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dol - ci pal - lo - ri per - de Tal - ba ver - mi-glia i
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Geschichte der Musik
August Wilhelm Ambros. Gustav Nottebohm, B. von Sokolowsky, Carl
Ferdinand Becker. Heinrich Reimann. Otto Kade. Hugo Leichtentritt
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HARVARD
COLLEGE
LIBRARY
MUSIC LIBRARY
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Geschichte der Musik
von
Aapst Wilhelm Ambros.
Mit zahlreichen Notenbeispielen und Musikbeilagen.
Zweite verbesserte Auflage.
Vierter Band.
Leipzig, Verlag von F. E. C. Leuckart
(Constantin Sander).
1881.
"tt^uo /V 0 . 1.3
Der Verfasser behält sieb das Hecht der Uebersetsnng in fremde Sprachen vor.
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Ihrer kaiserlichen und königlichen Hoheit
der Durchlauchtigsten Frau Erzherzogin
MARIA THERESIA
Infantin von Portugal
Digiti
der Hochherzigen Beschützerin kirchlicher Tonkunst
in tiefster Ehrfurcht und Dankbarkeit
gewidmet von
August Wilhelm Ambros.
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Vorwort.
Das vorliegende Werk ist, wie schon auf dem Titel ange-
deutet ist, Fragment geblieben. Der Verfasser ist über der
Arbeit gestorben. Es kann uns nicht die Aufgabe zufallen
noch steht es uns zu, die Ziele und Gesichtspunkte, welche
Ambros bei der Abfassung dieses Bandes im Auge hatte und
von denen er sich leiten liess, darzulegen. Wer sich darüber
unterrichten will, findet hinreichende Andeutungen in den Vor-
reden der vorhergehenden Bände. Wohl aber ist hier der Ort,
einiges über den Stand des Manuscriptes und über die Wieder-
gabe desselben zu sagen.
Das Fragmentarische macht sich an manchen Stellen
und sowohl im Verlauf längerer Abschnitte als innerhalb ein-
zelner Sätze und Notenbeispiele bemerkbar. Nach Stellen, die
im Manuscript offenbar zur späteren Ausfüllung leer geblieben
sind, lassen sich beispielsweise Lücken in den Abschnitten,
wo über Antonio Bruneiii und Zarlino die Rede ist, bezeich-
nen 1). Der aufmerksame Leser wird diese und andere im
Text vorkommende Lücken selbst gewahren. Unvollständige
Notenbeispiele finden sich Seite 333, 334, 371 (in der An-
1) Seite 331 zwischen Zeile 4 und 5 und 8. 417 zwischen Z. 25
und 26.
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ym Vorwort.
merkung), 374 u. 8. w. Ohne Zweifel würde der Verfasser,
wenn er länger gelebt hätte, die Lücken ausgefüllt und auch
manches umgearbeitet haben. Bei der Herausgabe des Werkes
jedoch kam es darauf an, dessen fragmentarische Beschaffenheit
zü bewahren und im Text nur da einen Zusatz zu machen, wo
es des Verständnisses wegen oder aus einem andern naheliegen-
den Grunde durchaus nöthig erschien. Nennenswerthe Zusätze,
die in diesem Sinne bei der Herausgabe gemacht wurden, sind:
S. 175 Z. 17 die Worte „Dann ist — zu nennen44, S. 210 Z. 20
die Worte „war etwas Gewöhnliches44, S. 215 die 2. Anmerkung,
S. 308 Z. 4. v. u. (in der 2. Anmerkung) die Worte „quae
Palilogiis44, S. 387 Z. 9 bis 6 v. il die Worte „Grossen Erfolg'4
.... bis „die Sonne44, und S. 442 Z. 1 der Anmerkung die
Worte „der Toccaten44. Von diesen Stellen stehen übrigens die
zweite und fünfte im Manuscript; nur sind sie da mit Bleistift
ausgestrichen. Die vierte Stelle betrifft ein Citat, und bei der
sechsten ist im Manuscript ein Raum zu späterer Ausfüllung
offen geblieben. Man kann also bei den meisten von den
angeführten Stellen nicht eigentlich von Zusätzen sprechen. Sie
lassen sich zum Theil eben so gut in Beziehung bringen mit
Erscheinungen, die jetzt noch zu erwähnen sind.
Ambros hat bei späterer Durchsicht des Manuscriptes sehr
viele Stellen geändert. Hierbei ist es geschehen, dass Wörter,
die der ersten Fassung eines Satzes angehören, aus Versehen
stehen geblieben, umgekehrt, dass Wörter, die zur spätem
Fassung eines Satzes gehören, vergessen sind. Ein Eingreifen
war nöthig. Welcher Art solche Stellen sind, lässt sich aus
einer der vorhin angeführten abnehmen. Welches Wort im
Zusammenhang fehlte oder überflüssig war, ergab sich meistens
^
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Vorwort. IX
aus einer Vergleichung der verschiedenen Fassungen. Erschwert
wurde diese Arbeit am meisten durch die Unleserlichkeit ein-
zelner Wörter und Stellen, welche Eigenschaft sich übrigens
auch auf andere Theile des Manuscriptes ausdehnt und welcher
zu begegnen die Benutzung der citirten Werke oder das Ein-
gehen auf den behandelten Gegenstand manchmal das einzige
Mittel war.
Ausser den mit der Nichtdruckfertigkeit zusammenhängen-
den Mangeln und Ungenauigkeiten enthält das Manuscript auch
Fehler im engsten Sinne des Wortes. Hier wurde nach der
♦
Ansicht vorgegangen, dass solche Fehler, die als Schreibfehler
zu betrachten sind oder die der Verfasser bei wiederholter
Durchsicht sehr wahrscheinlich oder ohne Zweifel selbst be-
seitigt haben wurde, bei der Herausgabe möglichst zu beseitigen
seien !}? hingegen solche, die mit dem sie umgebenden Text
verwachsen sind, stehen bleiben müssen2).
1) Ein Theil der beim Druck geänderten Stellen sei hier verzeichnet,
(links gebe ich die Lesart des Manuscriptes, in einer Klammer daneben
die beim Druck geänderte Fassung an.)
S. 337 Z. 2 f.: Vincenti in Rom (Vincenti in Venedig)
„ 420 „ 3: grosse Terz (kleine Terz)
„ 420 beim 2. Notenbeispiel: nel modo retto (nel moto retto)
„ 421 Z. 5 y. u. bis S. 422 Z. I : grosse Terz (kleine Terz)
„ 422 „ 1: kleine (grosse)
,, 422 im Notenbeispiel: gr. Terz (kl. Terz)
„ 422 Z. 8: kleinen Terz (grossen Terz)
„ 469 „ 3: Mattheson (Walther)
„ 481 „16: Paul Poglietti (Alexander Poglietti).
2) So sind z. B. die S. 417 und 418 stehenden Notenbeispiele nicht
von O. Tigrini, sondern von Scipione Cerretti. Vgl. Zacconi's „Prattica
di muaica", P. II. 163 ff. (Das Beispiel S. 419 oben ist von Tigrini.) Die
S. 454 Z. 6 ff. v. u. erwähnto Phantasie (nicht Capriccio) ist nicht von
Prescobaldi, sondern von Froberger. Vgl. A. Kircher's „Musurgia*4 I. 465.
t
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X Vorwort.
Zu bemerken ist noch, dass das Manuscript von der
Wittwe des Verfassers dem Verleger zur Veröffentlichung über-
lassen wurde und dass die ersten 8 Druckbogen von dem vor
einiger Zeit gestorbenen verdienstvollen, früheren Organisten
C. F. Becker in Leipzig, die letzten 22 von dem Unterzeich-
neten revidirt worden sind. Dass das Druckfehlerverzeichniss
so reich ausgefallen ist, wird der ein- und nachsichtige Leser
mit einigen vorhin angedeuteten Umständen in Verbindung zu
bringen wissen.
Wien, April 1878.
O. Nottebohm.
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Berichtigungen.
21
7
11
»
•
»
Seite 4 Zeile 12 v. u. ist statt Centiphonars zu lesen : Antiphonars
5
8
14
15
15
15
15
16
19
22
23
25
31
v. u. „
V. 0. ,
V. U. ,
9 v. u. „
8 v. u. „
7 v. u. „
6 v. u. „
6 v. u. .
Lungana
Scottas
adantuisset
Masonium
adagis
desumerens
Agnatam
Ex
■
*
Lungara
Scotto's
statuisset
Mutonium
adegit
desumerent
Agnetem
Et
sind Anm. 1 u. 2 mit einander verwechselt worden.
Zeile 15 v. u. ist statt faxis
41
42
44
47
49
49
50
50
53
55
57
65
66
66
67
68
70
71
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75
76
76
78
78
78
79
79
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»
i
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4
19
14
v. u. ,
V. 0. „
V. 0. ,
8 v. o. ,
2 v. u. ,
13 y. o. „
8 v. o. .
zu lesen: faxit
admettait
w
■
*
»
Ii
Tribularer
Cori spezzati
Petre indue
fontem
coelnm
Ecce tu
admettais
Tribulares
Cosi spuzzati
Petremdue
fortem
coetum
Eccetu
Anm. 1 gehört zu Seite 48 Zeile 6.
Zeile 13 v. u. muss die letzte Note (B) unter den letzten
Ziffern $ stehen.
9 v. u. ist statt vergantique zu lesen: very antique
16 v. u. ist das Komma vor ,1a serva" zu streichen.
11 v. u. ist statt compunti vi zu lesen: compuntivi
21 ist das ,,J.'* vor „Füippo* zu streichen.
14 v. u. ist statt Zusammenklingen zu lesen: Znsam-
menklingens
ist statt Part. zu lesen: Parte
„ „ kommt „ „ kramt
» * de „ , di
v. u. ist das Komma nach „schön" zu streichen.
Zeile 17
16
5
1
■
»
*
»
»
*
*
15 ist statt dem
zu lesen: der
16
3
7
2
14
v. u. ist der Punkt nach „rex* zu streichen,
v. o. s statt Bernardio zu lesen: Bernardin
v. u. ,
v. u. ,
V. 0. ,
11 u. 20 „
13 v. u. ,
17 v. o. ,
13 v. IL »
2 v. u. ,
II« V. 0. ,
19 v. o. ,
den Meister „ „ dem Meister
S. ■ ■ lu
Suffrezia , , Suffragia
Q. L. a « G. B.
den alten Grossmeistem zu lesen : dem
alten Grossmeister
Betini zu lesen: Bettini
Santin'sche , „ Santini'sche
aperuis „ „ aperuit
die Passion „ » der Passion
Bott. . . Batt.
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XII
Berichtigungen.
Seite 81
81
83
87
87
88
89
90
90
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101
101
103
103
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105
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114
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115
115
115
116
116
118
118
118
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125
125
125
125
125
125
126
126
126
126
126
128
Zeile
v. o. ist statt sex
v. u. ,
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v. o. ,
v. u. ,
22 y. o. ,
18 v. o. ,
¥. 0. ,
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V.
n.
8
Y.
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Y.
u.
3
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u.
1
Y.
n.
aportet
cum
angelli
cansando
Rinuncini
udiso
Steffonio
Ballerus
gearbeitet
in
in strumen talis
Niederschlägen
schlagen
seinen i
letztern
zu lesen:
sei
oportet
aum
angelli
cantando
Rinuccini
udito
Stessonio
Beuerns
gearbeitet«
im
instrumentale
Wieder-
seinem
Letzterm
dä
vespero
nomachieen
seinen
Persageppi
mosto
Bellabene's
in
strengen
Persageppi
avanganao
guiste
Ligius
G. L. Doni
a vera
den
Bassparts
secondi
zu dem
Tremoti
abwechselnde
clarissionus
Pers,
graziedi, tri Iii
praticale
G. L. Doni
illuis
et
ton4t zu streichen.
Narni
Persapeggi
vesperi
Dämo-
zn lesen: seinem
Persapeggi
morto
Ballabene's
im
strengem
Persapeggi
avanzando
giaste
Livius
G. B. Doni
averä
dem
Bassparte
secondo
Tremoli
abwechselnden
clarissimns
Perö
grazie di trilli
praticate
G. B. Doni
illins
etc.
porro
talionem
128
153
porra
tationem
ist im 7. Takt des ersten Notenbeispiels (im Worte -authorera*)
statt des Doppelpunkts ein Bindezeichen
zu setzen.
Zeile 5 v. u. ist der Punkt (nach dem Worte „perenne*) zu
streichen.
Zeile 3 v. a. ist statt Niciag zu lesen: Nicius
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\
■
»
Berichtigungen. XIII
Seite 178 ist der 1. Buchstabe der 4. Zeile mit dem 1. Buchstaben der
folgenden Zeile verwechselt worden.
185 Zeile 12 v. u. ist statt di zu lesen: da
185 „ 9 v. u. „ , ingftgliardare , „ ingagliardire
198 „ 7 v. u. „ „ tnma „ , prima
198 „ 6 \. u. „ B dellen „ B stellen
„199 , 18 v. u. ist nach dem Worte .pflegen" ein Semikolon
zu setzen.
, 202 ist im Notenbeispiel (Zeile 3) statt inch'el — zu lesen: in ch'el —
, 211 Zeile 4 v. u. ist das Komma vor „Poe.* zu streichen.
„ 219 Notenzeile 3 v. u. muss der erste (volle) Takt so lauten:
Seite 233 Zeile 2 ist vor dem Worte „in* das Wort „Ton* einzufügen.
„ 234 Anm. 2 Zeile 2 ist statt ne zu lesen: ne'
, 240 müssen im 1. Takt des 3. Notensysteras v. u. hinter den Halb-
noten es und b Punkte stehen.
, 276 Zeile 22 v. u. ist statt quasto zu lesen: questa
„ 282 „ 3 v. u. „ „ Epalagi „ „ E palagi
„ 282 „ 2 v. u. „ „ Ela „ „ E la
, 283 ist zu Anfang des 2. Notenbeispiels statt Conche zu lesen: Con che
„ 295 Zeile 10 v. u. ist statt 351 zu lesen: 251
„ 295 , 5 v. u. „ „ magnificentissima zu lesen: magni-
ficentissimi
„ 303 ist im Notenbeispiel Zeile 1 v. o. der Punkt nach „co-re* zu
streichen.
„ 303 muss im obern System des 2. Notenbeispiels die 3. Note des
2. Taktes eine Ganznote sein.
„ 335 muss im Notenbeispiel Takt 12 im obern System die 1. Note
eine Viertelnote sein.
„ 458 Zeile 23 v. o. ist statt fer zu lesen: der
B 463 ist im obern System des 1. Notenbeispiels statt des Taktzeichens
ein G-Schlüssel auf der 2. Linie anzubringen.
Die Berichtigung anderer Fehler, die Richtigstellung mancher falsch
angebrachter Kommata u. dgl. möge der geneigte Leser selbst über-
nehmen. Einige hin und wieder vorkommende Wörter jedoch, die nicht
so heissen können wie sie gedruckt sind, deren richtige Fassung aber
nach dem Manuscript nicht herzustellen war, müssen zweifelhaft bleiben.
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Inhalt.
Vorwort von G. Nottobohm VII
Berichtigungen XI
Inhaltsverzeichnis . ' XIV
I. Pn] estrina 1
n. Die Zeit des PalestrinaatyleB. Der italienischen Musik
grosse Periode 63
Giovanni Maria Nanini 67
Giovanni Bernardo Nanini 70
Tomma80 Lodovico da Vittoria 70
Feiice Anerio 73
Giov. Francesco Anerio 74
Annibale Zoilo 75
Rocco Rodio 75
Pietro Paolo Paciotti 76
Fabricio Dentice 77
Fr. Roussel (Rossel) 77
Giov. Andr. Dragoni 78
Annibale Stabile 78
Giov. Franc. Brissio 78
Placido Falconio 79
Arcangelo Crivelli u. s. w 79
Asprilio Pacelii 79
Rnggiero Giovanelli 79
Francesco Soriano 80
Vincenzo Ugolini 83
Fabio Costantini 84
Alessandro Costantini 84
Luca Marcnzio 85
Gregorio Allegri 90
Antonio Cifra 9S
Agostino Agazzari 99
Franzesco Foggia 101
Girolarao Frescobaldi 103
Agostino Diruta 103
Matthäus Simonelli u. s. w 103
Paolo Agostini 106
Antonio Maria Abbatini 107
Domenico Allegri n. s. w 107
Digitized by LiOOQle
Inhalt. xv
_ . „ Seit«
Orazio Benevoli H)g
Virgilio Mazzoccht j ! 5
Abundio Antonelli H7
Gregorio Ballabene . . . . ' n7
Pier Francesco Valentini . . 121
m. Der monodische Styl in Rom.
Joh. Hier. Kapsberger 125
Vittorio Loreto 144
IV. Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt 145
Emilio de' Cavalieri u. s. w 154
G. B. Doni 156
Vincenzo Galilei 157
Giulio Caccini 159
Domenico Bninetti u. s. w 175
Der Dichter 0. Rinuccini 1^2
Jacopo Peri 201
V. Die Zeit des Ueberganges.
Theatralische Aalführungen in Italien, Deutschland und
Frankreich 207
Ludus Dianae (Festspiel von C. Celtes) 211
Scenica Progymnasmata (Oomödie von Joh. Reuchlin). . 215
Ballet comique de la reine 216
Die Chromatik ,# 23i
Nicola Vicentino 234
Gesualdo Principe di Venosa 236
Der Basso continuo 24 S
Lodovico Viadana 248
VI. Die Zeit der ersten dramatischen Musikwerke.-
Der Stile rappresentativo und das Muaikdraraa der Floren-
tiner 253
J. Peri's „Euridice" und G. Caccini's „Euridice" ... 253
Giulio Caccini's „II rapimento di Cefalo" 272
Emilio de' Cavalieri's „La rapprensentazione di aniraa e
di corpo*' 275
Agostino Agazzari's „Eumelio" 280
Marco da Gagliano's „Dafne." 288
Verbreitung des neuen Florentiner Styles 294
Gir. Giacobbi's „Andromeda" 294
Francesca Caccini's „La liberazione di Ruggiero" ... 295
Intermedien in Mailand 300
Giov Boschetto-Boschetti'a „Strali d'Amore" 301
Geistliche monodische Gesänge 309
Radesca da Foggia 310
Serafin Patta 310
xvi Inhalt.
Seit«
Ottavio Darante 311
Girolamo Marinoni 311
Luigi Simonetto u. b. w 312
Bartolomeo Pesarino 312
Hymnen der Philomela angelica 314
Domenico Mazzocchi S10
Weltliche Monodieen 323
Radesca da Foggia 323
Antonio Bruneiii 330
Giov. Francesco Gapello 331
Giacomo Fornaci 334
Sigismondo d'India 335
Luigi Rossi 833
Salvator Rosa 336
Sänger und Sängerinnen 337
Vittorio Loreto u. s. w 337
VII, Claudio di Monteverde.
Monteverde 353
Francesco Cavalli 37 t
Giulio d'Alessandri 400
vm. Theoretiker und Lehrer 407
Gioseffo Zarlino 407
Orazio Tigrini 4t7
Lodovico Zacconi 418
Giov. Maria Artusi 419
Girolamo Diruta 420
Adriano Banchieri u. 8. w 42»
FEancesco Patrizzi u. 6. w 428
IX. Die italienischen Organisten 433
Ottavio Bariola u. s. w 433
Adriano Banchieri 435
Girolamo Frescobaldi 438
Johann Jacob Froberger 463
Giov. Battista Faaolo 480
Bernardo Pasqnini 481
Nachwort von Eduard Schelle 483
I
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I
Geschichte der Musik
im Zeitalter der Renaissance
I
von Palestrina an
von
August Wilhelm Ambros.
Fragment.
■
? Leipzig
F. E. C. Leuckart
(Konstantin Sander).
1878.
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HARVARD L^VIRSITY,
Department ü. feie,
Druck ron Hundertstuml 4 l'rie* iu L« >1| zi«
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I.
Palestrina.
Ainbroi, Geschichte der Musik. IV.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Südöstlich von Rom, in einer Entfernung von etwa achtzehn
Miglien, dem Blicke von der Höhe des palatinischen Hügels
erreichbar, steigt an der Lehne eines Kalksteinberges eine graue
Masse von Häusern hinan; die Stadt Palestrina, das uralte Prä-
neste, dessen Gründung Über Alba longa und Rom hinausreicht —
im Alterthume der Sitz eines berühmten Orakels, im Mittelalter
Resitzthum der Colonna, deren Schloss noch jetzt von seiner
Höhe herabblickt auf die weite römische Campagna, mit der in
bläulicher Ferne gelagerten Weltstadt Rom und dem einsamen
Soracte im Hintergrunde. Wer", sagt Gregorovius, „dieses An-
blicks geniesst. dieser erhabenen Landschaft, dieses azurnen Him-
mels und seiner klaren Lüfte, mag bei seiner eigenen inneren
Regung sich gerne erinnern, dass Palestrina der Geburtsort jenes
grossen Meisters der Kirchenmusik ist, welcher von dieser Stadt
den Namen trägt."
Giovanni Pierluigi da Palestrina wurde dort nach der
gewöhnlichen Annahme 1524 geboren, neuerlich wird behauptet:
um zehn Jahre früher, schon 1514.1) Der kleine Pierluigi soll,
nach Cecconis Angabe, als Betteljunge in den Strassen Roms
herumgesungen haben, bis er die Aufmerksamkeit des Kapell-
meisters von S. Maria maggiore erregte. Nach einer anderen
x) Der Herausgeber des 1594 erschienenen siebenten Buches der
Messen Palestrina's, sein Sohn, sagt in der Vorrede : Pater meus, septua-
ginta fere vitao suae annos Dei laudibus componendi consuraens." Dar-
nach rechnet Baini obiges Jahr heraus. Baini's Schüler Cicerchia, welcher
in Palestrina's Geburtsort Nachforschungen anstellte und dort viele Docu-
menta copirte, deren Publication von seiner Seite ganz unbegreiflicher
Weise unterblieb, gab in mündlicher Mittheilung an : Palestrina's Familien-
name sei Sante gewesen, sein Vater habe, wie er, Pierluigi, die
Mutter Maria Gismondi geheiasen — geboren sei er 1514 - so dass also
jene „siebenzig Jahre" buchstäblich zu verstehen wäron, indem der grosse
Meister nicht schon als Wickelkind, sondern mit etwa zehn Jahren Musik
zu treiben angefangen.
4
Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Version geschah letzteres bei einer musikalischen Aufführung,
bei welcher Pierluigi als Singknabe durch seine schöne Stimme
und sein sich entschieden bemerkbar machendes Talent auffiel.
Der Kapellmeister soll sich fortan um seine Ausbildung ange-
nommen haben.
Sicherer als diese schwankenden Angaben ist es, dass Pier-
luigi zu Rom in die Schule Claude Goudimels1) kam, und hier
wurde der Grund zu jener Meisterschaft gelegt, welche ihn be-
fähigte, seine himmlischen Inspirationen in fest umrissene musi-
kalische Gestaltungen zu fixiren. Man sagt: „Palestrina", wie
man „Raphael" sagt — mit dem Namen ist Alles ausgedrückt.
Er nimmt für die Musik eine sehr analoge Stellung, wie Raphael
Sanzio für die Malerei. Gleich diesem ist er der Abschluss einer
langen vorangegangenen Kunstentwickelung. Für den Maler
werden Zeichnung und Farbe Boten des Göttlichen — in der
irdischen Gestalt spiegelt sich der Abglanz des Himmels — der
Ton des Musikers löset sich vom Irdischen los und steigt wie
der Duft reinen Weihrauches zum Himmel empor — der ver-
wehende Klang wird zum Träger des Ewigen.
An Pierluigi's äusseren Schicksalen hat ein Biograph nicht
viel zu erzählen. Er hat in Rom gelebt, rastlos gearbeitet, er
sah eine Reihe von Päpsten — von Leo X. bis Clemens VIII.
nicht weniger als fünfzehn — darunter die verschiedenartigsten
Charaktere, den Thron besteigen, er starb endlich am 2. Februar
1594 als hochbetagter Greis. Zur Zeit Pius IV. tritt er mit seiner
Missa Papae Marcelli einen Moment lang in eine auch äusserlich
glänzende Beleuchtung. Als er stirbt, schreibt man ihm auf den
Sarg die Worte: „Joannes Petrus Aloysius Praenestinus, Musicae
Princeps". An Fruchtbarkeit wetteifert er mit seinem Zeitgenossen
Orlando Lasso: Messen allein hinterlässt er 78 — dazu Motetten
für alle Feste des Jahres, Hymnen für's ganze Kirchenjahr, La-
mentationen, Offertorien für's Kirchenjahr, Magnificat nach den
acht Kirchentönen u. s. w. Gregor XIII. bürdet ihm zu alle dem
noch die Revision des römischen Graduals und Antiphonars auf,
eine Riesenarbeit, an welcher er, trotz der Mithülfe seines Schülers
Guidetti erlahmt — bei seinem Tode findet sich nur das Gradual
„de tempore" abgeschlossen. Der glänzendste Genius, der fleis-
sigste Mensch, der einfache Bürger — und doch waren seine
Glücksumstände, der gewöhnlichen Meinung nach, nichts weniger
als glänzend — in der an Sixtus V. gerichteten Dedication
seines „Lamentationum über primus cum quatuor voeibus et
privilegio Sixti V Summi Pontificis" (Rom 15SS) klagt er bitter
!) Antonio Liberati nennt den Lehrer: Gaudio Mel. den Namen
„Claudio Goudimel" seltsam zusammenziehend und corrumpirend. Burney
gerieth darüber in Zweifel, welche Baini überzeugend widerlegt hat.
Digitized by Google
Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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über den Druck der sein Lebelang erlittenen Noth, welche ihn
gleichwohl nicht verhindert habe, der Musik allen Fleiss und
alles Studium zuzuwenden, selbst am Notwendigsten habe es
gemangelt, über welches hinaus ein Genügsamer doch nicht mehr
begehre. Er weist auf die grossen Auslagen hin, welche ihm
der Druck seiner musikalischen Compositionen verursacht habe —
eine beträchtliche Zahl von Tonwerken sei veröffentlicht, die
Drucklegung einer sehr grossen Anzahl anderer werde nur durch
seine Armuth verhindert u. s. w. Wirklich wurden von den
zwölf Büchern (Messen; nur sieben vom Componisten selbst ver-
öffentlicht, das siebente, auch von ihm selbst zur Drucklegung
vorbereitete Buch, erschien erst nach seinem Tode. Zwölf Messen
sind bis heute ungedruckt geblieben. Als Palestrina sein Ende
herannahen fühlte, rief er seinen Sohn Iginio an sein Kranken-
lager: „Mein Sohn", sagte er; „ich hinterlasse eine grosse Anzahl
bisher nicht veröffentlichter Werke; — Dank dem Grossherzog
von Toscana, dem Cardinal Aldobrandini und dem Abt von
Baume — hinterlasse ich Dir auch so viel als zur Bestreitung
der Drucklegung nöthig ist — ich lege es Dir ans Herz, letzteres
so bald als möglich zu veranstalten — zum Preise des Allmäch-
tigen und zur würdigen Feier des Gottesdienstes."
Was wir von den Besoldungen Palestrina s wissen, lautet
kläglich genug. Hätte Palestrina, wie neuerlich auf mündliche
Angaben Cicerchia's hin behauptet worden, in behaglichen Ver-
hältnissen gelebt, drei Häuser in der Lungara besessen, seinen
Töchtern ein anständiges Heirathsgut mitgegeben, verschiedene
Grundstücke gekauft u. s. w.1), so wäre es rein unbegreiflich,
wie er gegenüber dem Papste — und obendrein Sixtus dem
fünften, der sich keinen blauen Dunst vormachen Hess, und in
keiner Beziehung Spass verstand — hätte eine Sprache fuhren
können , wie in jener Vorrede. Es ist nicht anzunehmen , dass
er nachträglich wohlhabend geworden. Denn als er jene Worte
schrieb, war er ein Greis von 74 Jahren und hatte nur noch
sechs Jahre zu leben.
Palestrina begann angeblich 1544 seine eigentliche künst-
lerische Laufbahn nach überstandener Lehrzeit — etwa im
dreissigsten Lebensjahre , denn am 26. Februar 1551 schied der
„maestro de putti della cappella Giulia" — Franz Koussel —
1) Cicerchia soll übor Alles dieses Urkunden aufgefunden und copirt
haben. Aber 63 sind seit dem „Fund*' 15 bis 20 Jahren hingegangen
und wir harren bis heute der Publikation so wichtiger und interessanter
Documente vergebens. Und doch wäre der wirkliche Inhalt der Schrift-
stücke das Entscheidende. So lange uns aber nicht der Worttext der
Urkunden vorliegt, und letztere eine kritische Prüfung bestanden haben,
sind diese Notizen für uns werthlos.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
auch Roöseli genannt — ans seiner Stellung und von Rom
(„discessit ab urbe" heisst es in den Registern der Capelle). Pa-
lestrina widmete dem Scheidenden einen Abschiedsgesang und
wurde Roussel's Nachfolger; nebstdcm ertheilte ihm das Kapitel
von St. Peter den Titel: „Maestro della cappella della Basilica
Vaticana."
Drei Jahre später — 1554 — erschien Palestrina s erstes
gedrucktes Werk, ein Buch Messen, unter dem Titel: „Ioannis
Petri Aloisii Praenestini, in Basilica S. Petri de Urbe Capellae
magist ri: Missarum liber primus." Rs enthält die vierstimmigen
Messen: Ecce Sacerdos magnus; 0 regem coeli; Virtute magna\
Gabriel Archangelust und die fünfstimmige Messe: ad coenam agni
providi (zweite Auflage 1572, der dritten, 1592 erschienenen,
wurde die fttnfsthnmige Missa pro Defunctis und eine Messe sine
nomine zu sechs Stimmen beigegeben). Palestrina hatte an die
Composition eine besondere Sorgfalt gewendet, er bezeichnet sie
in der Dedicationsvorrede an Julius III. als rhythmi exquisitio-
nes".1 Der Lohn blieb nicht aus. Julius III., welcher vielleicht
gleich in dem einleitenden „Ecce sacerdos magnus14 eine schmei-
chelhafte Anspielung finden mochte, berief am 1. Januar 1555
Palestrina in die päpstliche Capelle — unter Nachsicht der strengen
Prüfung, welche eben er in einem Motu proprio vom 5. August
1553 für die in die Capelle aufzunehmenden Sänger vorgeschrieben
hatte.2) Palestrina's bisherige Stelle bei der Peterskirche ging auf
Johannes Animuccia über.
Ein Buch Madrigale, welches in eben diesem Jahre 1555
erschien, soll dem Tonsetzer viele Vorwürfe und Anklagen wegen
der „anstössigen und leichtfertigen Texte" zugezogen haben, und
man könnte daran glauben, wenn man in der an Gregor XIII.
gerichteten Dedicatiosvorrede der Motetten aus dem hohen Liede
liest, wie Palestrina sein Pater peccavi anstimmt: „Erubesco et
doleo — sed quando praeterita mutari non possunt, nec reddi
infecta. quae facta jam sunt" u. s. w.3). Zum Glücke liegen uns
1) Wie Baini aus diesem Worte folgern kann, Palestrina habe an-
deuten wollen, dass diese seine Messen alle früheren Leistungen der Musik
übertreffen, ist einigermassen unbegreiflich.
2) In den Tagebüchern der päpstlichen Capelle heisst es: 13. Januarii
1555 die Dominica fuit admissus in novum cantorem Joannes de Palestrina
habebamus et absque consensu cantorum ingressus fuit.
3) Auch schon Morales, der herb-grossartige Spanier, spricht sich
in der an Paul III. gerichteteten Widmung des zweiten Buches seiner
Messen in ähnlichem Sinne ans — er sagt von der Musik : „ouod e coele-
stium orbium ratione ad coelestium Deique Opt. Max. lauctes canendas
deducta est, atque in mentes nostras ünmissa divinitua. Quamobrem
plerumque damiratus sum, cur eam ipsam maxima musicorum, praecipue
aetatis nostrae, pars ad ineptias converterit, atque utinam non etiam ad
obscoena: perpaucique ea, ad quae instituta est, utantur. Cum eximiae,
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Giovanni Pierluigi da Palestrina. 7
die Madrigale noch vor — mit Ausnahme jenes an Franz Roussel
gerichteten sind es — ohne eine Spur von Anstössigkeit oder
Leichtfertigkeit — die herkömmlichen Liebespoesien , das An-
schwärmen weiblicher Schönheit u. s. w. Wie sehr aber hatten
sich die Verhältnisse in Rom allmälig geändert! Nach dem Rausch
der Tage Leo X. kam der Rückschlag. „Dem Uebermaasse der
Genüsse des Geistes folgten Trübsinn und Uebersättigung." Leo X.
war ein wahrer Kunstsybarit gewesen, ein Schwelger in Kunst-
schönheit — er lebte gerne und Hess leben. Der ernste tugend-
hafte Hadrian VI. wurde von den Römern offen verhöhnt — ein
„niederländischer Barbar". Aber schon die entsetzliche Kata-
strophe des „Sacco di Roma" — worin die Besseren und Be-
sonneneren — wie Sadolet in seinem Briefe an Clemens VII.
unverholen ausspricht, ein wohlverdientes Strafgericht Gottes
erblickten, hatte 1527 den Dingen eine wesentlich andere Wen-
dung gegeben; in Deutschland gewann die Reformation immer
mehr Boden, das Geschrei nach „Reform an Haupt und Gliedern"
wurde auch innerhalb der Kirche immer dringender.
Die „gute Gesellschaft" in Rom war als gelehrige Schülerin
des extremsten Humanismus, wie ihn Pomponius Latus repräsen-
tirt, durch und durch mit classisch-heidnischen Elementen durch-
setzt gewesen — jetzt fing sie wieder an, ihr „Confiteor" und
„Credo4* anzustimmen. Wie es in Zeiten der Reaction immer
geht — die Zügel wurden jetzt straff, und um so straffer ange-
zogen, je ungebundener und lockerer es früher zugegangen war.
Und so wird es erklärlich: dass man dem armen Pierluigi seine
unschuldigen Madrigale zum Verbrechen anrechnete, und dass
er selbst mit so vieler Zerknirschung davon redet.
Wie nun vollends der strengste aller Cardinal c. der fast
achzigjährige Erzbischof Giampietro Caraffa von Neapel, 1555
als Paul IV. den päpstlichen Thron bestieg, schien Rom das
directe Gegentheil dessen werden zu wollen, was er unter Leo X.
gewesen. Pius V. bewährte sich als „der vornehmste Vertreter
der Zeit des Kampfes und der beginnenden Wiedergeburt." Dass
nun Alles dieses auf Palestrina, der recht eigentlich im Zeitraum
dieser Bewegungen lebte und webte, und auf den Weg, den
seine Kunst einschlug, den allergrössten Einfluss geübt, ist wohl
zweifellos. Ein päpstlicher Capellmeister, welcher sich, während
ein Paul IV., ein Pius V. auf dem Throne sass, hätte einfallen
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praestantisaimaeque hu jus artia vice dolorem, eorumque ingratum animum
in Deum, tanti hujus muneris largitorem, com meo ipso animo detestarer :
constitui pro viril i parte ei succurrere, totumque Studium meum, atque
operam, quam in hanc diseiplinam impendi, in divinis laudibus canendis
ponere atque collocare." Die oben im Texte mitgetbeilten Worte Pale-
atriua's sind ein Echo des Spaniers.
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s
Giovanni Pierluigi da Palestrina.
lassen, das Goldhaar und die Sternenaugen einer Schönen ma-
drigalesk zu besingen, würde sich selbst den Tod und das Gericht
componirt haben — oder aber er hätte nach Venedig auswandern
müssen, wo mau an dem bussfertigen Trauern in Sack und Asche
nie sonderlichen Geschmack gefunden: — wie denn wirklich ein
zweites Buch Madrigale von Palestrina 1586 nicht in Rom son-
dern in Venedig bei Girolamo Scotto's Erben erschien. Es ist aber
eben diesen Umstanden vielleicht auch zu danken, dass Palestrina
»eine ganze Kraft und Thätigkeit der geistlichen Musik zuwendete,
und so der erste aller Kirchencomponisten wurde. Schon unter
Paul IV. sollte Palestrina in sehr empfindlicher Weise fühlen,
dass das Oberhaupt der Kirche jetzt ganz anders denke, als
weiland Julius III., Palestrina's Gönner gedacht. Der greise Paul
wiederholte bei jeder Gelegenheit sein Lioblingswort „Riforma,
riforma" — er wollte eine eiserne Disciplin einführen, „reforrairen",
ob es biege oder breche — wobei er mit rücksichtsloser Strenge
vorging. — War für Leo X. die Kunst das Erste und fast das
Einzige gewesen, so war sie Paul IV. vollständig gleichgültig.
In den Sängern der päpstlichen Capelle sah er nur Kleriker der
Kirche, nicht Künstler. Er fand darin, dass drei davon ver-
heirathet waren, „ein Scandal des Gottesdienstes und der heiligen
Kirchengesetze.'' Schon die Erwartung der päpstlichen Resolution
warf den armen Palcstriua auf das Krankenlager; vierzehn Tage
später, am 30. Juli 1555, erfolgte das päpstliche motu proprio,
womit der Capellensänger Lionardo Barre von Limoges ohne
Rücksicht auf seine langjährigen treuen und ausgezeichneten
^ Dienste, Domenico Ferrabosco ohne Rücksicht auf die um der
päpstlichen Capelle willen von ihm verlassene Capellmeisterstelle
von S. Petronio in Bologna, Palestrina ohne Rücksicht auf den
Wunsch Julius' III., der ihn aus einer guten Versorgung in die
■ Capelle berufen, mit einer Pension von mouatlich 5 Scudi 13 Ba-
jocchi ihres Dienstes entlassen wurden. Und nicht genug daran,
mit der dem greisen Paul in allen Dingen eigenen excentrischen
Uebertreibung erfolgte diese Entlassung in der härtesten Form.
Palestrina erhielt aber schon am 1. October 1555 die Berufung
als Capellmeistcr bei der Lateranensischen Basilica. Als Musik -
leiter des Laterans componirte er die berühmten Improperien, die
in ihrer wundervollen Einfachheit so unwiderstehlich ergreifen,
und durch welche er sich die Gunst Pius' IV. errang Paul IV.
war am 18. August 1559 gestorben). Am 1. März 1561 erhielt
Palestrina die etwas einträglichere Capellmeisterstelle bei der
Liberianischen Basilica (St. Maria Maggiore). In die Zeit seiner
zehnjährigen Dienstleistung bei dieser Kirche (bis 31. März 1571;
fallt seine berühmte Rettung der Kirchenmusik vor dem ihr
drohenden Bannfluche. Die Beschuldigungen, welche sich gegen
die Figuralmusik erhoben hatten, waren zu laut geworden, als
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Giovanni Picrluigi da Palestrina.
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dass das ebendamals tagende trideutiuer Concil nicht auch die
Frage hätte anregen sollen, ob die Figuralmusik als Kirchenge-
sang überhaupt noch zu dulden, oder ob letzterer ganz streng
auf die alten völlig einfachen Gregorianischen Intonationen be-
schränkt werden solle. Der Katholicismus sollte allüberall restau-
rirt weiden, auch im Kirchengesange. Man war geneigt, in all'
der reichen Kunst, die sich auf und um den allein authentisch
gutgeheissenen Gregorianischen Gesang aufgebaut hatte, eine grosse
Verwirrung, einen verwerflichen Auswuchs zu erblicken. Wie bei
der Geistlichkeit in Klöstern und endlich bei allen Mitgliedern
der Kirche im weitesten Sinne die alte Zucht und Ordnung her-
zustellen, den Kitus zu reinigen, für ihn ein für allemal' eine un-
verrückbare Ordnung festzustellen sei, wurde ernstlich in Ucber-
legung gezogen. Die Musik, oder vielmehr der Gesang, und zwar
ganz eigens der Gregorianische Gesang hatte nun von jeher für
einen wesentlichen Theil des Kitus, nicht bloss als zufalliger,
entbehrlicher Schmuck des Gottesdienstes gegolten. Die reichen
uud kunstvollen Figuralcompositionen waren nun freilich — neben
den weltlichen Liederweisen, an denen man jetzt unter also be-
wandten Umständen das höchste Aergerniss nehmen musste —
über Gregorianische Antiphonenmotive, Messenmotive, über alt-
geheiligte Hymnen oder in den Kirchengesang eingeführte Sequen-
zen componirt; aber so wie die weltliche Liedermelodie im Stimmen-
gewebe verschwand und somit aufhörte anstössig zu sein (nur
der anstössige Name blieb), so verschwand auch die Gregorianische
und hörte auf durch sich selbst erbaulich zu wirken. Ver-
schnörkelten vollends die Sänger ihre Parte mit sogenannten
Diminutionen, so verschwand jede, auch die kleinste Spur des
autorisirten Gregorianischen Gesanges. Selbst der Fauxbourdon
deckte ihn schon fast bis zum Unkenntlichen. Ihn wieder hör-
und vernehmbar zu machen und ihn in der ursprüglichen Rein-
heit herzustellen, war also das letzte Ende und Ziel der ange-
bahnten Keformirung, nicht aber eine Verbesserung des Musikstyles
im künstlerischen Sinne. Man muss durchaus den Gesichtspunkt
festhalten, dass die Kirche nach ihrem innersten Wesen keine
speeifische Kunstanstalt sein konnte. Die Kunstliebe von Päpsten
wie Julius II. und Leo X. hatte allerdings diese Seite der Ent-
wicklung kirchlichen Lebens mit grösster Vorliebe in den
Vordergrund gerückt. Der Rückschlag konnte nicht ausbleiben.
Schon Leo's X. Nachfolger, der fromme, gelehrte Professor von
Löwen, der als Hadrian VI. den päpstlichen Thron bestieg, rief
beim Anblicke des Laokoon: „Sunt idola ethnicorum" ; aber
Hadrian war ein Papst, wie ihn die Kirche brauchte, worüber
man ihm die mangelnde Kunstkennerschaft sehr zu Gute halten
kann. Paul IV. liess in der Sixtinischcn Capelle vor der Giganten-
welt Michel Angelo's den unwilligen Ausruf hören: „ob das ein
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\Q GioTanni Pierluigi da Palestrina.
#
Gotteshaus oder eine öffentliche Badestube sei!" Mit Mühe wurde
das jüngste Gericht durch Daniel's von Volterra Uebermalung
einzelner Nacktheiten vor dem Urtheilssprucbe des Herunter-
schlagens bewahrt. Geht man auf den Grund der Ausmalung
der Kirchen u. s. w. von Altersher zurück, so ist es in letzter
Instanz wohl Kunstdrang und Zierlust *), was sie hervorrief ; aber
der ausdrücklich betonte Grund blieb der Lehrzweck, an die
Heiligen und die heiligen Begebenheiten auch die des Lesens
unkundigen Kirchenbesucher zu erinnern. Daher wurde die Compo-
sition der Bilder ein- für allemal beibehalten2), die Begebenheit
sollte dem Beschauer in gewohnter Anordnung vorgeführt, er
sollte nicht durch mannigfache Composition derselben Scene irre
gemacht, ihm nicht zugemuthet werden etwas zu errathen — es
sollte ja für die Unwissenden und Geistesarmen dienen — nicht
dem Künstler etwa Anlass bieten durch originelle Auffassung zu
glänzen. Aehnlich ist auch der Gregorianische Gesang zu ver-
stehen: er sollte der Gemeinde die Worte des Ritus in ganz be-
stimmten, immer gleichem Klange entgegentragen, er sollte sie
ferner nur um desto hörbarer, verständlicher machen; denn die
Worte waren die Hauptsache, die Musik nur die vermittelnde
Trägerin. Wo sie eigene Bedeutung ansprach, in grossen, kutist-
voll verschränkten Tonsätzen den einfachen Gang der authenti-
schen Urmelodie untergehen liess und die blanke Verständlichkeit
des Textwortes perturbirte, konnte sie freilich nicht mehr jenem
Zwecke entsprechend genannt werden. Es ist ganz begreiflich,
dass es nur in dem mumisirten byzantinischen Staate glücken
konnte einen solchen eigentlich kunstwidrigen Standpunkt festzu-
halten ; in der abendländischen Kunst lag zu viel Lebenskraft und
Zukunft; diese kräftige Pflanze sprengte das einengende Gefäss
und schlug im hellen Sonnenlichte nach allen Seiten in Zweig
und Blüten aus. Die abendländische Kirche fand dieser freieren
Auffassung , dem Wesen des lebendigmachenden Geistes nicht
entgegenzutreten, sie begnügte sich die Bewegung zu leiten und
hatte an der immer herrlicher leuchtenden christlichen Kunst,
welche jetzt schon der antiken als Rivalin entgegentreten konnte,
ihre Freude.
Wo nun einmal das Schöne sich so weit emaneipirt hatte,
dass es um seiner selbst willen erscheinen durfte, wobei freilich
noch immer die Heiligengestalt, die biblische Begebenheit die An-
schauung des Schönen zu vermitteln hatte, war es ganz natür-
lich, dass man nach dem abstracten Schönheitsideal der Antike
griff, und dass endlich die Zeit, wo sich das anfängliche Verhält-
1) „Doniine dilexi decorem domus tuae."
2) Vergl. Kuglers Gesch. der Malerei. 2. Aufl. 1. Bd. S. 64.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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niss umkehrte, dass statt die an sich gleichgiltige Kunst zur
blossen Trägerin des an sich werthvollen Erbaulichen zu machen,
vielmehr gerade umgekehrt das an sich gleichgiltig angesehene
Erbauliche zum blossen Träger der an sich werthvollen Kunst
wurde. Die Musik konnte sich freilich nicht antikisiren — jede
Spur echter antiker Tonkunst war längst verloren ; aber sie eman-
cipirte sich durch sich selbst, und zwar zu einem Grade, der An-
stoss erregte. Dies ist im innersten Kerne die sogenannte
„Entartung der Kirchenmusik'1 im 16. Jahrhunderte,
und man muss bei deren leidenschaftlichen Anklagen
nie vergessen, dass sie meist von unmusikalischen
— des Kunstsinnes ermangelnden, obwohl wohlmei-
nenden Bischöfen, Gelehrten u. s. w. erhoben wurden,
denen der Ritus, aber nicht entfernt die Kunst, am
Herzen lag.
Leo X. hatte auch in der Musik geschwelgt; er pflegte die
Motive und Gänge leise mitzusummen, während seine Capelle
sang. Carpentras und Mouton waren neben dem allbewunderten
Josquin seine Lieblinge. Auch hier blieb die Reaction nicht aus.
Wie jene folgenden Päpste im Laokoon ein Götzenbild, in den
Fresken der Sixtina nur Nuditäten sahen: so fand man in den
kunstvoll figurirten, fugirten Messen, Psalmen, Vespern eine schmäh-
liche, ja frevelhafte Ausartung echten Kirchengesanges.
Die Entscheidung der Reformationsfrage war leicht: man
brauchte nur Alles eben auf den strengen Gregorianischen Kirchen-
gesang zu reduziren. Wie wäre das aber in dem Jahrhunderte
der schönsten Kunstblüte möglich gewesen?
Die strenge Restaurirung des eigentlich zum Ritus gehörigen
Gesanges konnte sich zum Glücke und hauptsächlich nur in einer
Revision der rituellen Gesangbücher bethätigen, was wieder das
Gewitter von der Figuralmusik einigermaassen ablenken half.
Darum übertrug Gregor XIII. dem Palestrina eine strenge Revision
des Directorium Chori nach den ältesten und besten Handschriften
der Vaticana, eine Arbeit, welche der Bolognese Johannes Gui-
detti 1582 vollendete.1) Darum Hess Paul V. das Graduale
1) Das Werk erschien unter dem Titel „Directorium Chori ad usum
sacrosanctae Basilicao Vaticanae', et aliarum cathedralium et collegiata-
rnm Ecclesiarnm collectom opera Johannis Gaidetti Bononiensis, ejusdem
Vaticanae Basilicae clerici beneficiati et SS. D. N. Gregorii XIII. capellani.
Permissu Superiornm. Romae apud Robertum Granjon, Parisiensera, 1582."
Spätere Auflagen : 15S9, 1600, 1604, 1642 (letztere von D. Florido Silvestri
de Barbarano, Canonicus, revidirt), 1665 (revidirt und vennehrt von Nie.
Stamagna, Capellmeister bei St. Maria Maggiore). Die neueste Ausgabe
erschien 1737 zu Rom in der Vatic. Buchdruckerei. Diesem Werke liess
Guidetti folgen: 1566, Cantus ecclesiasticus passionis Domini nostri Jesu
Christi secundum Matthaeum, Marcum, Lucam et Joannem juxta ritum
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Giovanni Pierluiggi da Palestrina.
durch Buggieri Giovanelli neu redigiren. ') So wie man
bestimmte, der lateinische Text der Bibelübersetzung des hl. Hiero-
nymus, die sogenannte Vulgata, habe fiir die katholische Kirche
als der echte, wahre Bibeltext zu gelten: so sollten diese revi-
Uirten, neu redigirten Gesangbücher den Kirchengesang regeln
und vor jeder willkürlichen Abweichung bewahren. Paul V. Hess
diese von Giovanelli besorgte Bedaction in der Medicei'schen
Druckerei zu Bom mit von deren Leiter Giov. Batt. Baimondi
besorgten neuen Typen prächtig drucken — sehr zum Verdrusse
der speculativen Venezianer, wo man als Privatarbeit eine ähn-
liche Neuredaction durch die berühmten Meister Giov. Gabrieli,
P. Lodovico Balbi und Orazio Vecchi hatte vornehmen und das
Graduale in Peter Lichtenstein's und Angelo Gardauo's Buch-
druckerei in schöner Ausstattung hatte an's Licht treten lassen.2)
Diese Bedactionen bilden fast den wichtigsten Theil der durch
das Tridentinum vermittelten vielbesprochenen Musikreform — sie
gehen, wie man sieht, den blanken Ridualgesang an.
Indessen konnte auch die Figuralmusik, welche eine so grosse
Bolle spielt, so beliebt sie war und von Meistern allerersten Banges
betrieben wurde, der Aufmerksamkeit des Concils nicht entgehen.
Ganz besonders musste von dem Standpunkte, den man einnahm,
die Unverständlichkeit der Texte Anstoss erregen: man setzte
capellae SS. D. N. Papae etc. — 15S7, Cantus ecclesiasticus officii majori»
hcDdomadao juxta ritum u. s. w. 1588, Praefationes in Cantu tirmo, juxta
ritum Sanctae Romanae Ecclesiae emendatae.
1) Diese Bedaction Giovanelli's erschien unter dem Titel: Graduale
de tempore juxta ritum Sacrosanctae Romanae Ecclesiae oum Cantu, Pauli
Y. P. M. jussu reformato. Cum Privilegio. Romae ex typographia Medi-
caea, anno 1614. Graduale de Sanctis, juxta u. s. w. 1615.
2) Gradualo Gloria Christo Domino Amen. Graduale Saero3anta«
Romanae Ecclesiae integrum et completura tarn de tempore quam de
Sanctis juxta ritum Missalis novi ex decreto Sacrosancti Concilii Triden-
tini ristituti et Pii Quinti, Pontiticis maxiroi jussu editi: nunc primum
accuratissime impressum summaquo diligentia tarn in textu, quam in Cantu
emendatnm. Cum Kyriali moaulationes omnos continente, quibus in
ipsia , Hymno Angelico ac svmbolo decantando Romana utitur Ecclesia.
Venetiis ex officina Petri Liechtenstein, latine: lucidus lapis Patricii Agrip-
pinensis. Anno Christi redemptoris 1580. - Graduale Romanum, juxta
ritum raissalis no?i ex decreto Sacrosancti Concilii Tridantini restituti.
Cum additione Missarum de Sanctis ut in praeeepto SS. D. N. Sixti Papae
V patet. Nuperrimo impressum et at multis erroribus, temporis vetustate
lapsis, magno studio et labore multorum exeellentissimorum musicorum
emendatum. Una cum Kyriali, Hymno Angelico, Symbolo Apostolorum,
ac modulationibu8 Omnibus, quibus utitur Sacrosancta Ecclesia Romana.
Venotiis, apud Angolum Gardan um 1591. — Das officielle römische Gradual
Paul des Fünften schlug natürlich diese venezianischen Ausgaben, obwohl
Giovanelli's Arbeit nicht gerade vorzüglich ist. Fetis (Biogr. univ. 4.
Dand S. 12) bemerkt; ,,J'ai vu avec rogret que Giovanelli s'e9t dcarte, en
b^aueoup de passages, des bonnes lecons des anciens raanuscrits."
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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ganz auf Rechnung der Kunstweise, was zum grossen Theile Folge
ungeschickter TexÜegung und ungenügender Vocalisation von
Seiten der Sänger war.1)
Wenn jeder einzelne Sänger den Text zerrte, zerstückte,
Worte wiederholte oder ausliess, wenn vollends fremde Texte,
nach dem Beispiele der Tropen, eingemischt wurden: so ist es
begreiflich, dass dem Zuhörer in dem Durcheinander von Stimmen
und Textsylben nur ein unverständliches Chaos geboten wurde.
Die missbilligenden Aeusserungen besonders aus den Reihen der
Kirchenvorsteher mehrten sich denn auch und wurden nicht selten
zu leidenschaftlichen, geradezu übertriebenen Anklagen. Der be-
kannte Cornelius Agrippa von Nettesheim hat ein sonderbar miss-
launiges Büchlein geschrieben. „Von der Unsicherheit und Eitelkeit
aller Wissenschaften und Künste" — wo denn im 17. Capitel
auch die Kirchenmusik in folgender Weise geschildert wird:
„Heutzutage ist die Zügellosigkeit der Musik in den Kirchen so
gross, dass man zugleich mit dem Messtexte auf den Instrumenten ^
üppige Liedeleien zu hören bekömmt, und beim Gottesdienste die
für schweres Geld gemietheten liederlichen Musiker ihre Gesänge
nicht zur Erbauung der Anwesenden und zur Geisteserhebung
aufTühren, sondern zur Erregung der schlimmsten Sinnlichkeit,
nicht Menschen- sondern Thierstimmen hören lassen; denn hier
wiehern Knaben den Discant, andere brüllen den Tenor, andere
bellen den Contrapunkt, wieder andere blöken den Alt oder
brummen den Bass. So hört man Töne im Ueberfluss, aber vom
Texte kein Wort." Ruhiger, dabei aber weit eindringlicher sind
die Worte des Bischofs von Ruremonde, Wilhelm Lindanus, der
sich beklagt dass er oft bei der angestrengtesten Aufmerksamkeit v
zu verstehen was man denn eben singe, auch nicht ein einziges
Wort habe unterscheiden können, „so war alles mit Wiederholun-
gen der Sylben durchmengt — es war ein Durcheinander von
Stimmen, das eher ein verworrenes Geschrei als Gesang zu heissen
verdiente." Wie der Breslauer Bischof Rotus gegen den „krummen
Gesang" eiferte, ist schon früher erzählt worden.
Die sogenannte Rettung der Kirchenmusik durch Palestrina
ist nun eine der Mythen, die sich zuweilen berühmten Namen
anhängen. Man hört denn seit Adami von Bolsena immer und
immer wieder das Märchen, wie Papst Marcellus II., hocherzürnt
über deu Missbrauch der Kirchenmusik, beschlossen habe alle
Musik aus der Kirche zu verbannen; wie Palestrina ihn bat, das
Verbot so lange zurückzuhalten, bis er, der Papst, noch eine
musikalische Messe, die- Palestrina eben componirte, gehört; wie
der Papst durch diese Messe völlig anderen Sinnes geworden,
1) Auch die rein rituelle Intonation lässt bei ungenügendem Vortrage
den Text unverständlich. Die Erfahrung kann man allsonntäglich machen.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
und wie diese Messe daher „Missa Papae Marcelli" genannt
werde bis auf diesen Tag1). Der wahre Sachverhalt ist folgender:
Neben anderen Fragen über die innere Einrichtung und die
Disciplin des Gottesdienstes stand auf dem Programme des Con-
cils, wie natürlich, auch jene über die gottesdienstliche Musik.
In der 22. Sitzung sollten verschiedene Missbräuche bei der Mess-
feier zur Sprache kommen, wobei auch nebenher ein Blick auf
die Musik geworfen wurde. Aehnlich den Versammlungen unserer
Deputirten vor den eigentlichen Kammersitzungen hatten auch
die Väter des Concils ihre Zusammenkünfte zu Vorberathungen
und Besprechungen. Eine solche fand auch vor der 22. Sitzung
am 11. September 1562 statt. In der 21. Sitzung wurde das
Programm der 22. Sitzung vertheilt und es wurde eine eigene
Commission ernannt, welche die zu besprechenden Missbräuche
formuliren sollte. Begreiflicherweise gab es unter den Bischöfen
einige, welche der Ansicht waren, man solle in der Kirche ganz
einfach zum reinen Gregorianischen Bitualgesange zurückkehren2).
Sie regten die Frage in jener Versammlung am 11. September
an. Zum Glücke gab es unter den Uebrigen viele eifrige Musik-
freunde und fein gebildete Kenner; man darf sich nur erinnern,
dass insbesondere die Cardinäle von Rom her gewohnt waren
treffliche Musik zu hören und ihren Werth sehr wohl erkannten.
Pabst Pius IV. selbst war ein ausserordentlicher Musikfreund,
hatte für gelungene musikalische Compositionen das grösste In-
teresse und lebendiges Verständniss. Es erhoben sich denn auch
sogleich viele Stimmen für die Musik und beriefen sich, sehr
/ bezeichnend, auf die Stelle im Sirach „non impedias musicani".
Freilich redet der hebräische Weise von nichts weniger als von
Kirchenmusik, vielmehr von „Musik beim Weingastmahl'' ; gleich-
viel, es war eine Bibelstelle, hinter welche sich die Kunstliebe
verstecken und sie zum ostensiblen Grunde machen konnte. So
fiel denn auch der Beschluss in der 22 Sitzung sehr gemässigt
aus: nur wo man dem Rituellen in der Musik etwas „Lascives"
1) Auch G. B. Doni (de praest. mus. vet. 8. 49 der ersten Edition)
spielt auf diese Geschichte an, „Quam musicorum licentiam cum repri-
mere ac resecaro juxta Sac. Trid. Concilii sententiatn Marcellus secundus,
sapientissimus Pontifex statuisset, nescio quomodo unius musici astutia(!)
imponi sibi passus est, tantique facinoris gloriam de manibus eripi." Die
Stelle ist für Doni charakteristisch. Dieser tükische, böse Palestrina
mit seiner „Astutia" hätte er die unverwerfliche Musik „barbarischen
Stylea" nicht „gerettet'' so wäre die allein berechtigte griechische eher
an die Reihe gekommen.
2) Papst Benedict XIV. erwähnt es in seinem berühmten Buche de
synodo dioecesana (II. 7.): „Cum in Concilio Tridentino a quibusdam
episcopis ecclesiasticae diseiplinae cultoribus propositum fuisset, ut cantus
musicus ab ecclesiis omnino tolleretur." — Solche Stimmen hören wir
auch heut noch.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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oder „Unreines" beimische, solle es verbannt werden: „ab ecclesiis /
vero mnsicas eas, ubi sive organo, sive cantu, lascivum aut im-
purum aliquid miscetur arceant, ut domus Dei vere domus ora-
tionis esse videatur ac dici possit" !). Da entstand allerdings die
weitere Frage, was denn eigentlich „lasciv" zu heissen verdiene.
Und wirklich sollte die Angelegenheit der Kirchenmusik in der
24. Sitzung nochmals zur Sprache kommen: die dritte Propositiou
sollte das direct auszusprechende Verbot einer allzuweichlichen
• Musik (mollior harmonia) enthalten. Die 42 Propositionen der
bevorstehenden 24. Sitzung, welche, wie gewöhnlich, und zwar
Anfang August 1563 dem kaiserlichen Ablegaten mitgetheilt und
von diesem am 10. August an den Kaiser Ferdinand I. gesendet ,
worden waren, kamen rücksichtlich der die Musik betreffenden ^
Proposition mit der Antwort zurück: „Dass doch die Figural-
musik nicht ausgeschlossen werden möge, weil sio so oft den
Geist der Frömmigkeit weckt'2)." Das war ein sehr gewichtiges
Fürwort — und in gewissem Sinne könnte auch Kaiser Ferdinand
Anspruch auf den Tittel eines „ Ketters der Kirchenmusik" machen.
Der ganze Beschluss, welcher in der 24. Sitzung gefasst wurde,
beschränkte sich darauf, dass die öfter zusammenkommenden „
Provinzialsynoden auf Missbräuche in der Musik achten und sie
abstellen sollen.
Erst als das Concil beendet war — was noch in demselben
Jahre 1563 geschah — wurde Palestrina in die Sache hinein-
gezogen. Pius IV. Hess es sich angelegen sein, den gefassten
Tridentiner Beschlüssen Geltung zu verschaffen, wozu er mit dem
Motupioprio vom 2. August 1 564 „Alias nonnullas constitutione»"
die Initiative ergriff, und die Obsorge der Ausführung einem
Colleginm von acht Cardinälen übertrug. Hier kam auch der
Beschluss wegen der Musik zur Sprache, und die Cardinäle
wählten zur Instruirung der Sache aus ihrer Mitte den damals
dreiunddreissigjährigen Cardinal Vitellozzo Vitelli, einen be-
kannten Musikfreund und Musikkenner, und 3en Cardinal Karl „
Borromeo. Der erstere berief überdies zu den Berathungen acht
Sänger der päpstlichen Capelle: Antonio Calasans, Federigo
1) Begreiflicherweise waren damit die Volkslieder -Messen verbannt.
Wie man sie jetzt ansah, zeigt eine Aeusserung G. B. Donis (a. a. 0.
S. 137): „Quae (malum) antiquiores illos ac coleDriores Missarum modifi-
catores, Jodocum Matouium, Hadrianum ata. ejus fariae reliquos vesania
adegit, ut sacrosancti atque intemerati sacrincii mele, non e profanis tan-
tum argumentia, sed saepe lascivis abjoctisque desumerent? Essetue
ferendus is pictor, qui sanctam aliqaam virginem, puta Agnetem aut
Catharinam ad vivum delineatums, notae alicujus ac famosae meretricis
vultum assanieret?"
2) Item ubi in templis interdicebatur mollior barmonia, optavit ne
cantio, quam tiguralem appellaut, excluderetur, cum saepe sensum pieta-
tis excitet. (Pallavicini Hist. Conc. Trident. 3. Theil. S. 249:)
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Lazisi, Giovanni Lodovico Vescovi, Vincenzo Vimercato, Giovanni
Antonio Merlo (Italiener), Francesco des Torres, Francesco Soto
Spanier) und Christian Hameyden (Niederländer). Nach den zu
fassenden Beschlüssen sollte die Musik in der päpstlichen Capelle
eingerichtet und diese das Muster für alle übrige Kirchenmusik
werden. Ueber den Punkt, dass Messen über Volkslieder nicht
weiter gesungen werden sollen, dass das Einmischen fremder
Texte verboten werde, dass nur Motetten init autorisirten Texten
zulässig seien, war man bald einig. Mehr Schwierigkeiten machte ■
die vom Cardinal Borromeo abermals zur Sprache gebrachte Un-
verständlichkeit der Texte. Es wurde bemerkt: das Problem
müsse also gar wohl zu lösen sein, da man in Costanzo Festas
Tedeum, in Palestrinas Improperien jedes Wort deutlich ver-
nehme. Die Sänger meinten dagegen, so gar einfach sei die Sache
denn doch nicht. In textreicheren Sätzen, wie das Gloria, das
Credo, könne man das künstlichere Tongewebe unmöglich völlig
entbehren, wenn man nicht in unleidliche Monotonie hinein-
gerathen, und wenn man die Figuralmusik überhaupt beibehalten
wolle. Endlich kam man überein, einen praktischen Versuch zu
machen. Es mag wohl Karl Borromeo gewesen sein, welcher
jetzt den Namen Palestrina's nannte — der Cardinal war be-
kanntlich Neffe des Papstes, und bei letzterem hatte sich Pa-
lestrina durch die Improperien in grosse Gunst gesetzt; seine
sechsstimmige Messe über das ut re mi fa sol la hatte er nicht
lange vorher — 1562 — dem Papst Pius IV. überreicht — sie
hatte diesen und die Cardinale entzückt, besonders das „Cruci-
fixus" — gleich dem „Pleni" derselben Messe einer der sera-
phischen Sätze Palestrinas für zwei Soprane und .zwei Altos, und
in der That von so feiner Belebung und so herrlichem Wohl-
klang, dass sich hier der Meister der Marcellusmesse schon ganz
bestimmt ankündigt. Bemerkenswerth ist es jedenfalls, dass gerade
diese Messe in Erinnerung kam, denn sie konnte, wie sie war,
füglich schon für die glückliche Lösung des auf die Tages-
ordnung gesetzten Problems gelten. Was in diesem sehr be-
deutenden Tonwerke der eigentlichen Satzkunst angehört, ist
weniger ein verwickeltes Tongewebc, als hauptsächlich das un-
aufhörliche Auf- und Niedersteigen des Hexachords, von welchem
die Messe den Namen hat — die vorkommenden imitatorisch in
einander greifenden Motive und Gänge, auch wo sie sich wie im
Sanctus zu reicheren Bildungen verschlingen, sind durchweg von
klarer Durchsichtigkeit. Die textreichen Sätze des Et in terra
und Patrem aber sind, ähnlich den älteren Messen Matrr patris
von Josquin und de Dringhs von Brumel vorwiegend fast nach
Art einfacher Falsibordoni als schlichte Harmoniefolgen, Note
gegen Note, Accord nach Accord gehalten. Das „Obligo" des
ut rc u. s. w. hat auf die Gestalt, welche die Composition an-
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Giovanni Pierluigi da Palest ri na.
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nahm, fühlbar eingewirkt; die Messe hat dadurch stellenweise
etwas an Kristallbildungen und deren architektonisch-gebundene
Regelmässigkeit Erinnerndes bekommen. Vorzüglich gilt solches
von dem äusserst fein und meisterhaft gearbeiteten vierstimmigen
Benedict us. Für den zweiten Sopran ist sie völlig eine Solfeggir-
Ubung, und wenn er im Osanna sein ut re mi fa u. s. w. dreimal
nach einander in schweren Doppeltaktnoten (Breven) auf- und
absteigen lässt, wenn er im Sanctus sich eben so einfuhrt, sofort
aber sein Hexachord in Taktnoten (Semibreven) uud zwar zu je
drei auf einen Ton gruppirt, wiederholt u. s. w., so könnte man
glauben, auf altniederländisches Territorium gerathen zu sein.
Auch der Zug mahnt an Altniederländisches, dass öfter mit kleinen
aus einem Fragment der Skala gebildeten Imitationen gespielt
wird, und dass zuweilen eine im vollen Fluss befindliche Stimme
plötzlich auf zwei, drei schweren Breven stockt — dann sich
wieder in Bewegung setzt. Die Zierlust, die an elegant ge-
schnitzten und gemeisselten Ornament ihre Freude hat, macht
• sich auch noch ftihlbar; am auffallendsten im Benedictas, wo sich
den drei gegen den unermüdlich solfeggirenden Sopran contra-
punetirenden Stimmen ein zierliches Gruppetto von vier Achtel-
noten — ein wahrer Kococoschnörkel — wie eine Berlocke an-
hängt. Das Hexachord ist durchweg sehr sinnreich benützt —
im Benedictus beginnt der Alt mit dem Hexachordum naturae,
gleich auf die dritte Note des mi setzt im zweiten Tempus der
Sopran mit dem ut des harten Hexachords an, also eine förmliche
Antwort im Fugenstyl, was der Tenor und der Bass sofort regel-
richtig aufnehmen und fortsetzen. Im letzten Agnus wird das
Hexachord zum „Canon in Subdiapente" und der Satz dadurch
siebenstimmig. Das Crucifixus combinirt die Stimmenführung
. vollends zu einem Spiel in Engführung und Verkehrung einander
folgender und begegnender Hexachorde. Die Textlegung verräth
durchaus eine besondere Sorgfalt, und das Streben, die Worte
ganz deutlich hörbar zu machen, wie denn in dieser Beziehung
diese Messe kaum noch etwas zu wünschen übrig lässt.
Die Herren der geistlichen Commission hatten kaum Einsicht
genug in die Technik der Gesangskunst, um zu wissen, dass das
deutliche Verstehen der Textesworte, auf welches sie so sehr drangen,
für die Hörer nicht allein von der Art des Tonsatzes, sondern
auch, und zwar hauptsächlich, von dem Punkte abhängt, ob die
Sänger gut vocalisiren oder nicht Die Anklage gegen die Figural-
musik war aber einmal erhoben, und schwerlich werden die Com-
missäre auf die Thatsache geachtet haben, dass selbst der Vortrag
des Evangeliums im Lectionston durch den Priester am Altar
in sehr vielen Fällen oft genug noch unverständlicher bleibt, als
die complicirte8te Fuge eines Sängerchors, und man nicht weiss,
.ob man Matthäus, Marcus, Lucas oder Johannes zu hören be-
Ambro«, Geschichte der Mimik. IV. 2
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Giovanni Pierluigie da Palestrina.
kommt. Die Componisten ihrerseits begannen schon zur Zeit
Josquins die Noten wenigstens in Motetten, im Gloria uud Credo
der Messen oft mit grösserer Sorgfalt fair den Text und zuweilen
so zu ordnen, dass sie die Textlegung den Ausführenden fast mit
zwingender Notwendigkeit fertig entgegenbrachten, richtiger
Accent, feste Declamation kamen, wenn nicht unbedingt, so d»ch
mehr und mehr zur Geltung — und wenn zu Anfang des sieben-
zehnten Jahrhunderts die gelehrten Nachfolger der Humanisten
gerade über diesen Punkt von den älteren Meistern nicht genug
Schlimmes zu sagen wussten, so lag, abgesehen davon, dass ihre
Ausstellungen keineswegs ganz unbegründet waren, der Grund
ihres Tadels mehr in der vernachlässigten schulgerechten Pro-
sodie, als im verfehlten Accent. Wie wohlgefällig wurde es nicht
an Tommaso Baj's ..Miserere" bemerkt und laut gepriesen: „dass
man darin so genau die lange und die kurze Sylbe, nebst der
„Anceps" nach striktester Schulregel unterscheide!"
Palestrina stand durch seine Improperien, die Hexachord-
messe und wohl auch durch andere Compositionen in bedeutendem •
Ansehen. Man hatte zwei seiner Motetten in die grossen Chor-
bticher der Sixtina aufgenommen — eine Ehre, wie sie nur ent-
schiedenen Meisterstücken widerfuhr, eine Art musikalischer Beati-
ßcation. Es war die Motette zu fünf Stimmen Beatus Laurentius,
mit dem rituellen Cantus iirmus als Tenor, und die sechsstimmige
Eslote fortes in hello mit einem streng durchgeführten Canon
zwischen Tenor und Alt, kunstvolle Tonsätzte also, wie man von
einem Meister verlangte. Zudem wurde in Palestrina' s Tonstücken
ein Schönheitssinn, ein Klangzauber fühlbar, der auch dem ein-
fachen Hörer auffallen musste. Was die Kirchenfürsten in der
Solmisations-Messe hingerissen" hatte, war sicher nicht der sehr
kunstreiche Aufbau von Tönen auf die Guidonischen Sylben, son-
dern der edle Wohllaut, welcher über dem Ganzen schwebte.
Den Meister also, welchem man nach seinen bisherigen
Leistungen das Beste zutrauen konnte, liess Carl Borromeo rufen,
eröffnete ihm den ehrenvollen Auftrag und legte es ihm warm
ans Herz, »er möge doch ja seine ganze Fähigkeit aufbieten,
damit der Papst und die Cardiuäle der Musik ihren Schutz nicht
entziehen." So mussten ein Papst, ein Kaiser, ein Heiliger und
ein genialer Musiker zusammenwirken, um der Musik in der
Kirche eine bleibende Stätte zu erhalten — man verliert sich in
nicht abzusehende Consequenzen, wenn man sich vorstellt, wohin
ein Verbot gefuhrt haben würde! Palestrina ging an's Werk —
es lässt sich denken, wie ihn die Aufgabe ganz erfüllte. „Do-
mine illumina oculos meos" betete er — er hat diese Worte
nachher zum Motto der ersten der drei Probemessen gewählt, die
er componirt; denn statt der bestellten einen schrieb er gleich
drei Messen, jede zu sechs Stimmen, und legte sie den Com-
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Giovanni Pierluigi da Paleetrina. 19
misaarien vor. Die Taktik, welche Palestrina dabei beobachtet,
läast den sichern Blick des Genies erkennen. Während die erste
Messe l) durchaus ganz einfache alterthümliche strenge Formen
zeigt, und die Absicht einen vereinfachten Styl nach einem vor-
gefassten Plane zu schaffen darin deutlich ausgesprochen ist,
werden in der zweiten Messe in den Gegenthemen schon wieder
reichere Notengruppen in Bewegung gesetzt; das Ganze gewinnt
ein leichteres, freieres Ansehen, und wirksam contrastirt gegen
die erhabene strenge Würde der ersten Messe die zweite durch
zarte Innigkeit und eine beinahe schüchterne Anmuth. In der
dritten Messe aber, der von Palestrina in Errinnerung an den der
Kirche leider schon nach 21 Tagen entrissenen edeln Marcellus II.,
der zuerst unter den Päpsten jener Zeit „den Gottesdienst zu
seiner echten Feierlichkeit zurückzuführen bedacht war"2,, Mis&a
Papae Marcelli genannten, schwingt sich der Meister zur vollen
Höhe empor.
Am 28. April 1565 wurde in Gegenwart der acht Cardinäle
im Palaste des Cardinais Vitellozzo die Probe der drei Messen y
vorgenommen. Das Interesse der kunstverständigen Versammlung
steigerte sich, wie in den Messen das Interesse der Composition
stieg, und wurde zum höchsten Antheil bei der Marcellusmesse.
Dies sei der wahre, lange gesuchte, jetzt erst gefundene Kirchen-
styl. — Und dennoch darf man sagen, dass sich die ehrwürdige
Commission täuschte. Was sie hinriss, war nicht ein neuer, un-
erhörter Styl 3) — es war der Zauber des Wohlklangs , das
Mysterium reiner Schönheit, was hier so unwiderstehlich wirkte.
Die Cardinäle waren einig, dass Palestrina's Messen allen Wünschen
volle Rechnung tragen, und erklärten den Sängern, „dass sie keinen
Grund finden in der Kirchenmusik eine Veränderung anzurathen;
doch sollen die Sänger stets bedacht sein ähnliche Werke, wie
die eben gehörten, für den Gottesdienst zu wählen." Cardinal
Borromeo aber erstattete seinem Oheim, dem Papste, Bericht über
1) Rancke, Päpste L Thoil 8. 278. Cardinal Marcello Cerrini —
hernach Papst Marcell II. — war der tugendhafte Kirchenfürst, „der die
Reformation der Kirche, von der die anderen schwatzten, in seiner Person
darstellte". Man siebt, wie tief bedeutungsvoll und wohltrewählt der
Name „Missa Papae Marcelli" ist und eine ganz andere Bedeutung hat,
als die gewöhnliche Meinung annimmt, die darin nur einen Act der Dank-
barkeit Palestrina's gegen seinen ehemaligen Gönner erblickt.
2) Sie wurde 1600 bei Hieronymus Scoto's Erben in Venedig gedruckt.
3) Palestrina selbst glaubte ganz ehrlich hier einen neuen Styl ge-
schaffen zu haben. In der Dcdicationsvorrede des zweiten Bandes seiner
Messen (1567 bei den Brüdern Dorici zu Bom) sagt er: „Gravissiniorum
et religisiosissimorum hominum secutus consihum ad sanctissimuin iuissae
sacrificium novo modorum g euere decorandwn omne meum Studium,
operam industriamque contuli."
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20 Giovanni Pierluigi da Palestrina.
den günstigen Erfolg der vorgenommenen Probe und äusserte
sich besonders über die dritte Messe in Ausdrücken der Bewun-
derung. Pius IV. war äusserst begierig das neue Werk zu hören.
Ein Te Deum, das am 19. Juni 1565 wegen des Bündnisses des
päpstlichen Stuhles mit den Schweizer Eidgenossen gefeiert wurde,
bot dazu Gelegenheit Cardinal Carl Borromäus celebrirte am
Altare, der Pabst und die Würdenträger der Kirche waren an-
wesend. Die Feier fand in der Sixtinischen Kapelle statt Piu*
war äusserst ergriffen — er hatte gemeint die Chöre der Engel
zu hören. Das Wort, welches er nach der Aufführung zu
den Cardinälen sprach, ist berühmt geworden: „Das sind die
Harmonieen des neuen Gesanges, welchen der Apostel Johannes
aus dem himmlischen Jerusalem tönen hörte, und welche uns ein
irdischer Johannes im irdischen Jerusalem hören lässt1)."
Durch ein Motuproprio ernannte der Papst den Meister dieses
Werkes zum „Compositor" der päpstlichen Capelle, wodurch sein
bisheriger Gehalt von 5 Scudi 87 Bajocchi des Monats durch eine
Zulage von 3 Scudi 13 Bajocchi auf die Summe monatlicher
vi 9 Scudi erhöhet wurde! — Nach solchen ziffermässigen Daten
ist es schwer begreiflich, woher Palestrina's in neuerer Zeit be-
hauptete „Wohlhabenheit" hergekommen sein soll ! War die Mar-
cellusraesse etwa ein Tonwerk, durch welches die ersten Messen,
und insbesondere die gepriesene Messe über das Hexachord, so
sehr in den Schatten gestellt wurden, dass sie nur noch die Be-
deutung eines „überwundenen Standpunktes" behielten, und dass
Palestrina's wahre Bedeutung erst mit jener Muster- und Meister-
messe beginnt?2) Die Zeitgenossen können es gedacht haben —
der Umstand, dass die Improperien dauernd eines der berühm-
testen und ergreifendsten Stücke des Charfreitags in der Sixtini-
schen Capelle gebildet haben, lässt indessen erkennen, dass mau
den Palestrinastyl nicht erst von der Marcellusraesse an datirte.
Wohl aber hat sich an letztere das stets wiederholte Wort ge-
knüpft: „Palestrina, der grosse Reformator der Kirchenmusik".
Die noch immer zäh festgehaltene Vorstellung, als sei die Musik
bis auf Palestrina ein Haufwerk trockener, dem combinirenden
Verstände abgequälter Künste gewesen, ohne Schönheit, ohne
Wohlklang, bedarf keiner Widerlegung. Ganz kann überdies
1) — „queste dovettero essor armonie del cantico nuovo, che
Giovanni V apostolo udi cantare nella Gierupalemme trionfante, delle
quali un altro Giovanni ci da un saggio neUa Gierusalemme viatrice".
Man möge sich erinnern, dass Palostnna's Taufname Giovanni Pier-
luigi war.
2) Man wird unwillkührlich an die Beethovener der „Linken" er-
innert, welche ihren Meister auch erst von der „Eroica" an gelten lassen,
wenn sie nicht gar erst bei der „neunten Symphonie" und den letzten
Quartetten anfangen!
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
21
der Tonsatz zu keiner Zeit die geschmähten ,, Satzkünste" ent-
behren, wenn er nicht zur flachsten Liedelei entarten soll. Von
Josquin, bei dessen Ableben Palestrina sieben Jahre zählte, bis
auf Palestrina drängt sich eine Fölle von Meisterwerken — die
beim Concü behandelte Frage hatte mit dem Kunstwerth und
der Schönheit der damaligen Musik eigentlich nicht das mindeste
zu thun, sie betraf die Restaurirung des gregorianischen, offiziellen
Kirchengesanges, aus dem sich der Figuralgesang als etwas Neues,
aus ihm Entsprossenes, aber von ihm selbst Grundverschiedenes
entwickelt hatte — dass die Canons, Nachahmungen u. s. w.
nicht aus Bücksichten des guten Geschmacks, sondern deswegen
angefochten wurden, weil man fand, es werde durch sie das Wort
des Bitualtextes für die Zuhörer undeutlich. Die musikfeindliche
Fraction des Concils hätte, wenn sie anders noch hätte mitreden
dürfen, ebenso gut Palestrina' s Musik, und zum guten Anfang
gleich die Missa Papae Marcelli ablehnen müssen.
Andererseits werden wir sehen, dass die Satzkünste nach
wie vor geübt und zu Anfang des 17. Jahrhunderts sogar zur
gedenkbarsten Höhe getrieben wurden. Aber eine Reform trat
doch wirklich ein. In dem conservativen Rom mögen die älteren
Arbeiten häufig auf dem Repertoir gestanden haben. Mit dem
Verbote Messen zu singen, denen irgend ein Volkslied zu Grunde
lag, was schon ein stattlicher Theil von Tonwerken ausser Kurs
gesetzt — Messen mit eingemischten „Tropen" hätten, selbst
wenn man sie nach Ausscheidung der eingemischten fremden
Textesworte hätte beibehalten wollen, eine neue mühsame Text-
legung an allen jenen Stellen erfordert, wo sie zur „Kirchen-
musik ohne Worte" geworden. Festa, Morales und andere treff-
liche Meister, deren Werke in der That ein dauerndes Besitzthum
der päpstlichen Capelle geworden sind, boten für den Ausfall
reichen Ersatz, Palestrina war in seinem 90 Jahre dauernden
Leben überaus fleissig, neben ihm Vittoria, Anerio, Soriano und
wie die Meister der römischen Schule alle heissen. So trat eine
ganze Generation der glänzendsten Talente hervor, die älteren
Meister aber traten in den Hintergrund, und die Reform war vor
Allem eine Reform des Repertoirs der päpstlichen Ka-
pelle. Insofern sich der Musikstyl, der Geschmack änderte,
geschah diese Aenderung allmälig, nach dem natürlichen Verlauf
der Entwickelung der Kunst, aber nicht nach einem von Car-
dinälen und päpstlichen Sängern zusammengestellten Programme.
In der Marcellusmesse zog Palestrina gleichsam die Summe
der neuen Erwerbungen der Kunst zusammen. Palestrina hätte
nur sechs Jahre länger auf Erden zu wandeln gebraucht, um
einen Umschwung zu erleben, gegen welchen seine Reform gar %
nicht in Betracht kommt, denn wo er und seine Kunstgenossen
auf dem historisch Ueberlieferten weiter bauten, und es als feste
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Giovanni Pierluigi da Paleetrina.
Grundlage beibehalten, wurde in Florenz radical aufgeräumt, ein
ganz anderes Fundament der Kunst gelegt, und mit den bis-
herigen so gründlich gebrochen, dass man ihm alle Berechtigung
absprach, dass 6. B. Doni in einem Moment von Aufrichtigkeit
unverblümt Palestrina's Compositionen als barbarische Produkte
bezeichnete; dass schon 1643 der Römer Pietro della Valle sie
ausser Gebrauch gesetzt und als „Antiquitäten in's Museum1' ge-
stellt wissen will, dass eben damals wirklich durch einen musi-
kalischen Charlatan, den Lautenschläger Hieronymus Kapsberger,
ein ungeschickter Versuch gemacht wurde, Palestrina's Musik aus
der päpstlichen Capelle herauszudrängen — ein Unternehmen,
das zum Glück an dem Widerstande der Sänger scheiterte.
Venedig, neben Rom die zweite musikaliche Hauptstadt
Italiens, Hess sich („siamo Veneziani e poi Cristiani") auch in
Sachen der Musik von Rom nichts vorschreiben — nach Deutsch-
land wirkte Venedig mehr hinüber als Rom — in Frankreich lag
die Musik fiir den Moment nahezu brach, das protestantische
Deutschland und England waren am wenigsten geneigt, sich Tri-
dentiner Beschlüssen zu fügen — so blieb ftir die „Reform*1 kaum
ein anderer Boden übrig, als Rom selbst. Hier reiht sich aller-
dings eine lange Reihe glänzender Namen und Werke an Pa-
lestrina; der „Palestrinastyl" ist der Styl der römischen Schule.
Zwar nicht in Rom aber anderwärts wurden trotz des Verbotes
Messen über weltliche Gesänge noch lange Zeit componirt. Or-
lando Lasso hat ihrer eine ganze Menge, Lodovico Balbi schrieb
1595 eine Messe über „fuggite il sonno" — noch 1658 erschien
bei Robert Ballard in Paris eine von Charles d'Helfer über das
Lied „lorsque d'un desir curieux" gemodelte Messe. Karl Luython
brachte, dem Verbot des Einmischens fremder Textesworte stracks
zuwider, Rudolf II. seine Huldigung in einer Messe dar. wo (das
Crucifixus allein ausgenommen) beständig in den Ritualtext hinein-
gesungen wird: „Caesar vive faxit Deus noster, clamant omnes
gentes". Eine andere Messe von ihm heisst: „Tirsi moris volea".
Ja in Rom selbst schloss noch tief im 17. Jahrhundert, wo die
tridentiner Beschlüsse über Musik halb vergessen waren, Carissimi
die lange Reihe der Omme-arme-Messen mit einem zwölfstimmigen
Prachtstück. Palestrina, welcher das Verbot besser kennen musste,
als ein anderer, brauchte bei seiner Messe über Ferrabosco's „Jo
mi ton giovinelta" (Text von Bocaccio) die unschuldige List, sie
einfach „Missa primi toni" zu nennen — aber sogar auch er liess
seine Missa omme-arme unter dem wahren Namen drucken —
das Verleugnen hätte bei dem allbekannten Liede eben nichts
geholfen. Im fünften Buche der Messen Palestrina'«, welches erst
# 1590, also lange nach eingetretener voller Gesetzesgiltigkeit der
Tridentiner Beschlüsse, in Rom, vom Meister selbst herausgegeben,
erschien, findet sich eine Messe nasce la gioia mia — im neunten
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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Buche (1599) eine Messe vesliva i colli, im zehnten Buche (16U0)
eine Messe gid fü chi «T ebbe cara, im eilften (1600) eine Messe
Argande Uela sperai, im zwölften (1601) eine Messe quai e il piu
grand' amor
Palestrina's Mission war eine ganz andere, als zu zerstören
und zu beseitigen — er kam um zu vollenden. Man kann es
nicht nachdrücklich genug betonen, dass er die letzte, höchste
Blüte einer Jahrhunderte langen Entwicklung ist, deren ganze
Triebkraft dahin ging, endlich ihn hervorzubringen. Das Wort
Goethe's über Raphael Sanzio, welcher der langsam und allmälig
gebauten Pyramide endlich „den Gipfel aufsetzte, über und neben
dem kein anderer stehen mag" — gilt bedingt auch von Pa-
lestrina — bedingt: weil neben ihm allerdings eine ganze glor-
reiche Schaar von Meistern seiner — der römischen — Schule
und Richtung steht, welche in Beziehung auf ihn eine ganz andere
Bedeutung haben, als die Schüler Raphaels — Giulio Bomano
nicht ausgenommen — neben ihrem Meister. Als Schüler Gou-
dimels ist Palestrina ein direkter Abkcmmb'ng der französisch-
niederländischen Schule. Dass er die Werke der älteren Nie-
derländer zum Gegenstande eifriger und tiefer Studien geroachtr
lehren «eine eigenen zür Genüge. Kr studirte sie, wie der Malef
alte Kunstwerke studirt — es sind nicht die Meister der un-
mittelbar vorhergegangenen Periode, welchen er seine Aufmerks-
amkeit zuwendet, er greift nach Okeghem und Hobrecht und
nach denjenigen Werken Josquins, in welchen dieser letztere als
der bewunderte Virtuose der Satzktinste erscheint, bei welchem
„die Noten machen müssen, was er will." Die künstlichen No-
tirungen mit Modus und Tempus und Prolation und was die Men-
suralnote sonst an spitzfindigem Apparate bot, die thematischen
Spielereien mit regelmässigen Notengruppen oder mit irgend einem
durchs ganze Stück eigensinnig festgehaltenen Motiv, die verkehrt
gegen einander schreitenden Stimmen — das Alles war schon
so gut wie ganz aus der Mode gekommen, und Goudimels Com-
positionen lassen erkennen, dass er selbst sich damit so wenig
1) Leicht nachzuerzählende Geschichten haften den schlagendsten
Widerlegungen, klar vorliegenden Thatsachen zum Trotz unausrottbar.
In S. Klein s 1873 erschienener Biographie Sixtus des Fünften ist Seite 24
zu lesen: „während seines zweiundzwanzigtägigen Pontificates fand
Marceil II. Zeit, den Nepotismus zu verdammen und die Einmischung der
Päpste in politische Angelegenheiten zu tadeln; die ganz entartete (!)
Kirchenmusik gedachte er ans dem Gottesdienste zu ver-
bannen; sie wurde gerettet durch Pierluigi's unsterbliches
Heisterwerk, die Missa Papae Marcelli". Sehr richtig sagt Fe*tis:
«Si Ton admettait l'anecdote du pape Marcel, il fandrait supposer, que
Palestrina a sauve" deux foix la musique religieuse de l'anathfeine, dont
Ion voulait la frapper" , nemlich unter Papst Marcellus II. und unter
Pins IV.
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24
Giovanni Pierluigi da Palestrina.
mehr befasste, als irgend ein Zeitgenosse, und also wohl auch
seine Schüler damit verschonte. Wir dürfen daher annehmen,
dass Palestrina aus eigenem Lernetrieb in den reichen Musik-
archiven Roms suchte und fand, was ihm von alter Musik des
Studiums werth schien. Mouton war bekanntlich der Lieblings-
componist Leo's X., Messen von diesem, sowie Stücke des in
dauerndem und hohem Ansehen gebliebenen Josquin kann Pa-
lestrina, wenigstens als Knabe, gehört haben.
Man darf ferner ganz unbedenklich behaupten, dass Palestrina
nicht geworden wäre, was er ist, hätte er nicht die niederländische
Kunst, und zwar die niederländische Kunst strengster Richtung,
zu einer Art Palästra gemacht, welche seinem Geiste eine ganz
andere Schnellkraft und Gelenkigkeit gab, als er aus Goudimels
Schule allein hätte mitbekommen können. Er lernte dort Dinge,
welchen sein Meister Goudimel, unter dem Anschein, sie zu ver-
schmähen, vielleicht nicht ganz gewachsen war. Die vollstän-
dige Beherrschung des Tonsatzes, selbst in seinen verwickeltesten
( 'ombinationen , welche Palestrina auf diesem Wege gewann,
machte es ihm möglich, sich auf die Grundlage des kunstvollsten
Tonsatzes, dessen Technik allein schon der höchsten Bewunderung
werth ist', zur freien Schönheit zu erheben, und uns nirgends
Last und Mühe des „Machens" empfinden zu lassen, sondern mit
Götterleichtigkeit schaffend, nicht allein die volle Kraft, sondern
auch die ganze Anmuth seines Genius zu entwickeln. Baini hätte
nicht Ursache gehabt über den „squalor fiammingho" zu klagen,
welchen Palestrina erst loswerden musste — etwa wie sich Dante,
nachdem er die neun Höllenkreise durchwandert, den Höllen-
brodem vom Gesichte waschen muss, ehe er zum reinen Lichte
der Sehgen emporsteigen darf. Palestrina scheint sein Lebelang
auch als Lehrer den Weg durch die niederländische Tonkunst
für den richtigen zur vollen Meisterschaft gehalten und seine
eigenen Söhne und seinen Bruder auf diesem Pfade geleitet zu
haben. Er hatte drei Söhne, Angelo, Igino und einen dritten,
von dem es, wie von Palestrina's jüngerem Bruder, zweifelhaft
ist, ob er Silla oder ob er Ridolfo geheissen. In der Dedications-
vorrede des zweiten Buches der Motetten (1572), in welches Pa-
lestrina auch Motetten Angeli Petraloysii, Sillae Petra-
loysii und Rodulphi Petraloysii aufnahm, sagt er: „inter-
positas, fratris, liberorumque meorum primitias" (Igino besass kein
Musiktalent). Hätte nun Palestrina's Vater nicht gleichfalls Petra-
loysius geheissen, so Hess sich die Sache nach dem beigesetzten
Vatersnamen leicht entscheiden. Kein Zweifel aber, dass Angelo,
Silla und Rudolf Schüler Palestrina's waren. Baini hat in diesen
Familiencompositionen zu seinem Verdrusse „steifen Flamänder-
ttyV* entdeckt, woraus zu schliessen, dass man diesen Styl im
Hause Palestrina's nicht in gleichem Masse verabscheute, wie ein
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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ehrwürdiger Biograph thut. Das meiste Talent hatte unverkennbar
Angelo, seine Motette nimmt sich ganz gut aus, Silla und Ridolfo
lieferten kaum mehr, als tadellose Schularbeiten, welche beträcht-
lichen Mangel an Erfindung verrathen — stellenweise mag die
bessernde Hand des grossen Lehrers helfend eingegriffen haben.
Mit diesen „Primizien" war die Künstlerlaufbahn der drei Scho-
laren auch zu Ende — man hat von ihnen nichts weiter gehört.
Vieles in den ersten Messen sieht so völlig altniederländisch
aus, dass man mit Rücksicht auf den Styl der Zeitgenossen sagen
kann: Palestrina archaisire. Dass er diese seine Arbeiten aber
etwa als blosse Studien angesehen habe, ist durchaus in Abrede
zu stellen — denn noch 1570, drei Jahre nach der Drucklegung
der M. papae Marcelli, 1567, nahm er in das dritte Buch der
Messen als erste Nummer seine „M. omme arme" auf — eine
durch und durch niederländische Composition, aber sicher auch
eine seiner grossartigsten , ein wahres Monumentalwerk Zu
keiner Zeit vergisst Palestrina, was er seineu Vorgängern dankt —
mehrere seiner Hauptwerke sind in augenscheinlichem Wetteifer
mit älteren Compositionen entstanden. So die Motette „Tribularer
si nescirem" — eine seiner schönsten, welche in der Disposition
des „pes ascendens in voce media" völlig dem Miserere Josquins
nachgebildet ist, eine neue Lösung des alten Problems im Pa-
lestrinageist, die „Missa ad fugam" mahnt bis selbst auf den Namen
an die ältere Josquins — eine dritte Namensschwester ist iu der
ganzen Literatur nicht zu finden. Zur Missa super ut re mi fa
sol la scheint Brumel mit der seinigen Anregung gegeben zu
haben. Eine spätere von Soriano, die „Missa sine nomine", ist
gleich jener Josquins eine durchgeführte Canonstudie. Canons
mit Mottos waren eine nahezu vergessene Sache — Palestrina
schreibt dem Agnus der Missa brevis bei: „Symphonizabis" —
der sechsstimmigen Motette „Accepit Jesus calicem" giebt er die
Beischrift: „Canon: Ire» in unvm". In den Hymnen {Ave maris
Stella, Sancta et Immaculata u. s. w.) liebt es Palestrina, zwei
Tenore als streng durchgeführten Canon zu behandeln, während
die übrigen Stimmen contrapunktiren, und dabei sinnreiche An-
klänge an die Motive des Cantus firmus zu den geistvollsten
Nachahmungen verweben. Es hat ein sehr eigentümliches Aus-
sehen, wenn in der Antiphone Beatus Laurentius der Tenor streng
auf den kirchlichen Cantus firmus in langen Haltenoten beschränkt
1) Der C&cilienverein in Begenaburg brachte sie vor wenigen Jahren
zor Aufführung — die Wirkung war eine überraschend mächtige — kaum
wagte man sich zu gestehen: sie sei grösser als die der M. r. Marcelli.
Die Ausführung ist übrigens eine sehr schwierige Aufgabe. Trotzdem
wäre es wohLgethan, die omme arme in die eben wieder beginnende Fort-
setzung der Proske'schen Musica divina aufzunehmen.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina
bleibt, wozu die übrigen das reichste contrapunktische Leben ent-
wickeln. In dem fünfstimmigen Magnificat des fünften Kirchen-
tons enthält das (sechsstimmig gesetzte) „Sicut erat" ein echt
niederländisches Kunststück: die beiden Tenore sind so gesetzt,
dass der eine seinen Part geradeaus, der andere aber diesen Part
rückläufig singt, wir treffen Canons in Verkehrtschritten — im
Schlusssatze des Magnificat sexti toni, im Benedictas des Missa
ad fugam, das Agnus der Messe „repleatur os meum" ist ein ca-
nonisches Duett, ganz analog dem Benedictas in Josquins M.
omme-arme sup. voc. mus., in der Messe „quem dicunt homines''
wird eine kurze, dem rituellen Motiv entnommene Notengruppe
immerfort als cantus firmus wiederholt. Diese alterthümelnden
Züge, welche sogar schon bei Palestrina's Zeitgenossen nicht mehr
vorkommen, geben seiner Musik einen eigenen Reiz, wir erkennen
wieder die Analogie mit Raphael, welcher gerade dort am hin-
reissendsten ist, wo sich bei ihm die Nachklänge der alten,
strengen Schule, gemildert durch seinen himmlischen Schönheits-
sinn und seine holde Anmuth, zeigen. Die beiden Messen Ecce
S<icerdos magnus und Omme-arme sind völlige Studien Über die
allerfeinsten Feinheiten der Mensuralnotirung. Im fünfstimmigen
Kyrie der zweitgenannten Messe (über welche Lodovico Zacconi
im ersten Theile seiner 1592 erschienenen „Prattice di musica"
eine ausführliche Erläuterung geben zu sollen für nöthig hielt)
lässt Palestrina (ganz wie Josquin) den Tenor im Tempus per-
fectum cum prolatione, die anderen Stimmen im Tempus perfectum
integri valoris singen, sie setzen alle nach einander mit dem Lied-
motiv auf dem Intervallen g-d-h ein — im Tenor dehnen sich
kraft des Taktzeichens die Noten zu langathmigen Hahr tonen.
Im „Christe" singt der Tenor die zweite Hälfte des Liedes unter
dem Zeichen des Halbkreises mit Punkt — ebenso hernach im
Sanctus und auch im ersten Theile des „Et in terra" — die
anderen Stimmen des letzteren sind im Tempus imperfectum di-
minutum gesetzt, welches sie im „Qui tollis" beibehalten, während
der Tenor sich im Tempus imperfectum integri valoris bewegte ;
erst beim „in gloria Dei patris Amen" treffen alle Stimmen —
zum erstenmale in der Messe — unter dem gleichen Taktzeichen
zusammen. Im „Pleni" wechseln fortwährend eine schwarze
Brevis und eine weisse Semibrevis. Der Sopran des Benedictas
hat gar, wie es weiland 11 obrecht liebte, drei vorgesetzte Zeichen:
(Motiv: Omme arme.)
Aehnliche, zum Theil höchst schwierige Zeichencombinationen
enthält die Messe „Ecce sacerdos magnus". Im Agnus stehen
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Giovanni Pierluigi da Palestrina. 27
Discant und Alt unter dem Zeichen O» der Tenor unter dem
Zeichen ©, der Bass unter dem Zeichen <p — es ist also in-
teger valor, Augmentirung und Verkleinerung combinirt. Dazu
kommen noch Imperficirung, Alterirung, Notenschwärzung, Punk-
tirung, Mischung zwei- und dreitheiliger Rhythmen, intricate Ein-
mengung von Triolen. Im Osanna singen — was seit Okeghem 's
omme- arme- Messe nicht da war — alle Stimmen unter dem Pro-
lationszeichen. G. B. Rossi dürfte auch hier sagen: „bisogno
che F uomo s'arroi di buona teorica per cantare *)". Styl und
Phraseologie, Art der Motive, gelegentliche harmonische Se-
quenzen — Alles ist erzniederländisch. Zu den canonischen
Messen Palestrinas zählt nebst der Missa ad fugam, und der
Missa sine nomine auch die im achten Bande gedruckte Messe
„Sacerdotes Domini", deren Doppelcanons sich in der Obersecunda
und in der Oberterz bewegen — unter diesem Zwange gestaltet
sich alles grossartig und frei — es ist der Triumph der voll-
endeten Beherrschung der Form. Die vorhin erwähnten vier-
stimmigen Madrigale, welche Palestrina so vielen Verdruss ver-
ursacht haben sollen, gehören noch seiner Frühzeit an — und
wenn Einzelnes wirklich sehr Schöne, wie das Madrigal Donna
rostra mercede; la vera Aurora u. s. w. eine Ankündigung der
hohen Blüte scheint, zu welcher später Luca Marenzio das Ma-
drigal brachte, so gleichen andere Sätze bedenklich einem Nach-
klang der alten sentimentalen Frottola — auch sie haben, wie
es für Palestrina's Erstlingsarbeiten charakteristisch ist, etwas
Arcbaisirendes. Es fehlt der rechte Madrigalenton, wie ihn
Hadrian Willaert mustergiltig geschaffen und ihn auf seine Schüler
Cyprian de Rore, Constanzo Porta u. a. vererbt hat, die vor-
nehme Tonpoesie , der geistvoll belebte musikalische Conver-
sationston der feinen italienischen Gesellschaft des Cinquecento,
der intensive, und doch von der hohen Bildung so massvoll ge-
zügelte Ausdruck der Empfindung, wie wir bei jenen Meistern
antreffen und wie auch Luca Marenzio in so schöner Weise ge-
troffen hat, — diese Sätze Palestrinas haben etwas Trockenes und
Schwerfälliges, und der Ton des Sentimentalen schlagt in's La-
mentose um. Eine der wenigst erfreulichen Nummern ist das an
Roussel gerichtete Gelegenheitsstück (in lode di Rossel) — ein
steifes Compliment, welches beim Abschied ein Capellmeister dem
andern macht.
In voller Bedeutung tritt uns Palestrina erst in den „Im-
properien" entgegen. Sie gehören zu den Allereinfachsten, aber
auch allerschönsten, was er geschaffen. Heiliger Schmerz und
heilige Liebe sprechen aus diesen wenigen falsobordonartigen
1) Or£. do Cant. Cap. XVIII (S. 47). Er rechnet das Agnus unter
die „eBempj stra?aganti", fügt aber hinzu: „non meno difficili, che vaghi".
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2S
Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Accorden mit dem so wunderbar rührend austönenden Schlussfall.
Sie haben Jahrhunderte lang in der sixtinischen Kapelle ihre tief
ergreifende Wirkung bewährt. Die Missa Papae Mai colli eröffnet
die neue Epoche in des Meisters Schaffen. Erinnert man sich,
welcher Standpunkt ihm dabei angewiesen war, so kann man der
Art die Bewunderung nicht versagen, wie Palestrina die an ihn
gestellte Forderung, den Text deutlich hervortreten zu lassen,
mit den unabweisbaren Forderungen der Kunst, sogar mit deren
reicheren Formen in Einklang zu setzen. Nicht einmal die ver-
pönten „Fugen" (d. h. Canons) hat er vermieden; gleich im
ersten Kyrie führt er die beiden Bässe ganz strenge als Canon
all* unisono, während im „et in terra" diese beiden Stimmen eine
Art geistreichen Scheincanon ausführen; nemlich, ohne einander
notengetreu nachzuahmen, einander immerfort in ähnlichen Phrasen
antworten. Wo über ein Textwort, wie „Amen" u. dgl., gar kein
Zweifel mehr sein kann, ergreift Palestrina sofort die willkommene
Gelegenheit zu einer sehr kunstvollen Verwebung der Stimmen.
Der Eintritt eines solchen Momentes wird sorgsam vorbereitet —
das textreiche „Credo" beginnt höchst einfach, und wird allmälig
reicher, bis beim Schluss-Amen ein nachahmungsreiches, lebendig
bewegtes Tonspiel eintritt, dessen Thema aus der absteigenden
Scala gebildet ist — es ist, als ergössen sich Feuerströme der
Harmonie vom hohen Himmel. Um den Text möglichst deutlich
vernehmbar zu machen, wendet Palestrina Öfter den Contrapunkt
Note gegen Note an, oder er belebt solche einfache (Kombina-
tionen durch die einfachsten Mittel: zwei Noten gegen eine kurze
energische Gänge von vier Noten in dieser, jener Stimme —
während eine Stimme auf einer Textsylbe figurirend verweilt,
lässt er eine zweite mit deutlichst declamirtem Texte in einem,
charakteristischen Motiv hinzutreten — Worte, wie „suseipe-mi-
serere - quoniam -etiam-spiritum-resurrectionem- venturi seculi" u.
dgl. m. declamirt er scharf ausgeprägt in sorgsamster Betonung —
sie treten wie in deutlichen Buchstaben einer eleganten Lapidar-
schritt hingeschrieben hervor. Palestrina gruppirt die Stimmen
oft nur zu dreien, zu vieren — treten dann alle sechs ein, so
wirkt der Contrast der Tonstärke äusserst belebend, ohne der
Deutlichkeit Eintrag zu thun. Die Pausen dienen oft dazu, eine
neu eintretende Stimme mit ihren Textworten entschieden hervor-
treten zu lassen. Alle diese Mittel finden sich schon bei Pa-
lestrina's Vorgängern — sein Verdienst wird dadurch eher grösser
als kleiner — wenn man erwägt, mit wie genialem Blicke er
von allen Seiten gerade dasjenige auswählt, was dem ihm vor-
geschriebenen Zwecke dienlich ist.
Man hat sich gewöhnt, dieses Tonwerk als Palestrina's ab-
solut höchste Leistung anzusehen — aber unter den folgenden
Messen Palestrina's giebt es viele, welche ihr an Werth und
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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Schönheit gleichkommen. Charakteristisch ist an ihr ein eigen-
tümlicher Zug schlichter Hoheit Der Tonsatz ist in der Ver-
webung der sechs Stimmen durchweg höchst meisterhaft, lebendig
und von idealer Reinheit 1). Sehr begreiflich ist es, dass die
Missa Papae Marcelli bei den Zeitgenossen Sensation machte —
sie erfuhr (in damaliger Zeit eine Seltenheit) einige Bearbeitungen
für mehr und für weniger Stimmen als die ursprünglichen sechs:
Feiice Anerio richtete sie, gleichsam fiir den Hausgebrauch, zu
vier Stimmen ein — Francesco Soriano dachte ihre Wirkung
durch acht Stimmen zu steigern — ein Ungenannter, dessen Arbeit
sich in der Chiesa nuova zu Rom befindet, setzte gar zwölf
Stimmen in Bewegung2). Besser wäre das Meisterwerk unan-
getastet geblieben, denn Palestrina hätte ebenso gut selbst zu
acht oder zwölf Stimmen greifen können, und wusste genau was
er wollte. Aber es kam in Rom eine Zeit, wo die Tonsetzer
unter acht, zwölf, sechszehn u. s. w. Stimmen kaum mehr schreiben
mochten.
Schon 1567 erschien die Missa Papae Marcelli in Palestrina's
„Liber Missarum secundus" — welcher Philipp II. von Spanien
gewidmet ist und nebst der genannten Messe, die vierstimmigen
de beata Virgine, Inviolata^ ad fugam, sine nomine, und die fünf-
stimmige Aspice Domine und Sutrum me fac enthält Das dritte
Buch Messen folgte 1570 mit der Missa omme arme, der funf-
stimmigen Repleatur os meum, der sechsstimmigen de beata Virgine
und super ut re mi fa sol la und den vierstimmigen Spem in a/ium,
Primi <om\ Missa brevis und de feria. Das Verbot des Ein-
1) Palestrina ist — und nicht nur in der Marcellusmesse, sondern
auch anderwärts — sorgfältiger, als irgend einer seiner Vorgänger. Quint-
parallelen, vor welchen letztere nicht allzuviel Angst und Scheu hatten,
meidet er — eine Stelle im Kyrie der Messe „Tu es Petrus", welche eine
Ausnahme zu bilden scheint, ist ein blosser Schreibfehler der Copisten
im Altaemps'schen Codex. Baini hat die richtige Lesart hergestellt. Die
Paralleloctaven in der Motette „Domino preces servi tuiM
sind ebenso unverkennbar ein Copistenfehler; der Alt muss heissen
2) Ein Seitenstück zu den „Neubearbeitungen der Instruraentirung"
bei Händerschen u. a. Werken!
(NB.)
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Giovanni Pieriuigi da Palestrina.
mischcns fremder Texte macht sich in der M. de B. Virgine,
einer älteren Arbeit Palestrina's , merkwürdig durch die Text-
lücken fühlbar, wo früher die gewohnten Einschübe gestanden
„Mariam gubernans — Mariam coronans". Die Misaa brevis ist
ein kleines Juwel — eine köstliche Studie über Goudimels Messe
„audi filia". Bei der Missa ad fugam darf man nicht an die
Bach'sche Fugenform denken *) — es ist eine canonische Messe
nach Art der gleichnamigen Josquins — auch wieder eine Studie,
aber eine Studie im höchsten Sinn; gleich im ersten Kyrie ist
der Canon ein ganz strenger doppelter (zwischen Bass und Alt,
und zwischen Tenor und Sopran beide in der Octave), das
Sanctus combinirt sich aus zwei Canons in Verkehrtschritten u. 8. w.
Die meisterhafteste Gestaltungskraft und die vollkommene Be-
herrschung der Tongestaltuugen eint sich mit der ungezwungensten
Führung der Stimmen und dem vollsten Wohllaut ihres Zu-
sammenklingens. Das blos zweistimmige Crucifixus überrascht
durch seine Kraft und Fülle doppelt, wenn man sich erinnert, wie
ungebührlich mager derlei canonische Duetten bei den älteren
Meistern einherzustelzen pflegen.
Am t. April 1 571 erhielt Palestrina die nach Animuccia's
Tode vacant gewordene Kapelimeisteretelle bei St. Peter — zum
zweitenmale — und, als zweite Erbschaft nach Animuccia waren
die nahen Beziehungen, in welcher Palestrina zu dem h. Philippus
Neri trat, für dessen Schüler er, wie früher Animuccia gethan,
kleine ansprechende Singstücke componirte. In diese Zeit fallen
auch zwei bedeutende, im päpstlichen Cappellenarchiv befindliche
Messen, eine fünfstimmige über seine eigene Motette O magnum
mysterium, die andere zu sechs Stimmen über das Veni creator
Spirilus, welches der Sopran als Cantus firmus immer wieder an-
stimmt — ein Motiv, welches wieder an Altniederländisches er-
innert. Pitoni erzählt, Palestrina sei durch den am 23. Juli 1580
erfolgten Tod seiner Gattin Lucrezia so heftig erschüttert worden,
dass er aller Musik zu entsagen und sein Tagewerk mit der
Motette „super flumina Babylonis" zu beschliessen im Sinne gehabt.
Die Worte des mit diesen Worten beginnenden Psalms schildern
bekanntlich, wie die trauernden Kinder Israel ihre Harfen weinend
an die Weiden hängen. Die Erzählung wird indessen bezweifelt,
weil Palestrina seinen resignirten Entschluss mindestens sehr
schnell wieder aufgegeben haben müsste, denn noch 1 582 erschien
das vierte Buch Messen — 1583 folgten die neunuudzwanzig
Motetten über das hohe Lied — eines von des Meisters Haupt-
werken. Der Inhalt des „super flumina" widerspricht aber der
Erzählung Pitoni's in keiner Weise. Es spricht sich in der ge-
1) Wie Thibaut („über Reinheit der Tonkunst*1) zur Ungebühr thut.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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nannten Motette der bitterste Schmerz, das herbste Leid in er-
greifender Weise aus — man empfindet, dass es des Meisters
eigene Seele ist, in welche wir einen Blick werfen. Wie ein
stiller Trauerzug schleichen die Stimmen hintereinander her, bis
sie bei den Worten „illic sedimus et flevimus" in vollen Accorden
mit kühnen, prachtvollen, modulatorischen Wendungen zusammen-
treten, und so weiter bis zu dem in düstere Stille verklingenden
Schluss.
Bald indessen finden wir Palestrina thätiger als je. Zunächst
widmete er Gregor XIII. (1572 — 1585) drei sechsstimmige
Messen — über Viri Galitaei, einer der schönsten Motetten Pa-
lestrina's selbst, über eine andere seiner Motetten Dum comple-
renlur und über das Ritualmotiv des Te Deum. Eine Messe Con-
filebor zu acht Stimmen a Cori spezzati, brachte 1585 Giovanni
Becci, Domherr aus Fiesole, nach Venedig, wo sie wegen ihrer
Verwandtschaft mit der venezianischen Kunstweise sehr an-
gesprochen zu haben scheint — Girolamo Scotto's Erben beeilten
sich sie in Druck zu legen, unter dem Titel: „Di M. Gio. Pier-
luigi da Palestrina una messa a otto voci sopra il suo confitebor
a due Cori".
Am 24. April 1585 bestieg der ehemalige Hirtenknabe aus
Grottamare, Feiice Peretti, als Sixtus V. den päpstlichen Thron.
Als nach vierzehntägigen heissen Wahlkämpfen der Neugewählte
in die Peterskirche im feierlichen Zuge eingetreten, intonirte die
Capelle die von Palestrina mittlerweile für die Gelegenheit vor-
bereitete Messe Tu es pastor avium, zu welcher ihm seine bereits
1563 gedruckte gleichnamige Motette die Motive bot. „Pierluigi
hat diesmal vergessen, dass er eine Marcellusmesse geschrieben1',
soll die kurze, scharfe Kritik des neuen Papstes gewesen sein.
Wäre aber, wie ein neuer Biograph des grossen Sixtus meint,
„Palestrina dadurch ins Herz getroffen'4 worden, so würde er die
Messe wohl in aller Stille bei Seite gelegt haben — aber sie ist
unter den Messen des fünften Buches zu finden, dessen Heraus-
gabe Palestrina selbst noch, hart vor seinem Tode, besorgte, und
er hätte um so minder nöthig gehabt, seine Sixtus-Messe mit auf-
zunehmen, als ihm damals noch 43 zur Zeit ungedruckte Messen
zur Verfügung standen. Baini, der in den angeblichen Tadel
pflichtschuldigst mit einstimmt, und diesmal auf seinen göttlichen
Pierluigi mit etwas komischer Ereiferung einzankt, findet die
Verbin dung gregorianisch -ritueller und frei erfundener Figural-
motive verwerflich. Als ob das ein Fehler wäre — woher hat
denn aller Contrapunkt den Anfang genommen — und wie oft
kommt diese Verbindung gerade bei den grössten Meistern, auch
bei Palestrina selbst, vor? Ebenso wenig selten ist es, schwere
Noten des Cantus firmus in lebhafter figurirte Motive austönen
zu lassen, wie Palestrina schon in jener Motette gethan, welche,
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
wenn vielleicht anch nicht seine beste, so doch sicher eine sehr
gute ist.
Ist etwas Wahres an der Anekdote, so antwortete jedenfalls
Palestrina der Kritik in der seiner würdigsten Weise: noch in
demselben Jahre 1588 — am 15. August, dem Feste der Himmel-
fahrt Marias — wurde in S. Maria Maggiore eine neue Messe zu
sechs Stimmen von Palestrina aufgeführt: „Assumpta est Maria" —
ein Wunder an Kunst und Schönheit. Sie bezeichnet vielleicht
nebst den „Motetten aus dem hohen Liede" und dem Stabal
maier den Höhenpunkt in Palestrina's Schaffen, und steht neben
der Marcellusmesse ebenbürtig da, Mit Recht sagt Proske, „der
Genius des unerreichten Meisters schwebe hier im reinsten
Aether — es liege eine Hoheit, Anmut h und Begeisterung in
dieser Messe, dass man sich unwillkürlich zu einer Vergleichung
mit Raphaels sixtinischer Madonna, ihrem würdigsten idealen
Gegenbilde, hingerissen fühlt". Baini giebt eine kurze und gute
Schilderung: „Palestrina theilt die sechs Stimmen öfter in zwei
Chöre, wechselt aber beständig mit der Zusammensetzung, so
dass er Chöre von drei , vier und selbst von fünf Stimmen er-
scheinen lässt. Dazu verbindet er die einfachen und erhabenen
Motive der Gregorianischen Antiphone mit analogen frei erfun-
denen Melodien , welche sich mit jenen anderen zu einem sinn-
reichen Ganzen verknüpfen, ihnen das Gleichgewicht halten, und
in herrlichen Accorden und ganz neuen Harmoniefolgen zusammen-
tönen." Durch die von Baini gelobte Gruppirung der Stimmen
gewinnt Palestrina einen zauberischen Wechsel von Klang-
fkrbungen. So intoniren im Gloria vier hohe Stimmen das „qui
tollis peccata mundiu — darauf alle sechs „miserere nobis" —
und nun wie ein Echo in vier tiefen Stimmen abermals „qui tollis
peccata mundi" und nun alle zusammen, einfach und mächtig:
„suseipe deprecationem nostram". Die beiden Contraltos werden
nach Bedürfhiss bald zu den hohen bald zu den tiefen Stimmen
gestellt. In den Motiven in den einzelnen Gängen, in den sparsam
aber am richtigen Orte angebrachten verzierten Stellen spricht
sich Palestrina's Schönheitssinn, sein idealer Zug in hinreissen-
der Weise aus. Die Höhe, zu welcher sich der Kirchencom-
ponist Palestrina hier emporschwingt, hat kein zweiter wieder
erreicht.
Gerade in diese Tage fiel eine unangenehme Agitation,
welche den Zweck hatte, Palestrina zum „Maestro della cappella
Apostolica" zu machen. Die Anregung soll von Sixtus V. selbst
ausgegangen sein, was bei dem bekannten Sinne dieses eisernen
Papstes für gesetzliche Correctheit und wie aus der folgenden
Darstellung sich zeigen wird, schwer glaublich ist. Vorzüglich
bemühte sich den bisher der Capelle vorgesetzt gewesene Prälat,
Monsignor Antorio Boccapadule zu Palestrina's Gunsten, und ein
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GioTanni Pierluigi da Palestrina.
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gewisser Tommaso Benigni verstand es, die Stimmen einer Anzahl
der jüngeren Sänger für ihn zu gewinnen. Aber die Mehrzahl
der Sänger, welche nach dem Motuproprio Paul IV. keinen Laien
zum Capellraeister haben wollte, leistete energischen Widerstand —
der Plan scheiterte und die Sache endete mit der Ausstossung
der vier Sänger Alessandro Merlo, Agostino Martini, Gianbattista
Giacomelli und Luca Conforti, welche während der Verhandlung
missliebige Aeusserungen hatten hören lassen, mit einer vom
1. September 1586 datirten Verordnung Sixtus1 V. „In supreina",
welche ein für allemal bestimmte, dass hinfort immer nur ein
Mitglied des Sängercollegiums Capellmeister sein sollte — und
mit 9 Scudi Strafe, welche Tommaso Benigni zahlen musste.
In der Capelle blieb selbst eine bedeutende Verstimmung
gegen Palestrina zurück. Vergebens brachte er zur Versöhnung
drei Messen dar: zwei fünfstimmige Salve Regina und O sacrum
coniivium und die seehsstitnmige Ecce ego Joannes. Es war offene,
demonstrative Feindseligkeit, wenn man es unterliess, diese vor-
züglichen Werke in die grossen Chorbücher der Capelle ein-
schreiben zu lassen, uud hätte der Capellmeister ürfei sie nach
Palestrina's Tode nicht zurückgestellt, so wären sie verloren.
Ungedruckt sind sie heut geblieben. Sixtus V., welcher sehr wohl
wusste, was er an Palestrina besitze, suchte zum Ersätze dem
Meister ein besonderes Zeichen seiner Gunst zu geben, und er-
nannte ihn zum „Compositore della cappella Apostolica".
In dieser Eigenschaft schrieb Palestrina 1587 — 1588 sein
grosses Lamentationenwerk und zwar, wie es merkwürdiger Weise
auf dem Titel heisst: „cum Privilegio Sixti V." Die Capellen-
sänger, wohl noch unter dem Einflüsse der noch fortdauernden
Verstimmung, wollten abermals Widerstand leisten, wollten an
den gewohnten Compositionen von Carpentras festhalten, diesmal
aber, wo sie den Buchstaben des Gesetzes nicht für sich hatten,
zogen sie den Kürzeren, denn der alte Sixtus fuhr mit einem
Donnerwort dazwischen, etwas worauf er sich, wie bekannt, vor-
trefflich verstand, und wo von Seite des Angedounerten aller
weiterer Widerspruch aufhörte. Baini charakterisirt auch diese
Compositum in treffender Weise: „Die Noten scheinen bei ihrer
Schwere und gleichen Geltung für den ersten Anblick bedeu-
tungslos — aber beim Anhören entwickeln sich daraus die edelsten
Melodieen — der Ausdruck ist ehrfurchtgebietend, selbst die
Pausen sind bedeutungsvoll." Allerdings ist aber der Grund, aus
welchem Baini diese Pausen belobt, etwas seltsam. „Sie geben,4'
meint er, „Gelegenheit zu einer ernsten Betrachtung des mystischen
und allegorischen Sinnes der heiligen Worte des Propheten".
Für theologische Meditirpausen sind diese flüchtigen Augenblicke
des Schweigens doch wohl etwas zu kurz, dafür aber haben
Afflbroi, Gcsohichto der Mu.ik. IV. 3
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
sie die künstlerische Bedeutung verstummenden Schmerz anzu-
deuten ,).
Palestrina hat schon früher, als er Capellmeister im Lateran
war, ungefähr gleichzeitig mit den Improperien, ein Buch Lamen-
tationen völlig ähnlichen Styls componirt. Eine andere Serie zog
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der Capellmeister am La-
teran Girolamo Chiti „ex antiquo Codice manuscripto Lateranensis
Basilicae" — eine Abschrift wird in der Corsiniana aufbewahrt —
es sind Gesänge zu vier und fünf Stimmen, offenbar in derselben
Zeit entstanden, wie die vorhin genannten. Ein grandioses La-
mentationswerk zu 5 und 6 Stimmen endlich enthält dei Codex
N. VI der Altaemps-Ottobonianischen Sammlung.
Die Lamentationen von 1 5SS dürfen so ziemlich als das Ideal
ihrer Gattung gelten2). Sie halten den von Altersher gewohnten
Ton fest, gleich das „Quomodo sedet" fuhrt das allbekannte
Ritualraotiv in wunderbar schöner Weise ein. Die erste Ein-
leitung des „incipit lamentataV mit der einfachen imitatorisch in
den vier Stimmen nacheinander leise vorüberziehenden Figur hat
etwas eigen Ergreifendes. Wie Zauberschläge treffen die Har-
moniefolgen der Stelle „plorans ploravit".
Eine zweite kaum minder grossartige Arbeit sind die Hymnen
für das Kirchenjahr, welche 1589 bei Francesco Coattino in Rom
unter dem Titel gedruckt wurden: „Joannis Petri Aloysii Praencs-
tini, Sacrae Bas. Vat. Capellae Magistri Hymni totius anni
secundum Sanctae Kornau ae Ecclesiae consuetudinem quatuor vo-
eibus concinendi, nec non hymni religionum". Diesen Compo-
sitionen liegen die uralten Melodieen der kirchlichen Hymnologie
zu Grunde. Wie Lichtstrahlen leuchten vier bis fünf Stimmen
ineinander, in den fünf- und sechsstimmigen Schlusssätzen erhebt
sich Alles zur höchsten Pracht. Der erhabene aber auch streng-
flüssige und zur contrapunktischen Verarbeitung nicht immer ge-
fügige Grundstoff ist zum herrlichsten Aufbau verwerthet. Das
Pange lingua, dem zuerst Josquin eine contrapunktisch verwend-
bare Seite abgesehen (in der Messe), findet hier an Palestrina
einen andern vortrefflichen Exegeten. Die Hymne Conditor alme
siderum steht im Glänze reiner Verklärung da; herrlich ist die
1) Auch sonst weiss Palestrina von Pausen charakteristischen Ge-
brauch zu machen. In der Motette Quid habe» Hcster schliesst er den
ersten Theil mit einer Doppeltaktpause, um der Frage „cur mihi non
loqueris?" Ausdruck zu geben.
2) Man möge ProskVs Musica divina Tom. IV. Liber vespertinus
S. 49 u. f. aufschlagen. Statt der Chiavette, welcher sich Palestrina hier
bediente, ist die Ausfuhrung mit folgenden Schlüsseln zweckmassig:
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Composition des Vexilla regis: der Satz „o crux ave spcs unica"
besondere ist von einer fast leidenschaftlichen Frömmigkeit. Die
Hymne Tristes erant apostoli, Jesus Corona virginum, Ad coenam
agni providi, anziehend durch die Vergleichung mit der gleich-
namigen Messe des Meisters und dadurch geeignet, einen bedeu-
tenden Blick in seinen Bildungsgang zu gewähren, A solis ortu
cardine, Ave maris Stella, wo dem vielbenutzten Thema ganz neue
Seiten abgewonnen sind, wie es sich denn im fünfstimmigen
Schlusssatze zum strengen Canon zwischen Alt und Tenor, in den
anderen Stimmen zur freieren thematischen Führung in der geist-
vollsten Weise gestaltet, Urbs beala Jerusalem, Ad preces nostras,
gehören zu Palestrina > trefflichsten Arbeiten J).
Zwei Jahre später (1591) erschien bei Alessandro Gardano
eine dritte grosse Arbeit Magnificat octo Tonorum über pri-
mus". Der neue päpstliche Compositor entfaltete eine erstaun-
liche Thätigkeit. Seit Carpentras war solch1 ein systematisches
Durchcomponiren der Melodieen aus der alten Schatzkammer der
Kirche nicht wieder dagewesen. Dieses erste Buch enthält
sechzehn Magnificat zu vier Stimmen; abermals zwei Jahre später
(1593) erschienen bei Coattino schon wieder „Offertoria totius
anni secundum S. R. F. consuetudinem quinque vocibus con-
cinenda", in zwei Theilen, mit 68 Offertorien 2), und „Litaniae
deiparae virginis, quae in Sacellis rosarii ubique dicatis conci-
nuntur" (in zwei Büchern). Die Art, das Magnificat zu com-
poniren, wird von Baini richtig charakterisirt: sie bestehe in der
Kunst, die Melodie, wie sie nach den acht Kirchentönen dem
Magnificat primi toni, secundi toni u. s. w. gehört, gleich vom
ersten Anfange so wie die Melodie des Mittel- und jene des
Schlusssatzes entsprechend zu fugiren, die Fugen bei unver-
ändertem Hauptthema in jedem Vereett abwechseln zu lassen,
und die Nebenmotive aus dem Hauptmotive zu bilden. Die
Magnificat Palestrina's zeigen, welche Fülle des Herrlichsten
sich unter so einschränkenden Bedingungen entwickeln lasse.
Girolamo Chiti fand im Archive des Lateran einen Band anderer
Magnificat zu fünf und sechs Stimmen 3). Die Compositionen sind
überaus reich und glänzend; die vortrefflichen Magnificat von
Murales erscheinen dagegen fast wie anspruchslose, aber freilich
meisterhafte Skizzen neben ausgeführten Gemälden. Auch hier
hat Palestrina eben „der Pyramide den letzten Stein aufgesetzt".
Studien nach Costanzo Festa oder gar Nachahmungen seines
Styles, wie Baini will, dürften hier schwerlich zu erkennen sein,
1) Kiese wettere Sammlung enthält die hier genannten in Partitur.
2) Darunter das Exaüabo te, welches Burney, hist. of mus. 3. Bd.
S. 191 u. f. mittheilt.
3) Eine Abschrift auch im Liceo filarmonico zu Bologna.
3*
36
Giovanni Pierluigi da Palestrina.
sie gehen über Costanzo Festa's Weise hinaus. Allerdings aber
mögen diese Compositionen aus der Zeit herrühren, wo Palestrina
Capellmeister der Lateranischen Basilica war und dort Costanzo's
Werke mit Antheil studirte. Es kommen auch hier schon jene
Entgegenstellungen der Klangfarbe vor, mit denen Palestrina so
grosse Wirkungen hervorzurufen versteht: so wird im Magnificat
des ersten Tones der Satz „quia fecit mihi magna" hohen, hell-
tönendcn, der Satz „esurientes" tiefen Stimmen zugewiesen ; oder
man sehe die kurze dreistimmige Episode gegen den Schluss des
höchst brillanten „Sicut locutus est" im Magnifical des zweiten
Tones, die an Aehnlichcs in der Messe Assumpta anklingt. Ueber-
haupt aber tritt der Charakter des Brillanten hier öfter, als sonst
bei Palestrina der Fall ist, hervor. Pater Martini hat an dem
„reizenden und lieblichen" (vago e dilletevole) Thema des „Sicut
erat" im Magnificat tertii toni seine Freude: „siehe da, eine Fuge,"
ruft er aus, „die zugleich gefällig und streng nach den Kegeln
der Meister gearbeitet ist". Auch in besonderen Satzktinsten legt
hier Palestrina Meisterproben ab. So entwickelt sich in dem
siebenstimmigen „Sicut erat" des Magnificat quarti toni aus dem
Tenor ein doppelter Canon in der Quinte und in der Octave,
welch' beide letztere nur durch den Kaum einer Semibrevis aus-
einandergehalten werden.
In jene reiche Zeit Palestrina's fällt auch das 1 590 gedruckte
fünfte Buch seiner Messen, welches er dem Herzoge Wilhelm II.
von Baiern widmete. Es enthält vier Messen zu vier Stimmen :
Aeterna Christi munera, Jam Christus astra ascenterat, Panisquem
ego dabo, Iste confessor; zwei Messen zu fünf Stimmen: Nigra tum
und Sicut lilium inter spinas, und zwei Messen zu sechs Stimmen:
Nasce la gioia mia und Sine nomine, Arbeiten ihres Meisters werth,
insbesondere ist die Messe Iste confessor in ihrer kry stall klaren
Durchsichtigkeit äusserst schön und durch die Vergleichungen
mit Palestrina's Bearbeitung desselben Cantus firmus in dem vor-
genannten grossen Werke der Hymnen, welche einen ganz anderen
Charakter hat, doppelt interessant. Das einfache Motiv giebt in
der Messe zu einer Menge von Gestaltungen Anlass: ein merk-
würdiges Stück ist das lienedictus für Alt und zwei Bässe. Diese
Sammlung ist bedeutender als das 15S2 bei Alessandro Gardano
in Kom erschienene, Gregor XIII. gewidmete vierte Buch, das
sieben Messen im Ganzen leichteren Styles enthält, darunter drei
fünfstimmige. Palestrina scheint, nach einer Stelle seiner Vorrede
zu schliessen, diese Messen früher bei verschiedenen Gelegenheiten
gesetzt zu haben. Die bedeutendste vielleicht ist die letzte Messe
0 magnum mysterium, — wenn sie auch nicht gerade an die
alleibedeutendsten Werke Palestrina's völlig hinanreicht-, einzelne
Sätze, wie das dreistimmige Pleni, leuchten aber auch hier wie
Diamanten. Es scheint, dass der Meister diese Messen zusammen-
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Giovanni Pierluigi da Paleätrina.
37
suchte, um den Papste Gentige zu thun, der nach einer neuen
Publication Palestrina's einige Ungeduld merken Hess.
Gleichzeitig vielleicht mit dem Buche Messen, welche Pa-
lestrina dem Herzoge von Baiern widmete, mag eine achtstimmige
Messe „sine nomine" sein, von Baini als verschollen beklagt,
nicht in Rom zu finden — glücklicher Weise aber in der
Münchener Hof- und Staatsbibliothek, wohin sie mit dem Dedi-
kationsexemplar der gedruckten Messen gekommen sein dürfte —
es ist aber auch möglich, dass sie schon aus den siebenziger
Jahren des Säculums herrührt, wo Palestrina, wie das dritte Buch
seiner Motetten, das 1575 erschien, wahrnehmen lässt, gelegentlich
zu acht Stimmen schrieb — bei ihm am Ende doch eine Aus-
nahme. Die Münchener Messe darf für den achtstimm igeu Satz
mustergültig heissen — gedruckt wurde sie nie l). Zuweilen, wie
im zweiten Kyrie, im „Qui tollis" scheiden sich die acht Stimmen
fühlbar in zwei correspondirende Gruppen, insgemein aber greifen
«ie alle acht in einander ein, so dass wir hier ein wirklich acht-
stimmiges (nicht: zweimal vierstimmiges) Tongefüge vor uns
haben. Die Leichtigkeit und die Eleganz der Formen, mit welcher
Palestrina die schwierige Aufgabe zu überwältigen weiss, ist be-
wundernswerth (anderwärts, wie in der auch achtstimmigcn herr-
lichen Motette Surge illuminare Jerusalem, nähert sich Palestrina
mehr der Weise der getheilten venezianischen Chöre). Dass die
«cht Stimmen der Messe die kunstvollste Textur von Imitationen
bilden, dass wir nirgends roher Masse begegnen, sondern alles
bis in die letzten Einzelnheiten hinein durchgebildet und belebt
ist, versteht sich bei einem Meister wie Palestrina von selbst.
Einzelne Stücke, wie das Crucifixus und das Benedictus, sind
nur vierstimmig gesetzt — lichter, durchsichtiger, in wohlberech-
neter Wirkung.
Eine zwölfstimmige Messe soll sich (unverbürgten Angaben
nach) im Archiv der Peterskirche befinden. Sie wäre eine Spe-
zialität — Palestrina liebt die Stimmenhäufung nicht, wollte er
mehr als vier Stimmen anwenden, so griff er am liebsten zum
sechsstimmigen Satz. (Ein dreichöriges Stabat mater in der
Altaemps'scben Collection ist schwerlich von Palestrina. Darüber
weiterhin.) Freilich sind acht und selbst zwölf Stimmen noch
immer wenig gegen die vierundzwanzig und achtundvierzig, welche
die Generation nach Palestrina als musikalische Weltwunder schrieb
und als musikalische Weltwunder anstaunte. Was sind Palestrina's
bescheidene acht Notenzeilen gegen die vierundftinfzig Noten-
systeme, welche die Riesenpartitur der Salzburger Riesenmesse
1) Ein gelehrter Musikfreund aus Schweden. Herr Ansh. M. Aogman,
hat sie in Partitur gesetzt. Seiner freundschaftlichen Güte verdanke ich
eine Abschrift.
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38 Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Orazio BenevolTs l) als ein Monstrum von Musik erscheinen
lassen!
Das Verhältniss der Motetten Palestrina s zu seinen Messen
ist jenem sehr analog, in welchem wir in einer früheren Kunst-
epoche die Motetten und Messen Josquins unter einander gefunden
haben. Wie bei dem älteren niederländischen Meister finden wir
bei Palestrina eine Anzahl von Motetten, welche, ohne auf den
Sinn der einzelnen Textesworte Gewicht zu legen, vorwiegend
ein tüchtiges contrapunktisches G eftige sind, welches aber durch
die mächtige Kraft der Themen, durch die Schönheit des Zu-
sammenklanges imponirt, seine Berechtigung aber, diesen oder
jenen Worttext zu enthalten, nur durch den entweder notengetreu
als Tenor zwischen die anderen contrapunktirenden Stimmen ein-
gefügten rituellen Cantus tirmus oder durch die auf das offizielle
kirchliche Thema deutlich anspielende Thcmenbildung legitimirt.
Zur Erläuterung des Gesagten mögen hier die beiden meister-
haften Motetten Beatus Laurentius dienen, die fünfstimmige, wo
dem einen der beiden Tenore nichts mehr und nichts weniger
zugetheilt ist, als die kirchliche, notengetreu reproduzirte Anti-
phone, und die vierstimmige, für deren Motive die Tonschritte
1. 4. 3. 1. massgebend sind, weil sie jene Antiphone kennzeichnen
(„il Canto fermo della quäle si distingue per la grandiosita e
soavita della mclodia" sagt Pater Martini). Das ist der ältere
Standpunkt, den auch die Altmeister Hobrecht und Okeghem
(deren Namen für G. B. Doni ein Gräuel sind!) einnehmen, das
„musikalische Waldesbrausen und Meeresrauschen". Die vier-
stimmige Motette, die wir eben genannt, bildet indessen schon den
Uebergang zu der zweiten, freieren, leichteren und weitaus zahl-
reicheren Gattung der Palestrina-Motetten.
Wir bemerkten schon früher, dass Josquin — fast könnte
man sagen: zu seiner eigenen Ueberraschung — die Wahrnehmung
macht, die Musik könne nicht blos klingen, sondern auch etwas
sagen; sie könne die Fluctuationen des Gemtithslebens malen,
und zwar bis in Regionen hinein, wo das begriffscharfe Wort
nicht mehr nach kann-, ja, der auf- und absteigende Tongang,
der helle und tiefe Klang u. s. w. habe seinen malerischen Werth,
1) Die Originalpartitur, Benevoli's Autograph, wurde vom Bibliothekar
des Mozarteums, Herrn Jehnek, aus dem Nachlasse eines erzbischöflichen
Kammermusikers und gewesenen Chordirektors, Namens Fuetscb, und vor
den Klauen eines Geworzkrämers gerettet, welcher das Biesenfolio zur
Verfertigung von Papiersäckchen rar sehr brauchbar erkannt und den
Vorsatz getaast hatte, das Ding der Wittwe Fuetsch für einige Groschen
abzukaufen. Die Partitur befindet sich letzt im Mozarteum. Benevoli
componirte die Messe eigens zur Einweihung des neu erbauten Domes,
welche am 24. September 1628 stattfand. Nach dem Agnus folgt eine
Festcantate, voll Anspielungen auf Salzburg und dessen Schutzheilige.
Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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es gebe sogar bis für das Einzelne Wort Etwas, was man „Ton-
malerei" nennen könne.
Von dieser wahrhaft ungeheueren Entdeckung macht Josquin
in seinen Memsen so wenig Gebrauch, wie Palestrina in den
seinigen — von den stark contrastirenden Einzelheiten neuerer
musikalischer Messen (wie das „Crucifixus" und „Resurrexit") ist
keine Rede, wenn auch Einzelnes, wie insbesondere das „Incar-
natus" oft eine noch ruhigere und feierlichere Färbung annimmt,
und sich charakteristisch aus dem Uebrigen hervorhobt
Die Motettentexte mit ihrem mannigfaltigen Inhalt aber regten
au. auch die Musik, ihnen entsprechend, mannigfaltig, und nach
dem Sinn der gesungenen Worte charakteristisch zu gestalten.
Hier begnügt sich nun Palestrina so wenig, wie sich Josquin
begnügte, etwa nur schöne und wohlklingende Musik zu machen,
deren Text eben nur den Haken bildet, an den diese Musik
gehängt wird, und Sinn und Inhalt der Worte nicht weiter zu
beachten, sondern eben nur dem Ganzen eine einfach grosse
Färbung zu geben, oder aber die Worte nur durch Herbeiholen
des ihnen im Ritualgesang zugewiesenen gregorianischen Motives
zu charakterisiren. Wie Josquin malt vielmehr Palestrina aufs
Feinste und Geistreichste ins Detail, oft bis zur sinnreichen
Illustrirung eines einzelnen Wortes, ja gelegentlich bis zur ent-
schiedenen Tonmalerei Es ist kein Zufall, wenn er in der Mo-
tette „Surge, propera amica mea" und nochmals „Surge amica
mea" und „Surgam in circuita" (alle drei unter den Motetten aus
dem hohen Liede) und in einer andern „Surge, illuminare Jeru-
salem" das gleichlautende erste Wort mit einem fast indentischen
ngurirten Motiv eintreten lässt, wobei er übrigens nicht verlegen
ist, fftr eine zweite Composition des „Surge propera" (unter den
vierstimmigen Motetten ftir das Fest der Heimsuchung) eine völlig
verschiedene, aber wiederum charakteristische Musik zu finden.
In Sätzen, wie „quae est ista, quae processit" oder „quam
pulchri sunt gressus tui" giebt er den Motiven deutlich den
Ausdruck des Fortschreitens — „ad te levavi oculos meos", „ad
Dominum cum tribularer clamavi", „Sagittae potentis, Sur-
rexit pastor bonus, trahe me post te, Descendi in hortum
meum, veni, veni dilecte mi — Surge Petre — exultate
Deo adjutori nostro" — das Textwort bringt das bezeichnendste
Motiv mit sich — feinsinnig ist es, wenn zu Anfang der Motette
,,vox dilecti" (aus dem hohen Liede) das Wort „vox" in einem
vollen Accord, wie horchend, auf einer langen Note ausgehalten
wird — und nun rascher wiederholt: „vox dilecti" u. s. w., wenn
zu dem Worte „o quantus luctus hominum" das „quantus" durch
einen Octavenschritt aufwärts mächtig hervorgehoben wird. In
derselben Motette betont er sehr bezeichnend die contrastirenden
Worte „gaudere" und „flere".
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Zuweilen fasst Palestrina den Namen des Heiligen, welchen
er zu preisen hat, in eine zierliche Notengnippe ein, wie in einen
goldenen Nimbus: „Magnus Sanctus Paulus; Beatus Laurentius"
u. s. w. Zuweilen streift er geradehin ans Dramatische — wie
in der Motette „Pueri Hebreorum portantes ramos" mit dem
jubelnden „Osanna" — nur für hohe Stimmen gesetzt, ein wahres
Kinderjauchzen — ganz den Moment bezeichnend, und der Motette ;
„Surge Petrc indue te vestimentis tuis". Aufs mannigfachste ge-
stalten sich die Tonsätze — bald treten die Stimmen figurenartig
eine nach der anderen ein — bald alle zusammen, mehr choral-
artig, wie in dem herrlichen mystisch-feierlichen „Adoramus te
Christe" und in förmlich gegen einander gestellten Accordgruppen
in dem Gesang zum Allerheiligenfest: „Salvator mundi, salva nos
omnes" — einem wundersamen Mittelding zwischen Motette und
Litanei. Oft giebt eine Wendung im Texte der Musik augen-
blicklich eine andere Färbung. In der Motette „valde honorandns
est sanctus Joannes" wird bei den Worten „cui Christus in enice"
plötzlich alles hochfeierlich — das bisherige reiche Stimmen-
gewebe macht einfach und mächtig tönenden langsam bewegten
Accorden Platz , es ist ein Moment als verstummen die tausend
Stimmen der Erde, um fremden Klängen aus fernen, tiefen
Himmeln voll Ehrfurcht zu horchen. Nach Beschaffenheit der
Texte giebt Palestrina seiner Musik jedesmal die entsprechende
GrundfUrbung. Er hat in der Vorrede seiner Motetten aus dem
hohen Liede darüber gelegentlich ein kurzes aber bedeutungs-
volles Wort fallen lassen: „usus sum genere aliquanto alacriore,
quam in Ecclesiasticis cantibus uti toleo : sie enim rem ipsam
postulare intelligebam". Eine eigene Gruppe bilden Pa-
lestrina's Marienmotetten. Wie feierlich-erhaben, ernst, mystisch,
ist die Motette „Nativitas tua Dei genitrix" — mit dem lang
austönenden Durdreiklang — und hinwiederum, wie ganz engel-
haft verklärt sind die Mariengesänge für hohe Stimmen: Ave
Regina coelorum; Alma Redemptoris, Salve Regina, Ave Maria —
die uralten Kirchenmelodieen klingen durch — zur entzückendsten
Schönheit gestaltet. Wie eine Rose aus dem Paradiese, wie ein
strahlender Stern am klaren Himmel Über rollenden Meereswogen
leuchtet durch die christliche Musik, wie durch die christliche
Malerei, Maria. Was für Tondichtungen sind nicht schon die
Marienmotetten Josquins! Und den gleichen Ton schlägt auch
Palestrina an — seine wunderbaren Gesänge sind tönend ge-
wordene KaphacVsche Marienbilder!
Es möge hier zur Ehre Josquins, dieses genialsten unter den
Tonsetzern der Vor-Palestrinazeit, bemerkt werden, dass seine Mo-
tette oft genug einer Ankündigung der Motetten Palestrina's
gleichen. Palestrina's Compositum zum Feste der Verkündigung
(Nr. 7 im ersten Buche der vierstimmigen Motetten) zeigt die
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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grösste Verwandtschaft mit ähnlichen Tonsätzen des altnieder-
ländischen Meisters — und der zweite Theil der Motette „ad te
levavi", welcher mit den Worten beginnt „miserere nostri Domine"
ist ein förmliches Seitenstück zu Josquins „tu pauperum refugium'4.
Schlagen wir das erste Buch der „Motecta FeBtorum totius anni
cum communi Sanctorum, quaternis vocibus" auf, und wir werden
uns gleich bei der ersten Dies xunclificatus entschieden an Jos-
gemahnt finden: erst die zwei hohen Stimmen hinter einander
bescheidenen Schrittes hergehend, aber in wohlgeführtem Canon,
dann die genaue Wiederholung des eben Gehörten durch die zwei
tiefen Stimmen, aber auf die zweite Takthälfte gerückt, während
die zwei anderen ihren Weg darüber fortsetzen (man sieht, welche
guten Früchte die alte Schulübung trug, zu zwei fertigen Stimmen
eine dritte und vierte zu setzen), dann der anregende Ruf „venite
populi" bis alle Stimmen, zusammen einsetzend, in prachtvollen
Harmonien den Kernpunkt des Ganzen hervorheben „quia hodie
descendit lux magna" mit der so einfachen und so wirksamen
Tonmalerei des „descendit" — und endlich daktylisch, in un-
geradem Takt der Satz „exultemus et laetemur" — wie das
Ganze ein gottesdienstlicher Tanz beschliesst. Dies ist ganz
richtiger wiedergeborener Josquin — wiedergeboren aber im
Lichte einer neuen Zeit und in höherem Sinne. Palestrina scheint
diese seine Motette mit Recht geschätzt zu haben — er hat dar-
über eine seiner schönsten Messen componirt
Die zwei Bücher vierstimmiger Motetten „Motecta Festorum
totius anni cum communi Sanctorum" (1563) und „Motecta quatuor
vocibus, partim pleno voce, partim paribus vocibus" (1581) ent-
halten 57 derartige Compositionen und in ihnen einen unergründ-
lichen Schatz an Musik. Nach der Motette „Veni sponsa Christi"
(Nr. XXXV des ersten Buches) hat Palestrina hernach eine
seiner kleineren, aber liebenswürdigsten und anmuthigsten Messen
geformt. Einzelne Motetten sind wahre Pracht- und Glanz-
nummern voll Festesfreudigkeit, wie die Pfingstraotette ,,loque-
bantur variis linguis", mit dem kleinen zierlichen Motiv auf die
Worte „magnalia Dei" und dem wiederholten Alleluja. In der
Compositum des 42. Psalms, der wie bekannt mit dem, ver-
zehrende Sehnsucht malenden Bilde beginnt „sicut cervus desi-
derat ad fontem aquarum" ist der vorherrschende Ausdruck zur
süssen Wehmuth gemildert, wie sie sich etwa in manchen jugend-
lichen Köpfen Perugino's so lieblich-schwärmerisch ausspricht —
nur stellenweise macht sich ein momentanes, tief schmerzliches
Aufblicken bemerkbar ').
1) Aeusserst schön ist das lange Austönen des Altes auf die Worte
„fontem aquarum", während schon die anderen Stimmen eine neue Periode
intoniren „ita desiderat" u. s. w.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Neben den Motetten zu vier Stimmen stehen, ebenbürtig an
Werth, und noch glänzender in der Ausstattung die fünf-, sechs-,
sieben- und achtstimmigen. In den fünfstimmigen genügt die
eine, fünfte Stimme, um durch sie, indem sie sich bald den beiden
höheren, bald den zwei tieferen Stimmen gesellt, alternirende
kleine dreistimmige Chöre im Wechseigesange einander gegen-
überzustellen und eine Fülle neuer Combinationen zu gewinnen.
Gleich die erste Motette im ersten Buche o admirabüe commerlium
zeigt diese Anordnung, welche sich in der folgenden Senex puerwn
portabal zu grosser Pracht entfaltet. Das reichste Stück dieser
ersten Sammlung möchte wohl die Himmelfahrts- Motette sein :
Viri Galilaei, mit der merkwürdig betonten Frage „quid statis
aspicientes ad coelum44 und dem jauchzenden Triumphgesang des
zweiten Theils „ascendit Deus in jubilatione". Würdig reiht sich
die Pfingstmotette an: Dum complerentur , voll regen Lebens in
allen Stimmen — in diesen beiden Werken tritt der erzählende
Zug besonders deutlich hervor. Voll tiefer Andacht sind die »
Gebete O Domine Jesu Chrisle adoro ie in cruce vulneratum und
Crucem sanetum subiü — eines der Hauptstücke der päpstlichen
Capelle ist die Motette: 0 beata et benedicta et gloriosa Trinitas.
einfach und grossartig ist O magnum mystenum 1). Ein Kunst-
stück an Tonsatz stellt die Motette O virgo prudentissima vor —
Ihre fünfte Stimme entsendet zwei Canons — aufwärts in die
Quinte, abwärts in die Quarte, wodurch die Composition sieben-
stimmig wird. Dieses erste Buch enthält 21 Motetten zu fünf
Stimmen, 7 sechsstimmige, 2 siebenstimmige, das zweite Buch
bringt 17 fünfstimmige, 8 sechsstimmige, 4 achtstimraige Ton-
sätze. Unter den sechsstimmigen das gepriesene Tribularer si
nescirem, mit dem „Miserere mei Deus" als auf- und absteigenden
„Pes in voce media" — die neue Verwerthung des gleichen
Josquin'schen Gedankens. Peccantem me quotidie ergeht sich
(absichtlich) in herben, scharfen Zügen, — erschütternd klingen
die beiden mächtigen Einsätze „timor mortis" und „miserere mei
Deus" — in diesem zweiten Anruf drückt sich aber auch zugleich
der Uebergang von angstvoller Bedrängniss zu hoffnungsvollem
Vertrauen aus — es ist in diesen wenigen Takten, als senke sich
erquickender Thau auf verbranntes Land. Ein kunstvolles Stück
feinen Imitationengewebes ist die Motette Gaude Barbara beatay
in der sechsstimmigen Motette Sancta et immaculata wird ein
Canon „in Diatessaron" im Sinne älterer Kunst eingefügt. In
1) ßaini sagt davon: „una nuova collozione — la dovette dedicare
indubitamento al Cardinale Ippolito di Ferrarau. Trotz dieser „zwingen-
den Notwendigkeit" ist diese Sammlang aber, wie das neuerlich von
Theodor de Witt aufgefundene Exemplar zeigt, dem Herzoge Wilhelm
von Mantua gewidmet.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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der Motette Aseendo ad pairem erscheint wiederum (wie in der
vorhin erwähnten „0 quantus luctus") der ungewöhnliche Effekt
eines Octavenschrittes nach oben.
Dass die achtstimmigen Motetten im dritten Buche (Lauda
Sion Veni Sanctae; Ave Regina u. a.) völlig „Chori spezzati" dar-
stellen, nimmt Baini — der dem Haupte seines göttlichen Pier-
luigi gerne alle möglichen Lorbeerkronen aufstülpen möchte —
für Palestrina als „Erpfindung" in Anspruch und schilt die Vene-
zianer „unvollkommene Nachahmer". Ein Blick auf die Chro-
nologie der Werke Adrian Willaerts und der Werke Palestrina's
hätte ihn eines Anderen und Besseren belehren können (Andrea
Gabrielis zu geschweigen) , und was den Zeitgenossen Johannes
Gabrieli betrifft, so tragen seine Werke eine von dem römischen
Styl Palestrina's so grundverschiedene, specifisch-venezianische
Färbung, dass an eine „Nachahmung" von Seiten des veneziani-
schen Meisters in keiner Beziehung zu denken ist. In S. Marco
drängten die beiden einander gegenüberstehenden Musik gallerien
des Presbyteriums so zu sagen von selbst zu correspondirenden
Doppelchören — in Rom zeigt keine einzige Kirche eine gleiche
Anlage, am wenigsten schon die sixtinische Capelle mit ihrer in
die rechte Seitenwand eingezwängten Sängertribüne. Eher wäre
zu glauben, dass Palestrina den venezianischen Gedanken aufgriff,
welcher ja auch nordwärts Anklang und Nachahmung fand, wie
das „Te Deum" von Jacobus Vaet beweist.
Das dritte Buch Palestrina's enthält unter den fünf- und
secbsstimmigen Motetten einiges, wenn nicht Geringe, so doch
Geringere — aber auch Compositionen ersten Werthes, wie das
achtstimmige Surge, illuminare Jerusalem, das völlig in lauter Licht
und Glanz aufgeht, und das hoch jauchzende Jubilale Deo. Sehr
hübsch ist der Einfall, in einer Cäcilienmotette die Worte „can-
tantibus organis" zu illustriren und die Menschenstimmen eine
Art kleinen Orgelpräludiums ausführen zu lassen — noch origi-
neller ist es, dass in der fiinfstimmigen Motette Angelus Domini
descendii recht deutlich gemalt wird, wie sich der Engel — setzt.
Zu dem Einfachsten und Edelsten in diesem Bande gehört das
sechsstimmige 0 bone Jesu, welches den specifischen Palestrinastyl
in seiner idealsten Reinheit darstellt
Das vierte Buch enthält die gepriesenen 29 Motetten nach
Worten des hohen Liedes — sämmtlich zu fünf Stimmen —
Schöpfungen einer neuen Begeisterung, zu welchen sich der Ton-
dichter (denn hier ist er es ganz besonders und in vollem Sinne
durch die farbenglänzenden Bilder des orientalischen Dichters
anregen liess, und welche ohne Frage zu dem Höchsten zählen,
was die Musik in irgend einer Epoche hervorgebracht haben
mag. Die Färbung ist durchaus mystisch — von „dramatischer
Intention'4 ist keine Rede, so entschieden Palestrina auch seiner
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Musik ihren Charakter nach den jeweiligen Worten der Dichtung-
giebt, und so lebendig und wahr der Ausdruck der Empfindung
überall wie ein Glutstrom hervorbricht — zitirt ja doch selbst
Athanasius Kircher die Stelle „quia amore langueo" als „muster-
giltige Schilderung" (paradigma) des „Affektes der Liebe — freilich
einer anderen, als der herkömmlichen „madrigalesken" — es ist
der himmlische Eros, welcher hier seine Schwingen regt — die
Stelle (zu Ende der Motette Ecce tu pulcher es) athmet aber
wirklich eine Glut und Sehnsucht — eine „Wonne der Wehmuth",
welche im Palestrinastyl doppelt überrascht J).
Palestrina lässt die Wechselgespräche der Liebenden und
ihre Monologe wie von Engelschören vortragen, und gerade dieses
giebt den wunderbaren Tondichtungen das Mystische, dessen wir
vorhin gedacht, diese Musik ist ganz durchgeistigt, während die
Liebesworte der Dichtung, wären sie mit dem Zuge heisser Leiden-
schaftlichkeit im Sinne der kurz nach Palestrina entstandenen
dramatischen Tonkunst — etwa wie Claudio Montevcrdc's Ari-
adnenklage, oder der Monolog seiner Penelope — componirt, also
getragen vom mächtig-sinnlich anregenden Medium der Musik,
eine Färbung annehmen würden, dass man zu dem altjüdischen
Verbot „das hohe Lied nicht vor dem dreissigsten Lebensjahre
zu lesen1', einen Zusatzartikel machen mtisste: es nicht vor dem
sechzigsten zu singen. Palestrina leiht seine Tonsprache, ganz
im Sinne der Kirche, keinem realistischen, sondern einem mystisch-
allegorischen Brautpaar, und taucht er seine Tonweisen in Feuer
(was er in der Vorrede aber, höchst bescheiden, als „genus alacre"
bezeichnet), so ist's in der Sphäre jenes Feuerhimmels, von
welchem Dante in seinem „Paradiso" singt Welchen über-
mächtigen Duft von Poesie strömt die Stelle aus: „ego flos campi
et lilium convallium," wie süss klagend und voll zarter Sehnsucht
ist der Gesang „vulnerasti cor meum", wie sind die reizenden
Bilder des erwachenden Lenzes in der Motette: „Surge, propera"
gemalt — wie dringend ist der Ton der Bitte „ad juro vos filiae
Jerusalem", wie zierlich und anmuthig ist die den Moment fein
malende Bewegung des „Dilectus meus descendit in hortum
suum" — man meint es mit Augen zu sehen. Um die ganze
Eigenthümlichkeit dieses musikalischen Canticum Canticorum und
den Unterschied von den sonstigen Motetten Palestrina's klar
einzusehen, genügt es, diejenigen Texte, welche von Palestrina
ein zweitesmal, ausserhalb dieses Cyclus componirt sind, auf-
zusuchen, und die Compositionen neben einander zu halten. Es
sind die Texte Surge, propera (I. N. XVI; Cantic. N. XV), Quae
1) Die Worte kommen zweimal vor — in N. 8 und N. 19, in letzterem
Stöcke episodisch, wohingegen in ersterem, wo sie den Schluss bilden.
