den. Denn  er  noch  die  Gnad  von  Gott  gehabt,  dass  er  nieder- 
gekniet laut  gesagt:  Jesus,  Jesus  sei  mir  gnädig!  und  somit 
zurückgeschlagen  Verstand  und  Alles  hin.  Liefen  alle  zu,  was 
im  Schlosse  waren,  könnt  aber  niemand  helfen,  war  selbst  auch 
dabei.  Nun,  der  liebe  Gott  erwecke  ihn  mit  Freuden  und  gebe, 
dass  wir  einander  im  himmlischen  und  englischen  Musenchor  wie- 
der antreffen  mögen."  Froberger  scheint  sein  Lebensende  geahnt 
zu  haben  —  Tags  vorher  hatte  er  der  Herzogin  einen  Dukaten 
eingehändigt  mit  der  Bitte,  ihn  nach  seinem  Tode  zu  frommen 
Werken  zu  verwenden.  Dürfen  wir  hiernach  nicht  annehmen, 
dass  Froberger  damals  nicht  mehr  in  der  Vollkraft  des  Lebens  ge« 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w. 


479 


standen,  etwa  ein  Mann  in  den  Sechzig  gewesen,  und  das  wir  folg- 
lich seine  Geburt  in  die  ersten  Jahre  nach  1600  versetzen  können? 
Ist  es  aber  so,  wie  hätte  er  mit  fünfzehn  Jahren  zu  Ferdinand  III. 
kommen  können?  Mattheson's  Angaben  erscheinen  auch  hier 
mindestens  ungenau  —  freilich  lässt  er  auch  den  dreissigjährigen 
Krieg  zwei  Jahre  später  enden,  als  der  Westphälische  Frieden 
geschlossen  worden! 

Die  Herzogin  Hess  ihrem  Froberger  „zur  Gedächtnuss  einen 
Grabstein  machen ;  ist  nit  unfein"  schreibt  sie.  Seine  Tonwerke 
bewahrte  sie  wie  einen  Schatz:  „seine  edle  Compositiones  habe  ich 
so  lieb  und  werth,  dass  ich  sie  so  lang  ich  lebe  nit  kann  oder 
begere  aus  Händen  zu  lassen.11  Eine  Malerin  oder  Zeichnerin, 
Namens  Caterina  Bergerotti,  zeichnete  für  die  Herzogin  ein  „Con- 
terfait"  des  geliebten  Meisters,  welches  die  hohe  Dame  in  ihrem 
„Museo"  aufbewahrte.  Das  Bild  ist  nicht  mehr  zu  finden  — 
auch  der  „nit  unfeine"  Grabstein  in  der  Kirche  zu  Bavilliers  ist 
in  den  Stürmen  der  Revolution  abhanden  gekommen.  Die  Her- 
zogin erwähnt,  dass  zu  Froberger's  Beerdigung  sich  „gute  Freund 
von  Montbelliard"  eingefunden,  „denn  ihn  die  Leut  wegen  seines 
guten  Humors  geliebt  haben,  ob  sie  eben  seine  Kunst  nit  ver- 
standen." Ist  das  nicht  wieder  ein  an  Mozart  erinnernder  Zug? 
Aber  er  hatte  am  Hofe  der  Herzogin  auch  seine  Gegner.  „Adver- 
sarii",  schreibt  die  edle  Frau,  „bleiben  aber  auch  nit  aus  und 
meinen  es  sei  der  Sachen  zu  viel  gethan  und  nit  recht,  weil  er 
nit  mehr  unser  Religion  gewesen,  und  was  noch  mehr  allerlei  so 
Reden  oder  Judiciren  sein  mag.  Doch  reuet  es  mich  nit,  ich 
höre  gleich  was  ich  wolle,  denn  seine  rare  Virtou  und  der  Herr, 
bei  dem  er  in  einsten  gewesen  meritiren  noch  wehl  eine  ehrliche 
Begleitung  zu  letze.  Ohne  was  ich  noch  vor  mein  Person,  wie 
vor  gedacht,  Gutes  von  ihm  empfangen  habe,  so  ist  er  ja  doch 
auch  noch  ein  Christ  und  guten  Lebens  gewesen.  Ist  mir  gewiss 
sauer  genug  angekommen  und  bin  kein  lachender  Erb,  möchte 
mir  noch  als  Herz  und  Augen  übergehen,  wenn  ich  bedenke,  was 
mir  mit  ihm  abgestorben." 