Dagegen gipfelt der Ausdruck des Ganzen in ihnen.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina. 45
est ista (L N. XIX; Cant N. XXIII) und Quam pulchri sunt
gressus (I. N. XXVIII; Cantic. N. XXV).
Und noch einen Blick in die Dedicationsvorrede zu machen,
in welcher sich Palestrina so reumüthig über seine weltlichen
Madrigale äussert, möchte der Mühe werth sein. Nachdem Pa-
lestrina die Poeten und ihre Dichtungen gescholten „carmina
amorum a christiana professione et nomine alienorum argumento —
carmina hominum vere furore correptorum ac juventutis corrup-
torum" schilt er die Musiker, welche dergleichen in Musik setzen,
und fährt fort: „ex eo numero aliquando fuisse me, et erubesco
et doleo. Sed quando praeterita mutari non possunt, nec reddi
infecta, quae facta jara sunt, consilium mutavi. Itaque et antea
elaboravi in iis, quae de laudibus Domini nostri Jesu Christi,
Sanctissimaeque ejus matris et Virginia Mariae carminibus scripta
erant, et hoc tempore ea delegi, quae divinum Christi sponsaeque
ejus animae amorem continerent, Salomonis nimirum cartica."
Gedruckt wurden diese Motetten 1584, gewidmet sind sie dem
Papste Gregor XIII., welcher von 1572 bis 1585 regierte, die
Compositionen sind also kurz vor ihrer Publikation („hoc tempore' )
componirt. Wie kommt Palestrina dazu, erst jetzt, 29 Jahre
nach dem Erscheinen der weltlichen Madrigale, ein solches „pater
peccavi" anzustimmen?! Die Sache ist klar — der weltlichen
Liebe der Madrigale setzt er die geistig - mystische dieser Mo-
tetten entgegen — es ist eine Phrase, im Geschmack der Vor-
reden jener Epoche — und schwerlich mehr — es gab eine
passende Wendung, und so sucht Palestrina eigentlich weniger
seine ersten Madrigale zu desavouiren, als die neuen Hohelied-
Motetten möglichst in glänzendes Licht zu stellen, was man einem
Autor und Dedicanten nicht übel nehmen kann. Und so ist am
Ende die ganze Geschichte von den „bittein Bemerkungen",
welche er über seine Madrigale hören musste, einfach in das
Reich der Fabeln zu verweisen. Die verbissensten Zeloten hätten
es kaum fertig gebracht, ein volles Viertelsäculum über eine Col-
lection „anstüssiger" Madrigale zu zetern und zu eifern — zumal
wenn diese anstössigen Madrigale gar nichts Anstössiges ent-
hielten. In diesen fünfundzwanzig Jahren hatte Rom gelegentlich
ganz andere Dinge zu sehen und zu hören bekommen, es genüge
an Giulio Romano's sechzehn von Marcanton gestochene Gruppen
und an Pietro Aretino's dazu gehörige „Sonetti lussuriosi" zu
erinnern, welche allerdings die Folge hatten, dass Clemens VII.,
den hernach von Julius III. wiederum auf s Gnädigste auf-
genommenen Poeten, „das Phänomen der Unsittlichkeit" , wie
ihn Gregorovius nennt, aus Rom verbannte. Im Vergleiche
zu dem Pfuhl aretinischer Verse konnten die von Palestrina
componirten allenfalls von den Engeln im Himmel gesungen
werden!
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
In demselben Jahre 1584, wie das die Motetten aus dem
hohen Lied enthaltende vierte Buch, erschien das fünfte Buch.
Als erstes Stück dieses fünften Buches überrascht — nicht
gerade angenehm — eine feierlichst in Musik gesetzte Dedication
an den Cardinal Andreas Bathori, Neffen des braven Siebenbürger-
fursten und Polenkönigs Stephan Bathori, dessen im Text der
bezüglichen Motette (Laetus hyperboream volel hic concentus ad
aulam sind die Anfangsworte) mit dem Ausrufe „Polonia felix!
Secula longa servet Deus utrumque" (nämlich dem königlichen
Oheim und Seiner Eminenz dem Neffen) als eines noch Lebenden
gedacht wird — wornach also diese Composition zwischen den
Jahren 1575 — 1531 entstanden sein muss, während das sie ent-
haltende Buch erst 1584 gedruckt wurde, wo jener Wunsch
langen Lebens für König Stephan schon zu spät kam und sich
nun fast wie eine Ironie ausnimmt. Die Dedicationen Palestrina's
scheinen in der That überhaupt nur da zu sein, damit wir ihn
nicht ganz und gar für einen Engel halten. Es ist schmerzlich,
in einem Meister, der wie ein Himmelsbote dasteht, einen ge-
bückten Dedicanten bei allen möglichen Heiligkeiten, Majestäten,
Hoheiten und Eminenzen zu finden, von denen manche zuweilen
weit genug von Rom hausten. Die Dedication des ersten Buches
Messen an Julius HI. trug, wie wir sahen, ihre Früchte, ob aber
aus Madrid, München oder der „Aula Hyperborea" etwas „Reelles"
als Dank zurück nach Rom spedirt wurde, bleibt höchst zweifel-
haft. Hatte indessen doch schon der ernste Morales seinen zwei
Büchern Messen stattliche Dedicationen — aber mit des Spaniers
würdigen, edel-stolzen Vorreden — vorangestellt, und das „De-
diziren" ist seitdem in der Musik löblicher Gebrauch geblieben —
bis auf diesen Tag. Die Poeten machten es ja im Grunde noch
schlimmer! Wenn Ariosto sich nicht schämt, dem Texte seiner
unsterblichen Gedichte („eines der prächtigsten Phänomene ita-
lienischen Geistes" nennt es Gregorovius) den Kleks anzuhängen,
dass er ein Ungeheuer, wie Hippolyt von Este, als .,Erculea prole,
ornamento e plendor del seeol nostro" begrüsst und sich selbst
als „rumil servo vostro" *) hinstellt, wennTasso den Herzog Alfonso,
der ihn später in die Narrenzelle sperren Hess, als „magnanimo
Alfonso" anredet2), so steht Palestrina mit seiner fUnfstimmigen,
in der That musikalisch schönen und nobeln Motette völlig ge-
rechtfertigt da3).
1) Orl. Für. Canto I. 3.
2) Gerus. libr. 2. 4.
3) Die italienischen Poeten konnten sich ihrerseits auf die antiken
berufen. Virgil redet gleich im zweiten Vers seiner „Georgica" mit einem
eingeflickten „Mäcenas" den „Musarum fautor optimus maximus" (wie
ihn Scaliger nannte) ganz nnmotivirter Weise an — und nachdem er sofort
verschiedene Götter des Landbanes angerofen, wird auch Cäsar Augustus
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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Sehen wir, nach dieser musikalischen Aufwartung beim Car-
dinal Bathori, das Buch weiter durch, so finden wir mehr als
eine Nummer, welche ein Juwel erster Grösse heissen darf, und
allein hinreichen würde, Palestrina über alle Meister der Zeit und
Vorzeit zu stellen. Ein Gesang voll Glanz und Festespracht ist
die Himmelfahrtsmotette Tempus est ut revertar, der Freuden-
gesang Ex%dtale Deo — wie in düsterem Nachtdunkel steht eine
Anzahl ergreifender Bussgesänge daneben. Man achte hier auf
die einzelnen Züge, wie Palestrina die Worte betont „quis est
homo quia magnifices eumu — besonders mit den zagenden Svn-
copen der beiden Altos, wie zu Anfang des zweiten Theils der-
selben (sechsten) Motette die Stimmen mit dem Worte „peceavi"
in engsten Engftihrungen sich zum Bekenntniss der Sündhaftigkeit
gleichsam drängen. Voll malender Züge ist die Motette Surge
Petre — der Eintritt des Engels in den finstern Kerker wird
durch Harmonieen angekündigt, welche etwas fremdartig Geister-
haftes und zugleich Grossartiges haben — seine Rede tragen
erst die drei höheren Stimmen, Redesatz nach Redesatz, und dann
die beiden tieferen Stimmen, wie ein Echo, vor, wobei sogar das
„Surge velociter" durch sinnige Tonmalerei hervorgehoben wird.
Oft ist es ein einziges Wort, in welches Palestrina einen wunderbar
wahren und ergreifenden Ausdruck zu legen versteht: „Aegyple
noli /lere/1) — man sehe wie durch die einfache Deklamation des
ersten Wortes o o^o o sich innigste Theilnahme, tiefes, herz-
liches Mitleid ausspricht. Solcher Züge sind Palestrina's Motetten
voll — er lässt sie uns freilich nicht von Ophikleiden in die
Ohren blasen und von der gran Cassa in die Ohren donnern —
leider haben uns neuere „Meister" mit diesen und ähnlichen
„Kunstmitteln'4 etwas harthörig gemacht. Wir müssen Palestrina
auf den Wegen seines Geistes mit Liebe, Antheil, fast möchte
man sagen mit Ehrfurcht folgen — dann aber werden wir Dinge
finden, die uns wie ewige Sterne in die Seele funkeln und deren
Glanz uns dann nicht mehr erlöschen will. Es giebt nicht wenige
Gebildete, welche meinen, dass sie Raphael Sanzio durch und
durch kennen, wenn sie eben nur das Dresdener Bild gesehen,
und dass sie mit Palestrina nach dem Anhören einer guten oder
schlechten Aufführung der „Missa Papae Marcelli" ganz im
Reinen sind. Selten giebt es einen Meister, der so wenig gekannt
als Gott angeredet und eingeladen, dem Poeten durch Feld und Flur zu
folgen. Auch Horaz, sonst keine Höflingsnatur, kann sich den Schmeichel-
phrasen nicht entziehen!
1) 8. die Motette N. 3 „Tempus est revertar" zu den Worten „nolite
contristari" im Tenor, Sopran und Alt, und No. 4 „Domine secundum actum
meuni" zu den Worten „nihil dignura" im Tenor.
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48
Giovanni Pierluigi da Palestrina.
ist » wie Palestrina, und der so falsch aufgefasst wird — und
letzteres obendrein zuweilen von Leuten, welche sich für ihn
möglichst enthusiasmiren !
Bemerkt mag werden, dass Palestrina in diesen Motetten
mehr als einmal von der (angeblichen) Regel der alten Meister,
Sextenschritte zu vermeiden, abweicht. Ein ftinfstimmiges Salve
Regina beschliesst dieses fünfte Buch und zugleich den Motetten-
cyclus des Meisters; er konnte ihn nicht besser und schöner
schliessen, als mit diesem Schwanengesang. Es ist eine missliche
Sache, den Eindruck eines in den reinsten Höhen der Verklärung
und des Idealen schwebenden Kunstwerkes in Worte fassen zu
wollen, wenn man nicht, wie Palestrina's Biograph, in Schwulst
und Bombast verlallen will, ohne mit all' dem Aufwand und
Wortspectakel mehr gesagt zu haben, als eben, dass man von
der Herrlichkeit durchdrungen und hingerissen sei. Ebenso
misslich ist es, mit plumpem Finger auf die einzelnen Schön-
heit cn" zu zeigen, oder gar den lebendigen Organismus des
Werkes auf den contrapunktischen Anatomirtisch hinzulegen.
Aber, wenn nicht zu einem solchen musikalischen Prosectorsstück,
so doch zu kritischen Hymnen und Dithyramben kann diese
Motette hinreissen und auch bei dem Einzelnen mag man mit
entzücktem Schauen gerne verweilen. Glänzende Züge von
Genialität und Züge tiefster Empfindung folgen einander Schritt
nach Schritt. Monteverde hat nachmals (der erste) mit allen
Mitteln der dramatisch -ausdrucksvollen Musik, deren erster mit
Genie begabter Pfleger er ist, die Stelle: „ad te suspiramus ge-
mentes et flentes in hac lacrimarum valle*' illustrirt — aber nicht
wahrer, nicht tiefer, und nicht mit der überirdischen Reinheit,
als Palestrina thut. Wunderbar, wie ein autleuchtender Blick,
wirkt die herrliche Harmoniewendung zu den Worten ,,illos tuos
misericordes oculos" — was soll mau zu dem hochfeierlichen,
anbetenden „et Jesum benedictum" sagen — und zu dem wun-
derbar zart-innigen, wie in Liebe schmelzenden Schluss: „o clemens,
o pia, o duicis virgo Maria". Raphael Sanzio, sagt man, konnte
den Namen Maria nicht ohne Thränen aussprechen — hier ist
etwas Aehnliches. Dieses Wunderwerk Palestrina's hat auf dem
Gebiete religiöser Musik in allen folgenden Jahrhunderten nur
ein einziges gefunden, welches ihm vielleicht ebenbürtig genannt
werden darf — Mozart's „Ave verum".
Ganz eigen und einzig unter Palestrina's Werken steht sein
zweichöriges „Stabat mater" da — zu dessen verhältnissmässig
grosser Popularität sein Anfang mit den drei unmittelbar auf
einander folgenden Durdreiklängen von A, G, F sicher nicht
wenig beigetragen hat — und jedermann, der es von der päpst-
lichen Sängercapelle intoniren hörte, war voll Verwunderung, aber
auch voll Bewunderung. Ruft doch selbst Oulibischeff: „wie
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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klingt dies? schön, erhaben, göttlich! diese Musik stammt nicht
von der Erde" u. s. w. Diese drei Accorde galten und gelten
nicht nur für eines der Wahrzeichen des ,,Palestrinastyls", sondern
auch für ein Unicum Aber eine ähnliche Harmoniefolge kommt
bei Morales vor — zu Anfang des zweiten Theils der Motette
O Jesu bone-) auf D, C, B (nur dass über D die kleine Terz
steht;, und bei Palestrina selbst zum Schluss der vierzehnten
Motette aus dem hohen Liede wie im „Stabat4' genau die drei
Durdreiklänge A, G, F zu den Worten „En dilectus meus". —
Unvergleichlich mächtiger aber wirkt dieser, wirklich wie aus
einer fremden Welt herübertönende Harraoniegang zu Anfang des
Stabat mater, weil er nicht nur der allererste Anfang des Stückes
ist, sondern auch weil der zweite Chor ihn sofort, wie im Echo,
wiederholt. Es ist übrigens wirklich eine der wenigen Stellen in
Palestrina, wo er mit ganzen Dreiklangbildungen als solchen
arbeitet — nicht, wie sonst, die Harmonie blos als Resultat zu-
sammentreffender Mclodieen behandelt.
Spätere Componisten haben, wie bekannt, den Text dieser
wunderbaren Blüte mittelalterlicher Dichtung zu einer Reihe ora-
torienartiger Nummern benutzt, Chöre, Duos, Arien u. s. w.
1) Schon den alten Niederländern ist die Trugcadenz — die auch
bei Palestrina oft genug auftritt — ganz geläufig, wo der Bass. statt
den 3chlie3senden Dominante-Tonica-Schritt zu machen, einen Ganzton
| L_ * =!
abwärts steigt, z. B. statt gp^J. —3 vielmehr gß=g==j=
^—j ~ — j
— natürlich mit durch Gegenbewegung vermiedenen Quintparallelen.
Sieht man zu, so bemerkt man, dass hier gleichsam eine Accordstation
übersprungen ist, die sich nach dem natürlichen Zirkel ergäbe — neinlich
gpr^jZ ^— -^j— ^ Ganz das Gleiche ist jener „vergantique effect"
(wie ihn Burney bei Arcadelts „bianco e dolce cigno" nennt) des fa
üctum. Zu Anfang des Stabat mater wiederholt nun Palestrina diesen Schritt
(NB.)
k (NB.)
« «t
fortsetzend noch einmal — nemlich statt: 9*~~J <L- j P 'J~^
t
gleich mit Verschweigung der zwei vermittelnden Zwischenstufen d und c
2) gedr. in den von Saiblinger herausgegebenen „Concentus octo
etc. vocum (Augsburg 1545), wo die Motette von Morales als Nr. 16 zu
finden ist.
Ambros, Oetchichto der Musik. IV. 4
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
wechseln lassen, und ebenso auch wechselnden Stimmungen, je
nach dem Sinne der Worte, musikalischen Ausdruck gegeben,
das Orchester mit seinen reichen Ausdrucksmitteln herangezogen
u. s. w., bis endlich und schliesslich aus dem alten Kirchenstücke
ein dramatisches geworden Vom Standpunkte seiner Kunst,
wie von dem Standpunkte seiner Zeit aus bleibt Palestrina einer
solchen Behandlungsweise durchaus fremd, er fasst das Stabat
wieder ganz rein als Kirchengesang auf und seine Composition
verklärt sich ihm wieder zu Engelschören, wie in seinen Gesängen
aus dem Hohenlied. So verschieden die Stimmung hier und dort:
es ist zwischen diesen Werken eine innere Verwandtschaft. Nie
ist der Schmerz und die Klage schöner verklärt und geheiligt
worden als in diesem Stabat — es sind rollende Thränen, aber
in jeder Thräne spiegelt sich der Abglanz eines ewigen, seligen
llimmels. Man weiss, wie das Jahrhundert nach Palestrina in
den Künsten auf den leidenschaftlichen Affekt losarbeitete — wie
für den bildenden Künstler das dornengekrönte Eccehomohaupt
mit dem leidenschaftlich zum Himmel emporflammenden Blick,
die schmerzensbleiche Mater dolorosa mit den rothgeweinten Augen
Lieblingsdai Stellungen wurden, wie auf Kreuzigungen und Kreuz-
abnahmen Maria jetzt regelmässig ohnmächtig wurde, und „der
sittliche Inhalt dem pathologischen wich" 2) — wie sich an Stelle
der schönen, stillen Heiligenbilder in die Kirchen riesenhafte
Altarblätter drängten: blutige Henkersceneu und dazwischen
sehnendes Schmachten der Hauptfigur, und dazu allenfalls in den
Wolken ein Engelsorchcster, welches aus Leibeskräften geigt und
harft und flötet, und „zum Morde Musik macht"3;. In solcher
Zeit ist es begreiflich, dass ganz Rom in Thränen zerfloss, wenn
der Castrat Loreto vom Kirchenchor herab die „büssende Magda-
lena'' Domenico Mazzocchi's solo jammerte, Palestrina's Musik
1) P. Martini bemerkt über Pergolese's Stabat: „questa coinposizione
del Pergolese, so si confronti con V altra sua dell' intermezzo suo, inti-
tolato, la serva Padrona si scorge affatto simile a lei e dello stesso ca-
rattere, eccettuandone alcuni pochi passi. In ambedue si vede lo stesso
stile, gli stessi passi, le Stesse stessissime delicate e graziöse esprossioni.
E como mai puo, quella masica, che e atta ad espriraere sensi burlevoli
e ridicoli. come quella della Serva Padrona, potrii essere aeconcia ad
esprimero sentimenti pii, dovoti e compunti vi" u. s. w. (Vorrede des
Saggio di contrapp.) Diesem strengen und wohl allzustrengen Urtheil
gegenüber sehe man, wie Tieck (im Phantasus) Palestrina und Pergolese
(welche wirklich von vielen Leuten mit einander vorwechselt werden) ohne
Zeremonien neben einander Platz nehmen lässt, und wie er in roinantisch-
blaublumonhafton Versen ihre Musik cbarakterisirt. Was aber wohl der
alte P. Martini zu Rossini's „Stabaf gesagt haben würde, welches dem
modernen Italien als ..mustergiltiges" Meisterwerk von Kirchenmusik gilt?!
2) Ein Ausdruck Jacob Burkharde* (Cicerone S. 1052).
3) Ich habe hier Domenechino's „Marter der h. Agnes'4 (Pinakothek
zu Bologna) in Erinnerung.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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aber „di grau lunga" übertroffen, ja unmöglich geworden schien.
Man muss sich solche Thatsachen in Erinnerung halten, um sich
klar zu machen , welch' ein ungeheurer Umschwung sich binnen
etwa 1590 — 1630 in Sachen der Musik vollzog. Palestrina's
Stabat steht zum Glücke tür alle Zeiten über den Fluctuatiouen
des Zeitgeschmacks auf einer Höhe, wohin die beweglichen Wellen
des wechselnden musikalischen Alltagsbedürfhisses nicht mehr
reichen.
Baini nimmt neben dem zweichörigen Stabat der päpstlichen
Capelle noch ein dreichöriges in der Altaenips'schen Sammlung
des Collegio romano für Palestrina in Anspruch — und com-
mentirt es in seiner Weise — erzählend: wie sein Lehrer beim
blossen Anblick der Partitur, bei der Stelle, wo die drei Chöre
zum erstenmale zusammenkommen „o quam tristis" in Thränen
der Rührung ausgebrochen sei u. s. w. Die Composition lässt
sich indessen an Werth und Wirkung dem zweichörigen Stabat
nicht vergleichen, und ist schwerlich von Palestrina, soudern eine
Arbeit Feiice Anerio's, welchem auch der Katalog der Bibliothek
das Werk zuschreibt, wie denn in demselben Codex ein anderes,
achtstimmiges von dem genannten Componisten dem dreichörigen
unmittelbar vorangeht. Aber für Baini genügte es, dass eine
augenscheinlich spätere Hand dem Basse den Namen „Palestrina"
in unsicheren Zügen beigeschrieben, um das Werk sofort auch
als Palestrina anzusprechen und aus Leibeskräften zu bewundern.
Zugegeben muss indessen werden, dass es immer eine Compo-
sition von grossartigem Zug und meisterhafter Textur ist, wie
denn Feiice Anerio zu den besten Meistern zählt, welche sich in
so würdiger Weise um den „Fürsten der Musik" Palestrina
gruppiren. Aber der wunderbare Duft, jene „Wonne der Weh-
muth", jener Zauber poetischer Verklärung, welche Palestrina's
Stabat so einzig in seiner Art erscheinen lassen, fehlt dem Stabat
Anerio's, welches kurz und gut eben nur als „vortreffliches
Kirchenstück*' zu charakterisiren wäre und im Ganzen den Hörer
ziemlich kalt lässt1).
Eine Art Mittelstellung zwischen Motette und weltlichem
Madrigal nehmen Palestrina's geistliche Madrigale ein, von
denen 1581 bei Angelo Gardano in Venedig ein Buch gedruckt
wurde. Es enthält die sogenannten Vergini del Palestrina, das
1) Auch der verewigte Pro9ke — sicher einer der feinstfuhlonden.
eminentesten Palestrinakenner. hielt das dreichörige Stabat für einen
Anerio. Der um die Musica sacra in Prag so hochverdiente P. Barnabas
Weiss, Superior des Capuzincrconvents von St. Joseph, bereitete uns in
einer der herrlichen Oharwochemusiken seiner Klosterkirche den Genuss,
dieses Anerio-Stabat in ganz vorzüglicher Ausführung zu hören. Vorher
hatten wir eben dort das Stabat von Palestrina gehört. Wir konnten
also die Wirkung beider Werke unmittelbar vergleichen.
4»
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Giovanni Pierloigi da Palestrina.
ist acht Madrigale über die Canzone Petrarca' s an die h. J ungfrau,
80 dass jede Stanze ein Madrigal bildet. Vergine bella. che di
sol vestila (auch schon von Dufay componirt Vergine saggia;
Vergine pura; Vergine santa e d' ogni grazia piena\ Vergine sola
al mondo senza esempio; Vergine chiara; Vergine quante lagrime;
Vergine tale e terra (die beiden letzten Stanzen Vergine in cui ho
iutla mia speranza und Vergine umana sind nicht in Musik gesetzt).
Es sind leichte aber reine und liebenswürdige Corapositionen.
Die folgenden IS Madrigale sind zum Theile flüchtige Arbeiten
von geringem Werthe.
Das zweite Buch (30 Madrigale, erschien 1594 bei F. Coat-
tino) steht hoch über dem ersten 2). Die Art, wie Palestrina hier
den Ton des Madrigals in seiner leichteren Beweglichkeit an-
zuschlagen und ihn doch dem erbaulich - geistlichen Inhalte der
Texte entsprechend zu färbeu weiss, wie er ferner die feinste
contrapunktische Arbeit hinter scheinbare Leichtigkeit zu ver-
bergen versteht; die Fülle geistreicher Züge und anmuthiger
Motive sichern diesen Werken ihren Kang, von denen Kiesewetter
meint, „man könne bei ihrer Anpreisung des Lobes unmöglich
zu viel ausdrücken", Baini aber sich dabei, wie von ihm zu er-
warten, bis zum Zerbersten anstrengt.
Ein Buch weltlicher Madrigale war 1586, also einund-
dreissig Jahre nach jenem ersten, welches einst dem Meister so
viel Verdruss gemacht, bei den Erben Girolamo Scotto's in Venedig
erschienen. Baini vermuthet, sie seien auch als Tanzstücke ge-
meint; die „vielen schnellen Noten" allein aber sind dafür kein
Beweis. Was getanzt werden soll, muss vor Allem tanzhafte ti
Rhythmus haben. Diese späten Madrigale des Meisters unter-
scheiden sich sehr auffallend von jenen ersten durch ihre Form.
Während jene älteren an das gemessene halb kirchlich gefärbte
Madrigal Willaert's anklingen, sind die zweiten schon ganz welt-
liche Musik und lassen den ganzen Einfluss der Entwickelung
erkennen, welche das Madrigal seitdem durchgemacht. Wo blieben
aber die guten Vorsätze aus der Vorrede zu den Hohelied-Mo-
tetten? — Im Todesjahr des Meisters (1594) erschien das sechste
Buch seiner Messen. Es enthält die vierstimmigen Messen: Dies
sanetificatus. In te domine speravi, Missa sine nomine, Quam pulchra
es; eine fünfstimmige Dilexi quoniam. Der Ausgabe, welche
A. Gardano 1596 in Venedig druckte, ist eine sechsstimmige
Messe Ave Maria beigegeben. Die Messe Dies sanetificatus ist
durch ihre Beziehung auf die gleichnamige Motette des Meistere
sehr interessant, deren einzelne Motive hier eine weitere und
reiche Ausführung finden (der Anfang sogar ganz identisch!), so
1) Cod. N. 37 in Boloerna.
2) Ein schönes vollständiges Exemplar in der Sammlung Kiese wetter's.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
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dass diese sehr bedeutende Messe (die zwischen der Einfachheit
der Missa brevis u. s. w. und dem reichen Glänze der Missa
assumpta est eine Art mittlere Stelle einnimmt) als Missa parodia
(wie Paix diese Gattung nennt) zu bezeichnen ist. Ganz wuuder-
sam ist das für vier Soprane l) geschriebene Crucifixus. Solche
Missae parodiae sind auch sonst bei Palestrina nicht eben selten:
die Messen im achten Buche 0 admirabile commercium, Memor
eslo , Ascendo at palrem und Dum complerentur und Veni Spunsa
Christi sind Motetten, die Messe im neunten Buche Vestiva i colli
ist einem Madrigal des Meisters nachgebildet; Palestrina erlebte
gerade noch den Druck dieses Buches Messen — er starb, nach-
dem er Mittwoch am 26. Januar erkrankt war, am nächsten Mitt-
woch, das ist am Morgen des 2. Februars, eines der grossen Feste
der Kirche, das in Rom besonders glänzend mit leierlichem Um-
züge in der Peterskirche, wobei Alles, vom Papste anzufangen,
die neugeweihten Kerzen in Händen trägt, begangen wird. Der
sterbende Palestrina soll beim Morgenroth des Tages den Wunsch
geäussert haben, „das Fest diesmal im Himmel mitfeiern zu
können," worauf er alsbald, seinen klaren Sinn bis zum letzten
Moment behaltend, sanft und ruhig gestorben sei. Sein edler
Freund, der h. J. Filippo Neri, hatte das Lager des sterbenden
Meisters mit tröstender und begeisternder Zuspräche keinen Augen-
blick verlassen. Bei der Beerdigung sang der Sängerchor in den
Strassen sein Libero; den Sarg bezeichnete eine Bleiplatte mit
der schon erwähnten Inschrift, welche Palestrina kurz den „Fürsten
der Musik" nennt; bei dem Altare St. Simon und Juda in der
Peterskirche wurde er eingesenkt.
Nach des Meisters Tode erschienen nicht weniger als noch
sechs Bücher seiner gesammelten Messen. Das siebente Buch
(1594, wie schon erwähnt, noch von Palestrina selbst zur Druck-
legung redigirt) mit den vierstimmigen Messen Ave Maria, Sanc-
lorum meritis, Emendemus, Sacerdos et ponlifex; den fUnfstimmigen :
Sacerdos et ponlifex und Tu es paslor ovium. — Das achte Buch
(1599. Venedig, G. Scotto's Erben) mit den vierstimmigen Messen
Quem dicunt homines und dum esset summus ponlifex, den fUnf-
stimmigen 0 admirabile commertium und Memor eslo, und den
sechsstimmigen dum complerentur und Sacerdoles domini* — Das
neunte Buch (1599 a. a. 0.) mit den vierstimmigen Messen Ave
regina und feilt sponsa Christi, den fUnfstimmigen Vestiva i Colli
und Missa sine Xomine, den sechsstimmigen In te Domine speravi
und Te Deum laudamus. — Das zehnte Buch (1600 a. a. O.)
mit den vierstimmigen Messen In ilto tempore und Giä fu chi m'
ebbe cara. den fUnfstimmigen Petra saneta und 0 virgo simul et
1) Die beiden tieferen Soprane steigen jedoch zwischen durch in die
Altlage hinab.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
mater, den sechsstimmigen Quinli toni und Illumina oculos meos
letztere die erste der drei Probemessen). — Das eilfte Buch
(1600. Venedig bei Girol. Scotto) mit der vierstimmigen Descendii
Angelus, den fünfstimmigen Regina coeli und Quando lieta spera,
den sechsstimmigen Octavi loni und Alma redemtoris maier. —
Das zwölfte Buch (1601 a. a. 0.) mit den vierstimmigen Messen
Regina coeli und O rex gloria, den fiinfstimmigen Ascendo ad
patrem meum und Qual' e il piu grand'amor und den sechs-
stimmigen Tu es Petrus und Viri Galilaei.
In demselben Jahre 1601 erschien in Venedig ein Buch
achtstimmiger Messen. Es enthält ausser der schon früher ge-
druckten Conßtebor tibi Domine die Messen Laudate Dominum omnes
gentes und Uodie Christus nalus est, beide über die Motive der
entsprechenden Motetten (in den Motetten zu 5, 6 und 8 Stimmen)
und die Messe Fraires ego enim, welcher eine acbtstimmige Motette
zu Grunde liegt, die der Orvietaner Domcapellmeister Fabio
Constantini 1614 in Rom zusammen mit den Motetten Sub luum
praesidium und Cara mea herausgab. Das Fralres ist bekanntlich
eines der berühmtesten Stücke der Charwochenmusik aus der Six-
tina und hat einen ganz eigenthümlichen Hauch zarter, rührender
Wehmuth. Nicht minder schön und den achtstimmigen Motetten
des dritten Buches ebenbürtig ist das so innig und dabei so ruhig
vertrauensvoll flehende Gebet Sub tuum praesidium: einzelne
Stellen, wie das energisch declamirte „sed a periculis", wie die
prächtige Harmoniewendung bei den Worten „libera nos Semper",
treten überraschend hervor, das Ganze wieder ein Muster echtesten
Palestrinenstylcs.
Ungedruckt gebliebene Arbeiten besitzt das päpstliche Capellen-
archiv, das Archiv der Capeila Giulia im Vatican, die Archive
der Lateranischen und Liberianischen Basilica, das Archiv der
Chiesa nuova und die Sammlung Altaemps, darunter zwölfstimmige
Compositionen , ein grosses, absichtlich höchst einfach gesetztes
Miserere, gleichsam eine im farblosen Bussgewande trauernde Musik
mit dem eigentümlichen Zuge, dass die drei nach den Ver-
setten alternirenden Chöre die Stelle „Tibi soli peccavi" einer
nach dem andern singen — ein in seiner Einfachheit eigen er-
greifender Effect — erst bei dem letzten .,Tunc imponent super
altare tuum vitulos" vereinigen sich alle drei Chöre. Wer möchte
zweifeln, ob es dem Meister mit solchen Compositionen Herzens-
sache, oder ob es ihm nur darum zu thun war, heilige Worte, gleich-
viel wie, in wohlklingende Musik „ohne tiefere Bedeutung" ein-
zufassen! Drei überaus grossartige zwölfstimmige Motetten besitzt
das Archiv von S. Maria in Valicella (Chiesa nova) Laudate do-
minum, Ecce nunc benedicite und Nunc dimiitis servum tuum, sie
gehören zu den bedeutendsten Werken des Meisters. Aus der
Sammlung Altaemps hat Proske die zu vier hohen Stimmen
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Giovanni Pierluigi da Paleatrina.
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geschriebene Princeps gloriosissime Michael in seiner „Musica di-
vina44 drucken lassen. Baini nennt sie „ernst und andächtig":
vielleicht nicht die rechte Bezeichnung, es ist vielmehr wie lauter
Licht und Feuerglanz.
Baini hat bekanntlich in Palestrina zehn Style nachweisen
wollen : einen sehr künstlichen , einen fliessenden , einen gewöhn-
lichen, einen miniaturartigen u. s. w. Die Missa Papae MarceUi
repräsentirt, wie Baini will, ftir sich allein einen Styl, den sieben-
ten , und nach Baini's Meinung vollkommensten , vom Meister
selbst nicht wieder erreichten. Dieses Einschachteln der Genius-
werke in selbstgezimmertes Fachwerk hat etwas sehr Kleinliches,
aber es ist die Art der Italiener sich die Werke grosser Künstler
in solcher Weise zum besseren Verständnisse zu zerlegen ; Raphael,
Guido Reni und sogar der Landschaftsmaler Paul Bril haben sich
von den dortigen Kennern und Aesthetikern Aehnliches gefallen
lassen müssen. Wenn nun im Leben des Genius kein Stillstand,
sondern steter Fluss und stete Fortentwickelung ist, so erscheint
dieses Abmessen und Einrammen von Grenzpfählen zuletzt immer
mehr oder minder willkürlich. Wie bei allem Idealschönen ist
es auch bei Palestrina's Compositionen sehr leicht, die ideale
Schönheit zu empfinden, sehr schwer aber ist es den Grund ihres
Zaubers in Worten auszusprechen. l) Wenn ein neuerer Aest-
hetiker das Schöne als ein „sich selbst offenbarendes Mysterium"
bezeichnet, so wären Palestrina's Tonsätze mit diesem Worte zwar
nicht erklärt, aber doch richtig charakterisirt. Sie vereinigen das
edelste Mass mit dem reichsten inneren Leben. Die Contouren
der einzelnen Stimmen sind von wunderbarer Feinheit und Schön-
heit- es ist eine Welt idealer Gestalten, die sich vor uns aufthut,
wenn wir vor Allem dem Gange jeder einzelnen Stimme in ihren
Notenzeichen mit Blick und Geist folgen, um dann erst dem
himmlischen Wohllaut ihres Zusammenklingen zu horchen, ihre
feinen Wechselbeziehungen, die Einheit in ihrer Mannigfaltigkeit,
die einander antwortenden Motive, die einander sinnig nach-
ahmenden Gänge an uns vorüberziehen zu lassen. Hier ist wahr-
lich kein kaltes „krystallinisch Gewächs" — keine blosse „Mon-
stranz aus Tönen, um dem Volke die heiligen Worte entgegen-
zubringen", ein himmlisch beseelender Geist lebt und belebt, die
reinste Opferflamme lodert, und die innigste Empfindung, welcher
kein trüber Rest von irdischer Leidenschaft anklebt, hebt diese
Musik in verklärte Regionen, von wo aus uns ihre Klänge wie
Boten einer höheren und ewigen Welt entgegentönen. Palestrina's
Musik, um es in ein Wort zu fassen, athmet die Seligkeit
der Anbetung.
1) Gerade wie bei Mozart! —
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
I)cr musikalische Techniker aber möge die meisterhafte
Fügung des Tonsatzes beachten. Wo „Künste" augewendet sind,
drängen sie sich nirgends anmasslich in den Vordergrund, sie
scheinen an ihrer Stelle eben nur das natürlich Einfache, um nicht
zu sagen, das hier Selbstverständlich-Angemessene. Die Textur
der Stimmen zeigt nirgends Ueberhäufung, nirgends Verwirrung —
sie reichen sich wie Grazien die Häude, nähern sich, entfernen
sich und gehen leichten Götterschrittes zum gemeinsamen Ziele.
Oft genug bekömmt man, als Charakterisirung des Palestrina-Styls,
zu hören: „er bestehe aus diatonischen Folgen oft unvermittelter,
aber eben deswegen oft sehr frappant wirkender, stets consonirender
Dreiklänge," und mit dem Schlagwort „Palestrina-Dreiklänge"
meint man das eigentliche Wesen dieser Musik kurz und treffend
bezeichnet zu haben. Treten wir aber zu dem Meister in seine
geistige Werkstätte — wir werden ihn ganz anders beschäftigt
finden, als etwa wie ein Kind sich damit befasst und ergötzt, auf
dem Ciavier wohltönende Accorde zusammenzusuchen , oder als
einen fleissigen Musikstudenten, welcher auf dem Fundament eines
ihm vom Lehrer gegebenen Basses sein musikalisches Pensum in
Dreiklängen und Sextaccorden ausarbeitet und zu Papier bringt,
wohlbedacht, „keine Quinten und Octaven zu machen".
Alle polyphone Musik ist von der Melodie ausgegangen,
schafft Melodie, lebt und webt in Melodie, — ihre Harmonie ist
aber nur das Resultat zusammenklingender Melodieen. „Die
Harmonie", sagt G. Jakob mit Recht, „ist in dieser polyphonen
Musik nicht Zweck, sondern nur Folge — erster Zweck ist
die einheitliche Führung der Einzelstimmen." So ist
es bei Palestrina. Wo Alles Melodie, ist vor lauter Melodie
keine zu finden, ist die beste Illustration zu dem alten Spruche
vom Wald, den man vor Bäumen nicht sieht. Palestrina's Melodie,
wie sie in den einzelnen Stimmen klingt und singt, ist sogar, als
Melodie genommen, von ganz besonderer Schönheit — voll Seele,
Adel und Empfindung. Ihr wesentliches Merkzeichen ist die
breite, austöneude Entfaltung der Gesangstimme (das „spianar la
voce" der Italiener), während die „Oltramontanen" — auch Or-
lando Lasso — lieber mit kurzen, knappen, scharf ausgeprägten
Motiven arbeiten. Durchaus ist die Bewegung der Melodie wie
der Harmonie eine ruhige — nirgends eine schleppende. Von
dem leidenschaftlich ungeduldigen Wesen des spätem dramatischen
Musikstyls, von seinen Sprüngen und Contrastcn ist keine Rede.
Man fUhlt sich an die „edle Einfalt und stille Hoheit" gemahnt,
welche nach Winckelmanns schönem Wort, das Kennzeichen der
Antike ist — oder, wenn man will, an das Gebet, welches die
heilige Theresia in ihrer wundersamen Dichtersprache „das Ruhe-
gebet" nennt, ein stiller, stetiger Strom ruhiger, ihrer selbst sicherer
Seligkeit.
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Giovanni Pierluigi da Palestrina.
57
Die herrschende Diatonik insbesondere giebt dem Ganzen
den Charakter erhabener Ruhe — keine Ausweichungen in fremde
Tonarten neuen Styls (für jene Musik ohnehin eine „Terra incog-
nita") unterbrechen beunruhigend den feierlichen Zug; aber
frappante, selbst kühne Ausweichungen fehlen nicht — wohl-
motivirt wo sie erscheinen. Durch die Compositionen geht end-
lich auch ein grosser, rhythmischer Zug, sie haben ihren Periodeu-
bau, ihre Symmetrie, ihre Einschnitte, Zwischenschlüsse, Kuhe-
stellen, ihre geregelte Gruppirung. Besonders deutlich wird dieses
in den Motetten, wo selbst der Worttext das Vor- und Zurück-
treten der Massen, und deren architektonische Disposition in eine
hellere Beleuchtung rückt — als in Sätzen der Messe der stets
gleichartige Anruf des „Kyrie" oder „Osanna", das stets wieder-
holte „Sanctus" oder „Benedictus" zu thun vermag. An den lied-
mässigen Periodenbau der späteren monodischen Musik mit der
gleichartigen Folge viertaktiger oder zweitaktiger Glieder, mit
den correspondirenden Halb- und Ganzschlüssen, mit „Part, prima"
und „seconda" mit der Ausweichung nach der Dominante und
der Rückkehr zur Tonica, wird man allerdings hier so wenig ge-
mahnt, als etwa in den Chören der griechischen Tragiker an den
gereimten Alexandriner der französischen Poesie. Der Takt,
welcher in der Musik der Folgezeiten mit dem Gleichmass seiner
„starken" und „schwachen" Schläge so entschieden durch die
tausendfachen Tongestaltungen hervortritt, ist hier gleichsam latent,
wir empfinden die Gegenwart dieses Regulators der Bewegung
nicht, obwol er in der That vorhanden ist, und nur er eben das
Zeitmass der Töne in Ordnung und in geregeltem Gange erhält.
Während sich der Takt in der Tanzmusik bis zur Aufdringlich-
keit fühlbar machen muss, verschwindet er hier völlig in den
Tonwellen, welche ihn überströmen, und welche doch nur eben
er in Bewegung setzt. Nur gewisse daktylische Sätze, wie sie
die Musik von Altersher kannte, lassen den Rhythmus sehr ent-
schieden fühlbar werden. Die hochfeierliche altniederländische
Cadenzform behält Palestrina mit vollem Recht bei. Dass er viele
Sätze so schlicsst, dass das „moderne Ohr" einen Halbschluss zu
hören meint, ist natürlich. Aber eben diese Schlüsse haben dann
etwas wunderbar Ahnungsvolles — es ist ein Blick in ungemessene
Weite, welche der Geist schauernd ahnt, aber nicht zu über-
fliegen vermag. Der römische Musikstyl, als dessen höchste Er-
scheinung Palestrina gelten darf, ist, dem Gebrauch der päpst-
lichen Kapelle gemäss, reine Vokalmusik, in seiner vollen
Reinheit als „Palestrinastyl" schliesst er alle Instrumente, sogar
die Orgel, aus. Eine Messe von Palestrina etwa mit Instrumenten
zu verdoppeln (wie weiland Gottlob Ilarrer that; wäre geradehin
ein Barbarenstück musikalischen Vandalismus. Dass gegen Ende
des Jahrhunderts, nachdem der Styl sich zu modifiziren, man muss
58
Giofanni Pierluigi da Palostrina.
sagen zu degenerircn angefangen, die Componisten ihren Arbeiten
einen Grundbass für Orgel (Basso per l'organo) beifügten, hatte
seine Veranlassung in äusseren praktischen Gründen. Der be-
zifferte Orgelbass hängt sich dieser seraphischen Musik aber auch
sofort an, wie ein schwerer Fussblock, welcher sie aus dem reinen
Aether ihrer himmlischen Höhen in den Dunstkreis der Erde
herabzieht. Im Palestrinastyl kann selbst die kirchliche Orgel
nur Vorrednerin oder Verbindung zwischen Satz und Satz sein.
Dem eingebildeten Sinn, welchem nach des Dichters Wort, die
Antike Stein ist, wird Palestrina's Musik Klang bleiben, und nichts
weiter. Wer in ihr durchaus dasselbe finden will, was ihn in
später, unter ganz anderen Bedingungen und mit ganz anderen
künstlerischen Zielen entstandener Musik lieb geworden ist, wird
sich allerdings getäuscht fühlen. Die Musik vor 1600, also auch
die Palestrina-Musik, ist im Vergleiche zur Musik nach 1600,
d. i. zur modernen, ein fremdes Idiom, welches erlernt sein will,
um verstanden zu werden. Es genügt dabei nicht, Dinge, welche
eine relative Aehnlichkeit mit unserer musikalischen Ausdrucks-
weise haben, als „Ahnungen" oder „Geistesblitze" wohlgefällig
zu bemerken, um alles Fremdklingende sofort als „unberechtigt'*
zurückzuweisen. Ein solches Halbverstehen ist schlimmer als
Garaichtvcrstehen. Man weise, wenn man will, den „römischen
MusikstyP* ganz zurück, aber man messe ihn nicht mit der nea-
politanischen Elle, und man bedenke, dass die „Missa Papae Mar-
celli", das „wohltemperirte Klavier" und die „Sinfonia eroica"
drei sehr verschiedene Dinge sind.
Endlich ist aber bei Palestrina's Musik ihre ursprüngliche
Bestimmung nicht ausser Acht zu lassen. Sie ist von Hause aus
keine Musik für den Concertsaal, für die Singakademie, für den
Theezirkel exquiser Kunstfreunde, sie ist kein Tummelplatz für
die geistvollen Kunsturtheile und feinen Bemerkungen der in
ihrem Gartensaale über Kunst und Literatur conversirenden, Rhein-
wein, Dante und Raphael geniessenden Tieck'schen Phantasus-
Gesellschaft , kein Vehikel für's musikalische „Sternbaldisiren":
sie ist Musik für' die Kirche, für den Gottesdienst, für das
Kirchenjahr mit dem reichen Kranz seiner Feste, mit seinen Fest-
zeiten — mit seinen Tagen der Trauer, der Tröstung, des Jubels,
der Weihe, des Dankes, der Anbetung. Sie ist kein äusserlich
herangebrachter Schmuck für alle diese reichen, mannigfachen
gottesdienstlichen Zeremonien, sie fügt sich ihnen als integriren-
der Bestandtheil ein. Ja sogar ihre Localbedeutung hat sie —
wie Homer Hellas, wie Sophokles Athen voraussetzt — : sie ist
in Rom und für Rom entstanden. In der Sixtinischen Capelle,
wo Michel Angelo's Sibyllen und Propheten herabblicken, wo An-
fang und Ende der Dingo — Weltschöpfung und Weltuntergang —
in Ungeheuern Bildern vor Augen stehen, ist ihre richtigste
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Giovanni Pierluigi da Palestrina. 59
Stelle. Ueber die Donner des Gerichtes spannen sich die Töne
als lichter Regenbogen: der titanenhaft zürnende Maler spricht
von der Gerechtigkeit des lebendigen Gottes, „in dessen Hände
zu fallen schrecklich ist" — aber der Musiker spricht von Gottes
Liebe und Gottes Erbarmung, und von der reinen Harmonie
ewiger Seligkeit.
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Q.
Die Zeit des Palestrinastyles
„der italienischen Musik grosse Periode.4'
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Der italienischen Musik grosse Periode.
Palestrina und seine Zeit- und Kunstgenossen, so wie seine
Nachfolger — wir fassen sie unter dem gewohnten Namen der
römischen Schule zusammen — repräsentiren die glänzendste,
man darf sagen die klassische Zeit der römisch-katholischen Kir-
chenmusik. Aus den Bedürfnissen des kirchlichen Ritus hervor-
gegangen, durch den Ritus ausgebildet und nur innerhalb des
Ritus lebendig und wahr und nur dort an rechter Stelle, wurzelt
dieser Styl im uralt geheiligten gregorianischen Gesang, aus wel-
chem er wie eine Lichtblume emporblüht, in den Kirchenton-
arten, deren höchste und feinste Ausbildung er darstellt und
welche ihm seinen musikalischen Charakter gegeben haben. An
Durchbildung, wie an Beseelung steht er gegen keinen andern,
selbst auch den höchsten zurück. Er pocht nicht, wie der spätere
Musikstyl, die Leidenschaften der Menschen aus ihrem Schlummer(sei
es immerhin um einer Katharsis derselben willen •, er hebt den Geist
in reine, himmlische Höhen, wo sich der wilde Schmerz der Tiefen
zur milden, seligen Wehnrath verklärt, wo der bacchantische
Jubel vor der Heiterkeit eines seligen Gottesfriedens verstummt.
Das musikalisch Schöne spricht sich in ihm in reiner Idealität,
nicht in der Farbenbrechung des Tragischen oder Komischen
aus. Es ist derselbe Geist, das einfach Edele, das rein Schöne,
welcher einst die Hand des Phidias leitete, als er die Gestalten
der im Panathenäcnzug wandelnden attischen Jungfrauen schuf,
der den christlichen Malern bis einschliesslich auf Raphael jene
Gestalten eingab, die uns wie Gäste aus einer anderen, höheren,
besseren Welt anschauen, deren blosse Gegenwart beseligt, ohne
dass sie uns erst durch irgend ein Thun Interesse, durch Leiden
Mitleid abgewinnen müssen. In diesen Tonwerken singt und
klingt Alles, jede Stimme ist ftir sich ein schön belebtes, seinen
Weg in edler Anmuth hinwandelndes Gebild, der Zusammenklang
aller aber formt das Tonstück. Ruhig und breit wogt ein Strom
von Wohllaut vorüber, durch keine rauschende Stromschnelle,
durch keinen jähen Sturz unterbrochen, aber auch nirgends träge
schleichend, nirgends stagnirend.
Man bezeichnet bekanntlich diese Kunst und Knnstzeit als
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Der italienischen Musik grosse Periode.
„der italienischen Musik grosse Periode" — zum Unter-
schied von der später insbesondere durch die Meister der neapo-
litanischen Schule repräsentirten „schönen Periode der italienischen
Musik.14 Der Gegensatz ist indessen nicht ganz glücklich ausge-
drückt, denn die Grösse des römischen Musikstyls schliesst Schön-
heit nichts weniger als aus. Eichtiger wäre es vielleicht an den
Unterschied zwischen Himmel und Erde, zwischen dem himm-
lischen Eros und dem irdischen Amor , zwischen heiliger Würde
und sinnlich reizender Anmuth zu denken — zwischen einer
Maria liaphael's und einer von Coreggio. Es ist in diesen Musik-
stylen wirklich so etwas ihrer Pflegestätte: Korn und Neapel, Ana-
loges: dort die einfach grossen Formen und Contouren der römi-
schen Campagna mit den sie abschliessenden, wunderbar edel ge-
schwungenen Bergzügen und dem blauen Meeresstreifen in der
Ferne und hier die berauschenden Hesperidengärten am Strande
von Soirent, mit dem Ausblick auf den dampfenden Vulkan, in
welchem Lavagluthen kochen und Erderschütterungen schlummern.
Nach dem Epochenjahre 1600 lernte die Musik am Baume der
Erkenntniss Gutes und Böses unterscheiden, aber sie wurde dafür
auch aus dem Paradiese des Palestrinastyls gewiesen und musste
es leinen „der Erde Lust, der Erde Weh zu tragen, mit Stürmen
sich herumzuschlagen und in des Schiffsbruchs Knirschen nicht
zu zagen." Ja selbst der alte Richterspruch erfüllte sich: „von
dem Baume der Erkenntniss des Guten und Bösen sollst Du nicht
essen, denn an welchem Tage Du davon issest, wirst Du des
Todes sterben." Ueber den Palestrinastyl haben die Jahrhunderte
keine Macht — er verwelkt nicht, er stirbt nicht. Zur Zeit der
Neapolitaner brachte jeder Frühling einen neuen herrlichen
Blumenflor, den der nächste Herbst welken und verblühen machte.
Wir hören Messen und Motetten von Palestrina und hören sie
mit denselben Empfindungen, wie sie einst des Meisters Zeitge-
nossen gehört — wer aber könnte und möchte noch jetzt die
Aufführung einer Oper von Alessandro Scarlatti, Feo, Vinci,
Hasse durchmachen wollen? Und doch ist auch hier Musik —
die herrlichste. Jedenfalls wollen wir uns hüten, das Jahr 1600
als ein Jahr musikalischen Sündenfalls anzuklagen — es wurde
der Musik gegeben, sich das Paradies wieder zu erkämpfen —
wir hätten keinen Mozart, keinen Beethoven, hätten die Herren im
Hause Bardi zu Florenz conservativ gedacht — und bei Mozart's
„Ave verum" würde sich vielleicht Palestrina selbst einer wun-
derbaren Bewegung, einer tiefen Ergriffenheit nicht erwehren
können
Den Musikstyl der römischen Schule könnte man vielleicht
wesentlich als den Styl des Musikalisch-Erhabenen fassen,
ohne doch mit dem Begriffe des Erhabenen den Gedanken colos-
saler Dimensionen oder dynamischer Gewaltsamkeit (Alpen, Ocean,
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Der italienischen Musik grosse Periode.
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rollender Donner u. s. w.) verbinden zu müssen. Der Begriff
des Erhabenen wird passen, mag man es nun mit Vischer, als „das
Hinauswagen der Idee über die Sinnlichkeit" verstehen, oder mit
Zeising als „dasjenige Schöne, welches durch seine objectivc
Vollkommenheit (namentlich durch seine Grösse) die Idee der
absoluten Vollkommenheit erweckt" oder mit Jean Paul als das
„angewandte Unendliche." Was Solger als das Merkzeichen des
Erhabenen hinstellt: „PiePonirung des Unendlichen im Endlichen"
oder was Hegel ähnlfch diesfalls sagt: „das Product künstlerischen
Bestrebens, das Unendliche im Endlichen auszudrücken", leidet
vollkommen Anwendung auf diese Tonwerke. Das Erhabene
inanifestirt sich in grossen, ruhigen Umrissen, es beunruhigt nicht
den Blick durch bunt und hastig wechselndes Farbenspiel (erhaben
sind die weithin weiss leuchtenden Alpengipfel, ist die unendliche
blaue Fläche des Meeres, der einfarbig dämmernde Nachthimmel
voll Sternengefunkeis) es kommt nicht in kleinen Einzelheiten
herum — „es zerreibt" wie M. A. Griepenkerl d. J. sagt: „alles
Htautgeborne wie Mörtel." Die einfachste Form des musikali-
schen Erhabenen ist der Choral mit seiner feierlich langsamen
Bewegung, seinen prächtigen, gleichförmig langen Noten, seinen
schweren Accordsäulen. Unvergleichlich reicher, vielgestaltiger
spricht sich das Erhabene im Palestrinastyl aus, dessen Compo-
sitionen selbst schon in der Aufzeichnung' mit ihren grossen Noten-
Geltungen, ihren ruhigen und doch durch und durch belebten
aMassen, den Eindruck des einfach Grossen hervorrufen, welcher
alles rasche Passagenwerk, allen Kleinkram an Figurationen voll-
ständig vermeidet und als sich letztere bei Palestrina's Epigonen
einzustellen anfangen, sofort auch an Erhabenheit verliert —
welcher sogar die Phasen des Seelenlebens nur in grossen ernsten
Zügen malte, ohne sich auf Detaillirung einzulassen. In grosse,
ruhige Massen zerschmilzt der Tonstoff, und ruht gar aus, wie
das weite Meer, wie der weite Himmel.
Das Komische — wenn wir solches mit Vischer als den
Gegenpol des Erhabenen gelten lassen wollen — hat umgekehrt
gerade an jenem Kleinkram seine Freude , der „Dichter kann
nicht Farben genug finden, um die liebe Endlichkeit in ihr Hecht
einzusetzen" (Griepenkerl). Die Tonsetzer haben, ohne in der
Schule der lehrenden Aesthetik gesessen zu haben, diese Wahr-
heit durch den Instinkt des Künstlertalentcs praktisch aufs Glück-
lichste herausgefunden — und zwar sogleich, als an die Musik
die Aufgabe gestellt wurde, auch komisch sein zu sollen. Schon
Orazio VecchYs „Amfiparnasso" hat in den burlesken Szenen
Plauderpassagen, kleines rasches Notenwerk. Ganz verschieden
tritt schon in Cavalli's Opern diese Seite des musikalisch Komi-
schen hervor. Der grotesk komische Diener Demo (im „Giasone"
1649) überschüttet gleich in seiner ersten Arie, „son gobbo, son
Ambrof, Geschichte der Musik. IV. 5
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66
Der italienischen Musik grosse Periode.
Demo, il mondo m'& schiavo , il diavol' uon temo" u. s. w. die
Zuhörer mit einem ganzen Hagelwetter von Parlandonoten. Die
Bufibncrien der späteren italienischen Oper finden bekanntlich hierin
ihr wirksamstes Mittel (Rossini's Don Magnifico in „Cenerentola" —
unübertrefflich der Moment im ersten Finale des „Barbiere de
Seviglia", wo gleichzeitig alle auf dem Theater Anwesenden pre-
stissimo ihr Anliegen in den Führer der Wache hineinsingen, wel-
cher, als jenen der Athem ausgeht und sie verstummen, höchst phleg-
matisch antwortet: „ho capito"). Selbst was an weltlicher Musik dem
Palestrinastyl verwandt ist, wie das gleichzeitige Madrigal, bewegt
sich im Sentimentalen, am liebsten sogar im schwächlich Melan-
cholischen. Wenn die Villote, das Tanzlied, das Scherzo (aus-
drücklich so genannt, natürlich etwas ganz Anderes als die später
also genannten Instrumentalsätze) leichtere Töne anschlagen, so
bringen sie es doch nur zum munter Belebten, und in Adriano
Bauchicri's „Giovedi grasso" und ähnlichen Werken liegt die Komik
meist mehr nur in den Worten des Textes oder in allerlei bur-
lesken Manieren der Ausführung (Nachahmung von Thierstimmen,
von Musikinstrumenten durch die Sänger), als in der Musik.
Innerhalb der römischen Schule bildete sich durch ein feines
Verständniss der Tonsetzer ftir die Bedürfnisse und den Geist des
kirchlichen Ritus eine ungleich reichere Fülle von Formen und
Gestaltungen aus, als bei den Niederländern der Fall gewesen.
Die Niederländer hatten sich auf wenige Formen beschränkt: die
Messe, über ein Ritualmotiv oder ein weltliches Volkslied, daneben
das weltliche Lied, welches nicht selten zur gleichnamigen Messe
umgewandelt und erweitert wurde, die Motette, von welcher der
„Psalm" eine nicht wesentlich verschiedene Modifikation war —
endlich die „Lamentation", welche hinwiederum in der „Missa pro
defunetis" fühlbar auf die Messencomposition zurückwirkte. Die
Vilanclle, die Frottola sind fremde, italienische Formen, in wel-
chen sich die niederländischen Meister und auch erst in der auf
Okeghcm zunächst folgenden Generation nur sehr ausnahmsweise
versuchen. Das Madrigal entwickelt sich in Venedig unter Wil-
lacrt's und unter Verdelot's Händen aus der Frottola, um das alt-
niederländische contrapunetirte Volkslied binnen Kurzem aus dem
Felde zu schlagen.
Reicher und mannigfaltiger entwickelten sich aber, wie ge-
sagt, die Gattungen in der Palestrinazeit — und schieden sich
schärfer voneinander. Neben die „Messe", welche bei ihren alten
Bezugsquellen, dem Ritualgesang und — trotz des Tridentinuras
— dem Volksliede bleibt, und im Madrigal sogar noch eine neue
findet, stellen sich die Motette mit ihrem mannigfaltigen Inhalt
wechselnder, freudiger und düsterer "Stimmungen, der Psalm
darunter, als „Miserere", speziell der fünfzigste Psalm eine be-
sondere Stelle behauptet, die Hymne, die Litanei (sehr schön,
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Der italienischen Musik gross© Periode.
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übrigens auch schon bei Orlando Lasso), die Passionsmusik nach
den Evangelien (nicht im halbdramatischen Sinn der protestan-
tischen des 18. Säculums), die Antiphone (wie Christus redemtor
omnium, Vexilla Regis, Hostis Herodes impie, veni creator u. a.),
das Te Deum, das Stabat mater, das „Asperges" und „vidi
Aquamu, .das ..Tange lingua", das Magnifieat nach den acht Kirch-
entönen, die Lamentationen, die Improperien — die „falsi bordoni",
welche nicht mehr dem Improvisirtalent der Sänger überlassen,
sondern zu förmlichen, oft sehr edlen Kunstgebilden gestaltet
werden. — Alles sehr bestimmte Kunstformen — vom einfachsten
Stile familiäre, vom schlichten Contrapunct Note gegen Note, von
der psalmodireuden Kecitation ganzer langer Wortsätze, fiir welche
eine einzige lange Note hingeschrieben wird — bis zu dem reichsten,
verwickelteeten , kunstvollsten Combinationen hinauf. Die Missa
pro defunctis, — bei dem die alten niederländischen Meister gar
nicht wussten, was sie anfangen sollten, um Grausen zu erregen
— - in Dissonanzen ein Uebriges thaten und am liebsten auch
noch die Sänger schwarz und gespensterhaft vermummt hätten1),
und denen die Codexschreiber den Gefallen thaten, die Initialen
mit Todtenschädeln und Todtenknochen auf nachtdunklem Grund
auszustatten — die Todtenmessen nehmen jetzt auch eine eigene
Form an, welche sie als Trauermessen charakterisirt.
Die geistliche Musik erhält durch das „Madrigale spirituale"
eiu ganz neues Genre zur Verfügung - daneben blüht das welt-
liche Madrigal und treibt tausend und tausende von Blüten, er-
lebt erst jetzt (in Luca Marenzio) seinen höchsten und schönsten
Entwickelungsmoment, muss sich aber auch zu chromatischen und
andern Experimenten hergeben (der Fürst von Venosa!), bei wel-
chen dem armen Madrigal oft Knochen ausgerenkt werden —
eine Tortur, gegen welche die geistliche Musik sich der „Immu-
nität'1 zu erfreuen hat. Villoten, Vilanellen und Balli treiben
neben jenen höhem und edlern Gattungen, wie schon erwähnt
ihr lustiges Spiel.
Eine unübersehbare Masse von Musik wird produzirt, die
Meister und die Meisterwerke drängen sich.
Unter den Meistern der Palestrinazeit begegnen wir vor
allen, als noch unmittelbar Goudimels Schule angehörig, Gio-
vanni Maria Nanini aus Vallerano. Er kam später als
Palestrina zu Goudimel in die Lehre, und kann daher nicht
eigentlich, wie wohl geschieht, als „Palestrina's Mitschüler" be-
zeichnet werden. Nachdem er eine Zeitlang den Capellmeister-
posten in seiner Vaterstadt versehen, erhielt er zu Rom die gleiche
1) Eine solche Todtenfoier ist wirklich unter den unvergleichlichen
niederländischen Miniaturen des Breviario Grimani der Marcusbibliothek
in Venedig abgebildet zu sehen.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
Stelle bei S. Maria maggiore unmittelbar nach Palestrina. Er
gründete 1571 in Rom eine förmliche Lehranstalt der Composi-
tiou, daher er insgemein als „Gründer der römischen Schule11 gilt.
Diese Auffassung bringt den Missstand mit sich , dass , wenn man
sie gelten lässt, gerade der grösste aller Kömer, Palestrina, nicht
zur römischen Schule gehört. Aber nicht der Umstand, ob ein
Musiker in Nanini's Lehranstalt gelernt, ist für diesen Punkt ent-
scheidend, sondern ob er sich der geistigen Strömung anschloss,
die sich schon im Kömer Costanzo Fcsta und später in dem Spanier
Christofano Morales und in dem Franzosen Claude Goudimel an-
kündigte, in Palestrina aber, mit Ausscheidung oder Ueberwin-
dung aller fremden Elemente eigenst römisch wird. Eine „Schule4 1
im richtigen Sinne ist Geist und Leben, nicht aber eine geräu-
mige Stube mit so und so viel hölzernen Bänken und einem
Katheder, von welchem herab der Magister einer Anzahl zuhörender
Jungen etwas dozirt — gesetzt auch, dass aus den J ungen selbst
wieder Meister werden.
Eine sehr treffende Charakterisirung Nanini des älteren
(denn es giebt auch einen jüngeren Giov. Bernard. Nanini) zeich-
net Proske. „Nanini", sagt er, „muss als einer der grössten Musik -
gelehrten der römischen Schule, aus welcher so viele Künstler
höchsten Ranges hervorgegangen, angesehen werden. Als schaf-
fender Künstler war er gleichfalls ein Stern erster Grösse. Besass
auch sein Genius die reichen Schöpfungskräfte eines Palestrina
nicht, so verdienen doch seine Werke ihrer classischen Ausprägung
und vollendet reinen Form willen unmittelbar den Schöpfungen
Palestrina's angereiht zu werden." Seine Compositionen gehören
unter das Schönste, was noch heut in der päpstlichen Capelle
vorgetragen wird; darunter das herrliche, wahrhaft erhabene Weih-
nachtsresponsorium Hodie nobis coelorum rex. ftir sechs Stimmen !).
Dieses Prachtstück reiht sich dem Palestrinastyl in der edelsten
Weise an ; ein anderer Weihnachtsgesang der päpstlichen Capelle
Hodie Christus nalus est für vier hohe Stimmen aber ist ein zur
lebendigsten Theilnahme hinreissendes Jubelstiick, voll der freu-
digsten Aufregung in dem lebhaften Gange seiner Stimmen und
eigenthümlich poetisch durch den volksliedartigen Ton, den der
Meister in den (herkömmlichen) Weihnachtsruf Noe, noe, hinein-
klingen lässt2). Andere Motetten, wie das vierstimmige Exaudi
no«, das fünfstimmige Haec dies quam fecit Dominus 3), das fünf-
stimmige Yeni Sponsa Christi *) u. a. m. dürfen ebenfalls als reine
1J Eine Abschrift in Kiesewotter's Sammlung.
2) Man sehe das Stück bei Proske.
3) Durch Tucher neu veröffentlicht.
4) In den „Motetti, quali si cantano nelle Cappelle Cardinalizie in
Roma" etc.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
69
Blüten des Palestrinastyls gelten, wogegen das oft genannte,
strophenweise nach einem choralartigen Sätzchen, seltsamer Weise
im wiegenden 3/2 Takt zu singende Stabat maier zwar vom schönsten
Wohlklang, aber gerade in seiner allerHussersten Einfachheit, den
Eindruck des Gesuchten, des Reflectirten macht Wie unbefangen,
wahr und natürlich sind dagegen Palestrina's Improperien!
Von Nanini's Meisterschaft in der Contrapunctik existiren
in ihrer Art merkwürdige Proben. Man sehe, wie er z. B. in
seinem dreistimmigen Lapidabanl Stephanum oder Hic est beaiissi-
mus Äpostolus Johannes (in den bei Angelo Gardano in Venedig
1586 gedruckten Motetten) den gregorianischen Cantus firmus,
wie er geht und steht, in langen Noten herübernimmt, um unter
seinem Zwange mit Leichtigkeit, ja mit Anmuth zwei andere
Stimmen im strengsten Canon in der Quinte oder Octave daneben
hergehen zu lassen. Ein Manuscript „cento-cinquantasette Con-
trappunti e Canoni a 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8e 11 voci sopra del
Canto fermo intitolato la Base di Costanzo Festa" darf ein in
diesem Sinne erstaunliches Werk heissen. Adriano Banchieri, fast
noch Zeitgenosse, hat Recht, wenn er darüber sagt, „opera degna
di essere in mano di qualsisia musico e compositore 1). Aber
Nanini war eben auch ein Mann, der frisch vorwärts und der
neuen Zeit rüstig entgegenschritt. In dieser Hinsicht sind seine
achtstimmigen Motetten in der öfter erwähnten Publication Fabio
Costantims (Cantate Domino canticum novum, 0 altiludo divüia-
rum) höchst anziehend. In dem Canlale Domino singen zwei
Chöre nach venezianischer Weise; aber wie sie einander vor
freudiger Aufregung in's Wort fallen, einander zurufen, antworten,
ja endlich rasche syllabische Phrasen in Viertelnoten hören lassen;
das Alles hat schon etwas dramatisches, die Harmoniewendungen
deuten schon nach der Neuzeit; das Ganze ist eines der brillan-
testen Stücke. Das reiche Musikarchiv von St. Maria in Valicella
in Rom, das vatikanische und päpstliche Capellarchiv besitzen
viele, zur Stunde noch ungehobene Schätze des Meisters. Ein
lehrreicher Tractat Xanini's „Regole di Giov. Maria e di Bernar-
dino Nanini per fare contrappunto amente sopra il Canto fermo"
von der Hand des päpstlichen Sängers Orazio Grifft befindet sich
in der Corsini'schen Bibliothek zu Rom, leider fehlen die ersten
und die letzten Blätter. G. M. Nanini ist sicher eine seltene
Erscheinung: man wird nicht eben leicht einen zweiten finden,
in welchem spezifische Musikgelehrsamkeit, die sich als solche
gibt, und der freie Schwung poetischer Begeisterung und frischer
Schöpferkraft — Gaben, die sonst ziemlich weit auseinanderzu-
1) S. dessen „Cartella musicale del Canto figurato" etc. Ven. 1614
S. 234. Adriano redet freilich von einem gedruckten Werke, kann aber
doch kein anderes meinen, als das oben.
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70 Der italienischen Musik grosse Periode.
liegen pflegen — so vollkommen einträchtig neben einander Platz
hatten.
Der jüngere Nanini — nämlich Giovanni Bernardio Na-
nini, Schüler und später Gehilfe in der Musikschule seines
Bruders, Capellmeister bei S. Luigi de Francesi und später bei
S. Lorenzo in Damaso, erscheint als das stillere Talent, reicht
auch schon mehr in die Neuzeit hinüber, wie er denn z. B. seinen
(Kompositionen eine Orgelstimme beizugeben anfängt (una cum
gravi voce ad organi sonum accomodata). Viele seiner bedeu-
tendsten Arbeiten (wie das zwölfstimmige Salve Hegina in der
Sautini sehen Sammlung) blieben ungedruckt Eine Sammlung
fünfstimmiger Madrigale (1612) enthält hübsche Sachen, — der
Beisatz auf dem Titel „Con licenza de Superiori" wirft ein Licht
auf die gleichzeitigen Zustände in Rom. Mit wie grandios-
solenner Miene man Übrigens damals selbst anakreontische Tän-
deleien oder Kindereien in die Welt der römischen Cose grosse
einführen musste, zeigt in ergötzlicher Weise eben diese Samm-
lung. Da ist z. B. ein Madrigal „Animosa guerriera piecola
zanzaretta", Achtelnoten tanzen darin durcheinander wie Mücken,
die Pointe ist: die angesungene Schnacke hat die schönste der
Schönen verwundet, was Amor selbst mit seinem Bogen nicht
im Stande gewesen. Man erstaunt, wenn nun Einfällen dieser
Art eine Dedicationsvorrede an den Cardinal Montalto voran-
gestellt ist, die gleich mit dem hochtönend-gewaltigen Satze an-
fangt: „sc questo raondo inferiore, secondo il gran Trismegisto,
depende dal superior mondo u. s. w.
Wie ein jüngerer Bruder steht neben Palestrina Tommas o
Lodovico da Vittoria aus Avila in Spanien, den man gerne
und mit vollem Hechte mit Palestrina zusammen nennt1).
Vittoria ist keineswegs etwa eines jener allerdings oft sehr
liebenswürdigen Talente zweiten Banges, die von einem grösseren
Geiste so unwiderstehlich angezogen werden, dass sie in ihm auf-
gehen, denken wie er, fühlen wie er, deren Werke zwar nur
Nachklänge jenes Grösseren, aber reine Nachklänge und noch
immer etwas unendlich Besseres sind, als blosse Nachahmungen.
Vittoria hat sehr viele Motetten über Texte componirt, welche
1) Baini ist von diesem Spanier in der Nähe seines göttlichen Pier«
luigi offenbar genirt. — Er lässt sich also über Vittoria's „Officium heb-
domadae sanetae" (1585 Gardano) dahin vernehmen: es seien Lamen-
tationen, nicht im Flammänder, aber im spanischen Style, lang, breit, ein-
förmig, weshalb die Flammänder sie eine Ausgeburt von Mohrenblut, die
Italiener aber einen Bastard von spanischer und italienischer Race nannten.'4
Urtheile wie dieses, wie das Urtheil über Orlando Lasso u. s. w. gereichen
Baini zu wahrer Schmach. Selbst Kandier findet die Geschichte denn
doch zu stark und meiat jene Lamentationen seien doch ..sehr beachten s-
werth".
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Der italienischen Musik gi-osse Periode.
71
auch von Palestrina in Musik gesetzt worden: Senex puerum por-
tabat; O magnum mysterium; Veni sponsa Christi; Estote forte* in
hello u. a. m. Da findet sich nun eine fast doppelgängerische
Aehnlichkeit der beiden Meister, und doch empfindet man einen
wesentlichen Unterschied, dessen Erklärung vielleicht Proske's
Ausspruch giebt: „Vittoria werde durch einen gewissen mysti-
schen Zug charakterisirt." Einzelne Züge bei Vittoria verrathen,
dass in dem Herzen dieses Spaniers eine tiefe Glut lebte, welche,
auf andere Bahnen gelenkt, Gesänge der Leidenschaft, wenn
auch einer edeln Leidenschaft, angestimmt und ihn zu einer Luca
Marenzio ähnlichen Erscheinung gemacht haben würde. Man
erkennt an diesem Avilaner den Landsmann der h. Theresia von
Avila, deren liebeflammendes Herz in mystischer Glut brannte.
Ohne Zweifel hat Palestrina's Beispiel und die innige Freund-
schaft, welche ihn mit Vittoria verband, auf letzteren wesentlich
eingewirkt. Die als Probe dieser Freundschaft öfter erzählte
Anekdote: „dass Vittoria seinem Freunde Palestrina zu Liebe die
spanische Tracht abgelegt und sich den Bart habe nach römischer
Art stutzen lassen 41 kann auch sinnbildlich genommen werden.
Halte man Vittoria's Motette „Veni sponsa Christi" mit der gleich-
namigen von Palestrina vergleichend neben einander: Palestrina
gönnt dem Thema seinen ruhigen Eintritt in allen vier Stimmen,
Vittoria setzt gleich mit der zweiten Stimme ein Gegeuthoma ein,
welches mit fast leidenschaftlicher Sehnsucht zwischen das Kirchen-
thema hineinruft. Aber wie eigen hält und bändigt er diesen
Zug seiner Seele durch Andacht und Demuth! Dagegen fehlen
ihm so gut wie ganz jene kleinen, halbdramatischen Züge, wie
sie aus Palestrina zuweilen herausblitzen (sehr ftihlbar bei Ver-
gleichnng des Pueri Hebraeorum beider Meister). Die Im pro -
perien Vittoria's sind den berühmten Palestrina's vollkommen
ebenbürtig, aber auch zum Verwechseln ähnlich, bis auf den
Schluss, der bei Vittoria ins Motettenhafte hinüberspielt. In
ähnlich einfachstem Style sind die Turbae der Passion, wie sie
Vittoria vierstimmig gesetzt; von irgend welcher dramatischer In-
tention ist nicht die Rede; es sind reine Zeremoniengesänge für
die kirchliche Feier. Manche Motetten, wie die prachtvoll-edle
0 quam gloriosum est, manche Sätze der Magnificat, das Ave
Hegina coelorum (dessen achtstimmiger Schlusssatz ein Meisterstück
musikalischer Tectonik ist), sind ganz reiner Palestrinastyl, sie
werden den geübtesten Blick täuschen. Wenn wir den Meister
von Präneste endlich doch die höhere Stelle anweisen, so ist es,
weil er unverkennbar doch der reichere, vielseitigere Geist ist,
weil ihn sein Flug durch Regionen trug, au die Vittoria kaum
gestreift hat, und selbst jenen inneren Kampf, wie sich Palestrina
von der älteren Kunst losringt, muss man für ihn in Anrechnung
bringen.
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72 Der italienischen Musik grosse Periode.
Vittoria's Hauptwerk ist das Officium defunctorum in obitu et
obsequiis Sacrae imperalricis , bestehend aus einer sechsstimmigen
Missa pro defunctis, einem sechsstimmigen Versa est in luctum,
einem sechsstimmigen Libera und einem vierstimmigen Taedet
anima. Diese erhabene Trauermusik weist dem Meister seine
Stelle in allernächster Nähe Palestrina's an1). Von Messen
Vittoria's erschienen zwei Bücher: das erste, Philipp II. gewidmete
mit vier-, fünf- und sechsstimmigen Compositionen, 15S3 in Rom;
das zweite mit vier-, fünf-, sechs- und achtstimmigen Messen
nebst Asperges und Vidi aquam, 1592 ebendaselbst Das erste
Buch enthält die vierstimmigen Messen: Quam pulchri sunt; 0 quam
gloriosum; Simile est regnum coelorum\ Ave maris Stella; Pro de-
functis, die ftinfstimmigen Messen Surge propera und De U. Virgine,
die sechsstimmigen Dum complerentur und Gaudeamus. Das zweite
Buch hat nebst den erwähnten Asperges und Vidi aquam (beide zu
vier Stimmen) die vierstimmigen Messen: 0 magnum mysterium, und
Quarti loni; die fünfstimmigen Trahe me posl le und Ascendens
Christus, die sechsstimmige Vidi speciosam, die achtstimmige Salve
und eine vierstimmige Missa pro defunctis mit dem Kesponsorium
Peccantem me 2). Proske hat Recht, wenn er meint, „dass sich hier
Arbeit, Gebet und Genie zur vollendeten Harmonie durchdringen.
Umfangreiche und sein* bedeutende Werke sind Vittoria's „Magni-
ficat" (Rom 1581) und seine „Hymni totius anni seeuudum 8.
Rom. Kccl. consuetudinein qui quatuor concinuntur voeibus, una
cum quatuor psalmis pro praeeipuis festivitatibus, qui octo voeibus
modulantur" ''Rom 15S1». Dieses grossartige Hymnenwerk ist
Gregor XIII. gewidmet3). Ein| sehr merkwürdiges und eigen-
tümliches Stück darin ist das Pange lingua more hispano, d. i.
nach der in Spanien gebräuchlichen, von der gewöhnlichen ver-
schiedenen Melodie. Vittoria lässt die erste Strophe im ein-
stimmigen Cantus planus, die folgende Nobis datus in einer aus-
nehmend schönen vierstimmigen Bearbeitung singen, und so
strophenweise abwechselnd bis zum Schlüsse. In derselben Samm-
lung findet sich ein zweites, nicht minder schönes Pange lingua
nach der gewöhnlichen Melodie. Merkwürdig ist es, dass dieser
1) Ein Exemplar im Musikarchiv der spanischen Kirche St. Jacob
zu Rom. Eine Abschrift in Proske's handschriftlicher, jetzt in Regens-
burg befindlicher Sammlung. Fetis versichert, „dass Vittoria später nach
Madrid zurückgekehrt sei,44 weil das Werk dort 1Ö00 gedruckt worden.
Der Grund ist denn doch nicht haltbar.
2) Exemplar in der Vaticana. Die Missa quarti toni, Simile est
regnum coelorum, Vidi speciosam, Trahe me post te und 0 quam glorio-
sum est regnum sind neuestens durch Proske's Musica divina wieder all-
gemeiner bekannt geworden.
3) Exemplar der Magnificat und der Hymnen in der Casanatensis
zu Rom.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
73
herrliche Meister nie in eines der päpstlichen Sängercollegien ein-
trat, wohin doch sonst die bedeutenden Musiker in Rom früher
oder später gelangten. Er war 1573 Capellmeister des Collegium
germanicum , 1575 Capellmeister von St. Apollinare. Mit Pa-
lestrina war er innig befreundet, aber die übrigen Musiker mögen
ihn durch allerlei Intriguen ihrem Collegium ferngehalten haben.
Ihr unwürdiges Urtheil über Vittoria's Lamentationen lässt eine
bis zum Hasse gesteigerte Abneigung erkennen, welche vielleicht
dem Spanier galt. Seit der entsetzlichen Plünderung Prato's
1512 und der gleich schrecklichen Plünderung Rom's 1527 standen
die Spanier nicht in Gunst; der alte heftige Paul IV. hatte, so
oft er sie nur nannte, gegen sie ein ganzes Schimpflexicon bereit,
worin auch das „Marannenblutu figurirte, welches die Sänger in
jenen Lamentationen wiedererkennen wollten.
Aus der Schule Nanini's ging Feiice Anerio hervor; 1551
Nachfolger Palestrina's in der Capellmeisterstelle von St. Peter.
Er zählt zu den besten der goldenen Zeit. Das Archiv der
Chiesa nuova in Rom, die Sammlung des Collegio germanico,
die Altaemps'sche Sammlung bewahren von ihm zahlreiche Arbeiten,
das erstgenannte Archiv unter andern ein achtstimmiges Miserere
fiir zwei Chöre, die Altacinps'sche Sammlung viele Motetten von
vier bis zu zwölf Stimmen, so auch Santini's Sammlung ein
zwölfstimmiges Dies irae, vierstimmige Improperien, eine acht-
stimmige Messe „Vestiva i colli u, eine andere Messe zu zwölf
Stimmen u. s. w. ; es finden sich aber auch Motetten für blos
eine Stimme, also schon wahre Monodieen. Interessant ist eine
Sammlung geistlicher Madrigale zu fünf Stimmen, sie erschien
1585 bei Alessandro Gardano. Das ganze Genre ist fiir die Zeit
bezeichnend. Liest man die Textantange „ardendo mi consumo;
Fortunati pastori, Occhi voi mi beate; Chicdei piangendo u. s. w.,
so meint man Liebesmadrigale vor Augen zu haben, es ist aber
alles geistlich gewendet und pointirt — ungefähr wie man in
gewissen Klöstern der erlaubten Fastenspeise, den Fischen, An-
sehen und Geschmack der verbotenen Fleischspeisen zu geben
wusste. Eine vierstimmige Messe „veni sponsa Christi'1 reiht sich
der gleichnamigen Palestrina's würdig an, eine andere über das
Lied „hör le tue forze adopra" (handschriftlich in der Vaticana
und im Coli, rom.) ist ein reines Meisterwerk, die Färbung
dunkler, tiefer als bei Palestrina, der Ausdruck von eigentümlich
mildem Ernst und feierlicher Würde, der schönste Wohlklang,
die gediegenste Arbeit. Eine Auswahl herrlicher Motetten aus
der Altaemps'schen Sammlung im Coli. rom. hat Proske in seine
Musica divina aufgenommen, die merkwürdigste darunter ist
vielleicht die Antiphone, welche „in festo virginum" gesungen
wird: „Regnum mundi et omnem ornatum seculi contempsi" —
Wonne und Schmerz sind hier wunderbar gemischt, das Stück
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74
Der italienischen Musik grosso Periode.
hat etwas Visionäres, es ist eine Stimmung wie etwa Katharina^
von Siena, welche die Rosenkrone abreisst und sich die Dornen-
krone entzückt in die Stirne drückt 1). Einer der reinsten Klänge
der goldenen Zeit, ein Adoramus te Chrisle gilt aller Orten
für eines der hinrcissendsten Werke Palestrina's , es wäre end-
lich Zeit, es dem wahren Meister zurückzustellen. Gehört
doch auch das dreichörige Stabat der Altaemps'schen Sammlung
vielleicht ihm, und nicht Palestrina, zu dessen herrlichsten
Schöpfungen Baini es zählt2)! Felicc's jüngerer Binder Giov.
Francesco Anerio steht schon sehr bedeutend an der Grenze
der Neuzeit, oder vielmehr, er gehört schon einer neuen Gene-
ration an — (er hat Stücke mit schon obligat eingreifenden In-
strumenten, wie seine 1619 gedruckte sechsstimmige Conversione
di S. Paolo), aber er hat auch Compositionen im Capellenstyle,
wie sein tüchtiges vierstimmiges Requiem (an Stelle des „Si am-
bulavero" bringt es, gleich dem Requiem des Niederländers An-
tonius Brumel die Sequenz des dies irae), wie seine fünfstimmige
sogenannte Missa Paulina Borghesia super: quem dicunt homines
(sie ist nämlich Paul V. Borghese gewidmet), wie seine sechs-
stimmige Messe „In to Domine speravi" im Archiv der Chiesa
nuova zu Rom. Tonstticke voll Geist und voll Ausdruck, an
Luca Marenzio's bewunderte Arbeiten mahnend, sind seine, von
seinem Schüler Ippolito Strada3) in Venedig bei Giacomo
Vincenti 1608 herausgegebenen Madrigale zu fünf und sechs
Stimmen, sehr mannigfach in der Stimmung, die Situation, ja das
Wort malend. Harmonie und Modulation gehört nicht mehr den
Kirchentönen, sondern vollständig schon der modernen Tonalität —
es rinden sich sogar kühnc; aber glückliche Züge, der Fürst von
Venosa hatte nicht umsonst in seinem Madrigale sich in das
Dickicht wundersamer Harmonieen gewagt; Meister wie Anerio
unterschieden sehr wohl, was von dem, was ihm dort in's Garn
gelaufen, brauchbar sei, und was nicht, und wussten den Fang
zu nützen. Ein zweichöriges Ave verum, eine achtstimmige Mo-
tette Pulchra es bewahrt das Musikarchiv der Chiesa nuova.
Fanden wir es schon bei Clement Jannequin mit Verwunderung
zu notiren, dass er sein musikalisches Bataillenstück zu einer
1) Die Dissonanz zu den Worten „quem araavi" möge man nicht un-
beachtet lassen.
2) Proske hielt es für ein Werk Anerio's. Mein werther Freund,
der Capuzinersuperior P. Barnabas Weiss in Prag, veranstaltete eine Auf-
führung, wo wir die mächtige Wirkung dieses Tonwerkes kennen lernten.
3) „Signor Gio. Fr. Anerio mio maestro" sagt Strada in der Vorrede.
Der Titel ist: „Madrigali a cinque e sei voci, con uno ad otto di Gio.
Fr. Anerio, Romano. Libro secondo. Nuovamente composto et dato in
Luce. S. Veneria appresso Girolamo Vincenti MDCVIII.4' Das erste
Buch kenne ich leider nicht.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
75
Messe umgearbeitet, so begegnen wir auch dem römischen Meister
auf dem ahnlichen Pfade; seine Messe „la Battaglia" wurde sogar
eines seiner geschätztesten Werke, und wurde zusammen mit
seiner vierstimmigen Umarbeitung der Marcellusmesse und den
beiden Messen Palestrina's hie eonfessor und Sine nomine wieder-
holt gedruckt (1626, 1639 u. s. w.). G. Fr. Anerio, den wir
hier in Gesellschaft seines Bruders Feiice eingeführt, gehört schon
sehr zu der musikalischen „Fortschrittspartei". Bei den Zeit-
genossen Palestrina's sah es noch anders aus. Ein solcher war
Anuibale Zoilo, ein geborener Kömer, aber, wie seine Musik
zeigt, treuer Eleve der Niederlander — seit 1561 Kapellmeister
in S. Giovanni di Laterano — seit 1570 im Collegium der päpst-
lichen Sänger. Seine Kosponsorien für die heilige Woche l)
wurden hoch geschätzt, so auch seine „Suffrezia Sanctorum", und
haben einen strengen, ernsten, echt rituellen Charakter. — Bei
Fabio Costantini (Select. cant.) findet sich eine Motette Beala
maier. Zoilo's Musik ist noch fühlbar archaisch — die Respon-
sorien mahnen etwa an Carpentras, auch die eingefügten kleinen
Duos sehen ganz niederländisch aus. Die Harmoniewendungen
sind sehr kräftig, aber oft herb. Hier sind wirklich die „wenig
vermittelten Dreiklangfolgen mit denen man oft (sehr falsch)
diesen ganzen Styl charakterisiren zu können meint. Unverhält-
nissmässig oft erscheint die Tonfolge des Bassschrittes tonab-
oder tonaufwärts mit darauf gesetztem Dreikltfng. Ein in seiner
Art ausgezeichnetes Salve Regina zu zwölf Stimmen lässt die
Tüchtigkeit Annibale Zoilo's ganz besonders erkennen. Mit ihm
ist Cesare Zoilo nicht zu verwechseln, von dem sich in der
Raccolta de Salmi a otto di diversi eccellenti autori (Napoli,
appr. Giov. Gins. Carlino 1615) ein achtstimmiges Lauda Jeru-
salem , bei Constantini im ersten Buche ein Duo für Alt und
Tenor Elecatis manibus, im zweiten Buch ein Duo für zwei Bässe
veni elecla findet. Von den beiden Zoilo ist Cesare offenbar der
jüngere — von ihm erschienen 1620 fünfstimmige Motetten „col
suo basso continuo" bei Magni in Venedig. — Deswegen braucht
er selbst kein „compositeur venitien" zu sein, wie Fetis ohne
nähere Nachweisung behauptet.
Noch entschiedener fremd und alterthümlich, wie ein Ueber-
bleibsel aus alter Zeit, steht auch noch Kocco Hodio aus Ca
labrien da, Meister im improvisirten Contrapunct, den er in Hegeln
brachte (seine Schrift darüber erlebte einige Auflagen), mit vir-
tuosenhaften Satzproblemen vertraut, wie sich denn in seinen zu
Neapel gedruckten Messen (1580) eine fünfstimmige Messe de
1) In der Vaticana, im Codex M. S. Altaemps. Ottobon. N. 2928.
(Proske hat sie s&mmtlich in Partitur gebracht — und sieben davon in
seine Mus. divina aufgenommen).
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Der italienischen Muaik grosse Periode.
Beata Virgine befindet, welche eine Messe plurium facierum (aber
in anderem Sinne als jene Pierre Moulu s) ist: man kann sie
nämlich auch vierstimmig singen, wenn man die Pars quinta weg-
lässt; oder dreistimmig, wenn man auch den Sopranpart unter-
drückt; oder abermals, und zwar anders dreistimmig, wenn man
nur die drei obern Parte singt. So hatte Rodio ein Duett mit
verschiedener Taktbezeichnung in den beiden Stimmen (Prolatio
cum tempore perfecto in der höhern, Tempus perfectum mit der
Proportion 3/2 in der tiefern), welches Stück Rodio besuchenden
Musikern als eine Art Ulyssesbogen vorlegte: „niemand aber
konnte es singen/1 nur 6. L. Rossi, der Verfasser des „Organo
de Cantori", fand sich zu Rodio's Erstaunen gleich zurecht 1).
Unter jenen Messen findet sich auch eine sechsstimmige über
Adieu mes amours, eine vierstimmige Über Maler patris, gleich
jener Josquins „ad voces aequales" componirt; Rocco Rodio, der
noch die Neuzeit des 17. Säculums erlebte, nimmt sich aus wie
ein Grossvater, der den Enkeln von der alten „Niederländerzeit"
berichtet. Er muss wirklich sehr alt geworden sein, denn Ca-
millo Maffei begrüsst ihn schon 1563 in einem an ihn gerichteteu
Briefe als berühmten Meister, und G. L. Rossi redet in seinem
1618 gedruckten „Organo de Cantori" von ihm als einem noch
Lebenden: „Rocco Rodio, musico eccelentissimo a nostro tempo."
Nimmt man hiernach Rodio's Geburtsjahr mit 1530 an, so wäre
er, als Rossi jene Worte schrieb, schon 88 Jahre alt gewesen.
Wer weiland sein Lehrer gewesen — darüber fehlen die Nach-
richten.
Den Palestrina8tyl ohne archaische Nachklänge des Nieder-
länderstyles, vielmehr in seiner vollen Reinheit und seiner klassi-
schen Schönheit repräsentirt Pietro Paolo Paciotti, ein ge-
borener Römer, Kapellmeister am Seminario Romano, dessen
Messen drei Jahre vor Palestrina's Tode — nämlich 1591 —
bei Alessandro Gardano in Rom gedruckt wurden2) und den
alten Grossmeistern, wenn er sie noch kennen lernte, die reinste
Freude gemacht haben müssen. Paciotti ist ein Beweis, dass
sich nicht immer „Verdienst und Glück verketten" — seine Werke
sind überaus selten, er selbst wird kaum genannt. Und doch
verdiente er unter den Meistern der Palestrinazeit mit in erster
Reihe zu stehen, mehr als mancher andere, dessen Name in Aller
Mund ist.
\) In Rossi's Buch steht 3. 43 das Duo nebst Commentar.
2) Petri Pauli Paciotti, Seminarü Komani moderatoris Missaruin
über prirnus — quatnor ac quinque vocibus concinendarura , nunc denuo
in lucem editus. Romae apud Aiexandrum Qardanum 1591." Proske
hat daraus eine herrliche fünfstimmige Messe: „Si bona suscepimus" in
seinen Select. nov. Miss. II Tomus — Pars I. — Missa X. aufgenommen.
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I
Der italienischen Musik grosse Periode.
77
Nicht blos Körner, wie Paciotti, repräsentiren den römischen
Musikstyl, der Neapolitaner Fabricio Dentice, ein Edelmann,
welcher aber allerdings in Rom lebte, schloss sich so vollständig
der römischen Schule an, dass es unzulässig ist, ihm zu Ehren
schon eine „neapolitanische Schule" zu statuiren. Neapel kam
erst später an die Reihe. Ein neunstiramiges Miserere, mit ein-
zelnen vier- und fiinfstimmigen Strophen (in den Musikvorräthen
der Chiesa nuova zu Rom), falsobordonartig, klingt wie ein Vor-
bote des späteren, berühmten Miserere von Allegri — 1580 wurden
von ihm in Venedig Motetten gedruckt, auch einige in die 1601
bei Peter Phalesius in Antwerpen gedruckte „Melodia Olimpica"
aufgenommen. Als Meister der Laute wird Dentice von Vincenzo
Galilei genannt !) — man findet Stücke von ihm im „Thesaurus
harmonicus" des Besardus (Köln 1603), auch Johannes Woltz,
der Organist von Heilbronn , hat in seiner „Nova musices Orga-
nicae Tabulatura" etwas von ihm in „deutsche Tabulatur" um-
geschrieben — im ersteren Werke wird der Name des Com-
ponisten zu „Dendici", im andern zu „Dentici" (Genitivform) ge-
modelt Dentice scheint kraft seiner Geburt, nach seiner Vorliebe
für die Laute zu schliessen, und da er nie eine offizielle musi-
kalische Stellung einnahm, ein (sehr tüchtiger) Dilettant gewesen
zu sein, wie es deren in jener Zeit mehr gab2). Der Franzose
Franz Roussel, von den Italienern Rossel, Rosselli oder
K<»s sello genannt, dessen Abschied von Rom 1550, nachdem er
eine Zeit lang als Domenico Ferrabosco's Nachfolger maestro de
putti in der päpstlichen Capelle gewesen, Palestrina in einem
Madrigal feierte3), und der, dahin zurückgekehrt, seit 1572 Lehrer
des Gesangs bei S. Giovanni di Laterano war, und dessen auch
Vincenzo Galilei gedenkt4), wird insgemein auch fttr die römische
1) Dialogo della mus. ant. o mod. S. 138.
2) Ein solcher war in Rom z. B. Flaminio Flamini, Ritter vom
Orden des h. Stephan — er gab 1610 „Vilanellen mit Guitarre" (Guidarra
Spagnola) heraus.
3) In: ü primo libro de Madrigali a 4 voci 1555 (Madrigal N. 18]
mit der Ueberschrift: „La lode di Rossel": das Poem nimmt den Mund
etwas voll:
Quai rime für* si chiare
o quäle stil tia mai lodato
che degno sia, Rossel del vostro canto
voi certo foste in ciel
ond' ai mortali la divin armonia portaste
perch' eterno avete il grido
e pur voleste far ch' in piü d'un lido
— o somroa cortesia — i bassi versi nüei
spiegasaer V ali con vostre voci e tali
cn' addolcir ponno il duol, far lieto il pianto
che a nessun altro sene puo dar vanto.
4) Im „Fronimo" S. 61.
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78
Der italienischen Musik grosse Poriode.
Schule in Anspruch genommen — er kann aber wenigstens um
der zwei stimmungsvollen „Adoram us" willen, welche Proske im
Musikarchiv der Münchener Hofkapelle fand1), nicht wohl zu
den Meistern der genannten Schule gerechnet werden — solche
einfach-edle Sätze, Note gegen Note, findet man lange vor Pales-
trina's Improperien u. dgl. in ganz ähnlichem Character schon
bei Josquin, bei Brumel, bei Pierre de la Rue (das schöne 0
salutaris) und anderen Niederländern. Jn wiefern eine handschrift-
liche „Missa pro defunctis", welche Pitoni im Archiv von „S.
Lorenzo in Damaso" (Rom) fand, sich dem römischen Musikstyl
etwa mehr nähert, wüssten wir nicht zu sagen — jedenfalls ver-
liess der Tonsetzer Rom, ehe sich der „römische Musikstyl" in-
dividuell ausgebildet und von der Abhängigkeit an niederländische
Tonkunst emanciput hatte und gerade während der Jahre, wo
dieser Styl feste Gestalt bekam, war Roussel von Rom abwesend.
Allerdings aber ist es möglich, dass auch er Goudimel's Schüler
gewesen. Gewiss ist letzteres von Steffano Betini, genannt
„il Fornarino", seit 1562 Sänger der päpstlichen Capelle. Die
Kiesewetter'sche Sammlung besitzt von ihm die fünfstimmigen
Motetten Surge propera, Verbum iniquum und Sana me Domine,
die Santini'sche die ebenfalls flinfstimmigen Salvum me fac und
Transeunle Domino, gute Arbeiten im Sinne der römischen
Schule.
Unmittelbare Zöglinge Palestrina's waren Giovan Andrea
Dragoni (geb. zu Meldola, Capellraeister im Lateran von 1576
bis zu seinem Tode im Jahre 1594) und Annibale Stabile
(Capellmeister im Lateran 1575 bis 1576, dann bei S. Apollinare,
von 1 592 an in S. Maria Maggiore). Von Ersterem besitzt die
Münchener Bibliothek ein Exemplar der 1575 zu Venedig ge-
druckten fünfstimmigen Madrigale, die Sammlung Kiesewetter's
eine achtstimmige Motette Benediclus Dominus Deus Israel, die
Santin'sche Sammlung eine canonische Messe „dextera tua Domiue",
das Archiv des Lateran eine vierstimmige Todtenmesse „quae
dicitur in anniversariis canonicalibus" u. a. m. Annibale ßtabile
tibersetzt in seinen achtstimmigen, im Florilegium Portense ge-
druckten Motetten Hi mit qui venerunt de Iribulatione magna und
Nunc dimitlis den Styl seines grossen Lehrer's in's prosaisch
Tüchtige, es sind kräftige, auf stattlichen Effect angelegte, im
Tonsatze höchst achtbare Werke, aber der wunderbaro Duft hoher
Poesie, wie er die echte Palestrinamotette durchweht, fehlt.
Derselben Schule gehört unverkennbar auch Giov. Franc. .
Brissio an, von dem in Fabio Costantini's Sammlung nur eine
Motette zu drei Stimmen In medio ecclesiae aperuis erhalten ist,
l) S. Mus. divina Tom IV über Vespertinus S. 307-309.
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Der italienischen Musik grosse Periode 79
welche, abgerechnet einiges unnütze Kokettiren mit pikanten
Dissonanzen, feinen Schönheitssinn verräth. Den reinen Styl der
goldenen Zeit zeigt in sehr anerkennenswerther Weise Placido
Falconio aus Asola (Benedictiner in Brescia um 1550). Ein
aus seinem grossen Werke „Missae introitus per totum annumu
(Venedig 1573) von P. Martini in seinem Saggio di Contrapp.
mitgetheiltes fiinfstimmiges Stück (Commune de martyribus in
tempore paschali Sancti tui Domine) hält mit seiner meisterlichen
Behandlung des Cantus firmus die Nachbarschaft der dort seine
Umgebung bildenden Palestrinas ganz wohl aus. (Ausserdem von
Falconio vierstimmige Responsorien , die „Turbä" die Passion,
und das Magnificat nach den acht Kirchentönen — alle diese
Werke 15S0— 1588 in Brescia gedruckt.) Noch wäre der päpst-
liche Capellsänger Arcangelo Crivelli aus Bergamo (trat 1583
in die Capelle, st. 1610) zu nennen, von dem die Santini'sche
Sammlung unter anderem eine Messe zu sechs Stimmen besitzt,
Transemi h Domino, und mehrere Stücke in den Publicationeu
Fabio Constantini's gedruckt sind, ferner Prospero Santini,
Cesare Roilo, Vincenzo de Grandis und Giov. Bott.
Lucatello oder Locatello, von denen Stücke in Fabio Co-
stantinfs Sammlungen enthalten sind, von Locatello übrigens auch
in Waelrants „Symphonia angelicau und in der unter dem Titel
„Dolci affetti" bekannten Madrigalensammlung.
Den braven Meister Asprilio Pacelli, aus Varciano bei
Narni, verschlug sein Geschick, nachdem er die Capellmeister-
stelle von S. Peter in Rom von 1601 bis 1603 versehen, nach
Polen an den Hof Sigismunds III.; er starb 1623 zu Warschau,
wo er, wie seine Grabschrift in der dortigen Kathedrale sagt, die
königliche Capelle mehr als 20 Jahre mit wunderbarer Sorgfalt
(mira solertia) geleitet. Fabio Costantini's Sammlung enthält von
ihm eine sehr schöne achtstimmige Motette Factum est silentium
und ein acht6timmiges Veni sanete, der 2. Theil des Florileg.
Portense die achtstimmigen Stücke Canlale Domino und Tres
sunt qui, welche, wenn sie auch nicht das Lob der Grabschrift
„eruditione, ingenio, inventionum delectabili varietate omnes
ejus artis coaetaneos superavit" übertrieben erscheinen lassen,
doch den tüchtigen Meister der Kunst verrathen. Asprilio
Pacelli gehört übrigens schon den folgenden Zeiten des Stylüber-
ganges an.
Als Palestrina starb, glaubte man ihm keinen würdigeren
Nachfolger geben zu können als Ruggiero Giov an el Ii aus
Velletri — der als einer der bedeutendsten Meister der römischen
Schule gilt. Seine frühesten gedruckten Werke sind ein 1586
in Venedig bei Antonio Gardano erschienenes fünfstimmiges
Buch Madrigale 1587, 1589 folgte ein zweites und drittes Buch —
im Jahre 1587 druckte Giacomo Vincenti in Venedig ein Buch
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Der italienischen Musik grosse Periode.
sogenannter „Sdruccioli4'. ') In Rom folgten 1 593 ftinfstimmige
und a< htstimmige Motetten bei Francesco Coatti, 1593 achtstim-
mige Messen, daneben Vi hineilen alla Napoletana und andere
Werke. Damals war Giovanelli Capellmeister bei S. Luigi de
Francesi, hernach bei S. Maria dell' anima, — am 12. März 1594
erhielt er die Capellmeisterstelle bei der Peterskirche und trat
sein Amt drei Tage später an. Hier schrieb er das vierstimmige
„Miserere" (letzte Strophe achtstimmig), welches in der päpst-
lichen Capelle so lange gesungen wurde, bis es der Composition
Allegri's weichen musste.
Unter Giovanelli's Messen im Capellenarchiv der Sixtina
findet sich unter anderem eine achtstimmige über Palcstrina's
Vestiva i colli von trefflicher Arbeit, 2) eine zwölfstimmige bewahrt
die Altaemps'sche Sammlung im Coli, romano — dazu bedeutende
Motetten zu 4, 5 und S Stimmen, und eine zwölfstimmige Egre-
dimini filiae Sion. Die Motetten zu fünf Stimmen hie Sanctus
pro lege Dei (ans den Mot. delle Capp. Cardinalizie , in Kiese-
wetter's Sammlung) und Laudent nomen ejus (in einem gemischten
Bande Motetten derselben Sammlung) sind schöne Werke des
ausgebildeten römischen Musikstyles; die achtstimmige Motette
Jubilale Deo (im Florileg. Portense) aber ist ganz besonders be-
merkenswerth , weil sich darin neben den Kunsttraditionen der
Palestrinazeit ein fühlbares Streben nach grossartiger Pracht kennt-
lich macht. Giovanelli malt bei den Worten „in tubis duetilibus
et voce tubae corneae" mit den Menschenstimmen die Fanfaren
der Trompeten, die anschlagenden Pauken, bei den Worten „mo-
veatur mare" gerathen die Stimmen in eine Wellenbewegung
(die sogar in den geschriebenen Notengruppen auch dem Auge
anschaulich gemacht wird!); doch sind diese Malereien nicht klein-
lich, die Stelle vom „wogenden Meere'4 ist sogar ganz imposant,
wie denn überhaupt diese ganze Motette als Beweis gelten darf,
was sich an glänzender Wirkung auch ohne den brillanten Farben-
wechsel eingreifender Instrumente erzielen lässt. (Merkwürdiger
Weise hat Luca Marenzio denselben Psalm in ganz ähnlicher Art
und sogar mit ganz denselben Tonmalereien componirt. s) Ein
sehr bedeutender Meister ist Francesco Soriano (geb. 1549 zu
Rom), Schüler Annibale Zoilo's und des Bartolomeo Roy, auch
eine Zeit lang in Nanini's Schule, wo sich Palestrina selbst um
1) „Gli Sdruccioli. Jl primo libro de Madrigal i a quattro voci. Roma
appr. Aless. Gardano 1585." Ein Exemplar — leider aber nur das Sopran-
heft — besitzt die Casanatensis aus Baini's Nachlasse. „Sdruccioli" ist be-
kanntlich der Name einer Gattung italienischer Verse.
2) Eine Abschrift davon in der Kiesewctter'schen Sammlung.
3) Ebenfalls im Florilegium Portense abgedruckt. Einer der beiden
ist, wie kaum zu zweifeln sein möchte, Nachahmer. Aber welcher?
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Der italienischen Musik grosse Periode.
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seine Ausbildung bemüht haben soll, Capellmeister bei S. Luigi
de Francesi und bei 8. Maria Maggiore, von 1603 an bei St. Peter.
Als sein Hauptwerk gilt eine Arbeit, die freilich gewissermassen
nur eine Studie, aber in diesem Sinne erstaunlich ist, nämlich die
1610 in Rom bei Robletti gedruckten Canoni et oblighi di cento
e dieci sorte sopra CAve maris Stella a Ire, quallro, cinque, sex,
seile et olto voci. Zacconi hat diese sämmtlichen Probleme auf-
gelöst und in Partitur gebracht, seine Handschrift wird im Liceo
filarmonico zu Bologna aufbewahrt. Abgesehen von der hier ent-
wickelten contrapunctischeu Meisterschaft hat Soriano diese Sätze
mit so vieler rein musikalischer Schönheit ausgestattet, dass dieses
eine Werk genügen würde, ihm eine hohe Stelle zu sichern.
Solche Meisterproben des Satzes zeigen aber auch, wie tüchtig,
fest und gediegen der Grund war, auf dem die römische Schule
ihre Werke baute (unvergleichlich mehr, als die venezianische),
und dass ein solches Wissen und Können, weit entfernt etwa als
„scholastische Spitzfindigkeit" angesehen zu werden, seinen Mann
ehrte und zierte. Eine solche Schulung bewahrte vor flachem
Idealismus und leerer Eftektsucherei , zwei Gefahren, welche zu
Zeiten der römischen Schule ziemlich nahe rückten. Soriano's
Motetten (Lauda Jerusalem, Vidi lurbam magnam u. a. m.), bei
denen er nach der Zeit Weise gerne den achtstimmigen Satz an-
wendet und von denen 1597 ein ganzes Buch erschien, sind so
tüchtig, als seine Messen (Missarum liber primus, Rom G. B.
Robletto 1609, darunter auch die von ihm zu acht Stimmen
arrangirte Alissa Papae Marcelli) Nos autem gloriari aportet und
ad Canones, den funfstimmigen : sine titulo ; Quando laeta sperabam
(man bemerke wie schlau hier das Madrigal „quando lieta sperai"
durch die lateinische Version maskirt ist — es war, wie aus einer
Stelle des Fronimo von Vincenzo Galilei zu entnehmen, eine fünf-
stimmige Compositum von Morales, oder war es etwa ein geist-
liches Madrigal?) und Octavi toni, den sechsstimmigen: Secundi
toui und super voces musicales. i) Eine vierstimmige Passions-
musik erschien zusammen mit 16 Magnificat (zwei für jeden
Kirchenton), den Sequenzen Dies irae und Libera und einigen
anderen Kirchenstücken 1619 bei Lucas Anton Soldi in Rom. 2)
Der Idealstyl der römischen Schule ist in Soriano's Werken in
vorzüglicher Weise vertreten , wie man denn dem massenhaften
Vortrefflichen jener (allerdings kaum ein halbes Menschenalter
umfassenden) Epoche gegenüber fast versucht ist, wie Tinctoris
schon in einer früheren gethan, an einen „besonders günstigen
Einfluss der Sterne" zu glauben.
1) Ein Exemplar dieses seltenen Druckes besitzt die Bibliothek des
S. Convento in Assisi. Die Messen Nos autem gloriari und super voces
musicales finden sich auch in Proske's Seilet, nov. missarum.
2) Ebenfalls in der Bibliothek zu Assisi.
Ambro«, Geschichte der Musik. IV. fj
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Der italienischen Musik grosse Periode.
Unter den Meistern der römischen Schule ist Soriano viel-
leicht derjenige, dessen Arbeiten am meisten den Charakter ener-
gischer Kraft zeigen, er mahnt in diesem Sinne zuweilen an die
Altniederländer. In seiner Messe „Nos autem gloriari44 sind die
Motive wie in Marmor gemeisselt, so rein und scharf und fest
umschrieben stehen sie da. Das erste Kyrie mit dem unauf-
hörlich in allen Stimmen wie im Wetteifer empordringenden
Skalenmotiv sieht aus, als wolle der Meister das Himmelreich mit
Sturm nehmeu. Die bedeutendste unter Soriano's Messen ist aber
wohl die sechsstimmige über das Hexachord — eines der geist-
vollsten Werke der Schule, höchst meisterhaft, kühn und originell
im Tonsatz — das erste Kyrie über das im ersten Sopran stets
aufsteigend wiederholte Hexacborduni durum, das Christe über
das absteigende, das zweite Kyrie über das Hexachordum naturae
im Alt — und so weiter — nur das Benedictus ist „freier Satz"
d h. ohne das Obligo der anderen. Eine unübersehbare Fülle
von Gestaltungen knüpft sich an jene sechs Noten — die Phan-
tasie des Tonsetzers beweist hier einen nicht zu erschöpfenden
Reichthum. DieMissa papae Marcelli zu acht Stimmen ist ein
dem Meister Palestrina dargebrachter Zoll der Bewunderung, den
aber Palestrina selbst wohl gerne erlassen haben würde — ge-
wonnen hat die Messe durch die Zuthat denn doch wohl nicht —
sie ist aber recht lehrreich als Beweis, wie Palestrina mit seinen
sechs Stimmen gerade das Rechte getroffen. Eine gauzc Welt
von Musik ist in ein 1619 bei Lucantonio Soldo in Rom ge-
drucktes Werk niedergelegt: „Passio D. N. Jesu Christi secuudum
quatuor Evangelistas ; Magnificat sexdecim, Sequentia fidelium
defunctorum, una cum Rcsponsorio aliaque nounulla Ecclesiastica
quaternis vocibus in ecclesiis concinenda.44 Die Passionsmusiken
sind natürlich wieder nicht in dem dramatisirenden Ton gehalten,
wie die spateren protestantischen, sondern die „Turba" für den
Ritus der Charwoche. Aber sehr merkwürdiger Weise führt der
Text, der geschilderte Moment den Meister Soriano, wie ohne dass
er es selbst recht zu merken scheint, in's Dramatische hinein —
wie in den Sätzchen „Barrabam" der Matthäuspassion, wo der
Componist offenbar an das wüste Durcheinanderschreien des Volkes
gedacht hat, im Chor „prophetica quis est, qui te percussit?"
und „alios salvos fecit'4 (besonders von der Stelle an ,,descendat
nunc de cruce")» in der Johann es- Passion das ,,Cruciüge", und
das kurze, aber äusserst energische „tolle, tolle4' und so noch
vieles Einzelne. Durchweg zeigt sich in diesen Sätzchen ein
meisterhaft durchgebildeter Tonsatz, sie sind reich, ohne überladen
oder bunt zu werden. Man begegnet im Einzelnen manchen
überraschend geistreichen Zügen. So singen die Zeugen ihr „hic
dixit possum destruere44 u. s w. (wie auch sonst öfter vorkommt)
als Canon — aber der Bass beantwortet das Thema des Tenors
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Der italienischen Musik grosse Periode. §3
•
wie der Comes einer Fuga di tuono, und nach wenigen Takten
wird der Canon zum Canon in Verkehrtschritten — ein Zug, mit
welchem Soriano offenbar mehr wollte, als nur ein musikalisches
Kunststück machen. Auch die Reden Christi hat Soriano com-
ponirt — fiir vier hohe Stimmen. Jede dramatische Intention
bleibt also auch hier vollständig ausgeschlossen — es ist aber,
als wiederhole den Menschen ein Engelchor die Worte des Hei-
lands. Eine so zarte Innigkeit, eine so heilige Wekmuth, ein so
rührender Ausdruck schwebt über diesen Sätzchen, dass man den
Himmelsstürmer der Messe „nos autem" gar nicht wieder erkennt,
und sieht, wie dieser mächtige Geist auch frei und tief em-
pfinden konnte.
Meisterstücke sind endlich die nach den acht Kirchentönen
in ganz kurzen Sätzen componirten Magnificat — ein ganz eigenes
Mittleres zwischen Falsobordon- und Motettenstyl, bald dem einen,
bald dem andern sich mehr nähernd — von herrlicher Klang-
wirkung, und wiederum voll Leben in dem äusserst sorgfältig
durchgebildeten Tonsatze — äusserst feierlich. im Charakter; be-
sonders überraschen die abschliessenden Doxologien durch ihre
einfache Erhabenheit.
Kiesewetter's Sammlung besitzt von Soriano zwei Motetten zu
acht Stimmen — imposant prächtige Stücke: Lauda Jerusalem und
Vidi lurbam magnam. Ein ähnlicher achtstimmiger Psalm Credidi
propter quod findet sich in der 1615 zu Neapel erschienenen
„Iiaccolta de Salmi". *) Mit Anerio und Vittoria zusammen darf
als Dritter wohl Soriano genannt werden — es sind die Meister,
welche Palestrina zunächst angereihet zu werden verdienen.
Soriano's Nachfolger bei S. Maria Maggiore von 1603 an war
Vincenzo Ugolini aus Perugia. Seine Bildung erhielt er in
Nanini's Schule. Von 1606 bis 1615 war er Capellmeister im
Dome zu Benevent, dann kehrte er nach Rom zurück. Er starb
1) „Raccolta de Salrai a otto di diversi eccelent. autori." Napoli. Giov.
Giac. Carlino, ad istanza di Giov. Ruardo. 1615 (Exemplar in der Bibl.
Altaemps im Coli. rom). Die Sammlung enthält folgende, zum Theil sehr
bedeutende Nummern:
Dixit Dominus
Confitebor . .
Beatus vir . .
Laudate pueri
Credidi
von Fab. Costantini,
„ Arcangelo Crivelli,
„ G. M. Nanini,
„ Aless. Costantini,
„ Fr. Soriano,
Laetatus cum in his „ Bern. Nanini,
Nisi Dominus . . „ Paolo Tarditi,
Lauda Jerusalem „ Ces. Zoilo,
Magnificat , G. Fr. Anerio,
Regina Coeli ... „ Rugg. Giovanelli,
Salve Regina . .
Ave Regina coelorum „ „ „
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Der italienischen Musik grosse Periode.
schon 1626 nach langer Kränklichkeit. Unter seinen gedruckten
Werken finden sich achtstimmige Motetten und zwölfstiraniige
Psalmen, aber auch schon Motetten für eine Stimme solo mit
Orgclbass. Auch in Fabio Costantini's „Scelta di motetti" (16 IS)
ist er vertreten (ein Duo Domine in multitudine miscricordiae). !)
Ein sehr eigentümliches Werk druckte 1G22 L A. Soldi — es
sind die Motecta et Missae octonis vocibus et duodenis*). Nebst
einer achtstimmigen Missa super il vago Esquilino findet sich hier
das Perfice gressus meos als achtstimmige Motette und als acht-
stimmige Messe, das Bcata es virgo Maria und das Quae est ista
als zwölfstimmige Motette und als zwölfstiminigo Messe, so dass
die vorangehenden Motetten gewissermassen das (musikalische;
Programm der ihnen nachfolgenden Messen bilden.
Fabio Costa n tini, der das Verdienst hat, in seinen hier
schon mehrfach erwähnten Sammlungen Werke einer bedeutenden
Anzahl trefflicher Tonsetzer der römischen Schule, darunter Ar-
beiten ersten Ranges, vereinigt zu haben, wagte es und durfte es
wagen, auch eigene Compositioncn einzuschalten: in die „Select.
cant. octo voc." die Motetten Sancli Dei und 0 turnen ecclesiae,
in die „Raccolta de Salmi" den Psalm Dixit Dominus, in die
„Select. cantion. binis" etc. ein Duo Hoc est praecepium, und die
vierstimmige Motette Ilodie beala virgo Maria puerum Jesum prae-
sentavit, in die „Scelta de Motetti", die Duos Calistus est rere
Martyr, Üs justi meditabitur und Cum jueunditate und die Motette
O admirabile commertium zu vier Stimmen. Fabio Costautini re-
präsentirt in einer Zeit, wo der reine Palestrinastyl schon über
seine Sonnenhöhe hinaus war, diesen edlen Styl noch in seiner
Reinheit. Es lässt sich kaum etwas Aumuthigeres denken, als der
Schluss der zuletzt genannten Motette. Uebeihaupt ist es eine
ganz eigentümliche Anmuth, welche Fabio Costantini's Werke
auszeichnet.
Die Motetten eines Namens- und Geistesverwandten, Ales-
sandro Costantini, die er mit aufgenommen, sind gleichfalls
recht anziehende Werke. Die eine vierstimmige Ego surn panis
virus ist auch wieder so reiner römischer Styl, als man ihn denken
mag; die andere sehr anmuthvolle Confilemini Domino für drei
Tenore aber kann mehr als ein gutes geistliches Madrigal und
in der Führung der Harmonie, wie in der bewegten melodischen
Gestaltung und im musikalischen Periodenbau eigentlich schon
als völliger Schritt in die Neuzeit hinein gelten. In der That hat
Alessandro auch schon Motetten neuen, das heisst monodischen
Styles für eine, zwei und drei Stimmen „cum Basso ad Organum"
componirt und dem Cardinal von Medicis gewidmet. Sie wurden
1) Eiemplar in der Bibl. Angelica zu Rom.
2) Exemplar in der Valicelliana.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
S5
1616 bei Bartolomeo Zannetti in Rom gedruckt, auf dem Titel-
blatte wird der Componist genannt: 6 Joannis Florentinorum
Capellae Moderator et Organista. Er war also Capcllmeister bei
S. Giovanni de Fiorentini in Rom. Es ist merkwürdig genug,
wie sehr tüchtige Meister der alten Schule in jenen Uebergang-
zeiten den ihrer Kunst eigentlich sehr heterogenen neuen, mono-
dischen Kunststyl nicht nur ohne Hass gegen die „Neuerung",
sondern vielmehr mit Liebe und Interesse aufnahmen. Der
„süsseste Schwan Italiens'* (il piii dolce cigno d'Italia), wie ihn
die Zeitgenossen nannten, Luca Marenzio wird insgemein nur
als Madrigalencomponist, nicht als Meister des kirchlichen Ton-
satzes genannt, und doch reiht er sich auch in letzterer Beziehung
den Zeitgenossen völlig würdig an. Vor allem waren es allerdings
seine Madrigale, welche das Entzücken seiner Zeit bildeten. Der
Spanier Sebastian Raval begrüsste ihn in einer Dedication als
„divino inaestro", der Engländer John Dowland suchte durch
Vermittelung Cristoforo Malvezzi's seine persönliche Bekanntschaft,
sein Tod wurde in lateinischen Gedichten besungen 1). Luca
Marenzio war in dem auf halbem Wege zwischen Brescia und
Bergamo gelegenen Oertchen Coccaglio geboren. Er scheint sehr
bald als Singknabe nach Brescia gekommen zu sein; hier wurde
der Erzpriester Andrea Mazetto auf sein Talent aufmerksam und
sein Wohlthäter ; er übergab ihn dem Capellmeister am Duomo
vechio Giovanni Contini, einem tüchtigen Musiker, zur Aus-
bildung. Lässt man es bei Dichtern und Malern gelten, dass der
Ort, wo sie ihre Ausbildung erhielten und wo sie lebten, auf ihr
künstlerisches Schaffen bestimmend eingewirkt, so ist nicht ein-
zusehen, warum das Gleiche nicht fiir den Tondichter gelten soll.
Es ist, als trage Marenzio's Musik den Ton des anmuthigen Bres-
cia mit seiner heiter-prächtigen Renaissancekunst, und als ruhe
insbesondere auf des Meisters Kirchenstücken ein Abglanz der
lieblich-ernsten Altartafeln, womit Alessandro Bonvicino il Moretto
seine Vaterstadt geschmückt, von denen Mündler sagt: „sie wiegen
eine ganze Gallerie auf. Was Moretto, der Bildner edelster
weiblicher Schönheit, und sanfter, ruhiger Würde in den Mänuer-
gestalten als Maler, das ist Marenzio als Tonsetzer. Marenzio's
Madrigale, welche alle Welt entzückten, erschienen in Venedig —
neun fünfstimmige Bücher 1580 bis 1589 — jedes Jahr ein Buch,
1558 allein ausgenommen — sechsstimmige von 1582 — 1609. Neu-
auflagen folgten bei der starken Nachfrage sehr rasch — Petro
Phalesius veranstaltete eine Gesammtauflage „Madrigali — ridotti
in un corpo" wie es auf dem Titel heist, 1593 2) — also noch bei
Marenzio's Lebzeiten. Die Nürnberger Notenpressen waren auch
1) Zwei davon theilt Walther in seinem Lexikon S. 384 mit.
2) Diese Ausgabe der Madrigale zu 6 Stimmen besitzt die k. Bibliothek
zu Dresden.
•
Der italienischen Musik grosse Periode.
eifrig hinterher, und zu den Sammelwerken, welche Phalesius
unter Glanztiteln, wie „Musica divina di XIX autori — Harmonie
Celeste — Simfonia angelica — Melodia olimpica — il Trionfo
di Dori — Paradiso musicale" u. s. w. veranstaltete, musste
Marenzio's Musik — geistlich und weltlich — ein starkes Con-
tingent stellen. Vierstimmige Madrigale kamen 1592 und 1 603 in
Venedig heraus. ') Dazu eine stattliche Menge Kirchenmusik —
meist Motetten — manches ist auch Manuscript geblieben, wie
ein zwölfstimmiges ave maris Stella in der Bibl. Altaemps des Coli,
romano. Luca Marenzio arbeitete auf dem Gebiete der Kirchen-
musik kaum weniger fleissig als auf madrigalcskem. Druckten
doch die Erben des Hieronymus Scotus 1588 von ihm ein Werk:
„Lucae Marentii Motectorum pro festis totius anni cum Com-
muni Sanctorum quaternis vocibus lib. I." — es gehört aber etwas
dazu, also das ganze Kirchenjahr durchzucomponiren ! Auch in
den Fest- und Hochzeitsmusiken am Hofe zu Florenz begegnen
wir Werken Marenzio's. Der ausserordentliche Ruf des Tonsetzers
drang nach England, drang nach Polen, an dessen Königshof er
mit dem für die damalige Zeit enormen Gehalt von 1000 Scudi
jährlich berufen wurde. Aber das nordische Klima machte ihn
krank, er gab die glänzende Stellung auf und kehrte nach Italien
zurück — als „Ritter'', denn dazu erhob ihn vor seinem Scheiden
der Polenkönig. Er hat sich indessen nie „Cavaliere Marenzio"
genannt, so wenig wie es nachmals der „Cavaliere filarmonico"
Mozart für nöthig hielt, seinem Namen dieses Glanzlicht aufzu-
setzen. Rom, damals die Musikhauptstadt der Welt, war Marenzio
anziehend — er begab sich 1581 dahin — zuerst als Capell-
meister des Cardiuals von Este, dann bei dem Neffen des Papstes
Clemens VIII, Cardinal Aldobiandini, welcher sein besonderer
Gönner war. — 1595 trat er in die päpstliche Capelle ein. Am
22. August 1599 starb er; — er ist in 8. Lorenzo in Lucina be-
graben. Eine reine Klatschgeschichte scheint es, dass ein zelotischer
Beichtvater den Sterbenden wegen seiner Madrigale bis zur Ver-
zweiflung geängstigt haben soll.
Marenzio's Madrigale gehören zu dem feinsten, reizendsten
und liebenswürdigsten, was wir dem reichen 16. Jahrhundert ver-
danken. Die edelste Sentimentalität, ohne weichliche Zerflossen -
1) In Cozzando's „Libraria Bresciana" (S. 249) und Donato Calvi's
„Seena letteraria" worden auch dreistimmige Madrigale genannt, welche
bei AUessandro Vincenti in Venedig (alla pigna) erschienen sein sollen.
Vielleicht sind die dreistimmigen „Vilanelle alla Napoletana" gemeint,
von denen wirklich fünf Bücher (zwischen 1584 und 1605) in Venedig ge-
druckt, und welche 1606 mit deutschen Texten in Nürnberg unter dem
Titel nachgedruckt wurden: „Auszug aus Luc& Marentii vier Theilen
seiner italienischen dreistimmigen Vilanellen und Napolitanen (von Valen-
tin Hausmann).
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Der italienischen Mnsik grosse Periode.
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heit, kommt darin zum Ausdrucke. Neben Reichem, Glänzendem,
Ingeniösem, hören wir Töne innigster Empfindung, zartester See-
lenschönheit. Es ist ein eigener Zauber von Wohllaut darin —
die Arbeit verräth durchweg die Meisterhand. Jedes Madrigal
bekommt seinen Localton, zu welchem der poetische Text mehr
nur die Andeutung, die Musik erst die volle warme Lebensfarbe
giebt. Luca Marenzio beachtet oft selbst das einzelne Wort:
fortuna volubile — le onde — i vezzosi angelli — moriro u. s. w.
und lässt es. ohne jede kleinliche Detailmalerei, bezeichnend
hervortreten. Marenzio's Nachfolger streifen gerade hierin zuweilen
an die Grenze des Zulässigen oder überschreiten sie und illust-
riren gar zu deutlich. Wenn z. B. in den ausgezeichnet schönen
Madrigalen von G. F. Anerio ein sterbender Hirt — natürlich
stirbt er vor Liebe — „in giro" umherschaut, so wird dieser Kreis
in der Musik höchst deutlich versinnlicht; und leitet er sein last
dying speech mit einem Seufzer, „con un sospiro" ein, so unter-
bricht der Tonsetzer den Gang der Stimme durch ein Suspirium
d. i. eine Viertelpause (die italienischen Componisten haben dem
Einfall selten wiederstehen können, wenn im Text „sospiro" oder
„sospiri" vorkam, ein „Suspirium" in den Noten anzubringen —
auch noch die späteren Monodisten, wie Radesca da Foggia im
„Pianto della S. Vergine al Crocefisso", so G. Capello in einem
sehr seltsamen Stück, von dem wir später sprechen werden —
ebenso verlockend ist es für sie, wenn es im Text heisst „ut sol"
— „wie die Sonne" — oder „mi fa" — „es macht mich" — die
solmisationsgerechten Noten anzuwenden, das Wort „canto" durch
eine kleine cantable Passage zu markiren u. 8. w.). Wenn Arcadelt
im Madrigal „il bianco e dolce cigno cansando muore" ein rei-
zendes Stimmungsbild süssester Melancholie in ganz einfachen
Tönen giebt, so kann es sich Anerio nicht versagen, in einem
Ähnlichen Madrigal den Schwan wirklich singen zu lassen:
88
Der italienischem Musik grosse Periode.
Marenzio malt auch, aber viel weniger in's Detail — und
weiss dafür den Gesammtton desto besser zu treffen. So wird
seine Composition des Sonettes CCLX1X von Petrarca „Zeffiro
torna" wirklich wie von einem milden, süssen Friihb'ngshauch
durchweht, so ist sein Madrigal „vezzosi angelli" von so leichter
Anmuth, wie das liebliche Bild, der „im Laub singenden zierlichen
Vögelchen" nur erheischen mag.
Unter den zahllosen Madrigalen Marenzio's nehmen vorzüglich
die 1592 zu Venedig gedruckten vierstimmigen durch meister-
hafte Arbeit, geistvolle Behandlung der Texte und zauberhaften
Wohlklang einen hohen Rang ein. Ausser den weltlichen Madri-
galen, welche vorzugsweise seinen Ruhm begründeten, componirtc
Luca Marenzio nicht nur geistliche Madrigale (il primo libro de
madrigali spirituali a 5 voci. Rom, Aless. Gardano, 1584), sondern
auch zahlreiche für die Kirche bestimmte Stücke, Motetten im
Style der römischen Schule, welchen er trefflich, doch schon ge-
legentlich mit einer Neigung zum zierlich spielenden behandelt
(statt alles anderen sehe man seine Motette: O quam gloriosum
est regnum und halte die Composition desselben Textes von Vit-
toria daneben l)
In den grossen Motetten zu acht Stimmen macht sich schon
sehr entschieden jene Neigung zu dem Unrubigen und Brillanten
fühlbar, welche die kommende Neuzeit ankündigt. Mit der Motette
Jubilate Deo omnis terra ist z. B. offenbar eine Wirkung beab-
sichtigt, wie etwa die eines glänzend-feurigen rauschenden Allegro
eiuer Instrumentalsymphonie. Sehr oft zeigt sich eine Art in's
Detail zu malen, die sich ganz unverkennbar von den Madrigalen
herschreibt (wie in der achtstimmigen Motette Iniquos odio habui.)
Er hat sogar auch zwölfstimmige Compositionen geliefert; ein
Ave maris Stella dieser Art besitzt die Altaemps'sche Sammlung im
Collegio romano.
Marenzio'6 Harmonie hat auch schon eine Menge Mittcltintcn
und freiere Ausweichungen und Uebergange, welche ihr ein von
der älteren, strengeren Diatonik wesentlich verschiedenes Colorit
geben. Marenzio hätte nur einige Jahrzehnte später geboren, ja
es hätte ihm vielleicht nur eine längere Lebensdauer gegönnt sein
dürfen, so würden wir seinen Namen vermuthlich unter den
frühesten Operncomponisten begegnen. Seine Musik zu dem zu
Florenz 15S5 bei der Vermälung Ferdinand's von Medici mit
Christiana von Lothringen aufgeführten von Ottavio Rinuncini ge-
dichteten Festspiele oder vielmehr Intermedio „il Combattimento
d' Apolline col serpente" kann als der Morgenstern der nahenden
dramatischen Musik gelten, obwohl der Tonsatz einstweilen
1) Wozu man durch Proske's Musica Divina (Motetten No. CXXVII,
[VIII) die leichteste Gelegenheit hat.
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Der italienischen Mnsik grosse Periode.
noch ganz dem herkömmlichen Madrigalstyle angehört. Durch
Bastiane* de Rossi's Schilderung *) können wir uns eine ziemlich
lebhafte Vorstellung dieser dramatischen Aufführung machen,
zumal wenn wir dabei Luca Marenzio's Musik (sie ist in den 1591
zu Venedig bei G. Vincenti erschienenen Intermedji e Concerti
fatti per la Commedia rappresentata in Firenze nelle nozze del
Seren. Don Fernando Medici e Madama Christiana di Loreno, ge-
druckt) mit in Anschlag bringen. Die Scene zeigt einen Wald
mit der Drachenhöle, die Bäume sind zum Theile gebrochen oder
von dem giftigen Schaume des Ungeheuers verunreinigt. Ein
Doppelchor von Hirten und Hirtinnen, in griechischer Tracht
nahet vorsichtig 2), er stimmt einen Gesang an
Ebbra di san^ue
Giacea pur dianzi la terribil fera
E l'aria fosca o nera
Rendea col fiato e maligno tosco;
Qui di carne si fsama
Lo spaventoso serpe
Vomita flamme e fuoco, e fischia e rugge,
Qui l'erbo et i fior distruggo —
Ma dov' e il tiero mostro?
Forse avra Giove udiso il pianto nostro?
Die Antwort lässt zum Schrecken der Hirten nicht lange auf
sich warten, der Drache zeigt sich am Eingange der Hole, der
Chor fällt auf die Kniee 3) „O sfortunati noi." Er richtet ein
Gebet an Zeus um Rettung. Und siehe, als der Drache mit
schrecklichem Gezische auf seine Opfer losfährt, nahet vom Him-
mel ApoU. Der Kampf selbst wird in einer Art heroischen Tanzes
vorgestellt (welcher dem Darsteller des pfeilschiessenden jungen
Gottes Gelegenheit gegeben haben mag, eine Menge bedeutender,
der Antike abgesehener Stellungen zu entwickeln). Der Drache
reisst wüthend mit seinen Zähnen die Pfeile aus den Wunden,
denen schwarzes Blut entströmt, er zerknirscht die Geschosse mit
seinem Gebiss, er scheint bald fliehen zu wollen, bald bäumt er
sich zur Gegenwehr, aber immer neue Pfeile fliegen, sein Wider-
stand wird matter, er windet sich sterbend zu den Füssen Apoll's
und liegt endlich getödtet da. Ein Dankchor der Hirten „oh
valoroso Dio, o Dio chiaro e sovrano" 4) endet das Spiel. Auf
die Aehnlichkeit dieser Vorstellung mit einer ähnlichen bei den
1) Descrizione dell* apparato e degli intermedj, fatti per la commedia
rappresentata in Firenze nelle nozze del Seren. D. Fordinando Medici 1 589.
2) Dieser „Chor" ist ein Vorbild zahlloser späterer Opernchöre, die
nur deswegen auftreten, weil sie der Componist nöthig hat. Was haben
die Hirten bei der Drachenhöle zu suchen?! —
3) Abermals ein echter Opernzug! Warum entflieht er nicht?!
4) Kiesewetter bringt ihn unter den Musikbeilagen seines Buches
,.Schicksale und Beschaffenheit des weltlichen Gesanges.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
antiken pythischen Spielen hat schon Bastiano de Rossi hinge-
wiesen. Die Musik ist durchweg von jener massvollen Haltung,
und jener durch die einzelnen Wendungen der Textworte moti-
virten feinen Ausmalung des Einzelnen, wie sie auch die anderen
Madrigale Marenzio's kennzeichnet, an eigentlichen dramatischen
Styl darf man nicht denken; allerdings aber erhöhte diese Musik
ohne Zweifel die Wirkung der Darstellung und gab ihr die rich-
tige Färbung. Die begleitenden Instrumente (natürlich verdoppel-
ten sie nur die Stimmen, ausser wo Tanzmusik eingelegt war)
sind höchst bescheiden gewählt, Harfen, Lyren (d. h. Geigenin-
strumente). Das Ganze war einstweilen wieder nur eine Keihe
lebender, von Musik begleiteter Bilder. Aber diese Bilder alle
zusammen geben als Summe doch schon eine (allerdings überaus
einfache) dramatische llaudlung. Marcnzio starb zu früh, um die
grosse florentiner Musikreform, welche 1 600 mit dem ersten grossen
Werke, der „Euridice" Peri's und Caccini's auftrat, zu erleben.
Maren zio wurde in der Kirche St. Lorenzo in Lucina begraben,
der Jesuit Bernardino Steffonio weihetc seinem Andenken ein
überaus begeistertes Gedicht. ') Seine gepriesenen Arbeiten be-
schäftigten die italienischen und die deutschen Pressen vollauf.
Venedig und Nürnberg wetteiferten seine Madrigale in endlosen
Auflagen zu verbreiten, eine vollständige Sammlung der fünfstim-
migen gab 1593 Peter Phalesius und Joh. Ballerus in Antwerpen
heraus, 2j eine ähnliche Sammlung der sechsstimmigen 1610.
Einzelnes arrangirte man zur Ergötzung der Dilettanten für die
Orgel (Joh. Woltz von Heilbronn 1617, Beruh. Schmid d. j. 1614)
oder für die Laute (Florilegium des Adrian. Denss 1594). Die
dreistimmigen Vilanclle alla Napoletana Marenzio's erschienen 1600
in fünf Büchern bei Ant. Gardano in Venedig, sechs Jahre später
gab Valentin Hausmann in Nürnberg eine Auswahl heraus, unter
dem Titel „Auszug aus Lucä Maren tii vier Theilen seiner italie-
nischen dreystimmigen Vilanellen und Napolitanen." Die grossen
Sammelwerke, wie die Gemma musicalis, das Floril. Portense,
das Promptuar des Schadäus u. s. \v. griffen ebenfalls begierig
nach seinen Werken — von den Motetten zu vier Stimmen
druckte Alessandro Vincenti in Venedig 1583, 1592 zwei Bücher
(1592 das erste in wiederholter Auflage). Ausserdem wird ein
1614 in Venedig publizirter Druck zwölfstimmiger Motetten er-
wähnt, und sechsstimmige Completorien und Antiphonen (1595).
Wie Luca Mareuzio durch seine Madrigale ist Gregorio Allegri
(1560 — 1652) durch sein „Miserere41 weitberühmt, ja bis auf
unsere Tage eine der grossen Wcltberühmtheiten der Musik ge-
worden. In G. M. Nanini's Schule gebildet, erreichte Allegri seine
1) Man möge es in Walther'a Lexicon ad v. Marenzio (Luca) nachlesen.
2) Exemplar in der k. Bibliothek in Dresden. ,
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Der italienischen Musik grosse Periode.
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Mannesjahre als Palestrina's Kuhm auf seinem Gipfel stand, allein
er war damals nicht mehr in Korn, sondern Benefiziat der Kathe-
drale zu Fermo (Romanus, Firmanae Ecclesiae Beneficiatus) nennt
er sich auf dem Titel seiner 1620 gedruckten Motetten. Im Jahre
1629 berief ihn Urban VIII. in's Collegium der päpstlichen Sänger.
Noch in Fermo componirte er sogenannte „Concertini" für zwei
bis zu vier Stimmen, das heisst contrapunctisch gearbeitet, reichlich
mit Imitationen, sparsam mit Passagenwerk ausgestattete Gesänge,
in denen die Stimmen gleichsam wetteifern, daher der Name.
Zwei Bücher dieser Compositionen, dem Duca d'Altaemps ge-
widmet, erschienen 1618, 1619 bei Soldi in Rom, ebendort er-
schienen zwei Bücher Motetten von zwei bis zu sechs Stimmen,
gewidmet dem Erzbischofe von Fermo, Pietro Dino (1620, 1621).
Eine Composition desselben Styles für zwei Soprane und einen
Tenor Egredimini el videte nahm Fabio Costantini in seine Scelta
di motetti (1618) auf. Diese Art Compositionen nimmt zwischen
dem hohen Palestrinastyl der Motette und dem Zier- und Solo-
gesänge , wie er damals durch einzelne vorzügliche Sänger auf-
kam, welche ihr Licht auch auf dem Kirchenchore leuchten Hessen,
eine Art Mittelstellung ein. Sie sind nicht wohl für Chöre, sondern
für zwei, drei, vier geschickte Solisten berechnet, welche diesen
feinen harmonischen Combinationen einer schon sehr entwickelten
Modulationsart, dem sparsam, aber geschmackvoll angebrachten
Zierwerk an Passagen durch sorgfaltigen und geistreichen Vor-
trag gerecht zu werden im Stande sind. Die wirklich sehr glück-
liche Mischung des echt und streng Kircbenmässigen mit einem
leichten, anmuthigen Anklänge heiterer Weltlichkeit, und mit
jener gemässigten Färbung von Sentimentalität, von effectvoller
Erregung, wie sie selbst Allegri's ganz strengen Kirchensachen
eine eigentümliche Färbung gibt, mag vorzüglich dazu beige-
tragen haben, diesen Compositionen den Beifall Urban VIII. zu
gewinnen. In die päpstliche Capelle eingetreten, nahm Allegri
einen höheren Flug. Er componirte eine Messe zu acht Stimmen
„Christus resurgen6u welche sich noch im päpstlichen Capellen-
archiv und in der casanatensischen Bibliothek befindet, eine Messe
im Cappellastylc nach alter Art über ein weltliches Stück „Che
fa oggi il mio sole" (in der Corsiniana zu Rom), ferner eine aus-
gezeichnet schöne, dem reinsten Palestrinastyle verwandte
sechsstimmige Motette Salvatorem exspeclamus, welche noch jährlich
am ersten Adventsountage in der sixtinischen Capelle gesungen
wird, achtstimmige Psalmen (voce mea und derelinquas impius,
beide in der Casanatensis), Improperien, und zwei Abtheilungen
Lamentationen für den Mittwoch der Charwoche (Feria V in coena
Domini) und für den Charsamstag (ad Matutinam), beide zu vier
Stimmen. Mit den, gleichfalls in der Charwoche gesungenen
Lamentationen von Palestrina zusammengehalten , lassen sie mehr
92
Der italienischen Musik grosse Periode.
als irgend ein anderes Werk, Aehnlichkeit und Unterschied beider
Meister erkennen. Die reine, keusche Hoheit des wie in
Licht getauchten Styles, die Factur, die überall aufs Einfach-
Grosse geht, oder vielmehr deren technisch vollendete Durchbil-
dung sich hinter anscheinend einfache Formen birgt, der edle
Ausdruck, die massvolle Schönheit, Haltung, Form und Färbung
des Ganzen geben die Aehnlichkeit. Aber durch alle Zucht und
Strenge klingen jene schärferen Accente der Empfindung durch,
welche andeuten, die Musik befinde sich auf dem Wege vom Üb-
jectiv-gottesdienstlichen gegen den Ausdruck subjectiver Empfin-
dung. Allegri lässt dissonirende Vorhalte herber und öfter ver-
klingen als Palestrina, jenen musikalischen Schmerzensschrei, dessen
früheste Anwendung allerdings .schon auf Josquin zurückdatirt
werden muss, von dem aber erst jene spätere Zeit des stark
betonten, in den bildenden Künsten sogar bis zum Masslosen
souverän gewordenen Affectes auch in der Musik öfter und ab-
sichtlicher Gebrauch zu machen anfing, wie er denn insbesondere
für die damals emporblühende dramatische Musik ein kostbarer
Fund war, (man sehe Steffano Landi's geistliche Oper, il S. Ales-
sio). Auch die strenge Diatonik erhält (wenn auch noch bescheiden
und einfach, dabei aber höchst effectvoll) durch modulatorische
Wendungen, welche durch chromatische Schritte motivirt sind,
eine besondere Färbung: das b — h des Tenors zu den Worten
„quia non sumus consumpti, quia non defecerunt miserationes
ejus" das f j| f des Soprans bei den Worten „exspectabo eum" —
die frappanten Harmoniewendungen wohl nicht ohne Beziehung
auf den Inhalt der Textesworte, wie denn Allegri z. B. auch nach
den Worten „sedebit et tacebit" den glücklichen Einfall Costanzo
Festa's mit der General pause wiederholt. Noch mag bemerkt
werden, dass Palestrina und Allegri gerade in die an sich nichts
bedeutenden Controllbuchstaben Aleph, Beth u. s. w. (Allegri
fangt bei Heth an) Ausdruck tiefer Empfindung legen — man
muss sie als vocalisirende Präludien, gleichsam als Ritornello der
(bekanntlich aus der päpstlichen Capelle ganz ausgeschlossenen)
Instrumente betrachten, welche das folgende vorbereiten Diese
Aleph, Beth u. s. w. werden übrigens auch schon bei den ältern
Meistern als figurirte contrapunctischc Sätzchen behandelt, oft
reich und zierlich, wie prächtige Initialen. So herrlich alles
dieses auch ist, den Gipfel seines Ruhms erreichte Allegri erst
mit dem Miserere für zwei Chöre (einen vier- und einen fünf-
stimmigen), welches bei seiner anscheinend ausserordentlichen
Einfachheit (in Wahrheit ist der Tonsatz nichts weniger als ein-
fach) als eine ganz originelle, einen ganz neuen Styl, gleichsam
den offiziellen Styl des Capella-Miserere begründende Schöpfung
gelten muss. Lauge Zeit galt es für eine Art Weltwunder, wer
es am Charfreitag in der sixtinischen Kapelle singen gehört, ver-
Der italienischen Musik grosse Periode.
93
gass den Eindruck nie wieder. Das Verbot bei sofortiger Excom-
munication eine Abschrift zu nehmen (übrigens ein Verbot, das
sich auf alle Musik des päpstlichen Kapellarchivs von Dufay und
Okeghem bis auf die neusten Arbeiten von Baini u. s. w. erstreckt),
wob um das Stück noch einen ganz eigenen mysteriösen Reiz.
Als man es nun auf Verlangen Kaiser Leopold I. mit päpstlicher
Erlaubniss nach Wien sendete, erfolgte freilich eine grosse Ent-
täuschung, statt des erwarteten Weltwunders fand man einen
„Semplicissimo falso bordone", so dass der Kaiser ernstliche Be-
schwerde nach Rom führte: „man habe ihm nicht das wahre Mi-
serere gesendet'4 ; der päpstliche Kapellmeister suchte die Sache
dadurch zu erklären, man kenne in Wien nicht die wahre tra-
ditionelle Vortragsweise u. s. w. Es war dabei aber auch sogar
noch in Anschlag zu bringen, dass man am Kaiserhofe, an brillante
italienische Opernmusik gewöhnt, wohl kaum noch ein Verständniss
für den alten hohen Styl hatte. Richtig aber ist es, dass der
eigene Vortrag dieses Stückes, wie man ihn in Rom hört, und
.müssen wir auch hinzusetzen) die ganze Umgebung, in welcher
man es hört zu jener ausserordentlichen Wirkung mit beitragen,
die sich übrigens noch heut bewährt. Zwischen den fest und
zugleich so ausdrucksvoll declamirten falsobordonartigen Versetten,
kehrt immer und immer wieder ritornellartig jener musikalisch-
modulirte Seufzer, der so seelenergreifend den Ausdruck der
tiefsten Zerknirschung malt, jenes wunderbare kleine Motiv der
Contralte, welches der Sopran nachahmt, dessen Zauber sich wohl
empfinden, nicht erklären lässt. Endlich die machtvoll austönende
Stelle: tunc imponent super altare tuum vitulos. Sage niemand,
dass die Sänger in die Composition „erst etwas hineinlegen", sie
legen nicht hinein, sie nehmen vielmehr heraus, was darin, aber
was nicht von jeder Uand zu heben ist. Und wenn die ganze
gottesdienstliche Feier wesentlich mit dazu gehört, so frage man
sich nur, ob z. B. die letzte Sceue des Don Giovanni, wenn der
„steinerne Gast" in schwarzem Frack und weisser WTeste im
Concertsaale seinen Part aus dem Notcnblatte absänge, gleich
stark wie auf der Bühne sein könnte? Allegri's Miserere ist ein
Stück für eine ganz bestimmte kirchliche Feier, nur dort ist es
an seiner rechten Stelle. An seiner rechten Stelle macht es den
Eindruck, dass man sich sagen darf, nirgends sei der tiefste, aber
zugleich die Seele verklärende und heiligende Schmerz mit gleich
ergreifender Kraft ausgesprochen, als vielleicht in einem, aller-
dings ganz heterogenen Stücke, dem Adagio des Beethoven'schen
F-dur Quartettes Op. 59. 1. — ganz verschieden im Style, ja
in der Tendenz, ist doch im letztesten Punkte, die WTirkung beider
Tonsätze eine erstaunlich analoge; freilich finden wir bei dem
älteren Meister ein Gebet, ein feierliches, rituelles, kirchliches
Gebet, bei dem neueren die Fluctuationen einer einsamen grossen
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Der italienischen Musik grosse Periode.
Seele, welche trübe den vorüberziehenden Wolkenschatten des
eigenen Innern zusieht. Der ältere Meister kann, wenn auch im
tiefsten Ernst, so doch hoffnungsreich, gehoben, getröstet in vollen
Klängen schliesscn, die Katharsis hat sich vollzogen — der neue
Meister findet keinen Schluss, sein erhabener Trauergesang ver-
rieselt in Notenpassagen, die zum wilden Humor des Fiuale
hintiberleiten. Prüft man Allegri's Stück daheim bei der Studir-
lampc (denn trotz der Excommunication ist es oft genug gedruckt),
so erstaunt man über diese anscheinend einfache und doch so
kunstreiche, fein berechnende Technik, diese frappanten harmo-
nischen Züge, die so ungewöhnlich und doch so ganz natürlich
klingen. Man findet wieder die speeifischen Züge Allegri's, die
vorsichtig und wohl vorbereiteten, herben, mächtig wirkenden
Dissonanzen (gleich in 3. Tempus der Zusammenklang )?c d f g Jj).
den sentimentalen Zug tiefer und schon subjectiver Empfindung
des Componisten. Zwar tritt der Meister auch hier noch immer,
wie jener griechische Maler, hinter sein Gemälde zurück, aber
zuweilen zeigt er sich momentan vortretend und sagt dem Be-
schauer mit einem flüchtigen Blicke, was alles er bei seinem
Kunstwerke empfunden.
Der eigentbümliche Styl des Miserere ist wesentlich aus seiner
Entstehung in der päpstlichen Kapelle zu erklären. Schon die
gesetzt, aber im durchgearbeiteten, fugirten Motettenstyl — Jos-
quins mächtiges Stück wäre hier vor allem zu nennen. In der
sixtinischen Kapelle wurde, wie wohl zweifellos heissen darf, das
ritualmässig vorgeschriebene Miserere in den drei Tagen der Char-
woche bis auf die Zeit Leo X. als einfache falsobordon Psalmodie
gesungen. Der dreigekrönte Musikfreund scheint statt dessen
etwas Kunstwürdiges gewünscht zu haben — Costanzo Festa
lieferte denn 1517 ein Miserere (ein Versett zu vier, eines zu
fünf Stimmen, so abwechselnd bis zum Schlüsse zu singen) als aus-
J;earbeitetes Stück (Res facta, oder wie jener Venezianer Giovanni
el Lago sich in seiner Breve introduzione alla musica misurata —
1510 — ausdrückt: „Contrapunctus ad videndum.") Man machte
mit dieser Composition den Anfang eines neuen Codex, in welchen
in der Zeit von 1517 bis etwa 1617 noch zehn andere, für den
Capellendicnst bestimmte Miserere, zum Theil von sehr berühmten
Meistern, eingeschrieben wurden : von Lodovico Dentice, Francesco
Guerrero, Palestrina (zwei Versette, vier- und fünfstimmig), Inofilo
Gargano da Gallese, Giov. Fr. Anerio, Feiice Anerio (das letzte
Versett neunstimmig, es treten nemlich der vier- und der fünf-
stimmige Chor zusammen), Joh. Maria Nanini (neunstimmiger
1) Santo Naldini, von dem da9 zehnte Miserere ist, trat am 23. No-
vember 1617 in die Capelle.
niederländischen Meister hatten
50. Psalm in Musik
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Der italienischen Musik grosse Periode.
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Schluss zu Palestrina's zwei Versetten), Santo Naldini, Ruggiero
Giovanelli. Das zwölfte Stück im Codex, Allegri's Miserere, stellte
alle früheren in den Schatten. Die Traditionen der früheren
Zeit der einfachen Falsibordoni, wie der Kunstcompositioneu
seiner Vorgänger mit abwechselnden vier- und fünfstimmigen
Strophen und der neunstimmigen Schlussstrophe, sind darin durch-
aus wiederzuerkennen, an manchen Stellen wird den Sängern nur
der Accord für eine Menge von Textessylben vorgeschrieben,
deren richtige Accentuirung ihnen selbst tiberlassen bleibt — es
sind Falsibordoni. Andere ähnliche Partien , bei denen die Har-
monie wechselt, sind selbstverständlich vollständig ausgeschrieben.
Aber dazwischen treten immer wieder flüssigere, polyphone Stellen
ein, mit ausgeprägten melodischen Motiven, mit sinnreicher Ver-
kettung einfach-schöner Imitationen. Der Epilog vereint beide
Chöre in einem nennstimmigen Ganzen. Allegri's Miserere ist das
directe Vorbild des Miserere von Tommaso Bai u. s. w. geworden.
Aber Gregorio Allegri ist auch darum eine sehr interessante Er-
scheinung, weil er zu den frühesten Meistern gehört, welche selbst-
standige Instrumentalsätze, Symphonicen wenn man will, com-
ponirt haben. Der Altaemps'sche Nachlass, l) welcher sich jetzt im
Collegio romano befindet, bewahrt ihrer eine Anzahl — eine
dieser Compositionen hat Athanasius Kircher in seine Musurgie
aufgenommen, zwei andere hat neuestens Dominicus Mettenleiter
hi seinen periodischen Musikheften ..Musica" veröffentlicht. Die
Form dieser nicht langen, aber gut gearbeiteten Sätze ist im
wesentlichen jene der fugirten Orgelcanzone , nur dass die Parte,
statt sie in der Hand eines Orgelspielers zusammenzufassen, unter
vier einzelne Instrumentalparte vertheilt sind: was bei der streng
durchgeführten Polyphonie der gleichzeitigen Orgelcanzonen,
Ricercar u. s. w. auch z. B. durch einfache Umschreibung der
Orgelsätze Frescobaldi's wirklich in ganz ähnlicher Art bewirkt
werden könnte. Unter diesen Instrumentalsätzen Allegri's findet
sich eine „Sinfonia instrumentalis a quattro voci per la Viola con
Basso per Organo" — Canzonen, gleichfalls für Saiteninstrumente
(Primo Violino, Secundo Violino, Alto della Viola, Basso per la
Viola und als generalbassmässig bezifferte Grundstimmc Basso per
TOrgano), ferner auch Canzonen für die vier ausdrücklich vorge-
schriebenen Instrumente Violino, Cornetto, Liuto, Teorba. Eine
dieser Canzonen trägt die Bezeichnung: la Scomfortina. Der Ton-
satz ist der streng polyphone, contrapunetische ; die damalige
höhere Musik kannte eben keinen anderen. Diese Incunabeln
der Instrumentalmusik haben daher auch nicht den Charakter
jener „Poesie ohne Worte", wie man die Instrumentalwerke Mo-
t) Cod. mus. sacra, jussu Domini Joannis Ang. ducis ab Altaemps
collecta.
96
Der italienischen Musik grosse Periode.
zarts, Haydn's, Beethovens nennen könnte, sie zeigen vielmehr
jenen strengen, formalen, architectonischen Zug der alten Musik,
der hier, wo das erklärende und belebende Wort eines gesungenen
Textes fehlt, fast noch entschiedener fühlbar wird, als in den
Motetten. Führt uns doch auch noch Händel in die grossen
Münster seiner Oratorien durch die gothischen Portale ähnlich
angelegter Ouvertüren. Und diese Canzonen Allegri's, welche
insgemein ein allerdings nur kurzes (5 Tempora u. dgl.), Note
gegen Note in breiten, volltönigen Accorden geschriebenes Sätz-
chen wie ein feierliches Andante einleitet, welchem, ohne Tact-
und Tempowechsel ein vorwiegend aus kleinen Notenwerthen
(Viertel- oder Achtelnoten) mit reichen figurirten Themen gebil-
detes, also den Eindruck eines nicht zu hastigen Allegro ge-
währendes, fugirtes Stück von energischem Charakter folgt (auch
schon mit Beantwortungen in der Quinte, Niederschlägen, doch
alles noch erst mehr nur wie in skizzenhafter Andeutung) —
diese Canzonen machen einen den Ouvertüren Händers analogen
Eindruck — allerdings verhalten sie sich zu letzteren wie etwa
modellirte Thonfigürchen zu in's Grosse ausgeführten Statuen.
Sehr bemerkenswerth ist aber hier schon, wie die Technik der
Instrumente auf Erfindung der Themen und deren Durchführung
eingewirkt hat Alles ist rascher, flüssiger, bewegter, bunter, als
in den, dem Grundprinzipe nach allerdings ähnlich gearbeiteten
Singesätzen. Die Instrumentalmusik beginnt sich schon hier von
der Vocalmusik zu trennen, die Tochter beginnt sich von der
Leitung ihrer Mutter zu emancipiren und deutet die Wege an,
die sie gehen will. Dem fugirten Tonspiele folgt regelmässig
eine jener Episoden im ungeraden (■}) Takt, wie wir sie auch
schon bei Johannes Gabrieli fanden. Hier hat nun ganz unver-
kennbar die gleichzeitige, ernst-feierliche Tanzmusik eingewirkt,
deren Formen, Khythmen und selbst eigenthüm liehe Motive, wie
sie uns aus den erhaltenen Tanzstücken jener Zeit bekannt sind,
wir hier wiedererkennen. Hat nun aber unsere höhere Instru-
mentalmusik die gediegene Factur ihres Tonsatzes wirklich von
der Contrapunctik, ihre Beweglichkeit, ihren Perioden- und syme-
trischen Bau aber von der Tanzmusik gelernt — (in den grössten
Werken treten jezuweileu diese beiden Factoren an einzelnen
Stellen abwechselnd stärker hervor — Finale der Eroica Beethoven's
und zahlloses andere), so ist es gewiss interessant den beiden
Factoren auch schon hier in so ausgesprochener Weise zu be-
gegnen. Der kurzen Episode folgt wieder ein contrapunetisches
Sätzchen im geraden Takt, ein Epilog mit neuen Themen und
leise gesteigerter lebhafter Bewegung. Man findet die gleiche
Anlage, nur in weit reicherer und breiterer Ausführung oft auch
in Frescobaldi's grossen Orgelstücken. Ja noch mehr! Jene An-
lage von Eiuleitungsaccorden, fugirten Allegrosätzchcn, Audante-
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Der italienischen Musik grosse Periode.
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Episoden, bewegten Epilogen deuten wie im ersten Keime, wie aus
weitester Ferne die herkömmlichen Sätze unserer grossen In-
strumentalmusik an: Einleitungs-Andante, erstes Allegro, Andante,
Finale. (Unser „Menuett" oder „Scherzo" zeigt sich dann recht
deutlich als das, was dieser Satz ist, und wie ihn neueste Meister
auch oft nennen, als Intermezzo, als Einschub — ein Einschub,
der sich freilich z. B. bei Beethoven zu einem hochbedeutenden
• Element der ganzen Anlage mächtig herausgebildet hat.) Die
Instrumentalstücke Allegri's sind mit ein Beweis, wie die Meister
von ganzer Seele und aus allen Kräften Neues suchten, und sich
nicht begnügten, etwa nur die überkommene Kuustwcise zu be-
wahren und zu erhalten. Aber sie gingen auch Schritt für Schritt,
es fiel ihnen nicht ein, wie es in jenem Epigramme heisst, durch's
Fenster zu springen um die Treppe zu ersparen. Sie legten treu
und fleissig Stein auf Stein, darum steht das Gebäude auch so
fest da.
Einer ganz besonderen Erwähnung ist auch die als Basso
per 1' Organo bezeichnete Stimme werth. Sie ist kein selbst-
ständiger Bestandtheil des Ganzen, wie die übrigen Stimmen,
sondern die Darlegung des harmonischen Fundamentes. Daher
geht sie, wo der Basso per la Viola eintritt, mit diesem im Ein-
klänge (allenfalls in den Figuren vereinfacht), darum aber ver-
stummt sie auch nicht, wo nur die höheren Stimmen (ohne den
Violabass) beschäftigt sind, bei den Fugeneintritten u. s. w. Der
Orgelbass verdoppelt dann entweder den Alto della Viola, die
Mittelstimme (die hier für den Moment relativ zur tiefsten wird),
oder deutet den verschwiegenen Bass, die eigentliche Grund-
harmonie an. Daher ist diese Stimme der allgemeine Bass
(Bassus generalis), für sich angesehen das harmonische Programm
des Ganzen, und, mit einer Art Widerspruch, doch wieder auch
Beetandstück des ganzen Ensemble. Gewiss ist es, dass viele
Partieen, z. B. eben die fugirten Eintritte der höheren Stimmen,
weit glücklicher wirken, wenn man den unaufhörlichen Mentor in
der Tiefe verstummen lässt. Mit dem beständig mitspielenden
Bassus generalis ist einer der einfachsten und mächtigsten Effecte,
der kraftvollen Eintritte und Wiedereintritte des Basses paralysirt,
oder doch abgeschwächt. Man findet die Anlage, welche Allegri
seinen Instrumentalsätzen gab, auch in anderen gleichzeitigen
Instrumentalwerken. Sie kehrt ganz genau in der „Sinfonia"
wieder, womit Steffano Landi sein Musikdrama „il S. Alessio"
(1634) eröffnet. Bemerkenswerth ist dabei der kleine Zug, dass
Landi dem Ganzen die Ueberschrift giebt „Sinfonia" und erst
wo der Fugensatz (wieder ohne Takt- und Tempowechsel) be-
ginnt, im eilften Tempus, beischreibt „Canzone". Der General-
bass begleitet auch hier ohne Unterbrechung. Wir kommen bei
Besprechung der dramatischen Musik noch darauf zurück.
Ambro 8, Geschichte der Mtuik. IV. 7
98
Der italienischen Musik grosse Periode.
Gregorio Allegrfs Mitschüler war Antonio Cifra (zuerst
im Collegio gennanico zu Horn, seit 1610 Capellmeister in Lo-
retto, wohin er, nachdem er bis 1620 Capellmeister im Lateran,
und eine Zeit auch in den Diensten des Erzherzogs Karl von
Oesterreich gewesen, 1629 zurückkehrte und bis an seinen Tod
blieb). Einen bcmerkenswerthen Ausspruch von ihm, welchen
er in einem Briefe an einen gewissen Pierfrancesco machte, hat
uns Angelo Berardi ') aufbewahrt: „besser zwei Quinten als Meister •
durchlaufen lassen, als sie auf Kosten des Satzgewebes verbessern1'
(che amava piü tosto di lasciar correrc le due Quinte in un passo
da maestro, che salvarle con pregiudizio della tessitura). Cifra's
grosse und freie Meisterschaft zeigt sich in der That durchaus in
seinen Compositionen, welche mit zu den allerbedeutendsten seiner
Zeit zählen, — seine Messe „Conditor alme siderum" enthält in
dem letzten siebenstimmigen Agnus eine ganz grosse Meister-
probe, einen Canon in der Sexte und in Verkehrtschritten zwischen
dem zweiten Tenor und dem zweiten Contralt, gebildet nach
dem gregorianischen Motiv der Hymne, über welche die Messe
componirt ist, die andern Stimmen ftihren dazu höchst kunstvoll
verwebte Imitationen aus, der Gesammtcffect ist ein hochfeier-
licher (eine andere, vierstimmige Messe über das Hexachord besass
Kapellmeister Landsberg in Kom handschriftlich). Die Bibliothek
des Collegio romano bewahrt von Cifra einige gedruckte Arbeiten,
welche theils noch seiner ersten Periode angehören, wo er beim
Collegium gemiauicum angestellt war, theils den ersten Jahren
seines Aufenthaltes in Loretto. Zu ersteren gehören die „Mo-
tectae, quae binis, ternis et quaternis voeibus concinuntur, auetore
Antonio Cifra, Romae in Coli. genn. musicae moderatore, uua
cum basso ad Organum (Romae 1610, apud J. B. Roblettum).
Gehören die vorhin genannten Kirchensachen vollständig dem
grossen Capelleustyl, so finden wir hier den Meister auf den
Pfaden einer neuen Zeit. Diese Doppelrichtung bleibt von nun
an auf langehin, bis auf Alessandro Scarlatti und noch später, für
die Meister kennzeichnend. In jenen Motetten Cifra1 s finden wir
schon vom Orgelbasse begleitete Duetten: Isli sunt triumphalores;
Maria virgo assumta est; Mi&il Dominus angelum suum (sämmtlich
für Sopran und Bass). wir finden Trios mit oft eigener Zusammen-
Stellung der Stimmen, so ein Terzett, vielleicht nicht ohne einen
Seitenblick auf s Dramatische, für drei Bässe : Magi videnles siellam,
dann Stücke für drei Soprane: Gaudenl in coelis animae; venil
lumen iuum Jesus u. s. w. für drei Altos: Aperlis thesauris , für
drei Tenore: BenedicUe Dominum, ein Sopran quartett ex ore in-
fanlium, wiederum mit einer, hier unverkennbaren, Beziehung auf
1) In seinen: II perche musicale ovvero staffetta armonica (Bologna
1693) S. 29.
Der italienischen Musik grosse Periode.
99
den Text, der von dem Lobe handelt, das sich Gott „aus dem
Munde der Kinder bereitet". So beginnt der dramatische Geist
der Musik, wie halb verstohlen, auch schon in echte und richtige
Kirchenmusik hineinzublicken. Ein anderes Werk im Besitze
des Coli. rom. sind achtstimmige Vespern und Motetten „Vesperae
et Motectae octonis vocibus decantandae, auct. Ant. Cifra, Ro-
mano, cum B. ad. org. (Rom 1610, bei Barth. Zanetto), darin
unter andern ein De profundis, ein Magnificat, und die Marien-
gesänge: Alma redemtoris, Regina coeli und Salve Regina, —
ferner: Salmi septem qui in vesperis ad concentus varietatem inter-
ponuntur quaternis vocibus cum B. ad org. Auct. Antonio Cifra,
Romano, in alma aede Lauretana mus. praefecto. Op X. (Rom.
1611, 1612 bei Robletto), darin wieder ein de profundis und zwei
Magnificat. Dreichörige Motetten erschienen 1616 — 1629 in
Venedig — ferner auch Madrigale, und ein Fugenwerk unter
dem Titel Ricercari e Canzoni francesi a quattro voci (Rom,
Soldi 1619). Unter Cifra's gedruckten Arbeiten wird auch ge-
nannt: „Scherzi e Arie a una, due, tre e quattro voci per cantar
nel clavicembalo, chitarrone o altro simile instromento", (Venedig
1614), also, wie schon der Titel zeigt, völlig der n^uen Richtung
angehörig, wie sie gleichzeitig Radesca da Foggia und Ant. Bru-
neiii in ähnlichen Arbeiten einschlugen, Brunelli's ähnliches Werk
hat sogar den gleichen Titel, Verlagort und Jahr der Herausgabe.
Ein sehr tüchtiger Meister dieser nach-palestrincr Generation
ist Agostino Agazzari, geboien zu Siena am 2. December
157S, aus adeligem Geschlecht stammend, als Mitglied der Ac-
cademie der „Intronati" (d. i. der Verdutzten oder Betäubten),
auch unter dem Namen „Accademico armonico intronato" oder
„Annonico intronato" bekannt, auf welchen Titel er bedeutenden
Werth legte, indem er ihn auf den Titelblättern seiner Compo-
sitionen anzubringen nie ermangelte, oft sogar allein — ohne
seinen Namen zu nennen Schon 1603 wird er auf dem Titel
der bei Zanotti in Rom gedruckten „Sacrae cantiones" als „Musicae
praefectus in Collegio germanico" bezeichnet. Er soll auch eine
Zeit lang am Hofe des Kaisers Matthias verweilt haben. Zuletzt
war er Kapellmeister im Dome zu Siena und starb am 10. April
1640. Als Componist schloss er sich der römischen Schule an,
zu deren vorzüglichen Vertretern er gezählt wird. Aber auch
die neue Bewegung interessirte ihn lebhaft — Umgang mit Lodo-
vico Viadana, vielleicht sogar Uuterricht, den er von letztern ge-
noss, lehrten ihn die neuen Mysterien des „fortgehenden Basses"
kennen, er hat darüber sogar eine Abhandlung geschrieben „del
6Uonare sopra '1 Basso con tutti stromenti et uso loro nel conserto",
welche dem 1608 bei Ricciardo Amadino in Venedig gedruckten
zweiten Buch Sacr. cant. beigegeben ist, welche Michael Prä-
torius (Syntagma III. 6. Cap ) auszugsweise „den Unwissenden
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Der italienischen Musik grosse Periode.
zum Besten ex Italico sermone in unser Teutsch allhier" über-
setzt hat — auch seine „eigne Observationes darbey bringen
und anzeigen wollen", welch' letztere er mit M. P. C. (d. i. meae
propriae considerationes) bezeichnet. Der wichtigste Fortschritt
über Viadana hinaus ist darin, dass Agazzari auf die Nothwendig-
keit der Bezifferung dringt, welche Viadana in der berühmten
Einleitung seiner „Concerti ecclesiastici" in Abrede stellt — und
nicht blos, wie Viadana "r und 9 als Zeichen für die grosse oder
kleine Terz, wo sie nicht an sich schon im Accord liegt, beige-
setzt wissen will, sondern auch Ziffern, „weil ja der Generalbass-
spieler sich nach den Intentionen der Componisten richten und
daher wissen muss, ob in den „auf den Bass gesetzten Stimmen
gegen jenen eine Quart, Quint, Sext, ja wohl gar durch Syn-
copation eine Secunde oder Septime angeschlagen werde".
In Agazzaris Musik spricht sich entschieden der Charakter
aus, welcher den Epigonen Palestrina's eigen ist. Das subjektive
Empfindungsleben fängt an, sich in die unnahbare Hoheit des
früheren Kirchenstyls einzudrängen — indessen ist diese Musik
von dem späteren theatralischen Kirchenstyl doch noch sehr weit
entfernt. Agazzaris „Stabat mater" l) steht zwischen beiden Rich-
tungen mitten inne — hochfeierlich, ein noch immer rein und
klassisch zu nennender Kirchenstyl einerseits, während nach der
anderen Seite Antheil, Liebe, mitleidender Schmerz schon wesent-
lich im Geiste persönlicher Devotion Ausdruck gewinnt. Die
Modulation in entschiedener Wendung nach den Tonarten im
Sinne neuerer Harmonie verwandter Tonarten, durch vermittelnde
Z\ i henaecorde sorgfältig motivirt, der bescheidene, aber sehr
wirksame Gebrauch der Chromatik , die ganze Anordnung des
Periodenbaues, die Accordbildung und Verbindung zusammen
giebt dem Tonsatze einen ganz entschieden modernen Klang,
welcher sich von der Klangfärbung z. B. des Pale.strina'schen
Stabat, das, wie alle anderen Compositionen des Meisters, auf
die Kirchentöne gebaut ist, sehr auffallend unterscheidet. Und
trotz dieses Unterschiedes schwebt auf beiden Werken ein ähn-
licher Verklärungsglanz, und giebt die feierlich gemessene Be-
wegung, die Schlichtheit der Contouren, das choralmässige der
melodischen Motive beiden Werken hinwiederum eine entschiedene
Verwandtschaft. Während der ältere, echte Palestrinastyl den
Menschen über die Erde und zum Himmel emporhebt, so dass
sie dem Blicke entschwindet, lässt sich dieser spätere, den Uebcr-
1) Zuerst gedruckt in „Sertum roseum ex plantis Hiericho ab Augus-
tino Agazzario, armonico intronato nuper collectum et armonia traditum.
Singulis, Im ms, ternis et auaternis voeibua decantandum, cum Basso ad
Organum. Opus XIV. In Venetia appresso Ricciardo Amadino MÜCXI".
Proske hat das Stück in seine Mus. divina (Tom IV vespertinus Seite
386) aufgenommen.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
101
gang zur Neuzeit leise vermittelnde, vom Himmel zum Menschen
herab, aber ohne seine himmlische Abkunft zu verläugnen. Er
bringt aus seinem Himmel jedem einzelnen Hörer die Empfin-
dungen fertig mit, von welchen dieser während seiner Andacht
bewegt werden soll.
Neben Agazzari ist der bedeutendste Meister der vorhin er-
wähnten Richtung, welche durch Verschmelzung des alten mit
dem neuen Musikstyl eine Art Vermittlungs- oder Uebergangs-
styl schaffen, Francesco Foggia. Er war 1604 in Rom ge-
boren — er genoss dort den Unterricht vorzüglicher Lehrer:
Anton. Cifra, Bernardo Nanini und Paolo Agostini, dessen Schwieger-
sohn er hernach wurde. Er führte, wie es damals unter den
italienischen Meistern anfing Sitte zu werden, ein bewegtes Wander-
leben — zuerst war er Kapellmeister des ChurfÜrsten Ferdinand
Maximilian in Köln, dann verweilte er mehrere Jahre am Hofe
zu München, von wo aus er in die Dienste des Erzherzogs Leo-
pold von Oesterreich in Brüssel trat, dessen Kapelle er leitete.
Aber es trieb ihn zurück in sein Italien, er wurde Kapellmeister
der Kathedrale in dem wildromantischen Städtchen Naemi, dann
in dem abseitig von seiner Höhe auf den Bolsener See herab-
blickenden Bergnest Montefiascone, kehrte von dort nach Rom
zurück, wo ihm die Leitung des Chores in dem sehr bescheidenen
Kirchlein S. Maria in Aquiro (auf Piazza capranica unweit vom
Pantheon) zufiel, bis er die bessere Stelle bei der uralten, schönen
Basilica S. Maria in Trastevere erhielt — allerdings noch keine
der musikalischen Grosswürden in Rom. Es war ein bedeutender
Schritt, als der erst zwei und dreissigj ährige Meister im Decem-
ber 11)36 die Kapellmeisterstelle im Lateran erhielt — von wo
er nach S. Lorenzo in Damaso Übertrat. Unbegreiflicher Weise
zögerte er, als man ihm die Stelle bei S. Maria maggiore antrug,
so lange mit der Annahme, bis man es vorzog, Benevoli zu be-
rufen. Aber als der Platz erledigt wurde, wurde er dem schon
drei und siebenzigjährigen Manne abermals angeboten, und dies-
mal nahm er an, und trat am 13. Juni 1677 den Dienst an, in
dem er fortan verblieb. Es erregte Staunen, den Greis, selbst da
er schon das achtzigste Jahr überschritten hatte, mit frischer
Kraft thätig zu erblicken — man nannte ihn ,,den Vater der
Musik, die Stütze der wahren kirchlichen Harmonie" 1). Und als
1) Antimo Liberati sagt in dorn bekannten Sendschreiben an Uvidio
Persageppi: „di Paolo Agostini, ingenio imparregiabile tra gli altri n'
e stato degno tfcolaro e genero il Sign. Francesco Foggia, ancor vivente,
benche ottuagenario , et ai buona salutc por la grazia spcziale di Dio. e
per benefizio publico, ossendo il sostegno e il padre deua musica e della
vera armonia ecclesiastica conie nelle stampe ha saputo far vedere, e sen-
tire tra varieta di stile. ed in tutti far conoscere il grande, 1' eradito, il
nobile il pulito, il facile ed il dillettevole tanto al sapiente, quanto all'
ignorante." Das Sendschreiben datirt von 1684.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
er am 8. Januar 1688 starb, und in dem alten Heiligthum von
Santo Prassede seine Ruhestätte gefunden, schien es wirklich, als
sei die Stütze gebrochen. Von da an datirt man den Verfall der
Kirchenmusik in Rom — wenigstens im Ganzen und Grossen,
denn einzelne sehr ausgezeichnete Meister hat es noch später ge-
geben. Aber Foggia's Tod ist gleichsam der Schlusspunkt der
eigentlichen hochgepriesenen römischen Schule, und als der Musik-
patriarch zu Grabe ging, lebte schon in voller Jugendkraft Ales-
sandro Scarlatti, durch welchen der musikalische Primat auf
Neapel übergehen sollte.
Foggia war ein sehr fruchtbarer Meister, vieles von ihm
wurde gedruckt, aber sehr vieles blieb auch Manuskript. Gedruckt
wurden sechs Bücher Messen zu 4 bis 9 Stimmen (1650, 1663,
1672, 1673), unter denen von 1663 befindet sich eine, welche
„la Battaglia*' heisst (zu fünf Stimmen), femer eine prachtvolle
neunstimmige „Tu es Petrus". Bemerkt mag werden, dass die 1650
bei den Erben Mascardi's erschienenen Messen als Opus 3, die
1673 ebenda erschienenen Motetten und Offertorien als Opus 16
bezeichnet sind. Ferner erschienen: Motetten zu zwei bis fünf
Stimmen, sechs Bücher — eine Anzahl Motetten ist auch den
Messen beigegeben — Litaneien, Offertorien (darunter zu 8 Stim-
men), ein Buch — vier Bücher Psalmen. Weltliche Musik hat
Foggia gar nicht geschrieben. Wenn Antimo Liberati die „Mannig-
faltigkeit des Styles" rühmt, ferner die „Grossheit des Styles, die
Gelehrsamkeit, das Edle, den Schliff, die Leichtigkeit und das
Gewinnende für den Kenner wie für den Laien, so hat er in der
That eine treffende Charakteristik des Meisters gegeben. Höchst
liebenswürdig erscheint der Componist in seinen dreistimmigen
Kirchenstücken : Adoramus Christum regem ; Dominus et salvalor
mens; Eece paratum nobis, Coro mea, ein Salve Regina für Alt,
Tenor und Bass, ein zweites für zwei Soprane und Bass ausser-
dem noch eines zu fiinf Stimmen mit Orgel) u. s. w. Das erst-
genannte „Salve Regina" im Altns mit dem kirchlichen Motiv
exponirend, wogegen die zwei anderen Stimmen bewegt contra-
punetiren, in eine Menge kleiner Sätze getheilt, hat einen eigenen
Ton, der, wenn man versucht ist, ihn alterthümlich zu nennen,
erstaunlich modern erscheint, und wenn man ihn modern zu finden
geneigt ist, sich alterthümlich ausnimmt Es sind Stellen von
hinreissender Schönheit darin. Die Modulation zeigt schon grosse
Freiheit der Bewegung, in der Contrapunctik kommen mehrfach
Motive in ganz kleinen Notengeltungen vor. Gelegentlich taucht
eine kühne harmonische Combination auf (so bei den Worten:
„O clemens, 0 pia"). Imposant ist der „Sacerdos magnus", wo
die Orgel stellenweise nicht mehr als blosses, den Singbass ver-
doppelndes Fundament, sondern als selbstständige vierte Stimme
erscheint, die sich in bewegter Contrapunctirung ergeht (so gleich
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Der italienischen Musik grosse Periode.
103
anfangs gegen das im Tenor eingeführte kirchliche Motiv —
weiterhin wirkt die Stelle mächtig, wo der Bass das „Ecce Sacer-
dos" anstimmt). Diese Stücke sind entschieden für Solostimmen
berechnet.
Eine neue Richtung kündigt sich endlich bei Foggia auch
darin an , dass er seine Fugensätze nicht mehr nach der altern
Art als Fuga reale sondern als Fuga di tuono behandelt, worin
Übrigens der grosse römische Orgelmeister Girolamo Fresco-
baldi sein Vorgänger und Vorbild war. Auch dieser reihet sich
diesen Meistern mit einigen kirchlichen Gesangscompositionen an —
ein dreistimmiges „Peccavi" (2 S. und T.) findet sich in Fabio
Costantini's Select. cant. — ein „Angelus ad Pastores" (Sopran
und Tenor) in eben desselben „Scelta di Motetti" — auch der
Aug-ustincrmönch Agostino Diruta1) aus Perugia, welcher bis
1646 im Kloster seines Ordens in Kom verweilte und dann im
Ordensklostcr zu Perugia die Musik leitete, wäre mit einer An-
zahl in Rom gedruckter Xirchenstücken zu nennen.2)
Das bekannte Gleichniss, womit Karl der Grosse einst die
Sänger zurechtwies, vom „Bach, welcher, je weiter er fliesst, um
so mehr fremde Elemente in sich aufnimmt", kann füglich auch
auf die römische Schule angewendet werden. Der sogenannte
„Palestrinastyl" wird in Rom von tüchtigen Meistern noch zu
einer Zeit mit Liebe und Begeisterung gepflegt, wo alle Welt
nur neapolitanische Musik hören wollte, die päpstliche Kapejl-
musik mehr für ein alterthümliches Curiosum als für ein wir k-
liches musikalisches Kunstwerk galt, wo der ehrliche Thomaner-
cantor Gottlob Harrer, der Nachmann J. S. Bach's, den Palestrina-
messen, welche er aus Italien mitgebracht, dadurch aufhelfen zu
müssen glaubte, dass er — — Saitenquartett und zwei Oboen
hinzufügte. Nicht blos bei Matthäus Simonelli (Schüler
Allegri's und Benevoli's, seinerseits Lehrer Corelli's), welcher als
Sänger der päpstlichen Kapelle, der er seit dem 15. December
1662 angehörte, mitten in der Palestrinamusik sass, und den man,
wie Adami von Bolsena erwähnt, den „Palestrina des 17. Säcu-
lums" nannte, bei dessen Schüler Giovanni Maria Casini
(aus Florenz, auch Schüler Bernardo Pasquini's), bei Claudio
Casciolini (um 1700?), den Proske eine der grössten Zierden der
römischen Schule nennt, bei dem grossen Orgelmeister Bernardo
1) Nicht zu verwechseln mit Girolamo Diruta, dem geschätzten Or-
ganisten.
2) Ein Exemplar des Werkes: „il socondo libro de" Salmi, che si cun-
tano ne' vospero di tutto l'anno concertati a 4 voci dal P. Agostino Diruta,
Perugino, Agostiniano, Baccilieri in S. Teologia o Maestro di Cappella
nella Chiesa di S. Agostino di Borna, dedicato all' Angelo suo Custode.
Opera XXI in Roma per Lodovico Grignani 1647 hat, so viel bekannt,
Proske seiner Bibliothek einverleibt.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
Pasquini (1637 — 1710), welcher Schüler des Luxus-Sängers
Vittorio Loreto war, aber in Palestrina's Werken seinen eigent-
lichen Lehrmeister fand, bei Tommaso Baj (gest. 1714), bei
Giovanni Biordi (seit 1717 in der päpstlichen Kapelle), bei
Ottavio Pitoni, der 1750 als neunzigjähriger Greis starb, be-
gegnen wir einem Festhalten an den Traditionen der goldenen
Palestrinazeit, und auch der brave Johann Joseph Fux, der Kapell-
meister des Kaisers Karl VI., wendete als Compositeur, wie als
Theoretiker (im Gradus ad Parnassum) dem Meister Petrus Aloisius
Präncstinus eine glühende Liebe und Bewunderung zu, die ihm
am musikalisch-neapolisirten Kaiserhof schwerlich jemand dankte,
und über welche seine Collegen oft bedenklich ihre Allonge-
perrücken geschüttelt haben mögen.
Aber auf alle diese Meister hat ihre Zeit, ihr Jahrhundert,
die musikalische Luft, die sie athmeten, die vom Palestrinastyl
himmelweit verschiedene Musik, welche sie täglich hörten, eine
Einwirkung geübt, welche sie auch da nicht ganz überwandon,
wo sie sich der Weise ihres verehrten Vorbildes so eng wie mög-
lich anzuschliessen gedachten. Wie „palestrinisch" klingen z. B.
die Sachen von Pitoni, man halte sie aber neben echten Palestrina,
und man wird in der Färbung und Haltung einen sehr bedeuten-
den Unterschied wahrnehmen. Es ist gleichsam dasselbe Idiom,
aber die Ausdrucksweise ist eine andere geworden. Palestrina
hat mit Raphael dem Maler auch das gemein, dass beiden noch
ein Best alterthüml icher Weise anhängt, und dieser Zug mit seinem
keuschen Adel, mit seiner geistigen Tiefe bei scheinbarer Be-
schrankung, mit seiner jungfräulichen Strenge und Holdseligkeit
zugleich, mit seiner Quellenfrische und Unmittelbarkeit ist es,
welcher ihren Werken den wunderbaren Zauber giebt. Jene Spät-
Palestriner hatten sich genug gethan, wenn sie gegenüber der
neuen, bunten Musik nach der schlichten Hoheit ihres Vorbildes
streben, ohne indessen die Erinnerungen an jene neue Kunst
völlig abweisen zu können.
Bei einzelnen römischen Componisten um die Mitte des Sei-
cento mischen sich vollends die Elemente des Palestrinastyls mit
der neuen Musikweise in sehr eigentümlicher aber oft höchst
reizvoller Art. Andere suchen dem Palestrinastyl dadurch eine
neue Bedeutung zu geben, dass sie Chöre gegen Chöre stellen —
und so zu sagen musikalische Armeen in den Kampf schicken. —
Die höchste Zahl von Stimmen, welche Palestrina ange-
wendet hatte, stieg (wenn wir von dem ganz vereinzelten Aus-
nahmsfall der achtzehnstimmigen Composition absehen) nicht Über
drei Chöre zu vier Stimmen — und selbst auch dieser grössere
Aufwand von Kunstmitteln ist bei ihm eine Ausnahme, wogegen
er acht Stimmen öfter anwendete. War von den gewohnten vier
Stimmen der älteren Compositionen der Fortschritt zu acht Stim-
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Der italienischen Musik grosse Periode.
105
men geschehen, dass diese reichere Kunstweise endlich als das
Gewöhnliche, als das einfach Anständige galt, und hatten sogar
schon die älteren Meister (.Bramel) vereinzelte Versuche bis zu
zwölfstimmigen Sätzen gewagt, so wird es ganz begreiflich, dass
die durch anhaltende Uebnng erlangte Gewandtheit in der Be-
handlung einer grösseren Stimmenzahl, die Gewöhnung an reicheren
Vollklang, der Wunsch mit einer gesteigerten Wirkung der Ton-
sätzc die Vorgänger und ihre Werke zu überbieten, die Meister
bewog, weiter und endlich an die äusserete Grenze des Möglichen
zu gehen — eine Grenze, welche sie endlich in Messen zu sechs
realen vierstimmigen Chören, also in Compositionen bis zu 48
Stimmen erreichten: ein Steigern in der Verwendung der Kunst-
mittel weit über das Maass des für die eben vorliegende Aufgabe
einfach Notwendigen , Masseneffecte, verschwenderischer Luxus.
Auf dem Felde der Musik finden wir gerade hier zwei Namen
der Unsterblichkeit werth : Paolo Agostini und Orazio Bene-
voli. Was geringere und geringe Talente leisten, wenn sie
Kräfte und Massen herbeirufen, deren sie dann nicht Meister
werden können, fallt dann freilich unleidlich aus.
Der Musikstyl a cappella hatte seine Vollendung, seine
schönste Verklärung im Palestrinastyl. Jetzt begann die Zeit
der (falschen) Rechnung, die doppelte und dreifache Zahl der
Kunstmittel, welche sich in einfacher Anwendung so herrlich be-
währt hatten, werde doppelte und dreifache Wirkung hervor-
bringen. Das Steigerungsprincip war gerade damals ohnehin in
allen Künsten in vollem Gange. Besonders in Rom hatte Michel
Angelo mit seinen titanenhaften Gedanken den Künstlern das
Concept verrückt — man hatte sich auf allen Kunstgebieten an
das Gigantische gewöhnt. Seit der grosse Florentiner im jüngsten
Gerichte der sixtinischen Kapelle ganze Klumpen von Riesenge-
stalten zusammengeballt und durch die Lüfte geschleudert, nahmen
in möglichst Ungeheuern Dimensionen gemalte Dämonomachiren,
Gigantenstürze u. s. w. gar kein Ende. An der Peterskirche
wurde rüstig fortgebaut; sie war gleich im Bauentwurfe (oder
vielmehr in den Bauentwürfen) als Weltwunder angelegt. Sehr
begreiflich, dass auch die Musik in diese Riescnwirthschaft mit
hineingezogen wurde. In jenen gewaltigen Fresken wimmelte es
von Gestalten, t härmten sich Gruppen über Gruppen, der Peters-
dom löste das Problem „das Pantheon in die Lüfte emporzuheben."
So machten auch die Musiker, was sonst als einfacher vierstimmiger
Satz ein in sich vollendetes Ganze vorgestellt haben würde, eben
nur zur Theilgrappe, zum einzelnen Element eines gigantischen
musikalischen Aufbaues. So entstanden jene Kirchencompositionen,
von denen Antimo Liberati in seinen bekannten an Ovidio Per-
sageppi gerichteten Briefe redet „modulazioni a quattro a sei e
otto chori reali, con istupore di tutta Roma.4' Urban VIII. blieb
106 Der italienischen Musik grosse Periode.
mitten in der Peterskirche horchend stehen, als Paolo Agostini
die Ungeheuern Räume mit den Tonmassen einer achtundvierzig-
stimmigen Messe füllte, und verneigte sich endlich bewundernd
gegen den Meister. Die Peterskirche war eben der rechte Ort.
"Will man die oft hervorgehobene Analogie zwischen Tonkunst
und Architectur gelten lassen, so wird man sagen dürfen, diese
Musik sei als Musik, was die Peterskirche als Bau ist
Welchen Musiker fortan sein Beruf in Rom an eine bedeu-
tende Stelle brachte, hielt es für eine Art Ehrenpunkt, sich
durch einige möglichst stimmenreiche, vielchörige Compositionen
als Meister zu legitimiren.
Schon Tiburzius Massaini hatte dem Papste Paul V (1605 —
1621) Motetten zu vier Chören gewidmet. Die eigentlichen Ver-
treter dieser Richtung aber sind Agostini, Abbatini, Benevoli und
der jüngere Mazzocchi. Paolo Afgostini, der Meister jener von
Urban VIII. bewunderten Messe, war 1593 in Vallerano geboren,
Schüler und Tochtermann Bernardino Nanini's. Er begann seine
Laufbahn als Organist zu S. Maria in Trastevere, wurde dann
Kapellmeister in S. Trinita a Ponte Sisto, dann in Lorenzo in
Damaso, und endlich 1629 Nachfolger Vincenzo Ugolini's als
Maestro di Cappella in der Peterskirche, starb aber schon im
September desselben Jahres, nachdem er seine neue Würde kaum
sieben Monate bekleidet hatte. Antimo Liberati sagt von ihm:
„Fu Paolo Agostini uno de piü spiritosi e vivaci ingegni, che
abbia avuto la musica de nostri tempi — se non fosse mosto nel
fiore della sua virilita, avrebbe maggiormente fatto stupire tutto
il mondo, e se fosse licito, si potria con ragion dire di lui: Con-
summatus in brevi explevit tempora multa." Sein Hauptwerk sind
Messen zu vier, fünf, acht- bis zu zwölf Stimmen, deren erstes
Buch 1624 (und dann noch in wiederholten Auflagen) bei Roblctti
in Rom gedruckt wurden. Das zweite und dritte Buch enthält
Messen zu vier Stimmen, höchst meisterhaft und kunstvoll im
Tonsatze. Eine davon „Benedicam Domine" ist ganz in Canons
gesetzt. In der fünfstimmigen Messe über das Uexachord findet
sich ein Agnus zu acht Stimmen — den Grundstamm bilden drei
verbundene Canons, die wieder sich mehrfach gliedern, der Sopran
und der Bass beginnen, der erste entsendet einen Canon in der
Unterquint, der Bass einen Canon in der Oberquint, und einen
zweiten im Unison. Der dritte Canon entwickelt sich aus dem
Tenor, und zwar wieder in zwei Gestalten, in der Oberseptime
und in der kleinen Oberterz. Trotz der angeblichen „Reform44
waren also die alten Künste nicht nur nicht vergessen, sondern
kamen zu wo möglich gesteigerter Anwendung. Nicht allein die
Compositionen Agostini's sind voll davon, sondern fast alle wirk-
lich tüchtigen Meister der Zeit theilen wenigstens im Kirchenstyl
diese Neigung. Je flacher und leerer die weltliche Musik wird,
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107
um so eifriger sucht man die Traditionen des alten meisterhaften
Tonsatzes in die Kirchenwerke hineinzuretten. Die Compositionen
Agostini's „zu vier, sechs und acht realen Chören", deren Antimo
Liberati erwähnt, sind ungedruckt geblieben. Agostini bedurfte
zu ergreifender und tiefer Wirkung nicht des Aufgebotes vieler
Stimmen. Sein kurzes vierstimmiges „Adoramus" ist „der zarteste
und heiligste Engelsgesang44 *), ein wahres Juwel kirchlicher
Musik — man meint Palestrina wiederzufinden, aber schon deut-
lich im Lichte einer neuen Zeit: fein vermittelte Modulationen,
häufigerer, wirksamer, fast könnte man sagen, pikanter Gebrauch
von Dissonanzen geben dem Satze doch eine sehr wesentlich
andere Physiognomie, als jene des Palestrinastyls ist.
Als poly chorischer Componist ist zunächst Antonio Maria
Abbatini (1595 — 1677) zu nennen. Als tiefgelehrter Musiker
war er hilfreicher Mitarbeiter an Kircher's „Musurgia". Die
Musikarchive der Kirchen zu Born, deren Chor er im Laufe seines
langen Lebens leitete: S. Giovanni in Laterano, S. Lorenzo in
Damaso, Gesu und St. Maria maggiore — bewahren von ihm
Messen, Psalmen und Motetten von vier bis zu 16, 32 und 48
Stimmen (drei sehr sonderbare Messen zu 12 Stimmen in der
Corsiniana), Antiphonen für zwölf Soprane und zwölf Altos, des-
gleichen für zwölf Tenore und zwölf Bässe, welch' letztere sein
Schüler Domenico del Pane unmittelbar nach des Meisters
Tode bei den Erben Mascardi zu Korn im Drucke herausgab.
Messen Abbatinfs bis zu 16 Stimmen und derlei Psalmen hatte
Mascardi schon früher (1638, 1650) gedruckt, Motetten von zwei
bis zu fünf Stimmen Grignani\in Rom (1638). — Der Einfall
Abbatini 's, der alten Compositionsweise „ad voces aequales'4 da-
durch eine neue Bedeutung zu geben, dass er Antiphonen für
ganz aus Sopranen u. s. w. bestehende Chöre setzte, blieb nicht
vereinzelt, Domenico Allegri (Römer, nicht zu verwechseln
mit dem berühmteren Gregorio Allegri — er war von 1610 bis
1 629 Capellmeister der liberianischen Basilica in Rom) componirte
ähnliches — so ein Euge serve hone für 12 Tenore, ein Beatus
Ule servus für 12 Bässe, beide Stücke, nebst einer sechzehnstim-
migen Messe in Santini's Nachlass. Kiesewetter's Sammlung be-
sitzt vierchörige Motetten von Fra Erasmo di Bartolo, ge-
nannt il Padre Raimo (geb. 1606 zu Gacta, wurde am 14. Juli
1656 ein Opfer derselben furchtbaren Pest, in deren „Beängsti-
gungen" Orazio Benevoli jene grosse Messe schrieb). Das war
noch ziemlich bescheiden gegen jene römischen Messen, wo
Stimmenmassen gegen Stimmenmassen, Chöre gegen Chöre stehen;
wo, was sonst einzelne Stimme war, zur Chorgruppe wird, und
1) So bezeichnet es mit Recht die Vorrede in Proske's Mus. div.
Tomus IV, wo man das Stück, Seite 312 aufsuchen möge.
108
Der italienischen Musik grosse Periode.
Sätze eich über Sätze aufbauen. Hier sind selbst die Venezianer,
wie Johannes Gabrieli, überboten.
Als Vollender des polychorischen Kirchenstyls kann der
Römer Orazio Benevoli (1602 — 167,2) gelten. Er war Schüler
Vincenzo Ugolini's und somit Abkömmling der grossen römischen
Schule. Seine Bewunderer fanden durch ihn Palestrina über-
troffen — was ihnen wie natürlich Baini sehr Übel nimmt, welcher
über einen Passus in dem Dialog „l'Ateista convinto" von Filippo
Maria Bonini in ganz unbeschreiblichen Zorn geräth. Es ist dort
auch die Rede eben von Orazio Benevoli, welchen der eine Inter-
lacutor nicht allein als den biedersten Mann („cordialissimo uomo")
lobt, sondern auch meint „non solo e giunto allo stile del Pales-
trina ma di gran lungha l'ha superato". Ueber diesen Ausspruch
erstarrt Baini, als habe man ihm das Haupt der Medusa entgegen
gehalten. „Pover* uomo" schreit er endlich auf. Und nun geht
es über den armen Benevoli her: Das seien „musiche confuse,
ciamorose, di membra sproporzionate , prive totalmente della imi-
tazione della natura". Man braucht aber nur z. B. Benevoli's
vierchörige (16 stimmige) Messe „Si Deus pro nobis quis contra
nos" durchzusehen, um das Gegentheil von „Confusion, Geschrei
und Missverhältniss der Glieder" zu finden (die „Nachahmung der
Natur" lassen wir wie billig auf sich beruhen). Weit" entfernt,
den Effekt in roher Häufung der Massen zu suchen, lässt Bene-
voli's Tonsatz vielmehr eine höchst sorgsame und sinnreiche Durch-
bildung erkennen. Hier ist denn doch unendlich mehr als das
blosse „kleinliche Streben" Quinten und Octaveu zu meiden, worin
Kiesewetter das ganze Verdienst von eines Spätlings, Bellabene's
acht und vierzigstimmiger Messe fand. Mit sechzehn Stimmen zu
schreiben, war für Benevoli beinahe schon der „familiäre Styl" —
er hat eine ganze Zahl solcher Messen, wie nebst der oben ge-
nannten: „Si Deus pro nobis", „in angustiis pestilentiae", „Tira
corda" u. s. w., auch sechzehnstimmige (und selbst vier und
zwanzigstimmige) Magnificat u. s. w. An die Stelle der einzelnen
Stimme, Discant, Alt u. s. w. tritt hier ein ganzer selbst wieder
aus Discant, Alt, Tenor, Bass gebildeter Chor — eine sechschörige
Messe ist gleichsam eine sechsstimmige Messe, aber mit in ganze
Chöre zerlegten einzelnen Stimmen, oder, wenn man will, umge-
kehrt mit zu einzelnen Stimmen zusammcngefassten Chören. Die
lugirten Eintritte, sonst den Einzelstimmen zugetheilt, erfolgen
hier, ganz folgerichtiger Weise, in ganzen Chören, d. h. es tritt
immer ein ganzer Chor zugleich mit allen vier Stimmen ein, das
Motiv und die harmonische Combination des früher in ähnlicher
Weise eingetretenen Chores nachahmend. Dieses hindert selbst-
verständlich nicht an anderen Stellen dem einzelnen Chore mit
seinen vier Stimmen Fugeneintritte der älteren einfachem Art zu-
zutheilen, oder statt vier Stimmen acht und noch mehr einzelne
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I
Der italienischen Musik grosse Periode.
109
Stimmen mit imitatorischen Eintritten nach einander einzuführen.
Da nun aber ein stetes Durcheinanderarbeiten und Durchkreuzen
aller oder doch sehr vieler Stimmen bald den Zuhörer verwirren
und ermüden müsste, so wird für lichtere, durchsichtigere Stellen
gesorgt, sei es, dass einen Satz nur ein Chor solo singt, im näch-
sten Satze dann erst ein zweiter, ein dritter u. s. w. hinzutritt,
und so Steigerung und Milderung der Tonstärke in mannigfachsten
Combinationen wechselt, sei es, dass der eine Chor in langen
Noten, in piano ausgehaltenen Accorden, in einer Art choral-
mässiger Harmonie gleichsam den einfarbigen Hintergrund bildet,
auf welchen ein zweiter Chor ein feines , melodisch figurirendes
Stimmengewebe aufsetzt, sei es, dass die Chöre in Zurufen, in
Rede und Gegenrede wechseln, dann wieder vollkräftig zusammen-
treten und mit ihren Tonmassen nach jenen lichteren milderen
Stellen durch imposante Kraftentwickelung erschüttern. Der Ton-
setzer kann ferner, da die einzelnen Chöre nicht untrennbar in
sich geschlossene Einheiten bilden, stellenweise aus den Gesammt-
chören einen Chor von lauter Sopranen oder aus Sopranen und
Altos herausholen (so im Crucifixus der Messe si Deus pro nobis),
diesem hellstimmigen Chor kann er einen andern aus Tenoren
oder aus Tenoren und Bässen entgegenstellen — kurz er kann
Klangfarben in den mannigfaltigsten Combinationen mischen, und
durch sie mächtig gegen einander stellende Contraste wirken.
Benevoli hat alles dieses in meisterhafter Weise gethan.
Man erstaunt, wenn man auf Stücke stösst, wie Benevoli's
fugirtes Kyrie zu 16 Stimmen bei Paolucci, oder etwa auf eine
für zwölf Soprane gesetzte CompoBition, wie der Psalm Regna
terrae. Dieser ganzen Richtung, welche das Ungeheuere in Per-
manenz erklärte, ist nur der Vorwurf zu machen, dass sie das
künstlerische Maass aus den Augen verlor — und so bewunderns-
werth ihre Technik, so vielfach anerkennenswerth das von ihr
Geleistete auch ist — sie muss am Ende doch als ein Symptom
des eintretenden Verfalles, nicht aber, wie die enthusiastisch an-
erkennenden Zeitgenossen wähnten, als ein Fortschritt angesehen
werden, oder gar als der Gipfel des Erreichbaren, wie Bonini will.
Denn nicht dasjenige Kunstwerk ist am Höchsten zu stellen, wel-
ches den grössten Luxus verschwenderisch entwickelt, oder die
virtuosenhafte Geschicklichkeit des Künstlers zur Hauptsache
macht, sondern dasjenige, welches seine Idee am reinsten und
klarsten mit den allein angemessenen Mitteln — nicht mehr, nicht
weniger als deren nöthig sind, seien es nun wenige oder viele —
ausspricht. Wo die Massenwirkung um der Massenwirkung
willen in Bewegung gesetzt wird, giebt der Künstler sich kein
besseres Zeugniss, als dass er nicht im Stande ist, mit Wenigem
künstlerisch hauszuhalten — das eigentliche Leben des Kunst-
werks wird in den meisten Fällen von der Wucht der aufgewen-
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Der italienischen Musik grosse Periode.
deten Mittel erdrückt, ») und der Künstler verblüfft und betäubt
uns, statt uns zu erheben. 5) Zum Glücke hat Benevoii gezeigt,
dass er nicht stets und jederzeit einen ganzen musikalischen Heer-
bann aufzubieten brauche, um sich als Meister zu bewähren. Den
Uebergang zu Maassvollerem bilden seine zwölfstimmigen Messen
Solam exspecto, Angelus Domini u. s. w. — in den achtstimmigen
in leclulo, Paradisi porta, decantabal populus, sine nomine u. s. w.
lässt er sich zu den anderen Meistern herab. Nach der anderen
Seite hin hat er es freilich bis zu der berufenen Messe für acht
und vierzig Stimmen gebracht und damit die Sache auf die Spitze
getrieben, über welche sich wegen Halsbrechensgefahr kein an-
derer hinauswagen mochte.
Eiu Blick in die Partitur einer solchen Composition Bene-
voli's gewährt einen ganz eigenen Genuss und regt das Interesse
an. Wie in einem figurenreichen, aber meisterlich gruppirten
Gemälde sich die Fülle der Gestalten dem Beschauer sofort zu
Theilgruppen scheidet, die sich wieder zu dem grossen Ganzen
zusammenordnen, und, weit entfernt den Blick zu verwirren oder
den Eindruck des Ueberflillten zu macheu, dem in Wahrheit
überreichen Ganzen den Schein sogar der edeln Einfachheit geben
— wie an einem in den grandiosesten Massen, aber mit grossem
Sinne und Verständnisse angelegten Prachtgebäude der fassliche
Wechsel stützender und getragener, ornamentreicher und einfacher,
stark beleuchtet vortretender und schattig zurückweichender archi-
tektonischer Glieder uns das Ungeheuerste sogleich commensurabel,
ja in seiner, endlich im letzten Grunde auf einfachen Prinzipien
beruhenden organischen Construction begreiflich macht, und jedes
Einzelne uns sofort in seiner Verbindung mit dem Ganzen und
im Zusammenhange mit dem Ganzen, einleuchtend wird : so ordnen
1) In ähnlichem Sinn sagt Schumann über Hector Berlioz' „Sinfonie fan-
tastiquo. Die Riesenideo wollte oinen Ricsenkörper, dor Gott eine Welt zum
Wirken. Aber die Kunst hat ihre Grenzen; der Apoll von Belvedere, et-
liche Schuh höher, würde beleidigen44. Diese Stelle ist in dem Aufsatze
der ,.neuen Zeitschrift für Musik*' 3. Band N. I, 9, 10, 11, 12, 13 zu
finden — einem der genialsten, geistvollsten, hinreissendsten, welche Schu-
mann je geschrieben. Eine wahrhaft jammervolle Verstümmelung, die
engherzigsten, aber eben darum höchst charakteristischen Zensurstriche
von Seiten der Herausgeber musste er sich in den gesammelten Schriften
gefallen lassen.
2) Ein lehrreiches Analogon gewährt Giulio Romano's berühmtes Fresko
der Sala de' giganti im Palazzo del Te nächst Mantua, wo die zwölf bis
fünfzehn Fuss hohen Riesengestalten der himmelstürmenden Giganten ..den
Beschauer mit aufdringlicher Colossalität beängstigen", wie A. v. Zahn
in don Zusätzen zu Burckhardt's ..Cicerone" (2. Band S. 947) sehr gut
sagt. Dieser Trieb und Drang nach dem Unerhörten, Ungeheuren lag in
der Zeit. Michel Angelo's berühmte Statue dos David, wo dor etwa zwölf-
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Der italienischen Musik grosse Periode. \\\
sich in Benevoli's Partituren die bewegteren und ruhigeren Ton-
massen, die wohlgruppirten Motive, die Haltetöne und Figura-
tionen, die contrapunctisch verschlungenen Stellen und die ein-
fachen AccorcUäulen zu einem reichen, aber wahrhaft schönen,
künstlerischen Aufbau, welcher selbst schon in der schriftlichen
Aufzeichnung erfreut und die Vorstellung eines „Kosmos" von
Tönen gibt, das Wort Kosmos im Sinne der Griechen als wohl-
geordnetes, reichgeschmücktcs , gesetzmässig aufgebautes Ganze
verstanden. Wie sehen dagegen z. B. jene Zwölftenor- und Zwölf-
bassantiphonen Domenico Allegri's aus, in denen die Noten infu-
sorienartig durcbeinanderwimmeln, und in den Antworten und
Wechscleinsätzen der Stimmen eine unglaubliche Zerfahrenheit
herrscht — der Schein des ganz Willkürlichen und Regellosen.
Es sind keine Gruppen, es ist ein Haufen durcheinandersingender
Menschen ; dazu ist das Ganze eine Prahlerei, denn abgesehen von
den wenigen Stellen, wo alle zwölf Stimmen zusammen kommen
(wo freilich einer dem andern auf die Füsse tritt), pausirt immer
eine beträchtliche Anzahl von Stimmen, und dieselbe Wirkung
wäre mit viel geringerem Aufwand zu erzielen.
Aber auch Benevoli selbst geräth zuweilen durch sein herbei-
gerufenes Stimmenheer in's Gedränge. Von feinen Contouren,
von durchsichtig durchgeführten Imitationen u. s. w. ist dann
keine Rede — Massen stossen auf Massen, ungeheure Accorde
wechseln mit bunter Figuration, mit langen Coloraturpassagen,
die harmonischen Feinheiten der älteren Meister würden von den
durcheinandersingenden Stimmen erdrückt — an ihrer statt müssen
also einige wenige, energisch hervortretende Harmonieformeln ge-
nügen — der Glanz der Instrumente, welche mit den Menschen-
stimmen wetteifernd (in concerto) die Motive, Passagen, Coloraturen
nachahmen, gestaltet vollends das Ganze zu einem Ungeheuern
musikalischen Pracht- und Decorationsstück, welches aber dann
auch nicht viel mehr bedeutet, als dass es eben ein Pracht- und
Decorationsstück ist. Die Motive sind dann unbedeutend, oft der
Bearbeitung nicht werth, sie werden aber auch nicht bearbeitet,
Tonfülle und Glanz müssen die feiuerc Detailarbcit ersetzen. Unter
solchen Umständen gerathen die einzelnen Tonsätze verhältniss-
mässig kurz, der Componist wird mit dem, was er zu sagen hat,
bald fertig, und das bestürmte Ohr des Hörers braucht eben auch
Schonung. Es ist etwas falsch Prächtiges, eine mit Keulen da-
reinschlagende Grossartigkeit — man denkt unwillkürlich an die
gleichzeitigen Riesenbilder in Riesenkirchen, die von Figuren
wimmeln, und eben so grossprahlerisch und eben so leer sind, wie
diese Musik.
Die ganze Färbung des Tonwerkes nimmt etwas sehr Modernes
an — erinnert man sich, dass fünfzig Jahre früher noch der
Palestrinastyl in voller Blüte stand, so muss man über die Wand-
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112
Der italienischen Musik grosse Periode.
luüg, welche sich auch auf dem Gebiete der Kirchenmusik voll-
zogen, erstaunen. Die Melodie hat eben auch nicht mehr den
edel-einfachen, grossen Zug der Melodie Palestrina's, sie ist mul-
tiplicirte Kleinheit, ein buntes Figuren- und iiäckelwerk, die klei-
nen Notengeltungen wimmeln amcisenhaft auf dem Riesenfolio der
Partitur herum. Benevoirs Styl lässt sich nicht in e i n Gesammt-
bild zusammenfassen, so wenig wie der Styl jener Meister der
bildenden Kunst, bei welchen man von einer „Maniera prima,
seconda" u. s. w. spricht. Seine Kunst blickt mit einem Janus-
kopf zurück nach der eben abgelaufenen, grossen Kunstzeit und
vorwärts nach der herankommenden neuen Epoche.
Das Glanzstück Benevoli'scher „Zukunftsmusik" ist die Messe,
welche er für die am 24. September 1628 gefeierte Einweihung
des neu erbauten Domes in Salzburg componirte. Dass die Messe
eigens für diese Gelegenheit geschrieben wurde, zeigt eine dem
Agnus Dei folgende Hymne mit dem Text: ,,Plaudite Tympana
— Fides accinite — Choro et jubilo — Applaude patria — Ru-
pertum *) celebra — Clangite claasica — Voces applaudite —
Pastori maximo (Mittelsatz) — Felix dies ter amoena — Dies
voluptatura plena — Qua Rupertum celebramus — Qua patro-
num honoramus — Dies fclicissima — In Angelorum millibus —
In Beatorum plausibus — Triumphat alta mens — Gaude vive
Salisburgum — Magno patri ter applaude — Rupertum celebra
— Pastori jubila" - (Wiederholung: Plaudite Tympana u. s. w.)
Diese offenbar aus einer „geistlichen" Feder geflossenen, ei-
gentlich inhaltlosen Verse, boten dem Tonsetzer ein genügend
weites Feld, um den vollsten Festjubel anzustimmen „ertönt ihr
Pauken, klingt darein Saiten, im Chor und in Jauchzen" — das
Alles hat Benevoli endlich in Bewegung gesetzt. Ganz energische
Motive tauchen auf, wie:
- I— .
in An - ge - lo - rum mil - li-bus, in
—
I
(Be - a - to-rum plau- si - bus
i) S. Rupert ist Salzburgs Patron.
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Der italienischen Musik grosse Periode.
113
In den Sturm der Menschenstimmen geigt und paukt und
flötet und trompetet das Orchester nach Herzenslust hinein und
brausen zwei Orgeln. In den imposanten, riesenhaften Hallen
des Domes mag die Wirkung auf die Hörer wohl eine überwäl-
tigende gewesen sein. Eine Musik dieses Styls hatte bis dahin
noch niemand gehört, niemand geahnt. Selbst wir werden uns
mitunter an den Donnerschritt Händel'scher Chöre gemahnt
finden, an welche dieser Musikstyl wirklich stellenweise in merk-
würdiger Weise anklingt. Ohne Zweifel hatte der Erzbischof von
Salzburg die Festmesse und Festmusik bei dem berühmten Meister
bestellt, wahrend er in Wien verweilte. Man merkt auch, dass
ihn das „fertigwerden zu rechter Zeit" gedrängt hat — gegen
den Schluss der Messe hin werden die Sätze flüchtiger, kürzer
— ein kurzes „Agnus" (statt der herkömmlichen drei) bildet den
Schluss. Benevoli scheint aber auf das Werk Werth gelegt zu
haben, er nahm die Stimmhefte nach Koni mit, wo sie sich in
der Corsiniana befinden. Die Partitur im Autograph des Com-
ponisten blieb in Salzburg und ist jetzt Eigenthum des Mozar-
teums. In 54 Notensystemen bauet sich die Composition auf —
fast könnte man von diesem Notenbuch sagen, was Ammianus
Marcellinus vom flavischen Amphitheater sagt: „Des Menschen
Blick vermag kaum seine Höhe zu erreichen". Die Disposition
ist folgende:
Otto voci in Concerto.
Choro
Choro 2.
Organo
(mit Bezifferung)
VI Viol.
2 Hautbois.
Choro 3.
Ambro
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114
Der italienischen Musik grosse Periode.
Mit wio gerade wenig Mitteln übrigens Benevoli das Schönste
zu leisten vermochte, beweisen seine auf wenige Stimmen redu-
zirten Sätze, wie das vierstimmige Christe der ( 1 Gstimmigen) Messe
„iu diluvio multarum aquarum" — ein überaus merkwürdiges Stück,
streng polyphon, fugirt, aber in Melodiefiihrung, Harmonie und
Modulationen, in Takt und Rhythmus schon den Sieg einer neuen
Zeit verkündend, völlig „modern", dabei von sehr zartem, innigem
Ausdruck, man kann sagen: entschieden sentimental. Palestrina-
styl ist das nicht mehr, obwohl Benevoli als Zögling Bernardio
Nanini's der Schule angehörte. In einen der „Kirchentöne14 lässt
sich das Stück auch nicht mehr registrircn; es müsste denn der
„jonische" sein.
Eine bedeutende Anzahl von Benevoli's Werken bewahrt die
Bibliothek im Palazzo Corsini zu Rom — leider zum Theile in
kläglich fragmentarischem Zustande. Drei Messen „in diluvio
uquarum multarum, Missa Tiracorda und Si Deus pro nobis" alle
drei zu 16 Stimmen tragen keine Namensbezeichnung, da aber
die erste und die dritte notorisch dem Benevoli gehört, so ist
wohl kein Grund da für die Messe Tiracorda einen andern Autor
zu suchen (es sind nur drei Hefte übrig: Altus secundi Chori,
Cantus und Altus Tertii Chori). Eine zweite Sammlung sechs-
zehnstimmiger Messen, der eben erwähnten ganz ähnlich ausge-
stattet (nur noch der Tenor Tertii Chori und der Altus quarti
Chori vorhanden) enthält drei Messen: sine Nomine, Benevola und
Tu es Petrus. Die Anspielung auf deu Namen des Componisten
in der zweiten Messe lässt wohl über dessen Person keinen Zwei-
fel. Auch genügen selbst diese Trümmer, um Benevoli's Styl
deutlich erkennen zu lassen. Ausserdem besitzt die Corsiniana
die Missa in angustiis pcstilentiae, die Missa in lectulo für zwei
Chöre, die mannigfach nach der in den mehrchörigen Messen
Benevoli's vorkommenden, bei den früheren Componisten nicht
gebräuchlichen Weise in einander übergreifen, wie denn z. B. im
Benedictas Sopran und Alt des ersten Chores mit Tenor und Bass
des zweiten verbuuden werden (nach Chiti's Angabe ist diese Messe
im Jahre 16ÜG componirt), — endlich eine dreichörige Messe
„Angelus Domini" in mixolydischen Modus mit sehr bewegten
Stellen, und in weniger strengen Style als Benevoli's übrige Mes-
sen. Ein Benedictus kömmt nicht vor, wie auch sonst in den
vielchörigen Messen des Meisters; es scheint Raum für eine freie
Einlage gelassen. Jene zwölfstimmige Messe Angelus Domini fin-
det sich auch unter den Musikschätzen des Sacro Convento zu
Assisi. Kiesewetter's Sammlung bewahrt die Messen in angustiis
pcstilentiae und in lectulo, Fetis besitzt die Messe ,.si Deus pro
nobis" von der sich auch eine alte handschriftliche, in Rom er-
worbene Partitur im Besitz des P. Haberl befindet.
Kiesewetter, der nicht leicht aus der maassvollen Ruhe seiner
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Der italienischen Musik grosse Periode.
115
Darstellung zu bringen ist, spricht von Benevoli mit (verdienter)
Bewunderung — ihm gebühre in jener Epoche die Palme, seine
vielchörigen Compositionen werden noch die Bewunderung spater
Jahrhunderte sein, nur ein Carissimi habe ihm den Rang eines
Mannes der Epoche streitig machen können.
Wir können die Besprechung der Werke und Verdienste
Benevoli's nicht besser schliessen, als mit der geistreichen und
treffenden Characterisirung, welche Antimo Liberati in dem Briefe
an Ovidio Persageppi von ihm macht: „Horatio Benevoli, il qüale
avangando, il proprio maestro, e tutti gli altri viventi nel modo
di harmonizare quattro, sei Chori reali, e con lo sbattimento di
quelli, e con l'ordine, e con le fughe rivoltate, e con i contra-
ppunti dilettevoli, e con la novita de roversi, e con le legature e
scoglimento di esse maraviglioso , e con l'accordo del circolo im
pensato, e con le guiste e perfette relazioni, e con la leggiadria
delle consonanze e dissonanze ben collocate, e con l'ugualianza
della tessitura, e col portamento sempre piü fluido, ampolloso a
guisa del fiume che crescil eundo, ed in Somma con la sua mira-
bilissima quanto decorosa harmonia". Wer solches und derglei-
chen geleistet, zählt ohne Frage zu den Grössten aller Zeiten.
Man nennt Benevoli aber fast nur als den Tonsetzer von Kirchen-
stücken, zu deren Ausführung es eines Sängerheeres bedarf, und
damit gerade war eben Benevoli selbst seinem verdienten Ruhme,
der sonst ganz anders klingen müsste, im Wege („ut cam magni-
tudine laboret sua", wie Ligius von Rom sagt). Benevoli hatte
aber doch schon bei Leibesleben Ruf, er führte ihn 1643 — 1645
nach Wien, früher war er Capellmeister bei S. Luigi de Francesi
in Rom, seit 1646 Capellmeister in S. Maria maggiore, dann bis
zu seinem Tode (am 17. Juni 1672) Capellmeister der vaticani-
schen Capelle. Es sind immer dieselben römischen Kirchen, durch
welche die grossen Meister ihren Lauf nehmen, wie die Sonne
durch die Himmelszeichen. Sein Ruhm und sein vortrefflicher
persönlicher Charakter bewahrten ihn nicht davor, sein Leben in
sehr beschränkten Verhältnissen (A. Liberati sagt geradezu „poverta")
hinbringen zu müssen, in dieser Hinsicht weniger glücklich als
Palestrina. Er ist in S. Spirito di Sassia (nicht weit vom Vati-
can) begraben.
Zur Aufführung der vielchörigen Compositionen bedurfte es
begreiflicher Weise, nebst einem gewaltigen Aufgebot an Sängern,
auch grossräuraiger Kirchen — in Rom, auf welches sich dieser
musikalische Landsturm (wie Kiesewetter scherzend sagt) eigent-
lich beschränkt, waren dafür S. Maria sopra Minerva und die
Peterskircbe die auserlesenen Orte. Die ungeheuren Dimensionen
der vaticanischen Basilica und der gewaltige Innenraum ihrer
Kuppel gaben Virgilio Mazzocchi (aus Civita Castellana,
seit 1628 Maestro di Cappella im Lateran, seit 1629 bei S. Peter
8»
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Der italienischen Musik grosse Periode.
— gest. 1646) Gelegenheit zu einer originellen und ohne Zwei-
fel sehr wirksamen Musikaufftihrung. Er vertheilte nämlich die
Chöre einer von ihm componirten Musik so, dass einige auf ebe-
nem Boden, andere auf der den unteren Rand des Kuppel-Tam-
bours einfassenden Gallerie, andere wieder in schwindelnder Höhe
auf der Gallerie in der Lanterna aufgestellt waren. Wie nun die
Chöre durch gewaltige Entfernungen auseinandergehalten, einan-
der im Echo antworteten, mag die Wirkung allerdings zauberhaft
gewesen sein — und die in letzter, weitester Ferne wie ein ver-
wehender Nachhall herabtönenden Antworten des zu höchst auf-
gestellten Chores mögen geradezu etwas Geisterhaftes gehabt
haben !). Die Peterskirche, welche von aussen bei der Oster-
beleuchtung zum gigantischen Illuminationsgerüste wird 2), musste
ihr Inneres hier wiederum zur gigantischen Sängertribune her-
leihen. Dergleichen war nur in Rom und nur in der Peterskirche
möglich, und nur dort verlor es das bedenklich Spielende, was
eigentlich darin lag — „steht nun einmal das Erhabene wirklich
da, so verschlingt und vertilgt es eben seiner Natur nach alle
kleinen Zierden um sich her" lässt Jean Paul seinen Don Gas-
pard, eben von der Peterskirche, sagen 3). Im Grunde lag in
Mazzocchi's Einfall doch etwas Unkünstlerisches, oder mindestens
war der Schwerpunkt in etwas Aussermusikalisches gelegt.
Pietro della Valle erzählt von einer im Collegio romano auf-
geführten sechschörigen Musik des jüngeren Mazzocchi (Virgilio's),
die er wegen reicher Abwechslung der glänzendsten Effekte höch-
lich preist 4). Eine der letzten Arbeiten Virgilio's, die dann (1648)
bei Grignani in Rom gedruckt wurde, waren Vcsperpsalmen für
zwei Chöre, Domenico brachte 1629 Motetten zu neun Stimmen
und 1638 die lateinischen Poesiecn Urban des achten von zwei
1) Pietro della Valle sagt in seinem Sendschreiben an Lelio Gui-
diccioni: „non ebbi fortuna ai sentire un anno qael gran musicone, che
il medesimo Mazzocchi fece in S. Pietro, non so se a dodici o a sedici
<'ori con un coro di eeo fino in eima aila cupola, che int endo, che nell
ampiezza di quel vasto tempio fece ofFetti maravigliosi". (Siehe G. L. Doni
Opp. II. 8. 260.)
2) Oder war. Ich habo es am Osterfeste 1868 noch gesehen. Dasa
Goethe von dem Anblick, der ihm wie ein „ungeheures Märchon1* erschien,
entzückt war, wird man aus seiner italienischen Reise wohl in Erinnerung
haben.
3) Titan IV. 27.
4) Se a caso V. S. si ritrovö Taltro giorno nel Collegio Romano a
quella nobilissima musica a sei cori composta dal piü giovaue Mazzocchi.
a vora inteso in essa e stile madrigalesco con vaghezze e leggiadrie, e
stile da Motetti con gravita e imitazioni ben fatte di arie diverse antiche
e moderne, e recitativi spiritosi di buon garbo, e bizzarie di Trombe, di
Tamburi, di Botnbarde, di Battaglie, di serra, serra, che io per me non
sö, che si poaaa dosiderare di piü varietä, e di piü galante. (Sendschrei-
ben an Lelio Guidiccioni.)
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Der italienischen Musik grosse Periode.
117
bis zu acht Stimmen gesetzt, wo dann freilich noch viel bis zu
den 48 Stimmen der Agostini und Benevoli fehlt. Kiesewetter's
Sammlung besitzt von Virgilio ein „Amen" zu zehn Stimmen
(aus den Vesperpsalmen), von Domenico ftinfstimmige Madrigale.
Virgilio Mazzocchi und sein älterer Bruder Doraenico sind tüch-
tige Contrapunctisten im älteren Sinn, und dabei den neuen Mu-
sikreformen ihrer Zeit mit Antheil zugewendet, ja sie suchten
auch in ihre geistliche Musik mancherlei Neues zu bringen. Vir-
gilio wurde als „lieblicher und glänzender" Componist und zudem
wegen rhythmischen Reformen gepriesen, und von Domenico möge
erwähnt werden, dass er — der erste — das Schwellen und
Abnehmen der Stimme mit dem Zeichen 1 "ZZ. aus-
drücklich vorschrieb. Ein Werk Domenico's im neuen Styl,
welches durch den Vortrag des Sängers Vittorio Loreto in Rom
ganz ausserordentlichen Eindruck machte, und dessen Gegenstand
die reuige Magdalena war, kennen wir nur aus einem in Kircher's
Musurgia erhaltenen Bruchstück, und aus der höchst enthusiasti-
schen Schilderung des Erythräus, welche indessen vor Allem
nur dem Sänger und seinem Vortrage gilt. Aus einem Briefe
des Erythräus vom Jahre 1634 kommt hervor, dass er selbst
der Verfasser dieser „geistlichen Tragödie" — wie er sie nennt
— gewesen i). Es war ein in declamatorischem Gesang vorzu-
tragendes Monodram, von der Art wie Monteverde's Pianto della
Madonna.
Messen zu vier Chören componirte Abundio Antonelli,
Capellmeister der Kathedrale in Benevent, von wo er 1608 die
Berufung an die lateranische Basilica in Rom erhielt — ein tüch-
tiger Tonsetzer — der gelegentlich auch schon in der Weise
Giov. Gabrieli's begleitende Instrumente heranzieht, so zu einem
achtstimmigen „Abraham tolle Ii Ii um tuum" und zu einem zwölf-
stimmigen „Dixerunt impii". Er hat aber auch Vieles für nur drei
oder zwei Stimmen componirt — die Bibl. Altaemps in Coli. rom.
besitzt viele Werke von ihm. 2)
Der letzte, späte Nachzügler dieser ganzen Richtung, der
Römer Gregorio Bai laben«, gehört erst der zweiten Hälfte
1) Jani Nicü Erythraei Pinacotheca (Victorius Loretus) und Epist.
ad divers. IV. 16. Wir kommen auf das Werk späterhin zurück. Ervth-
r&us redet sogar in der vielfachen Zahl von „heiligen Tragödien", welche
er gedichtet. Mazzocchi componirt habe.
2) Abraham tolle filium (a 8). Benedictus es Domine (a 3). Füiae
Jerusalem (duo S. u. a.). Dixerunt impii (a 12). Gande virgo (4 voci
concert) in coelestibus regnis (2 A.) in velamento claroabant (S. u. 2 T.)
justus si morte (5 v.). Lux perpetua (2 Stimmen — Echostück) o crucis
victoria (3 S. u. T.) o gloriosa Domina (5 v.) o Jesu cordis mei thesaurus
(4 v.) quem vidistis pastores (6 v.). Sancti tui Domine (2 8.). Spiritus
et aniinae (2 T.).
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118 Der italienischen Musik grosse Periode.
des 18. Säculums an — ein 16 stimmiges Dixit, eine Messe zu
zwölf Chören mit 48 Stimmen — letztere wurde 1774 in Rom mit
zweifelhaftem Erfolg aufgeführt (diese Arbeiten kamen später in
Santini's Sammlung).
An diese colossale Art zu componiren hingen sich aber Con-
sequenzen von grösster Wichtigkeit für die weitere Entwickelung
der Tonkunst. Diese zweiunddreissigstimmigen u. s. w. Messen
kamen und verschwanden, da sie dann am Ende doch nur unter
ganz besondern Bedingungen und mit enormen Aufwand an
Kräften (auch wohl an Geld!) aufzuführen waren. Für uns stehen
sie wie Riesengebilde einer paläontologischen Epoche da. Aber
aus ihnen zumeist oder wenigstens aus Compositionen ähnlichen
Aufwandes gingen zwei Dinge hervor: der Generalbass und
das Princip der Verdoppelung einer Stimme durch die
0 ctave.
Wenn eine Anzahl von Chören zusammensang, deren jeder
seinen eigenen stützenden Bass hatte, deren jeder so ziemlich
nur sich, nicht aber die Nachbarchöre, zumal die nach Lokalbe-
dürfnissen entfernter aufgestellten hörte, so war es, sollte nicht
die Intonation binnen kurzem in ein förmliches Chaos hereinge-
rathen, ganz unentbehrlich, dass ihnen allen ein unverrückbares
Fundament als Stütze gegeben werde — ein „Bass für Alle"
(Bassus generalis), ein Bass, der unausgesetzt fortging (Bassus
continuus) und Rechenschaft von den letzten harmonischen Grün-
den des ungeheuren Ganzen gab. Dieser Bass durfte nicht ein-
fach identisch mit den Singebaas des ersten oder zweiten oder
dritten Chores sein, wer ihn zu Papier brachte, musste alle ein-
zelnen Bassparts der einzelnen Chöre vor Augen haben und sei-
nen Generalbass nach deren jeweilig tiefsten Noten zusammen-
schreiben, ob nun diese im „Basso del coro primo" oder „del
secondi" u. s. w. standen. Natürlich konnte dieser Haupt- und
Grundbass nicht wieder Menschenstimmen anvertraut werden,
welche die Gefahr der Intonationsschwankung mit den Uebrigen
getheilt haben würden. Es musste ihn vielmehr ein Organ von
unfehlbarer Tonsicherheit ausführen, ferner aber ein Organ, ge-
eignet durch mächtige Klangstärke durch den ganzen Sturm von
Menschenstimmen hindurchzutönen und von jedem einzelnen
Chor deutlich gehört zu werden. — Das konnten Bassgeigen sein,
Posaunen, — besser als alles andere die Orgel mit den Bass-
tönen ihrer Manuale, mit ihren gewaltigen Pedaltönen.
Die ganze Masse der auf jedem Grundton aufgebauten Noteu
Hess sich aber endlich bei dem ruhigen harmonischen Gange des
in der Hauptsache noch immer wesentlich diatonischen Satzes auf
eine durch wenige Intervalle zu bezeichnende Formel zurück-
führen, abkürzend statt der Terz die Ziffer 3, statt der Sexte die
Ziffer 6 u. s. w. zu schreiben, konnte nur sehr bequem scheinen —
Der italienischen Musik grosse Periode.
119
so drängte also jene Ueb erfülle von Stimmen von der andern
Seite her zu demselben Ziele, zu dem die Oeconomie, welche sich
wie in Lodovico Viadana's Kirchenconcerten mit wenigen Stimmen,
wohl gar mit einer einzigen Singstimme begnügen wollte, hinführte,
und die Musik langte von zwei einander entgegengesetzten Seiten
beim bezifferten Generalbasse an. Wirklich wird fortan auch den
Compositionen im Capellenstylc ein „Basso per l'organo", eine be-
zifferte Orgelstimme beigegeben, selbst wenn sie nur drei- oder
vierstimmig sind. *) Eine andere wichtige Erfahrung, welche man
an den vielchörigen Compositionen machte, oder auch an anderen,
wenn man die Singstimmen von Instrumenten begleiten Hess, war,
dass man eine Stimme in der Octave „verdoppeln" könne —
z. B. die Flöte mit dem ersten Sopran um eine Octave höher mit-
gehen lassen — ohne sich damit fehlerhafter Octavparallelen
schuldig gemacht zu haben. Der Gedanke, dass jede einzelne
Stimme ihren eigenen Weg unabhängig von den Übrigen gehen
müsse, hatte sich unaustilgbar festgesetzt, die Furcht vor dem
Octavenverbot war so gross, dass man anfangs dasjenige, was blosse
Verdoppelung war, als parallele Octaven ansah, denen zu Liebe
man aber einen Ausnahmsfall statuirte, und sie erlaubte. Im
Syntagma des Prätorius findet sich aber schon ein bedeutender
und treffender Ausspruch: „Octavae in omnibus vocibus tolerari
possunt, quando una vox cantat, altera sonat."2) Hier ist
der Unterschied zwischen der realen Octave, die singt, und der
blos verdoppelnden, welche mitklingt, so deutlich als möglich
ausgesprochen. Zuerst, scheint es, machte man an den Bässen
die Erfahrung, dass es für die Gesammtwirkung äusserst vortheil-
haft sei, bei jenen Stellen, wo die Chöre im Tutti zusammen-
kommen, die Bässe sämmtlich in ein Unisono zusammenzufassen,
weil, hätte jeder Chor seinen selbständigen Bass, das eigentliche
harmonische Fundament des ganzen Zusammenklanges an Deut-
lichkeit verlöre. Drei vierstimmige Chöre repräsentirten z. B.
zwölf reale Stimmen, traten im Tutti die Bässe zusammen, so hörte
1) Prätorius (Syntagma III. S. 124) sagt: „Der Bassus generalis seu
continuus wird daher also genennet, weil er sich vom Anfang bis zum
Ende continuiret. und als eine General-Stimme, die ganze Motet oder
Concert in sich begreinet. Wie dann solches in Italia gar gemein und
sonderlich jetzo von dem trefflichen Musico Ludovico Yiadana, novae in-
ventionis primario, als er die Art mit einer, zween, dreyen oder vier
Stimmen allein in eine Orgel. Regal oder ander dergleichen Fundament-
Instrument zu singen erfunden, an den Tag bracht und in Druck auss-
gangen ist; do dann noth wendig ein solcher Bassus generalis und con-
tinuus pro Organödo vel Cytharödo etc. tanquam fundamentum vorhanden
sein muss. Von etlichen wird der Bassus continuus gar accomode GVIDA.
hoc est Dux, ein Führer, Gleitsmann oder Wegweiser genennet.44
2) Synt. III 92.
120 Der italienischen Musik grosse Periode.
man thatsächlich um zwei weniger, nämlich zehn — dafür aber
die vereinigten drei Bässe um so kräftiger. Schon Artusi in
seiner „Arte del contrappunto" (1586 und zweiter Theil 1589)
spricht über diesen Punkt — „bassus alit voces, ingrassat, fundat
et äuget" sagt er zum Schlüsse. Auch Michael Prätorius bemerkt,
er habe in seinen Compositionen „aus hochbedenklichen Ursachen
und wichtigen Rationibus die Discaut, sonderlichen aber die Bässe,
wenn die Chor zusammenkommen, in Unisono gesetzet." Die
„hochbedenklichen Ursachen" waren rücksichtlich der Bässe die
eben erwähnten, rücksichtlich der Soprane aber lagen sie in ana-
loger Weise in der Wahrnehmung, dass die Discant, als Ober-
stimme zumeist sich dem Ohr bemerkbar machen, und bei Kreu-
zungen derselben der eigentliche melodische Ductus sich leicht
verwischt. Der Organist an der Kirche S. Maria delle Grazie in
Brescia, Giov. Francesco Capello, ein Venezianer, welchen wir
später als sehr talentvollen Componisten im neuen monodischen
Styl kennen lernen werden, räth sogar als vortreffliches Effekt-
mittcl an — alle vier Stimmen eines Chores durch einen zweiten,
in der Octave mitsingenden zu verdoppeln — also z. B. eine
Motette für zwei Tenore und zwei Bässe von zwei Sopranen und
zwei Altos in der höheren Octave mitsingen zu lassen, oder um-
gekehrt! — es gewinne dann Alles an Glanz und an Fülle —
man solle es nur versuchen „audite, probate, acquiescite". An
Stelle dieses höheren (oder tieferen) zweiten Chores konnten dann
auch Instrumente treten — denn nur allmälig emaneipirte sich
das Orchester vom Singchore und von der Pflicht, blos zu „ver-
doppeln" oder zu ersetzen, wenn es an gehörigen Menschen-
stimmen für einen Part zufällig mangelte, wofür Prätorius Rath-
schläge und Schemata (Manieren) in grosser Ausführlichkeit giebt.
Als Verdoppelung ist es ferner zu verstehen, wenn in den
gleichzeitigen Anweisungen zum Generalbassspielen dem Spieler
erlaubt wird, „Octaven" anzubringen. Lodovico Viadana (der an-
gebliche Erfinder des Generalbasses) warnt indessen vor der Ver-
doppelung einer Cadenz mit der Octave, der Organist solle sie
dort machen, wo sie in der Singstimme steht, im Tenore, Bass
u. s. w. Im übrigen hat er gegen „Octaven" nichts einzuwenden.
So hatte man wie im Traum abermals ein Gesetz gefunden,
dessen Werth und Wichtigkeit sich erst zeigen sollte, als die
Polyphonie aufhört, die Alleinherrscherin (gelegentlich auch wohl
Tyrannin) der Musik zu sein.
Lag nun damals in der römischen Schule eine entschiedene
Neigung zur Stimmenhäufung, und konnte das Combiniren einer
grossen Stimraenzahl die geschickte Handhabung der contrapunc-
tischen Gesetze nur potenziren, so wurde jetzt auch wohl das
eigentliche blosse musikalische Kunststück in's Ungeheure, und
selbst bis in's Ungeheuerliche hinein getrieben — es tauchen Dinge
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Der italienischen Musik grosse Periode.
121
auf, gegen welche die Okeghem's und Josquin's mit allen ihren
Canon wundern so zu sagen schüchterne Anfänger sind. Vor allen
ist hier G. M. Nanini's Schüler, der Körner Pierfrancesco
Valentini (st. 1654) zu nennen. Seine monströsen Canonstudien
tragen zu dem neben ihrer ganzen ? ungeheuerlichen Anlage in
sehr charakteristischer Weise den Zug des damaligen Rom, welches
durch forcirte Kirchlichkeit gegen das Zeitalter des Mediceers Leo
reagirte, die Gelehrsamkeit, wie sie z. B. auch in Kircher s Musurgie
sich breit macht und den Barockzug der Kunst, sie sind in ihrer
ganzen Haltung wahre musikalische Berninismen und Borrominis-
men, würdig des Zeitalters, welches dem Pantheon Eselsohren
aufsetzte, das eherne Tabernakel von St. Peter, oder Kirchen ent-
stehen sah, wie S. Carlo alle quattro fontane — in einer Mono-
graphie über das Zeitalter Urban VIII. dürften diese Canons ja
nicht vergessen werden. Ein Hauptwerk P. F. Valentini's (welches
er der h. Maria dedizirte) wird schon durch den Titel charakte-
risirt, er lautet: „Sanctissimae virgini Dei matri Mariae, archi-
confraternitatis suffragii Patronae : Petri Francisci Valentini,
Romani, in animas purgatorii propriae et novae inventionis Canon,
quatuor compositus subjectis et viginti vocibus, quinque Choris
concinendus, qui ultra dictas viginti voces a pluribus etiam voci-
bus, choris et subjectis extendi et amplificari potest; Romae ex
typographia Andreae Phaei 1645." *) Diesen Titel rahmen vier
Notenzeilen ein, die vier Stimmen, jede kann als fünfstimmiger
Chor, und diese vier Chöre können als zwanzigstimmiges Ganze
gesungen werden, und damit ist es noch nicht zu Ende, durch
Verkehrungen u. s. w. wachsen dieser musikalischen Hydra
immer wieder ganz neue Köpfe. Wie das anzustellen, erklärt
Valentini in dem weitläufigen Texte des Foliobandes. Ihn zu
studieren, kann man wirklich nur den armen Seelen im Fege-
feuer zumuthen, für welche der Canon, laut Titels, bestimmt ist,
und hätte Dante das Buch gekannt, er würde sicher auf eine der
Terrassen seines Purgatorioberges eine Gruppe büssender unnützer
Zeitverschwender und Musiker, die keine sind, angebracht haben,
welche Valentini's fünfehörigen Canon in allen möglichen Ge-
stalten auflösen und absingen, wogegen aber sofort von den
übrigen Terassen aus Einsprache erhoben wird, indem man dort
gegen geschärfte Busse protestirt. Ein anderes Mirakel Valen-
tini's ist ein Canon „sopra le parole del Salve regina: illos tuos
misericordes oculos ad nos convertc (Rom 1629) — er lässt mehr
als 2000, sage zweitausend Auflösungen zu, Kircher theilt ihn
1) Fetis (Biogr. univ. Band 8 S. 293) gibt den Titel kurz und un-
genau: Canone a 6, 10 e 20 voci, Roma 1645. Ich gebe ihn daher (er ist
eine Merkwürdigkeit!) vollständig. Ein wohlerhaltenes Exemplar besitzt
P. Franz Haberl.
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122 De* italienischen Musik grosse Periode.
nebst vier Hauptauilösungen in seiner Musurgie mit. !) Ferner
ein „Canone nel nodo di Salomone a 96 voci" (Rom 1631). Man
sollte meinen, an 96 Stimmen sei eben genug, aber Athanasius
Kircher bringt heraus, man könne diesen Canon sogar zu 144000
Stimmen singen (! ! !) — dadurch werde er ein Gegenbild zu den
144000 Sängern, von denen in der Apokalypse die Rede ist.
Diesen mag man denn auch getrost die Ausführung überlassen!
Jene fromme Dedication Valentini's ist übrigens nicht das einzige
Beispiel in jener Zeit Der schon genannte Agostino Diruta de-
dizirte das zweite Buch seiner Vesperpsalmen seinem Schutzengel.
Auch dass der Componist alle seine Aemter und Würden aufzählt,
ist für die Zeit charakteristisch.
1)1. Theü S. 404.
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III.
Der monodische Styl in Ro:
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Der monodische Styl in Rom.
Knien wunderlichen, keineswegs sonderlich angonehmen Ein-
druck macht mitten in dieser römischen Musikwelt der „edle Deutsche"
„nobilis Germanus"), wie er sich nannte: Johannes Hierony-
mus Kapsberger, Componist im „modernsten Styl", ein Mann
nicht ohne mehrseitige, wissenschaftliche Bildung, berühmter Vir-
tuose auf der Theorbe und der Laute, der Guitarre und der Trom-
pete, aber auch der richtige grossprahlerische Charlatau, welcher
sich unter der Aegide seines Adelswappens, und durch dreistes,
selbstbewusstes Auftreten an die Grossen drängte, und alles daran-
setzte, um als Factotum der Musik obenan zu sitzen. Anfangs
hatte er in Venedig verweilt, wo auch seine ersten Compositionen
(Libro primo d'intavolatura di Chitarrone — 1604) an's Licht
traten. In der Stadt, wo Johannes Gabrieli, Giovanni Croce, viel-
leicht auch schon Monteverde glänzte, wollte es, wie es scheint,
nicht recht gelingen, dieses Licht nach Wunsch leuchten zu
lassen — Kapsberger begab sich nach Rom. Hier gewann er die
Neigung, ja die Bewunderung des grundgelehrten P. Athanasius
Kircher. *) Mit Ostentation machte er hier den ,,nobilis" gel-
tend ; in jenen Tagen Rom's, wo das hochvornehme Wesen eben
in vollster Blüte stand, war diese Taktik nicht oben ungeschickt.
Seine brillanten „Galanterien" auf der Theorbe und Laute, seine
Triller, 8] jmcopen, Tremoti, seine effektvoll mit Piano und Forte
abwechselnde Stellen u. dgl. mehr, fanden den vollsten Beifall der
Monsignoren, der Principi, der vornehmen Damen, und alles dessen,
was sonst in Rom obenauf war. 2) Kapsberger trat mit kluger Be-
1) Hieronymus Kapsbergerus , Gerraanus, innumerabilium fere qua
scriptorum, qua impressorum voluminum musicorum editiono clarissio-
nus, qui ingenio pollens maximo, ope aliarum scientiarum, quarum
peritus est, musicae arcana feliciter penetravit (Kircher, Musurg. VII.
2) Pers, alcuni de piü eccellonti moderni, che alle sottigliezze de con-
trappunti hanno saputo aggiangere, ne* loro snoni mille graziedi, tri Iii,
di strascichi, di sincope, di tremoli, di Ante, di piano e di forte e di
simili altre galanterie, da quelli dell eta passata poco praticale, come
hanno fatto nella presente il Kapsberger nolla Tiorba u. s. w. (Pietro
586.)
della Valle, bei Doni II 8. 254.)
126
Der monodische Styl in Rom.
rechnung als erzmoderner Componist auf. In der unendlichen
Keihe seiner Tonsätze treffen wir Schritt für Schritt Arien, Balli,
Gagliarde, Correnti, Passamezzi — musikalische leichte Mode-
waaren der Zeit — Unterhaltungsmusik. Er hing sich aber auch
an die Jesuiten und componirte für sie eine dramatische „Apotheose
des h. Ignaz von Loyola" und „des h. Franz Xaver". Er wusste
sich bei Urban VIII. Zutritt zu verschaffen. In der Sonnennähe
des Vaticans gerieth er denn endlich auch in die kirchliche Musik
hinein — 1631 wurde ein ganzes Buch vier-, fiinf- und acht-
stimmiger Messen in Folio gedruckt — „Missarum Urbanarum
lib. I" nannte er sie, wie er denn überhaupt Urban VIII. gegen-
über ein ganz eminentes Höflings- und Schmeichlertalent ent-
wickelte. Den Urban's-Messen reihten sich vier-, ftinf- und acht-
stimmige „Litaniae deiparae Virginis musicis modis aptatae" an,
denen freilich sechs Bücher Vilanellen für die spanische Guitarrc
auf den Fersen folgten.
Trotz aller Erfolge war indessen Kapsberger, wie es die Art
solcher zugleich ehrgeiziger und gemeiner Naturen ist, wenn sie
nicht alles Gewünschte erreichen, voll melancholischer Misslaune
und that sich in heftigen Ausfüllen gegen Leute und Dinge, die
er nicht leiden konnte, keinen Zwang an. l) Sehr begreiflicher
Weise wurde ihm von der Gegenseite mit gleicher Münze gezahlt. 2)
„Capisbergius", wie ihn Doni nennt, lief auf die Gunst des Papstes
rörmlich Sturm. Für's erste setzte er Urban's lateinische Poesieen,
welche dieser zu einer Zeit geschrieben, da er noch Cardinal
Maffio Barberini gewesen, in Musik. Es sind fast durchweg
religiöse, oder wenigstens ernste, religiös gefärbte Stoffe. Urban VIII.
ist der in's Barocco übersetzte Leo X., und es ist ein weiter Weg
von den lateinischen, wirklich virgilisch angehauchten Dichtungen
eines Sannazar oder Hieronymus Vida zu dieser barberinischen
— um nicht zu sagen: barbarischen Poesie voll Dunkelheit,
Schwulst, und Schwerfälligkeit. Kapsberger componirte diese
Dichtungen im modernsten florentinischen Stile recitativo — eine
Singstimme mit massigst beziffertem Bass. Das Opus wurde 1 624
1) G. L. Doni, bei welchem, allerdings eine ausgesprochene Antipathie
gegen Kapsbergor wiederholt hervortritt, erzählt von einem Schüler, der
eine Zeitlang Hausgenosse Kapsberger's war: Bomam se contulit, ubi cum
Capispergium musicam cum citharistica profitentem, aliquamdiu fuerit in
contubernio, morositatem illnis ac maledicentiam aversatus, cum
primum potuit, eo relicto, assoctari coepit Philoponum nostrum et (de
praest. mus. vet. Hb. I) Die starke Stelle weiterhin: „Choerili Uhus, quem
nostis, hominis audacissimi ac perfrictae frontis" u. s. w. scheint auch auf
Kapsberger zu zielen.
2) — novorat porra magna se flagrare apud syntechnitas suos invidia,
quos etiam non cessabat tamquam rüdes atque imperitos ubique acerbissime
insectari, quapropter tationem metuebat sciliect. (Doni a. a. 0.)
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Der monodische Styl in Rom.
127
gedruckt l) und die Dedicationsvorrede an Urban, welche Kaps-
berger voranschickte, wird für alle Zeiten als ein klassisches
Muster colossaler Schmeichelei gelten dürfen, in welchem dünkel-
hafte Selbstüberhebung und niedrige Kriecherei zu einem ganz
wunderbaren Gemische durcheinandergeknetet sind.2)
1) Der Titel lautet: Poem ata et Carmina, composita a Maffaeo Bar-
berino olim S. R. E. Card. — Nunc autem Vrbano Octavo P. 0. M.,
Mtisicis modis aptata a Po. Hieronymo Kapsberger, Nobili Germano.
Romae, cum Privil. et Superior. permissu MDCXX1V. Zum Schlüsse:
Roiuao apud Lucam Antonium Soldum. anno 1624. Dazu der Permess:
Imprimatur si placet Reverendiss. P. Mag. S. P. Apost. A. Episc. Hie-
racen. Vicegerens. Imprimatur Fr. Androas Biscionus Ord. Praedic. Socius
Reverendiss. iP. Fr. Nicolai Rodulfj Sacr. Patatij Apostolici Magistri."
Dass sogar die Poesieen des Papstes die Censur passiren mussten, ist für
die Zeit charakteristisch.
2) Sanctissimo Patri ac Domino Urbano Octavo Pont. opt. raax. —
Artes, quibus publica felicitas curatur ita B. V. suspexit. Apostolicus
Senatus, ut, tantarum virtutum admiratione imbutus, ci totius generis
bumani tutelam credendara esse censuerit. Nunc autem ex hoc libello
discere potest Europa, quibus studiis otium oblectare Sacri antistites de-
beant. Mirabuntur sapientes ex ingenio, quod assidue gravissima negotia
exercuerunt, carmina effluxisse, rix ab otioso oxspectanda et quae a nomine
corte hactenus Italia habuit. Pindaricum enim spiritum, latino ore to-
nantem, neque ab ipso Lyricorum principe urbs olim potuit audire. Mihi,
qui Davidis gloriam in Max. Pont, eruditiono reflorescere vidoo, curae fuit,
musicis numeris ea carmina modulari, quae dignas Pontificia pietate sen-
tentias complectuntur , semperque aut Sanctorum triumphos persequuntur
aut humanae pandunt oracula sapientiae. Musicen iampridem imprudicis
aut ludicris modis fractam tantae poeseos gravitate extollere conatus sum (!),
ut jucunda quadam severitate in oertos desipientis vulgi plausus aspernata
graviorum principum aures teneret, neque tarn saepe ex Antistitum cubi-
cnlis exturbaretur, tanquam ancilla hbidinis et obstetrix vitiorum (!).
Quicquid profeci, haberi malo observantiae monumentum, quam ingenii.
Id autem ©go ipse in scenain producere decrevi. neque Theatri iudicium
formidabo, cum volumen hoc ad studiorura decus et vitae felicitatem
exornare mihi liceat augustissimo nomine B. V., quam relifioso beatissi-
morum pedum osculo veneror. Deumque precor, ut quam diutissima sub
tanti Pont, imperio Cbristianas virtutes et bonas artes triumphare velit.
Romae die 5 Aprilis 1624. Sanctitatis Vestrae Beatissimos pedes osculatur
Humillimus Servus Jo. Hieronymus Kapsberger. Ein Exemplar des sehr
seltenen Dnickos tindet sich in der Musiksammlung der Chiesa nuova
(S. Maria in Valicella) zu Rom. Allacci erwähnt eines Manuscript ge-
bliebenen Bandes: ., Carmina Cardinalis Barberini nunc Urbani VIII., musi-
cis modis aptata." Also im Wesentlichen der gleiche Titel, wie bei dem
gedruckten Band. Vielleicht trägt das Fiasco, welches Kapsberger mit
seiner Invasion auf das Musikchor der sixtinischen Capelle macht, Schuld,
dass wir diese Fortsetzung entbehren, an welcher wir indessen schwerlich
viel verloren haben dürften. Der gedruckte Band enthält folgende Stücke :
de S. Ludovico, Franciae Rege — Poenitens — Paraphrasis in canticum
triam puerorum — de S. Laurentio ; Ode — Jesu mox morituri cum boa-
tissima Maria matre colloquium ; Ode — Paraphrasis in canticum B. Vir-
einis — in diem natalem Josu Christi — in maledictum , qui in nomen
Komae impie lusit — de nece Reginae Scotiao — Paraphrasis in canti-
cum Simeonis.
128
Der monodische Styl in Rom.
Es fällt freilich nach der Magniloquenz der Vorrede schlimm
ab, wenn wir Compositionen begegnen, wie folgende:
Paraphrasis in Canticum Simeonis.
Nunc tu - o jux-ta die - ta tu - a ser - vo sol-ve vi-
, 1
ta-les, pa-ter al - me ne - xus, cer- nit au-tho:rem me - a
=fc
1
lux sa - lu - tis ex • ci - pit ul - na.
I
±
Quem tuo regem populo parasti
Gentium lumen, tenebris fugandis
Gloriam David, decus et perenne.
Isacidarum.
Paraphrasis in canticum B. Virginis (d. i. das Magnificat).
Ad as-tra ße - gern coe - Ii - tum toi
:zt—
m
JL
-0-
1) Man beachte die Tonmalerei auf das Wort tollit — !
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Der monodische Styl in Rom.
129
n
— lit nie -um cor lau-di-bus et in De - o qui
1
de - tu - lit mi
-0-
hi
— r—
-V-
sa - lu - tem u. s. w.
2ii
Damit sollte die alte kirchliche Poesie, die alte kirchliche
Singeweise in Schatten gestellt werden!!
Die Musik Kapsbergers, deren Charakter er selbst in eine
, jucunda severitas" setzt, ist hier nicht schlechter und nicht besser,
als im Durchschnitte die Arbeiten der geringeren Monodisten der
Zeit — schwerfallig psalmodirende, hohl pathetisch declamirende
ßecitation, mit lastend herabziehenden, die Absätze plump mar-
kirenden Cadenzen. Der „Pontifex optimus maximus" — wie
ihn Kapsberger nennt, scheint gegen die Gabe nicht unempfind-
lich geblieben zu sein — und nun konnte der „edle Deutsche"
zu seinem Hauptschlage ausholen. Er hatte schon in seiner De-
dicationsvorrede die Stirne gehabt, sich der „ausgearteten" Musik
gegenüber als Reformator zu geriren, als zweiter Palestrina —
natürlich ist es die erhabene Poesie Urban's, welche dieser Musik
Kraft und lloheit geliehen ! Wie „klassisch" Urban gesinnt war,
zeigen seine Poesieen sattsam l). Kapsberger lag nun seinem
hohen Göuner in den Ohren — (mit kühner Stirne und beweg-
licher Zunge, wie Doni sagt): „Die Arbeiten Palcstrinas soien
1) Doch sind sie gelegentlich mit Concetti im Goschmacke der Zeit
aufgeputzt, z. B. das Gedicht „do nece ßeginae Scotiae":
Tu quamquam immeritam forit, ö Regina, socuris
Regaliquo tuum funus honoro caret
Sorte tua gaude, moorons nequo Scotia ploret
En tibi pompa tuas, quae docet exequias
Nam tibi non paries atro velatur amictu
Sed terras circum nox tenebrosa tegit
Non tibi contextis lucent funeratia lignis
Sed coelo stellao — Nenia tristis abest
Sed canit ad pheretrum snpernm Chorus aliger
Et me coolosti incipiens voce silere jubet.
Der letzte Pentameter ist ein Meerwunder, das Ganze überhaupt ein
Seitenstück zu dorn berühmten Distichon von „Rom und Florenz" in
den Münchner Arkaden.
Ambro», Geschichte der Musik. IV. Q
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130
Der monodische Styl in Rom.
in der That wohlklingend, aber in der Anwendung der (lateini-
schen) Textesworte roh, dergleichen dürfe man in dem so über-
aus feinen und gebildeten Jahrhundert („in politissimo hoc atque
urbanissimo seculo" — das letztere Adjektiv war gut gewählt,
im Säculum Urban's gleichsam!) am erhabensten Orte der Welt
nicht hören" u. s. w. Also auch Palestrina %in unklassischer
Barbar, wie vor ihm die Niederländer! Genug — Kapsberger
bot seine Kompositionen in ihrer klassischen Tadellosigkeit, zum
Ersatz. Allein die Sänger der päpstlichen Capelle erklärten laut
und öffentlich, diese Musik nicht singen zu wollen, und als sie
solche dennoch singen mussten, sangen sie (absichtlich) so elend,
dass Kapsberger kläglich durchfiel und ihm, wie Doni mit sicht-
licher Schadenfreude bemerkt, nichts übrig blieb, als seine Päcke
Musik zum Vergnügen der Mäuse und Motten in sein Haus zu-
rückschaffen zu lassen. ») Diese von Baini und Frftis kritisch
angefochtene Erzählung 2) erhält einiges Gewicht durch die Missas
Urbanianas, welche augenscheinlich, wenn die ganze Sache wahr
ist, bestimmt waren, die Messen Palestrina's aus dem Felde zu
schlagen. 3) Wie sich Kapsberger nach dieser vollständigen Nie-
derlage weiter benahm, ob er in Rom blieb, wo er sein Leben
endete — wir wissen es nicht.
Seine bombenfeste Eitelkeit dürfte ihm indessen bintiberge-
holfen haben. Es macht einen geradezu komischen Eindruck
auf den Titelblättern seiner gestochenen Compositionen, meist
Lautensachen, sein grossmächtiges Wappen prangen und ausser-
dem jedes Folium mit den Initialen seines Namens H. K. be-
zeichnet zu sehen. Ueberdies lässt er sich seine eigenen Sachen
von seinen Schülern und Freunden mit den lächerlichsten Lobes-
erhebungen dediziren (!). Gleich in der Vorrede der ersten, 1604
in Venedig gedruckten Sammlung sagt der Herausgeber, sein
1) Doni's Erzählung sehe man in Opp. I, S. 98, 99.
2) Baini (Memorie della vita etc. di Palestrina II, S. 645) meint:
man hätte die Compositionen Kapsbergcr's, wenn sie von den päpstlichen
Sängern hätten gesungen werden sollen, in die grossen Chorbücher der
Sirtina schreiben müssen, wo sie aber nicht zu finden seien. Es scheint
dieses kein zwingender Schluss zu sein — es waren ja noch keine offi-
ziell reeipirten Tonsätzc. und die vorgenommene Ausführung wohl nur
eine vorläufige Probe. Allerdings sagt Doni: „quare brevi res exolevit",
was anzudeuten scheint, als seien diese Gesänge eine Zeit lang im Ge-
brauch gewesen, ferner fällt auf, dass Urban VIII. — (prineeps) bei dem
Gesang anwesend gewesen sein soll.
3) Wie Fetis an die Gedichte Urban's denken mag, begreife wer
kann! Monodieen mit Generalbass für den päpstlichen Sängerchor!!
Und hätte Urban VIII. auch wirklich im Plane gehabt, Palestrina's Mu-
sik abzuschaffen, so konnte ihm, dem Oberhaupt der Kirche, doch nicht
im Traume einfallen, an Stelle des Ritualtextes seine Dichtungen, an
Stelle des „Magnificat anima raea Dominum14 sein „ad astra Regem coe-
litum tollit meum cor" zu setzen.
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Der monodische Styl in Bom.
131
Stiefbruder Jakob Anton Pfender: „la vaghezza et la novita di
questa maniera d'intavolare, che tanto al mundo piace et in cui
Vossignoria e ruiscita ecccllente" u. s. w. Kapsberger brachte
nämlich in der Intabulirung der Lauten Instrumente viele Modifika-
tionen und manche dankenswerthe Verbesserungen an, welche
dem P. Kircher wichtig genug erschienen, um in seiner Musur-
gie darauf einzugehen und dort verschiedene Proben Kapsber-
ger* scher Kunst und Art aufzunehmen.
Man mag von letzterer denken, was man will , und in der
That sehr wenig Gutes, man wird Kapsberger aber mindestens
das Zeugniss nicht versagen dürfen, dnss, wo er einmal seine
Thcorbe in den Winkel stellt und sich in höheren Gattungen
der Musik, als in Passamezzen und Gagliarden versucht, er sich
mindestens kein schlechtes Muster ausgesucht hat: Claudio di
Monteverde, den und dessen Musik er vielleicht noch in Venodig
kennen lernte. — Eines konnte er sich aber nicht geben, es nicht
erstudieren und es nicht nachahmen : Monteverde's Genialität.
Kapsberger ist ein aufmerksamer, sorgfältiger Nachtreter, er hat
Formen , Styl , Wendungen seines Vorbildes mit offenen Augen
angeschaut und ganz wohl verstanden, aber es fehlt bei ihm der
belebende Funke, es fehlt Erfindung, es fehlt Sinn für Klang-
schönheit. Sein madrigalcsker Styl ist allenfalls nicht ganz zu
verachten und es gelingt ihm mitunter etwas Pikantes, wie die
von Athanasius Kircher besprochenen (sehr unschuldigen) Quinten
in dem Madrigal: „fra dolcezze di morte e di dolore" — durch
welche das Concetto „der Süssigkeit des Todes und Schmerzes"
musikalisch illustrirt werden soll. Wo sich aber Kapsberger vol-
lends auf den neuen monodischen Styl verlegt, wird er meist
unglaublich armselig. In seiner holprigen Deklamation geht sein
Streben fast nur dahin, mit pedantisch ängstlicher Genauigkeit
den Sylbenquantitätcn seines lateinischen Textes gerecht zu wer-
den, er trommelt seine Rhythmen völlig herunter, seine Gesiinge
sind dürre metrische Präparate. Die Melodie trägt den Charak-
ter der damaligen, überhaupt wenig reizenden Melodik, ist aber
vollends der Schönheit bar. Die Harmonie ist sehr dürftig, sie
bewegt sich in wenigen Formeln und Accorden, und selbst inner-
halb dieser bewegt sie sich oft unbeholfen, ungeschickt und so-
gar fehlerhaft. Von dem dramatischen Ausdruck Monteverde's
findet sich bei Kapsberger keine Spur. Kapsberger war, wenn
kein glücklicher, so doch ein fruchtbarer Coraponist. Leo Allacci
bringt ein langes Verzeichniss seiner Arbeiten vieles ist ge-
druckt.
Wenn nicht das Hauptwerk, so doch sicher eines seiner
/lauptwerkc ist eben jene „Apotheose der Heiligen Ignatius von
1) Man findet es reproduzirt in Walthor's Loxicon, Seite 335.
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Der monodische Styl in Rom.
Loyola und Franz Xaver". Gregor XV. hatte 1622 den Stifter
des Jesuitcnordens unter die Zahl der Heiligen versetzt. Natür-
lich liessen sich die Jesuiten vor allem in Rom angelegen sein,
diese Heiligsprechung mit gedenkbarster Pracht zu feiern. So
fand denn auch im Collcgio Romano eine theatralische Aufführung
durch „die vornehmsten Jünglinge" und „besten Musiker" und
zwar fünfmal nach einander statt, und „gefiel jedesmal"; eben
jene von Kapsberger in Musik gesetzte „Apothcosis seu Conse-
cratio SS. Ignatii et Francisci Xaverii". Es ist kein Drama, denn
es fehlt darin an jeder Handlung — es ist vielmehr ein Pracht-
ballet mit Gesang, dessen Inhalt, wie der Titel besagt, die „Apo-
theose" der beiden Ordensheiligen bildete, in Costümen, Aufzü-
gen, Tanzen, Dekorationen und Maschinenwundern durchaus dem
überschwenglichen Prachtstyl entsprechend, womit der Orden seine
Kirchen und deren Ausstattung an Malereien und Sculpturen zu
überladen liebte; in seiner Art völlig das, was das von Pater
Pozzo gemalte spektakulös-brillante Deckenfresko der auch zum
Andenken an die Canonisirung gegründeten Ignatiuskirche in Rom
ist: „Der Triumpheinzug des heiligen Ignaz in's Paradies".
Es war der Stolz des Jesuitenordens, dass er über alle Welt-
theile seine Hand ausstreckte, dass er bei den Völkern der Erde
den mächtigsten Einfluss übte Die Verherrlichung der beiden
Heiligen durch die Nationen ist denn auch der Gegenstand der
Festvorstellung.
Den Anfang bildet ein Prolog — „Seena Campum Martium
Spectantibus offert, nube primum modica ac paulatim in imrnen-
sum se pandente e coelo in Scenam demissa, Chorus Aligerum 2)
sapientiae comos ad modos (canis!)." Ein Maschineneffekt grossen
Styls! Dazu Engelschor in den Wolken. Sofort erscheint die
1) Ein merkwürdiges Denkmal sind die zwei immensen Statuen-
f nippen, welche die Jesuiten für die Prager von Ferdinand Brokoff machen
essen : St. Ignaz und ihm gegenüber S. Xaver. Der erstere steht auf einer
Weltkugel, welcho von den durch Gesichtsbildung, Tracht und beglei-
tende Tnierc charakterisirten Wolttheilon in die Höhe gehoben wird u. s. w.
— S. Xaver ist vorgestellt, wie er eben einen indischon Fürsten tauft,
und dieser Taufakt wird hinwiederum von einer Gruppe von Chinesen,
Japanesen, Hindostanern und Malayen wio von einem riedestal gestützt
und in die Lüfte emporgehaltcn. Dio beiden grossprahlerischen Stücke
sind übrigens von trefflicher Arbeit. Es gehörte zum Ordonsgebrauch,
dem h. Ignaz. wo es anging, als „zweiten" den S. Xaver entgegen-
zustellen, so in jenen Prager Brückenstatuen, so im Gesu in Born, wo
der Altar des h. Ignaz im Schiff der Kirche an der Evangelienseite, ihm
gegenüber au der Epistelseito der des h. Xaver prangt. Für dio Jesui-
tenkirche in Antwerpen malte Rubens die zwei kolossalen Altarbilder,
deren eines Wunder des h. Ignaz, das andere Wunder des h. Xaver vor-
stellt und welche sich jetzt in der Gemäldegallerio des Wiener Belvedere
befinden.
2) Geflügelte Engel.
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Der monodisch© Styl in Rom.
133
Weisheit („Sapientia cum hasta et Clypeo Gregoriano" — also
offenbar wie eine Minerva angethan) und spricht den Prolog —
74 Verse, lateinisch, wie der ganze übrige Text —
— — quidqnid boni
Miratur orbis, oxtorae gentea colunt
Urbig saluti natus, atque orbia simul
Lojola peperit, impigrae gentis parens
Franciscus auxit incliti prolea patris.
Hi8 dum Quiritum rector et mundi arbiter
Gregorin s aras destinat, non haec mihi
Lux segnis abent, siquid in regno meo
Linguae boata copia atque artes valont
Amoeniores, exerceant vires auas
Magnoaque dictis asserant coelo Deos u. s. w.
Die „Sapientia" endet ihren Prolog und wird von einer
„aus der Erde hervorbrechenden Wolke" in den Himmel zurück-
gehoben l)j die eigentliche, von hier an durchweg mit Gesang
verbundene Darstellung besteht aus 5 Akten.
Ein kurzes, dreistimmiges Ritornell von Instrumenten, nichts-
sagend wie die Mehrzahl solcher Ritornelle, leitet ein. Auf einem
von weissen Pferden gezogenen Wagen erscheint Koma (Sopran),
ein Chor von 16 edlen Jünglingen folgt ihr, der Ajchitekt Me-
tagenes (Tenor) begleitet sie. Roma begrüsst den grauenden
Morgen des festlichen Tages mit einem Recitativ — der Chor
antwortet zwei- und vierstimmig. Dann gebietet Koma dem Me-
tagenes, den ßogus fiir die Apotheose aufzurichten ; der erste Aus-
ruf „sat est!" möge als rarer Fall, dass eine Art Nachahmung
des natürlichen Redetones versucht wird, nicht unbemerkt bleiben:
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1) Hic nubta alia ü terra oruinpöuü sapiontiaui iu cooluiu reducit.
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134
Der monodische Styl in Rom.
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Der monodische Styl in Rom.
135
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gu -sti - o - ro sur-gat in
coe-lum gra •
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Dies geschieht „mit grosser Schnelligkeit", während der Chor
das Lob der Heiligen preist. Sofort erscheint pcrsonificirt Spa-
nien (Sopran , wie alle übrigen Repräsentantinnen der einzelnen
Länder), Portugal auf Wagen, eine jede begleitet von 17 Jüng-
lingen. Die Spanier errichten dem h. Ignaz eine Trophäe von
Kriegswaffen „wie er sie weiland als Kitter geführt". — Die Por-
tugiesen bieten dem h. Xaver das Schiff an, welches ihn einst
nach Indien getragen. Wechselnde Chöre der Spanier und Por-
tugiesen und Waffentänze schliessen den Akt, für Jetzterc haben
die Chöre den Gagliarden - Rhythmus " | p" J^* * j
— Es ist aber zudem auch eine eigene, ziemlich ausführliche Ballct-
musik mit zahlreichen Wiederholungssätzchen zwischen die Chor-
gesänge eingefügt — armselig genug in Melodie und Harmonie:
Ballo.
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136
Der monodische Styl in Rom
Weder hier, »och weiterhin wird in den Chören auch nur
die Andeutung: eines Versuches gemacht (wie in jener Zeit auch
ein Mirakel wäre), die einzelnen Nationen durch die Musik zu
charakterisiren.
Der zweite Akt fuhrt auf einem Prachtwagen Indien herein,
begleitet von 17 Indianern, welche Bogen und Pfeile in Händen
halten; auf dem Kopf tragen sie als Zierde „a 1 Indiana" einen
purpurfarbigen Vogel („non finto ma vero e reale, venuto da quelle
parti — cosa rara a vedere in tauto moltitudine" bemerkt das
Programm). Sic bringen dem h. Xaver Perlen dar. Indien
selbst erscheint, wie Papageno's Grossmutter, ganz in buute Federn
indischer Wundervögel gekleidet. Die Musik zu dieser Pracht
und Herrlichkeit ist um so unscheinbarer — ein mageres Ritor-
nell zur Einleitung, ein steifes Recitativ Indien'«. Palästina mit
17 ,,allc Turchesca" gekleideten Begleitern opfert dem heiligen
Iguaz Weihrauch (!). Indien und Palästina singen ziemlich
lange in breiten Recitativen gegen einander, dann „Ritornclle"
(Balletmusik) und Tanzchöre mit einem Scheinkampf der Bogen-
schützen — plötzlich bilden die lndier aus ihren Bogen „in un
battcr d'oechio'* zu Ehren S. Xavcr's eine Erdkugel, auf der alle
Wclttheilc landkartenhaft abgemalt sich zeigen — , Jeder Bogen
war doppelt und lasstc den sechsten Theil des Globus in sich4*.
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Der monodische Styl in Rom.
137
In ähnlicher Weise bilden die Begleiter Palästina'« aus ihren Bo-
gen für Ignatius ein Schiff. Die Chöre wechseln hier mit ziem-
lich ausführlichen Ballctstücken.
Die dritte Abtheilung führt Frankreich ein, welches dem
h. Ignaz die „Seine44 (!) darbringt, zur Erinnerung, dass sich
der Heilige einmal, um einen Jüngling von einer tollen Liebe
zu heilen, in den eiskalten Strom zur Winterzeit getaucht. Um
seine Liebe zu symbolisiren, strömt aus der Urne der Flussnymphe
„feuriges Wasser44 (acque infocate). Japan, welches jetzt einzieht,
opfert, auf die Menge seiner Märtyrer anspielend, dem h. Xaver
Lorbeerkronen und Palmen. ,,Japonia" wird durch folgendes
lahme Ritornell angekündigt:
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Japonia.
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po-tens do -ctis in - cli - ta lau- di - bus sal -ve Gal-h-a u.s.w.
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Schwerttanz und Moreschen schliessen sich an.
Im vierten Akt erscheinen Italien und China. Italien bringt
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138
Der monodische Styl in Rom.
Blumen, China Seidenstoffe. Abermals ein Waffentauz mit Speer
und Schild. Die Schilde der Chinesen breiten sich aus und bil-
den Mauerwerk, aus dem ihre Trager sofort die berühmte chine-
sische Mauer erbauen. Die Chöre sind hier zum Theil einstim-
mig, dann zweistimmig, weiterhin aber sogar Doppelchöre zu
acht Stimmen:
Chorus Sinae.
So - le sum - mo- tos a - gi - tan- te cur-rus, im-bri- bus
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Chorus Italiae.
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Der monodische Styl in Rom. 139
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Chorus Sinae a 2.
Sol u - bi ae- qua-tis ra - di- ans ha - be - nis u. s. w.
Hier ist wenigstens ein Versuch gemacht, Contrastc fühlbar
zu machen, und das Unisonsätzchen der Chinesen ist anhörbar.
Zuletzt hebt eine Feuerwolke Italiener und Chinesen plötzlich in
die Lüfte „rappresentando in quella fiamrna la pro^zione d'Igna-
zio, che al cielo Ii guidau.
Am brillantesten gestaltet sich, wie billig, der 5. und zugleich
letzte Akt. Rom erscheint wieder, mit ihm Spanien, Portugal,
Indien, Palestina, Frankreich, Japan, Italien, China. Es tritt der
Bildhauer Pythis auf, ferner Gladiatoren (Secutor, Rctiarius). Mehr
als hundert Personen standen auf der Bühne — eine Fackel
wurde vorangetrageu , deren Flamme sich auf den Wink Roms
loslöste und gegen den Himmel flog. Pythis, der Bildhauer, er-
hält von Roma den Auftrag, die Bilder der beiden Heiligen zu
meisseln, was wiederum im Handumdrehen gethan ist — sie wer-
den auf den Rogus gestellt. Rom — das, wie es scheint, selbst
jetzt seine alten Passionen nicht vergessen kann, ordnet Gladia-
torenspiele an:
Nunc ubi contractas pulsat labor arduus auras
Felicior moles sacris
Altius impositis surgat geroinata colossis —
At vos, Quirites, interim
Antiquura in morem festo celebrate theatro
Pagnas duello ludicras
Ille hostem laqueo captet vel retia fundat,
Et lubricum piscem petat
Aut ft'rus impacta simulet Thrax vulnera sica
Dum Be secutor subripit.
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140
Der monodische Styl in Rom.
Unter Instrumentalmusik (Galliardenrhythmus) beginnt der
Kampf. Der Retiar wird verwundet und geräth in Noth; der
Secutor (Bassj fragt sein Publikum:
U > |> 1 1
Ver-tis ne Ro-nia pol-li-cem, an po-ti-ushuncmitti ju-besV
(Tromba.)
et
Das Publikum denkt menschlich:
_i !_- >_j:T^._4_ #,^t-j_a_-_j*-J—
Sat for- tis im prcs-suni tu - lit tuI - nus nec o - re
Sat fortis etc.
-E — h
Sat etc. (Gen. Bass mit dem Chorbass).
Der Kampf wird fortgesetzt; quid mea", ruft der lletiar,
„celero retia lapsu fallax becutor eflugis ?"
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Der monodische Styl in Rom.
141
Chor.
jt — *
f> ^ ♦ Li
Non te po - to pi-scem pe - to, qnid me fn-gis Gal-lo?')
/TS
Non te etc.
s-p p i p 1 1 p. r f
Non te etc.
(Generalbass unison mit dem Chorbaes.)
Der Rogus wird endlich angezündet — und jetzt entwickelt
eich der höchste Glanzmoment der Darstellung: der Himmel öff-
net sich, man sieht, während Koma und alle sie Umgebenden
knieend verehren, die beiden Heiligen oben in Herrlichkeit und
Verklärung, umgeben von den Heerscharen des Himmels. Die
Heiligen (Tenor) verheissen ihren Schutz:
S. Ignatius.
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Qui mor - ta - Iis ad - huc non ul - Ii de - fu - it
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ar- dor e - xi-gn -o mun -di com-ple -ms tem-po - rc me - tas
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i - gni- bus il - le De - o pro- pi - or me- Ii - o - ri - bus
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1) Ueber diesen Zuruf vorgl. Ludwig Pricdländer's „Darstellungen
aus der Sittengeschichte Rom's", 2. Theil, S. 386 — : „vermuthlich ist
dies unter entsprechender rhythmischer Bewegung und Musikbegleitung
gesungen worden'*. Es ist in die Gladiatoren szene des S. Ignazio viel
archäologische Gelehrsamkeit eingepackt.
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142
Der monodische Styl in Eom.
■ms-
or-bcm moe-ni -a cor-ri - pi - et nie - Ii - o- ri Ro-rau-la
1
flam-ma quae-que me-o ae-ternura ci - ne ri sub-je-cta ca-
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3
le - bit Gre- go - ri-umetmagnosser-va-bit flam-ma Qai-ri - tes.
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Hl
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Darnach Chor: „sie fides nostris, pietasque regnis" u. s. w.
und: „Gregori servet geminata regnum, servet et magno similem
parenti, vivat ut quondam simile senecta flamma nepotem".
S. Franciscus.
• —
Ex - pu - lit ho - sti -Im o - lim quae dex-te - ra tur-mas
2
t->— — m — r~-p-\-^-p—p—p—p—p—=-
-Z-M-*-*-*-
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ex - ci - vit-que i - te-rum pro-du - cta ad
mu-ne-ra vi-tae
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■V-
non ex - o - ra - tis jam-da-dum clau-sa se-pul-cris
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Der monodische Styl in Rom.
143
cor-po - ra et in - na - me-ras vi - ta - Ii flu - mi- no gcn-tes
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I
ab - In - it, haec gemmis au - ro-que in-clu - sa ni - ten - ti dum
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ti - bi ßo- ma ri - got pa - ri - ter ti - bi mi - Ii - tat u-
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ni Gre - go - ri - um et ma - gnos
mm
- per te-
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ctu - ra Qui - ri - tes.
Der Chor:
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Sic fl-dea no-stris pie - tas-quo ro - gnisu. b. w.
i
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F
wird wiederholt und schliesst die Darstellung ab.
Die Zuseher, an die mageren Incunabeln der Monodie ge-
wöhnt, scheinen es zum Glück nicht empfunden zu haben, wie
unscheinbar sich Kapsberger's Musik neben der Pracht der Aus-
stattung ausgenommen haben rnuss.
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144
Der monodische Styl in Rom.
In demselben Jahre 1622, wo die „Apotheose" aufgeführt
wurde, trat Vittorio Loreto in das Collegium der päpstlichen
Sänger ein. Auch er componirte für die Jesuiten einen „heil.
Ignaz von Loyola", den wir indessen nur aus einem Briefe des
Erythräus kennen l). Er erzählt über die Auffiühruug pikante
Details. Es war diesmal kein allegorisches Spiel, sondern das
dramatisirte Leben des Heiligen, was Manche tadelten, „weil der-
gleichen nicht aufs Theater gehöre, sondern besser den Predi-
gern vorbehalten bleibe". Viele nahmen besonders an der öfte-
ren Erscheinung Christi Anstoss. Erythräus selbst fand die Poe-
sie mittelmässig, desto vortrefflicher die Musik seines vergötterten
Loreto. Ein Beweis, wie sehr sich die Menge bei Schauspielen
dieser Art bereits an Pracht und Glanz gewöhnt, ist, dass man,
obwol die Jesuiten es schwerlich an dem ihnen gewohnten Prunk
hatten fehlen lassen2), „die Ausstattung nicht reich genug finden
wollte". „Christus", meinte man, „hätte in den getheilten Wolken,
umglänzt von Licht, umgeben von Engelchören erscheinen, —
die geöffnete Hölle hätte Flammen, Dämonen, Schlangen sehen
lassen, die Personifikation der Gegend der Antipoden hätte als
königliche Figur im Aufzuge eines Attalus mit einem Gefolge
von Elephanten und Reitern auftreten sollen". Trotz solcher
Ausstellungen nahm ganz Rom das lebhafteste Interesse. Der
Generalprobe sollte nur eine Elite von Kennern und Kunstfreun-
den beiwohnen, „es drängten sich aber gewaltsam gegen zwei-
tausend Personen hinein, welche von der Herrlichkeit des Ge-
schauten und Gehörten nicht genug zu sagen wussten. Zur Auf-
führung strömte denn auch „fast die ganze Stadt herbei" — die
Zuschauerplätze wurden mit Sturm genommen, in den für die
Kardinäle vorbereiteten Sammetfauteuils räkelten sich grobfäustige
Trasteveriner , die keine Gewalt hinauszuschaffen vermocht hätte
— es war ein Lärm, „dass man von dem Werk nicht mehr hörte,
als hätte die Vorstellung bei Stadisis stattgefunden, wo die Ka-
tarakte des Nil die Anwohner betäuben". Die nächste Auffüh-
rung fand denn mit bedeutenden Vorsichtsmassregeln statt, eine
starke Abtheilung Schweizer bewachte den einzigen Eingang,
der diesmal geöffnet war, man Hess nicht mehr Zuseher ein , als
Plätze zur Verfügung standen, man schloss endlich das Thor,
vor dem die ausgesperrte Menge vergeblich tobte. Diesmal wurde
Alles mit grösster Aufmerksamkeit angehört. Bemerkt mag wer-
den, dass der Berichterstatter Erythräus das grösste Gewicht auf
den moralisirenden Zweck der Vorstellung legt: „Bussgeist, Liebe
zur Tugend, Abscheu vor der Sünde zu wecken".
1) Erytbraei, Epp. ad diversos IV. Buch, Brief 37. 3. auch Lindner's
trefflichen Aufsatz „Ritter Vittorio Lorito" („zur Tonkunst'1, S. 51).
2) Erythräus bezeichnet dit< Szene als „magnificentissima".
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IV.
Die Musikreform und der Kampf
gegen den Contrapunkt.
Ambro«, Geschichte der Masik. IV. JQ
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Die Musikreform und der Kampf gegen
den Contrapunkt
Eine neue Zeit war beiangekommen, und in der Entwick-
lungsgeschichte der Musik trat ein Umschwung ein, eine Oppo-
sition gegen das Bestehende und eine Reformbewegung, deren
Ziel eine Tonkunst ganz neuer, auf ganz anderen Fundamenten,
als den bisherigen beruhenden Art war. Sie beginnt, in runder
Zahl ausgedrückt, mit dem Jahre 1600. Es ist eine Epoche, bei
der man von vorne zu zählen anfangen muss. Dieser nicht ohne
Leidenschaftlichkeit gegen den Contrapunkt im Namen einer nach
antiken Autoritäten und antiken Kunstprincipicn zurückgreifenden
Tonkunst geführte Kampf ist das genaue Gegenbild der um zwei-
hundert Jahre Hlteren Bewegung, welche man als die „Renais-
sance" bezeichnet. Wie immer kömmt auch diesmal die Musik
als Nachzüglerin der anderen Künste. Die Renaissance beginnt
in Italien (wieder in runder Zahl ausgedrückt) mit dem Jahre
1400, sie dringt ein Jahrhundert später siegreich in Frankreich
nnd Deutschland ein; hier und dort, als die Ideen, welche dio
ausschliesslich bewegenden des Mittelalters gewesen waren, ihre
beherrschende Kraft eingebüsst hatten. Die florentiner Refor-
matoren der bildenden und bauenden Künste von 1400 wären
bei der allgemeinen Strömung, welche die Geister fortriss, sicher
gleichzeitig als Musikreformatoren aufgetreten, hätte die Musik
der Italiener nicht bis nach 1500 in den Windeln gelegen und
wäre sie dann nicht von der hochausgebildeten niederländischen
Tonkunst durchaus abhängig und bedingt gewesen. Als die Musik
sich endlich aufmachte, um sich der Bewegung anzuschliessen,
war die Jugendfrische, der erste Enthusiasmus der Renaissance
lange vorbei, sie hatte ihren Höhepunkt lange hinter sich und
hatte sich in der Bildnerei und Architektur bereits in's wildeste
Barrocco verlaufen, das Leben hatte den freien, poetischen Hauch
längst gegen schwülstige, selbst zum Theile ungeheuerliche For-
men vertauscht. Es war für die Dichtkunst die Zeit der Mari-
nismen, Gongorismen und Euphuismen, es war die Zeit der Borro-
minismen nnd Berninismen in der Architektur und Sculptur, der
steif vornehmen ceremoniösen Etikette in der sogenannten guten
10*
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148 D*0 Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
Gesellschaft, der tellergrossen spanischen Halskrägen, der „Gänse-
bäuche", der Guard'-Infantes und Flatterspitzen. Die neue Musik
begann bald nach ihrem allerersten Anlauf, welcher mitten in
jener seltsam unnatürlichen Welt durch seine reinen, edlen Ziele
und sein Streben nach Einfachheit und Wahrheit überrascht, aller-
dings wenigstens einen Reflex vom „Geiste der Zeit" zu zeigen.
Aber sie steht im Ganzen trotzdem den gemeisselten Virtuosen-
stücken, dem Spiel geschwungener Linien und den zuweilen
geradezu tollen Phantasiespielen der Bau- und Dccorirkunst mass-
voll gegenüber. Sie durfte auf dem ihr neuen Boden eben keine
so kecken Sprünge machen, wie ihre Schwesterkünste auf dem
ihnen längst gewohnten. Ihrer Mittel war sie nicht entfernt so
sicher, wie jene, welche mit dem, was zwei Jahrhunderte einer
hohen Kunstblüte für sie errungen, iibermüthig verschwenderisch
umgehen durften, während die Musik erst noch Alles mit Mühe
und Arbeit für sich zu erwerben hatte.
Die bildenden Künste brauchten, sobald jene geistige Strö-
mung eingetreten war, das ihnen vom Alterthume hinterlassene
Erbe nur kurz und gut anzutreten — noch standen die Trümmer
der einstigen Herrlichkeit Rom's mit ihren Formen und Verhält-
nissen der zeichnenden und messenden Hand des Architekten zur
Verfügung; die Marmorgestalten der Antike feierten eine nach der
andern ihre Auferstehung aus dem Trümmerschutt, in welchen
die Verwüstungen, die über Rom hingegangen, sie begraben hatten.
Die Dichter, die Geschichtschreiber, die Redner des Humanisten-
zeitalters fanden ihre Muster iu den Dichtern, Geschichtschreibern
und Rednern des Alterthums, deren Werke durch den Eifer eines
Poggio und Anderer aus vergessenen Winkeln, aus düsteren Kloster-
bibliothoken und woher sonst gezogen worden und seit der Er-
findung des Buchdrucks und besonders seit Aldo Manucci's rühm-
licher Thätigkeit auf diesem Gebiete für Jedermann zugänglich
geworden waren. Ganz anders die Musik. Die schwierigen Theo-
rieen, welche sie bei völligem Mangel an wirklichen Musterwerken
aus dem Alterthume überkam, waren weit eher geeignet, sie zu
verwirren und in ihrer Entwickelung zu hemmen, als sie zu for-
dern. l) Der an die alten theoretischen Schriften sich anhängende
1) Die Vorkämpfer der musikalischen Bewegung dachten, wie natür-
lich, ganz anders. Die Parallele, welche G. B. Doni (do uraest. mus. vot.
S. 11 u. f. der Ausgabe von 1647, Seite 84 u. f. im 1. Bande der Gesammt-
ausgabe von 1763) zwischen den noch vorhandenen Schriften antiker Au-
toren über Musik und den Schriftstellern des Mittelalters und weiter bis
auf Glaroan zieht, ist d» r stärkste Ausdruck dafür. Jone sind der Inbe-
griff aller Weisheit, die andern sind Barbaren „qui no somniarunt quidem,
quid esset eloquentia aut doctrina politior*' und die vielleicht nur durch
oio „seculi illius, quo vixerunt, infelicitas" zu entschuldigen sind. Glarean,
der doch täglich reine und elegante Schriftsteller zur' Hand zu nehmen
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 149
Kram gelehrter archäologischer Notizen über Dinge, welche nur
äusserlich auf Musik Beziehung haben, die immer wieder nach-
erzählten antiken Musikanekdoten und Musiklegenden, die gläubig
hingenommenen Wundergeschichten machten die Sache um nichts
besser, und was man bei Piaton an legislatorischen Aussprüchen
über die Tonkunst, deren Werth und Anwendung fand, wurde
zwar mit unbedingtester ehrfurchtsvoller Zustimmung angehört,
als Gesetz voll Gehorsam entgegengenommen, wollte aber in eine
gänzlich veränderte Welt und Weltanschauung hinein doch nicht
recht passen.
Zudem konnten aber die musikalisch-antikisirenden Reform-
ideen erst dann Wurzel fassen, als die ältere Richtung der Musik,
welche vor Jahrhunderten ihren ersten Anfang im Kirchengesange
genommen, ihre höchste Entwickelung kurz vorher in PaJestrina
und der um ihn geschaarten römischen Schule gefunden hatte,
über diesen letzteren Punkt hinaus war' und anfing, nach neuen
gewohnt war, ist gar nicht gonug zu schelten, weil er — Worte braucht
wie: „Semiditas pro semissis ablationc, imperficore atque imper-
fici. ubi de notis perfectis atquo imperfectis loquitur — prava haec
Scabies et inquinatum loquendi genus, quo recentiores musurgi fatali
quadam vecordia utuntur; cujus contagione videlicet sua ipsius scripta,
satis alioqui proba et casta, bonus illo Helvetius infici non animadvertit."
Ueber Anstoxenus ist Doni ganz ausser sich: „ex postorioribus autem
philosophis unus etiam Plutarchi de musica Uber etiamnum fertur: sed
adeo rerum cognitu dignissimarum refertus, ut eo majus tot in simili genere
amissorum excitet desiderium. Aristoxeni vero, Dens bone, quanti, qualisque
viri! non dico nunc Philosoph], aut Mathematici, aut vitarum scriptoris,
sed Musici, immo Musico rum omnium quotquot unquain fuerunt
sine controversia prineipis; quid nisi tres elementorum harmoni-
corum libelli, nec ii quidem satis integri et pauca quaedam fragmenta
jam supersunt? in quibus tarnen is ordo, eaque methodns ac proprietas,
orevitas et perspicuitas sermonis elucet, ut Aristo telis diseipulum facile
agnoscas. — Suidas quinquaginta tres supra quadringentos libros
ab eo conscriptos prodidit, quomm plerique ad rem musicam (cujus omnes
partes solertissirae pertractavit ac digessit) pertinuisse ridentur. 0 jac-
turam deplorandam! 0 infelicem sortem tuam, Aristoxene!" — Dio Kunst-
ausdrücke der neuen Musik sucht Doni durch wahro Prachtausdrücke an-
tiken Klanges zu ersetzen, denen er indessen nothgedrungen die herkömm-
lichen in Klammern beisetzt, weil sonst kein Mensch verstanden haben
würde, was er meint. So wird das Ciavier zum „Polyplectrum14 — ein
Ausdruck, welchen hernach auch Athanasius Kircher verwerthet — wir
lesen: „Symphoniurgium seu Contrapunctum" — „Syraphoni-
urgorum, sertinacia, quos Componistas Papius vocat" — ,.in vulgaris
Pcctidis chalcocoröae (quam Citaram vocant) et in Cholonidis
Hispanicae (quam Chitarram graeca paene pronuntiationo appellant)
syncrusibus" — „homophoneseon (quas Pugas vocant) propin-
quita.s" — eine Motette heisst „Prosodia" — ein Madrigal heisst ,,Scoli-
asma4'; ein Ritornell „Mesocitharisroa"; der Generalbass ,,Hypatodia orga-
nica"; die Cadenzen worden bezeichnet in clausulis, quas Syncata-
gogas graect» rectius dixeris. (Dio bezüglichen Stollen: Opp. 1 S. 90,
91, 98, 219, 233, 243 u. s. w.)
150 Die Musikreform uud der Kampf gegen den Contrapunkt.
Ausdrucksmitteln zu suchen. Eine neue Entwickelung der Musik
that noth — das fühlte jedermann, aber auf den alten Wegen
war sie nicht zu finden, denn hier hatte die Musik ihr Höchstes
schon erreicht; was noch nachfolgte, war folgerichtig im besten
Falle Wiederholung, noch öfter aber Ausartung oder bedenkliehe
äusserliche Potenzirung. Letztere bei allen Künsten war jeder-
zeit ein sicheres Zeichen des nahe bevorstehenden Sturzes.
Die reformatorische Bewegung, welche 1600 zunächst in
Florenz unaufhaltsam losbrach, hatte sich in ihren ersten, einst-
weilen kaum merklichen Symptomen hundert Jahre früher in
Oberitalien angekündigt. Die ganze Richtung der „Frottole"
kann, trotz einzelner, an Niederländisches mahnender Züge, doch
kaum anders verstanden werden, denn ab Opposition gegen die
nach Italien importirte, alle Kirchen, alle Fürstenhöfe beherr-
schende niederländische Musik. Gerade jene Stücke, die, ohne
Text, als Aer de Capitoli, Aer de Sonetti u. s. w. bezeichnet und
gleichsam musikalische Futterale sind, in welche man beliebige
Terzinen, Sonette u. s. w. einpacken kann, mögen wohl als erster,
leiser Versuch gelten , die Poesie aus den Banden des Contra-
punktes zu befreien und ihr zu ihrem Rechte zu verhelfen. Wenn
Cyprian de Rore, Luca Marenzio u. A. Sonette im herkömmlichen
contrapunktischen Styl componirt hatten, gingen die Sonette mit
ihrem Versmaassc, dem melodischen Wechselspiel ihrer Reime
u. s. w. aus Rand und Band. Im „Aer de Sonetti" sollte Alles
dieses wieder merklich oder doch merklicher weiden. Ucber-
haupt zeigen die von den Bewunderern des Contrapunktes tief
verachteten Frottole in echt italienischer Weise, gegenüber dem
organischen Constructionsstyl der Niederländer, ein Streben nach
proportionirtem Raumstyl — erster Theil mit Wiederholung, zweiter
Theil u. s. w. Der Contrapunkt folgt seinem Cantus firmus
Schritt auf Schritt, gleichviel wohin der Weg führt; hier aber,
bei den Frottolen, kündigt sich musikalischer Periodenbau an, der
den Tonstoff nicht Schritt nach Schritt in Einzelheiten, sondern
nach ganzen Constructionsgruppen behandelt.
Aber um 1500 war der Kampf noch ein gar zu ungleicher!
Die niederländische Musik verscheuchte mit leichter Handbewe-
gung den ganzen Insektenschwarm dieser Frottole, welcher ihr
um die Ohren summte. Die wirklichen Talente in Italien, wie
Costanzo Fcsta u. s. w., wurden gelehrige Schüler der Niederlän-
der. Unter ihren Händen bekam die Musik allerdings allmählig
eine etwas andere Physiognomie. In einer neuen Redaction,
als „Palestrinastyi", beherrschte der niederländische Styl abermals
die gesammte Tonkunst. Im Madrigal begann sich aber jene,
wohl zurückzudrängende, aber nicht zu beseitigende Neigung des
Italieners für den „proportionirten Raumstyl" (die sich z. B. auch
in seiner Behandlung der Gothik so eigen und in so höchst
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Die Musikreform und der KAmpf gegen den Contrapunkt. 151
merkwürdiger Weise zeigt) wieder zn regen Bei den späteren
Madrigalisten überrascht oft schon ein gewisser moderner Musik -
klang. Vollends liedhaft gestalteten sich die Vilanellen, die ihren
Ursprung aus dem Volksliede nicht hinter künstliche ('(Instruc-
tionen verstecken durften. Aber alles dieses stand noch unter
dem Regimente des Contrapunkts, der Polyphonie — mit letzte-
ren aufzuräumen fiel noch Niemandem ein. Noch Franchinus
Gafor und seine ganze Zeit war ehrlich der Meinung gewesen,
dass die antike Musik der Griechen genau so ausgesehen und
geklungen habe, wie der allübliche neue Contrapunkt. Jo-
hannes Otto in Nürnberg beruft sich, in einer Vorrede zu einem
von ihm publizirten Buch niederländisch-contrapunktischer Messen
von den besten Meistern der Zeit, zu deren Lob, Preis und künst-
lerischer Rechtfertigung auf eben die Grundsätze Platon's, welche
die Florentiner zitirten , um dieselbe Musik als barbarische Ver-
irrung anzuklagen und zu stürzen. Denn auf nichts Geringeres
war es abgesehen !
Aber statt der von den Florentiner Kunstfreunden gewünsch-
ten und gehofften Wiedergeburt der antiken Musik wurde die
ganze Reform eben nur der Ausgangspunkt einer neuen Ent-
wickelung, durch welche die Tonkunst völlig neue, bisher nicht
einmal geahnte Gebiete erobern, neuer Mittel mächtig, neuen
Ausdruckes fähig, aber der antiken Musik womöglich noch un-
ähnlicher werden sollte, als sie bisher ohnebin schon gewesen.
Es ist eine merkwürdige Analogie zwischen der Art, wie sich
die neue Reform- oder Renaissancebewegung der Musik äussert,
und jener, wie sich die ähnliche Bewegung auf dem Gebiete der
Architektur und der bildenden Kunst ihrer Zeit geäussert hatte.
Die historischen Darlegungen, die ästhetischen Auseinandersetz-
ungen, die Klagen und Anklagen, die Ausfalle gegen den „Con-
trapunkt" und dessen Pfleger und Vertreter sind ein völliges
Echo der leidenschaftlichen Angriffe Filarete's, Vasari's und An-
derer gegen die Gothik, welche ja, gleich dem Contrapunkt, mit
welchem sie die gleiche Heimat hatte, eine „oltremontane" , das
heisst, nach damaligen italienischen Kunstansichten, auch eine von
den Barbaren, welche in Italien von Norden her eindrangen, ein-
geschleppte, an Stelle der allein wahren und echten (das ist der
antiken) gesetzte Kunst war. Sei doch die Kunst des Contra-
punktes in „rohesten Zeiten" entstanden und „unter Menschen,
welche aller gelehrten, aller feinen Bildung bar gewesen und
schon durch ihre entsetzlichen Namen Hobrecht, Okeghera u. s. w.
ihre Barbarei verriethen". l) Mit deutlichen Rerainiscenzen an
1) ..Essendo nata" (die Contrapunktik) „in tempi roziasinri, e fra
uomini a'ogni sorte <ü letteratura e gentilezza nudi, e cho con Ii nomi
stessi dimoatrano ia loro barbarie Hebrocht (so!), Ogheghen." (Ü. B. Doni
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152 Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
Vasaris Proemio schildert Doni, wie einst alle Künste durch die
Wuth der Italien tiberschwemmenden und verwüstenden Barbaren
(bararorum furor ac rabies) untergegangen seien. An Stelle der
schönen, edeln, wohlgeordneten Baukunst der Römer setzten sie
(sagt Doni) ihre barbarische, bis Filippo Brunelesco statt dieser
„dummen deutschen Manier" (goffa mauiera tedesca) die „wahre
und echte Art der Griechen und Kömer zu bauen" einführte und
Giotti die gleichfalls ganz verloren gewesene Malerei wieder
erweckte — jetzt erlebe (fährt Doni fort) die Musik eine ähn-
liche Wiedergeburt, aber allerdings erst spät ! l) Oder vielmehr
Tratt. de la mus. scen. Band II. Appendice S. 8.) Niederländische Na-
men erregten durch ihren Klang aucn sonst die Spottlust der Italiener.
„Nomi da fare sbigottire un cane" sagt Francesco Benni in einem gegen
Hadrian VI. gerichteten Spottgedicht (Op. burlesche I, 66).
1) Die Analogie zwischen Musik und Baukunst war den Italienern
geläufig. Auch Zarlino bemerkt: „diro solamente. che se l'Architettore
non bavesse cognitiono della Musica, come ben lo aimostro Vitruvio, non
saprebbe con ragione fare il temperamento delle machine, e ne i Theatri
collocaro i vasi et dispor bene ot musicalmente gli edificij." In-
stit. harm. I. cap. 2). Mehr als hundert Jahre früher hatte Loo Battista
Alberti . der „Vater der Renaissance-Architektur", gesagt, man könne an
seinen Entwürfen nichts ändern: „senza sconcertar tutta questa musica."
Und so kömmt auch Doni darauf mehr als einmal zu sprechen. So sagt
er (de praest. m. v. S. 43) : „Quod si alio propositum meum urgeam
argumenta, ex comparatione scriptomm recentium, cum antiquis petito;
an hic quoque nagaXoyfil^t&at videbor, atque nogari? Aio : quibus tem-
poribus facultatis alicujus praecepta ac theoremata apte, diserte, copiose-
que tradita sunt, eam facultatem seu disciplinam in ipsomet opere ac
praxi praestantem, consummatamque fuisse. Ecce en im Architccturam,
quo tempore non defnerunt scriptores, qui commentariis suis eleganter
copioseque explicarent, ut Augusti seculo fecit Vitruvius, proxime supe-
riori Serlius, Palladius, Scamotius, aliique, opera quoque illius atque eno-
ctionem non disparem fuisse, ex ipsismet aedificiis satis apparet. Inter-
mediis autem temporibus, hoc est post magnam illam mundi catastro-
1>hem , usque ad XV. Saeculum (quibus, si qui exstant architectonici
ibri. inconditi plane sunt atque impoliti) opera, auae videmus — Deus
bone! — quam sunt absurde et ruditer aedificata! Hoc igitur posito,
quod verissimum est, si veterum commentarii de rebus musicis, qui super-
sunt, posterioribus antecellunt, ordine, perspicuitate (!), brevitate (l), ele-
gantia, doctrina; inflciari certe non possumus opera quoque ipsa, hoc
est cantus, ac modulationes , recentionbus. quas quotidie audimus, prac-
stitisse". Dies ist echt Doni'sche „Logik" 1 ! — Und wieder an einer an-
deren Stelle (S. 75}: ,,An tu quaeso defuisse credis post annum Christi
millesimum, Tel tribus aut quatuor ante hoc nostrum seculis, cum nondum
vetus ac vera architectandi ratio restituta esset, qui cum Maurorum spa-
tiosissima quaedam templa, aut nostrorum ingentes basilicas, plerasque
Germanicis aut etiam Arabicis moduUs exaedincari conspicerent, turres-
que etiam altissimas de industria sie inclinatas, ut jamjam casurae Tide-
antur (quales Pisis ac Bononiae supersunt) majorine audacia an solertia
attolli ; modica Graccorum ac Romanorum delubra non despicerent?" Mit
diesem Argument will nämlich Doni die Bewunderer der neuen, reichen,
TieBiünstlichen Tonsätze gegenüber der (geträumten) einfach-edeln, antiken
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt 153
es sei diese Wiedergeburt vorläufig leider mehr zu wünschen, als
zu hoffen. Forschende Gelehrte und fürstliche Männer — seufzt
Doni — müssten zu solchem Zwecke zusammenwirken. *)
Es scheint eine Eigenheit der Musikreformatoren aller Zei-
ten, dass sie ihren im Sinne der beabsichtigten Reform compo-
nirten Musikwerken förmliche Manifeste in Form von Vorreden
voranstellen, wenn sie nicht gar ganze Bücher schreiben, worin
sie über die leitenden Grundsätze ihrer künstlerischen Intention
Rechenschaft ablegen. Anhänger finden sich, und bald häuft
sich neben den Kunstwerken eine ganze commentirende, apologe-
tische, panegyrische und polemische Literatur auf. 2)
Musik schlagen. Sich selbst übertrifft er aber (S. 33), wo er die Verwerflich-
keit der neuen Musik von der Ursache herleitet, dass sie zugleich mit
den Kanonen erfunden sei ! ! „Non dico inter horribiles bombardarum
strepitus obsurdescere quodammodo atque bebetari Musicorum aures; quod
ne frivolum et commentitium vobis videatur, scitote vehementiores ejus-
modi sonos, experitorum sententia mnltum revera auribus officero, quorum
sensus est delicatissimns , ac levioribus etiam ex causis debilitari solet.
Adjicite nunc, si symbolismis uti libet, recentiorem hanc musicam eo
8ubortam saeculo, quo ferale istud ac tartareum invontum prodiit" —
u. 8. w.
1) Einmal fahrt Doni (a. a. 0. S. 33) heftig genug gegen die Fürsten los:
„cum tarn apovooi sint qui sceptrum tenent ätozQ«p4eg ßaotkelq." Und
warum? Früher schon (S. 26) hat er gesagt: „Immo vel in hoc etiam demi-
rari ac deplorare licet miseram hodicrnae musicae conditionom, cujus nobilior
ac certe dignior portio adco pauco3 invenit amatores sui : cum longe ignobilior
ac vulgatior ejus pars, quae vel nudara continet copulandarum consonantia-
rum rationcm, vel meram praxin usumque canendi, a maxi in is quibus-
que ferme Christianae Reipublicae Principibus tanto in pre-
tio nunc habeatur". Wenn Josquin, Mouton, Willaert u. A. nach
Doni'schem Censns eben nur für „Barbaren" galten, so konnten natürlich
ihre forstlichen Gönner und Beschützer auch nichts Besseres sein! —
Auf diese Gönnerschaft der Grossen spielt Doni wiederholt an.
Die Aristokraten der Geburt und des Reichthums sollten mit den Aristo-
kraten des Geistes ein Bündniss schliessen. Es sollte eine Kunst der Op-
timaten entstehen; was wueste der grosso Haufe von Piaton?
2) Die bedeutendsten gleichzeitigen Schriften über die Florentiner
Musikreform sind:
a) Vorrede des Giulio Caccini zu seiner Oper Euridice. 1600.
b) Vorrede des Jacopo Peri zu seiner, nach demselben Texte coro-
ponirten Euridice, 1600.
c) Vorrede zu Emilio del Cavaüere's musikalischem Drama „del ani-
ma e del corpo." 1600 (von Guidotti).
d) Vorrede des Giulio Caccini zu seiner Sammlung monodischer Ge-
sänge „le nuove musiche" (1601. richtig 1602).
e) Dialogo di Vincentio Galilei nobile Fiorentino della musica antica
e moderna, erste Ausgabe 1581, zweite vermehrte 1602.
f) Vorrede des Marco Gagliano zu seiner Oper „Dafne" (1609).
g) Die „Pinacotheca" und die Dialoge (dialogi septendoeim, Köln
1645) des Janus Nicias Erythräus (Giov. Vitt Rossi). Dazu noch manche
Stellen seiner Briefe (Epist. ad diversos).
h) Jo. Bapt. Doni, patricii Florentini : de praestantia musicae veteris
154 Dio Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt
Der Wunsch, welchen Baldassare Castiglione im ersten
Drittel des 16. Jahrhuuderts ausgesprochen, ein Edelmann (cor-
tigiano) solle auch ein guter Musiker sein, hatte sich bald ge-
nug, schon im letzten Drittel des Jahrhunderts in Florenz in
hohem Grade erfüllt. Es gab in der feinen Florentiner Gesell-
schaft und insbesondere auch am medieeischen Hofe eine Anzahl
vornehmer Musikdilettanten, welche mit allgemeiner wissenschaft-
licher und ästhetischer Bildung eine sehr bedeutende musikalische
verbanden. Am llofe Ferdinand's von Medici treffen wir als „In-
spektor der Künste" den römischen, von G. B. Doni als „peritis-
simo in musica" gepriesenen Edelmann Emilio de' Cavalieri,
welcher es ebenso gut verstand, ein glänzendes Ballet zu arran-
giren, als Madrigale für irgend ein Fest am Hofe zu componiren,
und Johannes Bardi Graf von Vernio, Mitglied der Crusca
und der Akademie „degli Alterati" in Florenz !), dessen einzig
erhaltene Compositum , das fünfstimmige Madrigal „miseri abita-
tor" ihn wirklich als geübten Tonsetzer erscheinen lässt. Piero
libri tros, totidem dialogis comprehonsi, in quibus vetus ac recens Musica
cum singulis earum partibus accurate inter se conferuntur. Adjecto ad
finom onomastico selectorum vocabulorum ad hanc facultatom cum ele-
gantia et proprietate tractandam pertinontiuni , ad Eniinentissimum Car-
dinalem Mazarinum. (Florentiae typis Amatoris Massae Forolivien.
MDCXLVII. — Quart. 206 Seiten.)
i) G. B. Doni's säimntliehe Schriften in zwei Foliobänden, herausge-
geben von Ant. Francesco Gori. Florenz 1763. Dabei einzelnes von G.
Bardi und Pietro della Valle.
1) Das Geschlecht der Vernio wird in der Florentinischen Geschichte
seit dem 11. Jahrhunderte genannt. Die Via de Bardi zwischen dem
Ponte vecchio und S. Maria delle Grazie in Florenz am linken Arnoufer
erhält noch jetzt ihr Andenken. Sie waron ursprünglich eine Popolanen-
familie, wurden aber später zum Adel gerechnet. Ihr Schloas Vernio
(in den Aponninen) hatten sie im 14. Jahrhundert von den Alberti er-
kauft; Karl IV. erkannte es als Beichslehen an. Sie betheiligten sich mit
dem Volke an der Vertreibung dos Herzogs von Athen; als aber ein Jahr
später der Aufstand des Volkes gegen die Vornohmen ausbrach, zog sich
Pietro Bardi auf Schloss Vernio zurück. Sein Sohn Sozzo wurde aus
Feindseligkeit des Florentiner Volkes angeklagt, auf Castell Vernio Falsch-
münzerei getrieben zu haben. Als er auf erhobene Anklage nicht erschion,
verurtheilten sie ihn in contumaciam zum Feuertode. Seine Enkelin Con-
tessina de' Bardi (Contessina nicht Titel, sondern ein in Toskana zur Er-
innerung an die Markgrätin Mathilde üblicher Frauennamo), Tochter Graf
Alessanaro Bardi's, wurde 1413 Gemahn des Cosmus von Medicis. Sie
war Mutter des 1416 geborenen Piero de Medici und Grossmuttor Lorenzo
Magnifico's und dessen beim Aufstande der Pazzi ermordeten Bruders
Giuliano, und in weiterer Folge stammten Leo X, Katharina, die Gemahn
Heinrich II. von Frankreich, und Alessandro (1510 — 1536) der erste Her-
zog von Florenz von ihr ab. Somit standen die Bardi zum regierenden
Hause in naher Beziehung, obschon zur Zeit Johann Bardi's schon die
andere, von Lorenzo, dem Bruder des Cosmus (1394—1440) abstammende
Linie den Thron einnahm. (Vergl. A. v. Reumont „Lorenzo de' Medici"
I. Band, S. 104 u. ff.)
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 155
Strozzi — Bardi'a Freund — war wenigstens ein eifriger Mu-
sikliebhaber, dem es um Erforschung der Tiefen dor Kunst Ernst
war. Ferner der Edelmann Vincenzo Galilei, der Vater
Galileo Galilei's, in Sachen der Musik ein rüstiger Kämpfer für
wissenschaftliche Wahrheit (wie später sein Sohn auf anderem
Gebiete) und durch Umgang mit dem grundgelehrten Girolamo
Mei voll der Grundsätze, welche dieser vertrat, d. i. der Bevor-
zugung antiker Musik — leidenschaftlich, hitzköpfig, als Schrift-
steller eine scharfe Feder führend. Ferner Jacopo Corsi,
Mäcen der Musik und selbst sich in Composition versuchend.
Neben diesen Häuptern fanden sich zahlreiche jüngere Edle,
welche ein gemeinsames Interesse an der Tonkunst mit Jenen
zusammenführte — nur Emilio de' Cavalieri, welcher bei Hofe
alle Hände voll zu thun hatte, scheint nicht mit in diese Kreise
gezogen worden zu sein.
Schlimm ist es, dass unter diesen Herren eigentlich kein
Einziger so dasteht, dass man au seiner Person näheren Antheil
nehmen könnte. Vincenzo Galilei insbesondere wird durch die
unedle Denkungsart, durch den Undank, welchen er gegen sei
nen Lehrer Zarlino bewies, in ein um so schlimmeres Licht ge-
rückt, je edler und maassvoller sich Zarlino benahm, der die
►Schonung so weit trieb, Galilei nicht einmal zu nennen, sondern
nur in einer des Gelehrten würdigen Weise seine Lehrsätze
zu bekämpfen. So viel ist wohl sicher, dass Galilei und Genos-
sen viel fanatische Unduldsamkeit gegen Alles, was nicht unbe-
dingt auf ihre Lehrmeinungen schwor, entwickelten, dass sie am
liebsten die Tonwerke der vorhergehenden Zeiten der Vernich-
tung geweiht hätten und, da dieses nicht anging, wenigstens
nach Kräften schimpften. Deutlich erkennt man die Züge der
weiland Humanisten wieder, obschon die Blütenzeit des Huma-
nismus, damals längst vorüber war. Wenn Burkhardt im Sünden-
register der Humanisten des 15. Säculums Leidenschaftlichkeit,
Eitelkeit, Starrsinn, Selbstvergötterung, Undank gegen Lehrer,
kriechende Schmeichelei gegen Fürsten aufzählt !j, wenn Reumont
yon ihnen sagt: „am grössten ist das Missvcrhältuiss des Gelei-
steten zu der Meinung, welche die Humanisten von sich selber
hegten und ohne Scheu aussprachen". 2), so ist es völlig, als werde
über die Schriften und Tonwerke der Florentiner Musikreforma-
toren Gericht gehalten, und insbesondere die Bücher Vincenz
Galilei's und G. B. Doni's sind damit kurz und treffend geschil-
dert. Es gehörte viel Verblendung dazu, Angesichts einer grossen
und herrlichen Musikliteratur die Incunabeln der Monodie als
Wunderwerke auszuschreien , und wenn man sieht, dass Männer,
1) Cultur der Renaissance in Italien, 2. Aufl., S. 216.
2) Bora. III. I, 329.
156 Die Musikrefonn und der Kampf gegen den Contrapunkt.
welche Gelehrte vorstellten, in ihrem blinden Respekt vor den
Alten so weit gingen, sogar an die „Wunder der alten Musik"
alles Ernstes zu glauben, so bangt man wirklich für ihren Verstand.
Sie wähnten die Zeit zu machen — aber die Zeit machte sie. Dies
ist ihre relative Entschuldigung. Dies erklärt auch, dass Dilettanten
und Musiker untergeordneten Ranges gegen die bisherige Kunst
das Feld behaupteten. Der Genius der Musik wusste sehr gut,
was er wollte. Welcher Werkzeuge er sich dann bediente, war
ftir den Erfolg gleichgiltig — letzterer konnte nicht ausbleiben.