Froberger  war  als  Protestant  lutherischer  Confession  geboren. 
Matthcson  erzählt,  in  Rom  habe  ihn  ein  deutscher  Mitschüler, 
Namens  Kappeler,  beredet,  zum  Katholicismus  überzutreten  — 
Kappeler  selbst  sei  später  bei  der  Landgräfin  von  Darmstadt 
Maria  Elisabeth  zu  Husum  Hoforgrfnist  geworden,  „sattelte  nun 
selbst  um  und  bekannte  sich  zum  Lutherthum."  Es  gab,  wie  be- 
kannt, in  jenen  Zeiten  mehr  Leute,  welche  nach  dem  Grundsatz 
„Cujus  regio  ejus  religio"  in  solcher  Weise  „umsattelten"  —  ja 
gelegentlich  nach  Bedürfniss  wiederholt  „die  Religion  changirten." 
Eben  weil  Froberger's  Religiosität  keine  blos  äusserliche  war, 
mochte  er  nicht  die  Confession  wechseln,  wie  man  einen  Rock 
wechselt.    Es  macht  der  Herzogin  Ehre,  dass  sie  grosssinniger 


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480 


Die  Organiston.   Frescobaldi  u.  8.  w. 


dachte,  als  die  Zionswächter  an  ihrem  Hofe.  *)  Wenn  übrigens, 
wie  Mattheson  sagt,  Froberger  schon  als  Knabe  in  des  Kaisers 
Ferdinand  III.  Kapelle  kam,  so  dürfte  sein  Uebertritt  unmöglich 
erst  in  Rom  geschehen  sein.  Aus  Briefen,  welche  der  verdienst- 
volle Historiograph  der  Wiener  Hofkapelle,  Kochel,  gefunden,  er- 
giebt  sich  indessen,  dass  Froberger's  Uebertritt  wirklich  in  Rom 
geschah  —  aber  nicht  auf  Zureden  eines  Mitschülers,  sondern  auf 
den  Wunsch  des  Kaisers,  und  dass  dieser  Uebertritt  schon  von 
Wien  aus  vorbereitet  worden. 

Als  Schüler  Froberger's  nennt  Mattheson  (in  der  Lebensskizze 
des  k.  dänischen  Hofkapellmeisters  Kaspar  Förster)  gelegentlich 
einen  Danziger  Ewald  Hinsch,  welcher  „bei  dem  berühmten  Fro- 
berger gelernt  hatte4'  und  unter  Kaspar  Förster  als  Hoforganist 
des  Königs  Friedrich  III.  diente.  Auch  Kaspar  Grieffgens  in  Cöln 
scheint  von  Froberger  Anleitung  bekommen  zu  haben.  Als  Vor- 
bild hat  er  aber  noch  mehr  gewirkt,  denn  als  unmittelbarer  Lehr- 
meister. Es  ist  interessant,  die  Partiten  „auff  die  Mayerinn"  mit 
dem  grossen  1648  zu  Prag  erschienenen  Variationenwerk  Wolfgang 
Ebner's,  der  gleichzeitig  in  Wien  mit  Froberger  Hoforganist  war, 
—  „Aria  XXXVI  modisvariata  peril  cembalo'1  —  zu  vergleichen. 
Froberger's  Arbeit  hat  hier  augenscheinlich  als  Muster  gedient, 
selbst  die  „chromatische  Partita"  findet  dort  ihr  Gegenbild  in  einer 
„chromatischen  Variation."  Auch  die  beiden  Muffat  deuten  oft 
genug  auf  Froberger  zurück,  während  wir  z.  B.  an  dem  gleich- 
zeitigen Kuhnau  in  Leipzig  statt  dessen  die  Familienzüge  der  nord- 
deutschen Organistenschule  erkennen. 