Der Unausstehlichste vielleicht ist G. B. Do n i. Kleinlich,
klatschsüchtig schadenfroh, von maasslosem Gelebrtendünkel auf-
gebläht, voll unnützer vielwisserischer Gelehrsamkeit, breitspu-
rig» geziert und manierirt - klassisch in der Schreibart, erzheid-
nisch gesinnt, aber voll frömmelnder, christthümelnder Salbung,
wenn er es einmal mit einem Cardinal oder einem anderen hohen
Geistlichen zu thun hat, sich selber durch den Mund der fingirten
Interlocutorcn seiner Dialoge als „Donius n oster", als Autorität
zitiren, fanatisch intolerant, das Alterthum bis zur Lächerlichkeit
anbetend, schweifwedelnd vor den Grossen, vor Leuten, denen er
Eines anhängen möchte, erst maskirend, ehe er sie prügelt, näm-
lich mit heuchlerischer Schonung die Namen, statt sie zu nennen,
travestirend , sie aber in ein sehr durchsichtiges Incognito
hüllend (z. B. Psychogaurus für Frescobaldi) ') und dann mit
raftinirt boshaftem Behagen seine Klatschgeschichten auskramend
— so stellt sich uns der vielgepriesene „gelehrte" Florentiner in
seinen Schriften dar. Die guten und treffenden Bemerkungen,
welche seine Bücher hin und her — insbesondere über musika-
lische Declamation — enthalten, sind durch den werthlosen Bal-
last, den man mit hinnehmen muss, theucr erkauft. Als Quellen
für die gleichzeitige Musikgeschichte sind sie allerdings von
grösstem Werth — das ist aber ein von Doni gar nicht beabsich-
tigter Vorzug. Die Bücher sind durch das Alter besser gewor-
den! —
Entschieden am sympathischesten sind die wirklichen Fach-
musiker Giulio Caccini, Jacopo Peri, welche von den Reforma-
toren in ihre Kreise hineingezogen wurden. Es geschah nämlich,
dass sich um 15S0 im Hause des Grafen Bardi eine Anzahl sei-
ner Freunde und Bekannten zu geistreichem geselligem Verkehr
zu versammeln pflegte. Giulio taccini erzählt in der Vorrede
seiner Nuove musiche, dass nicht allein ein grosser Theil des
Adels, sondern auch die ersten Musiker und die besten Köpfe,
die Poeten und die Philosophen der Stadt sich einzufinden pfleg-
ten. 2) Als stets wiederkehrende Gäste finden wir nebst Giulio
1) tpvxavoQ — frosco — frisch, kühl; yavgoc = baldo, übermäthig.
2) Jo veramente ne i terapi, che fioriva in Fireoze la virtuosissima
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Die Muaikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 157
Caccini insbesondere von den eben genannten Kunstfreunden
Piero Strozzi, welcben Vinceuzo Galilei in seinem Dialogo
della musica antica e moderna (1581) mit dem Hausherrn Gio-
vanni Bardi zum Interlocutor macht, uud — Vincenzo Galilei
selbst. Daneben noch andere, wie Gabriel Chiabrera, den
Dichter vieler von Caccini in Musik gesetzter Poesieen. Die
Seele der Zusammenkünfte war Bardi, sein vorzüglichster Berather
allem Anschein nach Galilei. Man disputirtc eifrig über Musik,
übte sie auch praktisch. Auf Galilei's Anregung liess Bardi Bücher
und Instrumente aus ganz Europa herbeiholen. Bardi erwähnt
in seinem Discorso mandato a Giulio Caccini der „unendlichen
Verhandlungen" (infinili ragionamenti avuti insieme in varj luoghi
ed in varj tempi della musica) und wie „der Umgang mit so viel
edeln und trefflichen florentiner Akademikern, dessen Caccini von
Jugend auf genoss, diesen zum ersten Musiker Italiens im neuen,
echten Musikstyl gemacht habe" Musik scheint im Hause
Bardi der Haupt-, ja der ausschliessliche Gegenstand der Ver-
handlungen gewesen zu sein.
Ueber den Hauptpunkt war man ganz einig: dass, gegenüber
der antiken Musik der Griechen, die neue Musik nichts besseres
als eine barbarische Vcrirrung und dass der Contrapunkt der
modernen Musiker mit den einzig wahren , von Piaton gelehrten
Grundsätzen über Musik vollkommen unvereinbar sei.
camerata delT illu trissinio Signor Giovanni Bardi de' conti de Vernio,
ove concorreva non solo gran parte della nobiltfr, ma ancora i primi mu-
sici et ingegnosi huomini e poeti e filosofi della citta. Havendola fre-
quentato ancV io. posso dire d havere appresso (apreso) piü da i loro dotti
raggionari, che in piü di trent' anni non ho fatto nel contrappunto. Im-
pero che questi intendentissimi gentiluomini nü hanuo sompro confortato
e con chiaris8ime ragioni convinto a non pregiaro quclla sorte di musica,
che non lasciando bene intendersi le parolo, guasta ll concetto et il verso,
ora allungando et ora scorciando le sillabe per aecomodarsi al contrap-
punto, laceramonto dolla poesia; ma ad attenermi a quolla maniera cot-
tanto lodata da Platono et altri Filosofi, cho aüermarono la musica altro
non essere, che la favella e l'rhitmo et il suono per ultimo, e non per lo
contrario, a volore, cho ella possa penetrare nell' altrui inteletto e fare
quei mirabili effetti, che ammirano gli scrittori, e cho non potevano farsi
per il contrappunto nelle moderne inusiche, e particolarinento cantando
un solo sopra qualunque stromento di corde, che non sene intendeva pa-
rola per la moltitudine de i passaggi tanto nelle sillabe brevi, quanto
lunghe, et in ogni qualita di musiehe, piü che por mezzo di essi fussero
dal plebe esaltati e gridati per solenni cantori. (Uiulio Caccini, Vorrede
der „Nuove rnusiche.")
1) — — quogli, che avondo praticato fino da giovanetto, con tanti
Dobili e virtuosi Accadcmici Fiorentini, vi siete conaotto a termiuo. non
solo per mio parere, ma per quollo degl' intendonti della vera 0 perfetta
musica, cho non solamente non avote in Italia uomo, che vi trapaasi, ma
pochi o nessuno forse, che vi pareggi: parlo di quella sorte di musica,
che cantando o aecomnagnato 0 solo o^gi in su gli strumenti si motte in
atto (bei Doni Opp. II, S. 233).
158 Wfl Mnsikreform and dor Kampf gegen den Oontrapnnkt.
Doch scheint man einstweilen die bestehenden Verhältnisse
noch mit einer Art von Schonung respectirt zu haben, wogegen
G. B. Doni, der allerdings kein Theilnehmer an den Zusammen-
künften war und einer etwas späteren Zeit angehört, dessen
Schriften aber des Geistes aus dem Hause Bardi voll sind, an
mehr als einer Stelle ohne weiteres zu verstehen giebt, dass Der-
jenige Mangel an Beurtheilungskraft , wenn nicht Aergeres ver-
rathe, welcher sich etwa einfallen lässt, die neue, d. h. die con-
trapunktische Musik der antiken vorzuziehen. Ausdrücke wie
„ncscio quis hodiernae musicae impudens admirator" ') sind
für Doni keineswegs zu stark. Es sei übrigens kein Wunder,
meint Doni, wenn die vielchörigen , von Menschenstimmen und
Instrumenten prächtig genug tönenden Kirchenmusiken nicht blos
den Pöbel (communem vulgi consensum) bezaubern, sondern selbst
auch Leute von Bildung gefangen nehmen, denn nur sehr we-
nige (perpauci) seien es, und Leute, die von Jupiter mit gesun-
dem Sinne begnadigt sind (quos aequus amavit Jupiter), welche
hier Einsicht und richtiges Urtheil genug haben, um den Unter-
schied des Werthes der antiken Musik zu würdigen. So habe
es ja auch und in ähnlicher Weise vor drei oder vier Jahrhun-
derten, „als noch nicht die alte, echte Art zu bauen wieder her-
gestellt war (restituta)" , nicht an Leuten gefehlt, welche, wenn
sie die grossraumigen maurischen Tempel oder die einheimischen
ungeheuren Basiliken nach deutschem oder auch nach arabischem
Style erbauen sahen, oder auch absichtlich schief hingestellte
hoho Thürme, wie man in Pisa uud Bologna findet, und bei
denen man nicht weiss, ob Kühnheit oder Sorgfalt grösser ge-
wesen, die massig grossen Tempel der Griechen und Kömer
(nachdem die grösseren bei Abschaffung des antiken Cultus unter
Theodosius zerstört worden) verachteten und die antike Bau-
kunst, wenn sie solche mit der eben üblichen verglichen, nur
auslachten. 2)
Mehrere Jahre vorher hatte der genialste Theoretiker, Zar-
lino, zwar den Einwurf hören lassen: „ma se la musica antica
haveva in se tale imperfettione , non par credibile, che i musici
potessero produrre ne gii animi humani tanti varij effetti, como
nelle Historie si raecontano" 3) ; aber auch er vertheidigt die an-
tike Musik, indem er auf die Verschiedenheit der von der mo-
dernen ganz verschiedenen Aufgaben hinweist, welche der antiken
Tonkunst gestellt waren, auf die nicht minder gründliche Ver-
1) de praest. mus. vet. S. 33.
2) a. a. 0. S. 75. Mit den „arabischen" Basiliken meint Doni wohl
Bauwerke wie den Dom, die Cappella palatina, die Martonara in Palermo
und ähnliches, wo maurischer Eiufluss sichtbar wird.
3) Istit. harm. L 4 (p. 75).
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 159
schiedenheit , wie die Musik bei den Griechen und Römern be-
trieben worden und wie die Neuzeit sie betreibt. Er schilt die
Componisten seiner Zeit, welche, wenn sie drei bis vier Stimmen
regelrecht zu combiniren wissen, sich hoch über die Alten er-
haben wähnen. Eine Umstaltung der Musik nach antiken Musik-
principien lag sozusagen schon in der Luft, wenn ein Mann des
Contrapunkts, wie Zarlino, als ihr Anwalt auftrat!
Den eigentlichen Anstoss zur Musikreform gab in Florenz
zunächst und zuerst die Vorliebe für platonische Philosophie und
das Studium derselben. Seit der Grieche Gemistos Plethon in
dem älteren Cosmus von Medicis die Idee einer „platonischen
Akademie'4 angeregt und seit diese Akademie zur Zeit Lorenzo's
des Erlauchten und des Marsilio Ficino glänzend in's Leben ge-
treten, waren die Gebildeten in Florenz eifrige Anhänger Pla-
ton's und Leser seiner Schriften. Die „Camerata" Bardi's machte
davon, wie natürlich, keine Ausnahme. Wenn sie nun in Pla-
ton's Schriften eingehende Auseinandersetzungen über die Ton-
kunst fanden, so ist es sehr begreiflich, dass sie die Musik, wie
solche täglich geübt und gehört wurde, nach Platon's Grundsätzen
prüften und verwarfen. In den von diesem Kreise aus veröffent-
lichten Schriften wird sich überall, wo nöthig, auf Platon's unbe-
dingte und unantastbare Autorität berufen. ,,11 divino Piatone
commanda nelle leggi espressamente, che14 u. s. w. — das war
der Ton, in welchem man im Hause Bardi redete. Der offizielle
Musiker des Hauses war Giulio Caccini, dessen musikalisch-
ästhetische Bekehrung vom Contrapunkt zur antiken Musik nach
platonischen Prinzipien sich alle die gelehrten und geistreichen
Herren sehr angelegen sein Hessen. Er war kein eingeborener
Florentiner, sondern ein Römer, daher er auch, wie jener berühmte
Maler und Schüler Raphael's, Giulio Romano genannt wurde.
Besonders als angenehmer und feingebildeter Sänger wurde er
hochgeschätzt, sein Lehrer im Gesänge war Scipione del Palla
gewesen. Er selbst erwähnt aber auch seiner langjährigen con-
trapunktischen Studien, doch nicht ohne begeisterten Dank gegen
jene „Camerata" Giovanni Bardi's, wo er „durch die gelehrten
Gespräche der Herren mehr gelernt habe, als dreissig Jahre Ar-
beit im Contrapunkt ihm hatten einbringen wollen". Compositio-
nen von ihm im herkömmlichen, d. h. polyphon-madrigalesken
Styl erwähnt der römische Musikfreund Pietro della Valle, spre-
chend : sie seien nicht so gut, als seine späteren, im neuen flo-
1) Lc priine composizione buone, che si siano sentite in queata for-
ma sono state la Dafne, l'Arianna, l'Euridice, e le altre cose di Firenze
e di Mant iva I primi che in Italia abbian seguitato lodevolmente questa
strada. come dissi a V. S., sono stati il Principe di Venoaa, che diede
forse luce a tutti gli altri del cantaro affettuoao, Claudio Monteverde e
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160 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
als Sänger in den Diensten des mediceischen Hofes 1). Seine
Gesänge neuen Styles fanden ausserordentlichen Beifall und
machten ihn durch ganz Italien berühmt; überall von den ersten
Sängern und Sängerinnen und den vornehmsten Liebhabern der
Musik gesungen2), haben sie, ehe noch Caccini die Sammlung
seiner sogenannten Nuove musiche 1602 im Druck herausgab,
sicher sehr viel dazu beigetragen, überall in Italien dem neuen
Musikstyl den Boden zu bereiten. Auch in Deutschland blieben
sie nicht unbekannt. 3) Unter den florentinischcn Kunstfreunden
scheint sich Bardi persönlich die grösste Mühe um Caccini's musi-
kalische Bildung oder vielmehr Umbildung gegeben zu haben. Er
hat in einem später an Giulio Caccini gerichteten Sendschreiben
die Summe des aus all' diesen Verhandlungen und Gesprächen Ge-
wonnenen kurz zusammengestellt, „damit es mit einem Blicke
überschaut werden könne" („che quasi unito e ben proporzionato
corpo in un' occhiata possano essere da voi compresi"). Das
Schreiben Bardi's ist gleichsam der Lehrbrief, den Caccini aus
dem Hause Bardi mitbekam.
„Musik", lehrt Graf Bardi, „ist nach dem dritten Buche von
Platon's Republik (Comune) eine Verbindung von Wort, Harmonie
und Rhythmus. Die Harmonie bestimmt das Verhältniss hoher
und tiefer Töne und der Worte zum Rhythmus, das ist der wohl-
geordneten Reihe von Längen und Kürzen. Die Musik ist nichts
anderes, als die Art und Kunst, den Worten ihr richtiges Zeit-
inaass zu geben, indem solche nach Länge und Kürze, schnell
Jaoopo Peri nelle opere soprannominate; ma pero indirizzati dal Rinuc-
cini, autore delle poesio, aal Bardi intendentissimo dolle antichita inusi-
cali, dal Corsi peritissiino nolla pratica o grau Mecenate e benefattore
de' profe8sori di essa, e da quegli altri gentiluomini eruditi di Toscana,
che assistevano con sopraintendenza alle loro composizioni, e che bene
spesso gli facevano fare a modo loro: onde si vede, quanto l'istesso Mon-
teverde ne migliorasse nelle ultime suo coso, che sono assai differenti
dalle primo; Giulio Caccini, egli ancora, detto Giulio Romano; ma dopo
che si fü esercitato nelle musiche di Firenze; perche nello altre innanzi,
con buona pace di lui, non ci trovo tanto di buono. (Pietro deila Valle,
della Mus. doli' etä nostra. gedr. in G. B. Doni, Opp. II, S. 251.)
1) In den „Feste nelle nozze del Serenissimo D. Franc. Medicia"
(Florenz 1579, Seite 40) wird orzählt, dass Caccini in einem zu dieser
Vermälung des Groäsherzogs mit Bianca Capello gedichteten Festspiele
von Pietro Strozzi die „Nacht" sang — und zwar mit Begleitung von
Violen. Es war natürlich ein Gosang derselben Art, wie wir ihn bei
ähnlichen Gelegenheiten fanden — Solopart aus einem mehrstimmigen
Madrigal gezogen.
2) Caccini selbst orzählt im Vorberichte zu den nuove musiche:
„madrigali et arie — — veggendole continuamente esercitatc da i piü
fiunosi cantori e cautatrici d'Ttalia et altri nobili amatori di questa pro-
fesäione." Sie müssen also in Abschriften cursirt liabon.
3) Prätoriiiä im „Syntagma" nennt Caccini mit unter den vorzüg-
lichsten Mnsikern der Zeit.
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 161
und langsam gesungen werden; und praktische Musik, ist eine
Anordnung der vom Dichter in Versen verschiedener Maasse nach
Länge und Kürze zusammengestellten Worte, dass sie, gesungen
von der Menschenstimme, sich jetzt rasch und jetzt langsam, jetzt
in tiefen, jetzt in hohen und jetzt in mittleren Tönen bewegen,
wobei der Gesang entweder der menschlichen Stimme allein an-
vertraut ist, oder aber von einem Instrumente accompagnirt wird,
welches selbst wieder die Worte mit langen und kurzen, in rascher
oder längsamer Bewegung, mit tiefen, mittleren oder hohen Tönen
begleitet — dies ist Platon's Definition, mit welcher auch Aristo-
teles und andere Weise zusammenstimmen." ') Bardi setzt nun
die Natur des diatonischen, chromatischen und enharmonischen
Geschlechts nach antiker Weise auseinander, lehrt die sieben
Octavengattungen, „welche jene grossen Weisen mit dem Namen
von Harmonieen bezeichneten", und giebt sofort Notirungen der
Tonarten Ipodorio, Ipofrigio, Ipolidio, Dorio, Frigio, Lidio, Misso-
lidio. Der Ipodorio beginnt auf Alamire u. s. w. Don Dorio führt
Bardi seinem Scholar mit den Worten vor: ,,dics ist der so ge-
priesene dorische Ton", der, wie ihr seht, in der Mitte der übrigen
seinen Sitz hat. Von diesem dorischen Ton, fährt Bardi fort, wissen
die grossen Weisen nicht genug Gutes zu sagen ; er ist männlich,
prächtig, göttlich, ernst, voll Ehre, bescheiden, gemässigt, schicklich
(virile, magnifico, divino, grave, onorato, modesto,temperato, conveno-
vole). — „Ist es denn also ein Wunder, wenn diese göttlichen anti-
ken Musiker, mit tiefem Verständniss der Natur, und Alles und
Jedes wohl zusammengestimmt, die Geister ihrer Hörer leiteten,
wohin sie wollten? Erlaubt mir hier das Kunstfeuer als Gleich-
niss herbeizuholen, welches, aus schweren Geschützen hervor-
1) Also Platon's und Aristoteles' Autorität war hier der Punkt, von
dem dio Sache ihren Ausgang nahm! Winterfold motivirt abor so, dass
gewisse Sonette bei der Hochzeit der Bianca Capello dadurch allen
Wohllaut, ia allen auf feine Wortklängo und Wortspiele basirten Sinn
vorloron, dass sie, im gewöhnlichen Madrigalstylo componirt, gesungen
wurden. Dadurch sei man aufmorksam geworden, wie durch die her-
kömmliche Art zu comnoniren die Poesie vernichtot werde. Die Haupt-
ouellen für die Geschiente der Zeit enthalten aber auch nicht die leiseste
Andoutung davon. Dass Galilei. Bardi u. s. W. ein so wichtiges Factum
mit Stillschweigen übergangen haben sollten, ist völlig unglaublich. Die
Vormälung Bianca' s fand im October 1579 statt — Galilei's Dialog war
war Ende Mai 1581 druckfertig und ist, wie Galilei selbst sagt, die Frucht
langen Umganges mit Giovanni Bardi und Girolamo Mei — er müsste
statt dessen geradezu eine Improvisation gewesen sein, wenn Winterfeld's
Angabe richtig wäre. Dio Wahrnehmung, dio angeblich an jenen Sonotton
gemacht wurde, konnte man an jedom anderen beliebigen Madrigal auch
machen. Und wie konnten denn die artigen Anspielungen so ganz un-
hörbar werden, wenn die Madrigale gar nicht cliormässig, sondern solo
in der schon oben boschriobonon Zwitterart vorgetragen wurden?
Ambro », QeiOhlchto der Musik. IV. U
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162 Die Musikrcforra und der Kampf gegon den Contrapunkt
brechend, Alles niederwirft, was ihm im Wege ist, und in einer
Mine entzündet, nicht blos einen Berg, sondern, wenn man bis
zum Mittelpunkt der Erde dringen könnte, den Erdball auseinan-
dersprengen würde, und doch würden seine Bestandteile, Schwe-
fel, Salpeter, Kohle, ein jedes für sich allein eine solche Wirkung
in keiner Weise hervorzubringen vermögen." Und mit grossester
Gläubigkeit wiederholt nun Bardi die lange Reihe von Erzählungen
über die von der alten Musik bewirkten Wunder — Thaletas
von Milet hatte eine so süsse Art zu singen (ebbe si dolce maniera
di cantare), dass er Kranke genesen machte und die Pest ver-
trieb, Pythagoras brachte Trunkene, Eropedokles Tollwüthige
durch Musik zurecht, Gicht und Vipernbiss heilte die Musik —
und so weiter. „Unsere Musik aber scheidet sich heutzutage
in zwei grosse Theile; die eine gehört dem sogenannten Contra-
punkt, die andere soll bei uns heissen: die Kunst gut zu singen." l)
Diese wenigen Worte Bardi's sind so viel wie eine förmliche
Kriegserklärung gegen den Contrapunkt und die bisherige Musik
im Namen der neuen oder vielmehr der restaurirten antiken. Die
contrapunktische Musik Verklärt Bardi) ist nichts als eine gleich-
zeitige Zusammenfügung mehrerer Melodieen und mehrerer Ton-
arten, Tiefes, Hohes, Mittleres gleichzeitig gesungen und überdies
in verschiedenem Rhythmus. „Nehmen wir an", sagt der Graf,
„es gelte ein Madrigal in vier Stimmen zu componiren, so singt
davon der Bass eine, der Tenor die andere, und Sopran und Alt
werden wieder andere, auch wiederum von einander verschiedene
Arien anstimmen, und zwar in von einander verschiedenen Ton-
arten , wie wir sie vorhin erläutert haben , ' denn in jeder Musik
unserer Zeit werden sich zweierlei Octavengattungen nachweisen
lassen, und ganz verschiedene Rhythmen in der tiefen, mittleren
und hohen Stimme, und während Seiner Ehrwürden Herr Bass
mit Wurd' und Hoheit angethan (messer lo basso, di gravita
vestito) im Erdgeschosse seines Palastes zum Beispiel in Semi-
breven und Minimen herumspaziert, tummelt sich raschen Schrittes
der Sopran in Minimen und Semiminimen auf der obersten Terasse,
und die Herren Alt und Tenor traben in verschiedenem Putz und
Anzug in den Zimmern der mittleren Geschosse herum. Denn
unsere Contrapunktisten würden es ftir eine Todsünde halten, wenn
sie die Stimmen gleichzeitig auf denselben Textessylben und in
denselben Noten geltun gen zu hören bekämen, sie halten sich viel-
mehr um desto geschickter (tanto piü scaltri), je mehr sie die
Stimmen in Bewegung bringen." Das passe allenfalls für die In-
1) Dico adunque, che in due parti la musica usata a questi tempi si
divide: una, cho e quella, che contrappunto s' appeila; I'altra arte di ben
cantare aara da noi noniinata (a. a. 0. S. 241). Woraus also folgt, dass
der Contrapunkt keine „arte di ben cantare1' ist! —
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Die Musikreform und der Kampf .gegen den Contrapunkt. 163
strumentalmusik , meint Bardi, sei aber allerdings auch jene Gat-
tung von Musik, welche die Philosophen so sehr tadeln, vor allen
Aristoteles, indem er sie als verkünstelt (artificiosa, bezeichnet.
„Und da« wir nun", fährt Bardi fort, „in so tiefer Finsterniss
sitzen, so wollen wir mindestens trachten, der armen Musik ein
wenig Licht zu verschaffen, da sie seit ihrem Verfall (dalla de-
clinazionc sua) bis jetzt, in so vielen Jahrhunderten, keinen Künst-
ler gefunden, der über ihre Bedürfnisse nachdachte, der sie viel-
mehr auf die Bahnen des Contrapunktes, ihres Todfeindes (contrap-
punto a essa musica nemico) drängte44. Das nöthige Licht, ver-
sichert Bardi, werde man der Musik nur nach und nach geben
dürfen: ,, gleichsam wie man einen durch irgend eine überaus
schwere Krankheit heruntergekommenen Menschen nur vorsichtig,
anfänglich mit weniger und leicht verdaulicher Speise nach und
nach wieder zu Kräften bringen kann.44 Und den Anfang der
Kur solle man mit dem Grundsatze machen, den Vers nicht
zu verderben (di non guastare il verso) und nicht „die Musiker
von heute nachzuahmen, welche ihren Erfindungen zu lieb den
Vers zu Grunde richten und in Stücken reiasen", Bass und Sopran
gleichzeitig andere Worte singen lassen, und so das Concept durch
einander wirren zum Untergange und Tod der armen, preisge-
gebenen (abbandonata) Musik. *) Die „grossen Weisen'1 und be-
sonders Piaton sagen, der Gesang müsse dem Verse des Dichters
folgen und ihn durch die Singstimme versüssen (addolcendolo
con la voce), gerade so wie ein geschickter Koch zu irgend einem
wohlgewählten Nahrungsmittel nur ein wenig Brühe qualche
poco d' intingoletto) hinzuthut, damit es seinem Gebieter desto
besser munde. „Wenn ihr also componirt, so sorget, dass der
Vers wohlgeregelt bleibe, das Wort so deutlich wie möglich ver-
standen werde, und lasst euch nicht vom Contrapunkt, dem
schlechten Schwimmer, fortreissen, den der Strom widerstandlos
mit sich führt und der ganz wo anders ankömmt, als wo er hin
gewollt. Denn so viel der Gei*6t edler ist, als der Körper, um
so viel sind die Worte edler, als der Contrapunkt, und so wie die
Seele den Körper leiten muss, so mnss der Contrapunkt von den
Worten Regel und Gesetz annehmen. Wäre es nicht lächerlich,
auf offener Strasse den Herrn hinter dem Diener einherschreiten
zu sehen und sich vom Diener befehlen zu lassen, oder ein Kind
zu sehen, das sich um die Erziehung seines Vaters oder Lehrers
bemüht?44 Den schweren Irrthum, der die Musik beherrsche,
1) Sogar Zarlino steht schon einigermassen unter der Herrschaft
solcher Anschauungen: „Et se pur raolti cantando insieme muovono l'animo,
non e dubio, che universalmente con maggior piacere s' ascoltano quelle
canzoni, lo cui parole sono da i cantori insieme pronunciate, che le dotte
compositioni, nelle quali si odono le parole interrotte da molte parte."
(Istit. härm. I. 9.)
1 1 *
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164 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
Labe, erzählt Bardi, der göttliche Cipriano (de Kore) gegen das
Ende seines Lebens wohl eingesehen, und in Venedig habe der
grosse Mann bei Gelegenheit einiger in diesem Sinne von ihm
componirten Madrigale ihm (Bardi) selbst gesagt, das sei die
wahre Art des Tonsatzes, und hätte ihn der Tod nicht wegge-
rafft, würde er sicherlich die Musik in mehreren gleichzeitigen
Arien (d. h. die contrapunktische) auf einen hohen Punkt gebracht
haben, von wo aus Andere sie nach und nach zu der wahren,
vollkommenen und von den Alten so sehr gelobten Weise hätten
zurückleiten können. „Wollt ihr ein Madrigal, eine Canzone in
Musik setzen, so sehet euch die Sache vorher gut an, ob der In-
halt z. B. grossartig oder lamentabel sei; ist er grossartig, so
nehmt den dorischen Ton, der auf e la mi anlangt, seine Mitte
in A la mire hat, gebt die ganze Arie dem Tenor und kehrt so
oft ihr könnt zum Mitteltone zurück, denn von grossen und wich-
tigen Dingen redet man gerne in mittlerer Stimmlage; ist der
Sinn lamentabel, so nehmt den mixolydischen Ton und gebt die
Hauptarie (1' aria piü principale) dem Sopran — und vergesst
nicht ein passendes Maass der Bewegung, ahmt die Redeweise
eines vornehmen (magnifico) ernsten Mannes nach folgt den
wenigen Edlen, nicht dem grossen, gemeinen Haufen, singt Musik,
die prächtig, gross und aller Ehre voll ist, und drückt ja, so gut
es nur geht, Länge, Kürze und den Rhythmus des ganzen Verses
aus, und wenn ihr Ehre beim Singen einlegen wollt, so lasst das
Wort ja gut verständlich werden, das ist bei unserem Gesänge
die Hauptsache — seid ihr doch bei vornehmen und trefflichen
Personen (persone nobili e virtuose) in Florenz erzogen, wo mau
gut zu reden weiss und die Aussprache vortrefflich ist. Und ver-
derbt nicht mit eurem aus Rand und Band gehenden Passagen-
werk (sgangherati passaggi) das Madrigal, dass sein Componist am
Ende seine Schöpfung gar nicht wieder erkennt." Bardi schliesst
damit, dass er zuletzt lieblichen Vortrag (suavitA) und Süssigkeit
des Gesanges verlangt. Er zitirt Petrarca und den „göttlichen
Dante", welche wiederholt von süssem Gesänge sprechen. „Und
daraus folgt, dass die Musik nichts anderes ist, als Süssigkeit,
und dass wer singen will, allersüsseste Musik und allersüsseste
wohlgeordnete Weisen auf das allersüsseste singen soll und
lasst eure Erscheinung beim Gesänge zierlich sein (in modo
aeconcio), behaltet euer gewöhnliches Gesicht, so dass der Hörer
kaum weiss, ob der Gesang aus euerem oder aus eines Anderen
Mund kömmt, und seid nicht wie Andere, welche sich, ehe es an's
Singen geht, beklagen und entschuldigen, sie seien erkältet, sie
hätten die letzte Nacht nicht gut geschlafen — und was der
widerwärtigen Ausreden mehr sind." Caccini nahm das alles mit
rührender Gläubigkeit wie höhere Offenbarungen hin. „Diese
höchst einsichtsvollen Edelleute", sagt Caccini in der Vorrede
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 165
seiner nuove musiche, „haben mich immer versichert und es mir
mit den klarsten Gründen dargethan, dass ich jene Musik in keiner
Weise schätzen solle, welche, indem sie die Worte nicht gut ver-
stehen lässt, Concept und Verse verdirbt, die Sylben jetzt ver-
längert und jetzt verkürzt, damit sie sich dem Contrapunkt an-
passen, die eine Zerfleischung der Poesie (laceramento della poesia)
ist, mich vielmehr jener von Plato und anderen Philosophen so
sehr gelobten Manier zuzuwenden, die da bekräftigen, Musik
sei nichts als Sprache und Rhythmus und erst zuletzt
der Ton, und nicht umgekehrt, solle sie anders bei Andern
Verständniss finden und jene Wunderwirknngen hervorrufen,
welche die Schriftsteller bewundern, Dinge, welche der Contra-
punkt der modernen Musik nicht vermag; und wenn Einer allein
zu einem Instrumente singt, so sollen die Worte nicht etwa durch
die Menge von auf kurzen wie auf langen Sylben angebrachter
Passagen unverständlich werden." Caccini wiederholt, wie man
sieht, die erhaltenen Lehren in gedrängter Kürze, aber Punkt
für Punkt.
Wurde nun aber in der Gesangrausik, d. h. nach damaligen
Begriffen in der eigentlichen und wahren Musik, das Wort und
dessen richtige Betonung (und zwar vor allem in prosodischer,
dann aber auch in dramatischer Beziehung) für das allererste,
allerwich tigste erklärt, für den Schwerpunkt der Sache, neben
welchem das Uebrige kaum noch in Betrachtung kommt und es
keinerlei Werth hat, wenn „der Zusammenklang der Töne dem
Ohre wunderbar schmeichelt", galten Textwiederholungen („Pali-
logiae ac Polylogiae", wie sie Doni nennt) für das letzte Ziel
alles Unsinnes und der äussersten Verkehrtheit: so war damit
aller bisherigen Musik ihr Urtheil gesprochen — Palestrina war
dann so gut wie die Andern ein „Barbar" — was Doni auch so
ziemlich ohne Winkelztige zu verstehen giebt — und die ganze
.,modulandi ratio Symphonistica" verdiente ganz und gar barbarisch
und völlig übel gefügt genannt zu werden und war daher eben
nur einfach über Bord zu werfen. l)
Das offizielle, an die Öffentlichkeit geschickte Kriegsmani-
fest gegen den Contrapunkt und die moderne Musik überhaupt
1) tota haec modulandi ratio, quam Symphoniasticam ipse (Dornas)
vocat, quae palylogiis ac polylogiis passim exuberat barbara prorsus pla-
neque incondita censenda est. quao nullo modo repurgari possit, nisi ad
virum resecetur. (Doni Opp. I. S. 98.) Da unmittelbar vorher von Pales-
trina, aber auch von seinen „barbaris prolationibus44 die Bede war, so
Mouton u. a. sind es natürlich vollends: „in iia deprehonditur consum-
mata quaedam ars in concinnandis, digerendisqne consonantiis, quae auri-
bus quidem mire placet, ceterom elocutio valao barbara est atque incon-
cinna. De affectibus autem movendis ne per somnium quidem tum cogi-
tabant (1. c. S. 101.)
sieht man, dass auch er unter
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166 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
und das offizielle Programm für die Wiedereinführung der antiken
Musik war der Dialog Vincenzo Galilei's — dessen Vorrede aus
Florenz 1. Juni 1581 datirt ist. ') Nach G. B. Doni's (bestimmter
Versicherung haben Bardi und Mei auf die Zustandebriugung
dieser Schrift grossen Einfluss gehabt. 2) Des grundgelehrten
Girolamo Mei, des Verfassers eines ganz im Sinne antiker Musik
geschriebenen, an seinen Lehrer Pier Vittorio gerichteten Trak-
tates „de modis", gedenkt Galilei in Worten voll Verehrung.
Die Form des platonischen Dialogs war für den platonisirenden
Kreis im Hause Bardi wie natürlich die niustergiltige, so unzweck-
mässig und unbeholfen sie sich auch erwies, wo es sich um gelehrte
Darstellung der antiken Musiklehre handelte. Aber auch noch
andere Dinge werden abgehandelt, über welche sich eben so
schlecht dialogisiren lässt, richtige Stimmung, Werth und Be-
schaffenheit der Instrumente u. s. w. Das Ganze macht einen nicht
eben angenehmen Eindruck. In dem augenscheinlich sorgsam
nachgeahmten, feingedrechselten florentiner Conversationston der
Dialogisirenden nehmen sich die weitläufigen Auseinandersetzungen
über Limma und Apotome, über Netehyperbolaeon und Netediazeug-
menon ganz ungeheuerlich aus; endlose Ziffemreihcn, Rechnungen
und Notentabellen sind für einen Dialog wunderliche Einschieb-
sel. Signor Bardi redet und dozirt seitenlang und Signor
Strozzi äussert nur gelegentlich seine Zustimmung oder thut mit
Schülerwissbegierde eine schüchterne Frage. Indessen dürfen wir
nicht verkennen, dass die hier zum erstenmale in solcher Voll-
ständigkeit gegebene Darstellung über das Wesen und die Theorie
griechischer Musik für die Zeit ihren Werth hatte. AJles das soll
nun aber wieder in's Leben eingeführt und ihm zu Liebe das
durch Jahrhunderte lange Arbeit Gewonnene kurz und gut als
werthlos bei Seite geworfen werden ! Man ahnt , was Bardi mit
seinem „vorsichtigen Anfang der Kur" meinte und wohin die
1) Dialogo di Vincentio Galilei nobile Fioreutino, della musica antica
et della moderna. In Fiorenza MDLXXXI. Appresso Giorgio Marescotti.
Das Buch ist dem Grafen Giovanni Bardi gewidmet. Das Initial-T der
Dedicationsvorrode zeigt einen artigen Holzschnitt : ein gebundener Misse-
thäter wird vor den Richter geführt — violleicht ein „ContrappviUista",
der seine „Impertinenzie" büsseu soll. Eine zweite Auflage erschien 1602
bei Filippo Giunti in Florenz mit dem Titelzusatze „in sua difesa contra
Joseffo Zarlino". Der berühmte Venezianer hatte nämlich auf einige
Segen ihn und seine Dimostrazioni armoniche gerichtete Stellen des
►lalogo in seinen ^Sopplimenti musicaii" (158S) geantwortet. Galilei gab
in Folge dessen seinem Dialog einen gegen Zarlino gerichteten Anhang.
2) II Galileo nel suo erudrto Dialogo della musica antica e moderna
u. a. w. fxa i modemi prattici nessuno ha compreso meglio questa
verita di lui, merce della lunga pratica e familiarita, che egu ebbe col
Sig. Giovanni Bardi e col Sig. Girolamo Mei — — onde di grande aiuto
gu furono amendue a comporre quel opera. (G. B. Doni Tratt. della Mus.
Seen. Cap. XVI. Band II. S. 41.)
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Die Muaikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. J67
Sache weiter gehen sollte. Wie die Dichter Sannazar, Vida u. a.
zu Anfang des Jahrhunderts vollständig im Geiste, in der Sprache
und Ausdrucksweiso Virgirs gedichtet hatten, so hätte man am
liebsten endlich die Musik ganz rein und vollständig auf antiken
Fuss gesetzt und z. B, die modernen, reich ausgebildeten Instru-
mente von der Orgel bis zur Laute gegen die antiken Magadis,
Scindapsis u. s. w. vertauscht — Galilei kramt nicht umsonst ge-
legentlich ein wenig in der Rumpelkammer des griechischen
Orchesters — Giov. Butt. Doni geht hernach mit der von ihm
erfundenen und Urban VIII. dedizirten „Lyra Barberina4' J) noch
weit resoluter auf die Sache los. Er beklagt es geradezu, dass
der Musik es durch ein unglückliches Schicksal noch nicht, gleich
den übrigen Künsten, gelungen, „ihre frühere Würde wiederzu-
erlangen", er habe daher darüber nachgedacht, ob es nicht mög-
lich wäre, auch hier (d. i. auf dem Gebiete der Instrumental-
musik; ihr den alten GJauz wiederzugeben. Deutlicher ist der
innere Zusammenhang dieser ganzen Reformbewegung mit der
Renaissance und dem Humanismus (welche eben so auch von
Florenz ihren Ausgangspunkt nahmen) nicht auszudrücken. Die
Musik trieb, wie wir nochmals hervorheben müssen, auch diesmal
in der ganzen geistigen Strömung die letztesten Wellenkreise. 2)
Galilei und was sonst noch im Hause Bardi Zutritt hatte, glaubte,
wie schon erwähnt, felsenfest an die WTunder „der griechischen
Musik"; beginnt doch selbst Mei's Traktat mit der Erwägung
come potesse tanto la musica appresso gli anlichi. Bei der Ge-
schichte von Arion's Rettung ist Galilei's Interlocutor Strozzi
noch Rationalist genug, um die Meinung zu äussern, der Sänger
habe etwa durch seine Musik die Schiffer besänftigt, 3) aber Bardi
weist ihn mit einem mächtigen „Anzi" zurecht: ,,Anzi per mag-
1) G. B. Doni schrieb darüber einen ganzen Traktat- Lyra Barberina
AM<PIXOP/40E a' Joanne Baptista Domo patricio Florentino inventa et
sanctiasimo D. N. Urbano VIII. Pont max. dicata. Der Traktat ist ge-
druckt in Doni Op. Tom. 1. S. 3— TU (Folioformat) und mit Kupfern nach
antiken Bildwerken, wo Kitharn und Lyren vorkommen, roich ausgestattet.
Doni's Lyra gleicht in ihrem Aussehen weit weniger den antiken Saiten-
instrumenten als einer dickbäuchigen, langhalsigen Weinflasche. Die Ab-
handlung Doni's beschränkt sich keineswegs auf die Beschreibung seiner
„barberinischen Lyra ', sondern geht höchst gründlich auf die ganze Heer-
schaar der antiken Saiteninstrumente ein. Höchst charakteristisch ist die
Vorrede: „Etsi nemo vel mediocriter eruditus de veterum Graecorum prae-
sertim in rebus musicis praestantia atque opulentia dubitare potest, non
desunt tarnen qui sine judicii defectu (!), dum orania metiuntur ex iis. quae
Tident, atque assidue tangunt.
2) Eben darnm, scheint es, hat noch niemand den Zusammenhang der
Florentiner Musikreform mit der Renaissance und dem Humanismus auch
nur bemerkt.
3) So erklärt auch Zacconi das Wunder (Pratt. di Mus. II. Lib. 1.
cap. 2.)
168 Di« Musikreform und der Kampf gegon den Contrapunkt,
giormente mostrare 1' eccellenza della sua gran virtü si precipitb
(Arione) in mare" — Delphine (mehrere!^ trugen ihn abwechselnd
(a gara) auf ihrem Rücken an's Vorgebirge Tänarus u. 8. w.
Galilei's Arion wechselt Delphine wie Postpferde! Und endlich:
„hora considerate, qnal sia maggior maraviglia, b il placare gli
an im a Ii ragionevoli, ovcramente i bruti, ö pur le cose insensate"!'!).1)
Ja, Galilei verhöhnt die Musiker, welche er „roh und dumm"
(rozzi et idioti) schilt, dass sie an diese Wunder der griechischen
Musik nicht unbedingt glauben: „sie wollen jene vollkommene
und tiefgebildete Kunst nach ihrer confusen Ignoranz bemessen". 2)
Mit was für überschwenglichen Träumen von der Herrlichkeit
griechischer Musik man sich und Andere täuschte, davon geben
gleich die ersten Worte von G. B. Doni's Schrift „de praestantia
musicae veteris" eine merkwürdige Probe. Er bewundert die
Griechen in Allem, aber „beinahe gottlich" erscheinen sie ihm,
wenn er erwägt, was sie in der Musik geleistet. — Die Anklagen
Galilei's gegen die moderne Musik laufen so ziemlich auf dasselbe
hinaus, was wir in Bardi's Sendschreiben gefunden, nur dass Bardi
im Vergleiche zu dem hitzköpfigen, unhöflichen, leidenschaftlichen
Galilei beinahe liebenswürdig erscheint. Wie alle anderen Künste
und Wissenschaften, lehrt Galilei, ist in den Kriegsstürmen und
durch andere unglückliche Ereignisse auch die antike Musik zu
Grunde gegangen, und bo wenig Licht ist davon übrig geblieben,
dass Viele ihre ehemalige Vortrefflich keit für Traum und Fabel
halten. 3) Als nun die Kunst der Töne verloren war, fing man
an, Regel und Gesetz für das Componiren und Singen von den
Instrumenten, insbesondere von der Orgel herzuholen, insbesondere
das Zusammenfügen und Zusammensingen mehrerer Arien zugleich,
wie sie's auf der Orgel spielten, daher sie auch dafür von den
Citharisten und Organisten die Gesetze entlehnten, ausgenommen,
dass wenn vier oder noch mehr Stimmen mit einander sangen,
eine Folge gleichartiger vollkommener Consonanzeu verboten
wurde, vielleicht um die Sache schwieriger zu machen (!), viel-
leicht um zu beweisen, man habe feinere und zartere Ohren als
die Anderen. Die Neuheit der Sache gefiel den Unwissenden;
zudem konnte man auf diesem Wege sehr rasch und leicht ein
Musiker werden. Folgerichtig aber erlaubten sie dann die Folge
von unvollkommenen Consonanzen oder den Uebergang vonjder
1) Dialogo S. 86.
2) Maravigliandosi anzi ridendosi del sapere degli antichi Munin . et
degli effetti maravigliosi. che egli operarono in diversi soggetti, volendo
miaurare la perfetta et dotta scienza di quelli con la confusa ignoranza
loro. (8. 82.) Natürlich ist d as „scacciava la peste1' (S. 86) nicht ver-
gessen! Wie soll man zweifeln, es sind ja .. libri d'autorita", die es
melden! —
3) 8. 84.
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Die Musikrcform and der Kampf gegen den Contrapunkt. 169
unvollkommenen Consonanz zur vollkommenen — sie vermieden
Tritonns und Semidiapente , sie verlangten bei vier oder mehr
Stimmen, dass dem Basse die Terz und Quinte oder an Stelle
der letzteren die Sexte nicht fehle. Das ist sehr gut, wenn es
auf weiter nichts ankömmt, als dem Gehör durch Accorde zu
schmeicheln (per il semplice diletto, che prende Y udito degli
accordi), aber für den Sinn und Ausdruck (l'espressione de con-
cetti) ist es tödtlich (pestifero), denn es dient nur dazu, den Ge-
sang mannigfaltig und volltönig (vario e pieno) zu machen, was
nicht nur nicht immer, sondern gar nie dem Ausdrucke nach Ab-
sicht des Dichters oder Redners angemessen ist. So wurde all-
mählig die Vernunft dem sinnlichen Wohlklang, die Form der
Materie, das Wahre dem Falschen untergeordnet. Ganz anders
ist Sinn und Ausdruck der hohen und jener der tiefen Töne —
die moderne Composition mischt sie zu Consonanzen, welche eine
Ungehörigkeit impertinenza) sind — denn es entsteht ein Misch-
ton, der das Gehör auf das alleran genehmste berührt (soavissima-
mente ferisce ludito), — aber, will Galilei sagen, eben dadurch
die Eigenheit des hohen und des tiefen Klanges neutralisirt.
Dazu fügen die Contrapunktisten gar noch die mannigfache
Schnelligkeit der Bewegung in den einzelnen Stimmen l); ist also
auch die Bewegung in der einen Stimme den Worten angemessen,
so ist sie's in der andern nicht, eine hebt die Wirkung der andern
auf, als wie wenn zwei am Capitäl einer Säule, welche gestürzt
werden soll, ein Seil rechts und eines links befestigen und aus
Leibeskräften jeder nach seiner Seite ziehen wollten, wo die Säule
freilich stehen bliebe. 2) Das Verbot der Folge gleichartiger voll-
kommener Consonanzen ist verhängnissvoll (fatale) geworden; um
dieses Gesetz beobachten zu können . haben sie ohne Sinn und
Verstand und der natürlichen Bewegung der Stimme straks zu-
wider mehrere Notengattungen erfunden. Da singt nun einer die
erste Sylbe eines Wortes und ein anderer die letzte, sie wieder-
holen Worte und Sylben vier- bis sechsmal, einer im Himmel, der
andere auf der Erde, und, wenn es ihrer mehrere sind, im Ab-
grund. Sie schleppen eine einzige Sylbe durch zwanzig und
noch mehr verschiedene Noten, wobei sie bald das Zwitschern der
Vögel, bald das Heulen der Hunde nachahmen. Und so ist die
Musik unserer Zeit eine leichtsinnige, um nicht zu sagen freche
Buhlerin geworden (una laseiva per non dire sfacciata meretrice).
1) S. 82 „Moto contrario" — hier nicht im Sinne dessen, was wir
„Gegenbewegung" nennen.
2) (a. a. 0.) G.B. Doni vergleicht seinerseits: perinde ac si in unum
ferculum, quäle erat olim Laustarocaccabus, aut hoaie olla Hispanica, om-
nia pene edulia inferciantur; quae seperatim propriis in lancibus patinis-
que apposita; et poculiaribus condimentis instrueta, graziora essent; et
lautiores epulas efficerent. (de praest. m. v. S. 71.)
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\ 70 Die Masikreforni und der Kampf gegen den Contrapunkt.
Daher wird die heutige Musik von den Verständigen verschmähet
und verachtet, vom unverständigen Haufen aber höchlich bewun-
dert. Hat nicht der göttliche Piaton ausdrücklich befohlen, man
solle „Proschorda4' und nicht „Simfoneu spielen, das heisst im
Einklänge und nicht in Consonanzen? Es ist nöthig, dass der
Mensch die (Jaben der Musen mit dem Verstände und nicht nach
dem siunlichen Wohlgefallen geniesse (wie es nämlich Consonanzen
erregen). Aber unsere Praktiker sind nicht einmal mit der Menge
von Intervallen zufrieden, welche sie innerhalb des grossen Pytha-
goräischeu Systems finden, sie gehen darüber hinaus bis zur
„Vigesimasecunda44 (dritten Octave) und bis zu den Antipoden —
wahrlich gegen allen Sinn des Affektes! Denn der Klagende
wird sich nicht aus den höchsten, der Betrübte nicht aus den
Mitteltönen entfernen. Unsere Contrapunktisten aber sündigen
dagegen nicht blos in ihren durch einander gemengten Arien,
sondern lassen sogar den Tenor oder den Sopran allein schon
jetzt innerhalb eilf bis zwölf Tönen hinauf- und herabsteigen oder
springen — ohne Rücksicht auf das, was Plato und auch Aristo-
teles lehrt: dass eine Musik, welche nicht den Bewegungen der
Seele dienstbar ist, wahrlich nur Verachtung verdient. Diese
ganze leidige Art, mehrere Arien zusammen zu singen, ist übrigens
keine hundertundfünfzig Jahre alt, sie hat also nicht einmal die
Autorität des Althergebrachten für sich, wie weiland die antike.
Bei den Griechen waren die Musiker die gelehrtesten, feinsten
und angesehensten Leute, die unseren sind unwissend und ver-
achtet. Vollends unsinnig und lächerlich ist die Art, mit welchen
sie den Worten der Dichtung nach ihrer Behauptung gerecht
werden; sie malen es in kindischer Weise z. B. durch punktirte
und syncopirte Noten (als ob sie das Schluchzen hätten), wenn
es im Texte heisst „et col bue zoppo andra cacciando Laura'4 —
das Getöse der Trommeln, den Trompetenton ahmen sie nach;
heisst es: „er stieg zu Pluto hinab44, so brummen die Sänger, als
wollten sie kleine Kinder in Furcht setzen; heisst es: „er erhob
sich zu den Sternen'4, so kreischen sie, als litten sie an Leib-
schmerzen — für Worte, wie „Weinen, Lachen, Singen, Schreien,
Lärmen, falscher Trug, harte Ketten, strenge Bande, rauher Berg,
schroffe Klippe, grausame Schöne44 und so weiter, haben sie ihre
malenden Phrasen. Hätte Isokrates oder ein anderer grosser
Redner irgend ein einzelnes Wort in ähnlicher Weise betonen
wollen, so würde ihn das Gelächter und der Unwille seiner Zu-
hörer unterbrochen haben. ') Wie man Seelenbewegungen richtig
und wahr ausspricht, brauchen sie nicht einmal von so grossen
Rednern zu lernen, sie können es in der ersten besten Tragödie
oder Komödie, welche von Schauspielern dargestellt wird. Sie
1) S. 89.
Die Muaikrefonn und der Kampf gegen den Coutrapunkt 171
sollen da auf die Betonung des Einzelnen achten, wie die Stimme
hoch oder tief, die Rede langsam oder schnell ist, wie die Worte
accentuirt werden — sie sollen acht geben, wie der Fürst mit den
Vasallen oder mit den ihn Anflehenden, wie der Zornige, wie der
Eilfertige, wie die Matrone, wie das Mädchen redet, wie der ein-
faltige Knabe spricht, wie die schlaue Buhlerin, wie der Liebende
zur Geliebten, um ihr Herz zu rühren, wie der Klagende, der
Schreier, der Furchtsame, der Lustige, und so weiter. Hat doch
selbst das Thier seine Stimme, um auszudrücken, ob ihm wohl
oder wehe ist!" l)
Diese letzterwähnten Bemerkungen sind das Interessanteste,
Wichtigste, Wahrste und Fruchtbarste im ganzen Dialog; sie sind
der direct nach der dramatischen Musik deutende Wegweiser. Es
ist nicht schwer einzusehen, dass die weitaus grössere Mehrzahl
der Anklagen, welche Galilei erhebt, auf einer gründlich falschen
Auffassung, ja auf einem totalen Missversteheu der Sache beruht.
Eben so ist gewiss, dass die Chimäre, die er an Stelle der hochaus-
gebildeten, unter ganz anderen Bedingungen und zu völlig anderen
Zwecken als die antike entstandenen Musik (zu deren Vertretern z. B.
auch Meister wie Palestrina, Vittoria, Luca Marenzio u. a. gehören)
setzen will, weit entfernt, die von ihm geträumte Herrlichkeit der
Kunst herbeizuführen, der Tod der Musik gewesen wäre. Aber mit
jenen, fast nur beiher gesagten Worten sprach Galilei, ohne es selbst
zu ahnen, die Zauberformel zur Erlösung der Musik aus den bis-
herigen Banden aus, das Signal zu einer mächtigen Entwickelung,
deren Grösse Galilei nicht entfernt ahnen, deren Tragweite er
nicht absehen konnte.
Was man im Palaste Bardi zunächst und vorläufig wollte,
war vorerst noch nicht die musikalische Wiederbelebung der an-
tiken Tragödie, sondern nur, an Stelle des blossen Loslösens einer
einzelnen Stimme aus dem coutrapunktischen Zusammenhange,
welche als Nothbehelf dem Solisten zugewiesen worden war,
während Lauten oder Violen oder andere geeignete Instrumente
die übrigen Stimmen ausführten, wirklich als Soloparte gemeinte
Gesänge, an Stelle der musikalischen Polyphonie wirklichen und
echten Sologesang zu setzen, und zwar einen Sologesang, in dessen
musikalischer Führung das Wort und der Vers seine richtige Be-
tonung, sowohl in der metrischen, als in der den natürlichen Gang
und Ausdruck der Rede bezeichnenden Accentuirung erhalten, die
Musik nicht die Zwecke ihres eigenthümlichen Wohlklanges ein-
seitig verfolgen, sondern Nachahmung der Gemütsbewegungen
sein sollte. Das Ungenügende jenes Nothbehelfes einzusehen,
hatte man bei Gelegenheit solcher Vorträge der Signora Vittoria
Archilei vollauf Gelegenheit, deren gepriesene Gesangskunst und
1) S. 89.
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172 Die Musikreform und der Kampf gegen d*n Contrapunkt
brillante Coloratur, mit welcher sie die Parte so fiberreich aus-
stattete, jene Grundübel nicht verdecken konnte, welche Lodovico
Viadana in der Vorrede seiner 1609 gedruckten Concerli ecdesia-
stici treffend hervorhebt: „solche herausgerissene Einzelstimmen
machen eine schlechte Wirkung, da sie auf den Zusammenhang
im Ganzen berechnet sind, insofern sie nämlich als Bestandteile
von Fugen, Cadenzen und Contrapunkten erscheinen; sie sind
daher auch voll langer und wiederholter Pausen, haben keine
rechten Schlusscadenzen, keinen iiiessenden Gesang (senz' aria),
statt dessen vielmehr eine sehr unschöne Führung (con pochissima
et insipida sequenza), dazu sind auch die Textworte übel einge-
theilt, zerrissen, zusammengeflickt, was alles den Gesang sehr
unangenehm erscheinen lässt." Zu diesen sehr richtigen Bemer-
kungen wäre auch noch die weitere zu machen: dass die auf
Instrumenten gespielten, selbständig und contrapunetisch geführten,
vom Componistcn ursprünglich der Menschenstimme zugewiesenen,
mit dem nunmehrigen Hauptparte ursprünglich gleichberechtigten
Parte, statt eine wirkliche, den Sologesang hebende Begleitung
zu bilden, für ihn vielmehr zu einer hemmenden und störenden
Belastung wurden. Man muss diese Punkte wohl im Auge be-
halten, um zu begreifen, wie und inwieweit die Reformbestrebungen
im Hause Bardi ihre Berechtigung hatten. Sie haben sich darum
nicht nur als lebensfähig, sondern auch als höchst folgenreich er-
wiesen, während das Nichtlebensfähige dabei, nämlich die ein-
seitige und rückhaltlose Wiedereinführung der antiken Musik von
selbst, wie Schlacke, ausgeschieden wurde. —
Der erste im Hause Bardi, welcher mit einem praktischen
Versuche hervortrat, war wiederum Vincenzo Galilei. G. B. Doni
— allerdings kein unmittelbarer Zeuge, aber durch Piero Bardi.
den Sohn Giovanni's, wohl unterrichtet — erzählt: „Galilei fand
in diesem Kreise Aufmunterung, neue Dinge zu versuchen, und
setzte, vorzüglich mit Beihilfe des Herrn Giovanni (Bardi), der
erste Melodieen für eine Stimme (melodie ä voce sola), indem er
jene ergreifende Klage des Grafen Ugolino, wie Dante sie ge-
schrieben, componirte, welche er auch selbst sehr ansprechend zu
einem Concert von Violen (sopra un concerto di Viole) sang".
Es war also keine Improvisation , sondern eine ausgearbeitete
Com position, und die begleitenden Violen (nicht „die Laute",
wie man wohl zu lesen bekömmt) hatten ihr „Concerto" mit der
Singsthnme, das heisst ihren selbstständigen Part. In demselben
Style componirte, nach Doni's weiterem Bericht, Galilei einen
Theil der Lamentationen des Propheten Jeremias, welche (von
ihm selbst ?) in einer frommen Versammlung gesungen wurden.
Es war ein Angriff auf die ältere (oder nach der Terminologie
im Hause Bardi „moderne") Musik in ihrem eigenen Lager. Auch
mag nicht unbemerkt bleiben, dass Galilei beidemale nach hoch-
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Dio Musikrefonn und der Kampf gegen den Contrapunkt. 173
pathetischen, den stärksten Ausdruck erheischenden Texten griff.
Schon Ugolino hatte im Allgemeinen gefallen, obwol es nicht
an Neidern fehlte, die über den neuen Ötyl lachten — was Ga-
lilei zunächst bewog, dem Ugolino jene Lamentationen folgen zu
lassen. Wir können nicht mehr bestimmen, wie viel bei diesen
Compositionen Galilei selbst angehörte, und wie viel dem Grafen
Bardi, der ein im madrigalesken Musikstyl nicht ungeübter Ton-
setzer war. Bardi hatte 1589 zu den „Intermedii e Concerti fatti
per la Comedia rappresentata in Firenze nelle nozze del Sereniss.
Don Ferdinando Medici e Madama Cristiana di Loreno, Gran
Duchi di Toscana" (gedruckt 1591 in Venedig bei Giacomo Vin-
centi) l) Madrigale nebst Luca Marenzio, Emilio del Cavaliere,
Jacopo Peri und Cristofano Malvezzio geliefert. Wir dürfen in-
dessen von dem Ugolino und den Lamentationen keine zu hohe
Idee fassen, wenn wir bei Doni lesen : Caccini habe in Nach-
ahmung des Galilei, aber in einem weit schönern und an-
genehmen Styl (ad imitazione del Galilei, roa con stile piü
vago e leggiadro) einige Sonette und Canzonetten in Musik ge-
setzt. 2) Nicht der Dilettant Galilei hat die neue Monodie ge-
schaffen 3), sondern der gebildete, talentvolle Künstler Giulio
Caccini.
„Da ich nun wohl einsah", erzählt Caccini in der Vorrede
seiner nuove musiche, „dass Musik und Musiker dieser Artu (näm-
lich der bisherigen contrapunktischen Richtung) „kein anderes
Vergnügen gewähren können, als welches das Ohr durch das
Zusammenklingen der Harmonie empfängt, indem sie den ver-
ständigen Sinn (Tinteletto) nicht bewegen konnten, wenn die Worte
unverständlich blieben" (man sieht hier abermals wie gut sich
Caccini die erhaltenen Lehren gemerkt), „so fiel mir ein, eine
Art von Musik einzuführen, dio eine Art von harmonischer Sprache
vorstellte, wobei ich eine gewisse edle Nichtachtung des Gesanges
(nobile sprezzatura del canto) anwendete, indem ich, während es
durch einige falsche Noten ging" (er meint durchgehende und
Wechseluoten), „den Bass festhielt, ausser wo ich mich nach ge-
wöhnlicher Art der vom Instrumente anzuschlagenden Mittelstim-
men bediente, um irgend einen Affekt auszudrücken". Die neuen
Madrigale wurden in Florenz (natürlich wohl im Uause Bardi)
gesungen, mit liebevollem Beifalle (con amorcvole applauso) be-
grüs8t und Caccini aufgemuntert, weiter zu streben. Er begab
sich nach Rom, um auch dort eine Probe abzulegen (a Roma,
1) Exemplar in der k. k. Hofbibliothek zu Wien.
2) a. a. 0. S. 24.
3) J. L. Klein in seiner bände- und noch mehr wortreichen Geschichte
des Drama (Das ital. Drama, 2. Band, S. 522) hält, missvorstehend,
Galilei für den Erfinder der Melodie und daher für einen staunenswerten
Epochenmann — !
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174 Masikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
per darne saggio anche quivi). Im Hause des edlen Nero Neri
pflegten sich, wie bei Bardi in Florenz, viele Edelleute zn ver-
sammeln, unter ihnen, als eine der Hauptpersonen, Lione Strozzi. *)
Als sie Caccini'8 Madrigale und Arien gehört, „gaben sie alle
gutes Zeugniss und ermunterten zum Fortschreiten auf dem be-
tretenen Wege; sie hätten, sagten sie, noch nie den Gesang einer
Stimme allein zu einem Saiteninstrument gehört, welcher in glei-
chem Maasse wie diese Madrigale geeignet gewesen wäre, das
Gemtith zu bewegen" (che havesse tanta forza di movere Taffetto
del animo). Der berühmte Verfasser der mehrmal componirten
„Affetti pietosi", P. Angelo Grillo, begrüsste ihn als den „Vater
der neuen Musik". 2) Dieser seiner ersten Madrigale erwähnt
Caccini auch in der Vorrede seiner „Euridice". So habe er San-
nazar's Ekloge componirt: lleny aW ombra de gli ameni fnggi,
die Madrigale: perfidissimo volto; Vedro l mio sol; Dovro dunque
morire und ähnliche. Die Ekloge nach Sannazar ist verloren; die
drei andern sind in der Sammlung monodischer Compositionen
enthalten, welche Caccini 1601 (florentiner Styl — richtig 1602) bei
den Erben Giorgio Marescotti's in Florenz erscheinen Hess, Lo-
renzo Salviati widmete, und denen er den fast stolz klingenden
kurzen Titel gab: le nuove musiche di Giulio Caccini detto Ro-
mano 3). Dieser Titel soll nicht etwa nur einfach die eben auf
1) Er gehörte zur römischon Linie des Hauses.
2) Er schreibt an ihn : „Ihr seid der Vater der neuen Musik, oder
eines Gesanges violmehr, der kein Gesang, sondern eine singende Recita-
tion ist, edel und weitaus höher als die Volksgesänge, der die Worte
nicht verstümmelt, noch entstellt, noch ihnen Leben und Sinn benimmt,
der sie vielmehr erst recht belebt und ihnen mehr eindringliche Kraft
verleiht" (Lettere dell' abbate Angelo Grillo, Venedig 1609, 1. Theil,
S. 435).
3) Der vollständige Titel ist:
LE NVOVE
MVSICHE
DI GIVLIO CACCINI
DETTO ROMANO
IN FIRENZE
APPRESSO I MARESCOTTI
MDC1. (Vignette: ein Seeschiff auf un-
ruhigem Meere mit der Umschrift: et vult et potest.)
Das Format ist ein massiges Folio — 26 Blätter, der Druck ist
weder schon, noch correct. Der musikalische Inhalt ist folgender. Als
illustrirende Exempel zu der von Caccini vorangestellten Gesauglehre:
drei kleine Madrigale: „Cor mio deh non languire"; Aria di Romanesca:
„ahi dispietato atnore" (Violinschlüssel); „Den, dove son fugitti'* (Sopr.).
Sodann folgende Madrigalo für eine Singstimme: „Movete pieta; Queste
lagrim' -amare; Dolcissimo sospiro (sämmtlich im Sopranschlüssel) ; Amor,
io parto (Alto); Non piu guerra; Perfidissimo volto (beide im Tenor-
schltissel); Vedro '1 mio Sole (Sopran); Aman Iii bella; Sfogava con steile
(beide im Violinschlüssel); Fortunate angellino (8opran); Dovro dunque
morire (Violinschlüssel); Filii mirando U cielo (Sopran) — (ü fine dei
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 175
dem Musikmarkte neben anderen Novitäten erschienene Neuigkeit
bezeichnen, sondern eine neue Zeit, einen neuen Musikstyl an-
kündigen. — »»Die neue Musik'*, die Madrigale, deren Textanfange
Caccini zitirt, waren damals, wie er ausdrücklich erwähnt, schon
vor vielen Jahren componirt l)
In der That wirkte diese Sammlung epochemachend, die
Sammlung von Gesängen folgte der andern, in welcher der Styl
von Caccini's „Nuove musichc" bis in die Einzelheiten hinein ge-
wirkt hat — so folgt schon 1606 Domenico Bmnetti von Bologna
mit seiner von ihm „Euterpe" betitelten Sammlung, 1610 Jacob
Pen (Caccini's Kunstgenosse und Rival) 1610 mit den „Varie
musiche", Antonio Bruneiii in Pisa 1616 mit seinen zwei Büchern
„Scherzi, Arie, Canzonette e Madrigali", in demselben Jahre Ka-
desca da Foggia in Turin mit fünf Büchern ,,Canzonette, Madri-
gali, Arie". Girolamo Fornaci brachte in Venedig ,.amorosi re-
spiri". Dann ist Francesco Capello in Venedig zu nennen. Ottaviano
Durante in Rom wendete 1 608 den neuen Styl in seinen „Arie divote"
Madrigali). Hierauf zwei Chöre und drei Arien aus il rapimento di Co-
falo. Aria prima: io parto amati lumi; Aria seconda: ardi, ardi cor
mio (beide im Sopranschlüssel); Aria terza: ard' il petto mio (Violin-
schlüssel); Aria quarta: fere selvaggie; Aria quinta: Fillide mia; Aria
seata: dite udite amanti; Aria settima: Occhi inamorati; Aria ottava:
Odi Euterpe; Aria nona: Nelle rose purpurine (sämmtlich Sopran); Aria
ultima: Cni mi conforta oime (Bass). Somit 15 Madrigale, 13 Arien und
zwei Chore. Zum Schlüsse : apresso Ii heredi di Giorgio Marescotti lfDCH,
cum licentia superiorum. Der Unterschied in der Jahreszahl erklärt sich
dadurch, dass die Florentiner ihr Neujahr mit dem Frühlings- Aequinoc-
tiuni im März feierten. Caccini's Vorrede ist datirt: di casa in Firenzo
ü di primo di Febbraio 1601. Das Werk erschien aber erst im Juli —
Dank der geist- und weltlichen Censur, die es passiren musste. Mares-
cotti Sohn entschuldigt ausdrücklich damit und mit dem mittlerweile er-
folgten Tode seines Vaters Giorgio die Verspätung. Die beigesetzten
Pennesse der Censur sind lesonswerth:
„Jo Fra Francesco Tibaidi Fiorentino de Minori Conventuali hö •
letto questi Madrigali in Musica del Sig. Giulio Caccini Romano, e dalT
essor composti in materia d'amor mondano in poi, non vi ho tro-
Tato cosa repugnante alla cattolica fede, ne tan poco contro
prelati di Santa Chiesa (!) Republiche 6 preneipi et in fede di
cio ho scritto questi quattro verei ai propria mano in S. Croce di Firen-
ze, l'ultimo di Giugno 1602, con la lettera dedicatoria al Signor Lorenzo
Salviati et un altra a lettori. — Concedesi la stampa cot consenso del
Padre Inquisitor il di di 1 Lnglio 1602. Cos. Vicario di Fiorenza. —
Si concede licenza di steropareh in Fiorenza, die 1 Junii (so!) 1602,
Tloquisitor di Fiorenza."
1) Vorrede der Euridice: „In essa (nämlich in der Euridice) ella
(Bardi) riconoscera quollo stile usato da mo altre volte, molti anni so-
no, come sa V. S III. nell' egloga del Sannazaro „Iten all' ombra de gli
ameni t'aggi" ed in altri miei madrigali di quei tempi: „Perfidissimo
▼olto-4. „Vedro 'l mio solo", „Dovro dunque raorire" e simili.
„neue
176 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
auf kirchliche Gesänge an ; auch Serafino Patta Aquilano componirte
geistliche Singestückc in dieser Art, wozu P. Angelo Grillo's „pietosi
affetti" die Worttexte lieferten; Girolarao Marinoni componirte
offenbar zu eigenem Gebrauch (er war Sänger in S. Marco in Ve-
nedig) geistliche Arien nach Antiphon- und Hymnentexten, Hie-
ronymus Kapsberger in Rom setzte 1624 lateinische Gedichte
Urban's VIIL in Musik. »)
Diese monodischen Arbeiten riefen, wie man sieht, sofort eine
neue Tonsetzerschule in's Leben. Ein neuer Styl, welcher dem
Geschmacke, den Wünschen der Zeit, der Nation so völlig ent-
sprach, war gefunden — begreiflich, dass er in ganz Italien den
lebhaftesten Anklang fand. In diesem Sinne wurden Caccini's
„Nuove musiche" ein epochemachendes Werk. Das Wort Castig-
lione's von dem Werthe des Einzelgesanges erhielt erst jetzt seine
rechte Bedeutung; was der geistvolle Mann hundert Jahre vorher
nur erst geahnt hatte, erfüllte sich jetzt. Auch der deutsche
Michael Prätorius nennt in der 1619 geschriebenen Vorrede des
dritten, ganz eigens die (damals) moderne Musik behandelnden
Theiles seines Syntagma den „Giulio Romano14, sonsten Giulio
Caccini di Roma genannt 2), und wundert sich, wie ,,souderlich
jetziger Zeit, da die Musik so hoch gestiegen, das fast nicht zu glau-
ben, dieselbe nunmehr höher werde kommen können". Was uns
dürftige Anfänge, die ersten, unsicheren , oft unbeholfenen Schritte
auf einer neuen Bahn scheinen, erschien der erstaunten Welt als
Vollendung, eine Steigerung gar nicht mehr möglich! Prätorius
weiset auf Italien, die dortige musikalische Bewegung und den
neuen Musikstyl ganz ausdrücklich hin. „Weil aber jetzo"
fährt er fort, „sonderlich in Italia, auss dcrmassen viel
musicalische Compositiones und Gesänge, so gar uff
ein andere Art, Manier und Weise, als vor der zeit,
auffgesetzet und mit ihren Applic ationibus an Tag
kommen und zum Truck verfertigt sein und noch wer-
den, darinnen so mancherley unbekannte Italianische Vocabula,
Termini und Modi begriffen und vorhanden, da sich ein jeder
Musicus darin nicht wohl richten und schicken kann — — —
so hab Ich in diesen Tertium Tomum erstlich die Namen aller
Italianischen, Französischen, Englischen und jetzo in Teutschland
üblichen Gesängen, demselben Signification, Distribution und De-
1) Von Peri's „varie iuusiche" besitzt die Marcusbibliothek in Vene-
dig ein Exemplar, Ottavian Durante's „Arie divote" die Musiksammlung
der Chiesa nuova in Rom und Kiosowetter's Sammlung in Wien, die
.,Euterpo" die Chiesa nuova, ebenso die Gesänge von Kapsberger — die
Prager Universitätsbibliothek aber bewahrt als eine für die Geschichte
der Monodie geradezu unschätzbare Sammlung die eben genannten
Arbeiten von Kadesea. Bruneiii, Fornaei, Marinoni, CapeUo und Patta.
2) S. 230.
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 177
scription : zum andern von etlichen andern unterschiedenen Sachen,
so nicht allein gemeinen, sondern auch den vornehmen Musicis
theoricis und practicis zu wissen nicht undienlich, richtige und
verständliche Erklehrung gethan, und dann wie zum dritten die
Italianische und andere Termini musici und Vocabula zu ver-
stehen, die Instrumenta musicalia in Italianischer Sprach zu nen-
nen und abzutheilen: Der Generalbass (welches gar eine
neue Italianische In vention, aus der massen herrlich,
nützlich Werck vor Capellmeister, Directores, Canto-
res, Organisten und Lautenisten, und bei uns in Teutsch-
land sich a 1 1 c'r erst beginnet herfür zu thun und in
gebrauch zu kommen) zu tractiren und recht zu gebrauchen;
desgleichen wie man ein Concert, Teutsch- oder lateinische Mo-
tetam, so vff viel unterschiedene Chor gesetzet, mit guter bequem-
ligkeit disponiren und anordnen könne, und was sonsten andre
mehr Sachen darinnen begriffen, welches alles meistentheils vff
jetzige neue- Art der Music accomodiret und gerichtet, so
ich zum Theil aus etlicher Italianischer Musicorum Praefationibus,
zum Theil ans etlicher Italorum und derer, so in Italia vcrsiret,
mündlichem Bericht, zum Theil auch aus meinen selbst eigenen
Gedancken und geringen Invention verfasset, conscribiret und zu-
sammen bracht."
Prätorius wünscht „damit nach Exempel der Italorum
auch in Germania nostra patria die Musica gleich als andere
Scientiae und Disciplinae nicht allein excoliret, besonders auch
propagiret und zu Gottes einigem Lob und Preiss, auch Gott-
fürchtigen Herzen seliger Recreation und Ergötzlichkeit weit aus-
gebreitet werden möge44 *) — er wünscht, dass „die Knabeu, so
vor andern sonderbare Lust und Liebe zum Singen tragen, uff
jetzige Italianische Manier zu informireu und zu unter-
richten seyn" 2) — er spricht von den „praestantissimorum mu-
sicorum Scholis, welche andern löblichen Nationen hiermit nichts
benommen jederzeit in Italia gefunden und anjctzo
noc h zu finden." 3)
Es gab aber, dem allgemeinen Enthusiasmus zum Trotz, auch
Kenner und Freunde des früheren Musikstyls, welche in der ge-
änderten Kunstweise eine nichts weniger als erfreuliche Wendung
der Dingo erblickten. Sie blieben indessen in verschwindend
kleiner Minorität. Der distinguirte Kunstfreund in Rom Lelio
Guidiccioni dankt es aber gerade seiner conservativen Gcsinnuug,
zu deren Bekämpfung Pietro dclla Valle sein bekanntes Send-
schreiben an ihn richtete, dass sein Name unvergessen geblieben
1) Einleitung zum 3. Theil des Syntagrua.
2) S. 229.
3) Einleitung.
Ambrot, Geschichte der Maslk. IV.
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178 Dio Musikreforro und der Kampf gegen den Contrapunkt.
ist. Sehr scharf spricht sich 1622 gegen das neue Musikwesen
Lodovico Zacconi aus: „was würden die alten Meister zu dieser
Wirthschaft sagen — was Josquin, Mouton, wenn sie in's Leben
Surückkehrten ? Sähen wir die ernste Arbeit, welche sie an die
zache wendeten, so hätten wir alle Ursache zu staunen. Ich
könnte blutige Thränen weinen, wenn ich wahrnehmen muss, wie
unsere neuen Sänger (deren Gebiet überdies die modernen Alltags-
gesänge sind) die alten edeln Meisterwerke nicht mehr anerkennen
wollen — aber auch gar nicht mehr im Stande sind, sie zu
singen. Wahrlich, ich kann im Namen unserer modernen Com-
ponisten nur schamvoll erröthen!" ')
Der neue Musikstyl bewirkte auf musikalischem Gebiet, was
die Renaissance auf allen anderen Gebieten schon früher längst
siegreich durchgeführt hatte: die Emancipation des Indivi-
duums. Im Mittelalter hatte sich jeder Einzelne darein einge-
lebt, sich als integrirender Bestandtin il irgend einer Corporation,
als Mitglied eines grösseren Ganzen anzusehen und zu empfinden.
Und zwar nicht blos innerhalb der zwei grossen Grundmächte
und Wahrer der Ordnung auf Erden, Kirche und Staat, sondern
innerhalb dieser beiden wiederum in irgend einer kleineren Cor-
poration, aus der und ihresgleichen sich jene grösseren zusammen-
setzten ; der Staatsangehörige war zunächst etwa erbeingesessener
Bürger einer Stadt und innerhalb der Bürgerschaft erst wieder
Mitglied einer Zunft als Handwerker, einer Facultät als Mann der
Wissenschaft, und so weiter; der Geistliche mochte als Canonicus
einem Domstift, oder als Ordensmann einem Kloster angehören;
und, als genüge das Alles nicht, bildete sich noch eine Menge
von Confraternitäten , Bündnissen u. s. w. Ueberall fühlte sich
der Einzelne von seiner Zunft, seinem Orden, seiner „Bruder-
schaft" getragen und beschützt, aber allerdings auch von ihren
Gesetzen tiberall und so ziemlich in Allem bedingt und abhängig.
Der Einzelne stand so zu sagen nie für sich ein, er war gleich-
sam nur die einzelne Figur einer Gruppe, eines Chores, einer
Gesammtperson. Im Mittelalter erkannte sich der Mensch (wie
Burklmrdt 2) sehr schön sagt) „nur als Race, Volk, Partei, Corpo-
1) Prattica di Mus. Lib. I. Cap. LXIII. Der Originaltext lautet: ,.Se
ne fosse lecito e concesso di vedoro lo studio, cho faceano gV antichi in-
torno a questa particolare scienza della musica, non ho dubbio alcuno,
cho non navessimo ad inarcar le ciglia o non ci havessimo grandemente
ad istupire e maravigliare ; questo io dico, perene piango e
sospiro in vedere, che i Cantori moderni (da i canti ordinarij in poi) non
rkonoscano piu le pretiosie belle cantilene antiche, e non le sanno piü
cantaro, so tornassero in vita Jnsquino, Gio. Motone e gl' altri,
che di questo sapeano pur assai, trasecolarebbono in vedere si poca cog-
nitiono, e quanto malamente hnggidi i compositori se ne sappin o servire
cose, cho mi fanno per loro arrossire e vergognare."
2) Die Cultur der Renaissance in Italien S. 104.
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 179
ration, Familie, oder sonst in irgend einer Form des Allgemeinen.
In Italien erwacht zuerst eine objektive Betrachtung und Behand-
lung des Staates und der sämmtlichen Dinge dieser Welt über-
haupt, daneben erhebt sich aber mit voller Macht das
Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum
und erkennt sich als solches. Mit dem Ausgang des 13.
Jahrhunderts beginnt Italien von Persönlichkeiten zu wimmeln;
der Bann, in welchem der Individualismus gelegen, ist hier völlig
gebrochen , schrankenlos spezialisiren sich tausend einzelne Ge-
sichter". In Italien vollendet das 15. Säculum diese Emancipation
endgültig — Individuen , die in sich allein eine ganze Körper-
schaft vereinter und höchst mannigfaltiger Kräfte und Fähigkeiten
repräsentiren, treten auf. Man denke z B. unter den Künstlern
an Leo Battista Alberti, an Leonardo da Vinci. Oder man er-
innere sich auch nur, was z. B. Baldassare Castiglione von einem
vollkommenen Edelmann alles verlangt. Aber während dieser
Periode und noch drei Viertel des sechzehnten Jahrhuuderts hin-
durch hatte, durch die Uebermacht und den bildenden Einfluss
der niederländischen Musiker, die Musik die wesentlich mittel-
alterliche Form des Polyphonen, Confrapunktischen, Chormässigen
festgehalten — die Musiker bildeten eine zusammensingende Kör-
perschaft, selbst wo sie höchst Subjektives musikalisch auszu-
sprechen, z. B. ein Liebeslied vorzutragen hatten, wie es in
Petrucci's Sammlungen zu Hunderten vorkommt. Orazio Vecchi's
„Anfiparnassou ist wohl das allerauflallendste Denkmal dieser
ganzen Richtung. Die Renaissance und ihr Geist durchdrang
diese Formen verklärend und erwärmend wie Sonnenlicht (Palc-
s tri na, Marenzio, die beiden Gabrieli u. s. w.) — die Form selbst
vermochte sie einstweilen nicht zu brechen. Aber wie stark der
Drang nach der Emanzipation des Individuums allgemach auch
hier wnrde, zeigt die Flucht des einzelnen Sängers mitten aus
dem Chore der singenden Collegen — er nimmt sich seinen con-
trapunktisch gesetzten Part mit, und singt ihn, so gut oder so
9 schlecht es gehen will, für sich allein, und lässt die Parte der
von ihm im Stiche gelassenen Collegen, die er des Gesammtein-
druckes wegen doch am Ende nicht entbehren kann, von musi-
kalischen Instrumenten als Begleitung seines Gesanges spielen.
Von Ausdruck, Leben, Empfindung kann in seinem Vortrage
natürlich keine Rede sein, er kann da nichts herausholen und
nichts hineinlegen, er mag höchstens seinen Part mit allerlei
Brillantschnörkeleien bestens aufputzen. Und nun aber tritt durch
Caccini und in dessen „Nuovc musiche" der Sänger zum erstenmale
wirklich als Solist auf; er trägt vor, er detaillirt und nüancirt,
sein Gesang ist nicht mehr herausgerissenes Bruchstück eines
eigentlich untrennbaren Ganzen, er ist selber ein Ganzes, belebt
von Ausdruck, von Empfindung — er wird individuelle Gefühls-
12*
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180 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt
spräche. Die Poesie, welche im Gewebe der Contrapunktik ver-
schwunden war, tritt wieder hervor; sie wird wahrnehmbar; die
Musik wird zwar zur Dienerin der Poesie nnd muss sie schmücken,
aber dafür erklärt das wieder hör- und vernehmbar gewordene
' Wort der Poesie, was die Musik in ihrer Weise ausdrücken will.
Takt, Tempus und Prolation hören auf, den Sänger in Banden
zu halten; sie ordnen und gruppiren wohl die Noten und regeln
deren Bewegung, aber statt der Hand des Taktschlägers folgen
zu müssen, darf jetzt der Sänger den Bewegungen seines erregten
Gemüthes folgen ; streng im Takte melodisch fortschreitender Ge-
sang darf mit freiem Vortrag, mit beschleunigter, mit zurück-
gehaltener Recitation (der „nobile sprezzatura del Canto" Caccini's)
wechseln. Caccini leitet seine nuove musiche mit einer höchst
merkwürdigen Anweisung zu deren richtigem und insbesondere
ausdrucksvollem Vortrage ein. Zur Illustrirung seiner Lehren
schaltet er drei seiner Monodieen ein, und bei einer derselben,
„deh dove son fuggiti", finden sich nicht weniger als folgende
Bezeichnungen l) für den ausdrucksvollen Vortrag: scemar di voce,
escla ( — mazione) spiritosa, escla. — piü viva, escla.-escla.-escla
(trillo), e8cla.-8enza misura quasi favellando in armonia con sud-
detta sprezzatura (trillo)-escla. escla. con misura piü larga, (trillo)
escla. escla. escla. rinforzata. trillo peruna mezza battut i Eine
kurze, treffende Beurtheilung der Gesänge Caccini's hat Kiese-
wetter seiner ,,Gallerie alter Contrapunktistcn" als Randbemerkung
beigesetzt: „Diesen Gesängen, wie sie auch seien, kann das Prä-
dicat wirklicher Monodie nicht abgesprochen werden; das Streben
nach Ausdruck ist sichtbar; der Sänger mochte nachhelfen/1 Und
in der That ist die Tiefe des Ausdrucks in Caccini's „nuove
musiche" zuweilen überraschend. Durch alle Befangenheit, welche
diesen Erstlingsversuchen anklebt, durch die knappe, magere Form
bricht sie an mehr als einer Stelle siegreich durch, selbst die
Coloraturschnörkel vermögen sie nicht überall zu überwuchern.
Ihr declamatorisches Pathos vollends und die Flebile dolcezza
(wie Graf Castiglione bei anderer Gelegenheit sagte) trafen so 9
ganz, was die Zeit haben wollte, und diese erkaunte in ihnen mit
freudigem Antheil das längst Ersehnte. Die blosse Autorität Pla-
ton's hätte es nicht vermocht, dieser Musik einen gleichen Erfolg
zu sichern. Die Reformatoren durften sich Glück wünschen, einen
talentvollen, gebildeten Musiker wie Caccini überzeugt und ge-
wonnen zu haben; die dilettantenhaften Versuche Galilei's u. A.
hätten schwerlich ausgereicht. Vergleicht man diese Compositionen
mit den von Galilei, Bardi u. s. w. ertheilten Lehren, so darf
man sich nun allerdings fragen, ob die Herren eben grosse Ur-
sache hatten, hier eine vollständige und rückhaltlose Verwirk -
1) „Buchbindernaclirichtcn an den Sänger", würde Jean Paul sagen.
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 181
lichung ihres Programms zu erkennen. Es fehlt nicht an Textes-
wiederholungen, welche nicht durch den poetischen Inhalt, sondern
durch den musikalischen Aufbau geboten sind, und die zahl-
reichen Coloraturen hätte Plato auch schwerlich gut geheissen;
ferner sind die Tonarten nichts weniger als die antiken, vielmehr
tritt die moderne Tonalität hervor, mit Ausweichungen in Neben-
tonarten, mit entschiedenem Gefiihl für die Bedeutung der Domi-
nante und so weiter. So viel aber war erreicht, dass der Solo-
gesang und im Gesänge der Ausdruck des Affektes das Wesent-
liche und das Singen eine Nachahmung des Redens wurde; damit
aber war die Tonkunst auf dem geraden Wege zum musikalischen
Drama, Die Epoche hätte ohnehin am liebsten alle Künste dra-
matisch oder, besser gesagt, theatralisch beschäftigt. Wurde da-
mals doch selbst die Plastik aus der edeln Ruhe der Antike, aus
der stillen Innigkeit der mittelalterlichen Sculptur herausgejagt
und musste sich gefallen lassen, Komödie zu spielen. Erinnere
man sich an des gleichzeitigen Bernini und seiner Kunstgenossen
Heiligengruppen, an seine Papstgräber u. s. w., wo sich Engel,
Dämonen, Tugenden und allegorische Figuren jeder Art „an dem
allgemeinen Komödienspiel betheiligen und irdend eine Szene
möglichst gewaltsam aufführen müssen." l) Wir werden eben diese
Engel, Dämonen, Tugenden und sonstigen allegorischen Figuren
auch auf der Opernbühne antreffen agirend, singend und
tanzend !
Den Weg zum Dramatischen schlug jedoch die Musik bewusst
und absichtlich erst ein, als der vorzüglichste Förderer der ganzen
Reformbewegung, Bardi, schon aus Florenz geschieden war. Papst
Clemens VIII. (1592—1605) hatte ihn als „Maestro di camera"
nach Rom berufen, vermuthlich gleich oder bald nach der Thron-
besteigung des Papstes, denn schon 1594 finden wir in Florenz
statt des Hauses Bardi das Haus Corsi als Asyl der Tonkunst.
Die musikalisch - philosophischen Reunionen in Florenz gingen
jetzt in das Haus des edeln Jacopo Corsi, eines grossen Gönners
der Musik und der Musiker, über. Sein Haus, sagt Doni, war
eine beständige Herberge der Musen (un continuo albergo delle
muse), und wer ihnen diente, fremd oder einheimisch, fand dort
die zuvorkommendste Aufnahme.2) Die Tonkünstler nannten
Corsi den „Vater der Musik". 3) Wie bei Bardi es Giulio Caccini
gewesen, welcher die reformatorischen Ideen künstlerisch zur
Geltung brachte, so war es im Hause Corsi der tüchtige Componist
1) Lftbcke, Gesch. der Plastik II. S. 76.
2) G. B. Doni Op. II. S. 24.
3) — il Sign. Jacopo Corsi d'onorata memoria amatore d'ofpi dottrina
e deUa musica particolarmente in maniera, che da tutti i musici con gran
ragiono ne vien afctto il padre. (Marco Gagliano's Vorrede zu seiner „Dame".)
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182 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt
und hochgeschätzte Sänger Jacopo Peri, „il Zazzerino" (der
Lockenkopf — so genannt von der reichen Fülle seines röth-
lichen Haares). Und zwar nahm die Sache hier sogleich die
Wendung zum Dramatischen.
Zu dem Kreise im Hause Corsi gehörte auch der Dichter
Ottaviano (Ottavio) Rinuccini. Sein Biograph Janus Nicius Ery-
thräus (Rossi) l) schildert ihn als eine glänzende, ritterliche Per-
sönlichkeit, erregbar, leidenschaftlich und besonders von schönen
Frauen leicht in Flammen gesetzt. Für die Prinzessin Maria von
Medicis, nachmals Gemalin Heinrich des Vierten, fasste er eine
heisse Neigung, er folgte ihr nach Frankreich 2), von dort kehrte
er nach Florenz zurück, um sich mit nicht geringerer leidenschaft-
licher Glut der Frömmigkeit zuzuwenden. Er starb 1621. Er
ist eine Art von zweitem, geringerem Tasso, mit dessen Dichter-
talonte er ebenfalls eine innere Verwandtschaft erkennen lässt.
Seine für musikalische Compositionen bestimmten Dramen Dafhe,
Euridice, Aretusa und Arianna haben auch als Dichtungen be-
deutenden und selbständigen Werth, die Sprache ist edler Wohl-
laut, Gang und Anordnung der Handlung sind klar und verständig,
der Ausdruck ist gewählt und natürlich, was man in einer Zeit, wo
der Schwulst und Bombast Marini's die italienische Poesie zu be-
herrschen anfing, doppelt hoch schätzen muss. „Obwol", sagt
Doni, „Rinuccini selbst die Musik nicht verstand, so half ihm doch
sein feines Urtheil und sein gebildetes Ohr." Doni sagt geradezu,
dass Rinuccini und Corsi es gewesen, welche durch die Rath-
schläge und Belehrungen, welche sie den Musikern gaben, das
musikalische Drama in's Leben gerufen.3)
Rinuccini's Dafne kam nach einer Composition Peri's (Doni
ftigt bei: „und Caccini's", augenscheinlich irrig), welche nicht
mehr vorhanden ist, im Hause Corsi zur Aufführung, „zum un-
aussprechlichen Genüsse der ganzen Stadt". 4) Peri erzählt in der
Vorrede seiner Euridice selbst: „Obwol Signor Emilio del Cava-
liere, so viel ich weiss, eher als jeder Andere unsere Musik in
bewundernswerther Weise auf der Scene hören liess, so gefiel es
doch 1594 den Herren Jacopo Corsi und Ottavio Rinuccini, dass
ich, die Musik in anderer Weise behandelnd (adoperan-
dola in altra guisa), die Noten zur von Herrn Ottavio Rinuccini
gedichteten Dafne setzen möge, um einfach eine Probe zu machen,
wie viel der Gesang unseres Zeitalters vermöge." Diese „andere
1) S. dessen Pinacotheca.
2) Mariam Medicaeam, Galliae Re^inam. non majori aoinulationo quam
vanitato adamavit, quam etiam honoris gratia prosecutus est euntem in
Galliam. (Ervthräus a. a. 0.)
3) Doni Op. II. S. 25
4) „con gusto indieibilo della citta tutta.44 (Doni Op. H. S. 24.)
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 183
Weise" ist augenscheinlich der neue florentinische, monodisch-
declamatorische Musikstyl — und mit den Werken, welche Emilio
del Cavaliere schon vorher auf die Bühne gebracht, können nur
dessen noch madrigaleske Compositionen il Satiro und la dispe-
razione di Fileuo ') gemeint sein, welche beide schon 1590 mit
grossem Erfolg in Florenz aufgeführt worden waren, während
Dafne erst 1594 entstand. Jacopo Corsi selbst hatte sich vorläufig
in der Composition einiger Arien aus dieser Dichtung versucht —
welche Pen, vielleicht aus Höflichkeit, als „sehr schön" bezeichnet
Begierig den Erfolg auf der Bühne selbst zu sehen, habe er — er-
zählt hinwiederum Marco da Gagliauo — gemeinschaftlich mit
Kinuccini den Jacopo Peri „den höchst bewunderten Contrapunk-
tisten und aufs allerfeinste gebildeten Sänger" um die Compo-
sition der Dafne angegangen, welche dieser auch sofort über-
nahm, und einige der von Corsi bereits in Musik gesetzten Arien
sogar beibehielt. "2) Dass jene^Wihcren Werke Emilio's noch völlig
madrigalesk componirt waren, zeigt die Schilderung, welche Doni 4)
davon giebt, deutlich genug; die Gäste im Hause Corsi hätten
sonst auch keinen Anlass gehabt, über die „Neuheit des Schau-
spiels" bei der Aufführung der Dafne zu erstaunen. 5) Erst
1 600 kam Emilio's geistliches oder allegorisches Musikdrama „delT
anima e del corpo" in Koni zur Aufführung, welches Doni, der nur
die Compositionen aus Emilio's florentiner Zeit gekannt haben
mag, augenscheinlich unbekannt geblieben, denn dieses ist aller-
dings auch schon im neuen Musikstyl componirt. Peri, der den
Satiro, den Fileuo in frischer Erinnerung hatte, nennt, da es sich
doch um Musik auf dem Theater handelt, wahrheitsliebender und
bescheidener Weise den Emilio del Cavaliere. So lösen sich die
scheinbaren Widersprüche leicht und völlig. 6) Emilio wird unter
den Besuchern der Häuser Bardi und Corsi nirgends genannt,
hat auch sicher nicht dazu gehört. Doni würde ihm sonst nicht
vorwerfen: Signor Emilio habe in Sachen der guten und wahren
dramatischen Musik kein Licht haben können, weil ihm jene
Kenntnisse fehlten, welche aus den alten Schriftstellern geschöpft
1) Nicht „Sileno'4, wie man immer wieder liest.
2) Signore Jacopo, il quäle avea di giä composte arie bellissime per
qoesta favola (Vorrede zur Kuridice).
3) Siehe die Vorrede (a Lettori) der Dafne Marco Gagliano's, gedr. 1608.
4) Op. II. S. 22.
5) Marco da Gagliauo giebt als Zoit der Auffuhrung der Dafne den
Carneval 1597 an. Der anscheinende Widerspruch löst sich durch eine
Mittheilung Peri's in der Vorrede der Euridice: „per tre anni con-
ti nui, che nel Caruovale si rappresentö, fu udito con sommo diletto4'.
Gagliano bekam, wie man sieht, das Werk erst im dritten Jahre zu hören.
6) Kiesewetter's Misstrauen gegen Doni's Zeugniss (Schicksal und Be-
schaffenheit des weltlichen Gesanges S. 39) vermag ich aus den oben im
Texte entwickelten Gründon nicht zu thoilen.
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184 I>ie Mu8ikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
werden müssen. An der Mittheilung dieser Notizen liessen
aber die Mitglieder der Gesellschaften Bardi und Corsi wahrlich
nicht fehlen. Es wäre bei dieser Lage der Dinge kaum zu er-
klären, wie schon 1600 (also gleichzeitig mit der Euridice in
Florenz) Emilio's dramatisch-allegorisches Oratorium im neuen
Musikstyl aufgeführt werden konnte, wenn nicht die Erklärung
nahe läge, dass die Dafhe in Florenz, welche er als Musiker und
Intendant der grossherzoglichen Hofmusik sicher gehört, auf ihn,
wie auf alle Welt, einen gewaltigen Eindruck gemacht und ihn
bewog, als er, vermuthlich sehr bald darnach, seinen Wohnsitz in
Rom aufschlug, den neuen Styl, dessen Nachahmung, was seine
Aeusserlichkeiten betrifft, nichts weniger als schwierig war, für
•ein Oratorium anzuwenden. Uebrigens erlebte Emilio nicht "ein-
mal jene erste Aufführung. Seine Musik sieht aus, als habe er
sie seinem Vorbilde eben nur abgehorcht und sie, so gut er
konnte, nachgeahmt. Sie hat, ghlichwie Emilio's Madrigal-Styl
in sehr bedenklicher Weise an die weiland Frottole erinnert und
nicht eben einen Meister verräth, einen erstaunlich dilettanten-
haften Zug, während man es den Arbeiten Peri's und Caccini's
sehr wohl ansieht, dass sie von Musikern herrühren, welche ihre
ordentliche Schule durchgemacht, mochten ihre platonisirenden
Berather diese Schule auch noch so sehr verlästern, ja die Ton-
setzer selbst sich dagegen erklären.
Insgemein wird behauptet: es sei die Absicht geradezu darauf
gerichtet gewesen, die antike Tragödie mit ihrer eigentümlichen
Musik wieder aufleben zu machen. So ganz und völlig richtig
ist das nicht, wie schon aus dem Umstände erhellet, dass zu den
ersten Versuchen auf dem dramatisch-musikalischen Gebiete nicht
nach irgend einem der antiken Tragödienstoffe gegriffen wurde,
sondern dass das musikalische Drama aus der eigenthümlichen
favola boschareccia der italienischen Poesie hervorging. Rinuccini's
„Dafne" und „Euridice" sind Schäferspiele auf mythologischer
Basis. Aber ganz und völlig unrichtig ist die Sache doch nicht.
Vielmehr ist es so ziemlich klar, dass die Absicht, wenn nicht der
Componisten, so doch ihrer Berather insgeheim doch kein anderes
letztes Ziel hatte, und dass sie jene musikalischen Schäferspiele
mit der obligat eingewebten Mythe der Dafnc und des Orpheus
nur als Etappen auf dem Wege zu jenem letzten und höchsten
Ziele betrachteten. Wenn Peri in der Vorrede der Euridice
zweifelnd sagt: ,.ich will zwar nicht zu behaupten wagen, es sei
dieses die Art des Gesanges der griechischen und römischen
Schauspiele", so spricht Caccini in der Vorrede seiner Composition
desselben dramatischen Gedichtes sehr viel bestimmter: „Ihr (näm-
lich Bardi, an den die Vorrede gerichtet ist) sagtet mir überein-
stimmend mit vielen anderen edeln Kennern (nobili virtuosi), dieses
sei die Art des Gesanges, welche die antiken Griechen bei der
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Die Mu8ikrefonn und der Kampf gegen den Contrapunkt. 185
Aufführung ihrer Tragödieen und anderer Schauspiele anwendeten".
Und wenige Jahre später (1608) schreibt Marco da Gagliano in
der Vorrede seiner „Dafhe", nachdem er über den ersten Anfang
der Musikdramen in Florenz gesprochen und wie solche schon
beim ersten Versuche mit grossestem Beifalle aufgenommen wor-
den: „man dürfe hoffen, sie noch zu weit grösserer Vollkommen-
heit gebracht zu sehen, so dass sie sich eines Tages der so sehr
gepriesenen Tragödieen der antiken Griechen und Lateiner nähern
könnten". ') Ja weiterhin sagt Marco da Gagliano sogar aus-
drücklich von Claudio Monteverde's „Ariannaa, es habe sich darin
die Herrlichkeit antiker Musik erneuert Doni wurde gar nicht
müde, „Lezioni" und „Discorsi" zu schreiben und nach Umständen
in gelehrten Versammlungen vorzutragen, deren Zweck auf eine
vollständige Restaurirung der antiken Tonkunst, besonders für das
Drama, ausging. Das ganze Wesen des antiken Theaters wird da
abgehandelt — sogar die zur Verstärkung des Schalles einge-
mauerten Töpfe2) — und dabei, wo es geht und passt, auf die
neue und neu entstandene dramatische Musik Beziehung genommen,
und oft genug werden praktische Winke und Lehren gegeben.
Die ersten florentinischen Musik dramen bezeichnet Doni geradezu
als „nach antiker Art componirt". 3) Aber das Ziel wurde auch
hier nicht erreicht. Statt des wiederzubelebenden antiken Drama
mit Gesang entstand die Oper.
Corsi, Rinuccini, Doni und wer sonst zur hellenistischen Partei
gehörte, hatten bei ihren Planen zur Restaurirung des antiken
Drama einige sehr wesentliche Factoren nicht in Anschlag ge-
bracht. Erstlich, dass das Zeitalter Paul des Fünften und Urban
des Achten, das heisst das Zeitalter des geziertesten und ver-
1) Diese Hoffnung wurde 1779 erfüllt durch Gluck'a „Iphigouia in
Tauris"!
2) Band II. Tratt. della mus. scen. Cap. XL VII, XL VIII, XLIX.
S. 135 — 144. Offenbar denkt Doni an eben diese Schalltöpfe, wenn er
(II. S. 22), gegen Einzelnes in der Vorrede von Emilio del Cavaliere's
„l'anima e '1 corpo" polemisirend, unter Anderm sagt: ,,Non vorebbe anco,
ehe la sala fosse capace, che di mille persono al piu; perche i cantori non
avessero a sforzare troppo la voce: cose tutte, che si pottrebbono dare per
leg^ge ad una commedia di monache o da giovani studentij e non per
azioni rappreaentate con realo apparato, che tra le altre condizioni richie-
dono un sito di competente granaezza e Cantori eletti: potendosi anco
trovare rimedi per ingagliardare la voce degli attori, come
piü abasso si dira "
3) Quo magis non tolerabile tantum, sed et laudabile mihi videtur
iuvenum iÜorum institutura, qui theatralem ac scenicam artem musicao
ülecebris atque ornamentis gratiorom officere nunc Venetiis studento ani-
mati credo eorum dramatum exeroplo, quae a principibus viris cum m o-
dulatione et cantu ad modum veterum magnifice ezhibita,
Florentiae primum, moi Mantuae, Parmae, atque in hac ipsa urbe (Roma)
incredibili plausu excepta sunt. ((i. B. Doni, do praest. m. v. S. 126.)
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186 £>ie Musikrefonu und der Kampf gegen den Contrapunkt.
schraubtesten Barocco, noch weniger für das den nöthigen Sinn und
Geschmack haben konnte, was nicht einmal dem Zeitalter Nicolaus
des Fünften und Leo des Zehnten so ganz und völlig genehm
gewesen wäre — nämlich für die einfache Grossheit der Antike.
Was Winkelmann für die antike Plastik als Kennzeichen vin-
dizirt: „edle Einfalt, stille Grösse ist auch das Kennzeichen der
antiken dramatischen Dichtung des Sophokles — aber mit edler
Einfalt, stiller Grösse durfte man der Zeit des Bernini, Borromini,
Marini ja nicht kommen. Zweitens hatten sie nicht auf die Prunk-
sucht und Schaulust der Grossen und eigentlich der Italiener über-
haupt gerechnet Von jeher hatte man in Italien es meisterlich
verstanden, Festspiele, Festztige, Prozessionen, Maskeraden mit
eben so viel Geschmack als Pracht, mit augenblendendem Costüm-
luxus und mit Maschinenwundern jeder Art auszustatten. l) Natür-
lich also, dass die Grossen (und gerade diesen bindet ja Doni das
neugeborene Musikdrama auf die Seele) in einem Schauspiel, wo
die Götter Griechenlands leibhaft auftraten und sangen und agir-
ten, die gewohnte Augenlust am allerwenigsten entbehren mochten.
Eine fabelhaft glänzende Ausstattung wurde bald genug auch
hier ein unentbehrliches Erforderniss. Die Arbeit des Theater-
malers, Theatermaschinisten, ja des Theaterschneiders hatte bald
eben so viel Werth, als die Partitur des Musikers — sie werden
mit ganz gleicher Wichtigkeit behandelt Das Gedicht bildete den
Kernpunkt, an den alles übrige gleichsam krystallisirend anschoss —
alles zusammen war ein Prachtstück zur Verherrlichung irgend
eines HofTestes bei einem feierlichen Anlass, so gut wie die andern
daneben auf dem Festprogramme stehenden Belustigungen — einer
stattet es mit Anzügen für die Darsteller, der andere mit Musik
aus — der Unterschied war nicht von Belang. Uebrigens liessen
sich selbst namhafte Künstler für die Ausstattung thätig finden.
Schon zur Zeit Leo's X. hatte es Baldassare Peruzzi nicht ver-
schmäht, für die Komödienaufführungen im Vatican Decorations-
prospekte zu malen,2) und 1519 malte für eine von Leo X ver-
1) Ich vorweise statt alles Anderen auf die treffliche Darstellnn<* in
Burckhardt's ,.Cultur der Renaissance in Italien". Was man zur Zeit
Urban VIII. in diesem Capitel leistete, zeigt ein Gemälde im grossen
Saale des barberinischen Palastes in Born, welches den festlichen Aufzug
bei Gelegenheit der Vermälung einer Nichte des Papstes vorstellt —
phantastisch-prächtig gekleidete Reiter mit fabelhaften ungeheuren bunten
Federbtischon auf den Helmen, colossale Wagen mit Gottheiten, ein riesen-
hafter Drache, auf den ein Hercules steht u. s. w.
2) Fast sah man dergleichen als Gelegenheits-Prunkstück an, für ein-
mal und nicht wieder, gerade wie die architektonisch-prächtigen Verklei-
dungen von Holz und Pappe an einstweilen noch nackten Domfacaden,
die Triumphthore u. s. w. für den Einzugs- oder Hochzeitstag des Fttrston
u. dgl. Ltibcke in seiner Geschichte der Plastik (II. S. 702) sagt von
dem Bildhauer Tribolo : „in seiner späteren Lebenszeit war er für Cosinus
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 187
anstaltete Aufführung der „Suppositi" des Ariost kein Geringerer
die Szene als Raphael Sanzio! 1 Auf optische und mechanische
Kunststücke verstand man sich längst, und auch hier waren es
keine geringen Leute, welche sich mit dergleichen abgaben. Lio-
nardo da Vinci's Maschinerien beim Einzug Karl VIII. von Frank-
reich in Mailand sind ein Beispiel und schon früher Leo Battista
Alberti's berühmter Guckkasten, „in welchem er bald die Gestirne
und den nächtlichen Mondaufgang über Felsengebirgen erscheinen
Hess, bald weite Landschaften mit Meeresbuchten bis in duftige
Fernen hinein, mit heranfahrenden Flotten, im Sonnenglanz wie
im Wolkenschatten". 2) Die Schilderungen, welche Erythräus von
der Ausstattung der ersten musikalischen Dramen giebt, klingen
fast ebenso. Er ist ganz entzückt über ein solches Schauspiel im
Palast Barberini in Rom, wo eine untergehende Sonne alles in
Erstaunen setzte — - was gab es aber ausserdem alles zu sehen!
Die Schauspieler fast alle in Gold- und Silberstoff gekleidet, bei-
nahe königlich — und dann die Verwandlungen, die Prospecte,
man sah Marktplätze, Paläste, Gärten, Haine von Wässern durch-
rieselt, wo reizende Nymphen Blumen pflückten u. s. w. 3) Auch
die Darsteller bekommen ihr Lob, „jeder schien ein Roscius".
Nur den Titel, den Dichter und den Componisten vergisst Ery-
thräus zu nennen. Doch rühmt er von der Musik : „wie lieblich und
gesangvoll sie gewesen, wie sie den Ohren schmeichelte, die Worte,
die Sätze lebendig ausdrückte". An einer anderu Stelle (im Le-
ben Rinuccini's) erzählt Erythräus: „Die Verwandlungen der Szene
Hessen bald grüne Auen sehen, bald das weite Meer, bald reizende
Gärten, bald furchtbare Wolken, welche den Himmel bedeckten und
sich in plötzlichem Gewittersturm entluden, bald die glückseligen
Wohnsitze der Seligen, bald die Schrecken der Unterwelt ; man sah
Bäume, deren Rinde sich spaltete und schöne Mädchen hervortreten
liess, Wälder, die plötzlich entstanden und sich mit Faunen und
Satyrn bevölkerten, Dryaden, Nymphen, welche Quellen und Flüsse
hervorströmen Hessen — und vieles andere noch Bewundernswürdi-
in Florenz als Architekt und Bildner hauptsächlich bei der Errichtung
von Fostdecorationon beschäftigt. Ks war die Zeit gekommen, wo die
neue Fürstenmacht in prunkvollon Schaustellungen von meist sehr ver-
gangenem Charakter sich zu verherrlichen begann." Die Analogie ist
nicht zu verkennen. Dass eine Oper „unsterblich" werden könne, Hess
sich niemand träumen. Wir selbst spüren noch etwas davon!
1) Lettere di Lod. Ariosto, Bologna 1866. Doc. XVI. Paoluzzo be-
richtet es dem Herzoge von Ferrara in einem aus Rom vom 8. März 1519
Keschriebonen Briefe.
2) Burckhardt „Cultur d«»r Renaissance in Italion". S. 11t.
3) Man sehe, was z. B. Puul Jovius im Leben Leo X. von dem 1513
auf dem Capitol errichteten Theater erzählt, wo Giuliano Medicis den
„Pönulus4' des Plautus aufführen liess. Auch hier war Peruzzi der Maler
gewesen.
188 Die Muaikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt
gere, wie es früher kein Auge zu sehen bekommen." Selbst die
Theater setzten durch verschwenderische Pracht in Erstaunen. *)
Hätte sich schun jene edle Einfalt und stille Grösse der an-
tiken Tragödie mit solchem balletmässigen Ausstattungspomp in
keiner Weise vertragen können, so ist auch der ganze Ton, die
ganze Farbe des Dialogs, ja der Handlung so ungriechisch wie
möglich. Selbst bei Kinuccini verräth die Poesie ihre Abstam-
mung von der romantisch-italischen Dichtung Tasso's, Guarini's
u. 8. w. deutlich genug. Vollends die venezianischen Textdichter
Orazio Persiani, Giacomo Andrea Cicognini, Giov. Bart. Faustini
u. 8. w. färben die ganze Mythologie und antike Heldensage in's
Moderne und lokal Venezianische um — oft werden die Elemente
der behandelten Mythe ganz wunderlich umgedeutet und durch
einander geworfen, um irgend eine, eigentlich vom Poeten erfun-
dene Handlung unter antikem Namen in die Welt zu schicken.
So ist für Cicognini, den Dichter des von Francesco Cavalli in
Musik gesetzten „Giasoneu (1649), der Argonautenzug eben nur
das Motiv, um Jason, einen echt venezianischen Roue, nachdem
er die „Prinzessin" Hypsipyle von Lemnos verlassen, nach Kol-
chis zu bringen, wo er mit Prinzessin Medea eine Liebschaft an-
fängt. Die Erwerbung des goldenen Vliesses bleibt durchaus
Nebensache. Hinwiederum fahrt König Egeo von Athen (Ae-
geus, der Vater des Theseus), Medea's „Liebhaber", auf einem
leichten Nachen (!) dem Schiff Argo heimlich nach, um zu rech-
1) Doni (Opp. II. S. 29) hält sich über die in Goldstoff gekleideten
Hirten auf. Die Vorliebe für Maschinenwunder blieb der italienischen
Oper. Noch 1702 erzahlt Abbe Raguenet in seinem Schriftchen: Paraleüe
des Italiens et des Franc ois en ce qui regarde la mnsique et Vopera von
Dingen dieser Art, welche er in Italien gesehen: „Quant aux machines,
je ne crois pas, que i'osprit humain en puisse porter l'invention plus loin
qu'elle est poussce en Italie. J'ay vü a Turin en 1697 Orphee, qui dans
na Opera enchantait par sa belle voix les aniniaux; ily en avait de toutes
les sortes, des sangliers, des lions. des ours; rien ne saurait etre plus
naturel et mieux contrefait; un singe qui y etoit, y fit cent badinerios les
plus jolies du monde, montant sur le dos des autres animaux, leur grattant
la tete avec sa main et faisant toutes les autres singeries propres a cette
espece. Un jour ä Venise on vit paröitre un Elephant sur le theatre; en
un instant cette grosse machine se depcca et une armee so trouva sur la
scene en sa place; tous les Soldats par le seul arraugement de leurs boue-
liers, formaient cet Elenhant d'une maniere aussi parfaite que si c'arait
ete un Elephant naturel et veritable. J'ai vü a Borne en 1698 un phan-
töme de feinme entoure de Gardes entrer sur lo theatre de Capranica; ce
phantöme dtendant les bras et developpant ses habits, il s'en forma un
palais entier avec sa facade, ses ailes, ses corps et ses avant-corps de
bätiinent, le tont d'une architecture enchantee; les gardes ne firent, que
piquer leurs hallebardes sur le theatre et elles furent aussitöt changeei
en jets d'eau, en cascades et on arbres, qui firent paroitre un jardin char-
mant au derant de ce palais. On ne saurait rien voir de plus subit que
ces changements, rien de plus ingenieux et de plus merveilleux.'4
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Die Muaikreform und der Kampf gegen den Contrapnnkt. 189
ter Zeit in Kolchis den Desperaten spielen zu können; zuletzt
heiratet er Medea, während Jason reuig der Hypsipyle, welche
sich gleichfalls eingefunden hat, die Hand reicht. Völlig im Sinn
einer Parodie würfelt der Dichter die Einzelheiten der Argonau-
tensage, der Beziehungen Medea's zu Aegeus u. s. w. durchein-
ander! Noch Benedetto Marcello in seinem „Teatro alla moda"
spottet über diese Art, antike Stoffe zu behandeln. *)
Die Naivetät der Poeten geht zuweilen in's Unglaubliche.
So schreibt das Scenarium der von Monteverde componirten Oper
Badoar's „il ritorno d' Ulisse" bei der Landung des Helden in
Ithaka vor: „Coro de Naiadi; Najadi a due, mentre l'altrc Ninfe
portano nell' antro il bagaglio." G. B. Faustini eröffnet
seinen von Cavalli componirten „Alcibiade" (1667) mit einer „fiera
solenne" in Athen — natürlich stellt er es sich ganz wie Vene-
dig vor, mit den Hallen von S. Giacometto al Hialto, der Rialto-
brticke, der langen Merceria, und alles voll Kaufladen und
Kauf buden mit Juwelierarbeiten , kostbaren Stoffen, Gewür-
zen und Wohlgertichen u. s. w. — Praxiteles, der Bildhauer,
macht die schöne Phryne auf die Herrlichkeiten aufmerksam:
,,miri quivi raccolto quanto san dar, con istupor profondo, Asia,
America, Europa, Africa e '1 mondo — del India Amfitrite
vuoi perle piü fine , vuoi de l'Arabe vallii purpurei coralli" 2)
u. s. w. Phryne, — ganz venezianische „benemerita" — wünscht
ein Geschenk — Praxiteles eilt hin und kauft für sie eine —
Taschenuhr; „prendi, bella vezzosa, con quest' aureo orologio
numerar tu potrai l'hore de mie sospiri" sagt er galant.
Aber auch abgesehen von derlei groben anachronistischen
Verstössen, ist die Poesie, welche die Dichter den Componisten
entgegenbringen, von Klang und Geist antiker Dichtung weit
entfernt. Vor allem ist es in den Madrigalen, welche zuerst als
poetisches Substrat der neuen deklamatorisch-monodischen Musik
dienen müssen, der herkömmliche Liebesjammer in Phrasen voll
falschen tragischen Pathos oder in witzigen Concetti mit getreuer
1) Appartien l'inventare una favola, fingendosi nella medesima ris-
poste a'Oracoli, naufragi reali, mali augurj di bovi arrostiti etc. e ba-
stando solamente che sia alla notizia del popolo qualche nome istorico
delle persone. (Teatro alla moda, S. 8.)
2) Was wohl „il mondo" noch sagen will, nachdem alle vier Welt-
theile genannt worden. Auch ist es recht hübsch, dass Faustini sich
einbildet, die Corallen wacbson wie Salatstauden in den „Thälern Ara-
bien's". Eine anachronistische Erwähnung Amerika's in ganz ähnlicher
Art wie in obigor Stelle — ja noch ärger — kommt übrigens auch bei
Calderon vor. In dessen Schauspiel „la Virgen del sagrario", dessen Hand-
lung im siebenten Jahrhundert spielt, heisst es:
„Africa, America y Asia •
Son las tres, de que no tengo
Necesidad; Herodoto
Las describe con su ingenio."
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t90 Die Masikrefora und der Kampf gegen den Contrapunkt.
Wiederholung der in der italienischen Poesie seit Jahrhunderten
stereotyp gewordenen Redensaiten, ganz zierlich gereimt, ganz
artig ausgedrückt, aber auch von unaussprechlicher Langweilig-
keit. Ob der Liebende jammert, weil er von der Geliebten schei-
den muss oder weil sie ihm unerbittlich bleibt — es kommen
immer dieselben wohltönenden Apostrophen au den unerhört
schönen und unerhört grausamen Gegenstand der Herzensflammen,
immer dieselben Ausrufungen und edel stylisirten Schmerzens-
schreie, immer das „io moro" oder „moriro" als letztes Mittel ge-
gen die endlose Pein — der stets gleiche Ausdruck der Leiden-
schaft, an deren Wahrheit niemand glaubt und der im Namen
des Liebenden sprechende Dichter am allerwenigsten. Wenn man
bei Bardi und Corsi nun aber Musik in platonischem Sinne haben
wollte, so hätte man billig vorher für Poesie sorgen müssen, welche
nicht in Platon's Republik Gefahr gelaufen wäre, über die Grenze
geschafft zu werden. Aber wie bei den Nationalökonomen ge-
münztes Gold das Aequivalent aller Dinge vorstellt, so ist auf
dem Gebiete der musikalischen Poesie dem Italiener die Liebe,
die er recht bezeichnend im Allgemeinen affetto nennt — das
Aequivalent für alle edleren und höheren Seelen- und Gemüths-
regungen. Von weiland Francesco Landino's „Non avra pietA
questa mia donna" im 14. Jahrhundert angefangen, durch die
ganz unübersehbare Literatur des musikalischen Madrigals und
weiter bis zu den Kammercantaten Alessandro Scarlatti's im 18.
Jahrhundert, wo die „Lumi dolenti" auch nicht aufhören wollen
zu weinen und „crudel' idolo mio" die etikettemassige Anrede
an die Geliebte ist, hört dieser Ton gar nicht auf; höchstens
dass gelegentlich dazwischen ein Pastorale das Glück des Schä-
ferlebens malt und einen Moment der Ruhe bringt, wo sich das
liebende Herz von seinen Strapazen erholen mag. *)
Scherzhaft-Anakreontisches wird der „Aria", d. h. dem Stro-
phenliede zugewiesen, welches wohl auch unter dem früheren
Namen der Villota und ViHanella, Canzone alle Napoletana u. s. w.
wiedererscheint, jetzt aber monodisch. Und hier tritt in der
Poesie auch wohl einmal der vom Madrigalisten, welcher „aus-
gezogen ganz den Erdensohn" sich in lauter sublimen Empfin-
dungen ergeht, hinter sublime Redensarten maskirte innerste Kern
der ganzen „hohen Intuition" zu Tage: die blanke, triviale, aller-
dings aber versifizirte Sinnlichkeit (sehr gemein einmal in Versen,
1) Schon G. B. Doni empfindet es, wie gross der Einfluss dieser un-
aufhörlichen Liebesgedichte auf die Musik sei und wie verweichlichend
er wirke: — „facile tibi concesserim in mollioribus affectibus, maximeque
amatoriis argumentia exprimendis, Neotericos insigniter excellere; ubi au-
tem sublime quid piara atque hcroicum modulandum fquod non sane fre-
quenter hodie accidit) longo illos intra famam euam subsistere" (de praest.
mus. vet. S. 68).
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 191
welche Radesca da Foggia componirte: „ahi, traditore" u. s. w.).
Die ganze Poesie und Musik arbeitete „in materia d'amor mon-
dano", wie schon der Pater Censor und Inquisitor in Florenz von
Caccini's „Nuove musiche" gesagt hat. Das unaufhörliche Liebes-
seufzen und die unausgesetzte Anbetung der Geliebten wirkt
denn also auch bis in die Texte der musikalischen Dramen hinein,
wo man die hergebrachten Betheuerungen, Ausrufungen und hy-
perbolischen Phrasen der Madrigale wiederfindet, aber dialogisirt
und durch die Handlung motivirt, oder aber auch wohl ihr eigens
ein- und beigemischt, ja ihr die Färbung gebend, selbst wenn
diese Handlung mythologisch oder heroisch-historisch ist. Ein
auffallendes Beispiel bietet der Text von Cavalli's „Giasone", wo
es mit Kreuz- und Querneigungen und Abneigungen fast wie im
Sommeruachtstraum zugeht, und von Medea bis herab zur könig-
lich kolchischen Hofgärtnerin Rosmina alles am Liebesfieber lei-
det. Oder was soll man dazu sagen, wenn in einer anderen
Oper Cavalli's, Königin Artemisia, die Musterwittwe , welche das
Andenken ihres Gemals durch jenes Weltwunder von Mausoleum
ehrte und, wie es heisst, die Asche desselben mit Wein gemischt
zu sich nahm, neben eben jenem Marmorgrabe des Königs Mau-
solus mit den Worten beginnt: „dure salci, freddi marmi, memorie
del mio ben, — oh Dio — forza non ho per sostrarmi a fiamma
iguobile, per fuggir novello ardor, come voi la fede immobile,
come voi lieto il cor; deh, potessi in voi cangiarmi, dure salci,
freddi marmi — !"
Im harten Gegensatz zu dem phrasenreichen tragischen Pathos
mischen sich aber oft genug noch allerlei komische Nebenfiguren
in die mythologische und heroische Handlung ein und bieten Ge-
legenheit zu mitunter etwas bedenklichen Spässen. So kommt
im Giasone ein Diener des Königs Aegeus von Athen vor, na-
mens Demo (d/]jUOC, das „Volk"!), höckerig, stotternd — letzteren
Umstand benutzt der Componist Cavalli zu einigen in der That
komischen Effekten. Auch in Badoar's Ritorno d' Ulisse ist der
Bettler Irus vom Dichter als groteske Karikatur als die „lustige
Person" des Stückes angelegt; der Componist Monteverde hat es
indessen verstanden, gerade diesen Zug zu einer gewissermassen
grandiosen Komik zu verwerthen. In Orazio Persiani's, von Fran-
cesco Cavalli componirter Oper ,,le nozze di Tetide e di Peleo"
stellt Momus eine Art von lustigem Rath am Hofe Jupiter' s vor
und würzt seine Bemerkungen mit satirischen Ausfallen. *) Als
1) So sagt er (Akt 1, Szene 4) zu Jupiter: Taci, che per gl'amanti
hör soverchio e mutarsi in Ci^no o in Toro; senza che mugli ö anti,
basta cangiarsi un altra volta m oro; Trovo hoggidi nell' arte doli' amare
rettorica miglior del dire il dare." Und gleich darauf: „Giove ho gia
detto. se tu vuoi donzelle senza tante novelle di sospiri e di pianti motti
mano a contanti". Ein hübsches Compliraent für dio damaligen venezia-
nischen Damen 1
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192 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
die Oper nach Deutschland wanderte, wurde vollends sehr grob-
körnig gesalzenen Spässen ein weites Feld eingeräumt. In einer
1672 am churfürstlich sächsischen Hofe aufgeführten, von Joseph
Peranda und Giov. Andr. Bontempi componirten „Dafhe", für
welche der Text Rinuccini's in der Opitz'schen Uebersetzung
theilweise beibehalten war, wurden zwei ganz roh und pöbelhaft-
komische Gestalten — der „Sackpfeifer Jäckel" und seine „Ge-
liebte Kätha" — ohne weiteres in die Gesellschaft der olympi-
schen Götter gebracht. Bei der seit 1678 bestehenden deutschen
Oper in Mamburg, für welche hernach Meister wie Reinhard
Kaiser und Händel thätig waren, ist vollends der Einfluss der
„Haupt- und Staatsactionen" nebst dem obligaten, beständig mit
Possen, Zoten und Albernheiten jeder Art zwischen die hochge-
stelzte Tragik hineinfahrenden Hanswurst sehr stark fühlbar l)
Man muss Rinuccini das Zeugnis* geben, dass er in seinen Dich-
tungen ganz unvergleichlich reiner, höher und würdiger dasteht,
als die Generation von Poeten , welche unmittelbar nach ihm in
massenhafter Production für das Bedürfniss der Operncomponisten
sorgten. Rinuccini zeigt zudem einen sehr feinen Sinn für das,
was der Tonsetzer für seine Zwecke brauchen kann. Alles be-
wegt sich bei ihm mit einer gewissen vornehmen Ruhe, mit edlem
Maass — Handlung sowohl als Sprache. Wo es sich in der
italienischen Poesie um wirkliche Tragödiendichtung handelte,
lagen die manierirten Trauerspiele des Seneca dem Sinne der
Zeit bei Weitem näher als die Werke der attischen Tragiker.
Die Nachahmung dieser Vorbilder „überwucherte die Bühne mit
thyestischen Gräueln" 2), wovon Cinzio Giraldi's „Orbecche" und
Luigi Groto's „Dalida" die vielleicht grellsten Beispiele sind.
G. B. Doni beruft sich in seinen musikalisch-dramaturgischen Ab-
handlungen wiederholt auf Beispiele aus den Seneca-Trauerspielen.
Die Tragiker suchten ihr Vorbild zu überbieten, „die Grässlich-
keit des Stoffes ertränkte das Gefühl in Schauder: so barbarisch
wie die Tragödie ward auch die Märtyrer-Malerei Italiens seit
dem Ende des 16. Jahrhunderts." 3) Für die dramatische Musik
war es unter diesen Umständen eine glückliche Fügung zu nennen,
dass ihre Wiege in den arkadischen Hirtengefilden der favola
boschareccia 4) stand. Mit deutlichem Seitenblick auf die gewöhn-
1) Vergl. „die erste stehende deutsche Oper" von E. 0. Lindner
(Berlin 1855) — und „die Wiener Haupt- und Staatsactionen" von Karl
Weiss (Wien 1854).
2) Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom, 8. Band, S. 352.
3) Grogoroviu9 a. a. 0. Man sehe auch was J. L. Klein (Gesch. des
Drama V. 8. 321) über dio italienische „Melpomene, welche als Metzger-
weib handtirt" sagt.
4) Charakteristisch ist eine Aeusserung G. B. Doni's: „Ne alcuno
mi opponga, che l'introdurre pastori cosi leg^iadri, come se fussero alle-
vati in Corte, ed esercitati di continuo nel ballo, e nolla palestra, sia con-
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. I93
ten blutigen Schrecken der Trauerspiele lässt Rinuccini die als
Prolog seiner „Euridicc" auftretende personifizirte Tragödie (la
tragedia) sagen: „sie werde hier nicht von vergossenem schuld-
losem Blut und drohender Stirne unsinniger Tyrannen auf trauer-
voller, thränenreicher Szene singen, sondern in den Herzen sanf-
tere Gefühle wecken". *)
Der neue Musikstyl durfte sich in seinen frühesten Versuchen
mindestens nicht bis zum Zerbersten anstrengen, um ungeheuer-
liche Charaktere und Situationen zu illustriren — er war vor-
läufig auf Edles und Massvolles angewiesen, und dieses Verdienst
gebührt vor allem dem Dichter Ottavian Rinuccini.
Die gelehrten vornehmen Kenner und Gönner gingen aber
gelegentlich mit den Wiederbelebungsversuchen der antiken Tra-
gödie noch viel resoluter in's Zeug und griffen kurz und gut
nach irgend einem der beliebten Trauerspiele von Seueca, dessen
Chöre dann irgend ein Componist mit der entsprechenden Musik
ausstatten musste. So Hess Cardinal Francesco Barberini, der
gelehrte Neffe des gelehrten Urban des achten, in Rom während
eines Carnevals die „Trojanerinnen des Seneca" aufführen, „gröss-
tentheils nach antiker Art" wie der über diese Unternehmung
natürlicher Weise entzückte Doni bemerkt. Die Musik für die
Chöre besorgte, wie es scheint, der Capellmeister der Peterskirche
Virgilio Mazzocchi, also, wie wir bereits wissen, einer der tüch-
tigsten Musiker der Zeit. Auch diesen trefflichen Mann nahmen
die gelehrten Herren musikalisch in Zucht und Unterricht, und
er war, wie Doni wohlgefällig rühmt, ein aufmerksamer Schüler. 2)
tro il verisimile; perche, oltreche la verisimiglianza non si cerca, se non
nnando e congiunta col ragionevole, e porfetto di quest' arte, che ricerca
il diletto, e la maraviglia del Teatro (e altrimenti non si adoprerobbe il
verso, ne la magnificenza degli abiti) non debbiamo immaginarci. che i
Pastori, che s'introducono, siano di questi sordidi, 0 volgari, che oggi
guardano il bestiame; ma quolli del secolo antico. nel quäle i
piu nobili esercitavano quest' arto; e tanto piu, che vi si aecora-
pagnano anco Ninfe. credute dalla semplice Gentilitä piu rilovate delT
nmana condizione. (Deila mus. scen. Cap. VI. Opp. II. S. IG.) Ueber
diese felsenfeste Gläubigkeit an die Ueberlieferungen dos Alterthums mag
man wohl erstaunon. Doni zweifelt keinen Augenblick, dass es Nymphen
gegeben, nur freilich sei es verkehrt gewesen, dieso vorzüglichen Frauen-
zimmer für etwa9 mehr als Menschliches zu halten.
1) Non sanguo sparso d'innocenti vene,
Non ciglia spente di Tiranno insano,
8pettacolo infelice al guardo umano
Canto su meste, e lagrimose scene.
Lungi via lungi pur da regii tetti
Simulacri funesti ombre d'affanni
E co i mesti coturni, e i foschi panni
Cangio e desto nei cor piu dolei affetti.
2) Doni Opp. II. S. 203. Im Verlaufe desselben Diacorso giobt Doni
fBr den ersten Chor der Troaden (S. 218) folgendes Schema:
Ambroi, Geschichte der Mmik. IV. {•}
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194 Die Mu8ikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
Der neue Musikstyl wollte, zum Unterschied vom früheren
contrapunktischen, seinen Namen haben. Man nannte ihn Stile
recitativo oder Stile rappresentativo. Doni erklärt beides und
auch den Unterschied zwischen beiden Bezeichnungen. „Man
versteht unter Stile recitativo jene Gattung von Melodie, welche
anmuthend und zierlich von einem Einzigen in solcher Weise
gesungen werden kann, dass die Worte wohl verstanden werden,
es geschehe solches auf der Szene des Theaters, oder in der Kirche,
oder beim Wechseigesange im Beteaale, oder aber im Privathause,
oder wo sonst; und endlich bezeichnet dieser Name jede Art von
Musik, welche ein Solosänger zu dem Klange irgend eines Musik-
instrumentes singt, mit geringer Dehnung der einzelnen Noten,
so dass sich der Gesang der gewöhnlichen Sprache nähert, doch
aber affektvoll ist ; in welche Art von Gesang dann jegliche Zier-
und Accentuirungsweise herü beigenommen wird, und so auch
langes Passagenwerk, nicht als ob dieses geeignet wäre Affekte
auszudrücken ''da vielmehr, wie sich Giulio Caccini ausdrückt,
nichts in der Musik dem in gleicher Weise entgegensteht), sondern
um Leute von geringerem Verständniss zu ergötzen, oder weil
die Sänger ihr Wissen und Können zeigen oder, wie man zu
sagen pflegt, ein Uebriges thun wollen 'straffare). Daher werden
auch nach der Eigenthümlichkeit unserer Sprache viele Wieder-
holungen zugelassen, wenngleich um Vieles sparsamer und passen-
der als im Style der Madrigale und Motetten. Unter Stile rappre-
sentativo verstehen wir aber jede Art von Melodie, welche der
'theatralischen) Szene angepasst ist, das heisst jeder Gattung von
dramatischer Action, welche mit Musik dargestellt werden will. *)
non rti - do vul - gxia la - ehry- mis - que no - vum
o pure cosi con qualche legatura, o* mutazione di tempi:
d- 4 4 ~ — * 4 ~ 4 4-4 4
j j jj i j j ;;j
Lugere jubes u. s. w.
Doni fasst die Geltung der Note in Länge und Kürzo ganz abstrakt; das«
ihr ausserdem die Stellung im Takt Gewicht gebe und nehme, ahnt er
nicht. Armer Mazzocchi, wenn er etwa die Seneca-Chöre nach Vorlagen
solcher ihm octroyirten rhythmischen Monstra componiren musste! Doni
konnte bei solchen Gelegenheiten vorkommenden Falles auch wohl grob
werden. Als ein „Contrappuntista a dozzina" (wie er ihn nennt) einmal
declamirt hatto: meas — riss ihm Doni das Notenblatt aus don Händen
und schrio ihn an: mö-äsino!"
1) G. B. Doni Opp. II. S. 28—30 de mus. scen. Cap. XI. In che
differisca lo stilo Recitativo dal Rappresentativo. Auch Agazzari vergleicht
den neuen Gesang mit einer Rede und nach ihm redet auch Prätorius
von „der jetzigen gewohnheit und Styli im singen, da man componiret
und singet, gleichsam als wenn einer eine Ovation daher recitirte". (Syn-
tagma III. S. 149.)
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Die Mu9ikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 195
Die langen Passagen (Coloratur) und die Texteswiederholun-
gen, welche die floreutiner musikalische Kritik und Aesthetik, wie
man aus vorstehender Erklärung Doni's sieht, im recitati vischen
Style mit einer Art von Indulgenz für Sänger und Zuhörer ge-
stattete, bleiben sonach vom repräsentativen Style ausgeschlossen,
da sie sich mit der dramatischen Wahrheit nicht wohl vertragen.
Vergleicht man die dramatisch componirte Euridice Caccini's mit
seinen „Nuove musiche", so findet man die volle Bestätigung des
eben Bemerkten Doch nahm Caccini keinen Anstand, die von
ihm componirten Arien des im gleichen Jahre mit Euridice,
nemlich im Jahie 1000 aufgeführten Kapimento di Cefalo reich-
lichst mit Coloraturen zu verschnörkeln , augenscheinlich, damit
die grossherzoglichen Hof- und Kammersänger, welchen die Aus-
führung oblag, der Bassist Melchior Palontrotti und die Tenore
Jacob Peri und Franz Rasi „ein übriges thuu konnten."
Eine besondere Abzweigung des repräsentativen Styles be-
zeichnet Doni gelegentlich als den „Erzählungsstyl" (stile narra-
tivo) — er führt die Erzählung der Daphne vom Tode Euridice's
in Peri's Musikdrama als gelungenes Muster an. l) Diese Gesang-
weise verwendet gern kleine, rasche Noten syllabisch und öfters
eine grössere Anzahl davon auf demselben Tone verweilend —
eine Nachahmung des Erzählcrtones. Die langen erzählenden
Berichte sind — nicht ohne sichtliche Beziehung auf den Angelos
und Exangelos der griechischen Bühne — häufig. In diesem
Stvle wird Euridice's Tod nicht nur bei Peri, sondern auch bei
Caccini und später bei Montcverde, so bei Marco da Gagliano
die Flucht und Verwandlung Daphne's erzählt. Auch Moute-
verde lässt den heimkehrenden Odysseus seine Lügen der Athene
in ähnlicher Weise aufbinden — Cavalli's „Egistho" erzählt seine
Schicksale, wie ihn Corsaren geraubt u. s. w. Natürlich aber
bildet Doni's sogenannter Stile narrativo keine eigentlich vom
dramatisch-recitativischen Style verschiedene Gattung. 2)
Das erste Werk dieses neuen Styles und zugleich Muster-
werk für die neue Künstlergeneration waren, wie erwähnt, Cac-
cini's „Nuove musiche". Er theilt sie in zwei Hauptabteilungen:
in Madrigale und in Arien. Erstere sind dnrehcomponirte Gedichte,
letztere dagegen Strophenlieder, wo also das Wort A r i a im Sinne
des deutschen Wortes „Weise" (Lied weise, Liedmelodie, Art ein
Lied zu singen) gebraucht ist. Noch lange Zeit — selbst noch
bis einschliesslich auf Alessandro Stradella u. s. w. — wird auch
die Arie in der Oper fast durchweg als liedhafter Stropheugesang
1) Opp. IL S. 33 u. 34.
2) Das Höchste im Stile narrativo hat wohl Gluck in der Traum-
erzählung der taurischen Iphigenia und Mozart in Donna Anna's Erzäh-
lung geleistet. Wio denn diese Horoen überhaupt erst erfüllten, was die
Florentiner einstweilen ahnten.
13*
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196 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
behandelt. Unter Caccini's „Arien" nehmen einige jedoch eine
Art Mittelstellung zwischen Madrigal und Strophenlied ein — wo
nämlich, sei es um der Declamation willen oder sonst, die zweite,
dritte u. s. w. Textstrophe, statt sie einfach beizuschreiben, ihre
eigene Musik hat. Gleich die erste Arie „io parto amati lumi"
bringt jede ihrer fünf Strophen nach unter sich wesentlich ver-
schiedener Composition. Bei andern ist der Unterschied gering
und liegt eigentlich nur in der vom Text bedingten Anordnung
der Noten. Die Sätze sind in den Arien ziemlich knapp, aber
auch in den Madrigalen von nur massiger Ausdehnung. (Die Ge-
lehrten tolerirten die „Arie", obwol sie, wie Doni bemerkt, weder
im Lateinischen, noch im Griechischen ein dieser Bezeichnung genau
entsprechendes Wort fanden — denn es liege darin, nebst dem.
was die Lateiner „Modus", die Griechen „Melos" nannten, auch
noch Numerus d. i. Khythmus. Doni tibersetzt den Vers Virgil's
„Numeros memini si verba tenerem" mit den Worten „mi ricor-
do ben dell' aria, ma non delle parole" ) !) Declamatorischer Vor-
trag ist in beiden, nämlich in den Madrigalen und Arien, das charak-
teristische Merkmal. Dasselbe Merkmal ist auch den liedhatten
Arien eigen, wo die dem Liedgesange seinem innersten Wesen
nach gehörige cantable, periodisch gegliederte Melodiebildung,
wie sie das Volkslied, die Trouveres u. s. w. längst gefunden
hatten, unter dem Zwange des stile recitativo, in dem ein für
allemal für die ganze Musik das Ileil zu finden sein sollte, nicht
aufkommen kann, gleichwohl aber, da sie zu sehr in der Natur
der Sache begründet ist, immer doch wieder durchbrechen möchte.
Das declarairte Wort greift störend in den Entwicklungs-
process der Melodie und übertönt den Liedgesang freiströmender
Melodie mit seiuer recitati vischen Halbspracho — ein leidiges Zwitter-
wesen ist das Resultat. Die Abtheilung „Arie" enthält fast durch-
weg recht unerquickliche und unerfreuliche Musik; am schlimmsten,
wenn Caccini einmal eine Anwandlung fühlt, leicht und graziös
sein zu wollen, wie in der Aria sesta „Udite, udite amanti".
Weit besser gelingt ihm das Pathos, die affektvolle Declamation
der Madrigale, wo durch alle stellenweise fühlbare Unboholfenheit
wie sie dergleichen Anfangen eigen ist, nicht blos ein bedeuten-
des Talent des Componisten kenntlich ist, sondern auch Töne
wahrer Empfindung hörbar werden und einzelne wirkliche schöne
Züge hervortreten. Die Madrigale „Dolcissimo sospiro", „Amor
io parto", „Perfidissimo volto", „Deh, dove son fuggiti" und beson-
ders das mit der iunig-empfindungsvollen Frage „Dovro dunque mo-
rire"' beginnende wird man bei gutem ausdrucksvoll detaillirendera
Vortrag, zu welchem dem Sänger vollauf Gelegenheit geboten ist,
schwerlich ohne Interesse und Wohlgefallen hören können.
1) Doni Opp. II, S. 204.
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 197
Schon Caccini, der Sänger, selbst mag „nachgeholfen" haben,
und wir begreifen, dass diese Musik den Zeitgenossen wie eine
neue Offenbarung vorkommen musste.
Der Grundfehler des Ganzen Hegt weniger in der Unbeholfen-
heit mancher Wendungen, denen andere glückliche gegenüber-
stehen, weniger im Mangel fliesscnder Melodie, welche beständig
durch den declamatorischen Accent perturbirt und höchstens in
einzelnen cantabeln Melodiegliedern, die sich aber zu keinem
Ganzen runden und schliessen wollen, fühlbar wird, weniger in
den schwerlastenden Tonschlüssen , wo sich ganze Anhalt- Takte
auf einer einzigen Note dem Gange des Tonsttickes bleischwer
au die Füsse hängen, und zu denen sich der Componist ver-
pflichtet glaubt, so oft er in seinem Texte einen Schlusspunkt
oder einen Strichpunkt erblickt (sogar dem „Beistrich" wird seine
Beachtung zu Theil !) — der Grundfehler liegt in dem monotonen
Pathos, kraft dessen die einzelnen Madrigale alle dieselbe Färbung
haben und daher immerfort die gleichartigen Exclamationen, Sus-
pensionen, Phrasen, Cadenzen hören lassen , nur ganz äusserlich
sich von einander unterscheiden,im Charakter aber eines so ziem-
lich das Spiegelbild des andern ist. Drei bis vier dieser Gesänge
nach einander gehört würden den Eindruck nojoser Eintönigkeit
machen.
Diesen neuen florentiner Styl möchte man vielleicht am rich-
tigsten bezeichnen, wenn man sagt, er sei GefHss, aber nicht
Speise. So wie die Worte eines Gedichtes dieselben bleiben, ob sie
ein guter oder ein schlechter Declamator spricht, im ersten Falle aber
die Wirkung eine ganz andere sein wird als im zweiten, und
wie ohne die Worte auch der gute Declamator keinen Anhalts-
punkt fände, seine Kunst zu bethätigen, so sind diese Composi-
tionen gleichsam Gefasse, weit genug, durch die Kunst des Sängers
bedeutenderen Inhalt aufzunehmen. Durch geschickte Abstufung
des Ausdruckes wird sogar jene Monotonie einigermassen ver-
schwinden, Licht und Schatten wird in die Sache kommen. Es ist
bei einer völlig neuen Art von Musik schon Verdienst genug,
wenn sie es dem Sänger auch nur möglich macht, dergleichen
durch sie leisten zu können. Caccini lässt dem Sänger in der
That Spielraum genug. Nach Caccini's Versicherung ist es eine
edle (nobile) Singweise, wenn der Sänger sich nicht zu strenge
an den Takt (misura) bindet Ein frei declamatorischer Vortrag
ist es, was ihm als Ideal vorschwebt („la nobile sprezzatura del
canto")- ') Die Declamation ist höchst sorgsam, man darf sagen
meisterhaft. Kommt einmal im Texte ein zweifelndes „ma" vor,
1 ) Fink und G. Schilling (par nobile fratrum !) reden mit gewohn-
ter Oberflächlichkeit und anmasslicher Ignoranz von einer „Psalmodie"
and finden Aehnlichkeit mit dem Style Lully's — ! — worüber sie Fe*tis
nach Verdienst zurecht weist.
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198 Dio Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
so ermangelt Caccini in seiner Beobachtung des Angemessenen
nicht, vorher in Gesaug und Begleitung eine kurze Pause eintreten
zu hissen.
Eigenthümlich ist die Anwendung der Coloratureu, mit denen
Caccini nichts weniger als sparsam ist. Die declamatorischen und
einfacheren melodischen Stellen laufen, besonders gegen die einzel-
nen Abschnitte der musikalischen Periode hin und vollends gegen
den letzten Schluss des Gesanges, in Ornamente aus, oft so, dass
die in ihrer ersten Hälfte einfache Melodie-Periode in der zweiten
sich in Passagenwerk auflöst, durch welche indessen die ein-
fachere melodische Führung des Motivs meist deutlich genug zu
erkennen ist, etwa wie aus einer Variation das Thema zu er-
rathen wäre. Die Coloraturen Caccini's sind eigenthümlich, aber
wirksam und sogar geschmackvoll. Eine Art kurzen Vorschlages
nach seiner Schreibweise), punktirte Noten
u. s. w. wendet er mit Vorliebe an.
Seine Coloraturen sind übrigens keineswegs langatbmig. Verspottet
er doch selbst die lunghi giri di voce und sagt geradezu, sie seien
zur richtigen Weise zu singen ganz und gar nicht nöthig, son-
dern nur ein Nothbehclf für diejenigen, welche den ausdrucks-
vollen Vortrag nicht recht verstehen — „verständen sie es, so
würden sie das Passagenwerk verabscheuen, denn nichts in der
Welt streitet im gleichem Maasse gegen ausdrucksvollen Gesang".1)
Solche Zuthaten sind nur bei minder affektvollen Stücken passend
und vorzüglich auf langen Noten anzubringen. Der Triller (trillo) ist
nach seiner Anweisung auf einem einzigen, rasch vibrirenden Tone
auszuführen; kömmt eine Hilfsnote dazu, so heisst die Manier
„Gruppo". Obwol Caccini dem deklamatorischen Princip zu
Liebe beim Componiren dem Texte Satz nach Satz, Wort nach
Wort nachgeht, so ist er doch Musiker genug, um die Not-
wendigkeit einer musikalischen Architektonik, eines gegliederten
Baues des Tonstückes denn doch zuweilen zu empfinden. Er
wiederholt daher im Verlaufe mancher Gesänge einzelne Stellen
nach Note und Texteswort, was nach den ästhetischen Vorschriften
im Hause Bardi eigentlich unzulässig wäre. (Sogleich in der Aria
trima.) Aber diese willkürlich eingeschobenen Wiederholungs-
dellen bringen dennoch keine rechte Symmetrie zu wege. Die
1) — „che i passaggi non sono stati ritrovati porche siano neces-
sarii alla buona inaniera di cantare, ma credo io i»iu tosto per una certa
titillatione ä gli orecchi di quelli, che meno intenaono, che cosa sia can-
tar«> con affetto ; che, se cio sapessero indubitaniente i passaggi sarebbero
abboriti, non ossendo cosa piü contraria di loro all* affetto" (Vorrede).
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 199
Siugstimme notirt Caccini meist mit dem Sopran-, weniger mit dem
Alt- oder Tenorschlüssel ; ist die Singstimme im Violinschlüssel
geschrieben, so wendet Caccini für den Generalbass den Baryton-
schlüssclan. Gesänge für eine Bassstimme kommen im Buche nur zwei
vor — eine Arie aus il Kapimento di Cefalo und die letzte Arie
„Chi mi conforta, ohne". Fast alle Gesänge sind im Allabrevc-
takt geschrieben; doch kömmt auch {£3 vor, als Nachzügler aus
der Zeit der mensurirten Musik. Als Vorzeichnung kommt nur
vor. Die Diesis £ ist als Vorzeichnung nirgends ange-
weudet l). Dass nicht gemeint ist, als sollten die Gesänge genau
in der Tonlage gesungen werden , wie sie geschrieben sind,
dass Caccini vielmehr Transpositionen gestattet, beweist die letzte
wo er sogar darauf rechnet — deun welches Organ
könnte wohl den Schluss singen? jj " -h— -ft ^ — -j- - 1 — ^
In der Höhe geht dagegen dieser Gesang nur bis
Zufällige Erhöhungen und Erniedrigungen werden ausdrücklich
beigesetzt, ausgenommen, wo sie sich „von selbst verstehen44;2)
abermals eine Keminisceuz an die frühere Praxis der Musiker.
Zur Begleitung erklärt Caccini in der Vorrede ausdrücklich eine
Theorbe (Chitarrone) als das angemessenste Instrument; aber auch
sonst ein Saiteninstrument ist geeignet. 3) Er schreibt einen einfachen
Bass. (Die Gelehrten veredeln und habilitiren ihn für die antike Musik
neuen Styles durch das klangvolle Wort „Hypatodia organica"). 4)
Diesen Basso continuo versieht Caccini mit weit reicherer und
sorgsamerer Bezifferung, als seine Nachfolger zu thuu pflegen
durch die Ziffern entsteht oft eine ganz interessant geführte
1) Kiesewetter hat daher Unrecht, dem ,.Deh dove son fuggiti4' die
Vorzeichnung eines £ zu geben. In Caceini's Original erscheinen die nö-
thigenji im Contexte. Überhaupt ist Kiesewetter's Mittheilung voll
grober Fohler. Reissmann, Schlecht u. s. w. haben es ihm natürlich
treu nachgeschrieben. Was soll man vollends sagen, wenn in Schlechte
„ Geschichte der Kirchenmusik44, Seite 417, der Gesang „dallc celesti
sfere" (siehe Kiesewetter „Schicks, und Beschaffenheit des weltl. Ges."
S. 70) als Stück aus den Nuovo musiche (!) von Caccini (H mitge-
theilt wird!! Nicht einmal richtig abzuschreiben sind die Herren im
Stande ! !
2) Kiesewetter, der sonst mit $ und k sein* freigebig ist, hat es
unterlassen, im Madrigal „cor mio44 im siebenten Takt ein höchst nöthiges
beizuschreiben.
3) — „cantare solo sopra l'armonia di Chitarrone 6 di altro Stru-
men to di corde4' (Vorrede).
4) G. B. Doni Progymnasmata mus. partis vet. rest. (üpp. I, S. 233).
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200 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt.
Mittelstimme (,,parte di mezzo" nennt sie Caccini). Er schreibt
ganz ausdrücklich 10, 11 und bis 14 vor. l) Häufig erscheinen
liegende Bassnoten , die durch Bindebogen vereinigt sind,
von denen aber jede ihre eigene Bezifferung hat. Nach Caccini's
Erklärung soll in solchen Fällen der Basston nicht nochmals an-
geschlagen werden, sondern nur in den höheren Stimmen die
geänderte Harmonie. Meist wendet er die Grundtöne der Stamm-
aecorde an, dazwischen den Sextaccord (den er nicht einmal
immer ausdrücklich vorschreibt, wo er aus der Singstimme zu
erkennen ist); Quarten, Septimen, Nonen, Undezimen erscheinen
im Durchgang und werden insgemein den kurzen Sylben zuge-
wiesen, während die langen Sylben Consonanzen erhalten. '2) Die
Harmonie hat wohl einzelne nicht recht geschickte Wendungen
(auch der Zug aus früheren Zeiten s y- l erscheint zu-
weilen — gleich im ersten Madrigal — ), aber im Ganzen ist sie
glücklich und hat insbesondere eine in der That erstaunlich mo-
derne Färbung. Die Bedeutung der fünften Klangstufc, der Do-
minant- und Parallel-Tonarten empfindet Caccini durch eine Art
von Divination , denn Theorie und Lehre wussten einstweilen
davon kein Wort. Längere Ausweichungen in entferntere Ton-
arten sind dem Tonsetzer noch etwas Unbekanntes. Die Grund-
tonart des Stückes bleibt durchaus fühlbar. Die Molltonart hat
noch nirgends eigens den Zweck, Trauer und Schmerz ausdrücken
zu helfen; sie ist für den Componisten, wo sie vorkommt, nichts
weiter als die Tonalität, in welcher er sich eben bewegt.
Die Cadenz mit t|3jj wendet Caccini an — auch eine
complicirtere
{ = :!}
und zwar letztere so ungemein oft, dass sie fast zur stehenden
Manier wird — oder, noch complicirter :
1) Es ist eine grobe Unterlassungssünde , wenn Burney (Hist. of
mu8., Band IV, S. 200) bei dem schönen Madrigal „Dolcissimi sospiri"
Caccini's treffliebe Bezifferung kurz und gut weggelassen hat.
2) „Havendo posato le consonanze alle sillabe lunghe" (Vorrede).
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 20!
(Ana de Romanesca) pag. 25.
auch wohl einen feierlichen Kirchenschluss:
(pag- 3)
Doch hat Caccini, der Harmoniker, gelegentlich auch recht
schwache Momente ; seine Arie „Udite amanti" ist in dieser Beziehung
ein wahrhaft erschreckliches Stück, in dem die Harmoniefolgen
entweder leer und langweilig sind oder ganz unglaublich unge-
schickt auf einander platzen — man fühlt sich an Emilio del
Cavaliere erinnert. Im Ganzen erhält man bei Caccini aber doch
den Eindruck, dass man es mit einem wirklichen, gebildeten,
geistvollen Künstler zu thun hat. Billig erwogen gehören die
Unvollkommenheiten endlich doch nur seiner Zeit, der Incunabel-
zeit der Monodie. Da nun aber Caccini mit seinen „Nuove musiche"
so viel Sensation gemacht, so konnte Peri nichts Geringeres thun,
als 1 609 eine ähnliche Sammlung herauszugeben unter dem Titel :
„Le varie musiche del Signor Jacopo Peri a una, due e tre voci
con alcune spirituali in ultimo, per cantare nel Clavicembalo e
Chitarrone e ancora maggior parte di esse per sonare sempli-
cemente nel Organo. In Firenze, appresso Cristofano Marescotti
MDCIX." ') Die Gesäuge haben entschiedene Stylverwandtschalt
mit denen von Caccini; doch treten sie etwas minder solenn auf, was
die Deklamation, und etwas minder geschmückt, was die Passagen
betrifft. Auch ist der Bass noch einfacher, als bei Caccini, und
die Bezifferung des Generalbasses ist auf das Nöthigste beschränkt.
Zuweilen liegt selbst in einer kleinen Tonfigur Ausdruck, wie:
pag. 7.
£5
mi duo
le
Der deklamatorische Ton ist leichter, natürlicher, anspruchsloser,
als bei Caccini, wie in folgendem Sätzchen, dessen Text aus den
florentiner Kreisen herrühren mag und wo platonische Ideen zu einer
galanten Wendung gegen die angesungene Schöne benutzt sind.
1) Ein Exemplar in der Marcusbibliothek zu Venedig.
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202 I>io Musikreform und der Kampf gogen den Contrapunkt
pag. 3
P 4rS r: »_^..r
In qual par- te del ciel in qual i - do - a e-
-p — r
ra To - sora-pio on - de na - tu - ra toi - s<> quel bei
0
3er:
giu quan-to las- sü
po - te - a.
Das Liedmässige gelingt Peri wenigstens so weit, dass er den
singbaren Gang der Melodie nicbt völlig der Deklamation opfert
Sein kleines Duett „al prato, al fönte" hat mit Caccini's „Udite
amanti" entschieden Aehnlichkeit; wenn beide ärmlich und im
Ausdrucke nichtsbedeutend erscheinen, so ist Peri's Stück wenig-
stens doch anhörbar, was man jenem Caccini's leider nicht nach-
rühmen kann. Muntere Sätzchen, wie das Duett, welche dann
bei den Nachfolgern gar nicht selten vorkommen (Radesca da
Foggia hat sogar dasselbe „al pratou u. s. w. componirt), sind ent-
schieden ein Nachklang jener fa-la, jener Tanzgcsäuge, wie
Gastoldi's a liela vita, dessen Melodie in der Oberstimme übrigens
auch nicht von Gastoldi frei erfunden, sondern einem Volksliede
und Volkstänze entnommen scheint, denn sie kommt auch unter
den Tanzstücken in Cesare Negri's „Nuove invenzioni de balli" vor.
Bemerkenswerth ist in Peri's Duo, dass der Begleitungsbass zu-
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Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt. 203
gleich der Singbass ist; auch bei Badesca da Foggia ist dergleichen
sehr häufig. Dass aber der Singbass vom Begleit ungsbass ver-
schieden sein könne, wusste mau schon, wie ja jene oben er-
wähnten Bassarien von Caccini beweisen.
Die Emancipation von den Kirchentönen ist schon in diesen
Gesängen vollendet. Durtonart und Molltonart sind die beiden
Grundsäulen der Harmonie Erstere heisst jedoch in der Theorie
noch lange (sogar noch bei Mattheson in der ersten Hälfte des 18.
Säculums) Modus jonicus, die andere Modus aeolius. Die Tonart
F-dur mit ihrem b heisst jonius transpositus u. s. w. Den Gegen-
satz des Hellen, Kräftigen im Dur, des Trüben, Verdüsterten im
Moll begreift man erst in der nächsten Generation von Künstlern
und Kunstwerken. Erst Carissimi ist es, der in einein kleinen
Duo den lachenden Demokrit und den weinenden Heraklit —
einer kleinen musikalischen Studie — beide dieselben Motive
singen lässt, aber den ersten in Dur, den andern in Moll. v)
Monteverde in seiner Oper „il ritorno d'Ulisse" (1641) lässt nach
einer „Sinfonia in lempo allegro", welche in D-dur schliesst, den
Eintritt der trauernden Penelope durch eine Sinfonia mesta an-
kündigen; letztere geht in C-moll. Mochten die Compositionen
selbst wie immer aussehen und noch viel geringer sein, als sie
wirklich sind, so ist es schon Verdienstes geuug, solche neue
Pfade überhaupt betreten zu haben. Man darf übrigens ohne
weiteres sagen, dass die Nuovo musiche Caccini's und die Varie
musiche Peri's ganz entschieden erfreulicher sind, als jene ihnen
unmittelbar vorhergegangenen völlig leeren und öden florentinischen
Hof- und Festmadrigale, welche nur noch die Ausgelebthcit eines
weiland edel und bedeutend gewesenen Styls zeigen. Wie be-
rühmt und beliebt übrigens Caccini und Peri, die beiden Vor-
kämpfer des neuen Florentinerstyles waren, deutet auch der kleine
Umstand an, dass Antonio Bruneiii Stücke von ihnen, deren er
irgendwo habhaft geworden, seinen eigenen „Scherzi, Arie, Can-
zonette e Madrigali" (Venedig, 1618) beigiebt; übrigens sind es
nicht eben ihre besten Arbeiten, weiche ihm in die Hände ge-
kommen.
Die Tonsetzer hatten in der That Ursache, dankbar zu sein.
Denn sobald es bei einer Musik , um sie als wcrthvoll und be-
deutend gelten zu lassen, auf weiter nichts ankam, als darin das
ästhetische Programm derselben aus dem Hause Bardi-Corsi ein-
zuhalten, so war es eine erstaunlich leichte Sache geworden,
Componist zu sein. Sieben Achtel der Regeln, mit denen sich
die Contrapunktisten schleppten, konnten getrost über Bord ge-
1) Diese interessante Kleinigkeit ist in Athanasius Kircher's Musur-
gie mitgetheilt, und von daher entlehnt, auch bei Burnoy Hist. of mus.
Band IV, S. 210.
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204 Die Musikreform und der Kampf gegen den Contrapunkt
worfen werden, sie waren unnöthig geworden, obwol noch Caccini
nicht ohne einige Ostentation sich auf die Regole del contrap-
punto beruft. ') Ks genügte , einige harmonische Formeln und
deren Ziffern in den Fingern zu haben; für den Gesangpart gab
der natürliche Accent der Rede sichere Anhaltspunkte ; auf wirk-
liche musikalische Erfindung kam es dabei kaum noch an. Dass
bei Caccini und Peri noch immer wirklicher Musikklang heraus-
tönt und selbst manche an sich ganz öde scheinende Stellen
dennoch uns, die wir bereits auch die ganze spätere Entwicklung
der Tonkunst kennen und bewusst oder unbewusst mit in An-
schlag bringen, gleichsam latente Musik, welche sich aus den
unscheinbaren Keimen entwickeln soll, erkennen lassen, hebt jene
beiden Tonsetzer hoch über ihre ersten Nachahmer und Nach-
folger, welche sich fast nur begnügen, die Gesangphrasen und
Begleitungs-Schablonen ihrer Vorbilder so gut sie's können auf
neue Worttexte anzuwenden. Allenfalls wird bei den besseren,
eine massige Fortentwicklung oder doch ein Streben darnach
kenntlich. Fast so arm und kahl, wie einst die ersten Anfange
der Contrapunktik gewesen, sind auch die Anfänge der „Musica
nuova", der monodischen, deklamatorischen, den Gesang nicht
mehr contrapunktirenden, sondern harmonisirenden Musik. Wie
dort bedurfte es auch hier langer und eifriger Arbeit der Besten
und Begabtesten, um auf dem neuen Wege zu finden und zu ge-
winnen, was darauf zu finden und zu gewinnen war.
„80 unbedeutend war das Senfkörnlein, das später zu jenem
Baume heranwuchs, der das Feld überschattete", ruft Kiese-
wetter aus.2)
1) In den dem Fragmente aus „il Rapimento di Cefalo" vorange-
sendeten Bemerkungen.
2) Gesch. der europ.-abendl. Musik, S. 75.
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Zeiten des Ueberganges.
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Die Zeit des Ueberganges.
Die grosse Vorliebe der antiken Welt für Theater und dra-
matische Vorstellungen vererbte sich auf Italien, oder lebte dort
wenigstens früher wieder auf, als anderwärts. Zur Zeit, da sich
Frankreich, Deutschland und England noch an Mysterien und
Moralitäten erbaute, begann in Italien die Kunstdichtuug nach
der höheren dramatischen Form der Tragödie, des Hirtenspieles
zu greifen. In Rom zur Zeit Leo des zehnten, bei der glänzenden
Hofhaltung der Ercole und Alfonso von Ferrara u. s. w. kannte
man kaum ein grösseres Vergnügen, als theatralische Aufführungen.
Und zwar mit fabelhaftem Prunk an Ausstattung. „Man erfährt
mit Staunen", sagt Burckhardt in seinem trefflichen Buche über
die Cnltur der Renaissance in Italien, „wie reich und bunt die
Decoration der Szene in Italien war, zu einer Zeit, da man sich
im Norden noch mit der einfachsten Andeutung der Oertlichkeit
begnügte — allein selbst dies wäre vielleicht noch von keinem
entscheidenden Gewicht gewesen , wenn nicht die Aufführung
selbst theils durch Pracht der Costüme, theils und hauptsäch-
lich durch bunte Intermezzi den Sinn von dem poetischen
Gehalt des Stückes abgelenkt hätte". {) Derselbe Autor erzählt,
wie während der dramatischen Aufführungen, welche Herzog Er-
cole von Ferrara zur Feier der Vcrmälung seines Sohnes Alfonso
mit Lucrezia Borgia veranstaltete, .Jedermann sich während des
Dramas nach den Zwischeuakteu sehnte", deren bunte, wechselnde
Schaustellungen die eigentliche Auffuhrung des geregelten Thea-
terstückes überglänzten. „Da gab es Kämpfe römischer Krieger,
welche ihre antiken Waffen kunstgerecht zum Takte der Musik
bewegten, einen Tanz von wilden Männern mit Füllhörnern, aus
welchen flüssiges Feuer sprühte; sie bildeten das Ballet zu einer
Pantomime, welches die Rettung eines Mädchens von einem
Drachen darstellte; dann tanzten Narren in Pulcinelltracht und
schlugen einander mit Schweinsblasen u. dgl. m." 2) Lauter
1) S. 250.
2) a. a. 0. S. 251.
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208
Die Zeit des Ueberganges.
Dinge also, bei welchen Musik nicht zu entbehren war. Diese
bunten Intermezzi, diese singenden Maskenzüge, diese costümir-
ten Tänze bei Hoffestcn nehmen hier unsere Aufmerksamkeit
besonders in Anspruch. In ihnen lag der Keim zu dem wirk-
lichen musikalischen Drama, wie es sich gegen Ende des 16.
Jahrhunderts entwickelte. Das Intermezzo mit seiner Musik und
seiner Prachtausstattung dehnte sich aus, wurde zur geregelten
dramatischen Handlung und drängte das recitirende Drama aus
dein Rahmen seiner Akte heraus, um sich an dessen Stelle zu
setzen und schuf sich einen neuen, eigenen, seinen künstlerischen
Zwecken angemessenen Musikstyl. Einen interessanten Beleg
dafür bietet das dritte Intermezzo bei der Hochzeit Ferdinaud's
von Medici und Christiana's von Lothringen 1589. Es behandelt
den Kampf Apollos mit dem Pythondrachen — kurz und skiz-
zenhaft — die Verse sind von Ottavio Rinuccini, die Musik ist von
Luca Marenzio: erst ein Hirtenchor „qui si sfama", der die Angst
vor dem Ungeheuer ausdrückt, dann eine „Symphonie", welche
ohne Zweifel die Pantomime des kämpfend - bogeuschiessenden
Gottes begleitete, dann ein Chor der Hirten, der den Tod des
Drachen verkündigt „o valoroso dio" — und zum Schlüsse ein
Freudenchor mit Tanz „o mille volte". Ein Dialog war augen-
scheinlich nicht dabei. Diese bahVtartige Szene eines Zwischen-
spieles erweitert sich unter des Dichters Rinuccini Händen zur
musikalisch -dramatischen Dichtung ,,Dafne", welche von Jacob
Pcri , später noch einmal von Marco da Gagliano und in der
deutschen Uebersetzung des Martin Opitz von Heinrich Schütz
ein drittes Mal in Musik gesetzt wird.
Um jedoch diesen erweiterten und erhöheten Anforderungen
zu genügen, musste die Musik eine völlig andere Gestalt anneh-
men, als ihre bisherige, und dazu wusste sie sich vorläufig keinen
Rath. Der allbeherrschende Madrigalstyl musste einstweilen dem
Bedürfnisse genügen. Wir haben daher diese Intermedien, die
HofTeste mit singenden und tanzenden Maskenzügen u. s. w.
nicht als die Anfänge, sondern nur als die Vorstufen der drama-
tischen Musik anzusehen. Sie lassen eben nur erkennen, was
man gerne gehabt hätte, aber einstweilen noch nicht hatte.
Die Monodie löste sich vor ihrem selbstständigen Auftreten
vom Contrapunkt los — sie wuchs so zu sagen aus dem Contra-
punkt heraus, wie man in alten Bilderbibeln aus der Seite des
schlafenden Adam die G estalt Eva's herauswachsen sieht.
Wir haben es schon früher ') erzählt, auf welche Art man
vierstimmig componirte Sätze für den Vortrag eines Solosängers
zurechtmachte und wie wir uns etwa den längst verschollenen
Gesang der „Cantori a liuto" zu denken haben. Bis zur Ent-
1) Band 2. S. 499 u. a.
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Die Zeit des Ueberganges.
209
stehung der eigentlichen Monodie gegen das Jahr 1600 hin re-
präsentirte das mehrstimmige Madrigal die höhere weltliche Kunst-
musik. Dass ein fiir vier, fünf, sechs u. s. w. Stimmen compo-
nirtes Stück dieser Art insgemein auch wirklich von vier, fünf,
sechs Sängern vorgetragen wurde, denen sich allenfalls eine Laute
oder ein ähnliches Instrument zugesellte, um sie im Ton zu er-
halten, ist ausser Zweifel; „cantare in compagnia" nennt es Pie-
tro della Valle '). und Antonio Francesco Doni in seinem „Dia-
logo della musica" schildert höchst anschaulich das Vertheilen
der vier Parte unter vier sangeskundige Musikdilettanten. 2)
Wir lassen jenes oft und zuerst von Tristano Chalco be-
schriebene Fest bei Seite, womit 1488 3) in Mailand die Vermä-
lung Galeazzo Sforza' s mit Isabella von Aragon gefeiert wurde.
Statt die Speisen einfach auf die Hochzeitstafel zu setzen, wurden
sie unter irgend einem mythologischen Prätext von Göttern, Nym-
phen, Satyrn u. s. w. aufgetragen, wobei denn auch nach Her-
zenslust recitirt, gesungen, getanzt wurde. Es waren Aufzüge,
Divertimenti bei Tafel (dergleichen man in Frankreich „Entre-
mets" nannte). Wollte man, wie Arteaga thut, darin den ersten
Grundstein der Oper erblicken, so hätte z. B. das berühmte Ten-
denzbankett (zur Wiedergewinnung Constantinopels) beim Her-
zoge von Burgund 1454 gleiche Ansprüche; nur dass im Italien
der Renaissance die ganze Erfindung (sie gehörte einem Edel-
manne Bergonzo Botta an) noch sehr viel mehr antikisirte.
Man war in Italien gewöhnt, kirchliche und weltliche Feste, Pro-
zessionen , fürstliche Hochzeiten , Carnevalsaufzüge u. s. w. mit
derlei Erfindungen reichlichst auszustatten; ' und Bergonzo Botta »
Invention darf in dieser Beziehung nicht einmal etwas Ungewöhn-
liches oder Besonderes heissen. *)
Mehr schon einer musikalisch-dramatischen Aufführung nähert
1) Sendschreiben „della musica delT etä nostra" (bei Doni II. S. 250).
2) Bargo, einer von ihnen, holt aas dem Musikalienvorrath ein Ma-
drigal „Donna per acquetar vostro desire" von Claudio Veggio — er
selbst behält den Tenor und sagt: „Grullone pigliate il vostro basso,
Micchele l'alto et l'Hoste il canto". Dieser Dom ist mit G. B. Doni
nicht zu verwechseln; sein Dialog erschien 1544 in Venedig bei Girolamo
Scott >. Dem Exemplar der Bibliothek der Ges. <L Musikfreunde in Wien
ist von Kiesewetter's Hand beigeschrieben: „nichtswürdiges Geschwätz
aber allerhand, nur nicht über Musik".
3) Nicht: 1388, wie es durch einen Druckfehler in der deutschen
Uebersetzung von Arteaga's Buch, S. 211, und so auch bei Kiesewetter
(Schicksale und Beschall, des weltl. Gesanges, S. 26) heisst.
4) Ich verweise auf Burckhardt's „Cultur der Renaissance in Italien"
2. Aufl., S. 320—340.
5) Wen es etwa interessirt, eine Beschreibung davon zu lesen, möge
sie bei Kiesewetter a. a. O. aufsuchen.
Ambroi, Geschichte der Musik. IV. U
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210
Die Zeit des Ueberganges.
sich die von Filippo Beroaldo geschilderte Vorstellung bei der
Hochzeit des Annibale Bentivoglio mit Lucrezia von Este in Bo-
logna. Hier gab es schon eine förmliche, einen Hain mit Natur-
wahrheit darstellende Szene ; Venus , einen von ihr gezähmten
Löwen (das heisst wohl: einen Menschen in Löwenmaske) füh-
rend, erschien in einem Ballette von wilden Männern, Diana trat
mit ihren Nymphen auf, deren schönste von ihr weg und zur
Juno Pronuba floh u. s. w. — alles augenscheinlich allegorische
Anspielungen auf das fürstliche Brautpaar. Zu diesem Ballet
wurden Chöre (d. i. „Madrigale" und ,,Balli4') gesungen.
Chöre in Madrigalfonn in den Zwischenakten von Tragödie -
Aufführungen singen zu lassen, wie in Lodovico Dolce's „Tro-
janerinnen", welcher die Texte dafür eigens gedichtet hatte, oder
in die Handlung selbst Chöre einzuflechten — und zwar aus
keinem andern Grunde, als weil die antike Tragödie Chöre ge-
habt, wie denn in Cinzio Giraldi's „Orbecche" ein Chor der
Frauen von Susa vorkömmt, wozu für die Aufführung in Femara
Alfonso della Viola die Musik setzte !) (Guarini's Pastor Fido,
mit seinen Chören der Hirten, Priester u. s w. erhielt Musik von
Luzzascho Luzzaschi u. s. w.) — war etwas Gewöhnliches. Diese
Tonwerke sind verloren — aus Luca Marenzio's Combattimcnto
d' Apolline col serpente können wir indessen eine deutliche Vor-
stellung davon gewinnen — es waren Madrigale, im gewohnten Styl.
In Ferrara schloss jede Komödie mit einem Mohrentanz Ei la sua
moresen)2).
1) Wir wissen es nur aus der Didaskalie. welche, dein Druck dieser
grasslich-blutigen Tragödie beigegeben, also lautet: „Questa tragedia fu
rappresentata in Ferrara in casa del autore MDXLI prima all' filustria-
sinio Signore il Signor Erole II da Este duca IV di Ferrara; dopo uT
Illustrissimi Signori, il Signor Cardinale Salviati. la rappresentö M. Se-
bastiano Clarignano da Montefalco, foce la Musica IT Alfonso della
Viuola, fu Architctto et il Dipintore della Seena M. üirolamo Carpi da
Ferrara1'. C. F. Becker hat sich dadurch irre leiten lassen und in seinein
Buche „Tonwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts'1. S. 301, die Orbecche
mit der Musik Allbnso's falschlich unter den Musikdrucken aufgeführt.
Tausendmal eher zu verzeihon. als wenu Berlioz daraus eino Kunstnovelle
„le premier opera" zusammenlasen, Alfonso zum Erfinder der Oper macht
ihn mit Benvenuto Cellini in Corrospondenz treten lässt u. s. w. — alles
eigentlich nur um einer Kritik, oder vielmehr einem Ausbruch leiden-
schaftlichen Hasses gegen den Palestrinaatyl Luft zu machen — einem
Styl, dem jener des Berlioz allerdings diametral entgegengesetzt ist.
Natürlich hat man nicht ermangelt, die Novelle zur Belehr u ng Deutsch-
lands zu übersetzen ! ! ! Es ist kaum ein Ausdruck des Unwillens stark
genug dafür. (Jeher das Drama selbst s. Klein, Gesch. d. Drama.
2) Diario Ferrarese — bei Muratori XXIV. Col. 4i>4. Man möge
sich erinnern, dass in Shakespeares Sommernaehtstraum Zettel nach Auf-
führung der „Tragödie von Pyramus und Thisbe'' den Herzog fragt: ob
er einen Epilog als Schluss oder einen Bergamaskertanz vorziehe? —
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Die Zeit des Ueberganges.
211
Diese Zugab-Cliöre, Tänze u. s. w., obwohl zu dramatischen
Zwecken dienend, haben mit der eigentlichen, dramatisch ange-
legten, recitirenden Musik der Florentiner um 1G00 nichts zu
schaffen — eben so wenig wie Orazio Vecchi's seltsamer, aber
origineller, geistreicher und sogar dramatisch - ausdrucksvoller
,,Anfiparuas8o". l)
Die vielfachen Verbindungen und der Verkehr mit Italien,
welches damals die Spitze der (Jultur und Civilisation bildete, die
Züge der fremden Fürsten durch das schöne Land, bei welchen
die durch feine Sitte und den Glanz der Künste veredelten Höfe
den Wunsch anregen mussten, sich daheim eine ähnliche Um-
gebung zu schaffen, trugen sicherlich wesentlich dazu bei, dass jene
schimmernden Hoffeste ihre Widerscheine auch in die Länder
jenseits der Alpen warfen, und wir erkennen in dem Ludus Dianae,
welcher zu Linz zur Feier der Vermälung Kaiser Maximilian 1.
mit Maria Bianca Sforza ^1594) in Gegenwart des erlauchten
Paares, des Herzogs von Mailand (des Vaters der Braut) und
anderer Herrschaften, von Conrad Celtes und verschiedenen kaiser-
lichen Secretären und anderen Kespectspersonen aufgeführt wurde,
ein völliges, aber gerade in seinen Abweichungen charakteristisches
Gegenbild jener halbdramatischen Hofraaskcraden in Italien —
es ist eine in fünf Akte geth eilte , verschiedenen Göttern und
Halbgöttern in den Mund gelegte Gratulation, womit die Hof-
ceremonie einer Dichterkrönung von kaiserlicher Hand und sogar
ein Hofbankett in Verbindung gesetzt wurde. 2 Der musika-
lische Thcil ist allerdings äusserst dürftig, aber eben in seiner
Dürftigkeit bemerkenswert!!. Nachdem Mcrcur als Abgesandter
Diana's einen Prolog ad Spectatores gesprochen, trat Diana mit
ihren Nymphen auf und begrüsste lobpreisend den kühnen Jäger
Max, mit dem sich weder Meleager noch Hercules messen dürfe
(Calidonius heros jam nihil est). Die Nymphen umtanzten sie»
und sangen das Lob des Brautpaares in einer Art Fauxbourdon,
welcher die Distichen des Textes mit genauer Markirung des
Metrums und sogar auch der Cäsur abtrommelte:
1) S. 3. Band, S. 545.
2) Das Festspiel ist 1501 zu Nürnberg bei Hieronymus Holzel unter
dem Titel gedruckt worden: Ludus Dianao in modum Comediao, coram
Maximilian«» Khonianorum rege Calcndis Martiis ludis Saturnalibus in
arce Linsiana Danubii actus, Clementissimo Rege et Regina, Ducibus
illustribus Mcdiolani, totaone regia curia spectatoribus — per Petrum
Bonomum. Reg. Canccl. Joseph. Grunpekium, Reg. Secret. Conraduni
Celton (so!), Poe. Ulsenium Phrisium, Vincentium Longinum, in hoc ludo
lanrea donatuin, folicitor et jueundissime ropraesentatus. (MCCCCC et
trimo novi Scculi, ldibus Maji.) Es Bind fünf Blätter in kloin Quart.
>ie prager Universitätsbibliothek bositzt ein Exemplar (Sign. VI. H. 60).
14*
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212
Die Zeit des Ueberganges.
Ma - xi - mi - lia - neas Nym - phae nunc di-
y ^ — zr g. — ^_t^__x__0 — j — — — i
ci - lau - des et reso - net no - stro
Blan - ca Ma - ri - a Cho - ro. u. s. w.
Ende des ersten Aktes. Im zweiten trat Silvanus mit Gefolge
auf, pries den Kaiser als Beschützer der Christen (der „Schäflein
Christi44, wie sich der wackere Heidengott ausdrückte) und feuerte
ihn zum Türkenkriege an l) — wonach im dritten Akt Bacchus den
Rheinwein belobte (sie Rhenana mihi culta fuit plaga) und sonst
Angemessenes sprach, plötzlich aber aus der Rolle und dem Kaiser
zu Füssen fiel, und indem er sich als Herr Vincenz Longinus zu
erkennen gab, sich die Krönung mit dem poetischen Lorbeer
erbat :
Siqua mihi est virtus doctrinaque, maxime Caesar,
Imponas capiti laurea serta meo
Per Su porös ego juro tibi et per sceptra tonantis
Cantabo laudes hic et ubique tuas.
1) Eine sinnreiche Spielerei, welche dabei angebracht ist, mag hier
■ erwähnt werden. Silvanus spricht:
Rex cui Maximium praestant pia sidera nome N
Verus ab aethero missus raortalibus orb E
Cultor olympiaci , justique acquitonanti S
Juris amator oves Christi tua sceptra gubeman T
Mens vigil ut coelo populus turbatus apert O
Vivida ad aeterni tanaem pins ora trahatu R
Serva commissum tibi ne Iupus intret ovil E
Justitiam superos obeuntom, hoc orbe relict 0
Nobis qui Austriaco fruimur pastore remitta S
Und so weiter. Die ersten Worte bilden selbst wieder lobpreisende
Hexameter:
Rex verus cultor juris, mens vivida serva
Justitiam nobis u. s. w.
Die Endbuchstaben aber bilden den glückwünschenden Vers: Nesto-
reos utinara vigeat feliciter annos. Eine wahre Plethora von Gratulatio-
nen! Zugleich sieht man, dass es nicht die Tonsetzer allein
waren, welche in ihre Kunstwerke nebenbei sonderbare Kunst-
stücke hineinbrachten. Es lag eben im Geiste der Zeit
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Die Zeit des Ueberganges.
Für die vollzogene Krönung dankte der Chor, abermals das Me-
trum (hier das sapphische) genau markirend, doch X£L ^31U^31Xl1
schon etwas mehr motettenartigen Tonsatze:
Re - gis ae - ter - nas re - so
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ne - mus
om
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cli - ti
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lau -
des:
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214
Die Zeit des Ueberganges.
W
do - cto de - de - rat po - e
Im vierten Akt introduzirtc sieb Silenus zu Esel und
äusserte sicli als Trunkener, aber durebaus böchst schmeichelhaft.
Jene wackere Kitterzeit liebte das Pokuliren zu sehr, als dass
ihr durch den Anblick des Zechers hätten Tantalusqualen be-
reitet werden dürfen; es wurde also zum Schlüsse des Aktes
durch die Mundschenken des Kaisers Wein herumgereicht, und
bei Trompeten- und Paukenschall wurde gezecht. l) Im ftinften Akt
verabschiedeten sich alle Personen. Diana sprach glückwünschend«'
Verse, deren jeden der Chor in vierstimmigem Gesänge wieder-
holte — - Wünsche, deren Erfüllung das Geschick versagte:
Multiplicem variet sobolem tibi Bianca Maria
Et dueibus terras impleat austriacas
Maximiliane vale, valeas jam Bianca Maria
Jam ropeto Silvas ipsa Diana meas.
Der Kaiser belohnte Tages darauf die 24 Darsteller auf das
Freigebigste.
Ein ähnliches, mit drei Chören zu vier Stimmen ausgestattetes
Festspiel von Benedictus Chelidonins wurde 1515 zu Wien in
1) — hinc rursus silentium, et pocula aurea et paterae per regios
pincornas circurolatae et inter pocola pulsata tympana et cornna. Finis
actus quarti — das Pokaliren gebörto also mit zum vierten Akt !
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Die Zeit des Ueberganges.
215
Gegenwart der Königin von Ungarn aufgeführt. l) Die Gesänge
sind insofern bemerkenswert!!, als sie der von Conrad Geltes und
seiner „docta Sodalitas" eifrig vertretenen Richtung angehört, antike
Metra ganz genau durch Takt und Bewegung des Gesanges ein-
zuhalten.
Dagegen sind die der erwähnten, 1 497 aufgeführten Comödie
Reuchlin's *) eingeschalteten Melodien eines gewissen Daniel Megel
wahre Bänkelsängerstücklein, für die musikalische Fassungskraft
der agirenden Schuljungen berechnet, z.B. nach dem zweiten Akte:
Choraules.
Mor - ta - Ii
Mo - ve - tur
um iu - cun - di
in - star tur - bi
tas vo - lu-
nis quam nix
cri8 et pon - du - la.
a - git sc - du - la.
Dis - cit - que vir-
I
tu - te Deum co - le - re.
(Es sind dieselben Verse, die Hans Uolbein d. j. seinem für den
Stahlhof in London gemalten „Triumph der Armuth" als Denk-
spruch beigeschrieben hat.) 3)
Nach dem dritten Akt wird folgendes Lied gesungen:
Choraales. k
gl
-0-
r
Dig - na sunt A - pol - Ii - ne quae con - ci - mint po-
Quo co - rus - cant nu - mi - ne di - vi - ni - tus pro-
5s ss
|jl§||g^^illlij|^llli
e - tae.
phe - tae
Di - Ii - ga-mus er - go nos
Va - tes coe - Ii - tus sa - cros
quo-rum lu- dos
1) Das Werk wurde in demselben Jahre zu Wien bei Johann Sing-
ryner gedruckt. Die Wiener Hofbibliothek besitzt ein Exemplar.
2) Das erwähnte Werk ist betitelt: „Joannis Reuchlin Phorcensis
scaenica progymnasinata, hoc est ludicra praeexercitaraenta. — (Viennae
— Joannis Smgrenij Anno M.D.XXII1").
3) \ergl „Holbein und seine Zeit" von D. Alfred Woltmann, 2. Th.
S. 224.
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216
Die Zeit des Ueberganges.
I
sco - ni - cos os- ten - di
ce - te.
In einem ganz antik zugeschnittenen Spiele müssen die Reime
in diesen Gesängen überraschen.
Am französischen Königshofe, wo es längst nicht mehr so
hausväterlich tugendhaft zuging wie einst unter Ludwig XII. und
Anna von Bretagne, hätte man sich mit so einfachen Schauspielen
nicht begnügt; man liebte Glanz und Pracht.
Am 15. Oktober 1581 wurde im Schlosse zu Moutiers die
Vermälung Margarethe^ von Lothringen, der Stiefschwester des
Königs Heinrich III. mit dem Herzoge von Joyeuse gefeiert.
Den glänzendsten Theil der Feste bildete nun jenes „ballet co-
mique de la Royne, faict aux nopees de Monsieur le Duc de Jo-
yeuse ctMadamoyselle deVaudemont sa soeur par Baltasar deBcau-
joyeulx valet de chambre du Roy et de la Royne sa merc", durch
dessen plumpe Pracht man den Glanz der medieeischen Hoffcste. wie
Katharina von Medicis in ihrer Jugend sie zu Florenz gesehen,
zu überbieten suchte. Baltazar, genannt Baltazarini aus Piemont,
der auf dem Titel als Autor genannt ist, war als vorzüglicher
Geigenspieler durch den Marschall von Brissac an Katharina von
Medicis empfohlen und nach Paris geschickt worden, wo er als
valet de chambre und Intendant der königlichen Musik in Dienste
trat. Wegen seiner „artigen" Entwürfe bekam er den Beinamen
„Beaujoyeulx" ; und wie artig diese viclbelobten Entwürfe waren,
davon gibt uns dieses Ballet eine Vorstellung, das in seiner Aus-
stattung so unsinnig verschwenderisch, als in seiner dramatischen
Zusammenstellung eigentlich ein mythologisch aufgeputzter Hofball,
eine Hochzeitsgratulation , und in letzter Instanz eine colossale
Schmeichelei fiir Heinrich III. war — socolossal, dasssie nicht einmal
durch das überboten wird, was Ludwig XIV. Aehnliches geboten
wurde. Der Plan des Ganzen war von Baltazarini; die Dichtung der
Verse aber gehörte dem M. d e 1 a C h e s n a y c, Almosenier des Königs,
an; die Musik war ein Werk der königlichen Musiker Beaulieu
und Salmon. Die Aufführung dauerte von 10 Uhr Abends bis
4 Uhr Morgens.
Die Handlung dieses „ballet comiqueu (welches aber nicht
das mindeste Komische enthält) dreht sich um die Zaubereien
Circe's, welche ihre Gefangenen in Thiere verwandelt (eigentlich
die bitterste Satyre auf diesen König und seinen Hof, ohne dass
es der gute Kammerdiener merkte). Ein Edelmann (un gcntil-
homme), welcher die Zahl dieser Unglücklichen nicht vermehren
mag, flüchtet sich unter den Schutz des Königs:
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Die Zeit des Ueberganges. 217
Ne rem tu pas grand roit tant de dieux secourir?
Tu le feras, Henri, plus valeureux qu'Alcide
Ou celui qui tna la chimere homiciae:
Et pour tant de mortels et dieux que tireras
Des liens de la feo, immortel te feras.
Circe klagt heftig über den Undankbaren, dem sie seine
frühere Gestalt wiedergegeben habe und der solches nur benützt
habe, um ihr auf Nimmerwiedersehen zu entfliehen. Circe zieht
sich zürnend in ihren Hain zurück. Tritonen und Nereiden nähern
sich, um das Lob der Königin Louise zu singen. Die Najaden
und zwölf Pagen, welche sich zu ihnen gesellen, tanzen ein Ballet
Da erscheint nach einem muntern Stück, „le son de la clochetteu
betitelt, Circe, berührt die Nymphen, die Pagen, ja sogar zehn be-
gleitende Geigenspieler mit ihrem Stab und verwandelt sie in
unbewegliche Statuen. Nach vollbrachtem Zauberwerke zieht sie
sich in ihren Hain zurück, als unter dem erschütternden Getöse
eines furchtbaren Donnerschlags Mercur von der Decke des Saales
herabgeflogen kommt. Entzauberung durch das Kraut Moly —
Tanz — neuer Zauber — Illumination — Dryaden ^- Pan u. s. w.
Man kann sich von dem Geiste dieser Poesie eine Vorstellung
machen, wenn Circe erklärt, zwar nicht der Macht Jupiters,
wohl aber der Macht des Königs von Frankreich weichen zu
wollen :
„Je vous resisterai: que si la destinec
a de ma verge d'or la force terminäe,
ce n'est en ta faveur, Jupiter, ne le croy,
et si quelqu'un bien tost doit triompher de moy
c'est le Roy des Francois — et faut, que tu luy cedes
ainsi que ie luy fais, le ciel que tu possedes".
Jupiter, in dessen Maske ein Sieur Savornin steckte f„tres
excellent en chant et en la compositum des airs de musique"),
stellte seine Kinder Mercur und Minerva (eine Mademoiselle de
Chaumont) förmlich nach Hofsitte dem Könige vor („et apres Ju-
piter presenta au Roy ses deux enfants Mercure et Minerve, qui
s'allerent se jetter aux pieds de Sa. Majeste, faisans paroistre
qu'ils cedoyent a ce grand Roy"). Die ganze Vorstellung
fand nämlich keineswegs auf einer von dem Zuschauerraum strenge
geschiedenen Bühne statt. Die im Kupferstiche dargestellte „Fi-
gure de la Salle" zeigt einen prächtigen Ballsaal, in dessen
Hintergründe eine Vorstellung von Circe's Garten decorationsmässig
angebracht ist; seitwärts im Saale steht eine Baumgruppe mit
einem flötenden Satyr. Die edelsten Damen des Hofes wirkten
mit. Die Königin (la quelle ressembloit plustot a quelque chose
divine) kam mit den als „Najaden" prächtig in Silberstoff ge-
kleideten Edeldamen (la princesse de Lorraine, la duchesse de
Mercueil, de Guise, de Nevers, d'Aumale, de Joyeuse, la mare-
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21S
Die Zeit des Ueberganges.
challe de Rctz u. s. w.) auf einem riesigen, von drei Seepferden
gezogenen Wagen, dessen Obertheil von einer Fontaine wohl-
riechenden Wassers (eau de senteur) gebildet wurde. Zwei Musi-
kanten mit Laute und Gambe sassen gleich hinter den Seepferden.
Vier Edelfräulein traten als die vier Cardinaltugenden auf, und
zwar mit den herkömmlichen Emblemen der Schlange, Wage
u. s. w.y sonst aber in der schwerfalligen, bis an den Hals zuge-
knöpften damaligen Hof- und Damenpracht; sie trugen Kleider
„bleu Celeste4* mit Sternen ,,d'or bruny"; als Haarputz trugen sie
„arcades d'or et de soye". Zwei sangen, zwei schlugen Laute,
und es sieht seltsam genug aus, wie z. B. die Stärke ihre Noth
damit hat, neben der emblomatischen Säule auch noch eine Laute
schleppen zu müssen. Wir lassen hier die Wunder bei Seite,
welche der königliche Maler Jacques Patin als Decorateur und
als Maschinist wirkte, wie Götteraufzüge zu Wasser und zu Lande
in fabelhafter Pracht das Auge blendeten, wie Ungeheuer und
Blitze und Donner schreckten, wie Najaden, Nymphen und Satyrc
Ballet tanzten, wobei sie vierzig geometrische Figuren auf das
künstlichste abführten. — „de maniere, que chacun creut, qu1
Archimede de n eust peu mieux entendre los proportions geo-
metriques, que ces princesses et dames les pratiquoyent en ce
ballet" — wir wollen hier nur noch von dem reden, was für
uns die Hauptsache ist, von der Musik. Auch hier hatte man
den gedenkbarsten Luxus in den verwendeten Mitteln entwickelt,
und in der Kuppel des Ballsaales nicht weniger als zehn Musik -
banden fdix concerts de musique) mit Instrumenten verschiede-
ner Art, „die den Sängern als Echo dienten" aufgestellt: Haut-
bois, Cornetti, Posaunen, Gamben, Lauten, Harfen, Flöten. Ein
Sieur J uvigny , Stallmeister des Königs , der zugleich die Rolle
des Pan innehatte, spielte auf das zierlichste ein Flageolet von
eigener Erfindung. Zum ersten Eintritte des Ballettes zogen zehn
costümirte Violinisten auf, fünf von jeder Seite; sie wurden von
(Jirce in Stein verwandelt, wieder entzaubert u. s. w. Eine
Schaar Tritonc schwamm herein mit Neptunsdroizacken und In-
strumenten in Händen — lyres, luths, harpes, flustes, et autres
instruments — es sieht in der Illustration abermals höchst son-
derbar aus, besonders wie der eine Triton seine Gambe violon-
cellmässig streicht. Als Jupiter aus der goldenen Kuppel, wo
vierzig Musiker ihre Stelle hatten, mittelst eineR Flugwerkes her-
abstieg, ertönte eine Musik „avec nouveaux instrumenta et difie-
rents de precedens'4; es war, fahrt der Bericht des Textbuches
fort, „la plus docte et excellente musique qui jusqu' alors eust
«•te chante'e et ouye come se cognoistra par la note suyvante".
Folgt diese als Wunderwerk belobte Musik in Noten. Die Musik
der Ballette gehört dem schwerfälligen Style der Tanzmusik des
16. Säculum's an.
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Die Zeit des Ueberganges. 219
Le son du preniier ballet.
Und weiterhin:
La petite entree du grand ballet a 5 parties.
Die Zeit de« Uebergangea.
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Die Zeit des Ueberganges.
221
Nicht ohne Munterkeit ist die (allerdings trivial genug klin-
gende) Melodie, bei welcher Circe hervortrat. Baltazarini belobt
sie „un son fort gay, nomine* la clochette" — übrigens verdirbt
die ungeschickte Belastung mit Begleitungsstimmen selbst den
leidlichen Zug der Melodie:
Le son de la clochotte, auquel Circe sortit de son jardio,
222
Die Zeit d« s Uebergaoges.
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I
Die Chöre sind verkümmerte Madrigale, und für eine Zeit,
wo gerade in dieser Gattung die italienischen und niederländi-
schen Meister das Herrlichste, leisteten, unbegreiflich gering. Der
Gesang, womit die Sirenen (Ciiant des Sereines) sich vom Vater
Oceanus die Erlaubniss erbitten, ausgehen oder eigentlich aus-
schwimmen zu dürfen, ist so nichtsbedeutend, wie die Antwort
aus der goldenen Kuppel herab, in welcher in fünfstimmigem
Gesänge die erbetene Erlaubniss ertheilt wird; doch sollen sie bei
dieser Gelegenheit „das Lob eines grossen Monarchen singen". —
Lc Chant des Vereines a 4 parties.
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O - ce
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pe - re
che - nu, pe - re de
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Die Zeit des Ueberganges.
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at-tel - le son
char qai va sans ro - pos, i - rons nous
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sor-tans des fiots ou
ce tri- ton nons ap - pcl • le?
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224
Die Zeit des Uebergangea.
Reponae de la voute doree aui Sereinea a 5 partiea.
AI - lez fil - les d'A - che - loia,
aui - vez Tri- ton qui
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Die Zeit des Ui-berganges.
225
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voix pour ehan-terd'angrand Roy la lou - angeim-mor- tel - le.
# — #-
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Es tönt aus diesen Gesängen etwas wie ein Nachhall des
altfranzösischen Dechantirens und Fauxbourdonnircns (wie ähnlich
aus den Noels von Eustache de Caurroy oder dem Requiem
Mauduit's), gleichsam als hätten Dechanteurs das neue Madrigal-
wesen studirt und sich manches daraus gemerkt
Neben diesen Ensembles linden sich liedartige Sätze mit
Lautenbegleitung, wie nachstehender Gesang, womit sich die vier
Tugenden einführten. Nach jeder Strophe antwortete ein Ri-
tornell von zwölf Instrumenten aus der Goldkuppel; es ist jenes
.. Echo der Sänger", wie das Textprogramm es nennt. Der stam-
melnde Versuch einer Monodie, das tappende Suchen nach lied-
mässigem Periodenbau in dem Gesänge der Tugenden, der be-
gleitende Bass, der einen Ansatz dazu nimmt, ein Generalbass zu
werden, sind, so gering uud unbehilflich das Ganze herauskommt,
bemerkenswert!!.
Chant des quatro vertus — deux juoient de luths et les deux autres
< hantojent.
de qui les fil - les nous som - nies,
Dieux,
Vi
i — ej.
Ambrot, Geachichto <l«r Musik. IV.
15
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226
Die Zeit des Uebergangcs.
o dieux,les pro-tec
teurs des hora
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du ciel a
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voc nous de-scen
der! Dieux puis-
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ce que vous gar - dez.
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I L*-^"
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Die Zeit des Uebergangea.
227
Reponae de la voute doree aux vertus ä chaque couplet. C'estoit
nne muaique de doaze instrumenta aana voix.
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228 Zeit dos Uebergangos.
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Augenscheinlich grössere Verlegenheit als die mehrstimmigen
Sätze bereiteten den Componistcn die Dialoge, welche in Musik
gesetzt werden sollten, wie z. B. die Szene zwischen Glaucus und
Thetis (Sieur und Madame Beaulieu). Thetis trat mit einer Laute
in der Hand auf — ohne Zweifel diente dieses unmythologische
Attribut dazu, die Singenden durch zeitweises Anschlagen der
entscheidenden Töne auf der richtigen Bahn zu erhalten. Glau-
cus hat eine Nymphe von wunderbar bezaubernder Schönheit ge-
sehen, die sein Herz zur Liebe entflammt. Er holt Thetis über
sie aus, wo denn zuletzt alles auf eine überschwengliche Ver-
herrlichung der Königin Louise hinausläuft. Dieses taschenspie-
lerhafte, plötzliche Unterschieben der Darstellerin für die darge-
stellte Person ist sonderbar genug. Die Göttin demaskirt sich
und steht als Königin von Frankreich da:
Chant de Glanqne.
Mais, quo me sert The - tis ce - ste escail - le nou-
vel - le, que ie suis
d'un
pe-cheur en dieu
ma- rin for-
md? je vou - droia n'e - stre dieu et do
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Die Zeit des Ueberganges.
229
m
-4
Scyl - le estre ay - kme* pour ne bru - 1er en vain d'a - ne
/r\ . Thetis.
flam-me cru - el - le. L'arc d'a-mour est
▼ic - to - ri - eux cou - tre les hom
mos et
=2:
les dieux, et de sestraits la bles - su - re ä
_»
cha-
^ -HS»
cun qui
Glauque.
*- r
la re - coit ap - por-to un mal com - mun.
qui est ce - ste nym-phe? est
CO
■ 3
/TN -
Ne
re
de?
Thetis.
Non,
tel - le nym - phe
Glauque.
cou - cu
Je
scay
bien, c'eat
Ve
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230
Die Zeit des Ueberganges.
m Thetis.
1
nus.
Tu es en - cor de
0-
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-» — i r — - — 5 —
■ — ©-
ceu:
el
lo a ehasse' Ve
/rs Glauquc.
nas daos les
jar - (lins de Gni - de.
/rs _ Thetis
9V. 3.A^£-r:j^^
/tn Glauque.
C'est
-9
5-
donc Ju - non.
Tu
te do - eois.
Thetis.
Est
ce la Ju - non des Fran-cois?
Co n'est Jn - non,
J
en pou - voir tous les noms
iÄ* Iii! — i '-^ ~ ä
;
de Ju
non.
In den ersten, längeren Sologesängen ist etwas zu spüren
wie eine dunkle Ahnung der Opernarie, und zwar der Opernarie
im Sinne und Geschmacke der französisch-heroischen Oper. Gibt
man sich die Mühe, den Gesang des Glancus als Grundstimme
generalbassmässig mit Dreiklängen nach der Weise Lulli's zu
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Die Zeit des Ueberganges
231
überbauen und den Gesang der Thetis mit dem natürlichen
Grundbasse zu begleiten, so tritt dieser Zug überraschend her-
vor; man wird finden, dass diese Gesänge nicht allein instinct-
mässig nach einer geordneten, latenten, esoterischen Harmonie,
die der Componist exoterisch hinzustellen vermuthlich gar nicht
im Stande gewesen wäre, durchgeführt sind, sondern man wird
eich auch unwillkürlich an Lulli's Opernmusik erinnert fühlen.
Es muss in dieser letzteren etwas sehr dem französischen Sinne
und Geschmacke Entsprechendes gelegen haben; dasselbe Volk,
das Cavalli's treffliche Opernmnsik kalt und gleichgiltig ablehnte,
schwärmte für Lulli's schwerfälligen heroischen Kothurngang.
Das Recitativ, oder wie man es nennen soll, wumit Glaucus und
Thetis die Szene schliessen, mit seinen langathmigen, verwunder-
lichen Coloraturen, scheint eine Art Nachklang der Singweise in
den Mysterienspielen zu sein, wo ähnliches Passagenwerk hinwie-
derum auf den Kirchengesang zurückwies. Jedenfalls scheint
darin der Ausdruck des Feierlichen und Würdigen gesucht wor-
den zu sein. Als speeifisch französisches Musikwerk, in dem sich
die spätere französische grosse Oper mit ihren Chören, Tänzen und
Arien wie in einer ersten Andeutung ankündigt, ist das Werk
äusserst interessant, so wenig auch seine Musik an sich genom-
men bedeutet. In der Vorrede an den König spricht übrigens
Beaujoyeulx schon vom „vray gout",1) und dem Werke selbst
prophezeit ein Poet die Unsterblichkeit:
Le temps, qui gaste et brise toot
sur un si nche et docte ouvrage
ne pourra gagner avantage. —
Zu den mannigfachen Bewegungen, welche sich in der Ton-
kunst als Vorboten einer neuen Zeit fühlbar zu machen begannen,
kam jetzt noch ein Neues, das wahrhaft zersetzend wirkte. Den-
ken wir uns einen Chemicus, der einer Flüssigkeit ein neues
Agens beischüttet, welches die Elemente entmischt und neu mischt,
sie brausend gähren macht, Wolken und Präzipitationen hervor-
ruft, bis endlich ein ganz neues Resultat gewonnen ist. So un-
gefähr wirkte die Einmischung der Chromatik, mit welcher die
1) Im echten Kainrnerdionerstyl langt er an: „Sans toutefois quo
jamays le vray gout puisse parvonir ä d'autres, qui ont considere' par
effet la splendeur de Vostre Majoste, presidente an milieu de tant de ra-
rifoz, de tant de somptuositez , et sans quo Ton so puisse imaginer le
bei ordre d'un si grand nombre de diversitez, de tant de differentes ex-
cellentes, neantmoms et Vivantes beautez et tant d'admirables voix" u. s. w.
Sein College Laborde schrieb 1780 ebenfalls im richtigen Kammerdiener-
styl: voila un echantillon du gout, qui regnait alors, et de plaisirs, que
le roi procurait a la cour la plus ölegante. qui, dit on, eut janiais exi-
stee. On pretende, que cette fete couta pres de cinq millions, qui on va-
laient vingt de nötre temps (!).
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•232
Die Zeit des Uebergangos.
Tonsetzer jetzt gelegentlich zu experimcntiren anfingen, auf das
alte diatonische Wesen. Der Kirchengesang war auf der rein
diatonischen Basis der Kirchentöne entstanden. Eine chroma-
tische Tonfolge war hier eine völlige Unmöglichkeit; ^denn wenn
auch die im Systeme vorkommenden Stufen an sich
eine Progression von zwei halben Tönen darstellen, so sorgte die
Solmisation doch unerbittlich dafür, dass diese Fortschreitung
eine völlige Unmöglichkeit blieb — b konnte nur b-mi oder
b-fa, nie aber zugleich b-mi-fa sein. Bei einer Tonfolge wie z. B.
a b h c wäre aber b mit Rücksicht auf das vorhergehende a so
viel gewesen als fa, mit Rücksicht auf das nachfolgende h so
viel als mi, und h wäre eben so nach b gleich fa, vor c gleich mi
gewesen — „quod esset absurdum'4. So lange man im einfachen
Einklänge ohne harmonische Combinationen sang, konnte die
Diatonik der Kirchentöne in ihrer ganzen Strenge festgehalten
werden. Sobald aber der eigentliche Contrapunkt anfing, Form
und Gestalt zu gewinnen, machte das Ohr die unabweisbare For-
derung des zufallig zu erhöhenden Leitetons vor dem Schlüsse
geltend, wo er nicht, wie bei h | c oder e | f schon im System
fertig zu finden war. Die „Musica ficta" musste aushelfen —
durch sie wurde man aber mit den zwischen den diatonischen
(tanztonschritten befindlichen, für das Ohr leicht fasslichen, der
Stimme leicht darstellbaren Halbtonstufen vertraut. Eine andere
und schwierigere Frage war, ob und wie man diese sich zur Ver-
fügung stellenden Klänge verwenden solle und könne.
Wie in die Fugen einer scheinbar für die Ewigkeit gefügten
Quaderwand der Epheu leise und unbemerkt seine Wurzeifasem
eindringen lässt und endlich wohl gar das Steingefüge lockert,
so lockerte die Musica ficta die alte starre Diatonik — und die
Theoretiker meinten endlich den Satz aufstellen zu dürfen: die
Musik, wie sie geworden, sei keine diatonische mehr, sondern
eine Mischung diatonischer und chromatischer und sogar enhar-
monischer Elemente. „11 componere d'hoggi 6 una mescolanza".
Diesen Satz stellt Artusi auf und führt ihn durch. *) Die vieleu
j* und j> in den „modernen" Compositum en, meint Artusi, sehen,
so bunt wie sie da stehen, auf dem Papier sehr hübsch aus, aber
wehe den Sängern!2) ,,Die Praktiker setzen, wo es ihnen be
liebt, solche Zeichen", ■) das heisst: ohne Rücksicht auf die an-
1) Delle imperf. della moderna mus. (Venedig, 1600). S. 37.
2) cosa. cosi variata, meglio et piü vaga appare alla riata:
si come fanno molti coupositori moderni, che empiono le carte di s die-
sis, b molli, segni, contrasegni, che niente altro apportano alla v i st» , che
vaghezza, ma difficolta al cantore (a. a. 0. S. 17).
3) — Ii pratici si senrono di tutte indifferentemonte et in tutte pon-
gono $ diesis, p quadri, et b molli (a. a. 0. 8. 16).
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Die Zeit des Ueberganges. 233
tike Chromatik mit ihren Tetrachorden und ob ein solcher er-
höheter oder erniedrigter in- deren System vorkomme oder
nicht. Den Gang | frTH5 ~ °" Ifa---*'!:^11^*-
in einem Madrigal von Andrea Gabrieli findet Artusi unbegreif-
lich — denn dieses fre ist es chromatisch? nein! — ist es en-
harmouiscb? — nein! Es hat also gar kein Recht zu existiren;
warum wenden also die modernen Tonsetzer dergleichen an?! ')
Um Artusi's Bedenken zu verstehen, rauss man sich erinnern,
dass im chromatischen System der Griechen das Tetrachordon
mcsou e — a> sich also gestehet jj^pzfjirrj2- ...
wo kein fr e zu finden ist. Ks kann daher dieser Ton nur als fa
Actum vorkommen (und kommt zahllos oft vor). Dann aber ge-
hört er nicht in die Chromatik, sondern in eine transponirte Dia-
tonik. 2 — Die Theorie und die Praxis gingen hier, wie man
sieht, weit auseinander. Die Theoretiker kannten und beurtheil-
ten die Chromatik nur, wie sie solche in ihren griechischen Lehr-
meistern geregelt und geordnet fanden; die Tonsetzer, für welche
die griechischen Tetrachorde ein längst überwundener Standpunkt
waren, kümmerten sich wenig, ob der Ton, dem sie ö oder fr
beischrieben im chromatischen System der Griechen Bürgerrecht
genossen oder nicht. Genug, dass er gesungen und auf In-
strumenten, wie Geige, Posaune u. s. w. , wo der Spieler sehr
gut jl d und fr e unterscheiden kann , angegeben werden konnte.
Orgel und Ciavier mochten dem für sie Unmöglichen ausweichen. 4;
Die ganze chromatische Bewegung war aber trotzdem zum
ersten Anfang nur durch das beginnende Studium griechischer
Musiktheorie angeregt worden. Schon Spataro in Bologna wen-
dete der Sache seine Aufmerksamkeit zu. Das „Genus chroma-
ticum4' fängt au bei den Theoretikern als Kevenant griechischer
Musik zu spuken — sie wissen leider keine Zauberformel, den
1) — se non sono (queste corde) ne comuni, ne particolari, perche
le usano? (a. a. 0. S. 16.)
2) Artusi bekämpft S. 16, 17, die Ansicht Benelli's, als seien die
Obertasten der Orgel oder des Klaviers „chromatisch" (und daher rühre,
weil sie schwarz gefärbt sind, der Name — !), die Untertasten „diato-
nisch*", — „io dicou, schlieast er, „che quei tasti neri non servono sem-
plicemente al genere cromatico, ma al diatonico ancora'*.
nono,
meglk
non essendo bone il destrnggere la memoria loro, anzi con-
servarla et imitarla, poi che da loro e venuto il buono el hello
della Musica e di tutte l'altre scienze (S. 17 f. v.).
4) Z. B. dem Cd — „la qual corda non si puo sonare nol claTacem-
balo ordinario, ne sopra l'organo (a. a. 0. S. 15 f. v.).
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234
Die Zeit des Ueberganges.
Geist dienstbar zu machen. Entschlossener ging die nächste Ge-
neration in's Zeug — die Chromatik sollte eine Wahrheit wer-
den. Aber auch die eigentlichen musikalischen Gräcomanen, wie
G. B. Doni, Artusi u. a. , machte das chromatische und das en-
harmonische Geschlecht weidlich schwitzen. Don Nicola Vi-
ccntino, ein Priester aus Vicenza, Schüler Adrian Willaert's,
in Rom als Hausgenosse und Schützling des Cardinais Hippolyt
von Este lebend und dort die Musikgelehrsamkeit ex professo
nicht ohne Geräusch betreibend l), hatte schon 1 546 es mit einer
Anzahl funfstimmiger Madrigale versucht, die in Venedig gedruckt
wurden, dem neuen System Bahn zu brechen. Er gab ihnen
den seltsam verschraubten Titel: „dell' unico Adriano Villaert di-
scepolo D. Nicola Vicentino: Madrigali a cinque voci per teorica
e per pratica da' lui composti al nuovo modo del celeberrimo
suo maestro ritrovati." Man sieht, dass er es einstweilen noch für
nöthig hielt, den Namen seines berühmten Lehrers zum Aushang-
schilde zu machen.
Die grosse, kaum lösbare Schwierigkeit bei einem Unterneh-
men dieser Art war, dass die Praxis des mehrstimmigen Tonsatzes,
wie sie sich auf ganz anderen Fundamenten Jahrhunderte lang
ausgebildet, jetzt mit den chromatischen und enharmonischen
Tetrachorden der weiland griechischen Musik in Einklang gesetzt
werden sollte. Artusi bemerkt bei einem kleinen Sätzchen eines
tüchtigen Componisten (valent' huomo),
1=5 «
J7T
1
dass der Alt das vollkommene chromatische Tetrachord der Grie-
chen (H c Je e) hören lasse. Was sich daraus etwa machen
lasse, hat späterhin Frescobaldi in einem wunderwürdigen Ricer-
car cromatico gezeigt. 2)
1) Pietro Aron: de hanuon. instit. IV. 3.
2) Artusi erstaunt (a. a. 0. S. 15 f. v ). in den Com Positionen Cyprian
do Rore's, Andrea (iabrieli's ± e und b a zu finden : „ne Madrigali di Cip-
riano di Roro, di Andrea Gabrieli vidi giä il {, molle nella corda di
Alainire et Klami, cose che mi vanno confermando, cho queste cantilene
non siano pure dintoniche, ma una terza cosa mista, et eeco lo essempio:
> ^ I
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Die Zeit de« Ueborganges.
23&
Don Nicolas nach neuem System componirte Madrigale
scheinen ziemlich kühle Aufnahme gefunden zu haben — in Rom
war das Glanzgestirn Palestrina's im Aufsteigen, in Venedig Cy-
prian^ de Rore — die wirklich musikalische Welt hatte wenig
Lust, sich neben herrlichen Tonsätzen, die in Fülle zur Ver-
fügung standen, im Namen der Griechen Ungeniessbares und
kaum Ausführbares bieten zu lassen. Don Nicola schlug jetzt
einen andern Weg ein — mysteriös feierlich, wie in heilige Ge-
heimnisse wurden sechs Schüler unter Angelobung strengen Still-
schweigens unter seiner, des musikalischen Mystagoges, Leitung
in die Labyrinthe griechischer Chromatik und Enharmonik ein-
geführt. Veröffentlichen, erklärte Don Nicola, werde er seine
Mysterien nur, wenn man ihm in Rom eine bedeutende Stellung
sichere, als Sänger, noch besser als Kapellmeister der päpstlichen
Kapelle. Dies geschah nicht, wohl aber geschah, was zu er-
warten war: dass der Gelehrtenehrgeiz und die Sucht Aufsehen
zu machen, Don Nicola über kurz oder lang dahin bringen werde,
seine musikalischen Geheimnisse an's Licht treten zu lassen.
Zunächst liess er ein klavierartiges Instrument bauen, das
er „Arcicembalo14 nannte; es hatte mehrere Manuale, mit deren
Hilfe man das diatonische, chromatische und enharmonische Ge-
schlecht vollkommen mit Unterscheidung von £c frd Sd ßd fre Ce
u. s. w. hören lassen konnte. Er hat das Instrument sehr aus-
führlich im Anhange seines Buches beschrieben: „l'antica inusica,
ridotta ;illa moderna prattica".
Schon Zarlino in Venedig hatte etwas Aehnliches wie Vi-
centino's „Archicyrabal" von einem venezianischen Instrumenten-
macher Namens Domenico Pesaro verfertigen lassen — hier war
der Ton m vier Theile getheilt. Karl Luython, der Organist
Rudolf des zweiten, besass auch ein ähnlich gemeintes Klavier,
dessen Obertasten gespalten waren, um die Intervalle ganz streng
nicht temperirt) auzugeben. Prätorius hat es gesehen und ver-
sucht — es war die Folterbank der Klavierstimmer. Vicentino's
„Erzklavier" ging dann in den Besitz eines jungen, eifrigen Mu-
sikliebhabers in Rom, Antonio Goretti, über.1)
Die Componisten begannen mit der Chromatik, ja mit der
Euharmonik praktische Versuche zu machen. Schon bei Or-
lando Lasso kündigt sich diese Bewegung — vorläufig nur in
vereinzelten Versuchen — an. Cyprian de Rore macht gele-
gentlich, wie er denn ein unruhig und unbefriedigt nach Neuem
strebender Geist ist, kühne Experimente. Adriano Banchieri
sucht auf den Orgeltasten umher, ohne zu finden. Sein „organo
suonarino" enthält eine sogenannte „Fuga croraatica", welcher wir,
mit Hinblick was wir heutzutage so nennen würden , beide Be-
I) Artnsi, tlolle imperf. S. 15 f. v.
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Die Zeit des Uebergange3.
Zeichnungen bestreiten müssen — dazu ein „Concerto cnarmonico",
voll horribler Combinationen.
Sicherlich boten die zu musikalisch-wissenschaftlichen Zwecken
construirten Tasteninstrumente manche Belehrung, und überhaupt
wurde die Claviatur jetzt, wie es scheint, der Tummelplatz „experi-
mentirender" Componisten. Man konnte dort Versuche über Dinge
machen und Dinge wagen, an denen selbst geübte Sängerchöre
gescheitert wären. Auf jede dieser schwarzen und weissen da-
von liess sich terzeuweise eine Accordsäulc aufbauen. Hier
lng nun die Frage nahe, ob es denn nicht möglich wäre, statt sich,
wie bisher geschehen, in leitereigenen Harmonieen zu bewegen,
durch vermittelnde Zwischenharmonieen in sehr entfernte Ton-
regionen überzugehen. Der erste , welcher sich diese Frage ge-
stellt zu haben scheint und der sie auch sofort in praktischer Aus-
führung beantwortete, war der kühne, geniale Don Carlo Ge-
sualdo, Principe di Venosa, dessen Musik beinahe so klingt,
wie die Pracht und Herrlichkeit dieses seines fürstlich-vornehmen
Namens. Als Fürst und als Neffe des Erzbischofs von Neapel,
Alfonso Gesualdo, gehörte er den „hohen" Kreisen der Gesell-
schaft an — auch sein Lehrer in der Musik Pomponio Nenna
aus Bari nannte sich auf dem Titel seiner Madrigale „il Cavaiiere
Cesareo", weil er „Ritter des goldenen Sporns" war. Pomponio
Nenna's fürstlicher Eleve, als dessen Todesjahr Joseph Blanca-
nus 1614 angiebt, erlebte es noch, dass sein alter Lehrer 1613
zu Neapel die feierliche Lorbeerkrönung erhielt. Nenna zeigt
sich in jenen Madrigalen als der Mann kühner Fortschritte; die
harmonischen Wagestücke Monteverde's, welche den conservativen
Artusi so sehr in Harnisch brachten, überbot Nenna noch wo
möglich und gefiel sich in Intervallschritten schwieriger und un-
gewöhnlicher Art. Sein Schüler Gesualdo ging auf der betretenen
Bahn vorwärts und noch sehr viel weiter; man könnte diesen
fürstlichen Musiker ftiglich „den im Irrgarten der Modulation her-
umtaumelnden Cavalier" nennen. Gesualdo's Madrigale sind auf
keinen Fall das Ergebniss blosser Speculation Über mögliche
musikalische Combinationen , sondern das Resultat praktischer
Versuche auf dem Ciavier oder der Orgel. Sagt doch Cenreto,
ein Zeitgenosse Gesualdo's, er habe mehrere Instrumente mei-
sterlich zu spielen verstanden und auf der Laute nicht seines
Gleichen gehabt. Und gleichsam als solle die äusserste Sparsam-
keit der früheren Epoche mit accidentellen jf und |? jetzt ausge-
glichen werden, wimmeln Gesualdo's Tonsätze von diesen ver-
schwenderisch angebrachten Zeichen. Unerwartet und blitzschnell
vermitteln sie die Ausweichung in irgend eine Tonart fernster
Lage, und meist, ehe noch der Hörer Zeit gehabt hat, sich dort
zurecht zu finden, findet er sich wieder in die frühere Tonart,
öfter noch in eine andere, ganz entlegene versetzt. Ein modula-
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Die Zeit des Ueberganges.
237
torisches Gesetz, das diese Irrfahrten irgendwie regelte, ist nicht
zu entdecken. Dem Tonsetzer genügt es schon, wenn ein Aecord
mit einer ganz unerwarteten Wendung in einen anderen austönt,
und zwar nicht selten, wie man zugeben muss, mit frappant schö-
ner Wirkung. Eine neu eintretende Stimme gegen die andern
in herber, wenn gleich schnell gelöster Dissonanz eintreten zu
lassen, durch Vorhalte, durch sprungweise auf einen starken Takt-
theil fallende dissonirende Hilfsnoten , denen die harmonische
Hauptnote im schwachen Takttheile folgt und ähnliche Dinge,
die Harmonie ganz eigen und besonders zu färben , sind oft an-
gewendete Mittel. Die Stimmen treten bald in vollen Accorden,
bald einzeln einander nachahmend ein; falsobordonartige Stellen
in grösseren Notengeltungen, wo meist die frappanten Auswei-
chungen und Uebergitnge ihre Stelle finden, wechseln mit spitz-
findigem contrapunktischcm Häckelwerk in kleinen Noten ab.
In den scharf ausgeprägten, oft figurirten Themen, erkennen wir
abermals den virtuosen Instrumentalmusiker — es sind entschie-
dene Instrumentalpa?sagen — für die Singstimme indessen immer
noch möglich. In den Harmoniewendungen Gesualdo's kommen
mitunter Dinge vor, welche man wahre musikalische Inspiratio-
nen nennen muss, Combinationen, Ausweichungen, welche durch
Kühnheit und Neuheit tiberraschen ; gleich daneben aber steht
wieder Unleidliches, ja völlig Unmögliches, unrichtige Modulatio-
nen, unschöne Tonschritte, Querstände, verdeckte aber gräulich
klingende Quinten und Octaven — Dinge, gegen welche die
Tonsatzregeln der Zeit vorläufig nichts einzuwenden hatten, die
indessen ein gesund organisirtes Ohr zu keiner Zeit hätte über-
hören sollen. Wohlklänge von bezaubernder Schönheit und un-
ausstehliche Härten stehen oft dicht neben einander.
So ist Gesualdo der Harmoniker, der Accorden-Combinator.
— Der Contrapunktist Gesualdo, welcher es liebt, seine meist
scharf ausgeprägten, bunten, aber gut und mit Geschmack erfun-
denen, aus kleineren und kleinsten Notengeltungen bestellenden
Themen in kunstvollen Beantwortungen und Nachahmungen mit
einer Art brillanter contrapunktischer Virtuosität zu verflechten,
vermeidet es, in solchen polyphonen Stellen seines „contrapunctus
tioridissimus" (wie man ihn wohl nennen könnte) seine kühnen
Versuche anzustellen. Kr hält in seinen Madrigalen diese beiden
Elemente — die Accordstellen und die Contrapunktsteilen —
meist streng gesondert — er bringt dadurch oft eine Modifikation
in der Bewegung hervor, wie wenn etwa Andante und Allegro
mit einander abwechseln — eine Anordnung, welche in solcher
Art den Zeitgenossen eben auch wieder als etwas völlig Neues«
imponirt haben muss. Seine breit austönenden Accorde und das
bunte, zierliche Notengewimmcl seiner Contrapunktik könnte (wenn
es erlaubt wäre, Vcrgleichungen zu machen , an die gleichzeitigen
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23S
Die Zeit des Uebergangeä.
Prachtbauten mit ihren mächtigen Säulen und mit dem überfüllten,
aber brillanten Stucco-Ornament der Gesimse und Gewölbe er-
innern — fürstliche Räume, in denen der Fürst von Yenosa sich
zu bewegen ja gewohnt war.
Dass aber Gesualdo nicht etwa Mos ein grosser Herr war,
den es dilettirte, als Tonsetzer aufzutreten, sondern dass er ganz
gründliche Studien gemacht, wie nur irgend ein musikalischer
„Fachmann" seiner Zeit, verrathen seine Compositionen auf jeder
Seite. l) Wo er sich auf gewohntem Boden hält, erscheint er als
trefflich geschulter Musiker — wo er neues, vor ihm von Keinem
betretenes Gebiet sucht, ist er durchaus Empiriker, Experimen-
tator — hier hat augenscheinlich Theorie und Speculation Nichts,
der praktische Versuch Alles gethan. Gesualdo mag hinterdrein
über die Ausbeute, welche er auf diesem Wege gewann, selbst
gestaunt haben. Er findet auf seinen Entdeckungsreisen in den
unbekannten Gegenden, in welche er geräth, gelegentlich einen
Zusammenklang, welchen weder er noch irgend einer von seinen
Zeitgenossen theoretisch zu deuten und zu rechtfertigen im Stande
gewesen wäre und dessen Art und Wesen die Musiklehre erst
lange nachher erkannte. Ein solcher Accord freut ihn dann,
wie sich ein Kind freut, welches auf den Tasten eines Claviers
Töne zusammensucht und nach manchem Fehlgriff den Zufalls-
treffer eines Wohlklanges macht. — Gesualdo ahmt dann auch
wohl den Fund einige Takte später auf einer andern Klangstufe
nach.
Aus dem Madrigal: Ancor per amar te.
e non a mo rimisi tu, tu bramata cagion etc.
t) Auch Padre Martini, der strenge und gründliche Kenner, sagt
von Gesualdo's Styl: „sopprabonda in easo la flnezza dell' arte". (Saggio
di Contrapp. II. S. 203.)
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Die Zeit des Ueberganges.
230
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NB. b)
NB
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NB.
Zweimal wird in dem vorstehenden Fragment mit grosser
Wirkung ein damals völlig unerhörtes Tongebilde, ein Terzquart-
sextaecord seltsamster Provenienz angewendet, welcher nämlich —
mit dem modernen Harmoniker zu sprechen — die zweite Um-
kehrung eines hartverminderten Dreiklanges mit Septime darstellt
a) b)
m
■4 p
Was hilft es aber dem Tonsetzer, dieses
Wunderthier gefangen zu haben ? Es fehlt ihm das richtige
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240 Die Zeit des Ueberganges.
Verständniss der Deutung. Zuweileu glückt ihm eine wahrhaft
schöne Modulation: (Aus dem Madrigal: Tu mucridi o crudele
Lib. V, 173):
d'amor empia etc.
Was hilft es ? Gesualdo erinnert hier und noch oft an
einen naiven Wilden, der eine köstliche Frucht, welche ihm zu-
fällig vom Baume herab in den Weg rollt, mit Entzücken schmaust,
aber um den Baum selbst sich nicht weiter kümmert, geschweige
denn um eine rationelle Pflege desselben, damit er seinem Herrn
mehr solcher Früchte bringe. Wusste er doch in keiner Weise,
wie das anzufangen ist!
Sehr liebt es Gesualdo, durch eine Steigerung um einen
Halbtou den Ausdruck zu steigern — er wendet dieses Kunst-
mittel öfter an, als ein anderes.
(Lib. V.)
Dol -eis -si - ma mia vi - ta mia vi - ta
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Die Zeit des Ueberganges.
241
T
- I I I I — I f
r che tar-da - te
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la bra-
I
a che tar-da - te
a che
a che
a che
ma-ta a - i - ta etc\
ro mo
ro etc.
I
mo
ro
Dergleichen geräth zuweilen — wie hier — in schöner Weise;
- ein Andermal missrttth es gründlich:
i
r-
I • te - ne o mici
so - spi - n pre - ci - pi-
pre-
3=p
^— 9 — # # ö- 1 7^f- -hg
Ambroi, Gesehichto dtr Muiik. IV.
16
242
Die Zeit des Uebergange«.
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täte il vo
T
lo pre- ci-pi-tate il
T
ei -pi- täte il vo
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pre
lo
ta - teil vo-
f
ci - pi - ta-
vo
lo etc.
pre - ci- etc
2
teil
vo
m
pre - ci- etc.
Gesualdo malt in Stellen, wie die voranstehende, mit einem
Miniaturpinsel — die ,,Sospiri", das „preeipitar", der „volo44 wer-
den so anschaulich wie möglich v ersinn licht! — Auch chroma-
tische Fortschreitungen müssen ihm dazu dienen, theils den Ton-
satz pikant zu würzen, theils den richtigen Ausdruck bis zur
Handgreiflichkeit zu vermitteln:
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Die Zeit des Ueberganges. 243
(Schluss des Madrigals: Dolcisaima mia vita).
• 0
=*=F=
d'a -
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i r r
mar - ti
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o d'a - mar - ti o mo-ri-
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Oda - mar - ti omo-n-
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o d'a - mar - ti o mo-
l —
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o d'a - niar-ti o d'a - mar-ti o rao-
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o mo-ri - re
o mo-ri - re o mo-
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mo - n - re
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o mo-ri -re
o mo-ri - re
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16»
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244
Die Zeit des Ueberganges.
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§1
n - re
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mo-n-re
o rao-n - re
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o mo - n - re
mo - n-re
mo-n-re
§1
*r=£
re
o mo - n
Lamentabler lasst sich der Jammer des bittern Liebcstodes
doch wohl schwerlich ausdrücken! Was aber einer der alten
Meister aus früherer Epoche, wo man die Schlüsse gar nicht be-
stimmt genug und breit und gewichtig austönend machen konnte,
zu dieser Art zu schliessen gesagt haben würde?! Bei Worten,
wie „piangere" — „dolor1' — ,.morire" u. s. w., widersteht Ge-
sualdo selten der Versuchung, sie durch irgend eine harmonische
Oewaltthat möglichst zu markiren , wie man in der Schrift ein
besonders wichtiges Wort unterstreicht:
gia pian - si nel do - lo - re
X
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Die Zeit des Ueberganges.
245
So wunderlich dergleichen sich nun auch ausnimmt — Ge-
sualdo ist wirklich eine vornehme Natur — ein fürstlicher Musi-
ker — aber wie in der Technik des Tonsatzes ist seine Musik
auch im Ausdruck eine seltsame Mischung : tiefe Empfindung
wechselt mit carrikirt gesteigertem Ausdruck, edle Sprache mit
Galimathias. Mitunter taucht aber etwas unübertrefflich Schönes
auf. Es dürfte kaum möglich sein, in eine musikalisch ausge-
drückte Frage mehr rührende Innigkeit und zarte Theilnahme zu
legen, als folgender wunderschöne Anfang eines Madrigals zeigt:
Lib. VI.
r i— 4 1-,
- f. ^-ri — rt-
To piangi 6 Fil-li im - a
114», iw td — ^ .gl* — i — !N u. — =H
# — ß^i--fi — e-
II II
Fil-li mi - a?
- „ ! Ml
^ Ifta * fi-lW- " t-ar-te-5 — H
1 h: 'f r P-fM
r .
r— F &zgd
Fil - Ii mi - a Fil-li mi - a?
(weiterhin wiederholt sich die Frage mit gesteigerter Dringlich-
keit — gesteigert durch das einfache Mittel, dass sie um eine
Quinte höher gelegt ist.) Gesualdo strebt Uberall, und fast zu
viel, nach Ausdruck — aber man wird ihn auch von dem Vor-
wurf nicht freisprechen können, dass das Moduliren ihm so sehr
zur zweiten Natur wird, dass er es nicht einmal abwartet, bis
ihm der Text einen plausibeln Anhaltspunkt dafür bietet — er
wendet seine harmonischeu Kühnheiten nur zu oft um ihrer selbst
willen als Effektmittel an. So halten sich bei ihm grosse Vor-
züge und grosse Mängel die Wage — einen ganz reinen, unge-
trübten Eindruck macht er selten. „Zum Massstab eines Genies",
sagt Schopenhauer, „soll man nicht die Fehler in seinen Produc-
tionen, oder die 6chwächern seiner Werke nehmen, sondern bloss
sein Vortrefflichstes". !) Die Richtigkeit dessen zugegeben, wollen
wir Gesualdo und seine Werke in keiner Weise so verächtlich
behandeln, wie Burncy und nach ihm Kiesewetter gethan hat.
Gesualdo war ein Genie. Ein solches sucht und findet neue
Bahnen, wo das mittlere Talent behaglich in ausgefahrenen Ge-
leisen ohne Gefahr des Halsbrechens seinen Weg zum Ziele zu-
rücklegt, welch' letzteres freilich kaum je Unsterblichkeit sein
1) Parerga 2. Band, 8. 377.
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240
Die Zeit des Ueberganges.
wird. Regelrichtigc Madrigale mittelmassigen Werthes wurden
damals zu Hunderten und zu Tausenden componirt — sie sind,
so weit die Zeit sie nicht verschlungen hat, des Ansehens nicht
werth, während Gesualdo unser lebhaftes Interesse erregt und
wir ihm unsere Theilnahme nicht versagen können. Madrigale
wie Frenb, Tirsi, il desto (1. Buch), Donna se mancideie (3. Buch),
Jo tacerb (4. Buch), Moro menlre sospiro (6. Buch) und andere
sind Kunstwerke von bleibendem Gehalt und Werth. Den Grund-
zug der Madrigale Gesualdo's könnte man vielleicht am besten
und am kürzesten als „Wonne der Wehnrath" bezeichnen; eine
weiche träumerische Stimmung schwebt darüber, oder aber sie
nehmen den Ausdruck einer heiss leidenschaftlichen, grenzenlosen,
unbefriedigten Sehnsucht an. Es wäre übrigens der Mühe werth,
zu zählen, wie oft in den von Gesualdo in Musik gesetzten Poe-
sieen die Worte „io moro, morire, la morte" u. s. w. vorkommen.
Man kann darüber lächeln — die Musik Gesualdo's hat doch
etwas eigen Ergreifendes. Die Madrigale wurden wiederholt ge-
druckt, fünf Bücher erschienen 15S5 in Genua — also zu einer
Zeit, wo es in Sachen der Musik bereits zu gähren anfing —
1613 gab sie Simon Molinaro in sechs Büchern — und zwar in
Partitur heraus. Der letztere Umstand ist charakteristisch — er
kennzeichnet sie als Gegenstand des Studiums für die Musiker.
Die Zeitgenossen staunten Gesualdo's Compositionen wie
Wunderwerke an. — Blancanus, auch ein Zeitgenosse, nennt Ge-
sualdo geradezu „den Fürsten der Musiker seiner Zeit, welchem
sie gerne die Oberstelle einräumen und dessen Compositionen
sie, anderweitige dagegen zurücksetzend, überall mit Begierde
suchen". !) Einiges mag dabei denn doch auch auf Rechnung
des Fürstensohnes gekommen sein. Doni macht die — auch ihn
selber charakterisirende — Aeusserung, Gesualdo's Musik sei
nach Vieler Meinung deswegen so vorzüglich, weil sie die Arbeit
eines Fürsten ist. *)
1) „Nobilissiinus Carolus Geaualdus, Princeps Venusinus, noatrae tem-
pestatis musieorum ac melopoeorum princeps. Hic enim rhvthmis in Mu-
sicam revocatis, eoa, tum ad cantum, tum ad sonum, roodulos adhibuit.
ut ceteri omnes musici ei primas libenter detulerint, ejusque modos can-
tores ac fidicines omnes, reliquis posthabitis, ubique avide complectuntur.
(Chronolog. Mathematicorum ad Saec. Chr. XVII.) Die hier von Blanca-
nus erwähnten Instrumentalcompositionen Gesualdo's sind nicht näher be-
kannt.
2) Ceterum non est quod quisquam causetur parum referre, qualinatn
ortus sit genere, qui musicam artem exercet, aut quibus moribus praedi-
tus: nam primuro, etsi multos videmus obscuro loco natos in musica ac
ia minfice excellere, quod animum sortiti fuerint nobilem ac libera-
ideoque sublimes ac splendidas quoaue cogitationes partnriant, haud
parvum tarnen afferre cumulum posse viaetur ad animi praestantiam atqoe
mdolem claritudo generis atque natalium ac nobilis liberalisque educati».
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Die Zeit des Ueberganges.
247
Doni überhört willig Dinge, welche er anderswo auf Leib
und Leben bekämpft: die Textwiederholungen, das gleichzeitige
Aussprechen verschiedener Worte des Textes in den einzelnen
Stimmen, die Contrapunktik von der stacheligen Sorte , die nicht
überall musterhafte Declamation. Gesualdo's Musik hat mit dem
floreutiner Keformstyl, welcher an Doni einen so begeisterten
Vorkämpfer fand, gar nichts gemein, als höchstens, dass sie dem
bis dahin herrschenden Musikstyl, wenn auch nicht direkt, wie
die Florentiner thaten, so doch indirekt den Krieg erklärt. Das
allein ist für Doni schon genug, um in Gesualdo einen Bundes-
genossen zu begrüssen. Der einzige Kummer Doni's ist die
Schwierigkeit, die einzelnen (Kompositionen des Fürsten von Ve-
nosa dieser oder jener antiken griechischen Tonart zuweisen zu
können und dabei gehörig zu solmisiren. *) Pietro della Valle
stellt Gesualdo mit Peri und Monteverde zusammen — sie seien
es, welche zuerst in der Musik einen neuen und besseren Weg
m
»
Quam ob causam audivi, qui dicerent, cur in Venusini Principis atque
Thomae Peccii, Patricii Sencnsis, canticis nescio quid non vulgaris ac
plebeji saporis, sed elegans ac magnificum audiatur. (De praest. mus.
vet. Opp. I S. 109.)
1) — difficultas tunc incidit, cum tot um melos in alium modum seu
harmoniam longe diversam immutatur. Exemplum esse poterit navxnxt-
xwtaxoi illud Scoliasma Principis Venusini „Merce grido piangendo".
In iis verbis „morrö dunque tacendo" ubi in diversam plane speciem me-
los mutat ii r. videlicet in harmoniam Lydiam (siquidem tonus bypothe-
maticus seu fundamentalis Dorius sit) quae omnibus Chordis Signum £
iisurpat, quam partem si quis vulgaribus svllabis nt re mi fa etc. recte
enuntiare potuent — nisi novain clavem seu systema adhibeat — nae
ille magnam rem praostabit. Ultimo loco, cum miscellae usurpantur rao-
dulationis, hoc est di versa nun harmoniarum voces in ixt im confnseque
assumuntur, quibns passim signa elationis et depressionis ^ ineurrunt,
tantum magis arduam est vulgares syllabas iis aecomodare, quanto magis
ea intervalla sunt peregrina, insolita ac 6vQex<p(ovrjxay ipsaeque harrao-
niae perturbate sunt , invicemque commixtae. (Progymnastica musicae
Sara veterum restituta et ad hodiernam vraxim rodacta, Lib. II. Opp. I.
. 243, 244.) Das von Doni erwähnte Madrigal steht im fünften Buch,
und die hervorgehobene Stelle sieht also aus:
mor - ro mor - rn dun -que ta - cen - do
Digitized by Google
248 Die Zeit de8 Ueberganges.
betraten, und vielleicht sei es der Fürst von Veuosa, welcher
allen Uebrigen ein Licht über die Art effektvollen Gesanges ge-
geben. l) Merkwürdig bleiben solche Urtheile immer, weil auch
sie selbst, so gut wie die beurtheilten Kunstwerke, Zeichen der
Zeit sind.
Trotz alles Lobes und aller Bewunderung hat Gesualdo keine
Nachahmer gefunden und ist eine vereinzelte Erscheinung geblie-
ben. Aber er hat seine musikalischen Zeitgenossen durch die
That gelehrt, dass es in Sachen der Musik zwischen Himmel und
Erde viele Dinge giebt, von denen sich die Schulweisheit der
damaligen Theoretiker nichts träumen Hess. Wenn Gesualdo
zwar unter den Musikern Aufsehen erregte, aber »hne epoche-
machend und ohne in seinem Wirken für die Kunst folgenreich,
zu werden, so wurde sein Zeitgenosse Lodovico Yiadana bei-
des in hohem Grade. Sein Name ist einer der wenigen in der
Musikgeschichte, welche sich auch die grosse Menge gemerkt hat,
welche es liebt, die Bedeutung ganzer grosser Geschichtsabschnitte
in einem einzigen Rej räsentanten zusammenzudrängen, so das*
ein Einzelner Träger alles dessen wird, was seine Zeit charakte-
risirt. So ist Guido von Arczzo noch jetzt für Viele der alleinige
Repräsentant jener mühsamen Arbeit des frühen Mittelalters, für
die Musik in Notenschrift, Scala, Erkenntniss der Gesetze des
Consonirenden und Dissonirenden u. s. w. einen festen Boden zu
schaffen; — so concentrirt sich der hohe Styl der Kirchenmusik
in dem einen Namen Palestrina, so die Katastasc der Musik um
das Jahr 1600 in dem Namen Viadana. Wer seine musikhistori-
schen Kenntnisse in drei Namen zusammenpackt, braucht sein
Gedflchtniss allerdings nicht sehr zu beschweren. So wie
der ehrwürdige Guido ewig den Irrthum auf dem Rücken mit
sich herumschleppen muss: er sei ,,der Erfinder der musikalischen
Noten", so hiess Viadana und heisst gelegentlich: „Erfinder des
Generalbasses". Er hat aber den Generalbass so wenig erfunden,
als Guido die Notenschrift — und seine Bedeutung ist ganz wo
anders zu suchen. Der Irrthum reicht in Deutschland in eine
Zeit zurück, wo Viadana noch lebte. Prätorius sagt : „Der Bassus
generalis seu continuus wird daher also genennet, weil er sich
vom Anfang bis zum Ende continuiret, und als eine Gencral-
stimme die gantze Musik oder Concert in sich begreiffet, wie sol-
ches dann in Italia gemein, und sonderlich jetzo von dem treft-
lichen Musico Lodovico Viadana, novae inventionis primario, als
I) I primi, che in Italia abbian seguitato lodevohnente qnesta stra-
da, come dissi a V. 8. sono stati il Principe di Venosa, che diede forse
luce a tutti gli altri del cantare affettuoso, Claudio Montoverde e Jacopo
Peri. (Deila musica dell' eta nostra al Sign. Lelio Guidiccioni. Discorso
di Pietro della Valle. - Bei Doni Opp. IL S. 251.)
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Die Zeit de» Ueberganges.
249
er die Art mit einer, zween, dreien oder vier Stimmen allein in
ein Orgel, Regal, oder ander dergleichen Fundamental- Instrument
zn sinken , erfunden, an Tag bracht und in Druck aussgangen
ist, da denn nothwendig ein solcher Bassus generalis und Conti-
mms pro Organoedo vel Cytharoedo tanquam fundamentum vor-
handen sein muss". >)
Recht besehen sagt die citirte Stelle aber nicht einmal, dass
Viadana den Generalbass erfunden, sondern dass er „in der Er-
findung der Vorzüglichste" sei, und die folgenden Worte beweisen,
dass Prätorius die „Concerti" des Viadana gut gekannt — was
sich übrigens auch daraus ergiebt, dass er an anderen Stellen
des Syntagma einzelne Partieen aus Viadana's Vorrede in deut-
scher Uebersetzung mittheilt Ein anderer Zeitgenosse — Jo-
hann Cruger — spricht bestimmter; in seiner 1624 erschienenen
„Synopsis musica" heisst es: „Bassus generalis seu continuus, so
vom fürtrefflichen italienischen Musico Lodovico Viadana erstlich
erfunden" u. s. w. — und in der Vorrede des „Promptuarium
musicum" (1611) sagt Abraham Schadäus von Viadana: „peri-
tissimns hujus scientiae artifex primusque hujus tabulaturae au-
tor*'. Walther sagt: „Viadana (Lodovico) hat um's Jahr 1605 die
Monodien, Concerten und den Generalbass durch diese Gelegenheit
erfunden" (folgt eine kurze Darstellung der Sache). So ist es
fortgegangen bis auf Abbe* Vogler, welcher noch deutlicher die
Behauptung hinstellt: „Ludwig Viadana schlug endlich (!) vor,
den Bass zu beziffern und dadurch die Accorde, die zum Grund-
ton und zur ganzen Harmonie gegriffen werden sollten, anzu-
merken." 2) Man bemerke wohl : Die alten Autoren schreiben
Lodovico Viadana wohl die Erfindung des „fortgehenden Basses"
(Basso continuo) zu — von der Bezifferung aber sagen sie kein
Wort. —
Kiesewetter bestreitet die Erfindung — giebt aber Viadana
das belobende Zeugniss — „dass in seinen Kirch enconcerten zum
erstenmal wirkliche Melodie erscheine", d. h. eine in sich ge-
schlossene, periodisch gegliederte — denn Melodie hatten sogar
schon die alten Niederländer, aber als contrapunktisch-construc-
tives Element. Aber auch hierüber wäre zu streiten — die
Concerti erschienen 1604, Peri's Favola in musica „Euridice"
schon 1600 — und mau wird dem Gesänge, mit welchem Orfeo
an der Seite seiner wieder errungenen Euridice nntcr den Hirten
erscheint, den Namen einer Melodie und zwar einer schönen, fein
empfundenen Melodie nicht abstreiten können. Auch ist Viada-
1) Svntagma, III. Cap. 6 de Basso generali seu Continuo.
2) Handbuch zur Harmonielehre, S. 129.
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250
Die Zeit des Ueberganges.
na's „Melodie" einstweilen noch weit davon entfernt , sich frei
und leicht zu bewegen — sie verläugnet ihre Abstammung aus
der Polyphonie durchaus nicht und trägt gleichsam die Spuren
der kaum abgestreiften contrapunktischen Fesseln noch an Hän-
den und Füssen. Den Singbass versteht Viadana, selbst wo er
solo auftritt, noch so sehr als Grundstimme, dass wir in den
Concerten Stücke finden, wo ihn der Orgelbass einfach im Uni-
sono verdoppelt
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VI.
Die Zeit der ersten dramatischen
Musikwerke.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Die Reform der Musik war erzaristokratischen Ursprungs —
die Aristokratie der Geburt und die Aristokratie der Bildung war
es, von welcher sie im gräflichen Hause Bardi ausgegangen war.
Ihre glänzendste That — die Schöpfung des musikalischen Dra-
ma, konnte diesen Ursprung nicht verläugnen. Die „Favola in
Musica" — die Oper, wie man später sagte — war ein Schau-
spiel von und für Aristokraten. Fürstenhöfe waren es, wo sie
zuerst erschien, und fast schien es, als sei sie ein Rcservatrecht
für Fürsten. Fürstliche Hochzeiten wusste man durch kein glän-
zenderes Schauspiel zu verherrlichen, als durch ein musikalisch-
dramatisches. Von einem „Opernhaus", wo Jeder, der seinen
Thalcr fürs Billet hinlegte, Eintritt hatte, war jetzt und noch
lange keine Rede. An den fürstlichen Höfen (auch in Deutsch-
land) war eine glänzende Hofoper ein wesentliches Erforderniss
des Glanzes. Zutritt hatte, wen Serenissimus lud, oder wer kraft
seiner geselligen Stellung — als Ordensritter u. dgl. — Anspruch
darauf machen konnte.
Die Aufführung der „Dafne" des Jacopo Peri, im Hause
Cond, hatte als erster Versuch, den neuen Musikstyl vor einer
Versammlung gebildeter Kunstfreunde hören zu lassen, einen
mehr nur privaten Charakter gehabt. i) Erst mit dem Jahre 1600
feierte der neue Stile rappresentativo im musikalischen Drama
seinen offiziellen, feierlichen Eintritt in die Welt Die Vermälung
Heinrich IV. von Frankreich mit Maria von Medicis, welche in
diesem Jahre in Florenz glänzend gefeiert wurde, gab Anlass,
den Neuvermählten und den Gästen des Hochzeitsfestes in dem
so eben erat geschaffenen musikalischen Schauspiele etwas völlig
Neues zu bieten, und Ottaviano Rinuccini hatte seine „Euridico"
i) Rinuccini sagt in der Vorrede der Euridice von der Dafne: „che
increditrilmente piacque a que pochi che rudirono'* und bemerkt, es sei
eine „semplice prova di quello, che potesse il canto dell* eta nostra" ge-
wesen. Indessen erfahren wir von Peri. daes Dafne drei Carnevale nach
einander mit Beifall gehört wurde; es können also doch nicht so gar
wenige gewesen 9ein, welche sie kennen lernten.
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254
Die Zeit der orsten musikalisch-dramatischen Werke.
sogar eigene als Festspiel für die Gelegenheit gedichtet. Denn
die Beziehung auf das fürstliche Brautpaar ist deutlich genug,
wenn gleich zu Anfang die Hirten zum Preise des Brautpaares
Orpheus und Euridice singen : „non vedc un simil par d'amanti il
sole". Klüglich Hessen die Componisten — sowohl Pen als Caccini
— diese Worte von mehreren Solisten nach einander singen und
dann erst noch vom ganzen Chor wiederholen, damit sie ja nur
an die richtige Adresse gelangen und nicht etwa überhört werden
mögen. Eben wegen dieser Beziehung auf das erfreuliche Er-
eigniss musste sich aber auch die Mythe einen geänderten Aus-
gang gefallen lassen. — Von dem Verbote, sich nach der wie-
dererlangten Euridice umzusehen , ist keine Rede — Orpheus
bittet sie vpn den sonst unerbittlichen Mächten des Orcus los,
führt sie zur Oberwelt zurück und damit ist es gut und aus.
Sowohl Peri als Caccini haben jeder für sich die ganze
Dichtung in Musik gesetzt. — Bei der festlichen Aufführung
wurde theils Peri's, theils Caccini's Composition gesungen — was
sehr wohl anging; denn abgesehen von dem Umstände, dass
Caccini, wie es seine Art ist, etwas mehr Coloratur und Passagen-
werk einmischt, als der dem schlichteren Tonsatze mehr geneigte
Peri, haben beide Partituren eine fast doppelgängerische Aehn-
lichkeit. Da beide Tonsetzer sicherlich ganz unabhängig von
einander arbeiteten, so ist dieser Umstand zugleich eine ganz
interessante Probe, wie die gewissenhafte Befolgung des floren-
tiner Musikprogramms bei gleicher Vorlage jedesmal unter ein-
ander fast identische Resultate geben musste. Die Componisten
waren aus dem Zwange und Bann des Contrapunktes unter den
Zwang und Bann des Wortes gekommen — wie viel sie bei dem
Tausche an künstlerischer Freiheit gewannen, wäre zu erörtern.
Peri erzählt in der Vorrede seiner Euridice: „c benche fin
allora l'avessi fatta nel modo appunte, che ora viene in luce:
nondimeno Giulio Caccini, detto Romano, il cui somnio valore e
noto al mondo, fece Tarie d'Euridice, e alcune del Pastore e
Ninfa del Coro e dei Cori „al canto al ballo", .,sospirate'/ e
„poiche gl' eterni imperi" — e questo perche dovevano csser cau-
tate da persone dependenti da lui, le quali arie si leggouo nella
sua composta e stampata pur dopo, che questa mia fu rappresen-
tata a Sua Maesta Cristianissima." Aus diesen schlichten Wor-
ten geht deutlich genug hervor, dass Peri, welcher schon von
der Dafne her als dramatischer Tonsetzer die gute Meinung für
sich gehabt, als eigentlicher Componist der Euridice gemeint und
dass sein Werk schon in allen Theilen, wie es gedruckt vorliegt,
vollendet war, als Caccini den Einfall hatte, seinerseits jene
Nummern auch zu componiren, welche Sängern zufallen sollten,
„die von ihm abhingen" — und zwar, wie man aus Peri's Auf-
zählung sieht, nicht eben ganz wenige Nummern. Die voll-
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
255
ständige Partitur Caccini's scheint also erst nach der Hand ent-
standen zn sein. Ob Caccini bei jenem Stratagem von der Rück-
sicht auf die ihm vielleicht genauer bekannten Fähigkeiten seiner
Sänger geleitet wurde oder ob es eine durch künstlerische
Eifersucht veranlasste Intrigue gegen Peri war 2), bleibt jeden-
falls zweifelhaft. Gegen letztere Annahme spricht indessen der
beachtenswerthe Umstand, dass Peri die Sache ohne irgend eine
Spur von Bitterkeit und Verdruss, ja mit einem warmen Lob-
spruch für Caccini erzählt, während Caccini seinerseits bei Ge-
legenheit einer Arie aus seinem „Rapimento di Cefalo", welche Peri
„nach seiner eigentümlichen Vortragweise' * (secondo il suo stile)
sang, seinen Rival als ..musico eccellente" belobt Caccini hatte
endlich auch gar nicht nöthig, sich zur Composition eines Theiles
der Euridice zu drangen, denn er war auf ausdrücklichen Befehl
des Grossherzogs für eben dieselbe Hochzeitsfeier mit der Com-
position einer anderen Favola in musica, eben jenes ,,Rapimento
di Cefalo" betraut worden. Es scheint hiernach, als habe man
dem Könige von Frankreich beide Vertreter des neuen Styls
eigens vorfuhren Wollen. Caccini selbst erzählt: ,,il mio Rapi-
mento di Cefalo, composto in musica da per me per commanda-
mento del Serenissimo Gran Duca mio Signore e rappresentato
nelle Sposalizie della Cristianissima Maria Medici , Regina di
Francia et di Navarra." s) Aber — seltsames Geschick — ob-
wohl vorstehende Worte so klingen, als habe Caccini das ganze
Werk in Musik gesetzt, musste auch er sich fremde Eindringlinge
Sefallen lassen; ein Theil der Chöre rührte von Stefano Venturi
el Nibbio, von Piero Strozzi und von dem Canonicus Luca
Bati, Kapellmeister am florentiner Dom St. Maria del Fiore, her.
Rinuccini's Dichtung der Euridice ist eine in ihren Grund-
zügen überaus einfache. Nach einem Prolog von sieben Strophen,
welcher der personifizirten „Tragedia" in den Mund gelegt ist,
beginnt die eigentliche Handlung mit einer Jlirtenscene in einem
Hain — Nymphen und Hirten, unter letzteren Aminta (Tenor)
und Arcetro (Alt) preisen das Glück des eben verbundenen Braut-
paares Orfeo und Euridice. Die ganze Szene ist eine feine
Schmeichelei für das fürstliche Brautpaar und eine Art von Gra-
tulation. Euridice fordert die Nymphen auf, ihr in den Schatten
des nahen Hain's zu folgen, wo sie in „frohem Reigen" tanzen
wollen. „Itene liete pur", ruft der Chor, „noi qui fratanto che
sopragiunga Orfeo Tore trapasseremo con lieto canto". Euridice
1) Die Art, wie Caccini au Stelle des trefflichen kleinen Trio „Ben
nochier" von Peri ein herzlich flaches, aber mit Brillantpassagen aufge-
putztes Sopranduett zu setzen für gut findet, lässt so etwas vermuthen.
2) Wie £. 0. Lindner will — siehe dessen „Zur Tonkunst*'.
3) Einleitende Worte zu den mitgetheilten Stücken aus dem „Rapi-
mento di Cefalo", welche den „nuove musiche" eingeschaltet sind
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256 Di« Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
entfernt sich, begleitet von der Nymphe Dafne und einigen an-
deren Nymphen. Die Zurückgebliebenen ergötzen sich mit Wech-
selgesängen, in welche immer wieder refrainartig der Tanzchor
einfüllt: „ al canto, al ballo 44 u. s. w. Orpheus erscheint, er
spricht sein Glück aus, Wechselgespräch zwischen ihm und sei-
nem Freund Arcetro. Ein Hirte Tirsis zieht mit Flötenspiel
und Gesang vorüber, er bringt den Vermälten seinen Glück-
wunsch dar. Diese Szenen schuldlosen Glückes werden von der
voll Schreck und Schmerz herbeieilenden ..Botin" Dafne (Dafne,
nunzia) unterbrochen: Euridice ist, während sie im Hain Blumen
pflückte, von einer giftigen Schlange gestochen worden — sie ist
todt.# Orpheus scheidet mit Worten, welche auf seinen Entechluss
deuten, der Geliebten zu folgen; besorgt eilt ihm Arcetro nach.
Jetzt kehren die übrigen Begleiterinnen Euridice's zurück —
ohne sie. Klagegesänge mit dem Chorrefrain „Sospirate anre
celesti, lagrimate selve e boschi 1 ertönen. Nun kömmt auch
Arcetro zurück: eine göttlich schöne Frau, deren Wagen zwei
schneeweisse Tauben zogen, erzählt er, senkte sich vom Himmel
zu dem verzweifelnden Orpheus herab, sie richtete ihn auf, sie
sprach ihm Trost zu. „Welche der Göttlichen es auch gewesen
sei", ruft der eine Hirt, „lasst uns ihr Weihrauch zünden, lasset
uns ihr Lob singen". Dankchöre beschliessen die Szene. Ver-
wandlung : die Unterwelt. (Rinuccini hält es für nöthig, sich in
der Vorrede darüber zu entschuldigen: ..ho seguito l'autorita del
Sofocle nel Aiace in far rivolger la Seena, non potendosi rappre-.
sentar altrimente le preghiere e i lamenti d'Orfeo44.) Von der
Schützerin Venus geleitet, tritt Orpheus in dem öden, nächtlichen
Reiche auf. Sie ermahnt ihn:
Del Re, che sovra l'onibre ha scettro e regno
Sciogli il tuo nobil canto
AI snon del anreo leeno.
Quanto mgrte t'ha tolto ivi dimora
Prega, sospira e plora
Forse avverra, che quel soa?e pianto
Che mosse il ciel, preghi rinferno ancora.
Orpheus bleibt allein zurück : er lasst laute Klagen ertö-
nen, er bittet die Schatten der Unterwelt, mit ihm zu weinen.
Welche Kühnheit*', ruft Pluto, „ein Sterblicher betritt mein
nächtliches Reich !" Orpheus richtet jetzt seine Bitten an den
Gott. — „Du rührst mich44, antwortet Pluto, „aber das Gesetz
meines Reiches ist eisern44. Orpheus erinnert ihn, wie auch er
einst von Liebe ergriffen worden — Proserpina vereint ihre Bit-
ten mit Orpheus, und Charon meint: wenn Zeus im Himmel,
Neptun im Meere frei und ohne Beschränkung herrsche, so sei
es nicht wohlgethan, wenn Pluto durch Gesetze seinem Willen
Schranken setzen lasse. Da giebt Pluto nach — zwei Wechsel -
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Dio Zoit der ersten musikalisch-dramatischen Worke.
257
chöre von Geistern der Unterwelt und der Richter Rhadamanthus
drücken ihr Staunen über das Unerhörte aus. Wiederum die
frühere Szene: Arcetro ist wegen des Ausbleibens des Freundes
besorgt — „siehe", ruft der Chor, ,,da kommt Aminta mit heitrer
Miene, er bringt wohl gute Nachricht von Orpheus!'* Und so
ist es wirklich: Euridice lebt, „piii che mai bell' e viva". Wäh-
rend die Andern im Tempel der unbekannten Göttin Weihrauch
streuten, habe er, Aminta, sich voll Bekümmerniss aufgemacht,
Orfeo zu suchen — da plötzlich „wie ein Blitz" standen die
Liebenden vor ihm. Orpheus kommt jetzt selbst mit seiner wie-
dergewonnenen Euridice; Staunen, Freude der Hirten: wer voll-
brachte das Wunder? Euridice antwortet:
(Peri)
Toi - so mi Orfco dal
s
te - ne - bro - so re - gno.
n iu ii ii 10
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9t
(Caccini)
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mi Orfco dal
te -
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so re -
gno.
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— £
Freudcngesängc und Tänze beschliessen das Ganze.
Auch über die eigenmächtig geänderte Mythe entschuldigt
sich Riuuccini. Das Beispiel der griechischen Dichter in anderen
ähnlichen Fällen möge ihn rechtfertigen, und Dante lasse den
Ulysses ertrinken, obwol Homer das Gegontheil sagt.
Sowohl Peri's als Caccini's Partitur wurde 1600 in Florenz
gedruckt, die Composition Peri's sogar 1608 ein zweites Mal in
Venedig. !)
1) Caccini's Composition ist betitelt:
L'EVRIDICE
COMPOSTA IN
MVSICA
in Stile rappresentativo da
GIVLIO CACCINI
detto Romano
IN FIRENZE
APPRESSO GIORGIO MARESCOTTI
MDC.
Hochfolio. Die Widmung ist an Giovanni Bardi gerichtot. Dio Compo-
Ambroi, Geschichte der Musik. IV. 17
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25S
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Wie sehr verwandt beide Compositionen unter einander auch
sind, man wird kaum zögern dürfen, Peri den Preis zuzuerkennen.
Es liegt ein weit feinerer Duft von Empfindung über seiner Mu-
sik. Zuweilen ist es, als wolle sich bei ihm durch die unaufhör-
liche Recitation der Wohllaut echter , richtiger Musik hörbar
machen; leider übertönt ihn, kaum dass er sich gezeigt, das Ge-
klapper des Stile rappresentativo. Einen Moment bei Peri hat
aber nicht einmal der Stile rappresentativo zu erquetschen ver-
mocht. Es ist der still in sich selige , wonneathmende Gesang,
mit welchem der aus dem Orcus mit Euridice zurückkehrende
Orfeo Luft und Licht und Sonne begrüsst: „Gioito al mio canto"
— wie ein Marzveilchen, das mitten in weiter und breiter Oede
aufgeblüht, duftet uns die schlichte, anmuthige, wenn auch ihren
declamatorischen Ursprung nicht ganz verläugnende Melodie an.
Caccini bringt die Stelle zum Erstaunen ähnlich — aber es fehlt
ihr die zarte Anmuth, welche sie bei Peri besitzt. Letzterer lässt
gelegentlich in kleinen mehrstimmigen, geistreich behandelten
Satzchen auch den wohlgeschulten Tonsetzer erkennen. Im Gan-
zen macht sowohl Poris als Caccini's Composition den Eindruck
ermüdender Monotonie, wozu insbesondere die stockenden Vers-
absätze und die bleischwer nachschleppenden Cadenzen mit der
letzten Haltenote bei Redeschlüssen das Meiste beitragen. Diese
ausgehaltenc Schlussnote galt aber so sehr ftir das Richtige und
Angemessene, dass Doni sie nur bei Fragen durch eine kurze
schwarze) Note ersetzt wissen will. Weit entfernt , durch diese
ängstliche Beobachtung der Interpunktion den Charakter einer
lebendig fliessenden Rede zu erhalten, bekommt :1er Vortrag et-
was eintönig Psalmodirendes, so verschieden er sonst auch von
der kirchlichen Psalmodie ist:
Pastore del coro. Peri (1. Szene).
3 « * r r- rl-f-
s
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I- .. _V J/ 1
voi ch'all" al - ba in cid
*
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ß-
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to i
van - ti
-7-H
Bition Pcri's führt den Titel: ,,Le musicho di Jacopo Peri nobil Fiorentino
sojtra l'Kuridice dol Sign. Ottavio Rinuccini, Rappresentato nello Sposa-
lizio dclla Cristianissima Maria Medici Regina di Francia o di Navarra.
In Florenz*, appresso Giorgio Marescotti MDC" Die Widmung, datirt
Tom 6. Februar 1600, ist fiberschrieben: Alla Cristianissima Maria di Me-
dici u. 8. w. Man bemorko: Peri widmet sein Werk der Königin und er-
wähnt sowol in der Dedication als auf dem Titelblatte der Hochzeitsfeier.
Caccini schweigt von letzterer und dedizirt seine Composition dem Gra-
fen Bardi. FJn schlagender Beweis, dass die Composition der Festoper
nicht Caccini. sondern Peri zugedacht gewesen. Die venezianische Aus-
gabe der Oper Peri's erschien bei Alessandro Ravorii.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 259
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f«- - Ii - ce u. dcrgl. m.
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Diese Schwerfälligkeit der Rccitation steckt der italienisch-
dramatischen Musik noch lange in den Gliedern. Die Empfin-
dung des Lastenden wird durch die unbelebten liegenden Bässe
gesteigert. Meist sind es die Grundtöne der üreiklünge, — es
ist völlig eine Erquickung, wenn man zwischendurch einmiil einen
Sextaccord zu hören bekommt. In ganz engem Kreise leiter-
eigener Harmonie (zumeist Tonica, vierte und fünfte Klangstufe)
wird Ohr und Sinn des Hörers in einem fast ängstigend beengten
Bezirk festgehalten, aus welchem ihn keine Ausweichung in irgend
eine audere Tonregion befreit. Der Gesang bewegt sich innerhalb
der liegenden Harmonie wie in einem Käfig herum, und insge-
mein ist es dann erst der Rcdcschluss , welcher ihn aus dem
Banne für einen Moment erlöst. Hat eine Person ihre Rede ge-
endet, so beginnt die folgende des andern Interlocutors allenfalls
ganz ohne Rücksicht auf die Tonalität, in welcher jene schloss:
tta
Ninfa del Coro. Aniinta. (Peri).
{»
sir
s.w.
s
senza
la scorta diquelvi-vo
~ r
so -
1
g
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1 | t^-1-
Scon-30-la-ti de -
H ^—
*~ 1-
-F-
•f-
17*
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200
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Die Bezifferung, welcher Caccini in seinen „Nuove musiche"
so viele Sorgfalt zuwendet, ist in der Euridice — sowohl in sei-
ner als in jener Peri's — auf die nöthigsten Andeutungen be-
schränkt. *) Aus der eigentlichen dialogisirenden Recitation,
welche, wie Kiesewetter richtig bemerkt, „von einem Scarlatti'schen
Hecitativ noch himmelweit verschieden ist" 2), heben sich indessen
einzelne ariose Stellen — zuweilen nur kurze Phrasen, welche
allenfalls refrainartig wiederkehren, wie der einigcmale wieder-
kehrende Ausruf des Orfeo im Orcus:
Peri.
¥
La-gri-ma - teal iniopian-to. om - bre d'in - fer - no.
i J ff 11 " L
r
Caccini.
La - gri - ma- teal mio piiin - to, om-bre d'in-fer- no.
Die „Arie" erscheint ausdrücklich unter diesem Namen („si
ripete sopra la medesima aria" heisst es bei der zweiten Strophe
des Hirtengesanges des Tirsis bei Peri, und der Schlussgesang
bei Caccini tragt die Ueberschrift : Aria a cinque), aber in der
Weise, wie die Arien in den „Nuove musiche" Caccini's, das
heisst als Singen mehrerer Strophen nach denselben Noten. Letz-
teres ist sowohl bei Sologesängen, als bei Chören der Fall. Wie
in jenem Werke Caccini's wird der eigentliche Charakter der
1) Die ziemlich reiche Bezifferung der in Kiesewetter's ..Schicks u.
Beschaffenheit des weltl. Ges." mitgetheilten Proben ist Zuthat, So be-
ziffert z. B. Kiesewetter einmal i,S. 88) iäzz -rr wo es in P«-
ri's Original bloss hoisst
2^ G. d. M. S. 75.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 201
Arie auch liier von der Deklamation erdrückt. Wo man einfache
cantable Melodie , Liedmässiges erwarten sollte , wie bei • dem
Hirtenliede des Tirsis, bekommt man wieder Deklamation zu
hören, hinter welcher die liedmassige Melodie wie hinter einem
Eisengitter gleichsam hervorlugt. Statt die Mächte der Unterwelt
durch die Macht süssen Gesanges, durch Wohllaut der Melodie
zu rühren (wie Gluck's Orfeo thut — Monteverde's Orfeo trägt
dagegen wieder eine höchst abenteuerliche Coloraturarie vor), la-
mentirt Peri's und Caccinfs Orfeo im herkömmlichen Stile reci-
tativo e rapprcsentativo, wie er die allgemeine Sprache der Oper
ist, wie ihn auch Pluto, Proserpina, Charon u. s. w. singen.
Wenn nun auch Caccini und Pcri wirklich bemüht gewesen sind,
ihrem flehenden Orfeo Töne leidenschaftlicher Klage, leiden-
schaftlichen Schmerzes, leidenschaftlicher Bitte, dringenden Flehens
in den Mund zu legen — so ist es doch nur Eede im Sinne
des musikalischen Drama, nicht Gesang, der den Mächten des
Urcus als etwas ihnen Ungewohntes entgegenträte. Orpheus be-
wegt sie als Redner, nicht als Sänger. Man begreift, nicht, warum
sie an dem, was Orpheus sie hören lässt, etwas Besonderes finden,
gerührt werden und warum Pluto meint : „Si dolei preghi e si soavi
accenti non spargeresti in vanu u. s. w. Nur jenes „gioite" u. s. w.
des Orpheus nach seiner Wiederkehr aus dem Orcus hebt sich
wirklich als geschlossener arioscr Satz aus seiner Umgebung.
Wie im Traume ahnen zuweilen die Tonsetzer, wo etwa eine
Arie (im späteren Sinne des Wortes) an rechter Stelle wäre, und
da erscheint insgemein ein verkümmerter, oder vielmehr unent-
wickelter Ansatz, wie eine ferne Andeutung; so gleich in der
ersten Szene bei Peri:
Ninfa. Peri (Sc. 1.)
- * * — * — ß-
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Ra - dop - pia
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262
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
M
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1
Caccini bringt die Stelle ungleich trockener und vollends
zur Recitation verholzt :
Caccini.
I
igt-1' _l_IEi. V - E — L
Ra -dop- piae Hamm' e
lu - mi al
mn-mo - ra- bil
—
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gior-no, Fe - bo, ch'il car - ro d'or ri - vol-giin- tor- no.
(£) (|> (» (»
9^
1
2E
I
MI
Manches bei Caccini sieht wiederum aus, wie der allererste
Keim zu den künftigen Bravour- und Coloraturaricn :
Ninfa del Coro.
Caccini.
n
Va- ghe Nin-fe a - mo - ro - se, in-ghir-lan - da - te il
dt) (ft) -
J:
3=
Pf
crin d'al
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Dio Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
263
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Da haben wir wieder den wohlbekannten Coloraturstyl der
„nuove musiehe"! Ganz irrig aber wäre es, wegen solch' ver-
einzelter Stellen, welche in Caccini's dramatischer Musik doch
eben auch nur ausnahmsweise vorkommen, behaupten zu wollen,
in ihm kündige sich der reichverzierte, wie in Peri der drama-
tisch-deklamatorische Styl der späteren italienischen Musik an. *)
Peri und Caccini verfolgen beide dasselbe Ziel: den ihnen von
Bardi-Corsi's wegen anbefohlenen „Stile rappresentativo" ; und
ganze grosse Partieen beider Partituren sehen geradezu aus, als
habe einer den andern abgeschrieben und nur hin und her kleine
Abänderungen gemacht, — so ist z. 13. in der Klage der Nymphen
und Hirten um Euridice diese Aehnlichkeit im höchsten Grade
auffallend. Sieht man aber in diesen letzteren Gesängen näher
1) Wie E. 0. Lindner that, den ich hier von dem Vorwurf der Ge-
sichtepunktsucherei und Unterschiedmach* >rei keineswegs freizusprechen
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Die Zoit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
zu, wird man bekennen müssen, dass Peri hier in scheinbar klei-
nen Zügen ganz andere und tiefere Gefühlssaiten anschlägt, als
es Caccini hat gelingen wollen.
Man muss Caccini und Peri das Zeugniss geben, dass sie
die natürliche Betonung der gewöhnlichen Rede zum Besten ihres
Stile rappresentativo mit fein hörendem Ohr behorcht haben. In
diesem Sinne sind sie echte „Nachahmer der Natur" und so rea-
listisch wie möglich. Es ist dieses kein Widerspruch gegen die
obige Bemerkung, der Ton habe etwas Psalmodirendes. Denn
sobald die einfache Redeweise aus ihrer nicht bestimmbaren Ton-
höhe, in eine bestimmbare hineingerückt, das heisst, sobald sie
zum Gesänge wird, muss sie sich irgendwie künstlerisch stylisiren,
als Psalmodie, als „Stile rappresentativo" oder als Recitativ im
neueren Sinn. Innerhalb jeder dieser Kunstformen ist es mög-
lich, der natürlichen Betonung, dem natürlichen Redeaccent ge-
recht zu werden. Der sonst so besonnene und durchaus wohl-
meinende Kiesewetter charakterisirt den Styl der Florentiner dra-
matischen Musik mit den Worten: „Die Recitation, mit einem
Basso continuo begleitet, ist eben so kläglich als steif und
jedes Ausdruckes bar". Vielmehr ist aber durchweg ein sehr
ernstliches, sehr ehrliches Streben nach Ausdruck wahrnehmbar,
und oft genug ist auch der richtige Ton getroffen , besonders in
Momenten des Schmerzes und der Klage. Sogar wir empfinden
es noch durch alle Monotonie und schleppende Schwerfälligkeit
der psalmodirenden, für uns (an Gluck'sche, Mozart'sche ReciUtive
Gewöhnte) fremdartig klingenden Recitation hindurch. Auch hier
„mochte (und musste) der Sänger nachhelfen". Manches, das, in
den Notenzeichen angeschaut, eben nach gar nichts aussieht und,
gleichgiltig abgesungen, nach gar nichts klingt, gewinnt, wenn es
gut und mit Ausdruck vorgetragen wird, Leben und Ausdruck.
Das ehrliche Streben der Tonsetzer nach Wahrheit ist kein frucht-
loses geblieben. *) Im gesteigerten Ausruf des Orfeo
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oi - me!
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1) Ich habe die orwähnte Szene der Klage um £uridice nach Pori's
Coraposition von der Stello: „Dunqu'e pur ver" an wiederholt öffentlich auf-
fahren lassen. Die Sänger (Solisten und Chor) gewannen die Sache mit
jeder Probe lieber, und die Wirkung auf die Zuhörer war jedesmal eine
grosse. Der einigemal wiederholte Zug, den man in der Aufzeichnung
kaum beachtet, wie auf das „Sospirate" der Nymphe der volle Chor, wie
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
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gebraucht Peri, um der Wahrheit des Ausdrucks willen, in wirk-
samer Weise die Fortschreitungen in verminderter Quinte (c-fis
und d-gis), welche nach contrapunktischen Prinzipien unter die
verbotenen, ja unter die „unmöglichen" gehören. Schon Doni
hebt diese Stelle beifhilig hervor und bemerkt dazu: „Si espri-
mono ancora bene questi lamenti interrotti, come: obiine, ahi
lasso, oh, ah, con intervajli duri e straordinarj, e diversi
dove si reiterano". *) In stufenweisen Fortschreitungen findet
Doni hinwiederum den Ausdruck des Grossartigen: „il procedere
di salti non solo verso l'acuto, ma anco verso il gravc esprimc il
costume grande e magnifico; il che e stato ottimamente osservato
dal Peri, dove introduce Plutone che risponde ad Orfeo, che lo
supplicava a rendergli Euridice con magnanimo costume quelle
belle parole:
Si dol - ci preghi
e si so - a -viac- cen-ti
Caccini bringt diese Stellen minder kühn und viel gleich-
giltiger :
Oi - mh mi - se - ro su quell'
si dol-ci preghi e si so-
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auf ein Stichwort antwortend, einfallt — der Gegensatz des Unisono-
Chores „cruda niorte" zu dem in seiner Einfachheit so volltönigen funf-
Btimmigen „Sospirate4' u. s. w. wirkt zauberhaft. Von reizendstem Wohl-
klang ist das kleine, auch contrapunktisch treffliche Trio „ben nocchier44.
Caccini hat das Alles ähnlich, sehr ähnlich, aber viel geringer. Und doch
wurde gerade diese Stelle 1600 in Florenz nach seiner, nicht nach Peri's
Composition gesungen.
1) Deila mus. scen. Parte I: alcune altre osservazioni per lo musiche
sceniche (Opp. II. Band, Anhang S. 35).
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
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Es ist bemerkens werth , dass Doni von Caccini's Earidice,
welche er doch gekannt haben muss, völlig schweigt, dagegen
aus Peri's Composition (und aus Monteverde's „Ariamia") mehr
als ein lehrreiches Beispiel dramatisch wahren Ausdrucks herbei-
holt. So bemerkt er: „che questi omei, o interiezioni dolenti
fanno buonissimo effetto proferite in sincopa, come qui si vcde
neir Euridice:
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(Arcotro.)
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Che nar - ri?
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che sen - to?
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So findet Doni in der Betonung der Worte, welche dicjwie-
derkehrende Euridice an den Chor richtet:
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a che piü dub-bie, a che pen
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so - se sta - te?
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II
den Frageton meisterlich getroffen. „Neil' interrogazioni", sagt
er, ,,non bisogna, che 1* ultima nota sia bianca; ma piuttosto ncra
e veloce, come ha osservato bene il Peri, dove Euridice parla
cosi alle Ninfe del coro" u. s. w.
Es ist merkwürdig hier zu sehen, wie die Geistreichen und
die Kenner die Leistungen der Tonsetzer neuen Stylcs entgegen-
nahmen und beurthcilten. Zur vollen Würdigung der Arbeiteu
Peri's (und Caccini's) sind jene überhaupt viel Treffendes und
Lehrreiches enthaltenden Tractate Doni's von grosser Wichtigkeit
— man muss auch die Zeitgenossen hören und thut den Meistern
Unrecht, wenn man an sie ganz unbedingt allein nur den Mass-
stab anlegt, den wir Späteren uns nach den Leistungen einer
hoch ausgebildeten Tonkunst zurecht gemacht haben, — einer
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
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Kunst, für welche Peri und Caccini vorläufig doch nur erst die
Grundzüge suchten und fanden.
Von grosser Wichtigkeit für die dramatische Gestaltung sind
endlich die Chöre. Sie, welche in der späteren italienischen Oper
mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt werden und endlich
so gut wie verschwinden, spielen einstweilen eine sehr wichtige
Kolle, wenn auch (nach Art der griechischen Chöre) mehr nur
Antheil an den Hauptpersonen nehmend, reflektirend, jubelnd,
klagend, als thätig in die Handlung eingreifend.
Dass man im Hause Corsi überhaupt Chöre für zulässig er-
klärte — denn in der That ist es nichts weniger als natürlich,
dass eine ganze Volksmenge gleichzeitig bis aufs Wort dasselbe
sagt — wird dadurch begreiflich, dass es bei der Keform der
Musik nicht sowohl auf die einfache Naturnachahmung (den Popanz
der späteren italienischen Aesthetiker) ankam, als auf eine Wie-
dergeburt der Musik in antikem Geiste. Die Griechen aber
hatten, wie bekannt, den Chören grosse Wichtigkeit beigelegt.
Die Naturnachahmung des Redetones im Stile rappresentativo
u. s. w. sollte eben nur ein Mittel zum Zwecke jener Wieder-
geburt, nicht selbst der Zweck sein.
Wäre es streng nach den Grundsätzen der ästhetisch-musi-
kalischen Coterie im Hause Bardi gegangen , so mussten die
Chöre das Aussehen haben, wie etwa die älteren Versuche Paul
Hoffhairaer's, Ludwig Senfl's u. A., Verse der römisch-klassischen
Dichter metrumgerecht in Musik zu setzen, volle Accorde in ein-
fachsten Harmoniewendungen, welche das Vcrsmass abtrommeln
und wobei natürlich Sopran, Alt, Tenor und Bass in der Text-
legung immer alle mit einander genau dieselbe Sylbe auszu-
sprechen haben — daher denn auch Nachahmungen u. dgl. un-
möglich bleiben. Diese Art von Chorgesang kommt in der Eu-
ridice beider Tousetzer in der That auch vor, doch nicht aus-
schliesslich. Sie erinnern sich in den mehrstimmigen Sätzchen
und Sätzen denn zwischendurch doch auch, dass sie ihren con-
trapunk tischen Cursus gehörig absolvirt, dass sie früher als Ma-
drigalisten im polyphonen Tonsatze geschrieben haben. Gleich
der erste Chor bei Peri „al canto, al ballo" lässt sich sogar an,
als wolle er auf gut altniedcrländisch eine „fuga ad minimam"
werden,
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was freilich nicht lange dauert. Caccini führt in demselben
Chore seiner Oper die beiden Soprane gleichfalls imitatorisch ein.
So schliesst Peri die erste Hirtenscene (vor der Orcusscene) mit
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
einem kurzen fünfstimmigen, ganz entschieden polyphon gehalte-
nen Chor; wobei nur der ruhigere, aber kräftige und lebendige
Gang der tiefsten Stimme an den Grundbass der harmonischen
Homophonie in etwas anklingt:
Al-ziam lo voci e'l
can-tan-do can-
Al-ziam le voci e'l
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ci e'l cor
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ci e'l cor can- tan -do can-
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ziam le vo
ci e'l cor
1) Dieser Passus und ein ähnlicher im Chor ,,al canto al ballo" ist
sehr merkwürdig und wichtig, weil er klar zeigt, dass Stellen diosor Art
nicht streng diatonisch gesungen wurden, sondern dass der Sänger z. B. hier
tis statt f sane, als Hilfsnote, — der Componist aber aus guter alter Ge-
wohnheit das « nicht hinschrieb, weil „es sich ja von selbst verstand".
(Im Chor „al canto" steht übrigens vollends
NB.
Sang der Sänger f, so entstanden Quintparallelen, welche nicht nur nach
damaliger Lehre streng verpönt waren , sondern auch das Ohr beleidi-
c
gen und abscheulich klingen, während die verminderte Quinte £f jeden
Anstoss behebt. Peri und Caccini aber hatten ein feingebildetes
Ohr!
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 269
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Aehulich im Schlusschor: „Biondo arcicr" — wiederum mit
leichten Nachahmungen u. s. w.
Den homophonen Chören darf man nachrühmen, dass sie
wohltönige Harmonie, mitunter sogar eine durch kräftigen Cha-
rakter recht wohlgefällige haben, wenn man gleich eben so wenig
in Abrede stellen darf, was Kiesewetter sagt, dass sich in ihnen
„die Urheber des dramatischen Stylcs weder als grosse Contra-
puuktisten noch als erfinderische Köpfe zeigen". Wie die Reci-
tation der einzelnen Interlocutorcn etwas Psalmodieartiges hat, so
haben diese Chöre einen gewissen Anklang au die falsi bordoui
des Kirchengesanges. Dramatischen Charakter, charakteristische
Färbung als Hirtenchöre und Chöre der Gottheiten des Orcus
zeigen sie auch nicht entfernt. Erst Montevcrde hat in seinem
„Orfeo" den glücklichen Griff gethan, durch die Form des Siciliauo,
die ihm wie zufällig in die Finger läuft, den richtigen Pastoral-
styl angedeutet zu haben, und erst Cavalli's Geister des Orcus
(in „le nozze di Peleo e di Tetide" und noch besser im „Giasone")
singen so, dass wir sie als Bewohner des Keiches der Unterwelt
erkennen. Wenn aber nicht in den Hirtenchören, so hat doch
einmal auch Peri den Eklogencharakter richtig getroffen, und
zwar auch nur durch Anlehnung an Volksmusik. Das von drei
Flöten auszuführende Ritornell des Liedes seines Tirsis ist die
270
Dio Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
treue Nachahmung der Musik der römischen Pifferari. l) (Fran-
cesca Caccini, Giulio's Tochter, hat hernach in ihrer liberazione
di Ruggiero Peri's Dreiflötenstück so gut wie copirt.) Bemerkens-
werth ist ferner, dass Peri und Caccini manche Chorsätzchen im
Unison singen lassen, — etwas ganz Neues, wovon sich die con-
trapunktische Zeit nichts hatte träumen lassen. Sonst sind die
Chöre fünfstimmig — nur jene im Orcus machen eine Ausnahme
und sind zu vier Stimmen geschrieben. In den polyphon gehal-
tenen Chören macht sich melodische Erfindung geltend, wie es
auch bei Sätzen, in denen Nachahmungen u. s. w. vorkommen
sollen, unentbehrlich ist. In den homophonen klingt der Gang
der Oberstimme beinahe wie das zufallige Resultat der vom Com-
ponisten beliebten Harmoniefolgen — zum erstenmale wird hier
mit Accordsäulen gearbeitet, mit wirklichen „Folgen von Drei-
klängen", während noch bei Palestriua die Harmonie das Resul-
tat der polyphon neben einander hingehenden Stimmen ist. In
dieser Beziehung sind die homophon gehaltenen Chöre der Euri-
dice eine merkwürdige Ankündigung der neuen, gründlich ver-
änderten und verändernden Zeit. Als ausdrucks- und empfin-
dungsvoll kann man unter den Chören nur den Chorrefrain nen-
nen: „Sospirate aurc celesti, lagrimate selve e campi", der wie-
derum bei Caccini und bei Peri genau dieselbe Färbung hat; es
ist ein kurzer Klageruf, der gerade durch seine Einfachheit und
schlichte Wahrheit ergreift. Die Tanzchöre haben den Charakter
der gesungenen „Balli", wie wir sie bei Monteverde u. A. finden,
den eigentümlichen Charakter der Tanzmusik jener Zeiten über-
haupt, welche, wo sie sich nicht ans Volkslied und den Volks-
tanz lehnt, sondern vornehm und distinguirt sein will, eine selt-
same halbkomische Grandezza annimmt und sich etwas steifbeinig
anlässt. Bei Peri gestaltet sich der Schlusschor zu einem in
seiner Art brillanten Schlussballet: erst Tanzchor zu fünf Stimmen,
darnach, als Episode , ein ganz anmuthiges kleines Terzett ohne
Tanz („questo a tre senza ballare" steht dabei) und dann ein „Ritor-
nello*' von Instiumenten; als Balletmusik für zwei Solotänzer:
Questo Ritornello va roplicato piü volte, o ballato da due soli del Coro.
1) Oulibicheff verhöhnt das „Dudolsackstnck4*. Doch was verhöhnt
er nicht, wo es sich um Verherrlichung seines Mozart handelt? Natür-
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Die Zeit der ersten ramikalisch-dramatiichen Werke.
271
P
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X:
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1
4
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Diese Sätze werden strophenweise und abwechselnd wieder-
holt Caccini begnügt sich mit einem strophenweise zu singenden
Schlusschor. Dass von Duetten, Trio's u. s. w. im Sinn der spä-
teren Oper keine Rede sein könne, ist eine consequente Folge
des für die Musik festgestellten Prinzips. Doch treten an Stelle
des vollen Chores zuweilen Sätzchen zu zwei oder drei Solostim-
men — so ist bei Caccini das „bon nocchier" als Duett zweier
Nymphen behandelt. Die Hauptpersonen aber singen immer nur
dialogisirend. Für die künstlerische Disposition und Wirkung des
Ganzen sind die Chöre von grösster Bedeutung. Das unaufhör-
liche recitativische Pathos des Dialogs müsste endlich geradehin
unausstehlich weiden, man würde sich wie in einer Wüste fühlen,
deren Ende nicht abzusehen ist, träten nicht immer, wie einthei-
lende Marksteine, wie erfrischende Oasen, die Chöre ein. Sie
werden in den grösseren Szenen refiainartig wiederholt und bringen
dadurch eine Art glücklicher arcliitektonischer Disposition, eine
Art von Symmetrie hinein. Die Klageszene der Hirten verdankt
ihre bedeutende Wirkung zum guten Theil dem immer wieder
einfallenden Chore : Sospirate u. s. w.
Die Begleitung ist ein einfacher bezifferter Bass. Jeder
Strophe des Prologs folgt ein kurzes zweistimmig geschriebenes
Ritornell; ausserdem bringt Peri jenes Ritornello des Tirsis für
drei Flöten und das oben erwähnte Tanzritornell. Sonst ist von
Vor- oder Nachspielen oder von selbstständiger Instrumentalmusik
lieh kennt er, was er weiss, nur aus den Probefetzen, die Burney für seine
bist, of mus. aus den Werken herausgerissen hat. Dass man erst dann
ein Recht habe, mit dareinzureden, wenn man die Sachen gut und gründ-
lich kennt, fallt einem vornehmen Dilettanten , wie dieser Russe war,
nie ein.
272
Die Zoit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
keine Hede. Selbst wo sich das Hirtengefilde in den Orcus ver-
wandelt, beginnt unmittelbar nach dem letzten Takt des Hirten-
chores das Recitativ der Venus. Aus Peri's Vorrede erfahren
wir, wie das Orchester besetzt war — vornehme Herren l) wirkten
mit: Jacopo Corsi sass am Ciavier (Gravicembano), Don Grazia
Montalvo spielte eine grosse Basslaute (Chitarrone), Messer Giovan
Lapi eine grosse Tenorlaute (Liuto grosso) und der gepriesene
Geiger Michel Angelo, genannt Dal Violino, eine Lira grande,
d. h. einen Contrabass. Die generalbassmässige Austührung der
Bezifferung lag also vor Allen dem Herrn Jacob Corsi und allen-
falls dem Messer Lapi ob, welche dabei in der That Geschick-
lichkeit zu beweisen hatten. Sie blieben den Zuhörern unsicht-
bar — nemlich hinter der Szene. Für Tirsis' Ritornell müsseu
sich ihnen drei Flöteubläser gesellt haben, denn das von Peri zur
Entschuldigung und Motivirung dem Tirsis in die Hand gegebene
„Triflauto" ist ein blosses Phantasieinstrument. Francesca Caccini
hält im Ruggiero eine solche Entschuldigung nicht mehr für nö-
thig, sie sagt offenherzig: „Ritornello, quäle va sonato con tre
Flauti". Die Sänger der dramatischen Hollen lernen wir aus
Peri's Vorrede so weit kennen, dass wir erfahren: Aminta, Signor
Francesco Rasi von Arezzo; 2) Arcetro, Signor Antouio Brandi ;
Pluto, Signore Melchior Palontrotti — „i piü eccellenti musici de
nostri tempi" bemerkt Peri. Die Daphne sang ein Knabe aus
Lucia, Jacopo Giusti, ,,cou molta grazia". Die Rolle der Euridicc
war, wie Caccini seinerseits berichtet, Vittoria Archilei anvertraut,
der „cantatrice di quella eccellenza, che mostro il grido della sua
fama" (die Rollo des Orfeo war wohl Peri selbst zugetheilt?).
Der Chor bestand aus 57 Personen. Caccini erwähnt es
zwar nicht bei Gelegenheit der Euridice, sondern des Rapimento
di Cefalo; da aber diese letztere Vorstellung auch bei der Hoch-
zeitsfeier der Maria -von Medicis stattfand, so waren sicher die-
selben Sänger auch in der Euridice beschäftigt. Unter den Zu-
hörern befand sich, wie Peri erzählt, auch Orazio Vecchi. Was
wohl der Componist des Amfiparnasso zu dem neuen Musikstyl
gesagt haben mag?
Von dem dramatischen Zuge der Euridice ist in den Stücken
aus ,,11 rapimento di Cefalo", welche Caccini den „Nuove musiche"
beigegeben hat, so gut wie nichts zu finden. — Trotz der wirk-
lichen Darstellung auf dem Theater (wobei jener Chor von 57
Personen, wie Caccini ausdrücklich zu bemerken der Mühe wertli
findet, „in mezza luna" aufgestellt war) ist es vielmehr Hof-,
1) dentro la Seena fii Sonata da Signori, per nobilta di sangue
e per ••ccellonza di musica illustri.
2) Caccini gedenkt seiner in don ..nuove musiche" mit don Worten:
„il famoso Francesco Rasi, nobile Aretino, molto grato servitore all' Al-
tezza Seroni8shna di Mantova".
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
273
Fest- und Concertmusik — zwar im neuen Stile recitativo, trotz-
dem aber jenen älteren Festmusikeu der Uebergangszeit verwandt,
— wenigstens begegnen wir in den Soli eben den langen und
langathmigen Coloraturen, wie Signora Archilei mit ähnlichen so
überaus freigebig war, und das Ganze hat den gleichen vorneh-
men und prunkhaften, gleichsam „hoffähigen" Charakter, wie jene
alteren medieeischen Festmusiken. Erst ein kurzer sechsstimmiger
Chor „ineffabil' ardore" — der Exposition eines Madrigals im
Monteverde-Styl gleichend; dann eine „Aria" für Bass, gesungen
von Palontrotti, der Chor da Capo, Arie für Tenor, gesungen
von Pen", nochmals der Chor, Arie für Tenor, gesungen von Rasi,
and zuletzt ein Schlusschor „quand il bell' anno". Die sogenann-
ten Arien sind massig lange Soli, in den Grundzügen den Madri-
j,TÜen der „nuove musiche" gleichend — alle diese Sätzchen aber
bilden erst zusammen ein Ganzes, dessen Disposition übrigens
keineswegs unwirksam ist. Die beiden Chöre sind harmonisch
sogar von bedeutendem Interesse, denn der erste schlägt in der
verschiedenen Harmonisirung desselben Motives wiederum eine
ganz neue, wichtige Bahn ein, wenn auch vorläufig nur in leich-
ter Andeutung und wie halb unbewusst; der andere (in G-moll
zeigt eine so bestimmte Empfindung für Paralleltonart 'B-dur) und
Dominanttonart (D-dur), nach welchen beiden in wohlmotivirter
Weise ausgewichen wird , dass sich auch hier die noue Zeit be-
deutend ankündigt.
Auch die sichere und ungezwungene Behandlung des sechs-
stimmigen Tonsatzes lässt die wohlgeübte Hand eines sehr tüch-
tig geschulten Musikers erkennen, der in der That zu nichts in
der Welt weniger Ursache hatte, als dem Contrapnnkt so viel
Schlimmes nachzusagen, ate er seinen vornehmen tiorentiner Freun-
den zu Liebe gethan hat. Wenigstens ist so viel sicher, dass
Galilei, Mei, Corsi u. s. w. mit ihrer ganzen griechischen Gelehr-
samkeit dergleichen nicht entfernt zu Stande gebracht haben
würden, und dass es nicht ihre Schuld, wohl aber Caccini's und
Peri's Verdienst ist, wenn sich die Musik nicht sofort im Namen
Platon's in die flachste, naturalistischeste, dilettantenhafteste
Deklamir-Singerei und Klimperei verlief. In diesem Sinne ver-
dienen die beiden Tonsetzer gewissermassen den gewöhnlich Pa-
lestrina gegebenen Titel von „Kettern der Musik."
Noch aber verdient eigens hervorgehoben zu werden, was
bisher kaum Jemand zu bemerken der Mühe werth geachtet hat:
dass wir nämlich in Peri's und Caccini's Compositionen Werke
echt florentinisehen Geistes anzuerkennen haben. Suchen wir,
zur Vergleichung, diesen Geist vor Allem auf dem Gebiete der
bildenden Künste. Jeder mit deren Geschichte Vertraute kennt
den Charakter der Florentiner Malerschule von Giotto bis auf
Domenico Ghirlandajo und selbst weiter bis auf Lionardo da Vinci
Ambro«, Geschichte der Musik. IV. 18
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274 Dio Zeit d«r orsteti musikalisch-dramatischen Werke.
i
und Andrea del Sarto. Sie ist die schärfste Beobachterin der
Natur, der Wirklichkeit; aus diesen ihren Beobachtungen holt sie
ihre Motive im Grossen wie im Einzelnen. Sie müsste realistisch
heissen, läge in diesem Worte nicht ein gewisser Nebenbegriff des
Gemeinen, der blossen Naturnachahmung nach der äusserlichen
Erscheinung der Dinge. Aber die Werke jener Florentiner haben
höheren Charakter, eine eigene Noblesse, sie haben Styl, und
kraft dessen tiberglänzt und adelt ihren Realismus ein idealer
Zug. — Die Personen in den Gemälden Masaccio's, Ghirlandajo's
u. 8. w. sehen zugleich aus, wie scharf nach dem Leben erfasste
und gemalte Bildnisse (was sie auch wirklich sind!) und wie all-
gemeingiltige Repräsentanten menschlicher Typen für alle Zeiten.
Dazu sind die Florentiner, als die Ersten der Renaissance, wie
natürlich auch die eifrigsten Bewunderer der Antike, ohne sich
doch von ihr unbedingt beherrschen zu lassen. Diese Züge
wiederholt genau der Florentiner Opernstyl : die ganz eigene Ver-
bindung, ja Verschmelzung von Naturbeobachtung bis zur reali-
stischen Naturnachahmung mit jenem höheren Styl, welcher die
Dinge aus der niederen Sphäre des Alltäglichen in die Regionen
des Idealen emporhebt und sie eben dadurch adelt; der feine
Duft von Bildung, der sich tiberall fühlbar macht; die eigentüm-
liche Florentiner Noblesse; die Einwirkung der Antike (hier: der
Tradition über antike Musik), ohne dass diese zur Despotin
werden darf, da die Künstler vielmehr in Vielem freie Hand be-
halten. An technischer Vollendung, an Schönheit stehen die
Werke der bildenden Kunst freilich auf einer ganz anderen
Stufe — der Geist aber, der jene wie diese belebt, ist derselbe,
der specifisch Florentinische Kunstgeist. Es wird erst recht klar,
wenn mau den um nur wenige Jahre jüngeren „Orfeo" des Mon-
teverde mit der „Euridioe" der beiden Florentiner vergleicht —
der oberitalienische, später in Rom sesshafte Meister zeigt ganz
den verschwenderischen Luxus, die Prachtliebe, die Freude am
reich Geschmückten, Farbigen, Glänzenden, die den Venezianern
in den Künsten von jeher eigen gewesen.
Nicht blos Florenz sah im Jahre 1600 den neuen Musikstyl
ins Leben treten, auch Rom wurde durch die Aufführung eines
der neuen Richtung angehörigen Werkes mit den Florentiner
musikalischen Refonnideen bekannt gemacht. Dort nahm, wie
es bei der damaligen Stimmung Roms zu erwarten stand, die
Sache sofort die Richtung ins Didaktische und Religiös-Erbauliche.
Im Betsaale (Oratorio) des Klosters zu S. Maria in Vallicella, der
Stiftung des h. Philipp Neri *) wurde das musikalische Drama
1) l>er Betsaal ciistirt noch. Am 17. Dezember 1865 hörte ich dort
das Oratorium S. Giovanni Battista v»n einem modernen römischen Com-
poniston Gaetano Capocci — ein Donizettisirendes Machwerk.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
275
„la rappresentazione di anima e di corpo" aufgeführt, Musik
von Emilio de' Ca v alier i. Die Poesie war von Laura Gui-
diccioni, die wir mit ihren Dichtungen jederzeit als treue Ge-
hilfin Emilio's antreffen. Der Componist erlebte diese Aufführung
nicht mehr. — Das Werk selbst wurde von Alessandro Guidotti
herausgegeben , dem Cardinal Aldobrandini gewidmet und mit
einer sehr umständlichen Vorrede ausgestattet. Der Text ist
eine Allegorie, in welcher lauter personifizirte Begriffe, lauter
Abstractionen die Bühne beschreiten, tanzen, dazu im Stile
recitativo singen und sich selbst auf Instrumenten begleiten,
welche sie auf's Theater mitbringen. Da ist die „Zeit" (il tempo),
das Leben (la vita), die Welt (il mondo), das Vergnügen (il
piacere), das richtige Verständniss (1' intelletto), der Körper (il
corpo) u. s. w. Das Ganze ist ein merkwürdiges Zurück-
greifen auf die Moralitäten, wie sie im 14. und 15. Jahr- ■
hundert in Italien gebräuchlich waren. Schon der Titel:
, .Rappresentazione dell' anima e del corpo" ist bemerkenswerth,
denn die gewöhnliche Bezeichnung für das italienische geist-
liche Drama war eben Rappresentazione , sonst auch wohl,
und zwar ganz synonym : Sloria, Esempio, Mislerio1). Schon
in diesen alten Repräsontazionen wurden Gesänge eingemischt,
Schlusschöre nach den Akten, auch wohl ein sprechender —
nicht singender — Chor (coro parlante). So finden wir denn
im 15. Jahrhundert eine „Rappresentazione e festa d' Abraam" von
dem Florentiner Maffeo Belcari, eine „Rappresentazione di S. Gio-
vanni e Paolo" von Lorenzo Magnifico von Medicis, deren musi-
kalischen Theil Heinrich Isaak besorgte, eine „Rappresentazione
di S. Panuzio" u. s. w., ja 1575 eine „Commedia spirituale dell'
anima" von dem Augustiner Valerio da Bologna. Wir begegnen
in dem „Spiel von der Seele" ebenfalls personifizirten Begriffen,
wie: la memoria, l'intelletto, la volonta, l'odio, la fede, la sen-
sualita, la carita, la pazienza, Tumilta, u. s. w.; dazu einen Chor
von Engeln und Dämonen, welche um die Seele streiten. Das
Werk Laura Guidiccioni's und Emilio's erscheint in einem anderen
Licht, wenn man sich dieser Antecedentien erinnert — und wird,
als Versuch den neuen Stile rappresentativo auf diese Form des
mittelalterlichen geistlichen Schauspiels anzuwenden, doppelt merk-
würdig. Die Gattung behauptete sich zu Rom dann sogar noch
bis tief ins 17. Jahrhundert hinein. — Kapsberger's „Apotcosi di
S. Ignazio", Stefano Landi's „S. Alessio", Marco Marazzoli's „vita
umana" u. s. w. gehören derselben Dichtung an, bis endlich in
Carissimi's Oratorien die Darstellungsweise eine neue Form an-
1) J. L. Klein, Gesch. des Drama's. IV. Das ital Drama, 1. Band,
S. 1S7, 188.
2) a. a. 0. S. ISO.
IS*
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276
Die Zeit der eraton musikalisch-dramatischen Werke.
nimmt, insofern an Stellt der wirklichen Aktion ein erzählungs-
weise vermittelnder „Historicus" tritt, und auf der Schaubühne
auch in Rom die Götter und Helden der alten Welt die Hei-
ligen der Kirche und die personifizirten Tugenden u. 8. w. ver-
drängen.
Laura Guidiecioni's Dichtung ist also ein richtiges Mysterium
alten Styls, und die Grundidee, wie natürlich, im Sinne der
strengsten Ascese durchgeführt. Welt, Leben, Körper, Vergnü-
gen werden so anschaulich und eindringlich wie möglich in ihrer
Nichtigkeit und Wertlosigkeit dargestellt „ — che questa vita
e un vento, che vola in un momento" wie es im Texte heisst — ;
nach den Erläuterungen Guidotti's sollen z. B. „il mondo" und „la
vita humana" anfangs prächtig geputzt in reichen Kleidern auf-
treten, als ihnen aber letztere abgestreift werden, erscheinen sie
elend und armselig, zuletzt gar wie Todtengerippe. Die Vor-
schriften, welche Guidotti giebt, sind mitunter erstaunlich naiv
und lassen das ganze Schauspiel im Vergleiche zu dem tüchtigen
Anlauf, welchen man gleichzeitig in Florenz nahm, kindisch ge-
nug erscheinen. So soll „il corpoli bei den Worten „Se hormai
alraa mia" etwas von seinem Schmuck wegwerfen — die goldene
Halskette etwa, oder die bunten Federn von seinem Hut u. s. w.,
die handelnden Personen sollen musikalische Instrumente in
Händen halten und sie spielen oder doch dergleichen thun, als
ob sie spielten — „ma quasto c una mera chimera" ruft Doni
aus. x) Emiüo dachte anders: dies werde der Täuschung besser
dienen, als ein den Zuschauern sichtbares Orchester („Concerto") —
insbesondere vom „Vergnügen" sagt Guidotti (es ist der Mühe
werth, wörtlich zu zitirenj folgendes: „il piacere c6n Ii due
compagni sara bene, che abbiano stromenti in raano etsi suonino
i loro ritornelli; uno potra avere un chitarrone, l'altro una chi-
tarrina alla Spagnuola et l'altro un cimbaletto con sonagline alla
Spagnuola, che lacci poco rumore, partendosi uoi sonnerano ruitimo
ritornello". Man sieht, wie lebhalt in Emillo die Reminiscenzen
an seine Festmusik von 1591 waren, wo die Damen Vittoria,
Lucia und Margherita nicht blos sangen und tanzten, sondern
ihren Gesang und Tanz auch mit Guitarre und Glockenspiel
accompagnirten. Dem Chor wurden die Plätze auf der Bühne
palco) selbst angewiesen, theils zum Sitzen, thcils Stehplätze,
angesichts der handelnden Hauptpersonen — die Sitzenden haben
„beim Singen aufzustehen und dabei entsprechend zu gesticuliren".
Welch seltsames Zwitterding von concertmässiger und drama-
tischer Aufführung.) Das eigentliche Orchester ist hinter der
1) Tratt. della mus. scen. Cap. XL „Che e cosa ridicola. che gli
attori cantiao e insieme ballino e snonino". Doni erwähnt ausdrücklich
Emilio's (Opp. II, S. 115).
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 277
Bühne aufgestellt und bleibt den Zuhörern unsichtbar. Es be-
schränkt sich auf eine Lira doppia (Gambe , ein Clavicembalo
eine grosse Basslaute (Chittarrone) und zwei Flöten „overo Tibie
all' antica". Dazu will die Vorschrift Guidotti's nicht passen:
die Symphonien und Ritornelle seien von Instrumenten in grosser
Zahl auszuführen. „Un violino suonando il soprano per Tappunto
fara buonissimo effetto". Zur Einleitung ist ein Madrigal mit
doppelt besetzten Stimmen und vielen Instrumenten vorzutragen.
Dann hebt sich der Vorhang, zwei Jünglinge treten als Prologus
auf, ihnen folgt der Zeitgott (il tempo), die Instrumente deuten
ihm den Ton an u. s. w. Das Schlussballet bei dem Chor
„Chiostri altissimi e stellati" soll ernst, würdig und feierlich sein :
der Chor dazu soll mit doppelter Stimmen- und Instrumentenzahl
ausgeführt werden. Während der Ritornelle tanzen vier Solotänzer
„cou capriole" (!) und wenden nach Ermessen bald die Pas der
„Gagliarde", bald jene des „Canario44, bald jene der „Corrente44 an
Wir erkennen den Arrangeur des Ballettes, welches 1 589 so grossen
Enthusiasmus erregte! — Das Werk mag wohl unter dem un-
mittelbaren Eindrucke der „Dafhe44 Peri's und in Florenz ent-
standen sein, war aber ganz sicher für Rom, Emilio's Vaterstadt,
bestimmt — die Florentiner Kunstfreunde würden an der darin
dargelegten Lebensauffassung schwerlich viel Geschmack gefunden
haben. Die Schreibart, die Anordnung, die Declamation ist
wesentlich Florentinischer Reformstyl, aber weit geringer und be-
fangener, als wir ihn bei Peri und Caccini finden. Erinnert man
sich jener Florentinischen Festmusik EmihVs mit ihren Nach-
ahmungen, ihren Mensural häkeleien u. s. w., so macht die Musik
der Rappresentazione geradezu den Eindruck einer sehr absicht-
lichen Simplizität, welche hier freilich zur armseligsten Kahlheit
wird. Emilio geht Allem, was an den geächteten Contrapunkt
erinnern könnte, ängstlich aus dem Wege. In den Chören, wie
in den Soloparten ist recitirende Deklamation das einzig Bestim-
mende für die Composition — von cantabeln Stellen , wie sie
doch bei Peri, bei Caccini vorkommen, ist so gut wie keine
Rede. Die Melodiebildnng, wenn man dieses Wort überhaupt
hier anwenden darf, ist kaum mehr als das halb zufällige Resultat
der Declamation, steif, herb und reizlos, ja als wirkliche Melodie
kaum kenntlich. Die Harmonie bewegt sich im engen Umkreis
weniger Formeln und zeigt stellenweise grosse Unbeholfenheit,
ja in den Accordfolgen zuweilen wahre Atrocitäten, die man
nicht einmal mit der „Kindheit der Kunst44 entschuldigen kann,
weil einfach ein unverbildetes Gehör genügt haben würde, sie
zu vermeiden. Der Pathos der Rede hat etwas von der Emphase
eines schlechten Predigers, ja gelegentlich etwas an Nacht-
wächtergesang Mahnendes. Weder Erfindung, noch Schönheit.
Es ist ein unaufhörliches hölzernes Sylbengeklapper. Die Chöre
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278
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
sehen aus wie Falsibordoni ; Dreiklang nach Dreiklang, meist
Stammaccorde , allenfalls dazwischen ein Sext- oder Quartsext-
accord, bei Cadenzen auch wohl die Septime als Vorhalt auf dem
Dreiklang der zweiten Stufe yor dem Subsemitonium , wo dann
der Quintsextaccord des Doininantseptimenaccordes den Schluss
vorbereitet (z. B. fra£). Die Accorde sind oft übel verbunden —
. Für unleidliche Stellen dieser Art
•
und für die gräulichsten Querstände hat Emilio kein Ohr. Offen-
bare Octav- und Quintparallelen vermeidet er indessen. Die
Deklamation folgt auch in den Chören auf das Genaueste den
Textworten. Dem Chore „fate festa al Signore" hat sich indessen
Emilio bemüht, festlichen Glanz und freudigen Schwung zu
geben; freilich ist es aber auch hier beim guten Willen ge-
blieben. Im ganzen Werke taucht ein einziges Mal etwas auf,
was einer Arie, einer cantabel gemeinten Melodie wie von W eitern
ähnlich sieht — aber auch hier ohne Gestalt noch Schöne, unge-
schickt in der Harmonie wie in der Melodie steif und leblos.
Dass Emilio die schlechte Wirkung der wiederholt vorkommenden
verdeckten Quinten nicht hört, kann nicht Wunder nehmen;
überhört er doch sonst oft genug noch Schlimmeres. Dem Worte
wird aber wiederum so kleinlich genau Rechnung getragen, dass
z. B. das im Texte vorkommende Wort „Sospiri" eigens illustrirt
wird ; von wirklichem Ausdruck aber hat Emilio so wenig eine Idee,
dass er gerade dort, wo vom „Riso lieto" die Rede ist, eine ver-
düsternde Wendung nach Moll macht.
l'Intelletto.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 279
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Ist nun aber das Werk auch trostlos wie eine dürre Haide,
wo keine Blume blüht, kein Baum Schatten giebt, kein er-
frischender Quell sprudelt, so darf man dennoch einen wichtigen
Umstand ja nicht übersehen: während Peri und Caccini den
Text eines wirklichen und echten Dichters zu componiren hatten,
welcher zugleich mit seinem edlen Wohllaut auch die Sprache
der Empfindung bis zur leidenschaftlichsten Erregung redet —
lag Emilio ob, die versifizirte Prosa (denn „Poesie" darf man hier
nicht sagen), die moralisirenden Sentenzen, die erbaulichen Re-
flexionen der Signora Laura in Musik zu setzen. Daran wäre
wohl auch ein ungleich grösseres Talent, als Emilio, und eine
ausgebildetere Kunst, als die seine, gescheitert! An die Euridice
der beiden Florentiner darf man denn also doch noch immer die
Forderung als an ein wirkliches Kunstwerk stellen, an Emilio's
Tanima e'l corpo aber nicht. Den Werth, den letzteres Werk
beanspruchen darf, giebt ihm blos die Stelle, welche es in der
Geschichte der dramatischen Musik einnimmt. Wäre Emilio
wirklich das, was er nicht war, gewesen, hätte er zuerst die
Idee eines recitirenden Musikstyls gefasst: dann dürften wir ihn,
sein Werk möchte aussehen, wie es wollte, als den „homme de
genie" begrüssen, als welchen ihn der für ihn ganz ungewöhnlich
begeisterte Fetis bezeichnet. Wie aber die Sachen stehen, müssen
280 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
wir Bedenken tragen, ihm selbst auch nur ein glückliches Talent
zuzugestehen. Er war ein geistreicher Kopf, fein gebildet, er
hatte sogar seine eingehenden musikalischen Studien gemacht,
aber er war und blieb der vornehme Herr am Hofe, den es so
gut wie den Grafen Bardi dilettirte, auch Musik zu componiren.
Er nahm die Sache übrigens nichts weniger als flüchtig oder
obenhin, vielmehr nahm er sich, wenn er einmal ans Componiren
ging, zusammen, sein Bestes zu geben, es so gut und besser zu
machen, als die Andern. Aber das Genre, an das sich Emilio
gewiesen sah, war zuerst ein ausgearteter, verflachter Madrigal-
styl, Decorationsmusik für Hoffeste, und später der neu auftau-
chende, in seinen Mitteln noch unsichere und unbeholfene recitireude
Musikstyl. Hätte Emilio hundert Jahre früher oder hundert Jahre
später gelebt, so hätte für ihn eine oben in Blüte stehende Kunst,
die Meisterwerk nach Meisterwerk brachte, gethan, was sie sonst
für so viele begabte Dilettanten seiner Art that: sie hätte „für
ihn gedichtet und gedacht" und ihm wäre vielleicht Manches ge-
lungen, was an sich erfreulich zu wirken vermocht hätte. Jeden-
falls aber hatte er die Freude, glänzende Erfolge zu erleben, und
auch die „Rapprescntazione dcll' anima et di corpo" muss in
Korn 'schon um der Neuheit der Sache willen) einen bedeuten-
den Eindruck zurückgelassen haben. Denn schon sechs Jahre
später sehen wir dort Agostino Agazzari mit einem Werke
hervortreten, welches ein Nachhall jenes früheren, nur in seinem
Umfang und seinen Mitteln sehr viel bescheidener ist. Genau
genommen stellt es eine Art Transaction zwischen dem floren-
tiner antikisirenden Götter- und Schäferspiel und der römischen
theologisirend-moralisircnden allegorischen Rappresentazione vor.
Es ist ein Schuldrama mit pädagogischer Endabsicht. Man kann
Agazzari nichts weniger als den Vorwurf machen, er sei etwa
kein durch und durch gebildeter Musiker gewesen. Aber die
Wahrheit zwingt uns zu gestehen, dass er auf dem Boden des
neuen Stile rappresentativo seine Sache ganz und gar nicht besser
gemacht hat, als Emilio — oder vielmehr, dass Emilio's „lanima
e *1 corpo" neben Agazzari's „Eumelio" beinahe noch das Aus-
sehen eines Werkes von Bedeutung annimmt.
Der vollständige Titel lautet: Eumelio, dramma paslorale
rt'citalo in Roma nel seminario romano ne i yiorni del camovale,
von le musiche delC Armonico inlronato; Lanno 1606. Sovamente
posto in luce. In Vetiezia, appresso Ricciardo Amadino MDCYI. ')
1) Folio. 36 Seiten. Ein Exemplar in der Musiksanimlung der
Chiesa nuova (S. Blaria in Valiicella) zu Rom. Fetis (ad v. Agazzari)
könnt das Werk nicht. Eben so wonig Beeker. In der Dedicationsvorrede
widmete er (Agazzari) es dvm ,,illustnssimo Siguore e padron, mio colen-
dissimo il Signor Don Podro d'Arragona.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 281
Agazzari bezeichnet es ausdrücklich als ein dramma pa-
storale, das er über Aufforderung des Don Pedro d'Arragona
und anderer vornehmer Kunstfreunde binnen der kurzen Frist
von nur fünfzehn Tagen componirt habe. *) Die Handlung ist,
trotz des ziemlich zahlreichen Personals, 2) eine sehr einfache,
die Musik ist es nicht minder , ihr Styl erinnert an Emil in del
Cavaliere's Drama. Nur dass, noch viel ärmlicher, die Chöre
bloss im Unisono gesetzt sind. Vermuthlich war den Zöglingen
im Seminario Romano ein Mehreres nicht zuzumuthen.
Aus den einzelnen „Arien" ist etwas wie die richtige Ah-
nimg einer ordentlichen, liedmässigen , wohlgegliederten, harmo-
nisch wohl geleiteten Melodie herauszufühlen, aber allerdings einst-
weilen nur ungefähr so, wie aus einem vom Bildhauer erst aus
dem Gröbsten bearbeiteten Steinblock , der sich weiterhin zur
Gestalt runden und formen soll, die Figur nur erst roh und kaum
errathbar herausblickt. Die Begleitung das Gesanges ist ein ein-
facher Bass. Die Deklamation ist bis in's Kleinste hinein sorgsam,
aber höchst steif und monoton. Die Handlung wird von Apoll
eröffnet, der seinen Sohn Eumelio (den „Schönsingenden44) in die
idyllische Einsamkeit eines arkadischen Haines einführt ; da solle
er bleiben und aus der Natur Ruhe und Freude schöpfen. . Eu-
1) Was er in der Vorrede darüber sagt, ist zu bezeichnend für die
Zeit, um es hier nicht mit Agazzari's eigenen Worten wiederzugeben; er
wolle, sagt er, „rispondere brovemente a qualche oppositione, che tal volta
vien fatta da qualche critico otioso, e da quelli, cne per saper mono degl'
altrui, pin parlano, e sempre senza addurre ragioni, la quäl cosa da Ari-
stotele e detta stolta. Dico adunque, ch' io ritrovandomi in Roma nel
seminario fui persuaso un mese avanti il carnovale per trattenimento
private di quella nobilissima gioventii metter in musica questo dramma,
quäle, se non per altro, mi piacijue per la bella et utile Allegoria, ch' io
vi scor^eva. in spatio di quindici giorni per la brevita del tempo
composi. corne qui apparisce, e nel medesimo tempo fü imparato e reci-
tato piü voite nello stesso seminario alla presenza di molti Illustrissimi
Et se ad alcun paresse stranio il non haver io variate tutte
l'arie di tutte le parole, questo ho fatto, e per brevita e per maggior
commodita di chi altrove lo volesse recitare, et anco per non haver io
trovato ragione alcuna, perche si debbi variar sempre rare d'uno stesso
personaggio, non mutando egli le rime, eccettuata perö l'occasione della
diversita de motivi et affetti contrati, dovendosi allora aecomodar il com-
positor all' affetto. Sovienmi anchora, che non credo che gl' antichi Mu-
sici nelle Commedie et Tragedie loro facesser questo, non che Omero,
cantando il suo poema nella lira cambiasse sempre diverse arie" u. s. w.
Die Berufung auf Aristoteles und Homer ist so charakteristisch, wie die
Hinweisung auf das Vorbild der antiken Comödie und Tragödie und wie
die kloinen Auseinandersetzungen über die wahre Art musikalische Dra-
men zu componiren.