Ein  sehr  respektabler  Meister  dieser  Epoche  ist  Giovanni 
Battista  Fasolo  aus  Asti,  Franciscaner  in  einem  Kloster  zu  Pa- 
lermo, dessen  „Annuale  organistico"  1645  in  Venedig  erschien.  Die 
Art,  wie  er  in  diesem  Werke  die  gegebenen  kirchlichen  Motive 
der  Hymnen,  Antiphonen  u.  s.  w.  behandelt,  erinnert  in  ihrer 
ganzen  Factur,  in  der  freien,  energischen  und  lebensvollen  Führung 
der  Stimmen,  im  Verschmähen  kleinlichen  Zierwerks  und  in  der 
Tüchtigkeit  des  Zusammenklanges  durchaus  an  die  ähnlichen  Ar- 
beiten Frescobaldi's,  der  vor  dem  braven  Mönch  von  Palermo 


1)  Merkwürdig  ist  es,  dass  sich  an  ihren  Tod  die  Wundererzählung 
von  einer  Engelsmusik  knüpft,  gleichsam  als  habe  diese  geliebte  Kunst 
sie  noch  in  den  letzten  Augenblicken  nicht  verlassen.  „Als  die  fromme 
Herzogin  Magdalena  Sibylla  von  Würtemberg  auf  dem  Sterbebette  lag, 
den  7.  August  1712,  liess  sich  Nachts  im  Zimmer,  wo  eben  nur  zwei  Per- 
sonen gegenwärtig  waren,  eine  überaus  liebliche  Stimmen-  und  Harfen- 
musik hören,  die  nach  einigen  Minuten  verwehte.  Sogar  der  Kauzler  der 
Universität  gedachte  derselben  in  einer  feierlichen  öffentlichen  Bede;  die 
Zuhörenden  [hätten  in  ihrem  Leben  nichts  Anmuthigeres  gehört;  in  der 
That  seien  nicht  Menschen-,  sondern  Engelsstimmen  erklungen."  Die  Her- 
zogin starb  erst  am  11.  August  1712.    (Perty,  Mystische  Erschein.  S.  471.) 


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Die  Organisten.   Frescobaldi  u.  s.  w.  481 

wohl  den  Zug  des  Genialen,  Vielseitigkeit  nnd  Glanz  voraus  hat, 
im  Uebrigen  aber  ihm  entschieden  geistesverwandt  erscheint. 

Berühmter  als  der  anspruchslose  Klosterbruder  im  fernen 
Sicilien  wurde  Bernardo  Pasquini,  geboren  1637  zu  Massa  di 
Valnevola  im  Toskanischen,  Organist  der  Basilica  von  S.  Maria 
maggiore  in  Rom,  der  den  stolzen  Titel  erhielt  „Organoedus 
Senatus  populique  Romani44,  Lehrer  Franz  Gasparini's  und  Fran- 
cesco Durante's,  gestorben  72  Jahre  alt  am  Cäcilientag  1710  und 
begraben  in  S.  Lorenzo  in  Lucina  (beim  Corso),  wo  seine  Grab- 
schrift von  ihm  rühmt:  „musicis  modulis  apud  omnes  fere  Europae 
Principes  nominis  gloriam  adeptus/4  Wirklich  soll  ihm  Leopold  I. 
aus  Wien  Scolaren  zur  Ausbildung  zugesendet  haben  —  was  in- 
dessen mit  den  Daten  des  Wiener  Kapellarchivs  nicht  stimmen 
will,  wo  von  1657  bis  1679,  den  Regierungsjahren  des  genannten 
Kaisers,  als  Organisten  genannt  werden:  Wolfgang  Ebner,  Paul  Neid- 
linger  1657— 1669, Marcus  Ebner  1657—1680,  Alexander  Poglietti 
1661—1683,  Carlo  Capellini  1665— 1683.  Einige  Stücke  des  eben 
genannten  Poglietti  und  Bernardo  Pasquini's  wurden  1704  zu 
Amsterdam  in  einer  Sammlung  Toccaten  und  Suiten  gedruckt. 
Ludwig  Landsberg  erwarb  in  Rom  zwei  in  ihrer  Art  unschätz- 
bare Autographe  Pasquini's,  zwei  volumiöse  Bände  Toccaten  und 
ähnliche  Compositionen  —  nach  Landsberg's  Tode  (1858)  wan- 
derten sie  nach  Amerika,  wo  sie  leider  —  verschollen  sind.  *) 
So  ist  uns  von  dem  berühmten  Meister  nichts  geblieben,  als  sein 
Name  und  seine  stolze  Grabschrift  in  S.  Lorenzo  in  Lucina. 