2) Die Interlocutori sind: Apolline, Mercurio, Eumelio, Plutone, Ca-
ronte, Eaco, Minos, Radamanto, Corbante nunzio, Mansilo pastore, Coro
d \*itij, Coro de pasturi.
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282
Dio Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
melio besingt die Wälder, die er nicht um goldene Paläste tau-
schen möchte:
Eumelio.
-* —
3
— , r
sei - ve be - a - te a miei hor-
Ca - re
-# #-
t
-& &
ro - ri, vo-stra stan-za gen-til non cange -
i_
■JtxL
re - i
CO'
e - Ii - si al - ber - go a se - mi - de - i, per
HE
cui real pallagi spreg-gio e gl'o-ri.
5
Ritornello.
3<r-
1
r
(2) Oui non pinte colonne o aureo solo
Ma in Iör vece un abete et un cipresso,
Un antro frcsco, e la chiar'onda appresso,
Donde in Parnasso poetando volo.
(3) Se giova il crin' haver di gemme adorno
Epalagi habitar freriati d oro
Ela matoria vinea il bei lavoro
E servi e fanti rimirar d'intorno.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 283
(4) S'egli poi senro di piü vil catena
De 8uoi vani pensier fatto soggetto
E di furie infernal sozzo ricetto
L'impura vita miserabil mena.
Bei der fünften Strophe mischt sich das Echo ein, — die
beliebte Spielerei der Echoantworten, wobei Ruf und antwortende
Schlusssilben je eine andere Bedeutung haben.
(5) Piamma del ciel pria m'arda ch'io consonti
La cetra serra ad dio, privo di lume
Ch' il cieco volgo inganna col sno
* Ecco
* 0
rrt
nume il ciel ammorba e gl' e - - le
menti.
Menti.
■->-
5
Eumelio redet die Nymphe Echo an, welche ihn fortwährend
mit Antworten neckt, deren bedenklicher Sinn zu der idealen
Weltanschauung des jungen Poeten gar nicht passen will; ja,
das Gespräch wird beinahe zum Wortstreit:
„ » -z
iE
Conche farai questo for-te pet - to e miei pen-sier
-J I J
tanto di-ver
si? Ver
81.
I
4-
Eumelio.
-r
3=
Co'
versi a Febo sacri per cui spo-ro ri-por-
m
\
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284 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
tar im-mor-tal al - lo
■JL
1]
Ecco.
Eumelio.
— i +-
I/o
to. Quando canterö forseil tuo Tan
nume? mai sara ch'in me allog
l\cco.
Ifliltefitil
Eumelio.
-
gi! 0
333
poni a tanto
ca - so et tanta mu-
3
3:
Ecco.
tation
di - mora?
0 - ra!
2§E
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
2S5
Das Echo -Orakel erweist sich mit seinem Schlussworte so
zweideutig und trüglich, wie alle Orakel — „Ora" kann eine Er-
mahnung au Eumelio sein, im Gebete Hilfe zu suchen — C.ora",
von „orare", beten); oder es kann auch heissen, die von der Nymphe
prophezeite Aenderung werde sofort eintreten — („ora" „jetzt" \
Die nächste Szene zeigt, dass Echo das letztere meint und nur
zu wahr gesprochen hat. Ein Doppelchor von Lastern, Sopran-
stimmen der eine, Tenore der andere, tritt auf und liest dem
jungen, unpraktischen Schwärmer den Text:
Coro
primo
Gio-va - net - to a checon - cor - de l'auree
1
II
E
_l
corde
la tua man dolce per - coto
sogni
e-
-9 — 0-
5=f
1
e fan - ta - sio et ombre rie, quel che
— i I \-
^3
± — ±
Coro secondo
canti
in dolci note
-~4—:-0
le virtu 9on ite in
•9 — r
£3
1
Mi
-0h
m
ban - do van - no erran-do nu - de e sen - za com - pa-
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286 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
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gio - ra-
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vi -
a. *
#
1 — — i —
— i
- —
-
V
—
2.
I. Hör cho sei ne piü verd'anni
Ahi, t'inganni
Se 1' eta non godi intera
Mentre son nel' prato odori
Cogli fiori
Godi lieta priraavera.
II. Lasci pur rolle garzone
Secca tenzone
Quel ch' Apollo insegna in vano
Canta pur diletti e gioie
Via le noie
Stondi a nie amica mano
3.
L Se sapesti, che piacero
E godero
Giorno e notte in festa e giuoco
Certo, certo, che direste:
Gioe e feste
Fan beato in ogni loco.
II. Canti solo in queste selvo
Canti a belve
Ne si stima il tuo valore;
Megli'j vieni. ove fra linte
Dive Ninfe
Ti faranno eterno honore.
4.
I. O, se vuoi ricchi palagi
Con milT agi
Non ti niancherann' altrove
Lascia gl' antri. lascia i boschi
Neri o I'oschi
Credi a Febo nien ch' a Giove.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 2g7
II. Giove gode e vuol godere
Suo piacere
Onde e prencipe del ciolo,
Febo spesso in rozzi panni
Prova 1 danni
Che Ii fa la neve e'l gelo.
Der satirische Ausfall des zweiten Chores auf die Bettelpoe-
ten fällt zwar aus dem mythologischen Tone des Ganzen, ist aber
sonst lustig genug; die Laster schliessen ihren Gesang mit fol-
gender Nutzanwendung:
Lascia dunmie, s'hai cervello,
Lascia quello
Che ti toplie un bei diletto;
Vieni in no.stra compagnia
Hur f in via.
Vieni. e godi a suo dispetto.
Der verblendete Eumelio lässt sich das nicht vergebens ge-
sagt sein, er ruft:
0 0t... f 01.
=^
M= —
5
len-1
£=* f-
;o al cor un dol
-CO
fo-co a po - co a
po - co chem'in-
« \-
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*
L i
-s — H h-i
-1- d
—
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tut - to il pet
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— J — -1 »»
- to in niez-zo al
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-0 0'- —B —
CO -
re,
ahi, do - lo
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- re
ch a - ma -
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gia o - gni (ü-
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Coro.
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•>SS Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Aber die Sache bekommt ihm sehr übel. Er wird auf Straf-
station zu Pluto in den Orcus gesteckt. Aus diesem Carcer wird
der junge Student endlich auf Fürbitte und durch Verwendung
seines Vaters Apoll erlöst, gelobt Besserung, und alles nimmt ein
fröhliches Ende.
Unvergleichlich bedeutender als Agazzari's Schuldrama, ja
selbst gegen Peri und Caccini ein nicht zu verkennender Fort-
schritt, ist die Composition Marco's da Gagliano zur „Dame" des
Rinuccini. Abermals war es eine fürstliche Hochzeit, welche den
Anlass bot — der Sohn Vincenzo Gonzaga's, des Herzogs von
Mantua, vermalte sich 1607 mit der Infantin von Savoyen. Ri-
nuccini hatte sein Gedicht für die festliche Gelegenheit sogar
theilweise umgearbeitet, und Marco da Gagliano war aufgefordert
worden, es in Musik zu setzen. ')
Der Tonsetzer, mit seinem vollen Namen Marco di Zanobi
da Gagliano, gehörte einer vornehmen florentinischen Familie
an — als Mitglied der Accademia degl' elevati in Florenz führte
er den Namen : „FafTannato", auf den er Werth gelegt zu haben
scheint, da er ihn auf dem Titel blatte seiner Dame eigens nennt.
Er war Canonicus von S. Lorenzo; sein Musiklehrer war ein an-
derer Canonicus dieser Kirche und grossherzoglicher Kapellmeister,
Luca Bati, seinerseits Schüler des Francesco Corteccia. Luca Bati
hat unter Anderm die (nicht mehr vorhandene) Musik zu einem
echt Florentinischen Spectakel componirt — am 26. Februar 1 595
erschien ein prächtiger Maskenzug von IS berittenen Paaren,
ein jedes von vier Stallmeistern begleitet, in den Strassen von
Florenz unter dem Programm-Titel ,.le flamme di amore" —
dabei ein Wagen mit Sängern und Jnstrumentalisten. 2) Im Jahre
1602 ernannte das Domcapitel von S. Lorenzo den Marco da
Gagliano zu seinem Kapellmeister. Marco's Compositionen fingen
an, entschiedenen Beifall zu finden — besonders erfreuten sich
zwei Gesangstücke grosser Gunst: „bei pastor del cui bei guardo"
und „eeco solinga delle selve amicau. 3) Auch als Kirchencom-
ponist war Marco thätig; 1579 erschien bei Angelo Gardano in
Venedig ein Buch fünfstimmiger Messen , im folgenden Jahre
1) liitrovandomi il carnoval passato in Mantova, chiamato da ouella
Altezza per onoranni, servendosi di me nelle rousiche da farsi per le re-
ali nozze del Serenissimo Principe suo figliulo e della Serenissinia In-
fanta di Savoia u. s. w., la Dafne del Sign. Ottavio Rinuccini da
lui con tale occasione aecresciuta ed abbeliita. fui impieghato a metterla
in niusica, il che io feci u. s. w. (Vorrede der Dafne).
2) Vergl die Mittheilung darüber, welche Adrian de la Fage nach
einem Manuscript des 17. Jahrhunderts in der Magliabecchiana gemacht
hat: Gazetta inusicale di Milano. Jahrgang 6, Nr. 22.
3) So erzählt der Florentiner Arzt Lorenzo Parisi. ein Zeitgenosse
Marco's, in einem seiner Dialoge. Wir verdanken diese Notizen den Mit-
theilungen Luigi Picchiantis t,(3az. mus. di Mit., Jahrgang 1&44. Nr. I)
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 289
ebenda: „Responsorij della settimana santa a quattro voci" — und
eben so auch 1630 bei Bartolomeo Magni in Venedig Responso-
rien, welche sich lange in Ansehen erhielten, — sie wurden, wie
Luigi Picchianti mittheilt, noch zu Anfang dieses Jahrhunderls
in St. Lorenzo zu Florenz gesungen.
Dafne trug dem Tonsetzer wohl den reichsten Beifall ein —
denn er selbst erzählt vom „inestimabil diletto, che ne prese non
pure il popolo ma i Principi e Cavalieri e i piü elevati ingegni",
was er indessen bescheidener Weise vorzugsweise der vortreff-
lichen Inscenirung und Aufführung zuschreibt. Er erlebte jedoch
auch den Verdruss, von Muzio d'Effrem (seit 1622 Kapellmeister
des Herzogs von Mantua) allerlei versteckte Angriffe zu erfahren,
über die er sich in einem offenen Briefe „ai lettori" beklagte,
welchen er seinem sechsten Buche fünfstimmiger Madrigale (1617)
voranstellte. Muzio d'Effrem antwortete erst volle fünf Jahre
später, da aber sehr gründlich. Er gab 1622 ein Werk unter
dem Titel heraus: Censure di Mutio Effrem sopra il sesto libro
de Madrigali di Messere Marco da Gagliano, maestro di Cappella
della cattedrale di Fiorenza. Das erste Blatt bringt einen Wie-
derabdruck jenes Briefes, welchem Effirem ein höchst nachdrück-
liches Antwortschreiben folgen lässt: er werde die Unwissenheit
seine* Gegners aller Welt vor Augen legen. Und nun folgen
die Madrigale Gagliano's, aber von Effrem mit Commentaren und
Randanmerkungen ausgestattet, worin er die Verstösse gegen
Rhythmus, Harmonie u. s. w. rügt. Gagliano überlebte diesen
Verdruss lange genug — er starb am 24. Februar 1642; die
Todtenfeier des Capitels für ihn fand zwei Tage später statt. 1 v
Das Interessanteste ist für uns unter den Werken Gagliano's
unbedingt seine „Dafne". '-) Die ungemein lange Vorrede ins-
besondere enthält eine Menge höchst anziehender Notizen und
Bemerkungen. 3)
Gagliano hatte eine gefährliche Concurrenz zu bestehen —
die andere Fest- und Vermäluugsoper war „Arianna" , welche
der vom Herzoge eigens nach Mantua eingeladene Rinuccini für
die Feier gedichtet, welche der herzogliche Kapellmeister Claudio
Monteverde in Musik gesetzt und welche in ihren rührenden
Szenen die Zuhörer zu Thränen bewegt hatte. *) Unter den
1) Picchianti a. a. 0.
2) Ein Exemplar (welehes ich benutzt habe) besitzt das Musikarchiv
der „Chiesa nuova" in Rom — ein zweites die k. Bibliothek in Berlin.
3) E. 0. Lindner hat in seinem Buche „Zur Tonkunst" übersetzungs-
weise sehr bedeutende Auszüge gebracht. Eben so J. L. Klein, Gesch.
des Drama' s V, S. 533. Die Vorrede enthält sehr eingehende Vorschrif-
ten für die Scenirung, für die Art. wie der Chor sich aufzustellen, wie
er zu agiren hat u. s. w.
4) Tra molte ammirabili feste, che da Sna Altezza furon Ordinate
nelle süperbe nozze del Serenissimo Principe suo figliulo e della Serenis-
Aabrot, Geschichte der Musik IV, 19
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290
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Mitwirkenden in Gagliano's Oper treffen wir unsere alten Bekann-
ten, den Arctiner Francesco Kasi (mantuanischen Hofsänger; als
Apollo und Signora Caterina Martineiii, von welcher Gagliano
nicht genug Gutes zu sagen weiss, als Daf'ue.
Gagliano ist nicht blos der Geburt nach Florentiner, er ist
es auch als Musiker. Als entschiedener Fortschritt ist aber vor
allem die geregeltere, freier entwickelte Melodiebildung anzuer-
kennen — Gagliano empfindet schon ganz richtig die Notwen-
digkeit, eine Melodie regelmässig und symmetrisch als Periode
mit Vordersatz und einem diesem Vordersatze entsprechenden
Nachsatz zu bilden. 60 darf von diesem Standpunkt aus folgen-
des Sätzchen aus der Szene, wo die Hirten um Schutz gegen
den Drachen flehen, ganz tadellos heissen; man erkennt ein be-
«timmtes, dem Ganzen zu Grunde liegendes Motiv u. s. w.
Pastore del Coro.
8Ü, tra l'au- rei chio-stri, po - te im cor tro-var
ce, odi U piau - to e pre - ghi no - stri, ö del ciel
> $
mm r '
1 —
?
Mo - nar- ca e Ee.
sima lnfauta di Savoia, volle che si rappresentasso una favola in musica,
e queata fü l'Arianua, composta per tale occasione dal Signor Ottavio
Kiuuccini, che il Signor Duea a quello fine fece venire in Mantova, il
Sign. Claudio Mouteverde . Musico eeh-bratissimo, capo della musica di
Sua Altezza, compose l'Arit* in modo si esquisito, che si puö con verita
an'ermare, che a\ riuovasse il prngio doli' antica musica, percioche visi-
bilmente messe tutto il teatro a la^rime (Vorrede der Dame). Man sieht
beilauiig, wie weit sich der Ruhm der Florentiner bereits verbreitet hatte.
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I
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 291
*
Coro.
Odi il pian - to e pre-ghi no-stri, 6 del ciel Mo-nar-cae R<\
J I ,
Odi etc. (NB. Im Original ist die tiefere Sl im nie im Tonorschlüssel
geschrieben.)
Odi etc.
Der würdige Ausdruck dieses Gebetes, die einfach schöne
Wirkung des antwortenden vollen Chores (die nur leider im zwei-
ten Takt durch den äusserst herben Querstand arg leidet) ist für
jene Frühzeiten bemerkenswerth. Von dem Gesänge der Daphne:
,,Chi da lacci d'amore vivc disciolto" bemerkt Fdtis : „j'ai eV;
trappe* de la melodie naive et pleine d'expression". Diese Me-
lodÜe rührt jedoch nicht von Gagliano her, sie ist Composition
eines nicht genannten Akademikers, von dem auch die Gesänge
Apollous „Pur giace estinta fera al fine", „un guardo, un guardo
appena" und „non chiami mille volte il tuo nome" componirt
sind. Gagliano bemerkt es („per non usurpare le lodi dovute
ad altri e arricchirmi quasi cornacchia d'altrui penne") in der Vor-
rede ausdrücklich und fügt bescheiden hinzu: „le quali arie lam-
peggiano tra l'altre mie come stelle; souo composizione d'uno de
nostri principali accademici, gran protettore della musica e grande
d'intenditore d'essa". (Also wiederum ein distinguirter Dilettant,
der seine Compositioncn unter fremder Firma in die Welt schickt,
wie früher Jacopo Corsi seine Arien in eben dieser Daphne-Dich-
tung unter Peri's Namen! Erwägt man aber, wie ganz arglos
es die Componisten gelten lassen, so erscheint auch Caccini's
Eingreifen in die Euridice seines Kunstgenossen Peri in einem
milden Licht.) Im Ganzen kann man von Gagliano's Dafne sa-
gen, dass ihr zwar die Schwere der ersten Versuche noch recht
fühlbar in den Gliedern liegt, trotzdem aber die Bewegung zu-
weilen merkwürdig frei wird. Jedenfalls ist sie für die Beur-
theilung der raschen Entwickelung der dramatischen Musik ein
wichtiges und interessantes Denkmal.
Gegen den Aufputz durch Coloraturen u. s. w. von Seiten
der Sänger verwahrt sich Gagliano lebhaft. Er wolle solche
Zierden zwar keineswegs entbehren, aber nur an rechter Stelle
19*
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292 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen W«rke.
sie angebracht wissen, wie in Apollo's Terzinen, wo der gute
Sänger vollauf Gelegenheit habe, sich zu zeigen:
Apollo.
GEB
Non cu - ri la mia pian - ta
r=fc— x
9te
sian' dal vi - vo
ral - do e-ter- ni pro - gi ne l'of-
I
f— fes
fen- da giani-raai IM - ra del cio
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 293
Da wäre nun wieder der wohlbekannte Florcntinische Colo-
raturzopf! Die drei Accorde, welche eine Art kurzen Ritornells
vorstellen, geben zu einer artigen Täuschung der Zuhörer An-
las«. Gagliano möge es selbst erzählen: „Non voglio anche ta-
cere, che dovendo Apollo nel canto de terzetti : non curi la mia
pianta o fiamma o gelo, recasi la lira al petto (il che debbe fare
un bell' attitudine) e necessario far apparire al teatro che dalla
lira d' Apollo esca melodia piü che ordinaria; perb pongansi quattro
suonatori de Viola (a braccio o gamba — poco rilieva) in una
dellc strade piü vicina in luogo dove non veduti dal popolo
veggano Apollo e secondo che egli pone l'arco su la lira suo-
nino le tre note scritte, avvertendo di tirare l'arcati pari, acciö
appariscano un arco solo: questo inganno non pub esserc cono-
sciuto, sc non per imaginazione da qualche intendente e reca
non poco diletto."
Gagliano's Recitativ ist auch schon viel beweglicher als das
seiner Vorgänger, es ist gut deklamirt und dem Ausdruck der
Hede angemessen, in einzelnen Wendungen sogar entschieden
glücklich. Die Erzählung des Hirten (oder Boten: „nunzio" —
dieses natürlich im Sinne des griechischen ayyeXog) Tirsis von
der Verwandlung Daphne's in einen Lorbeerbaum, ist von über-
raschender Wahrheit des Ausdruckes — und jedenfalls ist in
diesem echt dramatischen Stücke das Vorbild (der Botin Daphne
in der Euridice Erzählung vom Tode der letzteren) weit über-
treffen. Der Schrecken, der Schmerz, die Verwirrung, das Stau-
nen über das Unerhörte ist in den ersten Ausrufungen des Tir-
sis: „qual nuova maraviglia han veduto quegl' occhi — o sem-
piterni Dei!" u. s. w. trefflich ausgedrückt; die Stelle: „non senza
trar del core lagrime" u. s. w. ist voll zarter Empfindung — -
höchst wirksam weiterhin der wohlmotivirte Gebrauch einer chro-
matischen Fortschrcitung. Gagliano redet mit Begeisterung von
294
Dio Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
der Art, wie der Contralto Anton Brandi diese Erzählung vor-
trug. Wie viel bei dieser Art Musik auf den Vortrag ankommt,
erkennt Gagliano an dieser*Stelle ausdrücklich an. ') Neben so
ausgezeichneten Zügen läuft freilich Gleichgiltiges und Unbedeu-
tendes nebenher mit.
In Bologna treffen wir den neuen Styl schon 1610. Hie-
ronymus Giacobbi, in Bologna geboren, seit 1604 Vicekapell-
meister, später erster Kapellmeister bei St. Petronius, wo er bis
zu seinem am 30. November 1630 erfolgten Tode thätig war.
brachte 1610 eine „favola in musica" auf die Bühne, unter dem
Titel „Andromeda" — deren (wie es scheint gänzlicher) Verlust
um so mehr zu beklagen ist, als eine Arie des Perseus in Italien
grosse Berühmtheit erlangte und lange Zeit berühmt blieb. Ks
war dio Stelle, wo Perseus das Seeungethüm , von welchem An-
dromeda verschlungen werden soll, mit den Worten anruft; „io
ti sfido, o mostro infame". — Die energische Kraft in Khythmus
und Melodie, welche hier den Helden charakterisirte , riss die
Zeitgenossen zur Bewunderung hin.
Giacobbi ist nicht nur derjenige, welcher die neue Monodie
sofort mit Glück und Erfolg in Bologna einführte, sondern auch
der Ahnherr der nachmals so geachteten Bologner Musikgclehr-
ten und der eben so geprieseneu Bologner Gesangslehrer. Er
gründete 1622 die „Accademia de filomusi", welcher er zum
Wahlspruch den Hexameterschluss gab: „vocU dulcedine captanlki.
Leider war ihr eine Dauer von nur acht Jahren beschieden —
die fürchterliche Pest von 1630, an welche in Venedig die Kirche
della Salute, in der Pinakothek zu Bologna das schöne Votivbild
der füibittenden Patrone der Stadt von Guido Reni mahnt, nahm
den verdienstvollen Stifter weg und lichtete die Keinen der Aka-
demiker. Als Kapellmeister von S. Petronio war Giacobbi vor-
wiegend doch Kirchencomponist; viele seiner Compositionen die-
ser Richtung gingen aus P. Martinfs Nachlass in den Besitz der
Bibliothek von S. Francesco in Bologna über.
Venedig erhielt den „neuen Styl" erst durch Claudio di
Monte verde.
Florenz aber konnte auf seine Musikschöpfung stolz sein.
Wirklich wurde der neue monodische Styl, die dramatische Musik
von den Florentinern nicht ohne ein Selbstbewusstsein als „Flo-
rentinischer Musikstyl" in Anspruch genommen; seine Vertreter
l) Qui vorrei poter ritrarre al vivo come fu cantata dal Sign. An-
tonio Brandi, altrimente il Brandino, chiamato piü da quella Serenissinia
Altezza nelT occasione dello nozze, senza dirne altri avvertimenti, per
ciö ch'egli la cantü talmente, ch'io non crodo, che si possa desiderar piü,
la voce e di contralto esquisitissimo, la pronunzia e la grazia del can-
tare maravigliosa : ne solo vi fa intendere le parole, ma co' gesti e co*
movimenti par che v'imprima nell' animo un non so che d'avantaggio.
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
295
bildeten die „Florentiner Musikschule", für welche G. Ii. Doni
sogar auch Montcverde, der mit Florenz nichts zu schaffen hatte,
in Anspruch nimmt. *) Dass in Florenz die Aufführung der Dafne
und der Euridice nicht vereinzelte Experimente blieben, sondern
nachhaltig wirkten, zeigt eine gelegentliche Aeusserung des Ery-
thräus, — er spricht in seiner Pinakothek bei Gelegenheit der
Biographie des Sängers Vittorio Loreto von den „Theatervor-
stellungen", welche in Florenz oft mit grosser Pracht veranstaltet
wurden, wobei Loreto als jedesmaliger Darsteller der Hauptrollen
bei allen Leuten, welche Musik schätzen, den grössten Beifall
errang.2) Unter den dramatischen Musikwerken, welche man in
Florenz mit so grosser Pracht aufführte, befanden sich ganz zuver-
lässig Monteverde's ,,Orfeo" und „Arianna", denn Doni kennt beide
ganz genau und bringt auch wohl Notenexempel aus der unge-
druckt gebliebenen „Arianna". Dass er sie blos etwa in Mantua
bei jener fürstlichen Hochzeit gehört haben sollte, ist nicht wahr-
scheinlich. Eben so aber ist das bemerkenswerth, dass jene bei-
den Werke Monteverde's auf die einheimisch-florentinische Thea-
termusik in sehr bedeutender Weise bildend und fortbildend ein-
wirkten, wie ein 1625 aufgeführtes Werk ,,la liberazione dl Rug-
giero da l'isola d'Alcina" zeigt. Die CompositiOD dieser Ballet-
üper ist von Giulio Caccini's Tochter Francesca Caccini — oder
wie sie mit ihrem vollen Namen hicss Francesca Caccini nc
Signorini Malaspina — von den Florentinern aber auch wohl
kurz „la Cecchina4' genannt.
Francesca war ein Genie, sie hatte unverkennbar mehr „Musik
in sich selbst" als selbst ihr berühmter Vater. Sie gehörte übri-
gens auch zu den ersten Sängerinnen ihrer Zeit. Schülerin ihres
Vaters, der sie in einer seiner Vorreden mit Stolz nennt, erregte
sie die Bewunderung ihrer Zeitgenossen, wie G. B. Doni, Pietro
della Vallc. a) Neben ihrem Gesangs- und Compositionstalent war
sie auch Dichterin in toscanischer und lateinischer Sprache.
t) Quod si stylum, quem vocant Kecitativum, ac Monodicum pothi3
vocandum cense3, ad examen rovocemus, quid, quaeso, in Julio Caccinio,
in Jacobo Porio, in Claudio de Monteviridi (quos a politissima illa Flo-
rentiao schola prodiisse constat) tibi displicet? (G. Ii. Doni, de praest.
miiB. Yet. II. 8. 57.) Auch Pietro della Valle nennt den neuen Musik-
styl: „inusicho di Firenze*' (s. G. B. Doni, Opp. II. S. 351 ).
2) — a Cosmo, magno Ktruriae dueo simul auditus et probatus est.
et ab Octavio Donio, Florentino, qui illuc enm perduxerat, aeeeptus,
magno in pretio habitua, ac domi suae innutritus, ubi deinde, tum sua.
tum magistrorum diligentia, tantos profectus fecit, ut scenicis in ludis,
qui saepe Florentiae magniticentis9ima dabantur, in scenam producta*
primarum Semper partium actor, tantum commendationis habuit, ut apud
omnes gentes, ubi aliquis musicae arti honor habetur, celebre ejus noinen
et clarura exstiteret. (J. W. Erythraeus, Pinacoth. in Tita Victorii Loreti.)
3) Sin antem ad canendi peritiam atque snavitatem gradum facia-
4
296 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Wenn „Ruggiero's Befreiung" einerseits als die glückliche
Fortsetzung der Erstlingsversuche Peri's und Caccini's gelten
kann, so lässt sie andererseits aber auch schon erkennen, welcher
Umschwung bereits in der ganzen Bewegung eingetreten. Statt
eines antik-mythischen Stoffes ein romantischer, dem Ariost ent-
nommener, Verzauberungen , Entzauberungen. Die eingefügten
Ballette zu Fuss und zu Pferde behaupten gleiche, wenn nicht
grössere Wichtigkeit, wie Poesie und Composition. Die Dichtung
war von Ferdinand Saracinolli. *) Die Aufführung fand in dem
Lustschlosse Poggio imperiale (vor der Porta romana) zur Feier
der Anwesenheit des polnischen Fürsten Ladislaw Sigismund
statt; der Prolog ist sogar auf letztere eigens als Gelegenheits-
stück berechnet. Während in der Euridice, dem Orfeo, der Dafne
u. s. w. der Prolog nicht mehr ist als eine versifizirtc, von irgend
einer würdigen Maske (Musik, Tragödie, Ovid) musikalisch ge-
sungene Vorrede, erweitert er sich hier schon zu einer Art alle-
gorischen Festspieles mit verschiedenen (singenden) Interlocuto-
ren. Nach einer „Sinfonia" erscheint Neptun (Tenor) in Beglei-
tung von Flussgötteru und Göttinnen, unter ihnen Vistola (die
unis, quem tu veterum illorum, istis qui nunc Eomae vel maxime florent
(ne de prioribus loquar) aequaveris? Loreto, Malagigio, Niccoiinio, Ma-
rio? Et si forte mulieres etiam in hanc contentionem vocas, quaenam
invidia erit, vel Hadrianam, vel ipsius filiam Leonora m cum prisca illa
Sappho conferreV vel si praeter bene canendi laudem, insignem quoque
musicae peritiam ad rem quoque pertinere putas, Franciscam, paulo ante
a me laudati Caccinii filiam V (G. B. Doni, De praest. mus. vet. II. S. 57.)
Auch Pietro della Valle spricht in seinem Sendschreiben von Francesca
mit grösster Bewunderung: Taccio similmente della sorella della Signor
Adriana da me non conosciuta, la quäle intendo che in Germania, dove
fu chiamata a' Servizi dell Imperatore, fa grande onore a questa nostra
eta, e cosi anche della Signora Francesca Caccini, figliuola dair nostro
Romano, detta in Toscana la Cecchina, che in Firenze dove pure io in
mia gioventü la sentii, e per la musica tanto in cantare, quanto in coni-
porre, e per la poesia non meno latina, che toscana e stata molti anni in
grande ammirazione u. s. w.
1) Der Titel der Partitur lautet: „la liberazione di Ruggiero dall'
isola d'Alcina, Balletto, composto in musica dalla Francesca Caccini ne*
Signorini Malaspina, rappresentata nel Poggio imperiale, vüla della Se-
renissima Arciduehessa a Austria, gra(n) Dnchessa di Toseana al Sorenis-
simo Ladislao Sigismondo, Principe di Polonia e di Suezia. In Firenze
p. Pietro Cecconelli, 1628.*" — Die vom 4. Februar 1625 datirte Vorrede
ist als Dedikation an dio Grossherzogin Maria Magdalena gerichtet. Hier
wird auch der Dichter Ferdinand Saracinelli genannt. Er war Bailli von
Volterra ^balli di Volterra) und Chef der jrrossherzoglichen Musik. Fer-
ner wird bemorkt: „la Seena e le macchine furono del Signor Giulio
Parigi, il ballo a piedi e a cavalli del Signor Agnolo Ricci. — Das
äusserst seltene Werk ist in Rom in zwei Exemplaren zu finden — eines
besitzt die Bibliothek in S. Maria sopra Minerva (Casanatensis) , das an-
dere ist in der Musiksammlung der Chiesa nuova.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 297
Weichsel), welche, wie natürlich, den Mund mit Schmeicheleien
für den vornehmen polnischen Gast vollnimmt. Ein sechsstimmi-
ger Chor der Wassergötter „biondo Dio" wird von einem Duo
für zwei Soprane abgelöst, die dann bei Hinzutritt eines Tenors
ein Trio singen; dann Duo zweier Tenore; zum Schlüsse aber-
mals Chor der Wassergötter. Das sind also schon reiche For-
men und eine Abwechslung, gegen welche die ursprünglichen,
strophenweise und solo gesungenen Prologe gänzlich zurücktreten.
Nach einer zweiten „Sinfonia", welche in der gedruckten Parti-
tur nicht weniger als 14 Seiten klein Folio füllt, beginnt die
eigentliche Handlung, deren Stoff Ariost's „Orlando furioso" (VII.
39 — und VIII. 14 — ) entnommen ist. Wie Rinald in Armiden's
Gärten, weilt Held Ruggiero (Tenor) auf Alcinen's Zauberinsel,
als in schmachtende Liebe versunkener Weichling, und wird
durch Melissa (Alt) befreit — eben so werden die zu Pflanzen
u. s. w. verzauberten Damen und Ritter erlöst; das ist die ganze
Handlung, die an dramatischem Interesse nur äusserst wenig,
desto mehr aber der Schaulust bot. Melissa kündigt sich gleich
in der ersten Szene als Gegnerin der „perfida Alcina" an —
Alcina (Sopran) selbst introduzirt sich an der Spitze eines Cho-
res von sechs Fräuleins (sei damigelle). Drei davon begrüssen
im Trio Ruggiero als „servo d'amore". Szenen verlockenden
Zaubers folgen. Ein vorüberziehender Hirte, den ein Ritornell von
drei Flöten ankündigt fder Doppelgänger jenes früheren in der
Euridice), rührt durch seinen Gesang, in welchem er das Glück
der Liebe preist, Ruggiero's Herz: „o felice pastore, chi non
sente al tuo canto rinovellar al sen fiamma d'amore, ben ha di
ghiaccio e di macigno il core!" Eine Sirene singt strophenweise
ein Lied: ,,chi nell fior di giovinezza vuol gioir d'alma dolcezza"
u. s. w. Ruggiero fühlt sich jetzt vollends berückt und bestrickt:
„ö monti, ö piaggie, 6 selve, augei volanti e belve udite dolci
accenti, tacete fonti, e voi tacete 6 venti!" Aber schon naht
in der Maske des Zauberers Atlas, der einst Ruggiero zum Hel-
den gebildet, Melissa. „Ecco" ruft sie, „lora, ecco '1 punto, da
trar di servitii l'alto guerricro". Ruggiero ist über die Begegnung
nicht sonderlich erfreut: „qual importuna voce" u. s. w. Melissa
hält ihm, wie bei Ariost. eine lange Strafpredigt; er ist beschämt.
Ein kurzes, ernstes Ritornell, ausgeführt von 4 Violen, 4 Po-
saunen (Monteverde'sche Orchestrirung!), einem Organo di legno
und einem Instrumento di tasti, kündigt seine Sinnesänderung
an: „o miserabil vita!" ruft er. Jetzt fleht auch der Chor der
bezauberten Pflanzen um Rettung: „0 quanto merto, quanta lode
havrai, se acqueti il nostro pianto". Da ruft eine der bezauberten
Pflanzen: „lasso, qual visto atroce si mostra" — Alcina eilt näm-
lich herbei, begleitet von ihren sechs Damen. Ruggiero weist sie
zurück, sie wüthet, sie ruft Ungeheuer (mostri) zur Rache auf.
298 Wo ^eit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Wirklich erscheinen diese; ein Ungeheuer commandirt: „fieri mostri
deir empia Üite, assalitc, dimostrate, come punir san' le vostre
ire, chi non ha". Fünfstimmiger Chor der Ungeheuer, begleitet
von einem Basso continuo. Aber schon tritt Melissa in ihrer
eigenen Gestalt auf, begleitet von Astolf von England, der auf
Alcinen's Insel (wie wir aus Ariost wissen) in eine Myrtbe ver-
zaubert gewesen. „Infernal mostri itene a neri chiostri!" Alcina
ist überwunden und flieht Die ,.Damen", die sich bisher als
Ziergewachse im Zaubergarten nicht zum besten befanden, werden
entzaubert und tanzen („qui viene il hallo di otto dame della Se-
ren. Arciduchessa con otto Cavalieri principali , e fanno un ballo
nobilissimo"). Eine ,,dama disincantata" bittet um Erlösung auch
der gefangenen Ritter. Melissa ruft: „su dunque, alti guerrieri,
uscite a consolar le belle amate, lieti seco danzate, poi, quand»
tempo 6a, al suou d'alta armouia sopra i destri cavalli rinovate
i balli" (qui si liberanno i Cavalieri, riconoscono le dame loro, e
seguitano il ballo). Nach einem sechsstimmigen Chor folgte ein
glänzendes Ballet, dann ritten 24 vornehme Herren vom Hof ein
Ballet zu Pferde (ein im 17. Jahrhundert bei den Höfen sehr
beliebtes Spektakel), ein achtstimmiges Madrigal „Toschc, del
sol piu belle" u. s. w. schloss das Ganze. !)
1) Lo dame dol balletto furono: la Signora Eleonora Stmzzi
ne' Corboli, Lisabetta Giraldi ne' Pazzi, Lesa Den ne' Casteili, Sofia ne*
Castiglioni, Costanza Nerli ne' Kidolli, la Marchesa Margherita Malaspina
Dama di S. A. S., Ilaria di Videna Dama di S. A. S., Isabella Minucci
Daum di S. A. S. I Cavalieri che ballorno colle Dame: II Sig.
Marchese Francesco Coppoli. il S. M. Gio. Lorenzo Malaspina, il Sig.
Cosimo Bargelliui, il Barone Monsu Enrigo Montichi«T, il Sg. Cav. As-
canio dolla Penna, il Sig. Luigi Antinori, Tommaso Guidoni, Enrigo Cou-
cini. Cavalieri che recoro il ballo a Cavallo: il Sg. Marchese
Bartolomeo dal Monte, il Sg. Barone Giulio Vitelli, il Sg. Sali Niceolo
Giugni, il Sg. Tommaso de Medici. Francesco Nasi, Tommaso Capponi,
il Sg. Marchese Ruberto Capponi, il Sg. Marcbeso Francesco Coppoli, il
Sg. Cav. Camillo de Marchesi dal Monte, il Sg. Carlo Hinuccini, il Signor
Barone Monsu Enricho Montichier (auch zu Pferde? — Dieser „Signor
Monsu*' war augenscheinlich ein französischer Gast am Hofe und hiess
wohl Montiquier), il Sg Enrico Concini (war auch unter den Tänzern
„zu Fuss"), Alessandro Pucci, il Sg. Bar. Filippo del Nero, il Sg. Orazio
de Marchesi dal Monte, il Signor Gio. Corsi, il Signor Capitano Pietro
Brancadoro, il Sg. Barone Niceolo Orlich (auch ein Fremder; Ungar etwa?),
il Sg. Girolamo Gori Panel Ii ni. il Sg. Cav. Bartolomeo Consacchi, il Sg.
Ugo Binaldi, il Sg. Barone Alessandro del Nero, il Sg. Cosimo Riccardi,
il Sg. Cavalier Franc. Maria Guicciardini". Wie ein solches „Rossball et' 4
aussah, davon giobt ein Kupferstich eine Vorstellung, auf dem man ein
solches am 24. Januar 1667 auf dem Burgplatze in Wien zur Feier der
Vermälung Leopold I. mit der Infantin Margaretha gegebenes Schauspiel
in seiner ganzen Pracht, mit allen Schaugerüsten, riesigen Triumphwagen
u. s. w. abgebildet sieht. Dieses Festspiel hatte Francesco Sbarra an-
gegeben, die Musik dazu Anton Bertali componirt. Ein ähnliches Ballet
mit Reitern, Götter tragenden Triumphwagen, wie es zu Rom bei Ver-
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 299
Francesca aber hat mit der Composition , so sehr diese auch
die Physiognomie der Zeit trägt, ihrem ganz ungewöhnlichen Ta-
lent ein wahrhaft glänzendes Denkmal gesetzt. Man erkennt
musikalisch ganz deutlich noch die Familienzügo ihres Vaters
Oiulio, aber Francesca hat auch Monteverde sehr wohl und mit
grossem Nutzen studiert, ja sie repräsentirt sogar auch, wenig-
stens gegen den „Orfeo" ihres Vorbildes, schon wieder einen
fühlbar entwickelteren Standpunkt. Das Hirtcnlicd hat, trotz
einiger harmonischer Härten und jener eigentümlichen Phra-
sirang, wie sie den Melodieen des 17. Säculums eigen ist, doch
ganz guten Fluss, ist wirklich ein melodiöser Gesang. Die Arie
der Sirene zeigt ein glückliches Streben nach melodischem Reiz
und dazu den guten £infall, Strophe nach Strophe immer reicher
und recht elegant die Grundmelodie zu variiren. Die Kecitative
haben Bewegung, stellenweise sogar viel Ausdruck und sind bei
weitem nicht mehr so steif, wie die ersten Versuche vor einem
Vierteljahrhundert gewesen. Die Stelle, wo Kuggiero sein Ent-
zücken über den Gesang der Sirene ausdrückt, zeigt in den An-
rufungen der Wälder, Auen u. s. w. Wahrheit des Tones und
eine sehr wirksame Steigerung des Affektes. Francesca, die firme
Contrapunktistin, wagt es mit Glück, ein anmuthiges kleines Duo
zweier Soprane „aure volauti" zum Canon in der Quinte zu ge-
stalten, eine Form, welche ihr Vater für seine dramatische Musik
um keinen Preis angewendet haben würde — aus Grundsatz!
Die Kitornelle sind so gut wie irgendwelche von Monteverde,
gleichen ihnen auch im Styl. Das Dreiflötenstück hat den rich-
tigen idyllischen Klang und übertrifft das ähnliche von Pen.
Auch dass Francesca sich auf ein achtstimmiges Madrigal einlas-
sen durfte, dessen Tonsatz alles Lob verdient, ist ein Beweis un-
gewöhnlicher musikalischer Bildung. An Stelle der end- und
ziellosen Declamation, wie wir sie bei Peri und bei Caccini, Va-
ter, finden, treten bei Caccini's Tochter schon musikalisch be-
stimmte, geschlossene Formen in entschieden plastischer Ausprä-
gung hervor; ihre Arien haben eine schon ganz ansprechend ent-
wickelte Liedform, wir finden Duos, Trios n. s. w. Auch der
instrumentale Theil ist nicht mehr blos den Begleitern überlassen,
vielmehr nach Bedürfniss sorgsam, im Sinne und Geschmack
Monteverde's ausgeführt. Die Balletmusik war indessen nicht
von ihr, sondern eingelegt. Francesca hat ausserdem 1618 ein
mälung einer Nichte Urban VIII. zur Aufführung kam. zeigt ein Oelge-
m&lde im Palast Barberini. Dio Bitter sind höchst abenteuerlich her-
ausgeputzt und tragen insbesondere auf den Helmen wahrhaft enorme
FederDÜsche, die wie Gedern oder andere Riesenbäume, von Straussfedern
nachgeahmt, aussehen. Noch in Alessandro Scarlatti'sOper „Pompeo magno"
verherrlicht ein Pferdeballet den Triumph des Pompejus.
i
t
I
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300
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Buch Gesänge für eine und zwei Stimmen herausgegeben *), —
auch hier ist sie die treue, liebevolle, talentbegabte Nachfolgerin
ihres Vaters und seiner „Nuove musiche".
Die Zumuthung, einer ernsten Handlung und ernsten Musik
mit Antheil und Aufmerksamkeit zu folgen, mochte den hohen
Herrschaften, welche vor allen Dingen amüsirt sein wollten, mit-
unter nicht behagen — man fing also da und dort an, die in
Musik gesetzte Mythologie in Intermedien, wie in kleinen Con-
fectschüsselchen, zu serviren oder, völlig guckkastenartig, in dem
bunten Szenenwechsel von Quodlibets, in welche man am liebsten
die ganzen Metamorphosen des Ovid eingepackt hätte. So fand
in Mailand zü Ehren der Anwesenheit des Erzherzogs Albert
von Oesterreich und seiner Gemalin, der Infantin Donna Isabella,
eine solche Auffuhrung statt, bei welcher auch der Cardinallegat
Diatristano und der ganze Mailänder Adel als Publikum zugegen
war und welche der Tanzmeister Cesare Ncgri, genannt il Trom-
bone, in seinem Buche „Nuove invenzioni de balli" umständlich
beschreibt. Den Kern des Ganzen bildete ein Pastorale „Arme-
nia" — eine Dichtung des Giov. Batt. Visconti. Uns gehen hier
nur die Intermedien an, welche Camillo Schiafenati, ein Doctor
des Mailänder Collegiums, angegeben. Nachdem „la discordia
araorosa" aus einer Wolke getreten war und den Prolog recitirt
hatte und nachdem der erste Akt des Pastorais zu Ende war,
begann das erste Intermezzo, die vielbeliebte Geschichte des Or-
pheus. Er trat singend auf, wilde Thiere, Bäume, Felsen folgten
ihm, angelockt von der Süssigkeit seines Gesanges. Indem er
Euridicens Tod beklagte, liess ihn das Echo Antworten hören,
die ihn ermuntern sollten, die Verlorene aus dem Hades zu ho-
len. Jetzt erblickte man Pluto und Proserpina auf dem Thron,
die drei Höllcnrichter, die Furien, Sisyphus, Tantalus, Ixion ihre
Strafen leiden, an der Pforte Cerberus. Man sah die eliseischen
Felder, wohin Charon den Schatten der Euridice schiffte. „In
somma", sagt unser Tanzmeister, „tutte quelle cose rappresentate,
che si leggono nella descriptione dell' inferno fatta da Yirgilio,
da Ovidio e da altri poeti". Als Orpheus sich dem Verbot zu-
wider nach der wiedergewonnenen Euridice umsah, „venne" (wie
es im Berichte sehr naiv heisst) „di traverso '1 fato in habito di
diavolo e la riportb donde era partita". Orpheus stimmte einen
Klaggesang (miserabil canto) an ; Instrumentalmusik folgte,) welche
den Uebergaug zum zweiten Akt des Pastorale bildete. Das
zweite und dritte Intermedio behandelte die Abenteuer der Ar-
gonauten. Die Sirenen auf ihrem Felsen sangen einige Madri-
1) II primo libro deile musicho a una e due voci. Di Francesca
Caccini ne' Signorini. Dedicate all' Hlm0 e Reverend«11« Cardinale de
Medici. In Fiorenza nella Stamperia di Zanobi Pignonit 1618. — Das
einzige noch vorhandene Exemplar besitzt die Bibliothek in Moden».
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 301
gale, als sich die Schiffer näherten, suchten sie sie durch „Can-
zonetten voll süsser Melodie" (suavissima melodia) zu locken —
aber Orpheus stimmte im Schiffe ein Madrigal an, und die Sire-
nen entflohen beschämt. Es folgte die Gewinnung des goldenen
Vliesses, die Saat der Drachenzähne, das Aufspriessen bewaffneter
Männer, ihr Wechselmord u. s. w. Trompetenfanfaren und eine
Instrumentalsymphonie feierten das Gelingen des Abenteuers.
Das nächste Intermezzo schilderte den Streit Mincrva's mit Nep-
tun — Musik begleitete das Erscheinen beider Gottheiten —
Neptun im Muschelwagen von Seerossen gezogen, Minerva von
den allegorischen Figuren des Webens, Nähens und Stickens, von
Bellona, Victoria und der Gelehrsamkeit (dottrina) begleitet —
sämmtlich Sängerinnen. Beim Beginne des Wettstreites (in reci-
tirten Versen) öffnete sich der Himmel, man sah Jupiter als
Schiedsrichter thronen, neben ihm die andern Götter. Minerva
schlug den Erdboden und ein schöner Oelbaum sprosste auf.
Neptun liess ein Ross hervorspringen. Mercur (qual era eccellente
musico) brachte das Urtheil Jupiter s , welches für Minerva ent-
schied. Neptun recitirte Verse, welche seinen Unmuth ausdrück-
ten, Minerva und ihre Begleiterinnen Hessen einen Siegesgesang
hören. Zuletzt senkte sich eine Wolke nach der Breite der
Bühne herab, voll Musiker, welche auf Instrumenten spielten
und das Lob des Erzherzogs und der Infantin sangen — zugleich
öffnete sich der Himmel; man sah nochmals die olympischen
Götter, aber diesmal mit Instrumenten in der Haud, und es ent-
wickelte sich im Orchester des Olymps uud im Orchester unten
in der Wolke eine Doppelsymphonie, welche allgemeine Bewun-
derung erregte. Den Bcschluss machte ein Tanz (un bellissimo
brando, der dann in eine Gagliarda überging), ausgeführt von vier
Hirten und vier Nymphen. Negri hält es nicht der Mühe werth,
zu sagen, von wem die Musik zu all* dem componirt worden —
so sehr war sie Nebensache bei all' dem Schaugepränge geworden.
Aehnliche Aufführungen fanden auch an andern Orten statt.
So am 14. Februar 1616 zu Viterbo bei dem Markgrafen An-
drea Maidaichini (Bruder jener Olympia Maidaichini, welche spä-
ter Schwägerin Innocenz X. wurde und als Donna Olimpia Pam-
fili in Kom ) eine Aufführung von Intermedien unter dem Titel:
„Strali d'Amorc" — eine Keihe von Szenen im Style des neuen
Musikdrama — die Liebesgeschichte der Venus und des Mar9
und wie Vulcan beide im goldenen Netze fängt. Die Musik ist
das Werk eines sonst nicht weiter bekannten Giovanni Bos-
chetto-Boschetti (im Druck erschien das Werk 1618 bei Gia-
como Vincenti in Venedig) l). Die Musik, ganz im neuen Floren-
ponist Die Prager Universitätsbibliothek besitzt ein Exomplar. Signatur
XL B. 41.
1) Dieses Werk war bisher
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302 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
tiner Styl, aber ganz unbedeutend, bestellt aus lauter kleinen
Fragraentchen. Recht interessant ist das beigegebene ausführ-
liche Szenarium und die genaue, bis in's Einzelne gehende
Beschreibung der Decorationen und Costüme . welche eine klare
Anschauung über die Ausstattung solcher Aufführungen gibt. Die
Götter Griechenlands traten mit allen gehörigen Emblemen und
möglichst nackt, oder umgekehrt im brillantesten Costüme auf.
aber was sie redeten waren wohlgereimte Concetti, was sie Bangen
war die steife Kecitation des »Stile rappresentativo oder falsobor-
donartiger Chor, was sie tanzten waren Pas im Geschmacke Ce-
sare Negrfs, genannt il Trombone. Zwischen den Göttern trieben
sich abstrakte Begriffe, zu allegorischen Gestalten verkörpert,
herum und sangen und agirten nach Kräften mit — Alles im
Geschmacke der Zeit.
Das erste Intermedio dieser „Liebespfeile" versetzt uns in
Vulcan's Schmiede (la fucina di Vulcano) im Aetna. Weitläufige,
labyrinthische Felsenhölen, von vielfachen Feuern seltsam be-
leuchtet, durchzogen von Rauchwolken, durchtönt vom Klirren
und Schwirren der Hämmer, vom Sausen und Brausen der Blas-
bälge. Die Cyclopen, nackt, mit einem Fell gegürtet, drücken
(ohne Zweifel unter Begleitung rhythmischer Hammerschläge) in
einem Chore ihre Freude aus, dass Vulcan zum Götterschmiede
ernannt worden („essendo destinato Vulcano fabro delli dei").
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Faccia - si
3
f-rri-
gioia e le - ti - zia,
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
303
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l'aninio e'l co - re. da doglia e me - sti - zi - a,
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l'animo e'l coro da doglia e me - sti - zi - a.
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Plötzlich nimmt die Sache eine unerwartet schlimme Wen-
dung. Die der Musik vorangedruckte Favola erzählt: „essendo
destinato fabro delli dei et insuperbiato d' esser tenuto il primo
di quei tempi, anzi d' esser ammesso uel numero de Ii dei,
il che sentendo Giove con gran sdegno lo scaccia del cie-
lu4i. Der neuernannte olympische Hof- und Hufschmied, der
Plebejer, der Roturier, der hier gar nicht Jupiter's und Juno's
legitimer Sohn ist, nicht einmal ein natürlicher Sohn des „Vaters
der Götter und Menschen" und der sich, ohne hoffähig zu sein,
unter die olympischen Götter mischt, wird auf allerhöchsten Befehl
Jovis zum Palaste hinausgeworfen. Wctterstrahlen zucken,
Donner rollt, der vom Olymp gejagte Vulcan erscheint. Er ist
gleich den Cyclopen nackt, doch ist sein Ueberwurf von Silber-
stoff (cinto de pelli argentati). Er spricht seinen Unrauth in
einem Sologesänge aus:
Vulcano.
1 ' 0 '
0
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cio-lo, o
-
stel -
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le, o so -
le,
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1
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ranza etc.
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304 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Amor soll ihn rächen, er wird ihm Pfeile geben, welche
selbst den Göttern furchtbar werden sollen. Jetzt senkt sich
nämlich eine Wolke herab, sie öflnet sich und zeigt die zau-
berhafte Erscheinung Amors. Ein herrliches Gewand schürzt
ihn, an einem reich mit Perlen gestickten himmelblauen Bande
hängt an seiner Seite ein von Juwelen funkelnder Köcher, sei-
nen Hals umgibt ein Halsband von Edelsteiuen, seine Augen
eine kostbare Binde, an seine in hellen Farben' bunt schimmern-
den Flügel sind kostbare Steine wie Pfauenaugen befestigt,
sein Lockenkopf (zazzerata artifiziosamente inanellata) scheint
aus lauterem Golde zu bestehen. Seine Linke fuhrt einen
goldenen Bogen; sogar seine Fussbekleidung ist herrlich: er
trägt silberne Sandalen, in der Hälfte des Beines zeigen sich
kleine goldene Masken, von denen purpurne Draperien ausgehen
und das Bein umgeben. Er tritt aus der Wolke und wendet
sich zu seinem Vater Vulcan:
Amore.
Padro
di - letto e ca - ro,
4-
eeco il ttiofiglioA-
^3
-f— f-9-
V-k- k
mor, eeco il tao Di-o
e pronto a tue vendettee at de-
1
sir mio mo-vero il ciel' e l'u - ni-rer- so a pa - ro
m
Vulcan händigt dem geflügelten Sohne die Pfeile ein, dass
er ihn räche, wonach Amor unter „Instrumentalmusik" 'sie ist
nicht beigesetzt) entschwebt. Der arme Vulcan ahnt nicht, welche
schlimmen Folgen die Sache für ihn haben werde. Zunächst
schweben zwei Wolken von entgegengesetzten Seiten herein, die
eine davon bringt Venus mit den Grazien, auf der anderen zeigt
sich Mars, der Kriegsgott. (Auch das ist charakteristisch, dass
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
305
möglichst vermieden wird, die Personen einfach auftreten zu
lassen, sie kommen auf Flugwerken, steigen aus Versenkungen
u. s. w.). Venus, von blendender Schönheit, trägt ein lichtrothes
Oberkleid von Brokat, das nur bis zu den Knieen reicht, darunter
einen bis zu den Füssen reichenden Rock von geblümtem Silber-
stoff mit Goldbesatz. Von ihrem herrlich gelockten Haupte, das
einen aus Rosen und Seidenschleifen geflochtenen Kranz tragt,
wallt ein rosenfarbener Schleier auf ihren azurnen Mantel herab;
die blossen, von einigen Armbändern umwundenen Arme um-
hüllt ein dünner Flor wie eine leichte Nebelwolke; Edelstein-
schmuck bedeckt die Brust, von Edelsteinen schimmert der Gür-
tel. Sehr mythologisch ist das Costüme nicht ; aber desto male-
rischer und mit entschiedenem Farbensinne zusammengestellt.
Ganz polizeiwidrig „mythologisch" zeigen sich dagegen die Gra-
zien — • es sind drei reizende junge Mädchen, nur von dünnen
Schleiern bedeckt. Mars ist furchtbar-prächtig anzusehen, ein
glänzender Helm mit hellrothem Federbusch deckt sein Haupt,
sein Panzer scheint von Rubin gemacht (rothe Folie!), perlenbe-
setzte Scharlachstreifen ziehen sich über seinen Schurz von Sil-
berstoff herab, in Händen fuhrt er Speer und Schild. Die Gra-
zien begrüssen ihre Göttin mit einem Terzett:
Vaga De - a degPamori
Dafür bedankt sich Venus mit einem Wortspiele: „Grazie
del ciel divine, che grazie altrui voi date — grazie vi rendo, o
grazie tanto amateu. Jetzt tritt Amor herein, oder vielmehr er
kommt auf seiner Leibwolkc hereingeschwebt, und eingedenk
der väterlichen Weisung, seine Pfeile nur auf die „celesti
eori" zu richten, ersieht er sich den trotzigen Kriegsgott zum
Ambro«, Gcschichto der Musik. IV. 20
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306
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Opfer, nachdem er folgendes Sätzchen gesungen, aus dem fast
etwas wie die Disposition einer regelmässigen Melodie heraus-
klingt:
Amore.
=£.^a_4i — ä — *
m m 0 -
» r-
Ec - co quel dio guer-rie - ro ch'a ognunsi mo-stra fie - ro, hör
=t=t
— #
fr
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f — 4 — * — — *-
0'
* .
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-4-
4=
t t 1
=fc=
pro- va
que - sto stra-le
e
ce -
diaque-8to mio
brac-
p
=f=
±=*=^--
— ? k
Ü1
cio fa - ta - le.
-L
„Wehe mir", ruft Mars, „wer hat mir das Herz durchbohrt?"
Marte.
I
Hoi-me me-schin! chi m'ha tra- lit - to il co - reV
Die Wirkung zeigt sich, das Verstäuduiss zwischen Mars
und Venus ist schnell getroffen, sie beschliessen das dritte Inter-
mezzo mit dem kürzesten aller Duette.
Das vierte Intermezzo beginnt. Durch eine „wunderbare
Einrichtung" (maravigliosamente) steigt aus der Erde die Nacht,
mohnbekränzt, im Sternenmantel, mit bräunlichen Flügeln, ein
schwarzes und ein weisses Kind in den Armen. Neben ihr die
Ruhe (il riposo) als graugckleideter , langhaariger, langbärtiger.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 307
auf einen Stab gestützter Greis, einen im Neste stehenden Storch
auf dem Kopfe — das Vergessen (l'obblio) als nackter, geflügel-
ter, augenloser Jüngling mit einem Kukuk auf dem Kopfe —
das Schweigen (il silenzio) als in ein Wolfsfell gehüllter Alter,
dessen nackter Körper, wo er sichtbar wird, mit Augen bemalt
ist, endlich der Schlaf, in ein Dachsfell gekleidet, Trauben in
den Locken, Mohnköpfe in der Hand. Die Nacht kündigt sich
singend an und schlicsst mit den Worten:
perche o^ni mortal posi beato
tuffando in Lete ogn' angoscia o cura
onde la vita e dura.
Diese düster anzusehende Gruppe weicht endlich einer höchst
glänzenden Erscheinung: aus der Höhe senkt sich Aurora im
echarlachnen Oberkleid, in goldstoffenem Untergowand, mit Rosen
bekränzt, eine leuchtende Fackel in der Hand, je näher sie sich
herabsenkt, desto tiefer sinkt die Nacht mit ihrem unfreundlichen
Gefolge in die Erde und verschwindet endlich. Aurora singt,
ihr folgt Apoll, der dem betrogenen Ehemann Vulkan ein un-
willkommenes Licht aufsteckt:
Fabro delli dei non arossire •
Che il mal non vien da te, ma da tua diva
E cio per esser tanto laseiva
Che richie8ta aeconsente al primo dire.
Vulkan versichert, er wolle ein goldenes Netz verfertigen,
welches die Schuldigen unlösbar umstricken werde. Im fünften
und letzten Zwischenspiele tritt das Gerücht (la fama) auf, oder
zeigt sich vielmehr in einer über die Bühne hinschwebenden,
halbgeöffneten Wolke. Es ist mit Augen und Ohren bemalt
(statt, wie bei Shakespeare, mit Zungen) und hat eine Trompete
in der Hand. In einer Art (ungeschickten) Strophenliedes ver-
kündet es, wie Vulkan seinen listigen Anschlag ausgeführt habe.
Den Besehluss macht, nach all' den brillanten Schaustellungen
etwas ärmlich, Mercur; er singt ein Madrigal a voce sola, worin
er den Vulkan scharf tadelt : solche Scandalgcschichten müsse ein
kluger Ehemann hübsch geheim halten:
Per vendicarlo insano chiama a veder i rei
dalla leggo del ciel tutti i dei
Cosi talhur lo stolto per fuggire lieve colpa
d'un altra grave se stesso incolpa.
Sehr rasch hatte die Oper, wie man sieht, welche sich An-
fangs so hohe Ziele gesteckt, die Signatur erhalten, welche ihr auf
lange hin, mehr oder minder scharf ausgeprägt, verblieb, die noch
in unseren Tagen durchaus nicht verwischt ist, und die man am
kürzesten und besten in die Worte des Apostels zusammenfassen
20»
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
kann: Hoffahrt der Welt, Augenlust (und Ohrenlust obendrein)
und Begehrlichkeit des Fleisches.
Es war ein Glück, dass in den zwei musikalischen Haupt-
städten Italiens, in Rom und in Venedig, eine hoheitsvolle Kirchen-
musik , in welcher Generationen edler Meister ihr Edelstes ge-
leistet, diesem neuen musikalischen Genusstaumel, diesem Rausch
des Enthusiasmus, einen festen Damm entgegensetzte. Aber ge-
rade Rom und Venedig feierten das neue Bacchanal orgiastiseber
mit, als sonst irgendwo geschehen mochte. Wer Svmpathieen für
Palestrina und seine Zeit behalten hatte, war ein Reactionär, ein
Sonderling, wo nicht gar ein Barbar. Das lange Sendschreiben,
womit Pietro dclla Valle in diesem Sinne seinen conservativen
Freund Lelio Guidiccioni zu bekehren sucht — dieses Send-
schreiben voll Wärme, voll Ausdrucks innigster Ueberzeugung
ist ein merkwürdiges Denkmal dieser Bewegung. Die ersten
„Fortschrittmänner", wie Vicenzo Galilei, hatten Palestrina noch mit
Achtung, wenn auch mit sehr gemessener Achtung behandelt. Pietro
della Valle ist schon naiv und aufrichtig genug, um Palestrina's
Musik für eine „sehr schöne Anticaglie1' zu erklären, ftir die nur noch
in einem Museum der richtige Platz ist. !) Doni fahrt einmal, wie
unwillkürlich, mit seiner innersten Herzensmeinung heraus: der Pa-
lestrinastyl sei eine Barbarei.'2) Beide schrieben diese Machtsprüche
1) ammiro auch' io quella famosa musica del Palestrina, che tanto
piace a V. S. e che fu cagione, che il Concilio di Trento non bandisse
la musica dalle chiese, pero queate cose si hanno ora in pregio, non per
servirsenc, ma per conservarle e tenorle riposte in un museo,
come bellissirae anticaglie.
2) Doni erzählt in „De praest. mus. vet.u Buch 1 — welches Werk
bekanntlich in Dialogform verfasst ist, — von Kapsberger's (angeblichem)
Reformversuch. Und da heisst es nun: „Qui factum est, subait Eumol-
pus, ut consultissimus Princeps tarn facile Citharoedi unius suggestioni
annueret, ac nihilominus res in irritum caderet? Cui Polyanus: adjuva-
bat illum, ne sis nescius, in primis nonnulla eruditionis opinio, quam
simul duritia frontis et volubihtate linguae subnixus, apud eum sibi pa-
raverat, deinde Compali in paucis tunc gratiosi favor; hominis, nt vere
dicam. aliauanto magia eloquentis quam docti. Hujus igitur fretus auxi-
lio, cum Pontifici ostendisset perindignum esse politissimo hoc atque ur-
banissimo seculo, sacros concentus, suaves illos quidem. sed ob verboruni
inconditam texturam, inconcinnasque eephoneses, confusioneraque sensunm,
subrusticos (!) atque inurbanos, in augustissiino orbis terrarum loco ex-
audiri; facile ab fllo extorsit, ut pro üs cantica a so modificate concine-
rentur : in quibus, etsi vorba cianus paullo intelliguntur quam in Praene-
baraequo (!) quaedam prolationes non tarn froquenter audiuntur, aliquant*)
plus tarnen suavitatis ammittunt, quam venustatis atque decoris acqui-
rant. Nam si Donium nostrum audimus, tota haec modulandi
ratio, quam Symphoniasticam ipso vocat, quae Palilogiis ac
Polylogiis passim exuberat barbara prorsns (!) planeque in-
condita censenda est. quaeque nullo modo repurgan possit, nisi ad vi-
vum resecetur. Quod si Capispergius tuus inteilexisset, nec talem suseepisset
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 309
in Rom — als Palestrina kaum erst ein Jahrfünfzig vom Leben
geschieden war. Doni hat nun freilich im Grunde für nichts Sinn,
als für seine geträumte antike Musik — ohne Zweifel ein Mann
von grossem Wissen, von scharfem Denken, geistreich, stylge-
wandt, eine echt Florentinische „böse Zunge", wenn er auf Leute
oder Dinge geräth, die ihm missbehagen, wird er vollkommen
unzurechnungsfähig, wenn er auf die antike Musik zu sprechen
kommt — und er kommt beständig darauf. Vertieft man sich
in seine Schriften, so erhält man zuletzt den Eindruck einer
krankhaften Monomanie, und hart neben treffenden Bemerkungen,
neben geistvollen Ausblicken begegnet man unglaublichen Lächer-
lichkeiten, förmlichen Albernheiten. Doni's ganze literarische
Thätigkeit hatte den — esoterischen — Zweck, alle Musik, wie
sie eben war, allgemach zu beseitigen, um endlich der einen,
reinen antiken Musik als der allein schönen, allein giltigen, die
Herrschaft zu verschaffen — nach dieser Götterkönigin breitet
er, ein sehnsuchtsvoller Ixion, die Arme aus, und es ist tragi-
komisch zu sehen, wie er unaufhörlich Nebelwolken umarmt. Die
erste Hekatombe, die er seiner Göttin schlachtet, sind die Nieder-
länder — dann führt er jenen raschen, tödtlich sein sollenden
Hieb nach Palestrina oder vielmehr nach dem Palestrinastyl, und
deutlich fühlt man, dass er die Meister des neuen Styls einst-
weilen nur schont, weil er ihren Styl als Etappe zum antiken
ansieht, und dass er es vorhat, sie, dankbar wie Polyphem, die
letzten zu fressen, wenn der richtige Moment da sein wird.
Dieser Moment wollte aber nicht kommen.
Aber Palestrina und seine Genossen waren von dem Enthu-
siasten della Valle und dem Fanatiker Doni nicht mit einem
Hauche des Mundes wegzublasen, zumal ihre Musik für die
päpstliche Capellmusik der offiziell anerkannte Styl war und in
Rom die einfache Klugheit gebot, daran nicht allzustark zu rüt-
teln. Hieronymus Kapsberger soll später unter Urban's VHI. still-
schweigender Gutheissung einen ungeschickten Versuch dazu ge-
macht haben, bei welchem er sich kläglichst blamirte. Der Damm
stand noch immer fest. Aber eben so natürlich ist es, dass die
hochgehenden Wellen der neuen Bewegung gelegentlich über
diesen Damm flutheten, dass der neue, von den Musikenthusiasten
vergötterte Styl Versuche machte, sich in die Kirche einzudrän-
gen, dass er, wo es einmal gelang, dort sein verweichlichendes
Spiel, seinen Ohrenschmaus, seine Virtuosenkünste und Effekt-
stücke in Szene setzte, und dass der Effekt nicht ausblieb. Die
provinciam, nec se Cantoribus deridendum praebuissot" u. s. w. Der „Con-
sultissimus Princeps" ist Urban VIII. Ganz allerliebst nimmt es sich aus.
wie hier „Donius noster" sich selber als Autorität zitirtü Sein Haas gegen
Kapsborger tritt in dem Passus „Cytharoedi uniua" grell zu Tag<\
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310
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Kirche begann der Concertsaal für Gesangsgrössen zu werden,
welche sich hören lassen wollten — sogar die Nonnen in Rom
fingen an mit Primadonnen gelegentlich eine sehr bedenkliche
Aehnlichkeit anzunehmen.
Selbst wo der Zuhörer ehrlich genug bei der Sache war, um
religiöse Erhebung zu suchen, lief am Ende Alles auf überreizte,
allenfalls religiös gefärbte Geftihlsschwelgerei hinaus — himmel-
weit entfernt von wahrer Andacht — es genügt, sich des bei
Lorcto's Magdalene in Thränen zcrfliessenden Auditoriums zu
erinnern. An Stelle der hohen Gesänge Palestrina's traten bald
vor Empfindung schmelzende, bald mit Brillantcoloratur über-
ladene Arien — bald Herzenskitzel, bald Ohrenkitzel — ein sehr
zweifelhaftes Appelliren an die höhere Natur des Menschen dureh
die Zwischenstation der niederen, sinnlichen hindurch.
Nicht allein die kirchlichen Ritualtexte wurden jetzt im
„neuen Styl" componirt, sondern auch Monodieen mit frei ge-
dichteten, d. h. nicht rituellen Texten fanden jetzt grosse Be-
liebtheit und Verbreitung. Radesca da Foggia räumt ihnen
das ganze fünfte Buch seiner gesammelten Gesänge neuen Styls
ein, ermangelt aber nicht, sich zur Einleitung von einem poeti-
schen Freunde Giov. Batt. Feis „Dottor di leggi e lettore nell'
universita di Torino" mit gereimten, sehr exaltirten Lobsprüchen
andichten zu lassen. !) Ein interessantes Stück darin ist eine Ma-
rienklage „Anima cara e pia", welche in Ton und Haltung der
berühmten, nachmals auch zum Klaggesang der Mater dolorosa
zurechtgemachten Ariadnenklage Monteverde's so ähnlich klingt,
dass die Aehnlichkeit eine wohl nicht blos zufällige ist Die
schon früher gelegentlich in Form mehrstimmiger geistlicher Ma-
drigale componirten „Pietosi affetti" von Pater Angelo Grillo
wurden von dem Mönch von Montecassino und Organisten von
S. Pietro in Mailand P. Serafin Patta im neuen monodischen
Styl componirt, darunter auch das „anima cara e pia".2) Dass es
zwischen geistlicher und weltlicher Musik einen Unterschied des
Styls gebe und geben müsse, fiel den von ihrem neuen decla-
1) „Fan colesti concenti, Eadesca le tue note, onde l'alme divote,
rapite dagl' accenti, s'inalzan co'l pensier sin'a le sfere, de V angeliche
schiere" u. s. w. Ein Zweites schliesst mit dem Wortspiele: „an, che
questi non son atti di canto, ma di Celeste incanto".
2) Der Titel lautet: „Motetti e Madrigali cavati dallo poesie sacre
del Reverendo Padre D. Angelo Grillo Abbate, composti in musica dal
Padre D. Serafino Patta, Monaco Casinense per cantare solo nel organo,
clavicordo, chitarrone et altri istromenti, Stampato del Gardano in Ve-
netia MDCXIV. Anpresso Bartolomeo Magni." (Hochfolio.) Enthält 28
Nummern. Die Dedicationsvorrede ist an den Dichter gerichtet, und da-
tirt: „di S. Salvatore in Pavia, il di primo Novembre MDCIX". Weder
Fetis noch Becker kennen dieses Werk, von dem die Prager Universitäts-
bibliothek ein Exemplar — Sign. XL B. 41 — besitzt
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Die Zeit der ersten musikalisch- dramatischen Werke.
311
matorisch-melodisch-monodischen Styl begeisterten Leuten nicht im
Traume ein — Monteverde's zur Mater dolorosa gewordene Ariadne
ist wohl das stärkste Beispiel — um so stärker, als der Ge-
sang wirklich tief empfunden und ausdrucksvoll ist. Die Mu-
sik der meisten kleineren Componisten der Zeit passt in ihrer
Ausdruckslosigkeit allerdings gleichgut oder vielmehr gleich-
schlecht auf Geistliches und Weltliches.
Von im Styl der neuen Musik componirten Ritualtexten da-
gegen gab Ottavio Durante schon 160S in Rom eine ganze
Sammlung „Arie divote" heraus1). Die Schreibart erinnert in
sehr merkwürdiger Weise auf Stärkste an Caccini's „Nuove mu-
siche" — in den Melodiefragmenten sowohl, als in den Phrasen,
in den declamatorischen und in den colorirten Stellen — und
auch die Art, wie sich hier wirkliche Empfindung ausspricht,
zeigt die grösste Verwandtschaft mit jenen Compositionen des
Florentiners. Es ist wie ein letzter Scheideblick auf den alten
Ritualgesang, wenn Ottavio Durante gelegentlich ein gregoriani-
sches Motiv in seine Monodie herübernimmt — z. B. beim
Magnificat. Coloraturen sind in reichstem Masse angewandt.
Nach der Zeit Weise ist die Vorrede, wiederum ähnlich den Vor-
reden Caccini's, eine kleine lehrhafte Abhandlung über Compo-
sition und Gesangskunst. Auf den „Affekt" wird schon aus-
drückliches und besonderes Gewicht gelegt.
In Venedig, wo seit 1613 ohnehin Monteverde's persönliche
Anwesenheit und sein Vorbild mächtig einwirken musste, dachten
einzelne Sänger von S. Marco eben auch daran, sich durch glän-
zende Solovorträge den ohnehin für Musik leidenschaftlich be-
geisterten Venezianern bemerkbar zu machen und zu empfehlen.
So Girolamo Marinoni, dessen 1614 erschienene Motetten
für eine Stimme2) kirchliche Ritualtexte in arioser Weise und
1) „Arie divote, le quali contengono in se la maniera di Cantar
con gratia, l'imitation delle parole, et il modo di seriver passaggi et altri
affetti. Nuovamente composti da Ottavio Durante, Romano, appressu
Simone Verovio 1608. Con Licenza de Superiori". — Wie auch sonst Ve-
rovio's musikalische Publikationen, ist das Heft nicht gedruckt, sondern
gestochen. Klein-Folio, 31 Seiten. Den Inhalt bilden nach einer Vorrede
,,a Letfori" folgende Gesänge: „Angelus ad pastores; Aspice Domine;
Beata es; Estoto fortes; Fihae Jerusalem; Gaudent in coelis; Hei mihi;
Jam quod quaesivi; Magnificat tertii toni; Magnificat octavi toni; Mise-
rere mei Dens; 0 Domine Jesu; 0 Rex gloriae; 0 Sacrum convivium;
Regina coeli; Si bona suscepimus; Verbum caro; Verba mea'\ Lauter
Kirchentexte wie man sieht. Dazu aber auch zwei italienische: ,,Scorga
Signor" und „Signor, cho dell peccato".
2) ,.11 primo libro de Motetti a una voce; et in fine un Salve Re-
gina a doi. Posti in musica per Alfabeto da D. Girolamo Marinoni da
Fossambrone, musico dolla Serenissima Signoria da Fossambrone in S.
Marco. Stampa del Gardano in Venetia, aere Bartholomei Magni. 1614."
— Die Prager Universitätsbibliothek besitzt ein schönes Exemplar.
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312 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
auch wieder mit nicht sparsam angewandtem Zier- und Coloratur-
gesang behandeln. 80 wie Ottavio Durante der Schreibart Cac-
cini's folgt, so fand Marinoni sein Muster in Monteverde's Comp
sitionen, deren genialen Zug er zwar nicht erreicht, dem man
aber endlich doch das Zeugniss geben darf, dass seine Gesänge
ein«; gewisse feierlich-festliche Stimmung und einen lebendigen
Zug, auch zum Theile recht interessante Themen haben. Gleich
Ottavio Durante beginnt er auch wohl (z. B. im Assumpta est)
mit einer Reminiscenz an den bezüglichen gregorianischen Ge-
sang, welcher sich freilich kaum nur zeigt, um sogleich wieder
hinter moderner Declamation, Phrasirung und Colorimng zu ver-
schwinden. Die venezianischen Druckereien Hessen jetzt mehr
ähnlicher Sammlungen erscheinen, so 1613 Luigi SimonettoV
„Ghirlanda sacra de motetti a voce sola", 1615 Bonini's „Serena
Celeste" (worin auch Duos und Trios) und Anderes mehr. Die
„geistliche" Dichtung und Musik treibt jetzt mitunter verwunder
liehe Blüten.
Jener Abbate P. Angelo Grillo hat eine ganze Reihe von
Gedichten .,übcr das Angesicht des todten Heilands" geschrie-
ben, welche „da diversi autori" in Musik gesetzt und von D.
Angclico Patto 1613 herausgegeben wurden. *)
Hier linden wir nun Gesänge „sopra la fronte, sopra gl'
occhi, sopra il naso sopra la barba" u. s. w. Ein vom Her-
ausgeber beigefügter Dialog zwischen Christo und dem Sünder
„ferma ferma o Signore" — Musik von Bartolomeo Pesarin«»
(eigentlich Bartolomeo Barbarino aus Fabriauo; ist ein ursprüng-
lich weltliches Stück, „forma ferma o Caronte", welchem Angelico
Patto den geistlichen Text unterlegte 2) :
I
Peccatore pentito e Christo.
Peccatore. Cliristo.
Fer-ma, fer-raa, Sig-no-re! Chi e co - lui che
1) Canoro pianto di Maria vergine sopra la faccia di Cristo estinto.
Poesia del Rever. P. Abbate Grillo. raecolta per l). Angelico Patto, Aca-
demico Giustiniano, e posta in musica da diversi autori. Con un dialogo
et madrigali, tramutati da V istesso a una voce da Cantar nol Chitarone
o altri instroraenti simüi. In Venetia Aere Bartholome! Magni MDCXIU.
Die Prager Universitätsbibliothek besitzt ein Kxemplar (Sign. XI. B. 4).
2) Der Text bildet eine Art Seitenstück zu der zweistimmigen geist-
lichen Cantate „Christus und die Saraaritanerin". welche Goethe in den
Anhängen seiner italienischen Reise mittheilt, und welcher noch immer
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
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un - que deg - no di sup - pli-cio e - ter
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in Italien populär ist — ich kaufte ein „in Lucca con permesso'* ge-
drucktes Exemplar neuer Provenienz „Dialogo tra Gesii e Ia Samaritana",
dessen Inhalt wörtlich der von Goethe mitgetheilte ist. 186C bei der
Engelsbrticke zu Horn von einem Verkäufer ähnlicher Produkte der Presse.
Als Seitenstück zu Patto's, beziehungsweise Pesarino's Duo, mag das in
J. S. Bach's Cantate „Ich hatte viel Bekümmerniss" geltea
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314
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Wie die bewunderten Nonnengesänge in Rom aussahen, da-
von ist uns in den Hymnen *) einer römischen Nonne vom Orden
der h. Clara eine Probe erhalten. Jeder gesunde religiöse Sinn
wird sich aber angewidert fühlen, wenn er z. B. gleich die erste
Hymne der „aus Demuth ungenannt gebliebenen" Nonne und
Componistin „0 Jesu meus amor" und darin folgende Stelle
hört :
a - mo te, me - a fe - Ii - ci - tas, me - a lux,
ve - m, ve - ni,
me - um cor,
ve - ni, ve - ni, ve - ni, ve - ni, me - a lux, me - a
"P — IS-
W ■ : ^
sors, o
ve - m,
1) Diese Hymnen kamen 1683 in Venedig heraus unter dem Titel:
„Philomela angelica Cantionum sacrarum, quas Romae virgo ouaedam
DEO dicata ordinis S. Clarae voce sola cum Basso continuo haua multis
ab hinc annis concinasse, auetorque ipsamet suavitate ac dulcedine sopra
quam humana ad cultum sacrum decantasse traditur — nunc vero ad
majorem gratiam eisdem conciliandam divinumque honorem ulterius pro-
movendum Violae qiiatuor addisce, utque opusculum ad iustam exereseat
magnitudinem Duodecim Ecce a tribus voeibus A. T. B. cum duobus
Vi" Ii nis et continuo Basso duplicatae adjecta publicique juris facta sunt.
Authore 'Avayoafifxauxdis denominato : Res plena Dei. Venetiis
MDCLXXXVIIJ."
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
315
ve - ni, ö ve - ni, ve - ni, ve - ni, ve -ni,
ve - ni, ve-
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ni, me-um cor,
ve - ni, ve - ni, me-um cor,
s*3
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— ö» —
1
ve - ni, ö
im
ve - ni, ve
ni, ve - ni, ve - ni, ve - ni, ve - ni,
bo - ne Je - su, me - a lux. me - a sors u. s. w.
Bis zum höchst Dramatischen, aber auch bis zum höchst Be-
denklichen steigert sich hier die Leidenschaft. Welche trüben
Flammen lodern aus diesem unaufhörlichen hoiss-sehnsüchtigen
,,veni, veni", aus diesen aufstöhnenden Oh-Rufen! ! Wenn Ber-
ninfs berühmteste und berüchtigteste Theresia singen könnte, sie
würde ähnliche Töne hören lassen. Es war die Zeit der gemal-
ten und gemeisselten Exaltationen, Visionen, Verzückungen, hei-
ligen Lipothymien u. s. w. 2) Die Musik durfte da nicht zurück-
bleiben! Den Ton hatte im Grunde Monteverde mit seinem
zweistimmigen Salve Regina angegeben — aber denn doch ge-
mässigter; ganz abgesehen davon, dass der Athem des Genies
hier belebend wirkt und dem Stücke seine bedeutende und echte
Wirkung sichert. Nichts natürlicher, als dass aer Palestrinastvl
den Gönnern der neuen Musik kalt und seelenlos erscheinen
musste.
1) Die obige kleine Probe wird genügen zu zeigen, dass die musi-
kalische Nonne in der That ein ausserordentliches Talent war. Die Stei-
gerung des Affektes von Takt zu Takt ist höchst merkwürdig, es ist wie
eine zunehmende Feuersbrunst. Desto schlimmer! Die „göttliche Liebe"
ist hier Maske einer sehr ungöttlichen, der „himmlische*1 Affekt der PrS-
tezt einem sehr irdischen Luft zu machen. Die Analogieen dazu fanden
sich auch in den übrigen Künsten der Zeit,
2) Die meisterhafte Schilderung sehe man in Burkhardt's „Cicerone"
2. Aufl. Bd. 1, S. 697—699.
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310 l>ie Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Das gedenkbar Seltsamste dieser Gattung vielleicht ist ein
von Rade sc a da Foggia componirtes Duett l), dessen Text, von
Lodovico Caligaris, Canonicus der Metropolitane zu Turin, eine
Art spielender Umschreibung des Grundgedankens der alten Se-
quenz „Mater patris, nata nati", und durch den gezierten Hof-
und (Konversationston jener Zeiten ein verwunderliches Stück
Poesie ist. Der den Dialog beginnende Interlocutor sieht eine
wunderschöne Dame mit einem wunderschönen Knäblein, die er
höflichst anredet, Sie neckt ihn eine Weile mit Räthseln herum,
bis sie sich zu erkennen giebt: „egli c Gesü — Maria son iou
— wornach mit Hinzutritt einer dritten Stimme das Stück mit
einem kurzen Lobgesange schliesst :
Dialoge a 2 (so!)
n1, ^
Mi
o pa-dre
1^1. -- g — L-j
Da - mo, chi e
^--'■■7 1 — =-
pa - dre al bei fi-gliuol?
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P -a t-i --^rf-
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d'esto mio fig - lio
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- gliadichi sei Tu?
ma-dre e fi-glia, vuoi
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.' 9
— i — i
\) Libro V, N. 9.
2) Wie bei Radeaca auch sonst, ist der Bass unbeziflort. Ich habe
zur Erleichterung die Ziffern beigesetzt.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
317
fig-liae roa-dre di - co io dimioaol
dir,d'im fig-lio e pa-dre?
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fi-glio.
Spo-sa son an-
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Sposaseidun-quee fi-glia e raa - dre ad un pa-dre?
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che e nia-dreofiglia aun ti - gliu. E - gliöGe-3Ü. Ma-
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chi 80 -to? (so! siote oder so' tu?)
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318
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
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go a - ve o fi-glia,o spo-sa,o ma-dreaun Di - o. Vir-
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go a-ve o fi-glia, o spo - sa, vir - go a - ve o fi - glia o
vir - go a - ve o fi - glia o
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go a- ve o fi-glia,o apo- sa, vir-go a - ve, o fi-glia o
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spo - sa, o ma-dre aunDi
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spo - sa, o ma-dre a un Di
o.
spo-sa, o ma-dre a un
Di
o.
=
Durch alle Befangenheit in der Form und Führung dieses
seltsamen Tonstückes brechen ganz merkwürdige Züge hindurch
— Züge einer tief dramatisch zu nennenden Auffassung. Der
Frager beginnt mit kühler Höflichkeit, mit dem Ausdruck einer
halb gleichgiltigeu Neugierde, der an der Antwort eigentlich we-
nig gelegen ist. Schon die ersten Worte Maria's haben etwas
Feierliches. Der Fragende wird aufmerksamer, dringender —
höchst gespannt ruft er zuletzt „wer seid ihr!?" — und nun
antwortet Maria mit wirklich majestätischer Erhabenheit, worauf
der überraschte Frager sie mit sich steigernder Innigkeit begrüsst.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
319
Das kleine Trio zum Schlüsse wiederholt die Begrtissung — aus
welcher wirklich eine andachtsvolle Wärme fühlbar wird. So
hat die Musik dem kleinen Stücke Farbe, Ausdruck und Leben
verliehen — und der platte Einfall des Poeten wird durch 6ie
rührend.
Aufgeregter Affekt war das Kennzeichen der Kunst jener
Zeiten — nicht blos der Tonkunst Wo die Malermeister vor
Raphael himmlisch schöne Gestalten in seliger Ruhe hingestellt,
stellten jetzt die Bologner Eklektiker, die Neapolitaner Natura-
listen am liebsten die gedenkbarste Aufregung dar — ein Gegen-
stand, der in der älteren Kunst so gut wie gar nicht vorkommt;
das dornengekrönte Eccehomo-Haupt, mit leidenschaftlich zum
Himmel emporflammendem Blick, die reuige Magdalena, welcher
erbsengrosse Thränen über die Wangen rollen, sind Lieblings-
gegenstände; Maria wird am liebsten als Mater dolorosa gemalt.
Sehr begreiflich, dass die Musik den analogen Weg zu wandeln
begann! Um solchen Aufgaben zu genügen, musste die Musik,
die bisher wie eine keusche Priesterin am Altar gestanden, jetzt
die leidenschaftlichsten Töne anschlagen — selbst wenn sie be-
tete. Von Domenico Mazzocchi's „büssender Magdalena" hat
Athanasius Kircher mindestens ein Fragment überliefert, welches
gentigt, um einen Schluss auf das Uebrige machen zu können,
und welches für das eben Gesagte sehr kennzeichnend ist:
S. Maddilena. t> Domenico Mazzocchi.
ben ?uol sa - nar - la il Re - den - to-re (il)
^ TS ^ ' \J=
(NB. Das Original ist unbeziffert.)
san - gue
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in-darno spar-si il pre - ti - o - so ri
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320 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
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sa - ra per lei di quel be - a - to san-gue sen
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o sen-zail do-glio -so hu-mor del pian
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to mi - o.
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Wir erkennen hier denselben hochpathetischen Dcclaniatk
styl, dieselbe Glut, wie wir sie bei Monteverde im Klaggesange
seiner verlassenen Ariadne, im ersten Monolog seiner Penelopo
(in der Oper: il ritorno d' Ulisse) wieder finden werden. Auch
bei Ariadnens Gesang hatten die Zuhörer Thränen vergossen.
Dom. Mazzocchi schildert in obigem Fragment das schluchzende
Weinen vollends mit sehr intensiver Kraft und mit beinahe all-
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
321
zuviel Naturnachahmung. Denkt man nun aber diese der dama-
ligen Welt bis dahin ganz unbekannt gewesenen Töne mit allem
Wohllaut einer edel gebildeten Stimme, mit leidenschaftlicher
Aufregung vorgetragen, so begreift man, dass Loreto und, wie P.
Kircher bemerkt, eben so die Sänger Bonaventura und Marcan-
tonio damit alle Welt hinrissen. *) Und dass an Stelle des ritu-
1) Will mau hier an passender Stelle mit Deutlichkeit sehen, welche
rasche Fortschritte die Tonkunst machte, so vergleiche man mit Mazzocchi's
Magdalena jene von Francesco Antonio Pistocchi (geb. 1659 zu Palermo),
wie er sie in seiner Cantate „S. Marie vergine addolorata" (1698) malt.
Während der ältere Meister die Deklamation vorwalten lässt, ist hier
schon der ,,bel canto44 in voller Bntwickelung da:
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HF*
E che
fa - rc - i mi •
• so
- ra nie. mi - se - ra
4-
— T-g» S T St ,
—
me, e che fa - ro
l mi - se - ra nie
ri-pre - so iltie - ro vol - to pri -mie-ro, il mio de-
ja:
Ambro», Geschichte der Mnsik. IV.
21
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322
Die Zeit der
musikalisch-dramatischen Werke.
eilen Latein die vertraute Muttersprache getreten, trug zur Wir-
kung wesentlich bei.
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lit- to tor - nar ve - drai den-troa quest' a - ni-ma
I -K I
1*2
che piu nun v'e, o cho fa - rei mi - se - ra me, il mio de-
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lit - to tor -nar ve - drai den-troa qucst' a- ni-ma
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che piii non v'e
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e che fa - re - i mi - se - ra mc mi - se - ra
'*|? | 'fiT* ?!.*'? .';?■■)
Tl 4-
me e che fa - re
i mi - se - ra me.
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I
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 323
Neben den geistlichen monodischen Gesängen wurden zahl-
reiche weltliche componirt, deren erster Keim in Caccini's „nuove
musichc" liegt, die aber allgemach Form, Gestalt, in glücklichen
Fällen sogar melodischen Reiz und charakteristischen Ausdruck
annehmen, die es versuchen, wehmtithig zu sein oder zu scherzen
und die den Uebergang zur Kammercantate vermitteln, welche, ein
Menschenalter später, in Giacomo Carissimi, dann in Stradella
und weiterhin in Alessandro Scarlatti glänzende Vertreter findet.
Es war hauptsächlich Oberitalien, und hier vor allem wieder Ve-
nedig, wo in dieser neuen Gattung von Musik überaus fleissig
gearbeitet wurde und die Presse thätig war. Componisten, welche
im herkömmlichen mehrstimmigen contrapunktischen Satz erzogen
waren und der Welt ein oder einige JBücher Madrigale zu drei,
vier und mehr Stimmen geschenkt hatten, griffen mit lebhaftem
Interesse nach dem neuen Musikstyl. Von dem bedeutendsten
dieser Ueberläufer, Claudio di Monteverde, wird späterhin zu
sprechen sein. Einer der Eifrigsten war jedenfalls jener schon
genannte Radcsca da Foggia, welcher in einer Sammlung
achtstimmiger Messen und Motetten, die 1620 in Venedig ge-
druckt wurde,1) dem älteren Styl sein Opfer brachte, dessen
Hauptwerk aber fünf Bücher Monodieen sind, welche 1616 bei
Giacomo Vincenti in Venedig gedruckt -wurden. Auf dem Titel
nennt sich Kadesca „Organista della Metropolitana di Torino et
musico di Camera dell' Illustrissimo et Eccellentissimo Signore
Don Amadeo di Savoia'4 — die Dedicationsvorrede des fünften
Buches unterschreibt er als „Cittadino di Torino." Das erste
Buch wird durch eine nichtssagende, schwülstige Dedicationsvor-
rede an Margarita Lignana Tizzona, Marchesa di Moncrivcllo ein-
geleitet.2) Die Gesänge selbst sind so gesetzt, dass der Grund-
1) Sie scheinen nirgends mehr vorhanden, werden aber in Walther's
Lexikon, S. 252, erwähnt. Von dort hat es Gerber (unter ausdrücklicher
Berufung auf Walther) in sein Lexikon herübergenommen. — Fetis und
Becker („Tonwerke des XVI. und XVII. Jahrh.*4) wiederholen einfach die
Angabe.
2) Der Titel lautet: „il primo (socondo u. s. w.) ibro delle Canzo-
nette, Madrigali et Arie alla Romana a due voci, per cantare et sonare
con la spineta, chitarrone et altri simili stromenti, del Radcsca da Fog-
gia, Organista della metropolitana di Torino et musico di Camera deu'
Illustrissimo et Eccellentissimo Sig. Don Amadeo di Savoia. Nuovamento
con ogni diligenza corrette e ristampato. Con Privilegio. In Venetia
appresso Giacomo Vincenti MDCXVI". (Folio — enthält 17 Gesänge.)
Das „corrette e ristampate" lässt schliessen, dass schon eine frühere Auf-
lage vorhergegangen sein inuss. Als vielleicht „Exemplar unicum" be-
sitzt die Präger Universitätsbibliothek diese für die Geschichte der Mo-
nodie so ühoraus wichtige Sammlung von Gesängen. (Sig. XI, B. 41.)
In demselben Bande linden sich die Gesänge von Bruneiii, Capello, Ma-
rinoni, Fornaci. die „Strali d'amore" und andere wichtige Denkmale aus
der Incunabelzeit der Monodie. Ein kunstsinniger, hochgebildeter Rath
21*
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324
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
bass in den Duetten zugleich als zweite Stimme dient, wodurch
er, als Gesangspart betrachtet, keine glückliche Gestalt erhält —
eine Bezifferung fehlt gänzlich, der Begleitende mochte zusehen.
Die Tonarten sind C-dur, F-dur, G-dur, G-moll , beim ersten
Liede im dritten Buche „dopo che tu mi vuoi tradire" B-dur mit
zwei > Vorzeichnung, dagegen kommt jj als Vorzeichnung nicht
vor. Bei den Cadenzen sind die Accidentalen beigesetzt. Die
Ausweichungen nach der Dominanten- oder Paralleltonart sind
wie instinctmässig gefunden — wo ein Lied einen zu wieder-
holenden ersten Theil hat, endet er, gleich dem zweiten, auf der
Tonica, wodurch Monotonie entsteht. Die weiblichen Versaus-
gänge schleppen in der Musik schwerfallig nach (wie bei Caccini).
In dem Duo „non haU ciel cotanti lumi" kommt gleich anfangs
eine hübsche Steigerung nach der zweiten Klangstufe vor:
Non sa, che sia dolore, chi prorato non ha colpi d'amore.
M.
(
G
. ... "
Non ha'l ciel co - tan - ti In - mi, tan - te stil - le
BS
Non ha'l ciel
SP---"-"
ma - re e fiu - mi
In dem Liede „Ohime, se tanto amatc" im zweiten Buch (,.il
favorito del Eccellentissimo Don Amadeo" steht dabei) kommt
die Sequenz vor
S t? « B)f « ä 2 * 3 X • 5 « 2 l
g e JJc d h c g — d E D a d
Ob das Stück deswegen dem Herzoge so gefiel?
Eine bedeutende Anzahl der Gesänge sind als Strophen-
liedcr behandelt. Ueberall zeigt sieh liedmässig-periodische Form,
obwohl vielfach noch unbeholfen und im Bau zuweilen fehlerhaft.
Im Ganzen sehen die Lieder einander bedenklich ähnlich —
Rudolph II., Namens Troilus a Lcssoth, der das Buch autographisch mit
seinem Namen bezeichnet hat, Hess nm 1616 „Das Neueste aus Italia4*
für sich nach Prag bringen und die Sendung in einen dicken Folioband
zusammenbinden. Ich mache musikalische Geschichtsforscher auf den
Schatz dringend aufmerksam!
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 325
Streben nach charakteristischem Ausdruck wird indessen trotzdem
fühlbar. Die Spuren des rein declamatorischen Florentinerstyls
schlagen noch oft entschieden durch, zum Nachtheil des cantabeln
Melodieflusses, der sich aber in einstweilen schüchternen Zügen doch
auch einzustellen beginnt, ja auch wohl siegreich durchbricht.
Das Lied „Ahi, ch'io mi sveglio" (das auch in harmonischer Be-
ziehung durchweg gelungen ist) erinnert noch mit seinen leichten
Imitationen an den älteren Madrigalstyl — auch die classische
alte Cadenzform erscheint hier:
9M" M*a
1-«
Die im Bass erscheinende Ligatur „cum opposita proprietate"
ist im ganzen ersten Buche die einzige Reminiscenz an die alte
Notirungsweise , sonst kommen nur die Notengeltungen:
° p | £ vor — für die Schlüsse nach alter Art ä. Ein
ganz artiger Scherz sind die „Esequie amorose" im dritten Buch
— „gia si veder il cielo", wo nach Art eines Falso bordone auf
eine Note — ^- viele Sylben declamirt werden mit 3/2 a Tempo
wechselnd. Auch drei spanische Gesänge (die Nähe von Mai-
land!) finden sich; im zweiten Buch eine „Canzonetta* Spagnuola,
scritta a gusto d'un Cavaliere: Sy vos pretendeys quererme" —
eine allerliebste graziöse Kleinigkeit — ; im dritten Buch „que
sean les mugeres" — ; im vierten eine „Canzonetta Spagnuola" „si
de los ojos" ; in demselben Buche eine artige „Napolitana a 3"
— „qui scritta a gusto d'una Dama" bemerkt der Componist, der
mit dergleichen kleinen musikalischen Cadeaus gerne diesen jenen
Cavalier, diese jene Dame erfreute.
Neben diesen Zierlichkeiten kommen auch Tänze vor —
ohne Text, als Tanzmusik : so eine „Corrente di Radesca" und
eine zweite „di G. Batt Muti Violino di S. A. S. et musico di
Camera dell Ecc. Don Amadeo di Savoia" ferner eine „Nizzarda
francese per ballare", die Radesca seinem Freunde Don Alaramo
Picco zu Liebe schrieb — die Correnten sind von spanisch -feier-
licher Grandezza, die Nizzarda hüpft wie ein Scherzino, treibt
allerlei rhythmische Pikanterien und verrath nur durch einige
kleine Unbeholfenheiten in der Harmoniefuhrung ihre Entstehungs-
zeit. l) Daneben Singetänze, wie das Ballette „per voler d'amore"
1) Man sehe diese Tonsätze in den Anhangen des ersten Theiles
meiner „Bunten Blätter1'.
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326
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
und eine „Volta per ballare": „Filii gentile perche fuggi", einzelne,
nicht als Tänze bezeichnete, aber ganz an Gastoldi's „Fa la"
mahnende Kleinigkeiten, welche munter genug vorbeihüpfen:
(NB. Die Mittelstimme ist hier zu besserem Verstindniss beigeragt,
das Original ist zweistimmig.)
Lib. I. N. 13. Amare in fin ch' e tempo.
A - per - ta - men-te
di
ce
gen -te Tal - to preg-
t
gio di qaest'al fin sen' va. Sua grau bei - ta - de
T
i
pertropp'e-ta-de qua-si Fe-bo nel mar to - sto ca
P
Die Texte haben Ueberschriften , welche den Inhalt kurz
andeuten. Fast durchweg ist es die bekannte italienische Liebes-
poesie — ein Lied im ersten Buch „ahi traditor" streift hart an
die Grenze des Anständigen. Einzelnes ist für Hofbälle und
HorTeste gedichtet und componirt, so eines für einen Maskenzug
„Apollo introduttore delle muse in un ballou — im Texte „bor
che Tltalia altiere" heisst es weiterhin : „godete o regj sposi" —
also ein Hochzeitsgesang. Ein anderes Stück, wo sich die Flüsse
Po, Sturna und Dora mit den Worten einführen: „Regia infante
gloriosa" ist laut Ueberschrift gerichtet „alla Serenissima Infante
Margarita di Savoia, navigando il Po." Zwischen vielen Phrasen
und Gemeinplätzen tauchen gelegentlich auch gute Verse auf.
So lautet in dem bereits erwähnten „non ha '1 ciel" eine Strophe:
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 327
Penar longo e gioir corto
Morir vivo e viver morto
Spem' incerta e van desire
Alerce poca e gran languire
Falsi nsi e veri pianti
£ la vita de gl* amante
was nach Inhalt und Wohlklang allenfalls Ariost geschrieben
haben könnte. Ein Stück „Partenza" im zweiten Buch „Mi
parto obinie" ist wie die Ahnfrau der zahllosen späteren Abschieds-
gesänge, die Musik dazu ist innig empfunden. Das fünfte Buch
enthält, wie schon vorhin erwähnt, geistliche Gesänge — allerlei
weibliche Heilige — S. Orsola u. a. — haben hier Artigkeiten
entgegenzunehmen, wie in den vier früheren Büchern irdische
Damen, die noch keine Heiligen sind.
Zu einem hübschen Doppeldialog gestaltet sich „Mirtillo ed
Amarilli, Dialogo a 4 voci" (Buch IV, No. 16) — es ist wie eine
erste Ahnung der einstweilen noch vollständig imbekannten Con-
versationsoper, auch das schnippisch abweisende Wesen der bei-
den Mädchen ist bezeichnend wiedergegeben; der canonische An-
fang ist wiederum ein Rückblick:
-iL
ß— v+
i
i
1=4
1
Bei - la £on - na sde - gno -sa
mal si con-
Bei - la
don - na sde - gno - sa
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e di pie - tä e di pio-tä ru - bei-
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mal si con - vien
e di pie - ta ru - bei-
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cru - da son ne cru - da son ne bei-
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la. Ne
cru - da son ne cra - da son ne bel-
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328 I^6 Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
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V
5
4
no, ma ben pie - to
sa.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
329
vuol ch'il
1
(volle Accorde — stark)
roai
vuol ch'il
ma - i di quo' bei lu- mi ra - i? per- che?
1=T
- i
di que' bei lu-mi ra - i? per-che?
\
di - ca
vuoi ch'il di - ca
di
8^
vuoi ch'il di - ca
e'l vuoi tu di - re
e'l vuoi tu
£ ! I
e'l vuoi tu di - re
e'l vuoi tu
per non ti far
t
pt-r non
ti
*
per non ti far
per non ti
P-X? 0
di
A
- re
an - zi per far
di - re
per far
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330
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
far
per oon ti f»r mo - ri - ro.
far
per non ti far mo - ri - re.
s
an - zi per far
mo
re. (raaserenasti
etc.)
an - zi per far
mo - ri
re. (raaserenasti
etc.) 1)
Ausserordentlich wichtig ist bei all' diesen Corapositionen
die Generalbassbegleitung. Wie die Sachen auf dem Papier
dastehen, gleichen sie magern Umrisszeichnungen — den Ge-
neralbass mitgespielt , und sie beleben sich , wie sich jene
(Jontouren durch eine gelungene Modellirung in Licht uud Schat-
ten beleben würden. Der Componist giebt gleichsam die Skizze
und überlässt die rundende detaillirende Ausführung den Sängern
und Generalbassspielern. In Italien galt dies schlagfertige Impro-
visiren von je als die Meisterprobe des Künstlers!
Hadesen s Zeitgenosse ist Antonio Bruneiii, Kapellmeister
des Grossherzogs von Toskana. Von ihm erschienen 1614 — 161*»
bei G. Vincenti in Venedig drei Bücher monodischer Gesänge/2;
1) Nach löblicher Gewohnheit hat Radesca keine Bezifferung ange-
bracht t welche ich hier beigegeben habe. Die Sorglosigkeit der alten
Meister in diesem Capitel (und in v und o!) ist unbegreiflich. Ein schlech-
ter (ieneralbassspieler konnte Alles gründlich verderben!
2) „Scherzi, Arie, Canzonette e Madrigali a una, due e tre voci per
suonare e cantare con ogni sorte di stroinenti. Da Antonio Bruneiii,
maestro di Cappella di Sua Altezza Serenissima nell' lllustrissima e
Sacra Religione de' Cavallieri di Santo StetTano in Pisa. Libro secondo.
Opera decima. In Venetia, appresso Giacomo Vincenti 1614." —
„Scherzi, Arie, Canzonotte e Madrigali a una, due e tre voci. Per
cantare sul Chitarrone e Stromenti simili, di Antonio Bruneiii, maestro
di Cappella del Serenissimo Gran Duca di Toscana nell* lllustrissima e
Sacra Religione de Cavalieri di S. Stefano in Pisa. Libro terzo. Opera
duodecima. In Venetia appresso Giacomo Vincenti 1616." Ueber das
erste Buch vermag ich keine Nachweisung zu geben. Bemerkenswerth
ist die Angabe der Opuszahl — es ist vielleicht das früheste Beispiel.
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Die Zeit der
musikalisch-dramatischen Werke.
331
welche im Grundzug durchaus jeneu Radescas verwandt sind,
d. h. den gemeinsamen Charakter der Zeit haben, aber durch
allerlei sonderbare und mitunter kühne, wenn auch nicht immer
glückliche Einfälle überraschen.
Ein durch einzelne ganz gelungene Stücke und durch aller-
lei interessante harmonische und anderweitige Experimente merk-
würdiges Werk sind die Madrigale a voce sola von Giov.
Francesco Capello, einem gebornen Venezianer und Orga-
nisten der Kirche Madonna delle grazie in Brescia.1) In folgen-
dem kurzen Stück könnte man glauben, einen der edel-, senti-
mental-melancholischen Sätze zu hören, wie sie Allessandro
Stradella in seinen Cantaten zuweilen anbringt.
PF
Aus-
fuh-
ruog.
Madrigale. Tutto di note bianche.
Pa - Ii - det - to mio so - le a tuoi
-rt—
-rr-
Pal - Ii - det - to mio so - le a tuoi
1) Madrigali et Arie a voce sola di Giovanni Francesco Capello da
Venetia Organista neile gratie di Brescia. Opera duodecima. Nuovamente
composta et data in luce. Con Privilegio. All' lllustrissimo Signor Fran-
cesco Morosini, Podestä di Brescia. In Venetia appresso Giacomo Vin-
centi MDCXVII. Die Dedicationsvorrede ist datirt: „Brescia Ii 28 di
Ottobre 161 7**. M. Prätorius zitirt „des Gio. Franc. Capell. Venetiani
vorba" so ihm „neulich in einer Präfation zu Händen kommen" als Au-
torität (Syntagma III, S. 241). Die Stelle betrifft die Verdoppelung der
Singchöre in Octaven.
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332
Dio Zeit der eraten musikalisch-dramatischen Werke.
P
4=
t
1
dol - ci pal - lo - ri per - de Tal - ba Ter - mi-glia i
I
dol - ci pal - lo - ri per - de Tal - ba ver - mi-glia i
1) Diese Art Textlegung für den Ausgang der Wortsätze kommt mit
der Monodie auf, und bleibt noch lange in Uebung — so dass die Schluss-
sylbo vor der eigentlichen Schlussnote, die auf den guten Takttheil fallt,
wie ein langer Vorschlag schon auf die letzte Note des vorletzten Tak-
tes fallt.
2) Diese Art Beantwortung des Motivs in der Dominantentonart ist
ganz im Sinne Stradella's; man sehe dessen Cantate: „Piangete, occhi,
piangete".
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 333
' — b r-i
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mor - te
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tue
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— r
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4- -
— 0 — 1
5
st
Man mag bei Compositionen, wie die vorstehenden, wohl er-
staunen, dass eine Musik, die sich von den alten Banden der
Contrapunktik emanzipirt hatte und als deren oberste Kunstregel
so ziemlich der Spruch gelten darf: „erlaubt ist, was gefällt", sich
so edel und massvoll nahm, in einer Zeit, wo man z. B. in
Deutschland Gedichte in Form von Palmeubäumen, Pokalen
u. s. w. druckte, „durch Letterwechsel'4 seltsame Anagramme
herausbrachte, zu monumentalen Inschriften „höckerige" Chrono-
gramme (wie sie Jean Paul nennt) dem einfachen Lapidarstyl
vorzog und wo Schwulst und Unnatur in Sprache, Dichtung,
Tracht und allem Möglichen herrschte. Aber gelegentlich zahlte
die Musik dem Zeitgeiste doch auch ihren Zoll, und gerieth auf
die krausesten Einfälle. Ein Madrigal von Capello, wo augen-
scheinlich Poet und Musikus im Einverständniss gearbeitet haben
(wie weiland bei Josquin's Marien-Motette mit ut re mi fa sol la),
enthält im Text eine Menge Worte, die zugleich auch als musi-
kalisch-technische Ausdrücke verstanden werden können. Capello
hat sie in der dazu componirten Musik getreulichst illustrirt —
das Resultat war, dass ein tolles Stück höchst barocker Musik da-
steht — eine wahre musikalische Missgeburt — und das ist nun
derselbe Capello, der für den „palidetto sole" so edel empfundene
einfache Töne zu finden gewusst! Die Vorwürfe, welche V. Gali-
lei der kleinlichen Wortmalerei der Contrapunktisten macht,
wären hier gesteigert anwendbar.
334 Die Zeit der eraten musikalisch-dramatischen Werke.
Pf
1 ? ✓
Stra-na ar-mo - ni - a d'a -mo
re
3
anch'
„Strana armonia — cantar — chiavi (\?) — note (schwarze
Noten, um sie vor den anderen auszuzeichnen, vielleicht auch
mit einem Seitenblick auf das ähnlich klingende „notte"!!) ac-
centi — sospiri (ee) acut^ — S***1 — 8°1" (e nacn dem
hex. molle) — pose" (Pausen) — das alles wird lebhaft hinge-
stellt — es erinnert an den gezeichneten Scherz eines Mädchen-
bildes mit Sternenaugen, Rosenwangen, Schwanenhals u. s. w. —
wo das figürlich Gemeinte nach dem Wortlaut hingezeichnet ist
— jedenfalls kommen Vincenzo Galilei's (geträumte) grüne,
blaue u. s. w. Noten, welche, wie Galilei wähnte, Wald, Him-
mel u. s. w. versinnlichen sollten, gegen das, was hier wirklich
und wahrhaftig dasteht, kaum in Betracht. Auch wie die „la-
menti" durch eine lange Meckerpassage, und wie die „tormenti"
durch wirklich peinlich klingende Fortschreitungen und Zusammen-
klänge versinnlicht werden, übersehe man nicht!
Den bisher genannten Meistern der musikalischen Kleinkunst
schliesst sich Giacomo Fornaci aus Chieti mit seinen 1617
erschienenen „Amorosi respiri musicali" *) an — es findet sich
darin ein Gedicht „tornate o cari baci", welches auch Capello
componirt hat — die Vergleichung beider ist nicht ohne Interesse.
1) Amorosi Respiri musicali di Don Giacomo Fornaci di civita di
Chieti. In quali si contengono Scherzi, Arie, Canzoni, Sonetti e Madri-
gali per cantare nel Cbitarrone, Clavicembalo o altri instromenti sirnili,
a una, duo e tre voci Novament» composti e dati in luce. Libro primo.
Opera seconda. In Vonetia appresso Giacomo Vincenti MDCX.VII.
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I
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 335
Fornaci
Tor-na-te 0 ca - ri ba
l
ci
ri - tor-nar -mi
ü
m
a ri - tor- nar - mi a ri - tor -nar-mi in vi- ta etc.
4^
Capello.
1$
IS
Tor - na - ta tor - na
* Ig f;
te
0 ca - ri ba - ci
13=
I
a n- tor-nar
9: J J-
-m
i -r
t=t=t=»
in vi -
ta ba
Hfl
- ci etc.
1 J
"fit«—
Capello trifft den Ausdruck der Sehnsucht, während der An-
dere nur ein kleinliches, seelenloses Häkelwerk von Noten zu-
sammenklittert.
Der ähnlichen Kichtung gehören an: der Sizilianer Sigis-
mondo d'India, welcher, ein geschätzter Motetten- und Madrigal -
componist, sich auch in zwei Büchern Monodieen versuchte; Luigi
Rossi, von dessen Canzonette „or che la notte del silenzio ami-
ca" Pietro della Valle lobende Erwähnung macht *), von welchem
das britische Museum eine Sammlung von Monodieen besitzt2)
und in dessen Compositionen stellenweise das Lauf- und Schnör-
1) „chi puo sentire cose — piü delicate?" ruft der Enthusiast aus
(bei Doni Opp. H, S. 258).
2) Bibl. Harley. 1265, 1273.
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336 Dio Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
kelwerk zu überwuchern beginnt ') — endlich, und zwar als
einer der Begabtesten allerdings aber schon in die nächste Künst-
lergeneration hinübergreifenden, Salvator Rosa, der berühmte
Maler (1615 — 1673), dessen Gemälde in Historie und Landschaft
eine demokratisch -trotzige, vulkanisch -heisse, nächtlich - düstere
Natur verrathen, dessen Haus in Rom (in der via Gregoriana)
die steinernen Thür- und Fenstergesimse zu monströsen Riesen-
larven ausgearbeitet zeigt, dessen Gedichte der bittersalzigste
Humor gewürzt hat, der aber als Musiker, völlig anders, Ge-
sänge voll eines gleichsam taghellen Wohllautes, voll harmoni-
schen Masses schafft, welche man nicht etwa als blosse Dilettan-
tenarbeiten eines nebenher musizirenden Malers ansehen darf,
sondern die den fertigen Meister der Tonkunst im Sinne seiner
Zeit verrathen. Natürliche Führung, liebliche, ganz ausgebildete
Melodie, Reichthum der Phantasie, Feuer, Geist, edler Ausdruck
zeichnen diese kleinen Stücke in hohem Grade aus. — In wie-
fern Salvator genügt haben würde, hätte er sich an Grösseres
gewagt, bleibt eine Frage. Er fühlte, scheint es, wie weit seine
Kräfte reichen, und richtete sich darnach. Unter dieser Genera-
tion kleiner Meister behauptet er eine sehr ehrenvolle Stelle, ja
seine überaus reizenden Kleinigkeiten machen nicht mehr den
Eindruck eines nur bedingt Gelungenen, wie die Arbeiten Ra-
desca's u. A. — sie sind in sich geschlossene, ganz schön durch-
geführte kleine Kunstwerke von unvergänglicher Frische und
Anmuth. 2) Man wird jedoch nicht vergessen dürfen, dass Salvator
bereits unter der Einwirkung der Zeit und Kunst Carissimi's und
Cavallfs stand, wie ihm denn die Form der gearbeiteten Kam-
mercantate schon ganz geläufig ist.
1) Burney (III, S. 157) giebt allerlei Bruchstückchon als „Proben"
— auch merkwürdige harmonische Schritte — aufwärts aufgelöste Sep-
timen (wohl mehr Ungeschicklichkeit als Kunst), den mehrfach vorkom-
menden Gebrauch des übermässigen Quintseitaccordes u. s. w.
2) Ein Band, der ihm selbst gohört hatte, stammt aus Burney 's
Nachlass, der das merkwürdige Buch in Rom erwarb. Proben sehe man
bei Burney III, S. 165 — 168. Leider zum Theil wieder herausgerissene
Brocken, mit angehängtem „et cetera". Merkwürdig ist es, dass man
zweimal an Beethoven gemahnt wird. Nummer III erinnert im Charak-
ter sehr an das wunderbare „Andante con moto, quasi Allegretto" im
Quartett Op. 59 N. 3. Um das leidige „et cetera" Burney's auszu-
gleichen, fuge ich bei der Ausführung an Burney's letzten Takt den
Akkord
und dann da Capo bis zur seconda volta.
Nummer VI und VIT lasse ich zusammen wie parte prima, parte seconda,
Sarte prima da Capo singen — es passt zusammen. In N. VII erinnern
ie Takte 10—13 aufs stärkste an das Menuett-Trio in Beethoven's oben
genanntem Quartett — dasselbe Motiv, dieselbe Steigerung! Nummer
VIII beginnt ä la Mozart, endet a la Händel.
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Die 'Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 337
Sieht man die Hunderte von Kleinigkeiten und Niedlich-
keiten durch (mit denen besonders der Verlag Giacomo Vincenti •
in Venedig die Liebhaber reichlich versorgte), bei welchen (wie
Rossini einmal schelmisch gegen einen befreundeten Romanzen-
componisten äusserte) der Tonsetzer glücklich zu preisen war,
weil er das Blatt , auf das ■ er seine Compositiou niederschrieb,
nicht umzuwenden brauchte (indem er es schon auf Pagina Eins
zum Schlusstakt brachte), so bekommt mau eben so ein lebendi-
ges Bild vom Geschmack und den Wünschen der damaligen
musikalischen guten Gesellschaft in Italien, wie es ein Jahrhun-
dert vorher Petrucci's neun Bücher Frottole gewähren. Man könnte
diesen Liederfrühling mit den Schneeglöckchen, Crocus und Le-
• berblümchen vergleichen , die sich , unter unserem Himmel die
ersten, arm an Farbe, klein an Gestalt aus der Erde hervorwagen
und, so unbedeutend sie sein mögen, als erste Zeichen einer neu
erwachten Schöpfungskraft, als erste Verheissung einer künftigen
reichen Blüte erfreuen. Die Zeitgenossen vollends geberdeten
sich, als sei die goldene Zeit der Musik gekommen, und warfen
<lte älteren Sachen verächtlich bei Seite. *)
Wie schon Peri und Caccini Hess auch diese neue Gene-
ration der kleinen Meister dem Sänger sehr viel zu thun übrig.
Er musste Farbe, Leben, Ausdruck geben, wo jene nur andeute-
ten. Wie 6ich nun aber bei der neuen Musik der Sänger, ganz
zum Gegcntheil der früheren Epochen — als Individuum gel-
tend machte, wie er mit seiner Virtuosität glänzend hervortrat,
begann folgerichtig auch die Aera des „Sänger- und Sängerinn en-
cultus". Auf diesem Gebiete ist die vielleicht eigenthümlichste
und merkwürdigste Erscheinung in dieser gährenden Zeit der
Castrat'2) Vittorio Loreto. Er stammte aus Spoleto, errang
durch sein Talent die Gunst des Herzogs Cosmus von Medici,
wurde von Ottavio Doui nach Florenz gebracht und dessen Haus-
genoss; später wurde er Hausgenoss des Niccolo Doni. Dieser
1) Deila Valle, der freilich immer lichterloh brennt, säet: „Chi
canterebbe oggi quell' altre Vilanelle, note a V. S. (Goidicciom) e fanri-
liari a Lodovico Falsetto, — — oltreche avevano parole goffissimo, ne
pareya a i musici, che per cantar potessero esser altrimenti — sono
d'altro garbo, non solo quanto alla poosia, ma anche qnanto alla musica
le Canzonette, che si cantano oggi" u. s. w. (S. 258.)
2) Dies hinderte nicht, dass Loreto eine Frau entführte, freilich
aber nur. „um sio ihren harten Verwandten und den Nachstellungen eines
jungen Mannes zu entziehen". (Erythr. Dial. I. S. 7.)
In den Briefen (Epist. ad div. V. 15) sagt Erythräus: „De equite
Loreto nihil est quod vereamur, nam quidquid de iuo narravimus, inere-
dibili ejus voluntate feeimus, qui summa ambitiono a me postulavit, ut
adversum ejus casum (ita enim aiebat) meis literis poateritati mandarein.
Ipse aliud sibi nomen finxit, et Olertum pro Loreto indidit, ipso episto-
lam totidem paene verbis, quibus eam scripsit, a me latino sennone re-
Ambro», Ge«chichte der Mn«ik. IV. 22
338
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Hess ihn mehrere Jahre lang zum vollendeten Sänger ausbilden.
Jetzt glänzte er auf dem Theater, ja G. B. Doni schreibt ihm
den Verdienst zu, der Erste gewesen zu sein, der eine höhere
Singmanier in Florenz einführte. *) Sein Ruf drang nach Rom,
Cardinal Lodovico Ludovisi, der Neffe Gregor XV., ruhte nicht
eher, bis er ihn vom Grossherzog Josgebeten. So nahm Loreto
seinen Wohnsitz in Rom, als Sänger des genannten Cardinais.
Hier befreundete er sich mit Erythräus, welcher ihm und insbe-
sondere seinem Vortrag der „büssenden Magdalena" von Dome-
nico Mazzocchi in der Pinakothek ein Denkmal gesetzt hat -),
dem einzigen noch lebenden Zeitgenossen, worüber sich Erythräus
in den Einleitungsworten der Biographie ausdrücklich entschuldigt.
An Ueberschwenglichkeit leistet die Schilderung das Gedenk-,
barste.
Cardinal Ludovisi legte förmlich Beschlag auf dieses Wuu-
der von Sänger. Aus der gelegentlichen Aeusserung Pietro's
della Valle „la Signora Lucrezia Moretti del Cardinal Borghese
citatam, composuit, ejusdemque exeraplum ejus chirographo scriptum,
saivum habeo domi." Loreto suchte sich, wie man sieht, weiss zu
waschen !
1) academicorum Florentinorum opera monodici cantus quo-
dammodo revixerunt, atque explanata vocum expressio et elegantior inter-
vallorum eephonesis sivo prolatio haberi coopit in pretio: quam in haue
urbem intulit Loretus; quem domi suae aliquot annos familiaris illius.
noster consanguineus , ac musicis studiis diligontissime institui curavit.
(G. B. Doni. de praest. mus. vet. Opp. I. S. 137.)
2) — sed mterdum Romao, per hiemem. in Sacello patrum Congre-
gationis Oratorii exaudiebatur. Ubi cum ego, nocte quadam, Magdale-
na«, sua deflentis crimina, seque ad Christi pedea abjicientis, querimoniam
canentem audivi: qui, eo ardore animi, ea vi vocis, iis tarn mollibus
tamquo delicatis in cantu flexionibus. Magdalenam nostris pene oculis
snbjiciebat, ut si revixisset, in i IIa ejus poenitentiae ipsius imitatione suos
voros luctus doloresque agnovisset atque admirata esset. At neminem
eorum, qui aderant, arbitror fuisso tarn leni animo tamquo remisso, qui
non ad eos motus se perduci sentiret, ad quos ab illo impellebatur; ni-
mirum ad flotum, ad iram, ad odium peccatorum — nescio alios; mo
quidem scio acriter vohementerque in delicta mea exarsisse, cum ille
Magdalenao personao actor praoteritae illius vitae' crimina exsoeraretur,
propter quao in tantam Dci atque hominum offensionem ineurrisset; sensi
mihi ubertim lacrimas ab oculis ire, cum ille dentis peccatricis gemitus,
voce ad mLserabilem sonum inüexa repraesentaret ; sensi me ad incredi-
bilem admirationem efferri, cum vocem a gravissimo ad acutissimum so-
num gradatim impellens. eandemquo ab acutissimo ad gravissimum, per
varios anfractus, yolubilitate incredibile colligen3, se posse eam ostenderet
sicut molissimam ceram quocunque vellet contorquere ac floctere. Quid
opus est verbis? Nullus erat ammi motus, ad quem ab illo, ut ita di-
cam, abreptus non continuo formarer et tingeror. At quo artificio, qua
venustate, quo lepore id totum ab illo fiebat? Profecto ars certare cum
natura videbatur. utra majorem in eo vim ac dominationem haberet. (Jan.
Nie. Erythraei, Pinacotheca altera. LXVIII. Loretus Victorius.)
Digitized by
Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 339
— l'Ippolita del Cardinale Montalto" sieht man, dass es bei den
Kirchenfiirsten in Rom Sitte und Ton war, solche glänzende Ta-
lente in Dienste und ihre Leistungen gleichsam als Monopol in
Anspruch zu nehmen. Das Aeusserste in letzterer Beziehung
leistete nun wohl Cardinal Ludovisi. Nur sehr vornehme Perso-
neu bekamen mit seiner Bewilligung den Loreto zu hören —
das sei kein Schmaus für plebejische Ohren, meinte Seine Emi-
nenz. *) Dieser eine kleine Zug malt die Zeit und ihr hochmü-
thig-vornchmes Wesen, wie es sich auch in den gleichzeitigen
Werken bildender Kunst ausspricht.
Rom brachte es denn mit seinem fast wahnwitzigen Sänger-
und Sängerinnenenthusiasmus,* an welchem lebhaften Antheil zu
nehmen selbst Cardinäle sich nicht schämten, so weit, dass es
uns im Jahre 1626 das erste Schauspiel leidenschaftlichen Par-
teihaders für und gegen zwei grosso Sängerinnen bietet. Jene
schon genannte Margherita Costa aus Ferrara wurde von ihren
Anhängern, die man „Costisten" nannte und an deren Spitze
Mario Chigi, Bruder des (nachmaligen) Papstes Alexander VII.,
stand, so sehr in den Himmel erhoben, als die Venezianerin
Cecca (Francisca) della Laguna von den „Cecchisten", als deren
erklärtes Haupt Fürst Aldobrandini galt. Endlich kam man auf
das Auskunftsmittel, in der Oper „la catena d'Adone" von Ottavio
Tronsarelli 2) beiden Rivalinnen Partieen von gleicher Bedeutung
zuzutheilen. Jede Partei versprach sich einen vollständigen
Triumph. Aber eben so war ein colossaler Thcaterscandal in
ziemlich sicherer Aussicht. Um diesen zu verhüten, setzte es die
in Rom damals fast allmächtige Fürstin Aldobrandini durch, dass
beiden Sängerinnen das Auftreten verboten wurde — zwei Ca-
straten sangen die ihnen zugetheilt gewesenen Rollen. Was
wohl Paul IV. zu diesen Geschichten gesagt haben würde?! —
Die Römer hatten einen völligen Heisshunger nach Ohren-
schmaus. Auch die Kirche selbst musste sich's gefallen lassen,
zum Concertsaale degradirt zu werden. Wo eine Nonne als
Solosängerin glänzte, drängte sich, wie schon vorher erwähnt
worden, alle Welt hin. Eine gewisse Verovia im Kloster „dello
Spirito Santo" setzte die Welt mehrere Jahre lang in Staunen,
eine andere Nonne bei S. Lucia in Selce war ihres Gesanges
1) — sed Ludovisius tarn alte hominis pretium eztulerat, nt non
cuivis ejus audiendi faceret potestatem, sed iis tantura, qui aequabilita-
tem communis conditioni3 praestantia dignitatis aut fortunae suae tran-
sirent, quod cam vocis cantusque suavitatem vulgarium non esse auriuw
pabulum existimaret. (Erythraous a. a. 0.)
2) Leono Allacci's Dramaturgie enthält darüber folgende Angabe:
„Catena d'Adone, favola boschareccia — in Viterbo per il Discepolo 1626
in 12 — ed in Roma per Francesco Corbelletti 1626 in 12 — di Ottavio
Tronsarelli, e recitata l'anno 1648 in Bologna nella Sala Malvezzi.
22»
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I
340 Wo Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
wegen berühmt. l) Die feinen Kenner und Kunstfreunde be-
grüssten die Sache als erstaunlichen Fortschritt !
Neben Vittorio Lorcto blühten die Sänger Nicolini, Bianchir
Mario, Lorenzino, Malagigio. Die grosse Schönheit der Sängerin
Adriana gab ihrer Kunst noch einen neuen Glanz und um so
mehr, als die berühmte Vittoria Archilei nach Pietro della Valle's
Versicherung nichts weniger als schon war. Adrianas Tochter
Leonora versetzte vollends alles in einen Taumel von Entzücken,
gleichviel ob sie ihren Gesang in kunstvoller und origineller Weise
mit der Laute begleitete (welche sie, gleich der Viole, meisterlich
spielte), oder ob sie auf dem Theater sang. Leonora Baroni
(wie ihr voller Name lautete) brachte den Cardinal Vincenzo
Costaguti dahin, zu ihren Ehren 1639 einen ganzen Band Ge-
dichte — griechische (!), lateinische, italienische, französische und
spanische — unter dem Titel „applausi poetici alle glorie della
Signora Leonora Baroni" herauszugeben, — die Sammlung er-
lebte 1641 eine neue Ausgabe. Erythräus uenut ihren Gesang
, »beinahe göttlich". G. B. Doni preist sowohl sie als ihre Mutter
Adriana als „neue Sappho". Auch ihre Schwester Caterina wird
von Pietro della Valle als Sängerin rühmlich genannt. Pietro
denkt mit Entzücken an die Zeiten, wo er die schöne Adriana
mit der Goldharfe in der Hand den Posilipp umschiffen sah.
„Noch giebt es also", ruft er, „dort Sirenen, aber wohlthätige,
von Tugend und Schönheit gleich geschmückte Sirenen, und
nicht arge und todbringende, wie die antiken gewesen". Pietro
nennt ferner eine Signora Maddalena mit ihrer Schwester, welche
beide man die „Lolle" nannte, eine Cammiluccia nebst Schwestern
und Töchtern, „welche ihr Haus zu einem Parnass mit Musen .
machten", eine Sofonisba, Lucrezia Moretti, Laudomia del Muti,
eine vortreffliche Contraaltistin Santa und Andere mehr. Man
begann ausgezeichnete italienische Sängerinnen an fremde Höfe
zu berufen, so kam Adriana's Schwester an den Hof des deut-
schen Kaisers, Leonora Baroni und die Ferraresin Margherita
Costa an den französischen Hof, als Cardinal Mazarin den (einst-
weilen verunglückten) Versuch machte, die italienische Oper nach
Frankreich zu verpflanzen.
Neben den Sängern und Sängerinnen begannen, ganz cou-
1) Ma dove ho lasciato le nionachc, che per onorevolezza dovuva
prima nominare? La Verovia nello Spirito Santo ha fatto piü anni stu-
pire il mondo, ne gli e andata di molti passi addietro quell' altra Mo-
naca, e quella Donzella, ailieve, come io penso di lei, che nel medesimo
Monastero cantano amendue di buonissima grazia. La Monaca di S.
Lucia in Silke ognun sä di quanta fama sia; Quelle di S. Silvestro giä,
quelle di Monte Magnanapoli ora, quelle di S. Chiara si vanno sentir per
maraviglia. L'etä passata non fu mai ricca, ne di tanti soggetti, ne di
cosi buoni in un tempo" (Pietro della Valle's Sendschreiben).
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
341
sequenter Weise, auch Virtuosen auf diesem, jenem Instrumente
zu glänzen. Michel Angelo Rossi war als Geiger berühmt, Ora-
zio Napoletano als Harfenspieler. Das Coraet hatte seine Mei-
ster, wie Missilius (Missilium nostrum), den Doni preist, am Kai-
serhofe einen gewissen Samson.
Dass man in Italien den Sänger, die Sängerin (ähnlich dem
Verhältnisse in unseren Tagen) als durch ihr Talent nobilitirt
behandelte, dass sich ihnen die Thüren der Grossen öffneten
und sie sich unter Cardinälen und Principi u. s. w. wie Eben-
bürtige frei bewegen durften, war der Musik zum Heil, mochte
auch der Enthusiasmus der Mäcene mit seinem „Cult" gelegent-
lich in's Uebersch wengliche , in Lächerlichkeiten hineingerathen.
Die Musik war in der häuslichen „Accademie", im Salon der
Vornehmen wie in der Kirche ein Gegenstand feinsten, geistigen
Genusses. Das Andenken der musikalischen Akademien im
Hause des genialen Malers Tintoretto zu Venedig, deren Seele
die geistvolle, früh ihren Freunden und Bewunderern durch den
Tod entrissene Tochter Tintoretto's, Marietta, war, hat sich bis
heute erhalten. Die Musik wurde allerdings dadurch in Italien
durch und durch aristokratisch — die Volksmusik, der Volks-
gesang wurde allgemach zu völliger Unbedeutenheit herabge-
drückt, wie er denn heutzutage in Italien fast erloschen ist.
Das von politischen und confessionellen Wirren zerrissene,
bald vom dreissigjährigen Kriege in ein Blutmeer getauchte
Deutschland erscheint in Sachen der Musikpflege gegen das
gleichzeitige Italien fast barbarisch. Eine Stelle bei Prätorius
'Synt. III, S. 132, richtig 112) spricht von Musik „in Kirchen"
und „vor der Taffei", als gäbe es keine andere. Die Tonkunst
muss, wenn sie nicht der Andacht dient (oder dienen soll), Paste-
ten und Braten aecompagniren — auch sie eine Dienerin gemein-
sinnlichen Genusses! Erinnert man sich, wie G. Forster über
das „viehische Vollsaufen" klagt, erinnert mau sich der „fürst-
lichen Gasterei" im „Simplicissimus" (Buch I, Cap. 29 u. f.),
für welche jener grobe Ausdruck keine zu harte Bezeichnung ist,
des ambraser Willkommbechers, den der Gast auf einen Zug
leeren musste und dessen Dimensionen Entsetzen einflössen, selbst
wenn man kein Mitglied eines Mässigkeitsvereines ist, und ähn-
licher Dinge, so kann es kaum eine ärgere Herabwürdigung der
Tonkunst geben, als einen Froberger etwa auf einem Regal zu
den Tafelfreuden aufspielen zu sehen, wobei der Musikus freilich
neben Phantasieeu und Recercars hauptsächlich Passamezzen,
Gagliarden und Sarabanden zum Ergötzen der hohen, höheren
und allerhöchsten Ohren zum Besten geben musste, wie bei Prä-
torius als guter Rath ausdrücklich gesagt wird. ') Die Tafel-
1) Syntagma III ad voc Ritornello.
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342 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
musiken, welche an deutschen Höfen, in deutschen Palästen noch
im vorigen Jahrhundert etwas ganz Gewöhnliches waren, die
„blasenden Harmonieen", welche namentlich in Oesterreich und
vor allem in Böhmen grosse Kavaliere unter ihren „Domestiken"
unterhielten, „so bei Tafel mit beliebten Opernstücken aufwarte-
ten" und deren Andenken Mozart im zweiten Finale seines „Don
Giovanni" erhalten hat, dürfen bei gänzlich veränderter Zeit und
anderem Zeitgeist als Nachklang jener früheren grobsinnlichen
Auffassung gelten. *) Der grosse Tonsetzer, der edelste Musiker
wurde kaum noch vom herumstrolchenden Musikanten unterschie-
den — im glücklichsten Falle war er „Hausoffizier" eines Grossen
oder Kirchendiener. Noch Joseph Hnydn und Mozart litten un-
ter diesen Verhältnissen.
In Frankreich dachte man etwas geistreicher, und Gluck
konnte sich auf den Parketten Maria Antoinetten's frei und un-
befangen bewegen, ja gelegentlich selbst Künstlerstolz fühlen
lassen. Ludwig XIV. hatte aber so gut wie ein deutscher Fürst
seine Tafelmusik, seine „vingt quatre Violons du Roy", von de-
nen sich dann unter Lully's Leitung die sogenannten „petits
Violons" abzweigten, und seinen gepriesenen Lautenschläger und
Theorbenspieler de St. Luc, der bei Tafel seine virtuosen Künste
zum besten gab. 2)
In den Niederlanden, welche wenigstens ihren grossen musi-
kalischen Weltruf jetzt verloren, wurde die Musik, statt wie in
Italien zur vornehmen „Accademia", zum gemüthlichen Familien-
concert. Die Bilder der vortrefflichen Genremaler David Teniers
d. j., Netscher u. A. erzählen davon in sehr anziehender Weise.
Dass die italienischen Solosänger allmählich eine Menge der
feinsten Vortragmanieren zur Geltung brachten, versteht sich von
selbst, welche dann mannigfach in der Instrumentalmusik Nach-
ahmung fanden. In Deutschland interessirten sich Männer des
musikalischen Fortschrittes, wie Michael Prätorius, lebhaft dafür
1) Eine charakteristische Schilderung aus Herrn von Besser s Schrif-
ten S. 378 möge hier eine Stelle finden. Der Autor beschreibt die Ver-
m&lung „des Casselisehen Erbprintzens mit der Churbrandenburgischen
Princessin" zu Berlin im Jahre 1700: „Den 6. Junii zu Mittage ward
die Tafel in dem Oraniensaale gedecket, und bei derselben nur mit einer
stillen Music aufgewartet: nemüch mit der Theorbe, Laute und Guitarre,
die der frantzösische grosse Künstler de St. Luc mit einer fast entzücken-
den Lieblichkeit rührte, und sich dadurch den Glauben gar leicht zu
wege brachte, dass S. Königliche Majestät von Frankreich, wie das Ge-
rüchte von ihm gehet, ihn vor andern würdie befunden, Sie biss weilen
mit dem Klange seiner Saiten bey Ihren Mahlzeiten zu ergötzen*'.
2) Siehe die vorstehende Anmerkung. De St. Luc trat dann in die
Dienste des Prinzen Eugen von Savoyen und lebte in Wien. Ich besitze
von ihm handschriftlich ein Buch voll Lautenstücke — in ihrer Art an
die niedlichen Kleinigkeiten Couperin's mahnend, aber als Compositum
den letzteren nicht entfernt an Werth gleich.
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 343
— Andere, die mehr conservativ dachten, schüttelten bedenklich
den Kopf. l) Italien begann seine musikalisch weltbeherrschende
Stellung einzunehmen. Heinrich Albert in seinem fernen Königs-
berg verwundert sich, „was für herrliche, lebhafte und geistreiche
Compositioncn aus Italia (welches billig die Mutter der edlen
Music zu nennen) zu uns gelangen". 2)
Den charakteristischen Klang der verschiedenen Stimmen-
gattungen begann man in Italien vom dramatischen Standpunkte
aus zu würdigen — auch die Bassstimme war einstweilen noch
nicht in dem Misscredit, in welchen sie in Italien später gerieth. 3)
1) „Forte, Pian: Praesto; Adagio Lento. Diese Wörter wer-
den bissweilen von den Italis gebraucht, und in den Concerten an vielen
unterschiedenen Oertern , wegen Abwechslung beydes der Stimmen und
Choren, darbey oder drunter gezeichnet, welches ich mir dann nicht
missfallen lasse. Ob zwar etliche, dz sich, dessen, sonderlich in Kirchen
zu gebrauchen nicht gut sei, vermeinen: so deuchtet mir doch solche
Variation und Umbwechselung, wenn sie fein moderate und mit einer
guten gratia die Affectus zu exprimiren und in den Menschen zu movi-
ren, vorgenommen und zu werck gerichtet wird, nicht allein nicht unliob-
lich oder Unrecht seyn, sondern vielmehr die aures et animos auditorum
afficere und dem Concert ein sonderliche Art und gratiam concilüre. Es
erfordert aber solches offteruials die Composition, sowol der Text und
Verstand der Wörter an jhm selbsten: dass man bissweilen, nicht aber
zu offt und gar zu viel, den Tact bald geschwind, bald wiederumb lang-
sam führe, auch den Chor bald stille und sanfft, bald stark und frisch re-
soniren lasse. Wiewol in solchen und dergleichen umbwechslungen in
Kirchen viol mehr, alss vor der Taffei eine Moderation zu gebrauchen
vonnöthen sein wil. So weis nun aber ein jeder selbsten, was solche
Wörter bedeuten, alss: Forte, elate, clare, id est summa, seu intenta
voce, wenn die Instrument und Vocalisten zugleich starck: Pian, sub-
missö, wenn sie die Stimme moderiren und zugleich gar stille intoniren
und musiciren sollen. Sonsten ist Pian so viel alss placide, pedetentim,
lento gradu: dass man die Stimmen nicht allein moaeigen, sondern auch
langsamer singen solle". (Syntagma III, 3. Abth., Cap. I, S. 112.)
2) Vorrede des poet.-mus. Lustwäldleins.
3) G. B. Doni's Traft, della mus. Seen. cap. XXIX ,,deir assegnare
a ctascun personaggio convenevole voce 0 tuono" (Opp. II, S. 86) ent-
hält über diesen Gegenstand interessante Bemerkungen : „ — — dove
parlassero tre paston giovani, si potrebbe ad uno assegnare la voce di
nn Baritono, al secondo di un Tenore e al terzo di un Contralto, allon-
tanando i sistemi alnieno per terze: e parimente, se fossero due Ninfe,
all' una assegnare il soprano piü acuto, all' altra il piü grave. Si puö
dubitare quello, che convenga fare, dovo entrano Deitä, Spiriti celesti 0
infernali, Virtü, Vizj etc. Ne accenneremo dunque qualcne cosa, prima
parlando delle coso vere, poi delle finte e favolose. Introducendosi Gesü
nostro Signore (prima che patisse, 0 poi che resuscito glorioso; perche
in ciö non farei differenza) pare, che convenga darli l'istessa voce, cioe
nn bei Tenore (il quäle vorebbe essere soave e chiaro, come e quello del
Sig. Francesco Bianchi) di Tuono ordinario, poiche questa voce piü dell'
altre conviene ad un corpo ben temperato e perfettamente organizato.
A Iddio Padre, che si rappresenta sempre in forma di vecchio, meglio al
parer mio conviene un Baritono che ogni altra voce. Agli ängeb, che
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344 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Besonders wichtig erwies sich das Heranziehen von Sänge-
rinnen, das „ewig Weibliche" milderte, veredelte, verklärte auch
liier. Die vorübergegangenen niederländischen Zeiten und selbst
die Epoche Palestrina's hatten fast nur von Sängern zu spre-
chen gewusst — war doch der Kirchenchor damals die eigent-
liche Stätte des Kunstgesanges, und das Wort: „tacoat mulier
in ecclesia4' hatte volle Geltung auch in der Kirchenmusik. Die
sempro si figurano in forma di giovanetti, secondo l'eta, che mostreranno,
se h darä im Soprano, piü o meno acuto, o pure un Contralto, poiche
gli Spiriti celesti o anco infernali (che per so stessi um hanno voce al-
cuna) quando si vestono di corpo aereo, o altrimenti, prendendo l'effi^ie
umana, ricevono parimente le medesimo qualita ed operazioni. II principe
de* Demonj, perche si suol figurare in forma grande, grossa c Darbuta,
ottimamento se gli suole assegnare un Basso profondo, che tanto meglio
eli stara, quando sara piü ^rave del corista; cantando anco sopra qualcho
instrumento di Tuono inferiore, e di saono stravagante. Agli altri De-
monj, secondo la forma, sesso, o eta che rappresentano, se gli possono
assegnare düTerenti tuoni; ma non niai soprani, o pure qualche falsett«>
solo. Si devo avvertire anco, che dove sara copia di voci, le piü chiare,
belle e nette si assegnino alli Spiriti buoni e Deitä celesti, e le fosche,
aspre, fesse, e insoavi alli Spiriti maligni e Doita infernali. A Saturno,
Giove, Nettuno, Vulcano, Giano, Ercolo, o siraili Dei favolosi. si devono
attribuire le voci gravi, cioe Bassi 6 Baritoni, ne' tuoni eziandio inferiori
al Corista, quando si potra; come facevano gli Antichi, che agli Eroi so-
levano assegnare il Tuono Ipodorio o Ipofngio: il primo de' quali era
inferiore del Corista una quarta, e il secondo un Semiditono. A Marte
parimente si potra daro un Basso, 6 pure un Tenor« gagliardo e pieno.
A Mercurio, Apolline, Bacco, e simili, che in etä giovenile si figurano.
qualche Tenore o Contralto; se non volessimo piü preäto a Mercurio as-
segnare un Falsetto, per meglio esprimere un costume varie e fraud«>-
lente ; e c< «> i rappresentaudosi un Proteo, da1 Latini detto Vertunno, sara
grande artifizio, farli usare diverse voci. quando si potra. Nolle Dee gen-
tili parimente si puo faro qualche ditferenza, come sarebbe a quelle, che
si figurano piü attempate, o piü virili, il Tuono piü grave, come a Ci-
bele, Maestra degl' Iddei; ed a Bollona, Dea della guerra il Contralto, a
Giunone, Cerere, Minerva e Venere il Soprano piü grave, a Diana e Pro-
serpina piü acuto".
Bis hierher ist alles gut und schön, und recht fein beobachtet —
man höre aber weiter:
„E perche questi vani Iddei gentileschi si crodevano nati chi in un
paese, chi in un altro, dove erano anco piü ostinatamente riveriti, secondo
che quelle nazioni avevauo questo o quel Tuono, sarebbe convenevole, as-
segnarli a quegl' istessi Dei: come per esempio il Tuono Dorio o Ipo-
dorio a Giove di nascita Cretense, provincia della nazione Dorica; ma a
Bacco il Frigio, benche nato in TeDe, citta della Beozia de' medesimi
Doriesi, almeno ne' tempi piü bassi; perche da Frigj massimamente era
venerato, e da Greci in quel tuono si cantavano le musiche de' sagrifizj
di Bacco. A Minerva il tuono Jastio o Jonico, per essere stati di quella
schiatta gl' Ateniesi, cho appresso dl loro la tenevano nata. Ma molto
piü si dovrebbe avere riguardo alla qualita e proprj uti/.i di ciascun»
— a Venere il Lidio, a Saturno ripodorio, a Nettuno anco Ipofngio, e
respettivamento agli altri, che si lasciano ad arbitrio deli' erudito poeta
e giudizioso musico, massiine di quelli, a' quali non si assegnano proprj
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 345
musikalische „Emancipation des Weibes" erfolgte erst durch die
neue Zeit der Monodie, der dramatischen Musik. Bis dahin hatte
man für den Sopran entweder die Singknaben (putti) oder auch
Falsettisten angewendet, wie denn in der päpstlichen Kapelle die
Spanier in dieser Beziehung berühmt waren. Sogar Coloratursänger
gab es unter den Falsett-Sopranen, die enorm hoch singen konn-
ten. ') Giovanni de Sanctos, der 1625 starb, war der letzte Fal-
sett-Sopran dieser Art in der päpstlichen Kapelle. 2) Die älteren
natali, come la Fortuna, Nemesi etc. Si piü dubitare quello, che con-
venga fare nolT Ombre 0 anime de passati, che secondo le favole sogli-
ono essere da' Poeti introdotte in Seena. Di qualunque luogo, che si
fingano venire, 0 sia da' Campi Elisei, 0 dalF Inferno, se si rappresen-
toranno nella loro solita forma umana, quell' istessa voce se gli darä,
come se fossero vivi; ma se s'introdurranno solo i loro siraulacri coperti
con un yelo, 0 altrimenti, non averei per inconveniente, che si facessero
parlare con una voce piii sottile della loro naturale, e che con qualchc
artifizio si alterasse in guisa, che non paresse voce di uomo vivonte; con
questa differenza, che T'aniine beate usassoro (per esempio) il Contralto,
e le dannate un Tenore forzato 0 simile altra voce; ancorche l'ombra
fosse di qualche personaggio antico, di statura eroica e grande, come di
Polydoro nell' Ecuba di Euripido, 0 di Tantalo nel Tieste di Seneca. Alle
Furie infernali alcuni assegnano il Soprano naturale; ma non molto a
proposito a giudizio mio; perche piü presto gli converrebbe un Falsetto,
0 anco un Contralto. Sarebbe anco convonevole. che i Tritoni, Nereide
e simile Deita 0 Mostri marini cantassero con certe voci strane e insolite:
e cosi le Arpie e simili con voce aridula: 0 proporzionatamente le altre figure
chimeriche e fantastiche degli Antichi. Dovrobbesi anco per certi perso-
naggi usare qualche particolar foggia di melodia ; verbi grazia : far cantar
le Sirene con spessi piegamenti di voce, 0 strascini, trilh. tremoli, passag -
getti, e altri ornamenti piü affettati, massimamentc nel genere diatonico,
inspessato dalle corde cromatiche.u Doni hat, wie man sieht, an alles
Mögliche gedacht, an Götter und Holden, an allegorische Figuren und
Schatten der Untorwelt, an den leibhaften Satan und sogar an Meerunge-
heuer — nur die Menschen hat er vergossen; für die damalige Oper waren sie
aber auch ein entbehrliches Contingent! Sein Einfall, die Götter nach ihren
mythologischen Geburtsorten durch die entsprechenden antiken Tonarten zu
charakterisiron ist orz-donisch, jedenfalls über die Massen ergötzlich! —
1) Della Valle spricht von einem Giovanni Luca „gran cantore di
gorge e di passaggi, che andava alto alle stelle" — una das war, wie
della Valle ausdrücklich bemerkt, ein „Falsetto!" Von Lodovico Fal-
setto sagt er: „Vossignoria mi lodö de' ternpi addietro Lodovico Falsetto,
da me ben conosciuto, benche nella mia etä puerile — dicendo che una
nota lunga, ben cantata da lui, come quasi sompre egli soleva fare, jzli
piaceva assai piü, che tutti i passaggi dei moderni; io lo risposi, che
Lodovico cantava con giudizio, perche avendo ogli dulcissima voce di fal-
setto, ma non sapendo molto doli' arte, non usava quasi mai ne passaggi,
ne altre grazie del cantare, che solo un bei mettere del voce, e un nnir
con grazia con quelle sue note lunghe, che per la dolcezza dolla sua voce
piacevano assai.
2) (Giovanni de Sanctos, Spagnuolo) quäle mori in Roma neu" anno
1625, e 111 sepolto nella Chiosa ai S. Giovanni in Campo Marzo. E stato
l'ultuno soprano di voce di falsetto, che abbia servito la cappella ponte-
ticia. (Matteo Fornari, Notizie storiche della C. P.)
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346 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
Meister hüten sich daher, in ihren (Kompositionen den Sopran in
die Höhen emporzuführen, wo er seinen grössten Glanz ent-
wickelt — die Werke haben eher einen tiefen Gesammtton. Die
Falsett-Soprane klangen am Ende doch gequetscht und gewalt-
sam — obschon della Valle die süsse Stimme eines Lodovico
Falsetto rühmt; die kry stall harten Knabenstimmen ermangelten
der Feinheit und Seele — zudem kam die Zeit des Mutirens
schnell heran, ehe der Knabe ganz perfekt musikalisch werden
konnte. Welche feinen Nuancen, welchen weichen Wohllaut bot
dagegen die Frauenstimme ! Pietro della Valle redet mit Ent-
zücken davon. ,) Bald sollten aber die Vittoria Archilei, die
Leonora Baroni, die Lolle und die Cecchinas Concurrenten be-
kommen, mit denen sie die Gunst des Publikums tlieilen niuss-
teu — ja deren Stimmen die eigenüichen musikalischen Fein-
schmecker, die „Orecchianti", dem natürlichen Frauensopran noch
vorzogen. Im Jahre 1601 wurde ein gewisser Pater Girolamo
Kossini aus Perugia in die päpstliche Singkapelle aufgenommen
— er war, wie Adami von Bolsena sagt, der erste „Evirato",
der dort Zutritt fand.2) Das wurde für die ganze folgende Mu-
sikzeit in Italien höchst verhängnissvoll !
In den ersten dramatischen Musikwerken Italiens waren
naturgemass die Männerrollen den Tenor- und Bassstimmen zu-
getheilt, den Sopran sangen Frauen, es wurde auch wohl eine
Frauenrolle einem Singknaben anvertraut, wie die Partie der
Dame (in „Euridiee") dem „fanciuletto Lucchese" Jacopo Giusti.
Der Alt war eine Art Gemeingut. Wie Pen, Caccini, Gagliano
u. s. w. hält sich auch Montevcrde in seinen Opern an Natur
und Wahrheit — sein Schüler Cavalli folgt wenigstens in seinen
älteren Opern („le nozze di Pcleo c di Tetide", „la Didonc"
u. s. w.) dem Beispiele — dagegen ist sein Prinz Paris, sein
Alcibiadc schon Sopran, Xerxes der Perserkönig eine Altpartie.
Bei Alessandro Scarlatti (s. dessen „trionfo d'onore" 1 7 1 S) kommt
es endlich so weit, dass die Geliebte, Dank dem sonoren Alt
der Italienerinnen, Altistin, ihr Anbeter Sopran ist und daher
in Duos die Oberstimme erhält! — In Rom singen, wie wir
schon erwähnten, zur Zeit des Streites der Costisten und Cecclii-
sten zwei Castraten die Frauenrollen in der „Catcna d'Adone".
1) Kr redet von ,,rallegrar la voce, o immalinconarla, farla pietosa,
o ardita. quando bisogni" (bei Doni üpp. II, S. 255). Die Stelle ist sehr
merkwürdig.
2) „Padre Girolamo Bossioi da Perugia, prete della congregazione
dell' oratorio, fiori nel Secolo XVII. In eccellcnte cantore della parte di
Soprano, o fu il prüno evirato, che avesse luogo nella Cappella Pontiti-
cia, avendo fin d allora servito la cappella in qualita di Soprani i nazio-
nali Spagnuoli con voce di falsetto. II prelodato padre fu ammesso tra
cantori Pontificj nett* 1601, o mori nell' 1644 addi 23 di Decembrc44 (Ada-
mi, osserY. per ben regolare il Coro della Capp. Pont.).
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. 347
Als vollends Clemens XII. (1730—1740) das Auftreten von
Frauenspersonen auf dem Theater in Rom verbietet , fallen dort
die Frauenrollen sämmtlich den Sängern „gcneris neutrius" zu,
nachdem das „genus femininum" von den weltbedeutenden Bret-
tern verbannt ist. Noch zur Zeit Caccini's wird die Bezeichnung
„Musico" im natürlichen, unverfänglichen Sinn zur Bezeichnung
eines Musikers gebraucht, spater wurde das Wort ein Euphemis-
mus für „Kastrat". !)
Wenn wir über das Auftauchen dieser Menschenklasse in
Italien erst seit 1 600 bestimmte, und selbst da anfangs nur spär-
liche Nachrichten haben, so finden sich anderwärts allerdings
schon Andeutungen, dass man auch sogar schon vor 1600 derlei
Sänger in den fürstlichen Kapellen unterhielt. In Emilio de'
Cavalieri's Madrigal „godi turba mortal", welches 1589 bei dem
grossherzoglichen Hochzeitsfeste gesungen wurde, ist die ver-
schnörkelte Oberstimme, wie Onofrio Galfreducci sie vortrug, im
Sopranschlüssel notirt und nacb der ganzen Anlage des Tou-
stückes nur in dieser Lage möglich. In dem Madrigal „dunquc
fra torbide onde", welches Jacopo Pcri vortrug, ist dagegen der
Tenorpart colorirt, weil Peri Tenorsänger war. M. Prätorius
zählt den Stand der Kapelle „am Fürstlichen Durchleuchtigkeit
zu Bayern Hoff" auf, wie solcher „zu des fürtrefflichen weitbe-
rümbten Musici Orlandi de Lasso zeiten gewesen" — Orlando
starb 1594 und zwar geistig gebrochen — die „Zeiten" müssen
also wesentlich früher gewesen sein. Da heisst es nun: „Do die
Music daselbst von 12 Bassisten, 15 Tenoristen, 13 Altisten, 16
Capellknaben, 5 oder 6 Capuncrn oder Eunuchis, 30 In-
strumentalisten und also in die 90 Personen starck bestellt ge-
wesen seyn sol." 2)
Lichtscheu und heimlich liegen die Anfange des Verbrechens
in geheimnissvolle Nacht begraben. Hat vielleicht eine Anre-
gung vom Orient her stattgefunden, wo besonders die Venezianer
so gut zu Hause waren ? Im Orient sangen die Eunuchen aller-
dings nicht, aber ihr heller Sprachton kann auf sie aufmerksam
gemacht haben. Sobald man in Italien einmal so weit war, dass
mau dem Ohrenschmaus zu Liebe die Gesetze der Humanität mit
Füssen trat, sobald man sich an die unglücklichen Geschöpfe so
gewöhnt hatte, dass man sie als etwas Selbstverständliches an-
sah, dass an ihnen schon 1G40, wie Pietro della Valle sagt, „ein
grosser Ueberfluss (tanta abbondanza) war", kam man bald so
weit, dass man das Uebergewicht italienischer Musik, wenigstens
1) „Non sono musico", sagte einmal ein deutscher Reisender zu einer
Römerin — das sollte heissen „ich bin nicht musikalisch". Die Dame
fiel vor Lachen fast Tom Stuhle und rief immerfort: „beato lei! beato
lei". Der Fremde konnte nicht begreifen warum.
2) Synt. U, 8. 17.
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348 Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke. )
das Ueberge wicht italienischer Gesangskunst, wesentlich auf ihre
Rechnung schrieb, wie sogar ein Franzose, Abbe Raquenet,
thut. l) Schon Pietro della Valle kann über den Vorzug dieser
1) „J'ai dit au commencement de ce paralele que nous avion3 un
grand avantage sur les Italiens par les basses-contres, qui sont si com-
munes parmi nous et qui sont si rares en Italie. Mais quels avanrages
n'ont iLs pas sur nous, pour les opera, par leurs Castrati, qui sont
sans norabre et dont nous n'en avons pas un seul en Franco. Les voix
de femme sont a la verite* aussi douces et aussi agreables chez nous que
Celles de ces sortes d'hommes; mais il en faut bien qu'elles soient aussi
fortes et aussi percantes, il n'y a noint de voix, nf d'homme, ni de femme
au monde si flexibles que Celles de ces castrati, elles sont nettes, olles
sont touchantes, elles pönetrent jusqu'a Tarne. — Ce sont des gosiers et
des sons de voix de rossignol; ce sont des haleines ä faire perdre terre
et a vous öter presque la respiration, des haleines infinios par lo moyen
desquolles ils executent des passages do je ne sais combien de mesures,
ils font des echos de ces meines passages, ils soutionnent des tenues
d'une longueur prodigieuse, au bout desquolles, par un coup de gorge,
semblable a ceux des rossignols, ils font encore des cadences de lameme
duree. Au reste: ces voix douces et rossignolantes , sont onchantees
dans la bouche des acteurs, qui font le personnage d'amant; rien n'est
plus touchant que Texpression de leurs »eines formee avec ces sons de
voix si tendres et si passionez, ot les Italiens ont, en cela, un grand
avantage sur les amans de nos theatres, dont la voix grosse et mäle est
constamment moins propro aux douceurs qu'ils disont a leurs maitresses.
— Mais lc plus grand avantage, que les Italiens ont sur les Francois par
le moyen de leurs Castrati, du cöte des voix, c'est que cos voix leur durent
des tronte et quarante anndos; au heu, que Celles de nos femmes ne con-
servent gueros plus de dix ou douz ans leur force et leur beaute".