1)  Die  egoistische  Eitelkeit  der  Engländer  und  Amerikaner,  Werke, 
welche  ein  Gemeingut  der  Menschheit  sein  sollten,  im  „Privatbesitz"  zu 
haben  —  oft  um  sie  dann  nie  wieder  anzusehen,  sie  aber  vor  aller  Welt 
zu  versperren,  verdiente  wohl  einmal  ein  nachdrückliches  Wort!  Wollte 
doch  einmal  ein  Engländer  das  berühmte  Salzfass  Benvenuto  Ccllini's  (in 
der  kais  Schatzkammer  in  Wien)  durchaus  kaufen  ! !  Natürlich  — 
Guineen,  dachte  er,  ist  Alles  feiL 


Ambroi,  Geschichte  der  Musik.  IV.  Sl 


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Leipzig, 

Druck  von  Hundertatuud  &  Priof. 


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■ 


Nachwort. 


Gern  leiste  ich  dem  Wunsche  der  Familie  wie  der 
Freunde  des  verewigten  Verfassers  Folge,  diesem  nachge- 
lassenen Theile  seiner  „Geschichte  der  Musik"  einige  Worte 
der  Erinnerung  hinzuzufügen.  Stand  ich  doch  mit  Ambros 
Jahre  hindurch  bis  zu  seinem  Tode  in  freundschaftlichem  und 
geistigem  Verkehr  und  habe  ich  doch  diesen  Tbeil  der  Musik- 
geschichte allmälig  entstehen  und  werden  gesehen.  Wir  hatten 
ja  in  unseren  Arbeiten  wie  Anschauungen  so  manche  Berührungs- 
punkte, und  es  bereitete  ihm  jedesmal  eine  grosse  Freude,  wenn 
er  sich  über  seine  Pläne  und  Ziele  gegen  mich  aussprechen  konnte. 
Noch  steht  er  mir  lebhaft  vor  Augen,  wie  er,  nur  wenige  Tage  vor 
seiner  Erkrankung,  bei  mir  vorsprach  und  mit  überströmen- 
der Begeisterung  so  manches  Detail  dieses  Bandes  schilderte. 
„Möchte  es  mir  nur  beschieden  sein,  das  Werk,  so  wie  ich  es 
wünsche,  zum  Abschluss  zu  bringen!  Ich  darf  wol  hoffen 
dann  der  Kunst  wie  der  Wissenschaft  einen  Dienst  erwiesen 
zu  haben",  so  sagte  er  mir  damals  beim  Fortgehen.  Leider 
sollte  er  aber  die  Vollendung  seines  Werkes  nicht  mehr  er- 
leben. 

„Wir  haben  in  Ambros  nicht  etwa  nur  den  Verlust  eines 
liebenswürdigen  Collegen  und  einer  seltenen,  den  ernstesten 
Aufgaben  zugewendeten,  von  einem  unerschütterlichen  Willen 
getragenen  Arbeitskraft  zu  bedauern,  mit  dem  Dasein  des 
Mannes  ist  auch  ein  aus  den  innersten  Bedürfnissen  der  Zeit 
wie  der  musikalischen  Kunst  concipirtes  Werk  gerade  da  ab- 
gebrochen, wo  dasselbe  seine  höchsten  Blüthen  zu  entfalten  ver- 
sprach."—  Diese  Worte,  mit  denen  ich  meinen  Nachruf  an 
Ambros  in  der  „Presse"  einleitete,  dürften  auch  hier  an  ihrem 
Platze  sein,  denn  ich  wüsste  den  Empfindungen  über  das 


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484 


Nachwort. 


Erlöschen  dieser  Kraft  keinen  überzeugungstreueren  Ausdruck 
zu  geben. 

Ich  glaube  nicht  zu  viel  zu  sagen,  wenn  ich  dieses  Werk 
als  ein  aus  den  innersten  Bedurfnissen  der  Zeit  concipirtes 
bezeichne.  Es  ist  eine  That,  deren  Tragweite  umsomehr  an 
Bedeutung  gewinnt,  wenn  man  bedenkt,  dass  bei  uns  in  Deutsch- 
land die  mächtigen  Einflösse  der  Aesthetik  den  Sinn  von  der 
strengen  Forsichung  auf  den  entlegeneren  Gebieten  der  Musik- 
geschichte vielfach  ablenken.  Und  doch  verweist  uns  der  Kampf 
der  grossen  Gegensätze,  welcher  heutigen  Tags  das  Musikleben 
durchwühlt,  auf  die  Nothwendigkeit  einer  klärenden,  in  die 
Tiefen  der  Vergangenheit  eindringenden  Forschung,  als  der 
sichersten  Basis  für  die  Beurtheilung  der  gegenwärtigen  Strö- 
mung und  deren  Ziele.  Der  Werth  jener  That  steigert  sich 
im  Hinblick  auf  die  Schwierigkeiten,  die  zu  besiegen  waren  und 
auf  die  kargen  Früchte,  die  sie  an  äusseren  Ehren,  wie  an 
materiellem  Erfolge  abwirft.  Der  Weg  der  Forschung  auf 
diesem  Gebiete  führt  nicht  etwa  zu  den  Lorbeeren  eines  popu- 
lären Ruhmes  —  denn  es  ist  nur  eine  kleine  Gemeinde,  die 
diesem  Gegenstande  ein  höheres  Interesse  und  Verständniss 
entgegenbringt  —  sondern  eher  von  Klippe  zu  Klippe.  Es  gilt 
die  mühevolle  Arbeit,  in  die  Schachte  eines  längst  versunkenen 
Empfindungslebens  hinabzusteigen,  das  Geäder  der  Formen- 
bildungen blosszulegen  und  aus  der  Kruste  wunderlicher,  rüthsel- 
hafter  Gestaltungen  das  echte  musikalische  Metall  herauszu- 
schlagen, die  treibende  Kraft,  welche  dieselbe  erzeugte,  aufzu- 
spüren: eine  harte  Arbeit  im  Dienste  der  Kunst  und  Cultur, 
die  nur  die  Begeisterung  für  die  Sache  vergütigt,  freilich  auch 
wirklich  vergütigt.  In  Wahrheit  vermag  nur  die  Begeisterung 
allein  über  die  Furcht  hinwegzuheben,  dass  bei  dem  Dunkel, 
welches  manche  wichtige  Phasen  der  Geschichte  noch  verhüllt, 
das  Schaffen  mehr  oder  weniger  nur  zu  fragmentarischen  Er- 
rungenschaften führe,  und  das  drückende  Bewusstsein  zu  ban- 


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Nachwort. 


4S5 


nen,  dass  bei  dem  vielen,  schwer  zu  entziffernden  Material  der 
Irrthum  stets  im  Hinterhalte  lauere  und  eine  neue  Entdeckung 
die  mühsam  gewonnenen  Resultate  überhole  und  abschwäche. 
Ein  auf  solche  Aufgaben  gerichtetes  Unternehmen  bedingt  vor 
Allem  die  Mittel,  den  in  Archiven  zerstreut  liegenden  Stoff  zu- 
sammenzutragen und  in  reichlichster  Sammlung  aufzuspeichern; 
es  bedingt  ferner  eine  sorgenlose  Müsse,  ihn  mit  der  nöthigen 
Ruhe  zu  verarbeiten ;  es  erfordert  in  erster  Linie  einen  eisernen 
Fleiss,  der  vor  der  minutiösesten  Prüfung,  vor  Enttäuschung  in 
Folge  verfehlter  Schlüsse  nicht  zurückschreckt.  Mit  seltener 
Energie  hat  Ambros  die  Schwierigkeiten  in  Betreff  der  Be- 
schaffung der  Materialien  zu  überwinden  gewusst  und  dabei 
selbst  persönliche  Opfer  nicht  gescheut.  Für  seinen  ausdauern- 
den, rastlosen  Fleiss  zeugt  schon  die  überaus  reiche  musika- 
lische Hinterlassenschaft,  eine  reiche  Sammlung  von  circa 
1500  Nummern  eigener  Handschrift,  die  Frucht  30jährigen 
Fleisses,  in  welchem  schon  allein  die  Sammlung  der  von  ihm 
in  moderne  Notenschrift  übertragenen  und  in  Partitur  gesetzten 
Werke  der  berühmten  alten  niederländischen  Meister  mehrere 
stattliche  Bände  bilden.*)  Doch  das  Glück  einer  sorgenlosen  Müsse 
war  ihm  nie  beschieden;  die  Verhältnisse  zwangen  ihn  vielmehr 
zu  einer  mannigfachen  Zersplitterung  seiner  kostbaren  Zeit  und 
Thätigkeit.  Bei  der  vielverzweigten  Wirksamkeit,  die  seine 
Kräfte  mächtig  in  Anspruch  nahm,  muss  man  es  in  hohem  Masse 
bewundern,  dass  Ambros  das  von  seinem  Oheim,  dem  Hofrath 
K  iese  wetter,  Angestrebte  und  Angebahnte  in  verhältnismässig 