D'ailleurs les Italiens ont encore un grand avantage sur nous par le
moyen de leurs Castrati en ce qu'ils en font le personnage, qu'ils veulent,
uno femme aussi bien, qu'un homme, selon qu'ils en ont besoin; car ces
Castrati sont tellement accoütumez a faire des röles de femme, que les
meilleurs actrices du monde ne les font point mieux qu'eux; ils ont la
voix aussi douce qu'elles, et l'ont avec cela beaueoup plus forte; ils sont
plus grands que le commun des fommes et ont par la plus do majeste*
qu'elles, ils sont memes ordinairomont plus beaux en femme, que les fom-
mes memes. Ferini par exemple, qui en 1698 faisait ä Rome lo person-
nage de Sibaris a l'opera de Ihemistocle est plus grand et plus beau que
ne le sont commune'ment les femmes, il a je ne sais quoi de noble et
de modeste dans la physionomie; habille" en Princesse Persanne, comme
il ötait, avec le Turban et l'aigrette, il avoit un air de reine et d'impe-
ratrice; et Ton n'a peut-etre jamais vu un plus belle femme au monde.
qu'il le paroissoit sous cot habit." (Paralele des Italiens et des Francois
en co qui regardo la musique ot les opera — Paris, 1702. S. 75 bis 83 und
S. 9s). Man sieht hioraus zugleich, dass schon vor dem Verbote Clemens XII.
Castratenfrauenrollen etwas sehr Gewöhnliches waren. Man sieht ferner,
dass die Sache als etwas, das sich von selbst verstand, angesehen wurde.
Heutzutage ist es fast ein Verstoss gegen die Schicklichkeit, davon auch
nur zu sprechen. Eotzebue erwähnt in seiner „Reise nach Rom und
Neapel" (1804) unter andern charakteristischen Figuren, welche man zu
Neapel in den Strassen findet: „dann sieht man viele Jünglinge in langen
Talaren, bald weiss, bald blau oder schwarz, sie gehören zu den verschie-
denen Conservatorien, in welchen Musik gelehrt wird, und manche ver-
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Die Zeit der ersten musikalisch-dramatischen Werke.
349
Soprane nicht genug Gutes sagen. „Wer sang in jenen früheren
Zeiten", ruft er, „wie ein Guidobaldo, ein Cavaüer Loreto, ein
Gregorio, ein Angeluccio, ein Marc Antonio, und so viele andere,
welche ich nennen könnte?" l) Man machte ihnen denn auch
förmlich den Hof, sie hielten Levers wie gekrönte Häupter. Ge-
putzt wie Weiber und mit Brillanten beladen (man lese wie er-
götzlich Benedetto Marcello sie in seinem „Teatro alla moda"
schildert, man sehe des vergötterten Carestini kapaunfette Ge-
stalt, wie sie Hogarth's Grabstichel für die Nachwelt bewahrt
hat) 2) gingen diese Zwitterdinge einher — welche Rolle Fari-
nelli am spanischen Hofe spielte, ist allbekannt — in London
rief eine Dame bei seinem Gesänge laut zur Loge heraus: „one
God, one Farinelli" (!). Erst seit Gluck's Opernieform verschwin-
den die Halbmänner nach und nach, obwol noch im „Orfeo" die
Hauptrolle für den „Musico" Guadagni geschrieben war. Die
französische Oper hatte dergleichen von je verschmäht, dafür
galt es selbst unter den französischen, nicht vom Nationalge-
fühle verblendeten Kennern für eine ausgemachte Sache, dass
man in Paris schreie, nicht singe. Das Verbrechen an der Mensch-
heit aber, durch welches die italienische Musik der „schönen
Periode" ihren Glanz und ihren Kuhm zum grossen Theil er-
kaufte, scheint auf ihr wie ein Fluch zu lasten, und ist jedenfalls
ein unvertilgbarer Flecken in ihrer Geschichte.
rathen leider sogleich durch ihren ungeschickten Wuchs, dass sie zu den
Unglücklichen gehören, welche das verwöhnte Ohr der Italiener am lieb-
sten singen hört".
1) , per dire un poco de' Soprani, che sono il magffiore orna-
mento de IIa musica, Vossignoria vuol paragonare i Falsetti di quei
tempi co i Soprani naturali (!) de1 Castrati, che ora abbiamo in
tanta abbondanza. Chi canto mai in quei tempi come un Guidobaldo,
un cavalier Loreto, un Gregorio, un Angeluccio, un Marc Antonio, e taut
altri che potrei noniinare?" Marc Antonio ist wohl ohno Zweifel derselbe,
welchen Kircher wegen seines Vortrags von D.Mazzoccbi's Magdalena rühmt.
Da er und Loreto Castraten waren, so werden es die „tant altri" wohl
auch gewesen sein.
2) im 4. Blatt von Hogarth's „Mariage a la mode.u
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VII.
Claudio di Monteverde.
Claudio Monteverde.
Die Florentiner hatten Raum für Neues geschaffen. Wäre
es auf G. B. Doni uud seinesgleichen angekommen, so würden
diese Anfange sofort wieder im Keime erstickt worden sein.
Caccini und Peri waren allerdings feine Talente gewesen —
geistvoll, wissenschaftlich gebildet, musikalisch wohlgeschult. —
Marco da Gagliano, ihr nächster Nachfolger, mag mit ihnen den
Dritten im Bunde vorstellen; es bedurfte aber, um dem neuen
Style Dauer zu sichern — denn der blosse Reiz der Neuheit
würde sich ohne wirklichen Fortschritt bald vernutzt haben —
uud um seine Ausbildung mächtiger zu fordern, noch eines Meh-
reren — eines genialen Künstlers, welcher jenes von seinen
Vorgängern geschaffene Vacuum mit positivem Inhalt fülle, dem
zugleich Kühnheit genug innewohnte, um Dinge auf dem musi-
kalischen Gebiete, welche durch langjährige Lehre und Uebung
fast unantastbar geworden waren, welche sich aber als mit der
neuen Ordnung unvereinbar erwiesen, einfach über Bord zu wer-
fen und dafür neue Combinationen zu neuen und eigenen Kunst-
zwecken hinzustellen. Dieser Künstler kam in Claudio Mon-
teverde.
Wie Peri uud Caccini stammte auch Monteverde aus der
Schule der Coutrapunktisten strenger Observanz. Der Sohn un-
bemittelter Eltern aus Cremoua, und nach der gewöhnlichen An-
nahme um 1568 geboren l), wurde er ursprünglich zum Viola-
spieler gebildet, und trat als solcher bei dem Mantuaner Gonzaga
in Dienste. Er blieb dem Hause stets treu anhänglich. Als er
schon die Grosswürde eines Kapellmeisters von S. Marco in Vene-
dig bekleidete, widmete er das siebente Buch seiner Madrigale
(1619) der Herzogin Caterina Medici-Gonzaga von Mantua —
„questi raiei componimenti quali si sieno, faranno pubblico ad
autentico testimonio del mio divota affetto verso la Serenissima
casa Gonzaga, da me servita con ogni fedelta per decine d'anni",
1) Caffi L Band S. 215. Da Arrisi (Cremona litterata) sagt: Mon-
teverde sei im 75. Lebensjahre gestorben, sein Tod aber 1643 erfolgt; so
ergiebt sich obiges Jahr als Geburtsjahr.
Ambro», Geicbichte der Muiik. IV. 23
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Claudio Monteverde.
und als Eleonora Gonzaga Gcmalin Kaiser Leopold I. geworden
und längst im fernen Wien weilte, widmete er ihr seine „Selva
morale et spiritualo", in deren aus Venedig 1. Mai 1641 datirter
Vorrede er sagt: „havendo io cominciato a consecrare alle glorie
della Screnissima casa Gonzaga la mia riverente servitü, a l'hora
quando compiacquesi il Serenissimo Sig. Duca Vincenzo, genitor
della Sacra Maesta vostra (felice ricord.J di ricevere gli effetti
della mia osservanza, quali nella mia verde eti cercai con ogni
diligenza et col mio talento della musica per lo spatio de anni
ventidue continui di mostrarli affettuosi, non ha mai potuto l'in-
terpositione della terra et del tempo ecclisare pure un minimo
raggio del mio ossequio" u. s. w. Monteverde hatte am Hofe
zu Mantua alle Hände voll zu thun. Sein Bruder Giulio Cesare
Monteverde schildert den Vielgeschäftigen und Vielbeschäftigten:
„mio fratello non solo per il carico de la musica tanto da Chiesa
quanto da camera, che tiene, ma per altri servizj non ordinarj,
essendo che servendo il gran principe la maggior parte del tempo
si trova occupato, hora in tornei, hora in balletti, hora in com-
raedie et in varj concerti et finalmente nello concertar le due
viole". x) Sein Talent zur Composition mag sich bald gezeigt
haben, und bei des Herzogs damaligem Kapellmeister Marcanton
Ingegneri, seinem Lehrer, war er jedenfalls in einer guten Schule.
Er hat sich indessen im eigentlichen strengen Contrapunkt alten
Styls, obwohl er ihn gründlich erlernte, nie recht behaglich ge-
fühlt — sein unruhiger Genius konnte sich in solchen Fesseln
nicht so frei bewegen, als es für ihn Lebensbedingung war. Clau-
dio's erste gedruckte Composition waren Canzonetten, welche 15S4
bei Amadino in Venedig erschienen — er war damals also erst
16 Jahre alt — für einen Tonsetzer jener Zeiten eine ungewöhn-
liche Frühreife. Aus einer Mittheilung seines Bruders erfahren
wir, dass er 1599 die Bäder von Spaa besuchte und von dort
den „französischen Musikstyl nach Italien mitbrachte". 2) Was
mit diesem französischen Styl gemeint sei, lehrt ein „Confitebor
tibi Domine" in der „Selva", welches Monteverde ausdrücklieh
als im „Stile alla francese" geschrieben bezeichnet — liedhafte,
1) Schlus8briof der „Scherzi musicali a tre voci di Claudio Monte-
verde, raecolti da Giulio Cesare Monteverde, suo fratello". Venedig bei
Ricciardo Amadino 1609.
2) — haverebbe non poehi argomenti in suo favore mio fratello,' in
particolare per il canto alla francese in auesto modo moderno. che per le
stampe da tre o quattro anni in qua si va uiirando, hör sotto a parole
de motetti, hör de niadrigali, hör di canzonatte et d'arie, chi fu il primo di
lui, che lo riportasse in Italia. di quando venne da Ii bagni di Spa l'anno
1599 et chi incomminciö a porle sotto ad orationi latine et a volgari nella
nostra lingiia prima di lui? Non fece questi scherzi alhora? (a. a. 0.)
Weder Caffi, noch Fdtis, noch Winterfeld weiss etwas von dieser Reis«
nach Spaa.
i
t
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Claudio Monteverde. 355
um nicht zu sagen vaudeville -artige Melodie, aus kleinen, in klei-
nen Notengeltungen (Vierteln, Achteln) geschriebenen Motiven
zusammengesetzt. Denselben Styl zeigen auch die nach seiner
Heimkehr componirten dreistimmigen Scherzi, welche sein Bruder
Giulio Cesare 1609 herausgab. Monteverde hat von diesem
„französischen Styl" auch noch in seinen Opern gelegentlich Ge-
brauch gemacht — im „Orfeo" in zweistimmigen Hirtengesängen,
im „Ulisse" im Solo und Chor der phäakischen Schiffer.
Im Jahre 1587 — seinem 19. Lebensjahre — Hess Claudio
sein erstes Buch fünfstimmiger Madrigale erscheinen, dem 1593,
1594, 1597, 1599 und endlich 1614 noch fünf andere Bücher
folgten. Die Kühnheiten der Harmonie, welche Monteverde an
einigen Stellen der Madrigale des dritten Buches in einer Weise
hören liess, wie vor ihm kein Anderer gethan, weckten den Wi-
derspruch der Kritik — der Canonicus Giov. Maria Artusi von
Bologna griff ihn in seinem 1600 bei Giacomo Vincenti erschie-
nenen Buche: „1/ Artusi, overo delle imperfettioni della moderna
musica, Kagionamenti dui" im zweiten Kagionamento lebhaft an
— indem er Notenbeispiele aus dem Madrigal „Cruda Amarilli"
brachte, welche er kritisch zergliederte. l) Claudio antwortete
in einem offenen Briefe „ai studiosi lettori", den er dem fünften
Buch seiner Madrigale beigab und den sein Bruder Giulio Cesare
den dreistimmigen Scherzi nochmals beidrucken liess — er
beschuldigt Artusi, die Musik aber nicht den Worttext, den Kör-
per aber nicht die Seele gebracht zu haben, was doch für eine
gerechte Beurtheilung das Wichtigste sei. „Die Harmonie ist die
Gebieterin der Worte" (Signora del orazione}. Claudio scheint
auch noch von andern Anhängern des alten Musikstyls allerlei
Angriffe erfahren zu haben. Als er eine seiner geistlichen Com-
positionen dem Papste Clemens VIII. widmete, erging er sich
in Wortspielen und Anspielungen, welche wohl nient auf Artusi
allein zielen mögen — er bittet um des Papstes Segen „ut mons
exiguus ingenii mei magis ac magis virescat in dies et clau-
dantur ora in Claudium loquentium inique". Solche Concetti
waren im Zeitgeschmack. Auch Artusi's, des Gegners, Name
wurde mit Wortspielen förmlich todtgehetzt — aber in lobprei-
sendem Sinne. Ein gewisser Muzio Manfredi ruft:
l'arte, ch'anco nel ciel si stima et usa
De T artofice eterno a gloria eterna.
E da noi detta qui sara Art usa u. s. w.
ein Doctor Vincenzo Maria Sandri singt Artusi an:
Qual altro Art uro nel Settentrione
Conduce Artusi il carro trionfale
Di Celeste armonia, che senza eguale
Vinco d'Orfeo la lira e d'Anfione u. s. w.
1) Fol. 40 u. ff.
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Claudio Monteverdo.
und sogar Ericeus Puteanus, der wackere Verfasser der „Pallas
modulata" lässt sich vernehmen:
Quid Artusius? ille et arto et usu
Pollens, flos hominum eruditiorum? u. s. w.
Artusi hat nach der Zeit Weise diese dampfenden Weihrauch-
kessel seinem Buche vorangestellt — es war eben Sitte, die Ke-
clame in dieser Art in Bewegung zu setzen und solche versifi-
zirte Empfehlungsschreiben dem Buche (oder den Compositionen,
wie z. B. Radesca da Foggia that) auf den Weg mitzugeben.
Die beste Antwort, welche Monteverde geben konnte, war,
dass er rüstig und freudig weiter schuf. Er hat sich allerdings,
wenn er das prometheische Feuer vom Himmel holte, zuweilen
die Finger verbrannt, aber glücklich heruntergebracht hat er das
Feuer doch!
Dem rastlos auf Neues sinnenden Geiste Monteverde's musste
die Florentinische Musikreform wie ein heller Lichtstrahl vom
Himmel vorkommen, welcher dem Suchenden den rechten Wreg,
den er zu wandeln hat, plötzlich erhellt. Die Madrigale, die
Kirchenstücke — so Treffliches sie enthalten — sind es doch
kaum, welche Monteverde unsterblich gemacht haben würden —
er ist es als dramatischer Componist geworden. Von seinen
dramatischen Compositionen aus griff er dann auch reformatorisch
in die Kirchenmusik, in's Madrigal ein — wie insbesondere seine
„Selva" zeigt. Er ist eine der grossen epochemachenden Er-
scheinungen in der Geschichte der Musik. Vieles, worin unsere
neue Musik ihre tiefsten und grössten Wirkungen findet, lasst
sich in den ersten, oft sogar schon merkwürdig entwickelten Kei-
men in Monteverde nachweisen.
Als Monteverde's Lehrer Ingegneri starb, konnte er keinen
würdigeren Nachfolger finden als eben ihn. Auf dem Titel der
1604 in Venedig erschienenen neuen Ausgabe des fünften Buches
der ftinfstimmigen Madrigale, wird er zum erstenmale in seiner
neuen Würde genannt. Monteverde war schon damals ein Mu-
siker von grossem Ruf, die Neuauflagen seiner Madrigale be-
schäftigen unausgesetzt die venezianischen Pressen — was nicht
ohne Einfluss auf Monteverde's späteres Lebensgeschick blieb —
auch Peter Phalesius in Antwerpen druckte 1615 alle fünf Bü-
cher Madrigale nach.
Monteverde's glorreichste Zeit sollte aber erst beginnen, als
er im neuen „Stile rappresentativo" zu componiren begann. !)
Im Jahre 1607 feierte (wie wir schon bei Marco da Gag-
liano's „Dafne" erwähnten) der Herzog Vincenzo Gonzaga von
Mantua die Vermälung seines Sohnes mit der Infantin von Sa-
1) Dartiber zu vergleichen: Kirchers Musurgie, Lib. VII, S. 594.
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Claudio Monteverde.
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voyen. Vermuthlich war der Herzog sieben Jahre früher Gast
bei der Hochzeit Heinrich's IV. und Maria's von Medicis in Florenz
gewesen und hatte die „Euridice" und das „Rapimento di Cefalo",
wo sein eigener Hofsänger Rasi mitgewirkt, mit Bewunderung
gehört. Kein Wunder, dass er für sein Fest etwas Aehnliches
wünschte. Er lud den Dichter der Dafhe und der Euridice nach
Mantua ein — Rinuccini kam und arbeitete nicht blos das Buch
der „Dafhe" für Marco da Gagliano theilweise um, sondern dich-
tete auch für Monteverde ganz neu die „Arianna'' (Ariadne).
Also eine Fürstentochter, welche zuletzt durch Vermälung mit
Bacchus, dem Gotte, zur Göttin erhoben wird. Man sieht, dass
Rinuccini die Kunst noch trefflich verstand.
Monteverde's Composition erregte Sensation; Marco da Ga-
gliano, welcher seine „Dame" gleichzeitig auf die Bühne brachte,
redet mit Bewunderung davon. Bei dem Gesang der verlasse-
nen Ariadne „lasciatemi morire" brachen die Zuhörer in Thränen
aus — und G. B. Doni reiht in seinen Abhandlungen die Ari-
anna unter die Meisterwerke ein. Ganz interessant ist es, wie
sich Doni das Verhältniss Monteverde's zu Peri und zu Caccini
in einer Parallele klar zu machen sucht — „il Monteverde", sagt
er, „cerca piü le dissonanze e il Peri poco si disparte dalle regole
communi — in Giulio Romano vi si scorge maggior varieta de
pensieri, ma nel Peri piü nobili e uno stile direi piü tragico,
siccome quell' altro ha piü di comico, essendo quello piü ornato
e questo piü semplice e maestoso — quanto al Monteverde pare
che piü di amendue cerchi le durezze nel conüappunto e le sue
modulatione vadano c an täte con quei tempi che sono segnate: ma
quelle del Peri con la misura piü veloce perche* per lo piü si
serve di note bianche". l) Monteverde hat nachmals den unglück-
lichen Einfall gehabt, aus dem Klaggesang Ariadne's eine Ma-
rienklage zu machen. „Pianto della madonna a voce sola sopra
il lamento d' Arianna" — in dieser Gestalt bildet die Composition
den Schluss der „Selva". Der lateinische Text folgt dem italie-
nischen Schritt fiir Schritt und nimmt sich, wenn man beide neben
einander hält, seltsam genug aus. Klagt Ariadne „Lasciate mi
morire, e che volete voi che mf conforte in cosi dura sorte in
cosi gran martire? o Teseo, Teseo mio! si che mio ti vo dir, che
mio pur sei, beuche t'involi, ahi crudo ! volgiti Teseo mio" u. s. w.,
so heisst es dort: „Jam nioriar mi fili, quisnam poterit mater con-
solari in hoc fero dolore, in hoc tarn duro tormento? mi Jesu, o
Jesu, mi sponse, sponse mi dilecte, mea spes, mea vita, me de-
seris, heu vulnus cordis mei, respice Jesu mi" u. s. w. Je besser
Monteverde in seiner Musik den Ton für Ariadne getroffen, desto
weniger will er für die „Mater dolorosa" passen.
1) G. B. Doni Tratt. della mus. scen. XLIV.
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358 Claudio Montererde.
Dieser Gesang Ariadne's ist von Monteverde's Arianna das
einzig erhaltene Stück (denn die kleinen Deklamationsproben in
wenigen Noten, welche Doni zitirt, lassen zu wenig entnehmen).
Aber diese eine Nummer genügt, um schon hier einen mächtigen
Fortschritt Über die Florentiner wahrnehmen zu lassen. Der pa-
thetische Zug, der grosse Wurf, der leidenschaftliche und dabei
edle Schmerz, der echt tragische Zug dieses wirklich auch schon
ariosen Gesanges, lässt die ersten Florentiner Versuche weit hinter
sich zurück. Wir begreifen, dass die Hörer in Mantua hinge-
rissen waren — werden wir uns doch selbst einer ähnlichen Em-
pfindung nicht erwehren können. Ja, wer nur dieses Stück, be-
ziehungsweise die erste Strophe kennt, wird sogar geneigt sein,
Monteverde auf eine Höhe zu stellen, welche er wohl sicher er-
reicht haben würde, wäre er etwa Zeitgenosse Gluck's gewesen,
welche aber in seiner Zeit zu erreichen nicht einmal die Flügel
seines Genius stark genug waren. Der Gesang selbst schon zeigt
es in seinem Verlaufe — denn auch er verfällt endlich dem
Grundübel dieser ersten dramatischen Versuche — er wird mono-
ton. Ariadne erschien noch 1640 auf dem Teatro S. Mose in
Venedig.
Im folgenden Jahre 1608 folgte die Oper „Orfeo" nach der
Dichtung eines Ungenannten (nicht Rinuccini1s) und der so-
genannte „Ballo delle Ingrate" — eine Composition, wo die Musik
trotz der antiken Götter, die im Textbuche erscheinen, zum er-
stenmale im vollen Zauberschimmer des Romantischen steht.
In Venedig war im Juli 1613 der Capellmeister von S.
Marco, Giulio Cesare Martinengo, gestorben. Jetzt trugen die
häufigen Venetianischen Editionen der Werke Monteverde's und
der Ruhm, der von Mantua herüberscholl, ihre Frucht. Die Pro-
curatoren Hessen probeweise Compositionen Monteverde's in S.
Marco aufführen, holten über ihn durch ihre Gesandten Informa-
tionen ein und ernannten, mit Dekret vom 19. August 1613»
Monteverde zu Martincngo's Nachfolger, wobei sie ihm sofort 50
Dukaten Reisegeld anwiesen. l) Monteverde hatte ein vielbeneide-
tes Ziel des Ehrgeizes erreicht.
Seine offizielle Stellung war nunmehr die eines Kirchencom-
ponisten; Venedig besass zur Zeit seiner Berufung noch kein
Operntheater. Wenn man erwägt, dass dort vom Jahre 1637 an
1) Der Wortlaut dos Dekrets bei Caffi I, 3. 222. Die Procuratoren
hatten über Monteverde auf echt venezianische Weise Informationen ein-
geholt: „Bicercati gli Ambasciatori e Residenti Voneti" u. s. w.; ferner
heisst es: „ — delle qualitä e virtü del quäle si sono Sue Signorie Illu-
strissime maggiormente confermate in questa opinione, cosi dalle sue opere,
che si trovano alle stampe, come da quelle, che oggidi S. S. Dl. anno ri-
cercato di sentir per total sua saddisfazione in chiesa di S. Marco con Ii
musici di questa«4 u. s. w.
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Claudio Monteverde.
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binnen kurzer Zeit eine ganze Reihe von Bühnen entstand , auf
denen Hunderte von Opern aufgeführt wurden, dass also, wie
man hieraus schliessen mag, sich die Venezianer als höchst lei-
denschaftliche Opernfreunde zeigten, so mag es seltsam scheinen,
dass die Oper so verhältnissmassig spät ihren Einzug hielt Die
Erklärung liegt wohl darin, dass das musikalische Schauspiel an-
fangs eine Art Reservatgenusses für die Fürstenhöfe war, in der
misstrauischen Republik Venedig aber ein Grosser es nicht wohl
wagen durfte, durch ein prunkendes Hoffest dieser Art sich über
Seinesgleichen zu erheben und gewissermassen den Souverain zu
spielen. Die erste Opernbühne in Venedig 1637 war Privatunter-
nehmung und Spekulationssache. Es war nur wie ein schüchterner
erster Versuch, wenn 1624 der Senator Girolamo Mocenigo, Mon-
teverde's besonderer Gönner, die Erzählung vom Zweikampf Tan-
cred's und Clorinda's aus Tasso's befreitem Jerusalem, von Mon-
teverde im Stile rappresentativo componirt, in seinem Palast nicht
nur singen, sondern auch, wie aus der Vorrede des Werkes her-
vorgeht, mit dramatischer Aktion darstellen Hess — in dieser Ge-
stalt ein seltsames Zwitterding, da ausser dem heldenmüthigen
Paare auch noch ein Erzähler (Testo) einen Part zu singen hat,
und dessen mitten in den Dialog der Hauptpersonen hineinge-
sungenes „rispose" und „disse" sich wunderlich ausgenommen
haben muss. Aber die Kraft und der Ausdruck der Musik Mon-
teverde's, dazu ganz neue Effekte in der Begleitung, rissen das
Auditorium hin — das sei ein Gesang, urtheilte der versammelte
Adel Venedigs, wie man früher noch nie gehört, und Ciorindens
Tod, Tancred's verzweifelter Schmerz, in Monteverde's ergreifen-
den Tönen gemalt, entlockte auch hier den Zuhörern Thränen. *)
Die Venezianer wussten, was sie an Monteverde besassen.
Sein Jahresgehalt als Kapellmeister von S. Marco war sogleich
von den 200 Dukaten, welche sein Vorgänger Martinengo bezo-
gen hatte, auf 300 Dukaten, vom 24. August 1616 an sogar auf
400 Dukaten erhöht worden: „perche abbi occasione di fermar
l'animo suo di viver e morire in questo servizio". Diese Vortheile
fesselten ihn ohne Zweifel an Venedig, aber eben so auch wohl
die Versorgung, welche seine Söhne dort fanden. Monteverde
war verheiratet gewesen; als er die Berufung nach Venedig er-
hielt, war er aber schon Wittwer. Von seinen beiden Söhnen
war der ältere, Francesco, geistlich, dazu ein tüchtiger Tenor-
sänger, als welcher er am 1. Juli 1623 in den Sängerchor von
S. Marco eintrat; Maximilian, der jüngere Sohn, war Arzt.
Eine ganz besondere Genugthuung für die aus Bologna aus-
1) „alla presenza di tutta la nobiltä, la quäle resto mossa
dalT affetto di compassione, in maniera, che quasi fü per gettar lagrime,
et ne diede applauso, per esaere canto di genere, non piü visto ne udito".
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Claudio Monteverde.
gegangenen Angriffe sollte Monteverde in eben dieser gelehrten
Stadt erhalten. Er reiste 1620 hin und wurde bei S. Micchele
in Bosco von einer grossen Anzahl der angesehensten Bürger
und der vorzüglichsten Musiker aus Bologna festlich begrüsst,
mit Musik und Anreden gefeiert. Am 13. Juni (nel giorno di
S. Antonio) nahm ihn die dortige „Accademia florida" feierlich
unter ihre Mitglieder auf. l) Monteverde' s Ansehen stieg von
Tag zu Tag. Die in Venedig ansässigen Florentiner wendeten
sich an ihn, als nach dem Tode Cosmus II. ein Requiem zur
Todtenfeier in der Kirche S. Giovanni e Paolo abgehalten wer-
den sollte. Dieses Werk, dessen Aufführung am 25. Mai 1621
stattfand, kennen wir leider nur aus Giulio Strozzi's, des Opern-
dichters, begeisterter Schilderung. Er lobt „die trauervolle, zu
Thränen rührende Symphonie der Instrumente, welche den an-
tiken mixolydischen Ton, Sappho's Erfindung, nachahmt, das
Dies irae, das herrlich-wohllautende De profundis, das einen Dia-
log gleichsam der Seelen im Fegefeuer mit den sie besuchenden
und tröstenden Engeln vorstellt — Compositionen, welche durch
Neuheit und Trefflichkeit die grösste Bewunderung erregten".
Also, wie man selbst aus dieser kurzen Schilderung deutlich ent-
nimmt, wiederum der Ton leidenschaftlichen Affektes und eine
ganz dramatische Anlage. Im Jahre 1627 componirte Monteverde
für den Hof von Parma über erhaltene Aufforderung fünf Inter-
mezzi, zu denen die Geschichte Bradamante's (nach Ariost) und
Dido's den Stoff gegeben. Im Jahre 1629 componirte er zum
Geburtsfeste des Sohnes des Gouverneurs von Rovigo, Vito Mo-
rosini, eine Cantate „il Rosajo fiorito" — (bekanntlich lieben die
Einwohner von Rovigo — „Rosarum vicus" — noch heute die An-
spielung auf „Rosen") •, die Auffuhrung geschah durch die dortige
„Accademia de' concordi".
Der ausserordentliche Erfolg des Tancredi und der Umstand,
das 8 der ganze Adel dessen Auffuhrung im Palast Mocenigo so
überaus gut aufgenommen hatte, mag es veranlasst haben, das*
Girolamo Mocenigo, als 1630 seine Tochter den Lorenz u Giusti-
niani heiraten sollte, es so gut wie irgend ein Fürst der Terra
ferma wagte, das Hochzeitsfest durch ein musikalisches Drama
zu verherrlichen. Giulio Strozzi dichtete eine Proserpina rapila,
Monteverde setzte sie in Musik. Der Enthusiasmus war unbe-
schreiblich; das Zusammenwirken von Schauspiel und Gesang, von
Chören und Tänzen und Orchestersätzen bezauberte. Aber im
Jahre 1630 sollten die Kunstgenüsse durch eine furchtbare Heim-
suchung unterbrochen werden — durch jene schreckliche Pest,
von deren Wüthen in Mailand Manzoni in seinen „Promessi sposi"
nach den Berichten der Zeitgenossen Tadino, Ripamonti u. s. w.
1) Maaini, Bologna perlustrata III, S. 15.
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Claudio Monteverde.
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ein so ergreifendes Gemälde zu geben gewusst hat und welche
eben so auch in Venedig entsetzliche Verheerungen anrichtete.
Die prachtvolle Votivkirche, welche am Eingang des Canal grande
mit ihren Kuppeln in ihrer weissen Marmorpracht herleuchtet,
S. Maria della Salute, deren plastische Altargruppe Maria vor-
stellt, wie sie die als grauenhaftes altes Weib gebildete Pest *)
verscheucht, ruft noch heute die Erinnerung an die Schreckens-
zeit jener Seuche zurück, deren gänzliches Erlöschen der Doge
erst am 28. November 1631 feierlich verkündigen konnte. An
demselben Tage fand ein feierliches Dankhochamt in S. Marco
statt — die Composition war von Monteverde; grossen Effekt
machten die im Gloria und im Credo ertönenden Posaunen.
Vielleicht war es die Nachwirkung jenes in alle Klassen der
Gesellschaft verderblich eingreifenden öffentlichen Unglücks, wenn
der grosse Eindruck, den „la Proserpina rapitaw hervorgerufen
hatte, verwischt und vergessen schien, und erst 1637 erfolgte,
was unter anderen Verhältnissen wohl schon früher geschehen
wäre — die Eröffnung des ersten Operntheaters in Venedig, ge-
nannt: bei S. Cassiano (il Teatro di S. Cassiano) — denn in Ve-
nedig wurde es Sitte, den Theatern ihre Namen nach den ihnen
zunächst gelegenen Kirchen zu geben. Die Unternehmer des
Theaters S. Cassiano waren Benedetto Ferrari, nach seiner
Virtuosität auf der Theorbe auch Benedetto della Tiorba genannt
(geb. 1597. starb am 22. Oct. 1681), auch als Poet von Opern-
büchern, die als „Poesie drammatiche di Benedetto Ferrari" ge-
sammelt 1644 in Mailand gedruckt erschienen, und Francesco
Man clli da Tivoli. Sic erscheinen recht eigentlich als die
ersten Impresarios, welche sich, wie auch nachmals Gebrauch
blieb, ihre Gesellschaft aus ganz Italien zusammensuchten — und
zwar, wie das gedruckte Textbuch ihrer ersten, von Ferrari ge-
dichteten, von Manelli componirten Oper „l'Andromeda" versichert,
„una compagnia de piii scelti cantanti d'Italia" — es waren, nebst
der Römerin Maddalena Manelli, der Gattin des Componisten,
Felicita Uga aus Rom, Francesco Angelletti von Assisi, Antonio
Panni von Reggio, Giambattista Bifarci von Bologna, und der
Venezianer Francesco Pesarini. Unter den begleitenden Instru-
meutalistcn wirkte Ferrari mit, „colla sua miraculosa Tiorba", wie
das 1637 in Venedig gedruckte Textbüchlein sagt, dessen Titel-
kupfer den Künstler vorstellt mit der Unterschrift: „Bcnedictus
Ferraris, aetatis ann. XXX." Da die Sache ein Compagniege-
schäft bekannter und geschätzter Künstler war, so erklärt sich
ein Umstand, welcher sonst auffallen müsste : dass man nicht vor
allen den berühmten Monteverde um die Composition einer Oper
anging. Für diesmal begnügte man sich mit der einen Oper; im
1) Burckhardt im „Cicerone" sagt irrig „die Zwietracht".
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Claudio Monteverde.
Jahre 1638 folgte „la maga fulminata'' derselben Autoren —
prächtig ausgestattet — und 1639 „l'Armida", Text und Musik
von Ferrari, neben letzterer aber auch „la Delia ossia la Sposa
del Sole", Text von Giulio Strozzi, Musik von Manelli (oder
von Paolo Sacrati), „le nozze di Peleo e di Tetide'4 von Fran-
cesco Cavalli, Monteverde's trefflichem Schüler und Nachfolger,
und endlich von Monteverde selbst: „l'Adoneu — Dichtung von
Paolo Vendramin.
Schon 1639 entstand ein zweites Theater bei S. Giovanni e
S. Paolo, welches mit „la Delia, la Sposa del Sole" begann ^be-
stand bis 1715) und 1641 ein drittes bei S. Mose, welches zu-
nächst nach Monteverde's „Arianna" griff. Schnell nach einander
wurden nun in Venedig folgende Opernbühnen gegründet:
II Teatro nuovo, 1641 eröffnet mit Strozzi's „finta pazza",
Musik von Strozzi — dieses Theater, welches sich, wie man
sieht, unter keines Heiligen Schutz gestellt, ging nach sechs Jah-
ren wieder ein.
Teatro SS. Apostoli 1649, die erste Oper war „Orontea",
Text von Giac. Andrea Cicognini, Musik von Marcanton Cesti.
Teatro S.Aponal (Apollinaris), eröffnet 1651 mit „l'Oristeo'S
Text von Faustini, Musik von Cavalli.
Teatro S. Luca oder S. Salvatore, eigentlich schon seit lange
bestehend, aber seit 1661 Operntheater; den Anfang machte „la
Pasife" von Gius. Artale, Musik von CastroviUari.
Teatro S. Gregorio, 1670, mit der Oper „Adelaida, Regia
Principessa di Susa", Text von G. B. Rodoteo, die Musik ein
Pasticcio.
Teatro S. Angelo, 1677; Aureli's „Elena rapita da Paride",
componirt von Domenico Freschi, machte den Anfang.
Teatro S. Giovanni Grisostomo, 1678, erste Oper: „Vespasiano"
von Corradi, Musik von Pallavicini.
Teatro S. Fantin, im Jahre 1699 nach Schliessung des Teatro
al Canareggio mit der Oper „Paolo Emilio1' von Francesco Rossi,
Musik von Pignatta, eröffnet.
Somit von 1637 bis 1699 eilf Operntheater, denen 1710 sich
das Teatro S. Samuele mit der Oper „l'ingannator ingannato",
Text von Marciii Musik von Ruggiero, anschloss.
Monteverde's „Adone" erschien auf dem hemach berühmten
Teatro S. Giovanni e Paolo und wurde von der Herbst-Stagione
1639 zum Carneval 1640 immer wieder gegeben. Im Jahre 1641
folgte die Oper „Le nozze di Enea con Lavinia" und „il ritorno
d'Ulisse in patria", die Dichtung beider von Giacomo Badoar. Im
Jahre 1642 beschloss die Oper „l'Incoronazione di Poppea'*, Text
von Giovanni Businello, Monteverde's langes und glorreiches
Wirken. Von diesen Spätlings-Opern ist nur der Ulisses durch
einen glücklichen Zufall erhalten. In demselben Jahre 1641
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Claudio Monteverde,
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hatte Monteverde seine „Selva morale e spirituale" der Kaiserin
Eleonora in Wien gewidmet; es scheint, dass er dem Dedications-
exemplar seine neueste Oper beilegte, welche der Musik liebende
Leopold I. sofort als besondere Kostbarkeit seiner Sammlung
einreihete; der Deckel ist mit dem in Gold eingepressten Bilde
des Kaisers bezeichnet, eine Ehre, welche diese Partitur z. B.
mit Cavalli's Autograph des „Egisto" theilt. Von anderer Hand,
als der des Copisten, sind Aenderungen in der ursprünglichen
Eintheilung der Akte beigeschrieben, und bei der weggelassenen
zweiten Scene des dritten Aktes, welche vermuthlich den Selbst-
mord des Bettlers Irus enthielt, steht die seltsame Bemerkung:
„Scene 2da la si lascia fuora per essere mauinconica" ; diese Zu-
sätze können schwerlich von einer andern Hand sein, als von
jener Monteverde's selbst. Wir müssen die glückliche Rettung
doppelt preisen, da durch sie die bisherige Lücke zwischen „il
combattimento di Trancredi" und zwischen Cavalli's „Peleus und
Thetis" in der Geschichte der Oper vollständig ausgefüllt wird.
Die Entwickelung, welche Monteverde in sich erlebte, tritt hier
in den merkwürdigsten Weise hervor — die Anknüpfungspunkte
an „Orfeo" und den „Tancred" sind hier ebenso deutlich, als uns
andrerseits Cavalli, dessen „Peleus" sonst eine geradehin unbe-
greifliche Erscheinung wäre, plötzlich erklärlich wird. *)
Die Absicht der Procuratoren, Monteverde, den Cremonesen,
ganz und gar fiir Venedig zu gewinnen, war vollständigst erreicht
— auf den gedruckten Textbüchern seiner Opern nennt er sich:
„Claudio Monteverde Veneziano." In S. Älarco war er nicht
blos Kapellmeister, sondern zuletzt auch Mitglied des Priester-
collegiums. Er trat mit 65 Jahren in den geistlichen Stand und
legte nicht geringen Werth darauf. „Ich schreibe hier nicht als
Priester, sondern als Kapellmeister", sagt er in einer Klage an
die Vorgesetzten, zu welcher ihn eine Beleidigung veranlasste,
die ihm ein Sänger von S. Marco öffentlich auf dem Marcusplatz
angethan. Seine Geistesfrische behielt er bis ins hohe Alter.
Als er seine „Poppea" componirte, war er 75 Jahre alt. Plötz-
lich aber, — er war von Venedig gerade abwesend — fühlte er
seine Kräfte schwinden, er kehrte eilends nach Venedig zurück,
um dort zu sterben — „a guisa di cigno, che presentendo Tora
1) Der Schatz lag lange anbeachtet in der kais. Bibliothek, da
das Titelblatt fehlt und die Partitur ursprünglich als „unbekannte
Oper" catalogisirt war. Kiesewettor sah sie , erkannte sie ganz richtig
als Werk Monteverde's — seine Erklärung wurde im Katalog beigesetzt
— er selbst aber machte, was nur bei der an Phlegma streifenden Ge-
lassenheit meines Oheims Kiesewetter erklärlich wird, von dem kostbaren
Funde keine weitere Erwähnung, keinen weiteren Gebrauch! Ich habe
die Partitur, obschon ich sie in Wien täglich sehen kann, für mich eigen-
händig copirt, damit doch noch ein zweites Exemplar in der Welt sei.
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Claudio Monteverde.
fatale de suoi giorni s'avvicina alle acque, ritorno volando a Ve-
nezia, regina dell1 acque" sagt sein Zeitgenosse und bombastischer
Lobredner, Matteo Caburlotto, Pfarrer von S. Tommaso in Ve-
nedig. x) Nach kurzer Krankheit starb Monteverde. Eine Todten-
feier in S. Marco unter Giovanni Rovetta's Leitung ehrte sein
Andenken; eine zweite veranstaltete sein Schüler Giarabattista
Marinoni genannt Giove, Kapellmeister am Dom zu Padua, am 15.
Dezember 1643 in der Frarikirche, wo Monteverde in jener Ka-
pelle links vom Chor begraben liegt, welche als Altarbild das
berühmte von Luigi Vivarini angefangene, von Marco Basaiti
vollendete Gemälde bewahrt. Keine Inschrift nennt den Namen
des Meisters; die in den Boden eingefugte Steinplatte der Gruft
trägt die allgemeine Bezeichnung: „Cadaveribus Insubrium hujusee
collegii sarcophagus dicatus MDXX consule Jo. Bapt. Cuchetto
instauratus anno Dom. MDVIIC." Es ist also noch derselbe
Stein, der sich über Monteverde's sterblicher Hülle schloss. Sein
der Schrift Caburlotto's im Kupferstiche beigegebenes Bildnis*
zeigt ein geistreiches, energisches, doch keineswegs schönes Ge-
sicht — hohe Stirne, etwas schräg gestellte Augen, kräftig ge-
bogene Nase, Lippen und Kinn von einem ziemlich starken Bart
bedeckt, die Kopfbildung länglich, nach der Haltung von Hals
und Schultern offenbar das Bild eines langen hagern Mannes —
das Gesicht könnte gleicherweise an den Herzog von Alba und
an — Mephistopheles erinnern, sähe nicht aus den Augen grosse
Treuherzigkeit und eine gewisse gutmüthige, halb schalkhafte
Herzlichkeit, welche die, wenn auch bedeutende, doch eigentlich
sehr unschöne Bildung des Ganzen vergessen machen und den
Mann völlig liebenswürdig erscheinen lassen.
Die Erscheinung Claudio Monteverde's ist eine so ausser-
ordentliche, dass an folgenreicher Bedeutsamkeit aus früherer
Zeit eine einzige gleich wichtige namhaft gemacht werden kann:
Josquin de Prös — in allen folgenden Epochen aber keine ähn-
liche wieder auftritt. Durchaus nicht so, als ob Monteverde's
Compositionen an Schönheit der Form und idealem Gehalt, an
meisterlicher Textur und Grösse der Wirkung alles Sonstige über-
träfen: oft genug tritt das Unentwickelte, Halbfertige, glücklicli
Gedachte aber ungenügend Ausgeführte zu Tage; sie haben noch
etwas Hartes, Herbes. Die Eroberungen Claudio's auf musikali-
schem Gebiete, Dinge, welche er wie durch Intuition findet und
einfach hinstellt, ohne deren enorme Tragweite einstweilen zu
ahnen, haben Folgen gehabt, über welche Monteverde selbst er-
staunen müs8te — wir dürfen ihn als den Vater unserer ganzen
heutigen Musik begrüssen. Der geistige Stammbaum unserer
1) ,.Laconismo delle alte qualita di Claudio Monteverde" lautet der
seltsame Titel der keineswegs ,.lakonischenu Schrift.
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Claudio Monteverde.
365
grossen Meister wird zuletzt immer auf Monteverde zurückgehen
müssen.
Wenn wir von Josquin an seiner Stelle sagen mussten, dass
er der Musik eine neue Welt öffnete, als er die Wahrnehmung"
machte, es sei, wenn es nur (wie bei seinen Vorgängern) gut
und würdig zusammenklingt und die kunstvoll verschränkten
Nachahmungen der Stimmen unter sich logischen Zusammenhang,
architektonisch bedeutende Construction in den Tonsatz bringen,
mit der Sache noch lange nicht aus, — die Musik besitze auch
Sprache und Ausdrucksfahigkeit für Lust und Leid der Menschen-
brust, könne ein Spiegel des menschlichen Seelenlebens in seinen
hellen und dunkeln Phasen sein, und da er nun nicht blos aus
dem okeghemisch-geschulten Tonsetzer sofort Tondichter und Ton-
maler wird — bis zur Tonmalerei im engeren Sinne, welche er
der erste anwendet — : so fallt nicht weniger in's Gewicht, was
Monteverde mit dem Instinkt des Genies fand: er emaneipirt die
Dissonanz von ihrer bisherigen strengen Gebundenheit; die Sep-
time, die None lehrt er frei eintreten, ja beide, als Doppcldissonanz
verbinden ; er begreift der erste die grosse und eigenthümliche Wir-
kung dreier auf einen Grundton aufgebauter kleiner Terzen, d. i.
des verminderten Septimcnaccordes. Die heilige Priesterjungfrau
Musik musste noch bei Palestrina züchtig, ernst, einfach einher-
gehen, die Dissonanz durfte hier nur eine gemässigte, strenge
geregelte Anwendung finden; jetzt aber sollte die Musik die
Sprache des Affektes, die Sprache der Leidenschaft sprechen, sie
sollte es lernen „sich in die Welt zu wagen, der Erde Weh, der
Erde Glück zu tragen, mit Stürmen sich herumzuschlagen, und
in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen" — dazu hiess es
die Dissonanz von den bisherigen Banden befreien. Monteverde
kennt und beachtet den Unterschied sehr wohl. Seine Kirchen-
stücke sehen in diesem Punkt ganz anders aus, als seine drama-
tische Musik, als seine Madrigale. Er ist es ferner, bei dem sich
die ewige musikalische Rezitation der Florentiner an gehöriger
Stelle zu ariosen Bildungen zu formen beginnt, als ob sich aus
dem unendlichen Gewoge eines weiten Meeres grünende Inseln
zu heben begännen. Er wirft mit fester Band den Grundriss,
den Bauplan der Arie, des wirklich liedmässigen Liedes hin. So
bringt er in seinem „Orfeo" das erste „Siciliano" — ohne es
contrapunktisch durch einander zu wirren, wie seine Vorgänger
ihre Villanellen alla Napoletana u. s. w., bei welchen sie wohl
etwas Aehnliches — wie im Traume — wollten, es aber nicht er-
reichten. Sieht man diese Villoten auf einer den Kirchentönen
entstammenden Harmonie wie auf einem holperigen Steinweg herum-
taumeln, so staunt man, wenn man sieht, wie das neue (unser)
Harmoniesystem bei Monteverde, wenn auch noch nicht entfernt fer-
tig und voll ausgebildet, doch schon in seinen richtigen, fundamen-
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366
Claudio Monteverde.
talen Giundzügen ganz bestimmt zur Geltung gebracht ist.
Monteverde ist ferner der Erste, der es begreift, dass die Klang-
farbe der Instrumente ihre grosse ästhetische Bedeutung habe, ein
Ausdrucksmittel unschätzbaren Werthes sei — dass der Wechsel
dieser Klangfarben noch eine ganz andere Bedeutung haben
könne, als nur dem Ohr mit abwechselnden Klängen zu
schmeicheln, wie etwa abwechselnde Speisen den Gaumen ergötzen,
während noch Doni oben weit genug ist, um in der Orchester-
begleitung des dramatischen Gesangs nur ein nothwendiges und
auf das möglichst geringe Mass zu reduzirendes Uebel erblickt;
„tengasi per fenno", sagt er, „che quanto minore numero d'in-
strumenti si mcttera in opera, tanto meno diffettosi saranno i con-
centi". !) Die Instrumentirung im „Orfeo", welche den mannig-
fachsten Wechsel nach der wechselnden dramatischen Situation2)
anwendet, ist der erste Wurf dieser Art — Monteverde ist also
auch der Ahnherr der „Kunst der Instrumentation". Ja, er er-
findet für die bekannten Instrumente ganz neue, bis dahin uner-
hörte Effekte, das Pizzicato, das Tremolo der Geigen (im „com-
battimcnto di Tancredi e di Clorinda"). Er wendet Tonmalereien
an, zuweilen ganz in unserem modernen Sinne; Menschenstim-
men müssen dazu so gut dienen, wie Orchesterinstrumente. Mit
all' diesem ist aber auch der von Doni und Consorten erseufzten
Regeneration der antiken Musik ganz gründlich der Abschied ge-
geben. Wir dürfen Monteverde den ersten modernen Musiker
nennen.
Allerdings ist Monteverde mit diesen Schätzen, die er wie
über Nacht gefunden, ziemlich in der Lage eines Menschen,
der, plötzlich immens reich geworden, nun gar nicht recht
weiss, was er, der in beschränkter Existenz Geborene und Erzo-
gene, mit diesen seinen Mitteln nur in aller Welt anfangen solle
— der bald unpraktisch verschwendet, bald wieder aus alter Ge-
wohnheit ängstlich sparsam wirtschaftet. In manchen Werken,
wie im „Orfeo", bildet an vielen Stellen der luxuriöse, geradezu
zweckwidrige Aufwand äusserlicher Mittel mit der musikalischen
Befangenheit des Inhalts einen seltsamen, nicht eben günstig
wirkenden Contrast, Monteverde ist hier schon ganz ein echter
Venezianer. Er gleicht beinahe den älteren venezianischen
Malern, welche ihre mageren, nicht gut gezeichneten, oft byzan-
tinisch verdricsslichen Heiligen in glänzenden Prachtfarben malten,
mit Gold überluden und in überprächtig geschnitzte Goldrahmen
einfassten. Monteverde war, wie damals jeder Tonsetzer, Kirchen-
componist, und zwar sehr floissiger Kirchcncomponist — er hat
1) Opp. II. S. III.
2) Nicht aber: dass iede Person ihre eigenen Instrumente habe, wie
Hawkin's durch einen groben Missverstand behauptet und noch heut' ihm
nachgesprochen wird! —
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Claudio Monteverde. 367
Vieles auf diesem Gebiete noch im strengen Capella-Styl ge-
schrieben. Aber seiner eigensten Natur nach war er ein geborener
Dramatiker. Die von Florenz überkommene Form des musikalischen
Drama genügt ihm nicht ; er fiihlt sehr wohl, dass das Wesen der
dramatischen Musik nicht auf die blosse Nachahmung der gesproche-
nen Rede in unaufhörlicher Rezitation zu beschränken sei. Seine
Musik wird mannigfaltig, farbenreich, malerisch. Der dramatische
Ausdruck ist in voller Stärke da, auch wo er nicht blos recitirt,
sondern cantabel singt. Er begnügt sich nicht damit, Wort nach
Wort des Textes mit der angemessenen Musik zu illustriren, er
versucht es, und zwar mit Glück, dramatische Charaktere zu
zeichnen ; während Peri's und Caccini's Figuren noch ein allge-
meines Idealgesicht haben, tritt an jenen Monteverde's eine be-
stimmte, sie individualisirende Physiognomie hervor. Tancred und
Clorinde, die edle Penelope uud die zweideutige Magd Melanto,
Ulyss und der Bettler Irus sind Charakterfiguren, wie sie in der
Auffassung kein anderer Dramatiker besser hätte hinstellen
können. Monteverde empfindet tief und der Ausdruck der
Leidenschaft, das Pathos, welches bei den Florentinern noch etwas
Rhetorisches hat, nimmt bei ihm eine ergreifende Gewalt an.
Die Bitte der sterbepden Clorinde um die Taufe, der Klag-
gesang der verlassenen Ariadne, die erste Scene der Penelope,
in welcher sie den abwesenden Gemal mit leidenschaftlicher
Sehnsucht, mit schmerzlicher Ungeduld herbeiruft, während über
das Ganze etwas wie ein dunkler Schleier lange erduldeten
Wehes gebreitet ist, bleiben Momente, welche mindestens an
Wahrheit und ergreifender Macht des Ausdruckes schwerlich zu
überbieten sein möchten. So bleibt ihm ferner auch das Or-
chester nicht blos jener Nothbehelf, wie es bei den Florentinern
ist, sondern er versteht und benutzt es als ein bedeutendes Mittel
des Ausdrucks. Im „Zweikampf Tancred's und ClorindaV
wird das begleitende Orchester in diesem Sinne trefflich ver-
wendet, und der Tanz im sogenannten ballo delle ingrale ver-
dient ein bewunderungswerthes Charakterstück zu heissen, ein
Tonbild ganz eigener Färbung, zu welchem sich kaum ein Seiten-
stück wird finden lassen. Wenn wir Monteverde vorhin den
Vater der modernen Musik nannten, so dürfen wir ihn insbesondere
auch den Vater der dramatischen Musik nennen. Wir zehren
noch an dem Erbe, welches er uns hinterlassen.
Dinge, welche also tief in das Wesen der Kunst, das Bis-
herige ändernd, eingreifen, pflegen eben so leidenschaftliche Be-
wunderung als erbitterten Widerspruch zu finden.
Artusi hat seinen Nachruhm (wenn man es so nennen darf)
eigentlich doch nur seiner Opposition gegen Monteverde zu danken.
Wer sich einem hellbrennenden Feuer, das bestimmt ist, weithin
Licht und Wärme zu verbreiten, in der vorsichtig-löblichen
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368
Claudio Monteverde.
Absicht nähert, es mit kaltem Wasser auszugiessen, damit „der
Stadt kein Schaden g'schicht", hat davon mindestens den Vor-
theil, dass das Feuer auch ihn beleuchtet und dass auch seine
Gestalt weithin sichtbar wird. Ob er sich dabei sonderlich gut
ausnimmt, ist allerdings eine andere Frage. Artusi fingirt, als
habe er die harmoniegefahrlichen Madrigale Monteverde's zuerst
als „Madrigali nuovi" gehört, ohne den Namen des Componisten
zu wissen. „Era la tessitura non ingrata" sagt er, „sebbene in-
troduce nuove regole, nuovi modi et nuova fräse del dire, sono
perö aspri et all' udito poco piacecevoli, ne possono essere altri-
menti ; perche mentre che si trasgrediscono le buone regole, parte
fondate nella esperienza, madre di tutte le cose, parte speculate
dalla natura et parte dalla dimostrazione dimostrate, bisogna
credere, che siano cose diformi dalla natura et proprieta dell' har-
monia propria et lontane dal fine del musico, cl M la dilettatione."
Das sei der Weg zur Barbarei. l) Sie wollen diese Missgriffe
(impertinentie) als neuen, höchst wirksamen Styl entschuldigen,
der da Effekte hervorbringe, deren der gewohnte Musikstyl un-
fähig sei , sie wollen den Sinn , indem er ihre Herbigkeiten
(asprezze) vernimmt, wunderbar bewegen. „Ist das Spass oder
Ernst?" frägt verwundert der andere Interiocutor (Artusi's Buch
ist in der damals herkömmlichen Dialogfbrm verfasst). Die Com-
bination von Sopran und Bass,
die
frei einsetzende None, die in eine eben so frei eintretende Septime
herabsteigt, erregt Artusi's höchsten Unwillen. Wolle man
lernen, auf welche Art den Dissonanzen ihre das Ohr beleidigende
Wirkung zu benehmen sei, so solle man sich bei den Meistern
Adriano (Willaert), Cipriano (deRore), Palestrina, 2) Porta, Clau-
dio (Goudimel), Gabrieli , Gastoldi, Nanino, Giovanelli und so
vielen Anderen Belehrung holen. Wer die Dissonanz anders be-
handle, als ob sie eine Consonanz wäre, da sie doch von Natur das
Gegentheil einer Consonanz ist, wolle das Unmögliche; vielleicht
aber dass diese Genies (ingegni elevati) ein Mittel finden werden,
aus der Dissonanz eine Consonanz und aus der Consonanz eine
Dissonanz zu machen. Allerdings sei das Feld weit, und es sei
1) — apportano confusione et imperfettione di non poca importanza,
e in vece d'arrichirla, accrescerla e nooilitarla ^nämlich die Mnsik) con
varij e diverse cose, come fatto hanno tanti nobili spiriti, la voirliono in-
dure ä tale. che non si discernera il bello e purgato stile dal barbaro.
(Delle imperf.. Ragg. II, Fol. 40).
2) Artusi schreibt: Palestina.
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Claudio Monteverde.
369
nicht blos gestattet, sondern sogar nöthig, Neues zu suchen, aber
so wenig ein Dichter z. B. statt einer langen Sylbe eine kurze
anwenden, so wenig ein Mathematiker die Fundamentalsätze seiner
Wissenschaft umstossen dürfe, so wenig könne es dem Musiker
erlaubt sein, den guten von den Theoretikern festgestellten, von
allen Praktikern beobachteten Regeln eigenmächtig Hohn zu
sprechen. l) Die Art, die Dissonanzen anzuwenden, haben sie
den Instrumenten abgehorcht, was nach Aristoxenos der gedenkbar
grösste Missgriff sei; ihr ganzes Streben gehe nur dahin, den
Sinn (das*Ohr) zufrieden zu stellen, sie täuschen durch die
Schnelligkeit der Bewegung — dass aber auch der Verstand in
Frage komme, welcher ihre Cantilenen beurtheilt, kümmere sie
wenig. Hätten sie Boetius Buch eins, Capitel neun und Buch
fünf, Capitel eins und Ptolemäus Buch eins, Capitel eins gelesen,
sie wären anderer Meinung! Doch was kümmert sie Boetius! Es
genügt ihnen, ihre Combinationen nach ihrer Art zu machen und
die Sänger zu lehren, den Gesang mit vielen Körperbewegungen
zu begleiten, so dass es zuletzt den Anschein hat, als verführen
sie Todes — und das ist die Vollkommenheit ihres Gesanges.
Sie sind Ignoranten, welche nicht wissen, was wählen, was zurück-
weisen — es genügt ihnen, Tongeräusch gemacht, einen Wirrwar
unpassender Dinge, ein Haufwerk von Unvollkommen heiten —
Frucht ihrer Unwissenheit. 2) Ist aber vollends Ignoranz mit
Eigenliebe gepaart, dann wird sie Anlass alles möglichen Uebeln
— sie meint dann, was sie thut, sei wohlgethan, und gleicht
jenem Trunkenen, welcher sich für nüchtern, die Nüchternen
aber für trunken hält. Unnütz aber, mit einem Ignoranten
wissenschaftliche Dinge verhandeln zu wollen! Ein Bauer, der
einen Acker voll Dornen und Unkraut mit dem Pfluge bearbeiten
1) Se con ToBservatione de precetti et delle buone regole lasciate
da Theorici et oaservato da tutti h Pratici si puote havere l'intento che
proposito e volere fuori delli termini cercare delle stravaganterie? Non
sapete, che totte lo scienzo et tutte le arti sono state da sapienti rego-
late et di ciascuno ci sono stati lasciati i primi elemonti, le regole et Ii
precetti, sopra le quali son fondate, affin che non deviando da i pnncipij et
dalle buone regole, possi uno intendere qnello, che dice o fa l'altror e si
come non e lecito per vietare la confusione delle scienze et delle arti,
ad ogni aemplice Pedante immutare le regole, lasciate da Guarino, ne ad
ogni poeta ponere una sillaba loDga in vece di una breve nel verso, ne
ad ogni Arithmetico depravare quegl' atti, e quelle demonstrationi, che
sono proprio di quell' arte, cosi non e lecito ad ogni infilza solfe depra-
vare, corrompere et volere con nuovi principij fondati neir arena, intro-
durre nuovo modo di componere, perö benissimo disse Oratio: „est modus
in rebus, sunt certi denique fines, quos ultra citraque nequit consistere
rectum (a. a. 0. f. 42. p. v).
2) — basta di fare un rumore di suoni, una confusione d'imperti-
nenze, una congregatione d'imperfettioni, et il tutto nasce da questa
ignoranza, dalla quäle sono offuscati (a. a. 0. Fol. 43 p. ?.)•
Ambro •, Q«achichte der Mtuik. IV. 24
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Claudio Montoverdc.
wollte, wäre ungefähr in der nämlichen Lage. Man sehe nun
aber den rauhen wüsten Passus (passaggio aspro et inculto) im
dritten Takt (casella), auf den sie sich obendrein was zu Gute thun
Nach einer Pause setzt der Bass mit einem Semidiapente gegen
die Oberstimme ein! (Es wird keiner besonderen Erwähnung be-
dürfen, dass dieses „Semidiapenteu, über welches Artusi ausser
Fassung gerath, die frei einsetzende Dominantseptime und der
ganze Zusammenklang, wie wir sagen müssten, ein unvollständiger
Quintsextakkord ist). Andere Tonsetzer haben dieses Intervall auch,
aber anders gebraucht — nie nach einer Pause! Es muss eine
Sexte vorangehen oder eine andere Consonanz — wie man in
Artusi's „Arte del Contrappunto" nachgewiesen finde (Artusi lässt
sich, wie man sieht, durch seinen Interlocutor Vario als Autorität
zitiren!). Wenn diese und jene (questi tali) die vorhergehende
Pause für so gut als eine Consonanz nehmen, so vergessen sie,
dass das Ohr etwas nicht Gehörtes auch nicht in Anschlag brin-
gen kann. Meister, wie Cipriano in dem Madrigal „Non gemme",
wie Morales im Magnificat des fünften Tones beim Vers „Sicut
locutus est", haben mustergiltig gezeigt, wie man von diesem
Intervall Gebrauch machen könne und solle. *) Erfahrung hat
die Alten gelehrt, wie man Dissonanzen behandeln müsse — nicht
etwa, dass sie Consonanzen werden, wohl aber, dass sie ihre Herb-
1) Dio Stelle von Morale3, welche Artusi meint, ist folgende:
i I i
3 pj gj-j-t
1
; 1 — i »
1
1
J-J-
NB.
NB.
9-^
- ! 1 In
s. w.
Das bezügliche f ist beidemale vorbereitet, einmal im Sinne des Drei-
klangs der siebenten Stufe aufwärts, das zweitemal gleich der Dominant-
soptime abwärts aufgelöst.
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Claudio Monteverde.
371
heit verlieren und wohlklingend werden — sie können unmöglich
von guter Wirkung sein, wenn man sich von dieser erprobten Art
sie dienstbar zu machen entfernt. „Unsere Alten" — schliesst Ar-
tusi seinen Anklageakt gegen Monteverde — „haben nie gelehrt,
dass man Septimen so geradehin und offen hinschreibe, wie wir
es in dem zweiten, dritten, vierten, fünften, sechsten und sieben-
ten Takt (des Notenbeispiels) sehen, denn sie geben dem Gesänge
keine Anmuth und es hat die hohe Stimme keinen Zusammen-
hang mit dem Ganzen, mit ihrem Ausgangspunkte und Funda-
mente (nämlich dem Basse — Artusi stellt vorher die höheren
Stimmen als durch Aliquottheilung der tiefen Monochordsaite ent-
standen dar). Das Madrigal, aus welchem Artusi sein Exempel
nimmt, ist zunächst das fünfstimmige im fünften Buche „Cruda
Amarilli" *), dem sich Fragmente desselben Madrigals so anschlies-
sen, als ob diese Trtimmerstticke in der Compositum unmittelbar
auf einander folgten — eine Ungenauigkeit oder Unredlichkeit,
für welche Artusi die schärfste Rüge verdient.
Francesco Cavalli ist ftir die Entwicklung der dramatischen
Musik eine epochemachende Erscheinung, nicht minder Carissimi.
Der Schüler Monteverde's fangt dort an, wo sein Meister aufgehört.
Der Name Cavalli ist nur ein angenommener. Eigentlich
hiess er Pier -Francesco Calctti - Bruni und war der Sohn des
Giambattista Calctti detto Bruni, Kapellmeisters der Kirche S.
Maria in Crema, eines wie es scheint nicht ungeschickten Musi-
kers, von dem im Jahre 1604 bei Ricciardo Amadino ein Buch
ftinfstimmiger Madrigale gedruckt wurde. Pier - Francesco war
entweder 1 599 oder 1 600 geboren, seine Mutter hiess Vittoria mit
dem Zunamen Barbazza oder Bertolotta. 2) Während der Jahre
1614 und 1615 war in Crema, welches damals der Republik
1) Man sehe es in Martini's „Saggio di Contrapp.", Band 2, S. 191.
Die von Artusi angegriffenen Stellen findet man Seite 192, Takt 2 und
3; Seite 194, Takt 2 und 3; S. 195, T. 5, 6, 7 und 10, 11; S. 196 letzter
Takt und der erste der folgenden Seite 197. Artusi rückt zudem alles
um eine Quarte höher als es im Original geschrieben! Daran flickt er
noch ein anderes Exempel:
»J v*. t "fc, Ii || —
—
: =^
2) Die Pfarrbücher von S. Maria in Crema zeigen die Namen meh-
rerer Mitglieder der Familie Caletti. aber gerade das Blatt (1599, 1600).
wo Pier-Francesco's Name sich finden müsste, fehlt. Nähere Nachwei-
sungen über Cavalü's Familienverhältnisse und Lebenasehicksale bei Cafti
„Storia della muaica sacra nella cappella ducale di S. Marco" 1. Band,
S. 269 u. f.
24*
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Claudio Monteverde.
Venedig gehörte, Federigo aus der venezianischen Familie der
Cavalli (deren schöner, venezianisch-gothischer Palast unfern dem
Eingang des Canal grande und der Kirche della Salute steht)
Podesta und Capitanio der Provinz. Im März 1616 kehrte Fe-
derigo Cavalli nach Venedig zurück, und nahm den jungen Ca-
letti-Bruni mit, dessen grosses musikalisches Talent sich schon
damals gezeigt haben muss, da dieses Talent in Venedig unter
der Leitung berühmter Meister, vor allem Monteverde's, eine ganz
andere Entwicklung versprach, als in der Provinzstadt möglich
gewesen wäre. In Venedig hiess der junge Mensch >tü Checco
de Cä-Cavalli (Fränzchen aus dem Hause Cavalli). Darüber ge-
rieth sein wahrer Name allmählich in Vergessenheit. Noch 1617
ist er als Pietro Francesco Bruni Cremasco mit einem Gehalt
von jährlich 50 Ducaten unter den Sängern von S. Marco ein-
geschrieben, 1628 erscheint er als Francesco Caletto unter den
Tenoren. Als er 1640 die Stelle des zweiten Organisten von S.
Marco erhielt, bezeichneten ihn die mit der Besetzung dieses
Postens betrauten Preisrichter als Francesco Caletti detto Cavalli.
Fortan heisst er Francesco Cavalli Viniziano. Am 11. Januar
1665 wurde ihm die Stelle des ersten Organisten — am 20. No-
vember 166S endlich die Gross würde des Kapellmeisters von S.
Marco verliehen. Am 14. Januar 1676 schied er aus dem Leben
— die Capelle von S. Marco ehrte ihn durch die Aufführung
seines Requiem a due cori, das er nicht lange vorher componirt
hatte — „für sich selbst".
Cavalli's musikalisches Erstlingsdrama „le nozze di Peleo e
di Tetide" (1639, Text von Orazio Persiani) erinnert noch an
die Weise seines Lehrers Münte verde.
Der Poet suchte die Handlung möglichst interessant und bis
zur Buntheit reich zu gestalten, er wendet Intriguen, allerlei
Verkleidungen u. s. w. als dramatische Hebel an, er sinnt auf
Gelegenheiten zu glänzenden Ausstattungseffekten, er rückt con-
trastirende Szenen hart neben einander. Seine Versifikation steht
an feinem Klang und an Noblesse tief unter den Dichtungen
Rinuccini's, obschon der Poet auch an die Diction sichtlich nicht
wenig Sorgfalt gewendet, sogar seinen Witz in Contribution ge-
setzt hat, wie er denn z. B. dem unter den Personen vorkommen-
den Momus allerlei satirische, direkt auf sein modernes Publikum
zielende Einfälle in den Mund legt oder sich gelegentlich in
den (damals beliebten) Spielereien von allerlei Concetti ergeht. *)
1) Momus stellt hier eine Art von Huf narren Jupiters vor. Zeus,
von Liebe gegen Thetis entbrannt, beklagt sich über Amor: „io, che
pure atterai colla mia man fulminante gf Enceladi ed i Tifei, vincer
non posso, ahi, Amor, contra di me vero gigante''. Er tröstet sich:
.,che sciagura puote intravenir a Gioye? non aipende di mo la sorte ed
il fato?
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Claudio Monteverde.
373
Der Prolog (das Drama beginnt ohne Instrumentalmusik mit
einem solchen) gestaltet sich zu einem kleinen Duodram, einer
im Grunde bedenklich frostigen und nüchternen Allegorie, welche
aber zuletzt in einen grandiosen Schluseeffekt ausläuft. Das
„Gerücht" (Fama), geflügelt und das Gewand ganz mit Augen
bemalt, tritt auf, stösst in die Trompete und verkündigt als Neu-
igkeit (der Einfall igt wirklich gut) das gerade Gegentheil dessen,
was die nachfolgende Handlung zeigt: „Der Avernus habe gegen
den Olymp gesiegt, vereitelt sei Jovis Plan, Peleus und Thetis
zu vermalen". Der solenn recitirende Ton der Prologstrophen,
das kurze, pomphafte Ritornell, das nach jeder Strophe wieder-
kehrt, mahnt noch sehr bedeutend an den Monteverdestyl. l) Die
„Zeit" (il tempo, Tenorpart), deren Amt es ist, das falsche Ge-
l) La fama suona la tromba, di poi da principio al canto:
ZBT.
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374
Claudio Monteverde.
rticht als lügenhaft zu entlarven, tritt scheltend entgegen. Fama
antwortet nicht ohne Ereiferung, der Zeitgott ruft ihr zu:
Vedrai due nobil alme
in un sol laccio avvolte
cre8cer al greco mar trionfi e palme —
Jo cosi giuro! e di mia fede impegno
darö non basso segno;
Ititornello.
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Claudio Monte?erde.
375
qaesto, che fu teatro ampio e famoso,
hoggi, dal corso mio consunto ed arso,
resti fra lo ruine a terra sparao,
e sia da denti imei lacero e roso.
Fama erschrickt : wer solche Denkmale zu stürzen im Stande
sei, meint sie, könne wohl auch die Lüge zerstören (Veglio !
raentii, non ti piü sfido a guerra, ma dico humil china, che, chi
le pompe altissime ruina)
strug-ge le fro - di e le men-zo-gne at - ter - ra
c" a a" b g a d
Der Zeitgott winkt, und das Theater stürzt zusammen; hin-
ter den Trümmern aber zeigt sich den Zuschauern, während das
Orchester eine „Sinfonia infernale", einen ahnungsvoll - dtistern
Andantesatz anstimmt, das nächtliche Schreckensreich des Tar-
tarus.
Pluto (Bass), mit seinen Dienern Cacus und Minos (Tenore)
will Rath halten, wie man die Absicht Jupiters, des Feindes,
welcher sie alle in ewige Nacht gebannt hat, Peleus und Thetis
zu vereinigen, vereiteln könne. Er schilt, dass die Götter der
Unterwelt zu kommen zögern — düster klagende Fanfaren der ♦
, .schwarzen Herolde" rufen auf Pluto's Wink die „verschlafnen
Götter" zur höllischen Rathsversammlung (concilio infernale). Sie
kommen alle: Megera, Tisiphone (Sopran), Alecto (Alt), Rhada-
mant (Tenor), Asmodeus (Bass). Dem Dichter schwebte augen-
scheinlich als Vorbild die Szene aus dem Canto IV. der „Geru-
salemme liberata14 vor, selbst bis in einzelne Züge hinein, wie es
denn z. B. ohne Zweifel die Verse Tasso's sind:
„cbiama gl' abitator de Pombro eterno
il rauco suon della tartarea trombe,
welche den Einfall mit den trompetenden Höllenherolden veran-
lasst haben. Die Vasallen Pluton's sagen nach einander ihre Mei-
nung; meisterlich zeichnet Cavalli insbesondere die »Tisiphone in
der mächtigen Steigerung ihrer Rede (ira, scempio, furor, fierezza
e morte). Die Furie steht leibhaft vor uns. Da tritt die Zwie-
tracht (la Discordia) mitten unter die Rath haltenden Dämonen:
„schweigt ihr andern, ich, ich allein will es vollbringen!" All-
gemeine Zustimmung; „geh' hin", ruft Pluto, „und zerreisse das
unwürdige Band, das Zeus uns zur Schmach knüpfen will". Ein
Ensemble der Höllengötter (Megera, Tisiphone, Alecto, Rhada-
mant, Minos und Pluto) beechliesst (während die Zwietracht etwa
auf einem geflügelten Drachen zur Oberwelt eilt) die Szene.
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376
Claudio Monteverde.
Wir sind wirklich in dem Reich der ewigen Nacht, in der
„citta del pianto" (wie Discordia sich ausdrückt), und Cavalli
versteht es, die Geister der Unterwelt schon eine ganz andere
Sprache reden zu lassen, als es Monteverde, M. A. Rossi und
Landi (im Orfeo, in der Erminia und im St. Alessio) vermocht.
Das düstere E-moll, durch welches diese ganze infernalische
Szene gleichsam grundirt ist, gieht ihr die entsprechende Färbung ;
auf diesem dunkeln Hintergrund sind die einzelnen Gestalten in
charakteristischen Zügen gemalt, die finstere Majestät des Höllen-
gottes, die mühsam gezügelte Wuth der Furien. Der Tondichter
begnügt sich nicht mehr, dem Texte eben nur Wort nach Wort
gerecht zu werden; er rechnet schon mit grösseren Factoren, er
gruppirt sein Gemälde und rückt seine Gruppen in die richtige
Beleuchtung. Ein einfach grossartiger Zug geht durch das Ganze.
Verwandlung: eine taghelle, weite Gegend, mit Fels uud
Wald und weitem Ausblick auf's Meer. Eine fröhliche Jagd-
fanfare (in C-dur — ganz augenscheinlich als Gegenstück der
Chiamata der höllischen Herolde gemeint) deutet die Nähe rüsti-
ger Jäger an; sie erscheinen; ihr Chor „alla caccia, alla preda"
ist ein wirklicher Jägerchor, der Ahnherr zahlreicher späterer,
während der Chor der Jäger in M. A. Rossi' s „Erminia" noch
aller Charakteristik bar ist. Peleus (Tenor) und Meleager (Alt)
treten auf, dieser voll Jagdlust, sein Freund, ob er gleich so
eben den wilden Eber mit Heldenkraft gefallt, voll Schwermuth ;
er hat Thetis gesehen: „wie junges Morgenroth, das aus dem
Meere steigt" (come spunta dal mar alba novella). Während er
mit den Jägern in den Wald zurückkehrt, bleibt Meleager zu-
rück, und jetzt taucht Thetis in einer Muschel (in conca piscan-
do) auf, sie singt ein Strophenliedchen , eine Art Barcarole; der
Ton ist auch hier recht gut getroffen und die Melodie, bei noch
sehr geringer Entwickelung , doch nicht ganz ohne Anmuth. ')
Meleager lauscht und stimmt endlich mit der Meeresgöttin ein
kleines Duett an, welches zeigt, dass die verpönte „Imitation"
glücklich wieder den Weg auch in die dramatische Musik zurück-
gefunden :
1. Go-din gio - co - si ne re - gni on - do - si
2. A bei sem-bian-ti pe - scan gl'a-man-ti
Die tiefe Stimmlage (der Verlauf der Melodie führt bis a herab) ist auf-
fallend. Nach jeder Strophe spielen die Instrumente ein nach dem glei-
chen Motiv gebildetes KitornelL
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Claudio Monteverdo. 377
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378
Claudio Montoverde.
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Darüber erwacht Triton's Eifersucht. Er reprasentirt den
rohen Plebejer, die gemeine Hässlichkcit, die es wagt, um die
adlige Schönheit zu werben; Peleus eilt mit seinen Rittern her-
bei und verjagt ihn; das Orchester begleitet den Ritterchor mit
Motiven, die Trompetengeschmetter und Trommelwirbel nach-
ahmen. Abermals Verwandlung: Halle in Jupiters Götterburg.
(Die Scrupel, welche Rinuccini wegen Aenderung der Szene ge-
habt, sind, wie man sieht, verschwunden.) Zeus liebt Thetis;
halb ironisch von Momus berat hon, weiss er nicht recht, was er
thun soll, als Mercur die drohende Verkündigung des Orakels
bringt: „Thetis werde Mutter eines Sohnes werden, der seinen
Vater an Herrlichkeit und Ruhm zu übertreffen bestimmt ist".
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Claudio Montererde.
379
Der Orakelspruch ist musikalisch merkwürdig gefasst; es sind
wiederum die Grundstriche für ähnliches bei Gluck (Alceste) und
Mozart (Idomeneo und Don Giovanni).
Mercurio.
e poi la vo - ce gra-ve d'oc-cul-to di
o co-
(Orakelspruch)
si ri - spo - se:
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Av - ven - tu - ro - sa ma-dre sa -
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rai d'uo for- ta 8 - glio che la for-za e'l con - ai -
1
io pro - va d'ar - me vin - ce
ra del pa - dre
3
(zu Jupiter)
0 0-
Et
5
se ra - pi - sei il tuo so - le u. s. w.
380
Claudio Monteverde.
Zeus erschrickt; er beschliesst, die schöne Thetis mit Peleus
zu vermälen (dass von diesem jetzt erst gefassten Plan schon in
den früheren Szenen als von einer bereits beschlossenen Sache
die Rede war, scheint den Dichter nicht anzufechten). Alle Göt-
ter sollen die Hochzeit feiern helfen; Mercur wird zur Voll-
ziehung des Befehles abgesendet, Momus begleitet ihn. Wieder
am Meeresstrande: Peleus hört von Mercur, welches Glück ihm
beschieden sei. „Se per troppo diletto or potessi morire, faria
quest' alma!" ruft er. Freudenchor und Tanz (Ciaconna) der
Waldnymphen, der Beschützerinnen des rüstigen Jägers. Aber
auch Triton hat die Nachricht vernommen t er eilt herbei um
Einsprache zu erheben. Thetis, welche gleichfalls herbeikommt,
ist von der Begegnung des „Seetrompeters", wie sie ihn verächt-
lich nennt, unangenehm überrascht. Sie beschliesst ihn zu necken
und spielt die Verliebte. Als Triton, plump und zutäppisch, der
Sache gleich weitere Consequenzen geben will, weist ihn Thetis
schroff ab, und als er die Göttin gewaltsam wegzuschleppen
Miene macht, tauchen auf ihren Wink drei Nereiden auf und
peitschen den Frechen fort — ihr graziöses Terzett mildert das
Widrig e der Szene. Die Art, wie die vornehme Dame mit dem
Meerplebejer umspringt, ist für die Zeit bezeichnend. Ein Tanz
(Corrente) beschliesst den Akt.
„Soccorso, 6 cielo, 6 Dei! dunque di tanta gloria il mar fia
tomba? dunque fra l'onde, 6 miserabil caso, dovra lassare il misero
la vita? pieta padre Nereo, Nettuno pieta!" Dieses Hilfs- und
Jammergeschrei, womit Meleager den zweiten Akt einleitet, gilt
dem Peleus. Thetis hat sich der erhaltenen olympischen Ca-
binetsordre nicht fügen wollen, sie spielt gegen ihn die Spröde
— und Liebe, Sehnsucht, Verzweiflung treiben ihn in's Meer, das
Element der Geliebten. Diese taucht empor und bringt ihn ans
Land. Aber er scheint leblos; dieser Anblick bewegt ihr Herz:
„bor, ch' io rimiro il misero giacente, un incognito ardore di non
intesa face commincia a riscaldarmi il cor dolente — Peleo! —
sorgi Peleo! — ma, lassa, ei tace!" Jetzt klagt sie sich an:
.
ei m'a - ma - va,
io To - di - ai,
ei pre - ga - Ya,
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Claudio Montovorde.
381
Die richtige Ingrata! Sie entfernt sich, hilfesuchend — zu
Chiron, dem Weisen, dem Arzt.
Peleus erwacht:
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dor-mo? so - gno?
o son de - sto? che fan-
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tas-rue, che spet-tri, oi- me, che lar - ve veg - gio con
l'oc-chio ö con la men - te pen - so? ma, veg -gio pur,
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quest' oc - chi
son pur a - per - ti u. s. w.
3
Er nennt Thetis grausam, dass sie ihn gerettet. Er will
Chiron aufsuchen, dass er ihm Trost gebe.
Jetzt tritt Discordia auf. Ihr Erscheinen auf Erden hat die
Länder bereits mit Blut überschwemmt Mit einem Seitenblick auf
den eben damals (d. h. 1618 — 1648) wüthenden dreissigjährigen
Krieg sagt sie: „e gia fatt' ho di sangue un nobil lago, il Danubio,
il Tessin, la Seena (so!) e'l Tago."
Mittlerweile bittet Peleus den Chiron, er möge seine Flammen
auslöschen (delle mie calde vene, spegni l'ardor cocente). Der
weise Centaur versucht die Heilung durch Musik; eine Sinfonia
de Viole (fünfstimmig, die einzige Nummer, wo die Instrumenta-
tion ausdrücklich angegeben ist), ein sanft melancholischer Satz-
soll den Liebesgram heilen. Jetzt kommt auch Thetis; sie hält
Peleus für einen Schatten. Er ruft:
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382
Claudio Monteverde.
io Spir-to? io spet-tro? io lar -va? io si - mu- la- cro
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Freude, Jubel, Tanz der Nymphen. Chiron kündigt sich
schon als künftiger Erzieher des Sohnes Achill an:
„io vado, col favor della fortuna,
per figiio occelso a preparar la cuna".
Die Liebenden trennen sich jetzt, sie gehen verschiedene
Wege, Thetis durch's Meer, er durch den Wald. (Thetis sagt:
„per diversi sentieri, io del mar, tu del bosco, pudieizia e mo-
destia a gir m'invita; io da te, tu da me, farem' partita." Die
Hinweisung auf das etikettenmässig Schickliche ist abermals fiir
die Zeit bezeichnend. Aber dieses Gebot der Decenz Mit den
Liebenden schwer genug! Thetis versichert sogar: „vedova, griderb
del mar si forte, che le grida di morte, tu stesso dal tuo bosco
udir potrai"!) Ein Duo — das Prototyp und der Vorläufer zahl-
loser Abschiedsduette — schliesst die Scene. Der Ton der
Leidenschaft giebt ihm, bei aller (noch sehr bedeutenden) Be-
fangenheit der Form, einen dramatischen Zug. Uebrigens aber in
dem pathetisch Declamirenden und in der unbehilflichen Harmonie
noch der reine Monteverde.
Mercur und Momus holen die Liebenden zum Hochzeitsfeste
ab. Den beiden lustigen Agenten des Olymp kommt die über-
schwengliche Zärtlichkeit des Paares lächerlich genug vor, und
Momus warnt mit schalkhafter Offenherzigkeit das schöne Ge-
schlecht, ihm für seine Person ja nicht zu trauen. Seine
Arie lässt erkennen, dass Cavalli den richtigen Ton dafür wenig-
stens geahnt und gesucht hat; hier stecken wiederum die nach-
maligen Buffoarien — einstweilen allerdings nur im allerersten
Keim:
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Claudio Monteyerde.
Momo.
383
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Da-me, s'io vi di - ro, ch'al vo-stro rag-gio io tutt'
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Claudio Monte verde. 3£5
Ein grosses Götterfest vereinigt die Olympier. Silen und
Bacchus singen einen Dithyrambus, wozu Frauen und Bacchanten
tanzen (die zahllosen Trinklieder späterer Opern sind hier vorge-
deutet, die rüstige Fröhlichkeit, der derbe Uebermuth dieses
Stückes ist bemerkenswerth — aber freilich: wozu hätten denn
die Maler des Cinquecento so viel Göttermale und Götterbaccha-
nale als Deckenstücke in den Sälen der Grossen gemalt?). Silen
bringt ein Hoch anf Bacchus aus, in welches die Götter begeistert
einstimmen. Peleus fühlt sich glücklich, nach so viel Unglück,
der Zwietracht zum Trotz, Thetis sein zu nennen. Zeus freut sich
des herrlichen Festes:
To- no -ra te lo - ste.
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Da erscheint mitten unter den Göttern Discordia und wirft
ihren Apfel. Mercur ergreift den rollenden und ruft: qual s'offre
a gli occhi miei luce novella? ascoltato o voi, che di belta sü-
perbe andate: „donisci questo pomo a piü bclla". Zeus
entscheidet den sich erhebenden Streit der drei Göttinnen: „al
mio giovinetto d'Ida hör tu, mio nunzio, porta il pomo, ond' oggi
e sorta fra le belle del ciel l'alta disfidia; a lui tu lo consegna,
ed cgli lo presenti alla piii degna". Der Akt endet abermals mit
einem Tanz (Corrcnte). Im dritten Akt tritt Discordia in Mele-
agers Gestalt auf: „chi non dira, che Meleagro io sia?!u Sie
spielt mit Peleus eine Scene, ungefähr wie Jago mit Othello.
Thetis habe hier einem früheren Liebhaber ein Stelldichein ge-
geben. Peleus zieht sich zurück um zu lauschen, und als nun
Thetis kommt, tritt ihr Discordia in Gestalt ihres Vaters Nereus
entgegen. Sie begrttsst ihn voll Freude und küsst ihu, wodurch
der lauschende Peleus in seinem eifersüchtigen Argwohn bestärkt
wird. Der falsche Nereus tadelt die Heirath seiner Tochter,
welche ohne seine Zustimmung geschlossen worden sei. *) Peleus
sei ein Ungetreuer, er heuchle gegen Thetis Liebe und brenne
für die Nymphe Mergellina. „Mergellina, mia ancella?" ruft
Thetis empört. Jetzt bricht Peleus hervor und überhäuft Thetis
mit Vorwürfen, er hasse sie so sehr, als er sie früher geliebt.
Der herbeikommenden Mergcllina erklärt er sofort seine Liebe.
1) ,,No dei", sagt er, „senza il consonso mio legar te stessa. Vani
son gl' imenei, inonerta 6 la figlia, che si sottragge alla paterna briglia".
Ambroi, Ooschichto der Musik. IV. 25
380
Claudio Monteverde.
Ein langes, höchst leidenschaftliches Recitativ der allein zurück-
bleibenden Thetis schliesst die Scene. Hier erreicht der Tonsetzer
eine Macht der Leidenschaft, eine Grösse des tragischen Aus-
druckes, an welche keiner seiner Vorgänger auch nur entfernt
heranreicht. Der refrainartig wiederkehrende Aufschrei: ,,pieta
chiedo, mercede, amor, amor terribile!" wirkt erschütternd. Gluck
hat in der letzten Scene seiner Armida ähnliche Töne, allerdings
noch weit voller und mächtiger angeschlagen.
Wie eine Oper in der Oper spielt sich nun als Episode
in einer sehr langen Scene das Urtheil des Paris ab. Der Poet,
welcher schon mit der Einheit des Ortes gebrochen, berück-
sichtigt nun ebenso wenig die Einheit des Interesse. Er hätte
am liebsten auch noch den ganzen trojanischen Krieg in sein
Libretto eingepackt! Vom Ida geht es zurück an den Meeres-
strand, wo Peleus einst seine nun von ihm getrennte Thetis ge-
funden. Discordia triumphirt laut, ihre Mission ist glänzend er-
füllt. Peleus erscheint klagend, er kann die Ungetreue nicht
vergessen. Jetzt tritt ihm ein gewafineter Ritter entgegen, für
die Ehre der schwer beleidigten Thetis fordert er ihn zum Zwei-
kampf; Peleus nimmt ihn au, „Teti e tradidrice" das will er ver-
fechten. (Es bedarf keines Nachweises , dass auch dieser Zug
sich nicht aus der antiken Göttersage, sondern aus den romanti-
schen Rittergedichten herschreibt.) Schon zücken sie die Schwer-
ter, Discordia hält ihr Spiel für gewonnen, da erscheint hinter
ihr Hymen. Peleus solle erst sehen, wen er bekämpfe-, der
Helm entfallt dem Gegner, es ist — Thetis, die für ihre Ehre
selbst einstehen wollte. Hymen wendet sich mit zürnenden Wor-
ten gegen Discordia, diese stürzt zur Hölle (qui preeipita la dis-
cordia). Die Liebenden aber feiern von Neuem ihre Vereinigung,
von Hymen, Mercur und Momus in einem frohen Schlussterzett
gepriesen.
Das nächste Jahr 1640 brachte zwei Opern Cavalli's: „Gli
amori d'Apolline e di Dafheu und „La Didone". Der Fortschritt
gegen den Peleus ist in der Dido, was die Compositum betrifft,
ein entschiedener. ') Auch der Poet hat nicht so tief in den
Farbentopf gegriffen; die einfache Handlung ist dem vierteu
Buche der Aeneide nachgebildet. Während Peleus noch ein
Tenorpart war, werden hier die Rivale Aeneas und Jarbas dem
Sopran und Alt zugetheilt; die leidige Gewohnheit, singende
Halbmänner in Liebhaber- und Heldenrollen zu beschäftigen,
bürgerte sich also damals in Venedig ein. Diesmal prologisirt
die Götterbotin Iris; nach einem unbedeutenden Instrument aisatz
beginnt sie im musikalisch gut wiedergegebenen ruhigen Erzäh-
lerton:
1) „Apoll und Daphne" kenne ich nicht
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Claudio Monteverde.
387
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Dann wieder Symphonie und eine „Arietta" der Iris.
Der erste Akt beginnt mit einem in der Bewegung lebhaf-
ten, aber im Ausdrucke nicht besonders lebendigen Chor (auf
G liegenbleibender Bass!), worin die Trojaner Aeneas zu den
Waffen rufen. Die Chöre werden schon Nebensache; desto mehr
Gewicht wird auf die Arien gelegt, unter denen manche melo-
disch schon sehr ansprechend sind. Die leidenschaftliche Rede
Dido's gegen Aeneas, der sein Scheiden mit dem ihm kund ge-
wordenen Götterwillen entschuldigt („Scelerato Trojan" u. s. w.),
erinnert im Ausdruck an jenes grosse Kecitativ der Thetis;
schmerzlichstes Zürnen spricht aus diesen Ergüssen einer aufs
tiefste gekränkten Frauenseele. Starke dramatische Effekte die-
ser Art liegen einstweilen im Kecitativ, welches noch nicht zum
blossen Füllstück zwischen einer Arie und der folgenden degra-
dirt ist. Die Arien selbst, in ihrer fast epigrammatisch knappen
Fassung, sind in dieser Beziehung das gerade Gegentheil der
späteren, breit auseinander fluthenden Alienform mit parle seconda
und da Capo. Selbst in dieser auf verhältnissmässig wenige Takte
beschränkten Entwickelung der Melodie kann es aber Cavalli
schon nicht mehr vermeiden, einzelne Worte und Textesphrasen
zu wiederholen, was sich die Florentiner nach ihrem musikalisch-
ästhetischen Grundgesetz um keinen Preis erlaubt haben würden.
In diesem einen Punkte zeigt es sich klar, wie jetzt, bei Cavalli,
die Musik bescheiden genug, aber auch bestimmt anfängt, inner-
halb der dramatischen Schranken ihre eigenen, spezifisch musi-
kalischen Zwecke zu verfolgen.
Grossen Erfolg hatte „Giasone" (1649 im Theater S. Cassi-
ano zu Venedig, 1651 in Florenz aufgeführt u. s. w.). Eine
Symphonie leitet zu einem Ritornell und dieses zum Prolog.
Diesmal prologisirt die Sonne. — Der Sonnengott (il Sole,
eigentlich Apollo, Sopran) und Amor (Sopran). Apoll, welcher,
wie eine Stelle des Prologtextes andeutet, auf seinem pracht-
vollen Sonnenwagen erschien, kündigt sofort in einem ziemlich
monotonen recitati vischen, zuletzt in Glanzcoloraturen auslaufen-
den Satz den Kern der Handlung an; der vornehme Ton, in
25*
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3S*
Claudio Monteverde.
welchem er sich gleich irgend einer damaligen irdischen „Uurch-
lauchtigkcit" ausdrückt, ist für die Zeit bezeichnend:
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Claudio Monteverde.
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Claudio Monteverde.
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nu - me d'a - mor vuol mo - ver
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guer - ra?
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Der Sonnengott beruft sich auf den Beschluss des Fatum.-.
Das ist für Amor kein Grund. Der Streit wird lebhafter. Da
sagt endlich Amor gerade heraus: er habe mit seinen Pfeilen,
denen weder Göttef noch Menschen widerstehen, Jason und Hyp-
sipile verwundet — „dlssifile Giason sara il marito". Ein klei-
nes, frisch-lebendiges Zankduett der beiden Gottheiten — etwa
einem von Cavalli belauschten Wortstreit zweier venezianischer
Fischerjungen abgehorcht — schliesst den Prolog. (Den zugleich
mit der Steigerung des Gezänkes lebhafter werdenden Bass möge
man beachten !)
Amore.
Sole.
Non pnö U fa - to giam-mai re-atar bo-giar -do
x:
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Ne scher - ni - to sa - ra que - sto mio dar - do
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Ap - pol - lo, in van' t'ag-
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Claudio Monteverde.
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ro si si
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Claudio Monte?erde.
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doa ter - ra c rai pre-
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pa - ro, mi pre -pa - ro all' o - pra.
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m ^ «
Die Symphonie wird wiederholt und leitet in den ersten Akt
hinüber; Hercules (Bass) spricht seinen Unmuth über den „Weich-
ling Jason' * aus, der beim Morgenroth noch in den Federn (tra
lascive piume) liege — wie wolle ein solcher den Lockungen
schöner Frauen entgehen? „Was können", ruft Hercules in de-
mtithiger Selbsterkenntniss , „nicht die Weiber Alles mit ihren
Heizen !"
voi fabbricate nei crini laberinti a tri' eroi,
una lagrimetta, che da magiche stelle esca di fuore,
fassi un Egeo crucioso che sommerge l'ardir, Talma e'l valore.
e'l vcnto d un sospiro esalato da laobri ingannatori
dai campi della gloria spianto le palme e disseccö l'allori!
Besso, Jason's Capitän („Capitano della guardia di Giasone'4
— ebenfalls Basspartie) tritt hinzu. Jeder Mensch, meint er,
folge seinem Stern, der Thor und der Kluge, der Geizige und
der Verschwender — Jason, scheine es, sei unter einem verliebten
•Stern geboren und verdiene also Entschuldigung; er könne eben
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Claudio Monteverde.
393
nicht anders. „II saggio pub dominar le stelle", wirft Hercules
ein. Besso fahrt in seiner Apologie fort, sie scheint ganz direct
auf die jungen Herren und Damen in Venedig gemünzt: „Giason
b bello, ha senza pelo la guancia, b bizarro e robusto, di donar
non si stanca, onde per possederlo ogui dama le porte apre e
spalanca — bellezza, gioventii, oro, occasione, come pub contro
tanti fortissimi guerrier contrastar il voler e la ragione?" Her-
kules wird hitzig, Besso zieht klüglich ab — an seiner Stelle er-
scheint Jason (Alt). Er introduzirt sich mit einer Arie, d. h. mit
einem Strophenliede, begleitet von zwei Violinen und einem Bass :
P* 0-
Öl
J5«
fer - ma -
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304
Claudio Monteverde.
a — grz g
3=E
£1111
-1:
-Ol- Ät.
fer- ma
su
Ö
que-sto mio co - re deh piü noa stil-la
^-5 J-
i
i
gio - io d'a - mo -re
3t
Das wird dem Sohne Alkmenens ara Ende zu viel: ,,e cosi
ti prepari alla pugna, Giasone?!" Jason verantwortet sich, wo-
bei er höchst leichtfertige Grundsätze verräth — lange Strafpre-
digt des Herkules (recitativisch, der Ton der Ereiferung und sitt-
lichen Entrüstung ist recht gut getroffen). „Consigliar amanti e
gran folia" erwidert kaltblütig Jason — er habe, ftigt er hinzu,
Hypsipile verlassen, weil eine andere Liebe ihn ganz beherrscht
u. s. w. Herkules macht ihn aufmerksam, dass nach Eroberung
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Claudio Monteverde.
395
des goldenen Vliesses er sofort werde abreisen müssen — Jason
erschrickt und spricht seine Betrtibniss (fast zu edel dafiir, wie er
im Texte geschildert ist) in einer jener Duodez-Arien aus, wie
sie in jener Periode des .Schaffens bei Cavalli häufig sind:
non m'uc - ci
de - re
~i — r
0 #
4 — i
co - si Tal-ma dal se-no oh dio do - tto di - vi -
6
7^-~ — T~\'ir—f <*' "» — 6
- re
3St
I
non 10 non so per me se me - glio si - a
/TS
o la vit - to - ria o la ca - du - ta raia.
I
S=3
Beide ab — an ihrer Stelle tritt Rosmina Giardiniera (Sopran)
auf und schaut den Abgehenden verwundert nach. l) Arie von
drei Strophen — dem Texte nach im Kammermädchenstyl — sie
will auch lieben u. s. w. — von Cavalli zu einem Stück von
naiver Anmuth veredelt. Medea kommt — ihre Arie klingt wie
die vornehmere Antistrophe zu dem Gesänge Bosmina's — sie
1) Sie fragt: Huomini in sü quest' hora scampan fuor del giardi-
no? quanto sospetto, che le donne ai corte non faccian di questi orti un
bordelletto (!).
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.'{96
Claudio Monteverde.
liebt nicht minder, der Gegenstand ihrer Neigung ist Jason. —
Dagegen erweist sie sich gegen König Egeo von Athen, welcher
sie mit Liebesbitten und Liebesklagen bestürmt, höchst herb und
«prödc, als er verzweifelnd ausruft:
in
1 — 8V
vie - ni, Tie - ni bei - la pie - to
sa, a - pn- mi,
a - pri-miil pet - to, ch'iodi tuamansve-na - to dimortean-
3z
cor a - do - re - ro, a - do - re - ro, Tas-pet
to.
i
Sie nimmt ihn beim Worte — er ist zu sterben bereit; sie
zückt den Dolch, er wankt nicht, da wendet sie sich lachend
um, lässt ihn stehen und geht mit dem Ausruf „rcsti pazzo!" ab.
Orest (Bass) introduzirt sich mit einer Bassarie von zwei
Strophen: „Fier' amor Talma tormenta gran martire da gelosia"
— die Singstimme (wie in den Bassgesängen Viadana's) im Ein-
klänge mit dem Bass. Er ist Weiberfeind:
ben si scorge ogni istante
cangiar forma in ciel la lana,
e leggier piama e'l vento
sempre varia la fortuna,
ma piü lieve e piü incostanto
6'1 cervelT di Donna amante!
pria che ser - vi - re a don - na vor - rei di - ve - nir
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Claudio Monteverde.
397
um
guor - cio, e zop - po, e gob - bo!
Demo (stottern iL und höckerig), Diener des athenischen Kö-
nigs Egeo, meldet sich:
son qui, son qoi, che. che, che eine - di?
Wirklich tritt sofort eine Person auf, Orest fragt verwundert
er sei? Demo antwortet:
ah ah non m in - te to to te to te to te
to
ah
non ln'iu - ten - di.
5
j
Das letzte rasche Herausstossen des lange mit Anstrengung
gesuchten Wortes ist ein der Natur abgelauschter Zug. In einer
ganz trefflichen Buffo- und Plapper-Arie giebt Demo kund, wer
und was er sei — er habe, sagt er, Glück bei den Damen : „ogni
dama per me arde e
so - so - so
SO - SO - 80
SO - SO - SO
m
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393
Claudio Monteverde.
Oreste.
Demo.
e so- spira! so - so - so
•0*-
h 1 1
(Der Zug, dass Orest dem Stotternden, wie unwillkührlich , ein-
hilft, ist von glücklicher Komik.)
Medea beschwört die Geister des Orcus; sie sollen dem Ja-
son gegen die furchtbaren Hüter des Vliesses beistehen. Die
Geister zögern zu erscheinen, Medea zürnt und ruft lauter — da
stürmen sie herauf, und einer von ihnen übergiebt der Beschwö-
rerin einen Zauberring, durch den Jason die Ungeheuer bezwingen
werde. Und hier verschwindet uns die Principessa Medea des
Librettisten und die kolchische Zauberjungfrau richtet sich in
einfacher, beinahe antiker Grossheit vor uns auf — mit geradezu
ärmlichen Mitteln erreicht Cavalli hier eine Erhabenheit, welche
die Szene ganz ebenbürtig neben ähnliche von Gluck stellt. *)
Declamation und Ausdruck sind bei schlichtester Einfachheit von
bewundernswerther Wahrheit und echt dramatischer Kraft; —
meisterhaft ist die Steigerung von den anfangs feierlichen zu den
weiterhin dringender und zürnender werdenden Beschwörungen
Medea's. Wir begegnen Zügen und Motiven aus der Orcusscene
der „Nozze di Peleo" 2) — aber mächtig und bis zum Erschüt-
ternden gesteigert. In wenigen Takten und einfachen Hanno-
nieen ist durch den genial erfundenen Rhythmus der zerstörungs-
lustige Grimm der Dämonen, ihre furchtbare, kaum gezügelte
Wuth fast erschreckend gemalt — diese Färbung des kurzen
Dämonenchores rückt ihn wieder in 's Romantische; es sind keine
antiken Hadesbewohner, sondern Höllengeister, die wir hören.
Medea erwähnt in ihrer Beschwörung einmal sogar ausdrücklich
der Dantesken Höllenstadt Dis. Sie selbst aber behält ihre an-
tike Haltung. Ein „Ballo de' Spiriti" (nach nicht beigegebener
Musik) schliesst den Akt.
1) Die Aehnlichkeit mit den berühmten Chören im „Orfeo" ist höchst
iiberrasebend. Hat Gluck CavahTs ,,Giasone"-Partitur etwa in Wien oder
in Venedig zu sehen bekommen? Sein Verdienst würde dadurch um nichts
kleiner.
2) Auch hier die Tonart E-moll, die langsam aufsteigenden Drei-
klange, die daktylischen Rhythmen u. s. w. Von grossester Wirkung
ist einigemale die plötzliche Ausweichung nach Odur. Auch die Rede
des Geistes an Medea, so ganz einfach abgefertigt sie scheint, hat etwas
Nächtliches, Düsteres, Drohendes. Und das erreicht Cavalli mit der blan-
ken, vom allersimpelsten bezifferten Bass begleiteten Singstimme!
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Claudio Monteverde.
399
Wenn man die Mannigfaltigkeit und die glückliche Zeich-
nung der Charaktere ins Auge fasst, die meist ganz vortreffliche
Declamation, die Wahrheit des Ausdruckes vom Tragischen, vom
Heroischen bis zum sentimental Schmachtenden, zur koketten
oder naiven Anmuth, ja bis herab zur burlesken Komik; wenn
man dabei ferner erwägt, wie Cavalli für alles dieses, ohne dafür
ein rechtes Vorbild zu haben, den rechten Ton aus sich selbst
finden musste, und ihn dabei nur sein auf die Wirklichkeit ge-
richteter, fein beobachtender Blick unterstützen mochte ; wenn man
sieht, wie die Herbheit und Starrheit der primitiven Melodie aus
den ersten Zeiten der monodischen Musik, die kaum nur erst
vorüber waren, sich bei ihm mehr und mehr mildert, wie die
knappen, magern Formen sich zu erweitern und zu runden an-
fangen, wie sich der Gesang belebt und erwärmt, wie die Reci-
tative aus dem monotonen „Gänsegeschnatter" des anfänglichen
„Stile rappresentativo" mehr und mehr zum lebendigen, schwung-
vollen Redesang werden, wie er (und der Römer Carissimi, einer
unabhängig vom andern) die Phraseologie des Recitativs, welche
fortan für alle Folgezeiten Geltung behält, wenn nicht schafft,
so doch bedeutend ausbildet, wie Cavalli insbesondere die
weiblichen Versausgänge, welche bei seinen Vorgängern so un-
leidlich schleppende Tonschlüsse veranlassen, unmerklich zu ma-
chen versteht, und endlich wie er seine dramatischen Werke auch
in den grossen Dimensionen durch Licht und Schatten, durch
glücklich contrastirende Partieen, durch Steigerungen, durch auf-
regende und durch calmirende Momente nach einem Plane zu
disponiren versteht, der ein überschauendes Auge verräth und
eine Hand, welche nicht etwa kleinlich von Zeile zu Zeile, von
Vers zu Vers vorrückt, sondern die Massen zu# gruppiren und
zu ordnen weiss: so wird man nicht umhin können, über die
geniale Begabung des ausserordentlichen Künstlers zu staunen —
er nimmt für die neuere Musik eine sehr analoge Stellung ein,
wie einst für die ältere Musik Josquin eingenommen. *)
1) Die Reihenfolge der in Venedig aufgeführten Opern CavaüTs ist
folgende :
•1639 le Nozze di Tetide e di Peleo.
1640 gl' amori di Apolline o di Dame.
•1641 la Didone.
1642 l'amore inamorato.
* - la virtü de' strali d'amore.
- Narcisso ed Ecco immortalati (inamorati).
1643 l'Egisto.
1644 la Deidaniia.
* - l'Ormindo (favola regia).
• '1645 la Doriclea.
il Titone.
- il Romolo ed il Remo.
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400
Claudio Moutoverde
Ein in seiner Art merkwürdiges Werk, da es seinem Stoffe
nach in die Weise der heroisch-historischen Oper hinübergreift,
ist das Oratorium „Santa Francesco Romano'1 l) von Giulio
d'Alessandri. Dieser Componist (von dem die k. k. Hofbib-
liothek in Wien ausserdem ein grosses Te Deum für zehn Stim-
men mit Instrumenten besitzt) war Canonicus in Ferrara, wie
Fe*tis angiebt, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Für
diese Zeit ist das Oratorium, was dessen Musik betrifft, verhält-
nissmässig noch sehr unentwickelt; nach dem Vorbilde der Ca-
valli-Oper, doch mit sehr viel geringerem Talent, stellenweise
allerdings mit ganz deutlich fühlbaren dramatischen Intentionen
geschaffen, möchte es jedenfalls in die Periode zu setzen sein,
ehe Alessandro Scarlatti der dramatischen Musik reichere Formen
gab. Der Text behandelt einen der (wiederholten) kriegerischen
1646 la prosperita infolice di Giulio Cesare dittatore.
1648 la Toriida.
l'Euripo.
M650 rOrinionte.
M651 l'Oristeo.
Alessandro vincitore di so stesso.
l'Arraidoro.
• - la ßosinda.
• - la Calisto.
•1652 l'Eritrea.
- Veremonda l'amazone d'Aragona.
•1653 l'Elena rapita da Teseo.
•1654 il Serse (Xerse).
•1655 la Stltira, principessa di Persia.
* - l'Erismena.
•1656 l'Artemisia.
1658 Antioco.
M659 Elena rapita di Parido.
•1664 Scipione Afrieano.
* - Muzio Scevola.
♦1665 il Ciro.
Die vorsteheude Aufzählung ist einem Büchlein (264 Seiten Duodez)
entnommen: „le Glorie della poesia e della musica, contenute nelT esatta
notizia de Teatri della citta di Yenezia e nel catalogo purgatissimo de
drami musicali, quivi sin' hora rappresentati". Die Aufzählung geht bis
zum Jahre 1730. Marpurg hat davon in den „historisch-kritischen Bei-
trägen*1, zweiter Band, S. 425 u. f , einen Auszug gegeben. — Die oben
mit • bezeichneten Opern* befinden sich aus dem Contarinischen Nachlass
^raphe. Vom Egisto befindet sich das Autograph in der k. k. Hofbiblio-
thek zu Wien.
1) Ein altes Exemplar in der Bibliothek zu Berlin; eine zweite,
.benfalls ältere Abschrift, ging aus Kiesewetter's Nachlass in die k. k.
Hofbibliothek in Wien über.
•1649 il Giasone.
in der Marcusbibliothek zu Vencdi:
Xerxes und Artemisia sind Anto-
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Claudio Monteverde. 40 1
Züge des Königs Ladislaus von Neapel gegen Horn also Be-
gebenheiten der Jahre 1404 bis 1413. „Ladislao re di Napoli"
(Altpartie) steht in Begleitung des „Pierino Conte di Troja, gene-
rale dell' armi del reu (Tenor) siegreich vor Rom. Ein lebhaftes
Vorspiel von Instrumenten, fanfarenhaft und durch eine eingrei-
fende Trompete (allerdings sehr bescheiden) kriegerisch gefärbt,
leitet die Handlung ein ; der König spricht in einem aus dem Motiv
des Vorspieles gebildeten Gesänge „a battaglia" seinen kriegeri-
schen Muth aus; ein neunstimmiger Soldatenchor über dasselbe
Motiv antwortet. Eine Arie des Königs folgt: „biondo dio, che
Tetra indori". Wir erfahren, dass die zwei edeln römischen Brü-
der Ponziani dem Könige bisher den tapfersten Widerstand ge-
leistet haben. Ein Bote (Nunzio, Basspartie) meldet deren Be-
siegung: „gia caddero i Ponziani, ed entrambi i germani, langue
l'uno, quasi estinto, e l'altro gerne awinto" — darnach Arie des
Boten in zwei liedhaften Strophen „la vittoria per te scende".
Rom öffnet die Thore ; auch Francisca, die Gemalin des gefange-
nen Helden geräth in Gefangenschaft und wird dem Grafen von
Troja vorgeführt.
■ Ml* J'-y— g-
Si- gnor, se don - na umi - 1
a cre-scer glo - ria al tuo
# 0—0 P T f — f — & 0 m
U -2 5 X+" h « H -TT" ~ß
J
& * +—* — ^+
Re üa raai ba-stan -te, pri-gio-ne-raFrancesca eccoatue pian-tc.
iü J II
Der König verlangt die Auslieferung dos Sohnes Battista als
Geisel, widrigens werde den gefangenen Gatten der Tod, die
Paläste der Ponzier Verwüstung treffen. Jetzt eilt Battista (So-
pran) selbst herbei und will sich für den Vater opfern. Szenen
der Mutterliebe und des Mutterschmerzes Francisca's — der Graf
1) Theodorich von Niem und Lionardo Aretino sind die glaubwür-
digen und gewissenhaften Historiker dieser Epoche. Eine treffliche Dar-
stellung auch bei Gregorovius: „Geschichte der Stadt Rom im Mittel-
alter", 6. Band, S. 528—640. Die von Paul V. (1605—1621) der canoni-
sirten Francisca Ponziani gewidmete, früher St Maria nnova geheissene
Kirche in Rom steht bekanntlich auf der Stätte des alten Templum urbis,
zwischen dem Titusbogen und dem Coliseum.
Ambrot, Oeichichte der Haaik. IV. 26
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402
Claudio Monteverde.
von Troja setzt ihrem Flehen harte Unerbittlichkeit entgegen —
ein Gespräch in Form von Stichomythien nnd nicht ohne einen
dramatischen Zug:
Conto.
m r g *t r
gl
3
5-
«
Quo - sti so - spir
van - no con Tau-raal vo - lo
Hg
T
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Francesca.
i— U I -
Conte
*
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lo bo - ve il so - lo
Que-sto la- gri- me mie
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Francesca.
Conto.
5^
ü — *
h ■» rt Ü V6Z - zi
rua - tor -no a -mor
I
Francesca.
-#* — *
Conte.
te - ne - ra e - ta - de
a to - le - rar s'av-vez - zi
3
Francesca.
3" '
. »Ig, ff
I
* g 6 fr
-
Ti muo-vail cie-lo, ti müovail cie-lo,che d'af-flit - ti e
m
i
—
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Claudio MonteYerde.
403
Eine der Arien beginnt im Texte mit einem der nachmals
bei den italienischen Textdichtern so beliebten Gleichnisse : „Sco-
glio in mar sempre piü immobile" u. s. w. Die Musik der Arien
aber hat noch den älteren Zuschnitt und einen steifen, altvateri-
schen Gang, doch macht sich auch wohl eine eigene modulatori-
sche Unruhe fühlbar:
Francesca.
PF
Adagio.
Ke
sto senz'
5
5
1
m
a - ni - ma, che — che mi dis - a
ni-ma
1 —
u
=*=
=u-
-V-
■ spro
•
t
- lor,
— a—
l'a-
8pro
do-
lor, do -glia indi-
— 4-— J— |
— #—
- • * •
— b * f» . * £-^K— :
ci - bi - le, pe- na in - sof
— — - — - — e—m — 1
- fri - bi - le la - ce - ro il
, m — — m ,
■ 1 1
1 =■
cor etc.
■ i 1 — r— i — ^
1) Diese eigenth&nüiche Teitlegung soll ohne Zweifel Francesca's
athemloao Angst malen.
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404
Claudio Monteverde.
Das Glück wendet sich von Ladislaus, die Nachbarrepu-
bliken (! ?) eilen Rom zu Hilfe, der König entschliesst sich zum
Abzüge (alles unhistorisch) — er will Battista, trotz Franciscas
Widerspruch und Flehen, mitschleppen. Sie betet, da bringt der
Nunzio die Nachricht: Battista s Pferd stehe wie eingewurzelt
und sei nicht von der Stelle zu bringen. Dieses bescheidene Mi-
rakel erschüttert den König so, dass er der Mutter den Sohn
zurückgiebt. — Diese Azione sacra war, wie der ganze Zuschnitt
zeigt, wiederum auf die szenische Aufführung berechnet. Wann
und wo diese stattgefunden, darüber fehlen die Nachrichten. Viel-
leicht als halbkirchliches dramatisches Festspiel, wie Landi's S.
Alessio, zu dem das Werk überhaupt eine Art Pendant bildet —
nur dass jenes ältere sehr viel mehr Talent verräth und sich
überhaupt mit seinen Chören, Instrumentalsätzen und Tänzen
neben dieser etwas dürftigen „S. Francesca Romana" völlig wie ein
grosses, glänzendes Prachtstück ausnimmt, so dass wir auf die-
sem Umwege wieder etwas von dem Eindruck erhalten, den Lan-
di's musikalische „sacra Azione" auf den vornehmen Zuhörerkreis
im Palast Barberini hervorgebracht haben mag.
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vni.
Theoretiker und Lehrer.
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uigiuze
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino,
Zacconi, Artusi n. s. w.
So sicher es auch heissen muss, dass bisher noch keine
„Theorie der schönen Künste" auch wirklich „schöne Künste"
hervorzurufen vermocht hat, eine so wichtige Stelle nehmen gleicb-
wol die Theoretiker in der Geschichte der Kunst ein. Das wirk-
liche Kunstgesetz geht, wie das Kunstwerk selbst, letzterem im-
manent, immer nur aus dem Geiste des schaffenden Künstlers
hervor; der Theoretiker mag sich auch wohl in abstrakte Specu-
lationen und, wenn es sich um Musik handelt, in physikalische
und akustische Untersuchungen, in Zifferwesen und Rechnerei
vertiefen — den Künstlern und dem Verständniss ihrer Schö-
pfungen nützt er am meisten, wenn er den Kunstwerken die Kunst-
gesetze abfragt, wenn er, nach des Dichters Wort, „suchet den
ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht" — und aus der
Mannigfaltigkeit der ihm in Menge entgegentretenden Kunstwerke
das eine Gesetz aufzuspüren trachtet, welches gemeinsam ihnen
zu Grunde liegt. Hat er es gefunden, dann ist sein Fund jeden-
falls ein sehr werthvoller. Dann mag auch die Künstlerschaft,
insbesondere die heranblühende neue Generation an ihn heran-
treten, Belehrung suchen und finden — und zwar eine Belehrung,
welche jetzt hinwiederum dem eigentlichen Kunstschaffen zum
Nutzen gedeiht.
In Johannes Tinctoris sehen wir zuerst den Musiklehrer,
welcher in solchem Sinne die grossen Meister seiner Zeit — vor
allen Okeghem und Busnois studirt — ihm reiht sich Pietro Aron
an — und in Deutschland Heinrich Glarean, dessen Fundgrube
hauptsächlich die Werke Josquin's werden. Tinctoris repräsen-
tirt recht eigentlich die incarnirte Musiktheorie des 15. Jahrhun-
derts — auch Aron und Glarean müssen wir demselben Säculum
nach Geist und Inhalt ihrer Schriften zuweisen — mögen letz-
tere auch erst nach dem Jahre 1500 ans Licht getreten sein.
Wie Tinctoris in dem genannten Jahrhundert, so steht im fol-
genden, dem sechzehnten, als Epochenmann Gioseffo Zarlino
da. Sein Geburtsort war die Fischer- und Schifferstadt Chioggia
Digitized by Google
408 Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
— das „plebejische Venedig", wie man zum Unterschied des
eigentlichen aristokratischen sagen könnte. Sein Vater Giovanni
Zarlino (von welchem übrigens nichts Näheres bekannt ist) be-
stimmte ihn zum geistlichen Stande. Gioseffo erhielt die „niede-
ren Weihen" am 3. April 1537 und am 22. März 1539, woraus
geschlossen worden, dass er, da die Weihen nicht vor dem zwei
und zwanzigsten Lebensjahre ertheilt wurden , nicht später als
am 22. März 1517 geboren worden sei. l) Zum Diacon 1541
geweiht, nahm er, wie er selbst erzählt, seinen Aufenthalt in Ve-
nedig. 2) Er zeichnete sich nicht nur in seinen theologischen
Studien aus, sondern auch im Studium der Philosophie, Mathe-
matik, Chemie, Astronomie — in der griechischen und hebräi-
schen Sprache. Alles überwog aber seine Neigung zur Musik
— „fino da i teneri anni hb sempre havuto naturale inchinazione
alla musica", sagt er selbst in der Dedication seiner „Istituzioni
armoniche". Er wurde Schüler Adrian Willaerfs. Mit Begeiste-
rung hing er an dem alten Lehrer. Er nennt ihn nie anders
als „Ecceilentissimo" oder auch wohl gar „divino" — ein Epi-
theton übrigens, womit das 16. Jahrhundert ungemein freigebig
war. Als Cyprian de Rore, seit 18. October 1563 Willaert's
Nachfolger in der Stelle des Kapellmeisters von S. Marco, gestor-
ben, wurde am 5. Juli 1565 Zarlino dessen Nachfolger. Während
er diese Würde bekleidete, sassen an den Marcusorgeln keine
geringeren Männer als Annibale Padovano, Claudio Merulo und
die beiden GabrielL Und nun heisst es im Anstellungsdekret
Zarlino's : „Üesiderando Ii Clarissimi Signori Procuratori de Supra
prowedere d'un maestro per la Cappella de S. Marco che sia
non solamente dotto e prattico della musica, ma come quello che
ha da essere superiore agli altri musici, sia anche prudente e
modesto di far il suo offitio, havendo avuta ottima informatione
della sufficientia e della modestia del miss. Pre Iseppo Zarlino
et havendone voluto Sue Signorie haver sopra eib partieipatione
con Sua Serenita, lo hanno elletto per maestro della suddetta
cappella". So gross also war sein Ansehen. Sein theoretisches
, Hauptwerk, die „Istitutioni Harmoniche", hatte er allerdings schon
mehrere Jahre vor dieser Erwählung, nämlich 1557, airs Licht
treten lassen — er widmete sie dem Patriarchen von Venedig,
1) So von Abbe Ravagnan und von Caffi. Letzterer sagt (Stör, della
Mus. Sacra nolla giä Cappella Dacale di S. Marco in Veneria, 1. Band,
S. 129) ganz bestimmt: ,J)gli nacque nelT anno 1517** — fügt aber we-
nige Zeilen später hinzu: „non trovossi Tatto finora, che direttament«
provi e con precisione l'epoca del di Iui naseimento". Barney datirt Zar-
lino's Geburtsjahr mit 1540! (Hist of M. III, S. 162.) Zarlino selbst
sag-t: er sei im Juli 1521 zwei Jahre alt gewesen (s. seine Schrift , .della
Ongine dei R. F. Cappucini". im vierten Band seiner Werke, S. 96). Er
irrte sieh selbst in der Berechnung seines Alters!
2) Sopplim. mus. VIII, 131.
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarüno u. 8. w. 409
Vincenzo Diedo — und 1562 war sogar schon eine zweite Auf-
lage erschienen. Die Gelehrsamkeit. Gründlichkeit, der Ideen-
reichthum und die ruhig-ernste, man könnte sagen „venezianisch-
vornehme" Sprache dieses Werkes mussten imponiren. Diesem
Buche folgten 1562 die fünf Bücher „Dimostrationi harmoniche"
— dem Dogen Luigi Mocenigo gewidmet. Stolz-bescheiden sagt
Zarlino von diesem Werke: „es habe in der Musiktheorie arge
Unordnung geherrscht und Unverständlichkeit überdies; durch
Ausdauer und Arbeit, meine er, sei es ihm mit Gottes Hilfe ge-
lungen, dass die ihrer alten Würde lange beraubt gewesene
Musik jetzt mit Majestät und Zier sich als eine der edelsten und
wichtigsten unter den Wissenschaften zeigen dürfe" („con maesta
e decoro come nobilissima et come una delle principali tra le
altre scienze"). Im Jahre 1588 folgten acht Bücher „Sopplimenti
musicali" — gewidmet dem Papste Pius V. Neben diesen musi-
kalischen Schriften verfasste Zarlino auch eine moralische: „un
trattato della pazienza, utilissimo ad ognuno, che vuole vivere
christianamente, 1 579" (also eine neue Behandlung des einst schon
von Tertullian in 16 Capiteln behandelten Gegenstandes — „de
patientia" — Zarlino schrieb sein Buch für Eleonora von Este,
welche ihre Mutter verloren hatte). Ferner: „un discorso sopra
il vero anno et giorno della morte di Gesu Christo nostro Si-
gnore" — , „un informatione della origine dei R. P. Capuccini
(1579)", „le Risolutioni d'alcuni dubij mossi sopra la correttione
fatta deir anno di Giulio Cesare" (1583). Die Kapellmeister-
stelle von S. Marco hatten bis dahin hochgebildete Männer inne-
gehabt, treffliche Musiker — (Cypriano de Rore hatte auch „il
divino" geheissen) aber noch kein so vielseitiger Gelehrter, kein
Schriftsteller wie Zarlino. Dieser Umstand war sicher für die
Wahl der entscheidende. Noch in dem am 13. Juli 1603 aus-
gestellten Dekret für Giovanni Croce (Zarlino's zweiten Nach-
folger — der erstö war Baldassare Donati) heisst es: „il dottissi-
mo Zarlino, cosl scientifico in questa professione, che ha composto
opere profondissime nella theorica". Von musikalischen Composi-
tionen wird nichts gesagt; sie verstanden sich von selbst.
In die Zeit, während welcher Zarlino sein Amt bei S. Marco
bekleidete, fielen einige wichtige Ereignisse: — am 7. October
1571 der Seesieg gegen die Türken bei Lepanto, an welchem der
Doge Sebastian Venier so ruhmvollen Antheil hatte — und 1574
der Besuch König Heinrich IH. von Valois auf seiner Reise von
Polen nach Frankreich, dessen Andenken eine grosse, reichge-
zierte Inschrifttafel im Corridor des Dogenpalastes oberhalb der
Riesentreppe und in der Sala di quattro porte A. Vicentino's ge-
waltig grosses, figurenreiches Gemälde mit vielen Portraitköpfen
von Zeitgenossen bewahrt — ein ähnliches Bild malte der jüngere
Palma, welches dann nach Prag kam und sich jetzt in der Dres-
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410 Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. 8. w.
dener Gallerie befindet Die Republik Venedig legte auf den
Seeweg wie auf den Besuch des königlichen Gastes überaus
grosses Gewicht — und so wurden denn beide Ereignisse Anlass
zu glänzenden Festen — wobei Musik einen sehr wesentlichen
Bestandtheil bildete und zwar Musik von Zarlino's Composition.
Insbesondere wurde König 'Heinrich auf dem Bucintoro mit einem
Gesänge begrüsst — „musiche bellissime in versi latini" — wie
die Zeitgenossen Rocco Benedetti und Cornelio Frangipani berich-
ten — die Musik zum feierlichen Gottesdienst in S. Marco war
gleichfalls Zarlino's Arbeit, nicht minder die Musik zu einer dra-
matischen Darstellung „Orfeo" — Dichtung von dem genannten
Frangipani, — die Aufführung fand im grossen Saal (Sala del
maggior Consiglio) im Dogenpalaste statt An eine Oper, wie
Caffi zur Ungebühr thut, *) darf man in keiner Weise denken —
es können nur Gesänge in Madrigalform gewesen sein, wie sie
anderwärts bei ähnlichen Gelegenheiten das Gewöhnliche waren.
Aber auch die grosse Pest von 1577 (an welcher auch der
fast hundertjährige Tizian starb) fällt in Zarhno's Tage. Als
nach dem Erlöschen der Seuche die Fundamente der Votivkirche
S. Maria della Salute am 21. Juli 1577 unter grossen Feierlich-
keiten gelegt wurden, sang man dazu eine von Zarlino für die
Gelegenheit componirte Messe.
Im Jahre 1582 wurde Zarlino in das Domcapitel von Chiog-
gia gewählt, und als im folgenden Jahre der dortige Bischof
Marco Medici starb, schickte im August die Einwohnerschaft einen
eigenen Abgesandten an den Dogen Niccolo da Ponte und den
Senat und erbat sich in einer Bittschrift Zarlino als Bischof — :
„che Bi habbi per Vescovo il Reverendissimo Padre Gioseffo Zar-
lino, suo compatriota, perche si tien per certo, che havendo un
tal huomo virtuoso et pieno di bonta et affettuosissimo alla sua
patria, sara di grandissimo giovamento spirituale a tutto il po-
polo". Aber der Senat und der Doge da Ponte, ein erklärter
Musikfreund, mochten den berühmten Meister so wenig entbehren,
als er selbst, der in erster Reihe Musiker war, geneigt sein
1) 1. 1. I. Band, S. 140—141. Caffi war ein sehr guter Archiv-
stöberer, in Sachen der Musik dagegen total unwissend. Unter Triumph-
Geschrei bestreitet er den Florentinern — insbesondere Peri und Caccini
den Kuh in, die Begründer der Oper zu sein; ja das musikalische Drama,
welches Cardinal Mazarin in Paris am 5. März 1647 durch italienische
Sänger auffahren Hess, war nach Caffi's felsenfester Meinung ,,1'Orfeo di
Zarlino, il capo d'opera, che volle (Mazarin) principalmente". Ein „Mei-
sterstück" - das versteht sich! Die „partitura" sei in Philidor's Hände
gekommen. Die Pariser waren von dem neuen Schauspiel wenig erbaut
— wie der gleichzeitige Vers bezeugt:
Ce beau, mais malheureui Orphee
Ou, pour mieux parier, ce Morphee,
Puisque tout le monde y dormit
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
411
mochte, seine Stelle in 8. Marco gegen den Bischofssitz von
Chioggia zu vertauschen. Er blieb bis an seinen Tod, am 4.
Februar 1590, Kapellmeister von S. Marco; „e morto il Ro M. S.
5. Isepo Zarlin capelan di S. Severo de etta d'anni 69 amalato
i mal de gotte et cattaro di mesi tre; Mo de Cap. de S. Marco"
lautet die Bescheinigung seines Todes. Nach venezianischer Chro-
nologie, die ihr Neujahr mit dem März anfing, war die Jahreszahl
1589. Beerdigt wurde er in der Gruft der Kaplan e von S. Se-
vero in der Kirche S. Lorenzo (nicht weit von S. Giorgio de'
Greci, bekannt durch Girolamo Campagna's grosses Prachtstück
von Hochaltar). Aber kein Stein, keine Inschrift ehrt dort Zar-
lino's Andenken. In neuester Zeit hat man seine Büste in den
Corridor des Dogenpalastes gestellt. Eine Medaille zu seiner
Ehre wurde schon bei seinen Lebzeiten geschlagen — der Avers
zeigt sein Brustbild im Profil mit der Umschrift „Joseph Zarli-
nus" — der Revers eine Orgel mit einigen daneben liegenden
Büchern ■ — darunter „Op. F. de L." — Umschrift: „Laudate eum
in chordis".
In die Zeit der Amtstätigkeit Zarlino's fällt auch die vom
Dogen Niccolo da Ponte mit Dekret vom 4. April 1579 verfugte
Regulirung des Sängerchors von S. Marco, wobei natürlich Zar-
lino wesentlich in Anspruch genommen worden sein wird.
Zarlino's persönlicher Charakter zeigt sich als ein edler und
liebenswürdiger. Die Bücher seiner Bibliothek bezeichnete z. B.
Zarlino mit der Beischrift: ,,Hic liber est presbyteri Josephi
Zarlini, amicorumque", und als ihn 1579 sein gelehrter Freund
Giov. Vincenzo Pinelli in Padua um eine werthvolle Handschrift
der Werke des Guido von Arezzo ersucht, bethätigt er jenen
Zusatz — schreibend: „se ne servira al suo commodo, — dispona
delle cose mie come se fussero sue" — und bedauert, den „Ottone"
(Oddo's Dialog?) nicht mitsenden zu können: „mi scappb dalle
mani per haver havuto a fare con persone di poca fede". Auch
für Zarlino. Und selbst Vincenzo Galilei, welcher als Gegner
Zarlino's auftritt, nennt ihn: „huomo essemplare di costumi , di
vita et di dottrina". l)
Wenn die Zeitgenossen, wie Francesco Sansovino, voll des
Lobes sind: „Zarlino — il quäle nella teoria e nella composizione
e senza pari" (obschon gleichzeitig in Rom Palestrina lebte!),
wenn ihn Bettinelli im überschwanglichen Elogio-Styl „einen Ti-
zian, einen Ariost" nennt, und noch der gelehrte Doge Marco
Foscarini (1762—1768) — um nichts richtiger — meint: „il
nostro Gioseffo Zarlino, famoso restauratore della musica
intuttaltalia" — so muss es auffallen, dass wir von seinen
1) Zarlino selbst beruft sich auf diesen Ausspruch (Sopplim. mus. III. 2).
jene Supplik der Bürj
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
bewunderten Compositionen so äusserst wenig besitzen. Die längst
ausgeplünderten Musikscbränke von S. Marco enthalten von ihm
keine Note. Was in seinen theoretischen Werken als Beispiel
eingeschaltet ist, dient Lehrzwecken und gewährt keinen Mass-
stab. *) Das Liceo filannonico in Bologna besitzt handschriftlich
eine vierstimmige Messe. Im Druck gab sein Schüler Philipp
Usberti 1566 bei Fr. Rampazotto in Venedig „Modulationes sex
vocum" heraus. Eine Antiphone daraus „Virgo prudentissima"
nahm Paolucci in seine Prattica di Contrappunto auf — in Kie-
sewetter's Sammlung findet sich deren Partitur. Hier zeigt sich
der würdige Schüler Willaert's in sehr bedeutender Weise —
das Kirchenmotiv des Magnificat liegt zu Grunde, zum dreistim-
migen Canon, in gerader und verkehrter Bewegung entwickelt,
wozu die drei andern Stimmen sinnreich und elegant contrapunk-
tiren. Der Styl ist überall im Wesen der niederländische, wie
ihn Zarlino von seinem Lehrer Willaert übernommen. Eines
Magnificat ,,a tre Chori spezzati" — also niederländisch-venezia-
nischen Styls im Sinne Willaert's — gedenkt Zarlino in den Istit
harmoniche.
Von der Existenz der gleichzeitigen römischen Schule scheint
Zarlino gar nichts zu wissen; von den Musikern in Rom erwähnt
er blos „Morale Spagnuolo" gelegentlich. Die Meister, welche
er zitirt, sind (nebst seinem Lehrer Willaert) Ocheghen (sie),
Josquin, Isaak, Pierre de la Rue, Cyprian de Rore, Johannes
Motono (Mouton), Jacchet, Verdelot, Lupus, Gombert. Man sieht,
welche Tonsetzer für ihn von „classischem Ansehen und Gehalt"
waren. Im Vergleiche zu dem, was gleichzeitig in Rom, ja was
in Venedig selbst durch Andreas Gabrieli, dem ersten echt-vene-
zianischen Meister, geleistet wurde, erscheint Zarlino als ein Zu-
rückgebliebener. 2) Entschieden wichtiger als die Reste von Com-
positionen Zarlino's, welche wir noch besitzen, sind für uns seine
musikalischen Schriften. Als die Elemente, aus welchen sie zu-
sammengesetzt sind, kann man bezeichnen: antiquarisch-gelehrte,
physikalische, akustische und mathematische, historisirend- theore-
tische, philosophisch-ästhetische und endlich speeifisch musikalisch
auf den Tonsatz abzielende. Die antiquarisch -gelehrten befassen
sich, wie natürlich, vor Allem mit der antiken Musik und dem,
was im Alterthum mit ihr in irgend einer Verbindung stehen
mochte. Zarlino's gründliche Kenntnis* der lateinischen und grie-
chischen Sprache gestattete ihm eingehende Quellenstudien; all-
überall zeigen sich die Spuren vielseitiger, gründlicher Gelehr-
1) Ein kurzes, sehr kunstvolles, übrigens ziemlich steifleinenes Exem-
pel aus den Istit. härm. III, 66 hat P. Martini in den Saggio di Contr.,
Band I, S. 45—46, aufgenommen und erläutert.
2) Der Enthusiasmus Caffi's rar ihn hat andere Gründe, als musi-
kalische. Ohnedies fehlte es Caffi dafür an jedem ürtheil.
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t
Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w. 41$
samkeit l) und einer wahrhaft imponirenden Belesenheit — wohl-
gewählte Stellen aus lateinischen und griechischen Dichtern, Phi-
losophen und Historikern zitirt Zarlino am liebsten im Original
— sie sind der kostbare Schmuck seines Buches, denn er ver-
steht den tiberreichen gelehrten Apparat sehr geschmackvoll zu
ordnen und schreibt selbst den eleganten Styl eines fein gebilde-
ten Mannes — ohne Phraseuwerk, ohne gewaltsame Effektstellen,
— ruhig, klar, verständig. Seine zahllosen Zitate machen nicht
den Eindruck schulmeisterhafter Pedanterie — sie fügen sich in
den Redefluss des Uebrigen einfach und ungezwungen ein —
zudem war man es vom 15. Jahrhundert her in Italien gewohnt,
bei jeder passenden und nicht passenden Gelegenheit Aussprüche
alter Autoren auszukramen und Mythologisches ohne Ende so
ohneweiteres als „beweiswirkend" einzumischen wie das hart da-
neben stehende Biblische. Als guter Theolog kennt Zarlino
seinen Hieronymus, Augustinus, Origenes u. s. w. so gut, wie
seine klassischen Autoren und nimmt sie gleichfalls in reichem
Masse in Anspruch — als Italiener hat er Dante, Petrarca und
Ariost eben so genau inne, und so auch Sannazar und andere
Autoren — er rühmt an entsprechender Stelle ihre Verdienste
als tüchtiger Literaturhistoriker und entlehnt ihren Versen manche
Glanzstelle. 2) So nimmt sich denn sein Buch aus, wie einer der
Prachtpaläste seiner Vaterstadt, wo farbenprangende Gemälde,
Seltenheiten und Kostbarkeiten aller Länder und alle gedenk-
baren Herrlichkeiten von dem Rcichthume des Besitzers Zeug-
niss geben. 3) Glarean's „Dodekachordon" mit seiner antiquari-
schen und sonstigen Gelehrsamkeit nimmt sich dagegen völlig
wie eine nordische Schulstube aus, „wo selbst das gold'ne Him-
melslicht trüb durch gemalte Scheiben bricht" — und doch ist
auch Glarean ein im Sinne des Humanismus sehr gebildeter Mann
und ein tüchtiger Lateiner und Grieche. Mit den mittelalterlichen
Musikscribenten theilt Zarlino die Freude an geometrisch-regel-
mässigen Aufrissen zur Erläuterung der musikalischen Intervalle
und Zahlenproportionen, welche, meist sehr zierlich erfunden,
1) Bemerkenswerth ist, was Zarlino (Istit. harm. I, 4) selbst sagt:
„Essendo nato l'huomo a cose molto piü eccellenti, che non b il cantare
0 sonare di Lira 6 altre sorte d'istrumenti per satisfar solamente al Senso
delT udito, usa male la sua natura et devia del proprio fine, poco cu-
randosi di dare il cibo conveniente all' inteletto.
2) Z. B. Istit. harm. IV, 1. Selbst neugriechische Literatur kennt
Zarlino. In dem eben erwähnten Capitel zitirt er Verse von Eonstantin
Mannasi.
3) Noch passender vielleicht wäre der Vergleich mit dem berühmten
Gabinet jenes holländischen Anatomen, wo , Skelette, Präparate und andere
nicht eben angenehme Dinge zwischen funkelnden Erzstufen, künstlichen
Blumen, ausgestopften Vögeln u. dgl. in zierlichster Gruppirung aufge-
stellt waren.
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414 Di® Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
bald an Blumensterne, bald an das Masswerk gothischer Fenster
erinnern. Wo die Lehre vom eigentlichen Tonsatze beginnt, ver-
schwinden Citate und Zeichnungen oder erscheinen doch nur
ausnahmsweise — desto reichlicher treten jetzt die Notenbeispiele
auf. Die ganze Literatur musikalischer Lehrschriften hatte bis
dahin nichts aufzuweisen, was sich mit Zarlino's Büchern hätte
messen können. Neben der musikalischen und anderweitigen Ge-
lehrsamkeit zeigen sich auch wohl Stellen, welche den wohlden-
kenden, Welt und Menschen kennenden, man möchte sagen: den
weisen Mann erkennen lassen. Die „harmonischen Institutionen"
schliessen mit Worten, welche die „Beurtheiler" und die Künst-
ler aller Zeiten beherzigen sollten: „il giudicare e cosa molto
difficile e pericolosa, tanto piü, che si trovano diversi appetiti
— — ne anco per udir simili giudicij i musici debbono dispe-
rare, se bene anco udissero costoro biasimare et dire ogni male
delle loro compositioni ma debbono pigliar animo et confortarsi;
poiche il numero de quelli, che non hanno giudizio e
quasi infinito et pochi si ritrovano esser quelli, i quali non
si giudichino esser degni da esser connumerati tra gli
huomini prudenti et giudiziosi".
Auch an ergötzlichen Zügen fehlt es nicht; Zarlino schildert
nicht ohne humoristischen Aerger die Unarten der Sänger, wie
sie statt „aspro core e selvaggio e cruda voglia" hören lassen:
„aspra cara e salvaggia e crada vaglia" — und wie manche In-
strumentalisten ihren Vortrag mit Gesten begleiten, als tanzten
sie zugleich nach ihrer eigenen Musik. ')
Für die „Dimostrazioni harmoniche" hat Zarlino die Einthei-
lungen in „Ragionamenti" statt in Bücher, und in „Proposte"
statt in Capitel gewählt. Es bedeutet mehr als eine blosse Aen-
derung der Bezeichnung und steht mit der Dialogform in Zu-
sammenhang, welche Zarlino diesem Buche zu geben für zweck-
mässig erachtete, obschon für eine Schrift, welche mit Rechne-
reien über die Ton Verhältnisse, mit Tabellen und Aufrissen an-
gefüllt ist, schwerlich eine minder geeignete zu denken ist, zudem
das stellenweise in den Text eingeflickte „disse M. Adriano —
aggiunse M. Claudio" — „dimandö di poi M. Desiderio" 2) die Dar-
stellung keineswegs belebt und über die unvermeidliche Trockeu-
1) Istit. harm. III, 46.
2) Zarlino fingirt das Jahr 1562 als dasjenige, wo das angebliche
Gespräch gehalten worden. Alfonso von Este kommt nach Venedig, be-
gleitet von seinem Capellmeister Francesco Viola. In der Marcuslarche
trifft der Autor mit letzterem und mit dem Organisten Claudio Merulo
zusammen. Alle drei machen einen Besuch bei Adrian Willaert, wo sich
das Gespräch entspinnt, welchem sich ein hinzukommender Freund Adrian s,
Namens Desiderio aus Pavia, gesellt.
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. 8. w.
415
heit des Gegenstandes nicht hinüberhilft, obschon gerade letzteres
Zarlino's Absicht gewesen zu sein scheint
Das dritte Hauptwerk Zarlino's sind die 1588 erschienenen
„Sopplimenti musicali — nei quali si dichiarano molte cose conte-
nute ne i due primi volumi delle Istitutioni et Dimostrationi, per
esserc State mal intese da molti, et si risponde insieme alle loro
calonnie". Diese „molti", deren der Titel gedenkt, bedeuten
aber einen Einzigen — nämlich Zarlino's ehemaligen Schüler
Vincenzo Galilei, welcher nachmals bei der sich in Florenz
vollziehenden Musikreform eine grosse Rolle spielte. Zarlino fühlte
sich durch Galilei's 1581 in Florenz erschienenen „Dialogo della
Musica antica et della moderna" verletzt, obschon der Autor
gleich auf der ersten Pagina ihm und Glarean das Compliment
macht: „principi veramente in questa moderna pratticau. Aber
Galilei bekämpft Zarlino's musikalisches Lieblingsdogma — „che",
um Galilei's eigene Worte zu brauchen, „il Diatonico, nel quäle
si compone et canta hoggi, sia il Syntono del Tolomeo" — und
er greift diesfalls Zarlino ausdrücklich unter Nennung des Namens
und Zitirung des 2. Buches, 16. Capitels der „Istitutioni harmo-
niche" an. l) Im Buche selbst erkennen wir an der gediegenen,
klaren Darlegung den Verfasser der Institutionen wieder. Galilei,
hitzig und rechthaberisch, machte seiner Galle sofort in einem „Di-
scorso intorno alle opere di Messer Gioseffo Zarlino di Chioggia (1589)"
Luft; er nimmt keinen Anstand, sich in Hoün und Schimpfreden
auszulassen. Zarlino hatte jetzt Grund, seinen zehn Jahre früher
geschriebenen Tractat „von der Geduld" zur Hand zu nehmen.
Zarlino wandelte nicht mehr unter den Lebenden, als ihm
an Giovanni Maria Artusi ein zweiter Gegner erwuchs. Die-
ser Kampfbahn, der sich in Alles mengte und es liebte, zu lö-
schen wo es ihn nicht brannte, gab 1604 bei G. B. Bellagamba
in Bologna eine Schrift gegen Zarlino unter dem Titel heraus:
„Impresa del R. P. Gioseffo Zarlino da Chioggia, gia Maestro di
Capeila delT lllustrissima Signoria di Venezia, dichiarata da"
u. s. w. Hatte Artusi doch für nöthig erachtet, den verscholle-
nen Streit Nicola Vicentino's wieder an Licht zu ziehen und das
Urtheil der damaligen Richter Ghiselin Dankert's und Bartolomeo
Escobedo „in höherer Instanz" zu bestätigen.
Zarlino kennt vollständig und genau, was das Alterthum,
was das Mittelalter über Musik gedacht und gesagt, und ist in
dem Sinne conservativ, dass er diese Lehren einer ernsten Be-
trachtung werth hält, aber er ist auch der Mann mächtigen Fort-
schrittes. Liest man seine „harmonischen Institutionen", so ist
es fast, als durchwandere man eine der Städte Italiens, wo Rui-
nen antiker Prachtgebäude neben dem mittelalterlichen Dom,
1) S. 6.
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416 Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
dem gothischen Palast stehen und all" diesem die Renaissance,
als Trägerin neuer Zeiten und Ideen, ihre glänzenden Bauwerke
eingefügt hat.
Die Musik gründet sich auf Zahl und Verhältniss wie der
ganze Weltbau. *) Wunderbare Beziehungen enthält besonders
die Sechszahl (1 + 2 -f- 3 = 6), sie birgt das Mysterium der
Consonanzen in bewunderswerther Ordnung, wie nachfolgender
Aufriss sofort klar zu machen geeignet ist, der die Zahlenverhält-
nisse der grossen Terz, der Quarte, grossen Sext, Octave, grossen
Decime, der Duodecime, Doppeioc tave ., der grossen Septdecime
und der Quinte über der Doppeloctave versinnlicht 2):
1) Istit. harm. I, 12. „Musica e Scienza, che considera i numeri
et le proportioni — dalla prima origine del mondo tutte le cose create
da Dio furono da Lui col numero ordinate".
2) Zum Verständniss dieses von Zarlino entworfenen Schema halte
man sich folgende Intervalle und Zahlen gegenwärtig i
— — ZT. ZU _
Ct 1 s 1
T» n a * * ■
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
417
Ueberall hin deuten die geheimnissvollen Beziehungen der
Sechszahl; im Zodiacus sind je sechs Himmelszeichen über dem
Horizont und sechs unter dem Horizont — sechslach ist die Sich-
tung des Raumes: oben, unten, vorne, hinten, rechts, links —
man zählt sechs Weltalter, und sechs Alter hat auch der Mensch
(Infantia, Pueritia, Adolescentia, Giovinezza, Vecchiezza, Deere -
pita) n. s. w. — mit Recht nennen Manche die Sechs die Signa-
tur der Welt (Segnacolo del mondo) — sechs Tonarten kannten
die Alten: Dorisch, Phrygisch, Lydisch, Mixolydisch, Aeolisch,
Jonisch — sechs authentische Töne giebt es und sechs Plagal-
töne. Die alten mystischen Spielereien mit der Zahlensymbolik
sind also noch nicht vergessen ; während sie aber, wie wir sahen,
im Mittelalter bei Aribo Scholasticus, Marchettus de Padua, Jo-
hannes de Muris l) eine theologische Färbung hatten , erscheinen
sie bei Zarlino in philosophischer.
tiefe und eine hochklingende Saite mit gleicher Stärke an, so
sieht man deutlich, dass die tiefe langsamer, die hohe schneller
schwingt — der tiefe Ton schwingt, was die Dauer betrifft, län-
ger, der hohe kürzer aus, — die Schwingungen der Saite treffen
die Luft, entweder mit einer „tardita de movimenti" oder „ga-
gliardamente e con prestezza" — ersteres bringt den tieferen, letz-
teres den höheren Ton hervor. Gewicht, Spannung, Länge der
Saite sind für die grössere oder kleinere Zahl der Schwingungen
entscheidend. 2)
Die Intervalle werden einseitig und in allen Fällen rück-
sichtlich ihres Consonircns und Dissonirens in voller harmonischer
Geltung in Anschlag gebracht — die Quinte darf daher — den
nach wie vor streng verpönten Fall der Parallelquinten ausge-
nommen — eintreten, wo sie mag — die widrige Wirkung ver-
deckter Quinten wird überhört, weil thatsächlich keino Parallelen
sichtbar werden. Verminderte Quinte, übermässige Quarte bleiben
gefahrliche Ungeheuer, . bei denen es grosser Vorsicht bedarf.
Tigrini bringt folgende Beispiele als „verwerflich":
Tristo procedere. Peggior procedere.
<
1) Vergl. 2. Band, S. 212.
2) Istit. härm. II. 11.
Ambroi, Geschichte der Musik. IV.
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418 Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
1 1 r j ^^gijTV^
m
Das Verwerfliche liegt darin, dass in den beiden ersten Exempeln
die Mittelstimme, während sie gegen den Bass eine Sexte bildet,
gleichzeitig zür Oberstimme in der Relation einer verminderten
- ul
Quinte (Quinta minore, cioe falsa) steht — nämlich *) e und f c.
g «
Dass in beiden Beispielen der getadelte Zusammenhang ein richtig
vorbereiteter, richtig aufgelöster Terzquartaccord ist, weiss weder
Tigrini noch Zacconi, welcher dieselben Beispiele in sein Buch
herübergenommen, weil weder sie noch jemand Anderer wussten,
dass es etwas gebe, was man einen Terzquartaccord nennt —
die verminderte Quinte blickt mitten aus der Notengruppe heraus,
basiliskenhaft, und da ist es denn „contro ogni regola e dovere,
ma anco cantandole fa brutissimo sentire." Die „modernen" Com-
ponisten lassen sich, leider! aus eitler Sucht nach Neuem iu
solchen Extravaganzen und groben Fehlern verleiten ') ; nur wo die
Textworte eine besondere Härte der Musik fordern, wie in einem
vierstimmigen Madrigal von Rocco Rodio, wo es heisst „molto
amaro appaga4', möchte dergleichen tolerabel sein. Tigrini corrigirt
das „peggior procedere", dessen noch grössere Verwerflichkeit er
in der Combination von verminderter Quint und kleiner Sexte
findet, in folgender Art, welche man unbedenklich eine „Ver-
schlinimbesserung" nennen kann:
SP
m
Dass der zweite terzenlose Accord sehr elend, leer und matt
1) Zacconi wird in seinem Zorne gegen die Neuerer ordentlich witzk.
Dem 42. Capitel seines dritten Buches ^iebt er die Ueberschrift: „defi'
uso tristo, ö tristo abuso d'alcuni Musici, che per mostrar al mondo no-
vella musica, usano le Quinte, e Seste minori in modo che non si deb-
bono usare".
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
419
klingt, bleibt unbemerkt. Und derselbe Meister Orazio Tigrini,
welcher hier Mücken seiht, verschluckt ohne Arg nachfolgendes
Kamel (und Zacconi mit ihm):
h
i , J
I
5
l
Die gräuliche Wirkung, das wirkliche „brutissimo sentire"
der Fortschreitung von der Octave zur reinen Quinte hören sie
gar nicht — die Quinte ist ja „rein" — eine „Quinta pura e
naturale4' *), eine „consonanza perfetta", warum soll sie nicht frei
eintreten dürfen? Dass in der vorhergehenden Octave eine ver-
steckte Schwester-Quinte, eine wahre „anguis in herba" lauert,
(während doch schon Zarlino über diesen Punkt richtig dachte2))
ist ihnen ganz gleichgiltig, weil sie ihre Existenz gar nicht ahnen.
Für einen Passus wie folgenden
aus der Motette
„0 altitudo divitiarum" von Cyprian de Rore hält Zacconi (Lib. II.
c. 10) eine eingehende musikalische und ästhetische Rechtfertigung
nöthig! — „toccandosi per affetto come cattiva, facci poi riuscir tanto
piü buona la Seconda, della quäle la melodia si attende".
Das alte Misstrauen gegen die grosse Sext ist noch immer
nicht überwunden; eine Fortschreitung in der Gegenbewegung
vom Einklänge zur grossen Sexte dünkt Artusi unleidlich, eher
ist die Fortschreitung zur kleinen Sexte zu dulden. Er sagt:
„che non si movino le parti nel moto contrario dell' unisono alla
sesta maggiore, per la molta asprezza, che in tal con-
sonanza si ritrova; ma dall' unisono alla sesta minore pare
che manco offesa si senta, massime rincontrandosi le parti in terza
maggiore."
1) Zacc. II. *• 40-
2) Instit. H*» Cap. 3^ Mansehe die dort angesetzten „Mo-
««. h c ec acjfciadlcgld
"d f i g f i c f J d f i c g I e c
vimenti rietat;
27
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420
Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
Eben so fehlerhaft ist es, auf eine Quinte die Sexte in ge-
rader Bewegung folgen zu lassen, wenn die eine Stimme stufen-
weise um einen Halbton, die andere um eine kleine Terz fort-
schreitet:
(mi) (mi) (mi)
(fa) (&)
(fa)
Wohl nur des mi contra fa wegen! Schon früher lehrt
nämlich Artusi: „proibiscono a due voci i buoni prattici moderni,
che si facci il mi avanti o dopo il fa per quinta, quarta et ottava,
et cib perche fra le parti non si ritrova relatione, che sia har-
monica:
nel moto contrario. nel moto retto.
9 rr—~ — -= °— «—
q 1 V.
non si debbe poncre assolutamente la voce b figura cantabile del
mi contra quella del fa in ottava, in quinta, in quarta, ne a duc
ne a piu voci."
1
Eine Parallelfortschreitun g vollkommener Consonanzen zu
verbessern, genügt schon „ponervi di mezzo una pausa owero
una dissonanza" — eine Auskunft, welche die spätere Musiklehre
bekanntlich verworfen hat, von der aber wiederum auch schon
Zarlino nichts wissen will.
i
1SL
I
-ö O-
i
1
FT
Syncopationen verbessern verbotene Parallelen, wie denn Giro-
lamoDiruta in seinem „Transsilvano" folgendes Exempel bringt:
Assonti et imitationi sopra ut re mi etc.
1) Artusi, Contrapp. 8. 33.
*
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino n. s. w. 421
Die Bewegung der Stimmen ist nach Artusi eine gerade
(moto retto), eine Gegenbewegung (m. contrario), eine Seiten-
bewegung (moto obliquo) — also ganz wie in unserer modernen
Musiklehre.
Der Contrapunkt ist einfach oder doppelt. Tigrini giebt
Über letzteren eine Erklärung, welche noch heut Giltigkeit hat l)
— auch schon Zarlino giebt eine ähnliche, aber minder präcis
zusammengefasste, mehr ins Detail hinein erläuternde.2)
Von einer eigentlichen Accordcnlehre kann nach dem ganzen
Stande der Wissenschaft einstweilen keine Rede sein, obschon man
Accorde selbst gar wohl kennt und ganz richtig zu behandeln weiss.
Dass aber zwischen Tongruppen, wie z. B. 0 g c irgend ein
c e g
inneres, sie als zusammengehörig kennzeichnendes Band bestehe,
weiss und ahnt Niemand, oder es wird doch der Schwerpunkt
irgendwohin anders gelegt, als wo er wirklich ist. Es werden
nämlich immer die Intervalle einzeln und selbständig in Anschlag
gebracht. Aus dem Terzsextaccord und Quartsextaccord hebt
z. B. Zarlino speciell die Quarte heraus gj~~g — ; sie also
ist hier das Gemeinsame, nicht aber die gemeinschaftliche Ab-
kunft beider Zusammenklänge vom Dreiklang durch Umkehrung,
selbst ZarhWs Scharfblick gar nicht bemerkt. Die Quarte
der kleinen Terz begleitet (ein Sextaccord von einem Dur-
dreiklang, wie wir sagen) klingt trefflich — weniger ist die Be-
gleitung mit einer grossen Terz zu empfehlen (also der
Sextaccord von einem Molldreiklang! — z. B.
Men
buona
g - =r&7~: 1. Das Umgekehrte gilt, wenn die begleitende Terz
Buona Migliore
der Quarte oben aufgesetzt wird Q <g ■ j. Ist aber die
d7i7(«) (f)
oben aufgesetzte Terz eine kleine, „sempre s'udira qualche effetto
tristo" — (also z. B. jfe^a"-"). Warum klingt aber die kleine
\y &—>
1) un rimesso, ower ridetto di quello che fu detto prima nell' acuto
over nel grave, col cambiar le parti, e far che quello, che giä disse il
grave dichi l'acuto — o quello che disse l'acuto aichi il ^ra?e.
2) Instit. harm. III. cap. 56 „dei Contrapunti doppij".
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. 8. w.
Terz unter der Quarte besser als die grosse? Antwort: weil in den
natürlichen Zahlenproportionen der Intervalle dieselbe Ordnung
ersichtlich wird. (Nämlich so:
^ " kl. Terz^ Quart^
Das ^ auf 7 ist bekanntlich nicht ganz rein und kommt
nicht in Anschlag.) — „Si vede", lehrt Zarlino, *) „che dopo il se-
midituono, contenuto tra questi termini 6 et 5 segue immediata-
mente la Diatessaron, posta tra questi termini 8 et 6." Ganz
anders bei der grossen Terz! „Mau, fährt Zarlino fort, „quando
e accomodata col ditono, non puo far quello effetto, perche non
sono poste insieme secondo l'ordine naturale de cotali consonanzc;
anzi sono aggiunte insieme in un ordine accidentale ; perche non
si trova neiT ordine nominato, ehe'l Ditono sia posto senz' alcun
mezzo avanti la Diatessaron; la onde essendo queste due con-
sonanze accomodate l'una dopo l'altra contra la loro natura,
essendo posta nelT acuto quella, che doverebbe esser collocata
nel grave et nel grave quella, che doverebbe tener l'acuto; de
qui viene, che.i suoni, che nascono dalle corde Ordinate in tal
maniera sono men grati all' udito de quelli, che nascono dalle
corde tese secondo i lor gradi naturali." —
Als gegen das Jahr 1600 hin in Florenz die grosse Wen-
dung der Dinge eintrat und ein ganz neuer Musikstyl, auf antike
Anschauungen basirt, ins Leben gerufen werden sollte, war im
Hause Bardi, von wo aus die Keformbewegung ihren Anfang
nahm, Jedermann Theoretiker und fast Niemand schaffender
Musiker. All' den gelehrten Herren, welche in Sendschreiben,
Dialogen und Raggionamenti ihren Ideen über Musik Ausdruck
giben, standen vorläufig eigentlich nur Jacopo Pen und Giulio
accini als Leibcomponisten zur Seite, welche den ästhetischen
Ideen der gelehrten „Camerata" eine praktische Nutzanwendung
abgewinnen mussten. Die eigentlichen Kunstregeln und Formen
des Tonsatzes wurden dabei kaum berührt, oder vielmehr sie
wurden einfach durch ein Machtgebot ausser Kurs und durch
Schmähungen und Missreden ausser Credit gesetzt — so weit sie
aber unentbehrlich blieben, als etwas beinahe Selbstverständliches
angesehen und obendrein in den antik-griechischen Talar gesteckt
Musikalische Declamation, Verhältniss des Worttextes zur Musik —
das war der eigentliche Gegenstand, mit dem sich die Theorie
befasste. Sich dabei auf mustergiltige Werke zu berufen, wie
weiland Tinctoris, Glarean, Aron u. s. w. gethan, war unthun-
1) Istit. hann. III. 60. In qual maniera la quarta si possa porre
nello Compositioni.