*)  Einem  Freunde  des  Verewigten,  dem  Componisten  Wilhelm 
Westmeyer,  ist  es  zu  verdanken,  dass  dieser  werthvolle  musikalische 
Nachlass  für  Oesterreich  erhalten  bleibt.  Es  ist  damit  sowohl  ein 
Wunsch  des  Verfassers  als  auch  eine  Ehrenpflicht  erfüllt.  Westmeyer 
hat  in  ritterlicher  Weise  von  der  hinterblieben  en  Familie  diese  Schätze 
kirchlicher  und  weltlicher  Tonkunst  acquirirt,  um  sie  einem  vater- 
ländischen Inatitute  ab  Geschenk  zu  überweisen,  wo  sie  dem  Studium 
bleibend  zugänglich  sein  sollen. 


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486  Nachwort. 

nicht  gar  langer  Zeit  so  rühmlich  zum  Ziele  fahren  konnte.  Er 
ermöglichte  diess  durch  eine  ausserordentliche  Vielseitigkeit  der 
Bildung,  welche  sich  stützte  auf  eine  ungemeine  Elasticität  des 
Geistes,  verbunden  mit  einer  zähen  Arbeitskraft  und  einem 
wahrhaft  phänomenalen  Gedächtnisse.  So  verdankt  ihm  der  ehr- 
würdige Dom  der  mittelalterlichen  Musik  einen  Ausbau,  der 
sich  in  dem  Capitel  über  die  Kunst  der  Niederländer  prächtig 
zuwölbt,  und  von  den  Höhen  desselben,  eröffnet  sich  in  diesem 
leider  nicht  vollendeten  Theile  eine  Aussicht,  über  die  Grenzen 
des  Mittelalters  hinaus  auf  die  ersten  Bildungen  einer  neuen  Zeit! 

Ambros  hat  das  unschätzbare  Verdienst,  in  jenem  Capitel  den 
Culminationspunkt  jener  mittelalterlichen  Epoche  in  eine  ganz 
neue  Beleuchtung  gerückt  und  Gesichtspunkte  erschlossen  zu 
haben,  welche  über  das  archäologische  Interesse  weit  hinaus- 
tragen und  neue  Einblicke  in  den  Bildungsgang  der  Tonkunst 
gewähren.  Es  ist  aber  nicht  die  Geschichte  einer  isolirten  Kunst, 
deren  Bild  uns  Ambros  entrollt,  wir  verfolgen  vielmehr  das 
Werden,  das  Wachsthum  der  Musik  in  deren  stetigem  Zusam- 
menhange mit  dem  Gange  der  Cultur  und  der  Entwickelung 
der  Schwesterkünste.  Das  verleiht  der  Darstellung  einen  er- 
höhten Reiz  und  wirft  manche  interessante  Lichter  auf  das 
Familieuverhältniss  dieser  Kunst  zu  den  übrigen  Künsten. 
Ambros  äussert  sich  in  der  Einleitung  zu  seinen  Skizzen  und 
Studien  „Bunte  Blätter"*):  „Man  wird  es  wol  in  meiner  Musik- 
geschichte bemerkt  haben,  wie  mir  der  Kunstgeist  dieser  oder 
jener  Periode  in  seinem  Zusammenhange  klar  zu  sein,  wie  mir 
die  Musik  und  die  bildende  und  bauende  Kunst  nur  Aeusserung 
ein  und  derselben  geistigen  Strömung  scheint."  Dieses  Princip 
hat  Ambros  in  seiner  Musikgeschichte  consequent  durchgeführt; 
es  bedurfte  aber  auch  eines  so  umfassenden  Wissens,  wie  er  es 
besass,  um  es  mit  solcher  Consequenz  durchzuführen.  Sein 

*)  Bunte  Blätter.  Skizzen  u.  Studien  für  Freunde  der  Musik  und 
der  bildenden  Kunst  v.  A.  W.  Ambros.  2  Bde.  Leipzig,  F.  E.  C.  Leuckart 


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Nachwort.  487 

Grundprincip  mag  ihn  zu  einer  oder  der  anderen  Ausschreitung 
verleitet  nahen,  man  mag  überhaupt  der  Methode  im  Aufbau 
des  Materials  nicht  immer  seine  Zustimmung  geben  können,  doch 
haben  die  Mangel  nicht  eine  solche  Tragweite,  dass  sie  dem 
monumentalen  Charakter  des  Werkes  den  geringsten  Eintrag 
thun  könnten.  Entbehrt  die  „Geschichte  der  Musik4'  auch  eines 
völlig  ausklingenden  Schluss-Accordes,  so  hat  sich  doch  der 
Verfasser  damit  ein  für  alle  Zeiten  bleibendes  und  seinen  Namen 
ehrendes  Denkmal  gesetzt. 

Die  letzten  ermuthigenden  Antriebe  sein  Werk  zu  vollen- 
den erhielt  Ambros  durch  die  warme  Theilnahme,  welche  eine 
hohe  Frau  mit  seltenem  Verständniss  seinen  Bestrebungen 
sowie  dem  Gegenstande  derselben  zuwandte.*) 

Er  hatte  öfters  den  Wunsch  geäussert,  diesen  Theil 
seiner  Musikgeschichte  jener  hohen  Gönnerin  zueignen  zu 
dürfen.  Die  Hinterbliebenen  hielten  es  für  eine  Pflicht  der 
Pietät,  die  Erfüllung  dieses  Wunsches  zu  ermöglichen.  So  möge 
denn  dieses  Buch  unter  der  Aegide  jener  an  der  Spitze  des- 
selben stehenden,  dem  Wortlaut  nach  von  dem  Verstorbenen 
herrührenden  Dedication,  in  die  Oeffentlichkeit  treten. 

Wien,  im  Mai  1878. 

- 

Eduard  Schelle. 


*)  Von  der  nämlichen  Seite  dazu  angeregt  verfaaste  Ambros  im 
Januar  1876  ein  eingehendes  Elaborat  über  die  Reorganisation  der 
Kirchenmusik  in  Oesterreich.  An  der  Verwirklichung  der  darin  nieder- 
gelegten Ideen,  die  keineswegs  in  losem  Zusammenhange  mit  den  Re- 
sultaten seiner  historischen  Studien  gestanden,  hatte  er  bereits  Jahre 
lang  im  Vereine  mit  Wilhelm  Westmejer  gearbeitet  Als  nun  endlich 
sicherer  Boden  dafür  gewonnen  schien,  wurde  Ambros  dem  Leben  ent- 
rissen und  so  bleibt  jetzt  nur  zu  hoffen,  dass  es  dem  überlebendem 
Freunde  im  Interesse  der  Kultur,  von  Staat  und  Kirche  gelingen 
möchte,  das  gemeinsam  erstrebte  Ziel  ungeachtet  der  vorhandenen,  fast 
unüberwindlich  scheinenden  Schwierigkeiten  allein  zu  erreichen. 


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Verlag  von  F.  E.  C.  Leuckart  (Constantin  Sander)  in  Leipzig. 

Bunte  Blätter. 

Skizzen  und  Stadien 

für  Freunde  der  Musik  und  der  bildenden  Kunst. 

Von 

A.  W.  Ambro». 

Jeder  Band  geheftet  M.  4,50.  —  Elegant  gebunden  M.  6.  — 

Erster  Band.  Mit  dem  Portrait  des  Verfassers.  Inhalt:  Der  Originalstoff  zu 
Weber's  „Freischütz".  —  Musikalisches  aus  Italien.  —  Deutsche  Musik  und  deut- 
sche Musiker  in  Italion.  —  Abbe1  Liszt  in  Born.  —  Carneval  und  Tans  in  alter  Zeit. 

—  Die  „Messe  solennelle"  von  Bossini.  —  Hector  Berlioz.  —  Sigismund  Thslberg. 