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
423
lieh, weil die mustergiltigen Werke einstweilen noch gar nicht
existirten. Erst nachdem Caccini, Peri und Monteverde eine
Anzahl von Compositionen neuen Styls geliefert, trat G. B. Doni
als theoretischer Schriftsteller im grossen Style auf — nicht nur,
dass er das Programm aus dem Hause Bardi weitläufig in zahl-
reichen, zum Theil umfangreichen Tractaten behandelte, er that
es auch unter Berufung auf Caccini, Peri, Monteverde und
unter Anführung passender Notenbeispiele aus ihren Tonwerken.
Was dem neuen Styl theoretisch im höchsten Grade Noth gethan
hätte: eine gut entwickelte Accordlehre, eine Lehre vom musika-
lischen Periodenbau, eine Modulationslehre, eine Lehre über Be-
gleitungsformen — das alles fiel weder Doni noch einem Andern
auch nur im Traume ein. Erst lange nachher, als die Praktiker
alle diese Dinge gefunden, stellte sich (wie gewöhnlich) die
Theorie ein, prüfte, forschte, begründete — und gewann aus
der ihr fertig vorliegenden Anwendung die von ihr zu schaffende
Regel, damit künftig diese letztere die Anwendung regle und
leite. Wie bei allen Reformen, welche sich nicht friedlich im
Wege allmählicher Umstaltung, sondern in Folge einer plötzlichen
Kriegserklärung gegen festbegründete, scheinbar unerschütterliche
Zustände vollziehen, war die Thätigkeit der Florentiner anfangs
mehr negirend, ihr Styl polemisch — was sie aber an Stelle des
Zerstörten setzen sollten und wollten, das schwebte ihnen einst-
weilen als Ideal in noch sehr vagen, unbestimmten Umrissen vor
— der positive Punkt darin war blos die Sehnsucht nach einer
Wiedergeburt der Musik im antiken Sinn und womöglich in an-
tiken Formen, über welch' letztere die gründlichsten Forschungen
angestellt wurden, ohne viel andere Ausbeute zu gewähren, als
gelehrt-antiquarische, aus welcher fiir die Hauptsache, für die
Musik, so gut wie nichts zu gewinnen war.
Gleichzeitig aber traten Theoretiker auf, welche, unbeirrt von
den Florentiner Musikmandaten, dort weiter bauten, wo Zarlino auf-
gehört: der Bologner Giovan Maria Artusi, Orazio Tigrini
aus Arezzo, Scipione Cerretto aus Neapel, Fra Lodovico
Zacconi aus Pesaro u. A. Ihre Arbeiten sind meist sehr tüchtig.
Zacconi's „Prattica di musica" (erster Theil 1592, zweiter 1622) ist
sogar ein ganz ausgezeichnetes Buch. Grundgelehrt sind sie
alle, dazu conservativ. Der Contrapunkt, welchen die Floren-
tiner kaum nennen können, ohne in erbitterte Aufregung zu ge-
rathen, bildet für sie den Hauptgegenstand. „Man wird nur dann
ein tüchtiger Componist, wenn man seinen tüchtigen Contrapunkt
versteht", meint Zacconi. !)
1) — quei volonterosi gioveni, che pratticando la Musica, et in can-
tarla ne pighano gran gusto e piacere, bramano di Scolari diventar per-
fetti compositori; e perche questo non si fe, sc non per via di con-
trapunto sodo e buono u. s. w. (Prattica di mus. Parte II. Lib. 1, cap. 1.)
424 Di© Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
Der Contrapunkt bildete aber eine Art von Geheimlehre,
welche von den Componisten bewahrt, geübt, aneh in mündlichem
Unterricht einigen bevorzugten Schülern mehr oder minder voll-
ständig mitgetheilt, in keiner Weise aber in Lehrbüchern fiir alle
Welt ohne des Meisters persönliche Dazwischenkunft zugänglich
gemacht wurde. *) Als Costanzo Porta 1595 zu Padua in einem
Buchladen den ersten Theil von Zacconi's „Prattica di musica"
sah, sagte er zu seinen anwesenden Schülern : „nicht für tausend
Ducaten hätte ich alle die Geheimnisse an die Oeffentlichkeit
gebracht, welche dieser Frate da preisgiebt". 2) Was verspricht
aber Zacconi nicht gleich auf dem Titelblatt: „Contrapunti sem-
plici et artificiosi da farsi in cartella et alla mente sopra canti
fermi, e poi mostrandosi come si faccino contrapunti doppij d'o-
bligo e con conseguenti; si mostra finalmente come si contessino
piü fughe sopra i predetti canti fermi et ordischino cantilene a
due, tre, quattro e piü voci". Die Lehre soll so deutlich, klar
und leicht fasslich gemacht werden, als nur immer möglich ist —
ja Zacconi wünscht durchaus, die Lehrmeister überflüssig zu ma-
chen ; der Schüler soll, wo nöthig, durch das Studium der Bücher
allein schon, ein tüchtiger Tonsetzer werden können. 3) Aber
lesen soll er, Belehrung in den Büchern suchen — viele gute
Bücher soll er anschaffen und oft soll er sie lesen, und zwar
nicht obenhin, nicht flüchtig, sondern mit aller Aufinerksamkeit
und mit dem festen Vorsatze, sich das volle Verstäudniss der-
selben zu erringen ; die Notenbeispiele soll er in Partitur setzen
und dann genau studieren. Er soll fremde, tüchtige Composi-
tionen in ein Notenbuch auf solche Art eintragen und oft zur
Hand nehmen, dabei aber nicht das erste beste aufgreifen, son-
dern Compositionen wählen, die etwas besonderes enthalten („che
sono fatti con qualche particolar segreto") — freilich sei es an-
1) „fin qiri molti Musici, piü ch'eccellenti, morendo quel tanto
che sapeano, piü tosto si sono voluto portarlo in sepoltura, che lasciarlo
in scrittura ad ognuno che ne l'havesse voluto havere. Et i vivi, ch'ancor
fra di noi dimorano. altresi tenendosi in ciö il meglio in saccoccia per
ancor loro forsi far il simile, se ne servano solamente in alcune occasioni,
senza che la communanza de Scolari ne habbino punto da partieipare".
(Zacconi a. a. 0.) Also nicht einmal alle Schüler wurden eingeweiht!
Und kaum Einer vollständig — Zacconi sagt: „a niuno perö gl' hanno
dati integralmente, come poteano per servarsi appo di loro, come si dice
per proverbio, qualche colpo magistrale, per potersene poi a luoco e
tempo in occasion servire."
2) „Per mille ducati io non haverei dato fuori i secreti, ch' ha dato
quosto frate!'4 (a. a. 0.)
3) — „metto nellc mani altrui, non ad altro fine certo, se non per
dar aiuto aa ogni scolare di questa musical professione, e far che senza
mastro, sto per dire, si possi annoverare fra l piü rari e celebri composi-
tori". (a. a. 0. Vorrede.)
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w. 425
fänglich eine langweilige Sache, fremde Arbeiten in Partitur zu-
sammenzuschreiben, aber der Nutzen überaus gross, der Schüler
finde da Dinge, welche kein Lehrer lehrt. l)
Artusi sucht das Studium des Contrapunktes dadurch zu er-
leichtern, dass er sein Buch „L'arte del Contrapunto" (Venedig
bei Giacomo Vincenti 1598) in eigentümlicher Weise tabellarisch
anlegt. Weit entfernt von der Casuistik weiland Tinctoris* sucht
er die Lehre möglichst gedrängt und überschaulich zu geben.
Tigrini's „Compendio della musica44 (1588) ist ein Muster klaren
Die Tonlehrer hatten vor Zarlino ihre Bücher zum grossen,
ja zum grössten Theil mit Dingen gefüllt, welche doch nur als die
Vorschule für den wirklichen Tonsatz gelten können — sie sind
recht eigentlich musikalische „Proscholoi". Die Lehre von den
Intervallen, von den Tongeschlechtern, den Kirchentönen, die
Solmisation, die guidonische Hand, die musikalische Schrift in
Note und Taktzeichen, dazu unendliche Intervallen-Rechnereien,
unendliche Takt-Proportions-Rechnereien, welche praktisch so gut
wie werthlos sind — das fand der Scholar, wenn er nach dem
Rathe Zacconi's dort etwa Belehrung suchte. Tinctoris hatte in
seinen Büchern über den Contrapunkt wenigstens einen ehrlichen
Anlauf zum eigentlichen Tonsatz genommen, — Glarean gab
Meisterstücke — das Beste aber und so ziemlich Alles musste
doch der Lehrer thun. Die Tonlehre nahm jetzt eine ganz an-
dere Gestalt an — Zarlino trat auch hier epochemachend ein —
ganz neue Capitel stellten sich ein. Manches von der alten Lehre
erschien jetzt als Gerümpel. Wirklich dachten die Lehrer an Ver-
einfachung, und selbst die geheiligte Solmisation, die unantastbare
guidonische Hand wurden jetzt gelegentlich in Frage gestellt.
Adriano Banchieri räth, zu den Guidonischen sechs Sy Iben
eine siebente zu setzen: „ba" für fa j£ [*e und„bi" für mi fe^»
wodurch die Notwendigkeit einer Mutirung beseitigt ist. 2) Ein
Musiker der Münchener Hofcapelle fugte, wie Orlando Lasso dem
Padre Zacconi erzählte, zu gleichem Zwecke die Sylben „si", „ho44
ein. So gross war aber die Macht der Gewohnheit, dass Orlando
meinte, es habe sich lächerlich ausgenommen, wenn jener nach
seiner neuen Art solfeggirte und mitten unter den vertrauten Syl-
ben des ut re mi u. s. w. plötzlich das „si44 und „ho44 laut wurde.
Zacconi nennt den Erfinder Don Anselmo Fiamengo — es
war also wohl ein Belgier. Noch weiter ging der Capellmeister
des Domes in Bassano (um 1590), Don Gramatio Metallo,
1) a. a. 0. Lib. IH. cap. 33, 34.
2) Cart. mua. Prattica 2.
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426 Die Theoretiker and Lehrer Gioseffo Zarlino u. 8. w.
welcher bewies, „dass man die grössten Singestücke ohne Anwen-
dung der Guidonischen Hand ausführen könne, jene also über-
flüssig sei".1) Bald darnach, 1620, machte der Spanier Pedro
de Urena den Vorschlag als siebente Silbe „Ni" einzureihen. 2)
Ericeus Puteanus hatte schon 1599 mit seiner „Pallas modu-
lata" einen Angriff auf das Guidonische System gemacht. So
gross aber war das Ansehen des Herkömmlichen, dass noch im
18. Jahrhundert für und gegen die Solmisation gestritten wurde
und der kais. Hofcapellmeister Joh. Jos. Fux sie gegen Matthe-
son's Angriffe brieflich in Schutz nahm, wie er denn von Wien
am 12. Januar 1718 schreibt, dass „in diesen Landten wegen
der Beschwerlichkeit der Aretinischen Sylben sich niemand be-
klaget, sondern im Gegenthaill deren gutte Würkhung täglich
zu Gehör kommet: indeme allhir Knaben von 9 und 10 Jahren
zu finden, welche die schwäriste Stückhe all improviso wekh
singen, welches ja nit sein kunte, wan die Aretinische Erfindung
so voller Jammer und Ellend wäre; auch bleibt man in Italien,
alwo ohne widerredt die vornembsten Singer hervorkommen, noch
immer bey dieser methode" u. s. w. 3) Was Wunder, wenn hun-
dert Jahre vorher Zacconi von solchen Reformen nichts hören
will; BanchierTs „bi — ba" hat ganz und gar nicht seinen Beifall:
„chi lascia la vecchia per la nova
piu di quattro volte ingannato si trova"
und MetaUo's Auseinandersetzung findet er zwar „molto dotta,
ingegnosa speculativa e bella" — aber nach diesem den Wider-
spruch in echt italienisch höflicher Weise einleitenden Lob meint
er selbst: „che la mano musicale antica, ritrovata dal predetto
P. Guido, detto anco Guidone, con le sue scale naturali, grave,
acute e sopracute, sono e saranno sempre l'ottime porte e
vie da condurre ogni cantante, che brami di cantar per via di
ragione al desiato fine di saper ben cantar e e solfiggiare". Zac-
coni war, wie man sieht, kein guter Prophet. Er ärgert sich
auch darüber, dass Banchieri die Ligaturen der alten Mensural-
notierung für eine sehr überflüssige und für eine schwierige Sache
erklärt; „gebt Adriano kein Gehör", ruft er warnend. „Sie sind
nicht überflüssig; denn wenn die Modernen sie nicht gebrauchen,
so haben sie doch die Alten für brauchbar erachtet, und sie sind
auch nicht schwer; vier Kegeln genügen um sie zu verstehen". 4)
Interessant ist die weitere Bemerkung, dass viele Sänger sie gar
1) Zacconi Pratt. di mus. Parte II. Libro 1, cap. 10.
2) 8. „Arte nueva de musica" von Garamuel da Lobkowidz.
3) Mattheson hat die ganze, von seiner Seite mit höflichem Hohn,
von Seiten des alten Fux mit Gereiztheit geführte Correspondenz in sei-
ner „Critica musica", 2. Band, S. 185 u. f. veröffentlicht.
4) Pratt. di m., Parte II. Lib. I, cap. 12 und cap. 14.
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
427
nicht mehr verstehen. A) Wirklich bleibt fast nur die „Ligatura
i
cum opposita proprietate" rEpgzr noch eine Zeitlang im Gebrauch.
Ganz übereinstimmend spricht sich auch Prätorius (1619) gegen
alle verwickelten Ligaturen aus, man soll sie durch Bindungs-
bogen ersetzen, nur die eben erwähnte wünscht auch er um ihrer
Bequemlichkeit willen beibehalten, ohnehin finde man für den
Druck nur selten mehr die entsprechenden Typen. 2) Die Mu-
siker aus der niederländischen Schule, welche als Greise die
Wandlung der Dinge erlebten, aber, wie begreiflich, keineswegs
billigten, klagten bitter über Neuerungen, von denen man in
ihren Tagen nichts gewusst. „E cosi eccone la scientia musicale
in ruina per le molte confusioni", sagten Orlando Lasso und Phi-
lipp de Monte zu Zacconi, als 6ie 1593 mit ihm auf dem Reichs-
tage zu Regensburg zusammenkamen.
Uebrigens schleppen sich die Lehrer mit noch sehr viel archai-
schem Gepäck. Ihr conservatives Wesen mag sich zum Theile
auch dadurch erklären, dass sie fast Alle geistlichen Standes
waren. Zacconi war Eremitaner, Orazio Tigrini Domherr in
Arezzo, Artusi Canonicus in Bologna, Banchieri Olivetanermönch,
der Neapolitaner Scipione Cerretto hatte wenigstens einen Geist-
lichen, Don Francesco Sorrentino, zum Lehrer gehabt.
Wir finden daher noch lange Auseinandersetzungen über die
Kirchentöne, deren jetzt (unabhängig von Glarean) allgemein
zwölf angenommen werden. 3)
Nono Tuono.
Ct.
TT— TT"
Decimo Tuono.
Undecimo Tuono.
m
Duodecimo Tuono (Zacconi).
Artusi erklärt das diatonische, chromatische und enharmoni-
sche Geschlecht ganz nach den antiken Principien, welche beide
1) — perche questo e quel cantore non havendole piü che tanto in
prattica non l'intende, e non le sa cantare (a. a. 0.).
2) Veterum regula (prima carena cauda longa est pendente secunda)
cur obserrari debeat, non video, sed in ligatura tarn descendentem quam
ascendentem pro brevi Semper sine discrimine habend am jadico: praeser-
tim cum ligatura ista (5 jam ferme exoleverit, et in officinis typographicis
rarissime reperiatur. Ego cum Lippio, Haslero.
3) Die Sänger hielten indessen oft an den alten acht Tönen fest,
worüber sich Zacconi beklagt (I, cap. 45).
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428 Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
letztere indessen bisher noch niemand angewendet habe. l) Es
ist eine Reminiscenz an die antike Ploke, Petteia u. s. w., wenn
Artusi unter Berufung auf „gli antichi" ähnlich gemeinte Kunst-
ausdrücke einführt: „Conducimento (quando si trova un progresso
ordinato), Kettitudine (quando una parte procode di grado in grado
verso Tacuto), ßitorno (vice versa), Circoito (quando procede verso
l'acuto per grado e verso il grave per salto) , Complicamento
(quando nel modo di cantare si ritrova una scambievole posizione
de intervalli) :j^St J | c- I s>— — — — J — g>— jj
Giuoco (reiterata percussione fatta spesse volte):
Fermezza (una continuata stazione di voce)." —
Die Frage nach dem Verhältniss der Töne unter einander
wirbelte überhaupt vielen Staub auf. Ptolemäns — Didymus —
Aristoxenos gaben vollauf zu denken. Francesco Patrizzi,
ein Dalmatiner aus Cherso (1529 — , lebte in Rom, wo er 1597
starb), entschiedener Platoniker, griff in seinem 1586 in Ferrara
gedruckten Buche „della Poetica" etc. (II. 5, 6, 7) die Tonthei-
lung des Aristoxenos sehr scharf an. Damit hetzte er einen der
hitzigsten Aristoxener gegen sich auf, den vornehmen und sehr
gelehrten Bologner Ercole Bottrigari (1531 — 1612). Dieser
gab 1593 in Bologna ein ganzes Buch zu Schutz und Trutz sei-
nes Aristoxenos gegen Patrizzi heraus: „il Patrizio, ovvero de'
tetracordi armoniei di Aristosseno, parere e vera dimostrazione".
Eine zweite Schrift Bottrigari's ist ein „Dialog", den er betitelte:
„il Desiderio, ovvero de' concerti di varij stromenti musicaii"
(in Venedig bei Ricciardo Amadino 1594). Bottrigari gab die-
sem Dialog als Autorsnamen das Pseudonym „Alemanno Benelli"
— anagrammatisch gebildet aus „Annibale Melone". Der Titel
soll das Andenken eines Freundes ehren, welcher „Grazioso Desi-
derio" hiess und als einer der Interlocutoren auftritt — ähnlich
wie in Vincenzo Galilefs Dialog „Fronimo". 2) Jener Annibale
Melone, ein Bologner von Geburt, Schüler Bottrigari's und mit
ihm sehr befreundet, erhielt das Manuscript des „Desiderio" vom
Verfasser mit der Ermächtigung, es unter obigem Namen drucken
zu lassen. 3) Scharfsinnige fanden aus dem Pseudonym trotzdem
1) 8ino ad hora tengo, che non vi sia stato alcuno, che l'habbi
posto in prattica. ne inteso, se bene molti si sono dnti ad intendero d'ha-
verne fatto miracoli (Arte del Contrapp.).
2) Gerber irrt, wenn er angiebt, auch dieser „Desiderio" sei eine
gegen Patrizzi gerichtete Schrift.
3) So erzahlt Pantizzi „Notizie degli scrittori Bolognesi — II ad v.
Ercole Bottrigari.
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Die Thooretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
den richtigen Namen heraus, und Melone hatte die Schwachheit,
sich ziemlich unverholen als Autor des Buches zu geriren. Bot-
trigari nahm das seinerseits ungemei nübel — er liess 1599 *) das
Buch bei Bellagamba in Bologna nochmals drucken, mit dem Zu-
satz „Dialogo dell' illustre Cavaliere Hercole Bottrigari". Sollte
man es glauben? Annibale Melone hatte die Stirne, einen Ab-
druck in Mailand zu veranstalten, betitelt: „il Desiderio — dia-
logo di Annibale Melone ; in Milano , appresso di Stampatori Ar-
ciepiscopali 1601". Der Bologner Musikgelehrte Giovan Maria
Artusi, welcher sich um dieselbe Zeit durch seine Polemik gegen
Claudio di Monteverde unangenehm bemerkbar machte, erwies
Bottrigari noch insbesondere den Freundschaftsdienst, dem Pla-
giat Melone's eine Dedication an den Senat von Bologna voran-
zustellen. Artusi gab überdies seinem Tractat „l'Artusi" etc.
(1600) in einer zweiten Auflage (nach Mazzuchelli 1603) „Consi-
derazioni musicali" bei, welche er gegen Bottrigari und dessen
aristoxenisirende Lehren richtete. Im Texte des Buches giebt
er dem Aristoxenos zwar das Zeugniss „Aristosseno acutissimo
filosofo" — aber sein System selbst verwirft er und macht den
„Errore del Benelli", d. h. des Dialogs „Desiderio" bemerkbar. 2)
Artusi ist Anhänger des Ptolemäus und tadelt auch das Sy-
stem des Didymus, „che e pieno di molti et importanti errori".
Mit Missfallen bemerkt er: „Ii moderni Theorici s' affaticano a
investigare proportioni tali, che fra di loro siano eguali" — diese
Stimmung nennt er auch schon die „temperirte". 3) — Das Wun-
derbarste nach all' diesen Vorgängen ist aber wohl, dass Bottri-
gari und Melone doch wieder gute Freunde wurden. Melone
richtete eine Anfrage an Bottrigari: „Se le canzoni musicali mo-
derne, communemente dette Madrigali b Motetti si possono ragio-
nevolmente nominare di uno de tre puri e semplici generi armo-
nici, e quali debbono esserle veramente tali". Nämlich ob diese
Compositionen diatonisch, chromatisch oder enharmonisch seien.
Also die alte Geschichte, mit welcher Nicola Vicentino 1551 un-
nützen Lärm gemacht. Bottrigari gab seine Antwort — aber-
mals in Dialogform: „il Melone, discorso armonico, et il Melone
secondo — considerazioni musicali del medesimo sopra un di-
scorso di M. Gandolfo Sigonio intonio ai Madrigali et ai libri dell'
Antica Musica ridotta alla moderna prattica di D. Nicola Vicen-
tino, e nel fine un discorso del Sigonio" (Ferrara 1602). So wurde
Nicola Vicentino abermals auf den Schau- und Kampfplatz ge-
schleppt, von welchem er ein halbes Säculum früher ohne son-
1) Die Jahreszahl sieht wunderlich so aus: MDIC.
2) Pol. 31 p. v. und fol. 32 p. v.
3) — ne e maraviglia, se tanti instromenti da (de) pratici sono tem-
perati in questa maniera (fol. 32, p. v.).
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Die Theoretiker und Lehrer Gioseffo Zarlino u. s. w.
derliche Siegestrophäen abgezogen war. Wer Messer Gandolfo
Sigonio gewesen, welcher hier auch zu Worte kommt — darüber
bleibt uns die Geschichte die Antwort schuldig.
Vieles von dem, was den Theoretikern jener Zeiten hart
und widrig klang, wendet unsere Musik unbedenklich an; Vieles
dagegen, was jenen gut und trefflich schien, bleibt ftir uns we-
gen entschiedenen Uebelklanges verboten. Das musikalische Ohr
hat also (ganz wie Riehl in einem geistvollen Aufsatz für das
landschaftliche Auge nachgewiesen) seine Convenienz; es kann
dahin erzogen werden, dieselbe Tonfolge, denselben Zusammen-
klang so oder anders zu hören. Könnten sich Artusi, Zacconi,
Tigrini u. s. w. in unsere Concertsäle, unsere Opernhäuser setzen,
sie müssten das, was sie dort zu hören bekämen, für musikalische
Gräuel erklären.
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IX.
Die* italienischen Organisten.
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
Claudio Merulo's glänzende Erscheinung hatte die Orgel-
kunst in Italien aus dem Zustande der Halbentwickelung erlöst,
in welchem sie sich bis dahin befunden hatte — die Organisten
Italiens behaupten jetzt den Rang wirklicher Künstler, während
die deutschen „Orgelschläger", dieser derben Bezeichnung ent-
sprechend, noch lange eben nur das, allerdings auch respectable,
Bild braver Handwerker und schlichter Diener der Kirche dar-
boten. Die Claviatur, auf welcher sie noch wie mit Blechhand-
schuhen x) herumtappen, wird für ihre italienischen Collegen der
Tummelplatz glänzender Virtuosität. Merulo findet Geistesver-
wandte, vielleicht directe, aber glückliche Nachahmer seines Styls,
wie Ottavio Bariola, Organist der Barche Madonna di S. Celso
in Mailand, dessen 1585 erschienene „Ricercate per suonar d'or-
gano", denen 1594 vier Bücher „Capricci owero Canzoni" folgen,
sehr ausgesprochen den Merulo -Styl zeigen. Als Merulo's Nachfolger
auf der ersten Orgelbank von S. Marco in Venedig erscheint seit
1. Jänner 15S5 kein Geringerer als Johannes Gabrieli, dessen
Oheim Andreas gleichzeitig — und schon zu Merulo's Zeit — die
zweite Orgel inne hat. An die beiden Marcusorgeln knüpfen
sich im Laufe des 17. Jahrhunderts glänzende Namen, wie Fran-
cesco Cavalli, Giambattista Volpe - Rovettino, Pier
Andrea Ziani, — auch Giuseppe Guammi, vorher in Mün-
chen, dann Organist am Dom zu Lucca 2), war einige Jahre lang
(vom 30. Oktober 158S bis 15951 Organist der zweiten Orgel in
S. Marco, während Johannes Gabrieli noch immer die erste ver-
sah. Daneben eine grosse Anzahl anderer Organisten der Mar-
cuskirche, denen „die Nachwelt keine Kränze flicht" — wie
1) Ein Pas3us Jean Paul's, welcher hier so trefflich passt, dass man
mir das Plagiat verzeihen wird.
seffo Guammi, eccellente comuositbre et suonatore suavissimo d'Organo".
Es fragt sich aber, wie viel bei diesem Urtheil als Höflichkeit in italie-
nischer Weise in Abzug zu bringen sein möchte — denn Zarlino gedenkt
an dieser Stelle einer ihm aus Lucca von Guammi übersendeten musika-
lischen Antiquität.
Ambroi, Oeacbichte der Musik. IV. 28
434
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
Paolo Giusto da Castello (1595), Giampaolo Savii (1612),
Giambattista Grillo (1619), Carlo Fillago (1623), Giam-
battista Berti (162£), Massimiliano Neri (1644) u. A. m.
Dass wir von diesen wackeren Männern kaum mehr kennen, als
ihre Namen und — Dank dem Archiv in Venedig — die Tage
ihrer Anstellung und ihre Jahresgehalte, darf uns nicht bewegen,
sie für geringe Musiker zu halten — die Organistenprüfung in
Venedig war, wie wir wissen, streng. Adriano Banchieri nennt
in der aus S. Elena in Venedig datirten Vorrede seines „Organo
Buonarino" neben Johannes Gabrieli wie einen ebenbürtigen Mei-
ster auch Paul Giusto. *)
Der Organist musste sich besonders durch die Fertigkeit
hervorthun, dem Augenblick gerecht zu werden, ein Thema prä-
ludirend durchzuführen auch wenn kein Notenblatt vor ihm lag,
die Pausen des Gesanges passend auszufüllen, sich nach Bedürf-
niss bald länger, bald kürzer in Passagenwerk zu ergehen, die
Sänger solid und sicher zu begleiten. Dergleichen riss die Zeit-
genossen oft zur Bewunderung hin — für uns, die Nachkommen,
ist es verklungen und verschollen. Und selbst von dem, was wir
noch besitzen, ist Vieles entstellt. Die deutschen Orgler nahmen zwar
in ihre Tabulaturbücher Arbeiten der besten Meister Italiens auf, aber
„colorirten" sie selbst nach eigenem Geschmack oder Ungeschmack.
Schüler Merulo's war der Minorit Girolamo Diruta aus
Perugia, Organist in Gubbio, später in der Fischerstadt Chioggia
bei Venedig — dem Merulo selbst das Zeugniss giebt: „ha fatto
a lui et a me insieme singolare honore"2) und welcher in seinem
1593 in Venedig erschienenen, in Dialogform verfassten und
dem siebenbürgischen Fürsten Sigismund Bathori gewidmeten
Buche „il Transilvano" über die wahre Art schrieb, Orgel und
Cembalo zu spielen (sopra il vero modo di sonar organi e stro-
menti da penna). In Rom finden wir Paolo Quagliati (um
1600 — 1610), auch als Cembalist berühmt; in Ferrara Luzza-
scho Luzzaschi, von Merulo als „erster Organist Italiens"
gepriesen, von Vincenzo Galilei zu den vier grössten Musikern
der Zeit gezählt, wogegen Lelio Guidiccioni von ihm dem Pietro
deila Valle die wenig schmeichelhafte Schilderung machte:
„er habe nicht einmal einen Triller auszuführen vermocht und
die feinsten contrapunktischen Schönheiten plump und roh herun-
tergespielt." Gabriel Fattorini aus Faenza (um 1600) erringt
auch als kirchlicher Componist Ruhm. Florenzio Maschera
aus Cremona lässt als Organist in Brescia mit Vorliebe das neue
Genre der Canzoni francesi (fugirte Sätze) hören. Bernardin
1) gl' eccellentissimi Musici et Organist! nella Chiesa di S.
Marco, il Signore Gio. Gabrielii et Signore Paolo Giusto.
2) Vorrede der „Canzoni alla francese" (1598).
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w. 435
Borghesi, um 1590 Organist der Kirche all a Seal a in Mailand,
wird wegen Anmuth seines Spiels gepriesen. Alexander Mille -
ville (geb. in Paris, gest. am 7. Sept. 1589 als Kapellmeister
des Domes zu Ferrara, 68 Jahre alt) gilt als ein für seine Zeit
grosser Orgelmeister ; sein in Ferrara geborener Sohn Franz
Mille ville wird Lehrer des Ercole Pasquini aus Ferrara (bis
1614 Organist in der Peterskirche zu Rom) und Girolamo
Frescobaldi's.
Mit dem Namen Frescobaldi beginnt die grosse, klassische
Zeit des Orgelspieles, — er ist nicht blos ftir seine Zeit, sondern
fiir alle Folgezeiten eine imponirende Erscheinung — und wenn
seine Nachfolger Froberger u. A. ihn an Glätte tiberbieten, an
Grossheit kommt ihm keiner gleich — bis man in der Fortent-
wickelung der Kunst auf den Namen Bach's stösst.
Die Merulo-Toccate bot, wie wir sahen, sehr bedeutende Ele-
mente: polyphone Sätze von trefflicher Fügung und glänzendes
Passagen werk, — etwas ganz anderes, als das planlose Irrlichte-
liren der deutschen Coloristen. Diese Elemente sind bei Merulo
und seinen Nachfolgern noch in äusserliche und willkührliche
Verbindung gesetzt; die massvoll und edel bewegte Polyphonie
macht, indem die Rechte oder die Linke des Spielers plötzlich auf
einem Accord breit liegen bleibt, längerm Passagen werk in der
andern Hand Platz; die Passagen stocken dann wieder plötzlich
und die Polyphonie ergreift das Wort, um wieder von Laufwerk
abgelöst zu werden, oder eine der Stimmen löst sich, während
die andern ruhig und fest fortgehen, in Coloratur auf — und so
fort. Diese Elemente gehörig zu sondern, gut zu gruppiren, im
Einzelnen durchzubilden, jedem seine gehörige Sphäre anzuwei-
sen, die Composition zu einem gerundeten Ganzen, zu einem or-
ganischen Gebilde, statt bloss zu einem mehr oder minder inco-
härenten Haufwerk musikalischer Einfalle, musikalischer Einzel*
züge zu machen, war die nächste Aufgabe. Wo die Orgelmeister
es wirklich versuchten, einen consequent durchgeführten Tonsatz
in fugirten Stücken (Canzoni) zu schaffen, fiel Alles meist noch
mager und trocken genug aus. Zudem bringt der im Thema stets
wiederkehrende Rhythmus der Canzon francese J J J | J j j J J J |
eine unleidliche Monotonie hinein, so dass sich eine Composition
von der andern kaum unterscheidet. An die Stelle ärmlicher und
magerer Formen kräftige, lebendige Bildungen zu setzen — diese
Nothwendigkeit fühlten Manche — suchten ehrlich und eifrig Ab-
hilfe, fanden sie aber nicht, weil ihr Talent dafür nicht ausreichte.
Zu diesen zählt Adriano Banchieri, welcher, ziemlich nüch-
tern und reizlos in seinen Compositionen, dennoch ein so bedeu-
tendes Mittelglied bildet, dass wir ihn, ehe wir uns zu Frescobaldi
wenden, kennen lernen müssen.
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
Adriano Banchieri war in der Stadt der musikalischen Ge-
lehrsamkeit, in Bologna, geboren. Ein 1613 gezeichnetes Bildniss
(bei der dritten Ausgabe seiner „Cartella di Musica") stellt ihn,
laut Beischrift, als einen Mann von 46 Jahren vor — er bezeich-
net sich selbst als Zögling Giuseppe Guami's. Er war geistlichen
Standes — „Bolognese, monaco Olivetano" pflegt er sich zu nen-
nen. Anfangs Organist in der Kirch»1 „S. Maria in Regola" zu
Imola, wurde er es später in der Kirche „S. Micchele in Bosco"
(eine Olivetanerkirche nebst Kloster vor Porta S. Mamolo nächst
Bologna). Als sein Todesjahr giebt Mazzucchelli 1634 an. Er
war ein tüchtiger Harmoniker, ein denkender Theoretiker, als
Tonsetzer wie als musikalischer Schriftsteller gleich thätig — die
Zahl seiner Arbeiten ist Legion. Von den ernsthaftesten Kirchen -
stücken bis zu den tollsten Possen (seiner burlesken Nachah-
mungen des „Amfiparnasso" gedachten wir schon), von grossen
Werken (wie eine achtstimmige Messe, 1599), von subtilen Kunst-
stücken (Canoni musicali, 1613), von den Mysterien der Solmi-
sation, welcher er in einem „Duo in contrappunto sopra ut re
mi fa sol la, utile a gli figliuoli et principianti che desiderano
praticare le note cantabili con le reaU mutazioni" (1613) seine
Huldigung darbringt und welcher er in der „Cartella musicale"
durch Einschaltung einer siebenten Silbe „ba" ftir h und „bitl
für \p gleichwohl den Todesstoss beibringen will, bis zu leicht-
gefügten Madrigalen zeigt er sich als wahrer „uomo universale"
— wie man zur Zeit der Renaissance sagte. Hier interessirt uns
zunächst der „ Organo Suonarino" (1605). Banchieri's Schrift
fetwas über hundert Seiten klein Quart) kündigt ihren Zweck
schon auf dem Titelblatte und dann nochmals mit denselben
Worten in der Vorrede an: „entro quäle si pratica, quanto
occorer sole a gli suonatori d'organo — in tutte le feste et solen-
nita dell* anno". Also ein Noth- und Hilfsbüchlein für Organi-
sten und insofern nicht ohne Interesse, als daraus zu ersehen
ist, was der Kirchendienst von ihnen verlangte. Er wolle, sagt
er, die Organisten hier nicht etwa schön und gelehrt spielen leh-
ren — dafür geben schon der „Transsilvano" des höchst tüchtigen
Diruta (del suflßcientissimo Diruta) genugsam Anleitung, noch
wolle er etwa die Regeln des Contrapunktes erläutern, wofür
schon Zarlino, Tigrini, Artusi, Ponzio und andere treffliche Männer
gesorgt. In der That giebt er dem Organisten Material, aber
keine Anleitung — er giebt die rituellen Motive; etwas daraus
zu machen bleibt die Sache des Orgelspielers. Indessen bringt
er, als Zugabe, doch einen Anhang „otto Sonate a quattro parti
vatione et Post-Communione, quali Sonate sono commode per
sonare." Die Gabe ist dürftig ausgefallen — die Ueberschriften
lauten allerdings stolz genug: „Sonata prima, Fuga plagale — So-
spartite, che saranno a proposito
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Die Organiston. Frescobaldi u. s. w.
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nata seconda, Fuga triplicata — Sonata terza, Fuga grave —
Sonata quarta, Fuga cromatica — Sonata quinta, Fuga harmonica
— Sonata sesta, Fuga triplicata — Sonata settima, Concerto en-
armonico — Sonata ottava in Ana Francese" — und weiterhin
eine zweite Serie: „Ingresso d'un ripieno — Fuga autentica in
Aria Francese — Sonata in Dialogo — Sonata, Capriccio capric-
cioso — Sonata in Aria francese, Fuga per imitazione" — es ist,
als werde ein ganzer Schatz an Musik ausgekramt; aber der In-
halt des Gebotenen fallt neben den hochtönenden Namen kahl
und ärmlich ab — es sind kurze, embryonenhaft unentwickelte
Sätzchen, deren Kürze Banchieri durch Repetitionszeichen und
beigeschriebene „da Capo" abzuhelfen sucht, mager im Klang,
steif in der Führung, nichtssagend in der Erfindung, im Harmo-
niegehalt dürftiger als dürftig. Die Stimmen alterniren oft zu
je einem Paar, Sopran und Alt, und wenn diese pausiren, Tenor
und Bass; oft dialogisiren die Stimmen in leertönenden Echos;
die „Sonata in Dialogo" begnügt sich, kurze vierstimmige Phra-
sen erst in höherer und dann in tieferer Lage hören zu lassen;
das „Capriccio capriccioso" ist bei seiner grenzenlosen Nüchternheit
von Caprice weit entfernt; die chromatische Fuge ist diatonisch
und geht mit Hilfe der eingezeichneten £ £ aus E-dur ; das
„enharmonische Concert" ist der fürchterlichste Unsinn — selbst
auf dem berühmten „Archicimbalou müssten sich Combinationen
höchst wunderbar ausnehmen, wie folgende:
Das geht noch über den Fürsten von Venosa!
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
So sah nun ein „Musterwerk" aus, welches bis 1638 seine
vier Auflagen erlebte, die Arbeit eines grundgelehrten, wohlmei-
nenden Mannes, welche in demselben Jahre 1605 bei Ricciardo
Amadino in Venedig erschien, wo ebendort Angelo Gardano eine
Neuauflage des ersten Buchs von Merulo's Orgelstücken veran-
staltete, ein Jahr nachdem Merulo aus dem Leben geschieden
— und zehn Jahre ehe Frescobaldi seine erste grosse Arbeit,
die „Ricercari et canzoni francesi sopra diversi oblighi" in Rom
ans Licht treten liess. So bedeutend der Einfluss der beiden
Gabrieli, Merulo's u. s. w. für die Kunst war — es blieb am
Ende doch noch das Auftreten eines Meisters der Orgel wün-
schenswert!}, welcher mit starker Hand die Kunst auf eine Höhe
emporhebe, auf welcher die „Organo-Suonarinos" ein für allemal
unmöglich werden, und welcher der Orglerkunst die engen Kin-
derschuhe, in welchen sie noch je zuweilen herumlief, ausziehe.
Das war nun aber eben Girolamo Frescobaldi. Er bezeich-
net einen der Wendepunkte der Musik und ist selbst die glän-
zendste Gestalt jener suchenden und versuchenden, treffenden und
verfehlenden Uebergangszeiten. Seine Werke, denen der Stempel
des Genius aufgeprägt ist, stehen neben den dürftigen Incunabeln
der Monodie jener Zeiten als Werke klassischen Gehaltes da,
denen keine Zeit mehr etwas wird anhaben können. Dass sie
gleichsam mit einer Hand nach einer eben abgeschlossenen grossen
Kunstepoche zurück- und mit der andern nach der hoffnungs-
reichen Zukunft einer neuen Tonkunst vorwärtsdeuten, giebt ihnen
einen eigenen und wunderbaren Reiz.
Von Frescobaldi's Lebenslauf wissen wir kaum die Haupt-
züge. Dass er aus Ferrara gebürtig war, wird einstimmig be-
zeugt; sein von dem Augustiner F. Jo. Salianus gezeichnetes,
von Christian Sas in Kupfer gestochenes Bildniss trägt rings um
das einfassende Oval die Umschrift: „Hieronym. Frescobaldvs.
Ferrarien. organista Ecclesiae D. Petri in Vaticano Aet suae 36."
Es zeigt einen schönen, auffallend edeln Kopf, dessen Blick und
Ausdruck etwas Vornehmes hat und zugleich den Künstler ver-
räth. Wiederholt den Publikationen von Frescobaldi's Tonwerken
vorangestellt, erscheint es zum erstenmale in den 1624 in Rom
publizirten „Capricci sopra diversi soggetti". Hiernach wäre Fre-
scobaldi 1588 geboren. Sein Lehrer war einer der beiden Mille-
ville — Alexander, den man gewöhnlich nennt, wohl nicht, da
dieser schon 1589 starb — folghch kann es nur Franz Milleville
gewesen sein. Der Lehrer war französischer Abkunft, und in
Ferrara mögen noch von den Zeiten der Este her die nieder-
ländischen musikalischen Erinnerungen lebhaft gewesen sein.
Frescobaldi ging nach den Niederlanden, obschon Italien damals
schon Componisten und Organisten in Menge besass. In Ant-
werpen wurde Frescobaldi's erste Compositum, ein Buch fiinf-
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
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stimmiger Madrigale bei Peter Pbalesius gedruckt. Die Wid-
mung derselben an Guido Bentivoglio, Erzbischof von Rhodus, ist
aus Antwerpen 10. Juni 1608 datirt. In demselben Jahre finden
wir Frescobaldi in Mailand. 1615 nennt er sich in der am 22.
Dezember geschriebenen Dedication an den Cardinal von Mantua
schon: Organist der Peterskirche in Rom. Er zählte damals erst
27 Jahre. Gleichwohl war sein Ruf als Orgelspieler so gross,
dass sein erstes Auftreten in St. Peter in die gigantischen Räume
der Kirche 30000 Zuhörer herbeigelockt haben soll. Sein Vor-
gänger war Ercole Pasquini gewesen. Die Kunstfreunde (wie
frespielt — Frescobaldi's Spiel sei leichter und gefälliger. In dem im
Jahre 1640 verfassten Sendschreiben della Valle's wird Fresco-
baldi ausdrücklich als ein „noch Lebender" bezeichnet; er zählte
also 52 Jahre. Abbe* Maugars, der geistreiche französische Musik-
freund und Sonderling, hatte ihn ein Jahr vorher — 1639 — in
Rom kennen gelernt. Die Zeit seines Todes und der Ort seiner
Bestattung sind unbekannt; kaum zu begreifen bei einem Mann,
welcher das Wunder seiner Zeit war, — nennt ihn doch Lorenzo
Penna (delP Albori music. III. 1.) „il mostro de suoi tempi."
Ein Geistesriese darf er aber wirklich heisen.
Was einst Goethe von Palladio sagte, mag auch von Fre-
scobaldi gelten: „er ist ein recht innerlich und von innen heraus
grosser Mensch gewesen". Unter seinen Händen entwickelt
die Orgel zum erstenmale ihre ganze Pracht und Grösse. In
seinen Orgelsätzen glüht überall das Feuer des Genius; reiche
Formen gestalten sich, fugen sich bildsam zum grossen Gan-
zen. Mächtige Kraft, energisches Leben, nichts Kleines oder
Kleinliches, auch nicht im Zier- und Passagenwerk — kunstvolle,
sinnreiche Combinationen, genial gelöste schwierige Satzprobleme.
Die Dissonanz, welche bis dahin fast wie ein nothwendiges Uebel
behandelt worden, wird für Frescobaldi ein sehr positives, wich-
tiges Kunstmittel. Er behandelt fremdartige Zusammenklänge
nicht mehr naturalistisch, nicht auf gut Glück hin und ohne zu
wissen, woher und wohin, wie der Fürst von Venosa gethan; er
sucht ihrer Herr und ihr Meister zu werden, welchem sie ge-
horchen müssen; er frägt ihnen die Gesetze ab, die Bedingungen
ihres Erscheinens, er experimentirt mit ihnen, so im „Capriccio di
durezze" und in der „Toccata di durezze et di tigature' , geniale
Stücke, in welchen er die Härten, welche die Ueberschriften ver-
1) Sollte man es rar möglich halten? Fötis erzählt, P. della Valle
sage von Frescobaldi: „que Frescobaldi etait un Hercnle place' dans St.
Pierre". Aber della Valle redet von Ercole Pasqainiü! sollte Fdtis so
viel italienisch verstanden haben, wie er deutsch verstand — nämlich
nichts?!
fanden, Ercole l) habe „gelehrter'
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440 Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
heissen, eigens, um der Tendenz willen vielleicht zu sehr häuft,
aber fortwährend durch frappante Einfalle überrascht.
Manche Entdeckungsreise dieser Art mag auch wohl misslingen,
wie im „Capriccio cromatico con ligature al contrario" (1615), wo
Frescobaldi den Hörer durch ein Dornendickicht von Querständen
und falschen Dissonanz - Auflösungen — aufwärts! — unbarm-
herzig hindurchschleppt und überdies durch thematische Verkehrt-
antworten und durch eine übel behandelte Chromatik das Stück
zu einem völlig unanhörbaren macht. In einer anderen Compo-
sition derselben Sammlung (ßicercari et canzoni francesi sopra
diversi oblighi) „obligirtu er sich, alle Stimmen, mit Vermeidung
stufenweiser Schritte, sprungweise zu führen. Dagegen gewinnt ein
„Ricercar con obligo del Basso, come appareu gerade durch die
constant festgehaltenen, auf verschiedenen Tonstufen erscheinenden
fünf Noten des Basses eine eigentümliche Grossartigkeit.
Ein äusserst sinnreiches Stück ist das „Recercar con obligo
di cantare la quinta parte senza toecarla". Diese „Quinta Parte
si placet" ist die kurze Phrase p^^Q^S
welche, mit ihrem Tempus perfectum, ihrer Zahlenproportion und
ihren altfränkischen Noten vor dem Stücke, wie ein Gespenst aus
altniederländischer Zeit dasteht — zumal das Stück selbst — „in-
tendomi chi piü, che m'intend' io" lautet sein Motto — einfach
im C-Takt (über dasselbe Thema) schon in wesentlich modernem
Sinn gesetzt ist. Die alten Ausgleichskünste müssen zur Anwendung
kommen. Die Aufgabe ist, die Punkte zu finden, wo jene Phrase
sich den Übrigen vier Stimmen als fünfte einfiigt. Es macht sehr
gute Wirkung, zumal wenn zu dem fortgehenden Spiel des Or-
ganisten etwa eine Tenorposaune jene sechs Noten „sänge" —
denn wenn der Organist selbst sie etwa solfeggirte: „re, fa, fa, mi,
la, re", dürften sie sich schwerlich besonders gut ausnehmen. *) Der
1) Zur Erleichterung des Auffindens bemerke ich hier, dass die
Phrase (nach einfachen C-Takten gerechnet) eintritt: im Takte 7, 22, 30,
40, 51, 76, 94. In keiner Weise kann ich Fctis Recht geben, wenn er
(Biogr. univ. III, S. 332) sagt: „les plus grands artistes naient quelque-
iois un tribut au goüt de leur temps, ce goüt tut il de plus mauvais —
on en trouve quelquesuns (Ricercari) entaches des folies imaginees par
quelques compositeurs ces tours de force et ces enigines ne sont
point l'objet r&l de Tart". Der vollendeten, ihrer Mittel sicheren
Kun3t gewiss nicht! — aber der werdenden, lernenden? — Wie viel da-
raus zu lernen ist, wird jeder wissen, der sich mit derlei Dingen befaast
hat! Und was sind denn dann die Augmentationen, Engführungen, Ver-
kehrungen und ähnliche „Zierden der Fuge"?! Müsste man nicht über
J. S. Bach, ja Aber Mozart und Beethoven den Stab brechen? Liegen
Formenspiele dieser Art nicht tief im architektonischen Grundzug der
Musik? Die Alten befassten sich mit solchen „puerilites" — wie Fetis
gelegentlich zankt — und wurden grosse Meister, die uns Werke von
ewigem Gehalt geschenkt haben. Wir in unserer „Geistesfreiheit" ver-
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Die Organigten. Frescobaldi u. s. w. 441
Zweck zu Üben, zu bilden, der Lehrzweck tritt bei Frescobaldi
zuweilen direkt hervor. Einer Bergainaske — eigentlich sind es
verbundene Partiten Uber den also genannten Tanz — schreibt
er bei: „chi questa Bergamasca suonera, non poco imparera", und
er hat Recht. — Bei der neunten Toccate im „Secondo Libro di
Toccate, Canzone" etc. setzt er zum Schlüsse: „non senza fatiga
si giunge al fine" — er neckt nämlich den Spieler beständig
durch die seltsamsten rhythmischen Combinationen : 12/„ in der
rechten und dazu */t2 in der linken Hand, C und 6/o QU und
V6, C und I2/8 — ! Die „Partiten" über beliebte Tänze, wie
die Romaneska, die Folia, die Passacaglia — „cento(!) partite so-
pra passacagli" — sind ihrem Wesen nach contrapunktische Stu-
dien (keine eigentlichen „Variationen"), aus welchen das als be-
kannt vorausgesetzte, daher an der Spitze nicht erscheinende
Thema aller Ecken und Enden herausguckt — in einer melo-
dischen Phrase hier, in einer rhythmischen Gestaltung, in einer
Harmoniewendung dort. Eine in ihrer Art höchst reizende Klei-
nigkeit sind fünf kurze Partiten („Cappriccio" nennt Frescobaldi das
Stück) über ein für uns längst verschollenes Lied (Paria di Rog-
giero), dessen Hauptmotiv diesmal solo vorangestellt wird:
Fra Jacopino.
Fortwährend ertönt in den einzelnen Stimmen der Ruf: „Fra
Jacopino" — suchend, schmeichelnd, drohend, zankend, freu-
dig u. s. w. *)
Dass die neu in Aufnahme gekommene Chromatik Fresco-
baldi lebhaft anregt, ist natürlich. Die „Enarmonik" lässt er
weislich bei Seite. Bei seinen chromatischen Experimenten ver-
brennt er sich zuweilen die Finger, oft aber gelingt ihm das Ge-
waltigste. Ueber das unhandliche antik griechische Tetrachord
des chromatischen Geschlechtes schreibt er ein schroffes aber fast
gigantisch zu nennendes Ricercar; ein anderes mit dem Thema:
achten das demüthige Sitzen auf der Schulbank, wir folgen nur „den Ein-
febungen des Genius" — dafür pfuschen wir aber erklecklich, und ein
osquin oder Palestrina könnte es nur verachten, wie wir's „zuletzt so
herrlich weit gebracht!1*
I) So ganz verschieden der Styl — man könnte an Paganini's „Car-
neval ae Venise" denken, ein Stuck, mit welchem bekanntlich später auch
Ernst Furore machte. Man kann aus dem „Fra Jacopino" eine ganze
lustige Klostergeschichte herauslesen an welche Frescobaldi allerdings
nicht im Traume gedacht hat
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442
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
gehört zu seinen herrlichsten. Wesentlich chromatisch ist die „Toc-
cata duodecima" im ersten Buch der Toccaten. Dass dabei auch
Härten und Herbheiten mitunterlaufen, ist begreiflich. Zum Theile
kommen sie auf Rechnung der Kirchentöne, welche dem Meister
noch traditionell anhängen, während ihn die ganze Art des Ton-
satzes, in welcher er sich bewegt, schon gegen die moderne
Tonalität hin-, ja in sie hineindrängt. Die Mischung dieser beiden,
wesentlich von einander verschiedenen Grundlagen giebt insbe-
sondere den Toccaten Frescobaldi's eine sehr eigene, fremdartige,
aber ganz seltsam anregende, anziehende Färbung. Es hat sicher
einen eigenen Reiz, wenn irgend ein geistvoller Fremder, dessen
Conversation uns hinreisst, der aber unserer gewohnten Sprache
nicht völlig mächtig ist, gelegentlich einen naiven Sprachschnitzer
macht oder irgend einen für uns unzulässigen Idiotismus seiner
Muttersprache, in welcher er als Kind zuerst sich auszudrücken
gelernt, einmischt. Aehnliches empfinden wir bei Frescobaldi,
wenn wir nach unseren modernen Tonarten an irgend einer Stelle
ein accidentales ^ oder jf vermissen, oder ein Querstand rasch
und doch sehr fühlbar vorüberschlüpft. Aber seine Harmonie ist
farbenreich, volltönig und von grossem Reiz, zuweilen von frap-
panter Kühnheit. Kr empfindet übrigens sehr gut, dass er mit
zweierlei Material baut. Seine contrapunktischen Arbeiten über
Themen des gregorianischen Gesanges gehören in der Regel ganz
den Kirchentönen, seine Ricercaren und Canzonen dem modernen
Tonsystem an. Manche herbe Stelle kommt übrigens kurz und
gut auf Rechnung von Stichfehlern, wie sich zweifellos conjectu-
riren lässt, manche andere aber davon, dass der Tonsetzer die
alte Praxis der „selbstverständlichen" jj und [> nicht ganz auf-
gegeben hat. Sein Satz ist correct, wenigstens nach den Gesetzen
seiner Zeit. ') Vor groben Missgriffen warnt ihn sein Genius.
1) In der „Aggiunta" zum ersten Bnch der Toccaten erscheint aber
im ersten „Balletto4' folgender Passus:
Es ist kein Versehen, denn in der folgenden Corrente (Variation) wieder-
holt er sich. In der prächtigen Canzone Nr. 6 des „Libro secondo"
schlüpft die unangenehme verdeckte Octave vorüber:
ig
m
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
443
In der contrapunk tisch - polyphonen Behandlung kirchlicher
Motive — der Kyrie „della Madonna" (Missa de B. Virgine),
„degl* Apostoli", „della Domenica", der Hymnen „Ave Maris Stella14,
„Jste confessor" u. s. w. reihet sich Frescobaldi, der Orgelspieler,
völlig den besten Meistern seiner Zeit oft ganz vollständig an,
welche eben diese Sätze fiir Singstimmen ausarbeiteten — grössere
Notengeltungen, ruhige Motive — ganz wie für Gesang angelegt —
wahre „Kirchenstücke ohne Worte4'. Schriebo man sie als Kirchen-
gesänge mit Unterlegung des zugehörigen Textes aus, so würden
sie auch in dieser Gestalt völlig ihrem Zwecke entsprechen. Ander-
wärts verläugnen diese kleinen Sätze die Orgel, für welche sie be-
stimmt sind, keineswegs. -Sie sind mehr instrumenten- als singstim-
mengerecht. Ja selbst zierliches Spiel mit kleinen Nebenmotiven,
contrapunktischer Flitterstaat stellt sich (wiewohl nur sehr ausnahms
weise) ein (zweiter Vers des „Ave Maris Stella''1, dritter des „Ma-
gnificat sesti toni44 u. a. m.).
Es finden sich von Frescobaldi auch wirklich Kirchenstücke
mit Gesang in Fabio ConstantinTs Select. cant. (1614): eine drei-
stimmige Motette: „Peccavi" (flir 2 Soprane und einen Tenor) und
ein Duo für Cantus und Tenor „Angelus ad Pastores" (dieselbe
Sammlung enthält auch eine Motette von Frescobaldi's Amtsvor-
gänger Ercole Pasquini: „Jesu, decus angelicum").
In den Orgelsätzen behältFrescobaldi den Cantus firmus entweder
unverändert als solchen bei — und führt ihn allenfalls durch meh-
rere Stimmen durch, oder er bildet eigentliche Orgelmotive in kleinen
Noten, welche in ihren Intervallschritten dem Cantus firmus ent-
nommen sind. Zuweilen kann er es sich bei allem Respekt vor den
Kirchentönen nicht versagen, etwas von den neuen Kunstmitteln,
wie Chromatik u. dgl. gleichsam einzuschmuggeln. Den Gebrauchs-
werth dieser der Orgel allein zugewiesenen Kirchenstücke beim
Gottesdienste deutet Adriano Banchieri an: „per alternare Corista
a gli canti fermi in tutte le feste et solennita delT anno44. Wird
nämlich eine Messe nach dem planen gregorianischen Gesang im
Unisono und ohne jegliche Instrumentalbegleitung gesungen, so
nehmen die einzelnen Sätze des Kyrie u. s. w. nur kürzeste Zeit
in Anspruch, und es erscheint wunschenswerth, dass die Orgel, aus-
füllend und dem gottesdienstlichen Moment grössere Dauer gebend,
eintrete. Das rituelle erste Kyrie der M. de B. Virgine ist
folgendes:
In missis de Beata virgine.
Ky - ri-e o - lei-son, Ky-ri-e e - lei-son
Ky - rie e - lei-son.
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444
Die Organisten. Frescobaldi n. 8. w.
Hatte nun die Geistlichkeit, im Kirchenchore um das grosse
Buch und Pult aufgestellt, diese Intonation abgesungen, so ant-
wortete der Organist dem Gesänge mit einer Art von künstlerisch-
veredelndem und bereicherndem Echo:
Kyrie della Madonna (Frescobaldi — „Fiori musicali").
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(Cantus firmus im Alt.)
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Oder aber auf andere Art:
Kyrie della Madonna (Frescobaldi a. a. 0.).
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w. 445
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Die Missa Dominicaiis (in Dominicis et Festis semiduplicibus)
hat folgendes erste Kyrie:
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Frescobaldi beantwortet es also:
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446 Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
Kyrie della Doraenica (Frescob. 1. c).
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Die Organisten. Frescobaldi u. 8. w.
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448
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
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In ähnlicher Weise lässt Frescohaldi die Orgel den einzelnen
Versen des Magnificat primi, secundi et sexti toni, der Hymnen
de Apostolis, Iste confessor, Ave Maris Stella, della Domenica
respondiren (Lib. II. di Toccate, Canzone etc.).
Primo
Verso
Magnificat Primi Toni.
Magnificat
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Ambro», Oeschichto der Musik. IV. 29
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450
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
s
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r
r
3
i
Ff r r f f rrfr^T
i
I
3*
3=
5
Der Zweck dieser anziehenden Tonsatze — erosser Meister-
arbeiten in kleinem Umfang — ist also, die Pausen zwischen
dem gregorianischen Gesang mit etwas Bedeutungsvollerem als
mit willkührlichen Interludien zu füllen, sie mit dem Gesang in
inneren Zusammenhang zu bringen. Diese Verbindung der streng
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
451
rituellen alterthümlichen Kirchenmusik mit einer polyphon und
reich ausgebildeten, dieses Einfassen des alten Heiligenbildes in
einen reich und schön ornamentirten Rahmen darf eine in hohem
Grade glückliche heissen.
„Dreierlei gesungene Messen sind approbirt im römischen
Missale zu finden", sagt Banchieri, „welche alternirend vom Chor
und der Orgel ausgeführt (lequali s'alternano tra il choro et or-
gano), welche an allen Festen gesungen werden — u. zw. della
Madonna, della Dominica und Aposlolorum". Frescobaldi hat, wie
man sieht, als treuer Diener der Kirche, filr alles dieses bestens
gesorgt. Auch ftir die feierlichen Momente der „Levazione", des
„Post-Commune" — flir welche Banchieri seine magern „Sonaten"
schrieb, componirte Frescobaldi würdige Tonsätze in der Form
der Toccata oder des Kicercar. Dass aber unter dem „Chor",
welcher mit der Orgel „alternirt", nicht Figural-, sondern gregoria-
nischer Gesang zu verstehen ist, lehrt Zacconi in unzweifelhafter
Weise. »)
Eine eigene und sehr stattliche Klasse unter den Werken
Frescobaldi's bilden seine Toccaten. In vielen derselben ist der
Zusammenhang mit der Merulo-Toccate noch deutlich fühlbar. Die
Art und den Werth dieser Richtung schildert am besten ein Dichter
— Jean Paul — welcher sie schwerlich je kennen gelernt und
obschon er nicht von ihnen, sondern überhaupt von instrumen-
taler Einleitungsmusik „voll musikalischen Geschnörkels, voll Feuer-
werkgeprassels wider einander tönender Stellen" redet — „es ist
der Staubregen, der das Herz für die grossen Tropfen der ein-
facheren Töne aufweicht." 2) Frescobaldi — kann man beifügen —
bahnt den Weg zu Palestrina, die Toccate den Weg zur Missa.
Das Gesetz musikalischer Formenentwickelung zeigt sich nicht leicht
irgendwo deutlicher, als wenn man den Weg etwa von Andrea
Gabrieli's kurzen Präludien in den einzelnen Kirchentonarten über
Merulo's Toccaten zu jenen Frescobaldi's (und von da weiter zu
J. S. Bach) nimmt. Sehr gut, trotz der altfränkischen Ausdrucks-
weise, erklärt Praetorius: „Toccata, ist als ein Präambulum oder
Präludium, welches ein Organist, wenn er erstlich uff die Orgel
oder Clavicymbalum greifft, ehe er ein Mutet oder Fugen anfehet,
aus seinem Kopff vorher fantasirt mit schlechten entzelen griffen
und Coloraturen — sie werden aber von den Italis meines er-
achtens daher mit Namen Toccata also genennet, weil toccare
heisst tangere, attingere, von Toccato, tactus: so sagen auch die
Italiener „Toccate un poco", das heisst: beschlagt das Instrument
1) — al suddetto canto fermo dirö alle volte fermo, et alle volte
Chorale, secondo che mi fara bisogno. (Zacconi, Pratt. di Mus. Parte
scconda, Lib. I. cap. 8. della musica piana, cioe Canto fermo et araio-
niale.)
2) Hesperas 2. Band XIX, „Gartenconcert von Stamitz*'.
29*
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452 Dio Organisten. Frescobaldi u. s. w.
oder begreifft das Ciavier ein wenig: daher Toccata ein durch-
griff oder begreiffung des Claviers gar wol kann genennet werden."
Die Toccata zeigt den Charakter phantasierenden Improvisirens,
sie hält kein Thema fest, ihre beiden Elemente sind wirklich die
— mit Prätorius zu sprechen — „entzelen Griffe" (Accorde) und
Coloraturen. Sie ist wirklich ein „Durchgriff," indem sie den
ganzen Umfang des Instrumentes in raschen Läufen, in arabesken-
haften Figurationen durcheilt — gleichsam um des Instrumentes
Vermögen zu prüfen. Es sind keineswegs nichtssagende Skalen-
spielereien — selbst die Läufe nehmen Gestaltungen an, die wie
Ansätze zu wirklicher Themenbildung aussehen; wo sie aber zu
wirklichen Themen werden, sind letztere mehr, nur wie leicht
hingeworfen, eine kleine geschlossene Notengruppe, welche durch
die vier Stimmen in raschen Antworten hindurchläuft und dann
verschwindet, um neuen Gestalten Platz zu machen — von
der festen Ausprägung zu contrapunktischer Durchführung be-
stimmter Motive ist keine Rede, und die Toccate behält auch hier
den Charakter einer Improvisation — so wohl überlegt und sorg-
sam ausgearbeitet sie in Wahrheit auch sein mag. So ist die
Toccate ein Mittleres zwischen Präludium und Phantasie. Von
ersterem, das seine Themen in festeren Bildungen contrapunktisch
durchführt, ohne den Charakter des Vorbereitenden, Einleitenden
zu verlieren, unterscheidet sie sich durch ihr flatteriges Wesen;
von der letzteren durch den Mangel an selbstständiger Bedeutung,
wie die Phantasie sie allerdings behauptet. Für Prätorius ist die
Toccate, wie wir sahen, mit dem Präludium eines und dasselbe —
und wirklich finden sich von Frescobaldi kurze Vorspiele —
„Toccata avanti la messa della Madonna; Toccata avanti la
messa della Domenica; Toccata avanti la messa degl' Apostoli;
Toccata avanti il Kicercar" (nämlich vor dem Hicercar über das
griechische Tetrachord) — wahre, wenn auch kurze Präludien im
eigentlichen Sinne. Neben den mit raschem Figurenwerk brilliren-
den Toccaten giebt es eine andere Art, die aber fast nur aus-
nahmsweise erscheint — hier ist es eine Folge von Accorden,
Note gegen Note, oder stellenweise zwei, drei Noten gegen eine —
aber nicht säulenartig starr neben einander hingestellt, sondern in
fortgehender, flüssiger Bewegung. (Toccata XII Lib. 1.) So bunt
sich die erste Art mit ihrem Gewimmel zwei- und dreigestrichener
Noten im oberen und unteren Liniensystem ausnimmt, so ruhig
sieht die andere aus mit ihren weissen Halbtaktnoten, an welche
sich erst im Verlauf allerlei kleine Schnörkel in Viertel-, Achtel
und Sechszehnteluoten anhängen. Auch jene andere lebhafte Art
eröffnet Frescobaldi gerne mit dem Introitus einiger fester, im-
posanter Accorde — bald aber tritt die rasche Bewegung ein
und wird, insgemein gegen das Ende des Stückes hin, noch leb-
hafter. Zuweilen lässt sich eine Toccate auch wohl eine gute
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
453
Weile an, als wolle sie ein Präludium im eigentlichen Sinne wer-
den — die vier Stimmen gehen festgeprägt ihren polyphonen
Gang, aber wie aus den Ritzen einer festgefugten Quaderwand
endlich da und dort Grün mit Ranken und Blätterwerk hervor-
spriessen mag, so beginnt hier das Zierwerk erst nur wie zufällig
in einer Stimme — bald aber überwuchert es — die Wand ver-
schwindet hinter dem Mantel von Epheu. So ist Toccata XI im
ersten Buch.
Toccaten, in denen das Passagenwerk vorwaltet, sind im ersten
Buche, mit alleiniger Ausnahme der eilften und zwölften, alle
Übrigen. In der sehr grossartigen eilften hat das Zierwerk wenig-
stens kein Uebergewicht. Die Toccata 12 vermeidet, um ihre
chromatisch fortschreitenden Harmonieen deutlich hervortreten zu
lassen, die Coloratur so gut wie ganz.
Im zweiten Buche nehmen die Toccaten eine fühlbar andere
Gestalt an. Sie sind zwar auch nicht arm an colorirten Stellen,
aber sie nehmen, ohne die Beweglichkeit aufzugeben, vorwiegend
den Charakter thematischer Arbeit an — im Verlaufe des Stückes
tritt auch wohl ein Wechsel geraden und ungeraden Taktes ein
(gleich in der ersten Toccate C — 3 — 12/8 — letzterer zusammen
mit C); wir finden hier sogar Toccaten (N. 3 u. 4), welche nicht
mehr als Vorspiele gemeint, sondern bestimmt sind „da sonarsi
alla levazione" — es sind wahre Phantasieen. Toccate 5 und 6
ist gesetzt „sopra i pedali per Torgano e senza", d. h. sie bauen
sich über lange Haltetöne des Pedals, auf welchem der Organist
im Wortverstande „festen Fuss" fasst, in reicher Figuration auf
und können auch ohne Pedal gespielt werden. Die Wirkung der
fortbrausenden Basstöne ist eine eigentümlich grandiose. Man
sieht übrigens, wie wenig man den Organisten im Pedalspiel zu-
muthen durfte. Die „Toccata di durezze e ligature" ist ganz ohne
Colorirung — aus Gründen, die im gestellten Problem liegen.
Aber selbst wo sich die Toccate durchweg in buntem Passagen-
werk bewegt, fühlt Frescobaldi sehr wohl, dass das Ohr Ruhe-
punkte braucht, dass der Hörer nicht in einer Art musikalischer
Hetzjagd den Athem verlieren darf. Er hält also weil weise,
mitten in die bewegten Stellen hinein, auf einem vollen Tonika-Drei-
klang an, ohne vorhergehende Cadenzbildung — diese wird für
den Schlussaccord aufgespart. Wie Komma und Strichpunkt die
Rede, wie Pilaster eine reich geschmückte Renaissancefa$ade, theilen
und gliedern diese die Bewegung unterbrechenden Accorde das
Tonstück — die hinströmenden Skalenläufe, die kleinen, scharf
ausgemeisselten Motive werden dadurch in wohl geschiedene Grup-
pen überschaulich zusammengerückt — und Frescobaldi giebt dem
Ganzen einen eigenthümlichen, deutlich fühlbaren Periodenbau —
zuweilen, wie im Anfang von Tocc. 3 L. 1, von grosser Regel-
mässigkeit — (Haltpunkte: Takt 2—4 — 6—8). Andererseits
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454 Die Organisten. Frescobaldi u. s, w.
aber kommt eben durch diese plötzlich liegen bleibenden Accorde
in die Tonstücke, wenigstens stellenweise, etwas Stockendes. Die
Schwierigkeit, deutlich zu gliedern, ohne die Bewegung zu unter-
brechen, ist noch nicht völlig überwunden.
Frescobaldi hat es nicht verschmäht, fremde Compositionen
zu „coloriren", wie man in Deutschland sagte — er braucht den
Ausdruck „passagiare" — in Passagen aufzulösen — so ein Madri-
gal Arcadelt's: „Ancidetemi pur d'Archadelt passagiato", welches
in dieser aufgeschmückten Form den Toccaten des zweiten Buches
eingereihet und auch für den praktischen Gebrauch als Toccata
Semeint ist. Die Eleganz und Noblesse, mit welcher Frescobaldi
as heikle Geschäft des Colorirens hier durchfuhrt, zeigt den enor-
men Unterschied zwischen ihm und den deutschen Coloristen,
welche daneben den Eindruck geschmackloser Barbaren machen
— Elias Nicolaus Ammerbach, Bernhard Schmidt d. ä. und d. j.,
Jacobus Paix, Johannes Woltz u. s. w. Erst mit Samuel Scheidt
verschwindet die leidige deutsche Orgeltabulatur, — seine Werke
„Ludorum musicorum prima & secunda pars" (1623), seine „Tabu-
latura nova" (1624) u. a. m. sind bereits in Noten auf Linien-
systemen gedruckt, und mit der alten Orgeltabulatur verschwindet
auch das Colorirwesen, von welchem A. G. Ritter in einem lesens-
werthen Aufsatz ') sagt: er getraue sich nicht, aus dieser gewürz-
reichen, gleichwol geschmacklosen organistischen Kochkunst, wo
vier-, fünf-, acht- bis zwanzigstimmige Gesänge mit Hinweglassung
des Nicht-Greifbaren und unter naivster Hintansetzung der har-
monischen Gesetze mit einem reichen Aufwand von Coloraturen
für die Orgel zurechtgemacht werden, auch nur einen einzigen
geniessbaren Satz herauszufinden — und mit Recht spottet er
über die Orgler, „welche sich der anstrengenden Mühe des Selbst-
schaffens entschlugen und es vorzogen, gegenüber den Gesangs-
componisten in das billige Verhältniss von Kostgängern zu tre-
ten, welche undankbar das Empfangene nicht in der ursprünglich
einfachen und kräftigen Gestalt, sondern mit einer von ihnen ge-
fertigten ganz besonderen Brühe, Coloratur genannt, zugerichtet
(leider auch zernichtet) zum Verbrauche anboten". Es ist inte-
ressant, auch einmal Frescobaldi auf den Bahnen dieser dunkeln
Ehrenmänner zu finden, gleichsam als habe er sie lehren wollen,
wie die Sache eigentlich zu machen war.
Als eine der grandiosesten Orgelphantasieen Frescobaldi's
darf sein grosses Stück (Capriccio) über das Hexachord gelten,
welches Athanasius Kircher in der Musurgie mitgetheilt hat. Eine
wahrhaft unerschöpfliche Erfindungs- und Gestaltungskraft erprobt
sich an dem Unterbau der sechs Guidonischen Sylben. Es ist,
l) ,,Die Coloristen, Beitrag zur Geschichte des Orgelspielos im
XVI. Jahrhundert". AUgem. Mus. Zeitung, Jahrgang 1869 Nr. 38 u. f.
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
455
als habe der grosse Meister der Orgel in diesem, auch was die
Ausdehnung betrifft, colossalen Stück über die ganze Summe
seines Wissens und Könnens Rechenschaft ablegen wollen.
Ueberhaupt versteht es Frescobaldi, aus einem oft ganz klei-
nen Motiv eine Welt von mannigfachen Gestalten hervorzuzau-
bern. Als Beleg mag die Bergamasca dienen, „bei welcher man
viel lernt" — oder selbst die Spielerei jenes „Fra Jacopino" —
nicht minder bieten die Partiten manches in dieser Beziehung sehr
Interessante.
Im Ganzen genommen gehen die Toccaten des zweiten Ban-
des jenen des ersten an Schönheit und Gehalt vielleicht noch vor.
Motive von grösster Schönheit tauchen auf, majestätische Vollklänge,
Figurationen voll Kraft und Eleganz. Wahre Meisterstücke sind
insbesondere die Toccaten 6 nnd 7. Der Toccate ist hiermit ihr
Charakter dauernd gegeben, wie sie ihn noch bei Sebastian Bach
zeigt. Der durchgehende Charakter der Toccate Frescobaldi's ist
imposante Majestät und glänzender Reichthum — es sind prachtvolle
Triumphthore, durch welche der Weg zu dem Weiteren führt.
Hawkins sagt von Frescobaldi: „er sei der erste in Italien
gewesen, welcher fugenmässig gespielt". Dieser Irrthum (denn
ein solcher ist diese Angabe) hat seitdem in den Musikge-
schichten das Bürgerrecht erlangt. Aber schon die ganze Orga-
nistengeneration vor Frescobaldi hatte sich mit Vorliebe in
Fugensätzen ergangen. Was sie auf diesem Gebiete leistete, hat
indessen kaum mehr Bedeutung, als dass sich eben die Gattung
als eine besondere von den Toccaten und sonstigen Kunstformen
des Orgelspieles selbstständig ausschied. Bei den Gabrieli u. s. w.
haben die sogenannten „Canzonen" fast nur erst den Werth in-
teressanter Incunabeln. Adrian Banchieri's fugirte Sätze im „Or-
gano suonarino" gleichen vollends mageren Skizzen. Kaum haben
sie (wie jemand einmal bei anderer Gelegenheit sehr gut sagte)
aufgehört anzufangen, so fangen sie an aufzuhören. Die Themen
finden nicht Raum, nicht Zeit sich zu entwickeln. Die Antwor-
ten erfolgen oft in der Octave oder, wenn in der Quinte, als
„Fuga reale". Der aus solchen kümmerlichen Keimen, aus die-
sem musikalischen Knieholz ganze prächtige Wälder zu zügeln
verstand, war wiederum Frescobaldi.
Im Vergleiche zu den früheren noch sehr knappen Sätzen,
den sehr dürftigen Bildungen und der ganzen trockenen und stei-
fen Durchführung, nehmen Sätze dieser Art bei ihm wahrhaft
grossartige Dimensionen an. An Stelle des kleinlich zusammen-
genagelten Lattenwerkes tritt hier ein stolzer, vielgliedriger Bau.
Statt der früheren physiognomielosen oder eckigen und bunten
und dabei doch nichtssagenden, stets gleichartigen Motive, statt
der vagen Züge, hier wie in Marmor ausgemeisselte Themen von
individueller Physiognomie ; an Stelle der kleinen Schnitzbildchen
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456
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
Gestalten, wie bei jenem mythischen Künstler Griechenlands,
welche blicken und schreiten. Was die Fugen J. S. Bach's so
wunderbar erfreulich macht, findet sich auch schon und zuerst
bei Frescobaldi: das urgewaltige Leben, welches bis in die klein-
sten Züge hinein pulsirt, die anscheinend unerschöpfliche Fülle,
die freudige Kraft, welche sich im Schaffen mit einer Art von
Götterbehagen bethätigt.
Die vollständig zu ganz festbestimmter Form ausgebildete
Fuge mit ihren nach einem unverrückbaren Kunstgesetz gemo-
delten „Beantwortungen", ihren Wiederschlägen, Divertimenti,
den Meisterproben ihrer sogenannten „Zierden" au Engftihrungen,
Augmentationen, Diminutionen , die Form also, wie wir sie in
höchster Vollendung und mit dem bedeutendsten Inhalt bei J. S.
Bach antreffen, dürfen ^,wir bei Frescobaldi noch nicht suchen.
Es bedurfte mehr als zweier Menschenalter und der rastlosen
Arbeit deutscher, tüchtiger Orgelmeister — welche im Vergleiche
zu ihren Vorgängern, den „Coloristen" , wie Riesen dastehen —
ehe es mit der Fuge so weit kam. Auch die „Ricercar" Fresco-
baldi's sind keineswegs mit der späteren „Fuga ricerc&ta" eines
und dasselbe — und eben so wenig bedingt es der Ausdruck
„Canzona", dass diese auch nothwendig die Anlage einer Fuge
haben müsse. Im Lib. IL zeigt die „Canzona" Nr. 5 auch nicht
die Spur einer fugirten Arbeit — in der Durchführung singbarer
Melodieen in der Oberstimme auf einer stellenweise polyphonen,
stellenweise aber auch schon nahezu ganz homophonen Beglei-
tung entspricht das Stück sogar dem Namen einer „Canzone"
besser. Die Stimmen verketten sich, aber sie fliehen nicht eine
vor der andern — was doch schon selbst nach der Ansicht der
gleichzeitigen Theoretiker das Kennzeichen der „Fuga" ist, ')
Es sind wesentlich rhythmisch construirte Tonbauten, — Studien
über den Rhythmus, weun man will — und gerade dadurch er-
hält die Canzone 5 Etwas, wobei man L. B. Alberti's Wort von
seinen Bauwerken „tutta questa musica" umkehren und sagen
möchte: „tutta questa architettura". Sie macht analog den Ein-
druck, wie etwa ein Prachtbau mit imposanter Facade. Die Fu-
genform erscheint aber umgekehrt auch wieder unter den Ton-
stücken, welche als „Capriccio" — als „Ricercar" — als „Fau-
tasia" bezeichnet vorkommen — der Toccata aber bleibt sie voll-
ständig fremd, — selbst als Episode bleibt sie hier ausgeschlossen.
Der spätere Componist — ein J. S. Bach, Händel u. s. w. —
ist nur so lange der Herr eines Fugenthema, als er es erfindet;
hat er es erfunden, so wird er dessen Diener und muss es „nach
unverrückbar ehernen Gesetzen" seine Bahn fuhren. Zu Fresco-
1) dictae sunt autem a fugando, quia yox vocem fugat, idem
uielos depromendo. (Praetorium Synt. HL, S. 21.)
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
457
baldi's Zeit hatte der Componist freiere Hand — er kann im
Laufe des Stückes sein Thema abdanken, wie ein Fürst einen
missliebig gewordenen Günstling — muss aber dann für Ersatz
sorgen und ein zweites tüchtiges, womöglich gesteigert intensiv
wirkendes Thema fugenmässig ein- und durchführen. Prätorius
erklärt den Kunstausdruck „Caprice" in folgender Art: „Capriccio
seu Phantasia subitanea, wenn Einer nach seinem eigenen Plesier
und Gefallen eine Fugam zu tractiren vor sich nimpt, darinnen
aber nicht lange immoriret, sondern bald in eine andere Fugam,
wie es ihme in Sinn kömpt, einfallet'4.
So locker und scheinbar improvisirend gestaltet Frescobaldi
seine Sätze nicht — eher könnte man sie als eine Art Vorläufer
dreisätziger Symphonieen nennen (natürlich noch ohne den Ein-
dringling des Menuet oder Scherzo) : erster Satz, Andante, Schluss-
satz — nur dass hier die Sätze nicht getrennt sind, sondern
einer in den andern übergeht und sie, trotz verschiedener The-
men, ein organisch-zusammenhängendes, in sich geschlossenes
Ganze bilden. Einem leicht und geistvoll durchgeführten Fugato,
dessen Thema sich insgemein ziemlich lebhaft in kleineren Noten-
geltungen ankündigt, folgt ein majestätisch -kraftvoller Satz im
ungeraden Takt ; volle Accorde, imposant einherschreitende Bässe,
imitatorische Arbeit in breiter, ruhiger Entwickelung — dann
der Schlusssatz mit neuem Fugenthema — dieses meist von min-
der lebhaftem Charakter als jenes erste, aber ihm zugleich ein
bewegtes Gegenthema nach Art der späteren Doppelfuge ent-
gegengestellt.
Die Themen dieser Abtheilungen sind von einander unab-
hängig — doch giebt es auch Stücke dieser Art, wo ein durch-
gehendes oder wiederkehrendes Thema das Ganze noch einheit-
licher gestalten hilft. Dahin zählt die kraft- und lebensvolle
„Canzone sesti toniu:
U.8.'
^r- r rc/rf'tur^rfr
> 1
Hier fügen sich in den phantasiereichen Mittelsatz allerdings wie-
der Episoden im ungeraden Takt ein, und nach ihnen tritt ein
neues Thema auf,
- — -CT"
J 1
mfr r
r r f
1
U.8.W.
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458 . Die Organisten. Frescobaldi u. 8. w.
•
aber zuletzt bricht das allererste Thema wieder siegreich hin-
durch und führt den Satz mit den sinnreichsten und geistvollsten
Combinationen zu Ende. — In der „Canzon quarti toni dopo il
postcomune" erscheint das zu Anfang im C-Takt auftretende
Fugenthema in der Episode ungeraden Taktes abermals und
sinnreich in 6/4 umgebildet — der Schlusssatz bringt ein neues,
bis zum Schlüsse fast unaufhörlich durch die einzelnen Stimmen
wanderndes Fugenmotiv. Das geniale chromatische „Ricercar
dopo il Credo" bleibt in seiner Mitte auf einer Ferma stehen,
setzt aber dann seinen Weg mit den früheren Motiven fort —
und zwar wird allmählich ein energisches Thema, das anfangs als
Nebenthema auftrat, zum Hauptmotiv und zwar nach der Fer-
mate höchst effektvoll in verkehrter Bewegung.
Bei der Beantwortung der Themen existiren für Frescobaldi
die Kunstgesetze der späteren Fugenkunst einstweilen noch nicht.
Er beantwortet zuweilen in der Octave, oder er antwortet zwar
dem Dux mit dem Comes in der jetzt giltigen Weise, aber die
nächsthinzutretende Stimme antwortet nochmals mit dem Comes.
Er bringt aber daneben auch Beantwortungen in der Quinte,
insgemein erfindet er seine Fugenthemas so, dass sie einfach in
die Quinte transponirt werden können, aber er fasst auch eine
für alle Folgezeit massgebend gewordene Idee: an die Stelle
fer Fuga reale stellt er die Fuga di tuono.
Damit ist gleichsam das Zauberwort gesprochen, mit welchem
die Fuge von ihrem bisherigen Bann erlöset wird — nicht leicht
hat sich ein genialer Einfall so lohnend bewiesen wie dieser!
Die Fugenthemen haben noch nicht die Mannigfaltigkeit,
wie bei J. S. Bach, wo sie selbst meist schon ein ganz bestimm-
tes Charakterbild von Freude, Wehmuth, Schmerz, Scherz, düste-
rem Brüten, heiterem Gaukeln u. s. w. geben — aber sie haben
Physiognomie und insgemein einen Zug von Energie, ein ge-
wisses entschlossenes Auftreten, das ihnen zuweilen etwas Heroi-
sches giebt.
Die reiche, vielgestaltige Durchführung gestaltet sich sehr
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w. 459
kunstvoll, dabei ungezwungen und mit einer gewissen vornehmen
Grazie der Bewegung. Engführungen werden oft und dann meist
sehr glücklich angewendet Zuweilen wird durch Wiederholungs-
zeichen dem Organisten Spielraum gegeben, länger oder kürzer
seine Orgel ertönen zu lassen, je nachdem es der Moment des
Gottesdienstes bei bestimmter Gelegenheit eben fordern mag.
Die sogenannten „Ricercaru verdienen ihren Namen durch beson-
ders kunstreichen Tonsatz oder Lösung irgend eines schwierigen
Satzproblems.
Vergleicht man die Annuth der früheren Orgelcomponisten
mit diesem Reichthum, so begreift man das Erstaunen und Ent-
zücken der Zeitgenossen über die wundergleiche Erscheinung.
Imponirende Pracht ist der Charakter dieser Tonsätze, unter
denen man manches Schroffe, aber nichts Kleinliches findet —
man wandelt wie in königlichen Hallen, wenn man sich in den
wundersamen Tongebilden der „Canzona prima" oder ähnlicher
Sätze ergeht.
Als ein sehr reizendes Stück und zugleich als Prototyp für
alle späteren Tonstücke ähnlicher Art verdient das „Pastorale"
Erwähnung, mit welchem das erste Buch der „Toccate" schliesst.
In Rom liess sich den Pifferari der richtige Ton dafür schon
abhorchen — und wirklich sind es dieselben Melodiewendungen,
dieselben in ihrer Einfalt so eigentümlich rührenden Klänge
von Hirtenmusik, welche noch jetzt zur Weihnachtszeit in den
Strassen Roms ertönen — man erkennt die Motive, welche nach-
mals Händel für sein Pastorale im „Messias" eben dort holte,
wo sie vor ihm Frescobaldi geholt hat. Die Orgel ahmt in lang-
gehaltenen Pedaltönen den Klang der Sackpfeifen nach — auch
die Harmonie ist entsprechend behandelt. — Künste und Nach-
ahmungen sind, mit richtiger Einsicht, vermieden. Der zugleich
idyllische und religiöse Charakter der Hirtenmelodien der Piffe-
rari ist hier in die höhere Kunstgattung eingeführt. ')
Das letzte aber nicht das leichteste unter Frescobaldi's Ar-
beiten sind endlich seine Tanzstücke, Kunstwerke kleinen Um-
fanges, in keiner Weise dazu bestimmt, wirklich zum Tanzen
aufgespielt zu werden. 2) Es ist Unterhaltungsmusik — auch das
siebenzehnte Säculum wollte dergleichen haben — allerdings aber
Unterhaltungsmusik edler Art — die Elemente, welche sich nach-
mals zur „Suite" gruppirten. Die italienische Tanzmusik des
1) Die Ueberschrift lautet: „Capriccio. Pastorale". Im Index aber
9teht: „Capriccio fatto sopra la Pastorale". Unzweifelhaft ist es also
die Pifferaro-Musik, welche die Motive hergegeben.
2) Diese Unterscheidung wurde gemacht. Mattheson sagt („Neuer-
öffnetes Orchester44 S. 188) von der Form solcher Tänze: — sie müssen
ein bestimmtes Schema einhalten, „dafern sie zum Tantzen destinieret,
sonst nimmt man sich Liberte*".
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460
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
17., Jahrhunderts hat, wo sie sich nicht unter Naturalistenhänden
ganz primitiv gestaltet, entweder etwas eigenthümlich Zartes, etwas
Mädchenhaftes (etwas „Fräuleinhaftes" könnte man sagen) — wie
sie denn insgemein durch ein mildes Moll etwas fast Schwärme-
risches und Inniges bekommt, oder sie tritt mit Pomp und Pracht,
mit einer Art spanischer Grandezza, vornehm und stolz auf —
hielt doch Spanien damals an beiden Enden Italiens, in Mailand
und in Neapel, das Scepter. Man kann sich nur dazu tanzende
Herren und Damen in der schwer-prächtigen spanischen Mode-
tracht der Zeit denken, wo nur gemessene Bewegungen möglich
waren — Figuren, wie wir sie auf den Kupfern in Cesare
Negri's, des gleichzeitigen Mailänder Tanzmeisters ,,Nuove in-
venzioni di balli" erblicken. 1 Frescobaldi's Tänze haben völlig
diesen Charakter; Balletto, Gagliarda, Corrente, Passacaglia,
Ciaconna lauten ihre Ueberschriften. Die pathetischen Tänze
haben wirklich etwas „Hochadeliges". Und hier entdeckt Fre-
scobaldi, wie zufallig, eine Form, welche abermals für die folgen-
den Zeiten hohe Wichtigkeit gewinnen sollte — die Variation
(an Stelle der Partite). Wechselte der Rhythmus in den Tanz-
schritten, so musste natürlich auch der Rhythmus der Musik
wechseln. Der feierlichen Bewegung, in welcher die tanzenden
Herren und Damen durch wohlgewählte Attitüden ihre Person
in's beste Licht setzten, folgte die schnellere, wo sie ihre Ge-
lenkigkeit und Anmuth bethätigten — oder aber dem rascheren
Tanze folgte umgekehrt der langsame, gemessene. Behielt nun
der Componist für beides dieselbe Tanzweise bei, so musste sie
jedesmal in einem andern Khythmus vorgetragen werden. So
lässt Antonio Bruneiii, der Zeitgenosse Frescobaldi's, in einem
für einen Ball in Pisa geschriebenen und von den dortigen Edel-
damen (nobilissimc gentildonne Pisane) ausgeführten Tanzstück
dieselbe Tanzmelodie als „Ballo grave" erscheinen. 2) So bringt
Frescobaldi in einer „Aggiunta" zum „Libr. I. di Toccate" ein
„Balletto"
1) Ueber ihn und sein Buch wolle der gütige Leser das Nähere im
ersten Bande meiner „Bunten Blätter" aufsuchen.
2) Man findet dieses Stück unter den Musikbeilagen des ersten Ban-
des meiner „Bunten Blätter14.
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Die Organisten. Frescobaldi n. s. w.
401
und darauf die „Corrente del Balletto".
Wie wichtig dieses dem Componisten von den Tänzerbeinen
dictirte Exercitium für die Erkenntniss der Bedeutung, des We-
sens und der Macht des Khythmus werden musste, ist augen-
scheinlich. Wie ganz anders gestaltete sich das Motiv trotz der
genau gewahrten Noten, weil der Khythmus es anders in Bewe-
gung setzte!
Das verändert und doch kenntlich wiederkehrende Stück
repräsentirte aber eben darum auch eine Variation. Und nun
bringt Frescobaldi im Libro secondo eine „Aria, detta Bailetto"
mit acht nachfolgenden „Parti" und eine „Aria detta la Fresco-
balda" mit fünf Parti (darunter eine Corrente und eine Gagliarda),
welche nicht mehr Partiten, sondern wahre und echte Variationen
sind — Variationen rhythmischer und contrapunktischer Art, jede
das Thema in veränderter Form darstellend. Der Name „Varia-
tion" wird aber einstweilen noch nicht angewendet; noch Fresco-
baldi's Schüler Froberger behält die Ueberschrift „Partite" bei,
wo er die rein ausgebildete Variationen form anwendet.
Wenn Formen- und Ideenreichthum, Kraft und Leben bei
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462 Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
einem Künstler ein Zeichen des Genies sind, so zeigt, wenn irgend
jemand, Frescobaldi diese Eigenschaft.
Für die Notimng bedient sich Frescobaldi der italienischen
Tabulatur. Das System für die rechte Hand hat sechs Linien
mit dem C-Schlüssel auf der ersten oder dem G-Schlüssel auf
der zweiten Linie — die linke hat ein System von acht Linien
mit dem C-Schlüssel auf der sechsten, dem F-Schlüssel auf der
vierten Linie, so dass hier gleichsam Alt und Bass aneinander-
gerückt und die beiden Mittellinien „gemeinsames Gebiet" sind :
Toccata sosta (Lib. II.)
Als Vorzeichnung wird bloss ein i> angewendet; wo sonst
Accidentalen nöthig sind, werden sie vor oder — oft undeutlich
— unter die bezügliche Note eigens geschrieben. Kleine Noten-
geltungen bis ^ spielen eine grosse Rolle. Die Schreibart „in
note bianche", bei welcher sechs T auf eine Battuta gehen, *)
eine Schreibart übrigens, welche bald ausser Gebrauch kam und
selbst in jener Zeit nicht häufig war, z. B.
v— r
— 9
5> -
bu ;. 1
wendet Frescobaldi zuweilen an — auch die schwarze Hemiole
1) Zgfc — „Figura di prolatione, che ne vanno sei alla battuta'*
(Zacconi, Pratt. di Mos. — Parte II. Lib. I. Cap. 11).
Google
Die Organisten. Prescobaldi u. s. w.
463
zeigt sich, als altes Inventarstück ans den Zeiten der Mensural-
notirung:
u. s. w.
Die Taktzeichen der Mensuralzeit werden angewendet — C
^t» Oi» 3, f i i» G^» — doch kommen ausnahmsweise auch
vereinzelte Tempobezeichnungen vor: „Adasio" (wie kommt Fre-
scobaldi zum venetianischenDialect?) oder „Adagio" und „Allegro".
Taktstriche werden überall gezogen , meist nach je zwei Takten
(als Tempus) — sie sind in dem Gewimmel kleiner Noten auch
unentbehrlich. Wo mehrere kleine Noten gleicher Geltung zu-
sammentreffen, werden sie gebunden: E=J
und
nicht, wie man wohl auch sonst geschrieben findet:
sehr zum Vortheile der Deutlichkeit. Achtelnoten erscheinen
dagegen getrennt Jy f —
Frescobaldi's Ruhm drang auch nach Deutschland. Zwar
weiss Prätorius (1619) noch kein Wort von ihm — aber später
sendete ihm Kaiser Ferdinand III. aus Wien einen Zögling, der
den Geist des Meisters mit Liebe und Verständniss in sich auf-
nehmen sollte, wie sonst kein zweiter, und der auch sein be-
rühmtester Schüler wurde: Johann Jacob Fr ob erger. Er
mu8s mit seinem Lehrer zusammen in's Auge gefasst werden,
obwol, nach Mattheson's Angabe, sein Vater ein ehrlicher deut-
scher Cantor aus Halle war (worüber jedoch an Ort und Stelle
bisher keine beglaubigenden Nachweisungen aufzufinden gewesen
sind).
Gleich seinem Lehrer Organist und Tonsetzer für Orgel und
Cembalo, vereinigt Froberger in seinen Compositionen Züge des
grossen contrapunktischen italienischen Styls, welchen er von
Frescobaldi erlernt, die heimischen Züge seiner deutschen Ab-
kunft, und Züge endlich, welche der zu spielender Eleganz ge-
neigten Zier- und feinen Unterhaltungsmusik in Frankreich eigen
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464
Die Organisten. Frescobaldi u. 8. w.
waren. Diese verschiedenen Elemente arbeitet er so in einander,
dass daraus ein eigenthümlicher Styl entsteht, welchen man nicht
wohl anders nennen kann, als den „Frobergerschen". Unter
den Musikern jener Uebergangszeiten macht Froberger vielleicht
der erste einen oft wesentlich modernen Eindruck und giebt
zudem das auch moderne Bild eines musikalischen Genies auf
Reisen — und diese Kunstfahrten machte er noch zu einer Zeit,
da er bereits in Wien auf kaiserlicher Orgelbank festsass oder
doch hätte festsitzen sollen, während Frescobaldi, sobald er in
Korn seine Anstellung gefunden, eine kurze Reise in das nicht
ferne Florenz ausgenommen, nicht weiter gekommen zu sein
scheint, als man die Peterskuppel in Sicht behält. Froberger
ist musikalischer Kosmopolit — aber am entschiedensten und als
das für Froberger wesentlich Kennzeichnende tritt Frescobaldi's
Kunst und Art hervor. Wenn Frescobaldi ein bis zur Herbheit
strenger, grosssinniger Meister und ein Diener der Kirche ist, so
giebt sich Froberger als eine zarte, liebenswürdige Natur — wo
Frescobaldi die musikalische Sprache der Kirche redet, welche
er auch dort nicht verleugnet, wo er Passacaglieu und Ciacconen
schreibt oder mit Fra Jacopino seinen Scherz hat, ist Froberger
ein musikalisches Weltkind, so viel er sich auch in Kunstformen
bewegt, welche, aus der Kirche hervorgegangen, wesentlich der
Kirche angehörten. Man könnte Froberger den frühesten Salon-
componisten nennen — wenigstens was Eleganz, Anmuth und
leichten Ton betrifft — nur dass er trotzdem nirgends den Mei-
ster der Kunst, den in strenger Schule gebildeten Musiker ver-
leugnet und dass seine Fugensätze sich denen seines Lehrers wür-
dig anreihen.
Eine beträchtliche Menge von Compositionen gestattet uns
ein sicheres Urtheil. Zwar wurde von Froberger's Arbeiten, so
lange er lebte, wunderbarer Weise gar nichts gedruckt — erst
acht und zwanzig Jahre nach seinem Tode erschien 1695 (nicht
1696, wie Mattheson und Walthcr schreiben) zu Mainz in ge-
stochenen Noten eine Sammlung unter dem Titel „Diverse curiose
rarissime partite di Toccate, Kicercate, Capricci e Fantasie per
gli amatori di cembali, organi ed istromenti" l). Der vornehme
italienische Titel, der gegen die treuherzigen Titelblätter alt-
deutscher „ Tabulaturen " sehr contrastirt , wäre zu bemerken
— der Zögling der italienischen Organistenschule Fresco-
baldi's verräth sich selbst in diesem posthumen Werke — in
1) Eine Seltenheit der Seltenheiten! Herr Prof. Faisst in Stuttgart
besitzt ein Exemplar. Gerber kannte das Werk nur aus Breitkopfs Ver-
zeichniss. Eine angeblich zweite Edition von 1699 in Trägs Katalog ist
mehr als problematisch. Eine zweite Sammlung ähnlicher Stücke, welche
nach Walther's Lexikon 1714 ebenfalls in Mainz erschienen sein soll, ist
nicht mehr nachweisbar.
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w. 465
seinen Manuscripten bedient er sich durchweg der italienischen
Sprache. Blieben die Sachen vorläufig ungedruckt, so copirte
dafür Froberger seine Compositionen eigenhändig mit kalligraphi-
schem Aufwand, um sie dann irgend einem hohen Gönner zu
Füssen zu legen.
Diesem Umstand haben wir es zu danken, dass wir von
Froberger mehr und Besseres kennen, als seine von Erzählern
allgemach zum förmlichen Roman herausstaffierten Abenteuer zu
Wasser und zu Lande mit ihren Schiffbrüchen, Räubern, getre-
tenen Orgelbälgen und groben Fäusten grober englischer Orga-
nisten. Eine sehr reiche Sammlung von Compositionen Frober-
ger's besitzt nämlich, als Autograph, die Wiener HofbiMiothek.
Es sind vier in goldgepresstes Leder gebundene, folglich als
Prachtstück gemeinte Musikbücher in klein Querquart — man-
chen Stücken hat Froberger zuletzt, origineller Weise, ein „Manu
propria" angehängt. Die Noten sind wie in Kupfer gestochen —
allerlei kalligraphische Schnörkel sind nicht gespart, stellenweise
sogar mit der Feder gezeichnete Illustrationen sind angebracht, Sinn-
bilder, auch wohl geflügelte Engelsköpfchen, — kleine Scheusale
zwischen Ornamenten- Kribskrabs — der Musiker Froberger war
jedenfalls dem Zeichner vorzuziehen. Diese kalligraphischen No-
tenbücher schrieb Froberger augenscheinlich für seinen Gönner,
Kaiser Ferdinand III. In Dresden führte, nach Mattheson's Er-
zählung, Froberger ein ähnliches Dedicantenstück aus; er spielte
dort vor dem Churfürsten Johann Georg II. sechs Toccaten, acht
Capricci, zwei Ricercar und zwei Suiten , „die er alle in ein schön
gebundenes Buch sehr sauber selbst geschrieben hatte", und er
überreichte dem Churfiirsten „hernach das Buch zum Geschenk,
wofür er eine güldene Kette bekam". Froberger bedient sich
der gewöhnlichen Notenschrift auf fiinf Linien — also nicht der
linienreichen Tabulirung der italienischen Orgelmeister — zur
Ausgleichung wechselt er aber im Laufe eines Stückes nach Be-
dürftuss mit dem C-, G- und F-Schlüssel (letzterer als Bass- und
als Baryton-Schlüssel), oder aber er schreibt die vier Stimmen
partiturmä8sig. wie Singstimmen auf vier Lin'ensysteme. Wenn
C. F. Becker ') in einem in der unbeholfenen deutschen Tabu-
lator geschriebenen alten Buche, Sammelbuchc von 1681, das
Tongemälde einer „Schlacht" findet, von dem er meint, Frober-
ger dürfe wohl als Componist dieser namenlosen Schlacht vermu-
thet werden, so ist es eine willkürliche Annahme, — Froberger
wendet nie die deutsche Tabulatur an — eine Annahme , für
welche vielleicht kein besserer Grund vorlag, als die bekannten
Angaben Mattheson's über eine Allemande, in welcher Froberger
die Gefahren seiner Ueberfahrt über den Rhein, und ein anderes
1) Haasmusik S. 42.
Ambro«, Geschichte der Miulk. IV. 30
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•166
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
Stück, in welchem er seine traurigen Abenteuer in England, —
einschliesslich des ihm angeblich vom Hoforganisten versetzten
Trittes oder Schlages — schilderte, Stücke, die sich handschrift-
lich in Mattheson's Besitz befanden. Das Machwerk der „namen-
losen Schlacht'- wird wohl irgend einem namenlosen deutschen
Orgelschläger angehören. (Zwar — im ersten Bande der Tocca-
ten u. s. w. Frescobaldi's findet sich auch ein „Capriccio sopra
la Battaglia", welches mit seinen Nachahmungen von Trompeten-
fanfaren und seinen das Schlachtgetümmel (sehr zahm) malen-
den Arpeggien und Passagen eben auch kein Meisterstück und
Frescobaldi's nichts weniger als würdig ist.)
Nach Mattheson's Erzählung l) soll Froberger als fünfzehnjäh-
riger Knabe von einem schwedischen Gesandten seiner schönen
Discantstimme wegen nach dem Anno 1650 (sie) geschlossenen
Westphälischen Frieden mit nach Wien genommen worden sein,
„von wannen ihn der Kaiser Ferdinand III. nach Rom zu dem
berühmten Girolamo Frescobaldi, Organisten zu St. Peter, in die
Lehre thun Hess, damit er hernach kaiserlicher Hoforganist wer-
den mögte, welches er auch 1655 geworden ist". In dieser Er-
zählung sind mindestens die Jahreszahlen gründlich falsch.
Froberger gehörte zwar der kaiserlichen Hofmusikkapelle
als Organist an — aber nicht erst seit 1655, sondern vom 1. Ja-
nuar 1637 bis zum 30. September 1637 (kein volles Jahr!) mit
einem Gehalt von 24 fl. monatlich — dann vom 1. April 1641
bis October 1645 mit 60 fl. Gehalt, endlich vom 1. April 1653
bis zum 30. Juni 1657, wo er „Dienstes entlassen" wurde2)
— — „begab sich aber4' (erzählt Walther) „wegen Kayserl.
Ungnade von Wien nach Mayntz, alwo er unverheyrathet gestor-
ben; wie Jessen ein Anverwandter von ihm gewiss versichert."
Der Anverwandte hat sich, trotz der gewissen Versicherung, den-
noch geirrt Froberger fand eine ihm überaus gewogene Be-
schützerin an der Herzogin* Sibylla von Württemberg (geb. 1620)
und brachte seine letzten Tage in ihrem Dienste zu. Allem An-
schein nach fand er nach seiner Entlassung aus Wien sogleich
bei der Herzogin Zuflucht und an ihr eine ausserordentlich gütige
Beschützerin — es war ein geradezu herzliches Verhältniss, da»
zwischen der hohen Frau und ihrem „Musikmeister und Musik-
lehrer'1 — wie sie ihn selbst nennt, herrschte.
Seit Mattheson wird Froberger in allen Handbüchern, Lexi-
kons u. s. w. im Jahre 1635 geboren und stirbt 1695. Kochel setzt
in seinem Buche „die kaiserliche Hof-Musikkapelle in Wien"3)
zu dem Geburtsjahre mit Recht ein entrüstetes Ausrufuugs-
1) S. dessen Ehrenpforte.
2) Köchel, die kais. Hofmusikkapelle in Wien. S. 59.
3) 3. 109.
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Die Organisten. Frescobaldi u. 8. w. 467
zeichen-, es giebt in der That kein Beispiel, dass ein zwei-
jähriges Kind Hoforganist geworden wäre. Als Todesjahr nennt
Kochel vermuthungsweise — 1700, als Ort des Ablebens
(nach Walther) Mainz. Aber Froberger starb weder 1695
noch 1700, sondern plötzlich in Folge eines Schlagflusses am
7. Mai 1667, und nicht in Mainz, sondern zu Höricourt (Frank-
reich, Depart. Haute-Saöne) , wo er bei der Herzogin Sibylla
lebte. Beerdigt wurde er am 10. Mai in der Kirche zu
Bavillier8 (Dep. Haut-Rhin). Ueber Dieses — und viel Anderes
— haben zwei eigenhändige Briefe der Herzogin an Constantin
Huyghens im Haag (den Vater des berühmten Astronomen und
Entdeckers der Saturnusringe) Licht gegeben. (Diese Briefe
befinden sich in der Collection des Doctor Edmund Schebek,
eines tüchtigen Musikkenners und eifrigen Autographensammlers,
in Prag.)
Vieles in Froberger's Lebensgeschichte bleibt indessen den-
noch räthsclhaft. Was war der Grund der „Kayserlichen Un-
gnade" und der Dienstesentlassung ? Was hatte es mit der zwei-
maligen langen Unterbrechung des Dienstes für eine Bewandt-
niss? — Wir dürfen der Herzogin glauben, welche Froberger's
sittlicher Strenge und Religiosität ein für ihn sehr ehrenvolles
Zeugniss giebt — auch Mattheson spricht von Froberger's „tugend-
liebendem, gottesfürchtigem Gemüth" — schwerlich zog ihm also
ein wirkliches Vergehen die „Ungnade" zu. Wohl aber kann es
eine wiederholte starke „Urlaubsüberschreitung" verschuldet, und
zu letzterer mögen Kunstreisen den Anlass gegeben haben. Es
ist kein Grund vorhanden, Mattheson's Angabe zu bezweifeln,
dass Froberger eine Zeit lang in Paris lebte, wo er „die franzö-
sische Lautenmanier von Galot und Gautier auf dem Klavier an-
nahm, welche damals hoch gehalten wurde." Diese Manier sind
zuverlässig jene über den Noten mückenartig herumtanzenden
Trillerchen, Mordentchen und dergleichen „Agrements", wie sie
hernach auch bei Franz Couperin, Rameau u. A bis zum Ueber-
mass ihr Wesen trieben, jener „französische Champagnerschaum"
(wie der alte Zelter einmal an Goethe schrieb), welchen sogar J.
S. Bach nicht verschmähete. Bei Frescobaldi ist von diesen
musikalischen Berlöckchen, von diesem mit dem Brenneisen ge-
kräuselten Styl ( calamistratus, wie einst Cäsar Augustus von den
Versen seines Freundes Mäcenas sagte) noch keine Spur. Fro-
berger aber würzt im Wiener Autograph gleich die Toccata prima,
obschon sie sonst im hohen Styl seines Lehrers Frescobaldi com-
ponirt ist, reichlichst aus der französischen Pfefferbüchse. Die
Sache ist auch darum von Interesse, weil sie lehrt, dass diese
kleinen Klimpereien nicht erst, wie man insgemein annimmt, von
Francois Couperin datiren.
Seine Reise nach Dresden, wo er, nach Mattheson's. Angabe,
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468
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
dem Churfürsten „ein kaiserliches Handschreiben" (vielleicht ein
Empfehlungsschreiben) überbrachte, machte er, nach diesem Um-
stände zu schliessen, jedenfalls mit Bewilligung des Kaisers. Er
bestand dort, auf Wunsch des Churfürsten, einen Wettkampf mit
dessen Hoforganisten Matthias Weckmann (nach Mattheson geb.
1.621 zu Oppershausen in Thüringen — Schüler des Heinrich
Schütz, der ihn nach Venedig schickte, wo er, Schütz, selbst seine
Bildung erhalten, — später da er schon Hoforganist in Dresden
war, schickte ihn der Churfurst zu Jacob Prätorius nach Königs-
berg in die Lehre, in welcher er drei Jahre bb'eb — 1657 er-
hielt er die Berufung als Organist an die Jakobskirche nach
Hamburg, wo er 1674 starb — ein Schüler des schon 1612 ver-
storbenen Johannes Gabrieli, wie Mattheson behauptet, kann er
nicht gewesen sein;. „Mein Mathies", lässt Mattheson den Chur-
fürsten leise zu Weckmann sprechen, „wollet ihr mit Frobergern
um eine güldene Ketten auf dem Ciavier spielen?" Weckmann
eiklärte sich „von Herzen gerne" bereit, fügte aber sogleich hinzu:
„aus Ehrerbietigkeit für Ihro kaiserliche Majestät soll Froberger
die Kette gewinnen." Froberger spielte zuerst und erkundigte
sich dann (?!) gleich (sie) nach „einem in der Capelle, der Weck-
mann heisse, der wäre am kaiserlichen Hofe sehr berühmt, und
denselben mögte er gerne kennen. Weckmann stund hart hinter
ihm; dem schlug der Churfurst auf die Schulter und sagte: „da
steht mein Mathies." Hierauf spielte „nach abgelegten Be-
griissungen" WTeckmann eine halbe Stunde lang über ein ihm
von Froberger gegebenes Thema, darüber sich sowohl dieser als
der ganze Hof verwunderte und Froberger zum Churfürsten mit
den Worten herausbrach: „Dieser ist wahrhaftig ein rechter
Virtuos." Es mag in dieser Geschichte ein Körnchen Wahrheit
stecken — Unwahrscheinlichkeiten aber liegen auf der Hand —
Froberger erkundigt sich nach dem ihn so sehr interessirenden
Weckmann erst, nachdem er selbst in des Churfürsten Gegenwart
gespielt; schicklicher oder unschicklicher Weise konnte er diese
Erkundigung doch wohl nur an Serenissimum richten; Weckmann
erklärt im Voraus, er werde Froberger aus dem Wettstreite als
Sieger hervorgehen lassen, spielt aber dann eine halbe Stunde
lang als „wahrhafter Virtuos." Mattheson vergisst, dass er an
anderer Stelle Froberger die goldene Gnadenkette in Dresden
aus einem andern Grund, nämlich für jene Dedication zukommen
lassen u. s. w. Mattheson schliesst seine Mittheilungen über
Weckmann mit der Angabe, dass er und Froberger Freunde und
im Briefwechsel blieben — und Froberger „sandte dem Weck-
mann eine Suite von seiner eigenen Hand, wobei er alle (!)
Manieren setzte, so dass auch Weckmann dadurch der Froberger' -
schen Spielart ziemlich kundig ward."
Köchel giebt, ohne die Quelle näher anzudeuten, an, dass
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Die Organisten. Frescobaldi 0. s. w.
469
Froberger 1657 — also nach seiner definitiven Entlassung aus
der Wiener Hofkapelle — nach England reiste Aber nach den
Mittheilungen, welche jener „Anverwandte" Walther zukommen
liess, soll sich ja Froberger nach Mainz begeben haben.
Diese Reise nach England bildet für Froberger's Biographen
insgemein den Glanzpunkt ihrer Darstellung. Man schlage bei
Gustav Schilling, bei Fetis nach — und sehe zu, wie sie „die
Adern" des von Mattheson gelieferten „dürren Blätterskclets mit
Saftfarben und gleissendem Grün durchziehen*' (wie Jean Paul
sagen würde), wie aus der historisch sein sollenden Darstellung
eine,, Kunstnovell e" wird, bei welcher die in Activität gesetzte Phan-
tasie ihrer Verfasser eine Menge Details zu dem historischen Kern
— hinzugeträumt, und zu deren Ausstattung für Damenboudoirs
nur noch Goldschnitt und Seideneinband fehlt. Fdtis führt die
Geschöpfe seiner Einbildungskraft sogar redend ein: „mon ami,
il est temps de sortir, dit derriere lui une voix dure et rauque de
vieillard; Froberger se leva pour obe'ir immddiatement ä l'ordre
presque menacant qu'il venait de recevoir" — und so weiter.
Froberger's angebliche Erlebnisse in England, selbst nur wie sie
Mattheson erzählt, klingen so äusserst abenteuerlich, dass man
Zweifel an der Wahrheit dieser Erzählung, deren wirklich histori-
scher Gehalt vielleicht ein ganz unbedeutender ist, nicht unter-
drücken kann.
Sollte nun nicht vielleicht gerade die berühmte Fahrt nach
England eine colossale „Urlaubüberschreitung" veranlasst haben?
Was machte denn Froberger in der Zwischenzeit vom October
1645 bis zum April 1653? An der Richtigkeit dieser durch das
Archiv der Hofkapelle sichergestellten Daten ist nicht zu zweifeln,
eben 60 wenig an der in die erwähnten Prachtbücher von Froberger
eigenhändig geschriebenen Jahreszahl, welche also in diese Zwi-
schenzeit fällt, wo bei, Froberger's Orgelbank in Wien „Sedisvacanz"
war. Obendrein lautet die Datirung des Libro secondo der
Wiener Handschrift: Vienna Ii 29. Settembre A. 1649. Froberger
war also in Wien!
Unter den Compositionen findet sich als Schluss des Libro
quarto ein „Lamento sopra la dolorosa perdita della Reale Maesta
di Ferdinando IV Re di Romani." Der König starb aber erst 1654,
zu einer Zeit also, wo Froberger sein Amt in Wien wieder angetre-
ten. Diese Compositionen sind also die Frucht mehrjähriger Arbeit.
Einer ähnlichen Composition, wie jenes „Lamento", erwähnt
der Danziger Capellmeister Johann Valentin Meder in einem am
14. Juli 1709 geschriebenen (in Mattheson's „Ehrenpforte" mit-
getheilten) Briefe. „Ein gewisser Liebhaber der Musik", schreibt
Meder, „habe ihn gezwungen des Froberger's sein Memento mori
auf Violen anzubringen, und mit in's Concert zu mischen; er hätte
auch desselben Verfassers Tombeau aus dem F-moll mit beifügen
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470
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
sollen, solchen Eigensinn aber von sich abgelehnt, indem besagtes
Tombeau sehr ineinander geflochten, und sich mit Geigen nicht
so wohl ausdrücken lasse — ein anderes sei ein Clavicbordium, ein
anderes die Violin. Jedoch um des besagten Liebhabers Willen,
zu erfüllen, habe er ihm ein neues Tombeau vor zwei Violinen,
drei Violdigamben und zwei Flöten gesetzet" u. s. w. Der Um-
stand, dass als Tonart von Froberger s „Tombeau" F-moll an-
gegeben wird, während das Trauerstück auf den Tod Ferdinand IV.
aus Cdur geht, macht es aber zweifelhaft, ob damit jenes
„Lamento sopra la dolorosa perdita" u. s. w. gemeint sei, obwohl
letzteres auch zur Gattung der „Tombeaus" gehört, da Meder
weiterhin solche Sätze auch mit dem allgemeinen Namen „Lamente
und klagende Sätze" bezeichnet. Charakteristisch für die Art
wie Froberger diejenigen von seinen Compositionen aus Tönen
zusammenwebt — ■ denn so muss man es nennen — welche mehr
klavier- als orgelmässig sind, darf die Bemerkung Meder's heissen:
ein Clavichordium sei etwas anderes als eine Violine und das
Stück sei „sehr zusammengeflochten." Damit ist etwas anderes
gemeint, als streng durchgeführte, künstliche Polyphonie, deren
vier oder mehr Stimmen sich gar wohl für Saiteninstrumente ein-
richten oder vielmehr umschreiben liessen, wie es denn bei den alt-
deutschen polyphonen Liedern insgemein auf dem Titel heisst, sie
seien auch „auf Instrumenten zu gebrauchen" oder „für alle
Arten von Instrumenten dienlich." Meder meint vielmehr jene
Setzart, welche Joh. Seb. Bach mit dem respektwidrigen Namen
„manschen" bezeichnete — eine Schreibart nämlich, wo Stimmen
kommen und Stimmen gehen, man weiss nicht woher und wohin
— wo der Satz plötzlich sehr stimmenreich und voll und plötz-
lich wieder mit wenigen Stimmen ganz durchsichtig wird — wo
sich der Gang der einzelnen Stimmen — Discant, Alt, Tenor,
Bass — nicht verfolgen lässt, kurz die Art, wie wir unsere Orchester-
und Ciaviersachen, welche nicht in den alten strengen Formen
des Canons, der Fuge u. s. w. gehalten sind, schreiben, während
Bach den Organisten und den seine einzelnen Stimmen consequent
fuhrenden Contrapunktisten auch dort nicht vergisst, wo er ein
Orchester vor sich hat. Herzogin Sibylla schreibt darüber in
einem ihrer Briefe an Huyghens: sie wollte gerne das Memento
mori Froberger bei ihm schlagen, so gut ihr möglich wäre. „Der
Organist zu Cöln Caspar Grieffgens schlägt selbiges Stück auch"
(heisst es im Briefe weiter) „und hat es von seiner Hand gelernt,
Griff vor Griff. Ist schwer aus den Noten zu finden. Habe es
mit sondern Fleiss darum betracht, wiewohl es deutlich geschrie-
ben, und bleibe auch des Herrn Grieffgens seiner Meinung, dass
wer die Sachen nit von ihm, Herrn Froberger sei. gelernet, unmög-
lich mit rechter Discretion zu schlagen, wie er sie geschlagen
hat." Die Schilderung passt vollkommen auf das mehrerwähnte
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
471
Trauerstück. Hochpathetischen Charakters, trotz der Durtonart
Trauer, und zwar tief, wenn auch mild gestimmte Trauer aus-
drückend, will es auf der Claviatur mehr declamirt, als in genauem
Takt gespielt, überhaupt beinahe nach Art einer freien Phantasie
mit discret angewandtem Tempo rubato behandelt sein. Den
Schluss bildet allerdings ein handgreiflich malender, nicht miss-
zuverstehender Zug, welcher sich so kindisch ausnimmt, dass er
den guten Eindruck des Vorhergehenden nahezu auslöscht.
Glissando und presto fahrt in raschem Lauf die C-dur Tonleiter
vom kleinen C im Bass bis zu den lichthellen Legionen des drei-
gestrichenen C — offenbar die „Himmelfahrt" des höchstseligen
Ferdinandi des Vierten — diese Scala ist die „Scala del cielo",
die Himmelstreppe, die Jacobsleiter; damit man es ja nicht miss-
deute, hat Froberger eigenhändig quer über den letzten Takt,
so dass das dreigestrichene C gerade hineinfährt, den offenen, Licht-
strahlen entgegenwerfenden Himmel und drei Cherubköpfchen —
geflügelte Scheusälchen — hingezeichuet. Die folgenden, den
Libro quarto schliessenden Sätzchen sind alle auf ein analoges
. Harmoniefundament gebaut, wie das „Lamentou — also dazu und
zusammengehörig, und zwar eine Gigue, eine Courante und eine
Sarabande — Tänze also! aber Tänze emster, contrapunktischcr
Art. Auch hier ist Froberger's illustrirendc Feder nicht müssig
gewesen — die Gigue prangt mit einer Zackenkrone — wohl die
„Krone ewiger Gerechtigkeit" — dieser Tonsatz ist auch der
relativ am freudigsten bewegte im Cyclus; zur Courante, einem
feierlich majestätischen Stück, hat der Componist ein Crucifix und
einen dampfenden Weihrauchkessel gezeichnet ; zu der Sarabande,
welche nicht wie sonst einen sentimentalen Charakter hat (alle
Sentimentalität ist schon im „Lamento" aufgebraucht), sondern wie-
derum imposant und mit einer gewissen, der Vornehmigkeit, wie
sie damals verstanden wurde, sich selbstgefällig präsentirenden
Grazie einhertritt, ein reich mit Getreideähren bewachsenes Feld
(Anspielung auf Matth. XIII. 8?) und einen Lorbeerkranz, welcher
sich von selbst erklärt. Dieser Kreis von Tonstücken ist für die
Geschichte der Suite von Wichtigkeit. Bei diesen Malereien der
Componisten- und Illustrationsfeder wird man versucht, auch an
die Rheinfahrt- und Organistenfusstritt-Allemanden zu glauben,
von denen Mattheson berichtet»
Die Benennung „Tombeau" deutet auch wieder indirect auf
Froberger's Aufenthalt in Frankreich. Im Jahre 1709 wenigstens
begegnen wir diesem Terminus zum erstenmale in der französisch-
dramatischen Musik in einem von Cambert componirten, 1671
(abo vier Jahre nach Froberger's Tod) zu Paris aufgeführten
Pastorale „les peines et les plaisirs d'amour", wo der Klaggesang
Apoll 's am Grabe der Nymphe Clime'ne als „Tombeau" bezeichnet
ist. Die Benennung ging dann auf alle ähnlichen Stücke in der
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472
Die Organiston. Frescobaidi u. s. w.
Oper über — Kameau's prächtiger Chor „que tout gemisse" und
Telairen's sich daranschliessende Arie „pales flambeaux" gehört
so gut in diese Klasse, wie Gluck's erste Scene im „Orfeo." Es
scheint fast, als sei Froberger der Begründer dieser ganzen Gattung.
Froberger's Ricercar, Partiten, Tanzstücke u. s. w. lassen ihn
in der Disposition und in der Durchführung als Frescobaidi' s
Schüler erkennen.
Von der schwerfalligen Art der deutschen Orgelspieler des
16. Säculums, welche in harter Sisyphusarbeit zentnerschwere
Notenblöcke wälzen, welche rohe Accordsäulen neben einander
hinpflanzen, wie etwa weiland die alten Celten ihre colossaleu
Steinsetzungen ihrer Min-hir und Dolmen, und hinwiederum in
nichtssagendem, geschmacklosem, buntscheckigem Laufwerk herum-
faseln oder irgend einen Cantus firmus mit der Grobschmied -
arbeit irgend eines contrapunktischen Gitterwerks umgeben, ist
bei Froberger keine Spur mehr. Allerdings waren die deutscheu
Organisten, wie die Tabulaturbüchcr der beiden Strassburger
Bernhard Schmidt beweisen, wo wir Arbeiten der beiden Gabrieli,
Merulo's u. A. in „deutsche Tabulatur umgesetzt" finden, bei deu
Werken der Italiener in die Schule gegangen, und der bedeutende
Meister Samuel Scheidt in Halle, welcher 1654 starb, also Fro-
berger's etwas älterer Zeitgenosse, schwerlich aber, wie auch vei-
muthet worden, Froberger's „erster Lehrer" war, wenn Froberger
schon mit 15 Jahren Halle für immer verliess, scheint dieselbe
Schule durchgemacht zu haben. Johann Caspar von Kerl, der
vielbewunderte, kam erst um 1645 nach Rom, um bei Carissimi
zu studieren — ob auch bei Frescobaidi, ist unsicher — aut keinen
Fall kann dort Froberger sein „Mitschüler" gewesen sein. ') Des
holländischen „Organistenmachers" Jan Pieter Swelink Orgelsätze
(so weit wir sie kennen) sind trocken und altvaterisch. Wo wir
die Orgelkunst in Deutschland sich von dem rohen Standpunkt
der handfesten deutschen Orgelschläger des 16. Säculums los-
ringen sehen, ist es überall der belebende Hauch aus Italien,
welcher befreiend wirkt. Die Zeit der grossen deutschen Vor-
läufer J. S. Bach's — eines Pachelbel, Buxtehude u. A. stand
damals schon vor der Thüre — aber eingetreten war sie noch
nicht. Froberger hat neben Scheidt als ihr Vorläufer eine
epochenmachende Bedeutung, und wenigstens mittelbar hat also
Frescobaidi auch auf die Kunst in Deutschland einen sehr be-
deutenden Einfluss gehabt Wer Analogieen und Aehnlichkeiten
zwischen Lehrer und Schüler suchte, würde ihnen bei Frescobaidi
und Froberger aller Orten begegnen. Froberger's deutsche Abkunft
verräth sich zumeist in einzelnen Themen, welche wie deutsche
Volksweisen klingen, so in einer Canzon des Wiener Libro secondo:
1) wie Fetis will, s. Biogr. univ. d. m. ad voc. Kerl (Jean Gaspard de).
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Discant
Die Organisten. Frescobaldi u. 8. w. 473
(im Original partiturmäasig in vier Stimmen.)
Ten
3tE
-6 Z=Z ß T -
Ssj j 1 J
gi r f r ' =-
tffc
Alt.
U. 3. W.
Das klingt im Thema so nicht-italienisch und so urdeutsch
wie möglich, aber die Durchführung ist durch und durch Fresco-
baldisch. Man stelle nur neben diese Composition Froberger's zur
Vergleichung die „Canzon quarti toni dopo il postcomuneu von
Frescobaldi :
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474
Die Organisten. Frescobaldi n. 8. w.
|0Ü
et
I
I
J
e c h a?
f o d c?
Der ..nationale'1 Unterschied im Charakter (nicht einmal
in der Bildung I) der Themen und die völlige Uebereiustimmung
in der Art der Durchführung derselben liegt klar vor Augen.
Im Verlaufe des Stückes gestalten beide Tonsetzer ihr Thema zu
einer Episode im *8- (-|->Takt, nachdem sie beide ihren Satz mit
einer entschieden eintretenden Cadenz zu Ende führen zu wollen
geschienen:
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Die Organisten. Frescobaldi u. 8. w.
475
Frescobaldi
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XX. s. w.
Froberger
U. 8. W.
Nach dieser Episode tritt bei beiden Meistern ein gleichsam
reflektirender Moment des Stillstands ein, nach welchem es wieder
frisch und lustig in der fugirten Arbeit weiter und zu Ende geht.
Frescobaldi
Adagio.
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476 Die Organisten. Frescobaldi u. 8. w.
Allegro.
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Froberger
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Mit Hilfe der „vergleichenden musikalischen Anatomie" würde
man vielfach zu ahnlichen Resultaten kommen. Auch das colo-
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
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ist eine Manier Fresco-
baldi's, welche sich der Schüler getreulich angeeignet hat —
während Frescobaldi seinerseits sie bei seinen Vorgängern Mernlo,
Gabrieli u. s. w. antraf. So geläufig dieser Zierschnörkel den
italienischen Orgelmeistern ist, so wenig findet er sich bei den
deutschen.
Die Toccaten Froberger's gleichen jener Classe der Fresco-
baldi'schen, welche wir als „thematisch durcharbeitend" bezeichnet
haben, bis zum Doppelgängerischen. Froberger bildet allenfalls
glatter, flüssiger, sein grosser Lehrer schroffer, aber auch mächtiger
und imposanter.
Eben so sind Froberger's Partiten echte und gerechte Blin-
der der Frescobaldi'schen. Aber zu Frescobaldi's strenger Hoheit
verhält sich der liebenswürdige, klangselige Froberger, wie etwa
Mozart zu J. S. Bach. Jenes „Manschen", wo es vorkommt,
ist ein Schritt zur Befreiung der Musik aus den unaufhörlichen
Banden der Polyphonie. Frescobaldi ist mehr Organist, Froberger
mehr Clavierspieler. Frescobaldi's Partiten sind bewundernswerthe,
geistvolle contrapunktische Studien „für Kenner und Liebhaber";
in jenen Froberger's ist alles glatter, flüssiger, beweglicher, ele-
ganter geworden — so recht für musikalische grosse Damen, wie
Herzogin Sibylla, und doch auch für den strengsten Musiker höchst
interessant. Kleine musikalische Juwele sind seine Partiten —
eigentlich Variationen — „auff die Mayerinn" (im Wiener Manu-
8cript). War diese „Mayerinn" ein Volkslied, oder etwa eine Lieb-
lingsmelodie jener Ursula Meyer, genannt „die Meyerin", welche,
1575 zu Münster geboren, viele Jahre im Dienste Anna's von
Oesterreich, Tochter des Erzherzogs Karl I. von Steyerraark,
stand, als sich diese Prinzessin mit König Sigismund III. von
Polen am 31. Mai 1592 vermählte, ihr folgte, die Kinder des
königlichen Hauses erzog, an der königlichen Tafel ass, als das
Orakel des Hofes und des königlichen Familienrathes galt, noch
unter Sigismunde Nachfolger, Ladislav IV., ihrem Eleven, eine
grosse Rolle spielte, selbst in Staatssachen eine einflussreiche
Stimme hatte, vom Papst Urban VIII. durch Uebersendung der
goldenen Rose geehrt wurde und endlich 1635 zu Warschau
starb? Der Gedanke liegt sehr nahe, dass Froberger wieder
einmal eines seiner Dedicantenstücke ausgeführt hat und die
Partiten später auch (mit Recht) in die für Ferdinand III. be-
stimmte Sammlung aufnahm. Das Thema, in seiner Urgestalt als
Lied, kann man sich wohlerhalten aus der Oberstimme der Partita
quinta heraussuchen — welch' letztere übrigens die mindest be-
deutende im Cyclus ist, zweistimmig: die Liedmelodie und ein
bunt figurirter laufender Bass. Desto reizender und pikanter sind
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47S
Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
die anderen, darunter eine „Courante sopra Mayerinn" nebst
,, Double" — zum Schlüsse eine „Saraband sopra Mayerinn" —
das Double-Stück (eine Form, der wir dann unter J. S. Bach's
Suiten als einer gewohnten begegnen) gleichsam als eine Variation
der Variation. Den Namen „Double" hat Froberger wohl aus
Frankreich mitgebracht; bei Frescobaldi kommt er noch nicht
vor. Die Perle unter den Partiten ist die sechste, die „Partita
cromatica", ein Stück voll Leben, anmuthiger Bewegung und
Wohlklang.
Froberger's Tanzstücke haben dagegen mit denen Frescobaldi'
weniger Verwandtschaft — sie gehen mehr in's französische Genre.
Unter Franz Couperin's Sarabanden, Couranten u. dgl. finden sich
Nummern, die entschieden mit den analogen Froberger's verwandt
sind. Und hier grenzt er hinwiederum an J. S. Bach und
dessen Suiten. Bemerkenswerth ist die gelegentliche Bemerkung
der Herzogin Sibylla, „man müsse die Sachen von Froberger selbst
gelernt haben, um sie richtig zu spielen " Auch hierin kündigt
sich das Morgenroth einer neuen Zeit an. Frescobaldi's streng
polyphone, gleichsam ganz objektive Stücke kann ein tüchtiger
Orgler kaum verderben — aber bei Froberger tritt schon die
Subjectivität des Künstlers mehr in's Werk und muss hinwiederum
daraus sprechen.
Es ist schon erwähnt worden* dass der in „kayerliche Un-
gnad" gefallene Froberger ein Asyl bei der Herzogin Sibylla
von Württemberg fand. Es ist wohlthuend, wenn wir nach Fro-
berger's Tode in dem ersten, am 25. Juni 1667 aus HeVicourt an
Huyghens geschriebenen Brief der Herzogin lesen: „allein ver-
bleibe ich, leider Gott erbarms, nur eine geringe hinterlassene
Schülerin meines lieben, ehrlichen, getreuen und fleissigen Lehr-
meisters sei. Herr Joh. Jacob Froberger, kais. Maj. Kammer-
Organist, welcher heut sieben Wochen Abends nach fünf Uhr
unter währendem seinem Vespergebet von dem lieben Gott mit
einem starken Schlaganfall angegriffen worden, nur noch etliche
Mal stark Athem geholt und hernach ohne Bewegung eines Glieds
so sanft und, wie ich zu dem lieben Gott hoffe, selig verschie-
den. Denn er noch die Gnad von Gott gehabt, dass er nieder-
gekniet laut gesagt: Jesus, Jesus sei mir gnädig! und somit
zurückgeschlagen Verstand und Alles hin. Liefen alle zu, was
im Schlosse waren, könnt aber niemand helfen, war selbst auch
dabei. Nun, der liebe Gott erwecke ihn mit Freuden und gebe,
dass wir einander im himmlischen und englischen Musenchor wie-
der antreffen mögen." Froberger scheint sein Lebensende geahnt
zu haben — Tags vorher hatte er der Herzogin einen Dukaten
eingehändigt mit der Bitte, ihn nach seinem Tode zu frommen
Werken zu verwenden. Dürfen wir hiernach nicht annehmen,
dass Froberger damals nicht mehr in der Vollkraft des Lebens ge«
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w.
479
standen, etwa ein Mann in den Sechzig gewesen, und das wir folg-
lich seine Geburt in die ersten Jahre nach 1600 versetzen können?
Ist es aber so, wie hätte er mit fünfzehn Jahren zu Ferdinand III.
kommen können? Mattheson's Angaben erscheinen auch hier
mindestens ungenau — freilich lässt er auch den dreissigjährigen
Krieg zwei Jahre später enden, als der Westphälische Frieden
geschlossen worden!
Die Herzogin Hess ihrem Froberger „zur Gedächtnuss einen
Grabstein machen ; ist nit unfein" schreibt sie. Seine Tonwerke
bewahrte sie wie einen Schatz: „seine edle Compositiones habe ich
so lieb und werth, dass ich sie so lang ich lebe nit kann oder
begere aus Händen zu lassen.11 Eine Malerin oder Zeichnerin,
Namens Caterina Bergerotti, zeichnete für die Herzogin ein „Con-
terfait" des geliebten Meisters, welches die hohe Dame in ihrem
„Museo" aufbewahrte. Das Bild ist nicht mehr zu finden —
auch der „nit unfeine" Grabstein in der Kirche zu Bavilliers ist
in den Stürmen der Revolution abhanden gekommen. Die Her-
zogin erwähnt, dass zu Froberger's Beerdigung sich „gute Freund
von Montbelliard" eingefunden, „denn ihn die Leut wegen seines
guten Humors geliebt haben, ob sie eben seine Kunst nit ver-
standen." Ist das nicht wieder ein an Mozart erinnernder Zug?
Aber er hatte am Hofe der Herzogin auch seine Gegner. „Adver-
sarii", schreibt die edle Frau, „bleiben aber auch nit aus und
meinen es sei der Sachen zu viel gethan und nit recht, weil er
nit mehr unser Religion gewesen, und was noch mehr allerlei so
Reden oder Judiciren sein mag. Doch reuet es mich nit, ich
höre gleich was ich wolle, denn seine rare Virtou und der Herr,
bei dem er in einsten gewesen meritiren noch wehl eine ehrliche
Begleitung zu letze. Ohne was ich noch vor mein Person, wie
vor gedacht, Gutes von ihm empfangen habe, so ist er ja doch
auch noch ein Christ und guten Lebens gewesen. Ist mir gewiss
sauer genug angekommen und bin kein lachender Erb, möchte
mir noch als Herz und Augen übergehen, wenn ich bedenke, was
mir mit ihm abgestorben."
Froberger war als Protestant lutherischer Confession geboren.
Matthcson erzählt, in Rom habe ihn ein deutscher Mitschüler,
Namens Kappeler, beredet, zum Katholicismus überzutreten —
Kappeler selbst sei später bei der Landgräfin von Darmstadt
Maria Elisabeth zu Husum Hoforgrfnist geworden, „sattelte nun
selbst um und bekannte sich zum Lutherthum." Es gab, wie be-
kannt, in jenen Zeiten mehr Leute, welche nach dem Grundsatz
„Cujus regio ejus religio" in solcher Weise „umsattelten" — ja
gelegentlich nach Bedürfniss wiederholt „die Religion changirten."
Eben weil Froberger's Religiosität keine blos äusserliche war,
mochte er nicht die Confession wechseln, wie man einen Rock
wechselt. Es macht der Herzogin Ehre, dass sie grosssinniger
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Die Organiston. Frescobaldi u. 8. w.
dachte, als die Zionswächter an ihrem Hofe. *) Wenn übrigens,
wie Mattheson sagt, Froberger schon als Knabe in des Kaisers
Ferdinand III. Kapelle kam, so dürfte sein Uebertritt unmöglich
erst in Rom geschehen sein. Aus Briefen, welche der verdienst-
volle Historiograph der Wiener Hofkapelle, Kochel, gefunden, er-
giebt sich indessen, dass Froberger's Uebertritt wirklich in Rom
geschah — aber nicht auf Zureden eines Mitschülers, sondern auf
den Wunsch des Kaisers, und dass dieser Uebertritt schon von
Wien aus vorbereitet worden.
Als Schüler Froberger's nennt Mattheson (in der Lebensskizze
des k. dänischen Hofkapellmeisters Kaspar Förster) gelegentlich
einen Danziger Ewald Hinsch, welcher „bei dem berühmten Fro-
berger gelernt hatte4' und unter Kaspar Förster als Hoforganist
des Königs Friedrich III. diente. Auch Kaspar Grieffgens in Cöln
scheint von Froberger Anleitung bekommen zu haben. Als Vor-
bild hat er aber noch mehr gewirkt, denn als unmittelbarer Lehr-
meister. Es ist interessant, die Partiten „auff die Mayerinn" mit
dem grossen 1648 zu Prag erschienenen Variationenwerk Wolfgang
Ebner's, der gleichzeitig in Wien mit Froberger Hoforganist war,
— „Aria XXXVI modisvariata peril cembalo'1 — zu vergleichen.
Froberger's Arbeit hat hier augenscheinlich als Muster gedient,
selbst die „chromatische Partita" findet dort ihr Gegenbild in einer
„chromatischen Variation." Auch die beiden Muffat deuten oft
genug auf Froberger zurück, während wir z. B. an dem gleich-
zeitigen Kuhnau in Leipzig statt dessen die Familienzüge der nord-
deutschen Organistenschule erkennen.
Ein sehr respektabler Meister dieser Epoche ist Giovanni
Battista Fasolo aus Asti, Franciscaner in einem Kloster zu Pa-
lermo, dessen „Annuale organistico" 1645 in Venedig erschien. Die
Art, wie er in diesem Werke die gegebenen kirchlichen Motive
der Hymnen, Antiphonen u. s. w. behandelt, erinnert in ihrer
ganzen Factur, in der freien, energischen und lebensvollen Führung
der Stimmen, im Verschmähen kleinlichen Zierwerks und in der
Tüchtigkeit des Zusammenklanges durchaus an die ähnlichen Ar-
beiten Frescobaldi's, der vor dem braven Mönch von Palermo
1) Merkwürdig ist es, dass sich an ihren Tod die Wundererzählung
von einer Engelsmusik knüpft, gleichsam als habe diese geliebte Kunst
sie noch in den letzten Augenblicken nicht verlassen. „Als die fromme
Herzogin Magdalena Sibylla von Würtemberg auf dem Sterbebette lag,
den 7. August 1712, liess sich Nachts im Zimmer, wo eben nur zwei Per-
sonen gegenwärtig waren, eine überaus liebliche Stimmen- und Harfen-
musik hören, die nach einigen Minuten verwehte. Sogar der Kauzler der
Universität gedachte derselben in einer feierlichen öffentlichen Bede; die
Zuhörenden [hätten in ihrem Leben nichts Anmuthigeres gehört; in der
That seien nicht Menschen-, sondern Engelsstimmen erklungen." Die Her-
zogin starb erst am 11. August 1712. (Perty, Mystische Erschein. S. 471.)
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Die Organisten. Frescobaldi u. s. w. 481
wohl den Zug des Genialen, Vielseitigkeit nnd Glanz voraus hat,
im Uebrigen aber ihm entschieden geistesverwandt erscheint.
Berühmter als der anspruchslose Klosterbruder im fernen
Sicilien wurde Bernardo Pasquini, geboren 1637 zu Massa di
Valnevola im Toskanischen, Organist der Basilica von S. Maria
maggiore in Rom, der den stolzen Titel erhielt „Organoedus
Senatus populique Romani44, Lehrer Franz Gasparini's und Fran-
cesco Durante's, gestorben 72 Jahre alt am Cäcilientag 1710 und
begraben in S. Lorenzo in Lucina (beim Corso), wo seine Grab-
schrift von ihm rühmt: „musicis modulis apud omnes fere Europae
Principes nominis gloriam adeptus/4 Wirklich soll ihm Leopold I.
aus Wien Scolaren zur Ausbildung zugesendet haben — was in-
dessen mit den Daten des Wiener Kapellarchivs nicht stimmen
will, wo von 1657 bis 1679, den Regierungsjahren des genannten
Kaisers, als Organisten genannt werden: Wolfgang Ebner, Paul Neid-
linger 1657— 1669, Marcus Ebner 1657—1680, Alexander Poglietti
1661—1683, Carlo Capellini 1665— 1683. Einige Stücke des eben
genannten Poglietti und Bernardo Pasquini's wurden 1704 zu
Amsterdam in einer Sammlung Toccaten und Suiten gedruckt.
Ludwig Landsberg erwarb in Rom zwei in ihrer Art unschätz-
bare Autographe Pasquini's, zwei volumiöse Bände Toccaten und
ähnliche Compositionen — nach Landsberg's Tode (1858) wan-
derten sie nach Amerika, wo sie leider — verschollen sind. *)
So ist uns von dem berühmten Meister nichts geblieben, als sein
Name und seine stolze Grabschrift in S. Lorenzo in Lucina.
1) Die egoistische Eitelkeit der Engländer und Amerikaner, Werke,
welche ein Gemeingut der Menschheit sein sollten, im „Privatbesitz" zu
haben — oft um sie dann nie wieder anzusehen, sie aber vor aller Welt
zu versperren, verdiente wohl einmal ein nachdrückliches Wort! Wollte
doch einmal ein Engländer das berühmte Salzfass Benvenuto Ccllini's (in
der kais Schatzkammer in Wien) durchaus kaufen ! ! Natürlich —
Guineen, dachte er, ist Alles feiL
Ambroi, Geschichte der Musik. IV. Sl
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Leipzig,
Druck von Hundertatuud & Priof.
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■
Nachwort.
Gern leiste ich dem Wunsche der Familie wie der
Freunde des verewigten Verfassers Folge, diesem nachge-
lassenen Theile seiner „Geschichte der Musik" einige Worte
der Erinnerung hinzuzufügen. Stand ich doch mit Ambros
Jahre hindurch bis zu seinem Tode in freundschaftlichem und
geistigem Verkehr und habe ich doch diesen Tbeil der Musik-
geschichte allmälig entstehen und werden gesehen. Wir hatten
ja in unseren Arbeiten wie Anschauungen so manche Berührungs-
punkte, und es bereitete ihm jedesmal eine grosse Freude, wenn
er sich über seine Pläne und Ziele gegen mich aussprechen konnte.
Noch steht er mir lebhaft vor Augen, wie er, nur wenige Tage vor
seiner Erkrankung, bei mir vorsprach und mit überströmen-
der Begeisterung so manches Detail dieses Bandes schilderte.
„Möchte es mir nur beschieden sein, das Werk, so wie ich es
wünsche, zum Abschluss zu bringen! Ich darf wol hoffen
dann der Kunst wie der Wissenschaft einen Dienst erwiesen
zu haben", so sagte er mir damals beim Fortgehen. Leider
sollte er aber die Vollendung seines Werkes nicht mehr er-
leben.
„Wir haben in Ambros nicht etwa nur den Verlust eines
liebenswürdigen Collegen und einer seltenen, den ernstesten
Aufgaben zugewendeten, von einem unerschütterlichen Willen
getragenen Arbeitskraft zu bedauern, mit dem Dasein des
Mannes ist auch ein aus den innersten Bedürfnissen der Zeit
wie der musikalischen Kunst concipirtes Werk gerade da ab-
gebrochen, wo dasselbe seine höchsten Blüthen zu entfalten ver-
sprach."— Diese Worte, mit denen ich meinen Nachruf an
Ambros in der „Presse" einleitete, dürften auch hier an ihrem
Platze sein, denn ich wüsste den Empfindungen über das
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Nachwort.
Erlöschen dieser Kraft keinen überzeugungstreueren Ausdruck
zu geben.
Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich dieses Werk
als ein aus den innersten Bedurfnissen der Zeit concipirtes
bezeichne. Es ist eine That, deren Tragweite umsomehr an
Bedeutung gewinnt, wenn man bedenkt, dass bei uns in Deutsch-
land die mächtigen Einflösse der Aesthetik den Sinn von der
strengen Forsichung auf den entlegeneren Gebieten der Musik-
geschichte vielfach ablenken. Und doch verweist uns der Kampf
der grossen Gegensätze, welcher heutigen Tags das Musikleben
durchwühlt, auf die Nothwendigkeit einer klärenden, in die
Tiefen der Vergangenheit eindringenden Forschung, als der
sichersten Basis für die Beurtheilung der gegenwärtigen Strö-
mung und deren Ziele. Der Werth jener That steigert sich
im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die zu besiegen waren und
auf die kargen Früchte, die sie an äusseren Ehren, wie an
materiellem Erfolge abwirft. Der Weg der Forschung auf
diesem Gebiete führt nicht etwa zu den Lorbeeren eines popu-
lären Ruhmes — denn es ist nur eine kleine Gemeinde, die
diesem Gegenstande ein höheres Interesse und Verständniss
entgegenbringt — sondern eher von Klippe zu Klippe. Es gilt
die mühevolle Arbeit, in die Schachte eines längst versunkenen
Empfindungslebens hinabzusteigen, das Geäder der Formen-
bildungen blosszulegen und aus der Kruste wunderlicher, rüthsel-
hafter Gestaltungen das echte musikalische Metall herauszu-
schlagen, die treibende Kraft, welche dieselbe erzeugte, aufzu-
spüren: eine harte Arbeit im Dienste der Kunst und Cultur,
die nur die Begeisterung für die Sache vergütigt, freilich auch
wirklich vergütigt. In Wahrheit vermag nur die Begeisterung
allein über die Furcht hinwegzuheben, dass bei dem Dunkel,
welches manche wichtige Phasen der Geschichte noch verhüllt,
das Schaffen mehr oder weniger nur zu fragmentarischen Er-
rungenschaften führe, und das drückende Bewusstsein zu ban-
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Nachwort.
4S5
nen, dass bei dem vielen, schwer zu entziffernden Material der
Irrthum stets im Hinterhalte lauere und eine neue Entdeckung
die mühsam gewonnenen Resultate überhole und abschwäche.
Ein auf solche Aufgaben gerichtetes Unternehmen bedingt vor
Allem die Mittel, den in Archiven zerstreut liegenden Stoff zu-
sammenzutragen und in reichlichster Sammlung aufzuspeichern;
es bedingt ferner eine sorgenlose Müsse, ihn mit der nöthigen
Ruhe zu verarbeiten ; es erfordert in erster Linie einen eisernen
Fleiss, der vor der minutiösesten Prüfung, vor Enttäuschung in
Folge verfehlter Schlüsse nicht zurückschreckt. Mit seltener
Energie hat Ambros die Schwierigkeiten in Betreff der Be-
schaffung der Materialien zu überwinden gewusst und dabei
selbst persönliche Opfer nicht gescheut. Für seinen ausdauern-
den, rastlosen Fleiss zeugt schon die überaus reiche musika-
lische Hinterlassenschaft, eine reiche Sammlung von circa
1500 Nummern eigener Handschrift, die Frucht 30jährigen
Fleisses, in welchem schon allein die Sammlung der von ihm
in moderne Notenschrift übertragenen und in Partitur gesetzten
Werke der berühmten alten niederländischen Meister mehrere
stattliche Bände bilden.*) Doch das Glück einer sorgenlosen Müsse
war ihm nie beschieden; die Verhältnisse zwangen ihn vielmehr
zu einer mannigfachen Zersplitterung seiner kostbaren Zeit und
Thätigkeit. Bei der vielverzweigten Wirksamkeit, die seine
Kräfte mächtig in Anspruch nahm, muss man es in hohem Masse
bewundern, dass Ambros das von seinem Oheim, dem Hofrath
K iese wetter, Angestrebte und Angebahnte in verhältnismässig
*) Einem Freunde des Verewigten, dem Componisten Wilhelm
Westmeyer, ist es zu verdanken, dass dieser werthvolle musikalische
Nachlass für Oesterreich erhalten bleibt. Es ist damit sowohl ein
Wunsch des Verfassers als auch eine Ehrenpflicht erfüllt. Westmeyer
hat in ritterlicher Weise von der hinterblieben en Familie diese Schätze
kirchlicher und weltlicher Tonkunst acquirirt, um sie einem vater-
ländischen Inatitute ab Geschenk zu überweisen, wo sie dem Studium
bleibend zugänglich sein sollen.
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486 Nachwort.
nicht gar langer Zeit so rühmlich zum Ziele fahren konnte. Er
ermöglichte diess durch eine ausserordentliche Vielseitigkeit der
Bildung, welche sich stützte auf eine ungemeine Elasticität des
Geistes, verbunden mit einer zähen Arbeitskraft und einem
wahrhaft phänomenalen Gedächtnisse. So verdankt ihm der ehr-
würdige Dom der mittelalterlichen Musik einen Ausbau, der
sich in dem Capitel über die Kunst der Niederländer prächtig
zuwölbt, und von den Höhen desselben, eröffnet sich in diesem
leider nicht vollendeten Theile eine Aussicht, über die Grenzen
des Mittelalters hinaus auf die ersten Bildungen einer neuen Zeit!
Ambros hat das unschätzbare Verdienst, in jenem Capitel den
Culminationspunkt jener mittelalterlichen Epoche in eine ganz
neue Beleuchtung gerückt und Gesichtspunkte erschlossen zu
haben, welche über das archäologische Interesse weit hinaus-
tragen und neue Einblicke in den Bildungsgang der Tonkunst
gewähren. Es ist aber nicht die Geschichte einer isolirten Kunst,
deren Bild uns Ambros entrollt, wir verfolgen vielmehr das
Werden, das Wachsthum der Musik in deren stetigem Zusam-
menhange mit dem Gange der Cultur und der Entwickelung
der Schwesterkünste. Das verleiht der Darstellung einen er-
höhten Reiz und wirft manche interessante Lichter auf das
Familieuverhältniss dieser Kunst zu den übrigen Künsten.
Ambros äussert sich in der Einleitung zu seinen Skizzen und
Studien „Bunte Blätter"*): „Man wird es wol in meiner Musik-
geschichte bemerkt haben, wie mir der Kunstgeist dieser oder
jener Periode in seinem Zusammenhange klar zu sein, wie mir
die Musik und die bildende und bauende Kunst nur Aeusserung
ein und derselben geistigen Strömung scheint." Dieses Princip
hat Ambros in seiner Musikgeschichte consequent durchgeführt;
es bedurfte aber auch eines so umfassenden Wissens, wie er es
besass, um es mit solcher Consequenz durchzuführen. Sein
*) Bunte Blätter. Skizzen u. Studien für Freunde der Musik und
der bildenden Kunst v. A. W. Ambros. 2 Bde. Leipzig, F. E. C. Leuckart
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I
Nachwort. 487
Grundprincip mag ihn zu einer oder der anderen Ausschreitung
verleitet nahen, man mag überhaupt der Methode im Aufbau
des Materials nicht immer seine Zustimmung geben können, doch
haben die Mangel nicht eine solche Tragweite, dass sie dem
monumentalen Charakter des Werkes den geringsten Eintrag
thun könnten. Entbehrt die „Geschichte der Musik4' auch eines
völlig ausklingenden Schluss-Accordes, so hat sich doch der
Verfasser damit ein für alle Zeiten bleibendes und seinen Namen
ehrendes Denkmal gesetzt.
Die letzten ermuthigenden Antriebe sein Werk zu vollen-
den erhielt Ambros durch die warme Theilnahme, welche eine
hohe Frau mit seltenem Verständniss seinen Bestrebungen
sowie dem Gegenstande derselben zuwandte.*)
Er hatte öfters den Wunsch geäussert, diesen Theil
seiner Musikgeschichte jener hohen Gönnerin zueignen zu
dürfen. Die Hinterbliebenen hielten es für eine Pflicht der
Pietät, die Erfüllung dieses Wunsches zu ermöglichen. So möge
denn dieses Buch unter der Aegide jener an der Spitze des-
selben stehenden, dem Wortlaut nach von dem Verstorbenen
herrührenden Dedication, in die Oeffentlichkeit treten.
Wien, im Mai 1878.
-
Eduard Schelle.
*) Von der nämlichen Seite dazu angeregt verfaaste Ambros im
Januar 1876 ein eingehendes Elaborat über die Reorganisation der
Kirchenmusik in Oesterreich. An der Verwirklichung der darin nieder-
gelegten Ideen, die keineswegs in losem Zusammenhange mit den Re-
sultaten seiner historischen Studien gestanden, hatte er bereits Jahre
lang im Vereine mit Wilhelm Westmejer gearbeitet Als nun endlich
sicherer Boden dafür gewonnen schien, wurde Ambros dem Leben ent-
rissen und so bleibt jetzt nur zu hoffen, dass es dem überlebendem
Freunde im Interesse der Kultur, von Staat und Kirche gelingen
möchte, das gemeinsam erstrebte Ziel ungeachtet der vorhandenen, fast
unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten allein zu erreichen.
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Verlag von F. E. C. Leuckart (Constantin Sander) in Leipzig.
Bunte Blätter.
Skizzen und Stadien
für Freunde der Musik und der bildenden Kunst.
Von
A. W. Ambro».
Jeder Band geheftet M. 4,50. — Elegant gebunden M. 6. —
Erster Band. Mit dem Portrait des Verfassers. Inhalt: Der Originalstoff zu
Weber's „Freischütz". — Musikalisches aus Italien. — Deutsche Musik und deut-
sche Musiker in Italion. — Abbe1 Liszt in Born. — Carneval und Tans in alter Zeit.
— Die „Messe solennelle" von Bossini. — Hector Berlioz. — Sigismund Thslberg.
— 8chwind's und Mendelssohn's „Melusine'4. — Zur Erinnerung an Friedrich Over-
beck. — F«StiB. — Wagneriana. - Tage in Assisi. — Im Campo Santo iu Pisa. —
Florenz und Elbflorenz. — Lose Studienblttter aus Florens und dessen Nachbar-
schan (Oiotto; Die Geschieh t*> des Antichrist.) — Von der Holbeinausstellung
in Dresden. — Alessandro Stradella. — Bobert Frans. — Musik-Beilagen.
Zweiter Baad. Inhalt: I. Musikalisches. Musikalische Wasserpest. — Hamlet,
Oper Ton Ambroise Thomas. — Znmsteeg, der Balladencomponist. — Der erste Keim
des Freischutz-Textes. — Musikalische Uebermalungen und Betouchen. — Franz
Lachnor's Kequiem. — Bachiana. — Bubinstein. — Halbopern und Halboratorien. —
Schubertiana. — Allerlei Beethoven'sche Humore. — Ein Kapitel von musikalischen
Instrumenten. — II. Zur bildenden Kunst. Von Wien nach Nürnberg. — Orcagna,
Holbein und Kaulbach. — Kaulbach's Carton: die Christcnverfolgung unter Nero.
— In den Raphael-Sälen de» Vaticans. — III. An* meiner Italienischen Kei.sf msppe.
Goethe in Italien und seine Nachfahrer. — Italienischer Frühling. — Ein Bilder-
buch voll Figuren. — Der Oesundheitspass von Orbetello. — Komische Ostern. —
8. Maria alla mortc in Rom. — Orvieto.
Des Anicius Manlius Severinus Boetius
Fünf Bücher über die Musik.
Aas der lateinischen in die deutsche Sprache übertragen und mit be-
sonderer Berücksichtigung der
Griechischen Harmonik
sachlich erklärt von Oscar Paul.
Mit vielen Tabellen und Facsimiles. 27 Bogen gr. 8. Geh. M. 16.
Längst hat die historische Forschung die fünf Bücher aber Musik des Boe-
tius für ein äusserst wichtiges Werk zum Verstandnisse der griechischen und
mittelalterlichen Musik erklärt, aber auch stets ist von den vorzüglichsten Musik-
gelehrten auf die erheblichen Schwierigkeiten der umfangreichen Schrift hinge-
wiesen worden, deren Inhalt in ein kaum aufzuhellendes mystisches Dunkel gehüllt
sei. Bisher wurde niemals der Versuch gewagt durch Uebertragung in eino der
lebendigen Sprachen den Schleier zu lüften und den Forschungen über die Akus-
tik und die TonayBteme der Griechen, welche B o eti us für das Mittelalter gewisser-
massen rettete, neue Bahnen zu eröffnen. Mit der vorliegenden, ersten deutschen
Uebersetzung und den sachlichen Erklärungen dazu ist nun endlich der Litteratur
ein Werk geschenkt, welches die griechische Harmonik erschöpft und das Ver-
standniss dor musikalischen Theorien des früheren Mittelalters vermittelt.
Geschichte der alten und mittelalterlichen Musik
von
Rudolph Westphal.
Erste Abtheilung XII u. 248 Seiten, gr. 8. Geh. M. 5,25.
Dritte Abtheilung 96 Seiten, gr. 8. Geh. M. 3,75.
Auch unter dem Titel:
Plutarch über die Musik von Rud. Westphal.
Geheftet. M 3,75.
7
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EDA KUHN LOU MUtlC UMMY
3 2044 039 673 405
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