—  8chwind's  und  Mendelssohn's  „Melusine'4.  —  Zur  Erinnerung  an  Friedrich  Over- 
beck. —  F«StiB.  —  Wagneriana.  -  Tage  in  Assisi.  —  Im  Campo  Santo  iu  Pisa.  — 
Florenz  und  Elbflorenz.  —  Lose  Studienblttter  aus  Florens  und  dessen  Nachbar- 
schan (Oiotto;  Die  Geschieh  t*>  des  Antichrist.)  —  Von  der  Holbeinausstellung 
in  Dresden.  —  Alessandro  Stradella.  —  Bobert  Frans.  —  Musik-Beilagen. 

Zweiter  Baad.  Inhalt:  I.  Musikalisches.  Musikalische  Wasserpest.  —  Hamlet, 
Oper  Ton  Ambroise  Thomas.  —  Znmsteeg,  der  Balladencomponist.  —  Der  erste  Keim 
des  Freischutz-Textes.  —  Musikalische  Uebermalungen  und  Betouchen.  —  Franz 
Lachnor's  Kequiem.  —  Bachiana.  —  Bubinstein.  —  Halbopern  und  Halboratorien.  — 
Schubertiana.  —  Allerlei  Beethoven'sche  Humore.  —  Ein  Kapitel  von  musikalischen 
Instrumenten.  —  II.  Zur  bildenden  Kunst.  Von  Wien  nach  Nürnberg.  —  Orcagna, 
Holbein  und  Kaulbach.  —  Kaulbach's  Carton:  die  Christcnverfolgung  unter  Nero. 

—  In  den  Raphael-Sälen  de»  Vaticans.  —  III.  An*  meiner  Italienischen  Kei.sf  msppe. 
Goethe  in  Italien  und  seine  Nachfahrer.  —  Italienischer  Frühling.  —  Ein  Bilder- 
buch voll  Figuren.  —  Der  Oesundheitspass  von  Orbetello.  —  Komische  Ostern.  — 
8.  Maria  alla  mortc  in  Rom.  —  Orvieto. 


Des  Anicius  Manlius  Severinus  Boetius 

Fünf  Bücher  über  die  Musik. 

Aas  der  lateinischen  in  die  deutsche  Sprache  übertragen  und  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der 

Griechischen  Harmonik 

sachlich  erklärt  von  Oscar  Paul. 
Mit  vielen  Tabellen  und  Facsimiles.   27  Bogen  gr.  8.  Geh.  M.  16. 

Längst  hat  die  historische  Forschung  die  fünf  Bücher  aber  Musik  des  Boe- 
tius für  ein  äusserst  wichtiges  Werk  zum  Verstandnisse  der  griechischen  und 
mittelalterlichen  Musik  erklärt,  aber  auch  stets  ist  von  den  vorzüglichsten  Musik- 
gelehrten auf  die  erheblichen  Schwierigkeiten  der  umfangreichen  Schrift  hinge- 
wiesen worden,  deren  Inhalt  in  ein  kaum  aufzuhellendes  mystisches  Dunkel  gehüllt 
sei.  Bisher  wurde  niemals  der  Versuch  gewagt  durch  Uebertragung  in  eino  der 
lebendigen  Sprachen  den  Schleier  zu  lüften  und  den  Forschungen  über  die  Akus- 
tik und  die  TonayBteme  der  Griechen,  welche  B  o  eti  us  für  das  Mittelalter  gewisser- 
massen  rettete,  neue  Bahnen  zu  eröffnen.  Mit  der  vorliegenden,  ersten  deutschen 
Uebersetzung  und  den  sachlichen  Erklärungen  dazu  ist  nun  endlich  der  Litteratur 
ein  Werk  geschenkt,  welches  die  griechische  Harmonik  erschöpft  und  das  Ver- 
standniss  dor  musikalischen  Theorien  des  früheren  Mittelalters  vermittelt. 


Geschichte  der  alten  und  mittelalterlichen  Musik 

von 

Rudolph  Westphal. 

Erste  Abtheilung  XII  u.  248  Seiten,   gr.  8.    Geh.  M.  5,25. 
Dritte  Abtheilung  96  Seiten,  gr.  8.  Geh.  M.  3,75. 

Auch  unter  dem  Titel: 

Plutarch  über  die  Musik  von  Rud.  Westphal. 

Geheftet.  M  3,75. 

7 


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EDA  KUHN  LOU  MUtlC  UMMY 


3  2044  039  673  405 


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